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Full text of "Archiv für Geschichte der Philosophie"

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Archiv 


für 


Philosophie 


herausgegeben 


von 


1^  IUI  d  w  l  g    Stein. 


E  r  ^  t  •?.   Abteil  u  n  g: 
My/  für  GeseMehte  der  Philosophie. 


B  E  R  L I  !^. 

Druck  und  Verlag  von  Leonhard  Simioa  JNf. 

1918. 


Archiv 


tijr 


Geschichte  der  Philosophie 


JaeraxiegegebeD 


TOD 


L  u  d  w  i  s    Stein. 


.XXIX.  Band. 
Neue   Folge 
XXI¥ 


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BERLIN. 
Druck  und  Verlag  von  Leonhard  Simion  Nf, 

1918. 


6dl.  s 


Inhalt. 


Seite 

I.   Zur  Entstehungsgeschichte  der  Lehre  Spinozas  vom  Amor 
Dei    lütellectualis.     Von  Prof.  Dr.  Adolf  Dyroff,   Bonn        1 
IL   Über  die  Bedeutung    der   gegenwärtigen  Zeit  als  Wende- 
punkt in   der   Geschichte   der  Menschheit.    Von  Rudolf 

Tönnis,  Berlin-Dortmund 29 

in.   Zum  Problem    der   Gegenstandssetzung    der  Philosophie- 
geschichte.   Von  Dr.  David  Einhorn,  Wien 44 

IV.   Babylonische    Astrologen  ausdrücke    bei    Demokrit.     Von 

Dr.  Robert  Eisler,  Feldaiing   .    .    .    ., 52 

V.   Ein  Beitrag  zum  heraklitisch-parmenideischen  Erkenntnis- 
problem.   Von  Dr.  Emanuel  Loew,  Wien 63 

VI.   Vedantismus    und   Unsterblichkeit.     Von   Prof.  Dr.  Paul 

Schwartzkopff,  Wernigerode ,    .      91 

VII.   Ein  Beitrag  zum  heraklitisch-parmenideischen  Erkenntnis- 
problem.   Von  Dr.  Emanuel  L.pew,  Wien  (Schluß)     .    .     125 
Vm.   Schopenhauer-Kritik.    Von  Dr.  ErnstBarthel     .    .    .    .    155 
IX.   Zu  Demokrits  Wanderjahren.     Von  Dr.  Robert  Eisler, 

Feldafmg ^.    .    187 

X.   Zeit-  und  Streitfragen  der  modernen  Xenophanesforschung. 

Von  Dr.  David  Einhorn 212 

Rezensionen 55    106    161     231 


Archiv  für  Philosophie. 

I.  Abteilung: 

Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie, 

Neue  Folge.     XXIV.  Band,   1.  Heft. 


I. 

Zur  Entstehungsgeschichte  der  Lehre  Spinozas 
vom  Amor  Dei  intellectualis. 

Von 

t 

Prof.  Dr.  Adolf  Dyroff  (Bonn). 

Wie  bei  dem  holländischen  Denker  die  Metaphysik  der  Welt- 
snhstanz  die  breite,  weitausladende  Grundmauer  des  Lehrgebäudes 
darstellt,  so  wird  dieses  von  dem  resigniert-anmutigen  Theorem  des 
Amor  Dei  intellectuahs  als  wunderbarer  Bela-önung  überdeckt.  Dies 
Verhältnis  und  die  überragende  Wichtigkeit  des  ethischen  Begriffs 
zu  erkennen,  genügt  es,  den  Titel  des  abschließenden  Werkes  und  die 
Entwicklung  des  Philosophen  mit  raschem  Bhcke  zu  überschauen. 

Von  verschiedenen  Seiten  ist  jedoch  darauf  hingewiesen  worden, 
wie  wenig  sich  der  Begriff  der  „Liebe"  innerlich  in  die  scheinbar  so 
straff  gezogene  Gedankenkette  fügt.  C.  Lülmanni)  erblickt  zwei 
Gedankenströmungen  in  der  Ethik,  einen  'individualistisch-mystischen 
Ideenki-eis  und  eine  rational- wissenschaftliche  Richtung,  die  sich 
nicht  zwanglos  vereinigen  lassen,  und  fordert  deshalb  eine  Spezial- 
untersuchung über  den  Zusammenhang  des  Pseudokartesianers  mit 
dem  Christentum,  der  mittelalterlichen  Mystik,  der  Kabbala,  der 
jüdischen  Philosophie,  Giordano  Bruno  u.  a.  Ewald  Matthes^) 
erklärt  schlankweg  die  Lehi-e  von  der  intellektuellen  Liebe,  mit  der 
Gott  sich  selber  hebt,  für  in  sich  unhaltbar,  da  Gottes  Wesen  Verstand 


^)  Über  den  Begriff  des  amor  dei  intellectualis  bei  Spinoza,  Jena  1884, 
Diss.  (s.  besonders  8.  36  ff.). 

")  Die  Unsterblichkeitslehre  des  Benediktus  Spinoza.    Heidelberg  1892, 

Diss.,  S.  51,  2. 

1* 


2  Adolf   Dyroff, 

und  AVille  von  sich  ausschließe  und  somit  weder  ein  intcllcktiielles 
Verhältnis  zu  sich  selbst  gewinnen  noch  einen  Affekt  wie  die  Liebe 
zu  sich  zustande  bringen  könne;  außerdem  sei  der  Gott  Spinozas 
unpersönlich,  also  selbstlos  und  könne  sich  nicht  zu  sich  in  Beziehung 
setzen.  Clemens  Baeumker^)  zählt  die  Gottesliebe  unter  den  Teilen 
des  Systems  auf,  die  die  sonst  darin  herrschende  niederdrückende 
mechanische  Weltansicht  durchbrechen. 

Aber  vor  das  Unternehmen,  die  Kluft  mit  dem  Geranke  wuchern- 
der geschichtlicher  Einflüsse  und  dadurch  bedingter  Strömungen  zu 
schließen,  stellt  B.  Erdmann*)  in  einer  seiner  lehrreichen,  tiefgehenden 
Üljersichten  über  den  Stand  gewisser  Probleme  eine  entschiedene 
Warnung;  die  religiöse  Grundstimmung  der  Ethik  Spinozas  und 
selbst  des  kurzen  Traktats  reiche  aus,  alle  die  Wendungen  verständ- 
lich zu  machen,  die  an  neuplatonische  (und  christliche)  Ätystik  er- 
innern. Da  der  Warner  einer  der  besten  Kenner  Spinozas  und  der 
Geschichte  des  Spinozismus  ist,  könnte  das  Überhören  s.einer  Stimme 
beinahe  wie  Vermessenheit  aussehen.  Indes  durch  v.  Dunin-Bor- 
kowskis  Buch  „Der  junge  Spinoza"^)  sind  inzwischen  wohlgebahnte 
und  gruudfeste  Wege  entstanden,  auf  denen  man  noch  sicherer  als 
auf  den  wohlausgebauten  Pfaden  J.  Freudenthals  zur  Lösung  emer 
Frage  voranschreiten  darf,  die  Erdmann  offenbar  selbst  als  zulässig 
voraussetzt,  der  Frage:  Wie  ist  Spinoza  zu  seiner  religiösen  Stimmung 
gekommen? 

So  beachtenswert  die  sachlichen  Übereinstinnnungen  zwischen 
Spinozas  Philosophie  und  der  jüdischen  Theologie  auch  sind,  so  un- 
zweifelhaft ist  es  nach  dem,  was  die  neueren  Aufhellungen  seiner 
imieren  und  äußeren  Entwicklung  ergaben,  daß  in  dem  jungen  Spinoza 
etwas  lebte,  was  dem  Wesen  der  jüdischeji  Gottsucher  fremd,  ja  zu- 
wider war.  Die  billige  Auskunft,  das  Verhalten  der  synagogischen 
Gegner  des  „Abtrünnigen"  in  romanhafter  Weise  auf  quietistische 
Starrheit  und  Besclu-änktheit  zurückzufülu-en,  dürfte  einem  ernsten 
wissenschaftlichen  Geschmacke  wenig  zusagen.  Kaum  auch  ist  wei- 
terer Zweifel  daran  erlaubt,  daß  Spinoza,  indem  er  sich  innerlich  zu 


2)  „Staatslexikon"  3.  u.  4.  Aufl.  IV  s.  v.  Spinoza. 

* )  Genethliakon.    Carl  Robert  zum  8.  März  1910  S.  244  f. 

•)  Auch  durch  das  tüchtige  von  AI.  Riehl  angeregte  Buch  von  Gust. 
Theod.  Richter,  Spinozas  philos.  Terminologie.  Leipzig  1913  (Vorwort  und 
Richter  selbst  S.  103  ff.). 


Zur  Entstehiingsgescli.  d.  Lehi-e  Spinozas  v,  Amor  Dei  intellectualis.        3 

chistlichi'ii  Kreisen  hingezogen  fühlte,  notwendig  GemütsehifUit^se 
von  dort  her  empfing.  Der  Spinoza,  der  die  ,, Ethik"  vorbereitete, 
war  noch  nicht  der  Spinoza,  der  mit  Tschirnhaus,  Oldenburg,  Huyghens 
wie  ein  geistiger  Souverän  verkehrte  und  sich  imierlich  abschloß. 

So  bleibt  nur  die  Feststellmig  der  Punkte  und  der  Grenzen, 
bis  zu  denen  die  feinen  von  außen  kommenden  Fäden  in  sein  System 
einlaufen.  Die  Aufgabe  ist  im  Kerne  freilich  nicht  reinhch  lösbar. 
Doch  gibt  es  Mittel,  sie  der  Lösung  näher  zu  führen. 

Eben  der  Begriff  des  Amor  intellectualis  soll  uns  dazu  dienen, 
einen  der  Zugänge  zu  zeigen.^) 

Vergleicht  man  den  platonischen  Erosgedanken  mit  dem  Spinozas, 
so  läßt  sich  eine  wahrhaft  tiefliegende  Gleichheit  bei  aller  Verschieden- 
heit der  Ableitung  und  Einkleidung  nicht  verkennen.  Das  einzelne 
Ding,  die  flüchtige  Erscheinung  soll  für  den  Weisen  der  Ausgangs- 
punkt eines  Aufblicks  zum  Unendlichen,  Ewigen  werden.  Ehe  man 
sich  aber  daran  macht,  nun  die  Verbindungslinie  zwischen  Piaton 
und  Spinoza  an  der  Hand  der  reichen  Erosphilosophie  auszuziehen, 
die  zwischen  beiden  steht,  gilt  es  für  Spinoza,  die  durchaus  nicht 
zutage  liegenden  Verbindungsadem  aufzudecken.  Auf  eine  der- 
selben') kann  der  immer  sonderbar  bleibende  Ausdruck  „sub  specie 
aeternitatis"  hinleiten.  Die  ältere  Übersetzung  „unter  dem  Gesichts- 
punkt der  Ewigkeit"  (z.  B.  Alfr.  Wenzel,  Die  Weltanschauung  Spi- 
nozas, 1907,  S.  148;  Anna  Tumarkin,  Spinoza,  1908,  S.  85)  ist  von 
Otto  Baensch^)  mit  Recht  abgelehnt  worden.  Seiner  Bemerkung, 
daß  ,,specierf"  bei  Spinoza  sonst  nicht  im  Sinne  von  „Gesichtspiyikt" 
vorkomme  und  „unter  dem  Gesichtspunkte"  sub  ratione  heiße,  läßt 
sich  beifügen,  daß  der  Ausdruck  „unter  einem  gewissen  Gesichts- 
punkt der  Ewigkeit"  (sub  quadam  aeternitatis  specie)  siimlos  wäre; 
der  Gesichtspunkt  der  Ewigkeit  ist  denn  doch  ein  ganz  bestinmiter. 
Jedoch  so  wertvoll  die  Analogie  ist,  die  Baensch  für  „species  aeterni- 
tatis" beibringt,  so  undeutsch  ist  seine  Wendung  „unter  einer  ge- 


•)  Die  AbhancUung  (E.)  Milarchs,  „Über  J.  Boehme  als  Begründer  der 
neueren  Religionsphilosophie",  I,  Neustrelitz  1853,  Gymn.-Progr.,  auf  die  ich 
erst  ganz  nach  Abschluß  dieses  Aufsatzes  stoße,  hat  mir  einiges  vorwegge- 
nommen, indes  ohne  genauere  Nachweise. 

')  Die  Dialoghi  di  amore  des  Leon  Hebraeus,  die  Sp.  in  seiner  Biblio- 
thek hatte  (J.  Freudenthal,  Spinoza  S.  209),  bleiben  hier  beiseite. 

8)  Übersetzung  der  „Ethik".     Leipzig  1905  S.  282. 


4  Adolf   Dyroff, 

wissen  Art  der  Ewigkeit".  Was  soll  man  sich  eigentlich  dabei  denken? 
Wo  sind  die  andern  Ai-ten  der  Ewigkeit?  Und  ist  „Form",  das  Baensch 
ebenfalls  zurückweist,  von  „Art"  denn  so  wesentlich  verschieden? 
Die  Schwierigkeit,  aus  der  uns  sonach  auch  Baensch  nicht  befreit, 
wird  beseitigt,  wemi  es  gelingt,  Arten  der  Ewigkeit  aufzuweisen. 
Bei  Spinoza  selbst  kann  davon  im  Ernste  nicht  die  Eede  sein.  Wohl 
aber  konnte  er  eine  in  Holland  zu  seiner  Zeit  weitverbreitete  und 
mächtige  Lehre  von  „verschiedenen  Gestalten  der  Ewigkeit"  kennen: 
Jak.  Böhme,^)  der  deutsche  Mystiker,  hatte  in  seinen  Antworten  auf 
Dr.  Balthasar  Walters  „Viertzig  Fragen  von  der  Seelen  Verstand, 
Essentz,  Wesen,  Natur  und  Eigenschaft,  was  sie  von  Ewigkeit  zu 
Ewigkeit  sey"  (1620)1^)  zehn  Gestalten  am  „Feuer"  "unterschieden, 
die  alle  am  Willen  erbohren  werden  (S.  7).  In  seiner  la^einiochen 
Übersetzung  dieses  Buchs  unter  dem  Titel  „Psychologia  vera  J.  B.  T. 
(d.  h.  Jac.  Boehmii  Teutonici)  XL  quaestioi'ibus  explicata  et  rerum 
publicarum  vero  regimini  ac  eaium  maiestatico  iuri  apphcata"  vom 
Jahre  1631  (veröffenthcht  zu  Amsterdam  im  Geburtsjahre  Spinozas 
1632)  gibt  der  damals  zu  Leyden  lebende  lutherische  Mystiker  Joh. 
Evangelius  Werdenhagen  (1581— 1652)ii)  das  deutsche  „Gestalt" 

®)  Ein  mir  ganz  allgemeiner  Hinweis  auf  ihn  ohne  Beweisversuch  bei 
Milarch  a.  a.  0.  S.  8,  wo  aber  andere  Werke  Boehmes  verwendet  sind. 

^•^)  Die  deutsche  Urfassung  war  wohl  auch  in  Holland  vielbegehrt. 
Sonst  wäre  sie  nicht  1682  in  Amsterdam  neu  herausgekommen  (diese  Ausgabe 
benutze  ich  hier).  Boehmes  Verständnis  setzt  schon  wegen  des  wichtigen 
Sjanbols  „Auge"  (bei  der  dritten  und  sechsten  Gestalt)  einige  Kenntnis  des 
Deutschen  voraus.  Der  lateinische  Übersetzer  schaltet  nicht  selten  deutsche 
Ausdrücke  hinter  den  lateinischen  Termini  ein,  wie  dies  ja  auch  van  Helmont 
öfter  tut. 

^^)  Auch  Werdenhagens  Übersetzung  scheint  zum  Inventar  einer  mysti- 
schen Bibliothek  gehört  zu  haben.  Ich  habe  ein  Exemplar  vor  mir,  das  sich 
neben  andern  Mystika  (Pordage  usw.)  offenbar  seit  alters  in  dem  Bücher- 
schatze des  Creschlechtes  der  Grafen  von  Görtz-Wrisberg  befand.  —  Über 
Werdenhagen  s.  Henke-Mirbt  in  der  Hauckschen  Realenzyklopädie  und 
Zimmermann  in  der  „Allgemeinen  deutschen  Biographie".  Beide  Artikel 
lassen  aber  weder  den  Juristen  und  Staatspolitiker  noch  den  Hvimanisten 
Werdenhagen  zur  nötigen  Geltung  kommen.  Der  Staatspolitiker  verdiente 
eine  eigene  Abhandlung,  auch  im  Hinblick  auf  die  Geschichte  der  hollän- 
dischen Staatstheorien  (W.  fühlt  sich  im  übrigen  als  Deutscher  Dedic.  ii.  S.  1). 
Über  den  Humanisten  hier  nur  einige  Verweise.  Gewiß  ist  für  W.  die  Wahr- 
heit Gottes  und  eine  innige  Jesiis-Erömmigkeit  das  Höchste;  gewiß  defor- 
mierte nach  ihm  ihre  Einkerkening  in  fleischlichen  Intellekt  imd  logikalische 


Zur  Entsteliungsgesch.  d.  Lehre  Spinozas  v.  Amor  Dei  intellectualis.        5 

Boehmes  mit  „species"  wieder.^^)  Es  folgen  die  Eiiizelbeschi'eibiingen 
der  „zehn  Gestalten",  und  da  ist  es  auffallend,  daß,  während  Boehme 
selbst  in  den  Überschriften  nur  sagt:  „Erste  Gestalt"  usw.  oder 
„Die  fünfte  Gestalt  des  Fewers  im  Ewigeu  Willen",  niemals  aber 
„Die  ...  Gestalt  der  Ewigkeit",  Werdenhagen  bei  den  ersten  vier 
Gestalten  ah  Üljerschi-iften  wählt:  ,  Prima,  secunda,  tertia,  quarta 
species  aeternitatis".  Die  vier  ersten  Gestalten  sind  Gott  und  die 
drei  göttlichen  Personen.  Von  der  fünften  Gestalt  ab  setzt  Werden- 
hagen: „species  ignis"  (so  bei  der  fünften),  „sp.  ignis  in  aeternitate" 
(6.  u.  8.),  „sp.  ignis  aeternitatis"  (7.  vgl.  auch  S.  147  bei  6.),  „sp.  aeterni- 
tatis ignis"  (9.U.10.)  mit  oder  ohne  weiteren  Zusatz  ir  die  Überschrift. 
Sonach  ist  kein  Zweifel,  daß  in  den  Kreisen  der  holländischen 
„Boehmisten"  viel  von  den  „species  aeternitatis"  die  Rede  war. 
Würde  man  gar  annehmen,  daß  Werdenhagens  Büchelchen  eines  der 
Hilfsmittel  war,  durch  die  sich  Spinoza  ins  Lateinische  hiaeinlas,^^) 


Gesetze  der  Vernunft  (ratio)  die  Wahrheit;  gewiß  ist  seine  Psychologie  religiös 
mystisch,  seine  Staatslehre  die  eines  Christen.  Aber  sein  Haß  richtet  sich 
vor  allem  gegen  den  „teuflischen  Sophisten"  Aristoteles  (s.  z.  B.  10,  21,  25) 
und  gegen  Thomas  (s.  aber  S.  414  ff.)  mehr  als  gegen  die  Humanisten.  Er 
zieht  Piaton  und  die  Stoiker  dem  Aristoteles  vor  (S.  9),  schätzt  Bodin  (s.  auch 
»S.  1),  dem  er  ein  bekanntes  Werk  widmete,  Franz  Pico  von  Mirandula,  Simon 
Portius  (44),  Matth.  Vegius,  besonders  Agrippa  von  Nettesheim  (44  ff.,  47  ff., 
482  ff.)  u.  a.  Cicero  (27).  Seneca  (6  ff.),  Plutarch  (44)  sind  ihm  nicht  unbe- 
kannt. Doch  schätzt  er  sogar  Scholastiker  (Gerson  414  ff.).  Hugo  v.  St.  Viktor 
(32),  die  Theologia  Germanica  (32),  Thomas  a  Kempis  (35)  stehen  seinem 
Herzen  natürlich  näher.  Von  den  neueren  Protestanten  nennt  er  Gerhard, 
Arnd,  Keckermaim,  Scheibler  (44  u.  ä.).  Seine  Wut  gegen  einen  pseudo- 
lutheranischen  inversor  der  wahren  Lehre  (553)  bricht  auch  hier  durch.  Be- 
achtenswert ist  S.  542  ff.  eine  kurze  Geschichte  der  Mystik,  die  die  Wirksam- 
keit Boehmes  (um  1619)  bezeugt. 

^*)  So  auch  S.  243  quatuor  (falsch  statt  quarta)  species  originis  in  natura. 
240:  4  species  naturae.  Vgl.  Aurora  ed.  Schieblei  (II)  S.  158  ff.  Von 
der   Genaden-Wahl.     Amsterdam   1682   S.  24  ff. 

^3)  Über  van  Endens  Beziehung  zur  Mystik  s.  Freudenthal,  Spinoza 
S.  45 f.  —  v.  Dunin-Borkowski,  Der  junge  Spinoza  S.  445  hält  die  Lek- 
türe des  Büchleins  durch  Sp.  wenigstens  für  möglich,  wenn  er  auch  die  An- 
nahme solcher  Lektüre  für  nicht  zwingend  ansieht.  —  Einzehie  Züge  des 
.schlechten  Lateins  bei  Sp.  finden  sich  auch  bei  Werdenhagen,  so  „quod" 
nach  Verben  der  Aussage  u.  ä.  (über  Sp.  s.  Freudenthal  S.  214).  ,,Tamquam" 
=  „als"  (Freudenthal  ebd.)  verdient  besondere  Hervorhebung.  Es  scheint 
in  der  ersten  Hälfte  des  17.  Jahrb.  (wie  in  der  silbernen  Latinität)  noch  gang 


6  Adolf   Dyroff, 

SO  wäre  der  mi  Frage  stehende  Ausdruck  als  ein  Überbleibsel  des 
Jargons  seiner  ersten  Übergangs] ahre  anzusehen.  Bedenlrt  man,  daß 
der  Holländer  nicht  das  näher  liegende,  lateinisch  bessere  „aeterni"  ge- 
braucht, so  wird  es  noch  wahi'scheinhcher,  daß  er  auf  die  Spezies- 
lehre der  Boehniisten^^)  zum  mindesten  anspielen  wollte.  Sicher 
aber  ist  nun,  daß  die  zutreffende  deutsche  Übersetzung  seines  ,,spe- 
cies"  nur  „Gestalt"  sein  kann. 

■  Was  beabsichtigte  aber  Spinoza  mit  der  Anspielung  ?  Es  wider- 
spricht dem  geometrischen  Verfahren  eine  derartige  Aus  drucks  weise 
ohne  Frage. ^^)  Vielleicht  würde  er  bei  letzter  Ausfeilung  seines  Lebens- 
werkes den  bei  ihm  nur  spärlich  vorkommenden  Ausdruck  geändert 
haben.  Aber  auch  weim  wir  das  annehmen,  so  ist  das  Wort  doch 
ein  Zeuge  des  Zusammenhangs,  in  dem  Spinoza  einmal  mit  der  Mystik 


und  gäbe  gewesen  zu  sein.  So  verwendet  es  Becanus;  so  Weidenhagen,  dieser 
z,  B.  S.  80  tanquam  aeternam  libertatem  (Boehme  „als").  S.  91  tanquam 
proprietati.  92  tanquam  fratrem  (nicht  etwa  —  „wie").  111,  112  (=  tanquam 
alia  aqua  =  weil  es  wirklich  ein  anderes  Wasser  ist);  übrigens  auch  Spinoza 
offensichtlich  selbst,  z.B.  III  def.  äff.  24  expl.  prop.  30;  V  prop.  31,  32,  33 
schol.).  ,, Gleichsam  als  ob"  heißt  in  der  Zeit  qiiasi  (z.  B.  Werdenhagen  S.  83, 
93)  oder  veluti  (81),  instar  (S.  80).  Demnach  bestätigt  sich,  Avas  die  apriorische 
Erwägung  besagt  (um  von  zwingenden  Deduktionen  aus  andern  Stellen  wie 
II  prop.  8,  48  zu  schweigen),  daß  nämlich  Spinoza  in  einer  geometrisch  ge- 
meinten Definition,  die  zugleich  die  (reale)  Genesis  der  definierten  Sache  aus- 
drücken sollte,  kein  , .gleichsam"  einfühi-en  konnte.  Man  beachte  bei  Werden- 
hagen auch  i^orma  S.  91,  plenitudo  S.  135.  exprimunt  S.  85,  expressio  S.  85, 
unusquisque  usw.  bei  W.  oft  genug.  —  Anderes  im  folgenden. 

^*)  Aeternitas  begegnet  überaus  häufig  bei  Werdenhagen;  Boehmes 
„Art"    heißt    bei  W.   „modus";    vgl.  auch   S.  240  ad   modum  aeternitatis. 

^*)  Ungeometrischei  Schmuck  begegnet  in  der  ,, Ethik"  öfter.  Dahin 
gehört  die  ausdrückliche  Gleichsetzung  seiner  „Liebe"  mit  dem  Ruhm  der 
Hl.  Schrift  (V  prop.  36  Anmerkung),  dahin  das  mens  sana  in  corpore 
sano,  das  omnia  praeclara  rara  (Ethik  V  Schluß),  dahin  das  'umbiegende 
Zitat  aus  Ovid  Amor  II  19  (III  prop.  31  coroll.),  dem  Baensch,  weil 
er  sich  auf  das  Zitat  kniet,  statt  es,  wie  sich  gebührt,  leicht  zu  nehmen, 
nicht  nachkommen  kami  (von  solch  umbiegender  VerA^endung  sprich- 
wortartig genommener  Verse  bietet  die  Literatm-  der  Jahrtausende  genug 
Beispiele.  Spinoza  legt  im  ersten  Vers  auf  „pariter"  den  Nachdruck:  „Als 
Liebende  laßt  uns  (alle)  in  gleicher  Weise  hoffen  und  alle  in  gleicher  Weise 
(wie  jeder  andere  Mensch)  fürchten".  Das  ist,  wie  „unde"  zeigt,  wieder  eine 
Folgerung  aus  dem  vorgehenden  Prosasatze);  dahin  das  freie  Zitat  aus  Tacitus 
Annales  I  29  (s.  Baensch  S.  287). 


Zxu-  Entsteliungsgesch.  d.  Lehre  Spinozas  v.  Amor  Dei  intellectiialis.         7 

Jak.  Boehmes  stand,  desocn  Namen  er  nicht  eijinial  keiuien  inutite, 
da  Werdenhagen  immer  nur  „J.  B.  Teut."  drucken  ließ.  Müglici  er- 
weise aber  wollte  Spinoza  durch  den  Ausdruck  den  holländischen 
Mystikern  zu  verstehen  geben,  daß  er  eine  ebenso  erhebende  und  doch 
viel  rationellere  Gcheinüehre  besitze  als  jene.  Der  Gegensatz  zwischen 
,,sub  specie  aeteriiitatis"  und  „sub  duratione"  spricht  sicher  nicht 
gegen  unsere  Deutung,  eher  dafür.  Baensch  fragt  selbst:  ,, "Warum 
sagt  Spinoza  nicht  ,sub  aeternitate"'?  Seine  AntAvort  auf  die  Frage 
leuchtet  mir  keineswegs  ein.  Eben  der  A^achweis  Baenschs,  daß 
Spinoza  auch  sagte:  „unter  derselben  Art  der  Notwendigkeit"  zeigt, 
daß  „sub  specie  quadam  aeternitatis"  ein  nicht  genauer  Ausdruck 
ist,  und  II  Lehrs.  44,  2.  Folges.  S.  86  (bei  Baensch)  schreibt  Spinoza 
der  Vernunft  als  die  einzig  natürliche  Betrachtung'swe^se  die  zu,  d'e 
Dinge  „unter  dieser  Art  der  Ewigkeit"  anzusehen,  d.h.  die  Not- 
wendigkeit der  Dinge  einzusehen,  und  zwar  als  Notwendigkeit  der 
ewigen  Natur  Gottes  selbst.  Negativ  wird  mit  Rücksicht  auf  die 
begriffhche  und  somit  der  Wesenheit  der  Einzeldinge  entgegengesetzte 
Natur  der  Vernunft  der  Charakter  jener  Betrachtungsweise  durch 
die  Abwesenheit  jeder  Beziehung  auf  die  Zeit  bestimmt. 

Konnten  denn  aber  die  abstrusen  Gedankengcänge  Boehmes 
einen  so  nüchtern  denkenden  Geist  wie  den  Spinozas  fessehi  und  ihn 
etwas  lehren?  Die  Frage  wäi'e  schief  gestellt.  Denn  wir  wissen  iiicht 
genau,  seit  wann  Spinoza  dem  mechanistischen  Rationahsmus  hui- 
digte,  der  doch  wohl  unter  Descartes',  Hobbes'  und  der  neueren 
Naturwissenschaft  Einfluß  seine  Ethik  durchwaltct.  Alle  aUgemeine 
Analogie  uiid  die  festen  Tatsachen  seiner  Jugendentwicklung  deuten 
darauf  hin,  daß  die  rationalistische  Schale  erst  über  die  ältere  reli- 
giöse Schicht  seines  Denkens  herA\iichs.  .Den  Erfahrungsbeweis  aber, 
daß  Boehme  junge  hochbegabte,  rehgiös  glühende  Gemüter  packen 
konnte,  muß  man  nicht  erst  erbringen. 

Nur  für  die  Boehmeschen  spccies  aeternitatis  ist  noch  auszu- 
führen, daß  ihnen  ein  tieferer  Gehalt  imiewohnte. 

Aus  der  Vernunft  weiß  man,  erklärt  der  Mystiker, ^^j  daß  alle 
Dinge  aus  der  Ewigkeit  entsprungen  sind.  Und  wenn  wü-  auch  nicht 
sagen  können,  die  lautere  Gottheit  sei  Natur,  so  müssen  wir  doch 


^•)  Viertzig  Fragen  S.  6.      Boehme  bezieht  sich,  fortwährend  auf  da* 
dritte  (und  vierte)  Buch  seiner  früheren  Schriften. 


S  Adolf   Dyroff, 

sagen,  daß  Gott  in  der  Natur  sei.^')  Da  aber  dort  kein  Wille,  auch 
kein  Begehren  ist,  so  folgt:  Die  Natur  ist  in  Gottes  Willen  „erbohren" 
und  eine  „Sucht  aus  der  Ewigkeit".  Der  ewige  Wille  in  Gott  ist  er 
selber;  der  Wille  zu  gebären,  erzeugt  den  Sohn  oder  sehi  Herz,  und 
ebenso  den  Geist,  oder  die  „Rügung"  (concitatio),  und  zwar  letzteren 
aus  dem  Willen  des  Herzens.  So  stehet  die  Ewigkeit  in  drei  ewigen 
Gestalten,  „Personen"  genannt. 

Aber  es  besteht  nicht  allein  Licht  und  Majestät,  sondern  wie  die 
Erfalirung  zeigt,  analog  wie  beim  Auge,  Finsternis.  Abgesehen  von 
dem  (ersten)  Willen  und  der  ,, Natur",  ist  keine  Finsternis  möglich, 
da  nichts  ist,  „das  die  giel)et".  Sobald  wir  aber  den  Willen' betrachten 
und  damit  das  Begehren,  ohne  das  der  (erste)  Wille  nichts  wäre  als 
eine  ewige  Stille  ohne  We.>en,  verstehen  wü-,  wovon  die  Finsternis 
„urstände".  Denn  das  Begehren  ist  anziehend,  und  da  es  in  der 
Ewigkeit  nichts  hat  als  sich  selbst,  so  machet  es  den  Willen  voll  und 
das  ist  seine  Finsternis. 

Licht  und  Finsternis  smd  ineinander.  Denn  das  Licht,  d.  h.  die 
ewige  Freiheit,  kann  die  Finsternis  nicht  Verseilungen,  weil  das  Ewige 
sich  nicht  ändern  kann.  Auch  die  aus  der  (ursprünglichen)  ,, stillen 
Freiheit"  infolge  des  „Begehrens"  und  seines  Anziehens  hervor- 
getretene Beweghchkeit  und  „Essentz",  d.  h.  „Rügung"  in  der 
harten  Finsternis  und  die  so  entstandene  Vermengung  von  Licht 
und  Finsternis  in  der  „Schärfe",  führt  nicht  zur  Trennung  im  „freien 
Licht",  obwohl  dieses  durch  die  Rügung  im  Wesen  mitgeschärft 
wird.  Denn  was  ewig  ist,  ist  von  keinem  Anfange  und  hat  kein 
Weichen  auseinander.  Die  an  sich  stille  Freiheit  erscheint  so,  obwohl 
sie  an  sich  weder  finster  noch  licht  ist,  wie  ein  leuchtender  Blitz. 
Äußerlich  ist  das  ewige  Feuer  fmster,  in  sich  hinein  im  Willen  der 
ewigen  Freiheit  ist's  ein  Licht,  das  da  leuchtet  in  der  stillen  Ewigkeit. 

An  diesem  ewigen  Feuer  aber  verstehen  wir  zehn  Gestalten,  die 
alle  im  Willen  erboren  werden  und  alle  des  ewigen  Willens  Eigeatum 
siiul.  Die  Freiheit,  die  den  Willen  hat,  ist  Gott  selber.  Darum  ist 
das  Feuer  Gottes  und  so  ist  es  die  Ewigkeit. 

Die  erste  Gestalt  ist  die  ewige  Freiheit,  die  den  Willen  hat  und 
selber  Wille  ist.     Nuji  hat  ein  jeder  Wille  eine  Sucht,  etwas  zu  tun 

")  Milarch  setzt  S.  12  die  „ewige  Natur"  (vgl.  Psychol.  S.  94  aeterna 
Natura;  der  Ausdruck  auch  bei  Spinoza)  Boehmes  mit  Spinozas  natura  na- 
turans  gleich,  leider  ohne  Beweis. 


Zur  Entstchiingsgesch.  d.  Lehre  Spinozas  v.  Amor  Dei  iiitellectiialij.         9 

oder  zu  bc'geluo]i;  und  in  d''cscni  W-Ucn  schauet  sich  Gott  selbst  in 
die  Ewigkeit  und  begehret  sieh  selber. 

Die  zweite  Gestalt  ist  das  Begehrende,  das  nichts  als  sich  selber 
hat.    Deshalb  entsteht  eine  Finsternis  im  Willen. 

Die  dritte  Gestalt  entsteht  aus  dem  scharfen  und  ziehenden 
Begehren  als  ehie  „Rügung"  in  sich  selber;  das  ist  der  Urständ  der 
Essenzien  usw. 

Dieser  Auszug  des  Anfangs  der  „wahren  Psychologie"  kann  uns 
vorläufig  genügen.  Er  läßt  erkennen,  wie  Boehme  za  seinem  Begriff 
der  „Gestalt^'  kam.  Er  will  erklären,  wie  das  ursprünglich  leere 
üreine,!«)  die  reine  Ewigkeit,  sich  zu  verschiedenen  Sein.^offen- 
barungen  vcrbesondert  „Gestalten"  sind  ihm  nichts  anderes  als 
ü-gendwie  intuitiv  faßbare  Darstellungen  des  in  sich  nnfaßlichen 
Ewigen  Gerade  ein  derartiges  Erfassen  der  Ewigkeit  durch  Intuition 
meint  auch  Spinoza,  wenn  er  von  der  geistigen  Liebe  des  Menschen 
zu  Gott  spricht.  Der  Gleichheit  des  Wortes  entspricht  demnach  doch 
auch  bis  zu  einer  gewissen  Grenze  eine  Analogie  der  Sachen.  Dadurch 
erhalten  wir  aber  sofort  das  Recht,  nach  weiteren  sachlichen  Be- 
rührungen zwischen  Spinoza  und  Boehme  zu  fragen. 

So  dürfen  wir  jedes  ängstliche  Verbot  in  den  Wind  schlagen, 
das  uns  etwa  unter  Hinweis  auf  Leo  Hebraeus  verwehren  wollte, 
auch  in  Boehme  wenigstens  einen  Förderer  der  Liebestheorie  Spinozas 
zu  erblicken.  Li  der  Tat  entbehrt  der  deutsche  Mystiker  den  Aus- 
druck „amor"  in  einem  metaphysisch-transzendenten  Sinne  nicht. 
Wemi  er  den  „amor  intellectuali.."  nicht  geradezu  nennt,  so  wissen 
wir  durch  Spinoza  selbst,  daß  dieser  erst  den  Terminus  einführte 
(V  prop.  32  coroll.,  vgl.  prop.  35  demonstr.)!^).  Die  Sache  aber  hat 
Boehme  schon. 

Er  unterscheidet  ^o)  ein  Licht  (lux),  das  im  Feuer  wohnt,  und 
das  Licht,  das  gleichsam  in  der  andern  Welt  wird.  Daher  kommt 
ein  ajideres  Feuer,  das  „Amor"  genannt  wnd,  Ki-aft,  Wunder,  Süße, 
Milde  (hberalitas),  Reinheit.   Es  ist  keine  Substanz,  auch  keine  Natur, 


!•)  In  sich  geeint  (in  sesc  unitus),  ist  das  ewige  Feuer  ein  gewisses  Licht 
(lux  quaedam),  d.h.  innerlich  (S.  81). 

")  Offenbar    im    Anschluß    an    den   scholastischen   amor    intellectivus 
nd  intellectuatis  (Thomas). 
^'')  Psych.  S.  114  ff. 


10  Adolf   Dyroff, 

sondern  außer  der  Natur 2^)  in  einem  andern  Prinzip.  Es  ist  nichts 
anderes  als  eine  Majestät  der  lichten  flammenden  Macht  und  hat 
seinen  eigenen  Geist,  der  bewirkt,  daß  „das  sinkende  Leben  durch  den 
Tod  gewiimt".  Dieser  ist  ein  Fülu'er  der  Essenz  der  Liebe^^)  in  der 
begehrenden  lü'aft  und  ein  Eröffner  der  Essenzien  der  Liebe.  Die 
Liebe  verzehi't  nichts,  "sondern  begehi't  nur  immer  und  erfüllt. 

Kurz  und  bündig  ist  zur  47.  Frage  diese  Liebestheorie  zusammen- 
gefaßt^^): Das  Feuer  hat  in  sich  des  Feuers  Qual.  Aber  derWiUe  sinket 
in  der  Angst  in  Tod  ein  und  grünet  in  der  Freiheit  wieder  aus,  und 
das  ist  das  Licht  mit  Feuersqual.  Aber  es  hält  nun  ein  ander  Prin- 
cipium  iime,  „dem  die  Angst  ist  Liebe  worden"  (anxietas"  in  amoreni 
transmutata). 

Wer  in  seinem  Willen,  heißt  es  weiter,^*)  noch  etwas  reines  von  der 
Liebe  ergriffen  hat,  als  mancher,  der  sich  doch  letztlich  vor  seinem 
Ende  bekehret,  der  ersinkt  doch  also  in  sich  selber  durch  die  Angst; 
denn  das  demütige  Fünklein  (scintiUa)  geht  unter  sich  durch  den 
Tod  ins  Leben,  da  ja  der  Seelen  Qual  ein  Ende  nimmt.  Aber  es  ist 
ein  kleines  Zweiglein  grünend  in  Gottes  Eeich. 

Der  Seelen  Verklärung  aber  unter  dieser  Zeit  ist,  wann  sie  an  die 
künftige  Freude  gedenken;  so  gehet  der  Geist  in  die  Majestät  Gottes 
ein;  davon  haben  sie  Freude  (laetitia)  und  Klarheit.  Es  ist  gar  eine 
süße  magische  Paradies-Freude  in  ihnen.  Aber  das  Paradies  ist  in 
ihnen  noch  nicht  rege  mit  gantzer  VoUkonmienheit.  Alsdann  ist  eine 
Hütte  (tabernaculum)  Gottes  bei  den  Menschen  (S.  122  deutsch, 
288  lat.).  — 

Sachlich  ist  der  amor  inteUectuahs  vielleicht  am  genauesten  in 
dem  „summum  Mysterium"  Boehmes  euthalten^^):  „Jehovah  ist  in 
sich  ein  Geist.  Für  ihn  ist  kein  Ort  erfunden.  Nichts  ist  ihm  ähnlich. 
Der  Geist  Gott  ist  in  ihm  alles,  weil  er  ein  Wille  ist  im  ewigen  Tsichts 
und  er  ist  doch  in  allem  nur  der  einige  Geist  selbst.  Darum  darf  man 
das  höchste  Geheimnis  nicht  bei  einem  einzelnen  Menschen  (in  me), 
nicht  in  seiner  eigenen  (äußeren)  Vernunft  suchen,  die  wie  toc  seiu 


21)  Aus  dem  deutschen  Boehme  ergänzt. 

22)  Psych.  S.  166. 


23)  Psych.  S.  229. 
2*)  Psych.  S.  242. 

-5)  Psj'ch.  S.  90 ff.;  hier  zusammengezogen  nach  der  lateinischen  Über- 
setzung. 


Zur  Entstehungsgesch.  d.  Ijehre  Spinozas  v.  Amor  Dei  intellectualis.      11 

muß.  sondern  in  Gott  selbst.  AVenn  unser  Wille  in  Gott  begehrend 
ist,  dann  ist  unser  Wille  Gottes  Wille,  dann  ist  Gott  in  uns, 2^)  Das 
Wollen  und  Handeln  und  der  Geist  Gottes  sucht  uns  in  uns  selbst. 
Dann  haben  wir  göttliche  Macht.  Alles,  was  wir  dann  suchen,  haben 
wir  in  ihm,  da  er  selbst  darin  ist.  Wir  sehen  ihn  in  seinem  Lichte 
(lumen)  uiid  sind  ganz  sein  Eigentum. 

In  den  Begxiff  dieser  Liebe  zu  Gott  ist  bei  Boehme,  wie  wir  sahen, 
eingeschlossen,  daß  sie  keine  ganz  vollkommene  Liehe  sein  kann. 
Ebeiiso  kann  das  Begreifen  Gottes  kein  volles  sein,  und  Boehme  be- 
müht sich  in  seinem  ,,philoso])hischen  Globus"  durch  Schema,  Er- 
läuterung und  Bilder  doch  eine  annähernde  Erfassung  unter  einer 
gewissen  Gestalt  der  Ewigkeit  zu  entwerfen.  Mit  ihrer  Hilfe  lernt 
der  Christ  die  Gottheit  von  der  Natur  unterscheiden;  „diese  Figur 
begreift  alles,  was  Cxott  und  die  Ewigkeit  ist"  (S.  29  deutsch,  121  lat.j. 

Das,  was  dazu  aus  Spinozas  Meinungen  stimmt,  ist  so  bekannt, 
daß  es  nicht  besonders  erwähnt  werden  muß.  Man  muß  nur  die  ratio- 
nalistische Knochenschale  seines  Systems  ablösen,  so  vor  allem  die 
Unterscheidung  der  verschiedenen  Erkenntnisgattungen,  den  begriff- 
hchen  Gegensatz  des  Allgemeinen  und  des  Einzelnen,  um  das  innere 
mystische  Mark  des  lebendigen  Gebildes  mit  Händen  zu  greifen. 

Dann  enthüllt  sich  auch,  daß  die  weiteren  Zusammenhänge  bei 
beiden  Denkern  die  gleichen  oder  doch  verwandte  sind. 

Eine  der  psychologisch-ethisch  auszeichnenden  Bestimnnmgen  der 
geistigen  Liebe  ist  ihi'e  Benennung  als  „Ausruhen  des  Geistes"  (anirai, 
acquiescentia),  wie  sie  Eth.  V  prop.  36  schol.  ausgesprochen  und  durch 
eine  Beweisverschränkimg  begründet  ist  (vgl.  HI  äff.  def.  n.  6  S.  175). 
Baensch  übersetzt  den  Ausdruck  acquiescentia  animi  recht  schief 
mit  ,, Zufriedenheit  des  Gemütes",  was  offenbar  zu  wenig  besagt, 
da  der  geistige  Zustand  als  „Freude"  (Laetitia)  bezeichnet  wird. 2") 
Das  Grundwort  acquiescere  geben  Lexika  mit  „geistige  Ruhe,  Hoff- 


-*)  Tunc  Deus  in  be  est  illud  velle  et  agere.  Boehme  selbst  S.  12  ganz 
anders:    ,,so  ist  doch  in  Euch  das  Wollen  und  Tun". 

-')  Der  Zusatz  „Wenn  man  das  Wort  noch  gebrauchen  darf"  bezieht 
sich  auf  die  frühere  Beschreibung  der  „Laetitia",  die  ja  auch  schlecht  und 
hindei'lich  sowie  durch  jedes  beliebige  Ding  verursacht  sein  kann  (s.  Register 
bei  Baensch),  was  alles  für  die  auf  Gott  bezogene  geistige  Liebe  nicht  zu- 
trifft, die  ein  Teil  der  Liebe  Gottes  zu  sich  selbst  ist. 


12  Adolf    Dyioff, 

nung,  Trost,  Vergnügen,  Wohlgefallen  finden"  u.  n.,  was  alles  mehr 
bedeutet  als  bloße    , Zufriedenheit". 

Wie  sollte  Spinoza  ferner  es  fertig  bringen,  den  gleichen  Zustand 
auch  mit  „Gloria"  wiederzugeben?^)  Zwar  meint  er  das  „Gloria" 
der  „heihgen  Urkunden",  aber  er  hat  nun  doch  einmal  aus  den  lateini- 
schen Ausdrücken  gerade  einen  gewählt,  der  em  stark  erhöhtes  Ge- 
fühl der  Befriedigung  bezeichnet,  die  an  sich  schon  mehr  bedeutet 
als  „Zufriedenheit".  Ebendahin  führt  der  Umstand,  daß  der  Gegen- 
satz zu  „Kuhm"  die  „Scham"  (pudor)  sein  soll  (III  prop.  30  schoL). 
,, Hochgefühl"  würde  dem  von  Spinoza  Gememten  wesenthch  näher 
kommen. 

Wir  würden  nach  allem  kaum  fehlgehen,  wenn  wir  in 
„Acquiescentia  animi"  eine  „stille  Freude"  bei  der  beglückten  und 
beglückenden  Betrachtung  des  „Ewigen"  sähen.  Der  Hinweis  auf 
die  Vera  animi  acquiescentia,  die  nicht  von  äußeren  Ursachen  auf 
vielfache  Weisen  agitiert  wii'd,  die  nicht  zu  sein  aufhört,  wejin  das 
„Leiden"  (pa+i)  durch  die  einzig  herrschende  Wollust  aufhört,  die 
kaum  eine  Bewegung  (moveri)  des  Geistes  kennt,  bildet  den  zwar 
nicht  rauschenden,  aber  doch  innerhch  machtvollen  Schlußakkord 
der  gesamten  wissenschafthchen  Anstrengung  Spinozas  (Eth.  V  prop..52 
schol.).  Die  Betrachtung  seiner  selbst  und  seiner  eigenen  Wirlmngs- 
macht  (IIl  def.  äff.  25)  erfährt  in  der  geistigen  Liebe  die  höchste 
mögliche  Steigerung  (V  prop.  27;  vgl.  IV  prop.  52);  eben  darum  fäUt 
liier  die  geistige  Ruhe  mit  dem  Hochgefühl  zusammen,  das  diu-ch 
die  Idee  irgend  einer  Handlung  von  uns  entsteht,  die  wü*  uns  von 


28)  j)n  V  prop.  36  schol.  ein  Amor  unter  Verweis  („nani")  auf  25  und  30 
der  Definitionen  der  Affekte  mit  „Gloria"  gleichgenommen  wird,  amor  aber 
III  prop.  13  schol.  als  laetitia  concomitante  idea  causae  externae  definiert 
wird  (vgl.  V  prop.  33  schol.),  muß  auch  III  prop.  30  schol.  externae  gelesen 
werden;  die  causa  externa  besteht  darin,  daß  wir  von  andern  gelobt  oder 
getadelt  zu  werden  glauben.  Die  explicatio  zu  24  äff.  def.  verfängt  nicht. 
Dort  werden  Affekte  der  Freude  und  Trauer  unterschieden,  die  von  der  Idee 
einer  äußeren  Sache  so  begleitet  werden,  daß  diese  Idee  ihre  causa  per  se  oder 
per  accidens  ist,  und  andere  Affekte,  die  von  der  Idee  einer  inneren  Sache 
als  von  ihrer  Ursache  begleitet  werden.  A"  Prop.  36  schol.  hingegen  ist  von 
der  Idee  die  Rede,  die  wir  von  einer  äußeren  Ursache  haben,  so  daß  hier  die 
äußere  Ursache  den  Inhalt  der  Idee  bildet,  nicht  aber  die  Idee  selbst  Ursache 
ist;  der  Gegensatz  zu  „ad  obiecta  externa"  ist:  „ad  se  ipsum"  („obieotum 
internum"). 


Zur  Entstehungsgesch.  d.  Lehre  Spinozas  v.  Amor  Dei  intellectaalis.      13 

andern  gelobt  vorstelleii.  Selbstbewunderung  Gottes  ist  diese  be- 
ständige und  ewige  Liebe  des  Geistes  (mens)  zu  Gott,  die  aus  der 
„Intuition"  hervorwächst.  Sie  ist  zugleich  volle  Beherrschung  unsereö 
Körpers  und  scliädhcher  Affekte  durch  Vernunft  (IV  prop.  52;  V  10 
schol.).  Schol.  zu  prop.  41  in  V  ist  zugleich,  mit  schol.  2  zu  IV  prop.  6S 
verglichen,  Zeuge  dafür,  daß  der  Philosoph  mit  seiner  Theniie  gerade 
auch  Furcht  vor  dem  Tode  und  Angst  aufheben  will. 

Das  ist  fürwahr  ein  Ideal  des  Lebens,  das  dem  Boehmes  nicht 
ferne  steht.  Die  (jenseitige)  Ruhe  der  Seelen  ist  ohne  Wesen  (absque 
essentia)  in  der  Stille  (tranquiUitas),  da  sie  in  Gottes  Hand  leben, 
und  keine  Qual  (angor)  rülu-et  sie  an,  sie  haben  keine  Empfindlich- 
keit (perceptibihtas)  einiger  Qual  (anxietas),^^)  sondern  ihnen  ist 
als  einem,  der  in  einem  süßen  Schlaf  läge  und  gar  sanfte  ruhete.  Ilue 
Verklärung  unter  dieser  Zeit  (interea)  ist,  wann  sie  an  die  künftige 
Freude  gedenken,  so  gehet  der  Geist  in  die  Majestät  Gottes 
ein,  davon  haben  sie  Freude  (gaudium)  und  Klarheit.  ...  Es  ist 
gar  eine  süße  magische  Paradis-Freude  (laetitia)  in  ihnen"  (S.  121  f. 
Lat.  S.  288).  Das  Licht  (lux)  ist  mit  Sanftmut  (mansuetudo)  ge- 
schwängert (S.  24,  154  lat.). 

Man  muß  nur  einjnal  den  jubelnden  Hinimel  älterer  Christen, 
die  Verzückung  der  Neuplatoniker,  die  wunderbare  stolze  Seligkeit 
des  aristotelischen  Gottes  neben  Spinoza  und  Boehnie^)  halten,  um 
zwischen  letzteren  nur  gewisse  L^nterschiede,  zwischen  ihnen  beiden 
und  den  ersteren  aber  starke  Kontraste  zu  sehen.  Was  Spinoza 
neuerte,  liegt  auf  einem  andern  Gebiete:  Er  macht  die  ülustratio 
und  transfiguratio  Werdenhagens  zu  einer  rein  innerweltlichen,  natür- 
lichen Leistung,  nicht  zuletzt  unter  dem  Einfluß  des  Hobbes,  dessen 
äußerhcher  Mechanismus  in  der  Affektenlehre  Spinozas  deutliche 
Schatten  wirft.  ^^) 

^®)  Die  Befreiung  von  Qual  und  Angst  ist  der  Grundzug  sowohl  der 
Metaphysik  ah  der  Ethik  Boehmes  (s.  z.B.  S.  91,  78  ff.,  104  ff.). 

^°)  Das  immensum  gaudium  erhebt  sieh  bei  Boehme  erst  auf  vierter 
Stufe  der  Ewigkeit,  wemi  sich  die  Freiheit  aus  rotem  Blitze  in  femige  Leuchte 
(lumen)  und  in  den  Glanz  der  Majestät  verwandelt  (8.  88). 

^^)  Besonders  merklich  in  der  Lehre  von  der  ,, .Scham",  die  Sp.  sich 
offenbar  als  notwendige  Wirkung  der  Vorstellung  denkt,  daß  eine  von  uns 
ausgeübte  Handlung  von  andern  getadelt  wird.  Als  ob  nicht  aus  einer  solchen 
Vorstellung  infolge  innerer  Konstellation  auch  „Ärger",  Auflehnung  ent- 
stehen könnte  ? 


14  Adolf    Dyroff, 

Auch  die  Einscliränkung  des  sumnnim  mysterium  auf  wenige 
Auserwählte  lehrt  Boehme^^)  ähnlich,  wie  Spinoza  am  Schluß  der 
Ethik  die  kleine  Gemeinde  schöner  Seelen  in  ihrer  mystischen  Gestalt. 

Wie  Spinoza,  zieht  dann  auch  Boehme  die  Konsequenz  aus 
seinem  Pantheisnms:  Nicht  in  der  eigenen  Vernunft  (ratio),  sondern 
durch  Herausgehen  aus  der  ängstlichen  Durchforschung  der  äußeren 
Venmnft  in  den  Willen  Jehovahs  und  den  Geist  Gottes,  wird  der 
Wille  des  Emzehien  zu  Gottes  Willen  und  wird  der  Einzelne,  von 
Gott  erkannt  und  geliebt,  durch  Gottes  Geist  in  sich  selbst  gesucht. 
„Findet  Gott  deinen  Willen  auf  sich  gerichtet,  dann  offenbart  er 
sich  in  deinem  Willen  als  in  seinem  Eigentum  (proprietas).  So  er- 
hältst du  göttliche  Macht  (potestas).  Alles,  was  du  dann  forschst, 
hast  du  in  ihm,  da  er  in  allem  ist  und  ihm  nichts  verborgen  ist. 
So  wirst  du  die  AVunder  Jehovahs  in  seinem  Geiste  whken  und  mich 
als    Bruder   in   ihm   anerkennen"  (92). 

Wille  und  Trieb  —  vohmtas  und  appetitus  —  sind  zwei  Be- 
griffe Spinozas,  die  wie  gloria  und  acquiescentia  in  se  ipso  nicht  leicht 
zu  klären  sind.  Wir  schicken  bei  dem  Versuch,  ihr  Verhältnis  für 
unsere  These  zu  verwerten,  voraus,  daß  der  Amsterdamer  seine  Gleich- 
setzung von  AVille  und  Verstand,  einzelnen  Ideen  und  einzelnen 
Y/ollungen  für  eine  zienüich  originale  Leistung  hält  (II  prop.  49 
schol.,  S.  118  multi33)  .  .  .  hanc  de  voluntate  doctrinam  .  .  .  plane 
ignorarunt)  und  daß  Descartes  an  diesem  Punkte  offenbar  nicht  nur 
durch  seine  Lehre  vom  unaasgedehnten  Denken,  sondern  auch  durch 
seine  voluntaristisch  geneigte  Psychologie  trotz  des  Widerspruchs, 
den  Spinoza  gegen  die  Trennung  des  endlichen  Verstandes  und  des 
unendhchen  Willens  erhebt,  einen  gewissen  Einfluß  ausgeübt  hat. 
Trotzdem  kann  gleichzeitig  eine  Nachwirkung  der  Jugend- 
philosophie vorhegen.  Den  Zusammenhang  der  Willenslehre  mit  der 
Theorie  von  Liebe  und  Gottesknechtschaft  unterstreicht  Spinoza 
selbst  am  Schluß  des  zweiten  Buchs,  ja  er  nennt  geradezu  das  fünfte 


32)  Vgl.  S.  287:  (Nur)  die  hocherleuchteten  heiligen  Seelen  in  Gottes 
Leibe  und  Kraft  haben  überschwengliche  Wissenschaft  und  Erkenntnis  in 
Gott. 

33)  Die  Übersetzung  von  Baensch  („ist  diese  Lehre  vom  Willen  gänzlich 
unbekannt  geblieben")  ist  zwar  ungenau  (das  Perfekt  ignorarunt  hat  zum 
Subjekt  „miilti"  und  ist  präsentisch  wie  noverunt  zu  nehmen).  Aber  sicher 
schreibt  sich  Sp.  mit  dem  ganzen  Satze  ein  großes  Verdienst  zu. 


Zur  Entstehungsge.sch.  d.  Lehie  Spinozas  v.  Amor  Dei  intellectualis.       15 

Buch  als  dasjeiiisie,  in  dem  das  Wichtigste  über  den  Nutze,i  des  Lehr- 
satzes 49  zu  finden  sei  (S.  118),  II  Lehrsatz  48  und  49  müssen  zusam- 
mengenommen werden:  Es  gibt  keinen  unbedingten  (absohita)  Willen 
(voluntas),  sondern  die  Verursachung  des  Wolle..s  geht  ins  Unend- 
liche zurück.  AVille  ist  etwas  anderes  als  Begierde  (cupiditas),  kraft 
deren  die  Seele  Dinge  erstrebt  (appetit)  oder  verabscheut  (aversatur); 
er  ist  das  Vermögen  zu  bejahen  oder  zu  verneinen  (affirmare,  negare). 
Neben  dieser  intellektualistischen  Auffassung  steht  in  III  eine  andere, 
die  sich  zwar  auf  II  beziehe,  aber  nichts  desto  weniger  die  Bedeu- 
tung des  WiUens  verschiebt.  Jedes  Dmg  strebe,  soviel  an  ihm  isi,  so 
heißt  es  dort,  in  seinem  Sein  zu  verharren  (actuolis  essentia)  und 
dieses  Streben  sei  mit  der  wirklichen  Wesenheit  des  Dinges  identisch 
(prop.  6  u.  7).  Auch  die  Seele  strebe  so  auf  unbestimmte  Dauer  zu 
verharren,  und  werde  dieses  Streben  auf  die  Seele  allein  bezogen, 
so  heiße  es  Wille,  werde  es  dagegen  auf  Seele  and  Körper  zugleich 
bezogen,  ^so  heiße  es  Trieb  (appetitus  prop.  9  schol).  Trieb  sei  so- 
nach nichts  anderes  als  des  (ganzen)  Menschen  Wesenheit  (essentia) 
selbst,  aus  deren  Natur  das,  was  zu  ihrer  Erhaltung  diene,  notwendig 
folge.  Und  also  sei  der  Mensch  dazu  determiniert,  das  zu  tun.  Trieb 
und  Begierde  sodann  unterscheiden  sich  nur  dadurch,  daß  Begierde 
insofern  meist  auf  die  Menschen  angewendet  wird,  als  sie  sich  ihres 
Triebes  bewußt  sind. 2^) 

Da  aber  die  Handlungen  der  Seele  wie  die  des  ganzen  Menschen 
immer  wieder  auf  Gott  zurückgehen  (III  prop.  1  demonstr.,  2  demon- 
str.,  6  demonstr.  u.  ä.),  muß  Gott  selbst  Wille  als  Modus  seines  Den- 
kens zugeschrieben  werden,  wie  denn  auch  Spinoza  I  prop.  32  tut. 
In  Gott  selbst  aber  ergibt  sich  folgendes  Verhältnis.  Gott  ist  nicht 
als  die  unbedingte  unendhche  Substanz  Wille,  sondern  nur,  insofern 
er  unter  dem  Attribut  des  Denkens  begriffen  wird.  Der  unendliche 
Wille  wird  zum  Wirken  bestimmt  durch  Gott,  insofern  er  das  Attribut 
hat,  das  die  unendliche  und  ewige  Wesenheit  des  Denkens  ausdrückt 
(I  prop.  32  demonstr.).  Der  Wille  gehört  nicht  mehr  zu  Gottes  Natur 
(vgl.  I  prop.  17  schol.),  d.  h.  nicht  mehr  zur  naturenden  (I  prop.  31), 
sondern  verhält  sich  zu  jener  als  Art  der  genaturten  Natur  (I  prop.  31) 


3*)  Diese  Unterscheidung  gilt  auch  für  III  prop.  27  coroll.  3  schol., 
insofern  Wohlwollen  offenbar  ein  Bewußtsein  vom  Triebe  wohl  zu  tun 
einschließt  (Baensch  im  Register  also  ungenau). 

Axcbiv  für  Geschichte  der  Philosophie.    XXXI,  1.  2 


16  Adolf   Dyroff, 

genau  so  wie  Bewegung  und  Ruhe  und  alles  übrige,  was  aus  der 
Notwendigkeit  (necessitas)  der  göttlichen  Natur  folgt  (coroU.  2).  Gott 
ist  somit  als  wollendes  Wesen  ebenso  gut  die  Ursache  der  Essenzen 
und  der  Existenz  aller  Dinge  wie  als  verständiges  Wesen,  insofern 
Willen  und  Verstand  dasselbe  sind  (I  prop.  17  schol,  prop.  33,  vgl. 
V  prop.  36  schol.).  Wir  dürfen  also  das  Verhältnis  zwischen  Wille 
und  Trieb,  wie  es  nach  Spinoza  in  der  menschUchen  Seele  vorhegt, 
unbedenkUch  auf  Spinozas  Gott  abbilden  und  dazu  lädt  noch  die 
Analogie  des  Verhältnisses  zwischen  Gottes  und  der  Menschen  geistiger 
Liebe  (V  prop.  36,  vor  allem  schol.)  ein.  Dies  kann  nicht  dadurch 
widerlegt  werden,  daß  Spinoza  in  aller  Schärfe  Gottes  Verstand  und 
Wille  vom  menschlichen  Verstand  und  Willen  unterscheidet  (I  prop.  17 

schol.). 

Die  Welt  der  Dinge  muß  daher  für  Spinoza  aus  Gottes  Wille 
entspringen;  sie  wird  körperlich  durch  Gottes  Trieb  (appetitus).  Das 
letztere  wird  bei  Spinoza  in  den  Hintergrund  gedrängt  dadurch,  daß 
er  sich  mehr  bemühen  muß,  zu  erweisen,  daß  die  Materie  Gottes 
nicht  unwürdig  sei  (1  prop.  15  schol.).  Welch  hohen  Rang  aber  Wille 
und  Begierde  mit  Liebe  unter  den  Modifikationen  der  göttlichen 
Attribute  einnehmen,  verkimdet  der  Umstand,  daß  der  Pantheist 
I  prop.  31  gerade  nur  sie  und  nichts  anderes  neben  dem  Verstand 
für  bedeutsam  genug  hält,  um  ihre  Zugehörigkeit  zur  „genaturten 
Natur"  eigens  darzutun. 

Macht  man  sich  nun  klar,  daß  zwischen  der  „Ethik"  und  zwischen 
Boehmes  Einfluß  der  umgestaltende  Eingriff  des  Descartes  hegt,  so 
werden  die  erhebhchen  Gegensätze  zwischen  Boehmes  und  Spinozas 
theologischer  Willenslelu-e  nicht  hindern  können,  die  starke  Ver- 
wandtschaft zwischen  beiden  zu  erkennen.  Gewiß  müßte  Spinoza, 
da  er  das  Denken  als  Attribut  zwischen  die  götthche  Substanz  und 
die  götthchen  Modi  einschob,  den  ursprünghchen  otillen  Willen 
Boehmes  ablehnen,  der  bei  diesem  offensichthch  als  ursprüngMche 
wesentliche  Eigenschaft  Gottes  auftritt;  gewiß  konnte  Spinoza  auch 
durch  Hobbes'  mechanische  Bewegungstheorie  nicht  dazu  veranlaßt 
werden,  den  logisch-rationahstischen  Charakter  seiner  Theorie  von 
der  Genesis  der  modi  zugunsten  der  dynam.is tischen  Theorie  Boehmes 
von  der  Entstehung  der  Welt  durch  „Attraktion"  zu  verwischen  oder 
gar  aufzugeben.  Aber  bleibt  nicht  bei  Spinoza  Gott  als  die  ursprüng- 
üch   „freie  Ursache"  (Eth.  I  prop.  17  coroll.  2)?    Hat  bei  Descartes, 


Zur  Entstehungsgesch.  d.  Lehre  Spinozas  v.  Amor  Dei  intellectualis.      17 

Hobbes  oder  Geulincx  der  göttliche  Wille  für  die  Entstehung  der  Welt 
die  mächtige  Bedeutung  wie  bei  Spinoza?  Wie  komm*  in  den  Lehr- 
satz 31  des  ersten  Teiles  neben  den  „Verotana"  Wille,  Begierde  Ui)d 
Liebe?  Ist  nicht  auch  bei  ihm  der  Wille  das  Primäre,  der  Trieb  mit 
der  Begierde  das  Sekundäre?  Sind  nicht  die  Termini  bei  diesem  Ver- 
hältnis dieselben?  Auf  letzteren  Punkt  dürfen  wir  einen  größeren 
Nachdruck  legen.  „Appetitus  est  figura  quaerentis  voluntatis",  sagt 
Boehme-Werdenhagen  (S.  94,  vgl.  79).  Ohne  Wille  kein  Trieb  (ubi 
non  est  voluntas,  ibi  quoque  nuUus  appetitus),  aber  auch  ohne  Trieb 
kein  Entstehen  (procreatio):  Namque  appetitus  est  attrahens, .  .  .  hinc 
voluntati  insinuat  et  eam  reddit  plenam  sui  .  .  .  Atque  sie  attractio 
facit  motionem  et  Essentiam  .  .  .  Voluntatis  appetitus  efficit  essen- 
tias  et  attractionem  (79  f.).  Quo  maior  est  voluntas,  eo  maior  quoque 
exurgit  essentia  et  eo  potentius  quoque  fit  conceptum^^)  illud  (80f.). 
Quod  ante  (logisch-real  und  zeitUch)  appetitum  exiscit  extra  desi- 
derium,  hberum  est  et  nihil,  quum  tarnen  sit  (S.  82),  d.  h.  der  reine 
Wille,  die  pura  Deitas  (S.  79). 

Der  Ausdruck  cupiditas  verschwindet  bei  Boehme-Werdenhagen 
so  ziemlich  hinter  „desiderium"  (unaquaeque  voluntas  desiderium 
habet  quid  agendi  aut  appetendi  S.  82.  Desiderium  efficit  sc.  appe- 
titus ebda).  Doch  steht  in  bemerkenswertem  Zusammenhange  cupere : 
quod  neque  voluntas  pati  cupit,  sed  appetitus  (S.  82).  Interim 
tamen  (doch  auch)  voluntas  non  cupit  id  perpeti,  ut  trahatur,  quia 
ipsius  proprium  ius  est  quietudinem  amare  (S.  86). 

„De  libertate  humana"  überschreibt  Spinoza  sein  letztes  Buch. 
Auch  Boehmes  „Psychologie"  ist  ganz  von  dem  Freiheitsideal  getragen. 
Die  gesamte  Schöpfung  muß  für  den  Mystiker  ihrem  Ursprung  ent- 
sprechend aus  der  in  sich  drängenden  Angst  (anxietas)  in  die  Freiheit 
(libertas)  streben,  die  nichts  anderes  ist  als  Licht  gegen  die  Finsternis 
geachtet  (S.  102  ff.  lat.,  19  d.).  Indem  das  Sinken  (depressio)  der 
Verdemütigung  zu  einem  inneren  Ersterben  der  Angst  führt,  geht 
die  Angst  in  die  stille  Ewigkeit  (tranquiUa  aeternitas)  über  (transit), 
d.h.  in  die  Freiheit  (S.  113  lat.).     Das  Menschentum  (humanitas) 


^^)  Boehme  selbst:  „je  mächtiger  wirt'  es  geschärffet".  Werdenhagen 
verändert  hier  wesentlich.  „Conceptum"  kann  ni:r  etwa  „Umfang"  bedeuten. 
Mit  „concipit"  übersetzt  W.  gleich  darauf  Boehmes  „fanget"  (das  Licht), 
mit  conceptibile  Boehmes  „umfassend",  S.  88  mit  conceptum  Boehmes  „ge- 
fasset", S.  90  mit  conceptio  „Fassen". 

2* 


18  Adolf    I)\rolf, 

liegt  in  der  Natur  (S.  130  lat.);  aber  die  göttliche  Freiheit  außerhalb 
der  Natur  (S.  181  lat.)-  Nicht  in  dieser  äußeren  Welt  sind  wir  zn 
Hause,  sondern  in  den  beiden  inneren  Welten,  in  welche 2^)  wir  aUhier 
werben  (operamur),  dahinein  gehen  wir,  wann  wir  sterben  (S.  144  lat. ; 
41  deutsch). 

Gott  als  „Freiheit"  und  doch  sich  notwendig  auslebend  —  dieser, 
was  die  „Fi-eiheit"  anlangt,  offene,  was  die  Notwendigkeit  betrifft, 
unausgesprochene  Gedanke,  ist  das  verbindende  Mittel  für  alle  Folge- 
rungen, die  Boehme  entwickelt  Da  es  für  einen  Pantheisten  selbst- 
verständhch  ist,  daß  er  deterministisch  verfährt,  genügt  es,  einen 
Satz  herauszuheben:  Das  Fleisch  Gottes,  Christi,  der  Jungfrau  emp- 
fängt im  Menschen  seine  Ki-aft  (durch  den  inneren  Geist)  und  ge- 
wissert  (certum  reddit)  den  äußeren  Menschen,  daß  er  eben  das  tut, 
was  sein  Macher  (factor)  haben  will,  als  es  dann  auch  also  eine 
Gelegenheit  (conditio)  mit  dieser  Feder  (calamus)  hat  und 
gar  nichts  anderes"  (S.  48  d.  =  156  lat.). 3^)  Das  ist  der  Determinis- 
mus bis  aufs  Beispiel  (für  Spinoza  in  unserem  Zusammenhang  III  äff. 
def.  r.  6;  V  prop.  10  schol.). 

]-\irum  darf  auch  umgekehrt  bei  Spinoza  prop.  42  in  V  als  mystisch 
begründet  angesprochen  werden:  daß  wir  die  Gelüste  deshalb  henmien 
können,  weil  wir  im  Genuß  der  Glücksehgkeit  sind.  Je  mehr  sich 
die  Seele  der  göttliche  a  Liebe  erfreut,  um  so  größere  Macht  hat  sie 
über  die  Affekte  und  um  so  weniger  leidet  sie  von  den  Affekten,  die 
schlecht  sind,  heißt  es  in  der  Begründung.  Das  ist  nichts  anderes 
als  eine  Übersetzung  des  theologischen  Lehrstücks  von  den  Wir- 
kungen der  heiligmachenden  Gnade,  die  von  gewissen  Theologen 
mit  der  Liebe  identifiziert  wird,  ins  Mundane.  Sieht  man  bei  Boehme 
scharf  zu,  so  sucht  er  nicht  anders  das  spezifisch  Dogmatische  dei^ 
christlichen  Gnadenlehre  zu  überwinden. 

Einen  wesentlichen  Bestandteil  des  holländischen  Systems,  der 
nicht  ohne  Zusammenhang  mit  der  Liebestheorie  ist, ^^j  macht  die 
Lehre  von  den  „Essenzen"  der  Einzeldinge  aus,  die  an  einer  Stelle 
des  „Traktats  über  die  Läuterung  des  Verstandes"  als  res  fixae  et 


^•)  Die  lat.  Übersetzung  hat  offenbar  falsch:    „in  quem".  —  Ist  etwa 
statt  „werben"  zu   lesen:  „werken"? 
")  Vgl.  S.  84. 
''*)  Über  den  Führer  und  Eröffner  der  Liebe -Essenzien  >S.  2ö  deutsch. 


Zur  Kntstehuugsgc'scli.  d.  Lv]nv  S|)in()z;is  v.  Air.or  Dci  intellectualis.       19 

aeternae  bozciehiiet  werden. ^^)  Die  Dunkelheit  des  Ausdrucks,  die 
Richter  aus  dem  vorbereitenden  Charalder  des  Traktats  erklärt, 
könnte  ebenso  gut  ilu-e  Ursache  darin  haben,  daß  für  Spinoza  und 
seine  Freunde  die  Auffassung-  der  Essenzen  eine  geläufige  Sache  war. 
Auch  hier  führt  Boehmes  „Psychologie"  gut  in  einen  damals  in  Holland 
bekannten  Gedankenkreis  ein*"): 

Die  aeternitas  ohne  (extra)  Natur  kann  die  empirisch  nachweis- 
bare Finsternis  nicht  entstehen  lassen  federe).  Wille  und  Begierde 
sind  es,  die  das  zustande  bringen,  insofern  die  Begierde  anziehend 
wirkt;  ohne  Begierde  würde  der  Wille  nichts  sein  und  eine  ewige 
Ruhe  ohne  Essenz.  So  aber  macht  die  Anziehung  (attractio)  Be- 
wegung und  die  Essenz.  Die  voluntäre  (voluntarius)  Begierde  bewirkt 
also  die  Essenzen.  Was  ewig  ist  ohne  allen  Anfang  (ex  nullo  initio), 
hat  kein  Aufhören  durch  ein  anderes.  Je  größer  (aber)  der  Wille 
ist,  eine  desto  größere  Essenz  entspringt  auch.  So  entsteht  auch 
die  ruliige  Freiheit,  die  Licht  hineinsendet  und  in  der  Licht  (lux) 
und  Glanz  (splendor)  leuchtet.  Jetzt  hat  man  auch  im  Feuer 
(ignis)  eine  hinreichende*^)  Erkenntnis  aller  Essenzen. 
Wenn  auch  in  der  ewigen  Essenz  ein  solches  im  Äußern  aufleuchtendes 
Feuer  nicht  zu  ersehen  ist,  so  ist  es  doch  im  Innern  „herben  Willen", 
wähi'end  der  äußere  herbe  Wille  finster  bleibt. 

Bei  der  ersten  „Gestalt"  der  Ewigkeit,  der  ewigen  „Freiheit", 
ist  von  Essenz  noch  nicht  die  Rede.  Aach  nicht  bei  der  zweiten  Ge- 
stalt, da  bei  iln  noch  nichts  „Perzeptibles"  vorhanden  ist;  sonst 
würde  sie  irgend  eine  Essenz  „konstituieren"  und  hinwiederum  selbst 
in  einer  „gewissen"  Essenz  sein,  die  sie  hervorbrächte.  Da  sie  aber 
ohne  Essenz  ist,  zeigt  sie  die  Ewigkeit  an,  d.  h.  das  Gute  selbst.  Sie 
ist  die  tranquilhtas  und  der  ewige  Friede.  Da  sie  eine  ungeheure 
Fülle  (amphtudo)  und  ohne  Gnind  (fundus)  ist,  wo  weder  Zahl  noch 
Ende,  noch  Anfang  enthalten  ist,  hat  sie  gleichsam  sich  selbst  zum 
Spiegel  (speculum).  Sie  ist  alles  und  doch  gleichsam  nichts.  Sie  durch- 
schaut sich  selbst  und  findet  nichts  als  das  A,  was  ihr-  Auge  darstellt 
(exhibet),  das  Auge  des  Abgrunds  (Abyssus).  Dennoch*^)  fügt  sie 
den  Ursprung  (origo)  der  Essenz  hinzu. 

^*)  Wenzel  und  Richter;  s.  letzteren  S.  117  ff. 

*0)  Psych.  8.  79  ff. 

*^)  Hier  schon  der  Terminus  sufficiens. 

*^)  Das  Fehlen  der  Essenz  wird  hier  oft  betont. 


20  Adolf    Dyroff, 

Erst  die  dritte  „Gestalt"  der  Ewigkeit  ist  die  causalis  origo  der 
Essenzen").  Indem  die  Begierde  heftig  und  anziehend  wird,  bewirkt 
sie  eine  Bewegung  gegen  sich  selbst,  so  daß  von  da  an  im  „Auge" 
und  Willen  Essenzen  sind.^^) 

Nicht  ohne  Belang  ist,  daß  bei  Boehme  wie  bei  Spinoza  die 
„Essenzien"  aus  dem  Willen  hervorgehen.  Die  Essenzen  sind  auch 
für  Boehme  nichts  anderes  als  die  inneren  Wesenheiten  der  unter- 
schiedlichen Dinge.  In  gewissem  Sinne  erfaßt  der  deutsche  Mystiker 
gelegenthch  sogar  den  Begriff  des  Attributs  in  dem  Ausdruck:  Tum 
quoque  in  igne  sufficientem  habetis  cognitionem  essentiae 
essentiarum  omniuni  (S.  81).^^)  Sobald  etwas  Erkenntliches 
(perceptibile)  ist,  sobald  konstituiert  (constitueret)  es  irgend  eine 
Essenz.^^)  Obwohl  Gott  ursprünglich  und  in  zweiter  Gestalt  der 
Ewigkeit  in  sich  (in  se)  noch  nicht  Essenz  ist,  sondern  nur  ewige  Frei- 
heit (S.  86),  so  fügt  er  doch  der  Essenz  den  Ursprung  zu  (addit), 
indem  der  ewige  Ursprung  dazu  determiniert  wird  (determinare), 
daß  er  etwas  (aliquid)  sei  (S.  82  f.).  Indem  der  Trieb  scharf  und  an- 
ziehend wird,  bewirkt  er  endlich  die  dritte  Gestalt  der  Ewigkeit, 
d.  h.  die  Bewegung  in  sich  selbst,  die  der  kausale  Ursprung  der 
Essenzen  ist,  so  daß  von  jetzt  an  im  Willen  Essenzen  sind  (86).  In 
vierter  Gestalt  der  Ewigkeit  offenbart  sich  Gottes  Heihgkeit  in  ziel-  und 
zahllosen  Wundern,  die  sein  eigen  Wesen  ausmachen  (S.  88^^),  vgl.  90). 

Diese  Essenzen  müssen  bei  Boehme  von  den  drei  Prinzipien 
der  göttlichen  Essenz  unterschieden  werden,  die  mit  den  drei  gött- 
lichen Personen  zusammenfallen  (S.  77  f.).  Letztere  stellen  den 
„Heiligen  Ternar"  in  Einer  Essenz  dar  (S.  89).  4«)   Größte  Bedeutung 


«)  s.  86  ff. 

**)  Für  Spinoza  s.  Albert  Rivaud,  Les  notions  d'essence  et  d'existence 
dans  la  philosophie  de  Spinoza.    Paris  1905. 

*5)  S.  auch  S.  88  mirabilia,  quae  propriam  eius  essentiam  constituunt. 
S.  90  consistit  ex  tribus  principiis. 

*«)  Daß  es  keine  Anzahl  der  ewigen  Dinge  gibt  wie  auch  nicht  Zeit  und 
Ort,  betont  B.  oft.  Interessant  ist  die  Stelle:  Aeternae  essertiae  in  divino 
centro  Majestaetis  nullus  prorsus  est  numerus  (S.  107  lat.). 

")  Werdenhägen  übersetzt  wieder  miserabel  Boehmes:  „Gottes  Heilig- 
keit ist  ein  ewiger  Anfang  in  nich-'s  gefasset  als  nur  in  Wunder"  mit:  in 
nibilo  conceptum  velut  ( !)  in  mirabilibus. 

*8)  Höchst  sonderbar  heißt  es  S.  88,  die  Essenz  manifestiere  sich  im 
„Willen",  wobei  offenbar  die  göttliche  Essenz  gemeint  ist.  , 


Zur  Entstehungsgesch.  d.  Lehre  Spinozas  v.  Amor  Dei  intellectualis.      21 

für  die  „Geburt"  (progeneratio)  des  Lebens  hat  der  (Hl.)  Gei^t  als 
dasjenige,  was  das  Leben  des  Prinzips  „repräsentiert".  Die  Geburt 
nämlich  ergreift  (apprehendere)  die  Freiheit  nicht  außer  sich,  son- 
dern in  sich  im  „Centrum";  sie  greift  sich  selber  in  sich  und  machet 
Majestät  in  sich  selbe*;  es  ist  dann,  als  ob  aus  einem  Tode  oder  Nichts 
ein  Leben  w'ürde.  Was  so  in  sich  alleine  wohnet,  heißt  Principium 
und  das,  darimien  es  wohnt,  „Natur".  Der  eine  Geist  (spiritus)  des 
Prinzips  steht  im  Gegensatz  zu  den  sieben  Geistern  (der  Natur). 
Dieses  „Prinzip"  ist  die  Kraft  (vis  virtusque),  aus  der  Ewigkeit  er- 
boren (progenita).  Und  der  Eingang  (introitus)  oder  ewige  Anfang 
der  Kraft  (virtus)  ist  der  Kraft  Leben  und  Geist,  der  die  Essenzen 
der  Gebärerin  (matrix)  führt.  So  geht  der  Geist  im  Herzen  Gottes 
(Gott  Sohn)  aus  den  feurigen  lichtflammenden  Essenzien  hervor 
(S.  89).  Während  sich  Gott  also  in  Gott  Sohn  (im  „Auge")  sieht, 
daß  er  „alles"  (omnia)  ist,  fühlt,  schmeckt,  riecht  er  sich  im  Geiste, 
daß  er  gut  ist.  So  ist  im  Geist  die  Rügung  (concitatio)  in  der  Kraft 
und  die  Vielheit  (nmltiphcitas)  ohne  Grund  und  Zahl,  in  der  die  ewige 
unwahrnehmbare  (insensibihs)  Vielheit  (multitudo)  entsteht  (S.  90). 

Was  jedoch  in  sich  ist,  das  ist  außer  sich  nicht  kenntlich  (cognos- 
cibile),  aber  nach  dem  Geiste  wohl  erfaßbar  (perceptibile).  Also 
treibet  das  Innere  aus  sich  und  offenbart  (manifestat)  sich  in  Figuren, 
sonst  würde  Gott  nicht  erkannt  (S.  90).  So  ist  der  Geist  Gottes  in 
den  Dingen  alles;  denn  es  ist  ein  Wille  im  ewigen  Nichts  und  ist  doch 
in  allem  wie  Gottes  Geist  selber  (S.  91)."*^) 

Nachdem  wir  Gründe  haben,  es  für  wahrscheinlich  zu  halten, 
daß  Spinoza  wirklich  in  die  Gedanken-  und  Gefühlswelt  seiner  boehmi- 
stischen  Jugendfreunde  hineingewachsen  war,  dürfen  wir  endhch  auf 
einige  Ähnhchkeiten  des  Denkens  hinweisen,  die  allgemeinerer  Natur 
sind.  Was  wir  in  der  „Ethik"  als  meisterlich  geübte  Methode  an- 
treffen, setzt  psychologisch  eben  als  fertige  Denkgewohnheit  eine 
vorhergehende  längere  Einübung  voraus. 

Vor  allem  kannten  schon  die  Boehmisten  durch  ihr  Haupt  eine 
Zweiseitentheorie.  ^®)    „Äußerhch  ist  das  ewige  Feuer  finster,  in  sich 


*^)  Hier  ist  schon  von  einer  Verneinung  (abnegatio)  des  Willens  zum 
Leben  die  Rede.     Abnegatio  auch  S.  104. 

^")  Ich  nenne  so  der  Kürze  halber  das,  was  Alfr.  Wenzel,  Zeitschr. 
f.  Philos.  u.  philos.  Ivritik  1911,  143  S.  18  mit  Friedrichs  lieber  Zweiformen- 
theorie nennt. 


22  Adolf   Dyroff, 

hinein  ist's  Licht"  (81),  diese  Lehre  kelirt  in  der  „wahren  Psycho- 
logie" immer  wieder.  Boehme  ringt  ja  förmlieli,  den  Gegensatz  von 
Licht  und  Finsternis  als  im  Ureinen  zusammenfallend  zu  erweisen 
Dem  Kenner  der  platonisch-neuplatonischen  Metaphysik  kann  es 
nicht  zweifelhaft  sein,  daß  damit  der  Gegensatz  von  Geist  (spiritus) 
und  Materie  symbolisiert  ist,  und  dafür  spricht  jede  weitere  Seite 
des  Büchleins.  Man  nehme  dazu  noch  folgende  Verzweigungen  des 
Kerngedankens. 

Das  „große  Geheimnis"  (S.  46  deutsch,  S.  153)  birgt  folgende 
Weisheit:  Unaquaeque  substantia  in  duabus  essentiis  consistit, 
veluti  in  interno  et  externo;  unum  quaerit  et  invenit  alterum.  -Ex- 
tern um  est  natura;  ac  internum  est  Spiritus  super  naturam:  nee 
tarnen  est  separatio  nisi  in  eo  quod  tempori  certo  est  inclusum;  ibi 
tempus  diriniit  metam,  ut  ita  finis  exordium  inveniat  (S.  153  lat  ; 
S.  46  deutsch).  An  anderer  Stelle:  Solange  ein  Ding  für  sich  gehet, 
so  ist  ins  Lmere  kein  Finden,  alleine  der  Geist,  der  im  Innern  wohnet, 
der  findet  sich  selbst  im  äußeren.  Aber  das  äußere  Leben  findet  nicht 
das  innere,  es  habe  dann  des  Inneren  Geist  ...  So  redet  das  äußere 
Leben  vom  inneren  und  kennet  doch  das  nicht  Alleine  der  innere 
Geist  erfüllet  den  äußeren,  daß  also  der  äußere  ein  Mund  (os)  ist  und 
der  Innere  hat  und  fülu^et  das  Wort,  daß  ?lso  das  innere  Reich  im  äußern 
im  Schalle  offenbar  stehet  und  das  ist  nundas  Wunder  (S.  48  deutsch).^') 


^^)  Hier-  darf  auch  an  Goethes  „Nichts  ist  innen,  nich'^s  ist  außen", 
.,Name  ist  Schall  und  leerer  Rauch"  erinnert  werden.  Der  biblische  Ton, 
den  Boehme  gerade  da  anschlägt,  wo  er  vom  ,, Innen"  und  ,, Außen",  vom 
„Suchen"  und  ,, Finden"  spricht,  konnte  Goethe  in  seiner  pietistischen  Zeit 
wohl  fesseln.  Ebenso  Boehmes  Satz:  ,,Also  erkennen  wir  den  Grund  dieser 
Welt,  daß  sie  eine  Figur  der  Innern  sei"  (S.  48  deatsch).  Auch  , .Mütter" 
gehörte  zum  Ideenkreis  der  Boehmisten:  Die  Welt  ist  ,,nach  beiden  Müttern 
eine  Figur  der  Innern";  die  beic'en  Mütter  sind  die  beiden  Feuer,  d.h.  das 
Feuer  des  Grimms  und  das  Feuer  dos  Lichts.  Der  Spiegel  des  Grimms  ist  das 
äußere  Feuer,  der  Spiegel  des  Lichts  der  Ewigkeit  die  Sonne:  des  Grimmes 
Wesenheit  ist  die  Erde,  dos  Lichtes  (der  Liebe)  Wesenheit  das  Wasser  (ebd. 
S.  48;  lat.  S.  157).  Min  vergleiche  damit,  wie  Faust  zu  den  „Müttern"  in  die 
Erde  vordringt  und  wie  aus  den  Wellen  des  Wassers  (Thaies)  Feuer  und  Licht 
hervorgehen,  damit  „Eros"  herrsche  (v.  8432 — 8487).  Selbst  das  drängende 
Sehnen  hat  bei  Boehme  sein  bedeutsames  Analogon.  Wemi  Goethe  noch  aus 
seiner  magischen  Zeit  (nach  Boehme  geht  eine  Magie  iu  die  andere)  Erinne- 
rungen an  Boehme  hatte,  wüi'de  er  eben  die  Stelle  bei  Plutarch  später  hinzu- 
gefunden und  die  Anzahl  der  Mütter  vermehi't  haben.  —  Boehmes  ,, Stirb 
und  Werde"  bei  Goethe  ist  ja  weitbekamit. 


o 


Zur  Kntstehiingsgesch.  d.  Lehre  Spinozas  v.  Aiwor  Dei  intelleotualis.       2'i 

Ein  flüchtig  in  den  geometrischen  Beweis  hiiieingcworfejR'r  Ver- 
gleich zerreißt  den  Vorhang,  den  der  über  seine  Jugend  hijiausge- 
koniniene  Denker  hier  vor  seine  hinterbewiißten  Vorstellungen  ge- 
zogen hat.  ,. Wahrlich,  wie  das  Licht  die  Finsternis  offenbart",  heißt 
c?  II  prop.  43  schol.,  „so  ist  die  Wahrheit  die  Norm  ihrer  selbst  und 
des  Falschen".  Gewiß:  Für  uns  ein  trivialer  Vergleich.  Aber  für 
Spinoza  eben  viel  mehr.  Seine  Leser  aus  den  Kreisen  der  Boehmisten 
sollten  ihn  verstehen.  Sie  verstanden  ihn,  da  ihnen  das  erste  Glied 
des  Vergleichs  durch  Boehnie  in  Fleisch  und  Blut  übergegangen  war. 
Spinozas  „Sicut  lux  seipsam  et  tenebras  manifestat",  ist  hi  jedem 
Teile  dem  Wort-  und  Gedankenschatz  Werdenhagens  entnommen. 
„Wahre  und  falsche  Idee",  so  steht  sofort  darauf  zu  lesen,  „verhalten 
sich  wie  Wesen  und  Nichts  zueinander"  (ens  ad  non  ens);  im  Lehr- 
satz 35,  auf  den  der  Philosoph  hierbei  verweist,  fehlt  diese  starke 
Aus  drucks  weise  und  sind  moderne  Wendungen  gewählt.  Aus  Boehme 
wii'd  der  Vergleich  sofort  verständhch. 

Selbst  der  erkenntnistheoretische  Grundsatz  des  Rationalisnuis, 
den  Spinoza  als  der  erste  so  packend  ausfülnt,  daß  nänüich  die  sinn- 
hche,  äußere  Erkenntnis  chaotisch,  sinnlos,  ungeordnet  bleibt,  die 
geistige  aber  wesenhaften  Sinn  gibt,  klingt  schon  bei  Boehme  durch: 
„Der  Innere  (Geist)  ist  ein  Prophet,  und  der  äußere  begreifet  das 
nicht.  So  er's  aber  begreift,  so  hat  er  Gottes  Wesenheit  in  sich"  (S.  48 
deutsch).  Das  Begi-eifen  aus  Gottes  Wesenheit  ist  bei  Spinoza  eben 
das  mit  amor  intellectualis  verbundene  Erkennen  der  dritten  Er- 
kenntnisart. ^2) 

Für  die  Stimmung  der  Boehmisten  ist  kaum  etwas  so  bezeich- 
nend wie  das  Stück  „von  der  fünften  Gestalt  des  Feuers  im  Ewigen 
Willen"  (S.  13  ff.  deutsch).  Es  handelt  im  Tiefsten  von  „der  Fort- 
pflanzung (propagatio)  der  ewigen  Natur".  Man  verstehet  darin 
zwei  Reiche,  ein  gutes  und  fröhliches  sowie  ein  böses  und  grimmiges, 
ewig  neidisches  und  trauriges.     Die  Zeit,   das  Verborgene  (abditum) 


»-)  Vgl.  Alfr.  Wenzel,  Zeitschr.  f.  Philos.  u.  philos.  Kritik  143,  1911 
S.  16  (mit  Friedrichs),  von  Dunin  -  Bcrkowski  weist  mich  während 
des  Druckes  darauf  hin,  daß  sich  aus  H  i  e  1 ,  Von  der  verborgenen  Ewig- 
keit Christi  usw.,  1687  (übersetzt  nach  dem  Druck  d.  J.  1582)  die  drei 
Erkenntnisarten  ergeben:  c.  36  S.  106  ff.  1.  die  bildliche  Einsprechung 
Gottes  „aus  den  Wolcken,   aus  dem  wilden  heydnischen  verwüsten  Wesen" 


24  Adolf    Dyioff, 

ZU  finden,  sei  mm  endlich  da;  aber  es  könne  nur  gefunden  werden 
von  vielen,  die  da  treu  sein  und  sich  in  Gott  demütigen  (in  humilitate 
vere  vivida)  und  in  seinem  Geist  und  Willen  suchen  werden,  d.  h. 
allein  in  ,, Gottes  Auge". 

Niemand  wird  die  Ähnlichkeit  mit  Spinozas  Philosophie  ver- 
kennen, die  eben  durch  die  Entgegensetzung  des  Niedrigen  und  des 
Guten  in  der  Menschheit  sich  wesentHch  von  denen  des  Descartes 
und  des  Hobbes  unterscheidet  und  der  Demut  mehr  Nutzen  als 
Schaden  zuschreibt  (die  Stellen  bei  Baensch  im  Register). 

Die  Entstehung  der  Materie  verkündet  beinahe  mit  Zudringlich- 
keit das  Kapitel  von  der  sechsten  „Gestalt  des  Feuers":  Niemand 
mit  einiger  Vernunft  kann  dem  widersprechen,  daß  zwei  Prinzipien 
in  einem  Wesen  stehen.  Dabei  hat  sowohl  das  Lichtleben,  das  ein 
Herz  des  Feuerlebens  ist,  als  auch  das  Feuerleben,  das  eine  „Ur- 
sache" des  Lichtlebens  ist,  seine  Qual  und  Treibung.  Bei  jedem  Feuer 
ist  daher  eine  Materie,  daraus  es  brennet,  d.  h.  ein  finsterer  Körper 
(corpus),  der  mit  der  äußeren  „Qual"  (originatio)  dieser  Welt  ver- 
bunden ist  (S.  102  lat.;  S.  18  d.).  Mit  anderen  Worten:  Der  Urwille 
macht,  da  er  rein  aus  sich  nichts  erreichen  oder  finden  kann,  sich 
selbst  eine  „Figur"  und  eine  Gleichnis  (similitudo),  im  Begehren 
(appetitu)  mit  dem  strengen  Ziehen  (attractio);  und  das  strenge, 
herbe,  bittere,  finstere  Wesen  (essentia)  ist  die  materiahsche  Gleichnis 
selber.  Es  frißt  sich  selber  und  ist  selber  die  Materie  des  Feuers,  daß 
also  der  ewige  Blitz  immer  währet.  Das  ist  die  Rügung  und  Ur- 
ständ (causa)  des  Lebens.  Und  das  ist  ein  Prinzipium  (S.  103 f.  lat; 
19  d.).  Das  ist  gleichbedeutend  mit  einem  ewigen  Geiz,  der  im  Suchen 
der  Essenzien  die  unzählbare  und  unergründliche  Vielheit  gebiert, 


....  anfänglich  doch  nicht  weiter  dann  in  der  menschlichen  „opinianischen" 
(vgl.  die  Stufe  Spinozas  „opinio")  ....  noch  ganz  im  irrdischen  Wesen  be- 
griffen". S.  107.  Vgl.  S.  109.  2.  Die  Einsprechung  des  „vermummten 
khgen  Vernunft-Geistes  (vgl.  Spinozas  zweite  Stufe,  die  Überzeugung  aus 
Vernunftgründen)  S.  109.  3.  Das  unmittelbare  ungeteilte  „Sehen  des  un- 
endlich vollkommen-ewigen  Wesens  Gottes"  oder  „Begreifen"  des  ewig- 
voUkommnen  Wesens  Gottes  (vgl.  die  dritte  Erkenntnisstufe  des  Tract. 
brevis  II  2,  2  u.  3  S.  115).  Der  Gegensatz  ist  hier  die  geteilte  Gesellschaft, 
die  der  bekehrte  Autor  „vorhin"  bei  sich  zu  haben  pflegte,  d.  h.  die  ge- 
teilten  Sinne  und   irdischen   Lüste. 


Zur  Entstehungsgesch.  d.  Lehre  Spinozas  v.  Amor  Dei  intellectualis. 


25 


seine  eigene  Wurzel,  die  Finsternis,  verachtet.  Davon  kommt's,  daß 
in  jedem  Willen  jeder  Essenz  wieder  ein  Zentrum  eines  ganzen  Wesens 
ist.  Und  das  ist  die  Ursache  der  Schöpfung  dieser  Welt  und  daher 
urständet  (originem  traxit)  die  Materie  der  Erde,  der  Sterne  und 
Elemente,  auch  alle  Kunst,  Witz,  List,  Trug,  Falschheit,  Geitz  und 
Hochmut  in  den  Kreaturen  dieser  Welt  (S.  105  f.  lat.  =  19  f.  d.). 
Die  äußere  Welt  mit  den  vier  Elementen  ist  aus  der  inneren  erzeugt 
(procreatus)  (S.  135  lat.).  Alle  Materie  ist  in  der  Potenz  des  wahren 
Feuers  (Jehovahs)  gelegen  (S.  87  lat.).^^) 

Es  ist  ferner  nicht  allzu  schwer,  einen  mos  geometricus  in  des 
Mystikers  Weltableitung  zu  ersehen;  man  weiß  aus  Proklos,  daß  die 
Forderung  und  Gewohnheit  eines  geometrischen  Verfahrens  den  Neu- 
platonikern  nicht  fremd  war.^^) 

Ein  anderer  Rückstand  aus  Spinozas  Frühzeit  scheint  der  ,,Sohn 
Gottes"  zu  sein,  der  im  „Kurzen  Traktat"  zuweilen  auftaucht.^^) 
Richter  meint,  die  Scholastik,  vielleicht  auch  die  Kabbala  habe  da 
einen  plotinischen  Gedanken  vermittelt.  Das,  was  wir  obea  über 
die  Entfaltung  der  drei  göttlichen  Personen,  vor  allem  des  „Sohnes" 
als  des  Herzens  aus  Gott  durch  Boehme  vernahmen,  erlaubt  uns, 
ein  neues  „Vielleicht"  hinzuzusetzen.  Die  Merkmale,  die  Richter^^) 
dem  „Sohn  Gottes"  im  Verhältnis  zum  Urwesen  zuschreibt,  passen 
im  allgemeinen  ausgezeichnet  auf  Boehmes  „Sohn".  Gott  selbst  ist  der 
ewige  Wille  und  dieser  ist  in  ihm,  er  geht  darauf  aus,  sein  Herz  (cor 
suum)  oder  „den  Sohn"  (filium  ohne  Zusatz  wie  bei  Spinoza)  zu  er- 
zeugen.^') Die  heilige  TernarzahP^)  in  einer  Essenz  ist  der  „Vater", 
die  ewige  Freiheit  ohne  Grund,  d.  h.  die  zweite  Gestalt  der 
Ewigkeit. 


'^)  Dort  Genaueres. 

"*)  Kaum  mehr  bedarf  es  nach  all  dem  Gesagten  einer  ausdrücklichen 
Erwähnung,  daß  das  von  Alfr.  Wenzel  (S.  399)  an  Spinozas  Substanz  ver- 
mißte „Quellen"  auch  in  der  Psychologie  Boehmes  fehlte. 

")  Sigwart  bei  Richter  S.  103  ff . 

»•)  S.  105  ff. 

*')  S.  79.  Dort  verweist  Boehme  für  das  Genauere  auf  das  dritte  Buch 
seiner  früheren  Schriften. 

»«)  S.  89  f. 


26  Adolf    Dyroff, 

Daß  sich  die  Boehmesche  Theologie  dem  jungen  Spinoza  vor  allem 
durch  die  tolerante  Auffassung  Jehovahs,  durch  die  von  Werden- 
hagen stark  vermehrten  biblischen  Belege  empfahl,  wird  wohl  ohne 
weiteres  einleuchten;  Werdenhagens  Behauptung,  daß  Juden,  Türken, 
selbst  Heideii  in  ihrem  Aberglauben  viel  ernstlicher,  emsiger,  andäch- 
tiger und  an  guten  Werken  viel  reicher  seien  als  die  Christen^^),  kam 
den  Ansichten  des  , .abtrünnigen"  Juden  nicht  wenig  entgegen.  Um- 
gekehrt scheut  er  sich  bekanntlich  nicht,  den  Geist  (spiritus)  Christi 
mit  dei"  idea  Gottes  gleichzusetzen,  von  der  es  allein  abhänge,  daß 
der  Mensch  frei  sei  und  daß  er  das  Gute,  das  er  für  sich  begehre,  auch 
für  die  übrigen  Menschen  begehre  (IV  prop.  68  coroll.).  Einen  mo- 
dulus  (Modell)  oder  Idea  kennt  auch  Boehme  (S.  105, 155  ff.  lat.  u.  ö.); 
•aus  ihr  geht  die  creatio  hervor  zur  „Existenz"',  die  ähnlich  ist  dem 
bewundernswerten  Auge  Jehovahs  (Gott  Sohn).  Diese  „Idea"  wird 
von  Boehme  auch  speculum  genannt  und  im  Zusanmienhang  damit 
ist  von  „Liebe  und  Zuneigung  (dilectio)  Jehovahs"  gegenüber  den 
Sterblichen  die  Rede,  sowie  vom  Geist  (spiritus),  der  der  Spiegel 
seines  ,, Machers"  ist:-  Christi  Fleisch  hat  im  ,, Geist"  seinen  „Pro- 
pheten" (S.  156  f.). 60) 


^^)  Henke-Mirbt  bei  Hauck,  Realenzyklopädie.  Die  Äußerung  auch 
aus  d.  J.  1632.  Leider  kann  ich  in  der  Kriegszeit  andern  Werken  Werden- 
hagens nicht  nachgehen. 

^^/  Facies  to'ius  universi  (s.  darüber  u.  a.  Alb.  Rivaud,  Les  notiona 
d'essence  et  d'existence  dans  la  philos.  de  Spinoza  S.  167  f.  u.  ö.)  oder  dergl. 
gelang  mir  bisher  nicht  in  dem  Gestrüppe  der  Boehme- Werdenhagenschen 
Psychologie  zu  erspähen,  obwohl  bei  den  Symbolen  ,,Oculus",  Imago,  Spe- 
culum das  Bild  nicht  fern  lag.  Einer  meiner  Schüler  (Ostlender)  fand  gelegent- 
lich einer  auf  Humes  Glaubensbegriff  gerichteten  Arbeit  bei  Calvin  Instit. 
christianae  rcligionis  I  c  9  n  3:  Mutuo  enim  quodam  nexu  Dominus  verbi 
spiritusque  sui  certitudinem  inter  ac  copulavit:  ut  solida  verbi  religio  animis 
nostris  insidat,  ubi  affulget  spiritus,  qui  nos  illic  Dei  faciem  contemplari 
faciat  .  .  .  ut  vicissim  nullo  halluoinationis  timore  Spiritum  amplexemur,  ubi 
illum  in  sua  imagine,  hoc  est  in  Verbo,  recognoscimus.  In  der  Bibel  ist  nach 
Ausweis  der  Konkordanz  der  Ausdruck  facies  Domini,  Dei  im  alten  Testa- 
ment nicht  selten.  Wahrscheinlicher  aber  ist  mir,  daß  der  entsprechende 
Ausdruck  Avicemias  nachwirkt,  der  VI  De  Naturalibus  IV  2  von  einer 
,, facies"  der  Imaginatio  spricht  und  dort  darunter  die  Außenseite  der 
letzteren  oder  ihr  Gesicht  versteht,  das  auf  die  Sinnendinge  gerichtet  ist 
(genau  ad  sensibilia  habet);  es  setzt  diese  ,, facies*  dem  sensus  com- 
munis gleich. 


Zur  Kntslchungi-'gesch.  d.  Lehre  .Spinozas  v.  Amor  Dei  intellectualis.       27 

Vergoblidi  freilich  scheint  mir  vorläufii^  der  Versuch,  feslzu- 
stelleii,  wer  den  Scliiiler  der  Synagoge  auf  den  von  ihm  ausdrücklich 
dem  Paulus  zugeschriebenen  Satz  brachte:  Onuiia  in  Deo  esse  et 
in  Deo  moveri.  Näher  als  der  Wortlaut  bei  Geulinox  (G.  Th.  Kichter, 
Spinozas  philosophische  Terminologie,  Leipzig  1913  S.  168)  käme 
inmierhin  noch  der  bei  Boehme :  In  Deo  res  omnes  sunt,  in  eo  vivimus 
et  fovemur  atque  eius  sumus  progenies  (S.  78).^^)  Geulincx  sagt  dem 
griechischen  Text  entsprechend:  in  ipso  vivinms,  movenmr  et 
sumus.  Werdenhagen  verfügt  über  ein  großes  biblisches  Stelleir- 
niaterial  und  kurz  vorher  ist  Paulus  genannt  (S.  76).  Der  Druck- 
fehler „fovenuir"  statt  ,, movenmr"  könnte  Spinoza  nicht  belästigt 
haben.  Indes  der  berühmte  Satz  lag  doch  auf  der  Gasse.  Den  konnte 
Spinoza  leicht  seiner  Lehre  gleichartig  finden.  Man  wird  nicht  ver- 
gessen dürfen,  daß  Boehme,  wenn  er  Gott  zugleich  als  „Nichts" 
schildert,  bedenklich  von  Spinoza  ab-  und  nahe  an  Hegel  heranrückt. 
Einige  seiner  hierher  gehörigen  Aussprüche  sind: 

Gott  rein  in  sich  als  bloßer  leerer  WiUe  ist  stille  Ewigkeit  (trans- 
quilla  aeternitas,  S.  81),  Stille  (tranquillitas)  und  ewiger  Friede 
(aeterna  pax)  (S.  83),  ist  nichts  (nihil),  obwohl  sie  ist,  ist  alles  (omnia) 
und  doch  gleichsam  (quasi)  nichts  (83,  89  f.),  ist  ohne  Essenz  (S.  83), 
eine  ungeheure  Weite  ohne  Grund  (ingens  amplitudo  absque  fundo, 
S.  83).  Daraus  wird  erst  die  ,, stille  Freiheit"  (quieta  libertas,  S.  81), 
die  weder  Finsternis  (tenebras)  noch  Licht  (lux)  enthält,  in  scharfem 
Trieb  und  Anziehung  geschärft  (ebd). 

Spinoza  würde  ferner  nur  zum  Teil  den  Satz  unterschrieben 
haben:  Quod  in  aeternitate  Spiritus  est,  id  in  hoc  mundo  essentia 
et  substantia  est  (Werdenhagen  S.  110).  Auch  ist  Gott  für  Boehme 
nicht  Natur,  er  wird  nur  dazu. ^2) 

Doch  die  scharfen  Gegensätze  zwischen  beiden  Philosophen  zu 
belegen,  kami  nicht  Aufgabe  dieser  Abhandlung  sein.  Wir  wissen, 
was  den  starken  Umschwung  im  Denken  des  Holländers  herbeiführte. 
Nur  würden  wir  jetzt  uns  so  ausdrücken:  Durch  die  große  Einheits- 
konzeption Boehmes  war  Spinozas  Blick  von  vornherein  für  die  In- 
konsequenz im  Substanzdenken  des  Descartes  geschärft.     Gibt  man 


*-)  Vgl,  S.  287  lat.:    Jehovah  omnia  in  omnibus  implet. 

*^)  S.  79  freilich  auch  dicendum  est,  quod  Jehovah  in  Natm-a  sit. 


28  Adolf   Dyroff. 

eine  solche  Gene,  is  des  neuen  Systems  zu,  dann  ist  unwahrscheinlich, 
was  Baensch  meint,  daß  nämlich  Spinoza  überhaupt  eine  Begründung 
seiner  Definitionen  geplant  habe.  Die  Annahme  ist  auch  aus  dem 
Grunde  unmöghch,  weil  dann  ja  die  geometrische  Methode  prinzipiell 
aufgegeben  wäre. 

Vielleicht  könnte  man  das  Verhältnis  zwischen  mystisierendem 
Hintergrund  und  rationalistischem  Vordergrund  im  Systeme  der 
p]thik  auf  eine  Formel  bringen,  die  durch  eine  zu  Spinozas  Zeit  noch 
sehr  übliche  Begriff sbildung  nahe  gelegt  wird:  Der  mystische  Stoff 
ist  durch  die  rationalistische  Form  umgeprägt  worden.  ^^) 


*3)  Ich  bitte,  den  Satz  nicht  mit  ganz  andersartigen  Auffassungen  zu 
verwechseln,  wie  etwa  mit  der  maßlosen  Übertreibung  Milarchs  (a.  a.  O.  S.  21): 
Spinoza  fasse  die  Theosophie  Boehmes  in  logische  Kategorien. 


IL 

Über  die  Bedeutung  der  gegenwärtigen  Zeit 
als  Wendepunkt  in  der  Geschichte  der  Menschheit. 

Von 

Rudolf  Tönnis,  Berlin-Dortmund. 

Die  weltgeschichtlichen  Ereignisse  unserer  Zeit  zwingen  alles 
Denken  in  ihren  Bann,  Ipnken  den  Blick  in  verstärktem  Maße  auf 
die  Tatsächlichkeiten  des  Lebens  und  rufen  eine  große  passive  Ein- 
heit der  verschiedensten  Denkrichtungen  hervor.  Eine  notwendige 
Wirkung,  die  uns  auf  die  Lehren,  die  uns  das  Leben  jetzt  gibt,  vor- 
bereitet und  dafür  empfänglich  macht. 

Wenn  ein  gewaltiges  Unwetter  über  eine  Gegend  dahinbraust 
und  allem,  was  lebt,  mit  Vernichtung  droht,  da  vertragen  sich  Wolf 
und  Schaf.  Die  Fragen  der  Selbsterhaltung,  die  jeden  mit  gleicher 
Wichtigkeit  angehen,  sind  die  nächstliegenden,  und  aller  Wille  rich- 
tet sich  in  gleichem  Sinne  gegen  den  gemeinsamen  Feind.  Unter 
der  Wucht  der  gemeinsamen  Interessen  treten  alle  unterschied- 
lichen Meinungen  in  den  Hintergrund. 

Gegenüber  dem  früheren  Parteihader  auf  allen  Gebieten  wirkt 
die  gegenwärtige  Volkseinigkeit  in  ihrer  erhebenden  Größe  wie  eine 
wunderbare  Erlösung  von  allen  „Engherzigkeiten  und  Kleinlich- 
keiten", die  das  wissenschaftliche  und  öffentliche  Leben  scheinbar 
ganz  unnötig  zu  zersplittern  schienen.  Nun  ist  plötzlich  ein  gemein- 
sames, alle  vereinendes  Ziel  da;  ein  beherrschender  Gedanke  be- 
wegt das  ganze  Volk. 

Aber  der  gemeinsame  Gedanke,  so  groß  und  qualitativ  wertvoll 
er  auch  sein  mag,  ist  mehr  ein  äußerlicher,  d.  h.  ein  durch  äußere 
Mlässe  hervorgerufener.  Er  trägt  zwar  wesentlich  zur  Klärung 
vieler  Streitfragen  bei  und  hat  seine  bleibende  Rückwirkung  auf  alle 


30  Rudolf  Tön  II  is, 

inneren  Verhältnisse,  wie  wir  schon  jetzt  sehen  und  wie  das  in  der 
Oeschiclite  nacli  allen  großen  Kriegen  der  Fall  war,  aber  die 
Lösung  grundsätzlicher  Gegensätze  trägt  er  nicht  in  sich,  trägt 
er  wenigstens  zunächst  nicht  in  sich. 

Von  allen  groljen  Ereignissen  werden  große  Wirkungen  erwartet. 
Wer  aber  die  Hoffnung  hegt,  daß  mit  der  äußeren  Einigkeit  auch 
die  Zv/iespältigkeit  der  innerpolitischen  Gesinnungen,  die  ja  die 
weitesten  Kreise  berühren,  beigelegt  sein  könnte,  wird  sich  schwer 
enttäuscht  sehen.  Den  Wandel  der  Gesinnung  erwartet  jede  Partei 
von  der  andern;  sie  selbst  weiß  nichts  von  ihrem  eigenen  bösen 
Geist  der  Unverträglichkeit. 

Die  alten  Streitfragen  sind  nur  eine  Zeit  lang  von  der  Tages- 
ordnung abgesetzt  und  ad  acta  gelegt.  Auch  sorgt  die  Zensur  für 
Orientierung  der  zu  erörternden  Fragen  an  der  ZeiÜage.  Sie 
können  weder  durch  ein  großes  Zeitereignis  erledigt,  noch  auf 
andere  Weise  beseitigt  werden.  Es  sind  eben  innerpolitische  Le- 
bensaufgaben, die  gelöst  werden  müssen,  es  gibt  keinen  an- 
dern Weg. 

Die  innerpolitischen  Fragen  und  solche  anderer  Lebensgebiete 
treten  nur  solange  in  den  Hintergrund,  wie  die  einende  Ursache  an- 
hält und  stark  genug  anhält.  Ist  das  Kriegsgewitter  vorbei,  so 
müssen  auch  notwendigerweise  die  alten  Fragen  wieder  auftauchen 
und  der  alte  Hader  und  Streit  um  grundsätzliche  Meinungsver- 
schiedenheiten, (die  letzten  Endes  in  einer  uneinheitlichen  Lebens- 
auffassung ihre  gemeinsame  Wurzel  haben),  ist  wieder  da. 

Unbemerkt  wird  vielfach  unsere  gegenwärtige  Einigkeit  von 
denjenigen,  die  hinter  den  Ereignissen  eine  tiefere  Wandlung  der 
gesamten  Menschheit  vermuten,  in  unklarem  Verständnis  des 
Drängens  des  deutschen  Zeitgeistes  in  glattem  Hinüberfluß  auf  diese 
übertragen  und  von  der  Zukunft  erwartet.  Die  Ereignisse  der 
ersten  Kriegsmonate  und  die  beispiellosen  ferneren  Erfolge  unserer 
Heere,  schienen  ja  die  kühnsten  Erwartungen  zu  rechtfertigen.  Im 
Verlaufe  fast  zweier  Kriegsjahre  ist  jedoch  eine  erheblich  klarere 
Erkenntnis  der  Sachlage  eingetreten,  die  zu  nüchternster  Betrach- 
tung derselben  zwingt  und  die  Hoffnungen  der  Zukunft  auf  ein  durch 
die  Tatsachen  berechtigtes  Maß  herabsetzt.  Die  Meinungen  über 
höhere  Ziele  sind  daher  recht  verschieden. 


über  die  Bedeutung  der  gejfenwärtigen  Zeit  usw.  31 

Während  der  eine  jede  Erörterung  nicht  realistischer  Ideen  von 
der  Hand  weist  und  alle  über  die  nächstliegenden  praktischen  For- 
derungen des  Lebens  hinausgehende  Fragen  für  verfehlt  wähnt, 
hält  der  andere  in  der  Stille  an  unbestimmten  fernen  Zielen  fest: 
hinter  dem  Dunkel  des  Qestehens  verbirgt  sich  mehr,  als  nur  poli- 
tische oder  wirtschaftliche  Meinungsverschiedenheiten.  Um 
Meinungsverschiedenheiten  handelt  es  sich  allerdings,  aber  sie  liegen 
tiefer,  sie  gehen  aus  von  grundsätzlich  verschiedenen  Welt-  und 
Lebensauffassungen.  Es  kämpft  der  sachlich-idealistische  deutsche 
(leist  gegen  den  naturhaft-egoistischen  englischen! 

Wenn  auch  vom  deutschen  Geist  viel  zu  erhoffen  ist,  so  ist  er 
doch  keineswegs  heute  soweit  gereift,  daß  eine  durchschlagende  Wir- 
kung auf  die  Lebensauffassung  fremder  Nationen  schon  jetzt  zu  er- 
warten v/äre.  Diese  Gedanken  sind  es  auch  keineswegs,  die  uns 
einen;  wenigstens  walten  sie  nicht  bei  der  großen  Mehrheit  vor. 
Die  das  Volk  beherrschende  Einigkeit  müssen  wir  zunächst  trennen 
von  denjenigen,  die  wir  eventuell  für  die  Zukunft  der  Menschheit 
durch  den  deutschen  Idealismus  erwarten. 

Der  Krieg,  d.  h.  das  Bewußtsein,  daß  uns  ein  schweres  Un- 
recht geschieht,  sowie  der  Zorn  gegen  die  gemeinsamen  Feinde, 
sind  die  Ursache  der  Einigkeit  im  allgemeinen.  Der  uns  gegenwärtig 
beseelende  Einheitsgedanke  ist  nur  spontan  unter  dem  Zwang  der 
Notw-endigkeit  entstanden,  erstreckt  sich  auch  nur  auf  unsere  po- 
irtische  Lebenseinheit  und  ist  wegen  seines  subjektiven 
Charakters  nicht  geeignet,  in  Beziehung  zur  Menschheit  zu  stehen. 
Diese  wird  gerade  durch  subjektive  Affekte  und  nationale  Meinun- 
gen zerrissen.  So  erbittert  wie  heute  haben  die  Nationen  iri  ihren 
Gegensätzen  einander  noch  nie  ge'genübergestanden.  Es  ist,  als  ob 
die  Harmonie  der  Menschheit  in  der  Tat  ein  leerer  Traum  sei. 

Aber  trotzdem:  hinter  der  Ursache  der  deutschen  Einheit,  hinter 
dem  Bewußtsein  des  schweren  Unrechts  wird  unbewußt  mehr 
empfunden  als  bewußt  erkannt  wird,  und  wenn  auch  zwischen 
dem  deutschen  Einheitsbewußtsein  und  der  Harmonie  der  Mensch- 
heit eine  gewaltige  Kluft  liegt,  eine  nähere  Beziehung  ist  doch 
vorhanden.  Es  fragt  sich  nämlich,  ob  nicht  das  Rechtsbewußtsein, 
das  in  uns  lebt,  sich  auf  Tatsächlichkeiten  stützt,  die  dem  Recht  an 
sich,  die  dem  Recht  als  solchem  also  von  Haus  aus  zu  Grunde 
liegen,  d.  h.  aber  ein  solches  wäre,  das  nicht  nur  u  n  s  e  r  m  nationalen 

Aichiv  für  Geschichte  der  Philosophie.    XXXI.  1.  3 


32  Rudolf  Tönnis, 

Rechtsbewiißtsein  entspräche,  sondern  dem  aller  Völker,  wenn 
sie  zur  Anerkennung  dieser  ihrem  Standpunkt  übergeordneten 
Wahrheit  gebracht  werden  könnten. 

Das  müßte  eine  Wahrheit  sein,  die  nicht  von  unserem  persön- 
lich nationalen  Wiiien  abhängig  wäre,  sondern  an  sich  bestände. 
also  dem  Leben  als  solchem  zu  Grunde  läge  und  dem  sich  jeder  als 
letzte  Wahrheit  zu  fügen  hätte.  Freilich  gibt  es, diese  Wahrheit 
heute  noch  nicht,  sie  läßt  sich  aber  gewinnen,  sie  läßt  sich  ableiten 
aus  der  klar  gesehenen  Entwicklung  des  Lebens. 


Wer  das  Geschehen  von  einer  höheren  Warte  aus  betrachtet, 
dem  muß  sich  die  Tatsache  aufdrängen,  daß  ja  die  gleichen  sozial- 
politischen Fragen  alle  Völker  beschäftigen,  ebenso  wie  die  gleichen 
Probleme  der  Wissenschaft  und  die  höchsten  geistig  -  seelischen 
Lebensfragen  die  gesamte  Menschheit  betreffen.  Beide  Problem- 
gruppen sind  Teile  eines  großen  geistigen  Reifungs- 
prozesses der  Menschen  und  speziell  der  höheren  national- 
sozialen Entwicklimgseinheiten  derselben. 

Wie  aber  aus  dem  Ausgange  der  kriegerischen  Konflikte  —  in 
welchem  Sinne  es  auch  sei  —  die  Lösung  der  höchsten  Probleme 
hervorgehen  soll,  ist  zunächst  ganz  unklar;  es  ist  ohne  weiteres 
nicht  zu  ersehen,  wie  sich  etwa  die  Streitfrage  zwischen  Indivi- 
dualismus und  Sozialismus,  zwischen  Egoismus  und  Altruismus, 
zwischen  Realismus  und  Idealismus,  zwischen  Nationalismus  und 
Universalismus,  zwischen  Monismus  und  Dualismus,  zwischen 
Wissenschaft  und  Religion  lösen  sollen;  denn  diese  Fragen  berühren 
sich  alle  und  alle  hängen  in  der  Tiefe  miteinander  zusammen. 

Die  geistige  Entwicklung  der  Menschen  ist  seit  der  Renaissance 
und  Reformationszeit  in  wachsendem  Maße  eine  expansive  gewesen 
und  dehnte  sich  schließlich  so  weit  aus,  daß  die  Menschen  nun  jede 
geistig-seelische  Einheit  und  Konzentration  auf  allgemeine  Ideen 
entbehren.  Eine  höhere  geistige  Führung  durch  von  allen  anerkannte 
und  sie  in  gleicher  Weise  beherrschende  Gedanken  fehlt  heute  völlig. 
Die  geistige  Zerrisseniheit  der  Menschheit  von  heute  ist  eine 
wesentliche  Ursache  des  Krieges,  die  bei  unserer  hohen  Kultur  als 
Hohn  auf  die  Gesittung  empfunden  werden  muß.  Die  alten 
Ideale  sind  verblaßt  und  neue  sind  noch  nicht  da. 


über  die  Bedeutunii'  der  KegeriwärtiRen  Zeit  usw.  o3 

Eüicndc  Menschheitsgedankeii  barg  seinerzeit  das  Chirsten- 
tum,  aber  jene  Epoche  war  noch  nicht  reif,  die  ganze  Wahrheit  zu 
erkennen  und  so  verband  sich  mit  jenem  Qedankengebäude  sowohl 
ein  unwahres  Weltbild»  als  auch  eine  ebenso  unhaltbare  Lebens- 
anschauung, d.  h.  soweit  sie  auf  dogmatischer  Grundlage  ruht.  Die 
christlichen  Gedanken  haben  Kriege  zu  keiner  Zeit  verhindern 
können,  sie  mußten  aber  im  selben  Maße  ihre  einende  und  ver- 
pflichtende Kraft  umsomehr  einbüßen,  je  mehr  die  Erfahrung  allen 
Einsichtsvolleren  sagte,  daß  die  Wirklichkeit  des  Lebens  mit  jenen 
Lehren  nicht  übereinstimmte.  So  mußte  das  Interesse  der  Völker 
auch  in  erhöhtem  Maße  auf  nächstliegende,  die  eigene  Zukunft  be- 
treffende Fragen  zurücksinken,  als  daß  sie  sich  für  aligemeine 
Menschheitsgedanken  hätten  erwärmen  können. 

\'on  humanitären  Menschheitsgedanken  kann  erst  dann  diese 
verpflichtende  Kraft,  ausgehen,  wenn  ihnen  diejenigen  Gedanken 
klar  bewußt  zu  Grunde  gelegt  werden  können,  die  ihrem  Wesen 
in  der  Tiefe  des  Unbewußten,  d.  h.  an  sich  zu  Grunde  lifegen. 

Es  ist  nicht  in  Frage  zu  stellen,  daß  die  christliche  Lehre  hohe 
Wahrheitswerte  in  sich  birgt,  die  alle  Zeiten  überdauern  werden, 
aber  ebenso  richtig  ist  es,  mit  den  Tatsachen  zu  sprechen  und  zu 
behaupten:  Hätte  sich  die  Kraft  der  christlichen  Ideen  als  genügend 
stark  erwiesen,  so  hätte  der  Krieg  gar  nicht  entstehen  können, 
daß  er  doch  entstand  und  Jahrzehnte  hindurch  unter  den  Augen 
der  offiziellen  Vertreter  der  christlichen  Lehre  sich  vorbereiten 
konnte,  beweist,  daß  die  Lehre  nicht  aus  sich  heraus  die  Kraft  be^ 
saß.  das  gegenwärtige  Schicksal  von  der  Menschheit  abzuhalten. 
Sie  hat  das  schwerste  aller  Dramen  der  Menschen  nicht  nur  nicht 
von  den  Menschen  im  allgemeinen  abwenden  können,  son- 
dem  nicht  eiinnal  von  den  christlichen  Völkern  unter- 
einander. Es  sind  in  der  christlichen  Lehre  noch  nicht  die 
Wahrheiten  ausgesprochen,  die  sich  als  Führer  im  Leben  be- 
währen. 

Es  gilt  also  die  christliöhen  Ideen  auf  ihren  wahren  Wert  zu- 
rückzuführen, so  daß  sie  sich  sinnvoll  und  ohne  Zwang  in  das  an 
sich  bestehende  Lebensgetriebe  einfügen.  Bevor  dies  aber  möglich 
ist,  müssen  wir  das  Leben  selbst  in  seinen  Qrundzügen  kennen 
und  die  Wahrheiten  der  neuen  Zeit,  dienen  jene  christlichen  Ideen 
allein  nicht  gewachsen  waren,   zu  gewinnen  suchen. 

3  ■ 


34  RudolfTönnis, 

Einende  Menschheitsgedanken  können  n,ur  gewonnen  werden, 
indem  wir  die  Wahrheiten,  die  dem  Leben  an  sich  zu  Grunde 
liegen,  zu  Richtlinien  fürs  Leben  machen  und  aus  ihnen  die  fehlen- 
den Ideale  ableiten. 

Die  bleibenden  Werte,  welche  unsere  verfließende  Epoche 
gegenüber  allen  früheren  Zeitperloden  neu  herausgebracht  und  zum 
alten  Bestände  des  Wissens  als  neu  hinzugefügt  hat,  und  die  ihr 
den  besonderen  Stempel  aufdrücken,  konzentrieren  sich  im  Ent- 
wicklungsgedanken: Das  Leben  unterliegt  in  all  seinen  Erscheinungs- 
formen der  Entwicklung  und  diese  Wahrheit  steht  jetzt  ebenso  im 
Mittelpunkt  einer  Weltanschauung,  ist  ebenso  unvergänglich  wie 
diejenige,  die  den  ethischen  Gehalt,  d.  h.  den  Kernpunkt  der  christ- 
lichen Lehre  ausmacht.  Da  beide  wahre,  fundamental  wahre  Be- 
standteile des  Lebens  bilden,  so  können  neue,  allgemein  anzu- 
erkennende, einende  Gedanken  nur  aus  der  Verschmelzung  beider 
Gedanken  hervorgehen. 

* 

Wir  müssen  zwischen  zwei  christilichen  Gedankenkreisen  unter- 
scheiden, die  an  sich  nichts  miteinander  zu  tun  haben. 

Der  eine  entspringt  den  in  der  menschlichen  Natur  begründeten 
höheren:  altruistischen  Trieben  und  erstreckt  sich  auf  allgemeine 
MenschenHebe  und  Betonung  des  E  i  n  z  e  1  rn  e  n  s  c  h  e  n  w  e  r  t  e  s. 
Der  höheren  Natur  entstammt  auch  die  Sehnsucht  der  Menschen 
nach  Erlösung  von  dem  Elend  des  Daseins,  nach  einem  höheren, 
lauteren,  vollkommeneren  Leben  als  dem  allgemeinen  Ziel  der 
Menschen.  Diese  Sehnsucht  ist  auch  im  Menschen  selbst  vorhanden, 
ist  eine  Eigenschaft  seiner  Seele,  ist  in  seiner  höheren  Natur  be- 
gründet und  besitzt  somit  gleichfalls  eine  N  a  t  u  r  g  r  u  n  d  1  a  g  e ,  die 
in  allen  gesitteten  Völkern  lebt,  ob  sie  nun  buddhistisch,  mohamme- 
danisch oder  christUch  sind.  Aber  die  Erklärung,  was  unter 
diesem  höheren  Leben,  das  uns  über  die  Not  des  täglichen  Lebens 
emporheben  soll,  zu  verstehen  und  der  Weg,  wie  ein  solches  Leben 
zu  erreichen  ist,  sowie  überhaupt  die  Erklärung  des  allgemeinen 
Weltgeschehens  und  des  widerspruchsvollen  Lebens,  die  sich  um 
diese  zentralen  Empfindungen  und  Gedanken  bewegt,  sich  also  not- 
wendigerweise mit  dem  inneren  Sehnen  verbinden  muß  und  ge- 
radezu  den   Inhalt   der   Naturgrundlage   zu   bilden 


über  die  Bedeutung  der  «egenwärtigen  Zeit  usw.  hö 

hat,  ist  bei  der  christlichen  Lehre  in  wesentlichen  Gesichtspunkten 
ebenso  verfehlt,  wie  bei  den  übrigen  universal-religiösen  Systemen. 
Es  sind  die  willkürlich  angenommenen  Dogmen,  sie  bilden  den  zwei- 
ten Ideenkreis. 

Der  unaufgeklärten  Zeit  ihrer  Entstehung  gemäß  ist  eine  richtige 
Erklärung  der  Welt  und  des  Lebens  aber  auch  gar  nicht  zu  erwarten 
und  darum  trifft  jene  Stifter  und  Verkümder  keinerlei  Vorwurf.  Im 
Gegenteil,  für  ihre  Zeit  waren  ihre  oder  ähnliche  Lehren  notwendig, 
die  Menschheit  verlangte  nach  Ideen,  die  sie  befreiten,  von  der 
damals  vorherrschenden  Not  des  Daseins. 

Für  eine  Lehre,  die  u  n  s  h  e  u  t  e  n  o  c  h  befriedigen  würde,  waren 
jene  Zeiten  bei  weitem  nicht  reif,  sie  würde,  ganz  abgesehen  von 
der  Unmöglichkeit  ihres  Entstehens,  auch  jenen  Menschen  nicht  das 
haben  nützen  können,  wie  die  ihrem  Verständnis  angepaßten  ein- 
fachen Deutungen,  die  eben  dem  Geiste  ihrer  Zeit  entsprungen 
waren. 

Da  die  Grundlagen  zu  dem  richtigen  Weltbild  noch  nicht  er- 
forscht waren,  so  mußte  das  alte  Weltbild,  sowie  die  Anschauung 
vom  Leben:  was  seine  Bedeutung  und  sein  Sinn  ist,  in  wesentlichen 
Zügen  unrichtig  ausfallen. 

* 

Aus  dem  Studium  der  Natur  hat  sich  im  Laufe  der  Jahrhunderte 
eine  solche  Fülle  sich  gegenseitig  stützenden  und  ergänzenden 
wissenschaftlichen  Tatsachenmaterials  zusammentragen  lassen,  daß 
es  sich  zu  dem  festen  Fundament  einer  neuen  Weltanschauung  aus- 
bauen ließ. 

Besonders  war  es  der  um  die  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts 
festere  Gestalt  gewinnende  Entwicklungsgedanke,  welcher  Licht  auf 
die  Entstehung  der  Pflanzen-  und  Tierwelt  warf,  deren  Existenz  bis 
dahin  allen  unbegreiflich  erschien,  denen  die  naive  Erklärung  des  mo- 
saischen Schöpfungsberichtes  nicht  genügte. 

Die  Auslese  und  Anpassung  im  Daseinskampf  bildeten  Begriffe 
von  großer  Tragweite  auch  für  das  Lebeu  des  Menschengeschlechts. ' 
Nach  der  Entwicklungslehre  steht  der  Mensch  in  enger  Beziehung 
zum  Tierreich,  ist  aus  ihm  hervorgegangen,  im  Gegensatz  zu  der 
Anschauung  der  Kirche,  die  zwischen  Mensch  und  Tier  bezw.  zwi- 


36  Rudolf  Tonn is, 

sehen   dem   Menschen    und    der   übrigen   Natu»   eme    große    Kluft 
annimmt. 

Der  Daseinskampf,  dem  die  christliche  Lehre  aus  dem  Wege 
zu  gehen  suchte  und  der,  wie  jedem  imbefangenen  Blick  offenbar 
wurde,  nicht  allein  im  Pflanzen-  und  Tierreich,  sondern  auch  unter 
den  Menschen  bestand,  wurde  plötzlich  in  seiner  ungeheuren  Be- 
deutung für  alle  Lebewesen  klar.  Unklar  blieb  jedoch  seine  Be- 
rechtigung oder  Nichtberechtigung  unter  den  Menschen,  denn  der 
Mensch  war  doch  schließilich  nicht  mit  den  Tieren  auf  eine  Stufe  zu 
stellen,  er  besitzt  höhere  edlere  Eigenschaften.  Andererseits  bildete 
der  Daseinskampf,  der  die  tüchtigen  Geschöpfe  über  die  weniger 
tüchtigen  zum  Sieger  machte  und  alle  Unfähigen  zurückhielt,  einen 
wichtigen  Faktor  auch  im  Leben  der  Menschen;  im  Kulturleben 
der  Menschen,  für  welches  in  der  christlichen  Lebensanschauung  gar 
kein  rechter  Platz  zu  finden  war,  denn  nach  den  christlichen  An- 
schauungen war  das  Dichten  und  Trachten  des  menschlichen  Herzens 
böse  von  Jugend  auf.  Diesem  irdischen  Dichten  und  Trachten  ent- 
springt aber  gerade  das  Kulturleben  mit  seinen  Kämpfen  und  seiner 
Not.  Wer  nun  die  Not  zn  bekämpfen  trachtet,  der  darf  nicht  das 
irdische  Sehnen  und  Wünschen,  das  Dichten.  Trachten  und  Streben, 
das  ja  den  ganzen  Inhalt  unserer  Seele  ausmacht,  verurteilen  und 
den  Daseinskampf  verneinen  und  alle  Zwiespältigkeit  mit  ihren 
Leiden  und  ihrer  Not  auf  eine  Schul  d  der  Menschen  zurückführen 
wollen.  Eine  solch  primitive  Erklärung  kann  heute  nur  noch  einer 
seichten  Auffassung  genügen,  die  von  dem  wirklichen  Ineinander- 
greifen der  Lebenslaktoren  keine  Vorstellung  besitzt.  Nur 
in  der  vollen  Bejahung  des  Lebens,  in  seinem  Verständnis  und  in 
der  sinnvollen  Anpassung  an  die  Tatsächlichkeiten  desselben  können 
wir  eine  Erklärung  und  langsame  Lösung  der  Widersprüche  finden. 


Friedrich  Nietzsche  erfaßte  zunächst  die  biologische  Be- 
deutung des  Entwicklungsgedankens  und  seine  Tragweite  für  das 
Menschengeschlecht  und  mit  heiligem  Zorne  wandte  er  sich  gegen 
die  christliche  Lehre  als  eine  Lehre  erbärmlicher  Sklavenmoral,  die 
gerade  die  kraftvollsten  und  tüchtigsten  Menschen  unterdrücke,  da- 
gegen alles  Niedrige  und'  Schwächliche  geradezu  künstlich  groß- 
züchte.   Er  predigte  die  alleinige  Existenzberechtigung  eines  Herren- 


über  die  BedeiituiiK  der  ffej,'en\värtigen  Zeit  usw.  oY 

meiischentumes  und  die   rücksichtslose  Bekämpfung  aller  Elenden 
und  Schwachen. 

In  der  Befürwortung  dieses  krassen  Egoismus  kehrt  Nietzsche  in 
gewissem  Sinne  wieder  zu  Verhältnissen  zurück,  wie  sie  zur  r()mi- 
schen  Kaiserzeit  bestanden,  aus  jenen  heraus  war  aber  die  christ- 
liche Moral  entstanden;  sie  war  eine  Überwindung  und  Besiegung 
dieser  egoistischen  Zustände:  eine  Besinnung  auf  die  edleren  Eigen- 
schaften im  Menschen,  denen  sie  zum  Siege  verhalf.  Damals  galt 
der  Starke  alles,  der  Schwache  nichts.  Eine  Rückkehr  zu  diesen 
Zuständen  wäre  aber  kein  Fortschritt. 

Nietzsche  überträgt  mit  seinen  Forderungen  den  Daseinskampf 
der  Tierwelt  ohne  weiteres  auf  die  Menschen  und  läßt  ihre  höheren, 
sittlichen  Eigenschaften  außer  acht.  Diese  scheinen  ihm  gefährlich, 
insofern  sie  die  Entwicklung  eines  kraftvollen  Menschengeschlechts 
unterdrücken,  d.  h.  nach  der  dogmatisch  christlichen  Lehre  unter- 
drücken. Der  Hinweis,  daß  der  Wille  zur  Macht  nicht  an  sich  selbst 
orientiert  sein  darf,  sondern  Mittel  zu  höheren  Zwecken  ist,  fehlt 
zwar  nicht  bei  Nietzsche.  Doch  wird  die  sittliche  Disziplinierung  des 
Machtwillens  nicht  genügend  betont,  denn  es  fehlt  noch  der  Maßstab, 
woran  der  Wille  zu  orientieren  ist. 

Da  die  Entwicklung  des  Menschengeschlechts  aus  dem  Tier- 
reich und  die  Vererbbarkeit  lebenstüchtiger  Eigenschaften  auf  die 
Nachkommen  wissenschaftlich  unumstößlich  feststeht,  so  sind  mit 
den  Lehren  Nietzsches  wichtige  Fragen  für  die  Zukunft  des  Men- 
schengeschlechts angeschnitten,  Fragen  mit  starkem  Wahr- 
heit s  h  i  n  t  e  r  g  r  u  n  d  e  ,  die  nicht  mehr  von  der  Tagesordnung 
verschwinden  können,  es  sei  denn,  daß  sie  gelöst  werden.  Die  Be- 
deutung Nietzsches  besteht  demnach  vorwiegend  in  der  Stellung  der 
neuen  Probleme,  nicht  in  den  Antworten,  die  er  darauf  gibt.  Er  selbst 
erachtet  diese  Fragen,  die  im  übrigen  eine  ganze  Reihe  weiterer 
Probleme  nach  sich  ziehen,  auch  noch  nicht  für  gelöst. 

So  wie  Nietzsche  den  Gedanken  des  Willens  zur  Macht  in  dem 
Mittelpunkt  einer  neuen  Lehre  stellt,  von  dem  aus  er  alle  Lebens- 
verhältnisse betrachtet,  so  haben  auch  frühere  Erzieher  der  Mensch- 
heit, die  die  Probleme  des  Lebens  zu  lösen  sich  bemühten,  von 
einem  bestimmten  ethischen  Gedanken  aus  diese  Antworten  geben 
zu  können  geglaubt,  die  dann  ebenso  einfach  wie  einleuchtend  er- 
schienen. 


38  Rudolf  Tön  nis  , 

Plato  zeigt  den  Menschen  in  hohen  Zielen  und  Bildern  das 
Ideal  Christus  lehrt  die  Nächstenliebe.  Kant  verweist  uns  auf  die 
Pflicht,  nach  Schopenhauer  kann  nur  das  Mitleid  der  Ausgang  aller 
Aloral  sein.  Bentham  stellt  die  Wohlfahrtsmoral  als  letztes  Ziel  auf. 

So  werden  von  diesen  und  anderen  Denkern  bestimmte  Leit- 
gedanken zu  Richtlinien  fürs  Leben  gemacht,  denen  sich  alle  Hand- 
lungen unterordnen  sollen.  Ein  jeder  hat  ein  anderes  Hauptziel 
im  Auge. 

Die  Einseitigkeit  dieser  Forderungen  ist  uns  heute  Lebenden,  die 
\\'ir  allmählich  einen  Begriff  von  der  Viielseitigkejt  des  wirklichen 
Lebens  erhalten  haben,  mehr  und  mehr  zum  Verständnis  gekommen. 

Die  Breite  des  Gesichtsfeldes  war  früheren  Zeiten  durch  die 
noch  fehlende  Tatsachenkenntnis  verengt.  Solange  wie  die  Menschen 
dem  chaotischen  Dunkel  gegenüberstehen,  das  sich  von  keiner  Seite 
recht  in  Angriff  nehmen  und  erklären  lassen  will,  ist  natürlich  jeder 
Lichtstrahl,  der  konsequent  das  Leben  durchdringt,  zu  seiner  Auf- 
hellung wichtig.  Die  Philosophen  konnten  an  Hand  der  Tatsachen- 
kenntnis und  gemäß  ihrer  individuellen  Anlage  ■  zunächst  nur  ein- 
seitige Richtlinien  entdecken,  die  an  sich  nicht  falsch,  sondern  in  ihrer 
Einseitigkeit  schief  gesehen  sind  und  darum  Falsches  enthalten. 

Wir  Menschen  von  heute  erkennen  mehr  und  mehr,  daß  wir 
die  Denker  der  Vergangenheit  weder  ablehnen  noch  eines  ihrer 
Systeme,  so  wie  es  ist,  annehmen  können;  sie  alle  enthalten  bleibende 
Werte,  und  die  Kämpfe  jener  um  die  Wahrheit  waren  nicht  um- 
sonst. Wir  dürfen  indessen  die  Wirklichkeit  nicht  bestimmten 
Gedanken   unterordnen. 

Die  Wirklichkeit  besteht  an  sich,  wir  müssen  daher  das  Leben, 
wie  es  ist,  erklären,  d.  h.  aber  aus  ihm  die  Richtlinien  zu  ge- 
winnen suchen,  die  wir  brauchen.  Es  kann  ja  kein  Zweifel  sein,  daß 
wir  zu  einer  harmonischen  Lebensführung  weder  das  Ideal  der 
Menschenliebe,  noch  aber  die  Eigenliebe,  noch  die  Pflichterfüllung, 
noch  das  Mitleid  oder  die  soziale  Wohlfahrt  usw.  entbehren  können. 
Wir  bedürfen  all  dieser  und  anderer  Wahrheiten,  jede  an  ihrem  Teil 
und  jede  zu  ihrer  Zeit.  Wir  bedürfen  eines  höchsten  Gutes,  das 
alle  diese  Ziele  als  seine  Teilziele  unter  sich  faßt. 

Die  Dinge  liegen  weit  komplizierter,  wie  ursprünglich  vermutet 
werden  konnte.   Viele  Forderungen  des  Lebens  laufen  nebeneinander 


über  die  Bedeiituiik''  der  ge«^eii\\ärtijieii  Zeit  usw.  .'>9 

her,  greifen  vielseitig  ineinander  und  ergänzen  einander  zu  einem 
L  e  b  e  n  s  g  a  n  z  e  n. 

Es  }\ann  nur  eine  Philosophie  geben,  welche  das  Leben,  wie 
es  ist.  erklärt.  Sind  die  Grundlagen  einer  Welt-  und  Lebensanschau- 
ung  wahr,  'so  müssen  sich  auch  die  Philosophien  aller  Zeiten,  soweit 
sie  lebenswahre  Bestandteile  in  sich  bergen,  glatt  in  sie  einfügen 
lassen. 

Es  müssen  somit  zunächst  die  Grundlagen  der  Welt-  und  Lebens- 
anschauung festliegen,  ehe  jene  Binzelwahrheiten  als  solche  recht 
erkannt  und  an  ihren  Platz  gerückt  werden  können;  bis  dahin  können 
sie  nur  annähernd  begrenzt  und  in  ihrem  Wert  beurteilt  werden. 

Eine  genügend  fundierte  Weltanschauung  besitzen  wir  heute, 
aber  es  fehlt  uns  die  Lebensanschauung,  die  dazu  gehört,  und 
die  organisch  aus  ihr  herauswachsen  muß. 

Da  jede  Lebensanschauung  letzten  Endes  in  eine  Ethik  ausmündet, 
die  ihre  Krönung  bildet,  so  muß  unser  Streben  darauf  gerichtet  sein, 
die  ethische  Lebenswahrheit  zu  finden,  die  eben  auch  nur  aus  dem 
Leben  seihst  abgeleitet  werden  kann,  nur  in  ihm  selbst  seine 
Herkunft  haben  kann. 

Im  Leben  selbst  muß  sie  also  ihre  nährenden  Wurzeln  schlagen. 
aus  ihm  ihre  gesunde  Kraft  saugen,  um  sie  dem  sich  entfaltenden 
höheren  Leben  zuzuführen.  Nur  dann  kann  das  kulturelle  Leben 
der  Völker  dauernden  Bestand  haben,  nur  dann  ist  es  davor  ge- 
sichert, falschen  Idealen  nachzujagen  und  in  falscher  Richtimg 
fiber  das  Ziel  hinauszustreben,  oder  auch  zu  erschlaffen,  zu  entarten, 
in  sich  selbst  zurückzusinken  und  zugrunde  zu  gehen. 

Das  Geschehen  unserer  Zeit  drängt  uns  aber 
auf  Erkenntnis  dieses  höchsten  Gutes  hin,  es  ver- 
körpert sich  in    der  Entwicklung  Deutschlands. 

Die  Ethik  der  allgemeinen  Menschenliebe  war.  wie  Wiir  sagten, 
ein  fundamentaler  Bestandteil  des  Lebens  und  dieser  dem  Alt- 
ruismus entspringende  Teil  versagte  in  der  sich  langsam  vorbereiten- 
den kritischen  Situation  der  europäischen  Menschheit.  Den  andern 
lebenswahren  Bestandteil  glaubten  wir  in  der  Entwicklungslehre  fin- 
den zu  müssen.  Aus  der  Lebensentwicklung  muß  sich  der  neue 
noch   fehlende   ethische   Bestandteil    ableiten   lassen.      Solange   wir 


40  Rudolf  Tönnis, 

diesen  noch  nicht  besitzen,  greift  die  Lebensentwicklung  auch  bei  uns 
Menschen  immer  wieder  auf  den  krassesten  Egoismus,  der  dem 
biologischen  (des  höheren  Menschen  unwürdigen)  Daseinskampf  zu 
Grunde  hegt,  zurück. 

So  sehen  wir  es  zur  Zeit  des  römischen  Imperialismus,  so  auch 
in  Nietzsches  Gedankengängen  und  so  sehen  wir  es  im  gegenwärtigen 
Weltkrieg.  Er  steht  im  engsten  Zusammenhang  mit  dem  unserm 
modernen  Leben  fehlenden  Hauptbestandteil  der  Ethik. 
Er  steht  in  engster  Beziehung  zu  den  größten  Problemen  der  Mensch- 
heit. Sie  kämpft  den  Daseinskampf  in  der  gigantischten  Form,  die 
er  jemals,  solange  die  Erde  steht,  angenommen  hat. 

Die  Welt  erhält  ein  Beispiel  von  unerhörter  Wucht;  ein  prak- 
tisches Beispiel  von  eimdringlichster  Kraft  und  Tiefe,  von  oben  her- 
ab, von  höchster  offizieller  Seite  gegeben,  rückwirkend  auf  die  ge- 
samte Menschheit,  sie  vorbereitend  auf  das,  was  folgen  muß: 

Es  spitzt  sich  das  Weltgeschehen  auf  ein  Prinzip  zu!  In 
Deutschland  verkörpert  sich  das  Entwicklungsprinzip  und  mit 
Deutschland  ringt  sich  der  Entwicklungsgedanke  zur  offiziellen  An- 
erkennung seines  Rechts  durch.  Sichentwickelndürfen  ist  ein  Recht, 
das  an  sich  besteht,  ist  also  ein  Naturrecht,  weil  das  Wesen  alles 
Lebens  auf  Entwicklung  begründet  ist. 

Mit  dem  Entwicklungskampf  Deutschlands  wird  die  gesamte 
Menschheit  auf  das  Entwicklungsproblem:  auiEntwicklungals 
eine  wirkende  Macht  in  uns  aufmerksam,  die  ganz 
allgemein  jedes  Volk  und  jeden  e  inzel  nen  Men - 
sehen  betrifft.  Di  e  Ent  w  ickl  u  n  gs  1  eh  r  e  als  solche 
setzt  sich  zur  offiziellen  Anerkennung  durch.  Sich- 
entwickeln-dürfen  ist  das  erste  Recht  jedes  Einzelmenschen  und 
jedes  Volkes.    (Vergl.  Grundgedanken  nur  neuen  Ethik.) 

Im  Zentrum  der  christlichen  Lebensanschauung  steht  die 
Nächstenliebe.  Im  Zentrum  der  Entwicklungslehre,  die  der 
monistischen  Welt-  und  Lebensanschauung  zu  Grunde  liegt, 
steht  der  Daseinskampf,  der  im  Egoismus  wurzelt  Altruis- 
mus und  Egoismus  stehen  sich  in  zwei  Weltanschauungen 
gegenüber.  Der  Monismus  lehnt  den  Altruismus  aber  keines- 
wegs ab;  im  Gegenteil,  er  bemüht  sich,  ihn  organisch  einzugliedern. 


über  die  Bedeutung  der  gegrenwärtigen  Zeit  usw.  41 

denn  heute  ist  er  nur  erst  lose  angegliedert.  Aber  auch  die  christ- 
liche Anschauung  lehnt  den  Egoismus  nicht  grundsätzlich  ab.  Es 
gilt  also  eine  Synthese  zwischen  Egoismus  und  Altruismus  zu  ge- 
winnen und  ihre  gegenseitige  organische  Durchdringung  her- 
beizuführen, um  eine  einheitliche  Lebensanschauung  zu  gewinnen. 
Es  gilt,  die  in  jedem  qualifizierten  harmonischen  Menschen  liegenden 
Na  tur  gru  n  dlag  e  n  der  Seele,  zu  denen  außer  dem  egoistischem 
und  altruistischen  Streben  vor  allem  auchdieSehnsuchtnach 
einem  vollkommeneren  Leben  gehört,  die  Sehnsucht 
aus  den  Unvollkommenheiten  des  Jetztzustandes  herauszukommen. 
stark  in  den  Vordergrund  zu  stellen,  sinnvoll  zu  verstehen  und  den 
sehnsüchtigen  Menschen  den  gangbaren  Weg  zur  Befreiung  von 
der  Not  des  Daseins  zu  weisen, 

Egoismus,  Altruismus  und  Sehnsucht  nach  größerer  Vollkommen- 
heit sind  die  drei  Punkte,  die  wir  lebenswahr  zu  verschmelzen 
haben. 

Der  Weg,  wie  wir  die  Unvollkommenheiten  überwinden  können, 
ist  uns  allein  durch  den  deutschen  Idealismus  angezeigt  und  zwar 
durch  den  praktischen  Idealismus.  Durch  den  praktischen, 
Idealismus  der  W  i  r  k  1  i  c  h  k  e  i  t  s  i  d  e  a  l  i  s  t  e  n  ,  der  sachlich 
denkenden,  real  blickenden  und  aktiv  schöpferischen  Idealisten. 
können  wir  zu  größerer  Vollkommenheit  gelangen.  (Der  praktische 
Idealismus  steht  keineswegs  im  Gegensatz  zum  philosophischen 
Idealismus,  er  geht  vielmehr  glatt  aus  ihm  hervor.) 

Der  Idealismus  ist  an  Individuen  gebunden.  Das  idealistisch  und 
realistisch  zugleich  veranlagte  Individuum  ist  nicht  etwa  ein  z\\'ie- 
spältiges  Wesen,  sondern  gerade  ein  harmonisches.  Idealismus  und 
Realismus  ergänzen  sich  zu  einem  harmonischen  Ganzen.  (Vergl. 
Über  das  Wesen  des  Idealismus). 

Da  das  reahdealistische  Einzelindividuum  für  seine  Person  und 
allein  auf  sich  selbst  gestellt  nichts  Großes  verwirklichen  kann,  son- 
dern dazu  stets  der  Mitarbeit  zahlreicher  Hilfskräfte  in  Arbeitsteilung 
und  durch  Organisation  einer  größeren  sozialen  Gesamtheit  bedarf, 
so  ergibt  sich  daraus  im  Keime  eine  Synthese  zwischen  Individualis- 
mus und  Sozialismus. 

Den  Wirklichkeitsidealisten  kommt  kraft  ihrer  Fähigkeiten  die 
höchste  Leitung  in  allem,  was  Organisation  heißt,  zu,  alle  übrigen 
nicht  real-idealistisch  Veranlagten  ordnen  sich  ein  in  seine  Orq:am- 


42  RudolfTönnis, 

sation;  ein  jeder  hat  an  dem  Platze  zu  stehen,  der  ihm  nach  seinen 
Fähi.ü;keiten  und  Anlagen  zusagt  und  zusteht. 

Die  krassen  Zustände  im  heutigen  sozialen  Qesellschaftsorganis- 
mus.  wie  sie  zwischen  Besitzenden  und  besitzlosen  Arbeitern,  zwi- 
schen Arbeitgebern  und  Arbeitnehmern  bestehen,  sind  zurückzuführen 
auf  den  uns  noch  fehlenden  ethischen  Bestandteil,  welcher  aber  aus 
dem  Entwicklungsgedanken  zu  gewinnen  ist  und  auf  eine  sitt- 
liche D  i  s  z i p li n  i  e  r  u n g  des  egoistischen  S i c h a u s- 
wirken  s  hinausläuft,  das,  je  weniger  es  sittlich  gehemmt  ist,  einen 
umso  krasseren  Daseinskampf  nach  sich  zieht.  Alle  Willensrichtun- 
gen bedürfen  der  gemeinsamen  Orientierang  an  einem  übergeord- 
neten höheren  Ganzen.  Dieses  Ganze  ist  die  aufsteigende  Lebens- 
eiitialtung. 

Das  zukünftige  Ganze  liegt  aber  den  inneren  Willens- 
richtungen (den  Triebrichtungen  in  uns)  bereits  in  der  An-' 
läge  zu  Grunde,  es  wird  bis  jetzt  nur  noch,  nicht  bewußt 
erkannt.  Es  ist  das  gleiche  Prinzip,  das  die  Ursache  der 
gesellschaftlichen  Harmonie  bildet;  denn  trotz  aller  Streitig- 
keiten fällt  der  Gesellschaftsorganismus  doch  nie  auseinander. 
Selbst  aus  den  chaotischen  Zuständen  großer  Revolutionen  haben  sich, 
wenn  auch  nie  ideale  Zustände,  so  doch  immer  wieder  relativ  har- 
monische Verhältnisse  und  meistens  auch  bessere  wie  zuvor  heraus- 
gestaitet. 

Die  Summe  der  zentrifugalen  und  zentripetalen  Willens- 
richtungen trägt  die  Harmonie  bereits  in  sich.  Wir  können  aber  die 
uns  von  Natur  gesteckten  Ziele  erst  bewußt  anstreben,  wenn  wir  sie 
erkannt  haben,  und  damit  würden  wir  zugleich  große,  alle  Menschen 
vereinende  Gedanken  gewinnen. 

Gelingt  es  uns,  die  ethische  Lebenswahrheit  zu  finden, 
so  wird  es  uns  klar  werden,  w  i  e  die  Streitfragen  zwischen 
Individualismus  und  Sozialismus,  zwischen  Egoismus  und  Altniis- 
mus,  zwischen  Realismus  und  IdeaHsmus,  Nationalismus  und 
Universalismus,  Monismus  und  Dualismus,  Wissenschaft  und 
Religion  in  der  Tiefe  alle  miteinander  zusammen  hängen. 

Auf  der  ethischen  Lebenswahrheit  baut  sich  das  Rechtsgebäude 
der  sozialen  Gesellschaft  auf,  die  Wahrheit  dient  den  Reohtsanschau- 
imigen  als  Grundlage.  Gesellschaft  und  Menschheit  erhalten  also  ein 
gemeinsarnes  Fundament. 


über  die  Bedeutung'  der  gegenwärtigen  Zeit  usw.  4.^ 

Entsprechend  der  ungeheuren  Größe  der  Katastrophe  der 
Menschen  ist  auch  die  Bedeutung  der  aus  ihr  hervorgehenden  Wahr- 
heiten für  sie.  Noch  nie,  solange  unser  Planet  besteht,  hat  sich 
Ähnliches  auf  ihm  zugetragen,  und  demgemäß  ist  auch  der  geistige 
Aufschwung,  der  d'ie  Menschheit  in  der  Tiefe  aufrütteln  wird. 

Die  Bedeutung  der  gegenwärtigen  Zeit  ist  also  darin  zu  erblicken, 
daß  das  Weltgeschehen  auf  eine  Verschmelzung  der  Grundgedanken 
des  dogmenfreien  Christentums  mit  den  Grundgedanken  der  natur- 
wissenschaftlichen Forschung:  der  Entwicklungslehre  hinausdrängt, 
oder  mit  anderen  Worten:  Aus  den  gewaltigen  Zeitereignissen,  wird 
eine  Verbrüderung  zwischen  Wissenschaft  und  Religion  hervorgehen, 
die  Hand  in  Hand  dem  gemeinsamen,  natürlich-göttlichen  Ziele  zu- 
streben, ein  vollkommeneres  Leben  herbeizuführen. 

Wir  stehen  vor  dieser  entscheidenden  Wende  und  werden  sie 
erleben. 


y 


ni. 

Zum  Problem  der  Gegenstandssetzung 
der  Philosophiegeschichte. 

Von 
Dr.  David  Einhorn,  Wien. 

Wie  die  Philosophie  ihr  Suchen  mit  dem  Suchen  nach  dem 
Gegenstände  der  Philosophie  beginnen  muß,  so  muß  auch  die  Philo-' 
sophiegeschichte  im  Gegensatz  zu  fast  allen  anderen  erkenntnis- 
geschichtlichen Untersuchungen  die  Bestimmung  ihres  Gegenstandes 
überhaupt  als  ihr  erstes  und  vielleicht  emes  der  ernstesten  Probleme 
behandeln.  In  bezug  auf  die  Philosophie  sind  wir  uns  allgemein 
einer  äußerst  merkwürdigen  Freiheit  bewußt,  ihren  Gegenstand  in 
dieser  oder  jener  Weise  bestimmen  zu  können:  sei  es  im  An- 
schluß an  irgendwelche  Überlieferung  oder  eme  zeitgenössische  Auf- 
fassung die  erste  Entscheidung  über  Sinn  und  Sein  der  Philosophie 
zu  treffen,  sei  es  auf  einem  selbsteigenen  Wege  neue  Wirklichkeiten 
als  die  wahren  Erkenntnisgebiete  der  Philosophie  hinzustellen.  Diese 
Freiheit  bezw.  die  ihr  entsprechende  wunderbare  Wandlungsfähig- 
keit des  Gegenstandes  der  Philosophie  im  Laufe  der  Zeiten  unter- 
scheidet die  letztere  schlechterdings  von  aller  empirischen,  d.  h. 
an  einen  bestimmten  Gegenstand  unabänderlich  gebundenen 
Wissenschaft  —  wie  dies  bereits  und  wohl  zu  allererst  Hegel 
genau  gesehen  und  hervorgehoben  hatte.  Denn  es  wäre 
doch  ganz  ungereimt,  wenn  jemand  allen  Ernstes  behaupten 
wollte,  daß  eine  Erfahrungswissenschaft,  wie  etwa  die  Botanik 
oder  die  Mineralogie  ihre  althergebrachten  Forschungsobjekte 
aufgeben  und  ganz  andere  Bezirke  der  Gesamtwirklichkeit. 
etwa  die  Bewegungen  der  Himmelskörper  oder  die  Grund- 
formen des  religiösen  Erlebnisses  für  sich  eines  Tages  in 
.Anspruch  nehmen  könnten.     Die  Wissenschaft  zeichnet  uns  ihren 


Zum   Problem   der   (Icircnstaivdssetzunk^   usw.  45 

Gegenstand  vor.  In  der  Philosophie  sind  wir  es,  die  dem  Erkennen 
seinen  Gegenstand  aus  freien  Stücken  setzen.  Indem  nun  differente 
Forscher  auf  differenten  mehr  oder  weniger  selbständigen  Wegen 
von  dieser  ihrer  wunderbaren  Freiheit  Gebrauch  machen,  entsteht 
jenes  gewaltige  Chaos  der  bisherigen  Gegenstands-Setzungen  der 
Philosophie,  jenes  so  häufig  geschilderte  und  als  leider  ganz  un- 
heilbares Übel  beklagte  bellum  omnium  contra  omnes,  das  seines- 
gleichen im  Bereiche  des  menschlichen  Erkennens  vergebMch  suchen 

würde. 

So  ist  es  mit  der  Philosophie.     Weshalb  soll  es  aber  mit  der 
Gegenstands  -  Setzung      der      Philosophiegeschichte      irgendwelche 
Schwierigkeiten  geben?     Wie  die  Geschichte  im   allgemeinen,  so 
kann  doch  auch  die  Philosophiegeschichte  im  besonderen  ganz  mn- 
möglich  ein  Freies  sein!    Mag  die  Philosophie  in  der  ersten  Stunde 
ihres  Schaffens  wohl  noch  ein  proteusartiges  Ding,  ein  rätselhaftes 
Spiel   von   verborgenen   Möghchkeiten,  ein  Freies   sein,   allein   als 
geschaffene  Philosophie,  als  Teil  der  Geschichte  der  Philosophie 
ist  sie  ja  eine  ebenso  gebundene,  unfreie,  empirische  Tatsache  wie 
etwa  die  fossilen  Überreste  eines  Achäopterix  eine  unabänderlich  ge- 
gebene Tatsache  der  Paläontologie  bilden.   Die  Geschichte,  mag  sie 
nun  auch  Philosophiegeschichte  sein,  ist  und  bleibt  unter  allen  Um- 
ständen eine  Vergangenheits-Setzung,  und  die  Vergangenheit  ist  ja 
wahrlich  kein  Gebiet,  das  unserer  Freiheit  unterworfen  wäre,  kein 
Reich,  an  dem  wir  etwas  zu  ändern  vermögen.    Die  Gegenstands- 
Setzung  der  Philosophiegeschichte  soll  folglich  genau  so  wenig  Be- 
denken  unterliegen   wie   etwa  die   Qegenstands-Setzimg  der    Ge- 
schichte der  Zoologie  oder  der  Physik.  Wie  kein  Geschichtsschreiber 
der  Zoologie  eine  andere  Wirkhchkeit  zum  Gegenstand  der  Zoologie- 
geschichte erheben  kann  als  diejenige,  in  der  bereits  seine  Vorgänger 
das  Objekt  der  Zoologiegeschichte  erkannten,  genau  so  wenig  dürfte 
ein   Philosophiehistoriker   in  betreff   der    Gegenstands-Setzung    der 
Philosophiegeschichte  von  einem  Vorgänger  oder  Mitarbeiter  wesent- 
lich abweichen  können. 

Wenn  dies  aber  auch  noch  so  einfach  scheint  und  wenn  der  vor- 
hergehenden Betrachtung  des  geschichtlichen  Phänomens  zufolge 
keine  Möglichkeit  des  Auseinandergehens  der  Meinungen  in  bezug 
auf  die  allgemeingültige  Bestimmung  des  Gegenstandes  der  Philo- 
sophiegeschichte zu  bestehen  scheint,  so  fehlt  es  doch  nicht  an  ge- 


4ü  D  a  V  i  d  E  i  n  h  0  r  n  , 

wichtigen  Indizien,  die  ernste  Zweifel  an  der  Möglichkeit  einer  so 
glatten  Lösung,  wie  sie  uns  im  Vorstehenden  zuwinkt,  wachzurufen 
geeignet  sind. 

Ein  derartiges  hidizium  bedeutet  der  im  Nachsteheniden  ange- 
führte überaus  charakteristische  Gedankengang,  der  die  Stellung- 
nahme Wundts  zum  Problem  der  Qegenstands-Setzung  der  Philo- 
sophiegeschichte zum  Ausdruck  bringt. 

Im  ersten  Aufsatz  seiner  Essays  (1906)  äußerst  sich  Wundt 
folgendermassen  (S.  '26 — 7) : 

„Daß  neben  der  kritischen  und  systematischen  die  histo-' 
rische  Behandlung  der  philosophischen  Probleme  fortan  ihre  Be- 
deutung behält,  bedarf  kaum  noch  der  besonderen  Betonung.  Doch 
werden  die  Folgen  der  veränderten  SteUung,  in  welche  die  Philo- 
sophie selbst  gelangt  ist,  sicherlich  auch  auf  deren  Geschichte  ihre 
Wirkung  äußern  müssen.  Je  mehr  sie  aufhört,  eine  bloße  Geschichte 
der  philosophischen  Systeme  zu  sein,  um  sich  in  eine  allgemeine  Ge- 
schichte der  Wissenschaft  umzuwandeln,  desto  mehr  wird  sie  eine 
fühlbare  Lücke  ausfüllen  in  dem  Zusammenhang  unseres  Wissens. 
Der  wahre  Beruf  des  Historikers  der  Philosophie  ist  es,  nicht  eine 
Chronik  der  Meinungen  und  Verirrungen  der  Philosophen  zu  schrei- 
ben, sondern  ein  Bild  der  die  Gesamtentwicklung  der  Wissenschaft 
beherrschenden  Ideen  zu  entwerfen." 

„Die  zahlreichen  Quellen  der  Erkenntnis,  die  in  den  verschiede- 
nen Wissensgebieten  fließen,  hat  so  die  Geschichte  der  Philosophie 
zu  einem  Strome  zu  sammeln,  an  welchem  man  zwar  nicht  den  Ver- 
lauf jeder  besonderen  Quelle,  wohl  aber  die  Richtung  wieder- 
erkennt, die  sie  alle  zusammen  genommen  haben.  Dem  Bewußtsein 
der  jüngst  vergangenen  Zeit  war  diese  Wechselwirkung  zuweilen 
abhanden  gekommen.  Den  einzelnen  Wissenschaften  entspringt 
daraus  der  geringere  Vorwurf.  Denn  die  Sache  der  Philosophie  ist 
es,  die  gute  Beziehung  zu  denselben  lebendig  zu  erhalten,  indem  sie 
ihnen  entlehnt,  was  sie  bedarf,  die  Grundlage  der  Erfahrung,  und 
ihnen  mitteilt,  was  sie  entbehren,  den  allgemeinen  Zusammenhang 
der  Erkenntnisse." 

Diese  Wundtsche  Auffassung  widerstreitet  nun  schnurstracks 
allen  hergebrachten  Bemühungen  um  eine  Gegenstands-Bestimmung 
der  Philosopiegeschichte.  Daß  es  „der  wahre  Beruf"  der  Philo- 
sophiegeschichte  sei,  nicht  über  die  Erkenntnisse   der  Philosophie, 


Zum  Problem   der  Qegenstandssetzung   usw.  47 

oder  wie  Wundt  etwas  verächtlich  meint  die  „Meinungen  und  Ver- 
irrungen  der  Philosophen  zu  schreiben",  „sondern  ein  Bild  der  die 
Qcsamtentwicklung  der  Wissenschaft  beherrschende  Ideen  zu  ent- 
werfen", will  uns  fast  genau  so  paradox  klingen,  wie  wenn  jemand 
behaupten  wollte,  die  Philosophiegeschichte  solle  eigentlich  nicht  die 
„Lehrmeinungen"  der  Philosophen,  sondern  etwa  der  —  Zoologen 
oder  Theologen  oder  Astronomen  darstellen.    Alein  wir  müßten  dann 
im  letzteren  Falle  die  unabweisbare  Frage  beantworten:  warum  soll 
denn  die  Geschichte  der  Meinungen  de,r  Zoologen  oder  Astronomen 
gerade  Philosophiegeschichte  und  nicht  etwa  Zoologiegeschichte  oder 
Astronomiegeschichte  heißen?     Mit  welchem  Rechte  darf  die  Ge- 
schichte der  die  Gesamtentwicklung  der  Wissenschaft  beherrschenden 
Ideen  Philosophiegeschichte  und  nicht  einfach  und  natürlich  prinzi- 
pielle Wissenschaftsgeschichte  heißen?     Und  wie  sollten  wir  danh 
obendrein  jenes   Gebiet    der    allgemeinen  Erkenntnisgeschichte  be- 
nennen, welches  ein  Bild  der  Erkenntnisse  der  Philosophen  zu  ent- 
werfen sich  angelegen  sein  läßt?!     Soll  dieses  Gebiet  etwa   den 
Namen  der  Zoologiegeschichte  oder  der  prinzipiellen  Wissenschafts- 
geschichte  für  sich  in  Anspruch  nehmen?    Eine  Philosophiegeschichte, 
die  sich  a  priori  über  die  „Chronik  der  Meinungen  und  Verirrungen 
der  Philosophen"  verächtlich  hinwegsetzt,  die  von  ihr  keinen  Aus- 
gangspunkt nehmen  zu  können  vermeint,  eine  Philosophiegeschichte, 
die   kurzum   mit   der   Geschichte   der   philosophischen   Erkenntnisse 
nichts  gemeinsames  hat,  ist  eben  gar  keine  Philosophiegeschichte. 
So  muß  zunächst  bereits   aus   allgemeinen  logischen   Gründen  der 
Wundtsche  Begriff  der  Philosophiegeschichte,  der  den  wahren  Be- 
griff augenscheinlich  geradezu  auf  den  Kopf  stellt,  schlechthin  zurück- 
gewiesen werden. 

Die  völlige  Unhaltbarkeit  dieser  Wundtschen  Auffassung  ist  nun 
viel  zu  auffallend,  als  daß  bei  einem  so  hervorragenden  und  über- 
aus umsichtigen  Forscher  wie  Wilhelm  Wundt  eine  rein  persön- 
liche Fehlerquelle  anzunehmen  wäre.  Es  darf  vielmehr  von  vorn- 
herein als  durchaus  wahrscheinlich  gelten,  daß  ernste  sachliche  Mo- 
tive den  geleierten  Leipziger  Denker  mit  dazu  verleitet  haben  müssen,' 
eine  so  sonderbare  Ansicht  in  Sachen  der  Philosophiegeschichte  aus- 
zusprechen. Indem  wir  nun  in  die  anderweitigen  Gedankengänge 
unseres  Forschers  des  Näheren  eindringen,  insbesondere  diejenigen, 
die   die   Beziehungen   zwischen   Philosophie   und   Wissenschaft   be- 

Arohiv  fnr  Geschichte  der  Philosophie.    XXXI.  1.  4 


48  D  a  V  i  d  E  i  n  h  ö  r  n  , 

handeln,  stellt  sich  alsbald  heraus,  daß  ^die  so  paradoxe  und  halt- 
lose Auffassung  auf  eine  dem  ersten  Anschein  nach  durchaus  un- 
jjngreifbare  und  landläufige  Begründung  zurückgeht. 

Denn  Wundt  folgte  derjenigen  logischen  Notwendigkeit,  die  die 
Gegenstands-Setzung  der  Philosophiegeschichte  auf  die  Qegenstands- 
Bestimmiung  der  Philosophie  selbst  gründet.  Und  da  ihm  die  Aufgabe 
der  Philosophie  im  Gegensatz  zu  den  zahllosen  Auffassungen  vieler 
anderer  Forscher  in  der  Herstellung  eines  Zusammenhanges  unserer 
allgemeinen  wissenschaftlichen  Erkenntnisse  zu  liegen  scheint,  so 
konnte  ihm  doch  nichts  anderes  zur  Aufgabe  der  Philosophiegeschichte 
werden  als  eben  die  Verfolgung  und  Darstellung  aller  bisherigen  ge- 
schichtlichen Versuche,  die  jeweils  die  Gesamtwissenschaft  beherr- 
schenden Ideen  in  ihrem  Zusammenhange  zu  erfassen.  Ist  es  die  Auf- 
gabe der  Philosophie  eine  Vereinlieitlichung  und  Abrundung  des 
wissenschaftlichen  Weltbildes  zu  liefern,  so  kann  auch  nichts  anderes 
Aufgabe  der  Philosophiegeschichte  sein  als  die  Geschichte  aller  der- 
artigen Vereinheitlichungs-  und  Abrundungs-Versuche  darzustellen. 
Und  so  scheint  uns  Wundts  Ansicht,  die  in  ihrer  Behauptung  so 
paradox,  so  haltlos  klang,  in  ihrer  Begründung  doch  nichts  weniger 
als  paradox  und  grundlos  zu  sein,  —  ein  eigenartiger  Sachverhalt, 
den  es  durchaus  irgendwie  aufzuhellen  gilt. 

Dem  nächsten  Anblick  zufolge  stehen  wir  vor  einer  regelrechten 
Antinomie:  1.  Die  Geschichte  der  Philosophie  ist  eine  geschicht- 
liche Wissenschaft,  eine  Lehre  von  der  Vergangenheit,  mithin  als 
solche  für  alle  ihrem  Gegenstände  nach  identisch  und  unabänderlich 
gegeben.  2.  Die  Geschichte  der  Philosophie  ist  aber  zugleich  eine  Lehre 
von  der  bisherigen  Entwicklung  der  P  h  i  1  o  s  o  p  h  i  e.  Da  jedoch  eine 
eigene  Bestimmung  des  Gegenstandes  der  Philosophie  jedem 
prinzipiell  freisteht,  so  liegt  damit  notwendig  auch  die  Gegenstands- 
Setzung  der  Philosophiegeschichte  im  Bereiche  der  Frei- 
heit jedes  einzelnen  Forschers. 

So  scheint  die  Antinomie  von  Notwendigkeit  und  Freiheit,  von 
Einheit  und  Vielheit  augenscheinlich  und  ihre  Schwierigkeit  unauf- 
heblich  zu  sein.  Indes  wenn  wir  tiefer  in  die  letztere  Bestimmung 
des  Objekt  der  Philosophiegeschichte  eindringen,  erwachen  doch 
Bedenken  gegen  ihre  Geltung,  die  die  Spannung  unserer  Antinomie 
rationeller  zu  gestalten  vermögen.  Zunächst  muß  man  sich  doch 
gegenwärtig  halten,  daß  wer  die  Gegenstands-Setzung  der  Philo- 


Zum   Problem   der   Qegenstaiidssetzuiig   usw.  49 

Sophiegeschichte  nicht  auch  nach  sämtlichen  fremden  Qegenstands- 
Setzungen  der  Philosophie,  sondern  lediglich  nach  seiner  eigenen  be- 
stimmt, der  damit  eigentlich  keine  Geschichte  der  Philosophie  schlecht- 
hin, sondern  lediglich  und  allein  eine  Geschichte  der  Erkenntiiisver- 
suche  in  bezug  auf  seinen  eigenen  philosophischen  Gegenstand  im 
Auge  behält  —  eine  Privatgeschichte  der  Philosophie,  die  die  ge- 
waltige Weite  und  Freiheit  fremder  Philosophien  und  damit  der 
Philosophie  im  allgemeinen  keineswegs  zu  umspannen  vermag.  Die 
Erkenntnisgeschichte  des  eigenen  philosophischen  Gegenstandes  läßt 
sich  keineswegs  mit  der  Erkenntnisgeschichte  sämtlicher  bis  nun 
gesetzter  philosophischer  Gegenstände  vergleichen  und  messen,  sie 
ist  sozusagen  bodenständig,  während  in  der  Geschichte  der  Philo- 
sophie überhaupt  der  philosophische  Gegenstand  sich  beständig  wech- 
selt und  wandelt.  Wie  die  Philosophie  überhaupt  reicher 
und  vielgestaltiger  ist  als  eine  Philosophie,  so  ist  die  Geschichte 
der  Philosophie  unvergleichlich  reicher  als  die  Geschichte  einer 
Philosophie,  d.  h.  die  Erkenntnisgeschichte  eines  philosophischen 
Gegenstandes.  Die  Geschichte  der  Philosophie  überhaupt  ist  die 
Geschichte  der  Freiheit  der  Philosophie,  d.  h.  der  Wandlungsfähigkeit 
des  philosophischen  Gegenstandes.  Eine  Privatgeschichte  der  Philo- 
sophie im  oben  dargelegten  Wundtschen  Sinne  ist  eine  Geschichte 
der  Versuche  ein  und  denselben  in  starrer  Gegebenheit  umwandel- 
baren Gegenstand  zu  erkennen. 

Daraus  erhellt  bereits  zur  Genüge,  daß  nicht  sowohl  mit  glei- 
chem Recht  beide  Wege  zur  Gegenstands-Setzung  der  Philosophie- 
geschichte eingeschlagen  werden  können,  daß  das  völlig  subjektive 
«inseitige  Verfahren  Wundts  tiefer  eindringender  Kritik  schwerlich 
standzuhalten  vermag. 

Allerdings  ist  nicht  bloß  die  auf  eine  rein  subjektive  Definition 
des  Gegenstandes  der  Philosophie  gegründete  Gegenstands-Setzung 
der  Philosophiegeschichte  —  wie  wir  sie  bei  Wundt  sehen  —  nicht 
unbedenklich.  Auch  das  rein  objektive  Verfahren  zur  exakten  Be- 
stimmung des  Gegenstandes  der  philosophiegeschichtlichcii  Wissen- 
schaft, das  die  Geschichte,  die  Vergangenheit  zur  universellen  und 
unverrückbaren  Basis  selber  erhebt,  mag  es  dem  nächsten  Anblick 
noch  so  selbstverständlich  und  unangreifbar  scheinen,  erweist  sich 
beim  Versuch  einer  näheren  Durchführung  als  voller  Schwierigkeiten 
und  Verwicklungen,  ja  eine  sichere  Unmöglichkeit.    Das  sah  scharf 


50  DavidEinhorn, 

und  betonte  mit  besonderem  Nachdruck  der  Gegner  Wundts,  der 
Philosophiehistoriker  W.  Windelband  in  folgender  vortrefflicher  For- 
mulierung (Präludien,  Bd.  L,  S,  7 — 9): 

„Aus  dieser  Verschiedenheit  der  Gegenstände  der  Philosophie  er- 
gibt sich  nun  eine  nicht  unerhebliche,  prinzipiell  bisher  noch  kaum 
behandelte  Schwierigkeit  für  den  Historiker,  die  Frage  nämlich,  in 
welcher  Ausdehnung  und  in  welchen   Grenzen  er   die  von  einem 
Piiilosophen  herrührenden  Ansichten  und  Lehren,  abgesehen  von  der 
biographischen  Bedeutung,  die  sie  zur  Charakteristik  seiner  Persön- 
lichkeit haben  können,  in  die  Geschichte  der  Philosophie  aufnehmen 
soll.  Nur  zwei  völlig  konsequente  Wege  scheinen  hier  offen  zu  stehen: 
entweder  man  folgt  der  Geschichte  selbst  in  alle  Wunderlichkeiten 
ihrer  Namengebung  und  läßt  die  historische  Darstellung  ganz  ebenso 
wie  das  „philosophische"  Interesse  von  dem  einen  Gegenstand  zu 
dem  anderen  wandern,  oder  man  legt  eine  bestimmte  Definition  der 
Philosophie  zugrunde  und  vollzieht  nach  dieser  die  Auswahl  und  die 
Ausscheidung  der  einzelnen  Lehren.    Im  ersteren  Falle  erkauft  man 
die  „historische  Objektivität"  durch  eine  verwirrende  Verschieden- 
artigkeit und  Zusammenhanglosigkeit  der  Gegenstände;  im  anderen 
Fall   beruht  die  Einheitlichkeit  und  Durchsichtlichkeit,   welche   er- 
reicht wird,  auf  der  Einseitigkeit,  mit  der  man  eine  persönlich  be- 
stimmte Voraussetzung  als  Schema  in  die  geschichtliche  Bewegung 
hinein  verlegt.    Die  meisten  Historiker  der  Philosophie  haben,  ohne 
darüber  Rechenschaft  zu  geben  oder  auch  wohl  geben  zu  können, 
einen  Mittelweg  eingeschlagen,  indem  sie  solche  Theorien  der  Philo- 
sophen, welche  in  das  Detail  der  besonderen  Wissenschaften  ein- 
greifen, nur  in  ihrem  prinzipiellen  Zusammenhang  mit  der  Gesamt- 
■   lehre  entwickelt  und  auf  die  Reproduktion  der  speziellen  Durch- 
führung, je  nach  der  Ausdehnung  ihrer  Arbeit,  mehr  oder  minder 
verzichtet  haben.    Da  jedoch  dafür  ein  bestimmtes  Kriterium  nicht 
angegeben  ist  und  auch  nicht  in  selbstverständlich  allgemein  gültiger 
Weise  angegeben  werden  kann,  so  hat  an  Stelle  dessen  meist  die 
Willkürlichkeit  des  persönlichen  Interesses  oder  die  Zufälligkeit  eines 
gewissen  Taktgefühls  treten  müssen." 

„Diese   Schwierigkeit  ist,  wie   die  geschichtlichen  Verhältnisse 
einmal  liegen,  prinzipiell  in  der  Tat  nicht  zu  heben." 

Die  Gegenstands-Setzung  der  Philosophiegeschichte   kann  des- 
halb unmöglich  auf  eine   Gegenstands-Setzung  der"  Philosophie  ge- 


Zum  Prahlern   der  Gegenstandssetzung  usw.  51 

gründet  werden,  weil  es  keine  Definition  des  Gegenstandes  der  Philo- 
sophie gibt,  die  nicht  von  bloß  subjektiver  Gültigkeit  wäre  und  nicht 
bloß  einen,  sondern  sämtliche  wahrhaft  philosophischen  Gegenstände 
umfassen  würde.    Welche  aber  die  wahrhaft  philosophischen  Gegen- 
stände sind,  das  wissen  wir  nun  ebensowenig,  da  es  eben  noch  keinen 
allgemeingültigen   Maßstab  gibt,   der   uns   zur   Unterscheidung   der 
philosophischen  Gegenstände  in  der  Geschichte  von  den  nichtphilo- 
sophischen Gegenständen  in  derselben  verhelfen  könnte.     Wohl  ist 
also  die  Wirklichkeit  der  Philosophiegeschichte  in  der  Vergangen- 
heit luiabänderlich   festgelegt,   allein  für   uns   ist   sie   keineswegs 
unabänderlich  gegeben.      Denn   die   Vergangenheit   enthält  sowohl 
Philosophisches  als  auch  Nichtphilosophisches  in  einem  Neben-  und  . 
Durcheinander  und  zur  unabänderlichen,  d.h.  allgemeingültigen  Unter- 
scheidung des   Philosophischen  vom  Nichtphilosophischen  fehlt  uns 
eben  eine  allgemeingültige  Einsicht  in  bezug  auf  den  allgemeinen 
Gegenstand   der   Philosophie  selbst.      So -lange   es   uns   an   dieser 
letzteren   gebricht,   ist  Philosophiegeschichte  als   Wissenschaft   ein 
pium  desiderium.    Soll  das  erste  Problem  der  Philosophiegeschichte, 
das  Problem  ihrer  Gegenstands-Setzung  gelöst  werden,  so  ist  eine 
allgemeingütige  Definition   des   Gegenstandes   der  Philosophie   not- 
wendig.    Zwar  geht  die  hergebrachte  Auffassung  dahin,  daß  eine 
allgemeingültige  Abgrenzung  einer  Eigenwirklichkeit  der  Philosophie 
eine  Unmöglichkeit  bedeute.    Doch  daß  'die  letztere  tatsächlich  er- 
rungen werden  können,  daß  die  Gefahren  des  Subjektivismus  und  die 
Verwicklungen  dieses  Historismus  durch  Anwendung  der  Methode,  die 
Rudolf  Eucken  die  noologische  nennt,  restlos  überwunden  werden 
können,  das  ist  unsere  Überzeugung,  die  wir  in  unserer  Arbeit  n.  d.  T. 
„Der  Kampf  um  einen  Gegenstand  der  Philosophie,  Eine  noologische 
Untersuchung"  zu  entwickeln  suchen. 

Auf  diese  Arbeit  als  Fortsetzung  der  vorliegenden  Abhandlung 
sei  hiSr  verwiesen.  Dort  liegt  ein  Versuch  einer  endgültigen  Lösung 
für  die  Spannung  der  Aufgabe,  die  hier  aufgerollt  wurde. 


IV. 

Babylonische  Astrologenausdrücke  bei  Demokrit. 

Von 

Roberi  Eisler,  Feldafmg. 

Wenn  der  Vollmond  bei  Sonnenuntergang  der  Sonne  gerade 
gegenüber  aufging,  so  daß  die  beiden  „großen  Götter"  zugleich 
am  Himmel  standen,  sprachen  die  babylonischen  Beobachter  von 
einem  „Gleichgewicht"  von  Senne  und  Mond:  Sin  u  Samsu 
sitkulü"  =  „Sonne  und  Mond  hahen  sich  die  Wage"  (s.  Kugler, 
Sternkunde  und  Sterndienst  in  Babel,  IL  Bd.  1.  T.,  Münster  1909, 
S.  56  c.  54;  Jastrow,  Bei.  Babyl.  u.  Ass.  IL  1,  Gießen  1912, 
S.  472).  Genau  diesen  Ausdruck  gebraucht  Demokrit  (ca.  460 
V.  Chr.  bis  etwa  zur  Zeit  des  Sokrates)  nach  Plutarch,  de  facie 
in  orbe  lunae  16  p.929c;  Diels  FVS^  Bd.  I  S.  367  Z.  9  ff.); 
aXXa  TcaTCt  öxäd-^i )}  v ,  (prjöi ArmoxQLToq,  Iöt aiitvr]  zov  (pmr  i- 
^ovTog  vjiola^ßävu  xal  öixercu  (sc.  der  Mond)  rov  ijXior: 
SöT£  avrriv  re  ffcdvsöd-ca  xal  diacpaiveiv  Uetrov  elxoq  rjV.'' 

Bei  der  Wichtigkeit  jeder  nachweisbaren  Berührung  der 
Griechen  mit  babylonischer  Astrologie  in  jener  frühen  Zeit  und  da 
die  Übernahme  von  Kunstausdrücken  i)  und  von  willkürlichen 
Zahlen-  und  Maßangaben^)  am  besten  geeignet  ist,  eine  Abhängig- 

1)  Die  Babylonier  maßen  die  Zeit  nach  dem  Gewicht  des  aus- 
gelaufenen Wassers  an  der  Klepsydra.  'Nur  dadurch  erklärt  sich  der 
Terminus  technicus  „Gleichgewicht"  für  eine  gleiche  Zeitdauer 
(III  Rawl.  51,  2  „ümu  u  musi  sitkulu",  „Tag  und  Nacht  halten  sich 
die  Wage")  oder  ein  genaues' zeit lic hes  Zusammentreffen  des  Voll- 
mondaufgangs, mit  dem  Sonnenuntergang.  Auch  die  Opposition  des  Mondes 
und  gewisser  Sterne  wird  als  deren  „Gleichgewicht"  bezeichntt: 
sitkulta    sa   kababi    "»^  Sin"   III  Rawl.  52,    Z.  10  u.  17,    s.   Proc.   Soc. 

Bibl.   Arch.    1910  p.  62. 

2)  So  habe  ich  „Weltenmantel  und  Himmelszelt"  (München  1910) 
S.  642  nachgewiesen,  daß  die  Angabe  des   Sonnendurchmessers  als   V720  des 


Babylonisihe  A&trologenausdrücke   bei  Demokrit. 


53 


keit  dieser  Art  zu  erweisen,  liegt  die  Bedeutung  des  Ausdrucks 
xaxa  6Tad^nr,v  ioTcqitvtj  (sc-  otXtjv)/)  bei  Pemokrit  auf  der  Hand^), 
vor  allem,  für  die  Beurteilung  der  Quellenfrage  bei  den  Überresten 
seines  astronomischen  Parapegmas  und  seiner  OiQavoyQccfpif/,  und 
für  die  Echtheitsfrage  bei  dem  bestrittenen .  Ä'cddß^xot,- ^.o'/oc,  oder 
bei  der  verlorenen,  dem  Demokrit  zugeschriebenen,  bzw.  unter- 
schoberen Abhraidhnig  über  die  Keilschrift  {jtirQi  tojv  tv  Baßiüavt 
isQmr  YQaiifmTcov    Diels  a.  a.  0.    S.  439   No.  299  d    und    298  b.). 


Zum  Verständnis  des  Zusamm.enhangs  bei  Demokrit  ist  zu 
beachten,  daß  nicht  bei  jeder  Mondphase  unmittelbar  ersichtlich 
ist,  daß  der  beleuchtete  Teil  der  Scheibe  sein  Licht  von  der  Sonne 
empfängt:  ,,der  zunehmende  Halbmond  zielt  mit  seiner  be- 
leuchteten Seite  im  Augenblick  des  Sonnenuntergangs  ohne  jede 
Spur  von  abwärts  gerichteter  Neigung  gerade  aus  nach 
rechts  hin.  also  über  die  Sonne  hinweg,  und  der  zunehmende 
Mond  sogar  nach  rechts  oben  hin,  als  ob  seine  Beleuchtung 
gar  nicht  von  der  Sonne  herrührte.  Die  Erklärung  ergibt 
sich  aus  der  Tatsache,  daß  unendlich  lange  gfrade  Linien  —  also 
auch  Sonnenstrahlen  —  sich  auf  das  scheinbare  Himmelsgewölbe 
als  Kreisbogen  projizieren".*)     Nur  wemi    die  schmale  Sichel  des 


Himmelskreises  (in  \Yahrheit  '^Uys',  bei  „Petosiris-Nechepso"  Y2i6  =  l'*40''; 
bei  Hipparch  33'  3  3"  51'")  bei  Thaies  mit  der  babylonischen  Maß- 
angabe  übereinstimmt. 

*)  Für  ein^  anderes  Demokritfragment  Diels,  FVS^  p.  366  No.  86, 
betr.  Sonne,  Mond  und  Venus  über  den  anderen  Planeten  und 
über  den  Fixsternen  (cf.  „Weltenmantel"  S.  90,  3)  bat  schon 
Cumont,  Astrology  and  Religion,  New  York  und  London  1912  p.  47,  1 
babylonische  Beeinflussung  erkannt,  wozu  ich  noch  auf  Jo.  Lyd.  II  5 
p.  16   ed.  Eonn  u.  Plutarch,   de  E  ap.  Delph.   p.  386  B  verweisen  kann. 

*)  Vgl.  die  lehrreiche  diesbezügliche  Notiz  von  Otto  Scheffers  im 
Kosmoshandweiser    f.    Naturfreunde     Heft  1,     1917,     S.   31     mit    der    zu- 


54  Robert  Eisler, 

zunehmenden  Mondes  ganz  nahe  bei  der  untergehenden  Sonne 
steht 5),  oder  wenn  der  Vollmond  gerade  vor  Sonnenuntergang  oder 
nach  Sonnenaufgang  der  Sonne  genau  gegenübersteht,  ist  die  Somie 
als  Quelle  des  Mondlichts  dem  Augenschein  unmittelbar  deutlich. 
Auf  diese  Stellung  der.  beiden  Gestirne  beruft  sich  daher  Demokrit 
zum  Beweis  für  das  in  Babylon  nie,  auch  nicht  zur  Zeit  des 
Berossos (Diels,  Dox.  S.200,  1;  Elenientum  S.IO,  4)  erkannte  Fremd- 
licht des  Mondes.^)  vjroXaiißdrsi  heißt  „folgt  auf  dem  Fuße" 
(cf. Herod. 6, 27)  xai  ötysraL  top  tjhov  ,,und  erwartet  die  Sonne" 
(vgl.  die  sub  öexoimi  5  bei  Pape-Benseler  angeführten  Stellen). 
Dem  vjto^Miißavei  entspricht  genau  babyl.  ,,Sin  Samsu  iksu- 
damma",  der  Mond  erreicht,  holt  ein  die  Sonne"  (und 
zwar  bei  der  Opposition,  Kugler  a.  a.  0.,  am  Abend  des  14., 
d.  h.  die  Sonne  wartet  auf  den  Mond),  und  dieser  ,, wartet" 
(ö^xeTcu  =  babyl.  ü-k-a-a-a)—  am  Morgen  des  15.  —  seinerseits 
auf  die  Sonne.  (.Das  Gegenteil  verzeichnen  die  Babylonior  mit 
Schrecken;  cf.  Thompson,  Reports  of  Astrologers  No.  153,  Jastrow 
a.  a.  0.  II  494:  ,, Wartet  der  Mond  nicht  auf  die  Sonne, 
Furcht  vor  Löwen  .  .  .,  am  14.  Tag  wurde  Gott  mit  Gott  nicht 
gesehen".)  Alle  drei  Ausdrücke  Demokrits  sind  also  genau  der 
Kunstsprache  der  babylonischen  Astrologen  entsprechend,  und  ein 
Zufall  darf  als  ausgeschlossen  gelten. 


gehörigen    Figur,    die    hier     durch    die    Güte    der    Franc kh'schen  Vorlags- 
handlung im   Text   wiedergegebsn  werden   kann. 

^)  Auf  diese  Stellung  der  bsiden  Gestirne  bezieht  sich  Geminus 
(77  n.  Chr.),  wenn  er  im  7.  Kapitel  seiner  sigaycüyij  die  Beleuchtung  des 
Mondes  durch  die  Sonne  damit  beweisen  will,  daß  eine  Lotrechte,  gefällt 
auf  die  Sehne,  die  die  Spitzen  der  Mondsichel  verbindet,  durch  den 
Mittelpunkt  der  Sonnenscheibe  geht. 

6)  Le  Page  Renouf,  Proc.  See.  Bibl.  Avcheol.  1884  p.  131,  versucht 
den  Nachweis,  daß  diese  Tatsache  den  Ägyptern  bekannt  war,  muß  aber 
Selbst  zugeben,   daß  seine  Belegstellen  auch  eine  andere  Auffassung  zulassen. 


Rezensionen. 

Als  Dr.  Siegfried  M  a  r  c  k  seine  Betrachtungen  über  Deutsche 
Staatsgesinnung  (Müiachen,  Oskar  Beck,  1916,  1,20  Mk.)  veröffent- 
lichte, wollte  er  selbstverständlich  keine  jener  vielen,  fast  darf  man  sagen 
allzu  vielen  deutschvölkischen  Kriegskinder,  welche  sich  zum  bequemen  Lesen 
für  den  Durchschnittsmenschen  eignen,  ins  Leben  rufen;  sondern  er  bot  in 
der  Abhandlung  eine  tiefgründige  Betrachtung,  welche  nicht  immer  beim 
flüchtigen  Durchfliegen  zu  erfassen  ist.  Ein  üppiges  Rankenwerk,  welches 
eine  Art  Staatsphilosophie  darstellt,  umschlingt  die  Leitgedanken  und 
stützt  sie  auch,  weil  sie  dieselben  begründet.  Erst  wenn  wir  uns  in  diese  Tat- 
sache hineingelebt  habsn,  geht  uns  das  volle  Verständnis,  fast  hätte  ich  gesagt 
der  ungetrübte  Genuß  an  den  Ausführungen  auf.  Sie  sind  m.  E.  um  so  an- 
regender, je  mehr  sie  gelegentlich  auch,  bssonders  in  manchen  vielleicht 
zu  allgemein  gefaßten  Sätzen  zum  Widerspruch  reizen,  vor  allem  wenn 
zu  großer  Idealismus  —  das  Wort  nach  dem  gewöhnlichen  Sprach- 
gebrauch angewendet  —  durchbricht,  z.  B.  S.  4  über  den  preußischen  Geist 
in  der  Lidustrie,  S.  38  über  allgemeine  Brüderschaft.  Doch  jene  Bedenken 
sollen  an  dieser  Stelle  nicht  zu  sehr  zu  Worte  kommen,  da  die  Darlegungen 
Dr.  Ms.,  der  von  hoher  Warte  aus  die  Zsitereignisse  und  ihre  geschichtliche 
Bedingtheit  zu  entwickeln  versucht,  trotz  oder  richtiger  wegen  der  möglichen" 
Einwände  packend  bleiben.  Vielmehr  möchte  ich  einige  der  führenden  An- 
sichten wiedergeben,  um  zu  zeigen,  wie  sehr  der  belesene,  geistreiche  Ver- 
fasser zum  Nachdenken  in  eigentlichem  Sinn  des  Wortes  a  n  r  e  g  t. 
Als  Leitgedanken  müssen  wir  festhalten,  daß  Dr.  M.  durchdrungen  ist  von 
jener  Idealisierung  des  althellenischen  Staates  (z.  B. 
S.  (i,  11  ff.),  wie  sie  auch  m.  Besprechung  von  Dr.  Eleutheropulos,  Die  Philo- 
sophie und  die  sozialen  Zustände  .  .  .  des  Griechentums  1915  oder  von  Dr.  Hugo 
Horwitz,  Das  Ich-Problem  in  der  Romantik  1916,  beleuchtete.  Diesem  griechi- 
schen Idealstaat  —  um  mich  eines  vielgebrauchten  Schlagwortes  zu 
bedienen  —  setzt  der  Verfasser  den  deutschen  zur  Seite  und  weist  auch 
bei  ihm  die  Quellen  seiner  Kraft  nach.  Sie  äußerte  sich  tatsäch- 
lich wunderbar  ergreifend  in  den  Anfangswochen  des  Weltkrieges  (vgl.  S.  43) 
und  wurde  auch  später  immer  wieder  von  einzelnen  Persönlichkeiten,  auch 
unter  unseren  Wissenschaftlern  lebhaft  betont,  zum  zweiten  Jahrestag  der 
Kriegserklärung  auch  dm-ch  die  beredte  Feder  Naumanns  und  seiner  Getreuen 
in  der  Hilfe  (1916,  Nr.  31  u.  33).  Doch  so  warm  auch  jeder,  der  es  mit  seinem 
Volke  wirklich  gut  meint,  diese  Forderung  vertreten  muß  und  wird  —  ich  bin 


56  Rezensionen. 

gewiß  der  letzte,  es  zu  bestreiten,  wie  auch  meine  Kriegsvorträge  beweisen  ■ — , 
es  wäre  doch  andererseits  falsches  „Vogelstraußverfahren",  wenn  man  die 
entgegenstehenden     Hemmungen,     welche    jenen    Geist    unterdi'ücken 
wollen,  mit  Gewalt  übersähe.     Auch  der  erfahrene  Verfasser  tut  es  selbst- 
verständlich nicht,  da  auch  er  über  die    zwei    Arten    von    Staats- 
au f  f  a  s  s^u  n  g  e  n  spricht:    Für  die  eine  ist  das  Individuum  notwendig  dem 
Staate  angehörig,  für  die  andere,  ihr  völlig  entgegengesetzte,  steht  die  Zu- 
gehörigkeit irgend  einmal  im  freien  Ermessen  des  Einzelnen  (S.  10).     Infolge 
richtiger  Weiterführung  dieses  Gedankens  nennt  Dr.  M.  „die  Einschränkung 
des  Egoismuses  den  Friedenspreis,  das  Opfer,  welches  jeder  Einzelne  gerne 
bringt,  um  vor  den  anderen  Ruhe  zu  haben"  (S.  16  ff.),  und  bewegt  sich  mit 
dieser  Ansicht  in  derselben  Richtung  wie  Wilhelm  Wundt,  als  ihm  Dr.  Oskar 
Kraus  in  seiner  auch  von  mir  an  dieser  Stelle  gewürdigten  Schrift  über  Bentham 
(1915)  leider  sehr  scharf  angi'iff.   Auch  Dr.  M.  vertritt  den  vielberufenen  Kant- 
schen  Imperativ  (S.  23,  48)  und  vergißt  auch  nicht  Hegels  Wert  zu  gedenken 
(S.  50),  allerdings  mit  gelegentlicher  entschiedener  Ablehnung  (S.  59).  Alis  seinen 
Einzeldarlegungen  zieht  der  Verfasser,  wie  Dr.  Arthur  Menzel,  Psychologie 
des  Staates  (1915,  s.  m.  Bericht  im  Archiv!),  den  praktischen    Schluß, 
möglichst     alle     Bürger     an     der     Staatsleitung     teil- 
nehmen   zu    lassen  (S.  26),  da  ein  derartiges  Verfahren  die  ,, Kontrolle 
über  die  gleichmäßige  Heranziehung  aller  zu  den  Staatspflichten  erleichtere  "^ 
(S.  26).    Diese  Nützlichkeitsgründe  scheinen  mit  den  idealistischen  an  anderen 
Buchstellen  in   Gegensatz   zu  treten  (vgl.  S.  30  ff.  über  den  enteignenden 
Staat).  Doch  sucht  ihn  Dr.  M.  auch  durch  den  Nachweis  auszugleichen, 
daß  ,, Sozialismus  auf  seinen  eigenen  Wegen  oft  den  Staatsidealismus  finde" 
(S.  33):    Im  Staate  soll  nämlich  gegenseitige  Hilfe  die  Bürger  als  Brüder  ver- 
knüpfen (S.  38).     Andererseits  tragen  die  höchsten  Schöpfungen  der  Kunst, 
Religion  und  Philosophie  de»    nationalen    Stempel,    welcher  auch 
das    einigende    Band    ist  (S.  40).     Das,  was  über  die  deutsche  Nation 
und  ihre   Eigenart  gesagt  wird,  erläutern  und  ergänzen  Darlegungen  über 
fremden  Volksgeist.     Wenn  auch  allgemeine  Wertm-teile  dieses  Abschnittes 
(S.  42  ff.,  52)  besonders  schwer  beweisbar  sein  dürften,  wie  auch  mein  Bericht 
über  das  scharfsinnige  Buch  von  Dr.  Friedrich  Hertz,  Rassentheorien  (1915) 
erwähnte,  so  bleibt  doch  der  Vergleich  geistreich  und  deshalb  anregend.    Das- 
selbe gilt,  wenn  über  allgemeinen  Volkswillen  und  die  Beziehungen  der  Staats- 
männer zu  denselben  gesprochen  wird  (S.  56  ff.).    Dagegen  verstummt  wenig- 
stens bei  Königstreuen  jeder  Widerspruch,  daß  der  Herrscher,  der  zwischen 
Ki'ieg  und  Frieden  sich  entscheiden  müsse,  ein  schmerzvolles  Mysterium  er- 
lebe (S.  60).     Wer  dächte  beim  Lesen  dieser  Zeilen  nicht  des  Kaiserwortes 
„Ich  habe  es  nicht  gewollt",   und  eines  ergreifenden  Bildes  und   Gedichtes 
von   Oberreg.  Hambrock   ,,Die   Tränen  des   Kaisers"   (Über   das  eigenartige 
Schicksal  dieser  Schöpfungen,  die  vorübergehned  vom  Generalkommando  be- 
schlagnahmt worden,  soll  nicht  weiter  gesprochen  werden).     Derselbe  Ernst 
und  dieselbe  würdevolle  Auffassung  läßt  den  Verfasser  unseren  Krieg  einen 
heiligen   Krieg,   einen  naturnotwendigen  nennen  (S.  62  ff.),  indem  der 
geistreiche  Ausspruch  Adam  Müllers  gebilligt  wird,  daß  das  „em-opäische  Gleich- 


Rtzensionen.  57 

gewicht  die  Null  sei,  hinter  der  die  Kabinette  ihren  Anspruch  auf  unendliche 
Ausdehnung  zu  verdecken  pflegen"  (8.  64).  Das  im  Einzelleben  bereits  von 
griechischen  Philosophen  beobachtete  und  verworfene  Streben  nach  Mehr 
(vgl.  Dr.  Robert  Pöhlmann,  Geschichte  des  antikert  Sozialismus  und  Kom- 
munismus 1893,  167  ff.,  und  weitere  Belegstellen  bei  Dr.  Karl  Jakobitz  und 
Dr.  Ernst  Eduard  Seiler,  Griechisch-deutsches  Wörterbuch  1897,  Sp.  1442) 
beherrscht  auch  das  Verhalten  der  Staaten  und  führt  unabwendbar  zum 
W'affengange,  weil  „die  Forderung  des  ewigen  Friedens...  als  reak- 
tionär —  und  wie  man  hinzufügen  könnte  als  verständnislos  gegenüber  der 
geschichtlichen  Entwicklung  und  deshalb  unmöglich  —  erscheint"  (S.  70). 
Doch  macht  Dr.  M.  diesen  niederdrückenden  Gedanken  erträglich,  indem  er 
auch,  Ro  h  r  ba  c  hi  s  che  Worte  verwertend  (S.  29),  unbedingt 
glaubt,  daß  hinter  den  in  diesem  Kampfe  Siegenden  ...  auch  die  stärkste 
sittlich-nationale  Idee  steht"  (S.  67).  Am  Ende  wird  nicht  ohne  die  im  Buche 
leider  sehr  oft  geübte  schlagwortartige  Zuspitzung  unser 
Ringen  gegen  die  europäischen  Feinde  als  Kampf  gegen  „asiatische  Mystik 
und  amerikanischen  Rationalismus"  erklärt.  Fassen  wir  zum  Schlüsse  noch- 
mals den  Gesamt  eindruck  der  72  Seiten  zusammen !  Wer  einem 
Geschichtsidealismus  nicht  grundsätzlich  widerspricht,  wird  die  Betrachtungen 
Dr.  Ms.  mit  aufrichtiger  Freude  und  Dank  für  die  mannigfachen  Anregungen 
auf  sich  wirken  lassen,  um  zum  Weiterschüifen  veranlaßt  zu  werden,  damit 
er  sich  frei  macht  von  dem  Albdruck,  der  viele  Gegenwartsmenschen  ängstigt., 
als  ob  der  Krieg  widersinnig  sei  (S.  63  Anm.).  Dr.  Je  gel. 

E.  A.  Thiele,  Seele.  Träume  eines  Zeitgemäßen  über  des  Menschen  Ver- 
gangenheit und  Zukunft.     O.  Hillmann,  Leipzig  1914.     108  S. 

Mit  banger  Sorge  sah  der  Denkende,  wie  vor  der  gewaltigen  Kriegs- 
erschütterung eine  Veräußerlichung  und  Verflachung  alle  Volksschichten 
ergriff.  Führende  Männer  wie  Eucken  (zuletzt  in  dem  Werke  „Zur  Samm- 
lung der  Geister")  wiesen  auf  die  Gefahren  dieser  Richtung  für  Volkskraft 
und  Kultur  hin  und  suchten  einen  Lebensinhalt  zu  finden,  der  in  die  Hast 
des  Alltagslebens  Ruhe  bringen  sollte.  Auch  die  vorliegende  Schrift  verfolgt 
den  Zweck  einer  Aufrüttelung  und  Mahnung  zur  Selbstbesinnung.  So  ist  sie, 
werm  auch  vor  dem  Kriege  erschienen,  doch  nicht  antiquiert:  denn  heute 
werden  selbst  die  Optimisten,  welche  in  den  ersten  Monaten  der  Begeisterung 
die  Seele  unseres  Volkes  dem  Strudel  des  Absturzes  entrissen  glaubten,  er- 
kannt haben,  daß  auch  die  Kriegserschütterung  nur  bei  wenigen  in  die  Tiefe 
und  verinnerlichend  gewirkt  hat. 

Wie  alles  auf  unserer  Erde,  ist  auch  das  geistige  Ich,  die  Seele  des  Men- 
schen Entwicklung.  Von  der  Entfaltung  der  Kindesseele  des  Menschen,  die 
dem  gewaltigen  Treiben  des  Xaturgeschehens  noch  hilflos  gegenüber  stand,  bis 
zu  dem  komplizierten  Seelenleben  des  Menschen  unserer  Tage  ist  ein  weiter 
Weg  mit  vielen  Haltepunkten. 

Die  Schwierigkeit  der  Aufgabe,  die  der  Verfasser  sich  gestellt  hat,  liegt 
nicht  in  der  Darstellung  der  komplizierten  Seele  der  neuesten  Zeit,  sondern 
in  der  Herausarbeitung  des  seelischen  Moments  der  Vergangenheit.     Denn 


58  Rezensionen. 

hier  waren  n«r  Schlüsse  möglich  ans  Schriften  und  Kulturwerken.  Der  Ver- 
such darf  durchaus  als  gelungen  bezeichnet  werden.  Verf.  hat  es  verstanden, 
sich  in  das  Leben  der  Vergangenheit  hineinzudenken  und  von  der  Entwicklung 
und  Vervollkomiunung  der  Volks-  und  Einzelseele  eine  deutliche,  wemi  auch 
in  manchem  (z.  B.  bei  der  griechischen  Seele  durch  zu  starke  Betonung  des 
künstlerischen  Moments)  etwas  einseitige  —  doch  idealistische  — •  Vorstellung 
zu  vermitteln.  Die  hohe  Sprache  ist  dem  Thema  angemessen.  Im  Einzelnen 
die  Gedanken  wiederzugeben,  kann  nicht  unsere  Absicht  sein,  wir  wollen  nui 
versuchen  einen  Einblick  in  die  interessante  Arbeit  zu  geben. 

Auf  der  ersten  Stufe  erscheint  der  Mensch  noch  zu  sehr  mit  der  Natur 
verwachsen  und  den  äußeren  Gewalten  Untertan,  als  daß  er  schon  bewußt 
das  Leben  gestalten  könnte.  Doch  aus  seinem  mit  der  Natur  eng  verknüpften 
Leben,  aus  dem  Kampf  mit  den  Machten  des  Alls  entsteht  ihm  ein  Bewußt- 
sein des  Menschlichen,  das  Ahnen  einer  Beziehung  zu  den  gestaltenden  Prin- 
zipien des  Alls.  Diese  dem  Anfang  nahestehende  Seele  ist  „das  vergeistigte 
Widerspiel  der  Gewalten  des  Alls"  (19).  Hier  finden  wir  die  Grundlage  der 
Religion  imd  damit  der  Kunst:  ,,Die  zur  Kunst  gesteigerte  Religion  wird 
das  Bindemittel  zwischen  Mensch  und  Natur"  (22).  Zur  Allseitigkeit  aber 
entfaltet  sich  die  Seele  erst  im  Gemeinwesen,  im  Zusammenwirken.  Die  Ver- 
mittlung zwischen  Staat  und  Kunst  steht  bei  der  Philosophie.  Mit  dem  Ein- 
tritt cHeser  drei  Mächte  in  das  Leben  des  Meiischen  ist  die  erste  Stufe  der  Ent- 
wicklung längst  überschritten;  wir  haben  das  Griechentum  zur  Zeit  der  Blüte 
vor  uns.  Hier  hat  besonders  die  Kunst,  das  Suchen  nach  der  Schönheit,  die 
Seele  geweitet  und  vertieft.  Durch  ihren  Höhenflug  riß  sie  den  Menschen  los 
von  der  düsteren  Seite  des  Werdens,  im  Künstlerauge  sammeln  sich  die 
Strahlen  der  Geistigkeit  des  Alls  wie  in  einem  Brennpunkte.  Apollo,  aus  der 
Kräfte  Überschuß  geboren,  ist  der  Gestalter  der  griechischen  Volksseele. 
Doch  Maß  und  Ordnung  ist  mir  die  eine  Seite,  ihr  steht  gegenüber  eine  innere 
dämonische  Kernkraft,  welche  die  Fesseln  des  Maßes  zu  sprengen  strebt: 
Dionysos.  So  sind  Apollo  und  Dion3'sos,  Maß  und  Rausch,  die  formgebenden 
Elemente,  welche  die  Seele  für  sich  gewinnen  wollen.  Hier  liegt  die  Wurzel 
der  Attischen  Tragödie  (37). 

Ein  neuer  belebender  Inlialt  kommt  in  der  Zeit  des  Verfalls  hellenischer 
Herrlichkeit  von  dem  Ciiristentum,  der  Lehre  vom  Recht  des  Individuums, 
der  NächstenUebe.  Nun  wird  der  Blick  vom  natürhchen  zum  sittlichen  Sein 
gerichtet.  Doch  nicht  unvorbereitet  erscheint  Jesu  Lehre  dem  gebildeten 
Westen.  Piaton  hatte  ihr  den  Weg  gebahnt:  der  Geist  war  ihm  das  einzige 
Wahre  des  Seins.  Vor  seiner  Universalität  beugt  sich  die  Menschheit  als  ihrem 
Gotte.  Jesus,  der  fleischgewordene  Logos,  ist  die  Inkarnation  der  neuen  Rich- 
tung der  Seele,  die  sich  über  das  Nationale  zu  dem  weltbürgerlichen  Menschen- 
tum weitet  (51).  Djr  neue  Inhalt  liegt  nicht  zum  wenigsten  in  der  Erkemitnis, 
daß  das  Ideale  —  frei  von  völkischen  Schranken  —  nur  in  der  Mitwirkung 
an  dem  Ganzen  der  Menschheit  Bedeutung  erhält. 

Das  Wohl  des  Einzelnen  steht  im  Vordergrunde ;  wemi  auch  nicht  mehr 
dem  Allgemeinen  untergeordnet,  so  ist  doch  nicht  Ichsucht  das  Ziel.  Jesus 
zeigt  es  in  seiner  Person:    allgemeine  menschliche  Liebe. 


Rezensionen.  59 

Aber  noch  war  die  Menschheit  zu  dem  ihr  aufgegebenen  Höheivfluge 
nicht  reif:    man  nah  in  Jesu  ein  Ende  statt  eines  Anfanges  (66). 

Srst  in  der  Renaissance  kommt  es  zu  einer  neuen  Vertiefung:  höchst« 
allseitige  Ausbildung  der  Persönlichkeit..  Der  Mensch  ersteht  als  Kunstwerk, 
als  Produkt  ewiger  Strömungen.  Die  Freude  am  Leben  und  Schönheit  ge- 
staltet auch  das  Verhältnis  zum  Staate  um;  die  Menschenseele  prägt  ihm  ihren 
Willen  auf.  Doch  auch  hier  bald  wieder  Verfall  des  in  Taumel  und  Rausch 
ausgearteten  Lebens.  Eine  Stimme  aus  dem  Norden  gebi{4et  Einlialt:  Luther 
Er  ist  Vernichter,  aber  auch  Erneuerer  durch  sein  Drängen  auf  Lmerlichkeit 
(zur  Ergänzung  sei  hingewiesen  auf  Bruno  Bauchs  Würdigung  Luthers  in  der 
Geschichte  der  neueren  Philosophie,  Göschen).  Hier  werden  die  Grundlagen 
einer  neuen  Zeit  gelegt,  die  gekennzeichnet  ist  diurch  die  Verschmelzung  des 
Individualismus  der  Renaissance  \ind  der  Verinnerlichung  der  Reformation  (88). 
Dies  aber  weist  in  die  Zukunft.  Die  nächste  Zeit  bis  zm-  Gegenwart  wird  noch 
nicht  dmchdiungen  von  diesem  Hohen.  Der  moderne  Mensch  hat  sich  noch 
nicht  zum  Herrscher  über  die  Reizungen  der  Zivilisation  erhoben.  Er  lebt 
ohne  Seele  in  dem  Wirbel  kultureller  Reizmittel.  Zeit  zur  Selbstbesinnung 
und  Einkehr  gibt  es  nicht.  Der  Beruf  nimmt  den  ganzen  Menschen  für  sich 
in  Anspruch.  Der  ins  Große  gehende  Zug  des  Ewigkeitsbewußtseins  wird 
überflutet  von  dem  Strudel  des  Alltags:    geistige  Leere. 

In  der  Kennzeichnung  dieses  Standes  der  Seele  liegt  gleichzeitig  die  ein- 
dringliche Mahnung:  Persönlichkeit  und  Geisteswesen  muß  der  Mensch 
werden.  Seinen  Ausgang  soll  er  nehmen  von  dem  Kulturboden  seines  Volkes, 
um  dann  über  die  Nationen  hinweg  der  ^lenschheit  Fortschritt  auszubauen. 
Diese  Vervollkommnung  hat  ihre  Wm-zel  in  der  Familie,  der  Ehe:  Hinauf- 
pflanzen. Alle  Arbeit  soll  getragen  sein  von  der  Sehnsucht  nach  dem  Glück, 
das  im  Innern  allein  zu  suchen  ist;  die  Schaffensfreude  führt  den  Mensclien 
über  sich  selbst  hinaus.  Dem  in  ehrlichem  Wollen  und  Begeisterung  für  das 
im  Menschen  wiu'zelnde  Gute  geschiüebenen  Buche  möge  bei  vielen 
Einlaß  gewähi't  w^erden.  Dr.  Willi  S  c  h  i  n  k  ,  z.  Zt.  im  Felde. 

■Sechstes  Jahrbuch  der  S  c  h  o  p  e  u  h  a  u  e  r  -  G  e  s  e  11  s  c  h  a  f  t . 
Auegegeben  am  22.  Mai  1917.  Verlag  der  Schopenhauer-Gesellschaft 
(Kui-atorium :    Kiel,  Beselerallee  39).    3L4  Seiten. 

Das  vorliegende  Jahrbuch  ist  fast  ganz  der  Lebensgeschichte  des  Philo- 
sophen gewidmet  und  daher  besonders  wertvoll.  Enthält  es  doch  auf  diese 
Weise  keine  Gedankengänge,  mit  denen  sich  Schopenhauer  selbst  niemals 
befreunden  könnte  —  eine  Sache,  die  bei  einer  freien  Sammlung  sj'stematischer 
Aufsätze  natuigemäß  beinahe  unvermeidlich  ist.  Abgesehen  von  einem  Aus- 
zug aus  den  Verhandlungen  der  fünften  Jahresversammlung  in  D.e^den  1916, 
dem  Verzeichnis  der  Mitglieder  und  geschäftlichen  Mitteilungen  bietet  der 
Band  drei  Beiträge:  ,, Schopenhauers  Leben"  von  Paul  Deiißen,  „Die  zeit- 
genössischen Rezensionen  der  Werke  Arthur  Schopenhauers",  herausgegeben 
von  Reinliard  Pieper  (München)  und  „Schopenhauer  und  seine  Schwester. 
Ein  Beitrag  z.\ir  Lebemgeschichtc  des  Philosophen"  von  Di-.  Hans  Ziut  (Danzig). 


60  Rezensionen. 

Schopenhauers  Leben  von  Paul  Deußen  ist  ein  Sonderabdruck 
aus  dem  neuesten  Bande  der  Allgemeinen  Geschichte  der  Philosophie  dieses 
Verfassers.  Es  faßt  in  der  bekannten  g^^^ditgeneu  Art  in  kurzer  Form  zusammen, 
was  die  philosophic  geschichtliche  Forschung  über  das  Thema  zutage  gefördert 
hat.  Mit  vollkommenster  Beherrschung  des  Stoffes  ist  das  Wesentliche  aus 
Schopenhauers  Leben  in  lebensvoller  Weise  und,  man  hat  den  Eindruck, 
auch  im  Sinne  des  Philosophen  dargestellt.  Eine  Übersicht  über  die  Bildnisse 
Schopenhauers  und  -eine  objektive  Beurteilung  des  Menschlichen  schließen 
d©n  Abschnitt  ab.  Bei  welcher  Gelegenheit  zu  bemerken  ist,  daß  dem  Bande 
eine  treffliche  Reproduktion  nach  dem  Porträt  von  Hamel  vorangestellt  ist 
und  daß  derselbe  durch  das  Faksimile  eines  Konzeptes,  in  welchem  Schopen- 
hauer die  Mitgliedschaft  der  Akademie  der  Wissenschaften  in  Berlin  kuiz  und 
bündig  ablehnt,  beendet  wird. 

Die  von  Reinhard  Piper  herausgegebenen  Rezensionen  umfassen 
diesmal  sieben  Besprechungerr  der  ,,Welt  als  Wille  und  Vorstellung".  Eiirige 
der  erstaurrlich  ausführlichen  Arbeiten  enthalten  auch  beachtenswerte  Er- 
örtei  ungorr. 

Schopenhauer  und  seine  Schwester  von  Dr.  Hans  Zint 
beleuchtet  auf  Grund  neuveröffentlichter  Quellerr  eirr  für  Schopenhauers 
Leben  wesentliches  Verhältnis  in  eingehender  Weise.  Die  Abharrdlung  bietet 
reichlich  Belegstellen,  so  daß  sie  von  Schopenhauerforschern  mit  Gewinn 
studiert  weiden  wird,  ganz  abgesehen  davon,  daß  die  psychologisch-mensch- 
liche Seite  der  Beziehungen  zwischen  so  eigenart'gen  Geistern  auch  in  weiteren 
Kreisen  der  Freunde  des  Philosophen  teilnehmendes  Interesse  finden  dürfte. 

Was  das  Äußere  betrifft,  so  ist  mit  Genugtuung  festzustellen,  daß  das 
bisher  zu  aufdringliche  glatte  Rot  des  Einbaneles  cluich  die  Wahl  eines  matten 
Unteigrundes  gemildert  ist. 

Straßbrn  g.  Dr.  E  r  n  s  t  B  a  r  t  h  e  1 

AloisGeigel,  Andwaranaut.  Über  Wissen  und  Glauben.  Würzbirrg  1914. 
Den  gedanklichen  Kern  aus  der  über  die  Maßen  seltsam  krausen  Hülle 
zu  schälen,  ist  ein  gar  schweres  Stück  Arbeit.  Wem  sie  gelingt,  was  hat 
der  erreicht  ?  Wi  d  er  zu  des  Verfassers  Überzeugung  bekehr-t  sich  finden, 
daß  fromm-andächtiges  Naturgefühl,  auf  naturalistisch  pantheistischer  Grund- 
lage eingesenkt,  walrres  Wissen  und  wahres  Glauben  von  den  höchsten  Dingen 
ist  und  vor  allem,  daß  einem  diese  beseeligende  Weisheit  aus  der  Hingabe  an 
Wodan  und  Balder  und  Freya  erblüht?  Die  alten  Germanengötter  sollen 
zu  neuem  Leben  erwachen.  Das  Schwert  stößt  zu  für  Wodan,  Doirar  und 
Saxnot.  Viel  Glück  zu  fröhlicher  Kriegsfahrt!  Daß  solche  in  Sehnsucht 
nach  Walhall  schauenele  Gläubigkeit  den  stärkeren  Teil  ihrer  Kraft  aus  völ- 
kischen Idealen  bestimmter  Färbung  derrn  aus  selbstgenugsamem  religiösen 
Gefülil  schöpft,  bedarf  wohl  keiner  besonderen  Hervorhebung.  Der  nationale 
Glaube  soll  fremden  Tand  verscheuchen;  und  wie  wirnderbar  klingt  er  mit  der 
frei  und  mutig  gefundenen  Walirheit  zusammen ! 

Dr.  Max  Wiener-  Stettin. 


Rezensionen,  61 

Hermann  0  1  d  c  n  b  e  r  g  ,    Die  Lehre  der  Upanishaden  und  die  Anfänge 
des  Buddhismus.    Göttingen  1915. 

Wenn  philosophische  Si^kulationcn  von  fremdher  in  einen  Kulturkreis 
hineingetragen  werden,  der  seinen  eigenen  Bildungsgesetzen  gefolgt  ist,  so 
erliegen  Entdecker  und  erste  Beurteiler  der  fremden  Gedanken  zu  leicht  der 
Gefahr,  über  Anklänge  und  Ähnlichkeiten  mit  dem  eigenen  Gut  die  Trennungs- 
raomente  und  grundsätzlichen  Ver,schiedenheiten  zu  übersehen.  Zumal  wird 
oft  die  keimhafte  Andeutung  von  Problemen  überschätzt  und  ihre  erst  an- 
hebende Entfaltung  durch  Einspannung  in  die  Kategorien  eines  reich  ent- 
wickelten Denkens  verkannt.  Die  Beschäftigung  europäischer  Philosophen 
und  Kulturhistoriker  mit  den  Fragen  und  Lösungen  der  indischen  Spekulation 
ist  zwa»  längst  darauf  aus,  diese  in  ihrer  Eigenart  zu  begreifen  und  von  der 
abendländischen  abzugrenzen.  Und  doch  muß  größtmögliche  historische 
Treue,  eine  wirkliche  Einfühlung  in  jene  fremdartige  Lebenswelt  immer  noch 
als  die  wichtigste  Aufgabe  unserer  Forscher  gelten. 

In  diesem  Lichte  erscheint  Oldenbergs  Werk  als  eine  vorzügliche  Leistung. 
Die  indische  Philosophie  enthält  keimhaft  in  sich  sehr  viele  von  den  sachlichen 
Problemen  der  em-opäischen.  Aber  der  formalen  Schärfe  logischer  Formu- 
lierung entbehrend,  gefährdet  sie  echtes  Verständnis  durch  die  ihr  eigene 
Unbestimmtheit  in  der  Ordnung  und  Darlegung  der  Gedanken.  Kommt 
■ —  zumal  in  den  älteren  Upanishaden  —  die  recht  verwirrende  literarische 
Einkleidung  hinzu,  die  Verquickung  der  Theoreme  mit  Mjiihologie,  absonder- 
lichem Zauber-  und  Ritenwesen,  so  wird  man  O.s  Vorsicht  nur  loben  können, 
der  nicht  schnell  dabei  ist,  etw^a  eine  klare  Erkenntnis  von  der  Subjektivität 
der  Raumanschauung  (S.  73)  oder  die  platonische  Ideenlehre  (S.  80  f.)  in  jenen 
früliesten  Denkversucheu  zu  entdecken.  Das  Schwebende,  vage  Gleitende 
und  Schimmernde  in  den  Lehren  dieser  uralten  Metaphysik,  ihr  Schwanken 
zwischen  Pantheismus  und  Personalismus  in  der  Auffassung  des  Brahman 
(S.  98  f.),  zwischen  Monismus  und  Pluralismus  (S.  89  f.)  kommt  zum  klaren 
Ausdruck,  —  um  nur  einige  Beispiele  herauszugreifen. 

Es  wird  gezeigt,  wie  ganz  allmählich  erst  aus  grotesker  Mythologie  und 
abstrusem  Ritualismus  der  ethische  Vergeltungsgedanke  sich  emporwindet, 
wie  die  ursprüngliche  Weltwertung,  dem  natürlichen  Gefühl  noch  nicht  ent- 
wurzelt, nichts  von  dem  absoluten  Pessimismus  weiß,  der,  später  aus  der  Seele 
eines  erschlaffenden  Volkes  aufflammend,  zum  Vorläufer  des  Buddhismus . 
wird.  Auch  darin  bildet  die  alte  Zeit  das  Vorbild  der  jüngeren,  daß  das  Welt- 
leiden schon  mit  der  Zerspaltung  des  einen  Atman  in  die  Vielheit  der  Einzel-Ichs 
motiviert  und  die  Erlösung  im  mystischen  Wissen  von  der  Ureinheit  und  in 
der  Einswerdung  mit  dem  allgemeinen  Atman  erblickt  wird,  die  ihrerseits 
durch  die  Ertötung  alles  auf  besondere  Ziele  gerichteten  WoUens  sich  voll- 
zieht. Man  ist  geneigt,  O.  zu  folgen,  wenn  er  die  mystisch  schauende  Ver- 
ehrung des  Allwesens  lieber  in  die  Sphäre  von  Spinozas  amor  Dei  intellectualis 
rückt  (S.  140),  überhaupt  mehr  den  gedanklichen  Zusammenhang  der  Upani- 
shadenlehre  mit  der  Alleinheitsanschauung  der  über  die  ganze  Welt  ausge- 
breiteten Mystik  betont,  als  daß  er  eine  nahe  Verwandtschaft  mit  Kants 
und  Schopenhauers  Phänomenalismus  anerkennen  will. 


62  Rezensionen. 

Die  jüngeren  Upanishaden,  zumal  ihre  reifste  Frucht,  das  Samldiya- 
system,  enthalten  auch  der  Form  nach  echte  Philosophie.  Die  Mythologie 
ist  der  reinen  psychologischen  und  physikalischen  Anlayse  gewichen.  Tie  deut- 
liche Offenbarung  anthropomorphischen  Denkens  in  der  Konzipierung  meta- 
physischer Prinzipien  ist  selten  geworden.  Doch  tritt  sie  selbst  in  der  wich- 
tigen Lehre  von  den  CTunas,  den  drei  Momenten  in  der  Prakrti,  der  —  mate- 
riellen ■ —  Giundwesenlieit,  die  dem  geistigen  Seinsfaktor,  dem  Pxu-usha,  wie 
jetzt  Atman  heißt,  gegenübertritt,  noch  klar  zu  Tage  (S.  212  ff.).  Immerhin 
ist  diese  Spekulation  begrifflich  entwickelt  genug,  um  sich  auf  ihre  innere 
Logik  prüfen  zu  lassen.  Der  praktische  Teil  zeigt  die  wesentlichen  Züge 
der  älteren  Upanishaden.  Ein  weiterer  Schritt  zur  Vorbereitung  des 
Buddhismus  liegt  in  der  Zerfällung  des  einen  Pm'usha  in  eine  Viellieit  von 
Individuen. 

Der  Buddhismus  selbst  bewährt  seine  Eigenheit  in  der  Kraft  des  zu  Ende 
Denkens.  Dazu  gehört  auch  die  grundsätzliche  Skepsis  gegenüber  der  theore- 
tischen Spekulation  und  seine  Konzentration  auf  den  Erlösungsgedanken, 
in  dem  die  indische  Philosophie  seit  jeher  gegipfelt  hat.  Eine  feine  Würdigung 
der  Gestalt  des  Buddha  beschließt  das  \A^erk.  Wir  empfangen  aus  ihm  den 
Eindruck  einer  Darstellung,  die  wirklich  historisch  ist  und  den  Tatsachen 
ohne  Idealisierung  und  Schematisierung  Rechnung  trägt. 

Dr.  Max  Wiener-  Stettin. 

Fritz  Kern,  Gottesgnadentum  und  Widerstandsrecht  im  früheren  Mittel- 
alter.    Mittelalterliche  Studien  I.  Band,  2.  Heft.     Leipzig  191.5. 

Es  wird  die  geschichtliche  Entstehung  und  Entwicklung  der  später  mit 
dem  Worte  „Gottesgnadentum"  bezeichneten  Rechte  sowie  des  diesem  ent- 
gegentretenden Widerstandsrechts  dargestellt.  Der  Verfasser  will  zeigen, 
wie  die  Vorgeschichte  der  modernen  Theorien  von  der  absoluten  und  der 
konstitutionellen  Monarchie  ihren  Elementarbestandteilen  nach  ebenso  in 
den  Rechtsanschauungen  des  germanischen  Staates,  wie  sie  sich  etwa  bis 
in  das  13.  .Jahrhundert  herausgebildet,  wie  in  den  politischen  Lehren  der  Kirche 
aufzusuchen  sind.  Es  handelt  sich  also  um  eine  Auseinandersetzung  zwischen 
kirchlichem  und  germanischem  Geiste  in  einem  hochwichtigen  Bereich  gemein- 
samer Betätigung. 

Besonders  wertvoll  machen  das  Werk  die  umfangreichen  aufhellenden 
Quellenbelege.  Die  Bedeutung,  die  der  Verfasser  diesem  Teile  seiner  Arbeit 
beigelegt  hat,  rückt  das  Buch  vor  allem  dem  Historiker  nahe.  Doch  da  mit 
Recht  gesagt  wird,  daß  überall  die  Erkenntnis  dessen,  was  in  Staat  und  Kirche 
gewesen  ist,  tief  hinein  in  die  Erforschung  dessen  führt,  was  das  Zeilalter 
über  Staat  und  Recht  gedacht  hat",  so  wird  auch  der  überwiegend  am 
philosophischen  Gehalt  Interessierte  hohen  Gewinn  aus  der  Leistung  Kerns 
ziehen.  Dr.  Max  Wiener-  Stettin. 


Archiv 


tür 


Geschichte  der  Philosophie 


herausgegeben 

von 

Ludwig:    Stein. 


XXXI.  Band. 

Nene    Folge 
XXIV.  Band. 


BERLIN. 
Druck  und  Verlag  von  Leonhard  Simion  Nf, 

1918. 


Archiv  für  Philosophie. 

I.  Abteilung: 

Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie, 

Neiu"   Koloe.     XXIV.  Band,    2.  Heft. 


V. 

Ein  Beitrag  zum  heraklitisch-parmenideischen 
Erkenntnisproblem. 

Von 

Dr.  Emanuel  Loew,  Wien. 

In  der  neuesten  Literatur  auf  dem  Gebiete  dieses  vielerörterten 
Troblems  gehen  die  Meinungen  der  Forscher  gerade  in  den  wesent- 
lichsten Punlcten  noch  viel  weiter  auseinander  als  in  der  schier  unüber- 
sehbaren Literartur  triiherer  Zeiten.  Nicht  nur,  daß  Heraklit  dem 
einen  als  strenger  Rationalist  vergleichbar  dem  Descartes  in  der  Neu- 
zeit^),  dem  andern  als  Sensualist  vom  Schlage  des  Erfahrungsphilo- 
sophen Berkeley'^),  dem  dritten  als  Vermittler  zwischen  den  beiden 
Kichtungen^j  erscheint,  auch  in  der  Frage  nach  der  Priorität  und  Ab- 
hängigkeit dieser  beiden  vorsokratischen  Denker  sind  wn  von  einer 
einheitüchen  Auffassung  weiter  entfernt  denn  je.  Viele  Forscher 
sehen  es  heute  als  feststehende  Tatsache  an,  daß  „Parmenides  im 
Kampfe  gegen   Heraküt'   stehe^j,    J^eussen^)-  dagegen   erscheint   es 


^)  H.  Ölonimsky,  Heiaklit  und  Parmenides.     Gießen  1912. 

-)  R.  Herliertz,  Das  Wahrheitsploblem  in  der  gi-iech.  Philosophie,  Berlin 
1913,  nennt  „die  rationalistischen  Wendungen"  bei  H.,  die  in  der  Betonung 
des  Logos  ihren  Ausdruck  finden,  „eine  (sc.  bei  einem  Empiriker)  sonst  ganz 
ungewöhnliche  Erscheinung"  (S.  72).  Auffallend  sei,  daß  Plato  den  Ver- 
fechter des  ndvxu  oh,  ohne  auf  seine  Logoslehre  Rücksicht  zu  nehmen,  neben 
Protagoras  und  Aristippos  stelle  (S.  160). 

^)  K.  Reinhardt,  Parmenides  und  die  Geschichte  der  gi-iech.  Philo- 
sophie.    Bonn  1910. 

*)  A.  Patin,  Jahrb.  f.  klass.  Plül.,  25.  Suppl.  1899. 

')  Die  Philosophie  der  Griechen.     Leipzig  1911. 

5* 


64  Enianuel    Loew, 

,,selii-  zweifelhaft,  ob  die  beiden  Mäiinef  voneinander  näliere  Kunde 
hatten,  oh  insbesondeie  Parnienides  in  seinem  Gedichte  auf  die  Lehren 
des  HerakUt  ans])ielt",   Reinhardt'  endhch  glaubt,  auf  Grund  ,,der 
inneren  Chronologie,   der  Chronologie  der  Gedanken  und  Systeme'" 
nachweisen  zu  können,  es  sei  unmöglich,  die  beiden  .Denker  als  von- 
einander unabhängig  zu  betrachten,  aber  H.  stehe  unter  dem  Ein- 
flüsse des  P.,  habe  mithin  später  gewirkt  als  dieser.  Kine  tief  ergehende 
Verschiedenheit  in  den  Auffassungen  ist  überhaupt  nicht  denkl)ar 
und  diese  an  sich  befremdliche  Tatsache  wird  noch  dadurch  auf- 
fälliger, daß  alle  diese  namhaften  Forscher  doch  in  dem  einen  Punkte 
einig  sind,  daß  der  herakhtische  Logos  ^vrog  sei  und  sich  mit  (hoc, 
(fvotc.  i'ov<g,  (fi>6v)/otc  u.  ä.    inhaltlich   decke. ^)     So  sieht   es  klar 
und  deutlich  bei  Sextus  (adv.  m.  VII  126  ff.)  zu  lesen  und  die  .Deu- 
tung dieses  sieben  Jahrhunderte  nach  H.  lebenden  Skeptikers  oder 
seines  Gewährsmannes  gilt  den  meisten  Erklärern  unserer  Zeit  nicht 
etwa  als  eine  antike  Auffassung,    die  geradeso,  ja  noch  mit  größerer 
V^orsicht  auf  ihre  Richtigkeit  geprüft  werden  müsse,  als   die  Auf- 
fassung eines  objektiven  Forschers  von  heute,  nein,  die  antike  Auf- 
fassung hat  für  sie  den  AVert  eines  antiken  Zeugnisses,  auf  das  sie  sich 
unbedingt  verlassen  und  immer  wieder  berufen,  und  wenn  sich  ein 
einfacher  Gehilfe  auf  diesem  Gebiete  von  der  Autorität  des  Sextus 
ganz  unabhängig  nuicht,  so  sagen  sie,  er  beharre  auf  seinem  Stand- 
punkte nur  ,,in  dem  Gefühl,  einen  Irrtum  von  Jahrtausenden  zu  be- 
richtigen".'^)    Und  doch,  wenn  die  namhaftesten  Forscher  unserer 
Tage,  von  derselben  Voraussetzung  ausgehend,  zu  so  ganz  verschie- 
denen Ergebnissen  gelangen,  so  drängt  sich  von  selbst  die  Frage  auf, 
ob  nicht  eben  diese  gemeinsame  Voraussetzung  falsch  ist,  ob  nicht 
sie  es  ist,   welche   die  ganze  Forschung  in  eine  falsche  Bahn   ge- 
lenkt hat. 

.Der  gewichtigste  Vorwurf,  den  mir  die  Beurteiler  von  der  Gegen- 


8)  Reinhardt  faßt  zwar  den  heraklitischen  Logos  in  demselben  erkenntnis- 
theoretischen  .Sinne  wie  den  parnienideischen  (S.  219),  aber  Heraklits  Xöyoz 
sei  'S,vvÖQ  (S.  213)  und  gleich  Gott  und  Weltfeuer  (203  u.  ö.). 

^)  Nestle,  Wochenschr.  f.  klass.  Phil.  1916  htn  der  Besprechung  meiner 
Abhandlung  „Das  heraklitische  Wirklichkeitsproblem  und  seine  Umdeutung 
bei  Sextus".  Wien  1914.  N.  nennt  ,,die  bisherige  Auffassung  der  heraklitischen 
Philosophie  wohlbegründet"  (Arch.  1912,  S.  304).  Ich  frage:  Welche?  Vgl. 
weiter  unten  Anm.  33. 


Ein  Beitrag  zum  lienvklitisi-li-panueiiid.  Erkenntuisprobleni.  6o 

Seite  luacheii..  ist  der  des  Ziikolbeweises.  Icli  setze,  sagt  Lortzing^), 
von  vornherein  das,  was  ich  beweisen  wolle,  als  gegeben  voraus,  daß 
nämlich  Sextus'  Auffassung  des  Logos  bei  H.  durchaus  falsch  und 
meine  eigene  die  allein  berechtigte  sei.  l)as  ist  allerdings  richtig, 
insofern  als  Sextus  glaubt  H.  habe  einen  /o/oc  xoiro^  y.(ü  fHtoc 
gelehrt  und  habe  demgemäß  den  ]\'amen  /o'/ol;  |den  ein  kosmisches 
Prinzip  bezeichnenden  Xamen  (fi'oic,  'lioc,  rorc  und  (fQoriiotc 
gleichgesetzt,  während  ich  gerade  das  Gegenteil  annehme,  der  Xame 
'/.o'/oa  habe  bei  H.  durchaus  erkenntnistheoretische  Bedeutung,  H. 
habe  keinen  h'r/oa  xoiroc  y.ai  d^tioQ  gelehrt,  2o/ou  stehe  zu  r/»\;<.^ 
und  (fQOTf/oiu  in  demselben  Gegensatze  wie  reine  GecUinkenerkenntnis 
zu  Entwicklungsgesetz  und  Erfahrungserkenntnis.  Bewiesen  habe 
ich  zunächst  meine  Voraussetzung  ebensowenig  wie  mein  antiker 
Gegner  die  seine  und  insofern  trifft  der  Vorwurf  des  ZirkelbeAveises 
uns  beide  mit  gleichem  Recht.  Wenn  nun  die  neueren  Bearbeiter 
mit  der  Voraussetzung  meines  Gegners  in  den  wichtigsten  Punkten 
zu  einer  einheitlichen  Auffassung  gelangt  wären,  so  wäre  ihr  Fest- 
halten an  derselben  trotz  schwerer  Bedenken,  die  noch  bestehen 
büeben,  schon  um  des  übereinstimmenden  Ergebnisses  Nyillen  begreif- 
lich. So  aber,  da  die  Rechnung  trotz  wiederholter  Überprüfung  dm-ch 
die  namhaftesten  Meister  durchaus  nicht  stimmen  will,  ist  dadurch 
allein  bereits  der  Verdacht,  daß  die  Fehlerquelle  eine  gemeinsame 
sei,  daß  sie  aus  der  gemeinsamen  Voraussetzung  entspringe,  begründet 
und  eine  sachüche  Prilfung  des  Berichtes  bei  Sextus  gibt  diesem 
Verdachte  neue  kräftige  Nahrung. 
Der  Bericht  lautet: 
Heraklit  hat,  da  der  Mensch  zur  Erkenntnis  der  AVahrheit  (§  1:^6) 
mit  zwei  Organen  versehen  zu  sein  scheint,  mit  der  aioih/ou:  und 
mit  dem  /o/oc,  angenommen,  daß  von  diesen  beiden  die  aioffffug 
ähnlich  wie  es  die  filiher  genannten  Physiker  angenommen  haben, 
unzuverlässig  sei,  den  koyog  dagegen  legt  er  als  xqiti'jqiov  zugrunde. 
Aber  was  nun  die  (äofh/oig  betrifft,  so  verschmäht  er  sie,  indem  er 
wörtlich  sagt:  xaxo)  {/i'cQTv<)tc  (a'h()c')JTOioiv  offfitiÄiKu  x(u  ojto. 
(iciQßuQovQ  ^pv/äa  lyoi'xov  (107  D),  was  soviel  bedeutet  wie:  es  ist 
Eigenschaft  barbarischer  Seelen,  unvernünftigen  AVahrnehmungen 
{uAÖyoiQ  (uo&//G80f)  zu  trauen,    l^en  /o/o?  (§  127)  bezeichnet  er  als 


^)  Lortziiig,  Bphw.  1916,  bei  der  Besprechung  meiner  Abhdig. 


ßf)  Emanuel   Loew, 

Beurteiler  der  Wahrheit,  nicht  jeden  beliebigen,  sondern  nur  den 
gemeinsamen  und  göttlichen.  Welcher  das  ist,  soll  kurz  gezeigt  werden. 
Es  ist  nämUch  die  Ansicht  des  (pvör/MQ,  daß  das,  was  uns  umgibt, 
'/.oyixör  ist  und  7:(>ii77(>fcc.  Derartiges  zeigt  schon  viel  (§  128)  fniher 
Hoinoi-  (<;  163)  mit  den  AVorten: 

Toloc.  /«(>  yooj  tor/r  Lir/ßoriov  arf^^QcojTor, 
o'ior  £</■■'  tjftdQ  '«/7/Ö'  .T«r/}(>  dvÖQOJV  re  dta)'  re. 
Auch   Archilochos    sagt,    cUß   die   Menschen   derartiges    denke u 
{(fnoni)')  (fr.  70  Bergk): 

orroif/r  Ztvc.  If/'  ////t'(>//r  «/^'^ 
Es  ist  aber  auch  von  Euripides  dasselbe  gesagt  worden  (Troad.  885) : 
oöTic  .1-oT    ti  ör  drCiTOJiaijTOC.  tiöidtir 
Zbvq  dr  drriyx//  (f  va^oc  dn-  i'ovg  ß{n>T(~jr. 

.Diesen  fMoc  /.öyoc  also  ziehen  wir  nach  Herakht  durch  Ein- 
atmung (§  129)  an  uns  und  werden  dadurch  roeQoi  und  im  Schlafe 
werden  wh-  vergeßlich,  im  Erwachen  aber  wiederum  tfiffQortc.  .Da 
sich  näjuüch  im  Schlafe  die  Mündungen  der  Sinne  {idofh>iTixol 
rrooof)  schheßen,  so  wird  der  in  uns  wohnende  rorc  vom  Zusammen- 
hang mit  dem  .-rtQu/oy  gesondert,  während  nur  die  Verbindung 
zufolge  der  Einatmung  erhalten  ])leibt  wie  eine  Art  AVurzel;  gesondert 
aber  verhert  er  die  Gedächtniskraft,  die  er  früher  hatte.  Im  wachen 
Zustande  (§  130)  dagegen  bückt  er  sich  durch  die  Öffnungen  der 
Sinne  wieder  hinaus  ^^^e  durch  eine  Art  Fenster,  trifft  mit  dem  .T£(ut'/or 
zusammen  und  zieht  so  die  Äoyix)]  Övvaiaq  in  sich  hinein.  Sowie 
also  die  Kohlen,  wenn  sie  sich  dem  Feuer  nähern,  zufolge  der  Wand- 
lung {(\).).oi('Hjid)  vom  Feuer  durchghiht  werden,  wenn  sie  aber  ab- 
gesondert sind,  verlöschen,  so  wird  auch  der  in  unseren  Körper  als 
Gast  aufgenommene,  aus  dem  jrsQityov  stammende  Anteil  zufolge 
der  Absonderung  geradezu  cdoyoc,  zufolge  des  durch  die  größte 
Menge  von  Öffnungen  hergestellten  Zusammenhanges  aber  wird  er 
ein  dem  Universum  (o/or)  Gleichartiges,  Diesen  gemeinsamen  und 
göttUchen  Logos  also,  demzufolge  (§  131)  wir,  wenn  wir  an  ihm  Anteil 
haben.  Xoyixoi  werden,  nennt  Heraklit  ein  Urteilsmittel  der  Wahr- 
heit: woher  denn  auch  das  allen  gemeinsam  Erscheinende  zuverlässig 
sei  (denn  man  empfängt  es  durch  den  gemeinsamen  und  götthchen 
Logos),  das  aber  nur  einem  allein  Beifallende  unzuverlässig  sei  wegen 
der  gegenteiligen  Ursache.    Ln  Anfange  seines  Buches  (§  132)  ül)er  die 


Ein  Beitrag  /.um  heraklitisch-parmenid.  Eikenntnisproblcm.  07 

Natiu"  also,  huU'm  er  ^gewissermaßen  das '  :rtQihyov  zei^t,  sagt  der 
vorerwähnte  Mann:  Äo/or  tovöt  sovto^  (c^rveroi  yivovtuL  ("ivH^QOjjrot. 
y.i:]  yoöoihr  /}  uxoroai  xa)  dxocoamc  to  jtQfotor'  yiroittvon'  yao 
xuTi'.  Titr  Ao'/or  ror()t  (crTfiQoiöir  ioixaot,  rrfLQo'ji/svoi  Itthov  x<u 
tnyi'iv  ToiorTor.  nxoiov  lyo>  (hiiytviuu,  xmtu  (pcoir  diaiQtov 
ixaoTov  xc.l  ([{täZor  öx<')c  tyti.  rovi^  öl  cüJjtvq  dn'f-QfojTOv^ 
Mcvth'u'fi    oxooa   tyiftihü'Tt-    jTOioron',    öxfoojrfci    oxnoa    fcrVjorTfC 

Xachdeiu  er  nänüich  dadiircli  ausdrücklich  {(»/tc'j^}  dargestellt 
hat  (§  133),  daß  wir  zufolge  der  Teilnahme  an  dem  göttlichen  Logos 
alle?  tun  und  denken  {.^(kcttouh'  re  xal  rooci/tr),  fügt  er,  nach- 
dem er  noch  wenige  Worte  dazu  berichtet  hat,  hinzu:  Öio  dei  Lttofffci 
TO)  i.>'r<~)  Qirog  ist  nämlich  o  xoiroc)'  roc  h'tyov  ()'  lürrog  ^vror 
Cc'jorijo-  Ol  .To/J.fH  f'jg  iöiav  t/ovrec  (fQÖDjOLr. 

J  >ipse  ((fftöv/joig)  ist  aber  nichts  anderes  als  eine  Exegese  der  Art 
undAVeise  der  Lenkung  des  Alls  (-rtyc  tov  .-rarrog  Öioixfjoecog).  Deshalb 
sj)rechen  wir,  sofern  wir  an  der  Erinnermig  daran  gemeinsamen  An- 
teil haben,  die  Wahrheit,  sofern  wir  aber  gesondert  sind,  sprechen  wir 
die  Unwahrheit.  Jetzt  erklärt  er  nämlich  ganz  ausdiiicklich  (§  134) 
(o;/roT«r«)  auch  hierin  den  xoirog  löyog  als  Urteilsmittel  und  sagt, 
daß  das,  was  gemeinsam  erscheint,  zuverlässig  ist,  weil  es  ja  durch 
den  xoivog  Xöyog  beurteilt  "wird,  daß  aber  das,  was  nur  jedem  einzeln 
für  sich  allein  erscheint,  unwahr  ist." 

Gleich  beim  ersten  Lesen  dieses  Berichtes  gewann  ich  den  Ein- 
druck, daß  hier  Heraklitisches  und  AntiherakUtisches  bunt  durch- 
einander geworfen  ist.  Aber  nach  diesem  Gesichtspunkte  die  Ge- 
danken zu  sondern,  solange  wir  nicht  aus  den  erhaltenen  Bruch- 
stücken Heraklits  eigene  Gedanken  entwickelt  und  so  in  seine  Denkart 
Einbhck  gewonnen  haben,  ist  sehi*  mißÜch.  Lninerhin  läßt  sich  schon 
einiges  feststellen:  erstens,  daß  Sextus  das,  was  er  beweisen  will, 
als  gegeben  annimmt,  indem  er  in  §  127  sagt:  ,,Es  ist  die  Ansicht 
des  (fviuxog.  daß  das,  was  uns  umgibt,  Äoyixör  und  qQ^v)~iQtg  ist.'' 
Schon  die  Stellung  von  koyixöv  zwischen  (fcoixög  und  ffiJtvi'iQbg 
ist  nicht  übel  berechnet,  um  so  das  erstere  den  beiden  letzteren  gleichzu- 
setzen. Von  derselben  Berechnung  zeugt  zweitens  der  Versuch,  durch 
die  unmittelbar  an  diese  Voraussetzung  angeschlossenen  Zitate  zu 
., beweisen",  daß  schon  Homer  und  Archilochos  und  der  allerdings 
von  Hei'aklit  beeinflußte  Euripides  die  der  Sprache  der  Kosmologie 


(38  Enuinuel   Loew, 

.ingehöreiulen  Bezek-linuiigen  /Ito't:,  (fivon:,  rorc,  gxjörjioij:  im 
Sinne  des  d^tlog  /.6yo^  gebraucht  haben.  Ebenso  tief  bezeichnend 
für  des  Sextus  Verfahren  ist  es,  wenn  er,  da  ihm  durch  die  drei  Zitate 
die  kosniologische  Bedeutung  des  Logos  auch  schon  für  H.  sichei'- 
gestellt  erscheint,  fortfälu-t:  „.Diesen  götthchen  Logos  also  (!)  ziehen 
wir  nach  Herakht  durch  Einatmung  an  uns  und  werden  dadurch 
roeQoi  und  ....  liuf  {tortq.  Sextus  glaubt  also  wirklich,  durch  dii^ 
obigen  Zitate  nachgewiesen  zu  haben,  daß  die  .Dichter  vor  und  un- 
mittelbar nach  H.  ebenso  die  kosniologische  Bedeutung  des  Logos 
gekannt  haben  wie  H.  selbst;  denn  bei  ihnen  allen  sei  /o/oj  =  ihföc, 
)(}0c.  (fi>öv>/öic!  Aber  sonderbar,  H.  selber  ist  bei  ihm  noch  nicht 
zum  Worte  gekommen.  Wir  müssen  noch  eine  weitläufige  Belehrung 
über  die  Wechselbeziehungen  der  (cinttt/Tixoi  jtoqoi  und  des  roo-- 
zum  ).<r/oc  im  Schlafe,  im  Erwachen  {xar  r/tQOtv).  im  wachen 
Zustande  {Iv  lyQtiyÖQOH),  über  die  Gleichsetzung  der  iir^iuorcxf) 
(Svvaiiic  und  Xoyr/Ji  dcraia^  u.  a.  hinnehmen,  !)is  wir  endUch 
genug  vorbereitet  sind,  Heraklits  eigene  Worte  zu  vernehmen.  Und 
jetzt,  da  wir  uns  natürlich  überzeugt  haben,  daß  des  Sextus  Erklärung- 
zu  dem  Ausspruche  genau  stimmt,  ist  kein  Zweifel  mehr,  daß  ,.H.  also 
dadurch  ausdrücklich  dargestellt  hat,  daß  wir  zufolge  der  Teil- 
nahme an  dem  göttlichen  Logos  alles  tun  und  denken".  Und  nun 
fährt  H.  —  ein  kleines  Sätzchen  läßt  S.  dabei  weg  —  folgendermaßen 
fort:    ,,()fo  dhf  .  .  .  (fQoi't/oir  (fr.  2)  §  133." 

In  der  darauffolgenden  Deutung  zeigt  sich  sogleich  wieder  das 
BemiUien  des  Skeptikers,  die  ff  (_><'>  vr/Oig  dem  Xöyog  gleichzusetzen. 
X  -Die  ffQortjoic  nennt  er  nändich  eine  öioix/j<uc  ror  :iic'.rTÖg:  das 
ist  dasselbe  x\ttribut,  welches  die  Stoiker  allgemein  dem  /.oyog  bei-, 
gelegt  haben.  So  hat  z.  B.  M.  x\urel  den  Worten  des  fr.  72  Heraklits 
r'>  (u'i/uöra  .  .  .  /o/ry  hinzugefügt  r^7  to.  o'au  dioixorrri,  Clemens 
(Strom.  V  104,  1)  deutet  die  .Tr(><U'  r(>o.Tfa  (fr.  31)  in  der  Weise,  daß 
das  Jiv{>  r.7ro  ror  d  lo  i  xo  r  >- t  o  g  Xoyov  //  ^hoc  ra  ärrcrTc.  .  .  . 
TQtJiixiu  dg  .  .  .  n^äXaTTar.  .Der  Zweck,  der  damit  verfolgt  wurde, 
daß  der  (pQÖvtjoLc  Heraklits  dasselbe  Attribut  gegeben  wurde  wie 
dem  stoischen  AÖyoq,  ist  durchsichtig  genug.  .Denn  es  ei-gab  sich 
daraus  von  selbst  der  Schluß: 

Heraklits  (f>(j6r//0tg  =   dioix/joic  toi  rrfcrroj 

der  stoische  /o/oc    =  ÖioixciJr  t(c  oXa,  \ 

folglich  die  heraklitische  (fQor/jotg  =  dem  stoischen  Xoyoc. 


Ein  Beitrag  zum  lieriikliti.sc.li-jiarmenid.  Kikei)ntni.-])i<»l)lrm.  69 

Aiif  diese  Weise  haben  wir  einen  köstlichen  Beleg  gewonnen  für 
die  „ernsthaften  Folgen,  welche  die  Interpietationsinethode  der  alten 
Ausleger  für  unsere  Tradition  gehabt  hat,  besonders  was  Herakleitos 
anlangt."»)  Daß  sie  dabei  mitunter  in  die"  auffallendsten  Wider- 
spiliche  gerieten,  ist  nicht  auf  ihre  eigene  Gedankenlosigkeit  zuriickzu- 
l'iihi-en,  sondern  war  die  unausweichliche  Fol<;e  ihres  ganzen  Verfahrens. 
Auch  hierfür  bietet  der  vorliegende  Bericht  ein  Musterbeispiel,  indem 
einerseits  der /rr/og  der  (/"(>or//oVu.  andererseits  dQnxom]  ffafvoi/trc 
gleichgesetzt  wird,  in  §  133  dagegen  als  Ihä^g  /.öyo^  ej-klärt 
wird.^»)  Diesem  Widerspruche  konnte  der  antike  Erldärcr  nicht  ent- 
rinnen und  ich  sehe  darm  einen  wichtigen  Beweisgrund  mehr  dafür, 
daß  ich  auf  deni  richtigen  Wege  bin. 

Aber  Weit  wirksamer  als  durch  die  negative  Kritik,  die  ich  bisher 
an  dem  Belichte  geübt  habe,  soll  derselbe  durch  die  positive  Deutung 
der  beiden  Bruchstücke  widerlegt  werden,'  w^obei  wir  von  fr.  2  aus- 
gehen wollen. 

Zunächst  müssen  wir  „die  wenigen  Worte,  die  Heraklit  noch 
dazu  berichtet  hat",  ausfindig  machen.  Sextus  will  zwar  glauben 
nuu-hen,  als  ob  die  ganz  kleine  Lücke  für  den  Zusammenhang  belanglos 
wäre,  und  weil  er  die  vorgenommene  Streichung,  die  er  nicht  leugnen 
kann,  selbst  zugibt,  sind  auch  die  neueren  Bearbeiter  vielfach  geneigt, 
der  Sache  keine  Bedeutung  beizulegen.^i)  .Das  ist  um  so  mehr  zu 
verwundern,  als  wir  ja  gerade  heutzutage  wissen,  wie  ein  Bericht- 
erstatter durch  bloße  Stieichung  weniger  Worte  einen  Gedanken  in 
sein  Gegenteil  umzukehren  vermag.  Wir  müssen  also  zunächst  wissen, 
welches  Sätzchen  Sextus  mit  dem  Zensurstift  ausgemerzt,  welche  Ab- 
sicht er  mit  diesem  w^eißen  Fleck  vc^rfolgt  hat,  ob  nicht  die  Absicht, 
die  er  dabei  hatte,  uns  auf  die  richtige  Spur  nach  dem  Sätzchen  führeu 
kann.  Solange  die  Lücke  nicht  ausgefüllt  ist,  können  wir  weder  Wort- 
sinn noch  Satzbau  feststehen,  können  insbesondere  nicht  wissen,  ob 
der   gen.  abs.   ror  /.oyov  f)'  lorrog  s'rror   konzessive    Bedeutung 


ä)  J  .Biu-net  (E.  Schenkl),  Die  Anfänge  der  griech.  Philosophie.  Leipzig 
IS»13. 

1")  Zeller,  Die  Philosophie  der  Griechen,  S.  608  IV:  „^\'enn  Sextus 
den  xoivuc  Ivyoc  diuch  rd  xoirtj  (patyofisva  erläutert,  so  wird  dies  von 
Ijassalle  mit  Recht  abgelehnt,  .  ,  .  Sextus  .selbst  hat  vorher  VII  133  den  Xöyog. 
für  den  Ühoc  Löyoc  erklärt." 

11)  Lortzing  a.  a.  O. 


70  Emajiui'l   LoL'W, 

hat.  wie  es  })isher  alle  Erldärer  nach  dem  Beispiele  des  Sextus  an- 
geiioiniiien  haben.    Reinhardt,  meines  Wissens  der  erste,  der  die  Not- 
wendigkeit einsah,   den  konzessiven  Sinn  dieses  Partizips  ans  dem 
Satzhan  zn  erklären,  nahm  in  seiner  Verlegenheit  seine  Zuflncht  zum 
absoluten  Partizip  im  1.  Ausspruche   yiroiurror  yicQ  JiävTOJv  y.ara 
T()v   Ai'r/or  Tordt,   und  daß  diese  beiden  Partizip ia  nach  Form  und 
Inhalt  ]niteinander  vergleichbar  sind,  ist  von  vornherein  zuzugeben. 
Aber  wenn  R.  den  konzessiven  Sinn  in  fr.  1  als  gegelien  ansieht,  so 
beruht  diese  Annahme  insofern  auf  einem  Zirkel,  als  der  konzessive 
Sinn  hier  ebensowenig  erwiesen  ist  als  dort.    AVenden  wir  unsere  Auf- 
nierksanikeit  dem  fr.  2  selber  zu,  so  ist  das  eine  sofort  klar,  daß  Sextus 
allen  Ton  auf  das  AVörtchen  y.oivoc  gelegt  wissen  will.     Wenn  bei 
den  Stoikern  und  Skeptikern  damals  von  xoivöc  die  Rede  war,   so 
verstand  man  darunter  von  selbst  den  /o'/oc.^^)   Die  Worte   (ho  dsT 
i'.TirOth'.i  T(~)  y.<}iV(~)    wurden    daher    ..selbstverständlich'    im    Sinne 
von    <\io  (Sf-i  t.-Thofhcf  T(~>   /.('r/c)    verstanden,    eine  Auffassung,    in 
welche)-  der  philosophisch  gebildete  Leser  jener  Zeit  durch  den  schein- 
bar liarmlosen  Zusatz  ^vvoc  yui»  o  y.otrö^  (man  beachte  dabei  das 
Maskuliniun,   während,   wie  sich  zeigen  wird,   to)  y.oivfö  im  Urtext 
ein  Neutrum  war)  sowie  durch  die  sich  unmittelbar  daran  schließenden 
W^rte   Toc   l(>yov  (")    lorroa  ^vrox    noch  bestärkt   wurde,    so    daß 
sich  durch  all  diese  geschickten  Machinationen  (einmal  eine  harm- 
lose Lücke,  dann  Avieder  ein  harmloser  Zusatz)  jedem  Leser  als  Vorder- 
satz von    selbst  ergab:    ivr(}(2:  ton  jiüoir  o  /o/o^.    Hätte  aber  H. 
den  Ausspruch  mit  diesen  Worten  eingeleitet,  ja  hätte  sich  überhaupt 
in  dem  ganzen  Werke  Heraklits,  das  drei  Bücher  umfaßt  haben  soll, 
ein  derartiger  Ausspruch  gefunden,   so  hätte  er  sicher  die  Zensur 
passiert,   Sextus  hätte  zur  Unterckückung  dieses  Sätzchens  keinen 
Anlaß  gehabt  und  sich  gleichzeitig  den  erklärenden  Zusatz,    ^vvoq 
yao    o  y.oiröc,  erspart.    Der  Satz  Ivröc  ton  .tuOiv   6  Xoyoc  ging 
also  diesem  x\usspruche  nicht  nur  nicht  voraus,  er  fand  sich  in  dem 
ganzen  Werke  Heraklits  überhaupt  nicht.     Hätte  er  sich  gefunden, 
wahrlich,  Sextus  wäre  nicht  der  erste  und  nicht  der  einzige  gewesen, 
der  ihn  uns  überliefert  hätte!     Zu  diesem  argumentum  ex  silentio 
werden  wir  in  diesem  Falle  von  selbst  hingedrängt.    Xun  lautet  aber 
tatsächlich   ein  Ausspruch  Heraklits   3,vror  ton  yiäoi.  to  ffQorttir 


1-^)  An.  Aall,  Geschichte  der  Logosidee  1896,  S.  143. 


Ein  Beitrag  zum  heriiklitisch-parmcnid.  .Erkenntnisproblem.  71 

(113),  den  uns  freilich  nicht  Sextus,  sondern  Stobäus  überhefert,  und 
wenn  wir  diese  AVorte  dem  fr.  2  voranstellen,  so  wird  mit  einem  Male 
alles  klar.  .Das  krampfhafte  Bemühen,  '/Myixör  mit  (fQtviJQti:, 
y.oyoj:  mit  ff^örtjOic  gleichzusetzen,  diente  demselben  Zwecke  wie 
das  ängstliche  Siclilierumdrücken  um  das  ^vvor  xo  (fi)Ovttir\  in 
der  Streichung  dieser  Worte  erkenne  ich  das  unfreiwillige  Bekenntnis 
des  Sextus,  daß  diese  "Worte  seine  Deutungsabsichten  zu  vereiteln 
drohten,  leite  aber  daraus  zugleich  für  meine  Annahme,  daß  bei  H. 
die  Termini  l/r/oc  und  (((jortTv  zueinander  im  schroffsten  Gegensatz 
stehen,  mittelbar  einen  neuen  Beweisgrund  von  größter  Bedeu- 
<lung  ab. 

Aber  nicht  mir  mittelbar,  sondern  auch  unmittelbar  ergibt  sich 
jetzt,  da  dei-  Ausspruch  vervollständigt  ist,  die  Richtigkeit  meiner 
Annahme  durch  folgende  Übersetzung: 

., Gemeinsam  ist  allen  das  ff^orür,  darum  muß  man- dem  Gemein- 
samen folgen.  Ist  aber  der  löyog  gemeinsam,  so  ist  die 
ififoviiöic,  welche  die  große  Menge  im  Alltagsleben  besitzt,  eine 
quasi  ])rivate." 

Es  gibt  demnach  zwei  Wege  der  Erkenntnis,  auf  dem  einen  hat 
die  (fnort/öig  die  Führung,  auf  dem  andern  der  Xoyog.  Bei  der 
Frage,  welcher  Fühi'ung  sich  die  Menschen  anvertrauen  sollen,  hat 
das  -yioivdv,  das  Kriterium  der  Gemeinschaft,  zu  entscheiden,  und  da 
dieses  nicht  dem  Xöyoc,  sondern  der  rpQonioig  zukommt,  so  muß 
man  dieser  folgen.  Die  (p^Kirrjaig  ist  also  bei  H.  intelligentia  =  Natur- 
verstand oder  Erfahrungserkenntnis,  der  /o/oc  ratio  =  berech- 
nende Vernunft  oder  die  reine  Gedankenerkenntnis.  In  der  lateini- 
schen Übersetzung  lautet  der  Spruch: 

rommune  est  omnibus  intellegere,  quapropter  necesse  est  sequi 
coinmune.  Ratio  autem  si  est  communis,  pleriqiie  dum  vivunt  quasi 
])rivatam  habent  intelligentia  m. 

.Das  fr.,  wie  Sextus  es  bietet  und  deutet,  lautet  in  der  lateinischen 
tlbersetziuig: 

.  .  .  quapropter  necesse  est  sequi  commune;  sed  quamquam 
ratio  est  communis,  tamen  plerique  dum  vivunt  quasi  privatam 
habent  intelligentiam. 

Sextus  sagt  einmal  im  Gefühl  der  Selbstsicherheit,  die  der  Wissen- 
schaft oft  genug  zu  großem  Schaden  gereicht  hat,  daß  ein  Gram- 
matiker   wegen   seiner   Pedanterie    einen    Heraklit    nicht    verstehen 


72  Emanucl    Loew, 

könne. ^'0  Für  mich  geht  daraus  nur  soviel  hervor,  daß  dkyQaifi/aTrxoi 
cufQXHofii'roi  damals  den  H.  ganz  anders  gedeutet  ha])en  als  die  zeit- 
genössischen Philosophen.  Nehmen  wir  also  an,  ein  gKieklicher 
Zufall  \\1irde  uns  eines  Tages  die  Interpretation  eines  solchen  Gram- 
matikers  aus  jener  Zeit  in  die  Hände  spielen  und  diese  Avürde  sich 
mit  meiner  Deutung  vollkommen  decken:  Ist  es  zu  kühn,  wenn  ich 
l)ehau))te,  daß  den  Erklärern  unserer  Tage  betreffs  einer  I^ogoslehre 
l)ei  Heraklit  dann  Bedenken  aufstiegen?  Wären  sie  nicht  von  vorn- 
herein geneigt  anzunehmen,  daß  der  pedantische  Gramnuitiker  dem 
vor  sieben  Jahrhunderten  wirkenden  Philosophen  objektiver  gegen- 
überstand als  der  Philosoph,  dessen  einziges  Bemühen  allen  älteren 
Philosophen  gegenüber  der  Gleichmacherei  in  der  Auffassung  vom 
Verhältnisse  zwischen  Xoyoc  und  cäofh/iaig  galt?  Und  wenn  sie 
dann  an  die  Prüfung  selbst  ohne  Vorurteil  heranträten,  würden  sie 
finden,  daß  der  Philologe  den  HerakMt  selbst  sprechen  läßt,  der  Philo- 
soph aber,  um  seiner  konstruierenden  Betrachtung  den  Erfolg  zu 
sichern,  hier  ein  Sätzchen  streichen,  dort  eines  hinzufügen  niiisse, 
daß  ferner  der  Philologe  jedes  Wort  Heraklits  zu  seinem  Rechte 
kommen  läßt,  kein  Wort  darf  fehlen,  keines  hinzukommen,  daß  da- 
gegen die  l)eutung  des  Philosophen  zur  Frage  herausfordert,  wozu 
H.  so  viele  Worte  brauchte,  wenn  er  nichts  anderes  sagen  woUte  als: 
Man  nmß  dem  gemeinsamen  Logos  folgen;  trotzdem  leben  die  Menschen, 
als  ob  sie  eine  private  Einsicht  hätten.  "Wozu  der  Wechsel  im  Aus- 
druck, zumal  ein  einfaches  ofiojc  dl  vollkommen  ausgereicht,  ja  den 
vermeintlichen  Gedanken  noch  klarer  ausgedrückt  hätte?  öio  (kr 
tJiEOÜai  T(~)  y.oLVO)  {X6y(;))'  dfiojg  Öl  C,ojov(jtr  ot  JiolXol  cog  idiar 
kxovrec  (pgöryoir,   das  hätte  genügt.^*)     Dieser  Gedanke   aber  ist 


^'')  7C0V  yuq  ric  öivaTUi  nur  MjQvwfjiviov  y(JUfjif.iuitXLÜ)'  'Hi^ux'/.eoroi- 
ovyfirui;  (ttqöc  yqafjy.  A  3U1).  Ganz  anders  Windelband  -  Bonhöffer, 
Geschichte  der  antiken  Philosoj)hie.  München  1912,  S.  o:  „Auf  keinem 
Gebiete  hat  die  philologische  Methode  so  ausgedehnte  und  allseitige  Erfolge 
zu  verzeichnen  als  auf  demjenigen  der  antiken  Philosophie." 

^*)  Nestle,  der  meine  Verbindung  113+2  akzeptiert,  aber  mit  .Sextus 
die  Termini  cpgorelv,  loyog,  ipgöyijaig  einander  gleichsetzt,  übersetzt  (Arch. 
1.  G«sch.  d.  Philos.  1912,  S;  283):  „Das  Denken  ist  allen  gemeinsam.  Darum 
muß  man  dem  Gemeinsamen  folgen.  Aber  obwohl  die  Vernunft  gemeinsam 
ist,  leben  die  meisten  Menschen,  wie  wenn  sie  eine  besondere  Denkkraft 
hätten."  Aber  gerade  diese  Übersetzung  beweist  aufs  schlagendste  die  Be- 
rechtigung meiner  oljen  vorgebrachten  Bedenken.      Wozu  so   viele   Worte, 


Ein  lit'itTiig  zum   heraklitisch-parmcnid.   Erkennt iiisprcblem.  73 

i^toiscli,  er  ist  ans  der  Umdeiitimg  eines  heraklitischen  (redankens 
hen-orgegangen,  lieraklitisch  ist  er  nicht. 

Aber  die  hier  dargekgten  Gründe  mögen  noch  su  id)erzengend 
seiH,  sie  nützen  doch  nicht  viel,  wenn  nicht  gezeigt  wird,  daß  fr.  1 
/:iim  Anss])rnch  113  +  2  stimmt,  zumal  diese  beiden  Ausspmche. 
sdueit  man  Sextus  glauben  darf,  unmittelbar  aufeinander  folgten. 

Titr  dl  löyuv  tovcV  lovroc  du  d^vi^erof  yh'OPtai  uvi^QfajToi, 
y.iCi  rroooiher  /j  dxovöai  y.cu  dxovOca'rsc;  to  jiqoJtov.     , 

Xur  der  unheilvolle  Emfluß  stoischer  J^eutungskunst  konnte  die 
jiiodernen  Krklärer  auf  den  Gedanken  bringen,  daß  H.  mit  diesen 
Worten  die  Menschen  tadle,  weil  sie  seinen  Logos  nicht  verstehen. 
AVenn   /o'/oc    dasselbe   bedeutet    wie   q,Qoveiv,    das    letztere  wieder 
allen  gemeinsam  und  der  Menschen  größte  Fähigkeit  ist  (113,  112), 
wie  können  Menschen  dann  einen  Xoyoq  nicht  begreifen?    Wie  kann 
ferner  der  selbstbewußte  Verkünder  der  Lehre  vom  Werden  gleich- 
zeitig und  noch  dazu  „beim  Beginne  der  eigentlichen  Schriff  einen 
ewig  seienden  Logos  vertreten,  einen  Logos  also,  der  alles  AVerden, 
alle  Bewegung  und  Veränderung  ausschließt,  ohne  auch  nur  anzu- 
deuten, was  er  mit  diesem  Logos  offenbart?    Wenn  H.  mit  diesem 
Logos  „eine  ewige  Wahrheit"'  offenbaren  woUte,  hätte  er  die  Lehre 
von  der  ,.ilhjOtia^''  auf  negativer  Kritik  aufgebaut?    AVie  wäre  es 
möglich,  daß  sich  der  IN^anie  alyd-tta  in  den  Aussprüchen  Heraklits 
überhaupt  nicht  findet,  wohl  aber  aofföv  und  ooffh/,  während  uKi- 
gekehrt  bei  Pannenides  im  ersten  Teil  des  Lehrgedichtes  der  Xame 
dXt'jthia  und  (UijI>8q  die  Hauptrolle  spielt,  der  Name  oorfor  und 
ooffii/  überhaupt  nicht  erscheint,  wohl  aber  der  Inhalt  des  herakliti- 
schen oofpor  Gegenstand   der  parmenideischen  öö^cc   ist?     J)as  ist 
unmöglich  reiner  Zufall.     J3och  halt!     Ein  einziges  Mal  findet  sich 
das  AVort  d),rjd-ta   bei  H. :     xo  fpQovnr  agsTtj  f/syiOTf/   xal  aorpifi 
icXr/t^ta  Xiyeiv  xal  jinuiv  xara  rpvoir  kjratovrai  (112).    Aber  gerade 
hier    zeigt    schon     die    Nebeneinanderstellung    öoffbj  dh]d-kt    die 
unverkemibare    Absicht,     zwei    emander    entgegengesetzte    Termini 
in  Beziehung  zu  setzen.     Doch  darauf  kommen  wir  noch  zurück.^-^i 


wozu  der  Weclisel  der  Termini,  wenn  Heraklit  nichts  anderes  sagen  wollte 
als:    ..Das  Denken  ist  allen  gemeinsam;  aber  gleichwohl  leben  die  meisten        \ 
Menschen,  wie  wenn  sie  eine   besondere  Denkkiaft   hätten"  ? !      \'gl.   dazu        {v 
Anm.  33.  ' 

^^)  Vgl.  weiter  unten. 


74  Emanuel    Loew, 

lieiiiliaiclt  koiumt  hier  (sowie  in  einigen  anderen  Figm.)  ineineiu  Stand- 
])unkt  insofern  nahe,  als  auch  ei'  in  fr.  1  und  2  den  heraklitischen 
Logos  nicht  im  kosjnologisehen,  sondern  im  erkenntnistheoretisehen 
Siiine  faßt  und  ihn  als  etwas  vom  heraklitischen  oor/o'r  Verschiedenes 
erklärt.  Wenn  der  genannte  Forscher  weiterhin  sagt,  daß  die  sinn- 
liche Erkenntnis  erst  durch  die  Entdeckung  einer  übersinnlichen  Er- 
kenntnis zum.  Problem  ^^  erden  konnte,  so  ist  dies  zweifellos  richtig. 
Unrichtig  al)er  ist  es  m.  E.,  wenn  er  in  Parmenides  den  ,, Entdecker' 
der  Logoserkenntnis  sieht.  Ich  glaube  vielmehr,  daß  ein  Vorgänger 
Heraklits  den  Tenninus  /o/oc  geprägt  hat.  H.  hat  ihn  bekämpft, 
P.  gegen  H.  in  Schutz  genommen.^«)  So  erklärt  sich  jedenfalls  jetzt 
schon  am.  ungezwungensten  die  Tatsache,  daß  bei  diesen  Iteiden 
l)enkern  der  Name  Xöyo^  als  ein  beieits  allgemein  gekannter,  ge- 
läufiger, inhaltlich  genau  bestimmter  Terminus  vorkommt,  daß  H. 
gleich  beim  Beginne  seines  Werkes  sagen  konnte,  daß  Menschen  für 
den  /o/oc  kein  Verständnis  gewinnen,  ,, weder  ehe  sie  ihn  gehört, 
noch  nachdem  sie  ihn  einmal  gehört  haben''.  Alle  Forscher  vor  mir 
haben,  meint  H.,  die  sich  im  Kosmos  entwickelnden  Ereignisse  -/.axa 
käyor  beurteilt,  und  zwar  sowohl  ehe  man  den  Terminus  geprägt, 
als  auch  nachdem,  man  Um  einmal  geprägt  hatte.  Ich  aber,  der  ich 
mich  selbst  durchfoi-scht  habe,  bin  zur  Einsicht  gekonmien,  daß  die 
Menschen  die  sich  vollziehenden  Ereignisse  der  Kosmosentwicklung 
nur  dm'ch  die  allen  gememsame  Erfahrungserkenntnis  zu  erkennen 
vermögen,  und  deshalb  trenne  ich  jedes  einzelne  nach  seiner  natür- 
lichen Entwicklung.^^) 

yirofjh'fov    ya^t    jrävTfov   y.aTu   tov   Xoyov  rövöt    ujttiQoioir 


^S)  Slommsky  a.  a.  0.  S.  39:  „Alles  früliere  Philosophieren  hatte  sick 
um  die  Ergründung  vou  Gesetzlichkeit,  um  die*  Erlangung  einer  Erkenntnis 
bemüht;  und  nun  entstand  plötzlich  die  Drohung  des  Nichtwissenkömiens. 
Der  Widerspruch  dagegen  führte  zur  Stabilisierung  des  Wissens.  Es  war 
also  die  Frage  nach  der  Möglichkeit  einer  Erkenntnis,  welche 
die  eigentlich  treibende  Kraft  in  der  Polemik  (sc.  des  Paniie- 
nides)   gegen   B'eraklit   war."     Vgl.  weiter  un'.eii. 

1')  Burnet  a.  a.  0.  S.  126:  „Heraklit  blickte  nicht  mu-  auf  die  Menge 
der  Menschen,  sondern  auch  auf  alle  früheren  Forscher  der  Natur  herab.  Das 
kami  nur  bedeuten,  daß  er  glaubte,  Einsicht  in  irgend  eine  Wahrheit  erlangt 
zu  haben,  die  bis  dahin  noch  nicht  erkannt  worden  war,  obwohl  sif^ 
sozusagen   den   Menschen   ins   Antlitz   starrte." 


Kiu  B(,-itrAg  ziiiu  hcraklili.-^c-li-jKUiiuniil.  KrkciintuisjtroliK-in.  7;) 

toly.aöf  miito'jiitvoi  tJrtvrv  xtu  l'ijyor  toiovtodv  oxolojr  bfvt 
iSufftvina  diaiQtfor   txaoror  X(ct(c   (fcoir   x(d  (({jäCov  öxoc  -'Z^'- 

„J)eiin  vollzieht  sich  die  Entwickliiiig  des  Alls  nach  dieser  reinen 
(".edankenerkenntnis,  so  gleichen  sie  Unerfahrenen,  wenn  sie  sich 
\ersuchen  an  solchen  (wirklichen)  AVorten  und  Werken,  wie  ich  (byo'j!) 
sie  getrennt  darstelle,  trennend  jedes  einzelne  nach  seiner  natürlichen 
JMitwickhing  und  kündend,  wie  sich's  in  AVirklichkeit  verhält." 

Jetzt  stimmt  Satzbau  und  AVortsinn  in  den  beiden  Aussprüchen  1 
und  113  +  2.  Sowie  der  gen.  abs.  in  2  :  ror  /jr/oc  r)'  tövroj:  ^ri-or 
ist  auch  der  in  1:  yiroutvojr  /«(>  srai'Tojf  nicht,  wie  l)isher  ausnahms- 
los angenonmien  wurde,  konzessiv,  sondern  hypothetisch,  und  das 
eine  deckt  sich  nach  Sinn  und  Satzbau  mit  dem  anderen: 

Vollzieht  sich  die  Entwicke-  Ist    aber     die     Gedankener- 

lung  des  Alls  nach   dieser  Ge-         kenntnis  gejneinsani, 
dankenerkenntnis,  I 

so   gleichen   die  Menschen  so    ist    die   Erfahrungser- 

Unerfahrenen   (wenn  es  sich  kenntnis eine   quasi 

um  die  Erklärung  der  Vorgänge  i)rivate. 
xfcra  ffroir  handelt). 

Also  die  ]\Ienschen  gleichen  Unerfahrenen,  sind  aljer  in 
AVirkli( hkeit  (wenn  auch  oft  unbewußt)  erfahren:  ihre  Erfahrungs- 
erkenntnis ist  eine  q  u  a  s  i  private,  in  Wirklichkeit  ist  sie  allen  ge- 
meinsam. 

Und  was  den  Wortsimi  anlangt,  so  steht  in  1:  Äoyog  zu  (fvoi- 
in  demselben  Gegensatz  wie  in  2:  /o'/ow  zu  ffQÖDjOic,  ja  jetzt  konmit 
erst  der  Gegensatz  xara  ror  Xöyor  xoröi,  — xara  cfvoir  zur  richtigen 
Geltung,  o  /070c  06t  ist  dieser  ewig  seiende  Äöyoc  =  der  starre 
abstrakte  G-edanke,  der  schroffe  Gegensatz  dazu:  r/ nn^  =  natürliche 
Entwickelung,  und  ebenso  ist  hn  2.  Ausspruch  /o'/oc  dei'  Name 
für  das  starre  abstrakte  Jvenken,  ({(torslr  und  (fQortjOig  der  Name 
für  das  in  rastloser  Entwicklung  begriffene  Erkemicn.^^j 


^8)  Herbertz  a.  a.  0.  S.  70:  ,, Diese  Anschauung,  in  deren  Sinn  sicli 
(lie  zitierten  seltsamen  Worte  (sc.  von  der  FIußM'alirneJnniing)  zwanglos  deuten 
lassen,  wüide  ganz  dem  modernen  Idealismus  entsprechen,  etwa  der  Lehre 
Berkeleys,  für  den  das  Sein  des  Flusses  im  heraklitischen  Beispiele  ,,in  einer 
beständigen  Folge  von  Ideen"  be.steht   .  .  .    Die  festen  Regeln  und  be- 


7(3  Eiiiaiiucl    IjOow, 

Ijh   eiullich   Wortsinn  nnd  Satzbau   im  Schlußsatze   des   1.  fr. 
zu  verstehen,  \vollen  wir  fr.  21  heranziehen: 

Ttnc      d'aX/j)r^     r.r^iK'JJrovu  UäraToc-  töTir,    oxöoa    ly-cQ- 

;Mr:N\r6i.oy.ooa  tyio^trTtqjToi-      Hrrtq    oQtoiitr,    oxöoa    6'    ei- 
ü>rr,i.  oxojöJitQ  o-AÖoa  trönvttc.  \  Öorrec,  i'.-t)-o^. 
IjTt'AdviyürovTca.  ! 

.Die    liisherigen    Erklärungsversuche    sind    alle    gescheitert    unii 
mußten  scheitern,  weil  alle  Erklärer,  und  zwar  wie  sich  zeigen  wird, 
von  Sextus  förmlich  ,. hypnotisiert",  denselben  rein  grammatikahschen 
Fehler  liegangen  haben:    Das  Part.  Aor.  ty^td-trrsg  heißt   nämlich 
niclit.  wie  man  allgemein  auch  heute  noch  übersetzt,  „im  Wachen". 
.,mit  wachem  Geist"  —  das  müßte  ty(^tf/yoQfk6c  =  vigiles  heißen  — , 
sondern  „aus  dem  Schlafe  geweckt''  =^  e  sonmo  excitati.    Die  llnei- 
fahrenen,  d.  h.  die  Logosdenlver,  verbringen  ihr  Dasein  im  Schlafe 
verharrend  oder  aus  dem  Schlafe  geweckt.     Wenn  der  Mensch  aus 
tiefem  Schlafe  plötzüch  geweckt  wird,  so  kann  er  sich  buchstäblich 
nicht  ..be-sinnen":  er  \\e\S>  nicht,  wo  er  ist,  er  erkennt  nicht  sehie 
Um.f^el)ung,  oder  wenn  ich  es  wagen  darf,  diesen  Zustand  mit  Worten 
Heraklits  zu  schildern:    arff^Qojjrog  ayertH-üc  tlisiQfo  hoixi,  rtaotv)]- 
uüiiOTir.   Und  diesei-  Zustand  ist  bei  den  Logosdenkern  ein  dauernder. 
sie  sind  entweder  trVjo^Tfu  und  dann  ist  das,    was   sie  sehen  uiul 
ma<hen,  r.Tro-:  oder  sie  sind  lytQB^tvrtQ,    und  dann  ist  alles,   was 
sie   sehen   und  machen,    i^^äruroQ.      Die   Phronesisnaturen   dagegen 
sind  tyotjyoitorec.    in   wachem  Zustande,  und  deshalb  ist  das,  was 
sie  sehen  und  wirken,  Leben,  Entwickelung.i«)    Es  ist  demnach  kein 


Ätimraten  Weisen,  wonach  Oott  (bei  Heraklit  =  g)vOig\)  solche  Folgen    von 
Ideen  in  uns  erzeugt,  heißen  ,,NaUu-gese.tze". 

")  Nestle  a.  a.  0.  sagt,  meine  Übersetzung  sei  falsch,  das  müßte 
iyiwöfxivoi  heißen.  Aber  Heraklits  Gebrauch  der  Tempora  steht  mit  den 
Regeln  der  Elementarsyntax  im  schönsten  Einklang:  Da  Präsens  drückt, 
einen  kontinuierlichen  Vorgang,  das  Perfekt  eine  in  der  Gegenwart  abge- 
schlossene, der  Aorist  eine  plötzlich  eintretende  Handlung  aus.  So  in  88 :  In 
äem  Augenblick,  wo  das  syot]yOQ()C  umschlägt  ({.tsTajteGÖvTU !),  ist  es 
ytud^ivöov  und  in  dem  Augenblick,  wo  das  xa&ev6or  umschlägt,  ist  es  iyQrjyonög 
und  ebenso  steht  es  mit  dem  ^tÖr  und  dem  ji9^V)]x6c,  mit  dem  viov  und 
dem  y)]oui6v.  Ebenso  in  26:  In  dem  Augenblick,  wo  das  Augenlicht 
erlischt  \u7roaßeGd-eig  rik  ö(/^«e).  gleicht  der  Mensch  als  Lebender  (^ÖJy) 
einem  Toten  {u7Ttstu(,  Tsd-rswTog),  als  Wacher  einem  Schlafenden  {iyorjOQwc 
uTiTfiai.  fl^dorroc).  —  I"i  Gegensatze  zu  diroaßeGd^eig  steht  uTTOGßsvvvftsrov 


Kill  Bcitiüg  zum  lienkklitiseh-panueuid.  Erkenntnifiprobkni.  V'i 

Zul'all.  (laß  sic'li  aus  den  beiden  obigen  Fragmenten  das  Verhältnis 
ergibt : 

XiH'ihiU'tif :  i)i''.raT<>^  =  ijtiXarihärtoDtn :  rjtvo^, 
Xichtvvissen:  Tod  =  Vergessen:  Schlaf,  woraus  erhellt,  daß 
Ut'ci'UTo^  und  r:rrog  hier  in  demselben  erkenntnistheoretisehen 
Sinne  gebraucht  sind  wie  bytQf^tvTfc  und  frdovTt^,  also  wie  unsere 
Bezeichnungen  „Tod"  und  ,,Sclilaf'  im  Gegensatz  zu  „Leben".  J)ie 
Übersetzung  der  beiden  Fragmente  lautet  daher; 

Alle  anderen  Menschen  aber  Tod  ist,  was  wir  sehen,  wenn 

wissen  nicht,    was    sie    machen,  wir   aus    dejn    Schlafe    gtnveckt 

wenn    sie    aus  dem  Schlafe  ge-  werden,    was    wir    aber    sehen, 

weckt    werden,     sowie    sie   ver-  wenn  wir  im  Schlafe  verharren, 

gessen,    was   sie   niachen,    wenn  ist  Schlaf."^") 

sie  im  Schlafe  verharren.  : 

"Was  wir  also  sehen  und  machen,  wenn  wir,  d.  h.  unsere  Sinne, 
plötzlich  aus  dem  Schlafe  auf ge\\ eckt  werden  oder  wenn  wir  weiter 
im  Schlafe  verharren,  ist  Tod  =  Mcht wissen.  Schlaf  =  Vergessen. 
AVie  dem  Tode  und  Schlafe  das  Leben,  so  steht  dem  Nichtwissen  und 
Vergessen  das  AVissen  gegenüber.    Alles,  was  die  Logosdenker,  gleich- 


in 80:  7TVQ  deC'Ci-oi' (xTTTÖfJsyoi' (liioa,  dTToaßsvvifuvor  {iiiQa.  O.noaßnvöi^nvov 
drückt   hier,    wie   schon  usi^ouov  zeigt,  den  kontinuierlichen  Vorgang  aus. 
Nachdem  aber  im   Lehrgedichte  des  Parmenides  die  C4öttin  Wahrheit  die.ses 
TTvo   dnooßivvv^ivov    mit    den    Mittehi    der    Logik    für   immer  ausgelöscht 
zu  haben  glaubt,    ruft  sie  triumphierend  aus:    uTTfG^fOiui!      Das    Werden 
ist   jetzt    für   immer    ausgelöscht !      Vgl.    das    zu    Parm.    8,     21    Gesagte. 
— •   Andere    Beispiele     für    das    Part.    Präs.   56:      (fi)^£iQuc   xaTuxTefroi'Teg 
„die      der     Läusejagd      oblagen"      (Diels.);       125:      Der     Gerstensaft     zer- 
setzt  sich   fj.)]   xivoo^uroc,    wenn  er   nicht   in    einemfort    umgerührt    wird; 
84:  fisiußd'/J.ov  dvanüvirut,   während  des  Wandels  ruht  es,    im  Gegensatz 
zu  88:  finaTTsGÖvra  im  Augenblick,   wo  es  umschlägt.  — •  Beispiele  für-  das 
Part.  Aor.  27:    Die  Menschen  erwartet   Ts7^ivT)]GarTag  iui  Augenblick,    wo 
der    Tod    an    sie    herantritt    (also    weder   wäluend    sie    im     iSterben    liegen 
=^  xeUvJwi'Tug  noch  nach  dem  Tode  =  Terelevrrixöiuc),    was  sie  nicht  er- 
warten noch  wähnen;  20:  ytroiJtiroi  'Qioiiv  i&ikovctv  .  .  .   Von  dem  Augen- 
blick, da  sie  geboren  werden,  wollen  sie  weiterleben  .  .  .    Vgl.  übrigens  zum 
ganzen  das  zu  fr.  107  tiesagte. 

■^")  Nestle  übersetzt  (Philologus  1908,  S.  533):  „Tod  ist,  was  wir  im 
Wachen  sehen,  was  aber  im  Schlafe,  Leben"  (so!).  Und  er  hat  wirklich  den 
Humor,  meine  obige  Übersetzung  als  Beispiel  füi-  die  „Gewaltsamkeit  der 
Exegese"  anzuführen,  deren  icli  mich  scliuldig  mache. 

Archiv  für  Geschichte  der  PhUosophie.    XXXI.  -.  6 


78  Eiuanuel   Loew, 

viel  ob  die  durch  ihre  Theorien  angesehenen  Denker  oder  ihr  Gefolge, 
byf-iifhtrrec  bzw.  tvöopreg  —  denn  aygyyoQfktg  sind  sie  nie  — 
sehen  oder  machen,  ist  nur  Mchtwirkliches:  Tod,  Schlaf,  Nichtwissen, 
Vergessen.  Pie  Phronesisnaturen  aber,  die  immer  wach  sind, 
ty^uf/oQÖTtg,  haben  einen  einzigen  und  gemeinsanien  Zustand  der 
Kosmosentwicklung  (S9),  nämlich  den  Zustand,  den  wir  gegenwärtig- 
vor  uns  haben,  den  kein  Baumeister,  weder  einer  der  Götter  noch 
der  Menschen,  ,, gemacht"  hat,  der  mit  einem  Worte  kein  Machwerk 
ist,  sondern  immer  bestand,  Ijesteht  und  bestehen  wird  als  ewig  leben- 
des Feuer,  d.  h.  in  rastloser,  regelmäßiger  Entwickelung(30).  Wer 
also  Leben  =  Entwickelung  erkennen.  Wissen  erwerben  will,  muß 
wach  sem;  denn  den  Wachen  ist  der  jrölqioq  (Entwickelungsprozeß) 
xo/roc,  der  xöofiog  (das  Ergebnis  des  Entwickelungsprozesses) 
xoirog,  die  ffQ6v?/aic  (die  m  e^^iger  Entwickelung  begriffene  Er- 
fahrungserkenntnis) ^vvtj,  mit  einem  Worte:  Was  w  mit  wachen 
Sinnen  sehen,  ist  ^wör.  Schon  Schusterei)  hat  in  Fr.  89  einen  Beweis 
dafür  erbhckt,  daß  wirklich  in  der  Nähe  (sc.  des  Fi'.  2)  von  einem 
xoircjr,  d.  i.  ^vvöi'  die  Rede  war,  dem  diejenigen,  welche  Anspruch 
auf  einen  wachen  Zustand  machten,  folgen  müßten.  So  nahe  war 
Schuster  daran,  das  Wesen  der  Sache  zu  erkennen.  Daß  ihm  dies 
nicht  vollständig  gelang,  lag  nur  an  dem  Umstände,  daß  er  sich  trotz 
redlichen  Bemühens  von  der  Autorität  des  Sextus  nicht  völlig  frei- 
machen konnte  und  an  eine  Logoslehre  Heraküts,  wenn  auch  in  einem 
ganz  anderen  Sinne  {?.6yog  ---  Sprache  der  Natur)  glaubte. 

Aus  den  Fr.  1  und  2  ergibt  sich  also,  daß  des  Sextus  Auffassung,^ 
der  Äoyog  habe  kosmologische  Bedeutung  und  sei  mit  rfiaig,  (pQovrjOig 
sowie  mit  vöog,  i^eög  gleichbedeutend,  unlialtbar  ist.  H.  sagt  klipp 
und  klar  gerade  das  Gegenteil:  Der  löyog,  die  reine  Gedanl^ener- 
kenntnis,  sei  für  die  ]\Ienschen  wertlos,  weil  sie  von  Natur  aus  für  ihn 
kehl  Verständnis  hätten.  Was  für  das  menschliche  Wissen  Wert  und 
Bedeutung  habe,  sei  nur,  die  sich  entwickelnden  Vorgänge  in  der 
cpvoig  zu  erkennen,  und  zu  dieser  Erkenntnis  gelange  der  Mensch, 
wenn  er  seine  Sinne  wach  erhalte  und  dem  allen  gemeinsamen  (pQovar 
folge.  Menschen,  welche  von  der  allen  gemeinsamen  rfQovriOLg 
keinen  Gebrauch  zu  machen  ^^1ißten,  seien  capQoveg  und  verbringen 


21)  Paul  Schuster,  Heraklit  von  Ephesus,  1873. 


Ein  Btitrag  zum  horaklitisoli-pannenid.  Erkenntnispioblfm.  79 

ihr  naseiii  in  dem  yMO/iog,  der  allen  gemeinsam  sei,  die  ihren  rorc 
wacli  erhielten,  als  Fremde:  i^i((jß(''.i>or^  fl't'yac  tyovreg.  Das 
ist  der  Sinn  des  107.  Fr.,  durch  welches  Sextus  beweisen  will,  daß  H. 
die  Sinneserkenntnis  völlig  verachte:  Tt)r  aloiffjotv  l/Jyyei ! 

Das  Fragment  lautet  bei  Sextus,  der  versichert,  daß  er  wörtlich 
zitiere:  xay.ol  fuxQTCQtg  drd-Qo'jjtouiir  offü^cdito)  xmI  mra  ßaQßaQorg 
il^ryac  ty/nTor,  was  soviel  bedeute  wie:  es  ist  Eigenschaft 
barbarischer  Seelen,  dXoyotg  aiüihjotoi  jikjtsvsiv.  Text  und 
.Deutung,  beides  ist  in  gleicher  AVeise  verdächtig.  Gibt  doch  selbst 
]Xestle  zu,  daß  der  Text  „nicht  ganz''  in  Ordnung  sei  und  daß  in  diesen 
AVctrten  keine  völlige  Verachtung  der  Sinneserkenntnis  liege.  Des 
Sextus  Versicherung,  daß  er  -xaTA  Usir  zitiere,  dürfen  wii-  niciit 
allzu  sorglos  hinnehmen.  Er  sucht  eben  über  die  schweren  Bedenken, 
welche  alle  von  ihm  zitierten  Aussprüche  Heraklits  in  textkritischer 
und  exegetischer  Beziehung  erregen,  mit  Redewendungen  wie  xarä 
/.t^ir  (ZU  Fr.  107),  (>a/tcüc  (zu  Fr.  1),  (»irotaxa  (zu  Fr.  2),  xcä  {u]r 
(itjTO)^  (zu  den  (jt/^ala)  hinwegzukjnmien.  .Das  entspricht  so  der 
Art  der  alten  Erklärer,  dort  wo  sie  ihre  eigenen  Gedanken  in  Hera- 
klits Worte  hineinlegen,  zu  versichern,  daß  die  Sache  in  Ordnung  sei. 
AVir  aber  fragen,  wo  in  diesem  Fragment  von  dXoyoL  cdod/jOtig 
die  Rede  sei.  Die  aiod^tjotig  werden  allerdings  durch  die  dcpd-aliKn 
y.(d  fhxa  vermittelt;  aber  dloyoi-.  Sollte  das  mit  äffQoi^sg  gleich- 
bedeutend sein,  sowde'  lo/^xo'r  mit  fpQovtftov?  Und  in  der  Tat, 
wiederum  ist  es,  wie  bei  Fr.  2,  Stobäus,  der  uns  aus  cler  Ver- 
legenheit hilft,  indem  er  denselben  Ausspruch  folgendermaßen 
überliefert: 

yMxoi  yirovTiu  (H/ihcdiioi  y.ai  ojra  dffQÖro)v  drß^QfoJtmv  ßaQ- 
ßd{toi'g  ipvyug  lyomor. 

Hier  erhebt  sich  vor  allem  die  Frage:  AVas  sind  bei  H.  dtfQovtg 
(}.ri^{KOJioi'^  Das  sind  Menschen,  die  ihr  Dasein  verbringen,  als  ob 
der  /rr/ocgm'oc,  die  (pq/nn^aLg  aber  I6ia  wäre  (113+  2);  Menschen, 
die  wie  unerfahren  sind,  wenn  sie  sich  versuchen  an  solchen  A^A'orten 
und  AVerken  wie  ich,  Heraklit,  sie  trennend  erörtere,  trennend  das 
einzelne  yucxä  rpvoiv,  nach  seiner  natürlichen  Entwickelung  (1): 
Menschen,  die,  weil  sie  die  rastlos  sich  vollziehende  Entwickelung 
des  Alls  yMTcc  Xöyov   beurteilen,    so  bar  aller  Erfahrung  sind,  daß 

6 


80  Eiuiinuel    Loew, 

sie  die  xaTu  (/coir  sich  vollziehenden  Vorgänge  nicht  verstehend) 
und  sich  daher  in  dem  xooifoc,  der  allen  genieinsani  ist,  die  ihren 
rovg  wach  erhalten,  fremd  fühlen:  ,:/«(> /9«(>orL;  ipcyjcc:  l'/oi-rtg. 
„Schlecht  (oder:  schlechte  Zeugen)^'^)  sind  Augen  und  Ohren  von 
Menschen,  die  der  Phronesis  bar  sind:  sie  haben  ßarbarenseelen." 
Als  ßagßitQoi  bringen  sie  ihr  J)asein  hn  xoöfiog  xoirog  dahin,  zu  dem 
sie  sich  gar  nicht  verwandt  fühlen.  Jeder  Mensch  mit  wachem  (ieist 
bekundet,  wie  wir  von  H.  bald  hören  werden,  seine  Verwandtschaft 
mit  dem  Kosmos  durch  Wahrnehmen,  Verarbeiten  des  Wahigenom- 
juenen  und  die  Fähigkeit,  sich  zu  äußern.  .Den  Logosdenkern  al)er 
sind  alle  Erschemungen  des  täglichen  Lebens  gtr«  (72),  nt  c/ooriovoi. 
Toiavta  (IT),  dxoroc.i  orx  L-rioräfftvoi  ovo'  Eiatlv  (19).  Kann  die 
völlige  Hilflosigkeit  der  iuf[tort4^^)  avdQVJjioi  ßaQßccQovc  irryac: 
t/oPTsg  packender  geschildert  werden?  ß/cQßaQog,  sagt  Zeller  (a.  a. 
0.  653),  heißt  in  seiner  urspriingüchen  Bedeutung  einer,  der  meine 
Sprache  nicht  versteht  und- dessen?^jw%che  ich  nicht  verstehe.  Und 
in  diesem  Verhältnis  stehen  eben  die  Logosdeiiker  zu  den  Phronesis- 
naturen,  sie  verstehen  einander  nicht. 


--)  uuoivotg  kommt  bei  H.  in  fr.  28  u.  34:  vor.  Ob  es  auch  in  die,scm 
Ausspruche  stand,  läßt  sich  nicht  ohne  weiteres  feststellen,  weil  auf  ^extus 
kein  Verlaß  ist;  für  den  Zusammenliang  ist  es  entbehrlich.  Was  aber  da.s 
^\'ort  d(pQ6rwp  betrifft,  so  ^^•äre  es,  abgesehen  davon,  daß  Htobäus  auch  das 
für  Heraklit  so  charakteristische  Verbum  yivorrai  treu  bewahi-t  hat,  wäh- 
rend es  bei  Scxtus  fehlt,  schlechterdings  unerklärlich,  woher  Ötobäus  es  ge- 
nommen haben  sollte,  wemi  er  es  nicht  im  Texte  fand,  zumal  gerade  auf  diesem 
Worte  aller  Ton  liegt  und  es  auch  in  der  Paraphrase  des  iSextus  als  u'/.oyot, 
wieder  erscheint.  ^Venn  schließlich  jemand  an  der  häufigen  'Wiederkehr  der 
Silben  -ov  -wr  Anstoß  nehmen  sollte,  so  möge  er  beachten,  daß  schon  Par- 
menides  8,  ö3  darüber  zu  spotten  scheint;  jedenfalls  ist  es  sonderbar,  daß 
sich  bei  beiden  diese  Silben  genau  in  derselben  Reihenfolge  wiederfinden. 
Man  vergleiche:     acf.QÖvtor  dvdqvJTton'  .  .  .  l^ovTtor 

xÖGfjLOv  ifxiZv        iiriwr  djruTrjXdv  uxovwv. 
In  beiden  .Sätzen  ergibt  sich  die  Reihenfolge: 

Ol'  —  tor  —  wv  —  oj'  —  toj'. 

■^3)  Daher  erklärt  es  sich,  daß  Aristoteles  und  Theophrast  wiederholt 
sagen,  bei  den  Vorsokratikern  sei  (pqovfir  mit  utcdunGdui  gleichbedeu- 
tend. Z.  B.  Aiist.  de  an.  /'4.  427  a  ol  ys  dqxutoi  tö  cpQoreh'  xai  tö  ulaS^d- 
y6G&(U  Tavxov  fhuC  (fuGtv;  ebenso  Met.  IV  5,  1009  b  14.  Theopln-.  de 
sensu  (Diels  S.  101,  112,  168). 


Ein  Heitrrtg  zum  hcrakütisch-inuinciud.  Kikcniitnisprobloni. 


81 


.l>aß  alsd  (liMU  f>aiizoii  Berichte  des  Sextus  ein  wohldurchdachter 
Plan  ziigriinde  liesjt,  ist  wohl  schon  iiber  jeden  Zweifel  erhahen.  Um 
aber  zu  erkennen,  wie  die  heraklitischen  Gedanken  über  die  Sinnes- 
tätiükeit  des  Menschen  im  Znstande  des  Schlafes,  des  Gewecktwerdens 
und  des  AVachseins  umgedeutet  wurden,  wollen  wir  die  AVorte  Heraklits 
mit  den  Worten  des  Berichtes  vergleiihen: 

1  Sextus' 


Her. 
TOI  ^  ()    (c/./.<)i\:  r.v 
if^nfi'jrrorj:     XavHärn, 
ir/.öoi ;    t'/t  Q  ff  ^  vre  C 


Erläuterung: 


//;- 


1-1  11 

o   1 7 1  (<- 


jronoi'öi. 


OXOJiXTfO 


daloi,  y.ara 
(yiröjifDa). 


oy.öoi:  hvdovTsq, 
lm).i'.y)h''.vovTai.  rnlg 
l  y  n  tj  7  o  o  o  o  /  £7'« 
iinu  y.ct  yjuvov  yöo- 
'lor. 


I 


Begründung: 

61"  yuQ  Tolg  vjirof  - 
o  iv  fjifü'  ro*~w  djTO- 
l^aÄÄei  t]r  jrQOTSftoi' 
ei/t  in't/ifovixt/r  Ör- 
raini',  Iv  f)'  ty^tj- 
yoQöti  jTi'.h V  hryi- 
yJlv  u'di'tTOJ  (h'r 
rcciar. 


Wir  sehen,  so  wie  H.  die  Menschen  in  ft-fjorr^.-,  byt^ilhmg 
und  lynijyoitiWtC:  scheidet,  so  spricht  auch  der  Bericht  von  rjxvo-, 
eytooic  und  tyi)//yoQöig,  und  so  wie  H.  sagt  daß  die  Menschen  alles, 
was  sie  im  Schlafe  verharrend  tun,  vergessen,  so  erklärt  auch  der 
Bericht,  daß  die  Menschen  im  Schlafe  vergeßlich  werden,  weil  der  in 
uns  wohnende  rovc  die  livijfiorix/)  &rra{ug,  die  Erinnerungskraft, 
die  er  früher  (sc.  im  wachen  Zustande)  hatte,  im  Schlafe  verliert. 
Soweit  deckt  sich  der  Bericht  mit  den  "Worten  Heraklits  genau. 
A!)er  während  H.  sagt,  daß  die  Menschen,  plötzlich  aus  dem  Schlaf 
geweckt,  nicht  wissen,  was  sie  tun  (weil  sie  eben  noch  nicht  bei  Be- 
sinnung^sind),  und  erst  wenn  sie  wach  d.  h.  bei  Besinnung  sind,  einen 
einzigen  und  gemeinsamen  Kosmos  haben,  verquickt  der  Bericht 
diese  beiden  Gedanken,  was  natiirlich  einen  Wirrwarr  zur  Folge  hat: 
I  m  E  r  w  a  c  h  e  n  kommen  die  Menschen  wieder  zur  Besinnung, 
werden  ijtcfQoreQ,  und  zwar  warum?  weil  sie  im  Wachsein  eine 
(SvrunLQ  in  sich  hineinziehen.  Welche  dvrcquc  denn?  Man  möchte 
glauben,  dieselbe  i/rf/iwrix//  ()vra(UQ,  die  der  j'oösimScldafe  verloren 
hat.  Aber  nein,  die  (Wrafiic  (n'//voriy//,  w^elche  der  rovg  vor  dem 
Schlafe  gehabt  hatte,  die  er  iin  Schlafe  verlor,  die  zieht  er  nach  dem 


82  Emanuel   Loew, 

Schlafe,  wenn  er  wieder  f//(/(H'>;' ist,  als  jjr/ixi'i  in  sich  hinein,-^!  und 
so  wii'd  vovc,   (fQÖvr/Oic  und   /o/oc  zur  Einheit. 

Dieser  Dentungskunst  getreu,  versichert  Sextiis  VIII,  28»i.  wo 
er  von  der  Bedeutung  der  a/jftEta  spricht,  quasi  ehrenwürtlich:  y.ui 
(tf/r  QfjTcöc  6  7/(>«x/f77rog  cpt]Oi  To  (it)  sivcu  Xoyixov  TOP  arUQOjjtor, 
[lovor  d'  vjraQxiziv  (pQerr/Qsg  to  xsQuyor.  ,,Und  in  der  Tat,  sagt  H. 
ausdi-ilcklich,  daß  der  Mensch  nicht  loyixog  ist,  daß  viebnehr  nur 
d&s  jteQityov  (fQSvtJQfQ  ist."  Jetzt  da  wir  die  Interpretationsniethode 
des  Sextus  kennen,  werden  wir  seine  ehrenwörtliche  Versicheiung 
gebührend  würdigen,  besonders  wenn  er  nicht  einmal  ein  entsprechend 
hergerichtetes  Zitat  vorzubringen  vermag.  Hätte  H.  derartiges 
■Aoi  ///}^'  (>r/Twc  gesagt,  dann  hätte  S.  gewiß  nicht  versäumt,  die  o/'/itaxic 
„xara  Xh^ii^''  zu  zitieren.  Aber  die  Sache  steht  eben  ganz  anders, 
als  man  bisher  geglaubt  hat.  Es  ist  allerdings  richtig,  daß  der  IMensch 
y.ara  (pvoir  kein  C^omr  loyixov  ist,  von  der  Natur  nicht  geschaffen 
ist,  alles  rational  zu  machen,  das  sagt  ja  H.  beim  Beginne  seiner  Schrift: 
rov  Xoyor .  .  .  d^vveroi  yirovTcu  avi^Qfojrot,  was  Apollonius  von'l'yana 
ep.  18  widergibt  mit  den  Worten:  7/(>«x/£/roc  ahtyor  elrai  xtaa 
(fvoir  tcft/ötr  (tri)x>fojro)\  Es  ist  weiters  ebenso  richtig,  daß  H.  dem 
Sinne  nach  gesagt  hat:  r.Ti'iQytir  to  jrtQityor  ([.(jbvTjQtg.  J)azu 
stimmt,  was  Flut,  de  Iside  76  sagt:  /)  dl  ^ojöa  (pvoic  dfivöTi  torraxtv 
d.TOQQor/v  y.al  iioiQav  Ix  rov  (fjQoroivTOQ  ötco  xvßeQväTc.i  to 
orfjjcar,  xaü'  Hitccx/.tiTov.  ,, Unsere  Xatur  (C,d5oa  cfvou  ist 
pleonastisch)  schlürft  in  vollen  Zügen  einen  Ausfluß  und  Anteil  aus 
dem  ffQovovr,  durch  welches  das  Weltganze  regiert  wird,  wie 
Heraklit  sagt."  H.  hat  also  dem  Sinne  nach  zweifellos  gesagt: 
///}  Uvea  loyixor  tot  ('(.vh{)V).-Tov.  ebenso:  to  TtüQiiyov  r.TaQytir 
(fi,tfv/JQeg,  was  Avohl  nur  eine  Umschreibung  ist  für:  to  rrro  dvai 
(f{fövLi(or\  aber  der  Zusammenhang,  in  dem  diese  beiden  Sätze 
standen,  kann  nur  der  gewesen  sein,  daß  der  Mensch  kein  Z(<)ov 
/j)yix6)\  sondern  ein  yoloi'  «fQoriiiov  sei,  weil  er,  wie  jede  (fcoic 
uöoa,  seinen  Anteil  aus  dem  (fQorocv  einsclüürft,  durch  welches  das 
AVeltganze  regiert  wird. 


^*)  Schon  aus  diesem  gewaltsamen  Versuche,  hier  das  fivijfjovixov 
dem  Xoyoicöv  gleichzusetzen,  wäre  man  zu  dem  Schlüsse  geneigt,  daß  diese 
beiden  Termini  bei  H.  einen  Gegensatz  bildeten,  und  fr.  126  scheint  dies  zu 
bestätigen.    Vgl.  das  zu  diesem  fr.  Gesagte  weiter  unten. 


Kill  Beitiag  zum  heraklitiscli-parmuiid.  Erkenntnisprcblem.  83 

Alier  mag  das  (ledankcngostrüpp,  durch  (ks  wii-  uns  durch- 
arbeiten mußten,  noch  so  wiiT  sein,  der  Bericht  behält  doch  für  uns 
einen  unschätzbaren  Wert,  weil  er  mutatis  mutandis  einen  (Uwchaus 
heraklitischen  Gedankengang  enthält,  und  zwm:  „Es  ist  die  Ansicht 
des  Physikers,  daß  das,  was  uns  umgibt,  nicht  /.oyixör  ist,  sondern 
if^)orii/or.  .Diese  göttliche  (fQorijOig  also  ziehen  wü-  nach  HerakUt 
durch  Kinatinung  an  uns  und  werden  dadurch  rotQoi,  und  im  Schlafe 
werden  wir  vergeßlich,  wenn  wir  aber  wach  sind,  wieder  biKfifonc. 
j)a  sich  nämlich  im  Schlafe  die  aloOfiTixo}  .to(>o/  schließen,  so  wird 
der  in  uns  wohnende  vor^  vom  Zusammenhange  mit  dem  .7r^>ity/>)- 
gesondert,  während  nur  die  Verbindung  zufolge  der  Einatjuung  er- 
halten bleibt  wie  eine  Art  Wurzel;  gesondert  aber  verliert  er  seine 
Erinnerungskraft,  die  er  früher  hatte.  Im  wachen  Zustande  dagegen 
bückt  6r  sich  durch  die  Öffnungen  der  Sinne  wieder  hinaus  wie  durch 
eine  Art  Fenster,  trifft  mit  dem  rrtQLtyov  zusammen  und  zieht  so 
tlie  Erkenntniskraft  in  sich  hinein.  Sowie  also  die  Kohlen,  wenn  sie 
sich  dem  Feuer  nähern,  zufolge  der  Wandlung  vom  Feuer  durch- 
glüht werden,  wenn  sie  aber  abgesondert  sind,  verlöschen,  so  \vird 
auch  der  in  unseren  Körper  als  Gast  aufgenommene,  aus  dem  jieQu'yor 
stainmende  Anteil  (sc.  an  der  (fifortjOiQ)  zufolge  der  Absonderung 
geradezu  a(pQcor,  zufolge  des  durch  die  gi'ößte  Menge  von  Öffnungen 
hergestellten  Zusammenhanges  aber  wii'd  er  ein  dem  Unive'rsum 
(TleichaTtiges  (sc.  (fQ<)Yi{ior).  .Diese  (f^ortioiQ  also,  derzufolge  wir, 
wenn  wir  an  ihr  Anteil  haben,  (fQoi'ii/oi  werden,  nennt  Heraklit 
gemeinsam  und  göttlich;  Avoher  denn  auch  das  allen  gemeinsam  Er- 
scheinende zuverlässig  sei  (denn  man  empfängt  es  durch  die  gemein- 
same und  göttliche  (fgortjöigj,  das  al)er  nur  einem  allein  Beifällige 
(sc.  das  Xoyiy.ör)  unzuverlässig  sei  wegen  der  gegenteiligen  Ur- 
sache."    (Vgl.  idioc:  hr/oc  Fr.  2.) 

Die  aloihiTixo)  jiÖqol  (ob  H.  schon  von  .TO(>f>/  gesprochen 
hat,  ist  hier  Nebensache)  stehen  demnach  mit  (fQi'ir  und  röog  m 
engster  Verbindung.  Sowie  nach  diesem  Berichte  der  rooc  von  den 
(uofhjTixof  .tÖqoi  abhängig  ist,  so  hängt  auch  nach  Parmeitides 
(Fr,  6  u.  16)  die  Beschaffenheit  des  roog  der  Plironesisnaturen  von 
der  Beschaffenheit  der  vielumhern-renden  Sinnesorgane  ab  (16j  und 
die  (fQovrjocg  ist  es,  welche  den  vöog  jrÄaxrog  hin  und  her  treibt. 
H.  hat  also  wahrscheinlich  angenommen,  daß  die  Sinnesorgane  ihre 
Einclilicke   den    f/{ttreg   vermitteln,    diese   die   ihnen  übermittelten 


84  Emanuel   Loew, 

iMndriUkc    verarbeiten,     der    rot'c    sie    sammelt    und   aufbewahrt. 
o(ffh(Ä/fol,  ona,  Qtnc  usw.  sind  Wahrnelimungsorgane,  (fQ/'/r  das  Er- 
kenutnisorgan,  rooc  das  Erinnerungsorgan.    Der  rorg  ist  daher  un- 
juittelbar  von  der  (foör/joic,    mittelbar   von  den  Wahrnehmungs-  . 
Organen,  die  (f^örrjOig  aber  nur  unmittelbar  von  den  Wahrnehmungs- 
organen al)hängig.     f/)(>//r   und  röoc  bilden  das  rastlos  selbsttätige 
Zentralorgan  aller  Wahrnehmungen:   daher  Fr.  104:   xiq  yaQ  avrotv 
röog  //   <r (»/'»•;  •  •  •  Alles  Wissen  hängt  somit  in  letzter  Linie  vom  röog 
ab.     Je  mehr  dieser  erlebt,  desto  mehr  Erinnerungen  bewahrt  er,  je 
öfter  er  sie  erlebt,  desto  fester  bewalirt  er  sie.     Erleben  aber  kann 
der  rovg  nur  iin  wachen  Zustande;  überall  muß  er  selbst  anwesend 
sein  (Fr.  34),  wie  dies  im  vorliegenden  Bericht  immer  wieder  betont 
wird:   .Der  rovc  darf  nicht  vom  Zusammenhange  mit  dem  xt^äyor 
gesondert  sein,  die  Verbindung  mit  ihm  muß  erhalten  bleiben,  ab- 
gesondert verliert  er  die  Erinnerungskraft;  im  wachen  Zustand  trifft 
er  mit   dem  .Tt^it/jn'  zusammen.^^    Treffend  ist   in   dieser  Hinsicht 
der  Vergleich  mit  der  Kolüe:   Sowie  die  Kohle,  nur  wenn  sie  mit  dem 
Feuer  zusammenkommt,  von  diesem  durchglüht  wird,  w^enn  sie  aber 
vom  Feuer  gesondert  wird,  verlischt,   so  wird  auch  der  vovc,  wenn 
er  mit  dem  .ti~(>  (fQonfior   zusammenkommt,    (fQ(')ri(.ioc,    w^enn  er 
aber  von  demselben  gesondert  wird,  geradezu  acpQon.'^'') 

.Oieser  Vergleich  des  rovc  uiit  der  Kohle  ist  aber  auch  von  einem 
anderen  (resichtspunkte  aus  überaus  wichtig  und  lehi-reich.  AVir 
haben  gesehen,  mit  welchen  Mitteln  philosophischer  Spitzfindigkeit 
Sextus  Heraklits  erkenntnistheoretischen  Logos  in  einen  kosmo- 
logischtfu  umzudeuten  versucht.  Er  hat  den  /o'/oc  nicht  nur  mit 
rorc  und  (ft^ör/ioig,  sondern  auch  mit  (fvoig  und  O^eöc  gleich- 
gesetzt, aber  eine  direkte  Gleichsetzung  des  /o'/oc  mit  jtvq,  cler 
heraklitischen  Ursubstanz,  aus  der  alles  wird  und  zu  der  alles  wird, 
suchen  wir  in  diesem  Berichte  vergebens.  Aber  doch  nicht  ganz  ver- 
gebens, denn  der  Vergleich  des  rovc  mit  der  Kohle  führt,  wenn  er 
folgerichtig  zu  Ende  gedacht  wird,  schon  zm-  Lehre  voni  feurigen 
Xaturlogos.  Diesen  haben  nun  andere  Erklärer  aus  allen  möglichen 
Fragmenten  Heraklits  herauszulesen  oder  besser  hineinzudeuten  ver- 
seucht. So  hat  Clemens,  wie  wir  noch  hören  w^erden,  in  Fr.  14  das  dort 
vorkommende  -r?Q  in  ).öyog,  in  Fr.  31  das  dort  vorkommende  Wort 


2')  Vgl.  Anm.  22  und  das  dazu  im  Texte  Gesagte. 


Ein  Beitrug  zum  hcrakliti.sch-pariiK'ni(l.  Erkeinitnisj>iol)l<'in.  8;) 

;.o;'oj  in  jti'x)  iiiul  uiiigokehrt,  endlicli  in  l''r.  28  so<^ar  die  <)lxij  im 
Sinne  von  AVeltt'eiier  umgedeutet.  Unsere  neuesten  Bearbeiter  lehnen 
diese  .Deutungsversuche  ah:  da  sie  aber  den  feurigen  JiOgcts  nicht  auf- 
gehen können,  versuchen  sie  es  mit  anderen  Fragni. 

Slonimsky    nenut    den    feurigen    Xaturlogos    eine    .Jiekannte^' 
lierakhtische    These,    die    aus    mehreren    der    Fragmente    „erhelle"' 
und     in     dem     Berichte     des     Sextus     „bestätigt"     werde.       Be- 
trachten   wir    die    drei   Argumente    in  ■  umgekehrter    Reihenfolge. 
Über    den    AVert,     welcher    der   „f^estätigung':    durch    Sextus     zu- 
komme,   darf  ich  wohl  schon   hinweggehen.     Aus   welchen  Fragm. 
..erhellf  der  Feuerlogos?     Slonhnsky  meint  aus  Fr.  64,  30   und  90 
und   der   Erläuterung   Hippolyts    zu   Fr.   64.      Heraklit    sagt   näni- 
licli:    .,i)as  Weltall  steuert  der  Blitz  (64)",  der  y.öo/wg   ist  ein  .Tr(> 
t-f-i:cmr    (30),    „Umsatz  findet   wechselweise   statt   des   Alls  gegen 
Feuer  und  des  Feuers  gegen  das  All  (90)."    Zu  Fr.  64  sagt  Hippolyt: 
,. Unter  Blitz  verstehe  Heraklit  das  ewige  Feuer,  er  sagt  auch:  dieses 
Feuer  sei  (foth-iiior:'     .Daraus  schließt  Slonimsky,    Heraklit  habe 
gelehrt,  ,,daß  der  Logos  in  feuriger  Gestalt  durch  die  ganze  Xatur 
verbreitet  isf.    Wir  sehen  also,  für  Slonhnsky  gilt  die  Gleichsetzung 
ff  {fön  tun-  =  hr/i/Mv  als  etwas  so  Selbstverständliches,    daß   er  es 
nicht  ein]nal  zu  betonen  für  nötig  findet.    Wenn  er  schließlich  diese 
These  eine  ,, bekannte''  nennt,  so  verweise  ich  .auf  Aall,  welcher  den 
.Tro/.o/o^  eine  ,,aus  heterogenen  Elementen  zusammengeschweißte 
Gedaukenchhnäre"  nennt.      Gibt  es  al)er  keinen  jTV(f-X<r/(iq,    dann 
gibt  es  auch  keinen   (fvöiQ-)jr/oa,    keinen  iH6c,-)Myoc,    dann   ist  es 
überhaupt  mit  der  kosmologischen  Bedeutung  des  /o/oc  vorbei. 

Anders  verfährt  Beinhardt.  Er  glaubt,  daß  Paxm.  als  nächster 
^'achfahr  Anaximanders  in  einem  Jugendwerke  die  Entdeckung  der 
Logoserkenntnis  verkündet  habe,  und  einige  Jahrzehnte  später  habe  H. 
zu  dem  Problem  des  P.  Stellung  genommen,  und  da  bei  diesem  die 
erkenntnistheoretische  Bedeutung  des  Logos  feststehe,  so  sei  dieselbe 
Bedeutung  für  den  heraklitischen  Logos  gesichert.  .Oiese  Erkenntnis 
ist,  man  nuig  über  Reinhardts  These  sonst  denken,  wie  man  wolle,  um 
so  freudiger  zu  begrüßen,  als,  sonderbar  genug,  dieselben  Gelehrten, 
welche  im  Gegensatz  zu  R.  die  Abhängigkeit  des  P.  von  H,  als  fest- 
stehend bezeichnen,  ol)wohI  sie  zugeben,  daß  zwischen  den  beiden 
])enkern  in  der  Sprachtheorie  ein  Gegensatz  bestehe,  und  obwohl  sie 
annehmen,  daß  beide  gleichzeitig  gelebt  und  gewirkt  haben,  den  ;.fr/OL,- 


s 


86  •  Emainicl    Loow,  * 

bei  H.  anders  deuten  wollen  als  den  /.6yoc  bei  P.  J)iese  Annahme 
muß  doch  unter  diesen  Umständen  endlich  als  völlig  unhaltbar  auf- 
gegeben werden.  Leider  ist  K.  auf  halbem  Wege  stehen  geblieben. 
Er  hat  zwar  sogar  schon  erkannt,  daß  das  heraklitische  oo^or  etwas 
vom  /.ö'/og  Verschiedenes  sei,  aber  er  hält  anderseits  doch  noth  an 
der  Auffassung,  daß  Heraklits  Xöyoc  ^"rrou  sei  und  sich  mit  (frocg, 
(fQODjOiQ  und  ro'oc  decke,  fest,  und  so  hat  er,  von  einer  unrichtigen 
.Deutung  des  Fr.  50  ausgehend,  den  rrrQ-Änyo^-Dtöc  wiederentdeckt, 
diesmal  in  Fr.  67. 

Fr.  50  lautet  in  der  hs.  Überlieferung: 

ory.   litoc,    älXa  vor  iSäyf/arog  äxoi Oaj'Tcg   oi/oÄoyfh'  <'><>(( ar 

döyincTog  hat  Bergk  richtig  in  /o'/or  verbessert,  obwohl  die  Ent- 
stehung dieser  Lesart  nicht,  wie  J)iels  meint,  paläographisch  zu  er- 
klären ist  aus  einer  Verwechslung  von  doy  mit  Äoy,  sondern  wohl 
auf  jene  Zeit  zurückzuführen  ist,  in  der  löyog  schon  die  Bedeutung 
von  ddyfia  hatte,  wie  es  bei  ''lemens  Strom.  V  104,  1  heißt: 
Ol  D.Xoy i {uÖtutol  TOJv  ^tcoTxojv  doyf/aTiCovrx.  Viel  ernster  ist 
die  Frage,  wie  es  mit  dem  überlieferten  «Mtr«/  steht.  J)ieses  einfach 
durch  fc/r«/  zu  ersetzen,  ist  schon  wegen  des  OfHföv  äußerst  bedenlvlich. 
In  den  Fragm.,  wo  ootfor  vorkommt,  ist  regelmäßig  vom  Wissen  die 
Rede,  so  32,  41,  56, 108,  ebenso  35,  wo  die  g:iÄöo(>(foi  er  iiuau  -ro)Jj~jv 
UroQtg  genannt  werden.  Vgl.  die  vita  d.  Diog.  IX  5^6);  daher  geht 
es  nicht  an,  ohne  weiteres  tldtrai  durch  tlrai  zu  ersetzen.  Ander- 
seits ruht  ein  starker  Ton  auf  tr  mcrra.  Der  Satz  scheint  nach  alle- 
dem den  Sinn  gehabt  zu  haben:  Man  muß  zugeben,  daß  das  Weise 
darin  besteht,  zu  wissen,  daß  alles  eins  ist.  ITnd  zwar  muß  man  das 
zugeben:  ovx  Iftor,  dlXu  tov  loyor  ir/coioarrac.  Das  ..Ich" 
bildet  hier  den  schroffen  Gegensatz  zinn  /o'/oc. 

Um  diesen  Gegensatz  zu  verstehen,  müssen  wir  die  Aus- 
sprüche heranziehen,  in  denen  das  heraklitist^he  „Ich''  lu'ivor- 
gehoben  wird.  Es  sind  dies  die  Fr.  55  und  1:  oooj)-  owig 
(\xotj  iHiBijoic,  rarra  lyoj  jiQOTipko  nach  der  Übersetzung 
Slonijnskys:  „iVlles,  was  man  durch  Sehen  und  Hören  lernen 
kann,    ist  dem  Philosophen  höchst  willkommen."     Ferner:    „Voll- 


yfvof^ifi'oc     TTurra     iyrioxivai'     r^^xovüi    re     O(i'()'fi'oc ,      ((XX'    avrör    ff/r} 
diQiJGuG&ut.  xut  fiad^iTv  Tiäi'ra  Ttatt    kavxov. 


Eil)  Britnig  zum  iK-nkkiitisfh-pariiK'nid.  Erkc-iintuispiohk'iu.  >  ( 

zieht  sich  die  Entwickhing  des  Alls  y,ara  tov  h'tyuv  xüviS; .  so 
sind  die  Menschen  wie  unerfaluen,  wenn  sie  sich  versuchen  in  solchen 
AVorten  und  Werken,  wie  ich  (e/fi)  sie  trennend  erörtere,  trennend 
jedes  einzelne  y.ara  (p/o/r.'  J)as  eine  Mal  ist  also  das  Ich  der  öf/v-- 
y.ic'i  r.xo//  gleichgesetzt,  in  Fr.  1  finden  wir  zwischen  doju  Ich  und 
dem  /.('r/oc  denselben  Gegensatz  wie  hier  in  Fi-.  50.  Heraklit  jvanii 
also  unniüglich  den  Xöyoz  hier  höher  werten  als  sein  ,,Icli".  Wohl 
aber  werden  wir  noch  hören,  daß  sogar  H.,  der  ärgste  Verächter  ab- 
strakten Wissens,  den  es  je  gab^'),  zugibt,  daß  mitunter  auch  die 
Logoserkenntnis  zum  Ziele  führt,  und  auch  hier  wollte  H.  nichts 
anderes  sagen  als:  ,,Auch  wenn  man  nicht  auf  luich,  sondern  auf  den 
J..ogos  hört,  soll  man  zugeben,  daß  das  Weise  darin  besteht,  zu  wiesen, 
daß  alles  eines  ist."  .Daß  alles  Wissen,  meint  H.,  nur  darin  besteht, 
die  Einheit  aller  Gegensätze  zu  erkennen,  ist  so  evident,  daß  man 
es  zugeben  sollte,  auch -wenn  man  das  Werden  des  Alls  nicht  y-ara 
(fröLV,  sondern  ycra  /o/or  erklärt,  d.  h.  ovx  Litov,  ä).h\  ror  /.nyor 
(cy.ovrxcvrag !  Gegen  Reinhardts  Übersetzung:  „Xicht  mir,  sondern 
dem  Logos  in  euch  selber  müßt  ihr  recht  geben  und  eingestehen,  daß 
alles  eines  ist",  muß  ich  1.  einwenden,  daß  das  überlieferte  ihSina 
verloren  geht,  2.  daß  ror  /o/o»-  nicht  heißt  „der  Logos  in  euch 
selber";  denn  das  müßte  ror  tr  v.i'toi-:  i-iiu-  h'r/av  oder  minde- 
stens rav  ^vvov  Xoyoc  lauten.  Vor  allem  aber  spricht  gegen  diese 
Erklärung  die  Tatsache,  daß  sie  den  'eimnal  abgetanen  .t»~o-/.o-'o-- 
/>£oc  wieder  einführt  und  noch  dazu  durch  Fr.  67: 

'/.iiioQ,  al/Miovrca  de  öyjoo.'rtQ  xvq,  orroTccr  orififiyfj  Ihcuncon'. 
ovnitäZfraL  y.af)^'  /)dov/jV  lyaOTor. 

,,J)aß  Heraklits  kosmologisches  Interesse  mit  der  Erklärung  der 
Wechselerscheinungen  erschöpft  war,  daß  alles  kosmische  Detail  ihm 
mir  dazu  diente,  Sommer  und  Winter,  Tag  find  Nacht,  Gewitter  und 
Kegen  als  verschiedene  Formen  eines  und  desselben  Wesens  zu  be- 
greifen"', darin  hat  Reinhardt  zweifellos  recht,  und  wir  werden  hören, 
daß  auch  Parmenides  seinem  Gegner  zum  Vorwurf  macht,  Entwick- 
lungsrummel  und  Xamenfestsetzung  fffrrai  und  oroiia  y.axaTiHeoihuA 
sei    die    Summe    des    durch    die    Phronesiserkenntnis    erworbenen 


^')  Reinhardt  (a.  a.  0.  S.  213)  übersetzt  fr.  .5.5:  „Was  man  sehen,  hören, 
lernen  kann,  Symbol  und  Gleichnis,  ziehe   ich   abstrakter    Logik   vor." 


SS  E  ni  ii  und    L o e  w , 

Wissens. "^^j  Aber  gerade  das  ist  ja  eben  für  H.  der  Grund,  seinen  .'Itoe,- 
jiiit  seinem  .Tr(>  zu  vergleichen.  Wenn  Feuer  mit  Räucherwerk  ver- 
mengt wird,  so  sagt  der  Mensch  nicht,  er  rieche  Feuer,  sondern  auf 
Grund  seiner  Erfahrung  durch  die  Sinneserkenntnis  sagt  er,  er  rieche 
dieses  oder  jenes  Räucherwerk,  d-  h.  das  Feuer  erhält  sein  emph-i- 
sches  nroua  nach  dem  Wohlgeruch,  Avelches  das  einzelne  Räuchei- 
werk  verbreitet;  Parnienides  sagt,  sie  setzten  fest  ein  oroua  LTio/ji(or 
lyMOTfo  (Fr.  19).  Und  ebenso  sagt  der  Mensch,  wenn  er  die  einzelnen 
Xaturerscheinungen  wahrnimnit,  nicht,  er  nehme  den  fhdg  wahr, 
sondern  der  (heög  erliält  sein  bezeichnendes  empirisches  oroi/xc  nach 
der  Form,  in  die  er  sich  wandelt:  Tag,  Nacht,  Winter,  Sommer,  lü'ieg, 
Frieden.  Überfluß,  Hunger.  Wo  ist  hier  auch  nur  eine  Spur  voju 
/.(r/oj?  Ganz  im  Gegenteil,  gerade  das  bei  H.  dem  /jr/og  strikt  ent- 
gegengesetzte empirische  ö'ro//«  ist  es,  mit  dem  die  verschiedenen 
Formen  benannt  werden,  in  denen  ein  und  dasselbe  Wesen,  f^tog 
oder  (frr,/^  benannt,  wahrgenommen  wird:  (ly.oümtj  xvq,  ojtorar 
<'>i'uuiyij    Ur<')ttaC)(}\'^^) 

Um  nun  Heraklits  Sprachtheorie  zu  verstehen,  müssen  wir  uns 
seine  Auffassung  vom  Verhältnis  des  Menschen  zum  Kosmos  klar- 
juaclreii,  wobei  sich  zeigen  wird,  daß  mit  dieser  seiner  Auffassung 
auch  seine  einseitige  Stellungsnahme  zum  Erkenntnisproblem  in  ur- 
sächlichem Zusammenhange  steht. 

Wie  alles  in  der  (fi-oig,  entwickeln  sich  auch  Götter  und  Menschen 
aus  dem  .tTv*  cf^örii/or  und  haben  daher  auch  Anteil  an  der  allen 
gemeinsamen  (f^oviinig  (HÖj.  .Den  xöotiog  hat  weder  einer  der 
(rötter  noch  einer  der  Menschen  „gemacht'-,  sondern  er  bestand  'mmer 
und  besteht  und  wird  bestehen  als  ewig  lebendes  Feuer  (30)  und  aus 
diesem  stammen  Götter  wie  Menschen.  Unsterbliche  sind  sterblich. 
Sterbliche  unsterblich  (62j  und  der  Krieg  ist  es,  der  die  einen  als 


-^)  Vgl.  das  zu  fr.  19  des  Pann.  Gesagte. 

-«)  fr.  7  Her.:  „Würden  alle  Dinge  zu  Rauch,  so  würde  man  sie  mit 
der  Xase  auseinander  kennen."  Herbertz  (S.  72)  findet  in  diesen  Worten  eine 
olfaktorische  Natur  auf  fassung.  Reinhardt  bemerkt  zu  diesem  fr.  (8.  180 
Anm.  2):  ,,In  aller  stofflichen  V^ersehiedenheit  der  Dinge  steckt  eine  ver- 
borgene Einheit;  gesetzt,  es  würden  alle  Dinge  zu  Rauch,  so  sähen  wir  mit 
anseren  Augen  eine  Einheit,  und  doch  würde  die  Xase  noch  zwischen  den 
(Gerüchen  unterscheiden;  nun  ist  aber  zwischen  dem  Geruchsinne  und  di'n 
übiigen  Simien  kein  Unterschied." 


Kill  ßt'itnig  /Min  lu  r.kklitis(li-])u-nuuiid.  KiUrnntiiisiiol^Iciji.  S9 

(rötter,  die  anderen  als  Menschen  erscheinen  läßt  (ö3).  In  der  Ver- 
ehrunj^  der  im  Kriege  Gefallenen  betätigen  sich  Götter  ebenso  wie 
^[enschen  (24).  ])er  Mensch,  ein  sterblicher  Gott,  besitzt  göttliche 
Weisheit  und  ist  mit  dem  Kosmos  aufs  innigste  verbunden,  fn  seinem 
Innern  erlebt  der  Mensch  die  Natur  {SS,  119),  und  wenn  er  sich  selbst 
durchforscht  (101).  so  wird  ihn  die  Struktur^)  seines  eigenen  Or- 
ganismus zum  Verständnis  der  Harmonie  im  Kosmos  führen. 

Entsprechend  der  J)reizahl  der  Elenu^ntarstufen  (Feuer,  Wasser, 
Erde),  vielleicht  auch  der  dreifachen  Tätigkeit  beim  Atmungspiozesse 
(Einatmen,  Verarbeiten  des  Eingeatmeten,  Ausatmen  vgl.  den  Be- 
richt bei  Sextus)  bekundet  der  ^lensch  seine  Verwandtschaft  mit  dem 
Kosmos  in  einer  cheifachen  geistigen  Fähigkeit:  ].  der  Fähigkeit, 
das  x\ußere  wahi-zunehmen,  2.  das  Wahrgenommene  zu  verarbeiten. 
3.  sich  über  das  hmerUch  Verarbeitete  zu  äußern.  Die  erste  der  Fähig- 
keiten bekundet  der  Mensch  durch  seine  Siimesorgaiu',  die  innere 
Verarbeitung  und  Sammlung  der  dm-ch  die  Sinnesorgane  vermittelten 
Sinneseindrücke  erfolgt  durch  (fQ//)'  und  roo.-.  das  autojuatisch 
funktionierende  Zentralorgan  aller  A\'ahrnehmungen,  die  Äidjerung 
über  das  innerlich  Verarbeitete  erfolgt  durch  die  Sprache,  die,  hervor- 
gegangen aus  dem  Erfahrbarwirklichen  im  Alltagsleben,  den  Menschen 
ebenso  gememsam  ist  wie  die  (fQÖvijOu.  Das  sind  die  hQycc  des 
instinktiv  tätigen  mensclüichen  Geistes^i),  der  Betätigung  dieser  drei 
innerlich  miteinander  aufs  engste  zusammenhängenden  Fähigkeiten 
kann  sich  daher  keui  Mensch  völlig  entziehen.  Sowie  alles,  was  da 
kreucht,  mit  Gottes  Geißel  zur  Weide  getrieben  wird  (11),  sowie  die 
Sibylle,  von  Gott  getrieben,  Ungelachtes,  Ungeschminktes.  Ungc- 
salbtcs  (also  durchaus  Natürliches)  verkündet  (92),  so  muß  auch  der 
^ilensch,  wenn  er  wach  ist,  wodurch  allein  er  schon  seine  Gemein- 
schaft mit  dem  Kosmos  betätigt,  walu-nehmen.  Wahrgenommenes 
verarbeiten  {(ff^torelv)  und  sich  darüber  äußern  {el-tüv,  or<>(ii'Zttr). 
.Darin  besteht  eben  die  göttliche  Weisheit,  die  der  Mensch  besitzt 
und  die  er  durch  die  Walu-nehniung  der  Xatur,  der  Gottheit  bekundet. 

Jetzt  begreifen  wir  erst,  wie  H.  dazu  kam,  durch  die  ovÖiicth  die 
allem  innewohnende   (fvoiz  zum  Ausdruck  zu   bringen..     ]\iit   dejii. 


•^0)  Daß  „struktur"  die  ursprüiigliclie  B  cltutung  von  do^iovii]  ist. 
haben  Bernays  und  Burnet  gezeigt. 

■'^)  Gegen  dieüe  Auffassmig  wendet  sich  Parmenides.  \'gl.  weiter 
unten. 


*>0  Emaniiel   Loew. 

omni'.,  '^l''^  die  Menschen  einem  Dinge  beilegen,  bringen  sie  nämlich 
eine  Erfahi-ung  zum  Ausdruck,  die  sie  gemeinsam  an  dem  J)inge  er- 
lebt haben,  daher  oroiia  ßiog  (48),  oroffa  Zrjrog  [g/yr/]  (32).  Dasselbe 
Verhältnis  liegt  den  rö/foi  zugrunde,  wenn  H.  sagt:  T^ttcfoPtcu  ya() 
<n  th'i)xK')Jitioi  rojioi  vjto  kvog  rof  ihsiov,  d.  h.  die  menschhchen 
röfjot  erhalten  ihre  Nahrung  und  damit  ihre  Kraft,  ihre  Geltung 
von  der  tfvöig  =  (pQorrjOig  (Fr.  114),  sie  stammen  aus  der  allen 
gemeinsamen  Erfahrung.  Und  ebenso  stolz  wie  auf  die  ov6(uaa 
ist  H.  auf  seine  L7T£(c  y.ai  t(r/a  xard  (fvoLv  (1)  und  spricht  mit  Gering- 
schätzung von  denen,  die  des  dxovaai.  des  (fgorür,  des  tijnir 
nicht  mächtig  sind.^^)  (Schluß  folgt.) 


32 


"^)  Vgl.  das  zu  fr.  107  Oiesagte,  S.  79  dieser  Abhdlg. 


VI. 

Vedantismus  und  Unsterblichkeit. 

Von 
Prof.  Dr.  Paul  Schwarzkopff,  Weniigerode. 

Wir  leben  in  einer  Zeit,  die,  wie  keine  zweite  in  der  Welt- 
geschichte, rings  vom  Tode  umgeben  ist.  Diese  Tatsache  zwingt 
uns  mit  unvergleichlicher  Wucht  die  Frage  nach  der  Unsterblichkeit 
auf.  Deshalb  schaut  der  weiter  Blickende  nach  einer  Antwort  aus. 
wo  immer  sie  zu  finden  ist.  Und  zwar  nicht  bloß  in  solchen  Ge- 
danken und  Vorstellungen,  wie  sie  uns  unsere  Umgebung  unmittel- 
bar entgegenbringt. 

Wir  fragen  vielmehr  auch  die  Denker  und  Weisen  der  Vorzeit 
nach  den  Aussichten,  die  sich  ihnen  in  ein  Jenseits  eröffnen.  Da  ist 
es  besonders  lehrreich,  was  die  Inder  jenseits  des  Grabes  erwarten. 
Vor  allem,  weil  uns  hier  so  manche  Lichter  aufgehen,  die  uns  West- 
ländern zwar  an  sich  fern  liegen,  dennoch  aber  zugleich  den  Ein- 
druck erwecken,  daß  auch  dort  echt  menschlichen  Gefühlen  echt 
göttliche  Ahnungen  zuteil  werden. 

Doch  wollen  wir  das  Ergebnis  nicht  durch  Vorurteile  vorweg- 
nehmen. Wir  werden  vielmehr  ihre  heiligen  Bücher  selbst  befragen. 
Sollten  sie  auch  des  Rätsels  letzte  Lösung  nicht  geben,  so  sind  sie 
doch  wert,  daß  suchende  Menschen  auch  aus  ihren  Quellen  schöpfen. 
Ja  auch  gerade  die  Fehler  ihrer  Gmndanschauung  werden  uns,  wie 
sich  zeigen  wird,  verwandtschaftlich  berühren,  so  daß  sich  hier  für 
die  gemeinsamen  Schäden  Asiens  und  Europas  auch  nur  das  gleiche 
Heilmittel  wird  finden  lassen. 

Es  handelt  sich  um  jene  eigentümliche  Weltansicht,  welche  die 
alten  Inder,  etwa  vom  15.  Jahrhundert  vor  Chr.  an^  durch  fort- 
schreitende Ausdeutung  ihrer  „Veden"  entwickelten.  Eine  Prägung. 
wie  sie  ursprünglich  nicht  dem  Geiste  ihrer  Priester,  der  Brahmanen, 


92  P  a  u  1  S  c  h  w  a  r  t  z  k  0  p  f  f , 

entsprant^,  vielmehr  ihnen  zum  Trotz,  aus  dem  freieren  Gesichtskreise 
der  Kriegerkaste  hervor  wuchs.  Man  nennt  sie  „V  e  d  a  n  t  i  s  m  u  s". 
Denn  sie  stellt  das  Veda-Ende  (vedänta),  sozusagen,  die  letzte, 
reifste  Frucht  des  Vedateumes  dar.  Sie  ist  in  philosophischen  Er- 
örterungen, in  den  s.  g.  „upanishad's",  d.  h.  „Qeheimsitzungen",  „Qe- 
heirnlehren",  niedergelegt.  Um  ihre  Erforschung  haben  sich  in  neu- 
ster Zeit  vor  allem  Deussen  und  Oldenburg  Verdienste  erworben. 
(Anm.  Wir  richten  uns  durchweg  nach  den  ..60  Upanishads  des 
Veda"  vom  P.  Deussen.  Leipzig,  Brockhaus.   1897.) 

Der  Vedantismus  begründet  zum  ersten  Male  in  der  Geschichte 
der  Philosophie  die  „Unsterblichkeit"  mit  religiösen  Mitteln. 
Er  führt  seine  Grundgedanken  schlicht,  anschaulich,  geistvoll  und 
geschlossen  durch.    Freilich  mit  rücksichtsloser  Einseitigkeit. 

Ein  energisches  Streben  nach  Einheitlichkeit,  das  teilweise  in  lo- 
gischen, vor  allem  aber  in  religiösen  Beweggründen  seine  Trieb- 
kraft hatte,  ließ,  im  Vedantismus,  aus  dem  früheren  Polytheismus 
nach  und  nach  einen  Pantheismus  entstehen,  dessen  Wege  nicht  fern 
vom  Theismus,  d.  h.  von  der  Annahme  einer  persönlichen  Gottheit, 
verlaufen.  Ja  sie  rücken  ihr,  z.  B.  in  der  Erscheinung  des  „ishvara", 
als  des  Weltherrn  und  Schöpfers,  zeitweise  recht  nahe.  Gerade,  weil 
diese  Auffassung  der  Gottheit  von  der  Wahrheit  des  Pantheismus 
durchdrungen  ist.  zeigt  sie  sich  teilweise  innerlicher,  und  insofern 
lebensvoller,  als  jener  Theismus,  der  Gott  zwar  als  Urheber  der 
Welt  kennt,  ihn  aber  als  Weltlenker  nicht  viel  besser  als  der  s.  g. 
„Deismus"  würdigt.  Dieser  läßt  Gott  auf  den  Weltlauf,  seit  der 
Schöpfung,  nur  mittelbar,  durch  die  der  Natin-  eingeschaffenen  Ge- 
setze, einwirken.  Aber  auch  gegenüber  jener  Art  von  Theismus  drohen 
die  Naturgesetze  eigenmächtig  zu  werden,  da  er  ebenfalls  ein  festes 
Verhältnis  zwischen  ihnen  und  der  Gottheit  nicht  zu  gewinnen  weiß. 

Hingegen  ist  der  Vedantismus  bereits  auf  den  „P  a  n  e  n  t  h  e  i  s  - 
mus"  gerichtet,  der  allein  folgerichtig  die  Innerlichkeit  Gottes  mit 
seiner  Überweltlichkeit  vereinigt,  daher  berufen  ist,  die  Qottesan- 
schauung  der  Zukunft  zu  bilden.  (Anm.  Freilich  pflegt  sein  Name 
neuerdings  mißbraucht  zu  werden.  Eine  Auffassung,  die  Welt  und 
Gott  gleichsetzt,  verdient  nicht  so  zu  heißen.  Das  ist  Pantheism-us. 
Vielmehr  nur  diejenige,  die  alle  Dinge  in  Gott  und  Gott  in  allen 
Dingen  weiß.) 


Vedantismius  iitvd  Unsterblichkeit.  O;) 

Der  Vedantismus  erkennt  den  Urgrund  des  Alls,  nicht  bloß, 
wie  etwa  die  Stoiker,  in  der  Welt  s  e  c  1  e,  vielmehr  im  Welt  g  e  i  s  t 
lind  sieht  ihn  als  das  einzig  wahrhaft  Seiende  an.  Damit  hält  er 
sich  fern  von  der  Oberflächlichkeit  derer,  die  die  Selbständigkeit  des 
Inneren  der  Welt  und  des  Menschen  auch  heute  noch  verkennen.  Er 
stellt  vielmehr  das  einheitliche  schöpferische  Prinzip  alles  Leibens 
in  das  ihm  zukommende  Licht. 

„Wie  der  Ozean  Einigungspunkt  aller  Gewässer  ist,  so  ist  der 
Einigungspunkt  aller  Empfindungen,  überhaupt  aller  Organe",  der 
..ganz  aus  Erkenntnis  bestehende  Geist"  (vijnänamaya  purusha; 
Brihadäranyaka  Upanischad  2,  1,  4.  17.  4,  3,  7.  Kathaka  Up.  4,  3). 

Zugleich  nimmt  er  dem  Schöpfungsbegrifi  seine  einseitige  Über- 
weltlichkeit,  die  den  Zusammenhang  zwischen  dem  Wesen  Gottes  und 
der  Welt,  wenn  nicht  aufhebt,  so  doch  nicht  zu  vermitteln  weiß.  So 
fragt  die  Chandcgya  Up.  6,  2,  2.  mit  Recht:  „Wie  könnte  denn  aus 
NichtSeiendem  das  Seiende  geboren  werden?" 

Nicht  bloß  durch  den  göttlichen  Willen,  vielmehr  aus  dem  gött- 
lichen Wesen  muß  daher  die  Welt  entstanden  sein.  Denn  ,.Zu 
Anfang  war  nur  eines,  das  ßrahman.  ohne  ein  Zweites  (Brih.  1.  4. 
Chandog.  6,  2,  2.  Nrisinha  Up.  tap.  9).  Aber  es  beabsichtigte  vieles 
zu  sein  und  ließ  daher  Lebenselemente  aus  sich  hervorgehen  (Chan- 
dog. 6,  2,  3  ff.). 

In  der  Tat:  Nur  aus  dem  Wesen  des  AU-einen  kann,  das  vjiel- 
heitliche  Weltall  seinen  Ursprung  haben.  Die  wahre  Schöpfung  kann 
nur  in  einer  Selbstindividualisierung  des  göttlichen  Wesens  bestehen. 

So  regiert  denn  die  Gottheit,  als  „innerer  Lenker"  (antaryämin) 
alle  Naturerscheinungen,  Wesen  und  Organe,  als  seinen  Leib,  indem 
er  dennoch  zugleich  von  ihnen  allen  unterschieden  bleibt  (Brih.  3. 
7,  4 — 23.  Man  beachte  hier  den  panentheistischen  Zug!).  Gleichwie 
die  Spinne  durch  den  Faden  aus  sich  herausgeht;  wie  aus  dem  Fener 
die  winzigen  Fünklein  entspringen;  aus  dem  Samen  die  Pflanzen: 
also  auch  entspringen  aus  diesem  „ätman"  (d.  h.  „Selbst",  in  dem 
Sinne  des  Weltselbstes  oder  „Welt-Ichs")  alle  Lebensgeister, 
alle  Welten,  alle  Götter,  alle  Wesen  (Vergl.  Maltrey.  Up.  6. 
30.  31  ff.).  Sein  Qeheimname  ist:  „Die  Wahrheit  der  Wahr- 
heit" (als  „Wirklichkeit";  satyasya  satyam.  Brih.  2,  3,  6).  „Näm- 
lich die  Lebensgeister  sind  die  Wirklichkeit  und  er  ist  ihre  Wahr- 
heit" (Brih.  2,  1,  20.    Deussen  übersetzt  „Realität  der  Realität"). 

Arzhiv  für  Gaschichte  der  Philosophie.    XXXI,  2.  7 


94  .  F  a  II  1   S  c  h  \v  a  r  t  z  k  0  p  f  f , 

So  entspringt  aus  der  Gottheit  die  Mannigfaltigkeit  der  Geschöpfe. 
Wie  ein  SalzkUunpen  sich  im  Wasser  derart  auflöst,  daß  er  selbst 
zu  verschwinden  scheint  und  dennoch  jedes  Teilchen  des  Wassers 
durchdringt  und  salzig  macht,  dadurch  also  seine  Gegenwart  wirk- 
sam bezeugt,  so  durchdringt  das  all-eine  Brahman  das  gesamte  Welt- 
all (Chand.  6.  12).  In  diesem  Sinne  ist  das  Weltall  im  Grunde: 
brahman,  (als  die  personifizierte  Macht  des  Gebetes  ursprünglich 
gedacht).  „Das  ist  wahrlich  das"  (tad  vai  tad.  Brih.  5,  4.  Kä- 
thak.  4,  6). 

Aber  freilich  ist  das  Unsterbliche  (amritani)  auf  diese  Weise  auch 
in  der  Wirklichkeit  verhüllt  (satyena  channam)  und  unsichtbar  (Brih. 
i,  6,  3).  Dennoch  bleibt  das  brahman  Urheber  des  Alls  und  als 
solcher  von  ihm  verschieden,  wie  wir  schon  sahen  (Brih.  3,  7,  4  ff.). 
„Mit  ihm,  dem  brahman,  ist  es,  wie  wenn  eine  Trommel  gerührt 
wird,  man  die  Töne  draußen  nicht  greifen  kann.  Hat  man  aber  die 
Trommel  gegriffen,  oder  auch  den  Trommelschläger,  so  hat  man 
auch  den  Ton  gegriffen"  (Brih,  4,  5,  8.  2,  4,  7).  Hierin  liegt  deutlich 
die  Bedingtheit  der  Welt  durch  den  Weltgeist  ausgedrückt. 

Zugleich  aber  auch  der  Lebensorgane  durch  die  Seele.  Auf 
diesen  innigen  Zusammenhang  des  Weltgeistes  mit  der  Seele  deutet 
die  weitere  Ausführung  der  vedantistischen  Anschauung  in  bewun- 
dernswerter Weise  hin.  Das  kleine  Selbst  wird  dem  ätman,  dem 
großen  Selbste  der  Welt,  als  eine  Art  Ebenbild  und  Abbild,  gegen- 
übergestellt. Die  indischen  Denker  fühlten  mit  sicherem  philosophi- 
schen Instinkte,  daß  die  Seele  des  Menschen  nicht  bloß  alle  Vor- 
stellungen, sondern  auch  alle  Wahrnehmungen  trägt  und  gestaltet; 
daß  daher  auch  die  Beschaffenheit  des  anschauenden  Subjekts  die  Art 
bedingt,  wie  es  die  Welt  ansieht.  Es  ist  erstaunlich,  wie  jene  Weisen, 
bei  ihrer  mangelhaften  Kenntnis  der  Seele  im  einzelnen,  dennoch,  aus 
ihrer  großen  Gesamtanschauung  heraus,  deren  Stellung  zum  Ganzen 
der  Welt  so  richtig  emschätzten,  wie  es  kaum  dem  so  viel  späteren 
deutschen  Idealismus  gelungen  ist.  Erkennen  sie  doch  nicht  bloß 
in  den  mittelbaren  „Vorstellungen",  wie  die  Erinnerung  sie  etwa 
hervorbringt,  sondern  selbst  schon  in  den  u  n  mittelbaren,  den 
„Empfindungen"  oder  den  „Wahrnehmungen",  mittelst  deren  wir 
der  Außenwelt  inne  werden,  eigene  Erzeugnisse  der  Seele.  Das 
zeugt  von  einer  außerordentlichen  Tiefe  des  Denkens. 

Sie  konnten  auf  diesen  Fund,  bei  der  damaligen  Rückständigkeit 


Vedantismiis  und  Unsterblichkeit.  9o. 

der  Seelenlehre,  kaum  anders  kommen,  als  durch  eine  Beobachtung 
(i^v  Träume,  mit  denen  sie  sich  augenscheinlich  beschäftigten  (Brih. 
2,  1.  18.  Hauptstelle  4,  3,  9—14.  Vgl.  noch  bei  Deussen  a.  a.  O. 
S.  18,  55,  198,  410,  467  f.  568,  573,  578,  583,  623).  So  bemerkt  man, 
daß  die  Seele  im  Traum  selbstmächtig  über  die  Erzeugung  und  Ver- 
knüpfung von  Vorstellungen  verfügt.  Und  zwar  in  einer  Qestaltungs- 
art,  die  dem  Wahrnehmen  der  wachen  Seele  bis  zur  Täuschung 
gleicht.  Wenigstens  für  den  Träumenden.  Faßt  dieser  doch  die 
Gegenstände  seiner  Traumerlebnisse,  mindestens  solange  er  träumt, 
als  äußere  Wirklichkeit  auf.  Im  Verfolge  dieses  Weges  fand  man, 
daß  der  Seele  überhaupt,  daher  auch  im  Wachen,  die  Fähigkeit  eignet, 
Gestalten  und  Bilder  von  Erlebnisgepräge  hervorzubringen. 

Dem  entsprechend  faßte  man  dann  den  Weltgrund  als  die  große 
Weliseele  auf,  welche  Inhalt  und  Form  der  Welt  aus  sich  selbst 
schöpft  und  schafft,  allem  das  Leben  gibt  und  alles  durchdringt  und 
erhält  (Brih.  4,  3,  10).  So  erkannte  man  als  innersten  Kern,  wie  der 
Außenwelt,  so  der  Menschenseele,  die  Gottheit  selbst.  Man  begrün- 
dete, auf  psychologischem  Wege,  ursprünglicher  und  tiefer,  reicher 
und  anschaulicher  als  der  Westen,  die  Wahrheit,  die  der  spekulative 
Heidenapostel  in  jenem  Ausspruch  des  griechischen  Dichters  Aratus 
(in  dessen  Phaenomena)  fand:  „Wir  sind  seines  Geschlechts". 

In  Übereinstimmung  hiermit  gibt  es  demnach  für  die  indische 
Philosophie  nur  eines,  was  sieht,  hört,  empfindet,  denkt,  erkennt. 
Nämlich  das  „Selbst"  der  Welt,  das  in  dem  „brahman"  verehrt 
wird.  „Aus  Denken  bestehend  und  lunwandelbar,  ist  er  der  Wahrneh- 
mer lllerwärts"  (Nrisinha-Uttara-Tapäniya  Up.  9.  Vgl.  auch  die  an- 
geführte Stelle  Käth.  Up.  4,  3). 

„Außer  ihm  gibt  es  kein  Erkennendes"  (Brih.  3,  8,  11).  Dieser 
Welt-atman  tritt  so,  in  den  Anfängen  der  Veda-philosophie  auch 
wohl,  aber  schon  mehr  symbolisch  (als  ein  „pratikam"),  uns  in 
polytheistischer  Form  entgegen.  Z.B.  als  agnivaishavänara  oder 
als  prajäpati  (Brih.  5,  9,  3). 

Von  dieser  richtigen  Bahn  werden  die  Vedadenker  dann  freilich 
auf  Pfade  abgelenkt,  die  wir  wohl  verstehen  und  würdigen,  aber  nicht 
mit  ihnen  betreten.  Indem  der  Apostel  Paulus  seine  innigste  Verbin- 
dung mit  Christus  ausdrücken  will,  sagt  er  einmal:  „Nun  aber  lebe 
nicht  ich,  sondern  Christus  lebet  in  mir".  Dürften  wir  ihn  genau 
beim  Worte  nehmen,  so  würde  das  eine  gänzliche  Aufhebung  seiner 

7* 


96  P  a  u  1  S  c  h  w  a  r  t  z  k  0  p  f  f , 

Individualität  und  eine  Auflösung  derselben  im  Leben  Christi  bedeu- 
ten; also  eine  metaphysische  VereinerleiunK  statt  einer  ethischen 
Vereinigung.  Die  christliche  Kirchenlehre  bezeichnet  das  als 
„unio  mystica".  Eine  solche  schwebt  z.  B.  Angelus  Silesius  \'or. 
wenn  er  sagt: 

„Ich  weiß,  daß  ohne  mich  Gott  nicht  ein  Nu  kann  leben. 
Werd  ich  zuniüht,  er  muß  vor  Not  den  Geist  aufgeben." 

Diese  völlig  gleiche  Bedingtheit  des  einen  durch  das  andere:  der 
Menschenseele  durch  Gott  und  Gottes  durch  die  Menschenseele,  ist 
hier  fast  nur  noch  ein  bildlicher  Ausdruck  für  die  volle  Wesenseinheit 
beider  Seiten.  Zu  einem  derartigen  Aufgehen  des  Einzelnen  im 
brahman  findet  nun  bahnbrechend  zuerst  der  indische  Philosoph 
Phantasie  und  Mut. 

Wie  das  Weltich  mittelst  seiner  Einsenkung  in  die  Lebensei c- 
mente,  in  die  Materie  (mäträ),  zu  vereinzelten  individuellen  Seelen 
wird  (Chand.  6.  13.  Nrisinh.  9.  Vgl.  Deussen,  a.a.O.  S.  485.  Anm.). 
so  kehrt  es  mit  dem  Tode,  aus  dieser  Verkörperung,  in  seinen 
früheren,  freien  Zustand,  als  das  All-Eine  zurück  (Brih.  1,  2,  7.  4.  3. 
21 — 37.  Nrisin.  9).  Damit  löst  sich  also  das  Einzelwesen  wieder  in 
das  Gesamtleben  des  Weltalls  oder  der  Gottheit  auf.  „Der  ä-tman 
allein  ist  das  Höchste,  und  er  ist  auch  alles  Vorhandene".  Nur  durch 
die  maya  (Täuschung,  Schein)  ist  gleichsam  ein  anderes.  „Die  ganze 
Weh  aber  ist  Nicht-wissen,  ist  jene  maya"  (Nris.  9).  So  auch  die 
individuelle  Welt,  der  „jiva  ätman"  oder  jiva  (Chand.  6,  3,  2. 
6,  11,  1.  Nris.  9).  Das  Selbst  des  Weltalls  ist  auch  das  wahre  Seihst 
der  Menschenseele.  Eine  ähnliche  Auffassung,  wenn  auch  auf  einge- 
schränkterem Gebiet,  findet  sich  immerhin  auch  bei  einem  christ- 
lichen Theologen  des  4.  Jahrhunderts.  Apollinaris  setzt  den  gött- 
lichen „Logos"  an  die  Stelle  des,  fehlenden,  menschlichen  Geistes 
Christi.  Er  wollte  damit  begründen,  daß  der  Heiland  zwar  Mensch. 
aber  dennoch  zugleich  Gott  sei.  Unter  demselben  Gesichtspunkt 
sahen  die  Inder  das  Verhältnis  der  Gottheit  zur  Menschheit  überhaupt, 
wenn  sie  die  menschliche,  individuelle  Seele  durch  den  göttlichen 
„ätman"  ersetzten. 

Doch  gehen  sie  insofern  noch  weiter,  als  sie,  wie  wir  sahen,  die 
Individualität  überhaupt  für  bloßen  Schein  nahmen;  an  dessen  Stelle 
mit  dem  Tode  wieder  die  Wahrheit  tritt.  Gleichartig  dachten  in- 
dessen die  Gnostiker  des  2.  Jahrhunderts  n.  Chr..    Denn  sie  lehrten. 


Vedantismus  und  Unsterblichkeit.  97 

daß  Christus,  der  vollkommenste  von  allen  Geistern  („Aeonen"), 
welche  der  Gottheit  entströmten,  einen  Schein  leib  angenommen 
habe,  um  die  Menschen  zu  erlösen,  und  sich  von  ihm  erst  mit  dem 
Tode  wiederum  trenne.  So  erhielt  diese  Richtung  ihren  Namen 
„Doketen"  von  dem  griechischen  Verbum  „dokein"  (scheinen). 

Freilich  ist  nicht  zu  erwarten,  daß  die  Inder  ihrerseits  fähig  ge- 
wesen wären,  den  Gedanken  der  bloß  scheinbaren  Indmduali- 
tät  der  Menschcnseele  ganz  folgerichtig  festzuhalten.  Selbstwider- 
sprüche  waren  hier  nahezu  unvermeidlich.  So,  wenn  ihnen  der 
atnian  in  seiner  Körperhülle  als  wirklich  eingeschränkt  und  gebunden 
erscheint  (Brih.  3,  2,  2—9.  Vgl.  Maitreya  Up.  6,  30  ff.).  Fesseln,  von 
denen  erst  der  Tod  den  erlöst,  der  sich  als  eins  mit  dem  brahman 
erkannt  hat.  Aber  ein  Körper,  der  tatsächlich  den  irdischen  Menschen 
durch  UnVollkommenheit,  Leid  und  Sünde  fesselt,  kann  nicht  ein 
bloßer  Scheinleib  sein.  Anderseits  kann  der  also  Verkörperte  nicht 
mit  dem  brahman  zusammenfallen,  das,  seinem  Wesen  nach,  völlig 
frei,  ungebunden,  furchtlos  und  leidlos  ist  (Brih.  4,  3.  21 — 33.  Vgl. 
2,  1.  19.  Nris.  8). 

Was  aus  einer  solchen  Grundansicht  für  die  Unsterblich- 
keit des  Menschen  folgt,  ergibt  sich  nun  von  selbst.  Die 
Gottheit,  als  solche,  ist  unsterblich  (amritam),  wie  sie  allmächtig  und 
selig  ist.  Daher  auch  die  individuelle  Seele.  Sie  geht  mit  dem  Tode 
in  ihre  Wahrheit,  zu  dem  Weltätman,  zurück,  oder  „heim";  wie 
auch  die  hider  so  schön  sagen.  Und  zwar:  „ohne  Wiederkehr" 
(ins  irdische  Leben).  Allerdings  trifft  das  gefürchtete  Los,  auf  die 
Erde  zurückzukehren,  die  „unerlöste"  Seele.  (Brih.  4,  15,  5.  Chand. 
8,  15).  Schärfer:  Sobald  sich  der  Mensch,  im  Sterben,  ja  noch  bei 
Lebzeiten,  als  brahman  erkennt,  so  i  s  t  er  eben  brahman  (Brih.  4,  4, 
14 — 18.  Chand.  3,  14,  4.).    Im  Grunde  ist  er  dies  eben  überhaupt. 

Auf  keinen  Gedanken  legt  der  Vendantismus  mehr  Gewicht,  als 
auf  diese  innere  Einheit  und  Gleichheit  der  Einzelseele  mit 
der  Weltseele.  „Ich  bin  brahman"  (aham  brahma  asmi);  „Ich 
bin  das  Weltall";  „Ihr  seid  brahman";  „Möchte  ich  zum  All  werden!"; 
..Wir,  deren  Seele  diese  Welt  ist";  „Ich  bin  er  (der  Weltätman)  und 
er  ist  Ich";  „Das  bist  du"  (tat  tvam  asi); 

„Ihn  weiß  als  meine  Seele  ich. 
Unsterblich,  den  Unsterblichen"  —  alles  dies  sind 
Aussprüche  der  Upanishads,  die  von  verschiedenen  Seiten  dieselbe 


98  P  a  u  1  S  c  h  w  a  r  t  z  k  0  p  f  f , 

Wahrheit  uiiipräiien:  Die  Wesensgleichheit,  ja-Einheit  der  Einzelseele 
mit  der  Weltseele. 

Jene  kann  deshalb  kein  anderes  höchstes  Ziel  haben,  als  eins  zu 
sein  mit  dem  Weltall,  mit  brahman  (Brih.  4,  4,  13.  15.  17.  4.  5.  7. 
Chand.  2,  21.  4.  7,  25  1  ff.  6,  11,  3.  Brih.  4,  4,  22.  Chand.  6,  19, 
3.  11,  3.  12.  3.  U,  3.  14,  3.  15,  3.  16.  3.  Brih.  6,  4,  25.  Chand.  5, 
2,  6.  Brih.  4.  4,  17). 

So  gewiß  also,  wie  das  Unsterbliche  nicht  sterben  kann,  so  ge- 
wiß ist  dem  Vedantisten  die  Unsterblichkeit  seiner  Seele.  Stirbt  doch 
auch  nicht  das  Leben  selber,  sondern  der  Leib,  der  vom  Leben  ver- 
lassen wird  (Chand.  6,  11,  3).  Die  Seele  jedoch  als  solche,  d.  h. 
als  atman,  ist  ewiges  Leben. 

Hier  liegt  ein  Vorzug  des  Vedantismus  vor  dem  Buddhismus, 
dem  die  eigentliche  Gottheit  verloren  ging.  Damit  aber  büßte  er 
auch  die  Unsterblichkeit  der  Seele  ein  und  hatte  schwerlich  das 
Recht,  das  er  sich  nahm,  sie  ins  Nirväna  zu  retten.  Denn  die  Un- 
sterblichkeit kann  eben  zuletzt,  wie  es  auch  der  Vedantismus  tut.  mir 
religiös  begründet  werden.  Es  fragt  sich  bloß,  ob  diese  seine  Be- 
gründung wirklich  zureicht. 

Aber  auch  die  heutige  Anschauung  so  vieler,  die  weder  von  Gott 
noch  Seele  wissen,  erscheint  dem  Vedantismus  gegenüber  arm.  Es 
ist  hier  lehrreich  zu  beachten,  wie  diejenigen  Weltanschauungen, 
die  das  Dasein  Gottes  leugnen  oder  anzweifeln,  auch  das  Dasein  einer 
(selbständigen)  Seele  nicht  zugeben.  Mit  einer  substantiellen  Ein- 
heit der  Welt  fällt  erst  recht  die  substantielle  Einheit  der  Lebe- 
wesen dahin;  mit  der  Qeistigkeit  des  Weltinneren  folgerichtig  auch 
die  Qeistigkeit  des  menschlichen  Innern.  So  sinkt  der  Buddhismus, 
der  sich  gegenüber  dem  Dasein  der  Gottheit  skeptisch  verhält,  in  be- 
zug  auf  Entstehung,  Beschaffenheit  und  Ende  der  Einzelseelen  fast  in 
den  Materialismus  zurück;  so  sehr  er  in  sittlicher  Hinsicht  einen 
ausgeprägten  Idealismus  bekundet. 

Der  Fehler  des  Vedantismus  freilich  besteht  eben  in  der  Qleich- 
setzung  des  Einzelich  mit  dem  Weltich,  also,  sozusagen,  in  einem: 
„Ego  the  i  sm  us".  Und  wenn  man  nun  bedenkt,  daß  auf  dieser 
Voraussetzung  die  ganze  Unsterblichkeitslehre  des  Veda  ruht,  so 
wird  die  Triftigkeit  derselben  zugleich  mit  der  Stichhaltigkeit  jener 
hinfällig.     Das   Gleichsetzen    des   Einzelichs   mit   dem   Weltich   hat 


Vedantismus  und  Unsterblichkeit.  99 

aber  zuletzt   darin  seinen   Grund,  daß   überhaupt  zwischen  Eiiizel- 
lebcn  und  Qesamtleben  nicht  hinreichend  unterschieden  wird. 

Und  doch  springt  der  tatsäcliliche  Unterschied  beider  jedem 
nüchtern  Denkenden  in  die  Auffen.  Der  Inder  scheut  sich  nicht  zu 
sagen:  „Ich  bin  das  Weltall".  Aber  ich  bin  doch  in  Wirklichkeit 
bloß  ein  kleiner  Bestandteil  oder  Faktor  desselben!  Und  zugleich  bin 
ich.  als  dessen  Erzeugnis,  durch  es  bedingt  und  beschränkt. 

Zu  der  Verkennung  dieses  Tatbestandes  haben  vor  allem  zwei 
Dinge  beigetragen.  Einerseits  eine  im  Lauf  der  Geschichte  einge- 
tretene Erschlaffung  des  indischem  Volkscharakters;  wofür  es  ver- 
schiedene Ursachen  gibt  die  uns  hier  nicht  näher  angehen.  Die  ak- 
tiveren Menschen  und  Völker  stellen  sich  mit  beiden  Füßen  auf  den 
Boden  der  Wirklichkeit  und  werden  gerade  durch  harte  Berührung 
mit  ihr  gestählt  und  durch  die  Ueberwindung  praktischer  Schwierig- 
keiten tatkräftiger  und  tatfreudiger.  Dagegen  geraten  die  weniger 
aktiven,  zumal  wenn  sie  mehr  für  innerliches  Sinnen  veranlagt  sind 
und  kampfunlustig  werden,  in  die  Gefahr,  vielleicht  geniale,  aber  un- 
praktische Träumer  zu  werden.  Dann  „verkennen  sie  die  Welt  und 
sich"  selbst,  unterschätzen  die  äußere  Wirklichkeit  gegenüber  dem 
inneren  Leben  und  sehen  erstere  unter  einem  schiefen  Gesichts- 
winkel. 

Der  Nachdruck,  den  die  Inder  auf  die  innere  Einheitlichkeit  leg- 
ten, verführte  sie  anderseits  dazu,  diese  Einheit  gleichsam  in  eine 
..E  i  n  s  heit"  zu  verkehren.  Sie  setzten  den  inneren  Kern  von  Welt 
und  Mensch,  die  Weltseele  und  die  Menschenseele,  nicht  bloß  als 
gleichartig,  sondern,  auch  der  Zahl  nach,  als  eins.  Infolgedessen 
schlössen  sie  von  dieser  Art  mathematischer  Eins  auch  alle  Vielheit 
aus.  während  doch  jede  lebendige  Einheit  vielmehr  eine  Mannig- 
faltigkeit einschließt.  So  verschlang  die  Gottheit  jede,  mehr  als 
scheinbare  Vielheit  auch  der  Individuen. 

Die  Vielheit  der  einzelnen  Seelen  war  nur  ein  Schein,  dem  das 
eine  brahman  eine  Zeitlang  unterlag.  Im  Grunde  fielen  sie  alle  mit 
dem  Weltatman  zusammen.  So  behielten  sie  nicht  einmal  als  beson- 
dere Momente  im  Gehalt  der  Gottheit  eine  Wahrheit.  (Übrigens  im 
Widerspruch  zu  Chand.  6,  2,  3  ff.).  Diese  entschiedene  Feindschaft 
der  Inder  gegen  alle  Vielheit,  wie  sie  sich  ähnlich  bei  den  Griechen, 
in  der  Philosophie  des  Parmenides,  zeigt,  atmen  auch  jene  berühmten 
Verse  des  Veda: 


100  Paul  Schwartzkopff, 

„Im  Qeiste  sollen  merken  sie: 
Nicht  ist  hier  Vielheit  irgendwie. 
Von  Tod  zu  Tode  wird  verstrickt, 
Wer  eine  Vielheit  hier  erblickt." 

(Brih,  4,  4,  19.    vergl.  auch  Kh.  20.). 

Zu  solcher  strengen  Absperrung  der  Vielheit  von  der  Gottheit 
trug  augenscheinlich  bei,  daß  die  vielen  Einzelheiten  von  Welt  und 
Leben  wechseln,  sich  ändern,  vergehen.  So  suchte  man  das  Unver- 
gängliche im  Allgemeinen.  Um  so  mehr,  als  auch  die  einheitliche 
(jeisteskraft  des  Menschen  die  vielgestaltige  Erscheinung  der  Welt 
hervorrief. 

Und  wie  soll  man  auch  von  den  alten  Indern  erwarten,  was 
unsere  Überidealisten  auch  heute  noch  nicht  leisten,  nämlich:  in  den 
Wahrnehmungen  eine  wirkliche  Vielheit  von  Dingen  zu  finden;  selbst 
dann,  wenn  man  sie  nicht  vorstellt!  So  stimmt  hier  das  indische 
Weltbild  mit  Konsequenzen  der  Kantischen  Anschauung  zusammen. 
Besonders  mit  solchen,  die  Kant  abgelehnt  hat,  weil  sein  unverfälsch- 
tes Gefühl  für  das  Wirkliche  seinem  Scharfsinn  noch  überlegen  war. 
Seine  Epigonen  haben  dann  ohne  Scheu  auch  die  äußersten  Konse- 
qnenzen gezogen.  Denn  die  Schüler  pflegen  nicht  danach  zu  fragen, 
was  der  Meister  will ;  ist  doch  sein  innerster  Beweggrund  ihnen 
fremd.  Sie  folgen  vielmehr  seinem  Wege  dorthin,  wohin  er  tat- 
sächlich führt;  auch  wo  er  selbst  sich  scheute,  weiter  zu  gehen. 

Immerhin  schien  gerade  dadurch,  daß  die  individuelle  Seele  mit 
dorn  Weltich  zusammenfiel,  deren  Unsterblichkeit  aufs  sicherste  ver- 
bürgt. Nur  schade,  daß  diese  damit  zugleich  jeden  Wert  für 
den  Menschen  einbüßte!  Denn,  was  bei  der  Grundanschauung  vom 
Weltich  im  höchsten  Maße  auffallen  muß:  es  galt  trotz  alledem  für 
unbewußt!  Damit  fiel  also  natürlich  auch  das  Bewußtsein  der 
unsterblichen  Seele  hinweg.  Diese  Tatsache  erklärt  sich  wiederum 
allein  aus  der  starren  „Einsheit"  des  Alleinen.  Das  Bewußtsein 
des  Menschen  enthält  nämlich  eine  Z  w  e  i  h  e  i  t  in  sich.  Denn  es 
gehört  dazu  nicht  allein  der  Erkennende,  sondern  auch  das  zu  er- 
kennende Ding,  das  jenem  als  vorgestellter  Gegenstand  entgegen- 
tritt. Insofern  sich  nun  dieses  Bewußtsein  durchweg  in  den  Formen 
des  Gegensatzes  von  Subjekt  und  Objekt  bewegt,  schien  es  eine 
Schranke  zu  enthalten.    Eine  solche  aber  konnte  man  dem  brah- 


Vedantiümus  und  Unsterblichkeit.  101 

man  nicht  zusprechen.    Deshalb  erkannte  man  ihm,  und  damit  auch 
der  vollendeten  Seele,  das  Bewußtsein  ab. 

Weil  ihm  gegenüber  keine  Zweiheit  bestehen  kann,  sondern  „alles 
zu  seinem  Selbst  geworden  ist,  wie  sollte  er  da  irgendwen  sehen, 
hören  .  .  .  erkennen?  ....  Wie  sollte  einer  doch  den  Erkenner 
crkenen"?  (Brih.  4.  5.  15)?  Dcussen  legt  das  so  aus:  Der  Erkenner 
ist  unvergänglich  ....  erkennt  aber  dennoch  nach  dem  Tode  nicht 
mehr,  „weil  keine  Berührung  desselben  mit  der  Materie  mehr  statt- 
findet". (Seine  feinsinnige  Konjektur  löst  nämlich  den  Zusatz 
der  Madhyan-dinas:  Maträsamsargas  tu  asyabavati"  indem  er  den 
Erklärer  Dvideganga  verbessert,  auf  in:  mäträ-asamsargas  a.  a.  O. 
S.  485.  Schluß  der  Anm.  Brih.  2,  4.  Chaud.  6,  15,  2.)  Die  Folge: 
Unbewußtheit  des  Menschen  nach  dem  Tode,  ist  dann  unausweich- 
lichlich.  Und  doch  nimmt  daran  sogar  Maitreyi,  die  Gattin  des 
weisen  Yäjnavalkya,  Anstoß. 

Doch  enthielt  für  diesen  das  Unbe wußtsein  offenbar  keine  unbe- 
dingte Bewußtlosigkeit.  Sollte  brahman  doch  anderseits  der  einzige 
Empfindende,  Denkende,  Erkennende,  Wollende  sein;  ja  er  allein  in 
allen  Menschen  denken  und  erkennen.  Also  der  Denker  bleibt,  ob  auch 
das  Gedachte  verschwindet.  „Denn  für  den  Erkennenden  ist  keine 
Unterbrechung  des  Erkennens,  weil  er  unvergänglich  ist.  Aber  es  ist 
kein  Zweites  außer  ihm,  kein  andres,  von  ihm  Verschiedenes,  das 
er  erkennen  könnte."    (Brih.  4,  3.  30.    Vergl.  Kh.  23-M. 

Indessen  liegt  hierin  dennoch  ein  schreiender  Widerspruch. 
Dieser  wird  auch  dadurch  nicht  beseitigt,  daß  er  an  demselben  Orte 
einfach  hingestellt  wird,  mit  den  Worten:  „Wenn  er  dann  nicht  er- 
kennt, so  ist  er  doch  erkennend,  obschon  er  nicht  erkennt." 

Und  doch  muß  einem  System,  wonach  brahman  grundsätzlich 
alles  in  allem,  die  Seele  der  Seelen,  und  vor  allem:  der  Denker  alles 
Denkens  ist,  weit  mehr  dessen  Allesdenken,  als  seine  angeb- 
liche Unbewußtheit,  am  Herzen  liegen.  So  findet  sich  denn  auch 
ein  Ausweg:  der  freilich,  wenn  man  wirklich  an  der  Unbewußtheit 
der  Seele  nach  dem  Tode  festhält,  dem  Selbstwiderspruch  verfällt. 
Hiernach  ist  „sein  Erkennen  . . .  cbjektlos,  ist  hinewerdung"  („a  n  u  - 
b  h  a  V  a",  Nris.  Ut.  9),  ist  vielmehr  die  „h  ö  c  h  s  t  e  Erkenntnis".  „Kein 
Nichtwissen  ist  möglich  in  dem  durch  hinewerdung  erkannten  ätman". 
Auch  Deußen  beschreibt  diesen  Zustand  als  „das  Bewußtsein,  alles  zu 
sein".    Hierzu  geht  der  Mensch  im  Tiefschlaf  über.    Der  verdiente 


102  Fan  1   Seh  wa  r  tz  k  opf  f , 

Gelehrte  ist  vorsichtig  genug,  dem  brahman  ausdrücklich  nur 
„empirische  s"  Bewußtsein  „abzuerkennen".     (S.  416). 

So  ließ  wohl  auch  jener  berühmte  Grübler,  als  echter  Philosoph, 
sein  unmittelbares  Gefühl  nicht  von  seinem  einseitigen  Vernünfteln 
überwinden.  Er  schrieb  dem  brahman  im  Stillen  vielmehr  ein  wirk- 
liches Bewußtsein,  aber  ein  höheres,  übermenschliches,  zu.  Schon 
die  vollkommene  Seligkeit  des  vollkommenen  brahman  setzt  dies 
voraus  (Brih.  4,  3,  21  f.  22  f.  32.  33.  Brih.  2,  1,  19.  Nris.  9).  Denn 
wie  sollte  es  ohne  Bewußtsein  die  unbeschreiblich  hohe  Wonne  ge- 
nießen, die  ihm  zugesprochen  wird! 

Suchen  wir  nun  noch  kurz  den  Grund  dafür  zu  verstehen, 
warum  man  den  einzig  Denkenden  und  Erkennenden  (Käth.  Up.  4.  3. 
Brih.  3,  8,  11).  dennoch  für  bewußtlos  erklären  konnte!  Gibt  man 
einmal  zu,  daß  alles  Bewußtsein  ein  anderes  außer  sich  zum  Gegen- 
stände haben  müsse,  dann  kann  Gott,  der  alles  in  sich  hat.  in  der 
Tat  kein  Bewußtsein  besitzen.  Und,  dem  entsprechend,  wird  zu- 
gleich die  Unsterblichkeit  der  Seele  ein  fragliches  Gut.  Ebenso  der 
vedantistische  Gottesglaubc  —  auch  abgesehen  davon,  daß  die  indivi- 
duelle Seele  mit  dem  Weltgeiste  zusammengeworfen  wird.  So 
ist  es  angezeigt,  auf  den  Fehler  hinzudeuten,  der  in  jener  Über- 
legung der  hider  steckt;  besonders,  weil  er  im  Grunde  von  vielen 
jetztzeitigen  Denkern  geteilt  wird. 

Wir  haben  es  wieder  einmal  mit  der  so  häufigen  Verwechslung 
von  Ursache  und  Bedingung  zu  tun.  Wenn  einem  etwas  bewußt  wird, 
ja  schon,  wenn  man  etwas  empfindet,  so  bringt  nicht  der  empfundene 
Gegenstand  das  Bewußtsein  von  sich  hervor.  Er  ist  nicht  die  un- 
mittelbare Ursache  des  Bewußtseins.  Vielmehr  das  Subjekt  selbst. 
Denn  an  diesem  haftet  das  Bewußtsein.  Dessen  Betätigung  stellt  es, 
wie  wir  dies  entwickelten,  dar. 

Es  kann  jedoch,  wie  wir  uns  ebenfalls  überzeugten,  eines  andern 
nur  mittelbar  inne  werden.  Nämlich  unter  der  Voraussetzung, 
daß  es  seiner  selbst  inne  wird.  Mit  andern  Worten:  jedes  Bewußt- 
sein von  etwas  außer  mir  ruht  auf  der  Grundlage  davon,  daß  ich, 
als  Lebender,  mich  selbst  erlebe.  Dies  unmittelbare  Bewußtsein 
ist  die  notwendige  Stütze  des  mittelbaren,  im  welchem  man  eines 
andern  inne  wird.  Sonst  würde  ja  dem  Bewußtsein  von  Dingen 
außer  mir,  also  jeder  Erkenntnis,  das  erkennende  Selbst,  dem  Ob- 
jekte das  Sulijekt  fehlen,  welches  allein  zu  erkennen  vermag. 


Vedantismuis  und  Unsterblichkeit.  103 

Hieraus  erhellt  also:  Die  Ursache  alles  Bewußtseins  und  I:r- 
kennens  liegt  im  Träger  desselben;  im  Subjekt.  Hingegen  können 
äußere  Dinge  das  Bewußtsein  des  Subjekts  nicht  hervorbringen,  son- 
dern nur  anregen  und  veranlassen.  Diese  Veranlassung  ist  insofern 
nötig,  als  dadurch  die  innere  Beziehung  zwischen  der  Seele 
und  dem  Dinge  verwirklicht  wird.  Sie  ruft  erstmalig  eine  Gegen- 
wirkung des  seelischen  Lebens  gegenüber  der  Außenwelt,  ein  ver- 
mitteltes Bewußtsein  hervor;  worauf  eben  die  Erkenntnis  äußerer 
Gegenstände  beruht. 

Die  Seele  kann  also  unmittelbar  nur  ihrer  selbst,  aber  nicht  ihr 
äußerer  Dinge  inne  werden.  Eben,  weil  sie  ihr  an  sich  äußerlich 
sind.  Daher  dringt  auch  die  Erkenntnis  der  Dinge  nur  durch  man- 
cherlei Vermittlungen  des  Bewußtseins  zunehmend  tiefer  in  das 
hmere  derselben  ein. 

Ihre  völlige  Erkenntnis  würde  nur  von  innen  her  möglich 
sein.  Einzig  des  eigenen  Gehaltes  vermag  die  Seele  unmittelbar 
inne  zu  werden.  So  kann  allein  die  Weltseele,  die  alle  Dinge  in  sich 
hat.  eine  völlige,  weil  innerliche,  Erkenntnis  derselben  besitzen.  Da- 
gegen vermag  eine  Erkenntnis  der  Einzelseele  von  der  Weit  niemals 
vollkommen,  weil  nie  ganz  innerlich,  zu  werden.  Nur  wer  selbst  das 
Leben_^der  Welt  ist,  kann  ihrer  völlig  bewußt  werden.  Denn  er 
allein  erlebt  in  ihr  unmittelbar  sich  selbst,  sein  eigenes  Leben.  Diese 
vollkommenste,  höchste,  Erkenntnis  ahnen  die  Inder  offenbar,  wenn 
sie  von  „anubhava"  reden. 

So  zeigt  sich,  daß  das  Bewußtsein  an  sich  keines- 
wegs äußerer  Objekte  bedarf.  In  der  Tat :  das  m e n s c h- 
liche  Bewußtsein  hat  sie  nötig.  Das  liegt  aber  nicht  am  Wesen 
des  Bewußtseins;  vielmehr  an  der  notwendigen  Beschränkt- 
heit des  menschlichen  Bewußtseins.  Diese  Schranke  entsteht  da- 
durch, daß  der  Mensch  nur  einen  Teilstandpunkt  in  dem  Ganzen  ein- 
nimmt. Deswegen  kann  er  immer  bloß  von  außen  an  die  Dinge  her- 
ankommen, um  ihrer  habhaft  zu  werden.  Auch  innerlich.  Hingegen 
muß  gerade  die  „objektlose"  Erkenntnis  Gottes  die  vollkommenste 
sein.  Dieser  Standpunkt  erscheint  dem  indischen  gerade  entgegen- 
gesetzt. Indessen  erkennt  dieser  selbst  ja  zugleich  der  objektlosen 
Erkenntnis  in  Gestalt  der  göttlichen  „anubhava"  den  Vorrang  der 
höchsten  Erkenntnis  zu. 


1 04  P  a  u  1   S  c'h  w  a  r  t  z  k  0  p  f  f , 

In  diesem  Falle  war  also  die  Maitreyi  noch  weiser  als  ihr 
weiser  Gatte.  Sie  war  mit  Recht  unbefriedigt,  wenn  sie  hören 
mußte:  das  Leben  nach  dem  Tode  sei  unbewußt.  Denn  da  brahman 
keine  Objekte  haben  könne,  so  müsse  er  selbst  des  Bewußtseins 
ermangeln. 

Mochte  nun  der  Vedatheologe  auch  ganz  leise  ein  gewisses,  höhe- 
res Bewußtsein  zugestehen,  so  blieb  dies  immerhin  anfechtbar  und 
unfruchtbar.  Denn  es  ließ  sich  mit  der  herausgeklügelten  Unbewußt- 
heit  Brahmas  nicht  vermitteln.  Es  nahm  daher  der  Hoffnung  auf  Un- 
sterblichkeit mindestens  die  frohe  Zuversicht.  Ja  es  mußte  erkältend 
auf  den  Glauben  überhaupt  wirken,  der  eine  solche  Unsicherheit  in 
wesentlichen  Anliegen  des  Menschen  zeigte. 

Das  Gefühl  der  Öde,  das  auf  solche  Weise  entsteht,  wird  not- 
wendig durch  den  andern,  berührten,  Mangel  gesteigert,  daß  Gottheit 
und  Menschheit  in  eins  zusammenfallen.  Vielleicht  erscheint  manchem 
solche  Vereinerleiung  als  höchster  Grad  der  Vereinigung  mit  Gott,  die 
im  jenseitigen  Leben  zu  erhoffen  steht.  Indessen  kann  eine  Vereini- 
gung nur  zwischen  solchen  stattfinden,  die  nicht  im  Grunde  schon 
einer  sind.  So  verliert  hier  der  Glaube,  wenn  man  noch  im 
eigentlichen  Sinne  von  ihm  reden  darf,  seine  Innigkeit.  Denn  die 
wird  durch  seinen  sittlichen  Gehalt  an  Liebe  verbürgt  und  bewirkt. 

Gott  selbst  mag,  nach  dem  Vedantismus,  in  sich,  auch  in  aller 
Einsamkeit,  ein  lückenloses  Genügen  finden.  Dennoch  trifft  dies  nach 
seiner  eigenen  Grundauffassung  nicht  zu.  Denn  warum  beschloß  dann 
der  AHeine.  vieles  zu  werden?  Und  liegt  nicht  eine  Wahrheit  in 
dem,  was  Schiller  ausruft: 

Freundlos  war  der  große  Weltenmeister. 
Fühlte  Mangel;  darum  schuf  er  Geister, 
Selge  Spiegel  seiner  Seligkeit? 

Auch  kann  allein  in  dem  Schöpf ergott  Ou<ell  und  Ideal  alier 
menschlichen  „Lieb  e"  liegen.  So  vermochte  niemand  sein  Wesen 
treffender  zu  charakterisieren,  als  der  Evangelist  Johannes  mit  den 
Worten:  „Gott  ist  Liebe."  Wir  Menschen  können  jedenfalls  einen 
Kühlen  Gott  nicht  brauchen.  Wir  bedürfen  zu  unserm  vollen 
Frieden  eines  mächtigen,  über  uns  erhabenen  Wesens,  das  wir  trotz- 
dem als  unseren  Helfer  lieben  und  verehren  können.    Wir  tragen 


V©dantismus  und  Unsterblichkeit.  10") 

in  unserm  Herzen  das  Verlangen,  wie  Qoethc.  in  seiner  Marienbader 
Ele.gie,  dies  ausdrückt: 

„uns  einem  Höhern,  Reinem,  Unbekannten 
Aus  Dankbarkeit  freiwilli,?  hinzugeben". 

Ist  doch  der  Menscli,  unter  einem  gewissen  Gesichtspunkt,  das 
bedürftigste  aller  Geschöpfe.  Daher  wird  ihm  auch  der  Versuch'  nie 
völlig  gelingen,  sich  im  Grunde  für  die  bedürfnislose  Gottheit  selbst 
zu  halten. 

Aber  gerade  das,  worin  Goethe  den  Kern  der  Frömmigkeit  fin- 
det, läßt  der  Vedantaglaube  vermissen.  Zum  Lieben  gehören  zwei. 
Und  Glaube  ohne  Liebe  ist 'tot.  Wahre  persönliche  Frömmigkeit  mag 
auch  solche  verkehrten  Anschauungen  einigermaßen  ausgleichen. 
Nichtsdestoweniger  bleiben  sie  verkehrt. 

Auch  sonst  tritt  im  Vedantaglauben  der  Intellektualismus  zu  em- 
seitig  hervor.  Dies  wird  auf  dem  Gebiete  der  Psychologie  dadurch 
bestätigt,  daß  man  mit  denselben  Worten  „manas":  Geist  und 
Willen;  mit  „samkalpa"  ebensogut:  Vorstellung,  wie  Entschluß,  be- 
zeichnet. 

Ziehen  wir  das  Ergebnis  unserer  Erwägungen,  so  müssen  wir 
gestehen,  daß  die  vedantistische  Unsterblichkeit  des  Menschen  wegen 
der  Bewußtlosigkeit  nach  dem  Tode  wertlos  und  wegen  der  V  e  r  - 
einerlei  ung  mit  Gott  hinfällig  ist.  (Anm.  Dieser  Aufsatz  ist  zu- 
gleich eine  Probe  aus  meinem  demnächst  zu  veröffentlichenden 
Buche:  „Die  Unsterblichkeit  des  Menschen"). 


Rezensionen. 

Zur  Geschichte  der  Psychologie  und  ihrer  Forschungsreisen. 

Als  ich  zwischen  Ostem  und  Pfingsten  1916  eine  größere  Anzahl  von 
Arbeiten  zur  Geschichte  der  Psychologie  und  ihrer  Ai-beitsweisen,  über  Siiuies- 
rtußerungen  und  besonders  über  Denken  zvu-  Besprechiing  empfing,  versuchte 
ifli  an  der  Hind  der  einzelnen  Untersuchungen  ein  Gesamtbild  der  verschie- 
denen Ansichten  über  diese  Fragen  zu  entwerfen,  um  auch  eine  Vorstudie 
zur  Geschichte  des  Begriffes  Denken  zu  bieten.  Doch  wie  der  Entwurf  fertig 
dalag,  «zeigte  sich,  daß  er  nicht  nur  den  bei  Besprechungen  üblichen  Umfang 
^\•eit  iiberschritt,  sondern  auch  die  D^irstellung  über  die  einzelnen  Arbeiten 
.so  zerriß,  daß  ihr  Inhalt  nicht  immer  kenntlich  winde.  Da  die  gewürdigten 
Arbeiten  auch  bei  aller  Vielseitigkeit  kein  abgerundetes  Bild  gaben,  so  be- 
gnüge ich  mich  —  dem  Brauche  getreu  • — ■  über  die  vorgelegenen  Abhand- 
lungen besonders  zu  sehreiben,  indem  ich  nur  das  entwicklungsgeschicht- 
lich Bedeutsame  nach  Möglichkeit  heraushebe  und  Beziehungen  xmtcr 
manchen  Arbeiten  andeute;  denn  der  Gedanke  ist  nicht  abzuweisen,  manches 
\'eröffentlichte  wäre  ungesagt  geblieben,  wenn  die  nötigen  Zusammenhänge 
zwischen  den  einzelnen  Wissenschaftszweigen  tatsächlich  bestünden,  wie  ihn 
die  Philosophie  als  allgemeine  Wissenschaft  will  und  sich  deshalb  mindestens 
lebhafte  Angriffe,  wenn  nicht  Verhöhnungen  gefallen  lassen  muß.  Ob  wohl 
—  wie  auch  die  gewürdigten  fSchiiften  der  Herren  Dr.  Dr.  Eisenmeyer,  Fröbes, 
Krüger,  Marbe,  Stadtler  darlegen  —  jemals  ein  überragender  Geist  die  aus- 
einauderstrebenden  selbständig  gewordenen  Glieder  der  Urmutter  Philosophie 
wieder  vereinigt,  ohne  daß  auch  er  in  den  Fehler  engbegrenzter  Fachwissen- 
schaft verfällt  ?  Die  Darstellungen  nämlich  über  das  Denken,  wie  sie  im 
folgenden  besprochen  werden,  sind  von  ganz  bestimmten  fachwissenschaft- 
lichen Gesichtspunkten  aus  entworfen.  Entweder  lassen  sich  die  Verfasser 
als  Vertreter  der  Vorstellungs-  oder  Aktionspsychologic,  als  Historiker  und 
Naturwissenschaftler,  welche  den  Gedanken  der  Entwicklung,  des  Bedingt - 
Seins  besonders  betonen,  als  Logiker  oder  Materialisten  ansprechen,  soweit 
sie  nicht  auf  mittlerer  Linie  stehen.  Ich  bediene  mich  der  üblich  gewordenen 
Bezeichnungen,  weil  sie  den  Eigennamen  nahestehende  Gattungsbegriffe 
wurden,  und  glaubte  diese  Sätze  wieder  einmal  schreiben  zu  dürfen,  ja  zu 
sollen,  um  zu  versuchen  weiteren  Mißverständnissen  zu  entgehen,  daß  meine 
Berichte,  welche  mit  Absich*^  ein  sog.  Urteilen  möglichst  vermeiden,  etwas 
anderes  sein  wollen  als  Versuche  der  Wahrheit  zu  dienen. 


Rezensionen.  107 

Als    1914   I.    Platter    die   Einleitung     in    die     Psj'ehologie    von 
l>r.    August  Stadler,     verstorbenen    Züricher    Professor    (Leipzig,    Voigt- 
länder.     3    bzw.    4  Mk.)    herausgab,    legte    er    ein    Werk,    das    vor    unge- 
fähr 20  Jahre   entstand   (S.  55,    141),   dem  deutschen   Leserki-eis   voi.      Es 
spricht  einerb-eits  für  den   Meitschauenden   Verfasser,  daß  seine   Darstellung 
auch  heute  noch  zum  größeren  Teil,  soweit  nämlich  rein-psychologi.sche  Fragen 
Ix-handelt  werden,  sehr  anregend  ist.   Andererseits köimte  man  wünschen  , 
daß  der  Herausgeber  in  manchem  seine  ergänzende  Hand  hätte  walten 
las-en :  z.  B.  konnte  er  die  Literaturangaben,  —  bei  denen  natürlich  besonders 
häufig  des  keineswegs  kritiklos  (S.  114)  bewunderten  Wundt  gedacht 
wird,  da  er  einen  der  Lieblingsgedankeu  Dr.  St?.  ,, psychische  Kausalität'' 
genau  zu  beschreiben  bemüht  ist  (S.  8) — ,  bestimmter  gestalten  und  irgend- 
wo übersichtlich  zusammenstellen,  insbesondere  auf  neuere  wichtige  Erscheinun- 
gen verweisen.    Vor  allem  wären  die  mehr  medizinisch  gefärbten  Ausführungen 
(S.  65  ff.,   150  ff.)  durch   berichtigende  Anmerkungen  dem  Stand  der  Gegen- 
A\artswissenschaft  anzupassen,  besonders  da  Dr.  St.  den  gewiß  sein-  begrüßens- 
werten Versuch  macht,  für  eine  Art  medizinische  Pädagogik,  welche  besonders 
die  Mehrzahl  unserer  Psychiatriker  verfolgt,  wie  zum  Beispiel  auch  die  Be- 
richte über  ihre  Tagungen  beweisen,  einige  Leitgedanken  zu  bieten  (S.  186 ff.). 
Auch  in  den  medizinisch-naturwissenschaftlichen  Abschnitten  klingt  manches 
an    Gegenwartsstreitfragen,     die    für   die    wissenschaftliche    Welt    zum 
Teil  entschieden,  zum  Teil  im  Grunde  unlösbar  sind,  sehr  treffend  an:     Zum 
Beispiel   die   Darlegungen    über    freien   Willen    oder   Willensgebundenheit 
(S.  101),  über  das  Verhältnis   von  Leib  und   Seele  (S.  44  und  62),  über 
weibliche     Psyche     (S.  142,   vgl.    die    Besprechungen   über   Dr.    Baerwald 
vor  einigen  Jahren  den  Münchener  Arzt  Dr.  Aigner  —  ohne  Schaden  für  ihn  — 
imd  Dr.  Haase),  über  Lourdes  (S.  191)  :   Diese  Angelegenheit  brachte   auch 
vor  den  Richter  und  beschäftigte  monatelang  Zeitungen  und  Zeitschriften.  ■ — 
Ich  habe  diese  Einzelheiten  nm-  herausgegriffen,  um  zu  zeigen,  daß  derjenige, 
welcher  etwas  über  die  Geschichte  mancher  Gedanken  und  Begriffe  im  Bereiche 
der  Psychologie  hören  will  (vgl.  S.  14  ff.),  aus  diesem  bejahi-ten,  mit  vollem 
Recht   der   Öffentlichkeit   vorgelegten   Buch   viel   erfahren   kami.      Manches, 
was  nicht  wenigen  Gegenwartsmenschen  ans  Herz  gewachsen  ist,   verwirft 
Dr.  St.,  z.   B.  das  sog.  Popularisieren  von  Forschungsergebnissen  in  Volks- 
hochschulkm-sen    (vgl.    auch    Verhandlungen    des    Rhein-Main- Verbandes    f. 
Volksbildung-Frankfm-t   a.    M.,    1916:     Vortrag   A'on   Professor   Dr.    Ziehen) 
oder  in  Zeitungen,    da   ein   derartiges  Verfahren   der   wahren   Wissenschaft 
schade  (S.  190).    Da  tatsächlich  manche  Entdeckungen,  z.  B.  des  Frankfiurter 
Ehrlich,  des  Berliner  Rob.  Koch,  bedauerliche  Rückschläge,  welche  die  auch 
von  Dr.  St.  richtig  betonte  Überschätzung  dmch  Xichtfachleute  veranlaßte, 
leider  erfahren  haben,  wird  man  die  Einwendungen  Dr.  St.s  nicht  mit  gering- 
schätziger Handbewegung  beiseite  schieben;  aber  auch  nicht  sich  irre  machen 
lassen,    im    unbedingt    nötigen    Streben   die    Feststellungen   bahnbrechender 
Forscher  in  der  richtigen  Weise  bekannt  zu  machen;  demi  auch  jene  üblen 
Folgen  sind  nur  unvermeidliche  Kinderkrankheiten  allen  Fortschrittes.    Doch 
ch  will  nicht  diese  Gedankenreihe  weiter  ausspinnen,  sondern  kinz  einiges 


108  Rezensionen. 

andere  aus  dem  Buch  erwähnen!     C41eich  der  erste    Abschnitt,    welcher 
in  fortschreitenden  Darlegungen  den  Begriff  Seele  immer  genauer  bestimmt, 
ist   für  die   Ansicht   und    Arbeitsweise   Dr.  Sts.    bezeichnend.      Das 
vorsichtig  abwägende  Urteil  ist  gleich  weit  entfernt  von  abstoßender  Recht- 
haberei bei  Fragen,  welche  vielleicht  nie  endgültig  entschieden  werden  kömien 
(vgl.    m.    Bericht    über  Dr.  Baerwald,    Cohn,    MüUer-Freienfels,    Ruckhaber, 
Sommer),  und  von  ebenso  peinlich  wirkendem  Mangel  an  Überzeugung;  denn 
das  Bucli  erwTichs  aus  Vorlesungen,  welche  die  Hörer  befähigen  sollten,  die 
modernen    Werke    der    Seelenkunde    zu    studieren    und    die    psychologischen 
Streitfragen  zu  verstehen,  welche  die   wissenschaftliche  A\'elt  zurzeit  inter- 
essieren (S.  186,  vgl.  S.  90  u.  m.  Berieht  über  Dr.  Sommer.)      Bei   seinem 
Ziel  will  Dr.   Stadler  nicht  oberflächlicher   „philosopliischen  Bildvmg"  Vor- 
schub leisten;  er  betont  nämlich  sehr  nachdrücklich,  daß  „Ergebnisse  des  philo- 
sophischen Denkens  sich  nicht  aufbewahren  lassen";  denn  „philosophische 
Überzeugung  muß  man  selbst  erwerben,  um  sie  zu  besitzen"  (S.  16).     Um 
diese  Worte  nicht  als  Ablehnung  aller  Fachschriftstellerei  aufzufassen,  muß 
man  einen  anderen  Satz  ins  Auge  fassen    „Es  ist  durchaus  nicht  nötig,  daß  sicli 
jeder  mit  Philosophie  beschäftigt,  aber  wer  es  tut,  darf  sich  keine  Frage  durcl) 
einen  anderen  beantworten  lassen;  infolgedessen  müssen  sich  die  Probleme 
immer  von  neuem  erzeugen,   müssen  ihre  Lösungen  immer  wieder  versucht 
werden"  (S.  17).     Doch  ist  Dr.   St.s  Philosophie  keineswegs  Metaphysik  — 
um  das  vielmißhandelte  aristotelische  Schlagwort  zu  gebrauchen  — -,  sondern 
er  sucht  stets  die  Beziehung   zur  Umwelt  herzustellen  (vgl.  insbesondere 
S.  40  ff.).     Wie  ein  großer  Kreis  der  Gegenwartspsychologen  (vgl.  m.  Bericht 
über  Dr.  Fröbes!)  betont  er  die  Notwendigkeit  der  verschiedenartigsten  Beob- 
achtung,  entweder    Schlüsse   aus   Tageljüchern   Verstorbener    (S.  26/30,    43), 
wie  es  besonders  Dr.  Müller-Freienfels  (s.  m.  Bericht !)  anstrebt,  oder  ausFrage- 
l)ogen,  die  besonders  Dr.  Baerwald  (s.  m.  Bericht !)  sehr  gesdlnckt  ausgebaut 
hat  (S.  29).     Selbstverständlich  gedenkt  Dr.  St.  auch  derjenigen  Richtung, 
welche  das  Bedingtsein  geistiger  Erscheinungen  durch  die  Umwelt 
besonders  betont,  wie  wir  es  zum  Beispiel  bei  Arbeiten  der  Bäumkerschüler, 
Dr.  Matth.  Meier  und  Dr.  Edmund  Spehner,  sowie  bei  Dr.  v.  Roretz  (s.  ni. 
Berichte!),    kennen    lernen    (S.    38).      Auch   die  auf  Versuchen   aufgebaute 
Psychologie,  deren  Ent\Vicklungsgang  z.    B.   Dr.   Marbe  sehr  klar  dargelegt 
hat  (s.  m.  Bericht!),  streift  Dr.  St.  (S.  54  ff.).     Aber  nicht  nur  verschiedene 
Arbeitsweisen  im  Bereiche  der   Psychologie  werden  in  ihrem  geschicht- 
lichen Entstehen   besprochen,    sondern  auch   einzelne    Gebiete,    z.   B. 
Kinderpsychologie    (vgl.   z.  B.   Dr.  William  Stern;  s.  m.  Berieht;  S.  31). 
Ebenso  wird  die  Volkssprache  als  Psychologin,   wie  es  auch  Dr.  Kiein- 
paul  (s.  m.  Bericht !)  tat,  geistreich  gewürdigt  (S.  42,  96,  108,  120,  138).    Am 
wenigsten  Neigung  besitzt  Dr.   St.  zu  der  in  unserer  unmittelbaren  Gegen- 
wart besonders  heißumstrittenen  Tierpsychologie    (S.  20,  vgl.  m.  Bespre- 
chung von  Dr.  Felix  Krüger).     Natürlich  werden  auch  Erziehungsfragen 
angeschnitten,  z.  B.  hilft  der  Verfasser  ims  Kämpfern  gegen  -Reiterei  in  der 
Schule  (S.  40),  uns  Befürwortern  der  mögliehst  vielseitigen  Erkennung  der 
körperlichen  und  seelischen  Eigenschaften  jedes  einzelnen  Kindes,  den  söge- 


Rizensiciu  ii.  109 

nannten  Inciividualpsycholügcn  (S.  3(if,  vgl.  auili  ni.  Ik-riclit  über  Wendel!), 
die  manchmal  besonders  in  Anfängerjaliren  über  das  Ziel  hinausschießen 
mögen.  Doch  g<  img  mit  diesen  Einzelheiten:  Sie  sollen  nur  den  einen  Satz 
belegen,  daß  Dr.  St.  vielfache  Anregungen  zu  bieten  weiß,  wemi  er  auch 
kein  bahnbrechender  (ieist  für  unsere  (legenwart  mehr  sein  kann  und  nur 
die  wichtigsten  Ijeitgedanken  auf  tlem  (.'ebiete  der  Psvchok)gic  niedeilcgt, 
da  ei'  zu  ihr  ,,nur"  eine  Einleitung  schreiben  wollte. 

Auch  Joseph  Fröbes,  S.  J.,  Lehr.buch  der  experimentellen 
Psychologie  (I,  1,  Freiburg  i.  Br.,  Herder.  1915.  4  Mk.)  gibt  in  einer 
N'orrcde  an,  was  er  mit  seinem  Buch  will  und  welche  Arbeitsweise  er  verfolgt. 
Richtig  und  geschickt  betont  er,  daß  die  verschiedensten  Berufe,  die  Ver- 
treter des  Rechtes  (vgl.  m.  Bericht  über  Dr.  Friedricli !)  und  der  Heilkunde 
(vgl.  m.  Bericht  über  Dr.  Stadler !),  Lehrer  und  natürlich  auch  die  Philosophen 
vom  Fach  (vgl.  auch  m.  Bericht  über  Dr.  Eisenmeyer  und  Ki-üger !),,  die  exp. 
Ps.  als  wichtige  Hilfswissenschaft  (  !)  (vgl.  dagegen  Dr.  Ei.senmeyer !) 
benötigen.  Für  die  genamiten  Kreise  will  das  Lehrbuch  Wegweiser  sein, 
indem  es  Universitätsvorlesungen,  bes.  des  Verfassers,  ergänzt.  Zu  seiner 
Aufgabe  bringt  es  zweifellos  sehr  schätzenswerte  Eigenschaften  mit: 
klare  (Uiederung,  welche  der  üblich  gewordenen  entspricht  (Vorrede  S.  VII), 
geschickte  Auswahl  von  Beispielen,  besonders  aus  den  Erfahrungen  des  All- 
tags, häufige  Verweise  auf  Bücher,  welche  ein  größeres  Vertiefen  in  die  Sache 
—  je  nach  den  Sondeibedüi'fnissen  des  Benutzers  —  ermöglichen.  Auch  äußere 
Umstände  erleichtern  den  Gebrauch:  wichtige  Punkte  sind  gesperrt,  Eigen- 
namen schräg  gedruckt.  In  allen  diesen  Einzelheiten  spürt  man  den  er- 
fahrenen Lehrer.  Aber  alle  Einwände  körmen  doch  nicht  verstummen. 
Daß  über  die  Frage  des  Hervorhebens  durch  den  Druck  verschiedene  Mei- 
nimgen  obwalten  kömien,  ist  selbstverständlich  und  zunächst  auch  weniger 
erheblich,  wiewohl  die  weitgehende  Hilfe,  welche  der  Erkenntnis  dm'ch  das 
Augenfällige  geboten  werden  kann,  nicht  zu  verachten  ist,  weil  sie  von  einer 
psychologisch  richtigen  Erkemitnis  ausgeht.  \^'ichtiger  sind  vielleicht  einige 
andere  Bedenken:  derjenige,  der  das  „Handwerkszeug"  der  exp.  Ps.  über- 
blicken will,  vermißt  z.  B.  eine  Zusammenfassung  der  benützten  Bücher  und 
insbesondere  ihrer  Abkürzungen,  wie  sie  hinsichtlich  der  Zeitschriften  gegeben 
ist,  und  eine  Zusammenstellung  der  Abbildungen,  deren  W^ert  —  neben- 
bei gesagt  —  bisweilen  etwas  fraglich  sein  dürfte.  Vor  allem  aber  fehlt 
ein  Verzeichnis  der  Sachbegriffe  inid  Namen.  Es  soll  am  Ende  des  3.  Bandes 
geboten  werden;  aber  nachdem  die  einzelnen  Lieferungen  gesondert  erscheinen 
und  zwar  in  längeren  Zeiträumen,  hätte  die  zweifellos  nicht  unbedeutende 
Mühe  auch  beim  ersten  Band  nicht  gescheut  werden  sollen.  Den  größten 
Widerspruch  aber  erregt  m.  E.  der  Umstand,  wie  der  Verfasser  —  nach 
bekannten  Mustern,  die  er  selbst  nennt,  —  fremde  Schriftsteller  er- 
wähnt. Wir  glauben  ihm,  daß  er  richtig  anführt  mid  keine  Fälschung'  be- 
geht; denn  er  versichert  in  der  Vorrede  (S.  8),  daß  er  die  angegebenen  Schriffen 
wirklich  gelesen  h;  t,  aber  wir  erinnern  uns  auch  an  einen  Satz  der  Vorrede 
Archiv  tür  Geschichte  der  Philosophie.    XXXI.  2.  g 


HO  Rezensionen. 

(S.  VII),  (laB  Fr.  die  Meinungen  anderer  nie  wörtlich  wiedergibt.    Inf olgec; essen 
ist  die  Möglichkeit  nicht  von  der  Hand  zu  weisen,  daß  die  Ansichten  diitter 
natürlich  im  guten  Glauben —  so  aufgefaßt  wiu-den,  wie  Fr.  in  dem  beson- 
deren Fall  dachte.     Nachdem  ich  —  um  meiner  Berichterstatterpflicht  zu 
genügen  -^  die   auffälligsten  Licht-    und    Schattenseiten    des    Buches, 
das  in  dieser  doppelten  Hinsicht  ein  echtes  Zeitkind  sein  dürfte,  kurz  her- 
vorgehoben habe,    möchte  ich  noch  über  die  Hauptgliederung,    die  eine 
sorgfältige  und  ausführliche  Übersicht  sofort  erkennen  läßt,  einiges  sf  gen.    Die 
Einleitung  führt  in  Ziele  und  Wege  der  empirischen  Ps.  ein,  ohne  daß  aller- 
dings  die    Ha\iptvertreter   an   der    Entwicklung    für   den   Nichteingeweihten 
ganz   faßbar   heraustreten.      Nach    dieser   etwas   geschichtlich    angehauchten 
EinLitung  behandelt  folgerichtig  der   erste    Abschnitt   die  Empfindungen 
im  allgemeinen  und   der    zweite   die  besonderen.     Diese  werden  ihrerseits 
klar  und  selbstverständlich  zerlegt,  in  solche  des  Gesichts,  Gehörs,  Geruches 
uncr  (reschmackes,  der  Haut,  der  Organe  und  sinnliche  Gefühle,  die   keine 
Empfindungen   sind.      Vor   allem   erscheint    in   diesem    Zusammenhang   das 
Kapitel  5,    welches   die    kinästhetischen   und    statischen    Empfindungen    be- 
spricht,  des  \inzweideutigen  Unterscheidungsgrundes   von  den  übrigen  Ab- 
schnitten etwas  zu  entbehren.    Da  es  —  wie  das  ganze  Buch  —  an  w.rmeid  baren 
Fremdwörtern  —  dem  Brauche  folgend  —  (vgl.  m.  Bericht  über  Dr.  Eisen- 
meyer !)  überreich  ist,  liest  es  der  Anfänger,  für  den  Fr.  vor  allem  schreiben 
will,  mit  einigen  Schwierigkeiten.     Wegen  der  verschiedenen  Punkte  werden 
manche,  die  sich  von  dem  Verf.  in  die  empirische  Ps.,  d.  h.  Seelen-  und  Sinnen- 
forschung, aiif  dem  Wege  des  Versuches  und  der  zufälligen  Erfahrung  (vgl. 
auch  m.  Bericht  über  Dr.  Dr.  Baerwald,  Eisenmcior,  Krüger,  Marbe,  Müller-Frei- 
enfels,  Ruckhaber),  einführen  lassen  wollen,  das  Buch  etwas  enttäuscht  bei- 
seite legen,  soA^el  Anregendes  und  Wertvolles  sie  auch  aus  ihm  entnehmen 
können.     Da  aber  eine  Neubearbeitung  das  Fehlende  leicht  zu  ergänzen  ver- 
mag, so  dürfte  das  Lehrbuch  mit   der   Zeit  ein  grundlegendes   Hand- 
buch   werden;    denn  es  führt  iiifolge  des  Bienenfleißes,  mit  dem  der  Ver- 
fasser die  Aveitverstreuten  fremden  Darstellungen  durchackerte,  in  die  mannig- 
fachen Fragen  zweifellos  geschickt  herein.     Weil  Fr.  sich  gegenüber  den  ver- 
schiedenen   Lehrmeinungen    mehr    als    zusammenfassender    Bearbeiter    und 
maßvoller   Berichterstatter   fühlt,    als   das  er  selbst   kritischer   Bahnbrecher 
sein  will,  so  können  wir  uns  eines  ruhigen,   sachlichen  Tones  aufrichtig 
freuen. 

Als  1914  Dr.  Otto  Willmann  den  dritten  Band  zu  seiner  philoso- 
phischen Propädeutik  (Freiburg  i.  Br.  Herder.  2  Mk.)  herausgab, 
hatte  er  2  Jahre  vorher  den  1.  Bd.  (2  Mk.)  und  ein  Jalu-  vorher  auch  den 
2.  Teil  (.2,50  Mk.)  in  dritter  und  vierter  Auflage  veröffentlicht.  Wenn  ein 
Gelehrter  von  der  Eigenart  und  Bedeutung  des  ehemaligen  Prager  LTniversi- 
tätsprofessors  gegen  Ende  eines  arbeitsreichen  Lebens  gewissermaßen  die 
Summe  aus  seinen  Forschungen  zieht,  um  ein  schwieriges  Sondergebiet  dem 
Werdenden  und  nach  philosophischem  Erkennen  Strebenden  mundgerecht 
zu  machen,  so  geziemt  es  sich  m.  E.  die  Schöpfung  als  solche  ohne  Kleinlich- 


Rezent>ionen.  111 

keit  mit  warmem  Dank  anzuerkemien.  Allerdings  ist  trotz  dieser  Gesinnung 
die  Frage,  o b die  philosophische  Propädeutik  wirklich  mit  Mittelschülern 
behandelt  werden  kann,  ohne  Voreingenoiunieuheit  zu  prüfen,  wie  auch 
mein  Bericht  über  die  weitschauende  Abhandlung  von  Dr.  .Siegel,  Methodik 
des  Unterrichtes  in  der  philosophischen  Pr.  (Wien  1913)  versucht  hat  (Arcb. 
Bfl.  20,  122/3).  Für  die  EiTcichung  des  Zieles  gab  Dr.  S.  sehr  wertvolle,  aus 
dem  Schulbetrieb  erwachsene  Ratschläge.  Wie  steht  es  bei  Dr.  W.,  der  seit 
über  4  Jahrzehnten  nach  kiuzer  \\'irksamkeit  an  die  Hochschule  ülicrgiug 
und  auch  ilu-  seit  1903 Lebewohl  sagte?  Zweifellos  beweist  auch.der  Verfasser 
von  "Didaktik  als  Biidungs lehre'  (1903),  daß  er  die  besonderen  Eigenschaften 
iui.->erer  Oberklässer  kemit  und  ihrem  Verständnis  möglichst  entgegen- 
kommen will.  Deshalb  sucht  er  vor  allem  zu  verhüten,  daß  das  viele  Neue 
und  die  Sprache,  welche  Ijei  allem  Bemühen  nach  Verständlichkeit  nicht 
allzu  leicht  faßlich  ist  und  sein  kami,  Aon  vornherein  abschrecke.  Um  dieses 
Hindernis  zu  beseitigen,  werden  nacli  dem  Vorbild  des  Altmeisters  Soki-ates 
(1,  113)  zahlreiche  Ruhe-  \ind  Anknüpfungspunkte  an  etwas  geläufigere  Vor- 
stellungen und  Tatsachen  (2,  88;  vgl.  auch  1,  47,  56/7,  69,  110,  113,  125,  ferner 
1,  41,  58 f.,  66,  70ff.,  76,  90,  101,  103,  116,  131  ff.:  Mathematik;  67,  80f.,  86,  90, 
105,  115,  117,  125:  Xaturwissensch. ;  90:  Geogr.;  51,  60,  89,  119,  137:  Rechts- 
pflege) geboten,  indem  anschauliche  Vergleiche  (z.  B.  1,  39  und  47;  2,  75)  und 
M\^hen  (1,  23  und  87;  2,  74  und  105),  besonders  aus  >Schultragikern,  Volks- 
liedern (1,  79;  2,  67),  imd  auch  Sprichwörter  und  Redewendungen  der 
Unigangssprache  eingefügt  (1,  63  ff.,  96,  100,  104;  2,  7,  81,  92,  128,  138,  163); 
denn  sie  wird  —  wie  bei  Dr.  Kleinpaul,  Volkspsychologie  (1914)  —  als  unbe- 
wußte Psychologie  erkannt  und  dargestellt  (z.  B.  1,  63  und  74;  2,  7,  10,  14, 
18,  21,  28,  42,  55,  73,  82,  90  f.,  100,  114,  120,  122  ff.,  130,  148,  150  ff.,  169, 
174ff.;3,  12,24f.,29ff.,46,  80).  Daß  ein  Dr.  W.  den  Stoff  mit  packender 
Selbstverständlichkeit  meistert  und  übersichtlich  klar  gliedert,  be- 
darf wohl  ebenso  wenig  langer  Erörterungen,  wie  der  andere  Umstand,  diß 
der  Verfasser  das,  was  er  zu  den  angeschnittenen  Fragen  bei  alten  und  neueren 
iSchiiftstellern,  voran  Aristoteles,  fand  oder  richtiger,  wie  ihm  das  Gelesene 
schien,  überzeugungstreu  und  eiideuchtend  entwickelte  (vgl.  zwei  Sonder- 
arbeiten  desselben  Verfassers,  Aristoteles  als  Philosoph  mid  Didaktiker,  1909, 
imd  unsere  Werkstätte  der  Philosophia  perennis.  1912).  Nie  verschweigt 
der  Verfasser  seine  Grundanschauung  und  verweist  deshalb  immer  wieder 
auf  frühere  Untersuchungen  von  sich,  ohne  Stolz  über  das  Geleistete  und 
ohne  sclu-offe  Angriffe  auf  Andersdenkende.  Überall  finden  sich  peinlich  ge- 
naue Verweise,  nur  einmal  wurden  im  Text  Anmerkungzahlen  übersehen 
(3,  36^ —  Anmerk.  4/5).  Indem  der  Verfasser  rasch  auf  das  Ziel  zueilt,  arbeitet 
er  stets  das  ^Vesentliche  heraus  und  zeigt  allenthalben  die  liebenswürdige 
Abgeklärtheit  desjenigen,  der  zwar  an  Jahren  alt,  aber  geistig  frisch  geblieben 
ist.  Auch  wenn  man  die  Grundansicht  des  Verfassers,  wie  sie  aus  seiner 
Geschichte  des  Idealismus  (1907)  jedem  Kundigen  geläufig  ist  (vgl.  1, 
52  und  77;  2,  172  ff.,;  3,  35  ff.,  71  ff.,  97)  nicht  teilen  sollte,  die 
Per.sönlichkeit     schlägt    doch    unwillkürlich    in    ihren    Bami.       Es    gehört 

8* 


112  Rezensionen. 

bokaiintlicli  auch  zu  ihrer  Eigenart,  c'ie  ich  als  Luthcraiur  uiii.so 
weniger  angrqife,  als  ich  sie  nicht  teile,  daß  der  strenggläubige  Clirist 
(1,  30,  137  f.,  3,  103,  "vgl.  aiich  1,  110  —  Kathol.  Lehrmeiug. !)  die  Bi))el 
und  die  Kirchenväter  (1,  16,  21,  25,  30,  36,  77,  87,  107  1.,  118,  126;  2,  59,  76ff.; 
3,  10,  36ff.,  54,  91ff.,  119ff.),  voran  Augustin  immer  wieder  heranzieht,  um  auch 
in  uieser  Hinsicht  die  großen  Zusammenhänge  wenigvstens  anzudeuten. 
Auch  sonst  werden  immer  wieder  geschichtliche  Überblicke,  bcüonders  wie  ein- 
zelne Begriffe  entstanden, eingestreut  (1,  llff.,  44 f.,  62,  84,  94f.,  97;  2,  5f.,  13ff., 
34ff.,  56,  102,  111  ff.,  1161.,  1401,  157  f.,  172  f.;  3,  21,  23  f.,  40  f.,  51,  57  f., 
71  ff.,  76  ff., '90  f.,  94  ff.,  101  f.,  111  ff.,  122  ff.).  Sie  dienen  zweifellos  dazu, 
Einzelkemitnisse  zu  verknüpfen  (vgl.  2,  79)  und  durch  das  Aneinanderfügen 
gegenseitig  zu  stützen.  Doch  erheben  gerade  solche  großzügige  Zusammen- 
stellungen und  Auffinden  von  Beziehungen  mindestens  sehr  große  Anforde- 
rungen an  das  Fassungsvermögen  des  Durchschnittes  der  Werdenden,  wie  ich 
als  Geschichtslehrer  seit  über  10  Jahre  auskoste.  Zu  den  Schwierig- 
keiten, w\?lche  mit  dem  Stoff  wohl  untreimbar  verbunden  sind,  gesellen  sich 
sprachliche.  Sie  sind  ziu'zeit  nicht  ganz  beseitigt,  hoffentlich  aber  in  der 
Zukunft  überwindbar!  Ist  die  Häufung  von  fremdsprachlichen  Fach- 
ausdrücken schon  in  Büchern,  die  sich  an  allgemein  Gebildete  imter  den 
Erwachsenen  wenden,  für  ein  rasches  Verständnis  vielfach  hinderlich,  wieviel 
mehr  in  einer  Darstellung,  die  auch  für  Oberklässer  bestimmt  ist.  An 
dieser  Tatsache  i.st  Dr.  ^y.  natürlich  nicht  achtlos  vorübergegangen, 
zumal  er  die  „wichtigsten  philosophischen  Fachausdrucke"  zusammengestellt 
hat  (1912)  und  auch  die  Entstehungsgeschichte  einzelner  Wendungen  in  seiner 
Propädeutik  verfolgt  (1,  16,  42,  120;  2,  25  Anmerk.  4,  dazu  S.  147  und  3,  82; 
S.  22,  87,  154).  In  seinem  Streben  nach  Ausscheiden  fremdsprachlicher  Aus- 
drücke (vgl.  2,  103  Anmerk.  3)  hätte  aber  Dr.  W^  wohl  noch  weiter  gehen 
körmen.  Das  Erfassen  luid  Merken  der  vielen  Einzeltatsachen  und  Gedanken 
würde  auch  erleichtert,  Avemi  jedem  Bande  ein  ausführliches  Verzeichnis 
der  Eigennamen  und  Sachbegriffe  beigegeben  wäre.  Über  schultech- 
nische Schwierigkeiten  will  ich  nicht  nochmals  reden  (vgl.  Archiv  20, 
122/23),  sondern  nur  betonen:  Die  zweifellos  vorhandenen  Bedenken  gegen 
Propädeutik  als  Unterrichtsgegenstand  besonders  in  der  vorliegenden  Form, 
w-elche  sehr  ausführlich  ist  und  die  Aufnahmefähigkeit  der  Oberklässer  viel- 
leicht zu  hoch  einschätzt,  können  —  so  widerspruchsvoll  es  auch  klingen 
mag  —  nur  nach  mehrjährigen  Versuchen  an  verschiedenartigen  Schu'en 
einigermaßen  einwandfrei  bejaht  oder  bestritten  Averden.  Doch  ich  will  nicht 
mit  Sätzen,  die  vielleicht  ablehnender  klingen,  als  sie  gemeint  sind,  schließen, 
sondern  kurz  über  den  Inhalt  der  einzelnen  Bände  sprechen,  indem  ich  das 
knapp-klare  Inhaltsverzeichnis  benütze.  Die  Einleitung  des  1.  Bandes 
spricht  über  das  Denken  und  sjine  Lehre.  Kurze  Darlegungen  über  Ur- 
sprung der  Logik  und  ihre  Materien,  „von  der  Aufsatzlehre  aus  angesehen'", 
(vgl.  auch  1,  7,  41,  58,  66,  129,  135)  .dnd  zweifellos  in  jedem,  besonders  dem 
deutschen  Unterricht  am  nützlichsten  und  brauchbar,  auch  wenn  keine  Pro- 
pädeutik im  eigentlichen  Sinn  des  Wortes  den  Schülern  vorgesetzt  wird.  Die 
4  Abschnitte  aber  untersuchen  die  „Tätigkeiten,  Formen,  Gesetze  und  Opera- 


Rezensionen.  ]13 

tioncui"  des  Denkens.  Der  zweite  limd  ijeieiuhtct  nacli  einer  Einleitung, 
wekhe  vor  jillein  die  Seelenfunktionen  ins  Auge  faßt,  in  vier  Abschnitten  Sinn 
und  Trieb,  Vorstellungs-  und  Interessenkreise,  Wrstand  und  Wille,  Vernunft 
und  (n^müt.  Im  dritten  Band  dagegen  legt  ein  Vorblick  dar,  was  meta- 
pliysiselie  Prinzipien  und  ihre  ontologische  Fassung  ist,  und  wie  sich  onlo- 
logisehe  Dialektik  und  (his  natürliche  Denken  unterscheiden.  Die  5  Abschnitte 
behandeln  das  Seiende  nach  seinen  verschiedenen  Beziehungen  und  Wesen, 
nämlich  das  Seiende  und  das  Wahre,  bz\\.  (lute,  subsistentes  und  inhärentes, 
latentes  und  entwickeltes,  bedingtes  und  unbedingtes  Sein. 

„Der  sachlicii(>n  inid  geschichtlichen  Notwendigkeit  eine  allgemeine 
Oschiehte  der  Seelenforschung  zu  bieten  und  vor  allem  die  Gegenwartsiage 
dieser  Wissenschaft  zu  zeigen",  strebt  das  Buch  von  Prof.  Dr.  Felix  Krueger, 
über  Entwieklungs-Psychologie  (Leipzig.  Engelmann  191.1  9  Mk.)  zu. 
Es  geht  von  dem  Gedanken  aus:  „die  Philosophen  haben  freilieh  für  ciese 
jüngste    der    selbständig    gewordenen    Erfahrungswissenschaften,    wenig    ( ?) 

tieferes  Verständnis  beAviesen Aber  eben  darum  ist  es  an  der  Zeit, 

daß  die   Psychologen,   zuweilen  wenigstens,    methodologische    Umschau 

lialten ;  denn  s^it  Her))art  und  wiederum  seit  Weber-Fechner  hat  die 

Fragestellung  der  Psychologie  sich  wesentlich  gewandelt."  (S.  62,  vgl.  S.  121/2, 
159.  192,  229).  Die  Hauptlinien  dieser  Veränderung  zeigt  der  Ver- 
fasser sehr  geschickt  und  anschaulich.  Da  er  nicht  die  Aufeinanderfolge 
der  einzelnen  Forscher  als  stets  festgehaltenen  Einteilungsgrund  benutzt, 
so  gibt  er  nicht  eine  Entwicklungsgeschichte  im  engeren  Sinne  des  Wortes, 
„sondern  eine  notwendige  Entwicklungslinie  der  Probleme,  also  auch  der 
Methoden,  da  ihre  Behandlung  der  Hauptzweck  des  Buches  ist"  (aus 
Briefen  des  Verf.  iui  mich,  vgl.  S.  88).  Doch  deuten  zahlreiche  Vor- 
und  Rückverweise  auf  einzelne  Abschnitte  dei  Arbeit,  wiederholt  ge- 
lungene Zusamn^enfassungen  der  Teilergebnisse  und  der  sich  aus  ihnen 
.stets  logisch  ergebenden  neuen  Fragen,  die  Zusammenhänge  unter 
den  behandelten  Forschern  so  klar  an,  daß  der  denkende  Leser, 
welcher  nicht  fertige  und  -unwiderlegliche  Geschichte  verlangt,  auf  seine 
Rechnung  kommt.  ^^'enn  die  \'erweise  stets  so  bestimmt  wie  an  ein- 
zelnen Stellen  (z.  B.  S.  156,  164,  207,  214,  217,  222/3,  227)  wären,  so  würde 
sich  ihr  Wert  noch  wesentlich  steigern.  Zweifellos  ist  Dr.  Kr.  zu  dem  Wagnis, 
eine  Geschichte  der  Methodenlehre  in  der  Entwicklungspsychologie  zu  ent- 
werfen, sehr  berufen,  da  er  zwei  arbeitsreiche,  dem  behandelten  Gebiete  ge- 
widmete Jahrzehnte,  die  er  vor  allein  in  Leipzig  und  Halle  verbrachte,  hinter 
.sieh  hat.  Mit  edlem  Freimut  übt  er  auch  an  eigenen  Arbeiten  Kritik 
(S.  21,  26,  64)  und  wird  den  besprochenen  Forschern  stets  mit  scharf - 
'sinnigem  Urteil,  das  persönlich  angreifende  Form  möglichst  vermeidet 
(Ausnalune  S.  25),  sehr  wohl  gerecht.  Um  seine  Aufgabe  zu  lösen,  faßt  Dr. 
Kr.  gewi.sse  Gruppen  von  Ansichten,  die  nach  seiner  Meinung  das  all- 
mähliche Werden  des  Gegenwartszustandes  und  der  nach  seiner  Meinung 
notwendigen  Aufgaben  bewirkten,  geschickt  zusammen,  indem  er  die  An- 
schauungen und   Entwicklung  der  bedeutendsten  oder  augenfälligsten  Vei- 


114  Rezensioufu, 

treter  kurz  und  klar  cUuk'gt  (z.  T,.   S.  32,  44,  52,  206,  219).     In  feinsinnigtMi 
Ausführixngen  zeigt  der  Verfasser,   daß  viele   Lehren  mn-  aus    ihrer    Zeit 
luu-aus    zu    verstehen    sind   (vgl.   m.   Bericht  üter   Brühl,  Dr.   v.   Roretz 
undDr.  Speliner!)  undfür   künftige  Fortschritte   und  andere  Arbeiten 
mannigfache  Möglichkeiten  mit  sachlicher  Notwendigkeit  vorliegen  (z.  B. 
S.  59,  68,  72,  80,  82,  100,  120,  136f,  149,  168,  211,  220).     Obwohl  einPersonen- 
und  Sachverzeichnis  leider  fehlt,  so  gestattet  doch  eine  umfangreiche 
Inhaltsübersicht  dem  geschichtskundigen  Leser  einen  raschen  Überblick 
über  das  Gebotene.    Aus  den  verschiedenen  Einzelheiten  des  sehr  anregen- 
den Buches  gedenke  ich  einiger  Punkte,  weil  sie  andere  ni.  Besprechungen 
an  dieser  Stelle  zu  erläutern  vermögen.    Das  Lebenswerk  Dr.  Wundts  z.B. 
wiü-digte  Dr.  Krueger  als  vorurteilsloser  Forscher  wesentlich  ruhiger  und  ge- 
rechter, als    Dr.  Hall  und  Dr.  Kraus  (z.  B.  S.  3,  13,  81,  96,  148  ff..  101  ff., 
169,  182,  204  ff.,  208  ff.),  wemi  auch  er  natürlich  nicht  blind  gegen  d?.s  An- 
greifbare in  Wundts  Lehren  ist  (S.  210/211  und  220;  vgl.   auch  m.   Bericht 
über  Brühl !).     Aber  auch  für  Dr.  Krueger  ist  der  Leipziger  Psychologe  einer 
der  „umfassendsten  Geister"  unserer  Zeit,  so  daß  Dr.  Krueger  dem  Urteile 
des  verstorbenen  Würzburger  Prof.  Dr.  Külp  (Die  Philosophie  in  Deutschland, 
1913,   S.   118),  daß  W.   „den  Ehrentitel  eines  modernen  Leibnitz"  verdiene, 
zuzustimmen  scheint.    Als  das  Neue  mid  Wesentliche  an  Wundts  Lebens- 
werk   betrachtet   der   Verf.    „die    vollständige   histoiische    Einordnung   und 
methodologische  Kritik  der  Wundtschen  Völkerpsychologie  nacli  ihrem  bahn- 
brechenden Werte,  ihren  Fragen  und  Unklarheiten";  demi  Dr.  Kr.  ist  über- 
zeugt:    „Das  seelische  Geschehen  ist  in  Wahrheit  jederzeit  geschichtlich  und 
sozial  bedingt."     Dieses  Bedingtsein  zu  untersuchen  und  herauszuarlieiten, 
ist  für  Dr.  Kr.  die  Aufgabe  der  Psychologie.     „Da  sie  eine  Gesetzeswissenschaft 
ist,   so  müssen  ihre   Ziele   von  der  geschichtlichen  Kultui-forschung  reinlich 
geschieden  werden."     W.s  zusammenfassende  Tätigkeit  wiid  also  vor  allem 
hervorgehoben,  weil  auch  das  Buch  Dr.   Kr.s  geschrieben  wiu'de,  um  nach- 
zuweisen,   daß    „geordnete     Arbeitsgemeinschaft    zwischen    der    wissen- 
schaftlichen    Psychologie     und     Nachbarwissenschaften     hergestellt     werden 
müsse"   (8.  16,   vgl.    S.  37).      Zu   diesen    Nachbarwissenschaften    gehört 
auch    die    Tierpsychologie.       Mit    ihr    beschäftigt    sich    auch  ein    warm 
geschriebenes     Buch     der     leider    früh     heimgegangenen    Frau     Dr.     Paula 
Moekel  über  ihren  Rolf  (vgl.  auch  „die  Seele  des  Tieres"  von  Professor  Dr. 
H.  E.  Ziegler-Stuttgart.  1916,  und  Zeitschrift:  Die  Tierseele,  1913,  S.  193  ff., 
243  ff.,    323  ff.).      Doch    dürfen    diese    Verbindungsfäden    zwischen    den 
einzelnen    Wissenschaftszweigen    und    ihren    Gedanken    nicht     gewaltsam 
geschlungen  werden,    wie    Dr.   Kr.   an  verschiedenen  Beispielen  zeigt  (z.   B. 
S.  153  bei  Vicrkandt,  S.  157  bei  Steinhausen,  S.  165  ff.  bei  W.  Schmidt,  S.  176, 
188,  195  bei  L.  Frobenius,  dessen  kühne  Behauptungen  auch  in  der  deutschen 
Kolonialzeitung   1913  (S.  626f.,   641  ff.,   658  ff.,   6731,   690,   740  f.)  lebhafte 
Auseinandersetzungen  veranlaßten).     Dr.   Krueger  hat  sein  gedankeiireiches 
imd   am-egendes    Buch    bezeichnenderweise    dem     Dichter    Dr.     Wilhelm 
V.   Scholz    ,, in  alter  Freimdschaft"   geAvidmet. 


RezensioiK'ii,  115 

Die  Schrift  des  Hallenser  Professors  Dr.  Joseph  Eisenmeier,  die 
Psychologie  und  ihre  zentrale  Stellung  in  der  Philosophie  (Halle, 
Xiemeyer,  1914.  3,20  Mk.)  gehört  zu  jenen  Abhandlungen,  welche  weit- 
schauende Fragen  külm  anschneiden  und  durch  die  Art  des  Durcliführens 
beweisen,  daß  sie  sich  bis  zu  einem  gewissen  (aade  lösen  liisscn,  wenn  man 
ihnen  entschieden  zu  Leibe  gelit.  Freilich  werden  nicht  wenige  die  Arbeit 
grundsätzlich  ablehnen,  weil  sie  eine  bestimmte  Ansicht  mit  Ausschluß  aller 
anderen  zielsicher  vertritt  und  zu  beweisen  sicli  bemülit.  Ziel  und  ^^'cg  be- 
rührt sich  mit  manchen  anderen  Schriften;  unter  denen,  welche  ich 
zugleich  mit  Dr.  Kiscnmeyer  zu  würdigen  habe,  befinden  sich  zwei  verwandte: 
Dr.  August  Stadler,  Einleitung  ziu"  Psychologie,  Leipzig  1914,  unci  noch  mehr 
Dr.  Felix  Ki-üger,  Entwicklungspsychologie,  Leipzig  1915;  demi  letzterer 
hat  in  seinem  Bucii  aiich  eigene  frühere  Ausfüluimgen,  auf  die  Dr.  E.  wieder- 
holt bezug  nimmt  (S.  2  ff.),  weiter  ausgeführt.  Aiißer  Dr.  Krüger  erwähnt 
der  Verfasser  selbstverständlich  eine  lange  Reihe  von  Schriften,  welche  seine 
Darlegungen  begründen,  ergänzen  oder  von  ihnen  stark  abweichen.  Sehr  oft 
allerdings  begnügt  sich  Dr.  E.  —  seinem  Vorsatze  getreu  (Vorwort)  —  nur  all- 
gemein „Richtungen"  zu  kennzeichnen,  ohne  die  einzelnen  Forscher,  welche  die- 
selben vertreten,  im  einzelnen  namhaft  zu  machen.  In  diesem  Vorgehen  liegt, 
wie  auch  m.  Besprechung  von  Dr.  Dr.  Kramai-,  Müller -Ehrenfels  und  Stadler  her- 
vorhebt (s.  auch  Dr.  Marbe!),  eine  Stärke  und  Schwäche,  da  man,  losgelöst 
A'on  allem  Persönlichen,  verhältnismäßig  unbefangener  mteilt;  andererseits 
aber  werden  manche  Leser  die  Angabe  von  Personemiamen  für  mierläßlich  er- 
achten, um  erwähnte  Leitgedanken  anderer  in  ihrem  ursächlich-persönlichen 
Begründetsein  erkennbar-heraustreten  zu  lassen,  und  wegen  dieser  Meinung  das 
Verfahren  auch  bei  Dr.  E.  als  Mangel  empfinden.  Da  er  es  aber  nm-  im  be- 
schränkten Grade  anwendet,  so  kann  man  sich  des  mit  großer  Geschick- 
lichkeit verfochtenen  Grundsatzes,  ,,das  strengstes  Spezialisten- 
tum, gepaart  mit  gründlicher  Bekanntschaft  der  wichtigsten 
philosophischen  Anschauungen,  allein  die  philosophische  Erkennt- 
nis wirklich  fördern  kami",  aufrichtig  freuen,  sofern  man  diese  Überzeugung 
teilt  und  das  Trennende  der  einzelnen  selbständig  gewordenen  TochterA\'issen- 
schaften  der  Urmutter  Philosophie  nicht  übertrieben  betont  (Kap.  1,  be- 
sonders §  3).  Sehr  glücklich  zeigt  auch  der  Verfasser,  daß  man  sehr  wohl 
die  einzelnen  Begriffe  scharf  bestimmen  kann  und  muß,  ohne  falsche  Scheide- 
wände aufzm-ichten  (§  8).  Als  Wege  zu  seinem  Ziele  nennt  Dr.  E.  „die 
Beobachtung  und  das  Experiment,  das  heißt  die  Arbeitsweise  der  empirischen 
Forschung"  (S.  9,  vgl.  auch  m.  Bericht  über  Dr.  Marbe  urid  Dr.  Müller-Freien- 
fels!).  Um  die  allgemeinen  Darlegungen  zu  begründen  und  deutlich  zu  machen, 
werden  die  einzelnen  Arbeitsgebiete  und  ihre  Beziehungen  zur  Pschologie 
eingehend  betrachtet:  Kap.  2  Ethik,  Kap.  3  Ästhetik,  Kap.  4  Logik,  Ivap.  5 
Erkemitnistheorie,  Kap.  6  wissenschaftliche  Physik  und  Kap.  7  die  philo- 
sophischen Nebendisziplinen,  d.  h.  Rechtsphilosophie,  Soziologie,  Philosoiihie 
der  Geschichte,  philosophische  Politik  und  Nationalökonomie  im  Anschluß 
an  die  Ethik,  Kunstphilosophie  in  Verbindung  mit  Ästhetik;  die  Pädagogik 
wird  als  Ästhetik,  Logik  und  Ethik  der  umeifen  Psyche  bezeichnet,  und  auch 


.1  I  ()  Rezensionen. 

die  Aufgabe  der  Psychiatrie  gegenüber  der  kranken  Psyelie  und  iler  Zusanuaen- 
hang  der  Sprach-  und  Religionsj)hilosophie  mit  der  Psychologie  dargelegt. 
Um  in  die  Menge  der  einzelnen  Ciedanken  Ordnung  zu  bringen,  werden 
die  de.skri2)tiven  (beschreibenden),  die  genetischen  (entwickelnden)  und  die 
normativen  (Vorschriften  gebenden)  Teile  einzelner  Sondergebiet<?  für 
sich  betrachtet  (S.  51  ff.,  Gl  ff.,  69  ff.,  8'Jff.).  Es  wäre  sehr  verlockend,  di<' 
vielen  feinsinnigen  Bemerkungen,  welche  innerhalb  dieses  weitge- 
steckten Rahmens  gemacht  werden,  im  einzelnen  zii  würdigen,  i.  B.  im  Be- 
reiche der  Ethik  das  über  aic  Freiheitsfrage  (§  12)  oder  über  Priestermacht 
(8.  45)  (lesagte.  Doch  ich  will  mich  nicht  zu  sehr  in  Einzelheiten  verlieren 
und  den  leider  auch  diesmal  (vgl.  m.  Bericht  über  Dr.  Dr.  Bärwald,  Brühl,  Cohn, 
Fröbes,  Feldkeller,  Crabrilowitsch,  Krüger,  Menzel,  Müller-Freienfels,  v.  Roretz. 
Ruckhaber,  Willmann!)  nötigen  Hinweis  auf  das  fremdwortreiche  Gewand 
nur  im  Vorbeigehen  tun,  sondern  zum  Schlüsse  mir  noch  km-z  das  Gesamt- 
ergebnis mit  den  eigenen  Worten  des  Verfassers  wiedergeben:  ,,Alle  Philo- 
sophie   ist  eiUweder  geradezu  Psychologie   oder   mit  der  p.sycho- 

logischen  Forschung  innig  verwachsen.  Die  ijhilo.sophische  Erkenntnis 
ist  durchweg  auf  psychologischem  Wissen  aufgebaut,  wo  sie  nicht  geiadezu 
mit  ihm  identisch  ist.  Die  Psychologie  ist  die  zentrale  Wissenschaft  für  die 
gesamte  Philosophie."  (S.  111,  vgl.   S.  61). 

In  einer  kurzen  aber  inhaltsreichen  Abhandlung  bringt  Dr.  Karl  Marbe 
Beiträge  zur  Psychologie  des  Denkens.  (Sonderdriick  aus  Fort- 
schritte der  Psychologie  und  ihrer  Anwendungen  III,  1.  Leipzig,  Teubner, 
1914.  3  Mk,).  Rasch  eilt  der  Würzburger  Psychologe  seinem  Ziele 
zu,  ohne  daß  er  uns  fortwährend  auf  spätere  Arbeiten  vertröstet,  wie 
Professor  Di-.  Udalrich  Kramar  jun.,  Neiie  Grundlagen  zur  Psychologie  des 
Denkens  (Brümi  1914),  oder  unangenehm  erkennbare  Sprünge  macht.  Es 
wäre  m.  E.  ungerecht,  wenn  man  darüber  spöttelte,  daß  der  erste  Paragraph, 
Welcher  Beiträge  zur  «»eschichte  und  Kritik  der  Denkspychologie  enthält, 
in  der  Hauptsache  des  persönlichen  Anteiles  an  der  Entwicklung  ge- 
denkt und  infolgedessen  vor  allem  mannigfache  Einwürfe  gegen  andere 
Forscher  erhebt.  Dieser  Widerspruch  entbehrt  nämlich  aller  beleidigenden 
Ausfälle  und  wird  immer  wieder  sachlich  begründet,  so  daß  er  nicht  von  der 
Hand  zu  weisen  ist.  Entgegen  dem  fast  allgemeinen  Brauche  (vgl.  m.  Berichte 
über  Dr.  Di.  Cohn,  Eisenmeyer,  Feldkeller,  Fröbes,  Gabrilovitsch," Kramar, 
Müller-Freienfels,  Ruckhaber)  bietet  der  Verfasser  bei  dieser  Gelegenheit 
ganz  genaue  Verweise  auf  fremde  Darstellung,  so  daß  der  erste  Paragraph 
trotz  aller  persönlichen  Färbung  einen  kurzen  Überblick  gibt,  Avas  über  Denk- 
psychologie seit  dem  Begimi  unseres  Jahrhunderts  geschrieben  wurde.  Aller- 
dings werden  im  allgemeinen  nur  Arbeiten,  welche  vom  Verfasser  abweichende 
Ansichten  vertreten,  eingehender  in  der  Weise  gewürdigt,  daß  das  vom  anderen 
Geschaffene  gelegentlich  auch  anerkannt  (S.  41),  meist  aber  bestritten  wird. 
Gerade  dieses  Vorgehen  einer  selbstbewußten  klardenkenden  Persönlichkeit 
verleiht  der  Ai'beit  ihren  besonderen  Reiz.  Doch  ich  habe  bis  jetzt  im 
allgemeinen  über  Arbeitsweise    und    Zweck   der  Abhandlung  gesprochen, 


Rezensionen.  1 1 ' 

<ilme    ihren    Inhalt    gonaner    ;Mizudenten.      Der    Verfasser    gelangt    nänilieh 
zu  dem  Sehlusse,  daß  die  Ergebnisse  einer  früheren  Sehrfft  (Experinientell- 
j)syehologischc  Untersuchungen,   Leipzig   1901)   aueli   heute  noch    aufrecht 
erhalten   werden  können.      „Im   Sinne  der  Logik  ist  das  Urteil,  psycholo- 
gisch  befrachtet,  ein  äußerst   vielgest<iltiges   Cebilde,   welches  nicht   psycho- 
loaiseli.  sondern  nm-  vom  Standpunkt  der  Logik  aus  genau  bestimmt  werden 
kann.       ]']bensowenig    läßt     sich    das    Verstehen    gehörter    oder    gelesener 
Urteile  rein  psychologisch   begreifen.     Dieses  Verstehen  liegt   vor,  weiui   wir 
gewisse  richtige  Urteile  fällen  köimen.     Auch  diese  Fähigkeit  kann,  muß  sich 
aber  nicht  als  Bewußtseinslage  im  Bewußtsein  ausdrücken"   (S.  2  ff.).     Der 
Verfasser   zeigt    auch   statistisch,   daß   sein   Begriff   der    Bewußtseinslage 
(vgl.  auch  Dr.  J.  Friedrich,  Die  Bedeutung  der  Psych.,  1915,  S.  35,  65,  131). 
die  von  anderen  Forschern  spater  aufgestellten  Begriffe  der  „Bewußtheiten" 
und  „(iedanken"  umfaßt.     In  einem   Schlußabschnitt   werden  einige  ein- 
fache Vorlesungsversuche,   welche  die  Bewußtseinslage  darstellen  köimen, 
km-z  mitgeteilt.    Trotz  aller  wichtigen  Ergebnisse  ist  Dr.  M.  von  jeder  Über- 
schätzung weit  entfernt,    als  ob  sein  Versuch  methodologisch  einen  Ab- 
schluß  bedeute   (S.  18),   da    nur    neue    Bahnen   gewiesen  werden  sollten: 
denn  der  \'erfasser  ist  übei'zeugt,  daß  von  der  Verbesserung  des  Verfahrens, 
die  auf  do'ppeltem  "Wege  erfolgen  kaim,  die  Zukunft  der  Psychologie  des  Den- 
kens abhängt,  wenn  sie  überhaupt  eine  hat  (S.  24).     Glücklicherweise  bleibt 
Dr.      M.     —     wie     wii-     in     der    Abhandlung    seihst    i-.ehen    —    nicht    bei 
diesem    auflösenden    Urteil    stehen,    sondern    beschreitet     auch     selbständig 
und    zielbewußt    die    von  ihm  gewiesenen  neuen  Bahnen.      Als    Versuchs- 
].ersoncn     hat    er    Hierren,     welche     mit     den      in    Betracht     kommenden 
Tatsachen    vertraut    waren,    gewählt    und    gesteht    offen,    daß     bei     diesem 
Verfahi-en     Fehler    vorkommen     können;     denn    wer     in     den    zu  prüfen- 
den   (redankengängen    zu    Hause    ist,   äußert  sich    nicht    immer    ohne    Vor- 
eintfcnommenheit   (S.  19).      Alis  diesem   Grunde  ist  es  sehr  wichtig,   die  ge- 
wonnenen   Ergebnisse    immer    wieder    auf   ihre    Zuverlässigkeit   abzuklopfen, 
indem  auch  Fernerstehende,  und  zwar  möglichst  viele,  denselben  Versuchen 
Tmterworfen  werden,  so  schwer  es  auch  sein  mag,    diese  andere  Gruppe  von 
Versuchsper,sonen  zum  Reden  zu  bringen;  denn  bei  ihnen  dürften  auch  mannig- 
fache  äußerliche    Hemmungen    mitunter  fast  ein   Versagen  bewirken,   wie 
manche   Versuche   mit    Kindern   bewiesen   haben   (A'gl.    auch    Experimentelle 
P>eiträge    zum    Problem    der    Intelligenzprüfung,    von  Dr.  Karl  Köhn  (Quelle 
&  Meyer,  Leipzig,  1913;);  und  Das  Denken  und  die  Phantasie  von  Dr.  Richarrl 
Müller-Freienfels     (Leipzig,  Johami  Ambrosius  Barth.  1916.   S.  29ff.  !).    Doch 
sei  dem,  wie  ihm  wolle;  dem  Verfasser  gebührt  aiifrichtiger  Dank,    daß  er 
die  Frage:    was    ist    Denken?   kühn  und  selbstsicher  abermals  beleuchtet 
imd  einen  Weg  zur  Lösung  zeigt.     Es  wird  die  Sache  Vorurteilsloser  sein, 
nicht    durch    allgemeine    Ausführungen,    sondern    durch    eigene    Versuche 
7.U  den  Schlüssen  von  Dr.  M.  Stellung  zu  nehmen. 

Die  erfreuliche  Frische  eines  volkstümlichen  Vortrages  und  die  nicht 
minder  rühmenswerte  Gründlichkeit  einer  wissenschaftlichen  Ai-beit  drücken 


118  Re,zensioneu. 

der  Abliaiidlung  des  Kustos  an  der  Wiener  Hufbibliotliek  Dr.  Karl  v.  Roretü 
über  Diderots  Weltanschauung,  ihre  Voraussetzungen  und  Leitmotive 
(Wien,  (lerold  &  Co.,  1914)  ihren  Stempel  auf.  Meisterhaft  stellt  der  Ver- 
fasser auch  bei  dieser  Untersuchung  den  allgemeinen  geschichtlichen 
Zusammenhang  in  wenigen  bezeichnenden  Sätzen  her  und  schildert,  in- 
dem er  über  D.s  Weltanschaimng  spricht  (S.  8  ff.,  15  ff.,  18,  23,  31).  mit 
einem  einzigen  Satz  anschaulich  die  französische  Auf klärungszeit :  „iSo  läuft 
die  Entwicklung  von  der  Kritik  an  einem  antiken  Geiste  zur  Kritik 
des  antiken  Denkens  überhaupt  imd  von  hier  zm-  Ki-itik  der  Tradi- 
tion im  weitesten  Simie"  (S.  8).  Ebenso  klar  wie  das  Negative  an  D.s  Arbeits- 
weise W'ird  auch  das  Tatsächliche  seiner  Meinungen  in  einem  anderen  Satze 
ausgedrückt:  „Diese  Stelle  mit  ihrer  kühl-selbstverständlichen  Hervorhebung 
des  blanken  Opportunitätsprinzips bedeutet  tatsächlich  un- 
gefähr das  Zentralproblem  der  Spekulationen  seiner  Staatsweisheit.'' 
Um  die  eigene  Auffassung  von  D.s  Leitsternen  zu  erläutern,  sucht  Dr.  v.  R. 
diejenige  anderer  Forseher,  welche  D.  ,, vom  Deismus  diu-ch  ein  skeptisches 
Stadium  zum  Naturalismus"  (S.  13)  kommen  lassen,  mit  großem  Scharfsinn 
zu  -widerlegen.  Diese  unzweideutig  herausgehobene  (Grundrichtung  stempelt 
D.  in  ma)icher  HÜnsicht  zu  einem  W'issensehaftler  unserer  Tage,  weil  er  vor 
keinem  überkommenen  Begriffe  halt  macht,  ohne  ihn  auf  seine  Richtigkeit 
abzuklopfen.  Infolgedessen  klingen  einzelne  Äußerungen  an  Gegenwarts- 
gedanken an,  z.  B.  wenn  D.  „die  Schöpfungsformen  keine  starren  Typen 
nennt"  (S.  24),  und  damit  den  „Entwicklungsgedanken  Darwins  und  seiner 
Nachfolger"  zutreffend  aufgreift  (S.  25);  denn  D.  hat  zu  den  Naturwissen- 
schaftlern und  anderen  Forschern  seiner  Zeit  enge  Beziehungen  (S.  27  ff.). 
Bei  aller  Liebe  für  D.  ist  der  Verfasser  nicht  blind  gegen  die  Schwächen 
des  großen  Franzosen.  Sie  aus  den  allgemeinen  Umständen  und  besonders 
aus  der  Wesensart  des  Philosophen  zu  erklären,  wäre  ein  dankenswertes 
Unternehmen.  Für  dasselbe  finden  sich  am  Ende  des  Aufsatzes  deutliche 
Fingerzeige.  „Es  ist  nun  das  Gemeinsame  aller  philosophischen  Talente 
des  18.  Jahrhunderts  (namentlich  derer  in  Frankreich),  daß  sie  in  dieser  struk- 
tiu-ellen  Hinsicht  mangelhaft  veranlagt  sind.  Die  Fülle  ihrer  Einfälle,  die, 
der  festen  Einstellung  entbehrend,  nm-  zu  bald  auf  toten  Cieleisen  dahinrolleii, 
sollen  uns  nicht  darüber  hinwegtäuschen.  Keiner  von  ihnen  findet  die  ^^  ucht 
entscheidender  Gedankenwendung,  die  Kraft,  den  eimual  eingeschlagenen 
Kurs  unerbittlich  festzuhalten  und  weiter  zu  verfolgen;  auch  ein  Diderot 
nicht !  Gleich  den  meisten  anderen  ist  er  nur  ein  Anreger,  ein  genialer  W  ort- 
führer  einer  im  Umbau  begriffenen  Epoche.  Der  Denker  aber,  der  diese 
Tendenzen  kraftvoll  an  sich  geri.ssen,  der  die  „Epoche"  erst  gemacht  hat, 
.sitzt in  Königsberg."  Durch  die  Fülle  von  Anregungen  ist  einer- 
seits eine  bedeutende  wissenschatfliche  Leistung,  welche  in  sorgfältigen 
Anmerkungen  die  Belege  für  die  einzelnen  Behauptungen  bringt,  anderer- 
seits eine  Vorbereitung  für  eine  ausführlichere  Darstellung  geboten. 
Möge  sie  —  hoffentlich  in  einem  fremdwortärmeren  Gewände  —  auch  aus 
der  berufenen  Feder  des  Dr.  v.  R.  uns  beschieden  sein! 


Kezensioueii.  lli> 

In  seiner  gehaltvollen  Münchener  Doktorarbeit  stellt  Kcliuiiiid 
Spehner  Malebranches  Lehre  von  der  Erkenntnis  in  psycholo- 
giseher  Hinsieht  (1915)  klar  und  übersichtlich  dar.  Das  erste  Ka])itel 
beleuchtet  Leben  luid  ^^'erke  des  philosopJiischen  Üratianers,  des  Zeitgenossen 
von  Deseartes,  da  ,, Leben  «nd  Lehre  sich  wechselseitig  erklären  inid  eigänzen"". 
Der  Verfasser  besitzt  also  walu-en  geschichtlichen  Sinn  und  hat  auch 
diese  Eikenntnis,  die  man  allgemeiner  verbreitet  wünscht,  durch  die  Tftt 
veiwirklicht.  Infolgedessen  vermag  er  trotz  umfangreicher  älterer  Literatur, 
die  er  selbst  nicht  nur  am  Ende  der  Arbeit,  sondern  auch  vor  jedem  Abschnitt 
gut  zusammengestellt  und  im  Verlaufe  der  Abhandhnig  immer  wieder  im  ein- 
z«Jnen  angibt,  noch  manches  Xeue  zu  sagen.  Zum  mindesten  bringt  der 
Verf.  Altbekanntes  in  besonderen  Zusammenliang,  voi-  allem  indem  Dr.  Sp. 
die  Sonderentwieklung  M.s  und  auch  mancher  zeitgenössischer  philosophischer 
('cdanken  in  Beziehung  setzt  zur  allgemeinen  2ksitgeschichte  (8.  5,  16,  18, 
ö6ff.,  60),  da  M.  beeinflußt  ist  von  den  führenden  Geistern  seiner  Zeit, 
^or  allem  Deseartes,  Leibnitz,  Newton,  und  zugleich  besonders  zu  seinon 
,, Führer"  Descaitcs  in  einen  gewissen  < 'egensatz  tritt  (8.  58).  Nicht  nur 
die  Arbeitsweihe,  sondern  auch  die  Wahl  des  Stoffes  erimiert  an  einen  anderen 
Bäumkerschiiler,  Dr.  Matthias  Meier,  dessen  genußieiche  Arbeit  über  Deseartes 
an  dieser  Stelle  früher  ge'würdigt  wurde.  Dieses  Zusammentreffen  c'ürfte 
dm'ch  die  beeinflussende  Hand  des  gemeinsamen  Lehrers  herbeigeführt  sein. 
Nachdem  sich  Dr.  S.  diu-ch  den  vorbereitenden  Abschnitt  sozusagen  einen 
festen  Boden  und  allgemeinen  Hintergrimd,  aiif  den  sieh  M.s  ( 'cdanken 
in  der  richtigen  \Yeise  abheben,  verständnisvoll  geschaffen  liat,  be- 
spricht er  die  besondere  Seite  der  Philosoishie  M.s,  wie  es  die  ge- 
wählte Aufgabe  erfordert.  In  dem  zweiten  Kapitel  über  die  Erkemitni.-lehre 
]M.s  läßt  der  ^"erfasser  uns  tiefer  hineinblicken  in  c  ie  Denk^^  erkstatt  des  Philo- 
sophen, wie  .sein  prüfender  Sinn  vor  nichts  haltmachen  will  und  sich  doch 
nicht  loslösen  kann  von  den  Anschauxmgen  seiner  Zeit  und  ins- 
besondere den  Lehren  seines  (llaubens,  vor  allem  soweit  Übersimiliches,  ('ott, 
Seele  und  Wille,  in  Frage  kommen  (S.  6  ff.,  56).  Ein  kurzer  Vergleich 
zwischen  Kant  und  M.  (S.  34)  berührt  im  Vorübergehen'  eine  Frage,  die 
mit  anderen  erwähnten  Punkten  (S.  58)  einer  eingehenden  Sonder betrach- 
tung  wert  wäre.  Wie  in  dieser  Hinsieht  M.  Meinungen,  die  ungefähr  100  Jalue 
später  von  neuem  aiiftauchen,  auch  für  seine  Person  hegt,  so  Idingt  sehr 
viele.s  seiner  Sinnespsychologie  (Kap.  III),  als  ob  wir  ein  Gegen- 
wartsbuch über  diesen  Stoff  lesen  (vgl.  S.  55  ff.),  indem  auch  M.  Ursache 
der  Gehirnvorgänge  und  der  einzelnen  Sinnesäußerungen  zu  erforschen 
sucht.  (Vgl.  m.  Bericht  über  Brühl!)  Wir  müssen  Dr.  Sp.  danken,  daß 
er  diese  Hauptpunkte  richtig  erkannt  und  einleuchtend  dargestellt  hat. 

Auf  ungefähr  fünfzig  Seiten  Text  sucht  Dr.  (rrigore  Tabacaru  die 
Ansichten  des  französischen  Psychologen  Binet  über  die  Psychologie 
des  Denkens  (Bukarest,  Albert  Baer,  1915)  in  knapper  Form  zu  entwickeln. 
Wemi  auch  der  Verfasser  trotz  seiner  Kürze  nicht  ganz  von  Fehlern  Ije-nahrt 
blieb  (z.  B.  S.  37  und  41  über  das  reine  Denken  ohne  Vorstellung  luid  \\'ortej. 


l-_>0  Rezensionen. 

80  ist  doch  (lio  Abhandlung  als  ( Ganzes  ein  erfreuliches  Zeichen,  daß  deutsche 
Forseherart  auch  auf  dem  Balkan  blüht;  denn  mit  großer  Belesenheit, 
die  leider  nicht  in  Einzelnachweisen  ihren  Niederschlag  gefunden  hat,  und 
mit  bestimmtem  Urteil,  dessen  Begründung  mitunter  etwas  eingehender 
sein  dürfte  (S.  37,  40/1),  werden  die  (Grundgedanken  B.s  luul  seine  Stellung 
innerhalb  der  Fachgenossen  dargelegt.  B.  ist  nach  eigenem  (leständnis  kein, 
schöpferischer  Geist,  sondern  will  nur  Beobachtungen,  die  er  an  seinen 
zwei  auf  der  oberen  Kindheitsgrenze  stehenden  Töchtern  und  anderen  Ver- 
suchs}xn'sonen  machte  (S.  31/32)  der  Mitwelt  vorlegen,  ohne  seine  Arbeil 
mit  großem  literarischen  Rüstzeiig,  das  aus  der  Fremde  herübergenommen  ist. 
zu  belasten  (S.  13).  Doch  sind  B.s  Äußerungen  nur  zu  verstehen,  wenn  mau 
weiß,  zu  tmd  gegen  welche  fremde  Äußerungen  er  Stelhmg  nimmt.  Auch  in 
dieser  Richtamg  hätte  T)i.  T.  seine  Arbfit  ergäjr/en  können.  Obwohl  Dr.  'I. 
nachweist,  daß  B.s  Hau])tverdienst  darin  besteht,  „daß  er  in  dem  indiffe- 
renten Pariser  Milieu  die  Fortschritte  der  Psychologie  vertrat"  (S.  13),  so  lehi-t 
er  doch  auch  angeblich  (vgl.  aber  Dr.  Stadler,  Einleitung  in  d.  Psych.,  1914, 
S.  128)  Neues,  nämlich  den  Begriff  des  Unbewußten,  bei  dem  zwei 
Arten  unterschiede)!  werden  (S.  46  ff.).  A\'egen  dieser  Sachlage  wird  vielleicht 
die  P>age  mit  Recht  aufgeworfen  werden  können,  ob  dem  Franzosen  mit 
vollem  (4runde  eine  Sonderarbeit  gewidmet  wurde.  Wenn  man  auch 
im  ersten  Augenblick  versucht  ist.  mit  Nein  zu  antworten,  so  wird  man  doch 
nicht  umhin  können,  festzustellen,  daß  es  wertvoll  ist,  in  einer  zusammen- 
fassenden Abhandlung  zu  lesen,  wie  heimische  Gedanken  auf  Professoren 
fremder  Völker  wirken  und  französische  Gelehrte  in  Bukarest  besonders  be- 
kannt sind.  Diese  Tatsache  besitzt  auch  im  Hinblick  auf  die  Stellung 
Ruminiens  im    Weltkrieg    l)esonderen   Reiz   und   Zusammenh.-Mig. 

Da  P.  Norbert  Brühl  (0.  SS  R.)  sich  wiederholt  mit  den  Gedanken  des 
Berlinei-  Physiologen  J  o  h  a  n  n  P e  t  e  r  M  ü  1 1  e  r  beschäftigt  hat  (Vorbemerkung 
Anni.  1).  so  glaubte  er  die  Zeit  für  Zusammenfassen  einer  der  Hauptlehren 
des  fast  5(1  Jahre  Toten  gekommen,  besonders  weil  auch  neuere  Forschungen 
Feststelhmgen  Müllers  bestätigt  haben  (z.  B.  Vorbemerkung  und  S.  88). 
Deshalb  veröffentlichte  Br.  eine  Abhandlung  über  die  spezifischen  Sinnes- 
energien nach  Johannes  Müller  im  Lichte  der  latsachen  (Fulda  1915). 
Nachdem  Br.  selbst  mamiigfache  Einwände  gegen  Müllersche  An- 
sichten (S.  23  ff.)  und  die  Beweise  für  dieselben  (S.  42  ff.)  angegeben 
hat.  kama  der  Berichterstatter  sich  mehr  mitBrühl  als  mit  Müller  beschäftigen. 
Zunächst  muß  uneingeschränkt  betont  werden,  daß  der  A'erfasser  die  ein- 
schlägige Literatur  sorgfältig  dui'chgearbeitet  haben  dürfte,  und  auf  sie 
fast  stets  (Ausnahme  S.  8:  Lipps,  vgl.  S.  24  und  29,  Verweise  aufstellen  der 
eigenen  Arbeit)  erfreulich  bestimmt  und  klar  verweist.  Auch  hat  der  Ver- 
fasser mannigfache  Berührungspunkte  Müllers  mit  anderen  For- 
schern, besonders  der  vergangener  Tage,  aufgezeigt,  vor  allem  Augustin 
(S.  41,  5f),  52/'3)  und  den  Scholastikern  (S.  59,  104),  mit  dem  gi'oßen  Königs- 
berger, der  manche  Zeitgenossen  und  Nachgeborenen  auch  durch  den  Anreiz 
7.u)n  AMderspruch  beeinflußt  (S.  88,  90  ff.),  sowie  dem  an  jenen  anknüpfenden 


Rezensionen.  121 

Idealismus  (S.  90,  100,  104)  und  schließlich  mit  drei  führenden  Psj'chologeu 
des  neuiuelmten  Jiiliiluindeit.s;,  die  vor  fillcm  St.  Hall,  Die  Begriuider  der 
modcrueii  Psychologie  j^Leipzig  lül4),  eingehend  gewürdigt  hat,  J'Vehiur 
(S.  55),  Helmiioltz  (S.  6/7,  54  ff.,  88,  102)  und  Wundt  (S.  4,  9,  20  ff.,  :«,  40, 
44,  66  ff.,  78  ff.,  88).  Besonders  eingehend  verweilt  Br.  natürlidi  Ixi  den 
Kinwänden,  die  Wundt  gegen  Müller  machte  (H.  66  ff.),  und  rt-kennt 
ndt  scharfem  Blicke  eine  der  SchA^äehen  W'undts.  .,Ä\'iuidt  bezeichnet  man- 
ches als  VoraiLssetzung,  als  wahrscheinliche  Aiuiahiuf,  was  er  anderswo  ein- 
fach behaiiptet"  (S.  67,  vgl.  S.  71).  Das  (inrch  diesen  Satz  gekennzeichnete 
Verhalten  \\'iuidts  dürfte  • —  wie  auch  ich  bei  meiner  Besprechung  von  Hall 
erwähnte  —  vor  allem  daraus  zu  erklären  sein,  daß  ^^'unt{t  in  seinem  arbeits- 
1  eichen  Leben  selbstverständlich  vielseitig  sich  entwickelte  luid  änderte. 
JJoch  hat  dieser  berechtigte  Ansiehtswcchsel  die  für  Wundt  peinliche  Folge 
gehabt,  daß  „andere  sich  auf  solche  Behauptungen  W'undts  wie  auf  erwiesene 
Tatsachen  stützen"  (S.  67,  71/2,  103  Anmerk.  .3).  Aus  dieser  Tatsache  scheint 
mir  ei?i  großer  Teil  der  oft  ungerechten  Angriffe  auf  W'undt,  wie  wir 
sie  z.  B.  in  den  Arbeiten  von  Hall  —  s.  o.  !  —  und  Kraus,  Bentham  U8\\ .  ( 1914) 
kennen  lernten,  zurückzufüluen.  Doch  wemi  auch  Br.  cie  Beziehungen 
Müllers  zu  einzelnen  Forschern  angibt,  die  Umwelt  und  der  Entwicklung.-- 
gang  der  behandelten  Persönlichkeit  wird  nicht  in  derselben  geschickteti 
\V''eise,  die  wir  bei  den  Bäiimkerschülern,  z.  B.  Dr.  Matth.  Meier,  Descartes 
—  1914  —  und  Dr.  Edmund  Spehner,  Malebranches,  Münchener  Diss.  191.3, 
oder  bei  Dr.  v.  Roretz,  Diderots  Weltanschauung  -^  1914  —  beobachteten, 
herausgearbeitet  (vgl.  Post,  .J.  Müllers  jihilos.  Anschauungen,  Halle  1905). 
Die  angedeutete  Kenntnis  jedoch  und  die  Schilderuiig  der  Geistesanlage 
Müller.s,  welche  auch  nicht  im  Zusammenhang  gewürdigt  wird,  aber  aus  der 
gesamten  Lebensarbeit  Müllers  zu  erschließen  wäre,  winden  viel  zxim  bes- 
seren Verständnis  und  zu  einer  richtigeren  Beui'teilung  Müllerscher  Au.s- 
fühi-ungen  beitragen  (vgl  S.  41).  Mehr  als  den  nur  gelegentlich  gestreiften 
Werdegang  Müllers  (S.  7,  88  ff.)  bespricht  der  Verfasser  den  eigenen  und 
Selbsterfahrungen  (S.  4,  13/4,  18,  20,  31,  83/4),  um  Müllersche  Darle- 
gungen erklärend  und  begründend  zu  stützen.  Aus  ihnen  greife  ich  einen 
Punkt  heraus,  damit  auch  die  Arbeitsweise  Brs.  an  einem  Sonder beispiel 
klar  wird.  Um  den  W^ärme-  und  Kältesinn  in  seiner  örtlichen  Verteilung 
zu  zeigen,  wird  im  Anschluß  an  (loldscheider  —  leider  ohne  genaues  Buch- 
zitat — •  eine  Zeichnung  wiedergegeben  (S.  75,  vgl.  S.  78).  An  wieviel  Men- 
schen Avurden  die  Versuche  vorgenommen,  um  die  Bilder  zu  gewimien  ?  In- 
wiefern sind  diese  Schlüsse  aus  den  Feststellungen  bei  .einzelnen  für  die  All- 
geraeinheit richtig?  Welche  ]}ersönliche  Verschiedenheiten  walten  ob,  und 
wie  sind  sie  begründet?  Nur  die  Kenntnis  dieser  Umstände,  welche  alh-in 
der  auf  die  Quellenberichte  Zm-ücligehende  erfahren  kann,  gestattet  ein  wirk- 
liches Xachijrüfen  der  Behauptungen.  Ihre  Wahrscheinlichkeit  bestreite 
ich  gewiß  nicht;  nui'  daß  im  feudi  der  unwiderlegliche  Beweis  fehlt, 
muß  ich  betonen.  Aber  wenn  man  all  diesen  Sonderfragen  hätte  nach- 
gehen wollen,  so  würde  die  Abhandlung  wohl  nicht  100  Seiten  umfassen, 
sondern  ein  dickleibiges  Buch  sein.    Es  würde  aber  von  der  sehr  segensreichen 


122  Rezensionen. 

Beschäftigung  mit  Müller  v,oh\  manche,  die  nicht  zum  engen  Kjeis  der  Ftieli- 
genossen  gehören,  iibsehrecken.  Die  gleiche  Rücksicht  auf  den  Um- 
fang mag  auch  ^Trhind(■rt  haben,  daß  der  Verfasser  die  erwähnten  Äuße- 
rungen über  Subjektivisanis  (.S.  41,  78,  89,  103),  besonders  auf  dem  Gebiete 
der  Künste,  vor  allem  der  Malerei  (S.  43,  52,  54,  89,  95,  ,99)  oder  bei  Beob- 
achtungen, wie  wir  sie  bei  Erich  Ruckhaber,  das  Gedächtnis  (Berlin  1915), 
besjirechen  (S.  72  und  84)  oder  bei  Richard  Müller-Freienfels,  das  Denken 
imd  die  Phantasie  (Leipzig  1916)  keimen  lernen  (S.  86),  ferner  die  Dar- 
legungen über  Entwickeln  des  Erkennens  (8.  97)  nicht  weiter  ausgespoimen 
hat.  Ich  habe  also  auf  diese  Punkte  hingewiesen,  rieht  um  gegen  jemand 
Stellimg  zu  nehmen,  sondern  um  auf  die  Schwierigkeiten,  um  nicht  zu  sagen 
Unmöglichkeit  aus  einzelnen  Beobachtungen  allgemein  gültige  Schlüsse  zu 
ziehen  (vgl.  S.  31,  50,  73),  wieder  einmal  hinzuweisen.  Um  Müllers  An- 
sichten zuni  Schlüsse  kiu'z  wiederzugeben,  benütze  ich  eine  Zusammen- 
stellung   Br.s  (S.  98,  vgl.  S.  103).     ,,Die  Sinnesempfindungen  an  sich  sind 

nm'  Eigenschaften  und  Betätigungen des  Sinnes  selbst.     Sie  sind  keine 

EigeiLschaften  der  äußeren  Dinge,  mid  diese  Dinge  haben  auch  keinen  Ein- 
fluß auf  die  Eigenart  der  EmpfiiKhmg,  die  nm-  im  Simie  selbst  begründet  und 
mit   iJnn  gegeben  ist"  iisw. 

Das  Vorwort  der  psychologischen  Untersuchung  von  Professor  Di. 
Riehard  Müller -Freienfels,  welche  den  Titel  d?.s  Denken  und  die 
Phantasie,  psychologiselie  Untersuchungen  nebst  Exkursen  zur  Psycho- 
patliologie,  Ästhetik  und  Erkenntnistheoxie  (Leipzig  1916,  Johann  Ambicsius 
Barth  — ■  8  Mk.  — )  tragen,  beginnt  mit  dem  Satze:  ,, Dieses  Werk  imter- 
nimmt  eine  Analj'se  jener  komplizierten  seelischen  Erscheimmgen,  die  auch 
die  Umgangssprache,  obgleich  nicht  völlig  in  unserem  Sinne  als  Denken 
und  Phantasie  bezeichnet."  Mit  diesen  Worten  drückt  der  Verfasser  klai 
und  scharf  umrissen  seine  Absicht  aus  (vgl.  S.  11  und  18)  und,  indem  er  der 
Umgangssprache,  die  er  mit  Recht  eine  vorzügliche  Psychologin  nennt 
(S.  23),  vgl.  aTich  m.  Bespr.  v.  Dr.  Rieh.  Baerwald,  Zur  Psychologie  der  Vor- 
.stellungstypen  (Leipzig  1916),  und  Dr.  Kleinpaul,  Volkspsychologie  (Leipzig 
1914),  seine  eigene  Ausdrucksweise  gegenüberstellt  (vgl.  S.  147  luid  193), 
läßt  er  ahnen,  daß  manche  eigenartig  geprägte  Darlegung  zu  erwarten  steh' . 
In  dieselbe  Richtung  weisen  die  nächsten  Gedanken  und  vor  allem  die  aus- 
führliche Einleitung,  da  auf  vorhandene  Unterlassungssünden,  be- 
sonders in  psychologischen  Lehrbüchern  (vgl.  auch  m.  Bespr.  des  Lehr- 
buches von  Professor  Fröbes,  Freiburg  1915)  nachdrücklich  hingewiesen, 
allerdings  leider  ohne  Belege  (vgl.  z.  B.  S.  4,  18,  21,  29),  und  die  eigene  Arbeit 
in  die  allgemeine  Literaturlage  hereingestellt  wird,  indem  fremde  mid 
eigene  Begriffsbestimmungen  und  Entstehungsgesclüchte  des  vorliegenden 
Werkes  geboten  werden.  Ebenso  deutlich  bekennt  sich  der  Verfasser  zun; 
Entwicklungsgedanken  (S.  6,  11),  doch  gibt  er  auch  die  Grenze  des  der- 
zeitigen natiu'wissenschaftlichen  Wissens  zu  (z.  B.  S.  10  ff.  und  238  ff.).  Mit 
der  Bezeichnung  ,, naturwissenschaftlich-medizinischer  Psychologe" 
(vgl.  S.  270)  trifft  man  aber  niu-  die  eine  Seite  von  Dr.  M.,  da  er  gegen  die 


Rezensionen.  l2o 

iiaturwissenschaftliclic  Motliocle  in  der  Psychologie  auch  berfchtigten  Ein- 
Avaiicl  «.'i-hebt  (S.  35),  rtll»M-diugs  nicht  so  giunclsätzlichon  wie  gegen  die  Ar- 
beitsweise der  traditionellen  Logik  (S.  284ff.,  vgl.  S.  41).  Die  andere 
wichtigere  Seite  läßt  sich  vielleicht  am  besten  mit  dem  AVort  „psychologischer 
Jjiteraturhistoriker"  andeuten.  Die  Versuchspersonen  sind  nämlich 
nicht,  wie  bei  vielen  andeien  Psychologen,  voran  aus  dem  Kreis  um  Wundt. 
in  erster  Linie  lebende  (regenwartmenschen,  welclie  entweder  selbständig  oder 
unter  Jxütung  schriftlieh  oder  mündlich  vorgelegte  Fragen  beantworten  (vgl. 
lu.  Bes])r.  von  Dr.  Bärwald  und  Dr.  Marbe  !),  bzw.  sich  selbst  über  ihr  Denken 
Rechenschaft  geben  (vgl.  S.  39  ff.,  s.  auch  m.  Berieht  über  Ruckhaber!), 
sondern  Tote.  Ihre  Ansichten  werden  den  eigenen  Äußerungen  in  Tagebüchern, 
Briefen  usw.  entnommen.  Eine  Wahl  hat  juieh  besonders  überrascht,  Kaspai 
Hauser  (S.  121  und  134);  denn  seine  Glaubwürdigkeit  ist  lebhaft  umstiitten 
(vgl.  auch  Katalog  der  kgl.  Regiermrgsbibl.,  Ansbach  1913,  S.  367/8,  Nr.  30  ff. !). 
Indem  Dr.  M.  Äußerungen  geschichtlicher  Mämier  mit  .Selbstbetrachtungen 
vereinigt,  will  er  zu  greifbareren  Ergebnissen  gelangen,  als  andere  Psychologen. 
Der  Reihe  nach  A\ertlen  die  einzelnen  Vorstellungen,  welche  dm-ch  die  Sinnes- 
und  Wahrnehmmigsorgane  vermittelt  werden,  beschrieben  imd  bestimmt. 
Selbstverständlich  niuß  sich  der  Verfasser  innner  wieder  mit  anderen  Foi- 
»chern  auseinandersetzen.  Da  dieses  sehr  gründlich  geschieht,  ist  es 
doppelt  bedauerlich,  daß  er  besonders  in  der  Einleituiig  statt  Sonderangaben 
zu  machen,  welche  Forscher  er  im  einzelnen  im  Auge  hat,  nm-  allgemeine 
Wendungen  gebraucht  (Vorw.  III,  S.  14,  18,  21,  28  ff.,  45,  55,  67,  73,  80,  82, 
155,  200,  ,243,  271,  326).  Wenn  auch  dieses  Verfahren  den  Darlegiuigen 
viele  persönlichen  Spitzen  nimmt  (vgl.  Vorwort  S.  7  u.  m.  Berieht  über 
Dr.  Eienmeier),  so  vermag  doch  derjenige,  welcher  etwas  über  die 
(^scliichte  der  einzelnen  Begriffe  erfahren  will,  kein  ganz  scharf  um- 
rissenes  Bild  zu  ge^^imien,  sofern  er  nicht  die  ganzeLiteratur  ebenso  über- 
blickt, wie  der  erfahrene,  belesene  Verfasser.  Ebenso  wird  nicht  immer 
gesagt  (z.  B.  S.  11,  31,  33,  38,  40,  69,  78,  85,  103  Ajim.,  105,  123,  133  ff., 
182,  204,  210,  243,  249  f.,  264,  271,  281,  283  ff.,  292,  320,  325),  in 
welchem  Zusammenhang  die  gebilligte  oder  bekämpfte  Ansicht  bei  einem 
genaimten  Forscher  steht,  wie  wohl  diese  Kemitnis  für  die  Bem-teilung  der 
Sachlage  bekanntlich  nicht  bedeutungslos  ist.  Doch  wenn  auch  der  künftige 
C^fechichtsschreiber,  welcher  die  Wandlmigen  von  einzelnen  Begriffen  be- 
leuchten will,  bei  dieser  Erwähnungsweise,  die  der  Verfasser  mit  vielen  anderen 
.\rtgenossen  gemeinsam  hat  (vgl.  z.  B.  m.  Besprechungen  von  Dr.  Cohn. 
Fröbes,  (^abrilovitsch,  Ki-amar),  die  von  Dr.  M.  beigezogenen  Darstellungen 
nochmals  wird  dm'chackern  müssen,  so  findet  er  doch  sehr  viele  Auseinander- 
setzungen, welche  die  Aiisichten  des  Verfassers  selbst  erkennen  lassen,  ob- 
gleich er  an  die  Aufmerksamkeit  seiner  Leser  auch  dadurch  sehr  große  An- 
forderungen stellt,  daß  er  auf  die  einzelnen  Stellen  seines  Buches  fast  immer 
auch  nur  in  allgemeinen  Ausdrücken  verweist  (Ausnahme  S.  247  !).  Doch  genug 
mit  die-sen  C4edankcn  über  die  Arbeitsweise  und  zum  Schluß  einige  bezeich- 
nende Angaben  über  SonderansichtenDr.  Ms.  !  Über  die  Vorstellungen 
zum  Beispiel  urteilt  Dr.  M.  (S.  87):     „Völlig  abzulehnen  ist  die  Lelrre,  welche 


124 


RezeDsioneo. 


die  in  der  Senk'  von  Eiudrüekon  bleibenden  ^'aelnvii  kinigen  ;i.ls  „uabe^\nütc 
\'orstellungen"   oder   „latenten    Eiinneiungsbilder"   definiert."      Zu    Beginn 
des  zweiten  Kapitels  über  „analytische  Funktion  im  Wahrnehmen  oder  die 
Aufmerksamkeit"  nennt   der  Verf.,  indem  er   zit  den  Ergebnissen  des  A-oran- 
gehenden    Abschnittes    ergänzende    (Jrundlagen    bietet,    das    ^^'ahrnehmen 
„ein  Denken,  das  sich  niu'  direkt    an  den  äußeren  Gegebenheiten  betätigt" 
(S.  90).      Aus  seinen  verschiedenen   Feststellungen  zieht  der  Verfasser  auch 
selbstverständlich  Schlüsse,  welche  f  ü  r  das  Lehren  und  E  r  z  i  e  h  e  n  A\ichtig 
sind,  indem  er  „der  sogenannten  alten  Assoziationspsychologie"  die  neuere 
„Pädagogik,   welche  Cefiihl   \nid  Tätigkeit  der  Kinder  am-cgen  will",   gegen- 
überstellt (,S.  100).     Doch  wird  ( Jefühl  und  Tätigkeit,  die  kein  weitschauender 
Lehi-er  gering  schätzt  (vgl.  auch  m.  Bespr.  von  Dr.  Kerschensteiner,  Char.  kter 
usw, —  Leipzig  19L5' — ),  ini  allgemeinen  nur  ausgelöst,  wemi  das  Beobachtete 
irgendAvie  verwandte  Seiten,  d.  h.  im  Kinde  Schlummerndes  wachruft  (S.  104  ff., 
2r)0.  288).     Deshalb  wirken  unter  gewissen  Umständen  dieselben  Tatsachen 
auf  einzelne  Schüler  ganz  verschieden;  z.  B.  wird  sehr  oft  der  Kern  eines  Vor- 
ganges   oder    einer    Sache    nicht    wahrgenommen,    während    Äußerlichkeiten 
auffallen,  besonders  wenn  Ernstes  mitzuerleben  ist.     Auch  daß  Mitsprechen 
der  Lehrerwoite  besonders  gespamitt>  Aufmerksamkeit  beweise,  werden  kaum 
alle  Lehrer  bejahen;  denn  gerade  ciie  eifrigsten  Mitflüsterer  zeigen  sich  mit- 
unter  ganz   geistesabAA'esend,    wenn   sie   nach    dem   Mitgesprochenen   gefragt 
werden.    Doch  ich  will  nicht  Einzelheiten,  über  deien  Auffassung  sich  streiten 
läßt,  herausheben,  sondern  nur  andeuten,  daß  die  alte  Binsenwahrheit  von 
den  zwei  Seiten  jedes  Dinges   nie   beiseite  geschoben  werden  darf.     Weniger 
Bedenken  dürfte  das  über  die  Äußerungen  kleiner   Kinder  Ciesagte  erregen 
(S.  115  und  153),  und  ebenso  die  Darlegungen,  welche  Vorstellung  die  Kleinen 
von  einzelnen  Dingen  sich  bilden  (S.  142),  wie  besonders  ausfühi'lich  W.  Stern, 
Psychologie  der  frühen  Kindheit  (Leipzig  1914)  hervorhebt.     Doch  wie  auch 
jeder  Leser  zum  Buch  als  Ganzes  oder  zu  einzelnen  seiner  Stellen,  zum  Bei- 
spiel   zu    den    Wahrnehmungsmteilen   und    Begriffen    (Kapitel  4),    zum    ziel- 
strebigen Denken  (Kap.  7),  über  den  sogenamiten  Zufall  (S. '86ff.,  vgl.   m. 
Bericht    über   Dr.    Timmerding,    Zufall.      Braunschweig    1915)    stehen   mag, 
das  eine  dürfte  niemand  leugnen,  daß  das  Werk  sehr    fruchtbare    Anre- 
gungen gibt  und  den   Kampf    gegen   die  hergebrachte  „Vorstellungs- 
psychologie"  zugunsten   einer   „Äktionspsychologie"  sehr  entschieden 
führt  und  auch  ein  „System"  seiner  Ansichten  bietet.     Daß  nicht   alle   an- 
geschnittenen Fragen  endgültig    beantwortet   werden,    voran  diejenige, 
was   ist   Denken?,  wie  geschieht  es?,  werden  nur  Übelwollende  ankreiden. 
Möge   der  ziel-  und   selbstbewußte   Verfasser,   nachdem  er  recht   bald   AÖUig 
genesen,    seinem  friedlichen    Beruf  zurückgegeben    ist,     uns    neue     Ergeb- 
nisse  seines   durchdringenden   Verstandes,   welche  auch  jene  Grund- 
fragen beleuchten,  schenken  können!  (Schluß  folgt.) 
Bergzabern.  ^^''  Jegel. 


A  r  0  li  i  V 


lÜT 


Oeschichte  der  Philosophie 


herausgegeben 
von 

L  u  d  w  i  £■    Stein. 


XXIV.  Band. 

Neue    Folge 
XXIV.  Band. 


B  K  R  L  1  N. 

Druck  und  \'erlag  von  Leon  hart!  Siuiion  N't. 

1918. 


Archiv  für  Philosophie. 

I.  Abteilang: 

Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie, 

Neue  Folge.     XXIV.  Band,   3.  Heft. 


VII. 

Ein  Beitrag  zum  heraklitisch-parmenideischen 
Erkenntnisproblem. 

Von 

Dr.  Emanuel  Loew,  Wien. 
(Schluß.) 

.Dieser  Tadel  gilt  allen  Logosdenkern,  den  öoxificoTatoi  (28) 
gerade  so  wie  ihrem  Gefolge.  Schein  ist  es,  was  die  durch  ihr  Schein- 
wissen angesehensten  Männer  erkennen  (28).  Wirkliches  Wissen  ge- 
winnen nur  diejenigen,  welche  die  ewige  gleichmäßige  Entwicklung 
der  Erscheinungen  xccth  (fvoiv  erkennen,  und  indem  sie  .den  vov^ 
wach  erhalten,  eine  Erinnerung  an  das  bewahren,  was  sie  (pQor//Oei. 
erkannt  haben.  Was  alle  anderen  Menschen  gleichsam  im  Schlafe 
verharrend  denken  (reden) ^Sj  "und  tun,  ist  Nichtwirkliches  (1,  21,  73) 


^3)  livHV  ist  ebenso  wie  KöyoQ  bei  H.  und  P.  der  Ausdruck  für  logisch 
/  ^  Nichtwirkliches)  denken  und  reden.  In  meinen  früheren  Arbeiten,  als 
ich  für  die  ganze  Sache  wohl  schon  das  richtige  Empfinden  hatte,  ohne  es 
genauer  begründen  zu  können,  habe  ich  den  Gegensatz  Xiyeiv,  löyog  — 
(foorsh-^  (pooi'rjGig  durch  , künstlich  berechnen'  • — ,  natürlich  verstehen', 
wiedergegeben;  schärfer  ist  , (logisch)  denken' —  »(wirklich)  erkennen'.  Nestle 
nennt  das  eine  kecke  Behauptung  (Ai-ch.  1912,  S.  288).  „Gibt  es  aber,  ruft 
er  aus,  übsrhaupt  in  der  griechischen  Literatur  eine  Stelle,  wo  Xsysiv  , künst- 
lich berechnen'  heißt?  Ich  weiß  keine."  Demgegenüber  verweise  ich  1.  auf 
Schleiermacher  (Ges.  W.  Abt.  3,  Bd.  2,  S.  107):  „Und  hier  gleich  mag  es  er- 
laubt sein,  die  Vermutung  aufzustellen,  daß  der  Sprachgebrauch  durch  das 
Wort  Xöyog  auch  die  Vernunft  zu  bezeichnen.  .  .  abgeleitet  von  leysii' 
sammeln,  zusammenstellen  .  .  .";  2.  auf  Patin,  der  freilich  nur  von 
Parmenides  sagt :  „Xoyoc  scheint  soM'ohl  die  mit  dem  Sinn  zusammenfallende 

9* 


126  Eiuaniiel    Loew, 

ditaft^bj,  die  man  besser  bergen  sollte  als  zur  Schau  tragen  (109,  95) 
oder  m>h\uadifj,  die  den  röoc  nicht  belehrt  (40).  Will  der  voog  be- 
Iclu-t  werden,  so  darf  er  nicht  .iragtcov  äjTtivcu  (34),  d.  h.  er  darf 
nicht  abstrahieren,  statt  zu  erleben;  denn  dadurch  werden  die  Men- 
schen wie  unerfahren  (1),  als  ob  sie  keine  Sinne  hätten  (34).  Statt 
die  Dinge  des  Alltags  zu  beobachten,  stoßen  sie  verständnislos  auf 
dieselben  und  erkennen  sie  nicht,  bilden  sich's  aber  ein  (17),  die  Dinge 
erscheinen  ihnen  fremd  (72),  offenbar  weil  der  vovq  mit  ihnen  nicht 
zusammenkommt,  an  ihnen  nichts  erlebt  und  deshalb  keine  Erinne- 
rung an  sie  bewahrt.  Woher  kommt  dieser  Stumpfsinn?  Von  dem 
beständigen  Verkehr  mit  dem  Logos  (72).  Das  oofföv  ist  nämlich 
etwas  von  allen  Logoi  Gesondertes  (108)^4) :    Gegenstand  der  Logos- 


Wahrheit  des  Denkens    als    auch    die    Sprache  und  ihre  bezeichnende 
Kraft  zu  bedeuten"  (a.  a.  0.  8.  534);  3.  auf  die  Tatsache,  daß  sich  auch  bei 
Xenophon    und  Piato    nicht    selten  Sätzchen  finden,    wie    dni,   it  kiyeig 
„sage,  wie  du  dir  die  Sache  in  Gedanken  vorstellst",  „berechnest".   Mit  diesem 
Einwand  hat  also  der  so  selbstsichere  Rezensent  nicht  mehr  Glück  als  mit 
seinem  in  Anm.  19  widerlegten.    Keineswegs  darf  eine  Auffassung   der   hera- 
klitischen  Philosophie,    die  voraussetzt,    Hieraklits  loyog  sei  ein  Proteus 
(Diels),  sei'ne   (pQorijaig  sei  mehrdeutig  und  ermögliche  daher  leicht  eine 
Umbiegung  des  Gedankens  (Th.  Gomperz),   sein  köyog    sei   mit    cpQovsJi 
und  (pooi'ijatg  synonym,    es  könne  daher  das  eine  die  Rolle  des  anderen 
übernehmen  (Xestle),    sein  löyog  habe    kosmologische   Bedeutung,  der  luyug 
seines    Gegners   Parmenides   dagegen  erkenntnistheoretische,    als   so    „wohl- 
begründet" bezeichnet  werden,  daß  ihr  gegenüber  die  Auffassung,  derselbe 
Name  habe  sowohl  bei  demselben  Denker  als  auch  bei  dessen  zeitgenössischem 
Gegner  immer  dieselbe  Bedeutung,  als  „eine  gewalttätige  und  irreführende  Ent- 
stellung des  alten  Denkers"  verschrien  werden  dürfte.    (Nestle,  Arch.  a.  a.  0. 
S.  304.)     Ich   gebe   ohne   weiteres   zu,    daß    die   Begründung   meiner   These 
vielfache   Fehler    und   Lücken  aufwies,    aber   durch   die    Berichtigung   der- 
.selben,  die  ich  der  sorgfältigen  Erwägung  der  rein  sachlichen  Bemerkungen 
seitens  der  Kritik  —  ihr  oft   maßloses   Geschimpfe    ließ  ich    unbeachtet  — 
«owie  weiterem  eigenen  Studium  verdanke,  gewinnt  meine  These  eine  m.  E. 
erst  recht   feste   Stütze. 

34)  ^xÖGiov  luyovg  tjxovßa,  ovdeig  dcßixvHTai  ig  tovto,  cuOtb  yirojGxny, 
on  Gocpöi'  lari  xexiOQiG^irov  'tvuvtlov.  Bislier  hat  man  nürnov  als 
neutrum  gefaßt  und ^  übersetzt,  das  Weise  sei  von  allem  gesondert,  liege 
jenseits  aller  Erfahrung.  „Das  heraklitische  xsxtoQia^iroy  ist  somit  ein 
unmittelbarer  Vorblick  auf  die  platonische  Idee".(Slonimsky).  Genau  dr.s 
Gegenteil  ist  richtig.  TrwVrwi' ist  masc,  bezogen  auf  W/owc,  und  heißt:  Das 
Weise  ist  etwas  von  allen  löyoi  Gesondertes,  hat  mit  dem  Rationalismus 
nichts  zu  tun.     Gegenstand  der  Erfahrungserkenntnis  sind  ja  die  nuoeövTU, 


Ein  Beitrag  zum  lioraklitisch-parmenid.  Eikenntnispicblem.  J27 

erkenntnis  sind,  wie  uns  Parmenides  bald  bestätigen  wird,  die  djTtövTa 
(Farm.  Fr.  2),  das  oo(p6r  aber  hat  es  nur  mit  den  :xa(jt6vra  zu  tun, 
es  will  erfahrbarwirkliches  Leben  genannt  werden  (.32).      .Has  Er- 
kennen des  Erfahrbarwirklichen  ist  die  größte  Fähigkeit  und  Weis- 
heit ist  logisch  Wahres  denken  (reden)   und  tun   nur   dann,    wenn 
man  der  natiirliehen  Entwicklung  gemäß  auf  diese  hinhorcht  (112) 
und  niemand  kann  sich  der  Wirklichkeit  völlig  entziehen,  auch  die 
schlafeiulen  Logosdenker  nicht,  „auch  die  Schlafenden  sind  AVerk- 
leute  und  Mitwirker  der  im  Kosmos  sich  entwickelnden  Ereignisse'' 
(75),  auch  sie  haben  an  der  allen  gemeinsamen  ffQovt/oi^  teil.    Woraus 
freilich  nicht  folgt,  daß  alle  den  gleichen  Anteil  haben.    .Oer  dumme 
Kerl,  der  sich  von  jedem  Logos  imponieren  läßt  (87),  kann  nicht, 
wenn  er  nur  strebend  sich  bemüht,  an  Weisheit  mit  Homer  wett- 
eifern, „dej-  doch  weiser  war  als  die  Hellenen  allesamt"  (56).    Man 
darf  es  also  nicht  so  machen  wie  die  Ephesier,  ,,die  Hermodoros, 
ihren  wackersten  Mann,  aus  der  Stadt  gejagt  haben  mit  den  Worten: 
\'on  uns  soll  keiner  der  wackerste  sein  oder  wenn  schon,  dann  anders- 
wo und  bei  anderen"  (121).  Xein,  es  ist  v6{/og,  auch  der  ^iovP.t'j  des 
i-lg  zu  folgen  (33),   der  dg  gilt  zehntausend,  wenn  er  der  ägiorog 
ist  (49).      .Uie  aQioroi  nämlich  ziehen  den  ewigen  Ruhm   den  ver- 
gänglichen Dingen  vor,   die   ol  jcoUoi  aber  liegen  da,  voUgefresseii 
wie  das  Vieh  (29),  dessen  Glück  in  körperlichen  Lustgefühlen  l)e- 
steht  (4).   Ochsen  sind  glücklich,  wenn  sie  Erbsen  zu  fressen  finden  (4), 
Esel  würden  Häckerling  dem  Golde  vorziehen  (9).    So  sind  auch  die 
01  .-loUol  xcr/Mi,  6/Jyot  d'  (r/c.f^oi  (104).     Sie    sind    deshalb,    ob- 


Gegenstand  der  reinen  Gedankenerkenntnis  sind  tlie  «TTfOJ'iM.  >So\vie  also  nach 
H.  das  G0(f6i'  xs/cüoiGfAtvor  ndvnov  lüiv  uTreoi'TCuv  ist,  so  ist  nach  Parm. 
das  dh]d^iQ  xe^iOQio^iivov  ttuvtiov  tcov  rruoeoiiioi'  (vgl.  das  zu  fr.  2  Gesagte). 
Im  .Schlafe,  heißt  es  im  Berichte  des  Sextus,  wenn  sich  die  uiG&rjixoi  TTÖqoi 
schließen,  wird  der  rovc  vom  Zusammenhang  mit  dem  neoiixor  ;ftu^('UT«<, 
XWQiatf^eig  aber  verliert  er  die  pp)]/jiovixt]  övvufitc,  die  er  früher  hatte. 
Im  Wachsein  aber  gewinnt  er  sie  wieder  r«  Ttsqiiyovii  gv/j  (iu/.iov.  \on 
der  Wirklichkeit  getrennt,  verliert  der  vovg  seine  Gedächtniskraft;  folglich 
kann  das  Gocpör  nicht  jenseits  aller  Wirklichkeit  liegen,  im  Gegenteil,  es  ist 
mit  der  Wirklichkeit  identisch.  Bei  Herbertz  (a.  a.  O.  8.  34)  findet  sich  fol- 
gender Satz  aus  F.  C.  S.  Schiller:  Humanismus.  Beiträge  zu  einer  iJragma- 
tischen  Philosophie  S.  55:  ,,So  ist  es  das  ttowtov  iliev(^og  des  Apriorismus 
daß  er  unseren  Intellekt  (bei  H.  =  (f,Q6v)]Gig!)  getrennt  von  dessen 
biologischer  .  .  .  Grundlage  .  .  .  betrachtet."  Das  deckt  sich  fast  wörtlich 
mit  Heraklits  fr.  108. 


128      •  Emanuel   Loew, 

wohl  sie.  die  allen  gemeinsame  (fQÖrr/Oig  besitzen  (113  +  2),    doch 
ungeeignete  Lehrer  (104),  weil  sie  wie  Kinder  handeln,  die  alles  ihren 
Eltern  nachmachen  \ind  immer  nur  sagen:    Wie  wir's  übernommen 
haben  (74).    Und  diese  stumpfsinnige,  denkfaule  Menge,  deren  Typus 
der  dumme  Kerl  ist,  dem  jeder  Logos  imponiert  (87),  bildet  das  Ge- 
folge der  Logosdenker,  welche  die  Entwicklung  des  Alls  xara  Xoyov  , 
beurteilen  wollen  (1),    als  ob  dor  Xoyo^  xoiv(k,   die  (fgovr/oig  löia 
wäre  (2).    Sie  leben  daheft  nicht   wie  die  Wachen  im  ycöcfiog  xoivöz 
(89),  der,  wie  er  jetzt  ist,  immer  war  und  immer  sein  wird  (30),  sie 
wenden  sich  von  diesem  xöoiiog  ab  und  leben,  nein,  sie  schlafen  in 
einem  xoofioc;  idtog,  wie  sich  ihn  jeder  einzelne  von  den  Schlafenden 
konstruiert  (89),  als  ob  einer  der  Götter  oder  Menschen  irgendwo 
und  irgendwann  eine  ungeordnete  Stoffmasse  gefunden  hätte,    aus 
der  er  wie  ein  Baumeister   mit  Xöyog  und  iutqov  eine  Welt  „ge- 
macht" hätte  (30).    Aber  der  schönste  Kosmos,  den  sie  in  ihren  Ge- 
danken konstruieren,  ist  ein  aufs  Geratewohl  hingeworfener  Kehricht- 
haufe  (124),  Kinderspiele  sind  menschliche  Berechnungen  (70),  wie 
wenn  Knaben  beim  Spiele  Brettsteine  hin  und  her  setzen  (52). 

Nur  Schein  ist's,  was  die  durch  ihr  Scheinwissen  angesehensten 
Männer  zu  erkennen  glauben;  aber  freilich  diese  Lügenschmiede  und 
ihi-e  Zeugen  wird  auch  die  Alxrj  zu  fassen  wissen  (28).  Zu  diesen 
doxific^razoi  tpevöcöv  rixTorsc,  den  xoxiöcor  dayr/yoi,  den  Erz- 
scharlatanen (81),  gehören  namentlich  Hesiod,  Pythagoras,  Xeno- 
phanes  und  Hekataios  (40),  desgleichen  Homer  und  Archilochos  (42), 
wohl  auch  Thaies  (38)^5),  ihre  fmQTVQsc  sind  ihre  Nachbeter.  Sie 
alle  zeihe  nicht  ich,  Heraklit,  allein,  der  Lüge,  sondern  auch  die 
z//x/y36j  wird  sie  fassen,  d.  h.  auch  das  Naturgesetz  wird  sie  Lügen 


^^)  daTOoloyriao.i,  ist  offenbar  im  tadelnden  Sinne  zu  fassen  (fr.  38); 
denn  auch  Homer  heißt  düTqolöyog  (104).  Besser  kam  Blas  weg,  ov  TtXkor 
Xöyog  I]  T(Zv  äiXtov  {39).  Auch  hier  bin  ich  nicht  in  der  Lage,  dem  Rate  Nestles 
folgend,  aus  dem  nächsten  besten  Wörterbuch  Belehrung  zu  schöpfen  und  mit 
Nestle  zu  übersetzen:  „von  dem  mehr  die  Rede  ist"  oder  „der  mehr  bedeutet". 
Es  heißt  vielmehr:  „dessen  Logos  mehr  wiegt  als  der  aller  anderen".  Heraklit 
hat  gar  vieler  Männer  Theorien  gehört,  also  auch  die  des  Blas,  die  mehr  wiegt 
als  die  aller  anderen  (108,  39).  Was  H.  zu  dieser  Anerkennung  bewog,  wissen 
wir  leider  nicht. 

36)  Burnet  a.  a.  0.  8.  25:  „Für  den  regelmäßigen  Verlauf  der  Natur, 
als  er  zuerst  entdeckt  wurde,  fand  sich  kein  besseres  Wort  als  JTxjj.  Es  ist 
dieselbe- Metapher,  die  noch  im  Ausdruck  „Naturgesetz"  weiter  lebt."    Vgl. 


Ein  Beitrag  zum  heraklitisch-parmenid.  Erkenntnisproblem.         120 

strafen.  Hätten  diese  TixTovt^,  die  Baumeister,  ihre  ipevdsa,  ihre 
Pseiido Wahrheiten,  nicht  ersonnen,  so  hätten  die  Menschen  niemals 
erfahren,  daß  das  Naturgesetz  mit  den  ij^tcöia  im  Widerspruch  stehe, 
oder  wie  H.  sagt,  „die  Menschen  kennten  nicht  das  orofia  /lixfj^, 
wenn  diese  sc.  i^^tvöea  nicht  wären"  (23). 

Eines    der    ipivdta,     welches     die     das     Werden     des     Alls 
xara  Xöyov  beurteilenden  Weltbaumeister  konstruiert   haben,    be- 
trifft   die    Sonne.      „Die    Sonne    ist    neu    an    jedem     Tage"    (6) 
«nd  „hat  die  Breite  eines  menschlichen  Fußes"  (3).     Man  hat  sich 
oft  über    die    „über   alle   Maßen   naive  Zuversicht   zur    «'/öi9-/;a<c" 
gewundert,  von  der  diese  beiden  Aussprüche  zeugen.    Denn  daß  ein 
Schiff  aus  der  Ferne  wie  ein  Punkt  aussieht,  dann  wie  eine  Linie, 
die  immer  grüßer  wird,  bis  man  das  eigentliche  Schiff  erkennt,  war 
wie  jedem  Griechen  auch  H.  bekannt,  und  Aristoteles  verhehlt  seinen 
Ärger  gegen  das  ganze  heraklitische  System  nur  schlecht,  wenn  er 
mit  derselben  Geringschätzung,  mit  der  er  über  Heraklits  Ausdrucks- 
weise urteilt^"),  hier  scheinbar  objektiv  polemisierend  sagt,  die  Sonne 
scheine  nur  einen  Fuß  breit  zu  sein,  es  sei  aber  erwiesen,  daß  sie  größer 
sei  als  die  Erde;  man  beachte  das  Gehässige,  das  schon  im  Ausdruck 
liegt:    (fairtrai  .  .  .  iptv6f~j  .  .  .  xexiorsvrca  de  .  .  .^^)     Die   beiden 
an  sich  gewiß  sehr  sonderbaren  Äußerungen  sind  nur  als  Zuspitzung 
-aus  einem  polemischen  Motiv  heraus  zu  verstehen,  wenn  man  sie 
als  einen  Protest  gegen  das  Messen  und  Berechnen  nach  absolut 
gültigem  Maßstabe  auffaßt.    Was  gehen  uns  Menschen,  will  H.  sagen, 
die  Größenverhältnisse  der  Sonne  an?     Wir  können  sie  nicht  fest- 
stellen, schon  deswegen  nicht,  weil  die  Sonne  an  jedem  Tage  neu  ist. 
Übrigens  ist  für  die  Menschen  nur  das  wirklich,  w^as  allen  gemeinsam 
erscheint.     Da  nun  für  das  menschliche  Auge  die  Sonne  die  Breite 
eines  menschlichen  Fußes  hat,  so  ist  das  allen  gemeinsam  Erscheinende 
auch  wirklich.    Das  entspricht  gewiß  nicht  der  „Wahrheit";  aber  die 


•dazu  Anm.  18:  „  .  .  .  die  festen  Regeln  und  bestimmten  Weisen,  wonach  Gott 
solche  Folgen  von  Ideen  in  uns  erzeugt,  heißen  „Naturgesetze". 

3')  Arist.  Rhet.  III  o,  1407  b,  16.  Aristoteles  sagt,  H.  habe  auf  seine 
Meinungen  ebenso  großes  Vertrauen  als  andere  auf  ihr  Wissen.  Vgl.  Zeller 
a.  a.  0.  tS.  571. 

28)  de  an.  III  3,  428  b:  (puirsTUi,  6e  xut  ipsvdrj  .  .  .  olov  (puiveiut  fih 
«  fjXtog  noöimoc,  niniGiivTUV  (J'  ihuv  /jsi^o)  Tr,g  oixovjjirrjg.  Nestle 
<Archiv  a.  a.  0.  8.  300). 


130  Emanuel   Loew, 

,,AVahrheit"  finden  ja  die,  welche  die  Sonne  berechnen  und  messen, 
auch  nicht.  Und  wenn  sie  behaupten,  daß  die  Sonne  „Maße"  über- 
schreiten werde  {^tTQa  heißt  es  und  nicht,  wie  man  allgemein  über- 
setzt, TU  ittTQa  ihre  Maße!)^^),  so  ruft  ihnen  H.  entgegen:  „Die 
Sonne  wird  „Maße"  nicht  überschreiten;  ansonst  werden  die  Erinyen. 
der  Dike  Schergen,  sie  ausfindig  machen",  d.  h.  das  Naturgesetz 
wird  sich  an  der  Sonne  bitter  rächen,  wenn  ihre  Bahn  durch  vorher 
absolut  festgelegte,  durch  menschliche  Berechnung  zu  ermittelnder 
,wfcT(>ß  bedingt' sein  sollte.  Nein,  der  Helios  kann  nach  /JtTQa  ebenso- 
wenig gemessen  werden,  wie  der  xoOftoi^  überhaupt. 

Den  gegenwärtigen  Zustand  der  Kosmosentwickhmg,  den  wir  da 
vor  uns  haben,  hat  nämlich  kein  Baumeister,  weder  einer  der  Götter 
noch  einer  der  Menschen  „gemacht".  Der  Hauptton  liegt  nicht  so 
sehr  auf  ovrs  d^tcör  tiq  oIt  ävd-Qcjjtcor  (=  überhaupt  niemand), 
sondern  auf  tjtohiotr.  Der  Kosmos  ist  nicht  das  Machwerk  irgend- 
eines Baumeisters,  sei  es  der  Götter,  sei  es  der  Menschen,  der  irgendwo 
und  irgendwann  ungeordneten  Stoff  gefunden  hätte,  der  ihm  zum  Bau 
eines  Kosmos  geeignet  erschien  und  ihn  deshalb  veranlaßte,  unter  Zu- 
grundelegung vorher  genau  berechneter,  absolut  bestimmter  ittriKc 
einen  Bauplan  zu  entwerfen,  nein,  sowie  der  xooftog  jetzt  ist,  war 
er  immer  und  wird  immer  sein:  ein  ewiglebendes  Feuer  .  .  .  Das  Feuer 
lebt  ewig,  d.  h.  es  ist  in  rastlose^-  Entwicklung,  es  nimmt  fortwähi-end 
Brennstoff  in  sich  auf  und  gibt  glefchzeitig  fortwähi-end  Brennstoff 
von  sich  ab,  es  gibt  also  nicht  etwa  wechselnde  Perioden  im  Kosmos. 
sondern  die  drcr/xy,  die  fytaQfiiV)/  bewirkt  einen  rastlosen  Über- 
gang zwischen  den  Gegensätzen,  c§  findet  ewiger  Austausch,  .Troow- 
ärTafwili//  (90),  «bwiger  Wandel,  rrvQoc  tqojtcü  (31)  statt.  Eine 
ewig  brennende,  ewig  rauchende  Stoffmasse  aber  wie  der  Kosmos 
kann,  weil  sie  durch  ununterbrochenes  Erglimmen  und  Verlöschen 
fortwährendem  Austausch  und  Wandel  unterworfen  ist,  nicht  nach 
einem  sich  ewig  gleichbleibenden  Logos  gemessen  werden.  Sowi-e  die 
Annahme,  daß  der  in  rastloser  Entwicklung  begriffenen  Sonnenl)ahn 
absolute  ^ittQu  zugrunde  liegen,  mit  dem  Naturgesetze  in  AVider- 
spruch  steht,  so  gibt  es  auch  keine  Möglichkeit,  den  werdenden  Kos- 


39)  Burnet  beruft  sich  für  seine  Auffassung:  „Die  ^'onne  wird  ihre 
Maße  nicht  überschreiten"  auf  Diogenes  von  Aiwllonia.  Aber  da  er  seinen 
Gewährsmann  in  das  Kapitel  „Eklektizismus  und  Reaktion"  einreiht,  hat 
er  den  Zeugniswert  selbst  richtig  beurteilt. 


Ein  Beitrag  zum  heraklitisch-pormenid.  Efk..nntnispioblciu.  131 

mos  nach  absoluten  Maßen  zu  berechnen;  das  macht  schon  das  ewig- 
lebende  Feuer  selbst  unmögjch,  indem  es,  wie  H.  mit  bitterem  Hohne 
sagt,  „(teTQic  immer  wieder  mit  sich  zum  Entfachen,  inr^a  immer 
wieder  mit  sich  zum  Verlöschen  bringt".  Wie  tief  dieser  Hohn  von 
den  Gegnern  empfunden  wurde,  werden  wir  bei  Parmenides  bald  hören. 
Im  Zusammenhange  möchte  ich  also  den  30.  Ausspruch  folgender- 
maßen übersetzen: 

„  Der  gegenwärtige  Zustand  der  Ivosmosentwicklung,  den  wir  vor 
uns  haben,  ist  nicht  jemandes  Machwerk,  weder  eines  der  Götter 
noch  der  Menschen,  sondern  er  bestand  immer,  besteht  und  wird  be- 
stehen :  ein  ewig  lebendes  Feuer,  immer*  wieder  Maße  mit  sich  ent- 
fachend, hnmer  wieder  Maße  mit  sich  verlöschend."^") 

Im  Anschlüsse  an  diesen  Ausspruch  überliefert  uns  Clemens 
zwei  weitere  Fragm.,  die  bei  Diels  unter  Fr.  31  vereinigt  sind: 

jrvQog  TQOJCcu  :jtq<~}Tov   d-c'ÜMOOa,    ihtkaoörjc  dt  to  iilv   t/iiior 
y/j,  To  dl  t'jfiiGv   -rQtjGT//Q 
und 

tyaXaOOa  ÖiayttTcu  xcci  fitTQtercu  ac  ror  c.vToy  /o/or,  ozoToc 
.T (>('}(} Ihtv  ijV  //  ytvtOfhcL  7'//. 

Den  ersten  der  beiden  Sätze  deutet  ('lemens  dahin,  daß  das  Feuer 
von  dem  das  All  waltenden  Worte  oder  Gotte  (vjio  ror  dioLxovvTo^ 
/o'/oc  //  d-8ov)  in  d-äZaoaa  verwandelt  wird,  im  zweiten  lege  H. 
., deutlich"  auseinander,  wie  dann  die  AVeit  wieder  ins  Ursein  zurück- 
kelu-e  und  der  AVeltbrand  entstehe  {ixjrvQocTcu).  Also  die  an- 
geblich heraklitische  Logostheorie  und  Weltbrandtheorie  sollen  diese 
beiden  Sätze  dartun.  AVas  nun  die  letztere  betrifft,  so  steht  sie  schon 
nach  dem  30.  Ausspruche  mit  dem  ganzen  System  Heraklits  ebenso 
im  Widerspruch  wie  die  erstere,  und  ich  verstehe  nicht,  daß  Forscher, 
welche  die  ix.7r^()c?ö^c-Lehl•e  bezweifeln,  ja  sogar  entschieden  be- 
streiten^^), doch  gleichzeitig  eine  Logoslehre  Heraklits  anerkenne]!. 


^")  Vgl.  die  Stellungnahme  des  Parm.  S.  140,  Z.  6  dieser  Ablidlg.  Herbertz 
(a.  a.  ü.  .S.  25) :  „Ich  kann  bei  normalem  ^\  achbewußtsein  nicht  eine  Welt 
von  Wahrnehmungsinhalten  für  mich  erzeugen,  die  sich  ganz  nach  meinem 
Wollen  und  Wünschen  richtet,  sondern  ich  bin  hier  von  irgend  etwas  ab- 
hängig, das  außerhalb  meines  Willens  und  überhaupt  außerhalb  meines  Be- 
wußtseins liegt —  von  eben  den  Außenweltdingen."  Das  ist  der  Inhalt  von 
Heraklits  fr.  .30  und  insbesondere  89. 

")  Von  den  älteren  8chleiermacher  und  Lassalle,  von  den  jüngeren 
Burnet  und  Reinhardt. 


132  Emanuel   Loew, 

Clemens  freilich  macht  sich  den  Beweis,  daß  H.  in  diesen  zwei  Sätzen 
beide  Theorien  lehre,  sehr  leicht:  im  1.  Satz  wird  jivq  dem  /lo/oc, 
im  2.  Teil  X/r/OL;  dem  jivq  gleichgesetzt  und  damit  ist  bewiesen,  daß 
H.  oacfoji;  lehre,  daß  das  jcvq  vom  Xoyog  in  O^dlaaoa  verwandelt 
werde  und  umgekehrt  fyäXaaaa  in  dasselbe  jtvq  zurückkehre.  Aber 
so  ganz  (ja(f(o^  will  mir  die  Sache  nicht  scheinen,  ich  glaube  schon 
eher  dem  Theophrast,  der  von  H.  sagt:  oafpcög  d'  ovdlv  IxTid-trai^^) 
Aus  den  Worten  jivqo^  TQOjrcd  geht  das  eine  hervor,  daß  H.  des 
Feuers  Wandlungen  angil)t,  der  Weg  nach  unten  und  der  nach  oben 
ist  ein  und  derselbe  (60).  .Der  erste  Satz  enthält  nun  die  böoq  xdzo)  : 
Feuer  wird  fhdXaaaa,  von  der  ihäXcujöa  wird  die  eine  Hälfte  /;/,  die 
andere  tiq/jot/jq,  wobei  t6  yfnov  offenbar  nicht  im  mathematischen 
Sinne  zu  fassen  ist,  sondern  so,  wie  man  im  Alltagsleben  zwei  Teile 
eines  Ganzen  „Hälften"  nennt.  Nun  fehlt  noch  die  oöog  arco.  Diese 
hat  Clemens  unterdrückt  und  dafür  den  zweiten  Satz,  der  ursprüng- 
lich einen  ganz  anderen  Sinn  hatte,  so  gedeutet,  als  ob  darin  die  odou 
ctvco  ausgedrückt  wäre,  wobei  es  ihm  zugleich  gelungen  ist,  den  An- 
schein zu  erwecken,  als  ob  das  jtvq  im  ersten  Satze  mit  dem  Xöyog 
im  zweiten  Satze  gleichbedeutend  wäre. 

Nach  meiner  Meinung  steht  die  Sache  folgendermaßen:  Auf  den 
ersten  Satz,  der  die  oöog  xdroj  enthält,  folgte  unmittelbar  ein  zweiter 
Satz,  enthaltend  die  ödog  ävfo.  Im  Anschlüsse  an  diese  beiden  oöoi 
erklärte  H.,  daß  diese  natürliche  Entwicklung  in  regelmäßigem  Wandel, 
in  ununterbrochenem  Austausch,  in  ewigem  Übergang  von  Feuer, 
Wasser,  Erde  und  zurück  begriffen  sei,  daß  es  daher  ein  Widersinn  sei, 
eine  so  rastlose  Entwicklung  „auf  denselben  Logos  hin  zu  messen'\ 
Um  den  Satz  zu  verstehen,  muß  nian  freilich  zunächsj;  beachten,  daß 
x«/  bei  H.  nicht  immer  streng  koordinierte  Begriffe  verbindet,  xmi 
heißt  öfter  „und  dabei",  „und  doch".^^)     So  auch  hier:    {hdXaööa 


*2)  Dieses  GucpuTg  des  Clemens  ist  ebenso  zu  werten  wie  das  Qr]TUJg  des 
Sextus. 

*3)  Bei  der  Verwendung  von  xal  „setzt  der  Grieche  oft  ungleich  mehr 
als  wir  Aufmerksamkeit,  Gedächtnis  und  Kombinationsgabe  voraus,  um 
auch  den  entfernter  liegenden  Begriff,  der  neben  dem  mit  xat  eingeführten 
zu  denken  ist,  herauszufinden"  (Krüger,  Gr.  Sprachl.  1875  §  69).  Vgl.  Her. 
fr,  22:  ^qvGÖv  yuQ  ol  ä o'Qrifiivov  yrjv  TtoXXrjv  ÖQvGGovGi  xal  ivQiGxovGiv 
ölCyor  „die  Goldgräber  schaufeln  viel  Erde  und  doch  (fast  gleich  ,-,aber") 
finden  sie  nur  wenig." 


Ein  Beitrag  zum  heraklitisch-parmenid.  Erkenutnisproblcm.  133 

diayJeTui  xal  fitTokrai !    Kann  es  denn,  meint  H.,  einen  größeren 
Widersinn  geben,  als  Wasser,  welches  anseinandergegossen  wird,  zu- 
gleich zu  messen?  Und  noch  dazu  tk  ror  ccvtov  /o/o;-/  Das  Wasser, 
das  sich  eben  aus  //y  entwickelt  hat  und  nach  allen  Richtungen  aus- 
einander gegossen  wird,  um  sich  in  Feuer  zu  entwickeln,  wird  aul' 
densell^en  Logos  hin  gemessen,  wie  er  früher  war,  bevor  (das  Wasser) 
Erde  ward!    Den  in  ewiger  Entwicklung  begriffenen  Urstoff  messen 
die  Logosdenker  beim  Weg  hinauf  auf  denselben  Logos  hin,  wie  er 
beim  Weg  herab  galt !    Das  heißt,  sich  mit  dem  schöpferischen  Ent- 
wicklungsgange der  Ursubstanz  in  Widerspruch  setzen,  das  ist  vßQn;, 
die  man  eher  löschen  sollte  als  Feuersbrunst  (43),  das  ist  .TtoXi\ua»itj, 
die  den  i'Öoj:  nicht  belehrt  (40).    Es  ist  ein  ftvdo^,  wenn  das,  was 
jeden  Augenblick    anders  wird   (dUoiovTai  67),    immer    auf    den- 
selben Logos  hin  gemessen  whd.     Der  Mensch  kann  nur  (pQov//Oei 
die  verschiedenen  Formen  eines  und  desselben  Wesens  wahrnehmen 
und  erkennen  und  jede  einzelne  Form  mit  einem  bezeichnenden  oro.a« 
benennen:  jivq,  d-cdaooa,  y^j  usw.   In  Whklichkeit  wird  alles  aus  dem 
jrvQ  und  wird  alles  zu  jtig  (10),  sowie  Gold  gegen  Waren  und  Waren 
gegen  Gold  eingetauscht  werden  (90).     Ja,  wenn  alles,  was  da  ist, 
Rauch  würde,  mit  der  Nase  könnte  man  es  noch  auseinanderkennen (7). 
Wie  durch  den  Vergleich  von  Gott  mit  Feuer  (67),  Feuer  mit  Gold 
(80)  wird  diese  Theorie,  die  unter  dem  zum  geflügelten  Worte  gewordenen 
jTclrTCi    (>£?  zusammengefaßt  wird,    durch  das  vielzitierte  Bild  vom 
Flusse  veranschaulicht.    „Man  kann  nicht  zwemial  in  denselben  Fluß 
steigen"-,  ebenso  me  man,  fügt  Plutarch  hinzu,  nicht  zweimal  eine 
vergängliche  Substanz  berühren  kann,  sondern  durch  das  Ungestüm 
und  die  Schnelligkeit  ihrer  Umwandlung  „zerstreut  und  sammelt  sie 
wiederum  und  naht  sich  und  entfernt  sii-h'^  (91).    „Wer  in  dieselben 
Fluten  hinabsteigt,  dem  strömt  stets  anderes  Wasser  zu"  (12)!    „In 
dieselben  Fluten  steigen  wir  und  steigen  wir  nicht,  wü*  sind  und  sind 
nicht"  (49  aj.    Und  in  derselben  rastlosen  Bewegung  wie  die  göttliche 
Ursubstanz    ist   auch  des  Menschen  (fQrjv   >j  voog,    jener  göttliche 
Stoff,  dm-ch  den  wh  alles  erkennen,  und  uns  an  alles  erinnern,  was 
wir  erlebt  haben,   weshalb   denn  auch  die  (p(^>6rt]0Lg  eine  yiroiuni 
fiel  xal  Qtovaa    ist.*^)     Gegenstand   der  fpQonjOic    kann   demnach 
nur  der  xar   drdyxtjv  n-ebjr  vor  sich  gehende  Wechsel  der  Erschei- 


**)  Vgl.  die  Anm.  18  dieser  Abhdlg. 


184  Emanuel   Loew, 

Illingen  sein,  nicht  aber  das  Kombinieren  auf  firiind  logischer  Be- 
reclinung  (126).  „Über  die  wichtigsten  .')inge  laßt  uns  nicht  aufs 
Geratewohl  konibiniei'en"  (47),  das  ist  l'ßQig  und  „i7:^(>/c  soll  man 
eher  löschen  als  Feuerslirunst''  (43),  „folgen  muß  man  dem  allen 
gemeinsamen  ifijovHr'^  (113).  „Ks  war  eben,"  so  charakterisiert 
Burnet  die  wissenschaftliche  Kosmologie  der  alten  Griechen,  ^diese 
große  Gabe  der  Neugierde  und  der  AVunsch,  all  die  wunderbaren 
.Hinge,  die  zu  sehen  wareii  —  Pyramiden,  Überschwemmungen  usw.  — , 
zu  sehen,  welche  die  Griechen  befähigten,  allerlei  Wissenstatsachen, 
wie  sie  dieselben  bei  den  Barbaren  stückweise  antrafen,  aufzulesen 
und  für  ihre  eigenen  Zwecke  auszunützen.  Kaum  hatte  ein  griechi- 
scher Philosoph  ein  halljes  Dutzend  geometrischer  Sätze  kennen  ge- 
lernt und  gehört,  daß  die  Hinimelserscheinungen  zyklisch  wieder- 
kehren, so  machte  er  sich  au  die  Arbeit,  überall  in  der  Natur  nach 
Gesetzen  zu  suchen  und  m  i  t  großartiger,  beinahe  a  n  cßQic 
reichender  Kühnheit  ein  W  e  1 1  s  y  s  t  e  m  z  u  k  o  n  - 
s  t  r  u  i  e  r  e  u.  Wir  mögen  .  .  über  das  seltsame  Gemisch  von  kind- 
licher Einbildungskraft  und  echt  wissenschaftlicher  Einsicht  lächeln, 
das  in  diesen  titanischen  Anstrengungen  sich  zeigt,  und  inanchnuil 
fühlen  wir  uns  beinahe  geneigt,  jenen  Weisen  von  damals  beizupflichten, 
welche  ihre  kühneren  Zeitgenossen  dazu  ermahnten;!  zu  denken,  wie 
es  dem  menschlichen  Wesen  ziemt  {uvB^QO):riva  (fnor&iv)  .  ■  ."' 

Wenngleich  wir  nun  bei  dem  ganz  unsicheren  Zustande  des 
Quellenmaterials  der  griechischen  Philosophie  in  der  Frage,  von 
welchen  Vorgängern  H.  abhängig  sei,  nur  auf  Vermutungen  und  Schlüsse 
angewiesen  bleiben,  also  insbesondere  nicht  entscheiden  können,  ob 
ir,  wie  Slonimsky  meint,  sogar  die  Begriffsausdrücke  löyoc  und 
fttT^ioi'  direkt  von  Pythag*)ras  entlehnt  habe  —  Fr.  40  und  129 
sprechen  dafür  — ,  sicher  bezeugen  zahlreiche  seiner  Aussprüche,  daß 
er  vielfach  Anschauungen  früherer  Denker  rücksichtslos  bekämpft, 
vor  allem  die  Anschauung,  die  so  ganz  zu  dem  paßt,  was  wir  sonst 
von  Pythagoras  hören,  daß  man  das  Weltbild  xata  Xoyor  entwerfen, 
durch  abstrakte  Gedankenerkenntnis  erfassen  könne.  Bedenkt  man 
nun,  daß  diese  einseitige  pythagoreische  und  eleatische  Hinwendung 
zum  Rationalisnms  natürlich  keine  widerspruchslose  Auffassung  des 
Weltsystems  zu  bieten  vermochte,  daß  im  Gegenteil  diese  von  der 
reinen  Abstraktion  ausgehenden  Erwägungen  infolge  der  oft  diametral 
einander   gegenüberstehenden   Vermutungen   und   auf    Kombination 


Ein  Beitrag  zum  heraklitisch-parmenid.  Eikcnntnisprobleir.  135 

beruhenden  Schlüsse  mitunter  zu  (k'W  seltsamsten  Wid.ersprüchen 
luhrten^^j,  dann  ist  es  nur  allzu  begreiflich,  daß  sich  eine  Opposition 
erhob,  die,  ins  andere  Extrem  verfallend,  den  \Vert  der  Logoserkennt- 
nis, und  weil  diese  zugleich  als  Wahrheitserkenntnis  gelten  wollte, 
auch  die  Möglichkeit  der  letzteren  grundsätzlich  bestritt.  Führer 
dieser  Opposition  war  H.,  und  zwar  der  radikalsten  Opposition.  ,,Ks 
gibt  kein  Sein,  es  gibt  kein  Beharren,  alles  ist  nur  in  ewigem  AVerden, 
in  rastloser  Entwicklung.  Für  den  ewig  seienden  Logos  gewinnen 
Menschen  von  Natur  aus  kein  Verständnis,  gemeinsam  ist  allen  das 
<f(K)vfn',  der  Menschen  größte  Fähigkeit."  J)amit  hat  H.  die  Grund- 
lage, auf  der  der  Logos  aufgebaut  ist,  vernichtet,  die  Lebensfähigkeit 
der  (fQortjaiQ  dargetan.  Nicht  auf  dem  Wege  der  Logik  „AVahr- 
heit'"  zu  finden,  ist  nach  H.  das  Ziel  menschlicher  Forschung,  das  ist 
für  das  menschliche  Erkenntnisvermögen  unerreichbar,  das  höchste 
Ziel  ist  einzig  das  ooffor  und  der  Erkenntnis  dieses  oorför  kommt 
der  Mensch  um  so  näher,  je  mehr  er  sich  der  Wirklichkeit  hingibt 
oder  wie  Sextus  sagt,  wenn  der  rovg  im  wachen  Zustande  mit  dem 
snQttyor  zusammenkommt.  ,,.Das  Erkennen  des  Wirklichen  ist  die 
größte  Fähigkeit  und  Weisheit  ist  logisch  ^^'ahres  denken  (reden) 
und  tun  dann,  wenn  es  der  AVirklichkeit  gemäß  geschieht,  indem  man 
auf  sie  hinhorcht"  (112)  und  ,,wenn  man  ^'rr  röfo  logisch  denkt 
(redet),  so  muß  man  sich  mit  dem  ^r/vy  jncvTojr  (dem  Verständnis 
für  Wirklichkeit)  wappnen,  wie  der  Staat  voino,  ja  noch  stärker. 
Nähren  sich  doch  alle  menschlichen  roifoi  aus  dem  einen  göttlichen: 
denn  es  gebietet,  soweit  es  nur  will,  und  genügt  allem  und  obsiegt 
über  alles"  (114),  hat  also  dieselbe  Machtfülle  wie  der  „jro^.eifoc,  der 
Vater  und  König  aller  Dinge"  (53).  Sowie  der  ganze  xooiioc.  in  der 
Gewalt  des  jro^.si/og,  so  ist  die  .rroZiJ^  in  der  Gew^alt  des  röitoc,  und 
zwar  da  alle  rof/oi  (crO-QojjrkioL  ihre  Nahrung,  d.  h.  ihre  Kraft 
aus  dem  röfiog  &8log  =  (pvoig  schöpfen,  in  der  Gewalt  des  vöitog 
fi^Hog,  der  (pvoig.    Um  seinen  rofiog  muß  daher  das  Volk  kämpfen 


*'^)  B!erberba  (a.  a.  ü.  !S.  121):  ,,D^r  gesamtt'n  griechischen  n^tionftlisti- 
.sehen  Philosophie,  der  pythagoreischen  sowie  der  eleatischen,  liegt  die  Über- 
zeugung zugrunde,  die  Welt  müsse  so  beschaffen  sein,  daß  sie  p-uf  eine  unserem 
Geist  angemessene  Weise  in  ihrer  Gresetzmäßigkeit  erkannt  werden  ki^nn. 
Die  mathematische  Erkenntnis  aiber  w?.r  diejenige,  welche  die  durchsichtigsten 
Gesetze  lieferte,  also  mußte  das  Weltbild  au<^h  mit  Hilfe  der  M'themalik  ent- 
worfen werden,  durch  b?gi-ifflich-matheinatische  Erkenntnis  erf:^ßt  werden." 


136  Emanuel  Loew, 

wie  um  seine  Mauer  (41).  A\'ie  sich  also  die  Macht  des  Staates  auf  den 
röfioQ  wie  auf  eine  Mauer  stützt,  so,  ja  noch  stärker  müssen  sich  die 
Logosdenker  auf  das  ^wov  Travror,  clas  Verständnis  lür  Wirklich- 
keit stützen.  Die  Erfahrung  ist  eine  feste  Mauer,  die  den  Menschen 
den  stärksten  Schutz  bietet. 

Allerdings  gibt  es  Fälle,  wo  Berechnung  ebenso  zum  Ziele  führt 
wie  Sinneserkenntnis.  Ein  Beispiel  dafür  bietet  die  Erkenntnis  der 
Bedeutung  der  Siebenzahl.  ,,]!*sach  der  Berechnung  der  Zeiten  beruht 
die  Siebenzahl  auf  einer  Kombination  nach  den  Mondphasen 
(28:4  =  7 !),  nach  dem  Sternbild  des  Bären  aber  erscheint  sie  als 
Zeichen  unsterblichen  Gedenkens  getrennt"  (126),  für  das  mensch- 
liche Auge  sichtbar.  Die  Siebenzahl  ist  also  ebenso  wohl  logisch  be- 
rechenbar als  sinnlich  wahrnehmbar;  aber  auch  hier  ist  der  Weg  durch 
die  Sinneserkenntnis  vorzuziehen,  weil  sie  mit  einem  täglich  wieder- 
kehrenden Erlebnis  verbunden  ist,  weshalb  die  Erinnerung  daran  un- 
sterblich ist  (ad-arärur  iiv/jiniq  örn/etor),  die  Erinnerung  an  logisch 
Erdachtes  aber  ist  vergänglich.^^)  Ebenso  erkennt  der  Mensch  die 
Grenzen  für  Morgen  und  Abend  durch  anschauliche  Sternbilder: 
//  (CQXToc  und  ihr  gegenüber  ovqoc  aid-^iov  zitoc  (120j.  Die  Götter 
sind  es  nämhch,  welche  die  Menschen  durch  sinnlich  wahrnehmbare 
Zeichen  die  Bedeutung  von  Himmelserscheinungen  erkennen  lassen. 
„Der  Herr,  der  das  Orakel  in. Delphi  besitzt,  ist  kein  Logosbetätiger 
und  kein  Geheimtuer,  sondern  Verkünder  wahrnehmbarer  Zeichen" 
(93).  Was  immer  der  rovg  sieht  und  hört,  ist  kosriiisches  Leben,  das 
sich  in  Gegensätzen  offenbart,  und  diese  Gegensätze  sind  eine  Ein- 
heit. Das  tv  üiävra  ist  so  evident,  daß  es  zugegeben  werden  muß, 
auch  wenn  man  nicht  auf  den  Positivisten,  sondern  auf  den  Kationa- 
listen  hört  (50).  Am  klarsten  erkennt  es  der  M^ensch  aus  der  in  ihm 
lebenden  Natur.  „Es  ist  immer  ein  und  dasselbe,  was  in  uns  wohnt: 
Lebendes  und  Totes  und  das  Wache  und  das  Schlafende  und  Jung 
und  Alt.  Wenn  es  umschlägt,  ist  dieses  jenes,  und  jenes  wiederum, 
wenn  es  umschlägt,  dieses"  (88).  „Krankheit  macht  die  Gesundheit 
angenehm,  Übel  das  Gute,  Hunger  den  Überfluß,  Mühe  die  Ruhe"  (111). 
Dieselbe  Erfahrung  macht  der  Mensch  auf  dem  Gebiete  der  Kunst, 
die  er  ja  imr  in  der  Nachahmung  der  Natur  ausübt:  die  Malerei  be- 
wirkt durch  Mischung  entgegengesetzter  Farben  die  Ähnlichkeit  mit 


*«)  Vgl.  Anm.  24. 


Ein  Beitrag  zum  heraklitisch-parmenid.  Erkenntnisproblem.  13  < 

(lern  Originale,  die  Musik  bewirkt  durch  Mischung  entgegengesetzter 
Töne  eine  einheitliche  Harmonie.  Verbindungen  sind:  Ganzes  und 
^'ichtganzes,  Eintracht  und  Zwietracht,  Einklang  und  Mißklang  und 
aus  allem  eines  und  aus  einem  alles  (10).  Das  auseinander  Strebende 
geht  ineinander:  .-raXlvTQOJtog  dQ{<orh/  wie  beim  Bogen  und  der 
Leier  (51).  Der  Bogen,  dessen  tQyov  der  {hcvarog  ist,  hat  das  ovo^kc 
^:?/oc  (48).  Und  so  offenbart  sich  das  ganze  Werden  im  Kosmos,  es 
ist  ein  ewiges  Auseinandertreten  der  Gegensätze  fjioh^uoc)  und 
Wiedervereinigung  des  Getrennten  fdittjrri),  Zwietracht  Eintracht, 
Widerspruch  Harmonie  (8,  80).  „Gar  vieler  Dinge  müssen  also  die 
urdQ8g  (fiXoooffOL  kundig  sein" 4')  (35),  aber  mögen  sie  noch  so  viel 
wissen,  es  geht  ihnen  doch  wie  den  „Goldgräbern,  die  viel  Erde  schau- 
fehi  und  doch  nur  wenig  finden"  ^22).  Denn  die  menschliche  Weis- 
heit ist  nichts  wert  'm\  Vergleiche  zur  Weisheit  der  Götter.  In  dieser 
Hinsicht  verhält  sich  Gott:  reifer  Mann  =  reifer  Mann:  unmündiger 
Knabe  (79)  oder  Gott:  Mensch  =  Mensch:  Affe  (82,  83).  „Des 
Menschen  Sinn  hat  keine  Einsichten,  wohl  aber  der  göttliche"  (78). 
.Die  letzte  Einheit  aller  Dinge  vermag  daher  nicht  der  Mensch  zu  er- 
kennen, wohl  aber  die  Gottheit,  welcher  die  (fvoiQ,  die  innere  Har- 
monie, der  innere  Kosmos,  nicht  verborgen  bleibt  wde  dem  Menschen 
(123).48)  „Die  unsichtbare  Harmonie  aber  ist  noch  besser  als  die 
sichtbare"  (54).  Die  Menschen  finden  daher  die  Natur  keineswegs 
in  allen  ihren  Äußerungen  schön,  „sie  halten  das  eine  für  ungerecht, 
das  andere  für  gerecht,  für  Gott  aber  ist  alles  schön  und  gut  und 
gerecht"  (102). 

Der  Ephesier  hat  also,  wie  wir  gesehen  haben,  das  Erkenntnis- 
problem als  reines  Xaturproblem  betrachtet  und  es  auf  der  Grundlage 
der  Erfahrung  zu  lösen  gesucht,  und  zwar  in  einer  Weise,  vor  der 


4')  Dir  scheinbare  Widerspruch  zwischen  fr.  35  und  fr.  40  ist  jetzt  be- 
seitigt. Nicht  die  7ro/.v/.iu&ii]  belehrt  den  rqoc,  das  E-innerungsvermögen, 
sondern  durch  die  Erkenntnis  der  ttuquvju,  die  der  vöog  erlebt,  werden 
die  uvdqic  (fücGocfOt  ev  /ju)m  Ttollwr  'iCTOqec.  Auch  heutzutage  wollen 
die  uv'Sqsq,  (filöoocpot  nicht  „Gelehrte",  sondern  „Forscher"  sein. 

*«)  Fr.  123:  (fvGig  xqvTiTeG&at  cpilfu  Aber  nicht  nur  dadurch,  dr,ß 
die  Natur  sich  zu  verbergen  liebt,  also  ohne  der  Menschen  eigenes  Verschulden, 
sondern  auch  durch  ihre  eigene  uTiiGiti],  d.  h.  weil  sie  selber  an  ihre  (pgovrjaig 
nicht  glauben,  entziehen  sich  die  meisten  Erscheinungen  in  der  Natur 
[TiZv  d^ekov  TU  TToXXd)  ihrer  Erkenntnis:  jwr  fiei'  defioy  tu  ttoIXu  utti- 
arf);  Siufpvyyuvd  /Jt}  yiyroiaxead^ut  (8G). 


138  Emanuel  Loew, 

sich  die  Positivisten  \'()n  heute  verbeugen  müssen.  Was  ihn  zu  dieser 
extremen  einseitigen  SteUungnahme  geführt  hat,  war  die  Opposition 
gegen  p^^thagoreische  und  eleatische  Spekulation.  Aber  seine  radikale 
Opposition  gegen  die  Wahrheitserkenntnis,  entfachte  erst  recht  den 
Kampf  der  Geister.  Die  Logosdenker  und  die  Phronesisnaturen 
standen  in  erbittertem  Kampfe  einander  gegenüber.  An  eine  Aus- 
gleichung, an  eine  Versöhnung  der  Gegensätze  war  vorerst  nicht  zu 
denken.  Es  war  ein  jro^.vd/jQig  tXtyyoc,  eine  heißumstrittene  Frage, 
ein  Weltkrieg  auf  dem  Gebiet  des  Erkenntnisproblems,  den  Heraklits 
Feuer  entfacht  hatte.  X  u  r  durch  Entwurzeln  n  g  d  e  r 
J)  a  s  e  i  n  s  b  e  d  i  n  g  u  n  g  e  n  der  einen  Erkenntnis 
glaubte  man  die  der  anderen  retten  zu  können. 
J)as  muß  festgehalten  werden,  wenn  wir  die  Art  der  Verteidigung  der 
durch  die  Gefahr  des  Xichtwissenkönnens  in  ihrer  Existenz  bedrohten 
Logoserkenntnis  verstehen  wollen,  welche  Parmenides,  von  ihrem 
AVerte  tief  innerlich  durchd.rungen,  übernahm.  AVar  er  doch  über- 
zeugt, daß  er  ihr  und  nur  ihr  allein  sein  ganzes  Wissen  verdanke.*^) 

Es  gibt  kein  Werden,  es  gibt  nur  Sein  und  Beharren;  nur  Schein 
ists,  was  die  Sterblichen  mit  ihrer  werdenden  und  fließenden  Phro- 
nesis  zu  erkennen  glauben  und  als  Weisheit  ausgeben,  der  ewig  seiende 
Logos  allein  führt  zur  Wahrheit  ^  das  Erkenntnisproblem  ist  kein 
Xaturproblem,  sondern  ein  reines  Gedankenproblem.  Das  will  P.  be- 
weisen, und  um  durch  den  Schein  der  Wirklichkeit  nicht  beirrt  zu 
werden,  flieht  er  aus  dem  werdenden  Kosmos  in  das  Reich  der  seienden 
ult'iii^eia.  Dort  vernimmt  d,er  denkende  Jünger,  aufmerksam  horchend 
und  niemals  durch  eine  Frage  unterbrechend,  den  Vortrag  der  Göttin 
Wahrheit,  die  daran  geht,  mit  den  Mitteln  der  abstrakten  Logik  dem 
xöoiiocjrrQ  das  Lebenslicht  auszulöschen  und  so  gleichzeitig  die 
Logoserkenntnis  zu  retten. 

Mit  den  Worten  a'  (V  l'r/  lyojv  k>iro  (4,  if^)  beginnt  der  Be- 
weis, dessen  Gang  der  folgende  ist: 


*^)  Vgl.  Aiim.  16. . 

■''■^)  Ms,:i  beachte,  wie  .sich  die  beiden  Denker  das  Verhältnis  zu  ihren 
Anhängern  vorstsUen:  Heraklits  Anhänger  müssen  neiod.O&ui,  d.  i.  Er- 
i?,hrung  gewinnen  an  den  tnu*.  xul  toya,  wie  sie  ihr  Meister  x«t«  (fvaiv 
entwickelt:  dDjyev/J^ui  dicaoiwv;  die  logisch  denkende  und  redende  Wahr- 
heit aber  sagt:  Ich  werde  reden,  du  aber  höre  zu  und  nimm  es  mit  auf  den 
Weg:  iyiup  ioko,  xöfJiGui  di  Gv  fivdor  dxovGug. 


Ein  Biitrag  zum  herrtklitisch-parimiiid.  Erkonntnisproblem.  139 

Logisch  denkbar  sind  nur  die  beiden  kontradiktorischen  Urteile: 
,.Es  ist"  —  ,;Ks  ist  nicht",  tertiuni  non  datur!  Von  diesen  beiden 
logiscli  allein  denkbaren  Wegen  besteht  nur  der  eine  ,,Es  ist"  zu  Recht; 
denn  er  entspricht  der  Überzeugung  und  folgt  der  Wahrheit.  Es  gibt 
also  kein  „Es  ist  nicht''  (Fr.  4). 

Ein  >ichtseiendes  gibt  es  also  nicht;  das  halte  fest!  Das  ist  der 
erste  AVeg,  vor  dem  ich  dich  warne.  Und  daraus  ergibt  sich  logisch 
auch  der  zweite  Weg,  von  dem  du  dich  fernhalten  mußt,  nämlich  der 
AVeg  des  Seins  und  Nichtseins  zugleich  (Fr.  6). 

Gibt  es  also  kein  Nichtsein,  so  bleibt  (da  eben  dann  auch  ein 
Sein  und  Nichtsein  unmöglich  ist)  nur  noch  Kunde  von  eine  m 
AVege:  ,,Es  ist".  Da  aus  Nichtseiendem  nichts  anderes  werden  kann 
als  NichtSeiendes,  so  kann  es  kein  Sein  u  n  d  Nichtsein,  sondern 
nur  ein  Sein  oder  Nichtsein  geben.  Mein  logisches  Urteil  aber 
zwingt  mich,  den  AVeg  des  Nichtseienden  beiseite  zu  lassen,  weil  er 
weder  walu-  noch  denknotwendig  ist;  also  bleibt  nm-  der  Weg  des 
Seienden,  das  Seiende  existiert,  es  ist  wahr  und  denknotwendig.  Auf 
die  knappste  Form  gebracht,  lautet  der  Beweis: 

Vorauss  :   Es  gibt   ein  Sein. 

Beh.:   Es  gibt  kein  AA^erden  und  Vergehen. 

Bew.:    „Es  ist"  oder  „Es  ist  nicht". 

„Es  ist"  ist  wahr  und  denknotwendig. 
„Es  ist  nicht",  ist  weder  wahr  noch  denknotwendig. 
Es  gibt  also  nur  ein  Seiendes,  aber  kein  Niehtseiendes,  folglich 
auch  kein  Sein   u  n  d   Nichtsein. 

Scliluß:  Es  gibt  kein  AVerden  und  Abgehen 
Aber  P.  beschi-änkt  sich  nicht  auf  den  in  den  Fr.  4  und  6  geführten 
Nachweis,  .daß  es  kein  AVerden  und  A^ergehen  gibt,  er  geht  in  Fr.  8 
daran,  an  den  Grundbestimniungen  des  A\'erdens  negative  Ej-itik  zu 
üben,  und  leitet  aus  ihnen  durch  bloße  Umkehr  gleiclizeitig  die  posi- 
tiven Grundlagen  ab,  die  er  im  Seienden  enthalten  findet.  Hat 
Heraküts  AVeit  des  AVerdens  A^ielheit,  Verschiedenheit,  Bewegung, 
relative  Zeit  offenbart,  so  ist  in  des  P.  AVeit  des  Seins  Einheit,  Identität, 
Beharrung,  absolute  Gegenwart.  Bezüglich  der  ersten  ch-ei  Bestim- 
mungen sagt  Slonimsky:  ,,Nur  Einheit,  Identität  und  Beharrung 
gelten  zu  lassen,  Vielheit,  A^erschiedenheit  und  Bewegung  dagegen 
zu  verbannen  —  das  ist  eine  Zuspitzung.  .  .  .  Vielleicht  gehen  wir 
nicht  fehl,  wenn  wir  annehmen,   daß  diese  scharfe  Zuspitzung  aus 

Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie.    XXXI.  3.  10 


140 


Emanuel    Loew, 


der  Gegnerschaft  zu  Heraklit  entsprang/'  Slonimsky  hat  hier  zweifel- 
los recht  und  er  hätte  seine  Vermutung  noch  viel  tiefer  begründen 
können,  wenn  er  Patins  freilich  noch  einigermaßen  zaghaft  und  im- 
sicher  gemachte  Beol)achtung  betreffend  den  Gegensatz  in  der  Auf- 
fassung beider  .Denker  von  den  Bestmimungen  der  Zeit  berücksichtigt 
hätte.  Vergleichen  wir  doch,  was  H.  vom  y.öoi/o^,  P.  vom  lor  sagt: 


(o  XOO//0-:) 

//}'  (}ti  '/Ml  hjT(  xta  iOTat 


rtv{t  i'.hiu>)or  (iJiToiaror 
ittTQa,  djcoOih  vvrf^e  vor 

UtTOC. 


(to  löv) 


)'Vl'    HJTD'    OUOV    TTl'.r 


Tc)^  yti'töig  inr  csrhOi-itOTdi  xa) 
("i.TröTO^  alt  i*/-oo^. 


Hier  wird  H.  AVort  für  AVort  widerlegt:  /jv  aü  wird  durch  ovöt 
.-TOT  ijV  abgelehnt  («6/  —  ovjtort!),  torai  durch  ovd'  törat. 
Aber  ebenso  entschieden  wird  auch  das  ioriv  im  Kosmos  abgelehnt. 
.Das  £or,  sagt  P.,  kennt  keine  Kelativität,  also  auch  keine  relative 
Zeit,  kein  tortv  bezogen  auf  tjv  xal  hnca,  sondern  nur  eine  abso- 
lute Gegenwart;  daher  ist,  wie  das  f'/v  und  tottu  auch  das  totir 
im  Kosmos  falsch,  im  Reiche  des  tov  muß  es  heißen:  rvr  eorir. 
Ein  Nacheinander  in  der  Zeit  gibt  es  nicht  im  Reiche  des  tor,  hier 
gibt  es  nur  eine  absolute  Gegenwart.  ,,AVie  könnte  auch  das  Seiende 
in  Zukunft  sein,  wie  könnte  es  früher  einmal  geworden  sein?  Denn 
wäre  es  (in  der  Vergangenheit)  gewesen,  so  ist  es  (jetzt)  nicht,  und 
ebenso  wenn  es  (in  Zukunft)  einmal  sein  sollte.  So  ist  also  die  ytreötc 
ausgelöscht  und  unerforschbar  der  oXißQoc.''' 

Ausgelöscht!  Am  Schlüsse  einer  so  ermüdenden,  abstrakten 
Beweisführung  mit  ihrer  so  charakteristisch  nüchternen  ü^prache  ein 
Bild  aus  dem  w%klichen  Leben !  Jetzt,  wo  die  Göttin  AVahrheit  den 
inathematischen  Beweis  erbracht  hat,  daß  es  keine  Polarität  und 
keine  Relativität  gibt,  sagt  sie  nicht  einfach:  Also  gibt  es  keine  yirtoi- 
und  keinen  ö/£^()o^,  sondern:  die  jirtöig  ist  ausgelöscht,  und  zwar 
ein  für  allemal  ausgelöscht,  djitoßtorca !  AVo  gab  es  denn  Fe'u.er? 
AA>r  hat  einen  Brand  gelöscht?  Ja,  gibt  es  überhaupt  im  Reiche  des 
lör  Feuer?  N^ur  der  x6o(/og  ist  einjrt^(>  ddCroav.  nur  im  xooiiog 
kann  daher  Feuer  gelöscht  werden.  Kein  Zweifel,  das  ((jrtoßeotai 
ist  aus  dem  heraklitischen  ("croaßsvrviaj'oi'  herübergenommen!  AVas 
hat  aber  die  Göttin  AVahrheit  so  sehr  aus  ihrem  Gleichgewicht,  aus 


Ein  B-itiag  zum  lu-iaklitiscli-iiiWiaoiiid.  Erkennt iiisprobk-ia.  I4i 

ihrer  Ruhe  gebracht,  daß  sie  es  für  nötig  fand,  dieses  Feuer  ehi  für 
allemal  auszulöschen?  Sie  hat  offenbar  den  Hohn  gegen  die  //tV(>«, 
welche  das  Feuer  des  Kosmos  immer  wieder  entzündet  und  immer 
wieder  auslöscht,  zu  tief  empfunden,  als  daß  sie  nicht  Vergeltung 
geübt  hätte.  Und  in  der  Tat,  sie  hat  grüiuUich  aligerechnet:  das 
Feuer,  das  idxQa  immer  wieder  auslöscht,  ist  jetzt  durch  den  Ao/o- 
selbst  für  immer  ausgelöscht.  Es  war  also  wirklich,  wie  ich  oben 
gesagt  habe,  Heraklits  Feuer,  das  den  Streit  der  Geister  so  lebhaft 
entfacht  hat,  und  vergeblich  war  das  heiße  Bemühen,  dieses  Feuer 
für  immer  auszulöschen;  es  besaß  wirklich  die  unerschöpfliche  Kraft, 
sieb  immer  wieder  zu  entzünden. 

Aber  wenn  wir  den  Gedankengang  des  P.  nicht  mißverstehen 
wollen,  so  müssen  wir  uns  den  schroffen  Gegensatz  in  den  Welt- 
anschauungen der  beiden  J)enker  vor  Augen  halten.     In  der  Welt 
des  Werdens  herrscht  der  jtoZsijo?  mit  seiner  Machtfülle,  er  ist  Vater 
und  König  jrarTov,  aller  Dinge  (53).    Ohne  jröXe^ioq  gibt  es  keine 
rrccQiorra,   ohne  Kampf  kein  Dasein.     Der  Kampf  ums  Dasein,  das 
sozial-politische   Stichwort    unserer    Tage,    liegt    dem   heraklitischen 
.-To/.f-f(oä.  freilich  nur  im  rein  philosophischen  Sinne,  zugrunde.    Wer 
die  .To.Qsorra  beobachten,  erkennen  und  so  zu  seinem  geistigen  Be- 
sitze machen  will,  muß  vor  allem  selbst  da  sein,  und  zwar  mit  wachem 
Geist,  er  darf  nicht  .ra^ecov  ccjcttria.      Xur  der  genießt  das  Leben, 
der  täglich  es  erkämpfen  muß,  das  ist,  rein  philosophiscli  verstanden, 
der  heraklitische    ^vro?  jtoIe^uoc    (80).      Das  Erleben    der    bunten 
Mannigfaltigkeit  des  Werdens  nimmt  den  Menschen  völlig  in  An- 
spruch:   er  muß  sehen  und  hören,  erkennen  und  sich  erinnern,  zum 
Ausdruck  bringen  und  benennen;  er  kann  demnach  unmöglich  über 
das  dv>)QOjjiiva  (fQoVBiv  hinaus. 

P.  ist  nun  durchaus  entfernt,  dies  zu  leugnen;  er  sieht  selbst  ein, 
daß  die  geistige  Betätigung  der  Wirklichkeitsmenschen  auf  die 
rraotörTa,  auf  das  unmittelbare  Leben  beschränkt  sei.  Aber  das  ist 
es  gerade,  was  ihn  bestimmt  hat,  aus  diesem  xöguoq-jivq  dti^coor, 
der  ewig  fließenden  Quelle  empirischen  Erkennens,  in  das  Reich  des 
starren  Seins,  des  abstrakten  Denkens,  der  djisorza  zu  fliehen.  Denn 
im  Reiche  des  Seins  gibt  es  keine  bunte  Mannigfaltigkeit,  sondern  nur 
eindeutige  Bestimmtheit;  diese  aber  kann  nicht.erlebt  werden,  sie  ist 
nur  formal  logisch  denkbar;  starr  wie  das  Sein  ist  auch  das  Denken. 
.Oenken  und  Sein  ist  ein  und  dasselbe.     Folgerichtig  läßt  daher  P. 

10* 


]42  Emanuel    Loew, 

auch  die  dreifache  geistige  Fähigkeit,  in  welcher  die  HerakUtmenschen 
ilue  Verwandtschaft  mit  dem  xoOfiog  betätigen,  gelten,  aber  nur  für 
den  xoöfwc;  im  Reiche  des  Seins  hat  nur  die  einfache  Beurteilung 
mit  dem  einen  Äoyoc  bzw.  nhjfia  Wert  und  Bedeutung.  In  diesem 
Sinne  stellt  P.  den  /o/oc  als  das  einzig  Wertvolle  gegenüber  1.  dci- 
(uod-i/öii;,  2.  der  (fQÖrriOLC,    3.  den  Ijtsa  und  ovoiiara. 

h'rfoq,  und  yo;///«,  Gegensatz;  cdoi^rjöiQ  (I  33—37).  „Du  aber 
halte  von  dieser  oöoa  diCyOiog  dein  roy///«  fern  und  nicht  soll  dich 
das  t.'loc  jtolvjTUQor  auf  diesen  Weg  zwingen,  nur  dein  zielloses 
("}f({(a,  die  brausende  axov//,  die  yhöoija  walten  zu  lassen:  nein,  mit 
dem  Äoyog  beurteile  die  heißumstrittene  Frage,  wie  sie  von  mir 
its  eiitD-er)  dargelegt  wurde."  Hier  wird  also  in  ganz  unzweideutiger 
Art  vor  „dem  Wege  der  Forschung"  gewarnt,  auf  dem  die  Wirklich- 
keitsmenschen mit  „ihrer  vielerfahrenen  Cxewohnheit"  und  ihren 
Sinnesorganen  (Auge,  Ohr,  Zunge)  wandeln;  ^jjyoc  und  rot/fm  allein 
haben  zu  urteilen. 

rö/jfia  Gegensatz:  cpQor/jOic  (Fi\  16). 

„Wie  der  vouc  auf  der  Mischung  der  //e'/fcf  jTo^AjrXayxra  be- 
ruht, so  stellt  er  in  den  Menschen  sich  dar;  denn  ein  und  dasselbe  ist 
es,  was  (pQortti  in  den  Menschen  jnuu  yuu  jrccrTi,  die  (/roig 
^leXkov  ;    denn  was  vorwiegt,  ist  das  rörj/ia.'' 

Der  rooc,  das  Erinnerungsörgan,  hat  seine  Mischung  von  den 
„vielschweifenden  Sinnesorganen";  das  (fQovitiv,  das  Erkennen,  ist 
also  wertlos,  weil  die  Quelle  allen  Menschen  aus  der  „Natur  der  viel- 
schweifenden Sinnesorgane"  fließt.  .Oas  Wertvollere  nämlich  ist  das 
Yoriiia.  Man  vergleiche  dazu  den  Bericht  des  Sextus.  Mit  <f,Qovtti 
rrccoi  wird  Heraklits  ^vror  Ion  rtäöi  ro  cfxjortHv  wörtlich  zitiert.' 

Äöyog  /}dh  rorifia.   Gegensatz:  l-ruc  (Fr.  8,  50—52): 
tr  T(ö  001  Jtcwco  xiOTor  Äoyov  /y(3t  i'ö/jf/a 
d{jxfic  dXfjO-shjQ'  dosac  ö'  dm)  rovöe  ßQortiac 
(lärd^art  znO/^toi'  ItKÖr  L-rnor  djimyXor  dxoiojv. 

Diese  Verse,  die  den  Übergang  der  dXtjd-eia  zu  den  öö^ai  bilden, 
sind  besonders  charakteristisch.  Hier  bewährt  sich  die  Meisterschaft 
des  P.  in  der  Polemik  auf  das  glänzendste.  Auf  den  Gegensatz  zwischen 
den  zahh-eichen  Spondeen  in  der  ersten  Hälfte,  die  den  erhabenen 
Ernst  des  Xoyog  /yrfg  vöri^ia  malen,  zu  den  reinen  Daktylen  in  der 
zweiten  Hälfte,  welche  das  Hastige,  Geschäftige  der  Irtta  karikieren, 


Ein  Bt'itrig  zuui  herciklitisch-parmenid.  Erkeruifcnispiobicm.  143 

habe  ich  schon  bei  einer  früheren  Gelegenheit  liingewiesen.  Treffend 
ist  die  AVcihl  der  Attribute,  .norog  ?jr/og-x6o{toc  ujrartjXog,  die 
Nebeneinanderstelhmg  der  Gegensätze  al/ji^Ha  —  6öc,ui,  der  (An- 
merkung 22  bereits  erwähnte)  Gleicliklang  der  Suffixe  iin  Schhiß- 
verse:  <n —  on —  orr  —  oj —  on\  endlieh  die  wohl  berechnete  Zu- 
saninienstellung  der  AVorte  xööf/og.  txta,  axovsir,  die  an  den  Vor- 
wurf erinnern,  den  H.  den  Logosdeiikern  macht,  daß  sie  als  cUfQoviQ 
avihQVKToi  i-i(CQßd(K}rg  (pryag  tyovrf,g  (107)  ihr  Dasein  hn  yMO/tog 
verschlafen  (89),  (czovchci  ovx  Ijtunäntvoi  ovd'  sl.-rtir  (19). 

AVas  endlich  den  Gegensatz  Xöyog  —  ovoi/a  betrifft,  so  sagt  P. 
(8,  37):  „Die  Moira  hat  es  (das  Seiende)  an  das  Ganze  und  Unbeweg- 
liche gebunden;  d  a  r  u  m  wird  alles  ei  n  ovofia  sein,  was 
Sterl)liche  in  ihrer  Sprache  festgesetzt  haben,  überzeugt,  daß  es  walu* 
sei:  AVerden  sowohl  als  A'ergehen,  Sein  sowohl  als  Nichtsein,  Ver- 
änderung des  Ortes  und  AVeehsel  der  leuchtenden  Farbe",  d.  h.  die 
Wirklichkeitsmenschen  (ßgorol)  bezeichnen  alles,  was  sie  erleben, 
mit  einem  ovotia.  AYeü  aber  das  Seiende  starr  ist,  also  nicht  erlebt 
werden  kann,  sondern  nur  logisch  denkbar  ist,  ,,darum  wird 
alles  ein  ovoiia  sein",  was  die  Menschen  als  entwicklungs- 
fähig erkannt  haben.  Also  auch  hier  bildet  das  heraklitische  ovoiw. 
ßiog,  orof/a  Zijvog  den  Gegensatz  zum  parmenideischen  löyog 
(ll(ff)g  ähjd-shjg.  AVenn  ich  hier  von  Gegensatz  spreche,  so  ist  das 
im  Sinne  meiner  obigen  Ausfühi'ungen  zu  verstehen.  P.  bestreitet 
nicht,  tlaß  die  (lv6(iaTa  aus  dem  Leben  des  AUtags,  aus  der  Erfahi'ung 
hervorgegangen  sind,  aber  eben  deshalb  stehen  sie  im  Gegensatz  zur 
AVahrheit,  zum  reinen  Gedanken,  /070c,  zum  Seienden,  das  „an  das 
Ganze  und  Unbewegliche  gebunden",  also  starr  ist. 

Bei  diesem  Stande  der  Dinge  war  es  nicht  zu  umgehen,  daß  der 
ganze  Streit  schließlich  in  eine  AVortklauberei  ausartete,  und  das  ist 
es,  was  die  Lösung  des  ganzen  Problems  so  schwierig  gestaltet  hat. 
Ist  doch  die  Sprachkünstelei  soweit  getrieben  worden,  daß  derselbe 
r)enker  neben  dem  Namen  Xayog  auch  die  Namen  )mji.ia  und  rosir 
für  abstraktes  Denken,  dagegen  den  Namen  rooc  im  Sinne  des 
heraklitischen  Erinnerungsorganes  gebraucht  hat.  Das  hat  sich  schon 
aus  dem  Fr.  16  ergeben,  wo  ebenso  wie  fitha,  fpvoig,  rpQorsip  auch 
roog  dem  rö/jita  gegenübersteht,  voog  ist  minderwertig,  vor/fta 
höherwertig.  AVie  die  fiiP.ta  dort  hin  und  her  geworfen  werden 
(.To/r.T/fr/xr«).    so  wird  auch  der  voog  hin  und  her  geworfen,   ist 


144  Enianuel    Locw, 

daher  gleichfalls  rr/MXToc:  denn  seine  Beschalienheit  ist  von  der  der 
Sinnesorgane  abhängig.  Das  in  .7ro2r.T/6r/xr«  vorschwebende  Bild  aus 
dem  wirkhchen  Leben  kann  hier  nicht  auffallen,  weil  der  .Dichter  in 
den  (io^^«^  die  sich  entwickelnde  wirkliche  Welt  schildert.  Aber  dem- 
selben Bilde  begegnen  wir  auch  im  ersten  Teile,  in  der  aXiidtia.  und 
zwar  begnügt  sich  die  Göttin  dort  nicht  mit  einer  bloßen  Skizzierung, 
sie  hat  ein  anschauhches,  naturgetreues  Bild  bis  in  alle  Einzelheiten 
sorgfältig  gezeichnet,  so  daß  die  Göttin  mit  dem  Worte  .To/i'.T/rr/xTtc 
in  Fr.  16  nur  an  das  genau  ausgeführte  Bild  wieder  erinnert,  das  sie 
in  Fr.  6  gezeichnet  hat  und  an  dem  sie  wohl  init  Recht  selber  be- 
sonderes Gefallen  findet. 

Ich  warne  dich,  sagt  die  Göttin,  vor  dem  AVege  des  Seins  und 
Xichtseins 

'/''  ^>l  ii{*0T(n  &iÖf'>Ttc  (jidtr 
.-TÄ('(TTorrai,  dixQavoi'  diuy/ariij  ya{>  Ir  avT<~)r 
ini/ihtötr  Wvrff  .tjmxtov  roor'  ol  <yt  (fjoQovvTai 
•/jO(fo\   (\u(ög  TV(fh)i   Tt,  TtihjjroTtg.  ay.Qixa   (frXa, 
olc  To  :rtXtir  re  xici  oiy,  tirai  tv.vtov  rti'OfiiOTici 
y.or  TiccTov,  jTavT<ov  (Sl  müdvr{)(möc  Ion  y.iXtvd-oc. 

Frau  Ratlosigkeit  steuert  in  der  Brust  der  nichtswissenden  Sterb- 
lichen das  schwanke  rooc-Schiff ;  die  Lisassen  aber  werden  hin  und 
her  geworfen  .  .  . !  Wer  ist  die  aiu/yarh/''  Sie  ist  identisch  mit  der 
(fvaLc  i(t)Joyr  ji<üvji)MYHT(»r  (Fr.  16),  von  der  der  mog  abhängig 
ist.  Was  tut  dort  die  (fViUg,  was  hier  die  dinixavif]?  -Oort  heißt  es: 
drS^QOJ.TToiot  ffQortH  y.ai  m'cot  y.iu  Jiarri,  hier:  lUvrei  jrÄay.Tov 
rdor,  beide  tun  also  das  Gleiche;  din/yarlrj  Wvvfi  jiXay.Tor  röor 
=  dfff/yjci'bi  dvihQc'jjTOiGi  (fQortu,  also  di/z/yarif/  =  ff{>6vijOic. 
Die  ffiQÖnjöic  also,  die  von  den  Sinnesorganen  bedient  wird,  lenkt 
ihrerseits  den  röog  und  das  stmmit  genau  zu  dem,  was  ich  beim  Be- 
richte des  Sextus  bemerkt  habe,  daß  die  rfQtjr  unmittelbar  von  den 
Sinnesorganen,  der  roog  unmittelbar  von  den  f/(>tr£c,  mittelbar  von 
den  Sinnesorganen  abhängig  sei.  Und  was  ist  die  Folge  davon,  daß 
die  ffiQorijOLQ  das  j'ooc-Schiff  lenkt?  Die  Insassen  werden  so  hin 
und  her  geworfen,  daß  ihnen  Hören  und  Sehen  vergeht,  taub  zugleich 
und  blind,  verdutzt,  urteilslose  Entwicklungswesen.  Also  die  Sterb- 
lichen, die  sich  auf  ihr  Hören  und  Sehen  soviel  zugute  tun,  sind  yjoff^oi 
ofwjg  TVffÄol  Tf :  sie,  die  immer  ,,wach'-'  sein  wollen,  sind  ThH^rjJtiWtc ; 


Ein  Beitrag  zum  lieraklitisch-parmenid.  Erkenntuisproblein.         145 

sie,  die  denjenigen  einen  dumnieii  Kerl  nennen,  der  sieli  von  jedem 
J^ogos  imponieren  läßt,  sind  (fvXa  „Ejitwieklungswesen",  und  zwar 
r.y.QiTd.  =  eines  logischen  Urteils  unfähig.  Sie  sind  dix(^>ur(n  =  .Oop- 
})elköpfe:  mit  dem  einen  Kopf  sehen  sie  das  Seiende,  mit  dem  anderen 
das  ^sichtseiende,  denn  Sein  und  Xichtsein  ist  nach  ihrem  aus  Er- 
fahrung fließenden,  weil  von  der  ffvoig  genährten  ro//o-:  dasselbe 
und  wieder  nicht  dasselbe,  für  alles  gibt  es  bei  ihnen  eine  jnc/.h'TQorro^ 
y.tUvd^o^  =  .-xalh'Ti/ojTo^  uQuoria  (Her.  52).  Sie  sind  daher  (iitOTo) 
H(U'}Ttg  ovdtr,  die  keine  Berührung  mit  der  '\\'ahrheit  haben;  denn 
die  Wahrheit  empfängt  nur  einen  eidöra  f/ojTc.    (I,  3.) 

Ebenso  verspottet  Epicharm  (12)  den  rooc  Heraklits:  rovc 
OQli  y.cä  vovQ  dxovti,  tuX/m  y.ojffa  xa)  rrcf/M  und  Empodokles 
ruft  voll  Bitterkeit  17,  21: 

T/)i'  (sc.  ffüoT/jTa)  ov  röfo  dt^xtv  fit/d'  oftiiaOLv  t)oo  Tt^h/.-Tojc. 

AVenn  freilich  Reinhardt  glaubt,  daß  hier  vovg  den  oiiiiara 
gegenüberstehe,  so  ist  er  im  Irrtum  von  vornherein  befangen;  wenn 
er  sich  aber  auf  Fr.  2  des  Parmenides  beruft,  um  viUo  (U{txtv  mit 
/.i-coof  v(>(]>  zu  vergleichen,  so  ergeht  es  ihm  ebenso  wie  mit  den 
l'artizipialkonstruktionen  bei  H.  Fr.  1  und  Fr.  2;  er  hat  nämlich  das 
eine  ebenso  mißverstanden  wie  das  andere.    Fr.  2  des  P.  lautet. 

ÄivOOt  rj'  (jijojg  ä:rmvru   röfp  jtaQsopTic  ßtßaUog 
or  yaQ  icrroTin/^ti  ro  tor  ror  torroq  lytoH^tci 
ocTt  oxidväiitvor  -r/crrf/  rrurroq  xcra  xoüitov 

OVTt    OrviOTiCIfaVO}'.  ^ 

Clemens  will  an  diesem  Fr.  2  nach  bewährter  Methode  beweisen, 
daß  der  roog  nur  mit  dem  /070c  zu  begreifen  sei.  Aber  das  d"  oiiojg 
im  1.  Verse  zeigt,  daß  hier  wieder  ein  Satz  aus  dem  Zusammenhang 
gerissen  werden  mußte,  um  eine  paradoxe  Auffassung  daran  nachzu- 
weisen, ganz  so  wie  bei  Fr.  31  Heraklits.  Aber  auch  hier  können  wir 
die  Lücke  dem  Sinne  nach  ergänzen,  wenn  wir  die  Fragm.  heran- 
ziehen, gegen  die  P.  hier  polemisiert,  näinlich  34: 

('.3,rrtT0i  (cxovoai'Tsg  xojffoToir  loixaoi'  ffüng  avToioir 
in'.iJTVQH  JiaQSO)'Trcg  antlvai.  ' 

und  91: 

<jxidr//Oi  xic'i  rra/.iv  övi'i'r/tt  .  .  .  attu  ovrlöTaTict  xiCi  (IrroltittL 
xai  .TQOOiiöi   x(u  ärrfioiy. 


146  Emauael   Loew, 


Man  vergleiche: 
Her. 
.■7raQ£(jvxag  cljreu'ai 


Parm. 
äxtörT((.  .  .   .  jTUQtovra 
otT«    6y.iövajihi'or    ....    orrt 
övriijräiieror. 


Schon  in  d.er  Form  erkennt  man  die  polemische  Absicht:  oben 
cUe  beiden  Verba  in  umgekehrter  Reihenfolge,  unten  das  -/.al  auf  der 
einen  Seite,  ovzt  auf  der  anderen.  Reinhardt  verbindet  in  Fr.  2  nach 
der  herkömmlichen  Auffassung  ).tv60i  vöcr,  aber  das  verbietet  schon 
die  Stellung  des  ihko  zwischen  ajitovra  und  Ttageovra,  welche  zeigt, 
daß  röo)  TTUQWvTa  nicht  getrennt  werden  darf.  Es  ist  aber  auch 
unmöglich,  wie  Reinhardt  will,  zu  lesen: 

ÄfiOtje  d'  ö/H'jg  djTtövTa  vöo)    \     TruQsövta  ßsßaiojQ' 

denn  daraus  würden  sich  zwei  grainmatikahsche  Ungeheuerlichkeiten 
mit  einem  Schlage  ergeben,  cla  einerseits  das  grammatisch  unzer- 
trennliche röfo  mcQtövTCi  auseinandergerissen,  anderseits  die  unniög- 
üche  Verbindung  d.-Ttövra  röfo,  statt  roov,  vorgenommen  werden 
müßte.    Es  ist  eben  zu  lesen: 

Xtvoöt  <y   oi/cjQ  djtiovTa  vöo)  jxaQtövTa  fteßa'icoc. 

und  der  Ton  liegt  nicht,  wie  Reinhardt  glaubt,  auf  röo),  sondern  auf 
den  einen  Gegensatz  bildenden  Partizipien,  und  daß  es  nur  auf  diesen 
Gegensatz  ankommt,  lehrt  auch  der  Sinn  des  Ganzen.  H.  wirft,  wie 
wir  gehört  haben,  den  Logosdenkern  vor,  daß  sie,  statt  die  Erschei- 
mmgen  des  Alltags  zu  erkennen,  verständnislos  auf  dieselben  stoßen 
und  sie  nicht  erkennen,  sich's  aber  einbilden  (17),  daß  ihnen  infolge 
des  beständigen  Verkehrs  mit  dem  Logos  die  Erscheinungen  des  Alltags 
fremd  sind  (72),  wenn  sie  hören,  sind  sie  wie  taub,  anwesend  sind  sie 
abwesend  (34).  P.  leugnet  das  alles  nicht,  im  Gegenteil,  er  erblickt 
eben  darin  den  größten  Vorzug  seines  mit  dem  starren  Sein  identischen 
])enkens.  Der  Logos  will  nicht  Anwesendes  erkennen,  er  will  Ab- 
wesendes denken,  d.  h.  nach  unserer  philosophischen  Terminologie, 
er  will  abstrahieren.  Um  aber  rein  logisch  zu  denken,  zu  abstrahieren, 
darf  man  sich  durch  Sehen  und  Hören  des  Anwesenden  nicht  beirren 
lassen,  und  weil  eben  der  voiq  nur  das  sieht  und  hört,  wobei  er  an- 
wesend ist  oder,  wie  wir  oben  gesagt  haben,  was  er  erlebt,  darum  wird 
alles  (Anwesende,  Entwicklungsfähige)  ein  oroiia  sein,  kurz:  der 
Noos  hat  es  nur  mit  cler  Beobachtung  der  Einzelerscheinungen  zu  tun. 


Ein  Boitiag  zum  heraHitisch-parmenid.  Erkenntni.sproblem.  14  < 

der  Logus  will  das  allen  Geineinsame  zur  begrifflichen  Einheit  be- 
rechnen, der  Xoos  erkennt  nur  das  Anwesende,  d(5r  Logos  vertieft 
sich  in  das  Abwesende,  aber  so,  daß  es  zuverlässig  anwesend 
ist.  .Danach  ist  der  Gedanke  etwa  folgender:  .,.r)em  /o/o^, 
sagen  die  riQoToi,  erscheint  das  Anwesende  abwesend.  Aber  siehe 
gleichwohl,  wie  durch  ihn  das  Abwesende  dem  rooc  zuverlässig  an- 
wesend ist'',  d.  h.  das  Abstrakte  in  greifbare  Nähe  gerückt  ist.  Und 
warum?  Im  Kosmos  löst  nämlich  der  rovc.  das  einzelne  x«r«  xo'ü- 
iioy  =  xara  rfvötr,  seiner  Entwicklung  gemäß,  aus  seinelu  Zusammen- 
hange und  fügt  es  dann  wieder  zusammen,  hn  Reiche  des  Seienden 
aber  ..wird  er  (sc.  der  rocg)  nicht  das,  w^as  ist,  lostrennen  vom  Zu- 
sammenhang mit  dem,  was  ist,  so  daß  es  sieh  weder  xicra  yj'töiior 
überallhin  verstreut  noch  sammelt."  Eine  logische  Gedankenreihe 
läßt  sich  nicht  auseinanderreißen  und  wieder  zusammenfügen,  „ein 
Seiendes  stößt  da  eng  an  das  andere",  da  gibt  es  kein  ÖiaiQUiv  xard 
(fvoir  (Her.  Fr.  Ij,  sondern  es  ist  adiaiQeror.  tjrü  mir  Iötiv 
ouolor  (P.  Fr.  8,  22).  Im  Zusammenhange  also  lautet  die  Über- 
setzung: 

..Aber  siehe  gleichwohl,  wie  das  Abwesende  dem  rooc  zuverlässig 
anwesend  ist;  denn  nicht  wird  er  das,  was  ist,  lostrennen  von  dem 
Zusammenhange  mit  dem,  was  ist,  so  daß  es  sich  weder  gänzUch 
überallhin  kosmosmäßig  verstreut  noch  sammelt." 

AVir  sehen,  ebenso  schroff  wie  die  Welt  des  Werdens  dem  Reiche 
des  Seins  gegenübersteht,  ist  auch  das  Erkennen  im  x6(j((og  vom 
j)enken  des  tor  geschieden:  in  der  Welt  der  mannigfach  wechselnden 
Erscheinungen  ist  der  rovc  von  den  viel  schweifenden  Sinnen  ab- 
hängig, mit  der  Beschaffenheit  der  Sinnesorgane  ändert  sich  die  Er- 
kenntnis selbst;  im  Reiche  des  Seins  ist  das  .Denken  ebenso  starr  wie 
das  Sein,  .Denken  und  Sein  ist  identisch.  Xach  H.  hat  das  Erkennen 
im  Kosmos  seine  ewig  fließende  Quelle  in  der  Erfahrung  des  täglichen 
Lebens  und  wie  das  Leben  ist  das  Erkennen  in  stetem  Wechsel.  Ohne 
AVechsel  kein  Lel)en,  ohne  Leben  kein  Erkennen.  Ein  starres  Erkennen 
ist  ebenso  eine  contradictio  in  adiecto  wie  ein  starres  Leben,  um- 
gekehrt findet  P.  im  Leben  und  im  logischen  Denken  unversöhnliche 
Gegensätze:  das  Leben  zeige  steten  Wechsel,  im  logischen  .Denken 
aber  müsse  es  etwas  Feststehendes,  Bleibendes  geben;  das  fließende 
Leben  könne  also  niemals  Gegenstand  des  seienden  Denkens  sein. 
AVenn  ich  etwas  denke,  so  muß  das  Etwas,  das  ich  denke,  sein  und 


148  EmauUv'l    Locw, 

Itehairon.  Bei  solcher  Vei^schiedeiiheit  der  Auffassung  war  eine  Aus- 
gleichung der  Gegensätze  für  lange  Zeit  hinaus  unmöglich,  der  Streit 
mußte  sich  erst  ausleben,  ehe  man  an  eine  Vermittellung  denken  konnte. 
.'  )as  Feuer  Heraklits,  das  sich  an  dem  von  den  Pythagoreern  und 
j<;;ie.aten  logisierten  und  rationalisierten  Weltbilde  entzündet  hatte, 
fand  in  der  dürren,  trockenen  Materie  des  parmenideischen  Seins  erst 
recht  neue,  reiche  Nahrung. 

Aber  da  begibt  sich  etwas  Sonderbares.  }Jie  Göttin  Wahrheit, 
welche  mit  Logik  und  Dialektik  das  .7r(>  atiCcoor,  diese  Ursache 
filier  Erscheinungen  und  alles  irrigen  .Denkens,  ausgelöscht  zu  haben 
glaubt,  führt  uns  selbst  in  diesen  xo//oc-.Tr(>  ein  und  bewährt  sich 
dabei  als  eine  so  kundige  Führerin,  als  ob  sie  nie  eine  andere  als  diese 
empirische  Welt  gekannt  hätte.  AVer  ohne  Vorurteil  die  beiden  Teile 
des  Gedichtes  prüft,  wird  zugeben,  daß  unmöglich  ein  und  derselbe 
.Denker  beide  AVeltanschauungen  zugleich  vertreten  kann,  am  aller- 
wenigsten ein  .Denker,  der  soeben  Denken  und  Leben  unversöhnliche 
Gegensätze  genannt  hat.  Von  den  vielen  Versuchen,  diesen  ,,AVider- 
sj)rüch"  zu  erklären,  hat  heute  wohl  derjenige  die  meisten  Anhänger, 
nach  welchem  P.  im  ersten  Teile  seines  Gedichtes  sein  wahres  philo- 
sophisches Glaubensbekenntnis  abgelegt  und  später  einmal  das  Be- 
dürfnis empfunden  habe,  auch  das  wirkliche  Leben  gelten  zu  lassen. 
]  )anach  hätte  also  P.  den  Bileam,  der  auszog,  dem  Leben  zu  fluchen, 
ujn  es  dann  zu  segnen,  noch  weit  überboten,  da  er  doch  das  Leben 
erst  mit  dem  Logos  erschlagen  hat  und  sich  dann  erst  mit  demselben 
aussöhnen  wollte!  Ihid  dazu  hatte  er  die  prachtvolle  Auffahrt  zum 
Hause  der  Göttin  AVahrheit  unternommen  und  sich  von  ihr  in  be- 
sonders auszeichnender  Weise  empfangen  lassen  und  dazu  hatte  sich 
die  Göttin  Wahrheit  selbst  die  Mühe  gegeben,  das  heraklitische  l^Ynier 
mit  den  Mitteln  der  Logik  ein  für  allemal  auszulöschen?  Aber  diesei' 
Erklärungsversuch  scheitert  eben  schon  an  der  Erwägung,  daß  T. 
dann  doch  den  do|«/  einige  Berechtigung  zuerkannt  haben  müßte, 
eine  Auffassung,  der  P.  selbst  auf  das  entschiedenste  widerspricht. 
])enn  die  Göttin  W^ahrheit  sagt,  unmittelbar  bevor  sie  an  die  eigent- 
liche Beweisführung  geht  (I  28):  ,,So  sollst  du  denn  alles  erfahren: 
der  wohlgerundeten  Wahrheit  unerschütterliches  Herz  und  die  Mei- 
nungen der  AVirklichkeitsmenschen  (ßQozojv  dösc-?),  denen  verläß- 
liche AVahrheit  nicht  innewohnt;  al)er  gleichwohl  sollst  du  auch  das 


Ein  Beitrag  zum  iK-j-aklitisch-parmenid.  Erkeiintnispioblem.  149 

(.Tfaliii'n,  wie  der  Schein  seheinbar  geheii^\)  müßte,  das  All  durcli 
das  All  dmvhdringend"  und  in  genauer  Übereinstimmung  damit  im 
unjuittelharen  Anschlüsse  an  die  Beweisführung,  also  unmittelbar  vor 
dem  Weltbilde  die  oben  besprochenen  Worte:  ...Damit  beschließe 
i'  h  den  xlotov  ),6yor  f/dl  rdijita  ili/if)^  il/.t/ihit/S  <W)^i:j:  (V  rr.To 
Tordt  ,:/(>oTf/«c  sollst  du  jetzt  vernehmen  .  .  ."  Ivlar  und  unzwei- 
deutig sagt  also  die  Göttin  ihrem  denkenden  Jünger:  J)ie  Welt,  die 
ich  jetzt  schildern  werde,  ist  die  Welt  der  Erscheinungen,  in  welcher 
sich  die  ]\Ieinungen  der  Wirklichkeitsmenschen  breitmachen,  die  Welt 
der  (iTar/j-      Warum  ist  dieser  y.ocjiio^  äjTaTfjÄÖc  ? 

jedes  AVort  ein  wuchtiger  Hieb  des  logischen  Denkers  gegen  die  un- 
logischen Entwicklungswesen,  die  ax^iTa  (frÄa.  Gehen  wir  vom 
Verbum  finitum  aus:  y.artd^trTo.  AVie  Nomotheten  oder  genauer 
Onomatotheten  {röiioi  stammen  ja  wie  oröitfcza  aus  der  Erfahrung) 
kamen  sie  zu  einer  Versammlung  und  „setzten  fest"'.  Was  war  der 
(Gegenstand  ihrer  Festsetzung ?  „Zwei  Formen  mit  dem  örofm  yvc'njii 
■/A\  benennen",  während  es  in  Wahrheit  nur  eine  gibt  {ii'ncv!).  die 
aber  nicht  benennbar,  sondern  nur  logisch  denkbar  ist,  und  das  ist 
ihr  Grundirrtum  {Iv  <•)  .Te.T/Mrf/jnvoi  drAv).  Ihr  Grundirrtum  be- 
steht also  darin,  daß  sie  unfähig  das  Seiende  zu  denken,  festsetzten. 
zwei  einander  entgegengesetzte  Formen  zu  erkennen  und,  was  sie  er- 
kannt haben,  zu  benennen.  „Sie  schieden  die  Gestalten  in  Gegensätze 
und  setzten  ihre  Merkmale  fest:  hier  das  ätherische  Flammenfeuer, 
das  milde,  gar  leichte,  sich  selber  überall  gleich,  dem  anderen  aber 
ungleich.  Dagegen  gerade  entx;egengesetzt  die  liclitlose  Finsternis, 
ein  dichtes,  schweres  Gebilde."  Gegenstand  ihrer  Festsetzun  war 
also:  Gegensätze  erkennen  und  benennen.  Die  Göttin  sagt  also  hrem 
Jünger  nicht  nur,  welche  AVeit  sie  ihm  schildern  wird,  wie  beschaffen 
dieselbe  ist,  sondern  auch  zu  welchem  Zwecke  sie  dieses  trügerische 
AVeltbild  entwirft:  ,, Diesen  6u'cy.oo((og  teile  ich  dir,  s  c  h  e  i  n  h  a  r  , 
wie  er  ist,  ganz  mit:  so  ist  es  unmöglich,  daß  dir  eine  yrojuti  der 
Wirklichkeitsmenschen  den  Rang  ablaufe." 

Die  Lehrerin  hat  also  ihrem  Schüler  alles  gesagt,  um  ihn  vor 
Irrtiunern  zu  bewalu-en,  und  was  im  folgenden  dargelegt  wird,  enthält 
zum  weitaus  überwiegenden  Teile  schon  durch  die  Sprache  vernehm- 


•^')  livci  vielleicht  besser  als  ffrai-     Zweifellos  gegen  Her.  Fr.  28. 


150  Emanucl    Loew, 

bare  Anklänge  an  Heraklit:  dem  Seienden  wird  das  Xichtseiende  zu- 
gefügt, da«  Eine  erscheint  als  Vieles,  das  Unwandelbare  als  AVerdendes 
und  Veränderliches,  :rr(».  qvöic:,  tQya,  ro'oc,  (fQoriiv  kehren 
wieder,  AÖyoc,  rofj{ia.  voelr,  alfffh/jg  sind  verschwunden,  als  ob  sie 
ein  Ra\d)  des  Feuers  geworden  wären,  ^^j  Und  was  am  bezeichnendsten 
ist,  die  o)'ö{/((Ta  Heraklits,  die  P.  schon  im  1.  Teil  den  dX/jOij  ent- 
gegengesetzt hat,  werden  auch  hier  einer  Kritik  unterzogen,  und  zwar 
an  den  drei  bedeutsamsten  Stellen  der  do^ai :  in  dem  schon  bespro- 
chenen Anfangsverse,  im  Schlußverse  und  im  1.  Verse  des  Fr.  9: 

arTa()  Ln^nh]  m'ivra  ffäoc  xa)   rv^  oröiiaöTm 
x(u  T(c  xara  öfffrtiti'.c  (Svrdiitic  Lti  toToI  ts  xa]  toic, 
rrüv  rrXhor     lOT)r  oi/ov  (fäeoc  xid   i'rxroc.  affdi'Tov 
)'oor  difffoTi'uov,  IrrA  ovdtTtQ(o  /ü'-tic  lirjÖir. 

„Aber  da  alles  die  empirischen  Xamen  Licht  und  Finsternis  er- 
halten hat  und  diese  Xamen  nach  ihren  Kräften  diesen  und  jenen 
.Dingen  beigelegt,  sind,  so  ist  alles  zugleich  mit  Licht  und  unsicht- 
barer Finsternis  erfüllt,  die  sich  beide  die  Wage  halten;  denn  keines 
hat  an  dem  anderen  teil."  '  Nachdem  also  die  Onomatotheten  die 
beiden  Gegensätze  rpäoc  und  rrs  erkannt  und  mit  Xamen  belegt 
hatten,  gingen  sie  daran,  auf  Grund  dieser  yrojinci  und  dieser  orö- 
^lara  das  Weltbild  zu  entwerfen. 

Und  nun  versetzt  uns  der  Philosoph,  für  den,  Avie  er  uns  über- 
zeugend dargelegt  hat,  logische  Abstraktion  und  Begriffsdialektik 
höheren  AVei-t  hat  als  das  Leben,  mitten  in  eine  Kosmogonie  und 
schildert  nicht  et^va,  wie  der  Kosmos  ist,  nein,  wie  er  ward  {ojrjtöH^tr 
Ur/trorro.  hfr  tcuSs),  mit  einer  Gründlichkeit,  wie  wir  sie  nur  von 
einem  Xaturphilosophen  erwarten  dürfen,  der  sein  ganzes  Leben  der 
Erforschung  der  Xatur  geweiht  hat,  für  den  das  ganze  Weltproblem 
nur  ein  Xaturproblem  ist.  Es  ist  daher  nur  allzu  begreifhch,  wenn 
einige  Erklärer  geglaubt  haben,  die  Göttin  Wahrheit  trage  hier  allen 
Ernstes  lauter  eigene,  hochpositive  Lehren  vor.  Aber  durch  die  drei 
Schlußverse  werden  wir  von  allen  Zweifeln  befreit;  hier  faßt  die 
Göttin  ihr  Gesamturteil  über  den  Werf  der  ganzen  Entwicklungslehre 
in  die  Worte  zusammen  (Fr.  19): 


•5-)  Xiir  in  Fr.  16  ist  vo)Jnm,    aber  gerade  hier  im  scharfen  Gegensatz 
7,\\  röoc  11.  a. 


Ein  Beitnig  zum  lierakliti.stli-juiniunid.  Erkijvntiiif:^])iobk jn.  151 

oi'tc/  toi  xKTic  dö^ar  l(fv  tÜiSi   /aü  vvr  h'.üiv 
X(d   ii'cTl.-rtiT'   (Itii   Tordt   Ti/.trr/jOovöt   T(jt(.(f irre.' 
ToiJ  <y  oroi/'  ai'Hooj.Toi  y.i'.rtihtvT    trriöf/f/or  IxäoTO). 

„Siehe,  so  entwickelten  sich  der  Meinung  zufolge  diese  >]rscliei- 
nungen,  sind  jetzt  und,  wenn  sie  (von  der  ^pvcxS)  genährt  sind,  werden 
sie  ihr  Ende  haben.  J)iesen  Erscheinungen  haben  die  Mensclien  ein 
für  jede  einzelne  bezeichnendes  oro{Ui  festgesetzt."' 

Siehst  du,  sagt  also  die  Göttin  Wahrheit,  die  S  u  m  m  e  der 
S  (•  h  e  i  n  1  e  h  r  e  ist:  E  n  t  w  i  c  k  1  u  n  g  s  r  um  ni  ei  u  n  d 
X  a  m  e  n  f  e  s  t  s  e  tz  u  n  g.  J.)ie  r/  coic  läßt  alles  entstehen,  uml 
wenn  es  entstand,  ist  es  und  macht  seine  Entwicldung  durch  (tqu- 
(ftrra),  um  dann  sein  Ende  zu  nehnaen.  Und  diesen  Entwicklungs- 
erscheinungen setzten  die  Menschen  ein  für  jede  einzelne  bezeichnendes 
orona  fest:  die  Ursubstanz  nannten  sie  ttiq.  ihre  Wandlungen 
ihuaooic.  ///;  die  Ursache  der  Entwicklung  nannten  sie  ffvoi^  oder 
iHöq,  den  Entwicklungsprozeß  jtoÄSdog,  den  Zustand  der  Entwickhing, 
den  wir  vor  uns  sehen,  xoOfioc,  der  Entwicklungsdauer  gaben  sie  das 
oro/ta  iUoc  oder  Zyröc,  den  einzelnen  Entwicklungserscheinungen 
gaben  sie  Namen,  die  einen  Gegensatz  ausdrücken,  wie  Tag  und  Nacht, 
Winter  und  Sommer,  Krieg  und  Frieden  usw.,  wie  es  gerade  für  die 
eine  Einheit  bildenden  Gegensätze  bezeichnend  ist  (oroi/a  L^lOf/i/or 
f-xdoTOj}.  Die  Summe  ihrer  Weisheit  ist  mit  einem  Worte :  Gegensätze 
erkennen,  Gegensätze  benennen.  Derselbe  Gedanke,  der  dem  Verse  9.  1 
des  2.  Teiles  zugrunde  liegt 

.TTccvTcc  qäoc  x(ci  ri\;  oroffaorai. 
liegt  auch  dem  Anfangsverse 

ii<){>(fac  yaQ  xared-erro  <h'o  yro\uac  (IrofutCtir 
und  dem  Schlußverse 

TOlc  (i'  oron'  ('ivi)\>o).-roi  xicreSevT    L'riotjiwr  txäöTC) 
zugrunde,  der  Gedanke,  dem  die  Göttin  schon  im  ersten  Teil  des  Ge- 
dichtes 

TO)  jTccvT    ovoj/  torai 

ebenso  entschiedenen  Ausdi'uck  gegeben  hat,  daß  nämhch  durch  das 
(Irofta  der  Irrtum  in  die  Welt  gekommen  sei.  Sprache  und  Inhalt  be- 
zeugen also,  daß  in  den  do^ai  ebenso  Herakhts  Weltanschauung 
beurteilt  wüd  wde  in  der  (uJid^na.  In  der  cX/^ß^tuc  wird  durch  den 
Vergleich  von  Wesen  und  Grundbestimmungen  der  Erfaluungs- 
erkenntnis  mit  Wesen  und  Grundbestimmungen  der  reinen  Gedanken- 


152  Em;', nuc)    Jjouvv, 

erkeiintnis  logisch  nachgewiesen,  daß  das  Seiende  nur  jj\y«)  beurteilt 
werden  kann;  in  den  rfo^;«/  wird  das  Weltbild  Heraklits  von  dessen 
eigenen   Voraussetzungen   aus    einer    Kritik   unterzogen,    und   diese 
Kritik  führt  zu  dem  für  den  streng  dogmatischen  Rationalisten  kläg- 
lielien  Ergebnisse,  daß  das  Wissen  der  Heraklitmenschen  nur  aus  dem 
Leben  fließt  und  darum  ist  die  Göttin  ali]i)^kia  überzeugt,  „daß  die 
yviöiiii  ■■iQOTiöv''"  ihrem  Jünger  „den  Rang  nicht  ablaufen  werde". 
.Denn  für  die  Erfahrungsmenschen  hat  das  Leben  allein  Sinn  und 
^Vert,  logisches  J.k^nken  ist  für  sie  wertlos,  der  Logiker  dagegen  muß 
das  Leben  überwinden,  um  zum  rein  logischen  Denken  zu  gelangen. 
^'ur  ein  logisch  denkender  Mann,  sagt  P.,  ist  ein  wissender  Mann  (I,  3). 
denn  nur  als  solchen  empfängt  ihn  die  Wahrheit;  die  Wirküchkeits- 
menschen  aber  sind  nichtswissende  Sterbhche  (VI,  4),  die  nie  zur 
Wahrheit  gelangen  können,  weil  ihr  vovc  den  Ttagtövra  im    yMHiioj. 
stets  zugewendet  bleiben  muß,  nie  den  Zusammenhang  mit  der  Wirk- 
liclilveit  verlieren  darf.    })er  Logosdenker  dagegen  muß  geflissentlich 
die  mcQtovTfi  im  xoofioc  fliehen,  um  sich  ausschließlich  in  die  djrtorTc 
so  zu  vertiefen,  daß  sie  ihm  erst  durch  das  Denken  zuverlässig  jxaQtövTti 
sind.    Jetzt  verstehen  wir,  was  das  heißt,  wenn  der  eine  den  anderen 
blind  und  taub  schilt.    Wer  nicht  sehen  und  hören  kann,  sagt  H.,  ist 
blind  und  taub.    P.  aber  erwidert:   Blind  und  taub  ist,  wer  von  dem, 
was  er  sieht  und  hört,  keinen  Begriff  hat.     „Diese  Unterscheidung 
(sc.   des  wissenschaftlichen  Erkennens   und  .wissenschaftlichen  Vor- 
stellens)   kommt   seit   Heraklit   und   Parmenides   häufig   genug   zur 
Sprache,  allein  sie  erscheint  hier  nicht  als  die  Grundlage,  sondern 
nur  als  eine  Folge  der  Untersuchung  über  die  Natur  der  Dinge." 
Soweit  vermag  ich  mit  Zeller^^)  zu  gehen.    Das  Erkennen  der  .Dingo 
geschieht  ganz  unbewußt,  es  ist,   wie  Heraklit  sagt,  ^vrov.     Wenn 
aber  Zeller  weiterhin  sagt:    „Parmenides  leugnet  die  Zuverlässigkeit 
der  sinnlichen  Wahi-nehmung,  weil  sie  uns  ein  Geteiltes,  Veränder- 
liches,' Heraklit,  weil  sie  ein  beharrliches  Sein  zeigt",  so  muß  es  unseren 
Darlegungen  gemäß  mutatis  mutandis  heißen:    Heraklit  leugnet  die 
Zuverlässigkeit,   der   reinen    Gedankenerkenntnis,    weil    sie    auf    der 
Grundlage  des  beharrlichen  Seins  beruht,  Parmenides  leugnet  die  Zu- 
verlässigkeit der  sinnlichen  Wahrnehmung,  weil  sie  uns  ein  Geteiltes. 
Veränderliches  zeigt. 


53)  a.  a.  0.  S.  159. 


Vlll. 

Schopenhauer-Kritik. 

1818-1918. 
Von 

Dr.  Ernst  Barthel. 

Wenn  man  einem  Philosophen  so  sehr  zugetan  ist,  daß  man 
sicli  geradezu  als  seinen  Schüler  betrachten  möchte,  empfindet 
man  es  als  eine  Pflicht  dem  eigenen  Erkennen  gegenüber,  die 
Unterschiede  des  selbsterworbenen  und  des  fremden  Gedanken- 
baues zu  betonen.  Und  wenn  die  Tücke  äußerer  Umstände  uns 
bislang  verhinderte,  über  das  Selbstgedachte  ein  systematisches 
Werk  vorzulegen,  wird  eine  vorläufige  Darlegung  einzelner 
Punkte  in  Form  der  Kritik  des  Systems,  von  dem  man  ausge- 
gangen ist,  der  Öffentlichkeit  verhältnismäßig  interessant  sein 
können.  In  diesem  Sinne  sei  folgende  kurze  Schopenhauer-Kritik 
gestattet. 

1.  Die  Welt  soll  einerseits  bloße  Vorstellung,  andererseits 
blinder  Wille  sein,  sonst  nichts?  Nun  frage  ich  mich:  Wie 
kommt  in  die  Natur  die  große  Zweckmäßigkeit,  die  harmonische 
Vernunft  im  Sinne  Goethes,  das  erfrischende  Künstlertum  im 
Ganzen  wie  in  allen  Teilen?  Diese  schöne,  vernünftige,  zweck- 
mäßige Harmonie  ist  nicht  eine  bloße  Vorstellung,  sondern  eine 
höchst  reale  Sache  unabhängig  von  allem  Vorgestelltwerden. 
Sie  ist  auch  kein  blinder  Wille,  denn  sie  ist  ganz  im  Gegenteil 
so  hell  und  intelligent,  daß  sie  nur  mit  der  Harmonie  eines 
großen  Kunstwerkes  vergleichbar  ist.  Also  kann  ich  nicht  zu- 
geben, daß  Schopenhauers  logische  Zweiteilung  der  Welt  in 
eine  Komponente  der  bloßen  Vorstellung  und  eine  Komponente 
des  blinden  Willens  zutreffend  sei.    Ich  erkenne  lebhaft  die  be- 


1 04  E  r  11 »  t    B  a  r  t  h  e  1 , 

deutende  Intuition,  die  den  Denker  zu  dieser  Zweiteilung  führte, 
doch  scheint  mir,  daß  er  selbst  durch  seine  platonische  Ideen- 
lehre schon  darüber  hinausgegangen  ist, 

2.  Dali  Seh.  die  Welt  als  ein  zweigeteiltes  Polarphänomen 
auffaßt,  ist  seine  große,  bleibend  wertvolle  Neuerung.  Indessen 
müßten  die  beiden  Pole  anders  bezeichnet,  anders  gegeneinander 
abgegrenzt  werden.  Mir  scheint,  „Die  Welt  als  Kraft  und  In- 
telligenz" wäre  ein  brauchbareres  System.  „Kraft"  ist  bünd  und 
mächtig.  „Intelligenz"  ist  zweckstrebend  und  jedem  Menschen 
als  unmittelbare  Tatsache  seiner  selbst  gegeben.  .Kraft  und  In- 
telligenz zusammen  bilden  die  Natur.  Kraft  und  Intelhgenz  zu- 
sammen bilden  den  menschlichen  Geist.  Das  Wort  „Urteilskraft" 
sagt  in  echt  Schopenhauerscher  Weise  aus,  daß  die  Grundlage 
unseres  Urteilens  eine  „Kraft"  ist  —  welche  Wahrheit  übrigens 
auch  bei  Malebranche,  dem  Vorläufer  Sch.'s  in  vieler  Hinsicht, 
ferner  bei  Pascal  und  Schelling  vertreten  ist. 

3.  Der  von  Kant  übernommene  Standpunkt  des  „Ideahsmus", 
nach  welchem  die  objektiv  erfahrene  Welt  wesenthch  als  Vor- 
stellung eines  Bewußtseins  betrachtet  werden  müsse,  dürfte  vor 
besonnener  Kritik  nicht  standhalten.  Schopenhauer  selbst  hat 
sich  einmal  sehr  treffend  ausgedrückt:  „Kein  Objekt  ohne  Sub- 
jekt, kein  Subjekt  ohne  Objekt."  Hierdurch  wird  die  richtige 
und  neue  Erkenntnis  vertreten,  daß  Subjekt  und  Objekt  gleich- 
berechtigte Pole  einer  unaufhebbaren  Dualität  sind.  Schopen- 
hauer, der  Polarphilosoph,  gibt  hiermit  ganz  unbewußt  seinem 
eigenen  Kantianismus  den  Todesstoß.  Geht  doch  jeder,  auch 
der  Kantische,  Ideahsmus  darauf  aus,  die  Gleichberechtigtheit 
von  Subjekt  und  Objekt  zugunsten  des  Subjekts  zu  leugnen.  Dies 
ist  aber  ebenso  wenig  möghch  wie  der  gegenteilige,  objekti- 
vistische Standpunkt.  Nur  die  Anerkennung  der  gleichberech- 
tigten Polarität  von  Subjekt  und  Objekt  stellt  die  Erkenntnis- 
theorie auf  eine  gesunde  Basis.  Schopenhauer  machte  den  An- 
fang zu  diesem  Schritte,  aber  sein  romantischer  Drang,  der  ob- 
jektiven V/elt  ein  bißchen  die  Existenz  abzusprechen,  verhinderte 
ihn  daran,  dem  Idealismus  in  jeder  Form  die  deutliche  Absage 
zu  erteilen. 

4.  Raum  und  Zeit  gehören  für  alle  Lebendigen  zu  den  realsten 
Dingen,   die   es   überhaupt   gibt.     Auch   die   Kraft   ist   durchaus 


Schopcaliauer-Kiitik.  iöö 

niclit  realer  als  Raum  und  Zeit,  was  zum  Beispiel  eine  philo- 
sophische Analyse  des  Falles  erkennen  lassen  könnte.  Meine 
auf  streng  geometrischer  Grundlage  vorgenommene  Raum- 
theorie') zeigt,  daß  der  Raum  ein  Ding  mit  den  allerspeziellsten 
Gesetzen  ist,  das  so  gut  existiert  wie  alle  dynamischen  Natur- 
inhalte. Mit  der  Zeit  verhält  es  sich  ganz  ähnlich,  worüber 
meine  besondere  Arbeit  herangezogen  werden  kann').  Die  Lehre 
von  der  Irrealität  von  Raum  und  Zeit  ist  meines  Erachtens  über- 
haupt nicht  mehr  wissenschaftlich  bewertbar.  Und  doch  hat 
Schopenhauer  Recht,  wenn  er  sagt,  für  gestorbene  Leute  seien 
Raum  und  Zeit  wie  ein  Traum  verschwunden.  Allerdings.  Aber 
wir  sprachen  soeben  von  lebendigen  Leuten.  Für  diese  ist  ihr 
Raum  und  ihre  Zeit  das  ReaHssimum,  wie  für  gestorbene  Leute 
deren  Raum  und  deren  Zeit  deren  Realissimum  ist.  Für  die  einen 
existiert  gerade  das,  was  für  die  anderen  nicht  existiert.  Ich 
hoffe,  sie  werden  sich  deshalb  nicht  in  die  Haare  geraten.  Und 
\'on  den  Philosophen  hoffe  ich  das  gleiche.  Denn  der  ganze  Spuk 
\ou  der  Idealität  ist  keinen  Schuß  Pulver  wert. 

5.  Auch  die  Kausahtät  ist  nach  Schopenhauer  nur  eine  Form 
imserer  Vorstellung.  Die  berechtigte  Geringschätzung  der  kau- 
salen Beziehung  durch  Malebranche  war  auf  Schopenhauer  von 
erfreulichem  Einfluß.  Auch  Goethe  spricht  sich  einmal  anschau- 
lich über  die  inhaltliche  Wesenlosigkeit  kausaler  Betrachtung 
aus.  Dieser  Punkt  ist  von  der  Lehre  der  Idealität  von  Raum 
und  Zeit  ganz  zu  trennen.  Er  enthält  eine  treffende  Erkenntnis, 
die  sich  kurz  in  den  Satz  kleiden  läßt:  Die  kausale  Betrachtungs- 
weise der  Vorgänge  hat  die  bloß  praktische  Tragweite,  uns  ihr 
Eintreten  zu  bestimmter  Zeit  an  bestimmtem  Orte  vorhersagen 
zu  lassen,  ist  jedoch  zum  Verständnis  der  quahtativen  Eigenart 
eines  Vorganges  grundsätzlich  unbrauchbar.  Die  Wesensgesetze 
der  Natur  sind  qualitativ  künstlerischer  Art.  Unsere  Betrach- 
tung der  Dinge  am  Faden  des  Kausalgesetzes  hat  nur  den  Wert 
eines  Unverständhchmachens  der  Natur.  Wir  betrachten  da- 
durch die  Natur  von  innen  statt  von  außen.  Wie  eine  Made  in 
einem  Körper  durch  das  Kausalgesetz  keine  Kenntnis  von  den 


1)  Archiv  für  systematische  Philosophie  1916 — 17. 

Arahiv  fiir  Cie.<c.liichte  der  Philosophie.    XXXI.  '6.  1] 


156  Ernst   Barth el, 

organischen,  großen  Gesetzen  dieses  Körpers  erlangen  kann,  so 
Ivönnen  auch  wir  Menschen  durch  das  Kausalgesetz  keine  Kennt- 
nis von  den  organischen  Zusammenhängen  der  Welt  erlangen. 
Dies  kann  nur  geschehen  durch  die  Intuition,  das  heißt  durch  die 
schauende  Intelhgenz  des  Menschen,  der  die  Intelhgenz  in  der 
Natur  verstehend  und  mitfühlend  erfaßt. 

6.  Damit  kommen  wir  zu  der  Schopenhauerschen  Lehre  vom 
Nichtwissen  und  von  den  Ideen.  Seit  Adams  Zeiten  hat  sich  der 
Mensch  gern  durch  die  Lehre  schmeicheln  lassen,  „man"  könne 
eigentlich  nur  bis  zu  gewissen  Grenzen  erkennen,  dann  höre 
unsere  Weisheit  auf.  Eine  solche  Lehre  gibt  jedermann  das 
Recht,  nichts  wissen  zu  wollen.  Denn  wenn  die  Autorität  sagt, 
man  könne  nichts  wissen,  so  ist  das  Weltproblem  bestens  gelöst, 
und  man  kann  sich  des  unangenehmen  Denkens  enthalten.  Die 
Lehre,  man  könne  nichts  Rechtes  wissen,  da  man  die  Wahrheit 
durch  den  Schleier  der  Maja  verdeckt  finde,  ist  sowohl  praktisch 
als  menschenfreundlich,  und  sie  wird  immer  viele  Anhänger 
haben  —  außer  bei  einigen  Denkern.  Kant  und  Schopenhauer 
•gehen  zwar  in  dieser  Lehre  zusammen.  Aber  beide  haben  sie 
selbst  durchbrochen.  Kant  indem  er  die  „Kritik  der  reinen  Ver- 
nunft" schrieb  —  denn  wie  sollte  man  die  menschliche  Erkennt- 
nisfähigkeit kritisieren  und  begrenzen  können,  wenn  man  nicht 
selbst  eine  unbegrenzte  Erkenntnisfähigkeit  benutzt!  — ,  und 
Schopenhauer,  indem  er  die  willensfreie  Erkenntnis  der  Ideen 
lehrte.  Es  ist  sehr  tief,  was  Seh.  in  diesem  Zusammenhange 
sagt.  Nur  paßt  es  nicht  recht  zu  dem  Korsett  von  Raum,  Zeit 
imd  Kausahtät,  das  er  dem  menschlichen  Geiste  sonst  umlegt, 
Schopenhauer  war  viel  genialer,  tiefer,  reicher  als  sein  System. 
Seine  Gedanken  werden  bleiben,  aber  sein  System  muß  in  kon- 
sequenzfähigere Begriffe  gekleidet  werden.  Die  intuitive  Er- 
kenntnis darf  nicht  als  Wunder  in  die  Welt  eingeschmuggelt  wer- 
den, sondern  muß  aus  ihren  Grundlagen  hervorgehen.  Dies  ge- 
schieht, wenn  die  Welt  begriffen  wird  als  „Kraft"  und  „In- 
telligenz". Die  Intelligenz  ist  etwas  klar  Erkennendes.  Bei 
Schopenhauer  muß  man  sich  fragen,  woher  eigentlich  die  „Er- 
kenntnis" bei  der  „willensfreien  Erkenntnis"  kommt.  Fehlt  der 
Wille,  so  bleibt  nur  die  Vorstellung,     Die  bloße  Vorstellung  ist 


Schopenhauer-Kritik.  157 

aber   mit   dem   besagten   Korsett  behaftet,   kann   also   nicht   die 
Ideen  erkennen. 

7.  Audi  der  Begriff  der  Erlösung  leidet  unter  seiner  myste- 
riösen Fassung.  Wenn  die  Welt  außer  einer  wesenlosen  Vor- 
stellung nichts  ist  als  blinder  Wille,  so  ist  es  mehr  als  wunderbar, 
daß  dieser  Wille  schauend  wird  und  sich  verneint.  Der  Wille 
hat  also  das  Vermögen,  schauend  zu  werden?  Das  hätte  man 
früher  wissen  sollen.  Ein  schauender  Wille  besteht  nämlich 
nicht  bloß  aus  blinder  Kraft,  sondern  auch  aus  Intelligenz  —  das 
wäre  etwas  ganz  Neues  gewesen.  Auch  ist  es  wunderbar,  daß 
schon  mancher  Büßer  freiwillig  verhungert  ist,  ohne  daß  die 
Welt  erlöst  wäre.  Wie  steht  es  mit  dem  metaphysischen  Sein 
der  Individuen?  Ist  der  Wille  wirklich  der  eine,  große,  unge- 
teilte Teufel  oder  gibt  es  eine  große  Anzahl  von  Willensmonaden, 
deren  jede  ihr  eigenes  Schicksal  hat?  Es  ist  bekannt,  daß  Seh. 
im  Alter  immer  mehr  individualistische  Metaphysik  pflegte.  Der 
all-eine  Wille  reichte  offenbar  auch  hier  nicht  aus,  wie  er  bei  den 
ästhetischen  Ideen  nicht  ausreichte.  .  Daraus  muß  man  von  vorn- 
herein die  Konsequenz  ziehen.  Es  ist  nötig,  im  Sinne  Leibnizens 
und  Herbarts  von  Einzelwesen  qualitativer  Eigenart  auszugehen, 
von  Monaden,  die  Kraft  und  Intelligenz  besitzen,  von  den  un- 
sterblichen Seelen  der  christlichen  Philosophie.  Dann  wird  so- 
wohl das  ästhetische  als  das  Erkenntnisproblem  als  auch  die 
Frage  der  Erlösung  in  vernunftgemäßer  Weise  lösbar.  Die  Zu- 
kunft gehört  nicht  dem  all-einen  Willen,  sondern  dem  metaphy- 
sischen Individuahsmus. 

8.  Damit  würde  die  Erlösungsmystik  überwunden  und  der 
Weg  zu  den  graduellen  Erlösungsversuchen  der  geschichtHchen 
Entwicklung  geebnet.  Es  entspräche  dem  Geiste  der  Schopen- 
hauerschen  Philosophie  sehr  gut,  wenn  sie  in  den  verbesserten 
Malthusianismus  ausliefe  und  überhaupt  in  eine  Empfehlung  prak- 
tischer Mitarbeit  an  den  Aufgaben  der  gegebenen  historischen 
Wirklichkeit.  Sch.'s  Behauptung,  die  geschichtliche  Entwicklung 
sei  überhaupt  nicht  wesenthch,  hat  nur  vom  Standpunkt  des  In- 
dividualethikers  Sinn.  Betrachtet  man  die  Menschheitsgeschichte 
als  großes  Naturphänomen,  dessen  Sinn  die  Erlösung  ist,  so  läßt 
sich  ein  Voranschreiten  gar  nicht  leugnen.    Vor  500  Jahren  war 

11* 


158  E  r  u  ö  t    B  a  1- 1  li  e  1 , 

noch  nicht  einmal  die  ganze  Erdoberfläclie  bewußtheitlich  ver- 
bunden. Heute  ist  sie  es,  da  die  ganze  Fläche  „entdeckt"  ist. 
Das  ist  doch  ein  Unterschied,  der  für  die  Erlösung  bedeutungs- 
voll ist.  Obgleich  ich  jede  Gemeinschaft  mit  hegelianischen  Op- 
timisten ablehne,  da  das  Voranschreiten  der  Menscheit  nichts 
weniger  als  erfreuliche  Phänomene  zeitigt,  muß  ich  doch  die 
Tatsache  eines  historischen  Voranschreitens  von  einem  Anfang 
zu  einem  Ende  gegen  Schopenhauer  betonen.  Sch.'s  idealistische 
Auffassung  der  Zeit  hat  seine  Abweisung  jeder  historischen  Ent- 
wicklung zweifellos  mitbedingt. 

9.  Schopenhauers  Kritik  der  Goetheschen  Farbenlehre  ist 
unzutreffend.  Goethe  ist  glücklicherweise  nicht  vom  „Idea- 
lismus" angesteckt  und  sieht  die  Dinge  richtiger  als  Schopen- 
hauer, der  alle  Farbe  aus  der  Retina  allein  ohne  objektives 
Licht  verstehen  möchte.  Auch  seine  Anerkennung  Newtons  in 
einem  Punkt  ist  bedauerÜch.  Goethe  hat  unbedingt  recht.  Vgl. 
Literar.  Echo,  1.  6.  17. 

10.  Sch.'s  Vererbungslehre  ist  faszinierend,  aber  falsch.  Vom 
Vater  erbt  man  Tendenzen  der  Lebensführung,  von  der  Mutter 
gesundheitliche  Organisation.  Und  die  wichtigsten  Dinge  erbt 
man  überhaupt  nicht,  weil  man  sie  selbst  ist. 

n.  Daß  Seh.  die  UnendHchkeit  des  Raumes  so  überzeugt 
lehrt,  zeigt  nur  seinen  geringen  Überblick  über  die  Möglichkeiten. 
Seine  mathematische  Bildung  war  äußerst  mangelhaft,  wenn- 
gleich sein  Gedanke,  die  Geometrie  müsse  sich  auf  die  An- 
schauung gründen,  nichtsdestoweniger  gut  ist.  Auch  daß  Seh. 
so  brav  die  kopernikanische  Verkehrtheit  nachsprach,  wollen  wir 
ihm  freundlich  verzeihen.  Für  ihn  mußte  es  ja  eine  Freude  sein, 
die  Welt  in  möglichst  wahnsinniger  Gestalt  zu  erblicken. 

12.  Die  beiden  Grundprobleme  der  Ethik  müssen  unter  Be- 
rücksichtigung des  Intelligenzbegriffes  gelöst  werden.  Das  Mit- 
leid ist  nicht  das  Fundament  der  Moral,  sondern  kann  allen- 
falls für  die  moralische  Gesinnung  einen  Ersatz  bilden.  Moralisch 
handeln  heißt  gemäß  der  besonnenen,  leidenschaftslosen  Intelli- 
genz handeln.  Der  Weise  lindert  die  Not  anderer,  aber  er  emp- 
findet kein  Mitleid.  Roheit  und  Verbrechen,  Gleichgültigkeif  und 
Ungerechtigkeit  gegen  sich  selbst  oder  andere  ist  ein  Zeichen 


:5choi>«'iiliau('i-Kritik.  159 

manRclnder  Intelligenz.  Altruistische  Gefühle  sind  nicht  not- 
wendig als  moralisch  einzuschätzen.  Sie  erzeugen  ebenso  viel 
Leid  unter  den  Menschen  wie  Nutzen.  Wir  halten  daher  die  auf 
Intelligenz  gegründete  Kthik  des  Descartes  für  besser  als  die 
Schopenhauersche.  Ein  künftiges  System  der  Philosophie  wird 
die  Moral  nicht  auf  ein  Gefühl  gründen. 

13.  Die  Freiheit  des  Willens  kann  nicht  mit  Ja  oder  Nein 
entschieden  werden.  Freiheit  und  Unfreiheit  müssen  beide  real 
sein  wie  zwei  Komplementärfarben.  Sonst  könnte  man  sich 
weder  die  Freiheit  noch  die  Unfreiheit  überhaupt  denken.  Der 
Standpunkt  der  Polarität  darf  gerade  hier  nicht  vernachlässigt 
werden.  Fs  ist  zu  fragen:  Inwiefern  nennt  man  eine  Handlung 
frei,  inwiefern  nennt  man  sie  unfrei?  Worauf  die  Antwort  un- 
seres Erachtens  zu  lauten  hat:  Frei  ist  eine  Handlung  insofern, 
als  sie  durch  Intelligenz  geleitet  ist.  Unfrei,  sofern  sie  blinden 
Triebkräften  entspringt.  Die  meisten  Naturwesen,  alle  Menschen 
sind  frei  und  unfrei  zugleich.  Am  unfreiesten  ist  der  Stein,  dem 
jede  Intelligenz  abgeht.  Am  freiesten  ist  das  weltumspannende 
(jenie,  dem  fast  jede  dunkle  Region  m  der  Psyche  fehlt.  Mit  dem 
Kausalgesetz  hat  das  Freiheitsproblem  überhaupt  nichts  zu  tun, 
da  das  Kausalgesetz  keine  Wirklichkeit,  sondern 
eine  Denkart  des  Menschen  ist.  Mit  der  Prädestination  hat  das 
VVillensproblem  auch  nichts  zu  tun,  da  die  in  der  Weltgeschichte 
wirkende  Intelligenz  unter  Voraussetzung  des  tatsächlichen 
Maßes  von  Freiheit  und  Unfreiheit  bei  den  handelnden  Wesen 
zustandekommt.  Dagegen  hat  die  Frage  der  Willensfreiheit 
einen  engen  Zusammenhang  mit  dem  Begriff  der  Verantwortung 
und  Zurechnung.  Jedes  Wesen  ist  sittlich  verantworthch  und 
zurechnungsfähig,  so  weit  es  Intelligenz  besitzt.  Insoweit  ist  es 
dem  teleologischen  Prinzip  der  Strafe  und  Belohnung  unter- 
worfen. Jedes  Wesen  ist  dagegen  sittlich  nicht  verantwortlich 
und  unzurechnungsfähig,  sofern  es  einer  blinden  Kraft  unter- 
worfen ist.  Insoweit  ist  es  dem  kausalen  Prinzip  der  Hinderung 
und  Beförderung  unterworfen.  Freiheit  und  Unfreiheit  kommen 
immer  zusammen  vor.  Daher  ist  Schopenhauers  Determinismus 
ebenso  wie -viele  ähnliche  Behandlungen  des  Problems  bis  James' 
Indeterminismus  der  Ausfluß  einer  falschen  Problemstellung,  die 


15U  Ernst  Bart  hei, 

durch  die  müderne  Auslegung  des  Kausalgesetzes  bedingt  ist. 
Ein  anderer  sinnvoller  Begriff  der  Freiheit  und  Unfreiheit  kommt 
zustande,  wenn  man  unter  Freiheit  die  Möglichkeit  der  unge- 
hemmten Ausübung  der  natürlichen  Kräfte  und  Wünsche  ver- 
steht. Dieser  Freiheitsbegriff,  von  dem  Rousseau  und  Schiller 
reden,  kommt  nur  politisch  und  sozial,  nicht  philosophisch  in 
Betracht.  — 

Ob  das  eingangs  erwähnte  System  der  Philosophie  erschei- 
nen wird,  hängt  von  gewissen  Umständen  ab.  Wenn  die  zu- 
ständige Fakultät  vorzieht,  einen  entwicklungsfähigen  Gelehrten 
mit  eigener  Grundlage  entgegen  seinem  Lebenslauf  zum  schlech- 
ten Schulmeister  zu  machen  und  seine  wissenschaftliche  Ent- 
faltung gewaltsam  zu  verkümmern,  so  wird  das  Ergebnis  einer 
solchen  Heldentat  der  Kultur  für  niemand  vorteilhaft  sein. 


Rezensionen. 

Zur  Geschichte  der  Psychologie  und  ihrer  Forschungsweisen. 

(Schluß. 

Die  vierte  Sammlung  der  Schi-iften  der  Gesellschaft  für  ps5^chologische 
Forschung  (Leipzig,  Barth,  1916.  14  Mk.)  enthält  eine  Abhandlung  von 
Dr.  Richard  Baerwald  zur  Psychologie  der  Vorstellungstypen  mit 
besonderer  Berücksichtigung  der  motorischen  und  musikalischen 
Anlagen.  Die  sehr  umfangreiche  Untersuchung  von  441  Seiten  entstand  auf 
Grmid  mehrfacher  Umfragen.  Ihre  Beantwortung  förderten  verschiedene 
psychologische  Gesellschaften  (S.  2  ff.),  sodaß  ein  verhältnismäßig  großer 
Stoff  zusammenkam.  Ihn  hat  der  Verfasser  mit  Umsicht  und  Zurück- 
haltung benützt,  da  er  einsah,  daß  selbst  150  Gruppen  von  Antworten, 
deren  Urheber  n  itunter  namentlich  genannt  werden,  kein  stets  einwand- 
freies Bild  geben  können,  weil  die  Zahl  der  Befragten  im  Verhältnis  zur  Ge- 
samtheit verschwindend  klein  ist.  Seine  eigenen  Feststellungen  stützt  der 
Berliner  Psychologe,  indem  er  die  Arbeiten  anderer  und  auch  die  sogenannten 
allgemeinen  Aaschaxiungen  heranzieht  (vgl.  S.  321  und  341).  Die  Verweise 
auf  die  fremden  Abhandlungen  sind  klar  und  bestimmt,  sodaß  ein  Nach- 
prüfen leicht  möglich  ist.  Allerdings  ergeben  sich  gegenüber  den  Helfern  einige 
Bedenken:  es  scheinen  auf  den  ersten  Blick  im  allgemeinen  nur  zustimmende 
Forscher  berücksichtigt;  doch  hält  der  Anfangseindruck  vor  allem  wegen 
der  sonstigen  Arbeiten  von  Dr.  B.  nicht  an.  Trotzdem  aber  ist  die  Gefahr, 
daß  herrschende  Ansichten  gewisse  Schlüsse  unwillkürlich  beeinflussen, 
nicht  gering  (vgl.  S.  5,  7,  11,  18,  24,  26,  41,  178,  185,  212,  233  und 
andererseits  S.  2,  45,  5l,  104,  142,  157,  326,  328,  354!).  Doch  wir 
dürfen  zu  der  immer  wieder  geübten  Selbstkritik  (z.  B.  S.  254,  291, 
310,  334,  344,  355,  416,  426)  den  festen  Glauben  hegen,  daß  die  Fehler- 
quellen nach  Möglichkeit  verstopft  wurden  (vgl.  S.  370).  Inwieweit 
dieses  Streben  wirklich  geglückt  ist,  wird  sich  bei  späteren  Untersuchun- 
gen, welche  die  Fragestellung  von  Dr.  B.  benützen  und  sie  auch  durch 
Veränderungen  auf  Zuverlässigkeit  prüfen,  deutlich  ergeben.  Mit  dem  Künf- 
tigen habe  ich  mich  aber  nur  soweit  zu  beschäftigen,  als  das  Buch  diese  Ge- 
danken am-egt;  dagegen  vor  allem  zu  sagen,  was  das  Werk  Neues  bietet. 
Dieses  liegt  in  Doppeltem:  Die  Anlage  der  Fragen  mit  ihrem  Richtigen 
und  Falschen,  auf  das  der  Verfasser  mit  anerkennenswerter  Offenheit  selbst 
besonders  in  der  Einleitung  hinweist,  gibt  zusammen  mit  den  Antworten  wich- 


{')  2  Rezensionen, 

tige  Fingerzeige  für  ähnliche  Rundschreiben.  Außer  diesen  Fest- 
steUungcn,  welche  die  Arbeitsweise  betreffen,  lassen  sich  auch  sachliche 
ableiten.  Wenn  auch  eine  ausdrückliche  Zusammenfassung  leider  fehlt  und 
nur  einzelne  Teilergebnisse  sich  scharf  umreißen  lassen,  so  gestattet  doch 
ein  ausführliches  Inhaltsverzeichnis  ziemlich  rasch  zu  sehen,  was  behandelt 
wird.  Dieses  Eindringen  würde  noch  erleichtert,  wenn  auch  ein  iSach Verzeichnis 
vorläge.  Den  Hauptinhalt  gibt  schon  der  Titel  km-z  an.  Der  Verfasser, 
der  sich  gegen  die  ,,Nur-Experimentellen"  und  „Konscientialisten" 
wendet,  will  zeigen,  wie  sich  der  Motoriker  gegenüber  körperlichen  und  see- 
lischen Eindrücken  und  Anstößen  verhält:  Es  wird  also  sozusagen  ein  Steck- 
brief des  Motorikers  entworfen.  Er  ist  mit  dem  alten  Sanguiniker  und 
Choleriker  verwandt,  auch  in  der  Biinsicht,  daß  die  Namen  gleich  anderen 
gewählten  Ausdrücken,  sprachlich  nicht  sehr  schön  klingen.  Warum  ist 
es  nicht  möglich,  die  mit  der  Zeit  gewordenen  fremdsprachlichen  Bildungen 
dm-ch  schönere,  unserem  Spiachgeist  angeglichenere  auch  nach  und  nach 
zu  ersetzen?  Die  Fragen,  auf  Chund  derer  Beantwortung  Dr.  B.  schreibt, 
wurden  den  Versuchspersonen,  die  nur  zum  kleineren  Teil  bekamite 
Fachgelehrte  sind,  im  allgemeinen  schriftlich  vorgelegt,  so  daß  zur  Beant- 
wortung genügend  Sammlung  und  Ruhe  gegeben  war.  Da  sich  Angehörige 
der  beiden  Geschlechter  (S.  405  ff.,  vgl.  auch  357  ff.,  41?  —  das  weib- 
liche Geschlecht  besitzt  mehr  Aktivität,  aber  weniger  Spontaneität  als  das 
mämüiche  — )  luid  sehr  verschiedener  Berufe  (z.  B.  S.  284,  338,  383, 
406,  414,  417,  423:  musikalische  Schulung  und  Anlage  steigert  Reflex- 
erregbarkeit und  Assoziationsbereitschaft,  III,  Kap.  3  S.  377  ff.)  unter 
den  sich  Äußernden  befanden,  so  berühren  manche  Schlüsse  aiich  alte 
Streitfragen:  Z.  B.  die  Abweichungen  ruid  Ähnlichkeiten  zwischen  den 
mämüichen  und  weiblichen  Fähigkeiten  (vgl.  auch  Dr.  K.  Haase,  Der  weib- 
liche Typus,  Leipzig  1915!).  Welche  Folgerungen  ergeben  sich  schließlich 
aus  den  Beobachtungen  für  den  Unterricht  ?,  für  die  Erkenntnis  der 
völkischen  Eigenarten  ?  —Die  Romanen  und  Südländer  sind  wahi-schein- 
lich  visueller  veranlagt  als  die  Germanen  ( IV,  Kap.  5,  S.  423  ff.).  —  (vgl.  Dr.  Hertz, 
Rasse  und  Kultur,  Leipzig  1915).  Die  Antworten  auf  diese  Fragen  decken 
sich  nach  der  Ansicht  von  Dr.  B.  meist  mit  der  allgemeinen  Meinung. 
Ob  sie  gleich  der  Sprache,  wie  auch  Dr.  Kleinpaul,  Volkspsychologie  (Leipzig 
1914)  betont,  die  unbewußte  treffliche  Beobachterin  ist,  verdient  bei 
aller  Wahrscheinlichkeit,  die  manche  wissenschaftlich  heiß  umstrittene  Punkte 
ungewollt  kritisiert,  noch  besonders  geprüft  zu  werden.  Die  Frage 
der  völkischen  Verschiedenheiten  vermögen  m.  E.  die  Weltlanegsjahre 
leichter  als  die  1.  Hälfte  von  1914  zu  lösen;  demi  in  unseren  Gefangenen- 
lagern haben  wir  ein  buntes  Gemisch  von  zahlreichen  Versuchspersonen 
(vgl.  auch  Grenzboten,  Juli  1916:  v.  Rzymowski,  Psychologie  der 
Gefangenenlager).  Wemi  wir  diejenigen,  welche  den  einschlägigen 
Fragen  das  nötige  Mindestmaß  von  Verständnis  entgegenbringen,  aus- 
wählen, so  lassen  wir  den  Krieg,  der  vielfach  zerstört,  auch  Wertvolles 
schaffen.  An  diesem  Unternehmen  mittätig  zu  sein,  dürfte  vor  allem 
Dr,  B.  berufen  sein,    da    er   ein  unermüdliches    und    unerbittliches    Streben 


Rezensionen.  168 

nacJi  Vc'iiueidcn  von  Fehlern  besitzt,  luid  mit  selbstloser  Zurückhaltung, 
welche  die  Ergebnisse  mitunter  geringer  erscheinen  läßt,  als  sie  tat- 
sächlich sind,  niu-  r(er  \\'ahilieit,  dem  Näherkommen  an  die  bestmögliche 
Erkenntnis  dienen  will. 

Die  psychologische  Untersuchung  von  Professor  Dr.  Udalricli  Kr;'. - 
mär  jun..  Neue  (riundlagen  zur  Psychologie  des  Denkens  (Brünii. 
Carl  ^^■inicker  1914.  4,20  Mk.),  geht  von  dem  (Gesichtspunkt  aus. 
,,daß  die  .Sprache  nicht  das  Denken  selbst,  sondern  eine  mehr  oder  wenigei- 
vollkommene  Äußerung  des  Denkens  ist,  während  das  Denken  ,, nicht 
nur  in  seinen  primitiven,  sondern  auch  in  seinen  höchsten  Vorgängen  von  der 
Sprache  ganz  oder  fast  ganz  unabhängig  ist".  ^^  ie  diese  Behauptung  vei- 
standen  werden  soll,  zeigt  ein  anderer  Satz:  „Die  Sprache  entstand  und 
entwickelte  sich  gewiß  in  Verbindung  mit  der  fortschreitenden  Entwicklung 
des  Denkens,  aber  ganz  und  gar  nicht  als  natürliches  Bedüi-fnis  eines  Einzel- 
individimms,  wohl  aber  als  ein  Verständigungsmittel  zwischen  den 
(-liedern  einer  Gesellschaft"  (Ö.  4,  vgl.  auch  Dr.  0.  Willmann.  Phil. 
Propäd.,  1912»—  1,  3,  24,  33,  53  ff.,  82,  93,  131  !).     Von  dieser  Anschauung 

diu-clidrungen,  will  der  Verfasser  „die  Denkvorgänge auf  eiixfache  (rrund- 

vorgänge  des  seelischen  Lebens  zurückführen,  denen  gegenüber  das  Denken 
nach  der  bisherigen  Auf fassungs weise  mancher  Psychologen  als  ein  Vor- 
gang sui  generis  erscheint;  denn  es  dünkt  ihm  falsch,  daß  das  Psychische 
und  Sprachliche  vermischt  werde"  (S.  5);  allerdings  scheint  mir  mit  dem  Streben 
nach  \'ereinfachung  nicht  ganz  vereinbart,  wenn  der  Verfasser  am  Ende  des 
2.  Kapitels,  das  über  die  „Psychologie  des  Schlusses"  handelt,  zusannnen- 
faßt:  ,,Die  höhere  Form  des  Denkens,  welche  wir  allgemein  als  Scliiießeu 
bezeichnen,  ist  ein  verwickelter,  aus  den  übrigen  Elementarvorgängen 
des  ps3'chischen  Geschehens  zusammengesetzter  Prozeß,  an  dem  hauptsächlicli 

das  Wahrnehmen  und  Vorstellen,  die  Akte  des  Beziehungsbewußtseins , 

das  allgemeine  Cresetz  des  assoziativen  \^erla\ifes  der  Vorstellungen,  die  einer- 
seits durch  den  Inhalt  der  Vorstellungen  andererseits  durch  die  gestörte  oder 
iingestörte  Reproduktion  der  Assoziationsreihen  hervorgerufenen  Lust-  und 
L'nlustgefühle,  und  der  aus  dem  allen  residtierende  Zustand  der  Erwartung 
teilnehmen"  (S.  91/92).  Um  seine  Ansicht  über  das  Verhältnis  zwischen 
Sprache  und  Denken  und  über  das  Wesen  des  Denkens  selbst  zu  bewei.sen, 
untersucht  der  Verfasser,  o  b  es  Fälle  gibt,  in  denen  wir  wirklich  denken 
ohne  zu  sprechen  (S.  105,  107,  117),  und  will  die  Sprache  als  etwas  Neben- 
sächliches feststellen,  indem  er  ihre  Entstehungsgeschichte  in  großen  Zügen  gibt. 
Aber  so  wenig  ein  unbestreitbarer  Beweis  bis  jetzt  vorlifgt,  daß  die  Teile  des 
sogenamiten  Neandertalschädels  und  seiner  Verwandten  wirklich  eine  mensch- 
liche Gehirnhülle  einstens  bilden  halfen,  sosehr  bewegen  sich  diese  Au.sfülirungen 
über  das  Werden  des  lautlichen  Verständigungsmittels  der  Menschen  auf  schwan- 
kenden Brettern  der  Vermutung  (vgl.  S.  10  und  S.  50 ff.).  Sie  kann  der 
Geschichtsforscher,  welcher  mit  unzweideutigen  Zeugnissen  zu  arbeiten  ge- 
wohnt ist,  nie  als  Wirklichkeit  nehmen.  Doch  obwohl  der  Untergrund,  auf 
den  der  Verfasser  zu  bauen  plant,  einem  Moorboden  gleicht,  das  (Jebäude . 


164  Rezciisioiiei). 

selbst  leidet  durch  diesen  Umstand  nicht  so  sehr,  als  man  zunächst  meinen 
könnte.  Allerdings  läßt  sich  gegen  die  Beweisführung  selbstverständlich 
dasselbe  sagen,  was  gegen  die  der  Logiker  vorgebracht  wird,  wie  auch  die 
Besprechinig  der  Tübinger  Doktorarbeit  von  Dr.  Paul  Feldkeller,  Unter- 
suchung über  das  normative  und  nichtnormative  Denken  (1914),  herverhob 
(Vgl.  auch  Dr.  0.  Willmann,  Phil.  Propäd.,  19123,  1,  15  und  93!).  Der 
Verfasser  versucht  auch  — •  nebenbei  gesagt  — •  eine  Vereinfach\ing  des 
»Syllogismus  und  Induktionschlusses,  indem  er  beide  auus  dem  Ana- 
logieschluß ableitet  (S.  78).  Dr.  K.  gesteht  sogar  zu,  daß  Schlüsse  „keine 
formale  Gewißheit  oder  ^\'ahrscheinlichkeit  haben,  sondern  nur  eine  größere 
oder  geringere  inhaltliehe  Wahrscheinlichkeit"  (S.  89).  Um  die  allgemeinen 
Ausführungen  zu  belegen,  möchte  ich  ein  Beispiel  herausgreifen.  Der 
Verfasser  initersucht  die  Aiissage  ,,das  Wasser  fließt"  und  prägt  den  »Satz: 
„Wenn  ich  mir  das  Wasser  vorstelle,  so  muß  ich  mir  entweder  das  Wasser 
in  einem  Gefäße  oder  in  einem  Bache  oder  im  Flusse  vorstellen,  oder  es  taucht 
vor  mir  das  Bild  eines  Teiches,  eines  Sees  oder  des  Meeres  auf"  (S.  1.3,  vgl. 
S.  28).  Gibt  es  aber  nicht  Wasser  in  der  Luft  oder  in  der  Erde  ?  Bestimmt 
das  Zeitwort  Fließen  nicht  eine  festiimgrenzte  Tätigkeit  des  Wassers,  so  daß 
eine  Reihe  der  vom  Verfasser  als  möglich  bezeichneten  Annahmen  über  den 
Ort,  wo  das  Wasser  sein  kann,  von  vornherein  ausscheiden?  Doch  über 
diese  Dinge  zu  streiten,  dürfte  wenig  Sinn  haben,  da  auf  dem  Gebiete 
des  Schlüsseziehens  und  Entwickeins  keine  Brücke  der  Verständigung  von 
denjenigen,  welche  dieses  Beleuchten  von  Begriffen  für  wertvoll  halten, 
zu  denen,  welche  von  sprachlichen  ,, Spitzfindigkeiten"  sprechen  (S.  118), 
zu  führen  scheint.  In  derselben  Richtung  bewegt  sich  eine  andere  Art  der 
Beweisführung,  das  Schließen  von  dem  Verhalten  des  Kindes  aus 
(z.  B.  S.  22/27),  da  dei  Verfasser  die  heißumstrittene  tileichstellung  zwischen 
Kind  und  einem  auf  niederer  Kultiu'stufe  stehenden  Menschen  vornimmt 
(S.  92.  A'gl.  William  Stern,  Psychologie  der  frühen  Kindheit,  1914,  Vorrede). 
Hinsichtlich  einiger  Tatsachen  berührt  sich  Dr.  Kr.  selbstverständlich  mit 
den  Feststellungen  der  Kinderpsychologie,  wie  wir  sie  auch  in  dem  eben  er- 
Avähnten  Buch  von  \Villiani  Stern  beobachtet  haben.  Aber  ist  es  nicht  der 
Entwicklungsgang  eines  Kindes,  daß  es  nur  allmählich  lernt,  die  Dinge  an 
sich  zu  betrachten,  ohne  bei  jeder  Erfahrung  an  frühere  Erlebnisse,  welche 
in  irgend  einer  Hmsicht  ähnlich  waren,  erinnert  zu  werden?  Gibt  es  nicht 
auch  Erwachsene,  die  nie  das  Bewußtsein  an  alte  Erlebnisse  bei  neuen  Beob- 
achtungen ganz  ausschalten  können,  sei  es,  daß  ihr  selbständiges  Denken 
nicht  geschult  genug  ist,  sei  es,  daß  ihre  Rückerinnerung  zu  lebhaft  ist  (S.  42, 
49  ff.,  105),  besonders  da  der  sogenamite  Analogieschluß  immer  wieder  an- 
gewendet werden  muß,  iim  Neues  rasch  zu  erfassen  (S.  71  ff.)?  Angesichts 
dieser  Erfahrungen  führen  Darlegungen,  welche  zu  sehr  verallgemeinern, 
kaum  zu  sicheren  Ergebnissen,  sondern  nui"  eine  möglichst  umfassende,  viel- 
seitige Beobachtung  von  Einzeltatsachen.  Sie  sind  aber  keineswegs  unwider- 
leglich und  vielseitig  umfassend  festgestellt,  so  daß  auch  der  Verfasser  immer 
wieder  auf  spätere  Untersuchungen  von  sich  verweisen  muß, 
da  eine  Fülle  von  Fragen  sich  ihm  bei  seiner  Abhandlung  aufdrängen  (S.  15/6, 


Rezensionen.  IGo 

2i,  50,  53,  55,  58,  61  ff.,  67,  69,  75,  94/5,  113,  126/7).  Dieser  Weclisel  auf  die 
Zukunft  erschwert  aber  das  gerechte  Würdigen  des  Gebotenen:  infolgedessen 
hat  der  \'erfasser  vielleicht  Recht  mit  seiner  Ahnung,  daß  „über  Einzelheiten 
seiner  Auffassung  wohl  allerlei  Mißverständnisse  entstehen  können" 
(8.  67).  Auch  durch  einen  anderen  Umstand  erleichtert  Dr.  K.  das  Nach- 
prüfen seiner  Behauptungen  wenig,  indem  er  nicht  immer  sagt,  in  welchem 
Zusammenhang  die  erwälinten  fremden  Stellen  stehen.  Doch  ich  will  nicht 
mit  einem  Einwand  schließen,  sondei-n  km-z  die  Begriffsbestimmung 
über  das  Denken  anfügen  (S.  127);  denn  sie  kennzeichnet  auch  die 
Arbeitsweise  sehr  gut.  Wenn  manche  Leser  dieses  Ergebnis  für  etwas 
mager  und  nicht  sehr  neu  finden,  wer  ist  schuld  ?  „Das  Denken  als  Urteils- 
funktion ist  ein  luimittel bares  Erfassen  der  Ähnlichkeitsbeziehungen  zwischen 
zwei  Vorstellungen.  Das  Denken  als  .Schließen  ist  ein  unmittelbares  Er- 
fassen der  Älinlichkeitsbeziehungen  zwischen  zwei  Vorstellungen  oder  mit 
anderen  Worten,  ist  ein  durch  vorangehendes  Urteil  motiviertes  Erwarten 
ehr  Almlichkeitsbeziehungen  zwischen  zwei  Vorstellungen". 

Gegenüber  der  Tübinger  Doktorarbeit  von  Dr.  Paul  Feldkeller, 
Untersuchungen  über  normatives  und  nichtnormatives  Denken 
(1914),  befindet  sich  mancher  Leser,  zu  denen  sich  auch  der  Berichterstatter 
leider  rechnen  muß,  in  einer  eigenartigen  Lage.  Wer  der  Richtung  des 
Verfassers  sich  wesensfrenid  fühlt,  wird  auch  durch  die  Abhandlung  in  seinen 
Ansichten  nicht  erschüttert;  demi  er  hat  immer  wieder  das  GefiUil,  alscb 
die  Gedankengänge  sehr  oft  weniger  aus  sich  heraus  entwickelt,  als  anein- 
andergereiht sind.  Trotz  oder  richtiger  wegen  dieser  grundsätzlichen  Ab- 
weiclning  möchte  ich  noch  mehr  als  sonst  ausschließlich  Berichterstatter 
sein.  Doch  kann  ich  leider  nicht  alle  Einwürfe  unterdrücken,  auch  in  einem 
äußerlichen  Punkt,  weil  er  auch  etwas  Grundsätzliches  in  sich  schließt. 
Warum  A^inde  die  Doktorarbeit  der  Braut  gewidmet  ?  Ich  kann  mir  nicht 
helfen:  Solche  'NMdmungen  klingen  unfreiwillig  komisch  und  reizen  zu  neu- 
gierigen Erörterungen.  Im  allgemeinen  weiht  man  die  erste  größere  Arbeit 
demjenigen  Professor,  der  auf  sie  entscheidenden  Einfluß  hat.  Fehlt  viel- 
leicht eine  derartige  ausschlaggebende  Einwirkung  bei  der  vorliegenden  Ai-- 
beit?  Da  der  beigefügte  Lebenslauf  zeigt,  daß  der  Verfasser  zahlreiche  und 
ziemlich  entgegengesetzte  Professoren  gehört  hat,  scheint  mir  der  beim  Lesen 
entstandene  Eindruck  richtig  zu  sein,  alsob  zwei  grundverschiedene  philo- 
sophische ,, Richtungen",  die  der  sogenannten  Logiker,  zu  denen  auch  einer 
unserer  gemeinsamen  Lehrer,  der  leider  früh  verstorbene  Theodor  Lipps, 
gehört,  und  die  der  reinen  Experimentalpsychologen,  wie  Wundt 
und  A\'irth,  den  Verfasser  beherrschen.  Er  versucht  einen  Ausgleich  odei 
richtiger  gesagt,  eine  reinliche  Scheidung  zwischen  beiden,  indem  er  einmal 
den  Satz  prägt:  ,,Naoh  dieser  mm  einmal  gemachten  Konzession  an  die 
normative,  aktive  Logik  im  allerstrengsten  Simie,  'bleibt  aber  das  gesamte 
übrige  Denken  unbestrittene  Domäne  der  Psychologie,  und  dieser  Teil  ist  der 
weitaus  größere,  ja  umfaßt  sogut  wie  alles  vorkommende  Denken."  (S.  29) 
Wie    stimmt    diese     Behauptung    zu    einer    anderen,    mit   w^elcher 


1(36  Rezensionen, 

der  Abschnitt  über  die  Logik  des  natürlichen  Denkens  beginnt?     „Während 
der  Logiker  im  engeren  .Sinn,  auf  die  beste  Art  zu  denken  reflektiert,  stellt 
der  das  natürliche  Denken  untersucliende  Psychologe  die  empirischen  Taten 
fest  und  fragt  nach  Realgründen  gerade  dieser  Bildungen  und  nacli  Nutzen 
und  Zweck,  wie  es  dem  Menschen  als  Orgatrismus  entspricht"  (S.  35).     Daß 
der   Verfasser  mit  dieser  Abgrenzung  allgemein  Anklang  findet,  glaube  ich 
nicht,  da  eine  vollkommen  klare  Begriffsbestimmung  mir  zu  fehlen  scheint. 
Aber  nicht  nur  diese  Doppelnatm  der  Arbeit  läßt  kein  ästhetisches  Befriedigt- 
sein beim  Lesen  aufkommen,  sondern  auch  das  andere  Gefühl,  daß  derjenige 
Leser,  welcher  die  am  Ende  angeführten  Schriften  nicht  auch  selbst  keimt, 
nie  mit  unbedingter  Sicherheit  sagen  kann,  was  innerlich  Erarbeitetes,  was 
Nachgedachtes   aus  den   „Quellen"   ist.      Dieses    Nachprüfen    erschwert 
Dr.   F.   auch  dadurch,  daß  er  verhältnismäßig  wenig  Einzelverweise  bietet. 
Doch  genug  der  Bedenken!     Zum  Schluß  sei  nur  noch  eine  kxirze  Inhalts- 
angabe  geboten.     Ein  erster  Teil,  welcher  über  Logik  schlechtweg  handelt, 
untersucht  die  doppelte   Gliederung  von  Logik  und  prüft  auch  den  Unter- 
schied zwischen  Logizismus  und  Logik,  indem  auch  hier  der  Grenzstreit  zwischen 
Psychologen  und   Logikern   zu  entscheiden  gesucht   wird.      Der   zMcite   Teil 
beschäftigt  sich  mit  normativem  und  tatsächlichem  Denken,  der  dritte  mit 
normativem  oder  aktivem  Denken.     In  ihm  werden  besonders  oft  mit  ent- 
schiedener   Handbewegung    sich    aufdrängende    Fi'agen    beiseite    geschoben; 
besonders  eine   Stelle   (S.  53/4)   klingt  wie  ein  eigenes    Gesamturteil    über 
die  Arbeit  (vgl.  S.  77  und  81 !).  • 

Gleich  der  Arbeit  von  Dr.  Kramar,  Neue  Grundlagen  zur  Psychologie 
des  Denkens  (1914),  ist  auch  diejenige  von  Dr.  Leonid  Gabrilovitsch, 
Über  das  mathematische  Denken  und  den  Begriff  der  aktuellen 
Form  (Bibliothek  füi-  Philosophie,  herausgegeben  von  Professor  Dr.  Ludwig 
Stein,  8.  Band  (Berlin  1914.  2,50  Mk.),  sozusagen  die  Einleitung  zu  einer 
anderen  Untersuchung  (S.  92).  Hoffentlich  wird  sie,  was  die  VerAveise 
anlangt,  gefeilter  sein;  denn  der  Petersburger  Privatdozent  huldigt  dem  schon 
wiederholt  angemerkten  Grundsatz,  im  allgemeinen  n  u  r  den  Namen  eines 
benützten  Forschers,  seltener  die  einschlägige  Schrift,  am  seltensten  die  Seiten- 
zahl dem  Leser  zu  verraten.  Infolgedessen  weiß  nur  derjenige,  welcher  die 
Literatur  ähnlich  überblickt  wie  der  Verfasser,  genau  Bescheid.  "\\'elche 
Mühe  derartige  sorgfältige  Angaben  machen  können,  haben  mich  eigene  Schöp- 
fungen zui-  Genüge  gelehrt.  Aber  wer  der  wissenschaftlichen  Welt  etwas 
Neues  bieten  will,  darf  sich  dieser  Ai-beit  nicht  entziehen,  wenn  er  nicht  seine 
Abhandlung  sehr  beeinträchtigen  will.  Man  mag  über  die  „Brücke"  und  ihr 
Werden  und  Vergehen  denken,  wie  man  will,  das  dürfte  jeder  Nichtvorein- 
genommene zugeben,  daß  ein  brauchbares  Stück  Philologie  —  im  wahrsten 
Sinne  des  Wortes  —  in  ihrer  Tätigkeit  und  besonders  in  ihrem  leider  nicht 
erreichten  Endziel  liegt.  Über  philologische  Genauigkeit  ist  schon  viel  ge- 
spöttelt worden;  mitunter  wohl  mit  Recht.  Aber  wie  in  vielen  SchA\ächen 
eine  nicht  zu  verachtende  Stärke  steckt,  so  auch  bei  der  philologischen 
Arbeitsweise  ;  denn  jeder,  der  nur  zu  lesen  versteht,  kami  die  Behauptungen 
nachprüfen,  weil  er  die  Quellen  eofort  greifbar  liest.     Abgesehen  von  diesem 


Rezeosioneu.  167 

Foriinvun8ch  hiittc  ich  noch  einen  mehr  nacli  der  sachlichen  iSeitc  hinneigenden. 
Die    Zn.siimnienfa,ssung    der    Ergebnisse    umschreibt   eigentlich    nur    den 
Titel  durch   einen   Satz:     „Wir  haben  zu  beweisen  versucht,  daß  das  rein 
niathematische   Denken  einer    »Selbstentfaltung   der   aktuellen   Form   gleich- 
zusetzen ist."  (S.  92,  vgl.  S.  63,  §  7)    Doch  ich  will  nicht  das,  was  ich  beson- 
ders bei  der  Besprechung  von  Dr.  Cohn,  Dr.  Feldkellcr  und  Kramar  hervor- 
hob, nochmals  allzulang  ausi^)imien,  sondern  km-z  sagen,  was  in  der  Schritt 
steht.      Der   Verfasser   schildert  das    Verhältnis    zwischen    mathema- 
tischem  und   philosophischem  Denken  und  fügt  immer  wieder  kurze 
Hinweise  auf  die   Cile.schichte  dieser  Beziehungen  ein.     Welche    Namen   er 
bei  cßeser   Gelegenheit  erwähnt,   mag  eine   kurze   Zusammemtellung  zeigen: 
.\ristoteles   (S.  57  f.),  Descartes  (S.  47),  Cauß  (S.  17,  24,  28),  Hegel  (S.  34), 
Helmholtz  (8.  88),  Humes  (S.  39),  Kant  (>S.  3,  25,  30,  74),  Leibnitz  (S.  49,  77), 
ÄLirbe  (Bewiißtseinsinhalte,  S.  45),  Malebranches  (S.  48),  Marburger  Schule,  be- 
sonders Xatorp  (8.  33  ff.,  36,  67),  Plato(S.58),Poincare  (S.  11,  65 ff.,  69,  77,  79), 
Rüssel  (S.  13,  25,  28,  64ff.,  72),  Schuppe  (S.  40ff.,  58 ff.),  Spinoza  <S.  48).     Be- 
.sonders  bricht  der  Verfasser  für  Schuppe  eine  Lanze,  um  gegen  die  nach 
seiner  Meinung  unverdiente  Greringschätzung  des  1903  Verstorbenen  Stellung  zu 
nehmen.    Wie  dieses  Nichtbeachten  zu  erklären  ist,  sagt  Dr.  G.  selbst,  indem 
er  von  der   „doppelten  Terminologie"   Schuppes,  welches  manches  Mißver- 
ständnis verursacht,  spricht  (S.  40/1,  58/9).     Wem\  auch  meine  Aiigabe  der 
hauptsächlich  herangezogenen  Gelehrten  jedem  Kundigen  sagt,   in  welcher 
Richtung  sich  die  Ausführungen  des  Verfassers  bewegen,  so  möchte  ich  docli 
noc-h  die   Gedankengänge    in   großen    Zügen  entwickeln.     Di*.  G.  geht 
von  der  richtigen  Beobachtung  aus,  daß  die  ,, Mathematik  als  formale  Wissen- 
schaft zu  den  materialen  (empirischen)  \Vissenszweigen"  in  einem  gewissen 
Gegensatz  steht,  und  daß  leider  „die  formalistische    Richtung   in  dem 
Erschaffen  wesenloser  Symbole  und  im  Feststellen  der  Verbindungsgesetze 
auf  die  Spitze  getrieben  wurde"  (S.  4,  9,  13,  dagegen  S.  84);  d.  h.  die  höhere 
jVIathematik  ging  sozusagen  in  Logik  über  und  verlor  ihr  ,, Anschauliches'' 
(S.  17,  39),  das  stets  als  Hauptvorzug  dtu-  Mathematik  gepriesen  wurde.     Weil 
Dr.  G.  diese  Dinge   ausfülu-lich   betrachtet,  berührt  er  sich  mit  der  im  vor- 
stehenden  gewürdigten    Doktorarbeit    von  Feldkeller;    geht   allerdings   über 
sie  insofern  hinaus,   als  er  den   wunden    Punkt    an    den    logistischen 
Anschauungen    unzweideutig  hervorhebt  (S.  29).     Von  dieser  Erkeimtnis 
dm-chdrungen,  erschließt  er  „zwei    Kennzeichen    für    die    reine    Form 
der    Erfahrung:      ,, Erstens  steckt   sie   in  der   Anordnung   von  Inhalten, 
nicht  in  ihrem  ,, Dasein"  und  „So-sein"  (in  ihrem  Wesen  und  Beschaffenheit). 
Zweitens  findet  sie  (wenigstens  anscheinend)  eine  erschöpfende  Darstellung 
in  den  Gesetzen  der  Logik"  (S.  29).     Um  diesen  Gedanken  zu  begründen, 
behandelt  Dr.  G.  auch  die  Form  (S.  49  ff.)  und  das  System   der   Erfah- 
rung (S.  39  ff.)  und  kommt  allmählich  zu  seiner  ureigensten    Aufgabe, 
der   Betrachtung    der    aktuellen    Form   (S.  52  ff.).     Lebhaft  verteidigt 
er  sich  gegen  gemachte  Einwürfe,   alsob  er    nur    die  Leibnitzsche  Lehre 
von  den  Petites  perceptions  erneuere  (S.  49  ff.,  vgl.  auch  Dr.  O.  Willmami, 
Phil.  Propäd.,  1912'',  S.  1,  15  und  93!)  und  untersucht,  nachdem  er  im  Vor- 


168  RtzensioiKu. 

l>eigehen  den  gegenwärtigen  Solipsimus  derb  abgelehnt  hat  i^.  51/2), 
die  Beziehungen  zwischen  -der  aktuellen  Form  und  der  Logik 
(S.  ö2ff.),  beziehimgsweise  Zahl  (80  ff.),  beziehungsweise  zwischen  Logik 
und  Arithmetik  (S.  63  ff.)-  Fassen  wir  zum  Schlüsse  kurz  den  Eindruck 
der  Ai-beit  zusammen  !  Manche  Äußerlichkeiten  erschweren  wie  bei  Dr. 
Dl'.  Feldkeller,  Kramar,  Ruckhaber  das  Nachprüfen  der  Behauptungen  imd  die 
Abhandlung  ist  sozusagen  ein  Wechsel  auf  die  Zukunft.  Zugleich  aber 
ist  sie  auch  dank  des  Scharfsinnes  und  gediegenen  Wissens  des  Ver- 
fassers, der  auch  eigener  früherer  Untersuchungen  gedenkt  (8.  38,  51,  57),  eine 
vollgültige  zahlungverheißende,  im  Falle  vor  allem  die  Genauigkeit 
im  Erwähnen  fremder  Meinungen  größer  wird. 

Erich  Ruckhaber  benützt  das  Vorwort  zu  seiner  Abhandlung,  Das 
Gedächtnis  und  die  gesamte  Denktätigkeit  eine  Funktion  des 
Muskelsystems  (Psychologisch-Soziologischer  Verlag  0.  Mattha,  Berlin  N  28, 
1915),  zu  verschiedenen  Zwecken.  In  herbem  Anklageton  würdigt  er  das, 
was  für  die  Sonderfrage,  welche  er  beleuchten  will,  bis  jetzt  geschehen  ist, 
bzw.  unterlassen  wm-de,  und  greift  vor  allem  den  Besprecher  einer  früheren 
Schrift  in  beleidigenden  "\^  orten  an;  auch  sagt  er,  was  er  mit  der  vorliegenden 
Arbeit  Xeues  leistet.  Um  nicht  auch  meinerseits  den  Unwillen  des  Verfasseis 
zu  erregen,  gehe  ich  auf  das  Vorwort  nicht  weiter  ein  und  ebensowenig  auf 
den  Schluß  (S.  171  ff.),  weim  auch  seine  Fassung  den  Eindruck  erweckt,  als 
ob  die  Abhandlung  geschrieben  sei,  um  zu  maßlosen  Angriffen  von  Anders- 
denkenden eine  Möglichkeit  zu  gewinnen,  wemi  überhaupt  ein  iniK^rer 
Zusammenliang  zwischen  der  Abhandlung  selbst  imd  jenen  Zeilen  besteht. 
An  Stelle  alles  fruchtlosen  Streites  will  ich  versuchen,  die  Leitgedanken 
R.s  kurz  anzugeben  und  mir  erlauben,  einige  Fragen  anzufügen.  R.  will 
das  Wesen  des  Gedächtnisses  erforschen,  indem  er  an  die  Stelle  der  sogenamiten 
willkürlichen  Versuche,  welche  nach  bestimmten,  durch  Denkvorgänge  und 
Erfahrungen  veranlaßten  Gesichtspunkten  vorgenommen  werden,  die  unbe- 
einflußte, die  sogenannte  zufällige  Beobachtung  .setzt.  Im  allgemeinen  be- 
nützt er  eine  Versuchsperson,  die  er  stets  zur  Verfügung  zu  haben  glaubt, 
sich  selbst.  Doch  unterliegt  die  Wahl  dieses  Beobachtungsgegenstandes 
manchen  Einwürfen.  Vor  allem  ist  es  sehr  bedenklich,  auf  Grund  der  Art  und 
Weise,  wie  ein  einzelner  denkt  und  emijfindet,  weittragende  Schlüsse  zu  ziehen; 
demi  diese  Persönlichkeit  kann  für  bestimmte  Eindrücke  besonders  empfindlich 
(Vgl.  S.  29,  51,  89  Nr.  12)  oder  geschult  sein  (vgl.  S.  40,  52,  79,  116).  Gibt 
es  z.  B.  nicht  auch  sog.  Unmusikalische,  die  eine  erinnerte  Melodie  nicht  leise 
nachsingen  können?  (S.  95).  Andererseits  köiuien  einzelne  Beispiele, 
vor  allem  Beobachtungen,  welche  der  Erwachende  in  den  letzten  Augen- 
blicken des  Schlummers  erlebte,  sehi  wohl  allgemeine  Gültigkeit  haben, 
wiewohl  auch  bei  ihnen  die  persönliche  Stimmung  aus^  chlaggebend  und  manchmal 
auch  die  Deutung  des  Durchgemachten  persönlich  gefärbt  sein  kann.  Um  diesem 
Einwand  zu  begegnen,  ersucht  der  Verfasser  den  Leser,  selbst  Ver- 
suche zu  machen:  Z.  B.  S.  31:  die  „Augen  zu  schließen  und  die  Hand  in 
beliebigen  Richtungen  zu  bewegen".     Nach  R.  hat  der  Ausführende  „eine 


Rezeiisioueu.  Ih!) 

schatteiüiafto  Vorstellung  der  Bewegimg  und  dt-s  Ijcwegtcii  (Miedt-s".  .^u- 
fort  ergebeusich  zwei  Einwürfe  :  In  wekheiu  Sinne  wird  das  Wort  „sehen" 
gebraueht  ?  In  rein  körperlichem  oder  rein  geistigem  ?  Wahrscheinlich  wird 
R.  letztere  Möglichkeit  ablehnen,  da  er  die  geistigen  Vorgänge  als  Muskel- 
bewegimgen,  d.  h.  etwas  Körperliches  auffaßt.  Wetm  wir  letztere  Forderung 
zugeben,  so  eigibt  sich  aus  ihr  eine  neue  Frage.  Ist  die  erwähnte  Erfahrung, 
weiui  sie  wirklich  von  allen  Menschen  gemacht  werden  kann,  nicht  aucli  aus 
der  körpei liehen  Verbindung  des  bewegten  Aiines  mit  dem  Kopfe  zu  erklären? 
d.  h.  aus  dem  unmittelbaren  Fühlen  der  Bewegiuig?  ^^^^,rum  soll  in  diesem 
Falle  eine  Erinnerung  an  eine  frühere  Walmiehmung  ausgeschlossen 
sein,  wie  bei  einem  anderen  \'ersuch  ?  ^A'ie  kami  jemand  eine  Kugel,  die  er 
bei  geschlossenen  Augen  umfaßt,  als  Kugel  erkemien,  wenn  er  noch  nie  gehört 
hat,  daß  das  ergriffene  Ding  eine  Kugel  sein  soU  (S.  35,  vgl.  8.  118  und  121  !)  ? 
Kaben  nicht  diejenigen  recht,  welche  alles  Lernen  eine  Rückerinnerung 
nemien  ?  Die  aus  bestimmten  Buchstaben  zusammengesetzten  Worte  kömien 
nur  erkamit  werden,  wenn  die  Laute  oder  die  Sehriftzeiclien,  aus  denen  sie 
entstehen,  im  Gedächtnisse  haften.  Immer  wemi  ein  Wort  vor  uns  hintritt, 
werden  wir  luis  seiner  Bedeutung  in  einer  anderen  von  uns  gelernten  Spraclie 
nm-  durch  Rückerinnerung  bewußt.  Dieses  Ergebnis  wird  um  so  leicht^-r 
Wirklichkeit,  je  mehr  (redächtuishilfen,  die  der  Verfasser  sehr-  wohl 
wxüdigt,  vorhanden  sind  (z.  B.  S.  57).  Doch  wir  w^oUen  albermals  annehmen, 
daß  alle  Fehlerquellen  bei  den  Beobachtungen  des  Verfassers  sich  aus- 
schalten lassen  und  seine  Voraussetzungen  zutreffen !  Bei  diesen  Zugeständ- 
nissen kömien  \v\v  die  Wahl  der  Gliederung  hinsichtlich  der  verschiedenen 
Erinnerungsformen  billigen  imd  feststellen,  daß  einzelne  Erfahrungen  an- 
schaulich geschildert  werden;  wenn  z.  B.  der  Veiiasser  über  das  „momentane 
oder  primäre  Ciedächtnis  (S.  15  ff.),  über  die  Verwandlung  der  Bilder  in- 
einander (S.  17  ff.),  über  die  Entstehung  neuer  Situationen  dm-ch  Veimischiing 
oder  Zusammenfassung  alter  (S.  20  ff.),  über  den  M'ettstreit  zwischen  Wahi- 
nehmung  und  Eriimerung"  (S.  23ff.)  spricht  oder  betont,  „daß  man  einzelner 
Dinge,  z.  B.  heller  und  glänzender  Farben  oder  Vokale,  sich  besser  erinnert 
als  anderer,  z.  B.  dunkler  Farbe  und  Konsonanten"  (S.  28).  Spielt  in  diesem 
Fall  vielleicht  das  weniger  häufige  Vorkommen  der  genaxier  Gemerkten  eine 
Rolle  ?  Im  übrigen,  was  beweisen  aber  diese  Feststellungen  für  den  „physi- 
schen sensualen  Chai-akter  des  Gedächtnisses"  (S.  27)  ?  In  diesem  Zusammen- 
hang dürfte  sich  der  Verfasser  auch  widersprechen,  wenn  er  z.  B.  S.  27 
sagt,  „so  sind  wir  imstande,  die  Ereignis.'e  des  gestrigen  Tages  fast  vollständig 
zu  reproduzieren",  wähi-end  er  S.  42  erklärt,  „ebenso  ist  es  immöglich,  die 
Erlebnisse  des  gestrigen  Tages  ununterbrochen  der  Reihe  nach  dm-chzudenken". 
Um  die  einzelnen  Äußerungen  des  Gedächtnisses  zu  erklären,  unterscheidet 
R.  das  optische  (S.  31  ff.)  und  akustische  Gedächtnis  (S.  91  ff.) 
und  stellt  ciesen  beiden  das  Gesamtgedät-htnis  zm-  Seite  (S.  106 ff.).  Die 
Einleitung  aieses  Kapitels,  dessen  Unterscheidung  von  den  beiden  vorange- 
gangenen nicht  frei  von  Bedenken  ist,  regt  wieder  Fragen  an,  insbesonde:e 
warum  der  Verfasser  gewisse  Behauptungen  hinwirft.  Warum  seilen  z.  B.  die 
Begriffe  Fenster  und  Gardinen  „keine  Assoziationen,  sondern  stehende  Gesamt- 


17«)  Rezensionen. 

Vorstellungen"  sein?  (S.  107).  Kann  man  nicht  Fenster  ohne  Gardinen  oder 
N'orliänge  nm-  an  Fenstern  denken?  Ebenso  „muß  der  Begriff  g..iechische 
l*hilosophie  den  Blick  entweder  nach 'Griechenland  oder  nach  einem  Hör- 
saale führen"?  (S.  134).  Warum  kann  das  Wort  nicht  auch  meinen  Schreib- 
iiscli,  an  dem  ich  griechische  Philosophie  lese,  oder  das  Buch,  das  mich  sie 
lehrt,  vor  meine  Augen  zaubern?  Mitunter  scheinen  bedeutsame  Einschrän- 
kungen R.s  den  Schluß  zu  gestatten,  daß  er  selbst  seine  Willkxtrlich- 
keiten  fühlt  (z.  B.  Ö.  50,  70,  90).  Seine  Arbeitsweise,  welcher  die  Vor- 
aussetzungslosigkeit  etwas  fehlen  dürfte  (vgl.  S.  166  unten),  wird  besonaers 
klar,  wenn  wir  zugeben,  daß  alles  Denken  Muskeltätigkeit,  deren  genaue 
Begriffsbestimmung  wir  auch  vergeblich  suchen,  sein  soll;  denn  aus  diesem 
Zugeständnis  ergibt  sich  folgende  Reihe  von  Gedanken  und  Antworten. 
(Vgl.  S.  159  ff.).  Warum  tritt  Muskeltätigkeit  ein?  Weil  der  Mensch  will. 
"Warum  will  der  Mensch?  Weil  er  denkt.  Warum  denkt  er?  Weil  Muskel- 
tätigkeit vorhanden  ist.  Dasselbe  Spiel  wiederholt  sich,  wenn  wir  das  über 
Schmerzempfindung  (gesagte  bis  in  die  letzten  Schlußfolgerungen  durch- 
denken (S.  161  ff.,  vgl.  auch  Dr.  0.  Willmann,  Phil.  Propäd.,  1912»,  I,  193). 
Diese  Einwände  richten  sich  gegen  die  Beweisführung  als  solche.  Aber 
auch  gegen  Einzelheiten  ließe  sich  manches  sagen,  vor  allem,  daß  nur 
sehr  selten  (z.  B.  S.  138,  168)  die  Stellen  benutzter  Schriftsteller  genau  an- 
gegeben Averden  oder  aiif  eiiazelne  Abschnitte  der  eigenen  Arbeit  nur  allgemeine 
Wendungen  hinweisen.  Wir  sehen,  daß  kiitische  Fragen,  welche  zum  strengen 
Überprüfen  des  Standpunktes  von  R.  einladen,  sich  immer. wieder  ergeben. 
Ich  habe  sie  aiifgeworfen,  nicht  aus  Freude  am  Widerspruch,  sondern  um 
im  Widerspiel  der  Meinungen  die  Erreichung  der  Wahrheit  fördern  zu  helfen. 
Im  übrigen  bringt  eine  Widerlegung  R.s  auch  W.  Stern,  Psychologie 
der  frühen  Kindheit,  1914,  fünfter  Abschnitt.  Sterns  Darlegungen  wirken 
m.  E.  um  so  überzeugender,  weil  St.  die  später  veröffentlichte  Abhandlung 
R.s   nicht  kannte. 

Aus  einem  mir  unbekannten  Grunde  erhielt  ich  an  Ostern  1916  unter 
neueren  Abliandlungen  auch  ein  ungefähr  7  Jahre  altes  Heft,  Dr.  Max  Cohn, 
Über  das  Denken  (Berlin,  Simion  Nachfolger^  1910),  zugeschickt.  Es  zu 
würdigen  ist  leicht  und  schwer;  leicht,  wemi  man  sich  mit  einigen  allgemeinen 
Sätzen  begnügt,  schwer,  wenn  man  dem  Verfasser  wirklich  gerecht  werden 
■will,  ohne  die  Wahrheit  zu  verschweigen,  wie  sie  dem  vorm'teilslosen  Leser 
sich  immer  wieder  darstellt,  im  Falle  er  sich  durch  die  140  Seiten  durchzu- 
arbeiten versucht.  Schon  der  schleppende  Stil,  der  Satzungeheuer  von 
über  einer  halben  Seite  vor  uns  auftürmt  (z.  B.  S.  15/6,  51/2),  erschwert  das 
Lesen  sehr.  Dazu  kommt,  daß  der  Verfasser  noch  mehr  als  viele  Psychologen 
von  Fach  seine  Quellen  sehi-  ungenau  angibt  (vgl.  m.  Besprech.  A'onFröbes  !). 
In  welchem  Zusammenhang  die  vielen,  aus  einer  sehr  großen  Menge  von  ver- 
•schieden artigen  Büchern  entnommenen  Stellen  sich  finden,  wird  selten  deut- 
lich gesagt.  Über  den  Standpunkt  mit  dem  Vei fasser  zu  rechten,  fällt 
mir  nicht  ein;  denn  jeder  zimmert  sich  seine  besondere  ,, Lebensanschauung" 
nach  eigenem   Wchlgef allen.     Daß  sich  allerdings  gegen  die   Grundansicht 


Rezensionen.  171 

sehr  vieles  sagen  ließe,  wird  jeder,  der  in  den  einschläj^igen  Fragen  etwas  be- 
wandert ist,  auch  nach  flüchtigem  Überblick  sofort  fühlen.  Trotzdem  wird 
.selbst  derjenige,  der  den  Standpunkt  des  Verfassers  grundsätzlich  ablehnt, 
sich  an  manchen  feingeschliffenen  Gedanken  über  die  verschiedensten 
Fragen,  die  der  Verfasser  anschneidet,  aufrichtig  freuen,  wenn  er  auch  nicht 
den  Einwurf  unterdrücken  kann:  In  welchem  Zusammenhang  stehen  die 
voigebrachten  Einzelgedanken  zum  Hauptziel  der  Ai-beit?  Hat  letztere 
überhaupt  den  ihr  gebührenden  Titel?  Wird  über  das  Denken  klipp-klar 
etwas  ausgesagt?  Steht  die  Untei suchung  über  dasselbe  wirklich  im  Mittel- 
punkt der  Arbeit?  oder  wird  sie  von  dem  üppig  rankenden  Beiwerk  mehr  als 
A'erdeckt?  Der  wichtigste  Gedanke  zum  Buchtitel  scheint  mir  auf 
S.  139  zu  stehen.  „Nicht  eine  einseitige  Verallgemeinerung  ganz  gleich, 
ob  sie  das  Physische  (Materialismus)  oder  Psychische  (Idealismus,  Spiri- 
tualismus) trifft,  nicht  das  Denken  der  Welt,  d.  h.  die  Welt  als  Weltidee, 
Gedankendinge,  Vorstellung,  sondern  allein  das  Denken  über  die  Welt,  die 
nur  eine,  und  ein  Kontiniium  ist,  das  Denken  über  das  Sein  dieses  Zusammen- 
hangs, das  unendlich  ist,  und  über  dessen  Werden,  das  durch  Bewegung  in 
endlichen  Formen  sich  verwirklicht,  führt  zum  Ziele.  Ein  solches  Denken, 
das  nicht  bloß  der  innei'liche  Akt  des  Denkens  ist,  sondern  auch  das  Objekt 
des  Denkens  berücksichtigt,  und  damit  der  Welt  als  Wirklichkeit  und  zugleich 
als  Vorstellung  gerecht  wird,  führt  aber  auch  zum  Erfolg."  Im  übrigen  läßt 
sich  die  Grundansicht  durch  die  zwei  einleitenden  Sätze  Aviedergeben : 
„Die  vorliegende  Arbeit  ist  die  Frucht  einer  jahrelangen  Beschäftigung  mit 
der  Philosophie  Ludwig  Feuerbachs.  Seinem  unsterblichen  Andenken 
ist  sie,  als  Zeichen  der  Dankbarkeit  und  Verehrung,  auch  gewidmet.  Feuer- 
hach  war  ja  nicht  allein  Philosoph,  in  seinem  Denken  nimmt  vielmehr  die 
Naturwissenschaft  eine  Zentralstelle  ein."  (Vorwort  S.  1.)  Außer  Peuerbach 
hat  auch  Goethe  besonders  mit  seinem  Faust  den  Verfasser  stark  beein- 
flußt (vgl.  S.  128).  ,, Daher  auch  die  Berechtigung  mit  Goethe,  in  der  Kunst 
einen  vollen  und  befriedigenden  Ersatz  für  die  Religion  zu  sehen."  Ange- 
sichts dieses  Satzes  ergeben  sich  die  Fragen:  Was  ist  Kunst,  was  ist 
Religion  ?  Wie  äußern  sich  die  beiden?  Der  Verfasser  versucht  wenigstens 
Innsichtlich  der  Religion  eine  AntAvort.  Daß  er  sie  lückenlos  und  unparteiisch 
gibt,  kami  man  von  einem  Anhänger  Feuerbachs  nicht  verlangen.  Doch 
schränkt  Dr.  C.  seine  eigene  Ansicht  sofort  ein,  indem  er  erklärt,  „daß  wahre 
Kunst  und  wahre  Religiosität  gleich  selten  seien".  Wir  sehen  also,  der  Ver- 
fasser hat  eine  gewisse  Vorstellung,  daß  Religion  nicht  ein  Weissen  von  Kate- 
chismus sei,  und  wahre  Kunst  nicht  ein  Nachempfindenkönnen  des  von  anderen 
beschaffenen.  Doch  ich  würde  mit  Fragen  und  Einwänden  kein  Ende  finden; 
f^enn  jede  Behauptung  regt  die  Neugierde  an,  was  der  Verfasser  meint,  wa.rum 
rr  seine  Sätze  niederschreibt,  worauf  er  seine  Behauptungen  stützt.  Das 
Buch  ist  also  ein  sehr  unterhaltendes,  natürlich  nicht  für  leichtes,  ober- 
flächliches Lesen  bestimmt,  sondern  erfordert  langsames  Eindringen 
in  die  eigenartigen  fJcdankenverbindungen  und  in  das  merkwürdige  Aneiu- 
t'jnderreihen  von  Behauptungen. 

Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie.    XXXI,  3.  12 


172  Rezensiouen. 

Da  die  Abhandlung  von  Dr.  Georg  Sommer,  Geistige  Veranla- 
gung und  Vererbung,  auch  aus  Vorträgen  erwuchs,  ist  sie  besonders 
frisch  geschrieben.  Mit  ihr  habe  ich  wieder  ein  Bändchen  der  reichhaltigen 
Sammlung  „Aus  Natur  und  Geisteswelt"  (JS^r.  512,  Leipzig,  Teubner.  1,25  Mk.), 
zu  besprechen,  das  dem  sonst  an  dieser  Stelle  behandelten  (Gedankenkreis 
auf  den  ersten  Blick  ferner  zu  stehen  scheint;  demi  es  bezieht  sich  scheinbar 
auf  rein  naturwissenschaftliches  Gebiet.  Doch  wie  der  Verfasser  die  medizi- 
nische und  die  philosophische  Doktorwürde  vereinigt  und  frülier  Arzt  bzw. 
Dozent  für  Psychologie  in  Würzburg  (Prof.  Dr.  Külpe !)  u.  a.  0.  gewesen, 
so  sind  in  dem  Buch  auch  die  Ausführungen  über  die  menschliche  Doppel- 
natur das  Körperliche  und  Seelische  eng  verschränkt,  weil  sie  untreimbar 
sind  (S.  118,  vgl.  S.  1,  20,  90,  92,  107).  Doch  ich  gebrauche  das  Wort  Seele, 
alsob  über  seine  Bedeutung  Übereinstimmung  bestünde.  Der  Verfasser  be- 
spricht zum  Beispiel  im  zweiten  Abschnitt  psychische  Eigenschaften,  und 
im  dritten,  der  von  dem  ,, körperlichen  Substrat  der  Seele  und  seiner  Verer- 
bung" handelt,  ,,Groß-  und  Kleinhirn,  Rückenmark, 'sympathisches  Nerven- 
system und  zugleich  die  Bedeutung  des  Geschlechtsunterschiedes".  Die  vier 
ersten  Untergriffe  scheinen  andeuten  zu  wollen,  wo  cie  Seele  zu  suchen 
ist;  während  im  letzten  eine  Verschiedenheit  der  seelischen  C^samtanlage 
bei  Mann  und  Weib  aus  der  Verschiedenheit  der  körperlichen  Beschaffenlieit 
abgeleitet  wird  (s.  ixnten).  Mit  diesen  Angaben  über  das  „körperliche  Substr?,t 
der  Seele"  gewinnen  wir  zunächst  kein  ganz  befriedigendes  Ergebnis: 
denn  die  Psychologie  rechnet  zu  den  Erscheinimgsformen  der  Seele  auch 
sogenannte  Charaktereigenschaften.  Wo  sie  aber  ihren  körperlichen  Sitz 
haben,  stellte  noch  kein  Messer  eines  Anatomen  fest  (vgl.  S.  30  ff.,  53).  In 
dieser  Hinsicht  scheint  also  ein  innerer  Widerspruch,  der  nur  eine  Lösungs- 
möglichkeit  läßt,  zu  klaffen,  da  auch  von  ererbter  seelischer  Konstitution 
(Abschnitt  4)  und  von  speziellen  Anlagen  (Abschnitt  5),  d.  h.  Instinkt  und 
Sprache  (8.  58  ff.);  Begabung,  Talent  und  Genie  (S.  69  ff.)  in  dem  Büchlein 
gesprochen  wird.  Alle  diese  fallen  also  unter  den  allgemeinen  Begriff  Seele. 
Er  wird  demnach  nicht  durch  die  „sichtbaren  Substrate"  erschöpft.  Sollte 
der  Verfasser  vielleicht  dem  körperlich  feststellbaren  Gew-and  der  Seele 
auch  einen  unsichtbaren  Inhalt  zugestehen?  Fast  scheint  es  so  (S.  11  ff.. 
20,  54,  60).  Infolgedessen  bietet  das  Buch  auch  für  den  reinen  Beobachtungs- 
psychologen, dessen  Sonderliteratur  etwas  vermißt  wird,  viel  Anregendes 
und  reichen  Stoff,  a,uch  wenn  man  nach  der  Art  von  Dr.  Richard  Müller- 
Freienfels  (Das  Denken  und  die  Phantasie,  1916),  der  „im  Kampfe  gegen 
die  traditionelle  Vorstellungspsychologie  ein  System  einer  Aktionspsychologii 
bietet",  vgl.  Kap.  4 — 6  bei  Dr.  Sommer),  oder  mit  dem  Fragebogen  von 
Dr.  Bärwald  (Zur  Psychologie  der  Vor  Stellungstypen,  1916;  vgl.  Dr.  S.,  S.  44  ff., 
91  ff.)  arbeiten  will.  Doch  sei  dem,  wie  ihm  wolle.  Auf  jeden  Fall  möchte- 
ich  eine  gewisse  Ausscheidung  vornehmen,  indem  ich  p^usschließlich  das 
Seelische,  dessen  körperlicher  Sitz  noch  nicht  nachweisbar  ist,  berücksichtige, 
um  auch  Beziehimgen  zu  anderen  Arbeiten,  die  ich  an  dieser  Stelle  im  Zu- 
sammenhang bespreche,  herzustellen.  Das,  was  der  Verfasser  über  den 
(Tcschlechtsunterschied    sagt,    klingt   in  erster   Linie  an  Dr.    Baerwald 


Rezensionen.  173 

(s.  oben  und  ni.  Besprecliung !)  ftn  und  bietet  auch  eine  wertvolle  Ergänzung 
2U  Dr.  Haase  (Weibliche  Erziehungstypen,  1915),  obwohl  odei  weil  die  Auf- 
fassungen bei  ihm  und  Dr.  Sommer  (>S.  41  und  78)  sich  nicht  decken.  Die 
Darlegungen  über  die  Sprache  lehnen  die  CJedanken  von  Dr.  Kramäi;  (Neue 
Grundlagen  ziu-  Psychologie  des  Denkeas,  1915),  über  das  „Werden  des  laut- 
lichen Verständigungsmittels  des  Menschen",  entschieden  ab  (S.  66  ff.)  und 
bestätigen  die  Darlegungen  von  Dr.  Kleinpaul  (Volkspsychologie,  1914;  vgl. 
S.  37,  58,  69).  Auch  an  Dr.  Fr.  Hertz,  Rasse  und  Kultur  (1915),  wurde 
ich  wiederholt  gemahnt,  da  der  Verfasser  erklärt,  daß  ,,die  Bildung  einer  neuen 
Art  (zunächst  auf  Tierwelt  bezogen)  im  strengsten  Sinn  des  Wortes  noch  nie 
einwandfrei  beobachtet  wurde"  (S.  2),  ferner  sich  zu  den  Sätzen  bekennt,  „daß 
die  individuelle  Variation  beim  Menschen  unendlich  sei"  (S.  5)  und  „daß  für 
■die  Beurteilung  des  Individuums  Massemu'teile  natürlich  niu"  einen  sehr  be- 
schi'änkten  Wert  haben"  (S.  4.3,  vgl.  auch  S.  4,  35  f.,  67;  dagegen  S.  65). 
Doch  genug  mit  den  Vergleichen,  welche  niu'  die  na.ch  allen  Seiten  gesponnenen 
Fäden  erkemien  lassen  sollen!  Auch  als  Historiker  möchte  ich  einige 
Beobachtungen  wiedergeben.  Jeder,  der  einma.1  die  üblichen  Stammbaum- 
jäger psychologisch  zu  bestimmen  versucht  hat,  gibt  dem  Verfasser  Recht, 
daß  derartige  Forschungen  einen  wirklichen  Zweck  und  eine  innere  Berechti- 
gung nur  haben,  wemi  sie  möglichst  vielseitige  Gesichtspunkte  berücksichtigen 
(S.  6  ff.).  Etwas  weniger  dagegen  wird  derjenige,  welcher  Gedanken  von  Dr. 
Friedrich  H'ertz  mit  Anschauungen  des  verstorbenen  Professors  der  alten 
Geschickte  in  München,  Dr.  Robert  t.  Pöhlraann,  verbindet,  einverstanden 
sein,  wie  der  Vei  fasser  das  Auffassen  geschichtlicher  Rollen  durch  Schau- 
spieler wertet;  z.  B.  dürfte  gerade  die  landläufige  Darstellung  der  Iphigenie 
mehr  unter  dem  Einflüsse  deS  Klassizismus  (vgl.  m.  Bericht  über  Dr.  Eleuthe- 
Topus,  die  Philosophie  irnd  die  sozialen  Zustände  des  Griechentums  (1915) 
und  von  Dr.  Karl  Reinhardt,  Parmenides  (1916!)  als  der  Wirklichkeit  stehen; 
denn  sie  wird  in  der  Tochter  des  Agamemnon  mehr  die  leidenschaftliche 
»Südländerin  und  in  dem  Atriden  den  Stammeshäuptling,  aber  nicht  einen 
den  Gegenwart s Vorstellungen  angeglichenen  großen  König  sehen  (S.  35, 
vgl.  S.  40,  93).  Meine  Ausführungen  treffen  natürlich  nicht  Dr.  S.,  da  er 
nm'  pathologische  Beobachtungen  mit  seinen  Beispielen  erklären  wollte,  sondern 
die  erwähnten  Darsteller.  Andererseits  aber  ist  es  Gemeingut  aller  wahr- 
haftigen Betrachtung  des  Geschehens  und  der  gewordenen  Umstände,  daß 
die  Umwelt  den  Menschen  (S.  18,  118)  und  die  Tiere,  bei  deren  Psychologie 
die  neuesten  Arbeiten  vor  allem  der  Zeitschrift  „Tierseele"  (vgl.  auch  m. 
Besprechung  von  Dr.  Felix  Kjüger,  Über  Entwicklungspsychologie,  1915) 
leider  nicht  lebhaft  herangezogen  werden  (S.  59  ff .  und  71),  sehr  stark  be- 
einflußt. Feinsimiig  sind  dagegen  auch  manche  eingestreute  kulturhisto- 
rische Bemerkungen,  z.  B.  daß  im  Frauenraub  eine  unbewußte  Beach- 
tung der  nötigen  Blutmischung  liegt  (S.  96)  und  daß  weder  Inzucht  noch  ihr 
■Cxegenteil  das  alleinige  Unglück  oder  Heil  bedeute  (S.  89).  Auch  die  kurze 
Anspielung,  wie  die  im  Buch  angeschlagenen  Fragen  von  Dichtern 
behandelt    werden,    verdient    eingehende  Beachtung  und  eine    Sonder- 

12* 


174  Rezensionen. 

arbeit.  Schließlich  kommt  bei  dem  Büchlein,  das  selbstverständlich  gemäß 
seines  Umfanges  mehr  andeutet  als  ausführt,  aiich  der  Erzieher  auf  seine 
Rechnung,  da  die  Erkemitnis,  welche  Folgen  die  Vererbung  hat  und  wieweit 
trotz  derselben  der  werdende  Mensch  gestaltet  werden  kann,  ausschlaggebende 
Bedeutung  für  unsere  Arbeit  an  der  Jugend  besitzt  (S.  32,  36,  40,  52,  76,  150). 
Leider  tritt  das  Ergebnis  der  Psychologie  unserer  Kleinen,  wie  wir  sie  vor  allem 
in  dem  grundlegenden  \Yerk  von  William  Stern,  Psychologie  der  frühesten 
Kindheit  (1914),  kemien  lernten,  nicht  sehr  in  den  Vordergnmd.  Doch  über 
diese  Einzelheiten,  welche  die  vielseitigen  Aiu-egungen  des  Buches  berühren^ 
habe  ich  noch  nicht  die  Hauptsache  erwähnt:  der  Verfasser  ist  ein  heiß- 
blütiger Prediger,  daß  auf  den  künftigen  Eltern  große  Verantwortlich- 
keit lastet  (besonders  Kap.  6),  wie  auch  in  dem  ebensowenig  verwerteten 
Buch  von  Friedrich  Robert,  Frau  Amanda  und  ihre  Kinder  (Berlin  1906),. 
geschieht  (vgl.  S.  107  und  114  bei  Dr.  S.).  Mit  diesem  C^danken  schließt  das 
warm  geschi-iebene  Büchlein,  dem  bedauerlicherweise  auch  ein  Schlagwort- 
verzeichnis fehlt.  Wie  ein  gewaltiger  Schlachtruf  für  die  Zukunft 
unseres  Volkes  klingt  der  Satz:  „Möge  unserem  teueren  Vaterlande  sein 
Ahnenerbe,  das  jetzt  eine  so  unvergleichliche  Feuerprobe  besteht,  nach  Lei)) 
und  Seele  in  einer  langen  Reihe  von  Generationen  erhalten  bleiben,  die  ihrer 
Väter  wert  sind"!  (S.  118.) 

Fritz  Witteis  ist  überzeugt  (S.  48/9),  daß  seine  gedruckten  Äuße- 
rungen zu  wenig  gelesen  werden.  Deshalb  hielt  er  im  Jahi'e  1913  Vorträge 
und  ließ  sie  —  eigentlich  im  Widerspruch  zu  dem  eben  wiedergegebenen  C4e- 
danken— 1914  unter  dem  Titel  „Über  den  Tod  und  über  den  Glauben 
an  Gott"  (Wien,  Per les,  1914.  2,50  Kr.),  drucken.  Aus  mir  unbekannter 
Ursache  ging  dig  Broschüre  erst  nach  längerer  Zeit  dem  Archive  und  mir 
um  Ostern  1916  ziu-  Besprechung  zu.  Gelesen  habe  ich  sie,  als  ich  unter  dem 
Eindruck  des  Massensterbens  im  Skagerag  und  des  Todes  des  Lord  Kitcheneiv 
der  eine  der  treibenden  Kräfte  zum  Kriege  war,  stand.  Ich  erwähne 
diese  Tatsachen,  weil  ich  zeigen  will,  daß  der  Verfasser  mit  seinen  Äuße- 
rungen, die  er  lange  vor  dem  Gegenwartsringen  veröffentlichte,  auch  unseren 
Tagen  etwas  zu  sagen  hat,  vor  allem  wenn  er  davon  sjiricht,  daß  der 
T  o  d  nur  schrecklich  ist  für  denjenigen,  der  Angst  vor  ihm  hat,  und  daß  wir 
ihn  imierlich  überwinden  können,  wenn  wir  von  Liebe  durchdrungen 
sind.  Sie  will  Witteis  im  weltlichen  Simi  als  Nächstenliebe  aufgefaßt  ^\isscn 
(vgl.  S.  52  ff.  und  S.  105  ff.).  M^'ährend  der  erste  Vortrag  in  sich  geschlossener 
ist,  plaud.ert  W.  im  zweiten  über  sehr  verschiedene  Fragen,  da  sie  jedem  den- 
kenden Beobachter  unserer  Zeit  sich  aufdrängen.  Trotzdem  fordert  der  Titel 
des  zweiten,  welcher  bezeichnenderweise  an  Maria  Empfängnis  stattfand,. 
Widerspruch  heraus;  denn  der  Lihalt  deckt  sich  mit  dem,  was  man  nach 
der  Überscluift  erwartet,  keineswegs.  W.  spricht  nämlich  über  den  Gottes- 
"begriff,  wie  ihn  die  verschiedenen  Menschen  und  besonders  Kinder  haben, 
und  über  die  Ersatzmittel,  welche  manche  sich  selbst  für  den  wahren  Gott 
bereiten.  Iiifolgedessen  erwarten  wir  für  diese  Ausführungen  etwa  die  Be- 
zeichnung, wie  malt  sich  das  Wort  „Gott"  in  den  Köpfen  der  Menschen? 


Rezensionen.  175 

Um  meiner  Bericlitcrstatterpfliclit  zu  genügen,  habe  ich  auch  auf  diesen  Piuikt 
hingewiesen  und  schließe  mit  dem  Wunsch,  daß  der  Umgestalter  Krieg 
duch  für  den  Verfasser  ein  großes  sammelndes  Erlebnis  sein  möge,  damit 
seine  Darlegungen,  welche  bei  allen  sonderbaren  Verknüpfungen  wegen  ihrer 
Fülle  von  (leist  anregend  sind,  auch  in  einsamen,  ernsten  Stunden  di'außen 
vor  deniFeinde,  aber  auch  von  Kinderpsych  ologen  gelesen  werden  mögen; 
denn  W.  sagt  viel  Feines  und  Schönes  über  die  kindliche  Entwicklung,  so  daß 
er  vielfach  an  W.  Stern,  ,, Psychologie  der  frühesten  Kindheit"  (Leipzig  1915), 
«nklingt. 

Nicht  wenige  Leute  behaupten,  daß  sie  ein  Buch  kennen,  wenn  sie  Ein- 
leitung und  Schluß  gelesen  haben.     Zweifellos  liegt  in  diesem  Scherze  eine 
tiefe  Binsenwahrheit,  wie  sie  auch  die  Kosmogonie    von   Professor   Dr. 
Christ,  von  Ehrenfels  (Jena,  C.  Diederichs,  1916.    5  bzw.  6,50  Mk.)  birgt 
<z.  B.  S.  159):  die  Grundansicht  des  Verfassers  tritt  ta.tsächlich  am  klarsten 
in  der   Einleitung  und  dem  zusammenfassenden   6.    Kapitel,   besonders    §  4 
zutage.      Wessen   G'edankem-ichtung   dem   Buche   vollkommen  widerspricht, 
Avird  auch  dm'ch  die  versuchte  Begi'ündung  schwerlich  umgestimmt,  wie  dei 
Verf.  selbst  ahnt  (vgl.   S.  141:    wir  würden  usw.,    und  S.  161:  ich  bin  weit 
entfernt);  demi  eine  eigenartige  Verbindung    von    Behauptungen   und 
.Schlüssen   aus    diesen   Urteilen   und  Voraussetzungen  gibt  schließlich 
die  Grundlage    zum    Aufbau    von  —   Dogmen,    d.  h.  Leitsätzen.     Sie 
hält  der  Verfasser  für  wahr,  wie  andere  Leute  z.  B.  —  christliche  Dogmen. 
Die  Wahl  desselben  Begriffes  ist  kein  Zufall;  demi  Dr.  v.  E.  glaubt  in  der 
Tat  eine  neue   Religion  schaffen  zu  können  (vgl.  S.  146  und  S.  169).     Die 
sechs    Dogmen,    zu  denen  sich  in  den  Ausblicken  Ansätze  eines  weiteren 
gesellen  (S.  184),  sind:     1.  Die  Welt  ist  das  Erzeugnis  zweier  gegensätz- 
licher Prinzipien  usw.  (vgl.  die  verschiedenen  dualistischen  Welt  Vorstellungen, 
einschließlich  der  alt-  und  neutestamentlichen !)    2.  Die  Welt  hat  einen  An- 
fang  genommen,  wird  aber  niemals  enden  (vgl.  auch  Altes  Testament!), 
die  Welt  ist  in  stetem  ewigen  Wachstum  usw.     3.  Das  Einheitsprinzip' 
ist  von  körperloser  Beschaffenheit  usw.     4.  Der  ewige  Fortschritt  der  Welt 
geht  a.us  einem  ewigen    Entwicklungsprozeß   im  Imaern  des  Einheits- 
prinzipes  hervor  (vgl.  die  alte  Emanationslehre  der  Neuplatoniker !).     5.  Die 
gegenwärtige    Welt,    einschließlich  des  organischen  Lebens,  ist  kein  Werk 
zweckbe-RTißten    Wolleios,    sondern    ein    Erzeugnis     absichtslosen     Ge- 
staltens    (vgl.   dagegen  Darwinische   Auswahlslehre!).     Das  zweckbe"\vußte 
Wollen,  wie  es  sich  im  Menschen  herausgebildet  hat,  ist  eine  späte  kosmische 
Blüte.     6.  Wir  Menschen  sind  —  jedenfalls  mindestens  mit  einem  Teil  un- 
seres Bewußtseins  - — ■    Teile    des    göttlichen    Innenlebens    und  daher 
Mithelfer  an  Gottes  Werk  (vgl.  auch  Mystizismus  des  Mittelalters  und  unserer 
Tage,  z.  B.  in  den  Schriften  von  Dr.  Joh.  Müller  über  ,, Erleben"  Gottes!; 
iS.  169  ff.).     Diese  verschiedenen  Dogmen,  die  fast  alle  bekamite  Vorläufer 
in  den  letzten  3000  Jahren  hatten,  werden  zusammengefaßt  in  dem  Glaubens- 
satz „von  der  dualistischen  Weltanschauung",    die  auch  wiederholt  in 
der  Vergangenheit  vertreten  wurde,  wie  auch  jede  Geschichte  der  Philosophie 


176  Rezensionen. 

lehrt.  ■ —  Bezeichnend  für  die  Arbeitsweise  ist  auch  die  Tatsache,  daß  dio 
Kosmogonie  gegen  Kant  sehr  scharf  Stellung  nimmt,  und  zugleich  3  Haupt- 
sätze des  großen  Königsbergers  zum  Ausgangspunkt  neuer  Ansichten  nimmt, 
indem  behauptet  wird,  daß  Kant  aus  seinen  Voraussetzungen  falsche  Schlüsse 
zog,  während  Dr.  v.  E.  Kants  Ansichten  richtig  weiterentwickeln  will,  aller- 
dings, wie  manche  Leser  behaupten  werden,  auch  ohne  völlige  Lösung  (vgl. 
S.  144,  151,  179).     Um  das  Werk  im  einzelnen  zu  widerlegen,  müßte  man 
vielleicht  ein  ähnlich  dickes  Buch  von  über  200  Seiten  schreiben.     Ein  der- 
artiger Versuch  ist  aber  ziu"zeit  insofern  verfrüht,  als  das  vorliegende  Biich, 
welches  Entstehen  imd  Sein  der  Welt  erklären  will,  nach  den  eigenen  Worten 
des  Verfassers  nur  den  Teil  eines  größeren  Werkes  darstellt.     Von  ihm,  da,s 
allerdings  keine  neuen  Beweise  bringen  soll,  weiß  Dr.  v.  E.  selbst  nicht,  ob 
er  es  vollbringen  kami  (S.  184).     Ich  habe  vielmehr  lediglich  den  Hauptein- 
wand gegen  die  Arbeitsweise  hervorheben  zu  müssen  geglaubt.    Dr.  v.  E.  ge- 
hört zu  den  Philosophen,  welche  naturwissenschaftliche  Leitgedanken 
vertreten,  und  verbindet  diese  Richtung,  welche  an  und  für  sich  sichere  Grund- 
lagen bieten  kann,    mit  einer  anderen.     Diese  lehnt  er  zwar  gelegentlich  ab 
(vgl.   S.  144),  befolgt  sie  aber  fortwährend,  nämlich  die  der   mittelalter- 
lichen   Scholastiker,    welche  den   Gegner  widerlegen  wollten,  indem  sie 
auf  Widersprüche  imd  Fehler  hinwiesen,  die  sich  ergeben,  wenn  man  eineirt 
Einwurf  in  seinen  letzten  Schlußfolgerungen  nachgeht  (vgl.   S.  35  ff.,  57  ff.» 
63/4,   184).     Dieses  Vorgehen  erinnert  daran,  daß  jemand  die  weißen  und 
schwarzen   Schachfiguren  führt   und   als   Feldherr   beider  Abteilungen  dem 
gedachten  Gegner  diejenigei^.  Züge  tun  läßt,  welche  der  eigene  Schlachten- 
plan erfordert.     Doch  wenn  auch  grundsätzliche    Bedenken  —  wie  ge- 
sagt —  nicht  unterdrückt  werden  können,  so  muß  doch  auch  betont  werden : 
So  schwer  auch  der  Verfasser  schon  durch  seinen  Stil  und  durch  die  Häufung, 
von  fremdsprachlichen  Fachausdrücken  es  dem  nichtphilologisch-philosophisch 
Gebildeten    macht,    in   die    mannigfachen    C4edankengänge    einzudringen,    es 
ist  ein  reizvolles  Schulen  des  eigenen  Verstandes  und  Wissens,  den  Ansichten 
nachzugehen,  und  insbesondere   zu  prüfen,   auf  welche  fremden  Meinungen 
angespielt  wird;  demi  getreu  seinem  Grundsatze  (S.  2,  vgl.  auch  m.  Berichte 
übsr    Dr.    Eisenmeier     und     D/.     Müller -Freienfels),    möglichst     uniier- 
sönlich  Stellung  zu  nehmen,  nennt  er  die  Gelehrten,  denen  er  widersjjricht, 
sehr  selten  mit  Namen,  so  wertvoll  es  auch  dem  Geschichtsforscher  wäre, 
auch  in  die  persönliche  Entwicklung  der  Fragen  von   einem    Kundigen, 
der  auf  langes  Wirken  zurückblicken  kann,    eingeführt    zu    werden.     Zv 
untersuchen,  warum  diese  Rücksicht  genommen  "wiirde,  ist  nicht  meine  Auf- 
gabe ;  wie  ich  auch  nur  im  Vorübergehen  darauf  hinweise,  daß  auch  die  andere 
Zusage,  möglichst  höflich  gegen  fremde  Meinungen  aufzutreten,  von  einigen 
sehr  derben  Ausdrücken  abgesehen  (S.  152,  162,  173),  im  allgemeinen  gehalten 
wird.    Vielleicht  sind  gerade  diese  Stellen  auf  den  weiteren  Leserkreis, 
welchen  sich  der  Verfasser  natürlich  wünscht,  berechnet  und  wirkungsvoll, 
da   selbst  unter   Gebildeten  Freunde  wuchtiger  Bekämpfung   von    Schlag- 
wörtern vorhanden  sein  sollen  (vgl.  auch  m.  Berichte  über  Dr.  Krauß,  Bentham 
und  Dr.  Hertz,  Rassentheorie).     Ob  letztere  nicht  auch  in  der  Kosmogonie 


Rezensionen.  177 

angewendet  werden,  mag  jeder  vorurteilslose  Leser  des  Buches  feststellen. 
Ich  für  meine  Person  möchte- den  Beridit  nicht  sehließen,  ohne  ausdrücklich 
zu  versiehern:  So  große  gi'undsätzliche  Bedenken  ich  aucli  gegen  die  Beweis- 
führung habe,  ich  halte  das  Buch  doch  für  sehr  anziehend,  nicht  zuletzt, 
weil  der  Verfasser  es  wagt,  auch  persönlichen  Entwicklungsgang  offen 
zu  berühren  (S.  188  und  199)  und  sogar  Ansichtswandel  während  des  Ent- 
steheas  der  Kosmogonie  zuzugeben  (vgl.  Vorrede  S.  1  ff.  und  8.  176).  Daß 
aus  dieser  Tatsache  gefolgert  werden  kann,  es  möchten  auch  andere  Meinungen 
noch  Änderungen  unterworfen  werden,  ist  selbstverständlich  und 
wird  auch  im  Buche  mit  rühmenswerter  Offenheit  selbst  angedeutet  (>S.  96, 
103,  164,  184).  Doch  wenn  auch  diese  Beobachtungen  den  Glauben  an 
die  unbedingte  Richtigkeit  der  niedergeschriebenen  Behauptungen  etwas 
erschüttern  dürften,  man  darf  nicht  bezweifeln,  daß  der  Verfasser  im 
Augenblick  der  Veröffentlichung  von  seinen  Ausführungen  überzeugt  war. 
Und  hat  nicht  Rückert  mit  seinem  Vierzeiler  (S.  2,  51)  recht?  „Das  sind  die 
^\ eisen,  die  durch  Irrtum  zur  Wahrheit  reisen;  die  beim  Irrtum  verharren, 
das  sind  die  Narren." 

Als  Professor  Dr.  Adolf  Menzel  Ende  Oktober  1915  die  Wiener 
Rektoratswürde  übernahm,  sprach  er  über  die  Psychologie  des  .Staates. 
Die  inhaltsreiche  Rede  wurde  für  den  Druck  vor  allem  durch  Anmerkungen, 
welche  geschickt  ausgewählte  Literaturverweise  bergen,  wertvoll  ergänzt, 
sodaß  sie  weit  über  die  Entstehungsursache  hinaus  Bedeutung  besitzt.  Sie 
klingt  wie  ein  Freudenlied  auf  die  Tatsache,  daß  Österreich-Ungarn 
unter  der  schwersten  Belastungsprobe,  welche  ihm  in  seiner  langen 
(-'eschichte  auferlegt  WTirde,  nicht  zusannnenbrach,  sondern  zur  größten 
Enttäuschung  der  Gegner  wie  verjüngt  aus  ihr  hervorgeht  (vgl.  auch 
Rieh.  Charmatz,  Hilfe,  August  1916),  nachdem  so  manche  Schlacken  der  Ver- 
gangenheit entfernt  ist  und  noch  mehr  wegfallen  werden  und  müssen,  bis 
der  staatliche  Gedanke  in  seiner  reinsten  Form  die  dauernde  Lebenskraft 
in  sich  birgt,  herausgebildet  ist  (S.  16  ff.).  Da  Dr.  M.  „eine  ähnliche  Konzen- 
tration aller  physischen,  geistigen  und  moralischen  Kräfte  in  der  politischen 
Gemeinschaft  zuerst  in  der  antiken  Republik"  findet,  tritt  er  für  die  Beschäfti- 
gung mit  jenen  Vergangenheitsverhältnissen,  auch  auf  der  Schule,  ein,  und 
bekennt  sich  in  diesem  Zusammenhang  zum  humanistischen  Gym- 
nasium als  der  Pflegstätte  dieses  Geistes.  Mit  kurzen  Strichen  wird  „die 
(^egenwartsopposition  gegen  den  Sieg  der  Staatsidee"  gekennzeichnet, 
der  Egoismus  des  Einzelmenschen  und  der  gesellschaftlichen  Klassen  (S.  5ff\ 
Der  Verfasser  sehildeit  auch  kurz  den  geschlossenen  Handelsstaat, 
entwickelt  ein  anschauliches  Bild,  wie  vielseitig  der  Staat  während  des  Kiüeges 
in  das  Leben  des  Einzelnen  und  der  Gesamtheit  eingi-eift,  und  nur  auf  diesem 
Wege,  der  natürlich  gelegentlich  gestreifte  Irrtümer  nicht  ausschließt  (S.  8), 
sich  durchsetzen  kann.  Den  Staat  der  Zukunft  will  Dr.  M.  auf  eine  Grund- 
lage, welche  die  sicherste  und  zugleich  die  bedenklichste  ist,  mit  freudigem 
(■'lauben  an  die  Möglichkeit  stellen.  Den  Staat  nemit  er  nämlich  ein  ,, Er- 
zeugnis   des    menschlichen    Seelenlebens";  „in  ihm  und  nicht  in  den 


178  Rezensionen. 

äußeren  Veranstaltungen  hat  das  politische  Cienieinwesen  seine  eigentlichen 
Wurzeln"  (S.  9).  Da  dieser  Gedanke  in  den  bisher  igen  Darstellungen  nicht 
genügend  gewürdigt  wurde,  will  der  Verfasser  es  seinerseits  tun  und  geht 
davon  aus,  daß  ,,der  Aufbau  des  Staates auf  Gemeinschaft  und  Unter- 
ordnung beruhe"  (S.  10).  Das  Mischungsverhältnis  dieser  beiden  Tat- 
sachen ist  verschieden  und  von  ausschlaggebender  Bedeutung  für 
die  Gesundheit  des  .Staates;  denn  ihr  Eiiofluß  auf  den  Staat,  den  sie  selbst 
bilden,  muß  sich  sozusagen  die  Wage  halten,  da  jedes  beherrschende  Vor- 
wiegen des  einen  Teiles  nicht  nur  dem  anderen,  sondern  auch  dem  von  ihnen 
beiden  geschaffenen  Staate  schadet.  Das,  was  unter  dem  Druck  der  äußeren 
Ereignisse  mit  Hilfe  einer  straffen  Zusammenfassung  geschaffen  wurde,  muß 
für  den  Frieden  mit  manchen  Änderungen,  welche  dem  Volk  eine  erhöhte 
Mitarbeit  gewähren,  beibehalten  werden.  Fast  klingen  die  Worte  Dr.  M.s 
an  ein  Platowort  an,  daß  der  Staat  am  besten  gedeiht,  wemi  die  Leitenden 
in  kluger  Selbstbeschränkung  scheinbar  sich  der  entscheidenden  Stimme 
begeben,  und  es  andererseits  verstehen,  die  durch  die  Erfahrung  als  richtig 
erkannten  (rrundsätze  diu-ch  das  mitwirkende  Volk,  das  die  Führung  möglichst 
wenig  spüren  soll  und  will,  in  die  Tat  umsetzen  zu  lassen,  wie  es  im  alten 
Athen  Perikles  vorbildli. h  versuchte.  Im  Staate  soll  wie  im  Leben  des 
Einzelnen  der  kategorische  Imperativ,  der  vielbesprochene  und 
auch  viel  mißverstandene  und  umgedeutete,  gelten.  Ihn  birgt  auch 
ein  bekannter  Satz:  „Ich  kann,  weil  ich  will,  und  ich  will,  weil  ich  muß." 
Das  Muß  fließt  aus  einer  im  Inneren  geborenen  Erkenntnis,  daß  das  Handeln 
mit  unbedingter  Notwendigkeit  nach  bestimmten  Gesichtspunkten  geregelt 
sein  muß,  wenn  der  Einzelne  und  mit  ihm  alle  anderen,  die  derselben  Gemein- 
schaft angehören,  wirklich  bestehen  und  sich  entwickeln  sollen.  Daß  diese 
Forderung  im  letzten  Grunde  eine  Umänderung  der  menschlichen 
Natur,  ein  Aufgeben  aller  unberechtigten  Selbstsucht  (S.  14)  bedingt,  ist 
leider  niu-  zu  richtig.  Die  Gegenwart  hat  aber  bewiesen,  daß  die  Einsichtigen 
den  Willen  haben,  diesem  weitgehenden  Verzichtsverlangen  stattzugeben. 
Die  große  Menge  allerdings  gehorcht  oft  genug  nur  dem  äußeren  Drucke, 
mehr  oder  minder  widerstrebend,  weil  ihre  Seele  an  Bewußtseinsenge  leidet 
(S.  14,  vgl.  m  B-riclit  über  Dr.  Marbe).  Sollte  aber  nicht  ein  Erziehen 
jenem  hohen  Ziel  entgegen  möglich  sein?  An  seiner  Erreichung  mit- 
zuarbeiten ist  des  Einsatzes  aller  Kräfte  wert  (vgl.  auch  Rhein-Main- 
Verband,  Frankfurt  a.  M.,  Jahresversammlung  1916,  Vortrag  von  Prof. 
Dr.  Ziehen).  Daß  gerade  der  Rektor  der  Wiener  Universität  diesen 
Gedanken  mit  edlem  Freimut  vertritt,  entbehrt  für  den  Kemier  der  öster- 
reichischen Verhältnisse  nicht  eines  eigenartigen  Reizes  im  Hinblick  auf  die  Ver- 
gangenheit und  die  hoffentlich  schönere  Zukiuift.  Mögen  deshalb  die  Worte  auch 
Aveit  über  den  Kreis  der  Zuhörer  am  23.  Oktober  1915  auf  fruchtbaren  Boden 
fallen  und  sich  die  Leser  nicht  zu  sehr  am  fremdwortreichen  G«wand  stoßen ! 

Wie  William  Stern  in  seiner  Psychologie  der  frühesten  Kindheit  (1914) 
bisherige  Ffststellungen,  die  er  und  andere  machten,  zielsicher  zusammenfaßt 
und  einen  ausgezeichneten,  sorgfältigen  Überblick  über  vorhandene  Arbeiten 
bietet,   so  entwickelt   auch   der   Gießener  Universitätsprofessor   Dr.    Julius 


Rezensionen.  179 

Friedrich  die  Bedeutung  der  Psychologie  für  die  Bekämpfung 
der  Verbrechen  (Hannover,  Helwing,  1915.  4  Mk.)  in  gleich  vorzügiichei 
Weise.  Da  der  Verfasser  aus  dem  Richterberuf  zur  Hochschule  überging 
(S.  29  lind  33)  und  auf  vielseitige  Tätigkeit  zurückblicken  kann  (S.  15,  29, 
45,  99,  HC,  13Gff.),  so  weiß  er  aus  eigener  Erfahrung,  daß  die  Vertreter 
des  Rechtes  gediegene  psychologische  Einsicht  und  Kenntnisse 
unbedingt  nötig  haben  (z.  B.  S.  15,  33).  Wenn  auch  allgemeine  Lehrbücher 
der  Psychologie,  wie  z.  B.  auch  m.  Besprechung  von  Joseph  Fröbes,  Lehrbuch 
der  experimentellen  Psychologie  (1915)  erwähnt,  die  Bedüi'fnisse  des  Richters 
beachten  und  es  sogar  für  seine  Sonderwünsche  zugeschnittene  psychologische 
Darstellungen  gibt  (z.  B.  Otto  Lipmami,  Grundriß  der  Psychologie,  1914, 
und  Dr.  Otto  Marbe,  Grundzüge  der  forensischen  Psychologie,  München  1913. 
vgl.  auch  Anm.  2),  so  ist  doch  das  Buch  von  Dr.  F.  keineswegs  überflüssig; 
demi  es  verbindet  sehr  gediegenes  psychologisches  Wissen  mit  genauen  Rechts- 
kemitnissen.  Diese  Tatsache  kommt  auch  darin  zum  Ausdruck,  daß  der 
Verfasser  immer  wieder  auf  außer  deutsche  Verhältnisse  hinweist, 
um  auch  durch  die  Gegenüberstellung  Kritik  zu  üben  (Amerika  8.  76  und  85  ff. 
Europa:  lilngland  8.  89  ff.,  Frankreich  8.  38  und  90,  Nordische  Staaten 
(Dänemark  und  Norwegen)  8.  90,  Österreich  8.  51,  70,  102,  107,  Rheinmün- 
dungsstaaten (Belgien  und  Holland)  8.  90,  Schweiz  8.  52,  70,  91,  103,  105  ff., 
113  ff.,  124).  Auch  die  grundlegenden  psychologischen  Untersuchungen, 
soweit  sie  zur  Aufgabe  des  Buches  Beziehung  haben,  werden  sorgfältig  berück- 
sichtigt. Meinem  Plane  entsprechend,  nach  Möglichkeit  unter  den  verschie- 
denen im  Zusammenhang  gewüx'digten  Abhandlungen  Beziehungen  her- 
zustellen, bemerke  ich,  daß  Dr.  F.  auf  Dr.  Christian  v.  Ehrenfels  (Anmer- 
kung 222),  Dr.  Marbe  (8.  10  ff.,  27  ff.,  35,  65,  85,  122,  351),  Schuppe  (vgl. 
Dr.  Leonid  Gabrilovitsch,  Math.  Denken,  1914,  8.  58)  verweist.  Infolge 
des  vielseitigen  gediegenen  Wissens  ist  Dr.  F.  sehr  wohl  berufen,  neuere 
„Strafprozeß-  und  Jugendgerichtsentwürfe  und  die  herrschende  strafrecht- 
liche Schuldlehre'"  unter  die  prüfende  Lupe  zu  nehmen,  iiiciem  er  das  vor- 
handene Gute  warm  anerkennt  (vg'.  8.  5  ff.,  12  ff.,  42)  und  auch  stets  maß- 
volle wohlberechtigte  Kritik  übt  (S:  4  ff.,  41,  83,  93,  99,  136  ff.,  143).  Manch- 
mal scheint  eine  leise  Bitterkeit  über  unausrottbare  Fehler  durchzuklingen 
(S.  3  ff.,  18).  Doch  im  allgemeinen  i.st  der  Verfasser  fest  überzeugt  (8.  53), 
daß  bei  unermüdlicher  Arbeit  von  unten  herauf  bestehende  Rechtsord- 
nungen so  weitherzig  gehandhabt  werden  können,  daß  ihre  Härten,  ihr 
nicht  immer  gegebenes  psychologisches  Verständnis  keinen  allzu  großen 
Schaden  anrichten  können.  Weit  entfernt,  in  den  Bahnen  kritikloser  An- 
hänger L9mbro.sos  zu  wandeln  (8.  84),  vertritt  Dr.  F.  doch  den  allein  men- 
schenwürdigen Grundsatz,  dftß  man  nach  den  Beweggründen  der 
Tat(S.  45,99,  116,  136  ff.),  nach  der  Anlage  und  Umwelt  des  Unrecht- 
tuenden  fragen  muß,  um  zu  erkennen,  ob  er  mehr  dem  Arzte  als  dem 
Richter  zur  Behandlung  übergeben  werden  müsse  (8.  142,  Anm.  206).  Wie 
entschieden  trotzdem  der  Schutz  der  Allgemeinheit  vor  krankhaften 
Trieben  gefordert  wird,  zeigen  besonders  die  Abschnitte  über  lebensläng- 
liches Einsperren  von  Trinkern  (8.  38)  und  der  Beseitigung  der  Fortpflan- 
zungsmöglichkeit   bei    bestimmten    Gattungen    von    Verbrechern    (8.  75ff. ), 


ij^Q  Rezensionea. 

wie  auch  bekannte  Monisten  fordern.     Bei  dieser  scheinbaren  Grausamkeit 
gegen  den  Betroffenen  ergeben  sich   auch   für  ihn  selbst  unter  Umständen 
körperliche   Vorteile  und   vor  allem    Segen    für    die   Umwelt,   insbesondere 
für  den  Staat;    demi  die  Kinder  von  solchen  Anormalen  beschäftigen  fast 
immer  die  Gerichte    oder  füllen  die  Heilanstalten.     Infolgedessen  wird  durcli 
die  verhütete  Nachkommenschaft  dem  Staate  Geld  erspart.    Dieses  Bestreben 
kehrt  auch   in  dem  allgemeinen  Leitsatz  Dr    F.s  wieder,    daß  es  in  jeder 
Hinsicht  richtiger  und   besser  ist,    Verfehlungen   gegen   Gesetze   zu    ver- 
hüten,   als  eingetretene   zu  bestrafen,   da   der   Staat   bei  diesem   Verfahren 
doppelten  Vorteil  hat:    Wecier  braucht  er   für  die  ,, Gefallenen"  Geld  auszu- 
geben, noch  an  ihnen,  die  gute  Steuerzahler  sein  könnten,  im  Falle  sie  bürger- 
liche Beriife  in  Freiheit  ausübten,   Einnahme  zu  verlieren  (S.  62),     Nütz- 
lichkeits-    und    allgemein    sittliche    Gründe    und   Rücksichten   ver- 
knüpfen   sich    also  bei  jenem  Verlangen.     In  derselben  Richtung  bewegt 
sich  auch  das  über    Willensfreiheit    Gesagte  (S   8,  14,  58,  63  ff  ,  117  ff  , 
123).     Sie  erkennt  Dr.  F.  nur  in  bedingter  Form  an,  indem  der  Wille  ,, durcli 
Vorstellungen,    Gefühle,   Triebe,    Bewußtseinslagen,   die  er  im   Anschluß   an 
Dr.  Marbe  amiimmt  (S.  35,  65,  125  ff.,  131;  vgl.  auch  Fortschritte  der  Psycho- 
logie S.-  1,  6 !),  determiniert  ist"  (S.  65).    Manches,  was  Dr.  F.  über  die  Behand- 
lung besonders  der  Jugendlichen  vor  Gericht  auseinandersetzt,  gilt  mit  einigen 
nötigen  Änderungen  auch  für  die   Schule  (z.  B.  S.  11,  17,  29,  37,  143  ff.). 
Doch  in  einem  Punkte  scheint  mir  der  Verfasser  etwas  einseitig  zu  urteilen, 
wenn  er  den  unbewußten  Geschlechtstrieb  beim  Kinde  stark  betont. 
So  entschieden  ich  auch  den  Gedanken,   daß  imsere   Jugend  sich   viel   mit 
geschlechtlichen  Dingen    bcfchäftigt    und    deshalb    die   geschlechtliche  Auf- 
klärung   ihr    möglichst    frühzeitig    geboten   werden    muß,    seit    Jalu'en    in 
^Vort  und  Schrift  vertrete  (z.  B.  Zeitschrift  für  Kinderpflege  5,  2;  vgl.   1908 
Nr.  2  und  1909,  4),  diese  etwas  pessimistische  Auffassung,  welche  auch  Kinder- 
ärzte, darunter  der  treffliche  Mannheimer  Dr.  Eugen  Netter,  vertreten,  kann 
ich  nach  meinen  Erfahrungen  zu  Hause  und  in  der  Schule  nicht  oder  wenig- 
stens noch  nicht  teilen.     Doch  ich  will  mich  nicht  in  Einzelheiten  verlieren, 
sondern  noch   kurz  gedenken,  daß  das  Buch   auch  kulturgeschichtliche 
Einzelheiten,    die  auch  dem  Psychologen  wertvoll  sind,  geistreich  einfügt 
(S.  10  ff.,  20,  57,  60,  84,  121,  149  ff.).     Zum  Schlüsse  möchte  ich  noch  einen 
Wunsch  anfügen.    Der  Wert  der  Schöpfung  Dr.  F.s,  der  auch  an  der  Kölner 
Handelshochschule  segensreich  wirkt,   als  Nachschlagewerk  würde  noch  er- 
höht, wenn  einerseits  Eigennamen  und  Sachbegriffe,  die  immer  wieder  ge- 
schichtlich bestimmt  werden  (z.  B.  S.  1  ff.,  8,  37,  123,  126 ff.),  in  einem  Ver- 
zeichnis zusammengestellt  und  andererseits  auch  gesagt  wird,  auf  welchen 
Seiten  die  zu  den  Einzelfragen  angeführte  Hauptliteratui-  zu  suchen  ist. 

Die  Untersuchung  von  Dr.  Karl  Reinhardt,  Parmenides  und  die 
Geschichte  der  griechischen  Philosophie  (Bomi,  Friedrich  Cohen,  1916,  Mk.  8) 
ist  gleich  der  Arbeit  des  Wiener  Prof.  Dr.  E.  Low  ein  ausgesprochenes 
Kampfbuch;  denn  der  Verfasser  glaubt,  daß  die  bisherige  Meimmg 
über  vorsokratische  Philosophen,  besonders  Parmenides,  Xenophanes, 
Heraklit,    Pythagoras    und    ihren    Kreis,    vielfach    irrig    sei,    weil    sie    von 


Rezensionen.  181 

iinrichtigen  Voraussetzungen  ausgehe,  indem  die  Pliilosophen  nicht  aus  siel) 
selbst  und  ihrer  unmittelbaren  Umgebung  erklärt  (S.  4,  62,  74,  78,  130, 
134,  156,  164,  202),  sondern  andere  Quellen,  die  ungehörige  ^'orstellungen 
hineinmengen,  herangezogen  (8.  68,  71,  256  ff.)' und  vor  allem  die  Verhält- 
nisse durch  die  einseitige  Brille  des  Aristoteles  (8.  168)  oder  des  Theophrast, 
der  auch  mißverstanden  wird  (S.  205,  257),  gesehen  wurde,  so  daß  mit  Xot- 
wendigkeit  verschobene  Bilder  entstanden.  Wie  ist  dieses  Verfahren  zu 
erklären?  Die  vorhandenen  geringen  Bruchstücke  der  in  Frage  stehenden 
Griechen  wurden  von  den  Überliefernden  nicht  aufbewahrt,  um  die  Lehre 
der  Philosophen  zu  zeichnen,  sondern  aus  bestimmten  Kampfabsichten,  so 
daß  sich  auch  daraus  Unrichtiges  ergibt,  wemi  nicht  scharfe  Quellenprüfung 
einsetzt  (8.  36,  4.5,  49,  1.58  f.,  164  f.).  Auch  gingen  die  Angaben  durch  ver- 
schiedene Hände;  infolgedessen  konnte  jede  neue  Wiederholung  bzw.  Auszug 
zu  Änderungen  führen,  im  Falle  der  Benutzer  nicht  sehr  sorgfältig  war  (S.  172), 
wie  wir  täglich  erfahren,  sobald  wir  Entwürfe  selbst  abschreiben  oder  ab- 
schreiben lassen.  Zu  den  sachlichen  Gründen  gesellen  sich  sprachliche;  denn 
die-  Ausdrucksweise  der  fraglichen  Philosophen  erschwert  ein  leichtes  Ein- 
dringen sehr  (8.  4  und  217).  Wegen  dieser  verschiedenen  Ursachen  kamen 
l)earbeitende  Gelehrte  auf  ein  falsches  Geleise.  Nachdem  sie  aber  auf  dem 
selben  waren,  mußten  sie  sich,  wenn  sie  in  der  eingeschlagenen  Richtung 
fortfuhren,  selbstverständlich  immer  mehr  vom  Ausgangspunkt  entfernen 
(8.  61,  175),  schon  um  kühne  Vermutungen  zu  stützen  (8.  29  und  35).  Die 
Xamen  jener  Gelehrten,  deren  Verdienste  der  Verfasser  gelegentlich  auch  voll 
anerkennt  (S.  20),  haben  in  der  wissenschaftlichen  Welt  einen  guten  Klang; 
denn  es  sind  vor  allem  Diels  (5f.,  11  f.,  26,  40,  117,  178),  Gomperz  (S.  28, 
62,  82),  Wilamowitz  (8.  5,  407),  Zeller  (8.  3,  28,  117,  184,  2.56 f.).  Deshalb 
glaubte  ich  es  ihnen  schuldig  zu  sein,  zu  erklären,  wie  sich  ihre  Auffassung 
walu-scheinlich  bildete,  indem  ich  zum  Teil  Ausführungen  von  Dr.  R.  be- 
nützte. Daß  jene  früheren  Ansichten  in  ihrem  ganzen  Umfang  zu 
halten  sind,  bezweifle  ich.  Hoffentlich  entgehe  ich  dem  Verdachte, leicht- 
herzig dem  Xeuen  zuzustimmen,  weil  es  dem  Alten  widerspricht,  oder  allzu 
starr  am  Bisherigen  festzuhalten,  da  ich  selbstverständlich  auch  gegen  Dr.  R.  Be- 
denken nicht  unterdrücken  kann;  denn  auch  er  scheint  mir  —  trotz  gesunder 
8elbstkritik  (S.  87  f.,  119,  180)—  nicht  nur  gegenüber  dem  Texte  zu  persönlic  li 
oder  —  wie  er  sagt  —  „gewalttätig"  zu  sein  (8.  38,  87  Anmerk.,  164,  246), 
sondern  auch  unbewiesene  (8.  73  Amn.  1,  157,  161,  183  Anm.  1,  189,  242, 
255)  oder  Avidersprechende  BehaAiptungen  (8.  201  und  240)  über  das  Auftreten 
religiöser  Tiiebe  aufzustellen.  Doch  ich  will  nicht  meine  Meinung  irgendwie 
in  den  Vordergrund  rücken,  sondern  kvirz  darlegen,  was  und  wie  Dr.  R. 
erschlossen  hat.  Selbstverständlich  i.st  er  ausgesprochener  Gegner  des 
Klassizismus  (8.  1)  und  verfolgt  die  neueren  Grundsätze  der  Quellenprüfung 
I  vgl.  auch  m.  Ber.  über  Dr.  Eleutheropulos,  die  Philosophie  usw.,  1915).  Das 
Verfahren  Dr.  R.s,  welches  sich  in  sprachlicher  und  sachlicher  Beziehung 
äußert,  kann  ich  natiMich  nur  durch  einige  Beispiele  kennzeichnen.  Um 
eine  vielumstrittene  8telle  zu  retten,  gebraucht  er  den  glücklichen  Namen 
„Lreal  der  Höflichkeit"  (8.  7  ff.),  allerdings  bezweifelt  er  seine  Auffassung, 
die- —  nebenbei  gesagt —  auch  bei  Dr.  Willmann,  Propädeutik  (2,  21  Anmerk.), 


]^32  Rezensionen. 

angewendet  wird,  sofort  wieder  (S.  7,  25).     Durch  seine  Deutung  will  Dr.  R. 
beweisen,  daß  das  Gedicht  des  Parnienides    einheitlicher   sei,  als  man 
bisher  annahm  (S.  10,  32,  51  f.,  89).    D.i.mit  der  Verf.  seine  Ansicht  bekräftige, 
setzt  er  sich  auch  mit  der  Überlieferung  aviseinander  und  nemit  die  Quellen, 
—  Clemens,  Simplikios  und  einen  Unbekannten  für  Pavmenides  und  Xenophanes 
(>S.  37f.,   44f.,   48  f.,  92  f.,   148  f.,    163,   170  ff.),  dazAi  Censorinus,   Hippolyt, 
xind  Plutarch  (S.  158,  164)  für  die  anderen  —  zuverlässiger  als  andere  Forscher 
vo-'  Dr.  R.  (8.  89  ff.,  dagegen  94  Anmerk.).     Die  auf  den  verschiedenen  Wegeu 
gewonnenen  Ergebnisse  lassen  sich  in  einigen  Sätzen,  die  ich  nach  der  Art 
der  sogenannten  Doktorthesen  möglichst   mit  den  Worten  des  Verfassers  an- 
führe, zusammenstellen.  „Die  Überlieferung  zwingt  dazu  an  Stelle  des  Mystikers 
Xenophanes   den  Dialektiker  zu  setzen  (S.  100).     Er  ging  von  etwas  anderem 
als  Gott  aus,  nämlich  von  dem  öv  (S.  102,  vgl  89,  100,  152  —  etwas  abweichend 
S.  52).    Bei  X.  findet  sich  eine  reichere  dialektische  Kunst  als  bei  Parmenides 
(S.  104)."    Auch  daraus  folgert  der  Verf.,  ,, daß  die  bisherigen  Ansichten  über 
Lehrer-  und  Schüler  Verhältnis  zwischen  beiden  umzudrehen  seien  (S.  89,  lOOff., 
125  f.,  1.52,  221,  229).     X.  steht  zwischen  P.  und  Melissos  (S.  HO),  welcher 
die  Trüglichkeit  der  Sinne  betont  (S.  245).     P.,  der  keinen  Wunsch  kennt 
als  Erkenntnis,  keine  Fessel  fühlt  als  seine  Logik,  den  Gott  und  Gefühl  gleich- 
gültig lassen,  so  sehr,  daß  es  uns  befremden  will,  erweist  sich  als  Vorgänger 
Heraklits  und  nächster  Nachfahr  Anaximanders  (S.  256).     Heraklit  ist  um 
470  herabzm-ücken  (S.  221),   beeinflußt  nicht  den  Empedokles  (S.  238),  hat 
keine  ausgeführte  Kosmogonie  hinterlassen  (S.  173)  und  ist  nicht  der  Vater 
des  Gedankens  vom  ewigen  Fluß  (S.  169,  206,  220,  241,  244  ff.),  sondern  dieser 
findet  sich  zusammen  mit  dem  erkenntnistheoretischen  Grundgedanken,  von 
dem  aus  auch  der  Lehre  des  Heraklit  beizukommen  ist  (S.  217,  219  f.),  erst 
bei  dem  Herakliteeren  (S.  245).     Pythagoras  ist  weder  ein  großer  Philosoph 
noch  ein  großer  Mathematiker  (S.  233,  241)."    Zu  diesen  Sätzen  im  einzelnen 
Stellung  zu  nehmen,  ist  selbstverständlich  nicht  Aufgabe  eines  kurzen  Be- 
richtes;  das    Wort    haben   vielmehr  in  erster  Linie   diejenigen,    gegen 
deren    Ansichten   Dr.  R.   sich    wendet.     Auf  den  Ausgang  des  Ringens 
darf  man  gespaimt  sein  und  auch  darauf,  was  der  Verfasser  zu  einigen  ange- 
deuteten Fragen,  für  die  er  Sonder  unter  suchung  sich  vorbehält,  zu  sagen 
hat  (z.  B.  S.  33,  248).    Auch  durch  ein  Lihaltsverzeichnis  regt  er  zum  Weiter- 
schürfen an,  wemi  er  auch  einzelne  wichtige  Ausdrücke  und  Begriffe  nicht 
erwähnt,  z.  B.  ägyptisch  (S.  148),  archaische  Technik  (S.  55,  59,  171),  Dualis- 
mus (S.  118,  122),  Flußlelu-e  (siehe  oben),  Kugelform  der  Erde  (S.  96, 116,  146  f., 
255),  Kulturgeschichte  (z.  B.  S.  126 ff.:    Stellung  des  Rapsoden,  142 ff.:  Ver- 
steinerungen und  Sonnenfinsternis),  Metaphysik  (S.  68,  79,  88,  93,  147),  Mikro- 
kosmos (S.  227),  Moralphilosophie  der  römischen  Kaiserzeit  (S.  207),  politische 
Verhältnisse  (S.  157),  Psychologie  (S.  19,  23,    193),  religiöse  Triebe  (S.  201, 
240,  255),  Schuld  und  Sühne  (S.  197),  Urfeuer  (S.  162),  Weltkarten  (S.  147), 
Weltgericht  und  -brand  (S.  163,  168  ff.,  Wendekreise  (S.  148).    Durch  derartige 
Ergänzungen,  welche  mit  der  unmittelbaren  Aufgabe  z.  T.  in  loserem  Zusammen- 
hang stehen,  werden  solche  Sonderuntersuchungen  noch  besonders  wertvoll 
auch  für  scheinbar  weitab  liegende  Forschungen. 

Bergzabern.  Dr-  Je  gel. 


Rezensionen.  1^3 

F  1  1  e  il  r  i  c  h  J  o  d  1 ,  Vom  Lebenswege.  Gesammelte  Vorträge  und 
Aufsätze  in  zwei  Bänden.  Herausgegeben  von  Wilhelm  Börner. 
I.  Bd.  Stuttgart  und  Berlin.  Cotta  1916.  XIII  und  553  S.  M.  14,50; 
geb.  M.  17,50. 
Wer  einen  besonderen  Reiz  darin  findet,  die  Bilder  großer  Per- 
^•Onlichkeiten,  die  uns  in  ihren  Grundzügen  längst  vertraut  sind,  im 
Spiegel  einer  charaktervollen  Denkerseele  wiederziierblicken,  darf  von 
Jodls  Aufsätzen  Anregung  und  reichen  Genuß  erwarten.  Die  Redei> 
und  Abhandlungen  des  im  Jahre  1914  verstorbenen  Wiener  Philosophen, 
die  uns  hier  vorgelegt  werden,  entstammen  den  Jahren  1879 — 1913.  Daß 
es  zum  Teil  Gelegenheitsschriften  sind,  beeinträchtigt  nicht  ihren  blei- 
henden  Wert;  und  auch,  wo  sich  die  Erörterung  an  Bücher  anschließt, 
die  längst  überholt  sind,  erhebt  sich  die  Darstellung  überall  zu  allge- 
meinen und  höheren  Gesichtspunkten.  Obwohl  die  scharf  ausgeprägte 
Weltanschauung  des  Verfassers,  ein  positivistisch  und  entwicklungs- 
geschichtlich  begründeter  Monismus,  deutlich  hervortritt,  hindert  sie 
ihn  nicht,  auch  anderen  Gedankenrichtungen  gerecht  zu  werden.  Voii 
Spinoza  an  durchwandern  wir  fast  den  ganzen  Weg  der  neueren  Philo- 
sophie bis  auf  ihre  jüngsten  Erscheinungen  wie  Wundt  und  Mach. 
Während  einzelne  Aufsätze  ein  Gesamtbild  des  behandelten  Denkers 
geben,  heben  die  meisten  einzelne  Seiten  und  Probleme  besonders  her- 
vor, wobei  der  Nachdruck  auf  ethischen  und  religionsphilosophischcn 
Fragen  liegt. 

Bei  Spinoza  beleuchtet  J.  das  Mißverhältnis,  das  zwischen  der 
Darstellung  und  dem  Gedankeninhalt  seines  Philosophierens  besteht. 
..Es  ist,  als  ob  hinter  einem  in  Stein  gemeißelten  Bilde  ein  leben- 
diges Menschenantlitz  sichtbar  würde."  In  dem  für  den  oberflächlichen 
Blick  so  festgefügten  System  weist  der  Verf.  mannigfaltige  innere  Ge- 
gensätze und  unausgeglichene  Widersprüche  nach.  Er  zeigt,  daß  sich 
bei  Spinoza  „mit  dem  kühnsten  Radikalismus  des  Denkens  eine  hoho 
Idealität  praktischer  Weltansicht .  verbindet."  Den  Zwiespalt  zwischen 
reinem  Naturalismus  und  Pantheismus  erklärt  er  in  der  Weise,  daß 
er  die  naturalistische  Denkart  als  den  persönlichen  Faktor,  als  die 
innerste  Richtung  von  Spinozas  eigenem  Lebensgefühl  auffaßt,  während 
er  in  den  theologisch  pantheistischen  Einschlägen  die  zeitliche  Be- 
dingtheit des  Systems  und  seine  Abhängigkeit  von  der  neuplatonischen, 
scholastischen  und  jüdischen  Religionsphilosophie  sieht.  Denn  auch 
Spinoza  war  ein  Sohn  seiner  Zeit.  ., Gerade  dieser  Einsame  zeigt,  wie 
unmöglich  es  ist,  gleichsam  im  luftleeren  Raum  zu  philosophieren,  wie 
allgegenwärtig  jener  geistige  Äther  ist,  mit  dem  Gedanken  der  Vor- 
zeit uns  umgeben."  Rousseau  wird  (im  Anschluß  an  Möbius)  im 
Lichte  derPathologie  betrachtet  und  seine  Verschiedenheit  vom  Geiste 
der  französischen  Aufklärung  wie  seine  nahe  Verwandtschaft  mit  dem 
deutschen  Geistesleben  betont.  Der  Aufsatz  über  „Goethes  Stellung 
zum  religiösen  Problem",  ein  Muster  knapper  und  doch  tief  greifender 
Darstellung,    setzt    Goethes    Persönlichkeit    in    Zusammenhang   mit    der 


184  Rezeusionea. 

gesamten  religiösen  Bewegung  seiner  Zeit  und  zeigt  zugleich  die  welt- 
umspannende Weite  seines  Geistes,  in  der  widerstreitende  Ansichten 
ihren  Platz  behaupteten  und  doch  in  höherer  Sphäre  ihre  Versöhnung 
fanden.  Die  inneren  Beziehungen  Goethes  zu  Kant  sucht  J.  auf  ihr 
lichtiges  Maß  zurückzuführen.  „Kantianer  war  er  nie,  konnte  er  nie 
.sein.  Vor  seinem  Geiste  standen  die  Umrisse  einer  Weltanschauunt;'. 
die  er  selbst  freilich  nur  dichterisch  zu  ahnen,  nicht  wissenschaftlich 
zu  gestalten  und  methodisch  zu  erweisen  vermochte,  zu  der  sich  aber, 
wenn  sie  einst  im  an))rechenden  Jahrhundert  ihren  Prometheus 
findet,  das  Kant'sche  System  verhalten  wird  Avie  Morgennebel  zu  hellem 
Sonnenlicht."  So  erscheint  Goethes  „zugleich  universelle  und  einheit- 
liche Weltanschauung"  für  die  Gegenwart  und  Zukunft  weit  fruchtbarer 
als  der  Dualismus  in  Kants  System,  das  J.  als  Versuch  einer  Ver- 
mittlung zwischen  Glauben  und  Wissen  bezeichnet.  Von  seinem  Stand- 
punkt aus  lehnt  J.  die  metaphysische  Richtung  in  Kant  ab  und  läßt 
ihn  nur  als  Kritiker  und  „Vater  des  Positivismus  und  Agnostizismus" 
gelten.  Aber  trotzdem  findet  er  wahrhaft  poetische  Worte  für  den 
auf  Kants  Boden  gewachsenen  Idealismus  Schillers.  Wie  bei  Goethe 
so  wird  auch  Schillers  Wesen  und  Streben  in  kurzen,  erschöpfenden 
Zügen  erfaßt  und  besonders  seine  Stellung  zwischen  Griechentum  und 
Kant  unterstrichen.  Schillers  philosophische  Lyrik  erklärt  J.  gerade- 
zu als  das  Erzeugnis  der  Spannung  zwischen  diesen  beiden  Geistes- 
welten. Die  abweisende  Haltung  des  Dichters  gegenüber  der  histo- 
rischen Religion  lag  J.s  Anschauungen  nahe.  Aber  auch  die  ethisch- 
äisthetische  W^eltanschauung,  nach  der  das  Schöne  als  Übergangsstufe 
zum  Sittlichen  gilt,weiß  er  in  ihrer  relativen  Gültigkeit  zu  würdigen. 
In  dem  Aufsatze  „J.  G.  Fichte  als  Sozialpolitiker"  stehen  wir  dem 
sehr  zeitgemäßen  Thema  des  geschlossenen  Handels-  und  Sozialstaates 
gegenüber.  Freilich  sehen  wir  diese  Gedanken  Fichtes,  „die  man  als 
ein  prophetisches  Programm  der  Wirtschaftsgeschichte  des  19.  Jahr- 
hunderts bezeichnen  könnte",  infolge  der  Erfahrungen  der  Gegenwart 
mit  andern  Augen  an,  als  es  vor  20  Jahren  möglich  war.  Für  J. 
v,a.r  der  Sozialstaat  eine  Idee,  die  sich  selbst  vernichtet:  statt  des  un- 
endlichen Fortschritts,  den  Fichte  sonst  für  die  Tätigkeit  des  Ich  als 
wesentlich  annimmt,  setzt  er  hier  eine  absolute  Lösung  fest  und  befür- 
wortet die  strengste  Beschränkung  aller  freien  Tätigkeit  durch  den 
Staat.  Mag  J.  auch  von  seinem  entwicklungsgeschiciitlichen  Stand- 
punkte dem  Werte  der  Fichteschen  Gedanken  nicht  voll  gerecht  werden, 
seine  Bedenken  gegen  den  Staatssozialismus  verdienen  gerade  heute 
wieder  Gehör.  Während  S  c  h  e  1 1  i  n  g  in  einem  Artikel  für  die  All- 
gemeine. Deutsche  Biographie  mehr  enzyklopädisch  behandelt  wird, 
erhebt  sich  der  Aufsatz  über  Schopenhauer  zu  einem  starken, 
persönlichen  Bekenntnis  gegen  alle  metaphysische  Spekulation;  und 
die  Hoffnung  auf  eine  Zeit,  „in  der  man  den  morbiden  Zug,  der  durch 
.dieses  System  geht,  fühlen"  wird,  ist  wohl  schon  erfüllt.  Weniger  als 
bisher  können  wir  J.  in  der  Schätzung  F  e  u  e  r  b  a  c  h  s  folgen,  dem  er 


RezeDsiouen.  18ö 

als    einem   Ueistesverwandten    fünf   Aufsätze     widmet,     wobei    freilich 
manche   Wiederholungen   vorkommen.     Die   Entwicklung   von   Kaut   zu 
Feuerbach,  in  dem  J.  den  „geistigen  Erben  Kants  und  Vollender  seines 
kritischen  Reinigungswerkes"  sieht,  erscheint  uns  heute  als  ein  Abweg, 
ciblifken   wir   doch   die   Hauptleistung   Kants   in   der   endgültigen    Ver- 
nichtung  des    Materialismus.     Auch   gilt   die   Ansicht   Feuerbachs,   daß 
man   die  Religion   durch    psychologische  Auflösung   ihrer   Begriffe  weg- 
erklären könne,  wohl   nur  noch  in   Kreisen  der  Halbbildung.     Freilich 
wird  es  immer  Menschen  geben,  die  wie  Feuerbach  anstelle  des  „phan- 
tastischen  Scheinwesens   der  Religion  und  Theologie"  ein  rein   anthro- 
pologisches Kulturideal  annehmen  und  in  ihm  ihr  Genüge  finden;  aber 
die  Menschheit  als   Ganzes  wird  immer  wieder  eine   Transzendenz,   in 
welcher  Form  es  auch  sei,  fordern.     Trotz  solcher  Widersprüche  aber 
folgt  man  der  eigenartig  bedeutenden  Entwicklung  Feuerbachs,  wie  J. 
sie  darstellt,  mit  Ant(>ilnahme;  und  indem  die   geistigen  Bestrebungen 
des  Philosophen  mit  der  ganzen  revolutionären  sozialen  wie  religiösen 
Bewegung  der  Zeit  in  Beziehung  gesetzt  werden,  entsteht  ein  Bild  der 
geistesgeschichtlichen   Lage  um   1848.     Im  Zusammenhange  mit  Feuer- 
bach   und    der    gesamten    Zeitgeschichte    wird    auch   die    Persönlichkeit 
D.  Fr.  Strauß'  gewürdigt.     Auch  bei  dem  Verfasser  des  „Alten  und 
neuen    Glaubens"    „eine    geschlossene    naturalistische    Weltansicht,    in 
w^elcher  für  die  Phantasmagorien  der  Religion  kein  Raum  ist,  andere 
geistige  Inhalte,  Wissenschaft  und  Kunst  an  die  Stelle  dieser  Lebens- 
liilfe  der  Vergangenheit  treten  und  der  Begriff  der  Vorsehung  durch  di<' 
wachsende   Technik    der    Kulturordnung   ersetzt   wird."     Auch   Grill- 
p  a  r  z  e  r  wird  —  namentlich  was  seine  Kritik  der  spekulativen  Philo- 
sophie und  der  Theologie  angeht  —  von  Kant,  mit  dem  man  ihn  wohl 
in  Verlündung  gebracht  hat,  in  die  Nähe  Feuerbachs  und  auch  Goethes 
gerückt.    In  der  Seele  des  Dichters  war  nach  J.  ein  beständiger  Wider- 
streit zwischen  einer  stark  skeptischen  Verstandesanlage  und  der  un- 
beirrbaren Sicherheit  gewisser  Gefühlstatsachen,  die  von  jeder  logischen 
Begründung  unabhängig  schienen.     Seine   Stellung  zur   Gottesidee  wdrd 
als   Agnostizismus   gekennzeichnet    und    am    deutlichsten    durch   Grill- 
parzers    eigene    Worte    ausgedrückt:    „Ohne    Ahnung    vom   Übersinn- 
lichen wäre  der  Mensch  allerdings  Tier;  eine  Überzeugung  davon 
ist  aber  nur  für  den  Toren  möglich  und  für  den  Entarteten  notwendig." 
In   einem   glänzend   geschriebenen   Aufsatz    über    das    „Nietzsche- 
problem".    der    schon    durch    die    Form   der   Darstellung    dem   Leser 
emen    Genuß   bietet,    werden   besonders    Nietzsches    soziale    Ideen   und 
ihr    verderblicher    Einfluß    auf    das    heranwachsende    Geschlecht    be- 
sprodien.     Obwohl  der  soziale  Zukunftsoptimismus  in  mancher  Hinsicht 
verwandte   Saiten  in  J.s  Denken  berühren  mußte,  wird  Nietzsche   doch 
weit    schroffer   zurückgewiesen   als   etwa   S  t  i  r  n  e  r ,   der   sich   als    ein 
freilich    verirrter    Jünger    Feuerbachs    noch   einer    gewissen    Sympathie 
erfreut.    Was  einen  so  streng  wissenschaftlichen  und  sachlichen  Denker 
wie  J.  bei  Nietzsche  vor  allem  abstoßen  mußte,  ist  seine  ausschweifend 


18G  Rezensionen. 

l)haiitastische.  ruhelose  Denkart.  Nietzsches  Moral-  und  Sozialtheorie 
ist  für  J.  ein  ..Anachronismus,  die  schal  gewordene  Kost  des  alten  Man- 
chestertums  und  der  Darwinschen  .Sozialwissenschaft  mit  geistreichen 
Zieraten  noch  einmal  aufgewärmt."  Das  deutsche  Volk  hat  bessere 
(Teistesführer:  „Schiller  hat  das  Nietzscheproblem  vorschauend  gelöst, 
als  er  sagte:  Nur  zwei  Tugenden  gibts.  0,  wären  sie  immei'  vereinigt! 
Immer  die  Güte  auch  groß,  innner  die  G  rö  ß  e  auch  gut."  —  Die 
wenigen  hier  hervorgehobenen  Gedanken  können  natürlich  nur  eine 
schwache  Vorstellung  von  dem  reichen  Inhalte  der  Abhandlungen  uml 
dem  Geiste,  der  sie  durchweht,  geben.  Fügen  wir  aber  noch  hinzu, 
daß  weiterhin  auch  Darwin,  Spencer,  Tolstoi.  Johannes  Huber,  A.  Spir, 
Wundt.  Mach,  Ostwald  und  anderen  eigene  Aufsätze  gewidmet  sind, 
so  ist  damit  wenigstens  angedeutet,  welche  Persönlichkeiten  die  Auf- 
merksamkeit unseres  Denkers  auf  seinem  „Lebenswege"  besonders  an- 
gezogen haben.  Außerdem  enthält  der  Band  noch  einige  Arbeiten, 
die  ,. Probleme  der  Weltanschauung",,  vorzugsweise  das  Kausalproblem 
behandeln.  Auch  hier  zeigt  sich  die  klare,  gemeinverständliche  Dar- 
stellung und  eine  stilistisch  so  fein  geschliffene  Form,  wie  sie  in  philo- 
sophischen Schriften  nicht  allzu  häufig  ist.  Zwar  kein  heißes  Ringen 
um  eine  Weltanschauung  erleben  wir  hier:  nirgends  wird  versucht,  in 
die  letzten,  dunklen  Tiefen  der  Probleme  hinabzutauchen.  Aber  inner- 
halb der  selbstgesteckten  Grenzen  bewegt  sich  das  Denken  mit  einer 
unbeirrbaren  Folgerichtigkeit  und  reifen  Selbstsicherheit,  die  auch  dem 
(regner  Achtung  und  Bewunderung  abgewinnt.  Und  so  kann  man  auf 
Jodl  selbst  die  Worte  anwenden,  die  er  von  Gizycki  sagt:  „Man  kann 
sich  in  vielem  von  seinen  Meinungen  entfernen:  aber  man  kann  nur 
wünschen,  daß  ein  so  hohes  Maß  von  intellektueller  Ehrlichkeit,  selbst- 
loser Hingabe  an  ideale  Ziele  und  begeistertem  Glauben  an  die  Zu- 
kunft der  Menschheit  recht  allgemein  werden  möge." 

Paul  Sickel. 


Archiv  für  Philosophie. 

L  Abteilung: 

Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie, 

Neue  Folge.     XXIV.  Band,   4.  Heft. 


IX. 

Zu  Demokrits  Wandeijahren,. 

Von 
Robert  Eisler,  Feldat'iug. 

I. 

Die  Feststellung  bezeichnender  babylonischer  Astrologenfacli - 
ausdrücke  bei  Demokrit  (s.  o.  S.  52  ff.}  kann  nicht  ohne  Einfluß 
bleiben  auf  die  Beurteilung  jenes  merkwürdigen  autobiographischen 
Bruchstücks  bei  Clemens  von  Alexandria^),  dessen  Echtheit  Theodor 
Gomperz  (Wien.  Sitz.-Ber.,  ph.-h.  Cl.  52,  S,  23)  ebenso  entschiedet' 
vertreten  hat,  als  Diels  sie  (FVS^  p.  728)  hartnäckig  bestreitet. 
Alle  acht  Gegengründe,  die  Diels  gegen  Gomperz  vorgebracht  hat, 
lassen  sich  unschwer  entkräften: 

Zunächst  ist  es  sicher  unzutreffend,  wenn  Diels  a.  a.  0. 
Scgt:  „die  BaßvXoivioi  loyoi  werden  von  Clemens  Alexandrinus 
dahin  charakterisiert,  daß  sie  eine  Übersetzung  der  Stele  des  Akikaros 
seien,  also  eines  Chaldäers,  der  seine  Weisheit  auf  einer  Säule  auf- 
geschrieben hatte".  Der  gelehrte  Kirchenvater  oder  seine  Vorlage 
redet  ja  hier  gar  nicht  von  einer  Baßvlrnvioi  löjot  betitelten 
Schrift  des  .Demokrit,  sondern  beschuldigt  ihn  —  einem  Xsjerai. 
folgend  —  tolq  iöloiq  övy^Qocfif/aöiv,  d.  h.  seinen  eigenen  Schriften 
„die  Babylonischen  Sittensprüche"  —  Toig  Bnßvlmvlovq  Xöyovq 
ijlhixovq  —  einverleibt  zu  haben  {ovi>zdsai\  die  er  bloß  von  d'r 
x\chikarf.tele  heruntergelesen  und  übersetzt  habe. 


1)  Strom,  1 15,  69  p.  359,  H57  P.;  Diels,  FVS^  |>.4a9  No..299:  Pythagoras, 
Eudoxos  und  Piaton  seien  Schüler  der  Barbaren:   JrnjoxQiwg  ydq  tftvq 


188  «  Robort  Ei  ?1  er. 

Diese  'AxixaQov  orrjXrj,  aus  der  der  große  Demokrit  alexan- 
drinischen  Plagiatselinüfflern  zufolge  einen  Teil  seiner  berühmten, 
vielfach  durch  Florilegien  bis  heute  erhaltenen  yvojfiia  (FVS^ 
Xo.  35 — 298}  geschöpft  haben  soll,  ist  nun  durchaus  keine  fingierte 
Quelle,  sondern  eine  nach  dem  Zeugnis  der  Papyrusfunde  von 
Elephantine  tatsächlich  schon  zur  Zeit  Demokrits  in  aramäischer 
Fassung  in  Ägypten  sehr  beliebte,  mit  Sinn-  und  Sitten- 
sprüchen, Rätseln  und  Fabeln  aller  Art  überladene  erbauliche 
Rahmenerzählung  von  König  Senacheribs  des  Assyrers  weisem  Vezir 
Achikar  und  dessen  bösem  Pflegesohn  Nadan,  die  schon  Theophrast  zu 
seinem  bei  Piogenes  von  Laerte  V  20  erwähnten  Dialog  'AxiyaQog^^) 

BaßvXojviorg  Xoyovc  ^&ixoig['E7J.i]vixoic  oder  olxeiovg*)]  mnoiqTai' 
Xiyijuu  yuQ  t/Jv  'Axixüqov  CTtfAijv  iof^r^vfvd^fioav  unc  töioic  avyiu^ai 
Gvyyqdi^ifjaGiy  xaGiir  iTTi6i]f.i)']vuGd^ai  ituo  ainov'  ruds  liyn  Ji]^6- 
xoiTOg'  yQucforjoC  vul  }.i>]v  mol  aiiov  {sciX.  yQÖXfjfi,),  f;  aeiJvt-vöfievcc  rprjGi' 
jTOv  STii  TToXvfJud^iif  lyw  dk  twv  xu.i  ifjuvior  ävd^QoiiiMV  yr.r 
jr'AeiGTrjv  iTTinKaviiGd^r^v  iGioQiiov  tu  fj^ijxiGru  xut  uigug  ts 
xal  yiug  TTluGxag  (Idov  xai  /.oyfwr  dvöqtZv  TcXitGrwr  iTrijxovGa 
xai  yooLfjfiJoir  Gvv&iGioc  fjfrd  dnodfiX^iog  ovSsfc  x(.o  fxe 
7iaoi]')J.a'iav  ord'  o\  .^lyvTTTiior  xa'Aföjusvoi  dqn idovdjTTai'  Gvv 
io~ig  d'  iTit  TTÜGtv  In'  iJiu  Trivis**)  ijri  '^sivrjg  eysvijü^tjr' 
ijtr^X&ov***)  ydq  Bußvliörd  rf  xdl  J/egGiSu  xai  AXyvnTor 
Tolg  TS  jiidyoic  xut   lolg   ifoevGi   fi u9^)]t svujv.'' 

*)  So  richtig  Diels  itdiovg  Cobet),  aber  das  Wort  ist  nicht  an  Stelle 
des  ganz  unanstöJligen,  auf  die  Achikarsprüche  trefflich  passenden  i]&txoig, 
sondern  nachher  einzufügen  (vgl.  Smend,  ZaWBeih.  XIII  67,)- 

**)  So  richtig  Diels  S.  727  nach  Diodor  1  m,  3  cf.  FVS-  p.  230  I  17. 
Bei  Clemens  steht  unsinnigerweise  dy<h'xnvT(x,  ebenso  Euseb.b.  Sozom.  h. 
eccl.  II  2i  infolge  der  Verwechslung  des  milesischen  alphabetischen 
Zahlzeichens  tt  =  80_  mit  der  akrophonischen  Abkürzung  (sog.  hero- 
dianischen  Ziffer)  tt  =  TiivTi. 

***)  ijTrjL9s  Hss.  bei  Clemens,  aber  wahrscheinlich  geht  das  Zitat 
bis  jjud^riTsvwv,  denn  Clemens  will  die  Benutzung  babylonischer 
Sittensprüche  durch  Demokrits  Selbstzeugnis  wahrscheinlich  machen. 

1")  Studemund  hat  in  seiner  Abhandlung  über  das  römische  Mosaik 
von  Trier,  in  dem  der  Syrer  (Nöldeke,  a.  u.  Anm.  2  a.  0.  S.  24)  INIannus  den 
ACICAR  neben  Homer,  Arat,  Kadnnis,  Thamyris,  Hyagnis  und  den  neun 
Musen  dargestellt  hat  (Jahrb.  d.  k.  deutsch,  archaeol.  Instit.  V  S.  2),  auch 
den  Axi'xuqog  des  Theophrast  als  unterschoben  hinstellen  wollen.  Es 
darf  eben  nicht  wahr  sein,  daß  Griechen  auch  schon  vor  der  Gründung 
der  alexandrinischen  Bibliothek  orientalische  ÜberUeferungen  gekannt 
und  benutzt  haben,  als  ob  nicht  schon  Piato  „phoenikische  Erfindungen", 
iranische  Apokalysen,  wie  die  Erzählung  des  Er  u.  -Igl.  mit  Vorliebe  in 
seine  Dialoee  eingefiochten  hätte! 


Zu  Demokrits   Wanderjahren.  180 

(FVS-  p.  727  zu  4398)  angcrogt  hat,  die  also  im  vierten  vorchrist- 
lichen JiihrhvnuJert  bereits  i^riechisch  -  wenn  auch  wohl  erst 
mündlich  -  im  Umlauf  war^''),  im  Buch  Tobit  erwähnt  ist,  in  der 
byzantinischen  Actoplegende.  in  „1001  Nacht"  fortlebt  und  in 
arabi.^icher,  syrischer,  aethiopischer,  griechischer,  armenischer,  sla- 
vischer,  rumänischer  Fassung  heute  noch  erhalten  ist.'-)  Wenn 
Clemens  von  einet  ot///;/  des  Acliikar  spricht,  so  muß  er  eine  Fassung 
dieses  heidnisch  -  altaramäischen^*)  erbaulichen  Romans  gekannt 
haben,  in  der  sich  der  Erzähler  nach  eine  gerade  in  dieser  Schriften- 

i"»)  Sollte  es  damals  schon  einen  schriftlich  aufgezeichneten  grie- 
chischen ylxixanoii  gegeben  haben,  so  Aväre  dieses  Volksbuch  und  nicht 
die'Bibol  der  LXX  die  älteste  griechische  fborsptzung  einer  fremd- 
si'i-achigen  Schrift.  Das  ist  doch  kaum  wahrscheinlicli.  Als  Träger 
mündlicher  Überlieferung  kommen  schon  damals  hellenisierte  Orientalen 
in  Betracht,  wie  die  Nachricht  des  Klearch  von  Soloi  (um  320  v.  Chr.; 
bei  Joseph,  c.  Ap.  I  22)  über  das  Ziisammeatveffen  des  Aristoteles  mit 
einem  griechisch  sprechenden  .Juden  bezeugt.  Man  beachte,  daß  an  dieser 
Stelle  ilie  Juden,  sowie  von  Posiilouios  au  der  unten  2aj  a.  Strabostelle 
mit  den  indischen  „Gymnosophisten"  in  einen  Topf  geworfen  werden. 

-;  Vgl.  den  Artikel  ,Achikar-  von  M.  Lidzbarski  in  der  Hastings'schen 
Encyclopedia  of  Religion  and  Ethics,  vol.  J.  Über  die  altaramäische 
Fassung  —  Erstausgabe  von  Ed.  Sachau,  aram.  Papyri  von  Elefantine, 
Berlin  1908,  S.  147  ff.;  nach  Sachau  S.  182  ist  der  Papyrus  um  407  v.Chr. 
geschrieben  —  vgl.  Nau,  L'histoire  d'Ahikar,  Paris  1909;  Th.  Nöldeke,  Unter- 
.suchungen  zum  Achikarroman,  Abh.  k.  Gott.  Ges.  d.  Wiss  ph.-h.  Cl.  XIV 
1918;  Lidzbarski,  Ephem.  f.  semit.  Epigr.  III  2;');',;  Diels  in  den  Nachträgen 
p.  Xn  des  Registerbandes;  Br.  Meißner,  Das  Märchen  vom  weisen 
Achiqar,  Das  Alte  Orient  XVI  2,  Leipzig  1917,  S.  lOff. 

-•'')  Vgl.  Lidzbarski,  Theol.  Lit.  Zeit.  1899  Sp.  Ü08  f.;  Ephem.  f.  sem. 
Epigr.  I  2.¥J  —  Posidonios  (hei  Strabo  XVI  2,  p.  702  cf.  XVI  1,  p.  739; 
Smend,  Beih.  XIII  19o8  der  Zeitschr.  f.  at.  Wiss.  S.  06  j)  Aveiß  von  einer 
l)esondoren  Volkstümlichkeit  des  Achikar  in  Borsippa  zu  melden,  wo 
eine  bestimmte  Sekte  der  Chaldäer  so  auf  ihn  schwöre,  wie  die  Jndeu 
auf  Mose.<.  Dort,  in  der  Schwesterstadt  von  Babylon,  wird  der  Roman 
auch  tatsächlich  in  der  Zeit  zwischen  dem  5.  Jahrb.,  wo  er  schon  in 
Ägypten  gelesen  wird,  und  der  Zeit  um  675  v.  Chr.,  wo  die  Handlung 
spielt,  entstanden  sein,  kaum  vor  der  Perserherrschaft  —  von  538  an  — , 
wo  erst  die  Assyrerkönige  Babylons  zu  Märchengestalten  der  Vorzeit 
werden  konnten.  So  urteilt  auch  Ed.  Meyer,  Der  Papyrusfund  von 
Elefantine,  Leipzig  1912,  S.  107.  Nöldeke  a.  a.  0.  S.  6  hält  ihn  für  wenig 
später  als  Sancherib,  weil  ein  urkundlich  bezeugter,  später  kaum  mehr 
bekannter  Ilofbeamter  dieses  Königs,  NabusumL^skun,  darin  auftritt.  — 
\\'er  mit  Nöldeke  S.  23  an  der  überlieferten  Lesart  Boanoor^roC  für 
Booanrnm'oi    bei  Strabo  festhalten  will,    darf  nicht   an   „nordische  Bar- 


1  Pd  K  o  I»  e  r  t    K  i  s  I  f-  r  . 

gattuiig  beliebten  Einkleidungsweise^)  auf  eine  inschriftliche  Quelle **) 
berief.  Ja,  der  Fund  einer  aus  der  Zeit  des  Clemens  Alexandrinus 
stammenden,  wahrscheinlich  im  Schulunterricht  ver- 
wendeten Marmortafel  mit  den  „Sprüchen  der  sieben 
Weisen  (gesammelt?)  von  Sosiades'*)  in  Kyzikos^)  legt  die  An- 
nahme nahe,  daß  im  jüdisch-hellenistischen®)  und  im  christlichen®*) 

baren",  sondern  an  die  bosporenischen  Juden-  und  Hypsistarierkolonien 
(Gruppe,  Hdb.  1603j)  denken.  —  Die  Lesart  Bogtoi]ioi  der  Epitome  würdf^ 
auf  die  im  Alten  Testament  (Ob.  8,  Jerem.  49;  cf.  Arnos  Ijj)  berühmten 
Weisen  von  Theman-Bostra  führen.  Die  Entdeckung  neubabylooischer  Keil- 
schriftfragmente  eines  Achikarromans  würde  naich  weniger  Terblüffen,  als 
seinerzeit  Lidzbarski  nach  eigener  Aussage  der  Papyrusfund  von  Elefantine. 

3j  Vgl.  z.B.  die  Tulgär-epikureische  angebliche  Grabschrift  des 
>;irdanapal  rede,  lüde,  bibe  /  Cum  te  mortalem  noris,  piaesentibus  exple  / 
Delitiis  animum,  post  mortem  nulla  voluptas  /  namque  ego  sum  pulvis, 
qiii  nuper  tanta  tenebam,  haec  habeo,  quae  edi,  quaeque  exsaturata 
libido  /  bausit  et  illa  manent  /  multa  et  praeclara  relicta  /  Hec  sapiens 
iiiortalibus  est  documentum^  in  einem  St.  Pauler  Valerius  Maximus  Codex 
(Eisler,  illum.  Hss.  von  Karten,  Leipzig  19(»7.  S.  79  oben,:  Vers  1  u. 2  bei 
Behrens,  Poetae  lat.  min.  \"  No.  40S  unter  dem  Namen  des  Epikur;  die 
zwei  vorletzten  Verse  Cicero,  Tusc.  V  101;  griech.  bei  Plutarch,  de  Alex. 
M.  fort,  aut  virtute  c.  9.  f.  3)3:  Jahns  Jbb.  f.  Philol.,  Suppl.  TU,  1834, 
S.  126  —  130:  J.  G.  Huberraann,  Die  Gnibschrift  des  Sardanapal:  gleich- 
namiges Bresl.  Progr.  von  Nfese,  Sommer  1880:  Ed.  Meyer,  Forsch.  I  S.  208. 

•'"'•)  Vgl.  Smend  a.  a.  0.  S.  67:  -die  ,Mta  Aesopi'.  die  in  dem  be- 
treffenden Ab.schnitte  eine  Nachbildung  des  Acliikarromans  ist,  erzählt 
von  einer  goldenen  Bildsäule,  die  der  König  von  Babylon  dem  Aesoj) 
<Mrichten  ließ  [R.  Harris,  F.  C.  Conybeare,  A.  Smith  Lewis,  the  story  of 
.X'hikar.  London  1898,  p.  124  a.  E.).  A  on  einer  ^arr^hj"  des  Aesop  in 
Diilphi  redet  die  Vita  Aesopi  am  Schluß.  Es  ist  nicht  unmöglich,  daß 
das  bei  Clemens  gemeinte  Akikarosbuch  von  einer  Stele  des  Akikaros 
in  Babel  oder  Ninive"  —  oder  Borsippa!  —  .redete-.  Bildsäule  und 
Schriftstele  kann  ein  und  dasselbe  sein,  denn  babylonische  Bildnisstelen 
sind  oft  über  die  ganze  Darstellung  hin  mit  Keilscliriftzeichen  bedeckf.. 

*)  Im  wesentlichen  gleich  Stob.  Floril.  I  78.  Diels  FVS^  p.  52<K 
Anm.  zu  Z.  8. 

s;  F.  V>'  Hasluck,  Journ.Hell.  Studies  27  (1907)  S.  62  flF.:  eine  zwischen 
29  und  3."»  cm  lange,  20  cm  breite,  8  cm  dicke  Platte  aus  gelblichem 
Marmor  mit  Dübellöchern  —  zur  Befestigung  an  einer  Wand  —  au 
beiden  Räudern.  AVohl  zu  früh  resignierend,  meint  H.,  -its  purpose  will 
probably  never  be  known''.  Vgl.  0.  Hense,  Berliner  phil  Wochenschr. 
IftOT,  765  ff. 

^)  Der  heidnische  Achikanoman  i^t  selir  früh  jüdisch  bearbeitet 
wfirden,  so  daß  der  Weise  —  ähnlich  dem  Mardochaeus  des  Estherbiiches  — 
zum  hochverdienten  Hausjuden    des  Assyrcrkönigs    wird   und   in   seine 


Zu  Deniokrits   Waiulerjalueu.  191 

Schiilbftrieb,  in  dem  Clemens  ja  mitten  di innen  stand,  eine  ähn- 
liche Schulwandtafel  oder  orrj^./}  mit  den  Achikar- 
sprüchen  und  vielleicht  kleinen  Darstellungen  der  ganzen  Ge- 
schichte nach  ^Vit  der  „tabula  Iliaca"  oder  dgl.  üblich  war.^^*)  AVenu 
auf  einer  solchen  Schulübungstafel  echte  Gnomen  des  „Demoluates" 
dem  Achikar  in  den  Mund  gelegt  worden  wären,  könnte  man  das 
bei  der  Leichtbeweglich^eit  solcher  oft  als  ddtojroTc:  herum- 
vagierender  Gedankensplitter  nicht  weiter  merkwürdig  finden.  Daß 
das  Umgekehrte  wirklich  geschehen  ist,  und  typische,  als  solche 
bezeugte  Achikarsprüche  in  Gnomologier  u.  dgl.  unter  dem  Namen 
des  Demokrit^**'*)  umliefen,  hat  Coniill  schon  1875  in  seiner  Doktor- 
dissertation®**) an  einem  bei  Schachrastani  als  Demokritgnome  an- 
gefühlten Spruch  des  aethiopischen  Achikar  gezeigt.  RendeU  Harris 
a.  a.  0.  p.  XLIII  hat  diese  Beobachtung  auch  schon  richtig  zur 
Erklärung  der  fraglichen  angeführten  Clemensstelle  herangezogen. 
Seither  hat  Smend  a.  a.  0.  S.  68  ff.  noch  zwei  weitere  ..Demokrit"- 
sprüche  bei  Schahrastani  im  syrischen,  arabischen,  armenischen 
Achikar   aiü'gefunden,    den    „ohne  Gewähr"  (FVS'^  444    Z.  25)   bei 

Reden  und  Taten  scharfe  Spitzen  gegen  das  Heidentum  einflicht,  z.  B. 
in  Ägypten  eine  heilige  Katze  prügelt  (Smend  p.  84;  anders  Nöldeke 
S.  28).  Sicher  ist  der  griechische  Achikar  das  Werk  alexandrinischer 
Juden,  daher  die  Erwähnung  im  Buch  Tobit.  Über  eineo  AchikarsprucL 
im  Talmud,  Baba  Bathra  98b  s.  Nöldeke  S.  14,  nach  Epstein  und  Hale'vy. 

^*)  2.  Petr.  2  22  h  geht  auf  einen  Achikarspruch  zurück  (Smend  a.  a.  0. 
S.  75),  der  dem  von  Clemens  Alex,  im  „Protreptikos"  92,  4,  p.  68;  er- 
wähnten Frag  147  des  Demokrit  (FVS*  p.  411,  Z.  1— 7)  genau  entspricht. 

fi"»)  Schon  in  den  ägyptischen  Schulen  des  Neuen  Reiches  war  ja  „eine 
Sammlung  hübscher,  frischer  Weisheitssprüche  gebräuchlich",  Erman, 
Die  Hieroglyphen,  Berlin-Leii)zig  1917,  S  89.  Vgl.  desselben  Verfassers 
„Ägypten  und  ägyptisches  Leben,-  Tübingen  1885,  I  S.  446,  über  die  in' 
den  Schulen  immer  wieder  abgeschriebenen,  alten  Weisen  in  den  Muad 
gelegten  Sitten-  und  Anstandsregeln,  die  Sprüche  des  Ptachhotep  und 
des  Kagemne  im  Papyrus  Prisse;  Lehren  des  Dawuf  in  den  Papyri 
^«allier  2,  Anastasy  7;  Lehi-en  des  Amenemhat  ebenda  und  in  dem  Papyrus 
Millingen  und  in  einem  Berliner;  Sprüche  des 'Eney,  Papyrus  von  Bulaq, 
Berliner  Schreibtafeln.  Ebensolche  jüdische  Schulbücher  sind  die  Sprüche 
Sälomonis,  des  Jesus  Sirach,  die  Weisheit  Salouionis,  die  Patriarchen - 
te.^tamente,  der  Talmudtraktat  „Sprüche  der  Väter",  u.  a   gewesen. 

6aaaj  Der  o.  Aum.  6  angeführte  Achikarspruch  im  Talmud  wird  dort 
dem  Ben  Sira  zugeschrieben. 

^"i  Das  B'uch  der  weisen  Philosopiien  nach  dem  Atliiopischeu  unter- 
sucht.    S.  40. 


]((->  Robert  Eisler, 

Maximus    überlioior;  den   A/j(iox()iTov  yr«')}Hu   des   Corpus 

Farisinum  Profanum  stammenden,  auch  im,  (inomologium  Palati n um 
p.  29  Nr.  108  überlieferten  Spruch  „x^kirrov  ro,  jco(U  6Ziol)alveiv 
Tj  rij  yXinanr/  mitCornül  auf  den  im  Arabischen  und  Aethiopist;hen 
erhaltenen  gleichsinnigen  Achikarspruch  zurückgeführt  und  endlich 
die  ebenfalls  zu  den  jDemokritea  des  Maxinms  gehörige  Sentenz 
„'PiQaq  XiiorTOJV  xQüTöiiOv  irxfmicov  vsßQoJv''  (Smend  75  ^  im 
arabischen  und  syrischen  Achikar  aufgewiesen.  Dies  und  ähnliches 
(s.  Anm.öa)  kann  zu  der  albernen  Plagiatbeschuldigung  Anlaß  gegeben 
haben.  Aber  vielleicht  hat  der  erste,  der  den  Demokrit  seine  Wcifeheits- 
sprüche  von  einer  Schulwandtafel  abschreiben  ließ,  damit  nur  ein  bos- 
haftes Werturteil  über  diese  —  wie  alle  moralia  —  von  Gemein- 
plätzen und  einem  leichten  Päichlein  von  Hausbackenheit  nicht  ganz 
freien  Apophtegmata  abgeben  wollen,  das  Clemens  dann  —  wenn  auch 
nur  als  ;i£'7£rai  —  ganz  ernst  genommen  hätte.  Daß  es  je  unter 
dem  Namen  des  Demokrit  eine  ganze  Sammlung  von 
Sinnsprüchen  gegeben  habe,  die  sich  selbst  Baßv'lcövLOi 
Xö'/ot  /jilixoi  nannte  und  als  Übersetzung  einer  'Ax ex cqov 
OTijAi'i  ausgab,  und  die  deshalb,  nicht  von  Demoki-it  gewesen  sein 
kann,  weil— trotz  jener  Behauptung  bei  Clemens  —  „niemand  ihn 
zum  Übersetzer  orientalischer  Gnomik  wird  machen  wollen"  (Diels 
p.  XII  des  Registerbandes  ^'')),  —  davon  steht  in  der  angeführten 
Clemensstelle  k e  i  n  -  W o r  t. 

Zum  zwei  teil  ist  es  ako  durchaus  nicht  unmethodisch,  die 
Frage  der  Echtheit  des  strittigen  Bruchstücks  — das  seinem  Inhalt  nach 
am  ehesten  der  Anfang  einer  geometrischen  Abhandlung 
sem  kann,  wie  deren  mehrere  dem  Titel  nach  bekannt  sind  (FVS^  p.  390 
No.  11  m,n,p,)-ganz  zu  trennei  von  jenem  gar  nicht  bezeugten 
Büchertitel  der  vermeintlichen  BaßvXcoi'ioi.  Aoyoi  ydixoi.  Clemens 
hat  in  der  Tat  nur  die  eine  Schi'if t  vor  sich  gehabt,  aus  der  er  dieses 
Selbstzeugnis  anführt,  um  zu  beweisen,  daß  der  Weltreisende  von 
Abdera  gar  wohl  in  der  Lage  war,  aus  babylonischen  Quellen  zu 
schöpfen,  aber  die^e  Schrift  hat  ganz  gewiß  nicht  Baßvlcörioi  Xoyoi 
{/j'hxoi)  oder  gar  Uxixccqov  gt/jX/)  [(.tffrjrtvOüöa  geheißen. 


fi'=)  Warum  das  übrigens  bei  Demokrit,  der  in  dem  von  Diels  an- 
erkannten Frg.  224  den  Aesop  anführt,  a  priori  gar  so  undenkbar  sein 
sollte,  frage  ich  mich  Tergebens. 


ZiuDt'innkrit.-;   \V;ind<rj;ilirfn.  |(JP, 

Was    drittens    die    aiioeblicho  Ruhmredigkeit    dieser  Stelle  an- 
langt, so  scheint  mir,    daß  eben    das  voq  Dick  in  Gegensatz  zur 
Tonart  des  Frg.  299  gesetzte  bittere  Frg.  116  »jXd-ov  yuQ  sie,  "Alhjraq 
xai  ov  Tiq  [IS  tyrorxev    das  Zitat    bei  Clemens   in  bezeichnendster 
Weise   ergänzt,    und  in  Wirklichkeit  geradezu   den  Abschluß  jener 
vermeintlich    prahlenden    autobiographischen  Sätze   gebildet    haben 
dürfte:    in  diesem  Zusanmienhang  scheint  dann  aus    den  Worten, 
die  den  Stempel  schlichtester  Wahrheit  an  sich  tragen,    nicht  bloß 
das    berechtigte   Selbstgefühl    des    größtea   Forschers    seiner    Zeit, 
sondern  auch   die  über  allen  äußeren  Khrgeiz  erhabene  Einsicht  in 
die  Nichtigkeit  der  ,vanagloria'  zu  sprechen :  nicht  die  Charakteristik 
des  Clemens   (otiirrvoutroQ   hitl   ycoXvuadia),    der   natürlich  sein 
Ideal  christlicher  Demut  bei  einem  Griechen  des  Perikleischen  Zeit- 
alters  nicht  verwirklicht    finden    konnte,    sondern    die   des  Cicero 
„constantem  hominem  et  gravem,  qui  glorietur  a  gloria  se  afuisse" 
(Tusc.  V  36,  104;  FVS^  406,  25  f.)  trifft  den  wahren  Charakter  des 
Mannes,  der  am  Ende  seines  reichen  Lebens  von  sich  sagt:   „also 
spricht  Demolfl-itos:    von    allen    meinen  Zeitgenossen   bin   ich   am 
meisten  in  der  Welt  herumgekommen,  im  weitesten  Umkreis  nach 
Wissen  suchend;  auch  die  meisten  Himmelsstriche  und  Länder  habe 
ich  gCoehen  und  von  kundigen  Männern  die  meisten  gehört;    und 
in   der   Zusammensetzung   von    Linien    mit  Beweiskraft   hat  mich 
keiner   je  übertroffen,  nicht  einmal  die  sogen,  Seilknüpfer  bei  den 
Ägyptern;  mit  denen  war  ich,  nach  allen  [erg.:  Wanderfahrten]  noch 
fünf  Jahre  in  der  Fremde  zusammen.    Denn  ich  bin  nach  Babylon 
hineingekommen  und   nach  Persien    und  Ägypten,  von  Magiern') 
und  Priestern  Belehrung  empfangend." 

Sed  nemo  propheta  in  patria:  )))J)-ov  yaQ  slq  'Ad-rfvag  y.cd  oi 
zig  fts  eyvcoxEv  (Frg.  116).  Doch  was  tut's!  (Frg.  168):  „Lieber  einen 
einzigen  Beweis  finden,  als  den  Großkönigsthron  von  Persien  ge- 
winnen," Sollten  nicht  alle  diese  Aussprüche  ein  ganz  einheitliches, 
des  großen  Gelehrten  durchaus   würdiges  Charakterbild  enthüllen? 

Überdies  gibt  es  aUer  Wahrscheinlichkeit  nach  für  den  Verkehr 


'')  Das  auch  bei  Herodot  häufige  fjuyoc  —  babyl.  machchü,  ekstatischer 
Prophet,  Wahrsager,  Delitzsch,  assyr.  Handwörterb.  397  3;  mag  bei 
Jerem.  39  3;  aram.  magusa',  davon  pers.  maguS,  griech.  fiayovGoioQ^ 
Curaont,  religions  orientales  p.  176.  Zimmern,  akk.  Lehnworte,  Leipz. 
Renunz.  Progr.  1914,  S.  68. 


104  R  o  b  e  r  t  E  i  8  1  e  r  , 

des  iJemokrit  mit  den  Iöjloi.  ärÖQtq  oder  uvU^Qomot^^)  des  Morgen- 
landes wenigstens  ein  weiteres  Selbstzeugnis^)  in  dem  auch  von 
Diels   nicht  angezweifelten  Frg.  30  (FVS^  p.  397): 

,,To5«'  Xoykov  av^QWJcmv  oÄiyoi  „Von  den  Gelehrten  erheben 
avaxdravTsqraQXUQaqkvTcwd^a,  einige  ihre  Hände  dorthin,  wo 
ov  vvv  /jtQc.  y.alsoiiev  ol  wir  Hellenen  jetzt  die  Luft 
'EXXtivtq'  ndvra,  <^<paöiv}.  sein  lassen  <und  sagen>:  alles 
Ztvq  (ivd^strai.  y,ai  xccrf^'  ovtoc  benennt  Zeus  und  alles  weiß 
oids  y.cd  6i6oi  y.ai  afpaiQHtai  dieser,  gibt  und  nimmt  es  wieder 
xal  ßaotlevq   ovrog   TcÖ7'    .mir-     und  er  ist  König  des  Alls." 

Wenn  Diels  p.  720  zu  397  19  sagt:  „mit  den  Xoyioi,  die  die 
Luft  als  Zeus  v^erehren,  meint  er  speziell  Diogenes  von  Apollonia 
(FVS"^  51  A^B^),  so  ist  das  ungenau.  Nicht  die  Xoyioi  ävd^QWjioi, 
sondern  01  vvv  "EXltjveg  xaXioftsv  i]tQa,  wir  Griechen  von 
heute  —  z.  B.  Diogenes  von  Apollonia,  mit  dem  Demokrit  hier 
einer  Meinung  ist  —  nennen  den  Zeus,  zu  dem  die  Xoyioi 
avü^(^>co.7iot  die  Hände  erheben,  von  dem  sie  sagen,  er 
„nenne  alles"  —  d.  h.  mit  dem  Schöpfungsworte^)  —  und  keime 
alles,  gebe  und  nähme  es  als   König  des   Alls"  die   Luft.     Wie 

^a)  Auch  Herodot  nennt  so  seine  morgenländiöchen  Gewährsmänner, 
z.  B.  Ii    „JleoGkov  juiv  wi'  o'l  Xöyiot  (DoCvixuc  ahCovg  (fuct  -/iviüSui  rijc 

8)  Ich  persönlich  halte,  seit  ich  von  der  Echtheit  von  Fr.  293  über- 
zeugt bin,  folgerichtig  auch  das  nur  syrisch  erhaltene  Fr.  303  für  unver- 
dächtig: „Weise  Leute  müssen,  wenn  sie  in  ein  fremdes  Land  gehen, 
das  nicht  das  ihre  (ihres  Volksstamms)  ist,  unter  Stillschweigen  und  in 
Ruhe  auskundschaften,  wie  sich  die  Angelegenheiten  der  dortigen  Weisen 
verhalten:  wie  sie  sind,  und  ob  man  ihnen  gegenüber  bestehen  könne, 
indem  man  die  eigenen  Worte  mit  denen  jener  im  Geiste  heimlich  ab- 
wägt. Hat  man  abgewogen  und  gesehen,  wer  dem  andern  überlegen 
ist,  dann  tue  man  den  Reichtum  seiner  Weisheit  kund,  damit  man  um 
des  eigenen  Schatzes  willen  gepriesen  wird,  während  man  andere  be- 
reichert. Wenn  der  eigene  Schatz  aber  zu  klein  ist,  um  davon  spenden 
zu  können,  so  nimmt  man  eben  von  dem  der  anderen  und  geht  da- 
mit fort." 

^)  Diels  „alles  beredet  er  mit  sich",  fjbv&iofjiai,  med.  (act.  unbelegt) 
ist  sonst  immer  =  sagen,  nennen.  Vgl.  babylonisch,  7.  Jhdt.  (KB  VI,  1  p.  2  f. 
Z.  1):  «numa  elis  la  nabu  samamu  „als  die  Himmel  noch  nicht  ge- 
nannt waren''.  Eccles.  610a:  „was  immer  entsteht,  lange  vorher  ist 
sein  Namen  ausgesprochen".  Sirach  42,5:  „durch  das  Wort  Gottes  sind 
«eine  Werke"  usw.    Siehe  Eisler,   .Weltenmantel  u.  Himmelszelt"  751 2. 


Zu  Demokrits   VVanderiahreii.  IHf) 

Herodot  griechische  Meinungen  und  Sitten  mit  denen  der  Barbaren 
vergleicht,  so  weist  auch  hier  das  „wir  Griechen  von  heute" ^") 
darauf  hin,  daß  die  Xoyioi  ard^Qco.^oi  eben  nicht  Griechen  von 
heute  sind,  also  entweder  Griechen  der  A^orzeit  —  was  doch  wohl 
eher  fern  liegt  —  oder  eben  Nichtg riechen,  barbarische  „Ge- 
lehrte" (Frg.  299),  die  ebenfalls,  wenn  sie  von  Zeus  reden,  die 
Hände  „in  die  Luft"  oder  „zum  Himmel"  empor^trecken.  In 
der  Tat  kann  Demokrit,  wo  immer  er  mit  jenen  gelehrten  Aus- 
liändern  zusammenkam,  deren  Hörer  und  Schüler  gewesen  zu  sein 
er  bekennt,  Ansichten  zu  hören  bekommen  haben,  die  denen  des 
Diogenes  von  Apollonia  nahe  genug  standen:  für  Ägypten  hat 
Spiegelberg  die  Zeugnisse  einer  Auffassung  des  Amnion  —  also 
griechisch  Zeus  Uii/jcov,  wie  er  bei  Herodot  heißt  —  als  alldurch- 
wirkendes .Tvfvfia  zusanunengestellt^^),  bei  den  Babyloniern  ist  Bei 
—  der  Zeus  Bf/Xo^  des  Herodot  —  schon  durch  die  ideographische 
Schreibung  seines  Namens  als  EN-LIL  .,Herr  dei  Luft"  ^2)  in 
diesem  Sinne  erklärt,  und  bei  den  Persern  bezeichneten  die  Priester 
dem  Herodot  (1 131)  xcxXov  xcaTa  rov  ovqccvov,  den  ganzen  Luft- 
kreis als  J/«.  wobei  noch  zu  beachten  ist,  wie  gut  das  .-ravt'  ovrog 
aide  bei  Demokrit  zu  der  zarathustrischen  Benennung  des  Himniels- 
herm  als  „ma^dao"  „der  Wissende"  paßt.  Genau  der  demokritischc 
Ausdruck  ßaöfksvg  rcov  oXcov,  aramäisch  „mara'  köl",  assyi'isch 
sar  kissati  „König  des  AlLs"  ist  in  Palmyra^^)  und  in  eir.rr 
altarmeniscben  Königsinschrift^*)  vom  Himmelsgott  gebraucht. 

^<')  Hier  ist  der  Gegensatz  zum  modernen  Hellenen  der  Grieche  der 
alten  Zeit  und  vom  alten  Schlag,  der  sich  im  Freien  —  lat.  sub  love  — 
if  Juk  fühlte  (iV  Jwc  und  ig  Jtog  Gruppe  Hdb.  1101,).  Euripide^^ 
Cykl.  210  läßt  den  aufwärtsblickenden  Chor  sagen:  tvouc  arrov  tov  Jlu 
dvuxexvcfUfA.iv.''  Ein  „moderner  Hellene"  zur  Zeit  Demokrits  würde  sich 
nicht  so  ungebildet  ausgedrückt  haben,  wie  die  Satyroi  des  Waldes. 

1')  Zeitschr.  f.  ägypt,  Sprache,  i9.  Bd.  S.  217  f  :  ,Amon  als  Gott  der 
Luft  oder  des  Windes",  wo  die  hieroglyphischen  Parallelen  zu  Diodor  1  12 
(cf.  Plut.  d.  Is.  et  Os.  30)  „TU  fiiP  ovv  7n'srf/,a  lia  Ttqocayoqivovaiv"  (sc. 
die  Ägypter;  gegeben  werden. 

12)  Sumer.  „lil"  ^Luft,  Wind,  Sturm,  Dämon  (Delitzsch,  sumer.  Glossar 
S.  171),  also  genau  =  jirevfia. 

^'■)  Lidzbarski,  Eph.  11  297;  Cumont,  relig.  or.  297  u.  73. 

'")  Rusas  II  (s.  ZDMG  VI  1902,  p.  lOi;  Lidzbarski,  Eph.  I  208) 
vom  Himmelsgott  Chaldis  gesagt;  babylonisch  kommt  sar  ki'sbali  als 
Titel  des  Gottkönigs  Tor,  der  —  wie  Lidzbarski  a.  a.  0.  hervorhebt  — 
gerade  im  Achikarbuch  dem  Himmelsgott  B'aal  Samrm  v«rglicben  wird 


196 


Robert  Eisler, 


Der  vierte,  von  J)iels  selbst  als  nicht  entscheidend  bezeichnete 
Punkt,  der  „griechisch-ägyptische '  Ausdruck  JiQjttdoräjirai'  — 
aQjrsdorf/  ist  gut  griechisch  und  kommt  bei  Herodot  und  Xenophon 
vor,  von  ciirTsir  nicht  zu  reden  -  =  „Seilknüpfer"  für  die  ägyp- 
tischen Landvermesser^s),  whd  ein  Ausdruck  der  in  Ägypten, 
in  Naukratis,  im  'EXhpKxov  von  Memphis,  in  der  großen  Oase 
und  in  Daphnai  (Tehaph-nehes)  schon  seit  dem  7.  Jahrhundert 
(Psammetich)  zahheich  lebenden  Griechen  sein,  der  im  Mund 
des  fünf  Jahre  mit  diesen  Leuten  zusammen  gewesenen  Demokrit 
sehr  natürlich  ist.  Von  einem  Alexandrinismus  zu  sprechen,  ist 
durchaus  kein  Anlaß. 

Die  fünftens  von  Diels  hervorgehobene,  „seit  der  Epinomis  987  E 
bei  den  Alexandrinern  weit  verbreitete  Tendenz,  die  griechische 
Wissenschaft  von  den  Barbaren  herzuleiten,  aber  dabei  doch  die 
Überlegenheit  der  Hellenen  zu  betonen",  trifft  —  als  Ergebnis  der 
Einsicht  in  die  gerade  den  Alexancüinern  in  einem  nie  vorher,  nie 
später  erreichten  Maß  zugänghchen  Quellen  —  ganz  einfach  mit 
der  geschichtlichen  Wahrheit  und  somit  auch  mit  den  Angaben 
echter  Quellen  zusammen. 

Daß  sechstens  Jm  jtcuuv'  „hinter  allen  Gelehrten"  schief  klingt, 
trifft  nur  diese  Übersetzung  auf  S.  728,  d^nn  S.  459  übersetzt  Diels 
selbst  sehr  richtig  ,,am  Ende  meiner  Reise''  und  es  ist  in  der  Tat 
nicht  zu  bezweifehi,  daß  ein  Wort  wie  xlävaiq  oder  dgl.  hinter 
^äoiv  ausgefallen  ist;  lx\  t,sirrjq  heißt  einfach  „in  der  Fremde", 
wie  Stephanus  das  aus  Paulus  Silentiarius  82  (VII,  162)  belegt. 
Das  ist  allerdings  reichlich  spät,  aber  r/  §tvfj  „die  Fremde"  steht 
ja  schon  bei  Sophokles  (Ir  s^im,  Philoktet  135)  und  Euripides 
(tJil  ^8väg,  Andromache  136).  Warum  soll  das  nur  dialektisch  ver- 
schiedene tjtl  ^sivrjg  gerade  bei  Demokrit  „schief"  sein? 

Wenn  Diels  siebentens  als  ,, durchschlagend"  —  offenbar  also 
sein  schwerstes  Geschütz  auffahrend  —  das  unklassische  tyer/jO/jv 
für  syevoifrp  einwendet,  so  müßte  er  folgerichtig  auch  den  Philebos 
des  Piaton  verwerfen,  wo  62  d  tssyevf'd-tj  für  hs^yhero  überliefert, 
längst  bemerkt  und  längst  einfach  verbessert  worden  ist. 
Selbstverständlich  hat  weder  Demokrit  noch  Piaton  noch  Hippe- 
ls) Echt  ägyptisch  heißen  sie  „hunu",  ihre  Meßleine  ya,,  Brugsch  bei 
Cantor,  Gesch.  d.  Math.  I  55  3.  Vgl.  Griffith,  Hieroglyphs  p.  43,  Fig.  86, 
über  das  Seilmaß  yt  n  nwh. 


Zu  Deraokrits  Wanderjahren.  197 

krates  tytrt'if^rj  gesagt,  aber  es  ist  doch  ebenso  selbstverständlich, 
insbesondere  seit  der  Papyrus  der  'Ai^^t/vaicor  rroUrtia  des  Ari- 
stoteles^^) die  Häufigkeit  der  Kürzungen  in  den  frühesten  litterarischen 
Hss.  richtig  beurteilen  gelehrt  hat,  daß  solche  kleine  Anomalien, 
palaeo  graphisch  beurteilt,  nicht  die  geringste  hsl. 
Gewähr  haben  können.  AVer  will  heute  sagen,  ob  Clemens  von 
Alexandria  oder  irgend  ein  Abschreiber  seiner  Schriften,  oder  schon 
irgend  ein  alexandrinischer  Abschreiber  des  Demokrit  vor  Clemens 
iyevW  oder  fc/tr"  //?•  anaclironistisch  und  nach  seiner  eigenen  Sprach- 
gewohnheit in  tytri'jihiv  statt  in  l-/i-r6//tji'  aufgelöst  hat?  Natürlich 
gilt  genau  dasselbe,  wenn  man  (achtens)  statt  txtjckavf'/f^^fjv  das  für 
.Demokrit  unerhörte  L-^e.rÄaoäfir/v  findet  (also  EnEIIylAA'IIA  — 
J'JIIEUAJ^'NA  findet  oder  wenn  ein  ujrodtissoiq  statt  dm)6ü^!:aiv 
{X  und  ^ )  einem  auffällt,  zumal  ja  Diels  selbst  S.  726  das  unsmnige 
oy6c6xoTTa  h?/  nach  Diodor  I  98  3,  FVS^,  S.  230,  18  als  falsche 
Auflösung  des  akrophonischen  sog.  herodianischen  Zahlzeichens  .t 
für  üt(hrf^)^'')  als  eines  alphabetisch-milesischen  Zahlzeichens  jr  =  80 
erkannt  hat;  und  es  würde  auch  ebenso  gelten,  wenn  gar  nicht 
mit  der  Auflösung  von  Kürzungen,  sondern  bloß  mit  gewöhn- 
liehen Ab  seh  reibe  fehlem  zu  rechnen  wäre.  Es  geht  durchaus 
nicht  an,  sich  bei  der  höheren  Quellenkritik  über  die  elementare 
hinwegzusetzen  und  nach  Bedarf  so  zu  argumentieren,  als  lägen  die 
Autographen  eines  Demokiit  oder  Pseudodemokrit  vor  uns,  wo  doch 
nicht  einmal  der  genaue  Urtext  eines  Clemens  bis  in  solche  Einzel- 
heiten hinein  zuverlässig  feststeht.^'*) 

'^j  um-  100  A.D.;  s.  das  Facsinnle  im  Handbook  of  Greek  and  Latin 
Paleography  von  E.  Cb.  Tliompson,  London  1894,  S  140,  wo  in  der  ersten 
Zeile  der  nur  wenige  Sätze  umfassenden  Probe  gleich  ßov7vO(j)'  ovg  für 
ßovJ^ofJii'ovc  steht.  Ibid.  p.  90  5  über  die  damals  beUebten  und  ständigen 
Kürzungen  und  die  fast  regelmäßige  Abkürzung  aller  En- 
dungen. 

^M  Es  ist  palaeographisch  ganz  unhaltbar,  zu  sagen,  daß  diese  Art 
der  Ziffernschreibung  „für  Demokrit  oder  Pseudo-Demokrit  nicht  sehr 
wahrscheinlich  ist".  In  den  Hss.  — Papyrus  und  ma.  Pergamentcodd.  —  sind 
beide  Arten  Ziffern  ganz  gewöhnlich  (Thompson  104)  und  hinter  die 
Absclireiber  kann  man  nur  soweit  zurück,  als  das  Zeugnis  des  Eusebios 
von  Caesarea  reicht,  der  das  falsche  7r  =  S0  schon  mit  abgeschrieben  hat 

na)  Vgl.  Nöldeke  a.  a.  0.  S.  6,;  gegen  Eduard  Meyers  Datierung   des 
Achikarpapyrus  auf  Grund  eines  persischen  Lehnworts  data  für  „Gesetz" 
„jener  Schluß  wäre  nur  zulässig,  wenn  wir  annehmen  dürften,    daß  der 
vorliegende  Text  den  Wortlaut  des  Originals  ganz  genau  darstellte". 

Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie.     XXXI,  4.  14 


198  Robert   Eis  1er. 

Bei  dieser  Gelegenheit  sei  bemerkt,  s)  daß  der  (pQvyio^  Aoyog 
des  pemokrit,  den  Diels  in  einem  Atem  mit  dem  X(i?Jaix6q  yloyog 
(299  d)  athetieren  will,  durchaus  gar  nichts  zu  tun  haben  nuiß 
mit  den  außer  allem  Zusammenhang  init  Demolait  oder  den 
Democritea  vel  Pseudodemocritea  an  verschiedenen,  von  Diels  299  e 
und  Reitzenstein,  Poimandros  164  f  angeführten  Stfllen^^*^)  erwähnten 
<I>Qvyioi  Aöyoi  des  „ägyptischen  Herakles"  =  Xrovr/ig  von  Hera- 
kleopolis-Chinensu.  Reitzenstein,  den  Diels  a.  a.  0.  anführt,  hat 
auch  gar  nichts  derart  behauptet.  Diels  selbst  gibt  zu,  daß  das 
Verhältnis  des  Demokriteischen  (pQvyiog  Zoyog  zu  den  (Pseudo-) 
diagoreischen  (pQiyioi  loyoi^^^)  nicht  auszumachen  ist;  man  hat  diese 
dem  Diagoras  zugeschrieben,  weil  er  (FVS-  p.  SbS ^^)  als  Demokrit- 
schüler  galt,  und  weil  man  sie  dem  Meister  selber  nicht  zuzu- 
schreiben wagte.  Gerade  das  spricht  aber  doch  eher  dafür,  daß  e.s 
einen  ganz  andersartigen  echten  (pQcyfog  ^.oyog  Demokrits  wirklich 
gegeben  hat.  Vollends  unverdächtig  ist,  nach  dem  o.  S.192  über  den 
vermein  ("liehen  Titel  BaßvlminoL  Äüyoi  {yd-iy.ol)  Festgestellten, 
die  wirkhch  bezeugte  Überschrift  XaXdaiyJjQ  Aoyog  einer  ver- 
lorenen Abhandlung,  über  die  ebenfalls  nichts  nähere?  zu  ermitteln  ist. 


^^)  Nebenbei:  Zu  dem  botanischen  Ps.-I)emokritcitat  über  die  „aglao- 
pliotim  lierbam,  iu  luarinoribus  Arabiae  uascentem  Persico  latere,  qua 
de  cavisa  et  marmaritim  vocari'' FVS-  440  ,«  sagt  Diels  8.729:  „Persico 
verstehe  ich  nicht."  Die  Blume  wächst  in  den  Steinbrüchen  Arabiens 
auf  der  persischen  Seite  der  Halbinsel,  d.h.  am  persischen  Meerbusen. 

i**")  Cicero,  de  nat.  deor.  III  10,  42:  Schol.  ApoUon.  Rhod.  I  558;  Plut., 
Is.  et  Os.  '29,  p.  362D;  Damasc.  11  17  Ruelle,  wo  ausnahmslos  anonyme 
0ovyioi  Xöyoi  als  Quelle  für  genealogische  Angaben  über  Götter  oder 
Heroen  —  beim  Scholiasten  des  Apollonios  z.  B.  für  eine  besondere 
Genealogie  des  Achilles  —  angezogen  sind.  Wieder  eine  andere  Schrift 
ist  die  0Qvyia  TrofrjGi^  des  Thyraoites  Diod.  58,  59,  G7. 

^'"'')  Tatian.  27  (iTTig  28  Diels  a.a.O.);  „JiayÖQu.c  'AdrivoXoc  fir,  dlld 
TOVJOv  i^OQxriGafjiivov  tu  rcaq'  l4<9tp'Utoic  fxvGTriqia  7  6Ti/jtüJQijxuT6  xal  Toi^ 
0oiiyioic  uvToiJ  löyoig  h'ivyyä.vovTig  rfiäg  iiiefuGijxciTs."  Hier  ist  Ooch 
offenbar  von  einer  Schrift  des  „Gottesleugners"  Diagoras  über  die  phry- 
gischen  (d.  h.  wohl  Kybelemysterien)  der  Athener  die  Rede,  aus  dem 
vielleicht  die  christlichen  Angreifer  der  eleusinischen  und  orphischen 
Geheimnisse  ihren  Stoff  geschöpft  haben,  die  aber  kaum  den  von  den 
Anm.  18aa  Götter-  und  Heroenkatalogen  oder  -genealogieu  benutzten,  d.  h. 
einen  ganz  harmlosen,  höchstens  möglicherweise  euhemeristisch  be- 
handelten Stoff  enthalten  haben.  Offenbar  sind  die  anonymen  0qvyi,oi 
Löyov  auch  mit  denen  des  Diagoras  —  vom  0Qvyiog  löyog  des  Demokrit 
ganz  zu  schweigen  —  durchaus  nicht  zu  verwechseln,  zumal  doch  die 
erstere  durch  die  Erwähnung  des  XrotxfK  von  Herakleopolis  ihren 
hellenistisch-ägyptischen  Ursprung  deutlich  genug  verraten. 


Zu   Dcniokrits  Wandeijahren.  199 

II. 

(iaiiz  tficlier  zu  erschließen  ist  dagegen  der  Inhalt  bei  zwei  elicii- 
ialls  bis  auf  die  Titel  verschollenen  Abhaiidlunaen 

m-o]  T(~)r  bv  ßaßv?.oJ)i  Uqojv  y^a/t/ucTojv  und 
rrf(u  T(~)r  tr  MsqÖij  teQO)V  -/{fc.njn'cTor  — 
bi  i{U'    im  Schriftenkatalüg   dos   Thrasyll    bei  ))iogenes    von  Lacrte 
IX  4U  (FVS2  p.  358  10  f.,   s.  u.  204,7). 

In  der  Tat  heißt  .t^o/  tvjv  tv  BaßvXoiVL  hitoßv  /(>«////«royr  nicht 
über  die  „heiligen  Schriften  in  Babylon,"  denn  dort  gab  es  keine  hei- 
ligen Schritten  im  Gegensatz  zu  einer  Profanliteratur,  sondern  „über 
die  in  Babylon  üblichen  heiligen  Schriftz^ichen",  d.  h.  „über 
die  Keilschrift",  die  Demokrit  im  Gegensatz  zu  der  damals  in 
Babylon  wie  im  ganzen  persischen  Weltreich  üblichen  aramäischen 
Buchstabenschrift  hQa  yQÜi/fiara  nannte,  genau  wie  Herodot  II  36 
bei  den  Ägyptern  „zwiefache  Schrift,  heilige  und  volktümliche", 
unterschied  {,,d((pa<jioi<ji.  y^dmiaOL  •/Qbcovrai  ra  iilv  avToJr  i(ta  ra 
6b  dtjitonr/.a  xaXtorxai^'')  und  wie  das  alte  Testament  eine  „Götter- 
Schrift"  („miköthab  'elöhim"^^'')  Exod.  31  ^s  32  ^g)  vom  „cheret 
enos"  (Js,  81),  dem  „Kritzel  der  Menschen "■^^)  unterscheidet. 

Wenn  Uemokrit  wirklich  (0.  S.  52  ff.)  mit  Hilfe  einheimischer 
Gelehrten  die  astronomischen  Tafeln  und  Beobachtungen  der  Chaldäer 
kenjien  zu  lernen  versucht  l^at,  dann  muß  t.r  sich,  sclion  für  den 
eigenen  Gebrauch  eine  hinreichende  Liste  der  wichtigsten  Laut-  und 
AVortzeichen  etwa  im  Umfang  des  F.  X.  Kuglerschon  Glossars  zur 
„Ste^-nkunde  in  Babylon"  angelegt  haben,  die  dann  im  Verzeichnis 
seines  schriftstellerischen  Nachlasses  aufgeführt  worden  sein  kann. 
Genau  so  mußte  sich  vier  Jahrhunderte  später  Chaereraon  zum 
Studium  der  ägyptischen  astrologischen  Texte  eine  Hieroglyphen- 
liste anlegen,  von  der  ein  Bruchstück  (u.  S.  203  26)  erhalten  ge- 
})lieben  ist.^'") 


'^''^)  Der  Ausdruck  entspricht  mehr  der  ägyptischen  Bezeichnung-  der 
Hieroglyphen  als  mdw  ntr  „Götterworte"  (Sethe,  Nachr.  Gott.  Gesellsch. 
Wiss.,  geschäftl.  Mitt.  1916  S.  101 4).  —  Gegensatz  das  demotische  als 
,, Briefschritt"  sechay-en-sa'y  iTriGTo'/.oyoacpixij  der  Menschen  —  als 
dem  babylonischen  „sitir  same"  .^Hiinmelsschrift"  (Jensen.  Kosmol.  d. 
Babyl.  s.  S.  G  und  45). 

^'')  Vgl.  über  die  Frage  des  Keilschriftgebrauchs  im  israeUtischen 
Altertum  zuletzt  J.  A.  Kelso  in  der  Sachau-Festschrift  1915,  S.  113  f. 

1''")  Chaeremon  muß  die  astrologischen  Schriften  Demokrits  gekannt 
haben,   denn  er  hat  nach  Athen.  XIII  608e  den    ganz  eigentünilicheD, 

J4* 


200  Robert  Eisler, 

Genau  wie  das  Hiercglyphenverzeichnis  des  Chairemon  die 
ägyptische  tK(pojp//oiQ  der  Zeichen  in  griecischer  Umschrift  unci  die 
Bedeutimg  in  griechischer  Übersetzung  angab,  also  zugleich  eine 
Art  Glossar,  insbesondere  der  ideographisch  geschriebenen  Worte, 
bildete,  muß  auch  der  Keilschriftzeichenkatalog  des  Deniokrit  zu- 
gleich ein  —  vorwiegend  astrologisch  gerichtetes  —  griechisch-i  kka- 
disches  ,, Vokabelheft"  gewesen  sein,  auf  das  letzten  Endes  solche 
Glossen,  wie  ,jMo/.oßoßa(>  o  zov  Aioc.  dovr/Q  jiccqu  Xalöaioiq"' 
(Mulu  babbar,  sumerisch  =  „weißer  Stern"),  oder  „BeXaßarog-  o 
tov  /7i'(>o[6J'ro]c  (=  Mars;  codd.  jivqoS)  ccOt/'/q'  BaßvXoyvLoi''  (1.  2^f:Xt- 
ßaT[ccv\oQ  =  ZAL-BAT-a-nu  =  Mars,  Kugler,  Sternk.  S.  10  ad  7), 
oder  ,,/lf:?.(:ff((T'  6  r//c  "Aq^odiTtic.  dor/jQ,  vjio  XakÖaicov'^  (DIL- 
BAD  =  Venus)  oder  ^acog'  /jhoc  BaßvXojvioi  (samas,  gesprochen 
sawas  =  Sonne)  u.  dgl.  (sämtMch  bai  Hesych  o  v  v.)  zurückgehen 
mögen. 

Das  Vorbild  für  diesen  zum  Lesen  astrologischer  Keilschrifttexte 
unentbehrlichen  Schrift-  und  zugleich  Sprachführer  konnte 
Demokrit  in  denselben  Büchereien  vorfinden,  wo  man  ihn  die  Stern- 
tafeln selbst  einsehen  ließ. 

Bekanntlich  waren  den  babylonischen  Gelehrten,  die  die  ersten 
Übersetzungen  der  Weltliteraturgeschichte  —  akkadische  Über- 
tragungen sumerischer  Schriften  —  hergestellt  haben,  solche  palaeo- 
graphisch-hnguistische  Arbeiten  durchaus  geläufig:  Beste  eines 
kossäisch-akkadisch  en  Vokabulars  haben  sich  in  der  Bibliothek 
Assurbanipals  gefunden  und  es  ist  nicht  unwahrscheinlicl),  daß 
solche  Sprachführer  auch  für  die  Sprachen  anderer  Völker  her- 
gestellt wurden,  mit  denen  die  Babylonier  poHtischen  und  wirt- 
schaftlichen Verkehr  unterhielten.  Ebenso  sind  schriftgeschichtliche 
Zusammenstellungen  der  Formen  der  einzelnen  Keilschriftzeichen 
zu  den  verschiedenen  Zeiten  ihrer  Geschichte,  Zeichennamenlisten 
zum  Zweck  der  palaeographischen  Zergliederung  zusanmiengesetzter 
Zeichen  und  der  Ableitung  gewisser  Zeichen  von  andern,  äußerlich 
ähnlichen  vielfach  erhalten.^®'') 

wahrscheinlich  der  Terminologie  der  BelomnDtik  angehörigen,  sonst  nur 
bei  Demokrit  FVS-  391  jg  (cf-  fi'/ao/xoc  415,  lil)  nachweisbaren  Ausdruck 
uAoyxog  für  „unheiWoll"  (dies  nefastus)  gebraucht. 

19b)  Vgl.  über  die  Tafeln  Cuneiform  Texts  V  8-12  und  18- Ki 
0.  Weber,  Die  Literatur  der  Babylonier  und  Assyrer,  Leipzig  1907, 
S.  292  IV.  Neue  Vokabulare  haben  sich  nach  freundlicher  Mitteiluug 
F.  Hommels  im  Archiv  von  Bogliazkjöi  g-efunden. 


Zu  Deniükritt;  Waudcrjahren.  201 

J>aß  wirklich  Deniokrit  mit  der  babylonischen  Schrift  und 
J'alaeographie  bekannt  war,  scheint  mir  aus  einer  auch  sonst  sehr 
merkwürdigen  Stelle  (Aristoteles,  Metaphys.  A  4,  985,  FVS^  p.  344 
Z.  6)  hervorzugehen,  wonach  Demokrit  in  seinem  berühmten  Ver- 
gleich der  Atoni-  und  Buchstabenkombinationen  bzw.  -modif  ikationen 
gelehrt  habe,  das  I  —  d.  h.  die  zu  seiner  Zeit  übliche  alte,  e})!- 
cliorische  Form  des  CF/ihc  —  unterscheide  sich  vom  H  {tjta)  nur 
durch  tqojt//,  eine  Theorie,  die  man  später  —  als  das  ^//tcc  Z 
gesclu-iel)en  wurde,-")  auf  die  Buchstaben  Z  und  N  übertrug,  und 
die  zur  Zeit  J^emokrits  ebenso  auch  vom  M  und  ^  und  vom  f\  (y) 
und  A.  {^.)  vom  +  und  x  {tccv  und  yl),  von  (i  und  ^/>  (.9-//r«  und  rpi) 
gelten  konnte.  Diese  überaus  merkwürdige  Idee,  ein  Schrift- 
zeichen aus  dem  andern  durch  Drehung  (tqojtiJ)  ab- 
zuleiten, die  gar  nichts  zu  tun  hat  weder  mit  der  pytha- 
goräischen  Gepflogenheit,  BMchstaben  durch  Drehung  —  lil  vjrriov, 
3  jtläytov  u.  dgl.  n:.;  s.  die  Tabelle  des  Alypius  usw.^^)  ^-in  Musik- 
noten zu  verwandeln,  noch  mit  den  natürlichen  Drehungen  der 
Buchstaben  beim  ^oL'öT(>o9r7/(3or-Schreiben^-);  läßt  sich  nun  ganz 
genau  so  bei  den  liabylonischen  Nationalgrammatikern  bzw.  -palaeo- 
graphen  nachweisen,  die  gewohnt  sind,  gewisse  Keilschriftzcichen 
als  iennn  (,, Legung";  sumerisch  ien  =  akkadisch  pasachu,  nachu 
„ruhen",  wörtlich  ,, liegen")  oder  „Schrägsetzung"  der  entsprechenden 
geraden   bzw.   aufrechten  Grundzeichen   zu  erklären.'^^) 

"Wenn  hier  kein  ganz  toller  Zufall  mitspielt  ist  es  'doch  sehr 
wahrscheinlich,  daß  der  als  Verfasser  einer  Abhandlung 
über  die  Keilschriftzeichen  genannte  Deniokrit  diese 
Theorie  einer  Entstehung  von  Buchstaben  durch 
,, Drehung"  anderer  aus  Babylon  mitgebracht  hat  und 
juit  seinem  Begriff  der  rpo.Tr//  das  babylonische  tenmi 
wiedergeben  will.  Wenn  das  stimmt,  müssen  wohl  auch  die 
eigentümlichen  Versuche  griechischer  Schriftforscher,  alle  Buchstaben 
auf  allerletzte  Schriftelemente  —  sieben  Elementarstriche  {xtQatat 
=   ,, Häkchen",     „Spitzen"    [vgl.    unser  „Keile"]   bei   den   Tachy- 


^")  Philo,  de  aet.  22,  p.  34,  13  Cum.;  Diels,  Elementum  S.  13,. 

")  Vgl.  die  Tafel  I  im  Anhang  zu  Jan's  Musici  Scriptores  Graeci. 

-2)  Larfeld,  Griech.  Epigraph.^  132.  Boeth.  mus.  4,  p.  310  ff.  „in  notis 
musicis  alpha  supinum"  (v). 

2-^1  Vgl.  Victor  Christian,  Die  Namen  der  babylonisch-assyrischen 
Keilschriftzeichen.     Mitt.  d.  Vorderasiat.  Gesellsch.  1913  S.  56  ff. 


202  Robert  P:  i  8  1  e  r  , 

giaplion)-^)  — ,  zurückzuführen,  die  hu  Schulkreis  von  JJeniokrits 
Zeitgenossen  Hippokmtes  nachweisbar  sind,^^)  auf  Demokrit  und  die 
durch  ihn  vermittelte  Kenntnis  der  Keilschrift  zurückgehen.  Wenn  die 
Aljhandlung  .t^ (^/  rr-^r  kv  BußvXcöri  hgcör  yQuit/taTOJV  wirklich  eine 
schriftwissonschaftliche  Einführung  in  die  Weisheit  der  Chaldäcr 
war  —  ein  Vorbild  und  frühes  Gegenstück  zu  dem  Buch 
von  den  ägyptischen  Hieroglyphen,  das  der  alexanürinischo 
Bibliotheksvorstand  und  hQoyQafi/iaTtic:  Chairemon  (Zeit  des  Nero) 

-')  xeoKiai,  zuerst  erwähnt  auf  dem  Akropolisstein  mit  dem  -wabr- 
scheiulicli  von  Archinos  (4.  Jahrh.  v.  Chr.)  erfundenen  Kurzschriftsystem, 
Z.  10,  Larfeld,  Griech.  Epigr.^ '282.  Eine  nach  Art  rlieses  Akropolissystems 
vsystemisierte  Idealschrift  mit  nur  sieben  yaouxrr^oac,  die  rfroaxw;  /tfru- 
(>X>]f'('TiC,6/ifvoi  2S  Lautwerte  eroeben,  wJl  der  Jambulosroman  bei  Diudor 
Tl  574  auf  seinen  .sieben  glücklichen  Inseln  —  den  sieben  Zenobiosinseln 
hinter  Sokotra  (ind.  =  „Glücksinsel")  gemeint  —  gefunden  haben.  Die  Ider 
wird  wohl  in  die  Zeit  des  Arcliinos  und  der  delphisclien  Konsonanzen- 
tabelle zurückgehen  (Larfeld,  Tafel  IV)  —  die  übrigens  nicht  nur  im 
griechischen  mcigliche  Doppellaute,  wie  no.  yo  usw.,  sondern  auch  un- 
mögliche —  griechisch  „incompatible"  Buchstaben,  wie  d'A  und  ßy  (Lar- 
feld S.  2i)0)  enthält,  somit  vielleicht  veranschaulichen  kann,  was  Demo- 
krit 18b  iv  T<ö  TTfot  fvcpcöi'iüv  xul  (^vG(fi6)'i.oi'  youfii^idTior  abgehandelt  haben 
kann:  denn  von  Wohlklang  und  Mißklang  kann  doch  —  wie  bei  Tönen  — 
auch  bei  Buchstaben  (Sprachlauten;  beachte  den  dxaCowc  angewandten 
Ausdruck  yQu/j/iia  für  das  akustische  Phänomen,  was  mit  der  eigen- 
tümlichen Schallkonfiguratiunstheorie  des  Demokrit  zusammenhängt, 
über  die  ich  besonders  handeln  möchtel)  nur  bei  der  Kombination 
mehrerer,  bei  der  „Konsonanz"  die  Rede  sein.  (Den  Hinweis  auf  die  au- 
gefülirte  Diodorstelle  verdanke  ich  Dornseift'.) 

^=)  Hippokrates  de  victu  23  FVS'''  p.  85  Z.  1)  ft".  youfi /jutixi]  joiövd'i' 
(>)(  r]f.idTLov  (jvr9fGi,L,  G)]/JsT(f.  urd^QiOTT(vi]c  (piorr^g  ....  öid  iJTjn 
(>X']P((TCur  1}  yriÖGig  .  .  ."  Die  genaue  Erklärung  in  einem  folgenden 
Artikel;  hier  nur  soviel:  die  sieben  o/rj/iiuTa  oder  Urbestandteile  der 
Buchstaben  sind  ,  — ,  /,  \,  COi  ^;  cf.  Demokrit  FV^S-  360 45,  wo  als 
yiv)]  der  roojiij  oder  ."^-ffffc  —  bei  den  Atomen  und  somit  nach  FVS-' 
p.  314  Z.'ifi'.  auch  bei  den  Buch^taben  —  äno,  xano,  TCOÖG&fv,  oniod^tr 
[also  A,  Vi  >i  <  üqS'io)',  vTTTiov,  jiXdytov  Grujtlor  der  Notenschrift  ,  des 
QvOfiöc  oder  (>x7;/ia  aber  yturiu.  svlfv,  neoupsoic  angegeben  werden : 
cf.  GTOoyyv'Aa,  axa'L)]vd  xut  Tolytova  an  der  entsprechenden  Stelle  bei 
Epikur,  Doxogr.  408  Z.  1 1  f .  und  die  Nachricht  des  ApoUonios  von 
Messene  iv  tm  jtsoI  nor  dq^ukor  yo(tfjf.(d7wy,  wonach  die  Pythagoräer 
die  Buchstaben  x«rc/.  ;'fW;W67«(7<)'  „rhythmisiert"  hätten:  ywriatg,  Tifgi- 
(peosiaig  xui  evßifaig  (SchoL  Dionys  Thrax.  p.  183 30:  Dornseift', 
Buchstabenraystik  S.  20).     In  der  Keilschrift    sind    alle  Zeichen  aus  den 

Keilen  y'  t=^  (evdeuu  xsoutui),  dem  Winkelhaken  \  (=■  ywriu  ,  den 
Schrägkeilen    /,    \     und  /'  {cxah]rd)  und  einem  eigentümlichen  Drei- 


j 


Zu    Dt'iunkrits    \Vaii<]cijaIirrii.  203 

seiner  JiyrrrTUix/j  'loroola  einfügte^ß)  -  dann  war  si(  natürlich 
echt;  denn  wenn  eir  Alexandrhiischer  Grammatiker  zu  einer  solchen 
Leistung  imstande  ge weisen  wäre,  würde  er  sich  des  Ruhmes  c'ner 
Arbeit,  die  den  griechischen  Benutzern  der  babylonischen  astro- 
logischen Tafeln  sehr  nützlich  ma  erwünscht  sein  mußte,  gewiß 
nicht  zugunsten  des  Abdcriten  begeben  haben;  auch  hätten  andere 
Xamen  —  etwa  der  des  Berossos  —  als  Gewährsmänner  fni-  ein 
Psoudopigraphon  dieser  Art  jener  Zeit  gewiß  näher  gelegen. 

eck  A  ijofywrov)  zusammengesetzt,  .las  zur  Darstellung  eines  Kreises 
,ler  praecuneiformen  Bilderschrift  .beut  {A  =  bleogramui  für  8600 
=  Kreisunifaug!) 

-«-1  In  Tlom.  II.  ed.  G.  Hermann  ^  17.    Sonderausgabe  des  wichtigen 
Chaeremonbrachstücks,    palaeographisch    erklärt    von    dem    englischen 
.■\egyptologen  Birch,   Transactions  Royal  Society    of  Literature,   Second 
Series    vol.  III    p.  387,    französ.    Cbersetzung    von    Lenormant,    Revue 
nrch.'ol.  VII,  mo.     Sathas,  Bull.  corr.  hell.  I,  1877,  p.  125.    Die  Anlage 
der    ü-anzen  Schrift   ergibt    sich  aus  dem    wahrscheinlich   mittelbar   aut 
.lie  einleitenden  Worte  des  Chaevemon   zurückgehenden   locus  classicus 
des  Clemens  von  Alexandrien  ström.  V   p.  657:    es  waren  zunächst  die 
dreierlei    Schriftarten  -  tjrKrjoloyouffixij    (=  demotisch),    leouny.t:   und 
',sooyhnfu>'!     unterschieden,     dann     die     verschiedenen    Methoden    der 
Schrift  —  Buchstabenschrift  diu  tlÖv  ttomtloi'  aTor/dtov,  xmioloyv/.K  "n«' 
arijßo)ux>]  .uf\9oJoc:    ..r/7c  ar^ußo/ux^jc   r)   fiir    xvoioloyeuuu    -autu    ,uffi>]G'y 
^Pictogramme,  von  den  Aegyptern  selbst  durch  den  senkrechten  Strich  1 
bezeichnet,  Erman  Gr»  S.  53),  /;  6s  toanto  TooTitxwg  yadcpenu  {\deogramme 
in    übertragener   Bedeutung).      H  de   arruqvc    a/.h]yooshui    y.aja^  rirag 
airtyijovc    (sogen,    änigmatische   Schriftspielerei    der  Spätzeit.      Erraair 
S.  8!  f)' Daran    schlössen    sich    Zeichenlisten-  die   man   sich   ähnlich 
vorzustellen    hat     wie    die     des     etwa    aus     der    Zeit    des    Chaeremon 
>tammenden  Papyrus  von  Tanis   (ed.  Griffith,    Egypt  Exploration  Fund, 
yth  Memoir,  London  1889)  —  mit  Angabe  der  Lautwerte    in    gr^ie^- 
chischer  Umschriit  (.,jdc  itZi  youf-ifjäitov  ix(f>LovijGiig  AWionc/ioq'-, 
'l'retzes,  l.  c),  deren  beklagenswerter  A'erlu.^t  durch  koptisches  Material 
durchaus  nicht  vollwertig    ersetzt  werden  kann  -    nach  allen  drei  Ver- 
wendungsweisen der  Bilder  geordnet.    Tzetzes  kannte  nur  ein  Bruchstück 
der  Liste  ..metaphorisch"  verwendeter  Zeichen,  das  er  bei  einem  Homer- 
allegoriker   angeführt    gefunden    hat,    und   meint    daher    törichterweise 
o(  .  .  .    itFnojTsc  GTOiyßa  youii^iuTOv  ovx  l'xovaii',    sondern    nur    Bilder- 
zeichen  (Com   nuvToXa  y.ul  inh]  lodwv  x(d  ^tÖQta).     Die  fragmentarisch 
angeführte' Liste  „allegorisch"  verwendeter  Zeichen  sieht  so  aus:  ^ 

„.  .  .  «J'U  ,(/!)■  ;fr/o«c  yvrur/.a  Ti\u7Turi'Coi>G(a'  f;'oc<f/or  (gemeint  ist  das 
Zeichen  für  th  „Freude",  chb  „tanzen".  Levy,  V^ocab.  gerogl.,  Schrifr- 
tafel  p.  XLIV  No.  112). 

terovTu  (über  das  hier  gemeinte  Zeichen  s.  Birch  l.  c). 


204  Robert  Eisler, 

HI. 

Das  zweite,  vielleicht  noch  merkwürdigere  schriftwissenschaft- 
liche  Werk  des  Demokrit  trug  den  bei  Thrasyll  unmittelbar  auf 
.T6(>i  Toyr  kvBaßvXcövi  UQÜiv  yQnitiickojv  folgenden  Titel (29fa Kiels): 

jrtQl  Tföv  Iv  Mt()6)j  Uqmv  yQanitäxcjv'^'^), 
der  deshalb  so  beachtenswert  ist,  weil  es  in  Meroe  tatsächlich 
eine  besondere,  eigentümliche  H-eroglyphenschriff-^j 
gegeben  hat,  nämlich  ein  Alpha beth,  das  nicht  vom  sogen, 
„phoenikischen"  abstammt  —  wie  alle  sonst  bekannten  —  sondern 
unter     dem     Einfluß     eines      Alphabets     mit     Vokal- 


(hil  (Vi  ai'ti((oo(i.c  (Uji^aKfJioy  6(f.xi)vovT('.    (tFt"") 

(hu  70V  /Ji]  s/eir  ovo  jffFo«^-  xivuc  ty.T st uji ivac  {„^r^ 

f/.yrl  dvaTo)S]c  lUfiv  i'^soyöfjfror  Ix  tivuc  uttTjc  ('^^s) 

(i.vTi  dvostoc.  ficfo/ofioor''  usw.  (-^=-^) 

Die  zwei  zuletzt  angeführten  speziellen  Auslegungen  der  zwei  ganz 
Hllgemein.aültigen  Zeichen  für  ,prj'  „herauskommen"  und  ,'ek'  ..hinein- 
gehen" im  astronomischen  Sinn  von  „auf-"  bzw.  „untergehen"  zeigen, 
wie  schon  Birch  a.  a.  0  p.  393  gesehen  hat,  daß  Chaeremon  —  Yon  dem 
astrologische  Werke  bei  Jamblicb,  de  myster..  Origenes  c.  Geis.  I  r.l 
Halle  p.  16(1  u.  167:  Porphyr,  Brief  an  Anebo  erwähnt  werden  —  sich 
hauptsächlich  für  nationalägyptische  astrologische  Texte  interessiert-  und 
vielleicht,  nur  um  diese  lesen  zu  können,  Hieroglyphen  erlernt  hat,  also 
ganz  ähnliche  Studien  trieb  wie  seinerzeit  Demokrit,  Tat-^ 
sächlich  hat  Chaeremon  in  einem  erhaltenen  Bruchstück  (Sathas  a.  a.  0.  i 
auch  über  das  zeitliche  Prioritätsverhältnis  der  b^xbylonischen  und  der 
ägyptischen  Astrologie  gehandelt. 

-")  Diels  FVS-'  p.  713  „3Isq6ii  BP\  ßiQÖi:  FP^"  (was  mit  ßaQior,  m 
Thrakien  nichts  zu  tun  hat,  sondern  die  echte  äthiopische  Form  ßerüa. 
äg.  Brw.t  -  Horsiatelinschr.,  Garstang-Sayce,  'Meroe',  Oxford  1911 
p,  2  —  heute  Begerauie  darstellt)  „leowr  yQUiJ/^idnov  au«h  nach  MsQori 
(Froben)  fehlt  PBF".  Natürlich  kann  ich  nicht  mit  Diels  annehmen,  daß 
diese  Worte  ein  Zusatz  sind,  der  nur  das  leowr  you/nfiuiwi  des  un- 
mittelbar vorausgehenden  Titels  TTfoi  JLÖv  Iv  Baßv'uZvi  'iBQiöv  youfifidroji' 
wiederholt,  sondern  bin  vielmehr  überzeugt,  daß  diese  beiden  Titel 
wegen  ihres  parallelen  Inhalts  nebeneinanderstehen,  und  daß  die  Worte 
'iSQwr  you/iiiiJUTwr  in  der  Vorlage  von  PBF  einfach  durch  ein  Dittozeicheu 
angedeutet  waren,  das  die  Abschreiber  übersehen  haben.  Oder  kann 
man  sich  unter  ttsoi  tlÖv  ir  3Iiq6i;  überhaupt  etwas  vorstellen?  Ebenso 
urteilten  schon  Leemans  in  der  Vorrede  p.  VI  zu  seiner  HorapoUon- 
ausgabe  und  dessen  dort  angeführte  Vorgänger. 

-■')  Entziffert  von  F.  LI.  Griffith.  ^Vgl.  dessen  Meroitic  Inscriptions, 
Archaeological  Survey  of  Egypt,  vol.  XIX,  Zeichentafel  p,  49;  dazu  Kurth 
Sethe,  Nachr.  Gott.  Gesellsch,  d.  Wiss.,  phil,-hist.  Gl.  1917,  Heft  3,  S.  46S  f. 
Vor  allem  aber  Griffith,  Karanög,  the  Meroitic  inscriptions  of  Shablul 
and  Karanög,  Univ.  Mus.  of  Pensylvania  1911,  p.  11. 


Zu  Demokrits  Wanderjahreii.  205 

zeichen  aus  der  ägyptischen  Hieruglyphenschrift  al>- 
geleitet  ist  und  wie  diese  „deutlich  erkennbare  Bildzeichen  in 
äg^-ptischer  Zeichenweise  ....  mit  einem  ihrem  ur^prünghchcn 
ägyptischen  Gebrauch    entsprechenden   Lautwert"    (Sethe  a.  a.  0.; 

z.  B.  □  —  äg.  ein  Sitz  oder  Thron  —  für  p;  m  ^^  eine  ^.Eule". 
ägypt.  uot;  r  <z:>  =  ägypt.  ro  „Mund"  usw.)  verwendet,  dazu  noch 
vier  Vokalzeichen,  für  a  den  sitzenden  Mann  ^,  die  Straußen- 
feder p   für  9,    den   Ochsenkopf  Ö'   für  e,   und  für  i   den  rufenden 

Mann  T,  das  ägyptische  Determinativ  der  Interjektionen,  ins- 
besondere des  mit  dem  Schilfblattzeichen  =  /  (l  =  Schilf)  und 
diesem  Bildchen   geschriebenen   Ausrufs  (1  ^    ,JI'^ 

Diese  Schrift  ist  nur  auf  offiziellen  Tempelskulpturen  aus 
der  hellenistisch-römischen-^**)  Periode  neben  einer  zur 
gleichen  Zeit  gebrauchten  Kursive  gleichen  Ursprungs  und  Systems 
erhalten ^  alle  früheren  meroitischen  Staatsinschriften  u.  dgl.  — 
litterarische  Papyri  o,  dgl.  sind  nicht  erhalten  —  bedienen 
sich  der  gewöhnlichen  ägyptischen  Hierogfyphen.  Aber 
da  schon  Herodot  2  ,9  Meroe  als  Hauptstadt  (wohl  seit  dem 
6.  Jahrhundert)  des  großen  Aethiopenreiches  kennt,  dessen  Priester- 
staat den  Griechen 2^)  als  Ideal  eines  weisen  Staatsregimentes  galt, 
bis  der  nach  Diodor  griechisch  gebildete  König  Ergamenes  unter 
Ptoleniaeus  IL  die  Herrschaft  dieser  Theokratie  zerbrach  —  existiert 
hat  das  Reich  Meroe  bis  gegen  2(>ü  n.  Chr.  — ;  da  ferner  die 
Berichterstatter  Kaiser  jN'eros  die  Stadt  Meroe  schon  in  Trümmern 
liegend  vorfanden^**),  und  die  höchste  Bhite  des  nubischen  Reiches 
zwischen  800  und  650  v  Chr.  anzusetzen  ist,  wo  das  meroitische 
Reich  über  Ägypten  herrschte  und  selbst  den  Assyrern  selbstbewußt 
entgegentrat,  so  steht  nichts  der  Annahme  entgegen,  daß  diese 
meroitiK'he  Schrift  schon  viel  früher  geschaffen  worden  ist,  als  sie 


2^-'')  Griffitli,  Karanöii'  p.  20:  ,,pr()visionally  we  may  attribute  the 
arcliaic  inscriptions  of  Dakka  to  the  interval  between  the  Ptoleiuaic 
and  Koinan  occupatious  of  the  Dodekaschoinos  .  .  Tlie  titles  of  the 
Meroitic  kings  in  ileroite  hieroglyphic  are  niodelled  on  thoseoftlie  later 
Ptolemaic  kings  or  tlie  Roman  eoiperors  and  there  is  uo  probability 
that  the  alpliabeth  was  in  use  before  tlie  tliird  Century  B.  C." 

")  Diodor  :5,  6,  8:  Strabo  820,  822. 

^)  Plin.  ß  3r,- 


206  Robert  E  i  s  1  e  r  , 

für  offizielle  Denkinüler  in  Gebrauch  genoinine]i  wurde  —  ähnlich 
etwa  wie  in  Athen  die  Behörden  bis  403  v.  Chr.  sich  dem  anit- 
hchen  (Gebrauch  des  bei  den  Athenern  privatim  seit  langem 
üblichen  jonischen  Alphabets  hartnäckig  widersetzten.  Es  mag 
sein,  daß  die  ineroitischen  Priester  diese  einfache  alphabetische 
Schrift  erst  dann  anzuwenden  gestatteten,  als  sie  selbst  die 
schwierigen,  nach  Hunderten  zählenden,  echt  ägyptischen  Hiero- 
glyphen nicht  mehr  recht  schreiben  und  lesen  konnten,  ^^j  .Das 
Zeugnis  jenes  demokriteischen  Schriftentitels  —  das  der  Aegyptologe 
bei  Leemans  a.  a.  0.  leicht  hätte  vorfinden  können  — •  hat  Griffith 
zur  Datierung  des  meroitischen  Alphabets  heranzuziehen  übersehen: 
selbst  wenn  nämlich  diese  Schrift  unecht  gewesen  wäre,  müßte  sie 
zur  Zeit  des  36  n.  Chr.  verstorbenen  Astrologen  Thrasyll,  Kaiser 
Neros  Lehrer,  der  sie  kataiog'siert  hat,  schon  existiert  haben,  wo- 
durch allein  schon  Griffith 's  Ansatz  gegen  die  von  andrer  Seite 
vertretene  Datierung  der  meroitischen  Inschriften  ins  3.  bis  5.  Jhdt. 
n.  Chr.   vollständig  gesichert  wird. 

Dagegen  hat  Griffith,  Karanög,  p.  J2  sehr  richtig  darauf  hin- 
gewiesen, daß  Diodors  Behauptung  (IHS):  „ra  .  .  .  ff(»«  yjüov^ieva 
YQiiiqiiaa  :xa{>u  iilv  rote  AiyvjiTioic  fiovovc  yivo'jOxeir  tov^  h(jtTs 
.TiiQu  TO)V  rraTHjcji-  tv  a.-r(>{>(t/JT()ig /nci'f)'ärovTag  jrccQa  de  toIc. 
Ali)  io  i\u  r  äjrc.vTac  toi'toic  yjj Tj  o  >)  i'.  i  tovq  tc.toiJ'  nur 
dann  zutreffen  kann,  wenn  das  einfache,  bloß  aus  23  Zeichen  be- 
stehende m  e  r  0  i  t  i  s  c h  e  Hieroglyphen a  1  p  b  a  b  e  t  gemeint  ist.  Das 
können  auch  die  ungelehrten  Kubier  ohne  weiteres  gebraucht  haben. 
Mit  diesem  Beleg,  der  sicher  aus  Agatharchides  von  Knidos  ab- 
geschrieben ist,  der  wiederum  amtliclie  Urkunden  des  Ptolemäischen 
Staatsarchivs  benutzen  konnte,  reicht  die  Bezeugung  der  Meroe- 
schrift  schon  in  die  Mitte  des  2.  vorchristlichen  Jahrnunderts, 
in  die  Zeit  Ptolem.äus'  VIII.  Philometor  Neos  zurück. 

Innere  Gründe  gestatten  aber  noch  weiter  zurückzugreifen. 
Setlie  (a.  a.  0.  S,  468)  meint,  vermutlich  wegen  der  meroitischen 
Vokalzeichen  überhaupt  und  weil  diese  nubischen  Denkmäler  ein 
langes  von  einem  kurzen  e  (/y,  s)  unterscheiden,  daß  das  meroitisolie 
Alphabet  nach  dem  Vorbild  des  griechischen  ausgewählt  worden 

■^1)  .In  Ägypten  selbst  hört  die  Kenntnis  der  Hieroglyphenschrift  zur 
Zeit  des  Kaisers  Decius  vollständig  auf.  An  ihre  Stelle  tritt  für  die 
Aufzeichnung  der  ägyptischen  Sprache  das  griechische  Alphabet  mit  den 
wenigen  koptischen  Zusatzzeichen. 


Zu  Deniokrits  Wanderjalneii.  207 

sei.  So  nahe  diese  Annahme  liegt,  so  wenig  scJicint  sie  mir  das 
richtige  zu  tieffen.  J)ie  unter  dem  Einfluß  des  Griechischen  ent- 
standene hieroglyphische  Vokalhe  Zeichnung  bei  der  Umschrift 
griechischer  und  lateiniscl  er  Kamen  der  hellenistischen  Zcit-^-)  .-iel  t 

ganz  anders  aus.  ^^=  '  ür  <^  £,  "•'  1=3=  '•?  ^■.  >h  "^ ;  \\  =  '  i*"" 
a,  t,  fo:  S  =  w  für  o.  cj.  er:  H  =  jj  für  m,  i :  ^^U  '  jj  =  «/ ; 
^^.  ^  ' cj,  (ci-,  <>  usw.  Auch  die  Vokalbezeichnung  bei  per- 
sischen Namen^s)  —  ^^  =  '  für  a,  ^  =  u,  o,  \^  =  i  —  die  offen- 
kundig dem  Vorbild  der  sogen,  matres  lectionis  ',  j,  v  für  a,  i, 
u'5  des  von  den  Persern  als  Amtsschrift  gebrauchten  aramäischen 
Alphabets  nachgebildet  ist,  erklärt  nicht  die  besonderen  meroitischen 

\^okalzeichen,  höchstens  den  Gebrauch  des  -L)  =  w  '  für  o/^.  der 
]uit  großer  Wahrscheinlichkeit  auch  für  das  meroitische  anzunehmen 
ist.  "Wenn  die  meroitische  Schrift  diese  bequeme,  keinerlei  Ver- 
wechslungen verursachende  Verwendung  des  ,, Geiers"  für  a,  des  \\ 
für  i,  des  Knotens  oder  des  Kückens  für  o/■^^  nicht  zugleich 
]iüt  den  sämtlich  aus  der  ägyptischen  Zeichenliste 
stammenden  Konsonanten^^)  übernommen  hat,  so  liegt  doch 
der  Schluß  am  nächsten,  daß  ihr  Erfinder  eben  vor  dem  Auf- 
kommen dieser  Art  von  Vokalbezeichnung,  also  vor  der  Perser- 
herrschaft über  Ägypten  und  Nubien  unter  Kambyses  ge- 
lebt hat. 

In  der  Tat  erklärt  sic'h  die  Wahl  der  besonderen  meroitischen 
Zeichen  für  a,  i,  e  und  e  unschwer  ganz  unabhängig  von  der 
aramaisierenden  oder  hellenisierenden  Vokalbezeichnung  im  Ägyp- 
tischen. Vom  ^  für  A  bzw.  anlautendes  '  hat  schon  Griffith. 
Karanög,  p.  12  gezeigt,  daß  es  einfach  auf  die  ägyptische  Schrei- 
bung )^l  für  das  prothetische  'Alef  zurückgeht,  die  auch  in  der  hiero- 
glyphischen Schreibung  äthiopischer  Eigennamen  häufig  angewendet 


■'-')  Erman,  äg.  Gramm.-^  1911,  §  37  S.  23. 

"3)  Sethe,  Nachr.  d  Gott.  Ges.  Wiss.,  191(1,  H.  :',  gesch.  Mitt.  S.ll^,, 
18  g.  Griffith,  Bieroglyplis  (Archeol.  Snrvey  of  Egypt,  6t1i  mem.).  honfkm 
189y,  p.  ob. 

■i+)  Das  von  Sethe,  Nachr.  d.  Gott.  Ges.  phil.-hist.  Gl.  1917  H.  3  S.  4(;'J 
als  rätselhaft  angeführte  Zeichen  für  te  ist  nach  Maspero  ilas  Deter- 
minativ Y   fi'i'  „hand"  (kopt.  TQ  =  ,,Land'"). 


p 


208  RobertEisler, 

wird.  ^,  später  T  ist  das  bezeichnenderweise  auch  schon  im  alt-. 
iNcnitischen  Alphabet  der  Sinaihalbinsel ^'^j  für  den  als  Rufzeichen 
hej !  gefaßten  Buchstal)en  H    herübergenomniene   Determinativ  der 

Rufworte  h  i  '•'  ('<•    S.  205)  und  ^pl   he!    also    ein    ganz,    analog 

wie  das  griechische  fi  —  h"  —  aus  dem  phoenikischen  Hej  ent- 
standenes Vokalzeichen.  So  weit  ist"  eine  selbständige  bodenwüchsige 
Entwicklung  aus  der    ägyptischen   Hieroglyphenschrift  denkbar. 

Dagegen  könnte  der  Schrifterf  Inder  sein  un- 
ägyptisches Vorbild  gar  nicht  genauer  bezeichnen,  als 
er  es  mit  der  Wahl  seiner  beiden  E -Zeichen  Ö' =  e  und 

=  8  getan  hat.  Vom  ersteren  sagt  schon  Sethe-a.  zulezt  a.  a.  0.: 
,.das  Auftreten  des  Ochsenkopfes,  der  nn  semitischen  Alphabet 
so  bezeichnend  hervortritt,  hier  unter  diesen  vier  von  den  Meroiten 
eigens  ausgewählten  und  selbständig  l)ewerteten  Zeichen  berührt 
sehr  eigentümlich.  Es  ist  um^  so  befremdender,  als 
der  Ochsenkopf  gerade  in  der  späteren  Hieroglyphik 
kaum  noch  vorkommt.  Man  könnte  versucht  sein,  an  irgend- 
welche Beziehungen  zu  Abessinien  zu  denken,  hätte  das  Aleph- 
Zeichen  sich  nicht  gerade  im  Südsemitischen  fast  bis  zur  Unkennt- 
licltkeit  verändert,  hätfe  niclit  gerade  dort  die  Vokalbezeichnung 
durch  selbständige  Zeichen  ganz  gefehlt  und  wäre  bei  den  andern 
Zeichen  auch  Spuren  eines  solchen  Einflusses  zu  bemerken." 

Man  wundert  sich,  wie  Sethe  an  dem  naheliegenden  Auskunfts- 
mittel vorübergel  en  konnte,  statt  des  von  ihm  selbst  mit  triftigen 
Oründen  ausgesclilossenen  abessynischen  Einflusses,  den  der  ägyp- 
tischen Juden  einzusetzen,  die  in  Elefantine  und  in  der  geradezu 
„Handel"  (suen),  „Mark^"  genannten  Stadt  Syene  seit  Psammetich  II, 
bis  zur  Zeit  Hadrians,  ja  vielleicht  noch  viel  länger  als  Grenzgarnison 
und  Umschlagshändler  zwischen  Ägypten  und  Nubien  lebten  und  nach 
dem  Zeugnis  ii  rer  eigenen  Papymsurkunden'^^)  schon  vor  Kambyses 
(525  V.  Ohr.)  einen  großen  fünf  torigen' Tempel  besaßen. 


"'■j  S.  Setlie  a.  o.  A.  .S4  a.  0.  S.  444  cf.  4(39.  Deu  kenitischen  Ur.sprung 
<ler  von  Petrie  entdeckten  Inschriften  erweist  meine  Entzifferung  in  deu 
„Bibl.  Zeitschrift"  1918  IL -1  u.  :5. 

■■"')  S.  Sachaus  o.  S.  189..,  angeführte  Ausgabe  der  Papyri  Ton  Klefantine 
und  Saj'ce-CoAvley,  Arainaic  Papyri  of  Asbuan,  Oxford  1906.  Staerk, 
Anfänge  der  jüd.  Diaspora.     Beilieft  der  Or.  Lit.  Zeit.  1908. 


Zu  Dcuiokrits  Wandcrjahieii.  209 

Leuten,  die  das  Kind  ^7^  'elef,  den  Buchstaben  n  aber  n;.ch 
der  alten  östlichen  Aussprache  alif  nanntwn,  mußte  es  natürlicli 
sein,  den  auch  in  ihrem  Alphabet  vorkommenden  Üchseiikopf  für 
V   und  o   (s.  Griffith    Karanög  a.a.O.)  zu  verwenden. 

AVenn  möglich  noch  seh  lugender  wie  der  Ochsenkopf  —  der 
ja  schließlich  auch  im  Griechischen  zum  Vokalzeichen  (A  =  y)  ge- 
worden ist  —  weist  die  Sethe  ganz  rätselhaft  gebliebene,  von  Griffith 
unmethodisch  als  Verwechslung  mit  dem  „Schilfblatt^'  (o.  S.  207  Z.  1) 
=  i  erklärte  ,. Straußenfeder"  für  a  auf  j  ii  d  i  s  c  h  -  a  r  a  m  ä  i  s  c  h  e  n  Ein- 
fluß hin:  R  ist  bekanntlich  ein  ägyptisches  Wort-  bzw.  Zweisilben- 
zeichen mit  dem  konsonantischen  Wert  sw,  dessen  Verwendung  zur 
Bezeichnung  des  kurzen  e  jedem  rätselhaft  bleiben  nmß,  der  nicht 
daran  denkt,  daß  sawa'  die  jüdische  Benennung  des  kurzen  bzw. 
stummen  e  ist,  und  ywar  zunächst  natürhch  des  Lautes 
selbst  und  nicht   des    erst    später  eingeführten  Vokalzeichens^^), 


3')tWenn  Kahle  iu  Bauer-Leander,    Hist   Gramm,  d.   liebr.  Sprache, 
Halle  191S  S.  98  sagt:    „die  A'okahaamen    sind  natürhcli    später  als  die 
A'okalzeichen",    so    bestätigt    dieser   Satz    das    gerechtfertigte  Vorurteil 
gegen  Behauptungen,    in  denen    der   feh'ende  Beweisgrund    durch   das 
Wort  „natürlich"  ersetzt  ist.     Gerade  bei  einer   vokalisch    polyphonen 
Silben-,    sogea.  Konsonantenschrift   wie  der  kananäischen  mußte   beim 
Unterricht   in   der  Lesekunst  von  jeher  ein  Bedürfnis  für  Aust;piache- 
bezeichnungen  je  nach   dem  wechselnden  \'okalwerr.  der  Silbenzeichen 
empfunden  werden.     Wie  sollte  ein  Qar7i'  in  der  richtigen  Aussprache 
zweifelhafter    Stellen   unterrichten    oder    ein   Schriftgelehrter   mit   dem 
Andern  über    zweifelhaft  vokali^ierte  "NVovte    streiten,    wenn    es    keine 
Namen  für  die  qöloth  Ufwvui,  Vokale)  gegeben  hätte?  Phonetisch  a,  u,  i,  <>,  u 
^hat  man  sie  sicher  nicht  genannt'.    Im  übrigen  sind  auch  die   V^okal- 
und  Lesezeichen  viel  älter,  als  jetzt  angenommen  wird.   Der  Geiuinations- 
])ankt   hat  sich  eben    erst  in  den    altkenitischen  Inschiiften    gefunden 
(Bibl.  Zeitschr.  191S  Heft  1),    diakritische  Punkte  kennt   die   hieratische 
Schrift  d-r  Ägypter  (Montet,  Zeitschr.  f.  äg.  Spr.  48,  1912,  8.96  ff),  eine 
superlineare  Vokalbezeichnung  der  hl.  Schritt  haben  schon  Schriftgelehrte 
des  Kreises  um  Akiba  eingeführt,  um  ein  Gegengewicht  gegen  die  Ver- 
breitung der  in   griechische  Buchstaben   umgeschriebenen  Schrift  rollen 
(Codices  ebraeo-graeci)  zu  schaffen.  (Eb.  Hommel,  Untersuch,  z.  hebr.  Laut- 
lehre, Leipzig  1917  p.  XXVH.  über  meine  Neuausgabe  des  Sefa  .Jezira». 
Wenn  Kahle  S.  109  sagt:  „daß  der  Terminus  Swa  jung  ist,  beweist  z.  B. 
Saadja  i9.  Jahrh.  A.  D.),  der  bei  der  Erwähnung  des  Namens  in  se'^nem 
Jezirakommentar  ausdrücklich  hinzusetzt:  .,ich  meine  zwei  Punkte  über- 
einander",   so  gilt  der  Schluß  selbstverständlich  nur  für  das  Zeichen, 
das  Saadja  von  dem  gleichbedeutenden     der  babylonischen  Punktatoren 
unterscheiden  will. 


2.10  Robert  E  i  s  1  e  r 


als  eines  „^w'"  =  „nichts"  —  also  entweder  =  „kein  Vokal" 
oder  =  „(bloßes)  Geräusch"  „(bloße)  Luft"/^«) 

.Oemnach  wird  das  ganze  nieroitische  Alphabet  eine  Erfindung 
ägyptischer  Juden  sein,  die  im  Verkehr  mit  den  karischen  und 
griechischen  Heeresgenossen,  deren  Namen  vom  nubischen  Heerzug 
her  in  Abu  Sini))el  heute  noch  eingekratzt  sind,  die  Vorteile  der 
von  den  Griechen  erfundenen  Vokalbuchstaben  rasch  begriffen 
haben  und  sich  überdies  aus  naheliegenden  Verkehrsrücksichten  ver- 
anlaßt gesehen  haben  mögen,  ihr  einfaches,  handliches  Alphabet 
in  ein  hieroglyphisches,  ebenso  einfaches,  aber  auch  ägyp- 
tisierten  Kubiern  und  Ägyptern  phonetisch  ohne 
weiteres  lesbares  und  für  deren  Sprachen  gleich 
brauchbares  umzusetzen.  Daß  sie  mit  dieser  völker- 
verbindenden, echt  jüdisch-universalistischem  .Oiasporageist  ent- 
sprungenen P^rfinclung,  für  die  nach  der  persischen  Er- 
hebung der  aramäischen  zur  Weltverkehrsschrift  keinerlei  Be- 
dürfnis mehr  vorlag,  bei  den  bilchmgsstolzen  Ägyptern  weniger 
Gegenliebe  fanden  als  bei  "den  Nubiern  des  ,, elenden  Kusch*,  daß 
aber  selbst  dort  die  gelehrten  Priester  diese  neue  kosmopolitische 
.,Jederniannsschrift"  (eher et  enos)  und  Esperantostenographie  erst 
nach  langem  Widerstand  zum  öffentlichen  Gebrauch  zuließen,  ist 
genau  das,  was  man  a  priori  erwarten  würde.  Eme  auf  diese  Art  von 
den  Juden  von  Svene  und  Elephantine  unter  der  26.  Dynastie  ge- 
schaffene Schrift  aber  kann  Demokrit  ohne  weiteres  in  Meroe  kennen 
gelernt  und  zum  Gegenstand  einer  kleinen  palaeographiscLen  Ab- 
handlung gemacht  haben. 

Ja,  die  höchst  eigentümliche  Tatsache,  daß  Chaeremon  (bei 
Tzetzes^ö))  und  Diodor  HI  11  (also  Agatharchides  von  Knido^. 
bis  gegen  13L  v.  Chr.)  die  ägyptischen  Hieroglyphen 
aethiopische  Schrift  nennt  und  behauptet,  die  Ägypter  hätten, 
wie   ihre  ganze  Kultur,  auch  die   Schrift   von  den  Aethiopen 


"'8)  Wohl  onomatopoetisch:  ägypt.  kw  =^„Luft",  „Leere";  vgl.  das 
Ezech.  .-^Sg  Prov.  1.;  parallel  mit  ,.vSturmwiDd"  gebrauchte  sw'h  „Unwetter'-. 
Auf  die  Bedeutung  „Geräusch"  führt  sw'  „Üucheu"',  vielleicht  wörtlicli 
„einen  Krach",  „ein  Wetter  machen",  „lärmen".  Die  Bedeutung  „nichts"  — 
sw'  =  IttI  /juTufM  „für  nichts"  wäre  aus  „Luft",  „Wind"  (flatus  vocis  , 
ähnlich  wie  bei  „hebeh'  „ein  Hauch",  „ein  Nichts",  aber  natürlich  auch 
von  „(bloßes)  Geräusch"  aus  zu  gewinnen.  Bei  Aristoteles  ist  der  Kon- 
sonant im  Gegensatz  zur  (piovi]  des  Vokals  ein  bloßer  (/'oV/ioc. 

39j  Vgl.  0.  Anm.  -JG. 


Zu   Dcmokrits  Waiulerjahien.  21  L 

ontleliiit,  erklärt  sich  am  einfachsten,  wenn  auch  schon  Demokrit 
—  der  an  der  Praecxistenz  einer  alphabetisclien  Schrift,  wie  icli 
nocli  zu  zeiiien  lioffe.  seiner  akustischen  Theorien  wo2;en  stark 
interessiert  war — die  einfache  pJionetisch-alphabetisclie  Hieiogiyi)hik 
von  Meroe  als  Urform  der  viel  komplizierteren  ideographisch- 
phonetischen ägyptischen  1: ingestellt  hat,  ähnlich  wie  neuere  Ge- 
lehrte aus  dem  —  in  Wirklichkeit  auf  ganz  besondere  abergläubisch" 
Vorstellungen  zurückgehenden  Überwiegen  phonetischer  Schreibungeji 
in  den  Pyramidentexten  —  einen  ursprünglich  rein  phonetischen, 
ja  alphabetischen,  erst  später  so  künstlich  pictographisch  gewordenen 
Charakter  der  Hieroglyphenschrift  erschheßen  zu  können  glaubten. 
Nur  so  könnte  man  auch  bogreifen,  daß  Demokrit  als  Gegenstück 
zur  Keilschrift  nicht  das  zweite  überragend  wichtige  voralphabetische 
hchriftsystem  der  alten  Welt,  die  ägyptischen  Hieroglyphen,  sondern 
die  verh.ältnismäßig  unbedeutenden  bloß  epidiori sehen  uqci  -/Qa/timTa 
von  Meroe  behandelt  hat. 


Nachtrag. 

Zu  S.  190  Anm.  2 :  Für  babylonischen  Ursprung  der  Achikar- 
geschichte  traten  schon  Reinach,  Rev.  des  etud.  Juives,  1899,  12  f. : 
Meißner,  Arch.  1.  Rel.  AViss.  1902,  234  f.;  Vetter,  Thool.  Quartals- 
schrift 1905,  535  ff.:  Nau,  a.  o.  S.  1892  a.  0.  S.  Il8  ff.;  Steuernagel, 
Einl  in  das  A.  Test.  §  lÖTg,  Meißner  a.  o.  S.  1892  a.  0.  entschieden  ein. 

Zu  S.  Wlßaa-  l^^ör  ..Achikar"  war  von  Anfang  an  eine 
pädagogische  Jugendschrift,  ein  moralisches  Schullese- 
buch, ebenso  wie  die  von  Meißner  a,  a.  0.  S.  27  treffend  ver- 
glichejien  Lehren  des  babylonischen  Sintfluthelden  .,für  -eine 
Kinder",  die  —  nebenbei  bemerkt  —  wie  der  ,, Achikar'  auch 
schon  den  Befehl  Böses  mit  Gutem  zu  vergelten,   enthalten. 

Zu  S.  20224:  Über  die  Zenobiosinseln,  heute  Kuria  Muria. 
s.  Peripl.  m.  Erythr.  33,  Müller,  geogr.  gr.  I  283.  Eine  davon  heißt 
heute  noch  Hellaniah,  trug  also  einst  eine  griechisclie  (ptole- 
mäische)  Marinestation  für  den  Verkehr  nach  Taprobane-Ceylon. 

Auf  Sokotra  griech.  „Dioskoridu"  =  Diu  (doipa)  Suka- 
tara  ..glückliche  Insel"  mit  seinem  indischen  Namen  könnten 
die  Griechen  schon  das  Deoanagari-Alphabet  angetroffen  haben, 
das  die  Vokale  durch  larad/jj^iaTi^siv  dei  Konsonantenzeichen  wie 
das  Äthiopische  ausdrückt. 


X. 

Zeit-  und  Streitfragen 
der  modernen  Xenoplianesforschung. 

Von 

Dr.  David  Einhorn. 

I. 

Die  xenophaneische  Lehre  von  dem  Verhältnis  Gottes  znr 
Welt  hat  bis  nun  trotz  allen  Bemühungen  der  hergebrachten 
Forschung  keineswegs  aufgehört,  ein  überaus  schweres  und  ver- 
wickeltes Problem  zu  bilden.  Ein  Maß  für  die  Verworrenheit 
der  bisherigen  Xenophanesforschung  gibt  bereits  die  bloße  Zu- 
sammenstellung ihrer  Ergebnisse,  die  uns  einen  Aufschluß  darüber 
zu  vermitteln  haben,  wie  Xenophanes,  der  Pantheist,  sich  seine 
Gottheit  gedacht  habe. 

Wenn  wir  uns  nun  auf  die  bedeutenderen  Erscheinungen  auf 
dem  Gebiete  der  Xenophanesforschung  beschränken,  so  zeigt 
sich  uns  folgendes  wenig  erfreuliches  Bild')  des  Grundzuges  der 
bisherigen  Leistungen: 

Daß  die  Gottheit  des  Xenophanes  mit  dem  H  i  m  rri  e  1  iden- 
tisch sei,  das  ist  die  Meinung  Lewe's.  In  seiner  „Geschichte  der 
Philosophie"  I.  S.  155,  heißt  es:  „Das  tiefblaue  unendHche  Ge- 
wölbe ,  .  .  .,  das,  erklärt  er,  sei  Gott." 

Daß  Xenophanes  unter  dem  Begriff  der  Gottheit  nichts  an- 
deres als  die  Erde  verstand,  das  ist  die  Ansicht  Dörings.  In 


1)  Ich  entnehme  fliese  Übersicht  meiner  vor  kurzem  erschienenen 
Arbeit:  ..Xenophanes,  Ein  Beitrag  zur  Kritik  der  Grundlagen  der  bis- 
herigen Philosophiegeschichte".     Wien  und  Leipzig.     1917.     S.  43  ff. 


Zeit-   u.   t?treitfragen   d.   moJeinen   Xenophaiiesforschuug.       213 

seinem  Aufsatz  über  Xeiiüphaiies  in  den  „Preußischen  Jahr- 
büciiern"  Bd.  99  S.  297  sagt  er  z.  B,:  „An  dieser  Stelle  muß  die 
Annahme,  daß  Xenophanes  unter  dem  kugelfcirmigcn  Gott  ledig- 
lich die  Erde  verstanden  hat,  fast  zur  Gewißheit  werden."  Vgl. 
Döring,  (ieschichte  der  griechischen  Philosophie",  S.  75,  79. 

Daß  Xenophanes  seine  Gottheit  als  den  Weltstoff  sich 
gedacht  hat,  das  behauptet  z.  B.  Döring.  In  der  eben  angeführten 
Abhandlung  S.  295,  erklärt  er:  „Aus  diesen  beiden  Stoffen  seines 
Gottes  nun  wird  alles  in  der  Welt  abgeleitet."  S.  298:  „Der 
kugelförmige  Gott  war  einmal  ein  denkender  und  zugleich  emp- 
findender Lehmklumpen". 

Daß  der  Bgriff  der  Gottheit  Xenophanes  zufolge  dem  der 
W  e  1 1  s  e  e  1  e  gleichzusetzen  sei,  urteilt  z.  B.  Gomperz.  In 
seinem  berühmten  Werk  „Griechische  Denker"  P,  S.  130,  führt 
er  aus:  „Es  ist  dies  kein  Schöpfer  des  Universums,  kein  außer- 
und  überweltlicher  Gott,  sonder  wenn  nicht  den  Worten,  so  doch 
der  Sache  nach  eine  Weltseele,  ein  Allgeist." 

Die  Gleichstellung  des  Begriffes  der  Gottheit  dem  der  W  e  1 1  - 
kraft  wird  dem  Xenophanes  z.  B.  von  keinem  Geringeren  als 
Natorp,  dem  sich  Kinkel,  N.  Hartmann,  Huit  anschheßen,  beigelegt. 
In  den  „Philosophischen  Monatsheften"  Bd.  25  S.  213  finden  wir 
die  Worte  Natorps:  „  .  .  .  daß  ihm  das  Eine  oder  Gott  nicht 
so  sehr  den  Weltstoff  als  die  (zugleich  vernünftige)  Weltkraft 
bedeutete. 

Daß  die  Gottheit  dem  Xenophanes  mit  dem  Welt  vollstän- 
dig zusammenfiel,  ist  die  Ansicht  Zellers,  Überwegs,  Kerns,  Freu- 
denthals, Gomperz,  Dörings,  Bäumkers  u.  a.  (Belege  in  unserer 
genannten  Abhandlung).   - 

Daß  die  Gottheit  des  Xenophanes  ein  Wesen  ist,  dessen 
Erscheinung  die  Welt  bildet,  diese  Ansicht  vertritt 
Zeller.  In  seinem  großen  Werke:  „Die  Philosophie  der  Griechen" 
r,  S.  537,  äußert  er  sich  folgendermaßen:  Gott  und  Welt  verhal- 
ten sich  hier  wie  das  Wesen  und  die  Erscheinung.  Vgl.  Lewes, 
Geschichte  der  Philosophie  I.  S.  158. 

Daß  Xenophanes  seine  Gottheit  mit  einem  Wesen  identi- 
fiziert hatte,  dem  gegenüber  der  Welt  nur  ein 
scheinbares   Sein   zukommt,   behauptet   endüch   Kern. 

Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie.    XXXI.  4.  15 


214  D  ii  V  i  d    ]^  i  11  li  0  r  u  , 

Ähnlich  V.  Arnim,  Kultur  der  Gegenwart  I,  V.  S.   129:  „Dieser 
üott  ist  zwar  das  All,  aber  nicht  die  Welt  .  .  ." 

^^s  ist  somit  eine  Tatsache,  daß  uns  in  der  bisherigen  Xeno- 
phancsforschung  nicht  eine  einzige,  sondern  mehrere  vonein- 
ander grundverschiedene,  einander  auf  das  schroffste  wider- 
sprechende Meinungen  'über  das  Wesen  des  xenophanischen 
Gottesbegriffes  entgegentreten. 

Dieser  Stand  der  Dinge  offenbart  sich  bereits  dem  ersten 
Anblick.  Wenn  wir  jedoch  tiefer  in  die  Struktur  der  einzelnen, 
zumal  der  hervorragendsten  Abhandlungen  über  Xenophanes  ein- 
dringen, stellt  sich  alsbald  heraus,  daß  das  Chaos  ein  noch  un- 
gleich größeres  und  gefährlicheres  ist,  da  nicht  bloß  das  quot 
capita  tot  sententiae  an  dieser  Stelle  zur  Wahrheit  wird,  sondern 
in  jeder  von  den  bisherigen  Darstellungen  der  xenophaneischen 
Lehre  unvermerkt  über  das  „Hauptprinzip"  zugleich  mehrere, 
ergo  einander  wiedersprechende  und  ausschließende  Meinungen 
ausgesprochen  werden. 

Ein  klassisches  Beispiel  für  diesen  überraschenden  Sachver- 
halt bildet  u.  a.  die  Zellersche  Darstellung  der  xenophaneischen 
Gotteslehre.  Während  Zeller  in  seinem  Werk  „Die  Philosophie 
der  Griechen"  I"',  S.  533,  unter  Berufung  auf  Aristoteles  und 
Theophrast  behauptet:  „er  (sei.  Xenophanes)  habe  das  eine  Welt- 
ganze für  die  Gottheit  erklärt",  I",  S.  535:  „er  habe  das  eine 
Weltganze  der  Gottheit  gleichgesetzt",  während  also  Zeller  auf 
den  Seiten  533  und  535  die  Identität  von  Gott  und  Welt  in  der 
Lehre  des  Xenophanes  annimmt,  unterscheidet  derselbe  auf 
der  Seite  537  desselben  Werkes,  indem  er  völlig  vergißt,  daß. 
wenn  Gott  und  Welt  identisch  sind,  sie  schon  keineswegs  nicht 
identisch  sein  können,  geradezu  auf  das  nachdrücklichste 
zwischen  Gott  und  Welt,  ja,  er  nimmt  einen  schlechthin  unüber- 
brückbaren Gegensatz  von  Gott  und  Welt  in  der  Lehre  des 
Xenophanes  an,  inedm  er  dort  lehrt:  „Gott  und  Welt  verhalten 
sich  hier  wie  das  Wesen  und  die  Erscheinung,"  indem  er  ferner 
auf  derselben  Seite  537  und  Seite  554  die  Gottheit  als  „welt- 
bildende Kraft"  der  Welt  gegenüberstellt,  indem  er  weiter  auf 
derselben  Seite  537  die  Gottheit  nicht  mehr  als  Welt,  mit  der 
sie  doch  auf  den  Seiten  533  und  535  so  bestimmt  und  entschieden 
identifiziert  wurde,  sondern  als  „allgemeine  Naturkraft"  auffaßt, 


Zeit-   11.   Streitfragen    il.   modernen    Xenopluinesforsdiung.         215 

indem  er  die  üottlieit  als  (S.  538)  „Weltursaclie",  als  (S.  540) 
immanenten  .  „inneren  ürund  der  Dinge",  als  (S.  527  und  S.  537, 
Anm.  1)  „den  letzten  Grund, der  Dinge"  der  Welt  gegenüberstellt, 
indem  er  endlich  teils  schweigend,  teils  ausdrücklich  geradezu 
mit  polemischem  Nachdruck  einen  Gegensatz  zwischen  Gott  und 
Welt  in  der  Interpretation  der  xenophaneischen  Fragmente  und 
der   sekundären   Quellen  voraussetzt. 

Ähnlich  steht  es  mit  den  Darstellungen  von  Freudenthal, 
Gomperz.  Kern,  wie  ich  in  meiner  genannten  Abhandlung  über 
Xenophanes  nachzuweisen  suchte. 

Damit  ist  uns  die  gesamte  Xenophanesforschung  in  bezug 
auf  ihren  wissenschaftlichen  Charakter  schlechthin  unhaltbar  ge- 
worden, —  sofern  nicht  der  letzte  Rettungsversuch  sich  als  heil- 
bringend erweisen  sollte,  der  Versuch,  den  H.  F.  Müller  in  der 
Berliner  Philologischen  Wochenschrift  vom  15.  Dezember  1917 
S.  1545  ff.  zur  Verteidigung  der  Zellerschen  Auffassung  unter- 
nommen hat. 

Müller  will  keineswegs  annehmen:  „Fs  soll  ein  krasser 
Widerspruch  sein,  daß  Zeller  einerseits  mit  Berufung  auf  Aristo- 
teles und  Theophrastos  behauptet,  Xenophanes  habe  das  eine 
Weltganze  für  die  Gottheit  erklärt  oder  der  Gottheit  gleichge- 
setzt, also  Pantheismus  gelehrt,  und  andererseits  die  Gottheit 
des  Xenophanes  als  weltbildende  Kraft,  als  allgemeine  Natur- 
kraft, als  Weltursache,  als  inneren  und  letzten  Grund  der  Dinge 
bezeichnet,  dem  Philosophen  also  eine  Entgegensetzung  von  Gott 
imd  Welt  zuschreibt".    (S.  1545  ff.) 

Zur  Begründung  seiner  Auffassung  meint  er  zunächst: 
„Schade,  daß  Einhorn  den,  wie  er  wohl  weiß,  mehrdeutigen  Be- 
griff des  Pantheismus  nicht  definiert  und  seine  eigene  von  der 
Zellerschen  abweichende  Auffassung  nicht  angibt.  Dann  würde 
sich  herausgestellt  haben,  daß  im  Sinne  Zellers  keinerlei  Wider- 
spruch vorliegt."    (S.  1546). 

Ich  muß  nun  gestehen,  daß  mir  die  Logik  dieses  Schlusses 
in  gar  keiner  Weise  einleuchten  will.  Zunächst  ist  es  mir  uner- 
findlich, wozu  ich  in  einer  historischen  Abhandlung  über  Xeno- 
phanes eine  eigene  Defination  des  Begriffes  des  Pantheismus  auf- 
stellen sollte?  Es  handelt  sich  doch  hier  nicht  darum,  was  ich 
unter  dem  Begriffe  des  Pantheismus  verstehen  will,  sondern  wie 

15* 


21  ö  D  a  V  i  d   E  i  n  h  0  r  u  , 

Xenophanes  das  Verhältnis  von  Gott  und  Welt  in  seinem 
System  auffaßte.  Ferner  aber  ist  es  bereits  überhaupt  unbegreif- 
lich, wie  daraus,  daß  i  c  h  den  Begriff  des  Pantheismus  definiert 
und  meine  eigene  von  der  Zellerschen  abweichende  Auf- 
fassung angegeben  hätte,  sich  jemals  herausstellte  sollte  und 
könnte,  daß  im  Sinne  Z  e  1 1  e  r  s  keinerlei  Widerspruch  vorhege. 
Allerdings  bin  ich  Müller  zum  Danke  für  dieAnerkennung  ver- 
pflichtet, die  in  seiner  ausgesprochenen  Erwartung  liegt,  daß  aus 
meiner  Definition  des  Pantheismus  und  aus  meiner  Auffassung 
sich  die  Einsicht  in  die  Widerspruchslosigkeit  der  Zellerschen  Auf- 
fassung ergeben  würde.  Nur  ist  eine  kleine  contradictio  in 
adiecto  nicht  zu  übersehen:  Würde  Müller  meinerseits  eine 
Definition  des  Pantheismus  erwarten,  die  mit  der  Zellerschen 
Auffassung  übereinstimmt,  so  könnte  er  vielleicht  irgendwie 
hoffen,  d-aß  sich  daraus  herausstellen  würde,  daß  im  Sinne  Zellers 
keinerlei  Widerspruch  vorhege  —  falls  Zeller  nur  nicht  mehrere 
Auffassungen  vertreten  würde!  Erwartet  er  aber  im  Gegensatz 
dazu,  daß  ich  den  Begriff  des  Pantheismus  in  eigener,  von  Zeller 
abweichender  Weise  bestimme,  wie  vermag  er  da  noch  zu  hoffen, 
daß  ich  aus  einer  gegensätzlichen  Bestimmung  die  Ein- 
sicht in  die  Widerspruchslosigkeit  des-  Zellerschen  Standpunktes 
ergeben  werde? 

„Mit  vollem  Recht"  —  meint  Müller  fortfahrend  —  „durfte 
Zeller  sagen,  Gott  und  W'elt  verhielten  sich  wie  das  Wesen  und 
die  Erscheinung". 

Indes,  wo  ist  nur  eine  Spur  von  einer  primären  oder  selbst 
sekundären  Quelle  vorhanden,  die  Zeller  und  den  sich  ihm  an- 
schließenden Müller  dazu  berechtigen  würde,  dem  Xenophanes 
die  Lehre  zuzuschreiben,  derzufolge  Gott  und  Welt  sich  so  ver- 
halten, wie  das  Wesen  und  die  Erscheinung?  Ja  wo  gibt  es  in 
aller  Welt  eine  Quelle,  die  eine  Grundlage  dafür  abgeben  könnte, 
Xenophanes  die  Unterscheidung  solcher  Begriffe  wie  das  Wesen 
und  die  Erscheinung  überhaupt  beizulegen?  Das  ist  für  den 
Kundigen  offenbar  eine  Übertragung  ungleich  späterer  Produkte 
des  abstrakten  Denkens  der  Menschheit  auf  viel  primitivere  Zu- 
stände und  damit  eine  Fälschung,  vor  der  sich  vornehmlich  der 
Historiker  unter  aller  Umständen  auch  Zeller  zufolge  in  Acht 
nehmen  muß! 


Zeit-  u.  ."Streitfragen   d.   modernen   Xenophanesforscliiing.        217 

Letzthin  durfte  aber  Zeller  —  abgesehen  von  allen  genannten 
historischen  Schwierigkeiten  —  im  Sinne  einer  immanenten  Kritik 
seiner  Darstellung  keineswegs  die  Behauptung  aufstellen:  Gott 
und  Welt  verhalten  sich  hier  wie  das  Wesen  und  die  Erscheinung, 
nachdem  er  bereits  auf  das  bestimmteste  Gott  und  Welt  vorher 
gleichgesetzt  hatte.  Ks  ist  doch  wohl  für  jedermann  klar,  daß 
w  enn  Gott  und  Welt  identisch  sind,  sie  in  keiner  Weise  zugleich 
verschieden  sein  können  —  und  somit  auch  nicht  in  der  Weise 
einander  gegenübergestellt  werden  dürfen  wie  das  Wesen  und 
die  I:rscheinung> 

Müller  argumentiert  weiter:  „Einhorns  Behauptung  dagegen, 
Wesen  und  Erscheinung  seien  „einander  geradezu  diametral  ent- 
gegengesetzt" wie  Gott  und  Welt,  halte  ich  für  falsch.  Das  Wesen 
ist  es,  das  erscheint;  soviel  Schein,  soviel  Hindeutung  aufs  Sein; 
die  Erscheinung  ist  es,  in  der  sich  das  Wesen  den  Sinnen  offen- 
bart." 

Zunächst  eine  formale  Berichtigung.  Ich  habe  nirgends  be- 
hauptet: Wesen  und  Erscheinung  seien  einander  geradeso  dia- 
metral entgegengesetzt  wie  Gott  und  Welt,  sondern  im  Gegenteil, 
ich  fand  und  ich  finde  in  der  Zellerschen  Aufstellung:  Gott  und 
Welt  verhalten  sich  so  wie  das  Wesen  und  die  Erscheinung,  eine 
diametrale  Entgegensetzung  von  Gott  und  Welt. 

Müller  bestreitet  nun  die  Richtigkeit  dieser  meiner  Auffassung 
und  will  folglich  beweisen,  daß  Wesen  und  die  Erscheinung  inden- 
tisch  sind.  Sollte  ihm  das  selbst  vollauf  gelingen,  so  würde  er 
bestenfalls  bloß  beweisen,  daß  der  ganze  Zellersche  Ausspruch 
eine  Irreführung  des  Lesers  bedeutet,  da  sie  dort  Worte  entgegen- 
gesetzt, wo  sie  ihre  Begriffe  identifiziert,  dort  die  logische  Pro- 
Portion  verwertet,  wo  Identität  vorliegt.  Dieser  Beweis  würde 
sich  folglich  nicht  bloß  gegen  mich,  sondern  noch  vielmehr  gegen 
Z  e  1 1  e  r  richten. 

Doch  ist  der  Müllersche  Beweis  stichhaltig?  Sind  die  Be- 
griffe Wesen  und  Erscheinung  wirklich  identisch  und  ist  die  ganze 
Menschheit,  die  diese  Begriffe  unterscheidet,  in  einem  Wahn  be- 
fangen und  Müller  allein  im  Recht  und  dazu  berufen,  die  Mensch- 
heit von  diesem  Wahn  zu  befreien?  Müller  meint  zuvörderst: 
„Ein  Wesen  ist  es,  das  erscheint."  Allein  dieser  Satz  kann  bloß 
dann  einen  haltbaren  Sinn  haben,  wenn  wir  ihm  die  Formulierung 


218  David    Einhorn. 

verleihen:  Ein  Ding  ist  es,  das  erscheint;  ein  Ding  hat  ein  Wesen 
nnd  eine  Erscheinung.  Was  für  uns  sein  Wesen  ist,  daß  ist 
nicht  seine  Erscheinung,  da  doch  widrigenfalls  die  Unterscheidung 
von  Wesen  und  Erscheinung  ganz  sinnlos  wird.  Ist  die  Erschei- 
iiung  das  Wesen,  so  wird  das  Wort  Wesen  überflüssig,  und  wir 
können  einfach  behaupten,  die  Dinge  seien  keine  Wesen  und  Er- 
scheinungen, sondern  ledighich  und  allein  Erscheinungen. 

Die  zweite  Behauptung  Müllers:  „soviel  Schein,  soviel  Hin- 
deutung aufs  Sein"  paßt  zunächst  ausgezeichnet  zwar  nicht  auf 
Xenophanes,  doch  wohl  auf  Herbart  (vgl.  R.Falckenberg.  Ge- 
schichte der  neueren  Philosophie,  6.  Aufl.  S.  461).  Aus  ihr  ergibt 
sich  aber  noch  gewaltiger  die  absolute  Unhaltbarkeit  der  Müller- 
schen  Auffassung.  Denn  gesetzt  die  volle  Richtigkeit  dieser  Be- 
hauptung, will  Müller  wirklich  daraus  den  Schluß  ziehen,  daß 
Schein  und  Sein  dasselbe  sei?  Das  hat  Herbart  am 
allerwenigsten  behauptet.  Will  nun  Müller  allen  Ernstes  an- 
nehmen, was  ihm  Niemand  in  der  Welt  glauben  würde? 

Endlich  selbst  wenn  das  Urteil  wahr  wäre:  „die  Erscheinung 
ist  es,  in  der  sich  das  Wesen  den  Sinnen  offenbart,"  so  iSt  doch 
unzweifelhaft  falsch,  was  Müller  eigentlich  beweisen  will,  d.  h. 
daß  es  das  Wesen  ist,  das  sich  in  der  Erscheinung  d  e  n 
Sinnen  offenbart! 

Meint  aber  Müller  zum  Schluß:  „Warum  soll  ich  die  Welt 
nicht  vorstellen  können  als  Erscheinung,  Entfaltung,  Verv/irk- 
lichung  des  Einen,  Gottes?  Alle  Dinge  sind  aus  und  in  Gott,  in 
ihm  leben  und  weben  wir.  Diese  Art  des  Phanteismus  involviert 
die  gerügten  Widersprüche  nicht,"  so  können  wir  darauf  blos  ent- 
gegnen, daß  diese  Art  des  Pantheismus  vielleicht  von  den  ge- 
samten Widersprüchen  freizusprechen  sei;  doch  schade  nur,  daß 
diese  Art  von  Pantheismus  doch  offenbar  weder  mit  der  Zeller- 
schen  Auffassung  noch  selbst  mit  den  Quellen  über  Xenophanes 
irgendwelche  Ähnlichkeit '  habe.  Daß  die  Welt  die  Entfaltung 
oder  gar  Verwirklichung  Gottes  sei,  das  hat  nicht  bloß  Zeller,  auf 
den  es  doch  hier  ankommt,  nirgends  behauptet,  sondern  über- 
haupt kein  ernstzunehmender  Xenophanesforscher  in  der  Welt, 
wie  es  doch  wohl  aus  der  oben  angeführten  Zusammenstellung 
der  Resultate  der  hergebrachten  Xenophanesforschung  erhellt. 
Das  ist  eine  ganz  neue  Auffassung  der  xenophaneischen  (jottes- 


•     Zeit-   u.   Streitfragen   d.   modernen   Xenophanesforscliung.        21'.' 

lehre,  die  weder  mit  den  Quellen  für  die  Jheologie  des  Xeiio- 
phanes,  noch  mit  Zeiler  etwas  geineinsam  hat,  sondern  lediglich 
die  einzig  dastehende  Auffassung  Müllers  ist,  wohl  nur  dazu  ge- 
eignet, das  bestehende  oben  dargestellte  Chaos  der  bisherigen 
Xenophanesforschung  noch  zu  steigern. 

Wer  Zeller  verteidigen  will,  muß  ihm  zu  allererst  verstehen, 
er  muß  sich  ferner  die  Zellersche  Auffassung  zu  eigen  machen, 
nicht  aber  Zeller  eine  ihm  völlig  fremde,  aus  der  Luft  gegriffene, 
mit  keiner  Silbe  begründete  Auffassung  unterschieben.  Vor 
solchen  Verteidigern  muß  man  Zeller  aufs  entschiedenste  schützen, 
denn  was  für  Mängel  auch  immer  die  Zellersche  Auffassung  auf- 
weisen mag,  sie  verdient  in  keiner  Weise  die  Schmach,  daß  ihr 
so  eine  Apologie  zu  teil  werde. 

Wer  ferner  über  Xenophanes  urteilen  will,  der  muß  die 
Quellen  über  Xenophanes  verwerten,  nicht  aber  mit  unverdauten 
neuplatonischen  Reminiszenzen  über  Entfaltung  oder  Verwirk- 
lichung Gottes  in  der  Welt  sein  Spiel  treiben. 

Man  muß  aber  endlich  wirklich  nur  staunen,  wie  jemand 
in  Angelegenheiten  der  Philosophiegeschichte  mitzureden  sich 
anheischig  macht,  der  es  in  seiner  philosophischen  Kultur  noch 
nicht  einmal  so  weit  gebracht  hatte,  das  Vorhandensein  eines 
(Gegensatzes  zwischen  Wesen  und  Erscheinung  einzusehen.  Ein 
ausgebreitetes  philosophisches  Wissen  verlangt  ja  niemand  von 
11.  F.  Müller,  wenn  auch  zugestanden  werden  muß,  daß  £s  selbst 
einem  Rezensenten  philosophiegeschichtlicher  Arbeiten  nicht 
schaden  könnte.  Allein  solche  Elemente  der  Propädeutik  der 
Philosophie  wie  beispielsw^eise  die  Unterscheidung  der  Begriffe 
des  Wesens  und  der  Erscheinung  sollte  er  sich  entschieden  zu 
eigen  gemacht  haben,  zumal  wenn  er  durchaus  die  ernste  Auf- 
gabe der  Kritik  in  ernster  Weise  lösen  will.  So  will  ich  mir 
gestatten  H.  F.  Müller  z.  B.  folgende  Stelle  aus  der  „Einleitung 
in  die  Philosophie"  von  W^  Windelband  zur  Kenntnisnahme  zu 
empfehlen   (Kap.:   Wesen   und    Erscheinung.   S.   26  ff.). 

„Die  Unterscheidung,  welche  in  diesen  Kategorien  gedacht 
wird,  ist  die  Grundvoraussetzung  alles  wissenschaftlichen  und 
demgemäß  auch  alles  philosophischen  Denkens,  die  allgemeinste 
Form,  worin  jenes  sich  ausspricht.  Sie  bedeutet,  daß  man  sich 
mit  dem   Prima-vista-Bild   von  Welt  und  Leben  nicht  genügen 


220  David    Einhorn, 

läßt,  daß  man  eben  dahinter  kommen  möchte,  zu  wissen,  was 
das  eigentHch  bedeutet,  was  dahinter  steckt.  Es  liegt  darin  eine 
unbestimmte  Vorstellung,  eine  skeptische  Ahnung,  die  Wirkhch- 
keit  sei  doch  noch  etwas  anderes  als  der  Mensch  sie  im  naiven 
Wahrnehmen  und  Meinen  auffaßt.  Das  Wirkliche  ist  wirklich 
nicht  so,  wie  es  erscheint:  die  vorläfig  im  naiven  Erlebnis  ge- 
gebenen Vorstellungen  haben  „nur"  den  Wert  der  Erscheinung." 

„Diese  (jrundvoraussetzung  zieht  sich  durch  alles  philoso- 
phische Denken  hindurch,  vom  allen  Grübeln  gilt,  was  Mephisto 
vom   Faust  sagt,  daß   er 

„weit  entfernt  von  allem  Schein, 
nur  in  der  Wesen  Tiefe  trachtet." 

„  Man  nennt  das  wohl  gern  das  Suchen  nach  dem  Ding- 
an-sich:  aber  dieser  Name,  den  wir  seit  Wolff  und  Kant  da- 
für anzuwenden  gewöhnt  sind,  bezeichnet  eine  uralte,  längst 
bekannte  Sache." 

„Dieser  Gegensatz  zwischen  der  wahren  und  der  er- 
scheinenden Wirklichkeit  bedeutet  einen  Wertunter- 
schied im  Wirklichkeitsbegriffe  selber." 

„Für  das  wahrhaft  Wirkliche  in  diesem  Sinne  hat  Piaton 
den  Ausdruck  oroic  eingeführt,  und  das  geben  wir  im  Deutschen 
genau  mit  dem  Begriffe  des  Wesens  wieder." 

Wie  sich  nun  aus  diesen  Ausführungen  ergibt,  verdankt  der 
Einwand  Müllers  seinen  Ursprung  einer  ganz  elementaren  Un- 
kenntnis uralter  allgemein  bekannter  Begriffe  der  Philosophie. 
Ein  Kommentar  scheint  uns  hier  überflüssig. 

Da  wir  die  völlige  Haltlosigkeit  des  MüUerschen  Versuches, 
den  Schein  der  Widerspruchslosigkeit  der  Zellerschen  Darstellung 
zu  retten,  so  endgültig  dargetan  haben,  können  wir  uns  demnach 
der  zweiten  Streitfrage  zuwenden,  die  ein  allgemeineres  Inter- 
esse in  Anspruch  zu  nehmen  geeignet  scheint. 

II. 

Die  hergebrachte  Philosophiegeschichte  hat  ein  ganz  eigen- 
tümliches Bild  von  der  Lehre  de  Xenophanes  entworfen.  Diesem 
Bilde  zufolge  löst  sich  Xenophanes  einfach  in  eine  Verkettung 


Zeit-   u.   Streitfragen    d.   modernen    Xenopiianesforschung-.        221 

von  W'idcrspriiclien  und  Sinnlosigkeiten  auf.  Kr  ist  ein  Mann, 
der  zugleich  zwei  einander  absolut  ausschließende  Standpunkte, 
den  des  Intellektualismus  und  den  des  naiven  Realismus,  in  bezug 
auf  ein  und  denselben  Gegenstand  einnimmt,  indem  er  einerseits 
in  einer  xar'fc^'o;^/);-  intellektualistischen  Weise  die  metaphysische 
Lehre  vom  Einen  und  allein  Seienden  aufstellt  und  anderseits  mit 
einer  derartigen  Unbefangenheit  von  der  Vielheit  der  Dinge 
reden  kann,  welche  ihn  unwidersprechlich  als  einen  durchaus 
naiven  Physiker  kennzeichnet.  Seine  Denkweise  ist  so  durch 
und  durch  ungeheuerlich,  daß  er  die  Behauptung  aufzustellen  und 
zu  vertreten  imstande  ist:  „Das  Eine  und  allein  Seiende  ist  g  a  n  z 
Sehen,  Hören,  Denken,  ergo  das  Sehen,  das  Hören,  das  Denken 
sieht,  hört,  denkt  sich  selbst."  Er  vermag  die  unbegreifhche  Be- 
hauptung aufzustellen:  „Das  Eine  und  allein  Seiende  bewegt  hin 
und  her  das  All,  das  Eine  und  allein  Seiende  sonder  Mühe  mit 
des  Geistes  Denkkraft,  ergo  das  Allwesen,  welches  dem  Frg.  24 
zufolge  Sehen,  Hören,  Denken  ist,  welches  dem  Frg.  25  zufolge 
ewig  ruht,  ohne  sich  irgend  wohin  zu  bewegen,  b  e  - 
w  e  g  t  hin  und  her  sich  selbst  sondern  Mühe  mit  des  Geistes 
Denkkraft."  Er  lehrt  einerseits  in  einer  yMt'  Uoy/]r  intellektu- 
alistischen Weise,  die  Anfangs-,  Bewegungslosigkeit,  _  Unsterb- 
lichkeit und  Unveränderlichkeit  des  Einen  und  allein  Seienden, 
anderseits  aber  redet  er  so  ganz  unbefangen  von  der  Entstehimg, 
von  den  Bewegungen  und  von  den  Ursachen,  dem  Vergehen 
und  den  Veränderungen  der  Dinge,  als  ob  es  durchaus  nicht  er 
^ein  könnte,  der  doch  mit  so  großem  moralischen  Ernst,  Wucht 
und  Überlegenheit  die  gewaltige  Gotteslehre,  die  Lehre  vom 
Einen  und  allein  Seienden:  die  Gottheit  oder  das  Eine  und  allein 
Seiende  ist  unentstanden,  unvergänglich,  ohne  Bewegung,  ohne 
Veränderung,   der   Welt   verkündet. 

Gott  und  Welt  sind  ihm  zugleich  identisch  und  verschieden, 
unbegrenzt  und  begrenzt.  Er  arbeitet  mit  dem  Begriff  der 
Gleichartigkeit  und  weiß  selbst  nichts  darüber  auszusagen,  was 
er  eigentlich  unter  diesem  Begriffe  verstehe.  Von  der  Gottheit 
erklärt  er  zugleich:  L  daß  sie  weder  sich  bewegt  noch  ruht, 
2.  daß  sie  sich  nie  und  nimmer  bewegt;  daß  sie  L  weder  be- 
grenzt noch  unbegrenzt,  daß  sie  2.  unbegrenzt,  daß  sie  3.  kugel- 
förmig und  begrenzt  sei. 


222  David    E  i  n  h  o  r  n  , 

Ks  gibt  der  herkömmlichen  Forschung  zufolge  kein  einziges 
bedeutsames  Fragment  von  Xenophanes,  daß  nicht  Widerspruch 
und   Absurdität  wäre. 

Daraus  ergab  sich  für  uns  in  unserer  oben  angeführten  Ab- 
handlung der  Schluß,  daß  der  Xenophanes  der  bisherigen  For- 
schung geradezu  ein  pathologisches  Individuum  sei:  Dieser  Schluß 
klingt  nun  zu  schroff,  als  daß  man  nicht  geneigt  sein  sollte,  eine 
zu  weit  gehende  Übertreibung  in  ihm  zu  erblicken. 

Kann  denn  ein  System  nicht  als  normal  bezeichnet  werden, 
dem  Widersprüche  nachgewiesen  wurden?  Gibt  es  wohl  über- 
haupt ein  System  in  der  Welt,  an  dem  nicht  Widersprüche,  In- 
konsequenzen zu  finden  wären?  So,  scheint  es,  ist  es  eine 
willkürliche  Beurteilung,  die  den  Xenophanes  der  hergebrachten 
Forschung  zum  pathologischen  Individuum  macht. 

Indes  ist  diese  ganze  Beweisführung  eben  nur  scheinbar  so 
fest  begründet,  ja  selbstverständlich.  Eine  etwas  eingehendere 
Untersuchung  wird  uns  alsbald  ihre  völlige  Unhaltbarkeit  dartun. 
Kann  man  es  wirklich  ganz  unbedenklich  als  eine  normale  Tat- 
sache hinnehmen,  daß  durchgängig  sämthche  bedeutungsvollen 
auf  erhaltenen  Bruchstücke  des  xenophaneischen  Gedichtes 
nichts  als  Widerspruch  und  Sinnlosigkeit  bedeuten?  Gibt  es 
wirklich  keine  Grenze  und  keinen  Unterschied  zwischen  dem 
Normalen  und  dem  Pathologischen  im  „philosophischen"  Denken? 
Ja,  gibt  es  im  eigenen  Bereiche  der  hergebrachten  Philosophie- 
geschichte keine  Kriterien  für  die  Bestimmung  der  normalen 
philosophiegeschichtlichen  Phänomene  und  ihre  Unterscheidung 
von  den  pathologischen? 

Eine  Theorie  der  Struktur  der  philosophischen  Systeme  hat 
nun  bekanntlich  z.  B.  der  mit  Recht  so  hochgefeierte  E.  Zeller 
gegeben.  Ihm  zufolge  hat  jedes  System  sein  Prinzip,  aus  dem 
es  hervorgegangen  ist  und  in  dem  alle  Annahmen  eines  Denkers 
seinen  verknüpfenden  Mittelpunkt  finden.  Zur  normalen  Struktur 
jeder  „Philosophie"  gehört  mithin  notwendig  Einheitlichkeit  und 
Widerspruchslosigkeit.  Dabei  liegt  es  jedoch  in  der  Natur  der 
Sache,  „daß  sich  nicht  alles  einzelne  in  einem  System  aus  seinem 
Prinzip  erklären  läßt;  daß  nicht  alles  Wissen,  das  einen  Philo- 
sophen zu  Gebote  steht,  nicht  alle  Überzeugungen,  welche  sich 
ihm,  oft  lange  vor  seinen  wissenschaftlichen  Gedanken  gebildet 


Zeit-   u.   vStreitfrageii    d.    modcrneii    Xciiojihant'sforsclnin;:.        2-'-\ 

haben,  niclit  alle  Begriffe,  die  er  aus  den  iTiannigfaltijieii  Vä- 
falirungen  abgeleitet  hat,  von  ihm  selbst  mit  seinen  philosophi- 
schen Grundsätzen  in  einen  inneren  Zusammenhang  gebracht 
sind;  daß  immer  auch  zufällige  Einflüsse,  willkürliche  Hinfälle. 
Irrtümer    und   Denkfehler   mitunterlaufen." 

Mit  einem  Worte:  eine  Regel,  ein  Normales  ist  es,  daß  fast 
sämtliche  Annahmen  vmd  Aussprüche  eines  Denkers  mit 
seinem  Prinzip,  seiner  Qrundlehre  in  Einklang  stehen,  daß  nur  hie 
und  da  Widersprechendes  und  WillkürHches  zum  Vorschein 
kommt. 

Hieraus  ergibt  sich  nun  für  uns  der  Begriff  des  Patholo- 
gischen. Rr  bedeutet  die  Umkehrung  des  Normalen  d.  h.  also. 
daß  fast  sämtliche  Aussprüche  eines  Denkers  mit  seiner  (jrund- 
lehre  in  Widerspruch  stehen,  daß  nur  hie  und  da  Tünklang  zutage 
tritt. 

Das  ist  es  aber  eben,  was  uns  an  Xenophanes  der  herkömm- 
lichen Forschung  in  so  überraschender  Weise  begegnet.  Die 
Grundlehre  des  Xenophanes,  das  Prinzip  seiner  Lehre  soll  die 
Ineinssetzung  von  Gott  und  Welt  sein.  Mit  dieser  Grundlehrc 
stehen  nun  nicht  die  meisten  Fragmente  im  klaren  Einklang,  so 
daß  bloß  an  wenigen  Punkten  ein  Widerspruch  vorkäme,  sondern 
im  Gegenteil:  es  gibt  kein  einziges  Fragment  der  positiven  xeno- 
phaneisches  Theologie,  das  nicht  zu  dieser  Grundlehre  im  schroff- 
sten Widerspruch  stünde,  das  nicht  im  Zusammenhang  mit  dem 
Prinzip  eine  völlige  Sinnlosigkeit  bedeuten  würde.  Somit  ist 
Xenophanes  der  herrschenden  Auffassung  offenbar  ein  patho- 
logisches Phänomen, 

Diese  Konsequenz  bestreitet  nun  merkwürdigerweise  H.  F. 
Müller  und  argumentiert  a.  a.  0.  S.  1547  folgendermaßen: 

„Die  öfter  geäußerte  Meinung,  Xenophanes  sei  sich  über 
seine  Theologie  selbst  noch  nicht  klar  gewesen  oder  habe  sich 
darüber  nicht  völlig  klar  augedrückt,  verdient  keineswegs  die 
höhnische  Abfertigung  als  eine  pathologische  Erscheinung.  Ein 
genialer  Mann  und  Dichterphilosoph  kann  sehr  wohl  divinatorisch 
gleichsam  als  geistvolles  Appergu,  einen  Gedanken  aussprechen, 
den  er  verstandesmäßig  und  logisch  umanfechtbar  noch  nicht  zu 
begründen  oder  darzulegen  weiß.  Auch  hier  sei  an  ein  Wort  des 
Plotinos  erinnert,  der  über  Anaxagoras  urteilt,  dieser  habe  zwar 


224  David    Ein  h  o  r  n  , 

die  rcclitc  Lehre  vom  vuvc  aufgestellt,  aber  als  ein  Mann  grauen 
Altertums  noch  nicht  klipp  und  klar  zu  entwickeln  vermocht: 
TU  <r  (\y.[>i(i\c  iV  d{r/iii6zf/Ta  .Tico/jxf^  (Enn.  V  1,  9)." 

Zunächst  eine  kleine  formale  Berichtigung:  ich  habe  niemals 
behauptet,  daß  die  Meinung:  Xenophanes  sei  sich  über  seine 
Theologie  selbst  noch  nicht  recht  klar  gewesen  etc.  eine 
pathologische  Erscheinung  sei,  wohl  aber  stellte  ich 
die  Behauptung  auf.  Xenophanes  der  hergebrachten  For- 
schung sei  geradezu  ein  pathologisches  Individuum. 
Es  muß  da  füglich  Wunder  nehmen,  wie  Müller  es  zustande 
brachte,  des  Unterschiedes  solcher  Sätze  sich  nicht  bewußt  zu 
werden. 

Wichtiger  jedoch  ist  eine  andere,  die  inhaltliche  Entstellung 
des  hier  in  Betracht  kommenden  Tatbestandes.  Müller  zufolge  zog 
ich  aus  dem  Mangel  an  völliger  Klarheit  im  Denken  oder  in  der 
Darstellung  des  Xenophanes  in  bezug  auf  seine  eigene  Theologie 
den  Schluß  auf  seinen  pathologischen  Charakter.  Meiner  eigenen 
Arbeit  und  auch  den  vorhergehenden  Ausführungen  zufolge 
gründete  ich  aber  diesen  Schluß  nicht  etwa  auf  die  Prämisse, 
Xenophanes  habe  sich  n  i  c  h  t  v  ö  1 1  i  g  klar  ausgedrückt,  sondern 
er  habe  sich  durch  ausnahmslos  sämtliche  uns  erhaltenen  Sätze 
seiner  positiven  Theologie  der  üblichen  Auffassung  zufolge  die 
krassesten  Widersprüche  und  Sinnlosigkeiten  zu  Schulden 
kommen  lassen.  Wer  zwischen  „nicht  völlig  klar"  und  „durch 
und  durch  widerspruchsvoll  und  sinnlos"  sicher  zu  unterscheiden 
vermag,  für  den  ist  die  völlige  Gegens-tandslosigkeit  der  MüUer- 
schen  Ausführungen  ohne  weiteres  klar  und  der  MüUersche  Kampf 
offenbar  ein  Windmühlenkampf  mit  selbsterfundenen  Qedanken- 
konstruktionen,  ein  Kampf,  durch  den  unsere  Ausführungen 
überhaupt  in  gar  keiner  Weise  berührt  werden. 

Damit  ist  auch  der  Wert  der  einzelnen  Argumente  Müllers 
so  gut  wie  völlig  gerichtet.  Wenn  es  da  heißt:  Ein  genialer  Man» 
und  Dichterphilosoph  kann  sehr  wohl  divinatorisch  gleichsam  als 
geistvolles  Appergu,  einen  Gedanken  aussprechen,  den  er  ver- 
standesmäßig und  logisch  umanfechtbar  noch  nicht  zu  begründen 
oder  darzulegen  weiß,  —  so  mag  das  richtig  sein.  Allein  „ver- 
standesmäßig und  logisch  unanfechtbar"  darzustellen  noch  nicht 
imstande  sein,  und  in  jedem  Satze,  in  jedem   Gedanken  unbe- 


Zeit-  II.  fcitreitfragTU   d.   motlerneu   Xenophaneslorscluiiig.        225 

greifliche   Widersprüche  und   Sinnhxsijikeiten  begehen,   das   sind 
doch  zwei  durchaus  verschiedene  Dinge. 

Was  endhch  das  Zitat  aus  Plotinos  betrifft,  so  ist  wohl  ein 
rühmliches  Zeugnis  für  das  wohlwollende  Interesse,  das  Müller 
Plotinos  entgegenbringt,  schade  nur,  daß  es  außer  Zusammenhang 
mit  unserem  wahren  Problem  steht  und  daß  es  bloß  eine  Fort- 
setzung im  Vorbeikritisieren  an  meiner  ganzen  Xenophanesab- 
handlunu  bildet.  Denn  ro  <)' <'r/.(HjftJ:  <)i  i'^r/c.iÖT/jTic  .-ricQ/~iy.i  be- 
deutet doch  eben  nicht,  was  es  bedeuten  müßte,  um  etwas  zu  be- 
weisen, daß  er  nämlich  seine  Schrift  zu  einer  bloßen  Verkettung 
von  Widersprüchen  und  Absurditäten  gestaltet  hatte. 

So  wird  aus  dem  Ganzen  klar,  daß  wir  nun  einmal  an  unserer 
früliere'n  Beurteilung  des  Xenophanesbildes  der  herkömmlichen 
Forschung  unbedingt  festhalten  müssen  und  daß  allerdings  gerade 
die  Müllerschen  Ausführungen  am  allerwenigsten  geeignet 
scheinen  hierin  auch  nur  die  geringste  Wandlung  herbeizuführen. 


Die  hergebrachte  Xenophanesforschung  arbeitet  unter  ganz 
eigentümlichen  erkenntnistheoretischen  Voraussetzungen.  Da 
Xenophanes  der  herrschenden  Auffassung  eine  pathologische  Er- 
scheinung ist  und  dennoch  als  eine  normale  in  die  Kontinuität  der 
Geschichte  der  Philosophie  eingereiht  wird,  so  stehen  wir  am 
dem  herkömmlichen  Standpunkt  vor  einem  Widerspruch,  der  auf 
keine  andere  Weise  zu  lösen  ist  als  durch  die  Annahme,  daß,  was 
uns  heute  als  ein  Pathologisches  erscheint,  einst  in  den  frühen 
Kinderstufen  des  philosophischen  Denkens  eben  ein  Normales 
war.  daß,  was  wir  heute  unmöglich  denken  können,  die  Alten 
wirklich  gedacht  haben  konnten.  Diese  merkwürdige  erkenntnis- 
theoretische  Annahme  wird  auch  ausdrücklich  von  keinem  Ge- 
ringeren als  J.  Freudenthal  folgendermaßen  formuHert: 

„Nun  mag  es  uns,  deren  geistige  Lebensluft  der  Monotheismus 
bildet,  freilich  scheinen,  als  ob  die  philosophisch  begründete  Über- 
zeugung von  der  Existenz  eines  höchsten  Gottes  mit  dem  Glauben 
an  das  Vorhandensein  einer  Vielheit  von  Göttern  schlechthin 
unvereinbar  sei.  Aber  nicht  um  das,  was  wir  denken  und  nicht 
denken  können,  handelt  es  sich  bei  der  Rekonstruktion  der  Qe- 


v2i)  David    Einhorn, 

schichte,  sondern  um  das,  was  die  Alten  wirkHch  gedacht  haben," 
(Über  die  Theologie  des  Xenophanes,  S.  28). 

Mit  einem  Worte:  es  besteht  ein  Gegensatz  zwischen  dem 
„was  wir  denken  und  nicht  denken  können"  und  dem  „was  die 
Alten  wirklich  gedacht  haben."  Folglich  sollen  wir  das  von  den 
alten  Denkern  wirklich  Gedachte  ohne  Rücksicht  darauf  er- 
kennen, ob  wir  es  denken  können  oder  nicht  können,  das  ist  aber 
erkenntnistheoretisch  betrachtet,  augenscheinlich  ein  Standpunkt, 
der  hinter  dem  üblichen  Realismus  noch  sehr  zurückbleibt. 

^!;s  ist  wohl  unbestreitbar,  daß  die  Forderungen,  welche  ein 
richtiger  erkenntnistheoretischer  Standpunkt  an  uns  stellt,  unser 
Erkenntnisvermögen  nie  übersteigen  dürfen  —  mögen  sie  auch 
noch  so  viel  Schwierigkeiten  uns  aufbürden,  daß  die  Voraus- 
setzungen, von  denen  ein  richtiger  erkenntnistheoretischer  Stand- 
punkt ausgeht,  notwendig  augenscheinlich  wahr,  von  niemand 
im  Frnst  bestritten  und  unantastbar  sein  müssen.  Allein  der  er- 
kenntnistheoretische Standpunkt  der  bisherigen  Forschung  stellt 
an  uns  Forderungen,  die  schlechthin  unvollziehbar  sind,  und  geht 
von  einer  Voraussetzung  aus,  die  nicht  allein  nicht  augenschein- 
lich wahr,  sondern  geradezu  absurd  ist.  Die  Forderung,  die 
dieser  Standpunkt  an  uns  stellt,  bedeutet  nichts  anderes,  wie  be- 
reits oben  angedeutet  wurde,  als  daß  wir  zu  denken  aufhören. 
Es  heißt  hier:  wir  sollen  bei  dem  Erkennen  des  von  den  Alten 
wirklich  Gedachten  davon  absehen  „was  wir  denken  und  nicht 
denken  können."  Allein  was  anderes  bedeutet  davon  abzusehen, 
was  wir  denken  können,  als  davon  abzusehen,  was  wir 
denken.  Denn  immer  denken  wir  nur  das,  was  wir  denken 
können,  immer  behaupten  wir  unmittelbar  und  notwendig  die  Gel- 
tung dessen,  was  wir  denken  können,  indem  wir  überhaupt  den- 
ken. Sollen  wir  also  die  Geltung  dessen,  was  wir  denken  können, 
verneinen,  dann  müssen  wir  überhaupt  nicht  denken.  Auf  welche 
Weise  da  noch  ein  Erkennen  möglich  sein  soll,  ist  wohl  nicht 
leicht  einzusehen.  Denn  was  anderes  bedeutet  eigentlich  das 
wirklich  Gedachte  zu  erkennen,  als  das  wirklich  Gedachte  zu 
denken.  Ja,  die  ganze  Realität  des  zuerkennenden  Begriffes  wie 
des  Systems  eines  Denkers  hegt  für  uns  zunächst  lediglich  und 
allein  darin,  daß  wir  sie  denken  können.  Steht  aber  die  Sache 
so.  wie  ist  es  dann  möglich,  das  wirklich  Gedachte  unabhängig 


Zfit-    u.    Streitfiajioii    'I.    imMlcrin-n    Xi'iiopliaiR'yfnrschun«;-,         227 

davon  zu  erkennen,  ob  wir  es  denken  können  oder  nicht  können?! 
Daß  somit  diese  Voraussetzung,  auf  die  sich  der  erkenntnistheo- 
retische Standpunkt  der  bisherigen  Xenophanesforschung  gründet, 
eine  contradictio  in  adiecto  ist,  wird  kaum  jemand  bestreiten 
wollen. 

Daß  es  natürüch  eine  conditio  sine  qua  non  der  Geschichte 
als  Wissenschaft  ist,  eine  Identität  der  Gesetze  des  SeeHschen 
und  Geistigen  für  alle  Menschen  aller  Zeiten  a  priori  anzunehmen, 
das  sehen  auch  und  geben  die  Theoretiker  der  Geschichtswissen- 
schaften zu,  wie  es  z.  B.  Bernheim  in  seinem  berühmten  „Lehr- 
buch der  historischen  Methode"  besonders  eindringlich  betont 
hatte. 

Man  sollte  nun  glauben,  daß  unsere  entschiedenste  Zurück- 
weisung des  Freudenthalschen  Grundsatzes  niemand  wunder- 
nehmen könnte,  allein  H.  F.  Müller  vermag  sich  mit  ihr  in  gar 
keiner  Weise  zu  befreunden.  „Halb  spöttisch  und  halb  mitleidig" 
—  heißt  es  S.  1546  ff.  —  „behandelt  E.  den  Grundsatz  Freuden- 
thals: „Nicht  um  das  was  wir  denken  und  nicht  denken  können, 
handelt  es  sich  bei  der  Rekonstruktion  der  Geschichte,  sondern 
um  das,  was  die  Alten  wirklich  gedacht  haben."  Ein  Grundsatz, 
der  aufgestellt  wurde,  um  begreiflich  zu  machen,  wie  Xenophanes 
trotz  seiner  Überzeugung  von  der  Existenz  eines  höchsten  Gottes 
dennoch  an  eine  Vielheit  von  Göttern  glauben  konnte.  Wir  frei- 
lich, deren  geistige  Lebensluft  der  Monotheismus  bildet,  können 
das  nicht  mehr,  aber  ein.  Xenophanes  und  Piaton,  ein  Aristoteles 
und  Plotinos,  die  rings  von  Polytheismus  umflossen  waren,  konn- 
ten" es  noch.  Vielleicht  interessiert  es  unseren  gestrengen  Kritiker 
zu  erfahren,  wie  Plotinos  diese  Diskrepanz  denkend  auszugleichen 
sucht.  Wo  immer  ein  Gott  erscheint,  da  schaut  er  die  eine  Gott- 
heit ganz,  und  in  dem  Buche  gegen  die  Gnostiker  Enn.  II,  9  sagt 
er  Kap.  9:  Nicht  bloß  die  Götterbilder,  sondern  die  Götter  selbst 
schauen  von  oben  auf  diese  Welt  hernieder,  und  sie  werden  den 
Vorw^ürfen  von  selten  der  Menschen  entgehen,  da  sie  alles  in 
Ordnung  leiten  von  Anfang  bis  zu  Ende  ....  Außer  den  guten 
Dämonen  und  Göttern  in  dieser  Welt,  vornehmlich  dem  Lenker 
dieses  Weltalls,  der  Seelen  seligster,  muß  man  auch  die  intelH- 
giblen  Götter  preisen  und  schließlich  über  all  den  großen  König 
dort,  und  namentHch  in  der  Mehrzahl  der  Götter  seine  Größe  be- 


228  David    Ei  n  li  o  r  ii , 

weisen.  „Denn  nicht  das  Göttliche  in  einen  Punkt  zusammen- 
drängen, sondern  es  in  seiner  Vielheit  auseinanderlegen  in  der 
Ausdehnung, 'in  der  er  es  selbst  dargelegt  hat,  heißt  beweisen, 
daß  man  die  Kraft  Gottes  kennt,  wenn  er  bleibt,  der  er  ist,  aber 
viele  schafft,  die  doch  alle  von  ihm  abhängig,  durch  ihn  und  aus 
ihm  sind." 

Zunächst  nun  die  Worte:  „Halb  spöttisch  und  halb  mittlei- 
dig." Sie  enthalten  eine  durchgängige  Fälschung  des  wirklichen 
Sachverhaltes,  da  ich  eine  streng  sachliche  erkenntnistheoretische 
Kritik  des  genannten  Grundsatzes  durchführe,  eine  Kritik,  die 
Müller  weder  anzuführen  noch  selbstverständlich  anzugreifen  ge- 
wagt hatte.  Er  zog  es  eben  vor,  die  Sache  sich  leichter  zu 
machen  und  anstatt  meinen  sachlichen  Ausführungen  eine  sach- 
liche Behandlung  zuteil  werden  zu  lassen,  sucht  er  sich  mit  ihnen 
durch  das  bequemste  Mittel:  durch  die  bewußt  falsche  Klassi- 
fikation derselben  als  „halb  spöttisch  und  halb  mitleidig"  abzu- 
finden. 

Und  jetzt  die  eigene  Argumentation  Müllers  zur  Aufrechter- 
haltung des  Freudenthalschen  Grundsatzes.  Auf  das  Problem  der 
Möglichkeit  der  Begründung  der  philosophiegeschichthchen 
Forscung  auf  einen  derartigen  erkenntnistheoretischen  Grundsatz 
wie  der  Freudenthalsche  geht  er  überhaupt  nicht  ein,  sondern 
meint  zunächst:  „Ein  Grundsatz,  der  aufgestellt  wurde,  um  be- 
greifhch  zu  machen,  wie  Xenophanes  trotz  seiner  Überzeugung 
von  der  Existenz  eines  höchsten  Gottes  dennoch  an  eine  Vielheit 
von  Göttern  glauben  konnte."  Müller  der  meine  Darlegungen 
durch  bloße  Wiederholung  mancher  Freudenthalscher  Worte 
wiederlegen  möchte,  weiß  eben  nicht,  daß  der  ganze  von  ihm 
kritiklos  approbierte  Freudenthalsche  Gedankengang  offenbar 
völHg  unhaltbar  ist.  Denn  ist  zunächst  die  Behauptung  irgendwie 
lialtbar,  daß  uns  „die  philosophisch  begründete  Überzeugung  von 
der  Existenz  eines  höchsten  Gottes  mit  dem  Glauben  an  das  Vor- 
handensein einer  Vielheit  von  Göttern  schlechthin  unvereinbar 
sei,"  und  daß  die  Vereinigung  dieser  Lehren  des  genannten  er- 
kenntnistheoretischen Grundsatzes  von  Freudenthals  zur  Erklä- 
rung bedürfe?  Das  Problem,  „wie  Xenophanes  trotz  (!)  seiner 
Überzeugung  von  der  Existenz  eines'  höchsten  Gottes  dennoch 
an  eine  Vielheit  von  Göttern  glauben  konnte,"  bedarf  zu  seiner 


Zeit-  u.  Streitfragen   d.   moderneu   Xenophanesforschung.        229 

Erklärung  nicht  bloß  keines  Grundsatzes  wie  der  Freudentalsche, 
sondern  es  bedarf  überhaupt  für  uns  gar  keiner  Erklärung;  ja,  das 
Gegenteil  würde  eine  Erklärung  nötig  machen.  Denn  im  Begriffe 
des  „h  ochsten"  Gottes  liegt  ja  nicht  bloß  keine  Schwierigkeit, 
sondern  geradezu  die  Notwendigkeit  diesen  Gott  als  einen  höch- 
sten von  einer  Vielheit  von  Göttern,  ^dyiarog  kvihoioi  zu 
denken!  der  Superlativ  fordert  zwingend,  wenn  er  anders  kein 
bloßer  Elativ  sein  soll,  die  Voraussetzung  einer  Vielheit  von 
Göttern,  von  denen  eben  ein  Gott  als  der  höchste  bezeichnet  wird. 
Allein  noch  aus  einem  anderen  Grunde  vermag  dies  Problern 
für  keinen  ernst  Denkenden  ein  Problem  zu  bilden:  denn  die 
Verbindung  des  Polytheismus  mit  dem  Glauben  an  einen  höch- 
sten Gott  ist  ja  aufs  vorbildlichste  in  den  meisten  Religionen  der 
Welt,  zumal  in  der  so  sehr  bekannten  homerischen  Theologie 
(Zeus  als  jiaxt)Q  drdgcör  rs  d-eojvtt)  vollzogen,  für  deren  Ver- 
ständnis doch  noch  niemals  gefordert  wurde,  daß  wir  sie  un- 
abhängig davon  erkennen,  ob  wir  sie  denken  können  oder  nicht 
können. 

Wenn  Müller  weiter  urteilt:  „Wir  freilich,  deren  geistige 
Lebensluft  der  Monotheismus  bildet,  können  das  nicht  mehr, 
aber  ein  Xenophanes  und  Piaton,  ein  Aristoteles  und  Plotonos, 
die  rings  von  Polytheismus  umflossen  waren,  konnten  es  noch," 
so  ist  dem.  zu  entgegnen,  daß  Müller  eine  neue  Verwechslung 
sich  zuschulden  kommen  läßt.  Man  muß  nämlich  gründlich 
zwischen  Denkmöglichkeiten  und  Glaubensmöglichkeiten  in  der 
Geschichtschreibung  der  Philosophie  unterscheiden.  Wir 
können  vieles  denken,  was  wir  nicht  glauben  können.  So  können 
wir  freilich  die  Überzeugung  von  der  Existenz  einen  höchsten 
Gottes  mit  der  Annahme  einer  Vielheit  von  Göttern  glaubend 
nicht  verbinden,  weil  wir  weder  an  die  Existenz  eines  superlati- 
visch höchsten  Gottes,  noch  .an  die  Existenz  einer  Vielheit  von 
Göttern  glauben:  wir  sind  eben  keine  „Henotheisten"  uiid  Poly- 
theisten,  sondern  Monotheisten,  Es  wäre  doch  aber  eine  pure 
Absurdität,  hätte  jemand  behaupten  wollen,  daß  wir  die  Annahme 
der  Existenz  eines  höchsten  Gottes  mit  dem  Glauben  an  eine 
Vielheit  von  Göttern  denkend  nicht  auszugleichen  imstande 
wären.  Eine  solche  im  Bereiche  der  Rehgion  übrigens  natür- 
lichste Verbindung    sind    wir    nur    nicht    imstande    n  p)  c  h  z  u  - 

Archiv  für  Geschichte  dor  Pliilosophie.   XXXI.  4.  16 


230  D  a  V  i  d    E  i  n  h  0  r  11 , 

glauben,  weil  wir  an  beide  verbundenen  Elemente  selbst 
nicht  glauben,  doch  steht  selbstverständlich  nicht  das  geringste 
Hindernis  im  Wege,  die  Verbindung  nachzu  denken.  Diesen 
absurden  Standpunkt,  der  die  letztere  offensichthche  Wahrheit 
leugnet,  vertritt  aber  eben  Müller. 

Was  das  ganze  Müllersche  Zitat  aus  Plotinos  betrifft,  so 
hat  es  denselben  Erklärungswert  wie  seine  anderen  offenen  und 
nicht-offenen  Plotinos-Zitate,  Denn  um  alle  anderen  Einwände, 
die  sich  hier  erheben,  mit  Schweigen  zu  übergehen,  zeigt  gerade 
—  im  schroffsten  Gegensatz  zur  Müllerschen  Hauptabsicht  — 
der  Plotonische  Gedankengang  ,dem  wir  zwar  nicht  glaubend, 
wohl  aber  durchaus  denkend  zu  folgen  imstande  sind,  daß  es 
eben  keinen  Gegensatz  gibt  zwischen  dem,  was  wir  denken  und 
nicht  denken  können  und  dem,  was  die  Alten  wirklich  gedacht 
haben. 

Damit  schheße  ich  meine  Bemerkungen  über  H.  F.  Müllers 
Stellung  zu  einigen  Grundproblemen  der  modernen  Xenophanes- 
forschung.  Wenn  manche  methologischen  Probleme  der  Philo- 
sophiegeschichte nicht  genug  eingehend  an  dieser  Stelle  behan- 
delt werden  konnten,  so  sei  zur  Ergänzung  auf  meine  bereits 
im  Druck  befindliche  größere  Arbeit  hingewiesen,  die  u.  d.  T. 
„Begründung  der  Geschichte  der  Philosophie  als  Wissenschaft 
unter  besonderer  Bezugnahme  auf  die  R.  Euckens  Ideen  zur 
Philosophiegeschichte"  eine  neue  Methologie  der  Philosophie- 
geschichte systematisch  darstellt. 


Eezensionen. 

Friedrich  Gundolfs  Goethe.*) 

Um  einem  ^\'erke,  das  die  Grenzen  „fachwissenschaftlicher"  Leistung 
durch  die  Fülle  seiner  allgemeingültigen  Lebenski'äftc  und  -werte  überragt, 
gerecht  zu  werden,  muß  zugunsten  einer  klaren  Überschau  vieles  Wichtige 
sich  zunächst  einer  andeutungsweisen  Behandlung  bequemen.  Daher  sei 
vorweggenommen,  daß  das  Werk  reich,  überreich  ist  an  tiefen,  treffenden, 
vielfach  neuen  und  stets  bedeutsamen  Wahrheiten  über  Goethe,  über  seine 
einzebien  Werke,  über  das  Allgemeine  und  Besondere  der  poetischen  Gat- 
tungen, —  und,  was  wir  von  der  germanistischen  Fachliteratur  leider  sehr 
wenig  gewöhnt  sind !  —  über  die  giundlegenden  Erscheinungen  des  Lebens, 
über  Staat,  Religion,  Natur,  Liebe,  Tod,  mit  einem  Wort  über  alles,  worüber 
ein  weiser,  tieffühlender  und  tiefdenkender  Mann,  der  Leben  und  Wissen- 
schaft als  Einheit  erlebt  hat,  zu  redeii  Gelegenheit  fiiidet,  wenn  er  über  ein 
Thema  spricht  wie  Goethe.  Und  alles  das  erscheint  in  strengster  Notwendig- 
keit, in  der  durchgebildeten  künstlerischen  Sprachform  des  Stefan  George- 
Ki-eises.  Weit  entfernt,  die  hohe  wissenschaftliche  und  künstlerische  Kultur, 
die  sich  in  Gundolfs  Goethebuch  zeigt  in  einer  Zeit  wie  die  unsrige,  sei  es  nach 
der  inhaltlichen,  sei  es  nach  der  formalen  Seite,  als  Nebensachen  bezeichnen 
zu  wollen,  erscheint  sie  neben  dem  Entscheidenden  dennoch  als  einfache 
Voraussetzung.  Um  nur  eines  zu  erwähnen,  müssen  wir  Gundolf  eine  ganz 
einzigart'ge  Bereicherung  der  stilkritischen  Terminologie  nachiülimen.  Steht 
doch  die  Literaturwigsenschaft  diesbezüglich,  trotz  der  einschlägigen  neueren 
Bemühung,  weit  hinter  der  viel  jüngeren  Kunstkritik  zurück.  Trostlos  ist 
auf  unserem  Gebiet  die  Dürre,  die  sich  breit  macht,  sowie  davon  die  Rede 
ist,  daß  das  Poetisch-musikalische  und  das  Poetisch-dingliche,  die  versinn- 
lichende  und  die  vergeistigende  Kraft  eines  Stils,  also  das  eigentlich  Dichte- 
rische wissenschaftlich  klargelegt,  zugänglich  gemacht  werde.  Über  einzelne, 
ganz  grobe  Eigenschaftsbezeichnungen  ist  man  da  kaum  hinausgekommen. 
Die  EindringUchkeit,  mit  der  Gundolf  Wesen,  Beschaffenheit  und  Gesetz- 
mäßigkeit einzelner  poetischer  Formen  Goethes  zergliedert,  ist  die  Quelle 
seiner  eigenen,  aber  ungesuchten,  durchsichtighellen  Terminologie.  Auch  dies 
hochwichtige  Kapitel    sei  hier   nur    berührt,    um   dem  Gerüst   des  ragenden 


*)  Goethe,  von  Friedrich  Gundolf.     Bei  Georg  Bondi,  Berlin.     795  Ss, 

16* 


232  Rezensionen. 

Baues  nahe  zu  kommen.  D^ei  Pfeiler  tragen  die  Hauptlast :  I.  die  Methode 
GundoKs,  II.  seine  geiste.«geschichtliche  Pragmatik  und  III.  die  Erkenntnis 
und  die  gedankliche  Durchführung  einer  lückenlo.sen,  pflanzenhaft -unlösbaren 
Einheit  aller  Werke  Goethes. 

I.  Ohne  auf  eine  unfruchtbare  Polemik  nur  ein  Wort  zu  verlieren,  stellt 
Gundolf  sich  demioch  in  bewußten  Gegensatz  zu  dem  derzeit  „herrschenden'" 
germanistischen  Betrieb  und  knüpft  unmittelbar  bei  Friedrich  Schlegel  und 
Humboldt  an.  Die  Patenschaft  ist  handgreiflich:  er  trachtet  auf  Grund 
unserer  heutigen  historischen,  biographischen  und  philologischen  Goethe - 
kenntnis  und  durch  künstlerisches  und  menschliches  Erleben  für  das  gesamte 
Werk  Goethes  das  zu  leisten,  was  Schlegel  und  Humboldt  für  Wilhelm  Meister 
und  für  Hermann  und  Dorothea  geleistet  haben.  Dies  Ziel  hat  er  auch  er- 
reicht, wobei  er  die  vorhandene  Goethekenntnis,  woher  sie  auch  herrühre, 
soferne  sie  nur  zuverlässig  war,  durchaus  als  anonymen  Rohstoff  verwendet. 
Daher  erscheint  er  ebenso  sehr  als  Umstürzler  wie  als  getreuer  Überlieferer, 
eine  seltsame  Neu  Verkörperung  echt  goethischer  Geistesrichtung. 

Das  ■mindersam  reiche,  große  Leben  und  Wirken  Goethes  gliedert  sich 
in  Gundolfs  „Schau"  in  das  ruhige  Ebenmaß  einer  gewaltig  angelegten  Drei- 
teiligkeit: 

I.  Sein  und  Werden  (S.  1—243). 
II.  Bildung  (S.  251—513). 
III.  Entsagung  und  Vollendung  (S.  525 — 789). 
Es  handelt  sich  hier  durchaus  nicht  um  wirkungsvolle  Kapitelüberschriften 
für  Anfang,  Mitte  und  Ende.  Eher  kömite  man  im  neuen  Gewände  die  bisher 
übliche  Gliederung:  der  junge,  der  klassische  und  der  alte  Goethe  wieder- 
erkennen. Dennoch  haben  die  bedeutfamen  Xeubenennungen  volle  Berechti- 
gung. Was  bedeutete  denn  die  erwähnte  D/eiteilung  bei  allen  Vorgängern 
Gundolfs?  Bestenfalls  die  vernünftge  Disposition  eines  gelehrten  Buches, 
die  auf  biographische  Tatsachen  und  stilistische  Beobachtungen  sich  stützende 
Einteilung  des  darzustellenden  Stoffes,  ein  Schema  goethischen  Seins  (Leben 
und  Werke  stets  als  Einheit  begriffen).  Gundolf  aber  gibt  kein  Schema,  son- 
dern einen  Aufbau;  jenes  geht  hervor  aus  dem  Bedüifnis,  den  schon  „wissen- 
schaftUchen",  schon  toten  Stoff  zu  ordnen,  darstellbar,  mitteilbar  zu  machen, 
dieses  ist  der  innerste  Grundsatz  des  sich  vollziehenden  Wachstums.  Nach 
dem  Schema  kann  der  wissenschaftliche  Stoff  geoidnet  werden,  nach  dem 
Oiganisationspiinzip  ist  das  wahrhaftige  Wachsen  der  einmaligen  Erschei- 
nung „Goethe"  vor  sich  gegangen.  Das  0)  ganische,  das  Pflanzemuäßige,  das 
an  dem  größten  normativen,  gesetzmäß'gen  und  gesetzgebenden  Menschen 
das  Selbstverständliche  und  zugleich  das  Wunderbare  war,  hat  Gundolf  er- 
kannt und  zur  teibenden,  tragenden  Kifoft  seiner  Gotheschau  erwachsen 
lassen.  Zum  ersten  Male  wurde  hier  der  Gang  und  die  Notwendigkeit  jener 
imierlichen,  bisher  bloß  verzeichneten  Wesenswandlungen  erkannt  und  dar- 
gestellt, die  aus  dem  sich  versuchenden  Dichterst.udenten  uird  Studenten- 
dichter den  jungen  Goethe,  aus  diesem  den  klassischen  und  den  alten  hervor- 
getrieben haben.  Die  innere  organische  Triebkraft  jeder  dieser  drei  Kiisen 
hat  Gundolf  bloßgelegt,  ihre   Stunde  und  Umfang  ermessen,  die  unerfüllten 


Rezensiooen.  233 

M'-gliehkoilcii  übfibliikt,  die  überwuiidem-u  Cu-fahicn  neu  heraufbeschworen, 
Gewinn  und  W-rlust  jeder  Wiindlung  für  Goethes  Rechnung  wie  für  die 
unserige  gebucht.  Die  Untrennbarkeit  von  Mensch  und  Werk,  Inhalt  und 
Form,  Gedanke  und  Stil  ist  uns  hierdurch  in  bisher  unbekannter  Vollkommen- 
heit greifbar  geworden. 

Drei  große  Wandlungen,  hervorgesprossen  aus  der  gesetzmäßigen  Be- 
schaffenheit des  einmal'gen  Menschen,  aus  seiner  Bildung  und  aus  allem, 
was  als  Zeit,  Umgebung,  Raum  und  Bindung:  Schicksal  genannt  werden 
muß,  schnellen  das  Goethische  Sein  durch  drei  Krisen  hindurch. 

Dor  junge  Goethe  erlebt  die  Welt  mit  der  einzigart'gen  Gewalt  seiner 
Empfindung  und  erfüllt  sie,  sofern  er  sie  gestaltet,  mit  der  Erregung  seines 
Ichs.  D.V3  (ioethische  Ich,  das  sich  in  der  tausendfältigen  Erscheinung  der 
Welt  bricht,  in  ihr  spiegelt,  das  ist  der  sich  fort  und  fort  läuternde  Inhalt 
der  Jugend-  und  Titanendichtung.  Die  Welt  wird  Goethisch  erfühlt  und  die 
(loethisch  erfühlte  Welt  von  Goethes  -6teist  erfüllt.  Werther,  Urfaust  und 
Egmont  erscheinen  t-o  gut  als  bloße  Gefäße  des  übersprudelnden  Gefühls- 
stiomes,  wie  Straßburg,  Herder,  Friederike  oder  Lili,  zunächst  sogar  Weima,r. 
WVsen  und  Eigenheit  des  Goethischen  Seins  —  Werke  und  Leben  immer  als 
Einheit,  als  Sein  \ind  Ausdruck  gesehen  —  hat  Gundolf  aus  der  Beschaffen- 
heit des  junggoethischen  Lebenszustandes,  aus  der  geschilderten  Ichliehkeit 
mit  exaktester,  zugleich  aber  phantasievoller  wissenschaftlich keit  abgeleitet, 
bis  hinein  in  die  Einzelheiten  des  Sprachgebrauchs,  des  Satzbaus,  der  poeti- 
schen Bildlichkeit,  bis  hinauf  zur  Notwendigkeit  tragischer  Lösungen  und  ent- 
scheidender Stoffwahl,  alles  ein  wechselnd  Weben,  ein  glühend  Leben. 

Als  Prinzip  des  Fortschreitens  waren  wir  bisher  gewöhnt  etwa  Weimar 
und  Italien  zu  betrachten.  Bei  tiundolf  aber  ist  das  Äußerliche  nie  das  Mäch- 
tige. Mit  dem  überzeugenden  Eifer  des  Apostels  predigt  er  das  große  Wort 
des  Paulusbriefes:  „Denn  der  Herr  ist  der  Geist  —  und  wo  des  Herrn  Geist 
ist,  da  ist  Freiheit !'"  Was  wir  als  Ursache  anzusehen  gewohnt  waren,  ver- 
wandelt er  dmch  Erschließung  verschlossener  Pforten  zu  bloßen  Wirkungen. 
Nicht  etwa  weil  Goethe  Weimar  satt  bekommen,  flieht  er  nach  Italien;  nicht 
weil  er  in  Italien  war,  ist  er  der  Klassische  geworden,  sondern  umgekehrt: 
weil  er  kraft  des  ihm  innewohnenden,  ihn  treibenden  gesetzmäßigen  W^ichs- 
tums  anfing  im  Rokokko-Weimar  klassisch  zu  werden,  brauchte  er  das  sicht- 
bare Gegenbild  seines  neuen  inneren  Lebens,  weil  sein  inneres  Leben  sich 
verwandelte,  ist  ihm  das  um  ihn  unverwandelt  Gebliebene  unerträglich  ge- 
worden. Deshalb  erwacht  in  ihm  das  Bedürfnis:  Italien,  Rom,  Christiane. 
Daß  er  seine  Bedürfnisse  hellseherisch  begriffen  und  erkannt  hatte,  daß  er 
Bedürfnis  nie  mit  Ltiune  oder  Gelüste  verwechseln  konnte,  darin  besteht  sein 
(xenie,  sein  Dämon;  daß  er  das  Nöt'ge  zur  Befriedigung  des  Bedürfnisseb 
auch  beschaffen,  Hindernisse  überspringen,  wenn  es  sein  mußte  auch  nieder- 
reißen konnte,  das  ist  die  wunderbare  Übereinstimmung  dieses  Genies  mit 
dem  waltenden  Schicksal,  eben  die  Identität  der  Gesetzmäßigkeit  beider, 
oder  wie  Gundolf  sich  wunderschön  ausdrückt:  das  Zusammentreffen  von 
Dämon  und  Tj-che.  Cioethe  gerät  durch  sein  Pflanzenwachstum  aus  dem 
gefühlsmäßig-titanenhaften  in  den  klassischen  Lebenszustand,  —  das  ist  die 


234  Rezensionen. 

Ursache  in  der  neuen  Piagma,tik,  wählend  Italien  und  alles  andere  äußere 
Wirkungen  sind.  Allein,  hieße  das  nicht,  das  Bekannte  zugunsten  des  Un- 
bekannten veidrängen?  Mit  nichten !  Gundolf  bleibt  nicht  dabei  stehen, 
den  inneren  Grund  einfach  zu  setzen.  Was  hat  also  das  Klassischwerden  des 
jungen  Goethe  im  Gegensatz  zu  seiner  bisherigen  Weltschau  —  denn  auf  die 
Beschaffenheit  der  Weltschau  kommt  es  eben  immer  wieder  an  —  zu  be- 
deuten? Die  Ichlichkeit  verändert,  nein,  sie  erweitert  sich  zu  einer  neu  er- 
ungenen  Sachlichkeit,  die  die  bisherige  Ichlichkeit  mu-  scheinbar  über  den 
Haufen  rennt  und  verwirft,  tatsächlich  wird  sie  einbegriffen,  eingegeistet, 
der  neuen  Schau  einverleibt.  Am  ersten  W^endepunkt  seiner  Wesenheit  —  das 
In-erscheinung -treten  des  jungen  Goethe  ist  kein  Wendepunkt,  keine  Krise, 
sondern  der  bloße  Durchbruch  seines  Wesens,  das  die  Hüllen  abstreift  — 
wendet  (iocthe  sich  ab  von  der  bisherigen,  seiner  Jugend  gemäßen  egozentri- 
schen Art,  mit  der  er  die  Welt  erlebt  hat.  Sie  genügt  ihm  nicht  mehr,  sie  ist 
ihm  zu  eng  geworden.  Die.  Möglichkeiten  des  persönlich  bedingten  Gefühls- 
erlebnisses sind  durchschritten,  oder  vielmehr  durchstürnit.  fürderhin  wären 
nur  noch  Wiederholungen  denkbar.  Doch  konnte  der,  der  als  die  gewaltigste 
Verkörperung  des  Lebenshungers  zu  verstehen  ist,  sich  nicht  mit  Wieder- 
holungen, Varianten  begnügen.  Vom  ichbedingten  Gefühl  mußte  er  somit 
zur  sachbedingten  Welt,  zur  Form  schreiten.  Aus  diesem  veränderten  Lebens- 
willen ist  jene  einzigartige  Synthese  griechischer  und  germanischer  Welt  er- 
wachsen, die  Goethe  der  Menschheit  bedeutet.  Daß  Form  von  nun  an  die 
einzige  Möglichkeit  zu  bedeuten  habe,  in  der  die  Weit  für  Goethe  erlebbar 
wird,  darin  besteht  die  Wandlung  vom  jungen  Goethe  zum  klassischen.  Mit 
den  Worten: 

„Natur  hat  weder  Kern  noch  Schale, 
Alles  ist  sie  mit  einem  Male", 

ist  das  Bekemitnis  zu  der  widerkantischen  Untremibarkeit,  zur  offenbaren 
Einheit  von  Form  und  Wesenheit  abgelegt.  Die  Wesenheit  der  Form  ist  jetzt 
Angelpunlvt  Goethischen  Denkens  und  Fühlens.  Seit  er  Form  als  gesetzmäßige 
Offenbarung  jeder  inneren  Wesenheit  entdeckt  hat,  sei  es  bei  der  Pflanze, 
sei  es  bei  den  Menschen  oder  sonstwo  in  d^  Welt,  lernt  er  treu  seinen  wunder- 
baren Sinnen  glauben  —  und  allen  zuvor:  dem  sonnenhaften  Auge.  Jetzt 
wird  seine  Weltschau  augenhaft,  sonnenhaft.  Deshalb  muß  er  nun  nach 
Italien,  deshalb  kehi-t  er  zurück  als  Dichter  der  Iphigenie. 

Gundolf,  der  die  Worte  gar  gerne  von  der  durch  den  Gebrauch  hervor- 
gerufenen Trübung  befreit,  sie  durch  die  Schreibart  oder  sonstwie  oft  auf  ihre 
ursprüngliche  sinnliche  Bedeutung  zurückführt,  —  gleich  dem  Meister,  der 
den  trüben  Kristall  durch  Neuschleifen  der  Kanten  neuen  Glanz  und  Herrlich- 
keit verleiht  — .  Gundolf  nennt  diese  zweite  Stufe  Goethischer  Entwicklung: 
„Bildung",  —  weil  das  Bilden,  die  künstlerisch  zweckbewußte  Formung  ihr 
Inhalt  war. 

„Entsagung  und  Vollendung"  ist  die  Altersentwicklung  überschrieben. 

Die  Fülle  der  bildnerischen  Gestalt ang  erreicht  ihre  natürlichen  Grenzen. 
Der  von  streng  und  sachlich  geschauten  Formwesenheiten  satm-ierte  Goethe 


Rezensionen.  235 

hat  im  übermenschlichen  Lebenshunger  die  ^Velt  auch  in  dieser  Richtung 
verzehrt,  wie  er  sie  im  Gefülil«kreise  einst  verzehrt  hatte.  Eigentlich  wiederholt 
sich  also  die  Betätigung  des  nämlichen  (lesetzes  auf  höherer  Stufe.  „Der  Erden- 
kreis ist  mir  genug  bekannt."  So  sehr,' daß  sie  ihm  neue  Form  Wesenheiten 
nicht  melu'  zu  bieten  hat:  er  hungert  wieder  einmal,  nachdem  er  ,,hier"  sich 
tüchtig  umgesehen.  Wieder  kann  er  sich  nicht  mit  Variationen  begnügen. 
So  steigt  er  de  im  zu  den  Müttern  hinab,  sein  Blick  wendet  sich  weg  von  der 
einzehxen  Erscheinung,  weg  von  der  Formwesenheit,  hin  zum  Gesetz,  zur 
Norm,  vom  Augenblick  flieht  er  in  die  Ewigkeit,  —  so  schwer  es  ihm  wird, 
so  gewaltsam  er  sich  das  Blinzeln  nach  ,, dorthin"  versagen  möchte.  Der  Ab- 
schied vom  schönen,  Ix'glückenden  ,, Augenblick"  erscheint  als  der  schwerste 
tragische  Kampf  in  Goethes  Leben.  Das  tiefe  Leid,  das  in  der  Marienbader 
Elegie  seit  jeher  to  ergreifend  zu  uns  sprach,  hat  Gundolf  als  Brennpunkt 
der  gesamten  Altersdichtung  zu  deuten  vermocht  und  nie  lag  der  Inhalt  der 
., Entsagung"  Goethes  so  klar  zutage  wie  in  dieser  Deutung.  Daß  Ulrike 
von  Levetzow  mehr  ,, symbolisch"  als  persönlich  zu  denken  sei,  haben  schon 
viele  betont.  Allein  wohin  deutete  dies  Symbol?  Auch  hier  geht  Gundolf, 
Überlieferer  und  Umstürzler  in  einer  Person,  auf  dem  alten  Pfade  viel  weiter 
vor  als  alle  seine  Vorgänger.  In  der  Kri^e,  in  der  aus  dem  klassischen  Goethe 
der  alte  hervorbiach,  entsagt  er  der  Wonne  der  Formschau,  der  beseligenden 
Freude  am  einmaligen,  unbezweifelbaren  Sein,  er  entsagt  dem  schönen 
„Augen — blick",  nicht  mehr  ruft  er  ihm  beschwörend  sein  trunkenes:  „Ver- 
Aveile  doch"  zu.  Die  Erblindung  des  II.  Faust  ist,  wollen  wir  klarheitshalber 
eirmial  den  Gedanken  aus  dem  Poetischen  ins  Begriffliche  hinüberleiten,  von 
Faust -Goethe  auf  die  Welt  übertragen.  Nicht  Goethe  erblindet,  sondern  die 
Formwelt,  sie  ist  ausgeschaut  und  verliert  ihren  Sinn.  Der  eben  noch  über- 
mäßig reiche,  steht  bloß  und  nackt  dem  Weltgesetz  gegenüber:  „ich  habe 
mich,  ich  hab  das  All  verloren !"  Der  schöne  Augenblick  stirbt  ihm  ab.  Dies 
schauerlich  geheimnisvolle  Geschehen  verkörpert  sieh  in  Ulrike,  es  wird  das 
Absterben  in  ihr  sichtbar.  Dahin  zwingt  den  Alten  die  pflanzenhaft-gesetz- 
mäßige  Entfaltung  seiner  normalen  und  normativen  Wesenheit;  nicht  aus 
Gutdünken  fügt  er  sich  diesen  allerherbsten  Schmerz  zu.  „Es  ist  Drang  — 
und  so  ist's  Pflicht."  Mit  Ulrike  scheidet  der  schöne  Augen — blick  von  ihm, 
ixachdem  er  ihn  bis  zur  Neige  erschöpft  hat.  Nun  ist  Goethe  geschieden  vom 
Zeit-  und  Räumlichen.  Es  friert  ihn.  An  den  Eiseskreis  der  Dantischen 
Hölle  erinnert  die  Qual  seiner  Einsamkeit. 

Vom  Ich  zur  Welt,  von  der  Welt  zum  Weltgesetz,  —  das  war  des  größten 
Deutschen  und  des  schönsten,  vollendetsten  Menschen  Lebens-  und  Leidens- 
weg. So  notwendig,  so  einheitlich,  klar  in  sich  geschlossen  und  unverrückbar 
in  allen  Teilen  wie  in  Gundolfs  wissenschaftlich-bildnerischer  Gestaltung  ist 
er  uns  noch  nie  erstanden.  Mit  dem  Aufbau  seines  Goethewerkes  ist  im  Grund- 
satz auch  schon  dessen  Inhalt,  wenn  nicht  gegeben,  so  doch  umrissen. 

Das  zweite,  was  diesem  Werke  eine  entscheidende  und  langauswirkende, 
von  dem  viel  überschätzten  Rezensionserfolg  unabhängige  Bedeutung  im 
Leben  und  in  der  Wissenschaft  sichert,  ist  die  Verwirklichung  des  \äelumstrit- 
tenen  Programms  geist€8wissenschaft lieber  Pragmatik.     Diltheys  heller  Geist 


236  Rezensionen. 

hat  die  Forderung  aufgestellt ,  Walzol  und  Saran,  Sievers  und  Unger  und 
andere  haben  sie  geklärt,  zum  Teil  verwirklicht.  Als  restlose  Erfüllung  erschein'^, 
Gundolf,  zugleich  auch  als  berechtigter  Erbe  der  von  der  historischen  Schule 
unterbrochenen  Schlegel-  und  Humboldtschen  Überlieferung.  So  unerläßlich 
die  grammatisch-philologische  Prüfung  des  Textes  als  des  faßlichen,  fest- 
g  "legten  Wortes,  so  unerläßlich  die  Erforschung  des  historisch -biographischen 
Hintergrundes  zur  Deutung,  Beurteilung  und  Erkenntnis  des  Werkes  und  des 
Künstlers  auch  sei,  so  unbedingt  diese  Notwendigkeiten  alsV'oraussetzungen 
anerkannt  werden  sollen,,  so  wenig  können  wir  sie  als  Selbstzweck,  als 
Ziel  anerkennen,  wenn  wir  von  einer  Literaturwissenschaft,  nicht  bloß  von 
einer  Literärgeschichte  reden  wollen.  Gewiß  brauchen  wir  das  Wort  zur  Offen- 
barung, aber  das  Wort  ist  nicht  der  Geist.  Gewiß  wollen  wir  festhalten,  was 
uns  von  allem  übrig  blieb,  dosh  auch  nicht  die  Folge  aus  dem  Auge  verlieren: 

„Die  Göttin  ist's  nicht  ra-hr,  die  du  verlorst. 

Doch  göttlich  ist's  usw." 

Die  Literaturwissenschaft  ist  ein  auf  das  Erfassen  und  Erschöpfen  des  Kunst- 
werkes gerichtetes  Bestreben.  Alles,  was  diesem  Zweck  dienlich  ist,  ist  nötig, 
und  zwar  in  dem  Maße,  in  welchem  es  dem  Zweck  dient,  vor  allem  die  sprach- 
liche Analyse  und  das  Schicksalmäßige  am  L?ben  des  Dichters.  Doch  kann 
das  Kunstwerk  als  sprachliches  Gebilde  weder  vom  Schöpfer,  noch  vom  Emp- 
fänger völlig  losgelöst  werden  wie  ein  anatomisches  Präparat.  Daher  ist  die 
geisteswissenschaftliche  Sachlichkeit  eine  ganz  andere  als  die  naturwissen- 
schaftliche. Gundolfs  Pragmatik  verwendet  die  philologischen  und  die  histori- 
schen Ergebnis=e  im  vollen  Maße,  wie  er  aber  auch  die  ästhetischen  verwendet, 
alle  bloß  als  Mittel  zur  Erkenntnis  d'>s  Kunstwerkes,  zu  dessen  Wesen  er  durch 
eine  vierfache  Spiegelung  hindurchdringt.  Erste  Spiegelung:  die  Synthese 
aller  philologischen,  grammatischen,  stilistischen  und  philosophischen  Er- 
gebnisse ist  die  Grundlage  für  die  eig^nschaftliche  Auffassung  und  für  die 
inhaltliche  D.'utung,  also  für  das  So-uud-so-sein  des  Kunstwerkes.  Zweite 
Spiegelung:  die  Synthese  aller  historischen,  biographischen  und  philo.sophi- 
schen  Ergebnisse,  die  sich  auf  das  Leben  des  K^iiistlers  und  auf  das  Weben 
seines  Schicksals,  sowohl  in  seiner  Person  als  in  seinem  menschheitlichen  Zu- 
sammenliang  bezichen,  ergibt,  —  wenn  sie  durch  das  erste  Prisma 
hindurch  geschaut  ist  und  nur  dann,  —  d.is  Walten  der  Notwendig- 
keit zwischen  Künstler  und  Kunstwerk,  also  das  Weshalb-so-und-so-sein  des 
Kunstwerks.  So  verstehen  wir,  weshalb  das  Kunstwerk  so  sein  muß  wie 
es  ist  und  nicht  anders  sein  kann.  Dritte  Spiegelung:  die  Summe  des  bis- 
herigen muß  im  Gefühl,  im  Gemüt  des  Forschers  gefühlsmäßig  neuerlebt 
werden,  er  muß  den  Weg  von  dem  rythmischen  und  formbegcenzten  Sprach- 
gebilde zurück  zur  seelischen  und  kosmischen  Erregung  des  Dichters  finden, 
die  dieser  in  umgekehrter  Richtung  hinter  sich  gebracht  hat.  Vierte  Spiege  - 
lung:  auf  Grund  seiner  breiten  und  tiefen  Kenntnis  des  Lebens,  der  Gegen- 
wart, des  Menschen  und  der  Welt  muß  der  Forscher  das  eigene  Erleben  des 
Kunstwerkes  in  das  seiner  Gemeinschaft,  in  die  Kation  oder  in  die  Mensch- 
heit projizieren  können.  Dichtung  ist  gesprochenes  und  gehörtes  Wort. 
SicherHch  bedeutet  Gundclfs  Goethe  werk  auch  den  bedeutendsten  raethodi.schen 


Rezensionen.  231 

Sieg  der  Literat urwishtMischaft,  olinc  dem  Eiiiwaiicl  luaugflhattci'  Stoff kenutui.s 
oder  fehlender  Exaktheit  der  Forst-hung  eine  Angriffsfläehe  zu  bieten.  Es 
ist  die  ganze,  ungeheuere  Wissensmenge  „ver-wendet",  d.  h.  einem  höheren 
Zweck  entsprechend  gefügt.  Man  braucht  viele  Ziegel  zu  einem  Riu;  aber 
Millionen  Ziegel  ergeben  an  sich  und  von  selber  nie  einen,  mögen  sie  noch 
so  schön  geschichtet  nebcn.'inaiider  liegen.  Auch  wiid  manch  ein  Ziegelstein 
otttzwei  gehauen,  fügt  er  sich  anders  nicht  ein. 

Djr  dritte  große  Triumph  Gundolfs  ist  die  strenge  Durchführung  dieser 
Pragmatik  bis  ins  Einzelste.  Gewiß,  die  sozusagen  arithmetische  Recht- 
fertigung seines  Verfahrens  mit  all  seinen  Kühnheiten  konnte  anders  nicht 
gedeihen.  So  aber  ist  die  in  allen  Teilen  unlösbare  geistige  Einheit  aller  Werke 
Goethes  mit  der  köstlichste  Gewinn  der  wahrhaft  erstaunlich  großen  Arbeits- 
leistung Gundolfs.  Die  Betonung  des  Zusammenhanges  zwischen  einzelnen 
<Toethewerken  und  im  Einzelnen  ist  nichts  Neues.  Auch  hier  betritt  Gundolf 
begonnene  Pfade,  die  er  abar  bis  an  ein  neues,  bisher  ungeschautes 
Ziel  verfolgt.  Neue  Zusammenhäng?,  wie  etwa  der  zwischen  Dichtung 
und  Wahrheit  und  Pandora  werden  klar;  alte,  wie  der  zwischen 
Tasse  und  Iphigenie,  gehen  über  die  bisherigen,  mehr  oder  weniger 
geistvoll  angedeuteten  Einzelbeziehungen  weit  hinaus  über  das  Bisherige 
und  dring-Mi  vor  bis  zur  gemeinschaftlichen  Quelle  einer  und  der- 
selben Erregxmg,  deren  ähnliche  und  gleiche  Sprachoffenbarungen  in  den 
beiden  Dicliterwcrken  bis  ins  Kleinste  nachgewiesen  sind.  Und  so  von  der 
ersten  zur  zweiten,  von  der  zweiten  zur  dritten  Krise  und  innerhalb  derer 
von  Werk  zu  Werk.  Schließlich  erscheinen  alle  hohen  Werke  als  ein  Ganzes: 
Tasso  wird  zu  einem  Aufzug,  Werther  zu  einem  Abschnitt  der  Lebensdichtung: 
Goethe,  die  wieder  restlos,  wenn  auch  nur  eingegeistet,  im  Faust  enthalten 
Ut.  Neu  ist  daran  nicht  etwa  der  Satz,  die  Behauptung  dieser  Einheit,  sondern 
ihre  wissenschaftliche  Durchführung  im  Ganzen  sowohl  wie  im  Einzelnen. 
Die  Einheit  wußten  wir  auch  früher:  wir  sehen  sie  jetzt.  Die  einzelnen  Werke, 
die  wir  bisher  nacheinander  als  je  ein  Ganzes  liebien,  werden  wir  von  nun 
als  Teile  neu  genießen  können,  und  über  sie  hinaus  blicken  wir  in  die  Un- 
teilbarkeit des  erhabensten  Ganzen.  So  zwingt  uns  (4undolf  unter  einem 
neixen,  notwendigen  und  ins  Ungeheuere  erwachsenen  Gesichtspunkt  von 
neuem  nieder  zum  heiligen  Original,  zum  Goethetext.  D^nn  wir  haben  die 
Werke  Goethes,  gelesen,  auch  den  Zusammenhang  erkannt,  aber  das  eine, 
unteilbare,  in  allen  seinen  Teilen  auch  unverrückbare  Goethewerk  ist  in  die.ser 
Komplexität  neu.  Das  muß  neu  erlebt  werden.  Die  Erweckung  eines  solchen 
Zwanges,  einer  neuen  Notwendigkeit  in  das  Ganze  einzutauchen,  ist  das 
(irößte,  was  ein  Goetheforscher  erstreben  kann. 

Ison/ofront,  im  Osterraond   1917.  Prof.  Di.  Richard  Meßleny. 


i>38  Rezensionen. 

Hermann  Schwarz,  Fichte  und  wir.  Sechs  Vorlesungen,  gehalten 
2. — 7.  Okt.  1916  auf  der  Lauterburger  Weltanschauungswoche. 
A.  W.  Zickfeldt  1917.  Osterwieck.  111  S. 
Es  bedurfte  kaum  der  Versicherung  des  Verf.,  daß  in  diesen  Vor- 
lesungen ein  gut  Teil  Selbstbekenntnis  stecke.  Überall  durchweht  die 
Zeilen  die  edle  Begeisterung  einer  von  ihrem  Gegenstande  ganz  erfüllten 
Seele;  es  lebt  in  ihnen  die  eindringliche  Kraft,  mit  der  die  selbsterrun- 
gene Überzeugung  sich  gern  andern  mitzuteilen  sucht.  So  macht  sich  die 
Eigenart  des  gesprochenen  Vortrages  auch  in  der  Stoffanordnung,  die 
manche  Wiederholung  bringt,  wie  im  rhetorischen  Ausdruck  geltend. 
Auch  gewisse  stilistische  Absonderlichkeiten  sind  wohl  darauf  zurück- 
zuführen. Es  war  offenbar  die  Hauptabsicht  des  Verf.,  in  dem  Hörer 
den  Geist  Fichtes  lebendig  werden  zu  lassen  und  ihn  aus  der  scharfen 
Luft  der  Kantischen  Kritik  zu  der  Sonnenhöhe  eines  ethischen  Idealis- 
mus emporzuheben.  Der  Kampf  gilt  hier  einerseits  dem  Ontologismus, 
der  ein  fertiges  Sein  annimmt,  sei  es  eine  Welt  der  Wirklichkeit  oder 
ein  Reich  der  Ideen,  das  an  sich  schon  besteht  und  in  unserem  Geiste 
bloß  abgebildet  wird;  ebenso  sehr  aber  auch  dem  Psychologismus, 
der  das  Geistesleben  aus  dem  endlichen,  empirischen  Ich  ableiten  zu 
köimen  glaubt.  Dem  wird  hier  die  Lehre  entgegengestellt,  daß  alle 
Wirklichkeit  nur  durch  freie  Setzung  und  Schöpfung  des  überindivi- 
duellen, unendlichen  Bewußtseins  im  einzelnen  Ich  entsteht.  Das 
freie  schöpferische  Geistesleben  im  Sinne  Euckens  bildet  den  Angel- 
punkt in  Schwarz'  Darlegungen.  Solches  „Unbedingtheitsieben"  er- 
scheint ihm  als  das  Kennzeichen  des  deutschen  Wesens.  Es  offenbart 
sich  in  der  germanischen  Gefolgstreue,  im  unbedingten  Rechtfertigungs- 
glauben des  Protestantismus,  in  der  deutschen  Sachlichkeit  und  zu- 
Jiöchst  im  unbedingten  Pflichtgefühl,  wie  es  in  Kants  Imperativ  aus- 
gesprochen ist.  „Ewiges  will  Deutsches,  und  Deutsches  soll  Ewiges 
sein."  Wenn  der  Verf.  den  Geist  Fichtes  auch  in  unserer  Zeit  sich  be- 
währen sieht,  so  hebt  er  doch  auch  mit  kräftigen  Worten  die  Schatten- 
seiten im  inneren  Leben  unseres  Volkes  hervor,  den  Geist  des  Klein-, 
muts  und  der  Selbstsucht.  Sinnlichkeit  oder  Sittlichkeit,  äußerliche» 
Dasein  oder  Innerlichkeit,  Gebundenheit  oder  freie  Selbstbestimmung, 
Fichtes  ausländische  oder  inländische  Seelen  —  das  sind  die  Gegen- 
sätze, zwischen  denen  es  keine  Vermittlung  in  Goethes  Sinne  gibt, 
sondern  nur  ein  scharfes  Entweder  —  Oder,  wie  zwischen  Nichtsein 
und  Sein.  Immer  neuen  Ausdruck  findet  der  Verf.  für  den  gewaltigen 
Gedanken,  daß  es  die  Tiefe,  die  Ewigkeitstiefe  unseres  eigenen  Wesens 
ist,  aus  der  die  ganze  Welt  der  Erscheinungen  hervorgeht.  Mit  jeder 
Vorlesung  werden  wir  tiefer  in  die  Gedankenwelt  Fichtes  eingeführt. 
Denn  nicht  mit  äußerlichem  Nachdenken  fremder  Anschauungen  ist 
es  dabei  getan.  Wahres  Verständnis  ist  hier  ein  Verstehen  -wollen, 
eine  Tathandlung  in  Fichtes  Sinne.  Wir  müssen  in  uns  selbst  e  r  - 
leben,  daß  es  bloßes  Sein  ohne  Wert  überhaupt  nicht  gibt.  Wert 
aber  erhält  das  Sein  nur  als  Setzung  eines  Geistes.     „Setzen  wir  uns 


Rezensionen.  .    289 


* 


geistig,  wagen  wir  das  zu  tun!  In  demselben  Augenblicke  schon  lebt 
sich  ein  Unbedingtheitsleben."  —  Es  ist  begreiflich,  daß  der  A'crfasser 
<les  „Gottesgedankens  in  der  Geschichte  der  Philosophie"  dem  religiösen 
Problem  besondere  Aufmerksamkeit  zuwendet.  Und  wenn  er  auch  die 
ureigene  geniale  Leistung  Fichtes  in  dessen  Aktivismus  erkennt,  so 
sieht  er  sich,  gerade  um  den  religiösen  Gehalt  in  Fichtes  Denken  aus- 
zuschöpfen, genötigt,  immer  wieder  zu  dem  späteren  Standpunkt,  der 
..Anweisung  zum  seligen  Leben",  überzugreifen.  Das  Eigentümliche  von 
Fichtes  Religionsphilosophie  liegt  nach  Schw.  darin,  daß  sie  wieder 
einen  transzendenten  noch  .einen  immanenten  Gott  annimmt,  daß  sie 
also  weder  Theismus  noch  Pantheismus  ist.  Sie  sei  aber  der  christlichen 
Auffassung  verwandt,  wie  durch  Hinweise  auf  Augustin,  Ekkehart  und 
Böhme  erhärtet  Avird.  Im  Gegensatz  zu  der  kosmologischen  Gottesidee, 
wonach  sich  der  Mensch  in  Gott  als  dem  Herrn  der  Welt  geborgen 
und  sicher  fühlt,  betont  Schw.  den  axiologischen,  den  wertenden  Stand- 
l)iuikt:  das  Ich  fühlt  sich  als  unbedingt  wertvoll  und  gotterfüllt  der 
Welt  absolut  überlegen  und  in  seinem  rein  geistigen  Sein  von  der 
Welt  unabhängig.  Dieser  Religionsbegriff  Ekkeharts  und  Fichtes  wird 
als  eigentümlich  deutsch  bezeichnet.  Gott  als  Inbegriff  des  Wertlebens 
soll  nicht  mit  der  kosmologischen  Ursache  der  Welt  einsgesetzt  werden. 
Läßt  man  beide  Begriffe  zusammenfallen,  so  erhebt  sich  die  unlösbare 
Frage  nach  der  Herkunft  des  Übels.  (Das  ist  richtig.  Aber  wenn 
die  Wissenschaft  eine  solche  Trennung  durchführen  kann,  verlangt  nicht 
gerade  die  Religion  die  Einheit  von  Wert  und  Sein  als  letztes 
Postulat?)  Anstelle  des  seienden  Gottes  wird  das  in  uns  stets 
werdende,  selbstschöpferische  Gotteserlebnis  gesetzt.  Daß  diese 
Lehre  den  esoterischen  Charakter  der  „Bildungsreligion"  hat,  wird  dem 
^'erfasser  bewußt  sein.  Aber  auch  religionsphilosophisch  ließen  sich 
gegen  die  Unbestimmtheit  einer  solchen  Gottesidee  Bedenken  äußern. 
Indessen  handelt  es  sich  hier  um  ganz  persönliche  Erlebnisse,  deren 
Wahrheit  sich  theoretisch  weder  beweisen  noch  widerlegen  läßt.  Und 
so  wenig  diese  Vorlesungen  eine  kritische  Behandlung  der  Fichteschen 
Philosophie  geben  sollen,  so  w^enig  wäre  eine  zersetzende  Kritik  an- 
gebracht. Geboren  aus  dem  Drange,  den  Gegenwartswert  dieses  mäch- 
tigen Gedankensystems  auszumünzen,  werden  sie  zweifellos  auch  in 
dieser  Form  matte  Seelen  aufrütteln,  hochgestimmte  in  ihrem  Idealismus 
bestärken  können.  (Leider  stören  außer  den  verbesserten  noch  eine 
Anzahl  anderer  Druckfehler  und  Versehen). 

Paul  Sickel. 

Dr.  Hans  Offe.  Politische  Weltkunde.    Ein  Beitrag  zur  A^olksbildung. 

Mit  Vorwort  von  Dr.  Paul  Rohrbach.     Leipzig  1917.     Chr.  Herrn. 

Tauchnitz.     V  und  69  S.     M.  2,50. 

Mit   Freude    begrüßen   wir   alle    Äußerungen   aus    dem   Kreise    des 

höheren  Lehrerstandes,   die   Schul-  und  Bildungsfragen  nicht  vom  eng 

fach-  und   schulmäßigen   Standpunkt  behandeln,   sondern   einen   offenen 


240  Rezensionen, 

Blick  für  die  Anforderungen  des  gesamten  geistigen  Lebens  bekunden. 
Eine  solche  befreiende  Weite  des  Gesichtskreises  zeigt  Offes  Schrift 
über  die  Weltkunde.  Der  Verf.  besitzt  klare  Einsicht  in  die  Mängel 
unseres  heutigen  Bildungswesens,  hält  sich  von  jedem  Fachegoismus 
fern,  und  seinen  Ansichten  über  Wert  und  Unwert  der  bisherigen  Reform- 
versuche sowie  über  die  Ziele  der  zukünftigen  ist  fast  rückhaltslos  bei- 
zupflichten. Dabei  bleiben  seine  Ausführungen  nicht  bei  allgemeinen 
Grundsätzen  stehen,  sondern  dringen  überall  in  den  Kern  der  Einzel- 
fragen ein.  Im  Anschluß  an  Gedanken  von  Paul  Rohrbach  fordert  der 
Verf.  eine  Erweiterung  des  erdkundlichen  Unterrichts  zur  politischen 
Weltkunde,  d.  h.  die  Erdkunde  soll  zum  politischen  Denken  vorl)ereiten. 
Daß  er  diese  Aufgabe  nicht  der  Geschichte,  sondern  der  Erdkunde  zu- 
weist, rechtfertigt  er  damit,  daß  die  Erdkunde  einen  zusammenfassenden, 
„komplexen"  Charakter  trägt  und  einen  weit  größeren  räumlichen  Ge- 
sichtskreis umspannt  als  die  Geschichte.  Da  sich  die  Erörterungen 
der  im  engeren  Sinne  didaktischen  Fragen  hier  erülirigt,  mögen  aus 
dem  reichen  Inhalt  der  Schrift  drei  Hauptpunkte  hervorgehoben  werden, 
die  für  die  Neugestaltung  unseres  gesamten  höheren  Bildungswesens 
von  grundlegender  Bedeutung  sind.  Dahin  gehört  zunächst  die  For- 
derung, daß  das  Ziel  alles  Unterrichts  und  somit  auch  des  erdkundlichen 
weniger  darin  besteht,  Einzelkenntnisse  zu  vermitteln  als  zum  Denken 
und  Urteilen  anzuleiten.  Es  handelt  sich  in  erster  Linie  darum,  ,.lei- 
tende  Ideen"  zu  gewinnen,  um  auch  neu  auftretenden  Tatsachen  des 
gegenwärtigen  Lebens  sicher  entgegentreten  zu  können.  Ferner  betont 
der  Verf.  mit  Recht  die  Vereinheitlichung  unseres  Wissens  gegenüber 
der  bisher  herrschenden  Zersplitterung  der  Fächer.  Ein  Haupt- 
mittel dazu  sieht  er  (neben  der  Biologie  und  der  philosophischen  Pro- 
pädeutik) eben  in  der  Erdkunde.  Denn  sie  ist  eine  „doppelgesichtige 
Wissenschaft",  da  sich  in  ihr  die  beiden  Gi'uppen  der  Natur-  und  der 
Kulturwissenschaften  verbinden.  Die  naturwissenschaftlichen  Tat- 
sachen, von  der  die  Erdkunde  ausgeht,  müssen  überall  eine  kulturelle 
d.  h.  wirtschaftlich-politische  Wertung  erfahren;  und  diese  wirtschaftlich- 
politische Wertung  soll  zum  wesentlichen,  wenn  auch  nicht  ausschließ- 
lichen Maßstab  für  die  Stoffauswahl  des  erkundlichen  Unterrichts 
dienen.  Politische  Weltkunde  aber  setzt  ferner  gewisse  Kenntnisse  in 
der  Völkerkunde,  die  als  eine  wahrhaft  „humanistische"  Wissenschaft 
bezeichnet  wird,  wie  in  der  Wirtschaftsgeographie  voraus.  „So  ver- 
standen kann  und  soll  die  Länderkunde  werden  zum  Kristallisations- 
punkt aller  weltkundlichen  Kenntnisse  und  Vorstellungen,  selbst  über 
das  eigentliche  Gebiet  der  Erdkunde  hinaus."  Zur  Vereinheitlichung 
des  gesamten  Schulwissens  trägt  es  auch  bei,  daß  andere  Fächer  wie 
Geschichte,  Deutsch,  Religion  und  die  Fremdsprachen  den  erdkund- 
lichen Unterricht  unterstützen  können.  Jedenfalls  darf  dieser  Unterricht 
nicht  zu  einen  bloßen  Konglomerat  von  allerlei  Wissensbrocken  Averden: 
und  nachdrücklich  betont  der  Verf.,  daß  er  nicht  neuen  Lehrstoff, 
sondern   einen   ..neuen  Richtungs-  und  Zielpunkt   der   gesamten   Schul- 


Rezenbionen.  241 

bildung  und  iSchulerziehung"  fordert.  Eine  solche  erweiterte  Fassung- 
der  Erdkunde  als  politische  Weltkunde  wird  auch  dazu  beitragen,  die 
viel  getadelte  Weltfremdheit  des  Schulbetriebes  zu  überwinden.  Sie 
setzt  freilich  voraus,  daß  der  Lehrer  vielseitig  gebildet  und  daß  er 
eine  wissenschaftliche  Persönlichkeit  im  tiefsten  Sinne  des  Wortes  sei. 
Und  dies  ist  der  dritte  Punkt,  den  wir  hervorheben  möchten:  Weit 
wichtiger  als  alle  sachliche  Reform  und  beliördliche  Anordnung  ist 
die  Persönlichkeit  des  Lehrers  und  ein  innerliches  Verhältnis  zu  seinem 
Gegenstand.  Allerdings  bezweifelt  der  Verf.,  ob  diese  Forderung  so- 
bald verwirklicht  werden  wird,  und  zwar  deswegen,  weil  sie  eine  Uni- 
versitätsreform an  Haupt.  Geist  und  Glieder  voraussetze.  Damit  ist 
m.  E.  der  springende  Punkt  aller  inneren  Schulreform  bezeichnet.  So 
lange  die  Vorbildung  unseren  Lehrern  nicht  ein  anderes  Unterrichts- 
und Erziehungs])ewußtsein  einprägt,  können  amtliche  Verfügungen 
wenig  nützen.  Daß  uns  die  wissenschaftlichen  Persönlichkeiten  fehlen, 
liegt  vor  allem  an  der  .,durchschnittlichen  Richtungslosigkeit  der  aka- 
demischen Studien."  —  Der  Geist,  von  dem  die  Ausführungen  des  Verf. 
getragen  sind,  sowie  die  trefflichen  Anregungen,  die  er  im  einzelnen 
gibt,  lassen  eine  möglichst  weite  Verbreitung  seiner  Schrift  wünschen. 
Aachen.   Boxgraben  118.  Paul  Sickel. 

Heinrich  Scholz,  Die  Religionsphilo«ophie  des  Herbert  von.  Cherbury. 

Auszüge  ans  „de  veritate"  und  „de  religione  gentilium"  mit  Einleitung 

und  Anmerkungen. 
Georg  B  o  h  r  m  a  n  n  ,  Spinozas  Stellung  zur  Religion.     Eine  Untersuchung 

auf  der  Giundlage  des  theologisch-politischen  Traktats.     Nebst  einem 

Anhang:    Spinoza  in  England  (1670 — 1750). 
(!.    W  i  n  k  1  e  r    und   Leopold   Zscharnack,    John   Locke's    Reasoii- 

ableness  of  the  Christianity  ( Vernunft igkeit  des  biblischen  Clu'isten- 

tums),  übersetzt  von  C.  W.,  mit  einer  Einleitung  hcra  jsgegeben  von 

L.  Z. 
Diese  Aibeiten  erschienen  als  o.  (Herbert)  bzw.  4.  (Locke)  Quellenheft 
u)id  als  9.  (Spinoza)  Heft  der  Studien  zur  Geschichte  des  neueren  Piotestan- 
tismus,  die  von  Heinrich  Hoffmann-Eern  und  Leopold  Zscharnaek-Berhn 
im  Verlage  von  Töpelmann-Gießen  hei  auf  gegeben  weiden,  im  Jahre  1914. 
Die  philoKophitges(;hichtliche  Bedeutung,  die  ihnen  unabhängig  von  der  kirchen- 
historischen zukommt,  lechtfertigt  einen  ihnen  gemeinsam  zu  widmenden 
Hinwfis,  da  sie  alle  dici  von  der  Ausstrahlung  des  nämlichen  neuzeitlichen 
Rationalismus  taif  die  religionsphilofophische  bzw.  rtligionshistorische  und 
bibelexcgetisehe  Sphäie  handeln.  Das  offenbart  im  besonderen  die  Ein- 
leitung, die  Scholz  den  von  ihm  ausgewählten  Texten  voranstellt.  Herbert 
von  Cherbury  wiid  in  den  Philosophie  geschichten  vielleicht  etwas  zu  ein- 
seitig lediglich  als  der  Vater  der  natürlichen  Religion  da:  gestellt,  als  der  be- 
wußte Bahnbrecher  jenes  aufgeklärten  Glaubens,  der  im  klassischen  18.  Jahr- 
hundert, dem  Höhepunkt  der  Aufkläiung,  die  positiven  Religionen  endgültig 
verdrängen  zu  sollen  schien.    Sicherlieh  ist  das  auch,  seine  bleibende  historische 


242  Rezensionen. 

Bedeutung.  Aber  auf  dini  breiten  Strom  des  geschichtlichen  Werdens  schau- 
end, sehen  wir  ihn  doch  —  und  das  tritt  in.  der  knappen  Skizze  der  Scholzschen 
Einleituiig  plastisch  hervor  —  von  jenem  Geiste  erfüllt,  der  in  Denkern  höhoren 
Ranges,  wie  Dcscartes,  Spinoza,  Leibniz,  zur  Einsieht  in  die  Autonomie  der 
erkennenden  Vernunft  überhaupt  gefülut  hat.  Die  kurze  Analyse  der  Sclu-ift 
De  veritate  zieht  diese  Stelhing  klar  ans  Licht.  Wenn  der  voraufgehende 
Überblick  sich  vorzüglich  mit  der  Entfaltung  der  Autonomie  des  religiösen 
Bewußtseins  im  Zeitalter  von  Humanismus  und  Reformation  beschäftigt,  — 
so  entspricht  das  ebenso  sehr  dem  nun  einmal  feststehenden  Schwergewicht 
der  Bedeutung  Herberts  wie  dem  praktischen  Zweck  der  Arbeit,  die  kirchen- 
geschichtlichen Übungen  dienen  soll. 

Als  bedeutsamer  Versuch,  das  Rätsel  des  theologisch-politischen  Traktats 
zu  lösen,  muß  Bohrmanns  Schrift  gewürd'gt  werden.  Was  das  Verständnis 
dieses  Werkes  so  schwierig  macht,  wenn  nicht  sogar  gänzlich  verbaut,  das  ist 
das  Durcheinander  der  ethischen  und  religiösen  Konzeptionen  der  „Ethik'" 
und  der  Motive  der  Offenbarung-^religion.  Richtig  hat  Frcudenthal  den  Traktat 
als  eine  Tendenzschritt  zugunsten  der  anticrthodoxcn  Kirchenpolitik  Jan  de 
Witts  charaktciisiert.  nicht  mit  gleich  überzeugender  Kraft,  jedenfalls  nicht 
restlos  befriedigend  das  Schwankende  und  Schillernde  darin  mit  der  seltsamen 
Mischung  von  Vorsicht  und  Tapferkeit  im  Wesen  der  Persönlichkeit  Spinozas 
erklärt.  Noch  weniger  aber  kann,  wie  wir  Bohrmann  zugeben  müssen,  ein 
Lösungsversuch  Gebhardts  genügen,  der  den  Traktat  aus  dem  Geiste  der  hol- 
ländischen Freidenker,  der  Neutralisten,  geschrieben  wissen  will.  Denn  immer 
wieder  bricht  —  so  besphders  im  4.  Kap.  —  als  primäre  Wahrheit  die  Sitten- 
lelu-e  der  „Ethik"  hindurch,  und  demgemäß  er-scheint  die  Offenbarungsrelig'on 
hinter  die  Vernunftreligion  geschoben.  Als  Schlüssel  zur  Lösung  —  soweit  sie 
überhaupt  möglich  —  bietet  der  Verfasser  die  Analyse  der  Religionslehre  des 
Traktats  dar,  zeigt  das  Nebeneinander  von  Offenbarungs-  und  Vernunftreligion 
auf  sowie  das  Bestreben,  durch  möglichste  Rationalisierung  der  ersteren  jene 
mit  dem  letztlich  allein  berechtigten  Vernunftstandpunkt  auszugleichen. 
Persönlich  apologetische  Tendenzen,  das  wohlverständliche  Trachten,  den 
Verdacht  des  Atheismus  abzuweluen,  dann  eine  gewisse  übergroße  Vorsicht 
dem  Neuen  Tesfament  gegenüber  sind  neue  Hemmnisse  für  eine  glatte  rei- 
bungslose Darstellung  und  danach  für  das  Verständnis. 

Wir  halten  die  Darlegung  B.s  für  recht  aufhellend,  sehen  aber  gerade 
durch  die  hier  skizzierten  „Prolegomena  usw."  wie  durch  den  ihnen  folgenden 
systematischen  Überblick  über  das  ganze  Werk  eine  neue  Schwierigkeit  in 
ihrer  ganzen  Größe  vor  uns  auftauchen:  daß  der  Traktat  von  zwei  verschie- 
denen Arten  der  Religion  handelt,  ist  nicht  zu  bezweifeln.  Dagegen  wäre  noch 
z.i  fragen,  ob  der  dort  a  isgebreitete  Vernunftglauben  wirklich  ohne  w^eiterej 
mit  der  philosophischen  Religion  der  Ethik  eins  zu  setzen  ist  oder  ob  nich; 
vielmehr  der  Traktat  erst  wichtige  Elemente  der  in  seiner  Zeit  ja  in  der  Luft 
hegenden  natürlichen  Religion  aufgenommen,  sie  mit  derjenigen  der  „Ethik" 
verschmolzen  und  erst  auf  der  Grundlage  dieses  —  spinozistischen  —  Vernunft- 
glaubens zur  Offenbarungsreligion  Stellung  genommen  hat.  Für  uns  bleibt 
darum  auch  nach  der  Untersrieh-m"  Bohrr/ta'ins  ein  Residuum:    Wie  verhält 


Rezensionen.  243 

sich  Spinoza  zur  ,,\'ernunftreligion'"  de'^  17.  .ralirhunrlorts  ?  P^rst  die  Kläiuiig 
dieses  Problems  wird  das  Rätsel  des  Traktats  völlig  zur  Lösung  bringen  können. 
C.  Winckler  bietet  eine  ausgezeichnet  lesbare  Übersetzung  des  Reason- 
ableness,  der  der  lateini.-che  Text  de»  Briefe.5  Liniborcho  an  Locke  vom  26.  März 
1697  angefügt  ist.  In  einer  ausführlichen  Einleitung  gibt  Zscharnack  einen 
Einblick  in  die  Art  des  religiösen  Rationalismus  Lockes,  der  gerade  auf  Grund 
eines  streng  festgehaltenen  biblizistischen  vStandpunktes  eine  Vereinfachung 
der  christlichen  Religion  oder  vielmehr  das  Verständnis  ihres  ursprünglichen 
Sinnes  erreichen  will.  Es  folgt  die  Auseinanders(^tzung  des  Verhältnisoes 
zu  den  „Toleranzbriefen"  und  zum  „Essay"  und  endlich  ein  Überblick  über  die 
geschichtlichen  Wirkungen  der  Lockeschen  Scluift. 

Dr.    Max    Wiener-  Stettin. 

Crabrielo  Gräfin  Wartensleben,  Die  christliche  Persönlichkeit 
im  Idealbild.  Eine  Beschreibung  sub  specie  psychologica.  Köselsche 
Buchhandlung,  Kempen  und  München,  1914. 
Die  knappe  Skizze  malt  von  kirchlich -katholischem  Standpunkt  her  das 
ideale  Bild  der  religiösen  Persönlichkeit;  und  die  treue  Bewährung  der  im  Unter- 
titel gewiesenen  Richtung  verhindert  das  Abgleiten  der  Erörterung  in  ein 
Gebiet,  in  dem  mu-  grundsätzliche  Übereinstimmung  in  der  Weltansicht  irucht- 
bare  Diskxission  und  Verständigung  ermöglicht.  Indem  die  Verfasserin  am 
Begriff  der  Per-^önlichkeit  im  prägnanten  Sinne  die  mehr  oder  minder  vollendete 
Bezogenlieit  alles  Peripherischen  auf  ein  überragendes,  jenes  cTui-chdringende 
Zentrum  herausstellt,  gewimit  sie  zunächst  einmal  formell  die  Möglichkeit, 
um  die  Gotteslielje  als  den.  Mittelpunkt  der  religiösen  Persönlichkeit  alle  übrigen 
Lebensäußerungen  als  Ausstrahlungen  jener  zu  gruppieren.  Diese  Form  füllt 
.sie  mit  Gehalt  durch  die  Aufweisung  von  sieben  Prinzipaltugenden,  die  zu- 
sammen mit  den  davon  abgeleiteten  ein  lebenswahres  Bild  ergeben.  Befton- 
ders  glücklich  dünkt  uns  die  Charakt^erisierung  des  religiös-ethischen  Ideals 
des  Heiligen.  Obwohl  das  mystische  Erlebnis,  das  in  der  unbedingten  rest- 
losen Versenkung  in  den  göttlichen  Urgrund  beruht,  keine  Differenzierung 
und  Nüanzierung  des  von  ihm  erfüllten  Bewußtseins  zuzulassen  scheint,  wird 
gezeigt,  wie  die  verschiedenen  Anschauungen  von  (^ott  bzw.  von  Christus  sich 
in  Besonderheiten  mystischer  Erfahrungen  und  ihnen  entsprechenden  eigen 
gearteten  Idealen  heiligen  Lebens  niederschlagen.  — ■  Die  Fülle  wirklich  kenn- 
zei(!hnender  Zitate  aus  den  Schriften  der  hervorragendsten  Gestalten  der  katho- 
.schen  Kirche  sei  besonders  dankbar  anerkannt. 

Dr.  Max  Wiener-  Stettin. 

Emanucl  Hirsch,  Fichtes  Religionsphilosophie  im  Rahmen  der  philo- 
sophischen Gesamtentwicklung  Fichtes.     Göttingen,  Vandenhoeck  und 
Rupiecht.    1914. 
Die  folgerichtige  Ausführung  der  Aufgabe  ergibt  für  die  religionsphilo- 
c-ophische  Entwicklung  Fichtes  die  gleiche  Disposition  wie  für  die  Gesamt- 
'ehre:  an  die  Offenbarungskritik  der  Kantischen  Periode  schließt  sich,  mit 
dieser  kaum  durch  gemeinsame  Punkte  verknüpft,  die  Zeit  der  früheren  Wissen- 


244  Rezensionen. 

Schaftslehre  bis  1801,  darauf  deren  reife  Entfaltung  mit  der  Unibiegung  in 
den  Pantheisnirs.  Hirsch  gibt  jedesmal  eine  bis  ias  einzelne  gehende  Zer- 
gliederung der  allgemein  philosophischen  und  im  besonderen  ethischen  Kon- 
zeptionen Fichtes.  Auf  diesem  Fundament  wird  die  Beurteilung  einleuchtend, 
daß  das  System  des  radikalen  Moralismus  für  eine  positive,  nicht  etwa  nur 
kritisch  ihren  Gegenstand  zersetzende  Philosophie  der  Religion  von  vornherein 
wenig  fruchtbar  erscheint,  zumal  durch  das  absolute  Ich  oder  das  Ich  als  Idee 
dem  Eegriff  von  Gott  der  Raum  entzogen  wird,  in  dem  er  tatsächlich  wirksam 
sein  könnte.  Unter  solchem  Gesichtspunkte  ist  daher  auch  der  Erwägung 
zuzustimmen,  daß  die  auf  Grund  einiger  Stellen  aus  der  Sittenlehre  von  1798 
möglich  scheinende  Identifizierung  des  aus  der  Person  herausgesetzten  reinen 
Ich  mit  C^ott  nicht  im  Sinne  Fichtes  liege.  Oder  vielmehr  damals  noch  nicht 
lag.  Indem  aber  die  „Icbviidige  und  wirkende  moralische  Oidnung"  mit  Gott 
einsgesetzt,  diese  moralische  Weltordnuiig  hinwiederum  im  unendlichen  Streben 
des  reinen  Ich  realisiert  gedacht  wird,  tritt  das  reine  Ich  schließlich  als  mit 
derjenigen  Funktion  bedacht  hervor,  die  vernünftigerweise  für-  den  Gottes- 
begriff allein  bereit  steht.  Gott  kann  also  schließlich  nicht  als  eine  besondere 
Realität  neben  dem  absoluten  Ich  begriffen  werden,  sondern  er  ist  „die  Ge- 
stalt, unter  d^r  die  Qualität  des  reinen  Ich  dem  Unphilosophen  erscheint." 
So  wird  durch  die  Scheidung  zwischen  philosophischem  und  unphilosophischem 
Bewußt.- ein  jene  Disharmonie  auszugleichen  versucht.  Das  war  freilich  erst 
ein  Anfang  zur  Lösung.  Die  Fortentwicklung  des  Systems,  für  deren  Dar- 
stellung von  Hirsch  hauptsächlich  „die  Bestimmung  des  Menschen"  herange- 
zogen wird,  geht  von  der  Isoliertheit  der  Einzeliche  aus,  die  als  Rgalität  höherer 
Ordnung  eine  „gemeinschaftliche  geistige  Quelle'',  nämlich  Gott,  verlange.  Diese 
Richtung,  welche  die  populäie  „Bestimmung  des  Menschen"  nach  lichtes 
eigener  Meinung  nicht  gründlich  zur  Klarheit  bringt,  entfaltet  sich  nun  in 
den  späteren  Darlegungen  der  Wissenschaftslehre  zur  Reife.  Wird  jetzt  die 
Urrealität,  das  Absolute,  vorangestellt,  als  das  im  Grunde  einzige  Sein  be- 
schrieben, so  scheint  diese  spinozistische  Wendung  des  Sj'stems  das  Wissen, 
d.  h.  aber  uns  einzelne  Menschen,  im  Sein  aufgehen  zu  lassen,  zugiunde  zu 
i-ichten.  Sicherlich  bedeutet  das  den  Übergang  zur-  mystischen  Rehgion. 
Aber  der  Verfasser  zeigt  mit  Klarheit  auf,  wie  nicht  eine  ursplünglich  mystische 
Tendenz  im  Fichteschen  Denken  dieses  Resultat  gezeitigt  hat,  sondern  wie 
gerade  umgekehrt  sich  die  Entwicklung  vollzieht:  „Das  spekulative  System 
des  reinen  Moialismus  vermag  sich  gegenüber  der  Vernichtung,  die  ihm  vom 
Gemeinschaft^ gedanken  her  droht,  nur  zu  behaupten,  indem  es  wird  zur  speku- 
lativen Leln-e  von  Gott."  Dr.    Max  Wiener  -  Stettin. 


Die  verehrlichen  Leser  bitten  wir  um  gefl.  Beachtung  der  auf  der 
vierten  Uraschlagseite  befindlichen  Anzeige  „Philosophische  Bibliotliek 
zn  kaufen  gesucht". 


Die  beiden  Grundtypen 
des  Philosophierens 


Versuch  zu  einer  psychologischen  Orientierung  in 
den  philosophischen  Strömungen  der  Gegenwart  ' 


Von 


Dr.  Vladimir  Dvornikovic 


Preis  2,50  M. 


B  E  R  L I  N  W  57,  Bülowstraße  56 

Druck  und  Verlag  von  Leonhard  Simioii  Nf. 

1918 


^ 


Dem  Andenken  an  Friedrich  Jodl 


gewidmet 


Ls  ist  sicherlich  im  ganzen  Bereiche  des  gegenwärtigen 
philosophischen  Strebens  kein  zweiter  Punkt  aufzufinden,  in  dem 
sich  ein  wirklich  gemeinsamer,  unabweisbarer  Drang  in  einer  so 
eindeutigen  Form  kundgeben  würde,  wie  gerade  in  der  Forderung 
nach  einer  durchgehenden  Orientierung  in  der  allzubunten  Fülle 
des  niodenieii  Philosophierens.  Die  immer  stärker  im  Wachsen  be- 
griffene Zahl  der  einleitenden,  geschichtlichen,  synthetischen  und 
systematischen  Literatur  bTldet  ein  geradezu  symptomatisches 
Zeichen  dafür.  Da  muß  aber  ernstlich  die  Frage  erhoben  werden: 
in  welchem  Verhältnis  steht  nun  der  positive  Ertrag,  der  wirklich 
bisnun  verifizierte  Qehalt  dieser  Versuche  zu  den  Dimensionen  dieser 
sämtlichen  Orientierungsliteratur? 

Wer  sich  tatsächlich  als  ein  Teilchen,  als  Mitträger  der  philo- 
sophischen   Qesamtbestrebung    fühlt,    wer    es    liebt,    von    der   ge- 
schichtlich-traditionellen schweren  Armatur  abzusehen,  um  bis  zum 
lebendigen   Pulse   „unter  die  Haut"   der   Philosophie  einzudringen, 
der  wird  sich  von  der  weitaus  größten  Zahl  der  heute  vorliegenden 
synthetischen  Orientierungsversucbe  gar  nicht  befriedigt  finden.    Es 
sind  nämlich  darunter  sehr  wenige  Versuche  anzutreffen,  welche  die 
tatsächlich    bestehenden,    erlebten    und    empfundenen    schwersten 
Krisen  der  heutigen  Philosophie  in  ihrer  eigentlichen  unmittelbaren 
Erlebnisart  aufgedeckt,  in   ihren  eigensten  Tatbeständen  offen  und 
aufrichtig  ausgedrückt  und  eingestanden  haben.  Es  gut  dies  nament- 
lich für  synthetische  Werke  von  mehr  „offiziellem"  Anstriche,  von 
Kompendien.    Lehrbüchern    und    Einleitungen.    Ein    Philosoph    von 
heute  weiß  wirklich  nicht,  wie  er  durch  den  schweren  Panzer  all 
dieser   terminologisch   armierten   Philosopheme   auf  kürzestem,    un- 
mittelbarstem Wege  zu  jenem  Ansatzpunkte  vordringen  soll,  wo  sein 
ei  gen -erlebtes    philosophisches   Weben    und    Streben    an   das 
objektiv  Vorliegende  anknüpfen  soll. 

Es  wäre  wirklich  von  besonderem  Interesse,  praktisch-metho- 
disch \on  besonderem  Werte,  wenn  uns  die  bedeutendsten  Vertreter 


(5  V 1  a  d  i  m  i  r  D  V  o  r  n  i  k  o  V  i  c 

der  heutigen  Philosophie  ein  ausführliches  Geständnis  darüber  ab- 
legen würden:  wie  lange  sie  dazu  gebraucht  haben,  bis  sie  zu 
jenem  lebendigen  Kern  des  historisch-philosophischen  Stromes  vor- 
gedrungen waren,  wo  ihr  Individuell-philosophisohes  an  das  Gene- 
risch-philosophische  organisch  angebunden  werden  konnte. 

Für  alle  wirklich  Philosophierenden  wäre  dies  eine  höchst 
lehrreiche  Statistik,  weil  man  dadurch  auf  eine  direkte,  unver- 
fälschte Weise  erfahren  würde,  in  welch  ungünstigem  Verhältnisse 
in  der  philosophischen  „Embryologie",  —  die  schließlich  jeder  ein- 
zelne durchmachen  muß  —  die  Känogenesis  zur  Palingenesis 
dieser  Embryologie  steht.  Die  Anknüpfungsweise  des  philosophie- 
renden Individuums  an  das  objektivierte  Ganze  der  Philosophie 
scheint  sich  theoretisch  wie  auch  praktisch  immer  schwieriger  zu 
gestalten;  die  richtige,  unmittelbarste  „subjektive  .\niknuphmgs- 
formel"  scheint  immer  weiter  entrückt  zu  sein.  Man  könnte  viel- 
leicht sagen,  daß  es  sehr  viele  gibt,  die  zu  einer  solchen  unverfehlten 
„Anknüpfung"  niemals  voll  und  richtig  gelangt  sind. 

Die  völlige  Desorganisation,  die  verwirrend  bunte  termino- 
logische Armatur  scheint  den  lebendigen  Puls  des  einheitlichen 
Menschlich-philosophischen  zudecken,  erdrücken  zu  wollen. 

Auf  welcher  Seite  liegt  da  die  Schuld?  —  auf  d'er  subjektiven 
oder  objektiven  Seite  dieses  Verhältnisses?  —  Mir  scheint  .sie  in 
der  gebräuchlichen  Verknüpf ungs weise  beider  Momente  zu 
liegen.  Wenn  wir  genauer  zusehen,  auf  welche  Weise  man  gewöhn- 
lich „emführt",  orientiert,  informiert,  so  springt  uns  vor  allem  die 
allzu  philosophische  Art  dieser  Orientierungen  ins  Auge,  — 
mag  auch  diese  Konstatierung  im  ersten  Augenblick  paradox 
klingen.  Wir  sehen  alle  diese  Orientierungsversuche  in  ihren  Aus- 
gangspunkten gerade  dort  einsetzen,  wo  sie  eben  zum  Abschluß  ge- 
langen sollten;  wir  sehen,  daß  sie  ihre  ersten  Angriffspunkte  gerade 
dorten  aufzufinden  bestrebt  sind',  wo  sie  ihr  "letztes  Ziel  erblicken 
sollten;  daß  man  zumeist  von  den  fertig  geformten,  subtil  zuge- 
spitzten Emanationen  des  philosophischen  Geistes  ausgeht,  bei  den 
höchst  ausgeprägten,  durchwegs  erkenntnis  theoretischen,  innerlich 
philosophischen  Distinktionen  und  Problemstellungen  anfängt,  statt 
an  das  Ganze  der  Philosophie  von  einer  breiteren,  einfacheren  Grund- 
lage aus  heranzutreten. 

Man  will  in  die  Philosophie  einführen,  in  der  Philosophie  orien- 


Die  beiden  Grundtypen  des  Pliilosophierens  7 

tieren  —  durch  diese  Philosophie  allein,  im  Rahmen  dieser  Philo- 
sophie allein.    Man  sucht  die  Ausgangs-  und  Endpunkte  im  Rahmen 
der  fertig  vorliegenden  historischen  Gestaltungen  der  Philosophie. 
Man  wirft  sich  unmittelbar  in  das  breite  Fahrwasser  des  philosophi- 
schen Strehen-s  und  Kämpfens,  man  trachtet  direkt  in  die  innigsten 
methodischen  und  sachlichen  Gegensätze  dieser  philosophia  militans 
einzudringen,  in  der  Kampfarena  je  früher  einen  besonderen  Platz  mit 
einem  ganz  besonderen  eigenen  (möglichst  neuen  und  originellen) 
,.—  ismus"  einzunehmen  um  ihn  gegen  alle  irgendwie  gegensätzliche 
„—  ismen"  standhaft  zu  behaupten.  Das  Gemeinsam-charakteristisoho 
an  allen  diesen  „Kampforientierungen"  —  werni  man  sie  nämlich 
beim  richtigen  Namen  neiuien  soll  —  ist  nun  das  Folgende:  man  tritt 
mit  einem  gewissen,  mehr  oder  minder  deutlich  angelegten,  schon 
ebenfalls  philosophischen  Standpunkte  heran,  schafft  sich  auf  Grund 
der    gegenseitigen    relativen    Gegensätze    einzelner    philosophischen 
Standpunkte  und  Philosopheme  ein  durchaus  inneres,  ebenfalls  rela- 
tives Kriterium,  vermittels  dessen  man   dann  eine  Orientierungs-. 
rectius  eine  Kampfstellung  besteigen  soll.    Einen  gewissen  —  ismus 
mißt  man  an  einem  zweiten  und  so  geht  das  fort  in  einem  im  Kreise, 
ohne  zu  einem  weiten  Blicke  überhaupt  Atem  zu  gewinnen.    Es 
muß  da  die  Frage  erhoben  werden,  ob  nach  bisherigen  Erfahrungen 
überhaupt  diese    usuelle    Grundlage    phüosophischer    Orientierungen 
und  Einführungen  als  die  eigentlich   einzige  prinzipiell  berechtigte 
und    notwendige,    ja    sogar    selbstverständliche    Einführungsweise 
gelten  soll? 

Sind  denn  wirklich  alle  diese  Distinktionen  und  innerlich  sach- 
lichen Stützpunkte  der  philosophischen  Praxis  und  des  philosophi- 
schen Kampfes  selbst  zur  gleichen  Zeit  auch  als  die  einzig  richtigen 
und  möglichen  Ausgangs-  und  Stützpunkte  einer  prinzipiellen  Zu- 
rcchtfindung,  einer  Einführung  in  die  Philosophie  überhaupt  anzuneh- 
nien?  Bisherige  Erfahrungen,  wie  auch  eine  prinzipiell-methodische 
Erwägung  scheinen  entschieden  dagegen  zu  sprechen.  Muß  denn 
eine  philosophische  Orientierung  auch  einzig  und  allein  philosophisch 
bleiben?  Dürfen  wir,  —  ohne  eine  „absolute  Philosophie"  über  allen 
diesen  Philosophien  zu  fordern  —  behufs  einer  bloßen  Orientierung, 
zur  Auffindung  ehier  weitest  angelegten  Anknüpfungsform cl  an  die 
objektivierte  Philosophie  auf  einen  anderswie  möglichen  metho- 
dischen  feehelf   zu    diesem    Orientierungszwecke    denken?     Dürfte 


}-i  V 1  a  d  i  ni  i  r  D  V  o  r  n  i  k  o  V  i  c 

man  nicht  vom  Standpunkte  dieses  methodischen  B  e  d  ü  r  f  - 
n  i  s  s  e  s  aus  auf  ein  „Heraustreten"  aus  dier  Philosophie  denken,  um 
eben  dadurch  ein  sicher  orientiert)es  Eintreten,  Eingreifen  zu  erfol- 
gen, zu  ermöglichen?  Gäbe  es  außerhalb  der  „Innerlichkeit"  der 
Philosophie  selbst  gar  keine  weitere  Grundlage,  in  welcher  die 
Ausgansspunkte  der  Orientierung,  die  „Eingangspunkte"  in  jene 
Innerlichkeit  aufgefunden,  d.  h.  in  den  Rahmen  der  Philosophie  selbst 
fortsesponnen  werden  könnten? 

Es  soll  dabei  nochmals  und  ausdrücklich  lietont  werden,  daß  es 
sich  bei  einem  solchen  Ausgreifen  zum  Zwecke  des  Eingreifens  um 
einen  b  1  o  I.!  methodisch  gehaltenen  Z  ii  g  handeln  würde  — 
um  ein,  sozusagen,  technisch-heuristisches  Mittel.  Uns  scheint  nun 
dieses  methodische  Vehikel  in  dem  zentralen  Brennpamkte  aller 
theoretischen  und  praktischen,  sachlichen  und  methodischen 
Probleme  und  Angelegenheiten  der  Philosophie  gelegen  zu  sein:  in 
der  unmittelbar  erlebten  allgemein-psychischen  Basis  des  Ver- 
hältnisses und  der  Stellung  des  spezifisch  Philo- 
sophischen zu  sämtlichen  Aktivitäten  des  Qei- 
s  t  e  s.  Es  gilt  also  aus  dem  engeren  Rahmen  des  philosophischen 
Tuns  und  Treibens  selbst  in  einen  weiteren  Umkreis  psychischer 
Inhalte  und  Relationen  überzutreten,  um  von  diesem,  un- 
mittelbar und  breitest  fundierten  Gesichtspunkte  die  Erlebnisart,  die 
schlichte  psychologische  Natur  dieses  Tuns  und  Treibens  von  der 
nächsten  Nähe  anzuschauen  und  zu  bestimmen.  Ohne  dadurch  im 
geringsten  der  prinzipiellen  Entscheidung  des  Problems  einer 
„Psychologisierung"  der  Philosophie  vorzugreifen,  geht  unsere 
Forderung  nach  einer  psychologisch  fundierten  Orientierung  und 
Einführung  darauf  hinaus,  ein  methodisches  Vehikel  in  Probe  zu 
stellen,  einem  alten  Bedürfnisse  auf  eine  neu  geartete,  neueren  me- 
thodischen Erfahrungen  entnommene  Weise  entgegenzukommen. 

Es  soll  überhaupt  die  Frage  aufgeworfen  werden:  ist  eine 
psychologische  Einführung  und  Orientierung  in 
d  e  r  P  h  i  1  0  s  0  p  h  i  e  prinzipiell  möglich  und  z  u  1  ä  s  si  g  ? 
Wenn  ja,  in  welchem.  Sinne  und  in  welchem  Bereiche?  Wäre  viel- 
leicht eine  so  fundierte  Einleitung  sogar  notwendig,  dem  allgemei- 
nen wissenschaftlichen  und  philosophischen  Stande  völlig  adäquat? 

Niemanden  kann  es  verwehrt  werden,  in  der  Praxis  und 
frischer  Tat  der  Forschung  sich  neue  Werkzeuge  und  Behelfe,  neue. 


Die  beiden  Orundtypen  des  Philosopliierens  9 

wenn  auch  /iinächst  individuell-subjektiv  verifizierbare  technische 
jMittel  zu  schaffen.  Wir  lassen  uns  hier  auch  nichts  weiter  ange- 
legen sein,  als  eine  solche  zunächst  subjektiv,  praktisch  gehaltene 
Formel  zu  einer  prinzipiell  methodischen  Objektivierung  vorzu- 
.sclilagen,  einer  objektiv-methodischen  Prüfung  zu  unterziehen. 

Dabei  sind  wir  uns  dessen  vollkommen  bewußt,  mit  einer  sol- 
chen Forderung  der  psychologisch  methodisierten  Einführung  in  die 
Philosophie  der  Gegenwart  mit  gewissen  bedeutenden  philosophi- 
schen Kreisen  von  vornherein  in  den  schärfsten  prinzipiellen  Gegen- 
satz geraten  zu  sein.  Wir  sind  uns  aber  in  demselben  Moment  auch 
dessen  nicht  minder  bewußt,  daß  der  so  viel  verabscheute  Psycho- 
logismus als  methodisch-philosophisches  Problem  aus  dem  Felde 
philosophischer  Aktualität  gar  nicht  weggeleugnet  werden  kann  und 
daß  gerade  in  neuester  Zeit  infolge  gewisser  psychologischer  Be- 
wegungen (experimentelle  Methode  in  der  Psychologie  des  Denkens 
und  Erkennens)  das  psychologisch-philosophische  Problem  —  im 
weitesten  Sinne  des  Wortes  —  zu  einer  offenen,  einfachen  Tatsache 
geworden  ist.  Es  soll  hier  nur  auf  dias  vortreffliche  allzuwenig  ge- 
würdigte Buch  C.  Wenzigs')  aufmerksam  gemacht  werden,  der  es 
unternommen  hat,  verschiedene  Weltanschauungsformen  auf  ihre 
psychogenetisch  gemeinsamen  Grundformeln  zurückzuführern,  —  um 
eben  dadurch  in  rein  philosophischer  Hinsicht  höchst  anregend  und 
klärend  zu  wirken.  Die  fertige  Tat  dieser  psychologischen  Ein- 
leitung Wenzigs  greift  also  unserer  prinzipiellen  Frage  zuvor. 

Während  nun  diese  durchwegs  psychologisch  fundierte  Einlei- 
tung auf  das  fertige  Gebilde,  auf  das  Gerüst  gewisser  Weltanschau- 
ungen gerichtet  ist  (Monismus,  Dualismus.  Vitalismus,  Mechanismus, 
Evolutionismus  mit  ihren  formell-methodischen  und  psychologischen 
Wurzeln),  handelt  es  sich  in  unserem  methodisch-prinzipiellen  Ver- 
suche um  die  psychologische  Aufhellung  der  Grundtypen  und  Grund- 
methoden des  Philosophierens  selbst,  um  das  Tun  und  nicht  um 
fertige  Taten,  fertige  Formierungen  der  Philosophie. 

Sämtliche  moderne  philosophische  Divergenzen  lassen  sich  nie 

^)  W  e  n  z  i  g-  C,  Die  Weltanschauungen  der  Gegenwart  in  Gegen- 
satz lind  Ausgleich.  Einführung  in  die  Grundproblerae  und  Grundbegriffe 
der  Philosophie.  Leipzig,  1907  („Wissensch.  und  Bildung".  Bd.  14).  — 
Dieses  Werk  wurde  von  der  Ta.geskritik  in  schablonmäßiger  Weise  mit 
Lob  abgefertigt. 


10  VI  adimi  r  Dvor  nikovii' 

in  ihren  eigentlichen  Wurizehi  als  (bloß)  philosophische  Gegensätze 
begreifen;  denn  diese  Gegensätze  sind  im  Grunde  auch  psycho- 
logische Gegensätze.  Ihre  Ansatzpunkte  liegen  in  der  breiteren, 
allgemein-psychischen  Konstellation,  in  dem  Bereiche  aller  der- 
jenigen Regulative,  die  von  Anfang  an  auf  die  Betätigung  und  Ent- 
faltung des  Intellektes  als  philosophischen  Organs  von  Einfluß  ge- 
wesen sind.  Es  genügt  dazu  ein  einfacher  Hinweis  auf  die  ge- 
bräuchliche philosophische,  erkenntnistheoretische  Charakterisierung 
und  Benennung  philosophischer  Richtungen  und  Standpunkte:  gibt  es 
unter  diesen  Bezeichnungen  eine  einzige,  die  voll  und  ganz  das 
Wesen  irgend  eines  Philcsophems  ausdrücken  würde?  mit  allen 
ihren  Seiten,  allen  Motiven  und  entscheidenden  Konsequenzen? 
Sind  nicht  alle  diese  —  ismen  durchaus  einseitig,  relativ  eingestellt? 
Greifen  wir  nur  eines  der  geläufigsten  Beispiele  heraus:  die  ge- 
wöhnlichie  erkenntnistheoretische  Entgegensetzung  von  Rationalis- 
mus und  Empirismus.  Wie  einseitig,  farblos  und  eng  erschenit  uns 
diese  Entgegensetzung,  wenn  wir  all  ähc  Momente  ins  Auge  fassen, 
die  damit  regelmäßig  verknüpft  erscheinen,  die  man  aber  durch 
neue  getrennt  ausgedrückte,  von  anderen  neuen  Ausgangspunkten 
hergeleitete  —  ismen  kennzeichnen  muß.  Und  doch  führt 
uns  der  synthetische  Blick  dazu,  innerhalb  dieser  getrennten,  relativ 
entgegengesetzten  Charakterisierungen  auf  beiden  Seiten  einen  ein- 
heitlichen Habitus,  der  dies  alles  in  sich  zusammenfassen  soll,  zu 
konstruieren.  Es  muß  doch  unter  diesem  äußeren,  augenscheiTilich  so 
zerrissenen  Angesicht  ein  verborgen  einheitliches  Leben  vor  sich 
gehen.  Es  muß  doch  alles,  was  sich  in  seiner  innerlichen  Verwandt- 
schaft und  äußerer  Getrenntheit  um  die  Grundbezeichnung  des 
Rationalismus  auf  einer  und  des  Empirismus  auf  anderer  Seite  her- 
umschart einem  einzigen  inneren  Habitus  entsprechen.  Es  muß  da 
auf  beiden,  so  differenzierten  Seiten  ein  gemein- 
samer K  on  V  e  r  g  e  n  z  p  u  n  k  t  d  a  r  u  n  t  e  r  s  t  e  c  k  e  n  ;  von  den 
subtilsten  philasophischen  Zuspitzungen  muß  zur  psychologischen, 
genetischen  Ouelle  zurückgegangen  werden.  —  um  eben  zu  diesem 
Punkte  vorzudringen. 

Die  ganze  äußere  schwere  philosophische  Ar- 
matur soll  bis  zu  r  psychologischen  Nacktheit,  bis 
zum  alleinigen  lebendigen  Pulse  des  Philosopie- 
r  e  n  s  ab g  e n o  m m  e n  wer d' e n  ! 


Die  beiden  Gruiidtypen  des  Philosophierens  11 

Was  steckt  da  eigentlich  auch  psychologisch  wirkliches  und  le- 
bendiges? Nur  im  Wege  solcher  Fragestellungen  werden  die  gegen- 
seitig-relativen, anscheinend  chaotischen  Divergen-zen  auf  gewisse 
abgeschlossene  Qrundtypen  zurückgeführt  und  zusammengebunden 
werden.  Die  daraus  resultierenden  Typen  werden  sich  also  zu 
psychologischen  Qrundtypen  des  Philosophierens 
überhaupt  gestalten  müsse  n. 

Ebenso,  wie  die  metaphysischen  und  erkenntnistheoretischen 
Entgegensetzungen  antithetisch  diichotomisch  vorgehen,')  werden 
wir  auch  hier  zu  einer  psychologischen  Antithesis  gelangen.  Die 
ganze  Summe  der  miteinander  unverbundenen,  koordinierten  Cha- 
raktere auf  einer  Seite  soll  zu  einem  einheitlichen  Qnmdhabitus  im 
Gegensatz  zum  analogen  Orundhabitus  auf  anderer  Seite  vertieft  und 
zusammengebunden  werden.  Es  wird  also  auch  dieser  Einteilung 
eine  gegenseitig  rückwirkende  Charakterisierung  zu  Grunde  ge- 
legt, es  soll  aber  zu  einer  einzigen,  einfachen  Grund  anti- 
thesis kommen  statt  nnzähliger.  mit  einander  unverbundenen  par- 
tiellen Antithesen. 

Wir  wollen  nun  von  irgend  einer  engeren  Antithesis  erkennt- 
nistheoretischer Natur  ausgehen,  um  durch  Ausbreitung  und  Ver- 
tiefung hieraus  zu  jener  allgemdn  psychologischen  Qrundformel  zu 
gelangen,  die  auch  andere  verwandte,  manchmal  auch  philosophisch 
„nichtverwandte"  Momente  in  sich  aufnehmen  wird.  Fassen  wir 
zunächst  die  gebräuchlichste  Entgegensetzimg  von  Rationalismus 
und  Empirismus  ins  Auge.  Wie  würde  sich  d'a  die  oben  erwähnte 
„Vertiefung"  gestalten? 

Am  Grunde  aller  Rationalismen  finden  wir  den  ersten,  klassi- 
schen, „schlechthin  philosophischen"  Typus.  Von  den  ersten  histo- 
rischen Kundgebungsformen  des  philosophischen  Dranges  bis  auf  un- 
sere Tage  erscheint  uns  dieser  Typus  als  reicher,  stärker  und  abge- 
schlossener repräsentiert  als  der  zweite,  den  empirischen  Philosophe- 
men  zu  Grunde  liegende  Typus.  Das  Formale  und  Statische  kommt 
in  diesem  Typus  zum  besonderen  Ausdruck;  Philosophie-geschicht- 
lich deckt  er  sich  im  allgemeinen  mit  der  von  E.  Laas  geprägten 


2)  Über  diesen  Punkt  sind  ne.uerding's  einige  spezielle  Arbeiten  er- 
schienen, darunter  Hofman  Paul,  Die  antithetische  Struktur  des  Be- 
wußtseins.    Qrundleguncr  der  Theorie  der  Weltanschauungsformen. 


1  ^|  V 1  a  d  i  m  i  r  D  V  o  r  n  i  k  o  V  i  (' 

„Platonisiereiiden  Philosophie".  Das  Gemeinsame  in  diesem  Typus 
von  seinem  ersten  Anftreten  in  der  Geschichte  bis  auf  den  modernen 
Neukantianismus  l>esteht  darin,  daß  die  gesamte  Erkenntnistätigkeit 
und  Erkeniitnisriclitung  nach  einem  fertig  vorausgesetzten  morpho- 
logischen und  ideologischen  Gerüst  orientiert  ist.  Den  eigentlichen 
Kern  und  die  Grundlage  bildet  dieses  formale  Gerüst,  welches  auf 
dogmatischer,  wie  auch  auf  kritischer  Stufe  als  unbedingt  notwendig 
postuliert  wird,  so  daß  sämtliche  Philosopheme  von  diesem  Typus 
gewiissermaßen  „von  oben  nach  unten"  orientiert  sind.  Von  der 
Form  geht  man  zum  hilialte,  von  der  Norm  und  vom  Ideal  zur 
Tatsache  über.  Dieses,  schon  vorphilasophisch  angelegte  und  aus- 
gebildete Grundgerüst  gestaltete  sich  dann  in  den  ersten  historischen 
Formen  der  Philosophie  zu  einem  ausgepräglen  und  spezifischen 
—  eben  philosophischen  Postulat.  Durch  eine,  sozusagen  „Über- 
wachsung",  durch  die  in  Unendlichkeit  projizierte,  vom  Inhalte  ab- 
gelöste Morphologie  des  Erkennens  kam  es  im  Schöße  der  helleni- 
schen Kultur  zum  ersten  Mal  zu  diesem  ausgesprochen  „philosophi- 
schen" Postulat,  —  welches  vom  biotischen  Erkenntnispostulat  ab- 
wich, ja  sich  zu  ihm  in  direkten  Gegensatz  stellte.  Das  Auftauchen 
dieses  neuen,  eben  spezifisch  philosophischen  Erkenntnispostulates, 
ging  als  psychologisches  Ereignis  —  wie  wir  es  hier  aus- 
drücklich auffassen  wollen  —  als  ein  vorzugsweise  negativ-privater, 
idealbildender  Prozeß  vor  sich.  Dieses  Postulieren-Projizieren,  dieses 
Hinausgehen  über  das  Tatsächliche  und  Absehen  vom  Tatsächlichen 
fand  nun  seinen  endgültigen  Abschluß  in  einer  „rein"  philosophischen 
Zielsetzung,  in  der  Forderung  nach  einer  absoluten  Erkenntnis  der 
absoluten  Wahrheit.  Mit  dieser  mehr  oder  minder  klaren  Ziel- 
setzung trat  die  Philosophie  auf  und  dieses  ideomorphologische 
Skelett  blieb  von  Anfang  an  bis  auf  den  heutigen  Tag  als  derjenige 
Kernpunkt  bestehen,  der  über  die  dogmatisch-kritische  Grenze  hin- 
aus durch  alle  tiefer  und  tiefer  gehende  regressive  Autokritik  im 
Wesenthchen   intakt,   unverändert,   griundlegend   geblieben   ist. 

Es  wäre  nun  eine  besondere  zunächst  rein  psychologische  Auf- 
gabe: dieses,  im  vorwissenschaftlichen  Intellekt  angelegte  und  vor- 
gebildete Ideal  in  bezug  auf  seine  Psychogenesis  und  seine  rein 
psychologische  Natur  zu  untersuchen.  Wie  mag  es  nun  zu  einem 
solchen  Erkenntnisideal  gekommen  sein,  worin  besteht  der  psycho- 
logische Inhalt  und   die  Wurzel   dieses  Ideals?     Warum  mußte  es 


Die  beiden  Orundtypen  des  Philosophierens  i;j 

auf  (Irund  der  .gesamten,  psycliolosischen.  Insbesondere  intcllek- 
iiiollcn  Konstellation  gerade  zu  einem  derart  formierten,  zum 
spezifisch-  philosophischen  Erkenntnisideal  kom- 
men? Es  muß  doch  einen  ganz  besonderen,  auch  rein  philosophi- 
schen Reiz  haben:  der  bloßen  Möglichkeit  und  Statthaftigkeit  einer 
solchen  Fragestellung  sich  bewußt  zu  werden.  Wir  wollen  hier  gar 
nicht  weiter  erörtern,  warum  gerade  solche  Fragen  nach  der  Psycho- 
genesis  des  philosophischen  Postulates  an  und  für  sich  in  ihrer  Zii- 
lässigkeit  oder  saugen  wir  philosophischer  ..Nützlichkeit"  bisher  bei 
weitem  nicht  in  dem  Maße  klargestellt  und  gewürdigt  wurden,  als 
sie  es  gerade  in  der  heutigen  Sachlage  verdienten.  Liegt  ja  nicht 
auch  der  Bildung  dieses  obersten,  spezifisch-philosophischen  Erkennt- 
nisideals ein  und  dasselbe  psychologische  Grundschema  des  Ziel-  und 
Idealent Werfens  und  Formierens  überhaupt  zu  Grunde?  Wird  uns 
dieser  Gedankengang  nicht  schon  dadurch  nahegelegt,  daß  in  dem 
Rahmen  der  neueren  psychologischen  Forschung  auch  die  gesamte 
intellektuelle  Tätigkeit  als  eine  psychologlsclie  und  physiologische 
Aktivitätsform  in  ganz  analoger  Weise  mit  anderen  psychischen  Po- 
tenzen aufgefaßt  wird  und  somit  als  psychische  Tätigkeit  vom 
Grundschema  der  Ziel-  und  1  d  e  a  1  b  i  1  d  u  n  g  gar  nicht 
a  u  s  g  e  n  0  m  e  n  \\^  e  r  d  c  n  kann?  Zu  einem  solchen  psycho- 
logisch-methodischen Eingreifen  in  das  höchste  Erkenntnisideal 
selbst  werden  wir  schon  deswegen  auf  Grund  historisch-philosophi- 
scher, spezialwissenschaftlicher  und  psychologischer  Erfahrungen 
veranlaßt,  weil  eben  auf  diesen  Verifikationswegen  das  absolute  Er- 
kenntnisideal in  seiner  klassischen  Urform  unhaltbar,  undienlich,  ge- 
danklich unvollziehbar  und  illusorisch  geworden  ist.  Dieses  prak- 
tisch unhaltbare,  durch  seine  abgründlich  tiefe  Leere  und  Dunkelheit 
zugleich  anziehend  und  beklemmend  wirkende  absolute  Erkenntnis- 
ideal wird  mit  einem  Schlage  weit  einfacher  und  begreiflicher,  wenn 
man  an  die  Sache  auch  psychologisch  herankommt.  Schauen  wir 
uns  den  eigentlichen  Bildungsweg  und  Werdegang  dieses  Ideals  mit 
dem  ganzen  zugehörigen  morphologischen  Unterbau  aus  der  un- 
mittelbaren psychologischen  Nähe  an! 

Der  Ausgangspunkt  liegt  auch  hier,  wie  bei  a)llen  ideologischen 
Projektionen  in  dem  Erlebten,  Unmittelbaren,  Inhaltlichen.  Das 
Psychisch-reale,  das  Konkret-individuelle,  von  allen  damit  zu- 
sammenhängenden   psychischen    Potenzen    getragene   faktische 


]^4  Vladimir  Dvorn  ikovii' 

Erkennen  bildet  die  einzig  mögliche  Grundlage  zu  diesem  ideologi- 
schen „Überbau".  Nur  im  Substrate  des  Faktischen,  „Seienden" 
kann  auch  hier  die  Projektion  des  Idealen,  die  Forderung  des  Not- 
wendigen ihren  ersten  Ursprung  gefunden  haben.  Einzelne  konkre- 
ten, bindenden,  einengenden  Relationen  werden  „weggedacht",  auf- 
gelöst, das  tatsächlich  erlebte  Erkennen  in  allen 
Richtungen  ringsum  von  seiner  realpsychischen 
Bedingtheit  aus  dem  real-psy  chischen  Konn  e  xus 
„ab  — s  Ol  viert"  —  und  nun  steht  die  erste  Projek- 
tion s  r  i  c  h  t  u  n  g  d  er  „absoluten"  Erkenntnis  offen 
V  o  r  u  n  s. 

Während  das  tatsächlich  erlebte  Erkennen  immer  nur 
als  ein  konkret-einzelnes  Erkennen  auftritt,  soll  es  auch  ein  allge- 
meines Erkennen,  ein  Erkennen  überhaupt  geben.  Während  die 
individuell  erlebten  Erkenntnisse  zeitlich  und  räumlich  determiniert 
und  bestimmt  sind,  gestaltet  sich  das  ideale  Erkennen  zu  einem  zeit- 
und  raumlosen  völlig  indeterminierten  Erkennen,  zur  Philosophie 
sub  specie  aeternitatis.  Außer  den  einzel-konkreten,  unfertigen,  rela- 
tiv geltenden  Wahrheiten  muß  es  auch  eine  dieser  Veränderlichkeit 
und  Relativität  völlig  entrückte  Erkenntnisweise  geben,  die  unver- 
änderliche, dem  Subjektiven  und  Relativen  entwichene,  eben  abso- 
lute Wahrheiten  zum  Ziele  hat.  Durch  einfaches  Wegdenken  ge- 
wisser psychisch-realer  Determinationen  im  Wege  einer  negativen 
Abstraktion  entstand  dieser  ideomorphologische  Rahmen,  der  sich 
dann  in  seiner  immensen  Weite  der  „Ausfüllungsaufgabe"  aufge- 
tan hat.  Der  psychologische  Blick  aber  lehrt  uns  der  Bodenlosig- 
keit  dieses  Idealgebildes  mutiger  ins  Auge  zu  schauen,  in  der  größten 
philosophischen  Unfaßlichkeit  eine  psychologische  Einfachheit  zu  er- 
kennen. Die  beiden  Pole  des  Erkennens,  der  morphologisch- 
statische und  der  fluktuell-inhaltliche  wurden  nämlich  in  der  Weise 
getrennt,  daß  die  morphologische  Seite  als  autonome  Seltbsttätigkeit 
und  das  einzige  Erkenntnisregulativ  vom  Inhalte  losgetrennt,  hypo- 
stasiert,  absolutiviert  wurde.  Diese  Absolut isation  des 
morphologischen  und  ideologischen  Momentes  in 
dem  Erkennen  erscheint  uns  somit  als  der  eigent- 
liche Qrundchar  akt  er  dieses  ersten  Typus.  Man 
könnte  ihn  also  kurz  den  ideomorphologischen,  statischen  Typus 
nennen,    weil   in   seinem   Erkenntnisideal   ein   besonderes   Streben 


Die  beiden  Grundtypen  des  Philosophierens  15 

nacii    einer   endgültig   abgeschlossenen    Erkenntnisstatik    zum   Aus- 
druck   gelangt.    Es    wird    gewissermaßen    ein    ideales    End- 
stadium  der  Erkenntnis  postuliert  und    entworfen,  —  wozu  uns 
das  Hegeische  System   mit    seinem    charakteristischen    Ansprüche 
auf  historische  „Endgültigkeit"  als  bestes  Beispiel  gelten  kann.    Die 
nähere   Beschaffenheit   dieses    morphologischen   Erkenntiiisgebäudes 
folgt  mm  aus  seiner  Psychogenesis.  aus  der  Art  und  Weise  seiner 
Ablösung  vom  Inhaltlich-faktischen.    Der  sämtlichen  „biologischen" 
Erkenntnis determination  und  Relativität  werden  analoge  reine  Ab- 
solutheiten   der   spezifisch   philosophischen   Erkenntnis    entgegenge- 
stellt.    Der   psychologisch   erlebbaren   Vemum'ttätigkeit   wird   eine 
philosophische  reine  Vernunft  entgegengestellt,  —  übrigens  eine  ur- 
alte, vorbildliche  Forderung    im    Rahmen    aller    „platonisierenden" 
Philosopheme.^)    Denn  nur  in  einer  entsprechend  absoluten  Vernunft 
kann  die  Trägerin  der  absoluten  Wahrheit  gegeben  sein.    Der  höch- 
sten absoluten  Wahrheit  wird  demnach  auch  eine  entsprechend  ab- 
solutivierte  und  konstruierte,  der  bloßen  psychologischen  entgegenge- 
setzte reine  Vernunft  auf  die  Seite  gestellt.    Damit  wird  die  Abso- 
lutisation  als  Ermöglichung  und  Sicherstellung  des  Erkenntnisideals 
zu  Ende  gebracht     und    die    Erk  enntnista  tsächlichkeit 
mit  einem  Schwünge  von  einem  immensen  Bogen 
der     Erkenntnisnotwendigkeit,     des     Erkenntnis- 
postulates überhöht,  ja  zugedeckt    Die  idealen  Postii- 
late  werden  verselbständigt,   indem   sie   eben   der  Tatsächlichkeit 
übergestellt  werden,  um  dadurch  zu  einem  festen  Stütz-  und  Aus- 
gangspunkte, Endkriterium  und  Endquell  der  rationalen,  einzig  philo- 
sophischen Erkenntnis  erhoben  zu  werden. 

Im  R a h m  e n  d i e s  e  r  losgelösten,  a b s o  1  u  t i  v  i e  r  t  e n 
Morphologie  allein  ergeben  sich  dann  alle  Grund- 


')  Zu  dieser  „Vernunft"  sagt  E.  L  a  a  s  :  »Wenn  der  Sensualismus 
lehrt,  daß  alle  Vorstellungen  ...  nur  abgeleitete  und  umgebildete  („trans- 
formierte") Empfindungen  (Wahrnehmungen)  seien,  nehmen  Piaton  und 
Kant  neben  und  über  den  sinnlichen  Tatsachen  ein  in  spontaner  Tätig- 
keit mit  „reinen"  Formen  und  Begriffen  operierendes,  übrigens  nicht 
animalisches,  sondern  spezifisch  menschliches,  geistiges  Vermögen 
(„Vernunft")  an,  aus  dem  alles  „Denken"  und  „Erkennen"  seinen  Ur- 
sprung und  seine  „Qiltigkeit"  nehme«,  In:  Idealismus  u.  Positivismus, 
III.  Bd.,  S.  3.  .  * 


1;5  Vladimir  Dvornikovir 

r  e  '^  u  1  ;i  t  i  V  c ,  alle  P  r  o  b  1  e  m  s  t  e  11  u  n  .y;  e  n  und  - 1  ö  s  u  n  - 
.i^  e  n ,  alle  Wahrheiten  und  i  h  r  ^c  Kriterien  von 
selbst.  Alles,  was  außerhalb  diieses  apriorischen  Rahmens  liegte 
kann  ganz  und  gar  nicht  zu  den  philosophischen  Erkenntnisinstanzen 
gerechnet  werden,  kann  durchaus  nicht  auf  diesen  geschlossenen 
Rahmen  Einfluß  nehmen. 

Die  formale  Kraft  des  Erkeimens  ging  nach  seiner,  schon  ur- 
sprünglich biologisch  bedingten  Abhebung  vom  Konkret-in- 
haltlichen zu  einer  endiosen  Seibstentfaltnug  und  Selbstbe- 
tätigung über,  hl  seiner  ersten  historischen,  pliilosophisch  primitiv- 
sten Form  äußert  sich  dieses  rationale  Kraftbewußtsein  in  der  an- 
tiken (vorzugsweise  Eleatischen)  Dialektik.  Als  weitere  folgende 
Differenzierungen  dieser  verselbständigten  formalen  Entfaltungs- 
kraft treten  die  reine  Mathematik  und  Logik  auf,  wobei  die  erste 
jedoch  schon  „vorphilosophisch"  zum  Ausdruck  gelangt  war.  Die 
„Platonische  Scheu  vor  dem  Relativen  und  Variablen"*)  nimmt  dann 
weiter  in  der  Geschichte  der  Philosophie  und  der  Wissenschaft  ver- 
schiedenste differenzierte  Formen  an.  Während  dieser  formale 
Typus  schon  in  den  ersten  philosophischen  Anfängen  eine  Opposition 
seines  negativen  Antitypus  erlebt  hat,  wiederholt  sich  dieser  in  der 
hellenischen  Gedankenwelt  kilassisch  vorgebildete  Gegensatz  erst  in 
der  neuzeitlichen  Philosophie,  —  um.  zuletzt  in  unseren  Tagen  die 
spezifische  zeitgemäße  Form  des  logizistisch-psychologischen  er- 
kenntnistheoretischen Gegensatzes  anzunehmen.  Im  Verhältnisse 
des  Formalen  zum  Materialen,  des  Normativen  zum  Wirklichen  fan- 
den die  meisten  philosophischen  Probleme  ihren  Ursprung  und 
W'ährend  die  gesamte  empirische  Wissenschaft  der  Hellenen,  des 
Mittelalters  und  der  frühesten  Neuzeit  nicht  imstande  war,  die  abso- 
lute Autonomie  des  Formalen  ernstlich  zu  gefährden,  verblieb  sie 
noch  tief  in  die  neuzeitliche  Epoche  in  ihrer  Selbstherrlichkeit  unan- 
getastet. Da  kam  aber  diie  neue  Wissenschaft,  es  taten  sich  neue 
Erkenntnisquellen  und  -aussiebten  auf  und  das  formal-materiale 
Problem  erwachte  zu  neuem  weit  aktuelleren  Leben.  Im  Kritizis- 
mus Lockes  und  liumes  erschien  die  erste  mutige  Hand,  die  es  ge- 
wagt hat,  an  dem  eisernen  Gerüst  der  traditionellen 
Erkenntnismorphologie  ernstlich  zu  rüttein. 


*)  E.  L  a  a  s ,  Idealismus  und  Positiivismus,  III.  Bd.,  S.  7. 


Die  beiden  Grundlypen  des  Philosophierens  ]  7 

Wiedervereinigung  von  Inhalt  und  Form,  von  Tatsache 
und  Norm  gestaltete  sich  zu  einem  philosophischen  Bedürf- 
nisse ersten  Ranges,  aber  auch  zum  Anlaß  des  heftigen  Zusammen- 
stoßes der  autonom-rationalen  historischen  Traditionen  mit  der 
neuen  kritischen  und  synthetischen  Forderung. 

Bis  über  die  „kritische"  Grenze  hinaus  versucht  sich  das  Formale 
in  seiner  souveränen,  losgelösten  Stellung  aufrecht  zu  erhalten;  von 
der  Absolutisation  der  Wahrheit  als  getreuer  „Abspiegelung",  ja 
..Schaffung"  der  Welt  ging  man  jetzt  in  dem  kritischen,  methodischen 
Zeitalter  zur  Absolutisation  des  Logizismns  und  der  apriorischen 
Kategorien,  zur  Rettung  und  Sicherung  der  reinen  Logik  und  des 
reinen  Apriori  über.  Während  der  erste  kritische  Griff  Lockes  und 
Humas  zur  gleichen  Zeit,  ja  eigentlich  ein  psychologisch-analytischer 
Griff  war,  stellte  sich  die  spätere  Kantische  Varietät  des  Kritizis- 
mus in  einen  entschiedenen  Gegensatz  zu  diesem  psychologisch 
aposteriorischen  englischen  Kritizismus,  in  dem  sie  das  autonom- 
apriorische Kontinuum  aufrecht  hielt  und  ihr  Hauptaugenmerk  wie- 
der und  abermals  auf  das  Absolute,  Über-  und  Außerempirische, 
Über-  und  Außerpsychische  richtete.  Es  gibt  sich  somit  in  dem 
ganzen  modernen  psychologistisch-antipsychologistischen  Streit  der 
alte  Gegensatz  beider  Typen  in  einer  neuen  zeitgemäßen  —  eben 
..kritizisierten"  Form  kund. 

Die  Abneigung  gegen  alle  empirische  Psychologie,  nam.entlich 
aber  gegen  alle  ihre  irgendwie  geartete  philosophische  Ein- 
griffe wurde  vom  Altmeister  treu  in  die  Erbschaft  übernommen 
und  hl  weit  radikalere  Spitzen  getrieben.®)  Bekanntlich  gestalten 
sich  erst  die  neuesten  Ausläufer  des  Kantianismus  (namentlich  in  der 
„Marburger  Schule")  zu  einem  ausgesprochenen  Antipsychologis- 
mus.  Die  „Farblosigkeit"  des  Meisters  in  dieser  Beziehung  wird  so- 
gar öfters  der  koncisen  Begriffsfassung  des  modernen  Logizismus 
entgegengesetzt. 

Die  traditionelle  Abneigung  gegen  das  Sachliche  und  Relative 
gestaltet  sich  eben  auf  dem  kritischen  Stadium  zur  ausgesprochenen 


^)  In  Bezug  auf  Kant  selbst  sagt  zum  Beispiel  Stumpf:  „Vernach- 
lässigung der  Psychologie  ....  ist  ein  Grundschade  des  kantischen 
Philosophierens",  Psychologie  und  Erkenntnistheorie  (Abhandl.  d.  philos, 
philol.  Classe  d.  Kgl.  Bayer.  Akad.    19.  Bd.,  1892,  S.  493. 

2 


lg  Vladimir  Dvo  i  ni  l<ovio 

Abneigung  gegen  alle  Psychologie,  namenblicli  aber 
.liegen  alle  .?nöglichen  Eingriffe  und  Einmengungen  in  das  Rein- 
apriorische, Philosophische.  Der  alte  formale  Charakterzug  kommt 
jetzt  in  der  neuen  Form  als  ein  spezifisch-methodischer  Standpunkt 
desselben  nun  k  r  i  t  i  z  i  s  i  e  r  t  e  n  Typus  zum  Ausdruck. 

Diese  Aversion  ist  im  Grunde  vollkommen  identisch  mit  der 
erwähnten  „Platonischen  Scheu".  Die  Notwendigkeit  des  Logischen 
einerseits  und  die  Tatsächlickeit  des  Psychologischen  andrerseits 
haben  mit  einander  für  alle  Zeiten  gar  nichts  zu  tun.  An  die  Stelle 
des  methaphysisch-ontologischen  Dogmas  ist  nun  das  „logizistische 
Dogma"  getreten  und  die  so  beliebte  Abgrenzung  der  dogmatischen 
Philosophie  gegen  die  kritische  erweist  sich  als  durchaus  relativ;  es 
kann  im  Gegenteil  nur  von  einer  stufenartigen,  relativ  immer  weiter 
schreitenden  „Kritizisierung"  der  Philosophie  Rede  sein.  In  dem  ge- 
samten Kantisch  orientierten  Kritizismus  steckt  nur  eine  neue 
Sicherungs-  und  Transformationsformel  desselben  alten  formalen 
Grundtypus.  Dieses  typische  Kontinuum  manifestiert  sich  am  aus- 
geprägtesten in  der  aktivsten  und  markantesten  neukantischen  Rich- 
tung unserer  Tage,  in  der  Marburger  Schule,  weil  diese  ausge- 
sprochen logizistische  Richtung  klipp  und  klar  die  Erfahrungs- 
quelle  des  Erkennens  ablehnt  und  das  logisch-formale, 
apriorische  Moment  als  die  einzige  eigentliche  Erkeuintnisinstanz  hin- 
stellt. Nur  durch  das  Denken  wird  auch  die  Erfahrung  zur  Erfah- 
rung, eine  besondere  „Erfahrung"  außerhalb  des  Denkens  erscheint 
daher  als  Erkenntnisquelle  vollkommen  überflüssig. 

Die  Absolutisation  bleibt  also  auch  über  die  kritische  Grenze  als 
Grundcharakter  vollkommen  bewahrt,  sie  wird  sogar  konsequenter 
imd  methodischer  durchgeführt,  im  Gegensatz  zum  empiristischen 
Typus  noch  schärfer  ausgeprägt  und  erkenntnistheoretisch  gegen 
allen  möglichen  Psychologismus  am  zähesten  verteidigt.  Schon  das 
„Äußere"  dieser  Philosophie,  ihr  Wirkungskreis  und  ihre  Methode, 
ja  auch  ihre  spezifische  Terminologie  und  Phraseologie  weist  die  un- 
unterbrochenen historischen  Spuren  ihres  psychogenetischen  Ur- 
sprunges auf:  der  abstraktiven  Privation  nämlich  aus  dem  real- 
psychischen Substrate.  Es  ist  im  höchsten  Grade  bezeichnend  für 
alle  modernen  Philosopheme  von  diesem  Typus,  namentlich  aber 
für  die  meisten  neukantischen  Richtungen,  daß  einige  charak- 
teristische Termini  und  Attribute  mit  besonderer 


Die  beiden  Grundtypen  des  Philosophierens  19 

\orliebc,  mit  geradezu  auffallender  Durchgän- 
gigkeit  und  Wiederholung  gebraucht,  betont  und 
auf  allen  Gebieten  in  analoger  Weise  angewandt 
werden.  Dieses  beliebteste  Attribut  ist  die  Rein- 
heit mit  einigen  anderen  sinnverwandten  und  analogen  Termini. 

Wir  erblicken  darin  das  ausgeprägteste  und  auffälligste 
..äiincre''  Zeichen  jener  idealbildenden  Privation,  die  wir  am  Anfang 
als  psychogenetische  Qrundformicl  dieses  nicht  bloß  gegenwär- 
tigen und  historischen,  sondern  allgemein  intellektuell-psychologischen 
Typus  hingestellt  haben.  Denn  in  dieser  Philosophie  ist  alles  rein: 
reine  Vernunft,  reine  Begriffe,  reine  Logik,  reiner  Verstand,  reines 
Gesetz,  reine  Norm,  reines  Ich,  reines  Subjekt,  reines  Objekt,  reine 
Form,  reine  Erkenntnis,  reines  Denken,  reine  Ideen,  reine  An- 
schauung, reine  Erfahrung,  reine  Vorstellung,  reine  Wahrheit,  reiner 
Wille,  reines  Gefühl,  reiner  Wert  usw. 

Um  hier  nur  eines  von  den  bedeutenden  Beispielen  anzufüh- 
ren, machen  wir  auf  die  drei  analogen  Titel  der  drei  Teile  vom 
Cohen'schen  Hauptwerk  „System  der  Philosophie"  aufmerksam: 
LogiK  der  reinen  Erkenntnis,  Ethik  des  reinen  Willens, 
Ästhetik  des  reinen  Gefühls;")  — ^das  Übrige  braucht  gar  nicht  mit 
Beispielen  illustriert  zu  werden,  da  dieses  Attribut  in  der  Ter- 
minologie kantischer  und  neukantischer  Werke  auf  jeder  Seite  anzu- 
treffen ist.  Vikarierend  dafür  wird  auch  „bloß"  gebraucht:  „Er- 
kenntnis aus  bloßen  Begriffen",  „bloße  Ideen",  „bloße  Vernunft" 
usw.,  ebenso  auch  einige  negative  Bezeichnungen:  unabhängig,  un- 
ableitbar, unbegrenzt,  unbedmgt  u.  a.  Statt  dieser,  zumeist  in 
positiver  Form  ausgedrückten  Privationen  und  Ablösungen  wird 
noch  eine  Menge  negativer  und  privativer  Präfixe,  Präpositionen  und 
Adverbien  als  sozusagen  „Absolutisations-hebel"  gebraucht,  wo- 
durch der  im  Grunde  negative  Charakter  dieser  Morphogenesis  noch 
stärker  zum  Ausdruck  gelangt.  Diese  charakteristischen  sprach- 
lichen Ablösungs-,  Absolutisationsmittel  verleihen  all  diesen  Phiio- 
sophemen  ein  besonderes,  eigentümliches  Gepräge,  an  dem  sie  so- 
zusagen schon  äußerlich  erkannt  werden  können.    Wir  brauchen  hier 


^)  Hermann  Cohen,  System  der  Philosophie  I.  Teil,  Loigik  der 
reinen  Erkenntnis,  Berlin  1902,  2.  Aufl.,  1914;  II.  Teil,  Ethik  d.  reinen 
Wissens,  ibid.  1904  (2.  Aufl.  1907)  u.  III.  Teil,  Ästhetik  d.  reinen  Ge- 
fühls, 2   Bände,   ibid.   1912. 

2* 


20  VladiniirDvornikovii' 

zur  Illustration  nur  einige  der  gebräuchlichsten  von  diesen  gram- 
matischen Absolutisationshebeln  anzufüliren:  un-  (un-zeitlich,  un- 
räumlich, nn-endlidi,  nn-abhängig  usw.);  über  (über-individuell. 
über-zeitlich,  über-sinnlich,  über  alle  Erfahrung;  außer,  außer- 
halb (außer-psychisch,  außer-inhaltlich,  außer-zeitlich,  außer-indivi- 
duiell.  außer-dinglich,  außerhalb  der  Erfahrung  usw.;  von  besonderer 
Bedeutung:  an  sich,  für  sich,  an  undfürsich,  (Ding  an  sich. 
Erkennen  an  sich.  Denken  an  sich,  Subjekt  an  sich,  Objekt  an  sich, 
Wahrheit  an  sich  —  oder  auch  „für  sich"  statt  „an  sich",  Fürsich- 
sein, Eigensinn).  Unter  diesen  Bezeichnungen  ist  zumeist  dasselbe 
zr  verstehen,  wie  auch  unter:  reines  Ding,  reine  Vernunft,  bloßes 
Ding,  bloße  Vernunft  usw.;  schlechthin,  schlechtwegs 
mit  analoger  Funktion  wie  auch  an  sich,  für  sich  (Das  Erkennen 
schlechthin,  die  Vernunft  schlechthin  u.  a.);  überhaupt  —  wieder 
in  ähnlicher  Bedeutung  (Die  Wahrheit  überhaupt,  die  Erkenntnis 
überhaupt  usw.);  trans,  super,  jenseits  (trans-zendent,  trans- 
zendental, bewußtsein-trans-zendent,  erfahrungs-trans-zendent,  er- 
kemitnis-trans-zendent,  trans-subjektiv,  trans-empirisch,  super-indi- 
vi'duell,  jenseits  aller  Erfahrung,  jenseits  der  Dinglichkeit);  ab-,  (ab- 
solut, ab-strakt  u.  a.). 

Es  erhält  dieser  Typus  eine  ganz  eigene  Physiognomie  gerade 
durch  diese  konsequent,  symmetrisch  durchgeführte  und  angewandte 
„absolutivierende"  Terminologie  mit  ihren  verschiedensten  sprach- 
lichen Vehikeln  von  ein  und  derselben  —  eben  abstrakt-prdvativen 
Funktion.  Es  geht  nämlich  diese  sämtliche  Ausdrucksweise  auf  die 
Absolutisation,  Verselbständigung,  ja  Hypostasierung  des  Formalen 
und  Idealen  über  das  Inhaltliche  und  Tatsächliche  hmaus.  Es  wh-d 
auf  diese  Weise  im  ganzen  Umkreise  der  tatsächlich  gegebenen 
Erkenntnisbeziehungen  durch  einfache  negative  Ab-strahierung  die 
Abtrennung  und  die  Abhebung  des  absolut  gültigen  morphologischen 
Gerüstes  ein  für  allemal  vollzogen.  Der  ganze  Loslösungsprozeß 
lief  somit  auf  eine  durchgehende  Absolutisation  hinaus.  Sie  wurde 
dann  wirklich  in  ihrer  virtuellen  Form  durchgeführt,  ausgebaut  und 
in  glänzender  Form  verschiedenste]-  Systeme  vertreten. 

Nur  durch  eine  psychologische  Deutung  dieses  Typus  wird  uns 
neben  der  tiefsten  Innigkeit  und  feinsten  Konstruk- 
tivität  auch  seine  gleichzeitige  äußere  Leichtig- 
keit, Einfachkeit,  Durchgängigkeit  und  ästhetisch 


Die  beiden  Qriindtypeii  des  Philosopliierens  21 

wirkende  Abgeschlossenheit  vollauf  begreiflich. 
t!s  wird  uns  auch  zur  gleichen  Zeit  begreiflich,  warum  schon 
vom  Platonischen  ////dt/c  (r/toi/itQ/jToc:  IiöItcj  angefangen  über 
den  „lehren  Raum"  Descartes',  die  Spinozische  Ethik  niorc  geo- 
metrico,  und  die  Laplace'schc  „Weltformel"  bis  auf  den  modernen 
Mcukantianisnnis  diesem  philosophischen  Typus  die  mathema- 
tische Methode  als  die  wissenschaftliche  Erkenn  tmsform 
schlechthin  gegolten  hat  und  heutzutage  gilt.  Die  Erkenntnisfunk- 
tion wurde  im  Grunde  mathematisiert,  das  Quantitative  dem  Ouali- 
tätiven  übergestellt.  Kein  Wunder  also,  wenn  dieser  Typus  von 
seinem  Urparadigma  Plato  über  die  Scholastik  und  die  rationalisti- 
schen Anfänge  der  neuzeitlicl\en  Philosophie  bis  auf  Kant  und  seme 
Epigonen  als  der  geschichtlich  mehr  abgerundete,  voller  ausgeprägte, 
stärker  vertretene,  ja  als  der  „philosophische  Typus  schlechthin"  an- 
gesehen wird.  Denn  er  hat  eine  durchgängige  spezi- 
fische Methode  im  Sinne  eines  und  desselben 
Graimdpos  tulates  ausgebildet,  und  in  wiederholten 
grandiosen  Versuchen  mit  gewaltigem  Schwünge  dieses  Postulat  ein 
für  allemal  voll  und  fertig  auszuführen  gesucht  —  ebenso  in  seinen 
nachkritischen  wie  auch  vorkritischen  Stufen.  Das  historische  Kon- 
tinuum  dieser  typischen  Reihe  blieb  bis  auf  den  heaitigen  Tag  voll- 
kormmen  aufrecht  erhalten.  Es  läßt  sich  daher  an  der  ganzen  Riehl- 
schen  „Einführung  in  die  Philosophie  der  Gegenwart"  nichts 
weniger  bestreiten  als  der  Schlußsatz  —  und  „Verteidigungssatz"  — 
des  Vorwortes:  ., —  war  es  doch  eben  mein«  Absicht,  zu  zeigen,  daß 
die  Philosophie  der  Vergangenheit  in  wesent- 
lichen Punkten  noch  immer  auch  die  der  Gegenwart 
ist."'')     (Unterstrichen  im  Zitat). 

Das  Streben  nach  einem  festen  Archimedischen  Punkte,  von 
welchem  aus  alles  Erkennen  mit  einem  einfachen  Griffe  und 
Schwünge  ausgeführt,  geregelt  und  entschieden  werden  könnte,  ge- 
staltet sich  zur  offenen  oder  stillschweigenden  Vorausset^.ung  aller 
wirklich  statisch-formalen  Philosopheme. 

Es  wird  ein  absoluter  Anfang  gesucht,  um  zu  einem  ebenso 
sicheren  Ende  und  Erkenntnisabschluß  zu  gelangen.     Es  strebt 


^)  A.  R  i  e  h  1 ,  Zur  Einführung  in   die  Philos.  der  Oegen"wart,  Acht 
Vorträge.  Leipzig,  1913,  S.  VI. 


22  V 1  a  d  i  m  i  r  D  V  o  r  II  i  k  o  V  i  ('■ 

das  Ganze  dieser  Philosopheme  nach  einer  festen 
endgültigen  Statik,  unveränderlicher  Form  und 
M  n  w  i  d  e  r  r  u  f  1  i  c  h  e  m  Abschlüsse. 

Obgleich  in  den  Rahmen  einer  Skizzierung  beider  Erkenntnis- 
typen eine  ausführliche  psychologische  Betrachtung  ihres  methodi- 
schen unid  inhaltlichen  Unterbaues  und  ihres  gegenseitiigen  Verhält- 
nisses nicht  hineingehört,  so  möchten  wir  doch  hier  bezüglich  des 
ersten  Typus  —  wenn  auch  nachträglich  —  einige  Hinweise 
auf  die  neueren  psychologischen  Daten  und  Be- 
lege   in  dieser  Beziehung  hinzufügen. 

Es  scheint  die  ganze  neuere  exakte  Psychologie  des  Erken- 
nen« und  Denkens  (Würzburger  Schule  eingeschlossen)  unserem 
psychologischen  Problem  noch  gar  nicht  in  dem  Maße  gewachsen 
zu  sein,  um  auf  die  jetzige  Fassung  und  eine  vorläufige  Lösung 
dieses  Problems  entscheidend  wirken  zu  können.  Dazu  steckt  diese 
ganze  Denkpsychologie  noch  allzu  tief  in  ihren 
ersten  methodischen  Anfängen  und  e lern entarsten 
inneren  Gegensätzen.  Unsere  —  ohnehin  schon  geschicht- 
lich und  crkeimtnistheoretisch  vorgebildete  —  Aufstellung  beider 
psychologisch-philosophischer  Gnmdtypen  konnte  daher  gar  nicht 
in  lenem  Maße  auf  exakt-psychologische  Resultate  gestützt  werden, 
wie  es  eigentlich  wünschenswert  wäre.  Introspektive  Erfahrungen 
aus  der  unmittelbaren  philosophischen  „Praxis"  mit  den  zugehörigen 
objektiven  Ergänzungen  mußten  hier  zum  eigentlich  einzig  möglichen 
Ausgangspunkt  herangezogen  werden  —  ganz  im  Sinne  des  Vor- 
schlages von  W.  Wandt:  man  möge  die  gelegentliche  Selbstbeob- 
achtung mit  der  völkerpsychologischen  Betrachtung  kombinieren. 
Obgleich  die  Wundtsche  Kritik")  der  Würzburger  Methode  in  bezug 


'')  Hier  die  Auswahl  aus  der  neuesten  exakten  Denk-  und 
Erkenntnispsy°chologie  :  Dürr  N.,  Über  die  experimentelle 
Untersuchung  der  Denkvorgänige  (Vortrag  auf  d.  3.  Kongr.  d.  Qesellsch. 
f.  exper.  Psychologie  zu  Frankfurt  a.  M.;  dazu  verw;andte  Arbeit  von 
Aster  E.  v.,  Die  psychologische  Beobachtung  und  experimentelle  Un- 
tersuchung von  Denkvor^rängen  in  „Zeitschr.  f.  Psychol."  Bd.  49,  1908: 
Kiilpe  O.,  Über  die  moderne  Psychologie  des  Denkens  in  „Inter- 
nationale Monatsschrift"  Juni,  1912;  von  demselben  Autor:  Versuche 
über  Abstraktion  im  „Bericht  üb.  d.  1.  Komgr.  f.  exper.  Psycho).". 
Leipzig.     1904;     Messsr     A.,     Experimientell-psycholoigische     Unter- 


Die  beiden  Grundtypen  des  Philosophierens  2i\ 

auf  ihre  experimentelle  Denkpsychologie  und  den  „pseudoexperi- 
mentellen" Charakter  dieser  Psychologie  gerade  vom  Standpunkte 
unserer  Psychologie  des  Ph  il  osoph  ie  rens  aus  in  vielen 
Punkten  gutgeheißen  werden  kann,  so  scheint  doch  auch  diese  Me- 


suchun.gen  über  das  Denken  im  „Archiv  f.  d.  ges.  Psycholagie",  Bd.  VIII., 
Leipzig,  1906  (über  Urteile,  Befgriff  u.  a.)  und:  Bemerkungen  zu  meinen 
„Experimentell-psychologischeai  Untersuchungen  über  das  Denken"  im 
„Archi-v  f.  d.  ges.  Psycho!.",  III.  Bd.,  1907;  Stör  ring  Q.,  Experimen- 
telle Untersuchunigen  über  einfache  Schlußprozesse  im  „Archiv  i.  d.  ges. 
Psychol."  XI.  Bd„  Leipzig  1908  (bedeutend);  Bühler  K.,  Tatsachen 
und  Probleme  zu  einer  Psychol.  der  Denkvorgämge  I.  u.  II.  Teil  im 
„.\rchiv  i.  d.  ges.  Psychologie",  Bd.  IX  und  XII;  Kritik  dieser  Ar- 
beiten von  W.  Wundt:  Über  Ausfrageexperimente  und  über  die 
Methoden  zur  Psychologie  des  Denkens,  „Psychologische  Studien". 
III.  Bd.,  Leipzig,  1907  und  Kritische  Nachlese  zur  Ausfragemethode  im 
„Archiv  f.  d.  ges,  Psychol.",  Bd.  XI,  S.  445  (Polemik  gegen  „Würz- 
burger-Schule"); Stör  ring  Q.,  Experimentelle  u.  psychopathologische 
Untersuchungen  über  das  Bewußtsein  der  Gültigkeit  im  „Archiv  f.  d. 
ges.  Psychol.",  Bd.  XIV,  1909;  Watt  Henry  J.,  Experimentelle  Beiträge 
zu  einer  Theorie  des  Denkens  im  „Arch.  f.  exp.  Psychol.",  Bd.  IV, 
Leipzig.  1905  (Würzb.  Schule);  Qroos  K„  Experimentelle  Beiträge  zur 
Psycholagie  des  Erkennens  in  der  „Zeitschr,  f,  Psychol,",  Bd.  XXVI., 
Leipzig,  1901;  Marbe  K.,  Experimentell-psychologische  Untersuchungsn 
über  das  Urteil,  Leipzig,  19011.  (Der  erste  exper.  Versuch  auf  diesem 
Gebiete):  Ach  Narziss,  Über  den  Willensakt  und  das  Temperament. 
Leipzig,  1910  (Das  Denken  wird  als  Willenstätigkeit  betrachtet); 
Taylor  Clifton.  Über  das  Verstehen  von  Worten  und  Sätzen  in  der 
..Zeitschr.  i.  Psychol.",  40.  Bd.,  1906;  Müller-Freienfels,  Typen- 
vorstellungen und  Begriffe.  Untersuchungen  zur  Psychologie  des  Den- 
kens in  d.  „Zeitschr.  f.  Psychol.",  Bd.  64;  Bühler  K.,  Antwort  auf  die 
von  W.  Wundt  erhobenen  Einwände  gegen  die  Methode  der  Selbst- 
beobachtung an  experimentell  erzeugten  Erlebnissen  im  „Arch.  f.  d,  ges, 
Psychol.".  Bd.  XII;  Achenbach,  Experimentalstudie  über  Ab- 
straktion und  Begriff sibildung  „Arch.  f.  d.  ges.  Psychol.",  Bd.  35; 
Schulze,  Zur  Experimentalpsyohologie  des  Denkens  im  ,^rch.  f.  d. 
ges.  Psychol.",  Bd.  XU,  S.  193;  Koffka  K.,  Zur  Analyse  der  Vor- 
stellungen und  ihrer  Gesetze,  eine  experimientelle  Untersuchung; 
W  r  e  s  c  h  n  e  r .  Experim,  über  d.  Assoziation  d.  Vorstellungen  „Bericht 
üb.  d.  I,  Kongr.  f.  exper.  Psychol.",  1904;  Anschütz,  Über  d.  Er- 
forsch, d.  Denkvorgänge,  Zirkfeld,  1913:  Qrünbaum  A.,  Über  die  Ab- 
strakticMi  der  Gleichheit,  „Arch.  f.  d.  ges.  Psychol.",  Bd.  12,  1908; 
W  u  n  d  t  s  Studien  übtr  den  Bewußtselnsumfang  in  ,Philos.  Studien". 
Bd.  7  und  ähnliche  Untersuchungen  von  Dietze,  ibid.  Bd,  2;  Stern 


24  Vladimir  Dvoinikovir 

thode  der  Ausfrageexperimente  schon  bis  jetzt  einige  Fingerzeige, 
durchaus  dienliche  partielle  Weisungen,  Anregungen  und  Ausblicke,  — 
wenn  auch  nicht  Lösungen  für  unsere  „morphogenetische"  Frage  — 
zu  Tage  gefördert  zu  haben.  Es  mögen  hier  nur  einige  solche  posi- 
tive Momente  nachträglich  unter  dem  Gesichtspunkte  obiger  Aus- 
führungen berührt  werden. 

Dabei  kommen  m  erster  Linie  die  denkexperimentellen  For- 
schungen in  der  neuesten  deutschen  Psychologie  in  Betracht,  vor 
allem  die  stattliche  Zahl  der  Arbeiten  aus  der  „Würzburger  Schule", 
die  eben  unlängst  in  Oswald  Külpe  ihr  Oberhaupt  verloren  hatte. 
Es  sind  dies  die  unten  angeführten  Arbeiten  von  Külpe  selbst,  von 
Bühler,  Qordon,  Qrünbaiun,  Messer  u.  a.  neben  den  anderen,  durch 
diese  Schule  angeregten  Forschungen  (z.  B.  von  G.  Störring  und 
seinen  Schülern). 

Ein  gewisser  Mangel  an  grandlegender  Theorie  und  besonderer, 
klarer  Fragestellung  bildet  den  gemeinsamen  Charakterzug  der 
meisten  von  diesen  ersten  exakten  Versuchen,  —  abgesehen  davon, 
daß  darunter  noch  keine  solche  aufzufinden  sind,  die  es  auf  eine 
breiter  fundierte  Morphogenesis  des  Erkennens  abgesehen  hätten 
und  bisher  überhaupt  absehen  konnten.  Einige  Versuche  über 
Apperzeption  und  Abstraktion  (besonders  negative,  neglektive  Ab- 
straktion) kommen  aus  der  ziemlich  engen  Auswahl  dieser  Literatur 


W.,  Die  psychol.  Methoden  der  Intelligenzprüfuns?  .  .  .  .,  „Bericht  üb.  d. 
I.  Kongr.  f.  experim.  Psycho!.",  1912;  Allgemeiner  Natur  sind 
Werke:  Qeyser  J.,  Eiuführunig  in  d.  Psychologie  d.  Deiik-vorgänge, 
Paderborn,  1908;  Erdmianii,  B.,  Umrisse  zur  Psychologie  des  Den- 
kens i.  d.  Sigwartfestschrift,  Tübingen  1900  (rein  deskriptiv);  Müller- 
Freienfels,  Das  Denken  und  die  Phantasie,  Leipzig  1916;  Maier 
H.,  Psychol.  d.  emotionalen  Denkens,  Tübingen  1908;  Bohn  G.,  die 
Entstehung  d.  Denkvermögens,  Leipzig  1912;  Stör  ring  Q.,  Zur  Lehre 
von  d,  allgem.  Begriffen  „Phil.  Studien",  XX.  —  Aus  d.  französi- 
schen Literatur  möchte  ich  auf  die  Arbeiten  von  Kortyleii  (be- 
sonders die  Arbeit  üb.  Würzburger  Schule  in  Revue  philosophique). 
Ribot,  Bovet,  u.  a.  hinweisen;  in  d.  italienischen  Literatur  Arbei- 
ten von  Marucci  u.  Westphal  (in  Rivista  di  psicoLogia)  -und  in  der 
reicheren  englischen  Literatur  von  Titschener  (in  Mind),  Hollwig- 
worth.  Angell,  Maloney,  Moore  Th.,  Heymon,  Jakobsen,  Hakise,  Dun- 
lap,  Ogden  R.,  Lanze  J.  u.  a.  (besonders  im  „Journal  of  Psycholog^'", 
„Psycholog!^  Bullet.".  „Jo'urnal  americ.  of  Psychology"  u.  a.). 


Die  beiden  Grundtypen  des  Philosophierens  25 

Mer  zainächst  in  Bctraclit.  Es  sind  dies  die  Arbeiten  von  Külpe, 
Qiiinbaum,  Bühlcr,  Mittenzwey  (Leipzi.i?er  Schule),  und  Störrin.u;. 
Mally,  Meinon^iC,  CornÄiLis.  Lipps  u.  a. 

In  bezug  auf  die  negative  Abstraktion,  die  j^erade  für  eine 
Morphogcnesis  des  Erkennens  von  großer  Bedeutung  zu  sein 
scheint,  wollen  wir  hier  die  Arbeit  A.  Grünkiums  „Über  die  Ab- 
straktion der  Gleichheit"  in  jenem  Punkte  aufführen,  wo  es  heißt: 
..Die  negative  Abstraktion  wird  al'so  zu  einer  besonderen  Leistung. 
Sie  ist  nicht  nur  eine  natürliche,  von  der  Aktivität  der  Versuchs- 
person 'Unabhängige  Begleiterscheinung  der  positiven  Abstraktion, 
sondern  eine  Tätigkeit,  die  an  sich  durch  eine  besondere  Aufgabe 
eingeleitet  werden  kann,  wobei  umgekehrt  die  positive  Abstraktion 
zu  einer  Begleiterscheinung  wird."")  Es  wird  also  hiemit  der  bloß 
negativen  Abstraktion  eine  positiv  bildende  Kraft  zugesprochen,  — 
wozu  noch  einige  anderweitige  experimenteWe  Belege  angeführt 
wenden  könnten.  Im  Hinblick  auf  die  psychologische  Tatsächlichkeit 
und  Erlebbarkeit  der  Abstraktionen  wäre  es  von  Bedeutung, 
einen  sehr  wichtigen  Ausspruch  von  O.  Külpe  — ,  vielleicht  eine  der 
philosophisch  bedeutendsten  experimentell-psychologischen  Aus- 
saget! —  besonders  hervorzuheben:  „Ich  lege  Wert  darauf  zu  kon- 
statieren, daß  in  den  Abstraktionstatsacben  'unmittelbare  Bewußtseins- 
phänomene  vorliegen.  .  .  .  Die  Versuchspersonen  glaubten  tat- 
sächlich, die  Eindrücke  in  der  angegebenen  Unbestimmtheit  zu 
sehen  .  .  .  bzw.  tatsächlich  keine  Farbe,  kein  Objekt  usw.  wahr- 
genommen zu  haben.  Da  nun  die  Psychologie  als  Wissenschaft  den 
Empfindungen  bestimmte  Eigenschaften  beilegt,  sie  a;us  bestimmten 
Teilinhalten  bestehen  läßt,  so  geht  daraus  hervor,  daß  sie  zwischen 
den  psychischen  Vorgängen  und  dem  Bewußtsein  von  ihnen  unter- 
scheidet" und  dauji  weiter:  „daß  dieser  Unterschied  gemacht  wer- 
den muß,  etwa  in  demselben  Sinne,  wie  man  zwischen  physischen 
Vorgängen  und  dem  Bewußtsein  von  ihnen  unterscheidet,  das  mit 
e.  W.  die  alte  Lehre  von  einem  inneren  Suin  mit  der  dazu  ge- 
hörigen Gegenüberstellung  von  Bewußtseinswirklichkeit  und  Realität 
für  das  Gebiet  der  Psychologie  eine  zeitgemäße  Erneuerung  finden 
muß,  das  ist  das  prinzipiell  eErgebnis,  das  ich  meinen 


*)  Die  Anbeit  ist  ihrem  genauen  Titel  nach  in  der  Literaturauf- 
zahlung' auf  S.  22  anigeführt.  Dieser  Passus  befindet  sich  im  TV.  Teile 
d.  Arbeit  ..Resultate  und   Erklärungsversuche".  S.  464. 


2()  Vladimir  D  vo  in  iko  vic 

V  e  r  -s  II  c  h  c  n  e  n  t  n  c  h  m  e  n  m  ö  c  h  t  e.  Jm  Aiischliuß  daran  defi- 
niere ich  däe  Abstraktion  als  einen  Prozeß,  durch  den  das  logisch 
oder  psychologisch  Wirksame  von  dem  logisÄli  oder  psychologisch 
Unwirksamen  geschieden  wird.  Die  wirksamen  Teilinhalte  sind  'die 
für  unser  Denken  im'd  Vorstellen  die  positiv  abstrahierten,  die  un- 
wirksam e  n  aber  diejenigen,  von  d  e  n  e  n  a  b  s  t  r  a  h  i  e  r  t 
w o r d  e n  ist.  F ü  r  u n s  e r  B e  w u ß ts e  i  n  gi b t  e s  d e m n a c h 
a  bstrak  t  e  Vorstellungen,  f  ür  d  i  e  p  sy  chische  Rea- 
lität g  i  b  t  es  n  u  r  K  o  n  k  r  e  t  e  Vorstellungen,  Damit  sei  zu- 
gleich der  alte  Streit  zwischen  NominaHsmus  und  Realismus  seiner 
Entscheidung  näher  geführt."*")  (Unterstrich,  im  Zitat).  Mit  der  von 
Külpe  gemachten  Unterscheidung  zwischen  „Bewiißtseinswirklich- 
keit"  und  „Realität"  eines  Gedankenvorganges  wurde  eben  einer 
der  bedeutendsten  Punkte  der  intellektuellen  Morphogenesis  be- 
rührt, obgleich  in  den  oben  angeführten  Ausführungen  noch  kein  ent- 
scheidender Wegweiser  für  die  Kardinalfrage  der  Abhebung  und 
Trennung  des  Formalen  vom  InhaJtlichen  gegeben  wurde.  Nicht 
einmal  die  Frage  der  realen  Erlebbarkeit  der  abstrakten  Gebilde 
wurde  damit  endgültig  gelöst;  in  Anbetracht  der  größtmöglichen 
diesbezüglichen  Differenzen  zwischen  Külpe  und  anderen  Autoren 
muß  vielmehr  hervorgehoben  werden,  daß  die  prinzipielle  Lösung 
dieser  Fragen  noch  immer  aussteht.  Es  darf  allerdings  als  ein  sehr 
günstiges  Zeichen  für  unser  Problem  betrachtet  werden,  daß  die 
exakte  Forschung  sich  auch  die  Frage  naoh  psychologischen 
Realitäten  im  gedanklichen  Konnexus  vorgelegt  hat;  es  ist 
al>er  zur  gleichen  Zeit  zu  konstatieren,  daß  es  gerade  in  diesem 
Punkte  selbst  auf  exakten  Wegen  zu  größten  Divergenzen  gekom- 
men ist.  So  nimmt  z.  B.  K.  Bühler  auf  Grund  seiner  experim. 
Forschungen  „unanschauliche  Gedanken"  als  real-psychische  Erleb- 
nisse an.  Seinen  Versuchsresailtaten  zufolge  gibt  es  reine  Gedan- 
ken ohne  jede  Anschau ungsgrundlage,  derm  eben  diese  Gedanken 
sind  an  und  für  sich  reale  Erlebniseinheiten,  nicht  aber  die  in  ihnen 
..enthaltenen'"  Vorstellungen:  „Etwas,  wias  so  fragmentarisch,  so 
sporadisch,  so  durchaus  zufällig  (?)  auftritt  im  Bewußtsein  wie  die 
Vors fcellim gen   in    unseren  Denkerlebnissen,  kann   nicht   als   Träger 


*")  O&w.  Külpe,  Versuche  über  Abstraktion  im  „Bericht  über  den 
I.  KoTijrreß  für  experimentelle  Psycholog-ie".  1904,  Leipzig  1914,  S.  67. 


-    Die  beiden  Gnindtypen  des  Philosophierens  27 

des  fest.tjefüjj^ten  und  kontinuierlichen  Denkgehaltes  anjcesehen 
werdeii"*^  und  dann  weiter:  „Ja,  ich  behaupte  viehnehr,  daß  prin- 
zipiell jeder  Gegenstand  vollständig  ohne  Anschauungsmittel  be- 
stimmt gedacht  (gemeint)  werden  'Kann."^^) 

Die  ganze  Bühlersche  Untersuchung  geht  darauf  hinaus,  den 
einzelnen  fiedanken  als  real-psychische  ,JErlebnis  einhei  t" 
der  Denkerlebnisse  zu  statuieren.  Dem  Einzelgedanken  wird  somit 
eine  unmittelbare  Erlebbarkcit  zugesprochen,  welche  Auh'assung  für 
unsere,  oben  besprochene  „Abhebung  und  Verselbständigung  des 
Formalen"  in  einem  zweischneidigen  Sinne  bedeutend  ist.  Denn 
unsere  Fassung  beider  Erkenntnistypen  beruht  eben  darauf,  daß  der 
erste  von  unmittelbarsten  konkretpsychischen  Realitäten,  der 
zweite  aber  von  den  höchsten  konstruktiven  psych! seh- un- 
mittel bar  nichterlebbarens  nichtrealisierbaren  Projektionen  und 
Idealgebilden  ausgeht.  Diese  Auffassung  Bühlers  darf  uns  übrigens 
gar  nicht  wundem,  da  in  seiner  —  experimentellen  —  Arbeit  auch 
solche  Stellen  der  ..deduktiven"  Zuversicht  aufzufinden  sind:  „Wenn 
uns  alle  Gedankenmomente  und  dazu  die  Idealge  setze  ihrer 
möglichen  Verbindungen  bekannt  wären,  so  könnten  wir 
daraus  alle  G  e  d  a  n  k  e  n  a  r  t  e  n  ableiten.  Damit  wäre  die 
Analyse  des  Gedankens  vollendet,  wir  kennten  seinen  Bau."^') 

Kurz  möchte  ich  noch  hinzufügen,  daß  gerade  ©ine  solche  un- 
mittelbare Erlebbarkcit  und  Realisierbarkeit  der  abstrakten,  gedank- 
lichen Gebilde  im  Sinne  der  oben  erwähnten  Forschungen  von  einigen 
anderen  Forschern  auf  analog  experimentellen  Wegen  in  Abrede  ge- 
stellt wird.  Die  dazu  nötigen  weiteren  Anhaltspunkte  sind  in  den 
Arbeiten  von  Bühler.  Külpe,  Dürr,  Störring,  Mally  und  amderen 
Forschern  zu  finden.  Man  kommt  übrigens  bei  diesen  Erörterungen 
unwillküriich  an  Berkeley  zu  denken,  der  vielleicht  noch  am  ent- 
schiedensten die  psychische  Realität  der  .Abstraktionen  geleugnet 
hatte.    Alte  Fragen  erleben  neue  Bearbeitungsweisen. 

Der  gesamte  methodische  Apparat  dieser  exakten  denkpsycho- 
logischen Forschungen  erscheint  uns  für  eine  philosophische  Anwen- 


")  Bühl  er  K..  Tatsachen  und  Probleme  zu  einer  Psycholoffie  der 
Denkvorgänge.  I.  Über  Oödanken  im  „Arch.  f.  d.  ges.  Psycho!.", 
IX.  1907.     S.  317. 

*-)  Ibid,  S.  321. 

^^)  Ibid..  ?.  350  im  5.  Kap.  ..Über  die  Konstitution  der  Geda^nken". 


28  Vladimir  Dvoriiikovir 

dung  zu  einfach  und  zu  einseitig  eingestellt,  woraus  auch  MilJ Ver- 
ständnisse und  augenscheinliche  Gegensätze  der  Resultate  begreiflich 
werden. 

Nicht  nur  auf  dem  neuen  exaktpsychologischen,  sondern  auch 
auf  dem  logischen  Gebiete  herrscht  in  bezug  auf  diese  konkret-ab- 
strakten, inhaltsich-formalen  Probleme  eine  große  Desorientation.  So 
werden  z.  B.  in  den  „Logischen  Untersuchungen"  Husserls  sechs 
verschiedene  Bedeutmigen  der  Abstraktion  aufgezählt")  Die  nega- 
tive Abstraktion  definiert  Husserl  als  Kehrseite  des  Abstraktionspro- 
zesses in  toto:  „Versteht  man  unter  Abstraktion  im  positiven  Sinne 
das  Bevorzugte,  das  Beachtete  eines  Inhalt^es,  unter  Abstraktion  im 
negativen  Sinne  das  Abseben  von  gleichzeitig  mitgegebenen  In- 
halteiL"^'"')  Wandt  legt  dem  Abstraktionsvorgange  die  auswählende 
Apperzeption  zu  Grunde  (Logik  I."),  in  welchem  Sinne  auch  die 
Versuche  über  die  Apperzeption  von  seinem  Schüler  K.  Mittenzwey 
gehalten  sind/®)  In  Hinblick  auf  die  prinzipielle  Bedeutung  der 
psychologischen'  Forschungen  für  logische  Fragen  (siehe  auch  die  Ar- 
beiten von  Störring!)  möchte  ich  hier  aus  der  polemischen  Abhand- 
lung Wundts  gegen  die  Würzburger  Methode  eine  methodische  For- 
derung wörtlich  anführen,  weil  sie  unserem  Problem  besonders  zu- 
gute kommt:  „Vielmehr  soll,  wie  ich  glaube,  die  Logik  aus  dem 
psychologischen  Tatbestande  das  herausgreifen,  was  sie  auf  mög- 
lichst direktem  Wege  zu  einer  Erkenntnis  der  Ent- 
stehung der  Formen  und  der  Normen  des  logischen 
Denkens  führt/'^O 

Von  hervorragendem  Werte  für  die  Psychologie  des  Erkennens 
sind  die  experimentellen  und  psychopathologischen  Arbeiten  von 
G.  Störring/*)  Es  wird  da  ausdrücklich  der  logische  Anlaß  zu  denk- 
experimentellen Untersuchungen  betont.  „Experimentelle  Unter- 
suchungen über  einfache  Schlußprozesse"  wurden  nämlich  veranlaßt 
,.—  durch  einige  Streitfi'agen  der  Logiker,  bei  welchen  es  nahe  liegt. 


")  Ausg.  1901,  ?.  215. 

1')  Ibid.  Bd.  II.  S.  218. 

^«)  Über  nbstrahierende  Apperz-eption,  „Psychologische  Studien", 
II.,    1907. 

^'')  Kritische  Nachlese  zur  Ausfragemethode,  „Archiv  t.  d.  ges. 
Psychologie",  XI.  S.  457. 

*ä)  Angeführt  auf  S.  22  unter  dienkexperiTnenteller  Literatur. 


Die  beiden  Cjrundlypeii  des  l^hilosophierens  2'.> 

an  eine  Entscheidung  auf  Grund  experimentell  psychologischer  Un- 
tersuchung zu  deniken."^^)  Störring  scheint  in  seinen  Arbeiten  sehr 
bedeutende  Angriffspunkte  zukünftiger  Forschung  aufgedeckt  zu  haben, 
obgleich  in  diesen,  wie  auch  in  anderen  solchen  ersten  Versuchen 
gewisse  methodische  „Kinderkrankheiten"  nicht  zu  verkennen  sind. 
Mail  verliert  sich  nämlich  in  allen  diesen  Arbeiten  allzu  viel  in  dem 
technischen  Apparat  der  Versuchsmethoden  selbst,  aus  welchen 
namentlich  für  einen  Philosophen  der  sachliche,  wie  auch  methodische 
Reinertrag  so  ziemlich  schwer  herauszulesen  ist. 

Ein  ganz  besonderes,  zur  weiteren  eingehenden  Fortführung  ge- 
eignetes Moment  wird  in  der  Arbelt  Watts  „Experimentelle  Beiträge 
zu  einer  Theorie  des  Denkens"  hervorgehoben:  die  „Perseverations- 
tendenz"  der  Vorstellungen.  Dieses  Moment  dürfte  sich  für  die  Bil- 
dung und  „Abhebung"  des  Formalen  im  Intellektuellen  von  einer  ge- 
wissen-Bedeutung  erweisen.  Die  „Herausschmelzung"  des  Gemein- 
samen, Schematisch-Formalen  aus  dem  vielen  Einzelnen,  die  Auf- 
deckung der  Ähnlichkeit,  Identität  und  Verschiedenheit  könnte  auch 
durch  dieses  Moment  ihrer  endgültigen  Klärung  näher  gebracht 
werden.  Watt  sagt  da  unter  anderem:  „Vorstellungen,  die  vor 
Kurzem  im  Bewußtsein  gewesen  sind,  haben  für  eine  gewisse  Zeit 
die  Eigenschaft,  sehr  leicht  und  schnell  selbst  wieder  ins  Bewußt- 
sein zu  treten  oder  sich  reproduzieren  zu  lassen."^") 

Die  „Aufgabe"  selbst  hat  sich  für  die  Versuchspersonen  auch  als 
ein  Perseverationsfaktor  erwiesen;  welcher  Faktor  sollte  nun  im 
spontanen,  „außerexperimentellen"  Vorstellungswechsel  die  Funktion 
dieser  „Aufgabe"  substituieren?  Es  dürfte  vielieicht  als  solcher  Fak- 
tor das  „Interesse"  des  Subjektes  im  weitesten  Sinne  des  Wortes 
betrachtet  werden.  Unwillkürlich  kommt  man  in  diesem  Zusam- 
menhange auf  die  Hume'sche  Wiederholung  und  Gewohnheit  zu 
denken. 

Die  „affektiv  bestimmten  Eindrücke",  die  K.  Gordon  zum 
Gegenstand  einer  besonderen  Untersuchung  gemacht  hat,^0  dürften 
sich  vielleicht  gerade  in  dieser  Beziehung  als  bedeutend  erweisen. 


^»)  Im  „Arch.  f.  id.  ges.  Psychologie",  XL,  1908,  S.  1. 

''">)  „Archiv  f.  d.  ges.  Psychologie",  Bd.  IV,  1905,  S.  341. 

-*)  Über  das  Gedächtnis  für  affektiv  bestimmte  Eindrücke  von  Dr. 
Kate  Gordon  (Psycho!.  Inst.  Würzburg)  im  „Archiv  f.  d.  ges.  Psycho- 
logie",  Bd.   IV.,    1905. 


IJQ  Vladimir  D  v  o  r  ii  i  !<  o  v  i  i' 

Das  emotionale  Moniünt  wird  als  ein  bildender  Faktor  im  In- 
tcllektuelien  nachgewiesen  und  während  einige  Forscher  (z.B.  Th. 
Ribot)  sogar  einen  besonderen  affektiven  Typus  der  Assoziation 
aufstellen,  zeigen  sich  andere  Forscher  einer  solchen  Deutung  des 
Sachverhaltes  durchaus  mcht  geneigt  (wie  z.  B.  Fischer,  Spencer, 
Bain,  W,  James,  liöffding). 

Unter  verschiedenen  theoretischen  Qrunidlegungen,  unter 
heterogenen  Gesichtspunkten  und  auf  entgegengesetzten  methodi- 
schen Wegen  legt  die  gegenwärtige  exakte  Psychologie  ihre  erste 
Hand  auf  das  Denk-  und  Erkenntnisproblem.  Ja  man  kann 
schon  heute  vom  ersten  Kontakt  der  Erkenntnis- 
theorie und  Logik  mit  der  experimentellen  Psycho- 
logie reden.  Es  wäre  aber  schwer  vorauszusagen,  wie  sich 
dieses  methodische  Verhältnis  in  der  Zukunft  gestalten  wird  und 
was  die  Philosophie  von  diesem  neuen  experimentell  methodisierten 
psychologischen  Gebiete  zu  erwarten  hat.  Im  großen  und  ganzen 
könnte  man  sagen,  daß  schon  in  den  vorliegenden  Versuchen  der 
Schwerpunkt  in  der  Herausarbeitung  der  Ähnlichkeit,  Gemeinsam- 
keit und  Identität  in  der  Fluktualität  der  Denkvorgänge  gelegen  ist. 
Aus  diesen  Anfangsstadien  läßt  sich  jedoch  vorläufig  kein  ehideutiger 
weder  psychologischer  noch  philosophischer  Reinertrag  herausneh- 
men. In  wesentlichen  Punkten  werden  auf  exaktem  Wege  noch 
immer  diametral  entgegengesetzte  Auffassungen  gewonnen  und  ver- 
teidigt. Als  gemeinsamer  Kern  aller  bisherigen  Erörterungen 
könnte  nur  eine  mehr  minder  deutliche  Ahnung  emes  psycho- 
loigischen  Grundschemas  von  Ausgleichung  und  Unterscheidung,  Ver- 
schmelzung. Identifizierung  und  damit  die  ersten  undeutlichen  Ansatz- 
punkte der  formalen  Differenziation  hingestellt  werden.  Die  viel 
gewundenen  und  komplizierten  Wege  bis  zu  einer 
p  h  i  1  o s  0  p  h  i  s  c  h  g  e  s  t a  1 1  e  t  e  n  V  e r  s  e  1  b s  t ä nd i  g  u n  g  u  n d 
Herauskrystallisierung  des  Formalen  dem  Fluk- 
t  uell -inhaltlichen  gegeniüb  er  wurden  jedoch  von 
den  bisherigen  Untersuchungen  kaum  betreten, 
obgleich  auch  hiefür  bis  jetzt  wertvolle  Einzelmomente  und  Stütz- 
punkte zutage  gefördert  wurden.  Das  solche  Untersuchungen  ge- 
rade für  die  psychologische  Grundgestaltung  unseres  ersten  for- 
malen Typus  des  Philosophierens  eine  ganz  besondere  Bedeu- 
tung haben,  braucht  hier  kaum  hervorgehoben  zu  werden. 


Die  beiden  (liiindtypen  des  I'hilosopliieiens  I-Jl 

Von   weit  .geringerer  Bedeutung  waren  diese   psychologischen 
Untersuchungen  für  die  Auflieliung  des  zweiten,  entgegengesetzten 
Typus,   der  verschiedenen  antirationalistischen    Philosophen leji  zu- 
grunde liegt.     Es  sind  dies  die  gewöhnlich  als  Positivismus.  Empi- 
rismus, Sensualismus,  Skeptizismus,  Evolutionisjnus,   Agnostizismus. 
Aposteriorismus,  hituitismns,  Realismus,  Suojektivismus,  Psychologis- 
mus, Empiriokritizismus.  Monismus.  Pluralismius,  Pragmatismus,  Na- 
turalismus, Biologismus,  Impressionism'us  usw.  bezeichnete  Strömun- 
gen.   Alle  diese,  vorzugsweise  erkenntnistheoretisch  und  methodisch 
Jistinguierten  Richtungen  zeigen  einen  gemeuisamcn  Grundbau  urd 
L'inen  einheitlichen  Habitus,  in  welchem  das  Grundchema  des  vorigen 
Typus  gerade  entgegengesetzt  orientiert  erscheint.    Wir  werden  bald 
später  sehen,  daß  gerade  diesem  (philosophisch  „unüberwiindlichen") 
Gegensatz  zur  gleichen  Zeit  däe  Funktion  der  Ergänzung  im  breite- 
sten Rahmen  des  menschlichen  Erkenntrashabifcus  zugrunde  liegt,  — 
daß  also  der  „Gegensatz"   zur  gleichen   Zeit   nicht   nur   historisch 
sondern  auch  philosophisch-psychologisch  eine  Ergänzung  bedeutet. 
Nehmen  wir  nun'  diese  Inversität  zum  vonigen  Typus  ins  Auge. 
Der  durchgängigen  Orientierung  „von  oben  nach  unten"  steht 
hier  im  allgemeinen    die   entgegengesetzte   Grundorientierung   „von 
unten    nach    oben"    entgegen.     Während    dort    vom    absolut    Fest- 
stehenden,  Idealen,    Formalen,  Normativen   zum   Tatsächlichen,   In- 
haltlichen, Realen  übergegangen  wird,  greift  man  hier  in  umgekehrter 
Richtung  vom  Gegebenen,  Empirisch-konkreten  zur  formalen,  nor- 
mativen, ideologischen  Suibtilität  hinüber;  —  oder  man  verzichtet 
auf  diese  „Subtilitäten"  überhaupt.    Und  nun  kommen  verschiedene 
methodische  Durchführungen  dieser  oppositionellen  Inversion  in  Be- 
tracht: ebenso   wie  der  ideomorphologische  Typus  sein  „Herabstei- 
gen" in  verschiedenen  historischen  Formen  durchführt  und  ins  Ein- 
zelne methodisiert,  verfährt  auch  der  „materiale"  Typus  in  durchaus 
analoger  Weise  bei  der  verschiedenartigen,  aber  immer  invers-ent- 
gegengesctzten  Methodisierung  seines  „Emporsteigens" .  Das  Ganze 
der  induktiv-deduktiven  Inversion  könnte  uns  als  bestes  Analogon 
dazu  dienen,  obgleich  damit  das  volle  Wesen  der  Inversität  dieser 
Typen  gar  nicht  ausgedrückt  wird.   Eine  einzige  philosophische,  er- 
kenntnis-theoretische  Bezeichnung  dieses  Typus  ist  auf  Grund  der 
usuell-philosophischen  Nomenklatur  gar  nicht  möglich,  da  durch  keine 
einzige  der  oben  aufgezählten  heterogenen  Benennungen  der  volle 


32  Vlad  imir  Dvorni  k  ovi  ('• 

Inhalt  und  die  allseitige  methodisch-icenetische  Natur  dieses  zweiten 
Typus  zum  Ausdruck  kommt.  Der  Qrundcharakter  des  ersten 
Typus  —  seine  Orientierung  von  festen  apriorischen  Stützpunkten 
aus  —  ermöglichte  uns  schon  an  und  für  sich  auch  eme  leichtere 
Kemizeichnung  dieses  Typus,  —  währenddessen  der  entgegenge- 
setzte Schwerpunkt  des  zweiten  Typus  im  Gegegeben,  Unmittel- 
baren. Relativen,  Fluktuellen  durch  seine  Zerfahrenheit,  innere  Viel- 
seitigkeit und  äußere  Unfertigkeit  einer  abgerandeten  Charakteri- 
sierung weit  größere  Schwierigkeiten  in  den  Weg  stellt. 

Schon  in  der  antiken  Sophistik  und  Skepsis  finden  wir  die 
ersten  Kundgebungen  dieses  oppositionellen,  „sekundären"  Typus, 
welcher  sich  dann  durch  die  ganze  Geschichte  der  Philosophie  hin- 
durchzieht, aber  erst  in  der  Philosophie  der  Neuzeit  stärker  und 
selbständiger  ausgeprägt  auftritt  und  sich  mit  dem  ersten  Typus  in 
mannigfaltigen  Verquickungen  und  gegenseitigen  Reaktionen  ver- 
flicht. Beide  Typen  bilden  demnach  in  der  ganzen  Philosophie- 
und  Wissenschaftsgeschichte  zwei  parallele  Hauptströmungen,  ob- 
gleich sie  nicht  auf  einzelne  Vertreter  und  Schulen  strikte  verteilt 
sind,  sondern  vielmehr  als  Grundelemente  in  jedem  einzelnen  Philo- 
sophen als  ausschlaggebende  stärkere  Seiten  auftreten.  Es  ist  da- 
her keiner  von  den  beiden  Typen  als  eine  bloße  Reaktion  oder  sogar 
einfache  Negation  des  zweiten  aufzufassen,  obgleich  uns  dieser 
zweite  Typus  in  semer  schwächeren  historischen  aber  auch  gegen- 
wärtigen Vertretung,  in  seiner  geschichtlichen  Unabgeschlossenheit 
und  Unfertigkeit,  in  seiner  methodischen  Unausgeprägtheit  als  der 
eigentlich  sekundäre,  reaktioneile  Typus  erscheinen  muß.  Es  äußert 
sich  dieser  sekundäre  ..antiphilosophische"  Charakter  dem  ersten 
„philosophischeren"  Typus  gegenüber  schon  darin,  daß  ihm  aus  dem 
offiziellen  Lager  der  Philosophie  hie  und  da  stufenweise  gewisse 
kleine  oder  gar  keine  Konzessionen  gemacht  werden  und  daß  es  auch 
nach  dem  Auftreten  seiner  stärksten  Vertreter,  Locke's,  Hume's 
Spencer's  u.  a.  noch  heutzutage  auf  dem  Heidelberger  philosophi- 
schen Kongreß  zu  einem  Ruf  kommen  konnte,  der  diesem  Typus 
den  philosophischen  Charakter  selbst  abspricht: 
„Der  Evolutionismus  mag  recht  haben,  aber  er  ist  keine  Philo- 
sophie!"") Es  erscheint  nämlich  den  radikalen  Richtungen  des  ersten. 


")  Ausgesprochen  von  A.  Minor  am  Heidelberger  Kongreß,  „Bericht 


Die  beiden  Grundtypen  des  Phiiosophierens  33 

klassischen  Hiiupttypus  die  gesamte  Grundorientierung  dieser  Oppo- 
sition seinem  Wesen  nach  als  un philosophisch,  dem 
eigentlichen  philosophischen  Motiv  und  Postulat 
fremd  und  abhold.  Die  morphologische  und  ideo- 
logische, rein  apriorische  Orientierung  als  solche 
gilt  dem  ersten  Typus  als  die  definitive  und  einzig 
denkbare,  mit  dem  Begriffe  der  Philosophie  selbst 

identische  Fassung  und  'Konstellation  des  philo- 
sophischen Geistes  und  Standpunktes.  Der  zweite 
Typus  rüttelt  aber  gerade  an  dieser  „einzig  mög- 
lichen" klassischen  Grundiassung  der  Aufgabe  — , 
an  dieser  Ziel-  und  Begriffsstellung  des  Philo- 
sophischen. Er  will  ein  allmähliches,  nie  abgeschlossenes,  relativ 
fortschreitendes,  bloß  wahrscheinliches  Erkennen.  Er  geht  nicht  von 
einigen  absolut  und  fertig  vorgefaßten  Stützpunkten  aus  um  danach 
alles  zu  gestalten,  indem  er  gerade  im  Gegenteil  das  Unendlich- 
mannigfaltige und  Veränderliche,  Relative  und  Variable,  Subjektive 
und  Fluktuelle  des  Gegebenen,  des  Er  lebten  zu  seinem  Ausgangs- 
punkt proklamiert.  Während  „jene  dort"  in  der  subtilen  formalen, 
normativen  und  ideologischen  Höhe  ihre  einzig  gültigen  Regulative 
für  die  gesamte  Erkenntnisgestaltung  finden  zu  dürfen  und  finden  zu 
müssen  glauben,  ruft  die  Opposition  gerade  die  psychisch  konkret- 
realen Potenzen  des  Erlebten  und  Gegebenen  zu  ihren  Grundregula- 
tiven und  Kriterien  an.  Dort  Ausgangspunkt  von  einem  virtuellen 
abstraktidealen  Punkte,  von  „oben"  —  hier  von  der  gesamten  Fülle 
und  breiter  Basis  des  Gegebenen,  von  „unten". 

Während  der  erste  Typus  in  einer  mehr  geschlossenen  histori- 
schen Reihe  mit  seinem  Archetypus  Plato  an  der  Spitze  auftritt,, 
finden  wir  in  der  historischen  Zerrissenheit  und  Diskontinutät  des 
zweiten  Typus  kein  solches  grandioses  Urparadigma,  keinen  „Plato 
des  Empirismus"  —  obgleich  gewöhnUch  der  eigentlich  noch  „plato- 
nisierende"  Philosoph  Aristoteles  als  „Realist"  dem  Idealisten  Plato 
entgegengestellt  wird.  W.  Windelband  hat  zwar  den  gesamten  mo- 
dernen Empirismus  und  Relativismus  einfach  auf  die  Protagoräische 


über  den  3.  internationalen  Kongreß  für  Philosophie",  Heidelberg,  1909  in 
der  Diskussion  über  W.  Jerusalems  Vortrag  „Apriorismus  und  Evolu- 

tionismus",  S.  815. 

3 


|-}4  V 1  a  d  i  in  i  r  D  V  o  r  n  i  k  o  v  i  r 

Sophistik  zurückgeführt,  indem  er  in  seinen  „Präludien"  aiisdrücklicli 
sagt:  ,, — alle  spätere  Darstellungsformen  des  Relativismus,  wie  etwa 
die  Lehre  der  Enzyklopädisten  oder  der  moderne  Positivis- 
mus sind  nur  Neuverbrämungen  und  zeitgemäß  zurecht  gemachte 
Abklatsche  jenes  protagoräischen  .ttccvtcov  xQri^arcoi^  nhQov  av&Qco- 
jcog"^^)  —  worin  aber  nur  eine  engere  Seite  des  sämtlichen  Tat- 
bestandes in  karikierender  Weise  ausgedrückt  wurde. 

Der  allgemem  gültigen,  absoluten  Notwendigkeit  apriorischer 
Formen  und  Normen,  durch  welche  alles  Erfahrbare  formiert  und 
normiert  werden  soll,  steht  hier  die  Tatsächlichkeit  des  Erlebten,  des 
Erfahrenen  als  analoger  Ausgangspunkt  entgegen.  Dorten  ein 
virtuelles  Postulat,  hier  das  konkrete  Erlebnis.  Die  Morphologie 
und  Ideologie  bildet  dorten  den  Ausgangspunkt,  hier  dagegen  den 
höchst  zugespitzten.  —  wenn  überhaupt  postulierten  und  ange- 
strebten —  Endpunkt.  Während  idort  die  Form  und  die  Norm 
als  primär  gilt,  gestaltet  sich  hier  die  Form  zur  sekundären  Funktion 
des  Inhaltes:  die  Methode  und  di«  Norm  wird  erst  durch  den  Inhalt 
und  durch  das  Erfahrungssubstrat  gebildet,  bestunmit,  verändert. 
Erst  durch  den  Inhalt,  und  nach  dem  Inhalt  ist  auch  die  Form  ge- ' 
geben,  durch  die  Tatsächlichkeit  und  auf  Grund  der  Tatsächlichkei't 
ist  die  Norm  gegeben.  Vor  diesem  Substrat  und  außerhalb  dieses 
Substrates  kann  es  keine  absolut  gültige  Formen  und  Normen  geben. 
Was  nicht  psychologisch  früher  oder  überhaupt  gar  nicht  gegeben 
ist.  kann  auch  logisch  nicht  gegeben  sein,  d.  h.  kann  auch  nicht 
logisch  gültig  sein.  Das  Logische  ist  in  dem  Psychischen  und  nur 
mit  dem  Psychischen  gegeben,  ein  „Logisches"  an  und  für  sich 
gibt  es  nicht.  Ebenso  gibt  es  auch  keine  „rein  objektive",  „außer- 
tatsächliche" und  außerpsychologische  Notwendigkeit  und  Gültigkeit 
„an  und  für  sich".  In  gleicher  Weise,  wie  die  Form  und  Norm  sind 
auch  ihre  „Allgemeingültigkeit"  und  „Notwendigkeit"  nur  in  bezug 
auf  das  Tatsächliche,  nur  im  Rahmen  ides  Tatsächlichen  zulässig  und 
anwendbar.  Als  ein  abgelöst  aufgestelltes  reines  Postulat  verlieren 
sie  jeden  Erkenntnissinn  und  jede  raison  d'etre  überhaupt.  Auch 
das  höchste  Erkenntnisideal  selbst,  die  höchsten  Erkenntniskriterien 
und  -regulative  haben  nur  in  einem  unmittelbar  erlebten,  gegebenen 


-3)   W.  Windelband,  Präludien,  Ausg.   1903,  Artikel  „Kritische 
oder  genetische  Methode".  S.  305. 


Die  beiden  Grundtypen  des  Fhiiosophierens  35 

Erkeiintnissubstrat  ihre  einzig  mögliche  Wur25el  und  RealJskruiigs- 
bodcn   zugleich.     Ein   transsubjoktives,  alleinstehendes  Erkenntnis- 
ideal  außerhalb  des  tatsächlichen  Erkenntniszusammenhanges  kann 
nicht  einmal  als  bloße  Postulatsformulierung,  als  reine  Zielsetzung 
aufrecht    gehalten    werden.    Auch    die    höchste,    absohite,    einzige 
Wahrheit  verliert  als  Erkenntnisziel  eben  deswegen  jeden  Sinn  und 
jede  Existenzberechtigung.     Jede  „Wahrheit"  muß  seinem  Begriffe 
nach  in  dem  Psychologisch-Realen  wurzeln  und  ihm  angepaßt  sein, 
wenn  sie  überhaupt  als  eine  Funktion,  und  dazu  noch  als  Endziel 
der  Erkenntnistätigkeit  gelten  und  dastehen  soll.    Ohne  Inhalt  keine 
Form,  ohne  Tatsächlichkeit  keine  Norm,  kein  Ideal,  kein  Erkennt- 
nisziel.   Wir  sahen,  daß  der  erste  Typus  gerade  das  Entgegenge- 
setzte forderte.     Von  dem  unmittelbar  gegebenen  Faktum  des 
Erkennens  kann  die  gesamte  morphologisch-ideologische  Seite  weder 
praktisch-methodisch   noch  tbeoretisch-prinäpiell   losgelöst   werden; 
beides  muß  ebenso  in  der  Praxis,  wie  auch  in  der  Theorie  (also  auch 
Erkenntnistheorie!)  unter  einem  einheitlichen  homogenen  Gesichts- 
punkte betrachtet  und  bewertet  werden.    Und  eben  in  diesem  Punkte 
setzt  der  moderne  Psychologismus  ein,  der  auch  deswegen  vom 
gegnerischen  Standpunkte  so  gerne  mit  dem  Positivismus  und  Empi- 
rismus in  Zusammenhang  gebracht  wird.    Es    kommt    in    diesem 
Psychologismus  eben  jene  Qrundlanschauung  zu  Tage,  die  da  besagt, 
daß  in  dem  zielsetzenden,  normaüven  Moment  des  Erkennens  kein 
derart  absolutes  Novum  hinzutritt,  welches  uns  zu  einem  methodisch 
durohaus  heterogenen  und  unabhängigen  Standpunkte  bezüglich  des 
Normativen,   Idealen  berechtigen  würde.     Und  gerade   eine  solche 
Trennung  und  prinzipielle   Grundscheidung  der  Tatsächlichkeit  von 
der    Notwendigkeit,    des    Psychologischen    vom    Logischen,    des 
Seienden  vom  Sollenden  gehört  zu  den  Hauptmerkmalen  des  ersten 
„antipsychologischen"  Typus.    Da  in  der  heutigen  Streitlage  die  Be- 
tonung dieser  Tatsächlichkeit  und  der  von  ihr  ausgehenden  Grund- 
regulativen eben  in  dem  Hinweis  auf  das  psychisch  unmittelbai- 
Erlebte  besteht,  kam  es  auch  zu  dieser  neuesten,  spezifischen,  oppo- 
sitionellen Variante  der  eigentlich  alten  typischen  Denkweise  aller 
„Antirationalismen"':  d.  h.  zum  „Psychologismus^ 

Der  prinzipiellen  Trennung  des  Formalen  und  Normativen  vom 
Inhalte  und  der  Tatsächlichkeit  wird  hier  die  prinzipielle  Verein- 
heitlichung   beider    Momente    entgegengesteHt.    Es    gestaltet    sich 

3* 


36  VladimirDvornikovic 

•dieser  Typus  zu  einem  starken  Relativismus  erst  dann, 
wenn  die  Form  zu  einer  sekundären,  veränder- 
lichen, Idc  weglichen  Funktion  des  Inhaltlichen 
u  n  d'  Variablen  „d  e g  r  a  d  i  e  r  t"  wird.  Damit  ist  nun  der  radi- 
kalste Gegensatz,  der  eigentliche  Sohneidepunkt  beider  Typen  er- 
reicht worden.  Jede  Erkeinntnis  überhaupt,  aber  auch  die  höchste 
philosophische  wü^d  durch  sämtliche  real-psychische  Kräfte  und 
Relationen  bestimmt  und  reguliert,  —  nicht  aber  durch  ein  abstrak- 
tes Erkenntnisideal  und  ein  rein  apriorisches,  außenstehendes  forma- 
les Erkenntnissohema.  Ja  noch  mehr!  Die  Bildung  dieses  Ideals 
selbst  kann  auch  nicht  aus  dem  WirkungskreiSie  faktischer  Erkennt- 
nisrelationen ausgenommen  werden,  auch  sie  bedeutet  eine  Bildung, 
eine  Resultante  verschiedenartiger  biologischer,  soziologischer,  histo- 
rischer, individuell-  und  generisch  psychologischer  Faktoren.  Ein 
absolutes  sich  selbst  gleich  bleibendes  Erkenntnisziel  und  -ideal 
ist  daher  undenkbar.  Ein  philosophisches  Postulat,  welches 
ein  für  allemal  aufgestellt  und  endgültig  wäre,  also  ein  philo- 
sophisches Postulat  schlechthm  hat  es  nie  in  der  ganzen  Geistesge- 
schiclitc  der  Menschheit  gegeben  und  es  wird  ein  solch^es  niemals 
aufgestellt  werden  können:  Auch  das  Erkenntnisziel  ist  eine 
relativ  bedingte  Funktion  und  Emanation  der  Er- 
kenntnistat selbst.  In  der  Bewegung  und  mit  der 
Bewegung  der  Erkenntnistat  ändert  sich  und 
transformiert  sich  d'as  Ideal  selbst.  Es  kann  niemals 
aus  dem  lebendigen  Flusse  des  Erkennens  herausgenommen  werden, 
es  lebt  und  webt,  bleibt  und  fällt  in  dieser  Tätigkeit  und  mit  dieser 
Tätigkeit;  es  kann  ganz  und  gar  nicht  mit  dem  ganzen  projizierten, 
darüber  quasi  schwebenden  ideomorphologischen  Gerüst  als  das  ein- 
zig wirkliche,  entscheidende  Regulativ  und  die  einzig  wirkende  und 
schaffende  Funktion  gelten;  nein,  diese  Kraft  kommt  ihm  erst  idurch 
die  Tätigkeit  und  mit  der  Tätigkeit  zu!  Ein  solcher  außenstehender 
Kraftpunkt  kann  schon  deswegen  nicht  gegeben  Wierden,  weil  es  eine 
solche  wirklich  abgelöste  definitiv  und  unveränderlich  gestaltete 
Morphologie  nie  gegeben  hat  und  überhaupt  niemals  geben  kann. 
Eine  vollkommen  stabilisierte  Form  ist  eme  reine  Illusion;  sie  wii-d 
im  inhaltlichen  Einzelerkennen,  sie  löst  sich  allmählich  davon  ab  und 
kommt  nur  zu  einer  relativ  immer  höheren  Krystallisation  und  Vcr- 
selbständigung.   Es  ist  also  der  ganze  Erkenntnisfluß  gar  nicht  so  auf- 


Die  beiden  Grundtypeii  des  Philosophieieiis  37 

zufassen,  als  ob  er  in  einer  immer  weiter  geilenden  bloßen  Appli- 
ziemng  der  sclion  von  vornherein  gültig  dastelienden  Morpiiologie  an 
neue  Inhalte  bestünde;  nein,  im  lebendigen  geschichtlichen  Erkennt- 
nisflusse enthalten  sich  beide  Momente  zugleich;  der  Fortschritt  konniit 
nicht  nur  durch  den  neu  zu  formenden  Inhalt  zustande,  sondern 
die  Form  selbst  entfaltet  sich  in  einer  allmählichen,  dem  Inhalte 
entsprechenden  und  angepaßten  Herauskrystallisierung  inmitten 
dieses  breiten  Inhaltstlusses  selbst.  Durch  den  Erkenntnisfluß,  durch 
die  Erkenntnispraxis  ändern  sich  die  formalen  und  idealen  Grund- 
lagen des  Erkennens  selbst,  —  diejenigen  Grundlagen  eben,  die  der 
erste  Typus  von  vornherein  auf  die  Seite  stellt,  absolutiviert,  aus 
diesem  Änderuugsflusse  aufbewahrt  und  gesichert  wissen  wiW.  Und 
trotzdem  soll  gerade  von  diesem  abgelösten,  hohen  Punkte  das  Er- 
kennen vorwärts  gebracht,  ja  ermöglicht  werden;  es  soll  zum  ein- 
zigen, entscheidenden  Grundregulativ  werden,  obgleich  es  von  der 
Erkenntnistat  vollauf  getrennt  wurde.  Nur  durch  erkemitnis- 
iheoretisch  voll  bewußte,  und  praktisch-methodisch  durchgeführte 
Wiederangliederung  des  Formalen  an  das  Inhaltliche  kann  auch 
das  Formale  neben  anderen  mitwirkenden  und  mitentscheidenden 
lebendigen  Potenzen  des  Erkenntniisprozesses  bestimmend  und  för- 
dernd wirken.  Und  gerade  diese  anderen  mitbestimmenden  Fak- 
toren sind  es.  die  von  dem  statisch-formal'en  Typus  ausgeschieden 
und  verabscheut  werden,  —  obgleich  sie  sich  in  der  gesamten 
Geistesgeschichte  wie  auch  in  der  Philosophie-geschichte  als  mitbe- 
teiligt an  der  Formung  der  spezifisch-intellcktuellein  Potenz  selbst  er- 
wiesen haben.  Während  die  Formalisten  mit  ihren  festen  formalen 
Stützpunkten  für  die  Intellektualität.  Ethizität  und  Ästhetizität  auf- 
treten, und  ihre  Notwendigkeit  und  Allgemeingültigkeit  voraussetzen, 
^  wenn  ein  Erkennen  der  Wahrheit,  die  Ausübung  des  Guten  und 
die  Bildung  des  Schönen  überhaupt  ..zustande  kommen  soll"  Windel- 
hand), gehen  die  Antiformalisten  diesen  Voraussetzungen  „hinter  den 
Rücken  und  graben  tiefer".^*)  —  indem  sie  eben  die  Frage  erheben, 
wie  diese  Voraussetzungen  selbst  entstanden  sein  mögen,  wie  sie 


-*)  Ausgesprochen  von  W.  Jerusalem  am  He Melb enger  Kongreß, 
„Bericht  über  den  3.  Internat.  Ko'Ugreß  f.  Philos.",  Heidelberg  1909  im 
Vortrag  „Apriorismus  und  Evolutionismus".  Es  entpuppt  sich  also  in 
dieser  „Prüfung  der  Voraussetzungen"  selbst  sogar  ein  „Hyperkritizis- 


38  Vladimir  Dvoiniko vio 

selbst  zu  ihrer  besonderen  Ausprägung  und  Krystallisation  gekommen 
sein  sollten?  Wäre  es  nicht  im  Interesse  des  Erkenntniszieles  selbst 
genauer  zuzuschauen,  ob  sie  auch  nicht  aus  dem  sämdichen  inneren 
Krkenntniskonnexus  begriffen  werden  können,  aus  den  real-inhalt- 
lichen Relationen  der  Erkenntnistätigkeit  als  solcher?  Sollten  sie 
nicht  auch  zu  den  Objekten  der  autokritischeni  Reflexion  und  psycho- 
genetischen  Analyse  werden  —  diese  Voraussetzungen  und  absoluten 
Stützpunkte  nämlich,  ja  dieses  philosophische  Postulat  selbst  als 
solches? 

Und  gerade  durch  dieses  Rütteln  an  dem  morphologischen  Ge- 
bäude des  Erkenncns  kam  dem  zweiten  Typus  der  „revolutionäre", 
oppositionelle,  inoffizielle  Charakter  zu.  Während  dort  die  Theorie 
und  Norm  vor  die  Praxis  in  absolut  richtunggebender,  regierender 
Eigenschaft  gestellt  wird,  geht  sie  hier  erst  aus  der  Praxis  und  nach 
der  Praxis  hervor,  —  um  sich  erst  d  a  n  n  u  n  d  erst  dadurch 
zu  verifizieren  und  zu  behaupten.  V/ährend  dort  die  höchsten  Ziele 
(das  Erkenntnisziel  neben  dem  ethischen  und  ästhetischen)  durch 
ihre  Absolutisation  sichergestellt,  dem  Flusse  des  Veränderlichen  und 
Relativen  entrückt  werden  sollen,  erblickt  man  auf  dieser  Seite 
nur  in  dem  Hinein-  und  Zusammenflechten  ider  idealen  Ziele  mit  dem 
Tatsächlichen  die  einzig  mögliche  Sicherung  und  Erreichbarkeit  sol- 
cher Ideale.  Das  Ideal  muß  in  einen  bewußten  funktionalen  Zusam- 
menhang mit  der  Tatsächlichkeit  gebracht  werden,  weil  es  eben  nur 
dadurch  seinen  Sinn,  seine  Funktion  und  seine  Wirkungsfähigkeit 
erhält.  Auf  diese  Weise  kommen  die  Relativisten  zur  Formierung 
eines  „erreichbaren"  Ideals,  mit  dem  man  sich  endgültig  begnügen 
und  aussöhnen  muß.  Aus  dieser  Verschiebung  des 
Ideals  au  s  d  e  m  absoluten  Jenseits  in  das  relative 
Diesseits  geht  nun  die  gesamte  entgegengesetzte 
Qrundorientierung  hervor.  Dort  wird  an  der  Möglich- 
keit einer  absoluten,  end'gültigen,  abschließbaren  Erkenntnis,  die 
durch  eine  glückliche  geniale  Konstruktion  zustande  kommen  soll 
festgehalten;  hier  dagegen  begnügt  man  sich  von  vornherein  mit  der 
Möglichkeit  eines  allmäMigen,  relativ  fortschreitenden  Erkennens  in 
einer  nie  abzuschließenden  Entwickiungsreihe.    Und  eiben  darin  be- 


mus",  obgleich  gerade  Jerusalem  andererseits  vom  neukantischen  Kriti- 
zismus als  einer  „Hypertrophie  des  Erkenntnistr.iebes"  gesprochen  hat. 


Ol-  l-L-idcii  Oriind'ypeii  dis  I'hilosoplreren^  39 

Steht  jenes  vom  Stcindpiuikte  des  Erkenntnisidealismus  „gefährliche" 
Moment,  auf  welches  Joe!  in  seiner  Basler  Rektoratsrede  im  Jahre 
1914  mit  starkem  Akzent  hinwies:  „Die  Einzelwissenschaften  mögen 
unter  solcher  Lockerung  der  Prinzipien  befreit  aufatmen 
und  frischer  gedeihen  wie  einst  unter  Änesidems  Skepsis  die  Medi- 
zin: der  Philosophie  aber,  die  das  Ganze  sucht,  droht 
heute  die  Wahrheit  zu  zerflattern  in  wechselnde  Hypothese  und 
praktische  Kalkulation,  in  Opportunität  und  Virtuasität,  in  Aphoristik 
und  Paradoxie,  in  Zweifel  und  Schwärmerei,  in  Tanz  und  Spiel.  Ja, 
die  Wahrheit  wankt  und  wandert  heute  und  taumelt,  —  denn  sie  hat 
keinen  Hort  und  keine  Heimat  mehr  im  Denken.  Das  Leben,  das 
rauschende,  wandelreiche  droht  das  Denken  zu  verschlingen,  und 
es  scheint,  wir  sind  mit  unserer  Auflösung  der 
Wahrheit  in  ein  neues  Zeitalter  der  Sophistik  ge- 
raten. Nicht  umsonst  berufen  sich  die  modernen  Positivisten  von 
Laas  bis  Petzoldt  ...  auf  den  größten  der  Sophisten,  auf  Prota- 
garas."^^)  Ängstlich  fragt  sich  daher  Joel:  „—  liegt  nicht  in 
alledem  der  Sieg  des  Relativen  über  das  Absolute, 
der  Sieg  des  bunten,  wechselnden  Lebens  über 
feste  Formen  und  Gesetze  ?"^'') 

Jede  weitest  gehende  Charakterisierung  führt  von  selbst  zu 
einer  gewissen  Karikierung.  Durch  die  möglichst  scharfe  Zu- 
spitzung des  Gegensatzes  sind  wir  eben  zu  den  beiden  Polen,  zu  den 
psychologischen  Qrundtypen  angelangt,  —  ohne  daß  damit  ein  real- 
gültiger, unmittelbar  anwendbarer  Einteilungsgrund  aller  gegen- 
wärtig vorliegenden  Philosopheme  gegeben  wäre.  Die  beiden  Qrund- 
typen lassen  sich  aus  der  bunten  Fülle  der  geschichtlichen  wie  auch 
gegenwärtigen  Philosophie  herausgreifen,  herausanalysieren  und 
brauchen  deswegen  gar  nicht  in  irgend  einer 
historischen  oder  gegenwärtigen  Form  voll  und 
ganz  realisiert  zu  sein. 

Wir  haben  gesehen,  daß  im  Rahmen  der  gesamten  Erkenntnis- 
konstellation der  erste  Typus  der  formal-statischen,  der  andere  da- 
gegen der  inhaltlichen  Seite  mehr  zugekehrt  ist.    Mehr  zugekehrt  — 


")  K.  Joel,  Die  philosophische  Krisis  der  Gegenwart,  Rektorats- 
rede von  K.  J.,  Leipzig,  1914,  S.  23. 
=«)  Ibid.,  S.  23. 


40  Vladimir  Dvor  11  ikovic 

muß  aiisJrücklich  wieJerholt  werden,  demi  tatsäcblioh  gibt  es  nur 
dem  ersten  oder  dem  zweiten  Pole  näher  gerückte  Kombinationen 
und  Übergänge.  Die  extreme  Umkehnmg,  die  weitest  gehende  Ent- 
gegensetzung l>esteht  kurzum  darin,  daß  die  morphologische 
Statik  des  ersten  in  die  fluktuelle  Aktivität,  Kine- 
matik des  zweiten  Typus  übergeht,  der  erste 
Typus  somit  im  allgemeinen  als  der  morpho- 
logisch-statische und  der  zweite  als  inhailtlich- 
fhiktuelle  charakterisiert  werden  kann. 

Die  beiden  entgegengesetzten  typischen  Richtimgen  können  in 
letzter  Linie  nichts  anderes  bedeuten,  als  die  generisch-psychologi- 
schen,  historischen  Entwickknigsprojektionen  der  allgemeinen  iniialt- 
lich-formalen  Beziehungskonstellation  des  individuell-mensphlichen 
hiteUektes.  Die  beiden  historischen  „absoluten"  Gegensätze  werden 
sich  also,  ihrer  organischen  ursprünglichen  Gemeinsamkeit  ent- 
sprechend, auch  in  ihrer  philosophischen,  höchst  differenzierten  Form 
als  gegenseitige  E  r  g  ä  n  z  u  n  g  e  n  erweisen  müssen. 

Im  Punkte  dieser  gegenseitigen  Ergänzung,  —  also  nicht  mehr 
bloßer  Entgegensetzung  sollte  nun  eine  neueingeleitete  besondere 
Erörterung  einsetzen.  Wir  wollen  indes  unsere  vorliegende  Erörte- 
rung mit  der  einfachen  Konstatienmg  abschließen,  daß  in  der 
Gesam.theit  des  menschlichen  Erkennens,  in 
seinem  tot  al -einheitlichen  Habitus  die  beiden 
historischen  und  gegenwärtigen  typischen  Reihen 
nur  zwei  inverse  Seiten  dieser  Gesamtheit  aus- 
machen. 

Von  der  ältesten  Form  dieses  Gegensatzes  Piatonismus— Prota- 
goräismus  bis  zur  neuesten  Logizismus— Psychologismus  liegt  da  ein 
Urverhältnis,  ein  Urgegensatz  im  ganzen  Denk-  und  Geisteshabitus 
des  Menschen  zu  Grunde. 


Die  beiden  Grundtypen  des  Philosophierens  41 


Zusatz. 


Der  voiiiegendem  prinzipiellen  Erörteruni?  über  die  Orientierungs- 
methoden und  Orientierungsstandpunkte  möchte  ich  hier  noch  einige 
wichtigere  Daten   aus  der  modernen  Orientierungsliteratur  hinzufügen: 

—  Wenzig  C,  Die  Weltanschauungen  der  Gegenwart  in  Gegen- 
satz und  Ausgleich,  Einführung  in  die  Grundprobleme  und  Grundbegriffe 
der  Philosophie,  Leipzig,  1914  („Wissenschaft  und  Bildung",  Bd.  14).  — 
Auf  dieses  Werk  wurde  schon  im  Text  hingewiesen,  weil  in  ihm  der 
psychologisch-  methodische  Standpunkt  besonders  hervortritt. 
Wenziig  bemüht  sich  darin,  alle  Weltanschauumgsformen  auf  besondere 
psychologische  Motive  und  besondere  Seiten  der  intellektuellen  Tätig- 
keit zurückzuführen.  Auf  gleichem  Wege  wird  auch  der  „Ausgleich" 
und  die  Ergänzung  der  Weltanschauungen  begreiflich  gemacht.  Es  muß 
jedoch  hinzugefügt  werden,  daß  Wenzig  auch  sachlich  die  Philosophie 
durchaus  „psychologisiert"  wissen  will:  „Die  moderne  Philosophie  ist 
endlich  in  dem  Sinne,  wie  ich  sie  verstehe,  lediglich  empirische  Analyse 
unseres  Bewußtsieinsinhaltes,  d.  h.  Psychologie,  und  als  Logik,  Er- 
kenntnistheorie und  Metaphysik  psychologische  Verdeutlichumg  der 
Grund  Vorstellungen   der   objektiven  Wissenschaften."   (S.   151).   — 

—  R  i  e  h  1  Alois,  Zur  Einführung  in  die  Philosophie  der  Gegenwart, 
acht  Vorträge  v.  A.  R.,  vierte,  durchgesehene  und  verbesserte  Auflage, 
Leipzig  und  Berlin  1913.  —  Auch  dieses  Werk  wurde  schon  oben 
berührt:  es  gibt  eine  Orientierung  vorzugsweise  auf  geschichtlicher 
(Grundlage.  Es  sollen  die  p'hilosophischen  Bestrebungen  der  Gegenwart 
dargestellt  werden.  „Der  Weg  zu  ihrem  Verst-ändnis  führt  durch  die 
Geschichte."  (Aus  dem  Vorwort  zur  ersten  Auflage).  — 

—  G  o  1  d  s  t  e  i  n  Julius,  Wandlungen  in  der  Philosophie  der  Gegen- 
wart, mit  besonderer  Berücksichti:gunig  des  Problems  von  Leben  und 
Wissenschaft,  Leipzig,  1911.  —  Eine  rein  „psychologische"  Orientierung 
im  antirationalistischen  Sinne.  Eine  ausgesprochene  Kampfschrift  zu- 
gunsten des  Pragmatismus,  —  gegen  allen  „Scientismus". 


42  Vladimir  Dvornikovir' 

—  J  0  e  1  Karl,  Die  philosophische  Krisis  der  Gegenwart,  Rektorats- 
rede  von  K.  J.,  Leipzig  19il4.  Eine  kurz  und  bündig  gehaltene  Orien- 
tierungs-  und  Kampfschrift.  Warme  Worte  für  die  Retttiinig  des  klas- 
sisch-philosophischen Kontinuiums  gegen  den  modernien  Relativismus 
und  „Protaigoras   redivivus." 

—  Stein  Ludwig,  P  h  i  1  o  s  o  p  'h  i  s  c  h  e  Strömungen  der 
Gegenwart,  Stuttgart,  1908.  —  Das  ziemlich  umfangreiche  Werk 
(452  Seiten)  soll  dem  Atemibediürfnisse  des  modernen  Philosophierens 
entgegenkommen:  „In  der  atemlosen  Hast  und  verwirrenden  Unrast  der 
philosophischen  Gedankenbildumgen  unserer  Tage  laufen  wir  Gefahr, 
aneinander  voir'bei  zu  philosophieren.  Es  dürfte  daher  geboten  sein,  von 
Zeit  zu  Zeit  Atem  zu  holen  und  Umschau  zu  halten."  (Aus  dem  Vor- 
wort). Im  ersten  Teil  werden  „Philosophische  Strömungen  der  Gegen- 
wart" nacheinander  aufgeführt  und  einzeln  besprochen,  der  zweite  Teil 
„Philosophische  Probleme"  (S.  294)  gilbt  dazu  die  zugehörigen  „O'Uer- 
schnitte"  der  Darstellung.  Einen  besonderen  Vorzug  dieses  Orientie- 
rungswerkes  erblicke  ich  darin,  daß  die  Hauptströmumgen  vergleichend 
und  ergänzend  aneinandergereiht  werden,  indem  gerade  dadurch,  durch 
mehrseitige  Beleuchtung  das  Typische  an  einzel- 
nen Philosophen  herausgegrifif-en  wird.  Die  Darstelkmg  ist 
durchsichtig  und  —  was  in  dieser  ganzen  Lit'eratur  seltener  anzu- 
treffen ist  —  frei  von  jeder  akademischen  Schwerfälliigteiit. 

—  B  a  u  m  a  n  n  Julius,  Deutsche  und  auBerdeutsche  Philosophie  der 
letzten  Jahrzehnte  dargestellt  und  beianbeitet.  Ein  Buch  zur  Orientie- 
rung auch  für  Gebildete,  Gotha,  1903.  —  AusdrückHch  sagt  der  Ver- 
fasser in  der  Einleitung:  „Das  Buch  ist  mir  aus  philosophischem  Inter- 
esse erwachsen."  Übrigens  gibt  das  Werk  etwas  über  40  nacheinander 
aufgezählte    und   besprochene    philosophische    Namen. 

—  Stumpf  Carl,  Die  Wiedergeburt  der  Philosophie,  Rektorats- 
rede, Berlin,  1917.  —  Diese  kleine  Schrift  ist  orientiert  auf  breiterer 
wissenschaftlicher  und  psychologischer  Ba&is.  Besonders  hervorheben 
möchte  ich  die  Worte  deis  Philosophen-Psychologen:  „Von  einer  in  na- 
turwissenschaftlichem Geiste  betriebenen  Psychologie  kam  neues  Leben 
in  die  Philosophie."  (S.  6). 

—  Moderne  Philosophie,  Ein  Lesebuch  zur  Einführung  in 
ihre  Standpunkte  und  Probleme.  Hrg.  von  Dr.  M.  Frischeisen- 
Köhler,  Stuttgart,  1907.  —  Dieses  Buch  stellt  eine  Art  „Chresto- 
matie"  der  modernen  Philosophie  dar,  —  und  will  eben  dadurch  auf 
seine  eigene   Art  einführen. 

—  Geistige  Strömungen  der  Gegenwart  von  R.  Eucik  e  n ,  Der 
Grundbegriff  der  Gegenwart,  vierte,  umgearbeifete  Auflage,  Leipzig, 
1904.  —  Kommt  auch  für  eine  breiter  fundierte  Orientierung 
in      Betracht. 


Die  beiden  Grundtypen  des  Philosophierens  43 

—  K  ü  1  p  e  0.,  Philosophie  der  Gegenwart'  in  Deutschland.  „Aus 
Natur  und  Geisteswelt",  m  g-eschichtlicher  Methode   dang-estellt. 

—  Wind  ei  band  W.,  Über  die  gjege.nwär tilge  Lage  und  Aufgabe 
der  Philosophie  in  „Präludien,  Aufsätze  und  Reiden  zur  Einleitunig  in  die 
Philosophie"  S.  20.  Von  besonderer  Bedeutung  in  dieser  Sammlung  ist 
auch  die  Abhandlung  „Kritische  oder  genetische  Methode ?"  und  „Was 
ist  Philosophie?"  — 

—  Jerusalem  W.,  Apriorismus  und  Evolutionismius  im  „Bericht 
über  den  3.  internationalen  Komgres  für  Philosophie",  Heidelberg,  1909. 
—  Für  Evolutionismus  und  gegen  Apriorisimus. 

—  Die  Philosophie  im  Beginm  des  20.  Jahrhunderts.  Festschrift  für 
K.  Fischer;  herausgegeben  von  W.  Windelband,  2  Bde.,  Heidelberg. 
2.  Ausg.  1907. 

—  F  a  1  k  e  n  b  e  r  g  R.,  Über  die  gegenwärtige  Lage  der  deutschen 
Philosophie,  Leipzig.   1890. 

—  H  ö  f  f  d  i  n  g  Harald,  Einleitiung  in  die  englische  Philosophie  un- 
serer  Zeit,   1889. 

—  W  u  n  d  t  W.,  Über  die  Aufgabe  der  Philosophie  in  der  Gegen- 
wart, Rede  1874. 

—  H  ö  f  f  d  i  n  g  Harald,  Moderne  Philosophen,  Vorlesungen,  gehal- 
ten an  der  Universität  in  Kopenhagen  im  Herbst,  1902,  unter  Mit- 
wirkung des  Verfassers  übersetzt  von  F.  Bendixen,  Leipzig,  1905. 

—  Ei  s  e  n  me  i  e  r  Josef,  Die  Psychologie  und  ihre  zentrale  Stellung 
in  der  Philosophie,  eine  Einfü'hrunig  in  die  wiss&nschaft'liche  Philosophie 
von  J.  E.,  Halle  a.  S.,  1914.  —  In  extrem  psychologistischem  Geiste. 

—  Wähle  R.,  Das  Ganze  der  Philosophie  und  ihr  Ende.  Ihre 
Vermächtnisse  an  die  Theologie,  Psychologie,  Ästhetik  und  Staatspäda- 
gogik, Wien  1894.  —  Keine  Orientation,  sondern  Resignation. 

—  Ziehen  Th.,  Zum  gegenwärtigen  Stand  der  Erkenntnistheorie 
(zugleich  Versuch  einer  Einteilumg  der  Erkenntnistheorien)  von  Th.  Z., 
Wiesibaden.  1914.  —  Es  soll  eine  erkenntnistheoretische  Orientation 
darstiellen. 

Es  kommen  daz'U  noch  ähnliche  erkenntnistheoretische  Einleitungen 
und  Orientierungen  in  Betracht,  wie  z.  B.  von  R.  Eisler,  A.  Messer  u.  a.. 
die  Werke  von  E.  Cassirer,  Das  Erkenntnisproblem  in  der  Philosophie 
und  Wissenschaft  der  neueren  Zeil,  1916;  Henning  H..  Der  Irrgarten  der 
Erkenntnistheorie,  Straßbiurg,  1912  und  endlich  die  ganze  neuere  reiche 


44  Vladim  ir  D  vornikovi  r 

Literatur  der  philosophischen  „Einleitumgen"  von  Paiulsen,  Külpe,  (be- 
deutend!), Windelband,  Eucken,  Wündt,  Jerusalem,  Corneliius,  Went- 
scher  M.,  Richter  R.,  Cohn  J.  („Führende  Denker"),  Menzer  S.,  Eisiler 
(..Krit.  Einf.  i.  d.  Phil."),  Apelit  M.  („Wie  studiert  man  Philos.?),  Simmel 
(i.  („Hauptprobl.  d.  Philos.",  Samml.  Göschen),  Hoff  ding  H.  („Philo- 
sophische Probleme"),  Struve  (a.  d.  Russ.),  Debo,  Naforp  P.  („Philo- 
sophie, Ihr  Problem  aind  ihre  Probleme"),  Rausch  u.  a. 


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