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I
J^, ^ "^olMHU^t
V
ARCHIV
FÜR
OHRENHEILKUNDE
73. BAND.
BEGRÜNDET .1864
VON
Dr.. A. V. TRÖLTSCH Dr. ADAM POLITZER
Weiland Prof. in Würzbübg. in Wien.
UND
Dr. HERMANN SCHWARTZE
IN Halle a. S.
Festschrift
HERRN
GEHEIMEN MEDIZINALRAT PROFESSOR
DR. HERMANN SCHWARTZE
ZTJ
SEINEM 70. GEBURTSTAGE
GEWIDMET.
I. TEIL.
MIT l HELIOGRAVÜRE UND 8 ABBILDUNGEN IM TEXT.
HERAUSGEGEBEN VON PROF. F. KRETSCHMANN
IN Magdeburg.
LEIPZIG,
VERLAG VON F. C. W. VOGEL
1907.
HERRN
GEHEIMEN MEDIZINALRAT PROFESSOR
Dr. HEßMANN SCflWARTZE
zu SEINEM 70. GEBURTSTAGE
GEWIDMET
VON KOLLEGEN, FREUNDEN UND SCHÜLERN.
Inhalt des dreinndsiebzigsten Bandes.
Festschrift.
Seite
I. Augrust Lueae, Berlin.
Gruß an den Jubilar zum siebzigsten Geburtstage 1
II. Fr. Kretschmann, Magdeburg.
Gruß und Glückwunsch dem Leiter des Archivs ........ 6
ni. J. SL West, Baltimore.
Congratulations from America on the Occasion of the Seventieth Birthday 9
IT. Paul Eonietzko, Bremen.
Ein Fall von rechtsseitigen Schläfenlappenabzeß combiniert mit Laby-
rinthfistel mit Ausgang in Heilung 11
Y, A« Barths Leipzig.
Pathologische Schallverstärkung bei Erkrankungen des schalleitenden
Apparates 17
Tl. Martin Sugär, Budapest.
Ueber interne Behandlung des chronischen Mittelohrkatarrhes ... 21
TIL Zeroai, Karlsruhe.
Die ausbleibende Granulationsbildung nach der Aufmeißlung des Warzen
fortsatzes 37
Till.. J. S^ndziak, Warschau.
Ueber Ohrenstörungen bei den Erkrankungen des Urogenital apparates 55
IX. K. Bilrkner, Göttingen.
Ueber Ohrenkrankheiten bei Studenten 61
X. A. TriiUetti, Neapel.
Ein Fall von otogenem extraduralem Abszess 69
XI. K. Kishi, Tachoku auf Formosa (Japan).
Ueber den Verlauf der peripheren Fasern des Nervus Cochleae im
Tunnelraum 71
XIL Bnd. Haug, München.
Beiträge zur Kasuistik und patholog. Anatomie der Neubildungen des
äußeren Ohres 74
XIII. BudoJf Pause, Dresden-Neustadt.
Labyrintherscheinungen während der Ohioperationen 78
XIV. Victor Urbantschitsch. Wien.
Ueber subjektive echoartige Gehörserscheinungen {Doppelthören, Dipla-
kusis, Diplakusis echotica) 80
XV. L. Grllnwald, Bad Keichenhall-München.
Die Ohrenentzündungen in ihren abhängigen Beziehungen zu Nachbar-
organen 88
VI
Seite
XVL Schwidop, Karlsruhe.
Ein Beitrag zur Kasuistik der Konkrementbildungen im äußeren Gehörgang 101
XYII. A. Ton zur Mühlen, Riga.
Elf Jahre Nachbehandlung der Totalaufmeißelungen ohne Tamponade HO
XVIII. Erwin JUrgfens, Warschau.
Ein Fall asthenischer Pyohämie . . . ^ 120
XIX. Hanns Jnst, Dresden.
Zur Ka^istik der otogenen Hirnabszesse 123
XX. Ostmann, Marburg.
Ueber ärztliche Fürsorge für Taubstumme nebst Vorschlägen zur
Reorganisation des Taubstummenbildungswesens 131
XXI. Matte, Köln.
Zur Chirurgie des Ohrlabyrinths 142
XXII. Fr. Bl$pke, Solingen.
Ueber die Diplegia facialis mit besonderer Berücksichtigung ihrer Ätiologie 155
XXm. Fr. Eretschmann, Magdeburg.
Kongenitale Facialislähmung mit angeborener Taubheit und Mißbildung
des äußeren Ohres 166
XXIV. Ernst Winkler, Bremen.
Die Freilegung des Facialis als Voroperation für einige Eingriffe in
der Gegend der Mittelohrräume 179
XXV. H. Hessler, Halle a. S.
Ueber einen Fall von akuter Mittelohreiterung bei einem sporadischen
Falle von übertragbarer Genickstarre 194
XXVI. J. Herzfeld, Berlin.
I. Ueber einen bemerkenswerten Fall von Sinus thrombose mit Stauungs-
papille und Pulsverlangsamung bei akuter eitriger Mittelohr-
entzündung 222
IL Zur Kasuistik der Sarkome der Ohrmuschjl 225
XXVII. W. Ufifenorde, Göttingen.
Beiträge zur Indikation der Labyrintheröffnung bei komplizierter Mittel-
ohreiterung und neue Vorschläge für die Labyrinthoperation 227
XXVin. W. Zemann, Wien.
Circumscripte Labyrinth-Nekrose 251
XXIX. Theodor Heimann, Warschau.
Diagnose des otitischen Hirnabszesses 256
XXX. A. de Forestier, Libau.
Kurze, zusammenfassende Uebersicht der bisher publizierten Fälle letaler
Ohrblutungen und Bericht über einen eigenen Fall 301
XXXI. Wittmaack, Greifswald.
Ein rechtsseitiger Schlaf enlappenabszess mit Aphasie bei einem
Rechthänder 305
XXXn. Gustav Zimmermann, Dresden.
Ueber das Intensitätsverhältnis hoher und tiefer Töne 312
XXXm. Walb, Bonn.
Ueber reine Transsudate im Mittelohr 317
Die Beiträge sind in der Reihenfolge ihres Eingangs aufgenommen.
I.
Grnfs an den Jnbilar zum siebzigsten Geburtstage.
Von.
Antust Lacae
In meiner Familie waltet seit langen Jahren das verhängnis-
volle Gesetz, daß die Männer es kaum bis zum fünfzigsten
Lebensjahre bringen. Ein gütiges Geschick hat mit mir eine
Ausnahme gemacht und gestattet mir, meinem lieben Freunde
Hermann Schwartze den Dank für die freundlichen Worte
darzubringen, mit denen er in der mir vor zwei Jahren zu
meinem siebzigsten Geburtstag gewidmeten Festschrift meiner ge-
dacht hat.
Ich kann dies wohl nicht besser tun, als daß ich an dieser
Stelle eine kurze Skizze seines wissenschaftlichen Werdeganges
und der Entwickelung seiner so markanten Persönlichkeit bringe.
Drei Momente sind es, welche hierfür von wesentlichem
Einfluß waren. Zunächst, daß er von Anfang an auf eigenen
Füssen stand, ferner, daß er in rebus otologicis vollständig Auto-
didakt war und endlich, daß sein Leben vielfach durch Krank-
heit und Schicksalsschläge getrübt wurde, was ihn jedoch bei
seinem energischen Charakter nicht hinderte, die hohe Stellung
zu erreichen, von der er heute mit um so größerer Genugtuung
und als seif made man im besten Sinne auf seinen langen Lebens-
weg zurückschauen kann.
Wer nur seine Schriften liest, der kennt eben nur den mit
Recht selbstbewußten Autodidakten und nicht selten etwas scharfen
Kritiker und hat keine Ahnung von dem warmen Herzen das unter
dieser rauhen Außenseite schlägt. —
Archiv f. Ohrenheilknnde. 73. Bd. Festschrift. 1
2 I. LÜCAE.
Begleiten wir ihn auf seinem Studiengange in Berlin und
Würzburg, so war namentlich Würzburg für seine ganze Lauf-
bahn wesentlich bestimmend. Hier war es, wo er als Assistent
des pathologischen Anatomen Förster einen ausgezeichneten
Grund für seine späteren wissenschaftlichen Arbeiten legte, wo bei
ihm durch die Bekanntschaft mit v. Troeltsch zuerst das Interesse
für die Ohrenheilkunde geweckt wurde und wo er schon als
Student seine spätere Gattin kennen lernte.
Nach der 1860 erlangten Approbation und absolviertem
Dienstjahr als einjährig-freiwilliger Arzt bewogen ihn äußere
Umstände, auf seine Niederlassung in seiner Vaterstadt Berlin zu
verzichten und — wie er selbst in meiner Festschrift sagte —
zunächst „den mühsameren Weg zu gehen durch die vorbereitende
Schulung der allgemeinen Praxis", die er zwei Jahre lang in der
kleinen Landstadt Düben betrieb. Bereits im Jahre 1862 finden
wir ihn dort verheiratet. Neben allgemeiner Praxis beschäftigte
er sich besonders mit Ohrenheilkunde und verdiente sich durch
seine für Schmidts Jahrbücher gelieferten otiatrischen Eeferate
die ersten literarischen Sporen.
Eine sehr wichtige Wendung seiner Laufbahn brachte ihm
das Jahr 1863, nämlich die Uebersiedelung nach Halle a./S. und
seine Habilitation als Privatdozent an dortiger Universität unter
den Auspizien von Prof. Th. Weber. Letzterer stellte ihm auch
seine poliklinischen Räume zur ambulatorischen Behandlung von
Ohrenkranken zur Verfügung. Bereits im Jahre 1868 zum
außerordentlichen Professor ernannt, gelang ihm erst viele Jahre
später die Gründung einer eigenen Uni versitäts- Ohrenklinik. Den
Schluss seiner äusseren Erfolge bildete die Ernennung zum ordent-
lichen Professor der medizinischen Fakultät am 8. April 1903,
welche Ehrung ihm als ersten Otologen auf einer preußischen Uni-
versität zu Teil wurde. —
Komme ich zu seinen wissenschaftlichen Verdiensten, von
denen ich hier nur die Hauptpunkte verzeichnen kann, so ist gleich
seine erste Habilitations-Schrift „observationes quaedam de otologia
practica" i) für alle seine späteren Arbeiten charakteristisch. Er
bringt in derselben eine Reihe eigener praktischer Beobachtungen,
mit speziellem Hinblick auf die Therapie, darunter bereits die
Paracentese des Trommelfelles, über die er später (Halle 1868)
eine besondere Abhandlung publizierte. Mit kritischem Scharfblick
1) Als selbständige Arbeit in deutscher Sprache 1864 in Würzburg er-
schienen.
Gruß an den Jubilar zum siebzigsten Geburtstage. 3
stellte er die rationellen Indikationen für diese Operation wieder
her: Vor allem die Entleerung von Exsudaten in der Trommel-
höhle, namentlich zur Heilung der gefahrdrohenden Fälle von
eitriger akuter Mittelohrentzündung. Um dies voll zu würdigen,
muß man bedenken, daß dieser Eingriff seit As tley Co o per fast
in Vergessenheit geraten war, der denselben anfangs mit großem
Erfolge bei angeblichem Verschluss der Tube E., später jedoch
in den verschiedensten Formen von Schwerhörigkeit ohne jeden
Nutzen ausgeführt hatte. Schwär tze verdankte seine Erfolge
auf diesem Gebiete wesentlich der Einführung des Reflektors durch
V. Troeltsoh und der hierdurch erst möglichen genauen Fest.
Stellung des Trommelfell-Befundes. Wie kläglich es früher hier-
mit stand, kann man daraus ersehen, daß Astley Cooper noch
im Jahre 1800 einen Trommelfelldefekt mittels des Flackerns einer
Kerze beim Valsal vaschen Versuche diagnostierte und die Größe
der Perforation durch Sondenuntersuchung zu bestimmen suchte.
Bei dem in den sechziger Jahren des 19. Jahrhundert noch
wenig entwickelten Interesse für die moderne, auf die neue
Ohrenspiegel-Üntersuchung aufgebaute Ohrenheilkunde war es
erklärlich, daß die Paracentese des Trommelfelles sich durch die
Arbeit Schwartze's erst allmählich einführte und von den älteren
Otologen einfach abgelehnt wurde. So erzählte mir Schwartze
einmal die von ihm erlittene Enttäuschung, daß ihn William
Wilde, dem er seine Abhandlung mit einem besonderen, englisch
abgefaßten Schreiben zugesandt hatte, keiner Antwort würdigte.
Auch in technischer Hinsicht hat Schwartze das Verdienst,
an Stelle der früher zur Paracentese meist angewandten bohrer-
und troicarartiger Instrumente die einfache Lanzennadel wieder
eingeführt zu haben, die heutzutage in dem Instrumentarium
keines Otologen fehlend großen therapeutischen Nutzen stiftet.
Einige Jahre später tat Schwartze einen noch bedeut-
sameren Schritt, dessen spätere durchgreifende Folgen für die
praktische Ohrenheilkunde und für die allgemeine Medizin er
selbst wohl kaum damals vermuten konnte. Es war dies die
Wiederbelebung der operativen Eröffnung des Warzenfortsatzes,
welche bereits ein Jahrhundert früher von J. L. Petit gegen
Ohreiterung mit Caries in die Chirurgie eingeführt und mit
lebensrettendem Erfolge vorgenommen war. Die Operation ge-
riet jedoch später in Mißkredit, weil sie meist unter falschen
Indikationen vorgenommen vielfach von Mißerfolgen begleitet war
und schließlich ihren Euf vollständig einbüßte durch den tödlichen
1*
4 I. LÜCAE.
Ausgang einer Anbohrung des Warzenfortsatzes, welche im Jahre
1791 an dem Kgl. dänischen Leibarzte v. Berg er lediglich
gegen Schwerhörigkeit und subjektive Ohrgeräusche vollzogen
wurde.
Als der Jubilar mit seinem damaligen Assistenten Dr. Eysell
seine ersten Erfahrungen über diese Operation in Bd. VII dieses
Archivs im Jahre 1873 publizierte, bestand bei den Chirurgen ein so
großes Vorurteil gegen dieselbe, daß ein Bernhard v. Langen-
beck noch in dem demselben Jahre sie für lebensgefährlich erklärte.
Er tat dies mir gegenüber als Vorsitzender der Berliner medi-
zinischen Gesellschaft, als ich in einem Vortrage über die Ge-
fahren des Cholesteatoms des Felsenbeins auf die Wichtigkeit
aufmerksam gemacht, bei den ersten drohenden Erscheinungen
den Warzenfortsatz sofort zur Entleerung des Cholesteatoms breit
zu eröffnen und zur Warnung den Fall eines jungen Mädchens
erwähnt hatte, in dem ich zu spät zugezogen und es mir wegen
bereits eingetretener schwerster pyämischer Erscheinunger nicht
mehr möglich war, durch die Eröffnung des Warzenfortsatzes
den Exitus letalis zu verhüten.
Diese Mitteilung schien mir wichtig, um zu zeigen, wie lang-
sam und schwer diese segensreiche Operation allgemeine Ver-
breitung fand, die heute von Otologen und Chirurgen als etwas
Selbstverständliches täglich vorgenommen wird.
Ich brauche an dieser Stelle nicht besonders darauf hin-
zuweisen, wie durch Wiedereinführung dieser Operation die Hirn-
Chirurgie und die operative Behandlung der otogenen intrakraniellen
Erkrankungen, unter hervorragender Beteiligung Schwartzes
und der Halleschen Schule, gefördert wurde und wie sich
schließlich aus der verhältnismäßig einfachen Eröffnung des
Warzenfortsatzes, bei der Schwartze jedoch zuerst zielbewußt
zum Antrum eindrang, die Radikal- resp. Totaloperation entwickelte
und zur Heilung hartnäckiger chronischer Ohreiterungen weiter
ausgebaut wurde. Wie vorsichtig und konservativ Schwartze
seinen Weg verfolgte, zeigt auch seine kaustische Behandlung
der chronischen Ohreiterungen, die heutzutage fast vergessen ist.
Sehr mit Unrecht! Bewährt sie sich doch dem mit ruhiger Über-
legung handelnden Otologen häufig noch erfolgreich, wo Mancher
heute sofort zum Messer und Meißel greift.
Soviel in Kurzem über seine wissenschaftlichen Hauptarbeiten,
Zieht man das Facit aus denselben, so ist für ihn charakteristisch,
daß er von Anfang an seiner Vorliebe für den chirurgisch-prak-
Gruss an den Jubilar zum siebzigsten Geburtstage. 5
tischen Teil der Ohrenheilkunde treu blieb und, abgesehen von
seinen bedeutenden Verdiensten um die pathologische Anatomie des
Gehörorgans den rein theoretischen Fragen der Otologie meist
fem blieb. So ist es z. B. sehr bezeichnend, daß er sein Lehr-
buch der Ohrenheilkunde (Stuttgart, 1885) „die chirurgischen
Krankheiten des Ohrs^ nannte. Diese weise Beschränkung ist
es, der er vorzugsweise seine großen Erfolge und nicht zum ge-
ringsten auf dem edelsten Gebiete unserer Wissenschaft, in der
Therapie zu verdanken hat. So bewährt sich auch an ihm das
Wort Goethes:
„In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister.".
1) Vgl. die zahlreichen Beiträge in diesem Archiv und seine vortreff-
liche n Pathologische Anatomie des Ohres'^ im Klebsschen Handbuch der
pathologischen Anatomie (Berlin 1878).
IL
Gniss und Glfickwansch dem Leiter des Archivs.
Von
Prof. Eretschmann.
Hochzuverehrender Herr Geheimrat!
An dem Tage, an welchem Sie Ihr 70. Lebensjahr vollendet
haben, an welchem Ihnen Glückwünsche und Ehrungen von fern
und nah in reichem Maße zugehen, an diesem Tage kann und
will auch das Archiv für Ohrenheilkunde in der Reihe der Glück-
wünschenden nicht fehlen. Ins Leben gerufen wurde das Archiv,
wie ich Ihren eigenen Worten i) entnehme, von dem Vater der
deutschen Ohrenheilkunde, dem genialen v. Tröltsch, welcher
auf anhaltendes Drängen Politzers mit einem gewissen Zagen
sich 1864 zu der Herausgabe einer separaten deutschen Zeitschrift
für Ohrenheilkunde entschloss, aber nur unter der Bedingung,
daß auch Sie sich an dem unternehmen beteiligten. Die Bedenken
V. Tröltschs, daß die dauernde Existenz einer solchen Zeit-
schrift wegen ungenügender Zahl von Mitarbeitern und Abnehmern
zweifelhaft sei, waren nicht ganz unberechtigt zu einer Zeit, wo
eine rationelle, wissenschaftliche Ohrenheilkunde noch in den
ersten Anfängen begriffen war, wo in der großen Allgemeinheit
die Ansicht vorhanden war, „daß das Gebiet der Otologie gänzlich
hoffnungslos und steril sei, daß man auf ihm nichts erreichen,
nichts bessern könne, und wo im Reiche der Ohrenheilkunde
meist nur Hypothese und Raisonnement herrschten.^ Diese Be-
denken zerstreut zu haben, dankt das Archiv Ihrem tatkräftigen
1) A. f. 0. Bd. 31. S. 11.
Ansprache. 7
Eintreten. So wurde die Zeitschrift ins Leben gerufen, welche
als erste und längere Zeit als einzige deutsche Zeitschrift für
Ohrenheilkunde die Förderung des jungen Faches sich zur Auf-
gabe machte, und deren Name und Titel untrennbar verbunden
ist mit dem Namen seiner drei Begründer: Anton v. Tröltsch,
Adam Politzer und Hermann Schwartze.
Die Zeitschrift erschien zuerst im Verlage der Stahlschen
Buchhandlung in Würzburg eingeleitet durch eine Arbeit von
Ihnen: „Die wissenschaftliche Entwicklung der Ohrenheilkunde
im letzten Dezennium."
Die ersten Bände erfolgten unregelmäßig und schleppend,
so daß bis zum Jahre 1873, also innerhalb 9 Jahren, nur 6 Bände
erscheinen konnten. Von 1873 ab übernahmen Sie die Leitung
des Archivs, das gleichzeitig in den Verlag der Firma F. C.
W. Vogel in Leipzig überging. Durch den geregelten Geschäfts-
betrieb des neuen Verlegers, durch zahlreicheres Eingehen von
Beiträgen wurde ein schnelleres Erscheinen und dadurch eine
weitere Verbreitung des Archivs erreicht Von Jahr zu Jahr,
von Band zu Band mehrte sich die Zahl der Autoren, wuchs der
Leserkreis; und bedurfte im Anfang die Herstellung von 6 Bänden
9 Jahre, so konnten in letzterer Zeit 3 Bände jährlich erscheinen.
Wahrlich, ein Aufschwung, der Sie mit Stolz und Freude erfüllen
muß. Von einem zarten Pflänzchen, dessen Leben im Anfang zu-
weilen bedroht erschien, hat sich das Archiv dank Ihrer unermüd-
lichen und rastlosen Fürsorge und Tätigkeit zu einem Baum
ausgewachsen, dessen Wipfel hoch ragt und dessen Zweige weit-
hin schatten. Wohl kaum ein Band findet sich, in dem nicht
Ihre Arbeiten, teils als Originalaufsätze, teils als Besprechungen,
Kritiken, Referate dem Leser vor Augen führen, was Sie literarisch
geleistet haben und immerwährend leisten. Was aber an latenter
Arbeit und Mühewaltung in den 65 Bänden enthalten ist, die den
Zeitraum von 34 Jahren umfassen, während dessen Sie die redak-
tionelle Leitung des Archivs inne haben, das kann nur einiger-
maßen der ermessen, der sich in ähnlicher Arbeit versucht hat.
Und der Lohn für diese Summe stiller und nicht sichtbarer
Mühen und Anstrengungen? Wenig Dank und viel Verdruß.
Wahrlich, das Archiv kann Ihnen nicht genug danken für die
stille, lautlose aber sorgenvolle und schwere ßedaktionsarbeit.
Zweifelsohne ist für den Wert und die Bedeutung einer Zeit-
schrift maßgebend der Redakteur. Einen gewichtigen Faktor
bildet aber auch der Verleger. Es ist ein glücklicher Umstand
8 IL Eretschmann. Ansprache.
gewesen, daß das Archiv in der Firma F. C. W. Vogel einen
so rührigen, tatkräftigen Verleger gewonnen hat, dessen Geschäfts-
führung und Betrieb stets eine schnelle Erledigung des einge-
lieferten Materials gewährleistete und dadurch das prompte Er-
scheinen der einzelnen Hefte ermöglichte. Dem bereitwilligen
Entgegenkommen des Verlegers, an dem es nie gefehlt hat, ist
es auch zuzuschreiben, daß das Archiv Raum zur Verfügung ge-
stellt hat für eine Festschrift, die Ihnen zu Ihrem 70. Geburts-
tage gewidmet ist. Für dieses Entgegenkommen gebührt dem
Verleger voller Dank der Mitarbeiter an dieser Festschrift
In den langen Jahren Ihrer lehrenden, wissenschaftlichen und
praktischen Tätigkeit ist die Förderung der Ohrenheilkunde das
Ziel Ihres Strebens gewesen. Ihre Arbeiten haben befruchtend
und anregend gewirkt auf allen Gebieten der Otologie. Wenn
Ihnen an dem Tage, welcher für Sie einen wichtigen Lebens-
abschnitt bedeutet, Fachgenossen, Freunde und Schüler in An-
erkennung Ihrer hohen Verdienste um die Ohrenheilkunde eine
Ehrung erweisen möchten, so war der Weg, auf dem dies zu ge-
schehen hatte, vorgeschrieben. Dem Manne der Wissenschaft
konnte eine solche Ehrung nur erwiesen werden durch Wissen-
schaft, dem Otologen nur durch Arbeiten auf diesem Gebiete.
Und so ist denn dieser Festband entstanden durch Sammlung
einer Reihe Arbeiten otologischen Inhaltes. Dadurch, daß diese
Festschrift einen Teil des Archivs, Ihres Archivs, bilden wird,
ist gleichzeitig für das Archiv die willkommene Gelegenheit ge-
geben, Ihnen seinen Dank abzustatten, den Dank, den es schuldet
seinem Mitbegründer, dessen wirksames Eintreten sein Entstehen
ermöglicht hat, seinem hervorragenden Mitarbeiter, dessen grund-
legende Arbeiten den Wert des Archivs zu einem bleibenden
machen, seinem verantwortlichen Leiter, der unbeeinflußt von der
Parteien Haß und Gunst das Archiv von kleinen Anfängen zu
seiner heutigen Bedeutung geführt hat. Möge es Ihnen von
einem gütigen Geschick beschieden sein, noch viele weitere Jahre
die Leitung des Archivs in bewährter Hand zu halten, der Zeit-
schrift zu Nutz, der Ohrenheilkunde zum Gewinn.
III.
Congratülations from America
OD the Occasion of the Seventieth Birthday
of
Geh. Rat Prof. Hermann Schwartze.
The seventieth birthday of Hermann Schwartze is a most
appropriate occasion to celebrate and to take a retrospective
glance into the past to see what has been accomplished since
the time when the „Altmeister der Ohrenheilkunde'^ went forth
alone^ a pioneer in the then unknown field of aural surgery^
braving the adverse criticism of the general surgeons of the day
to promnlgate the teachings, which his keen grasp of Otology
had already discemed to be correct, and which are today the
accepted doctrine the world over.
After Schwartze had led the way and opened up the path
through the primeval wildemess, it was easier for others to foUow
and so the development of aural surgery progressed through the
efforts of Küster, Zaufal, Stacke, and others, until there
came the final triumph of Grunert, with his ,, Ausräumung des
Bulbus Venae Jugularis." In Grunerts brilliant achievement,
emanating, as it did, from the Hallenser clinic, may be traced
again the guiding band of his chief. Thus the progress of
ear-surgery passes rapidly in review, and we realize what
Schwartze has contributed to the Science of Otology and to
humanity. But an adequate appreciation of the value and im-
portance of Schwartzes work can only be had when one con-
siders how many suffering victims of aural disease have been
10 III. SCHWARTZE. Congratulations from America.
relieved, and how many lives have been rescued through
the inauguration of the sargical treatment of Otitis Media
Suppurativa.
In no quarter of the globe, however, bas the influence of
Schwartzes teachings borne richer fruit than in America, and
such men as Gruening, Blake, Mackernon, Whiting were
not slow in applying with most encouraging results the methods of
the Hallenser clinic. And hence we, on this side of the Atlantic, in
most grateful recognition of the debt we owe to Schwär tze
and his School join in most sincere and hearty congratulations
on this memorable occasion, — particularly those of us who
have been privileged to study at the feet of the „Altmeister**, and
to leam from his own Ups the words of truth. He has led us
onward and upward, and inspired us with humanity and science
as our precepts and watch -words. He has illumined ways that
were in utter darkness, and on a harren field of Science has
made the flowers blossom forth. We bend in reverence and
acknowledge him our master.
Palmam qui meruit ferrat.
Dr. J. M. West, Baltimore, ü. St. A.
IV.
Ein Fall von rechtsseitigem Schläfenlappenabszefs com-
biniert mit Labyrinthfistel mit Ausgang in Heilung.
Von
Dr. Paul Konietzko, Ohrenarzt in Bremen.
Wenn ich der großen Zahl der bereits veröffentlichten ge-
heilten Fälle von Hirnabszeß noch einen neuen beifüge, so be-
stimmt mich der Umstand dazu, daß sich die trotz ungewöhnlicher
Größe des Abszesses anfangs verhältnismäßig geringfügigen Hirn-
und Lokalsymptome desselben mit den Symptomen einer akuten
Labyrinthfistel kombinierten.
Frau Doris L. aus A., 31 Jahre alt, kam am 3. Nov. 1906 in meine
Behandlung; sie wurde am 12. Januar 1907 geheilt entlassen.
Anamnese: Patientin leidet seit ihrem 6. Jahre an Eiterung aus
dem rechten Ohre. Der Eiter war bald dickflüssig, in geringer Menge auf-
getreten, bald dünnflüssiger und profuser, die Haut des Gehörganges und
der Ohrmuschel mazerierend. Den Angehörigen fiel in den letzten 3 bis
4 Monaten ihr launisches Wesen, Mißstimmung und große Reizbarkeit
auf; während der letzten Woche klagte sie über starke Schmerzen im er-
krankten rechten Ohre, seit 3 Tagen über rechtsseitige Kopfschmerzen, über
Schwindel, der rapid zunahm und auch beim Liegen sich bemerkbar machte,
Erbrechen bei nüchternem Magen, Schläfrigkeit und Benommenheit. Sie
klagt ferner über Appetitlosigkeit, Verdauungsbeschwerden und Schwer-
hörigkeit auf dem recnten Ohre. Außerdem ist Schwangerschaft im 3. Monat
vorhanden.
Statusjbräsens: Mittelkräftige Frau. Herz und Lungen gesund.
Temp. 36.8. Puls 76 etwas hart. Sensorium benommen, Fat. gibt nur auf
wiederholtes Fragen Antwort und muß wegen Schwindel und Gleichgewichts-
storunff, sowohl beim Gehen wie beim Sitzen gestützt werden. Sehnen-
und Muskelreflexe normal, Lähmungserscheinungen und Gefühlsstörungen
sind nicht nachweisbar. Lichtreaktion träge, Pupillen etwas verengt, rechte
Papille etwas enger als die linke, Augenhintergrund normal, geringer Nystag-
12 IV. KONIETZKO.
mus in der Horizontalen nach der gesunden Seite zu. Schmerzen in der
rechten Stirugegend. Keine Nackenschmerzen und -Steifigkeit.
Umgebung dos Ohres: ohne Besonderheiten, keine Schmerzempfin-
dung bei Druck auf die Spitze des Proc. mast und auf das Planum, eoen-
sowenig bei Beklopfen der rechten Schädelhälfte.
Gehörgang und Trommelfellbefund: Aus dem rechten Gehör-
g:ang Ausfluß von übelriechendem, gelben Eiter: in der Tiefe sind polypöse
Granulationen sichtbar, die den Gehörgang völlig ausfüllen und den Hinter-
grund verdecken. Links normal.
Hörprüfung: Genaue Höiprüfung war bei dem Zustand des Sen-
soriums nicht ausführbar. Flüstersp. r =» 0. —
Am linken Unterarm in der Handwurzelfalte eine ca. 1 cm lange
Wunde mit schmierig-eitrigem Belag, von dieser ausgehend Lympfgefäß-
entzündung und Rötung der Haut der Beugeseite bis zum*^ Oberarm.
Schmerzhalte Anschwellung der Lymphdrüsen am Oberarm und in der
Achselhöhle. Sofortige ergiebige Spaltung der Wunde und des kleinen
darunterliegenden Abszesses, Lysol- und Alkoholverband, Hochlagerung.
Nach Einholung der Einwilligung des Mannes am Abend desselben Tages
Totalaufmeißelung rechts: Weichteile und Corticalis normal,
Knochen stark sklerotisch. Bei Eröffnung des Antrum quillt stinkender,
grüngelber Eiter hervor, im Antrum und Aditus außerdem zerfallende
Cholesteatommassen. Paukenhöhle von polypösen Granulationen vollständig
ausgefüllt. Dura liegt über Aditus und Kuppelraum in Bohoengröße frei und
ist mit graugefärbten Granulationen bedeckt; weitere Freileguug derselben.
Hammer fehlt, vom Amboskörper nur ein kleines Rudiment vorhanden.
An der unteren knöchernen Gehörgangswand wird eine kariöse Stelle weg-
gemeißelt. Entfernung polypöser Granulationen aus dem Boden der Pauken-
höhle, unberührt bleibt die Steigbügelgegend. Spaltung der Gehörgangswand ;
wegen freiliegender Dura wird nur unterer Lappen gebildet.
4. Nov. Temp. 86,8, Puls 76. Kopfschmerzen, Schwindel, Erbrechen
und Nystagmus geschwunden, Sensonum frei, allgemeines Wohlbefinden.
6. Nov. Temp. normal. Puls etwas unregelmäßig, geringe Pupillen-
differenz noch vorhanden , ebenso Verlangsamung der Reaktion auf Licht-
einfall, etwas Lichtscheu auf dem rechten Auge. Kein Schwindel und
Nystagmus. Geringe Schmerzempfindung in der rechten Schläfegegend, bei
Perkussion mit dem Finger nicht erhöht. Appetit gut. Stuhlverstopfung.
Lymphgefäßentzündung am linken Unterarm zurückgegangen, Wunde gereinigt.
8. Nov. Temp. und Puls normal, keine Kopfschmerzen, Appetit gut.
Befinden vorzüglich. Erster Verbandswechsel. Wunde sieht gut aus, Ent-
fernung der Nähte.
10. Nov. Bisweilen ziehende Schmerzen in der rechten Schläfegegend^
Pupillen reagieren gleichmäßig, erscheinen gleich groß, jedoch etwas ver-
engt. Lichtscheu. Temp. und Puls normal.
12. Nov. Verbandwechsel. Wunde sieht vortrefflich aus, die ver-
färbten Granulationen auf der Dura reinigen sich. Wohlbefinden. Stuhl-
verstopfung.
13. Nov. Temp. normal. Puls 64, gleichmäßig voll und weich.
Morgens und mittags bei Nahrungsaufnahme Erbrechen, rechtsseitige Kopf-
schmerzen; Sensorium normal, kein Schwindel. — Patientin hatte am
Tage vorher 4 Besuche empfangen, mitgebrachtem, schwerverdaulichen
Kuchen lebhaft zugesprochen, war abends gegen Vorschrift aufgestanden,
zudem Schwangerschaft Ende des 3. Monats. Abends Temperatur 37,
Puls 68.
14. Nov. Temp. und Puls normal. Verbandwechsel. Wunde gut,
Dura mit frischen Granulationen bedeckt, geringe rechtsseitige Kopf-
schmerzen.
16. Nov. Kopfschmerzen in der rechten Schläfegegend stärker.
Puls 62. Temp. 36,5. Lichtscheu. Pupillen etwas eng, reagieren gleichmäßig.
Müdigkeit
17. Nov. Temp. 36,4. Puls 62, etwas schwach; rechtsseitige Kopf-
schmerzen verstärkt, Schmerzen in der Tiefe des rechten Bulbus, Licht-
Ein Fall von rechtsseitigem Schläfenlappenabszeß. 13
scheu, große Schläfrigkeit, Pat. gibt erst auf wiederholtes Fragen Antwort.
Pateliarrefiexe etwas herabgesetzt, ebenso Gefühlswahrnehmungen auf der
linken Körperhälfte und Muskelkraft. Appetitlosigkeit, Foetor ex ore, be-
legte Zunge, Stuhlverstopfung. Augen Untersuchung (Prof. C. Grunert):
rechte Pupille etwas enger als linke, Augenhintergrund normal. Verband-
wechsel. Wunde sieht vortrefflich aus, die freiliegende Dura ist mit frischen
Granulationen bedeckt.
18 Nov. Temp. 36,3, Puls 72, gleichmäßig voll und weich. Nachts
geringe Kopfschmerzen und Unruhe, am Tage Schläfrigkeit Pat. beantwortet
alle Fragen richtig, nur etwas langsam. Druck der linken Hand heute
verstärkt. Pupillenreaktion gleichmäßig und etwas lebhafter. Stuhlver-
stopfung.
19. Nov. Puls 82, voll und weich. Temp. 36,6, keine Kopfschmerzen.
Pat. ist geistig regsamer und frischer, geht lebhaft vom Bett durchs Zimmer.
Pupillen gleich weit. Zunge hat sich gereinigt, Appetit gebessert. Pateliar-
refiexe normal. Schlaf ruhig. Verbandwechsel. Wunde sieht gut aus. Ge-
ringe Senkung der freiliegenden Dura.
20. Nov. Temp. und Puls normal. Nachts exazerbierende Kopf-
schmerzen, Müdigkeit, Appetit genug, Zunge belegt. Durasenkung etwas
starker.
21. Nov. Temp. 34, Puls 64. Pat. konnte in der Nacht heftiger Kopf-
schmerzen wegen nicht schlafen. Am Tage große Müdigkeit. Dura ist stärker
vorgewölbt. Function. Bei längerem Beobachten ist in der Tiefe der Wunde
von Punctionsstelle her das Hervortreten eines kleinen Eitertröpfchens wahr-
nehmbar. Nachmittags ist der lockere Verband ganz mit Eiter durchtränkt,
nach Entfernung desselben Eiterabfluß, ca. 4—5 Eßlöffel, grüngelblich und
übelriechend. Die Dura wird im Narkose weiter freigelegt, besonders nach
vorne bis zum Ostium tympanicum der Tube. Spalten der Dura kreuzweis
mit dem geknöpften Messer, wobei sich die auffallende Stärke der mit der
Abszeßmembrau verwachsenen Dura bemerkbar und die Trennung mit dem
kleinen Messer Schwierigkeiten macht. Eingehn und Dehnung mit Komzange.
Tamponade mit Jodoformgaze. Abends Temp. 36,8, Puls 72.
22. Nov. Temp. 36,6, Puls 84. Pat. hat gut geschlafen, nur morgens
noch geringe Kopfschmerzen. Verbandwechsel. Nach Entfernung des Tam-
pons aus der Abszeßhöhle und Erweiterung der Inzisionsöffnung mit Korn-
zange, fließen etwa 4 — 5 Eßlöffel stinkender Eiter ab. Höheudurchmesser
des Abszesses ca. 472 — 5 cm. Einlegen eines losen Jodoformgazestreifens in
die Abszeßöffnung. Abends nochmaliger Verbandswechsel, Abfluß von 1 Va
Eßlöffel Eiter. Reinigung der Wundhöhle, deren Granulationen jetzt verfärbt
sind, mit Perhydrol.
23. Nov. Temp. 36,5, Puls 72, voll und weich. Keine Kopfschmeraen,
Schlaf gut und fest, Appetit rege, Wohlbefinden. Bei Verbandwechsel Ab-
fluß von ca. 1 Eßlöffel Eiter.
24. Nov. Temp. normal. Puls 82, geringe Kopfschmerzen. Bei Deh-
nung der Abszeßöffnung, die sich bei der Stärke der Abszeßmembran
immer wieder verengt, Abfluß von ca. 2 Eßlöffel Eiter. Einlegen eines
Drainrohres durch den äußeren Gehörgang in den Abszeß. Das Rohr läßt
sich noch ca. 472— 5 cm tief einschieben, wird aber nur bis über die Abszeß-
membran hinaus eingelegt. Abends nochmaliger Verbandwechsel, kein nach-
fließender Eiter, Abstoßung eines nekrotischen Gewebsfetzens. Weitere
Spaltung der Abszeßöffnung mit großem geknöpften Messer und Drainage.
Muskelkraft links normal, Gefühlsstörungen geschwunden.
25. Nov. Temp. 36,4, Puls 88. Keine Kopfschmerzen. Schlaf und
Appetit gui;, Wohlbefinden. Eiterung nur gering, nicht mehr übelriechend.
Drainage Pupillen gleich groß, reagieren normal.
26. Nov. Bei Verbandwechsel nur wenig. Eiter, pulsierender Licht-
reflex in der Gegend des ovalen Fensters bemerkbar, in der Tiefe der
Wunde etwas klare Flüssigkeit. Apoetit rege, Stuhlgang normal.
28. Nov. Nur wenig Eiterabfluß, jedoch Spuren von Liquorabfluß nocli
vorhanden. Pat. fühlt sich kräftig, geht ohne Schwankung allein durchs
Zimmer.
14 IV. KONIETZKO.
30. Nov. Temp. 36,4, Puls 96. Pulsierender Lichtreflex und Liquor-
abfluß noch immer sichtbar. Eiterabfluß aus Abszeß nur gering. Wunde
sieht gut aus.
1. Dez. Temp. 36, Puls 88. Appetit und Verdauung gut, Wohlbe-
finden. Wenig Liquorabfluß, geringe Eiterung.
3. Dez. Temp. normal, Puls 98. Wenig Eiter, bei Sondierung ergibt
sich jedoch noch eine Höhe des Abszesses von ca. 37* — 4 cm. Appetit vor-
züglich. Pat. geht auch mit geschlossenen Augen sicher umher.
5. Dez. Fulsation in der Gegend des ovsuen Fensters nicht mehr sicht-
bar, Liquorabfluß läßt sich nicht mehr feststellen. Ätzung der Wundränder
mit Arg. nitr.
7. Dez. Puls und Temp. normal. Pupillen gleich groß, reagieren gleich-
mäßig und normal, keine Lichtscheu. Eiterabfluß nur gering, Tiefe der Ab-
szeßhöhle ca. 3 cm. Ausspritzung mit warmer Borsäurelösung, darauf mit
0,5 Proz. Arg. nitr. -Lösung und Nachspülung mit Borlösung. Drainage.
10. Dez. Abszeßhöhle hat sich verkleinert. Eiterabfluß gering.
15. Dez Das Drainrohr wird fortgelassen, dafür Jodoformgazestreifen
eingelegt
' 24. Dez. Äußere Wunde hinter dem Ohre granuliert zu. Wundhöhle
ist fast vollständig epidermisiert, Abszeßhöhle verkleinert sich langsam, All-
gemeinbefinden vorzüglich.
4. Jan.. 07. Pat. wird aus der Klinik entlassen. Abszeßhöhle etwa
haselnußgroß. Ausspülen derselben mit warmer Borlösung.
10. Jan. Tampon wird fortgelassen, Durafistel sehr eng.
» 12. Jan. Fistel geschlossen, Wundhöhle vollständig epidermisiert und
trocken, äußere Wunde fast ganz zugeheilt. Bei Kontrol-Untersuchung am
21. Jan. ist die Wundhöhle vollkommen trocken, Paukenhöhle durch Sen-
kung der Dura etwas verengt. Wunde hinter dem Ohre vernarbt.
Hörprüfung: Nachdem die verklebte Tube durch Luftdusche noch
durchgängig gemacht ist, wird Flüstersprache, die vorher nur auf 4 cm
. Entfernung gehört wurde, auf V2 m gehört.
Ci lateralisiert nach rechts.
Fis4 +.
Uhr angeblich vor und hinter dem Ohre gleich.
Untere Tongrenze heraufgerückt.
Epikrise.
Das geschilderte schwere Krankheitsbild bei der Aufnahme
der Patientin erweckte gleich Verdacht auf Hirnkomplikation.
Da Fieber, Nackensteifigkeit und -schmerzen, Symptome, die für
Meningitis gesprochen hätten, nicht vorhanden waren, so
dachte ich an Hirnabszeß, um so mehr als ich bei der Total-
aufmeißlung die Dura freiliegend und mit verfärbten Granu-
lationen bedeckt fand. Die auffallende- Besserung im Befinden
der Kranken sofort nach der Operation, das Schwinden aller Hirn-
drucksymptome, ließen anfangs vermuten, daß für das Auftreten
derselben toxische Einflüsse verantwortlich zu machen seien, die
jedoch nach Eliminierung des Eiterherds geschwunden waren.
Hierzu kam noch die Abstoßung und Reinigung der ver-
färbten Granulationen der freigelegten Dura, ferner auch der Um-
stand, daß eine Senkung der letzteren anfangs nicht festzustellen
war. 12 Tage lang, bis zum 16. Nov., waren die Symptome
des noch latenten, fast apfelgroßen, im Durchmesser ca. 5 cm
Ein Fall von rechtsseitigem Schläfenlappenabszeß. 15
messenden Scbläfenlappenabszesses nur sehr geringe; bisweilen
nur auftretende leichte Kopfschmerzen, Lichtscheu und geringe
Pupillenenge. Das am 13. November sich einstellende Erbrechen
welches jedoch während der Nahrungsaufnahme, nicht bei nüch-
ternem Magen, auftrat, kann leicht auf die erwähnten Diätfehler
und Schwangerschaft zurückgeführt werden. Mit dem 17. Nov.
setzten plötzlich bedenklicherere Erscheinungen ein, die im Laufe
der Zeit einen ausgeprägten, für Himabszeß sprechenden Symp-
tomenkomplex bildeten, aber nicht gleichmäßig und anhaltend
auftraten, sondern z. T. fortwährenden Schwankungen ausgesetzt
waren. Zunehmende, nachts exacerbierende Kopfschmerzen in der
rechten Schädelhälfte^ Verlangsammung des Pulses bis auf 62
Schläge, Appetitlosigkeit, Foetor ex ore, Stuhlverstopfung, Müdig-
keit, häufiges Gähnen, Benommenheit, vermehrte Lichtscheu^
Pupillendifferenz und -Verengung, Schmerzen in der Tiefe des
Bulbus, Herabsetzung der Patellarreflexe und der Empfindung
auf der linken Körperhälfte nebst Verminderung der Muskel-
kraft und zuletzt Senkung der Dura. Daß diese Senkung
bei der Größe des Abszesses und weiter Freilegung der
Dura erst so spät erfolgte, ist wohl auf die auffällige Stärke
der Abszeßmembran zurückzuführen. Diese, wie auch die anfangs
so geringen symptomatischen Druckerscheinungen und Störungen,
lassen auf ein langsames Wachstum, — wohl durch geringe
Virulenz der Infektionsträger bedingt, — und wahrscheinlich
bereits langes Bestehn des Abszesses schließen. Sind doch die
monatelang beobachtete Mißstimmung, das launische Wesen und
die große Reizbarkeit als Symptome des bereits vorhandenen
Abszesses zu betrachten. Ihrer jetzigen Aussage nach, hätte
Patientin derartige Wutanfälle gehabt, daß ihr „ein Todschlag
ein leichtes gewesen wäre''. Die Stärke der Abszeßmembran,
und das langsame Wachstum, hat wohl auch, trotz der Größe
des Abszesses, einen Durchbruch in den Seitenventrikel verhindert
und war wohl auch die Ursache, daß bei dem geradezu stinkenden
Eiter Fieber nie aufgetreten war. Auffallend war es, daß sich
keine Störungen am Augenhintergrund und keine lokale Percussions-
empfindlichkeit des Schädels auf der erkrankten Seite, trotz
wiederholter Untersuchung daraufhin, feststellen ließen. Die an-
fangs bei der Aufnahme sich so in den Vordergrund drängenden
Erscheinungen, wie Gleichgewichtsstörungen, Schwindel, auch
beim Liegen, bei offenen und geschlossenen Augen, Erbrechen
und Nystagmus, sind trotz zunehmender, auf Hirndruck und
16 IV. KONIETZKO.
toxische Einwirkungen zurückzuführender Symptome, nach der
ersten Operation nicht wieder aufgetreten. Die erst später zur
Feststellung gelangte Labyrinthfistel gibt die Erklärung dafür.
Sie waren anscheinend Folgeerscheinungen einer akut aufge-
tretenen Perforation der Stapesplatte oder des Ligamentum
annulare oder vielleicht schon vor dem gänzlichen Durchbruch
von hier aus in das Labyrinth und weiter in den Blutkreislauf
gelangter Toxine. Es waren reine Labyrinthsymptome. Nach
Ausräumung des Eiterherdes, des Cholesteatoms aus den Mittel-
ohrräumen, schwanden diese, ebenso wie die andern schweren
Erscheinungen wie Erbrechen, Benommenheit, Schwindel,
Nystagmus ; es ließen die Kopfschmerzen nach, selbst ein vorüber-
gehendes Schwinden der Pupillendifferenz und -Verengung war
festzustellen. Durch Ausschaltung des Eiterherds wurde femer
eine bisher noch nicht erfolgte Infektion und Vereiterung des
Labyrinths verhindert ; es fand wohl, begünstigt durch den Druck
der Tamponade auf die in der Steigbügelgegend wucherndem
polypösen Granulationen, von denen nach Schwärt ze 'scher strikter
Anweisung scharfer Löffel und Pinzette femblieben, eine Ver-
klebung statt, die sich erst nach gänzlichem Abstoßen der Polypen
etwas öffnete und so Abfluß von Labyrintflüssigkeit für er. 8
Tage gestattete, dann jedoch völlig verheilte.
Als früherem Assistenten der Halle'schen Ohrenklinik gewährt
es mir eine große Genugtuung, meinem hochverehrten ehemaligen
Chef, Herrn Geheimrat Seh wartze, an diesem seinem Ehrentage
nochmals meinen Dank und meine größte Hochachtung aus-
sprechen zu dürfen.
V.
Pathologiscbe Schallverstärknng bei Erkrankungen des
schalleitenden Apparates.
Von
A. Barth, Leipzig.
Die eigentümliche Erscheinung der Autophonie, d. h. das
verstärkte Hineinschallen der Stimme in das eigene Ohr wurde
erklärt, durch das Offenstehen der Tube, welche den im Nasen-
rachenraum zusammengehaltenen und hier wohl auch durch
Resonanz noch verstärkten Schallwellen den direkten Zugang zum
Mittelohr gestattete. Dann wurden Fälle bekannt, wo die Er-
scheinung auch beobachtet worden war bei offenbar entzündlichen
Schwellungszuständen im Nasenrachenraum und zum mindesten
auch an der Tubenöffnung, sodaß die Autophonie auch bei patho-
logischem Tubenverschluß zu Stande gekommen sein mußte. Man
suchte sie in diesen Fällen dadurch zu erklären, daß durch die
Schwellung des Gewebes günstigere Bedingungen für die Schall-
überleitung in den Weichteilen geschaffen seien. Mir schien diese
Hypothese nicht nur unbewiesen, sondern auch nicht recht glaub-
haft, und ich stellte deswegen die Gegenbehauptung auf, daß
unter gewissen Bedingungen die Tube, wenn auch im ganzen
verengt, gerade durch submuköse Schwellung der Wände zum
Klaffen des Lumens gebracht werden könnte. Auf diese Weise
würde die Erklärung wieder eine einheitliche.
So liegt die Frage noch heute, und obwohl ich vor allem
auch über den zuletzt erwähnten Punkt noch die gleiche Ansicht
habe wie früher, so befriedigte mich doch die Lösung noch nicht
recht. Ich beobachtete weiter und bin allmählich zu folgender
Anschauung gekommen:
Wir können zwei verschiedene Veränderungen unterscheiden,
welche ein verstärktes Hineinschallen der eigenen Stimme in das
Archiv für Ohrenheilkunde. 73. Bd. Festschrift. 2
18 V. BARTH.
Obr zur Folge haben. Ob es noch weitere gibt, lasse ich dahin-
gestellt. Wir brauchen während des Sprechens nur ab und zu
ein Ohr zu verschließen und werden in ihm sofort den Schall
unserer Stimme verstärkt wahrnehmen. Das Gleiche, nur unter
Umständen in wesentlich erhöhtem Grade, stellt sich ein bei
Erkrankungen der Tube und der Paukenhöhle und verdankt seine
Entstehung genau den gleichen Ursachen, wie die des Binne'schen
und des Weber'schen Versuches, und findet dieselbe Erklärung,
wie diese.
Die zweite Art der Schallverstärkung ist das heftige Hinein-
klingen der eigenen Stimme bei Offenstehen der Tube. Jeder,
wer die beiden Arten der Schallverstärkung einmal an sich selbst
wahrgenommen und damit Gelegenheit zu einer Vergleichung
gehabt hat, wird sich wundem, wie ich überhaupt diese zweite
Form, die unbestritten viel lautere und mehr belästigende und,
die bisher wohl allein als Autophonie bezeichnete nebeneinander
mit der zuerst genannten in Vergleich stellen kann, welche ja
so außerordentlich häufig und für jeden Arzt etwas Selbstverständ-
liches ist, der über die Erscheinungen der Hörprüfung bei Luft-
und Knochenleitung Bescheid weiß.
Aber ich wende ein: beide Formen der Schall Verstärkung
sind etwas rein Subjektives. Und mit dem subjektiven Wahr-
nehmen und Empfinden hat es sein Bedenken.
Die gleichen subjektiven Geräusche lassen den Einen, der
gleichmütig und wohl auch bis zu einem gewissen Grade in-
dolent ist, völlig gleichgültig. Er geht ruhig seiner Beschäftigung
nach und schläft ungestört Den Andern regen sie auf und ver-
leiden ihm das Dasein bis zum Lebensüberdruß. Wie* weit solche
subjektiven Vorstellungen führen, haben wir erst vor kurzem ein
Beispiel gehabt, wo ein junger Mann, dem die äußere Form
seiner, nicht einmal syphilitischen Sattelnase nicht gefiel, einen,
allerdings mißglückten Selbstmordversuch machte. Es hat sich
mir im Laufe der Zeit die Überzeugung aufgedrängt, daß nicht
selten Patienten mit den verschiedenen Formen von Ohrerkrankung
über subjektive Störungen klagen, bei deren fachmännischer Be-
urteilung sich die Überzeugung aufdrängte, daß die subjektiven
Empfindungen in Wirklichkeit nicht so hochgradig sein könnten,
daß ihre starke Belästigung vielmehr ans dem psychischen Ver-
halten der Kranken zu erklären sei. Eine solche Übertreibung
der Kranken ist gamicht so verwunderlich, wenn man bedenkt,
wie außerordentlich reizbar manche Patienten mit Ohrenleiden oft
Patholog. Schallverstarkung b. Erkrankungen d. schalleitenden Apparates. 19
sind. Ob auch umgekehrt wesentlich stärkere autophonische Er-
scheinungen von mehr indolenten Menschen, so gut wie ignoriert
werden, kann ich nicht sagen. Nur soviel steht fest, daß wir au&
den rein subjektiven Wahrnehmungen und Angaben der Kranken
nicht in der Lage sind die verschiedenen Formen pathologischer
Schallverstärkung diagnostisch auseinander halten zu können. Wir
müssen nach objektiven, oder wenigstens objektiveren Merkzeichen
suchen. Nun besitzen wir ja zwar schon emige soche Zeichen.
So bei offen stehender Tube die sichtbaren Atembewegungen eines
schlaffen Trommelfelles. Oder bei der anderen Form die ver-
schlossene Tube^ auch für Katheterismus und Bougie nicht oder er-
schwert durchgängig; oder den verstopften Gehörgang, nach dessen
Freimachung die vordem vorhandene Verstärkung der eigenen
Sprache sofort verschwunden ist, u. a. m. Da diese Erscheinungen
aber nicht für jeden Fall anwendbar sind, se möchte ich noch
ein unterscheidendes Merkmal anführen, das ich bei meinen Vor-
lesungen schon seit Jahren demonstriere: Bei der ersten Form,
also bei Tubenverlegung, den verschiedenen Formen ven Mittel-
ohrerkrankung, 6ehörgangsvei*stopfung ist die Verstärkung der
eigenen Sprache — ausgeschlossen natürlich das hierbei vor-
kommende wirklich verstärkte Sprechen — wirklich rein subjektiv,
d. h. objektiv bisher auf keine Art nachweisbar. Bei der Auto-
phonie, bedingt durch Offenstehen der Tube, hört man die Ver-
stärkung auch objektiv, wenn man das kranke Ohr des Patienten
durch einen Hörschlauch mit dem Ohr des untersuchenden ver-
bindet. Am auffallendsten ist die Erscheinung, wenn man je ein
Ohr des Kranken mit je einem Ohr des Untersuchenden gleich-
zeitig in Verbindung bringt und nun den Kranken sprechen, oder
noch besser summen läßt. Der Untersuchende hört dann aus dem
erkrankten Ohr das Brummen außerordentlich verstärkt durch das
Otoskop. Diese Beobachtung spricht dafür, daß bei dieser Form
der Autophonie das verstärkte Hören bedingt ist durch wirklichen
stärkeren Klang (im physikalischen Sinne) in der Paukenhöhle, was
beider anderen Form des subjektiven stärker Hörens nicht der Fall ist.
Subjektiv verstärkt erscheint der Schall bei beiden Formen
Die Empfindung hat man aber bei Offenstehen der Tube mehr
in der Tiefe des Ohres, während sie bei Verschließen des Gehör-
ganges mehr nach der äußeren Ohröffnung hin rückt. Wie bei
noch anderen Veränderungen im schalleitenden Apparat dieser
Vergleich ausfält, kann ich nicht sagen. Diagnostische Verwertung
wird er auch kaum finden können.
2*
20 V. BARTH.
Der vom Scheitel aus auf das Ohr übergeleitete und bei
Offenstehen der Tube verstärkt erscheinende Ton einer Stimm-
gabel klingt noch mehr verstärkt, wenn man nun, während die
Tube offen bleibt, das Ohr verschließt, und rückt dabei in der
subjektiven Beurteilung mehr nach außen. Diese Versuche sprechen
für die Annahme, daß beim Web er 'sehen und Rinne 'scheu Ver-
suche' die Verstärkung des Tones dadurch eintritt, daß der Ab-
fluß des Schalles aus dem Mittelohr durch die gestörte Schall-
leitung behindert ist, daß an dem verschließenden Finger viel-
leicht eine Beflexion des Schalles, und damit eine subjektive Ver-
stärkung statt hat. Aber die auch durch einfaches Offenstehen
der Tube ohne gleichzeitigen Verschluß des Gehörganges ein-
tretende Verstärkung des Schalles einer auf den Scheitel auf-
gesetzten Stimmgabel spricht dafür, daß dies nicht die einzige Er-
klärung für die Erscheinung des Web er 'sehen und Rinne 'sehen
Versuches sein darf. Denn bei im übrigen normalem Ohr fließt doch
ein Teil der Schallwellen umso leichter ab, wenn noch die Tube
offen steht Durch diese gelangen sie nach dem Nasenrachenraum,
von wo aus sie, wahrscheinlich noch resonatorisch verstärkt, durch
die offene Tube auf das Ohr zurückwirken.
Stellt man bei Autophonie den Web er 'sehen Versuch mit
Stimmgabeln an und sucht die Tonverstärkung wie vorher bei
der Sprache objektiv mit Hörschläuchen zu kontrollieren, so ist
bei verschlossener Tube durch den Schlauch eine Verstärkung
nicht wahrzunehmen. Aber auch bei offener Tube ist sie so wenig
auffallend, daß sie öfter nicht bemerkt wird. Es ist also diese
Art zu untersuchen für die Praxis nicht zu empfehlen.
Krankhafte Autophonie bei offener Tube ist nach meiner
Ansicht ein selteneres Vorkommnis, als man bisher allgemein an-
nimmt. Vor allem aber darf man nie aus den Augen verlieren,
daß die Autophonie ein Krankheitssymptom, nicht aber eine Krank-
heit bedeutet
Die angeführten Beobachtungen über Autopohonie bei offener
Tube sind an mir selbst angestellt, da ich willkürlich die Tuben
öffnen und längere Zeit offen halten kann. Hoffentlich finden sie
von anderen Seiten Bestätigung und Erweiterung.
VI,
Ober interne Behandlung des chronischen
Hittelohrkatarrhes.
Von
Martin Sugr^r in Budapest.
Grunert, dessen frühzeitigen Heimgang wir Alle beklagen,
trat bereits im Jahre 1903 auf der 75. Versammlung deutscher
Naturforscher und Ärzte für die Anschauung ein, daß die Zu-
kunft der Therapie des chronischen Hittelohrkatarrhes in dessen
interner Behandlung liegt. Noch präziser spricht er sich dies-
bezüglich in seinem gemeinschaftlich mit Schwartze bearbeiteten
klassischen Buche „Grundriß der Otologie^' aus, indem er einer-
seits von einem möglichen Erfolg der medikamentösen Therapie
in den Anfängen der Erkrankung spricht, in denen die anatomische
Untersuchung nur das Vorhandensein von Herden vaskulöser
Ostitis nachgewiesen hat, andererseits aber hervorhebt, daß Angriffs-
punkte für eine rationelle Palliativtherapie nur durch die sorgfältigste
Untersuchung des ganzen Körpers zu gewinnen seien und allein der
tüchtige, universell geschulte Arzt ist in der Lage dieselben zu finden.
Die von Grunert betonten Prinzipien leiten mich seit 2 Jahrr
zehnten, seit meiner Assistentenzeit an der Abteilung meines ver-
ehrten Lehrers Prof. Victor Urbantschitsch in Wien, bei
der Behandlung des chronischen Mittelohrkatarrhes und habe ich
denselben meine bescheidenen therapeutischen Erfolge in meiner
Heimat, ja selbst im Auslande zu danken. War es mir doch
unter anderem gegönnt, mein Verfahren infolge konsultativer
Berufung, selbst in der Hauptstadt Gallien's zu erproben und so
auch die Aufmerksamkeit französischer Kollegen wachzurufen,
Im nachstehenden will ich es daher unternehmen, die medi-
kamentöse Therapie der Otosklerose wenigstens in groben Zügen
zu entwerfen.
22 VI. SUGÄR.
Im LVII. Bande dieses Archivs habe ich über die Thiosinamin-
behandluDg des chronischen Mittelohrkatarrhes berichtet und
obwohl der meine Erfahrungen alsbald bestätigende Wiesbadener
Ohrenarzt L. Hirsch land hervorhebt, daß bereits der Amerikaner
Sinclair Tousey einen durch Thiosinaminbehandlung erheblich
gebesserten Fall von Schwerhörigkeit schon im Jahre 1897 be-
schrieb, blieb mir, wie vielen Anderen, diese Beobachtung voll-
kommen unbekannt, Beweis dessen, daß man sich fachärztlich
diesem Mittel erst in neuerer Zeit infolge meiner Empfehlung im
Jahre 1904 zuwandte. Über günstige Erfahrungen mit Thiosinamin
berichteten bisher außer dem zitierten Hirschland, CuUough
in New-York, Karl Kassel in Posen, Löwensohn in St. Peters-
burg, Tapia in Madrid, Andr6 Horeau, femer Lermoyez und
Mahn in Paris, Lucae in Berlin, Ernst Urbantschitsch in
Wien und Török in Budapest, durchwegs Autoren, die eine sorg-
fältige Auswahl der Fälle vornahmen und die subkutanen oder intra-
venösen Injektionen mit der mechanischen Behandlung kombinierten,
wie ich dies in meiner obenerwähnten Arbeit deutlich angab. Am
lehrreichsten sind die Beobachtungen des Kollegen Ernst Urbant-
schitsch, der das Mittel an der Ohrenabteilung seines Vaters er-
probte, die Injektionen nach meiner ursprünglichen Angabe sub-
kutan unter die Haut des Oberarms vornahm, von der Anfangsdosis
0,3 Fibrolysin, am nächsten Tage 0,6, allmählich auf 1,0 — 1,5,
schließlich auf die volle Dosis von 2.3 (Eine ganze Ampulle) empor-
stieg und bei nach 8 — 10 Injektionen sich äußernderBesserung, drei-
mal wöchentlich appliziert, bis zu 20 — 50 Injektionen anwandte.
Auch ich bevorzuge schon seit geraumer Zeit die von E. Urbant-
schitsch geübte forcierte Anwendung des Fibrolysins Merck, das in
braunen zugeschmolzenen Ampullen ä 2,3 cm ^ entsprechend 0,2 Thio-
sinamin in dem Handel ist, verwende aber nicht gern Beste der
Flüssigkeit aus den Ampullen, da das Thiosinamin beim längerem
Stehenlassen in Form eines weißen Pulvers ausfällt und sich nur
durch Erwärmung wieder löst.
Klar und deutlich spricht sich E. Urbantschitsch dahin aus,
daß nur ausgesprochene Fälle von chronischem Mittelohrkatarrh
und beginnender Sklerose geeignet sind, daß die Wirkungsweise
des Fibrolysins in der Erweichung des pathol. Gewebes zu suchen
ist und die hiemit in Kombination anzuwendende mechanische
Behandlung die Verwertung der erfolgten Dehnbarkeit des patho-
logischen Gewebes anzustreben hat.
Daß das Thiosinamin, besser Fibrolysin, keineswegs als
über interne Behandlung des chronischen Mittelohrkatarrhes. 23
Spezifikum zu betrachten ist, sondern nur als wirksamer Behelf
sämtlicher mechanischer Behandlungsmethoden (Katheter^ Bougie,
Yibrations- resp. Friktionsmassage mit Letzterer, Pneumomassage
mittelst Elektromotor, Musehold'scher Sirene, Delstanche
Masseur) habe ich in einer in ungarischer Sprache abgefaßten
Arbeit über die Fortschritte auf dem Gebiete der Ohrenheilkunde
bereits Ende 1906 genau und deutlich präzisiert. E. Urbant-
schitsch kommt zu dem berechtigten Schlüsse, daß uns mit
dem Thiosinamin tatsächlich ein Mittel in die Hand gegeben ist,
das im Stande ist, die durch den chronisch katarrhalischen
Prozeß hervorgerufenen pathologischen Veränderungen in der
Paukenhöhle günstig zu beeinflussen.
Ausführlicher muß ich noch der Arbeit des hiesigen Ohrenarztes
Spitalsordinarius Török gedenken. Er wandte reines Thiosinamin
in 15prozentiger Lösung mit Wasser und Spiritus vini rectificatus
an, applizierte subkutan in die Oberarmgegend dreimal wöchentlich
je 1 cm 3, sah bei inveterierten Fällen, insbesondere mit Hypaes-
thesie des Acusticus, daher conform mit meiner Angabe, keinen
Erfolg, doch umsomehr bei chronisch katarrhalischen Prozessen,
Strikturen der Tube, posttraumatischen Adhaesivprozessen, be-
ginnender Sklerose des einen Ohres bei stärkerer ausgesprochener
Affektion des anderen bereits unheilbaren Ohres, und hält somit
das Thiosinamin auch in der Ohrenheilkunde für ein sehr wert-
volles Medikament, das in den indizierten Fällen sehr gute Dienste
zu leisten berufen erscheint. Schließlich bemängelt er das
Fibrolysin wegen seines hohen Preises, obwohl nach meinem
Dafürhalten viel Mißerfolge mit der wässrig-akoholischen Lösung
des Thiosinamin lediglich der leichten Zersetzlichkeit desselben
zuzuschreiben sind und das Fribolysin (Merck) gerade in dieser
Richtung volle Gewähr zu leisten im Stande ist. Wenn Török
weiter behauptet, wir hätten keine Prüfungsmethoden zur Ver-
fügung, mit denen wir eine Initialsclerose als solche zu diagnosti-
zieren im Stande wären, erinnere ich an das Schwartze'sche
Symptom, an die durch ein auffallend zartes Trommelfell hin-
durchscheinende charakteristische violette Labyrinthyperämie,
femer muß ich mit Hirsch land hervorheben, daß die Fibrolysinin-
jektionen indiziert sind in allen Fällen, in denen mit dem Gel 16'-
schen Versuch eine Fixation des Stapes nachzuweisen ist (Gell 6
negativ) und in denen auch ohne dieses Symptom der Biene 'sehe
Versuch bis zur kleingestrichenen Octave negativ blieb. Weitere
Anhaltspunkte für die möglichst frühzeitige Diagnose der Otos-
24 VI. SÜGÄR.
klerose bieten das Herabrücken der oberen Grenze, was nach
Jörgen Möller ein Hauptmerkmal ist, besser die Bezold'sche
Triade (Rinne excessiv negativ, Verlängerung der Kopfknochen-
leitung, starkes Hinaufrücken der unteren Tongrenze), welche die
meisten Autoren als charakteristisches Symptom akzeptieren.
Allerdings decken sich diese Kriterien mit jenem der Stapes-
ankylose und diese in ihrer reinen Form, oder in Kombination
mit Spongiosierungsprozessen in der Labyrinthkapsel, stellt die
Erkrankungsform dar, welche wir dem Vorgange Bezold's gemäß
als Otosklerose bezeichnen. Der klinische Begriff der Otosklerose
deckt sich aber nicht immer mit dem pathologisch-anatomischen
Substrat der Steigbügelfixation, so daß nach Katz die beiden
Erkrankungen zu trennen wären. Es gibt nach diesem Autor
Fälle mit intakten Bingband, jedoch Kombination von Osteoporose
mit deutlicher partieller Nervendegeneration (N. Cochleae, Ganglien-
zellen, Corti'ßche Zellen) und Erkrankungen mit reiner Stapes-
ankylose zu Beginn des Krankheitsprozesses. Da die richtige
Auswahl der Fälle bei der Fibrolysinbehandlung sehr wichtig ist
und ohne genaue Sichtung der verschiedenen Formen der Otos-
klerose kein Erfolg zu erwarten ist, muß ich auf die Differen-
tialdiagnostischen Merkmale des Näheren eingehen.
Unsere derzeitigen Kennzeichen zur Unterscheidung dieser
Fälle sind die folgenden.
Ist der Prozeß auf die Labyrinthkapsel im Sinne Siebe-
mann 's ausgedehnt, mit oder ohne Erkrankung der nervösen
Elemente im inneren Ohre, so ist die untere Tongrenze ebenfalls
heraufgerückt, die Knochenleitung ist aber nicht verlängert, Rinne
positiv oder zeitlich verkürzt. ViTeber wird nicht verstärkt nach
dem schlechter hörenden Ohre lateralisiert und die Perzeptioii
der höheren Töne (fis 4) durch die Luftleitung ist herabgesetzt.
Nicht vollkommen verläßlich erschien mir aber wiederholt
das von Gradenigo für Akustikusaffektionen als charakteristisch
angesprochene Symptom : Herabsetzung für Töne mittlerer Höhe,
sowie exzessive funktionelle Erschöpf barkeit des kranken Nerven-
stamms.
Ist die Erkrankung der knöchernen Labyrinthkapsel die pri-
märe Läsion, so überwiegen Hörstörungen, die den Prozeß als im
Labyrinthe lokalisiert erkennen lassen.
Die auf dem Boden vorausgegangener sekretorischer Mittel-
ohrkatarrhe (Adhäsivprozesse Politzers) entstandenen Fälle eignen
sich durchwegs für die mit mechanischer Behandlung kombinierte
J
über interne Behandlung des chronischen Mittel ohrkatarrhes. 25
Thiosinaminbehandlung. Die von der Labyrinthkapsel ausgehen-
den sogenannten reinen Fälle von Otosklerosis , die klinisch oft
bis auf eine geringe Transparenz in der Gegend des Promon-
toriums jede objektive Veränderung des Trommelfells vermissen
lassen, jedoch nur im Anfangsstadium und allenfalls eher für die
Phosphorbehandlung im Sinne Siebenmanns, mit der ich mich
in meiner diesbezüglichen Arbeit (dieses Archiv Bd. LXVI) ge-
sondert beschäftigte.
Sehr geeignet für die Fibrolysinbehandlung erschienen mir
stets Fälle von juveniler Sklerose, weniger die kongestiven mit
durchscheinender ßöthe des Trommelfells, am wenigsten die
arteriosklerotischen, da das Thiosinamin auf dem Wege der Blut-
bahn seröse Durchtränkung der Adventitia sämtlicher Blutgefäße
zu machen imstande ist, was durch temporäre Erweiterung der
Blutbahnen zu Hirnkongestionen führen kann.
Die Beobachtung Maupetits würde uns hierbei sehr gut
zustatten kommen, daß die Mehrzahl der mit hereditärer Oto-
sklerose behafteten Patienten eine Erhöhung des arteriellen Druckes
aufweisen, wie Arteriosklerotiker, während bei atypischer Sklerose
der normale Druck vorhanden ist, weshalb dieser Autor blut-
druckherabsetzende Mittel bei der Behandlung empfiehlt. Leider
konnte Mengotti die enge Beziehung zwischen Blutdruck und
Sklerose nicht bestätigen.
An dieser Stelle muß ich betonen, daß in jedem Falle von
Sklerose eingehende Blut- und Harnuntersuchung vorzunehmen
ist, was ich den Fachkollegen, nebst genauer somatischer Unter-
suchung, besonders empfehle.
Wir müssen uns vergegenwärtigen, das der N. acusticus im
Sinne des Altmeisters der Physiologie Johannes Müller ein
„Nerv spezifischer Sinnesenergie" ist und daher auf jede Schäd-
lichkeit, auch die konstitutioneller Art, mit Sausen und Schwer-
hörigkeit antwortet.
Durch die Harnuntersuchung können wir diejenigen Störungen
des Hörorgans ausschließen, die durch Nephritis und Diabetes
hervorgerufen werden, eventuell durch rationelles Regime dem
Vorschreiten der Höraffektion Einhalt gebieten. Hierher gehört
die Beobachtung Lermoyez's, der in einem Fall von durch
muskulären Krampf bedingten heftigem Ohrensausen durch das
gegen den vorhandenen Morbus Brighti eingeleitete salzlose
Regime nach Widal (Dechloruration, Regime sans sei.) Heilung
erzielen konnte.
26 VI. SUGÄR.
Die Blutuntersuchung führt uns zur Erkennung von post-
puerperaler Anämie, perniziöser Anämie^ Chlorose, Leukämie und
von dadurch hervorgerufenen Hörstörungen.
Die genaue somatische Untersuchung ermöglicht die Diagnose
von hyperämischen Labyrinthleiden bei Herzerkrankungen, ple-
thorischen Zuständen, chronischer Obstipation, Arteriosklerose,
von funktionellen Hörstörungen bei Hysterie, Neurasthenie, bei
Intoxikationstaubheit (Salizyl, Chinin, Aspirin, Alkohol- Nikotin-
Blei- Arsen, Quecksilber, Gelbsucht, Carcinom, Arthritis), bei
Syphilis, Influenza, Mumps, eventuell die Erkennung von retro-
labyrinthären neuritischen Veränderungen bei intaktem Mittelohr
im Verlaufe von allgemeiner Tuberkulose.
Wir müssen uns endlich gewöhnen, das Bild des chronischen
Mittelohrkatarrhes, resp. das der Otosklerose auf seine Kompo-
nente zu zerlegen, da wir es keineswegs mit einem einheitlichen
Krankheitsbilde zu tun haben. Diesen Standpunkt scheint auch
Lucae zu teilen, indem er in der Berliner otolog. Gesellschaft
anläßlich einer Diskussion betonte, daß die Erfolge teils mit Thio-
sinamin, teils mit Pilokarpin für verschiedene Ursachen der Oto-
sklerose sprächen. Ich selber fand wiederholt, daß in vielen
vielen Fällen die nervöse Schwerhörigkeit bei Otosklerose nur
eine funktionelle, auf toxischer Basis entstandene Neuritis ist.
Um die Erfahrungen bei Anwendung des Thiosinamins zu er-
schöpfen, muß ich noch erwähnen, daß Lermoyez und Mahn in
Paris anfangs die 15 prozentige alkoholische Lösung von Thiosinamin
in Form von täglichen Ohrenbädern in der Dauer von 10 Minuten
bei nebenheriger Anwendung des Masseur Delstanche rühmten.
Daß diese Art der Anwendung wegen minimaler Resorption von
der Haut des Gehörganges und des Trommelfells nicht gerade
zweckmäßig ist, geht aus der emfachen Überlegung hervor, daß
wir selbst den verschiedenen Anästheticis Karbolsäure mit der
Absicht hinzufügen, eine Erosion am Trommelfelle zu setzen, um
dadurch eine Tiefenwirkung zu erzielen. Ich muß endlich der
Arbeit Andrö Horeau's gedenken, einer 68 Seiten umfassenden
Monographie, die als „Thfese de Paris" mit dem Titel „Traitement
de lotite adhesive par la thiosinamie" (Editeur G. Steinheil) er-
schienen ist. Horeau verwendet, wie die Schule Lermoyez's
neuestens, die 15 prozentige Lösung von Thiosinamin gemischt
mit Antipyrin: Pp. Thiosinamini 15,0, Antipyrin 7,5, Aq. destill.
100,0 in Form von Ohrenbäder und vorwiegend zur Einspritzung
in die Tube per cathetram, nebstbei zweimal die Woche Massage
über interne Behandlung des chronischen Mittelohrkatarrhes. 27
des Trommelfells. Den sehr günstigen Bericht Horeau's will
ich wörtlich zitieren: „Ce traitement est indique dans tous
les cas oü Pappareil de transmission des sons ne
functionne plus et ou le labyrinth est intact. II s'agit
■alors d'otite adhäsive dans laquelle le tympan et les
osselets sontplusonmoinsimmobilises par des bridres
cicatricielles. Ge traitement simple et sans danger
si Ton a soin de s'entourer de certaines pröcautions.'^
Horeau anerkennt meine Bemühungen um die Thiosinamin-
behandlung, vergißt aber anzuführen, daß das Gemenge von
Thiosinamin mit Antipyrin behufs Erzielung einer schmerzlosen
Injektion bereits von deutschen Autoren auf anderen Gebieten
der Therapie früher empfohlen wurde. Auch Lermoyez ver-
wendet neuestens Injektionen in die Paukenhöhle, die ich bereits
in meiner ersten Arbeit aus dem Jahre 1904 in Anwendung
brachte.
In 30 Fällen von Otitis adhaesiva des narbigen katarrhalischen
und akzidentellen Typus, welche an Taubheit und Ohrensausen
litten, erzielte er Besserung (Societe frang. de Laryngol, Otol. et
Rhinologie, Klin.-therap. Wochenschrift 1907, 8. Juli, Nr. 27).
Ich stelle übrigens derzeit Versuche mit einem neuen Thio-
«inaminpräparat, genannt Tio diu e an, eine Verbindung des Thio-
sinamin mit Jodäthyl, das gleichfalls subkutan, intravenös, eventuell
intramuskulär, auch in Pillenform zu verwenden ist. Es soll
durch die Kombination von Thiosinamin und Jod metasyphi-
litische Prozesse des Nervensystems (Tabes, Paralysis progressiva)
günstig beeinflussen, und da die Otosklerose von vielen Autoren
als parasyphilitische Erscheinung aufgefaßt wird, ist die Anwen-
dung wissenschaftlich gerechtfertigt. Zur subkutanen Injektion
werden 10 — 20 Proz.-Lösungen verwendet (1 ccm) und in den
injektionsfreien Tagen werden zwei Pillen zu 0,1 g verabreicht
sowie mechanische Behandlung des Ohres vorgenommen. Das
Mittel wird neuestens in Ampullen zu 0,2 g und in Pillenform
von der Wiener k. k. Feldapotheke in den Handel gebracht.
Bisher habe ich aber keinen begründeten Anlaß gefunden,
das erprobte Fibrolysin Mercks zu verlassen, ja ich finde, daß
dasselbe analog der vom Dozenten H. Neumann in Wien für
Lokalanästhesie in der Otochirurgie empfohlenen Methode, mittels
Punktionsnadel bis unter die obere knöcherne Gehörgangswand,
eventuell unter das Periost des Warzenfortsatzes zu bringen ist
so daß nebst der rascheren elektiven Wirkung durch das Blut
28 VI. SUGÄR.
ein lokaler Effekt in der Nähe des kranken Hörorgans erzielt
werden kann.
Bei der Behandlung des chronischen Mittelohrkatarrhes
wandte sich seit jeher die Aufmerksamkeit der Kollegen derlei
lokalen, selbst verdauend wirkenden Stoffen zu. Ich erinnere
nur an die direkte Anwendung des Pepsins in Form von Ein-
spritzungen in die Paukenhöhle, die zuletzt von Treitel erprobt^
als wirkungslos verworfen wurde.
Ich selber experimentierte früher mit Papain Kens resp.
Papayotin, das neuestens, seitdem Leyden in der Konferenz für
Krebsforschung die auflösende Wirkung des Trypsins auf die
Krebszelle konstatierte, von mehreren Autoren, insbesondere
E. Bouchut, in der Therapie des Carcinoms empfohlen wurde.
Tatsächlich fand ich in der physiologisch-chemischen Literatur
eine Angabe, laut welcher bei der Papayotinwirkung reichliche
Mengen der gleichen krystallinischen Spaltungsprodukte wie bei
der Trypsinverdauung entstehen. Das Papain, übrigens das
wirksame Prinzip einer Pflanze, Erica papaya, wurde auch zur
Lösung diphtheritischer Membranen empfohlen; es erzeugt, in die
Paukenhöhle injiziert, heftige Schmerzen und Temperatur-
steigerung, und vertragen all diese Mittel nicht den Vergleich
mit dem Thiosinamin resp. Fibrolysin Merck 's, dem eben eine
ausgesprochene elektive Wirkung auf das Narbengewebe zukommt.
Auch mit dem Adrenalin stellte ich Versuche an, von
dessen Einbringung in die Paukenhöhle Hart mann bei hype-
rämischen Formen der Otosklerose eine günstige Wirkung auf
die Geräusche gefunden haben will. Von einer günstigen Wirkung
konnte ich mich nicht überzeugen, während die subcutane An-
wendung des Adrenalin in größerer Menge wegen eintretendem
Nebennierendiabetes gefährlich ist. Die Funktion der Nebennieren
hat allerdings zu dem Knochenwachstum Beziehung, so daß wir
an eine Beeinflussung des bei der Otosklerose statthabenden osteo-
porotischen Prozesses denken könnten. Empfiehlt doch der
Gynaeologe Bossi bei Osteomalacie täglich subkutane Injektionen
von V2 — 1 centigr der l^loo Adrenalinlösung und Katz faßt ge-
wisse Formen der Osteoporose bei der Sklerose als direkt osteo-
malacische auf. Die bei Adrenalininjektionen konstant eintretende
Glycosurie, die Gefahr bei gelegentlich unbeabsichtigter intra-
venöser Injektion (rapide Abmagerung, neben vasomotorischer
Wirkung starkes Herzgift) contraindicieren die subkutane An-
wendung dieses heroisch wirkenden Mittels. —
über interne Behandlung des chronischen Mittelohrkatarrhes. 29
Trotz mancher Widersprüche in der Literatur, wende ich
bei der somatischen Untersuchung der Schildrüsengegend besondere
Aufmerksamkeit zu, da ich das von Bloch begründete Erank-
heitsbild von dysthyrer Schwerhörigkeit, obwohl dies Sieben-
mann erst jüngst leugnete, für wissenschaftlich begründet erachte.
Der Einfluß der Schilddrüse auf die Entwicklung des häutigen
Labyrinthes ist noch nicht exakt widerlegt und wie die Diskussion
auf dem 23. Kongresse für interne Medizin in München (April
1906) beweist, ist die Beziehung der Schilddrüse zum allgemeinen
Haushalt des Organismus weder in der Physiologie, noch in der
Pathologie vollständig aufgeklärt. Hoenike in Greif wald wies
experimentell nach, daß die Osteomalacie der Überschwemmung
des Körpers mit übergroßen Mengen sonst normalen Schilddrüsen-
saftes zuzuschreiben ist und finden wir bei der Osteomalacie
häufig als Komplikation einen Kropf. Wie oben erwähnt, faßt
Katz gewisse Formen der Osteoporose bei der Otosklerose als
•direkt osteomalacische auf. Bloch betont wörtlich, daß wir in
der Eegel nicht darauf angewiesen sind, die Diagnose der
doppelseitigen Schwerhörigkeit nur aus der Gegenwart einer
Struma allein zu stellen, doch genügt diese, wenn andere Ur-
sachen für die durch die Untersuchung festgestellte nervöse Hör-
störung fehlen. Die Funktion der Schildrüse ist selbst bei nur
mäßiger Volumenveränderung nicht normal, ebenso wie die einer
geschwollenen Leber oder Milz und die feinen Methoden sinnes-
physiologischer Funktionsprüfungen können schon früher gering-
fügige Alterationen aufdecken, noch ehe sie dem Kranken selbst
fühlbar werden. In Fällen von endemischer Dysthyreose, finden
vs^ir stets Struma oder Aplasie der Schilddrüse und die Hör-
störungen bei Myxoedem und Cretins, gleichgültig ob durch
toxische Akusticussneuritis oder Druckwirkung auf die großen
Halsgefäße bedingt, sind durch Schilddrüsentabletten zur Aus-
heilung zu bringen. Wir geben 2 Merck 'sehe Thyreoidintabletten
(4 0.1), oder 2 Tabletten Tyroiden Knoll, event. englische Thyroid-
tabloids (1 — 3 Stück langsam ansteigend) bei Erwachsenen zu
0.3 pro Stück, bei Jugendlichen zu 0,1 des Tages. Nach Ein-
nahme von 100 Stück Tabletten größere Pause, zurückgehen auf
1 Stück per Tag, event. aussetzen, wenn Herzklopfen, Atem-
beklemmung, Schwäche oder zu starke Abmagerung uns Warnungs-
zeichen geben.
In den Fällen doppelseitiger Schwerhörigkeit fand Bloch
stets Herabsetzung der oberen Grenze der höheren Tonskala und
30 VI. SUGÄR.
demgemäß Störungen der Laute, in unkomplizierten Fällen Ver-
minderung der Hördauer der auf den Scheitel aufgesetzten schwingen-
den Stimmgabel.
Die Erfolge, über die Eitelberg, Brühl und Ich mit An-
wendung des Thyreoidin berichteten, gehören hieher und halte
ich daran fest, die Schilddrüsenpräparate in geeigneten Fällen zu
versuchen. Die Wirkung derselben ist wahrscheinlich auf das
an organische Stoffe in der Schilddrüse gebundene Jod zurück-
zuführen, weshalb die Firma Fried r. Bayer in Elberfeld das
sog. Thyrojodin in reiner Form zur Darstellung brachte. Und
damit wären wir bei der Jodanwendung angelangt, die seit jeher
sich vieler Anhänger in der Therapie der Otosklerose erfreut Selbst-
verständlich habe ich mich den neuem Jodpräparaten zugewandt,
die bedeutende Vorteile über die alte Medikation mit Jodalkalien
bieten. Was zunächst dasJothion betrifft, chemisch Jod wasser-
stoffsäureester mit 70 Proz. Jodgehalt, soll es als 10 proz. Jothion-
vaselin bohnengroß auf die Warzenfortsatzgegend eingerieben, im
Sinne einer laienhaften Empfehlung von Berliner in Breslau,
gegen Ohrensausen bei Sklerose wirken. Äußerlich kann es als
20-— 50 prozentige Salbe mit Vaselin verwendet werden, von welcher
ein Theelöffel voll nach Art der Schmierkur mit Quecksilber und
im gleichen Turnus verrieben, zur Verwendung kommt Die voll-
kommene Schonung des Verdauungstraktes bietet allenfalls einen
großen Vorteil. Lockert einesteils die Fibrolysinbehandlung ab-
norme bindegewebige Stränge im Mittelohr, so ermöglicht die
forcierte Jodkur andererseits die rasche Resorption derselben.
Ernster müssen wir uns mit dem Sajodin befassen^ das
chemisch ein Calciumsalz der Monojodbehensäure, ein geruch- und
geschmackloses weißes Pulver ist und nur 26 Proz. Jod enthält
Es wird in Dosen von 1—3 gr. des^Tages nach den Hauptmahl-
zeiten oder in Tabletten ä V2 gr^ dreimal des Tages stets 2
Tabletten angewandt^ löst absolut keine unangenehmen Magen-
erscheinungen aus, weil es im Magen unverändert bleibt und erst
im alkalischen Darmsafte zur Spaltung gelangt. Bei einer durch
Wochen oder Monate indizierten Jodmedikation, wie z. B. bei
Otosklerose auf arteriosklerotischer Basis, ist das Sajodin, das
drei Mal weniger Jod enthält als das Jodkali und daher weniger
Gelegenheit bietet zum Ausbruch des Jodismus, als Fortschritt
der Jodtherapie zu bezeichnen. Durch die mildere Jodmedikation
scheint der Organismus eben eine größere Toleranz gegen Jod-
präparate gewinnen zu können.
über interne Behandlung des chronischen Mittelohrkatarrhes. 31
Endlich das Jodipin bat den Vorzug subkutan einverleibt
werden zu können, wodurch es nur allmählich zur Resorption
gelangt und ist nach Lesser von den vielen neuen Jodeiweiß-
und Jodfettpräparaten das Einzige, welches keinen Jodismus er-
zeugt. Man injiziert nach Pinkus in den Bücken beiderseits
neben der Wirbelsäule oder in das Gesäß Anfangs 1 ccm der
lOprozentigen Lösung zweimal wöchentlich bis täglich, steigt bis
auf 2 — 5—10—20 ccm des stärkeren (25 Proz.) Präparates. Die
größeren Olquanten werden mit einer 20 ccm fassenden Ultz-
mann'schen Spritze eingeführt, auf die eine Stahlkanüle von
dem Kaliber der für Serumeinspritzungen paßt. Das dickflüssige
stärkere Präparat muß kurze Zeit vor der Benutzung in warmes
Wasser gestellt werden, wodurch es dünner und leichter injizier-
bar wird. Eventuell können wir uns des von Pelizaeus an-
gegebenen, durch Evers und Pistor in Cassel konstruierten
Erwärmungsapparates bedienen, oder die von Strauß beschriebene
Federdruckspritze zur Injektion verwenden.
Die Jodpräparate verdienen bei Otosklerosen auf arterio-
sklerotischer Basis ausgedehnte Anwendung. Vertrauen verdient
noch bei diesen Formen der Sklerose, das insbesondere von fran-
zösischen Autoren gerühmte Mittel Tr u n e c z e k's, ein anorganisches
Serum bestehend aus einem Gemisch mehrerer Alkalisalze, die
normaler Weise im Blutserum vorkommen. Die Injektionen da-
mit werden subkutan am Oberarm mit Vs Pravaz gemacht, man
wiederholt die Einspritzung nach 2 — 7 Tagen, steigert die Dosis
jedesmal um 0.5—1.0 ccm und bleibt bei 5 ccm stehen. Pariser
Arzte geben das Mittel auch intern. Rp. Natr. chlor. 10.0, Natr.
sulfnr. 1.0, Calc. phosphor. 0.4, Magn. phosphor, Natr. carbon.
ana 0.4, Natr. phosphor. 0.3 Div. in partes =«No. 12. Täglich
1 — 3 Pulver 2 — 3 Wochen zu nehmen. Auch bei dieser Be-
handlung werden wir der mechanischen Prozeduren nicht ent-
raten können.
Bei konstatierter rheumatischer Diathese verwende ich
Einreibungen mit Mesotan (ein Salicylester) 10.0 auf 30.0
Vaselin flav. oder mit Olivenöl (1 : 2) gemischt und öfterem Wechsel
der Applikationsstelle, event. warme Solbbäder, Trinkquellen in
Carlsbad, Salzschlirf, Wiesbaden, in Ungarn: Szovata, Vizakna,
Bäzna, in allen Fällen Gebirgsaufenthalt.
Bei luetischer Grundlage verdient zunächst wegen ihres Vor-
zuges der Reinlichkeit und ünauffälligkeit aus Gründen diskreter
Behandlungsweise das farblose, nicht schmutzende üng. Heyden,
32 VI. SUGÄIi.
eine mit 45 Proz. Calomelöl und Zusatz von 2 Proz. metallischem
Quecksilber hergestellte Salbe, in der üblichen Dosis von 6 gr.
pro die als Schmierkur den Vorzug. Als Nachbehandlung event.
die Rico rd' sehe Mischung, vereinfacht von Penzoldt: ßp.
Hydrarg. bijodat 0.1—0.2, Kali jodat. 10.0, Aq. destill, ad 300.0
MDS. dreimal tägl. 1 Eßlöffel mehrere Wochen lang zu nehmen.
Bei Syphilis hereditaria tarda das sehr praktische Rezept von
Lieven: Rp. Kalii jodati 30.0, ferri citr. ammonii 4.0, Strychnin
nitr. 0.02, Elaeosacch. menth. piper. 5.0, aq. flor. aurant. ad. 120.0
MSt. 1 Theelöffel (= 1.0 Jodkali) dreimal tägl. in Wasser zu
nehmen. — Zur subkutanen Behandlung luetischer Höraffektionen
eignet sich das Rezept von F. Pincus: Rp. Hydrarg. cyanat 1.0,
Cocal'n mur. 0.6, aq. destill, ad 100.0 S. Injektionen 1 — 2 ccm.
pro Tag, selten mehr.
Vollkommen schmerzlose Injektionen sichert die Kombination
Th. Mayers aus Lassars Klinik: Rp. Hydrarg. cyanat 1.0 solve
leni calore in aq. rec. destill, cont. Acid. boric. 1 o/o refrigera
adde: Acoini (Heyden) 0.4 solve in aq. destill, frigid, cont. Acid.
boric. 1 ö/o 70.0 MD. in vitr. fusco S. 2 resp. 1 ccm zu injizieren
(in das lockere Bindegewebe beiderseits neben der Wirbelsäule
oder intramuskulär in stets wechselnden Stellen der glutealen
Muskulatur).
Bei allen diesen Injektionen ist peinlichste Sauberkeit der
Nadel durch Aufheben in Paraffinum liquidum enthaltener
Soyka'scher Schale und nach jeder Anwendung Durchspritzung
der Nadel mit Paraffin notwendig, eventuell Auskochen der
Nadel in einer Eprouvette über dem Spiritusbrenner. Bei Be-
achtung dieser Kautelen und Reinigung der Hautstelle mit Seife,
Rasiermesser, Spiritus, Sublimat, Äther nacheinander, smd die
von E. ürbantschitsch bei Fibrolysininjektionen beobachteten
lokalen Komplikationen leicht zu vermeiden. Größere Infiltrate
nach der Injektion verlieren sich unter Anwendung feuchter
50 Voiger Spiritusverbände. Bei subkutanen Injektionen soll
übrigens die Nadel zur Vermeidung eines geraden Stichkanales
mit ein r gewissen seitlichen Verschiebung herausgezogen werden,
die Stelle leicht gerieben, passive Bewegungen ausgeübt und der
Einstichsort mit einem Zinkpflaster bedeckt werden, damit die
Flüssigkeit nicht wieder herausfließt.
Bei Otosklerose auf leukämischer Basis werden wir schließ-
lich das Atoxyl, ein Metaarsensäureanilid, das 20 Mal weniger
giftig ist als die arsenige Säure, in Form subkutaner oder intra-
Über interne Behandlung des chronischen Mittelohrkatarrhes. 33
muskulöser Einspritzung (Interscapulargegend resp. Nates) an-
wenden und zwar jeden zweiten Tag 0.2, später zweimal
wöchentlich dieselbe Dosis. Gleichwohl ist das Mittel nur unter
steter Kontrolle anzuwenden, da der Fall Bornemanns von
Sehnervenatrophie nach Atoxylgebrauch, wohl infolge Summation
der Reize von Arsen und Anilin beim Medikament, zur Vorsicht
mahnt. Die längere Darreichung von Phosphor gegen Oto-
sklerose, insbesondere in den von Sporleder gerühmten hohen
Gaben, werden wir auf Grund meiner obzitierten Arbeit ver-
meiden und lieber Phytin, das derzeit reichste organische Phos-
phorpräparat darreichen. Wenn K atz, wohl im Anschlüsse an meine
Anregungen erklärt, daß er das an organischen Phosphorverbin-
dungen reiche deutsche Präparat ^Sanatogen" für zweckmäßig
hält, glaube ich erwidern zu müssen, daß bei der Empfehlung eines
Mittels nationale Gründe nicht lediglich ausschlaggebend sein können.
Ich muß endlich noch auf einige symptomatisch wirkende
Mittel hinweisen. Die Empfehlung von Knopf in Frankfurt
a. M. Valyl 3 — 9 Kapseln zu 0.125 Grm. täglich gegen das
Sausen zu verordnen, hat nur zur Folge, daß die Verdauung arg
geschädigt wird. Besser wird das von Riedel in Berlin in den
Handel gebrachte Bornyval vertragen, das ebenfalls ein
Baldrian präparat , Isovaleriansäureester des Borneols ist, jedoch
nur gegen den Schwindel und der bei Otosklerotikem oft vor-
handenen psychischen Depression wirksam erscheint.
Gegen das Sausen wirkt oft das Bromipinum solidum
saccharatum in Tablettenform von M erck; sie enthalten pro Stück
1.2 Grm. 33 Vs Brom, entsprechend 0.4 Grm. Brom oder einen
Teelöffel 10 o/o öligen Bromipin, welch letzteres wegen seines
Geschmackes vielen widersteht Wenn wir mit der Fibrolysin-
behandlung die Sistierung des Sausens nicht erzielen, leistet die
interne Therapie mit Bromipintabletten gute Dienste, worauf ich
bereits in meiner ersten Arbeit über Thiosinaminbehandlung in
diesem Archive hinwies. Nur nebstbei will ich noch bemerken,
daß ich mich betreff der letzteren ebensowenig in Prioritäts-
streitigkeiten einlassen will, wie mit Gerber, der in seiner
Beobachtung über Encephalitis et Otitis grippalis in diesem
Archive meine ebenda erschienene vollständig analoge auf Jahre
zurückdatierbare Arbeit „Über Erkrankung des Hörorganes bei
Influenza cerebralis*' übersah, oder mit Hermann, der ein
Eeferat über den Moniere 'sehen Symptomenkomplex liefert und
sich über meine vorausgegangene Arbeit in geringschätzender
Archiv für Obrenlieilkande. 73. Bd. Festschrift. 3
34 VI. SUGÄR.
Weise ausläßt, wohl weil ich in dieser seine vorherigen Aus-
führungen als „wortreiche Schlüsse^ bezeichnete, worin übrigens
meinerseits nur eine objektive Kritik gelegen ist. Es genügt mir
eben, daß die Tatsachen für mich sprechen.
Es erübrigt mir noch, auf die interne Behandlung jener be-
sonders vorgeschrittenen Fälle von Otosklerose zurückzukommen,
die bereits ausgesprochene Akustikusanästhesie zeigen.
Sollen wir den weiblichen Nachkommen dieser unglücklichen
Patienten im Sinne der Vererbungstheorie Körners die Ehe
verbieten oder etwa ihren Opfermut anrufen, daß sie wie die
Mädchen von Tenna in Graubünden, wo die Hämophilie endemisch
vorkam, den Kampf freiwillig aufnehmen und der Ehe in der
Absicht die Krankheit auszurotten, entsagen? Keineswegs, doch
werden wir in solchen Familien allenfalls prophylaktisch zu
wirken haben, durch Verbot prolongierten Stillens, Vermeidung
von abundanten Blutungen bei Geburten , sorgfältige Behandlung
von Nasenaffectionen, frühe Behandlung der Initialfälle und den
übrigen bekannten Maßnahmen. In Fällen von ausgesprochenen
Degenerationen und Atrophien des Hörnerven und seiner Zell-
elemente im schallempfindenden Apparate, wie sie Manasse und
Alexander bei chronischer progressiver Taubheit beschrieben,
werden wir auch nicht weiter, etwa wie die Oculisten bei Seh-
nervenatrophie mit Strychnininjektionen und Elektrizität ex-
perimentieren dürfen, sondern uns die ethisch warmempfundenen
Worte des erblindeten, jüngst erst durch intercurrente Krankheit
verstorbenen berühmten Pariser Oculisten Emile Javal vor
Augen halten, die er in ergreifender Weise in seinem Werke
„Entre Aveugles*^ (Im Reiche der Blinden) den Ärzten an das
Herz legt: „Viele Blinde erheben bittere Klage über die ärztliche
Behandlung, deren sie zu teil werden. Mit flehender Stimme
wende ich mich an meine Kollegen, der Versuchung zu wider-
stehen und nicht jenes human genannte, doch im Wesen
barbarische Verfahren zu befolgen: eitle Hoffnung bei diesen
blinden an Sehnervenatrophie leidenden Patienten zu erwecken,
sie mit Strychnineinspritzungen hinzuhalten, zu vertrösten, denn
wenn wir ihnen Heilung versprechen, verhindern wir, daß sich
ihre Lebensweise, ihr Organismus, je eher dem tristen Fait accompli
der Erblindung anpasse. . . . Auch mir wäre es lieber gewesen, wenn
man mich sofort in mein trauriges Schicksal eingeweiht hätte."
Möchten doch diese schönen Worte auch bei unseren Fach-
kollegen endlich Widerhall finden!
über interne Behandlung des chronischen Mittelohrkatarrhes. 35
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Jawal, „Entre Aveugles" Paris 1906.
VII.
Die ausbleibende Grannlationsbildnng
nach der Anfmeisslung des Warzenfortsatzes.
Von
weil. Dr. Zeroni, Karlsruhe.*)
Die Aufmeißlung des Warzenfortsatzes, eine Operation, deren
Einführung in die ohrenärztliche Praxis eines der hervorragendsten
Verdienste unseres verehrten Jubilars und Meisters Schwartze
ist, hat heute eine Verbreitung erlangt, die wohl der Erfinder
selbst früher nicht vermutet hat. Dieser Eingriff ist bei akuten
Mastoiditiden ein eminent segensreicher geworden und nimmt den
gefährlichen rapid verlaufenden Mittelohreiterungen ein gut Teil
ihrer Schrecken, sowohl rasch und sicher die Schmerzen der
Patienten lindernd, als auch die Gefahr der intrakraniellen Kom-
plikationen behebend und endlich die Wiederherstellung der nor-
malen Funktion fast gewährleistend. Durch diese Operation sind
wir aber auch in der Erkenntnis der Pathologie der Otitis be-
deutend fortgeschritten und dies ist wieder auf die Anwendung
der Operation nicht ohne Folgen geblieben. Im Vergleich zu
damals entschließen wir uns heute nicht nur häufiger, sondern
auch leichter und in früheren Stadien der Erkrankung zur Auf-
meißlung, die anfangs der vermeintlichen damit verbundenen
Gefahren halber nur für ganz schwere Fälle aufgespart wurde,
nachdem wir gelernt haben, die Gefahren zu umgehen, und es
gelingt oft durch rechtzeitige Erkennung und Beseitigung gefahr-
1) Anm. Die Arbeit des inzwischen verstorbenen Verfassers ging
ein am 31. März, kurze Zeit vor seinem Tode, den er dem Nachruf im
Band 71 S. 319 zufolge gesucht und gefunden hat.
38 VLL ZERONI.
drohender pathologischer Prozesse die weitere Ausbreitung der Ent-
zündung zu verhindern und schwere Erkrankungen zu verhüten.
Während nun die Indikationen zur Operation alimählich bedeutende
Erweiterungen gegen früher erfahren haben, ist die Operations-
technik diesselbe geblieben. Bis auf den heutigen Tag wird die
Operation überall im Wesentlichen in derselben Weise ausgeführt,
wie sieSchwartze bereits in seinen ersten Veröffentlichungen ^)
und in seinem weitverbreiteten Lehrbuch in mustergültiger Dar-
stellung angegeben hat. Dagegen ist eine natürliche Folge der
häufigeren Ausführung der Operation, daß deren Resultate kritischer
beurteilt werden. Während früher, als fast nur in ganz schweren
Fällen oder erst bei indicatio vitalis zum Meißel gegriffen wurde,
der Erfolg der Operation in kosmetischer Beziehung ganz in den
Hintergrund trat, legen wir heute Wert darauf, auch in letzterer
Beziehung befriedigende Resultate zu erreichen. Während man
sonst eine breite tiefe Narbe, ja selbst eine permanente trockene
retroaurikuläre Öffnung, leichter mit in den Kauf nahm, richten
wir heute, wo wir auch leichtere Fälle opferen als früher, viel
mehr unser Augenmerk darauf, mit der Heilung den normalen
Verhältnissen möglichst nahe zu kommen, wozu auch gehört, daß
von dem Eingriff späterhin wenig oder gar nichts mehr zu sehen
sein soll. Es muß nun gleich bemerkt werden, daß die dahin
gehenden Bestrebungen recht wenig Fortschritte gezeitigt haben.
Wie die Technik der Operation, so ist auch die der Nachbehand-
lung im Wesentlichen dieselbe geblieben. Erhebliche Verbesserungen
hat die lange Zeit operativer Erfahrung nicht hervorgebracht und
die Resultate sind infolgedessen in jeder Beziehung die. gleichen
geblieben, wie früher und wesentlich vom Zufall abhängig. In
der neueren Zeit ist sogar über Fälle berichtet worden, in denen
die Erfolge in vieler Hinsicht nicht allein in Bezug auf die
Kosmetik sondern auch auf die vollständige Heilung hinler den
früher verlangten und erreichten Resultaten zurückblieben. Ich
habe dabei die Fälle im Auge die Hof mann. Winkler, Gerber,
mitgeteilt haben, (Literaturangabe S. 41 u. 42), bei denen die Opera-
tionswunde wenig oder gar keine Heilungstendenz zeigte und
schließlich offen blieb.
Ich bin in der Lage diesen Fällen weitere aus meiner Praxis
hinzufügen zu können. Es seien hier die Krankengeschichten in
aller Kürze mitgeteilt:
1) Schwartze u. Eysell A. f. 0. 7, S. 171. Schwartze, Kasuistik d.
chir. Eröffnung des Warzenfortsatzes A. f. 0. Bd. 10—14.
Die ausbleib. Granulationsbild, nach der Aufmeißlung d. Warzenfortsatzes. 39
Fall 1. Ein 13 jähriges gesundes Mädchen erkrankte nach Angina an
rechtsseitiger Otitis media. Nach 2 Tagen Durchbruch des Trommelfells.
Profuse Sekretion. In den folgenden Tagen noch leichte Temperatur-
erhöhungen, Druckempfindlichkeit des Warzenfortsatzes, zunehmendes Ödem.
18 Tage nach dem Durchbruch Aufmeißelung, da die Symptome der
Mastoiditis zunahmen. Eiteransammlung in den hinteren oberen Zellen und
in der Spitze. Knochen gegen das Antrum zu stark erweicht und z. T
schon zerstört. Ausgedehnte Ausschabung. Nur Näthe in den untersten
Wundwinkel, die Knochenwunde bleibt weit offen. Tamponade.
In den folgenden Tagen sistierte die Sekretion aus dem Gehörgang
vollständig. Die Trommelfellperforation schloß sich nach ungefähr 8 Tagen.
Der Knochen bedeckte sich innerhalb der ersten 8 Tage mit schönen roten
Granulationen. Die Sekretion aus der Wundhöhle nahm rasch ab Doch
zeigte die Granulationsbildung fast keinen Fortschritt. Nach 4 Wochen lag
die Wundhöhle noch so frei, wie beim ersten Verbandwechsel, die Dicke
der Granulationsschicht hatte nicht zugenommen und auch an Seiten der
Wandränder fehlte jegliche Granulationsbildung. Nach 2 Monaten versiegte
die Sekretion aus der Wundhöhle fast ganz, ohne daß eine wesentliche Ver-
änderung eintrat. Die Epidermis wanderte an den Wundrändern her langsam
in die Tiofe des weit offenen Knochentrichters. Es wurde nun versucht
durch Einstreuen von Itrol die Granulationsbildung in Gang zu bringen;
dies hatte auch einen gewissen Einfluss, so dass sich danach wenigstens in
dem oberen und unteren Wundwinkel etwas Granulationspolster entwickelte.
Die Itrolbehandlung hatte aber auch eine Zunahme der Sekretion zur Folge.
Die Sekretion war indes immer serös-schleimig, nie eitrig. Nach 3 Monaten
war der Befund folgender: Nach außen hin sind die Ränder der Knochen-
höhle mit Epidermis bekleidet, die fast direkt dem Knochen aufliegt und
sich so etwa bis in Mitte der Höhle fortsetzt. Hier spannt sich nach Art
eines Diaphragma eine dünne Schicht Epidermis über den tiefsten Teil des
Wundtrichters, diesen so nach außen abschließend. In der Mitte dieser
Diaphragmas befindet sich eine erbsengroße Öffnung, durch die man in
eine weite Höhle sieht. In dieser Höhle bildeten sich mannigfache fibröse
Stränge, die von Zeit zu. Zeit mit Lapis zerstört wurden. Die Menge des
Sekretes, das sich aus der Öffnung entleerte, schwankte je nach der jeweiligen
Behandlung, war aber nie bedeutend. Das Sekret war stets hell, faden-
ziehend. Die Paukenhöhle blieb stets ganz unbeteiligt, das Gehör normal.
Dieser Zustand blieb längere Zeit konstant. Dann wurde von einem
auswärtigen Kollegen, in der Annahme, daß noch kranker Knochen in der
Tiefe vorhanden sei, das Diaphragma eingeschnitten, die Tiefe des Wund-
trichters ausgekratzt und mit der Freise etwas Knochen entfernt. Das
Resultat war, daß sich die Epidermis noch tiefer in die Wundhöhle hinein-
legte, so daß nun fast die ganze Operationshöhle mit Epidermis ausgekleidet
frei zutage liegt. Im Grunde des Trichters, gegen das Antrum zu, blieb
eine leicht sezeraierende Fistel bestehen.
Fall 2. Ein 5 jähriges Mädchen hat kürzlich Pneumonie unh Pleuritis
durchgemacht uud sich einer Rippenresektion unteraiehen müssen, die noch
im Heilungsstadium ist. Das Kind erkrankte an linksseitiger Otitis nach
Angina. Sofort Symptome von Beteiligung des Warzenfortsatzes. Zu-
nehmendes Ödem, hohes Fieber, starke Schmerzanfälle, Erbrechen, Appetit-
Josigkeit. Nach 8 Tagen Aufmeißlung. Es fand sich ein Durchbruch
über der Linea temporalis, Eiteransammlung hier zwischen Periost und
Knochen. Eiter in den oberhalb des Antrums und in der oberen Gehör-
gangswand gelegenen Zellen. In den Spitzenzellen seröses Sekret. Im Antrum
franulöse Schleimhaut. Ausgedehnte Freilegung und Ausschabung. Nath
es obersten Wundwinkels. Die Sekretion aus dem Gehörgang versiegte
erst nach 3 Wochen. Das Sekret aus der Wunde blieb längere Zeit sehr
profus, nahm aber späterhin allmählich ab. Indes es trat keine ordentliche
Granulationsbildung auf. Die Epidermis schob sich über die Wundränder
und es blieb schließlich ein tiefer Trichter bestehen, dessen innerster Teil
mit glatten roten Granulationen ausgekleidet ist und dessen Spitze in das
inreit offene Antrum führt. Der äußere Teil des Trichters ist mit Epidermis
40 VII. ZERONI.
bekleidet und läßt die knöchernen Ränder der Operationshohle gut erkennen.
Die Sekretion aus dem Antrum ist spärlich, hell, fadenziehend, schwankt
für gewöhnlich in geringen Grenzen. In Anschluß an Erkältungen ist die
Sekretion mitunter stärker und führt leicht zu Entzündungen der in die Wund-
höhle eingewanderten Epidermis, geht aber bald wieder zur Norm zurück.
Den folgenden Fall habe ich nicht von Anfang an behandelt.
Hier habe ich den Versuch gemacht, die Höhle operativ zu schließen.
Fall 3. Ein 9 jähriges Mädchen, sonst stets gesund, ist im 3. Lebens-
jahre von einem Kollegen wegen linksseitigem retroaurikulärem Abszeß
aufgemeißelt worden. Die Wunde heilte nicht, obwohl das Kind stets iu
Behandlung, blieb. Es wurden 4 Mal in Narkose Auskratzungen ohne
Erfolg vorgenommen. Nach Angabe der Eltern soll das Loch hinter dem
Ohre nach jeder Operation größer geworden sein. Das Resultat war fol-
gender Befund, den ich bei meiner ersten Untersuchung feststellte. Hinter
dem linken Ohr eine große tiefe Höhle, deren Umfang einer ausgedehnten
Auf meißlungs wunde entspricht. Der Rand der Höhle ist nach außen von
eingewandertem Epithel bedeckt, in der Tiefe sind glatte rote Granulationen.
Das Antrum, im tiefsten Ende des Trichters liegend, ist weit offen. Von
hier kommt ziemlich reichlich Eiter. Die knöcherne hintere Gehörgangs-
wand ist vollständig erhalten, in der Tiefe auf Sondierung schmerzhaft.
Hörweite für Flüstersprache: 0,50 m. Trommelfell intakt.
Ich vermutete hier der noch bestehenden stärkeren Eitening wegen,
daß pathologische Prozesse in der Umgebung des Antrum vorhanden seien,
und entschloß mich zur vollständigen Wegnahme der hinteren Gehörgangs-
wand und daran anschließend zum plastischen Verschluß des Defektes. Das
Trommelfell und die Gehörknöchelchen wollte ich womöglich erhalten.
Letzteres gelang nicht, da durch eine unvorsichtige Bewegung des assistieren-
den Kollegen der Ambos luxieit wurde. Ich nahm deshalb auch den
Hammer heraus. Die hintere Gehörgangswand wurde vollständig entfernt,
ohne daß sich irgendwo eine sichtbar erkrankte Knochenpartie zeigte. Nach
vollständiger Freilegung wie bei der Totalauf meißlung Ausschabung und
Plastik aus der hinteren Gehörgangs wand nach Pause. Dann wurden die
Ränder der retroaurikulären Wunde losgelöst, angefrischt und vernäht. Im
untersten Wundwinkel blieb eine kleine Öffnung zur Drainage. Die letztere
war sehr notwendig gewesen, da- die Sekretion in der ersten Zeit na^h der
Operation eine sehr starke war. Erst nach 6 Wochen wurde die retro-
aurikuläre Drainage entbehrlich. Das Resultat war kein ganz befriedigen-
des. Die Überhäutung der Wundhöhle gelang nicht vollständig, Pauken-
höhle und aditus blieben ohne Epidermis und sezernierten noch etwas.
Die Drainageöffnung verheilte nicht ganz und wanderte merkwürdigerweise
vom untersten Wundwinkel, in dem sie angelegt war, langsam nach oben,
so daß schließlich etwa in der Mitte der sonst fest und glatt gewordenen
Narbe, die übrigens im Niveau der umgebenden Partien blieb und nicht
einsank, eine etwa erbsengroße Perforation bestehen blieb. Trotzdem ist
das Resultat in kosmetischer Hinsicht im Vergleich mit dem früheren Stande
ein ganz zufriedenstellendes.
Diese Fälle zeigen sämtlich die merkwürdige Erscheinung,
daß eine Neigung zum Verschluß der Wunde, welcher Vorgang
normaler Weise durch Granulations Wucherung vor sich geht, nicht
vorhanden war. Und ich möchte vor allem betonen und voraus-
schicken, daß dies die fundamentale Eigentümlichkeit ist, die diese
Fälle von anderen unterscheidet. Denn wir müssen diese Fälle
streng von den sonstigen nicht heilenden Knochenwunden ge-
trennt halten, wie sie jeder, der schon viel operiert hat, zweifellos
schon öfters erlebt hat, bei denen die Ursache der ausbleibenden
Die ausbleib. Granulationsbild, nach der Aufmeißlung d. Wai-zenfortsatzes. 41
Heilung ausschliesslich in zurürckgebliebenen Krankheitsherden^
entweder infizierten Knochenpartien oder nichtexstirpierten kranken
Zellen liegt. Daß wir es mit zwei ganz verschiedenen Prozessen
zu tun haben, lehrt die oberflächlichste Vergleichung solcher Fälle
mit den eben beschriebenen auf den ersten Blick. Dort starke
Eiterung und gewöhnlich stark vermehrte Granulationsbildung,
sogar entschiedene Tendenz der Wunde zum Verschluß, dem ent-
gegen gearbeitet werden muß, die Wunde schließt sich auch
öfters und bricht dann wieder auf, das Resultat eine feine Fistel
die auf den Krankheitsherd führt, — hier spärliche Sekretion,
deren Abfluß aus der weit offenen Höhle in keiner Weise be-
hindert ist, und kein Wachstum der Granulationen, auch nicht
nach Weglassung der Tamponade. Und das wichtigste Unter-
scheidungsmerkmal, im ersten Falle tritt nach Entfernung des
kranken Herdes oft nach einmaliger leichter Ausschabung schnell
Heilung und Verschluß der Wunde ein, im anderen Falle wird
durch solche »Eingriffe das Uebel nur größer, die Granulations-
bildung geht nicht besser vor sich, als früher und je mehr Knochen
man wegnimmt, um so mehr vergrößert sich die Höhle. Die
Epidermis wächst mangels einer geeigneten Unterlage nicht über
die Wunde, sondern m dieselbe hinein. Was wir bei der Total-
aufmeißlung erzielen und mit aller Mühe oft nur erreichen, tritt
hier gegen unseren Willen von selbst ein, ein dünner Epidermis-
überzug bedeckt den freiligenden Knochen. Oft gelangt auch die
Epidermis nicht ganz bis in die Täefe, es bleibt ein rotes Granu-
lationspolster unbedeckt und von außen sichtbar, und die natür-
liche Folge ist eine bleibende geringe Sekretabsonderung, die wenn
auch das Antmm nach außen zu offen bleibt, wie in allen unseren
Fällen, dadurch noch vermehrt wird. Das Endresultat ist auf jeden
Fall für den Patienten ein sehr ungünstiges, schon der Entstellung
halber, besonders aber auch deshab, weil die Wunde stets secerniert,
durch einen kleinen Verband ständig bedeckt werden muß und
trotzdem der Gefahr einer Neuinfektion von außen ausgesetzt bleibt.
Diese mangelhafte Heilung durch ausbleibende Granu-
lationsbildung scheint nun etwas äußerst Seltenes zu sein.
In der Literatur finden wir nur ganz vereinzelte Berichte
darüber. Ich kann nur die von Hofmann 0? Winkler, '^)
1) Hof mann, Über das Zurückbleiben von offenen epithelisierten
Knochenhohlen nach der Trepanation des Warzenfortsatzes. Deutsche med.
Wochenschrift 1892, Nr. 6.
2) Winkler, Verh d. Deutsch, otol. Ges. 1904 S. 133.
42 VII. ZERONI.
Gerber 1), beschriebenen Fälle, die mit den meinigen Ähnlich-
keiten haben, namhaft machen. Ich selbst habe außer den er-
wähnten drei Fällen keine gesehen und es ist mir besonders aus
meiner langjährigen Assistentenzeit an der Hallenser Klinik kein
derartiger Fall in Erinnerung.
In Körners 2) Werk, in dem die operative Technik und
Nachbehandlung in erschöpfender Weise dargestellt sind, findet sich
keine Andeutung von dem Vorkommen einer solchen Abnormität,
auch Heine 3), der in der neusten Auflage seiner Operationslehre
die Störungen der Heilung und die Ursachen deren Verzögerung
eingehend bespricht, kennt keinen ähnlichen Fall. Die gewöhn-
liche Ursache solcher literarischen Seltenheiten, die geringe Nei-
gung der Autoren zur Veröffentlichung wenig erfreulicher Opera-
tionsresultate, kann hierbei nicht allein die Schuld tragen. Die
große Seltenheit solcher Vorkommnisse ist zwar auffallend, aber
tatsächlich vorhanden, sehen wir doch, daß diese Fälle, in ein-
zelnen großen Beobachtungskreisen anscheinend vollständig fehlen.
Dies überraschende Ergebnis regt um so mehr an, nach der Ur-
sache zu forschen und zum Ausgangspunkt der Untersuchung ist
es notwendig, den normalen Vorgang der Heilung unserer operativ
gesetzten Knochendefekte einer genauen Betrachtung zu unterziehen.
Es ist ein Irrtum von Seiten Gerber's gewesen, anzunehmen,
daß es sich in seinem Falle um mangelhafte Knochenneubildung
handle, wenigstens geht es aus seiner Darstellung hervor, als ob
er der Meinung sei, es bilde sich gewöhnHch neuer Knochen an-
stelle des Defektes. Der Titel seiner Arbeit kann dagegen als
durchaus zutreffend bezeichnet werden, insofern als Gerber von
Ausbleiben des Knochenersatzes spricht. Dieser Knochen ersatz
besteht für gewöhnlich aus anfänglich weichem massigen Granu-
lationsgewebe, das die Wunde zunächst ausfüllt und das in weiterer
Folge eine Umwandlung in immer derber werdendes, zuletzt manch-
mal ganz hartes fibröses Bindegewebe durchmacht, den Typus
des Narbengewebes. Es sind nun zwei zweifellose Fälle von voll-
ständiger Regeneration des Knochens bei operativen Defekten der
Schädel kapsei beschrieben worden, dem gegenüber stehen aber
recht zahlreiche Beobachtungen über negative Befunde, in denen
1) Gerber, Ausbleiben des Knochenersatzes am operierten Schläfen-
bein. Arch. f. 0. Bd. 63, S. 134.
2) Körner, Die eitrigen Erkrankungm des Schläfenbeins. Wiesbaden
1899.
3) Heine, Operationen am Ohr. II. Aufl. Berlin 1906.
Die aasbleib. Granulationsbild, nach der Aufmeißlung d. Warzenfortsatzes. 43
die Ausfüllung der Defekte lediglich durch festes Bindegewebe
erfolgte^). Die Erfahrungen dagegen, die bei Operationen am
Warzenfortsatz gemacht wurden, gehen übereinstimmend dahin,
daß eine Regeneration des Knochens fast nie eintritt. Die geringste
Neigung zur Regeneration hat hier der spongiöse Knochen. Nach
Jahr und Tag noch zeigt die Operationshöhle nach der Total-
aufmeißlung die Gestalt, die ihr die Operation gegeben, und wir
sind sehr froh, daß das so ist. Daß geringe Knochenneubildungen
an einzelnen Stellen vorkommen können, habe ich selbst beobachtet
und mitgeteilt (dieses Archiv Bd. 63. S. 192), doch von einer
ausgedehnten Ausfüllung der Höhle mit Knochen ist noch nie
berichtet worden. Je nach der Beschaffenheit des Knochens und
der Wachstumsenergie des betreffenden Gewebes verschieden und
wesentlich abhängig von der Nachbehandlung ist dagegen die
Dicke der den Knochen bedeckenden Granulationsschicht, der
späteren Bindegewebeschicht, die unter Umständen zu erheblicher
Stärke gelangen und eine bedeutende Verkleinerung, selbst eine
vollständige Ausfüllung der Wundhöhle herbeiführen kann.
Knöcherne Ausfüllung eines größeren operativen Defektes
der Kortikalis habe ich nur ein einziges Mal gesehen. Bei einem
dreijährigen Kinde nahm ich wegen fortschreitender tuberkulöser
Karies zuerst die einfache Aufmeißelung und ein halbes Jahr
darauf die Totalaufmeißelung vor. Bei der ersten Operation
fanden sich ausgedehnte nekrotische Knochenpartien an der
Schuppe, die durch Ausmeißelung mit ausgedehnter Freilegung
der Dura entfernt wurden. Bei der folgenden Totalaufmeißelung
ging ich deshalb zu Anfang sehr vorsichtig vor, um eine Dura-
verletzung zu vermeiden, fand aber zu meinem Erstaunen keinen
Schädeldefekt mehr vor, nicht einmal die Stelle war mehr zu
sehen, wo damals die große Knochenpartie entfernt war, überall
fand sich normal aussehender glatter Knochen. Dagegen habe
ich sonst immer, wenn ich in die Lage kam, zum zweiten Male
operieren zu müssen, die bei der ersten Operation entstandenen
Defekte annähernd so wiedergefunden, wie sie im Operations-
protokoll beschrieben waren, auch nach längerer Zeit noch; be-
sonders gilt das von den Defekten am Sinus und am Tegmen,
^uf die naturgemäß am meisten geachtet wurde. Ich habe erst
kürzlich eine Nachoperation an einem Kinde vorgenommen, das
1) Siehe v. Bergmann, Lehre von den Kopfverletzungen 1880 S. 556.
Derselbe, Chirurgie des Kopfes im Handb. d. prakt. Chir. Bd. I S. 359.
44 VII. ZERONI.
etwa ein Jahr vorher von einem Kollegen aufgemeißelt worden
war, und fand einen Operationsdefekt mit freiliegender Dura an
der Schuppe, der so genau noch seine ursprüngliche Gestalt be-
halten hatte, daß ich die Form und Breite des von dem ersten
Operateur benutzten Meißels auf das genaueste hätte bestimmen
können.
Wie auch Gerber bemerkt, ist die Bildung neuen Knochens
vom Periost abhängig und wird es also hier von großer Wich-
tigkeit sein, ob es gelingt, den Defekt mit Periost zu bedecken.
Dies gelingt wohl manchmal bei außen an der Schädeloberfläche
gelegenen Operationsstellen, fast nie ist es aber möglich bei den
tiefen Knochenpartien, dem Tegmen tympani und antri. Wie un-
sicher aber auch bei gelungener Bedeckung des Defektes mit
Periost die Knochenregeneration ist, geht aus den oben an-
geführten Arbeiten v. Bergmanns zur Genüge hervor.
Wir können demnach bei der Aufmeißelung des Warzen-
fortsatzes in keiner Weise auf einen knöchernen Schluß der
Wundhöhle rechnen, wir müssen vielmehr selbst bei Eröffnung
der Schädelhöhle von außen darauf gefaßt sein, daß sich dort
kein neuer Knochen bildet; die Ausnahmen darin sind zu selten,
als daß ihnen praktische Bedeutung beigelegt werden könnte.
Nun geht in normalen Fällen die Ausfüllung der Wundhöhle
mit Granulationsgewebe sehr rasch vor sich, und es bildet sich
bald nach der Heilung daraus ein festes fibröses Polster, das als
Ersatz des Knochens vollkommen genügt und besonders den
tiefer gelegenen etwa freigelegten Durapartien gegen äußere In-
sulte einen hinreichenden Schutz gewährt. Dieses Granulations-
polster nimmt nun, wie man sich an jeder in normaler Heilung
begriffenen Warzenfortsatzwunde überzeugen kann, nicht nur vom
Knochen selbst, sondern auch von den Bändern der Hautbedeckung
seinen Ursprung. Je nachdem, ob eine oder die andere Partie
an der Produktion des neuen Gewebes überwiegenden Anteil
hat, kann man geradezu zwei Typen der Heilung unterscheiden.
In einem Falle sehen wir eine starke dicke Zunahme der Bänder
der Schnittwunde, die Granulationen entwickeln sich von hier
aus mit großer Macht, treten meist sogar über das Niveau der
äußeren Haut hinaus, zu gleicher Zeit geht in den tieferen Haut-
schichten der gleiche Prozeß vor sich. Von beiden Seiten wächst
das neugebildete Gewebe sich entgegen, legt sich in die Höhle
hinein ; sobald die gegenüberliegenden Partien sich erreicht haben,
vereinigen sie sich, und auf diese Weise nähern sich die anfangs
Die ausbleib. Granulationsbild. nach der Aufmeißln ng d. Warzenfortsatzes. 45
klaffenden Wundränder immer mehr, bis sie zuletzt, wenn die
trennende Tamponade wegbleibt^ sich ganz aneinander legen und
verwachsen. Es bildet sich eine schöne feste, schmale Narbe,
die durchaus solid und widerstandsfähig ist und die nach einiger
Zeit oft nicht mehr auffällt. Im anderen Falle dagegen sehen
wir die Granulationen mehr von innen nach außen zu wachsen.
Die Ausfüllung der Höhle geht in konzentrischer Weise von den
Knochenwänden her vor sich. Die Hautränder bleiben dünn
und verharren in der Lage, in der sie nach der Operation be-
lassen wurden. Erst nachdem die aus der Tiefe kommende
Granulationswucherung eine solche Stärke erreicht hat, daß sich
außen ein Polster von genügender Dicke zeigt, beteiligt sich die
Haut auch an der Heilung durch Aussendung einer dünnen
Epidermisschicht, das Resultat ist in solchen Fällen fast stets eine
mehr oder weniger tiefe Mulde über dem Warzenfortsatz, da die
Granulationswucherung selten das Niveau der äußeren Haut er-
reicht, auch deswegen, weil in der neugebildeten Narbe die Sub-
kutis fehlt, die in den Narben des ersten Modus vorhanden ist.
Die Haut über einer solchen Mulde bleibt dünn und deshalb in
der ersten Zeit leicht empfindlich; es kommt nicht selten vor,
daß die Epidermis wieder zugrunde geht und eine Zeitlang ein
oberflächliches Geschwür entsteht. In der späteren Zeit, wenn
die Unterlage fester wird, tritt in letzterer Beziehung Besserung
ein, oft wird aber dann infolge von Schrumpfung des Binde-
gewebes die Mulde noch tiefer.
Im Bahmen dieser beiden als extreme Beispiele geschilderten
Heilungstypen kommen natürlich die mannigfachsten Variationen
vor, je nachdem die zwei Momente der Granulationsbildung
wechselseitig in Erscheinung treten. Oft sind beide Momente
an dem Heilungsprozeß gleichmäßig beteiligt, manchmal tritt
eines allein so in den Vordergrund, daß wir ihm den überwiegen-
den Anteil zuschreiben müssen.
Den erstgenannten Heilungstypus sehen wir am häufigsten
bei kleinen Wundhöhlen, bei wenig klaffenden Schnittwunden,
den zweiten mehr bei größeren Eingriffen, bei Freilegung extra-
dnraler und perisinuöser Eiteransammlungen, wobei eine aus-
gedehntere B^sektion der Eortikalis erforderlich war und auch
die Wundränder des notwendigen unbehinderten Sekretabflusses,
wie der genauen Kontrolle der eiternden Stellen wegen längere
Zeit weit voneinander getrennt gehalten werden müssen. Gleich-
wohl kann auch in ersterem Falle einmal die Heilung mehr
46 VII. ZERONL
durch EnocheDgranulationen erfolgen, wie umgekehrt auch im
zweiten Falle manchmal die vorwiegende Beteiligung der Weich-
teilbedeckung an der Narbenbildung vorkommt Unter lebhafter
Granulationsbildung nähern sich die stark klaffenden Wundränder
allmählich und können sich schließlich noch aneinander legen
und eine schmale glatte Narbe bilden. Nur sehen wir in letz-
terem Falle öfters auch nach anfänglicher guter Proliferation von-
seiten der Wundränder plötzlich ein deutliches Nachlassen der
Heilungsenergie, in der äußeren Wunde tritt Stillstand ein, sie
bleibt weit offen, und die Vemarbung erfolgt durch Epidermi-
sierung der aus der Tiefe wuchernden Granulationen.
Fragen wir nun, welcher Art der Granulationsbildung die
wichtigste Rolle bei der Heilung zufällt, so läßt sich das nicht
so leicht entscheiden. Beide Faktoren müssen sich gegenseitig
unterstützen. Eine gewisse Beruhigung gewährt es zu wissen,
daß vom Knochen allein noch der Verschluß der Höhle zustande
kommen kann, wenn uns die Weichteilgranulationen im Stiche
lassen. Sind wir doch manchmal durch die Notwendigkeit, die
Wunde längere Zeit weit offen zu halten, gezwungen, auf die
äußere Granulationsbildung mehr zu verzichten und uns fast
ganz auf die Knochengranulationen zu verlassen. Hat man aber
die Wahl, so wird man zweifellos dem Verschluß durch die
Wucherung der Hautbedeckung den Vorzug geben, nicht nur er-
reichen wir hierdurch eine größere Festigkeit der Narbe und ein
besseres kosmetisches Resultat, sondern auch der Verlauf der
Heilung ist in diesem Falle ein wesentlich schnellerer.
Nun ist ja im allgemeinen die Tendenz zur Granulations-
bildung in normalen Fällen in hohem Maße vorhanden. Meist
ist es sogar ein zu starkes Wachstum der Granulationen, mit dem
wir zu kämpfen haben, und seit den ersten Berichten über die
Operationsmethode bis auf die neueste Zeit stehen im Vorder-
grunde der Anleitung zur Technik der Nachbehandlung die Me-
thode, die Granulationsbildung in Schranken zu halten, um den
Abfluß des Sekretes zu sichern. Schwartze war aus diesem
Grunde sogar zu dem heroischen Mittel des Bleinagels gekommen.
Um das Gegenteil zu erreichen, die zu schwache Granulations-
bildung anzuregen, hat man für gewöhnlich gar keine Veran-
lassung. Und es muß nochmals betont werden, daß geringe
Granulationsbildung vom Knochen her mit der Vollkommenheit
der Operation resp. mit zurückgebliebenen Krankheitsherden gar
nichts zu tun hat. Im Gegenteil sieht man gerade in letzt-
Die ansbleib. GraDulationsbild. nach der Aufmeißlung d. Warzenfortsatzes. 47
genannten Fällen keineswegs eine verminderte, zumeist eher eine
vermehrte Wucherung, und es wäre darum auch nicht einzusehen,
weshalb früher, als man sicher nicht allgemein so radikal und
zielbewußt bei den Aufmeißelungen vorging, wie heutzutage, nicht
öfters solche Beobachtungen gemacht wurden.
Dagegen sind natürlich Unterschiede in der Stärke der Gra-
nulationsbildung häufiger zu bemerken. Wie bei jedem Regene-
rationsvorgang ist das Wachstum in verschiedenen Fällen un-
gleich. Vor allem läßt sich das hier bei der Hautbedeckung
beobachten, bei der wir auch am häufigsten ein Versagen kon-
statieren können. Die Gründe sind, wie oben bereits angedeutet,
in der Regel ein allzu weites Klaffen der Wundränder, doch
spielen dabei sicher auch individuelle Dispositionen eine Rolle
mit. Anders steht es mit der Proliferationskraft des Knochens.
Diese läßt zwar weniger individuelle Verschiedenheiten erkennen,
ist aber von sich aus nie sehr stark, auf keinen Fall hält sie den
Vergleich mit der Wachstumsenergie stark wuchernder Weich-
teile aus. Wir können das zur Genüge und auf das genaueste
bei der Totalaufmeißelung beobachten, wo eine nicht allzu feste
Tamponade genügt, um die Granulationen auf einen dünnen
Überzug über den Knochen zu beschränken, und selbst die Tam-
ponade ist nicht immer notwendig. Hierbei sehen wir auch am
besten, daß die Geringfügigkeit der Granulationsbildung durchaus
nicht im Zurückbleiben kranken Knochens ihre Ursache hat;
denn wo letzteres der Fall ist, haben wir regelmäßig mit stär-
keren unregelmäßig wachsenden Granulationen zu kämpfen, ab-
gesehen natürlich von den ganz granulationsfreien, bloßliegenden
Knochenstellen, die bald nekrotisieren und sich abstoßen, deren
Umgebung sich aber gewöhnlich durch besonders starke Granu-
lation auszeichnet
Bei der einfachen Aufmeißelung lassen wir die Granulations-
bildung im Knochen ungehindert vonstatten gehen, indem wir
nur im Anfang darauf achten, daß das Antrum nicht verlegt
wird. Sobald die Tamponade des letzteren nicht mehr notwendig
ist, schließt sich die Öffnung in der Tiefe in normalen Fällen
sofort. Doch läßt die Leichtigkeit, mit der es gelingt, das Antrum
beliebig lange offen zu halten, erkennen, wie gering die Macht
der Knochengranulationen ist. Wo wir nach der einfachen Auf-
meißelung mit allzu starker Wucherung zu kämpfen haben, sind
das regelmäßig von den Weichteilen ausgehende Granulationen.
Manchmal schließt sich auch das Antrum nach der Weg-
48 VII. ZERONI.
lassung der Tamponade nicht sofort, die Granulationsbiidung ist
offenbar nicht stark genug, einen Verschluß von genügender Stärke,
hervorzubringen. Dann bleibt der Wundtrichter bis in die Tiefe
offeU; bis die äußeren Granulationen so weit fortgeschritten sind,
daß sie sich darüber legen und die Heilung vollenden können.
Auf diese Weise entsteht manchmal über der Narbe ein größerer
persistierender Hohlraum. Immerhin genügt die Granulationsbiidung
des Knochens fast stets um eine mäßige Ausfüllung der Höhle
und einen Verschluß des Antrums nach außen zu stände zu bringen,
wo sie zu gering ist, wird sie von der Subkutis unterstützt.
Können wir Abweichungen vom normalen Gange der Granu-
lationsbiidung in der eben beschriebenen Weise nun auch häufiger
beobachten, so muß doch ein vollständiges Ausbleiben derselben
bis zu dem Grade, daß die Wundhöhle bis in die Tiefe offen
bleibt, als äußerst selten bezeichnet werden, und die Frage nach
der Ursache dieser Erscheinung muß mit der Frage nach der
Ursache der Seltenheit beginnen.
Daß heute nach so vielen Erfahrungen über die Operation nur
so wenige dahin lautende Beobachtungen vorliegen, ist im höchsten
Grade auffallend und die Lösung der Frage erscheint grade durch
die Spärlichkeit des vorliegenden Materials besonders erschwert.
Die auffallende Seltenheit kann ich mir vorläufig nur dadurch
erklären, daß, wie wir gesehen haben, zwei verschiedene Gewebe
bei der Heilung der Warzenfortsatzwunde in Tätigkeit treten.
Alternierend tritt bald die eine, bald die andere Granulationsquelle
in den Vordergrund. Und was auch immer der Grund sein mag,
daß die Granulationsbiidung das eine mal stärker, das andere mal
schwächer vor sich geht, auf jeden Fall sind die beiden Faktoren
darin unabhängig von einander. Bei stärkster Wucherung von
Seiten des Knochens kann die Weichteilgranulierung minimal sein,
und umgekehrt. Die Seltenheit unserer Fälle wäre demnach da-
durch bedingt, daß es sich hier um das unglückliche Zusammen-
treffen zweier ungünstiger Momente handelt, nähmlich Fehlen der
Wachstumsenergie in beiden Geweben, sowohl im Knochen, als
auch in den Weichteilen.
Die wichtigste Frage ist nun die nach der wahrscheinlichsten
Ursache dieser Wachstumshemmung. Von den Autoren, die bisher
dieser Frage ihre Aufmerksamkeit zugewandt haben, ist vor Allem
Hof mann zu nennen. Dieser nimmt als Grund der Heilungs-
1) 1. c.
Die aasbleib. Granulationsbild, nach der Aufmeißlang d. Warzenfortsatzes. 49
störang Hineinwachsen von Epithel in die Wundhöhle an, und
zwar sowohl des Antrumepithels von innen her, als auch der
Epidermis von außen her. Das ist zweifellos eine Erklärung, die
der Beachtung wert ist. Daß das Hinüberwachsen des Epithels
über Granulationen letztere zum Stillstand bringt, ist eine all-
gemeine Erfahrung. Die Fälle Hofmann's waren für Epithel-
Einwanderung besonders disponiert, da in allen eine Verbindung
der Wundhöhle mit dem äußeren Gehörgang bestand. Trotzdem
kann ich Bedenken gegen die Ansicht Hofmann's nicht ver-
hehlen. Die Möglichkeit der Einwanderung des Epithels ist ja in
jedem Falle vorhanden; daß sie nur in wenigen Fällen eintritt,
scheint mir eben eine Folge der mangelhaften Granulationsbildung
zu sein. Auch Defekte des häutigen Gehörgangs sehen wir ja
sonst anstandslos vernarben, ohne Einwanderung des Gehörgangs-
epithels in die Wundhöhle, wenn wir die Epithelisierung nicht ab-
sichtlich erreichen wollen und die Granulationsbildung in Schranken
halten. Ich möchte deshalb vielmehr sagen, das Epithel wandert
nur deshalb ein, weil die Granulationen zu schwach sind um ihm
Hindemisse zu bereiten. Das Gleiche können wir ja auch künst-
lich durch Niederhalten der Granulationen erzielen.
Dann ist noch eine Notiz BriegersO zu erwähnen, der Fälle,
die den unsrigen etwas ähneln beschreibt, und als Ursache Tuber-
kulose angibt. Brieger konnte in seinen Fällen den exakten
Beweis für diese Behauptung erbringen. Auch inBriegers Fällen
blieb das Antrum offen, doch weichen seine Befunde in einem
wesentlichen Punkte von den charakteristischen Merkmalen unserer
Fälle ab. Brieger spricht ausdrücklich von einer permanenten
Fistel bei sonst vollkommener Füllung der Wundhöhle, also
das wesentlichste, die allgemein zurückbleibende Granulations-
bildung ist hier nicht vorhanden gewesen. Ich hielt aber trotzdem
Brieger 's Mitteilung anzuführen für nötig, um dem naheliegenden
Einwand zu begegnen, daß auch in unseren Fällen eine tuber-
kulöse Ursache zu Grunde liege. Was meine Fälle anbelangt,
so habe ich im zweiten und dritten öfters die Granulationen unter-
sucht und nie etwas Verdächtiges gefunden. Sonstige Zeichen
von Tuberkulose waren in keinem meiner Fälle nachzuweisen,
auch in Gerber's Fall nicht. Hofmann's dritter Fall ist als
tuberkulöse Karies bezeichnet. Doch ist zu bedenken, daß nach-
weisbar tuberkulöse Mastoiditiden meist ein vollständig andres
1) Brieger, Zur Klinik der Mitteiohrtuberkulose. Festschrift für
Lucae 1905, S. 271.
Archiv f. Ohrenheilkmide. 73. Bd. Festschrift. 4
50 VU. ZERONI.
Bild zeigen, sich eher durch vermehrte Granulationen auszeichnen
und, wie es B rieger beschrieben, zur Bildung enger Fisteln
tendieren. Als ausgeschlossen ist es natürlich nicht hinzustellen,
daß nicht eine tuberkulöse Erkrankung auch einmal unter dem
Bilde der ausbleibenden Granulationsbildung verläuft, dagegen
möchte ich die hauptsächlichste oder alleinige Abhängigkeit dieser
Abnormität von der Tuberkulose als durchaus unbewiesen und
unwahrscheinlich bezeichnen.
Auf die Frage der Tuberkulose war deshalb genauer ein-
zugehen, weil die Ursache doch aller Wahrscheinlichkeit nach
in einer konstitutionellen Disposition zu suchen ist. Doch läßt sich
eine solche allgemeiner Natur nach den bisherigen Erfahrungen
noch nicht mit Bestimmtheit eruiren. Die bis jetzt vorliegenden
Fälle betreffen mit Ausnajmte der bd dgn ersten von Hof mann
Kinder im Alter von 3 >tfM&^anrra,^äte?ö«n8t gesund sind. Man
muß deshalb zur EdU^ng woKl^uf eioi^^okale Disposition
zurückgreifen, auf eine vonA^pi^geiMiangeQlMte Heilungstendenz
der in Frage kommenAn Gewebe. Una zwaxiicheint diese lokale
Disposition nur auf ms^ti0mte fS^erstell^^eschränkt zu sein.
In meinem Fall 2 kam ein6«f|^q^|^^^^fftf^edehnte Kippenresek-
tion anstandslos zur Heilung und auch in den übrigen Fällen war
über sonstige mangelhafte Heilungen „schlechte Heilhaut^ u. s. w.
nichts zu eruiren. Das spricht ebenfalls gegen die Annahme all-
gemeiner konstitutionellen Anomalie, wie gegen Tuberkulose.
Von welchen Momenten diese lokale Disposition abhängig ist,
muß allerdings eine offene Frage bleiben. Doch möchte ich darauf
aufmerksam machen, ob nicht auch klimatische Einflüße eine Rolle
dabei spielen könnten. Auf diesen Gedanken brachte mich vor
allem die Tatsache, daß in dem großen Material einzelner Kliniken
diese Fälle vollständig zu fehlen scheinen, während ich in meiner
kurzen hiesigen Tätigkeit bereits über drei Fälle berichten kann,
besonders aber auch die Vergleichung meiner eigenen Erfahrungen
über die operative Tätigkeit in zwei verschiedenen Orten, in Halle
und in Karlsruhe. In letzter Stadt habe ich entschieden die Be-
obachtung gemacht, daß die Granulation vom Knochen weniger
lebhaft vor sich geht als in Halle, bei völlig gleicher Methode
der Operation und Nachbehandlung. Diese Eigentümlichkeit tritt
bei der Totalaufmeißlung vielleicht noch mehr hervor, wobei die
Nachbehandlung deshalb viel weniger Mühe macht als es in Halle
der Fall war, aber auch bei der einfachen Aufmeißlung ist dieser
Unterschied fühlbar. Es wäre sehr wünschenswert, wenn einmal
Die ausbleib. Granulationsbild, nach der Aufmeißlung d. Warzenfortsatzes. 51
unter diesem Gesichtspunkt Vergleichungen über die Heilungen in
verschiedenen Orten angestellt würden. Die Unterschiede in der
Dauer der Nachbehandlung sind z. B. bei verschiedenen Kliniken
recht groß und günstige Ziffern werden bis jetzt von den Statistikern
mit Vorliebe als das Resultat einer bestimmten Operationsmethode
bezeichnet. Es wäre sehr interessant zu erfahren, ob nicht auch
klimatische Verhältnisse hierbei beteiligt sind.
Es fragt sich nun, ob und wie wir solchen schlechten Operations-
resultaten vorbeugen können. Bei völligem Versagen der Heilungs-
tendenz, dürfte ja keine Methode ausreichen, indes bis zu einem
gewissen Grade läßt sich doch wohl die mangelhafte Wachstums-
energie kompensieren. Im Vordergrund müssen selbstverständlich,
nachdem wir gesehen haben, welche wichtige Rolle der Haut-
bedeckung für den Wund Verschluß zufällt, die Methoden stehen^
die der äußeren Wunde die Narbenbildung erleichtem. Die
primäre vollständige Nath wäre also in dieser Hinsicht das Idealste.
Da wir diese aber nie vornehmen . können, so möchte ich doch
eine so weit als irgend möglich durchgeführten Nath der Haut-
wunde das Wort reden. Das gleiche Verfahren ist nach Pif f 1 1)
in der Zau falschen Klinik mit gutem Erfolge im Gebrauch.
Ich weiß wohl, daß die Nachbehandlung bei breitem Klaffen der
Wundränder sehr erleichtert ist, ich weiß aber auch, daß man
unter Zuhilfenahme der indirekten Beleuchtung auch von einer
kleinen Öffnung aus selbst recht große Wundhöhlen noch gut
und vollständig übersehen und für die Nachbehandlung zugängig
erhalten kann. Im schlimmsten Falle, wenn es eben nicht geht,
ist durch nachträgliche Entfernung einiger Näthe dem Übel sehr
bald abgeholfen, und auch dann ist durch die vorherige Nath eine
größere Annäherung der Wundränder erzielt worden, als wenn
man die dieselben im status post Operationen belassen hätte. Sobald
die Erkrankung eine größere Wegnahme der Kortikalis erforder-
lich macht, besonders also bei Sinusoperationen, ist unbedingt zur
Anlegung eines T Schnittes zu raten, um die Wundränder nicht
allzuweit von einander entfernt halten zu müssen. Ich habe z. B.
den Eindruck, daß im Falle Gerber's, in dem, wie ich nur aus
der Abbildung schließe, die Freilegung des Sinus von dem ge-
wohnlichen Hautschnitt aus vorgenommen worden ist, durch An-
legung eines T Schnittes das Resultat wenigstens etwas besser
*) Pif f 1, über AufmeiJJelung d. Warzenfortsatzes bei Komplikation der
Mastoiditis. A. f. 0. Bd. 51 S. 129.
4*
62 Vn. ZERONI.
geworden wäre. Femer lege ich Wert darauf, daß nach der Opera-
tion die Weichteile in ihrem dem Knochen aufliegenden Partien
die Bänder der Enochenwunde überragen ; denn den tiefsten Teilen
der Subkutis scheint mir die wichtigste Aufgabe bei der Füllung
der Knochenhöhle zuzufallen. Um ein allzuweites Zurückweichen
des Periostes zu verhindern, empfiehlt es sich vor dem Zurück-
schieben starke Seidenfäden durch dasselbe zu ziehen, die während
der Operation liegen bleiben und später das Zurückbringen des
Periostes sehr erleichtem. Ich glaube, daß auch das Periost für
die Heilung einen wichtigen Faktor darstellt. Auf jeden Fall
sollen die oberflächlichen freigelegten Stellen der Kortikalis durch
tiefgreifende Näthe wieder vollständig mit Periost bedeckt werden,
weshalb ich mich mit den in neuester Zeit viel angewandten
Michel 'sehen Klammern, die nur die oberste Haut fassen, nicht
befreunden kann.
Die Wichtigkeit der Weichteilbedeckung für die Heilung der
Warzenfortsatzwunde ist schon von Andern erkannt worden, und
daraus resultiert wohl das Bestreben, bei der Operation die
Weichteile möglichst in die Höhle selbst hineinzulegen. So hat
Winkler^) ein Verfahren angegeben, bei dem unter Wegnahme
fast der ganzen hinteren knöchernen Gehörgangswand der häutige
Gehörgang mit zur Deckung der Knochenwunde benutzt wird,
während Siebenmann nach der Mitteilung Nagers 2) durch Ab-
schrägung der Knochenränder die Weichteile in die Wundhöhle
hineinlegt. Beide Methoden setzen voraus, daß keine möglicher-
weise kranken Stellen mehr im äußeren Teil der Wunde liegen,
die sonst durch die Weichteillappen bedeckt zu nachträglichen
Komplikationen Veranlassung geben könnten. Diese Vorschläge
sind wohl der Erfahrang entsprungen, daß auf Knochen-
granulationen kein sicherer Verlaß ist. Um letztere hervor-
zubringen oder anzuregen, wo sie in mangelhafter Weise auftreten,
haben wir kein sicheres Mittel, zumal alle granulationsbefördern-
den Substanzen nicht angewandt werden können, da sie die frei-
liegende Antrumschleimhaut in Beizungszzustand versetzen und
zu stärkerer Sekretion veranlassen, wodurch wieder ein anderes
Moment der Heilungsstörung entsteht.
1) Winkler, Über Auf meißelung des Warzenfortsatzes und Eröffnung
des Antrums mit folgender Gehörgangsplastik. Verhandi. d. otol. Ges. 1904
S. 133.
2) Nager, Zeitschr. f. 0. Bd. 53, S. 154.
Die ausbleib. Granulationsbild, nach der Aufmeißlung d. Warzenfoitsatzes. 53
Er ist schon früher von Heßler^), dann auch von Hof-
mann^}, von letzterem gerade im Anschluß an seine oben er-
wähnten Mitteilungen vorgeschlagen worden, das Antrum gar
nicht zu eröffnen. Dieser Vorschlag hat aber wenig Anklang
gefunden, schon deshalb nicht, weil in der Mehrzahl der Fälle
eben das Antrum der Ausgangspunkt und der wesentlichste Herd
der Erkrankung ist. Auch habe ich schon oben dargelegt, daß
die Idee Hoff mann s, die mangelhafte Granulationsbildung habe
ihren Grund in dem Heraustreten des Antrumepithels in die
Wundhöhle eine irrige sein dürfte. Wenn im letzten Stadium
der Heilung der Verschluß des Antrum durch Fortdauer der
Sekretion aus dem Mittelohr sich verzögert, so genügt meist
Weglassung aller reizenden Substanzen, wozu auch die Jodoform-
gaze gehört, um das Sekret bald zum Versiegen zu bringen.
Oft hat mir eine kurze Anwendung von essigsaurer Tonerde oder
Einstäuben von Xeroform ausgezeichnete Dienste hierbei geleistet.
Die Hauptsache ist aber, daß nach dem Versiegen der Sekretion
die Granulationen rasch das Antrum nach außen abschließen,
sonst sehen wir denselben Vorgang, wie bei einer nicht heilenden
Trommelfellperforation, wo der Ausfluß der Perforation wegen
fortdauert und die Perforation des Ausflusses wegen sich nicht
schließen kann.
In der neusten Zeit ist von Politzer, Brühl, Hölscher,
und zwar mit gutem Erfolg in einigen Fällen bald nach der
Operation die Ausfüllung der Höhle mit Paraffin und darauf
Nath der ganzen Hautwunde vorgenommen worden. Aber auch
diese Methode setzt voraus, daß das Antrum wenigstens schon
geschlossen ist, sie dürfte also nur in wenigen Fällen anwendbar
sein und gerade in denjenigen, wo die Granulationsbildung am
schwächsten ist und sie infolgedessen am meisten am Platze wäre,
sich von selbst verbieten.
Wenn aber die normale Granulationsbildung ausbleibt und
die Wundhöhle, wie in unseren Fällen offen bleibt, so ist es völlig
unnütz durch Auskratzung und Wiederanfrischung der Knochen-
wunde die fehlenden Granulationen hervorrufen zu wollen. Das
macht das Übel nur noch schlimmer, die Höhle wird noch größer
und die Granulationsbildung fehlt wie zuvor. Hier kann nur
mittelst der Weichteilbedeckung noch ein Verschluß zustande ge-
bracht werden, und Winkler hat ganz richtig diesen Weg,
1) Hessler, Arch. f. 0. Bd. 27, S. 185.
2) Hofmann, 1. o.
54 Vn. ZERONl.
den der Plastik schon klar vorgezeichnet. Seine Idee, durch
Wegnahme des knöchernen Teils der hinteren Gehörgangswand
die Ohrmuschel zu mobilisieren und nach hinten zu verlegen,
scheint mir eine äußerst glückliche zu sein und wird in solchen
Fällen^ wie er und wir sie erlebt haben, wohl meist zum Ziele
führen. Bei größeren, weit nach hinten zu sich ausdehnenden
Defekten käme eventuell noch eine Unterstützung durch plastische
Lappen vom Occiput oder vom Nacken her in Frage, eventuell
auch die Transplantation eines Feriostknochenlappens. Doch
für die meisten Falle dürfte die Winkler 'sehe Plastik aus-
reichen.
Wink 1er hat seinen Vorschlag an den in Frage stehenden
Patienten seiner Beobachtung nicht zur Ausführung bringen
können. Mir ist es in den ersten beiden oben mitgeteilten Fällen
auch nicht möglich gewesen, die Wink 1er 'sehe Operation zu
erproben. Der erste Fall entzog sich meiner Behandlung, im
Fall 2 gaben zwar die Eltern anfangs ihre Zustimmung, aus ver-
schiedenen Gründen wurde indes die Operation mehrmals ver-
schoben und die Eltern sind inzwischen wieder schwankend ge-
worden. In Fall 3, wo allerdings die Totalaufmeißlung gemacht
wurde, war das Resultat zwar nicht vollkommen, aber doch
einigermaßen zufriedenstellend.
Zum Schluß möchte ich noch auf den Ausblick hinweisen,
der sich uns gelegentlich meiner Vermutung, daß klimatische
Einflüsse auf den Heilungsvorgang einwirken könnten, eröffnet.
Es wäre doch in Erwägung zu ziehen, ob nicht vielleicht die
Klimatotherapie auch in der Otologie eine Bolle zu spielen be-
rufen sei.
VIII.
Ober Ohrenstörnngen bei den Erkranknngen
des Urogenitalapparates. ^
Von
Dr. J. Sendziak, Warschau.
Die Ohrenstörnngen im Verlaufe der Krankheiten des üro-
genitalapparates wurden speziell erst in den letzten 15 Jahren
bearbeitet.
So widmete Hang, damals Dozent und jetziger Professor
der Ohrenheilkunde in München, in seinem vortrefflichen Lehr-
buche („Die Krankheiten des Ohres in ihrer Beziehung zu den
Allgemeinerkrankungen" 1893 p. 185) einen ganzen Abschnitt
den Ohrenstörungen im Verlaufe der Krankheiten des ürogenital-
apparates.
Im Jahre 1899 ist eine der besten Monographien erschienen,
nämlich von Friedrich, damals Dozent in Leipzig, jetzt Professor
in Kiel, betitelt „ßhinologie, Laryngologie und Otologie in ihrer
Bedeutung für die allgemeine Medizin" Leipzig bei F. 0. W. Vogel,
in welcher der Verfasser den Ohrenfetörungen bei den Erkrankungen
des Urogenitalapparates ebenfalls spezielle Abteilungen widmete
(p. 177—183).
Außerdem existiert eine ganze Reihe von speziellen resp.
kasuistischen Arbeiten, welche die Darstellung des Zusammen-
1) Das ist ein Teil der umfangreichen Monographie über die Nasen-,
Rachen-, Kehlkopf- und Ohrenstörungen bei den Allgemeinerkrankungen.
Der erste Teil, umfassend diese Störungen im Verlaufe der akuten In-
fektionskrankheiten, wurde im Jahre 1900 in polnischer Sprache (Nowiny
Lekarskie) und bei den Krankheiten des Zirkulationsapparates (Herz, Ge-
fäße) in Monatsschrift für Ohrenheilkunde 1906 H. 12 veröffentlicht.
56 Vm. SENDZIAK.
banges zwischen Ohrenstörungen einerseits und den Erkrankungen
des Urogenitalapparates andererseits zum Ziel haben.
Diese Arbeiten werden später im Text berücksichtigt. Ohren-
störungen im Verlaufe der Erkrankungen des Uro — besonders
aber weiblichen — Genitalapparates gehören zu den außerordent-
lich häufigen Erscheinungen.
Was die ersten d. h. Ohrenstörungen bei den Krankheiten der
Nieren betrifft, so geben vor allem den Anlaß zu diesen Störungen
die chronischen parenchymatösen Entzündungen der Nieren, so
wie Nephritis scarlatinosa.
Bürckner^) konstatierte auf 150 Fälle der Entzündungen
des mittleren Ohres zweimal als die Ursache Nierenentzündung
(Morbus Brighti), also ziemlich selten.
Andererseits notierte Pissot^) viel öfters Ohrenstörungen bei
Nephritis ehr. (nämlich auf 37 Fälle 18 Mal).
Morf 3) gelang es, aus der Literatur 22 Fälle dieser Art
(von denen 3 eigene) zu sammeln.
Die häufigste Form der Ohrenerkrankungen im Verlaufe der
Nierenentzündungen ist Otitis media acuta haemorrhagica) Fälle
von Schwartze*), Trautmann^) und Buck^)), welche sich
durch Ecchymosen auf dem Trommelfelle oder durch dessen Vor-
wölbung, welche von der Füllung der Paukenhöhle mit Blut
bedingt ist, charakterisieren, wobei Schmerzen sowie mehr oder
weniger bedeutende, gewöhnlich mit Geräuschen verbundene Gehör-
störungen vorkommen.
Außer dieser häufigsten Form der Entzündung des mittleren
Ohres gibt es noch gewöhnliche Otitis media acuta (Roosa^),
Bürkner) mit gewöhnlichem Verlaufe oder mit Exacerbationen
(Hedinger^)).
Eine sehr wichtige Komplikation der Nephritis scarlatinosa
ist die Entzündung des mittleren Ohres, welcher Voss, Haug,
Moos^), Morf, endlich Gunowitz^^) eine große Bedeutung be-
sonders für die Prognose geben: nämlich vermehrte Ohreneiterung
1) Arch. f. Ohrenheilk. XXII p. 197.
2) Thöse-Paris, 1878.
3) Zeit. f. Ohrenheilk. XXX. 4.
4) 5) 6) Arch. f. Ohrenheük. IV p. 12, XIV p. 91; VI p. 301.
7) Trans, of the amer. Otil. Society 1887-5/IV.
8) Zeit. f. Ohrenheilk. XVII p. 237.
9) Schwartze'ß Handbach der Ohrenheilk. I p. 538.
10) Berl. Klin. Woch. 1880 No. 42.
über Ohrenstörongen bei den Erkraukungen des Urogenitalapparates. 57
bei der Verschlimmerung des Zustandes der Nierenentzündung
und vice versa.
In Haugs Falle traten die Symptome der Nierenent-
zündung nach der Aufmeißelung des Processus mastoideus
zurück, kamen aber mit ganzer Kraft wieder wegen der Stag-
nation des Eiters, welche durch die Bildung der Granulationen
verursacht wurde.
Morf betrachtet als charakteristisch für Ohrenstörungen im
Verlaufe von Nephritis scarlatinosa: Otitis necrotica im mittleren
Ohre und Processus mastoideus. Nur ausnahmsweise ist das
innere Ohr im Verlaufe der Nierenentzündung resp. uraemia
(Taubheit, Geräusche) alteriert, was Friedrich von den sekun-
dären Veränderungen in den Gefäßen abhängig macht.
In Schwartzes Falle waren beide Labyrinthe mit Ecchy-
mosen gefüllt, in Morfs und Rosenheims i) Fällen (Gehör-
stoningen im Verlaufe nephritidis acutae et intermittentis), existierte
wahrscheinlich eine Schwellung der Ohrennerven, wobei diese
Störungen im innigen Zusammenhange mit allgemeinen Ödemen
standen; bei der Verminderung der letzteren verbesserte sich das
Gehör und vice versa.
Endlich wurde in Dieulafoys'^) und Pissots Fällen infolge
des Morbus Brighti Anaesthesia acustica konstatiert.
Wie ich schon erwähnt habe, kommen die Ohrstörungen
im Verlaufe der Erkrankungen des Genitalapparates, be-
sonders des weiblichen, außerordentlich oft vor und das sowohl
bei physiologischen als auch pathologischen Zuständen.
Verhältnismäßig am seltensten ist das äußere Ohr, öfters das
mittlere, am häufigsten jedoch das innere affiziert.
So klagen die Kranken manchmal vor jeder Menstruation
sowie Schwangerschaft und Climacterium über Sensation von
Brennen, oft unerträglichem Jucken in der Gegend der Ohr-
muschel, sowie des äußeren Gehörganges. In einem Falle,
welcher eine 45jährige verheiratete Kranke betraf, beobachtete
ich die erysipelatöse Entzündung der Ohrmuschel in der Periode
der eventuellen Menstruation (sogenannte: „erysipMe catameniale",
französischer Verfasser). Während des Climacteriums beobachtete
ich oft außerordentlich hartnäckige Entzündungen des äußeren
Gehörganges entweder circumscripte (sogenannte Furunkel) oder
1) Nervenkrankheiten. 4. Auflage 1894 p. 260.
2) La France mßdicaie. 1877.
58 Vm. SENDZIAK.
diffuse, worauf Urbantschitsch zuerst die Aufmerksamkeit
lenkte, sowie auch Eczema et Herpes auriculae (Graen^)).
Verhältnismäßig ziemlich häufig kommen Ohrenblutungen
vor, welche der Menstruation vorangehen, oder sie vertreten
(menstruationes vicariae). Fälle dieser Art wurden von S t e p a n u s ^),
Eitelberg^), Gradenigo^), Bürkner^), Jacobson^), KolP),
Hensinger^) etc. beschrieben. Puech^) notierte auf 200 Fälle
Menstruationis vicariae, aus der Literatur gesammelt, 6 Mal
Ohrenblutungen, Einen interessanten Fall, welcher unzweifelhaft
den kausalen Zusammenhang zwischen den Erkrankungen des
Gehörorgans einerseits und Störungen in der genitalen Sphäre
andererseits bestätigt, gibt Baratona^®): nach jedesmaliger
Operation der Ohrpolypen trat die Blutung an den Genital-
organen auf.
Diese Blutungen begleitet gewöhnlich eine „Aura" in der
Form von Kopfschmerz, Geräusch und SchwindeL
Gewöhnlich ist die Blutung unilateral, die Quantität des
Blutes verschieden (von einigen Tropfen bis zu der Quantität,
welche den Blutungen der Genitalorgane entsprechend ist). Der
Lokalisation nach wird betroffen am meisten das Trommelfell
(Ecchymosen, [Eitelberg]) sowie der äußere Gehörgang — nämlich
die Öffnungen der Ceruminaldrüsen — , seltener das mittlere Ohr,
wenn eine eitrige Absonderung mit Granulationsbildung vorliegt,
ausnahmsweise nur das innere Ohr (Jacobson und EoU).
Ahnlich wie im Pharynx prädisponieren hier auch die
physiologischen Zustände, besonders bei Frauen (Menstruation,
Graviditas, Klimakterium) zu den akuten endzündlichen Prozessen
(Otitis media acuta), wie es unter anderem in einem meiner Fälle
war, welcher eine 40jährige Kranke betraf. Während des
Klimakteriums trat außer anderen Störungen (Tonsillitis follicu-
laris, Epistaxis, Tonsillitis pharyngealis abscedens, Empyema Antri
Highmori) akute eitrige Entzündung des mittleren Ohres auf. ^ö)
Ebenfalls unterliegen häufig die existierenden pathologischen
Prozesse im Gehörapparate (Eiterungen) in diesen Fällen be-
1) Americ. Journ. of Otol. IIL 2.
2) Monat, f. Ohrenheilk. 1885, N. 11.
3) citiert bei Friedrich (1. c).
4) 5) 6) 7) Arch f. Ohrenheilk. B. 28 p. 82, B. 15 p. 221, B. 21 p. 280
B. 25, p. 88.
8) 9) loco citato.
10) Nowiny Lekarskie 1902 N. 2.
über Ohrenstörungen bei deu Erkrankungen des Urogenitalapparates. 59
deut^ider Verscblimmerung, wie es Bezold^) zeigte, welcher in
dieser Richtung spezielle Untersuchungen machte (auf 190 Fälle
der Gehöreiterungen notierte er in 17,9 o/o Verschlimmerung, welche
von den funktionellen Störungen bei Frauen abhängig waren).
Wie ich schon erwähnt habe, ist in diesen Fällen d. h.
während der Menstruation, Klimakterium und Schwangerschaft
das innere Ohr afficiert, wovon die subjektiven Geräusche, sowie
die mehr oder weniger bedeutende Verminderung des Gehörs
zeugen; diese letztere kommt in diesen Fällen langsam zu Stande
und wird wenig beeinflußt durch die Behandlung.
Besonders die Schwangerschaft event. Geburt haben zuweilen
einen ungünstigen Einfluß auf die Funktionen des Gehör-
apparates. Die etwa vorhandenen pathologischen Prozesse des
Ohres unterliegen in diesen Fällen bedeutender Verschlimmerung.
Ausnahmsweise nur wurden umgekehrt Verbesserungen des Ge-
hörs, sowie Verminderung der Ohrgeräusche nach der Geburt
notiert (ürbantschitsch^), Schmaltz,^) Morland^). Otalgie
vor und während der Menstruation, welche sich nach der
Eokainisierung der Nasenmuschel verminderten und nach der
Kauterisation der letzteren zurücktraten, beobachtete bei uns
(Polen) A. Herman^).
Ebenfalls geben die pathologischen Prozesse der weiblichen
Geschlechtsorgane (Endo-et Parametritis , Salpingitis, Neoplasma
etc.) oft Anlass zu Ohrenstörungen, wovon die Fälle von
Wolf^>, Weber-Liel") (Taubheit), sowie Pagenstecher »)
(Otalgie) zeugen.
Eine interessante Beobachtung machte Scanzoni^): nach der
Applizierung von Blutegeln an dem vaginalen Teil des Uterus
trat vorübergehende Taubheit ein.
Von den anderen üteruskrankheiten sah Habermann ^o)
1) Arch. f. Ohrenheilk. B. 25 p. 225.
2) zitiert bei Hang (1. c).
3) Gehör- und Sprechkunde 1846 p. 53.
4) Arch. f. Ohrenheilk. B. 5 p. 313.
5) Gazeta lekarska 1903 Nr. 38.
6) Bericht über die Naturforscherversammlung, Wiesbaden 1887.
7) Monat, für Ohrenheilk. 1883 Nr. 9.
8) Deutsche Kün. 1863 Nr. 41—43.
9) Würzburger med. Zeit. v. 1860 Nr. 1.
10) Zeit. f. Heilkunde 1887. VIII.
60 VIII. SENDZIAK.
bei Neoplasmen (Krebs), sowie Febris puerperalis Metastasen im
Gehörorgane.
Während der Masturbation wurden bei beiden Geschlechtern
subjektive Gehörgeräusche, sowie hyperaestesia, seltener anaesthesia
acustica (Behrendt) beobachtet.
Eine interessante Beobachtung, welche den kausalen Zu-
sammenhang zwischen Ohrenstörungen einerseits und denen der
genitalen Sphäre andererseits dartun^ machte Urbantschitsch^):
Ohrenpolyp mit unerträglichem Jucken im äußeren Gehörorgane,
dessen Irritation (Kratzen mit dem Finger) jedesmal „Ejaculatio^^
ohne Erectio des penis herbeiführte.
Zwei anologe Fälle beobachtete ebenfalls Haug.^)
1) Jahrb. f. Kinderkrankh. 1860. 22 p. 321.
2) zitiert bei Haug (1. c).
3) loco citato.
IX.
Ober Ohrenkrankheiten bei Studenten.
Von
Prof. K. Bttrkner in Gottingen.
Am 1. Oktober 1901 ist an der Universität Göttingen — und
vermutlich auch an den übrigen preußischen Universitäten —
eine Neuregelung des akademischen Krankenpflegeinstitutes in
Kraft getreten, auf Grund deren jedem akut erkrankten Stu-
dierenden, welcher sich über das Belegen von Vorlesungen ausweist,
gegen einen obligatorischen Semesterbeitrag von 2 M. unentgeltliche
Behandlung vonseiten der medizinischen Professoren und Dozenten
oder eines dafür angestellten praktischen Arztes sowie in geeigneten
Fällen freier Aufenthalt in den Kliniken gewährleistet wird.
Dieser Einrichtung verdanke ich einen recht erheblichen
Zuspruch von Stadenten in meinen Sprechstunden: ich habe in
den elf Semestern seit dem Bestehen des Institutes in seiner
gegenwärtigen Form bis zum 31. März 1907 574 Kommilitonen
in 3025 einzelnen Konsultationen behandelt.
Allerdings hatte ich es schon von Beginn meiner praktischen
Tätigkeit an als ein nobile officium meiner akademischen
Stellung betrachtet, den Studierenden unserer Hochschule meine
Hülfe unentgeltlich zur Verfügung zu stellen; doch belief sich
die Zahl der bis zum 1. Oktober 1901 im Laufe von 23 Jahren
privatim von mir behandelten Kommilitonen nur auf 161, und
etwa die doppelte Zahl mag sich wohl an die von mir geleitete
Poliklinik gewendet haben.
Wenn nach den Satzungen die Hülfe des akademischen
Krankenpflegeinstitutes ausschließlich auf die Fälle von akuter
Erkrankung beschränkt bleiben soll, so gehe ich nun allerdings, was
meine persönliche Hülfeleistung anbelangt, erheblich weiter, indem
ich diese meinem von jeher geübten Gebrauche getreu auch chronisch
erkrankten Studierenden zuteil werden lasse. Damit das Institut
62
IX. BURKNER.
nicht geschädigt werde, müssen solche sich dann freilich Medi-
kamente und Verbandzeug auf ihre eigene Rechnung beschaffen.
Nun schien es mir nicht uninteressant, einmal zu unter-
suchen, ob sich bei einem so einheitlichen Krankenmateriale, wie
die Tätigkeit für das akademische Erankenpflegeinstitut es dar-
bietet, eine Disposition zu bestimmten Krankheiten oder Krank-
heitsgruppen nachweisen lasse; und in dieser Erwägung habe
ich meine Krankenjoumale statistisch zu verwerten gesucht.
Es standen zur Verfügung:
^' fo^e^'^jXen^''}^^^'"^^^^^^'^*'®^^-' ^^J^»*-» 26Mediz., 70Philo8.
b. Pat. des Kranken- i _^ «c «^^ o^ «7^
Pflegeinstitutes } 5^4, „ 38 , 176 , 86 , 274 „
Sa.: 785, nämlich 54 Theol., 225 Jurist., 112Mediz., 344Philo8.
Die Zahl der bei diesen 735 Patienten beobachteten Er-
krankungsformen betrug 925. Von diesen scheiden für die Be-
rücksichtigung in dieser Betrachtung aus 266 Erkrankungsfälle,
welche die Nase und den Bachen betrafen, während 659 Er-
krankungsfälle von Ohraffektionen übrig bleiben. Ihre Verteilung
war folgende:
Krank hei tsbezeichnung
Summa
Theo-
logen
Jurist.
Medi-
ziner
Philo-
sophen
Angebor. Deformität (Fistula aur. cong.)
Accumulatio ceruminis
Ekzem
Otitis externa circumscripta
Aspergillus-Mykose
Exostosen im Gehörgange
Corpus alienum
Trommelfellruptur
1
105
12
33
3
22
1
5
6
1
2
2
25
a
8
2
5
1
2
13
3
3
1
1
61
6
20
1
12
2
Krankheiten des äußeren Ohres:
182
11 48
20
103
Otitis media simplex acuta .....
Otitis media exsudativa acuta ....
Otitis media simplex chronica ....
Otitis media sclerotica
Otitis media purulenta acuta ....
Otitis media purulenta chronica . . .
Caries und Nekrose ,
Residuen von Mittelohreiterung . . .
130
38
67
21
50
51
15
57
16
4
4
1
9
5
2
8
32
10
34
8
18
14
4
12
27
5
6
1
7
6
4
10
55
19
23
11
16
26
5
27
Krankheiten des Mittelohres:
429
49 132
66
182
Nervöse Schwerhörigkeit
Sausen ohne Befund
16
32
1
2
5
14
6
10
10
Krankheiten des inneren Ohres:
48
3
19
6
20
Summe der Ohrenkrankheiten .... 659
63
199
92
305
Summe der Nasen- >u. Rachenkrankheiten
266 33 72
38
123
Gesamtzahl
925
96
271
130
428
über Ohrenkrankheiten bei Studenten.
63
In dieser Zusammenstellung muß ohne weiteres auffallen die
Häufigkeit des Vorkommens von Exostosen des Gehör-
ganges und von Sausen ohne Befund. Ein Vergleich mit
den Zahlen, welche ich in Prozenten ausgedrückt für den fünf-
undzwanzigjährigen Durchschnitt des Göttinger poliklinischen
Materials gefunden habe, beweist dieses Mißverhältnis schlagend.
Man vergleiche in folgender Zusammenstellung die Werte, welche
die Reihe I enthält, mit denen der Reihe III und femer die
Zahlen der Reihe II mit denen der Reihe III. Reihe II gibt
die entsprechenden Werte wieder, welche ich an dem poli-
klinischen Materiale nur für männliche Patienten im Alter von
über 15 Jahren festgestellt habe.
I.
Darohsohnitts-
zahlen d. OOttinger
pob'klin. Materials
in 26 Jahren
TL
Erwachsene männ-
liche Patienten ans
d. GSttinger Poli-
klinik in 26 Jahren
III.
Entsprechende
Werte der
Stadentenpraxis
Accumalatio ceruminis . . .
Ekzem
13,40 Proz.
2,80 ,
3,91 „
0,05 „
0,39 „
24,58 Proz.
1,73 ,
3,77 ,
0,11 „
0,63 „
15,93 Proz.
1.82
Furunkel
Exostosen
Trommelfellruptur
5,01 r,
SM n
0,76 „
Äußeres Ohr:
26,79 Proz.
34,44 Proz.
27,64 Proz.
Otitis media simplex acuta
Otitis media exsudativa acuta
Otitis media simplex chronica
Otitis media sclerotica . . .
Otitis media purulenta acuta .
Otitis media purulenta chronica
Residuen v. Mittelohreiteningen
11,51 Proz.
5,29 „
11,93 „
3,74 „
11,06 ,
11,35 „
8,83 „
8,76 Proz.
2,07 ,
14,91 ,
6,79 ^
4,85 „
11,00 „
9,41 „
19,71 Proz.
5,76 ,
10,17 ,
3,34 ,
7,58 ,
10,00 ,
8,65 ,
Mittelohr:
68,91 Proz.
58,52 Proz.
65,09 Proz.
Nervöse Schwerhörigkeit . .
Sausen ohne Befund ....
3,13 Proz.
0,34 „
1,11 Proz.
0,45 „
2,43 Proz.
4,85 ,
Inneres Ohr:
4,30 Proz.
7,03 Proz.
7,27 Proz.
Es ist klar, daß es unstatthaft sein würde, zwischen diesen
Reihen, obwohl sie nicht nur hinsichtlich des Befallenseins der
einzelnen Ohrabschnilte, sondern auch hinsichtlich der pro-
zentualen Häufigkeit der meisten Krankheiten recht gut überein-
stimmen, ohne weiteres Vergleiche anzustellen, denn in Reihe I
sind Kranke beider Geschlechter und jedes Alters, in Reihe II
nur erwachsene Männer von 15 bis über 80 Jahren, unter den in
Reihe III rubrizierten Studenten aber nur junge Männer von 18
Archiv f. Ohrenhlkde. LIX. pag. 27 ff.
64 BÜRKNER.
bis 25 Jahren vertreten: die Differenz der Zahlen für Exostosen
und für Sausen ohne Befund ist aber doch so erheblich, daß
man ihre Erklärung in der Eigenart des Krankenmaterials suchen
möchte.
Sonst fällt ein wesentlicher unterschied nur noch bei der
Otitis media simplex acuta auf, bei welcher die Prozentzahl in
der Studentenrubrik erheblich hervortritt; doch gleicht sich diese
Differenz ziemlich aus, wenn man die für die akuten Erkrankungs-
formen des Mittelohres gefundenen Zahlen in den drei Reihen
addiert, bevor* man sie vergleicht. Die hohe Zahl, welche dann
in Reihe I resultiert, erklärt sich dadurch^ daß hier die Kinder
mit vertreten sind, die ja das Hauptkontingent für diese Krank-
heiten stellen.
Was nun zunächst die Exostosen anbelangt, so kann ich
eine Erklärung für ihr überraschend häufiges Vorkommen bei
meinen studentischen Patienten nicht geben. Man ist gewöhnt
anzunehmen, daß sie nur bei älteren Personen, vorwiegend männ-
lichen Geschlechts, oft gefunden werden, und auch ich habe dies
sonst bestätigt gefunden, kann auch nur feststellen, daß ich dieser
Veränderung des knöchernen Gehörganges in keinem anderen
Kreise jugendlicher Leute öfters begegnet bin; z. B. auch nicht
bei Soldaten, deren ich im Laufe der Zeit eine große Zahl unter-
sucht habe.
Die Exostosen waren in fast sämtlichen Fällen nur gelegent-
liche Befunde: am häufigsten bei solchen, welche an chronischen
Mittelohreiterungen oder an Mittelohrsklerose litten, und wahr-
scheinlich doch auch in ursächlichem Zusammenhange mit diesen
Krankheiten der Paukenhöhle. Auch bei älteren Leuten finden
sich ja Exostosen mit Vorliebe neben den erwähnten Ver-
änderungen des Mittelohres vor, und es liegt nahe, dieses häufige
Zusammentreffen als ein kausales aufzufassen.
Von den 22 Fällen waren 12 einseitig, 10 beiderseitig; nur
in 5 Fällen fand sich eine einzige Exostose, in den übrigen
Fällen waren 2 oder 3 nebeneinander vorhanden. Einmal han-
delte es sich um jene bekannten flachen Gebilde zu beiden Seiten
des Processus Brevis, deren knöcherne Beschaffenheit hier auf
beiden Ohren über jeden Zweifel erhaben war; in allen übrigen
Fällen lagen buckelige Auswüchse vor, die, meist in der Mitte
des inneren Ohrkanales saßen und fast regelmäßig von der
hinteren und von der vorderen Wand ausgingen. Wo drei Exos-
tosen vorhanden waren, entsprapg die dritte der oberen Wand.
über Ohrenkrankheiten bei Studenten. 65
Eine wirklich erhebliche Einengung des Gehörgangslumens
habe ich in keinem der in Rede stehenden Fälle gefunden:
niemals wäre in absehbarer Zeit eine operative Behandlung in
Frage gekommen. Auch habe ich in keinem Falle eine nach-
weisbare Neigung zur Vergrößerung der Neubildungen gefunden,
obwohl ich einige der Patienten jahrelang habe beobachten
können. In zwei Fällen waren die Erhabenheiten so flach, daß
ich sie wohl ganz übersehen hätte, wenn nicht der äußerst hef-
tige Schmerz bei ihrer Berührung mich aufmerksam gemacht
hätte. Diese große Empfindlichkeit, die ja für die Exostosen im
Ohre charakteristisch ist, hat in keinem einzigen Falle gefehlt.
Im übrigen beschränkten sich die Folgen darauf, daß hier und
da eine Retention von Haut- und Cerumenschollen verursacht
wurde, welche bei einigen Patienten im Laufe der Zeit mehrmals
Abhilfe forderte; bei Eiterungen erwuchsen in den 3 Fällen, in
welchen Exostosen bei noch bestehender Otorrhoe beobachtet wur-
den, keinerlei Störungen.
Nur ein einziges Mal führte das Vorhandensein von Exostosen
zu erheblichen Schwierigkeiten. Es handelte sich um einen Fall,
in welchem bei der Reinigung des Ohres ein Stück des benutzten
Zahnstochers in der Tiefe stecken geblieben war. Die Unter-
suchung ergab, daß von hinten-oben und von vom-unten her je
ein flacher Knochenauswuchs zu einer Einengung des Lumens
und zu einer Retention einer kleinen in die Tiefe gedrängten
Gerumenmasse führte. Der Fremdkörper war zunächst nicht zu
sehen, wohl aber eine Exkoriation der stark geröteten Haut auf
der hinteren Exostose, welche zu besonderer Vorsicht bei der Be-
handlung aufforderte. Nachdem die CerumenschoUe durch mehr-
maliges Ausspritzen beseitigt war, kam jenseits der Stenose der
eigentliche Fremdkörper zum Vorschein. Da er festgespießt war,
war er der Spritzflüssigkeit nicht gefolgt und mußte mit einer
Zange entfernt werden. Diese kleine Operation aber war bei der
Enge des Kanals und bei der ungemein großen Empfindlichkeit
der Exostosen gar nicht leicht ausführbar, zumal da zu jener
Zeit die Lokalanästhesie noch in den Kinderschuhen steckte. Der
junge Mann hat später nie wieder einen Zahnstocher zur Reini-
gung des Ohres benutzt und es vorgezogen, die öfters wieder
auftretenden Ansammlungen durch Ausspritzungen beseitigen zu
lassen.
Kann ich, zumal da verantwortlich zu machende chronische
Entzündungsprozesse im Mittelohr oder im Gehörgange der studen-
ArohiT f. Ohronheilknnde. 73. Bd. Festschrift 5
66 IX. BÜRKNER.
tischen Patienten keineswegs ungewöhnlich häufig zur Beobachtung
kamen, eine befriedigende Erklärung für das zahlreiche Vorkommen
von Exostosen nicht geben, so ist eine solche eher möglich für
die bereits erwähnte zweite Krankheitsform, welcher ich bei unseren
Studierenden so oft begegnet bin: für das rein nervöse Ohren-
sausen ohne Hörverschlechterung.
Schon bei einer anderen Gelegenheit ^ habe ich darauf auf-
merksam gemacht, daß dieses quälende Leiden, von dem ja geistig
Arbeitende oft befallen werden, bei Examenskandidaten besonders
häufig zu sein scheint, und ich habe schon damals die Juristen
als diejenigen bezeichnet, unter denen das „Sausen ohne Befund'^
geradezu in typischer Form auffallend verbreitet ist Unzweifelhaft
haben wir es hier in den meisten Fällen mit einer Teilerscheinung
allgemeiner Neurasthenie zu tun, unter welcher ja gerade unsere
Examenskandidaten so vielfach zu leiden haben.
Daß unter den 32 von mir beobachteten Fällen, in welchen
ein subjektives Geräusch der einzige Gegenstand der Behandlung
war, 14 Fälle waren, welche Juristen betrafen, halte ich nicht
für einen ZufalL Ich weiß zwar sehr wohl, daß auch unsere
juristischen Studenten heutzutage im Durchschnitte nicht mehr,
wie man ihnen es früher nachsagte, semesterlang ihre Studien
vernachlässigen, aber es ist mir auch ebensowohl bekannt, daß
selbst die fleissigsten unter ihnen, welche ihre Vorlesungen und
Übungen regelmäßig besucht und sogar auch zu Hause gewissen-
haft gearbeitet haben, es doch für notwendig erachten, in ihrem
letzten Semester Repetitorien über die Hauptfächer ihrer Disziplin
zu hören, welche sie zu einer sehr intensiven und in ihrer Art doch
meist ungewohnten Arbeit nötigen, wenn sie in wenigen Monaten
das höchst umfangreiche Pensum bewältigen wollen. Noch viel
mehr aber müssen sich natürlich diejenigen anstrengen, für
die das Repetitorium überhaupt den eigentlichen Anfang des
Studiums bedeutet. So treten denn die jungen Leute oft schon
erschöpft in ihre eigentliche Examensvorbereitung ein, und auch
die fleißigsten werden jetzt nur all zu oft von steter Furcht vor
dem Ausgange der Prüfung gequält. Dazu kommt dann bei sehr
vielen noch der Abusus von Alkokol und namentlich von Tabak,
durch welchen das Nervensystem noch weiter geschädigt wird.
Daß meine Erklärung für das häufige Auftreten des nervösen
Sausens bei Examenskandidaten undinsbesondere bei den juristischen
1) über die Behandlung der nervösen Ohrerkrankungen. Deutsche
mediz. Wochenschrift 1905 No. 3.
über Ohrenkrankheiten bei Studenten. 67
richtig sein muß, wird auch durch eine weitere Beobachtung
aus meiner Studentenpraxis erhärtet: unter den ältesten Semestern
kommt auch Heufieber auffallend oft vor ; und auch bei dieser zum
guten Teile auf neurasthenischer Basis zur Entwicklung kommenden
Krankheit, die ich übrigens selten mit Ohrerscheinungen verknüpft
gefunden habe, stellen die Juristen das Hauptkontingent.
Außerdem war in einzelnen Fällen, welche jüngere Semester
betrafen, mit großer Wahrscheinliehkeit die unregelmäßige Lebens-
weise, insbesondene übermäßiger Tabak- und Alkoholgenuss für
das Ohrensausen verantwortlich zu machen; auch ließ es sich
wiederholt feststellen, das die subjektiven Geräusche nach jeder
Kneiperei an Intensität zunahmen.
Um auf die nervösen Geräusche etwas näher einzugehen, so
will ich noch erwähnen, daß es sich meist um hohe Töne: „Klingen^,
„Pfeifen^, „Quietschen'^ handelte und daß diese Sensationen ent-
weder kontinuierlich waren oder auch vorwiegend nur bei der
Arbeit auftraten, bei der sie in fast sämtlichen Fällen in erheb-
lichem Maße an Jntensitat zunahmen. Meist waren beide Ohren
befallen oder wurde das Geräusch im ganzen Kopfe wahrgenommen;
jedenfalls gehörte einseitiges Sausen zu den Ausnahmen. Natür-
lich zähle ich in der Bubrik des nervösen Sausens nur diejenigen
Fälle, in welchen objektiv und funktionell an den Gehörorganen
keine Veränderungen nachweisbar waren; diese aber waren be-
stimmt zu mindestens Dreivierteln neurasthenischer Natur, und ein
erheblicher Teil der Kranken stand auch gleichzeitig in Be-
handlung der medizinischen oder der psychiatrisch-neurologischen
Klinik.
Kurz erwähnen möchte ich noch, daß bei den Ohrerkrankungen
der Studenten die Syphilis nach meinen Erfahrungen eine geringe
Rolle spielt. Ich habe nur 17 Fälle gesehen, in welcher mit mehr
oder weniger Sicherheit eine Mittelohraffektion oder eine Krank-
heit des inneren Ohres auf eine spezifische Jnfektion zurück-
geführt werden konnte; unter ihnen auch zwei Fälle von nervösem
Sausen. Auch unter den Nasen- und Bachenpatienten waren ver-
hältnismäßig wenige von Lues befallen. Öfters kamen Jünglinge zur
Untersuchung durch ihr schlechtes Gewissen getrieben, wenn eine
harmlose Angina die ärgsten Befürchtungen in ihnen erweckt hatte.
Zum Schlüsse habe ich noch der bei Mittelohreiterungen be-
obachteten Komplikationen zu gedenken.
Letal verlief nur ein Fall, aber auch dieser nicht infolge der
Otitis, sondern infolge von Typhus. Hingegen habe ich zwei
68 IX. BÜRKNER. Über Ohrenkrankheiten bei Studenten.
Fälle von intrakraniellen Komplikationen — und mehr habe ich
bei Studenten überhaupt nicht beobachtet — heilen sehen. Beide
fielen noch in die Zeit, in welcher Eingriffe in die Schädelhöhle
bei otitischen Komplikationen noch unbekannt waren. In dem
einen Falle bestand eine schwere otitische Meningitis noch akuter
Mittelohreiterung ohne äußerlich erkennbare Beteiligung des Warzen-
fortsatzes. Die Meningitis bestand noch fort, als die Mittelohr-
entzündung bereits geheilt war; aber auch sie hat üble Folgen
meines Wissens nicht hinterlassen, denn der damalige Patient ist
schon längst Professor. Im zweiten Falle kam es auf Grund einer
früher von mir behandelten chronischen Otitis media zu Sinus-
phlebitis und Pyaemie. Ich sah den Kranken in diesem Zustande
nur einmal im Wohnorte seiner Eltern und hatte später die Freude
mich zu überzeugen; daß meine relativ nicht ungünstig gestellte
Prognose «ich bewährt hat. Auch die nach meinen Vorschriften
sor^ältig behandelte Ohreiterung war ausgeheilt.
X.
Ein Fall von otogenem eztradüralem Abszess*
Von
Prof. A. Trinietti in Neapel.
Unter den vielen veröffentlichten Fällen dieser Erkrankungs-
form dürfte folgender, aus meiner Privatklinik stammender, durch
den bei der Operation aufgedeckten Befund auf einiges Interesse
Anspruch machen.
Ein erwachsener Patient, Soldat, sonst gesund und ohne erwähnenswerte
Belastung, erkrankte am 10. Dezember 1905 mit Ohrenschmerzen rechts und
bald darauf eingetretenem Ohrenfluß; ohne nachweisbaren Grund nahmen
die Schmerzen in den nächsten Tagen an Heftigkeit zu. Die Therapie be-
stand in reichlichen Auswaschungen und häufiger Anwendung von
Valsalvas und Politzers Verfahren. Ich untersuchte P. zum ersten
Male am 24. Februar 1906 und fand das rechte Trommelfell leicht gerötet,
trüb, eine kleine Perforation am untersten Segmente, woselbst Sekret an-
gesammelt war; Warzenfortsatz beim Druck leicht empfindlich. Patient
gibt heftige spontane Schmerzen an, in der Tiefe des Ohres. Sonst leichte
Fieberbewegung vorhanden, kein bedenkliches Aussehen, keine nachweis-
baren Gleichgewichtsstörungen. Die Schmerzen standen in keinem Verhält-
nisse zu dem aufgenommenen ßefunde, und ich dachte an das Vorhanden-
sein der gewöhnlichsten Komplikation, d. i. Mastoiditis, zu deren Entstehen
vielleicht die befolgte Therapie (Lufteintreibungen), vielleicht auch eine schon
bestehende Verdickung des Trommelfelles beigetragen haben mochte. — Von
einer Erweiterung der Perforation konnte man sich nicht viel versprechen und
ich riet zu Mastoidotomie. Inzwischen Ausschluß der Lufteintreibungen,
trockene Ohrbehandlung (Jodoformgaze), Rokaineinträufelungen während
der Schmerzanfälle. Letztere nahmen in den nächsten Tagen etwas ab^
wurden aber am 4. Tage nach der Behandlung wieder sehr heßig und traten
anf ausweise auf; zugleich wurde die Eiterung sehr kopiös und nahm eine
krümelige Beschaffenheit und graue Färbung an, wie bei Knochenabszessen.
Warzenfortsatz unverändert, Körpertemperatur eher subnormal. Der
Widerspruch in den Erscheinungen ließen den Verdacht an einen extra-
duralen Abszeß aufkommen, wiewohl die Möglichkeit offen stand, es
handle sich doch nur um eine Antrumentzündun^ mit leichter gewordenem
Aasflasse durch den Aditus, wie solche faktisch, ohne äußere Er-
scheinungen, häufig vorkommen. Endlich entschloß sich Patient, am
13. März zur Operation und zwar nachdem in der vorhergehenden Nacht
eine diffuse Schwellung hinter und oberhalb der Ohrmuschel sich ge-
70 X. TRIFILETTL Ein Fall von otogenem extraduralem Abszeß.
zeigt hatte. Der Sitz der Schwellung, ihr spätes Auftreten bekräftigten den
Verdacht an eine exstradurale Eitersammlung in der mittleren Schädelgrube.
14. März : Oi)eration. Chloroformnarkose. Weichteile stark infiltriert, Periost
blutreich, kein Eiter daselbst; Meißel Operation am Orte der Wahl; Kortikalis
sehr hart, von kleinen Zellen durchsetzt, die wohl blutreich aber nicht
eitrig belegt waren. Antrum tief liegend und klein, enthält einige Tropfen
Eiter, der dünnflüssiger als das Sekret im Gehörgange sich zei^. Dieser
Umstand deutete auf einen zweiten tieferen Eiterherd, und so drangen wir
vorsichtig mit scharfen Löffeln weiter vor nach oben und hinten und er-
öffneten an zwei Stellen die Kortikalis interna, aus welchen sehr reichlich
weißlicher, lufthaltiger Eiter unter Druck herausfloß. Nach Erweiterung
der Knochenlücke und Abtupfung des Sekrets konnte man die rotbläulich
glänzende Dura in der Tiefe pulsieren sehen, und die vorsichtig tastende
Sonde konnte ziemUch weit herumgeführt werden. Da wurde Patient
apnoisch und wir mußten eiligst die Operation schließen, und zwar nach
Reinigung der Dura mit Jodoformtupfem und lockerer Tamponade, die
das Antrum nach innen nicht überragte. Nach 24 Stunden, beim Verband-
wechsel, fanden wir zu unserer Verwunderung wieder viel Eiter aus der
Tiefe hervorquellend, jedoch weniger weiß und dicklicher als am Operations-
ta^e, was die Annahme bekräftigte, es handle sich immer um dieselbe Eiter-
honle, deren Sekret günstig beeinflußt werde; zugleich fanden wir aber am
Seitenwandbeinhöcker eine phlegmonöse Steile. Am nächsten Tage, als wir
durch letztere Erscheinung bestimmt, alle Vorbereitungen zu einem zweiten
Eingriffe getroffen hatten, fanden wir die Operationshöhle rein und ohne
Sekret. Wir beschränkten uns daher auf Spaltung der Parietalschwellung,
die aus einer umschriebenen subperiostalen Eiteransammlung bestand.
Der weitere Verlauf entsprach unserer Erwartung; die umschriebene
Phleffnaone verheilte rasch. Nach zwei Monaten war der Kranke geheilt
und blieb auch so.
Daß unser Verhalten in den verschiedenen Momenten des
Krankheitsverlaufes gerechtfertigt war, geht aus dem Ganzen
ohne weiteres hervor; wir wollen jedoch anknüpfend einige all-
gemeine Betrachtungen zusammenfassen, ohne jedoch bindende
Schlüsse ziehen zu wollen: •
1. Wir glauben in unserem Falle ist der extradurale Abszeß
nicht als Nebenerscheinung im Vergleiche zu dem sonstigen
Befunde, wie er sich gewöhnlich gestaltet, aufzufassen; vielmehr
war derselbe prädominierend und gleichsam primär mit der
Otitis media pur. verlaufend, was vielleicht durch die un-
zeitig angewendeten mechanischen therap. Maßnahmen be-
dingt war.
2. Zugegeben die schwierige Diagnose von derlei Abszessen,
ist in unserem Falle durch genaue Erwägung der Krankheits-
erscheinungen die Möglichkeit erwiesen, daß man sich der
Diagnose nähern kann.
3. Wenn es auch richtig ist, daß das einzuschlagende
Verfahren von dem Operationsbefunde abhängt, so ist es ge-
wiß erfreulich, durch die wenig eingreifende, segensreiche
Schwartze'sche Operation eine so gefährliche Komplikation be-
wältigt zu haben.
XL
Ober den Verlauf der peripheren Fasern
des Nenras Cochleae im Tnnnelranm.
Vorläufiger Bericht
von
Prof. E. Kishi,
Prof. a. d. med. Hochschule zu Tachoku auf Formosa (Japan).
Während andere Teile feiner Struktur am Cortischen Organ
mehrfach Bearbeiter gefunden haben, hat die Forschung dem
Verlauf der peripheren Fasern des Nervus Cochleae im Tunnel-
raum seit langem keine Beachtung mehr zuteil werden lassen.
Viele Autoren, die sich mit diesem Gegenstand beschäftigten,
schlössen sich eng der Auffassung des um die Anatomie des
Gehörorgans hochverdienten Forschers Eetzius an; schon vor
diesem hatten Deiters, Loewenberg, Gottstein, Nuel,
Hensen und Lavdowsky den peripheren Verlauf des Nervus
Cochleae untersucht; er war aber der erste, der ihn richtig er-
kannte und eingehend beschrieb.
Nach Retzius^) verläuft der Tunnelstrang an der äußeren
Fläche der inneren Pfeilerzellen, nahe an deren Fuß, dicht über
dem Kern, und von diesem Strang gehen die radialen Tunnel-
fasem sich etwas hebend und fast gerade nach außen zwischen
die äußeren Pfeilerzellen ab. Außerdem fand Retzius bei der
Katze Faserzüge, die sich von dem Tunnelstrang aus zum Tunnel-
boden senken und sich etwa an der Grenze der Fußplatten der
inneren und äußeren Pfeilerzellen anheften, hier zuweilen ent-
1) Retzius, Das Gehörorgan der Wirbeltiere. Bd. II. Stock-
holm 1884.
72 XL KISHI.
weder den gaozen oder einen akzessorisch spiralen Zug bilden
und sich dann wieder heben, um zwischen den äußeren Pfeiler-
zellen radial zu den Deiterschen Zellen zu treten.
Genauer wurden dieselben Nervenfasern schon einmal von
mir untersucht. Ich sagte damals: ^die Form und Größe des
Tunnelstrangs ist nicht nur bei den verschiedenen Tieren etwas
voneinander verschieden, sondern auch in der Gegend der
Schneckenwindung eines und desselben Tieres oft ungleich. Ich
fand auch bei Hunden und Kaninchen zuweilen noch einige
kleine Züge, die unterhalb des großen Hauptzuges lagen. Über
die radialen Tunnelfasern schrieb ich folgendes: ^ Diese Fasern
laufen bei Kaninchen und Meerschweinchen gewöhnlich ein
kleines Bündel bildend durch den Tunnelraum gerade nach außen,
oder indem sie sich etwas erheben, zu den Spalten zwischen den
äußeren Pfeilerzellen. Nicht häufig laufen sie, wie bei anderen
Tieren, z. B. Hund und Katze, absteigend nach dem Tunnelboden,
oder nach der Fußplatte der äußeren Pfeilerzellen. Femer findet
sich bei Hund und Katze am Boden des Tunnels, wie Fig. 3
und 5 T. b. S. zeigt, ein spiraler Zug, den Betzius schon bei
der Katze zuerst beschrieben hat.^
Unsere Kenntnis des Tunnelstrangs und der radialen Tunnel-
fasern steht also seit Deiters noch auf schwankendem Boden.
In der Literatur zeigen die Endnervenfasem im Tunnelraum bei
den verschiedenen abgebildeten und beschriebenen Präparaten
stets ein verschiedenes Bild. Unsere Ermittelungen über den
Grund dieser Abweichungen haben mich, nachdem ich alle
Fixierungsmethoden, die bisher zur Anwendung gelangt waren,
ausprobiert hatte, zu der Überzeugung geführt, daß diese Ab-
weichungen nur auf dem Unterschied der angewendeten Fixierungs-
mittel zurückzuführen sind. Im Tunnelraum können über-
haupt sogenannte radiale Tunnelfasern nicht vor-
handen sein, und die Endnervenfasern des Nervus
Cochleae müssen im Tunnelraum immer auf dem
Tunnelboden entlang verlaufen. Die bisher von ver-
schiedenen Autoren beschriebenen oder gezeichneten radialen
Tunnelfasem sind nichts anderes als ein Kunstprodukt, hervor-
gerufen durch Schrumpfung und Ablösung der Nervenfaserschicht
vom Tunnelboden. Faserzüge auf dem Tunnelboden, wie sie von
1) Kishi, Über den peripheren Verlauf und die Endigung des Nervus
Cochleae. Archiv für mikroskopische Anatomie und Entwickelungsgeschichte.
Bd. 59. 1901.
über den Verlauf d. peripheren Fasern d. Nervus Cochleae im Tunnelraum. 73
Setzius und von mir beschrieben worden sind^ habe ich jetzt
noch bei manchen Präparaten gefunden. Die sogenannten
radialen Tunnelfasem bestehen zuweilen nur aus einigen
Fäserchen, und zwischen diesen und dem Tunnelboden sind
feine Nervenfasern spinnengewebeartig ausgespannt. Nicht selten
auch habe ich bei gut gelungenen Präparaten gefunden, daß in
einer Strecke der Schneckenwindung keine sogenannten radialen
Tunnelfasem zu finden sind, auf dem Tunnelboden dagegen sich
eine deutlich sichtbare Nervenfaserschicht befindet. Ich glaube
demnach behaupten zu dürfen, daß im Tunnelraum die
peripheren Nervenfasern des Nervus Cochleae nur
am Tunnelboden entlang verlaufen, nie frei im
Tunnelraum, und daß die sogenannten radialen Tun-
nelfasern nur durch die Ablösung der Nervenfasern
vom Tunnelboden entstehen können.
Eine weitere eingehende Mitteilung hierüber wird später in
einer erschöpfenden Darstellung gemacht werden.
XII.
Aus der Kgl. Üniversitäts-Ohrenpoliklinik in München
(Prof. Dr. Hang).
Beiträge znr Kasuistik nnd patholog, Anatomie der Neu-
bildungen des äusseren Ohres.
Von
Rttd. Haag: in München.
Im Anschlüsse an meine früheren teils im Archiv für Ohren-
heilkunde, teils in Zieglers Beiträgen zur pathologischen Ana-
tomie erschienenen größeren Arbeiten möchte ich hier kurz über
einige von mir im Laufe der letzten Zeit beobachtete Fälle be-
richten.
I. Angio-myxom des Meatus.
Ein 36 jähriger Mann stellt sich vor mit der Angabe, er fühle seit ca.
einem halben Jahre bei dem Versuche der Reinigung des Ohres linkerseits
einen vorher nicht dagewesenen Widerstand; die Berührung sei zwar nicht
gerade schmerzhaft, doch immerhin unangenehm. Hie und da blute auch
as Ohr leicht, allerdings nur vorübergehend und meistens bei mechanischer
Reinigung. Auch sei das Hören gegen früher etwas beeinträchtigt. Erst
sei blos ein klemes Knöpf chen gewesen ; im letzten Monate sei das „Pinkerl'*
schnell gewachsen; so daß es seinem Inhaber Unruhe verursachte. Ohren-
krank sei er vorher niemals gewesen.
Die Untersuchung ergibt den linken Gehörgang nahezu völlig ausgefüllt
am Eingange mit einer prall gespannten, stark succulenten, glänzenden,
rosaroten, mäßig derben, consistenten, an keiner Stelle Fl uctuation aufweisenden
Geschwulst. Sie sitzt offenbar an der untern und hintern Wand auf und läßt
sich an der vorderen und oberen Wand mit der Sonde wegdrücken; ihre
Basis ist keine gestielte, sondern eine mehr breite. Besondere Empfindlichkeit
weist sie nicht auf. Die Form ist ungefähr die einer Bohne. Die functionelle
Prüfung ergab eine sehr leichte Herabsetzung der Hörfähigkeit, beruhend
auf einer Affection des Schalleitungsapparates.
Die Geschwulst wird mit der kalten Schlinge nach Anästhesierung des
Gehörgan^es durch Iniection mit Novocain-Suprarenin abgetragen und es
gelingt, sie in intoto herauszubekommen. Die Blutung ist eine verhältnis-
mäßig recht erhebliche und erfordert eine allerdings nur kurze Zeit dauernde
Tamponade.
Nach Sistierung derselben kann die Ursprungsstelle genau besichtigt
werden; es ist nun die ganze Hautlage des knorpeligen Meatus an der
hinteren und unteren Wand bis auf den Knorpel hinein abgeschnitten.
Beiträge zur Kasuistik u. patholog. Anatomie d. Neubildung, d. äuß. Ohres. 75
Auf einfache trockene Gazeeinlage heilt der Defekt innerhalb 10 Tagen
völlig tadellos aus, so daß an Stelle der Geschwulst nurmehr ein leicht roter
frischer Narbenfleck zu bemerken ist.
Das nun gut zu übersehende Trommelfell ist normal. Die damaligen
leichten Störungen sind total verschwunden.
Makroskopischer Befund:
Der kleine Tumor von der Größe und Form einer gut mittel-
großen Bohne weist auf seiner ganzen Oberfläche eine äußerst
verdünnte zarte Oberhaut auf, ähnlich der, wie sie sich bei den
Exostosen findet. Er fühlt sich mäßig weich an. Auf dem
Durchschnitt ist er lebhaft rot, mit gelblich rötlichen oder weiß-
lichen Stellen untermischt; er schneidet sich mittel weich und
gibt auf der Schnittfläche relativ viel sero-sanguinolente Flüssig-
keit ab.
Mikroskopischer Befund:
(Fixierung und Härtung in Formol; Färbung mit Hämato-
xylincarmin.)
Die Geschwulst erweist sich zunächst allenthalben von einer
dünnen Hautlage überzogen, in der man noch die Beste atro-
phisch gewordener Geruminaldrüsen stellenweise finden kann.
Die Papillarlage weist keinerlei dendritische Verzweigungen auf.
An sie schließt sich dann ein ausgedehntes Hohlraumsystem,
das zum größten Teil aus ziemlich dünnwandigen neuen Gefäßen
besteht; sie sind zum Teil stark erweitert. Zwischen diese Ge-
fäßpartien ziehen bindegewebige Scheidewände, teils schmal, teils
breiter.
Imra großen und ganzen ist dieses Septumgewebe nichts
anderes als einfache gewöhnliche Bindesubstanz.
An zwei breiteren, ziemlich mächtigen und auch an etlichen
kleinen Bindegewebestreifen jedoch läßt sich eine myxomatöse
Degeneration nachweisen. Es ist nicht allein die Bindesubstanz
gequollen, sondern wir sehen auch eine ziemliche Anzahl großer
schöner, vielfach verzweigter, zum Teil mit peitschenähnlichen
Fortsätzen versehener Zellen.
Wir werden also von diesem histologischen Bilde anzunehmen
haben, daß es sich um ein Angiom im wesentlichen handelt
mit partieller myxomatöser Veränderung des interstitiellen
Bindegewebes. »
II. Papilloma dendriticum meatus.
Em 22 jähriges Mädchen stellt sich vor mit der Angahe, sie empfinde
seit'etwa einem Jahre etwas haites im Gehörgange, das sie oft zum Kratzen
und Jucken veranlasse, worauf dann leichtes Bluten und hinterher Schmerzen,
76 XU. HAUG.
wenn auch nicht hochgradig, aufträten. Früher sei Ohreiterung vorhanden
gewesen, seit ^Ia Jahren sei nichts mehr bemerkt worden.
Die objektive Untersuchung ergibt:
Der Meatus des linken Ohres ist zum großen Teil verlegt durch ein
eigentümliches graurötliches Gebilde, das sich, einer kleinen Koralle ähnlich,
in dem knorpeligen Abschnitt befindet und in seiner Hauptsache gestielt
aufsitzend auf zwei Stämmen, von der untern Wand auszugehen scheint.
Die Berührung ist kaum empfindlich, jedoch blutet das Gebilde leicht In
die Tiefe läßt sich z. Z. noch nicht deutlich vorblicken, jedoch kann man
alten eingedickten vertrockneten Eiter wahrnehmen.
Die Hörfunktion ist wesentlich vermindert, indem die Flüstersprache
bloß auf 10 cm vernommen wird. Die Stimmgabelprüfungen ergeben ein
reines Schalleitungshindemis. Beim Politzem ein breites Perforationsgeräusch,
aber trocken, ohne Secretbeiklang.
Da Patientin dringend um Erleichterung ihres Zustandes, der ihr sehr
unangenehm zu sein scheint, bittet, wird sofort die Abtragung der kleinen
Neubildung mittels der kalten Schlinge vorgenommen. Es gelingt zunächst
leicht den einen größeren Teil abzuschnüren; jedoch ist die Blutung darauf
eine relativ recht bedeutende, so daß erst nach einer Viertelstunde, während
tamponiert und mit Suprarenin vorgegangen worden war, wieder an das
zweite Stück herangegangen werden kann. Dies hat sich nun aber durch
die Tamponade etwas verlagert und kann nur mit ziemlicher Mühe nach
verschiedenen Versuchen schlingengerecht fest gelegt und extrahiert werden.
Die Blutung ist hier eine geringere. Vorläufig wird bloß auf 24 Stunden
tamponirt, nach dem man sich überzeugt hatte, daß alles Elranke tatsächlich
entfernt worden war. Bei der Tags nach dem Eingriff vorgenommenen
Untersuchung konnten zunächst am Trommelfell die Residuen einer abge-
laufenen chronischen Mittelohreiterung nachgewiesen werden, in dem in der
vorderen unteren Partie eine ca. halolinsengroße rundliche, mit verdickten
Rändern versehene, trockene Perforation konstatiert wurde ; außerdem waren
noch Kalkflecke weiter oben zu sehen.
Des weiteren ließen sich z. T. die Ansatzstellen der Geschwülste deutlich
entdecken; es sind zwei kleine, rundliche ca. 8— 4 mm im JDurchmesser
habende, noch leicht über das Niveau herausragende, bei Berrührung wieder
blutende Stellen. Sie werden sofort einer gründlichen Vorätzung mit Tri-
chloressigsäure unterzogen.
Der weitere Verlauf war ein völlig glatter, indem sich nach Abstoßung
des Schorfes am 10. Tage alles schön vernarbt zeigte. Patientin war von
dem Erfolge sehr befriedigt, da sie nunmehr keinerlei Unannehmlichkeiten hatte»
Die makroskopische Untersuchung der zwei ent-
fernten kleinen Tumoren ließ sie als graurötliche, ganz eigenartig
wie Korallen oder Baumzweige sich verästigende, sich mäßig derb
anzufühlende, an der Oberfläche leicht drusig gerauht anzusehende
Exkreszenzen erkennen.
Bei dem Durchschnitt ergibt sich eine ziemlich derbe Resi-
stenz ; Gewebeflüssigkeit gering. An der Peripherie ist die Farbe
eine dunklere, graurötliche bis graue, in den mittleren Partien
weißrötlich.
Mikroskopische Untersuchung.
(Fixierung in Alkohol mit Eisessig; Härtung in Alkohol;
Färbung mit Hämatoxylincarmin; Lithioncarmin mit Pikrin-
alkohol.)
Beitrage zur Kasuistik u. patholog. Anatomie d. Neubildung, d. äuß. Ohres. 77
Zunächst finden wir an der Peripherie eine starke Ent-
wickelang des Oberhautlagers, indem sich die Papillen als sehr
lange und tiefe, dabei aber zumeist nicht breite Zapfenstreifen in
die Tiefe senken, selten einfach verlaufend, sondern zumeist viel-
fach oder mehrfach verzweigt, dendritisch. Dadurch entsteht
nicht selten eine Art eines tief lappigen Baues.
Die dunkleren Partien ergeben sich als starke pigmentierte
Retezellen, die fast regelmäßig laufend, einen ganzen Saum
bilden.
Zwischen den Papillen schieben sich verhältnismäßig zahl-
reiche und große Gefäße durch und das Bindegewebe ergibt sich
als eine größtenteils fibrilläre, mäßig zahlreiche Bindesubstanz
ohne irgendwelche Besonderheit.
Diesem mikroskopischen Befund gemäß werden wir berech-
tigt sein, die vorliegende Neubildung als ein Papilloma den-
driiicum des Meatus anzusprechen, das vorläufig noch nicht
die Tendenz der Malignität trägt, immerhin aber, bei längerem
Bestände, möglicherweise eine Metapasie ins Carcinomatöse hätte
erreichen können. Eigentümlich ist auch die an diesem Orte
nicht gewöhnliche Pigmenteinlagerung.
Bezüglich des Entstehens des kleinen Neoplasmas dürfte die
eiterige chronische Mittelohreiterung durch den seinerzeitigen per-
manenten Reiz der Gehörgangswandung ätiologisch wirksam ge-
wesen sein. Vielleicht wäre auch denkbar, daß, von der Patientin
bisher unbeachtet, ein kleiner naevusähnlicher Fleck an der Wand
saß, von dem aus durch die Beizung die Bildung ihren Anstoß
nahm; am ehesten würde sich dadurch zwanglos auch das Vor-
handensein der pigmentierten Zellen erklären lassen. Anam-
nestisch war aber, wie gesagt, nichts in dieser Beziehung zu
eruieren.
Daß trotz der relativen Dicke der Hautlager so leicht
Blutungen auftraten, bei mechanischer Läsion, hat möglicher-
weise seinen Grund darin, daß die einzelnen kleinen Sprossen
leicht abgerissen oder wenigstens eingerissen werden konnten und
so zu den Gefäßen den Zutritt gaben.
XIIL
Labyrintherscheinnngen w ä h r e n d der Ohroperationen.
Von
Rudolf Panse in Dresden-Neustadt.
Die Frage der vom Ohre ausgehenden Gleichgewichtsstörungen
ist durch eine unendliche Fülle von Tierversuchen, die von Stein
bis zum Jahre 1893 zusammenstellte, durchforscht worden. Erst
viel später fing man an die Beobachtungen an Kranken zur Klärung
der schwierigen Verhältnisse planmäßig zu benutzen. Als ich im
Jahre 1901 über den Gegenstand auf der Versammlung der deutschen
otologischen Gesellschaft sprach fand ich nur wenig Teilnahme.
Seitdem ist er nicht wieder aus den Fachschriften und Versamm-
lungen verschwunden. Es ist aber aus einer Quelle wichtigster
Erkenntnis bisher nur ganz wenig geschöpft worden, das ist die
Beobachtung der Kranken während der Operation.
Ich habe 5 Fälle von Labyrinthbeteiligung, während der Frei-
legung der Mittelohrräume, beobachtet, allerdings die ersten nicht
mit der Genauigkeit wie die letzten. Zweck dieser Zeilen ist auch
die Aufmerksamkeit der Halleschen Klinik auf diesen Punkt zu
lenken.
1. ßobert S. 1./2. 94. 24 Jahre alt. Aufmeißelung links. Kolossale
Weichteilblutung, Knochen hart und sehr blutreich, linea temporalis sehr
stark ausgeprägt, ebenso laterale Kuppelwand. Aufmeißelung von vom, sehr
kleines Antrum. Amboß cariös, am langen Schenkel reichliche Granu-
lationen, in der Pauke Plattenepithel von weißer Farbe. In der Stapes-
gegend werden die Granulationen gelassen. Beim Freilegen der hinteren
ohle springt ein etwa V» cm großes Knochenstück mit einem rinnen-
förmigen Teil des äußeren Bogenganges ab, die Richtung ist etwa 60® zur
wagerechten. Er ist außergewönlich weit nach außen gewölbt, mit sehr
dünner Knochenschale versehen. Beim ersten Verbandwechsel wird der
Kranke plötzlich mit großer Kraft auf die rechte Seite geworfen; er
empfindet Drehung des Bettes nach der linken Seite. Beim Blick nach
rechts stets Nystagmus derart, daß der Augapfel schnell von links nach
Labyrintherscheinungen während der Ohroperationen. 79
rechts zuckt und langsam nach links zurückgeht, etwa 2 mal in der
Sekunde.
2. Hermann H., 30 Jahre. 19./6. 00. Rechts normale Weichteile, etwas er-
weiterte Gefäßlocher, Durchbruch der Hinterwand, verkästes Cholesteatom
mit Granulationen wird ausgeräumt. Eine Fistel von etwa Linsengröße
■ wird freigelegt mit käsigem Cholesteatom drin. Stärkerer Druck mit einem
spitzen Wattetampon stellt den Bulbus etwa eine Minute lang in den nasalen
Winkel. Bei ganz leichtem Tupfen Nvstagmus wie tags vorher bei Druck auf
den Tragus, schnell zuckend nach reents, langsam nach links zurückkehrend.
3. 23./6. Ol. 12 jähriger. Aufmeißelung rechts. Normale Weichteile.
Nach wenigen Schlägen Fistel in der Kortikalis freigelegt, die in eine Höhle
mit entsetzlich stinkendem Cholesteatom und Eiter führt. Der äußere Bogen-
gang liegt weit frei, beim Abtragen der Uinterwand (mit flachem geraden
Meißel, also wohl mit dessen Ecke) wird ein Stück aus dem Bogengang
herausgeschlagen. Es ist fraglich, ob eine Fistel da war, da ganz nahe dabei
Granulationen und mehrere rundliche Höhlen in der Richtung des äußeren
Bogenganges vorhanden waren von Hanfkomgröße mit Cholesteatom darin.
Sinus und Dura nirgends frei, von Gehörknochen nichts mehr da. Sofort
nachdem der Defekt im Bogengang bemerkt wurde, Nystagmus, auch am
folgenden Tage mit schnellen Schlägen nach links, langsamen nach rechts.
4. LudwigF. 10./12.04. 67 J. 29./10. Influenzeiterung links, 9./12. Schwindel,
10. sehr stark und Erbrechen. Normale Weichteile, erweiterte Gefäßlöcher.
Beim ersten Meißelschnitt quillt unter Druck Eiter hervor. Knochen sehr weich,
ein etwa 5 Pfennigstück großes, zackiges, lockeres Enochenstück mit matschen
Granulationen wird entfernt. Beim Tupfen in der Gegend des absteigenden
Schenkels des äußeren Bogenganges tritt der Bulbus jedesmal langsam in die
Stellung nach rechts und bleibt dort stehen solange der Druck dauert Hört
dieser auf, so geht er langsam ohne Zucken wieder zurück. Eine, soweit das
Blut gestattet, als glasigschleimig, nur undeutlich erkennbare Stelle scheint der
geöffnete Bogengang zu sein. Lockere Jodoformborsäure — Gaze — Tamponade.
5. HansA. 2./ 10. 05. 13 Jahre. Bei akuter Eiterung links I./IO. Erbrechen,
Schwindel: Umgebung geht rechts und links, ab und zu. Weichteile normal,
Knochen weich, stark blutend. Zellen erstrecken sich nach dem Hinterhaupt zu.
Beim Sondieren in den Gehörgang und im Antrum gehen die Augäpfel wie mit
der Sonde geschoben nach rechts weg und kommen beim Wegnehmen zurück.
Dabei bleibt oft der rechte Bulbus stehen, sodaß beide in äußerster
Divergenz sind. Pupillenspiel unsicher. Auch keine deutlichen Bewegungen
nach unten und oben. Starke Blutung des Knochens verhindert deutlich zu
sehen, ob Fenster oder Bogengang offen war. Adrenalin absichtlich nicht
verwendet. Überall im aditus matsche Granulationen und Eiter. Granu-
lationen und einige Sequester aus dem zu Walnußgröße ausgehöhlten Warzen-
fortsatz entfernt. Sonde in den aditus geschoben und alles lateral davon
befindliche weggenommen fast ohne Meißel nur mit der Knochenzange;
Dura freiliegend. Nystagmus tritt bei Druck auf den Amboß oder dessen
Gegend auf. Ganz lockere Tamponade. Danach steht der linke Bulbus
nach außen, der rechte normal in der Mitte und nach oben.
Die wenigen Fälle beweisen, welche fesselnde Erscheinungen
wir bei der Freilegung der Mittelohrrräume beobachten können;
bei Druck auf den Bogengang meist Abweichen der Augäpfel
nach der gesunden Seite, aber in ganz verschiedener Weise, bald
zuckend, bald langsam, bald hart in die Ecke eingestellt, bald beide
Augäpfel verschieden. Beobachtungen aller dieser Erscheinungen
werden uns in der Kenntnis der Labyrinthverrichtungen fördern
und, wenn genau beobachtet vor gefährlichen Verletzungen bis
zu einem gewissen Grade schützen. Sie treten eben so sicher ein
wie Zucken des Gesichtsnerven bei seiner Berührung.
XIV.
Ober subjektive echoartige Gehörserscheinnngen (Doppelt-
hören, Diplakusis, Diplakasis echotica).^)
Von
Tietor Urbantsehitseh in Wien.
Die Erscheinung, daß sich ein Gehörseindruck unmittelbar nach
seiner Erregung subjektiv wiederholen kann, ist längst bekannt.
Sie wurde in den bisher beobachteten vereinzelten Fällen zumeist
auf Veränderungen in der Schalleitung bezogen. In meiner Ab-
handlung : Über das An- und Abklingen akustischer Empfindungen '^)
habe ich angenommen, daß ein verspätetes Anklingen akustischer
Empfindungen am schwerhörigen Ohre eine verspätete Schall-
empfindung und dadurch eine echoartige Erscheinung bedingen
könne; auch Kayser betrachtet eine verzögerte Gehörsempfindung
als Ursache der Diplakusis echotica am erkrankten Ohre. Wie
ich jedoch erneuten Untersuchungen entnehme, werden subjektive
echoartige Gehörserscheinungen sowohl am schwerhörigen, als
auch am gesunden Ohre keineswegs selten angetroffen, jedoch
gewöhnlich nicht beachtet und erst dann wahrgenommen, wenn
die Aufmerksamkeit darauf gerichtet wurde oder wiederholte Ver-
suche stattgefunden haben. Selbstverständlich hat man sich dabei
vor jeder suggestiven Einwirkung zu hüten. Dem Phaenomen des
subjektiven Wiederhörens liegt, meiner Untersuchung zufolge, ein
psycho-physiologischer Vorgang zu Grunde, der den akustischen
Gedächtnisbildern beizuzählen ist. Es entspricht dies der optischen
Erscheinung, daß ein unmittelbar vorausgegangener Gesichtseindruck,
1) Kayser, Intern, medizin. Kongreß, Berlin 1S90.
2) Pflüg ers Archiv 1881, Bd. 25. S. 325.
über subjektive echoartige Gehöi'serscheinungen. 81
nach Verschluß der Augen, oder im dunklen Baume subjektiv
wiederauftreten kann. Wie die Erfahrung lehrt, können die ver-
schiedenen pathologischen Zustände des Ohres, vielleicht durch
Veränderung des Gehöreindruckes, durch Ausschaltung anderer
störender Gehörseindrücke, hie und da echoartige Erscheinungen
auffällig hervortreten lassen und da die genannte Erscheinung
bisher nur in solchen Fällen zur Beobachtung gelangte, wurde
sie überhaupt für pathologisch aufgefaßt, während, meiner An-
sicht nach, nur das besonders starke Auftreten der echoartigen
Erscheinung und nicht diese selbst als ein besonderes Phaenomen
anzusprechen ist, sowie in ähnlicher Weise die vonNussbaumer^),
von Bleuler und Lehmann 2) sowie vielen Andern beschriebenen
subjektiven Farbenempfindungen bei Erregung anderer Sinnes-
empfindungen, meinen 3) Untersuchungen zufolge als physiologische
Erscheinung aufzufassen sind, wobei nicht das Auftreten von
Photismen überhaupt, sondern nur das auffällige Hervortreten einer
bestimmten Farbe als ein besonderes Phaenomen zu betrachten ist
Die echoartigen Erscheinungen zeigen in der Art und Weise
ihres Auftretens mannigfache Verschiedenheiten, wie sich dies aus
den im Nachtrage angeführten 10 Fällen meiner Beobachtung
ersehen läßt. Manche Personen, die am Beginn des Versuches
keine echoartige Erscheinung aufweisen, beobachten eine solche
nach wiederholten Versuchen; ein andermal wieder ist die Er-
scheinung anfänglich nur auf einzelne Buchstaben, besonders auf
Zischlaute oder Vokale (Fall 7 und 9) beschränkt, tritt aber später
auch bei Wörtern ein. Zuweilen erregt das einmalige Hören eines
Wortes für dieses kein Gedächtnisbild, während ein solches statt-
findet, wenn dasselbe Wort öfters, rasch nacheinander vorgesprochen,
wird, (s. Fall 9). In gleicher Weise bedarf auch ein optisches
Gedächtnisbild zu seiner Entstehung nicht selten einer wiederholten
Gesichtserregung. Zuweilen bleibt die echoartige Erscheinung auf
Teile des vorsgeprochenen Wortes, besonders auf die Endsilbe
beschränkt, so ergab im Falle 4 a das Wort „Nase'' nur für „se''
die echoartige Erscheinung, das Wort „Licht" nur für „cht'', die
Wörter „Tisch" oder „Fisch" nur für „seh" (4 c und 10). Es kann
dabei auch eine Änderung des Wortes selbst erfolgen, wie im
Falle 4 c wo „Strasse'* als „Rasse" subjektiv wiedergehört wurde.
1) Mitteil. d. ärztl. Ver. in Wien, 1873, No. 5.
2) ^Zwangsmäßige Lichtempf. durch Schall'' etc. Leipzig 18S1.
3) „Über den Einfluß einer Sinneserregung auf die übrigen Sinnes-
empfmdungen", Pflugers Archiv 1888, Bd. 42.
Archiv f. Ohrenheilkande. 73. Bd. Festschrift. 6
82 XIV. ÜRBATSCHITSCH.
Von einem zweisilbigen Worte erscheint mitunter die erste Silbe
an dem einen Ohre, die zweite an dem anderen Ohr subjektiv
wieder. Im Falle ergab das Wort „Polster" [am [linken Ohre
^polst'^ als echoartige Erscheinung, am rechten Ohre dagegen
„ster'' ; bei einem 2. Versuch vernahm das linke Ohr zuerst „pols",
dann „polster" subjektiv wieder. Auch im Falle 3 wurde die
1. Silbe des Wortes rechts, die 2. links wiedergehört.
Versuche mit ganzen Sätzen ergeben bald ein den vollständigen
Satz umfassendes Gedächtnisbild, bald wieder ist dieses auf ein
einzelnes Wort, gewöhnlich auf das letze Wort beschränkt. Bei
der echoartigen Erscheinung des ganzen Satzes, kann dieser auf
dem einen oder anderem Ohr wieder auftreten (s. Fall 6), oder
aber die einzelnen Worte werden abwechselnd mit dem rechten
oder linken Ohre, zuweilen auch mit beiden Ohren gleichzeitig
gehört. In diesem letzten Falle ertönt das eine Wort gleichzeitig
im rechten und linken Ohr subjektiv wieder, oder es zeigt sich für
dieses Wort ein im Kopfe gelegenes subjektives Hörfeld, eine Er-
scheinung, die auf ein diotisches Hören bezogen werden kann^).
Im Falle 4e wurden von den drei Worten eines Satzes das 1. Wort
am linken Ohr wieder gehört, das 2. Wort mit beiden Ohren,
das 3. am rechten Ohre; im Falle 7b das 1. Wort rechts, das
2. in der Mitte des Kopfes, das 3. Wort links. Dabei gelangen
die einzelnen Worte nicht immer rasch nacheinander ins Gedächtnis-
bild, sondern sie folgen in einem Zeitraum von mehreren Sekunden
aufeinander. Dies zeigt sich manchmal auch in solchen Fällen,
wo mehrere Worte an demselben Ohr subjektiv wiedergehört werden.
Im Falle 4 a gelangten von den Worten „die Lampe" das Wort
„die" binnen 1 bis 2 Sekunden ins Gedächtnisbild, das Wort „Lampe"
dagegen erst nach 10 bis 15 Sekunden. Die echoartige Erscheinung
bleibt häufig auf die einmalige Wiederholung einer Silbe, eines
Wortes oder Satzes beschränkt, kann jedoch in einzelnen Fällen
mehreremal hintereinander auftreten. In den Fällen 3 und 4 a er-
folgte die echoartige Erscheinung zweimal nacheinander; ich habe
aber bei einigen Personen eine häufige Wiederholung dieser Er-
scheinung vorgefunden. Dabei tritt die Wiederholung entweder an
demselben Ohre auf, oder am anderen Ohr, oder aber das Echo
wird aus weiter Entfernung vernommen.
Die echoartigen Erscheinungen betreffen bei beiderseits gleichem
Gehör, bei den wiederholt angestellten Versuchen bald beide Ohren,
1) Siehe darüber: Über das subjektive Hörfeld, Pflüg. Arch. 1881, B. 24
und: Über die Lokalisation der Tonempfindungen, ibid. 1904, B. 101.
über subjektive echoartige Gehörserscheinungen. 83
bald mehr das rechte oder linke Ohr. Bei ungleicher Hörfahig-
keit findet sich das akustische Gedächtnisbild entweder vorzugs-
weise oder ausschließlich am besserhörenden (2, 5, 6), oder am
schlechterhörenden Ohre (6, 7 b) vor, oder aber abwechselnd auf
dem einen und anderen Ohre. Sind beide Ohren an der echoartigen
Erscheinung beteiligt, so erfolgt das subjektive Wiederhören des
Wortes oder eines Teiles dieses, bald auf dem einen, bald auf
dem anderen Ohre, doch kann die Erscheinung auch an beiden
Ohren zugleich auftreten. Im Falle 1 a wurde das ausgesprochene
Wort noch einige Sekunden in der Weise subjektiv wieder ge-
hört, daß es in beiden Ohren gleichzeitig auftrat und hierauf vom
Ohr gegen die Stime lokalisiert wurde, wo es für beide Ohren
gemeinschaftlich ausklang. — Findet die Schallzuleitung nur zu
einem Ohre statt, so gibt sich die echoartige Erscheinung bald
nur auf diesem Ohre zu erkennen (2, 3, 4 a, 4 b, 6, 8), bald auf
beiden Ohren (la, 2, 4 c), bald auf dem entgegengesetzten Ohre
(Ib, 2, 3, 4 b, 4 c, 4d). Wenn im Falle 4 b und 7 c in das schlecht-
hprende Ohr ein Satz gesprochen wurde, blieb das akustische Ge-
dächtnisbild auf dieses Ohr beschränkt, während vom guthörenden
Ohre aus, wie früher angeführt wurde, ein Überwandern in das
andere Ohr erfolgte. Das gekreuzte Auftreten der echoartigen Er-
scheinung am entgegengesetzten Ohr fand sich in einigen Fällen
auffällig ausgeprägt vor (1, 2, 4d). Wenn von zwei verschiedenen
Worten das eine ins rechte und gleichzeitig das andere ins linke
Ohr gerufen wurden, so fand die Lokalisation der echoartigen Er-
scheinung für das ins rechte Ohr gerufene Wort in der linken
Kopfhälfte, für das in linke Ohr gerufene, in der rechten statt.
Es zeigte sich bei diesen Versuchen zu wiederholtenmalen, daß
die bei gleichzeitigem Hineinsprechen in beide Ohren nicht ver-
standenen Wörter erst im Gedächtnisbilde erkannt wurden, wie in
ähnlicher Weise zwei dem Ohre gleichzeitig zugeführte unharmo-
nische Töne, die als konfuses Tongewirr gehört werden, in der
Nachempfindung getrennt auftreten können und damit erst nach-
träglich bestimmbar sind.
Vergleichsweise Prüfungen mit Sprach- und musikalischen
Tonen ergaben betreffs der akustischen Gedächtnisbilder nicht
immer übereinstimmende Erscheinungen. Während die Sprach- und
musikalischen Töne in manchen Fällen an demselben Ohr sub-
jektiv wiederauftreten (1, 3, 6, 7 b), erweist sich deren Lokalisation
1) Pflügers Arch. 1881, B. 24.
6
84 XIV. URBANTSCHITSCH.
ein andermal verschieden, so daß die Sprachtöne vorzugsweise
oder ausschließlich an dem einen Ohr, die musikalischen Töne
dagegen am anderen Ohr subjektiv wiedergehört werden (1, 3j.
Im Falle 4 c wurden sogar die echoartige Erscheinung oder ver-
schiedene Arten von musikalischen Tönen ungleich lokalisiert u. zw.
vernahm das rechte Ohr Stimmgabeltöne und die Töne angeschlagener
Metallstäbe subjektiv wieder, nicht aber die Töne der Galtonpfeife,
die regelmäßig nur am linken Ohre wiederauftraten. Im Falle 2
erfolgte die echoartige Erscheinung für Sprachtöne regelmäßig zu-
erst am linken, dann am rechten Ohre, hingegen für musikalische
Töne umgekehrt zuerst rechts, dann links. Auch die Lokalisation
des Gedächtnisbildes im Ohr oder im Kopf kann sich verschieden
verhalten; beispielsweise wurde die echoartige Erscheinung im
Falle 7 b, bei der Schallzuleitung zum linken Ohr, für Sprach-
laute ins linke Ohr verlegt, für musikalische Töne in die linke
Scheitelgegend, während bei der Schallzuleitung zum rechten Ohre
bald dieselbe Verschiedenheit in der Lokalisation, wie auf der
linken Seite bestand, bald wieder auch die musikalischen Töne
ins rechte Ohr lokalisiert wurden.
Das echoartige Wiederhören eines Wortes kann von einer
diesem Worte zukommenden Mitbewegung der Artikulations-Muskeln
begleitet sein. So teilte mir Herr Professor Sigmund Exner mit
daß er seit seiner Jugend die letzten Worte eines gehörten Satzes
subjektiv wieder höre, dabei aber regelmäßig eine Mitbewegung
jener Sprachmuskeln beobachte, die zum Aussprechen der betreffenden
Worte dienen.
1. Frau Lukschitsch. a) Ein laut gesprochener Satz oder ein Wort
wird nach 2—5 Sekunden echoartig wiedergehört und zwar hat die Ver-
suchsperson dabei die Empfindung, als ob das Gesprochene gleichzeitig von
beiden Ohren ausginge und sich von den Ohren gegen die Stime erstrecke.
Dieselbe Erscheinung zeigt sich, wenn der Versucn nur mit einem Ohre
angestellt wird; auch hierbei beteiligt sich nämlich auch das andere Ohr an
dem subjektiven echoartigen Hören. Dieses erfolgt nur einmal. — b) An
einem anderen Versuchstage zeigt sich bei offenen oder geschlossenen Augen
nach dem Hören eines Wortes mit beiden Ohren ein echoartiges Nachhören,
das abermals von beiden Ohren gegen die Stirn empfunden wird. Beim
Sprechen eines Wortes in das eine Ohr tritt die Echoerscheinung regelmäßig
am anderen Ohre auf. Wenn zwei Personen gleichzeitig verschiedene Worte
ins Ohr sprechen, die eine Person ein Wort ins rechte Ohr, die andere ein
anderes Wort ins linke Ohr, so tritt, gleich nach dem Hören der beiden
Worte eine Echo-Erscheinung in gekreuzter Richtung ein, so daß das rechte
Ohr das dem linken Ohre vorgesprochene Wort echoartig wiederhört, und
umgekehrt. Dieselbe Erscheinung besteht für verschieden tönende Stimm-
gabeln. Vergleichsweise Prüfung mit Sprach- und musikalischen Tönen er-
geben bei Stellung der Schallquelle vor der Versuchsperson, daß die Echo-
erscheinung bald für Sprachtöne auf dem einen, für musikalische Töne auf
dem anderen Ohre stattfindet , bald wieder für beide Arten der Ton-
einwirkung auf demselben Ohre, meistens auf dem besserhörenden rechten.
'über subjektive echoartige Gehorserscheinungen. 85
2. Herr Pann. Ein vor beiden Ohren vorgesprochenes Wort wird nach
einigen Sekunden mit dem linken, gleich danach mit dem rechten Ohre echo-
artig gehört, so auch ein gegen das Hinterhaupt gesprochenes Wort. Steht
der Sprechende dem rechten Ohre der Versuchsperson gegenüber, so ertönt
das gesprochene Woi-t subjektiv wieder, bald in beiden Ohren gleichzeitig,
bald zuerst im rechten, gleich darauf im linken Ohre, bald im rechten Ohr
allein; ein gegen das linke Ohr gesprochenes Wort wird gleich danach mit
dem linken Ohre und daran anschließend, mit dem rechten Ohre wieder-
gehört. Ein hoher oder tiefer Stimm^abelton dem linken oder rechten Ohre
zugeführt, wird als fortgesetzte subjektive Empfindung zumeist nur am
rechten Ohre noch durch einige Sekunden gehört; nur einmal vernimmt das
linke Ohr, nach Entfernung des Stimmgabeltones vom linken Ohr, noch
durch eine Sekunde den Ton subjektiv in geringer Starke, hierauf das
rechte Ohr in viel bedeutenderer Intensität. Wii'd in das rechte Ohr ein
Wort und gleichzeitig ins linke Ohr ein anderes Wort gerufen, so entsteht
eine gekreuzte echoartige Erscheinung und zwar wird das ins rechte Ohr
gerufene Wort, unmittelbar danach im linken Ohre leise gehört und so das
ins linke Ohr gerufene, rechts. Dieselbe Erscheinung findet sich für zwei
verschiedene Stimmgabeltöne vor, von denen der eine Ton auf das rechte,
der andere auf das linke Ohr einwirken.
Vergleichsweise Versuche mit Sprach- und musikalischen Tönen er-
geben regelmäßig, daß bei Einwirkung der Schallquelle vor beiden Ohren,
Wörter oder Sätze zuerst am linken, gleich danach am rechten Ohre eine
Echoerscheinung hervorrufen, musikalische Töne dagegen zuerst am rechten
und erst dann am linken Ohr.
3. Fräulein Stauduar. Das jedesmal vorgesprochene Wort wird nach
1 — 2 Sekunden bald mit dem rechten, bald mit dem linken Ohre echoartig
wiedergehört. Bei einem dieser Versuche vernimmt das rechte Ohr die erste
Silbe, das linke Ohr die zweite subjektiv wieder. An einem andern Tage
zeigt sich die echoartige Erscheinung an dem Ohre, in das gesprochen wurde,
stets zweimal hintereinander, dann wieder zuerst auf dem einen, hierauf auf
dem anderen Ohr. Von zwei ins rechte und linke Ohr gleichzeitig gerufenen
Wörteni tritt die Erscheinung niemals gekreuzt auf. Dasselbe zeigt sich für
verschiedene Töne.
Musik- oder Sprachtöne, beiden Ohren gleichzeitig zugeführt, werden
bald am besser hörenden, rechten Ohr allein echoartig wieder gehört, bald
die Sprachtöne am linken, die musikalischen am rechten Ohr allein. Die
Versuchsperson hat die Empfindung, als ob das Echo bei Sprachtönen all-
mählich in die Feme rücke, dagegen bei musikalischen Tönen dem Ohre
sich nähere.
4. Fräulein Windhager, a) das vorgesprochene Wort ertönt nach
5—7 Sekunden in beiden Ohren subjektiv wieder. Die Versuchsperson hat
dabei den Eindruck, als ob das betreffende Wort aus großer Entfernung
gesprochen würde. Von zwei Worten, wie z. B. „die Lampe", erfolgt die
Wiederholung des ersten Wortes „die" gewöhnHch unmittelbar nach dem
Vorsprechen, während das 2. Wort „Lampe" mitunter erst 10—15 Sekunden
später wieder auftritt, mitunter erscheint das erste Wort 5—7 Sekunden
nach erfolgter Gehörseinwirkung, das zweite Wort 5 — 7 Sekunden später.
Beim Hineinsprechen ins Ohr tritt die echoarti^c Erscheinung zumeist nur
auf dem betreffenden Ohre auf. Manchmal ertönt anfänglich nur ein Teil
des Wortes wieder, später das ganze Wort; so hörte die Versuchsperson
einmal nach dem Voi'sagen des Wortes: „Nase", 5 Sekunden später die
Silbe „se", nach weiteren 10 Sekunden das ganze Wort: „Nase", ein ander-
mal beim Worte: „Licht", zuerst „icht", dann zweimal „Licht". Die einzel-
nen Silben können auch am rechten oder linken Ohre getrennt auftreten:
vom Worte „Polster** wurde am linken Ohre anfänfflich die Silbe „polst**,
am rechten „ster** wieder gehört, worauf das linke Ohr „pols— polster** ver-
nahm, b) An einem anderen Tage wird in das rechte Ohr das Wort
„Straße** gerufen, gleichzeitig von einer anderen Person ins linke Ohr
„Wagen**. Die Versuchsperson hat keines der beiden Wörter verstanden.
Nach einigen Sekunden nört sie mit dem rechten Ohre „gen**, mit dem
86 XIV. URBANTSCHITSCH.
linken: „stra— Straße", hierauf links: „Straße", rechts: ,,wagen", also das
einzelne Wort auf der entgegengesetzten Seite. Bei Wiederholung dieser
Versuche erscheint die echoartige Erecheinung bald in gekreuzter Richtung,
bald wieder wird das Wort mit dem Ohre nachtraglich gehört, in das es
hineingesprochen wurde. Werden dem einen Ohr ein tiefer, dem anderen
ein hoher Stimmgabelton gleichzeitig zugeführt, so erscheint die Wieder-
holung des einzelnen Tones bald nur links, bald gekreuzt, bald jeder Ton
auf der entsprechenden Seite. Werden ein hoher und tiefer Ton dem linken
Ohre zugefünrt, so tritt das nachtragliche Hören vorerst nur links auf, dann
bleibt der hohe Ton fortwährend links und von Zeit zu Zeit tritt im rechten
Ohre der tiefe Ton hinzu; bei wiederholtem Versuche werden beide Töne
rechts gehört, dann wandert der tiefe Ton nach links, während der hohe
rechts bleibt; später erfolgt ein Austausch der Töne, indem der hohe Ton
links, der tiefe rechts gehört wird. Beide Töne werden dem rechten Ohre
zugeleitet: nach einigen Sekunden hört das linke Ohr den hohen, hierauf
auch den tiefen Ton; hierauf wandert der hohe Ton von links nach rechts;
die Versuchsperson, deren Augen geschlossen sind, meint, daß die be-
treffende Stimmgabel vom linken Ohre, bei dem Gesichte vorbei, nach rechts
bewegt werde. Der tiefe Stimmgabelton verschwindet links, während der
hohe Ton rechts noch forttönt, c) Das ins linke Ohr gerufene Wort „Lampe"
wird nach einigen Sekunden aus der Entfernung diotisch leise wieder gehört.
Das ins rechte Ohr gesprochene Wort „Blume" ertönt im linken Ohre leise
wieder, gleich danach auch im rechten Ohre, einige Sekunden später leise,
wie aus der Entfernung (diotisch). Nach einigen Sekunden ertönt links das
Wort „Blume", rechts „Lampe", zuerst rasch nacheinander, ein zweitesmal
gleichzeitig, so daß die Versuchsperson das einzelne Wort nicht zu unter-
scheiden vermag. Das Wort „Klavier" wird von vorne her beiden Ohren
zugeleitet Die echoartige Erscheinung zeigt sich nur links, das erstemal
laut, das zweitemal, wie aus der Entfernung; einige Sekunden später hört
das rechte Ohr: „vier", hierauf das linke ,,Kla", das rechte, kurz darauf,
„vier*', d) An einem anderen Versuchstage tritt bei einer Schalleinwirkung
auf das eine Ohr am anderen Ohre die Echoerscheinung auf. e)jVon einem
vorgesprochenen Satze wird das erste Wort regelmäßig mit dem linken Ohre
wiedergehört, das letzte Wort mit dem rechten Ohre; manchmal entsteht für
die mittleren Worte oder für den ganzen Satz eine Echoerscheinung aus der
Entfernung. Stimmgabel- und angeschlagene Töne vernimmt nur das rechte
Ohr wieder, dagegen den hohen Pfiff der Galton-Pfeife nur das linke Ohr.
5. Herr Alfred W., 19 Jahre alt, rechts ertaubt. Sprach- und musika-
lische Töne ergeben stets nur am hörenden linken Ohre eine Echo-
erscheinung.
6. Fräulein Jaksic. Das rechte, am Mittelohr operierte Ohr ist hoch-
gradig schwerhöng. Laut gesprochene Worte werden nach 5 — 7 Sekunden
leise wiedergehört, gewöhnlich am linken Ohre, doch zuweilen auch rechts.
Spricht man in das Ohr hinein, so findet nach 5—7 Sekunden die Wieder-
holung des Wortes an dem Ohre statt, in das hineingesprochen wurde. Die
echoartige Erscheinung betrifft auch ganze Sätze.
7. Herr Kratki. Laut gegen das rechte oder linke Ohr gesprochene
ein- oder zweisilbige Wörter ergeben anfänglich keinen Nachhall, dagegen
tritt für die Vokale eine deutliche echoartigr Erscheinung auf, sowohl am
rechten als auch am linken Ohre. Von zweisilbigen Wörtern vernimmt die
Versuchsperson nunmehr deutlich die Endsilbe echoartig, vom Worte
„Tisch", jedesmal deutlich das „seh". Beim Hineinsprechen ins rechte oder
linke Ohr erfolgt keine echoaitige Erscheinung.
Einige Wochen später wird der Versuchsperson der Satz zugerufen:
„Heute ist ein kalter Tag". Einige Sekunden später erfolgt die Echo-
erscheinung am schwerhörigen linken Ohr. Der Satz: „Morgen ist Donners-
tag" dem rechten Ohre zugerufen wird als Echo anfänglich rechts gehört,
doch rückt die Lokalisation des Wortes „ist" gegen die Mitte des Kopfes
und von „Donnerstag" wird „tag*' nur links subjektiv gehört. So zeigt sich
für den Satz: „Heute ist ein kalter Tag" die Echoerscheinung für „heute
ist ein" rechts, „kalter" in der Mitte des Kopfes, „Tag * links. Spricht man
über subjektive echoartige Gehorserscheinungen. 87
gegen das linke Ohr, so bleibt die Echoerscheinung auf dieses Ohr be-
schränkt. Musikalische Töne, dem linken Ohre zugeführt, erregen eine an
dem Scheitel lokalisierte Echoerscheinung ; dem rechten Ohre zugeführt, bald
im rechten Ohre, bald am Scheitel.
8. Frau Fr. U. Verschiedene, von vorne her gesprochene Worte
werden mit dem linken Ohre echoartig wiedergehört; das Wort „Strasse*'
als „Rasse'^ Geflüsterte Worte ergeben keine Echoerscheinung. Ins rechte
Ohr Gesprochenes erregt am rechten Ohr eine Echoerscheinung.
9. Herr Rudolf Kenner hört scharfe Flüstertöne nur beim Hinein-
sprechen ins Ohr. Vorgesprochene Wörter werden nicht echoartig wieder-
gehört, dagegen ergibt das wiederholte Vorsprechen eines Wortes nach
5—7 Sekunden an beiden Ohren eine Echoerscheinung. Vokale werden nach
5 — 7 Sekunden ebenfalls wiedergehört.
10. Minna Herdina, an beiden Ohren hochgradig schwerhörig, be-
sonders linkerseits. Die verschiedenen Vokale und Wörter ergeben keine
Echoerscheinung, dagegen zeigt sich eine solche am linken Ohre für „seh"
bei den auf seh auslautenden Wörtern (Tisch, Fisch).
XV.
Die Ohrenentzündnngen in ihren abhängigen Beziehungen
zn Nachbarorganen,
Eine Skizze
von
L« Grflnwald (Bad Reichenhall-München).
Verehrter Altmeister!
Nicht weit noch liegt die Zeit zurück, da eine Ohreneiterung
nicht viel mehr denn einen unangenehmen „Fluß" bedeutete.
Ihr Verdienst ist es, der rein chirurgischen Auffassung der
Ohrenentzündungen Bahn gebrochen zu haben, als deren letzte
Stufe unsere heutige Erkenntnis dasteht, daß bei endocraniellen
septischen Prozessen in erster Linie die Beschaffenheit des Ohres
kontrolliert werden muß.
Der so geschaffene Vorstellungskreis teilt aber mit allen
menschlichen Assoziationsgebieten die Gefahr, zu weit zu reichen,
zuviel zu decken.
Die Gefahr ist, ich werde das in den folgenden eigenen und
fremden Erfahrungen nachweisen, nicht imaginär; sie ist mitunter
sogar groß, weil der irrtümlich als vorwiegend oder allein vor-
handen angesehene Ohrprozeß andere, sogar letale Grund-
erkrankungen zu verdecken imstande ist.
Auch in dieser Richtung den Ohrenerkrankungen ihren
chirurgisch richtigen Platz anzuweisen, ist sicher in Ihrem Sinne,
verehrter Altmeister, gehandelt.
A. Durchwach von Eiter ans Nachbarorganen.
Es ist bekannt, daß otitische extradurale und Himabszesse
durch das Ohr ihren Abfluß finden können. Diese Ereignisse
interessieren uns hier weniger: meist wird es früher oder später
Die Ohrenentzündungen in ihren abhäng. Beziehungen zu Nachbarorganen. 89
gelingen, das Bestehen des endocephalen Herdes nachzuweisen,
an dessen Ausheilung außerdem die Behandlung der Ohren-
eiterung einen integrierenden Bestandteil darstellt. Anders jene,
allerdings überaus seltenen Fälle von
I. Abfluß nicht otitischer en do cep h aler Abszesse
durch das Ohr.
1. Le Blanc (1). Nach einem Schlag auf den Kopf entstand nach
vorübergehender Bewußtlosigkeit ein sich stetig steigernder intensiver Kopf-
schmerz, zu welchem sich nach ca. 8 Tagen klonische und tonische (all-
gemeine?) Krämpfe und Schlaflosigkeit gesellten. Nach vorübergehender
Besserung, vom 15. — 30. Tage, lokalisierte sich wiederum ein enormes Druck-
gefühl in der Gegend zwischen Pfeilnaht und linkem Ohr» bis in der Nacht
zum 56. Tage nach vorgängigem Schmeiznachlaß der äußerst herunter-
fekommene Kranke einschlief und beim Erwachen, nach einer halben
tunde, das Kopfkissen von noch in einem anhaltenden feinen
Strahl aus dem linken Ohr sich entleerenden Eiter durchtränkt
fand ; der Ausfluß hielt dann, vermindert, noch einige Wochen an, während
deren neue Schmerzen auf der rechten Seite auftraten, bis auch aus dem
rechten Ohr am 88. Tage Eiter austrat. Intermittierend auftretende
Gesichtszuckungen verschwanden jedesmal nach Abfluß einiger Eitertropfen
aus dem linken Ohr. — Nach einer kleinen Verschlechterung von kürzerer
Daner (Entstehung einer Geschwulst hinter dem linken Ohr, welche nach
reichlicherem Ausfluß wieder verschwand], kehrten nach ca 3V4 Jahren
plötzlich die Kopfschmerzen, begleitet von Übelbefinden, Schnupfen, Anosmie
und Appetitlosigkeit etc. wieder, bis eines Nachts eine große Menge
über die Maßen stinkenden Eiters aus dem Nasenrachenraum
per OS entleert wurde, worauf rasch dauernde Genesung eintrat.
Eine nähere Charakterisierung des Prozesses, ob cerebral, sub-
dural oder extradural, ist kaum möglich, sicher wird er nur, durch
Erscheinungen und Verlauf, als endocephal gekennzeichnet;
ein Fortkriechen unter der Schädelbasis würde andere Symptome
hervorrufen.
2. Rust (2): Nach einem Sturz (vom Pferd) auf den Kopf stellte sich
sich ein periodisches halbseitiges Kopfweh von solcher Intensität ein, daß
die geistige Beschäftigung (welche die Anfälle hervorzurufen schien), auf-
gegeben werden mußte. Nach einem neuerlichen Sturz (13 Jahre später),
zeigte sich aus dem linken Ohre ein Abfluß von Blut und „klarem Eiter",
der einige Tage anhielt, mehrere Unzen (k 30 ccm) betrug und nach dessen
Aufhören dauernde volle Genesung eintrat.
Wahrscheinlich traumatischer Extraduralabszeß, durch eine
Basisfissur beim zweiten Sturz eröffnet.
3. Gama (3): Hufschlag auf den hinteren Rand des rechten Scheitel-
beins nebst Sturz auf den Kopf. Nach vombergehendem Bewußtseinsver-
lust am 9. Tage bei der Aufnahme: Somnolenz, Blässe des Gesichtes und
Lähmung des linken Gesichtes und Armes; mühsame Atmung, Puls be-
schleunigt; am nächsten Tage tiefes Coma.
Erst am 16. Tage kehrte das Bewußtsein, sowie die volle Motilität
wieder.
Am 29. Tage schmerahafte „Otitis" rechts, vom 32.-34. Tage überaus
reichlicher Ausfluß von wässrigem, sehr stinkendem Eiter aus dem
Ohr, der dann rasch nachließ und mit voller Genesung (Entleerung am
45. Tage) endete.
90 XV. grCxwald,
Der Verlauf in den ersten zwei Wochen ist nur unter der
Annahme eines Hirndruckes durch ein langsam entstandenes
Extravasat zu erklären. Ob dieses durch eine interkurrente Otitis
auf dem Wege einer minimalen Fissur infiziert wurde oder, primär
auf ebensolche Weise vereitert, beim Durchbruch in das Ohr erst
die Erscheinung einer Otitis hervorgerufen hat, ist nicht entscheid-
bar, aber auch gleichgültig: an der endocephalen Bildung der
Flüssigkeitsansammlung läßt sich kaum zweifeln.
Ein weiterer Fall ähnlicher Art ist derjenige von
4) M. 'L e d , den Barr (4), allerdings sehr kurz, referiert :
Ein traumatisch entstandener Vorderlappenabszeß kroch an der Schädel-
basis entlang und brach im äußeren Gehörgang durch.
Endlich die sehr instruktive Beobachtung von
5. Panas (5): Ein 21 jähriger Mann erkrankte im Gefolge eines Erysipels
an rechtsseitiger Orbitalphlegmone. Ca. 8 Wochen nach Beginn des Erysipels
entstanden Scnmerzen im rechten Ohr, Perforation und anhaltende Eiterung.
Nachdem bald darauf einige epileptische Anfälle aufgetreten waren, stellte
sich eine allmählich bis zur Fluktuation gedeihende SchwoUung über der
Schuppen-Schläfengegend ein, die nach der Inzision zwei Perforationen des
Knochens enthüllte. Nach dem, im 6. Monate der Erkrankung, im Coma
eingetretenen Tode fand sich bei der Sektion der ganze „Keilbeinlappen''
(„corne sphenoidal**) in einen Eiterbrei verwandelt, die Meningen in der
ganzen fossa sphenoidalis adhärent, die Dura intakt, aber außer den
2 Löchern im Schuppenteil noch ein weiteres im tegmen tympani. Meningitis
der Vorderlappenbasis bis zum Bulbus nach vorne reichend.
Hier liegt also wiederum Durchbruch einer Hirneiterung vor,
im Anschluß aber ist eine echte sekundäre Otitis entstanden.
IL Beteiligung des Ohres an suboccipitalen
Abszessen.
1. Eigener Fall. Aus der a. a. 0. (6) ausführlich wieder-
gegebenen Krankengeschichte hebe ich nur folgendes, hier inter-
essierende hervor:
Der durch Vereiterung einer abnorm gelegenen Keilbeinhöhle ent-
standene intravertebrale Abszeß an den beiden ersten Halswirbeln trat zu-
nächst in Grestalt einer akuten Ohren-Warzenfortsatzeiterung zutage, welche
allerdings in ihren Erscheinungen: profusester Absonderung trotz allen Frei-
legungs versuchen , Schwellung in der Gegend des emissarium Santorini,
Kopfsperre, Trigeminus und Cervicalneuralgie, sowie besonders in der Stelle
des Eiterabflusses (am Boden) usw. verdäätige Abweichungen vom Typus
darbot, sodass zunächst an Fortkriechen eines otitisch entstandenen peri-
sinuösen Abszesses durch das emissarium gedacht wurde (s. auch u. 11, 12)
Der Durchbruch des suboccipitalen Abszesses erfolgte hier im recessus
infratympanicus. Zur näheren Instruktion muß ich auf die Originalmitteilung
verweisen.
2. Das „raalum suboccipitale", auf tuberkulösen Entzündungen
der Atlanto-occipitalgelenke beruhend, löst, besonders im Anfang,
mitunter Erscheinungen von Otitis aus, die einer Verschleierung
des wahren Prozesses dienlich sind:
Die Ohrenentzündungen in ihren abhäng. Beziehungen zu Nachbarorganen. 91
E. V. Bergmann (7) berichtet über zwei solcher Fälle, in
deren erstem die durch Lucae vorgenommene Parazentese die
im Vordergrunde des Bildes stehenden Ohrenschmerzen vermin-
derte, während der Abszeß seinen Ausweg retropharyngeal
suchte; im zweiten entstand sogar eine vorübergehende Eiterung
des Ohres und bald darauf eine faustgroße retroaurikulare
Schwellung, die jedoch in ihren kausalen Beziehungen richtig
erkannt wurde. Diese beiden letzteren Fälle sind natürlich nur
als Korrelate zu den eigentlichen Durchbruchsprozessen und mehr
im Sinne der weiter unten zu besprechenden konsensuellen Ent-
zündungen aufzufassen.
III. Durchbruch von Parotis- und Kiefer-
abszessen.
Für diese Eventualität stehen mir keine Einzelbeispiele zur
Verfügung. Nur soviel:
Parotitische Phlegmonen bedrohen den äußeren Gehörgang
und können durch die daselbst zunächst auftretende Anschwellung
und das Macerationsekzem täuschende Bilder erzeugen.
über Kiefergelenkentzündungen äußert sich Hyrtl (8) dahin,
daß der Eiter durch die fissura Glaseri oder die nicht selten
offene Dehiszenz in der vorderen Wand des äußeren Gehörganges
in die Trommelhöhle gelange.
Dentale Parulitiden vermögen denselben Weg, eventuell auch
durch die fossa pterygo-palatina hindurch, einzuschlagen. —
Für alle Fälle der Gruppe A gilt folgendes:
Erstens muß das Bestehen der als eigentlicher Eiterherd
anzusprechenden Erkrankung durch deutliche, für sich
sprechende Symptome resp. Befunde erwiesensein. Diese hier zu
erörtern, verbietet der Raum. Bezüglich der suboccipitalen Ent-
zündungen verweise ich speziell auf meine letzte Publikation (9).
Zweitens muß der zeitliche Verlauf sowohl als die Mög-
lichkeit kausaler Verknüpfung einerseits der Ohrenerkrankung,
andererseits dem Nachbarherd den richtigen Platz anzuweisen
gestatten. In dieser Beziehung ist daran zu erinnern, daß so wie
Hirnabszesse gewöhnlicher durch Ohreneiterungen hervorgerufen
zu werden pflegen, als umgekehrt, letztere, allerdings seltener,
ebensogut ihrerseits in suboccipitalen Entzündungen resp. peri-
artikulären Eiterungen zu enden vermögen. Am klärendsten wird
da zunächst die genaue zeitliche Kontrolle der Einzel-
erscheinungen einzusetzen haben.
92 XV. GRÜNWALD.
Diese Kontrolle wird besonders dann Klarheit zu schaffen
vermögen, wenn einer der seltenen Fälle otogener Entstehung
eines suboccipitalen Abszesses, speziell auf phlebitischem Wege^
in Frage steht
Auch ist an dieser Stelle daran zu erinnern, daß sogar der
Umweg über das Hirn resp. den Extraduralraum seitens otitischer
und andersartig entstandener Herde beschritten werden kann, um
vermittels Durchbruches oder durch vorgebildete Wege (foramen
condyloideum, emissarium etc.) im Nacken zu erscheinen (10, 11)-
Endlich sollten, bei zunächst isolierten oder doch im Vorder-
grunde des Bildes stehenden Ohreneiterungen, abnorme Eeich-
lichkeit und Hartnäckigkeit der Sekretion, besonder»
aber jedes nicht ganz gewöhnliche Symptom auf die
Möglichkeit anderer Substrate aufmerksam machen. Hier nenne
ich speziell abnorm lokalisierte Schmerzen, auffallende Lokali-
sationen von Schwellungen, ebensolche Bewegungsbehinderungen
(Kiefer- oder Kopfsperre), endlich gewisse motorische Lähmungs-
erscheinungen, speziell im Bereiche des n. abducens, occulomotorius,
trigeminus, accessorius und hypoglossus.
B. ConsensueUe und sekundHre Ohreltemngen.
Der Einfluß benachbarter Erkrankungen braucht sich nicht
bis zum Durch bruch der Eiterung zu erstrecken; Infektion, auf
verschiedenen Wegen vermittelt, kann neben der ursprünglichen
Erkrankung einen Reizzustand, ja mehr als das, eine bis zur
Eiterung gehende Entzündung im Ohr vermitteln, deren Abhängig-
keit von jenen, also rein sekundäre Bedeutung, im Verlaufe er-
kannt werden kann und, genau wie bei Durchbrüchen, dahin zu
würdigen ist, daß die Ohrenerkrankung ohne Beseitigung
des primären Herdes keine Heilungsaussichten bietet,
daß sie ferner diesen Herd zu verdecken und dadurch
die Heilungsmaßnahmen von der richtigen Bahn ab-
zulenken imstande ist, endlich daß die konsensuelle Form nach
Auschaltung des primären Herdes ohne weiteres von
selbst verschwindet.
Für all diese Eventualitäten bieten die folgenden Fälle Be-
lege :
1. Finlag (12): Bei einem 16jährigen Jüngling bestand seit mehreren
Wochen linksseitige Ohreneiterung, seit zwei Tagen heftige Schmerzen da-
selbst, Die Eiterung schwankte stark in der Menge, war zeitweise profus.
Status: Halbcoma mit Delirien, T. 39,9, P. 120. Links kleine Per-
foration, wenig Eiter, links Abducenslähmung; Augenhintergrund normal.
Die Ohrenentzündungen in iliren abhäng. Beziehungen zu Nachbarorganen. 93
Während der Narkose bemerkte man eine parallel dem linken oberen
Orbitalrand, etwas unterhalb, verlaufende blutegelförmige Anschwellung und
stellte die lichtige Diagnose auf Phlebitis des sinus cavernosus. Trotz-
dem wurde nur auf das Ohr vorgegangen : Im Antmm und Mittelohr fanden
sich nur winzige Mengen von Eiter; der Knochen, ebenso der sinus
transversus, die Dura und das Hirn erwiesen sich als intakt. Am nächsten
Morgen Exitus.
Bei der Sektion fanden sich die Ohrräume eiterfrei, die Dura an der
Basis dickplastisch infiltriert, in den sinus cavernosus und circularis ein
„eitriges Blutcoagulum", bis in die linke v. ophthalm. (sup.) reichend, Keil-
bein- und Siebbeinzellen mit dickem gelbem Eiter gefüllt.
F. erkennt nachträglich selbst die rein sekundäre Bedeutung
der Ohrenaffektion an, hält es jedoch, in Anbetracht der tatsäch-
lich bestandenen Otitis, trotz den auf den sinus cavernosus hin-
deutenden Symptomen für unmöglich, anders zu handeln.
Ob diese Annahme, allein schön gegenüber der von uns
prinzipiell erhobenen Forderung, jeden Ohrenfall auch in der
Nase zu untersuchen, aufrecht erhalten werden könnte?
2. üchermann (13): Einem 18jährigen Mädchen war vor 4 Jahren
ein Abszeß des Zahnfleisches in den rechten Gehorgang durchgebrochen,
dann waren Driisenabszesse , erst links und dann unter dem rechten Ohr
gefolgt, jedoch alles geheilt.
Wenige Tage vor der Aufnahme entstand unter Schüttelfrost ieine
schmerzhafte Anschwellung hinter dem linken Kopfnickeransatz; Trommel-
fell nur leicht gerötet, Warzenfortsatz etwas druckempfindlich, kein Ohrenfluß.
Die Operation enthüllte einen nach der Schädelbasis zu gelegenen
Abszeß hinter und unter dem proc. mast. Die Schleimhaut in letzterem
fayperamisch, an der Spitze eiuige vereiterte Zellen. Sinus transv. frei.
Neue Schüttelfröste und Temperaturanstieg bis zu 41,6 *^ veranlaßten
zu weiterer Freilegung des sin. transv. und der v. jugul., ohne Ergebnis. —
Tod nach 2 Tagen.
Bei der Sektion fand sich der sinus occipitalis, bis zum confluens hin,
samt den Cervical(Occipital?)venen thrombosiert. Hirnödem.
U. sieht in dieser Erkrankung die Folge einer Infektion
seitens der periphersten Zellen.
Wenn man aber seinen Gesichtskreis nicht nur vom oto-
logischen Standpunkt aus übersieht, so stellt sich der wahrschein-
liche Verlauf (ohne weitere Ausdehnung der Sektion läßt sich
keine größere Gewißheit erlangen) folgendermaßen dar:
Eine dem ursprünglichen Herd nahegelegene oder mit ihm
identische Infektionsquelle in der Nachbarschaft der fossa
pterygo-palatina (Zähne, Nebenhöhlen usw.) hat über
den plexus pterygoideus zu einer abszedierenden Phlebitis der
Occipitalvenen geführt; die Verbindungen der v. facial. post. mit
den Paukenwarzenfortsatzvenen vermittelten eine rein syndro-
matische Beteiligung der Warzenfortsatzspitze, während anderer-
seits die Infektion ihren Hauptweg weiter zum sinus occipitalis nahm.
Die Ohrenoperation konnte an sich weder diesen Verlauf
enthüllen noch unterbrechen; ihr negatives Ergebnis hätte aber
94 XV. GRtNWALD.
auf die Möglichkeit anderweitiger Zasammenhänge hiDweisen
müssen, wenn nicht schon die Anamnese und der eigentümliche
Befund auf eine solche aufmerksam gemacht hätten. —
Klinischen Schwierigkeiten .durch raschen tödlichen Verlauf
enthoben, bietet der Fall von
3. Konietzko-Isemer (14), dessen ausführlichem inter-
essanten Bericht ich nur die hier wichtigsten Schlagworte ent-
nehme, umsomehr des fraglos Belehrenden:
Alte Eiterung der linken Rieferhöhle mit Ausgang in Nekrose. Per-
foration einerseits znra harten Gaumen, andererseits in der hinteren oberen
Wand zur fossa pterygo-palatina. Gangrän der Weichteile daselbst sowie
des perivaskulären Gewebes in canalis carotid., des peritubaren Gewebes und .
des m. tensor tymp., endlich der Schleimhaut um den Steigbügel.
Arrosion des Hinterhauptbeins bis über den linken prozessus condyloid.
hinaus und bis über die Mittellinie nach rechts.
Die Wände der vena und des bulbus jugul. bereits verfärbt, die Gefäße
innen noch intakt; einzelne Drüsenpakete am Halse verfärbt, ihre Umgebung
sulzig infiltriert.
Eiter in der Paukenhöhle, die Gehörknöchelchen von Granulationen
umgeben, auf deren Frische gegenüber den nekrotischen, primär erkrankten
Partien die Autoren ausdrücklich hinweisen, um daran selost die rein sekun-
däre Bedeutung der Otitis zu erläutern.
4. Eigener F a 1 1 (15). Aus der Krankengeschichte, deren
ausführliche Lektüre zur Würdigung der diagnostisch entscheidenden
Momente des Falles unerläßlich ist, hebe ich nur folgende Daten
kurz hervor:
Exacerbation eines alten KieferhöhlenkataiThs. Breite Eröffnung vom
unteren Nasengange aus. 14 Tage später neuerliche Infektion (Erkältung).
Fortschreiten der Entzündung durch die Hinterwand der Kieferhöhle auf das
Gewebe der fossa pterygopalatina und auf das suboccipitale Gewebe, gleich-
zeitig, wahrscheinlich auf dem Lymphwege, zum Ohr. Profuse Mittelohr-
eiterung mit hoher Empfindlichkeit der Warzenfortsatzspitze. Diagnose eines
beginnenden suboccipitalen Abscesses auf Anamnese, leichte Kiefersperre,
tiefes Nackeninfiltrat. Kopfsperre und Neuralgie der 2. und 3. Trigeminus-
astes begründet.
Operation des Abscesses mit Freilegung der hinteren, ganz gesund
aussehenden Warzenfortsatzfläche.
Nach Entfernung des Wundtampons am 4. Tage, Versiegen
der bis dahin profus andauernden Ohreneiterung innerhalb
weniger Stunden.
In diesem Falle hätte in Anbetracht der fünf Wochen langen
Dauer der profusen Ohreneiterung und der Schmerzhaftigkeit des
Processus nichts näher gelegen, als die pneumatischen Räume zu
eröffnen, die sicher auch, zur Befriedigung des Operateurs, Eiter-
inhalt gezeigt haben würden. Ich habe, entgegen begründeten
Einwänden sachkundiger Kollegen, fest auf der Auffassung einer
nur sekundären Bedeutung der Ohreneiterung bestanden und der
postoperative Verlauf hat dem recht gegeben. Es ist dies der
erste Fall, in dem es gelang, unter Abstraktion von den täuschen-
Die Ohrenentzündungen in ihren abhäng. Beziehungen zu Nachbarorganen. 95
den Ohrenerscheinungen sofort auf den richtigen Herd loszu-
gehen.
In einem, viel früher, von mir ebenfalls als nicht otitisch be-
gutachteten Falle ist von anderer Seite operiert worden. Darüber
weiter unten.
Es existieren noch einige, meiner Ansicht nach hierher-
gehörige Fälle in der Literatur, speziell einer von Jansen (16),
auf die ich aber nicht eingehen kann, weil die ausführliche, zu
der erforderlichen kritischen Würdigung unerläßliche Wiedergabe
hier zu viel Platz beanspruchen würde. In anderem Zusammen-
hange werde ich dieselben ohnedies noch zu besprechen haben.
Nur einen möchte ich, des besonderen Interesses halber, kurz
erwähnen, denjenigen von
2. Neumann (17): Nach einer Nasenoperation setzte eine acute Otitis
ein, die am 6. Tage duich Schüttelfrost und hohes Fieber kompliziert wurde,
aber keine anderen subjektiven oder objektiven Zeichen von Mastoiditis
darbot Trotzdem wurde die Aufmeißelung vorgenommen, ,.die aber keine
Aufklärung brachte^, weiter noch die jugularis unterbunden und der Bul-
bus freigelegt, ebenfalls ohne positiven Befund; speziell kein obturierender
Thrombus.
Nach der Operation hörten die Schüttelfröste auf und sank die Tem-
peratur lytisch ab.
N. nimmt an^ daß eine wandständige, bei der starken
Blutung nicht sichtbare Thrombose des Querleiters vorgelegen
habe.
Allerdings ist das Vorhandensein einer Otitis geeignet, dieser
Auffassung eine Stütze zu leihen.
Trotzdem ist dieselbe abzuweisen. Der absolut negative
Ausfall der Operationen verlangt das; die Entzündung beschränkte
sich ja auch nur auf die Paukenhöhle.
Höchstwahrscheinlich saß der Thrombus in einem der sinus
petrosi, vielleicht auch nur im plexus pterygoideus. Die lugularis-
unterbindung unterbrach die Blutverschleppung weiteren septischen
Materials, konnte aber nicht verhindern, daß von dem noch be-
stehenden, jedenfalls sehr kleinen Herde aus noch septische Stoffe
resorbiert wurden, weshalb das Fieber nicht sofort, sondern nur
lytisch abfiel.
Die Phlebitis war zweifellos direkt nasalen Ursprungs, die
Otitis ein Syndrom.
Ihre Entstehung zu erörtern, ist im knappen Eahmen dieser
Skizze nicht möglich; unzweifelhaft ist nur, daß auch hier, wie
in mehreren der bereits erörterten Fälle, der Inhalt der fossa
pterygo-palatina und insbesondere der plexus pterygoideus eine
96 XV. GRÜNWALD.
ausschlaggebende Vermittlerrolle spielt, deren prinzipielle
Bedeutung usw. zurzeit von mir ausführlichen Untersuchungen
unterzogen wird.
Eine eigentümliche und nur durch Anwendung aller ein-
schlägigen Untersuchungsmethoden, insbesondere wieder durch
systematische Nasenuntersuchung vermeidbare Fehlerquelle besteht
in der
C. Gleichzeitigkeit Ton Ohreneiternngen und andersartigen
Schttdeleiterungen.
1. Koebel (18): Bei emem 39 |ährigen Manne, der von Jugend auf mit
Naseneiterung behaftet war, trat ein Recidiv einer 15 Jahre vorher ent-
standenen rechtsseitigen Ohreneitcrung auf. In der rechten Nase wurden
Granulationen geätzt; 14 Tage daruuf entstand plötzlich unter Reber ein
heftiger Schmerz in der Stirn und beiden Schläfen neben allgemeinem Verfall,
schwankendem Gang, (wie in Betrunkenheit), Erbrechen, Unruhe und, einige
Tage später, Zuckungen in der linken Hand und Arm. Stirn nicht druck-
empfinalich.
Die Totalaufmeißelung ergab keine Knochenerkrankung, auch nicht der
ossicula; Eiter im Antrum.
In anhaltendem Sopor trat bald der Tod ein.
Bei der Sektion fand sich eine Perforation in der Hinterwand der
rechten Stirnhöhle (beide, auch die linke, von Eiter und Granulationen erfüllt)
und ein hühnereigroßes Äbszess im Vorderlappen.
Daß die Ohreneiterung die Dignität des gleichzeitigen Nasen-
prozesses stark zu verhüllen geeignet war, ist klar. Die Druek-
unempfindlichkeit der Stirn konnte umsomehr zur Täuschung
beitragen, als, entgegen meinen wohlbegründeten Warnungen (23),
seit der Kuhnt sehen Arbeit, diesem Symptom ein viel zu weit-
gehendes Gewicht beigelegt wird; das einzige, auf den Vorder-
lappen hinweisende Symptom der „frontalen Ataxie^^ ist nicht
auffällig genug, um seine Vernachlässigung nicht begreiflich zu
finden.
Trotzdem oder vielmehr gerade darum bietet der Fall er-
neuten Anlaß, unsere Mahnung zu noch größerer Aufmerksamkeit
auf die Nase usw. zu wiederholen. Gerade solche Fälle mit un-
klaren, aber doch auf endocephale Vorgänge hinweisenden Symp-
tomen, müssen zur Erschöpfung aller Möglichkeiten durch An-
wendung weitgehender Untersuchungen führen und speziell zur
Anwendung der Erkenntnis, daß latente Nebenhöhleneiterungen
häufig nur den intensivsten diagnostischen Bemühungen zu-
gängig sind.
2. In St enger 's (19) Fall beherrschte die Stimhöhleneiterung, da sie
bald im Anfange zu einem Lidabszess führte, von vornherein die ebenfalls
durch eine subakute Ohreneiterung komplizierte Lage. Demgemäß wurde
auf der richtigen Linie vorgegangen, allerdings nicht weit genug: der unent-
deckte Stirnlappenabszess führt zum Tode.
Die Ohrenentzündungen in ihren abhäng. Beziehungen zu Nachbarorganen. 97
Wenn in der Koeb eischen Beobachtung die Gleichzeitigkeit
der Ohrenaffektion mit der tödlichen Stirnhöhleneiterung die
Täuschung über den wahren Sachverhalt in vivo noch verständ-
licher machte, umsomehr als auch die Lokalhirnsymptome geradeso
gut von einem Schlaf enlappenabszeß ausgelöst sein konnten, so
hätte in dem folgenden Fall von
3. Jansen (20) die Möglichkeit einer anderen Aufassung,
wenigstens post mortem, nahegelegen:
In der rechten Nase eines mit alter linksseitiger desquamativer
Ohreneiterung behafteten Mannes wurde g^alvanokaustisch gebrannt. All-
gemein septische Erscheinungen traten auf und veraniaßten die linksseitige
Anfmeißelung, führten aber 2 Ta^e später zum Tod.
Bei der Sektion fanden sich sämtliche Blutleiter frei, nur in dem
rechten sinus petros inf. ein eitrig zerfallender, grünlich verfärbter Pf ropf ,
ebenso in der sella turcica mißfarbige zerfallene Massen, am cUvus oer
Knochen grünlich verfärbt. — Keine iNebenhöhlensektion.
Daß die linksseitige Ohreneiterung diese rechtsseitige Basis-
erkrankung, unvermittelt noch dazu, herbeigeführt haben sollte,
ist absolut von der Hand zu weisen. Die Entstehung, im An-
schloß an die Galvanokaustik, weist in ganz typischer Weise
wieder auf eine nasale Entstehung der Phlebitis hin.
Immerhin, auch in diesem letzten Falle lag doch wenigstens
noch eine manifeste Ohreneiterung, wenn auch der anderen
Seite, vor.
Es bleibt uns aber noch übrig, eine Gruppe von Fällen zu
besprechen, in denen überhaupt keine Otitis bestand, sondern nur
durch lokale oder allgemeine Symptome, welche bei Ohren-
eiteningen wohl vorkommen, aber auch anderen weniger be-
kannten Erkrankungen eigentümlich sind, vorgespiegelt wurde.
D. Yortäusehung nicht Yorhandener Ohreneiterungcn.
In dem ersten der einschlägigen Vorkommnisse schöpfte der
Operateur wenigstens aus dem Umstände, daß eine Ohreneiterung
relativ kurze Zeit vorhergegangen war, einige Berechtigung für
seine Auffassung:
1. Eigener Fall (2 U: Geheilte Kopfverletzung vor 6 Jahren; vor
einem halben Jahre linksseitige, rasch geheilte Ohreneiterung.
Heftige Schmerzen hinter dem linken Ohr und BeschranKung der Kopf-
beweglichkeit führten den behandelnden Arzt dazu, mir den Patienten als
der Simulation verdächtig (Unfallrente) vorzustellen.
Ich konnte absolut keine objektiven Veränderungen, auch nicht am
Ohre, feststellen und lehnte jedes Einschreiten, aber auch ein definitives
UrteU ab.
Das Anhalten der Beschwerden und eine occipitale Schwellung veran-
iaßte den Kollegen, den Warzenfortsatz aufzomdJieln, der sich als nicht
erkrankt erwies, aber auf dem planum eine alte Fissur mit ein-
geklemmter Fascie zeigte.
Aichi7 f. Ohrenheilkunde. 73. Bd. Festschrift. 7
98 XV. GRÜNWALD.
Einen Monat spater wieder zugezogen, war ich in der La^e, den Proceß
als einen rein subocdpitalen (es fand später noch eine rctropharyngeale
Senkung etc. statt) anzusprechen und zu operieren. Die akute Otitis war
selbst geheilt, hatte aber durch die, jedenfalls auch auf die
Innenseite des Processus reichende Fissur, die Infektion sub-
occipital geleitet.
Bezüglich der Einzelheiten verweise ich auf die Original-
mitteilnng.
Die Täuschungsmöglichkeit in diesem Falle war groß und
wohlbegründet.
Im Gegensatz hierzu müssen wir auf die Notwendigkeit,
schon im klinischen Verlauf andere Möglichkeiten in Erwägung
zu ziehen, für folgende Fälle hinweisen:
2. Biehl (22): Im Gefolge einer Nasenoperation entstanden Ohren-
schmerzen, die zu fünfmaliger, immer vergeblicher Paracentese Anlaß
gaben. Da abendliche Temperatursteigungen, einmal sogar Schüttelfrost
auftraten, wurde weiter vorgegangen, immer in der Richtung auf das Ohr:
der Warzenfortsatz aufgemeißelt^ und leer befunden; endlich fand sich ein
kirschkemgroßer Abszess am Übergang des sinus transversus zum sinus
sigmoideus.
In einem zweiten Fall führten ebenfalls nach einem Naseneingriff auf-
fetretene Ohrenschmerzen zur ergebnislosen Ohrenoperation, die aber wiederum
ie Freilegung eines Sinusabszesses ermöglichte.
Auch epikritisch beharrt B. auf der Auffassung otitischen
Ursprungs dieser Abszesse, obgleich es doch sehr schwer ersicht-
lich ist, wie eine erweislich nicht existierende Ohrenentzündung
Folgeerscheinungen hervorrufen soll.
Berechtigt scheint mir wiederum nur eine Erklärung, daß
ähnlich wie in den oben erörterten Fällen durch den Nasenein-
griff eine infektiöse Phlebitis der vena nasalis posterior veranlaßt
und vermittels des plexus pterygoideus zu einem sin. petrosus
und durch diesen zum sinus sigmoideus geleitet wurde.
(Bei dieser Gelegenheit möchte es nicht unwichtig sein, darauf
hinzuweisen, daß Sinusthrombosen im Gefolge akuter Erkrankung
an sich schon den Verdacht auf einen anderen als otitischen
Ursprung hinzulenken geeignet sind; nach akuten Ohrenerkrank-
ungen kommen sie weitaus seltener zur Beobachtung; sehr er-
klärlich durch die fast unerläßliche Notwendigkeit vermittelnder
Knochenprozesse, wenn es sich um das Ohr handelt.)
Das einzige wirklich oder vielmehr scheinbar auf die Ohren
hindeutende Symptom, der Ohrenschmerz ist ferner genau so
trügerisch, wie jede andere spontane Schmerzlokalisation.
Auf die Hinfälligkeit aller aus diesen Lokalisationen ge-
zogenen Schlußfolgerungen habe ich schon vielfach hingewiesen (23)
und stehe damit ja nicht allein da (24).
Die Ohrenentzündungen in ihren abhäng. Beziehungen zu Nachbarorganen. 99
Was speziell den Ohrenschmerz und dessen unberechtigte
Würdigung anbelangt, verweise ich auch auf eine jüngst erfolgte
Zusammenstellung von komplizierenden Erkrankungen bei Eeil-
beinhöhleneiterung, durch St Clair Thomson (25), aus welcher
ersichtlich ist, daß Schmerzen hinter dem Ohr in einem, im Ohr
selbst in 5 Fällen letzterer Art geklagt wurden und zwar so aus-
gesprochen^ daß dreimal (vergeblich) der Warzenfortsatz eröffnet
wurde und zwar von ^^ geschickten Otologen." Sogar der sinus
sigm. wurde unnötig zweimal eröffnet.
Th. weist in diesem Zusammenhang auch auf das oben
erörterte gleichzeitige und unabhängige Vorkommen von Ohren-
eiterung hin: „it is to be remembered, that Otitis may coinci-
dently be present."
Ich bin am Schlüsse, dieser heißt:
Grenzgebiete berühren sich einerseits durch die
gegenseitige Beeinflussung ihrer Zustände, andrer-
seits durch die häufige Gleichartigkeit oder täuschende
Ähnlichkeit der Symptome ihrer Erkrankungen. Nur
genaueste Kenntnis jedes dieser Gebiete ist imstande,
vorkommende Grenzüberschreitungen bald als solche
festzustellen, so daß die vorliegende Erkrankung
nach dem Orte ihrer Entstehung, nicht nach dem
ihrer Erscheinung gewürdigt und behandelt werden
kann.
Literatur:
1. Journal de mßdicine, chuiirgie, pharmacie etc. par Roux, Paris 1762.
T. 17. S. 455.
2. Handbuch der Chirurgie, Bd. 1. S. 133.
3. Traitö des plaies de tete et de Tenc^phaiite. Paris 1835, S. 488.
(Diese drei Zitate sind dem Handbuch der Chirurgie von V. Bruns, I.Ab-
teilung; Tübingen 1854; S. 976—978 entnommen.)
4. Brit med. Journal, 1887, I. S. 725.
5. Bulletin de la societ6 de Chirurgie. 1873. S. "507.
6. Archiv für Laryngologie, 1901.
7. Volkmanns klipische Vorträge. Neue Folge. Heft 1.
8. Handbuch der topographischen Anatomie. S. 300.
9. Berliner klinische Wocnenschrift, 1907.
10. Macewen, die infektiös-eitrigen Erkrankungen des Gehirns etc. S. 112.
11. Zell er, zit. bei Oppenheim (24) S. 189.
12. Zeitschrift für Ohrenheilkunde, 1904. S. 227.
13. Revue hebdomad. de laryngol. etc. 1905. 15. Ref. Zentralbl. für
Chir. 1906. 36. S. 978.
14. Archiv für Ohrenheilkunde, 1905. Bd. 64. S. 92.
15. cf. 9, Fall V.
100 GRÜNWALD.
16. Archiv für Ohrenheilkunde, Bd. 35. S. 279. Fall XII.
17. Monatsschr. für Ohrenheilkunde etc., 1905. S. 557.
18. Beitrage zur klin. Chirurgie. 1899. S. 526. Bd 25.
19. Berl. klin. Wochensehrift, 1901. S. 639.
20. cf. 16, S. 89.
21. cf. 9, FaU III.
22. cf. 17, DiskuBsion.
23. Lehre von den Naseneiterungen, 2. Aufl. S. 257 und S. HO.
24. Oppenheim, die Encephalitis und der Himabszeß. S. 136.
25. Brit med. Journal; 1906. II. S. 768.
XVI.
Ein Beitrag znr Kasuistik der Konkrementbildnngen
im äusseren GehSrgang.
Von
Dr. med. Sehwidop in Karlsruhe (Baden).
(Mit 3 Abbildungen im Text)
Die Angaben in der Literatur über die Konkrementbildnngen
im äußeren Gehörgang sind äußerst spärliche. Lincke macht in
seinem Handbuch der Ohrenheilkunde darüber einige Angaben,
die wohl nur mehr ein historisches Interesse zu beanspruchen
haben. Er sagt in dem „pathologische Anatomie der äußeren Ab-
teilung des Gehörorgans^ betitelten Abschnitt in Bd. I: „Einer
besonderen Erwähnung verdienen die steinigen Konkretionen, welche
man einige Male im Gehörgang gefunden hat. Die älteren Schrift-
steller standen in dem Wahne, daß das Ohrenschmalz der Galle
an Eigenschaft gleiche und wie diese der Versteinerung fähig sei.
Bartholin erzählt von einer Frau, daß diese lange Zeit einen
Schmerz um das Ohr gehabt habe, der zuletzt durch eine Ent-
ladung kleiner Steine aus dem Gehörgang gelindert wurde. Gar-
mann beschreibt ein steinhartes Konkrement, von der Größe und
Gestalt einer Erbse, welches aus verhärtetem Ohrenschmalz be-
stand. Du Verney erzählt, daß er bei der Untersuchung des
rechten Ohres einer verstorbenen Person, die in den letzten Jahren
ihres Lebens auf dieser Seite taub gewesen war, zwei Linien weit
von dem Trommelfell eine sehr dicke und schlaffe Haut, und vor
dieser eine ziemlich ansehnliche Menge gipsartiger Materie gefunden
habe. Müller gedenkt eines Mannes, dem nach lange Zeit hin-
durch währenden Kopfschmerzen auf der linken Seite mehrere
spitzige und harte Steinchen, mit Blut und Eiter vermischt, aus
dem linken Ohr abgingen. Nach Collomb litt ein Mann mehrere
Jahre hindurch an vagen Schmerzen, die oft den Kopf einnahmen
102 XVI. ÖCHWIDOP.
und heftige Ofarenflüsse verursachten. Nach und nach nahm sein
Gehör ab, und er wurde ganz taub. Als man seine Ohren unter-
suchte, traf man einen harten Körper in beiden Ohren, der jedoch
im linken mehr hervorstand als im rechten. Man zog ihn heraus,
und es ergab sich, daß er eine gipsartige, harte und unregel-
mäßig geformte Masse von der Länge und Dicke einer gewöhn-
lichen Schminkbohne bildete. Neuere Beobachtungen von stein-
artigen Konkretionen im Gehörgang und chemische Analysen der-
selben fehlen."
Und in Bd. II. heißt es in einem besonderen Kapitel: „Die
Ohrsteine oder steinartigen Konkremente im Gehörorgan, Otolithi,
Otolithiasis" — „manchmal bilden sich im Gehörgang, in der
Trommelhöhle und im Warzenfortsatz unorganische Konkremente
von verschiedener Härte und Dichtigkeit .... Diese Konkre-
mente bestehen wahrscheinlich aus phosphorsaurem und kohlen-
saurem Kalk und aus tierischer, dem Ohrenschmalz und Schleim
analoger Substanz. . . — Die Steinbildung setzt immer eine ge-
wisse krankhafte Veränderung des Gehörorgans voraus, infolge
deren die Absonderung der Schmalzdrüsen und der Schleimhäute
alteriert ist. Vor allem muß aber ein Individuum eine solche An-
lage haben und es muß eine Stimmung obwalten, welche die
Steinbildung begünstigt Schon mehrere ältere Ärzte vermuteten
nicht ohne Grund, daß die Neigung zu derselben von einer
gichtischen Anlage herrühren müsse." —
Nirgends in der neueren Literatur findet sich ein Hinweis
auf diese doch recht ausführlichen Darlegungen Lincke's.
Tröltsch, Jacobson, Eitelberg, Hartmann u. a. er:
wähnen die Möglichkeit des Vorkommens von Konkrementbildungen
überhaupt nicht; auch in der pathologischen Anatomie von Ziegl er
findet sich keine Notiz darüber. In der Realencyklopädie von
Eulenburg wird das Vorkommen von Otolithen nur ganz kurz
erwähnt Brühl spricht davon, daß in Cerumenpfröpfen neben
Cholestearinkrystallen, pathologischen Mikroorganismen mitunter
auch kleine Fremdkörper und Kalk (Otolithen) gefunden wurden.
Vohsen in der Encyklopädie der Ohrenheikunde kennt Konkrement-
bildungen, die mit Cerumen und Epidermismassen vermengt sind
und deren Entstehen er durch die Beschäftigung der Träger mit
dem Baugewerbe erklärt, daneben aber auch solche aus kohlen-
und phosphorsaurem Kalk, deren Ursprung unbekannt ist. In dem
Handbuch von Schwartze finden wir die Angabe, daß Otolithen
von VoltoUni, Courtes undBezold beschrieben wurden, daß
Ein Beitrag zur Kasuistik der Konkrementbiidungen. 103
es aber nie gelungen sei, einen zentralen Kern nachzuweisen, wie
bei fast allen Nasensteinen.
Barth erwähnt in der Monatsschrift für Ohrenheikunde 1897
einen Fall von Eonkrementbildung an der Außenseite eines bei
chronischer Mittelohreiterung lange Zeit im Gehörgang belassenen
Wattepfropfes. Bezold allein spricht sich über das Vorkommen
von Ealkkonkretionen im Gehörgang ausführlicher aus und er-
wähnt die beiden von ihm beobachteten Fälle. — Während bei
den wenigen sonst in der Literatur vorliegenden Beobachtungen
gleichzeitig eine chronische Mittelohrentzündung bestand, fand
Bezold in seinen beiden Fällen Trommelfell und Gehörgang in-
takt, die Ealkkonkremente saßen innerhalb dicker Epidermis-
sehichten, die in ihrer Mitte verkäst waren. Die gleichzeitige An-
wesenheit reichlicher, in Form von Zooglöamassen angesammelter
Kokken macht es ihm wahrscheinlich, daß es, ebenso wie bei der
Bildung des Zahnsteines, der Tränensteine und der Bhinolithen
eine besondere Bakterienart ist, die eine vermittelnde Bolle auch
bei ihrer ausnahmsweisen Entstehung im Gehörgang spielt. In
beiden Fällen bestand fötide Sekretion im Gehörgang, in dem
einen auch infolge der Beizung durch die scharfen Ecken und
Kanten des Fremdkörpers und die vielfachen Manipulationen seitens
der Trägerin eine zapfenförmige Wucherung im Gehörgang. Beide
Male wurde teils mit der Spritze, teils mit Löffel und Zange eine
größere Anzahl von sehr unregelmäßigen z. T. bis zu 1/2 cm
langen harten Partikeln entfernt, welche ihrer Farbe und Eauhig-
keit, sowie ihrer vielfach durchlöcherten und aus Balkenwerk zu-
sammengesetzten Oberfläche nach kariösem Knochen vollständig
glichen. Ein Zusatz von Salzsäure unter dem Mikroskop ergab
reichliche Gasentwickelung und erwies ihre teilweise Zusammen-
Setzung aus kohlensaurem Kalk. Die große äußere Ähnlichkeit
der Otolithen mit spongiösenKnochensequestern könnte insbesondere
bei gleichzeitiger Anwesenheit einer größeren Zerstörung des
Trommelfells leicht die Veranlassung zu einer Verwechslung mit
Caries necrotica des Schläfenbeins geben.
Barth 1. c. spricht auch davon, daß er in erster Linie an
einen Sequester der Schnecke dachte und von dem Befund ganz
überrascht war; er nahm sogar an, daß er als erster diese Konkre-
mentbildung, wie er sie nannte, beschrieben habe.
Der eine Fall von Bezold wurde durch Waldeyer genauer
untersucht. Es fanden sich neben den Kalkkonkrementen reichlich
Detritus, Fettsäurekrystalle und Bakterien.
104 XVI. SCHWIDOP.
In dem von Barth beschriebenen Falle fanden sich bei der
Analyse „geringe Mengen kohlensauren und relativ größere Mengen
fettsauren Kalks^^
Einen den Bezold'schen ähnlichen Fall berichtet Secchi.
Schmulansky, Referat-Arch. f. Ohrenheilkunde Bd. A4,,
machte eine analoge Beobachtung wie Barth. Auch hier handelte
es sich um einen in den lateralen Schichten mit harten Konkre-
menten durchsetzten Wattepfropf bei chronischer Mittelohreiterung
die als Niederschläge von dem Eiter entstammenden Kalksalzen
gedeutet wurden.
Kretschmann berichtete auf der 12. Versammlung der
Deutschen otologischen Gesellschaft über einen von ihm beobachteten
Fall von Neubildung in der Paukenhöhle. Er fand bei einem
elfjährigen Knaben, der seit frühester Kindheit an chronischer
Mittelohreiterung litt und bei dem sich verschiedene Narben rund
um das Ohr, herrührend von mehrfachen spontan durchbrochenen
Abszessen, fanden, eine in Granulationsmassen eingebettete weiß-
gelbliche Masse, die sich als harter, nicht eindrückbarer Körper
von Erbsengröße erwies. Die Struktur desselben war keine gleich-
mäßige. Kretschmann fand nach Entkalkung neben geschichteten
Cholesteatom massen ein als Knochen sich erweisendes Balkenwerk
und nimmt an, daß sich im Verlaufe der Eiterung ein Knochen-
sequester gebildet hat, der in der Paukenhöhle liegen blieb und
hier, umgeben von Epidermismassen zur Ablagerungsstätte von
Kalksalzen wurde. Hier, wie auch in den beiden Fällen von
Bezold, in denen sich die Kalkkonkremente in Epidermismassen
eingebettet fanden, hat das Gerüstmaterial, aus Geweben des
Körpers bestanden, während in den Fällen von Barth und
Schmulansky ein Fremdkörper — Wattepfropf — zum Gerüst
für die Konkrementbildung wurde, die sich Kretschmann ähn-
lich vorstellt, wie die Ablagerung der Salze in den Gradierwerken
infolge von Verdunstung. Die Annahme von Bezold, daß Mikro-
organismen die Rolle der Kalkablagerer spielen, läßt Kretsch-
mann ebenfalls gelten^ doch vermag ihm weder diese noch die
andere Erklärung für das Zustandekommen der Konkremente im
Gehörorgan zu genügen, da die in den erwähnten Fällen vor-
handenen Verhältnisse — Fremdkörper, Sequester, Epidermis-
schoUen evtl. mit Anwesenheit von Zooglöa überaus häufig vor-
kommen und doch die Beobachtungen von Kalkkonkrementen im
Ohr sehr selten sind.
Diese nach allem außerordentliche Sehenheit der Otolithiasis
^
£tn Beitrag zur Kasuistik der Konkrementbilduugen. 105
dürfte es rechtfertigen, eine von mir gemachte Beobachtung aus-
fuhrlicher zu berichten, die in vielem von den obigen Bildern
abweicht und in keinem der Fälle ein Analogen findet.
Frida F., IS Jahre alt ein gesundes und kräftiges Mädchen vom
Lande, stets gesund bis auf die im ersten Lebensjahrzehnt iiberstandenen
Rinderkrankheiten, von gesunden Eltern, ist bisher nie ohrenkrank gewesen.
Seit April 1905 öfters auftretende Ohrenschmerzen rechts, die stets
nach wenigen Minuten wieder vorübergingen, nie Ausfluß. Mitte Mai
empfand Patientin außer einem nicht sehr intensiven Schmerzgefühl ein Oe-
fühl von Druck im rechten Ohr, keine Geräusche, aber zunehmende Schwer-
hörigkeit. Auch jetzt wieder kein Ausfluß. Natürlich wurde der vis
medicatrix naturae vertraut, im wohltuenden Gegensatz aber zu der sonst
üblichen Polypragmasie der Laien nichts unternommen, keine Ausspülungen,
keine Dämp'fe, keine Einträufelungen usw. Am 13. Juli 1905, also ein
Vierteljahr nach dem Auftreten der ersten Erscheinungen kam Patientin
wegen des ihr lästigen Druckgefühls, gelegentlicher interkurrenter Schmerzen
und der Schwerhöngkeit zu mir.
Der Stimmgabelbefund war der für obturierende unkomplizierte ein-
seitige Cerumenpfröpfe charakteristische, das Gehör für Flüsterzahlen total
aufgehoben, für halblaute Sprache am Ohr erhalten. Druck auf den Tragus
war nicht schmerzhaft, ebensowenig ausgiebige Bewegungen des Kiefer-
gelenks. Der Gehörgang normal weit wie auf der anderen Seite, wo das
Trommelfell vollständig frei lag.
Nirgends eine Spur von Cerumen, keine Epidermisfetzen, kein Sekret,
keine Rötung oder Schwellung, keine Granulationen. Ganz in der Tiefe,
das Trommelten total verdeckend und nirgends eine Lücke lassend, war ein
rauher, nicht höckeriger Fremdkörper sichtbar, der ganz und gar das Aus-
sehen eines Kieselsteins von grauer bis gelber Farbe hatte. Die Sonde
rechtfertigte die Annahme, daß es sich um einen Stein bzgl. steinähnliches
Gebilde handelte. An einen Sequester habe ich bei dem negativen Befund
im Gehörgang nicht einen Augenblick gedacht. — Nach der Anamnese war
ein Hineingelangen des Steines in den letzten Monaten oder Jahren ganz
ausgeschlossen. Was nun? Zuerst die Spritze, in der Hoffnung, daß doch
nocn irgendwo eine nicht sichtbare Lücke zwischen Stein und Gehörgangs-
wand sich fände. Vergebliche Mühel So griff ich zum Hebel und es ge-
lang mir einige kleine Partikelchen, die am oberen hinteren Rande des
Sternes abgebrochen wurden, herauszufordern. Die Masse war ziemlich
hart, ließ sich nicht mit den Rngem, wohl aber leicht mit dem Griffende
des Hebels zerdrücken und machte einen kreide- bis sandartigen Eindruck.
Erneutes Eingehen blieb erfolglos, nirgends eine Möglichkeit mit dem Hebel
oder einem Haken den Stein anzugreifen. Zudem war der Versuch für die
Patientin ziemlich schmerzhaft, obwohl eine Verletzung der Gehörgangs-
wand nicht gesetzt war.
So entschloß ich mich zur Narkose, die am 20. Juli unter Assistenz
des Herrn Geh. Medizinalrat Klehe-Bruchsal eingeleitet wurde. Aber auch
jetzt war es trotz mehrfacher Versuche unmöglich den Stein zu lockern.
Es blieb nun nur übrig, die Ohrmuschel abzulösen. Nach Durchschneidnng
der hinteren Gehörgaugswand lag der Fremdkörper frei zugänglich da. Es
erforderte aber auch jetzt noch einige Mühe, mit dem Hebel an der Stelle,
wo bei den ersten Versuchen vor 8 Tagen die kleinen Partikelchen los-
gelost waren, zwischen Gehörgangswand und Stein einzudringen, wobei
nun freilich die Gehörgangswand eine kleine Verletzung davontrug. Ein
Druck auf den Hebel und mit einem kleinen krachenden Geräusch war die
obere Hälfte des Steines in zwei ungleich großen Teilen abgesprengt. Nach
Entfernung der „Schuttmassen^' und Stillung der geringen aus der erwähnten
Verletzung der Gehörgangswand herrührenden Blutung war das Bild fol-
gendes: Das Trommelfell lag in den oberen Partien frei da, natürlich stark
gerötet durch Gefäßinjektion, die untere Hälfte war durch den Rest des
Steines, der fest in den Recessus des Gehörgangs eingekeilt saß, verdeckt
106 XVI. 8CHWID0P.
Unter großer Mühe und Voreicht gelang es aucli diesen Teil des Steinea und
zwar in toto aua seiner Lage abzubringen und dann mit der Hakenpinzette
leicht herauszuheben. Das Trommelfell war vollständig intakt. An der
hinteren knöchernen GehörgaugBwandung wurde mit einigen leichten Meißel-
schiHgen die Corticalis angetriacht, die Ohnnuachel wieder angenäht und der
GehSrgang fest tamponiert, um ihn zum Anlegen an die angefrischte Corti-
calis zu bringen. Der Verlauf der Heilung ließ nichts zu wünschen übrig;
kleine mehrfach auf schiel] ende Granu lationsknSpf eben an den Wundstellen
des Gehörgangs wurden mit Argentuin nitric. geätzt. Die Schnittwunde
hinter dem Ohre heilte per primam. Am 14. August konnte Fatieatiii ge-
heilt entlassen werden.
Das Trommelfell war in toto etwas getrübt, ohne licbtreflex,
anterechied sieh aber in nichts von dem des anderen Obres. Die
Hörfäbigkeit für Flüsterzahleo betrug bei Tageslänn in belebter
Straße auf beiden Ohren 5 m ; auch der Stimmgabelbefund ergab
keinen Anhalt für eine Benachteiligung des rechten Ohres. Noch
nach 6 Monaten konnte ich denselben Befund erheben.
Fig. 1.
Der zuletzt entfernte größere Teil des Steines hatte keil-
förmige Gestalt und maß an der dicksten Stelle 3,6 mm bei
einem Durchmesser von 8,6 mm.
Von den vergrößerten Abbildungen dieser unteren Hälfte des
Steines, die ich der Liebenswürdigkeit des Herrn Dr. phil.
Dienstbach-Karlsruhe verdanke, zeigt Fig. 1 die laterale, im
Gebörgange sichtbare Fläche. Fig. 2 gibt den Stein von der
unteren Kante gesehen wieder. Der in dem Becessus des Gehör-
Ein Beitrag zur Kasuistik der KoDkrementbilduDgen.
107
ganges nach vorn gelegene Teil, die scharfe Kante, entspricht
der heller beleuchteten Partie, während die danklere, dem hinteren
unteren Teile des Gehörganges aufgelesene Partie deatlich ein
dreieckiges Feld zeigt, a bezeichnet die laterale Seite (Fig. 1).
Fig. 2.
Die in Fig. 3 wiedergegebene Skizze veranschaulicht die
nngefäbre Lage des Fragments in situ.
Dadurch, daß die zuerst eotfemten kleineren Stücke durch
Zufall rerloren gingen, war es leider nicht möglich festzustellen,
ob sich der proc. brevis des Hammers in seinen f^
Konturen abgedrückt hatte, wie es auf festen
Cemmenpfröpfen öfters zu sehen ist.
Die von Herrn Hofapotheker Dr. Stroebe-
Earlsmhe volhttändig durchgeführte Analyse i
ergab, daß der Stein zum größten Teil aus
Ziukoxyd und Zinkkarbonat bestand. Kleinere
Mengen von Oalciumbydroxyd und Calcium*
Chlorid waren nachweisbar, desgleichen eine
äußerst geringe Menge von Caiciumhypochlorid oder Chlorat.
Das Bild der Analyse ist also folgendes:
Reaktion: alkalisch.
Gefundene Säuren: Koblensänre viel, Salzsäure wenig.
Fig. 3.
108 XVI. SCHWIDOP.
Gefundene Basen: Zink viel, Calcium wenig.
Gefundene Halogene: Chlor, jedoch in sehr geringer Menge.
Das dem vorliegenden Falle von Otolithiasis Eigentümliche
und im Verhältnis zu fast sämtlichen in der Literatur bekannten
Fällen Gegensätzliche ist, daß es sich um eine für sich ganz
allein bestehende Eonkrementbildung handelt, ohne Fremdkörper,
ohne begleitende Eiterung, ohne Beimischung von Cerumen oder
Epidermis usw., für deren Entstehung sich keine befriedigende
Erklärung finden läßt.
Die von Eretschmann gegebene Erklärung der Ent-
stehung durch Verdunstung und Auskristallisierung kommt gar
nicht in Betracht, da sich keine Spur von Sekretion fand und
auch wohl nie eine bestanden hatte.
Auch die von Bezold vertretene Ansicht, wonach die
Kalkablagerungen mit dem Vorhandensein von Mikroorganismen
in ursächlichen Zusammenhang zu bringen wären, würde aus
dem gleichen Grunde zur Aufklärung der Steinbildung nicht
ausreichen.
Des weiteren hat auch eine andere Auffassung Kretsch-
manns, daß nämlich die Ausscheidung von Kalksalzen aus
dem Säftestrom, wie sie als diffuse Trübungen oder Kalkinfiltrate
im Trommelfell, als Ablagerung von Kalksalzen in der Mucosa
bei Sklerose so häufig beobachtet wird, zur Bildung von Kon-
krementen führen könne, nicht große Wahrscheinlichkeit im vor-
liegenden Falle für sich. Die Möglichkeit dieser Art der Ent-
stehung muß immerhin zugegeben werden, würde aber auch noch
nicht vollständig zur Aufklärung ausreichen.
Auch von der Gicht als Ursache kann hier keine Rede sein.
Das Zustandekommen von Konkrementbildungen im Gehörgang
durch die Gicht kann im übrigen nicht einfach von der Hand
gewiesen werden, obwohl sich nirgends ein Analogen dafür finden
läßt, daß durch die intakte Epidermis hindurch eine Ausscheidung
von gichtischen Ablagerungen stattfindet.
Bleibt noch die Möglichkeit, daß, wie Lincke meint, und
wie auch Kretschmann zugibt, die Ceruminaldrüsen bei ge-
störtem Chemismus durch Absonderung anfangs gelöster Kalk-
salze zur Bildung des Otolithen Anlaß gegeben haben.
Aber auch die Analyse bietet ein abweichendes Bild. Wäh-
rend sonst von allen Autoren nur das Vorkommen von kohlen-
und phosphorsaurem Kalk neben Cholestearinkristallen, Fremd-
körpern, Mikroorganismen usw. erwähnt wird, finden sich hier
Ein Beitrag zur Kasuistik der Eonkrementbildungen. 109
reichlich Zinkverbindungen. Hätte die Anamnese nicht ein in
dieser Hinsicht absolut negatives Resultat ergeben^ so könnte sehr
wohl daran gedacht werden, daß das Zink etwa durch Zinksalze
enthaltende Ohrtropfen zugeführt worden wäre. Immerhin glaube
ich einen unaufgeklärten Zufall für das Vorkommen der Zink-
salze verantwortlich machen zu müssen, bis anderweitige Unter-
suchungen solcher Eonkremente ebenfalls das Vorkommen von
Zink vermelden.
Alles in allem ist die Entstehung der Konkremente an und
für sich noch in tiefes Dunkel gehüllt, ganz besonders aber im
vorliegenden Falle, wo fast alle Theorien total im Stiche lassen.
So bleibt nur zu wünschen, daß vorkommendenfalls ausführliche
chemische und mikroskopische Untersuchungen angestellt werden
in der Hoffnung, dadurch zu einer auch für diesen Fall aus-
reichenden Erklärung der Eonkrementbildung zu gelangen.
XVII.
Elf Jahre Nachbehandlnng der Totalanfmeissehngen
ohne Tamponade.
Von
Dr. med. A. Ton zur Mühlen in Riga.
Seit nunmehr 1 1 Jahren habe ich die Nachbehandlung der
Totalauf meißelungen sowohl bei den einfachen chronischen Prozessen,
als auch bei dem Cholesteatom ohne die sonst übliche feste
Tamponade durchgeführt. Es dürfte daher wohl an der Zeit sein,
über die Resultate Bericht zu erstatten. Ich tue dieses nun um
so lieber^ als mir eine diesbezügliche schriftliche Aufforderung
Herrn Geheimrats Schwartze vorliegt, in welcher er sagt „daß
es erwünscht wäre zu erfahren, wie sich die Resultate
der Nachbehandlung nach meiner Methode nach 5—10
Jahren gestellt haben".
Es hat in der Tat lange Zeit gedauert, ehe sich diese Methode,
deren Vorteile so sehr ins Auge springen, Bahn gebrochen
hat, obgleich ich sie nicht nur in meiner ersten Publikation,*)
sondern vielfach auch im persönlichen Verkehr den Fachkollegen
auf das Wärmste empfohlen habe. Die Furcht vor den gelegent-
lich etwas stärker wuchernden Granulationen war zu sehr ein-
gewurzelt, als daß sie bald hätte beseitigt werden können.
Dem Wunsche Herrn Geheimrats Schwartze, über die
vor 5— 10 Jahren operierten Fälle Bericht zu erstatten, kann ich
leider nur in beschränktem Maße nachkommen, denn es dürfte
fast zur Unmöglichkeit gehören, in dem weiten Gebiete des Reiches,
aus dem sich ein großer Teil meiner Patienten in Riga rekrutiert
erfolgreich Nachfrage zu halten; auch die örtliche Bevölkerung
der Stadt trägt einen derart fluktuierenden Charakter, daß in den
seltensten Fällen ein Patient nach vielen Jahren wieder auf-
1) Z. f. 0. Bd. 39.
Elf Jahre Nachbehandlung der Totalauf meißelungen ohne Tomponade. 11 1
gefunden werden kann. Er hat Wohnung und Ort gewechselt,
und Niemand ist imstande, über ihn Auskunft zu geben. Doch
will ich nicht versäumen, wenigstens die Fälle, welche mir augen-
blicklich zur Disposition stehen, zu publizieren, sie dürften wohl
genügen, um den Beweis der Brauchbarkeit der Methode zu
bringen. Im Allgemeinen kann ich nur sagen, daß ich bei allen
meinen operierten Patienten, deren Zahl keine ganz kleine ist,
auch bei einer langjährigen Eontrolle keine Nachteile habe er-
wachsen sehen, welche der Methode der Nachbehandlung hätten
zur Last gelegt werden können. Der Verlauf der Wundheilung
und das Verhalten nach vollendeter Epidermisierung entsprachen
vollkommen den angeführten Fällen, weswegen diese als Paradig-
mata genügen können.
Als ich im Jahre 1901 meine Methode publizierte, war es
mir entgangen, daß ZarnikoO im Jahre 1898 auf dem Verein
Hamburger Arzte einen Fall vorgestellt hatte, bei welchem er
gleichfalls die Tamponade fortgelassen, und dieselbe durch Bor-
einblasungen ersetzt hatte. Dadurch war dann Stein ^)-Königs-
berg i. Pr. zu der irrtümlichen Auffassung gelangt, daß ich, auf
der Empfehlung Zar niko 's fußend, diese Methode begonnen, an
einem größeren Materiale erprobt und sodann warm empfohlen hätte.
In meiner „Bemerkung zur Arbeit des Herrn Dr. Stein" 3}
habe ich diesen Irrtum Stein 's zurecht gestellt, und will dazu
noch erwähnen, daß Stein mir brieflich seine irrtümliche Auf-
fassung zugegeben hat.
Wie ich in meinen „Bemerkungen etc." schon hervorgehoben
habe, hatZarniko anstelle des Tampons die Borsäure gesetzt, er
spricht direkt von einem „Pulververband," in dem er die
ganze Wundhöhle mit Borsäurepulver anfüllt, während die äußere
Ohröffnung sodann mit etwas Watte abgeschlossen wird, die der
Operierte selbst nach Bedarf wechselt. Es ist die Bezoldsche
Borsäuretherapie bei chronischen Mittelohreiterungen, welche
Zarniko auch auf die Totalaufmeißelungen ausdehnt, wie er selbst
angibt. Mich dagegen haben die langjährigen Erfahrungen meiner
chirurgischen Tätigkeit dazu geführt, die Tamponade in der Aus-
dehnung, wie sie von den Ohrenärzten ganz allgemein geübt wird,
überhaupt nie anzuwenden; denn auch der aseptische Tampon ist
1) Deutsch, med. W. 1898. Vereinsbeilage S. 255.
2) A. f. 0. Bd. 70. S. 271.
3) A. f. 0. Bd. 70. S. 271.
112 XVU. ZUR MÜHLEN.
ein Fremdkörper, dessen längeres Verbleiben in der Wunde diese
nur reizt und die Heilung verzögert. Darum hatte ich auch den
Tampon nie durch die Borsäure ersetzt, denn auch die Borsäure
ist ein Fremdkörper, wenn ich auch gewiß gern zugeben will, daß
sie nur eine geringe chemische Reizwirkung ausübt. Daß die Bor-
säurebehandlungübrigens nicht selten schwer zu entfernende Krusten
bildet, welche Eiterretention bedingen können, gibt Eemann,^)
der Zarniko folgt, selbst zu. Er empfiehlt in den ersten zwei
Wochen täglich aJle Buchten der Wundhöhle, sodann diese selbst
und zum Schluß den ganzen Gehörgang mit Borsäurepulver an-
zufüllen. Später wird die Pulvermenge herabgesetzt. Eemann
schließen sich Caboche, Delsaux und Lermoyez an, auch
Boenninghaus^) empfiehlt diese Nachbehandlung, da sie reiz-
loser sei.
Die Indikation zur B e z o 1 d'schen Borsäuretherapie ist;
meinen Erfahrungen nach, gegeben in den Fällen, wo nach voll-
endeter Epidermisierung der Enochenhöhle eine pathologische
Sekretion der Schleimhaut fortbesteht. Das Ohr befindet sich dann
in dem Zustande, wie eine chronische Otitis med. perf. mit großem
Trommelf Eidefekt; ohne Enochenkaries. Erst dann ist, meinen Er-
fahrungen nach, die Borsäure wieder an ihrem Platze, und nicht
früher. Auch würde ich mich nicht entschließen können, gleich
Zarniko, den aseptischen Occlusivverband so bald fortzulassen,
um es dem Patienten anheimzustellen, den vorgelegten Wattepfropf
nach eigenem Ermessen zu wechseln.
Ich glaube, Zarniko unterschätzt die Nachteile der durch
diese Manipulationen fraglos geförderten Mischinfektion. Wenn-
gleich eine granulierende Wunde neu hinzutretenden Infektionen
einen gewißen Widerstand entgegensetzt, so wird doch diese Grenze
schließlich überschritten. Die Gewebsneubildung und Epidermisie-
rung kann darunter sehr leiden. Abgesehen von Totalaufmeißelungen
wende ich, wenn irgend möglich, den aseptischen Occlusivverband
bei jeder Form von Otorrhoe an, und kann ihn nur bestens
empfehlen.
Auf die Vorzüge der tamponlosen Nachbehandlung, dann
bestehend, daß die Epidermisierung rascher von statten geht, und
daß auch die ganze Nachbehandlung für den Arzt, hauptsächlich
aber für den Patienten bedeutend leichter wird, habe ich schon
1) Zitiert A. f. 0. Bd. 58. S. 298.
2) Z. f. 0. Bd. 49. S. 378.
Elf Jahre Nachbehandlung. der Totalauf meißelungen ohne Tamponade. Il3
in meiner ersten Arbeit hingewiesen, und wird dieses auch von
anderen Autoren (Gerber, Stein, Zarniko) bestätigt. Auf
diesen Punkt brauche ich daher kaum mehr einzugehen.
Es ist jedoch noch ein anderer Punkt, auf den, meiner Meinung
nach, im Allgemeinen noch zu wenig Bücksicht genommen wird,
und zwar betrifft dieser die physiologische Funktion des kranken
Ohres. Ich meine, abgesehen von dem Wunsche, den Kranken
durch die Totalaufmeißelung aus einer sein Leben in höherem
oder geringerem Grade bedrohenden Lage zu befreien, sollen
wir es auch erstreben, durch die Operation einen Zustand
zu schaffen, der sich den normalen anatomischen und physiolo-
gischen Verhältnissen nach Möglichkeit nähert Nicht nur
werden wir dann die größte Befriedigung finden, sondern
auch der Patient wird das Gefühl der „Heilung** haben,
d. h. das funktionsunfähige Organ hat wieder einen größeren
oder geringeren Teil seiner normalen Funktion übernommen.
Es ergibt sich von selbst, daß wir diese relative Bestitutio ad
integrum nur bei einem Teile der Fälle werden erreichen können,
und zwar bei denjenigen, bei welchen die spezifischen End-
apparate durch den chronischen Entzündungsprozeß nicht zu sehr
gelitten haben. Ist der primäre Krankheitsherd geheilt, und
bilden sich die Entzündungszustände in der Umgebung desselben
zurück, so wird noch manch schönes Besultat erreicht werden
können, wie man es bei den ersten Untersuchungen kaum zu er-
warten hoffte. Eine bedeutsame Bolle beim Hörakt spielt die
Schleimhaut, narbige Degeneration und Schrumpfung werden das
Gehör in größerem oder geringerem Grade herabsetzen, entsprechend
der dadurch bedingten Bewegungsbeschränkung der Steigbügel-
platte. Es darf nun wohl angenommen werden, daß die durch
eine längere Zeit hindurch fortgesetzte subtile Tamponade auf
die vielleicht noch regenerationsfähige Schleimhaut schädigend
eingewirkt hat, und daß die funktionellen Besultate besser sein
werden, wenn die Schleimhaut durch die Tampons nicht gereizt
und dadurch in ihrer Bückkehr zum normalen Zustande gehindert
wird. Vergleichende Untersuchungen nach dieser Bichtung hin
stehen mir nicht zu Gebote, da ich, wie schon hervorgehoben,
nur ganz am Anfange meiner Tätigkeit mit gelegentlich lockerer
Tamponade behandelt, die feste aber nie angewandt habe. Die-
jenigen Operateure, die bis jetzt tamponiert haben, werden sich
eher ein diesbezügliches Urteil verschaffen können, wenn sie nun-
mehr die Tamponade fortlassen. Den Wunsch, die Tube von der
Archiv f. Ohrenheilkande. 73. Bd. Festschrift.
I
114 XVn. ZUR MÜHLEN.
operierten Höhle abzuschließen der nach Gerber, *) gewiß bei
jedem Operateur, ein lebhafter ist, habe ich nicht gehabt, auch
würde ich, aus oben angeführten Gründen, keine Thierschen
Läppchen ^) auf die tympanale Tubenöffnung setzen. Eine Epider-
misierung der Paukenschleimhaut von der Peripherie aus zu ver-
hindern, sind wir, wie die Verhältnisse nach der Operation liegen,
nicht in der Lage, vom Zentrum aus sie durch Transplantationen
noch zu fördern, halte ich für unnötig. Die Gefahr der Tuben-
sekretion wird, scheint mir, überschätzt. Auch Gerb er 3) erscheint
es sehr fraglich, ob das Tubensekret, wenn die Wundhöhle mit
fester Epidermis bekleidet ist, dieser noch viel anhaben kann, da
es ja durchaus nicht immer ein eitriges ist. Eine Epidermi-
sierung der Schleimhaut wird aber gleichfalls geeignet sein,
die physiologische Funktion des Ohres zu beeinträchtigen. Ein
fraglicher Nachteil soll daher mit einem Vorteil ausgeschaltet
werden.
Damit das operierte Ohr sich nach Möglichkeit wieder den
anatomischen Verhältnissen nähern kann, halte ich es für richtig,
bei der Operation konservativ vorzugehen, und nicht mehr vom
Knochen zu entfernen, als unbedingt erforderlich ist, um den
Krankheitsherd freizulegen und günstige Heilungsbedingungen zu
verschaffen. Ich glaube, daß häufig die Neigung besteht, des
Guten zu viel zu tun. Je steiler die Ränder der Operationshöhle
abfallen, um so weniger hat der Organismus später an neuem
Gewebe aufzubauen, um so rascher kann die Epidermisierung
erfolgen, um so mehr nähert sich später alles dem Ursprünglichen.
Aus demselben Grunde :kann ich die Resektion der oberen
hinteren Gehörgangswand, mit Einschluß der angrenzenden Teile
der Concha, wie sie von Caboche*) empfohlen wird, nicht
richtig finden. Ein Einrollen des Gehörgangslappens habe ich
nicht erlebt, auch nicht in den Fällen, wo ich bis in die Concha
hinein spaltete, um die äußere Öffnung zu vergrößern. An
mangelnder Übersicht bei der Operation und Nachbehandlung
habe ich mich gleichfalls nie zu beklagen gehabt.
Gelegentiich bildet sich, der Insertion des Trommelfelles
entsprechend, eine Membran aus, was ich nur als Vorteil an-
sprechen kann.
1) A. f. 0. Bd. 70. S. 2.1.1 u. 268.
2) A. f. 0. Bd. 70. S. 212.
3) cf. Z. f. 0. Bd. 49. S. 378.
Elf Jahre Nachbehandlung. der Totalauf meißelungen ohne Tamponade. 115
Dieser neue membranöse Ä^bschluß des Mittelohres nach außen
hin kann auch ein absoluter sein, meist jedoch ist er nur ein
partieller.
Alfred Zederström 17 a. n. Seit dem 7. Jahre Ohrenfluß nach
Scharlach.
8. Jan. 1898. Typische Totalauf meißelung. Letzte Kontrolle 30. April
1907. Absoluter Verschluß des äußeren Gehörganges durch eine grauweiße
derbe Membran. Konversationssprache am Ohr. Beschwerden von Seiten
des Ohres haben seit der Operation nicht mehr bestanden.
Alexander Maschurin 12 a. n. Längere Zeit Ohrenfluß rechts.
Gelegentlich heftige Schmerzen hinter dem Ohre und Schwindel.
16. April 1901. Vollkommener Trommelfelldefekt. Hammer cariös.
Schleimhaut injiciert, nicht verdickt. Druckempfindlichkeit auf dem Proc. mast.
4. Mai. Ol. Totalaufmeißelung. Eröffnung des grossen mit Eiter und
Granulation angefüllten Antrums. Der freigelegte Sinus ist gesund. Ge-
hörknöchel nur in kariösen Resten vorhanden. Im übrigen tj^pische Be-
endigung der Operation mit Spaltung des Gehörganges und primärer Naht.
4. Juni. Epidermisierung beendet. Granulationsbildung war gering.
25. Mai 1907. Das Ohr ist immer vollkommen trocken gewesen. Nach
hinten und oben sieht man in eine große mit einer glänzenden Membran
ausgekleideten Höhle, welche über den Facialissporn hinweg mit dem breit
freiüegenden trockenem Recessus epitympanicus zusammenhängt. Etwa in
der Höhe, wo sich normaliter der obere Trommelfellfalz befmdct, hat sich
eine halbmondförmige, wallartige Erhebung der obersten Promontorialwand
gebildet, welche sich vom Facialissporn zur vorderen Gehörgangswand er-
streckt Diese, zusammen mit der vorderen und unteren Genörgangswand
und der korrespondierenden Partie des Facialisspornes bildet einen zu-
sammenhängenden Rahmen, innnerhalb welcher sich eine graue, feste
Membran ausspannt. Durch diese wird das Mittelohr nach außen hin ab-
geschlosssn, genau wie durch ein Trommelfell. Auch nicht die kleinste
Kommunikationsöffnung läßt sich nachweisen. Gehör für Fl. Sp. ca.
74 Meter.
unter den noch vorhandenen Karten des Roten Kreuzes
finde ich aus der Zeit bis 1902 ganz vereinzelte Fälle von Aus-
bildung eines membranösen Abschlusses des Mittelohres, so
A. W. 13 a. n. operiert am 16. Oktober 1900, letzte Kontrolle am
17. Mai 1901; es hat sich eine zarte, dem Promontorium nahe liegende
Membran gebildet, Gehör gegen früher verbessert (2 — 4 Meter.) Des weiteren
liegt die Karte von Fritz Stepping vor, mit dem letzten Befunde vom
10. September 1899, wo ich gleichfalls notiert finde, daß sich eine neue,
dem ^ommelfell entsprechende Membran gebildet hat. Auch hier ist das
Gehör gegen früher verbessert.
Ich erinnere mich nicht, diese beiden Fälle später noch ge-
sehen zu haben, so daß ich über ihr weiteres Schicksal keine
Auskunft geben kann.
Absoluten membranösen Abschluß der Paukenhöhle habe ich,
wie schon hervorgehoben, nur selten beobachtet. In beiden ersten
Fällen ist das Gehör stark herabgesetzt, in den beiden letzten
gegen früher verbessert.
Findet nach Helm ho Itz die Schallübertragung vom Trommel-
fell auf das innere Ohr durch die Kette der Gehörknöchel statt, so
muß Fehlen derselben bei vorhandenem membranösen Abschluß
8*
116 XVII. ZUR MCHLEN.
des Mittelohres Taubheit^ zum mindesten aber sehr bedeutende
Schwerhörigkeit im Gefolge haben. Was anderes ist es, wenn
nach Kleinschmidt die „Paukenluftsäule" die Über-
leitung des Schalles auf das innere Ohr übernimmt. Da kann
durch die neue Membran das Hören bis zu einem gewissen Grade
vielleicht auch gebessert werden. Auf die theoretische Seite dieser
Frage näher einzugehen,- ist hier nicht der Ort. Immerhin muß die
Möglichkeit zugegeben werden, daß vorhandene noch so kleine
Kommunikationsöffnungen den Schallwellen Zutritt in das Mittel-
ohr gestattet haben, und daß dadurch in den beiden letzten Fällen
eine Hörverbesserung zustande gekommen ist.
In meiner ersten Arbeit habe ich 3 Fälle angeführt, bei
welchen sich nach der Operation eine konische Verengerung des
Gehörganges ausgebildet hatte. Über zwei dieser Fälle, denen
ich einen dritten hinzufüge, bin ich im Stande, jetzt noch Angaben
machen zu können.
Baronesse A. St., operiert am 17. Oktober 1900. Es bestand voll-
kommener Trommelfelldefekt, Durebbruch der Membrana Shrapnelli und
Caries der Gehörknöchelchen. Gehör: Fl. Spr. 1 Meter.
Es bildete sich in diesem Falle eine ^anz erhebliche Stenose des Ge-
hörgangs in der Tiefe, etwa in der Trommelfellgegend aus. Nach vollendeter
Epiaennisierung war jedoch das Ohr vollkommen trocken und das Gehör
auf ca. 3—4 Äleter fiir Fl. Spr. gestiegen. Im Laufe der Jahre hat sich
dann die Stenose ein wenig erweitert, das Ohr blieb trocken und das Gehör
unverändert gut. Soeben schreibt mir der behandelnde Arzt, daß das Ohr
in vollkommen gutem Zustande ist, eine Behandlung ist nie erforderlich ge-
wesen, das Gehör ist gut. (Auf dem anderen, nicht operierten Ohre ist die
Dame fast taub).
Herr Kosch- Kurland. Totalauf meißelung wegen Cholesteatom rechts
am 11. Dezember 1899, links am 8. Dezember 1900.
Auf dem linken Ohre bildete sich eine geringe postoperative Stenose
aus. Befund am 28. April 1907. Mittelohr und nußgroße glattwaudige
Choiesteatomhöhle sind mit einer silbergrauen, glänzenden Membran aus-
gekleidet, vollkommen trocken und rein. Zwischen beiden Höhlen befindet
sich eine wallartige Erhebung, die jedoch so niedrig ist, daß die freie Über-
sichtlichkeit absolut nicht behindert wird. Von einer Stenose des Gehör-
ganges ist keine Spur mehr vorhanden.
Moritz von Gl. 15 a. n. Ohrenfluß links seit der Kindheit. — Voll-
kommener Trommelfelldefekt, Fehlen der Gehörknöchelchen. Auf dem
Promontorium eine oberflächliche weiße Nekrose.
30. Jan. 1901. Totalaufmeißelung. Keine Besonderheiten. Primäre Naht
28. März. Normaler Heilungsverlauf; Gehörgang in der Tiefe etwas
verengert. Gehör besser.
26. Febr. 1904. Ohr unverändert gut, trocken. Gehör besser als auf
dem anderen Ohre woselbst es abnimmt. Stenose kaum mehr zu bemerken.
15. Mai 1907. Laut brieflicher Nachricht ist das Ohr in Ordnung.
Gehör unverändert.
Wir sehen also, daß eine, auch unerwünschte Stenosen-
bildung offenbar nicht die Gefahren in sich trägt, die man zu
I) Z. f. 0. Bd. 39. S. 200.
Elf Jahre Nachbehandlung der Totalauf meißelangen ohne Tamponade. 117
glauben geneigt war, und daß die Stenosen die Neigung haben^
sich später von selbst mehr oder weniger zu erweitern. Der
feste Knochenring, in welchem die Narbe angeheftet ist, gibt eben
dem Zuge des Narbengewebes nicht nach, wie es bei den Weich-
teilen, z. B. in der Urethra oder im Darm geschieht Die Narben-
schrumpfung führt daher zu keiner Verengerung, sondern Er-
weiterung des Lumens. Fall 27 aus der Kasuistik von Stein
bietet dieselben Verhältnisse.
Die hauptsächlichsten Einwände, welche gegen die tampon-
lose Nachbehandlung der Totalaufmeißelungen erhoben worden
sind, wiesen erstens auf die Möglichkeit von Cholesteatom-
rezidiven infolge von Überwucherung von Cholesteatomkeimen durch
die Granulationen, zweitens auf unliebsame Verwachsungen
und Membranbildungen hin.
Daß beide Befürchtungen in der Tat unbegründet sind, glaube
ich, werden meine angeführten Falle erweisen. Cholesteatomrezi-
dive habe ich nie gesehen, Membranbildungen dagegen kommen
gelegentlich vor. Wenn sich aber nicht zufällig Detritusmassen
hinter der Membran ansammeln, wie im Falle 25 bei Stein,
80 sehe ich keinen Grund ein, warum man sie besonders fürchten
soll. Bleibt die Höhle trocken, so bildet diese membranöse Vor-
lagerung einen gewissen Schutz nach außen, sezemiert sie da-
gegen, so kann die Membran leicht exzidiert werden, wie es ja
auch Stein gemacht hat. Es mag ein Zufall sein, daß ich bis
jetzt noch nicht in der Lage gewesen bin, dieses tun zu müssen.
Daß andererseits auch ausgedehnte Membranen sich spontan
zurückbilden können, lehrt der Fall Meta Volkmann.
Ich lasse nunmehr meine Fälle, soweit sie nicht schon an-
geführt sind, in chronologischer Reihe folgen:
Oscar Sommer 5 a. n. 31. Okt 1896. Seit 4V2 Jahren Ohrenfluß
rechts. Aetiologie unbekannt. Seit einigen Wochen Fistelbildung hinter
dem Ohre. Gehörgang spaltförmig vereng, stark foetide bräunliche Massen
in ihm. Uhr 1 Fuß weit gehört.
1. Nov. 1906. Totalaiumeißelung. Dünne, zum teil necrotische Knochen-
deeke schließt eine glattwandi^e fast den ganzen Proc. mast. mit Gholestea-
tommasseu ausgefüllte Höhle em. Bogengang intakt, Gehörknöchel fehlend,
hintere knöcherne Gehörgangswand zerstört. Dura und Sinus liegen nicht
frei. Lappen bildung. Naht
1. Nov. 1907. Höhle bis auf eine kleine Fläche in der Umgebung der
Tube vollkommen epidermisiret.
10. Nov. 1907. Mächtige epidermieierte Höhle, mit bräunlichen, weichen,
leicht zu entfernenden Massen locker angefüllt. Die Höhle ist frei übersicht-
lich. Paukenschleimhaut sezemiert, nicht epidermisiert
Benson Otto, 1 Jahr 3 Monat 19. Dez. 1907. Scharlach vor 2 Monaten,
darnach Ohrenlaufen rechts. Schwellung der Weichteile und Fistelbildung
hinter dem Ohre. Gehörgang absolut verengt.
118 XVII. ZUR MÜHLEN.
23. Dez. 1S97. Totalauf meißelung. In einer Ausdehnung eines 10 Pfg.-
Stückes ist der Knochen zerstört, Sinus und hintere Schädelgrube liegen
frei, sind aber, nach Entfernung der Granulationen normal.
30. Dez. 1897. Von einer rationellen Nachbehandlung kann keine Rede
sein, da das Kind ganz unregelmäßig, meist in Pausen von vielen Wochen
zum Verbände kommt. Hinter dem Ohre alles verheilt, doch fließt das
Ohr in letzter Zeit starker. Durch das Ohr wird ein ziemlich großer Se-
quester entfernt.
15. Dez. 1905. Typische, trockene Höhle.
5. Mai 1907. Laut mündlicher Nachrichten geht es dem Knaben gut.
Das Ohr ist vollkommen trocken.
Kosch, 31 a. n. 22. Okt. 1893. Als vierjähriges Kind Scharlach, seit der
Zeit Ohrenfluß bds.
r. Totaler Defekt von Trommelfell und Gehörknöchel. Foetide Sekret-
massen im Kuppelraum und Mittel ohr.
8. Nov. 1899. Totalaufmeißelung rechts. Knochen sklerotisch, Antrum
nußgroß mit schmierigen Massen angefüllt; nach Beendigung der Knochen-
operation resultiert eine sehr große Höhle. Übliche Spaltung. Primäre Naht
Die Epidermisiemng geht auffallend rasch, ohne irgendwelche Granu-
lationsbildung von statten; nach 4 Wochen war die Wunde ausgeheilt. Pat.
wird entlassen und stellt sich alle 3 — 4 Monate, später etwa einmal jährlich
vor. Gehör ganz bedeutend besser.
4. Mai 1907. Die große Wundhöhle vollkommen trocken. Es hat nie
Sekretion oder Ansammlung von Massen bestanden.
Kosch. Totalaufmeißelung links. 11. Dez. 1900.
cf. oben.
Alexander Ukrah 18 a. n. Ohreiterung seit der Kindheit bds.,
Cholesteatom bds.; Totalaufmeißelung bds. 25. Oktober 1897 links; 18. No-
vember 1898 rechts.
Die Karte des Roten Kreuzes beim Umbau abhanden gekommen. Zum
letzten Male untersucht vor 3 Jahren Beide Ohren sind immer trocken gewesen.
Untersuchung am 25. April 1907.
Ohr r. vollkommen trocKen, frei übersichtlich, mit glänzender grauer
Narbe ausgekleidet. Über den Facialiswulst sieht man in die etwa bohnen-
große trockene Cholesteatomhöhle.
Ohr 1. ebenfalls trocken und vollkommen frei übersichtlich, nur ist die
Cholesteatomhöhle hier bedeutend größer, etwa wie eine Nuß.
Wikutke, Johann, 5 Jahr 8 Monate. 2. Januar 1900. Ohrenfluß
seit 472 Jahren bds. nach Scharlach. Seit 2 Wochen fühlt sich das Kind
schlecht und klagt über Schmerzen rechts. Schwerhörig.
Ohr r. Vollkommener Defekt von Trommelfell und Gehörknöchelchen.
5. Jan. 1900. Totalaufmeißelung r. Mittelohr und Antrum mit Granu-
lationen angefüllt, Antrum sehr groß, buchtig. Sinus wird freigelegt, ist
jedoch normal. Sehr große Operationshöhle
12. März 1909. Höhle vollkommen epidermisiert. Paukenschleimhaut
normal.
15. Mai 1905. Vollkommen freiliegende große Höhle, die oben allseitig
epidermisiert Die Schleimhaut sezerniert noch.
Admann, Minna 25. 24. Febr. 1902. Vor 16 Jahren Scharlach. Seit
der Zeit Ohrenfluß bds. und taub.
Ohr r. Trommelfell defekt. Hinten oben Cholesteatamhöhle.
25. Febr. 1902. Totalaufmeißelung. Nußgroße Cholesteatomhöhle.
28. April 1902. Vollkommen epidermisiert
21. April 1907. Die ganze Höhle und Mittelohr von einer perlgrauen,
glänzenden Membran ausgekleidet, vollkommen frei übersichtlich und trocken.
Kein angetrocknetes Sekret.
Fasse ich die Resultate der tamponlosen Nachbehandlung
der Totalaufmeißelungen zusammen und verwende sie mit zur
Indikationsstellung für eine vorzunehmende Operation, so hat sich
Elf Jahre Nachbehandlung der Totalauf meißelungen ohne Tamponade. 119
für mich ergeben, daß ich die Indikationsstellung etwas weiter
glaube fassen zu können, als es im allgemeinen wohl noch üblich
ist. Die Operation an sich muß als eine gefahrlose bezeichnet
werden, zugleich ist die Nachbehandlung eine leichte und ein-
fache und irritiert den Patienten nur wenig. Daher darf sie,
meiner Meinung nach, nicht nur dort empfohlen und vorgenommen
werden, wo die üblichen konservativen Methoden versagt oder
nur einen begrenzten Erfolg gehabt haben, sondern es muß auch
im Auge behalten werden, daß eine langdauernde Eiterung die
physiologischen Funktionen des Ohres nur zu sehr, oft auch un-
wiederbringUch zu beeinträchtigen geeignet ist. Je früher wir
daher operieren, um so besser und auch für den Patienten be-
friedigender wird das funktionelle Resultat sein.
XVIII.
Ein Fall asthenischer Pyohämie.
Von
Dr. med. Erwin Jürgens in Warschau.
Die verschiedenen Formen, unter denen die Pyohämie resp.
die Septicämie, oder wie wir sie am häufigsten auftreten sehen,
die Septieopyohämie sich äußert, können immer noch durch Einzel-
beobachtungen ergänzt werden. Wohlverständlich sind uns die
Formen, die unter hohen und typischen Fiebererscheinungen,
Metastasen usw. verlaufen. Kätselhaft erscheinen die sehr seltenen,
bekannt gewordenen Fälle, wo die ganze schwere Krankheit ohne
alle stürmischen Erscheinungen selbst ohne Fieber verläuft und
wie in diesem Falle selbst zum Tode führt.
Der Soldat P. S., Tartan 22 Jahre alt, trat am 6. Jnnl 1906 in die
Ohrenabteilang des Ujasdowschen Militärhospitals in Warschau ein.
Stat. praes. Die untere und Hinterwand des r. äußeren Gehörganges
sind gerötet, geschwollen, leicht excoriiert Das r. Trommelfell, rotgetrübt,
hat in der hinteren Hälfte eine kleine runde Perforation, aus der sich mäßiger
schleimiger Eiter entleert. Das linke Ohr ist normal, Gehör links mäßig für
tiefe Töne herabgesetzt. Sonst kemerlei Klagen. Temperatur 37,4, Puls 80,
regelmäßig.
Anamnestisch läßt sich wenig emieren, Patient will etwa 3 Tage ki-ank
sein, woher das Ohrubei gekommen, weiß er nicht, er meint: Erkältung.
(Diesen Angaben kann erfahrungsgemäß kein Wert beigemessen werden,
vielmehr sprechen die Reizungserscheinungen im Gehörgange für Mani-
pulationen in selbstverstümmlerischer Absicht zum Zweck aer Befreiung
vom Dienste.)
Am 1. Tage der Erkrankung ist die Temperatur 38 ° gewesen, nachher
waren keine erhöhten Temperaturen mehr vorhanden.
Die nächsten 25 Tage bis zum 2. Juli betrug die höchste Temperatur
37,2®, die niedrigste 36,5, die größte Schwankung zwischen Morgen- und
Abendtemperatur betrug nur 0,7®. Die Ohreiterung war die ganze Zeit
über schleimigeitrig, niemals sehr reichlich. Der Warzenfortsatz zeigte
keinerlei subjektive noch objektive Erscheinungen, weder Schmerz- noch
Druckempfinalichkeit noch Schwellung. Kopfschmerzen oder Schwindel-
erscheinungen fehlten, ebenso Schüttelfröste. Das Bewußtsein des Kranken
Ein Fall asthenischer Pyohämie. 121
war die ganze Zeit über ungestört, der Kräfteverfall ein augenscheinlicher,
sehr rasch fortschreitender. An den inneren Organen wurde die ganze Zeit
über keine wesentliche Veränderung entdeckt; die Milz schien etwas ver-
größert, Nervensystem und Augen boten nichts Außergewöhnliches dar,
ebenso die Halsvenen. Die Hautdecken waren fahl, aschgrau. Der Kranke
bot die ganze Zeit über ein eigentümlich apathisches ermüdetes Aussehen,
lag viel , aß aber im ganzen mit gutem Appetit. 6 Stimden vor dem Tode
am 2. Juli traten ganz plötzlich stürmische Erscheinungen ein, zuerst ein
Schüttelfrost, dann heftiges Erbrechen, Pulsanstieg von 80 pro Min. auf 140,
Pupillenstarre, ünbesinnlichkeit und Tod.
Am 3. Juli erfolgte die Sektion, die vom Prosektor des Hospitals, Dr.
Bedrekowski, vorgenommen wurde. — Ich lasse das Protokoll der Sektion
in Kürze folgen:
Die Dura mater ist blutreich, gespannt, die pia mater zeigt an der
Basis ein wenig Eiter. Die Hirnsubstanz ist ziemlich blutreich, die Lungen
sind blutüberfüTlt. Der Herzmuskel ist schlaff, auf der Schnittfläche gi-au-
gelb, trübe. Der linke Ventrikel ist stark ausgedehnt, leer, der rechte schlaff,
enthält ein wenig flüssiges, schwarzes Blut. Die Leber ist vergrößert, trübe
auf der Schnittfläche, dunkelrot; die Milz um die Hälfte vergrößert, schlaff,
ihr Gewebe aufgelockert, auf der Schnittfläche dunkelrot. Uie linke Niere
ist etwas vergrößert, schlaff, auf der Schnittfläche dunkelrot Die Dünn-
darmschleimhaut ist blaß, der Darm von Gasen aufgetrieben.
Die Blutuntersuchung aus der Milz und dem Ventrikelblute ergab
Streptokokken.
Die Sinus sigmoid. und Ven. jugular. enthielen keine Thromben, der
r. Warzenfortsatz war kleinzellulär. Kariöse Stellen am Tegmen wurden
nicht entdeckt, eine direkte Eiterstraße vom Ohre nach dem Gehirn nicht
gefunden.
Epikrise. Die nächstliegende Ursache der Erkrankung
war das Ohrübel, das in kurzer Zeit zur Sepsis führte. Klinisch
waren die einzigen auch für Sepsis in Betracht kommenden Er-
scheinungen die Mattigkeit, Milzschwellung und namentlich die
Verfärbung der Hautdecken, während gerade die Kardinalsymp-
tome, hohe schwankende Temperaturen (Metastasenbildungen und
Erscheinungen am Warzenfortsatz und Ingularvenen) ganz
fehlten. Wie läßt sich das nach dem Sektionsbefunde erklären?
Durch den Blutbefund (Streptokokken) ist die septische Allge-
meinerkrankung erwiesen, daß es trotzdem aber nicht im Ver-
laufe der Krankheit zu erhöhten Temperaturen oder Metastasen-
bildung noch anderen stürmischen Erscheinungen kam, ist, wie
ich dem Prosektor Dr. B. beistimmen möchte, wohl größtenteils
auf die kolossale Erschlaffung und Degeneration des Herz-
muskels zurückzuführen, deren Anlage wohl vorgelegen haben
mag, die aber im Verlaufe der Erkrankung augenscheinlich
rapide Fortschritte gemacht hat. Die beginnende Meningitis, die
die stürmischen Erscheinungen kurz vor dem Tode hervorrief,
ist wohl als erste und letzte pyämische Metastase im Verlaufe
der Krankheit aufzufassen, da eine direkte Eiterstraße vom Ohre
nach dem Gehirn nicht nachzuweisen war.
Es drängt sich in diesem Falle die Frage auf, ob durch
122 XVin. JÜRGENS. Ein Fall asthenischer Pyohämie.
irgendwelche spezifische therapeutische Maßnahmen das Leben
des Kranken hätte gerettet werden können.
Von uns wurden allgemein kräftigende Mittel, sorgfältige
Pflege und Borbehandlung für das Ohr angewandt. Serum
wurde nicht eingespritzt. Wir meinen, daß eine Streptokokken-
serumbehandlung vielleicht hätte nützen können, wenn nicht die
kolossale Erschlaffung und Degeneration des Herzmuskels, die
bei der Sektion konstatiert wurde, jegliche Therapie von vorn-
herein aussichtslos hätte erscheinen lassen.
XIX.
Zur Kasuistik der otogenen Hirnabszesse.
Von
Dr. med. Hanns Jnst, Ohren-, Nasen-, Halsarzt in Dresden.
Die Diagnose der otitischen Hirnabszesse ist nach Körner^)
in der Regel schwer, häufig unmöglich. Ausnahmen bilden nur
die Fälle, in denen erkrankte Stellen an der Dura oder Fisteln im
Knochen bei der Aufmeißelung oder während der Nachbehandlung
eines aufgemeißelten Warzenfortsatzes direkt zu dem ence-
phalitischen Herde führen, oder charakteristische Herdsymptome
den Sitz des Abszesses verraten. Wie aber die Durchsicht der
Literatur lehrt, sind die Fälle sehr häufig, in denen drohende
Himdruckerscheinungen zum Aufsuchen des raumbeschränkenden
Abszesses zu einer Zeit zwingen, in der sich die Entscheidung,
ob es sich um Kleinhirn- oder Großhirnabszeß handelt, nicht
treffen läßt Es ist dann Glückssache, ob man gleich beim ersten
explorativen Eingehen den erkrankten Himteil trifft.
Noch komplizierter wird die Diagnose, wenn beim Eintreten
manifester Symptome von Himabszeß die veranlassende Ohr-
eiterung bereits abgeheilt ist, und eine profuse Nasennebenhöhlen-
eiterung derselben Seite die Aufmerksamkeit auf sich lenkt und
das Vorhandensein eines Frontallappenabszesses in den Bereich
der Mögliobkeit rückt.
Über einen derartigen Fall, den ich im Winter 1906 zu be-
obachten Gelegenheit hatte, möchte ich kurz berichten.
Am 7. Nov. 1906 wurde ich von Dr. R. zu dem 50 jährigen Techniker
B. (prüfen. Die Anamnese ergab: Vor 2 Jahren Influenza. Daran an-
Bchheßend eiteriger Ausfluß aus der Nase und dumpfer Kopfschmerz. Lange
fortgesetzte, konservative Behandlung führte zu keinem Resultat. Vor vier
Woäien gelegentlich einer Exacerbation der Naseneiterun^ acute Otitis media
dextra Trotz sofortiger sachgemäßer Behandlung geht die Ohreiterung nicht
1) Lehrbuch der Ohrenheilkunde und ihrer Grenzgebiete 1906 S. 213.
124 XIX. JUST.
zurück. Der sehr energische Patient versieht seinen Beruf weiter, bis sich
unter Fieber, Hinfälliglceit und starken Kopfschmerzen 3 Wochen nach Be-
ginn der Otitis — Anfang November — eme Mastoiditis entwickelt.
Status: Über mittelgroßer, kräftiger Mann. Auffallend bleiche, fahle
Gesichtsfarbe, matter Blick, langsame, zögernde Antworten. Patient macht
schwerkranken Eindruck. Zunge stark belegt, Fötor ex ore. Puls 60—70,
Temperatur früh 37°, mittag 38,*, abend 38,-^
Ohrbefund rechts reichlich dickflüssiger, gelber Eiter im Gehörgang.
Perforation hinten oben, aus der Eiter pulsierend hervorquillt Trommelfell
verdickt, stark gerötet, Einzelheiten nicht erkennbar. Hinten oben Gehör-
gangswand gesenkt. Planum und besonders Spitze des Warzenfortsatzes
auf Druck schmerzhaft, Gegend des Emissariums ebenfalls. Weichteile hinter
der Ohrmuschel leicht infiltriert.
Links abgesehen von Trübung und leichter Einziehung des Trommel-
fells normale Verhältnisse.
Weber unbestimmt, Rinne links -J-, rechts — , Hörfähigkeit für Flüster-
sprache links > 6 m, rechts am Ohre. Knochenleitung nicht verkürzt. Obere
Tongrenze beiderseits gut erhalten.
Nase: Beidereeits Eiter und Polypen im mittleren Nasengang, mittlere
Muschel beiderseits h}T)ertrophisch. Kechte Stimhöhlengegend bei Klopfen
empfindlich.
Im Raghen und Nasenrachenraum viel Eiter. Schwindel nicht nach-
weisbar. Kein Erbrechen oder Schüttelfrost beobachtet, dagegen völlige
Appetitlosigkeit und starke Obstipation.
Verordnung: Bettruhe uud Prießnitzumschläge aufs rechte Ohr. Eis
wird nicht gut vertragen.
8. Sept. Keine Änderung. Allgemeinbefinden schlecht Puls 65. Temp.
bis 38,4. Pat schläft tagsüber viel, ist nachts sehr unmhig. Rechtsseitige
starke Kopfschmerzen. Reichlicher und unbehindeter Eiterabfluß aus dem
Mittelohr. Urin frei von Eiweiß und Zucker.
Aufnahme in die Klinik zur Operation.
9. Nov. Eröffnung des Warzenfortsatzes rechts in Äther. — Chloro-
formnarkose. Processus mast. stark zellreich. Überall verdickte, infiltrierte
Schleimhaut und Eiter in den Zellen. Die Erkrankung hat die ganze Spitze
ergriffen, die bis auf geringe Reste reseziert werden muß. Antrum geräumig,
voll Eiter. Sinus in Erbsengröße frei ffelegt, gesund. Dura der mittleren
SchädelgiTibe über dem Antrum in Fünfpfennigstückgröße freigelegt, erscheint
normal. Ausgiebige Parazentese. Xeroformgazeverband.
10. Nov. Völliges Wohlbefinden, freier Kopf. Temperatur zur Norm
herabgesunken.
13. Nov. 1. Verbandswechsel. Operationshöhle sieht gut aus.
15. Nov. 2. Verbandswechsel. Gehörgang trocken, trockene
Perforation. Flüsterspr. rechts 4 m.
16. Nov. Da sich Patient ausgezeichnet fühlt, darf er 1 Stunde aufstehen.
17. Nov. Heute Kopfschmerzen. Abends 37,8. Wieder vollständige
Bettruhe angeordnet.
18. Nov. Heftiger rechtsseitiger Kopfschmerz. Brechneigung. Patient
getraut sich nicht zu essen. Die Granulationen in der Wundhöhle sehen
schlaff aus, doch weist weder die Sinusgegend noch die Dura der mittleren
Schädelgrubc etwas Verdächtiges auf. Unterhalb des Sinus mehr nach der
Spitze zu ist eine schwärzlich verfärbte Stelle am Knochen. Klagen über
verstopfte Nase. Der Eiterausfluß aus Nase und Rachen sistiert Temper.
Nachmittag 4 Uhr 38,4.
19. und 20. Nov. Das Befinden bessert sich zusehends, die Kopf-
schmerzen nehmen ab, der Appetit nimmt zu. Die Wunde sieht frisch aus.
Die schwärzliche Stelle an der Spitze reinigt sich. Temperatur normal.
30. Nov. Pat. wird mit gut granulierender Wundhöhle nach 3 Wochen
aus der Klinik zu ambulanter Behandlung entlassen. Subjektives Befinden
im Allgemeinen gut Nur die Nächte sind meist unruhig. Pat. schiebt dies
auf Nervosität. Tagsüber Schlafbedürfnis. Stuhlgang nur noch nach Ab-
Zur Kasuistik der otogeneu Hirnabszesse. 125
führmittel oder Klystier. Gehör rechts schwankt zwischen 3 und 4 m Flüster-
sprache. Paukenhöhle trocken. Perforation geschlossen. Trommelfell blaß.
2.— 6. Dez. Patient kommt zum Verbinden uud geht zuweilen ins
Geschäft, um dringliche Sachen zu erledigen. Kopfarbeit verursacht ihm
jedoch stets rechtsseitige Kopfschmerzen Dauernd Obstipation. Temperatur
immer normal oder subnormal. Die Wundheilung schreitet rasch fort. Derbe
Granulationen, geringe Wundsekretion.
8. — 10. Dez. Klagen über Stirnkopfschmei-z. Viel Eiterausfluß aus
der Nase. Wiederholte Durchleuchtung der Nebenhöhlen ergibt rechts Stim-
höhlenschatten. Sondierung der Stirnhöhle nicht ausführbar. Die Resektion
des vorderen Endes der mittleren Muschel rechts wird bis zur Ausheilung der
Ohrwunde aufgeschoben. Die Kieferhöhlen erweisen sich als gesund.
12. Dez. Besuch in der Wohnung. Seit gestern Erbrechen und rasender
Stirn- und Schläfenkopfschmerz, der sich bei Bewegungen des Kopfes, Auf-
und Niederlegen steigert. Druck von innen auf die Augenhöhlen. Nahrung
wird verweigert, oder bald erbrochen. Puls klein, zwischen 50 und 60 i. a.
Minute. Nach Erbrechen einmal 48 gezählt. Die Prostration ist so be-
deutend, daß Patient kaum einige Schritte zu tun im Stande ist. Gang
taumelnd. Neigung zum Fallen nach links. Kein Fieber.
Rechtes Mittelohr frei von entzündlichen Erscheinungen. Labj'rinth intakt.
13.— 16. Dez. Keine Besserung. Oft unerträglicher Kopfschmera. Dabei
nie Nackensteifigkeit. Quälender Schlucken und viel Erbrechen. Patient
kann sich nur mit Unterstützung erheben. Pulsverlangsamung. Temperatur
36—37. Augenhintergrund: Verwaschene Grenzen und Stauungspapille rechts.
Da ein Himabszeß als sicher vorhanden angenommen wird, Wieder-
aufnahme in die Klinik. Sitz des cerebralen Eiterherdes unklar. Keinerlei
Lähmungen. Weder Ptosis noch Mydriasis, Abducens und Facialis frei. Kein
deutlicher Nystagmus. Bei dem apathischen Zustand läßt sich nicht kon-
statieren, ob nicht Unaufmerksamkeit das mangelhafte Fixieren und häufige
Abweichen des Blickes verschuldet. Somnolenz wechselt mit motorischer
Unruhe. Psyche nicht ganz klar.
17. Dez. Nacht vom 16. zum 17. sehr unruhig. Pat. deckt sich un-
ablässig auf. Als die Nachtwache auf kurze Zeit das Zimmer verläßt, steigt
Pat. aus dem Bett und stürzt zu Boden. Temperatur afebril Puls 50 — 60.
Singultus. Weder Hemiparesen , noch Hemianästhesie, noch Hemianopsie
nachweisbar. Gehör auf^der gekreuzten Seite gut. Reflexe normal. Keine
meningitischen Erscheinungen. Pat. ist leicht benommen
Konzil mit Sanitätsrat Dr. Pause. Wegen ataktischer Symptome, Fallen
nach der gesunden Seite, Schwindel bei Freibleiben des Labvrinths, und
wegen Perkussionsempfindlichkeit über dem Cerebellum wird die Wahr-
scheinlichkeits-Diagnose Abszeß im Cerebellum gestellt.
Abends Operation in Äthemarkose. Puls steigt Im Beginn der Nar-
kose auf 120—130 Schläge. Hintere Schädelgrube nach Auskratzen der mit
derbem, gesundem Narbengewebe ausgefüllten Wundhöhle in Talergrößc
freigelegt. Nirgends Eiter oder Karies. Sinus vom oberen Knie bis zur
Umbiegung in den Bulbus, Dura mater bis zur Grenze mit der mittleren
Schädelgrube freigelegt, nirgends verfärbt. Medialwärts vom Sinus wird das
Kleinhirn mit einer dicken Punktionskanüle 2 cm tief nach verschiedenen
Richtungen hin punktiert, ohne daß sich Eiter entleert. Öffnung in der Dui*a
mit der Komzange erweitert. Es fließt nur klarer Liquor in reichlichen
Mengen ab. Puls gut, 60—70. Inzisionswunde durch Jodoformgazestreifen
offen gehalten.
Pat. fühlt sich nach der Operation etwas leichter im Kopfe. In der
Nacht jedoch starke motorische Unruhe und Delirien. Pat. versucht beständig,
den Verband abzureißen. Temperatur normal.
18. Dez. Früh ist Pat. ruhiger. Er weiß nicht, ob es Nacht oder Tag
ist, und ist desorientiert. Geringe Nahrungsaufnahme ohne Erbrechen. Puls
50—60. Verband völlig durchtränkt mit Liquor.
Zum ersten Male wird heute ein vorübergehendes, leichtes
Zittern im linken Bein und Arm beobachtet. Rohe Ki-aft jedoch gut
126 XIX. JUST.
erhalten. Händedruck rechts wie links schmerzhaft kräftig. Pat. gibt heute
Nachmittag verworrene Antworten.
19. Dez. Während der letzten Nacht Jaktationen, so daß Pat. mehr-
fach aus dem Bett zu fallen droht und beständig gehalten werden muß.
Rasender Stimkopf schmerz rechts. Pat. reibt entweder mit der Hand die
Stirn, oder kniet im Bett und bohrt den Kopf in die Kissen. Sensorium
stark benommen. Reichlicher Eiterausfluß aus Nase und Rachen.
Der schwere Zustand erfordert dringend einen erneuten Eingriff zur
Aufsuchung des Abszesses.
Abends 6 Uhr wird in Äthemarkose zunächst eine Probeeröffnung
der rechten Stirnhöhle vorgenommen, um einen Frontallappenabszess aus-
zuschließen. Die Stirnhöhle erweist sich als gesund. Von der vorgestrigen
Einstichstelle der Dura des Kleinhirns wird dieses noch einmal mit einer
febogenen Knopf sonde abgesucht. Die Sonde läßt sich 4 cm tief nach
inten oben und unten einführen, ohne daß sich Eiter zeigt.
Nunmehr Verlängerung des alten retroaurikulären Schnittes nach vom
oben bis 2 cm vor die Concha. Nach Zurückschieben der Weichteüe wird
die Schuppe mit Meißel und Knochenzange in großer Ausdehnung entfernt,
ebenso aas Dach des Antrums und Aditus. Die Paukenhöhle bleibt un-
berührt. Bei Abkneifen des Daches dos Aditus zeigt sich, daß die Dura
hier mit dem Knochen fest verwachsen ist. Der Schläfenlappen ist schließ-
lich vom hinteren Rande des M. tempor. bis zum Cerebellum hin übersicht-
lich freigelegt Die Verwachsung wird stumpf gelöst und dicht dahinter
die Dura mit dem Skalpell breit gespalten. Die zu Tage tretende Himpartie
erscheint weder verfärbt noch matschig und pulsiert. Eine starke Punktions-
nadel wird nach den verschiedensten Kichtungen hin 2—3 cm tief eingeführt.
Nirgends läßt sich mit der Spritze Eiter ansaugen. Reichlicher Abfluß von
Liquor cerebrospinalis. Nunmehr Einschnitt mit dem Messer etwa 2 cm
nach vom und innen. Aus der EinflußÖffnung quellen unmittelbar 3 bis
4 Eßlöffel dicker, grüngelber Eiter in pulsierenden Stößen hervor. Erweitern
der Inzisionsöffnung nach vorn unten. Die Sonde dringt von der Dura an
gerechnet etwa 5 cm nach vorn oben und 2 cm nach hinten oben ins Gehirn
vor, ehe sie die Wände des Abszesses erreicht. Ausspülung der Hohle
mit CoUargoUösung. Tamponade mit in Collargol getränkter Gaze. Puls
nach der Operation 72, während er kurz vor der Operation nach Va Pravaz-
spritze Heroin 48 zählte und öftere aussetzte,
20. Dez. Pat. fühlt sich nach dem Erwachen aus der Narkose freier
und schläft ruhig bis früh gegen 5 Ühr. Dann leichte Unruhe, die auch
den Tag über anhält
Sensorium freier. Pat. nimmt wieder einige Nahrang zu sich, ohne zu
erbrechen. Temperatur normal. Puls 60.
Die bakteriologische Untersuchung des Abszeßeiters durch Oberarzt
Dr. Oppe ergab als Erreger Staphylokokken, Diplococcus lanceolatus, sowie
ein plumpes, wohl nur als BegleitDakteriuin aufzufassendes Stäbchen.
Abends Verbandwechsel. Es entleeren sich wieder 2 Eßlöffel rahmigen
Eiters. Einführen eines Gummidrains. Nach Verbandswechsel Puls 72.
21. Dez. Ruhige Nacht. Befinden auch subjektiv besser. Keine Un-
rahe mehr. Reger Appetit. Wenig Eiter im Gehim. Sensorium jetzt ganz
frei, doch scheinen die letzten beiden Wochen in der Erinnerung des Fat.
ausgelöscht zu sein. Puls 68—72.
Von da an fortschreitende Besserang. Die Verkleinerung der großen
Abszeßhöhle geht nur ganz allmählich vor sich. Von Zeit zu Zeit geringer
Eiterverhalt. Erst am 17. Januar 1907, also nach 29 Tagen, kann das
Drainröhrchen ganz Weggelassen werden. Kein Hiraprolaps.
7. Febr. Der Pat. wird mit völlig ausgeheilter retroaurikulärer Wund-
höhle aus der Klinik entlassen. Er hat seit der Operation 14 Pfund zu-
genommen und sieht blühend aus. Seitdem auch keine Obstipation mehr.
Völliges Wohlbefinden. Gehör für Flüstersprache rechts 5—6 m.
Pat. wird wegen Empyems der vorderen und hinteren Siebbeinzellen
beiderseits weiter behandelt.
Zar Kasuistik der otogenen Himabszesse. 127
Während der ganzen Beobachtungszeit (bis Ende Juni) fühlt sich der
Pat. dauernd wohl, so daß er seinem Berufe als Techniker und Lehrer an
der Gewerbeschule nachgehen kann.
Epikrise: Von vornherein machte der Kranke durch sein
auffallend schlechtes Aussehen, durch eine gewisse psychische
Trägheit, die sich in zögernd abgegebenen, leisen Antworten
äußerte^ den Eindruck, als bestände bei ihm eine intrakranielle
Komplikation.
Der Befund an der Dura des Groß- und Kleinhirns bei der
typischen Aufmeißelung am 9. November und das danach ein-
tretende ausgesprochene Wohlbefinden ließen jedoch diesen Ver-
dacht ungerechtfertigt erscheinen.
In mehr wie einer Beziehung zeigt ein von Hüttig i) in
diesem Archiv veröffentlichter Fall von Großhirnabszeß bei einem
27jährigen Mädchen die größte Ähnlichkeit mit dem meinigen.
Auch Hüttigs Kranke fühlte sich nach der Eröffnung des An-
trams „wie erlöst", bis nach 8 Tagen, ebenso wie hier, unter
mäßigen Fiebererscheinungen, Übelkeit, Erbrechen, Obstipation und
Stirnkopfschmerz auftraten. Nach einigen Tagen klangen bei
beiden Patienten diese stürmischen Erscheinungen ab und setzten
nach 2 — 3 Wochen mit erneuter größerer Heftigkeit ein. Auch
der spätere Verlauf und die glatte Heilung weisen noch viele
Vergleichspunkte auf.
Ob in dem Falle meiner Beobachtung der Hirnabszeß schon
vor der Aufmeißelung bestand, oder ob die 8 Tage später auf-
tretenden Krankheitserscheinungen als Initialstadium aufzufassen
sind, läßt sich mit Sicherheit natürlich nicht entscheiden. Daß
der entzündliche Prozeß bereits vor der Antrumeröffnung die Dura
ergriffen hatte, möchte ich deswegen für wahrscheinlicher an-
nehmen, weil die Paukenhöhle bereits 5 Tage nach der Auf-
meißelung frei von Eiter war, also jedenfalls nach diesem ersten
Eingriff eine Eiterretention im Aditus und der Paukenhöhle nicht
mehr stattgefunden haben wird.
Vom 11. Dezember an traten schwere Himdruckerscheinungen
auf, die keinen Zweifel mehr an der Diagnose Hirnabszeß zu-
ließen. Eine Operation zur Entleerung des Abszesses wurde so-
fort ins Auge gefaßt, aber mangels aller und jeder Hinweise, wo
der Eiter zu suchen sei, vorläufig noch aufgeschoben.
An und für sich wäre es wohl das Nächstliegende gewesen,
an einen Schlaf enlappenabszeß zu denken, der ja nach Körners
1) Archiv f. Ohrenheilk. Bd. 68 S. 247.
128 XIX. JUST.
Erfahrungen und nach den umfangreichen statistischen Ermittel-
ungen von Th. Heimann ^) von den otitischen Himabszessen
der häufigste ist, aber es waren nicht die geringsten Anhalts-
punkte dafür vorhanden. Da es sich um eine rechtsseitige Ohr-
eiterung handelte, konnte auch das Fehlen oder Vorhandensein
der Aphasie differentialdiagnostisch nicht herangezogen werden.
Auffällig bleibt es, daß ein so großer Abszeß, der bei einem
Längsdurchmesser von 6 — 7 cm als hühnereigroß bezeichnet
werden kann, keine Lähmungen der an der Basis verlaufenden
Hirnnerven hervorrief.
Nach Körner lähmen Schläfenlappenabszesse, wenn sie
einigermaßen groß sind, fast stets den Oculomotorius der kranken
Seite. Es kommt seiner Erfahrung nach zwar selten zu einer
vollständigen Lähmung, aber in der Regel zu einer Parese der
Pupillenfasern und des Hebers des oberen Augenlides. Nächst
dem Oculomotorius werde am häufigsten der Abducens ge-
schädigt.
Im vorliegenden Falle bestand aber weder Mydriasis noch
Ptosis, noch eine Abducensparese.
Die weit nach unten und hinten sich erstreckende Erkrankung
des zellreichen Warzenfortsatzes, die Ataxie, das Fallen nach der
linken Seite, der starke Brechreiz bei Fehlen einer Labyrinth-
erkrankung ließen mehr an Kleinhirnabszeß denken.
Nachdem die Trepanation auf das Kleinhirn zu keiner Auf-
klärung über den Sitz des Abszesses geführt hatte, glaubte ich
zunächst, den Abszeß im Cerebellum nur verfehlt zu haben, bis
ich angesichts des rasenden Stimkopfschmerzes, der Klopfempfind-
lichkeit der Stirnhöhlengegend und des reichlichen Eiterausflusses
mit der Möglichkeit eines rhinogenen, von einem Empyem des
Sinus frontalis ausgehenden Hirnabszesses zu rechnen begann.
Ich erinnerte mich eines von Koebel'-^) veröffentlichten Falles
von Hirnabszeß, bei dem gleichfalls eine Kombination von Ohr-
und Naseneiterung vorlag und vergeblich vom Ohre aus nach
dem Abszeß gesucht worden war, der im Frontallappen saß.
Leider war eine exakte Untersuchung sämtlicher Nebenhöhlen
im Anfang verschoben worden und jetzt bei dem schweren Zu-
stande des Pat., bei seiner motorischen Unruhe ganz aus-
geschlossen. Die Stirnhöhle ließ sich beiderseits nicht sondieren.
1) Archiv f. Ohrenheilk. Bd. 66 S. 251.
2) Beitr. z. klin. Chir. Bd. XXX Heft II.
Zur Kasuistik der otogenen Himabszesse. 129
eifie BöntgendttrchleuchtuDg erschieti nicht tanlich. Die Duroh-
leuchtiing mittelst eines kleinen elektrischen Lämpcbens ergab
gegen links einen Schatten.
Die Symptomatologie der Frontallappenabszesse ist 2ttr Zeit
noch so wenig geklärt, daB man von differentialdiagnostilchen
Anzeichen nicht sprechen kann. Die bekannten Himdrücksymp-
tome treten hier genatt so auf, wie bei den otitiichen^ und nach
übereinstimmender Ansicht aller Autoren macht ein Abszeß im
Stimhim im Allgemeinen keine Herdsymptome.
Hajeki) sagt darüber: Nur wenn die durch den Abszeß
herbeigeführte Destruktion den hinteren Abschnitt der Frontal-
windungen erreicht; kann eine Monoplegia brachialis oder facialis
der entgegengesetzten Seite, bei linksseitigem Sitze auch Sprach*
Störung auftreten.
Nur Bruns spricht yon einer frontalen Ataxie, bestehend in
einer GehstÖrung, welche auf einer Schwäche der Bümpfmnsku-
latur beruhen soll. Letztere soll ihr kortikales Zentrum in dem
Gyrus marginalis in dem medialen Teile des Stimhims haben.
Nun trat am Tage nach der Trepanation des Kleinhirns
zeitweise ein kleinsohlägiger Tremor des linken Armes und
Beines auf, ein Symptom, das als Beizung des hinteren Schenkels
der inneren Kapsel gedeutet wurde. Dieser Tremor sprach
zweifellos für Schläfenlappenabszeß. Daß aber Femwirkungen
auf die innere Kapsel nicht allein von Temporallappenabszessen,
sondern unter Umständen auch von einem Abszeß in der Mark-
substanz des Stimhims ausgehen, beweist die noch dazu durch
Autopsie bestätigte Beobachtung von F. Cohen. 2) Es wurden
bei der Sektion außer dem durch Operation entleerten Abszeß
im Frontallappen noch ein weiterer, gleichfalls im Stirnhirn ge-
legener Eiterherd von 5 cm Durchmesser gefunden.
Zu Lebzeiten des Fat. wurden sensorische und motorische
Aphasie, Lähmung des rechten Armes und Beines und zunehmende
Benommenheit beobachtet.
Die Gegend vor und hinter dem Suicus centralis, in welcher
von Cohen der zweite Eiterherd gesucht wurde, erwies sich als
intakt.
Um nicht unnötig den Temporallappen zu punktieren, schickte
ich der breiten Eröffnung der mittleren Schädelgmbe eine Probe-
1) Pathol. u. Therapie d. entzündl. Erkrank, d. Nebenhöhlen. 1903.
2) Münchner Medizin. Woch. 1902 S. 1867.
Archiv f. Ohrenheilkunde. 73. Bd. Festschrift. 9
130 XIX. JUST. Zar Kasuistik der otogenen Himabszesse.
eroffnung der rechten Stirnhöhle voraus. Die Schleimhaut des
Sinus frontalis erwies sich als gesund und die Höhle lufthaltig,
denn die Schleimhautauskleidung machte jede respiratorische
Druckschwankung genau mit
Bei der Punktion des Schlfifenlappens versagte die Punktions-
kanfile, obwohl sie reichlich stark war, wegen der dicken, zähen
Beschaffenheit des £iters gänzlich. Erst Einschneiden der 1 cm
starken intakten Bindenschicht gewährte dem Eiter Abfluß. Wie-
wohl der Abszeß nur an einer Stelle, die allerdings bei Bücken«
läge des Kranken die tiefste war, eröffnet wurde, war der Ab-
fluß sehr gut und die Heilung erfolgte glatt ohne irgend welche
erhebliche Betentionen, ein Beweis mehr^ daß eine Gegenöffnung
von der Schuppe aus, wie sie von den Chirurgen und vielen
Otologen empfohlen wird, nicht unbedingt erforderlich ist
Dadurch, daß die Paukenhöhle geschont werden konnte, ge-
staltete sich das Endresultat auch in bezug auf Erhaltung der
Gehörsfunktion sehr günstig.
Es sind zwar seit der Operation erst 6 Monate verflossen,
aber der Patient fühlt sich bis heute so außerordentlich wohl,
daß man auf eine Dauerheilung wohl hoffen darf.*)
*) Nachtrag bei der Korrektur: Patient erfreut sich 8 Monate nach
der Operation des besten Wohlseins.
XX.
Ober ärztliche Ffirsorge ffir TanbstQmme nebst Vorschlägen
znr Reorganisation des Tanbstnmmenbildnngswesens.
Von
Professor Ostmann in Marburg.
In einer Zeit, in der die soziale Fürsorge mehr wie je Staat
und Gesellschaft beschäftigt, kann es nicht Wunder nehmen,
daß der Fürsorge für die Taubstummen und ihrer Fortbildung
ein erhöhtes Interqsse sich zuwendet, und insbesondere auch die-
jenigen ärztlichen Kreise erfaßt, welche sich die Erkrankungen
des Ohres und der Grenzgebiete zu ihrem besonderen Arbeitsfeld
erkoren haben.
Bis zu der Zeit, wo man mit Hilfe einer geeigneten Lehr-
methode die Bildungsfähigkeit der Taubstummen nachweisen
konnte, kann von einer allgemeinen Fürsorge für dieselben nicht
gesprochen worden; die Taubstummen wurden vor dem Gesetz
den Blödsinnigen und unmündigen gleich geachtet
Mit dem methodischen Unterricht der Taustummen -Kinder
war der erste große Schritt allgemeinerer Fürsorge getan. Politzer
hat in seiner vortrefflichen Geschichte der Ohrenheilkunde ^) den
Stand des Taubstummenunterrichts bis zum Ende des 18. Jahr-
hunderts und das Wirken derjenigen Männer geschildert, welche
in aufopfernder Arbeit sich um die Förderung des Unterrichts
und damit um die Hebung des geistigen Niveaus wie der bürger-
lichen Stellung der Taubstummen innerhalb dieses Zeitraums ver-
dient gemacht haben.
Mit Hei necke, welcher 1778 in Leipzig die erste Taub-
stummenanstalt gründete, beginnt in Deutschland ein zielbewußter
Taubstummenunterricht. .
1) Bd. I S. 427 u. f.
9
132 XX. OSTMANN.
HeEr als ein Jahrhundert ist seit Heineckes Tode — im
Jahre 1790 — verflossen, und trotz dieser langen Zeit, in
welcher die Bildungsfähigkeit der Taubstummen voll erwiesen
und von 'dem Gesetzgeber durch die veränderte Stellungnahme
ihnen gegenüber anerkannt worden ist, ^) mußte bei der Verhand-
lung über das Taubstummen - Bildungswesen der Abgeordnete
Bzesnitzek im Preußischen Abgeordnetenhause feststellen,^) daß
in den Taubstummenanstalten Schlesiens zu Ostern 1900 ungefähr
600 Schüler aufgenommen werden konnten, während etwa 500
unbeschult blieben. Da die Verhältnisse in anderen Provinzen
wahrscheinlich ähnlich liegen, so bedarf es auf dem Gebiete der
Beschulung unzweifelhaft einer verstärkten Fü):sorge; denn es ist
nicht einzusehen, weshalb gerade diejenigen Kinder^ welche durch
ein unheilbares Leiden in der schwersten Weise in ihrer Arbeits-
und Erwerbsfähigkeit geschädigt worden sind, auch noch in dem
Anspruch auf die Möglichkeit der Schulbildung hinter den voll-
sinnigen Kindern zuückstehen sollen. Wenn sich dieser Fürsorge
dadurch Schwierigkeiten in den Weg stellen, daß die taubstummen
Kinder untereinander hinsichtlich ihrer Bildungsfähigkeit vielleicht
ungleichwertiger sind als die vollsinnigen, schulpflichtigen Kinder,
so lassen sich doch die Schwierigkeiten mit wenig veränderten
Einrichtungen und bei mäßiger Erhöhung der zur Zeit für das
Taubstummenbildungswesen aufgewandten Mittel wohl überwinden.
Die Bereitstellung weiterer Mittel wird vielleicht auch da-
durch erschwert, daß der Femerstehende so wenig offensicht-
lichen Erfolg von der Aufwendung dieser Mittel sieht. Dieser
Eindruck entspricht indes nicht den Tatsachen; denn wenn man
den Eindruck, welchen taubstumme Kinder bei ihrem Eintritt und
Austritt aus der Taubstummenschule macheui mit einander ver-
gleicht, und in jahrelanger Beobachtung die ebenso mühevolle
wie segensreiche, stille Arbeit der Taubstummenlehrer verfolgt, so
kann man vom rein menschlichen wie vom ärztlichen Standpunkt
aus nur dringend wünschen, daß einem jeden taubstummen Kinde,
sofern es sich überhaupt als bildungsfähig erweist, die Möglich-
keit der Beschulung geboten wird.
Aber für einen jeden, der nicht das taubstumme Kind in
seiner gesammten körperlichen wie geistigen Entwicklung betrachtet^
1) P. Schlotter, Die Rechtsstellung und der Rechtsschutz der Taub-
stummen; Blätter für Taubstummenbildung XX. Jahrg. No. 8 S. 121. 1907.
2) Blätter für Taubstummenbildung XX. Jhrg. No. 8. 1907 S. 121.
Stenographischer Bericht der Verhandlungen.
über ärztliche Fürsorge für Taubstumme. 138
mii6 in nicht wenigen Fällen der Erfolg unserer heutigen Unter-
richtsmethode als wenig befriedigend erscheinen, insbesondere so-
weit es sich um Verstehen und Verstandenwerden im Verkehr
mit den Mitmenschen nach dem Verlassen der Anstalt handelt
Es ist in den letzten Jahren von ärztlicher Seite mehrfach
auf den unbefriedigenden Erfolg des Unterrichts gerade nach dieser
Richtung hingewiesen worden, und es kann auch nach meinen Be-
obachtungen kein Zweifel bestehen, daß bei nicht wenigen Kindern
nach der Entlassung aus der Taubstummenanstalt an die Stelle
der mit unendlicher Mühe gelehrten und erlernten Sprache bald
wieder die Gebärdesprache tritt.
Mit diesen Hinweisen, so möchte ich glauben, wünscht keiner
einen Vorwurf gegen die Taubstummenlehrer und ihre Arbeits-
freudigkeit auszusprechen; es wird von ärztlicher Seite im wesent-
lichen nur das behauptet, was ein bekannter Taubstummenlehrer,
A. Gutzmann, zu seinem Bedauern selbst zugeben muß, daß
nicht „der Hälfte aller entlassenen Taubstummen Verstehen und
Verstandenwerden im mündlichem Verkehr mit ihren hörenden
Mitmenschen in genügendem Grade eignet.'' i)
Auf Grund dieser Tatsachen den hohen Wert der deutschen
Unterrichtsmethode an sich in Zweifel ziehen zu wollen, wäre
unrichtig; denn m. E. verfügen wir über keine andere Methode,
durch welche in gleicher oder besserer Weise die geistige Durch-
bildung des taubstummen Kindes gefördert werden könnte. Die
Methode paßt nur nicht für alle Kinder; so in erster Linie nicht
für diejenigen, welche so geringe geistige Anlagen besitzen, daß
sie kaum als bildungsfähig bezeichnet werden können. Nach der
andern Sichtung darf man nun aber auch nicht von vornherein
der Ansicht sein, daß die Methode sich nicht vielleicht für eine
Minderheit der Kinder noch fruchtbringender als bisher gestalten
ließe, indem man durch eine volle, methodische Auswertung ev.
noch vorhandener Hörreste die Sprachentwicklung fördert
Aus diesen Gesichtspunkten ergibt sich eine Dreiteilung der
Taubstummen und somit auch der Taubstummenanstalten.
Von einer solchen sachgemäßen Scheidung der Taubstummen
sind wir leider noch weit entfernt; es sind zunächst ganz ver-
einzelte Anfänge zur Bildung besonderer Hörklassen gemacht
Eine Trennung der Hörlosen und der mit Hönesten ver-
sehenen Taubstummen ist aber sofort auf den energischen Wider-
l) Vor- und Fortbildung der Taubstummen. In zwanglosen Heften
herausgegeben von A. Gutzmann, Berlin 1899. Heft 1, S. 15.
134 XX. OSTMANN.
«tand nicht weniger, alt erfahrener Taubstummenlehrer gestoßen,
da sich nach ihrer Ansieht nicht eine Scheidung der Taub-
stammen nach Hörresten, sondern allein nach der geistigen Be-
gabung empfiehlt.
Meines Erachtens ist dieser letztere Standpunkt und eine ihm
entsprechende Gruppierung der Taubstummen in 3 Bildungsstufen
4er richtigere; denn diese Einteilung läßt eine dem eigentlichen
Wesen des Unterrichts sehr viel mehr entsprechende, einheitlichere
Zusammenstellung des Kindermaterials zu.
Auch ist die Zahl der mit wirklich verwertbaren Hörresten
versehenen Kinder im Allgemeinen viel zu klein, als daß sich bei
der jetzigen Organisation des Taubstummenwesens in den ein-
zelnen Anstalten eine Zusammenstellung von Hörklassen mit an-
nähernd gleichaltrigen und somit gleich vorgebildeten Kindern
ermöglichen ließe. An einzelnen Stellen ist dann auch verhältnis-
mäßig schnell der Versuch des Hörunterrichts wieder aufgegeben
worden.
Auf der 13. Versammlung der deutschen otologischen Gesell-
schaft zu Berlin im Jahre 1904 1) hat Denker als wichtiges
Ergebnis einer im Bayrischen Kultusministerium März 1904 statt-
gehabten Konferenz zur Beratung der weiteren Ausbildung des
Taubstummenunterrichts mitgeteilt, „daß überall da, wo die nötigen
Mittel bereit gestellt werden können, die in den einzelnen Klassen
vorhandenen, partiell Hörenden, sowie die später ertaubten und
noch Sprachreste besitzenden Zöglinge von den übrigen getrennt
in eigenen Klassen vereinigt und hier unter Anwendung einer
Methode, welche bei den ersteren Auge und Ohr gleichzeitg in
Anspruch nimmt, unterrichtet werden.
Denker erhoffte eine schnelle und befriedigende Lösung
der Geldfrage und sah in diesem Beschluß „einen glänzenden
Sieg der seit langen Jahren auf dieses Ziel gerichteten Bestre-
bungen Bezolds und seiner Freunde," gab der Überzeugung Aus-
druck, daß mit diesem Beschluß ein hochbedeutsamer Schritt in
der Entwicklung des Taubstummen -ünterrichtswesens getan sei
und sprach den Wunsch aus, daß dem Beispiele Bayerns bald die
übrigen Bundesstaaten folgen möchten.
Ich vermag nicht anzugeben, wie sich für Bayern bis jetzt die
Geldfrage gelöst hat; ich kann nur mitteilen, wie weit die übrigen
deutschen Bundesstaaten der Anregung Bayerns gefolgt sind.
1) Verhandlungen S. 72.
über ärztliche Fürsorge für Taubstumme. 135
Auf Grund des nicht ganz zutreffenden Verzeichnisses der
deutschen Taubstummenanstalten in dem Lehrbuch von Koerner
habe ich samtliche deutsche Taubstummenanstalten mit Aus-
nahme derjenigen in München gebeten^ mir aber die Fragen Aus-
kunft zu erteilen:
1, Werden die neu aufgenommenen Xinder mit der kontinuir-
lichen Tonreihe von einem Ohrenarzt untersucht; und
2. findet ein Sonder-Unterricht — Hörunterricht — der mit
Hörresten versehenen Kinder statt?
Das. Ergebnis dieser Umfrage dürfte nicht den von dieser
oder jener Seite gehegten Erwartungen ganz entsprechen.
Von 78 Anstalten beantworteten die erste Frage 56 Anstalten
mit y,nein^^; 18 fast ausschließlich süddeutsche Anstalten mit Ja^;
4 Anstalten dahin, daß eine derartige Untersuchung in beschränktem
Umfange von den Lehrern ausgeführt werde. In einzelnen An-
stalten war die Stimmgabelprüfimg früher ausgeführt aber auf-
gegeben worden, weil sich dieselbe nach dem Urteil der Lehrer
für den Unterricht und seine Gestaltung als wertlos gezeigt hatte.
Die zweite Frage, ob ein getrennter Unterricht der mit Hör-
resten versehenen Kinder — sog. Hörunterricht — stattfinde, be-
antworteten 70 Anstalten mit „nein''; darunter mehrere aus Bayern.
In einer mitteldeutschen Anstalt wird, so weit möglich, die
Bildung von Sonderklassen angestrebt; in einer norddeutschen
Anstalt wurde der Hörunterricht nach mehrjährigen Versuchen als
undurchführbar und unzweckmäßig aufgegeben, weil die Trennung
der Kinder nach ihrer geistigen Veranlagung bessere Unterrichts-
resultate ergab ; in einer dritten Anstalt befand man sich noch im
Stadium des an sich wenig aussichtsreichen Versuches. 5 An-
stalten endlich beantworteten die Frage mit „ja''; doch muß ich
dahingestellt sein lassen, ob in den Hörklassen dieser Anstalten der
Unterricht ausschließlich ein sog. Hörunterricht ist.
Es ist somit die Zahl derjenigen Anstalten, welche sich bisr
her überhaupt nur zu einem Versuch entschlossen haben, sehr
klein und aus der Stimmung, die die Verhandlungen der Taub-
stummenlehrer auf ihren Versammlungen z. Teil erkennen lassen,
wie aus den mir unaufgefordert zugegangenen Äußerungen möchte
ich entnehmen, daß nach dem Abflauen der ersten Begeisterung
sich eine immer stärker werdende Geg-enströmung in den Kreisen
der Taubstummenlehrer gegen die von vielen derselben nicht als
neu anerkannte Methode des sog. Hörunterrichts geltend machen
dürfte.
186 XX. OSTMANN.
Diese Gegenströmung wird durch fehlgeschlagene Erwartungen
und durch die in langjähriger, praktischer Erfahrung gewonnene
Überzeugung, daß man die Kinder nach ihrer geistigen Begabung
trennen mflsse, sowie durch die betrübende Beobachtung getragen,
daß die Frage des Hörunterrichts keine rein wiesensebaftliehe Frage
mehr sei, sondern z. T. egoistischen Zwecken diene. Wenn ich mich
nicht verpflichtet fühlte, gegenüber den freimütigen Äußerungen, die
mir zugegangen sind, die strengste Diskretion zu wahren, so würde
ich eigenartige Mitteilungen zu machen in der Lage sein.
Gegenüber einer solchen Stimmung bei einem, wie mir scheinen
will, großen Teil der Taubstummenlehrer wird es vor allem richtig
sein, wenn anders der gute und gesunde Kern der Bezold 'sehen
Anregung nicht wieder verloren gehen soll, die Frage von jedem
Strebertum frei zu halten, und das Taubstummenbildungswesen
so zu reorganisieren, daß die Vereinigung gleichaltriger Kinder
mit verwertbaren Hörresten zu Hörklassen unter prinzipiellem
Festhalten der Teilung der Taubstummen nach ihrer geistigen Be-
gabung möglich wird.
Die Schwierigkeiten/ welche sich einer entsprechenden Be-
organisation des Taubstummen-Bildungswesens entgegen stellen,
liegen auf administrativem und finanziellem Gebiet ; doch dürften
dieselben, sobald die Notwendigkeit der Reorganisation erst er-
kannt ist, keineswegs schwer zu beseitigen sein.
Meine nachstehenden Ausführungen beziehen sich wesentiich
auf Preußen, über dessen Taubstummenfürsorge ich einen gewissen
Überblick habe.
Die Beschulung der Taubstummen ist Sache der Provinzial*
behörden; es gibt nur ganz vereinzelte Anstalten, welche vom
Staat, von Städten oder durch milde Stiftungen neben eigenem
Erwerb oder Subventionen unterhalten werden. Es fehlt also eine
^inheiüiche Zentralinstanz in engerem Sinne, was seine Nachteile
aber auch den Vorteil hat, daß jede Provinz für sich oder im Zu-
sammenschluß mit anderen die m. £. notwendige Beorganisation
des Taubstummenbildungswesens durchführen kann.
Diese Reorganisation muß folgenden Forderungen gereoht
werden:
1. Für jedes taubstumme Kind muß die Möglichkeit der
Schulbildung gegeben sein.
2. Sämtiiche taubstumme Kinder sind, sofern nicht Idiotie
und damit völlige Bildungsunfähigkeit klar zu Tage liegt, nach
vollendetem 6. Lebensjahr in Taubstummenvorschulen aufzunehmen,
über ärztliche Fürsorge für Taubstumme. 137
welche in zwei Vorklasgen gegliedert engsten AnsobluB an die
Taubstummenschalen haben und nach dem Vorbild der Berliner
Taubstummenyorschule nach Art der Kindergärten ausgebildet
werden.
3. In den Taubstummenvorschulen verbleiben die Kinder
2 Jahr bezw. nur so lange, bis sich ein sicheres Urteil aber ihre
Bildungsfähigkeit in den Taubstummenschulen nach Maßgabe des
Lehrplans derselben abgeben läßt. Bei dieser Beurteilung haben
Lehrer, Pflegerin und Arzt zusammenzuwirken. Diejenigen Kinder,
welche sich als völlig bildungsunfähig erweisen, werden einer
Anstalt für idiotische und schwachsinnige Kinder äberwiesen oder
in die häusliche Privatpfiege zurückgegeben. Letzteres geschieht
auch bei Kindern, deren ständiges Zusammenleben mit anderen
taubstummen Kindern infolge körperlicher oder geistiger Gebrechen
unzweckmäßig erscheint,
4. Die durch 2jährige Beobachtung als bildungsfähig er-
kannten Taubstummen werden nach ihrer geistigen Begabung in
3 Gruppen geteilt, die ich als schwach (I. Gruppe), mittel (IL Gruppe)
und gut (IIL Gruppe) bildungsfähig bezeichne.
5. Dieser Gruppierung der Kinder in 3 Gruppen entspricht
eine Dreiteilung der Taubstummenschulen je nach dem Lehrplan
und der vorzugsweise angewandten Unterrichtsmethode.
Die erste Gruppe der Anstalten nimmt nach Beendigung
der Vorschulklassen diejenigen Taubstummenzöglinge auf, welche
als „schwach bildungsfähig^' voraussichtlich nicht dazu gelangen,
mit Hilfe der deutschen Unterrichtsmethode zu einer Lautsprache
zu kommen, die einen mündlichen Verkehr in genügendem Grade
mit einiger Sicherheit erwarten läßt. In diesen Anstalten tritt an-
stelle des Artikulationsunterrichtes die französiche Unterrichts-
methode, und es wird eine möglichst frühzeitige Heranbildung
der Kinder zu handwerksmäßigen Arbeiten^ insbesondere zur Feldr
und Gartenarbeit angestrebt Sofern die Kinder nach vollendeten
Schu\iahrm zum selbständigen Erwerb nicht fähig und zu ihrer
Unterhaltung verpflichtete Dritte nicht vorhanden sind, verbleiben
sie in Heimstätten, welche diesen oder einigen dieser Taub-
stummenanstalten angegliedert sind, oder sie werden in Taub-
stummenbeime überführt, sofern solche von den Provinzial*
vereinen zur Unterstützung und Pflege von Taubstummen er-
richtet sind.
1) Gutzmann, Vor- und Fortbildung der Taubstummen. 2. Heft.
138 XX. OSTMANN.
Die zweite Gruppe von Anstalten nimmt die ^mittel be-
gabten^ Kinder auf, also den weitaus größten Teil der jetzt in
unseren Taubstummenanstalten befindlichen Zöglinge. In diesen
Anstalten wird die deutsche Unterrichtsmethode in der bisherigen
Weise dem Unterricht zu Grunde gelegt Die bereits bisher be-
stehende Fürsorge für die schulentlassenen Zöglinge in materieller,
geistiger und seelsorgerischer Hinsicht wird in den bisherigen
Bahnen fort entwickelt und in soweit ergänzt, als ein systematischer
Fortbildungsunterricht eingeführt wird, worüber an späterer Stelle
zu handeln sein wird.
Die dritte Gruppe der Anstalten nimmt die besonders gut
veranlagten Kinder auf; unter diesen haben wieder diejenigen den
Vorzug, welche später ertaubt noch gute Sprachreste besitzen
oder Hörreste aufweisen, welche eine wesentliche Förderung der
Sprachentwickelung bei systematischer Auswertung dieser Hör-
refite erwarten lassen. In diesen Anstalten wird in Soüderstunden der
partiell Hörenden dem Hörunterricht eine besondere Sorgfalt zu-
gewandt, um die Sprachentwicklung der Kinder zu fördern. Dem
gemeinsamen Unterricht liegt die deutsche Unterrichtsmethode zu
<5runde.
Auf die zweite und dritte Gruppe der Taubstummenschulen
baut sich dieFortbildungsschule auf, welche für einen größeren
Bezirk an eine oder zwei regionär günstig gelegene Taubstummen-
schulen angeschlossen wird. Ihr Besuch ist fakultativ.
Der Lehrplan dieser Fortbildungsschulen lehnt sich eng an
denjenigen der schon jetzt ganz vereinzelt bestehenden Fortbildungs-
schulen an, erfährt indes nach der Seite der sprachlichen Fort-
entwicklung der Zöglinge eine Erweiterung.
Der Sprung von der Taubstummenanstalt, zumal wenn es
sich um ein Internat handelt, in das Getriebe des täglichen Lebens^
von dem Verkehr mit dem Lehrer zu dem Umgang mit den ver-
schiedensten Personen ist ein so ungeheurer, daß sehr viele Kinder
sich nicht zurecht finden, im Gefühl ihrer sprachlichen Hilflosig-
keit immer seltener von der Sprache Gebrauch machen und schließ-
lieh ganz von derselben Abstand nehmen. Diesen ungeheuren
Sprung soll die Fortbildungsschule verkleinem ; sie soll die Kinder
von der Taubstummenanstalt in das Leben hinüberfuhren.
Zu diesem Zwecke hat der sprachliche Unterricht in den
Fortbildungsschulen in der Weise eine Erweiterung zu erfahren,
1) Rundschau, Blätter für Taubstummenbildung, XX. Jhrg. No. 9.
1. Mai 190T.
über ärztliche Fürsorge für Taubstumme. 139
daß derselbe nicht nur von Taubstummenlehrern, wie Qu tz mann
will, sondern auch von Volksschallehrem und den der Fort-
bildungsschule zur Sonderausbildung zu überweisenden, jungen
Geistlichen erteilt wird. Bei der Verteilung des Unterrichts auf
die 3 Kategorien von Lehrern soll im 1. und 2. Fortbildungs*
kursus der Taubstummenlehrer; im 3. und 4. Kursus der Geist-
liehe und Volksschullehrer die Mehrzahl der Stunden erteilen.
So würden die taubstummen Kinder mehr und mehr geübt,
auch mit anderen Personen als nur den Taubstummenlehrern sprach-
lich zu verkehren und würden besser gerüstet als bisher in das
Leben hinaustreten.
An die Fortbildungsschulen sind die Taubstummen-Lehrer-
bildungsanstalten anzuschließen.
Ich glaube, daß die Durchführung dieser Vorschläge das
Taubstummenbildungswesen erheblich fördern würde. Nach der
heutigen Organisation enthalten die Taubstummenanstalten nicht
ganz wenige Kinder, die nicht nur keinen nennenswerten Nutzen
von dem Unterricht ziehen, sondern denselben sogar nicht ganz
selten stören; sie bleiben in den Anstalten, weil man nicht weiß,
wo man sie unterbringen soll. Ich glaube, die Taubstummen-
lehrer würden nichts dagegen einzuwenden haben, wenn man diese
Kinder als Gruppe I aussonderte und in einer besonderen Anstalt
unterbrächte.
^ ^Ebenso dürfte von ihrer Seite kein Einspruch dagegen zu
erheben sein, daß man die besonders begabten, taubstummen Kinder
aus einem größeren Bezirk in einer Taubstummenanstalt vereinigt.
Es könnte nun scheinen, als ob zu der vorgeschlagenen Re-
organisation des Taubstummenbildungs wesens ganz besonders große
Mittel erforderlich wären. Dies dürfte keineswegs der Fall sein,
wie eine kurze Überlegung ergibt. Es bedarf nur des Zusammen-
schlusses zweier oder mehrerer Provinzen zu gemeinsamer Arbeit
auf diesem Gebiet.
In einer Provinz finden sich kaum soviel Kinder, um eine,
wenn auch nur kleine Anstalt von 30 bis 40 Kindern der
I. und III. Gruppe zu bilden; denn die Hauptmasse der Taub-
stummen gehört in die IL Gruppe. Beim Zusammenschluß von
2 oder selbst 3 Provinzen würde sich dagegen meiner Schätzung
nach sehr wohl je eine kleinere Anstalt der I. und III. Gruppe
zusammenstellen lassen.
Die ganze zu lösende Aufgabe würde also darin bestehen,
daß einerseits jede Provinz für sich an 1 oder 2 der bestehenden
140 XX. OSTMANN.
Taubstummenanstalteo eine zweiklassige Vorschule angliedert und
andererseits mit einer oder zwei benachbarten Provinzen ein
Übereinkommen [dahin trifft, daß eine Anstalt alle in ihren Be-
zirken zur Gruppe I. und eine zweite Anstalt alle zur Gruppe III.
gehörend^!!: Kinder aufnimmt Alle Kinder der Gruppe II. ver-
bleiben in der Fürsorge ihrer Heimatprovinz, wie auch die Er-
richtung der Fortbildungsschulen Sache jeder änzelnen Provinz
ist. Neue Taubstummenanstalten würden von jeder Provinz nur
insoweit zu errichten sein, als bisher für eine Anzahl der taub^
stummen Kinder die Möglichkeit der Beschulung überhaupt fehlte.
Diese ev. neu zu errichtenden Taubstummenanstalten müssen
Extemate und nicht Internate sein und in kleinen Landstädten
mit vorwiegend Acker- und Gartenbau treibender Bevölkerung
errichtet werden; denn nach meinen Erfahrungen wirken der
ständige Verkehr mit vollsinnigen Personen, die mannigfache Ge-
legenheit zur Mitarbeit im Feld und Garten, die einfachen Ver-
hältnisse der kleinen Stadt auf die geistige und körperliche Ent-
wicklung der Kinder ungemein viel günstiger, als wenn sie in
Internaten von der Außenwelt abgeschlossen und wesentlich auf
den Verkehr untereinander angewiesen sind.
Es möchte scheinen, als ob uns die vorstehenden Ausführungen
zu einer nicht nur wünschenswerten, sondern m. E. dringend
notwendigen Reorganisation des Taubstummenbildungswesens weit
ab von der fürsorgenden Tätigkeit des Arztes für die taub-
stummen Kinder geführt habe. Dies ist jedoch nur scheinbar der
Fall ; denn diese Vorschläge sind ja unter dem Gesichtspunkte
der fürsorgenden Tätigkeit des Arztes für die Sprachentwicklung,
Spraoherhaltung und das Sprachverständnis der taubstummen
Kinder gemacht
Die fürsorgende Tätigkeit des Arztes hat sich aber nicht
allein hierauf zu erstrecken, sondern weiter auf die Beseitigung
von Krankheitszuständen überhaupt wie insbesondere solcher des
Ohres, des Auges, der Nase, des Bachens wie des Kehlkopfes
und auf die Gesunderhaltung dieser Organe. Die Spezialär^tei
Augen- wie Ohrenärzte, sind indes nur relativ selten ständige Be*
rater in den Taubstummenanstalten; nur bei der Untersuchung der
neu aufgenommenen Kinder werden sie in nicht wenigen An-
stalten hinzugezogen. Der laufende ärzliche Dienst liegt dem An-
staltsarzt ob, nach dessen Entscheidung, wie es scheint, in der
Mehrzahl der Anstalten die Hilfe des Spezialarztes nachgesucht
wird.
über ärztliche Fürsorge für Taubstumme. 141
Eine ministerielle Umfrage vom 7. September 1898 ergab
^daß nur in seltenen Fällen die spezialärztliche Fürsorge dem
Bedürfnis der Anstalten und dem gegenwärtigen Stande der medi-
zinischen Wissenschaft entspricht'' — Ministerielle Verfügung vom
23. April 1900 — , und führte zur Errichtung besonderer, fakul-
tativer ünterrichtskurse für die Hausärzte über Taubstummen-
anstalten an der Königlichen Taubstummenanstalt zu Berlin. Die
Untersuchung und Behandlung des Ohres, des Rachens, des Kehl-
kopfes wie des Auges bildeten neben der Physiologie, Psychologie
und Pathologie der Sprache wie neben Vorträgen über Taub-
stummenbildung die hauptsächlichsten Unterrichtsgegenstände.
Hoffen wir, daß unsere Bemühungen auf dem Gebiete der
ärztlichen Fürsorge für die taubstummen Kinder weiter auf frucht-
baren Boden fallen, und daß die hier gemachten Vorschläge einen
neuen Anstoß geben zur Fortentwicklung des Taubstummenbildungs-
Wesens.
XXI.
Znr Ghinirgie des Ohrlabyrinths.
Von
Dr. med. Matte in Köln.
Im März i) des vergangenen Jahres konnte ich im Alige-
meinen ärztlichen Verein zu Köln einen von mir operierten und
im wesentlichen geheilten Kranken vorstellen, bei dem ich wogen
äußerst qualvoller Geräusche mich dazu entschlossen hatte, das
Ohrlabyrinth mit einem 3 mm Bohrer zu eröffnen und dann das
Vestibulum auszukratzen. Ich hatte dem Kranken, dessen Leiden
nach seiner eigenen und seiner Angehörigen Schilderung eine
furchtbare Höhe erreicht hatte, von vornherein erklärt, es bestände
die Hoffnung, daß er durch einen operativen Eingriff geheilt
werden könnte, allein ich machte ihn gleichzeitig darauf auf merk-
sam, daß er der erste derart zu operierende Fall überhaupt sei,
mit anderen Worten, daß meines Wissens wegen solcher Be-
schwerden noch kein Mensch einen derartigen tiefen Eingriff auf
sein inneres Ohr durchgemacht hätte. Trotz dieser gewiß nicht
ermutigenden Eröffnungen willigte der Kranke sofort ein mit der
Erklärung, er sei zu jeder Operation bereit, er könne das Leben
so nicht länger ertragen, er würde Hand an sich legen, wenn er
keine Hülfe fände.
Daß man im allgemeinen auf solche Selbstbedrohungen
keinen sonderlichen Wert zu legen braucht, ist bekannt. Wer
suicidium begehen will, der redet nicht erst lange vorher davon,
sondern überrascht die Menschen durch die Tat. Anders ver-
hält es sich aber mit der Eröffnung meinerseits, daß er meines
Wissens der erste Kranke sein würde, der wegen qualvoller Ge-
räusche einen derartigen Eingriff in sein Ohrlabyrinth ertragen
sollte. Vor mehreren Jahren nämlich untersuchte ich einen
1) Deutsche mediz. Wochenschrift 1906 No. 21.
Zur Chirurgie des Ohrlabyrinths. 143
Kranken, der über derartige heftige Ohrsehwindelerscheinungen
klagte, daß auch er am Leben verzweifeln wollte. Dieser Kranke
lebte als Junggeselle in vorgerücktem Alter, hatte für niemand
•zu sorgen, war sonst ganz gesund, nur quälten ihn die Ohr-
schwindelerscheinungen derart heftig, daß er sich zur Zeit der
Anfälle an seinem Schreibtische festhalten mußte, um nicht zu
Boden zu stürzen. Er erhielt damals von mir dieselbe Aufklärung
wie der zweite — und siehe da, sein ihn angeblich bis zum
Lebensüberdrusse quälendes Ohrenleiden erträgt er noch heute!
Der Gedanke, daß er als erster Mensch überhaupt einen endo-
labyrinthären Eingriff ertragen sollte, schreckte ihn ab, er konnte
sich zur Operation nicht entschließen.
Wenn ich nun diesem Patienten einen derartigen Eingriff
vorschlug, so tat ich es mit der auf Grund meiner wissenschaft-
lichen Ausbildung gewonnenen Überzeugung, daß ein operativer
Eingriff ins Ohrlabyrinth als den Sitz dieser Krankheitserschein-
ungen nach der Theorie den gewünschten Erfolg haben mußte.
Allerdings muß die Operation dann auch die diese Symptome
auslösenden erkrankten Teile, und zwar nur diese mit Sicherheit
zu treffen suchen. Wie weit das in den einzelnen Fällen erreich-
bar sein kann, darauf wollen wir später gelegentiich zurück-
kommen.
Wir wollen also vorläufig festhalten, daß
1. unerträgliche subjektive Geräusche und
2. unerträgliche Ohrschwindelerscheinungen
uns Ohrenärzten unter umständen Indikationen geben können,
unseren Kranken operative Eingriffe aufs Ohrlabyrinth vorzu-
schlagen, wo der Sitz dieser Krankheitserscheinungen zu
suchen ist.
Mit beiden Symptomen wollen wir uns nun etwas näher
befassen.
Was zunächst die subjektiven Geräusche anbetrifft, so möchte
ich hier wiederholen, was ich bei Gelegenheit von Referaten resp,
kritischen Besprechungen einschlägiger Literatur im Archiv be-
tont habe: Wir Ohrenärzte müssen uns daran gewöhnen, den
Ausdruck „Patient klagt über Ohrensausen" gänzlich als nicht
der Höhe wissenschaftlicher Ausbildung entsprechend aus den
Krankheitsberichten auszuschalten. „Sausen" und „Sausen*' haben
bekanntiich oft ganz gewaltige Unterschiede. Die Fälle, in denen
über subjektive Gehörsempfindungen geklagt wird, müssen analy-
siert werden, indem wir .die Kranken mehr zur Selbstbeobachtung
144 XXI. MATTE.
erziehen. Wichtig i8t es außerdem, daß wir die Kranken ^aus-
redend lassen. Sehr praktisch verfahrt man außerdem dabei, daß
man sie ihr subjektives Geräusch objektiv mit dem Munde wieder-
geben läßt, oder daß man sie einen Vergleich mit bekannten ob-
jektiven Geräuschen ziehen läßt, oder^ indem wir selbst ihnen
objektive Geräusche erzeugen, wie wir es in der Jenenser
Ohrenklinik z. B. mit Muschelresonatoren gemacht haben. Leider
sind die hierher gehörigen, eminent wichtigen Arbeiten Kessels^)
teilweise in den wenig zugängigen Korrespondenzblättem des
Allgemeinen ärztlichen Vereins von Thüringen erschienen. Ihre
allgemeine Verbreitung ist dadurch erschwert worden. Jedenfalls
haben sie die ihnen zukommende Beachtung nicht gefunden und
doch sind sie für uns Ohrenärzte von der allergrößten Wich-
tigkeit.
Bei halbwegs intelligenten Kranken werden wir auf die oben
angedeutete Weise manchen Anhaltspunkt gewinnen, ob wir ihre
subjektiven Gehörsempfindungen richtig beurteilen. Zunächst gilt
es also festzustellen, ob der Kranke wirklich ein subjektives Ge-
räusch oder einen subjektiven Ton resp. Klang in seinem Gehör-
organe wahrnimmt. Diese Entscheidung ist nach meinen Er-
fahrungen aus der Praxis für einen sehr großen Teil auch der
nicht gerade als musikalisch zu bezeichnenden Kranken sofort
möglich. Recht häufig treten auch beide Gehörsempfindungen
gleichzeitig auf, wodurch die Analyse beträchtlich erschwert
werden kann.
Ganz außer Betracht wollen wir hier alle die im Gehörgange
oder im Mittelohre entstehenden oder alle sonstigen Gehörs-
empfindungen lassen, sondern uns lediglich mit den im Ohr-
labyrinthe entstehenden beschäftigen.
Bekanntlich klagen die meisten derartigen Kranken über
Geräusche, nicht über Ton- resp. Klangempfindungen. Nach
Kessel unterscheiden wir auch an den Geräuschen die Stärke,
die Höhe und die Klangfarbe (Resonanz).
Die Stärke wird nach dem Prinzip der Überdeckung ge*
messen. Eine recht gute objektive Schallquelle haben wir z. B.
in einem Gasglühlichte^ bei dem die Gaszufuhr gut reguliert
1) über die chronidchen Katanhe des Mittel obres und ibre Beband-
lung. EorrespoDdenz-Blätter des Allg. ärztl. Vereins von Tbüringen 1S88.
No. 7.
Über die vordere Tenotomie. Vortrag, gebalten auf dem internationalen
Kongreß z. Berlin 1890. Arcbiv f. Obrenbeilk. 1890.
Zur Chirurgie des Ohrlabyrinths. 145
werden kann. Hier lassen sich eine ganze Reihe von Intensitäts-
änderungen erzeugen, bis wir gerade die dem subjektiven Ge-
räusch des Kranken entsprechende Stärke ermittelt haben. Rückt
der Patient von der Flamme weiter ab, so wird er nur sein
eigenes Geräusch wahrnehmen, kommt er näher, so wird das
Flammengeräusch das eigene überdecken. Die Intensität des
subjektiven ^Siedegeräusches^ wird also ausgedrückt durch die
Entfernung des kranken Ohres von der Schallquelle in dem
Momente, wo eben die Uberdeckung aufhört. *) Dieses „Sieden**
der Gasflamme entspricht zudem auffallend genau dem subjektiven
„Sieden"^, welches die ungemein häufigen chronischen Mittelohr-
katarrhe in den Anfangsstadien regelmäßig begleiten. Kessel
hat deshalb diese „Siedegeräusohe'' typische genannt, typisch,
weil sie einen typischen Verlauf zeigen, und führt ihre Entstehung
auf erhöhten Labyrinthdruck zurück.
Nach Kessel gehen diese „Siedegeräusche"^ im Verlaufe der
Erkrankung durch Abnahme der Höhe und durch Änderung der
Klangfarbe in tiefere Geräusche und schließlich in Töne resp.
Klänge über. Der Krankheitsprozeß verbreitet sich also vom
Vorhofe resp. von den Anfangsteilen der Gehörschnecke aus
hinein in die Schnecke bis zu ihrer Spitze hin, wo die tiefsten
Tonempfindungen liegen. Es scheint sich also dem anfänglich
wohl anzunehmenden erhöhten Labyrinthdruck außerdem ein
sekundärer schwerer Degenerationsprozeß anzuschließen, dem all-
mählich die ganze Schneckenskala verfällt. Eine zunehmende
Herabsetzung des Hörvermögens von der Konsonantentaubheit
an allmählich bis zur Vokaltaubheit ist die Folge. Dieser regel-
mäßig zu beobachtende klinische Verlauf entspricht also genau
der Theorie, wonach zunächst die dem Vorhofe anliegenden, den
höchsten Tonempfindungen entsprechenden Teile der Gehörschnecke
erkranken und funktionsunfähig werden, worauf der Prozeß zu
den den mittleren und den tiefen Tönen entsprechenden Teilen
der Schnecke vorschreitet — , also erst fallen die die höchsten
1) Anm.: Bei der Wichtigkeit gerade dieses subjektiven Geräusches
wäre eine exaktere Bestimmung zur allgemeinen Veratändigung dringend
wünschenswert Wir konnten z. B. bei den das brennende Gasglühlicht
begleitenden Flammongeräaschen 3 Intensitäten unterscheiden, die etwa
3 meßbaren Intensitäten der Leuchtkraft entsprächen — darüber vielleicht
später Ausführlicheres. — Eine andere objektive Schallquelle für „atjrpische'*
Geräusche stellt ein laufender Wasserkrahn dar. Auch hier lassen sich eine
Reihe Intensitäten und Resonanzänderungen, je nach der Menge des aus-
fließenden Wassers und der Fallhöhe beobachten.
ArcUr 1 Ohrenheilkande. 73. Bd. Festschrift 10
146 XXL MATTE.
SchwinguDgszahlen umfassenden Konsonanten ans, dann ab-
steigend die Vokale i, e, a, o, u, womit die Worttanbheit be-
siegelt ist.
Wir sehen hieraus, daß schon eine genauere, den Lehren
von Hensen-Helmholtz entsprechende Anamnese wertvolle
Aufschlüsse geben kann über den Sitz, über die Art und den
Verlauf der Erkrankung. .
In einer der jüngeren Arbeiten ist zu lesen: „bei zwei
Fällen lag das Sausen bei c* und c*..." (Pause) — hätte sich
der Verf. die zur Bestimmung dieser Tonhöhe benutzten Stimm-
gabeln unbefangen an die Ohren gehalten, so hätte er niemals
den Ausdruck ^Sausen^ gewählt, um die Tonhöhe zu be-
zeichnen. Die Gabeln c* und c^ klingen. Wir wählen im
Sprachgebrauche den Vokal i, um die Tonhöhe solcher Gabeln
zu bezeichnen — , unsere tiefsten Gabeln brummen (also ul).
Die deutsche Sprache ist ungemein reich an Wörtern, womit wir
Gehörsempfindungen nach ihrer Tonhöhe bezeichnen können.
Aus einem deutschen Sprachwörterbuche habe ich 16 mit u,
7 mit au, 4 mit äu bezw. eu, 2 mit ü, 11 mit o, 6 mit ö, 27 mit a,
9 mit ae, 2 mit e, 2 mit ei, 26 mit i gefunden. Aus dieser Fülle
können wir mit einiger Genauigkeit diejenigen herausfinden^
welche das subjektive Geräusch des Kranken annähernd treffend
bezeichnen. Bemerkenswert ist die große Zahl derer mit u (16),
mit a (27) und mit i (26) gebildeten. Als die bei Ohrenkranken
im allgemeinen am häufigsten zu beobachtenden Ausdrücke mögen
hier erwähnt werden:
brummen, glucksen, knurren, summen, surren, brausen,
rauschen, sausen, säuseln, brodeln, donnern, kollern,
pochen, rollen, dröhnen, knacken, knarren, knattern,
platzen, rascheln, rasseln, plätschern, gischen, kicksen,
knistern, knittern, piepsen, sieden, zirpen, zischen, zwit-
schern, ticken,
wobei natürlich auf ihre nosologische Bedeutung keine Rücksicht
genommen ist
Die allzu häufig gebrauchte Ausdrucksweise in den klinischen
Krankheitsberichten: „Patient klagt über Ohrensausen" entspricht
also absolut nicht der Höhe unserer wissenschaftlichen Anfor-
derungen. —
Ganz ähnliche Vorwürfe müssen gegen die Redeweise: Patient
klagt über „Schwindel" erhoben werden. Die Lehren der experi-
mentellen Physiologie und Pathologie des Ohrlabyrinthes sowohl
Zar Chirurgie des Ohrlabyrinths. 147
als auch die Erfahrungen am Krankenbette beweisen zur Evidenz,
daß den in der Pars superior gelegenen nervösen Endapparaten
in den Ampullen der Bogengänge eine ganz andere funktionelle
Bedeutung zukommt, als den Bestandteilen der Pars inferior.
Die Experimente von Flourens (1824 und 1842) und später
von Goltz (1870), die bald von einer überaus großen Anzahl
von Autoren einer Nachprüfung unterzogen wurden, beweisen,
daß Verletzungen der Bogengänge und Ampullen mit den
schwersten, oft dauernd irreparablen Gleichgewichtsstörungen ge-
folgt sind. Durch umfassendste Tierexperimente im physio-
logischen Institute in Halle ^)^ in den Ohrenkliniken in Halle '^)
und in Jena und später in Köln'^) hat Verf. diese Lehre von
den verschiedenen Funktionen* dieser beiden Abschnitte des Ohr-
labyrinthes begründen helfen. Halten wir hier fest, was jederzeit
durch einwandfreie Tierexperimente gezeigt werden kann, daß
eine vollständige Herausnahme beider Gehörschnecken nicht die
geringsten Störungen in der Kopf- oder Körperhaltung nach sich
zieht, daß derartig operierte Tiere sich in ihrem Verhalten in
keiner Weise von gesunden Tieren unterscheiden bis auf ihre
nachweisbare Taubheit. Wie ganz anders gestaltet sich das Bild
bei Verletzungen der Teile der Pars superior, besonders der
Bogengänge und der Ampullen! Werden derartige Versuche in
systematischer Weise angestellt, dann ergibt sich eine charak-
teristische Abhängigkeit der Störungen des Kopf- resp. des Körper-
gleichgewichts von der Lage der verletzten Teile. Alle diese
zuweilen äußerst heftigen Bewegungsstörungen, die den Charakter
von Eeizerscheinungen tragen, zeigen die Merkmale des sogenannten
Drehschwindels.
Gehen wir auf Grund der experimentellen Erfahrungen zur
Untersuchung unserer Kranken über, so können diese uns Auf-
schluß geben über ihre Empfindungen. Wir erfahren dann, und
das gelingt auch bei der Mehrzahl ziemlich leicht; daß auch sie
1) Ein Beitrag zur Funktion der Bogengänge des Labyrinths. J. D.
Halle 1892.
Experimentelle Untersuchungeu über die Funktion des Ohrlabyrinthä
der Tauben. Fortschritte d. Med. 1894, 4.
Experimenteller Beitrag zur Physiologie des Ohrlabyrinthes. Pflüg.
Arch. 57.
2) Ein Beitrag zur Frage nach dem Ursprung der Fasern des N. acust.
Arch. f. Ohr. 39.
3) Beiträge zur experimentellen Pathologie des Ohrlabyrinthes. Arch.
f. Ohr. 44.
10*
148 XXI. MATTE.
Drebschwindelempfindungen haben, die sich in der Weise
äußern, daß sie entweder das Gefühl haben, gedreht zu werden,
oder daß ihre ^Umgebung in eine drehende Bewegung versetzt
erscheint Sie können uns auch Aufschluß geben über den Sinn
der Bewegung, ob im Sinne des Uhrzeigers oder umgekehrt, ob
in horizontaler Ebene oder in vertikaler Ebene von vorne nach
hinten über den Kopf oder umgekehrt, ob in sagittaler Ebene von
rechts über den Scheitel nach links oder umgekehrt.
Bei exakter Untersuchung läßt sich in einigermaßen klaren
Fällen eine derartige Bestimmung ermitteln, was in der Kranken-
geschichte zum Ausdruck zu bringen ist — , also auch hier kann
eine Ausdrucksweise: Patient klagt über „SchwindeP^ nicht den
Anspruch auf wissenschaftliche Würdigung machen!
Durch die Bemühungen von v. Stein 's sind weiterhin diag-
nostische Merkmale über das statische und das lokomotorische
Verhalten Labyrinthkranker angegeben worden, sie. sind in vielen
Fällen äußerst wertvoll, weil sie objektiv wahrnehmbar sein
können — , doch hüte man sich vor Überschätzung dieser Be-
funde! Auch die vom Labyrinth ausgelösten Nystagmns-
bewegungen der Augen, die in reinen Fällen recht gut festgestellt
werden können, sind zu beachten. Alle diese reflektorisch aus-
gelösten Störungen, die sowohl Beiz- als auch Ausfallserschein-
ungen sein können, werden aber meines Erachtens nicht durch
Strömungen der Endolymphe ausgelöst, sondern sind als Druck-
schwankungen aufzufassen, wobei alle möglichen Vorgänge
mitspielen können. Sie verdanken diesen Einfluß ihren im N.
vestibularis zentripetal zum Kleinhirn ziehenden Nervenfasern,
sie gliedern sich dem im Kleinhirn zentrierten Beflexbogen an,
der unter der Schwelle des Bewußtseins die Stellung und Be-
wegung des Kopfes und der Augen reguliert. Zentrifugal treten
diese Nervenfaserzüge in Verbindung zum Dachkem und zum
Deitersschen Kerne, um von da als tractus vestibulospinalis
(Bruce) durch das corpus restiforme zum Hirnstamme und zum
Eückenmarke, zum gleichseitigen Abducens und zu den beider-
seitigen Oculomotoriuskemen zu ziehen. Durch diese anatomisch
festgelegten Verbindungen erklären sich für uns die klinischen
und experimentellen Erfahrungen vollkommen ausreichend, ohne
daß wir im Ohrlabyrinth den sogenannten sechsten Sinn oder das
Ewald sehe Tonuslabyrinth zu erblicken hätten.
Außer diesen Drehschwindelempfindungen können aber vom
Ohrlabyrinth noch Empfindungen ausgelöst werden, „als ob der
Zur Chirurgie des Ohrlabyrinths. 149
Fußboden auf einer Seite wackele und versinken würde" oder
^als ob man auf dem Bande eines Grabens ginge und in
ihn zu versinken drohe** — , es scheint sich hier mehr um
eine diffuse Vorhofsreizung zu handeln, wie wir sie bei reiner
Stapesankylose häufiger beobachten können. Die aus irgend
einer Ursache z. B. bei Aufregungszuständen oder plötzlich ein-
setzenden heftigen körperlichen Bewegungen auftretende Blut-
oder Lymphdruckwelle kann im ankylotischen Labyrinthe nicht
schnell genug ausweichen und löst nun diese als Labyrinthreizung
aufzufassende Störung in der Gleichgewichtsempfindung aus.
Hierhin gehören auch so manche Erscheinungen der sogenannten
Platzfurcht Experimentell kann sich jeder eine Vorstellung
dieser Empfindungen machen, wenn ihm ein einigermaßen kräf-
tiger konstanter Strom quer durch den Kopf von einem planum
mastoideum zum andern geleitet wird. Auf einem Stuhle sitzend
hat man aldann beim Schließen des Stromes auf der Eathoden-
seite das Gefühl, als wenn der Stuhl nach dieser Seite weg-
gerissen würde, man macht deshalb ganz von selbst eine energische
Bewegung nach der Anode, ja man fällt sogar nach dieser Seite
herab bei genügend starken Strömen — , es sind dies die bekannten
galvanischen Schwindelerscheinungen. —
Wir hatten oben angeknüpft an Kessel 's Unterscheidung in
typische und in atypische Geräusche — , erstere als charak-
teristisch für beginnende resp. im Ablaufen begriffene chronische
Mittelohrkatarrhe. Wir wollen nun näher auf die atypischen
Geräusche eingehen, weil tius die ursächlichen Erkrankungen
interessieren.
Der von mir operierte Kranke klagte über ständig zu-
nehmende, sehr heftig quälende Geräusche, die er als „dumpfes
Bauschen^ und „taktmäßiges Klopfen^ bezeichnete und deren
Sitz er in den Hinterkopf verlegte. Schon diese Charakterisierung,
die vom Kranken selbst herrührt, läßt die Vermutung zu, daß es
sich um Blutgeräusche handele, ohne aber dabei an die eigent-
lichen endotischen Gefäßgeräusche zu denken, die bekanntlich
häufig objektiv wahrgenommen werden können. Diese „atypischen"
Geräusche finden wir besonders häufig als Begleiterscheinung
der an sogenannter Otosklerose leidenden Kranken, und da wir
wissen, daß diese Erkrankung mit einer unter entzündlichen Er-
scheinungen auftretenden herdförmigen Umwandlung der Sub-
stantia compacta in Substantia spongiosa verläuft, so können wir
uns auch eine Erklärung für diese Art von Geräuschen machen — ,
150 XXL MATTE.
sie entsprechen nämlich den jeweilig sich entwickelnden^ ver-
schieden lokalisierten Herden. Oft wenn keine Nervenendapparate
in der Nähe des Knochenerkrankungsherdes sind; verlänft die
Erkrankung ohne jedwede subjektive Gehörsempfindungen, oft
ohne Geräusche lediglich mit den vom Labyrinth ausgelösten
Störungen der Gleichgewichtsempfindung mit mehr oder weniger
gut charakterisierter Bewegungsrichtung, oft lassen sich sämtliche
Symptome des erkrankten Organs exakt nachweisen — ^, wir sehen
also zur Genüge, wie viele Anhaltspunkte über Sitz und Aus-
dehnung der Erkrankung uns eine genaue Anamnese und eine
entsprechende Untersuchung gewähren.
Und nun noch ein paar Worte über den Ausdruck „Oto-
Sklerose". Bekanntlich stammt derselbe von v. Tröltsch,
der aber schon die Bemerkung macht, daß eine auf vielfache
anatomische Beobachtungen gegründete Erweiterung unserer Kennt-
nisse der Sklerose dereinst eine vollständig selbständige Stellung
in der Reihe der Ohrerkrankungen verschaffen wird. Und wie
recht hat ihm die spätere Forschung gegeben! In seinem Buche:
„Die Otosklerose" definiert Denker diese Erkrankung in fol-
gender Weise: „Wir verstehen zurzeit unter Otosklerose eine
Krankheitsgruppe, welche bei gut durchgängiger Tube und nor-
malem oder annähernd normalem Trommelfellbefund klinisch
das Bild einer progressiven (mit oder ohne Geräusche), bei der
funktionellen Prüfung bestimmte charakteristische Merkmale auf-
weisende Schwerhörigkeit darstellt."
An dem Ausdrucke „Sklerose" ist, da er das Wesen der
Erkrankung in keiner Weise bezeichnet, so häufig und so allge-
mein Anstoß genommen, daß man endlich den Mut haben sollte,
ihn überhaupt nicht mehr zu gebrauchen. Ich habe deshalb den
Ausdruck „Otospongiose'' vorgeschlagen und würde nunmehr
folgende Erklärung geben: Die Otospongiose in ihrer reinen
Form stellt eine bei gut durchgängiger (oft klaffender) Tube und
bei normalem oder annähernd normalem Trommelfellbefund auf-
tretende progressive Schwerhörigkeit dar, die mit oder ohne
atypischen Geräuschen und mit oder ohne Labyrinthschwindel-
erscheinungen verbunden zu sein pflegt. Es handelt sich bei ihr
um herdweise auftretende Umwandlung der Substantia compacta
der Labyrinthkapsel in Substantia spongiosa unter dem Bilde
einer Entzündung. Prädilectionsstellen dieser Knochenerkrankungs-
prozesse scheint die Stapediovestibularsyndesmose zu sein, wobei
unzweckmäßige therapeutische Maßnahmen (Valsalva, Politzer,
Zur Chirurgie des Ohriabyrinths. 151
Gatheterismus, pneumatische Luftpumpe, kurzum jede auf das
doch anscheinend gesunde Mittelohr einwirkende Behandlungs-
methode) regelmäßig eine Verschlimmerung herbeiführen.
Auf den Wert der Stimmgabelprüfung soll hier nicht näher
eingegangen werden. Betont muß werden, daß die Wahrnehmung
der Töne qualitativ stark verändert ist gegenüber dem ge-
sunden Ohr, woraus auch auf eine stark veränderte Verarbeitung
in den Zentralorganen geschlossen werden muß — darüber später
gelegentlich!
Die Otospongiose ist als dyscrasische Labyrintherkrankung
aufzufassen. Wie weit etwa das herdweise Auftreten mit den
die Blutversorgung beeinflussenden Endbezirken sympathischer
Nervenfasern verknüpft ist, müßten spätere experimentelle Unter-
suchungen zu erweisen suchen.
In der Krankengeschichte meines Falles ist betont, daß es
durch die operative Eröffnung des Ohrlabyrinthes mittelst eines
3 mm breiten Bohrers, der durch den Elektromotor in Bewegung
gesetzt wurde, und durch die n^hf olgende Auskratzung des
Vestibulum gelungen ist, den Patienten von seinem ihn bis zur
Verzweiflung und zu Selbstmordgedanken quälenden „Bauschen
und taktmäßigen Klopfen^ gänzlich und dauernd zu befreien.
Auch heute ist der Kranke noch vollkommen frei von seinen da-
maligen Beschwerden — seit der Labyrinthoperation sind bislang
2V2 Jahre vergangen. Dahingegen ist das „Siedegeräusch",
welches ich in der Krankengeschichte schon erwähnte, auch
heute noch vorhanden.
Das Hörvermögen ist anscheinend dasselbe geblieben, jeden-
falls gibt der Kranke an, daß er mit Sicherheit eine gut tickende
Taschenuhr und ebenso die auf das planum mastoideum auf-
gesetzten tiefen Stimmgabeln auf dem operierten Ohre höre. Man
vergegenwärtige sich diese Angaben recht genau unter Berück-
sichtigung des I^byrintheingriffes, aber auch unter Berücksich-
tigung der Tatsache, daß eine Durchleitung zum gesunden Ohre
hierbei nicht auszuschließen ist!
Otoskopisch gewährt das ehemalige Promontorium ein total
verändertes Bild: anstelle der Konvexität ist eine unebene flach-
höckrige Konkavität eingetreten, die von einer Schleimhautdecke
überzogen ist. Bei Sondenberührung, die anfangs sehr unan-
genehm empfunden worden ist, fühlt man jetzt einen harten
Widerstand, wahrscheinlich hat eine neue und zwar gesunde
Knochenbildung das Loch wieder geschlossen. Eine klare Vorr
152 XXI. MATTE.
Stellung über die eingetretenen Veränderungen könnte natürlich
nur die mikroskopische Untersuchung ergeben.
Das Gesamtkrankheitsbild hatte ich damals als sogenannte
Mischform bezeichnet und ging von dem Gedanken aus, es habe
sich eine Otospongiose auf dem Boden eines langjährigen chro-
nischen Mittelohrkatarrhes entwickelt. Nach dem Erfolge der
chirurgischen Behandlung ist anzunehmen, daß mit der Operation
der ganze entzündliche Knochenprozeß beseitigt worden ist und
des weiteren, daß nur dieser eine Knochenprozeß vorhanden ge-
wesen war — , alle daherrührenden Beschwerden wurden also
beseitigt, während die von chronischem Mittelohrkatarrhe her-
zuleitenden Symptome, besonders das typische Siedegeräusch,
dessen Sitz also in die Gehörschnecke verlegt werden muß, ge-
blieben sind. Die Gehörschnecke kann also, da sie noch subjek-
tive Gehörswahmehmungen liefert, nicht ertaubt sein. Es werden
sich, wie die vielseitigste experimentelle Erfahrung mir gezeigt
hat, von neuem ringsum abgekapselte, mit Endolymphe gefüllte
Schneckenabschnitte gebildet haben, die bis zu einem gewissen
Grade funktionsfähig bleiben können..
Die wissenschaftliche Ausbeute dieses Falles lehrt uns
also:
1. Die bei chronischen Mittelohrkatarrhen auftretenden sub-
jektiven Gehörsempfindungen verlaufen typisch (Kessel). Sie
haben ihren Sitz in der Gehörschnecke, in der sie fortschreitend
von den in den Anfangsteilen liegenden höchsten Tonempfindungen
herunter bis zu den in der Schneckenspitze gelegenen tiefsten
Tonempfindungen ziehen. Die Funktionsprüfungen ergeben dem-
entsprechend eine anfängliche Konsonantentaubheit, der mit den
Jahren die Vokaltaubheit bis zur Worttaubheit folgt.
2. Die atypischen Geräusche mit ihrem wechselvollen
Charakter haben wechselnde Lokalisationen. Die nähere Be-
stimmung dieser erkrankten Stellen erfolgt durch exakteste Anam-
nese und genaue Untersuchung. Die Ergebnisse der experimen-
tellen Physiologie müssen eingehende Berücksichtigung finden.
3. Ein für allemal sind die ganz unbestimmten Ausdrucks-
weisen wie: Patient klagt über „Ohrensausen'' oder über
„Schwindel" als durchaus unwissenschaftlich zu verbannen.
Die praktische Ausbeute lehrt, daß wir imstande sind, in
geeigneten Fällen derart verzweifelte Patienten durch operative
Fälle am Leben zu erhalten, sie eventuell sogar gesund zu
machen. Mit welcher Voraussage die einzelnen Fälle behandelt
Zur Chirurgie des Ohrlabyxinths. 153
werden dürfen, ergibt die Untersuchung — , wir dürfen aber ab-
solut keine Hoffnungen erwecken, die nicht erfüllt werden können,
und hier wiederhole ich nochmals meinen früher bereits formu-
lierten Standpunkt: „Die Größe des operativen Eingriffes ist ge-
rechtfertigt durch die Größe der Leiden des Kranken ^)."
Sind denn aber nun die Gefahren eines solchen Eingriffes
in der Tat so große? Daß es sich um eine Operation handelt,
die an die technischen Fertigkeiten die weitgehendsten Anfor-
derungen stellt, braucht nicht besonders hervorgehoben zu wer-
den. Absolut ruhige Hand und sicheres Auge bei klarem Ge-
sichtsfelde sind unerläßlich. Eine umfangreiche experimentelle
Übung am Präparat und beim Tierexperiment muß vorausgesetzt
werden. Die Durchbohrung des Promontoriums erfordert bei der
Operation eine geraume Zeit, der Knochen ist hier bekanntlich
recht hart Ist aber die Öffnung im Labyrinth groß genug, dann
dringt das Instrument schnell in den Vorhof ein — , der erste
Teil der Operation ist damit beendet. Zur nachfolgenden Aus-
kratzung habe ich die Kesseische Curette benutzt, sie ist ein
sehr geeignetes Instrument. Zur Orientierung im Vorhofe dient
die Seh wartze sehe Tenotomsonde, rechtwinklig abgebogen, von
2 mm Länge.
Wie in der Krankengeschichte ausdrücklich bemerkt ist, ist
die Blutung und auch der Abfluß von Endolymphe sehr gering
gewesen.
Ob man nun zweizeitig, wie ich es getan habe, oder ein-
zeitig operieren will, wird wohl von Fall zu Fall entschieden
werden müssen. Bei schwierigen anatomischen Verhältnissen
kann der Exzision des Trommelfells und der beiden äußeren
Ossicula (Hammer und Amboß) die Ausmeißelung des Limbus
osseus folgen, bis ein übersichtliches Terrain für die Labyrinth-
operation geschaffen ist. Der endolabyrinthäre Eingriff erfolgt
dann nach der Ausheilung des ersten Eingriffes bei klarem Ge-
sichtsfelde so gut wie unblutig. Er kann sich gegebenenfalls in
entsprechender Ausdehnung auf den Vorhof, auf die Ampullen
nebst Bogengänge oder auch auf die Gehörschnecke ausdehnen.
Bei reicherer Erfahrung wird auch das Instrumentarium viel-
seitiger werden. Bei meinen früheren Tierexperimenten habe ich
mit größtem Erfolge ganz feine Häkchen verwendet, mit denen
ich in größter Schnelligkeit die gewünschten endolabyrinthären
1) Deutsch, med. Wochenschrift 1906 No. 21.
154 XXI. MATTE. Zur Chirurgie des Ohrlabyrinths.
Gebilde herausbeförderte bei Gelegenheit klinischer Demonstra-
tionen.
Über die Gefahren derartiger Eingriffe brauchen wir auch
nicht allzu viele Worte zu verlieren. Selbstverständlich ist die
peinlichste Sauberkeit absolut unerläßlich. Die vermeintlichen
Gefahren einer Infektion von der Tube aus entstammen theo-
retischer Spekulation. Der zweite Eingriff soll erst nach voll-
kommener Ausheilung des ersten gemacht werden — , in der
Zwischenzeit sorge man für ausreichenden Verschluß des Gehör-
ganges mit steriler Gaze — , man hüte sich aber vor allen Zuviel-
machen wollen ! Das gesunde Aussehen des Promontoriums zeigt
uns den Zeitpunkt an, wo die Labyrinthoperation erfolgen kann.
Das Zustandekommen einer Infektion ist außerdem durch den
vorhandenen Abfluß der Endolymphe erschwert, die mit einem
gewissen, wenn auch geringen Drucke herausquillt — , für wei-
teren Abfluß sorgt außerdem eine lockere Gazedrainage.
Keineswegs soll damit aber gesagt sein, daß der Eingriff ein
unbedeutender sei — , im Gegenteil hoffe ich in der bisherigen
Darstellung zum Ausdruck gebracht zu haben, daß hier in jeder
Beziehung die höchsten Anforderungen an die Gewandheit und
Sicherheit des Operateurs zu stellen sind. Deshalb soll der opera-
tive Eingriff auch hier für die Fälle reserviert bleiben, in denen
alle sonstigen therapeutischen Maßnahmen versagt haben und das
Leiden eine furchtbare Höhe erreicht hat. Diese und zukünftige
operative Erfahrungen werden uns hier mit Sicherheit weiter
bringen, damit wir nicht gezwungen sind, unsere Kranken ihrem
Schicksale zu überlassen.
XXII.
über die Diplegia facialis mit besonderer Berücksichtigung
ihrer Ätiologie.
Von
Dr. Fr. Röpke in Solingen.
Die Veranlassuhg zu Studien über die Diplegia facialis gab
mir der folgende Fall, den ich am 21. April dieses Jahres in der
Versammlung der Vereinigung Westdeutscher Hals- und Ohren-
ärzte vorzustellen die Ehre hatte:
Der 25 jährige Fabrikarbeiter W. B. aus Höhscheid bei Solingen hat
am 8. Oktober vorigen Jahres einen Unfall dadurch erlitten, daß er unter
eme schwere Presse, welche er mit verschiedenen Arbeitskameraden zu
transportieren hatte, geriet und vollständig von ihr begraben wurde. Der
Patient wurde schwer verletzt in bewußtlosem Zustande in das städtische
Krankenhaus in Solingen geschafft, wo zunächst eine Fraktur des linken
Unterschenkels festgestellt wurde. Außerdem wurde eine Fraktur der Schädel-
basis angenommen, weil Blutungen aus beiden Ohren, aus Mund und Nase
stattfanden. Von äußeren Verletzungen wurden noch Quetschwunden auf dem
rechten Warzenfortsatze und in der rechten Schläfe, außerdem auf der Mitte
des Kückens festgestellt.
Am 5. Tage nach dem Unfall kam Patient wieder zum Bewußtsein.
Einige Tage später wurde ich zur Untersuchung des mitverletzten Gehör-
organes konsultiert. Der Befund war folgender: Patient war vollkommen
klar, man merkte, daß er unsere Fragen, falls sie laut gestellt wurden, ver-
stand. Er war auch bemüht, zu antworten, wir konnten ihn aber nicht
verstehen. Bei näherer Betrachtung fiel die vollständige Unbeweglichkeit
beider Gesichtshälften auf. Das Gesicht war starr, wie eine Maske. Er
konnte die Oberlippe nicht bewegen, die Augen nicht schließen. Es bestand
also eine doppelseitige Facialislähmung. Die Bewegungen des linken
Bulbus waren normal, auf der rechten Seite bestand eine geringe Abduzens-
lähmung. Bei Blickrichtung nach der Seite trat Nystagmus auf. Andere
Motilitätsstörungen waren nicht nachweisbar, auch war die Sensibilität im
Gesicht und am Körper nirgendwo herabgesetzt.
Die Untersuchung des Ohres ergab Blutkrusten in der Tiefe beider
Gehörgänge. Ich hielt es nicht für ratsam, irgend etwas an den Ohren zu
ton, legte Gazestreifen in die Gehörgänge und machte zum Abschluß gegen
Infektionen von außen noch einen Verband um beide Ohren. Eine genaue
Funktionsprüfung war nach Lage der Dinge nicht möglich, ich stellte nur
fest, daß die Flüstersprache beiderseits nicht verstanden wurde.
Ich sah dann den Patienten erst am 10. Januar dieses Jahres wieder,
also 3 Monate nach dem Unfall, nachdem er aus dem Erankenhause ent-
lassen worden war. Nach dem Berichte des Assistenzarztes des Kranken-
156 XXII. ROPKE.
hauses hatten in der dritten Woche nach dem Unfall beide Ohren ange-
fangen, zu eitern. Sonst hatte der Patient in der Hauptsache über folgendes
zu klagen : Er war hochgradig schwerhörig beiderseits, hatte starkes Bauschen
in beiden Ohren, litt an Überempfindlichkeit gegen Geräusche auf der rechten
Seite und war schwindelig. Er hatte Doppelbilder, die ihn besonders störten,
da er die Augen nicht schließen konnte. Auf der rechten Seite der Zunge
hatte er Gescnmacksstörungen, er konnte nicht ordentlich sprechen, das
Kauen war ihm unmöglich, namentlich konnte er die Bissen nicht im Munde
hin und her schieben. Rechts hatte er keine Tränenabsonderung und schließ-
lich litt er auch noch an Kopfschmerzen auf der rechten Seite. Die Er-
nährung des Patienten hatte große Schwierigkeiten, so daß er zusehends ab-
magerte, er wog schließlich nur noch 84 Pfund. Die elektrische Erregbarkeit
der beiden Faciales war schon in der zweiten Woche nach dem Unfall für
den faradischen Strom erloschen.
In der 7. Woche hatten die Doppelbilder nachgelassen, um dieselbe
Zeit war der Geschmack auf der rechten Zungenhällte wieder zurückgekehrt,
auch hatte die Sekretion aus dem linken Onre aufgehört. Sonst war der
Zustand unverändert, als ich den Patienten am 10. Januar sah. Nur hatte
sich sein Allgemeinzustand doch soweit gebessert, daß er sich mühsam eine
kurze Strecke fortbewegen konnte.
Der Ohrbefund war an dem erwähnten Tage folgender:
Links bestand eine Narbe im vorderen Abschnitte des Trommelfelles.
Flüstersprache wurde auf 30 cm gehört. Die Taschenuhr wurde vom Warzen-
fortsatz und von der Schläfe aus gehört. Sämtliche Töne wurden durch
Luftleitung perzipiert. Rinne war negativ.
Rechts bestanden Granulationen im Gehörgang und zwar gingen sie
von der vorderen Gehörgangswand aus; nach ihrer Abtragung sah man ein
verdicktes und gerötetes Trommelfell, in dessen unterem Abschnitte eine
Perforation war. Die granulierende Paukenschleimhaut i^igte in die Per-
foration hinein. Flüstersprache wurde auf dieser Seite nicht gehört. Die
Taschenuhr wurde auch hier vom Warzenfortsatz und von der Schläfe aus
gehört. Tiefe Töne von Ci abwärts wurden durch Luftleitung nicht perzipiert.
Rinne stark negativ.
Patient hatte noch Singen und Klingen im rechten Ohr, femer Nys-
tagmus bei Blickrichtung nach den Seiten. Es bestand noch totale Facialis-
lähmung beiderseits: Das Gesicht blieb vollkommen starr, die Oberlippe
stand nach vom und war verdickt, die Gesichtsmuskulatur war stark
atrophisch. Bei Blickrichtung nach oben und nach unten trat Schwindel-
gefühl auf. Deutliches BeiFsches Phänomen. Das Gaumensegel stand
nicht schief.
Die weitere Behandlung des Patienten wurde mir dann von der Berufs-
genossenschaft übertragen. Die Sekretion aus dem rechten Ohr blieb nach
wie vor fötid. Ende Januar stieß sich der kariöse Hammer ab, der an-
scheinend disloziert gewesen war. Die Abtragung der Granulationen hatte
gar keinen Erfolg, nach jeder Wegnahme überwucherten sie bald wieder
die Ränder der Perforation. Dem Patienten, der jeden zweiten Tag in
meine Sprechstunde kam, war es besonders unangenehm, wenn ihm Regen.
Schnee oder Staub ins Gesicht und in die Augen flog. Er hatte auch alle
Augenblicke Fremdkörper im Auge. Eine Schutzbrille schaffte nach dieser
Richtung hin Besserang.
Als auch die Schmerzen im Hinterkopf schlimmer wurden, schlug ich
dem Patienten und der Berufsgenossenschaft die Radikal Operation vor. Diese
Operation wurde ani 9. März ausgeführt. Bemerken möchte ich, daß der
linke Facialis in den letzten Tagen vor der Operation angefangen hatte,
etwas zu funktionieren.
Nach Freilegung des Knochens sah man, daß der rechte Warzenfortsatz
bei der Verletzung frakturiert gewesen war. Es verlief eine tiefe Rinne von
hinten unten nach vom oben über den Warzenfortsatz. Die Zellen des
Warzenfortsatzes waren eingedrückt worden. In dem mit Eiter und Granu-
lationen angefüllten Hohlräume lagen nekrotische Knochenstücke. Dem
Hohlraum lag der mit Granulationen bedeckte Sinus an. Am Tegmen
über die Diplegia facialis mit besond. Berücksichtigung ihrer Ätiologie. 157
tympani und antri bestanden Osteophytenbildungen, andere Anzeichen für
die überstandene Fraktur des Felsenbeines waren nicht nachweisbar.
Nach der Operation trat zunächst einige Tage vermehrter Schwindel
auf. Dann besserte sich das Allgemeinbefinden zusehends. Der linke
Facialis erholte sich immer mehr, auch der untere Ast des rechten Facialis
zeigte Spuren von Bewegung. Das Klingen im rechten Ohr verlor sich.
Der Patient wiegt jetzt (Mitte Mai) 105 Pfund. Die Knochenhöhle epi-
dermisiert sehr langsam, was bei dem immerhin noch schlechten Ernährungs-
zustande nicht zu verwundern ist.
Wir haben in diesem Falle zwischen der Facialis- Läsion
rechts und links einen Unterschied zu machen: Links ist der
Nerv anscheinend im peripheren Teile des Canalis Fallopiae ge-
troffen worden, wahrscheinlich hat es sich um eine Blutung in
diesen Kanal gehandelt. Rechts deuten die schweren Hörstörungen,
die Überempfindlichkeit gegen Geräusche, das Versiegen der
Tränensekretion und die Geschmacksstörungen darauf hin, daß
der Nerv zentralwärts vom Abgange des Nervus petrosus .super-
ficialis major am Ganglion Geniculi getroffen worden ist.
Bemerkenswert ist in diesem Falle noch die Versiegung
der Tränen Sekretion, da man neuerdings zu der Ansicht
neigt, daß der Facialis mit der Tränensekretion nichts zu tun hat,
Die ätiologischen Momente, welche zur Diplegia facialis
führen können, sind so vielseitig, daß es mir nicht unfruchtbar
erschien, sie einmal an dieser Stelle zusammenzustellen, zumal
gerade wir Ohrenärzte doch so häufig mit dem gesunden so-
wohl, wie mit dem kranken Facialis in Berührung kommen.
Wir haben zu unterscheiden zwischen der congenitalen und
der erworbenen Diplegia facialis.
Die congenitale Form ist selten und ist in den wenigen
in der Literatur bekannt gewordenen Fällen auf eine Verkümmerung
oder auf einen vollständigen Mangel der Facialiskerne zurück-
geführt worden. Diese Annahme wird gestüzt durch eine Mit-
teilung Heubners (1), der bei der Sektion eines derartigen Falles,
bei dem auch noch Lähmungen anderer Hirn nerven bestanden
hatten, eine vollständige Aplasie der betreffenden motorischen
Himnervenkerne fand.
In anderen Fällen waren neben der Diplegia facialis keine
sonstigen Lähmungen vorhanden. So beobachtete Bernhardt (2)
ein 10 Monate altes Kind, das mit Diplegia facialis auf die Welt
gekommen war und sonst keine Defekt- oder Hemmungs-Bildungen
aufwies. In wieder anderen Fällen waren mehrere Familienmitglieder
mit dieser entstellenden Mißbildung auf die Welt gekommen, auch
hatten andere Geschwister und Blutsverwandte andere angeborene
158 XXU. ROPKE.
Defekte. Kost er (3) sah Diplegia facialis bei zwei Brüdern, jeg-
liche andere Störangen fehlten. Auch Thomas (4) stellte diese Affek-
tion bei zwei Brüdern fest, welche sonst vollständig gesund waren.
Die Mutter dieser beiden letzten Patienten hatte außerdem noch
ein Kind mit verkrüppeltem Fuß geboren, ebenso hatte eine Ver-
wandte ein Kind mit angeborener Verkrüppelung eines Fußes.
Bei Mißbildung des Gehörorganes hat man verschiedentlich
einseitige Facialislähmung beobachtet. Ich habe in der Literatur
aber keinen derartigen Fall gefunden, bei dem der Facialis doppel-
seitig gelähmt war.
Die erworbene Diplegia facialis wollen wir einteilen in
die traumatische und nichttraumatische Form:
Bei Traumen des Schädes können die Faciales in ihrem ganzen
Verlaufe mitlädiert werden. Beginnen wir ganz peripher, so ist
es selbstverständlich, daß zufällig bei Verletzungen der Parotis-
gegend beiderseits auch eine beiderseitige Facialislähmung zu-
stande kommen kann.
Eine einseitige Facialislähmung durch Zangendruck bei
der Geburt ist nichts Seltenes, man hat aber auch allerdings nur
in einem einzigen Falle (Bernhardt) (5) eine doppelseitige Facialis-
lähmung auf dieser Grundlage beobachtet.
Am leichtesten können beide Faciales gleichzeitig in ihrem
Verlaufe zwischen Foramen stylo-mastoideum und dem Eintritt in
den Porus acusticus internus verletzt werden und dann in der
Regel in Verbindung mit einer Fraktur der Schädel-
basis.
Da bei derartigen Verletzungen stets das Gehörorgan in irgend
einer Weise mit alteriert^wird, so werden die Verletzungen dieses
Teiles des Facialis meistens dem Ohrenarzte zu Gesicht kommen.
Im Ganzen habe ich drei solcher Fälle in der Literatur auffinden
können, zu denen als vierter mein oben beschriebener Fall hinzu-
kommt.
Politzer (6) hat einen Fall gesehen, bei dem die Funktion
beider Nerven vollständig wiederhergestellt wurde, er nimmt an
daß es sich nur um eine Blutung in den Ganalis Fallopiae ge-
handelt hat. In den beiden anderen Fällen von Lannois
et V ach er (7) und von K6tli (8) bestand neben der kompletten
Diplegia facialis eine totale Taubheit beiderseits. Beide Fälle
waren irreparabel; hier lag nach Ansicht der Autoren eine Zer-
reißung der Faciales und der Acustici im Porus acusticus inter-
nus vor.
über die Diplegia facialis mit besond. Berücksichtigung ihrer Ätiologie. 159
Daß auch durch beiderseitige operative Maßnahmen am
Mittelohr oder in dem peripher vom Foramen stylo-mastoideum
gelegenen Facialisgebiete gelegentlich eine Diplegia facialis er-
zeugt werden kann, muß hier erwähnt werden: Ein Fall von
doppelseitiger Facialislähmung nach Warzenfortsatz- Auf meißlung
beiderseits ist, wir mir ein Kollege zuverlässig mitteilte, in Berlin
Anfang der neunziger Jahre durch die Ohrenpolikliniken ge-
wandert.
Wenn wir uns nun die Möglichkeiten vergegenwärtigen, durch
die eine intrakranielle traumatische Diplegia facialis zustande
kommen kann, so kommen hier zunächst Blutungen an der Schädel-
basis in Betracht, welche eine Drucklähmung erzeugen können.
Auch weiter zentralwärts können im Anschluß an schwere Schädel-
verletzungen die Bahnen der Faciales durch einen Bluterguß oder
durch seröse Durchtränkung des Gehirns gleichzeitig so gedrückt
werden, daß eine beiderseitige Lähmung eintritt.
Die Besprechung der Ätiologie der nichttraumatischen
erworbenen Diplegia facialis nehmen wir auch wieder am
zweckmäßigsten an der Hand des anatomischen Verlaufes des
Nerven vor, und zwar, indem wir analog dem Vorhergehenden
von seinem peripheren Ende bis zur zentralen Bahn vordringen:
Daß beide Faciales bei eventuellen beiderseitigen Affek-
tionen der Parotis (Entzündungen, Eiterungen, Tumoren) oder
bei den gleichen beiderseitigen Affektionen am Halse oder im Ge-
sicht, entweder durch bloßen Druck oder durch direktes Mit-
ergriffensein gelähmt werden können, ist wohl selbstverständlich.
Eine häufigere Veranlassung zur Diplegia facialis bietet sich aber
in Verbindung mit Affektionen des Mittelohres. Da der
Facialiskanal bei manchen Individuen der Paukenhöhle entweder
ganz offen oder nur unvollkommen geschlossen anliegt so können
bei solchen Patienten Eiterungen des Mittelohres leicht auf den
Facialiskanal übergreifen. Selbst bei akuten exsudativen Prozessen
in der Paukenhöhle kann in solchen Fällen eine Drucklähmung
der Faciales zustande kommen. Eine umfassende Arbeit über die
Paralyse des Nervus facialis im Anschluß an Otitis media acuta
stammt von Vogt (9) aus der Heidelberger Ohrenklinik. Eine
doppelseitige Lähmung wird von diesem Autor nur bei einem
Falle und zwar in Verbindung mit Lungentuberkulose im vor-
geschrittenen Stadium angeführt. Der Fall ist von Ehrmann(lO)
beschrieben worden: Die Sektion ergab, daß die Wände des
Facialiskanales im Mittelohr gesund und intakt waren. „Der
160 XXII. ROPKE.
Nervus facialis bot keine makroskopischen Veränderungen dar,
die mikroskopische Untersuchung ergab eine eitrige Infiltration
unter dem Neurilemm.
Außer den tuberkulösen Mittelohreiterungen sind es von den
akuten Formen noch die bösartigen Scharlach- und Diphtherie-
Eiterungen, welche auch vor dem vollständig geschlossenen Facialis-
kanale keinen Halt machen. Eine Diplegia facialis im Anschluß
an eine Diphtherie -Mittelohreiterung haben Wreden(ll) und
Konietzko(l2) beobachtet.
Von den chronischen Eiterungen sind es wieder die tuber-
kulösen Formen^ dann aber auch die Fälle mit Cholesteatom- oder
Polypenbildung im Mittelohr, bei welchen durch Eiterretention
eine Karies des Facialiskanales und in der Folge eine Lähmung
der Faciales eintreten kann. Grunert und Leutert(13) haben eine
beiderseitige Lähmung bei tuberkulöser chronischer Mittelohreiterung,
Tröltsch(14) bei Polypenbildung, Ludewig(15) bei Karies des
Felsenbeines undMax(16) bei Ausstoßung der Schnecke eintreten
sehen.
Im Anschluß an die otogene Facialislähmung ist die so-
genannte recidivierende oder rheumatische Form zu be-
sprechen, welche, wenn auch selten, auf beiden Seiten gleichzeitig
auftreten kann. Die Ätiologie dieser peripheren Facialislähmung
ist noch dunkel. In einem Teil der dieser Eubrik zugezählten
Fälle dürfte es sich sicher um nicht erkannte Lähmungen otogenen
Ursprunges gehandelt haben, in anderen Fällen hat man dagegen
Affektionen des Mittelohres mit Sicherheit ausschließen können.
Man muß in diesen Fällen bei denen die pathologisch -anatomische
Unteruschung wiederholt den Befund der peripherenNeuritis
ergeben hat, wohl an einen infektiösen Prozeß denken. Näheres
siehe in den Arbeiten von Hoffmann(17), Hatschek(l8),
Minkowski(l9), Donath(20), Krüger(21), Steiger(22J,
Fuchs(23).
Auch im Verlaufe einer Polyneuritis kann eine Diplegia
facialis auftreten: Unter den durch exogene Intoxikationen
bedingten Formen hat man einigemale bei der Polyneuritis
alkoholica doppelseitige Facialislähmung beobachtet, so z. B. in
einem von Sinigar{24) veröffentlichten Falle, bei dem es sich
um einen 45jährigen Trunkenbold handelte. Außer der Diplegia
facialis bestanden noch Augenmuskellähmungen.
Bei Arsen-, Blei-, Quecksilber-, Schwefelkohlenstoff-Polyneu-
ritiden sind doppelseitige Facialislähmungen nicht beobachtet worden.
über die Diplegia facialis mit besond. Berücksichtigung ihrer Ätiologie. 161
unter den durch Autointoxikation bedingten Polyneu-
ritiden sind außer bei Tuberkulose und Lues auch bei Diabetes
doppelseitige Facialislähmungen gesehen worden. Benedict(25)
konnte den drei Fällen von Polyneuritis diabetica mit Diplegia
facialis, welche er in der Literatur fand, einen selbst beobachteten
vierten Fall hinzufügen. In diese Katogorie fällt auch die Polyneu-
ritis leprosa, welche vielfach schon frühzeitig mit doppelseitiger
Facialislähmung einhergeht.
Bei der Polyneuritis nach Infektionskrankheiten kommt
nur sehr selten doppelseitige Facialislähmung vor: Maingauld(26)
hat einen Fall im Anschluß an Diphtherie beobachtet, H ats che k (18)
im Anschluß an Mumps.
Bemerkenswert ist, daß auch bei Tetanus einigemalc Diplegia
facialis aufgetreten ist und zwar bei Patienten, bei welchen die
Wunde in der Mitte des Gesichts lag.
In einem Falle von Diplegia facialis, den Rigani (27) ver-
öffentlicht hat, hatte der Patient wegen eines Hundebisses 15 Tage
hindurch eine präventive antirabische Kur gebraucht, als sich die
doppelseitige totale Facialislähmung zeigte. Ob die Annahme des
Autors, daß die Lähmung durch das antirabische Toxin entstanden
war, richtig ist, müssen wir dahingestellt sein lassen.
Bei Erkrankungen an der Schädelbasis kann selbstverständ-
lich auch doppelseitige Facialislähmung eintreten. Wir nennen hier
in erster Linie kariöse oder nekrotische Herde auf tuberkulöser oder
luetischer Grundlage. Ferner können abnorme Flüssigkeitsansamm-
lungen seröser oder eitriger Natur oder Tumoren an der Schädel-
basis Drucklähmungen beider Faciales erzeugen.
In einem Falle von Meningitis serosa, die an der Basis loka-
lisiert war, beobachtete Cassels(28) z. B. neben Lähmungen der
Sinnesorgane und der willkürlichen Muskeln auch doppelseitige
Facialislähmung. Die Tumoren können entweder von den Schädel-
basisknochen oder von den Meningen ausgehen. Von den in Be-
tracht kommenden Tumoren sind besonders die Neurofibrome zu
erwähnen, welche sich nicht so sehr selten in dem ponto-medullo-
cerebellaren Räume entwickeln. Unter mehreren Neurofibrom-Fällen
in dieser Gegend sahen Fraenkel und Hurt (29) auch einen,
bei dem eine Diplegia facialis bestand.
Sämtliche Erkrankungen des Bückenmarks, die sich bis
zur MeduUa oblongata erstrecken und die Kerne des Facialis er-
reichen, können naturgemäß zu doppelseitiger Facialislähmung
führen. Dabei ist zu bemerken, daß bei der Tabes nur äußerst
Archiv f. Ohrenheilkunde. 73. Bd. Festschrift. 11
162 XXII. RÖPKE.
selten eine Facialislähmung eintritt. Auch bei der Syringobulbie
wird der Facialis selten und dann in der Begel nur einseitig
mitergriffen. Dagegen kommen im Verlaufe der amyotrophischen
Lateralsklerose und der amyotrophischen Bulbärparalyse doppel-
seitige Facialislähmungen häufiger vor.
Erkrankungen des Hirnstammes führen dann leicbt zu
Diplegia facialis, wenn die Affektion von der Mittellinie ihren Ur-
sprung genommen hat. Eingehende Untersuchungen über die
Schädigungen, welche die Tumoren dieser Gegend hervorrufen,
verdanken wir u. A. Siebenmann (30). Daß bei Abscessen im Pons
der Facialis doppelseitig gelähmt werden kann, wird von Kör ner(31)
erwähnt. Auch luetische Herde in dieser Region kommen hier in
Betracht. Phillips (32) sah einen solchen Fall: Außer der Diplegia
facialis bestand beiderseits Taubheit. Der Autor nahm eine Affek-
tion des Pons an. Durch antiluetische Kur wurde Besserung
erzielt.
Femer kommen bei der akuten bulbären Myelitis und bei
der Encephalitis acuta doppelseitige Facialislähmungen vor, wie
z. B. aus Fällen von Wolfe(33), Etter(34), Hoppe-Seyler(35),
hervorgeht.
Schließlich ist hier noch ein eigenartiger Fall von Diplegia
facialis einzureihen, der von den Franzosen Labadie-Lagrave
et B oix (36) veröffentlicht worden ist: Eine 29 jährige Frau hatte im
Anschluß an ein fieberhaftes Wochenbett einen schweren Herz-
fehler bekommen. Zugleich mit Schmerzen im Nacken stellte sich
kurze Zeit darauf plötzlich eine Lähmung der linken und drei
Tage später auch der rechten Gesichtshälfte ohne jegliche andere
Lähmungserscheinungen ein. Die linksseitige Facialislähmung ging
wieder zurück, die rechtsseitige blieb bestehen. Die Autoren glauben,
daß eine Embolie der den Facialiskern versorgenden Gefäße den
Grund zu der Lähmung abgegeben hatte.
Der Vollständigkeit halber muß noch erwähnt werden, daß
eine zentrale Diplegia facialis auch bei etwaiger beiderseitiger
Affektion (multiple Abscesse, Tumoren, luetische Herde) der
Facialisbahn des (jroßhirns eintreten kann.
Interessant sind die Fälle von Diplegia facialis, bei denen die
Lähmung der beiden Seiten aus verschiedenen Ursachen erfolgt
ist. So kann es vorkommen, daß die Lähmung auf der einen
Seite peripherer, auf der andern Seite dagegen zentraler Natur ist.
Bernhardt(5) hat folgenden Fall gesehen: Ein Kind hatte im
Verlaufe von Diphtherie durch einen Hirnherd eine Hemiplegie
l
über die Diplegia facialis mit besond. BerücksichtiguDg ihrer Ätiologie. 16S
mit Facialislähmung erlitten. Während derselben Krankheit trat
später eine otogene Facialislähmung auf der nicht hemiplegischen
Seite auf. Ganz besonders interessant ist auch ein von Oppen-
heim beschriebener Fall, den Bernhardt an derselben Stelle
zitiert: Ein luetischer Patient bekam ein Hemiplegie mit Facialis-
lähmung. Später wurde der Facialis der anderen Seite peripher
gelähmt und zwar durch eine basale gummöse Meningitis, welche
auf derselben Seite entstanden war, wie der luetische Himherd,
der zu der zentralen Facialislähmung geführt hatte.
In der Literatur sind noch einige Fälle von Diplegia facialis
verzeichnet, bei denen für die Lähmung entweder einer oder auch
beider Seiten eine hysterische Grundlage angenommen wurde:
Brück (37) stellte im vorigen Jahre in der Berliner Otologischen
Gesellschaft eine hysterische Patientin vor, die im Anschluß an
die Badikaloperation eine traumatische Facialislähmung auf der
operierten Seite bekommen hatte, einige Zeit später stellte sich
auf der anderen Seite auch eine Lähmung ein, die vom Vor-
tragenden für eine hysterische gehalten wurde. M c. Kerno n (38) be-
obachtete folgenden Fall : Eine Woche nach einseitiger Stacke'scher
Operation trat bei einer Patientin eine doppelseitige Facialislähmung
ein, welche der Autor nur als hysterische deuten konnte. Ein dritter
Fall stammt von Lukäks(39): Es handelte sich um ein 19 jähriges
Mädchen, das zunächst eine rechtsseitige und ein halbes Jahr später
auch eine linksseitige Gesichtslähmung bekam. Die Lähmung war
nicht vollständig, auch wechselte der Grad der Lähmung durch
seelische Einflüsse. Elektrische Veränderungen fehlten. Aus allen
diesen Gründen nimmt der Verfasser Hysterie an.
Die Symptome der Diplegia facialis sind so markant, daß
die Diagnose allgemeinhin leicht zu stellen ist: Die mimischen
Bewegungen fehlen bei den Patienten vollständig, das Gesicht ist
starr, wie eine Maske. Die Augen können nicht geschlossen werden,
der Mund steht offen, die Oberlippe steht rüsselartig nach vom. Die
Sprache ist undeutlich, Lippenlaute können überhaupt nicht gebildet
werden. Das Kauen und der Schluckakt sind erschwert. Während
die genannten Symptome allen Fällen gemeinsam sind, können je
nach dem Ort, an dem die Faciales getroffen sind, noch eine Reihe
von anderen Symptomen auftreten (vergl. meinen oben beschriebenen
Fall). Es ist hier nicht der Ort, die ganze aufs subtilste aus-
gearbeitete Diagnostik der B'acialislähmungen aufzurollen, ich ver-
weise dazu auf die neurologischen Lehrbücher. Im allgemeinen
ist zu sagen, daß der Arzt, welcher die Anatomie des Facialis be-
ll*
164 XXU. RÖPKE.
herrscht, sich über den speziellen Sitz der Lähmung des ihm je-
weilig zu Gesicht kommenden Falles an der Hand der bestehenden
Symptome leicht orientieren kann. Selbstredend sind bei doppel-
seitiger Facialislähmung beide Seiten getrennt zu untersuchen, da,
wie bereits oben erwähnt worden ist, nicht allein der Grad,
sondern auch der Sitz der Lähmung für beide Seiten verschieden
sein kann.
Literatur :
1. Heubner: zit. bei Bernhardt: Die Lähmungen der peripherischen
Nerven (Die Deutsche Klinik. VI, 1).
2. Bernhardt: Über die angeborene Facialislähmung (Festschiift für
M. Jaffe. pag. 34. ref. Schmidt's jSirbücher Bd. 273, S. 167).
3. Eöster: Beiträge zur Lehre von der Lähmung des Nervus facialis
(Deutsches Archiv für klin. Medizin. 1900. S. 343).
4. Thomas: Congenital facial paralyses. (Journal of nerv, and mental
diseases. Aug. 1S98.)
5. Bernhardt: Die Lähmungen der peripherischen Nerven, (siehe oben.)
6. Politzer: Sitzung der Österreichischen Otol. Ges. 26. Okt 1897. (ref.
Zeitschrift f. Ohrenheilk. Bd. 32, S. 263.)
7. Lannois etVacher: Surdit6 et diplegie faciale par fracture double
des rochers. (Annales des mal de l'oreille etc. 1902, Nr. 4.)
8. Ketli: Wiener med. Presse 1875. zit. bei Tomka: Beziehimgen
des Nerv, facialis zu den Erkrankungen des Gehororganes. (Arch. f. Ohrenh.
Bd. 49, S. 48.)
9. Vogt: Die Paralyse des Nervus facialis im Anschlüsse an Otitis
media acuta. (Dissertation Heidelberg.)
10. Ehrmann: Remarques sur un cas de paralysie faciale double con-
säcutive ä une double otite. (Gaz. med. de Strassbourg 1862, zit. bei Vogt.)
11. Wreden: Monatsschrift für Ohrenheilk. Bd. 11, S. 10.)
12. Konietzko: Ein Fall von Otitis media diphtheritica. (75. Vei-s.
Deutscher Naturf. und Ärzte in Kassel 1905. Zeitschr. f. Ohr. Bd. 45, S. 303.)
13. Grunert und Leutert: Jahresbericht über die Tätigkeit der
Königlichen Universitäts-Ohrenklinik zu Halle vom 1. April 1894 bis 1. April
1895. (Arch. f. Ohr. Bd. 42, S. 243.)
14. Tröltsch: Grubers Lehrbuch für Ohrenkrankheiten (zit. bei
Tomka 1. c.)
15. Ludewig: Arch. f. Ohrenh. Bd. XXL
16. Max: Doppelseitige Nekrose der Schnecke mit consecutiver Me-
ningitis und letalem Verlauf. (Wiener med. Wochenschr. 1891, Nr. 48.)
17. Hoffmann J.: Zur Lehre von der pheripherischen Facialislähmung.
(Deutsche Zeitschrift für Nervenheilk. 1894, S. 72.)
18. Hatschek: Zur Kenntnis der Ätiologie der peripheren Facialis-
paralyse. (Jahrb. für Psychiatrie 1894. S. 37.)
19. Minkowski: Zur pathologischen Anatomie der rheumatischen
Facialislähmung. (BerL klin. Wochenschrift 1891, Nr. 27.)
20. Donath: Über recidivierende Facialislähmung. (Wiener klin.
Wochenschrift 1894, S. 52.)
21. Krüger: Über einen Fall von doppelseitiger peripherischer Facialis-
lähmung. (Dissertation Berlin 1889.)
22. St eng er: Die rheumatische Facialisparalvse und ihre ätiologischen
Beziehungen zum Ohr. (Deutsches Arch. f. klin. Medizin 1904. S. 583.)
23. Fu chs: Die periphere Facialislähmung und ihre Behandlung. (Wiener
med. Presse 1907. Heft 6 u. 7.)
24. Sin ig ar: A case of ophthalmoplegia externa and paralysis of
both facial nerves. (Brit. med. Journal 15. Juli 1899.)
über die Diplegia facialis mit besond. Berücksichtigang ihrer Ätiologie. 165
25. Benedict: Diabetes mellitus mit Diplegia facialis. (Budapesti
Orvosi Njsag. 1904, Nr. 2. ref. Schmidt's Jahrb. Bd. 286, S. 46.)
26. Maingauld: cit bei Eichhorst. Lehrbuch der Nervenkrankheiten
Seite 15.
27. Rigani: Ein Fall von Diplegia facialis. (Spitalul. XXIII, 8, S.316.)
28. Cassels: Brit med. Joum. 1874. (ref. Arch. f. Ohrenh. Bd. XX.)
29. Fraenkel u. Hurt: Tomorendesponto-medullo-cerebellaren Raumes.
(Medical Record. 20. Dez. 1903. S. 1001. ref. Zeitschr. f. Ohrenh. Bd. 47, S. 411.)
30. Siebenmann: Über die* zentrale Hörbahn und ihre Schädigungen
durch die Geschwülste des Mittelhims etc. (Zeitschr. f. Ohrenh. Bd. 29, S. 28.)
31. Körner: Die otitischen Erkrankungen des Gehirns etc. (J. F. Berg-
mann ni. Aufl., S. 162.)
32. Phillips: Ein Fall von doppelseitiger Facialisparalyse auf spezi-
fischer Basis. (New-Yorker Otol. Ges. 26. Mai 1903. Zeitschrift für Ohrenh.
Bd. 47, S.599.)
33. Wolfe: Poliencephalitis superior acuta. (Joum. of. Nerv, and mental
diseases April 1894.)
34. Etter: Zwei Fälle von akuter Bulbärmyelitis. (Eorrespondenzbl. für
Schweiz. Ärzte. 1882. Nr. 23 u. 24.)
35. Hoppe-Seyler: zit. bei Oppenheim: Die Encephalitis und der
Himabszess. (Wien 1897. Hölders Verlag.)
36. Labadie-La^rave et Boix: Sur un cas de dipl(3gie faciale totale
d'origine arterielle. (Aren. g6n. de Med. Jan. 1896. S. 23. ref. Schmidts Jahrb.
Bd. 251, S. 23.)
37. Brück: Vorstellung eines Falles von doppelseitiger (traumatischer
nnd hysterischer) Facialislähmung (Berl. ötol. Ges. 13. Febr. 1906. Zeitschr.
f. Ohrenh. Bd. 51, S.287.
38. Mc. E e r n n : Facialisparalyse beiderseits nach einseitiger Stacke'scher
Operation. (Verf. der New-Yorker otol. Ges. 24. März 1903. Zeitschr. f. Ohrenh.
Bd. 45, S. 178.)
39. Lukäks: Diplegia facialis hysterica. (Wiener klin. Wochenschr.
1901. XIV 6.)
XXIII.
Kongenitale Facialislähmnng mit angeborener Taubheit
nnd Hissbildnng des äusseren Obres.
Von
Prof. Kretschmanu.
(Mit 2 Abbildungen.)
Mißbildungen der Ohrenmuschel größeren und geringeren
Grades sind ein nicht gerade seltenes Vorkommnis, und Miß-
bildungen des Gehörganges und des Mittelohres finden sich häufig im
Gefolge kongenitaler Ohrmuschelabnormitäten. Dagegen scheint
eine gleichzeitige Verbildung auch des schallempfindenden Appa-
rates ziemlich selten zu sein. Ein Fall, der kongenitale Störungen
in allen drei Abteilungen des Gehörorgangs aufweist, würde aus
diesem Grunde schon eine Beschreibung rechtfertigen. Das Interesse
an ihm aber erhöht sich noch durch die Komplikation einer an-
geborenen Facialislähmnng auf der gleichen Seite der Miß-
bildung. In diesem gleichzeitigen Zusammentreffen kongenitaler
Mißbildung aller Abschnitte des Gehörorganes und angeborener
Paralyse des Gesichtsnerven scheint mir der in Rede stehende
Fall einzig dazustehen. Ich vermochte wenigstens einen andern
ihm in allen Punkten entsprechenden in der Literatur nicht auf-
zufinden.
Friederike K. ist zurzeit 33 Jahr alt. Sie mißt in der Länge 145,5 cm.
Der Vater ist im 54. Lebensjahr an den Folgen eines Nervenschlages in einer
Irrenanstalt gestorben, die Mutter mit 64 Jahren im Siechenhaus. Von zehn
Geschwistern, bei denen Mißbildungen nicht zu verzeichnen waren, sind 6
in den ersten Lebensjahren verstorben. Die vier Überlebenden, von denen
unsere Patientin die jüngste ist, sind alle weiblichen Geschlechts und erfreuen
sich, abgesehen von unserer Kranken, einer guten Gesundheit. Friederike
K. ist ohne Kunsthilfe geboren. Während ihre Geschwister sämtlich die
Mutterbrust erhalten haben, wurde sie mit der Flasche aufgezogen, da sie
nicht im Stande war, an der Brust zu saugen. Gleich bei der Geburt wurde
außer dem nahezu völligen Fehlen der r. Ohrmuschel eine Unbeweglichkeit der
rechten Gesichtshälfte bemerkt. Laufen hat sie erst im dritten LehensjahFe
gelernt. In den ersten Schuljahre^ bildete sich eine Rückgratverkrümmung
aus. Außer den Kinderkrankheiten hat sie in den ersten Dezennien keine
Kongenitale Facüüislähmung mit angeborener Taubheit usw. 167
weiteren Erkrankun^n durcligemacbt. Erst in den letzten beiden Jahren stellte
sicli ein Lungenkatarrh ein und im Auswurf zeitweilig Koch'sche Bazillen.
Bei der Inspektion fallt in erster Linie das vollständige Fehlen dei'
rechten Ohrmuschel auf, nur auf dem aufsteigenden Eieforast ungef^r an
der Grenze zwischen oberem und mittlerem Drittel findet sich em kleiner
pyramidenförmiger Höcker, dessen Basis und Höhe ca. 6 mm betrafen. Seine
Fi>nn erinnert an den Tragus. Man fühlt deutlich einen knorpligen Kern,
der Mch leicht verschieben läßt. Eine Asymmetrie der beiden Dnter-Kiefer-
bSift«n bt nicht vorhanden Der M. sternocleido. ist deutlich sichtbar, der
Pruc. mastoid. fQhlbar, letzterer ein Diittel so groß, wie derjenige der linken
Seite. Zwischen aufsteigendem Kieferast Proc. maatotd. und oberem Ende
des H. sternodeido. markiert sich eine tief eingezogene Grube, in welche
man bequem das Daumenglied legen kann. Der palpierende Einger erhält
den Eindruck, daß nur VTcichteile den Grund dieser Grube bilden. Erst bei
tieferem Eindrucken fühlt man einen walzenförmigen, nach unten apita
eudenden Knochen, dessen Form dem proc styloideus entspricht. Nach
oben findet uch knöcherner Widerstand, ungefähr 2 cm überhalb des deut-
lich fühlbaren Kiefergelenkkopfes.
Fig. 1.
Das Naseninnere weist normale Verhältnisse auf, desgleichen der Nasen-
rachenraum. Die Tubenosticu sind nach Form und Lage symmetrisch. Der
KathedrismuB gelingt leicht. Auskulltiert man mittäat eines Otoscopes,
dessen für den Krajiken bestimmtes Ende einen Trichter von 4 em Durch-
messer hält, in der Weise, daß der Trichterrand auf die Temporalregion der
zu untersuchenden Pcraon aufgesetzt wird, so hßrt mau ein schwaches, fernes
Biasegeräuscbe, wie es bei undurchgäng^gcr Tuba aufzutreten pflegt Eine
Bougie kann 30 mm weit über das Schnabclciide des Katheders vorgeschoben
weraen und etöGt dann auf unüberwindlichen Widerstand.
FIfisterworto werden bei fest verschlossenem gesunden Ohre nicht wahr-
genommen. Ebensowenig die durch Luftleitung zugefUhrten Stimmgabel-
töne von & bis c'. c' und c' werden bei starkem Anschlag gehört. Der
Ton dner auf den Schädel aufgesetzten tönenden Stimmgabel wird an die
Stelle des Aufsetaens verlegt, gleichgültig, ob das gesunde Ohr verschlossen
oder offen ist
Die Uhr wird per Luftleitung rechts nicht gehört, dagegen beim Anlegen
ao den Schädel. Patientin hat dabei den Eindruck, daß die Wahrnehmung
mit dem linken, gesunden Ohre erfolge.
168 XXm. KRETSCHMANN.
Die zweite in die Augeo fallende Abnormität ist die mangelhafte zum
Teil völlig aufgehobene Beweglichkeit der rechten GesiehtanäJfte. Eine
eigentliciie Asymmetrie des Gesichtes in dem Sinne, daß die rechte Hälfte
im Wachstum zurückgeblieben wäre, besteht nicht. Die rechte Naaolabial-
falte ist weniger aasgesprochen als die linke. Kechtereeits fehlen an der
Stirn die Falten, welche sich links deutlich markieren. Das rechte Ange
kann nicht eesehlossen werden. Wird der Lidschluß intendiert, so dreht sich
dec Augapfel etwas nach oben und innen. Bei den unwillkürlichen Lidachlüssen
beteiligt sich nur das linke Auge. Stimmnzeln kann rechts weder in I.>ängs-
noch in Quorfalten ausgeführt werden, während links diese Bewegung sich
sehr deutlieh ausprägt. Die Nasenlöcher sind gleich weit, beim Nasenrümpfen
geht die Hebung des NasenflDgels reclite, wenn auch schwächer als hnks
von statten. In der Ruhelage ist von einer Verzerrung des Mundes nichts
zu bemerken, dagegen bleibt beim Sprechen und Lachen der rechte Mund-
winkel auffallend zurück. Pfeifen und Mundspitzen kann anstandslos aus-
geführt und ebenso der rechte Mundwinkel nach rechts verzogen werden.
Für die Palpation zwischen zwei Fingern erscheint die rechte Wange dünner
und mangelhafter entwickelt; trotzdem findet ein Autblähen oder Flattern
deraelbeu beim Aussprechen von Labiaten nicht statt, ebensowenig sind
beim Essen und Trinken Störungen vorhanden. Die Zunge wird im
wesentlichen gerade hervorgestreckt,
zuweilen, aber Keineswegs regelmäßig,
fmdet ganz vom an der Spitze eine
leichte Abweichung nach links statt.
Die Geschmacksempfindung ist auf der
ganzen rechten Zun gen half te ebenso
normal und gut funktionierend, wie
auf der linken und zwar für alle Ge-
schmacksqn all täten , wie wiederholt
ausgeführte Prüfungen ergaben. Da»
Zäpfchen und Gaumensegel steht in
der Ruhelage gerade. Läßt man aber
eine Schluckbewegung machen, so
zieht sich die Raphe nach links den
ihr sich nahenden Gaumenbö^en ent-
fagen, das Zäpfchen richtet sem frmee
nde stark nach links. Während die
linke Arkade der Gaumenbdgen sich
zusammenzieht bis fast zum völligen
Verschwinden, wird die rechte infolge
des fehlenden Nachrückens des rechten
Arcus und des Abrückens des ZSpfcbens
_.. von der Mittellinie immer größer. Die
■"'S- ■*■ Sensibilität ist rechts wie links un-
versehrt. Vermehrte oder verminderte Schweifisekretion im Beräche der
rechten Gesichtshälfte ist nie bemerkt worden.
Die Pupillen sind gleich und reagieren auf Lichteinfall und Akkomodation
in normaler Weise. Ablenkung der Augäpfel, die auf irgend eine Störung
eines der Augenmuskeln deutete, ist bei der Prüfung in den verschiedenetea
Blickrichtungen nicht vorbanden. Bei extremer Blickrichtung nach rechts
in der Horizontalen treten zuckende Bewegungen der Bulbi ran, bei anderen
Blickrichtungen fehlen sie.
Die Bewegungen des Kopfes sind allseitig und gleichmäßig ausführbar,
beim Seitwärtsdrehen nach rechts oder links springt der M. stemocleido-
mastoideus der entgegengesetzten Seite sehr scharf strangförmig vor.
Das Spiegelbild des Kehlkopfes ergibt normale VerhäTtnisse. Die
Stimmbänder smd in Abduktion und Adduktiou gut beweglich imd schließen
beim Phonieren scharf in der Mittellinie.
Die elektrische Untersuchung der Nerven ergab auf der gelähmten
Seite völliges Erloschensein der EiTcgbarkcit sowohl für den galvanie^en
wie faradischen Strom. Nur die Zweige des dritten Astes, welche den M.
Kongenitale Facialislähmung mit angeborener Taubheit usw. 169
orbicularis oris und Levator menti versorgen, zeigten Erregbarkeit für beide
Stromarten, wenn auch in stark herabgesetztem Maße. Von den Gesichts-
muskeln zeigten Zygomaticus, Orbicularis oris und Levator ment. leichte
Zuckungen bei stärkeren Strömen; die übrigen Muskeln der r. Gesichtsseite
und des Platysma waren nicht erregbar.
Fibrilläre Zuckungen finden sich auf der gelähmten Seite nicht, ebenso-
wenig Kontrakturen.
Es zeigen sich in dem vorstehend beschriebenen Falle eine
Eeihe von Entwicklungstörungen, die sich auf einem räumlich
nicht sehr ausgedehnten Gebiete abspielen. Wir fanden rechts ein
Fehlen fast der ganzen Ohrmuschel, völlige Taubheit auf dieser
Seite und eine Lähmung der meisten Gesichtsmukeln mit Aus-
nahme der die Bewegung des Mundwinkels und des Nasenflügels,
ausführenden. Dabei ist der Geschmacksinn völlig erhalten; die
rechte Seite des weichen Gaumens und die Uvula dagegen ge-
lähmt.
Wir dürfen annehmen aus der objektiven Untersuchung, daß
nicht nur Ohrmuschel und äußerer Gehörgang, wie der Augen-
schein lehrt, fehlen, sondern auch die Paukenhöhle. Dafür spricht
das Fehlen eines knöchernen Widerstandes bei der Palpation,
der bei Vorhandensein eines os tympanicum sich finden müßte.
Man wird hier erinnert an Verhältnisse wie sie Bezold^) in
einem Fall von einseitiger, angeborener Atresie, der zur Obduktion
kam, beschrieben hat. Als palpables knöchernes Gebilde findet
sich in dem Eaura zwischen Proc. mast. und Gelenkkopf des
Unterkiefers erst ein Organ, das als Proc. styloideus angesprochen
werden muß. Dieser Knochen entsteht aus einem eigenen Knochen-
kem, ist also unabhängig von den übrigen Knochen, welche die
Paukenhöhle zu bilden bestimmt sind, Annulus tympanicus und
Pyramide. Das Vorhandensein des Proc. styloi. erlaubt daher in
keiner Weise den Schluß auf das Vorhandensein einer Pauken-
höhle. Die Eustachische Tube ist auf der rechten Seite vorhanden,
wie in der Krankengeschichte mitgeteilt wurde. An ihr sind
keine Mißbildungen zu erkennen. Es ist also die Entwicklung
der Vorderdarmausstülpung, welche zur Bildung der Tube führt
ungestört verlaufen. Die Tube endet blind und besitzt mit 30 mm
nicht die volle Länge, die nach Hyrtl 34 bis 45 betragen soll
Es scheint demnach der tympanale Abschnitt der Tube nicht
zur vollen Entwicklung gekommen zu sein. Es entwickelt sich 2)
bekanntlich der schalleitendc Apparat aus einer von der äußeren
Oberfläche her erfolgenden geringeren ectodermalen Einsenkung
1) Z. f. 0. Bd. 48, S. 175.
2) Hoffmann-Schwalbe, Lehre von den Sinnesorganen. 1887. S. 293.
170 XXm. KRETSCHMANN.
und einer stärker entwickelten jener entgegenkommenden entoder-
malen Tasche. Die die beiden Taschen trennende Membran zer-
reißt und fährt zur Bildung der ersten Eiemenspalte. Der ventrale
Abschnitt der Kiemenspalte kommt zum Verschluß, der dorsale
bildet ein von außen nach dem Schlunddarm führendes Rohr,
das einen ektodermalen und entodermalen Abschnitt hat An der
Grenze beider entsteht alsdann eine Verwachsung, an der sich
besonders das mittlere Keimblatt beteiligt. In dieser Trennungs
masse bilden sich aus dem Gebiet der ersten beiden Kiemenbogen
hervorgegangene Skelettstücke, die Gehörknöchelchen. Es muß
also eine Einstülpung des ektodermalen und entodermalen Blattes
erfolgt sein, wenn ein vollkommener schalleitender Apparat zu-
stande kommen soll. In unserm Fall scheint die ektodermale Em-
stülpung ausgeblieben zu sein. Das entodermale Blatt hat seinen
Widerpart nicht gefunden und es ist daher wahrscheinlich, daß
auch das Mesoderm der ihm zufallenden Aufgabe der Bildung
des Trommelfelles und der Gehörknöchelchen nicht hat gerech
werden können. Mißbildungen der Ohrmuschel und Mißbildungen
des äußeren Gehörganges kommen häufig gleichzeittig vor, und
soweit in solchen Fällen anatomische Untersuchungen vorliegen,
pflegt dann auch das Mittelohr erhebliche Entwicklungsstörungen
aufzuweisen.
Wenn nun auch in unserm Falle ein völliges Fehlen des
Mittelohres mit großer Wahrscheinlichkeit angenommen werden
muß, so wäre doch durch einen derartigen Vorgang die Taub-
heit nicht erklärt. Dafür muß eine Läsion des schallempfindenden
Apparates in irgend einem seiner Teile verantwortlich gemacht
werden.
Das Labyrinth nimmt nach Steinbrügge ^) nur in seltenen
Fällen und auch dann zuweilen nur partiell an der Entwicklungs-
störung Teil. Unter 24 anatomisch untersuchten Fällen zeigte sich
dasselbe nur 3 Mal wesentlich beteiligt Labyrinthäre Entwicklungs-
störungen aus frühester Zeit, welche etwa das ektodermale La-
byrinthbläschen betroffen hätten, scheinen, nach demselben Autor'^)
selten vorzukommen, vielleicht infolge der gegen mechanische
Einwirkung geschützten Lage des Bläschens, sobald die Ab-
schnürung stattgefunden hat. Jedoch ist vollständiges Fehlen des
inneren Ohres und des Gehörnerven auf beiden Seiten bei einem
11jährigen taubstummen Knaben anatomisch festgestellt worden
1) Lehrbuch der spec. path. Anatomie von Orth. Ergänzungsband. S. 1.
2) 1. c. S. 6.
Kongenitale Facialislähmung mit angeborener Taubheit usw. 171
von Micbei^) bei teil weisem Mangel des mittleren Ohres und
normalem äußeren Ohr und äußeren Gehörgang. Die Proc.
mastoid. fehlten in diesem Falle gänzlich. Die Felsenbeine hatten
nicht die dreieckige Pyramidenform, welche mit zwei Flächen
sonst der Schädelhöhle zugewandt sind, sondern waren oben flach
und hatten nur 2 Flächen, nämlich eine nach der Schädelhöhle
und die andere nach außen hinsehend. Der N. Facialis ging in
dem Felsenbeim weiter bis zum foramen stylomastoideum, die
Chorda tympani fehlte. Von einer Öffnung für den Eintritt des
N. acusticus keine Spur. Derselbe fehlte beiderseits gänzlich und
wurde vergeblich bis in den vierten Ventrikel verfolgt. Marfan
und Armand Delille^) berichten über einen Fall, bei dem das
Felsenbein nur eine kleine Knochenmasse darstellt, in der mittleres
und inneres Ohr, sowie Facialisstamm nicht nachzuweisen sind.
Daß bei unserer Kranken ein völliger Mangel des Labyrinthes
vorUegen kann, ist nicht so ohne weiteres von der Hand zu
weisen. Es wurde deshalb der Versuch gemacht, durch eine
Röntgenaufnahme etwas mehr Klarheit zu gewinnen.
Die lichtempfindliche Platte befand sich am Hinterhaupt,
die Röhre gegenüber der Stirn ^). Auf der Platte lassen sich sehr
deutlich die Gelenkfortsätze des Hinterhaupts erkennen. Ferner
springen in die Augen die Process. mastoidei, deren Größendifferenz
zu Ungunsten des rechten sich recht auffallig markiert. Der linke
ist bei weitem dunkler als der rechte. Zu erkennen sind deutlich
die Orbitae und die Choanen, was einigermaßen wichtig ist, da
eine Orientierung von diesen Punkten aus leicht stattfinden kann.
Die linke Ohrmuschel liefert einen sehr deutlichen Schatten. Von
der Mitte der Muschel zieht ein Kontour nach dem Hinterhauptsloch.
Dieser Kontour ist auf der rechten Seite nur schwach entwickelt
und verläuft ungefähr l cm niedriger wie links. Er ist nicht wie
auf der linken bis an die laterale Wand der Schädelkapsel zu
verfolgen. Wenn man bedenkt, wie sich die Schatten der die
Schädelbasis zusammensetzenden Gebilde auf der Platte in- und
übereinander schieben müssen, so ist es klar, daß man aus dem
Röntgenbilde nicht ein absolut klares Bild von der Konfiguration
der Schädelbasis gewinnen kann, wie es bei anderen Körper-
1) Ref. A.f. 0. Bd. 1, S. 353.
2) Ref. Z. f. 0. Bd. 44, S. 304.
3) Auf eine Reproduktion wurde verzichtet, da die auf der Original-
platte ohnehin schwachen Schatten bei einer Wiedergabe bis zur Unkenntlich-
keit verlieren würden.
172 XXIII. KRETSCHMANN,
regionen möglich ist, immerhin spricht doch aber der deutliche
Unterschied in der Schattenfigur von links und rechts mit ziem-
licher Wahrscheinlichkeit dafür, daß das rechte Felsenbein ver-
kümmert ist, wie das ja bei dem Proc. mast. fraglos zutrifft, und
das in diesem verkümmerten Felsenbein sich ein verkümmertes
Labyrinth findet, oder daß dieses völlig fehlt. Das Labyrinth-
bläschen mit seinen Veränderungen ist ja doch das Gebilde?
welches die Felsenbeinpyraroide erst schafft und sie zu der Form-
entwicklung führt, die uns die Anatomie lehrt. Wenn also ein
mangelhaftes Labyrinth vorhanden ist, oder wenn solches fehlt,
so wird die Pyramide verkümmert sein, und daraus läßt sich mit
einiger Berechtigung der Rückschluß ziehen, wenn die Pyramide
verkümmert ist, so ist es auch das Labjrrinth.
Außer den Mißbildungen im Bereiche des Gehörorganes zeigt
unsere Patientin auch Defekte in der Innervation der Gesichts-
muskeln, die auf eine angeborene Läsion des Gesichtsnerven zurück-
zuführen sind. Es fallen rechterseits die Bewegungen der Stirn-
muskeln und der Augenscbließer völlig aus. Dagegen sind aktive
Bewegungen möglich bei dem Heber des Nasenflügels und bei
den Muskeln, die den Mundwinkel versorgen, während das Platysma
wiederum ohne Bewegung ist Im Gebiet der aktiven Bewegungs-
möglichkeit ist die elektrische Erregbarkeit für galvanischen und
faradischen Strom erhalten, nur müssen größere Stromstärken an-
gewendet werden, wie auf der gesunden Seite. Der weiche Gaumen
ist rechts gelähmt, dagegen der Geschmacksinn erbalten. An-
geborene Facialislähmungen mit Mißbildungen des gleichseitigen
Gehörorgans sind mehrfach beschrieben Thomas^): Einkerbung
beider Ohrläppchen beiderseitige Facialislähmung und Taubheit,
Sousques und Heller 2), Sugär^), Neuenborn'*), In letzteren
beiden Fällen finden sich Hörreste auf der Seite der mißbildeten
Hörorgane. Außerdem finden sich kongenitale Gesichtsnerven-
lähmungen isoliert oder kombiniert mit Lähmungen anderer Gehirn-
nerven mehrfach in der neurologischen Literatur verzeichnet
So berichtet unter anderen Möbius^) über angeborene
doppelseitige Abducens-Facialislähmungen, ferner über angeborene
Lähmung aller motorischen Augenmuskelnerven in Begleitung von
1) Ref. Neurol. Zentralbl. 1900. S. 576.
2) Ref. Z. f. 0. Bd. 44, S. 304.
3) A. f. 0. Bd. 58, S. 216.
4) A.f.O. Bd. 63, S. 113.
5) Münch. med. Wochenschrift. 1888. S. 91 u. 108.
Kongenitale Facialislähmang mit angeborener Taubheit nsw. 173
Facialisparalyse *), Bernhardt über angeborene einseitige Trige-
minus Abducens-Facialislähmung 2). Die angeborenen Facialis-
lähmungen weisen die eigenartige Erscheinung auf, daß gewöhnlich
nicht alle Muskeln des Gesichtes völlig gelähmt sind, sondern daß
eine Gruppe wenn auch verminderte, so doch deutlich ausgesprochene
aktive Bewegungsfähigkeit behalten hat. Der aktiven Beweglich-
lichkeit entspricht die elektrische, galvanische sowohl wie fara-
dische, die wenn auch gegenüber der Norm herabgesetzt, so doch
vorhanden ist Mit einer ziemlichen Regelmäßigkeit sind es die
Muskeln des Mundwinkels, des Kinnes, auch wohl das Platysma,
welche eine aktive Beweglichkeit aufweisen. Während in dieser
Region eine gewisse Konstanz in dem Verhalten der verschiedenen
Muskelgruppen bei angeborener Facialislähmung vorzuliegen scheint,
finden sich diametrale Gegensätze bezüglich der Gaumenmuskulatur
und des Geschmackssinnes. Es spielen ja die Störungen in diesen
beiden Gebieten eine Rolle, insofern durch sie der Sitz der Läsion
des N. VII. festgestellt werden soll. Erhalten ist der Geschmack,
wie Bernhardt 3) und Sugär (1. c.) berichten und wie es bei
unserer Patientin der Fall war. über Fehlen desselben auf dem
vorderen Abschnitt der Zunge auf der gelähmten Seite berichten
Kortum^) Neuenborn (1. c.) und andere.
Über die Wege, auf denen die Nervenfasern, welche die Ge-
schmacksempfindungen vermitteln, ins Zentralorgan gelangen,
herrscht keineswegs Einmütigkeit der Anschauungen. Man nimmt
wohl ziemlich allgemein an, daß derN. Glossopharyngeus und der
Lingualis vom dritten Ast des Trigeminus die Geschmacksfasem
beherbergen. Die Geschmacksfasern, die dem Lingualisgebiet an-
gehören, laufen nach weitverbreiteter Ansicht durch die Chorda
tympani. Sie treten dadurch in räumliche Beziehungen zum Facialis
indem die Chorda sich dem N. VII. in der Paukenhöhle zugesellt
und sein Gefährte bleibt bis zum Ganglion geniculi. Wie die centri-
petalen Geschmacksfasem von dort weiter nach dem Zentralorgan
ziehen, ob im Stamme des facialis oder durch den Petrosus superfic.
major zum Ggl. sphenopalatinum und damit zum zweiten Ast
der Trigeminus, fällt für unsere Frage weniger ins Gewicht. Zu
berücksichtigen ist noch eine Möglichkeit des Verlaufes von Ge-
schmacksfasem vom Lingualis des V. Dieser Weg führt vom
1) Münch. med. Wochenschrift. 1892. Nr. 2, 3, 4.
2) Neurol. Zentralbl. 1890. S. 419.
3) Neurol. Zentralbl. 1894. S. 1.
4) Neurol. Zentralbl. 1896. S. 259.
174 XXnL KRETSCHMANN.
6gl. oticnm des dritten Quintusastes durch den N. petros superfic.
minor biegt in den N. tympanicus s. Jacobsonii ein und gelangt,
mittels desselben in das Ggl. petrosum des Glossopharyngeus und
dann zentralwärts. Den letztbeschriebenen Weg wies Meissner i)
in seinen Vorlesungen den Geschmacksfasern zu, soweit sie nicht
direkte Äste des glossopharyngeus waren. C a r 1 2) weist den Ge-
schmacksfasern des Lingualis den gleichen Weg an, läßt aber
dabei auch einen Teil der gustatorischen Fasern die Chorda passieren
und diese durch Ggl. geniculatum und durch denBamus communicans
zum N. tympanicus gelangen. Daß im Nervus tympanicus (lacobsonii)
sensible Fasern vom Zungenrande herkommend verlaufen, ist nicht
gut zu bezweifeln. Jedem Ohrenarzt ist zur Genüge die Tatsache
bekannt, daß bei Sondenberührungen der medialen Paukenwand
Empfindungen in dem gleichseitigen Zungenrande ausgelöst werden.
Weswegen selten nicht auch die Geschmacksfasem diesen Weg
nehmen?
E. Maier 3) ist auf Grund seiner Untersuchungen über Ge-
schmacksstörungen bei Mittelohrerkrankungen zu dem Resultate
gelangt, daß Glossopharyngeus und Lingualis, letzterer mittels
der Chorda tympani vielleicht auch des Plexus tympanicus sich
in die Versorgung der Zunge mit Geschmacksfasern teilen, daß aber
diese Versorgung individuell in verschieden hohem Grade schwankt
Es kann in einzelnen Fällen der Glossopharyngeus, in andern die
Chorda der einzige Geschmacksnerv sein.
Ein wesentlich differentes Verhalten bei angeborener Facialis-
lähmung zeigt auch die Gaumenmuskulatur. Bei unserer Patientin
konnte eine der Facialisparalyse entsprechende Lähmung des
Gaumens festgestellt werden, die auf Rechnung des Levator und des
gleichseitigen M. uvulae nach dem Schema von MaxMann^) zu
setzen ist. Über Lähmung der Gaumenmuskulatur bei angeborener
Facialisparalyse berichten Sugar (1* c): Tief erstehen des Gaumen-
bogen auf der erkrankten Sei te, N e u e n b o r n (1. c.) : Uvula sinkt nach
links. Bei anderen wird ausdrücklich betont^ daß am Gaumen keine
Störung vorliege (Bernhardt^), Schnitze ß). Welcher Nerv die
motorische Funktion der Gaumenmuskulatur übernimmt, ist zurzeit
1) weil. Physiologe in Göttingen.
2) A. f. 0. Bd. 10. S. 172.
3) Z. f. 0. Bd. 48. S. 178.
4) Z. f. 0. Bd. 47. S. 1 ff.
5) Neurol. Zentralbl. 1894. S. 1.
6) Neurol. Zentralbl. 1892. Nr. 14.
Eongenitale Facialisläbmung mit angeborener Taubheit usw. 175
noch eine umstrittene Frage. Im allgemeinen ist man geneigt, dem
n. Facialis die Innervation der Gaumenlieber und der Uvula zu-
zuweisen, indem dieser vom Ggl. geniculi durch den n. Petrosus
superficialis major motorische Fasern zum Ggl. spheno-palatinum
s. nasale sendet, von wo aus sie in die betreffenden Muskeln ziehen.
Rethi^) hat in einer Reihe von Arbeiten nachzuweisen gesucht,,
daß nicht der Facialis, sondern der Vagus der motorische Nerv
für den Gaumenheber sei und ihm stimmen darin bei Gr adenig o'-^)
u. a. Nach Henle, Luschka, Schwalbe^) ist eine doppelte
Innervation sehr wahrscheinlich. Nach dem Material, welches
ßethi vorbringt, kann es nicht gut bezweifelt werden, daß der
Plexus pharyngeus vagi die Innervation der Gaumenheber über-
nehmen kann. Ebenso liegen doch aber zahlreiche klinische
Tatsachen vor, welche unzweifelhaft dem Faciahs die Rolle der
Innervation der Gaumenheber zuweisen, unser Fall läßt bei
seiner ausgesprochenen Levator- und Azygoslähmung keine an-
dere Deutung zu als die, daß der Ausfall der Fasern im Facialis,
der sich ja in der Gesichtslähmung so unzweifelhaft dokumentiert,
auch die Schuld an der Gaumenlähmung trägt. Es hieße doch den
Tatsachen Gewalt antun, wenn man im vorliegenden Falle eine
Lähmung von Vagusfasern, die den Levator veli versorgen, an-
nehmen würde, während im übrigen keine weiteren Störungen
im Gebiete des Vagus nachweisbar sind. Das verschiedene Ver-
halten, welches die Gaumenmuskulatur bei Fällen von angeborener
Facialislähmung an den Tag legt, macht die Hypothese, daß die
Innervation der Gaumenheber eine doppelte sei, sehr wahrschein-
lich. Sie läßt sich auf Grund dieses abweichenden Verhaltens
vielleicht noch dahin erweitern, daß in manchen Fällen der Vagus,
in änderen der Facialis der einzige motorische Nerv für den
Levator etc. ist. Es würde dies ein ähnliches Verhältnis sein,
wie es nach Mai er zwischen Glossopharyngeus und Trigeminus
bei der Versorgung der Zunge mit Geschmacksfasern besteht.
Es drängt sich nun die Frage auf: an welcher Stelle hat
man den Sitz der Läsion des Facialis zu suchen? Möbius
(1. c.) erblickt die Ursache in einem Schwund der Kerne und be-
zeichnet das von ihm entworfene Krankheitsbild geradezu als in-
fantilen Kernschwund. Bernhardt^) schließt sich ihm an und
1) Z. f. 0. Bd. 50. S. 286.
2) Z.f.O. Bd. 51. S.437.
3) Zitat in der Rethischen Arbeit.
4) Neurol. Zentralbl. 1894. S. 5.
176 XXIII. KRETSCHMANN.
ist der Ansiebt, daß dabei nicbt alle gangliösen Elemente und
die von ibnen entspringenden Fasern untergeben. Die erbaltene
Funktion einzelner Muskeln, wie der den Mundwinkel versorgen-
den, würde so ihre Erklärung finden, wenn man nicbt den Ur-
sprung der jene Muskeln versorgenden Nervenfasern aus dem
Hypoglossuskern annehmen will. Dieser Hypothese der mangeln-
den Kementwickelung gegenüber spricht sich Schnitze (1. c.)
dahin aus, daß er in seinem Falle von angeborener Facialis-
läbmung eine periphere Läsion für nicht ganz ausgeschlossen
betrachten könne, da es leichter verständlich erscheint, daß dem
peripheren Nerven bei seinem Wachstum peripberwärts irgend
etwas zugestoßen ist, als daß in einem sonst ganz normalen
Zentralorgan ein einzelner Kern nicht ausgebildet sein sollte.
Zweifel an der Kernläsion bei Facialislähmung, die nicht alle
Gesichtsmuskeln betroffen hat, hegt auch Toby Cohn*). Nach
ihm spricht das Freibleiben einzelner Muskeln von der Lähmung
nicht ohne weiteres für Kemaffektion, da auch in andern Nerven-
gebieten bei Stammlähmungen ein einzelner Muskel freibleiben
kann, z. 6. der Supinator longus bei chronischen ßadialis-
lähmungen, der Tibialis anticus bei Paralysen im Peroneusgebiet.
Das klinische Bild, welches die angeborene Facialisparalyse
aufweist, führt also nicht mit Sicherheit zur Auffindung des Sitzes
der Läsion, sondern läßt mehrfache Deutungen zu. Wenn wir
in unserem Falle von der Mißbildung des äußeren und mittleren
Ohres absehen, so läßt es die hier vorliegende Kombination:
Lähmung des Acusticus, vergesellschaftet mit Lähmung des
Facialis, als das Gewiesenste erscheinen, das Hemmnis dort zu
suchen, wo die beiden Nerven gemeinschaftlich verlaufen, also
auf der Strecke von ihrem Austritt aus dem verlängerten Marke
bis zu ihrem Eintritt in den Porus acusticus internus. Wenn die
oben auseinandergesetzte Annahme, daß in unserem Falle eine
mangelhafte Felsenbeinpyramide vorhanden sei, zutrifft, so wird
ein Labyrinth nur verkümmert da sein oder überhaupt fehlen.
In letzterem Falle kann der hirnwärts gelegene Abschnitt des
Acusticus keinen Anschluß an den peripheren Abschnitt finden
und ein gleiches Geschick würde dem Facialis beschieden sein.
Nur der Geruchs- und Sehnerv sind Ausstülpungen der Him-
blasen2), die übrigen Nerven, auch der Acusticus, wachsen nicht
aus dem Zentralorgan heraus, sondern bilden sich überall, wo
1) Neurol. Zentrabi. 1896. S. 972.
2) Vierordt. Grundriß der Physiologie des Menschen. 1871.
Kongenitale Facialislähmung mit angeborener Taubheit usw. 177
Organe und Gewebe sich differenzieren und kommen erst nach-
träglich mit dem Zentralorgan in Verbindung. Gehirn- und
rückenmarklose Mißgeburten haben ebenfalls Nerven.
Die Störung würde also in unserem Falle darin zu suchen
sein, daß der Zusammenschluß von peripheren Nerven und
Zentralorgan nicht zustande gekommen ist. Daß ein solcher Vor-
gang vorkommen kann, beweist der eingangs (S. 169) angeführte
Sektionsbericht von Marfan und Armand Delille, bei dem das
Felsenbein nur eine kleine Knochenmasse darstellte, in der mittleres
und inneres Ohr, sowie Facialisstamm nicht nachzuweisen waren.
In dem Mich eischen Falle (I.e.) fehlte nur der Acusticus, der
Facialis war dagegen bis auf die Chorda tympani erhalten. Für
unseren Fall möchte ich ähnliche Verhältnisse annehmen, wie sie
dem Marfan und Delille 'sehen zugrunde lagen, über den
leider klinische Beobachtungen nicht gemacht zu sein scheinen.
Gegen eine solche Annahme spricht das Vorhandensein des Ge-
schmackes keineswegs. In der Maier sehen Arbeit (1. c.) wurde
festgestellt, daß zuweilen der Glossopharyngeus die gesamte Ge-
schmacksversorgung übernehmen kann, und das wird er in unserem
Falle getan haben, da den Geschmacksfasern die Trigeminusbahn,
welche durch das Gehörorgan führt (Chorda tympani und n. Ja-
cobsonii), da sie fehlte, nicht zu Gebote gestanden haben wird.
Schwieriger ist die Deutung der Motilität der Mundmuskeln. Daß
dieselben bei Stammläsionen des Facialis in Tätigkeit bleiben
können, bat unter anderm T. Cohn (1. c.) und Ludwig Mann^)
beobachtet. Die Deutung, daß die jene Muskeln versorgenden
Fasern vielleicht widerstandsfähiger gegen Schädlichkeiten sein
sollen, ist (L. Mann) nicht gerade sehr überzeugend. Die An-
nahme, daß die Fasern für die Mundmuskulatur dem Hypoglossus-
kern entstammen, würde für unseren Fall, indem wir eine Unter-
brechung des Facialisstammes durch nicht zustande gekommenen
Anschluß an das periphere Ende für wahrscheinlich halten, nicht
in Betracht kommen.
Eine allseitig befriedigende Erklärung für die Funktion ge-
wisser sonst zum Facialisgebiet gerechneter Muskeln bei zweifel-
loser Stammlähmung fehlt zurzeit noch, und es muß einstweilen
lediglich mit der Tatsache gerechnet werden. Ob es vielleicht
sich auch um eine doppelte Innervation, wie sie für den Ge-
scbmacksinn und mit Wahrscheinlichkeit auch für die Motilität
1) Berl. Klin. Wochenschr. 1894. S. 53.
Archir f. Ohrenheilkunde. 73. Bd. Festschrift. 12
178 XXm. KRETSCHMANN.
der Gaumenheber angenommen werden muß, handeln kann, ist
eine noch offene Frage. Kor tum (I.e.) hält es für nicht un-
wahrscheinlich, daß von der gesunden Seite her eine Regeneration
der Nerven erfolgt, oder daß schon von vornherein, wenn auch
nicht konstant, Anastomosen zwischen den Endverbreitungen der
beiden Nn. faciales bestehen.
Die von verschiedenen Autoren bei angeborener Facialpara-
lyse beobachteten nystagmusartigen Zuckungen bei extremer Blick-
richtung nach außen fanden sich auch in unserem Falle. Irgend-
welcher Zusammenhang mit der Gesichtslähmung ist nicht er-
weislich. Kor tum findet die Zuckungen nicht so selten bei im
übrigen normalem Körper- und Augenbefund, besonders bei
nervös disponierten Personen. Die Tatsache ist für den Ohren-
arzt, der ja auf Vorhandensein von Nystagmus Wert legen muß,
nicht ohne Interesse, da sie zur Abschätzung der Bedeutung jenes
Symptoms das ihrige beiträgt
XXIV.
Die Freilegnng des Facialis als Voroperation fnr einige
Eingriffe in der Gegend der Hittelohrränme.
Von
Dr. Ernst Winckler in Bremen.
Bei den Bestrebungen der modernen Otochirurgie, die Krank-
heitsprozeße, welche eine Aufmeißlung der Mittelohrräume er-
forderlich machen^ möglichst gründlich zu beseitigen oder derart
freizulegen, daß sie einer Ausheilung durch offene Wundbehand-
lung entgegengeführt werden können, wird heutzutage auch die
Gegend des Facialkanales nicht mehr wie früher als ein ,Noli me
tangere' betrachtet. Erkrankungen seiner sichtbaren Wand in der
Paukenhöhle müssen beseitigt werden, undbetont bereitsStackel(l),
daß man im Interesse einer radikalen Entfernung der Erkrankung sich
nicht allzusehr vor einer Läsion des Nerven fürchten solle, da
diese selten eine dauernde Lähmung zur Folge hätte. „Der
Nervenstamm liegt in seinem Kanal wie in einer Schiene, und
die sich neu bildenden Nervenfasern müssen sich treffen, auch
wenn der Nerv ganz getrennt war''. Die einfache Totalauf meiß-
lung der Mittelohrräume, zumal nach der Stack eschen Methode,
die unter Benutzung seines Schützers wie „auf einer Sonde Kuppel-
raum und Antrum zu eröffnen gestattet, darf Meißelverletzungen
des Gesichtsverven an der inneren Paukenhöhlenwand nie zu-
Stande bringen. Aber schon daß Bestreben zwecks besserer Über-
sicht und schnellerer Epidermisierung die Niveaudifferenzen zwischen
Trommelhöhle und neu geschaffener Knochenhöhle im Warzen-
fortsatze so viel wie möglich auszugleichen, zwingen einmal einen
höheren Sporn stehen zu lassen und gestatten im anderen Falle
denselben so niedrig zugestalten, daß er kaum aus der inneren
Paukenwand hervorragt. Abgesehen von den Labyrintheröffnungen
an der inneren Paukenhöhlenwand, nötigen die exakte Freilegung
12*
180 XXIV. WINCKLER.
des Kellerraumes, die EntfemuDg der Warzenfortsatzspitze und
das Verfolgen eines Krankheitsherdes in der Tiefe der Mastoid-
gegend zuweilen bis zur unteren Fläche des Felsenbeins, das
Vordringen gegen den Bulbus der Vena jugularis interna in einer
Nähe des Facialis zu arbeiten, die Läsionen des Nerven trotz
aller Vorsicht nicht ausschließen. Auch hier könnte man sich
damit beruhigen, daß die sich einstellende Gesichtslähmung in der
Kegel eine vorübergehende ist Doch wird die Folge der Läsiou
ohne Berücksichtigung der Verhältnisse, welche bei dem Eingriff
vorgelegen haben, von Laien und wohlmeinenden Kollegen immer
als Kunstfehler aufgefaßt werden. Wenn Siebenmann (2) er-
klärt, „Varietäten im Verlauf des Facialis können als Ent-
schuldigung für seine Verletzung nicht vorgeschoben werden, da
solche in hunderten von Schläfenbeinen nicht einmal vorkommen,
so kann diese Behauptung sich lediglich auf die Freilegung des
Kuppelraumes beziehen und bedarf im übrigen einer Revision, da
in der Praxis die anatomischen Beschreibungen über den Verlauf
des Facialis nicht vor Überraschungen schützen, vielmehr häufig
bei Ausräumung tiefgehender Zerstörungen einen Konflikt mit dem
Gesichtsnerven zustande kommen lassen würden, wenn nicht
die praktische Erfahrung genügend gelehrt hätte, daß die bekannte
Topographie des Facialis wesentliche Abweichungen erleidet. Es
handelt sich hier nur um unvermutete Konflikte mit dem s. g.
vertikalen Teil des Facialisstammes, dessen Richtung nach dem
hinteren Rande des Trommelfellfalzes abgeschätzt werden soll.
Körner (3) fand, daß der vertikale Teil des Facialkanales vom
hinteren Rande des Sulcus tympanicus 1,5 bis 4,3 mm entfernt ist
und meist etwas weiter nach außen liegt als der Sulcus tympani-
cus 1 bis höchstens 3,7 mm, welche Zahlen jedoch nur für die
Mitte des hinteren Randes vom Sulcus tympanicus gelten^ da
genau oberhalb der Mitte der Facialkanal auf die innere Pauken-
wand umbiegt. Nach Bezold(4) verläuft der vertikale Teil 3 mm
medial und rückwärts vom Sulcus tympanicus durch das Massiv
der Pars mastoidea zum Foramen stylomastoideum, also stets so
günstig daß man nur selten mit der Verkleinerung des Sporns
Schwierigkeiten haben kann. Jedenfalls ist aus diesen differenten
Angaben eine Konstanz des Verlaufes nicht anzunehmen.
Unter Berücksichtigung dieser Angaben liegt der Gedanke
sehr nahe, Eingriffen, die uns in unmittelbare Nähe des vertikalen
Teiles des Facialisstammes bringen müssen, eine Operation vor-
auszuschicken, durch welche nicht nur in jedem Falle die Richtung
Die Freilegung des Facialis als Voroperation für einige Eingriffe usw. 181
und Lage des Facialis ermittelt, sondern auch die Möglichkeit ver-
schafft werden kann, den bedrohten Gesichtsnerven durch temporäre
Verlagerung aus dem Operationsfeld herauszubringen.
Derartige Eingriffe den Facialis vor der Eröffnung des Bulbus
freizulegen sind bereits, wie aus einer Arbeit von Stenger(5)
hervorgeht, s. Zt. in der Trautmannschen Klinik ausgeführt worden.
Eine bestimmte Methode der Operation ist trotz ihrer praktischen
Wichtigkeit leider nicht angegeben, auch hat Stenger jede Notiz
unterlassen, ob der Facialis in der üblichen Weise von den Mittel-
ohrräumen aus in seinem knöchernen Kanal freigelegt wurde
oder nach der Koch ersehen Methode, welche Kenn edy (6) wie
Manasse(7) bei ihren bekannten Implantationsversuchen in den
Facialis benutzten, von der Austrittsöffnung des Nerven ausgehend.
Für kompUzierte Eingriffe in der Mittelohrgegend scheint mir
das Aufsuchen und ev. Freilegen des Gesichtsnerven als Vor-
operation durchaus indiziert zu sein, wenn tatsächlich der Verlauf
des Facialis großen individuellen Schwankungen unterliegt. Da
das Letztere noch vielfach bestritten wird, so möchte ich in Kürze
hier auf einige anatomischen Details hinweisen, die ich durch
eigene Untersuchungen an 40 Schädeln ergänzen kann.
Die deskriptive Anatomie unterscheidet, sobald der FaciaU
kanal mit seinem oberen Knie zwischen Processus cochleariformis
und Ampulle des horizontalen Bogenganges vor dem Vestibulum
lateralrückwärts und * zugleich abwärts auf die innere Pauken-
höhlenwand umbiegt, einen mehr horizontalen Abschnitt mit dem
Facialiswulst und einen vertikalen Abschnitt, der unterhalb oder
im hinteren Teil des Facialwulstes beginnt und am Foramen
stylomastoideum endet. Hier geht der weitere Verlauf hinter der
Eminentia stapedii, lateral vom Sinus tympani und medial von
der Knochenhülse unter der die Wurzel des Processus styloideus
steckt. Spee(8).
Auch entwicklungsgeschichtlich sind beide Verlaufsrichtungen
des Facialis zu trennen. Die horizontale entspricht der Rinne, die
ursprünglich den an der lateralen Seite des knorplig präformierten
Felsenbeines also außerhalb der Schädelhöhle liegenden Facialis
aufnimmt, und die schließlich von der Substanz des Os petrosum
zu einem zarten Kanal geschlossen wird, den wir an der innern
Paukenhöhlenwand antreffen. Dieser Teil des Facialis behält von
der Zeit der Fötalreife bis zur völligen Entwicklung des Schläfen-
beins seine relative Läge, , Größe und Form. Sobald der Facial-
kanal mit einer mehr rechtwinkligen Biegung an die hintere Wand
182 XXIV. WINCKLER.
der Paukenhöhle tritt und seine Verlaufsrichtung zu einer ab-
wärtssteigenden ändert, wird seine Hülle nicht mehr allein von
dem knorplig angelegten Felsenbein, sondern noch von neu nach
der Geburt hinzutretenden Deckknochen geliefert. Er gelangt bei
weiterem Wachstum des Schädels in die Tiefe des Warzenfort-
satzes, an dessen Entwicklung sich die laterale hintere Partie des
Felsenbeins und der ihr anliegende Processus postauditorius der
Schuppe beteiligen. Da somit die Rinne des vertikalen Teiles des
Fallopischen Kanales in einen Knochenabschnitt fällt, dessen Aus-
bildung ganz besonders großen individuellen Schwankungen unter-
worfen ist, so müßte a priori angenommen werden, daß eine
Konstanz des Verlaufes an diesem Teil gegenüber dem horizontalen
nicht anzutreffen ist.
Am Schädel des Neugeborenen wird die abwärts steigende
Einne des Facialkanals an der lateralen Seite des Felsenbeins
nach außen vom Annulus tyrapanicus geschlossen, an dessen
hinterem Rande unten das Foramen stylomasteidoum liegt während
sich etwas oberhalb die Öffnung für die Chorda tympani zeigt, welche
von ihrer Abzweigungsstelle an zunächst außerhalb des Schädels
liegt, um dann schräg unter dem Annulus tympanicus nach oben
gegen die Pauke zu verlaufen. Der Facialkanal liegt unten im
Niveau des Sulcus tympanicus. Der vertikale Teil ist im Ver-
hältnis zum horizontalen Abschnitt an der inneren Trommelhöhlen-
wand sehr kurz. Das Foramen stylomastoideum liegt fast senk-
recht unter dem Facialiswulst. Zu dieser Zeit hat der Annulus
mit dem Trommelfell eine fast horizontale Lage, da die Pauke
außerordentlich flach ist und kaum einen Boden aufweist Der
absteigende Facialisabschnitt hat daher beim Neugeborenen eine
Richtung nach innen. Bei weiterer Entwicklung der Paukenhöhle
und ihres Boden, bei weiterer Größenzunahme des Os petrosum
und Entwicklung des Warzenfortsatzes wie des sqhaufelförmig ge-
drehten Os tympanicum aus dem äußeren Rande des Annulus
ändert sich allmählich die Länge des vertikalen Teiles des Facial-
kanales, welche beim Neugeborenen etwa dasselbe Maß hat wie
der horizontale Teil. Ich fand am ausgewachsenen Schläfenbein
den vertikalen Teil c 5 mm länger wie den horizontalen und er-
hielt bei diesem eine durchschnittliche Länge von 7 — 8, bei dem
vertikalen Teil dagegen von 12 — 13 mm.
An der Bildung des vertikalen Abschnittes des Fallopischen
Kanales partizipiert außer dem Felsenbein und dem neu hinzu-
tretenden Warzenteil unten am Foramen stylomastoideum noch
Die Freilegung des Facialis als Voroperation für einige Eingriffe usw. 183
das Os tympanicum. Die innere dem Felsenbein angehörende
Wand wird von der Pauke aus durch den Sinus tympani in
größerer oder geringerer Ausdehnung unterminiert. Die vordere
Wand wird von der aus dem Paukenhöhlenboden entstehenden
Hülle des Processus styloideus der Lamina vaginalis gebildet Die
laterale und hintere Wand fallen mehr oder weniger vollkommen
in den neu hinzutretenden Warzenteil, dessen Zellen nach Körner
jedoch stets durch eine l — 3 mm dicke Knochenschale eine
Fortsetzung der Labyrinthkapsel, von dem Canalis facialis ge-
trennt sind.
Das Os tympanicum mit dem Trommelfellfalz legt sich während
seines Wachtums nur an den neugebildeten Kanal an, so daß es
sich auch am ausgewachsenen Schläfenbein vollkommen ohne
Zerstörung des Facialkanäls von demselben nach 5 eigenen Prä-
paraten absprengen ließ.
Komplizierter sind die Verhältnisse an der Austrittsöffnung
des Facialis am Foramen stylomastoideum. Der Schädel des Neu-
geborenen zeigt das Foramen am unteren Drittel des hinteren
Annulusrandes. Bei weiterem Wachstum der Mastoidgegend schiebt
es sich schließlich so an die Schädelbasis, daß es in eine von
der vordernen Wand des Warzenfortsatzes und der unteren Gehör-
gangswand mit dem ihr anliegenden Griffelfortsatz gebildete Nische
hineingelangt, die nicht nur in ihrer Form, sondern auch in ihren Be-
ziehungen zu benachbarten, praktisch wichtigen Spalten und Löchern
sehr variabel angetroffen wird. Die Entwicklung, welche der
vertikale Teil des Fallopischen Kanales zeigt, lehrt, daß seine
Yerlaufsrichtung unabhängig von der des horizontalen Abschnittes
ist, da er im Gegensatz zu letzterem größtenteils in solche Be-
zirke fällt, deren spätere Gestaltung großen Differenzen unterliegt.
Es dürfte daher zu unangenehmen Irrtümern Anlaß geben, aus
dem Verlauf des Fallopischen Kanales an der medialen Trommel-
höhlenwand den weiteren, nicht sichtbaren in der hinteren Pauken-
höhlenwand oder dem medialsten Abschnitt der hinteren Gehör-
gangswand zu bestimmen.
S ch w ar tz e (9) unterscheidet für den abwärtssteigenden Facial-
abschnitt 3 Verlaufsarten: Steil-, Schräg- und Flach verlauf, je
nachdem der Facialis in die Ebene des Sulcus tympanicus fällt
oder sie unter einem größeren oder kleineren Winkel kreuzt. Dem-
gegenüber behauptet Rand all (10), daß die absteigende Partie des
Facialkanales fast genau senkrecht gerichtet ist, und diese Richtung
zu den konstantesten Befunden am Schläfenbein gehört.
184 XXIV. WINCKLER.
Der Kanal soll nach Messungen dieses Autors, am Foramen
stylomastoideum nicht im geringsten weiter nach außen abweichen
als der Facialiawulst oberhalb des ovalen Fensters. Da die Nei-
gung des Sulcus tympanicus derart ist, daß sein unterer Eand
6 mm näher der Mittellinie liegt als der obere, so liegt der Facial-
kanal, der hinter der hinteren Gehörgangs wand in 2 — 4 mm Ent-
fernung verläuft, immer lateral vom hinteren Rande des Trommel-
falzes und zwar auch in 2 — 4 mm Entfernung.
um eine eigene Anschauung zu gewinnen, habe ich an 15
Schläfenbeinpräparaten den Facialkanal vom Foramen stylo-
mastoideum aus so eröffnet, daß ich sein Lageverhältnis zu den-
jenigen Teilen bestimmen konnte, die wir bei der Totalaufmeißlung
als stets gleichbleibende zu Gesicht bekommen. Hierbei ergab
sich, daß das Foramen stylomastoideum in derselben Sagittalebene
mit dem Facialiswulst bei 4 Schläfenbeinen — 2 kindlichen und
2 ausgebildeten — angetroffen wurde. 7 Schläfenbeine, 2 kind-
liche und 5 entwickelte zeigten, daß die Prominenz des äußeren
Bogenganges und das Foramen stylomastoideum vertikal über-
einander lagen. In diesen 11 Schläfenbeinen war demnach ein
Steilverlauf des Facialis in seinem unteren Teil vorhanden ge-
wesen und zwar bei 4 kindlichen Schläfenbeinen. — Ein Schräg-
verlauf wurde 2 mal gefunden, beide Mal handelte es sich um
noch in der Entwicklung begriffene Schädel. Hier lagen Foramen
stylomastoideum und die Mitte des Tegmen tympani in der gleichen
parallel der Medianlinie des Schädels verlaufenden Ebene. Zwei
ausgewachsene Schläfenbeine zeigten einen Verlauf nach rück-
wärts und lateral derart, daß in dem einen Präparat der Facial-
kanal von der äußeren Wand des zum Gehörgange umbiegenden
Warzenteils nur 10 mm entfernt war, während im Durchschnitt
diese Entfernung 15 — 20 mm betrug. Eine durch das Foramen
stylom. gelegte Frontalebene fiel in den vorderen Teil des Antrum
einige Millimeter hinter der Prominenz des horizontalen Bogen-
ganges. Eine Sagittalebene traf in dem einen die Mitte, in dem
andern Falle den außen Kand des Tegmen Antri.
In 6 Präparaten fand sich eine besonders stark entwickelte
Lamina des Griffelfortsatzes und gleichzeitig eine stärkere Ab-
weichung des Fallopischen Kanales aus dem Niveau der hinteren
Gehörgangswand nach hinten gegen den Warzenfortsatz, 2 mal
kombiniert mit ausgeprägtem Flach verkauf, während 4 mal
der Sulcus tympanicus nur sehr wenig lateralwärts gekreuzt
wurde.
Die Freilegung des Facialis als Voroperation für einige Eingriffe usw. 185
An sämtlichen 4 kindlichen ;Schläfenbeinen mit Steilverlauf
lag der Facialkanal genau oder fast genau im Niveau des Sulcus
tympänicus. Eine vom F©r. stylom. aus eingelegte Sonde zeigte
an diesen Präparaten eine Richtung nach hinten und median-
wärts. Die kindlichen Schläfenbeine mit Schrägverlauf des Facial-
kanals wiesen einer vom Foramen stylom. aus eingeführten Sonde
eine Richtung parallel der Medianebene des Schädels an. Auch
bei ausgeprägtem Flachverkauf weicht die in den Fallopischen
Kanal eingelegte Sonde wenig nach außen ab.
Am uneröffneten Kanal last sich aus der Richtung einer in
das Foramen stylom. gesteckten Sonde nur dann die Verlaufs-
richtung des Kanals zur Medianebene angeben, wenn der Kanal
an seiner Austrittsöffnung sehr eng ist. Hat derselbe eine Trichter-
form, so kann man der Sonde unbeabsichtigt beliebige Richtungen
geben, die sichere Schlüße auf einen Steil- oder Flachverlauf nicht
zulassen.
Deshalb sind die Messungen Randalls am uneröffneten Kanal
nicht einwandsfrei.
Tomka(ll) hat daraufhingewiesen, daß die Entfernung der
Warzenfortsatzspitze zu Verletzungen des Facialis führen kann.
Ich habe an 40 Schädeln die Distanz des tiefsten Punktes der
Fossa mastoidea, der etwa der Mitte des Ansatzes der Warzen-
spitze entspricht, vom Foramen stylomastoideum gemessen und
durchschnittlich einen Abstand von über 10 mm gefunden. In
3 Fällen mit großem, spongiösem Warzenteil betrug dieser Ab-
stand jedoch nur 5 mm, die größte Entfernung waren 18 mm. —
Je nach der Entwicklung des Warzenteils, namentlich der Aus-
bildung seiner Spitze zu einer schlanken oder mehr plumpen Form,
wechselt ferner die Entfernung des Foramen stylomastoideum von
dem vorderen Rande des Processus mastoideus. 1 5 mal war dieser
Abstand-0, d. h. die vordere Prooessuswand lag dem Foramen
unmittelbar an. Im Durchschnitt war sie 3 — 4 mm und in 3 Fällen
sogar 10 — 12 mm hinter dem Foramen. Hier lag dasselbe in
einer Fortsetzung der Rinne der Fossa mastoidea.
Daß die Fossa jugularis in unmittelbare Beziehung zu dem
vertikalen Teil des Facialis treten kann, hat zuerst Zucker-
kandl(12) erwähnt. Ich fand, daß durchschnittlich das untere
Ende des Fallopischen Kanales 5 mm vom Foramen jugulare
entfernt war. Als größter Abstand wurden in 4 Fällen 9—10 mm
gemessen. Dagegen reichte 6 mal und zwar 5 mal auf der rechten
Seite, daß Foramen jugulare dicht an die Austrittsöffnung des
186 XXIV. WINCKLER.
Facialkanales heran. Zuckerkandl hat an dieser Stelle Dehis-
zenzen beobachtet, durch die dann der Facialis in direkte Be-
rührung mit dem Bulbus kommt. In den von mir untersuchten
Präparaten war die Scheidewand kaum 1 mm dick, nicht dehis-
zent und ließ sich leicht aufbrechen.
Auch der Processus jugularis sive paramastoideus, dessen Be-
ziehungen zu den Warzenzellen für die Verbreitung eitriger Prozesse
an der Schädelbasis bereits häufig hervorgehoben sind, muß bei
der Anatomie des Facialkanales erwähnt werden. In 5 Präparaten
trat er dicht an die mediale Seite des Foramen stylomasto-
deum heran, während er im allgemeinen nichts mit der Bildung-
dieses Loches zu tun hat, vielmehr mindestens 6 mm medianwärts
desselben liegt.
Vom äußeren Rande der unteren Gehörgangswand bis zum
Foramen stylomastoideum maß ich 7 — 8 mm als Durchschnitts-
entfernung. An 3 älteren Schädeln war die Öffnung nur 3 — 4 mm
von der äußeren Gehörgangsöffnung entfernt, an 9 Schädeln —
6 jugendlichen — 5 mm, während als größte Entfernung 7 mal
12 — 13 mm gemessen wurden bei einer durchschnittlichen Dicke
der unteren Wand von 4 — 5 mm. Sehr oft springt von dem zur
unteren Gehörgangswand sich umbiegenden Os tympanicum eine
größere oder kleinere Knochenlippe vor und legt sich wie ein
Dach über die Nische, in der sich das Foramen stylomastoideum
befindet. In 19 Fällen fehlte jede Andeutung einer Lippe, und
war die ganze untere Fläche der unteren Gehörgangs wand bis
zum Foramen stylomastoideum vollkommen eben.
Ich glaube, daß man Schwartze nur dankbar sein sollte,
daß er auf die wechselnde Richtung und Lage des vertikalen
Facialisabschnittes die Aufmerksamkeit gelenkt hat. Ein regel-
mäßiger Verlauf, wie ihn Bezold in seinem Lehrbuch für die
praktischen Arzte akzeptiert hat, besteht nicht. Dies müßte ge-
rade für den praktischen Arzt genügend hervorgehoben werden.
Daß die angedeuteten Differenzen in der Lage und Richtung des
absteigenden Facialkanals bei tiefgehenden Eiterungen der Mas-
toidgegend und bei den abwärts sich fortpflanzenden Entzün-
dungen des Sinus von Bedeutung sein können, brauche ich hier
nicht auszuführen und verweise auf die Arbeit von Tomka.
Da uns sowohl an der äußeren Schädeloberfläche als auch
in den eröffneten Mittelohrräumen selbst sichere' Merkmale für
die Lage des absteigenden Facialisstammes fehlen und wir nicht
nur bei günstigen, sondern auch ungünstigen Verlaufsrichtungen
Die Freilegung des Facialis als Voroperation für einige Eingriffe usw. 187
desselben gezwungen werden können, zur Beseitigung eines
Krankheitsherdes sehr tief in das Schläfenbein einzudringen, so
dürfte eine Klarstellung der Richtung des Facialis vor Beginn
der Knochenoperation eine Berechtigung haben.
Mit weiterer Verbesserung der Röntgentechnik wird es in
manchen Fällen gelingen, auch den Fallopischen Kanal zur An-
schauung zu bringen, zumal bei spongiösen Warzenteilen und
jugendlichen Individuen. Mir liegt eine Platte vor, bei der man
in einem spongiösen Warzenfortsatz den ganzen vertikalen Facialis-
abschnitt verfolgen kann. Indes wird jeder, welcher sich mit
Röntgenaufnahmen des Schädels und namentlich solchen der
Ohrgegend beschäftigt, einräumen müssen, daß uns gerade für
diese Gegend noch jede Erfahrung fehlt, welche Röhrenbeschaffen-
heit und welche Stromstärke für den zu untersuchenden Fall in
Anwendung kommen muß, um ein übersichtliches Bild zu er-
halten. Daher versagen nicht selten die Röntgenaufnahmen ge-
rade dort, wo man zur Orientierung ein gutes Bild sich wünscht,
während in anderen Fällen der Zufall ausgezeichnete Bilder zu-
stande kommen läßt. Die Dicke der Schädelknochen, die Be-
schaffenheit der ihm anliegenden Weichteile wie der Gehirnmasse
ergeben nicht voraus zu berechnende Schwierigkeiten, welche
vorläufig im Einzelfalle nur durch Versuche zu überwinden sind.
Den sichersten Aufschluß erhält man durch die operative
Freilegung des Nerven. Wenn man den Verlauf des Gesichts-
nervenstammes vor seiner Teilung in die Gesichtsäste bis zum
Austritt an der Schädelbasis kennt, so ist es möglich, seine Lage
und Richtung im hinteren Abschnitt des Gehörganges bezw. in
der Pars mastoidea zu beurteilen.
Hueter (13) und Löbker (14) haben das Aufsuchen des
Facialis am Foramen stylo mastoideum, wie es von den älteren
Chirurgen Klein, Schuppert, Baum jun. ausgeübt wurde,
verworfen, weil die Aufsuchung des Nerven etwas weiter vorn
leichter und sicherer gelingt. In der Höhe des Ohrläppchens,
also bereits in der Parotissubstanz spaltet sich der Facialis mit
einem charakteristischen Winkel in einen stärkeren oberen, mehr
horizontal verlaufenden und einen schwächeren unteren Ast, der
nahe dem unteren Kieferrande einen nach vorn konkaven Bogen
macht. Letzterer ist wegen seiner oberflächlichen Lage leicht zu
finden. Hat man ihn im Parotisgewebe entdeckt, so muß man
ihn nach oben verfolgen, kommt an die Teilungsstelle und kann
von hier aus (Kaufmann [15]) nach rückwärts durch Ver-
188 XXIV. WINCKLER.
längening der Schnitte den Nervenstamm bis zum Foramen stylo-
mastoideum freilegen, allerdings mit Durchschneidung des Parotis-
gewebes. über dieses Verfahren konnte ich folgende Erfahrung
machen.
Bei einer s. g. Bezoldschen Mastoiditis hatte der Durchbruch
zu einer Schwellung unterhalb des Ohrläppchens geführt, so daß
der Prozeß von dem behandelnden Arzt als Parotitis aufgefaßt
wurde. Als der 6jährige Patient von mir übernommen wurde,
führte die Aufmeißelung des vereiterten Warzenfortsatzes nebst
Entfernung seiner Spitze in eine Eiterhöhle unterhalb des Gehör-
ganges, um dieselbe übersehen zu können, schob ich eine
Koch ersehe Kropf sonde in sie hinein und dehnte äußerst vor-
sichtig unter Beobachtung des Gesichtes die über ihr befindlichen
Weichteile nach dem Unterkiefer hin. Ohne vorausgegangene
Zuckungen der Gesichtsmuskulatur wurde nach Beendigung der
Operation schon beim Verbände eine totale Facialisparese und
am nächsten Tage eine vollkommene Lähmung festgestellt, die
nach völliger Ausheilung der Erkrankung bestehen blieb. Da
sich der Zustand trotz elektrischer Behandlung, Massage und
Dehnen der gelähmten Muskeln mit einer Holzkugel unter der
Wange nicht im geringsten besserte, so glaubte ich, daß für den
Fall eine Nerventransplantation indiziert sei. Nach Rücksprache
mit dem Chirurgen des Kinderkrankenhauses schlug letzterer
dazu den Hypoglossus vor und meinte, den Facialisstamm nach
Löbker-Hueter aufsuchen zu müssen, da das Narbengewebe
hinter der Ohrmuschel die Koch ersehe Methode nicht durch-
führen lassen würde. Es wurde demgemäß, 5 Monate nach der
ersten Operation, mit einem zirka 5 cm langen Schnitt von der
Insertion des Ohrläppchens beginnend dem hinteren Kieferrande
entlang die Wangenhaut, dann die Fascie und schließlich vor-
sichtig das Parotisgewebe schichtweise durchtrennt, indem die
Messerschneide gegen den hinteren Band des Kiefers geführt
wurde. Der untere Facialisast fand sich nicht. Es wurden dann
vor und hinter diesem Schnitt Parallelschnitte angelegt unter ge-
nauester Prüfung der durchtrennten Parotissubstanz auf Nerven-
gebilde. Weder der untere noch der obere Ast kamen zum Vor-
schein, noch sonst irgend ein Gebilde, das mit einer Nervenfaser
Ähnlichkeit gehabt hätte. Nach vergeblichem einstündigen Ab-
suchen wurde dann die ganze Operation aufgegeben und die
Wunde geschlossen. Der Erfolg war der, daß sich etwa 6 Wochen
später eine geringe aktive Beweglichkeit am gelähmten Mund-
Die Freilegung des Facialis als Voroperation für einige Eingriffe usw. 189
wiiikel einstellte und unter der wieder aufgenommenen elek-
trischen Behandlung und Massage dann die komplete Lähmung
der Gesichtshälfte vollkommen zurückging — etwas über 4 Monate
nach dem mißglückten Versuche der Nervennaht und 9 Monate
nach der Verletzung des Facialis.
Nach mehreren Operationen an der Leiche schien mir
die Hueter-Löbk ersehe Methode für otochirurgische Zwecke
nicht geeignet zu sein. Dagegen gelang es mir stets, den Nerven-
stamm am Foramen stylomastoideum zu finden, wenn ich in fol-
gender Weise vorging. Mit einem nur durch die Haut
gehenden Schnitt umkreiste ich die Ohrmuschel der-
art, daß der Schnitt dicht unterhalb des Ohrläppchens
am hinteren Rande des Unterkiefers endete. Nun prä-
parierte ich stumpf die Ohrmuschel so weit ab, bis der Ansatz des
häutigen Gehörganges oben, hinten und unten frei und über-
sichtlich zutage trat. Nach dieser Präparation palpiert man unter
dem Gehörgange sofort die hintere Zirkumferenz der Parotis
unter ihrer derben Fascie, welche in ihren oberflächlichen
Schichten, soweit sie sich an die untere Gehörgangswand an-
setzen, bei der Präparation bereits gelockert wurde. Dicht unter
dem Gehörgange schlitzte ich die Fascie, schob sie nach oben
und hinten zurück und kam nun in den Raum zwischen An-
satz des Stemocleidomastoideus, unterer Gehörgangswand und
Parotis, in welchem ich in wechselnder Tiefe den Facialisstamm
häufig von zwei Venen begleitet antraf. Er liegt hier in lockerem
Gewebe und läßt sich bis zu seiner Austrittsöffnung gut isolieren.
In dieser Weise gelang es mir, auch am Lebenden in zwei
Fällen den Nerv freizulegen. Der erste Fall betraf einen 14jähr.
Knaben, der an einer chronischen Ohreiterung längere Zeit aus-
wärts behandelt war und der dann plötzlich an Schüttelfrösten
erkrankte und eine Anschwellung hinter dem linken Ohre bekam.
Als der Knabe einige Tage später mit einer Temperatur von
38,6 in das Kinderkrankenhaus eingeUefert wurde, fiel außer
einer Schwellung über dem ganzen Warzenteil und einer kleinen,
verklebten Inzision am hinteren Rande des letzteren eine hoch-
gradige Empfindlichkeit des linken Kopfnickers auf, welche eine
schon fortgeleitete Infektion des Sinus wahrscheinlich machte.
Nach Unterbindung der äußerlich normalen Jugularis wurde in
der angegebenen Weise der Facialisstamm freigelegt und die
Wunde locker tamponiert. Darauf wurden die Weichteile an dem
Gehörgange bis auf den Knochen durchschnitten und nach Er-
190 XXIV. WINCKLER.
Öffnung des mit putridem Eiter angefüllten Processus wurde so-
fort der Sinus aufgesucht, der flüssigen Eiter beherbergte. Die
Sinuseiterung war am Knie zum Transversus durch soliden
Thrombus begrenzt Nach unten zu konnte eine Sonde bis gegen
den Bulbus hin in den vereiterten Sinus vorgeschoben werden,
ohne eine Blutung hervorzurufen. Ich nahm nun den Tampon
am Facialis fort und entfernte mit einer Knochenzange den
unteren und hinteren Teil des Gehörganges, so daß der ganze
Verlauf des Gesichtsnerven bis zu seinem Eintritt in die hintere
Paukenhöhlenwand frei war. Unter leichten Zuckungen des
Mundwinkels der linken Seite wurde der Facialis mit einem
kleinen Häkchen nach vom und oben gehalten und nun der
Bulbus durch Abkneifen seiner lateralen Wand vom Sinus aus
eröffnet. Kuppelraum und Pauke wurden dann noch nachträg-
lich eröffnet. In einem zweiten Falle erforderten die nach der
Trepanation und Spaltung des thrombosierten Sinus sowie Unter-
bindung der Jugularis fortbestehenden pyämischen Erscheinungen
eine Kontrolle des Bulbus. Es wurde der Freilegung desselben
die Präparation des Facialis vorausgeschickt, welche hier etwas
schwieriger war, weil infolge der Entfernung der Warzenfortsatz-
spitze der Kopfnickeransatz seinen festen Standpunkt eingebüßt
hatte und die Weichteile verschoben waren. In beiden Fällen
zeigte dieser Versuch, daß die Freilegung des Facialis von seiner
Austrittsöffnung aus nicht nur eine Schonung des Gesichtsnerven,
sondern auch eine sehr gründliche Besichtigung des Bulbus von
der lateralen Seite her ermöglicht. Die Entfernung eines größeren
Teiles der unteren Gehörgangswand verbesserte namentlich die
Übersicht dadurch, daß den Kaum beschränkende Knochenvor-
sprünge vom Os tympanicum fortfielen. Mit größeren Gefäßen
kam ich bei der Freilegung des Nerven nicht in Konflikt. Die
Pulsationen der Carotis sah man in der Tiefe der Wunde nur
fortgeleitet, das Gefäß selbst dagegen nicht.
Der dritte Versuch, den Facialis freizulegen, wurde bei einer
Bezold 'sehen Mastoiditis gemacht, die eine brettharte Infiltration
vom Ansatz des Kopfnickers bis zum Kinn aufwies und bei der
das Ohrläppchen stark nach oben und vorn gedrängt war. Das
Auffinden des Nerven an seinem Eintritt in die Parotis war relativ
leicht. Die weitere Freilegung des Nervenstammes nach der
Tiefe mußte aufgegeben werden, da durch plötzlich hervor-
quellenden Eiter jede genauere Kontrolle unmöglich wurde. Nach
Eröffnung des vereiterten Processus, Entfernung seiner Spitze und
Die Freilegung des Facialis als Voroperation für einige Eingriffe usw. 191
einer Inzision am vorderen Rande des Sternocleidomastoideus
konnte der Senkungsabszeß entleert werden und nekrotische 6e-
websfetzen und Granulationen wurden mit dem scharfen Löffel
ausgekratzt, da die Lage des Facialis vorher bekannt war. Eben-
so ließ sich auch die Ausräumung vereiterter Zellen in der Tiefe
des Warzenteils mit großer Sicherheit ausführen, die nach der
Lage des freigelegten Nervenstammes taxiert gut 0,5 cm rück-
wärts von dem vertikalen Facialisabschnitt angetroffen wurden.
Ungefähr stimmt meine Schnittführung, die nachträglich
kaum eine wesentliche Verlängerung der sonst hinter der Ohr-
muschel zurückbleibenden Narbe zur Folge hat, mit der von
Kocher (16) angegebenen überein, der den Hautschnitt in die
obere Verlängerung seines Normalschnittes — vom vorderen Ende
der Processusspitze bis zur Mitte des Zungenbeins — verlegt.
Bei der Präparation in die Tiefe orientiert sich Kocher nach
dem sehnigen Ansatz des Kopfnickers und dem vorderen Umfang
des Warzenfortsatzes, während die älteren Chirurgen nach dem
Griffelfortsatz fühlten, welcher dem Foramen stylomastoideum
unmittelbar anliegt oder nur wenige, höchstens 5 mm von ihm
entfernt ist, und den der Nerv, ehe er in die Parotis eintritt, von
hinten her umschlingt. Nach meinen Versuchen scheint es mir
namentlich für otochirurgische Zwecke sicherer zu sein, wenn
man oben sofort die untere Gehörgangswand zur Orientierung
benutzt und in dem von ihr und dem vorderen Processusrand
gebildeten Winkel den Facialis aufsucht Vom vorderen Rande
des Warzenfortsatzes kann, wie meine Schädelmessungen ergeben
haben, der Nerv über 1 cm entfernt sein und in vielen Fällen
ihm wieder dicht anliegen. Von der unteren Gehörgangswand
dagegen sind die durchschnittlichen Entfernungen weiter, so daß
eine Läsion des Nerven während der Präparation nicht so leicht
zu befürchten ist. Will man den Nerv in seinem Kanal freilegen,
so kann dies mit Fortnahme der unteren und hinteren Gehör-
gangswand sogleich ausgeführt werden. Von der Hautoberfläche
ist nach Kocher der Facialis 2,5 cm entfernt und reichlich
1 cm tiefer als der Vorderrand des Warzenfortsatzes und des
Sternocleidomastoideus, Entfernungen, die nach meinen Leichen-
versuchen sehr variabel sind.
Die Freilegung des Facialisstammes am Foramen stylo-
mastoideum kann nur dann indiziert sein, wenn die in seiner
Nähe auszuführende Knochenoperation eine Läsion des Nerven
befürchten läßt.
192 . XXIV. WINCKLER.
1. Bei der gewöhnlichen Totalauf meißelung könnte sie nur
in den höchst seltenen Fällen in Frage kommen, in denen der
Fallopische Kanal durch kariöse Prozesse unterminiert ist und
für deren operative Inangriffnahme eine temporäre Verlagerung
des Nerven aus seinem Kanal wünschenswert wäre.
2. Können Eiterungen unterhalb der Spitze des Warzen-
fortsatzes, die sich bis an den hinteren Rand des Unterkiefers
erstrecken, die Operation indizieren. Da bei der Freilegung
derartiger Erkrankungen stets die Warzenfortsatzspitze entfernt
werden muß, um die Fossa digastrica, in der der Durchbruch
gewöhnlich erfolgt, in ganzer Ausdehnung übersehen zu können,
so ist hierbei die sehr verschiedene Entfernung des Foramen
stylomastoideum von der Fossa wie die sehr variable Gestalt
der Fossa digastrica selbst zu berücksichtigen. In vielen Fällen
zeigt letztere eine ausgesprochene konvexe Wölbung nach unten.
Durchbrüche werden sich bei einer derartigen Gestaltung vor-
zugsweise unter dem Kopfnicker nach seinem hinteren Bande
zu senken. In anderen Fällen besteht ein fast horizontaler Ver-
lauf, so daß der tiefste Punkt der Fossa, welcher ungefähr
medianwärts der Mitte der Warzenfortsatzspitze liegt, sich in der-
selben Horizontalebene mit dem Foramen stylomastoideum be-
findet. Hier ist dann eine seitliche Ausbreitung eines Senkungs-
abszesses nach dem vorderen Bande des Kopfnickers wie nach
der Austrittsöffnung des Facialis hin leicht möglich, wobei auch
die verschiedene Form der letzteren einen Einfluß haben dürfte.
E. Barth (17) fand eine Bezoldsche Mastoiditis, kompliziert
durch eine Facialislähmung, die nach der operativen Beseitigung
der Eiterung sofort zurückging, und meint, daß ein Abszeß der
Fossa digastrica den Facialis bei seinem Austritt leicht erreichen
kann, bedürfe bei einem Blick auf ein Knochenpräparat des
Schläfenbeins keiner weiteren Begründung. Zweifellos lehrt auch
sein Fall, daß die Senkungsabszesse, die sich nach vorn aus-
dehnen, eine gewisse Gefahr für den Gesichtsnerv involvieren.
Daher glaube ich, daß in derartigen Fällen die Freilegung des
Facialis als Voroperation berechtigt sein kann.
3. Eine wesentliche Erleichterung verschafft man sich durch
diese Voroperation, wenn man den Bulbus der Vena jugularis
von der lateralen Seite her freizulegen gezwungen ist.
Die Freilegung des Facialis als Voroperation für einige Eingriffe usw. 193
Literatur :
!♦ Stacke, Die operative Freilegung der Mittelohrraume etc.
2. Sieben mann. Mittelohr und Labyrinth- Anatomie pg. 2S1.
3. Körner. Unters, üb. einige topogr. Verhältn. am Schläfenbein.
Zeitschr. f. Ohrenheilk. Bd. 22 pg. 190.
4. Bezold. Lehrbuch der Ohrenheilkunde. Wiesbaden, Verlag von
Bergmann 1906 pg. 18.
5. St eng er. Zur Thrombose des Bulbus venae jugularis. Archiv für
Ohrenheilkunde Bd. 54 pg. 222.
6. Kennedy. Glasgow Nov. 1900. Ref. Centralbl. Chirurgie 1901
pg. 253.
7. Manasse. Langenbecks Archiv Bd. LXn pg. 805.
8. Graf Spee. Skelettlehre. Kopf. pg. 148 ff.
9. Schwartze. Varietäten im verlaufe des Facialis in ihrer Be-
deutung für die Mastoidoperationen. Archiv für Ohrenheilkunde Bd. LVII
pg. 96 ff.
10. Randall. Gibt es Abweichungen im Verlaufe d. Nerv, facialis,
welche auf die Warzenlortsatz-Operation von Einfluß sind? Zeitschr. f.
Ohrenheilk. Bd. 44 pg. 286 ff.
11. Tomka. Beziehungen des N. facialis zu den Erkrankungen des
Gehörorgans. Archiv für Onrenheilkunde Bd. 49 pg. 38.
12. Zuckerkand 1. Makroskopische Anatomie. In Schwartzes Hand-
buch pg. 17.
13. Hueter. Chirurgie 1883. Bd. 2 pg. 239 ff.
14. Löbker. Chirurgische Operationslehre, pg. 317.
15. Kaufmann. Zit bei Löbker.
16. Kocher. Chirurgische Operationslehre 4. Auflage 1902 pg. 139.
17. E. Barth. Zur Kenntnis der Facialislähmung infolge Bezoldscher
Mastoiditis. Zeitschrift für Ohrenheilkunde. Bd. 50 pg. 282.
Archiv f. Ohrenheilkunde. 73. Bd. Festschrift. 13
XXV.
Ober einen Fall von aknter Hittelohreiternng bei einem
sporadischen Falle von nbertragbarer Genickstarre.
Von
Prof. Hessler in Halle a. S.
(Mit 1 Kurve.)
So häufig und wohlbekannt die Fälle von einfacher Ent-
zündung bis zur totalen Vereiterung des inneren Ohres sind, die
erfahrungsgemäß die häufigste Ursache von früh erworbener Taub-
stummheit bei Kindern sind, so selten scheinen Mittelohraffektionen
bei der früher sogenannten epidemischen Cerebrospinalmeningitis
(übertragbare Genickstarre) vorzukommen. Wenigstens ist die Zahl
der letzteren im Verhältnis zu den wohl beschriebenen Fällen der
ersteren Art in der Literatur verschwindend klein geblieben. Da
dieser Fall, den ich im Folgenden kurz beschreiben werde, noch
eine ganze Reihe wissenschaftlich interessanter Einzelheiten bot,
und mir persönlich wohl tat, daß er nach einer Reihe schlechter Fälle
wieder einen unerwartet glücklichen Ausgang nahm, so ist er
für den ganz besonderen persönlichen Zweck als Festgabe für
meinen Lehrer so recht geeignet.
Margarethe W.. 4 Va Jahr alt, aus Pr., wurde mir am 5. März d. J. vor-
gestellt zur Entscheidung der Frage, ob vielleicht das Gehimleiden, die
Genickstarre eine Folge der linksseitigen subakuten Mittelohreiterung sein
könne. Der Vater des Kindes hatte folgenden Bericht mitgeschickt : ein im
1. Lebensjahre entstandenes linksseitij^es Ohrenlaufen war nach einer
Auskratzung in B. im 2. Jahre vollständig geheilt worden. Am 11. Februar
wurde das Kind während der Nacht, also ganz plötzlich sehr unruhig, fing
an zu phantasieren; es wurden gleich darauf Zähneknirschen, Krampi-
erscheinungen, Augen verdrehen, Erbrechen beobachtet. Am folgenoen
Morgen wurde ärztlicherseits Gehirnhautentzündung festgestellt und Eis-
beutel verordnet. Dazu kamen Nackensteifigkeit, die sich rasch zur absoluten
Nackenstarre steigerte und den Hals so stark nach vom bog, daß die Athmung
sehr beschwert wurde, und absolute Bewußtlosigkeit. Dieser Zustand dauerte
3 Tage, darnach trat eine kleine Besserung ein und es kehrte der Verstand
des Kindes wieder. Auffallend war der folgende Verlauf der Temperatur:
des Morgens war dieselbe gering und schon gegen Mittag war 40° erreicht
und blieb das Fieber so hoch bis nach Mittemacht. Das Kind klagte zuerst
über einen Fall von akuter Mittelohreiterung usw. 195
nur über Kopfschmerzen, Schmerzen im Leibe und in den Füßen, aber vom
6. Tage an schrie es laut und unaufhörlich: ^mich friert, mich zudecken,
mich friert." An diesem Taffe wurde zum eraten Male links wieder Ohren-
laufen beobachtet, das manchmal blutig ausgesehen haben soll. Genossen
wurde nur Milch und viel Wasser mit Limonade oder Citrone, ohne er-
brochen zu werden ; Suppen und feste Speisen wurden zurückgewiesen, weil
sie infolge der Nackenstarre Schluckbeschwerden zu verursachen schienen.
Gegen das Fieber war zweimal täglich ein warmes Bad, darnach warme Ein-
packungen für 1 — 2 Stunden und auch lauwarme Leibumschläge gemacht
worden. Die gegen den früher normalen Stuhl recht abstechende Obstipation
war leicht zu beheben gewesen und bereits nach 8 Tagen von selbst wieder
fortgeblieben.
Das Kind zeigte bei meiner ersten Untersuchung noch eine stark aus-
gesprochene Nackenstarre, und wurde von der Mutter so getragen daß es
mit dem Nacken anf der Schulter derselben zu liegen kam. Er war sehr
unruhig und schrie ohne Unterbrechung, wie bereits beschrieben, „mich friert,
mich in den Mantel nehmen und zudecken, mich friert." Der Puls war sehr
rasch, 136 in der Minute und sehr klein, das Gesicht ängstlich verzogen, jede
Lageänderung des Körpers wurde wegen Bewegung des Nackens ängstlich
vermieden und war sehr empfindlich. Die Pupillen waren ungleichmäßig, die
rechte noch enger als die linke, aber deutlich reagierend. Unter diesen
Umstanden war die Untersuchung der Ohren eine sehr schwierige Sache für
mich und eine sehr schmerzhafte für das Kind. Das linke Trommelfell zeigte
eine frische, subakute Ohreiterung mit einer mehr rundlichen Öffnung in
der vorderen Hälfte. Eine endzündliche Reizung des Knochens bestand
sicher nicht. Als ich auch das rechte Ohr untei-suchen wollte, bat mich die
Mutter, von dieser Untersuchung absehen zu wollen, da das. Kind ja doch
gut höre, bisher nie über dasselbe geklagt und auch der Arzt zu Hause noch
bei seiner letzten Untersuchung versichert habe, daß dasselbe nicht erkrankt
sei. Zu Aller Überraschung fand ich aber rechts die sicheren Zeichen einer
frischen Mittelohrentzündung. Das Trommelfell zeigte eine frische Injektion
und seröse Durchtränkung, dabei noch eine Andeutung des Lichtreflexes,
eine totale Aufrichtung, besonders in seiner hinteren Hälfte und ließ ein
mehr seröses als eitriges Exsudat durchscheinen. Von dem Kinde selbst
war absolut keine Auskunft etwa über Empfindlichkeit des rechten Warzen-
fortsatzes oder der Partien vor dem Ohre oder gar über eine Gehörprüfung
zu erhalten, es schrie ohne Unterbrechung: ,,mich friert, ich will ins Bett,
mich friert". Ich eröffnete nun zuerst der Mutter, daß die Genickstarre
höchstwahrscheinlich nicht otogenen Ursprungs etwa vom linken Ohre sein
würde, daß aber rechterseits die Paracentese des Trommelfells zur Entleerung
der serös-eitrigen Exsudats hinter demselben nötig sei. Nunmehr kam die
Mutter mit dem Zugeständnis heraus, daß auch ihr Hausarzt zuerst von der
epidemischen Genickstarre gesprochen, aber nachher ihr mitgeteilt habe, daß
diese ausgeschlossen sei. Er habe aber zu gleicher Zeit mit ihrem Kinde
noch ein 2. Kind mit denselben Krankheitserscheinungen zu behandeln gehabt
und sehr rasch verloren. Es war nicht leicht, die Mutter von der Not-
wendigkeit des Trommelfellschnitts rechts zu überzeugen. Es entleerte sich
nun bei der Paracentese eine dünne, seröse, trübe, dünngallertige, graue
Flüssigkeit, in kaum 5 — 7 Tropfen, die nach dem Aussehen sicher nur w^enig
Eiterkörperchen enthielt. Bei der einmaligen Anwendung des Politzer sehen
Verfahrens hörte man beiderseits ein breites, leichtes Perforationsgeräusch.
Beiderseits hatte sich das Sekret in verhältnismäßig geringer Menge in den
Gehörgang entleert; dasselbe war links ein einfach schleimig-eitiiges, rechts
ein mehr seröses. Eine wesentliche Änderung in dem ängstlichen, empfind-
lichen Krankheitszustande des Kindes war nicht zu bemerken. Verordnet
wurden Fortsetzung im Auflegen eines nicht zu sehr gefüllten und durch
seine Schwere den Kopf des Kindes bedrückenden Eisbeutels, sowie Milch
und durststillende Flüssigkeit wie bisher. Der Zustand war am folgenden
Morgen unverändert gegen früher; Patientin hatte nur sehr wenig und sehr
unruhig geschlafen, immerzu laut gejammert und fferufen : „mich friert, mich
zudecken, mich friert." Das Fieber war so hoch geblieben wie zu Hause.
13*
196 XXV. HESSLER.
Im rechten Ohre war nur eine sehr geringe Menge dünnen Sekrets. Aber
es wollte mir so scheinen, als ob die Innenpartie des Warzenfortsatzes über
seiner Spitze etwas dnickempfindlicher geworden sei als gestern. Nun trat
ganz unerwartet ein neues Symptom auf. Als ich gestern behufs Prüfung
der Empfindlichkeit des rechten und linken Warzeniortsatzes denselben mit
meinem rechten Mittelfinger perkutierte, hatte ich einen kleinen Unterschied
im Perkussionsschall zwischen links und rechts feststellen zu können ge-
glaubt Während derselbe links mehr normal und leer war, klang er rechts
etwas tympanitisch. Und heute war derselbe links unverändert, aber rechts
bot er deutlich das Geräusch eines gesprungenen Topfes ; dasselbe war über
dem Warzenfortsatz am deutlichsten und nahm in zunehmender Entfernung
von ihm langsam ab; eine leichte Verstopfung des rechten Ohrs mit Watte
hatte keine auffallige Veränderung des Geräusches zur Folge. Es gelang mir
auch heute, die Frage zu entscheiden, ob das ununterbrochene Jammern des
Eandes über das Frieren auf subjektives Kältegefühl oder auf Hyperästhesie der
Haut zu beziehen sei. Auffallend war schon, daß es sehr bald ruhig wurde
und den Eindruck des sich Besserbefindens machte, sowie es fest mit warmen
Decken zugedeckt, und an die Füße eine Wärmeflasche gestellt wurde. Nun
aber konnte ich unzweideutig feststellen, daß leichte Nadelstiche und Be-
rührungen des Körpers bis zum leichten Kneifen nicht schmerzhafter als
normal empfunden wurden. Eine hyperästhetische Haut, wie sie bei der
Cerebrospinalmeningitis so häufig vorkommt, bestand demnach in unserem
Falle nicht. Da nun eine Besserung im Zustande des Kindes nicht zu er-
hoffen war, schluj^ ich der Mutter die Aufmeißelung des rechten Warzen-
fortsatzes vor. Diese mußte von der Aussichtslosigkeit der bisherigen Be-
handlung zu sehr überzeugt sein, so unerwartet rasch entschied sie sich für die
Operation, die noch an demselben Tage ausgeführt wurde.
Die Chloroformnarkose hatte auf die Genickstarre absolut keinen Ein-
fluß, der Kopf des Kiudes blieb unverändert stark nach hinten retrahiert
und erschwerte die- Operation. Zuerst wurde vom Herrn Kollegen F. die
Lumbalpunktion gemacht: es entleerte sich eine Flüssigkeit zuerst rein und
klar erscheinend, förmlich im Bogen herausspritzend, unter so starkem Drucke
mußte sie im Rückenmarkskanale gestanden haben ; es wurde nun 3 bis 4 ccm
Lumbaiflüssigkeit abgelassen; diese zeigte sich im Glase gleichmäßig leicht
getrübt.
Bei der Aufmeißelung des Warzenfortsatzes selbst zei^e die Oberfläche
des Knochens keine Veränderungen, aus denen man auf eine Mitbeteiligung
desselben an der Mittelohreiterung hätte schließen können. Man sah noch
deutlich als unregelmäßige Furche die Fissura petroso-mastoidea verlaufen,
und diese war durch gefäßhaltiges Bindegewebe, das sich beim Zurück-
schieben des Periosts schwer lösen ließ, noch fester mit letzterem verbunden.
Die Oberfläche des Warzenfortsatzes zeigte nicht die Wölbung, die man bei
gut entwickelten Knochen findet, sondern mehr furchenförmige, unregel-
mäßige Vertiefungen ; die Warzenf ortsatzspitze war gleich wenig entwickelt.
Beim Meißeln fühlte sich der Knochen weicher an, als man mn sonst bei
Kindern gleichen Alters findet. In der Tiefe von V^ cm wurde er rötlich-
bräunlich verfärbt und weicher, und in der Tiefe von 1 cm und in der
Gegend des Lateralsinus deutlich schwärzlich und noch weicher beim Meißeln.
Der Sinus selbst brauchte nicht bloßgelegt zu werden. Relativ tief und
weit nach vom lag das Antmm mastoideum; dasselbe war sehr klein und
enthielt keinen Eiter, wenigstens sah ich bei der Eröffnung desselben nur
dünnes Blut heraustreten. Eine Kommunikalion desselben mit dem Mittelohr
bestand sicher nicht. Vollständige Entfernung aller verfärbten Knochenpartien,
bis normal harter und aussehender Knochen vorlag. Einfacher Verband.
Auf meine Veranlassung wurde die Lumbaiflüssigkeit und ein
Stück des Warzenfortsatzknochens an das hiesige Hygienische
Universitäts-Institut zur bakteriologischen Untersuchung übergeben.
Es war mir der Unterschied zwischen der Stärke der Genick-
j
über einen Fall von akater Mittelohreiterung usw. 197
starre und dem relativen Freisein des Sensoriums des Kindes als
sehr abweichend von dem üblich mehr gleichen Grade derselben
bei der otogemen Meningitis und deshalb als mehr verdächtig
auf die übertragbare Genickstarre aufgefallen. Es war nicht leicht,
das Kind zu beruhigen, das immer nach der Mutter verlangte, die
stets an seinem Bette saß, und unaufhörlich sein ^mich friert, mich
zudecken" wiederholte; gelang es aber, seine Aufmerksamkeit
hiervon abzulenken, konnte man sehen, wie klar sein Erinnerungs-
vermögen und sein Verstand waren gegenüber der Stärke der
Genickstarre; irgend ein, auch nur leichter Druck auf das Gehirn
durch irgend eines stärkere intrakranielle Affektion, als eine seröse
Meningitis mit sehr wenig Leukocytenbeimengung konnte kaum
vorliegen.
Es war mir noch am Wahrscheinlichsten, daß es sich um
einen leichten, prognostisch günstigen Fall von übertragbarer Ge-
nickstarre handeln möchte, der mit einer doppelseitigen Mittelohr-
eiterung kompliziert war. Da nun auch der Hausarzt zuerst unter
dem Einflüsse des Anfanges, der Symptonengruppe und dem ersten
Verlaufe der Krankheit stehend von einer übertragbaren Genick-
starre gesprochen, nach einigen Tagen aber dieselbe als aus-
geschlossen den Eltern des Kindes hingestellt hatte, nahm ich an,
daß derselbe die Änderung seiner Diagnose auf Grund einer
etwaigen bakteriologischen Untersuchung von Blut oder Nasen-
rachenschleim der kleinen Patientin vorgenommen haben konnte.
Auf meine telephonische Anfrage noch an demselben Abende erfuhr
ich vom oben genannten Institute, daß allerdings das Blut unserer
Patientin bakteriologisch untersucht sei; aber mit negativem
Resultate.
Dieses negative Resultat der bakteriologischen Blutuntersuchung
auf die intrazellularen Diplokokken Weichselbaum's konnte durch
3 Umstände begründet sein: 1. konnten die Krankheitserreger in
dem zugesandten Blute nicht in genügender und sicher nachweis-
barer Menge vorhanden gewesen sein; 2, konnten sie durch die
Art und die Dauer der Zusendung bis zur bakteriologischen Unter-
suchung zur Abtötung gekommen und dadurch nicht mehr nach-
weisbar geworden sein; und 3, sie fehlten überhaupt im Blute
des Kindes oder waren so wenig lebensfähig gewesen, daß sie
die Entnahme aus dem Körper nicht hatten überdauern können.
Es war also eine Nachkontrolle der ersten bakteriologischen Unter-
suchung meinerseits nicht unberechtigt.
Um nun noch eine Bestätigung des bisherigen Krankheits-
198 XXV. HESSLER.
hildes und des Krankheits Verlaufs durch den behandelnden Arzt
zu erhalten, schrieb ich an den Herrn Kollegen und erhielt um-
gehend folgenden Bescheid:
Das Kind war unter den Erscheinungen eines akuten Magendarm-
darmkatarrhs erkrankt mit Erbrechen, Durchfall, Fieber; als Ursache war
^anscheinend schon verdorben gewesene Torte mit Schlagsahne" angesehen.
Die heftigen meninffitischen Symptome hatten den Verdacht auf übertragbare
Genickstarre erweckt und einmal die amtliche Meldung des Falls als ver-
dächtig auf epidemische Genickstarre und andererseits die Entnahme des
Blutes des Kindes behufs bakteriologischer Untei-suchung veranlaßt. Die
Lumbalpunktion war aus Mangel an nötiger persönlicher Übung unterlassen.
In der letzten Zeit hatten sich etwas Husten und katarrhalische bronchitische
Geräusche eingestellt. Ein auffälliger und besonderer Schnupfen zu Anfang
der Krankheit war nicht beobachtet worden. Am 10. Febmar, also 1 Tag
vor Beginn der plötzlichen Erkrankung unseres Kleinen, wurde er zu dem
4jährigen Walter H. in das benachbarte G. geholt und konstatierte er
Bronchitis. 2 Tage später stellte sich auch bei diesem Patienten Erbrechen
ein, am 4. Tage Zähneknirschen, Pupillenstarre, klonische Krämpfe des
rechten Arms und Bewußtlosigkeit, die rasch eine absolute wurde. Es be-
stand keine ausgesprochene Nackensteifheit Das Fieber war allmählich
gestiegen und die letzten Tage auf 40 <* und darüber geblieben. Der Puls
war zuletzt nicht mehr zu zählen gewesen. Die Untersuchung der Ohren
ergab negativen Befund. Die bakteriologische Untersuchung des Blutes im
schon mehrfach genannten Institute war gleichfalls negativ ausgefallen.
Tod unter den Erscheinungen der Herzparalyse am 4. Tage nach dem 1. Er-
brechen und ungefähr am 8. Tage der Krankheit Keine Sektion.
Im Orte selbst war die allgemeine Volkstimme, daß es sich
in diesen beiden Fällen um die richtige epidemische Genickstarre
handelte.
Der weitere Krankheits verlauf bot nichts besonderes. In den ersten
3 Tagen war in dem Wesen des Kindes kein großer Unterschied zu merken.
Es schrie ebenso viel nach der Mutter, die am 3. Tage wieder abgereist
war, als es seine alten Klagen wiederholte „mich friert, mich zudecken,
mich friert'', und zog sich dabei die Bettdecke so hoch über den Kopf,
daß man ihn kaum noch sehen konnte. Sonst lag es ruhig auf dem Rücken,
behielt seinen Eisbeutel auf dem Kopfe, verlangte und nahm Milch zu
trinken, ohne danach zu brechen, der Schlaf war nicht tiefer und mehr als
vor der Operation. Der Puls blieb gleich schnellend, dünn und schwankte
zwischen 128 des Morgens und 158 des Abends. Die Warzenfortsatz wunde
war absolut gut und die Sekretion aus dem rechten Mittelohre blieb eine
mehr seröse. Da kam es plötzlich nach dem 2. Verbandwechsel und am
4. Tage nach der Operation zu einem bedeutenden Abfall der Temperatur
(siehe beifolgende Kurve in dem Text) von 38,6 des Abends auf 37,2, und
seitdem blieb sie unverändert normal. Ebenso entschieden war die Besserung
des Allgemeinbefindens. Das Kind war viel ruhiger geworden, ließ sich
ruhig und, ohne daß es über Nackenschmeraen dabei klagte, auf eine Seite
legen, sodaß es von ferne dem Spiel seiner Mitkranken zusehen konnte, war
nicht mehr so abweisend gegen die Pflegerin, verlangte nicht mehr so viel
nach der Mutter, war also viel teilnehmender, und schlief auch in der Nacht
viel ruhiger und tiefer und nicht mehr immer in derselben Lage auf dem
Rücken. Verbandwechsel alle 2 Tage, dabei wurden jedesmal nur 1 Mal
mit dem Politzerschen Ballon beide Ohren von Sekret gereinigt. Beim
4. Verbandwechsel war rechts kein Perforationsgeräusch mehr zu hören, die
Paracentesenöffnung hatte sich geschlossen. Da nun auch im linken Ohre
die Sekretion, die eine an und für sich schon geringe Schleimeitersekretion
gewesen war, zusehends abnahm, habe ich seitdem nicht mehr gepolitzert.
Die Nackenstarre nahm langsam aber deutlich ab, und die Bewegungen des
über einen Fall von aknter Mittel oh reilciiing usw. 199
Kopfes worden Ksnz von Bcibst. und ohne daß man das Kind zu aktiven
BeweguDseo au^ufurdern braucnte, Bchmcrzfreier und leichter und püUer.
An) IS. MäiY, also am 12. Tage nach der Aufmeißlung, stand das Kind
zum 1. Male auf, konnte aber onne Untcrstötzung nicht allein gehen, so ab-
gemagert war es; sowie es sich aber mit jeder Hand an einem l'in^r der
Krankenpflegerin festhalten konnte, ging es ohne Schwanken durchs Zimmer,
war also frei von jedem Sehwindel. Seit diesem Tage war auch der Schlaf
absolut nilii^, tief und ohne Jede Störung gewesen. Nach weiteren S Tagen
war die Kleine so weit, daß sie nur ihre Mahlzeiten im Bette nahm und
einen langen Mittagsschlaf machte, die übrige Zeit aber aufblieb und all-
mählich das Gehen wieder eilernte. Sprach sie vorher gar nicht, so fing
sie jetzt von selbst an sich mit der Krankenpflegerin zu unterhalten und
achlieOlich sprach und fragte sie mehr, als Zeit ihr zu antworten vor-
banden war. Die Operations wunde verheilte nur eelir langsam und hielt
gleichen Schritt mit der Zunahme des KÖrpergcwichtg , aber das Kind er-
Eolte sieh nur langsam, und man hatte daaurdi den bestimmten Eindracb.
daß es eine schwere Krankheit durchzumachen gehabt hatte. Man konnte
die Hückkchr zur Gesundheit am besten am Pulse verfolgen, der eine ganze
Zeitlang um 120 in der Minute schwankte, später langsam nuf S6— 9<>
schwankend abnahm. Ich darf hier gleich vorbemerken, dal) der Puls des
Kindes auch bei seiner Kntlassung am 10. Mai ijhcr S<> konstant blieb.
Am 1. April war die Operations wunde fast verheilt und das linke Ohr
absolut trocken geworden. Es stieg von da ab die Temperatur stetig in
die H5he (s. beifolgende Tabelle) und erreichte am 3. April die böcliBte
Höhe von 38,8. Das Wesen des Kindes war etwas verändert, es wollte
wieder mehr zu Bott, sprach nicht so viel mehr, hatte keinen rechten
Appetit, aber sonst keine Schmerzen. Die Mandeln waren beiderseits ebenso
wie der weiche Gaumen hochrot und angeschwollen, die Halslymphdrüsen
beiderseits deutlich vergrößert anzufühlen und bereits etwas schmerzhaft.
An demselben Abend begann die Haut das Schariachexanthen zu zeigtai.
Der Verlauf des Sehariacha war der Fieberkurve entsprechend ein relativ
leichter. Die Schwellung der Mandeln und der Halslymphdrüsen nahmen
erst von der Mitte der 1. Woche an wieder ab, dementsprechend hob eich
von da ab das subjektive Wohlbefinden und erholte sich Patientin wieder.
Inzwischen war die Operationswunde unter einem trockenen Schorfe von
selbst geheilt Das Gehr.r wav gleich vom Beginne der 3. Woche der Be-
handlung so gut wieder geworden, daß man es ruhig als normal bezeichnen
darf; eine eigentliche Gchöqtrüfung konnte nicht gemacht werden, da die
200 XXV. HESSLER.
Kleine absolat nicht nachsprach. Eine Anfrage an den Vater zwecks Ein-
willigang zur Operation der Hals- nnd Rachenmandel seines Kindes wurde
ablehnend beantwortet, letzteres könne nicht halskrank sein, wie sie es
bisher nie gewesen sei. So wurde Patientin am 10. Mai geheilt entlassen.
Nun zur bakteriologischen Untersuchung des Falles. Das
mehrfach genannte Institut hatte am Tage nach der Zusendung
der Lumbaiflüssigkeit und eines ausgemeißelten Knochenstückchens
vom Warzenfortsatze den Bescheid gegeben, daß es sich mit aller
Wahrscheinlichkeit um Meningitis cerebrospinalis epidemica handle,
daß aber erst das kulturelle Verhalten der gezüchteten Kokken
geprüft werden müsse. 5 Tage später wurde durch das Telephon
die Anzeige übermittelt, daß epidemische Genickstarre er-
wiesensei. Die Jaeger- Weich selbaum'schen intracellulären Diplo-
kokken hatten sich aber nur in der Lumbaiflüssigkeit nachweisen
lassen, in dem Warzenfortsatzknochenstückchen waren keine zu
finden gewesen. Eine Notiz über eine mikroskopische Untersuchung
der Lumbaiflüssigkeit war nicht gemacht.
Auf diese bakterielle Diagnose auf übertragbare Genickstarre
hin wurde das Kind ins Isolierhaus verlegt, wo es sich später
Scharlach geholt hat.
Daß die nachträgliche 2. bakteriologische Untersuchung des
Falles positiv beweisend ausgefallen war, hat zweifelsohne daran
gelegen, daß das I. Untersuchungsobjekt an und für sich zur
Untersuchung ungeeignet gewesen war. Das entspricht der all-
gemeinen Erfahrung, daß das Blut eines Patienten nicht so
vorteilhaft, geeignet und entscheidend ist als etwa die Lumbai-
flüssigkeit.
Wenn wir mit dieser Diagnose des Falles auf epidemische
Genickstarre nunmehr den 2. Krankheitsfall in seiner Symptom-
atologie und Verlaufsweise vergleichen, so hat man den Eindruck,
daß der Patient so gut wie sicher an derselben Erkrankung ge-
storben ist. So ist nachträglich der erste Verdacht des behandelnden
Arztes auf übertragbare Genickstarre in diesen beiden Fällen
durch die bakteriologische Untersuchung über allen Zweifel sicher
gestellt worden. Ich will hier gleich bemerken, daß diese 2 Fälle
die einzigen in Pr. geblieben sind, und daß ärzthcherseits die
Entstehung und Übertragung dieser sporadischen Form der über-
tragbaren Genickstarre haben nicht festgestellt wSrden können.
Wir kommen nun zur Diagnose der Ohreiterung unseres
Falles von sicher erwiesener übertragbarer Genickstarre. Es handelt
sich da um die Entscheidung der Frage, ist die Ohreiterung eine
symptomatische Teilerkrankung der letzteren, oder eine einfache
über einen Fall von akuter Mittelohreiterung usw. 201
Komplikation derselben. Hätte die bakteriologische Untersuchung
des Mittelohrsekrets stattgefunden, was leider versäumt worden
ist, und hätte diese sowie diejenige des Warzenfortsatzknochen-
stückchens die Weichselbaum'schen intracellulären Diplokokken
ergeben, so wäre die Diagnose symptomatische Otitis media bei über-
tragbarer Genickstarre sicher gestellt gewesen. So hat aber die
bakteriologische Untersuchung des letzteren Objekts ein negatives
Resultat ergeben. Es gibt nun zur Erklärung desselben 3 Möglich-
keiten. Entweder ist das Knochenstückchen zu ungeeignet zur bak-
teriellen Untersuchung gewesen, oder es hat dasselbe überhaupt
keine Weichselbaum' sehen Diplokokken gehabt, oder 3, die letzten
sind so wenig lebensfähig gewesen, daß sie bis zur Untersuchung
selbst abgestorben gewesen sind. Deshalb ist in unserem Falle
kein Beweis dafür erbracht, daß die Ohreiterung ein Symptom
der Hauptkrankheit, der übertragbaren Genickstarre gewesen ist
Ohne Bedeutung für die Diagnose bleibt der Umstand, das links
die Otorrhoe bereits am 6. Krankheitstage beobachtet worden war.
Wenn man bedenkt, daß bei einer „Gehirnhautentzündung" weder
der Arzt noch die Angehörigen des Kranken erfahrungsgemäß
keine Veranlassung zu haben glauben, das Ohr zu untersuchen,
zumal wenn wie in unserem Falle die Kranke nicht über Ohr-
schmerz klagt und die Angehörigen keine Schwerhörigkeit be-
merkt haben wollen, wenn man weiter berücksichtigt, daß mindestens
2 — 3 Tage vergangen sein müssen, bis ein Ausfluß aus dem ent-
zündeten Ohre bemerkt wird, so darf man für den vorliegenden
Fall das als mit Sicherheit festgestellt annehmen, daß die Ohren-
entzündung links gleich im Anfange der übertragbaren Genick-
starre mit aufgetreten ist. Dieselbe blieb während des ganzen
Verlaufs eine relativ einfache, wenig schleimig-eitrig sekretorische
und kam leicht zur :Wiederausheilung mit einer wahrscheinlich
schon von früher her bestehenden persistenten Trommelfellöffnnng.
Es ist deshalb der Schluß von dem leichten Verlaufe der
linksseitigen Ohrentzündung auf die allerdings viel später er-
wiesene Mittelohrentzündung rechts wohl berechtigt, daß die letztere
von allem Anfang an ungleich leichter, das Gehör nicht ganz auf-
fällig störende gewesen ist. Die Möglichkeit ist nicht von der
Hand zu weisen, daß auch die rechtsseitige Ohrentzündung wie die
linksseitige von Anfang der Krankheit an bestanden hat. Es ist
für den ungeübten Arzt wohl möglich, „bei der Ohrenspiegel-
untersuchung keinen Befund" festzustellen, weil eben bei den ein-
fachen mehr serösen als serös-eitrigen Tuben-Mittelohrkatrarrhen
202 XXV. HESSLER.
der otoskopische Befand am Trommelfelle ein von dem normalen
nur wenig abweichender und deshalb leicht zu übersehender ist.
Nehme ich alle diese Umstände zusammen, so halte ich mich
zu der diagnostischen Annahme berechtigt, daß die doppel-
seitige Ohrentzündung in diesem Falle eine symptomatische Teil-
erkrankung der nachgewiesenen übertragbaren Genickstarre ge-
wesen ist, und daß keine Veranlassung vorliegt; sie als genuine
Otitis media und als Komplikation des letzeren aufzufassen. Und
nach dem Befunde der bakteriologischen Untersuchung und haupt-
sächlich nach dem Krankheits verlaufe glaube ich schließen zu
dürfen, daß die Infektion beider Mittelohre eine mehr leichte und
direkt durch die Tuben von der Nase und dem Nasenrachenraum
fortgeleitete gewesen ist, was den heutigen Anschauungen ent-
spricht; daß femer in Berücksichtigung des fast negativen ana-
tomischen Befundes am operierten rechten Warzenfortsatz und der
stark von Anfang der Krankheit an und im späteren Verlaufe
derselben hervortretenden sogenannten meningitischen Symptome die
Infektion des Cerebrospinalraums eine schwerere und hämatogene
gewesen ist.
Nach dem im ganzen nicht besonders schwerkranken Aus-
sehen des Kindes und vor allem nach dem verhältnismäßig
freien Sensorium desselben hatte ich für mich die Prognose des
Falles mehr günstig gestellt. Dem hatte der anatomische Befund
am rechten Warzenfortsatz nicht widersprochen. Ich mußte aber
nach 2 Richtungen nicht unbegründete Befürchtungen haben : War
die lokale Infektion rechts nicht bereits durch die Knochengefäße
hindurch und etwa auf den Lateralsinus übergegangen, und 2,
konnte nicht auch noch vom linken Ohr her eine intrakranielle
Sekundärinfektion erfolgt sein? Der weitere Verlauf des Falles
lehrte, daß beide Befürchtungen nicht zutrafen: pyämische Er-
scheinungen blieben aus und die Sekretion des linken Ohres ließ
sehr bald nach. Am 4. Tage nach der Aufmeißlung erfolgten der
Temperaturabfall und die zunehmende Genesung der Patientin.
So war der sichere Beweis geliefert, daß die fieberhafte Er-
krankung, wegen welcher das Kind nach Halle gebracht worden
war, von einer Eiterung des rechtenOhres abhängig war. Wieschon
erwähnt, hatten die Mutter und der behandelnde Arzt keine Ahnung
von dem Bestehen desselben gehabt. Nur die pf licht- und ge-
wohnheitsgemäße Untersuchung beider Ohren meinerseits hatte
den Sitz der Krankheit richtig gefunden, und meine lokale Be-
handlung derselben noch rechtzeitig das Glück gehabt, das Leben
über einen Fall von akuter Mittelohreiterung usw. 203
des Kindes zu retten. Diese alte Erfahrung kann selbst heutzutage
noch nicht oft und laut genug gepredigt werden. Gibt sie doch
die schönste Belohnung für unsere ärztliche Gewissenhaftigkeit
in der Möglichkeit, ein Menschenleben zu retten. Es muß für den
vorliegenden Fall die Möglichkeit zugegeben werden, daß bei
nicht rechtzeitiger Erkennung und operativer Behandlung der
rechtsseitigen Mittelohr- Warzenfortsatzeiterung der schließliche Aus-
gang derselben in dem Tod durch Gehirnentzündung erfolgt wäre.
Es erinnert unser Fall sehr an den von Loewenberg vor genau
35 Jahren in der Berliner Klinischen Wochenschrift 1872 Nr. 10.
S. 116 veröffentlichten Fall von Fremdkörper im Ohre. Hier war
bei einem Kinde in einem Ohre nach einem Fremdkörper mit
und ohne Instrumente ärztlicherseits mehrfach gesucht und mehr-
fache Zerstörungen im Gehörgang, Trommelfell und Mittelohr
gesetzt worden, während der Fremdkörper durch die altgewohnte
Sitte Loewenberg's stets beide Ohren zu untersuchen, im andern
Ohre nachgewiesen und dann schmerzlos entfernt wurde.
Das war die 1. Eigentümlichkeit unseres Falles, daß die
Krankheit nicht von dem bekannt erkrankten linken, sondern von
dem nicht bekannt erkrankten rechten Ohre herstammte.
Die 2. Eigentümlichkeit unseres Krankheitsfalles ist, daß er der
einzige blieb, daß Ansteckungen Anderer an übertragbarer Genick-
starre nicht stattgefunden haben. Zur Erläuterung dieses Momentes
muß ich weiter ausholen und diejenigen wissenschaftlichen Er-
fahrungen anziehen, die gelegentlich der Epidemie von übertrag-
barer Genickstarre im Frühjahr 1905 in Oberschlesien gemacht
und von den verschiedensten Ärzten zusammen in dem Klinischen
Jahrbuche Band XV zusammengestellt sind. Diese liegen zu
Grunde der ministeriellen Verfügung vom 10. August 1906 die
als „Tl. Anweisung für die Bekämpfung der übertragbaren Ge-
nickstarre" als besondere Beilage zu Nr. 51 der Veröffentlichungen
des Kaiserlichen Gesundheitsamts im Jahre 1906 veröffentlicht ist.
Die Empfänglichkeit für die Krankheit ist am größten bei
Kindern bis zum 4. Lebensjahre, selbst bei Säuglingen, auch bei
älteren Kindern nicht selten vorhanden. Ein gehäuftes Auftreten
ist mehrfach in Massenquartieren beobachtet worden. Die Über-
tragung auf Gesunde kommt entweder durch den Verkehr mit
Kranken oder durch gesunde Personen zustande, welche mit
Kranken in Berührung gewesen sind, auch durch die Benutzung
von Gebrauchsgegenständen der an Genickstarre erkrankten Per-
sonen. Es ist für strengste Absonderung zu sorgen, bis die Krank-
204 XXV. HESSLER.
heitserreger auch nicht mehr im Nasenrachenschleim nachweisbar
sind. Auch die gesunden Personen aus der Umgebung des Kranken
sollten sich prophylaktisch mehrmals täglich Mund und Nase mit
einem Desinfiziens ausspülen.
Nach Westenhöffer^) geschieht die Infektion mit dem
Meningokokkus durch Einatmung. Die Erankheitskeime passieren
unaufgehalten die vorderen Nasenabschnitte, oder gehen, wenn
sie dort liegen bleiben, zu Grunde. Sie setzen sich im lymphatischen
Bachenraum, speziell in der Bachentonsille fest, und infizieren von
hier aus die mit den hintersten Abschnitten der Nase in Ver-
bindung stehenden Höhlen, das Ohr und die Eeilbeinhöhle. Eine
Untersuchung auf die Krankheitserreger kann nur dann ein ein-
wandfreies Resultat erzielen, wenn das ßachensekret untersucht
wird, wenn die Entnahmesonde bis zum Sachen gelangt. . . Er
glaubt mit einem gewissen Rechte den Satz aufstellen zu können:
Die übertragbare Genickstarre befällt hauptsächlich Menschen
mit dem sog. Lymphatismus (mit Hyperplasie des lymphatischen
Systems). Wir wissen von Alters her, daß solche Menschen mehr
als andere zu Infektionskrankheiten neigen, unter denen an der
Spitze steht die Tuberkulose. Auch Scharlach befällt solche Leute
mehr als andere. Diesen Infektionskrankheiten reiht sich die Ge-
nickstarre an, ja man kann wohl sagen, daß bei keiner der anderen
diese Beziehung so deutlich zu Tage tritt, wie bei der Genick-
starre. Damit soll natürüch nicht gesagt sein, daß nur solche
Menschen die Genickstarre bekommen können, oder daß dieser
Lymphatismus das einzige disponierende Moment ist. Es ist nur
eines derselben, die wir vorläufig sehen und mit dem wir rechnen
müssen. Wir würden darin auch eine ganz plausible Erklärung
für das eklektive Verhalten der Krankheit bei Kindern einer
Familie erhalten.
Demgegenüber behauptet v. Lingelsheim^), daß sich ihm
trotz Achtung darauf keine einigermaßen sicheren Anhaltspunkte
ergeben haben, daß der lymphatische Habitus zu der Krankheit
disponiere, und weiter sagt er: was die Übertragbarkeit der Ge-
nickstarre betrifft, so können wir sie uns nach allem nur von
Person zu Person vor sich gehend denken, und zwar sowohl auf
dem Wege des unmittelbaren Kontakts, wie durch feuchte
1) Phathologisch-anatomische Ergebnisse der oberschlesischen Genick-
starreepidemie von 1905. Klinisches Jahrbuch 1906. XV. S. 713 u. 726.
2) Die bakteriologischen Arbeiten der Kgl. Hygienischen Station zu
Beuthen O.-S., ebenda S. 486—488.
über einen Fall von akater Mittelohreiterang usw. 205
Tröpfchen, die beim Sprechen, Niesen, Husten ausgeschleudert
werden (Flügge). Die scheinbar sprunghafte Verbreitung findet
ihre Erklärung in der nachgewiesen leichten Übertragbarkeit der
Racheninfektion einerseits und in der relativ geringen allgemeinen
Disposition für die klinisch nachweisbare Meningitis andererseits.
So können evtl. zwei an Genickstarre erkrankte Personen durch
eine lange Kette ipfizierter, aber für die Entzündung der Hirnhäute
nicht disponierter Individuen verbunden sein. Das dunkle Etwas der
Disposition spielt jedenfalls bei der Genickstarre eine große Rolle.
Nun sagt aber Flügge i): „Vorläufig ist es geradezu noch
zweifelhaft, ob die epidemisch auftretende Genickstarre vom
Kranken aus übertragen wird und ob nicht mindestens die
an leichter Angina erkrankten oder ganz gesunden ;; Kokken-
träger" ungleich gefährlicher für die Verbreitung sind/' So
parodox diese Behauptung auch klingen mag, bleibt sie doch als
äußerst beherzigens- und beachtenswert bestehen, da sie aus dem
Munde einer solchen Autorität, wie Flügge ist, stammt
Ebendort bestätigt auch Kirchner'^) die höchst auffällige
Tatsache, daß die sogenannte epidemische Genickstarre so über-
aus selten in epidemischer Verbreitung^ sondern meist sporadisch
auftrat. Freilich wurden in jedem Jahre Fälle beobachtet, in
denen gleichzeitig oder kurz nacheinander Kinder in einer und
derselben Familie oder in einem und demselben Hause an über-
tragbarer Genickstarre erkrankten, sie blieben aber stets in der
Minderzahl. Sie ist zweifellos eine exquisite Kinderkrankheit und
kommt in den höheren Lebensaltern nur in verhältnismäßig ge-
ringer Anzahl vor.
Was die „Bazillenträger" betrifft, so ist es nicht ganz leicht,
sie unschädlich zu machen. Sie können nach v. Lingelsheim
die Keime wochenlang in ihrem Rachen beherbergen, ohne selbst
zu erkranken, und Ausspülungen führen nicht immer zum Ziele.
Trotzdem wird man allen Personen in der Umgebung des Kranken
raten müssen, sich Nase und Rachen häufig auszuspülen (an
anderer Stelle, S. 738: Die Angehörigen des Kranken, die Ärzte
und das Pflegepersonal werden sich der Möglichkeit der direkten
Übertragbarkeit stets bewußt sein und regelmäßig darauf Bedacht
1) Flügge, Die im hygienischen Institut der Kg. Universität Breslau
während der Genickstarre-Epidemie i. J. 1905 ausgeführten Untersuchungen,
ebenda S. 371.
2) Kirchner, Die übertragbare Genickstarre in Preußen im Jahre 1905,
ebenda S. 783 u. 739.
206 XXV. HESSLER.
nehmen müssen, sich bei dem Verkehr mit dem Kranken so zu
stellen, daß sie von den Schleimpfröpfchen möglichst wenig ge-
troffen werden. Auch werden sie sich möglichst nach jeder
Handreichung bei dem Kranken Gesicht und Hand desinfizieren
müssen). Dann aber sollten diese Personen nicht versäumen,
ihren Bachenschleim bakteriologisch untersuchen zu lassen. Die-
jenigen unter ihnen, in deren Eachenschleim sich die Krankheits-
erreger finden, sollten, solange sie im Besitze von solchen sich
befinden, den Verkehr mit anderen Personen möglichst ein-
schränken und ihre Wäsche und Gebrauchsgegenstände, nament-
lich ihre Taschentücher regelmäßig desinfizieren.
Wenden wir uns wieder zu unserem Falle zurück. Ich habe
schon oben erwähnt, daß in Pr. nur die beiden genannten Fälle
von übertragbarer Genickstarre beobachtet worden sind, femer,
daß die Quelle der Infektion in Pr. nicht nachgewiesen werden
konnte. Das Kind kam also zu mir und gleich danach in die
Kinderabteilung eines Krankenhauses, die damals gerade gut be-
setzt war. Da übertragbare Genickstarre als ausgeschlossen galt,
wurden keine irgendwelche Absperrungen gegen die anderen
Kinder getroffen. Im Gegenteil, als die Mutter am dritten Tage
wieder abreiste, wurden dieselben angehalten, mit unserem Kinde
fleißig zu spielen, um ihm das Heimweh möglichst zu erleichtern
und es zu beruhigen. Als nun an demselben Tage der Be-
scheid vom hiesigen Hygienischen Institut kam, daß übertragbare
Genickstarre höchstwahrscheinlich vorhanden sei, wurde das Kind
insoweit isoliert, daß die Stationsschwester allein die Pflege des-
selben übernahm. Fünf Tage später kam der telephonische Be-
scheid: epidemische Genickstarre erwiesen. Daraufhin kam die
Kleine ins Isolierhaus, gerade an dem Tage, als die Temperatur
zum erstenmal ihren niedrigsten Stand, 36.2 erreicht hatte. Gefnau
drei Wochen später stieg die Temperatur wieder und es bekam
Scharlach, der dort gerade damals mehr als gewöhnlich in allen
Stadien und Graden gepflegt wurde.
Nun ist Tatsache, daß weder auf der Kinderstation noch im
Isolierhause irgend ein Kind oder eine Pflegerin die übertragbare
Genickstarre acquiriert hat.
Ob zu diesem glücklichen Resultate mehr die ganz selbst-
verständliche und peinlichste Reinlichkeit des Krankenhauses, die
ja während des Bestehens der Krankheit geboten ist, wie es in
den ärztl. Ratschlägen für die Bekämpfung der übertragbaren
Genickstarre (10) heißt (1. c), oder der geringe Grad der Virulenz
über einen Fall von akuter Mittelohreiterung usw. 207
der Weichsel bau mischen intracellulären Meningokokken, die
eine Entwicklung derselben in dem neuen Menschenwirte nicht
mehr ermöglichten, beigetragen hat, muß ich dahingestellt sein
lassen. Ebensowenig wage ich aus denselben Gründen in Rück-
sicht auf den Verlauf unseres Falles die Frage dahin bejahend
zu beantworten, daß Scharlach leichter übertragbar sei als die
übertragbare Genickstarre.
Mit unserer Patientin brachte die Mutter noch eine zweite
Tochter mit, die 8 Jahre alt war und schon von weitem die
Diagnose auf Vergrößerung der Hals- und Rachenmandel ge-
stattete. Am folgenden Tage habe ich letztere operiert, und sind
beide Schwestern bis zum folgenden Nachmittage immer zu-
sammengewesen. Aber auch diese Patientin hatte weder zuhause
in Pr. noch hier bei uns irgend ein verdächtiges Krankheits-
symptom gezeigt, und sie war doch wegen der Wunden" nach
der Tonsillotomie gerade zur Infektion mit den Krankheits-
eri*egem der Genickstarre mehr noch als alle Kinder der Kinder-
station empfänglich gewesen, und auch nach ihrer Heimkehr ist
sie immer gesund geblieben. .
Zu unserem Glücke und unserer Beruhigung, daß etwa
bis zur Isolierung der Kranken eine Infektion der Kinder-
station mit Genickstarre stattgefunden haben könnte, kam kein
weiterer Fall.
3. Weiter interessant ist unser Fall wegen des bruit du pot feie
bei der Perkussion des Warzenfortsatzes. Wenn ich auf die
Druckempfindlichkeit desselben untersuche und bei dem einfachen
Drucke zu keinem bestimmten Resultate komme, pflege ich mit
leichter Hand den Warzenfortsatz direkt zu perkutieren. Ich stelle
mich dann hinter den Patienten, ziehe mit der linken Hand die
Ohrmuschel ohne starken Zug etwas nach vorn und perkutiere
mit dem Mittelfinger meiner rechten Hand. In unserem Falle
trat das charakteristische Geräusch so deutliph auf, daß es auch
der assistierenden Schwester auffiel. Diese bestätigte überrascht
die Richtigkeit des Vergleichs des Perkussionstons mit dem eines
gesprungenen Topfes. Dasselbe blieb immer gleich, wenn die
Perkussion beim Liegen des Kindes auf dem Kopfkissen oder
im Sitzen, so daß der Kopf ganz frei zwischen zwei Händen ge-
halten wurde, wenn mit starkem oder schwachem Schlage vor-
genommen wurde. Mir kam es so vor, als ob eine leichte Ver-
stopfung des Ohres mit Watte den Schall selbst mehr abdämpfte
und als ob ein Übergang von dem mehr vollen zu einem mehr
208 XXV. HESSLER.
leeren Perkussionsschal] beim Zudrücken des Gehörganges ein-
träte.
Zur Erklärung dieser Eigentümlichkeit des Perkussions-
geräusches möchte ich den anatomischen Befund des Warzenfort-
satzes heranziehen. Ich habe in der Krankengeschichte hervor-
gehoben, daß derselbe nicht solid, ein fester Knochen war,
sondern deutlich die Fissura petrosa mastoidea. als noch nicht
geschlossen erkennen ließ, und daß er an der Knochenoberfläche
selbst deutliche Zeichen hatte, aus denen man auf eine mehr
verkümmerte Entwickelung des Knochens und seines Antrum
schließen durfte. Ich habe wiederholt bei so beschaffener
Knochenoberfiäche ein relativ kleines Antrum mastoideum ge-
funden. So ist es ja auch hier gewesen. Die Perkussion des
Warzenfortsatzes hätte also bei der nicht knochenfesten Beschaffen-
heit seiner Struktur und der Kleinheit seiner Höhle einen mehr
leeren als vollen Schall geben müssen. Wie erklärt sich nun
aber der wirklich vorhandene bruit du pot fel6. Zur Erklärung
dieser so seltenen Eigentümlichkeit glaube ich auch den Befund
im Mittelohre unserer Kleinen mit in Berechnung ziehen zu
sollen. Zuerst dürfte der Schluß nicht unberechtigt erscheinen,
daß der Knochen, der die Mittelohrhöhle umschließt, ebenso ana-
tomisch beschaffen gewesen ist, wie es der Warzenfortsatz war,
sowie daß die Paukenhöhle selbst nicht besonders groß gewesen
ist, wie auch das eigentliche Antrum mastoideum relativ klein
war. Die Sekretion des Mittelohres war eine mehr seröse als
serösschleimige und nur eine so geringgradige, daß es sicher
war, daß selbst eine kleine Mittelohrhöhle niemals ganz von dem
Sekrete ausgefüllt war. Das Trommelfell war serös durch-
feuchtet und hatte dadurch eine Verminderung seiner normalen
Elastizität erlitten; und noch veränderter war diese durch die
Parazentese geworden. Alle diese anatomischen Verhältnisse be-
dingen die Verschiedenheiten des Perkussionstones bei Perkussion
des Warzenfortsatzes, und für den vorliegenden Fall glaube ich,
daß die nicht knochenharte Struktur des Felsenbeins, die Abge-
schlossenheit beider Mittelohrhöhlen voneinander, die Art und
Menge des Ohrsekrets, das die Paukenhöhle nur teilweise aus-
gefüllt hatte, die Elastizitätsbeschaffenheit des parazentesierten
Trommelfells, gemeinschaftlich mit dem Perkussionston des Gehör-
ganges, die Entstehung des Geräusches des gesprungenen Topfes
ausgelöst haben. Mir erscheint dieser Erklärungsversuch, der
sich auf die Unregelmäßigkeit der Schwingungszahlen des ge-
Über einen Fall von akuter Mittelohreiterung usw. 209
samten Ohrs beim Perkutieren des Warzenfortsatzes stützt, sym-
pathischer als derjenige vonSahli^). Derselbe bezeichnet es als
ein Stenosengeräusch, das dadurch entsteht, wenn infolge des
Perkussionsschalles Luft durch eine enge spaltförmige Öffnung
rasch entweicht, und bespricht dort auch, wie es unter ganz nor-
malen physiologischen Verhältnissen bei der Perkussion des
Thorax wahrgenommen werden kann und faßt die Erscheinung
weitaus am häufigsten als Kavernenerscheinung auf. Ferner er-
scheint mir die von mir gewählte Benennung für die Art des
Perkussionstones unseres Falles als diejenige des gesprungenen
Topfes natürlicher und bezeichnender zu sein als diejenige von
Sahli des „Münzenklirrens^^ Ich glaube nicht, daß dieses so
seltene Perkussionsphänomen des gesprungenen Topfes wissen-
schaftlich experimentell untersucht worden ist.
Ich habe den bruit du pot fel6 in der Praxis mehrfach ge-
hört und mir nur als interessante Seltenheit gemerkt, ohne mir
weiter Rechenschaft über seine etwaige Entstehung zu geben
Es handelte sich einmal um einen Mann Ende der 40 er Jahre,
der an einer subakuten Mittelohreiterung mit sekundärer Mit-
beteiligung des Warzenfortsatzes litt. Die Haut über dem letzteren
war in keiner Weise geschwollen oder infiltriert, es bestand nur
an einer flachen Stelle am vorderen Rande desselben eine leichte
Druckempfindlichkeit. Als ich hier wie üblich mit einem Finger
der rechten Hand perkutierte, entstand deutlich das Geräusch des
gesprungenen Topfes. Dasselbe änderte weder durch Verstopfung
des Gehörgangs noch durch Offnen oder Schließen des Mundes
seinen Charakter oder seine Schallhöhe. Bei der Aufmeißelung
selbst zeigte sich auch hier ein mehr verkümmert entwickelter
Warzenfortsatz, der mehr porös als hart war, mit braunroter
Verfärbung des Knochenmarkes und einem relativ kleinen Antrum
mastoideum, das mit dem Mittelohre kommunizierte. Der Inhalt
des Antrums war mehr dünnflüssig, eitrig und floß nach Eröff-
nung des letzteren nur langsam ab, hatte also bis dahin unter
keinem starken entzündlichen Druck gestanden. Die übrigen
4—5 Fälle betrafen Kinder im Alter von 6—8 Jahren, die später
zur Aufmeißelung kamen; leider fehlen mir die entsprechenden
Notizen dazu.
Wenn ich nun die Literatur durchgehe, die sich mit der
1) Sahli, Lehrbuch der klinischen üntersuchungsmethoden 1899. S. 157
und 217.
Archiv für Ohrenheilkunde. 73. Bd. Festsohrift. 14
210 XXV. HESSLER.
Perkussion des Warzenfortsatzes etwas eingehender beschäftigt i)^
so finde ich das Symptom des bruit du pot f616 nur an zwei
Stellen aufgeführt. Bei Thies heißt es: „ Außerdem kommt
tympanitischer und ebenfalls wohl ein Anklang an das ^bruit du
pot fßle" vor, und bei Macewen: „Das Geräusch des ge-
sprungenen Topfes hat der Autor beim Erwachsenen dreimal be-
obachtet. Man erhält dasselbe bei Perkussion des Kopfes, wenn
es sich um ausgedehnte Schädelfrakturen, die durch Fissuren
und Absplitterung großer Knochenstücke kompliziert sind, handelt
In dem einen Falle bestand eine weitgehende Fraktur des Seiten*
wandbeins mit Impression der Knochenstücke und mit Fissuren,
von denen sich die eine bis zur Stim^ die andere nach der Basis
erstreckte — es waren basale Symptome vorhanden — , hier be-
1) 1874. Hagen, Die Perkussion des Schädels und deren Bedeutung
für die Diagnose von Exsudaten in der Paukenhohle. Monatsschr. f. Ohrenh.
Nr. 10. S. 112.
1876. Michael, Die Auskultation des Warzenfortsatzes. Archiv für
Ohrenh. XI, S.47.
1892. Korner u. v. Wild, Die Perkussion des Warzenfortsatzes nebst
Mitteilung eines neuen Falles von diabetischer Caries dieses Knochens. Zeit-
schrift f. Ohrenh. XXIII. S. 234.
1893. Moos, Über den diagnostischen Wert der Perkussion des Warzen-
fortsatzes, ebenda XXIV. S. 152.
1893. V. Wild, Zur Perkussion des Warzenfortsatzes nebst Bericht über
einen Fall von Pyämie bei akuter Erkrankung dieses Knochenteils. Archiv
für Ohrenh. XXXV. S. 123.
1894. Eulenstein, Die diagnostische Verwertbarkeit der Perkussion
des Warzenfortsatzes. Monatsschrif f. Ohrenh. XXVIIl. S. 73.
1895. Weygandt, Perkussion und Auskultation des Ohrs. Dissertation
Marburg.
1898. Macewen, Die infektiös-eitrigen Erkrankungen des Gehirns und
Rückenmarks. Deutsch von Rudioff. S. 152.
1899. Eulenstein, Zur Perkussion des Warzenfortsatzes. Zeitschrift L
Ohrenh. XXXIV. S. 312.
1899. Barth, Zur Perkussion des Warzenfortsatzes. Archiv f. Ohrenh
XLVm. S. 107.
1900. Jürgens, Über den Wert der Perkussion zur Diagnose der Er-
krankungen des Warzenfortsatzes. Monatsschr. für Ohrenhk. XXXIV. S. 405-
1901. Politzer, Lehrbuch der Ohrenheilkunde. 4.A. S.419.
1901. Thies, Beitrage zur Perkussion des Warzenfortsatez. Dissertation.
Leipzig. S. 19.
1906. Koerner, Lehrbuch der Ohrenheilkunde und ihrer Grenzbezirke.
Seite 116.
1906. Kudinzew, Zur Frage über die frühzeitige Trepanation des
Warzenfortsatzes bei eitriger Mittelohrentzündung. Chirurgija März. ref. Zeit-
schrift f. Ohrenh. LIII. S. 361.
über einen Fall von akuter Mittelohreiterung usw. 211
kam man bei der Perkussion des rasierten Kopfes das charak-
teristiche Geräusch des gesprungenen Topfes/
Das Vorhandensein des so seltenen Symptoms, des Ge-
räusches des gesprungenen Topfes bei akuten Mittelohr- Warzen-
fortsatzentzündungen in meinem Falle gab mir Veranlassung, mich
über das Vorkommen und die wahrscheinliche Entstehung des-
selben zu äußern. Ich wiederhole, daß es bis jetzt am meisten
bei Kindern beobachtet ist^ und ich glaube, daß es häufiger als
bisher gefunden werden möchte, wenn die Perkussion des Warzen-
fortsatzes in allen Fällen von akuten Mittelohr- Warzenfortsatz-
entzündungen vorgenommen wird. Wenn dann in einer größeren
Reihe und nach besserer Untersuchung der Fälle die anatomischen
Veränderungen des Knochens und des Inhaltes der Mittelohr- und
Warzenfortsatzhöhlen genauer festgestellt sind, ist die Möglichkeit
gegeben, die Frage zu erörtern, unter welchen Veränderungen das
Geräusch des gesprungenen Topfes begründet und zu erwarten
und ob weiter ein diagnostischer Schluß auf die Art und Aus-
dehnung der sekundären Entzündung im Warzenfortsatz erlaubt ist.
Ich möchte mir deshalb hier nur erlauben, die Kollegen auf dieses
neue, noch unbebaute Arbeitsfeld hinzuweisen.
4. Endlich ist unser Fall dadurch interessant, daß er die
geringe Zahl der in der ohrenärztlichen Literatur beschriebenen
Fälle von akuter Mittelohreiterung bei der übertragbaren Genick-
starre vermehrt. Schon bei dem ersten Auftreten der letzteren in
Deutschland waren Fälle von absoluter doppelseitiger Taubheit
bei negativem Befunde am Trommelfelle und im Mittelohre be-
kannt geworden. Ebenso ist es Tatsache, daß die Zöglinge
unserer Taubstummenanstalten noch heute ihr Leiden in der
weitaus höchsten Prozentziffer auf die übertragbare sporadische
Genickstarre zurückführen, die sie in den ersten fünf Jahren
ihres Lebens glücklich überstetnden haben. Auch bei der schon
genannten jüngsten größeren Epidemie derselben konnte Alt-
mannO folgendes mitteilen: Von den 193 behandelten Erkrankten
waren 130 gestorben und zwar 103 während der ersten 5 Tage
ihres Krankenhausaufenthaltes, 63 konnten entlassen werden — und
von diesen waren 12 taub geworden, „ohne daß das Mittelohr
beteiligt war", und 3 boten Zeichen leichten Schwachsinns.
Früher hatte man bei den Sektionen nur eine ausgeprägte, aus-
gedehnte, mehr oder weniger eitrige Gehirn- und Rückenmarks-
1) Altmann, Zur Prognose der übertragbaren Genickstarre. Klinisches
Jahrbuch XV. 1 906. S. 635.
14*
212 XXV. HESSLER.
hanteiterang, am Felsenbein gewöhnlich nichts Krankhaftes, und
nach einfacher Eröffnung desselben eine der Meningitis konforme
Entzündung derart gefunden, daß man mit scheinbarem Eecht
schließen konnte, daß die Entzündung im Ohrlabyrinth durch
den inneren Gehörgang vom Gehirn her fortgeleitet, also eine
sekundäre war. Da sich nun auch keine Mittelohreiterung bei den
wenigen Ohrsektionen, die überhaupt gemacht wurden, gewisser-
maßen von selbst vordrängte, da femer früher eine Untersuchung der
Nase und ihrer Nebenhöhlen bei der epidemischen Genickstarre
überhaupt nicht gemacht wurde, fehlte folgegerecht jede Erklärung
dafür, daß die Infektion bei der Genickstarre sich ausschließlich als
primäre Entzündung der sonst nach außen abgeschlossenen Höhle
des Gehirns und Bückenmarks darstellte. Man behalf sich mit
der Annahme, daß bei der epidemischen Genickstarre die Infektion
eine hämatogene ist, mit einer lokalen Ausbreitung und Entwick-
lung der Infektionskeime in dem genannten Höhlenraum, ebenso wie
sich der Typhus besonders im Dünndarm entwickelt Auch heute
sind hierüber die Akten noch nicht geschlossen. Westenhöffer
(1. c, S. 702) fand nämlich bei allen Sektionen von übertragbarer
Genickstarre eine durchweg gewaltige Hypertrophie, Rötung und
Hypersekretion der Rachentonsille und eine intensive Beteiligung
des gesamten Nasenrachens, dann (S. 707) fast stets die Keilbein
höhlen, und zwar vom ersten Beginn der Krankheit an erkrankt
mit einer akut entzündlichen Schwellung der Nacken- und Hals-
lymphdrüsen. Er fand ferner (1. c, S. 705) von 30 Sektionen in
17 Fällen, also in 65,5 Proz. das Mittelohr erkrankt, zumeist auf-
steigend durch die Tuba Eustachi]. Es befand sich darunter
ganz auffallend nur ein einziger Erwachsener, und bei diesem
war die Erkrankung des linken Ohrs nur eine ganz geringe.
Er stellt demzufolge den Satz auf: bei Kindern mit epidemischer
Genickstarre findet sich stets eine Otitis media und zwar von
Beginn an. Er fand femer, daß die Meningitis beginnt in der
Gegend des Chiasma optici, über der Hypophysis und unter dem
Tuber cinereum, also in der Cisterna chiasmatis, und daß sie von
dort sich nach vom auf das Chiasma und die N. optici, und
nach der Seite auf den Schläfenlappen und nach hinten auf die
Brücke, das verlängerte Mark, und von da in den Eückenmarks-
kanal fortsetzt. Man sollte also eine direkte Überleitung der
Krankheitserreger durch die Nase und den Rachen auf das
Schädeliunere annehmen dürfen. Aber unerwartet anders fällt
sein Schlußsatz (1. c, S. 722) aus : Die Frage der Entstehung der
über einen Fall von akater Mittelohreiterung usw. 213
Meningitis kann meines Erachtens auf Grund des vorliegenden
Materials noch nicht mit Sicherheit entschieden werden. So viel
scheint mir indessen sicher, daß die Infektion in der Gegend des
Chiasma geschieht. Allerdings muß ich zugeben, daß die Wag-
schale sich erheblich zugunsten der hämatogenen Infektion senkt.
So ist selbst heute noch trotz mikroskopischer Untersuchungen
die Frage nach der Entstehung der Meningitis bei der übertrag-
baren Genickstarre, ob auf direktem Blut- oder auf dem Lymph-
wege, nicht gelöst.
Ich komme wieder auf mein eigentliches Thema von der
akuten Mittelohreiterung bei der übertragbaren Genickstarre
zurück und will nunmehr die wenigen einschlagenden Fälle aus
der Literatur, soweit sie mir zugängig war, in kurzen Referaten
folgen lassen.
I. Ziemsen und Hess. Kliuisehe Beobachtungen über Meningitis cerebro-
spinalis epidemica. Archiv für Heilkunde 1866. 1. S. 390 (Fall 22).
Bei einem 16 jährigen plötzlicher Beginn mit Kopfschmerzen, Mattigkeit,
Erbrechen, Bewußtlosigkeit. Am 2. Tage ausgesprochene Nackensteifigkeit
und Ehaxihialgie, Hyperaesthesie der Extremitäten. Herpes vom 4. Tage ab.
Kopf- und Wirbelschmerz, Aufregung, Delirien und Fieber exacerbieren in
Form heftiger Anfälle, welche anfangs irregulär, später im Quotidiantypus
wiederkehren. Bei reichlicher ürinsekretion Blasenbeschwerden. Vom 25. Tage
an „Otitis interna** mit Perforation des Trommelfells am 36. Tage, mit
raschem Nachlassen der Ohrschmerzen, entzündliche Anschwellung des rechten
Warzeufortsatzes ohne Eiterung. Verschluß der Trommelfellöffnung und Ge-
hörweite rechts schließlich „für Picken einer Taschenuhr bis 1 '/a Fuß Eiit-
femung**.
II. Heller,*) Zur anatomischen Begründung der Gehörstörungen bei Menin-
gitis cerebrospinalis, Deutsches Archiv für Klin. Med. III. 1869. S. 486
und 487,
erachtet die eitrigen Entzündungen des inneren Ohrs als häufige Begleiter
der C. M. und als Folge derselben die zurückbleibende Taubheit, während
andererseits natürlich auch die entzündlichen Veränderuugen der Trommel-
höhle, die in seinen Fällen nachgewiesen werden konnten, nicht außer Acht
zu lassen sind. Es können eben diese Gehörstörungen nicht nur in jedem
einzelnen der zum Gehörorgan in Beziehung stehenden Teile, sondern auch
in mehreren zugleich ihre anatomische Grundlage haben. Nach ihm ist an-
zunehmen, daß die eitrige Entzündung dem Verlauf des Neurilemma folgend
in das Labvnnth eindringt, als auch, daß die pathologischen Veränderungen
in Trommelhöhle und Labyrinth sich gleichzeitig neben den Veränderungen
der Hirn- und Rückenmarkshäute, nicht nur als deren Fortsetzung ent-
wickeln.
1) Die beiden von Moos in seiner Monographie über die Meningitis
cer. spin. epidemica, 1881, S. 64 als 47. und S. 66 als 54. Fall aufgeführten Fälle
von eitriger Trommelhöhlentzündung 12 bezw. 8 Wochen nach dem Eintritt
der Krankheit mit Genickstarre will ich hier nur erwähnt haben, und muß es
unentschieden lassen, ob und in welcher genetischer Beziehung beide Krank-
heiten zu einander zu bringen sind.
214 XXV. HESSLER.
III. Jaf f ^. Beitrage zur Kenntnis der epidemischen Cei*ebro8pinalmeningitis.
Deutsches Archiv f. Klin. Med. XXX. 1882. S. 336.
27 jähriger Arbeiter erkrankt plötzlich mit Schüttelfrost, rechts Enie-
geienksschmerzen, darnach Eopfschmensen, Kopfretraktion, Heipes labialis,
Unks Strabismus convergens und Pupillenerweiterung, später Delirien mit
Fluchtversuchen, Koma, partielle Zuckungen. Vom 18. Krankheitstage an
Patient völlig ruhig, klar, besonnen, eine Woche später Nachlassen der
Nackenstarre. Ende der 4. Krankheitswoche rechtsseitiger Ohreiterausfluß
„ohne subjektive Beschwerden'^ Im hinteren oberen Trommelfellquadranten
ein halblinsengroßes Loch. Es besteht völlige Taubheit für Luft- und
Knochenleitung, Doch kehrt schon nach 4 Wochen das Gehör allmählich
zurück. Heilung nach 4 Monaten.
IV. Leyden. Bemerkungen über die Cerebrospinalmenin^tis und das Er-
brechen bei fieberhaften Krankheiten. Zeitschrift f. Khn. Med. XII. und
Die Mikrokokken der Cerebrospinalmeningitis. Zentralbl. f. Klin. Med. IV.
1883. Nr. 10.
56 jährige Frau erkrankt plötzlich während der Eisenbahnfahrt mit
Erbrechen und Schwindel und fällt beim Aj^ssteigen auf den Bahnsteig.
Gleich rechtsseitige Ohreiterung, allgemeines Übelbefinden,. Kopfschmerzen,
Schwindel. Nach wesentlicher Besserung einen Monat lang wieder Ver-
schlechterung mit Kopfschmerzen, Erbrechen, Benommenheit zuletzt in Koma
übergehend, und Genickstarre. Meningitis nicht mehr zu bezweifeln. Tod.
Die Sektion bestätigte die Cerebrospinalmeningitis, ergab .Vemarbung
beider Trommelfelle und an den Gehörorganen keine merklichen Änderungen,
insbesondere keine Karies, keine Eiteransammlung. L. hebt hervor, daß es
sich um eine primäre sporadische Cerebrospinalmeninigitis gehandelt hat,
deren erst auffällige Svmptome in einer doppelseitigen zur Perforation
führenden Otitis bestand.*)
Vu. VI. Schwabach. Über Gehörstörungen bei Meningitis cerebrospinalis
und ihre anatomische Begründung. Zeitschrift f. Klin. Med. XVUI. 1891.
1. Fall. S. 274. 32jährige Frau bekommt plötzlich heftigen Schüttel-
frost, Steifigkeit und Schmerzen im Nacken, nach 6 Tagen beiderseits sich
steigerndes Sausen und Schwerhören beiderseits und neben viel Kopfschmerzen
rechts Gesichtslähmung; gehört wei-den rechts nur laute Sprache, links Flüster-
worte, dabei zeigen oeide Trommelfelle nur in der hmteren Hälfte etwas
Trübung und „Hervorwölbung** und „Hammergriff leicht gerötet". Ungefähr
Ende der 3. Krankheitswocne doppelseitig Ohrzwang, die Paracentese
entleert beiderseits „einige Tropfen Eiter**. Mikroskopische Untersuchung
ergiebt ,,Diplokokkon, ähnlich den A. Fnienkerschen Pneumokokken**. Tod
Mitte der 6. Woche.
Bei der Sektion zeigte sich im innem Gehöreang rechts eine eitrige,
links eine weißliche mikroskopisch nicht Eiter entnaltende Flüssigkeit, die
Dura am Felsenbein ohne Veränderung leicht abziehbar. In beiden Pauken-
höhlen kein freier Eiter. In linker Paukenhöhle außer geringem Blutextra-
vasat in der Nische des ovalen Fensters, nichts Auffallendes, rechts fibrinös-
1) Diagnostisch interessant ist der nur deshalb hier zitierte Fall von
Leichtenstem, Über epidemische Meningitis, Deutsch, med. Wochenschr. 1885.
Nr. 31, S. 538. Es waren alle Symptome einer Basilarmenigitis vorhanden,
und Patient hatte angegeben, ganz akut erkrankt und früher nie ohrenkrank
gewesen zu sein. Die Krankheit zog sich nun gegen die Regel der Menin-
gitis ex otitide über 4 Wochen in die Länge. L. hatte nun die damals in
Ooeln epidemisch auftretende Meningitis als das Piimärleiden und den
eitrigen Ohrfluß mit Trommelfellperforation als das Sekundäre von der ersten
diagnostiziert. Die Sektion ergab aber, daß es sich um einen Fall alter
Felsenbeincaries mit engumschriebener eiüiger Meningitis und correspon-
dierenden Kleinhimabszess handelte.
über einen Fall von akuter Mittelohreiterung usw. 215
eitriges Exsudat, sowohl in der Nische des runden, als auch der des ovalen
Fensters: in letzterem massenhaftes Granulationsgewebe mit zahlreichen
zartwandigen Blutgefäßen und ziemlich beträchtlichen Blutextravasaten. Zer-
störung des Lig. annul. bas. staped. in seiner vorderen oberen Partie, An-
füllung mit Granulationsgewebe resp. fibrinöseitrigem Exsudat.
Schw. betont, daß die ersten Hörstörungen beiderseits bei
der Patientin lange vor dem Eintreten der Mittelohrentzündung
vorhanden, also von der Cerebralmeningitis abhängig waren; daß
die Veränderungen in der rechten Paukenhöhle durch Fortpflanzung
des Entzündungsprozesses vom Vestibulum aus unter teilweiser
Zerstörung des Ligament, annul. bedingt waren, daß er die ärztlich
behandelte doppelseitige Otitis media als einen durch direkte In-
vasion der Krankheitserreger der Meningitis cerebrospinalis in die
Paukenhöhle veranlaßten Prozeß ansehen müsse, sowie, daß eine
Otitis media auch als Initialsymptom einer Meningitis cerebro-
spinalis auftreten kann.
2. Fall. S. 288. 2 Va jähriges Mädchen erkrankt plötzlich mit Erbrechen
und Nackenstarre mit den exquisiten Erscheinungen der Meningitis cere-
brospinalis und gleichzeitig mit doppelseitiger Ohreiterung, 8 Tage später
nach dem Nachlassen der Bewußtlosigkeit wird doppelseitige Taubheit fest-
gestellt Otorrhoe heilte nach 14 Tagen aus; Taubheit führte zur Taub-
stummheit.
VII. Fr oh mann. Zur Kenntnis der akuten primären Meningitis epidemica
Sitzung des Ver. f. wissensch. Heilk., Königsberg, am 25. Januar 1897.
ref. Deutsch, med. Wochenschr. 1897, Ver. Beil. S. 106 und Verhandlungen
des Kongresses f. Innere Med. XV. 1897. S. 348.
5 Monate altes Kind wird mit .,excessivem Opisthotonus und Fehlen
jeglicher cerebraler Symptome*' aufgenommen. Lumbalpunktion ergab klare,
absolut sterile Flüssigkeit. Später entwickelt sich extremer Grad von
Opisthotonus. Die 2. Lumbalpunktion einige Tage vor dem Tode ergab
eitrige Flüssigkeit mit Meningokokken. „Bei der Sektion fand sich ^anz un-
erwartet außer der diagnostizierten Meningitis eine doppelseitige Otitis media
purulenta. Im Eiter konnte mikroskopisch und kulturell als einzige Mikroorganis-
menart gleichfalls der Diplokokkus intracellularis meningitidis konstatiert
werden. Derselbe ist im Ohreiter bisher noch nicht nachgewiesen worden.
Möglicherweise ist in diesem Falle das Ohr als Eingangspforte der In-
fektion anzusprechen."
VIII. Alt, Sitzung des Österr. Otol. Ges. v. 27. April 1897. ref. Monatsschr.
f. Ohrenh. 31. B. S. 211.
sah einen 14 jährigen Knaben mit M. er. sp. epidemica, bei dem die Diagnose
durch die Spinalpunktion sicher gestellt war. Am 12. Krankheitstage traten
die ersten Ohrschmerzen links ein. Trommelfell gerötet, geschwellt, vor-
gewölbt. Die Weichselbaum'schen intracellulären Diplokokken fanden sich
sowohl im Nasensekret als auch im Ohrsekret nach dem späten Spontan-
durchbruch des Trommelfells, neben anderen Bakterien massenhaft." Die
Ohreiterung heilte nach 17tägigem Bestand vollständig aus, es kam zu nor-
malem Trommelfellbefund und annähernd normalem Hörvermögen.
Alt wahrt sich die Priorität, daß im Ohreiter der Krankheitserreger
der M. csp. ep. nachgewiesen werden konnte.
Alt beschreibt denselben Fall in der Monatsschr. f. Ohrenhk
Septbr. 1904 und in den Verhandlungen der Deutsch. Otol. Ge-
216 XXV. HESSLER.
sellsch. Berlin 1904, S. 156: Die Beziehungen der Mittelohr-
eiterung zur epidemischen und tuberkulösen Meningitis und
betont dort besonders, daß nach seiner Meinung bisher der Um-
stand zu wenig gewürdigt wurde, daß das Ohr als Eingangspforte
bezw. als Zwischenglied der Infektion bei der epidemischen Genick-
starre zu betrachten sei. So lange schwere meningitische Erschei-
nungen bestehen, können die Kranken nicht durch Klagen über Ohr-
schmerzen die Aufmerksamkeit des Arztes auf dieses Organ lenken.
Der Otiater wird erst beigezogen, wenn eine profuse Otorrhoe auf-
getreten ist oder wenn nach Besserung des Allgemeinbefindens die
Patienten über Ohrbeschwerden klagen. Die Folge hiervon ist, daß
die Otitis entweder ganz übersehen wird oder aber als erst im Ver-
laufe der Meningitis entstanden bezeichnet wird. Bei der Nekropsie
haben die Obduzenten keine Veranlassung, Ohrenbefunde zu er-
heben, wenn sie nicht auf eine Ohraffektion aufmerksam gemacht
werden, während sie es jetzt unterlassen, den Nasenrachenraum ge-
nau zu inspizieren, wobei sie fast regelmäßig im Sekrete den charak-
teristischen Krankheitserreger nachzuweisen in der Lage sind.
Denselben Fall hat auch beschrieben
Schiff. Über das Vorkommen des Meningokokkus intracellularis (Weichsei-
baum) in der Nasenhöhle nicht meningitischer Individuen. Zentraiblatt
für Inn. Med. 1898. XIX. Nr. 22.
Patient war mit vollentwickelter, akuter epidemischer Cerebrospinal-
meningitis (Jleber, Delirium, Nackensteifheit, Druckempfindlichkeit der
Wirbelsäule, hochgradiger Hyperästhesie, transitorischer Facialis- imd Ab-
ducensparese) aufgenommen worden. In der 40 ccm messenden, stark ge-
trübten Lumbaiflüssigkeit massenhaft intracelluläre Weichselbaum'sche Kokken
in Reinkultur, ebensolche im Nasensekret und im Ohreiter des Kranken,
der in der 3. Woche eine Otitis media suppurativa mit spontanem Durch-
brach acquiriert hatte.
IV. V. Stein, Ein Fall ven Meningitis cerebrospinalis epidemica mit doppel-
seitiger Otitis. Trepanation oeider processus mastoidei mit Bloßlegung
der Sinus transversi, Genesung. Zeitschr. f. Ohrenh. 32. B. 1898. S. 258,
beobachtete als erstes Symptom heftiges Nasenbluten, leichten Husten und
Schnupfen mit leichtem Fieber, am 4. Tage Delirium, kein Erbrechen; am
9. Milz Vergrößerung, einige Roseolen auf dem Rücken und Leibe, zeitweise
soporösen Zustand ; am 10. rechtsseitige spärliche Otorrhoe; am 11. auch links-
seitig; nunmehr Steigen der Temperatur von 37,3 auf 40° Am 12. Tage
Sistieren der Otorrhoe, Bewußtlosigkeit, Kopfretraktion, Pupillenerweiterung,
Hyperästhesie, krampfhafte Zuckungen des ganzen Körpers, zeitweise Cheyne-
StoKes'sches Atmen, Urininkontinenz, Decubitus. Keine Stauungspapille. Am
20. Tage doppelseitige Aufmeißelung des Warzenfortsatzes; die Narkose hat
auf Kopfretraktion ^ar keinen Einfluß; in beiden Warzenfortsatzhöhlen
heller, glasiger, klebriger Schleim, mit etwas Eiter gemischt; bei Bloßlegung
des Lateralsinus entleert sich eine glasige, klebrige, schleimige, in langen
Fäden ziehende Flüssigkeit. Punktion des Sinus ergab normale Blutzirkulation.
Nach 6 Tagen Besserung, wenn auch „vollständige Bewußtiosigkeit und
Nackenstarre noch andauern". Nackenstarre ist erst Anfang der 7. Woche
ganz geschwunden, gleichzeitig fängt Patient an zu sprechen. Darnach
rasche Besserang. Mitte der 9. Woche Heilung der Operationswunden.
über einen Fall von akuter Mittelohreiterung usw. 217
„Gehör für Flüstersprache 12 m, die Perzeption für alle Töne erhalten. Die
Trommelfelle leicht getrübt."
Diplokokkus intracellularis Weichselbaum war im Schleimausfluß ans
den Ohren und Schädelhöhle nachzuweisen.
Der 4 jährige Bruder erkrankte 1 Monat nach Beginn der Krankheit
und starb am 5. Tage unter den typischen Erscheinungen einer Meningitis.
V. St. betont die Reibenfolge in der Wiederkehr der einzelnen
Hirnfunktionen als besonders interessant: zuerst die Schmerz-
empfindung, dann die Bewegung der oberen, dann der unteren
Extremitäten, dann Bewegung der Lippen, des Gesichts, der
Augen, endlich der Geschmack, das Gehör, schließlich Verständnis
für Wörter, ohne sie nachsprechen zu können, und zu allerletzt
die Nackenstarre.
X. Albrecht und Ghon. Noch einmal der Meningokokkus intracellularis.
Wien. med. Wochenschr. 1902. Nr. 46. S. 1222.
6 Monate, aufgenommen mit viel Fieber, hohem Pulse, Kopf nach hinten
und zur Seite geneigt, Beine angezogen an den Leib, geringer Strabismus,
Nystagmus, Lumbalpunktion negativ, da „keine Flüssigkeit austritt^'. Tod
am folgenden Tage.
Sektion ergab: cerebrospinale eitrige Meningitis, kolossale Rhinitis,
beiderseitige Otitis media acuta; besonders rechts, beginnende Lobulär-
pneumonie.
Bakteriologisch wurde der Meningokokkus intracellularis nachgewiesen.
XL Weichselbaum und Ghon. Der Meningokokkus meningitidis cerebro-
spinalis als Erreger von Endocarditis, sowie sein Verkommen in der
Nasenhöhle Gesunder und Kranker. Wiener Klin. Wochschrift. 1905.
XVm. S. 627.
Mädchen, 9 Wochen alt. war nach 5 wöchentlicher Krankheit an Menin-
gitis cerebrospinalis gestorben. Es hatte außerdem linksseitige eitrige Mittel-
ohrentzündung bestanden, daneben difuse eitrige Bronchitis und Lobulär-
pneumonie beiderseits u. s. w. Die intra vitam entnommene Lumbaiflüssigkeit
natte den M. m. c. mikroskopisch und kulturell ergeben, derselbe fand sich
auch bei mikroskopischer Untersuchung des Nasenrachensekrets.
Xn. Fordan, Ein Fall von Meningitis cerebrospinalis mit Durchbruch des
Eiters durch das Ohr. Dissertation. Erlangen 1906,
beobachtete bei einem Kinde von 2*/4 Jahren, das einem Hause gegenüber
gewohnt hatte, aus welchem vor V4 Jahr ein Kind an Meningitis cerebrospinalis
erkrankt war, eine langsame, in 4 Wochen sich entwickelnde Cerebrospinal-
meningitis mit Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Aufschreien, Rücken- und
Körperschmerzen, und langsam zum Koma sich steigernder Apathie. 4 Lumbal-
punktionen: die 1. entleerte ca. 50 ccm Spinalflüssigkeit im Strahle, dicke,
trübe, grünlich verfärbte, mikroskopisch Eiterkörperchen und „wie Eiter-
körperchen gruppenweise beisammenliegende Diplokokken". Kemig'sches
Symptom, linke Pupille weiter, Kopfbewegungen freier, Parese des linken
Abducens; 4 Tage später 2. Lumoalpunktion : 20 ccm Flüssigkeit unter
starkem Drucke entleert, viel heller als bei der 1., gelb, trübe, Eiweißgehalt
und'Diplokokkenzahl wie fräher, Sediment geringer, gleich darnach „besseres
Befinden". Ohruntersuchung ergibt das rechte Trommelfell diffus getrübt
und Vorwölbung im hinteren oberen Quadranten: Anfang der 10. Krankheits-
woche. Nunmehr Erbrechen, zunehmend, Zähneknirschen. 3. Lumbalpunktion
5 Tage nach der 2. : entleert werden nur tropfenweise 27 ccm trübe Flüssig-
keit, die zwar bedeutend geringeres Sediment ergab, aber unverändert „viel
Diplokokken, die wie früher außerhalb und innerhalb der Eiterkörperchen
gelagert sind". Pupillenerweiterung und -trägheit, rechts mehr als links.
Cheyne-Stokes'sche Athmung. Somnolenz, CoUaps, im Bade Konvulsionen.
218 XXV. HESSLER.
Nephritis Nachlaß aller Erscheinungen Anfang der 10. Krankheitswoche nach
Eintritt derOtorrhoe links, mit Perforation im hinteren oberen Trommelfell-
quadranten. Die mikroskopische Ohroiteruntersuchung ergibt „Diplokokken
von derselben Gestalt und Verteilung wie in der Spinalflüssigkeif*. Rechts
Papille verwaschen, plötzlich opisthosonischer Krampfanfall nach links, von
neuem Abducensparese. Die linksseitige Otorrhoe hatte ungeföhr 5 Wochen
gedauert. 2 Narben im linken Trommelfell. 4. Lumbalpunktion Ausgangs
des 3. Krankheitsmonats: Entleerung von 11 ccm wasserhcller Flüssigkeit,
die unter 23—27 cm Anfangsdruck abfließt, keine Eiterkörperchen, aber
zahlreiche Diplokokken, teils nebeneinander, teils hintereinander liegend.
Von da ab zunehmende Besserung, Endresultat nicht weiter verfolgt bezw.
mitgeteilt.
Die bakteriologische Untersuchung des Ohreitors ergab : „intracellulare
Diplokokken in Semmelform mit deutlicher Abplattung der einander zu-
gcKehrten Flächen. Eine Kapsel war nicht vorhanden. In Reinkulturen
waren sie gram-negativ. Dieses Verhalten, sowie auch das mangelhafte
Wachsen auf Nährböden spricht mit der größten Wahrscheinlichkeit dafür,
daß es sich hier um den typischen Erreger der epidemischen Genickstarre
handelte.** >)
Kümmel, Referat über die Bakteriologie der akuten Mittelohreiterung.
Deutsch. Otolog. Gesellsch. 1907. S.42,
hat zweimal bei der epidemischen Genickstarre Mittelohrentzündung gesehen,
aber nicht bakteriologisch untersucht.
Von der mir nicht zugängigen Literatur führe ich an:
Oouncilmann, Mallory und W rights Epidemie cerebrospinal Meningitis
and its relation to other foims of meningitis 1S98. ref. Zentralblatt f.
Bakteriol. 1899. XXVI. S.97.
die nach dem Referate von Albrecht und Ghon, Wien. Klin. Wochenschrift,
1901. Nr. 41 von 19 Fällen von Genickstarre die intracellulären Kokken
15 mal im Nasensekret, und von 5 Fällen von Genickstarre 3 mal im
Ohreiter fanden, also in einer Reihe von Fällen durch den Diplokokkus
intracellularis bedingte Zungen-, Ohren- und Nasensekretionen.
Gradwohl, Philadelphia monthly med. Joum. 1899. ref. Zentralblatt für
Bakteriol. XXIX. S.265,
der den Meningokokkus meningitidis intracellularis bei Otitis media mikro-
skopisch nachgewiesen hat und in einem Fall einen Hund mit dem Ohreiter
einer Frau impfte und nach 2 Tagen sterben sah.
Airol di, Die Ohraffektion bei der Meningitis cerebrospinalis. II sordomuto
1892. ref. Zeitschr. f. Ohrenh. XXIV. S. 196.
1) Der von Menzer, Über einen bakteriologischen Befund bei Cerebro-
spinalmeningitis, Berl. kiin. Wochenschr. 1901. Nr. 11. S. 283, beschriebene
Fall, den Hasslauer in seinem Sammelreferat: die Bakteriologie der
akuten und sekundären Mittelohrentzündung, Internationales Zentralblatt f.
Ohrenh. II. Nr. 7. S. 297 im Abschnitt Meningokokkus intracellularis Weichsel-
baum-Jaeger anführt, gehört nicht sicher zu unserem Thema von der übertrag-
baren Genickstarre. M. schreibt direkt: „Es war von vornherein auszuschließen,
daß es sich um einen Fall von epidemischer Cerebrospinalmeningitis handelt,
da der Patient bereits sich fast 2 Monate in der Charit6 befand, und auf
der betreffenden Station diese Krankheit weder vorher noch nachher zur
Beobachtung gekommen war." Die bakteriologische Untersuchung der
Lumbaiflüssigkeit und post mortem des Meningitiseiters hatte vorwiegend
„typisch intracellulär gelegene Streptokokken'' ergeben.
über einen Fall von akuter Mittelohreiterung usw.
219
Bei der geringen Zahl des vorstehenden kasuistischen Materials
sollte man annehmen dürfen, daß akute Mittelohreiterung bei der
übertragbaren Genickstarre relativ selten vorkommt. Wesentlich
andere und geradezu entgegengesetzte Resultate hat aber die
Beobachtung der großen Epidemie von übertragbarer Genickstarre
in Oberschlesien 1905 erbracht. Ich wiederhole, daß nach Westen-
höffer bei Kindern mit epidemischer Genickstarre sich stets eine
Otitis media und zwar von Beginn an findet. Goeppert^) hat
87 Sektionen an Genickstarre-Kranken gemacht und 200 Fälle
genauer untersuchen können. Von 48 Leichen zeigten 30 = 62 o/o
Mittelohrerkrankungen. Die Zahl derselben ist fast so groß wie
bei Westenhöffer, und da das Mittelohr die einzige Höhle ist,
die schon im Säuglingsalter existiert, so könnte man geneigt sein,
dem Befunde eine große Wichtigkeit für das Zustandekommen
der Hirnhautentzündung beizumessen. Nun ist aber das Mittel-
ohr im allgemeinen ein recht gut gegen den Körper abgeschlossenes
Organ, und es muß fast stets zu gröbern Erkrankungen kommen,
ehe dieser Schutz versagt. Diese bei Meningitis gefundene Ent-
zündung aber zeigt selten erhebliche Gewebsreizung, ja das
Trommelfell ist in einer großen Reihe von Fällen bei Patienten
jeden Alters das uns von kachektischen Säuglingen so bekannte,
nämlich auf trüber durch durchscheinenden Eiter schneeweiß ge-
färbter Membran vereinzelte radiäre Gefäße. Daher auch relativ
selten Perforation, und auch diese erst in der 3., 4. Woche.
Könnte man dies abweichende Verhalten durch die spezifische
Eigentümlichkeit des Meningokokkus, geringe Gewebsreizungen
hervorrufen, erklären, so lehrt ein Blick auf die folgende Tabelle,
daß wir es höchst selten mit einer primären Erkrankung zu
tun haben.
Verhalten des Mittelohrs im Leben:
1.
Woche
2.-3.
Woche
4.-6.
Woche
später
msges.
msges.
Proz.
Normal
Ausgesprocheue Erkrankung . .
Be^nende Erkrankung . . .
Außerdem früher bestand. Ohren-
leiden
23
9
11
12
55
10
17
12
8
47
3
5
4
4
16
3
1
1
2
7
I
44
50
5,6
Während also in der 1. Woche die Zahl der Ohrgesunden
um das Doppelte die Zahl der Erkrankten überwiegt, ist in der
1) Goeppert, Zur Kenntnis der Meningitis cerebrospinalis epidemica
mit besonderer Berücksichtigung des Kindesalters. Klin. Jahrb. XV. S. 528.
220 XXV. HESSLER.
2. — 3. Woche das Verhältnis umgekehrt und bessert sich wesentlich
nach der 6. Woche. G. fand also in der 1. Woche 35 Proz.
2.-3. „ 70 ^
4, — 6. „ 59 „
und in den späteren Wochen 50 ^
seiner Patienten an ein- oder beiderseitiger ausgesprochener oder
eben beginnender Mittelohrentzündung erkrankt Am 1. und
2. Tage wurde je 1 Mal im Leben und bei der Sektion eine
beginnende Mittelohrerkrankung gefunden; die früheste ausge-
sprochene Mittelohreiterung sah 6. am 3. Tage.
Weiter hat Kirchner^) zusammengestellt:
standesamtlich gemeldete Todesfälle an übertragbarer
Genickstarre in Preußen in Sa.:
1889 1890 1891 1892 1893 1894 189 5 1896 1897 1898 1899 1900 1901
301 236 231 203 237 241 258 447 358 283 250 224 225
und den Kreisärzten gemeldete Erkrankungen derselben
(darunter mit Todesfällen)
1899 1900 1901 1902 1903 1904 . 1905
112 127 (86) 121 (81) 125 (88) 121 (70) 118 (79) 3673 (2044)
und im letzten Jahre kamen allein auf den Begierungsbezirk
Oppeln, den Oberschlesischen Industriebezirk nicht weniger als
3102 Erkrankungen mit 1789 Todesfällen, während in den übrigen
Regierungsbezirken Preußens noch 571 Fälle mit 255 Todesfällen
gezählt wurden.
Weiter betrug nach den wöchentlichen Veröffentlichungen
des Kaiserlichen Gesundheitsamts für das Jahr 1906 die Gesamt-
summe an übertragbarer Genickstarre
21702), darunter 996 Todesfälle, und für das
1 . Halbjahr 1 906 noch 1 759, „ 802 „
Seit Juli 1906 ist zwar ein wesentlicher Nachlaß der Er-
krankungsziffer eingetreten, doch dehnte sich Anfang diese»
Jahres die Genickstarre hauptsächlich in dem Kuhr-Industrie-
bezirke aus. Am 23. April fand auf Veranlassung des Kultus-
ministers in Gelsenkirchen eine Beratung über den Gang und
die Bekämpfung der Genickstarre statt. Nach den neuesten Fest-
stellungen sind die Erkrankungen räumlich sehr ausgedehnt^
aber leicht und nicht zahlreich.
1) Kirchner, Die übertragbare Genickstarre in Preußen im Jahre 1905.
Klinisches Jahrbuch XV. 1906. S. 730.
2) Monat Dezember nach dem Durchschnitt des November gleich beziffert.
über einen Fall von akuter Mittelohreiterang usw. 221
So ist neuerdings das als Tatsache erwiesen, daß nicht nur
das innere, sondern auch das mittlere Ohr und vielleicht letzteres
noch in größerem Prozentsatz bei der übertragbaren Genickstarre
vorkommt. Andererseits ist bei der gegenwärtig zwar nicht be-
sonders bösartigen, aber räumlich weit ausgebreiteten Epidemie
derselben den verschiedensten Ohrenärzten Gelegenheit gegeben,
bezügliche praktische und wissenschaftliche Beobachtungen zu
machen. Und nur die Bekanntgabe eines großen, vielseitigen,
gut beobachteten Materials kann dies Dunkel der Wissenschaft
erhellen, das für uns noch bezüglich der Miterkrankung des
Ohres bei der epidemischen Genickstarre besteht. Hierzu sollte
die Veröffentlichung meines Falles mit Veranlassung geben.
In gleichem Sinne hatte Phillips in der Sitzung der New-
Yorker Otologischen Gesellschaft vom 24. März 1904 die Auf-
merksamkeit der Ohrenärzte auf die epidemieartige Zunahme
der wöchentlichen Todesfälle von New-York an epidemischer
Genickstarre mit einem Schwanken zwischen 5i) bis 100 gelenkt.
In Halle sind nach den amtlichen Berichten des Kreisarztes
in den letzten 6 Jahren im ganzen 15 Fälle von übertragbarer
Genickstarre vorgekommen. Von diesen waren diagnostisch
sicher 11, höchstwahrscheinlich 2 Fälle. Aus Halle selbst
stammten nur 3 Fälle; diese betrafen sämtlich Kinder, verteilten
sich auf verschiedene Jahre und Stadtteile und waren ohne Be-
teiligung des Ohres verlaufen.
Bezüglich der Behandlung der symptomatischen Ohrer-
krankungen sowohl im Mittel- als im Innenohr bei der primären
sporadischen übertragbaren Genickstarre kann ich mich kurz
fassen. Sie fällt naturgemäß mit derjenigen der letzteren zu-
sammen. Regierungsseitig ist für September eine Konferenz
nach Bremen geplant, und auf dieser hat Flügge das Referat
über die Verbreitung und Bekämpfung der Genickstarre über-
nommen. Von ihr dürfen wir auf gute Resultate hoffen. Anderer-
seits sind die neuerdings veröffentlichten therapeutischen Resultate
mit Seruminjektion bei der Genickstarre so günstig ausgefallen,
daß auch wir Ohrenärzte für unsere Patienten hoffen dürfen,
daß endlich die Zeit gekommen ist, die uns in dem Heilserum
ein prophylaktisches Mittel wenigstens gegen die eine Grund-
krankheit der Taubstummheit gebracht hat, wie sie die akute
übertragbare Genickstarre seit ihrem ersten Auftreten gewesen ist
XXVI.
Aus Dr. Herzfelds Klinik und Poliklinik.
L Ober einen bemerkenswerten Fall von Sinnsthrombose
mit Stannngspapille nnd Pnlsverlangsamnng bei aknter
eitriger Hittelohrentznndnng.
Von
Dr. J. Herzfeld.
Max Weltz, ein 15 jähriger bisher stets gesunder und mit Krankheiten
erblich nicht belasteter junger Mann, erkrankte ohne nachweisbare Ursache
am 10. September 1906 mit Schmerzen im rechten Ohr und Ausfluß aus dem-
selben. Beim Gehen und auch schon beim stehen trat starker Schwindel
aut so daß Patient sich festhalten mußte. Nachdem er 8 Tage ohne Erfolg
von seinem Arzt behandelt wurde, erfolgte seine Aufnahme in unsere Klinik.
Der rechte Gehörgang war voll Eiter, das Trommelfell war stark geschwollen,
der Processus über der Spitze und dem Antrum auf Druck sehr schmerzhaft.
Schon am nächsten Tage entwickelte sich unterhalb des Processus eine starke
Schwellung dem Sterno cleido mastoideus entlang. Patient hält den Kopf steif
nach der gesunden Seite, ist aber auf Aufforderung im stände, ihn nach allen
Seiten zu bewegen. Auf dem Stein'schen Goniometer fällt er bereits bei 3**
Erhebung nach links. Patient macht einen schwer kranken Eindruck und
klagt über sehr starke Kopfschmerzen. Temperatur am 20. Sept, früh 37,8,
abends 40.8. An diesem Tage zwei Schüttelfroste von 15 Minuten langer
Dauer. Die ophthalmoskopisdie üntersudiung (Augenarzt Dr. Seligsonn)
ergab beiderseits das Bild der Stauungspapille; die Papillengrenzen beider-
seits verwaschen, die Venen gestaut Abends Operation in Äthemarkose.
Nach den ersten Meißelschlägen quillt Eiter unter starkem Druck hervor,
bald kommt auch der Sinus zum Vorschein, der weit nach vom reicht. Die
Sinuswand ist sehr verdickt, schmierig verändert und zeigt ein übererbsen-
großes Loch, aus dem ein wenig nicht fötide riechender Eiter hervorquillt;
im übrigen ist er an dieser Stelle frei von Thromben, die sich erst höher
herauf und tiefer herunter zeigen. Die parietale Wand des Sinus wird mit
einer Grünwald'schen, gut sdineidenden Zange abgetragen, die viscerale sieht
normal aus, erscheint aber stark vorgedrängt. Die Thromben werden
nur teilweise entfernt, sodaß eine Blutung nicht eintritt. Infolge des weit
nach vom gelagerten Sinus kann das Antram nicht aufgedeckt werden.
3 Stunden nach der Operation erfolgt noch ein Schüttelfrost
22. Septbr. Erster Verband. Aus beiden Sinusenden eitriges Sekret;
die Schwellung am Halse entlang der jugularis besteht noch und ist druck-
empfindlich. Bewegungen des Kopfes freier. Temperatur früh 38,6, abends 40.
Nachmittags noch 2 Schüttelfröste, Puls 72—82.
24. Septbr. Zweiter Verband. Nur noch aus dem jugularen Ende Eiter.
Temperatur früh 36,6, abends 37,6, Puls 60.
über einen bemerkenswerten Fall von Sinusthrombose usw. 223
2. Oktober. Die Sekretion ist allmählicb immer geringer geworden.
Heute erscheint das jngulare Ende des Sinus verklebt (In den letzten Tagen
war die Flüssigkeit ganz serös geworden.) Die Temperatur schwankt
zwischen 36 und 37,5, die Pulszahl ist immer sehr herabgesetzt, ca. 50 im
Liegen, 60—64 beim Aufrichten.
Nun macht die Heilung der Wunde wie auch die Besserung des All-
gemeinbefindens ziemlich schnelle Fortschritte. Nur die Stauungspapille ließ
sich noch sehr lange konstatieren. Am 10. Oktober, also 20 Tage nach der
Operation, ergab cue ophthalmoskopische Untersuchung noch das Bild der
doppelseitigen Stauungspapille, die aber rechts, also auf der kranken Seite,
lange nicht so ausgeprägt war, wie auf der gesunden linken Seite Die
Venen sind stark geschlängelt und geschwollen und zeigen in ihrem Verlauf
starke Ealibersch wankungen, z. T. sind sie in ihrem Verlauf von weißen
Exsudatstreifen begleitet, neben denen einzelne streif- und punktförmige
Hämorrhagien liegen. Auch am 25. Oktober sind die Papillengrenzen immer
noch etwas verwaschen, und zwar links immer mehr als rechts; die Venen
sind im linken Auge gestaut und geschlängelt, rechts normal. Die Arterien
sind beiderseits normal. Auch die Sehschärfe ist beiderseits normal mit
korrigierendem Eonkavglas. (Dr. Seligson.)
Am 25. Oktober ist die Wunde völlig verheilt, das Gehör normal. Auf
dem Goniometer fällt Patient jetzt erst bei Erhebung von 30 ^
Der Fall ist nach verschiedenen Seiten hin interessant. Er-
stens gehört es zur Ausnahme, daß der Sinus sich bereits
10 Tage nach begonnener Mittelohreiterung völlig ob-
turiert und in seiner häutigen Wand durchbrochener-
weist. Zweitens ist die außerordentliche Pulsverlangsamung be-
merkenswert Bei einer Temperatur von über 4 0<^ wurden
oft nur 72 Schläge und später, als die Temperatur
zwischen 37 — 3S^ schwankte, oft nur 50 Schläge ge-
zählt. In einem in der hiesigen otoiogischen Gesellschaf 1 1) vor
5 Jahren gehaltenen Vortrage berichtete ich über einen Fall von
reiner Sinusthrombose ohne gleichzeitige Pyämie mit
fast normaler Temperatur, bei dem der Puls bis 48 in der Minute
heruntergegangen war. Man muß sich wundern, in der Literatur so
selten Pulsverlangsamung bei Sinusthrombose angegeben zu finden.
A priori sollte man bei herzwärts abschließendem Thrombus einen
erhöhten Hirndruck und damit Pulsverlangsamung erwarten, ist,
doch auch nach den Erfahrungen der Seh wartze 'sehen Klinik
bei Sinusphlebitis stets die Cerebrospinalflüssigkeit vermehrt,'^)
Es wird also die Pulsverlangsamung nicht immer, wie in dem
Kessel 'sehen Falle auf Kompression des Vagus im Foramen
jugulare zurückzuführen sein.
Die Veränderungen im Augenhintergrund sind bereits vorher
beschrieben worden. Sind dieselben schon an sich bei Sinusthrom-
1) Verhdl. d. Berl. otol. Ges. 1901/02.
2) S. Körner. Die otitischen Erkrankungen des Hirns usw. 3. Aufl.
p. 86.
224 XXVI. HERZFELD. Über einen bemerkensw. Fall v. Sinusthrombose usw.
bose selten, so verdient hier besonders hervorgehoben zu werden,
daß die Veränderungen im Augenhintergrund der obre
gesunden Seite viel stärker, als auf dem der kranken
Seite ausgeprägt waren und auch noch fortbestanden-
als bereits fast völlige Heilung eingetreten war. Im
Übrigen glaube ich, ist das Auftreten der Stauungspapille, ebenso
wie die Pulsverlangsamung, wohl immer das Zeichen einer Kompli-
kation der Thrombose, meist wohl mit Meningo*Encephalitis serosa.
Das hier eine solche bestand, kann wohl keinem Zweifel unter-
liegen. Hierfür spricht der Augenbefund, die Pulsverlangsamung,
die überaus heftigen Kopfschmerzen und schließlich die sehr
starke Hervorwölbung der visceralen Sinuswand, die sich erst
allmählich zurückbildete. In einem ähnlichen Falle, der dem,
nächst des Ausführlichen in einer Inaugural-Dissertation veröffent-
licht wird, habe ich den direkten Nachweis von Liquor cerebro-
spinalis mittels Inzision in die viscerale Wand gebracht. Es
handelte sich ebenfalls um einen ganz jungen Burschen von nur
18 Jahren, der auch im Anschluß an eine akute Mittelohr-
entzündung bereits 3 Wochen nach begonnener Eiterung an Sinus-
thrombose operiert werden mußte. Hier erwies sich nach der
Sinusoperation und Fortschneiden der parietalen Wand die vis-
cerale Wand mächtig vorgewölbt und machte einen direkt
schwappenden Eindruck. Da Patient über starke Kopfschmerzen
klagte, seinen Kopf ganz steif hielt, die Processus spinosi der
Halswirbel auf Druck sehr empfindlich waren und das ganze
Krankheitsbild mit seinen hohen Temperaturen an Meningitis
denken ließ, entschloß ich mich, die vorgewölte viscerale Wand
zu inzidieren, worauf sich überaus große Mengen seröser Flüssig-
keit entleerten, deren stärkeres Abfließen noch in den nächsten
Tagen einen mehrmaligen täglichen Verbandwechsel erforderte
Merkwürdigerweise hatte in diesem Falle, der auch zur Heilung
kam, mehrfache ophthalmoskopische Untersuchung immer nor-
male Verhältnisse des Augenhintergrundes ergeben, während die
Pulsfrequenz auch nicht der Fieberhöhe entsprach.
Was den bakteriologischen Befund betrifft, so fanden sich
in dem steril entnommenen Sinusinhalt sehr virulente Strepto-
kokken — eine geimpfte Maus stirbt nach 12 Stunden — ira
Ohreiter hingegen, — beide Eiterproben am Operationstage gleich-
zeitig entnommen — Staphylokokkus pyogenes aureus (Bakteriolog.
Institut von Dr. Piorkowski).
II. Znr Kasuistik der Sarkome der Ohrmuschel
von
Dr. J. Herzfeld.
Tumoren, lediglich beschränkt auf die Ohrmuschel, gehören
nicht zu den häufigen Beobachtungen. Senff i) konnte in seiner
unter Bürkner im Jahre 1898 angefertigten Inaugural- Disser-
tation unter 71 450 gesammelten Fällen von Ohrerkrankungen
nur 34 Tumoren der Ohrmuschel auffinden, nach welcher Statistik
also auf 100 Erkrankungen nur 0,048 Tumoren kommen würden.
Sämtliche Arten von Geschwülsten sind beobachtet worden, relativ
selten das Sarkom. In der erwähnten Statistik sind nur tl Fälle
von Sarkom erwähnt, die ihren Ausgangspunkt an der Ohr-
muschel hatten. Auch in der hierauf folgenden Literatur sind nur
wenige Mitteilungen über Sarkome mit reinem Sitz an der Ohr-
muschel zu finden. Ganz besonders selten aber nehmen sie den
Lobulus ein. — In meinem Falle handelte es sich um einen in
der Hauptmasse auf den Lobulus beschränkten Tumor bei einer
46jährigen Landfrau. Dieselbe gibt an, beim ersten Entstehen
des Tumors vor ca. 4 Jahren ein Brennen in der Gegend des
des linken Ohrläppchens verspürt zu haben. Gleichzeitig wurde
dasselbe etwas dicker. Eine Entzündung oder Ausschlag in der
Gegend des Ohrringloches bestand nicht. Während die Geschwulst
in den ersten 3 Jahren nur langsam wuchs, vergrößerte sie sich
im letzten Jahr zusehends schnell. Zur Zeit der Menses wurde
der Tumor immer stärker und nahm eine intensivere blaurote
Farbe an. Seit 30 Jahren hat Fat auch eine linksseitige Struma. —
Der Lobulus der linken Ohrmuschel unterhalb des Ohrringloches,
so daß dieses also nicht ätiologisch angeschuldigt werden darf,
ist tumorartig um das Dreifache seines normalen Volumens ver-
dickt^ die Haut über demselben ist zwar dünn, aber erhalten und
erscheint bläulichrot (cyanotisch) verfärbt. Die Submaxillardrüsen
1) 2 Fälle von Tumoren der Ohrmuschel nebst einer Abhandlung über
die bisher veröffentlichten Fälle von Tumoren a. d. Ohrmuschel.
Archiv für OhrozüieUkaDde. 73. Bd. Festschrift. 15
226 XXVI. HERZFELD. Zur Kasuistik der Sarkome der Ohrmuschel.
sind nicht vergrößert. Die Konsistenz des Tamors ist halb hart
Die tumorartige Verdickung setzt sich auf den freien Band des
Helix in einer Ausdehnung von 1^/2 cm fort, sodaß die ganze
Geschwulst etwa eine Länge von 5 cm und an dickster Stelle
einen Durchmesser von 2 cm hat Das Jnnere des Ohres ist nor-
mal. Die ganze Ohrmuschel hingegen war livide gefärbt, sodaß
zunächst an eine Angiommischgeschwulst gedacht werden konnte.
Hiergegen sprach aber der Umstand, daß der Tumor auf Druck
weder seine Größe noch seine Farbe veränderte. Auch an Tuber-
kulose, wie sie Hang mehrfach als Enotentuberkulose beschrieben
hat, und wie ich selbst ebenfalls einen derartigen Fall am Lobulus
beobachtet habe, mußte gedacht werden. Die mikroskopische Unter-
suchung des sehr weichen und im Inneren mehrere Blutungen
zeigenden Tumors ergab aber keines von beiden, sondern ein ge-
mischtzelliges ßundzellensarkom. In einzelnen Partieen erscheint
das Zwischengewebe sehr locker, und in dem maschig aussehenden
Gewebe liegen sternförmige Zellen, welche Schleimzellen sehr
ähnlich aussehen. Diese Partien erinnern an Schleimgewebe, aus
denen der Schleim bei der Präparation extrahiert wurde.
Die Entfernung geschah in Anbetracht der großen Struma
unter lokaler Anästhesie durch Abtragung des Tumors innerhalb
der gesunden Zone. Die Blutung war sehr gering, die Wunde
heilte schnell, sodaß Pat. bereits nach 3 Wochen aus der Be-
handlung entlassen werden konnte.
XXVIL
Beiträge zur Indikation der Labyrintheroffnnng
bei komplizierter fflittelohreitemng nnd nene Vorschläge
fflr die Labyrinthoperation.
Von
Dr. W. Uffenorde,
Privatdozent und Assistent der Kgl. Poliklinik für Ohren- und Nasenkranke
in Göttingen.
Seitdem die Ohrenheilkunde allmählich mehr durch klinisch
und nekroskopisch gewonnene Erfahrungen als durch Ausbau
von exakten physiologischen üntersuchungsmethoden einiges
Licht in die Pathologie der Labyrintherkrankungen gebracht hat,
ist man bestrebt gewesen, diesen sekundären und so oft besonders
in funktioneller Hinsicht verderblichen Prozessen entgegen zu
arbeiten.
Daß hier die frühzeitige Behandlung des primären Leidens,
besonders der Mittelohreiterung, in allererster Linie Platz greifen
muß, und daß dadurch eine günstige prophylaktische Wirkung
sehr oft möglich ist, wird allerseits anerkannt. Haben wir
aber das Bild der Labyrintherkrankungen bereits vor uns, so
wird auch hier noch, wie genug bekannt ist, die operative Be-
handlung des Mittelohrleidens die Labyrinthentzündung in vielen
Fällen günstig beeinflussen, so daß diese ohne direkten Eingriff
heilt. In anderen ungünstigeren Fällen kommen wir mit einer
Operation am Mittelohre allein nicht aus; jedenfalls wird dadurch
der entzündliche Prozeß im Labyrinth nicht abgeschnitten, und
die Meningitis wird oft nicht ausbleiben.
Naturgemäß liegt hier, besonders angesichts des glänzenden Aus-
baues der otochirurgischen Technik, der operative Weg sehr nahe.
Die operative Inangriffnahme der labyrinthären Teile als
solche wird prognostisch sehr verschieden beurteilt. Gegenüber
Heine, Friedrich, Zeroni u. a. glaubt Hinsberg den Ein-
15*
228 XXVU. ÜFFENORDE.
griff günstiger auffassen zu müssen. Seine Statistik (Verband],
der Deutschen otologischen Gesellschaft, Wien 1906) von 67
operativ geheilten Fällen von Labyrintheiterung gegenüber
3 Todesfällen spricht zweifellos sehr zugunsten der Operation,
doch möchte ich keineswegs so weitgehende Schlüsse daraus
ziehen, wie Hinsberg es tut. Daß solche Statistiken mit einer
gewissen Vorsicht bewertet werden müssen, ist bereits von anderer
Seite hervorgehoben worden. Doch glaube ich, daß die Gefahr
der operativen Freilegung des Labyrinthes bei dringender In-
dikation, die wir noch besprechen wollen, in keinem Verhältnis
zu der Gefahr steht, die dem Patienten bei Unterlassung der
Operation droht. Bei genügender Beobachtung der allgemeinen
chirurgischen Regeln, besonders bei genügender Technik und
anatomischer Vorstellung werden hier die dankbarsten Erfolge
nicht auf sich warten lassen, wie auch unsere beiden unten mit-
zuteilenden Fälle zeigen. Dagegen sind auf der anderen Seite
besonders zwei schwerwiegende Momente aufzuführen. Einmal
hat uns, wie schon angedeutet, die physiologische Forschung
noch keine exakten Untersuchungsmethoden an die Hand geben
können, welche nach physikalischen Gesetzen, wie z. B. in der
Augenheilkunde, sichere Schlüsse über deu Zustand der betreffen-
den Teile gestatten könnten. Alle die zum Teil mit viel Fleiß und
Mühe gefundenen Erkenntnisse, die als neue Bausteine für die
Konstruktion der Diagnose im ersten Moment von der otiatrischen
Welt so dankbar aufgenommen sind, werden allmählich kritischer
betrachtet, da sie sich bei unbeeinflußter und allgemeinerer Nach-
prüfung seitens der Fachkollegen doch nicht als so stichhaltig
und verwertbar erweisen, wie der betreffende Autor annehmen
zu müssen glaubte.
Alle die Symptome, die durch verschiedene Hilfsmittel bei
der Labyrintheiterung beobachtet werden, z. B. Fehlen des
Nystagmus bei Rotation, bei Einspritzen von kaltem Wasser usw.,
die charakteristischen Störungen des Gleichgewichtssinnes, besonders
bei Hüpf- und Sprungversuchen, lassen uns im einzelnen oft im
Stiche, oder aber es sind die Untersuchungen, wie so häufig bei
den bestehenden Verhältnissen, überhaupt nicht ausführbar. Nach
unseren Erfahrungen erscheint es uns z. B. in vielen Fällen
geradezu unmöglich, durch die v. St ein sehen Versuche etwas
Sicheres zu erreichen. Gymnastisch ungeübte Menschen können
oft überhaupt nicht auf einem Bein stehen, geschweige mit ge-
schlossenen Augen rückwärts hüpfen und dergl. Daß die Ver-
Beiträge zur Indikation der Labyrintheröffnung usw. 229
suche an geeigneten Individuen positiven Anhalt geben, soll
durchaus nicht bestritten werden, ebensowenig wie daß die weitere
Forschung in dieser Hinsicht unsere Pflicht ist (Kümmel), wenn
man auch im allgemeinen damit in der Praxis noch nicht viel an-
fangen kann. Ebenso würden wir uns nur in ausgesprochenen
Fällen getrauen, den kalorischen Nystagmus (Bärany) zu ver-
werten und zwar nur dann, wenn er sich in den übrigen, meist
nur lückenhaften Symptomkomplex einfügen läßt Bei der Nach-
prüfung haben wir oft einander widersprechende Erfahrungen da-
mit gemacht Fast alle diese Hilfsmomente, ja alle die einzelnen
Labyrinthsymptome können für sich keine Entscheidung bringen ;
sie können nur das Symptomenbild vervollständigen.
Für den Arzt wird immer die große Schwierigkeit bestehen
bleiben, die einzelnen Momente sorgfältig gegeneinander abzu-
wägen und, unterstützt durch die gesammelte Erfahrung, seine
Schlüsse zu ziehen. In zweiter Hinsicht wissen wir aus klinischen
Beobachtungen, daß die Symptome der Labyrinthentzündung
nicht nur an Grad, Zahl und Dauer sehr wechselnd sind, sondern
daß auch viele davon — der vollständige Symptomenkomplex ist ja
bei den Labyrinthentzündungen fast nie vertreten — bei allgemeinen
Erkrankungen auftreten können, — bemerkenswert ist z. B„ daß
bei Betroflexio uteri, bei Menstruationsstörungen fast das komplette
Labyrinthsymptomenbild auftreten kann — , ja daß sie auch mittel-
bar von dem fast immer primär eitrig erkrankten Mittelohr aus durch
mechanische, toxische u. a. Beizung des benachbarten Labyrinthes
in vielen Fällen ausgelöst werden können. Diese Fälle werden
dann durch operative und auch konservative Behandlung der
Mittelohreiterung meist geheilt werden. Und wiederum gibt es
Fälle von entzündlichen Labyrintherkrankungen, die vielleicht
nur zufällig bei der Operation, wozu wir einen interessanten
Beitrag liefern können, oder bei der Sektion aufgedeckt werden.
Die Schwierigkeit für die genaue klinische Untersuchung
des inneren Ohres liegt wohl darin begründet, daß es, in ge-
schützter und entsprechend schwer zugänglicher Lage eingefügt^
zwei wichtige Funktionsapparate in innigster Beziehung zuein-
ander enthält, welche zum Teil ihrerseits sehr wechselvolle und
vielseitige Verbindungen mit dem übrigen Körper und in erster
Linie dem Gehirn unterhalten, die leider ebenfalls durchaus nicht
genügend erforscht sind.
Auch hier kann uns nur die histologische Untersuchung von
klinisch gut beobachteten Fällen weiterbringen.
230 XXVII. UFFENORDE.
Vorläufig ist es nicht abzusehen, woher der Scheinwerfer
kommen soll, der sein aufklärendes Licht in jedem Fall in diese
versteckten Teile schicken könnte. Schon über die Schwierigkeit
der innigen Wechselbeziehungen unter den einzelnen in Frage
kommenden Teilen werden wir vielleicht nie ganz hinweg-
kommen.
Aber trotz dieser Unzulänglichkeiten in der Frage der Laby-
rintherkrankungen sind dank der Forschung sichere und große
Fortschritte zu verzeichnen, die auch von dankbaren Erfolgen
gekrönt sind; und so ist eine weitere Pionierarbeit angebahnt.
Es ist durchaus nicht der Zweck dieser Zeilen, auf alle die in
Frage kommenden Momente einzugehen.
Die schwebende Frage ist heute noch immer und wird es
auch wohl noch längere Zeit bleiben: wann müssen wir bei,
durch eine Beteiligung des Labyrinthes komplizierter, Mittelohr-
eiterung nach totaler Freilegung der Mittelohrräume auch das
Labyrinth eröffnen? Diese Frage beschäftigt schon seit ge-
raumer Zeit die Otiater, sie ist ganz besonders akut geworden
durch ihre Besprechung auf dem vorjährigen Otologenkongreß
in Wien.
Die Indikationsstellung zur Eröffnung der Labyrinthkapsel
muß von verschiedenen Leitpunkten geführt werden. In erster
Linie ist m. E. nicht zu vergessen, daß die in der Labyrinth-
kapsel verborgenen beiden Sinnesorgane zwar in engstem Zusammen-
hange stehen, aber doch auch wieder mehr oder weniger isoliert
erkranken können. Das Gehör sowohl wie der statische Sinnes-
apparat bilden nicht nur für den Erwerbsmenschen, sondern auch
für jeden anderen einen sehr notwendigen Besitz. Dieses müssen
wir als Ohrenärzte in allererster Linie berücksichtigen. Auch die
glänzenden Erfolge unserer operativen Tätigkeit sollten uns nicht
die sorgfältigste Beobachtung der Gehörfunktion versäumen lassen.
So glaube ich auch, daß bei der Nachbehandlung der Totalauf-
meißelungshöhle die besondere Berücksichtigung der medialen
Paukenwand, die doch in allererster Linie für die spätere Funk-
tion in Frage kommt, noch öfter ein besseres Resultat herbei-
führen ließe.
Je dicker das Granulationspolster auf der Labyrinthwand,
einschließlich der Attikusgegend, bleibt, um so stärker und un-
günstiger die spätere Bindegewebsschicht, um so schlechter die
Funktion. Schon aus diesem Grunde erscheint die jüngst von
Stein wieder empfohlene Nachbehandlungsmethode ohne Tarn-
Beiträge zur Indikation der Labyrintheröffnung usw. 231
ponade, die von zur Mühlen und Zarniko schon früher an-
gewandt worden ist, so generell gefordert unzweckmäßig.
So lange wesentliche Hörreste vorhanden sind, werden wir ge-
nau abwägen müssen, ob der Eingriff ins Labyrinth dringend nötig,
oder ob nicht mindestens ein Abwarten erlaubt ist. Dabei ist zu be-
denken, daß jeder Eingriff am Vestibulum direkt oder indirekt
auch die cochlearen Teile schädigen wird.
In zweiter Hinsicht zeigt die klinische Erfahrung, durch die
pathologisch • anatomische Untersuchung unterstützt, daß ent-
sprechend den engen und komplizierten Verhältnissen in der
Labyrinthkapsel bei umschriebener Karies oder Usurbildung in-
folge der eitrig entzündlichen Prozesse in den Mittelohrräumen
mit Fistelbildung bald Adhäsionen und Verklebungen sich bilden
können, welche das weitere Fortschreiten der Entzündung auf-
halten. Sicher heilen so die größte Zahl der Fälle, nachdem die
Prozesse in den Mittelohrräumen zur Heilung gebracht sind.
Diese umschriebenen Entzündungen des Labyrinths, die sich be-
sonders am lateralen Bogengang etablieren, sind ja sicher nach-
gewiesen. Aber die Erfahrung lehrt, daß sich solche Schutzwälle
auch tiefer im Labyrinth bilden können, die dem Fortschreiten
des eitrigen Prozesses gegen das Cranium Halt gebieten.
Ja weiter kennen wir eine größere Reihe von Fällen aus
der Literatur (Zeroni, Arch. f. Ohrenheilkd. 65), in denen durch
die operative Freilegung der Mittelohrräume der tödliche Ausgang
heraufbeschworen wurde, wo also irgend ein Insult die mehr
oder weniger abgeschlossene Labyrintheiterung zum Aufflackern
brachte und den tödlich endenden endokraniellen Prozeß einleitete.
Ich glaube jedoch nicht mit Zeroni, daß in den Fällen der
tödliche Ausgang auch ohne Eingriff sicher war. Dem wider-
spricht doch die Erfahrung. Dagegen möchte ich ihm darin
ganz zustimmen, daß weniger die Meißelerschütterung als das
Tupfen, Schaben in der Pauke usw. an den veränderten Stellen
der Labyrinthkapsel bedenklich und für die Folgeerscheinung
anzuschuldigen ist. Wenn Hins her g verlangt, daß man in
allen fraglichen Fällen, in denen eine Labyrinthkomplikation
anzunehmen ist, sorgfältig nach einer Labyrinthfistel suchen,
die Paukenhöhle dazu frei machen, von Granulationen säubern
müsse, so ist das m. E. geradezu gefährlich. Mit Recht hält
Friedrich es in vielen Fällen für unmöglich, sich an der
medialen Paukenwand auszukqnnen. Es ist mir nicht ersichtlich,
wie man hier in Fällen von stärkerer Schwellung der medialen
232 XXVII. ÜFFENORDE.
Paukenwandschleimhant, wie sie doch so häufig vorliegt, ohne
große Gefahr die Verhältnisse am Stapes und an den fraglichen
Teilen emieren will. Wäre man aus den klinischen Unter-
suchungen vor der Operation genau unterrichtet, so wäre bei er-
kannter Notwendigkeit des Vorgehens gegen das Labyrinth dieser
Vorschlag ohne weiteres einleuchtend. Aber da wir nicht nur die
Unzulänglichkeit unserer Untersuchungsmethoden für viele Fälle
kennen, sondern auch wissen, daß bei einer sehr großen Reihe
von Fällen die Totalaufmeißelung der Mittelohrräume alle Er-
scheinungen seitens des Labyrinths abortiv zum Schwinden bringt,
so sind wir wohl keineswegs berechtigt, angesichts der Gefahr
irgendwie eine Explorierung der medialen Paukenwand zu er-
zwingen, wenn nicht ganz dringende Momente dazu auffordern.
Auch Hinsberg hat über schwere Folgeerscheinungen berichtet.
Meines Erachtens kann die von Zeroni wiederholte Mahnung
nicht genug beherzigt werden, in allen Fällen von Labyrinth-
komplikationen die größte Vorsicht gegenüber der lateralen Wand
der Labyrinthkapsel walten zu lassen, sie als ein Noli me tangere
zu betrachten, so lange nicht ganz bestimmte Indikationen die
Eröffnung des Labyrinths erheischen. Darauf kommen wir noch
zurück. Daß durch Ausschabung mit dem scharfen Löffel, durch
Sondierung mit der Hakensonde und dergl. leicht ein drohender
Durchbruch ins Labyrinth eingeleitet werden kann, ist ja ohne
weiteres einleuchtend und oft betont worden. Dasselbe gilt natür-
lich auch von den Fisteln an den Bogengängen (Politzer). Auch .
hier soll in allen den Fällen, in welchen nicht aus bestimmten
Gründen ein Vorgehen gegen das Labyrinth erforderlich ist,
größte Vorsicht walten; sowohl der scharfe Löffel wie diß Sonde
sollte nur möglichst schonend oder gar nicht angewandt werden,
Friedrich hat einleuchtend dargetan, daß man nicht ohne
weiteres aus dem Befunde schließen kann, ob wir schon eine
Fistel vor uns haben oder nur eine oberflächliche Usur oder Defekt.
Fast jeder kennt wohl Fälle, bei welchen man von diesen Defekten
aus durch Druck mit der Sonde u. a. leicht Schwindel, Übelkeit,
Erbrechen, Nystagmus auslösen kann. Mit anderen Worten : man
hat hier den häutigen, im wesentlichen intakten Bogengang mehr
oder weniger freiliegend vor sich, und man wird selbstverständ-
lich hier die sorgfältigste Schonung walten lassen.
Die Verhältnisse an der Prominenz des lateralen Bogenganges
sind schon öfter diskutiert worden. Danach erscheint es nicht so
einfach, den Defekt, die Fistel festzustellen. Während die einen
Beiträge zur Indikation der Labyrintheröffnung usw. 233
u. a. Jansen, die Fistel am lateralen Bogengang relativ oft
konstatiert haben nnd wir müssen uns diesen Erfahrungen durch-
aus anschließen, haben andere sie seltener beobachtet. Daß man
in vielen Fällen nur oberflächliche Defekte nachweisen kann
(Friedrich), die das Bogenganglumen, die perilymphatischen
Räume nicht eröffnen, ist sicher. In allen Fällen, wo man aber
mit der vorsichtig angewandten Hakensonde auf dem sonst glatten
Enochenwulst ganz einhakt, muß man doch eine Fistel annehmen,
besonders wenn Beizungserscheinungen seitens des Vestibular-
apparates auftreten.
Hinsichtlich ^er Frage der Gefäßanastomosen zwischen Laby-
rinth und Mittelobr möchte ich nebenbei eine Beobachtung er-
wähnen, die ich nirgends erwähnt finde, die sich uns aber in
mehreren Fällen b*ei der Operation darbot. In diesen Fällen
sah man auf der fCuppe der sonst ganz glatten Bogengangs-
prominenz ein relativ stark blutendes Gefäß. Zweifellos handelt
es sich um einen durch den entzündlichen Prozeß erweiterten
Gefäßkanal, wie er jederzeit dabei gebildet werden kann; doch
mögen hier wohl präforraierte Wege bestehen. Es ist wohl als
Ausdruck der entzündlichen Hyperämie im Bogenganginnem an-
zusehen. Wir sahen diese erweiterten Gefäßlöcher gerade in
Fällen mit heftigen Beizerscheinungen seitens des Labyrinths.
Wann soll man nun ein Labyrinth eröffnen und wie soll
man es tun?
Wie wir schon gesehen haben, stehen sich zwei Ansichten
einander gegenüber. Die einen glauben angesichts der großen
Gefahr, die eine Labyrintheiterung nun einmal zweifellos für das
Leben des Patienten in sich birgt, und andererseits angesichts
der ziemlich günstigen Statistik von bereits operierten Fällen
(Hinsberg u. a.) für die Eröffnung des Labyrinths in allen
Fällen von nachgewiesener ausgedehnterer Labyrintheiterung ein-
treten zu können. Denen stehen viele gegenüber, welche die
Labyrinth eröffnung nur als ganz vitale Indikation gelten lassen,
die sozusagen als ultimum refugium gilt (Friedrich, Zeroni,
Heine u.a.). Diese Autoren können gegenüber H i n s b e r g eine
ganze Reihe von Fällen aufweisen, wo nicht nur durch die
operative Eröffnung des Labyrinths (Jansen), sondern auch durch
die des Mittelohrs und seiner Nebenräunie der letale Ausgang
gezeitigt ist, mag nun die Erschütterung durch den Meißel
(Schwartze, Brieger u. a.) oder die Insulte durch die Kürette,
Tupfer, Sonde u. a. (Z e r o n i) oder beides den bestandenen Schutz-
234 XXVll. UFFENORDE.
wall zerstört haben. Politzer hält die Fälle von Schnecken-
eiterungen für besonders gefährlich wegen der Gefahr des Durch-
bruchs von der Basalwindung der Schnecke gegen den inneren
Gehörgang (Körner, Manaße). Während man die einfachen
Bogengangfisteln ganz in Ruhe lassen soll; ist nach ihm eine
nekrotische Promontorialwand abzutragen, weitere Kurettements
in der Labyrinth höhle aber zu unterlassen.
Wenn man möglichst unbefangen die Entwicklung der Frage
der Labyrintheiterung chronologisch bis heute zu verfolgen sucht,
so liegt der wunde Punkt doch in erster Linie in der Schwierig-
keit der ausreichend genauen Diagnosestellung Wir haben
eben noch keine Methoden, die uns eine einigermaßen genaue
Differentialdiagnose ermöglichen. Wir können fast genau wie
im Gehirn noch nicht genügend zwischen Ausfalls- und Eeiz-
erscheinungen und F^ernwirkungen differenzieren. Während wir
aber bei den eitrigen Entzündungen des Gehirns durch die Lumbal-
punktion und die Punctio cerebri wertvolle Hilfsmittel haben, von
denen auch die letztere unter der wenn auch wenig wohllautenden,
so doch oft beherzigenswerten Devise: „Auf mehr Zeichen warten,
heißt auf mehr Leichen warten'' oft unklare und differential-
diagnostisch schwer abgrenzbare Verhältnisse zu klären vermag.
Diese fehlen aber gänzlich beim Labyrinth. Hier würde eine
derartige Probeexploration bei der eitrigen Entzündung der Um-
gebung unmöglich und aussichtslos sein.
Wenn ich kurz die Hauptpunkte hervorheben darf, die uns
bei dem heutigen Standpunkte als maßgebend erscheinen, so
kommen hier in erster Linie die Fälle von Labyrintheiterung in
Betracht, zu denen sich endokranielle Komplikationen hinzu-
gesellen. In allen Fällen von Meningitis serosa, welche man auf
eine Labyrintheiterung zurückführen kann, mag diese auch nur
bei Ausschluß von anderen Ursachen durch irgend eine Kon-
tinuitätstrennung der Labyrinthkapsel nachweisbar sein, muß eine
ausgiebige Eröffnung des Labyrinths vorgenommen werden. Für
die Meningitis serosa kann auch ein tiefsitzender Extraduralabszeß
an der hinteren Felsenbeinpyramidenwand die vermittelnde Rolle
spielen, ebenso ein Empyem des Saccus endolymphaticus oder
beide, hier würde dasselbe Prinzip erforderlich sein. Dasselbe
trifft natürlich auch zu, wenn von einer Labyrintheiterung aus
nach Durchbruch der hinteren Pyramidenfläche vom Saccus-
empyem aus — diese Annahme gebietet eine große Vorsicht
(Wagen er) — oder von einem tief sitzenden Extraduralabszeß aus
Beiträge zur Indikation der Labyrintheröffuung usw. 235
oder durch Fortkriechen der Entzündung am Nerven entlang u. a.
ein cerebellarer Abszeß entstanden ist; auch hier würde zweifellos
die Eröffnung des Labyrinths ohne weiteres erforderlich werden.
Die Kasuistik der Fälle von konsekutiven endokraniellen
Prozessen nach Labyrintheiterung kann ja, wie wir wissen, sehr
vielseitig sein, wie die Infektion auch die verschiedensten Wege
einschlagen kann, um in das Cranium zu gelangen. Darauf kann
hier nicht weiter eingegangen werden.
Daß auch umgekehrt von einem tiefsitzenden Extraduralabszeß
aus durch Arrosion der hinteren Pyramidenfläche ein Einbruch
in die Labyrinthräume eintreten kann, ist ebenfalls ev. zu berück-
sichtigen und sei deshalb kurz erwähnt.
Ebenso rückhaltlos wie bei den endokraniellen Komplikationen
bedarf es wohl der breiten Eröffnung des Labyrinths in den
Fällen, wo das Cholesteatom der Mittelohrräume in jenes ein-
gedrungen ist. Daneben sei gleich die zweithäufigste Ätiologie
der Labyrinthkomplikation, die Tuberkulose, genannt. Bei beiden
kann nur die gründliche Eliminierung des Krankheitsherdes den Tod
des betreffenden Individuums abwehren. Diese Punkte stimmen
im wesentlichen mit dem von Heine (Operationen am Ohr,
Berlin 1904) Gesagten überein.
Wie weit man in den übrigen Fällen von chronischer Eiterung
mit Labyrintherscheinungen, gegen dieses vorgehen soll, muß
meines Erachtens in erster Linie von dem Ergebnis der funktionellen
Prüfung (Wann er, Verh. d. Deutsch, ot. Ges. 1903, S. 23)
und dem Operationsbefunde abhängig gemacht werden. Also
wenn man bei sehr geringen Hörresten, wie sie nach Bezold
auch bei den Taubstummen meist erhalten sind, schwerere
Veränderungen an der Labyrinthkapsel findet, besonders wenn
man Eiter aus den Fisteln hervorkommen sieht, dann würde
ich das Labyrinth breit nach unserer unten zu beschreiben-
den Methode eröffnen. Wenn jedoch noch ein größerer Hör-
rest, und besonders wenn nur einfache Fisteln, ev. mit Granu-
lationen darin vorhanden sind, würde ich erst den Erfolg der
Totalauf meißelung abwarten, und nur bei Fortbestehen oder Pro-
gredienz der Erscheinungen noch das Labyrinth angreifen, wie es
z. B. in dem Lind tischen Falle geschah. Im übrigen ist in
jedem einzelnen Falle zu entscheiden. In den weitaus meisten
Fällen wird man keine Nachoperation nötig haben. Wir wissen
ja aus der klinischen Erfahrung, daß meistens die Fälle auch so
heilen, auch die Verhältnisse bei vielen Taubstummen sprechen
236 XXVII. ÜFFENORDE.
dafür. Ich glaube nicht, daß man wie Jansen von vornherein
die Schwere der Erscheinungen seitens des Labyrinths in erster
Linie erwägen muß, wir wissen, daß die schwersten Labyrinth-
erscheinnngen nach Ausführung der Totalauf meißelung ver-
schwinden können (Jsemer, Münchner Medizin. Wochenschrift,
1907, Nr. 1, S. 23).
Recht beherzigenswert erscheint mir die Mahnung Zeroni 's,
daß es gerade in diesen Fällen wichtig ist, daß der Operateur,
wie es in der Hallenser Klinik üblich ist, sich selbst das Opera-
tionsfeld freitupft, da der Assistent leicht durch unzweckmäßiges
Tupfen Schaden stiften könnte. Bei diesen zuletzt erwähnten
Fällen von Labyrintheiterung heißt es meines Erachtens ganz
besonders: entweder — oder, man muß das Labyrinth eröffnen,
dann breit, und möglichst vollkommen^ oder man will sich exspek-
tativ verhalten, dann ist aber größte Schonung nötig.
Daß auch so ungünstig verlaufende Fälle vorkommen werden,
ist nicht zu bezweifeln, das ist bei den komplizierten Verhältnissen
gar nicht anders zu erwarten.
Nun kommen noch Fälle von Labyrintheiterung hinzu, die
einer besonderen Erwähnung bedürfen.
Durch Scheibe (Verhandl. deutsch, otolog. Gesellschaft 1898,
S. 123) ist besonders die Gefahr der Labyrinthitis nach Schar-
lach hervorgehoben. Diese Komplikation von akuter Mittelohr-
eiterung scheint nach seinen Mitteilungen ganz besonders bösartig
zu sein, von 4 Fällen starben drei. Die Bösartigkeit dieser Strepto-
kokkeninfektion kennen wir ja genügend von der Behandlung
der einfachen Mittelohreiterung her. Wie man schon bei dieser
bei auftretender Komplikation nicht lange mit einem operativen
Eingriffe zu zögern pflegt, so scheint man auch zweckmäßig bei
nachgewiesenem Durchbruch der Eiterung ins Labyrinth hier
besonders dem großen Einschmelzungsvermögen des Scharlach-
erregers Rechnung tragen zu sollen. Doch bleiben weitere Er-
fahrungen hierüber noch abzuwarten. Erfahrungsmäßig schließt
gerade hier die Entzündung öfter mit Sequestration und Aus-
stoßung von Labyrinthteilen ab.
Das sind mit wenigen Worten die Fälle, wo wir einen Ein-
griff am Labyrinth empfehlen würden, wie es auch dem bisher
in dieser Hinsicht Mitgeteilten m. E. entsprechen würde.
Wir möchten nun entgegen Heine, Friedrich, Zeroniu.a.
darin Hinsberg zustimmen, daß die Eröffnung des Labyrinthes
an sich nicht so große Gefahren in sich birgt, vorausgesetzt daß
Beiträge zur Indikation der Labyrintheröffnung usw. 237
sie ausreichend vorgenommen wird. Daß es sich um einen harm-
losen Eingriff dabei handele, soll nicht im mindesten gesagt sein.
Aber ich glaube, daß man in Fällen von schweren Labyrinth -
eiterungen, vor allem, wenn bereits Folgeerscheinungen vorliegen,
getrost an die operative Freilegung des Labyrinthes herangehen
kann, ja muß, und man auch herrliche Erfolge sehen wird. Ja
noch mehr, falls einmal eine sichere Diagnosestellung möglich
sein wird — das möge die Zukunft bringen, — wird man wohl bei
der Indikationstellung in Fällen von Taubheit noch mehr der Ge-
fahr der konsekutiven endokraniellen Prozesse Rechnung tragen
können, indem man das Labyrinth operativ freilegt.
Als Methoden zur Eröffnung des Labyrinthes gelten heute
im wesentlichen die von Jansen, (Blau, Encyklopädie der
Ohrenheilkd. S. 205), Hinsberg (Zeitschr. f. Ohrenheilkd. Bd. 40)
und Neumann (Sitzung, der Österr. Gesellschaft 27. Febr. 1905.
Ref. A. f. 0. Bd. XXXIX Nr. 10).
Es sind natürlich den. jeweiligen Verhältnissen entsprechend
Modifikationen des Operationsweges möglich, und auch Kom-
binationen der angegebenen Methoden angewandt.
Während Jansen von dem hinteren Schenkel des horizon-
talen Bogenganges und Neu mann von dem hinterem Teile
der medialen Antrumfläche aus vorgehen und keilförmig Schale
auf Schale von der hinteren Pyramidenfläche abschlagen, den
hinteren Teil des oberen Bogenganges, den hinteren [vertikalen
Bogengang, die hintere Hälfte der lateralen, das Vestbulum er-
öffnen und je nach den Verhältnissen in die Tiefe durch Ver-
größerung des Keiles vordringen, gehtHinsberg in erster Linie
von der medialen Paukenwand aus vor, indem er das ovale
Fenster erweitert und von da aus das Vestibulum sondiert und
den vorderen Schenkel des lateralen Bogenganges öffnet
Die topographischen Verhältnisse, vor allem die Beziehung
der Labyrinthteile zum Facialkanal, sind sehr eingehend von
Bourguet (Anatomie chirurgicale du labyrinthe. Thöse de Tou-
louse, 1905 und Annales des maladies de Toreille, Tom. XXXI)
studiert, worauf ich auch für die weiteren Ausführungen verweisen
möchte, (eingehend zit. bei Hinsberg, Verband, der Deutschen
otolog. Verhandl. 1906 Wien).
Ich will hier nicht weiter darauf eingehen, sondern gleich
auf die Beschreibung meiner Methode kommen.
Wenn man einmal soweit gekommen ist, die Indikation zur
Eröffnung des Labyrinthes zu stellen, so muß nach meiner An-
238 XXVII. UFFENORDE.
sieht diejenige Methode die beste sein, die eine möglichst aus-
giebige Freilegung der vestibuloeochlearen Bäume gewährleistet.
Je offener die labyrinthären Bäume werden, um so sicherer kann
die Drainage erreicht, um so mehr die Betention von Sekreten und
somit die Propagation in die Schädelhöhle hintenangehalten werden.
Ich glaube, daß bei der Erfüllung dieser Forderung vieles
von der Gefahr verschwindet, die man bislang für diesen Eingriff
annimmt
Wenn schon die Mitteilungen von Hinsberg, Freitag,
Lindt u. a. immerhin beredte Worte sprechen, so glaube ich,
daß auch die Zukunft dieses weiter zeigen wird.
Ich habe in zwei Fällen, die ich unten näher wiedergeben
möchte, meine Methode zur Anwendung gebracht.
In beiden Fällen verlief die Operation gut, leider wurde in
dem einen Falle der Erfolg durch ein nicht erkanntes schweres
Allgemeinleiden vereitelt, die Patientin ging später an Miliartuber-
kulose zu Grunde.
Die Operationsmethode ist kurz folgende:
Nach Ausführung der Totalaufmeißlung der Mittelohrräume,
meißle ich den Nervus facialis etwa von der Gegend des Chorda-
abganges beginnend aus dem Faloppischen Kanal frei. Anfangs
bis zur Eröffnung des Kanals benutze ich dazu den Schwartze-
schen Meißel. Die Freilegung in dem horizontalen Teile gelingt
auf diese Weise meist leicht. Darauf nehme ich einen besonderen
seitlich abgerundeten dünnen Flachmeißel und schlage die seitlichen
Teile vom Canalis Falopii fort, den horizontalen Bogengang-
wulst usw. Das Promontorium entferne ich wiederum mit einem
Schwartze'schen Meißel, der hier sehr zweckmäßig ist, da so
bei entsprechender Meißelstellung eine Carotis- und Jugularis-
verletzung am besten vermieden werden wird. Von Jansen ist
ja auf die Anomalien der Carotis- und Jugularislage hingewiesen
worden. Wir sind ja gewöhnt mit dem Meißel, ihn paradox auf-
setzend und in der richtigen Weise drehend auf dem Facialissporn
und auf der dura mater z. B. zu gebrauchen, hier handelt es sich
um dasselbe Prinzip. Ich habe so auch leicht den oberen Bogen-
gang mit entfernt. Unter Benutzung der Hakensonde kann man nun
ganz entsprechend den Verhältnissen vorgehen. Man wird hier, wie
bei der Neumann*schen Methode, aber vom Fazialis ab, den man
ja nun vor sich hat, nach hinten bis zur Dura der linken Pyramiden-
fläche alles fortnehmen, also die Bogengänge, aquaeductus vestibuli,
je nachdem bis zum Perus acusticus internus vordringen. Auch
Beiträge zur Indikation der Labyrintheröffnung usw. 239
um die oberen Teile des vestibulären Teiles, also den oberen
Bogengang zu entfernen, wird man sich am besten desSchwartze-
schen Meißels bedienen, da auch hier die dura mater aus-
weichen wird.
Um die Cochlea zu entfernen, resp. um nekrotische, kariöse
Teile von dort zu eliminieren, wird man vorsichtig einen passenden
scharfen Löffel benutzen und dabei an die Lage des N. facialis
der oberhalb auch etwas vor dem oberen Teile der Schnecke
verläuft, und der Carotis, die davor liegt, denken. Intensive Be-
leuchtung und sorgfältige Blutstillung sind dabei nötig und werden
das Arbeiten erleichtern. Man kann so das ganze Felsenbein
exzidieren, jedenfalls so weit es für uns von Interesse ist, ohne den
N. facialis ernstlich zu lädieren. Die sorgfältigste Kontrolle der
gleichseitigen Gesichtshälfte seitens eines Assistenten ist selbstver-
ständlich erforderlich. Natürlich wird eine Parese kaum zu ver-
meiden sein, diese wird, wenn auch oft erst nach geraumer Zeit,
wieder zurückgehen. Daß bei sehr ausgedehnter Exzision der
Labyrinthteile, ja des Felsenbeins — was ja übrigens nicht immer
nötig ist — , eine ernste Verletzung des FaziaJis möglich ist, wird
nicht zu leugnen sein, das ist schon für die einfachen Methoden
nicht in Abrede zu stellen (Hinsberg). Andererseits zeigt der
Fall von Lindt, daß auch ohne jede Läsion bei der Operation
eine ein halbes Jahr dauernde Fazialislähmung eintreten kann.
Post operationem verläuft also der FaziaJis isoliert quer durch die
Pauken- Labyrinthhöhle. Die Ernährung wird offenbar durch das
Periost aus dem Faloppischen Kanal und die ihn bald einbettenden
Granulationen gesichert. Bei der nachträglichen Durchsicht der
Literatur wurde mir der Pause 'sehe Vorschlag der Isolierung
des unteren FaziaUs bei der Bulbusoperation wieder in Erinnerung
gebracht, was allerdings wohl nicht befolgt wird und auch nicht
mehr erforderlich erscheint.
Auf diese Weise wird nicht nur das Labyrinth in eine
ziemlich glattrandige Höhle verwandelt und leicht übersichtlich,
sondern es fehlt auch die lästige Fazialisbrücke, an deren innerer
Seite leicht nicht nachweisbare Prozesse zurückbleiben können.
Ich möchte hier noch hinzufügen, daß ich mit Friedrich in
Fällen von Labyrintheröffnung durchaus gegen eine primäre
retroaurikuläre Naht plaidieren möchte. In diesen Fällen, wo
doch zweifellos schwierigere Verhältnisse vorliegen, die dringend
einer genauen Übersichtlichkeit bedürfen, soll man sich diese nicht
durch einen primären retroaurikulären Verschluß der Wunde un-
240 XXVIL ÜFFENORDE.
nützer Weise zerstören. Ebenso ist die von Jansen nnd Ballance
in je einem Falle ausgeführte Transplantation nach Thierscb
in die eröffnete Labyrinthhöhle kaum nachahmenswert. Wenn
sie schon mißliche Verhältnisse bei Anwendung derselben in
der Paukenhöhle zeitigen kann, so ist sie hier wohl geradezu ge-
fährlich. Ja man muß sogar, wie ein Fall von Friedrich zeigt,
vorsichtig mit den Plastiklappen sein, das Labyrinth darf nicht
verdeckt werden. Die Fraise zu benutzen, konnte ich mich nicht
entschließen, da sie m. E. nicht ein so sicheres Arbeiten ermög-
licht, wie der Meißel, — jedenfalls ist eine große Sicherheit'
nötig — , da andererseits das Operationsterrain durch den Enochen-
staub leicht verschleiert wird (Hinsberg).
In unserem ersten Falle handelt es sich um besonders schwierige
Verhältnisse, indem der Nervus facialis fast in seinem ganzen
Verlaufe durch das Felsenbein freigelegt werden mußte. Es wurde
das ganze Labyrinth, alle Bogengänge, Vorhof und JSchnecke,
diese z. T. sequestriert, entfernt. Die ganze hintere Fläche der
Felsenbeinpyramide wurde einschließlich der lateralen Umrandung
des Porus acusticus internus reseziert. Über der Eminentia arcuata
wurde die Dura mater freigelegt Trotzdem ist der Nervus facialis
funktionsfähig geblieben, wenn er auch infolge der Jnsulte, die
trotz aller Vorsicht nicht zu vermeiden sind, paretisch wurde.
Es handelte sich um kolossal ausgedehnte Cholesteatominva-
sionen der Labyrinthräume. An der hinteren Felsenbeinpyramiden-
fläche bestand ein Extraduralabszeß. Sehr interessant ist es, daß
auch der Saccus endolymphaticus von dem Prozeß ergriffen war,
man sah bei der Nachbehandlung an der entsprechenden Stelle
der Dura mater der hinteren Schädelgrube eine flache scharf um-
grenzte Vertiefung, deren Grund von Cholesteatommatrix be-
kleidet war.
Der Durchbruch des Cholesteatoms vom Mittelohr aus ins
Labyrinth fand an der medialen Adituswand statt; die mediale
Paukenwand war frei von Durchbruch.
Dementsprechend war trotz der fast totalen Ausbreitung des
Prozesses im Labyrinth die Schnecke frei von Cholesteatom ge-
blieben, aber durch die sehr destruktiven Prozesse in der Tiefe
offenbar ungenügend ernährt und nekrotisch geworden.
Dieser absterbende Prozeß war noch nicht ganz vollendet,
doch ließ sich die Schnecke leicht enfernen.
Es ist übrigens auch an diesem Falle erstaunlich, wie resistent
der Nervus facialis ist, er war ante operationem ganz intakt. Dieses
Beiträge zur Indikation der Labyrintheröffnung usw. 241
weist auch darauf hin, daß man es ruhig wagen kann, den Nervus
aus seinem Kanal frei zu meißeln. Das ernährende Periost des
Eanales bleibt ihm, während die Knochenbrücke kaum viel zu
seiner Ernährung beitragen wird. Aber wenn auch in solchen Fällen
von Labyrinthkomplikation bereits ante operationem, eine Parese
des Nerven besteht, so wird man wenigstens in allen Fällen, wo
keine Entartungsreaktion nachweisbar ist, in der beschriebenen
Weise vorgehen können. Solche Paresen, ja mit Entartungs-
reaktion (Lindt). gehen ja oft, wenn auch zuweilen erst nach
langer Zeit vollständig zurück. Heine teilt in seiner Operations-
lehre einen Fall von Cholesteatomin vasion ins Labyrinth mit, wo
er den paretischen Facialis mitreseziert hat, um die Verhältnisse
gründlich freilegen zu können.
Bei dem zweiten zu beschreibenden Fall handelt es sich um
einen subakuten eitrigen Prozeß, mit ganz eigenartigem klinischen
Verlauf. Die bakteriologische Untersuchung des Mittelohrsekretes
ergab Pneumokokkeninfektion. Die Perforation d§r Labyrinth wand
geschah am ovalen Fenster, während die Bogengänge frei er-
schienen. Von dieser Labyrinth eiterung aus, die nur ganz geringes
Fieber verursachte, kam scheinbar eine Meningitis serosa mit sehr
geringen zerebralen Erscheinungen und langsamem Verlaufe zur
Ausbildung. Neben wechselnden Kopfschmerzen bestanden während
2 — 3 Wochen nur eine doppelseitige Abduzensparese. Auch in
diesem Falle wurde der Facialis frei präpariert, und der ge-
samte vestibuläre Apparat aufgedeckt.
Aus dem Ductus endolymphaticus floß sehr reichlich Liquor
cerebrospinalis ab, wodurch eine weitere Lumbalpunktion über-
flüssig wurde. Der Abfluß dauerte 4 — 5 Tage (Hinsberg).
Die Abducensparese, durch Hirndruck bedingt, wie sie oft bei
Meningitis serosa zuerst auftritt, ging post operationem in einigen
Wochen zurück, kehrte dann aber wieder. Auffallend sind bei
dem Falle die sehr schweren Veränderungen an dem Augen-
hintergrund. Die Patientin hat kurz nach der Operation nur
mittelschwere Erscheinungen gehabt.
Plötzlich setzten dann schwere Respirationsstörungen mit
heftigsten Stirnkopfschmerzen ein, die Punktion des Cerebellum
ergab nichts, die Sektion deckte dann 5 große Konglomerat-
tuberkel im Cerebellum auf, wodurch sich die Annahme einer
Meningitis serosa als irrig erwies.
Ich bin mir nun wohl bewußt, daß die Veröffentlichung des
ersten Falles etwas verfrüht erscheinen mag, doch glaube ich
Aichiv f. Ohrenheilkande. 73. Bd. Festschrift. 16
242 XXVII. ÜFFENORDE.
aber trotzdem hinzufügen zn sollen, daß es sich hier in erster
Linie um die Operationsmethode und um die Indikationsstellung
handelt. Im nächsten Jahresbericht unserer Göttinger Poliklinik
wird definitiv noch darüber berichtet werden. Die Fälle bieten
mir einen willkommenen Beleg für meine Ausführungen.
1. Fall. Bührmann, Albert, 28 J., Bahnmeisteraspirant, Riestädt bei
Sangerhausen, kam am 22. Mai d J. in unsere Poliklinik mit der Angabe,
daß er seit Herbst vorigen Jahres an Mittelohreiterung r. leide. Früher ist
er nie krank gewesen. Als Kind von S Jahren in unserer Poliklinik wegen
Mittelohrkatarrh behandelt (ad integrum geheilt). Wegen Fehlens des linken
kleinen Fingers militarfrei. Im Frühjahr vorigen Jahres ist Patient vom
Kreisphysikus untersucht, damals als normalhörend bezeichnet, 7 m Flüster-
sprache. (?) Die Horfähigkeit des r. Ohres soll erst seit Frühjahr 1907 all-
mählich abgenommen haben, zuletzt hat er r. gar nichts mehr gehört. Seit
drei Wochen habe er heftige Schmerzen im r. Ohr, im Hinterhaupt und in
der rechten Schläfe, die bis jetzt anhalten. Er war auswäits in spezialärzt-
licher Behandlung gewesen. Am 19. Mai habe er an Übelkeit und Erbrechen
gelitten, das aber nicht wieder aufgetreten sei. Er habe niemals Sausen
oder Schwindel gehabt. Auch habe Kein Fieber bestanden.
Der Patient macht einen schwerkranken Eindruck, eine sofort vor-
genommene Messung der Temperatur ergab 39,4 o (mittags).
Die Untersuchung des linken Ohres ergiebt ganz geringe Einziehung,
Abmattung des Troinmelfellglanzes, diffuse Trübung.
R. ist eine starke Schwellung der hinteren Wand des Gehörganges zu
konstatieren, hinter der man mit einer Sonde hinauf kommt. Im medialen
Teile des Gehörgangs liegen dicke Cholesteatommassen mit fötidem Eiter
gemischt. Das Trommelfell ist nicht zu sehen.
Die Umgebung des r. Ohres zeigt keine Besonderheiten, insbesondere
besteht keine Schwellung oder Druckempfindlichkeit.
Objektiv ist ebenfalls kein Schwindel und kein Nystagmus nachweisbar.
Wegen des schwerkranken Zustandes des Patienten können keine ein-
gehenderen Untersuchungen vorgenommen werden.
Die Funktionsprüfung ergiebt:
Linkes Ohr. Knochenleitung erhalten. Weber total nach 1. lateralisiert.
Rinn6 +. Perzeptionsdauer: 10". Uhr wird 40 cm gehört (post operationem
spontan 80 cm).
Rechtes Ohr. Knochenleitung — . Rinne — . Perzeptionsdauer 10".
Uhr wird nicht gehört, nur laute Sprache ins Ohr. (Lucae-Dennert?)
Diagnose : Otit. med. suppur. cnronica dextra (Cholesteatom). Perisinuöser
Abszess, (Sinusthrombose?).
Therapie: Totalauf meißelung mit Freilegung des Sinus lateralis.
Status praesens: Kräftig gebauter, mittelgroßer Mann in gutem Er-
nährungszustande. Macht den Eindruck eines schwer Kranken. Nacken
wird steif gehalten, Bewegungen nach r. und 1 sind ohne Schmerzen möglich.
Bei Beugung des Kopfes nach vom empfindet Patient lebhafte Schmerzen,
die nach unten in die Brustwirbelsäule ausstrahlen. Sensorium frei. Herz
und Lungen ohne Besonderheiten. Urin ohne Beimengungen. In der Bauch-
höhle keine nachweisbaren Veränderungen. Rhomberg ist angedeutet, beim
Gehen mit geschlossenen Augen ist Patient unsicher und weicht nach links,
der gesunden Seite ab. Pupillen sind gleich weit, reagieren auf Beleuchtung
und bei Convergenz. Augenbewegung frei. Beim Blick nach rechts leichter
Fixationsnystagmus, der nur ganz kurze Zeit anhält. Kein Nystagmus. N.
facialis und n. hypoglossus frei. Patellarreflexe beiderseits erhalten. Kein
Babinskiref lex, Fußsklonus beiderseits auszulösen. Bauchdecken und Cremaster-
reflex erhalten.
22. Mai 1907, nachmittags. Totalaufmeißelung in Chloroformnarkose.
Weich teile blutreich, ohne Veränderung. Die Corticalis zeigt vor der spina supra
meatum eine Fistel, die mit Granulationen ausgefüllt ist. Im Prozessus mastoi-
Beiträge zur Indikation der Labyrintheröffnung usw. 243
deus sind die Zellen untereinander verschmolzen, die Septa raref iziert, die Hohl-
räume erfüllt mit Cholesteatommassen. In der Tiefe sind die Verhältnisse schwer
zu übersehen, ausgedehnte.. Zerstörungen. Die hintere Gehörgangswand ist
durchbrochen, durch die Öffnung ragen die CholesteatomschoUen in den
Gehörgang. Amboß fehlt, Hammer ist stark kariös. Der Sinus lateralis, in
größerer Ausdehnung freigelegt, zeigt nur geringe Auflagerungen. Resistenz-
gefühl normal. Oberhalb des Facialwulstes geht ein größerer Recessus, der
mit Cholesteatommassen erfüllt ist, in die Tiefe. Bei der Glättung des
Tegmen antri et tympani löst sich die ganze Knockenschuppe und muß ent-
fernt werden, so daß die Dura sich etwas senkt. Freilegung des n. facialis
aus dem Fallopishen Kanal, dabei wiederholt Zucken der Gesichtsmuskulatur.
Das Labyrinth wird weit eröffnet und einschließlich der hinteren Pyramiden-
fläche reseziert bis zum Porus acusticus internus. Der hintere Teil des
Labyrinthes ist ausgefüllt von weißglänzenden Cholesteatomlamellen. Unter-
halb des Facialiswulstes wird das Promontorium mit dem S ch war tze 'sehen
Meißel (4—6) entfernt unter Zuhilfenahme des scharfen Löffels und Kontrolle
mit der Hakensonde. Die Knochenstücke werden vorsichtich entfernt. Dabei
wird die Schnecke (modiolus mit lamina spiralis ossea) als Sequester
herausgeholt. In dem cochleai'en Teile zeigen sich mehr Granulationen. Die
Dura mater der mittleren Schädelgrube wird oberhalb des oberen Bogen-
ganges und der Schnecke und andererseits der ganzen hinteren Pyra-
midenfläche entsprechend bis zum Porus acusticus internus freigelegt,
sie ist von schmutziggrauen Granulationen bedeckt. Die obere Pyramiden -
kante wird reseziert, sinus petrosus superior und Ansatz des tentorium
cerebelli dadurch freigelegt. Ausspülung der Wundhöhle mit physiologischer
Kochsalzlösung. Jodoformgazetamponaae. Panse'sche Plastik. Verband.
23. Mai. Patient fühlt sich wohl. Die Schmerzen haben aufgehört.
Kein Schwindel, kein Erbrechen. Keine Gleichgewichtsstörungen. Der Mund-
winkel r. hängt herab und kann beim Mundspitzen nicht gehoben werden.
Das obere Augenlid geht beim Schließen des Auges bis über die Mitte des
Bulbus herab. Kein Nystagmus. Pupillen reagieren. Temperatur 37,3°. Kein
Abfluß von Liquor cerebrospinalis.
25. Mai. 1. Verbandswechsel. Wundhöhle sieht gut aus, fast keine
Sekretion. Lockere Jodoformgazetamponade. Die obere Wand, freigelegte
Dura mater hat sich etwas gesenkt und verschließt z. T. den Zugang zur
Labyrinthhöhle. Appetit gut. Augenlid schließt schon besser. 37,7 ^ Der
n. facialis hat sich angelegt
3. Juni. Die Sinusverhältnisse machen gute Fortschritte, starke Granu-
lationsbildung. An der Dura mater der hinteren Schädelgrube zeigt sich
entsprechend der Lage des Saccus endolymphaticus eine scharf begrenzte
flache Vertiefung, auf deren Grunde Cholesteatommatrix sitzt. Kein Nystag-
mus, keine Gleichgewichtsstörung, kein Schwindelgefühl, ebenso kein Sausen.
Die Stärke des Händedrucks ist bds. gleich. Beim Gehen mit geschlossenen
Augen kein typisches Abweichen, ebenso gibt das Stehen auf einem Beine
kernen bestimmten Anhaltspunkt; die Sicherheit wechselt. Bei der Rotation
um die eigene Körperachse tritt bds. auch auf der kranken Seite Nystagmus
auf (Eschweiler). Der Lucae-Dennertsche Versuch positiv.
Nachts bisweilen etwas Kopfschmerz, Schlaf mangelhaft. Rp. Ferr. lactic.
Chinin. Ext. Valerianae. Sanatogen.
8. Juni. Schlaf gut. Appetit gut. Labyrinth fast total von Granu-
lationen erfüllt. Keine Entartungsreaktion bei der galvanischen Prüfung
des n. facilis.
14. Juni. Wohlbefinden. Galvanisation des n. facialis. 3 mal wöchentlich.
20. Juni. Die Wundhöhle ist fast ganz epidermisiert. Patient Ist ohne
jede Beschwerde.
N. facialis noch paretisch, aber schon wechselnd. Gut erhaltene
Reaktion.
28. Juni. Die Wundhöhle ist epidermisiert. Patient entlassen.
2. Fall. Weiland, Hedwig, J. Maurerstochter aus Göttingen kam
am 16. Mai d. J. in die Poliklinik mit der Klage, seit etwa 4 Wochen an-
fallsweise Kopfschmerzen zu haben. Seit der Zeit R. Ablenkung des Auges.
16*
244 XXVn. ÜFFENORDE.
Keine Gleichgewichtsstöning, kein Schwindel, hat einmal erbrochen Sonst
bestehen keinerlei Beschwerden. Die Kopfschmerzen lokalisierten sich all-
mählich mehr in die Stimgegend.
R. Ohr. Gehorgang, Umgebung und Trommelfell zeigen normalen
Befund. Funktion ergiebt: Uhr 20 cm gehört, Knochenleitung erhalten. Weber
nach Ijnks (der kranken Seite) lateralisiert. Perzeptionsdauer nicht einwand-
frei zu prüfen. Uhr 15 cm gehört
L. Gehorgang frei. Die Umgebung des Ohres zeigt keine Druck-
empfindlichkeit und keine Schwellung.
In der Tiefe des Gehorgangs Epithelschollen. Tfll. konvex, graurot.
Fnnktionsprufung ergibt Lateransation beim Web er 'sehen Versuch
nach links. Knochenleitung erhalten. Die Uhr wird ad concham gehört.
Die ganze Tonreihe gehört.
Beiderseitige Abducenslähmung und Strabismus convergens rechts.
Kein Nystagmus. Pupillen etwas eng, reagieren, nn. facialis, hypo-
glossus, trochlearis u. s. w. ohne Besonderheit. Hhomberg negativ.
Diagnose: Otitis med. exsudativa acuta sin.
Therapie: Paracentese.
Es fließt kein Sekret aus der Pauke ab, nur Blut.
Darauf etwas Nachlassen des Kopfschmerzes. Geringe Sekretion aus
der Pauke.
Seit dem 29. Mai zunehmender Kopfschmerz. Das Kind hält ständig
die Hände an die Stirn gedrückt, jammert und klagt über Schwindel.
30. und 31. Mai öfter Erbrechen, das Kind ist mittags zusammen ge-
brochen.
Das Kind ist in die Kgl. medizinische Klinik aufgenommen, dort wurde
folgender Status praesens erhoben : Mädchen cyanotiscn, stumpf, teilnahmlos,
mit nach hinten übergestrecktem Kopfe daliegend. Das Kind antwortet
prompt und richtig und gibt als Sitz der Schmerzen die Stirn an. Geringe
Nackenstarre, Kernig angedeutet.
Abducensparese bds., Strabismus convergens dexter. Pupillen different,
reagieren beide prompt Beiderseitige stark ausgebildete Stauungspapille,
rechts mit strichförmigen Blutungen. Druckpunkte der Trigeminusäste bds.
empfindlich. Gesichts- und Zungenbewegung intakt. Puls 54—60, aryth-
misch. Leib eingesunken, gespannt. Sehnenreflexe am Knie und Ferse nicht
auszulösen. Kein Babinski. Kein Rh omb erg. Leukocyten 22 500.
Spinalpunktion 200—250 mm Druck. 15 cm laufen ab, unter Erniedrigung
des Druckes auf 100 mm. Eiweißgehalt nicht vermehrt. Zucker vorhanden.
Verle^ng in unser Spital.
Funktionsprüfung nicht ausführbar.
Diagnose: Seröse meningitia. Labvrintheiterung (?).
28. Mai. Totalauf meißelung in Chloroformnarkose.
Operationsbericht: Weichteile ohne Besonderheit. Corticalis in dem hin-
teren Teile des Processus bläulich verfärbt. Sinus lateralis liegt direkt unter
der Corticalis. Diese ist in dem oberen Teile der Pars mastoidea verdickt.
Beim Anschlagen des Antrum mastoideum dringt unter Pulsationen Eiter
hervor, der eigentümlich milchig gefärbt ist. In Antrum, Attikus und besonders
auch in der Pauke zeigt sich geschwollene Schleimhaut. Der kurze Schenkel
des Amboß ist stark kariös, auch sonst am Hammer und Amboß kleine
kariöse Stellen. Der Stapes ist von Granulationen eingebettet und davon
durchwachsen, er ist ohne weiteres damit herauszuholen. In der fossa ovalis
Fistel nach dem Labyrinth zu konstatieren.
Der n. facialis wird aus seinem Kanal herauspräpariert. Dabei
wiederholt Zucken der Gesichtshälfte. Darauf breite Eröffnung des Vesti-
bulum und der Bogengänge, diese werden ganz entfernt. Die Schnecke und
der vordere vestibuläre Abschnitt zeigen Eiter und eitrige infiltrierte Granu-
lationen. Das Promontorium wird ganz entfernt. Beim Fortnehmen der
hinteren Bogengangsgegend Abfluß von Liquor cerebrospinalis. Die hintere
Felsenbeinpyramidenfläche wird z. T. mit entfernt, um die Dura mater frei
zu legen. Diese erweist sich als gesund. Dura mater der mittleren Schädel-
grube bloßgelegt, ohne krankhafte Auflagerung, wölbt sich stark vor. Ohne
Beiträge zur Indikation der Labyrintheröffnang usw. 245
Palsation. GJättung der Wundhöhle. Auswaschen mit physiologischer Koch-
salzlösung. Vioformgazetamponade. Panse'sche Plastik. Verband.
2. Juni. Es hat standig starker Abfluß von Liquor cerebrospinalis
stattgefunden. Der Verband war immer ganz durchfeuchtet und die Leib-
wäsche beschmutzt. 1. Verbandwechsel, da abends vorher 38^. Leichte
Schwellung um die Wunde. Starker Foetor. Entfernung der Plastiknähte.
Austupfen der Wundhöhle mit Hydrogeniumperoxydatum. Fieber abgefallen.
Patientin fällt beim Aufrichten nach der gesunden Seite. Subjektiv kein
Schwindel, kein Sausen. Beim Blick nach der gesunden Seite
starker rotatorischer Nystagmus. Appetit leidlich. Facialis paretisch,
besonders die unteren Aste. Keine Kopfschmerzen mehr. Die bakteriologische
Untersuchung des Eiters hat Pneumokokken ergeben (Kgl. hygienisches
Institut). Die mikroskopische Untersuchung des Granulationsgeweoes aus der
Pauke mit Stapes ergibt keinen besonderen Befund, ebenso ist eine Tuberkel-
bazillenfärbung resultatlos.
5. Juni. Der Abfluß von Liouor cerebrospinalis hat aufgehört. Immer
Eiter in der Wunde, auch im Lalbyrinth. Nystagmus gering, nicht immer
deutlich. Kein Schwindel. Beim 6ehen starkes Schwanken und Unsicher-
heit Keine Kopfschmerzen. Appetit gut. Keine Temperatur. Puls noch
schwankend.
10. Juni. Die Abducenslähmung ist beiderseits bedeutend zurückgegangen.
Die Pupillen sind etwa gleich weit, eher erscheint diejenige auf der linken
Seite jetzt etwas enger. Die Veränderungen des Augenhintergrundes sind
auf beiden Seiten noch sehr stark. Die Papillengrenzen sind ganz ver-
waschen. Die Papille wölbt sich nicht vor. Z. T. sind die Blutungen noch
sichtbar, z. T. sieht man nur die Narben, sie sind resorbiert. Daneben sind
strahlenförmige Degenerationsherde sichtbar. Das Gesicht ist gut (Kgl.
Augenklinik).
16. Juni. Patientin hat zweimal inzwischen kurz erbrochen. Es besteht
keinerlei Sausen, Schwindelgefühl. Steht zeitweise auf, noch stärkere Gleich-
gewichtsstörung. Appetit gut. Die Veränderungen am Augenhintergrund
noch ungefähr dieselben. N. facialis noch paretisch, er ist von gesund
aussehenden Granulationen umgeben. In den vorderen Abschnitten der
Labyrinthhöhle Granulationsbildung. Das Vestibulum zeigt noch nackten
Knochen. Wohlbefinden. Oft Verbandwechsel.
18. Jul. Patientin war zur ambulatorischen Behandlung entlassen. War
herumgelaufen. Starke Kopfschmerzen, geringes Erbrechen. Die Lumbal-
punktion ergibt keine Drucksteigerung des Liquor cerebrospinalis; dieser
ist ganz klar.
Neue Aufnahme.
25. Juli. Appetit stets sehr gut. Bisweilen Klage über sehr starke
Stimkopfschmerzen. Abducens wieder mehr paretisch. Pupillendifferenz
gering. Der orbiculare Ast des Facialis reagiert. Läßt zeitweise unter sich.
Sensorium aber immer ganz frei. Babinski positiv. Plötzlich nachts wird
die Atmung sehr langsam, der Puls ebenfalls 60. Große Mattigkeit. Patientin
kann nicht stehen. Babinski positiv.
Operation : Mit der Borchardt'schen Fraise wird nach Zurückschiebung
der Weichteile ein größeres Stück der knöchernen Kleinhimkapsel entfernt.
In dem hinteren Winkel des Sinus transversus und sinus sigmo'ideus werden
nach verschiedenen Richtungen Punktionen gemacht. Eine einsetzende Re-
spirationslähmung wird durch künstliche Respiration besiegt. Kampherin-
jektion. Dann bei einer erneuten Punktion des Cerebellum mit Dilatation
durch Peance Respirationslähmung, die trotz lange Zeit hindurch aus-
geführter künstlicher Atmung, Kampherinjektion, Kochsalzinfusion nicht be-
seitigt werden konnte. Exitus letalis.
Die Sektion ergibt: In dem ganzen Körper verbreite Miliartuberkulose,
die scheinbar etwas älteren Datums ist. Lunge, Darm, Leber, Milz, Mesen-
terium, Drüsen befallen. Während das Großhirn und die Meningen frei von
Veränderungen sind, finden sich im Cerebellum 4 große, z. T. kleinwall-
nußgroüe Konglomerattuberkel in der Rindenschicht, davon sitzt einer am
Wurm, ein anderer ist mit der Kleinhimdura verwachsen und ist andererseits
246 XXVII. ÜFFENORDE.
nur durch seinen Stiel mit der Kleinimsubstanz verbunden. Im Bereiche
der Operationswunde im Felsenbein finden sich weder an der Dura mater
noch Nerven oder Blutwegen Veränderungen. Die Wundhöhle zeigt frisch
aussehendes Granulationsgewebe. Außerdem besteht ein ziemlidi hoch-
gradiger Hydrocephalus. (Kgl. Patholog. Institut.)
Epikritische Bemerkungen: Bei dem 1. Falle
ist besonders bemerkenswert, wie schleichend und symptomlos
der so schwere Prozeß verlaufen ist. Patient ist sehr ver-
ständig und ziemlich intelligent. Zweifellos hat die Erkrankung
früher bestanden, wie vom Patienten angegeben wurde. Auch
die kreisärztliche Prüfung wird nicht unbedingt dagegen sprechen.
Zur Zeit der Operation bestand nur ein totaler Ausfall des coch-
learen Abschnittes, der des vestibulären war durch die anderen für
die Erhaltung des Gleichgewichts in Frage kommenden Faktoren
bereits vollkommen ausgeglichen. Auch die später vorgenommene
dynamische Prüfung der beiden oberen Extremitäten, die Prüfung
des Widerstandes beim festen Stehen ergaben keinen wesentlichen
Unterschied, auch den von E seh weil er beobachteten Nystagmus
beim Rotieren des Pat. vop der gesunden zur kranken Seite, hier
von 1. nach r., u. z. beim Blick nach links, konnten wir deutlich
wahrnehmen. Erst durch eine in der letzten Zeit auftretende
Mischinfektion ist der Prozeß aus der Latenz herausgetreten und
hat die schweren Erscheinungen gezeitigt. Auffallend ist es, wie
rasch sich der Patient vollkommen erholte. Die Funktionsprüfung,
die leider vor der Operation keine vollständige sein konnte, da-
mals auch nicht ganz sicher erschien, ergab auf dem kranken
Ohr eine Perceptionsdauer für c'-^ und c^ von 10" (Spiegelbild
des anderen Ohres [Bezold, Wann er]).
Bei dem zweiten Falle, wo wir im wesentlichen einen akuten
Prozeß vor uns haben, traten offenbar lange vor dem vollendeten
Durchbruch der Eiterung ins Labyrinth die endokraniellen Symp-
tome auf.
Da man weder durch klinische Untersuchung, noch durch
die anderen Untersuchungen: die bakteriologische Untersuchung
des Liquor cerebrospinalis, des Pauken- und Labyrintheiters, die
mikroskopische Untersuchung der veränderten Paukenschleim-
haut, irgend einen Anhalt für Tuberkulose hatte, so wurde diese
zeitweilig gehegte Befürchtung fallen gelassen. Gerade der
Pneumokokkenbefund erschien als genügende Erklärung für das
eigenartige Krankheitsbild. Die anfänglichen cerebralen Symp-
tome sind wohl als hydrocephalische aufzufassen.
Die Schnecke, die anfangs auf jeden Fall noch funktionierte,
Beiträge zur Indikation der Labyrintheroffnung usw. 247
war bald nach dem LabyriDth durchbrach schwer beteiligt. Zur
Zeit der Operation waren die Bogengänge noch im wesentlichen
frei, und nur die Schnecke und der Vorhof ergriffen. Den Reiz-
erscheinungen vor der Operation folgten nach dieser die Aus-
fallserscheinungen. Kurz nach der Operation war jedoch noch
starker rotatorischer Nystagmus nachweisbar.
Die Gleichgewichtsstörungen, dynamischen unterschiede nach
der Operation, verschieden starker Händedruck, geringer Wider-
stand beim Stoßen nach der kranken Seite (Wann er) waren
offenbar durch den Labyrinthverlust bedingt, da die krankhaften
Prozesse im Cerebellum sich nur sehr langsam entwickelten und
beiderseits bestanden.
Wenn auch durch die bestehende Tuberkulose des Kleinhirns
(Schulze) das Krankheitsbild nicht ganz eindeutig ist — auch
die Paukenaffektion ist vielleicht tuberkulöser Provenienz und als
hämatogene Infektion aufzufassen, der Pneumokokkenbefund be-
deutet dann nur eine stattgefundene Mischinfektion — so glaube
ich trotzdem den Fall voll und ganz für das vorliegende Thema
verwerten zu können, da für das Labyrinth und den nervus
facialis die Verhältnisse ebenso so ungünstig lagen wie in anderen
Fällen von Mittelohreiterung.
Zum Schluße möchte ich kurz über die von uns beobachteten
Fälle von Mittelohreiterang mit Labyrinthkomplikation berichten,
soweit sie operativ behandelt wurden. Alle heilten spontan nach
Ausführuung der Totalaufmeißlung der Mittelohrräume. Die Fälle
wollen wir in akute und chronische trennen. In .Allen diesen
Fällen mußte die Komplikation entweder wegen Nachweises einer
Fistel an der Labyrinthkapsel oder wegen bestehender hochgradiger
Taubheit mit schweren Erscheinungen seitens des Labyrinthes an-
genommen werden. Daß öfter eine Fistel an der medialen Pauken-
wand bestanden hat, ist anzunehmen, sie konnte wegen unseres
oben mitgeteilten Standpunktes bei der Operation nicht immer
nachgewiesen werden. Die Erscheinungen seitens des vestibulären
Teiles waren in frischeren Fällen oft stürmisch, Übelkeit, Erbrechen,
auch Schwindel, Kopfschmerz, Nystagmus, meist stärker nach
der gesunden Seite, aber fast immer auch schwächer nach der
kranken Seite, seltener Gleichgewichtsstörungen, wurde oft gleich-
zeitig bei demselben Individuum beobachtet. Die Erscheinungen
traten meist in Attacken auf. Daneben bestanden oft starkes Sausen,
Klingen u. a. Wir haben beobachtet, daß die Erscheinungen bei
sonst empfindlichen, sensiblen Menschen besonders heftig waren
248 XXVII. ÜFFENORDE.
und auch unangenehmer empfunden wurden. Während nun alle
diese Symptome in einigen Fällen abortiv nach der Totalaufmeiße-
lung abklangen y wie auch in den Fällen von Jsemer, bestand
der Nystagmus meist noch lange Zeit fort; ich konnte ihn oft
viele Monate^ nachdem die Aufmeißelungshöhle total epidermisiert
war, bei den Patienten als einziges Symptom noch nachwiesen.
Ich möchte hier besonders betonen, daß gleich nach der Opera-
tion oft Nystagmus, z. T. sogar starker, nachweisbar ist, — be-
sonders sehen wir das auch bei stark fiebernden Patienten, —
das sagt m. E. nichts Besonderes hinsichtlich des Labyrinthes; er
entsteht dann wohl durch die Erschütteung desselben beim Meißeln.
Es scheint auch, als ob die Individuen verschieden empfindlich
sind. Die Gleichgewichtsstörungen halten öfter auch längere Zeit
nach ausgeheilter Totalaufmeißlung noch an, treten aber meist
nur in der Dunkelheit oder bei der Arbeit in Erscheinung und
sind mehr unbestimmter Art.
In zwei Fällen haben wir Labyrinthentzündung bei akuter
Eiterung beobachtet; einmal heilten die stürmischen Erscheinungen
nach Ausführung der Totalauf meißelung, in dem anderen (siehe
Fall 2 oben) wurde wegen der endokraniellen Komplikation
das Labyrinth total eröffnet. In dem einen Falle wurde eine
Fistel durch das ovale Fenster nachgewiesen, in dem anderen
wurde bei vollständigem Symptomenkomplex auf der Kuppe des
lateralen Bogenganges ein stark blutendes Gefäß gesehen.
22 Fälle von chronischer Labyrintheiterung mit ausgesprochenen
Labyrinthsyipptomen und Erscheinungen kamen zur Operation.
Bei 12 von diesen Fällen ließ sich ein oder mehrere verschieden
große Defekte am lateralen Bogengang konstatieren. Daß immer
eine Fistel bestanden hätte, kann nicht behauptet werden, die
Sonde hakte aber immer in dem Defekt auf der Bogengang-
prominenz ein. Außerdem bestand sicher ein entzündlicher Prozeß
im Labyrinth mit schweren Reiz- und Ausfallserscheinungen, oder
es bestanden nur letztere. Bei diesen allen war mit 3 Ausnahmen
Cholesteatombildung nachzuweisen. Wir haben ein paar Mal be-
obachtet, wie der Patient bei Berührung des defekten Bogen-
gangwulstes in der Narkose Würgbewegungen machte. In ein-
zelnen Fällen wurden mehrere Fisteln, neben den an dem Tuber
ampullare auch solche an der medialen Paukenwand nachgewiesen.
In einem ganz vernachlässigten Falle mit hochgradiger Taub-
heit konnten wir auf der lateralen Prominenz den seltenen Befund
von Hyperostosen neben kariösen Stellen sehen, den Jansen
Beiträge zar Indikation der Labyrintheröffnong usw. 249
und Frey auch beobachteten, der von Zeroni mikroskopisch
nachgewiesen wurde.
In 21 Fällen kam die chronische Labyrinthentzündung spontan
zur Heilung, nachdem die Totalaufmeißlung der Mittelohrräume
gemacht war, in einem Falle (1. Fall oben) wurde das Labyrinth
total freigelegt.
Ein Fall von den übrigen ist ganz besonders erwähneiiswert
Hier handelt es sich offenbar um einen Durchbruch der Mittel-
ohreiterung ins Labyrinth mit konsekutiver Meningitis serosa. Der
ganze schwere endokranielle Prozeß ist in vielen Wochen allmäh-
lich bis auf die Mittelohreiterung spontan geheilt. Die Anamnese
ergibt, daß der Patient plötzlich sehr viel Übelkeit und Erbrechen
mit Drehschwindel bekommen hat, dann sehr matt geworden ist,
Kopfschmerzen und starkes Sausen aufgetreten ist, und der Patient
dann bettlägerig wurde. Darauf ist er mit einer kurzen zeitweisen
Besserung mehrere Wochen ganz bewußtlos gewesen. Außerdem
bestand, was mir der behandelnde Kollege freundlichst mitteilte,
Nackenstarre vorübergehend, Pulsverlangsamung, etwa 60, Tempe-
ratur um 38o. Spasmen und Lähmungen sind nicht aufgetreten.
Allmählich ist Heilung eingetreten. Genickstarre war auszu-
schließen. Die Operation deckte später ein Cholesteatom der Mittel-
ohrräume mit Fisteln an dem lateralen Bogengangwulst auf . Brieger
berichtet über gleiche Erfahrungen, er führt die Erscheinungen auf
umschriebene Meningitis mit Liquorvermehrung zurück.
In zwei Fällen bestanden bei nachgewiesener Fistel auf der
lateralen Prominenz und leidlichem Gehörvermögen nur Er-
scheinungen seitens des Vestibularapparates, wobei niemals da-
neben Sausen bemerkt wurde. Einmal bestand bei den Fällen
Facialparalyse, aber wiederholt lag der Nerv frei, wie bei der
Operation festgestelt wurde. Eine häufige Erscheinung bei der
Labyrinthentzündung ist eine ausgesprochene allgemeine Mattig-
keit — Ich glaube, daß es aus besonderen Gründen nicht zweck-
dienlich ist, das Verhältnis der Frequenz der Labyrintheiterung
zu der der Mittelohreiterungen hier aufzustellen.
Benutzte Literatur:
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Bourguet. Anatomie chirurgicale du labyrinthe. Thöse du Toulouse
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Bezold, Das Hörvermögen der Taubstummen. Wiesbaden. Bergmann.
1896 und 3 Nachträge bis 1901.
Bezold, Über funktionelle Prüfung. Bd. IL 1902.
250 XXVII. UFFENORDE.
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Eschweiler, Über Nystagmus bei einseitiger Labyrinthlosigkeit.
Verh. der Deutsch. Otolog. Gesellsch. Trier 1902. S. 110.
Freitag, Zur Prognose der operativen Eröffnung des eitrig erkrankten
Labyrinthes. Z. f. 0. Bd. LI.
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chronischen Eiterungen. Arch. f. Ohrenh. LXÜI. 1. S. 12.
Friedrich, Die Eiterungen des Ohrlabyrinthes. Wiesbaden 1905.
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flinsberg, Über die Bedeutung des Operationsbefundes bei der Frei-
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disation zur Eröffnung des eitrigen Labyrinthes. Z. f. 0. Bd. LH.
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Zeitschr. f. Ohrenh. XL.
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Schulze, Ohreiterung und Himtubercel. Arch. f. Ohrenh. LIX. 1. 2.
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V. Stein, Sur le diagnostic et le traitement des suppurations du
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Zeroni, Über postoperative Meningitis. A. f. 0. LXVI. p. 199.
Zur Mühlen, Zeitschr. f. Ohrenh. Bd. 39. S.380.
Aus der Abteilung für Ohren-, Nasen- und Halskranke des k. u. k,
Garnisons-Spitals Nr. 1 in Wien.
(Vorstand Regimentsarzt Privatdozent Dr. C. Biehl.)
Circnmscripte Labyrinth-Nekrose.
Kasuistische Mitteilung
von
Eegimentsarzt Dr. W. Zemann, Sekundarius der Abteilung.
(Mit 1 Abbildung.)
Nach dem letzten ^Bericht über die neueren Leistungen in
der Ohrenheilkunde" von Blau beträgt die Zahl der bis Ende 1904
mitgeteilten Labyrinthnekrosen 104. Diese verhältnismäßig ge-
ringe Anzahl läßt auf das seltene Vorkommen dieses Krankheits-
bildes schließen.
Nach Bezold^) „entfällt auf 3000 Ohrenkranke überhaupt
und auf 500 chronische Mittelohr-Eiterungen 1 LÄbyrinthnekrose".
Unter diesen sind die Schneckennekrosen relativ häufig. So
waren unter den im Blau 'sehen Berichte erwähnten 104 Fällen
von Labyrinthnekrose allein 53 Nekrosen der Schnecke.
Diese Zahlen rechtfertigen die Mitteilung der nachfolgenden
genau beobachteten Erkrankung.
Unterpionier L. D., geb. 1884, wurde am 8. Jan. 1906 von seinem Truppen-
körper dem Gamisons-Spital I zur fachärztlichen Behandlung seines Ohren-
leidens übergeben.
Er stammt von gesunden Eltern. Im Anschlüsse an einen im 9. Lebens-
jahre acquirierten Typhus trat eine rechtsseitige Ohreneiterung auf; dieselbe
machte weiter keine Beschwerden und sistierte zeitweise.
Befund bei der Übergabe in das Spital:
Patient ist mittelgroß, kräftig, bis auf sein Ohrenleiden vollständig
gesund.
Das linke Trommelfell ist stärker eingezogen, matt, der Lichtreflex
nur an der Spitze vorhanden.
Im äußeren Gehörgang rechterseits eingedickter übelriechender Eiter.
Nach trockener Reinigung sieht man die Membran stark eingezogen, das
Epithel abschilfernd. Im ninteren oberen Quadranten ist ein kleiner, rand-
1) Feststellung einseitiger Taubheit, Zeitschr. f. Ohrenh. XXX. 1897.
252 XXVUI. ZEMANN.
ständiger Defekt, yon dem aas eine Fistel nach oben führt. Die innere
Fläche der durch die Fistel mit der Sonde erreichbaren latei-alen Attikwand
ist rauh.
Die Tuben sind gut durch^ngig. Die linke Nasenhälfte durch eine
hohe crista septi stark verengt ; Kachendach und Choanen sind frei.
Ergebnis der Funktionsprüfung:
W (Zeichenerklärung unten)
Ja ^ L
in contin. U in continuo
— B —
15" Cp 15"
7 Co 8
— 3 m JF7 — 3 m
St
0.4 Gt 0.4 (20 cm vor dem Ohre)
Untere Tongi-enze R und L 24 Doppelschwingungen.
Obere Tongrenze Galtonpfeife 0.4. Gleichgewichtsstörungen sind nicht
nachweisbar.
Diagnose : Chronische Mittelohreiterung des rechten Ohres, chronischer
Mittel ohrkatarrh links.
Da vorauszusehen war, daß wegen der Enochenerki*ankun^ im Attik
die konservative Behandlung In absehbarer Zeit nicht zum Ziele führen
dürfte, so wurde am 31. Januar die Totalauf meißlung vorgenommen (Itegi-
mentsarzt Doz. Dr. Biehl). Dieselbe ergab ausgedehnte Karies der lateralen
Attikwand. Hammer und Amboß wurden entfernt, sind aber intakt.
Die Schleimhaut der medialen Wand der Paukenhöhle^
besonders in der Gegend des runden Fensters stark granu-
lierend.
Platisk nach Pause, Tamponade vom Gehörgang aus mit 3 7o Isoform-
gaze ; primäre Naht der retroaurikulären Wunde mit Michel' sehen Klammem.
3. Februar. Verbandwechsel. Bisher glatter Wundverlauf. An diesem
Tage abends plötzlich Temperatur 38,4 "« verbunden mit starkem Brechreiz
und Schwindelgefühl. Patient hat die Empfindung nach links aus dem Bette
zu rollen und vermag sich nicht aufzurichten. Hoiizon taler Nystagmus be-
sonders beim Blick nach links; kontinuierliches hohes Klingen im ope-
rierten Ohre.
4. Februar. Kein Reber; Brechreiz und Schwindelgefühl geringer;
Nystagmus noch vorhanden.
5. Februar. Mit Ausnahme des hohen Klingens sind alle subjektiven
und objektiven Erscheinungen des Vortages verschwunden.
Im weiteren Wundverlaufe epidermisierten der erweiterte Gehörgang,
Attik und Antrum rasch, während von der Promontorialwand noch immer
reichlich Granulationen aufschössen und ein oftmaliges Abtragen mit der
Schlinge und nachheriges Ätzen mit Chromsäure notwendig machten
Am 1. August endlich gibt Patient an, das Klingen im Ohre nicht
mehr zu hören.
W «. Weber'scher Versuch.
ü = Uhr in der Luftleitung.
UJs = Uhr an der Schläfe.
üiü=^ Uhr am Warzenfortsatz.
E =r Rinne'sher Versuch: Cp Stimmgabel am proc. mastoideus (nor-
mal 15"), Co vor der Ohröffnung (normal 32").
Gt = Galtonpfeife.
Fl = akzentuierte Flüsterstimme in m.
St s= Stimme laut.
Circiimscripte Labyrinth -Nekrose. 253
Am 9. Angnst wurden beim abennaligen Abtragen der GranulatioDen
von der medialen Wand ein großer Sequester (siehe Abbildung) und drei
kleinere nicht näher zn differenziereude Kuochenteile auB dem Mittelohre
mit der Pinzette entfernt.
Am 28. November gingen noch zwei kleinere Rnochenpartikelchen ab.
Nun hSrte die Granulationsbildang und Eiterung auf und am 2. Januar I90T
war die ganze OperationabÖhle trocken und Qbcrhäutct.
Wie aus der Krankengeschichte zn ersehen ist, handelt es
sich im vorliegenden Falle um eine partielle Nekrose der Schnecke
nnd zwar entspricht der abgestoßene Sequester dem größeren
Teil der basalen Windung samt der zugehörigen Spindel.
Verursacht war die Sequestrierung durch die während
des Typhns im 9. Lebensjahre entstandene, durch 1 1 Jahre wäh-
rende chronische Mittelohr-Eiterung,
Vor der Operation, bei der
Aufnahme ins Spital waren Laby-
rinthsym ptom ebestimmtnichtnach-
weisbar. Der Befund am Ope-
rationstische, besonders die an der
vorderen Begrenzung der Nische
zum runden Fenster wuchernden
Granulationen, konnten allerdings
auf eine Erkrankung der promontorialen Knochenwand hin-
weisen.
Dieselben mahnten auch zu erhöhter Vorsicht sowohl bei
den einzelnen Meißelschlägen, als auch — und zwar insbesondere —
bei der schließlichen Reinigung der Wundhöhle.
An dieser Stelle möge erwähnt werden, daß bei derartigen
Eingriffen immer die mediale Faukenhöhlenwand mit kleinen
Gazetampons geschützt wird. Dies hat auch den Vorteil, daß
jederzeit die tiefer liegenden Teile — nach Entfernung des Tam-
pons — ohne vorhergehende lange Reinigung dem Auge zugäng-
lich gemacht werden können.
Trotz dieser Vorsichtsmaßregel sind sicherlich die am dritten
Tage nach der Operation einsetzenden Labyrinthsymptorae durch
diese selbst, und zwar wahrscheinlich durch die Erschütterung
bei den Meißelschlägen verursacht worden.
Der weitere Wundverlauf rechtfertigt diese Annahme und
das Unterlassen jedes weiteren operativen Eingriffes. Ob durch
einen solchen die bereits demarkierte lAbyrintbeiterung zur Heilung
gelangt wäre, ist eine Frage, deren Beantwortung menschlicher
Voraussiebt nicht möglich ist.
Von den charakteristischen Symptomen müssen die
254 XXVm. ZEMANN.
vom 3. bis 5. Febr. bestehenden Schwindelerscheinungen, Brech-
reiz, Nystagmus als vorübergehende Reizerscheinungen des stati-
schen Labyrinths angesehen werden.
Leider konnten und durften wegen des schweren Krankheits-
zustandes während dieser Zeit genauere Untersuchungen nicht
vorgenommen werden.
Später waren Koordinationsstörungen nicht mehr nachweisbar.
Als Reizerscheinungen von Seiten der Schnecke ist das
vom 3. Febr. bis 1. Aug. kontinuierlich dauernde, den Kranken
äußerst belästigende hohe Klingen zu erwähnen.
Schmerzen waren nie vorhanden, Fieber nur an einem
Tage.
Der Fazialis — dessen dauernde oder vorübergehende Läh-
mung eine sehr häufige Komplikation (nach Bezold 83 Vo, nach
Gerber 77 ^/o) *J der Labyrinthnekrose bildet — blieb während des
ganzen Krankheitsprozesses verschont.
Otoskopisch war die üppige, fast nicht einzudämmende
Granulationswucherung von der medialen Paukenhöhlenwand für
die Labyrinthnekrose charakteristisch.
Ausgang: Die Eiterung im inneren und mittleren Ohre
heilte vollständig aus, der Fazialis blieb verschont. Die Funktion
des statischen Labyrinths ist nicht gestört.
Drehschwindel, physiologischer Nystagmus, sowie das Gefühl
der Gegendrehung sind beim aktiven und passiven Drehen nach
beiden Drehrichtungen gut auslösbar.
Die von Stein'schen Versuche werden bei der statischen und
dynamischen Prüfung — bei offenen und verdeckten Augen —
richtig ausgeführt.
Einzig die Funktion der Schnecke ist zerstört, das Ohr
ist taub.
Mit Rücksicht auf die Größe des Sequesters, das Verschont-
sein des statischen Labyrinths und des Fazialis konnte man
annehmen, daß Teile der Schnecke ihre Funktion behalten
hätten.
Genaue, nach Bezolds^) Anleitung durchgeführte Hörprü-
fungen widerlegten diese Vermutung; nachstehend das Resultat
derselben :
1) Gerber, Über Labyrinthnekrose. Arch. f. Ohrenh. LX. 1904.
2) Über die funktionelle Prüfung des menschlichen Gehörorgans. Wies-
baden, Bergmann, Bd. I u. II. 1897 u. 1903.
Circumscripte Labyrinth-Nekrose.
255
(Zeichenerklärung oben.)
Hörprüfunff vom 20. Januar 1907.
W
B<.L
Ui.c
~" \Uiü) +
B
10 Cp 15"
— Co 7 (-25)
— J<73m
2 St
2-SGtO- 4: (20 cm vor dem Ohre.)
Untere Tongrenze i2 a, i 24 Doppelschwingungen.
Obere Tongrenze i^ 2 • 81 pfp;fpnis«a.p
(Galtonpfeife) i . 4/ ^^eilenlange.
Hördauer (normal = 100).
Rechtes Ohr
Tiinkes Ohr
Äl
— '
83 7o
A
830/0
/«
Nur im Momente
91 >
U
des Anschlagens
a'
10 o/o
830/0
a2
1170
830/0
r
5«/o
65 0/0
c^
50/0
500/0
fis*
4>
400/0
Um jede Täuschung auszuschließen, wurde die Prüfung im
Sinne der Lucae-Dennertschen Probe (beide Ohren verschlossen)
wiederholt; das Resultat für das rechte Ohr blieb unverändert
Wir finden, daß am rechten Ohre a nur im Momente des
stärksten Anschlages gehört wird — von a nach abwärts wird
nichts mehr gehört.
Das Hörfeld des linken Ohres ist gegen beide Grenzen zu
eingeengt; die Hördauer für die untersuchten Stimmgabeltöne ver-
kürzt, von a2 bis fis^ wird die Verkürzung bedeutend größer.
Ein ähnliches Verhalten „spiegelt sich im rechten Ohre wieder".
Das rechte Ohr ist also taub.
Bezüglich der Behandlung sei erwähnt, daß die operative
Eröffnung des Labyrinths erwogen wurde, als am 3. Tage nach
der Totalauf meißelung die Eeizerscheinungen von Seiten des
Labyrinths so stürmisch einsetzten.
Da sie aber ebenso rasch und vollständig wieder zurück-
gingen, beschränkte sich die Behandlung auf das Abtragen der
Polypen und die trockene Reinigung des Ohres.
Der Patient wurde genau beobachtet, um nicht den richtigen
Zeitpunkt eines eventuell notwendig werdenden Eingriffes zu ver-
absäumen; es ergab sich jedoch hierfür keine Notwendigkeit.
XXIX.
Diagnose des otitischen Hirnabszesses.
Von
Dr. Theodor Heimann in Warschau.
Die verhältnisinäßig befriedigenden und ermunternden thera-
peutischen Erfolge bei einem so schweren Leiden, wie es der
otitische Hirnabszeß ist^ veranlassen Chirurgen, vorwiegend aber
Ohrenärzte aller Kulturländer, unermüdlich immer neues literarisches
und kasuistisches Material, das zur frühzeitigen Diagnose und
verbesserten Operationstechnik dieser Krankheit beitragen kann,
zu liefern. Ungeachtet aber aller bisheriger Bemühungen kommt
es jetzt noch nicht selten vor, daß man den Abszeß erst auf dem
Sektionstisch findet, und oft ahnte man ihn nicht, oder dachte an
ihn zu spät, wo alle Bedingungen zu seiner Entfernung und zu
einem günstigen Erfolge vorhanden waren. Wieviel Verdruß man
unter solchen Umständen hat, wieviel ungerechtfertigte Vorwürfe
man sich oft dabei macht, davon weiß wohl fast jeder beschäftigte
Ohrenarzt ein Wort zu sagen. Und auf der anderen Seite hat
man eine wirkliche Befriedigung, wenn es gelungen ist einen
otitischen Himabszeß frühzeitig zu erkennen und zu entfernen,
wodurch man dem Kranken, der unbedingt zum Tode verurteilt
war, nicht nur das Leben rettet, sondern auch seine geistige und
physische Gesundheit zurückerstattet. — Daß ein bedeutender
Fortschritt auf diesem Gebiete zu verzeichnen ist, und daß durch
die richtige Deutung der Symptome und vorsichtige Analyse der-
selben, bessere Erfolge zur Zeit als einst erzielt werden, läßt sich
nicht bestreiten.
Die Ursachen einer irrtümlichen oder zu späten Diagnose der
otitischen Hirnabszesse sind verschieden. Jede der intrakraniellen
Komplikationen, welche durch eine Ohreiterung verursacht wird,
kann unter einem scharf ausgeprägten und daher die Diagnose
Diagnose des otitischen Himabszesses. 257
sichernden Bilde in Erscheinung treten. Für die Sicherheit der
Diagnose ist aber nur ein deutlicher und ganz entwickelter Sym-
ptomenkomplex erforderlich. Sind die Konturen des Bildes
weniger ausgeprägt oder gar verwischt, so erhebt sich die Diag-
nose nicht über Wahrscheinlichkeiten. Alle Komplikationen gehen
von einem und demselben Herde aus, und sehr oft sind alle oder
wenigstens zwei von ihnen gleichzeitig vertreten. Manche recht
in die Augen springende Symptome, die man dem Abszesse zu-
schreibt, sind vielleicht gar nicht ihm eigen, sondern der ihn z.
B. komplizierenden Meningitis. — Bedenkt man, wie sich die
Komplikationen untereinander entwickeln, wie Symptome anderer
Hirnleiden, Krankheiten des Gehörorgans oder sogar funktionelle
Nervenstörungen vortäuschen können, so muß man auf sehr ge-
mischte Darstellungen und auf oft nicht zu entwirrende Wider-
sprüche im klinischen Verhalten der betreffenden Kranken gefaßt
sein. Als eins von mehreren Beispielen möge dienen, daß ein so
viel erfahrener Meister wie Schwartze in einem Falle in der
Diagnose zwischen Temporalabszeß und Meningitis schwankte
und die Autopsie erwies einen Kleinhirntumor (A. f. 0. Bd. 38.
S. 292). Kuhn beobachtete einen Fall (M. f. 0. Bd. 29), wo alle
Symptome und vor allem die amnestische Aphasie einen links-
seitigen Schläfenlappenabszeß annehmen ließen. Die Operation
und Autopsie entdeckte statt dessen eine diffuse Meningitis. Einen
ähnlichen Fall beobachtete Pause. Nicht selten sprechen die
Symptome für einen Großhirnabszeß, bei der Operation wird der-
selbe nicht gefunden und die Autopsie erweist einen Kleinhirn-
abszeß (Truckenbrod, Zaufal, Drummond D. Lannois-Armand).
Die große Verschiedenheit des häufig latenten Verlaufes des
Himabszesses macht die Diagnose sehr oft schwierig, ja unmög-
lich. Die größten Schwierigkeiten bieten die Fälle, bei welchen
das latente Stadium komplet ist, die Initialsymptome sehr leicht
sind, und die Endsymptome plötzlich auftreten und einen ganz
rapiden Verlauf nehmen. Man begegnet recht oft Kranken, die
bei einer exazerbierten chronischen oder bei einer akuten Mittel-
ohreiterung von gewissen Symptomen befallen werden, die schein-
bar mit einem Hirnleiden nichts Gemeinsames haben. Das Grund-
leiden schwindet vollständig oder bessert sich so bedeutend, daß
der Kranke sich für geheilt betrachtet und seiner üblichen Be-
schäftigung nachgeht. Zwar belästigen ihn noch hie und da
manche wenig ausgesprochene Symptome, wie z. B. leichter Kopf-
schmerz, denen er kein großes Gewicht beilegt, und deretwegen
Archiv f. Ohrenlieilknnde. 73. Bd. Festschrift. 17
258 XXIX. HEIMANN.
er oft sogar den Arzt nicht um Rat befragt. Wenn dieses aber
geschieht, werden meistens die Symptome vom Arzte gering-
geschätzt, unterschätzt oder nicht recht gewürdigt, oder dieselben
sind so unbedeutend und so undeutlich, daß es dem Arzte meistens
unmöglich ist, sie entsprechend zu würdigen. Als Beispiele eines
solchen Verlaufes mögen zwei von mir beobachtete Fälle dienen.
Im ersten Falle machte ein Soldat eine Otitis media acuta durch und
wurde vollständig gesund aus dem Hospital entlassen. Zwei Wochen später
starb er plötzlich im Regiment. Die Autopsie erwies einen hühnereigroßen
rechtsseitigen akuten Schläfenlappenabszeß. Im zweiten Falle war es ein
Soldat) der nach 33tägiger Behandlung einer exazerbierten linksseitigen
chronischen Mittelohreiterung das Hospital relativ gesund verlassen sollte,
aki
r eines Himal)szes8es denken 1
tops'
Schädelhöhle entleert hatte.
als er plötzlich an Symptomen einer akutesten Meningitis, die an die Ent-
leerung eines Himabszesses denken ließ, in einigen Stunden einging. Die
Autopsie erwies einen großen linksseitigen Kleinhimabszess, der sich in die
Für den Rleinhirnabszeß fand Oka da: in 10 ^/o trat der
Tod ein, bevor noch irgend welche Symptome auf eine intra-
fcranielle Erkrankung deuteten. Fast in ii% waren die Sym-
ptome, durch andere unerwartete Komplikationen otogener Natur
verdeckt, so daß oft nur letztere Komplikationen diagnostiziert
wurden. Eine irgendwie sichere Diagnose war unmöglich. In
fast 42^/0 war die Diagnose unmöglich infolge anderer intra-
kranieller Komplikationen, die mit dem Kleinhimabszeß unmittel-
bar oder mittelbar zusammenhingen, wie Sinusphlebitis, Pachy-
und Leptomeningitis und auch Großhirnabszeß. Kleine Abszesse
in einer Großhirnhemisphäre machen nur dann Symptome, wenn
dieselben in unmittelbarer Nähe der motorischen Rindenzone
liegen, oder durch ihre Nachbarschaft indirekt auf diese Teile
oder auf andere Hirnganglien eine Wirkung ausüben.
Nicht aber nur kleine Abszesse können latent bleiben, sondern
auch, wie bekannt, können Frontallappenabszesse eine enorme
Größe erreichen und lange bestehen, bevor ein Symptom auftritt,
das Verdacht erregt. Sogar im Schläfenlappen kommen nur
dann Zeichen eines in ihm bestehenden Abszesses zum Vorschein,
wenn das Volumen des letzteren sich so vergrößert hat, daß da-
durch Störungen in der Schädelhöhle entstehen, welche die raum-
beanspruchende Masse hervorruft und die bekanntlich in einer
Verlangsamung der Blutbewegung in der Schädelhöhle bestehen
und gemeinhin als Drucksymptome gedeutet werden. Glücklicher-
weise kann man in dreiviertel der Fälle eine richtige Diagnose
recht frühzeitig stellen, wenn man die Gehirnerscheinungen, die
zwar selbst nicht charakteristisch sind, da sie auch bei anderen
Himleiden vorkommen, mit den allgemeinen, für einen Eitervor-
Diagnose des otitischen Himabszesses. 259
gang sprechenden Erscheinungen assoziert und dabei die Ur-
sachen, die einen Hirnabszeß gewöhnlich hervorrufen, im ge-
gebenen Falle die bestehende oder vorausgegangene Ohreiterung
berücksichtigt. Es sollte deshalb in jedem Falle, in welchem
Hirnsymptome sich einstellen, oder Verdacht auf dieselben vor-
handen ist, das Gehörorgan genau untersucht werden, ob es nicht
krank ist, oder ob es nicht krank war. Als Momente, die eine
Berücksichtigung bei der Diagnose des Hirnabszesses verdienen,
sind folgende Umstände zu erwähnen. Erkrankungen der mitt-
leren Schädelhöhle führen zu Abszessen im Schläfenlappen, selten
zu Abszessen der übrigen Gehimteile; solche im Gebiete der
hinteren Schädelgrube zum Abszesse im Kleinhirn. Knochen-
erkrankung spricht ceteris paribus für einen Hirnabszeß; Schleim-
hauterkrankung selten; Männer werden häufiger von Hirnabszessen
befallen, als Frauen, und wie es meine Statistik erwies, ist das
Verhältnis wie 3:1 (385 Männer, 140 Frauen). Das zweite und
dritte Dezennium spricht zu Gunsten eines Hirnabszesses. Am
seltensten kommt er vor bis zum fünften und nach dem sech-
zigsten Lebensjahre; ebenso beim weiblichen Geschlecht nach dem
vierten Dezennium.
Ein sehr wichtiges Moment, das zur Erleichterung der Diag-
nose beitragen kann, bildet die Zeit, wie lange der Kranke unter
der Beobachtung des Arztes sich befindet Die Erfahrung des
Arztes ist auch hier, wie auf anderen Gebieten der Heilkunde,
von nicht zu unterschätzender Bedeutung.
Um die Diagnose eines Hirnabszesses otitischen Ursprungs
zu bestimmen, ist es nötig, denselben festzustellen, seine Stelle in
der Schädelhöhle zu bestimmen und die ihn begleitenden Kom-
plikationen oder die Abwesenheit derselben zu erkennen. Leider
ist es fast unmöglich, für den Verlauf und Symptome eine typi-
sche Form aufzustellen. Gewisse Fälle verlaufen von Anfang an
stürmisch, mit mannigfachem Reiz und Druckerscheinungen und
führen schon in kurzer Zeit zum Tode; andere haben einen sehr
langen und langsamen Verlauf und geben dabei fast keine oder
gar keine bemerkenswerten Symptome; wieder andere Fälle zeigen
eine -ganz wechselnde Natur ihrer Symptome; bald sind sie so
gut wie symptomlos, bald treten vorübergehend schwere Er-
scheinungen ein. Auch gibt es Fälle, welche ganz regelmäßig
und stadienmäßig verlaufen. Fälle letzter Kategorie sind unbe-
dingt seltener, als die atypischen, und speziell betrifft das die
Kleinhimabszesse. Deshalb spielen die atypischen Fälle eine
17*
260 XXIX. HEIMANN.
wichtigere Rolle in der Praxis und ihre Diagnose unterliegt
vielen hie und da unüberwindlichen Schwierigkeiten.
Für den Verlauf eines otitischen Hirnabszesses sind zwei
Hauptzüge charakteristisch, einmal, daß die Symptome ungemein
selten vereinzelt vorkommen und dann, daß sie gewöhnlich einen
anfallartigen Charakter von verschiedener Zeitdauer zeigen. Die
eintretenden Remissionen halten manches Mal so lange an, daß
man leicht an ein Genesen des Kranken glauben möchte. Die
Zeit zwischen dem ersten und terminalen Anfalle kann sogar in
Ausnahmsfällen 30 Jahre betragen. Jeder folgende Anfall ist
heftiger, als der vorhergehende; in manchen Fällen sind die Anfälle
einander ähnlich. Ihre Zahl ist verschieden; ein Mal tötet schon
der erste Anfall; ein anderes Mal der 2. — 4. In ihrer Intensität
können sie verschieden sein. — Daß aber der Kranke in den
Intervallen zwischen den Anfällen ganz symptomlos bleibt, kommt
fast nicht vor. Nicht selten sind auch Fälle, in welchen die
Symptome beständig sich steigern ohne Remissionen bis zum
Tode. — Der anfallartige Charakter der Erscheinungen ist von
der plötzlichen Steigerung des intrakraniellen Druckes resp.
der Vergrößerung des Abszesses wie auch von Kreislauf-
störungen in seiner Umgebung, die sich leicht ausgleichen können,
abhängig.
Die Symptome des otitischen Himabszesses sind, wie bekannt,
allgemeine und örtliche und werden, nach dem Vorgange von
V. Bergmann in drei Gruppen eingeteilt, in solche, die von der
Eiterung abhängig und ihr eigen sind; in solche, die einen ge-
steigerten intrakraniellen Druck und störende intrakranielle Ver-
schiebungen zeigen und in Herdsymptome, die dem Sitze des
Abszesses entsprechen. Was den Verlauf des Himabszesses be-
trifft, so erscheint es richtig, drei Stadien anzunehmen, die sich
deutlich von einander unterscheiden. Das erste Stadium umfaßt
das der Initialsymptome, das zweite die Erscheinungen des aus-
gebildeten Abszesses, während im dritten Stadium Erscheinungen
vorwiegen, welche durch die mannigfachen Ausgänge des Krank-
heitsbildes bedingt sind. Die Symptome entsprechen dem patho-
logischen Prozeß. Die initialen Symptome sind die der- Ent-
zündung, variieren aber in Bezug auf ihre Intensität Manchmal
sind sie so unbedeutend, daß sie übersehen werden; in anderen
Fällen sind sie entsprechend schwer. Der Charakter der Sym-
ptome wird durch die Natur des pathologischen Prozesses und
durch seinen Sitz bestimmt. Lokale Erscheinungen, welche auf
Diagnose des otitischen Himabszesses. 261
den Sitz der Affektion hinweisen, fehlen hier häufiger, als bei
Tumoren. Dies hat einen zweifachen Grund. Einmal haben die
Abszesse häufig ihren Sitz in Gehirnpartien, wie dem Schlälen-
und Stirnlappen, in welchen lokale Affektionen, welcher Natur
sie auch sein mögen, häufig keine lokalen Erscheinungen machen.
Zweitens verursacht der langsam zur Entwicklung kommende
Abszeß weniger schwere Folgeerscheinungen, wie der Druck eines
Tumor.
Die Feststellung der Diagnose des Himabszesses in der Ent-
zündungsperiode, im Initialstadium, d. h. des werdenden Abszesses,
ist zwar wünschenswert, aber fast immer unmöglich, indem die
Symptome dieser Periode fast vollständig mit den Symptomen
des vorhandenen Ohrenleidens sich decken. Ein Verfehlen der
Diagnose in diesem Stadium ist aber auch ohne Schaden für
den Kranken, denn zu dieser Zeit ist noch kein eigentlicher Ab-
szeß da, er fängt erst an sich zu bilden, und ein chirurgischer
Eingriff würde deshalb erfolglos bleiben und den Arzt infolge
des Mißerfolges vielleicht von weiteren Eingriffen zurückhalten.
Es wird auch weder einem Chirurgen, noch einem Otiater in den
Sinn kommen, nach einem Hirnabszeß zu suchen in Fällen, wo
das Grundleiden resp. die Entzündung des Gehörorgans unter
stürmischen Erscheinungen verläuft. Wenn man bedenkt, daß
Schwartze bei 8425 Affektionen des mittleren und inneren
Ohres im ganzen 8 Hirnabszesse, Jansen unter 5000 eitrig-ent-
zündlichen Prozessen des Mittelohres 7 Hirnabszesse fand — und
ein solches Verhältnis konstatierten alle mit dieser Frage sich be-
schäftigenden Arzte — , so ist es leicht begreiflich, warum man
eigentlich bei einer akuten oder chronischen Mittelohrentzündung
anfangs den Verdacht nicht hat, daß im gegebenen Falle ein
Himabszeß entsteht. Folgt dem wenig ausgeprägten Initialstadium
eine länger oder kürzer dauernde Latenz, so wird es wahrschein-
lieh Niemanden überraschen, wenn bei einem solchen Verlaufe die
Krankheit nicht erkannt werden wird, oder im besten Falle nur
einen schwachen Verdacht ihres Vorhandenseins erregen wird.
Das ist ja selbstverständlich, will man eine Krankheit diagnosti-
zieren, muß man dafür einen gewissen Symptomenkomplex haben,
der dies ermöglicht. Dasselbe gilt auch vom otitischen Him-
abszeß; um ihn zu erkennen, muß er gewisse Erscheinungen
machen, und deshalb können wir die Diagnose eines otitischen
Hirnabszesses erst dann mit Sicherheit oder Wahrscheinlichkeit
stellen, wenn gewisse ihn charakterisierende, allgemeine und ort-
262 XXIX. HEIMANN.
liehe Erseheinungen zum Vorschein kommen. Wollte man aber
jedesmal mit dem therapeutischen Eingriff auf das volle Bild
eines Hirnabszesses, wie es in den Handbüchern angegeben ist,
warten, so würde es mit unseren therapeutischen Resultaten sehr
traurig aussehen. Zwar kann man bei der Anwesenheit eines
oder zweier Symptome keine Diagnose auf Himabszeß stellen;
das Abwarten aber auf alle allgemeinen und noch mehr auf ört-
lichen Symptome ist überflüssig und für den Kranken gefähr-
lich. — Gewöhnlich reichen einige Symptome aus, bei der Be-
rücksichtigung der Anamnese und anderer oben erwähnter Mo-
mente.
Bei der Analyse der den Himabszeß begleitenden Symptome
überzeugt man sich, daß dieselben vereinzelt für den Abszeß
nichts Charakteristisches besitzen; daß hier die allgemeinen Er-
scheinungen vorwiegend in den Vordergrund treten, umgekehrt
wie bei einem Tumor des Hirns, wo vor allem Lokalsymptome
beobachtet werden, daß in einer Reihe von Fällen ein gewisser
Komplex von Symptomen konstant vorhanden ist, in anderen die-
selben nur teilweise hervortreten. Auch gibt es Fälle, wo Sym-
ptome beobachtet werden, die beim Abszeß nicht alltäglich zum
Vorschein kommen, sondern hie und da in vereinzelten Fällen
auftreten, und wir sind nicht sicher, ob sie wirklich dem Ab-
szesse, oder einer anderen Komplikation in der Schädelhöhle an-
gehören. Die lokalen Hirnsymptome, die von der Schädigung
bestimmter Himteile, von der Femwirkung, und von der Schädi-
gung von Himnerven in der Schädelhöhle abhängig sind, können
während des ganzen Verlaufes des Abszesses zum Vorschein
kommen, oder fast vollständig bis zum Tode fehlen, oder endlich
mannigfaltig auftreten. Gewöhnlich gehören sie zu den späteren
Erscheinungen des Abszesses und, falls sie da sind, erleichtem
sie seine Diagnose und Lokalisation. Nach dem heutigen Stand-
punkte der Wissenschaft gibt es aber noch keine einheitliche Sym-
ptomatologie des otitischen Hirnabszesses.
In dem Initialstadium, das der Entzündungsperiode des ent-
stehenden Abszesses entspricht, beobachtet man, daß ein Mensch,
der an einer chronischen oder akuten Mittelohreiterung leidet,
oder dem infolge dieser Leiden der Warzenfortsatz eröffnet wurde,
plötzlich von recht starken Schmerzen im entsprechenden Ohre
wie auch in der entsprechenden Kopfhälfte befallen wird. Nicht
selten sind gar keine Ohrenschmerzen vorhanden, oder dieselben
sind nur unbedeutend, dafür klagt der Kranke über Schmerzen
Diagnose des otitischen Himabszesses. 263
in der Schädelkonvexität. Sehr oft tritt ein- oder mehrmaliges
Erbrechen ohne jegliche Übelkeit auf. Beim Ausbruch der Ex-
azerbation im Ohre läßt sich Schüttelfrost oder auch nur leichtes
Frösteln bemerken. Die Schüttelfröste variieren nicht allein in
Bezug auf ihre Intensität, sondern auch in Bezug auf ihre Dauer.
Wiederholte Schüttelfröste lassen den Schluß zu, daß mit dem
Abszesse eine Infektion des Organismus sich entwickelt, z. B. eine
Sinusphlebitis. Wenn sich Schüttelfröste in regelmäßigen Zwischen-
pausen einstellen, so handelt es sich um Personen, die entweder
zuvor an Wechselfieber gelitten hatten, oder um solche, bei denen
der Hirnabszeß mit einer anderen Erkrankung kompliziert ist
(Macewen). Im allgemeinen aber sind wiederholte Schüttel-
fröste beim Hirnabszeß selten. Bei einem fünfjährigen Kinde,
bei dem ich einen Schläfenlappenabszeß entleert habe, hielt noch
weitere sechs Wochen wechselfieberartige Temperatur an, die
Pyämie befürchten ließ. Die weitere Beobachtung überzeugte
aber, daß es sich in diesem Falle neben Hirnabszeß um Malaria-
fieber handelte. — Beim unkomplizierten Abszeß ist die Tempe-
ratur in der Initialperiode nur ein wenig gesteigert (37,7 ^ — 38,3 o);
dazu kommt Pulsbeschleunigung, belegte Zunge, allgemeine
Schwäche. Alle erwähnten Symptome, wie auch Schwindel,
sind aber auch eigen einer eiterigen Mittelohrentzündung, ohne
das irgend eine intrakranielle Komplikation vorliegt Andererseits
aber gibt es Hirnabszesse, wo das Initialsymptom des Schmerzes
sich nicht einstellt, und der Kranke verfällt vom ersten Augen-
blick in einen torpiden Zustand, der mit Übelbefinden, niedriger
Temperatur, Verlangsamung des Pulses und Respiration einher-
geht Die Initialperiode dauert gewöhnlich einige Stunden bis zu
einigen Tagen. Geht der Abszeß in das latente Stadium über,
so verliert man gewöhnlich den Kranken aus den Augen bis zur
Zeit, wo bestimmte Symptome zum Vorschein kommen. — Nicht
selten aber geht die Initialperiode unmittelbar in die manifeste
über, d. h. in die Periode, in welcher sich Symptome des ver-
stärkten intrakraniellen Druckes und störender intrakranieller Ver-
schiebungen entwickeln. Die meisten Fälle des otitischen Hirn-
abszesses gelangen in dieser Periode zur Beobachtung. Im ersten
Stadium wird selten ein Kranker, bei dem man Verdacht auf
Hirnabszeß hätte, beobachtet. Ich hatte Gelegenheit, einen solchen
Fall, der in diesem Archiv Bd. 66 beschrieben wurde, zu behandeln.
Es versteht sich von selbst, daß zur Bestimmung einer ex*
akten Diagnose des Hirnabszesses eine genaue Kenntnis aller
264 XXIX. HEIMANN.
seiner Symptome, wie auch der ihn vortäuschenden und kompli-
zierenden Krankheiten unbedingt notwendig ist, ich halte es
deshalb für nötig, in kurzem die Symptomatologie des otitischen
Himabszesses hier wiederzugeben.
Ein Kranker in diesem Stadium macht schon beim ersten
Augenblick den Eindruck eines sehr schwer Leidenden. Dieser
Eindruck ist ein merkwürdiger. Die Hautfarbe ist blaß, gelblich,
erdfahl. Der Kranke ist apathisch, somnolent, schaut träumerisch
in die Leere, und ein Mangel an andauernder Aufmerksamkeit ist
eine regelmäßige Begleiterscheinung der verlangsamten Hirntätig-
keit. Der somnolente Kranke antwortet ungern auf einfache
Fragen; wird jedoch an ihn eine längere Frage gerichtet, dann
schläft er dabei ein; auch gibt er nur einsilbige Antworten, oder
er gibt nur den ersten Teil einer längeren Antwort richtig an,
im weiteren Verlaufe folgen die Worte immer langsamer und die
Artikulation wird undeutlicher; das Sprechen ermüdet ihn über-
haupt sehr leicht. Die Schläfrigkeit ist ähnlich dem Symptomen-
komplexe einer Opiumvergiftung (Macewen). Im weiteren Ver-
laufe nimmt die Benommenheit zu, so daß es schließlich schwer
wird, den Kranken für einen kurzen Augenblick wach zu be-
kommen. Die Fähigkeit seine Kräfte zu gebrauchen nimmt
nach und nach ab und geht schließlich ganz verloren. Die
Kranken haben die größte Neigung, nur fortwährend horizontal
zu liegen. Lage auf der Seite wird fast nicht beobachtet. Lage-
veränderung ruft fast immer Schwindel und oft Übelkeit und Er-
brechen hervor. Manche sind schwatzhaftig. In seltenen Fällen
kommt es zum Ausbruch wirklicher Psychosen, und die Kranken
müssen in einem Irrenhause untergebracht werden. Die Intelligenz
leidet weniger, als bei anderen Hirnkrankheiten, speziell bei der
Meningitis und der Himerweichung (Lebert). Das Bewußtsein
ist beim chronischen Verlauf des Abszesses fast bis zum Tode
ungestört; in anderen Fällen ist es zeitweise getrübt, und in den
letzten Tagen vor dem Tode wieder vollkommen klar. Es gibt
aber auch Fälle mit anfallsweiser Bewußtlosigkeit, die nach einigen
Stunden wieder schwindet. Beim Kleinhirnabszesse ist das Be-
wußtsein wenig oder garnicht getrübt; es erlischt erst am Ende
der Erkrankung. Die Trübung des Bewußtseins kann bis zu
Stupor und Koma steigen. Es kommen auch Delirien oder ein
Depressionszustand, manchmal mit Neigung zum Selbstmord, vor.
Die Schmerzen im Ohre, wenn sie im Anfange vorhanden waren,
sind jetzt vollständig geschwunden.
J
Diagnose des otitischen Himabszesses. 265
Das erste fast nie fehlende Symptom einer erhöhten intra-
kraniellen Spannung in dieser Periode ist der Kopfschmerz. In
vereinzelten Fällen kann der Kopfschmerz ausbleiben, und einen
solchen Fall hatte ich Gelegenheit vor mehreren Jahren zu be-
obachten (Z. f. 0. Bd. 23), gewöhnlich aber ist es eine der frühe-
sten und konstantesten Erscheinungen des sich bildenden und
ausgebildeten Himabszesses. Der Kopfschmerz ist bald andauernd,
bald remittierend, bald intermittierend, er entspricht gewöhnlich
der Stelle des Abszesses; aber das kann nicht als Begel gelten;
denn manchmal kommen Fälle vor, wo Ohrenärzte und Chirurgen
von der Lokalisation des Kopfschmerzes irre geleitet, den Abszeß
bei der Operation an der entsprechenden Stelle nicht finden; erst
die Autopsie erklärt es, daß die Diagnose zwar richtig war, aber
die Lokalisation der Krankheit wurde nicht recht bestimmt. So
kommt es vor, daß man z. B. den Abszeß im Schläfenlappen
sucht, weil hier der Schmerz sich lokalisierte, und in Wirklich-
keit befindet er sich im Kleinhirn oder umgekehrt. Es kommen
sogar bei Kleinhimabszessen Stirnschmerzen vor. Körner zitiert
fünf Fälle von Schläfenlappenabszessen, in welchen der Schmerz
ins Hinterhaupt verlegt wurde. Der Kopfschmerz ist von der
mannigfachsten Intensität, von leichter Schwere des Kopfes bis
zu den rasendsten und fast unmöglich zu lindernden Schmerzen.
Sie sind auf eine bestimmte Gegend beschränkt oder sie benehmen
den ganzen Kopf. Alles was den Blutdruck in der Schädelhöhle
steigert, erweckt oder verstärkt den Kopfschmerz, z. B. alkoholische
Getränke, Erhitzung, Pressen beim Stuhle, geistige Arbeit, manch-
mal das Gehen u. s. w. Kinder klagen gewöhnlich über diffusen
Kopfschmerz. Das Beklopfen des Kopfes verursacht Schmerz an
der Stelle, die dem Abszeß entspricht. Die Beschaffenheit des
Schädelinhalts ist von Einfluß auf den Perkussionsschall (Ma-
cewen). Knapp hörte den Perkussionston symmetrischer Stellen
des Schädels stärker von der kranken, als von der gesunden Seite
her. Beim Kleinhirnabszeß wird der Kopfschmerz gewöhnlich
ins Hinterhaupt fixiert. Es ist dies ein wichtiges differenzierendes
Symptom und wird in der Hälfte der Fälle beobachtet. Oft ist
aber der Schmerz nicht fixiert. Oka da fand keinen fixierten
Kopfschmerz in 54 "/o von Kleinhirnabszessen, Politzer be-
trachtet den Hinterhauptschmerz als das einzige Symptom eines
latenten Kleinhirnabszesses.
Die Kopfschmerzen üben manchmal einen recht charakteristi-
schen Einfluß auf den Gang und die Kopfhaltung des Kranken
266 XXIX. HEIMANN.
aus(B. Müller). Der Gang ist vorsichtig und gespreizt, teils in-
folge cerebellarer Ataxie, teils um den Kopf nicht zu erschüttern.
Freilich hat dies Symptom nur so lange einen Wert, als noch der
Kranke herumgehen kann. Der Kopf wird möglichst ruhig und
steif gehalten. Beim Hinterhauptschmerz wird der Kopf nach der
kranken Seite und nach hinten über gebeugt Auch der Nacken
und .Rumpf wird seitlich nach hinten gebogen. Eine solche
Haltung kann eine Art Ferndiagnose auf Kleinhirnabszeß bilden
bei einem Kranken, der an einer chronischen Mittelohreiterung
leidet. — Kopfhyperästhesie wurde bisher beim Himabszeß drei-
mal beobachtet.
Vielfach findet man beim Schläfenlappen- oder Kleinhirn-
abszeß, der von Thrombose des Sinus transversus begleitet ist,
Rigidität des M. sterno-cleidomastoideus, sowie Schmerzhaftigkeit
des darunter liegenden Gewebes, die sich längs der Jugularis in-
terna verfolgen läßt. Ein in die Tiefe gehender Druck auf die
Spitze des hinteren Dreiecks ruft eine Schmerzempfindung hervor
(Macewen).
Ein sehr wertvolles, ungemein wichtiges und immer bei un-
komplizierten Hirnabszessen vorhandenes Symptom in dieser
Periode ist die Verminderung der Pulsschläge, die bis auf einige
dreißig in der Minute fallen kann ; gewöhnlich beträgt -die Puls-
frequenz 48—60 Schläge in der Minute. Die Pulsfrequenz ent-
spricht nicht der Körperwärme. — Eine Verminderung der Puls-
frequenz wird aber auch bei anderen Hirnaffektionen, wie z. B.
beim Tumor, bei der Encephalitis als Folge einer Zunahme des
intrakraniellen Druckes beobachtet. Ein Moment ist nämlich beim
Abszeß von allgemeiner diagnostischer Bedeutung; wenn bei er-
höhter Temperatur die Pulsfrequenz vermindert ist, dann läßt das
bestimmt auf das Vorhandensein eines intrakraniellen Leidens und
auf das Fehlen einer Allgemeinerkrankung schließen, und wenn
man dieselben Merkmale bei einer Ohreiterung, die das intra-
kranielle Leiden herbeigeführt hat, antrifft, so weisen sie auf eine
durch Encephalitis oder Hirnabszeß komplizierte Meningitis hin.
Eine Meningitis, die durch eine Infektion oder infektiöse Throm-
bose hervorgerufen ist, gibt einen kleinen und schnellen Puls. In
solchem Falle ist der Charakter des Pulses nicht vom Hirnleiden,
sondern von der Infektion abhängig.
Die Abnahme der Pulsfrequenz ist nicht immer proportional
der Größe des Abszesses; kleine Abszesse haben nicht selten eine
sehr deutliche Verminderung der Pulsfrequenz, ebenso wie die
j
r
Diagnose des otitischen Himabszesses. 267
großen. Es kann aber auch die Pulsfrequenz entsprechend dem
Wachstume des Abszesses abnehmen. Wahrscheinlich ist der er-
höhte intrakranielle Druck die Hauptursache derPulsverlangsamung,
da nach der Entleerung eines großen Abszesses der Puls auf-
fallend beschleunigt wird. Wenn bei manchen Fällen von Hirn-
abszessen der intrakranielle Druck nur eine geringe Zunahme
erfährt und zwar deshalb, weil der Eiterherd nur etwas mehr
Baum als die zerstörte Hirnsubstanz einnimmt, dann wird natür-
lich nur eine geringe Herabsetzung der Pulsfrequenz eintreten.
Nach V. Bergmann ist die Pulsfrequenz häufiger beim Klein-
hirn — als beim Großhirnabszess herabgesetzt. Ich fand keinen
Unterschied zwischen Groß- und Kleinhirnabszessen in dieser Hin-
sicht. Erschwerend für die Diagnose ist ein neben dem Abszeß
vorhandenes Hirnleiden, bei welchem der Puls beschleunigt sein
kann (Schwartze). Andererseits kann eine Pulsverlangsamung
einen Abszeß vortäuschen (Koch). Ich hatte unlängst einen
neunjährigen sehr heruntergekommenen Knaben beobachtet, der
an einer chronischen rechtsseitigen Mittelohreiterung und von Zeit
zu Zeit an rechtsseitigen Kopfschmerzen litt, bei welchem der
Puls 42 Schläge in der Minute machte. Die Pulsverlangsamung
war ausschließlich durch ein Herzleiden bedingt. Irregularität des
Pulses kommt hie und da bei Kleinhirnabszessen vor.
Schwindelerscheinungen fehlen fast nie in dieser Periode;
bei Kleinhirnabszessen sind sie nicht selten viel deutlicher als
bei Großhirnabszessen ausgesprochen. Schwindel kann aber tat-
sächlich häufiger, als Erbrechen fehlen. Er ist verschiedener Art
und Intensität; Steigerung des Kopfschmerzes und Lage Veränderung
rufen ihn hervor oder verstärken ihn bedeutend. Schwindel-
erscheinungen werden aber auch oft bei Erkrankungen des Laby-
rinthes ausgelöst.
Fast ein beständiges Symtom bildet das Erbrechen. Diese
Erscheinung tritt aber bei anderen intrakraniellen Erkrankungen
auch hervor. Beim Hirnabszeß zeigt sich das Erbrechen bei bett-
lägerigen Kranken, wenn dieselben sich aufrichten oder herum-
gehen wollen und wird von starken Schwindelerscheinungen be-
gleitet. Beim Kleinhirnabszeß ist das Erbrechen gewöhnlich
häufiger und anhaltender als beim Großhirnabszess, und es ge-
hört zu den sehr wichtigen Symptomen des Kleinhimabszesses,
in dem es in 75 Proz. der Fälle beobachtet wird. Koch erwähnt
einen Fall, wo das Erbrechen beim Kleinhirnabszeß für ein
Symptom der Schwangerschaft betrachtet wurde. Die Autopsie
268 XXIX. HEIMANN.
erklärte den wahren Grund, Schwangerschaft war nicht vorhanden.
Große Kleinhimabszesse werden von Schluckbeschwerden begleitet
infolge des Druckes auf die Brücke.
Ubier Geruch aus dem Munde ist em recht häufiges Symptom
bei otitischen Himabszessen. Die Zunge ist zumeist dick belegt^
oft trocken, bräunlich oder cyanotisch, beim Herausstrecken
zitternd, auch die Zähne bedecken sich mit einem Belage. Der
Geruch aus dem Munde ähnelt in hohem Grade dem von der
Ohreiterung ausgehendem.
Ein gleicher Foetor kann aber bei vernachlässigter chronischer
Otorrhoee ohne intrakranielle Komplikationen vorkommen. Bei
infektiöser Sinusthrombose ist dieser Foetor jedenfalls viel stärker
als beim unkomplizierten Hirnabszeß ausgeprägt.
In der Regel besteht Obstipation, die häufig sehr hartnäckig
ist. Sie wird aber auch bei Meningitis, bei Tumoren konstant be-
obachtet Bei Sinusthrombose ist Diarhoee vorwiegend. Appetit-
losigkeit, seltener Gefräßigkeit wird sehr oft beim Hirnabszeß
beobachtet. Die Kranken haben nicht selten einen solchen Wider-
willen gegen jegliche Speise, daß sie künstlich gefüttert werden
müssen.
Hochgradige Abmagerung gehört ebenfalls zu den häufigen
Allgemeinerscheinungen des letzten Abschnittes dieser Periode,
und wenn sie mit niedriger Temperatur und Verstopfung bei
vorhandenem Kopfschmerz und Pulsverlangsamung einhergeht,
so ist diese Symptomengruppe für die Diagnose des Himab-
szesses von großem Wert. Abmagerung von hohem Fieber, von
Schüttelfrösten, Schweißen und Durchfall begleitet ist auf eine
allgemeine Infektion, nicht aber auf einem Hirnabszeß zurück-
zuführen.
Die Atmung ist verlangsamt, zumeist jedoch regelmäßig. Bei
Kleinhirnabszessen ist die Respiration im allgemeinen viel lang-
samer als bei Großhirnabszessen, zuweilen zeigt sie den Cheyne-
Stokes'schen Typus, oder sie ist unregelmäßig. Bei Druck des
Abszesses auf die Medulla kann die Atmung lange bevor der
Herzschlag aussetzt, aufhören. Bei Meningitis, bei infektiöser Sinus-
thrombose ist die Atmung in der Regel beschleunigt; ist aber
die hintere Schädelgrube in den Bereich der Leptomeningitis mit
einbegriffen, kann die Atmung den Typus wie beim Hirnabszeß
erhalten.
Zuweilen wird Verhaltung des Urins beobachtet. Manchmal
erhält der Urin kleine Mengen Eiweiß, der mit der Eröffnung
Diagnose des otitischen Hirnabszesses. 269
des Abszesses schwindet. In vereinzelten Fällen wurde Polyurie
und Glykosurie notiert.
Schüttelfröste sind in dieser Periode ungemein selten. Sie
werden beobachtet, sobald sich neue Eiterherde in der Peripherie
des Abszesses entwickeln.
Die Temperatur ist im allgemeinen nahezu normal und dieses
ihr Verhalten ist für Hirnabszeß durchaus typisch und steht im
Gegensatz zu anderen otitischen Hirnkomplikationen, speziell zur
Leptomeningitis. In manchen Fällen habe ich eine kurzdauernde,
sehr mäßige Temperatursteigerung beobachtet. Eine bedeutendere
und anhaltende Temperatursteigerung beweist das Hinzutreten
anderer Hirnkomplikationen.
Oppenheim hat den Satz aufgestellt „daß anhaltende, be-
deutende Temperatursteigerung es im hohem Maße wahrschein-
lich macht?, daß überhaupt kein Abszeß oder doch kein un-
komplizierter Abszeß vorliegt" , obgleich geringe und vorüber-
gehende Temperatursteigerungen abgesehen vom Initial- und
Terminalstadium recht häufig vorkommen. Koch teilt diese
Meinung für den Kleinhirnabszeß. Okada fand in der Hälfte der
Fälle von Kleinhirnabszessen ziemlich deutliche Fiebererscheinungen
im ganzen Verlaufe. Das ist aber auch ganz natürlich, wenn man
bedenkt, daß der Kleinhirnabszeß überhaupt selten unkompliziert
vorkommt.
Wie überall unter den Himdrucksymptomen nimmt auch hier
die Neuritis optica eine wichtige Stelle ein, und sie gehört zu
den recht häufigen Allgemeinerscheinungen des Hirnabszesses.
Sie wird vorwiegend bei großen Abszessen und gewöhnlich gegen
das Ende dieser Periode beobachtet; ich habe sie zuweilen im
Anfange des manifesten Stadiums gesehen. Die Neuritis erreicht
in der Regel keinen großen Umfang und ist selten so deutlich
wie beim Tumor ausgesprochen. Selten schließt sich eine Atrophie
des Opticus an. Ich habe eine solche einmal bei einem syphilitischen
Kranken, bei dem alle Symptome für Hirnabszeß sprachen be-
obachtet, der Abszeß wurde aber weder durch Operation noch
Autopsie festgestellt. Einige Mal wurde totale Amaurose bei Klein-
himabszessen konstatiert. Gewöhnlich ist die Neuritis in einem
Auge mehr als im anderen ausgeprägt. Ihre Entwicklung ent-
spricht nicht immer der Seite der Hirnaffektion und sie zeigt zu-
weilen ein umgekehrtes Verhalten. Bei rapider Entwicklung des
Abszesses pflegt sich die Neuritis optica nicht zu entwickeln, weil
die für ihre Entstehung notwendige Zeit fehlt; ebenso ist es der
270 XXIX. HEIMANN.
Fall bei kleinem Abszesse, wenn die Entzündung in seiner Um-
gebung nicht erheblich ist (Macewen). Ausnahmen davon habe
ich beobachtet Einmal trat die Neuritis optica schon 8 Tage nach
dem Erscheinen der Symptome, die auf einen Abszeß deuteten,
hervor. Der Himabszeß war in diesem Falle akut und die Initial-
periode ging unmittelbar in das manifeste Stadium über. Nach
Hansberg ist die Neuritis optica viel häufiger beim Kleinhirn-
abszeß (2/3 der Fälle). Die Neuritis optica wird aber auch bei
anderen intrakraniellen Erkrankungen — Meningitis, Encephalitis,
Tumor — beobachtet Sie kann sogar bei einer Eiterung in der
Paukenhöhle ohne intrakranielle Komplikationen vorkommen. In
diesem Falle soll sie infolge einer Läsion des Plexus caroticus
des sympatischen Nerven, die zu einer vasomotorischen Störung
des Sehnerven und Augenhintergrundes führt, entstehen; bewiesen
ist aber diese Tatsache nicht. Macewen macht dieselbe bei
Mittelohreiterung von einem geringen Grade von Meningitis ab-
hängig.
Infolge 'des gesteigerten Druckes werden auch Pupillen-
störungen beobachtet Bei Schläfen- und Frontallappen- Abszeß
kann das Auge auf der erkrankten Seite entweder Myosis oder
Mydriasis mit einem gewissen Grade von Pupillenstarre erkennen
lassen. Pupillenträgheit, Mydriasis oder Myosis auf der Seite wo
eine Ohreiterung vorhanden ist, bildet einen weiteren Beweis dafür,
daß der Eiterherd auf der entsprechenden Seite zu suchen sei.
Beim Kleinhirnabszesse kommt hier noch außerdem in Betracht
die Femwirkung auf die Corpora Quadrigemina und auf den
vorderen Abschnitt des Oculomotoriuskern (Herderscheinung). Beim
Kleinhimabszeß tritt regelmäßig anfangs beiderseits Pupillen-
verengerung als Symptom meningealer Beizung hervor; im mani-
festen Stadium — Pupillenerweiterung beiderseits oder nur auf
der kranken Seite. Bald erweitert sich die eine, bald die andere
Pupille. Die Pupillenerscheinungen sind nicht konstant. Normale
oder verengerte Pupillen schließen Kleinhirnabzeß nicht aus; im
allgemeinen läßt beiderseitige oder einseitige Erweiterung das Vor-
handensein einer raumbeschränkenden Krankheit im Schädelinnern
annehmen. Bei diffuser Meningitis sind beide Pupillen gleichmäßig
verengt, bis in einem späteren Stadium Drucksymptome eintreten,
die Mydriasis und Starre der Pupillen bewirken. Die infektiöse
Hirnbluteiterthrombose mit Ausnahme der Thrombose des Sinus
cavernosus hat selten eine Pupillenstörung zur Folge. Strabismus
kommt selten vor, ebenso wie Zwangsstellung der Bulbi. Ptosis
Diagnose des otitischen Hirnabszesses. 271
ist öfter bei Schläfenlappen, als bei Kleinhirnabszessen. Exophtalmos
ist selten, meistens nur bei Kleinhimabszessen die mit Sinus-
thrombose kompliziert sind.
Konvulsionen sind in dieser Periode nur ausnahmsweise und
vorwiegend bei Kindern vorhanden und haben nichts Charak-
teristisches. Meist schwindet dabei das Bewußtsein für kurze Zeit
Die Krämpfe entstehen auf Grund sekundärer Reizung des moto-
rischen Eindengebietes oder seiner Leitungsbahn. Heftige Schüttel-
fröste werden manchmal von Seite der Angehörigen für Krämpfe
gehalten (Macewen).
Herderscheinungen können vollständig fehlen, oder dieselben
sind unbedeutend, oder kommen [erst spät zum Vorschein, was
von der Größe und der Lokalisation des Abszesses abhängig ist.
Herdsymptome haben für die Diagnose eine entscheidende Stellung.
Sie bedeuten sehr viel, wenn der Abszeß in der Gegend der
motorischen Region sich befindet, sehr wenig dagegen, wenn der-
selbe im frontalen, occipitalen oder temporalen Lappen seinen
Sitz hat. Die Herdsymptome sind abhängig von der Zerstörung
der Himsubstanz, oder ihrer Erweichung, oder von einem Oedem
welches rings um den Eiterherd dessen schubweiser Vergrößerung
vorangeht. Letzteres kann zurückgehen und das eine oder andere
Herdsymptom kann wieder verschwinden. Der Eiter in dem
Marklager drängt zunächst nur die Leitungen auseinander, ohne
sie aufzuheben. Bleibt dabei die graue Substanz noch erhalten, so
kann der Abszeß mächtige Ausdehnung annehmen, sich fast auf
eine Hemisphäre erstrecken, ohne daß irgend ein Herdsymptom
in Erscheinung tritt. Je mehr er sich der Hirnrinde oder der
inneren Kapsel nähert^ desto eher kommen Herdsymptome zum
Vorschein. Da der Abszess an allen Stellen des Hirns vorkommen
kann, müssen die Herdsymptome mit den Erscheinungen zusammen-
fallen, welche den Erkrankungen der verschiedenen Hirnregionen
eigen sind.
Auftretende zentrale Gehörsstörung, — die zur völligen Taub-
heit nicht führt — auf dem gekreuzten vorher gesundem Ohre,
ist ein ungemein wichtiges Herdsymptom. Meistens ist es aber
unmöglich bei dem schläfrigen Kranken die Schwerhörigkeit auf
dem gesunden Ohre zu prüfen. Selbstverständlich müßte dabei
die Untersuchung, so weit solches möglich, die Integrität des
peripheren Gehörapparates nachweisen.
Ein recht häufiges Herdsymptom bilden verschiedenartige
Sprachstörungen u. z. Worttaubheit, Leitungsaphasie, amnestische
272 XXIX. HEIMANN.
Aphasie, Agraphie, Anarythmie, optische Aphasie, optico-akus-
tische Aphasie, topographische Aphasie, Seelenblindheit und moto-
rische Aphasie. Letztere wird bei unkomplizierten Hirnabszessen
nicht beobachtet. Die verschiedenartigen Formen von Sprach-
störungen kommen nur dann zum Vorschein, wenn der Abszeß
in bestimmten Abschnitten der linken Hemisphäre sich befindet.
Beim Kleinhimabszeß hängen manchmal die Sprachstörungen
nicht unmittelbar von der Läsion der Fasern oder Kerne in der
Brücke^ MeduUa oder Schläfenlappen, sondern bloß von der all-
gemeinen Intelligenzstörung (Körner) oder von mechanischen
Störungen, Eigidität der Masseteren ab (Macewen). Außerdem
kommt ein vorübergehender Verlust der Sprache vor. Häufig
findet man eine derartige psychische Schwäche, daß die Ent-
deckung der Aphasie Schwierigkeiten macht
Cerebelläre Ataxie und Kleinhirnschwindel die von einer
Destruktion des Wurms (Nothnagel) oder von Abszessen der
Hemisphären, die den Wurm insultieren, oder von Eiteransamm-
lung über den Tentorium abhängig sind (v. Bergmann) haben
dann einen diagnostischen Wert, wenn sie frühzeitig, bei freiem
Sensorium, und stark ausgebildet sind, und wenn gleichzeitig eine
Labyrintheiterung auszuschließen ist. Letztere begleitet aber sehr
oft den Kleinhirnabszeß, Jansen notiert mehr als 80 solcher
Fälle. Diese Symptome können aber auch fehlen bei Affektion
des Wurms (Poulsen, Hei mann). Andererseits kann Ataxie bei
hysterischen Ohrenkranken vorkommen (Oppenheim). Wenn
man aber berücksichtigt, daß in vielen Fällen infolge der Schwere
der Krankheit die Ataxie nicht nachweisbar sein kann, daß
Schwankungen durch Schwindelgefühl von der typischen Cere-
bellarataxie vielfach schwer zu unterscheiden sind, und wenn man
die nachgewiesenen Fälle in Betracht zieht, so kann man diesem
Symptome eine gewisse diagnostische Wichtigkeit nicht absprechen.
Patognomonisch für den Kleinhirnabszeß ist dieses Symptom aber
nicht, da derartige Gleichgewichtsstörungen vereinzelt auch beim
Schläfenlappenabszeß (5 Fälle), bei Meningitis serosa und zu-
weilen auch bei Meningitis purulenta vorkommen.
Außer den unmittelbaren Herdsymptomen führen otitische
Hirnabszesse zu charakteristischen Symptomen durch Femwirkung,
die für den Abszeß speziell wichtig sind, weil diese Fernwirkung
stets von einer der bekannten Stellen ausgeht, an welchen otitische
Himabszesse zu sitzen pflegen. Diese Femwirkung wird, wie be-
kannt, durch das entzündliche Oedem, daß in mehr oder weniger
J
Diagnose des otitischen Hirnabszesses. 273
breiter Zone den Abszeß umgibt, wie auch durch erhöhte
Spannung des Liquor cerebro-spinalis infolge des erhöhten und
dadurch bedingten Druck in der Schädelhöhle, hervorgerufen.
Außer durch die Flüssigkeit in gleichmäßiger Weise, wird aber
auch durch die festweiche Masse des Hirns der Druck fort-
geleitet, hier natürlich ungleichmäßig, so daß die Hirnpartien in
der Nähe des Schläfenlappens mehr als die von ihm entfernter
liegenden betroffen werden. Die Fernwirkung beim Schläfenlappen-
abszeß erstreckt sich nicht über das Tentorium. Aber auch in anderen
Hirngegenden ist sie beeinträchtigt, mit Ausnahme in der Bichtung
nach der Capsula interna. Bei Läsion derselben treten Paresen
der gekreuzten Extremitäten, selten gekreuzt^ Paralysen, gekreuzte
Spasmen und Krämpfe, auch tonischer Krampf auf der gekreuzten
Seite auf. In manchen Fällen ist die Hemiplegie offenbar eine
Druckerscheinung, da die Wiederherstellung der Funktionsfähig-
keit bald nach der Entleerung des Eiters erfolgt. In anderen
Fällen sind jedoch die erwähnten Erscheinungen auf Entzündung
zurückzuführen. Es ist wichtig genau festzustellen in welcher
Reihenfolge die einzelnen Teile der betreffenden Körperhälfte ge-
lähmt werden, da man dadurch klar zu stellen vermag, ob die
motorischen Eindenzentren oder die Leitungsbahnen der inneren
Kapsel ergriffen sind. Wird zuerst das Gesicht, dann der Arm
und schließlich das Bein befallen, ohne daß sich eine Sensibilitäts-
störung hinzugesellt, dann übt wahrscheinlich der Schläfenlappen-
abszeß seine Fernwirkung auf das ßindengebiet der Zentral-
windungen aus, die sich von unten nach oben ausbreitet. Die
Paresen sind gewöhnlieh an der gekreuzten oberen Extremität,
und dort meist stärker als am Bein ausgesprochen. Bisweilen
wird gekreuzte Hemianästhesie und homonyme bilaterale Hemiopie
beobachtet. Gleichseitige Anosmie ist ungemein selten (Stoecker}.
Dazu kommen Paresen im Gebiete des gekreuzten Fazialis vor,
selten Spasmen dieses Nerven. Die Parese ist Folge der Fern-
wirkung eines Schläfenlappenabszesses auf die innere Kapsel, eines
Kleinhirnabszesses auf die Brücke oder Herdsymptom eines Brücken-
abszesses. Ist die Fazialislähmung Folge von Zerstörungsprozessen
des Warzenfortsatzes und der Paukenhöhle, oder Folge von Druck
eines Kleinhirnabszesses auf die Eintrittstelle in den Porus acus-
ticus internus, so befinden sie sich auf ein und derselben Seite.
Die Mitbeteiligung des Fazialis und Acustieus bei Kleinhirnab-
szessen wird von Hansberg mit Recht für die Diagnose des
Kleinhirnabszesses in Abrede gestellt, denn diese Erkrankungen
Archiv f. Ohrenheilkande. 73. Bd. Festschrift. 18
274 XXIX. HEIMANN.
beruhen auf einem Leiden des Facialiskanales im Gebiete der
Trommelhöhle. Es ist notwendig eine auf Bindenläsion beruhende
Lähmung der Gesichtsmuskeln von einer durch Lähmung des
N. facialis herbeigeführten Inaktivität einer Gesichtshälfte in solchen
Fällen zu unterscheiden. Eine ßindenläsion bedingt selten eine so
ausgedehnte Lähmung; bei einer solchen Läsion ist der Kranke
im Stande das Auge zu schließen, die erkrankte Gesichtshälfte be-
hält bis zu einem gewissen Grade die Fähigkeit Gemütsbewegungen
zum Ausdruck zu bringen. Auch bleibt der Geschmackssinn in
den vorderen zwei Dritteln der Zunge intakt (Macewen).
Die Fernwirkung bei Kleinhirnabszessen betrifft häufig die
Medulla oblongata und führt durch Respirationslähmung den Tod
herbei. Kleinhirnabszesse in den Kleinhirnschenkeln und in der
Brücke können außer Bespirationslähmung, Lähmung der ge-
kreuzten Extremitäten, des gekreuzten Fazialis, beider Beine,
homonyme Hemiplegie, Trismus, Schwäche und Parese im gleich-
seitigen Arme und in beiden unteren Extremitäten hervorrufen.
Außerdem wurde noch beim Abszeß in der Brücke, im Corpus
striatum und im Thalamus opticus Anästhesie, Verlust des Muskel-
sinnes in den Extremitäten der anderen Seite, wahrscheinlich in-
folge von Miterkrankung des hinteren Teiles der internen Kapsel
beobachtet. Kleine Abszesse in diesen Gegenden können symptom-
los bis zum Durchbruche verlaufen (Govers). Beim Abszeß in
der Brücke kommt auch Hemiplegia alternans zum Vorschein.
Nackenstarre mit Betraktion des Kopfes und leichtem Opistho-
tonus kommt auch anscheinend bei unkomplizierten Groß- und
Kleinhimabszessen vor (Moos, Hansberg), öfter wird sie aber
bei Meningitis, beim Extraduralabszeß in der hinteren Schädel-
grube, und bei purulenter Entzündung am Pons oder an der
Medulla durch Ruptur des Abszesses hervorgerufen, beobachtet.
Die Reflexe die von der Haut wie von tief gelegenen Ge-
bilden aus hervorgerufen sind, lassen zuweilen einen Einfluß des
Hirnabszesses erkennen ; darüber läßt sieb aber nichts Bestimmtes
sagen. Der Patellarreflex verhält sich verschieden, bald ist er ge-
steigert, bald vermindert, bald wieder normal auf beiden Seiten
und in manchen Fällen fehlt er auf der Seite der Läsion. Nach
Koch bildet einseitiges Fehlen des Patellarreflexes auf der Seite
der Läsion ein wichtiges Symptom des Kleinhirnabszesses zum
Zweck der Differentialdiagnose (gegen den Schläfenlappenabszeß. — -
Fibriiläre Muskelzuckungen kommen gegen das Ende des
zweiten Stadiums oft zur Beobachtung und sind im Endstadium
Diagnose des otitischen Hirnabszesses. 275
sehr ausgesprochen. Sie haben aber nichts pathognomonisches für
den Hirnabszeß.
Schläfenlappenabszesse rufen bei gewisser Größe partielle,
selten totale Lähmung des Oculomotorius auf der kranken Seite
hervor. Gewöhnlich wird Mydriasis und Ptosis, zuweilen Lähmung
des Rectus internus und superior beobachtet. Bei totaler Lähmung
dieses Nerven kommt außerdem zum Vorschein Auswärtsschielen,
Starre der Pupillen und Lähmung aller äußeren Augenmuskeln
mit Ausnahme des Obliquus superior und Rectus exlemus, wes-
halb die Bewegungen des Augapfels bis auf die Auswärtsdrehung
und eine geringe Neigung nach unten unmöglich sind. Wie
schon oben erwähnt wurde, kann der Oculomotorius in eine ent-
zündliche Mitleidenschaft bei Meningitis gezogen werden. Findet
man Lähmung des N. oculomotorius auf der Seite der Läsion,
Hemiplegie der entgegengesetzten Körperhälfte, die im Gesicht
ihren Anfang genommen hat und den Merkmalen der Lähmung
entspricht, die im motorischen Rindenbezirk ihren Ursprung hat,
d. h. in der Gesichtsmuskulatur sich am deutlichsten zeigt, den
Arm nicht so stark ergriffen hat, während die untere Extremität
intakt bleibt, und wenn dabei Sensibilitätsstörung fehlt, dann handelt
es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um eine ausgedehnte Läsion,
die im Schläfenlappen ihren Sitz hat (Macewen). —
Gleichseitige Abduzenslähmung wird beim Groß- und Klein-
hirnabszeß beobachtet; bei letzterem auch gekreuzte Lähmung
dieses Nerven.
Neuralgie des Trigeminus und Hypoglossuslähmung sind beim
Schläfenlappenabszeß selten. Im allgemeinen entwickelt sich die
Affektion des Hirnnerven öfter infolge von Knochenerkankung
oder Meningitis, als infolge des Abszesses selbst.
Zuweilen wird auch bei flirnabszessen Lichtscheu, Deviation
conjugee, Nystagmus, Singultus, unwillkürliche Harn- und Stuhl-
entleerung, Strangurie, Retentio und Incontinentia ürinae, wie auch
Kreuzschmerzen und Neuralgie des Ischiadicus beobachtet.
Das Gehörorgan weist bei otitischen Hirnabszessen Symptome
chronischer oder akuter Ohreiterung, Cholesetatom, Granulationen,
entzündliche Erweichungen auf dem Warzenfortsatze, Symptome von
Eiterretention usw. öfters auf. In einzelnen Fällen führen Fistel-
gänge unmittelbar vom erkrankten Knochen in die Schädelhöhle,
durch welche, wie auch durch den äußeren Gehörgang sich die
Abszeßflüssigkeit teilweise entleert. Viel seltener findet man nur
Spuren einer vorhergegangenen Ohrentzündung oder sogar ein
18*
276 XXIX. HEIMANN.
scheinbar gesundes Trommelfell. In der tiberwiegenden Mehrzahl
der Fälle sind Kleinhimabszesse mit Labyriotheiterung verbundeu,
was schon oben erwähnt wurde. Entsprechend den Veränderungen
im Labyrinthe ist die Störung der Funktion beim Kleinhirnabszeß
labyrinthärer Natur. Zwar kann die Gehörprüfung nicht immer
zu einer exakten Diagnose führen, da labyrinthäre Funktions-
störungen nicht selten bei Oroßhirnabszessen vorkommen und
wieder bei Eleinhirnabszessen fehlen können , in zweifelhaften
Fällen aber kann sie uns recht wichtige Anhaltspunkte für die
Diagnose in Bezug auf die Lokalisation des Abszesses geben.
In vereinzelten Fällen zeigt sich bei einseitiger Ohreiterung, bei
Groß- und Eleinhirnabszessen eine plötzliche Zunahme der Schwer-
hörigkeit des Ohres der entgegengesetzten Seite oder eine plötz-
liche Besserung des Gehörs auf der kranken Seite (Schwartze,
Lucae, Herpin). Körner erklärt ersteres dadurch, daß das
Zentrum für das gekreuzte Ohr im Schläfenlappen liegt. So kann
man das Eintreten einer zerebralen Gehörsstörung auf dem ge-
kreuzten vorher gesunden Ohre als ein entscheidendes Symptom
betrachten, aber nur wenn einseitige Ohreiterung vorliegt. Da
dies aber auch beim Kleinhirnabszeß beobachtet wurde, so ist
die Annahme Schwartze's, daß dieses Symptom auf hoch-
gradigem Hydrocephalus internus beruht, oder von einer Hyperämie
des Labyrinthes abhängig ist (Lucae) richtiger. —
Man wollte die fehlende Kopfknochenperzeption zur Diagnose
des Kleinhirnabszesses verwerten (Mc. Bride und Miller),
Körner aber überzeugte sich von der Unzuverlässigkeit dieser
Erscheinung, indem sie recht oft auch bei Schläfenlappenabszessen
beobachtet wird und wieder nicht selten bei Kleinhirnabszessen fehlt.
Nach dieser zweiten Periode des Hirnabszesses, die verschieden
lange dauern kann, kommt es, wie bekannt, zu dem sogenannten
Endstadium d. h. zum raschen Wachstum des Abszesses, zu seiner
deletären Wirkung auf lebenswichtige Teile, und zur Eiterentleerung
in einen Seiten Ventrikel, oder auf die Hirnoberfläche, die rasch
unter stürmischen Symptomen zum Tode führt. Die Kranken
gehen am häufigsten zu Grunde unter Erscheinungen einer ge-
waltigen und rasch tötenden Meningitis, oder das Endbild hat
den Schein eines tötlichen apoplektischen Anfalles. Stupor und
Koma nehmen allmählich zu, aber der Tod kann auch plötzlich
eintreten. Zuweilen kann sich ohne Eitererguß eine akute Lepto-
meningitis entwickeln, indem die entzündliche Grenzzone des Ab-
szesses die Pia erreicht. War der Verlauf latent, oder begleiteten
Diagnose des otitischen Himabszesses. 277
ihn mehrere von den oben erwähnten Symptomen, so hat das
keinen Einfluß auf das Bild des Endresultates. Der Kranke wird
plötzlich von Frostanfall und Fieber befallen, der Kjopfschmerz
steigert sich ungemein heftig, es tritt mehrmaliges Erbrechen ein;
dazu kommt Kollaps, Bewußtlosigkeit, beschleunigter kleiner Puls,
Cheyne-Stokes'sche Atmung, oder vollständige Respirations-
lähmung, maximale Pupillenerweiterung und Starrheit, Koma,
Sopor und der Kranke stirbt in wenigen Stunden. Konvulsionen
sind selten, Paralyse aller Extremitäten oder Hemiplegie wird hie
und da beobachtet. In vereinzelten, seltenen Fällen kann der Tod
infolge einer interkurrenten Krankheit eintreten. Von allen Hirn-
abszessen brechen die des Schläfenlappens am leichtesten in den
Seitenventrikel durch, daher schließt ^ich ihr Endstadium so oft
unmittelbar an das ihrer Latenz an. Das ist aj)er auch der Grund,
warum ein bestimmter Teil dieser Abszesse erst bei der Autopsie
gefunden und ein anderer kurz vor dem Tode, an den Symptomen
des Endstadium erkannt wurde. Das Endstadium dauert einige
Minuten bis 24 Stunden, selten länger.
Als Hilfsmittel zur Sicherung der Diagnose des otitischen Hirn-
abszesses ist zuweilen die Lumbalpunktion zu betrachten. Dieser
Handgriff ist aber beim Hirnabszeß gefährlich und muß bei Ver-
dacht auf diesen sehr vorsichtig ausgeführt werden, da infolge
von Raum Verschiebungen in der Schädelhöhle durch den Abfluß
des Hirnwassers, der Durchbruch des Abszesses beschleunigt oder
herbeigeführt werden kann, was zur Leptomeningitis, oder direkt
zum plötzlichen Tod führt. Letzterer Ausgang sollte öfters bei
Hirngeschwülsten infolge plötzlicher Athmungslähmung beobachtet
worden sein. Außerdem kann die Lumbalpunktion eine Lösung
von frischen Verklebungen der weichen Häute um begrenzte
Eiterungen hervorrufen. — Wenn wir einerseits dieses Moment in
Erwägung nehmen, und andererseits die Anamnese und den reichen
Symptomenkomplex eines Hirnabszesses der meistens zur Stellung
der Diagnose ausreicht, berücksichtigen, so muß die Lumbal-
punktion beim Hirnabszeß sich nur auf vereinzelte Fälle be-
schränken z. B. auf solche, bei denen die Symptome des Ab-
szesses nicht deutlich ausgesprochen sind, und die Differential-
diagnose zwischen Himabszeß und Meningitis purulenta oder
serosa auf große Schwierigkeiten stößt. Hier ist die Lumbal-
punktion als diagnostisches Hilfsmittel unentbehrlich.
Nach den bisher erhaltenen Resultaten der Lumbalpunktion
ist folgendes zu bemerken: 1. Getrübte Flüssigkeit mit Eiter- |
\
278 XXIX. HEIMANN.
körperchen oder Bakterien, erweckt Verdacht auf Hirnabszeß.
2. Stark getrübte Flüssigkeit mit Eiterkörperchen und Bakterien
spricht für eine diffuse, eitrige Meningitis. 3. Leicht getrübte Flüssig-
keit mit Bakterien weist auf eine Erkrankung der weichen Hirn-
häute, aber es bleibt zweifelhaft, ob eine diffuse, oder eine circum-
skripte Meningitis vorliegt. Eine gleichgeartete Fiüssigkeit wurde
aber auch bei Hirnabszessen beobachtet und führte zu traurigen
Folgen, da der Abszeß uneröffnet blieb (Brieger, Ruprecht,
Wolff). 4. Ist die Flüssigkeit klar und frei von Eiterkörperchen
und Bakterien, so besteht keine oder nur umschriebene eiterige
Meningitis. Bei vermehrter und unter hohem Druck stehender
Flüssigkeit kommt in erster Linie Meningitis serosa und in zweiter
circumskripte purulente Spätzündung in Frage. 5. Opalisierende
Trübung der Flüssigkeit spricht mit großer Wahrscheinlichkeit
für Meningitis tuberculosa, auch wenn Tuberkelbazillen im Liquor
nicht nachzuweisen sind.
So viele und so sichere Anhaltspunkte wir auch für die
Diagnose des otitischen Schläfenlappenabszesses haben, schützen
sie uns doch nicht vor Fehlgriffen und selbst charakteristische
Symptome können irreleiten. Umschriebener Kopfschmerz, Empfind-
lichkeit beim Perkutieren der Schläfenbeinschuppe oder des Hinter-
hauptes, Neuritis optica, Schwindelerscheinungen, Erbrechen und
der allgemeine Habitus des Kranken sind in vielen Fällen für
einen otitischen Hirnabszeß maßgebend, und doch ergaben Au-
topsien mancher solcher Fälle in der Hallenser Klinik , daß es
sich um eiterige diffuse Meningitis handelte. In anderen Fällen
sind die auf das Gehirn weisenden Störungen vieldeutig und un-
bestimmt, oder das klinische Bild des Abszesses ist durch andere
Komplikationen verschleiert. Am verhältnismässig leichtesten läßt
sich der Schläfenlappenabszeß bei Berücksichtigung der Symptome
und Anamnese diagnostizieren. Der Lieblingssitz der otitischen
Hirnabszesse ist überhaupt der Schläfenlappen und das Klein-
hirn. Den Abszessen des Frontallappens, die überhaupt sehr
selten sind — in meiner Statistik sind 3 Frontallappenabszesse
auf 362 Schläfenlappenabszesse angegeben (A. f. 0. Band 67)
fehlen sichere Lokalsymptome, ebenso wie bei den entsprechenden
Tumoren. Sie stellen sich erst bei einer gewssen Größe der Eiter-
ansammlung als Fernwirkungen ein: Sprachstörungen bei links-
seitigem Sitze und Monoplegien eines Facialis oder eines Armes
auf der gegenüberliegenden Seite. Ebenso sind die Hinterhaut-
lappenabszesse, wie Abszesse anderer Hirngegenden selten und
Diagnose des otitischen Hirnabszesses. 279
nach y. Bergmann sind die Abszesse des Hinterhauptlappens
ursprünglich tief im Schläfenlappen gelegene Abszesse, die sich
auffallend weit nach hinten verbreitet haben.
Bei Kindern und manchmal bei jungen Leuten verlaufen alle
otitischen intrakraniellen Eiterungen, ebenso wie die einfache
Mittelohrentzündung, unter stärkeren Reizerscheinungen als beim
Erwachsenen. Die Symptome des Hirnabszesses nähern sich
deshalb bei ihnen denen der Meningitis. Bei Kindern kann ein
gewöhnlicher Extraduralabszeß einen Hirnabszeß vortäuschen
(Körner). Außerdem können oft bei Kindern lokale Symptome
nicht genau oder gar nicht bestimmt werden.
Die Diagnose des Kleinhirnabszesses bietet im allgemeinen
viel mehr Schwierigkeiten als die des Schläfenlappenabszesses.
Meist ist das Bild des Kleinhirnabszesses unbestimmt und viel-
deutig, seine Diagnose meistens eine Wahrscheinlichkeitsdiagnose
und oft kann sie nur aus den Eiterungs- oder Wundverhältnissen
am eröffneten Warzenfortsatz und dem bloßgelegten Sinus trans-
versus gemacht werden. Nach Koch läßt sich das Bild des
otitischen Kleinhirnabszesses in drei Typen einteilen. Den ersten
Typus enthalten die Fälle, in welchen ausgesprochene und mehr-
fache Lokalerscheinungen die Diagnose geben, den zweiten die
mit ausgesprochenen allgemeinen Hirnsymptomen und spärlichen
und unsicheren Lokalsymptomen, und den dritten die, in denen
weder die allgemeinen, noch die lokalen Hirnsymptome deutlich
waren, aber die Art der Eiterung, der Verlauf der am Warzen-
fortsatz vorgenommenen Operationen, sowie bestehende in und
durch die Dura führende Fistelgänge zur Entdeckung des Klein-
himabszesses führten. Zwei Groß- oder Kleinhirnabszesse, oder
je ein Abszeß im Groß- und Kleinhirn sind fast unmöglich zu
diagnostizieren. Schwinden die vorher vorhandenen allgemeinen
und örtlichen Symptome nach operativer Entleerung des Abszesses
nicht vollständig oder teilweise, so muß, sofern keine Eiterverhal-
tung vorliegt, Verdacht auf einen zweiten Abszeß entstehen,
dessen Lokalisation aus den vorhandenen Symptomen zu be-
stimmen ist.
Bei entwickelten Symptomen einer otitischen intrakraniellen
Komplikation hat die Differentialdiagnose zwischen Schläfen-
lappen- und Kleinhirnabszeß folgendes zu berücksichtigen: Die
allgemeinen Hirnsymptome mit Ausnahme des Kopfschmerzes,
der beim Schläfenlappenabszeß der Stelle des Abszesses meistens
entspricht und beim Kleinhirnabszeß meist ins Hinterhaupt oder
280 XXIX. HEIMANN.
in die Stirn verlegt wird, wie auch der Störungen von Seiten der
Augenmuskeln, sind beiden Komplikationen gemeinsam. Beson-
dere und direkte Herdsymptome dürfen wir bei dem Sitze des
Abszesses in den Hemisphären des Kleinhirns nicht erwarten und
deshalb ist das Kontingent der bis zum Tode latent verlaufenden
Kleinhirnabszesse viel bedeutender als das der Großhirnabszesse.
Freilich können die Kleinhimabszesse auch charakteristische
Femwirkungen, die in Störungen der Funktion der Kerne und
Stämme der sechs letzten Hirnnerven bestehen, geben, aber sie
tun es ungleich seltener, als z. B. Kleinhimgeschwülste. Gleich-
gewichts-, Gang-, Atmungs- und motorische Sprachstörungen,
Nackensteifigkeit, Trismus, Nystagmus, gleichseitige Paresen des
Fazialis» der Extremitäten, Amaurose ohne Sehnervenatrophie und
zumal im Kindesalter häufige allgemeine Konvulsionen bilden
Symptome des Kleinhirnabszesses. Die Sprachstörungen beim
Kleinhirnabszeß haben bulbären Charakter. Gekreuzte Paresen,
Paralysen, Spasmen, manchmal Konvulsionen, Hemianästhesie,
amnestische und Leitungsaphasie, optiko-akustische Aphasie
Worttaubheit, Agraphie, Hemiopie, Ptosis, Abduzenslähmung,
totale Lähmung des Okulomotorius, sprechen häufiger für Schläfen-
lappenabszeß. Der Kleinhimabszeß macht in 2/3 aller Fälle wenig
ausgebildete oder gar keine Lokalsymptome; der Schläfenlappen-
abszeß macht in der Eegel mehr oder weniger Lokalsymptome.
Der Schläfenlappenabszeß wird am öftesten bei Karies am Tegmen
tympani oder antri gefunden ; der Kleinhimabszeß bei Karies der
hinteren Wand des Felsenbeins und bei Labyrintheiterungen.
Hier und da sind Fälle verzeichnet, wo man, nachdem man einen
Eiterherd im Hirn diagnostizierte, einen Schläfenlappenabszeß für
einen Kleinhirnabszeß gehalten hat und umgekehrt (Drumond,
Garngee, Barr u. a.). Hansberg hat bei einem Schläfen-
lappenabszeß, welcher sich am hinteren und unteren Teil des
Lappens befand und auf operativem Wege entleert wurde, die
Diagnose auf Kleinhimabszeß aufrecht gehalten; die Autopsie
erwies, daß es sich um einen Schläfenlappenabszeß handelte, der
ganz dicht am Kleinhirn lagerte.
Gewisse Schwierigkeiten der Lokalisation des Hirnabszesses
können bei beiderseitiger Ohreneiterung entstehen; sie können
sogar beim Kleinhirnabszeß unüberwindlich sein. Sind Sprach-
stömngen vorhanden, so ist es nicht schwer zu erkennen, daß der
Abszeß ceteris paribus in der linken Hemisphäre sich befindet.
Wichtige diagnostische Momente bilden hier die Lokalisation des
j
Diagnose des otitischen Himabszesses. 281
Schmerzes, Schmerzhaftigkeit der entsprechenden Stelle beim Be-
klopfen des Schädels und die Seite der gekreuzten und gleich-
seitigen Lähmungen.
Die Differentialdiagnose zwischen Labyrintheiterung und
Klein h ir n ab szeß begegnet großen Schwierigkeiten, da beide
Krankheiten sehr oft gemeinsam auftreten und außerdem viele ge-
meinsame Symptome haben. Zu diesen gehören: Gleichgewichts-
störungen, Nackensteifigkeit, Schwindelgefühl, Übelkeit, Er-
brechen, Kopfschmerzen und Nystagmus; Fieberbewegungen, falls
letztere sich einstellen. Neuritis optica wird häufig bei Kleinhirn-
abszessen beobachtet, ausnahmsweise kommt sie bei Labyrinth-
eiterungen vor; sie kann aber auch beim Kleinhirnabszeß fehlen.
Hemiataxie und Hemiparese kommt nie bei Labyrinth ei terungen vor.
Gleichgewichtsstörungen können bei beiden Krankheiten fehlen.
Nach Hinsberg (Z. f. 0., Bd. 40, S. 166) sind unter Außeracht-
lassung der beiden Krankheiten gemeinsamen Symptome für den
Kleinhimabszeß charakteristisch die Allgemeinsymptome eines
Himabszesses: Abmagerung, Mattigkeit, psychische Veränderungen,
Neuritis optica, Strabismus, Zwangsstellung derBulbi, motorische
Reiz- und Ausfallserscheinungen , Pulsverlangsam ung , Nacken-
scbmerzen. Recht oft fehlen aber alle diese Symptome und nur
gemeinsame Symptome der Labyrintheiterung und des Kleinhirn-
abszesses kommen zum Vorschein. Nach H. Neumann bildet
der Nystagmus ein wichtiges differentialdiagnostisches Symptom.
Bei Großhirnabszessen kommt er fast nie vor. Bei Kleinhirn-
abszessen wird sowohl nach der gesunden wie nach der kranken
Seite gerichteter Nystagmus beobachtet; er nimmt zu bei zu-
nehmender Intensität der Krankheit und erreicht schließlich einen
solchen Grad, wie man ihn niemals bei Labyrintherkrankungen
sieht. Neumann und Baräny beobachteten, daß bei Labyrinth-
erkrankungen anfangs Nystagmus nach der erkrankten Seite be-
steht, dann aber später fast vollständig verschwindet. Beim
Kleinhimabszeß besteht anfänglich Nystagmus nach der gesunden
Seite, der dann plötzlich nach der kranken Seite umschlägt.
Beobachtet man dieses Symptom, so kann mit Sicherheit Klein-
hirnabszeß diagnostiziert und die Auslösung des Nystagmus vom
Labyrinth ausgeschlossen werden. Außerdem nimmt, wenn Klein-
himabszeß mit Labyrinth ei terung kombiniert ist, der vom Laby-
rinth ausgelöste Nystagmus nach Labyrintheröffnung rasch an
Intensität ab, während der vom Kleinhirnabszeß ausgelöste Nystag-
mus durch die Labyrinth Operation nicht beeinflußt wird. Der
282 XXIX. HEIMANN.
Nystagmus ist stets ein rythmischer und zeigt überhaupt sämt-
liche Charaktere des vestibulären Nystagmus.
Die Differentialdiagnose gegenüber extraduralem Abszeß
ist in vielen Fällen nicht schwer. Beim Extraduralabszeß werden
manchmal auch Allgemeinerscheinungen, die dem Hirnabszeß
eigen sind, beobachtet, wie allgemeines ünwohlfühlen, schlechtes
Aussehen, Mattigkeit, Schwindel, Erbrechen usw. Gewöhnlich
aber fehlen diese Symptome. Veränderungen des Pulses sind
ungemein selten, z. B. ist er nur dann verlangsamt, wenn der
extradurale Abszeß sehr groß ist (Hirndrucksymptom). Dasselbe
läßt sich von anderen bei dem Himabszeß angetroffenen Er.
scheinungen sagen. Stauungspapille und Neuritis optica ist bis
jetzt im ganzen viermal verzeichnet (Braunstein dreimal,
Hölscher einmal). In akuten Fällen wurde leichte Hyperämie
des Augenhintergrundes konstatiert (Braunstein). Nystagmus,
Konvergenz- und Divergenzstellung eines Auges, Pupillenerwei-
terung usw. wurden hie und da beobachtet. In sehr seltenen
Fällen kommen auch beim Extraduralabszeß in der mittleren
Schädelgrube gekreuzte Paresen und bei linksseitigem Abszeß
sensorische Sprachstörungen, nämlich bei Kindern, vor (Körner).
Je einmal sind sogar melancholische Wahnideen (Biehl) und
idee fixe (Hölscher) verzeichnet. Liegt der Abszeß in der hin-
teren Schädelgrube, so kommt auch Nackensteifigkeit vor. Höheres
Fieber fehlt in der Mehrzahl der Fälle; ist es vorhanden, so ist
es in der Regel durch Warzenfortsatzempyem oder durch Sinus-
phlebitis hervorgerufen. Geringe Temperaturerhöhungen kommen
häufiger vor. Gewöhnlich aber gibt der extradurale Abszeß
ebenso wie der Hirnabszeß keine Temperatursteigerung. Der
Kopfschmerz ist inkonstant, in vielen Fällen kann er vollständig
fehlen, in anderen besitzt er dieselben charakteristischen Zeichen,
welchen man beim otitischen Himabszeß begegnet. Er wird auch
über dem Ohre oder im Hinterhaupt oder an anderen, dem Abszeß
nicht entsprechenden Stellen lokalisiert, selten ist er diffus.
Geistige und physische Erschütterungen und Überanstrengungen,
Perkussion der entsprechenden Stelle steigern ihn; ebenso exazer-
biert er nachts. Neben Kopfschmerz wird häufig Ohrenschmerz
angegeben. Außerdem wird beim Extraduralabszeß oft Periostitis
und Mstelbildung, subperiostaler Abszeß angetroffen. Bringt man
in Abzug die selten vorkommenden Allgemeinerscheinungen und
die noch selteneren Herderscheinuugen beim Extraduralabszeß,
so macht im allgemeinen die Differentialdiagnose zwischen Hirn-
Diagnose des otitischen Hirnabszesses. 283
und Extraduralabszeß keine großen Schwierigkeiten. Beim Hirn-
abszeß wird man einen mehr oder weniger ausgebildeten Symp-
tomenkomplex von allgemeinen und Herderscheinungen konstatieren,
während beim Extraduralabszeß ein solcher Symptomenkomplex
zu den Ausnahmen gehört. Außerdem sind beim Extradural-
abszeß, wie schon erwähnt wurde, krankhafte Veränderungen im
angrenzenden Knochen vorhanden. Eine auffallend starke Eiterung
aus dem Ohre, die zu groß ist^ um aus den Mittelohrräumen
allein stammen zu können, spricht für einen Extraduralabszeß,
und seine Anwesenheit ist noch wahrscheinlicher, wenn mit der
Abnahme der Ohreiterung Hirnsymptome auftreten. Sind beide
Krankheiten gleichzeitig vorhanden, was nicht selten der Fall ist,
so ist eine richtige Diagnose ungemein schwierig, oft unmöglich.
Verläuft ein Extraduralabszeß unter Symptomen eines Hirn-
abszesses, so sind Irrtümer manchmal unmöglich zu vermeiden.
Die Differentialdiagnose kann in solchen Fällen erst auf dem
Operationstische gemacht werden.
Die tiefen Extraduralabszesse haben denselben Verlauf wie
die oberflächlichen, oft verlaufen sie ganz symptomlos, oder sie
geben dieselben Symptome wie die oberflächlichen Abszesse.
Ihre Diagnose ist nur eine Wahrscheinlichkeitsdiagnose und wird
erst nach der Warzenfortsatzeröffnung, wenn Groß- und Kleinhirn-
abszeß und ein oberflächlicher Extraduralabszeß ausgeschlossen
werden kann, festgestellt. Eine Labyrinthfistel erleichtert die
Diagnose. Das Empyem des Saccus endolymphaticus verläuft
symptomlos, führt aber manchmal zum Kleinhirnabszeß (Schulze).
Ebenso verhält es sich mit dem subduralen Abszeß und mit
der Pachymeningitis interna, die auch keine typischen Sym-
ptome machen mit Ausnahme der Fälle, wo es sich um eine typische
Lokalsymptome auslösende Beteiligung der Hirnrinde handelt.
In solchen Fällen ist aber auch eine Differentialdiagnose zwischen
Hirnabszeß und Subdural- ev. Rindenabszeß vor der Operation
unmöglich zu stellen. Subduralabszesse können vermöge ihrer
Ausdehnung und bisweilen vielfachen Komplikationen die ver-
schiedenartigsten und schwer zu deutenden Symptome machen.
Bisweilen kommen lokale Herdsymptome, wie sensorielle Aphasie
bei Lokalisierung der Affektion am linken Schläfenlapqen vor,
so daß die Diagnose zwischen Meningitis und Schläfenlappen-
abszeß schwankt. Bei Pachymeningitis interna und gegen die
Subarachnoidalräume abgeschlossenem subduralem Abszeß ist der
Liquor cerebrospinalis in der Regel klar oder nur leicht getrübt.
284 XXIX. HEIMANN.
Eine derartige Flüssigkeit spricht also bei der Lumbalpunktion
für einen abgegrenzten Eiterherd. Eine Entscheidung aber ob Sub-
dural- oder ob Hirnabszeß vorliegt, wird hierdurch noch nicht
herbeigeführt. Kommt nach der Spaltung der harten Hirnhaut
oder der inneren Sinuswand kein Eiter, so kommt in Frage das
Vorhandensein eines Hirnabszesses oder einer einfachen Pacby-
meningitis interna ohne Eiterbildung (Hol sc her). Der Subdural-
abszeß und die Pachymeningitis interna können auch vom Durch-
bruche eines Hirnabszesses entstehen, öfter aber kompliziert
ersterer die Sinusthrombose und den extraduralen Abszeß.
Encephalitiscircumscripta und Hirnabszeß sind in
einem frühen Stadium unmöglich zu unterscheiden, da beide Er-
krankungen gleichzeitig vorhanden sind und die Encephalitis
eigentlich das Initialstadium des Abszesses darstellt. Bei der
Differentialdiagnose kann man sich nicht auf die Zeitdauer stützen,
vor allem muß die Ätiologie berücksichtigt werden.
Zwischen Leptomeningitis und Hirnabszeß ist in
typischen Fällen nicht schwer zu entscheiden. Beide Krankheiten
haben zwar eine gemeinsame Ätiologie, z. B. die Ohreneiterung und
mehrere gemeinsame Symptome, aber auch solche, die für jede
von ihnen charakteristisch sind. Es gibt aber auch Fälle, wo
beide Krankheiten leicht verwechselt werden können, und die
Unterscheidung kann daher nicht immer eine unbedingte sein.
Bei schleichendem Verlaufe der Leptomeningitis kann letztere
gewisse Ähnlichkeit mit einem Hirnabszeß haben. Zu den Symp-
tomen gehören Kopfschmerz, der konstant auftritt. Nur in seltenen
Fällen bleibt er aus öder ist unbedeutend. Ferner Übelkeit, Er-
brechen und Schwindelgefühl. Störungen des Sensoriums kommen
fast immer vor, nur die Art und Zeit ihres Auftretens ist ver-
schieden. Ihr Grad variiert von leichter Trübung des Sensoriums
bis zum tiefsten Koma. Hierher gehören auch Aufregungs-
zustände, Reizbarkeit, Unruhe, Schlaflosigkeit, Delirien, Teilnahms-
losigkeit, Stumpfheit, Schlaflosigkeit usw., totale oder partielle
Lähmung des Fazialis, Nackenstarre, die jedenfalls bei der
Meningitis viel deutlicher ausgesprochen ist; Lähmungen, Myosis,
träge Beaktion der Pupillen, Lichtscheu, später Mydriasis, Lähm-
ungen der Augennerven, Deviation conjugee, Nystagmus, Fehlen
oder Steigerung der Patellarreflexe, Stuhlverstopfung und Stran-
gurie. Neuritis optica und Stauungspapille sind selten (Mace w en);
nach Govers sind sie häufig bei der Basalmeningitis. Wie beim
Hirnabszeß kommen Fälle vor, wo das Bewußtsein bis kurz vor
Diagnose des otitiscben Hirnabszesses. 285
dem Tode erhalten bleibt und die Symptome anfallsweise auf-
treten. Beim Exsudat in der Fossa Sylvii wurde Aphasie be-
obachtet (Körner). Bei schleichendem Verlauf der Meningitis
ist außerdem die Temperaturerhöhung nur gering, sie kann sogar
normal und subfebril sein; auch der Puls kann verlangsamt sein.
Bei einem solchen Symptomenkomplex kann die Differential-
diagnose unüberwindliche Schwierigkeiten bieten. Gewisse An-
haltspunkte kann die Lumbalpunktion geben, wovon oben die
Eede war. Als charakteristisches Symptom der Leptomeningitis
ist zu verzeichnen, daß die Hirnnerven in einer größeren Aus-
dehnung und unregelmäßigeren Anordnung als beim Hirnabszeß
befallen werden. Die Prodromalerscheinungen sind bei der
Meningitis von längerer Dauer. Die Hirnnerven können auch
beim Abszeß in der Brücke in größerer Ausdehnung befallen
werden, aber wie bekannt, sind die Abszesse dieser Hirngegend
ungemein selten und unseren therapeutischen Eingriffen unzugäng-
lich. Eine Fehldiagnose ist deshalb in solchen Fällen ohne
praktische Bedeutung. Gewöhnlich aber fehlt das Fieber nie bei
akutem und oft subakutem Entstehen der Krankheit; sein Charakter
ist sehr verschieden, enthält aber nichts Typisches. Die Tem-
peratur kann manchmal bis 41 ^ steigen, gewöhnlich geht sie nicht
über 39<^. Nach Körner wird hohes Fieber vorwiegend bei
Erkrankung der Konvexität beobachtet. Die Legtomeningitis con-
vexitatis hat überhaupt einen mehr stürmischen Verlauf, als die
der Basis. Der Puls zeigt meistens eine der Höhe der Tem-
peratur entsprechende Frequenz. Im Endstadium der Krankheit
ist er meist schnell, klein, aussetzend und oft kaum fühlbar. In
seltenen Fällen bleibt er kräftig und regelmäßig. Außerdem
werden bei Leptomeningitis Hyperästhesie der Haut, klonische
und tonische Krämpfe des Fazialis, Konvulsionen und Lähmungen
der entgegengesetzten Seite beobachtet; letztere erstrecken sich
in gleichem Maße auf die obere und untere Extremität. Im End-
stadium finden wir Krämpfe und Lähmung aller Extremitäten,
teilweisen oder gänzlichen Verlust der Sprache, immer mehr zu-
nehmende Bewußtlosigkeit, K er n igsche Flexionskontrakturen,
kahnförmig eingezogenen Leib und unwillkürliche Harn- und
Stuhlentleerung nach vorhergegangener Stuhlverstopfung und
Urinverhaltung. Der Urin enthält nicht selten Eiweiß und nicht
selten Pepton und Zucker. Lokale Symptome in den Hirnnerven
entstehen hauptsächlich bei Meningitis basilaris; in den Extremi-
täten bei Meningitis convexitatis. Im Blute wird nicht selten
286 XXIX. HEIMANN.
eine starke Vermehrung der weißen Blutkörperchen beobachtet-
Dieses Symptom wird aber auch beim Warzenfortsatzempyem
und bei Sinusthrombose angetroffen. Oft stellt sich Herpes am
Mund, Lippen, Naseneingange ein. Die Meningitis, welche nach
dem Durchbruche eines Himabszesses entsteht, hat einen ungemein
raschen, stürmischen, apoplektiformen Verlauf und, wenn sie beim
Hirnabszeß zum Vorschein kommt, sind ihre Symptome vor-
herrschend und die Merkmale des Abszesses können ganz ver-
deckt werden.
Plötzliche Verschlechterung des Hörvermögens auf der ge-
sunden Seite spricht mehr für Meningitis als für Hirnabszeß, ob-
gleich dieses Symptom, wie schon erwähnt wurde, auch beim
Himabszeß vorkommen kann.
Da die Fernwirkung des Kleinhirnabszesses zum Teil auf
dem Wege der Meningen erfolgt, so werden sich die Erscheinungen
beider Krankheiten zeitweise decken.
Otitische Abszesse in der Hirnsubstanz und Sinusphlebitis
verlaufen bei Kindern bisweilen unter meningitischen Symptomen
und werden oft irrtümlich für Meningitis gehalten. In anderen
Fällen können sie neben Menidgitis bestehen, ohne charakteristische
Symptome zu machen, so daß die Meningitis allein in Er-
scheinung tritt.
In manchen Fällen können die bestehenden Symptome un-
mittelbar zu einer Fehldiagnose führen, indem entweder bei
Meningitis das Bestehen einer anderen Komplikation oder um-
gekehrt beim Vorhandensein einer anderen intrakraniellen Er-
krankung Meningitis vorgetäuscht wird. B rieger z. B. be-
obachtete einen Fall von Großhirnabszeß, der die ausgeprägten
Erscheinungen einer Meningitis bot. Das gleiche kommt auch
mitunter bei Extraduralabszeß vor.
Beim Überwiegen von Allgemeinerscheinungen im Krank-
heitsbild kann der Eindruck einer allgemeinen septischen Er-
krankung hervorgerufen werden. Auch muß man sich vergegen-
wärtigen, daß ein umschriebener Herd die Erscheinungen einer
ausgebreiteten Meningitis machen kann, während andererseits
Herdsymptome einen Hirnabszeß vortäuschen können.
Hirnabszeß und Meningitis serosa haben nahe verwandte,
nicht selten identische Symptome. Letztere Krankheit stellt auch
Symptome der diffusen Meningitis dar^ doch prävalieren die
Hirndrucksymptome. Von den allgemeinen Hirnsymptomen ist
Neuritis optica und frühzeitige und tiefe Benommenheit des Be-
Diagnose des otitischen Hirnabszesses. 287
wußtseins für die Meningitis serosa gegenüber dem Himabszeß
charakteristisch. Nackenstarre, Opisthotonus, Pupillendifferenz,
Strabismus, Kopfschmerz, Schwindel, Erbrechen, Obstipation,
Pulsverlangsamung, Temperaturkurve und von Herdsymptomen,
Sprachstörungen, sind beiden Krankheiten in gleicher Weise
eigentümlich. Gangstörungen, für Kleinhimabszeß ein so wich-
tiges Symptom, überwiegen unbedingt bei der Meningitis serosa.
Bei letzterer werden ernste Sehstörungen, wie Amaurose und
Amblyopie recht häufig beobachtet. Taubheit, Geschmacks- und
Geruchsverlust, auch doppelseitige Paresen und Lähmungen,
z. B. beider Beine, beider Arme, beider N. N. faciales, beider N. N.
abducentes, werden bei der Meningitis serosa nicht selten an-
getroffen. Diese Störungen kommen zuweilen auch halbseitig
vor, und es würde ihr gekreuztes Auftreten gegen Hirnabszeß
und für Meningitis sprechen. Krampfanfälle sind für die Menin-
gitis serosa charakteristisch und sie werden in einem Drittel aller
Fälle beobachtet (Koch). Sie wurden zwar auch hie und da
beim Kleinhirnabszeß angetroffen, aber fast in allen diesen Fällen
war Hydrocephalus internus vorhanden. Der Hauptunterschied
liegt im Verlaufe. Die Meningitis serosa entwickelt sich plötzlich
mit schweren Hirnsymptomen, die nach einigen Tagen und sogar
Stunden vollständig schwinden, ohne etwaige Folgen zu hinter-
lassen. Der Abszeß aber in manifestem und Endstadium ent-
wickelt sich stetig weiter bis zum Ende und seine Symptome
dauern höchstens einige Wochen, oft nur einige Tage, während
die Anfälle der Meningitis serosa Monate, sogar Jahre hindurch
sich wiederholen können (Koch). Den wichtigsten Anhaltspunkt
zur Differentialdiagnose dieser beiden Krankheiten bildet die
Lumbalpunktion. Im allgemeinen ist die Meningitis serosa öfter
die Komplikation eines otitischen Kleinhirnabszesses als einer ge-
wöhnlichen Ohreiterung.
Tuberkulöse Meningitis und Hirnabszeß. Hier ist
zu bemerken, daß erstere vorwiegend bei Kindern bis zum zehnten
Lebensjahre vorkommt, während der Hirnabszeß in diesem Alter
relativ selten ist. Aber auch bei Erwachsenen wird sie bis zum
30. Lebensjahre hie und da beobachtet Gewöhnlich ist sie von
allgemeiner Tuberkulose begleitet, doch können die sonstigen
Erscheinungen der letzteren in den Hintergrund treten und die
Meningealaffektion den Eindruck einer Primärerkrankung machen.
Die tuberkulöse Meningitis ist häufig bei Kindern von Prodromal-
erscheinungen begleitet. Sie magern ab, werden schwach, traurig^
288 XXIX. HEIMANN.
reizbar, der Schlaf ist unruhig und sie klagen oft über Kopf-
schmerzen, die durch Ermüdung oder geistige Arbeit hervor-
gerufen werden. Ein solcher Zustand kann wochenlang bestehen.
Dann zeigt sich ohne jeden Grund Erbrechen, das gewöhnlich
auf einen Diätfehler bezogen wird, und die Kopfschmerzen werden
heftiger. Rasch danach entwickeln sich allgemeine Hirn-
erscheinungen, die ganz dieselben sind, wie beim Hirnabszeß:
Somnolenz, Delirien, Konvulsionen, Nackensteifigkeit, Pupillen-
differenz, Schwindel, Stuhl Verstopfung, Pulsverlangsamung bis
40 Schläge in der Minute. Die Temperatur steigt in mäßigem
Grade (38,5). Von Herdsymptomen wird Aphasie, auch eine
schwach ausgesprochene Neuritis optica beobachtet. Die charak-
teristischen Chorioidealtuberkel können häufig fehlen. In der
zweiten Krankenwoche oder am Ende der ersten treten Er-
scheinungen im Gebiete der Hirnnerven auf, also Strabismus,
Ungleichheit der Pupillen, geringe Ptosis, Parese des Fazialis.
Die Somnolenz geht in Koma über, der Kopf wird, wenn dies
nicht schon vorher geschah, nach hinten geneigt gehalten und
die Extremitäten können rigide werden. Häufig bestehen auch
lokale Konvulsionen oder Paralysen, Hemiplegie oder Lähmung
eines Armes oder des Gesichts, selten eines Beines oder des Ge-
ichts. Die Paralyse ist entweder vorübergehend oder dauernd.
Der Puls ist sehr beschleunigt (140 — 180). Die Respiration ist
erschwert oder unregelmäßig. Die Temperatur ist mäßig hoch
oder subnormal. Der Kranke stirbt im Koma. Zuweilen tritt
vor dem Tode eine scheinbare Besserung ein. Ist nur die Kon-
vexität affiziert, was jedenfalls selten vorkommt, so fehlen Symp-
tome von Seiten der Hirnnerven, und Erbrechen ist auch seltener.
Delirien, Konvulsionen und Rigidität der Extremitäten sind die
Hauptsymptome.
Infolge der Gemeinsamkeit vieler allgemeiner und -lokaler
Symptome bei dem Hirnabszeß und der tuberkulösen Meningitis
und durch die zufällige tuberkulöse Erkrankung anderer Organe
bei einem Kranken mit otogenera und zunächst nicht tuberkulösem
Kleinhirnabszeß, welcher häufig während des Verlaufes Neigung
zeigt, tuberkulös zu werden, können diagnostische Schwierigkeiten
oft unüberwindlich sein, hauptsächlich wenn man daran denkt,
daß bei Kindern eine akute eiterige Mittelohrentzündung heftige
Kopfschmerzen, Erbrechen, Fieber, Delirium, Schwindel, Konvul-
sionen, Strabismus und mehr oder weniger ausgesprochene Neu-
ritis optica hervorrufen kann, und daß ein Hirnabszeß unter dem
Diagnose des otitischen Uirnabszesses. 289
Bilde der Meningitis oft verläuft. Im besten Falle kann man
nur eine Wabrscheinlichkeitsdiagnose stellen. Wenn bei einem
Kinde, das hereditär nicht belastet ist, eine sich hinziehende akute
oder chronische Ohreiterung besteht, plötzlich starke Ohren- und
Kopfschmerzen, Erbrechen und andere Symptome des gesteigerten
intrakraniellen Druckes zum Vorschein kommen, bei normaler
oder subnormaler Temperatur; wenn Krämpfe und Bewußtlosigkeit
auftreten und das Bewußtsein in den Pausen zwischen den Kon-
vulsionen klar ist und andauernd klar bleibt, so spricht dies
ceteris paribus für einen Himabszeß. In solchen Fällen spricht
Nackensteifigkeit, Pupillendifferenz, Zwangsstellung der Bulbi,
Gleichgewichtsstörungen und Zwangsbewegungen für einen Klein-
himabszeß. Ausgesprochene Neuritis optica am Ende der ersten
Krankheitswoche spricht für letztere Krankheit. Entscheidend für
die tuberkulöse Meningitis ist der Befund von Tuberkeln in der
Chorioidea und Tuberkelbazillen in der nach der Lumbalpunktion
erhaltenen Flüssigkeit, wie auch Lymphozyten in dem Sediment
des Liquor cerebrospinalis und seine leichte Gerinnbarkeit.
Tuberkeln und Tuberkelbazillen können aber häufig fehlen. Es
kann auch die Punktion des Arachnoidalsackes nach voraus-
gegangener Aufmeißelung vorgenommen werden.
Bei größeren Kindern und Erwachsenen sind die Symptome
der Meningitis tuberculosa dieselben wie bei kleinen Kindern, nur
Prodrome und Krämpfe sind seltener. Puls und Temperatur
können sich so verhalten, wie beim Abszeß. Schnell zunehmende
Bewußtlosigkeit, Delirien, ausgebildete Nackenstarre und gekreuzte
Störungen der Motilität und Sensibilität sprechen mehr für
Meningitis, deren Charakter durch Untersuchungen an anderen
Organen, durch genau durchgeführte Anamnese bis zu einem ge-
wissen Grade sich feststellen läßt. Ist tuberkulöse Karies des
Mittelohrs und seiner Nebenräume vorhanden, so ist die ent-
stehende Meningitis wahrscheinlich eine tuberkulöse, es kann aber
auch ein Hirnabszeß vorhanden sein. Entstehen bei einem Kinde
oder Erwachsenen die erwähnten allgemeinen und örthchen
Symptome bei gesundem Gehörgange und bei Symptomen von
Tuberkulosis in anderen Körperteilen, so kann ein Hirnabszeß
entschieden ausgeschlossen werden.
Ein Tuberkelkonglomerat im Hirne führt zum tuberkulösen
Hirnabszeß in der Weise, wie es zuerst Virchow geschildert
hat. Ein solcher Knoten hat seinen Lieblingssitz zwischen grauer
und weißer Hirnsubstanz. Kolliquiert sein käsiger Inhalt, was
Archiv f. Ohrenheilkiinde. 73. Bd. Festschrift. 19
290 XXIX. HEIMANN.
nicht häufig geschieht, so liegen mitten im Knoten kleine, mit
trüber molkiger Flüssigkeit gefüllte Höhlen. Um diesen Knoten
bemerkt man auch zuweilen eine Eiterschicht, oder sogar die
ganze Masse ist eitrig. Ein solcher Abszeß könnte leicht für
einen idiopatischen resp. für einen otitischen angesehen werden,
er unterscheidet sich dadurch von diesem, daß er mehr oder
weniger Tuberkelbazillen enthält Die Symptome sind dieselben
wie die eines otitischen Hirnabszesses^ man wird aber immer
gleichzeitig Veränderungen verschiedenen Grades in den Lungen
oder in anderen Organen auffinden. Zuweilen kommt es vor,
daß zum wirklichen otitischen Hirnabszeß Lungentuberkulose
hinzukommt; wie ich es einmal beim Kleinhirnabszeß zu kon-
statieren Gelegenheit hatte. Die tuberkulösen Hirnabszesse ent-
stehen am häufigsten infolge von Schädel- ev. Schläfenbeintuber-
kulose.
Ein otitischer Hirnabszeß mit Meningitis cerebro-
spinalis epidemica ist wohl schwer zu verwechseln. Wenn
neben Ohreneiterung die Symptome der Meningitis, der heftige
Kopfschmerz, die Retraktion des Kopfes, die kutane Hyperästhesie,
Delirien, Rückenschmerz, Muskelrigidität, Schmerzhaftigkeit der
Nackenrauskeln und Herpes labialis usw. sich entwickeln, so
reichen diese Symptome, abgesehen vom epidemischen und in-
fektiösen Charakter der Krankheit, vollständig aus, um eine
richtige Diagnose zu stellen. Kreuzschmerzen sind auch beim
Kleinhirnabszeß angegeben (Okada).
Sinusthrombose und Hirnabszeß. Eine Verwechselung
dieser beiden Komplikationen der Ohreiterung kommt selten vor.
In den meisten Fällen wird Sinusthrombose mindestens im Be-
ginne von Kopfschmerz und Erbrechen begleitet. Der Kopfschmerz
ist bald diffus, bald auf die ohrkranke Seite beschränkt; der
Schmerz kann auch ins Ohr verlegt werden. In Fällen, wo nicht
gleichzeitig Hirnabszeß oder Meningitis besteht, ist das Bewußt-
sein anfangs nicht gestört, später ist Bewußtseinsstörung in ver-
schiedenem Grade ausgesprochen. Es kommen aber auch Fälle
mit starken Bewußtseinsstörungen schon von Anfang an vor. Ich
habe mehrere Fälle von ausgesprochener Septiko-Pyämie beob-
achtet, wo bei der Autopsie stark ausgebreitete eitrige, vorwiegend
Basalmeningitis angetroffen, und bei Lebzeiten das Bewußtsein
erst einige Stunden vor dem Tode in nicht hohem Grade getrübt
wurde, abgerechnet die Betäubung, die vom infektiösen Prozesse
abhängig war. Psychische Depression, leichte Benommenheit
Diagnose des otitischen Hirnabszesses. 291
und allgemeiner Kräfteverfall sind sehr häufig. Neuritis optica
wird selten angetroffen (L entert, Hansen). Körner hat sie
nie bei Affektion des Sinus transversus beobachtet. Sie soll bei
Erkrankung des Sinus cavernosus vorkommen. Für Jansen hat
die Neuritis optica bei Sinusthrombose einen diagnostischen Wert.
Das wichtigste unterscheidende Symptom der pyämischen In-
fektion vom Hirnabszeß ist das charakteristische, pyämische
Fieber mit seinen Schüttelfrösten und der rapide ansteigenden
und abfallenden Temperatur (41,5—36,2) unter starkem Schweiß-
ausbruch. Bei Kindern kann der Frostanfall und der Schweiß
fehlen, aber auch das Fieber selbst zeigt nicht immer bei ihnen
die pyämische Kurve, selbst bei Vorhandensein von Metastasen.
Der Puls verhält sich entsprechend der Temperatur, bei vor-
handener Sepsis ist er auch während der Apyrexie beschleunigt.
Es wird aber auch Pulsverlangsamung bis 42 in seltenen Fällen
beobachtet (Kessel). Metastatische Hirnabszesse sind sehr selten
und sind gewöhnlich multipel, es kann aber auch nur ein Abszeß
im Hirn vorhanden und sogar operabel sein. Bei Ohreiterungen
sind die metastatischen Abszesse vorwiegend peripherisch, d. h. in
den Gelenken, im Unterhautzellgewebe und in den Muskeln,
seltener schon werden sie in den Lungen, und am seltensten in
anderen Organen angetroffen.
Von äußerlichen Zeichen, welche die Phlebothrombose charak-
terisieren, sind Schädigungen der Nerven, welche das Foramen
jugulare passieren (Vagus, Acce8Sorius,Glossopharyngeus), wie auch
des Hypoglossus zu verzeichnen. Ferner gehören hierher schmerz-
haftes Odem am hmteren Bande des Warzenfortsatzes, Odem der
Augenlider (bei Erkrankung des Sinus cavernosus), stärkere Füllung
der Stirn venen auf der kranken Seite und ungleiche Füllung der
Jugulares externae. Manchmal läßt sich deutlich ein harter schmerz-
hafter Strang der thrombosierten Vene und des infiltrierten benach-
barten Bindegewebes durchfühlen. Die Bewegung des Kopfes nach
der gesunden Seite sowie Drehung ist schmerzhaft. Heiserkeit,
Aphonie und Atemnot sind häufig da. Auch Krämpfe im Gebiete
des Accessorius, Schlucklähmung (Beck), Gaumenmuskellähmung,
schmerzhafte Schwellung des Nackens treten in Erscheinung. Die
Verstopfung des Sinus cavernosus verrät sich durch Symptome von
Stauungserscheinungen im Gebiete der V. ophtalmica und in
Schädigung eines oder mehrerer Nerven, die mit dem Sinus
cavernosus in Berührung stehen. Hohes anhaltendes Fieber,
schwacher und sehr beschleunigter Puls, Störungen des Bewußt-
19*
292 XXIX. HEIMANN.
seins, ausgesprochener Verfall der Kräfte bilden Symptome einer
septischen Intoxikation.
Bei Kindern verläuft zuweilen die unkomplizierte Sinus-
Phlebitis unter sogenannten meningitiseben Erscheinungen und ist
in solchen Fällen nicht zu diagnostizieren. Die Lumbalpunktion
kann gewisse Aufklärung bringen.
Ist Sinusthrombose mit Himabszeß kompliziert, oder ist gleich-
zeitig Leptomeningitis vorhanden, dann sind die Erscheinungen
der allgemeinen Infektion so ausgesprochen, daß die übrigen Sym-
ptome bis zu einem gewissen Grade verdeckt werden. In vielen
derartigen Fällen ist der Abszeß klein und kommt erst nach der
Thrombose zur Entwicklung (Mac e wen).
HirnabszeB und Apoplexie. Das Endstadium des Hirn-
abszesses, eventl. sein Durchbruch in einen Seitenventrikel oder
auf die Hirnoberfläche kann manche Ähnlichkeit mit einem apo-
piektischen Anfall haben, hauptsächlich dann, wenn beim Hirn-
abszeß das ätiologische Moment unberücksichtigt bleibt. Auf der
anderen Seite aber kann Apoplexie, wenn gleichzeitig Ohreiterung
besteht, irrtümlich für einen Himabszeß angesehen werden. Bei
der Apoplexie dominieren wie beim Abszeß zwei Kategorien von
Erscheinungen, u. z. die allgemeinen und örtlichen. Dem Anfall
können bestimmte Vorboten, wie Kopfschmerz, Schwindel, geringe
geistige Störungen, leichte Sprachaffektionen vorangehen und diese
Symptome können bei vorhandener Ohreiterung Verdacht auf
einen latent verlaufenden und ruptuierten Hirnabszeß erregen.
Die Apoplexie kommt aber vorwiegend in späterem Alter vor,
die Hirnabszesse sind dagegen am häufigsten bis zum Ende des
dritten Dezennium. Von den Allgemeinerscheinungen ist bei der
Apoplexie die Bewußtlosigkeit, und von den lokalen die Hemi-
plegie am deutlichsten ausgesprochen. Der apoplektische Anfall
tritt meist plötzlich auf; der Kranke fällt fühllos zusammen, nach
einigen Minuten oder längerer Zeit wird er teilweise oder öfter
vollständig bewußtlos, die Motilität und Sensibilität sind gänzlich
erloschen, und der Kranke kann in einigen Stunden, manchmal
in einer Stunde und sogar in einigen Minuten sterben. Der Puls
ist im allgemeinen zuerst verlangsamt, häufig klein und kaum
wahrnehmbar, zuweilen beschleunigt. Die Temperatur fällt meist
eine Stunde nach dem Anfall und kann sogar unter 35^ im
Rektum sinken und so bleiben bis zum Tode, oder sich zur nor-
malen heben. Eine Konvulsion kann den Anfall einleiten, in der
Segel fehlt sie. Der Kranke kann sich in bestimmten Fällen er-
Diagnose des otitischen Himab'szesses. 293
holen, die Allgemeinerscheinungen treten zurück, nur die Hemi-
plegie bleibt Die Ruptur des Abszesses wird fast immer von
Schüttelfrost und erhöhter Temperatur, ungemein heftigen,
starken Kopfschmerz und Erbrechen begleitet; der Puls ist sehr
beschleunigt, auch kommen andere Symptome einer akutesten Me-
ningitis, von denen oben die Rede war, zum Vorschein. Diese
letzteren Fälle endigen immer tödlich. Außerdem kann man sich
beim Hirnabszeß in den meisten Fällen überzeugen, daß bestimmte
allgemeine Hirnerscheinungen und nicht selten lokale Symptome
schon vorher eine mehr oder minder längere Zeit vorhanden,
waren, während beim apoplektischen Anfall diese meist fehlen
und, wenn sie zum Vorschein kamen, so waren sie nicht so deut-
lich^ nicht so mannigfaltig und von viel kürzerer Dauer.
Hirnabszeß und Tumor. Hier ist die Ätiologie von
größter Bedeutung. Das Fehlen einer jeden Ursache spricht für
einen Tumor. Deutliche Herderscheinungen, langsame, allmähliche
Zunahme der Symptome von gleichförmigem Verlauf, besonders
mit progressiver Paralyse der Himnerven, sehr intensive Neuritis
optica mit häufig progressiver Blindheit, zuweilen Hemianopsie,
allgemeine und lokale Krämpfe, allgemeine Muskelschwäche, an-
fallsweiser Bewußtseinsverlust, sprechen zu gunsten einer Neu-
bildung. Das Zurückgehen schwerer Symptome deutet auf einen
Tumor. Die Temperatur unterliegt keinen Schwankungen beim
Tumor; auch beim Abszeß ist der Zustand meistens afebhl und
die Temperatur kann sogar subnormal sein. Bei letzterer Affektion
aber werden hie und da infolge anderer hinzutretender Him-
komplikationen Temperaturschwankungen und zuweilen leichte
Temperatursteigerungen während des Verlaufs beobachtet. Tem-
peratursteigerung kommt gewöhnlich nur im Endstadium vor.
Rapide Entwicklung akuter und schwerer Hirnsymptome,
nachdem vorher leichte Anzeichen einer Hirnaffektion bestanden
haben, spricht für einen Abszeß. Beiden Krankheiten gemein-
same Symptome sind Kopfschmerzen, Schwindel, Erbrechen,
geistige Benommenheit, Neuritis optica, die jedoch beim Abszeß
seltener und nicht so deutlich ausgesprochen ist, als beim Tumor,
und cerebelläre Ataxie bei Kleinhirntumor. Die Neuritis optica
ist zuweilen ein sehr frühes Symptom, besonders bei Kleinhirn-
geschwulst und bei Erkrankung der Vierhtigel, bei Großhimtumor
tritt sie oft erst spät ein. Beim Tumor finden sich auch oft Kon-
vulsionen, ehe noch irgend welcher Verdacht auf eine Neubildung
vorhanden ist. Obgleich beim Tumor der Verlauf der Symptome
294 XXIX. HEIMANN.
in der Regel ein langsamer nnd allraählicher ist, so ist er doch
selten gleichförmig. Doch hier kommen auch Ausnahmen vor.
Bei langsam wachsenden Neubildungen kann der Prozeß ebenso
wie beim Abszeß intermittierend sein, und es können für einige
Zeit stationäre Stadien eintreten. Zuweilen treten beim Tumor
Druckaffekte sehr schnell hervor, z. B. ein gesunder Fazialis kann
in einigen Tagen vollständig gelähmt werden, in anderen Fällen
kann wieder eine rasche Steigerung der Symptome eintreten in-
folge lokaler, durch die Geschwulst hervorgerufener Meningitis.
Häufig folgt vorübergehende oder dauernde hemiplegische Schwäche
nach einseitigen Krämpfen, oder auch ohne die letzteren. Bei
nachweisbarer Syphilis ist es wahrscheinlich, daß der Tumor
syphilitischer Natur ist, eventl. eine gummöse Geschwulst bildet,
die unter gewissen Umständen zerfallen und so das undeutliche
Bild eines Hirnabszesses geben kann. Die Diagnose kann wie
beim tuberkulösen Abszeß nur eine Wahrscheinlichkeitsdia-
gnose sein.
Das intrakranielle Aneurysma bildet auch einen Tumor, und
gibt Symtome, die oft ganz denjenigen eines anders gearteten
Tumors gleichen. Der einzige Unterschied ist die Anwesenheit
eines hörbaren Aneurysmageräusches, das deutlich im Schädel
lokalisiert ist.
In seltenen Fällen kann neben Ohreiterung und otitischem
Hirnabszeß eine Neubildung bestehen, was die vollständig richtige
Diagnose sehr erschwert und sogar unmöglich machen kann.
Hysterie kann unter Umständen bei einer Ohr- und Schläfen-
beineiterung und bei kurzdauernder Beobachtung einen Hirnabszeß
vortäuschen, hauptsächlich, wenn Kopfschmerz oder Erbrechen
bestehen. Der plötzliche Ausbruch nach Gemütsaffektionen und
das Fehlen aller Symptome einer organischen Krankheit und
einer Neuritis optica, die Art und Weise des Entstehens der sub-
jektiven Symptome, wie auch der Umstand, daß hysterische In-
dividuen große imitative Tendenz besitzen, lassen meist die richtige
Diagnose stellen. Hemianästhesie, Störungen in den Spezialsinnen
ohne gleichzeitige motorische Lähmung gehören zu den seltensten
Effekten des Hirnabszesses und Hirntumors.
Es kommt auch vor, daß ein Hirnabszeß für Hysterie ge-
halten wird, weil die Kranke weiblichen Geschlechts ist und weil
andere hysterische Symptome vorhanden sind. Um diagnostische
Irrtümer soweit wie möglich zu vermeiden, dürfen die bestehen-
den Symptome der Hysterie niemals die Diagnose beeinflussen,
Diagnose des otitischen Himabszesses. 295
bis entschieden ein organisches Hirnleiden ausgeschlossen werden
kann. Eine genaue Kenntnis der Hysterie (Oppenheim) und
eine genaue Kenntnis des Hirnabszesses (Körner), sowie eine
reiche Erfahrung auf diesem Gebiete gewährt den sichersten
Schutz vor diagnostischen Mißgriffen. Andererseits darf nicht
vergessen werden, daß die Diagnose der Hysterie in den meisten
Fällen keine nennenswerten Schwierigkeiten darbietet bei Berück-
sichtigung der Art der Entstehung des Leidens, des Verlaufes
desselben und der Gegenwart gewisser charakteristischer Sym-
ptome. Die Erfahrung lehrt aber doeh, daß die Hysterie häufig
zu diagnostischen Irrtümern Anlaß gibt, und daß die Unter-
scheidung, ob gewisse Symptome der Hysterie angehören oder
nicht, selbst für den erfahrenen Beobachter zu einem sehr schwie-
rigen Problem sich gestalten kann. Handelt es sich darum, fest-
zustellen, ob im gegebenen Falle Hysterie vorliegt, so hat man
in erster Linie nach dem Vorhandensein der Stigmata der Krank-
heit zu forschen. Diese bestehen in psychisch - somatischen
Störungen, wie: Anästhesien, hysterogenen Zonen, anfallsweise
auftretenden Krämpfen u. s. w. An die Aufsuchung der Stigmata
muß sich zunächst die Nachforschung nach sicheren Zeichen
einer organischen Erkrankung resp. eines Hirnabszesses anschließen.
Aber leider sind die dafür sprechenden Symptome nicht ganz
selten bei der Hysterie. Außer gewissen Symptomen läßt die
Art der Entstehung und weiteren Entwicklung der Krankheit ge-
wisse Schlüsse über den Charakter des Leidens zu. Bei der
Hysterie zeigt das Leiden sehr selten einen gleichmäßig fort-
schreitenden Gang. Schwere Störungen können ohne Besserung
des Allgemeinzustandes plötzlich schwinden. Anfälle voi;i jähem
Hervortreten neuer, wie plötzlicher Beseitigung länger bestehender
Symptome deuten auf Hysterie. Eine Reihe von hysterischen Er-
scheinungen (Anästhesien, Hyperästhesien, paretische Zustände,
Kontrakturen, Tremor) kann von einer Körperhälfte auf die andere
überspringen. Auch die Zusammengruppierung des Symptome
gibt wertvolle diagnostische Anhaltspunkte, so z. B.: die hyste-
rische Hemianästhesie vergesellschaftet sich nicht mit Hemiopie,
die hysterische Paraplegie mit Anästhesie, welche sich auf die
Beine beschränkt.
Wie weit die Hysterie schwere Hirnkomplikationen vortäuschen
kann, dafür möge als Beispiel ein Fall von Boissard dienen.
Eine 45jährige Kranke wird plötzlich von heftigem Kopfschmerz und
Erbrechen zerebralen Charakters befallen. Die Pupillen waren verengt, der
296 XXIX. HEIMANN.
Puls verlangsamt (48 in der Minute) auch Obstipation fehlte nicht. Die
Temperatur war normal. Es wurde an Meningitis tuberculosa gedacht, da
einige Mitglieder ihrer Familie an Lungenschwindsucht zugrunde gegangen
waren. Nach einigen Tagen trat jedoch Besserung ein, es stellte sich rechts-
seitige Hemianästhesie ein, und alsbald war die hysterische Natur de&
Leidens zweifellos.
Ich beobachtete vor einigen Jahren einen jungen Mann von 26 Jahren,
bei dem infolge einer rechtsseitigen chronischen Ohreiterung die Eröffnung
des Warzenfortsatzes ausgeführt wurde. Der Kranke klagte fortwährend
über Symptome, die einem Himabszeß eigen sind. Es wurde von einem
Chirargen vergeblich zweimal trepaniert und die Himsubstanz exploriert.
Das ganze Verhalten des Kranken war das eines Hysterikers, der weitere
Operationen am Schädel verlangte.
Die Neurasthenie kann auch manchmal Anlaß dazu
geben, daß der Verdacht eines Himabszesses bei bestehender
Ohreiterung aufkommen kann. Der Hirnabszeß kann in seiner
Anfangsperiode Symptome aufweisen, die sich bei der Neurasthenie,
speziell bei der cerebralen, finden. Im Laufe der Zeit aber
treten zu den zweideutigen Symptomen beim Hirnabszeß solche
hinzu, die unzweifelhaft auf anatomischen Veränderungen beruhen.
Je länger es aber zu einer Entwickelung von Symptomen einer
organischen Läsion nicht kommt, desto bestimmter muß ceteris
paribus Neurasthenie angenommen werden. Daß sich neuras-
thenische Symptome durch ihren flüchtigen Charakter auszeichnen,
ist nicht ganz richtig. In vielen Fällen sind diese Symptome
sehr hartnäckig, so insbesondere die Kopfeingenommenheit, die
nervöse Asthenopie, die Herabsetzung der geistigen Arbeitskraft
Schwächezustände der Beine usw., Symptome, die nicht immer
für harmlos angesehen werden können, da sie beim Hirnabszeß
nicht selten vorkommen. Andererseits zeigt der Hirnabszeß
wenigstens bezüglich eines Teiles seiner Symptome sehr oft er-
hebliches Schwanken. Der Kopfschmerz erreicht bei Neur-
asthenischen selten ohne besondere Veranlassung höhere Grade
und dauert noch seltener in größerer Intensität längere Zeit an.
Perkussionsempfindlichkeit des Schädels ist nicht vorhanden,
ebenso verhält es sich mit dem Schwindel. Bei Neurasthenie
mangelt Erbrechen, beim Hirnabszeß fehlt es fast nie. Geistige
Depression, auffälliger Wechsel der Stimmung, flüchtige Schwäche-
zustände, Differenzen der Pupillenweite sind beiden Krankheiten
gemeinsam. Die beim Hirnabszeß seltene Hyperästhesie der be-
haarten Kopfhaut ist häufig bei der Neurasthenie. Andauernde
Veränderungen der Sprache anarthrischer und aphasischer - Natur
fehlen bei der Neurasthenie, obgleich in seltenen Fällen Para-
phasie, Wortamnesie und Paragraphie vorkommen kann. Von
motorischen Störungen mangeln überhaupt bei Neurasthenie
Diagnose des otitischen Hirnabszesses. 297
länger andauernde Lähmungen an den Extremitäten. Lähmungs-
erscheinnngen des Fazialis und der Augenmuskeln; Myosis, reflek-
torische PupiUenstarre, mangelhafte Lichtreaktion, geringe Paresen
in den erwähnten Nervengebieten müssen schon als gegen die
Neurasthenie sprechend betrachtet werden. Der Puls ist bei der
Neurasthenie durchschnittlich 80 — 100 in der Minute. Die bei
Neurasthenie vorkommende Herabsetzung des Gehörs für Flüster-
sprache, Stimmgabel und für die Kopfknochenleitung ist laby-
rinthärer Natur. Nach Bag ins ky sind diese Störungen zentraler
Herkunft. Sie werden aber nur bei traumatischer Neurasthenie
beobachtet.
Koma diabeticum kann in vereinzelten Fällen, bei an
Ohreneiterung leidenden Personen, gewisse Ähnlichkeit mit Hirn-
abszeß in der Terminalperiode haben und somit zu diagnostischen
Fehlern Anlaß geben, hauptsächlich, wenn das Koma plötzlich
auftritt und wenn man den Kranken das erste Mal zu sehen
Gelegenheit hat. Beim Koma sind die Kranken vollständig be-
wußtlos oder somnolent. Das Koma ist selten von dämmerndem
Bewußtsein unterbrochen. Zeitweise kommen unbedeutende
klonische Krämpfe vor; man beobachtet Mydriasis und Starrheit
der Pupillen, die Lider sind halb geöffnet, der Puls ist klein und
beschleunigt, die Temperatur sinkt weit unter die Norm nach
vorheriger unbedeutender Steigerung; tiefe Inspirationen mit
kurzen Expirationen und wachsende Cyanose. Die Anamnese
ergibt in mehreren Fällen vorangegangenen Kopfschmerz, Schlaf-
losigkeit, Unruhe, Angst, Schwindel und mehrere Tage anhaltende
rauschartige Gefühle. Der stechende Acetongeruch, der aus dem
Munde des Kranken dringt, reicht schon aus zur differentiellen
Diagnose. Ein weiteres diagnostisches Moment ist Zucker im
Harn und seine ausnahmslos starke Beaktion mit Eisenchlorid.
Freilich kann neben dem Koma diabeticum ein otitischer Hirn-
abszeß bestehen, seine Nichterkennung hat aber unter solchen
Umständen keinen praktischen Wert.
Uraemie kann auch bei eiterigen Otitiden Veranlassung
zu Verwechselung mit Hirnabszeß geben. Man findet, wie be-
kannt bei der ersteren Anfälle, die sich durch Bewußtlosigkeit,
Koma, tonische oder klonische Krämpfe auszeichnen, und denen
Kopfschmerz, Schwindel, Teilnahmslosigkeit bis zu leichter Be-
nommenheit, gesteigerte Schläfrigkeit, nicht selten Übelkeit und
Erbrechen und Pulsverlangsamung vorangehen. Bei abnorm
hoher, andere Male abnorm niedriger Temperatur (42 — 30 o)
298 XXIX. HEIMANN.
werden lilhmuDgen, Kontrakturen, Muskelzittern seltener be-
obachtet, noch seltener ist Manie, melancholische Verstimmung
oder Delirium vorhanden. Die Berücksichtigung der verhinderten
oder sehr verminderten Harnabsonderung mit ihren ursächlichen
Momenten, wie auch die Untersuchung des Augenhintergrundes
(Retinitis pigmentosa) werden fast ausnahmslos vor diagnostischen
Fehlern schützen. Die Amaurose, welche nicht ganz selten ohne
irgendwelche durch den Augenspiegel nachweisbare anatomische
Veränderungen nach dem urämischen Anfalle auftritt, schwindet
von selbst in kurzer Zeit, was beim Hirnabszeß nicht der Fall
ist. Auch hier kann neben der die Urämie veranlassenden
Krankheit und unabhängig von ihr ein otitischer Hirnabszeß
vorhanden sein und seine Diagnose kann die größten Schwierig-
keiten darbieten, öfter aber auch fast unmöglich zu stellen sein.
Das Nacheinanderfolgen der Symptome beim Typhus hat
etwas so eigentümliches, daß man kaum über dessen Charakter
in Zweifel kommt; freilich darf man nicht auf eine solche Regel-
mäßigkeit, besonders auch im Temperaturgange rechnen, wie sie
das Schema für die Mehrzahl der Fälle angibt. Man muß darum
den Kranken während einer gewissen Zeit beobachten. Leichter
können Verwechselungen des Typhus mit Pyäraie als mit Hirn-
abszeß vorkommen. Man muß aber auch daran denken, daß
Typhusinfektionen ohne erhöhte Temperatur, mit verlangsamtem
Puls, mit vorwiegenden Hirnsymptomen hie und da vorkommen,
die Anlaß zu diagnostischen Fehlern geben können. Die genaue
Kenntnis beider Krankheiten, längere und exakte Beobachtung,
wie auch die Agglutinationsprobe wird meistens vot Fehlern und
nicht entsprechender Therapie schützen.
Ich wurde bis jetzt zweimal von Internisten konsultiert, wo
der Verdacht auf otitischen Hirnabszeß vorlag; die genaue Unter-
suchung und Berücksichtigung aller Symptome überzeugte uns,
daß man es mit Typhus abdominalis zu tun hatte. In einem
von diesen Fällen war sogar kein Ohrenleiden vorhanden und
der Arzt stützte seine Diagnose auf beschränkten Kopfschmerz,
Perkussionsschmerz , stechende Schmerzen im entsprechenden
Ohre, Benommenheit, Erbrechen und erhöhter Temperatur.
Die Epilepsie ist nicht schwer vom otitischen Hirnabszeß
zu unterscheiden. Der epileptische Anfall zeichnet sich aus durch
vollständigen Verlust des Bewußtseins, plötzliches Umfallen, deut-
lich ausgesprochene Blässe des Gesichts, die rasch in Röte und
Cyänose übergeht und sehr oft von lautem, durchdringendem
Diagnose des otitischen Hirnabszesses. 299
Aufschreien und Rigidität des Körpers begleitet ist. Sehr rasch
stellen sich tonische, dann klonische Krämpfe ein. Man be-
obachtet vollständigen Verlust der Sensibilität und jeglicher
psychischer Prozesse. Die Pupillen sind erweitert und reaktions-
ios, dabei Trismus, Opisthotonus, blutiger Schleim auf den Lippen,
das Herz schlägt ungemein heftig, der Puls ist voll und rasch.
Nach mehr oder weniger kurzer Zeit, höchstens aber nach einer
Stunde, gewöhnlich nach 10—15 Minuten, schwindet der Anfall.
Die Epilepsie kommt am öftesten bis zum 20. Lebensjahre vor,
später ist sie recht selten (5 Proz. bis zum 30. Jahre). Bewußt-
losigkeit, Krämpfe kommen zwar auch beim Hirnabszeß vor, und
auch hier können die Anfälle nach einiger Zeit schwinden; hier
wird aber häufig Neuritis optica beobachtet, die Krämpfe sind
nicht so allgemein und werden von Lähmungen begleitet.
Es sollen auch Verwechselungen zwischen Hirnabszeß und
F. intermittens vorgekommen sein. Jedenfalls kann aber dia-
gnostische Unsicherheit in solchen Fällen nur während einer sehr
kurzen Zeit dauern, z. B. in den seltenen Fällen von Malaria, die
ohne Fieber und ohne Milzvergrößerung verlaufen. Schon die
hohe Temperatur, die bei F. intermittens konstant vorhanden ist,
der lang anhaltende Schüttelfrost, der dem Hitzegefiihl vorangeht,
die Untersuchung des Blutes reichen aus, um etwaige diagnostische
Fehler zu vermeiden. Schüttelfrost und hohes Fieber sind, wie
bekannt, beim Hirnabszeß im manifesten Stadium fast aus-
geschlossen und werden nur in der Anfangs- oder Endperiode
beobachtet. In letzterer tritt rasch der Tod ein, bei F. inter-
mittens ist tödlicher Ausgang während des Anfalles ungemein
selten.
Als Kuriosum muß ich noch erwähnen, daß es mir vorge-
kommen ist, zweimal in Fällen zu konsultieren, wo bei gewöhn-
lichen umschriebenen rheumatischen und neuralgischen Schmerzen
der Schläfenbeingegend, die paroxismal auftraten und bei Ab-
wesenheit eines Ohrenleidens Verdacht auf otitischen Hirnabszeß
vorlag.
Aus all dem Gesagten ersieht man, daß die Diagnose des
otitischen Hirnabszesses durchschnittlich mit einiger Sicherheit
gestellt werden kann. Aber wie in allen Gebieten der Medizin
fehlt es auch hier nicht an schwer zu deutenden, widerspruchs-
vollen und unklaren Fällen. Wenn beim otitischen Hirnabszeß
Fehldiagnosen noch recht häufig vorkommen oder wenn derselbe
gar nicht diagnostiziert wird, so liegt es an der Krankheit selber.
300 XXIX. HEIMANN. Diagnose des otitischen Himabszesses.
die viel Ähnlichkeit mit den übrigen endokraniellen Kompli-
kationen, die alle von einem Eiterherde im Gehörorgane abhängig
sind, haben kann, femer daran, daß mehrere dieser Komplikationen
gleichzeitig mit dem Abszeß in Erscheinung treten oder durch
denselben entstehen und daher sein eigenes Krankheitsbild ver-
decken und schließlich an der Ähnlichkeit der Symptome des
Himabszesses mit denen anderer Allgemeinleiden, bei denen gar
keine Eiterung vorhanden ist. Hoffen wir, daß mit dem Fort-
schritt der Wissenschaft auch die diagnostischen Mittel des
otitischen Himabszesses sich vervollkommnen werden. Es ist
aber zweifelhaft, ob in der Zukunft ein otitischer Hirnabszeß
jedesmal mit Sicherheit diagnostiziert werden wird, denn Irren
liegt in der Menschennatur, nur muß man bestrebt sein, die Irr-
tümer so weit wie möglich zu beschränken, und dazu kann nur
weiteres Forschen, genaues Beobachten und richtiges Beurteilen
führen.
XXX.
Kurze, zasammenfassende Übersicht
der bisher publizierten Fälle letaler Ohrblutungen und
Bericht Aber einen eigenen Fall
Von
A. de Forestier, Ohrenarzt in Libau.
Die ersten 13 Fälle von tödlichen Ohrblutungen brachte
Hermann Schwartze im Jahre 1878 in seiner pathologischen
Anatomie des Gehör -Organs.*) Dazu kamen dann in der
wichtigen Bearbeitung dieses Gegenstandes von Hessler im
Jahre 1881 (Arch. f. 0. Bd. XVIII) dessen eigener und 6 ge-
sammelte. Das sind die 20 älteren, gut kontrollierten Fälle.
Politzer führt 1893 in der III. Auflage seines Lehrbuches
3 weitere Fälle an.
In Schwartzes Handbuch der Ohrenheilkunde, Band II,
gibt Hessler im Literaturverzeichnis p. 617 noch Fälle von
P. Marc6 und Toulmouche, Gruber, Bennet May,
Körner, Zaufal an.
In der neuesten Zeit finden sich in der mir zugänglichen
deutschen Literatur die 3 Fälle von Zeroni (A. f. 0. Bd. 51),
Abbe (Ztschft f. 0. Bd. 29 p. 222) und Heine (Blau und
Jakob söhn Lehrbuch pag. 470).
1) Anmerkung. H. Schwartze führt pag. 12— 15 Fälle von „Arrosion
der Carotis cerebralis" an, von denen habe ich den Fall von Lavacherie
nicht mitgezählt, weil hier im engeren Sinn nur die Zerreißungen der Carotis,
die zu Ohrblutungen führten, addiert wurden. Der von Schwartze zitierte
Kimmel'sche Fall kann als strittig weggelassen werden. Vollständig un-
zulässig ist es jedoch, den Böke'schen Fall auszuscheiden, wie Hessler tut,
einfach weil er die von Schwartze angegebene Quelle nicht finden konnte.
Es sind mithin nicht 19, wie Hessler pag. 627 im Handbuch Band H zählt,
sondern 20 Fälle bis 1893 beobachtet worden.
302 XXX. FORESTIER.
Aus der französischen Literatur hat, wie aus einem Referat
im Centralblatt für Chirurgie, K 51, 1905 ersichtlich ist, Jourdin
54 Fälle gesammelt. Derselbe hat ferner über 3 eigene Fälle
berichtet. (Les 16sions du canal carotidien et les hemorrhagies
de la carotide interne dans les caries du rocher. Annales des
mal. de Toreille etc. Nov. 1904). Wie weit in dieser Statistik
bereits verwertete Fälle wiederholt werden, konnte ich nicht
kontrollieren, das muß durch Vergleich, besonders in Bezug auf
die älteren, schon bei Schwartze zitierten französischen Fälle
nachgeprüft werden.
Wie leicht Ungenauigkeiten selbst gewissenhaften Forschern
passieren können, geht aus des bekannten Warschauer Otologen
Jürgens Arbeit über den gleichen Gegenstand hervor, der eine
ganze Anzahl von Fällen doppelt aufzählt. Aus der eigenen
Praxis führt er zwei Fälle an. (2 Fälle von Riß der carotis
interna bei Erkrankungen des Mittelohrs. Wojennomedizinski
shurnal. Dez. 1901.) Beides sind Fälle von kurz dauernder
Eiterung bei Soldaten, die wahrscheinlich, um sich dem Militär-
dienst zu entziehen, starke Säuren ins Ohr gegossen hatten.
Von Schimanski stammt ein Fall von Verblutung (von
mir referiert im Archiv f. 0. Bd. 52).
Immerhin sind seit Schwartzes erster Publikation eine
ganze Anzahl dieser zum Glück verhältnismäßig äußerst seltenen
Komplikation veröffentlicht, auch ist als sicher anzunehmen, daß
in unserer viel schreibenden Zeit noch mancher hierher gehörende
Krankenbericht veröffentlicht worden ist, der mir entging, somit
wäre ein weiteres Publizieren bei der großen Ähnlichkeit der
Befunde kaum besonderes Bedürfnis. Ich muß jedoch zu meinen
Gunsten, im Gegensatz zu diesen meistens durch Felsenbein-
Caries bei Tuberkulose oder Cholesteatom bedingten Fällen, die
Ätiologie der Hämorrhagie meines Falles anführen, dessen
Ursprung ein zeitlich zurückliegendes Trauma bei intaktem Ohr
gewesen zu sein scheint.
Der 3 jährige Sohn einer aus Baku zur Badesaison angereisten Familie
hatte am Abend des 20. Juli (3. August) 1900 aus dem rechten Ohr eine
kurzdauernde Blutung, die trotz Tamponade später rezidivierte und wegen
deren mich am nächsten Tage der behandelnde Arzt, Herr Dr. Jagdhold
konsultierte. Die Mutter gab an, daß der Knabe bereits einige Tage Kopf-
weh hätte, seit ungefähr 10 Tagen leicht, ohne Schüttelfrost fiebere und
immer apathischer und matter werde. Das Ohr sei bisher immer gesund
gewesen, wie dieses überhaupt die erste Krankheit des Kindes sei. Vor
einem Monat und dann auch vor 3 Wochen sei das Kind aus nicht un-
beträchtlicher Höhe gefallen, das eine mal über ein hohes Bettende. Etwas
Näheres über diese Vorfälle ist wegen vollständiger ünzuverlässigkeit der
Kurze, zusammenfassende Übersicht der bisher publizierten Fälle usw. 303
Wartefrau nicht zu eruieren. Unmittelbar nach dem Fallen sollen keinerlei
Beschädigungen oder irgend welche Krankheitssymptome, speziell keine
Blutung, kein Erbrechen, auch kein Ausfluß von Cerebrospinalflüssigkeit
bemerkt worden sein. Erst seit 10 Taeen sei, zugleich mit der Temperatur-
steigerung, der Hals außen rechts gcscnwollen.
Status : Kräftig gebauter, mit starkem Fettpolster versehener, sehr gesund
und normal aussehender Knabe. Temperatur 38,5, Puls beschleunigt, 140.
Athmung wenig beschleunigt. An der rechten Halsseite, unter dem proc.
mast. und hinter und vor dem musc. stemo-cl. mast. eine breite und narte
Schwellung von fast Kinderhandgi-öße Die Haut über der Schwellung nicht
verfärbt, nicht druckempfindlich, keine Fluktuation zu fühlen. Es besteht
geringe Nackensteifigkeit. Sonst am Hsls, Nacken und Schädel nichts Patho-
logisches wahrzunehmen, auch keinerlei von einem älteren Trauma henührende
Zeichen am Kopf. * Umgebung des Ohres : nichts Besonderes. — Im rechten,
sehr engen Genörgaiig frisches, hellrotes Blut, das spärlich auszufließen
scheint und auf Kompression der Carotis steht. Nach Säuberung sind
keinerlei Spuren von Eiter oder Erscheinungen einer Entzündung zu be-
merken. Die Gehörgangswände sind etwas verdickt, aber nicht besonders
gerötet, das Blut scheint von dem oberen, vorderen Bande des nicht ent-
zündeten, sonst intakten Trommelfells zu kommen.
Das Kind hört Gesprochenes gut. Von einer genaueren Hörprüfung
und weiteren eingreifenden Untersuchungen mußte ich Abstand nehmen.
Das linke Ohr normal. Im Rachen frisches Blut, Zunge belegt. Aus der
Nase kein Blut. Keine Erscheinungen, die auf eine Stömng in der Funktion
der Himnerven hinweisen. Keinerlei anderweitige Erkrankung im Übrigen
objektiv wahrnehmbar.
Es bestand hier, wie aus der Farbe des Blutes und dem
Erfolg der Kompression ersichtlich war, obgleich das Blut weder
im Strahl noch pulsierend aus dem Ohr floß, eine arterielle
Blutung. Wo das Blut herstammte, solches genau anzugeben,
war im Augenblick unmögUch. Es war vorläufig klar, daß es
sich aus einem der Paukenhöhle benachbarten Gefäß in das
Cavum tympani ergoß und von hier aus nach außen drang. Es
handelte sich also darum, die Unterbindung eines größeren, zu
der blutenden Stelle führenden Gefäßes vorzunehmen. Auf dem
Transport zur Klinik trat, offenbar infolge der Bewegungen, eine
überaus heftige Blutung ein. Eine Tamponade des Gehörgangs
half nichts. Der Tampon wurde herausgeschwemmt. Wie viel
Blut das Kind approximativ verlor, konnte nicht ermittelt werden,
ein großes Handtuch war durchtränkt. Die Notwendigkeit etwas
Radikales zu unternehmen wurde der Mutter dadurch noch klarer.
Gemäß den bisher publizierten Erfahrungen wurde die Prognose
der Ligatur fast total schlecht gestellt, aber die Hände in den
Schoß legen und der Blutung zusehen war für uns unzulässig.
Wie bekannt, ist es das Beste, nicht die Carotis interna, sondern
die Carotis communis zu unterbinden, da, wie Hess 1er richtig
bemerkt, die Unterbindung der interna, wenn Blutung der
A. meningea med. vorliegt, nichts nützen würde. — Unter der
liebenswürdigen Beihülfe der Kollegen Seh mäh mann und
304 XXX. FORESTIER.
Jagd hold unterband ich die Carotis communis. Der Haut-
schnitt wurde mit Schi eich 'scher Anästhesie gemacht, später
wurde, da das kräftige Kind vom Blutverlust noch wenig coUabiert
war, ab und an etwas Chloroform gegeben. Nach sorgfältiger,
schichtweiser Präparation erwies sich die erwähnte Geschwulst
als ein Drüsenpaket (ich hatte zeitweilig an ein Hämatom ge-
dacht), das hinter, unter und auch vor dem m. sterno-cl. m. ge-
legen war, die Carotis bedeckte und mit deren Scheide ver-
wachsen war. Die Substanz der Drüsen war . durchweg hart.
Die Wandungen der Jugularis und Carotis waren, soweit sie zu
übersehen waren, ganz unversehrt. Durch 2 Fäden wurde die
Jugularis zur Seite gezogen und die Carotis mit 4 dicken, sicher
liegenden Seidenligaturen unterbunden. Wir hatten die große
Freude, daß die Blutung sofort stand. Durch halbfeuchte Papp-
schienen wurde ein vom Kopf bis auf die Brust reichender,
fester Panzer gemacht, um so den Kopf nach Möglichkeit zu
immobilisieren. In den nächsten 3 Stunden erholte sich das
Kind zusehends, das Sensorium wurde frei, das Fieber fiel. Da,
3 Stunden nach der Operation, trat nach Angabe der dejourieren-
den Schwester, ohne daß das Kind sich irgendwie heftiger be-
wegt hätte, eine kolossale Blutung aus Nase, Mund und Ohr auf
und das Kind verschied in wenigen Minuten.
Ich glaube, daß es sich hier um folgendes gehandelt hat.
Das Kind ist mehrere Male, einmal sogar ca. IV2 Meter hoch,
beim Spielen und Klettern über ein Bettende gefallen. Damals
ist es zu einer offenbar indirekten Verletzung, zu einer wenig
ausgedehnten, unvollständigen Schädel-Fissur gekommen. Die
Gehörgangswand war intakt, auch war die Trommelhöhlenwand
nicht frakturiert, ebensowenig der Warzenfortsatz. Eine Be-
schädigung der Labyrinthkapsel und Eröffnung der Schädelhöhle
können desgleichen leicht ausgeschlossen werden. Es waren kein
seröser Ausfluß, kein Erbrechen, auch keine Gleichgewichts-
störungen vorhergegangen. Berücksichtigt man die Hessl ersehen
Ausführungen über das Zustandekommen von Carotisblutungen
bei Felsenbeincaries — Arch. f. 0. XVIII, pag. 40 — , so ist es
naheliegend, daß durch indirekte Gewalt die an die Paukenhöhle
grenzende, dünne Wand des Canalis caroticus mit zersplittert
war und das Gefäß bei den Bewegungen des Kopfes und den
von der Pulsation erzeugten, durch einen einem Knochensequester
ähnlichen Splitter allmählich durchsägt wurde. So mußte es
eines Tages zu der Blutung kommen. Da die Gefäßwand nicht
Kurze, zusammenfassende Übersiebt der bisber publizierten Fälle usw. 305
erweicht war, dauerte es in diesem Falle 3 — 4 Wochen. Wie
das Fieber und die Drüsenschwellung zu erklären sind, weiß ich
eigentlich nicht recht Bei solchen Verletzungen kann Meningitis
die Folge sein, so wären Fieber, Kopfschmerzen und die geringe
Nackensteifigkeit gedeutet. Was die Dräsen anbelangt, so werden
vergrößerte Lymphdrüsen wohl schon vorher bestanden haben.
Der Knabe war recht fett, und konnten die Drüsen übersehen
worden sein, erst als sie während des fieberhaften Zustandes stärker
zu schwellen anfingen, wurden sie bemerkt Das ist in kurzen
Worten die Geschichte des Falles und die Rechtfertigung unseres
Eingriffes.
Archiv- f. Ohrenheilknnde. 7S. Bd. Festschrift 20
XXXI.
Ein rechtsseitiger Schläfenlappenabszess mit Apliasie
bei einem Rechtshänder.
Von
Privatdozent Dr. Wittmaack aus Greifswald.
(Mit 1 Kurve.)
Der folgende Fall von otogenem rechtsseitigem Schläfen-
lappenabszeß mit typischer Aphasie bei einem rechtshändigen
Kranken scheint mir wegen der Seltenheit dieses Befundes und
mit Rücksicht auf die diagnostischen Schwierigkeiten, die er mir
infolgedessen bot, einer kurzen Mitteilung wert.
Die Krankengeschichte des Falles ist, in etwas abgekürzter
Form wiedergegeben, folgende:
Anamnese: U. A., 26 Jahre, Chausseearbeiter, leidet seit Kindheit
an übelriechender Eiterung auf dem rechten Ohre. Vor 13 Jahren bekam
er bereits einmal stärkere Schmerzen mit nachfolgender Anschwellung hinter
der Ohrmuschel, die seinerzeit vom behandelnden Ai-zte mit einem tiefen
Einschnitt behandelt wurde. Hiemach blieb hinter der Ohrmuschel eine
eiternde Fistel zurück, und auch die Eiterung aus dem Gehörgang bestand
ununterbrochen fort. Sie war stets sehr übelriechend. Da er indessen keine
Schmerzen oder sonstige Beschwerden mehr empfand ließ er das Ohr dauernd
ohne weitere Behandlung. 14 Tage vor der Aufnahme stellten sich plötzlich
wieder heftige Schmerzen und Fieber ein. Er hat seitdem oft gefroren,
sodaß der ganze Körper zitterte und darnach wieder große Hitze empfunden
mit starkem Schweißausbruch. Außerdem hat er Kopfschmerzen, die er in
die Stirn verlegt, dagegen keinen Schwindel. Erbrochen hat er niemals.
Bis vor 14 Tagen will er stets völlig gesund gewesen sein. Er hat immer
gearbeitet. — Hereditär ist er in keiner Weise belastet.
Allgemeiner Status am 24. März 1906. Angegriffen aussehender,
kräftig gebauter Mann. An den inneren Organen keine Besonderheiten.
Urin ohne Eiweiß und Zucker.
Ohrenbefund. Rechts Retroaurikulär ausgedehnte Narben, von
zwei zu einander senkrecht stehenden Inzisionen hen-ührenü An der Kreuzungs-
stelle der Narbenzüge besteht eine für dicken Sondenknopf durchgängige
Fistel, aus der höchst fötider dünnflüssiger Eiter quillt. Die Umgebung
der Fistel ist stark gerötet, der Knochen bei Druck schmerzhaft Im Gehör-
organ besteht mäßig reichliche, auch höchst fötide eitrige Sekretion. Er ist
erfüllt mit leicht blutenden Granulationen, von denen einige entfernt werden,
ohne daß es gelingt ein klares Bild zu erhalten. Hörvermögen: phonieite
Sprache ad concham.
Ein rechtsseitiger Schlaf enlappenabszess mit Aphasie usw. 307
Links: Trübes mattes Trommelfell, sonst keine Besonderheiten. Hör-
vermögen: eirca 3,0 m für Flüstersprache.
Es besteht keine Papillitis, kein N3^stagmus bei seitlicher Blickrichtung
oder sonstige Labyrinthsyraptomc.
Noch während der üntereuchung tritt ein starker Schüttelfrost
auf, so daß sofort zur Operation vorbereitet wurde. Beginn der Operation
mit primärer Jugularisunterbindung; Anlegung doppelter Ligatur, Durch-
trennung der Vene, Herauspraeparieren der Vene kranial wärts und Heraus-
lageni des Stumpfes in die äußere Wunde. Folgt Totalauf meißelung: Schnitt
in gewohnter Weise mit sekundären | — Schnitt nach hinten, excidieren der
Fistel, Ablösen der adhärenten Weichteilc. Mehrere cm hinter der Umrandung
des Gehörganges fistulöser Defekt im Knochen aus dem fötider bräunlicher
dünnflüssiger Eiter abfließt. Folgt Anlegung der typischen Operations-
wundhöhle bei Totalaufmeißelung mit Abtragung der nach außen mündenden
Knöchenfistel. Hierbei wird ein großes Cholesteatom aufgedeckt und ent-
fernt, das oberflächlich stark zerfallen und erweicht, in der Tiefe teilweise
noch von festerer Konsistenz ist. In der Pauke finden sich reichliche Granu-
lationen, die mit Kürette entfernt werden. Folgt Abtragung überhängender
Knochenspangen, Giättung und Revision der Wundhöhle: An der hinteren
Wand führt ein Fistelkanal in die Tiefe mit der Richtung nach dem Sinus.
Bei Erweiterung desselben quillt sehr reichlich höchst fötider, bräunlicher,
krümmelicher Eiter hervor. Nach Abtragen des Knochens in der Umgebung
der Fistel liegt die mißfarbene Sinuswand und schwielig verdickte Dura des
Kleinhirns vor. Folgt ausgedehnte Freilegung dieser Partien bis man auf
«nnähernd normal aussehende Sinuswand bezw. Dura stößt. Der Sinus sig-
moideus ist kurz vor seinem Übergang in den Sinus transsversus fistulös durch-
brochen, sodaß man an dieser Stelle die Sonde nach oben und unten in sein
Lumen einführen kann. Er wird zunächst unterhalb der Durch bruchssteile
breit eröffnet bis nahe an seinen Übergang in den bulbus venae jugularis.
Seine Wände sind hier teilweise kollabiert, ein zusammenhängender Ihrombus
findet sich nicht, dagegen ein dicker Belag auf der Sinus wand, von zer-
fallenen Thrombusresten herrührend. Beim Spalten der Sinuswand nach oben
fließt bald Blut aus, sodaß hier von einem weiteren Vorgehen abgestanden
werden muß. Die Kleinhimdura erscheint auffallend prall gespannt und
pulsiert nicht deutlich. Es werden daher einige Probepunktionen nach ver-
schiedener Richtung vorgenommen, ohne daß Eiter aspiriert wird. Tamponade
des Sinus und der Wundhöhlo und Verband.
25. März 1906. Die Nacht, ist gut verlaufen. Patient ist klar, teil-
nehmend, hat keine Klagen. Kein Schwindel, keine Kopfschmei-zen, kein
Erbrechen oder dergleichen.
26. März. Versucht zu lesen, hat leidlich guten Appetit und keine Klagen.
27. März. Keine wesentliche Veränderungen ; klagt gegen Abend über
leichte Kopfschmerzen, ist indessen sonst auffallend wohl und munter.
28. März. Verbandwechsel : Dura noch stark belegt, pulsiert sehr schwach,
erscheint immer noch gespannt und etwas vorgewölbt. In der Wundhöhle
nur geringe Granulationsbildung, sonst keine Besonderheiten, nirgends kommt
Eiter nacn.
Gegen Abend erscheint der Patient auffallend unklar; kann sich nur
mit Mühe auf seinen Namen besinnen, antwortet meistens gleichmäßig mit
„ganz schön" oder „ganz gut" auf die verschiedensten Fragen. Sonst Keine
cerebralen Symptome, keine Nervenlähmungen oder dergl. Augenhintergrund
völlig normal (Frivatdoc. Dr. Halben). Kein Druckpäs.
29. März. Der Zustand ist unverändert. Vorübergehend deutlicher
Druckpuls (verlangsamt, gespannt, dicrotisch). Lumbalpunktion entleert
wasserklare Flüssigkeit. Revision der Wunde. Nur Dura des Kleinhirns
und Sinuswand noch stark belegt, sonst deutlich bessere Granulationsbildung
in der Wundhöhle. Inzision der Kleinhimdura und Eingehen mit der Kom-
zange in verschiedener Richtung, ohne daß Eiter entleert wird. Da das
tegmen tympani und antri nirgends kariöse Processe erkennen lassen, wird
von einer Freilegung der mittleren Schädelgrube und Probepunktion .des
Schläfenlappens zunächst noch abgestanden.
20*
308 XXXI. WITTMAACK.
Gegen Abend Temperaturabfall und Besserung des Allgemeinbefindens.
Sonst keine Änderung des Zustandes. Sämtliche Antworten laucen ^ganz
gut" und nganz schön'^ neben einigen unverständlichen Brocken. Zunge
wird auf Befehl herausgestreckt, bei Aufgaben sonstiger Manipulationen
z. B. Augenschließen oder dergl. beharrt er oeim Herausstrecken der Zunge.
Weiß weder Namen noch Alter von selbst anzugeben. Doch erkennt man
deutlich die Anstrengungen die der Patient macht, um die Frage zu beant-
worten und an seinem Mienenspiel die Unzufriedenheit mit sich selbst, weil
ihm dies nicht gelingt.
30. März. Znstand unverändert. Die Aphasie heute sehr deutlich.
„Alles guf^ und „ganz schon^ sind die einzigen Antworten, die er auf alle
Fragen gibt; nur einmal sagt er „mir ist nicht gut"". Seinen Namen, sein
Alter und dergl. vermag er auf diesbezügliche Fragen hin nicht anzugeben.
Ebenso weiß er die meisten ihm vorgehaltenen Gegenstände nicht zu be-
nennen. Statt Taschenmesser sagt er „Totamesser*'. Beim Vorhalten einer
Uhr: .,so ein Ding hab ich auch". Auch beim Anhalten der Uhr an das
gesunde, gut hörende Ohr weiß er sie nicht zu benennen. Einen Schlüssel
nimmt er aus der Hand und macht Schließbewegungen „ist zum zumachen^
Beim Zeigen einer Bürste macht er die Bewegung des Abbürstens, beim
Bleistift Schreibbewegungen. Eine Streichholzschachtel: „Teischaschar'S das
Portemonnaie bezeichnet er erst als Messer, dann schüttelt er verzweifelt
den Kopf und sagt „wo Geld drin ist''. „Meines ist hier'' und zeigt auf
seine Schublade im Krankentisch. Beim Zeigen eines Tintenfasses macht er
die Bewegung des Eintauchens eines Federnalters, ohne auf den Namen
Tintenfaß kommen zu können und in ähnlicher Weise sucht er beim Zeigen
sonstiger Gegenstände durch Gesten zu verstehen zu geben, worum es sich
handelt, ohne daß er die betreffenden Gegenstände (Lihr, Ring, Knopf etc.)
zu benennen weiß. Zuweilen merkt man es deutlich, wie er sich bemüht,
auf die richtige Antwort zu kommen, „Warte mal", „wie heißt das doch",
bis ei dann verzweifelt den Kopf schüttelt und sagt ,,ich kann nichts ver-
stehen". Aber auch nach Vorsprechen kann er nur einige Worte nachsprechen,
so Messer, Bleistift als Bleifist, femer seinen Namen und Vornamen, sein
Alter und Geburtsort mit Kreis, dagegen vieles andere nicht, z. B. Bürsten,
Pantoffel, Uhr, Schlüssel, Bing usw.
Zahlen werden gut verstanden und nachgesprochen. Ebenso macht es
ihm keine Schwierigkeiten, Zahlen abzulesen. So kann er z. B. genau
die Zeit auf einer vorgehaltenen Uhr bestimmen. Sonst kann er
nur das gut ablesen, was er nachsprechen kann, z. B. Namen, Vornamen, Alter,
Geburtsort und das Wort Messer. Bei anderen Worten z. B. Bürsten, Uhr
usw. buchstabiert er zunächst wie ein kleines Kind, bis er dann schließlich
allermeist das Wort herausbringt.
Er schreibt völlig richtig und für seinen Bildungsgrad sogar glatt und
flott seinen Namen, Vornamen, Alter und Geburtsort. Dagegen Worte, dio
er nicht nachsprechen kann, wie z. B. Uhr, kann er auch nicht schreiben.
Messer, ein Wort, das er nachsprechen kann, kann er auch schreiben. Über-
haupt fällt auf, daß ihm auch bei Angabe seines Namens etc. das Nieder-
schreiben leichter und angenehmer ist als das Nachsprechen. Seinen Namen,
Alter und Wohnort schreibt er auch ohne Vorsprechen auf. Da das All-
gemeinbefinden eher etwas besser eracheint, die Temperatur niedriger ist,
als am Tage zuvor, wird heute no<jh von der Vornahme eines operativen
Eingriffes abgestanden, zumal die Deutung des Befundes auf Schwierig-
keiten stieß, wie dies in der Epikrise noch erörtert werden soll.
31. März. Der Zustand ist genau derselbe wie am Tag zuvor. Die
Aphasie völlig unverändert und sämtliche Prüfungen liefern dasselbe Resultat.
Gegen Mittag deutliche Verschlechterung. Patient wird unruhig, will aus
dem Bett, schneidet viel Grimassen und stöhnt häufig. Es ist nichts mit
mit ihm anzufangen. Er gibt keine Antworten mehr. Pupillen reagieren
etwas träger. Sonst objektiv keine Veränderungen im Befunde, keine Läh-
mungen oder Zuckungen in den von Gehimnerven versorgten motorischen
Gebieten und auch an den Extremitäten keine halbseitigen Lähmungen,
Kontraktionen, Zuckungen, keine Perkussionsempfindlichkeit auf einer Seite
Ein rechtsseitiger Schiäfenlappcnabszeß mit Aphasie v
des Schädels odci-
dergl. Mit Rück- ^
sieht auf die typische o.
Aphasie in der An- **•
nähme eines
Statist
Ab-
szesses Trepanation s
iiuf den linken a.
Schläfen läppen (Dr. <
Saucrbrueh) mit Bil- p;
dang eines grollen
osteoplastischen _
Lappens. Durastark '^
gespannt; pulsiert ■<
aber nach einiger ^
Zeit, Punktion in ""
verschiedenster „
Richtung mit nega- iS
tivomEnolg. Längs- ' S
inzision der Dura. ^
Das Gehirn quillt "
stark vor. Die Ge-
fäße der weichen ,§
Hirnhäute ersehe! - S
□en deutlich erwei- ^
tert. Eingehen mit «
der Komzange in
verschiedener Rieh- ^
tung, ohne daß Eiter |^
entleert wird. Keine
Naht der Dura. Ex- S
stirpation der Kno-
chenplatte. Sorgfäl- e
tiges Vernähen der S
Weichteile mit Ein- ]
nähen eines kleinen ^
Drains. Verband.
1. April Völlige G
Soninolenz , starke £
Unruhe. Schreit viel,
aber unverständlich, K
Gegen Abendnimmt
er spontan Nahrung t^
und wird ruhiper ™
Urin wird nicht "*
spontan entleert. Es »
besteht ferner eine "
leichte Schwäche im ^
rechten Fazialis und M
der rechten oberen S
Extremität Sonstige «■
Störungen von sei- "
ten des Nerven-
systems sind nicht .2
nachweisbar. 's
2. April. Nimmt _^
besser Kahrung zu "
sich. Aussehen ent- ix
schieden etwas in- -2
scher; istaberiranier _g
noch stark unruhig ^
Verbandwechsel
310 XXXI. WirrMAACK.
und unklar. Urin wird spontan entleeit bei Vorhalten der Urinflasche. Beim
Verbandwechsel keine Besonderheiten. Die rechtsseitige Operationshohle
granuliert frisch. Die Dura ist noch mäßig belegt An der Inzisionsteile
aer Dura besteht ein kleiner Kleinhimprolaps. Die Trepanationswunde links
ohne Besonderiieiten. Der Weichte! Happen scheint gut anzuheilen.
3. April. Morgens keine wesentlichen Vei-änderungen. Gegen Mittag
wird Patient auffallend ruhig und apathisch. Cheyne-Stokes'sches Atmen,
gänzliche Reaktionslosigkeit und Exitus abends 7 Ühr unter Atemstillstand.
Die Sektion ergab das Vorhandensein einer Sinusphlebitis ; der Sinus
sigmoideus war am Übergang in den Transversus von einem soliden Thrombus
verschlossen, am Übergang in den bulbus kollabiert Metastatische Abszesse
fanden sich nirgends. Die Dura in der Umgebung des Sinus war stark
infiltriert und verdickt, an der Inzisionsstelle fand sich ein circa wallnuß-
großer Kleinhimprolaps, keine Meningitis und kein Abszess. Die knöchernen
Wandungen der Operationshöhle waren in frischer Granulationsbildung be-
friffen. Weder am tegmen t^noapani noch am tegmen antri fanden sich
ariöse Veränderungen am Knochen oder gar ein fistulöser Durchbruch. Da-
gegen fand sich im rechten Schläfenlappen in den dem tegmen tympani
anliegenden Partien eine circa 3 cm im Durchmesser messende
Abszeß höhle mit putridem bräunlichgelbem krümlichen Eiter ohne deutliche
Kapsel. Eine Kommunikation des Abszesses durch die Dura mit derOperations-
hönle ist nicht aufzufinden. Die Dura der mittleren Schädel grübe ist
überall völlig intakt und von normaler Beschaffenheit Der
Abszeß kommuniziert mit dem lateralen Ventrikel. Außerdem findet sich eine
beginnende Meningitis in seiner Umgebung. An der Trepanationstelle im
linken Schläfenlappen findet sich ein kleiner Erweichungsherd und Durch-
setzung der Hirnmasse mit kleinen Hämorhagien. Der Sektionsbefund der
anderen Organe zeigt keine er^'ähnenswerten Besonderheiten.
Die vorliegende Krankengeschichte bedarf nur einer kurzen
epikritischen Besprechung. Hätte es sich um einen linksseitigen
Schläfenlappenabszeß gehandelt, so böte der Fall überhaupt kaum
erörternswerte Besonderheiten. Daß wir im vorliegenden Falle
das Symptom der sensorischen bezw. amnestischen Aphasie vor
uns hatten, daran kann nach der Krankengeschichte ja kaum ein
Zweifel bestehen. Die vorhandenen Sprachstörungen glichen
v-oUkommen denen, die wir bei linksseitigen Schläfenlappenab-
szessen zu beobachten pflegen. Die Kombination mit Paraphasie
ist auch nichts Ungewöhnliches. Hervorheben möchte ich
höchstens, daß dem Kranken die Verständigung durch Nieder-
schreiben offenbar viel leichter fiel, als durch Aussprechen,
während das Ablesen geschriebener Worte ungefähr in demselben
Grade beeinträchtigt war, wie das Nachsprechen vorgesagter
Worte. Auch das auffallend gute Verständnis für alle Zahlen
scheint mir der Erwähnung wert. Es trat besonders frappierend
dadurch hervor, daß er, obwohl er die Uhr nicht als solche be-
nennen konnte, trotzdem genaue Zeitangaben machte. Eine
optische Aphasie bestand nicht.
Die Besonderheiten des Falles liegen darin, daß die Aphasie
durch einen rechtsseitigen otogenen Schläfenlappenabszeß her-
vorgerufen war, trotz Rechtshändigkeit des Kranken. An der
Ein rechtsseitiger Schlaf enlappenabszeß mit Aphasie usw. 311
Eechtshändigkeit des Kranken ist nicht zu zweifeln. Nicht allein,
daß er sich bei der Nahrungsaufnahme und bei sonstigen Mani-
pulationen während des Aufenthaltes in der Klinik stets der
rechten Hand bediente, auch die Mutter und seine Frau gaben
mit aller Bestimmtheit an, daß er niemals die linke Hand bei
irgend einer Beschäftigung bevorzugt hatte. Gerade hierdurch
wurde die Deutung des Befundes außerordentlich erschwert.
Das am 5. Tage nach der Operation auftretende Herdsymp-
tom der Aphasie ließ, als sich von neuem Temperatursteigerung
hinzugesellte, bei dem deutlich nachweisbaren Druckpuls und
der klaren Beschaffenheit der Punktionsflüssigkeit mit größter
Wahrscheinlichkeit auf das Vorhandensein eines Himabszesses
schließen, wenn auch weitere Symptome (Neuritis optica usw.)
fehlten. Höchst unerwartet und in diagnostischer Hinsicht ver-
wirrend erschien das Auftreten des Symptoms der Aphasie, eben
deswegen, weil es sich um eine rechtsseitige Affektion handelte.
Es war mir seinerzeit nicht bekannt, daß ein otogener rechts-
seitiger Hirnabszeß mit typischer Aphasie schon von anderer
Seite beobachtet worden war, und ich habe auch bei einer nach-
träglichen Durchsicht der mir zugänglichen Literatur nur einen
— allerdings auch nur im kurzen Eeferat zugänglichen — Fall
von ForsellesO beschrieben gefunden.
Daß rechtsseitige Tumoren in einigen seltenen Fällen zum
Auftreten von Aphasie führten, ist ja bekannt; immerhin schien
es mir doch etwas gewagt, im vorliegenden Falle ohne weitere
Erwägungen vorzunehmen, trotz der Aphasie, die doch im allge-
meinen als charakteristisches — um nicht zu sagen pathogno-
monisches — Zeichen einer Affektion des linken Schläfenlappens
gilt, auf den rechten Schläfenlappen zu trepanieren. Dazu kam,
daß bei der ersten Operation und bei der Revision der Wund-
höhle am 28. März das Tegmen tympani und antri frei von
kariösen Prozessen gefunden wurde und daß auch die Dura der
mittleren Schädelgrube überall normales, bläulich glänzendes
Aussehen zeigte, sodaß also der in erster Linie in Betracht
kommende Überleitungsweg für die Eiterung von der Pauke bezw.
dem Antrum zum Schläfenlappen im vorliegenden Falle nicht
betreten sein konnte. Es war weiterhin zu bedenken, daß bei
dem Patienten zweifellos eine Sinusphlebitis mit eitrigem Zerfall
1) Forseiles Arthur af: Beitrag zur Kenntnis der otogenen Folge-
krankheiten Fmstka läkaresällsk handl. 1905. S. 203 referiert Zeitschrift f.
Ohrenhlkde. 51. Bd. S. 316 u. Archiv f. Ohrenhlkde. 68. Bd. S. 150.
312 XXXI. WITTMAACK.
des Thrombus vorgelegen hatte, und mit Rücksicht hierauf mußte
ich auch die Möglichkeit eines metastatischen Abszesses im linken
Schläfenlappen in Erwägung ziehen. Freilich hatte auch diese An-
nahme, zumal sonstige Metastasen nicht nachweisbar waren, nicht
gerade sehr viel Wahrscheinlichkeit fQr sich. Ich stand also vor
der Wahl : entweder einen rechtsseitigen Schläfenlappenabszeß zu
vermuten, was bei dem Sitz der Ohreiterung ja bei weitem das
Nächstliegende gewesen wäre, aber durch das Vorhandensein der
typischen Aphasie viel an Wahrscheinlichkeit einbüßte, oder mit
Bücksicht auf die typische Aphasie und die vorhandenen Sinus-
Phlebitis den an sich viel selteneren Fall eines metastatischen
linksseitigen Schlaf enlappenabszesses anzunehmen. Beide An-
nahmen hielten sich meines Erachtens, was den Grad der Un-
Wahrscheinlichkeit anbelangt, annähernd die Wage — , und doch
war eine andere Deutung des Befundes kaum denkbar.
Sonstige Symptome, die mir in der einen oder in der anderen
Hinsicht Fingerzeige hätten geben können, fehlten gänzlich. Ich
entschied mich schließlich in diesem Dilemma für die letztere
Annahme eines metastatischen Abszesses im linken Schläfenlappen
und traf damit das Falsche. Es handelte sich in der Tat um
einen rechtsseitigen Schläfenlappenabszeß mit typischer Lagerung,
trotz der vorhandenen Aphasie und obwohl kariöse Prozesse am
Tegmen tympani und antri fehlten und die Dura der mittleren
Schädelgrube gesund war. Darüber konnte schon nach dem
Ausfall der linksseitig vorgenommenen Trepanation kaum ein
Zweifel mehr bestehen. Ein Vorgehen gegen den rechten
Schläfenlappen war leider wegen des schnellen tödlichen Aus-
ganges und bei dem Schwächezustand des Patienten nicht
mehr möglich.
Der vorliegende Fall gehört wohl sicher zu den recht großen
Seltenheiten. Trotzdem könnte vielleicht doch dem einen oder
dem anderen mit seiner Veröffentlichung gedient sein. Wäre mir
ein analoger Fall seinerzeit bekannt gewesen, so hätte ich mich
wohl sicher für die andere Annahme eines rechtsseitigen Schläfen-
lappenabszesses trotz der typischen Aphasie entschieden und den
für den Patienten verhängnisvollen diagnostischen Fehler ver-
mieden.
XXXII.
Ober das Intensitätsverhältnis hoher nnd tiefer Töne.
Von
Dr. Gustav Zimmermann in Dresden.
Die Meinung, daß im Ohr für hohe und tiefe Töne je ver-
schiedene Wege zum Endorgan vorgesehen seien, entsprang der
unkritischen Verwendung der Stimmgabel zu klinischen Ver-
gleichungen. Es hat bei näherer Betrachtung sich keines der für
jene Meinung angezogenen Argumente bestätigen lassen und im
besonderen sich gezeigt, daß der Mittelohrapparat wohl ganz anderen
physiologischen Zwecken dient als denen, nur den Schall zum
inneren Ohr zu lenken. Es läßt sich aber auch rein physikalisch
dartun, daß hohe und tiefe Töne keine derartig verschiedenen
Bewegungen sind, daß sie jede an besondere Fortpflanzungs-
bedingungen gebunden wären.
Schon aus der bekannten Tatsache der gleichen Fortpflanzungs-
geschwindigkeit hoher und tiefer Töne wird man mit einigem
Rechte schließen können, daß in der Natur dieser Wellenbewegungen
kein qualitativer Unterschied gelegen ist.
Die Unterschiede, die bei der Fortpfanzung des Schalles, in
die Erscheinung treten, sind mehr quantitativer Art und nicht
von einer Wesensungleichheit zwischen hohen und tiefen Tönen
abhängig, sondern von einem innerhalb beider Gruppen gemeinsam
und gleichmäßig bestimmenden Faktor, von der Intensität. Man
hat dem bis vor kurzem viel zu wenig Beachtung geschenkt und
immer nur einseitig die Tonhöhe im Auge gehabt. Und doch ist
offenbar für die Überwindung von Leitungswiderständen das Ent-
scheidende, nicht ob die Töne hoch oder tief sind, sondern ob sie
schwach oder stark sind.
Es ist neuerdings, um jene Meinung von der für hohe und
tiefe Töne verschiedenen Leitung im Ohr zu retten, die Behauptung
314 XXXII. ZIMMERMANN.
aufgestellt, daß hohen Tönen an sich eine größere Intensität zu
eigen sei. Und diese Behauptung konnte um so bequemer Eingang
finden, als sie mangels eines objektiven Stärkenmaßes experimentell
schwer anzugreifen war. Sie stützte sich auf die sogenannte täg-
liche Erfahrung und machte geltend, daß hohe Töne „durch Mauern
und Türen drängen, was tiefe Töne nicht vermöchten. Wie un-
zutreffend diese Beobachtung ist, liegt auf der Hand; es gibt
genug hohe Töne z. B. die einer leise angeschlagenen hohen
Stimmgabel, die nicht bis an die nächste Wand dringen, geschweige
sie durchdringen, und tiefe Töne z. B. einer Kirchenglocke oder
Orgel, die auch die stärksten Mauern ohne weiteres durchsetzen.
Läßt man die „tägliche Erfahrung*^ als Maßstab gelten^ so
möchte eher zu behaupten sein, daß gerade die tiefen Töne be-
sonders weit und energisch sich durchzusetzen vermögen. Wenn
man am Ufer eines Flusses stehend das Herankommen eines
Dampfschiffes beobachtet, so hört man schon in weiter Entfernung
das dumpfe rythmische Stampfen der Maschine und hört nichts
von den klirrenden und zischenden Geräuschen, die in der Nähe
bemerkbar und hier beinahe vorherrschend werden. Ähnliches
kann man beim Anrücken einer Marschmusik bemerken und auch
von der Brandung des Meeres und vom Donner hört man auf
weite Entfernung nur das dumpfe EoUen, während alle hoch-
tönigen Komponenten daneben erloschen sind. Solche Beispiele
lassen sich in beliebiger Anzahl erbringen.
Es sind ja nun viele Versuche gemacht, um die objektive
Intensität verschieden hoher Schallquellen zu messen; doch hat
keiner befriedigende Ergebnisse gezeitigt. Selbst bei den besten
Versuchsanordnungen ist bisher nicht genau bestimmbar, wie viel
von der aufgewendeten Kraft wirklich in Form von Schall er-
scheint, wie viel davon als Wärme und zur Deformierung der
schwingenden Teile verbraucht ist. Man ist auf eine mehr theoretische
Betrachtungsweise angewiesen an der Hand allgemeiner physi-
kalischer Gesetze.
Setzt man die Stärke eines beliebigen Stoßes, den die be-
wegten Luftteilchen dem Ohre erteilen, proportional der lebendigen
Kraft des bewegten Körpers, so findet sie ihren einfachsten Aus-
druck in der alten Leibniz'schen Formel -^ v ^. Unter der Vor-
aussetzung gleicher Massen ist sie deshalb gleich dem Quadrate
der Geschwindigkeit. Die Geschwindigkeit in diesem Falle ist
das Produkt aus Sehwingungsanzahl und Amplitude. Und in dem
über das Intensitätsverhältnis hoher und tiefer Töne. . 315
Produkte kann der eine Faktor beliebig vergrößert oder ver-
kleinert werden, wenn gleichzeitig der andere entsprechend ver-
ringert oder vervielfacht wird. Wie es ja in der Mechanik auf
dasselbe Produkt herauskommt, ob ein Gewicht von 50 Zentnern,
1000 Fuß gehoben wird oder ein Gewicht von 1000 Zentnern 50 Fuß
so gilt es auch in der Akustik gleich viel, ob eine Schwingung
z. B. 50 mal 1000 Wegeinheiten in der Sekunde zurücklegt oder
eine andere 1000 mal 50 Einheiten. Das bedeutet, daß theoretisch
ein Ton von 50 Schwingungen bei 20 fach größerer Amplitude
just dieselbe Geschwindigkeit und damit den gleichen Kraftwert
hat, wie einer von 1 000 Schwingungen mit entsprechend kleinerer
Amplitude. Hohe und tiefe Töne von gleicher Geschwindigkeit
müssen deshalb bei ihrer Fortpflanzung an sich gleich leicht oder
gleich schwer die Leitungswiderstände überwinden. Nur Töne,
deren Geschwindigkeit an sich irgendwie vermindert wäre —
einerlei ob die Amplitude oder die Anzahl der Schwingungen
oder beides daran Schuld ist — hätten auch eine verminderte
Durchschlagskraft.
Für die Beurteilung dieser Größe ist nun aber außer der Ge-
schwindigkeit, wie gesagt, noch entscheidend der Einfluß der Masse.
Und es ist als ein durchgehendes Gesetz anzuerkennen, daß die
tiefen Töne erzeugt werden durch Körper von größerer oder
trägerer Masse. Während die Körper von kleineren Dimensionen,
durch welche die höheren Töne hervorgebracht werden, eines
relativ geringen Anstoßes bedürfen, erfordern Körper von den
mächtigen Abmessungen, an welche die tiefen Töne gebunden
sind, schon einen starken Antrieb, um das gleiche Quantum Ge-
schwindigkeit auf ihre Weise zu erzielen. Und dieser stärkere
Impuls, den die tiefen Töne mit auf den Weg bekommen, macht,
daß sie trotz gleicher Geschwindigkeit Hindernisse, die sich bei
der Leitung ihnen entgegen stellen, besser überwinden müssen,
als hohe Töne.
Auf diese Weise erklären sich die oben zitierten Beispiele
von der durchdringenderen Wirkung der tieftönigen Schallarten.
Upd es ist das auch experimentell bestätigt durch die schönen
Versuche von War bürg, der nachwies, daß aus einer Schall-
menge bei hinreichend vermehrten inneren Widerständen in der
Leitung alle hohen Komponenten ausfielen und nur die tiefen noch
sich zu Gehör brachten.
Es erscheint deshalb, rein physikalisch betrachtet, als eine
ganz haltlose Behauptung, daß die tiefen Töne an sich zu schwäch-
316 XXXU. ZIMMERMANN.
lieh sein sollen, um ohne einen Extrahebelapparat zum inneren
Ohre durchzudringen. Im Gegenteil wäre plausibel, daß für sie
Einrichtungen vorhanden wären^ die ähnlich^ wie der Dämpfer
auf dem Klavier, Störungen, — etwa durch längeres Nach-
schwingen oder durch zu große Amplituden bedingt — aus-
schalteten. Und diesem Zwecke allein scheint in der Tat der
Mittelohrapparat zu dienen, wie ich das früher ausführlicher dar-
gestellt habe.
In dieser Beziehung sind noch einige Worte zu sagen über
die subjektive Empfindungsintensität des Ohres gegen hohe und
tiefe Töne. Es scheint, als ob das Ohr gegen die grellen und
schrillen Töne der höchsten Lagen ganz besonders empfindlich
wäre. Es kann das seinen Grund darin haben, daß eben die auf
die hohen Töne reagierenden Nervenfasern an und für sich
empfindlicher sind, infolge vielleicht der viel zahlreicher in der Zeit-
einheit ihnen zukommenden Anreize. Es kann aber auch auf jene
eben angedeuteten Dämpfungsvorrichtungen im Mittelohr zurück-
zuführen sein, die es zu unangenehmeren Empfindungen bei den
tiefen Tönen deswegen nicht kommen lassen, weil diese besonders
gut in ihren Resonanzschwingungen gedämpft werden können.
Läßt man einmal die Vorstellung fallen, daß jeder Sehall
den Steigbügel in seinem Fester hin und her treiben müßte und
gibt, wie das theoretisch und teilweise schon experimentell ge-
zeigt ist, zu, daß nur bei stärkerem Schall oder reflektorisch durch
Muskelkontraktion der Steigbügel sich isoliert gegen seinen Rahmen
verschiebt, so sind die Einwirkungen solchen Drucks aufs Laby-
rinth unschwer erkennbar. Es wird dadurch manometrisch meßbar
der intralabyrinthäre Druck erhöht und es werden damit die
schwingenden Fasern komprimiert und in ihren elastischen Eigen-
Schäften geändert. Sie werden schwingungsuntüchtiger und das
um so mehr als bei normalem runden Fenster sie zugleich sämt-
lich in der Druckrichtung abgedrängt und festgestellt werden. Je mehr
Fläche sie dem einwirkenden Drucke bieten um so mehr ist das
natürlich der Fall. Es erklärt sich dadurch, daß die in relativ
großen Breiten schwingenden Fasern der oberen Windungen,
welche auf die tiefen Töne mitschwingen, am meisten gedämpft
werden, wie das jeder Valsalva 'sehe oder Gell 6 'sehe Versuch
auf das deutlichste manifestiert.
Nach alledem wird man sagen müssen, daß alle Töne
von vergleichbarer Intensität, einerlei von welcher Tonhöhe,
gleicherweise an dieselben Fortpflanzungsbedingungen gebunden
über das Intensitätsverhältnis hoher und tiefer Töne. 317
sind und daß auch im Ohr tiefe Töne ebenso gut wie die
hoben direkt durch den Knochen auf die mit ihm unmittelbar
verbundenen Basilarfasern sich übertragen, statt den Umweg über
die Kette und das Labyrinthwasser einschlagen zu müssen. Ge-
rade die tiefen Töne haben bei sonst vergleichbarer Intensität
die größere Wucht; sie brauchen deshalb am wenigsten eine Nach-
hilfe, um ihren Weg zu finden, und statt dessen Einrichtungen,
damit störende oder schädliche Wirkungen im Endorgan hintan-
gehalten werden.
Es ist zu bedauern, daß diesen interessanten und für die
ganze wissenschaftliche Stellung unserer Disziplin bedeutsamen
Fragen, ein Teil der Forscher voll Gleichgültigkeit und Vorurteil
gegenübersteht. Die Fortschritte, wie sie auf dem chirurgischen
Gebiete mit so glänzendem Erfolge Schwartze inauguriert hat
winken bei gleicher ernster und voraussetzungsloser Arbeit auch
auf dem physiologischen Gebiete.
XXXIII.
Ober reine Transsudate im Hittelohn
Von
Geheimrat Walb in Bonn.
In seinem Referat: „Die Bakteriologie der akuten Mittelohr-
entzündungen", welches Kümmel auf der Versammlung der
Otolog. Gesellschaft in Bremen gegeben hat, hat Kümmel auch
die Frage der Transsudate im Mittelohr gestreift und dabei
erstens auf die Armut an Mikroben in denselben hingewiesen,
so daß dieselben als steril angesehen werden können, und zweiten»
ihre Entstehung durch den negativen Druck betont. In der sich
anschließenden Diskussion wurde, wenn ich nicht irre, von
Wink 1er diese Ansicht nicht geteilt und die SteriHtät dadurch
erklärt, daß die Transsudate meistens aus Schleim beständen, der
ein ungünstiger Nährboden für Mikroben sei. Ich teile im Gegen-
satz hierzu mit Kümmel, Scheibe u. a. die Ansicht, daß ea
sich bei den Transsudaten, und zwar bei den reinen Formen, in
der Tat um Erzeugnisse des negativen Druckes handelt, und daß
daher die Sterilität naturgemäß ist. Zunächst muß hervorgehoben
werden, daß diese reinen Transsudate gar nicht aus Schleim be-
stehen, sondern eine wasserklare, rein seröse Flüssigkeit darstellen^
die entweder farblos ist oder gelblich, zuweilen auch gelblich-
grün erscheint. Diese Transsudate entwickeln sich bei Tuben-
katarrh mit Verschluß unter der Einwirkung des negativen
Druckes, bei rein passiver Beteiligung der Paukenhöhlenschleim-
haut ohne aktive spezifische Schleimhautsekretion — der hydrop»
ex vacuo der Alten, und zwar der Alten im doppelten Sinne, ein-
mal der älteren otiatrischen Schule und dann auch in dem Sinne^
daß diese Form sehr häufig bei alten Leuten rein vorkommt, wie
schon Grub er in der ersten Auflage seines Handbuches hervor-
gehoben, was sich durch die Rigidität der Gewebe und die
über reine Transsudate im Mittelohr. 319
Brüchigkeit der Gefäße, die bei alten Leuten gefunden wird, er-
klärt. Im Gegensatz hierzu gibt es allerdings Mischformen, wo
eine sekretorische Tätigkeit der Paukenhöhlenschleimhaut hinzu-
kommt, sei es, daß gleichzeitig ein Katarrh der Mittelohrschleim-
haut besteht, oder durch die längere Anwes^heit des Trans-
sudates veranlaßt wird. Hier findet man häufig schleimige Bei-
mengungen, oder der ganze Inhalt stellt ein« gleichmäßige coUoide,
durchsichtige Masse dar. Es kommt aber auch vor, daß der
ganze Befund und die Beschaffenheit des Paukenhöhleninhalts
für Transsudat spricht und es sich doch um ein Exsudat
handelt. Bekanntlich sind bei akuten Mittelohrentzündungen die
Exsudate sehr häufig im Anfang rein serös und bleiben so selbst
nach dem Eintritt der Perforation in der ersten Zeit. Man be-
obachtet nun gelegentlich Fälle, wo bei nicht perforierender Mittel-
ohrentzündung die Exsudate nicht resorbiert werden nach Rück-
gang der entzündlichen Erscheinungen, und wo später, wenn das
Trommelfell ganz abgeblaßt und wieder hinreichend pellucide ist,
man sehr gut die restierenden Exsudate mit schwarzer Standlinie
und allem Zubehör sehen kann. Das sieht genau so aus, wie
ein Transsudat und ist doch keins. Alles dies schließt aber nicht
aus, daß es reine Transsudate gibt, die nur durch den negativen
Druck entstehen und durch den Tubenverschluß veranlaßt sind.
Man kann dies durch bestimmte therapeutische Maß-
nahmen beweisen. Zur Entleerung rein seröser Flüssigkeiten
aus dem Mittelohr genügt meist eine einfache Punktion des
Trommelfells, wenn man daran die Luftdouche anschließt und
durch vis a tergo die Flüssigkeit herausdrückt. Meist ist diese
so geschaffene kleine Öffnung nach 24 Stunden schon wieder ge-
schlossen. Man sieht dann häufig schon wieder Flüssigkeit in
der Paukenhöhle angesammelt. Das kann so zu erklären sein^
daß man nicht alles entleert hat und Flüssigkeitsteile ^ die im
Kuppelraum zwischen den Gehörknöchelchen oder sonst wo fest-
gehalten resp. von der treibenden Kraft nicht berührt wurden,
sich am Boden der Paukenhöhle wieder angesammelt haben, oder
daß schon wieder frisches Transsudat unter der so-
fortigen Wirkung des negativen Druckes nach Ver-
schließung der Punktionsöffnung sich bildete.
Nicht immer tritt indes der Verschluß der Punktionsöffnung
in so kurzer Zeit ein, namentlich in Fällen, wo durch frühere
Anfälle, durch Entzündungen oder durch lange Dauer das
Trommelfell artophisch geworden ist, was namentlich häufig für
320 XXXm. WALB.
die hintere Hälfte gilt, wo man ja mit Vorliebe den Einstich
macht. Die hochgradige Verdünnung spricht sich ja hier n. a.
auch darin aus, daß häufig die Membran dem Punktionsinstru-
meipte ausweicht Hier bleibt das kleine Loch oft mehrere Tage
offeB und nun sieht man, daß zwar zuweilen am anderen Tage
der Gazestreifen, den man in das äußere Ohr gelegt hat, noch
etwas feucht an der Spitze ist, daß aber weiterhin der
Streifen ganz trocken bleibt und auch am Trommelfell absolut
nichts die Anwesenheit von alter oder neuer Flüssigkeit zeigte ja
daß mit Sicherheit dies ausgeschlossen werden kann. Tritt nun
nach mehreren Tagen der Verschluß der klemen Öffnung ein,
ist meist sofort das Transsudat wieder da. Dies hat mich
nun auf den Gedanken gebracht^ in Fällen von Transsudat einen
größeren Schnitt zu machen. Es weichen dann meist die
Bänder auseinander und es entsteht ein ovaler Spalt, durch den
man hindurch einen größeren Teil der Paukenhöhlenschleimhaut
sehen kann, gerade so wie es bei ausgiebigen Rupturen der Fall
ist Ein derartiger Spalt braucht oft mehrere Wochen zu seiner
Heilung. Es ist mir stets gelungen, denselben aseptisch zu halten,
und habe ich stets schließlich den Verschluß sich einstellen sehen,
aber wie gesagt, oft erst nach drei oder vier Wochen, gerade so
wie bei größeren Rupturen. Hier gestaltet sich nun der Verlauf
in sehr interessanter Weise. In den ersten Tagen ist die Schleim-
haut, so weit sie sichtbar ist, ganz leicht gerötet^ wie es ja auch
die Einwirkung des bis dahin bestandenen negativen Druckes
auf die Gefäße natürlich erscheinen läßt. Dann wird die Schleim-
haut blaß und normal. Eine Absonderung findet vom zweiten
Tage an meist absolut nicht statt. Der Verlauf gestaltet sich nun
verschieden und hängt ganz davon ab, ob es einem bis zum Ein-
tritt der Schnittheilung gelingt, den Tubenkatarrh zu beseitigen
durch Behandlung der induzierenden Krankheiten im Nasen-
rachenraum in der Nase etc.^ sowie durch Behandlung der Tube
selbst vom Nasenrachenräume aus. Gelingt dies in der bis zur
Schnittheilung gegebenen Frist, so bleibt das Transsudat
nach der Heilung des Schnittes aus, gelingt dies nicht,
was je seine verschiedenen Gründe haben kann, so stellt sich
das Transsudat sofort wieder ein, auch wenn es wochen-
lang sistiert hatte. Ich glaube damit ist der Beweis geliefert,
daß es sich in der Tat in solchen Fällen um reine Transsudate
handelt Ich habe das Verfahren aus naheliegenden Gründen
in der Poliklinik meist nicht angewendet, da hier die Bedingungen
über reine Transsudate im Mittelohr. 321
für einen . gefahrlosen Verlauf meist nicht gegeben sind. Auf der
anderen Seite habe ich allerdings größere Bupturen, die ja in
gewissem Sinne als gleichartig anzusehen sind, auch in der
Poliklinik bei ambulatorischer Behandlung ohne Entzündung und
Eiterung heilen sehen. Durch die wenn auch tägliche An-
wendung des Katheters wird meist die neue Transsudatbildung
nicht verhindert, häufig allerdings auf ein geringeres Maß herab-
gesetzt. Auch ist in solchen Fällen der längere Gebrauch des
Katheters häufig schädlich, da die Schleimhaut im Tubeneingang
davon gereizt wird und diese, statt zu heilen und abzuschwellen,
erst recht krank bleibt. In solchen Fällen eignet sich besser das
Po litzer sehe Verfahren, das unter Umständen zweimal täglich
angewendet werden muß.
Archiv für Obrenheilkande. 73. Bd. Festschrift. 21
Dnick von J. B. U i r s c h f e 1 d in Leipzig-
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HIß