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Full text of "Archiv für Religionswissenschaft vereint mit den Beiträgen zur Religionswissenschaftlichen Gesellschaft in Stockholm"

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BINLING  LISTAUG  1  5  1923 


AECHIY 
FÜR  RELIGIONSWISSENSCHAFT 

UNTER  MITWIRKUNG  VON 

H.  OLDENBERG  •  C.BEZOLD  .  K.TH.PREUSS 

IN  VERBINDUNG  MIT  L.  DEUBNER 

HERAUSGEGEBEN  VON 

RICHARD  WÜNSCH 


SIEBZEHNTER   BAND 

MIT  1  ABBILDUNG  IM  TEXT 


DRUCK  UND  VERLAG  VON  B.  G.TEUBNER  IN  LEIPZIG  1914 


r 


Itttaltsverzeiclmis 


I  Abhandlungen 

Seite 

Über  den  ZusammenbaDg  höherer  Gottesideen  mit  primitiven  Vor- 
stellungen von  Nathan  Söderblom  in  Leipzig 1 

Magic  and  Religion  in  Early  Hellenic  Society  by  Lewis  R.  Farn  eil, 

Oxford 17 

Volksreligion  überhaupt  und  speziell  bei  den  Hebräern  von  Eduard 

König  in  Bonn 36 

An  Account  of  the  Death  Rites  and  Eschatology  of  the  People  of 
the  Bougainville  Strait  (Western  Solomon  Islands)  by  Gerald 
Camden  Wheeler,  London  (With  Map) 64 

Der  Lamaismus  und  seine  Bestrebungen  zur  Hebung  seines  intellek- 

tufc'llen  und  moralischen  Niveaus  von  P.  Guries,  Kasan      .     .     113 

Über  die   litauischen  Veles  von  R.  v.  d.  Meulen  in  Leiden  .     .     .     126 

Legendenmotive  in  der  rabbinischen  Literatur  von  A.  Marmor- 
stein in  London 132 

Der  Ursprung  des  Karnevals  von  C.  Giemen  in  Bonn 139 

Eine  apokryphe  Heilige  des  späten  Mittelalters  von  E.  A.  Stückel- 
berg in  Basel 159 

Das  religiöse  Problem' in  China  von  0.  Franke  in  Hamburg    .     .     165 

Die  Sündentilgung  durch  Wasser  von  J.  Scheftelowitz  in  Cöln  a.  Rh.     353 

Die    altisraelitische  Vorstellung    von    unreinen    Tieren    von    Karl 

Wigand  in  Godesberg  bei  Bonn 413 

Eine  weibliche  Inkarnation  in  Tibet  von  Albert  Grünwedel  in 

Berlin 437 

Zum    Zerstückelungs-   und  Wiederbelebungswunder    der   indischen 

Fakire  von  A.  Jacoby  in  Luxemburg 455 

Die  vorchristlichen  baltischen  Totengebräuche  von  W.  Caland  in 

Utrecht 476 

Zur    Entstehung    der   Seelenwanderungslehre    des    Pythagoras   von 

Diedrich  Fimmen  in  Athen 513 

Hymnologica  von  Otto  Weinreich  in  Halle  a.  S 524 

n  Berichte 

1  Ägyptische  Religion  (1910—1913)  von  A.  Wiedemann  in  Bonn  197 

2  Iranische  Religion  1900—1910  von  Edv.  Lehmann  in  Lund  .     .  226 

3  Religion  der  Japaner  1909 — 1913  von  Hans  Haas  in  Jena    .     .  255 

4  Neues  Testament  von  Johannes  Weiß  in  Heidelberg  ....  296 

5  Religionen  der  Naturvölker  1910—1913  von  K.  Th  Preuß  in  Berlin  532 


JY  Inlialtsverzeicilnis 

Seite 

6  Religionen  der  Naturvölker  Indonesiens  von  H.  H.  Juynboll  in 

Leiden 582 

7  Der  indische  Buddhismns  (1910—1913)   von  H.  Oldenberg  in 

Göttingen 607 

in  Mitteilungen  und  Hinweise 

Von  Fr.  Pfister  (A.  Milchhöfers  Nachlaß  zur  antiken  Religion)  331; 
G.  A.  Gerhard  (Zur  'Mutter  Erde')  333,  (Zur  Legende  vom  Kyniker 
Diogenes)  335;  M.  Höfler  (Das  Fischsymbol)  336;  R.  Eisler  (Der 
Messias  'ben-Nun'  im  jüdischen  Folklore)  336,  (Die  französische 
Ausgabe  des  Buches  Sohar)  339;  G.  Schoppe  (Sterbende  werden 
auf  die  Erde  gelegt)  341,  (Kleideropfer)  342;  E.  Lorenz  (Eine  Spur 
sakraler  Prostitution)  342;  R.  Ganschinietz  (Eulamo)  343,  (Zu 
Tosefta  Aboda  zara  2,  6)  344,  (Ars  magica)  345,  (Zum  Pergamenischen 
Zaubergerät)  346;  K.  Preisendanz  (Zum  großen  Pariser  Zauber- 
papyrus) 347;  H.  Böhlig  (Damalis)  348;  E.Meyer  (P.  Sayntyves) 
349;  0.  Waser  (Altchristliches)  350;  R.  Eisler  (Der  Seelenbrunnen) 
352;  R.  Wünsch  (Zur  'Mutter  Erde')  362. 

0.  Waser  (Altchristliches)  660;  R.  Eisler  (Der  Fisch  als  Symbol  Gottes) 
665,  (Berührungszauber)  666;  H.  Gieß  mann  (Zu  Friedländers  Buch 
über  'Die  Chadhirlegende  und  den  Alexanderroman*)  667 ;  J.  Loe  wen- 
thal  (Ein  Bestattungsbrauch  der  Potawatomie  und  Ottawa)  671, 
(Ein  Zauberglaube  der  Pawnee)  672;  J.  Scheftelowitz  (Mystische 
Meineidszeremonien  bei  den  Juden?)  673;  G.  A.  Gerhard  (Zur 
'Mutter  Erde')  676;  L.  Deubner  (Hagiographisches)  675,  (Slawisches) 
677,  (Modernes  Bauopfer)  678;  K.  Latte  (Aphrodite  in  Ephesos) 
678;  R.  Wünsch  (Neue  Förderungen  der  religionsgeschichtlichen 
Arbeit)  679. 


Register.     Von  Richard  Kohl  680. 


I  Abhandlungen 


über  den  Zusammenhang  höherer  Gottesideen 
mit  primitiven  Vorstellungen 

Von  Nathan  Söderblom  in  Leipzig 

I 

Warum  liegt  der  Mensch  im  Schlaf  und  im  Tode  so  sonder- 
bar stille?  Die  Antwort  des  primitiven  Menschen  lautet:  Weil 
ihn  das  Belebende  zeitweilig  oder  dauernd  verlassen  hat.  Wie 
kommt  es,  daß  man  im  Traume  weit  herumstreifen  kann?  Die 
Antwort  des  primitiven  Menschen  ist:  Die  Seele  wandert,  wäh- 
rend der  Körper  ruht.  Mit  Recht  werden  derartige  Erfahrungen 
im  Schlaf  und  Wachen  herangezogen,  um  den  Ursprung  des 
Seelenglaubens,  des'Animismus,  zu  erklären.  Aber  in  der  neuesten 
Anthropologie  tritt  die  Überzeugung  immer  mehr  hervor,  daß 
der  Animismus  nicht  restlos  aus  den  genannten  Erscheinungen 
zu  erklären  ist;  man  nimmt  an,  daß  Träume  bei  der  Ent- 
stehung des  sog.  Animismus  eine  viel  bescheidenere  Rolle  ge- 
spielt haben,  als  man  gemeint  hat. 

Wedelt  der  Hund  mit  dem  Schwänze?  Oder  wedelt  der 
Schwanz  mit  dem  Hund?  Ob  der  Hund  das  weiß?  Nach  Marett, 
der  das  Beispiel  gab^,  bedeutet  der  Animismus  —  die  Vor- 
stellung von  einer  oder  mehreren  Seelen  im  Menschen  — ,  daß 
der  Mensch  es  weiß.  Er  beginnt  sich  selbst  als  wollendes  und 
handelndes  Subjekt  aufzufassen.  Insofern  dieses  dämmernde 
Bewußtsein,  Ursache  absichtlicher  Handlungen  zu  sein,  das 
menschliche    Individuum    und    was  wir  im  höheren   Sinne  die 


*  In  einer  Vorlesung  in  The  Summer  Scliool  of  Theology  in  Oxford 
1912. 

Archiv  f.  ßeligionswissenachaft  XVII  1 


2  Nathan  Söderblom 

menschliche  Persönlichkeit  nennen,  ausmacht,  muß  der  Ani- 
mismus  für  das  spezifisch  menschliche  Dasein  damals  als  grund- 
legend angesehen  werdend  Ich  brauche  nicht  darauf  hinzu- 
weisen, was  der  Animismus  —  in  den  man  ungenauerweise  so- 
wohl die  Belebung  toter  Gegenstände  (Animatismus)  wie  die 
Beseelung  von  Menschen,  Tieren,  Pflanzen,  Dingen  mit  ein- 
schließt —  für  den  Gottesglauben  bedeutet.  Vom  Animismus 
wird  auch  die  Gottheit  als  Willenseinheit  aufgefaßt. 

Aber  kein  Schlüssel  öffnet  alle  Schlösser.  Der  Animismus 
allein  vermag  uns  nicht  die  geistige  Welt  und  die  Riten  der 
Primitiven  zu  erklären.  Und  zwar  erklärt  der  Animismus  weder 
das  neuerdings  vielbesprochene  Mana,  die  unpersönliche  ^Macht', 
noch  die  ^Urväter'  oder  die  hohen,  von  mehreren  Beobachtern 
und  Forschern  als  urmonotheistische  Gottesgestalten  betrach- 
teten Wesen  der  primitiven  Vorstellung.  Wir  müssen  die  bei- 
den letztgenannten  Vorstellungen  kurz  angeben. 

Ein  Pferd  muß  sich  mehr  als  das  sonst  seine  Art  ist,  an- 
strengen, um  die  Last  nach  Hause  zu  ziehen.  Irgend  jemand, 
heißt  es  dann,  hat  das  Pferd  Verneidet'.  Der  schwedische  Bauer 
hat  dafür  noch  den  Ausdruck  des  primitiven  Menschen:  dem 
Pferde  —  oder  auch  einem  Menschen  —  wurde  seine  *Macht' 
gestohlen.  Das  Tier  oder  der  Mensch  ist  'maktstulen'.  Hier 
spukt  noch  im  Volksaberglauben  eine  Vorstellung,  welche  wohl 
die  wichtigste  ist,  um  die  Welt  der  Primitiven  uds  zu  eröffnen. 
Die  alten  Nordländer  nannten  es  'hamstoli':  wem  der  Ham  ge- 
stohlen ist.  Die  genaue  Analyse,  welche  der  englische  Missionar 
Codrington  1891  über  das  Mana  der  Melanesier  veröffentlichte 
hat  in  unserer  Auffassung  der  primitiven  Magie  und  Religion 
Epoche  gemacht.  Das  Mana  heißt  die  geheimnisvolle  Kraft, 
die  gefährlich  sowohl  als  wertvoll  gewissen  Menschen,  Tieren, 
Gegenständen  und  Seelen  innewohnt.     Seitdem  haben  wir  von 


^  W.  Mc  Doügall  Body  and  Mind.  A  history  and  a  defense  of  ani- 
mism,  London  1911  S.  Itf. 


Zusammenhang  höherer  Gottesideen  mit  primitiven  Vorstellungen     3 

dem  Orenda^  der  Irokesensprache,  dem  Wakanda*  der  Sioux. 
Indianer  und  anderen  analogen  Worten  viel  gehört.  Sie  drücken 
vielmehr  eine  Eigenschaft  als  ein  Wesen  aus  oder,  genauer, 
einen  Gegenstand  oder  ein  Geschöpf  in  seiner  Eigenschaft 
sonderbar,  übermenschlich  zu  sein.  Wakanda  wird  von  Don- 
ner, Blitz,  Sternen,  Winden,  von  den  Zederbäumen,  von  den 
Schamanen  ausgesagt.  Das  Pferd  ist  der  'Wakandahund'.  Ein 
tüchtiger  Medizinmann  hat  viel  Orenda  usw.  Vor  allem  findet 
sich  nämlich  dieses  von  den  Primitiven  gefürchtete  und  er- 
sehnte Mana  in  den  Schamanen -Häuptlingen  und  im  Zauber- 
spruch, in  der  kräftigen  heiligen  Formel.  Früher  wurden 
solche  Worte  mit  Gott,  Geist  übersetzt,  wie  das  Ma-ni-do  der 
Algonkiner,  ^der  große  Geist',  den  Longfellow  in  Hiawatha  ver- 
ewigt hat.  Aber  näher  besehen  handelt  es  sich  öfters  um 
etwas  Unpersönliches.  Bisweilen  ist  der  Zusammenhang  mit 
einem  konkret  aufgefaßten  göttlichen  Wesen  deutlich.  Der 
schwedische  Kongomissionar  Laman  schreibt  mir  vom  Nzambi, 
dem  bekannten  Urheber  bei  den  Kongostämmen:  „Wenn  der 
Eingeborene  etwas  'Kianzambi,  d.  h.  Nzambi's,  nennt,  bezeichnet 
er  damit  etwas  dem  Menschen  Gefährliches,  Unbrauchbares, 
Giftiges  usw.,  oder  was  mit  nötiger  Vorsicht  behandelt  werden 
muß"  Aber  das  ist  nicht  die  Regel.  Mit  der  Seele  oder  dem 
Geiste  ist  die  Kraft  auch  eng  verbunden.  Manitu  tritt  als 
Geisteswesen,  aber  auch  als  zauberkräftige  Sache,  sonder- 
bares Tier  u.  a.  auf.  Und  man  kann  bisweilen,  wie  bei  den 
sog.  Fetischen,  Minkisi,  des  Kongogebietes  im  Zweifel  sein, 
ob  Geister  in  ihnen  hausen  oder  ob  sie  kraftgeladene,  *medi- 
zinische'  Gegenstände  sind.  Aber  mit  der  Seele  ist  die  Macht 
doch  nicht  immer  zu  verwechseln.  Schon  Codrington  machte 
die  entscheidende  Beobachtung:  nicht  alle  Seelen  besitzen 
Mana.    Wenn    der   Animismus    voll    entwickelt   ist,    hat  jedes 

^  J.  N.  B.  Hewitt  Orenda,  in  American  Anthrop.  N.  Ser.  4  (1902)  S.  33  tf. 
*  W.  J.  Mc  Gee   The  Siouan  Indians  in  XV  Rep.  Bureau  of  Ethno- 
Jogij  S.  181  ff. 


4  Nathan  Söderblom 

Ding  und  Wesen,  jedes  Einzelwesen  und  Gesamtwesen,  seine 
Seele  —  Ka,  Frawaschi,  Atua  usw.  Aber  daraus  folgt  nicht, 
daß  alles  außerordentlicli  oder  übernatürlich  ist.  Weiter 
haben  mehrere  Sprachen  ganz  andere  Worte,  um  die  Seele 
und  den  Geist  zu  bezeichnen.  Die  Manaworte,  zu  denen  auch 
das  schon  1844  von  Meinicke  in  seiner  Tragweite  erkannte  po- 
lynesische  Tabu  —  'das  besonders  Gemerkte'  —  und  nach 
Wilhelm  Grönbechs  feiner  Analyse^  die  Hamingjä  —  '^das  Glück', 
'das  Los'  der  alten  Nordmänner  —  gehören,  bezeichnen  eine  Art 
von  Kraftsubstanz,  die  man  nur  nicht  anachronistisch  als  einen 
primitiven  Pantheismus  deuten  darf.  Die  betreffenden  Worte 
können  verschiedene  Bedeutungen  haben:  'sehr  stark,  sehr  groß, 
sehr  alt,  gefährlich,  zauberkräftig,  übernatürlich,  göttlich',  oder 
substantivisch:  'Glück,  Macht,  Gottheit'.  Das  Gemeinsame  scheint 
die  Bedeutung  'außerordentlich'  zu  sein.  Mana,  tabu  usw.  heißt 
das  nicht  leicht  zu  Nehmende.  Der  Ursprung  scheint  die 
individualpsychologische  Reaktion  gegen  das  Erstaunen-  oder 
Furchterregende,  Ungewöhnliche  und  Unheimliche  zu  sein.  Bei 
den  uns  bekannten  Primitiven  hat  schon  die  Gesamtpsychologie 
daraus  eine  Art  von  Gemeinvorstellung  gemacht,  die  von  der 
Gesellschaft  in  einer  Menge  fest  geregelter  Riten  und  Maß- 
regeln zu  Schutz,  Lebensbeförderung  und  Schädigung  der  Feinde 
verkörpert  worden  ist.  Somit  hat  die  Seele  eigentlich  eine  an- 
dere Herkunft  als  das  Mana.  Die  'Macht'  kann  weder  als  eine 
Zusammenfassung  der  Seelen  (Durkheim),  noch  als  eine  später 
in  individuelle  Seelen  zerteilte  Substanz  erklärt  werden.  Mündet 
der  Animismus  in  eine  Überzeugung,  daß  die  wahre  Wirklich- 
keit nicht  das  den  Sinnen  Zugängliche,  sondern  etwas  Fein- 
materielles, Unsichtbares  oder  —  in  der  späteren  Entwicklung 
—  Geist  ist,  so  liegt  im  Mana  der  Beginn  der  Idee  vom  Über- 
natürlichen. Nicht  selten  werden  die  betreffenden  Worte  mit 
'übernatürlich'  wiedergegeben.  Jedoch  der  Gedanke  an  etwas 
über  die  Natur  Erhabenes  geht  den  Primitiven  ab. 

^  Midgaard  og  MennesMivet   Kopenhagen  1912,   S.  101  ff. 


Zusammenhang  höherer  Gottesideen  mit  primitiven  Vorstellnngen     5 

Als  dritte  Hauptvorstellung  der  primitiven  Magie  und  Reli- 
gion bezeichne  ich  die  Urväter  oder  Allväter.  Man  hat  versucht, 
sie  auf  christliche  oder  islamische  Einflüsse  zurückzuführen. 
Diese  Erleichterung  des  Problems  ist  leider  bei  unserer  gegen- 
wärtigen Kenntnis  in  mehreren  Fällen  ausgeschlossen.  Über 
Bäjämi  oder  wie  die  südostaustralischen  Urwesen  alle  heißen, 
ist  in  der  letzten  Zeit  viel  wissenschaftliche,  auch  viel  un- 
wissenschaftliche Tinte  geflossen.  Oft  werden  erst  in  den  My- 
sterien der  wahre  Name  und  das  Wirken  des  großen  halb 
oder  ganz  menschenähnlichen  Wesens  mitgeteilt,  während  Weiber 
und  Kinder  mit  falschen  Märchen  abgespeist  werden.  Der  Ur- 
vater wird  als  großer  Medizinmann  vorgestellt,  der,  in  der  Regel, 
aber  nicht  immer,  einst  Menschen,  Bäume,  Tiere,  Gebirge 
machte,  die  heiligen  Tänze  und  die  Eheregeln  einrichtete  und 
die  Gebote  gab.     Seitdem  ist  er  fortgegangen. 

Auch  die  Zentralstämme  kennen  Urväter  der  Totemklane, 
bald  Tiere  und  Pflanzen,  bald  halb  menschlich,  aus  deren  Körpern 
Menschenkeime  oder  Seelen  herauskamen  oder  welche  aus 
unförmlichen  Klumpen  die  Menschen  zuschnitten.  Schon  hier 
treten  die  zwei  Möglichkeiten  hervor,  welche  die  ärmliche 
menschliche  Einbildung  besitzt,  sich  eine  göttliche  Herkunft 
zu  denken,  nämlich  Emanation  und  Schöpfung.  Außerdem  ver- 
fertigten die  Urwesen  auch  Bergrücken,  Sümpfe  und  alles,  dessen 
Ursprung  einer  Erklärung  bedarf,  und  während  ihrer  Wande- 
rungen führten  sie  zum  ersten  Male  die  heiligen  Tänze  und 
Riten  auf. 

Solche  Verfertiger  oder  Allväter  sind  bekanntlich  nicht  auf 
Australien  beschränkt,  sondern  finden  sich  in  der  Regel  bei 
den  Primitiven. 

Ihre  jetzige  Berühmtheit  verdanken  diese  Urwesen  dem  im 
Juli  1912  verstorbenen  schottischen  Schriftsteller  und  Poly- 
histor Andrew  Lang,  der  hinter  seiner  spielenden  Ironie  das 
warme  Herz  eines  Romantikers  verbarg.  Daß  sein  dogmen- 
feindlicher  Intellekt    sich  gegen    eine   abgeblaßte    Evolutions- 


6  Nathan  Söderblom 

theorie  sträubte,  soll  man  ihm  niclit  verübeln.  Aber  er  ideali- 
sierte beide  übermäßig,  sowohl  die  Primitiven  wie  ihre  Ur- 
wesen,  und  sah  in  diesen  den  einen  göttlichen  Schöpfer  und 
Richter.  In  der  Tat  haben  wir  es  hier  nicht  mit  einem  Gotte 
oder  mit  Göttern  zu  tun,  denn  sie  empfangen  in  der  Regel 
keinen  Kultus,  ürmonotheismus  ist  eine  um  so  mehr  irre- 
leitende Bezeichnung,  als  diese  Wesen  bisweilen  in  der  Mehr- 
zahl vorkommen.  Ihre  Hoheit  kontrastiert  gegen  die  geringe 
Bedeutung,  welche  sie  neben  den  näheren  und  wirksameren 
Ahnen,  Geistern  und  Naturgöttern  im  religiösen  Leben  der 
Primitiven  haben.  Gebetsrufe  an  sie  kommen  vor,  aber  als  im- 
pulsive Äußerungen  des  Gemütes  in  Not  und  Gefahr,  nicht  als 
geordnete  Riten.  Auf  den  niedrigeren  Stufen  entwickelten  sich 
Religion  und  Moral  relativ  unabhängig  voneinander;  aber  hier 
besteht  schon  in  der  primitiven  Religion  ein  gewisser  Zusam- 
menhang, indem  die  Gebete,  welche  bei  der  Einweihung  den 
Jünglingen  eingeprägt  werden,  von  den  Urwesen  herrühren.^ 

Die  Naturerklärung  ist  ebenso  unmöglich  wie  die  Anleihe- 
theorie. Naturerscheinungen  wie  Himmel,  Sonne,  Donner,  Regen 
können  leicht  mit  den  Urwesen  verbunden  werden.  Aber  diese 
Wesen  bleiben  unverständlich,  solange  man  mit  der  Grund- 
bedeutung Himmel  oder  Sonne  oder  Donner  usw.  operiert.  Aber 
gehen  wir  von  der  Vorstellung  des  Ursprungswesens  aus,  dann 
stimmt  alles  überein.  Ist  jemand  dort  im  Himmelslande  —  dann 
erkennt  man  leicht  seine  Stimme  oder  seine  Zischgeräte  (sein 
Schwirrholz)  oder  sein  Korrobori,  seinen  heiligen  Tanz,  im 
Donner,  seine  Pfeile  im  Blitz,  seine  Weiber  und  Kinder  oder 
seine  Lagerfeuer  in  den  Sternen;  warum  nicht  ihn  selbst  in 
Sonne  oder  Mond? 

Die  sonderbare  Mischung  von  Tier  und  Mensch  in  den 
Ursprungswesen  bleibt  unverständlich,  solange  man  ihren  Ur- 
sprung in  einer  Naturerscheinung  sucht.    Das  Rätsel  löst  sich, 

»  Söderblom  in  Nordish  Tidskrift  1906,  S.  163 ff.;  in  Ymer  1906,  S. 
229 f.;  in  Beligion  und  Geisteskultur  1907  S.  315 f. 


Zusammenhang  höherer  Gottesideen  mit  primitiven  Vorstellungen     7 

sobald  man  sieht,  daß  mehrere  dieser  Wesen  den  Ursprung 
von  Menschen  und  Tieren  erklären  sollen,  und  zwar  die  Ver- 
wandtschaft zwischen  dem  Klan  und  seinem  Totemtier. 

Man  hat  auch  versucht,  die  Urheber  als  Vorfahren  oder 
Geister  zu  deuten.  Doch  von  Geistern  und  Seelen  kann  keine 
Rede  sein.  Die  Wesen  vom  Bäjämitypus  unterscheiden  sich 
deutlich  von  den  bei  denselben  Stämmen  bekannten  Geistern. 
Sie  sind  überhaupt  nicht  tot,  sondern  wanderten  fort,  als  sie 
mit  ihrer  Arbeit  fertig  waren.  W.  Wundt  schreibt  in  seiner  groß- 
zügigen Synthese  der  modernen  Religionsforschung,  in  seiner 
Völkerpsychologie,  von  den  Mura-muralegenden  im  südlichen 
Zentralaustralien^ :  „Diese  Mura-mura  sind  phantastische  Wesen 
früherer  Zeiten,  die  den  jetzigen  Generationen  Zauberwerkzeuge 
zurückgelassen  und  die  Vorfahren  in  den  Zauberzeremonien 
unterrichtet,  daneben  auch  nach  einzelnen  Sagen  sich  Totem- 
tiere  geschaffen  haben  oder  selbst  sich  in  Totemtiere  verwan- 
delten/* Diese  genaue  Wiedergabe  der  Tatsachen  muß  des  Ver- 
fassers eigene  Theorie  von  menschlichen  und  tierischen  Vor- 
ahnen wohl  ein  wenig  modifizieren.  Denn  Wesen,  die  'ge- 
schaffen haben',  sind  keine  Ahnen  im  eigentlichen  Sinne.  Einer 
der  früheren  Ansiedler  in  Südostaustralien  erzählte,  wenn  man 
einen  Kamilaroi  fragte:  „Wer  hat  dich  gemacht?^',  antwortete 
er:  „Bäjämi,  denke  ich."  Die  Kongofrau  erzählte  dem  Mis- 
sionar, „daß  Niambe^  alles  gemacht  hat:  die  Bäume  da,  den 
Berg,  diesen  Fluß,  die  Ziegen  und  die  Küchlein  hier." 

Wer  ist  imstande,  etwas  Merkwürdiges  zu  leisten?  Ant- 
wort: Der  Medizinmann,  der  Magier  —  'Schwarzdoktor'  — , 
der  Priester,  der  Klan-  oder  Stammeshäuptling.  Als  solcher 
wird  auch  das  Urwesen  gern  vorgestellt. 

In  den  Zwangsinnungen  unserer  religionsgeschichtlichen 
Nomenklatur  können  diese  Ursprungswesen  nicht  ohne  Gewalt- 

*  Elemente  der  Völkerpsychologie^,  Leipzig  1913  S.  229.  Vgl.  Völker- 
psyclwlogie  II,  Mythus  und  Beligion  2  S.  347  ff. 

2  Vgl.  R.H.Nassau  Fetichism  in  West  Äfrica,  London  1904  S.  33ff. 


8  Nathan  Söderblom 

samkeit  untergebracht  werden.   Um  ihre  Eigenart  zu  bezeichnen, 
möchte  ich  den  Ausdruck  ^Urheber'  vorschlagen. 

Die  drei  genannten  Vorstellungen  der  Primitiven:  der  Geist 
oder  die  Seele,  die  Macht,  der  Urheber,  streiten  in  der  gegen- 
wärtigen Forschung  um  die  zeitliche  und  begriffliche  Priorität. 

Andrew  Längs  ritterliches  Eintreten  für  die  vernachlässigten 
Urheber  wird  von  Pater  W.  Schmidt  mit  der  schweren  Artil- 
lerie seiner  ethnographischen  und  linguistischen  Gelehrsamkeit 
fortgesetzt. 

Die  Priorität  des  Animismus  hat  immer  noch  bedeutende 
Vertreter.  Was  den  größten,  W.  Wundt,  betrifft,  muß  doch  in 
Betracht  gezogen  werden,  daß  er  zwischen  der  Körperseele  und 
der  freieren  Seele  unterscheidet  und  somit  die  animistische 
Theorie  modifiziert  hat. 

Mehrere  Forscher,  wie  der  berühmteste  Primitivologe  unserer 
Generation,  J.  G.  Frazer,  und  der  Pfadfinder  in  der  mexikani- 
schen Religion,  K.  Th.  Preuß,  haben  verschiedentlich  gezeigt, 
daß  viele  magische  und  religiöse  Riten  bei  den  Primitiven  vom 
Seelen-  und  Geistesglauben  unabhängig  sind.  Das  bedeutet  für 
unsere  Wissenschaft  einen  erheblichen  Fortschritt,  aber  das  be- 
weist nicht,  daß  es  jemals  eine  voranimis tische  Periode  gab. 
Wir  kennen  wenige  Stämme  und  keine  Zeitperiode,  wo  nicht 
Urheber  bekannt  sind,  keine  Zeit  oder  Völkerschaft,  wo  nicht 
das  ^Mana'  verwertet  und  das  Tabu  gefürchtet  wird,  keine, 
wo  man  nicht  Naturgegenstände  als  lebendige  Wesen  auffaßt, 
Geister  kennt  usw.,  wenngleich  es  vielleicht  Stämme  gibt,  die 
keinen  Seelenglauben  in  eigentlichem  Sinne  haben.^ 

II 

An  der  Entstehung  und  Entwicklung  des  Gottesglaubens 
in  eigentlichem   Sinne   und  der  höheren  Gotteserkenntnis  sind 

*  Ygl.  K.  T.  Preuß  Die  Nayarit-Expedition  I  (über  die  CoraindiaDer), 
Leipzig  1912,  S.  LIII. 


ZusammenhaDg  höherer  Gottesideen  mit  primitiven  Vorstellungen     9 

nicht  nur  die  Belebung  (Animatismus)  und  Beseelung  (Ani- 
mismus),  sondern  alle  drei  kurz  skizzierten  Grundvorstellungen 
beteiligt  gewesen.  Ich  werde  das  an  zwei  großen  Beispielen 
zeigen.  Nachdem  ich  die  hier  zu  erwähnenden  Beobachtungen 
und  Grleichungen  längst  gemacht  hatte,  war  ich  überrascht, 
sehen  zu  müssen,  wie  charakteristische  Unterschiede  der  ver- 
schiedenen Hauptkulturen  der  Weltgeschichte  sich  eben  in  der 
Fortbildung  der  einen  oder  der  anderen  der  primitiven  Vor- 
stellungen kundtun. 

Von  berufenster  Seite ^  wird  hervorgehoben,  daß  bis  jetzt 
keine  befriedigende  Erklärung  der  Herkunft  und  des  ursprüng- 
lichen Charakters  des  chinesischen  Obergottes  gewonnen  ist. 
Seit  unvordenklicheT  ZTeitwird  dem  'Herrscher',  Ti,  in  ver- 
stärkter Form  'dem  höchsten  Herrscher'  oder  'dem  Herrn  in 
der  Höhe',  Schang  Ti,  oder,  wie  er  öfter  genannt  wird,  'dem 
Himmel',  T'ien,  offizielle  Huldigung  dargebracht.  Man  hat 
diesen,  alle  sonstigen  Gottheiten  des  straff  —  in  bureaukrati- 
scher  Ordnung  —  geregelten  Systems  des  Staatskultus  über- 
ragenden Gott  aus  der  Ahnenverehrung  oder  aus  der  Natur 
oder  als  einen  Zusammenfluß  von  beiden  erklären  wollen. 

Von  der  Bedeutung  des  Ahnendienstes  in  China  wird  die 
erste  Erklärung  nahegelegt.  Aber  zwischen  dem  Kultus  des 
Himmels  und  der  Erde  einerseits  und  den  Riten  an  die  Vor- 
fahren andrerseits  wird  ein  klarer  Unterschied  durchgeführt. 
Schang  Ti  oder  T'ien  ist  keine  Seele.  Weiter  ist  Schang  Ti 
derselbe  geblieben  trotz  des  Wechsels  der  Dynastien  und  ihrer 
Vorfahren.  Und  Schang  Ti  bezeichnet  immer  Gott,  wenngleich 
Ti  auch  von  den  mythischen  Kaisern  und  seit  22 1  v.  Chr.  vom 
regierenden  Kaiser  gebraucht  wird. 

Die  Natur erklärung  ist  nicht  glücklicher.  Das  älteste  Zeichen 
für  T'ien  stellt  eine  menschliche  Gestalt,  keinen  Naturgegen- 
stand dar.  Ich  wage  selbst  der  ketzerischen  Meinung  Ausdruck 
zu    geben,   daß   eine   so   wenig   greifbare  Vorstellung  wie    der 

^  J.  I.  M.  de  Groot  in  Chantepie  de  la  Saussaye  Lehrbuch^  I,  S,  61  f. 


10  Nathan  Söderblom 

Himmel  in  der  Regel  nicht  bei  der  Bildung  von  Gottheiten 
primär  gewesen  ist.  In  China  bleibt  auch  bei  der  Naturerklä- 
rung der  Name  ^höchster  Herrscher'  rätselhaft. 

Die  UnWahrscheinlichkeit  zweier  ursprünglich  gesonderter 
Gottheiten  hat  Grube  dargelegt.  Die  Ausdrücke  sind  in  den 
Quellen  durchaus  identisch.  Aber  der  Gebrauch  des  persön- 
lichen Namens  nimmt  schon  in  den  klassischen  Urkunden  all- 
mählich ab.  T^ien  wird  immer  mehr  vorwiegend.  Es  scheint 
sich  hieraus  zu  ergeben,  daß  die  ursprüngliche,  altehrwürdige 
persönliche  Bezeichnung  dem  sekundäreu,  aus  Schang  Tis  Wohn- 
ort und  Wirksamkeit  hergeleiteten  Namen  ^Himmel'  gewichen  ist. 

Den  Tatbestand  haben  schon  die  Jesuitenmissionare  vor 
mehr  als  drei  Jahrhunderten  im  Prinzip  richtig  erkannt  und 
gewürdigt,  indem  sie  erklärten,  daß  die  Chinesen  von  alters  her 
den  einen  und  wahren  Gott  gekannt  hätten.^ 

Den  Zusammenhang  der  Namen  des  höchsten  Gottes  in 
China  macht  die  Urhebertheorie  klar.  Es  ist  schon  bemerkens- 
wert, daß  der  Urheber  auch  in  anderen  Religionen  den  Namen 
^Herr  in  der  Höhe'  trägt.  Sachlich  erinnert  diese  erhabene, 
ziemlich  entfernte  Gottheit  auffallend  an  die  Urheber  der  Primi- 
tiven. War  der  hohe  Häuptling,  der  alles,  Menschen,  Natur 
und  Gebote,  gemacht  und  geregelt  hatte,  einmal  in  der  Höhe 
lokalisiert,  so  konnten  auch,  wie  wir  bei  den  Primitiven  sahen, 
der  Himmel  und  seine  Erscheinungen  leicht  auf  ihn  übertragen 
werden.  Selbst  der  uralte  Mythus  von  der  Ehe  des  Himmels 
und  der  Erde  wurde  dann  ermöglicht.  Auch  Schang  Tis  Supre- 
matie erklärt  sich  aus  dem  alten  Urheber.  Der  dem  Mono- 
theismus sich  nähernde  Charakter  des  Himmels  weist  auf  keine 
Spur  eines  Wettstreites  mit  anderen  Gottheiten  zurück.  Weder 
die  auf  Einheit  gerichtete  Spekulation,  die  in  allen  Göttern 
oder  hinter  der  Vielheit  den  Alleinen  wahrnimmt,  noch  der 
schöpferische  Eifer  eines  Propheten  für  sein  persönliches  Gottes- 

*  Confucius  Sinarum  philosophus,  Paris  1687  S.  XCI,  und  in  anderen 
Arbeiten. 


Zusammenhang  höherer  Gottesideen  mit  primitiven  Vorstellungen      1 1 

eiiebnis  liat  Schang  Ti  erhöht.  SchangTis  Herrscherstellung  ist 
eine  ursprüngliche  Tatsache,  nicht  eine  erst  gewordene,  ganz 
wie  die  Urheber  sich  überall  von  den  Geistern  und  Mächten 
ohne  weiteres  abheben.  Hier  —  und  nur  hier  —  in  der  Reli- 
gionsgeschichte hat  der  irreleitend  sogenannte  ^ürmonotheismus' 
eine  geradlinige  Entwicklung  in  einer  in  ihrer  Weise  einzig- 
artigen Kultur  gehabt. 

Wenn  wir  zum  zweiten  der  drei  großen  Kulturkreise  der 
gesamten  Menschheit  übergehen,  so  wurde  das  Brahman  das 
wichtigste  Wort  der  indischen  Religiousgeschichte  und  ist  es 
noch.  Brahman  als  Neutrum  bedeutet  im  Rigveda  in  der  Regel: 
das  Lied,  der  Opferspruch,  die  kräftige  Formel.  Das  verwandte 
Wort  Brahman  als  Maskulinum  bezeichnet  den,  der  das  Brah- 
man besitzt  und  darüber  verfügt.  Über  die  Wurzelbedeutung, 
die  dem  Brahman  und  verwandten  indogermanischen  Worten 
zugrunde  liegt,  bestehen  verschiedene  Vermutungen:  *hoch,  er- 
haben' (Windisch  u.  a.)  oder  Vachsend,  gedeihend'  (Hang)  oder 
*fest  geregelt,  abgefaßt'  (Osthoff).  Was  den  ursprünglichen  Sinn 
des  Wortes  Brahman  selbst  betrifft,  so  haben  die  Untersuchungen 
von  Haug^,  Oldenberg^,  Osthoff  ^,  Hillebrandt*  u.  a.  die  geläu- 
fige, anachronistische  Idealisierung  zerstört.  Ich  zitiere  Olden- 
berg  und  bemerke  ausdrücklich,  daß  seine  Auffassung  ohne 
jeden  Vergleich  mit  den  Primitiven  aus  der  bloßen  Analyse  der 
Texte  gewonnen  ist.  „Das  Brahman  ist  das  Fluidum  oder  die 
Potenz  geistig -zauberhafter  Macht  samt  ihrer  Verkörperung 
einerseits  in  heiligen  Sprüchen,  Zaubersprüchen  und  dergleichen 
Riten,  andererseits  in  dem  Stande  der  Brahmanen,  welche  jene 
Macht  besitzen.^^  Besser  kann  das  Mana  und  die  analogen  Vor- 
stellungen bei  den  Primitiven  nicht  definiert  werden.  Auch  z.  B. 
das  Orenda  der  Irokesen  bezeichnet  ganz  besonders  die  heiligen, 


^  Sitzungsher.  der  hayer.  AJcad.  Philos.-phüol  KL  1868  S.  80,  92. 
*  In  Streitbergs  Anzeiger  für  indog.  Sp'ach-  u.  Altertumskunde  VIII 
(1897)  S.  40.  8  BB  XXIV  S.  Il7ff. 

^  JEBE  {Hastings  Encydopaedia)  Art.  Brahman. 


12  Nathan  Söderblom 

zauberkräftigen  Gesänge.  Man  kann,  wie  Hillebrandt^  bemerkt, 
nicbt  in  jedem  Falle  im  Veda  unterscheiden,  ob  die  magisch- 
religiöse Kraft  (craft)  oder  die  Formel,  die  sie  enthält,  gemeint 
ist.  Ohne  Zweifel  gehört  das  Brahman  dem  Manatypus  der 
primitiven  Anschauung  an.  Nur  daß  in  Indien,  und  auf  dieser 
Stätte  der  Religionsgeschichte  allein,  die  unpersönliche  ^Macht' 
der  primitiven  Anschauung  ihre  ganzen  Möglichkeiten  hat  ent- 
wickeln können.  Drei  Hauptperioden  hat  das  Brahman  erlebt. 
Zuerst  in  der  vor  unseren  Texten  liegenden  Zeit,  als  die  großen 
Götter  noch  nicht  waren,  bedeutete  es  die  gefahrvolle  und  wertvolle 
Kraftsubstanz  oder  das  Zaubermittel.  Dann,  nachdem  die  Vielgöt- 
terei in  reicher  kultischer  und  mythischer  Entwicklung  vorlag,  hat 
doch  das  Brahman  seine  Macht  behalten  oder  vielmehr  in  der  Opfer- 
religion wiedergewonnen,  indem  die  Fähigkeit,  die  Götter  nicht  nur 
herbeirufen  zu  können,  sondern  sie  sogar  gewissermaßen  hervor- 
zurufen, dem  Opfer  und  dem  Opferspruch  beigelegt  wurde.  Der 
zum  Opferpriester  gewordene  Medizinmann,  der  Brahman,  ver- 
fügte, als  Kenner  und  Inhaber  des  Brahman,  über  alle  Macht 
im  Himmel  und  auf  Erden.  Aber  höhere  Geschicke  waren  dem 
Brahman  vorbehalten,  da  tiefere  Seelen  unter  Priestern  und 
Laien  —  viel  früher  als  in  irgendeinem  anderen  Kulturkreise 
—  die  naive  Weltbejahung  einbüßten  und  hinter  dem  Wahn 
und  Elend  der  Welt  das  alleinige  Ewige  suchten.  Denn  das 
unpersönliche  eine  Wesen  in  oder  hinter  den  Erscheinungen  wurde 
auch  Brahman  genannt.  Es  gibt  in  der  Religionsgeschichte 
drei  Bewegungen,  die  man  mit  einigem  wissenschaftlichen  Rechte 
Weltreligionen  nennen  kann,  nämlich  neben  der  biblischen 
Religionslinie,  von  der  der  Islam  eine  eigentümliche  Abzweigung 
ausmacht,  die  zwei  mystischen  und  akosmischen  Heilsrichtungen 
im  arischen  Gebiet,  die  eine  in  Indien  von  den  Brahmanas  und 
Upanischaden  an,  die  andere  in  Hellas  aus  orphischen  und 
pythagoreischen  Anfängen  im  Neuplatonismus  vollendet  und  in 
der  Mystik  innerhalb  des  Christentums  und  des  Islams  fortge- 
M.  c. 


Zusammenhang  höherer  Gottesideen  mit  primitiven  Vorstellungen      ]  3 

setzt.  Kein  Wort  ist  diesen  weltgeschichtlichen  Heilswegen  der 
Weltflucht  bedeutsamer  gewesen  und  gebliehen  als  dasBrahman. 
In  Indien,  und  nur  auf  dieser  einzigen  Stätte  der  Religions- 
geschichte, wurde  das  uralte  Wort  für  die  primitive  Machtvor- 
stellung zum  Ausdruck  der  Erfahrungen  und  Gedanken  einer 
sublimen  Mystik. 

Das  Abendland  hat  während  der  zwei  letzten  Jahrhunderte 
gewissermaßen  erst  die  Urheberreligion  und  dann  die  Mana- 
Brahman-Religion  erlebt. 

Den  blühenden  Hoffnungen  der  Jesuiten  in  China  berei- 
teten der  Vatikan  und  die  Verfolgungen  in  China  ein  klägliches 
Ende.  Aber  von  Ricci  ab  hatten  die  gelehrten  und  geschickten 
Patres,  Couplet,  Intorcetta,  Schall,  Premare,  Verbiest,  Noel,^ 
Parennin  u.  a.,  durch  die  „Lettres  edifiantes  et  curieuses"  und 
durch  Übersetzungen  dem  bewundernden  Europa  gezeigt,  daß 
die  Chinesen  schon  vor  Abraham  den  wahren  Gott  kannten 
und  daß  sie  vor  Roms  Gründung  eine  hohe  Sittenlehre  aus- 
gestaltet hatten. 

Den  gegen  die  Jesuiten  gerichteten  Kundgebungen  des  Va- 
tikans von  1710  an^,  daß  Schang  Ti  oder  T^ien  eine  Naturgott- 
heit, d.  h.  eine  heidnische  Gottheit  sei,  deren  Namen  vom  christ- 
lichen Gotte  nicht  gebraucht  werden  dürfte,  haben  nicht  nur 
gelehrte  protestantische  Missionare  wie  Faber  und  Legge,  son- 
dern auch  eine  Zahl  der  sonstigen  maßgebenden  Sinologen,  vor 
allem  v.  der  Gabelentz,  weiter  Ch.  de  Harles,  Grube,  Conrady 
u.  a.  eigentlich  unrecht  gegeben.^ 

Kein  Wunder,  daß  unser  18.  Jahrhundert  in  Chinas  deisti- 
scher  Urheberreligion  und  Weltweisheit  einen  Geistesverwandten 
erkannte.  Es  war  kein  bloßer  Zufall,  daß  der  Vernunftglauben 


^  Vgl.  J.  Brücker,  Art.  Chinois  (Rites)  in  Vacant  und  Mangenots  Dic- 
tionnaire  de  Theologie  catholique  Paris  1903  ff.  und  Picot  Memoires  pour 
servir  ä  Vhistoire  ecclesiastique  pendant  le  XYIII«  siede  2.  ed.  1815—16  I, 
S.  CCXXVIff. 

'  Vgl.  Söderblom    Giidstrons  uppkomst,    Stockholm   1913,  Kap.  VII. 


14  Nathan  Söderblom 

die  Liebhaberei  für  das  cbinesisclie  Porzellan,  Zopf  und  Rokoko 
an  die  europäiscben  Höfe  begleitete.  Leibniz  hatte  mit  Jesuiten 
über  die  Angelegenheiten  in  China  korrespondiert.  Vom  re- 
präsentativen Philosophen  der  deutschen  Aufklärung,  Christian 
Wolff,  wurde  der  chinesischen  Weisheit  das  höchstmögliche  Lob 
gespendet,  als  er  in  seiner  Prorektoratsrede  in  Halle  1721  be- 
wies, daß  sie  mit  seiner  eigenen  Philosophie  übereinstimmte. 
Selbst  in  der  alten  Hochburg  der  Scholastik,  la  Sorbonne,  war 
chinesische  Chronologie  nach  zeitgenössischem  Zeugnis  das  Mode- 
thema geworden.  Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  daß  China  nicht 
nur  mit  lebhaftestem  Interesse  studiert  wurde,  sondern  damals 
auch,  wenigstens  in  der  französischen  Aufklärung,  einen  ge- 
wissen, wenn  auch  schnell  vorübergehenden,  Einfluß  auf  die 
abendländische  Denkweise  ausgeübt  hat.  Man  fand  in  China  das, 
was  man  im  christlichen  Europa  schmerzlich  vermißte,  einen 
Gottesglauben  und  eine  Moral  ohne  Offenbarung,  Mystik  und 
Wunder.  Wie  begeistert  schrieb  nicht  Voltaire  seinem  könig- 
lichen Korrespondenten  in  Potsdam  darüber.  Es  ist  interessant 
zu  bemerken,  wie  der  große  Friedrich  trotz  seiner  Bewunderung 
für  Voltaire,  dessen  Schöpfung  er  der  Gottheit  kaum  zutrauen 
konnte,  dessen  (später  doch  ein  wenig  abgekühlter)  Begeiste- 
rung für  Chinas  Moral  und  Religion  mit  höflicher  und  feiner 
Kritik  entgegentrat.  Einem  jeden  Leser  von  Voltaires  schönem 
„Essai  sur  l'esprit  et  les  mceurs  des  nations"  ist  es  aufgefallen, 
welche  Ehrenstelle  Confuz  und  die  chinesische  Kultur  dort 
einnehmen. 

Auch  protestantischen  kirchlichen  Kreisen  gefiel  Chinas  Weis- 
heit sehr.  „Seiner  Hochwürdigsten  Magnifizenz  dem  Herrn  Prä- 
lat und  Domherrn  des  Hochstifts  Meißen  Herrn  D.  Johann 
Friedrich  Burscher,  der  Theologie  erstem  ordentlichem  und  der 
Philosophie  außerordentlichem  Professor  in  Leipzig"  widmete 
Christian  Schnitze  1794  ein  Büchlein:  „Aphorismen  oder  Sen- 
tenzen des  Konfuz,  enthaltend  Lehren  der  Weisheit,  Ermunte- 
rungen zur  Tugend,  und  Trostgründe  für  Leidende  .  .  ." 


Zusammenhang  höherer  Gottesideen  mit  primitiven  Vorstellungen     1 5 

Kann  man  demgemäß  mit  einem  gewissen  Rechte  sagen, 
daß  das  18.  Jahrhundert  teilweise  im  Zeichen  Chinas  stand,  so 
wandten  sich  die  Sympathien  des  beginnenden  19.  entschieden 
dem  Gegensatz  Chinas,  Indien,  zu.  Hier  öffneten  sich  der  My- 
stik und  der  Spekulation  ungeahnte  Weiten  und  Tiefen.  Man 
verglich  mit  Recht  die  neue  Bewegung  mit  dem  Einfluß,  den 
die  Antike  während  des  Humanismus  ausgeübt  hatte.  Die  in- 
dische Renaissance  in  unserer  abendländischen  Kultur  ist  noch 
nicht  zu  Ende.  Wir  können  ihre  Aussichten  nicht  überblicken. 
Die  abendländische  Empfänglichkeit  zeigt  sich  in  verschiedenen 
Schichten  der  Kultur:  bei  Denkern  und  Forschern  wie  Schopen- 
hauer, Deussen,  den  beiden  Rhys  Davids  u.  a.;  bei  einem  Houston 
Stewart  Chamberlain  nebst  den  sonstigen  Vorboten  der  sog, 
„arischen"  antisemitischen  Zukunftsreligion,  auch  in  der  freilich 
in  ihrer  Weltfreudigkeit  und  positiven  Moral  sehr  unindischen 
und  bunten  Theosophie.  Ich  werde  nicht  der  Versuchung  an- 
heimfallen, in  eine  Rassenpsychologie  der  Mongolen,  der  Arier 
und  der  Semiten  zu  münden.  Denn  ich  glaube  nicht  an  Blut 
und  Rassen,  sondern  an  die  von  unzähligen  Faktoren  bedingte 
Geschichte  und  Kultur.  Unsere  Kultur,  die  vorderorientaliscli- 
abendländische,  ist  noch  bei  weitem  komplizierter  als  die  anderen 
und  trotzt  noch  mehr  als  sie  dem  Versuche,  das  Problem  ihrer 
Psychologie  durch  Rassentheorien  zu  vereinfachen. 

Von  entscheidender  Bedeutung  für  den  Gottesglauben  im 
Abendlande  wurde  die  prophetische  Erfahrung  des  Moses  und 
seiner  Nachfolger,  nicht  ihre  semitische  Art.  Denn  wie  Zara- 
thushtras  Schöpfung  zeigt,  ist  Prophetismus  und  Offenbarungs- 
religion nicht  etwas  spezifisch  Semitisches.  Aber  was  war  Jahve 
vor  Moses?  Kittel^  u.  a.  haben  den  Unterschied  zwischen  dem 
milden  Gotte  in  der  Genesis  und  der  gewaltigen  Gottheit  des 
Exodus  hervorgehoben.  Ich  kann  hier  nicht  näher  begründen, 
warum  ich  im  vormosaischen  Jahve  keine  —  irrtümlicherweise 
—  sog.  Wmonotheistische'    Gestalt,   keinen  hohen  'Herrn   in 

^  Geschichte  des  Volkes  IsraeP  I  S.  557. 


16    N.  Söderblom  Zusammenh.  höh.  Gottesideen  m.  primitiven  Vorstell. 

der  Höhe'  El  Eljon,  sondern  eine  typisch-animistische^  zudring- 
liclie  Gottheit^  einen  gewaltsamen '  Wehenden',  Wotan,  vermuten 
muß.  Durch  Moses  und  Jahve  wurde  der  Mosaismus  die  Reli- 
gion der  Ergriffenheit  vielleicht  noch  mehr  als  die  Religion  der 
Erhabenheit,  wie  Hegel  sie  nannte. 

Im  großen  und  ganzen  kann  gesagt  werden,  daß  die  primi- 
tiven Anfänge  der  Gotteserkenntnis  in  den  drei  großen  Zivili- 
sationen verschiedentlich  weitergeführt  wurden,  nämlich  in  China 
die  Ehrfurcht  vor  dem  hohen  Urheber,  in  Indien  das  Gefühl 
von  der  geheimnisvollen  Machtsubstanz,  im  vorderorientalisch- 
abendländischen  Gebiet  die  Erkenntnis  der  Gottheit  als  einer 
wollenden  und  waltenden.^) 

^  Die  hier  kurz  skizzierten  Ansichten  werden  weiter  ausgeführt  und 
begründet  in  meinem  bei  Hugo  Geber  in  Stockholm  erscheinenden  Buche 
Gudstrons  uppicomst  1913. 


Magic  and  ßeligion  in  Early  Hellenic  Society 

by  Lewis  R.  Farnell,  Oxford 

It  is  not  the  object  of  this  paper  to  discuss  the  whole 
correlation  of  the  two  provinces  of  magic  and  religion  in  classical 
greek  polytheism ;  but  the  title  may  serve  as  well  as  any  other 
as  introduction  to  a  few  general  remarks  about  the  evolution  of 
that  religion;  while  my  main  object  is  to  test  some  of  the 
leading  theses  that  have  been  proclaimed  and  championed  in 
recent  anthropologic  works.  It  has  been  one  of  the  advantages 
won  by  modern  research  in  this  field  that  the  content  of  the 
term  ^religion'  has  been  enlarged  and  enriched  by  the  inclusion 
under  it  of  a  far  more  varied  set  of  cognate  phenomena  than 
hitherto  it  had  included.  But  this  wider  outlook  has  the  drawback 
that  it  becomes  increasingly  difficult  to  frame  distinguishing 
definitions  of  religion .  and  magic  that  will  satisfy  every  pro- 
gressive anthropologist;  and  it  has  been  in  this  case  a  curious 
result  of  science  that  our  concepts  have  become  more  and  more 
misty.  I  am  not  going  to  attempt  the  impossible  here ;  but  we 
may  demand  of  any  writer  that  he  should  teil  us  what  he  means 
by  these  terms  in  certain  contexts;  so  that  we  may  at  least 
understand  what  facts  he  is  talking  about. 

The  Student  of  Hellenism  need  not  concern  himself  with 
the  perplexing  problem,  how  to  find  a  clear  definition  for 
magic  and  religion  that  would  apply  to  a  purely  preanimistic 
period;  for,  assuming  that  there  has  been  such  a  period  of 
human  society,  he  will  be  able  to  maiptain  that  at  least  the 
Hellenic  race  came  into  being  subsequently  to  it,  and  also  that 
the  Society  which  preceded  the  Hellenic  in  the  Mediterranean  was 
indefinitely  removed  from  that  period;  for  the  monuments  of 

Archiv  f.  Religionswissenschaft  XVJI  2 


13  Lewis  K.  Farnell 

the  higher  Minoan  and  Mycenaean  culture  reveal  an  already 
developed  theism,  and  some  of  the  idols  of  the  preceding  so- 
called  ^Cycladic'  culture  point  to  goddess- worship;  while  from 
the  most  backward  parts  of  the  Mediterranean  such  as  Sar- 
dinia  the  neolithic  remains  yield  proof  of  animism  at  the 
least.^  As  for  the  tribes  pushing  down  through  the  Balkans 
from  the  North,  by  whose  blend  with  the  old  population  of 
the  Mediterranean  culture  the  Hellenic  race  of  history  arose, 
it  is  probable  that  they  had  reached  at  least  the  animistic 
stage  —  the  equation  of  ®e6g  and  Lat.  'inferiae',  if  we  admit  it^ 
would  be  an  indication  —  and  even  the  theistic;  for  we  find  the 
belief  in  personal  deities  at  a  very  low  stage  of  human  society, 
we  find  in  some  of  the  modern  Balkan  peoples  beneath  the 
crust  of  Christianity  traces  of  an  earlier  theism  that  seem  to 
be  immemoriaP;  the  recently  discovered  momentous  inscription 
of  Boghaz-Keui  reveals  a  fairly  advanced  theism  among  the 
Vedic-Indians  as  early  as  the  15*^  Century^,  and  there  is  no 
reason  to  regard  the  ^Aryan'  progenitors  of  the  Hellene  as  less 
advanced  than  they. 

Yet  some  recent  writers  have  spoken  with  assurance,  Miss 
Harrison  even  with  enthusiasm,  of  a  godless  Hellenic  period; 
thinking  to  derive  a  proof  of  it  from  the  Observation  that  certain 
parts  of  Hellenic  ritual  may  be  explained  as  efficacious  without 
reference  to  any  God,  just  as  the  working  of  the  bull-roarer 
(Qo^ßog)  may  be  called  'godless'.  In  fact  the  watchword  of 
some  recent  speculation  on  the  early  religious  life  of  Hellas 
might  be  given  Aristophanically  as  —  ^QÖ^ßog  ßaötXsvsL  zbv 
z/r  i^sXr]XaK(og\  A  little  reflection  might  give  us  pause;  a 
ritual  may  be  godless  in  the  sense  that  no  God  is  needed  to 
make  it  work,  and  in  that  case  we  may  call  it  magical,  but  it 

^  Vide  Pettazzoni  La  Beligione  primiUva  in  Sardegna. 
^  Vide  my  Gults   of  the  Greek  States  vol.  5  pp.   107—108,  p.  181; 
Kazaroff  in  Klio  1906  p.  169. 

3  E.  Meyer  Sitz.  Ber.  Preiiss.  Ak.  Wiss.  1908  S.  U. 


Magic  and  Religion  in  Early  Hellenic  Society  19 

need  not  be  godless  in  the  sense  that  the  people  who  at  any 
given  time  practice  it  are  otherwise  godless,  or  that  they  have 
inherited  it  from  a  people  who  had  no  consciousness  of  Gods: 
thuS;  much  that  we  ourselves  do  —  dining  or  shaving  for 
instance  —  is  godless  in  the  one  sense;  bat  the  inference  that 
we  are  therefore  living  in  the  pretheistic  age  or  have  inherited 
these  functions  from  pretheistic  ancestors  would  be  hazardous. 
It  is  one  of  the  faults,  and  not  the  least  of  Miss  Harrison's 
recent  work^,  that  she  does  not  distinguish  between  the  two 
meanings  or  implications  of  this  adjective;  and  the  effect  of 
such  confusion  is  dis  astrous  when  it  leads  her  to  such  a  dogma 
as  that  the  totemistic  stage  of  thinking  knew  no  God  (p.  135). 
Therefore  in  considering  the  relations  of  magic  and  religion 
in  the  earliest  as  in  the  latest  periods  of  Greek  society  we 
should  consider  it  on  the  plane  of  animism  and  theism.  And  at  this 
stage  it  is  not  difficult  to  devise  some  verbal  or  conventional 
differentiation  of  the  magical  and  religious  spheres  that  may 
help  US  to  express  the  diiferent  aspects  of  the  various  facts. 
We  will  call  that  part  of  a  ritual-act  nfagical  which  does  not 
appear  to  bear  any  direct  reference  to  a  spirit  or  divinity. 
or  secondly  that  which  aims  at  compelling  the  spirit  or  deity 
to  do  or  to  refrain  from  doing  do  certain  things,  whether  he  will 
or  no;  on  the  other  hand  a  Service  or  act  of  prayer,  placation 
or  appeal,  implying  a  mood  of  deference  and  humility  in  deal- 
ing  with  the  deity,  will  be  called  religious.  The  principle 
of  magic  is  compulsion,  the  principle  of  religion  is  deferential 
appeal;  in  the  one  sphere  the  deity  may  be  constrained,  in  the 
other  he  is  a  free  and  superior  agent.  Now  this  distinction 
seems  easy  to  maintain^  and  it  is  on  the  whole  the  most 
practical  that  has  as  yet  been  offered.  But  it  is  by  no  means 
easy  to  apply  it  to  all  the  complex  phenomena  of  ritual,  so 
as  to  be  able  to  refer  each  detail  to  its  proper  category.    We 

^  J.  E.  Harrison    Themis.    A   study   of  the   social  Origins  of  Greek 
Religion.     Cambridge  1912. 


20  Lewis  R.  Farneil 

may  take  as  a  test-example  some  of  the  details  of  the  Service 
of  the  Kouretes  as  presented  in  the  newly  discovered  hymn*, 
which  is  made  the  starting  point  for  the  long  disquisition  in 
Themis'  on  tribal  Initiation -magic.  The  writer  maintains  that 
in  the  hymn  of  the  Kouretes,  though  the  God  is  there  as 
Kouros,  he  is  not  worshipped  (p.  45).  And  yet  the  words 
ötdvTEg  tsbv  ä^(pl  ßcjjiöv  stare  us  in  the  face.  Now  an  altar, 
at  least  in  the  Mediterranean  area,  and,  as  far  as  I  can  find, 
universally,  is  part  of  the  equipment  of  worship  of  Gods  or 
spirits;  the  act  of  singing  round  the  altar  might  be  conceived 
and  interpreted  as  a  mesmeric-compulsory  charm  practised  on 
the  god,  deö^Log  (pQSvcoVj  like  the  chant  of  the  Erinyes  in  the 
play  of  Aeschylus.  But,  when  we  consider  that  the  altar 
itself  belongs  to  the  higher  plane  of  religion,  and  when  we 
reflect  on  what  we  know  of  Greek  hymns  round  altars,  we  may 
believe  that  the  odds  are  great  against  this  interpretation  of 
the  act  and  in  favour  of  believing  that  it  is  inspired  by  such  an 
emotion  on  the  part  of  the  worshipper  towards  the  deity  as 
we  call  religious,  namely  by  the  desire  to  please  and  placate. 
Again,  the  same  writer  averts  that  the  purport  of  the  hymn  is 
magical  because  the  deity  is  addressed  in  the  imperative  mood. 
A  little  reflection  would  have  reminded  her  that  the  most 
deferential  prayer  and  the  most  imperious  magic  equally  employ 
the  imperative  mood:  and  when  nothing  is  before  us  but  the 
written  formula  @6qs  we  see  the  imperative  mood,  but  we 
cannot  be  sure  what  was  the  mood  of  the  worshipper,  whether 
supplicatory  or  commanding.  No  doubt,  if  I  as  a  Koures  Jump, 
for  the  good  of  the  year,  that  is  magic,  an  ebuUition  of  mana 
through  my  legs  which  works  my  will  on  its  own  account; 
and  this,  not  a  ^Beten  mit  den  Beinen',  may  have  been  the 
original  meaning  of  the  jumping  of  the  Maenads  or  the  Salii. 
But  if  I  say  to  a  God  'Jump',  I  may  be  praying  him  to  jump 
or  commanding  him  to  jump,  that  is,  I  may  be  approaching 
1  Ännual  of  the  British  School  at  Athens  XV  1908/09,  308 ff. 


Magic  and  Religion  in  Early  Hellenic  Society  21 

him  as  a  humble  petitioner  or  as  a  powerful  magician.  The 
hymn  gives  us  no  material  for  deciding  this  important  question 
concerning  the  attitude  of  the  Kouretes  towards  Zeus;  but  as 
he  is  the  leader  of  the  ^daimones'  and  they  greet  him  with 
the  polite  x^^Q^  /*ot,  their  tone  is  more  probably  defercntial 
than  commanding. 

What  is  really  unique  in  the  hymn  has  been  missed  by  the 
above  writer.  The  God  is  asked  or  commanded  to  Jump,  and 
jumping  is  magic.  Therefore  the  God  is  conceived  as  prac- 
tising  magic  for  the  good  of  the  Community.  This  view  of 
the  deity  confronts  us  frequently  in  Babylonian  religion,  even 
on  its  higher  planes,  but  we  find  no  other  clear  example  of  it 
save  this  in  the  Hellenic.  The  attribute  of  omnipotence  in 
the  character  of  the  Hellenic  high  God  is  not  developed  with 
logical  conviction  and  consistency;  but  so  far  as  he  has  con- 
trol,  he,  like  the  God  of  Israel,  works  his  will  by  a  simple 
fiat:  ^Let  there  be  light',  and  there  is  light.  Suppose  we 
believe  with  Professor  Murray  that  Zeus  was  originally  a  sky- 
projection  of  the  human  medicine-man*,  yet  we  ought  to  ob- 
serve  that  he  had  wholly  dropped  his  medicine  when  we  come  to 
know  him  and  that  he  was  able  to  work  as  a  spiritual  will- 
power  without  magical  apparatus,  though  he  may  employ 
weapons  such  as  the  lightning  and  the  mysterious  aegis  which 
is  fraught  with  part  of  his  mana.  The  Kouros-God  of  the 
Kouretes  is  unique  in  his  magical  jumping.^  And  in  the  po- 
pulär imagination  of  the  Bacchic  revels,  which  are  ethnicaUy 
akin,  it  may  well  be,  to  the  ritual  of  the  Kouretes,  Bakchos 
bounds  and  rushes  with  his  thiasos,  the  Maenads.  But  this 
ritual  was  aboriginally  non- Hellenic,  and  though  the  populär 
mind    of  Hellas    may    have    preserved    the    tradition   that   the 

^  Ärdhropology  and  the  Classics,  Oxford  1908,  78  ff. 

^  The  fire -ritual  with  which  Demeter  tried  to  make  the  habe  Demo- 
phoon  immortal  {Hom.  H.  1.  259)  is  not  a  real  parallel  to  the  magic  that 
the  god  Kouros  is  asked  to  perform. 


22  Lewis  R,  Farnel 

movements  of  the  Maenads  were  magically  good  for  the  fields 
and  for  tlie  State,  yet  the  populär  conception  of  the  tumultuous 
God  may  have  beert  only  inspired  by  tbe  belief  that  be  was 
sympathetic  in   temperament   and  habits  witb  bis  worsbippers, 

Leaving  tbe  bymn  of  tbe  Kouretes,  let  us  take  one  or  two 
otber  examples  of  Hellenic  ritual  wbere  tbe  pbenomena  bave 
been  or  may  be  newly  interpreted  and  wbere  tbe  doubt  may 
arise.  Tbe  libation  at  tbe  Boeotian  and  tbe  Attic  Pitboigia  is 
interpreted  in  'Tbemis'  p.  276 — 277  as  aboriginally  a  godless 
act.  'Food  and  drink  and  tbe  desire  magically  to  increase 
and  safeguard  food  and  drink  are  earlier  tban  tbe  Gods. 
Plutarcb  in  bis  account  of  tbe  Pitboigia^  lets  us  watcb  tbe 
transit  from  one  to  tbe  otber'.  Tbe  Boetian  sacrifice  at  tbe 
opening  of  tbe  new  wine  to  tbe  Agatbos  Daimon  was  "^no 
offering  to  an  Olympian,  it  is  simply  tbe  solemn  pouring  out 
of  a  little  of  tbe  new  wine  so  tbat  tbe  wbole  may  be  released 
from  tabu.  Tbis  sacrifice  of  tbe  new  wine  is  to  begin  witb 
made  to  notbing  and  to  nobody,  but  bit  by  bit  a  daimon 
of  tbe  act  emerges  and  be  is  tbe  Agatbos  Daimon'.  Here 
are  tbree  separate  and  important  assertions:  a)  tbat  tbis  libation 
was  aboriginally  godless,  analogous  to  otber  practices  wbicb  are 
intended  magically  to  increase  and  safeguard  food  and  drink;  b)tbat 
we  can  discern  in  tbe  Hellenic  record  tbe  transit  from  tbe  god- 
less to  tbe  tbeistic  significance  of  tbe  rite;  c)  tbat  from  tbe 
rite  itself  tbe  deity  Läyad-bg  ^aC^wv  was  bimself  projected  or 
evolved.  Tbe  last  dogma  concerns  tbe  tbeory  of  tbe  projection 
of  tbe  God  wbicb  will  be  considered  later.  Tbe  first  can 
only  be  establisbed  by  a  general  antbropological  survey  of 
tbe  libation -rite  in  all  tbe  races  tbat  practice  it.  If  we  found 
tbat  tbe  spilling  or  tbe  pouring  out  a  little  of  tbe  fermented 
liquor  before  drinking  it  was  fairly  general  among  primitive 
people  and  among  tbem  was  prima  faeie  a  godless  rite,  not 
necessarily  in  tbe  sense  tbat  it  was  maintained  or  invented  by 

^  Quaest.  com.  III  7  p.  655Ej0P. 


Magic  and  Religion  in  Early  Hellenic  Society  23 

a  people  that  liad  no  gods  but  merely  that  it  was  done  with- 
out  reference  to  gods,  we  should  liave  to  explain  it  by  refe- 
rence  to  ideas  tbat  belong  to  the  domain  of  magic  or  to  that 
special  department  of  magic  known  as  tabu.  It  does  not  seem 
natural  to  explain  the  act  as  a  method  for  magically  increasing 
the  drink,  similar  to  Australian  totemistic  rites  for  the  magi- 
cal  increase  of  the  totem -plant  or  animal;  for  this  would 
not  explain  why  the  act  must  be  performed  before  the  drinking 
began.  The  more  natural  explanation  would  be  the  desire  to 
remove  a  tabu;  the  liquor  is  dangerous  and  therefore  tabooed; 
one  way  of  breaking  a  tabu  safely  is  to  walk  boldly  up  to  it 
and  break  it  ceremoniously  before  breaking  it  casually.  When 
divine  machinery  can  be  called  in,  food  or  drink  that  is  under 
a  temporary  tabu  can  be  safely  dealt  with  by  consecrating  the 
first-  fruits  of  it  to  the  divinity  and  thus  securing  his  permission  or 
his  blessing  on  the  use  of  it. 

Now  it  is  a  difficult  question  whether  among  the  Hellenic 
people  —  we  need  not  immediately  consider  their  aboriginal 
ancestors  —  this'  tabu  on  wine  and  this  pouring  out  of 
the  preliminary  libation  was  ever  godless.  The  evidence 
relative  to  the  first  of  the  three  theses  posited  above,  namely 
the  universality  or  wide  prevalence  of  such  a  rite,  is  not,  I  think, 
conclusive  enough  to  allow  us  to  decide  the  Hellenic 
question  a  priori^  and  at  least  the  second  of  Miss  Harrison's 
theses,  that  the  Hellenic  record  which  she  presents  allows 
US  to  see  the  transition  from  the  godless  to  the  theistic 
use  of  the  libation,  cannot  be  admitted;  for  in  the  passage 
from  Plutarch  (p.  655  E)  which  she  quotes,  the  libation  at 
the  Pithoigia  is  said  to  have  been  accompanied  by  prayer 
at  Athens;  and  in  Boeotia  a  sacrifice  to  the  Agathos  Daimon 
preceded  the  drinkiüg;  while  in  755  E,  which  she  does  not 
quote,  he  states  that  the  vintager  were  afraid  to  taste  the  must, 
until  it  had  been  consecrated.  Here  we  have  a  fear  mentioned 
which  might  cause  a  tabu,  and  a  God  or  spirit  that  relieves  the 


24  Lewis  R.  Farnell 

fear.  Plutarch's  account  is  wholly  theistic  or  animistic  and 
does  not  show  us  the  transition  which  she  speaks  of.  It  does 
not  help  US,  for  tlie  question  whether  the  libation  was  ever 
godless  in  Greece,  to  say  that  lood  and  drink  are  primeval 
and  earlier  than  the  emergence  of  Gods.  Certainly  wine  was  not 
primeval  in  Greece,  and  though  it  was  there  before  the  Coming 
of  Dionysos  we  have  no  reason  for  believing  that  it  was  there 
in  the  pre- theistic  period;  on  the  contrary,  the  wineless  ri- 
tual  of  some  of  the  deities  has  been  taken  as  a  proof  that  they 
established  before  the  introduction  of  wine.  Yet  as  we  all 
admit,  certain  parts  of  Greek  as  of  other  ritual  dispensed  with 
Gods.  Was  the  Hellenic  libation  ever  godless  in  this  narrower 
sense?  The  fuller  discussion  would  demand  the  consideration 
of  the  Homeric  formula  iTcagld^svoi  dsjcccsööi}  Homer's  people 
certainly  make  direct  libations  of  wine  to  definite  Gods  as  an 
ordinary  form  of  sacrifice;  it  is  even  a  daily  Service:  the  Phae- 
acians  pour  out  a  libation  to  Hermes  before  going  to  bed^;  and 
later  authorities  mention  various  deities  to  whom  the  three  cups 
that  formed  the  usual  allowance  of  the  moderate  drinker  after 
the  banquet  were  respectively  dedicated.^  But  the  phrase  above 
mentioned  and  the  act  denoted  by  it  seem  to  stand  apart  from 
these  facts;  it  is  a  stereotyped  recurring  phrase  forming  a 
prelude  to  the  conventional  description  of  every  drinking-bout: 
and  it  never  occurs  in  immediate  conjunction  with  the  name  of 
any  God  or  spirit.  If  then  we  could  suppose  that  i:tdQXB6&ai 
dsjcdsööL  could  mean  the  pouring  out  of  a  little  wine  from  the 
cups  by  way  of  a  ceremonious  preliminary  to  actual  drinking,  we 
might  Interpret  the  act  as  non-religious,  as  performed  merely  for 
luck,  just  as  primitives  generally  will  throw  away  portions  of 
food  before  eating. 


»  for  ex.  IL  1,  471. 

'  Od.  7,  136;  K.  Kircher  Die  sakrale  Bedeutung  des  Weins  im  Alter- 
tum, ReL-gesch.  Vers.  Vorarb.  IX  2,  19  ff. 
'  Kircher  ib.  34  ff. 


Magic  and  Religion  in  Early  Hellenic  Society  25 

But  a  more  careful  examination  of  the  passages  rules  out 
this  explanation  of  the  act  and  of  its  significance.  The  phrase 
lias  been  convincingly  interpreted  by  Stengel^  as  refering  not 
to  any  pouring  out  or  spilling  of  wine  on  the  ground,  but  to 
the  filling  up  the  cups  by  the  servants  with  a  small  prelimin- 
ary  portion  of  the  wine  out  of  the  'crater',  so  that  the  guest 
who  receives  the  cup  may  pour  forth  that  portion  as  a  libation. 
This  is  made  clear  by  11.  9,  176 — 177  va^irjöccv  d'  ocqu  Ttäöiv 
STtaQ^d^svoi  dsTtdsööiy  avtaQ  kjtel  öjcslödv  xs  %Cov  -O*'  o6ov 
i]d-sXs  d-v^iög,  and  again  by  Od.  3,  340  ijtaQ^cc^svoi  daitasööi^ 
ylG)66ag  d'  hv  tcvqI  ßdkkov,  dvLötdjxsvoL  d'  ineXsißov.  And  the 
libation  in  Homer  is  always  made  to  a  definite  divinity  ex- 
pressed or  implied.  We  may  say  then  that  §7taQ^d^£voL  deTtdsööt, 
like  aQy^ata  (Od.  14,  447)  and  iTtuQx^  i^i  later  Greek  inscriptions 
belong  to  the  phraseology  of  theistic  rather  than  of  magical  or 
preanimistic  ritual,  and  that,  whatever  may  have  been  the  aboriginal 
significance  of  throwing  a  little  food  or  drink  away  before  eating 
and  drinking,  there  is  no  indication  of  a  godless  libation  of 
wine  in  the  Hellenic  period.  It  is  likely  that  Gods  were 
powerful  over  the  Hellenic  imagination  when  first  wine  was 
discovered,  and  that  this  weird  and  dangerous  drink  and  the 
taboos  connected  with  it  were  immediately  put  under  the  charge 
of  theEarth-deity  orEarth-spirit:  and  tlmt  finally  the  Institution 
and  Intention  of  the  Pithoigia  was  theistic  from  the  beginning. 

Another  example  in  'Themis',  the  exposition  of  the  rite  of  the 
^panspermia',  that  was  associated  with  the  tendance  of  the  depart- 
ed  spirits  at  the  Anthesteria,  illustrates  the  danger  of  theorising 
too  easily  concerning  the  evolution  of^^gic~ffonv^ltfeligionJ 
On  p.  292,  the  writer  interprets  the  originaTmtömion  of  the 
panspermia  as  magical,  not  as  sacrificial  at  all:  the  ^seeds' 
in  the  pot  (%vtQa)  were  not  intended  at  first  as  a  gift  to  the 
dead,  but  were  to  be  taken  down  to  the  lower  world  by  the 
spirits,  so  as  to  be  given  a  body  there  and  sent  up  again 
^  Hermes  1899  S.  478  {Opferbräuche  der  Griechen  S.  55 ff.). 


o 


26  Lewis  R.  Farneil 

in  tlie  form  of  fruit.  This  is  then  a  kind  of  animistic  magic. 
Now  we  have  other  evidence  that  the  departed  spirits  were 
regarded  as  operative  in  the  processes  of  Vegetation.^ 
But  our  records  taken  as  they  stand  seem  to  rule  out  the 
magical  interpretation:  for  they  give  us  direct  as  vrell  as  indirect 
evidence  that  the  cereals  or  cereal  seeds  inside  the  pots  were 
cooked  and  were  suitable  for  human  food.  But  no  one  ever 
cooked  or  boiled  seeds  before  sowing  them  even  in  a  magical 
mimetic  ceremony,  for  magic  at  least  mimics  reality;  and  an- 
other  Greek  legend  speaks  of  a  dearth  falling  on  a  country 
because  the  women  maliciously  cooked  the  seeds  of  corn  be- 
fore sowing  them.^  If  we  try  to  evade  the  evidence  by  saying 
that  probably  in  the  earliest  Attic  ceremony  the  seeds  were 
not  cooked,  we  are  not  explaining  the  facts  but  inventing  new 
facts  to  provide  the  amusement  of  a  new  explanation;  it  is 
better  that  our  starting-point  here  should  be  cooked  seeds  than 
cooked  facts;  an  ojffering  to  the  dead  is  quite  primitive  enough 
to  be  accepted  as  the  aboriginal  meaning  of  the  Xvtqol]  we 
may  discern  in  the  rite  a  transition  from  an  animistic  to  a 
theistic  service,  but  not  from  magic  to  religion. 

No  doubt  a  great  part  of  theistic  ritual  admits  of  a  magi- 
cal interpretation,  but  a  strong  bias  in  favour  of  the  latter  may 
lead  US  astray  in  particular  cases.  For  instance,  we  may  be 
aware  that  savage  music  is  often  employed  to  drive  away  evil 
spirits,  and  thus  it  has  been  suggested^  that  the  use  of  music 
in  the  Service  of  the  Hellenic  Gods  was  not  originally  dictated 
by  a  desire  to  please  and  placate  them,  but  was  intended  as 
a  daimonistic  magic,  subsidiary  to  the  main  Service,  and  em- 
ployed to  scare  away  the  demons.    1  cannot  feel  that  this  is  a 

quickening  theory.    Wild  and  discordant  noise  in  the  Corybantic 

\, 

^  Vide  Hippokr.  tcsqI  ivvnvicüv  (Littre  VI  p.  658). 
2  Apollod.  Bihl.  1,  9,  1. 

2  E.  g.  Th.  Wächter  Beinheiisvorschrifien  im  griechischen  Kult,  Rel- 
gesch.  Vers.  Vorarb.  IX  1  S.  12. 


Magic  and  Religion  in  Early  Hellenic  Society  27 

rites  or  those  of  the  Kouretes  might  at  oue  time  have  had 
this  intention;  but  neither  in  the  usual  apotropaic  rites  nor 
iü  tlie  other  ritual-ceremonies  of  Greece  can  we  recognise  that 
music  played  this  part;  on  the  other  hand  we  know  that  it 
was  iised  to  evoke  or  awaken  the  God,  as  Dionysos  was  sum- 
moned  out  of  his  winter-sleep  by  a  trumpet  or  a  water-organ.^ 
We  may  call  this  religious  mesmerism.  A  piece  of  evidence 
against  the  daimonistic  interpretation  is  the  law  in  the  ritual 
of  the  Graces  at  Faros  ^,  which  seems  to  be  of  great  antiquity, 
forbidding  all  music  at  one  of  their  festival;  and  we  may  find 
other  cases  of  Greek  sacrifices  where  music  was  tabooed.  The 
most  probable  explanation  is  that  these  were  Services  of  sorrow 
and  gloom;  and  yet  these  are  just  the  time  when  evil  spirits 
might  be  supposed  to  be  haunting  around  and  when  music 
would  be  useful  for  averting  them.  We  may  conclude  then 
that  in  the  early  Greek  view  the  music  was  brought  into  the 
Service  as  something  pleasing  or  placating  to  the  deity,  but 
that  it  might  be  omitted  at  a  sorrowful  or  gloomy  rite,  just 
as  it  is  sometimes  omitted  in  our  Service  on  Good  Friday.  Yet 
the  Greek  was  also  aware  that  music  could  mesmerise,  and  in 
singing  his  Paean  and  playing  his  lyre  to  his  deity  he  may 
have  believed  that  he  was  exercising  something  of  a  gentle  spell. 
There  are  a  number  of  ritual  phenomena  presented  by  the 
records  of  Greece  and  of  other  polytheistic  or  monotheistic 
countries  that  seem  to  hover  on  the  border -land  between 
magic  and  religion.  For  instance  in  the  complex  act  of  sacrifice 
at  the  altar,  the  whole  process  and  the  whole  atmosphere 
seem  to  be  charged  with  a  perilous  sanctity  which  attached  to 
the  sacrificer,  the  victim,  special  parts  of  the  victim  and 
especially  his  blood  and  his  skin,  and  above  all  to  the  altar 
itself,  the  chief  focus  whence  this  ^mana'  radiates  upon  every 
person   and   every   thing  that   comes  in  contact  with  it.     Not 

1  Farneil  The  Cidts  of  the  OreeJc  States  V  185  ff. 
*  Ib.  V428f. 


28  Lewis  R.  Farneil 

only  those  who  toucii  the  altar,  but  tliose  who  connect  tliem- 
selves  witli  it  by  a  cord,  are  consecrate,  for  the  supernatural 
force  can  travel  down  a  cord:  the  ox,  previously  it  may  be 
purely  secular,  becomes  infused  witb  tbis  spiritual  quality  if 
it  voluntarily  approacbes  and  toucbes  tbe  altar,  or  if  its  fore- 
head  is  toucbed  witb  barley-stalks  taken  from  tbe  altar;  even 
after  its  sacrificial  deatb,  its  skin  could  preserve  tbis  potency 
and  could  produce  supernatural  effects.  A  similar  focus  of 
sanctity  migbt  be  a  sacred  tree,  and  I  sbould  be  inclined  to 
explain,  tbe  sacrificial  scene  on  tbe  late  coins  of  Ilium  dis- 
cussed  in  'Tbemis'  p.  165,  not  as  if  tbe  ox  were  imparting  its 
^mana'  to  tbe  tree  to  wbicb  it  is  being  lifted  up  and  attacbed, 
but  as  if  tbe  tree  were  imparting  its  sacred  potency  to  tbe 
ox;  similar ly  tbe  sacrificial  post  in  Vedic  ritual  is  a  most 
powerful  storebouse  of  religious  energy.^  Now  in  tbis  category 
of  pbenomena  we  must  recognise  some  non-tbeistic  facts:  a 
tbunderstone  migbt  bave  a  *mana'  of  its  own,  not  be  explained 
on  tbe  lines  of  tbeism  or  animism.  But  our  centre  of  interest 
in  tbe  Greek  sacrifice  is  tbe  altar.  And  in  tbe  Mediterranean 
at  least  we  must  call  tbis  an  adjunct  of  tbeistic  or  animistic 
religion,  and  must  believe  tbat  in  tbe  Mediterranean  area,  in  tbe 
culture  of  tbe  Mediterranean  ancestors  of  tbe  Hellene,  tbe 
altar  was  invented  for  tbe  Service  of  ©eoC.  If  we  accept 
Artbur  Evans'  bypotbesis  tbat  it  was  evolved  from  tbe 
sacred  pillar^,  yet  we  discern  by  tbe  irrefragable  proof  of  one 
great  Minoan  monument  tbat  by  tbe  middle  of  tbe  Minoan 
period  tbe  sacred  pillar  was  no  longer  merely  divine  in  its 
own  rigbt  but  was  used  as  a  conductor  for  attracting  down 
tbe  god  or  goddess  of  tbe  sky.^  As  tben  tbe  sacred  pillar  became 
cbarged   witb   tbe   personality    of  tbe    deity,   so  was  tbe  altar 


^  Hillebrandt  Vedische  Opfer  und  Zauber  S.  121. 
2  Hell  Journ.  1901  p.  114. 

^  Gold   signet-ring  from  Knossos   published    by  Evans   ib.  1901    p. 
170  Fior.  48. 


Magic  and  Religion  in  Early  Hellenic  Society  29 

charged  from  the  beginning,   and  its  supernatural  force  must 
be  interpreted  tbeistically. 

But  are  we  to  call  the  exercise  of  tbis  force  eitber  magical 
or  a  spontaneous  act  of  tbe  will  of  tbe  deity?  Eitber  account 
is  open  to  objection:  one  dement  in  a  magic  act  is  tbe  ebull- 
ition  or  projection  of  will;  so,  if  one  accidentally  walks  up 
against  an  altar  or  an  ark  or  into  a  sacred  precinct  and  is 
blinded  or  blasted,  it  is  wrong  to  call  tbis  discbarge  of  force 
magical,  so  far  as  tbe  victim  is  concemed.  On  tbe  otber 
band,  it  is  not  certain  tbat  tbe  believer  would  be  bound  to 
interpret  it  as  due  to  tbe  volitional  agency  of  tbe  deity. 
Great  personages,  Gods  bigb  priests  and  cbiefs,  spread  a  Spiri- 
tual contagion  around,  wbetber  tbey  will  or  no.  It  is  not 
necessarily  tbe  will  of  tbe  cbief  tbat  tbe  common  folk  wbo 
dare  to  partake  of  any  part  of  tbe  food  be  bas  touched  sbould 
witber  up  and  die;  be  cannot  belp  it:  be  exbales  tbis  force 
tbrougb  tbe  nature  of  bis  tremendous  personality.  If  Uzzab 
died  because  be  toucbed  tbe  ark,  if  Aaron  would  die  if  be 
entered  tbe  boly  ^of  bolies  at  a  wrong  time^,  tbis  is  not  necess- 
arily because  Jabwe  was  a  cruel  and  vindictive  God,  reveng- 
ing  bimself  mercilessly  for  sligbt  breacbes  of  religious  eti- 
quette,  tbougb  it  was  so  represented^;  Jabwe  could  not  belp 
bimself;  bis  tremendous  personality  sprear  tbis  dangerous  con- 
tagion around,  just  as  a  corpse  involuntarily  spreads  poUution 
to  tbe  mourners.  Tbis  discbarge  of  tbeistic  force  is  tben  neitber 
magical  nor  a  spontaneous  exercise  of  will;  it  may  ratber  be 
called  religious  contagion.  It  explains  mucb  of  Greek  ritual; 
it  explains- tbe   sanctity   of  tbe  ox  in  tbe  Boupbonia^,  wbo  is 

^  Levit.  16,  2. 

^  2  Samuel  6,  6:  an  interesting  parallel,  but  a  more  moral  myth, 
in  Greek  legend  is  that  recorded  in  Plutarch  Parallela  17  (p.  309  F)  — 
quoting  Derkyllos  iv  Ttgoatm  ■ktlöecov  :  lies  saves  the  Palladion  in  a  temple- 
fire  but  is  blinded  by  its  inevitable  discbarge  of  'rnana' :  but  the  Goddess 
mercifuUy  heals  him.  Here  the  personal  deity  argends  the  brüte  effect 
of  a  Spiritual  force.  ^  Paus.  1,  24,  4;  Porph.  de  dbstin.  2,  29.  30. 


30  Lewis  R.  Farnell 

not  clearly  recognlsed  as  sacred  until  he  lias  approached  and 
eaten  from  the  altar;  it  explains  the  purificatory  use  of  the 
skin  of  the  Vam  of  God'  in  the  Skirophoria^j  it  explains  why 
the  decaying  remnants  of  the  half- eaten  pigs  that  were  thrown 
down  into  the  megara  of  the  earth  Goddess  or  earth-spirit  at 
the  attic  Thesmophoria^  made  such  excellent  mystic  manure 
for  the  fields;  for  heing  charged  with  peculiar  virtne  through 
their  long  contact  with  the  sacred  serpents  that  were  in  the 
hole  they  would  work  powerfully  on  Vegetation  when  strewn 
over  the  land. 

We  niay  discern  unadulterate  magic  in  Greek  ritual,  as 
when  the  priests  of  Zeus  Lykaios  make  rain  hy  stirring  water 
with  a  stick  ^5  we  discern  also  much  high  religion  of  a  pure 
type;  and  we  may  discover  something  that  I  have  tried  here 
to  indicate  as  a  tertium  quid.  Elsewhere  I  have  tried  to  esti- 
mate  the  relative  importance  and  the  true  relation  of  the  two 
spheres  in  the  history  of  Greek  religion.^  I  believe  that  there 
was  no  feit  antagonism  between  them;  and  that  Greek  religion 
concerns  civilisation  because  its  magical  Clements  were  transfused 
and  interpenetrated  by  theism,  which  at  a  very  early  time 
became  the  dominant  force  and  evolved  a  high  conception  of 
deities  as  agents  of  independent  will,  who  had  no  need  to 
work  magic  and  to  whom  the  Community  prayed  but  did  not 
attempt  to  dictate.  In  this  respect  the  Hellenic  is  superior  to 
the  ßabylonian  God;  nor  was  the  spell  of  the  divine  name  of 
such  magic  force  in  Hellas  as  in  Israel  and  Babylon;  though 
a  trace  of  the  old  magic  of  holy  words  survives  in  the  import- 
ance attaching  to  the  special  names  and  titles  by  which  the 
deity  is  invoked. 

A  theme  that  has  been  forced  into  prominence  within  the 
ränge  of  the  present  discussion  are  the  puberty-initiation  cere- 

'  Cults  of  the  Gr.  St.  III 41.  «  Ib.  III  327. 

^  Martin  P.  Nilsson  Griech.  Feste  S.  9. 

^  Greece  and  Babylon  p.  177  —  179,  p.  297  —  300. 


Magic  and  Religion  in  Early  Hellenic  Society  31 

monies  of  tlie  early  Hellene.  These  have  been  interpreted  by 
Miss  Harrison  and  by  Mr.  Cornford,  following  her  with  docility 
in  his  treatise  Trom  Religion  to  Philosophy',  on  the  analogy  of 
modern  Australian  and  other  primitive  rites  which  are  performed 
upon  the  youth  of  the  tribe  at  puberty.  Every  cautious  and 
trained  anthropologist  is  aware  of  the  precariousness  of  this 
method  of  rapid  induction  from  communities  on  unlike  planes 
of  culture.  But  sometimes  it  may  hit  the  mark.  These  writers 
then  on  the  strength  of  certain  savage  analogies  believe  that 
the  early  Hellenes  were  in  the  totemistic  stage;  or  at  least, 
as  Miss  Harrison  maintains,  if  their  totemism  cannot  be 
proved,  they  were  at  least  in  the  totemistic  stage  of  thought.^ 
Let  this  pass:  our  clan  may  not  worship  the  ox  or  call  our- 
selves  oxen,  but  we  may  be  in  a  bovine  stage  of  thought.  The 
question  of  Greek  totemism  has  been  thrashed  out  by  more 
critical  scholars  and  anthropologists  who  have  come  to  regard 
the  evidence,  in  spite  of  the  Ophiogeneis  of  Parion^  as  entirely 
insufficient  to  establish  the  thesis,  and  have  not  been  able  to 
detect  even  any  evidence  of  an  exogamous  classificatory  System 
in  any  Greek  Community.  But  whether  the  Greek  tribe  was  ever 
totemistic  or  not,  it  doubtless  had  its  puberty -Initiation  rites; 
and  Miss  Harrison's  Imagination  conceives  of  these,  on  the  lines  of 
the  Australian,  as  magically  enacting  the  death  and  rebirth  of  the 
initiate,  whereby  the  continuous  life  of  the  communal  seif  of 
the  tribe  was  recruited  and  maintained.  But  the  only  evidence 
oflfered  is  drawn  from  the  Bacchic  mysteries  or  the  rites  of 
the  Kouretes  which  are  akin  to  these.  Now  the  writer  her- 
seif is  aware  that  these  mysteries  are  obviously  not  tribal 
puberty -intiations  when  we  come  to  know  them,  bnt  are 
entirely  of  the  type  of  secret  free  societies.  But  she  is  con- 
vinced  that  they  were  once  tribal,  apparently  by  the  force  of  the 
theory  maintained  by  Webster  in  his  treatise  on  ^Primitive  Secret 


t 


^  Themis  S.  128. 

^  Krates  in  Plin.  nat.  hist.  II  13. 


32  Lewis  R.  Farnell 

Societies''  that  all  secret  magic-confraternities  were  once  tribal. 
If  this  is  universally  true,  it  is  still  a  large  assumption  that 
every  rite  and  every  detail  of  it  performed  by  a  secret  society 
was  once  the  communal  rite  of  a  totemistic  tribe  and  that  what 
is  done  to  the  initiate  of  the  free  society  was  once  done  to 
the  tribal  boy  at  puberty.  I  would  remark  in  passing  that 
the  Cretan  and  the  Bacchic  rites  do  not  show  us  the  feigned 
death,  by  swallowing  or  rending,  of  the  adult  boy,  but  generally 
of  the  habe,  the  habe  Zeus  or  the  habe  Dionysos;  and  babies 
are  not  generally  initiated  into  tribal  ceremonies. 

But  if  we  grant  all  these  assumptions,  the  Hellenic  evi- 
dence  is  still  lacking;  for  neither  the  Rhea-Kybele  mysteries  of 
Crete  and  Phrygia  nor  the  Thracian  Bacchic  tsXstaC  that  spread 
over  Greece  were  Hellenic  in  origin.  Looking  carefuUy  at  the 
Hellenic  mysteries  proper,  in  the  first  place  we  shall  find  nothing 
of  that  mystic  magic  that  Miss  Harrison  and  Mr.  Cornford  regard 
as  characteristic  of  all  of  them;  and,  secondly,  none  of  them 
reveal  any  clear  trace  of  a  period  when  they  were  merely  the 
tribal  initiation-ceremonies  of  adults.  The  Eleusinian  were  no 
doubt  limited  in  old  times  to  the  Community  of  Eleusis;  that 
is  all  we  know.  We  have  also  the  right  to  conjecture  that 
the  mysteries  of  Dryops,  the  eponymous  ancestor  of  the  Dryop- 
ians  at  Asine^,  were  tribal  and  served  as  the  initiation-rite  of 
the  young  tribesmen  who  were  thus  made  one  with  the  tribal 
ancestor,  but  whether  by  any  kind  of  magic  we  have  no  right 
to  hazard  a  guess.  It  is  more  to  the  purpose  to  collect  the 
scattered  evidence  that  remains  to  us  of  the  actual  ceremonies 
in  the  Greek  States,  practised  when  the  boys  were  admitted 
into  the  phratries  and  took  their  place  among  the  ephebi. 
What  is  revealed  to  us  of  the  Apatouria  at  Athens''^  and  the 
oath   taken  by  the  Epheboi*,  what  we  read  in  the  inscription 

'  New  York  1908.  ^  p^^g   jy  34^  q 

^  Toepffer  Äpaturia  (Pauly-Wissowa  I  2675  ff.). 
'  Pollux  8,  105,  Plutarcb.  Alk.  15. 


Magic  and  Religion  in  Early  Hellenic  Society  33 

of  the  Labyadai-phratry  at  Delphi^,  reflect  nothing  of  magic 
or  mystery,  no  magic  death  or  rebirth.  There  is  evidence 
also  from  Crete,  overlooked  by  Miss  Harrison,  of  more  value 
for  the  real  puberty-ceremonies  of  the  people  there  tban  all 
the  hymn  of  the  Kouretes.  In  this  Island  the  young  of  both 
sexes  before  puberty  were  called  öxötiOL^,  Hhose  who  lived  in 
the  darkness  of  the  house',  and  at  Phaistos  Aphrodite  was  called 
ZTiorCuj  surely  by  sympathy  with  the  Uxöttoi  whom  she  pro- 
tected;  then,  when  they  came  out  into  the  light  of  day,  the 
boys  into  the  dyeXa  the  man -pack  of  adults,  a  festival  of 
ixdvöici  ^the  Coming  forth'  was  consecrated  to  Leto^,  and  Leto 
Phytia  or  (poixCa  was  the  patroness  of  the  %ovqoi^,  not  Zeus 
üovQog  or  the  ecstatic  Bakchos:  there  is  no  trace  of  magic  or 
mystery  either  in  these  records  or  in  the  general  cult  and 
mythos  of  Leto.  Nor  in  any  of  the  ritual  of  the  puberty- 
initiations  of  Hellas,  so  far  as  the  few  records  reveal  them, 
can  we  find  anything  but  theistic  religious- Service;  the  aQxtsCa 
of  the  Brauronian  bear-goddess^  was  a  theriomorphic  Service, 
but  not  necessarily  magical,  unless  all  dancing  is  magic.  We 
are  left  solely  with  the  quaint  legend  of  the  dragon  swallow- 
ing  Jason  ^,  if  he  did  swallow  him;  but  Jason  was  not  of 
the  dragon  s  tribe,  the  Spartoi,  and  the  dragon  was  taking  a 
liberty  unwarranted  by  the  logic  of  the  totemistic  tribal  Ini- 
tiation. 

1  am  not  yet  able  to  discern  that  the  study  of  Greek  magic 
and  the  magical  or  godless  elements  in  Greek  ritual  reveals  to 
US  the  evolution  of  Greek  religion.  I  do  not  believe  in  the 
universal  authority  of  the  axiom  upon  which  so  much  of 
'Themis'  and  of  works   on   the   same   lines   is   based    ^le  dieu 

^  F.  Solmsen  Inscriptiones  Graecae^  no.  39.  Collitz  Dialect-Inschr.  2561. 

2  Schol.  Eur.  Alk.  989;  Et.  Mag.b^S. 

^  Vide   the    excellent   article   by   Höfer   in   Roschers    Lexikon  s.  v. 

*  Anton.  Liber.  p.  93  Martini.         ^  CuUs  11  437. 
^  Höfer  Jason  in  Roschers  Myth.  Lex.  11  83  ff. 

Archiv  f.  Religionswigsenschaft  XVII  3 


34   Lewis  R.  Farneil     Magic  and  Religion  in  Early  Hellenic  Society 

est  la  personification  de  la  chose  sacree';  this  may  be  true  of 
Dharamoolan  and  the  bull-roarer,  it  may  explain  tlie  Vedic 
Agni  as  evolved  from  tlie  fire  of  sacrifice.  But  I  would  rather 
explain.  Jahwe  even  as  a  thunder  cloud  or  the  sun  than  as  a 
mere  projection  of  the  circumcision-knife.  I  can  discern  na 
glimmering  of  sense  in  the  paradox  that  Hippolytos  was  the 
projection  of  the  rite  of  the  dedication  of  maidens'  locks.^  In, 
the  ceremonies  of  Zeus  Polieus  I  do  not  discern  the  aboriginal 
divinity  of  the  ox;  on  the  contrary  I  find  that  the  earliest 
records  do  not  allow  of  the  displacement  of  Zeus  Polieus  and 
attest  that  the  ox  only  becomes  a  sanctity  after  touching  his 
altar.  Anthropomorphism  cannot  be  deduced  in  a  straight  line 
from  phytomorphism  and  theriomorphism.  Vague  theriomorphism 
can  coexist  with  a  vague  anthropomorphism,  and  there  was  probably 
never  a  period  of  pure  theriomorphism,  certainly  there  was  never 
such  a  period  in  the  history  of  the  Hellenic  people.  Nor  is  it 
safe  or  reasonable  to  assume  for  them  at  least  a  period  of 
pure  ^godless'  magic.  And  when  we  discover  by  analysis  the^ 
two  elements  of  magic  and  religion  in  the  same  complex 
ritual,  we  should  be  on  our  guard  against  assuming  too  easily 
that  the  former  is  the  prior  and  aboriginal  fact,  the  latter 
secondary  and  superimposed.  Both  elements,  each  in  its  turn,, 
may  be  prior  and  posterior;  for  theistic  religion,  in  respect 
of  such  products  as  the  altar  and  the  idol,  can  generate  a 
magic  of  its  own.  In  Hellenic  ritual,  as  in  the  Amphidromia^ 
and  the  rain-rites  of  Zeus  Avxaiog^  we  are  often  Struck  with 
the  peaceful  coexistence  of  harmless  magic  and  religion.  What 
is  characteristic  of  Hellenism  is  its  comparative  indifference  to 
magic,  and  its  bias  towards  the  Imagination  of  gods  and  spirits, 
which  often  so  transforms  old  deposits  of  magic,  that  the? 
magical  Interpretation  becomes  at  times  anachronistic. 

1  Themis  p.  337. 

'  L.  Deubner  Birth  in  Hastings  Enc  of  religion. 


Volksreligion  überhaupt 
und  speziell  bei  den  Hebräern 

Von  Eduard  König  in  Bonn 

Der  Ausdruck  ,,Volksreligion"  besitzt  in  der  neueren  Religions- 
wissenschaft mehr  als  einen  Sinn.  Denn  das  eine  Mal  bezeich- 
net er  den  Gegensatz  von  „Weltreligion"*,  meint  also  eine  re- 
ligiöse Anschauung,  deren  Anhängerschaft  auf  eine  einzelne  Nation 
eingeschränkt  ist.  Ein  anderes  Mal  wird  „Volksreligion"  in 
dem  Sinne  aufgefaßt,  daß  damit  die  vom  Volks  ganzen  gehegte 
Gottesanschauung  und  geübte  Gottesverehrung  bezeichnet  sein 
soll.  So  geschieht  es  einmal  bei  Wildeboer^,  indem  er  dem  natio- 
nalen Kultus  den  „Individualismus"  entgegensetzt  und  diesen 
dabei  übrigens  nach  einer  bisher  weithin  herrschenden  Meinung 
„am  Ende  des  siebenten  Jahrhunderts,  in  der  Zeit  des  Deutero- 
nomiums,  Jeremia  und  Hesekiel  aufkommen'^  läßt.^  Aber  diese 
beiden  Arten  der  Verwendung  des  Ausdrucks  „Volksreligion" 
und  hauptsächlich  die  zweite  sind  nicht  die,  welche  jetzt  am 
meisten  vorkommen.  Gewöhnlich  gebraucht  man  das  Wort 
„Volksreligion"  jetzt  in  dem  dritten  Sinne,  wonach  es  die 
religiösen  Vorstellungen    und    Übungen    bezeichnen    soll,    die 

^  So  z.B.  in  A.  Kuenens  Buch  Volksreligion  und  „Weltreligion"  (1883) 
und  so  auch  in  den  geistvollen  Ausführungen  über  „Mythologie"  von 
Herrn.  Usener  in  diesem  Archiv  VII  (1904)  S.  6  If.,  vgl.  S.  8:  „Die  BegriflFe 
von  Göttern  und  Heroen  haben  mit  nichten  schon  in  der  Zeit  der  Völker- 
einheit ihre  besondere  Prägung  empfangen,  sondern  pflegen  Sonderbesitz 
der  einzelnen  Volksstämme  und  Völker  zu  sein"  S.  22, 

^  G.  Wildeboer  Jahvedienst  und  Volksreligion  in  Israel  (1899)  S.  37. 

*  Aber  schon  z.  B.  in  dem  Satze  des  Dekalogs:  „Du  sollst  deinen 
Vater  und  deine  Mutter  ehren"  zeigt  sich  ein  Appell  an  jedes  einzelne  Glied 
der  Nation.  Vgl.  die  eingehende  Diskussion  jener  neueren  Meinung  in 
meiner  Geschichte  der  alUestamentlichen  Religion  kritisch  dargestellt  (1912) 
S.  383  f 

3* 


36  Eduard  König 

vom  Volksverständnis  und  Volksinstinkt  gebildet  und  von  der 
Volksseele  gehegt  werden.  Bei  der  darin  liegenden  synek- 
dochischen  Verwendung  des  Ausdruckes  „Volk^^  will  und  darf 
dieser  aber  nicht  die  unteren  Schichten  oder  Stände  einer  Nation 
meinen,  wie  neuerdings  öfter  gesagt  worden  ist  (meine  S.  35  Anm.  3 
zitierte  Geschichte,  S.  21  f.).  Vielmehr  soll  er  die  Nation  ohne  Rück- 
sicht auf  die  Tiefe  oder  Höhe  der  Stände  und  der  äußeren  Lebens- 
stellung von  Volksteilen  bedeuten.  „Volksreligion"  in  diesem 
dritten  und  wichtigsten  Sinne  will  den  Gegensatz  zur  religiösen 
Anschauung  einzelner  Geister  bilden,  die  in  religiöser  Hinsicht 
über  die  Hauptmasse  der  Nation  oder  das  Volk  im  allgemeinen 
emporragen. 

Über  „Volksreligion"  in  diesem  dritten  Sinne  des  Ausdrucks, 
und  zwar  hauptsächlich  mit  Bezug  auf  die  israelitische  Nation, 
zu  handeln,  dürfte  schon  aus  dem  Grunde  zeitgemäß  sein,  daß 
mit  den  kürzlich  herausgegebenen  Urkunden  von  Elephantine 
eine  sehr  interessante  Art  von  Volksreligion  in  das  Licht  der 
Geschichte  getreten  ist.^ 

L  Existenz  von  „Volksreligion"  in  der  Menschheit  überhaupt. 

].  Wann  der  Begriff  und  Ausdruck  „Volksreligion''  in  jenem 
seinem  dritten  und  wichtigsten  Sinn  innerhalb  der  religions- 
wissenschaftlichen Literatur  überhaupt  zuerst  aufgekommen  ist, 
wird  wohl  noch  nicht  festgestellt  sein.  Indem  ich  auch  selbst  früher 
nicht  auf  diesen  Punkt  bei  meinen  Sammlungen  achtete,  kann 
ich  nur  folgende  wenige  Angaben  darüber  vorlegen.  Max  Müller 
spricht  von  dem,  was  die  Menge  glaubt^,  aber  gebraucht  dafür  nicht 
das  Wort  „Volksreligion".    Sodann  hebt  Justi^  hervor,  daß  „mit 

^  Die  Texte  hat  man  bequem  und  gut  bei  A.  Ungnad  Aramäische 
Papyrus  aus  Elephantine  (Leipzig  bei  Hinrichs,  Dez.  1911).  Eine  kom- 
mentierte Übersetzung  aller  auf  jüdische  Dinge  bezüglichen  Papyri  von 
Elephantine  hat  W.  Staerk  (Jena)  in  Alte  und  neue  aramäische  Papyri  1912 
veröffentlicht. 

^  F.  Max  Müller  Ursprung  und  Entwicklung  der  Beligion  mit  beson- 
derer Rüchsicht  auf  die  Beligionen  des  alten  Indiens  (1880)  S.  8. 

'  Ferd.  Justi  Geschichte  des  alten  Persiens  {in  Onckens  Weltgescbichte 
in  Einzeldarstellungen)  1879S.69f 


Volksreligion  überhaupt  und  speziell  bei  den  Hebräern  37 

der  Einführung  der  zoroastrischenReligion  keineswegs  der  Glaube 
der  Perser  und  überhaupt  der  Bewohner  der  westlichen  Länder 
durchaus  zoroastrisch  geworden  war",  und  redet  mehrmals  von 
der  „iranischen  Naturreligion^^.  Er  hat  also  das  im  Auge,  was 
man  jetzt  als  „Yolksreligion"  zu  bezeichnen  pflegt,  gebraucht  aber 
nicht  dieses  Wort.  Auch  noch  in  der  so  lichtvollen  Darlegung 
von  Edv.  Lehmann  „Über  die  Anfänge  der  Religion"  usw.^  ist 
zwar  einmal  von  „Volksglaube"  doch  nicht  von  „Volksreligion" 
gesprochen,  wie  dieser  Ausdruck  auch  nicht  im  Sachregister  des 
zitierten  Bandes  begegnet.^  Indes  auf  dem  Gebiete  der  griechi- 
schen Religionsforschung  ist  der  Begriff  „die  Volksreligion"  min- 
destens so  lange  bekannt,  als  die  Schrift  von  Herm.  Gilow  „Über 
das  Verhältnis  der  griechischen  Philosophie  und  der  Vorsokra- 
tiker  zur  griechischen  Volksreligion"  erschienen  ist,  die  mir  lei- 
der auf  der  hiesigen  Universitätsbibliothek  nicht  zur  Verfügung 
stand.  Aber  in  dem  Buche,  wo  ich  jene  Schrift  zuerst  zitiert 
fand^,  ist  über  die  Existenz  und  Schicksale  der  griechischen  Volks- 
religion weitläufiger  gehandelt.  Von  größter  Bedeutung  jedoch 
sind  die  Darlegungen,  die  in  den  Bahnen  Herm.  Useners  weiter- 
schreitend Albrecht  Dieterich  in  diesem  Archiv  VIII  (1905), 
S.  Iff.  verööentlicht  hat.  Denn  seine  Abhandlung  über  „Mutter 
Erde"  war  als  Anfang  einer  Reihe  von  Untersuchungen 
gemeint,  „die  zusammen  den  Titel  führen  werden:  Volks- 
religion,  Versuche  über  die  Grundformen  religiösen  Denkens". 
Er  hatte  bei  dem  Worte  „Volksreligion"  auch  fast  ganz 
richtig  den  oben  festgestellten  dritten  Begriff  dieses  Wortes  im 
Auge,  wenn  er  sagte:  „Der,  welcher  die  Grundformen  religiösen 
Denkens  erkennen  will,  muß  mit  der  Untersuchung  des  Brauches 
des  *  Volkes'  beginnen,  d.  h.  um  es  so  kurz  als  möglich  zu 
bezeichnen,  der  ^Unterschicht'   der  Nationen,   die   nicht  durch 


^  In  Die  Kultur  der  Gegemvart  I,  III,  1  (1906)  S.  21. 
^  Ebensowenig  in  dem  von  Chantepie  de  la  Saussaye  Lehrbuch  der 
Beligionsgeschichte  3.  Aufl.,  Bd.  II  (1905). 

'  Job.  Fritz  Aus  antiker  Weltanschauung  (1886)  S.  196. 


38  Eduard  König 

eine  bestimmte  Kultur  geistig  umgestaltet  und  bis  zu  einem  stär- 
keren oder  geringeren  Grade  religiös  umgeformt  und  durcb  die 
Einwirkung  gescbicbtlicber  Persönlichkeiten  über  den  alten  Glau- 
ben hinausgeführt  ist."  Nur  die  Betonung  der  ,, Unterschicht"  der 
Nationen  war  dabei  nicht  richtig,  wie  oben  nachgewiesen  ist.  Aber 
völlig  wahr  ist  es,  wenn  Dieterich  dann  dieYolksreligion  den  „all- 
gemein ethnischen  Untergrund"  des  Religiösen  nennt. 

2.  Von  der  ,,yolksreligion"  ist  überall  zu  sprechen,  wo,  wie  ge- 
sagt, eine  vom  gewöhnlichen  Weltverständnis  geborene  Religions- 
anschauung einer  solchen  gegenübersteht,  die  von  einem  einzel- 
•nen  Geiste  oder  einer  Reihe  solcher  ausgegangen  ist. 

Diesen  Gegensatz  haben  wir  in  Indien  nicht  gegenüber  dem 
Brahmanismus.  Denn  auch  die  Brahmanen,  jene  „Kreise  von 
Opferern,  Poeten,Wundermännern",  denen  „das  Brahma^  als  inne- 
wohnend galt,  die  mystische  Kraft,  durch  die  man  fähig  war,  die 
Gefahren  des  Verkehrs  mit  Göttern  und  Geistern  zu  bestehen  und 
wirksamen  Zauber  aller  Art  auszuüben"^  —  auch  sie  vertraten 
die  Vedareligion.  Wenn  innerhalb  dieser  Gesamtgröße  einerseits 
jene  ,^den  Stempel  der  Unkultur  tragenden  Vorstellungen  und 
Gebräuche,  wie  Seelenglaube  usw."  und  anderseits  „Schichten  von 
Vorstellungen,  die  aus  der  indoeuropäischen  Vorzeit  stammen" 
unterschieden  werden  können,  so  haben  wir  doch  nicht  den  Gegen- 
satz zwischen  „Volksreligion"  gegenüber  einer  höheren,  philo- 
sophisch oder  prophetisch  vermittelten  Religion. 

Anders  ist  es  schon  bei  den  Iraniern.  Denn  da  beherrschte 
die  alte  Naturreligion  der  medischen  Magier  noch  weithin  die 
Volksschichten^  als  schon  die  Lehre  Zarathushtras  von  den  bei- 
den großen  Prinzipien  des  Lichts  und  der  Finsternis  sowie  ihrem 
Kampfe  begründet  war  und  siegreich  vom  östlichen  Iran  nach 
dem  Westen,  nach  Persien  zog.    Das  Avesta  „wendet  sich  häu- 

^  Im  Sanskrit  ist  h  kein  Dehnungsbuchstabe  (Stenzler  Sanshn'f 
Grammatik  §  51). 

*  Herrn.  Oldenberg  Die  indische  Beligion  (in  „Die  Kultur  der  Gegen- 
wart'' I,  III,  1  S.  52). 


Volksreligion  überhaupt  und  speziell  bei  den  Hebräern  39 

fig  mit  großem  Nachdruck  gegen  die  Zauberei  als  ein  ahrima- 
nisches  Übel".^  Zur  Volksreligion  gehörte  auch  „Mithra,  der 
uralte  Sonnengott"  (Oldenberg,  S.  83).  Er  wurde  ja  schon  in 
der  Periode  angerufen,  als  die  Vorfahren  der  Perser  noch  mit 
denen  der  Hindus  vereint  waren.  Die  Hymnen  der  Veden  feiern 
seinen  Namen,  wie  die  des  Avesta.  In  beiden  „heiligen  Büchern 
des  Ostens"  erblickt  man  in  ihm  eine  Lichtgottheit,  die  zugleich 
mit  dem  Himmel  angerufen  wird :  „der  ursprüngliche  Genius  des 
himmlischen  Lichtes,  der  vor  Sonnenaufgang  auf  den  felsigen 
Gipfeln  der  Berge  erscheint".^  Ja,  nach  den  zu  Boghaz-köi  in 
Kappadozien  neuerdings  gefundenen  Keilschrifttexten  der  Hethi- 
ter haben  auch  diese  den  Mithra,  wie  den  Varüna  (Himmel) 
und  den  Indra  verehrt^,  so  daß  die  in  neuerer  Zeit  mehrfach* 
vertretene  Meinung,  daß  Mithra,  Varuna  und  die  fünf  Aditjas 
die  von  den  Babyloniern  entlehnten  sieben  Gestirn  gottheiten  Sonne, 
Mond  und  die  fünf  Planeten  seien,  hinfällig  geworden  ist.  —  Als 
Element  der  alten  Volksreligion  trat  neben  Mithra  ferner  die 
Anahita,  „nach  dem  Avesta  die  Gottheit  der  Wasser",  dann  die 
Personifikation  des  empfangenden  Naturlebens  (Justi,  S.94),  und 
diese  Göttergestalten  traten  in  der  weiteren  Entwicklung  des 
Mazdaismus  immer  stärker  neben  Ahuramazda,  wie  im  Mazdais- 
mus auch  der  Bilderdienst  zunahm  (nachgewiesen  in  meiner  Ge- 
schichte, S.  455). 

Noch  klarer  tritt  die  Macht  der  Volksreligion  in  der  Geistes- 
entwicklung der  Hellenen  zutage.  Denn  diese  Macht  war  so 
sieghaft,  daß  sie  auch  große  literarische  Fähigkeiten  in  ihren 
Dienst  zu  nehmen  und  die  Kunst  als  die  liebenswürdige  Herol- 
din ihrer  Schönheit  vor  ihrem  Siegeswagen  herzusenden  wußte. 
Ja,  die  Volksreligion  gewann  bei  den  Griechen  solche  poetische 
Darsteller,  wie  Homer  und  Hesiod,  als  ihre  Bildner,  so  daß  Hero- 
dot  (II,  53)  mit  Recht  sagte,  diese  beiden  hätten  den  Griechen 

^  Justi  Gesch.  des  alten  Persiens  S.  70;  meine  Geschichte  S.  439—455. 

*  Cumont  Die  Mysterien  des  Mithra,  2.  Aufl.  (1911)  S.  3. 

'  Nach  H.  Winckler  bei  F.  Bohl  Kanaanäer  und  Hebräer  (1911)  S.16. 

*  z.  B.  von  Ed.  Meyer  Geschichte  des  Altertums  P,  §  581. 


40  Eduard  König 

die  Theogonie  gemacht,  den  Gottheiten  die  Benennungen  gegeben 
und  denselben  ihre  Ehren  und  Künste  oder  Fertigkeiten  zuerteilt 
sowie  ihre  Gestalten  gedeutet.  Groß  war  aber  auch  der  Tribut 
der  Dankbarkeit,  den  die  von  der  Volksreligion  begeisterte  Kunst 
der  Plastik  und  Malerei  zur  Quelle  ihrer  Begeisterung  zurück- 
brachte. Charakterisiert  doch  0.  Gruppe  die  zweite  große  Periode 
der  griechischen  Religionsgeschichte  mit  den  Worten:  In  ihr 
„wird  unter  dem  Einfluß  der  Kunst  die  Religion  mit  Idealgestalten 
erfüllt".^  Trotzdem  ging  dieser  Volksreligion  doch  auch  bald  ein 
Teil  ihrer  Herrschaft  über  die  Geister  verloren.  Denn  schon  früh- 
zeitig zeigt  sich  vielfach  eine  Abwendung  von  der  „Sagenreichen, 
das  Herz  wenig  befriedigenden  Volksreligion"  hin  zu  den  My- 
sterien (Fritz  a.  a.  0.,  S.  242  ff.).  Später  aber  setzte  die  geistes- 
mächtige Bewegung  ein,  durch  welche  die  Philosophie  in  ihren 
hervorragendsten  Vertretern  sich  über  den  Polytheismus  der 
Volksreligion  erhob.  „Xenophanes  war,  soviel  wir  wissen,  der 
erste,  der  sich  des  Gegensatzes  seines  Gottesbegriffs  zu  den  über- 
lieferten Göttersagen  voll  bewußt  geworden  ist."  Ihm  sind  dann 
nicht  nur  Philosophen,  wie  Plato  und  viele  spätere,  gefolgt,  son- 
dern auch  bei  den  Dichtern,  z.B.  bei  Pindar,  bei  Euripides  j,fin- 
den  wir  Zweifel  gegen  die  Göttersage  damit  begründet,  daß  sie 
dem  sittlichen  Gottesideal  nicht  entspreche".  ^  Aber  „Volksglaube 
von  der  Mutter  Erde  liegt  in  einer  Leichenrede  bei  Plato  (im  Me- 
nexenos,  p.  237a  ff.)  vor"  und  „wer  vermöchte  zu  sagen,  wieviel 
von  attischer  Volksreligion  durch  Plato  wirksam  geworden  ist 
für  die  Religion  einer  Welt".^ 

^  Otto  Gruppe  Griechische  Mythologie  und  Religionsgeschichte  (in  Iwan 
Müllers  Handbuch  V,  2),  §  259  unterscheidet  in  der  griechischen  Re- 
ligionsgeschichte drei  große  Perioden:  die  erste,  die  Blütezeit  der  kreti- 
schen und  euboiisch  -  boiotischen  Kultur  umfassend,  zeigt  einen  rohen, 
dem  Fetischismus  nahestehenden  Dämonenglauben;  in  der  zweiten,  die 
bis  zur  Diadochenzeit  reicht,  wird  unter  dem  Einfluß  der  Kunst  die  Götter- 
welt mit  Idealgestalten  erfüllt;  in  der  dritten  geht  die  erreichte  Höhe 
langsam  wieder  verloren. 

2  So  nach  Gruppe  a.  a.  0.,  §  289;  Bd.  II  S.  1053. 

^  Albr.  Dieterich  in  diesem  Archiv  VIII  S.  44  f.  50. 


Volksreligion  überhaupt  und  speziell  bei  den  Hebräern  41 

Das  teilweise  Außerachtlassen  der  religionsgeschichtlichen 
Größe,  die  nach  dem  Obigen  in  der  jetzigen  wissenschaftlichen 
Terminologie  „die  Volksreligion"  genannt  wird,  ist  nicht  bloß  aus 
formalem,  sondern  auch  aus  sachlichem  Gesichtspunkt  zu  be- 
dauern. Denn  schon  die  Einheitlichkeit  der  Ausdrucksweise  ist 
im  Betriebe  der  Forschung  wichtig.  Aber  die  gleichmäßige  Be- 
achtung einer  bestimmten  Größe  muß  auch  folgenden  Gewinn 
bringen.  Wenn  sie  in  jedem  Gebiete  der  Religionsgeschichte  nach 
ihren  speziellen  Merkmalen  und  Schicksalen  erforscht  wird,  dann 
kann  durch  die  Zusammenfassung  der  speziellen  Ergebnisse  ein 
vollständiges  und  gesichertes  Charakterbild  dieser  Größe  entstehen. 

IL  Anstatt  es  nun  zu  wagen,  auf  mir  ferner  liegenden  Ge- 
bieten der  Religionsentwicklung  noch  weitere  Momente  zur  Her- 
stellung einer  abschließenden  Charakteristik  „der  Volksreligion^^ 
zu  sammeln,  will  ich  einen  Beitrag  dazu  lieber  auf  meinem  eigensten 
Arbeitsfelde,  dem  Gebiete  der  israelitischen  Religionsgeschichte, 
zu  geben  versuchen,  zumal  auf  diesem  die  Yolksreligion  gewiß 
die  markanteste  Rolle  spielt  und,  wie  schon  angedeutet,  neuestens 
durch  das  Bekanntwerden  der  aramäischen  Urkunden  von  der 
südägyptischen  Nilinsel  Elephantine  sehr  in  den  Vordergrund  des 
religionswissenschaftlichen  Interesses  getreten  ist. 

1.  Auch  in  der  wissenschaftlichen  Behandlung  der  Religions- 
geschichte Israels  ist  der  oben  im  Eingang  besprochene  dritte 
Begriff  des  Ausdrucks  „Volksreligion"  erst  in  den  letzten  Jahr- 
zehnten aufgetaucht,  obgleich  von  Kultus  „des  Volkes"  schon 
in  2.  Kön.  18,  4  gesprochen  wird.^  Denn  die  „Alttestamentlichen 
Theologien"  von  Dehler,  Riehm,  Ferd.  Hitzig,  Herm.  Schultz  kennen 
diesen  Begriff  nicht  und  sprechen  überhaupt  nicht  von  Volksre- 
ligion. Auch  noch  bei  Kautzsch,  in  dessen  Vorlesungen  über 
Biblische  Theologie  des  Alten  Testaments,  die  schon  1904  in 
England  ^  veröffentlicht    worden    sind,   erscheint    der  Ausdruck 

^  Vgl,  auch  über  den  blinden  und  tauben  Knecht  Jahves  (Je8.42, 19; 
43,  8.  24b),  der  nach  41,  8  doch  das  Volk  Israel  ist. 

'  In  Hastings'  Bible  Dictionary,  Vol.  V,  p.  612 — 734;  in  Deutschland 
1911  erschienen. 


42  Eduard  König  • 

„Volksreligion"  nur  als  Gegensatz  von  „Weltreligion"  (S.  229, 
298).  Und  doch  war  Duhm  in  seiner  Theologie  der  Propheten 
(1875)  dem  dritten  Sinn  von  „Volksreligion"  hart  auf  der  Spur. 
Denn  er  spricht  von  der  „Religion  des  gemeinen  Volkes,  für  die 
das  Material  keineswegs  fehlen  würde"  (S.  3).  Er  begeht  also 
noch  den  Fehler,  daß  er  die  „Volksreligion"  nur  in  den  niederen 
Schichten  der  Nation  sucht,  wie  es  freilich  auch  noch  neuestens 
Kittel  getan  hat.^  Außerdem  behauptete  Duhm,  für  die  Supramitu- 
ralisten  habe  die  Volksreligion  keine  selbständige  Bedeutung  und 
deshalb  nur  ein  negatives  Interesse  (S.  6).  Auch  dies  ist  falsch, 
denn  die  religiösen  Sonderneigungen  von  Kreisen  desVolkes  Israel 
hatten  auch  für  die  Gelehrten,  welche  nicht  die  evolutionistisch- 
natürliche  Entstehung  der  wahren  Religion  Israels  annahmen,  eine 
selbständige  Bedeutung  und  wurden  auch  von  ihnen  nach  ihren 
Anlässen  und  Zusammenhängen  erforscht.  Auch  ein  Joh.  Heinr. 
Kurtz  spricht  in  seiner  Geschichte  des  Alten  Bundes  (Bd.  II,  S.313) 
sehr  gut  vom  „Hervorbrechen  des  Naturgrundes"  von  Israel,  wo- 
nach dieses  z.  B.  zur  Idololatrie  neigte.  Den  von  Duhm  betre- 
tenen Weg  richtiger  fortsetzend,  haben  dann  nicht  wenige  neuere 
Darsteller  der  Religionsgeschichte  Israels  die  „Volksreligion" 
dieser  Nation  behandelt,  wie  hauptsächlich  Wildeboer  in  seiner 
schon  genannten  Schrift  „Jahvedienst  und  Volksreligion"  (1899), 
ferner  auch  Stade  in  seiner  Biblischen  Theologie  des  Alten  Testa- 
ments, Bd.  1(1905),  Marti  in  seiner  „Geschichte  der  israelitischen 
Religion"  (1907),  hauptsächlich  aber  wieder  jetzt  vor  kurzem 
Ed.  Meyer  in  „Der  Papyrusfund  von  Elephantine"  (1912),  S.  40 
bis  52. 

2.  Was  nun  war  die  Volksreligion  in  der  israelitischen 
Religionsgeschichte?  Dies  dürfte  gewiß  die  erste  wichtige  Frage 
sein,  die  zu  beantworten  ist.  Welches  konkrete  Bild  von  der 
israelitischen  Volksreligion  kann  also  dem  Leser  vor  die  Augen 
gestellt  werden?  Nun,  ein  solches  läßt  sich  auf  negativem  und 
auf  positivem  Wege  erschauen.    Denn  negativ  ist  zu  sagen,  daß 

*  Vgl.  die  Erörterung  dieser  Frage  in  meiner  Geschichte  (1912)  S.21f. 


Volksreligion  überhaupt  und  speziell  bei  den  Hebräern  43 

die  Volksreligion  bei  den  Hebräern  alle  die  religiösen  Mo- 
mente umfaßt,  gegen  die  in  deren  gesamter  Literatur 
protestiert  wird.  Und  wie  ist  dieses  so  umgrenzte  Bild  durch 
positives  Nacliforschen  mit  einzelnen  Gruppen  von  Gestalten  aus- 
zufüllen? Ich  meine,  die  folgenden  gefunden  zu  haben  und  am 
richtigsten  in  dieser  Reihenfolge  vorzuführen. 

a)  Was  die  Quellen  religiöser  Erkenntnis  anlangt,  so  schöpfte 
die  Volksreligion  hauptsächlich  aus  derjenigen  Art  von  Divi- 
natio,  die  nach  Cicero^  auf  der  Anwendung  einer  ars,  also  einer 
Theorie  oder  gewisser  Regeln  beruhte,  welche,  wie  Cicero 
weiter  andeutet^,  die  Vorfahren  durch  die  Beobachtung  eines 
angeblichen  ZusammentrefiPens  gewisser  Erscheinungen  mit  den 
und  den  Wendungen  des  zukünftigen  Geschichtsverlaufs  ge- 
lernt haben  wollten.  Diese  Art  des  Gottsuchens  kann  kurz  die 
Wahrsagerei  genannt  werden,  und  von  ihr  sind  im  hebräischen 
Schrifttum  viele  Arten  verboten,  wie  z.B.  die  Rhabdomantie  mit 
den  Worten  „Mein  Volk  befragt  sein  Holz  (=  hölzernes  Götzen- 
bild), und  sein  Stab  soll  ihm  weissagen"  (Hos.  4, 12),^  Weit  inter- 
essanter ist,  daß  die  israelitischeVolksreligion  auch  die  zweite  von 
den  beiden  bei  Cicero  unterschiedenen  Arten  der  divinatio  pflegte. 
Diese  Art  wird  kurz  am  besten  als  Prophetismus  bezeichnet,  und 
dieser  tritt  als  Organ  der  Volksreligion  seit  dem  neunten  Jahr- 
hundert in  das  Licht  der  Geschichte.  Denn  nicht  schon  der  Aus- 
länder Bileam  kann  ein  Vertreter  der  israelitischen  Volksreligion 
genannt  werden,  wenn  er  auch  nach  einer  Partie  der  über  ihn 
gegebenen  Berichte  die  Israeliten  zum  Götzendienst  (4.  Mos. 31, 16) 
verführte.    Aber  in   der  Regierungszeit    des  Königs  Ahab  vom 

^  Cicero  JDe  divinatione  1,18:  Duo  gener a  divinationum  esse  dixerunt: 
"unum,  quod  particeps  esset  artis;  alterum,  quod  arte  careret. 

^  Est  enim  ars  in  iis,  qui  novas  res  coniectura  consequuntur ;  veteres 
ohservatione  didicerunt. 

'  Vgl.  Herod.  IV,  67  von  den  Skythen:  y,avT6vovTai>  QäßdoLöL . . .  d'iv- 
xsg  %aftat,  diE^sXlööovöi  uvrovg  xtX.  Ausführlicb  wird  diese  Art,  mit  Hilfe 
hingeworfener  Stäbchen  zu  wahrsagen,  von  Tacitus  Germania^  cap.  10 
beschrieben.  Über  die  andern  Arten  der  im  hebräischen  Schrifttum  verpön- 
ten Wahrsagerei  kann  man  meine  Geschichte  S.  36  f.  vergleichen. 


44  Eduard  König 

Nordreich  Israel  (ca.  876 — 854)  zeigt  sicli  uns  das  Schauspiel^ 
daß  sich  bei  dessen  Beratung  über  die  Opportunität  eines  Kriegs- 
zugs vierhundert  Propheten  um  ihn  scharten,  die  alle  ihm  einen 
günstigen  Ausgang  des  Feldzugs  in  Aussicht  stellten  (l.Kön.  22, 6). 
Indes  ein  Mann  wagte  es,  das  Unisono  ihrer  siegverheißenden 
Weissagung  zu  stören.  Dies  war  der  Prophet  Micha,  der  Sohn 
des  Jimla,  also  ein  anderer  als  der,  von  dem  das  Buch  Micha 
stammt.  Er  mußte  dem  Könige  Niederlage  und  Tod  verkünden 
und  ließ  sich  lieber  in  den  Kerker  werfen,  als  daß  er  die  ihm  ge- 
wordene Gewißheit  verleugnet  hätte.  Diese  Prophetenrivalen 
waren  es  dann,  von  denen  sich  Amos  trennte  (7,  14),  die  von 
Jesaja  fünfmal  verurteilt  und  von  ihm  z.  B.  als  Lehrer  von  Trug 
(9,  14)  oder  als  Teilnehmer  an  üppigen  Gelagen  (28,  7)  und  als 
solche  Personen  bezeichnet  werden,  die  das  Volk  „seine  Weisen" 
nannte  (29,  14  etc.;  alle  Stellen  gibt  meine  Geschichte,  S.  309 f.). 

—  Die  Motive  aber,  von  denen  diese  Männer  geleitet  wurden, 
waren  in  der  Hauptsache  folgende  drei:  teils  der  Glanz  der  Hof- 
gunst und  der  sanfte  Hauch  der  Popularität  sowie  auch  Streben 
nach  materiellem  Gewinn  (Mich.  3,  11),  teils  ein  schwächlicher 
Begriff  von  Gott,  als  sei  bei  ihm  nicht  die  Gerechtigkeit  das 
Grundgesetz  der  Weltgeschichte,  und  teils  eine  Verkennung  der 
kulturgeschichtlichen  Aufgabe  Israels,  als  solle  dessen  Gemein- 
wesen mit  den  andern  Staaten  in  bezug  auf  politische  Machtent- 
wicklung konkurrieren  (vgl.  weiter  in  meiner  Geschichte,  S.  3 10  f.). 

—  Eine  Gesamtcharakteristik  ihres  Wesens  umfaßt  aber  folgende 
Hauptzüge:  a)  Sie  gäben  zwar  vor,  im  Namen  Jahves  auf- 
treten zu  können  (Jr.  23,  25),  seien  aber  nicht  von  ihm  ge- 
sandt (14,  14  etc.).  Ihr  innerster  Beweggrund  sei  selbstsüchtige 
Überhebung,  denn  sie  seien  gleichsam  überkochende  d.  h.  über- 
mütige Menschen,  die  aus  eigener  Initiative  eine  religionsgeschicht- 
liche Mission  sich  zu  geben  wagen  (Jr.  23,  32a  etc.),  oder  sie 
seien  Leute,  die  ihrem  eigenen  Geiste  nachfolgen  (Hes.  13,  3ha), 
d.  h.  sich  von  ihren  persönlichen  Meinungen  und  Bestrebungen 
leiten  lassen,    ß)  Die  Quellen  des  Inhalts  ihrer  Reden  aber  seien 


Volksreligion  überhaupt  und  speziell  bei  den  Hebräern  45 

so  beschaffen :  Sie  verlassen  sich  auf  eingebildete  Visionen,  indem 
,,sie  dem  folgen,  was  sie  nicht  gesehen  haben"  (Hes.  13,  3b/3), 
und  sie  verlassen  sich  auf  Nachtgesichte  oder  Träume,  indem  sie 
sprechen:  „Wir  haben  geträumt,  wir  haben  geträumt"  (Jr.  23, 
25).  Kurz,  sie  holten  den  Inhalt  ihrer  Reden  aus  ihrer  eigenen 
Denkwerkstätte,  denn  „Betrug  ihres  Herzens"  weissagen  sie  (Jr. 
14,  14b),  „Schauungen  ihres  Herzens"  d.  h.  ihre  subjektiven 
Phantasien  sprechen  sie  (23,  16),  also  „sie  sind  Propheten  aus 
ihrem  Herzen."^  —  Welche  wichtige  Charakteristik!  Wie  be- 
deutungsvoll ist  sie  hauptsächlich  deshalb,  weil  sie  vor  dem  Fo- 
rum der  Zeitgenossenschaft  entworfen  wurde,  welche  be  ide  Reihen 
von  Sprechern  Jahves  kannte!^ 

b)  Daß  neben  Wahrsagerei  und  Pseudoprophetentum  oder 
Mantik  sich  als  Element  der  Yolksreligion  in  Israel  auch  Zau- 
berei oder  Magie  geltend  machte,  ist  leicht  zu  denken.  Aus 
ihrem  Bereich  gilt  nur  die  vielleicht  sich  als  praktisch  nützlich 
erweisende  Schlangenbeschwörung  für  ein  neutrales  Moment  (Jr. 
8,  17  etc.),  aber  im  übrigen  gehört  sie  zu  den  durchaus  verpönten 
Praktiken:  schon  im  alten  elohistischen  Bundesbuch  wird  die 
Beschwörerin  mit  dem  Tode  bedroht  (2.  Mos.  22,  17;  vgl.  weiter 
5.  Mos.  18,  IIa  etc.  in  meiner  Geschichte,  S.  38).^ 

c)  Das  dritte  Gebiet,  worin  sich  die  Volksreligion  zeigte, 
war  begreiflicherweise  die  Gottes  ans  chauung.  Wie  sie  da 
in  Polytheismus,  im  Kulte  fremder  Götter  je  nach  dem  Wechsel 
der  politischen  Berührungen  Israels,  und  in  der  Idololatrie  leben- 

^  Prophetae  e  corde  suo  (Hes.  13,  2  etc.). 

^  Die  Bewußtseinsgrundlage  der  Prophetenreihe  aber,  von  deren  Glie- 
dern diese  Charakteristik  ausging,  ist  in  meiner  Geschichte  etc.  111—117 
entfaltet  worden. 

^  Sehr  richtig  sagt  üsener  in  diesem  Archiv  YIII  S.  20:  „Wer 
Zauberei  von  Religion  trennt,  verschließt  sich  selbst  das  Verständnis 
für  Religion."  „Wenn  die  Religionsgeschichte  den  gottesdienstlichen 
Ordnungen  eine  hervorragende  Bedeutung  beimessen  muß,  so  hat  sie  den 
größten  Nachdruck  auf  die  grundlegende  niedrigste  Stufe  zu  legen  und 
wird  sich  hüten,  die  Erscheinungen  der  sogenannten  Zauberei  bei  Seite 
zu  schieben." 


46  Eduard  König 

dig  war,  ist  teils  bekannt  (vgl.  meine  Geschiclite,  S.  38 — 41)  und 
wird  teils  weiter  unten  zur  Sprache  kommen,  wenn  einzelne 
Stadien  aus  der  geschieh tlichen  Entfaltung  der  Yolksreligion  zu 
charakterisieren  sind.  Übrigens,  daß  auch  von  den  sogenannten 
Volkspropheten  im  Charakter  der  Gottheit  auf  deren  Nachsicht 
und  Langmut  ein  falscher  Akzent  gelegt  wurde,  so  daß  sie  „Friede, 
Friede!"  riefen,  wo  „kein  .Friede  war"  (Jr.  6,  14  etc.)  ist  schon 
oben  unter  a)  berührt  worden.  Wegen  dieser  ihrer  An- 
schauung läßt  Kuenen  (a.  a.  0.,  S.  144)  die  Prophetenrivalen 
durch  „die  innige  Verschmelzung  von  Patriotismus  und  Religion 
gekennzeichnet^'  sein.  Aber  es  gibt  keine  glühenderen  Patrioten, 
als  Jesaja,  Jeremia  und  ihre  Reihe  (alle  Belege  in  meiner  Ge- 
schichte, S.  319f.). 

d)  Und  wie  stellte  sich  die  Volksreligion  zum  Gesetz?  Dies 
ist  schon  deshalb  eine  besondere  Frage,  weil  in  der  prophetischen 
Religion  Israels  die  Beziehung  zwischen  Jahve  und  seinem  Volk 
die  Gestalt  eines  Bundes  angenommen  hatte  und  die  bei  dessen 
Abschluß  aufgestellten  Bundesbedingungen  ihrem  ersten  Teile 
nach  Forderungen  waren.  Wie  also  stellten  sich  dazu  die  An- 
hänger der  Volksreligion?  Nun  sie  opponierten  nicht  einfach  dem 
ganzen  Moralgesetz.  Aber  sie  neigten  begreiflicherweise  z.  B. 
den  Handlungen  zu,  welche  der  Sinnlichkeit  schmeichelten,  wie 
wir  es  bei  dem  Benehmen  des  Prinzen  Amnon  gegenüber  seiner 
Schwester  Thamar  beobachten.  Da  vergaß  er  den  stolzen  Satz, 
den  wir  als  den  klassischen  Ausdruck  des  sittlichen  Bewußtseins 
des  besseren  Teiles  von  Israel  bei  dieser  Gelegenheit  vernehmen: 
„So  tut  man  nicht  in  Israel"  (2.  Sam.  13,  12).  Aus  demselben 
Motiv  bevorzugten  die  Anhänger  der  Volksreligion  auf  dem  Ge- 
biete des  Kultusgesetzes  vielfach  die  Hierodulie,  die  im  Gegen- 
satz zum  Hammurapigesetz  (§  178  ff.)^  mit  energischem  Protest 
in  5.  Mos.  23,  18  etc.  zurückgewiesen  wurde.    Ja,  sie  griffen  so- 

^  Vgl.  auch  bei  Herod.  I,  199:  „Dies  (die  Forderung  der  einmaHgen 
Hingabe  jedes  Mädchens  im  Dienste  der  MyHtta)  ist  das  schändlichste  Ge- 
setz der  Babylonier." 


Volksreligion  überhaupt  und  speziell  bei  den  Hebräern  47 

gar  in  die  Theorie  der  Gesetzgebung  eia.  Dies  ist  zwar  eine 
dunklere  Frage,  aber  liegt  eine  Antwort  darauf  nicht  docb  in 
der  berühmten  Stelle  Jr.  8,  8?  Wenn  es  dort  heißt:  „Zur  Lüge 
(d.  h.  zu  einem  unechten  Produkte)  hat  es  (das  Gesetz)  gemacht 
mancher  Lügengriffel  von  Schriftstellern",  so  ist  an  solche  Ge- 
setzesformulierungen zu  denken,  die  aus  dem  priesterlich -prophe- 
tischen Kreise  von  Anhängern  der  Volksreligion  hervorgegangen 
sind.  Von  ihnen  ließen  manche  die  moralische  Grundnorm  Jah- 
ves  durch  Satzungen  überwuchern,  welche  die  Grundnorm  ihres 
sittigenden  Einflusses  auf  die  Volksseele  berauben  mußten. 

e)  Volksreligion  und  Zukunfts  er  Wartung.  —  Es  ist  be- 
greiflich, daß  die  Freunde  der  Volksreligion  von  ihrem  Gotte 
für  die  Zukunft  eine  Realisierung  ihrer  natürlichen  höchsten  Ideale, 
der  nationalen  Unabhängigkeit  und  der  politischen  Machtstel- 
lung gegenüber  den  Nachbarvölkern,  aber  kein  Strafgericht  für 
sich  selbst  erwarteten.  Deshalb  blickten  diese  Teile  des  Volkes 
mit  Ruhe,  ja  mit  Verlangen  auf  „den  Tag  Jahves'^  hin,  jenen 
Zeitpunkt,  wo  die  Gottheit  das  in  ihrem  speziellen  Volke  ange- 
fangene Werk  glänzend  hinausführen  werde  (Am.  5,  18  a).  Dem- 
entsprechend malten  die  „Volkspropheten"  den  Horizont  der  Zu- 
kunft gern  mit  rosigen  Farben  des  Glückes,  indem  sie  riefen: 
„Ihr  werdet  nicht  sehen  ein  Schwert"  (Mich.  3, 5  etc.).  Ein  selbst- 
verständliches Korrelat  von  jener  nationalen  Richtung  der  volks- 
tümlichen Zukunftsschau  war  die  partikularistische  Enge 
ihres  Gesichtsfeldes.  Diese  tritt  aber  eklatant  in  den  Büchern  Jona 
und  Esther  zutage.  In  jener  Lehrdarstellung ^  ist  die  partikula- 
ristische Ausschließung  Assyriens  vom  Heilsplane  der  Gottheit 
als  eine  Meinung  von  Volkspropheten  veranschaulicht,  gegen  die 
vom  Verfasser  opponiert  wird.  Aber  in  dem  Geschichtsbuche 
Esther  wird  die  partikularistisch-nationale  Gesinnung  vom  Erzähler 
selbst  vertreten.  Welch  ein  Abstand  der  Judenschaft  des  Esther- 
buches von  dem  Israel,  das  als  Knecht,  d.h.  Organ  der  Gottheit 
der  Lichtquell  der  Nationen  sein  soll  (Jes.  42,  6)! 

^  Ygl.  meine  Einleitung  in  das  Alte  Testament,  §  77. 


48  Eduard  König 

3.  Hält  man  diese  Umrisse  eines  Bildes  vom  Wesensbestand  der 
Volksreligion  in  Israel  im  Auge,  so  taucht  natürlicherweise  zunächst 
die  Frage  nach  den  Quellpunkten  dieser  religiösen  Richtung 
auf.  Dies  bedarf  aber  keiner  langen  Erörterung.  Denn  zu  einem 
Teile  war  sie  selbstverständlicherweise  aus  demVölkerzusammen- 
hang  Israels  ererbt,  zu  einem  anderen  Teile  infolge  der  wechselnden 
Berührung  mit  neuen  Nachbarn  oder  fremden  Bedrückern  an- 
geeignet, zu  einem  dritten  Teile  aber  erzeugte  sie  sich  immer  von 
neuem  in  Israel  selbst  aus  beschränktem  Weltverständnis  (Wahr- 
sagerei, Zauberei,  Vielgötterei),  aus  Vorliebe  zur  konkreten  Greif- 
barkeit (Bilderdienst)  oder  aus  Hingabe  an  Schlaffheit  und  Sinn- 
lichkeit (siehe  oben  2,  d)  und  an  Egoismus  (siehe  oben  2,  e). 
Zu  diesen  allgemeinen  Ausgangspunkten  der  Volksreligion  trat 
in  Israel  auch  noch  mancher  spezielle  hinzu.  Oder  wurde  nicht 
mancher  Volksprophet  von  Ehrgeiz  getrieben?  War  es  nicht 
politisches  Interesse  für  den  Bestand  seines  Königreichs,  was  nach 
der  Reichsspaltung  den  ersten  König  des  Nordreichs  Israel  be- 
wog,  zwei  Stierfiguren  nahe  an  der  Südgrenze  und  nahe  an  der 
Nordgrenze  seines  Königreichs  als  Symbole  Jahves  aufzustellen? 
Wurde  ferner  nicht  Ahab  durch  einen  recht  individuellen  Anlaß, 
nämlich  die  phönizische  Herkunft  seiner  Gemahlin  Jzebel,  dazu 
angeleitet,  den  Kult  des  phönizischen  Ba^al  wieder  von  neuem  zu 
begünstigen? 

4.  Damit  ist  der  Blick  aber  auch  schon  auf  die  Stadien  der 
Geschichte  der  Volksreligion  in  Israel  gelenkt.  Die  hauptsäch- 
lichste Frage,  die  sich  in  bezug  darauf  erhebt^  ist  aber  die,  ob 
die  neuerdings  herrschende  Meinung  gültig  ist,  daß  die  Volksre- 
ligion erst  nach  der  Einwanderung  Israels  in  Kanaan  entstanden 
ist.^  Dem  stelle  ich  die  These  gegenüber,  daß  die  Volksreligion 
immer  in  Israel  neben  der  prophetischen  Religion  bestanden  hat. 

a)  Spuren  ihres  Lebens  fehlen  zunächst  schon  nicht  neben  der 
Patriarchenreligion,  die  als  erstes  Stadium  der  wahren  Religion 
Israels    wieder    in    meiner    Geschichte,    S.   119  — 141   erwiesen 

*  So  Marti  a.  a.  0.,  §  21;  Bohl  Kanaanäer  und  Hebräer  (1911)  S.  105. 


Volksreligion  überhaupt  und  speziell  bei  den  Hebräern  49 

worden  sein  dürfte.  Allerdings  ja  läßt  sich  über  Volksreligion 
in  der  Patriarchenzeit  nicht  das  begründen,  was  Hommel  be- 
hauptet^  daß  Mondkult  die  noch  in  die  Patriarchenzeit 
hineinragende  Religion  der  Hebräer  gewesen  sei.  Darauf  wiesen, 
wie  er  sagt,  die  ältesten  Personennamen.  Einen  Beweis  aus  den 
Namen  zu  geben,  versucht  er  aber  nicht.  Er  beruft  sich  dann 
noch  darauf,  daß  Abraham  aus  Ur  in  Chaldäa  stamme  und  von 
dort  nach  einem  andern  Mondheiligtum,  nach  Charran  (im  west- 
lichen Mesopotamien)  gezogen  sei.  Indes  hat  Hommel  nicht  be- 
rücksichtigt, daß  Abraham  nur  im  Gefolge  seines  Vaters  Tharah 
nach  Charran  gewandert  ist  (1.  Mos.  11,  31),  also  nicht  aus  eige- 
nem religiösem  Interesse  für  den  Mondkult  diese  Wanderung 
unternahm.  Im  Gegenteil  ist  er  aber  gerade  der  Religion  wegen 
dann  von  Charran  und  seinen  Verwandten  weggezogen  (12,  1; 
Jos.  24,  2).  Mondkult  der  israelitischen  Volksmasse  soll  sich 
nach  Hommel  ferner  in  der  Verehrung  des  goldenen  Jungstieres 
(oder  „Kalbes^')  zeigen.  Nämlich  der  Stier  hänge  mit  den  süd- 
arabischen Stierköpfen  zusammen,  die  wegen  der  Ähnlichkeit 
der  Hörner  mit  den'  Sichelspitzen  des  Neumondes  als  Symbol 
des  Mondes  gelten.^  Aber  auch  nicht  einmal  das,  was  da  über 
die  Volksreligion  der  ältesten  Zeit  Israels  gesagt  ist,  läßt 
sich  billigen.  Denn  der  goldene  Stier  sollte  ein  Sinnbild  des  von 
Mose  verkündeten  Gottes  sein,  wie  in  2.  Mos.  32,  4 f.  ausdrück- 
lich gesagt  ist.  Jenes  Stierbildnis  war  am  wahrscheinlichsten, 
eine  Nachahmung  des  weißen  Stieres  Mnevis.^  Jedenfalls  tritt 
uns  da,  wo  wirklich  Götzendienst  des  durch  die  Wüste  ziehen- 
den Israel  erwähnt  wird  (3.  Mos.  17,  7),  kein  Mondkult  oder 
Stierkult,  sondern  Opferdarbringung  für  bocksgestaltige  Unholde 
entgegen,  also  für  Dämonengestalten,  mit  denen  die  Volksphan- 
tasie die  Wüsteneien  zu  bevölkern  pflegt. —  In  derPatriarchen- 

^  F.  Hommel  Grundriß  der  Geschichte  und  Geographie  des  alten  Orients 
(in  Iwan  Müllers  Handbuch  1904)  S.  90. 

*  S.  Landersdorfer  Die  Bibel  und  die  südarabische  Altertumsforschung 
(1910)  S.  64. 

^  Vgl.  die  Diskussion  der  Frage  in  meiner  Geschichte  S.  40. 

Archiv  f.  Keligionswissenschaft  XVII  4 


50  Eduard  König 

zeit  will  ferner  J.Boehmer  ^  einen  „Glücksgott"  Jamin  erwähnt 
finden.  Aber  Bin-jamin  (l.Mos.  35,  18)  bedeutete  ganz  natür- 
licherweise „Angehöriger  der  rechten,  d.  h.  glückverheißenden 
Seite",  d.  h.  Glückskind.^  Was  wirklich  von  den  Quellen  an 
Volksreligion  der  Patriarchenzeit  zugeschrieben  wird,  ist  dies. 
Sie  sprechen  von  Penaten  (hebräisch :  Teraphim)  ^,  die  von  An- 
gehörigen der  Familie  Jakobs  aus  Mesopotamien  mit  fortgenom- 
men worden  waren.  Diese,  sowie  die  als  Amulette  dienenden 
Ohrringe  vergrub  aber  Jakob  bei  der  Heimkehr  nach  Palästina 
(1.  Mos.  35,  1 — 4  aus  dem  Elohisten,  also  aus  alter  Quelle). 

b)  Auch  nicht  erst  seit  Mose  (Wildeboer,  S.  23)  beobachten 
wir  eine  —  beschränkte  —  Herrschaft  der  Yolksreligion  über  die 
Geister  Israels.  Von  Abneigung  des  in  Ägypten  weilenden  Israel 
gegenüber  der  mit  Abraham  beginnenden  höheren  Richtung  von 
Religion  wird  ja  ausdrücklich  mehrmals  in  den  Quellen  gespro- 
chen (Jos.  24, 14. 23).  Von  da  aber  kann  die  Linie  der  Volksreligion 
leider  durch  alle  nächsten  Perioden  der  Geistesgeschichte  Israels 
verfolgt  werden,  wie  in  meinem  zitierten  Buche  ausführlich  und 
mit  Erwähnung  der  einzelnen  Nuancen  und  Grade  von  Volks- 
religion gezeigt  worden  ist.  Ein  neues,  dort  noch  nicht  geschrie- 
benes Kapitel  dieser  Entwicklung  der  israelitischen  Volksreligion 
ist  aber  seit  dem  Herbste  des  Jahres  1911  in  den  Urkunden 
von  Elephantine  enthüllt  worden. 

Die  dortige  israelitische  Gemeinde,  die  nach  meiner  Ansicht 
wesentlich  von  Hilfstruppen  herstammte,  die  von  Judäa  dem 
Pharao  Psammetich  II.  (594  —  589)  für  dessen  Kriegszug  gegen 
die  Äthiopier  geschickt  wurden*,  hat  die  von  deutschen  Forschern 
unternommenen  Ausgrabungsarbeiten  mit  der  Auffindung  von 
Texten  belohnt,   die  von   494  bis  zum  5.  Jahre  des  Amyrtäus 

1  In  diesem  Archiv  (1909)  S.  318. 

'  Vgl.  Odyssee  16,  159:  „Da  flog  rechtsher  ihm  ein  Adler",  und 
dieser  war  nach  V.  173  glückverheißend.  Ebenso  ist  es  nach  V.  524  und 
20,  242. 

'  Vgl.  darüber  mein  Hebräisch-aramäisches  Wörterbuch  (1910)  S.  558. 

*  Herod.  II,  161;  Aristeas- Brief,  §  13. 


Volksreligion  überhaupt  und  speziell  bei  den  Hebräern  51 

datiert  sind,  der  404  durch  eine  Rebellion  Ägypten  vom  per- 
sischen Joche  befreite.  Diese  Texte  geben  reichlichen  Aufschluß 
über  die  militärische  Organisation,  den  Handel,  die  Rechts- 
geschäfte, die  Stellung  der  Frau,  aber  hauptsächlich  den  Kultus 
der  Gemeinde  von  Elephantine.  Diese  verehrte  allerdings  in 
erster  Linie  Jahve,  oder  vielmehr,  wie  sie  mit  einer  volkstüm- 
lich verkürzten  Form  sprach  Jähu  (nicht:  Jaho).  Dies  zeigt  sich 
an  ihren  Eigennamen,  die  zum  vierten  Teil  mit  dieser  Gottes- 
benennung zusammengesetzt  sind.  Aber  daneben  werden  Kultus- 
objekte dieser  Gemeinde  noch  mit  folgenden  Bezeichnungen  er- 
wähnt: die  ^Anäth-Jahu,  der  'Aschim-Bethel,  die  'Anäth-Bethel, 
der  Oberem  -  Bethel. 

Also  erstens  hat  diese  Gemeinde  von  der  Monolatrie  und 
dem  daraus  seit  dem  siebenten  Jahrhundert  entstehenden  Mono- 
theismus sich  zum  Polytheismus  gewendet,  wie  auch  wirk- 
lich die  Redensart  „Die  Götter  insgesamt  mögen  dich  grüßen!" 
von  Gliedern  dieser  Gemeinde  angewendet  wurde.  Zweitens 
hat  man  mit  Jähu,  dem  ewigen  Gotte  der  prophetischen  Reli- 
gion Israels,  dort  in^^Anäth-Jähu  die  kanaanitische  Göttin  als 
seine  Genossin  zusammengestellt.  Man  hat  also  sich  nicht  vor 
sexueller  Differenzierung  in  der  Sphäre  des  Göttlichen  ge- 
scheut, während  dieselbe  der  prophetischen  Religion  Israels  so 
fern  lag,  daß  die  hebräische  Sprache  nicht  einmal  ein  Wort  für 
„Göttin"  besitzt.  Die  weitere  Bereicherung  des  Pantheons  die- 
ser israelitischen  Gemeinde  ist  weniger  wichtig,  aber  es  sei  dar- 
über doch  kurz  dieses  hinzugefügt:  der  Ausdruck  Bethel,  der 
in  jenen  zusammengesetzten  Gottesbezeichnungen  auftritt,  scheint 
mir  auf  einer  metonymischen  Setzung  von  „Gotteshaus"  statt 
des  Rauminhaltes  oder  Raumbewohners,  d.  h.  Gott,  zu  beruhen, 
wie  man  später  auch  „Himmel"  für  Gott  sagte  (vgl.  meine  Ge- 
schichte, S.  88).^  Nicht  aber  wird  Bethel  in  jenen  Zusammen- 
setzungen den  fetischistischen  Sinn  von  „Gottesstein"  (Ed. Meyer, 

^  Ebenso  urteilt  Strack  in  seiner  Besprechung  von  Sachaus  Ausgabe 
der  Papyri  von  Elephantine  (in  der  ZDMG  1911  S.  827). 

4« 


52  Eduard  König 

S.  62)  besitzen,  denn  diese  Meinung  ist  bei  Israeliten  im  sechsten 
Jahrhundert  nicht  vorauszusetzen.  Sodann  ^Aschim  ist  nach 
meiner  Ansicht  die  männliche  Form  der  'Aschima,  die  in  2.  Kön. 
17,  30  als  Göttin  eines  von  Hamäth  (am  Orontes  im  nördlichen 
Syrien)  herbeigeführten  Zuges  von  Kolonisten  im  mittleren  Pa- 
lästina genannt  wird.  Der  Ausdruck  schim  (hebräisch:  scJiem) 
„Name"  ist  nicht  in  jener  Gottesbezeichnung  zu  suchen.^  Denn 
das  Vorkommen  einer  Form  dieses  Wortes  schim  mit  Aleph 
prostheticum  wird  von  Grimme  sonst  nicht  belegt  und  ist 
auch  mir  im  Aramäischen  oder  Hebräischen  nicht  bekannt. 
Endlich  Cherem  bezeichnet  in  jenen  Gottesbezeichnungen  den 
„Bann"  und  daher  metonymisch  dessen  Urheber,  so  daß  da- 
durch die  Furchtbarkeit  des  betreffenden  Gotteswesens  aus- 
geprägt wird.^ 

Dieses  sehr  auffallende  Bild  von  israelitischer  Volksreligion, 
das  in  der  Gemeinde  zu  Elephantine  aufgetaucht  ist,  erklärt  sich 
übrigens  am  leichtesten,  wenn  man  annimmt,  daß  die  vom  ju- 
däischen  Staate  zwischen  594  und  589  gesendeten  Hilfstruppen 
doch  nicht  in  Juda  selbst,  sondern  im  mittleren  Palästina,  wo  die 
aus  Syrien  und  andern  Ländern  angesiedelten  Kolonisten  wohn- 

^  Gegen  Hub.  Grimme  Die  jüdische  Kolonie  von  Elephantine  in  neuer 
Beleuchtung  (in  der  Monatsschrift  Theologie  und  Kirche  1911)  S.  795. 

'  Dies  ist  das  Ergebnis  aller  neuesten  Untersuchungen  über  das  Pan- 
theon der  jüdischen  Gemeinde  von  Elephantine.  Eine  Weiterführung  dieser 
Untersuchungen  kann  man  ja  zunächst  in  Staerks  kommentierter  Über- 
setzung des  hierher  gehörigen  Teiles  der  Papyri  von  Elephantine  (s.  o.S.36, 
Anm.  1)  S.  12  f.  finden.  Aber  die  da  von  ihm  geäußerte  Behauptung, 
daß  die  neben  Jahu  erwähnten  Bezeichnungen  'Aschim-Bethel  etc.  nur 
als  „Teil-Offenbarungen  des  Himmelsgottes  Jahu"  verstanden  seien^  besitzt 
einerseits  keinen  sicheren  Grund  darin,  daß  nach  der  Überschrift  der 
Tempelsteuerliste  „das  Geld  für  den  Gott  Jahu"  gegeben  wurde,  denn 
damit  kann  die  Hauptgoltheit  gemeint  sein.  Andererseits  gibt  auch 
jener  Begriff  „Teil- Offenbarungen"  an  sich  keinen  klaren  Sinn,  und  die 
oben  angeführte  Formel  „die  Götter  insgesamt"  etc.,  worin  das  'eUhajjd 
nicht  mit  Epstein  (ZATVV  1912,  139  ff'.)  als  Singular  verstanden  werden 
kann,  wie  auch  Smend  in  der  Theol.  Lit.-Ztg.  1912,  387  f.  mit  Recht 
urteilt,  spricht  ausdrücklich  dagegen. 


Volksreligion  überhaupt  und  speziell  bei  den  Hebräern  53 

ten,  angeworben  waren,  und  wenn  man  bedenkt,  daß  die  israe- 
litische Gemeinde  von  Elephantine  lange  Zeit  weit  weg  vom 
Zentrum  der  Jahveverehrung  und  der  sie  kontrollierenden  Priester- 
scliaft  bestanden  hat. 

c)  Die  letzte  Hauptfrage  in  bezug  auf  den  geschichtlichen 
Bestand  der  israelitischen  Volksreligion  ist  die  Frage,  ob  sie 
nicht  in  den  letzten  Jahrhunderten  vor  unserer  Zeitrech- 
nung erstorben  war. 

Gewiß  nun  tritt  zur  Zeit  Esras  ein  großer  Unterschied  im 
Verhältnis  Israels  zur  Volksreligion  hervor:  früher  oft  eine  so 
weite  Kluft  zwischen  der  Nation  und  der  prophetischen  Religion, 
daß  nur  noch  „sieben  Tausend"  ihre  Knie  nicht  dem  Ba'al  ge- 
beugt hatten  (1.  Kön.  19,  18),  aber  zu  Esras  Zeit  Identität  zwi- 
schen dem  Volke  und  der  zu  Recht  bestehenden  Religion!  Doch 
auch  in  diesen  späteren  Zeiten  der  Geschichte  Israels  ist  diese 
Harmonie  zwischen  legitimer  Religion  und  jüdischer  Nation 
keine  völlig  ungestörte  geblieben.  Auch  in  diesen  Zeiten  fristete 
die  Neigung  zu  Mantik  und  Magie  ihr  Dasein  in  den  Winkeln 
der  Volksseele.  Auch  da  drohte  ferner  die  Gefahr,  das  Prinzip 
des  Monotheismus  durch  die  Annahme  von  sogenannten  Mittel- 
wesen, wie  z.  B.  Memrä  (das  Wort)  oder  dem  Logos,  zu  ver- 
letzen, die  echte  Moralität  durch  Pedanterie,  Vergröberung, 
ütilitarismus  etc.  zu  entseelen  und  das  religiös -sittliche  Ziel 
der  wahren  Zukunftshoffnung  über  politisch  -  materiellen  Inter- 
essen aus  den  Augen  zu  verlieren  (meine  Geschichte,  S.  4  76  ff.). 
Eine  von  den  tiefliegenden  und  fast  unausrottbar  scheinenden 
Wurzeln  der  Volksreligion  zeigt  sich  auch  darin,  wenn  in  die- 
;  sen  letzten  Jahrhunderten  aus  partikularistisch- nationaler  Eigen- 
1  liebe  die  Meinung  emporwuchs,  daß  die  Welt  von  Zion  aus  ge- 
schaffen worden  sei,  wie  es  im  babylonischen  Talmud,  Traktat 
Joma  54^,  gesagt  ist. 

5.  Endlich  bleibt  nur  noch  die  letzte,  aber  auch  wich- 
tigste Frage  betreffs  der  israelitischen  Volksreligion  zu  beant- 
worten: das  Problem  der  richtigen  Würdigung  dieser  Volks- 


54  Eduard  König 

religion.  Denn  damit  zugleicli  wird  die  Hauptseite  an  der  mo- 
dernen Beurteilung  dieser  Volksreligion  und  der  Yolksreligion 
überhaupt  ihre  abschließende  Betrachtung  finden. 

a)  Nach  der  obigen  Darlegung  kann  es  sich  zwar  nicht  um 
die  Frage  handeln,  welche  von  beiden  Anschauungsweisen,  die 
Volksreligion  und  die  prophetische  Religion,  die  frühere  Er- 
scheinung bei  den  Hebräern  gewesen  ist.  IJnfraglich  war  die 
Volksreligion  das  zeitliche  Prius,  aber  welches  war  ihr  Kausali- 
tätsverhältnis zur  prophetischen  Religion  in  Israel?  Nun,  die 
Volksreligion  war  nicht  der  Mutterboden  der  höheren  Re- 
ligion Israels.    Betrachten  wir  dies  im  einzelnen! 

Die  Volksreligion  war  zunächst  deshalb  nicht  der  Ausgangs- 
punkt für  die  prophetische  Religion,  weil  ein  Gegensatz  zwi- 
schen beiden  bestand.  Dieser  Gegensatz  war  allerdings  im  achten 
Jahrhunderfc  nicht  so  tief,  daß  „die  Propheten  dieses  Jahrhun- 
derts sich  im  Grunde  geweigert  hätten,  den  Gottesdienst  ihrer 
Zeitgenossen  als  Jahveverehrung  anzuerkennen '^^  Daß  die  Volks- 
religion kein  Jahvekult  mehr  gewesen  sei,  dies  war,  abgesehen 
von  der  ausdrücklichen  Verehrung  der  kanaanitischen  Götter 
Ba*al  und  Astarte  usw.,  nur  wahrscheinlich  bei  Manasse  und 
Zeitgenossen  von  ihm  der  Fall.  Denn  der  Umstand,  daß  er 
seinem  Sohne  Josia  einen  Jahve  -  haltigen  Namen  gab^,  ist  erstens 
an  sich  von  unsicherem  Gewicht,  weil  Namen  doch  wohl  auch 
aus  Gewohnheit  verwendet  wurden,  und  zweitens  kann  dieser 
beiläufig  erwähnte  Umstand  nicht  die  Tatsache  aufwiegen,  daß 
als  Gegenstand  seiner  religiösen  Verehrung  ausdrücklich  das 
ganze  Heer  des  Himmels,  aber  nicht  Jahve  erwähnt  ist  (etc.  in 
meiner  Geschichte,  S.  354).  Aber  wenn  auch  der  Gegensatz 
zwischen  Volksreligion  und  prophetischer  Religion  in  Israel  nicht 
immer  so  tief  war,  daß  sie  verschiedene  Kultusobjekte  besaßen, 
so  bestand  dieser  Gegensatz  doch  stets.    Er  prägt  sich  in  den 

^  Wildeboer  Jahvedienst  und  Volksreligion  in  Israel  S.  9,  und  auch 
er  hält  dann  diese  Ansicht  nicht  fest. 

*  Worauf  Ed.  Meyer  a.a.O.  S.  60  die  gegenteilige  Ansicht  stutzen  will. 


Volksreligion  überhaupt  und  speziell  bei  den  Hebräern  55 

Quellen  nach  allen  ihren  Schichten  und  Zeitaltem  aus.^  Aber 
bei  diesem  Gegensatze  war  die  Volksreligion  nicht  insofern 
der  negative  Ausgangspunkt  der  prophetischen  Religion,  als 
,,die  großen  Propheten  Feinde  der  Kultur"  (Wildeboer,  S.  31) 
gewesen  wären.  Diese  neuerdings  oftmals  vorgetragene  Behaup- 
tung vom  „Beduinenideal"  als  dem  Vater  der  prophetischen 
Religion  Israels  besitzt  in  den  Quellen  keinen  positiven  An- 
halt^, und  negativ  wird  diese  Behauptung  schon  z.  B.  dadurch 
widerlegt,  daß  kein  Prophet  die  wirklichen  Beduinenprinzipien 
der  Rechabiter,  weder  Häuser  zu  bauen  noch  Acker  zu  bestellen 
oder  Weinberge  anzulegen  (Jr.  35,  7),  vertreten  hat.  Also  zwar 
Gegensatz  bestand  zwischen  Volksreligion  und  Prophetismus  in 
Israel,  aberkein  Kausalzusammenhang,  und  ganz  richtig  war, 
was  sehr  bemerkenswerterweise  auch  ein  Mann  wie  Kuenen  ge- 
sagt hat:  Die  Religion  der  Propheten  kann  „keineswegs  natio- 
nal heißen:  sie  ist  viel  mehr  als  das,  nicht  aus  Israel,  sondern 
aus  Gott".3 

Aber  vielleicht  war  die  Volksreligion,  wenn  auch  nicht  der 
absolute  Ausgangspunkt  für  die  prophetische  Religion,  so  doch 
ein  relativer  Quellpunkt.  Auch  dieser  Frage  seien  einige 
Worte  gewidmet,  da  sie,  wie  man  sehen  wird,  keineswegs  eines 
großen  und  allgemeineren  Interesses  entbehrt. 

Relativ  aber  wäre  die  höhere  religiöse  Anschauungsweise 
Israels  von  der  Volksreligion  ausgegangen,  wenn  man  mit  Recht 
sagen  dürfte:  „Der  Jahvismus  hat  der  Volksreligion  auch  aller- 
lei entlehnt"  (Wildeboer,  S.  33).  Aber  das  Opfern,  das  an 
der  zitierten  Stelle  als  solches  entlehntes  Gut  zuerst  aufgeführt 
wird,  könnte  nur  mit  einem  Schein  des  Rechts  als  ein  Moment 

*  Auch  nach  Kuenen  a.  a.  0.  S.  73  wurde  die  Volksreligion  schon  von 
den  Propheten  „hier  und  da  streng  gemißbilligt",  und  von  Wildeboer 
a.  a.  0.  S.  22  wird  richtig  auch  schon  Mose  in  Gegensatz  zur  Volksreligion 
gebracht;  vgl.  die  historische  Untersuchung  in  meiner  Geschichte  S.  154 ff. 

^  Eine  vollständige  Diskussion  dieses  Punktes  gibt  meine  Geschichte 
S.  104  f. 

'  A.  Kuenen  Volksreligion  und  Weltreligion  S.  92. 


56  Eduard  König 

der  „Yolksreligion''  bezeichnet  werden.  Das  Opfer  war  der  un- 
willkürliche Ausdruck  des  von  Dankbarkeit  oder  Versöhnungs- 
bedürfnis  bewegten  Menschenherzens  ^,  und  dieses  Element  der 
allgemein  menschlichen  Religiosität  wurde  von  der  biblischen 
Religion  weiter  verwendet.  Ebenso  steht  es  mit  dem  Gebet^ 
diesem  spontanen  Mittel  des  Verkehrs  zwischen  Menschenseele 
und  göttlicher  Sphäre,  mit  dem  Altar  usw.  (meine  Geschichte,  S.92). 
Auch  wenn  die  Naturfeste  zum  Dank  für  den  Beginn  und  das 
Ende  der  Ernte  von  der  legitimen  Religion  Israels  immerdar 
(erwiesen  in  meiner  Geschichte,  S.  244)  gefeiert  wurden,  so  kann 
darin  nicht  mit  Wildeboer,  S.  35,  eine  Anleihe  aus  der  „Volks- 
religion" gesehen  werden.  —  Oder  ist  die  Volksreligion  so  zum 
relativen  Quellpunkt  der  prophetischen  Religion  geworden,  daE 
diese  später  im  Exil  ein  Kompromiß  mit  jener  geschlossen 
hat?  Man  hat  nämlich  gesagt,  die  prophetische  Religion  habe 
damals  gesiegt,  aber  sie  sei  „nicht  unversehrt  aus  dem  Ring- 
kampfe hervorgegangen,  sie  habe  etwas  von  ihrem  Idealismus 
eingebüßt  und  ihre  geistigen  Gedanken  in  eine  sinnliche  Form 
einkleiden  müssen".^  Aber  dies  ist  doch  nur  eine  äußerliche 
Auffassung  des  geschichtlichen  Weiters chreitens,  welches  aller- 
dings bei  der  Vergleichung  einer  Geisterreihe  wie  Jeremia, 
Hesekiel,  Deuterojesaja  bis  Maleachi,  vorliegt.  In  jenem  Urteil 
wird  die  Rücksichtnahme  auf  die  religions-  und  sittengeschicht- 
lich  notwendig  gewordene  Fixierung  und  Detaillierung  des 
Pflichtenkreises  der  Jahvebekenner  vermißt.^  Übrigens  ist  auch 
nicht  begründet,  daß  die  prophetische  Religion  bei  jenem  Kom- 
promiß insofern  minderwertig  geworden  sei,  als  sie  den  Patrio- 
tismus geschwächt  habe  (Kuenen,  S.  170).  Man  meint  nämlich 
sagen  zu  dürfen,  daß  erst  in  dieser  späteren  Zeit  jemand  „ein 
von  Herzen  religiöser  Mensch  und  doch  ein  schlechter  Patriot" 

*  Eine  Kritik  aller  neueren  Theorien  über  Ursprung  und  Begriff  des 
Opfers  gibt  meine  Geschichte  S.  138  f. 

*  Kuenen  Volksreligion  etc.   S.  165;    ähnlich   auch  Wildeboer  S.  32.. 
'  Eingehend  erörtert  in  meiner  Geschichte  S.  389  —  398. 


Volksreligion  überhaupt  und  speziell  bei  den  Hebräern  57 

habe  sein  kÖDnen.  Doch  war  dies  auch  im  alten  Israel  mög- 
lich. Oder  wurde  etwa  dem  Stamme  Rüben  die  Zugehörigkeit 
zur  Jahvegemeinde  bestritten,  indem  ihm  Saumseligkeit  in  Er- 
füllung nationaler  Pflichten  vorgeworfen  wurde?  So  geschieht 
es  aber  in  dem  anerkannt  alten  Deboraliede  (Rieht.  5,  14  f.). 

b)  Neuestens  aber  ist  es  geschehen,  daß  die  Volksreligion 
Israels  nicht  bloß  als  Ausgangspunkt  aller  Religion  Israels, 
sondern  noch  höher  eingeschätzt  worden  isi^  Man  kennt  da  keine 
Patriarchenreligion  als  erstes  Stadium  der  besonderen  Religion 
Israels  und  auch  keine  mosaisch -altprophetische  Religion,  son- 
dern nennt  „Volksreligion"  die  vom  „Priester"  Mose  durch 
Priester  abgeleitete  Religion  (S.  41).  Da  wird  „die  Volksreligion" 
als  die  einzige  Religion  des  älteren  Israel  angesehen.  Aber 
wenn  diese  Aufstellung  auch  ganz  ruhig  beurteilt  werden  soll, 
so  ist  doch  das  Mindeste,  was  gesagt  werden  muß,  dies:  sie 
bildet  einen  kompletten  Widerspruch  zum  geschichtlichen  Be- 
wußtsein Israels.  Abgesehen  von  der  Religion  Abrahams  als 
der  Anfangsstufe  der  nicht  aus  dem  Volksgeiste  Israels  stam- 
menden Religion  dieser  Nation,  gilt  dem  einheitlichen  Bewußt- 
sein Israels  Mose  als  „Prophet"  und  er  hat  die  altprophetische 
Religion  Israels  gestiftet  (1.  Mos.  20,  7;  Hos.  12,  14;  Jr.  7,  25 
etc.).  Auch  der  jahvistische  Pentateucherzähler,  der  in  dem  zi- 
tierten Buche  (S.  41)  als  Darsteller  der  „Volksreligion"  Altisraels 
bezeichnet  wird,  wollte  dies  keineswegs  sein.  Denn  auch  für 
diesen  Erzähler  beruhte  die  mosaische  Religion  auf  einer  pro- 
phetischen Erfahrung  Moses  (2.  Mos.  3,  2  f.  7  f.).  Übrigens  spricht 
Ed.  Meyer  a.  a.  0.,  S.  49,  unrichtig  dem  Jahvisten  die  Vorstellung 
von  Jahve  als  dem  Schöpfer  der  Welt  und  dem  Lenker  der 
Menschheitsgeschichte,  der  im  Himmel  wohnt,  ab  (vgl.  1.  Mos. 
2,  4b ff.;  6,  5  — 8;  11,  1—9;  24,  3  etc.).*    Wie  von  dieser  alt- 


^  Bei  Ed.  Meyer  Der  Papyrusfund  von  JElephantine  (1912)  S.  40 ff. 

'  Richtig  urteilt  darüber  z.  B.  auch  Wildeboer  S.  12.  Übrigens  auch 
Kuenen  erkennt  ausdrücklich  an,  daß  „auch  schon  im  alten  Israel" 
„(dem  Bilderdienst  etc.)  etwas  anderes  und  Höheres  gegenüberstand"  (S.76). 


58  Eduard  König 

prophetischen  Religion  Israels  der  Volksglaube  abwich,  ist  oben 
in  Nr.  4,  a,  b)  durch  Angaben  der  Geschichtsbücher  belegt.  Die 
Nichtunterscheidung  dieser  in  den  Quellen  auseinander  gehalte- 
nen Linien  der  religiösen  Entwicklung  Israels  ist  ein  Grundfehler 
vieler  neueren  Arbeiten  über  die  Religion  dieses  Volkes. 

Der  angeblich  einheitlichen  Religion  oder  „Volksreligion'' 
des  älteren  Israel  gegenüber  läßt  man  in  dem  angeführten  Werke ^ 
„neue  sittliche,  kultische  und  religiöse  Forderungen  von  den 
Propheten  seit  dem  neunten  Jahrhundert  aufgestellt  und  ver- 
fochten werden".  Daran  läßt  man  dann  eine  „Reformpartei" 
sich  anschließen  und  stellt  auch  das  Eintreten  des  Königs  Josia 
(im  Jahre  621)  zugunsten  der  Alleinverehrung  Jahves  als  eine 
„Neuerung"  hin  (S.  52).  Dies  ist  aber  eine  extreme  Geltend- 
machung eines  Standpunktes,  der  in  der  Beurteilung  der  Re- 
ligionsgeschichte Israels  neuerdings  öfters  geltend  gemacht 
worden  ist,  indem  man  den  Propheten  des  achten  Jahrhunderts 
eine  neuschöpferische  Stellung  zuschrieb.  Aber  nach  ihrem  eige- 
nen Zeugnis  wollten  diese  Männer  in  erster  Linie  zu  einer 
alten  Position  zurückführen.  Sie  forderten  vor  allem  zur  Er- 
neuerung der  Treue  gegen  die  in  der  Jugendzeit  des  Volkes 
(Hos.  11,  l  etc.)  begründete  Religion  Israels  auf  Sie  wollten  im 
Grunde  Reformatoren  sein,  aber  keine  „Reformer".  Allerdings 
hatten  sie  auch  in  bezug  auf  das  Gesetz  und  die  Zukunftsper- 
spektive eine  ergänzende  und  vergeistigende  Tätigkeit  zu  ent- 
falten (dargestellt  in  meiner  Geschichte,  S.  306  —  349).  Aber 
darin  lag  nur  ein  sekundäres  Moment  ihrer  religionsgeschicht- 
lichen Aufgabe,  und  nicht  deren  wesentlicher  Teil.  Bezeichnet 
man  sie  demnach  als  „Reformpartei"  (Ed.  Meyer,  S.  48  und  50), 
so  trifft  dieser  Ausdruck  nicht  die  Erscheinung,  welche  in  der 
Geschichte  vorliegt.  Den  Kampf  gegen  den  Polytheismus,  der 
im  siebenten  Jahrhundert  unter  Manasse  wieder  offiziell  be- 
günstigt wurde,  aber  eine  „Neuerung"  zu  nennen,  ist  ein  ge- 
schichtswidriges  Verfahren,  denn  wenn  ein  Prinzip  in  der  alt- 

*  Ed.  Meyer  Der  Papyrusfund  etc.  S.  48. 


I 


Volksreligion  überhaupt  und  speziell  bei  den  Hebräern  59 

prophetischen  Religion  Israels  herrschte,  so  war  es  der  Grund- 
satz der  Monolatrie  Jahves.  Dies  klingt  mächtig  schon  z.  B. 
aus  dem  anerkannt  alten  poetischen  Stück,  welches  Deboralied 
heißt  (Rieht.  5),  heraus.  Denn  schon  da  wird  nur  Jahve  „der 
ewige  und  getreue  Gott"  verherrlicht,  und  darnach  (V.  11)  pflegte 
man  schon  in  den  Zeiten  dieses  Liedes  „zwischen  den  Tränk- 
rinnen", also  bei  der  täglichen  Beschäftigung  eines  Hirten-  und 
und  Bauernvolkes,  „zu  singen  von  den  Gerechtigkeitserweisungen 
Jahves". 

Aber  die  „Yolksreligion"  des  älteren  Israel  wird  bei  dem 
zitierten  neuesten  Darsteller  der  israelitischen  Religionsgeschichte 
nicht  nur  für  die  einzige  gehalten,  sondern  sie  wird  von  ihm 
auch  sehr  hoch  gewertet.  Dies  klingt  aus  vielen  einzelnen 
Äußerungen  des  zitierten  Buches  heraus:  z.  B.  bei  der  Erzäh- 
lung von  König  Josias  Kampf  gegen  Manasses  religiöse  Maß- 
nahmen wird  hervorgehoben,  daß  Josia  „als  Knabe  auf  den 
Thron  kam"  (S.  50),  als  wenn  dieser  Umstand  es  erklärlich 
machen  solle,  daß  König  Josia  in  seinem  18.  Regierungsjahre 
sich  den  Bestrebungeji  der  „Reformpartei"  anschloß.  Ferner  wird 
die  vollere  Entfaltung  der  Einzigkeit  Jahves  bei  jenem  Dar- 
steller darauf  zurückgeführt,  daß  „mit  dem  Satze  von  Jahves 
Eifersucht,  der  keinen  andern  Gott  in  seinem  Bereich  duldete, 
voller  Ernst  gemacht  wurde"  (S.  51).  Das  ist  aber  kein  Produkt 
historischer  Forschung.  Wenn  das  Zeugnis  von  Israels  Ge- 
samtliteratur über  einen  Punkt  nicht  mehr  geachtet  werden  soll, 
dann  hört  die  Geschichtsschreibung  auf.  Über  kein  Moment  aus 
der  Kulturgeschichte  Israels  sind  aber  alle  Schichten  und  Zeit- 
alter der  althebräischen  Literatur  so  einig  wie  über  dieses,  daß 
mit  Abraham  und  Mose  eine  spezielle,  von  der  ererbten  Volks- 
religion unterschiedene  Linie  der  religiösen  Entfaltung  be- 
gonnen hat,  und  daß  ein  Hauptpunkt  in  dieser  Linie  das  Prin- 
zip von  der  Alleinverehrung  des  „Ewigen"  gewesen  ist.  Dieses 
Prinzip  aus  der  „Eifersucht"  oder  Unduldsamkeit  Jahves  her- 
leiten,   wie    es    in   dem    zitierten    Buche    mehrmals    geschieht 


60  Eduard  König 

(S  41  und  51),  ist  ebenfalls  ein  unhistorisches  Verfahren.  Denn 
in  den  Quellen  ist  das  Eifern  des  Ewigen  nur  als  sein  ener- 
gisches Schützen  der  Gerechtigkeit  gegenüber  dem  Frevel  (2. Mos. 
20, 5  etc.)  und  als  seine  unentwegte  Treue  in  bezug  auf  die  Hin- 
ausführung des  von  ihm  in  Israel  angefangenen  Werkes  (Jes.  9, 
6  b  etc.)  erwähnt.  Der  Grundsatz  der  Alleinverehrung  Jahves  ist 
in  den  Quellen  aber  aus  dem  Eingreifen  der  göttlichen  Macht 
in  die  Geschichte  Israels  hergeleitet,  durch  das  er  ein  von  sei- 
nen Drängern  geängstigtes  Volk  aus  Not  und  Tod  errettet  hat. 
Daraus  quoll  im  Triumphgesange  Israels  die  Frage:  „Wer  ist  dir 
gleich,  o  Jahve,  unter  den  Göttern?'^  (2.  Mos.  15,11),  und  dar- 
aus ist  im  Eingange  des  Dekalogs  das  Grundgebot  der  Mono- 
latrie  des  ewigen  und  getreuen  Gottes  geschöpft  (20,  2f.). 

Die  Taxation  der  „Volksreligion"  Israels,  wie  sie  in  dem  zi- 
tierten Buche  zum  Ausdruck  gekommen  ist,  steht  aber  nicht  nur 
auch  noch  mit  weiteren  Momenten  des  geschichtlichen  Gesamt- 
bewußtseins Israels  im  Widerspruch,  sondern  hat  auch  die  kul- 
turgeschichtliche Analogie  gegen  sich. 

Denn  nach  dem  historischen  Bewußtsein  Israels,  wie  es  sich 
in  seiner  gesamten  Literatur  ausprägt  und  wie  es  darnach  dem 
Bewußtsein  der  von  ihm  anerkannten  führenden  Geister  entsprach, 
war  der  Gottesglaube,  den  dieses  Volk  bei  der  Errettung  aus  der 
ägyptischen  Knechtschaft  neu  und  voll  gewonnen  hatte,  auch  der 
Glaube,  der  seine  nationale  Existenz  in  Kanaan  rettete,  und  es 
läßt  sich  auch  aus  allgemeineren  Gesichtspunkten  begreifen,  daß 
Israel  ohne  diese  spezielle  Religion  im  Strome  der  vorder- 
asiatischen Kulturentwicklung  ebenso  wie  andere  Völkerschaften 
(Edomiter,  Moabiter  usw.)  untergetaucht  wäre.  Nach  dem  ge- 
schichtlichen Tatbestand  hat  Israel  überhaupt  seine  Sonder- 
stellung in  der  Geistesgeschichte  der  Menschheit  nur  durch  die- 
jenige Religion  erlangt,  die  von  den  in  der  althebräischen  Lite- 
ratur anerkannten  Rednern  (=  Propheten)  vertreten  wurde.  So- 
lange also  diese  religionsgeschichtliche  Sonderstellung  als  eine 
hohe  Stufe,  als  ein  Sieg  der  Menschheit  über  Vielgötterei  und 


Volksreligion  überhaupt  und  speziell  bei  den  Hebräern  ßl 

Bilderdienst^  sexuelle  Differenzierung  der  Gottheit  usw.  angesehen 
wird,  so  lange  ist  auch  zuzugestehen,  daß  die  von  Israel  in 
seiner  Literatur  anerkannten  geistigen  Führer  oder  religiösen 
Herolde  die  richtigen  waren.  Das  zeitweilige  und  teilweiseWider- 
streben  der  Nation  gegen  die  Anschauungen  und  Forderungen 
dieser  Sprecher  kann  ja  nicht  das  Gegenteil  erweisen,  sondern 
ist  vielmehr  ein  Tatbeweis  dafür,  daß  die  religiös-sittlichen  Ur- 
teile dieser  Männer  nicht  eine  Frucht  des  israelitischen  National- 
geistes waren.  Demnach  muß  es  dabei  bleiben,  daß  der  Gottes- 
glaube, der  von  diesen  Führern  Israels  vertreten  wurde,  die  zu 
Recht  bestehende  oder  legitime  Religion  dieses  Volkes  gewesen 
ist.  Infolgedessen  war  es  auch  fehlerhaft,  wenn  kleinere  oder 
größere  Teile  des  Volkes  Israel  von  dieser  Religion  wegstrebten 
und  abirrten.  Die  Minderwertigkeit  der  religiösen  Richtung, 
der  sie  zustrebten,  und  dies  war  eben  die  „Volksreligion^',  wird 
ja  auch  schon  dadurch  erwiesen,  daß  sie  oftmals  zugleich  einem 
orgiastisch  gearteten  Kultus,  ja  der  Tempelprostitution  zuneigten. 
Daher  wurden  diese  Teile  Israels  von  den  anerkannten  Sprechern 
Jahves  mit  Recht  nicht  nur  wegen  Untreue  gegen  die  einst  von 
Israel  als  rettende  Macht  anerkannte  Gottheit,  sondern  auch  wegen 
Verleugnung  der  höheren  sittlichen  Normen  getadelt. 

Wenn  man  für  die  von  der  prophetischen  Religion  Israels 
abfallenden  Teile  dieses  Volkes  Partei  nimmt,  so  ist  das  ferner 
auch  unter  dem  Gesichtspunkt  des  allgemein  menschlichen  Kultur- 
fortschritts nicht  richtig.  Denn  es  ist  zwar  erklärlich,  daß  in  der 
Zeit  der  politischen  Hegemonie  der  mesopotamischen  Weltmächte 
über  Palästina  die  Könige  Ahas  und  Manasse  sich  dem  assy- 
risch-babylonischen Kult  der  Gestirne  hingaben  (vgl.  meine  Ge- 
schichte, S.  352  f.) ;  aber  es  war  trotzdem  nicht  richtig.  Sagt 
man  zugunsten  Manasses,  daß  er  es  „nur  für  unbedenklich  und 
heilsam  hielt,  neben  dem  nationalen  Gott  auch  andere  Götter  zu 
verehren,  die  sich  als  mächtig  und  sei  es  als  hilfreich,  sei  es  als 
gefährlich  erwiesen"  (Ed.  Meyer,  S.  50),  so  heißt  dies  erstens 
die   Pflicht   der   Treue   verkennen,   die    ein  Volk  gegen  seinen 


62  Eduard  König 

alten  Rettergott  und  gegen  das  darauf  gegründete  Prinzip  der 
Allein  Verehrung  dieses  Gottes  besitzt,  und  zweitens  heißt  es 
aucli,  den  geistesgeschichtliclien  Fortschritt  der  Menschheit  ver- 
gessen, der  im  Siege  des  Monotheismus  über  die  Vielgötterei  liegt. 

Das  religiöse  Verhalten  von  Fürsten,  wie  Manasse,  ist  also 
von  den  Herolden  der  mosaisch-prophetischen  Religion  mit  Recht 
beklagt  und  als  Untreue  getadelt  worden,  und  wenn  Geschichts- 
schreiber Israels  dies  als  Greuel  und  Sünde  bezeichneten,  so  soll 
man  solche  Worte  teils  als  Momente  ihres  Stils  und  teils  als 
Symptome  ihres  religiös-sittlichen  Ernstes  ansehen,  aber  nicht 
als  Mittel  verwerten  ^,  um  ihre  Urteilsweise  überhaupt  und  ihren 
religions geschichtlichen  Standpunkt  zu  diskreditieren.  Oder  hat 
nicht  auch  Zarathushtra  einen  Fortschritt  gegenüber  der  mit 
Magie  verbundenen  Naturreligion  des  älteren  Iran  vertreten? 
Gewiß  urteilt  man  mit  Recht  über  den  Zarathushtrismus,  daß  in 
ihm  eine  „gereiftere  Auffassung  von  Welt  und  Leben  die  Ge- 
danken der  altiranischen  Mythologie  geklärt,  zu  allumfassendem 
Zusammenhang  erweitert,  vor  allem  sie  ethisch  verinnerlicht  und 
vertieft  hat".^  Folglich  wird  man  auch  Zarathushtra  recht  geben, 
wenn  er  in  den  alten  Gatha- Liedern  z.  B.  sagt:  „Nicht  richte 
zum  zweitenmal  der  Irrlehrer  die  Welt  zugrunde,  der  Böse, 
der  schlechten  Glauben  mit  seiner  Zunge  bekannt  hat^'  (a.  a.  0., 
S.  80).  Wird  man  ferner  nicht  vielleicht  noch  sicherer  aner- 
kennen, daß  Sokrates  gegenüber  der  griechischen  Volksreligion, 
die  z.  B.  auch  den  Dionysoskult  übte,  den  geistig-sittlichen  Fort- 
schritt des  Menschengeschlechts  vertreten  hat?  Nun  so  möge 
auch  den  Führern  Israels,  die  von  ihrer  Nation  schließlich  als 
ihre  Elite  anerkannt  worden  sind,  zugestanden  werden,  daß  sie 
ihr  Volk  auf  der  Freitreppe  des  Geistes  emporzuleiten  strebten! 

c)  Nach  allem  Vorstehenden  kann  es  jedenfalls  nicht  zweifel- 
haft sein,  daß  der  Begriff  „Volksreligion"  in  der  gegenwärtigen 
Religionsforschung  eine  sehr  wichtige  Rolle  spielt,  und  daran 

*  Wie  es  bei  Kuenen  Volksreligion  etc.  S.  76  der  Fall  ist. 

*  Oldenberg  in  Die  Kultur  der  Gegemvart  I,  III,  1  (1906)  S.  81. 


VolksreligioD  überhaupt  und  speziell  bei  den  Hebräern  63 

ist,  wie  ich  beobachtet  zu  haben  meine,  ihre  Benennung  mit 
schuld  oder  nicht  ganz  unbeteiligt.  Zwar  sollte  die  Be- 
ziehung zwischen  einer  geschichtlichen  Erscheinung  und  ihrer 
Benennung  nur  nach  einer  Seite  hin  gehen,  aber  es  ist 
erklärlich  und,  wie  mir  scheint,  tatsächlich,  daß  auch  vom 
Namen  einer  geschichtlichen  Größe,  nachdem  er  einmal  ge- 
prägt ist,  eine  Wirkung  auf  die  Abgrenzung  und  Schätzung  der 
von  ihm  bezeichneten  Sache  ausgeübt  wird.  Dies  dürfte  auch  bei 
dem  als „Volksreligion"benannten  Phänomen  nicht  ganz  ausgeblie- 
ben sein.  Leicht  wird  es  geschehen,  daß  diese  geschichtliche  Er- 
scheinung ihres  Namens  wegen  einen  zu  weiten  Daseinskreis  und 
eine  zu  allgemeine  Autorität  zugeschrieben  bekommt.  Fortgesetzte 
Untersuchung  und  allseitige  Diskussion  des  in  der  „Volksreligion" 
liegenden  Problems  wird  aber  zu  verhüten  wissen,  daß  daraus 
eine  Verdunklung  der  geschichtlichen  Wirklichkeit  erwachse. 


Au  Account  of  the  Death  Rites  and  Eschatology 

of  the  People  of  the  BougainYille  Strait 

(Western  Solomon  Islands) 

Bj  Gerald  Camden  Wheeler,  London 
[With  Map] 

Tlie  foUowing  account^  deals  with  the  Mono  people,  who 
now  inhabit  the  Islands  of  Mono,  Alu,  and  Fauru  in  the  Bou- 
gainville  Strait;  they  spread  from  Mono  about  60  years  ago, 
driving  out  the  earlier  inhabitants  from  Alu  (the  Old  Alu)  and 
Fauru. 

The  Old  Alu  culture  was  evidently  very  like  that  of  Mono, 
and  the  two  languages  differed  but  little.  In  the  following 
account  mention  will  be  made  of  some  Old  Alu  customs. 

I.  Death  Rites 

There  are  three  ways  of  disposing  of  a  dead  body: 

A.  by  b Urning; 

B.  by  burial  in  the  ground;  or 

C.  by  Casting  into  the  sea. 

Of  these   the  first  is  the  most  honourable;   the  body  of  a   la- 

laafa  (chief)  or  a  mamaifa  (woman  of  chief's  rank)  is  always 

burned.  We  shall  deal  with  these  three  methods  in  the  above 

Order. 

A.  Disposal  of  the  Body  by  Burniug 

1.  The  ceremony  of  the  burning  of  a  dead  body  of  a  wa- 
maifa  (woman  of  chief's  rank)  called  Deko  was  observed.  She 
died  at  the  village  of  Aleang  (on  the  south  coast  of  Alu),  the 


^  Cp.  also   this  Archiv  XV,  pp.  24  etc.,  321  etc.     (This  Archiv   will 
be  referred  to  as  AB)     A  more  detailed  account  will  appear  later. 


Death  Rites  of  the  Western  Solomon  Islands  65 

Chief  of  which  was  'Johnny'  Gorai,  her  father;  she  was  married 
to  Pili  'Moses',  a  commoner  (soi)  and  had  lived  at  Aleang. 

Deko  was  latu  talasagi]  Johnny  Gorai,  latu  haumana]  Pili 
'Moses',  latu  laumana} 

A  messenger  came  into  Faleta  (where  the  writer  was  stay- 
ing)  bearing  news  of  her  death;  the  Faleta  men  went  oJff  to 
Aleang,  and  the  writer  foUowed  later. 

Deko's  body  was  lying  on  a  sape  (wooden  bed)  in  a  small 
house  near  her  father's;  and  round  it  many  women  and  a  few 
men  were  wailing  and  sobbing.  Her  hair  had  been  ulo  (arti- 
ficially  blackened  and  reddened),  and  she  was  adorned  with  arm- 
rings  and  shell-money,  etc.  The  wailing  women  wore  narrow 
strips  of  leao  (the  rind  of  a  banana-like  tree).  The  wailing 
went  on  about  an  hour  after  I  arrived;  then  stopped,  and  started 
again  later. 

Presently  the  two  trade-boxes^  belonging  to  the  dead  woman 
were  brought  and  fiUed  with  many  of  her  possessions  (calico, 
knives,  and  other  European  goods);  most  of  the  things  kept 
back  were  given  to  her  children. 

Meanwhile   a   rectangular  pile  of  logs  was  being  built  up 
:  outside  for  the  pyre. 

I        Next  morning  on  again  going  over  to  Aleang  I  found  the  wai- 
ling (taofo)  still  going  on;  the  women  had  been  wailing  all  the 
(  night.    First  the  Aleang  went  in  and  wailed  in  a  party;  then  they 
i  came  out,  and  the  Faleta  men  went  in;  the  Faleta  women  went 
in  likewise  in  a  party  to  wail. 

One  action  noticed  was  that  some  of  the  women  stood  over 
the  body  and  held  out  both  hands,  then  drew  back  and  clapped 
as  if  calling  back  the  dead  woman. 

The  parties  which  went  in  to  wail  left  presents  (beads  and 
other  European  goods)  for  the  dead  woman. 


1  See  AR  XV  25. 

'  A  European  box  is  now  one  of  the  most  prized  and  necessary 
articles  belonging  to  a  native. 

Archiv  f.  Eeligionswissenschaft  XVII  6 


I 


66  Gerald  Camden  Wheeler 

Presently  some  women  began  dancing  by  the  body,  jumping 
in  unison  heavily  onto  one  foot  and  clapping  hands.  Then 
several  came  fortb  and  went  about  tbrice  round  the  pyre,  dancing 
in  tbe  same  way,  then  went  inside  the  house  again  where  the 
body  was. 

Later  a  party  of  men  from  Maliai,  another  village,  went 
into  the  house  and  wailed;  and  then  a  party  of  men  from  the 
village  of  Gaumai.  Later  on  a  party  of  Maliai  men,  including 
the  Chief  Buare,  came  in  and  wailed.  I  went  back  to  Faleta 
about  4  p.  m. 

Next  morning,  when  we  reached  Aleang,  the  body  had  been 
burning  on  the  pyre  about  half-an-hour.  Some  men  were  still 
standing  round,  wailing.  The  women  were  Walking  slowly  in 
Single  file  round  the  fire,  with  bended  heads;  presently  they 
sat  down  in  a  group  by  the  fire;  then  again  walked  slowly 
round  it,  wailing  softly. 

Later  on,  some  of  them  began  dancing  (sagini),  leaping 
heavily  onto  one  foot,  and  going  up  in  pairs  to  the  fire  and 
waving  at  it  with  their  mats.  Then  they  again  paced  slowly 
round  in  single  file. 

About  one  and  a  quarter  hours  after  my  arrival  the  whole 
pile  had  burned  down  to  the  ground,  but  some  of  the  body 
was  still  unburned.  At  this  point  the  widower  took  the  baby- 
child  of  the  dead  woman  and  walked  once  round  the  pyre,. 
carrying  the  child;  he  was  said  to  fataganini^  which  term  is 
also  applied  to  the  action  of  waving  an  offering  to  a  nitu 
(ghost)  round  objects  or  round  the  head  of  a  person.^ 

It  was  Said  that  the  widower  had  remarked,  enaroroi  natuna 
enagafulu  (When  she  has  seen  the  child  she  will  burn  all  away'). 

Presently  a  basket  of  stringed  beads  belongiug  to  the  dead 
woman's  father  was  brought,  and  the  men,  each  taking  a  few 
strings,  walked  round  the  fire  wailing,  then  threw  them  in  a 
heap  near  the  old  man  Baoi,  apparently  ofi'ering  them  to  him. 

1  Cp.  AB  XV  37,  51. 


Death  Rites  of  the  Western  Solomon  Islands  67 

Then  the  women  again  danced  as  before  {sagini).  An  old  woman 
took  a  spear  and  went  round  darting  it  towards  the  ashes  and 
elsewhere. 

Next  the  huU  of  an  old  outrigger-canoe  was  brought  fiUed 
with  water,  and  the  ashes  were  put  out.  Then  a  bowl  (in  this 
case  a  European  soup-tureen)  lined  with  calico  was  brought 
and  in  it  were  put  a  few  leafy  plants,  of  the  kind  used  for 
personal  decoration.  A  woman  sat  on  the  ground  by  the  ashes 
holding  the  bowl  on  a  pandanus-mat  on  her  knees;  and  the 
bone  fragments  were  picked  out  of  the  ashes  with  split  bamboos 
and  put  in  it.  More  leaves  were  then  laid  on  them,  and  they 
were  wrapped  up  in  calico,  and  tied  round  with  a  string  of 
shell-money  and  a  bead  Ornament. 

Meanwhile  all  the  women  went  off  to  the  sea  to  bathe. 
The  bones  were  held  on  her  knees  by  a  woman  who  sat  on 
the  sape  (woodenbed)  in  the  house  where  the  dead  body  had  lain. 
Next  the  ashes  from  the  fire  were  raked  into  a  heap  and 
put  in  a  sack;  and  the  remains  of  her  goods  which  had  not 
got  quite  burnt  up  (the  two  trade-boxes  above  referred  to  were 
put  to  burn  with  the  body)  were  put  in  another;  these  two 
sacks  were  taken  out  to  sea  and  thrown  in. 

The  women   now  came   back   from  bathing.     A  small  fire 

had  been  made  just  by  where  the  body  had  been  burned;  and 

they  formed  a  ring  facing  inwards   around  it,  and  did  sagini 

as  before.    The  bones  were  brought  into  the  ring  by  a  woman, 

she  went  round   doing  the  sagini,  as   did  two   others  darting 

i  spears.    These  actions  were  performed  at  intervals.    The  women 

who  carried  the  bones  belonged  to  the  totem-clan  (latu)  of  the 

1  father  of  Deko^  the  dead  woman,  or  were  wives  of  men  belong- 

fing  to  her  latu\  the  spear-bearers  belonged  to  this  latter  class. 

The  women  carrying  the  bones  represented  Deko's  father,  who 

could  not  come  among  women. ^ 

^  Here  we  have  evidently  a  modification  in  the  ceremony  due  to 
the  dead  person  being  a  woman. 


68  Gerald  Camden  Wheeler 

The  women  of  otber  latu  would  afterwards  carry  the  bones 
and  the  spears,  it  was  said;  and  this  would  go  on  for  four 
days,  the  women  of  all  the  villages  taking  part. 

On  this  last-mentioned  fire  a  ripe  coconut  was  broken  up 
and  put  by  an  old  man:  this  was  a  sisifala^,  and  called  tipu- 
tipulu.     He  also  spoke  to  the  foUowing  effect: 


Mono 
sisifala  ena  tiputipulu.  sanaka 
onahamaliluana.  maang  nitu 
peu  talu  emiahamaliluana  ta- 
poina  sanaka.  soa  enareko.  iana 
malei  fanua  tapoina  talaiva 
dreaaang.  enarereko  sana. 


English 
This  is  a  sisifala,  the  tipu- 
tipulu. Do  thou  grant  us  food- 
seekers   plenty    of  (non-vege- 
table)  food,  Ye  nitu  (dead)  of 
old,  do  ye  grant  plenty  of  food; 
yea  it  will  be  good.   Men  and 
women  will  eat  fish  and  Opos- 
sum; it  will  be  ever  good. 
After  this  the  women  appeared  with  their  faces  painted  with 
white  earth,  and  having  laid  aside  the  leao  (see  above). 

Next,  about  four  in  the  afternoon,  fish  having  been  caught 
and  cooked  by  the  men  in  a  fire  near  where  the  tiputipulu  fire 
was,  they  sat  down  in  two  rows  facing  one  another  and  ate 
fish  and  roasted  bananas;  this  is  called  sofafealo  (sofa  Ho  await', 
feälo  *the  sun').  The  women  were  given  a  share  in  the  house 
where  the  corpse  had  lain. 

The  men  did  not  sit  in  any  order  of  latu\  the  food  was 
spread  along  banana  leaves. 

Suddenly,  before  much  food  had  been  eaten,  the  men  caught 
it  up  in  the  leaves  and  threw  it  into  the  small  river  near  the 
village,  and  the  women  did  the  same  with  theirs,  and  the  mecal 
was  over. 

At  the  beginning  of  the  eating  a  man  made  a  sisifala  of 
fish  and  banana  on  the  fire  on  which  tiputipulu  had  been  made; 
the   dead   woman   was   asked   to   grant   success  to  fishers  and 


»  See  AR  XV  39. 


Death  Rites  of  the  Western  Solomon  Islands  69 

hunters  of  opossum.  Thus  ended  what  was  directly  observed 
by  the  writer. 

In  the  night  after  the  body's  burning  fish  is  caught,  and  a 
sisifala  is  made  (called  sofa)  before  sunrise.  At  the  following 
lafilafi^  a  sisifala  (called  famalei  ^bringing  opossum'J  of  opos- 
sum is  made.  Next  day  a  sisifala  (called  faifaiiana  'bringing 
fish')  of  fish  and  taro  is  made  early  in  the  morning.  Next 
day  a  sisifala  of  opossum  is  made  in  the  afternoon,  called 
otosabu  or  famalei.  Next  day  again  a  sisifala  of  fish  is  made 
called  funiapasa  ('hiding  the  remains'). 

On  this  day,  that  is  the  fourth  day  after  the  burning  of 
the  body,  the  bones  are  buried  before  the  sisifala.  Next  day  a 
sisifala  of  opossum  (called  faifaio  *the  laying')  is  made  in  the 
afternoon. 

This  ends  the  series  of  sisifala  with  special  names;  at  each 
of  them  the  men  and  women  also  eat  (except  at  the  tiputipulu).^ 

2.  Two  cakes  of  pisu  (pounded  taro  in  coconut-oil)  were 
put  under  each  arm  of  Deko's  body  and  bumed  with  it:  this 
was  a  tamari  (food  taken  on  a  journey).  The  tamari  is  thus 
divided  by  the  dead  person:  two  cakes  are  given  to  the  ghosts 
of  the  earlier  dead;  two  are  eaten  by  the  person  just  dead. 

With  a  dead  body  are  burned  both  property  belonging  to 
the  dead  person,  and  gifts  from  the  living. 

The  dead  person  takes  the  nunu  (soul)  of  the  goods  with 
him.  Some  of  them  the  dead  person  will  use  to  pay  the  fee 
to  Uauamai,  the  warden  of  the  road  (see  below). 

3.  The  Disposal  of  the  Bones  of  a  Burned  Body. 
While  awaiting  burial  Deko's  bones  were  to  be  kept  in  the 

small  house^  where  the  body  had  lain;  by  day  they  would  lie 
on  a  sape,  and  at  night  the   mother  would   sleep  with  them 


^  lafilafi  'the  afternoon\ 

2  There   were   discrepancies   in   the   accounts   of  the  time   of  day 
when  these  death-meals  are  held. 

'  This  house  was  not  made  for  the  pnrpose. 


70  Gerald  Camden  Wheeler 

close  beside  her.  The  women  would  sagini  during  this  period, 
as  above  described. 

It  would  seem  that  the  bones  may  be  buried  either  on  the 
second  or  on  the  fourth  day  after  the  burning;  but  the  name 
funiapasa  (see  above)  seems  to  point  to  the  latter  being  more 
usual. 

At  the  faifaiOj  the  last  of  the  main  series  of  death-meals, 
the  foUowing  will  be  said: 


Mono 
sisifala    ga     ena.     dreaeeva 
saiga  ga  talaiva.    drealeva  ko- 
kong. 


English 
Here  is  a  sisifala,  The  women 
will  work  at  the  gardens;  they 
will  plant  taro. 

This  sisifala  in  Deko's  case  was  made  by  her  father. 

Deko's  bones  were  buried  at  a  place  along  the  shore  called 
Matimati. 

The  bone  -  fragments  of  many  Alu  chiefs  (lalaafa)  and 
women  of  chiefs  rank  (mamaifa)  are  buried  at  a  place  called 
Koakai,  which  is  also  the  abode  of  the  Alu  dead  (see  below). 
But  in  many  cases  they  are  buried  in  other  places:  there  seems 
to  be  such  a  bone-burial  ground  for  each  village. 

The  hill  called  Soia^  and  the  place  called  Gaumakai^  seem 
to  have  been  such  places  for  the  Old  Alu  people. 

Over  a  place  where  bones  are  thus  buried  is  put  a  hata- 
hatalina  (mark)^,  which  is  a  bright-leaved  plant. 

It  would  seem  that  the  bones  of  a  burned  body  may  also 
be  thrown  into  the  sea.  In  Mono  to-day  such  bones  are  gene- 
rally  put  in  the  sea  at  Patu  Tegese,  a  rock  along  the  shore 
East  of  Blanche  Harbour.  Here  men  do  not  fish,  for  they  fear 
the  vengeance  (maraha)  of  the  nitu  (dead).  The  fish  apparently 
are  held  to  eat  the  bones. 

The  throwing  of  the  bones  into  the  sea  brings  us  to  an 
older  custom  which  has  now  died  out. 


*  See  AB  XV  326,  53.         »  hataling  'to  recognize',  'know'. 


i 


Death  Rites  of  the  Western  Solomon  Islands 


71 


4.  On  the  South  coast  of  Alu  is  a  tree  of  the  kind  called 
siing  which  is  still  olatu  (taboo,  holy)  for  the  foUowing  reason : 

When  a  man  or  woman  of  Chiefs  rank  died,  the  bones 
after  burning  would  be  thrown  into  a  part  of  the  sea  near 
(called  Sigesige),  and  the  basket  in  which  they  had  been  would 
be  hung  up  on  this  tree. 

We  evidently  have  here  a  reference  to  a  general  custom 
of  old  among  both  the  Old  Alu  and  the  Mono  people,  to  which 
reference  was  made  in  speaking  of  the  Totemism^,  namely  the 
custom  whereby  a  latu  had  several  particular  places  called 
keno  in  the  sea  into  which  the  bones  of  their  dead  were  thrown 
after  the  body  had  been  burned. 

The  foUowing  statement  refers  to  the  Old  Alu,  but  a  like 
custom  prevailed  in  Mono: 


Mono 
tiong  batafa  tauii  latu  bau- 
mana  enamate  dreahali.  drea'n- 
koti  ga  sumana  dreagalo  Sa- 
niavai.  niga  ea  ule  dreagalo. 
lau  dreasokula  elea  tiong  ena'n- 
koti  ga  elea  niga  (and  split  it 
open,  saying:)  *Pege  ga  ena. 
iana  emiahamatatema  emiata- 
venahama.  ati  emialuti  äü.  lama 
fanatele  äü  ga  apasana.'  enaua 
tiong  (of  latu  haumand),  ena- 
gaganama  ga  iana  drealele  ga 
potoana  dreataupong  iana  oli- 
naang. 


English 

If  a  man,  woman,  or  child 

of  latu  haumana  dies,  they  burn 

the  body;  they  take  the  bones 

and    beär    them    to    Saniavai. 

They  take  a   bunch  of  betel- 

nuts.   When   they   have  come 

there,  a  man  takes  a  betel  (and 

splits  it  open,  saying:)    *Here 

is  a  betel-offering ;  do  ye  make 

the   fish   to    come  up;  do   ye 

grant    it   me ;    do    not  refuse : 

then  I  will  give  the  bones',  says 

the    man   (of  latu    haumana). 

The  fish  comes;  they  undo  the 

fastening,   and   tip   them  (the 

bones)   into   the  fish's  mouth. 

The  fish  in  the  above  is  the  maguili,  a  very  big  kind,  and 

a  man-eater.     Saniavai  is  therefore  a  special  place  for  throw- 

'  See  AR  XV  26. 


72  Gerald  Camden  Wheeler 

ing  the  bones  of  members  of  latu  bäumana]  it  is  a  stretcb  of 
a  river  in  Alu.  As  has  been  said,  there  were  analogous  rites 
for  all  latu  at  various  places.  It  will  be  noticed  tbat  when 
tbe  offeriDg  is  made  personages  are  addressed  in  the  plural 
(see  below). 

The  Mono  people  had  the  same  rite,  and  further  details 
were  received.  The  betel  was  thrown  into  the  sea  or  water 
by  one  man;  another  threw  the  bones;  all  was  done  from  a 
canoe.  After  this  they  came  ashore,  and  the  man  who  had 
made  the  betel-offering  took  another  betel  and  said: 
Mono  JEkglish 

pege    ga    ena.    haitelea*nta.  Here  is  a  betel:  I  have  given 

emiamamatani  äü.  it  to  you;  do  ye  keep  a  look- 

out   (=  watch  over  the  dead 
person?). 

The  beings  addressed  were  said  to  be  the  dead  fafanua 
(fellow-clansmen)  of  the  dead  man. 

The  man  then  gave  it  to  him  who  had  thrown  the  bones 
away,  who  now  chewed  it.  Then  all  the  men  and  women  pick  of 
the  bunch  of  betel  and  chew;  and  then  go  back  to  their  village. 
Here  were  set  cookin g-pots  in  a  row  with  fish  or  vegetable- 
food  inside;  then 

*When*  the  people  see  the  canoe  (they  say:)  "Come  take 
the  food  out  of  the  pots,  the  people  are  Coming.  Let  the  food 
be  taken  out;  let  the  women  line  the  baskets  with  leaves  in 
the  houses;  let  the  men  do  so  outside.  When  they  have  taken 
the  food  out  of  the  höre,  let  them  give  it  to  the  women  in 
the  houses";  etc. 

Each  of  the  men  and  women  Coming  from  the  ceremony 
of  giving  the  bones  to  the  fish  brought  a  piece  of  a  certain 
creeper  between  their  fingers,  and  all  put  these  pieces  in  one 
pot;  they  were  then  thrown  out  and  the  fish  was  shared.  With 
some  of  it  a  sisifala  was  made,  and  the  following  was  said: 
*  Translation  of  native  text. 


Death  Rites  of  the  Western  Solomon  Islands 


73 


Mono 
sisifala  ga  ena.   amihaioma- 
ata  sumana.  haiteleamaata  nita 
talu.  soa  emiamamatani  äü. 


JSnglish 
Here  is  a  sisifala.  We  have 
put  his  bones  there:  I  have 
given  them  to  the  Dead  of 
old;  yea,  do  ye  look  out  (look 
after  him?). 

Then  all  ate  the  food;  and  the  ceremony  (called  funiapasa) 
was  over. 

In  this  last  prayer  what  is  said  is  that  the  bones  are  given 
to  those  who  have  died  before,  that  is,  we  must  conclude,  to 
the  dead  fafanua  (see  above) ;  and  these  are  evidently  the  nitu 
who  are  addressed. 

The  same  ceremony  was  carried  out  for  all  latu  (totem- 
clans). 

At  the  funiapasa,  as  now  carried  out  on  the  fourth  day 
after  the  body  has  been  burned  (see  above),  a  leaho  (magic) 
is  likewise  put  in  the  köre  by  all;  this  being  a  piece  of  a 
creeper  called  tdbölasdle,  which  is  put  in  one  of  the  pots  (köre) 
of  fish  by  all. 

The  following  describes  what  used  to  happen  in  Mono: 
K  Bones  ^  used   to  be  thrown  to  be  eaten  by  maguili  at  the 
rock  called  Patu  Tegese  (see  above).    If  one  was  not  seen,  what 
happened  was  as  follows: 


Mono 

'iafaua  ga  abu  oigaganama?' 

dreasaling  ga  maguili.  'onaga- 

ganama  amateleo   ga  fabiung' 

I  dreaiing.  enagaganama  enasoku 

j  enamama  dreataupong  ga  suma. 

i  enatogomi    enalefe    enagagana 

keno  olovanaang.    fanua   drea- 

.  lehe. 


English 
'Why  dost  thou  not  come?* 
they  say  to  the  maguili.  *If 
thou  comest  we  will  give  thee 
thj  fahiu%  they  say  to  it.  When 
it  comes  and  reaches  them,  and 
opens  its  mouth,  they  tip  the 
bones  in;  it  swallows  them  and 
goes  away  below  the  sea;  and 
the  people  go  back. 


Presumably  of  certain  latu  only. 


74 


Gerald  Camden  Wheeler 


Here  the  dead  person  is  called  tlie  fdbiu  of  tlie  maguili'^ 
fabiu  in  tlie  kinship  System  is  tlie  correlative  (^descendanf)  of 
tua  and  tete^y  these  latter  being  also  the  terms  for  the  totems 
of  a  latu. 

Another  such  place  where  burned  bones  were  thrown  in 
was  a  rock  called  Kugala  in  Blanche  Harbour,  Mono;  here  they 
were  given  to  the  maguili. 

Of  Siareka,  another  place  in  Mono,  it  was  said: 


Mono 
Siareka  aabau  simea  aabau 
hauafu  aabau  baumana  saria, 
suma  dreagalo  ^Koe  maguili 
enamatatema'  dreaua.  dreafa- 
sagi  patua.  enamatatema  ga 
maguili  tiga  keno  eriataupong 
ga  suma  tiga  patu.  enagalo 
maguili.  erialefema. 


English 
Siareka  belongs  to  some  si- 
mea ^  some  hauafu  j  some  hau- 
mana}     They  take   the  bones 
and   say,    ^Ho!   let  a  maguili 
come  up.'  They  make  an  offer- 
ing  on  the  rock.    When  a  ma- 
guili comes   up  from  the  sea, 
they  tip  in  the  bones  from  the 
rock;  the  maguili  bears  them 
away;  and  they  go  home. 
Niako  is  another  rock  in  Mono,  used  by  latu  talapuini  for 
the  same  purpose.    A  pig  used  to  be  put  alive  on  the  rock  to 
squeal  (koile\  and  so  attract  maguili,  to  whom  the  bones  were 
given. 

We  come  finally  to  a  being  called  Marimari,  who  seems 
to  play  the  same  part  as  do  the  maguili  in  the  foregoing  cases. 
The  following  statement  was  made:  .^ 


Mono 

boitalu  latu  baumana  drea- 
mate  sumana  dreagalo  Mari- 
mari, boo  atuaiina  dreagalo 
kiniua.    enakoile   ga   boo  ena- 


English 

Formerly  when  those  of  latu 

baumana  died,  they  would  take 

their  bones  to  Marimari.    They 

took  a  small  pig  in  the  canoe. 


1  See  ^i?  XV  25. 

2  Simea,  hauafu,   baumana  in  the  above  are,  of  course,  names  of 
latU]  that  is,  of  totem-clans. 


Death  Rites  of  the  Western  Solomon  Islands  75 


nonoma  ga  Marimari  enamata- 
tema.  dreataupong  ga  suma. 
drealefe.  suma  eriagalo  Mari- 
mari. 


Wlieii  the  pig  squealed  Mari- 
mari would  hear  it,  and  come 
up  to  the  surface.  They  would 
cast  in  the  bones;  they  would 
go  away.  They  took  the  bones 
to  Marimari. 

Marimari  is  heampeu  Jcanegana  durimo^  hiluau  ga  dorona. 
abu  iana  (nor  a  snake).  fero  elea  heampeu.  olatu:  'A  great  thing 
like  a  hand-net  to  look  at;  not  a  fish  (nor  snake),  something 
eise;  and  taboo.' 

When  it  dives  down  again  the  sea  is  troubled,  and  a  canoe 
risks  being  capsized. 

If  a  bit  of  the  Marimari's  body  gets  broken  off  and  drifts 
ashore,  and  one  of  the  latu  haumana  looks  on  it,  he  will  die. 
The  term  Jwrausi  was  used  of  such  an  action  by  one  of  this 
latu-,  this  term  denotes  the  looking  by  one  of  the  living  on  a 
nitu  (that  is,  on  any  supernatural  being,  such  as  the  Dead) ;  so 
that  Marimari  is  of  the  same  nature  as  a  nitu. 

The  Marimari  is  the  tete  of  latu  haumana.  —  Teteria  suma 
angan  sana  sumaria  haumana-.  It  is  their  tete,  which  eats  the 
bones,  the  bones  of  latu  haumana."*  Tete  is  the  name  for  a 
less  important  kind  of  totem  of  the  latu  (see  ^i2  XV  24);  in 
the  list  of  the  tete  given  before  we  find  the  hahuhusu  (or  the 
hampa)  given  as  tete  for  latu  haumana.  So  that  in  the  Mari- 
mari we  have  a  something  which  yet  is  different  from  an 
ordinary  totem. 

Now,  when  the  bones  are  given  to  the  maguili,  we  saw 
that  the  dead  person  is  spoken  of  as  its  fahiu,  which  term  is 
the  correlative  of  tete-,  and  a  pig  is  used  to  attract  both  the 
Marimari  and  the  maguili.  • 

The  maguili  and  the  Marimari  seem  thus  to  be  of  one  and 
the  same  nature.    As  the  bones  are  said  to  be  given   to   dead 
fafanua  (fellow-clansmen)  of  the  dead  person  in  the  case  where 
^  durimo,  a  hand-net  for  carrying  about  betel-nut,  etc. 


76  Gerald  Camden  Wheeler 

they  are  given  to  the  maguili,  we  must  presume  this  is  also 
the  case  when  they  are  given  to  Marimari,  which  like  the 
former  eats  the  bones. 

The  name  Marimari  is  also  applied  to  a  rock  in  Blanche 
Harbour^  where  the  hmo  (special  bone-disposal  place  in  the 
sea)  is  for  some  of  latu  simea,  and  mdlatigeno,  besides  hau- 
mana;  so  that  the  rock  is  evidently  identical  with  the  living 
creature.^ 

At  a  place  Siareka  in  Mono  if  a  säbau  (lizard)  is  seen,  the 
person  seeing  is  said  to  die,  and  the  sahau  seen  there  is  evi- 
dently olatu  (taboo,  holy).  Siareka  is  a  Iceno  for  latu  iabooti, 
whose  tua  (leading  totem)  the  sahau  is''';  so  that  if  we  take 
it  that  it  is  for  latu  iäbooti  only  that  the  sahau  is  here  olatu 
(like  the  Marimari  for  latu  haumand),  this  creature  seems  to 
be  of  the  same  nature  as  Marimari,  with  the  difference  that  it 
is  the  tua  of  the  latu. 

So  that,  finally,  the  maguili,  Marimari,  and  this  sdbau^  all 
seem  to  have  a  bond  of  likeness. 

At  certain  heno  in  rivers  the  bones  of  the  dead  were  eaten 
by  the  eels  (toloo);  in  a  few  cases  these  special  keno  for  totem- 
clans  were  represented  by  earth-burial.  Owing  to  the  undoubted 
resemblances  in  culture  between  Buim  (South  Bougainville)  and 
the  islands  here  dealt  with,  we  may  hope  to  find  there  further 
material  to  throw  light  on  the  ideas  here  given  in  a  somewhat 
fragmentary  shape. 

We  may  observe  that  a  text  was  obtained  which  belongs 
to  South -East  Bougainville,  in  which  an  eel  (toloo)  swallows 
two  men  and  lets  them  go  on  learning  they  are  bis  fafaniia 
(cp.  just  above):  while  another  text  was  obtained  where  a  man 

^  Whether  Marimari  'is  also  tete  of  the  other  two  latu  was  not 
ascertained. 

^  The  sahau  is  a  lizard.  In  the  list  of  tete  the  umau  is  tete  of  ta- 
hooti.  But  as  Siareka  is  Jceno  for  haumana  and  simea,  for  each  of  which 
a  species  of  lizard  was  given  as  tete^  we  may  have  here  a  confusion;  it 
may  be  tete  of  these  two  latu  which  are  olatu. 


Death  Rites  of  the  Western  Solomon  Islands  77 

is  swallowed  by  a  magiiili  and  cuts  bis  way  out,  tbis  text 
belonging  to  Mono. 

Tbese  tales  probably  bave  their  meaning  in  connection  witb 
tbe  foregoing. 

5.  Tbe  part  of  tbe  sea  or  river  into  wbicb,  under  tbis  earlier 
custom,  bones  of  tbe  dead  used  to  be  tbrown  —  tbat  is  a 
keno  —  was  olatu  soma  ('bigbly  taboo');  people  did  not  look 
on  it,  nor  go  to  it,  unless  wben  bearing  tbe  bones  of  tbe  dead. 

Tbe  small  maguili  could  be  eaten,  but  tbe  big  ones  tbey 
were  afraid  to  eat  because  of  tbeir  baving  eaten  tbe  bones  of 
tbe  dead. 

Of  Siareka,  one  sucb  heno,  it  was  said: 

Mono  I  English 

saria  atele  latu  aabau  simea  (Siareka)  is  tbe  river  ofsome 

aabau  bauafu  aabau  baumana.  of  tbe  latu  simea,  hauafu,  and 
atele  sinsisileang  aabau  latu  baumana.  Tbe  river  is  tbe 
ansaria  atele  nunuria.  batbing  -  place    for    tbe    nunu 

(souls)  of  some  latu  to  wbom 
tbe  river  belongs. 

Here,  tben,  we  bave  tbe  furtber  idea  tbat  tbe  dead  come 
to  batbe  in  tbeir  particular  Jceno. 

Tbe  taboo  {olatu)  on  tbe  heno  of  tbe  latu  is  one  aspect  of 
tbe  general  taboo  on  all  tbat  belongs  to  tbe  dead,  wbicb  will 
be  met  again  wben  we  deal  witb  tbe  Abodes  of  tbe  Dead. 

Tbis  institution  of  lieno  for  tbe  latu  must  bave  died  out  at 
least  fifty  years  ago,  probably  as  a  result  of  a  general  break- 
down  in  social  life  due  to  tbe  figbting  and  loss  of  life  wbicb 
came  about  in  Mono,  and  also  to  tbe  Splitting  up  of  tbe  Mono 
people  at  tbe  migration  into  Alu  and  Fauru,  after  tbe  earlier 
peoples  in  tbese  islands  bad  been  driven  out. 

6.  Tbe  dead  body  of  a  man  or  woman  of  cbief 's  rank,  tbat 
is  of  a  lalaafa  or  of  a  mamaifa,  is  probably  always  disposed 
of  by  burning;  tbis  is  tbe  most  bonorific  form,  and  evidently 
tbat  wbicb  bas  tbe  most  developed  ritual.    Most  probably  tbe 


78  Gerald  Camden  Wheeler 

body  of  a  commoner  (soi)  of  importance  miglit  be  disposed  of 
in  the  same  way. 

It  is  to  be  assumed  tbat  up  to  about  fifty  years  ago  tbe 
bone-fragments  of  a  burned  body  were  disposed  of  in  a  parti- 
cular  heno,  in  sea  or  river,  belonging  to  tbe  dead  person;  each 
latu  would  have  several  sucb  Jceno  for  its  members.  Any  sucb 
Jceno  would  generally  belong  to  certain  members  of  more  tban 
one  latu.  In  a  few  cases  tbe  lieno  were  represented  by  eartb- 
burial  of  tbe  bones  at  a  certain  place. 

Now-a-days  in  Alu  tbe  bone-fragments  are  generally  buried 
at  certain  places  witbout  any  regard  to  latii;  in  Mono  perbaps 
tbey  are  more  generally  tbrown  into  tbe  sea  at  Patu  Pegese 
(but  notbing  definite  can  be  said  on  the  relative  frequency  of 
tbe  two  metbods). 

On  tbe  otber  band  tbe  bill  Soia  in  Alu^  (and  probably 
Gaumakai  ^)  was,  as  we  bave  seen,  an  Old  Alu  place  for  bury- 
ing  tbe  bones  of  tbe  dead  (of  cbief's  rank),  so  tbat  it  would 
seem  tbat  besides  tbe  Jceno  tbere  were  also  among  tbe  Old 
Alu  general  bone-burial  places;  and  tbe  same  seems  to  be  true 
of  Mono.  So  tbat  tbe  present  custom  is  tbe  continuance  of 
one  wbicb  coexisted  witb  tbe  System  of  heno.  Tbe  institution 
of  Jceno  seems  to  exist  to-day  in  Buim,  and  we  may  expect 
furtber  ligbt  from  tbere. 

7.  Tbe  place  wbere  a  body  bas  been  burned  is  called  tbe 
mome'^  over  tbe  mome  is  planted  a  JiataJiatalina  (see  above), 
generally  of  brigbt-leaved  plants. 

Sometimes  oiferings  are  made  to  a  dead  person  at  bis 
mome,  but  tbere  is  no  taboo  attacbed  to  it.  Some  of  bis  pro- 
perty  is  often  left  on  it.  In  some  cases  tbe  bone-fragments 
are  buried  close  by. 

B,  Burial 

8.  A  less  bonoriiic  metbod  of  disposing  of  tbe  dead  body 
is  eartb- burial. 

'  See  AB  XV  326.  «  g^ß  j^j^  XY  53. 


Death  Rites  of  the  Western  Solomon  Islands  79 

The  writer  witnessed  tbe  burial  of  Kaika  (latu  fanapara), 
a  wife  (not  the  head-wife)  of  'Johnny'  Gorai,  already  mentioned 
above.  Some  of  us  went  over  to  Aleang  from  Faleta.  We  found 
the  women  wailing  round  the  body,  which  was  lying  on  a 
sape  in  J.  Gorai's  house. 

The  words  of  the  wailing  seemed  to  be:  oiisanafaü  momo- 
oani  sagu  oiisanafaü  ('Thou  hast  left  me:  I  keep  on  weeping; 
thou  hast  left  me')  repeated  over  and  over  again. 

Kaika  being  a  chief's  wife,  the  men  could  not  come  into 
the  house  to  wail;  if  they  had  wished  to  do  so,  the  body  would 
have  been  taken  out  to  another  house. 

The  wailing  over,  Kaika's  body  was  tied  up  in  a  pandanus- 
mat.  Out  of  her  trade-box  some  of  the  goods  were  left  in  the 
house;  and  the  box  with  the  remaining  contents  was  taken 
with  the  body,  and  carried  by  a  man. 

Then  we  went  in  a  procession  along  the  shore;  first  the 
body  carried  on  a  wooden  stage  by  four  men,  then  J.  Gorai, 
an  elderly  man  (Sefi),  J.  Gorai's  head-wife,  and  other  women, 
followed  by  an  elderly  man;  then  after  an  interval  came  several 
men.  So  we  walked  some  distance  to  a  place  called  Matimati. 
Here  the  ground  was  cleared  of  weeds,  and  a  grave  was  dug 
with  sticks  and  hands,  about  three  feet  deep:  some  short  lengths 
of  the  midrib  of  coconut  leaves  were  laid  at  the  bottom,  and 
on  these  some  of  the  pieces  of  the  stage  on  which  the  body 
had  been  carried. 

On  these  the  body  was  now  laid,  and  the  grave  filled  in, 
after  the  dead  woman's  trade-box  had  been  put  in  beside  the 
body;  a  pandanus-mat  had  been  laid  over  all,  and  the  rest  of 
the  stage  thrown  in. 

When  the  grave  had  been  filled  up,  cuttings  of  a  bright- 
leaved  plant  called  diri  were  planted  on  it. 

Then  Sefi  cut  down  a  coconut  tree  which  was  growing  just 
by  the  grave:  this  action  is  called  pisöko  (or  pikoso),  It  was  said: 
ena  pisoko  Kaika.   nituaang  Jiamata  enagalo:  It  is  Kaika's  pi- 


30  Gerald  Camden  Wheeler 

s6ko\  slie  will  take  it  to  the  Abo  de  of  the  nitu.^  And  Sefi 
iaro  ipisokong  magota  angimate:  'Sefi  cut  it  down;  he  made  a 
pisoJco  for  the  woman  that  had  died.' 

Afterwards  we  all  formed  in  single  file  and  so  walked  back 
to  Aleang,  going  in  the  same  Order  in  which  we  had  come,  at 
any  rate  after  the  men  and  women  had  bathed;  the  women  all 
went  in  the  sea  at  one  place  together,  and  the  men  did  so 
further  on. 

Wailing  was  going  on  in  J.  Gorai's  house  when  we  got 
back  to  Aleang;  but  was  over  before  I  left  Aleang. 

While  the  body  was  being  laid  in  the  grave  and  after,  a 
man  kept  brushing  and  waving  over  the  grave  with  a  bunch 
of  leaves :  an  action  called  sapulu  (sapusapulu). 

This  was  done  to  prevent  the  nunu  (souls)  of  those  present 
being  covered  up  as  the  grave  was  filled  in,  or  they  would  die. 
It  was  Said: 


Mono 
nunuria  fanua  bau  reanafui 
petaang.    bau  eriamate.    sapu- 
sapulu  samang. 


English 
We  do  the  sapulu  that  they 
may  not  bury  the  people's  souls 
in  the  ground;  that  they  may 
not  die. 

After  the  return  to  Aleang  (I  learnt  after)  food  was  eaten 
by  the  men  in  the  JcalofOf  and  some  of  it  sent  up  to  J.  Gorai's 
house  for  the  women.  Before  this  he  made  a  sisifäla  in  his 
house  to  the  dead  woman,  by  throwing  fish  and  taro  on  a  small 
fire  and  saying: 


Mono 
sisifäla    ga    ena.    iana    ona- 
hamaliluana. 


English 
Here  is  a  sisifäla.    Do  thou 
grant  plenty  of  fish. 


9.  There  would  seem  to  be  a  nafunafuang  (burial-ground) 
for  each  village,  where  those  not  of  chief's  rank  are  buried; 
for  Aleang  there  was  such  a  place  (called  Kovakova)  along 
the  shore.  Presumably  Kaika  was  an  exception,  as  being  a 
chief's  wife. 


Death  Rites  of  the  Western  Solomon  Islands  31 

€.  Disposal  of  the  Body  in  the  Sea 

10.  The  third  and  last  way  of  disposing  of  the  dead  is  bj 
throwing  into  the  sea  (faütupi).  The  dead  body  is  taken  out 
in  a  canoe,  and  two  stones  are  tied  to  it.  From  Faleta  they 
would  go  some  distance  out  into  the  open  sea. 

In  Mono  a  reef  called  Oilo  near  Blanche  Harbour  seems 
to  be  the  most  general  place.  Perhaps  in  the  old  days  each 
village  would  have  its  special  place  (faufautupang)  for  thus 
throwing  away  the  bodies. 

The  throwing  into  the  sea  is  the  least  honorific  of  the 
three  methods. 

I>.  MoumiDg 

11.  Of  the  personal  signs  of  mourning  some  mention  was 
made  in  speaking  of  the  burning  of  Deko's  body.  The  ilopa 
(whitening)  on  the  face  is  worn  tili  the  singsing  ceremony  (see 
below);  and  during  this  time  shell  or  grass  arm-rings  are  not 
worn.  The  signs  of  mourning  are  borne  mainly  by  totem- 
clansfolk  (fafanua)  of  the  dead  person. 

12.  One  of  the  mourning-rites  is  that  there  is  a  taboo  laid 
on  certain  persons  as  regards  their  food.  Such  persons  are 
tabooed  taro;  this  taboo  is  called  ono  {onoo);  the  ceremony  of 
freeing  a  person  from  the  taboo  is  called  singsing. 

If  a  man  or  woman  dies,  all   the  men  and  women  of  the 

laki  are  ono  to  taro,  as  are   certain  kinsfolk  outside  the  latu. 

When  a  chief  dies  all  the   people   in   all   the   villages  are 

öwo;   if  a  chief 's  child  dies,   apparently  all  the  people   of  his 

village  are  ono, 

I        When  a  person  in  a  state  of  ono  may  not  eat  taro  {hoTcong), 
j  if  he  wishes  to  eat  the  so  highly-esteemed  dish  called  pisu,  or 
any  other  food  into  which  taro  enters,  he  can  do  so  by  using  a  Sub- 
stitute for  the  taro;  such  a  Substitute  is  a  long  root  called  Äara/ai 
The  State  of  ono  is  put  an  end  to  by  the  carrying  out  of 
a  ceremony  called  sing  sing} 

^  siing  'to  eat  fish',  singsing  is  a  Substantive  formed  by  reduplication. 

Archiv  f.  Keligionavviasensclialt  XVII  g 


82  Gerald  Camden  Wheeler 

At  a  feast  given  on  a  certain  occasion  tlie  singsing  was  per- 
formed  on  one  Kililimum  and  his  wife.^,  Before  the  sharing 
out  of  the  food  Kaika  (latu  haumana)  took  two  (or  three) 
cakes  (hohoho)  of  pisu  on  a  leaf,  which  was  laid  on  a  bead- 
ornament  called  a  Jcia]  he  put  this  on  the  palm  of  his  hand 
and  passed  it  round  Kililimum's  head,  and  then  round  that  of 
the  latter's  wife :  each  of  them  then  ate  a  hohoJco.  The  leaf  was 
thrown  away;  and  the  Jcia  put  back  in  the  house  of  the  man 
to  whom  it  belonged.  This  is  the  ceremony  called  singsing, 
Kililimum  then  ate  pisu  before  the  other  food. 

Another  time  the  singsing  was  seen  carried  out  over  two 
women;  one  being  ono  after  the  death  of  her  son  (of  chief's 
rank);  the  other,  after  the  death  of  her  husband;  the  ceremony 
was  carried  out  by  an  old  man,  father  to  one  of  the  women. 
The  first  of  the  two  had  been  ono  for  seven  moons,  the  second 
for  about  one  and  a  half. 

The  waving  thus  of  the  Ma  and  taro  round  the  head  seems 
to  denote  the  offering  of  the  objects  to  the  dead  person,  and 
to  have  essentially  the  same  purport  as  the  waving  of  objects 
round  a  sick  person's  head  when  a  nitu  is  invoked  to  ward  off 
sickness.^ 

For  a  dead  chief  the  ono  is  for  three  moons ;  then  the  sing- 
sing is  done  with  pig  and  pisu  by  an  old  man  over  each  man 
and  woman.  The  singsing  may  be  looked  on  as  ending  the  death 
rites;  though  possibly  in  the  case  of  a  chief  there  were  two 
further  feasts,  at  the  latter  of  which  there  was  music  and  dancing. 

tahutabu  may  also  be  used  to  denote  ono]  as  was  seen 
before^  tahu  or  tahutabu  is  used  to  denote  the  totem  of  a  latu 
forbidden  as  food. 

*  Kililimum  was  a  Buim  man  married  to  a  Mono  woman,  and  lived 
in  Faleta.  He  was  ono  as  being  of  the  same  latu  as  the  dead  child  of 
Kipau,  chief  of  Gaumai;  the  child  was  of  a  Buim  woman  and  its  latu 
is  not  represented  in  Alu,  so  that  Kililimum  was  the  only  ono  persoD, 
together  with  his  wife. 

»See  AR  XV  60.  »  See  AR  XV  26. 


Death  Bites  of  the  Western  Solomon  Islands 


88 


13.  There  are  other  food  taboos  in  mourning. 

After  Deko's  death  (see  above)  her  father  told  me  that  for 
one  day  he  was  going  to  tahutahu  (not  eat)  a  certain  food  called 
ottj  because  he  and  she  ate  of  the  same  piece  while  she  was  alive. 

So  Baoi,  after  the  death  of  his  daughter's  son,  Mukolo,  did 
not  drink  coconut-water,  apparently  because  it  was  the  dead 
child's  drink,  or  perhaps  for  the  same  reason  as  in  the  last  case. 

Another  kind  of  food  taboo  is  the  foUowing: 

When  I  was  in  Mono  the  Mono  woman  Kinlesia,  a  ma- 
maifa  and  widow  (she  had  married  again)  of  Gorai,  a  chief 
was  still  ono  (note  the  term)  to  rice  and  sardines  (trading 
goods,  of  course),  and  was  going  to  und  ergo  singsing.  The 
reason  was  as  foUows: 


Mono 
Sardine  raisi  aan  sana  imate 
ga  sana  kanega.  oaua  ga  iono 
sardines  raisi. 


English 
While  he  ate  sardines   and 
rice,  her  husband  died.     That 
is  why  she  is  ono  to  sardines 
and  rice. 
The  foUowing  generalized  statement  was  made: 


Mono 
elea  tiong  enaaofo  sana  lale 
enamate  enaaäng  beampeu  da- 
rami  enafagafulu  darami  ena- 
mate Sana  fanua  sana  batafa 
enatabutabu  beampeu. 


English 
If  a  man  is  sick,  and  when 
he  dies  he  eats  something 
which  is  food,  and  when  he 
has  finished  the  food  he  dies, 
a  totem -clansman  of  his,  or 
his  wife,  will  refrain  from 
eating  this  said  thing  (that  is, 
the  kind  of  food  he  ate  while 
sick). 

All  his  fellow-clansmen  dreotdbutdbu  Icolcong  (will  refrain 
Vom  taro). 

14.  On  the  death  of  a  person  all  his  or  her  fafanua  (totem- 
lansmen)  take  new  names;  so  too  do  certain  kinsfolk  outside 
he  lata. 

6* 


g4  Gerald  Camden  Wheeler 

15.  There  are  certain  rites  less  directly  connected  with  a 
death.  A  feast  may  be  given  to  one  man  by  anotber  for  help- 
ing  in  tbe  deatb  rites  of  a  kinsman  of  tbis  latter's. 

Tbe  writer  witnessed  a  feast  and  dance  given  at  Maleai  in 
Alu  by  Buare,  tbe  cbief,  to  Baoi,  an  old  man  of  Faleta  (of 
wbicb  be  was  practically  tbe  cbief),  because  after  tbe  deatb 
of  Buare's  two  cbildren^  Baoi  bad  given  bim  pigs  and  otber 
food,  and  Jcekeve  (beads).  Buare  bad  done  sisifala  (witb  tbe 
pig)  to  each  of  tbese  cbildren,  and  tbe  pigs  etc.  were  eaten 
by  tbe  people  of  Maleai.  So  Buare  now  was  to  give  pigs,  and 
otber  food,  and  kekeve  to  Baoi,  and  bold  tbe  dance;  Baoi  would 
give  away  tbe  pigs  etc.  to  tbe  men  of  Faleta  and  Aleang  (tbe  ] 
village  beyond  Faleta). 

At  tbe  feast  tbere  were  over  30  bundles,  eacb  of  100  one- 
fatbom  strings  of  beads,  and  some  Ma  (bead-badges),  all  bung 
along  poles.  Buare  made  a  little  speecb,  wbicb  was  sbouted 
out  loud  by  anotber  man,  wbicb  I  was  told  described  tbe 
reasons  for  tbe  gift. 

Tbe  Faleta  men  went  away  next  day.  Baoi  before  leaving 
made  a  gift  of  two  or  tbree  pigs  to  Buare,  wbicb  would  be 
eaten  by  tbe  Maleai  people  after  Baoi  left. 

II,  Eschatology 
A.  Death 

1.  Tbe  following  is  tbe  account  of  tbe  origin  of  Deatb: 


Mono 
boitalu  batafa  igagana  au 
aana  au  sana  imagota.  ipaite 
ulina.  igagana  atelea.  ifogali 
ulilina.  iisang  atelea.  ilefe  ba- 
mata(ang).  ifulau  faviuna.  *Koe. 
oiafaua  oifulauuta?  e  mafa  fai- 
magota  ga.   baifogali  gau  uli- 


English 
Once  upon  a  time  a  woman 
went:  as  time  went  on  and  on 
sbe  bad  got  old,  ber  body  bad 
got  sickly:  sbe  went  to  a  river: 
sbe  took  off  ber  skin,  and 
tbrew  it  away  into  tbe  river. 
Sbe  came  back  to  tbe  village. 


*  One  at  least  died  about  twenty  years  ago. 


Death  Rites  of  the  Western  Solomon  Islands 


85 


ligu.'  ifulau.  itai.  ilaui  male, 
ifarakapi  ulilina.  ilefe  *u.  ue' 
iua.  imagota.  imate.  isoma  ga 
fanua.  mamate  saraata. 


Her  grandchild  was  afraid: 
^Ohl  why  art  thou  afraid?  I 
got  old,  so  i  took  off  my  skin.' 
He  was  afraid  and  wepi  She 
went  away,  and  put  on  her 
skin  again.  She  came  hack: 
*u,  ue'  she  hummed.  She  became 
old:  she  died:  men  came  to  an 
end;  we  go  on  dying. 

The  old  woman's  name  is  Foifoiti.  The  river  into  which 
she  threw  her  skin  is  in  Mono  and  is  called  Meokoia;  it  runs 
into  the  Palusua  river,  which  comes  into  the  sea  east  of  Blanche 
Harbour. 


It  was  Said: 

Mono 
ape  efulau  fabiuna  ape  taka- 
1  nega  tapoporofaulu  sara.  ifulau 
fabiuna    ga   kakakanega   sara. 


JEnglish 
If  her  grandchild  had  not 
been  afraid,  we  should  not  get 
old,  we  should  be  ever  young. 
Her  grandchild  was  frightened, 
so  we  get  old. 

The  motive   of  throwing   away   one's   skin  was   also  found 

j  in   another   text,  where   one   man  takes   on  the  comeliness  of 

another  by  the   latter   giving  him  his   skin;  the  condition  of 

the  skin  is  an  important  factor  in  the  Mono  idea  of  personal 

beauty. 

Another  conception  as  to  Death  is  that  when  a  man  is  going 
to  die  his  nunu  (soul:  see  below)  is  caught  hold  of  and  taken 
bv  Fetunu-,  Fetunu  is  the  name  for  a  shooting-star  and  is  a 
nitu,  that  is  supematural  being.  Then  Fetunu  falls  {aga),  and 
the  man  dies,  it  may  be  several  days  later. 

mate  *to  die';  there  is  also  a  less  common  word,  loloa, 
Many  of  the  ideas  on  death  are  to  be  gathered  from  what  is 
Said  of  the  soul  (nunu)  and  its  journey  after  death  (see  below). 


36  Gerald  Camden  "Wheeler 

The  conceptions  held  ab  out  the  nunu  go  to  show  that  there 
is  not  the  clear  line  drawn  between  Life  and  Death  with  which 
Europeans  are  familiär.^ 

In  the  case  where  Kalola  feil  from  the  tree  and  had  his 
nunu  taken  by  the  Ome^  he  was  in  one  account  mourned  for 
as  dead  {imate)\  but  Baoi  said  that  he  did  not  die.  isahy  the 
contradictory  of  matCj  was  used  to  describe  his  return  to  con- 
sciousness. 

The  want  of  definition  between  life  and  death  is  seen  too 
in  the  contradiction  found  in  the  conception  of  the  nunu  (soul); 
at  one  time  it  is  looked  on  as  the  necessary  vital  principle; 
at  another,  as  a  something  which  can  leave  the  body,  causing 
only  injury  and  not  death. 

There  seems  to  be  an  idea  of  a  kind  of  intermediate  state. 
This  is  seen  also  in  the  belief  that  the  nunu  of  a  sick  man 
may  wander  from  his  body  a  certain  distance  along  the  path 
of  the  dead  without  death  resulting  provided  it  is  sent  back 
to  the  body:  Uauamai,  the  warden  of  the  Path  of  the  Dead, 
recognizes  such  a  nunu  when  it  reaches  him  (see  below). 

In  sleep  the  nunu  is  not  held  to  leave  the  body:  elea  tiong 
enasuele  nununa  enasuele  abu  enaferogagana:  ^When  a  man  sleeps 
his  nunu  sleeps,  it  does  not  go  off  elsewhere.' 

mate   therefore   denotes   both  ^death'  and  ^unconsciousness' 

(other  than  sleep). 

B.  The  Soul 

2.  Every  person  has  a  nunu, 

nunu  is  1)  the  lasting  principle  or  essence  of  a  human 
being;  ^soul'  may  be  used  as  the  equivalent  in  English;  2)  the 
shadow;  3)  the  reflection  in  water. 

nunu  is  used  always  with  possessive  Suffixes  {nunugii  ^my 
nunu%  etc.,  like  parts  of  the  body). 

^  I  must  acknowledge  the  suggestions  on  points  in  Eschatologj  which 
I  have  found  in  Dr.  W.  H.  R.  Rivers's  article  {The  Primitive  Conception 
of  Death)  in  Vol.  X  No.  2  of  the  'Hibbert  Journal'. 

«  See  AR  XV  356. 


Death  Rites  of  the  WeBtern  Solomon  Islands 


87 


The  following  was  a  statement  made: 

Mono 
maha  fanamate  nunugu  ena- 
nitu.  maha  fanamate  nunugu 
lau  enationg  nitua  nitu  saria 
hamataang.  uligu  enasolo  ena- 
laina  enaue  enasoma.  oa  nu- 
nugu (pointing  to  reflection  in  a 
glass)  enationg  nitu  saria  ha- 
mataang. 


English 
When  1  die  my  nunu  will 
become  a  nitu^]  when  I  die 
my  nunu  then  will  become  a 
man  in  the  place  of  the  nitu 
(dead).  My  body  will  rot,  will 
stink,  will  disappear,  come  to 
an  end.  That  nunu  of  mine 
(pointing  to  reflection  in  a 
glass)  will  become  a  man  in 
the  abode  of  the  Dead. 


Death  is  the  definitive  Separation  of  the  personal  nunu  from 
the  body.  This  is  seen  in  the  following  statement: 


Mono 

tiong  enaaofo  sana  enaua  ga 

nitu  *ape  enamate.   mona  aofo 

sana'  enaua  ga  nitu.   enanono 

Iga  tiong  (dondoro).    *0.   tiong 

tape  enamate.  mona  aofo  sana. 

enasale'    enaua    ga    dondoro. 

lenasale    ga    tiong.    lau    tiong 

elea   enaaofo    sana    enagagana 

iga  dondoro  sana  nitu.  lau  eri- 

aroroi.    enaua    ga    nitu  'tiong 

inununa  apeai  ga.  enamate  ga' 

lenaua  ga  nitu.  enamate    tiong 

jnununa  lau  enationg.  enanitu. 


English 
If  a  man  is  sick,  and  the 
nitu  (see  below)  says  'he  will 
not  die:  his  being  sick  is 
nothing'  (says  the  nitu\  the 
dondoro  will  hear.  'Yes,  the 
man  will  not  die:  this  illness 
of  his  is  nothing;  he  will  liye' 
says  the  dondoro.  The  man 
will  live.  If  a  man  is  sick  the 
dondord's  nitu  will  go.  Then 
they  (the  nitu  and  his  dondoro) 
will  see  him.  If  the  nitu  says 
'The  man's  nunu  is  not  there, 
he  will  die'  (says  the  nitu), 
he  will  die.  The  man's  nunu 
will  then  become  a  man:  it 
will  become  a  nitu. 


"■  See  ^i?XV33. 


38  Gerald  Camden  Wheeler 

And  nununa  enagogana  sana  nituaang  Jiamata  ('His  nunu 
will  go  to  the  Abode  of  the  Dead'). 

In  tlie  foregoing  the  nitu  first  referred  to  is  the  particular 
nitu  speciallj  associated  witli  a  Seer,  that  is  a  (tiong)  dondoro} 
Here  we  seem  also  to  have  the  idea  that  the  nunu  leaves  before 
actual  death  (enamate). 

A  seer  (dondoro)  has  the  power  also  of  seeing  the  nunu 
of  a  man  that  has  died,  apparently  before  he  is  known  really 
to  be  dead,  and  when  it  is  on  its  way  already  to  the  Abode 
of  the  Dead. 

It  was  seen  in  the  treatment  of  the  Religion  (AB  XV  35ä 
— 357)  that  two  kinds  of  nitu  (supernatural  beiugs)  called 
Sakusaku  and  Ome  have  the  attribute  of  carrying  off  the  nunu 
of  human  beings. 

The  Sakusaku  may  take  off  the  nunu  of  a  baby  to  their 
cave;  a  tiong  dondoro  is  then  called  in  and  sends  off  his  own 
special  nitu,  who  brings  it  back;  its  departure  does  not  involve 
the  child's  death. 

The  Ome,  it  was  also  seen,  can  carry  off  the  nunu  of  unborn 
children.  The  case  was  also  given  of  one  Kalola,  now  a  grown 
man,  who  as  a  child  feil  from  a  tree  and  had  his  nunu  taken 
away  by  the  Ome,  who  it  would  seem  still  kept  it,  he  as  a 
result  being  half-witted.  But  in  this  case  we  have  contradictory 
views,  for  Kalola's  nunu  is  also  spoken  of  as  now  in  his  body. 
We  seem  indeed  to  see  a  two-fold  conception  of  the  nunu:  in 
one  aspect  it  is  a  vital  principle  whose  absence  means  Death; 
in  the  other  it  is  a  something  whose  absence  from  the  body 
means  injury  to  the  mind,  but  not  death 

The  former  view  is  seen  in  the  purpose  assigned  for  the 
sapusapulu  rite  at  Kaika's  burial  (see  above,  p.  80). 

What  happened  to  Kalola  seems  to  be  only  a  special  case 
of  what  may  happen  anywhere  to  a  man  falliug  from  a  tree* 

The  Statement  was  made:  If  a  man  falls  from  a  tree,  an( 

'  See  AR  XV  43. 


Death  Rites  of  the  Western  Solomon  Islands 


89 


English 
he  does  not  die,  we  call  to 
him.  We  light  a  fire  in  a 
broken  clay-pot  {korejj  we  put 
the  broken  Jcore  up  on  sticks. 
We  light  the  fire;  then  we 
hail  the  man  who  has  fallen; 
we  go  on  hailing  (said  three 
or  four  times).  We  look  at 
the  fire.  If  the  nitu  comes  and 
says  V  and  the  fire  is  not 
scattered,  it  is  another  nun. 
Then  we  go  on  hailing,  and 
hailing,  and  hailing.  If  he  says 
^hu'j  and  the  fire  is  scattered, 
we  say,  The  nunu  of  the  man 
who  feil  has  come  back  here; 
he  will  not  die.'  We  stop  call- 
ing  out  to  him.  The  man  is 
alive;  he  will  live;  he  will  not 
die',  we  say.  If  we  keep  on 
calling  to  him  tili  we  are  weary, 
and  he  does  not  shout  an 
ans  wer,  and  does  not  scatter 
the  fire,  we  say  The  man  will 
die'.  The  man  will  die  who 
has  fallen  from  the  tree. 
This  is  done  at  lafilafi  (afternoon),  not  at  Idlena  (morning): 
fealo  enasoso  (The  sun  will  be  setting').  When  the  man's  mmii 
arrives  the  fire  scatters  and  the  pot  falls  off  the  tripod. 

The  feropeu  nitu  who  answers  V  is  a  man  who  was  murdered 
(lapii)  before,  or  killed  in  war;  one  that  has  not  died  a  natural  death. ^ 

^  Probably  the  underlying  meaning  is  that  he  has  not  had  the  death 
rites  carried  out  over  his  body.     See  further  below. 


Mono 
abu  enamate  amaiole.  feli 
amahatori  bararaang.  au  ama- 
haiosai  barara.  amahatori.  ala 
amahokui  tiong  angenasololo. 
amahohoku  samang  (said  three 
or  four  times).  feli  amaroroia 
samang.  *u'  enauama  nitu  feli 
abu  enatalule  feropeu  nitu.  lau 
amahohoku  samang.  lau  ama- 
hohoku samang.  lau  amahohoku 
samang.  *hu'  enaua  lama  ena- 
bembebe  feli  ^tiong  angisololo 
nununa  sokumaata.  abu  ena- 
mate' amaua.  amasoma  foku. 
'tiong  salena,  enasaleeta.  ape 
enamata'  amaua.  araamekoiole 
ape  enatave  feli  ga  ape  enarule 
Hiong  enamateeta'  anlaua,  ena- 
mate ga  tiong  angenasololo. 


90  Gerald  Camden  Wheeler 


I 


aor 


In  the  above,  note  that  the  separated  nunu  can  utter  sounds, 
and  has  material  substance;  and  the  use  of  future  prefixes 
(Vill  die').  We  seem  here  (and  in  Kalola's  case  given  under 
the  Ome^)  to  see  a  kind  of  intermediate  state  neither  life  nor 
death,  the  nunu  lingering  somewhere  near  the  body. 

3.  The  nunu  of  Things. 

It  has  been  seen^  that  an  offering  made  to  a  nitu  has  a  nw 
In  any  sisifala^  it  was  stated:  feli  (felia?)  onafaio  onasisi- 

fala  nununa  darami  enaang  nitu  (*If  you  lay  it  on  the  fire  and 
make  a  sisifala,  the  nitu  eats  the  nunu  of  the  food'),  and  mani 
abu  amaroroiri  ga  nitu.  darami  nununa  ga  dreaaang.  (*We  do 
not  see  the  nitw^  they  eat  the  nunu  of  the  food'.)  A  dead 
person  takes  with  him  the  nunu  of  the  goods  destroyed  along 
with  his  body. 

4.  Certain  other  Psychological  Conceptions.  ■ 
kare   ^strength',   'power',    'force',   as   a  verb  'to  have  these 

qualities'. 

It  was  on  one  occasion  used  of  the  supernatural  power 
Coming  from  a  nitu  of  foreign  origin,  and  having  physical 
effects;  but  this  use,  practically  equivalent  to  the  Polynesian 
mana,  there  is  reason  to  hold,  is  foreign  to  Mono-Alu. 

In  a  village  a  post  was  once  set  up  to  drive  away  evil  nitu^ 
from  a  sick  woman.  She  died,  and  the  post  was  taken  away. 
Of  it  was  Said:  ipaite  ('it  was  no  good'),  and  abu  ikare  ('it  was 
not  strong,  powerful'). 

karCy  therefore,  approaches  the  idea  of  mana, 

uli  ^body',  and  takes  possessive  Suffixes;  in  a  statement  above 
(p.  87)  it  is  contrasted  as  perishable  with  the  lasting  nunu. 

Sometimes  uli  is  equivalent  to  a  pronoun:  in  a  song  we 
find  ulira  tivora  'we  were  alone',  lit.  'our  bodies  were  alone'; 
and  in  a  text  occurs  faipeko  roro  uling  'I  want  to  see  thee' 
(lit.  'thy  body'). 


»  See  AR^Y  356.  *  See  AB  XV  41,  331.  »  Cp.  AB  XV  ö2. 


Death  Rites  of  the  Western  Solomon  Islands  91 

Also  we  find  a  man  addressing  himself  with  the  words: 
üligu  ahu  egu  areai  *0  my  body,  it  is  not  speech  of  me'. 

tia  *belly',  and  is  used  with  possessive  suffixes. 

This  Word  is  used  as  a  verbal  infix  to  denote  the  seat  of 
the  emotions:  —  tiamdko  Ho  be  pleased':  —  tiapaite  *to  be 
sad,  angry,  vexed,  grieved'. 

C.  The  Life  after  Death 

5.  The  Journey  of  the  Dead. 

After  a  person's  death  his  nunu  goes  away  and  lives  as  a 
nitu  in  an  Abode  of  the  Dead.  On  the  more  general  view  the 
nunu  first  goes  to  Bareka  in  Bougainville,  and  then  comes 
back  to  the  island  to  which  it  belonged  in  its  lifetime.  We 
first  describe  the  journey  of  the  nunu  after  death  to  its  abiding 
place. 

The  foUowing  statement  gives  the  general  doctrine: 


Mono 
tiong  fafungmate  enagagana 
Bareka  ga  nununa.  /nau  ena- 
rekorekoma  ga  ulina.  ala  ena- 
lehema.  lama  dreaäü  saria  hama- 
taang  Koakai. 


English 
When  a  man  first  dies,  his 
nunu  goes  to   Bareka.    There 
his  body  gets  all  right.  Then 
it  comes  back  here.  Then  they 
(that  is,   the  Dead)   will  stay 
in  their  abode,  Koakai. 
This  is  what  happens  for  Alu  people:   the  Mono   dead  go 
to   Bareka,   and   come   back   after wards   to    Ofale   or  Falamai, 
which  are  in  Mono,  as  Koakai  is  in  Alu.     The  Fauru   dead 
come  back  to  Fauru. 

The  accounts  of  the  itinerary  of  the  Dead  were  not  whoUy 
in  agreement  as  to  details;  this  may  be  set  down  at  least  in 
part  to  a  certain  confusion  arising  from  the  present  Alu  people 
being  settlers  from  Mono  within  living  memory.  By  combining 
the  Statements  we  arrive  at  the  foUowing  probable  account. 
A  person  dying  in  Mono  first  of  all  (that  is,  his  nunu) 
dives   (aga)   from   a   high   rock  called  Fetunu  into  the  sea  to 


92  Gerald  Camden  Wheeler 

bathe  and  comes  up  again.  Fetunu  is  on  the  south  side  of 
Stirling  Island,  which  is  close  to  Mono  on  the  south  side, 
making  with  it  the  so-called  ^Blanche  Harbour'.  Thence  the 
nunu  goes  to  Ilina,  an  island  rising  to  a  great  height^  and 
lying  between  Fauru  and  Bougainville;  here  it  dives  into  the 
sea  and  bathes;  then  goes  to  Papau  in  Bougainville. 

When  a  man  dies  in  Alu^  he  first  of  all  dives  (aga)  into 
the  sea  and  bathes  at  Bambagiai,  a  place  in  south-east  Alu 
just  by  the  present  government-station;  there  used  here  to  be 
a  coconut  tree  which  was  nitu  saria  agaagang  (Hhe  diving- 
place  of  the  dead').  From  Bambagiai  the  Alu  dead  go  to 
Ilina,  thence  to  Papau,  taking  the  same  road  as  the  Mono 
dead.  The  Fauru  dead  after  (presumably)  diving  into  the  sea 
and  bathing  at  some  place  in  Fauru,  go  to  Ilina  and  Papau 
like  the  Mono  and  Alu  dead. 

Thus  probably  in  the  case  of  all  three  islands  the  ways 
of  the  dead  all  meet  at  Ilina;  thence  they  go  to  Papau  and 
the  other  places  now  to  be  mentioned  in  Bougainville. 

Papau  is  a  rock  on  the  shore  in  Buim.  From  Papau  the 
dead  go  to  a  rock  on  the  shore  in  Kieta  called  Baripoa;  here 
is  the  nitu  Uauamai,  and  what  happens  will  be  described  below. 

After  Baripoa  the  soul  (unless  it  does  not  give  the  fee  to 
Uauamai)  goes  to  Dandaronauang  (see  below);  thence  to  Siropa, 
a  rock  by  the  sea;  here  there  is  a  tree  overhanging  the  sea, 
up  which  the  nitu  (dead  person)  climbs  and  then  dives  and 
bathes.  Then  he  goes  to  a  river  called  Turiono  in  Kieta 
(coming  out  into  the  sea  at  a  stretch  of  land  called  Mapili 
or  Mapiri);  here  he  bathes,  and  walks  about  (men  see  the 
footprints  on  the  sea  shore).  From  here  he  goes  to  Bareka 
which  ends  his  journey  away  from  bis  island. 


'  See  British  Admiralty  'Sailing  Directions*. 

^  This  may  have  been  true  of  the  Old  Alu  people;  and  only  par- 
tially  assimilated  as  a  belief  in  their  own  case  by  the  Mono  settlers  who 
came  after. 


Death  Rites  of  the  Western  Solomoh  Islands 


93 


All  the  dead  go  througli  the  same  journey  (unless  they 
leave  Uauamai  unpaid  at  Siropa;  see  below). 

From  Bareka  the  Mono  nitu  (dead)  are  taken  when  their 
bodies  are  well,  by  fafanua  (fellow-clansmen)  to  Besara  or 
Falamai  in  Mono,  places  of  the  dead. 

Alu  nitu  come  back  to  Koakai  in  Alu.  The  Fauru  nitu 
come  back  to  Sigoai  in  Fauru.  These  are  the  final  Abodes 
for  the  Dead  of  these  islands  respectively.  Such  is  the  general 
itinerary  of  the  Dead:  certain  points  arising  from  it  will  now 
be  developed. 

6.  Some  statements  by  the  old  man  Baoi  may  be  given: 
Mono 


tiong    enamate    enaali    felia 

enatutulu  nununa.    enagagana. 

lau  enasoku  Baripoa.   (At  Ba- 

ripoa)  äü  sana  Uauamai.  enaua 

ga  Uauamai   ^maito    fina  ona- 

bilu?    onateleafa  beampeu  soa 

onabilu'  enaua  Uauamai.  ena'- 

nkoti  ga  peu  (kekeve,  perasale 

momolu)    nununa    enatele    ga 

Uauamai.    ^Soa.   bilu  tia.  toka 

ga  poa  ea'  enaua  ga  Uauamai. 

ala    enabilu.     enabilu    Siropa. 

i  lau   kenoa    enaabala    ala   ena- 

I  gagana   Bareka.    lau    enasoku 

\  nituaang  famata. 


English 
When  a  man  dies  and  is 
burnt  in  the  fire,  bis  nunu 
will  rise  up.  It  will  go.  Then 
it  will  come  to  Baripoa  (a 
rock  at  the  sea's  edge).  (At 
Baripoa)  is  Uauamai.  Uauamai 
will  say  ^Thou,  whither  art 
thou  going?  If  thou  givest  me 
something,  thou  shalt  go  on 
thy  way',  U.  says.  It  (the 
nunu)  will  take  something  (one 
fathom  of  beads,  or  shell-mo- 
ney);  the  nunu  will  give  it 
(or  the  nunu  of  it)  to  Uauamai. 
'Right.  Go  thy  way;  take  that 
path',  Uauamai  will  say.  Then 
it  will  go  its  way;  it  will  go 
on  to  Siropa.  Then  it  will 
dive  down  into  the  sea.  Then 
it  will  go  to  Bareka;  then  it 
will  reach  the  abode  of  the 
nitu  (plur). 


94  Gerald  Camden  Wheeler 

The  dead  person  smears  the  rock  Siropa  witli  earth;  the 
marks  are  seen  by  living  men  who  say:  tiong  imate.  alauuta 
iilopa.  ('A  man  is  dead;  he  has  just  made  a  mark').  A  yovinger 
man  or  a  woman  smears  loto  (that  is  probably  red  earth);  a 
fuU-grown  man  smears  fioi  (a  white  earth). 

It  will  have  been  noted  that  at  various  places  the  dead 
dive  (aga)  into  the  sea;  from  a  remark  made  in  another  con- 
nection  this  would  seem  to  be  to  cool  the  body  after  the 
burning  of  it. 

In  this  connection  it  may  be  remarked  that  aga  is  the 
term  used  to  deoote  the  falling  of  a  shooting-star,  which  is 
called  fetunu.  Fetunu  is  the  name  of  the  first  diving-place  in 
Mono  (see  above).  Further  Fetunu,  the  shooting-star,  is  a 
nitUy  and  its  falling  foretells  the  death  of  someone  (see  above). 
So  that  there  seems  to  be  a  definite  connection  of  thought 
between  the  falling  of  a  star  and  the  diving  into  the  sea  of 
the  dead;   to    both   of  which  actions  aga  is  the  term   applied. 

In  Baoi's  account  the  nitu  Uauamai  occurred:  this  brings 
US  to  an  important  set  of  ideas. 

7.  Uauamai,  the  Warden  of  the  Road. 

The  soul  on  its  way  to  Bareka  meets  Uauamai  at  Baripoa. 
In  the  account  before  given  the  nunu  gives  a  gift  to  this  nitu^ 
and  is  shown  the  way,  so  Coming  to  Bareka.     Said  Baoi: 


Mono 
tiong  abu  enatele  Uauamai 
Uauamai  enalutim  ^sang  be- 
ampeu  fina  ga  maitonana?  ale 
enateleo?'  enang  ^Aisa  ea  ga 
toka  poa  eang'  enaua  ga  Uaua- 
mai. boo  auau  saria  poa  ga 
enatoka.  enasoso.  abaang  ena- 
gagana. 


English 
If  a  man  does  not  give  to 
Uauamai,  if  he  refuses  Uaua- 
mai; if  he  says  to  him  ^Where 
is  the  thing  for  thee,  thee 
indeed?  Who  will  give  itthee?' 
Uauamai  will  say,  'Come! 
follow  this,  this  way.'  He  will 
foUow  the  path  of  the  pigs 
and  dogs.  He  will  lose  his 
way;  he  will  go  into  the  bush. 


Death  Rites  of  the  Western  Solomon  Islands 


95 


If  the  man  gives  the  gift  to  üauamai, 


Mono 
rekona  poa  enatoka.  lau  Si- 
ropa   enaabala.     enasisiu.    ala 
enabilu  Bareka. 


English 
he  will  take  the  right  path. 
Then   he    will    dive    down    at 
Siropa;    he    will    bathe;    then 
he  will  go  on  to  Bareka. 

AU  the  Dead  have  to  give  this  gift  to  Uauamai.  If  the 
dead  person  gives  the  gift,  before  Coming  to  Siropa  he  comes 
to  Dandaronäüang,  where  he  finds  out  why  he  has  died  (see 
below);  so  that  apparently  Siropa  and  Turiono  are  not  in  the 
itinerary  of  those  dead  who  do  not  fee  Uauamai, 

Baripoa  is  a  great  rock  on  the  shore  in  Kieta;  it  is  also 
called  Tanipunu  (which  may  be  the  Buim  name). 

According   to  Baoi   the   dead    man   who   does  not  give  to 

Uauamai  sleeps  some  nights  in  the   bush    and  finally  reaches 

Bareka,  merely  later  than  the  man  who  has  given.   But  Bitis^i 

j  gave  the  following  account:  .  :• 


Mono 
tiong   enamate    abu    enaga- 
jgana  äbua.    enagagana   Buim. 
'enasoku  poaang.  enasoku  sana 
jhamataang     Uauamai.     ^maito 
'nto  beampeu'  enaua  ga  Uau- 
amai.   enatele    poa   rekona  ga 
enatoka.     lau     tiong     paitena 
lenaua  ga  Uauamai  ^nto  beam- 
peu'  enaua    ga   Uauamai    abu 
jenatele    auau    sana    poa    boo 
sana    poa    ga    enatoka.    tiong 
rekona    enatele    beampeu    ga 
iCFauamai   enatoka  ga    poa  re- 
kona. enagagana  enasisile  ate- 


English 
When  a  man  dies  he  does 
not  go  to  the  sky;  he  goes  to 
Buim.  He  arriyes  along  the 
road;  he  comes  to  Uauamai's 
place.  ^Thou,  give  me  some- 
thing',  says  Uauamai.  If  he 
gives  it  he  goes  along  the 
right  road.  If  an  evil  man, 
when  Uauamai  says  ^Give  me 
something'  (says  U.),  does  not 
give  it,  he  will  follow  the 
dogs'  path,  the  pigs'  path. 
When  the  good  man  gives 
something  to  Uauamai,  he  will 


96 


Gerald  Camden  Wheeler 


lea  Turiono.    eiiasae.    enasoku      take    the   right  path,   he  will 
Bareka.  enaäü.  enaua.  enasoma.      go    and    bathe    in    the    river 

Turiono  He  will  go  up  inland, 
and  will  reach  Bareka.  He 
will  stay  there.  So  he  will 
do.  He  will  linish  (bis  walkiüg 
about). 

The  path  (poa)  of  the  pigs  and  dogs  must  be  taken  to 
mean  bush-paths  made  by  these  beasts:  so  that  the  dead 
person  wanders  in  the  bush. 

The   view   held   by  Bitiai  that  the  Dead  abide  definitively 
at  Bareka  will  be  again  referred  to. 
A  further  statement  by  Bitiai  was: 


Mono 
tiong  paitena  abu  enatele 
beampeu  auauaang  poa  boo 
saria  poa  ga  enatoka.  eriagolu 
auau  eriagolu  boo.  abu  ena- 
lefema.  enaua.  enasoma. 


English 
If  a  bad  man  does  not  give 
something  he  will  foUow  the 
dogs'  and  the  pigs'  path.  The 
dogs  will  eat  him;  the  pigs 
will  eat  him.  He  will  not 
come  back.  So  he  will  do. 
That  will  be  the  end  of  him. 


Uauamai  is  ever  looking  out  along  the  road   of  the  Dead. 

A  further  statement  was:  the  tiong  paitena  (bad  man),  not 
giving  the  gift  to  Uauamai,  enasoso.  auau  saria  poa  hoo  saria 
poa  enagagana  (Vill  lose  his  way;  will  go  the  path  of  the 
dogs'  and  the  pigs');  ahu  enasoku  Bareka.  enaue^  (^He  will  not 
reach  Bareka;  he  will  disappear'). 

In  these  Statements  we  have  the  view  that  the  failure  to 
fee  Uauamai  means  annihilation,  or  another  death;  whereas  in 
the  other  view  it  was  seen  to  mean  only  a  delay  in  reachinsr 
Bareka. 


*  On  one  occasion  Bitiai  seemed  to  give  Eberia  as  the  name  of  the 
place  where  such  persons  go. 


Death  Rites  of  the  WeBtem  Solomon  Islands  97 

8.  The  Nature  of  the  Gift  to  Uauamai 

The  dead  man  Coming  to  Uauamai,  the  nitu  at  Baripoa, 
must  give  him  a  gift  if  he  wishes  to  reach  Bareka  by  the 
right  path,  or,  according  to  another  account,  if  he  wishes  to 
reach  Bareka  at  all.  The  gift  is  not  a  big  one  —  shell-money 
or  a  shell-armring,  or  in  late  times  European  goods  such  as 
beads.  The  dead  man  only  gives  something  of  the  goods  he 
bears  with  him  (that  is  the  nunu  of  the  things  of  this  life), 
not  all  of  them;  the  rest  he  takes  on  to  Bareka,  and  then  to 
the  final  abode  of  the  Dead  in  Mono,  Alu,  or  Fauru. 

The  ability  to  give  this  gift  is  not  dependent  on  any  ethical 
valuation.  A  man  who  has  been  bad  in  this  life,  in  that  he 
has  sigdla  (done  adultery),  mölemöle  heampeu  (stolen  or  injured 
something),  been  a  poapoau  (killed  bis  fellow-clansman)  can 
give  the  gift,  and  so  get  to  Bareka:  the  good  man  too  must 
give  it. 

It  was  Said  by  one  man  of  Talakana,  the  great  warrior- 
chief,  that  he  refused  it,  and  yet  got  straight  to  Bareka;  he 
was  a  poapoau  paitena  ('bad  man-killer'). 

Whether  a  dead  man  gives  the  gift  to  Uauamai  depends 
only  on  whether  he  takes  the  wherewithal  with  him.  What  a 
man  has  is  what  has  been  burned,  buried,  or  put  in  the  sea 
with  his  body. 

But  if  a  man  is  killed  in  war  and  his  fafanua  (fellow- 
clansmen)  do  not  bury  his  body  with  something,  then  he  has 
nothing  to  give  Uauamai,  and  goes  the  dogs'  road  (or,  on  the 
other  view,  is  delayed);  the  same  is  true  of  a  man  dying  any 
violent  death.  In  the  description  above  (p.  89)  of  the  calling 
back  of  the  nunu  of  a  man  who  has  fallen  from  a  tree,  it 
was  Seen  that  a  feropeu  nitu,  that  is  the  ghost  of  a  man  who 
has  died  a  violent  death,  may  answer  the  call.  This  would 
jevidently  be  one  that  took  no  gift  from  the  living;  and  we 
'seem  to  have  the  belief  that  his  ghost  haunts  the  bush  near 
the  living. 

Archiv  f.  Eeligionswissenschaft  XVII  7 


98 


Gerald  Caraden  Wheeler 


In  Bitiai's  account  above  the  terms  rekona  (good),  paitena 
(bad)  were  used  for  the  man  who  gives  or  wlio  does  not  give 
the  gift  to  Uauamai  (p.  95);  these  cannot  be  held  here  to 
have  an  ethical  force,  but  merelj  to  denote  the  temper,  or  the 
generosity  or  otherwise,  of  the  dead  man. 

The  gift  to  Uauamai  indeed  may  be  viewed  as  somewhat 
analogous  to  the  one  made  to  Soi  when  the  writer  visited 
Soia.i 

9.  Dandaronäüang 

The  foUowing  statement  was  made  by  Baoi:  If  the  dead 
man  makes  the  gift  to  Uauamai,  he  then  goes  to  a  place  called 
Dandaronäüang.     Here  the  foUowing  is  what  happens: 


Mono 
enatutulu.  enaua  *Koe.  afau- 
aang  haimatema?'  enaua  tiong 
nitu  angenamate.  enaua  elea 
nitu  *eauaang  oimatema  beam- 
peu  ga  angoimolemole.  gau 
imatemaata'  enaua  tiong  elea 
nitu  nitu  talu.  ^0  alaata  hai- 
ataieng  ga  angfaimateiai' enaua 
tiong  angenamate.  ala  enabilu 
Siropa.  lau  enaabala  euaga- 
gana.  enabilu  atele  Turiono. 
lau  enasoku  enasisiu  Turiono. 
ala  enasae  Bareka.  alau  enaau 
hamataang. 


English 
He  will  rise  up.  He  will 
say,  'Hullo!  Why  is  it  I  have 
died  and  comehere?'  says  the 
man,  a  niiu  who  has  died.  A 
nitu  will  say:  ^It  is  for  this 
that  thou  art  dead  and  hprc 
that  thou  hast  done  wrong; 
therefore  art  thou  dead  and 
here'  a  nitUy  a  nitu  talu,  will 
teil  the  man.  ^Yea:  now  I  know 
why  I  died',  the  man  who  ha.s 
died  will  say.  Then  he  will 
go  on  to  Siropa.  When  he 
has  dived  down,  he  will  go; 
he  will  go  on  to  the  river 
Turiono.  When  he  comes  there 
he  will  bathe  in  the  Turiono. 
Then  he  will  go  up  to  Bareka 
Then  he  will  stay  in  the  place 
(Bareka).    " 


AB  XV  325. 


Deatb  Rites  of  the  Western  Solomon  Islands 


99 


Here  his  body  will  get  well,  and  he  will  then  come  back 
to  the  island  he  belongs  to. 

The  nitu  talu  in  the  above  who  teils  him  why  he  died  is 
evidently  one  of  the  earlier  dead;  he  is  told  that  he  has  done 
some  wrong  (heampeu  molemole)  —  man-killing,  adultery, 
stealing,  etc.  This  must  be  taken  to  denote  the  man's  action 
which  led  to  his  being  killed,  not  to  refer  to  any  supernaturally 
scnt  death. 

Bitiai  observed:  fanua  tiga  'nai  dreamate  dbu  dreaonogu 
When  people  from  here  (that  is,  this  life)  die  they  do  not 
know';  that  is,  do  not  know  why,  or  how,  they  died. 

If  a  man  who  is  sick  is  not  really  dead,  when  he  gets  to 
Uauamai  he  will  not  be  asked  for  a  gift.     Uauamai   will  say: 


Mono 
^apeeta  haiataieno.  gagana 
'nau  Dandaronäüang  onaatai- 
enama  uling'  enaua  Uauamai. 
enagagana  ga  tiong.  lau  Dan- 
daronäüang enasoku  ^^haiafaua 
ga  haimatemaata?'  enaua.  ^a— ' 
^maito    uling 


enaua  nitu   talu 

salena.    onalehe.    ape    matena 

gau'  enaua  nitu  talu.  enalehema 

i  tiong    nununa.    lama    enasale. 


English 
^I  do  not  know  thee.  Go 
there  to  Dandaronäüang,  and 
thou  wilt  know  thy  body  there', 
Uauamai  will  say.  The  man 
will  go.  When  he  comes  to 
Dandaronäüang,    he    will  ask, 


^  Wherefore  am  I  dead  and  here?' 
■^Ah',  says  a  nitu  talu,  Hhy  body 
indeed  is  alive.  Go  back.  Thou 
art  not  dead',  ^e  nitu  talu  says. 
eaua.  The    man's    nunu   goes    back; 

then  he  lives.    Thus  it  is. 

The   nunu,    it    was   said,   will   be  told  by  the   dead  man's 

\fafanua  that   his   body  has  been  left  behind   in  his  house,  as 

he  is  not  dead:   they  will   teil  him  to  go  back.     If  he  really 

were  dead  his  body  would  go  too  to  the  Abode  of  the  Dead. 

i        We  have  here  the  Suggestion  that  the  nunu  cannot  go  to 

Bareka   without   the   body,    that  is    unless  the  death  rites  are 

Icarried  out;  which  is  to  be  compared  with  what  was  said  above 

I  about  a  man  that  has  been  killed  having  no  fee  to  give  Uauamai. 


100  Gerald  Camden  Wheeler 

If  a  man  is  only  apparently  dead  (through  sickness),  be 
will  carry  no  property,  and  Uauamai  will  send  him  on  to 
Dandaronauang,  as  just  related.  Dandaronauang  is  a  point 
very  near  Toborai. 

10.  Tbe  dead  person  is  taken  to  Bareka  by  tbe  gbosts  of 
earlier  dead  (probably  bis  fafanud).  On  anotber  view  evil 
nitUj  tbat  is  lalele,  tbe  sickness  demons^,  take  bim  to  Bareka; 
bere  be  will  be  welcomed  by  dead  Kieta  folk  (bis  fafanud), 
and  cared  for  by  tbem-,  tben  bis  dead  fafanua  from  tbe  Abodes 
of  tbe  Dead  in  Mono,  Alu,  or  Fauru  will  come  to  take  bim 
back  to  tbe  island  to  wbicb  be  belongs. 

Tbe  Dead  tberefore  go  tbrougb  a  definite  journey  tbrougb 
tbe  land  of  tbe  living  to  certain  places  after  deatb;  tbis  way, 
road,  or  patb  of  tbe  Dead  (nituaang  poa)  is  found  in  tbree 
of  tbe  tales  wbicb  were  coUected;  in  two  of  tbese  living  people 
meet  tbe  gbost  of  one  just  dead  wbo  is  on  bis  way  along  tbis 
patb,  and  be  gives  tbem  bis  tamari  (see  above,  p.  96). 

C.  The  Life  after  Death 

11.  In  tbe  above  it  bas  been  seen  tbat  after  deatb  tbe 
nunu  first  goes  to  Bareka  in  Bougainville,  and  afterward s  comes 
back  to  an  Abode  of  tbe  Dead  in  tbe  island  to  wbicb  tbe 
living  man  belonged. 

We  bave  two  aspects  of  tbe  nunu\  it  is  a  sometbing  wbicb 
leaves  tbe  body  (permanently  after  deatb);  and  it  is  also  tbat 
form  of  tbe  body  {uli)  itself  wbicb  on  tbe  Deatb  Rites  being 
carried  out  goes  on  to  tbe  world  of  tbe  Dead  and  carries  on 
a  counterpart  of  tbe  life  in  tbis  world. 

Tbe  dead  man  (tiong)  is  also  a  tiong  in  tbe  next  life;  a 
nitu  (gbost)  is  also  tiong  in  tbe  sense  tbat  in  form  and  way 
of  life  it  is  a  true  continuation  of  tbe  man  as  be  lived  bere 

Tbe  nunu,  said  Baoi,  is  nitiigu:  tbis  brings  us  to  a  grs 
matical  usage  wbicb  sbows  tbe  real  meauing  of  nitu. 

»  See  AR  XV  49. 


Death  Rites  of  the  Western  Solomon  Islands  101 

Sagu  nitu  ('my  nitu')  denotes:  the  particular  nüu  fghost) 
which  Stands  in  close  relation  to  me  as  a  tiong  dondoro,  or  as 
a  kinsman.^ 

nitugu  ('my  nitu')  denotes:  myself  after  death;  what  of  me 
is  carried  forward  beyond  death,  and  kept  in  existence  by  the 
nimu]  the  ghost  of  me. 

In  the  second  usage  the  idea  of  identity,  or  of  a  part  of 
the  person,  is  shown  by  the  use  of  the  suffix  to  denote  pos- 
session. 

12.  Bareka 

According  to  Baoi  (whose  view  we  take  to  represent  that 
generally  held)  tiong  fafungmate  enagagana  Bareka  ga  nununa 
*When  first  a  man  dies  his  nimu  goes  to  Bareka'  (see  above). 

An  account  (by  Baoi?)  was  given  as  follows:  The  dead 
man  will  be  welcomed  at  Bareka  by  nitu  relwna,  that  is  good 
nitu,  dead  Kieta  folk  (his  fafanua).  They  will  ask,  ale  gau? 
Who  art  thou?' 

Soa  maha  ga  'Yes:  it's  me'  (he  answers). 

leang  porau  ^Give'  thy  name',  they  say. 

enaporau  ga  Icana  ^He  will  give  his  name'. 

Soa.  sang  latu  aJiana?  ^Well,  which  is  thy  latti?'  they  ask. 
And  he  teils  them  it,  and  his  fafanua  acknowledge  him. 


Mono 
ala  enafalolofi  sana  numaang. 
ala  enasisile.  enatele  darami. 
enanonomoki  ulina.  ala  enakare 
tiong.  enarekoreko  ga  ulina; 
^alaata  hairekorekoota'  enaua 
ga  tiong.  ala  erialaui  nitu. 


English 
Then  he  (one  nitu)  will  bring 
him  into  his  house  and  he  will 
bathe;  he  will  give  him  food, 
and  ruh  his  body.  Then  the 
man  will  get  strong;  his  body 
will  get  well.  'Now  I  am  well', 
the  man  will  say.  Then  nitu 
(ghosts)  will  come  to  him 
from  Koakai  and  take  him  back  there. 


'  See  AB  XV  40,  44. 


102 


Gerald  Camden  Wheeler 


The  nitu  who  come  to  fetch  him  to  Koakai  are  liis  fafa- 
nua]  a  Mono  man  would  be  fetched  to  Ofale  or  Falamai. 

The  rabbing  of  the  bodj  is  to  remedj  the  wounds  of 
battle,  or  the  ills  done  by  lalele,  the  sickness-demons ;  or  the 
härm  from  the  fire  when  the  body  was  burned,  or  by  sharks 
when  it  was  thrown  into  the  sea. 

We  see  in  this  how  the  body  itself  (that  is,  its  nunu)  is 
thought  of  as  Coming  to  Bareka. 

Baoi's  Statement  that  the  Alu  dead  conae  back  to  Koakai 
in  Alu  has  been  already  seen  (p.  91) 

Of  Mono   men  he  stated: 

Mono  j 

Mono  tiong  enamate  enaga- 
gana  Bareka  niinuna.  enareko- 
rekoma  ga  ulina.  ala  enalehema. 
erialaui  sana  fafanua.  ala  eria- 
meraiama  ala  enaeva  batafa 
enapula  numa.  ala  enaäü 


I 


Englisli 
When  a  man  dies  in  Mono, 
his  nunu  goes  to  Bareka.  Then 
it  stops  at  Bareka;  his  body 
gets  well  there.  Then  he  comes 
back  here.  His  fafanua  go  to 
him;  then  they  bring  him  ha^HI 
here.  Then  he  comes  to  Mono.  I 
Then  he  weds  a  wife  and  builc 


a  house.    Then  he  stays 
at  Ofale  or  Falamai,  as  he  wishes  it. 

Fauru  men  after  staying  at  Bareka  come  back  to  SigoäT 
in  Fauru. 

In  Bareka  the  body  recovers  (^nau  enarekorekoma  ga  ulina) 
from  the  effects  of  the  fire,  etc. 

The  Mono-Alu-Fauru  dead  do  not  stop  at  Bareka;  but  as 
to  the  Kieta,  Telei,  Molafe  —  that  is,  Buim  —  dead,  their 
place  is  Bareka  (saria  hamata  ga  Bareka)^  and  they  stay  there 
for  good. 

Bareka  was  called  the  relwrekoang,  that  is,  Vepairing-place', 
*recovering-place',  for  Mono,  Alu,  Fauru.   They  work  at  Bare 
and  leave  when  they  feel  well  again. 

Bareka  is  an  ölo  hanegana  (great  hill);  it  is  a  volcano 


I 


Death  Rites  of  the  Western  Solomon  Islands  103 

The  fire  is  Bagana  (nitu)  sana  feli  The  nitu  Bagana's  fire'.^ 

The  nitu  (Daad)  at  Bareka  work  their  gardens  and  sing 
and  dance  at  night,  and  can  be  heard  but  not  seen:  if  you 
see  them  you  die.  Living  men  do  not  cross  the  Turiono 
river,  by  the  abode  of  the  nitu]  otherwise  they  die. 

No  Chief  of  all  the  nitu  at  Bareka  seems  to  be  known  to 
the  Mono-Alu  people. 

It  will  be  noted  that  the  bulk  of  the  nitu  there  are  the 
Blüm  dead;  the  Mono  -  Alu  -  Fauru  dead  are  only  temporary 
dwellers.  The  view  that  they  come  back  to  abide  definitively 
iu  their  own  islands  must  be  taken  to  be  the  general  one. 
There  is  also  another  view  which  must  be  here  mentioned. 
Bitiai  stated: 


Mono 
fanua   peu   Mono  fanua  peu 
Alu    fanua    peu    Fauru    fanua 
peu    Buim     dreamate    famata 
Bareka  Bareka  opu. 


English 
If  people    of  Mono,    or    of 
Alu,    or    of  Buim    die,    their 
abode    is    Bareka,    and    only 
Bareka. 


The  nitu  at  Bareka  may  return  to  Mono,  Alu,  or  Fauru 
to  see  their  fanfanuä  but  go  back  to  Bareka. 

How  far  or  whether  this  view,  which  must  be  looked  on 
as  exceptional,  is  due  to  Christian  or  Buim  influences  cannot 
be  determined.  It  was  held  by  Bitiai  in  conjunction  with  the 
idea  that  those  who  do  not  fee  Uauamai  do  not  get  to  Bareka, 
but  perish  on  the  way  (see  above). 

We  have,  then,  two  differing  Mono  beliefs  as  to  the  final 
Abode  of  the  Dead:  we  may  apply  to  them  Dr.  Rivers's  Sugges- 
tion in  the  case  of  Simbo,  another  Island  about  40  miles  away, 
that  we  have  the  meeting  of  two  cultures:   what  we  may  call 
;  Bitiai's  doctrine  may  represent  a  Buim  element. 
i        We  shall  now  deal  with  Abodes  of  the  Dead  in  Mono,  Alu,  and 
1  Fauru,  taking  the  view  that  they  are  the  final  and  definitive  ones. 

I  ^  'Bagana'   is  said  to   be  the  only  now  active  volcano  in  Bougain- 

[  ville.     (See  Brit.  Admiralty  'Sailing  Directions'.) 


104  Gerald  Camden  Wheeler 

13.  Alu.  In  Alu  as  Abodes  of  the  Dead  tliere  are  Koakai  and 
Soia.  Alu  men  who  die  to-day  go  finally  to  Koakai.  Koakai 
lias  been  already  mentioned^  as  the  abode  of  the  nitu  Tiong 
Tanutanu:  it  is  a  piece  of  land  on  the  south  shore  of  the  smaller 
island  of  Magu^aiai,  which  is  separat ed  by  a  narrow  Channel 
from  Alu. 

Koakai  is  the  place  where  go  all  the  dead  of  the  Mono 
settlers  in  Alu,  that  is  of  the  present  Alu  people.  Close  to 
it  is  the  place  where  abide  all  the  Old  Alu  Dead  who  died 
in  the  fighting  when  the  Old  Alu  people  were  driven  out  of 
Alu  by  the  Mono.  The  three  Old  Alu  chiefs  of  Magusaiai, 
the  village,  resolved  when  dead  to  stop  at  their  old  place,  and 
there  went  all  those  who  died  at  this  time. 

This  probably  explains,  too,  the  origin  of  Koakai  as  such 
an  Abode.  Before  the  Old  Alu  nitu  went  to  Magusaiai,  Soia 
(see  below)  was  the  Old  Alu  Abode  of  the  Dead. 

Koakai  is  also  now  a  burial  ground  for  the  bones  of  dead 
inen  and  women   of  chiefs  rank  after  the   bodies   have  been  i 
burned  (see  above,  p.  70). 

Tiong  Tanutanu  is  the  lalaafa  (chief)  of  all  the  Dead  at 
Koakai:  this  nitu  died  as  a  child  in  Mono  (where  bis  bone- 
fragments  were  buried)  before  the  settlement  of  Alu. 

In  Alu  there  is  another  Abode  of  the  Dead.  This  is  Soia, 
already  mentioned  in  connection  with  the  nitu  Soi.^  This  place 
was  a  burial- ground  for  the  bones  of  the  burned  bodies  of 
the  Old  Alu  dead,  probably  only  those  of  chiefs  rank.  Since 
the  Mono  settlement  only  very  few  of  the  dead  of  the  Mono 
people  in  Alu  have  had  these  bone-fragments  buried  there. 
Soi  is  their  lalaafa.  The  Old  Alu  dead  at  Magusaiai  are  only 
a  few.  The  Mono  chief  Terguson'  who  died  a  few  years  ago 
abides  too  at  Soia,  where  bis  bone-fragments  were  buried.^ 

Gaumakai,  already  mentioned^  is  to  a  certain  extent  still 
looked  on  as  a  Place  of  the  Dead,  though  it  has  lost  all  taboo. 

'  AR  XV  47.        2  ^22  XV  322  etc.        ^  Cp.  AR  326.       ^  AR  XV  53. 


Death  Rites  of  the  Western  Solomon  Islands  105 

The  Dead  liere  are  evidently  Old  Alu;  their  chief  is  Dudueri. 
It  looks  as  though  Gaumakai  had  been  superseded  as  a  Place 
of  the  Dead  by  Sola  before  the  Mono  conquest;  but  probably 
it  kept  some  of  its  taboo  as  long  as  there  was  an  Old  Alu 
village  near.  Its  holiness  or  taboo  would  have  lost  much  of 
its  strength  when  it  was  no  longer  the  place  to  which  the 
contemporary  Dead  went. 

Mono.  In  Mono  are  two  main-places  of  the  Dead,  Ofale 
(Besara)  and  Falamai.  At  the  present  day  Ofale  (Besara)  is 
the  place  where  the  Dead  in  general  go. 

The  writer  visited  Besara  or  Ofale.  Besara  is  a  stretch  of 
iand  in  north -west  Mono.  Here  is  the  site  where  was  the  village 
called  Besara,  belonging  to  Bagara,  the  conqueror  of  Alu  about 
60  years  ago.  This  site,  together  with  that  of  Bagara's  quarter 
(that  is,  the  chiefs  quarter  in  the  village)  spread  over  a  good 
deal  of  ground,  about  a  quarter  of  a  mile  frora  the  sea.  Through 
them  runs  a  river  called  Konggo,  said  to  be  füll  of  crocodiles; 
all  is  now  covered  with  bush.  Ofale  is  the  name  of  a  narrow 
strip  of  Iand  down  by  the  sea,  where  the  Konggo  river  comes 
out.  There  is  a  rock  at  the  mouth  on  the  edge  of  the  water, 
called  Kusihororo;  it  is  nitu  saria  pausape  (the  rock  of  the 
\nitu,  the  dead). 

I  Of  the  party  with  me  was  the  old  Mono  man  Konggo;  this 
jwas  the  first  time  he  had  been  on  Besara  as  far  as  the  sea; 
jhe  did  not  come  down  to  Ofale,  though  a  native  did  with  me 
l^his  Bon,  I  think).  One  of  the  men  declared  he  heard  the  nitu 
Ivinui  (see  below)  tapping  a  tree  to  show  his  anger.  From 
Besara  the  Dead  go  down  to  Ofale  to  bathe  in  the  sea.  People 
passing  in  canoes  do  not  look  for  fear  of  seeing  them,  and 
u)  dyiüg. 

I     Ofale  is  the  place  where  the  dead  keep  their  canoes  (Ofale 
litu  saria  matalai). 

Besara  has  become  the  Place  of  the  Dead  within  late  times 
ts  origin  as  such  was  as  foUows: 


i06  Gerald  Camden  Wheeler 

llala,  a  Mono  chief  at  the  village  of  Besara,  liad  the  chief 
Ivinui,  brother  to  Bagara,  killed,  while  Bagara  and  two  broth- 
ers  were  away  in  Alu.  Bagara  and  bis  brothers  tben  moved 
f rom  Besara  to  Maloaiini  (North  Mono) ;  Ilala  went  to  a  place 
in  Mono  called  Baripoa.  Affcerwards  Bagara  aüd  bis  two 
brothers  on  the  one  side,  and  Ilala  on  the  other,  had  a  fight 
at  Besara  on  the  Konggo  river,  when  there  was  great  slaughter 
the  bodies  were  thrown  into  the  river. 

It  was  from  this  time  that  Besara  seems  to  have  become  a 
Place  of  the  Dead.  The  chiefs  Ivinui,  Bagara,  and  the  other 
Chiefs  seem  specially  identified  with  the  place;  probably  Ivinui 
as  having  died  there  is  the  raost  specially  identified  with  it. 
hoitalii  Besara  Ofale  sinsisileang  hoitalu  atele  (Ofale)  reliona 
*Formerly  Ofale  was  the  bathing -place  for  Besara;  formerly  the 
river  (Ofalej  was  right'.^  Imateiai  Ivinui ,  oaua  gq  irisoa 
simea  Besara  ^Ivinui  died  there;  therefore  the  simea  clan  took 
Bfsara  for  themselves.' 

Here  we  see  the  particular  identification  of  Iviniii  with  the 
place.  The  fighting  at  Besara  seems  to  have  been  ratber  in 
the  natura  of  a  fight  between  latu  haumana  and  latu  simea, 
which  would  account  for  the  latter  assertion.  But  Besara  is 
now  the  place  to  which  the  Dead  in  general  go. 

There  is  another  place  in  Mono,  a  stretch  of  land  called 
Falamai  (on  Blanche  Harbour),  which  was  an  Abode  of  the  Dead, 
but  has  now  almost  lost  its  character  as  such,  and  with  it 
alinost  lost  its  taboo  (olatu).  It  has  evidently  been  superseded 
by  Besara^  from  the  time  of  the  fighting  there.  Falamai  was 
perhaps  once  a  bone  burial-ground  like  Koakai  in  Alu  is  now. 
Just  as  there  is  a  tendency  especially  to  connect  latu  simea  with 
Besara,  so  is  there  one  to  connect  latu  haumana  with  Falamai; 
perhaps  this  is  because  of  the  association  of  their  former  enemies 


rekona  here  'right  for  the  living'  opposed  to  olatu,  taboo. 
Cp.  Sola  and  Gaumakai  in  Alu 


Death  ßites  of  the  Western  Solomon  Islands  107 

tbe  si7nea  with.  Besara;  or  because  of  the  nearness  to  Falamai 
of  Marimari  (see  above,  p.  76). 

Another  Place  or  Abode  of  the  Dead  in  Mono  is  Utupang, 
a  Stretch  of  land  on  the  Stirliiig  Island  shore  of  Blanche 
Harbour.  Here  there  used  to  be  a  village  of  the  same  name^ 
the  chief  of  which,  'Mackenzie',  died  some  thirty  years  ago. 
ütupang  is  now  the  place  of  this  nitu  'Mackenzie':  isoa  ütu- 
pang  (^He  has  taken  U.  for  himself ') ;  here  are  also  the  ghosts 
of  his  people  that  have  died. 

No  one  goes  to  ütupang,  except  an  old  man  (now  dead) 
who  onee  was  his  tiong  (that  is,  bought  slave);  a  Bougainville 
man;  dondoro  of  an  infant  m"^t(,  likewise  called  Mackenzie.^  Bitiai 
observed  in  this  connection:  lalaafa  enamate  enaau  angenama- 
teiai  'When  a  chief  dies  he  abides  where  he  has  died'. 

Another  place  which  is  a  nitu  (ghosts')  abode  is  Sipale^  a 
hill  near  a  cove  called  Kugala^  on  the  Mono  shore  of  Blanche 
Harbour:  it  is  nitu  saria  hamata  (Jan  Abode  of  the  Dead'), 
but  belongs  to  latu  haumana  and  fanapara  only;  the  chief  of 
the  place  is  probably  Omakau^  of  latu  fanapara.  Near  the 
cove  there  is  a  small  hoUow  under  a  rock;  this  too  is  their 
I  place.  If  living  men  do  not  give  these  Dead  food  they  get 
iangry,  and  wild  pigs  eat  the  gardeos  of  the  living.  The  Dead 
have  a  snake  which  is  their  pig  {hoo). 

At  Asunu  on  the  Mono  shore  of  Blanche  Harbour  is  a 
famata  (place)  of  the  Ome.^  Here  dwells  also  a  once-living 
man  Soropo,  and  he  is  their  chief. 

14.  The  Nature  of  these  Abodes  of  the  Dead 

From  the  foregoing  it  is  seen  that  the  final  Abodes  of  the 
Dead  in  Mono  and  Alu^  are  more  than   one.     They  have  not 

^  See  ^22  XV  44. 

^  Hereabouts  is  a  keno  (bone  -  disposal  place)  for  latu  haumana  and 
'anapara. 

^  He  was  a  brother  of  the  celebrated  'Big'  Gorai. 

*  See  AR  XV  354  etc. 

^  Those  in  Fauru,  of  course,  would  be  of  the  same  kind. 


108  Gerald  Camden  Wheeler 

a  permanent  existence;  their  beginning  can  in  most  cases  be 
traced;  and  tbey  are  seen  to  go  tbrough  a  process  of  decaj, 
and  lose  it  may  be  their  character  as  sucli  altogetber  (cp.  Gau- 
makai  in  Alu,  and  Falamai  in  Mono). 

A  place  evidently  only  keeps  its  importance  as  an  Abode 
of  the  Dead  as  long  as  it  is  still  the  place  to  wbicb  tbose 
who  die  now  go:  of  tbis  importance  tbe  degree  of  olatu  (taboo) 
is  an  index. 

Soia,  altbough  no  longer  a  place  to  wbicb  tbe  Dead  go, 
keeps  its  importance  probably  because  of  tbat  attacbing  to 
Soi;  and  perbaps  also  from  tbe  importance  it  beld  for  tbe  Old 
Alu  people. 

In  Alu  probably  Koakai  is  now  more  taboo  tban  Soia, 
since  tbose  wbo  now  die  go  to  Koakai.  Gaumakai,  wbicb  once 
seems  to  bave  been  an  Abode  of  tbe  general  Dead,  bas  now 
lost  all  or  nearly  all  its  taboo,  baving  been  superseded  in  Old 
Alu  times  by  Soia;  tbe  importance  of  Dudueri  bas  not  been 
great  enougb  to  maintain  a  taboo  on  tbe  place. 

In   Mono   to-day  Besara,   tbe  place  to   wbicb   tbe  Dead  in] 
general  go,  bas  tbe  bigbest  degree   of  taboo;   Falamai,   whichi 
was  superseded  by  it  almost  in  living  memory,  bas  lost  nearly 
all  taboo. 

Otber  places  tbere  are  in  Mono,  but  only  for  certain  of 
the  Dead;  of  tbese  only  Utupang  bas  a  strong  taboo,  evi- 
dently because  of  its  association  witb  a  somewbat  lately-dead 
cbief. 

Tbere  is  notbing  fixed  or  permanent  tben  about  tbe  Abodes 
of  tbe  Dead;  but  probably  at  any  time  some  one  place  in  an 
island  is  looked  upon  as  tbe  General  Abode;  Koakai  is  such 
a  place  in  Alu,  Besara  in  Mono. 

Tbere  is  no  close  correlation  between  a  place  being  a  bone 
burial  -  ground  and  its  being  an  Abode  of  tbe  Dead.  Besara, 
for  instance,  does  not  seem  to  be  associated  witb  bone-burial 
(at  least,  no  mention  was  made  of  it);  Koakai,  it  is  true,  is  a 


Death  Rites  of  the  Western  Solomon  Islands  109 

bone  burial-ground,  but  in  Alu  there  are  other  sucb  burial- 
grounds. 

At  the  same  time  a  place  wbere  the  bones  are  disposed  of 
is  definitely  associated  with  the  Dead;  this  can  be  seen  in  the 
olatu  (taboo)  on  the  former  heno  of  the  latu  (p.  77). 

Again^  at  Soipa,  near  Faleta,  the  bones  are  buried  of  Mu- 
kolo,  the  child  of  the  late  chief  'Ferguson';  the  nitu  Mukolo 
was  taken  by  the  nitu  Ferguson  to  Soia,  where  the  latter  has 
his  abode,  and  where  his  bones  are>  Terguson'  spoke  by 
rocking  {aiai)  a  canoe^  saying: 


Mono 
Maha     natugu     ape     enaäü 
Soipa.    hanamera    sagu   hama- 
taang  Soia. 


English 
My    son   shall    not    stay   at 
Soipa.    I  will  take  him  to  my 
place  Soia. 


This  sliows  that  otherwise  Mukolo  would  have  abided  at 
Soipa.  In  fact  at  Soipa  we  seem  to  see  the  beginning  of  a 
;special  place  of  the  Dead  for  Faleta,  associated  with  bone- 
iburial.  It  is  probable  that  a  village  would  have  its  special 
bone  burial-ground,  which  might  become  a  General  Abode  of 
ikhe  Dead  if  there  were  further  circumstances :  Soia,  and  perhaps 
Uaumakai,  are  examples  of  this  in  Old  Alu  times. 
1  On  the  other  band  Besara  and  Koakai  of  to-day  owe  their 
jjharacter  to  the  remarkable  events  which  happened  there  — 
great  slaughter  and  the  death  of  chiefs. 

A  bone  burial-ground  evidently  derives  its  special  character 
[rom  the  fact  that  the  bones  in  all,  or  nearly  all,  cases  will 
')e  of  persons  of  chiefs  rank. 

The  case  of  Sipale  in  Mono  (see  above)  shows  a  place 
|)elonging  to  the  dead  of  certain  latu. 

The  fact  that  a  nitu  may  be  worshipped  at  his  mome 
iburning- place    of   the    body)    shows    that   this  too  may  be  a 

'  AR  XV  326.  ^  AB  XV  43. 


110  Gerald  Camden  Wheeler 

resort  of  the  gliost.    The  sape^  and  the  lopo^  are  evidently  too 
occasional  resorts  for  a  gliost. 

15.  The  Life  of  the  Dead 

It  may  be  concluded  that  1)  in  each  island  there  are 
more  than  one  Places  of  the  Dead;  2)  they  arise  in  more 
ways  than  one;  3)  they  go  through  a  history  of  growth  and 
decay;  4)  fort  hose  which  are  to  be  found  in  existence  at 
any  time  there  is  an  indefinite  number  of  others  which  have 
lost  the  attribute. 

In  their  final  abode  the  Dead  are  the  counterpart  of  living 
men;  the  life  is  a  continuation  of  the  physical  life^  and  not 
different  from  it.  Death  brings  only  a  modification  in  a  con- 
tinuous  existence  whose  earlier  part  is  the  Life  of  this  world. 
The  nitu  (Dead)  work  in  the  gardens,  dance,  marry,  and  have 
children.  They  may  go  about  visiting  the  Abodes  of  the  Dead 
in  the  other  Islands,  and  may  marry  and  settle  there. 

They  are  sometimes  said  to  live  Underground.  They  are 
active  at  night.  The  Dead  acquire  special  skill  after  death; 
for  instance,  Terguson',  who  died  a  grown  man",  was  said  to 
be  leaming  how  to  kill  turtle  from  the  Infant  nitu  Düng,  who 
died  before  him. 

It  was  not  known  whether  the  nitu  die  again;  but  tbe 
Statement  will  be  remembered  that  a  dead  person  not  giving 
the  gift  to  Uauamai  disappears  or  is  annihilated  (p.  96). 

Each  Abode  of  the  Dead  in  Mono  and  Alu  has  its  chief; 
and  he  is  one  that  was  of  chief's  rank  in  this  life.  The  origiii 
and  existence  of  a  place  as  an  Abode  of  the  Dead  is  bound 
up  with  the  association  with  it  of  some  chief;  either  an  Iden- 
tified  Ghost,  that  is  one  whose  lifetime  falls  within  living 
memory  (as  Tiong  Tanutanu  at  Koakai,  Ivinui  at  Besara);  or 
one  unidentified  (as  Soi  at  Soia). 


AR  XV  40  etc.  ^  j_j^  XY  47  etc. 


Death  Rites  of  the  Western  Solomon  Islands  Hl 

The  rest  of  the  nitu  are  the  tala  of  this  lalaafa:  tdla  among 
the  living  denoting  the  people  of  a  chief  (lalaafa).  At  Soia 
we  See  the  lately-dead  nitu  ^Ferguson'  taking  on  some  of  the 
importance  of  Soi,  the  earlier  and  proper  lalaafa. 

The  first  origin  of  almost  all  the  Abodes  of  the  Dead  may 
be  explained  by  the  view  that  a  chief  stays  on  where  he 
died;  whether  such  a  place  becomes  an  abode  of  the  Dead  in 
general  would  depend  on  other  factors;  the  importance  of  the 
chief  would  be  one  of  these,  another  being  the  occurrence 
of  some  striking  event  in  connection  with  his  death  (cp.  Koakai, 
Besara). 

This  staying  of  a  chief  and  his  tala  where  he  died  gives  a 
further  link  of  continuity  between  this  life  and  the  life  after 
death. 

The  only  word  for  the  Vorld  of  the  living'  seems  to  be 
peta  C^land',  ^ground');  maita  sara  (^ours')  was  once  used  of 
what  belongs  to  the  living. 

16.  Folklore.  Two  tales  were  heard  of  visits  to  the  world 
of  the  Dead. 

In  one  (from  Mono)  a  man  marries  a  woman-ghost.  She 
gets  with  child  and  they  go  to  the  Abode  of  the  Dead,  which 
is  Underground,  taking  the  Path  of  the  Dead  (nituaam  poa). 
When  they  get  there  the  woman's  father  and  mother  entertain 
fjthem;  then  the  man  and  wife  come  back  again  to  the  land  of 
ithe  living,  and  the  woman  brings  forth  a  child.  She  bids  her 
liusband  not  to  eat  bread-fruit  as  it  is  forbidden  to  nitu\  but 
]]''  does  so  and  she  goes  back  to  the  Dead. 

In  the  other  text  (from  Buim)  a  man  and  his  wife  are  in 
V:  canoe;  he  drops  his  axe  overboard  into  the  sea,  and  dives 
after  it;  he  breaks  through  into  the  Abode  of  the  Dead,  where 
he  stays  two  days,  then  comes  back.  If  he  had  looked  on  the 
Dead  he  would  have  died;  but  one  nitu  looks  after  him. 

17.  Sketch-Map  of  the  Bougainville  Strait  (after  British 
Admiralty  Chart).      The   1.  c.  Positions   are   only   approximate. 


112     G!  erald  Camden  Wheeler  Deatli  Rites  of  the  Western  Solomon  Island 


B  AG  ANA 
BAREKA 


OVAÜ 


BOÜQAINVILLE 
STRAIT, 


ILLE    J^^JZINA/J^ 


CUOISEUL 


cpMÄGüSAIAI 


/^MONO 
^^STIRLING  r^ 


5     10 


SEAMILEa 


Moaila  is  6°  52'  South;  155«  40'  East  (Greenwich). 


1.  Sola. 

2.  Koakai,  Magusaiai. 

3.  Gaumakai. 

4.  Bambagiai. 

5.  Fetunu. 

6.  Papau. 

7.  Palusua  (Foifoiti). 

8.  Baripoa,  Dandaronauang. 


9.  Siropa. 

10.  Atele  Turiono. 

11.  Besara,  Ofale. 

12.  Falamai. 

13.  Oilo. 

14.  Sipale,  Asunu. 

15.  Blanche  Harbour  (lies  be- 
tween  Mono  and  Stirling  Id). 


Der  Lamaismus  und  seine  Bestrebungen  znr  Hebung 
seines  intellektuellen  und  moralischen  Niveaus 

Von  P.  Guries,  Professor  an  der  geistl.  Akademie  zu  Kasan 

Aus  dem  Russischen  übersetzt  von  A.  Unkrig, 
Kleriker  am  orth.  Johanneum  in  Shitomir 

Die  lamaistisclien  Kalmüken  gingen  aus  der  Dsungarei  nach 
Europa  in  einer  Epoche  über,  als  sich  der  Lamaismus  besonders 
kräftig  entwickelt  hatte.  Bald  nach  ihrer  Auswanderung  an  die 
Ufer  der  Wolga  im  17.  Jahrhundert  verbreitete  unter  ihnen  eifrig 
den  Lamaismus  Zaya  Pandita,  bekannt  durch  seine  Gelehrsamkeit 
und  seinen  religiösen  Eifer,  durch  zwei  Reisen  aus  der  Dsun- 
garei. Außer  Bereisung  der  kalmükischen  Nomadensiedlungen 
mit  der  Predigt  der  lamaistischen  Lehre  arbeitete  Zaya  Pandita 
emsig  an  der  Befestigung  des  Lamaismus  durch  Übersetzung  der 
heiligen  Schriften  des  lamaistischen  Glaubens  aus  dem  Tibe- 
tischen in  die  kalmükische  Sprache,  zu  welchem  Zweck  durch 
ihn  das  mongolische  Alphabet  reorganisiert  und  der  Darstellung 
der  lebendigen  Laute  des  Volksdialekts  angepaßt  wurde.  Diese 
Übersetzungstätigkeit,  von  Zaya  Pandita  eifrig  vorwärtsgebracht, 
wurde  auch  später  fortgesetzt,  so  daß  sie  mehr  denn  200  Hand- 
schriften verschiedenartigsten  Inhalts,  religiösen,  moralischen, 
philosophischen,  historischen  und  medizinischen,  füllten.  Aber 
dessenungeachtet  konnte  der  Lamaismus  bei  den  Kalmüken  des 
Wolgagebiets,  die  da  von  der  Mongolei  und  Tibet,  den  Zentren 
der  lamaistischen  Glaubenslehre,  losgerissen  sind,  keine  besonderen 
Fortschritte  in  seiner  inneren  Entwicklung  machen,  um  so  mehr 
jals  die  Kalmüken  in  beständigen  äußeren  und  Stammeskriegen 
i  leben  mußten.  Zwar  trafen  einige  kalmükische  Chane,  als  sie  das 
I  Sinken  des  Lamaismus  im  Volke  und  die  Verkümmerung  reli- 

Arcliiv  f.  Keligionswissenschaft  XVII  8 


114  P.  Guries 

giöser  Bildung  unter  der  Geistliclikeit  bemerkten,  Anstalten  zu 
seiner  Hebung,  wie  beispielsweise  Dunduk-Dasbi,  aber  auch  diese 
Maßnahmen  konnten  nicht  ernsthafte  Bedeutung  haben,  weil  sol- 
cher Chane  wenige  waren  und  weil  die  Ereignisse  des  Jahres  1771 
alles  unterbrachen. 

Seit  1771,  als  ein  großer  Teil  der  Kalmüken  mit  dem  Chan 
Ubashi  nomadisierend  nach  der  Heimat  zurückzog,  verschlech- 
terten sich  die  Bedingungen  für  die  innere  Entwicklung  des 
Lamaismus  in  den  kalmükischen  Steppen  bedeutend.  Mehr  unc 
mehr  verarmte  der  geistliche  Stand  an  religiös  gebildeten  Leuten 
beständig  nahm  die  Zahl  derer  ab,  die  Kalmükisch  zu  lesen  unc' 
zuschreiben  verstanden  und,  wenn  auch  nur  zum  Teil,  die  religiöse 
Übersetzunsjsliteratur  verstehen  konnten.  Die  fortschreitende  Ver 
armung  religiöser  Bildung  ging  im  gegenwärtigen  Jahrhund  er 
so  weit,  daß  die  Mehrzahl  der  Geistlichkeit  fast  verlernte,  ihn 
Bücher  zu  verstehen,  und  nicht  selten  suchte  der  eine  oder  dei 
andere  Churul  (Kloster)^  nach  dem  Tode  seines  Bakschi  (Abtl 
einen  Nachfolger  in  fremdem  Stamme,  ihn  aus  den  mehr  gebil' 
deten  Chumariken^  auswählend,  da  sie  selbst  solche  bei  sich  ver 
mißten.  Und  in  unserer  Zeit  können,  ohne  hier  schon  vom  Ver 
ständnis  religiöser  lamaistischer  Bücher  zu  reden,  bei  weiten 
nicht  alle  Geistlichen  Kalmükisch  lesen  und  schreiben.  — 

In  den  letzten  Jahren  jedoch  wurden  gleichzeitig  mit  den 
Erwachen  nationaler  Bestrebungen  bei  den  fremden  Völkern  aucl 
innerhalb  der  kalmükischen  Geistlichkeit  Versuche  zur  Hebung 
ihres  intellektuellen  und  sittlichen  Niveaus,  das  bis  dahin  nich 
gerade  hoch  steht,  bemerkbar.  Dies  fand  seinen  Ausdruck  in  de 
Eröffnung  höherer  lamaistischer  Schulen  in  den  kalmükischei 
Steppen  und  in  Zusammenkünften  der  lamaistischen  Geistlichkeit 
die  Maßregeln  und  Statuten  zur  Hebung  des  intellektuellen  mv 
moralischen  Niveaus  des  Churul  ausarbeiteten. 


^  Mong.  geschr.  Chural  die  Versammlung,  die  Geistlichkeit  eines  Klosters 
^  Vulgär  für  Mong.  Chubarak  „der  Geistliche",  Tibetisch  dGe'duD 
Sanskrit  Sangha. 


Der  Laraaismus  und  seine  Bestrebungen  115 

Um  die  Leser  mit  dieser  Bewegung  in  den  kalmükischen 
Steppen,  die  die  Eröffnung  zweier  höherer  lamaistischer  Schulen, 
stolz  „Akademien"  genannt,  hervorrief,  will  ich  hier  einen  Artikel 
,,Gegenwärtige  Strömungen  im  Lamaismus"  vorlegen,  der  alle 
Nachrichten  über  die  höheren  Schulen  und  über  die  Tätigkeit 
der  Kongresse  der  lamaistischen  Geistlichkeit  gibt,  soweit  solche 
nur  zu  erhalten  waren. 

Vom  12.  Oktober  1906  ging  in  das  kalmükische  Volksanit 
(in  Astrachan)  aus  dem  „Departement  der  geistlichen  Angelegen- 
heiten ausländischer  Konfessionen"  ein  Dokument  folgenden  In- 
halts ein: 

„Der  tibetische  Alteste  Tsanit  Hambo  Lharambo  Agvan  Dor- 
djiev^  legt  unter  Hinweis  auf  die  Tatsache,  daß  es  bei  den  Kal- 
müken  keine  höheren  Schulen  zur  Erziehung  von  Lamas  gäbe, 
die  Bitte  um  die  Erlaubnis  zur  Errichtung  einer  Schule  im  ülus 
Maloderbet  ein,  nach  dem  Beispiel  derjenigen,  die  bei  den  Burjaten 
im  hinteren BaikalgebietebeimGänsesee-Datzan  (Kloster)^ besteht." 

„Die  Errichtung  einer  solchen  Schule  als  äußerst  wünschens- 
wert anerkennend  erbittet  das  Departement  das  Urteil  des  Gou- 
verneurs von  Astrachan/' 

Als  man  von  Seiten  des  kalmükischen  Volksamtes  begann, 
Auskünfte  über  die  projektierte  Schule  einzuziehen,  da  zeigte 
Isich,  daß  Versuche  zur  Gründung  einer  ähnlichen  Schule  bei  den 
[Kalmfiken  schon  in  den  90  er  Jahren  des  vorigen  Jahrhunderts 
^^orlagen,  und  daß  einige  Zeit  eine  solche  Schule  sogar,  wenn  auch 
n  unvollkommenem  und  kleinem  Maßstabe,  bis  zum  Tode  ihres 

^  Über  diesen  merkwürdigen  Mann,  der  sich  auf  seinen  Visitenkarten 
jUne  Tsanit  Cambo  Agvan  Dorgiev  nennt,  vgl.  Sir  Francis  Younghusband 
\ndia  and  Tibet,  Lond.  1910,  S.  67  tf.  Er  war  unter  dem  Namen  Nag- 
ilban  rdo-rje  rams-pa  der  sNags-pa  des  Kloster  'Brasspuns  (Brepung), 
;gl.  Graham  Sandberg  Tibet  and  ihe  Tibetans,  Lond.  1908,  S.  111. 

^  Genauer  Ta-ts'ah  special  schools  or  „chairs"  established  within 
he  larger  monasteries,  for  the  teaching  of  particular  doctrines  and 
ienerally  endowed  with  property,  land  etc.,  Graham  Sandberg  Tibet, 
■rammar,  Calc.  1895,  S.  192. 

8* 


llß  P.  Guries 

Gründers  und  Leiters,  des  Gelong  Bäz  Bakshä,  im  Ulus  Malo- 
derbet  bestanden  hatte.  Als  sich  im  Jahre  1905  der  Dalai-Lama 
auf  der  Flucht  aus  Tibet  vor  der  sich  dorthin  bewegenden  eng- 
lischen Expedition  eine  Zeitlang  nahe  der  russischen  Grenze  im 
Zentrum  der  mongolisch-lam aistischen  Welt,  dem  bekannten  Urga, 
aufhielt;  da  segnete  er  die  Repräsentanten  der  Astrachaner  Kal- 
müken  und  der  Geistlichkeit  zur  Fortführung  des  „Coiri"^,  der 
höheren  buddhistischen  Schule,  als  einer  für  die  buddhistische 
Geistlichkeit  unumgänglich  notwendigen  Lehranstalt.  Und  so  kam 
im  Frühjahr  1906  im  Ulus  Maloderbet  der  seinerzeit  dem  Dalai- 
Lama  nahestehende  tibetische  Gelehrte  AgvanDordjiev  (ein  Mon- 
gole) zur  Wiederherstellung  der  sich  neu  eröffnenden  Schule  an. 

Er  bereiste  den  nördlichen  und  südlichen  Teil  des  Ulus  Ma- 
loderbet, sammelte  bedeutende  Spenden  und  begann  unter  Mit- 
wirkung des  Nojon  Tundutov  den  Bau  der  Schule  und  der  sich 
ihr  anschließenden  Gebäude  für  die  Studierenden,  sieben  Werst; 
(ein  Werst  ist  etwas  mehr  als  1  km)  von  der  Grenzscheide  von 
Amt  Burgusta  im  nördlichen  Teil  des  Ulus  Maloderbet. 

Bei  Gelegenheit  einer  Sommerreise  in  den  kalmükischen 
Steppen  glückte  es  uns,  ein  genaues  Programm  dieser  (damals^ 
neueröffneten  und  gegenwärtig  bereits  von  der  russischen 
Regierung  legalisierten  höheren  buddhistischen  Schule,  der  Coiri- 
Tsanit,  zu  bekommen.  Das  Programm  der  Schule  zeigt  deutlich 
welch  einen  gewaltigen  Einfluß  die  in  dieser  Anstalt  gebildete!] 
Zöglinge  auf  die  Hebung  des  Lamaismus  haben  werden  und  aui 
welch  eine  starke  Gegenmacht  hier  unsere  Missionssache^  trifft 

Unter  der  Tsanit-Öoiri  ist  eine  höhere  geistliche  Lehranstalt 
in  ihrer  Art  geistliche  Akademie  zu  verstehen,  deren  Ziel  es  ist 
ihren  Schülern  die  Gebote  und  den  Willen  des  Burchan  Bakshi 
d.  i.  Buddhas,  zu  erklären,  ihnen  zu  zeigen,  wie  das  Übel  zu  besserr 
sei,  wie  man  sich  fernzuhalten  habe  vom  Bösen,  wie  man  rechi 

^  Tibetisch  :  Chosrig. 

^  Die  orthodoxe  Kirche  unterhält  hier  eine  Mission.  Anm.  des  Ü ber 

Betzeis. 


Der  Lamaismus  und  seine  Bestrebungen  117 

im  Leben  zu  verfahren  und  durch  Erkenntnis  des  wahren  Sinnes 
der  Päramitä  zum  Nirväna  zu  streben  habe. 

Zu  diesem    Zweck    werden    folgende    vier    Disziplinen    der 
buddhistischen    theologischen    Wissenschaft    durchgenommen: 
a)  23  Bilik-Paramita  der  buddhistischen  Lehre,  ausgelegt  in  zwei 
Büchern^die  auf  Tibetisch  Yum^  und  Parcin^  heißen,  b)  13  Bände 
des  Dulva  (Yinaya)  ,,Disciplin"  in  einem  Bande  ausgelegt,  c)  ein 
kurzes  Lehrbuch  der  Erklärungen  (Hermeneutik)  unter  der  Be- 
nennung Zod^  (Abidharma)  und  d)  ein  Kurs  Dialektik  des  in- 
dischen Gelehrten  Dharmakirti   unter  der  Benennung  Namral. 
In  den  ersten  vier  Klassen  der  kalmükischen  Tsanit-Coiri 
wird  in  den  Werken  der  buddhistischen  Theologen  (oder  wie  sie 
sie  nennen  Panditas)  unterrichtet,  und  zwar  in  der  Auslegung 
des  Pandita  Dharmakirti.  Vom  5.  bis  zum  9.  Kurs  einschließlich 
Yum  (Dogmatik).  Im  10.  und  11.  die  Werke  Candrakirtis  und 
des  Tsong-kha-pa,  im  12.  Abhidharma  (Tib.  mDsod  für  mNon-pa 
mDsod)  und  im  13.  Vinaya  (Dulva).    Zu  diesen  13  Lehrjahren 
kommen  noch  5  Jahre  der  Repetition  hinzu.  Und  s,o  haben  wir 
es  in  Summa  mit  einem  18  jährigen  Lehrgang  zu  tun.   Freilich 
sind  für  uns  diese  Titel  heiliger  buddhistischer  Schriften,  die  in 
der  Coiri-Tsanit   studiert  werden,  bis   dahin  leerer  Schall,  und 
gewiß  vergeht  wohl  nicht  wenig  Zeit,  bis  wir  die  Möglichkeit 
i  genauer  Kenntnis  darüber  erhalten,   was  und   wie  man  in  den 
i  tibetischen  Schulen  lernt,  dann,  wenn  sich  bei  uns  die  Zahl  der 
j  Kenner  tibetischer  Sprache  vermehrt,   die  sich  die  Lehrbücher 
j  der  lamaistischen  Schulen  verschaffen  und  mit  ihrem  Inhalt  die 
i  Interessenten  genau  bekannt  machen.    Trotzdem  versuchen  wir, 
I  soweit  das  möglich,  klar  zu  machen,  welchen  Charakter  der  Lehr- 
(kurs   in  der  Coiri-Tsanit  seinem  Inhalt  nach  trägt.    Tsanit  ist 
I  ein  tibetisches  Wort.   Tsan  =  Weisheit,  nid  =  Grund  eigens  chaft, 

•         ^  Tibetisch:  Yum,  Sanskrit:  Mätrikä,  die  ausführliche  Version  der 
'Abhidharma  enthaltenden  Abteilung  des  hl.  Kanons. 

^  Tibetisch :  P'ar  p'yin,  abgekürzt  für  P'a-rol-tu  p'yin-pa,  das  Sütra 
voa  den  füut  transzendenten  Tugenden. 


Tibetisch:  mDsod  für  mNon-mdsod  Abhidharma-kosa. 


l\Q  P.  Guries 

Wesen;  Tsanit  =  Wesen  der  Weisheit.^  Diese  das  Wesen  dei 
Weisheit  auslegende  Lehre  ist  Doktrin  der  höheren  Dogmatil 
des  Buddhismus.  Die  Erlernung  dieser  Traktate  beginnt  großen 
teils  mit  Erforschung  der  äußeren  Natur  der  Dinge;  sie  handeh 
zuerst  von  der  äußeren  Form  der  Gegenstände,  ihrer  Farbf 
und  anderem.  Dann  geht  sie  über  zum  Traktat  vom  Sein  dei 
Gegenstände  und  vom  Nichtsein;  hier  werden  die  Fragen  übei 
den  Ursprung  der  Dinge  untersucht,  ob  sie  ewig  oder  nichl 
ewig  sind,  sind  sie  der  Zerstörung  unterworfen  oder  nicht 
existiert  irgend  etwas  ewig,  können  die  Elemente  der  Luft 
der  Geist,  die  göttliche  Weisheit  ewig  genannt  werden  oder  nicht: 
Sodann  wird  der  Traktat  von  den  Ursachen  und  Wirkungen  aus 
gelegt.  Hierher  gehören  Fragen  darüber,  ob  es  in  der  Natui 
ursachlose  Dinge  gibt,  usw.  In  der  folgenden  Abteilung  werdei 
die  Eigenschaften  des  menschlichen  Geistes  (des  Gedankens,  dei 
Kenntnisse  und  seiner  anderen  Erscheinungsformen)  betrachtet 
Was  den  Verfasser  dieses  Lehrbuchs,  nach  welchem  der  Unter 
rieht  der  erwähnten  Wissensdisziplinen  gehandhabt  wird,  der 
buddhistischen  Gelehrten  Dharmakirti  anbetrifft,  so  stellt  Scer 
batskoj,  Professor  des  Sanskrit  und  der  tibetischen  Sprache  ai 
der  Universität  St.  Petersburg,  der  unter  dem  Titel  „Erkenntnis 
theorie  und  Logik  nach  der  Lehre  der  späteren  Buddhisten''  nacl 
dem  Lehrbuch  dieses  Autors  (in  russischer  Sprache)  eine  Unter 
suchung  geschrieben  hat,  in  Anbetracht  der  Tiefe  seiner  philo- 
sophischen Gedanken  ihn  auf  eine  Stufe  mit  Kant,  wobei  er  ihm 
in  gleicher  Weise  mit  den  anderen  Philosophen  Indiens  wissen- 
chaftliche  Bearbeitung  der  Ideen  des  Mahäyäna  zuschreibt.  Derarl 
ist  das  eine  Gebiet  der  in  der  Coiri  dozierten  Disziplinen. 

Parcin,  der  in  der  Coiri-Tsanit  studiert  wird,  legt  den  Weg 
zur  Erzielung  der  Heiligkeit  Buddhas,  die  Werke  der  Bodhisattvas 
und  die  Geschichte  des  Säkya-Muni  aus.  —  In  der  Klasse,  weicht 

^  Diese  Erklärung  ist  falsch.  Es  gibt  kein  tibetisches  Wort  tsai 
in  der  angegebenen  Bedeutung;  die  richtige  Form  ist  mtshan-nyid,  was 
Charakteristik,  Normalisierung,  Definition,  Quintessenz  bedeutet. 


Der  Lamaismus  und  seine  Bestrebungen  119 

das   Yum   behandelt,    ist  vor  allem   vom   Skeptizismus  in   den 
Wissensgebieten  die  Rede,  dann  werden  die  wahren  Eigenschaften 
der  Nichtigkeit  erläutert  und  Wege  der  Erlösung  angegeben.  — 
Zu  den  Lehrbüchern  des  Tsanit  gehört  ferner  auch  das  (vom 
Verfasser  in  russischer  Sprache  zum  Teil  analysierte)  buddhisti- 
sche Werk   Irumta   namshag    mit    seiner  philosophischen  Aus- 
legung buddhistischer  Theorien.   Somit  sehen  wir,  daß  die  sich 
öffnende  Coiri-Tsanit  als  eine  Schule  des  philosophierenden  Bud- 
dhismus erscheint,  als  eine  Schule,  die  den  Buddhismus  in  allen 
Details   seiner  höheren  Dogmatik   erforscht,  bis  zur  Idee   der 
Nichtigkeit  und    des  Nichtseins   einschließlich.  —  Doch  nicht 
I  genug,  die  Bewohner  der  kalmükischen  Steppen  begnügten  sich 
1  nicht  bloß  mit  Eröffnung  einer  höheren  geistlichen  Schule.  Coiri- 
Tsanit  übte  und  übt  auf  die  Kalmüken  einen  starken  Eindruck 
aus.  Dazu  trägt  außer  der  Höhe  der  in  der  Coiri  gelehrten  Wissen- 
schaften die  Organisation  des  Schullebens  und  des  Lehrsystems 
bei.   Ein   strenges   Regiment  ist  in   der  Schule  eingeführt  und 
scharf  wird  darauf  geachtet,  daß  die  Lernenden  alle  ihre  Zeit 
nach  Möglichkeit  auf  das  Studium  verwenden.  Aufgenommen 
werden  nur  besonders  veranlagte  junge  Leute  nach  vorbereiten- 
der Auswahl  und  Examen  in  den  Churulen.  Beim  Morgengrauen 
aufstehend  beten  die  Schüler  in  ihren  Zellen.  Vor  Sonnenaufgang 
versammeln  sie  sich  auf  Ruf  der  Muschel  oder  Trommelschlag, 
gemäß  der  Forderung  des  Vinaya,  im  Gebäude  der  Akademie 
zu    gemeinschaftlichem    Gebet,   nach   dessen    Verlesung  sie  in 
i  dialektischer  Methode  die  aufgegebenen  Lektionen  wiederholen. 
1  Darauf  begeben  sie  sich  in  die  Häuser  der  Lehrer  und  nehmen 
I  neue  Stunden.   Zum  Mittag  versammeln  sie  sich  wiederum  auf 
1  den  Ruf  der  Muschel  im   Akademiegebäude  und  beantworten 
!  nach  Rezitierung  eines  Gebets  die  Lektionen.  Darauf  nehmen  sie 
aufs  neue  in  den  Häusern  der  Lehrer  Unterricht,  worauf  sie,  um 
'  zu  lernen,  in  ihre  Zellen  auseinandergehen.  Abends  findet  in  der 
I  Akademie  gemeinschaftliches  Gebet  statt  und  darauf  Abendbrot 
in  den  Zellen.  Im  Sommer  sollen  sie  um  11  Uhr  abends  schlafen 


120  ^-  Gr^J^ies 


iW 


gehen,  um  5  Ulir  morgens  aufstehen;  im  Winter  um  12  üw 
nachts  zu  Bett  gehen  und  sich  um  7  Uhr  morgens  erheben.  Die 
von  den  Schülern  der  Coiri  eingenommene  Speise  soll  in  der 
Art  von  Tee  und  Kumyß  flüssig  sein.  Feste  Speisen,  wie  z.B. 
Fleisch,  zu  genießen  ist  gemäß  den  Vorschriften  des  Vinaya 
verboten,  da  sie  die  Urteilsfähigkeit  trüben  und  Schlafsucht  her- 
beiführen. Untersagt  ist  es  den  Schülern,  sich  gegenseitig  ohne 
bestimmte  Veranlassung  zu  besuchen  und  sich  Aufwand  in  der 
Zelle,  in  der  Kleidung  und  im  Hausgerät  zu  gestatten. 

Nicht  erlaubt  ist  es,  Jahrmärkte  und  Basare  zu  bereisen, 
Spirituosen  zu  trinken,  Tabak  zu  rauchen  und  Karten  zu  spielen. 
Denen,  die  mit  Glanz  den  Kurs  der  Coiri  absolviert  haben,  wer- 
den die  gelehrten  Grade  Do-rambo^,  Gabjo  und  Gabshi  verliehen. 

Was  ist  dabei  also  wunderbar,  wenn  eine  solche  Schule  mit 
breitem  gelehrtem  Programm  und  strenger  tätiger  Lebensordnung 
eine  bedeutende  geistliche  Bewegung  zugunsten  des  Lamaismus 
hervorrief! 

Jetzt,  im  ganzen  etwa  vier,  fünf  Jahre  seit  Eröffnung,  ist  sie 
schon  das  geistliche  Zentrum  des  ganzen  Ulus  Maloderbet,  seines 
nördlichen  und  südlichen  Teils ;  sie  ist  der  Stolz  der  ganzen  kal- 
mükischen  Steppe.  Hier  finden  die  Zusammenkünfte  der  kal- 
mükischen  Churulenvorsteher  und  der  Geistlichen  statt.  Ich  selbst 
war  Zeuge  einer  solchen  Versammlung,  die  es  früher  in  den  kal- 
mükischen  Steppen  nie  gab.  Natürlich  ist  es,  wenn  die  eröffnete 
Schule  den  nachhaltigen  Wunsch  wachrief,  auch  an  anderen 
Orten   der  ausgedehnten   Steppen  ähnliche   Schulen  zu  haben. 

Im  Jahre  1907  begann  man  im  Ulus  Ikizochur  auf  der  Grenz- 
scheide Szansyr  —  sogar  ohne  vorbereitende  obrigkeitliche  Ent- 
scheidung —  mit  dem  Bau  einer  neuen  höheren  Schule  von  philo- 
sophisch-medizinischem Typus,  und  als  man  schon  Schüler  ge- 
sammelt und  mit  ihrem  Unterricht  begonnen  hatte,  da  fing  man 
erst  an,  sich  um  die  Legalisierung  der  Schule  zu  kümmern. 

^  Vielleicht  Tibet.  Druü-rams-pa,  die  tibetische  Orthographie  der 
anderen  Namen  ist  mir  unbekannt. 


Der  Lamaismus  und  seine  Bestrebungen  121 

Mit  Hinsicht  darauf,  daß  die  Eröffnung  ähnlicher  Lehr- 
anstalten sich  als  eine  gerade  nicht  billige  Sache  erwies,  ja  über- 
dies als  eine  mühsame,  infolge  der  ewigen  Hindernisse  seitens  der 
russischen  Obrigkeit  (Aufschub  der  eigenmächtigen  Errichtung 
der  Gebäude,  Forderung  obligatorischer  Erlernung  der  russischen 
Sprache  usw.),  fanden  die  raaloderbetischen  Churule,  wie  über- 
haupt die  Churule  des  in  bezug  auf  das  intellektuelle  Niveau 
tonangebenden  Ulus  andere  Wege  zur  Programmerweiterung  ihrer 
Bildung.  Nicht  früher  als  im  Jahre  1908  arbeitete  eine  Konferenz 
der  Bakshis  von  Maloderbet  ausschließlich  aus  eigener  Initiative 
ohne  irgendwelchen  Druck  äußerer  Gewalt  oder  der  staatlichen 
Obrigkeit  eine  Ordnung  für  die  Churule  ihres  Ulus  nach  dem 
Programm  der  Coiri-Tsanit  und  im  Einklang  mit  den  Geboten 
des  buddhistischen  Glaubens  aus.  Mit  diesem  Reglement  wird 
eine  strengere  Lebensführung  der  Churulgeistlichkeit  projektiert, 
ähnlich  der  der  Coirizöglinge,  und,  was  die  Hauptsache  ist,  ein 
elfjähriger  Lehrgang  in  Analogie  des  Kursus  der  Tsanit-Coiri 
in  etwas  verkürzter  Form.  Dergestalt  begegnen  wir  hier  der 
Tendenz,  aus  allen  Churulen  von  Maloderbet  kleine  Coiris  zu 
machen  mit  einem  wenn  auch  etwas  niedrigeren  Lehrgang,  aber 
doch  mit  einem  Programm,  das  viele  Disziplinen  der  Tsanit- 
Coiri,  wie  z.  B.  Yum,  Parcin  und  Zod,  in  sich  faßt. 

Gegenwärtig  suchen  die  Maloderbeter  die  Legalisation  des  aus- 
gearbeiteten Reglements  und  seine  allgemeine  Einführung  in  den 
Gebrauch  für  alle  Churulen  nach.  So  gestaltet  sich  auf  die  Kal- 
müken  der  Einfluß  der  bei  ihnen  von  Agvan  Dordjiev  gegrün- 
deten höheren  buddhistischen  Schule. 

Dem  Vernehmen  nach  gedenken  auch  die  Burjaten  den  Kal- 

müken  nicht  nachzustehen.   Auch  hier  laufen  Gerüchte  von  der 

Gründung  höherer  geistlicher  Schulen  bei  den  Klöstern  und  von 

!  der  beabsichtigten  Hebung  des  intellektuellen  Niveaus  der  lama- 

;  istischen  Geistlichkeit.    Parallel  hiermit  geht  eine  nationale  Be- 

\  wegung  in  den  burjatischen  Steppen,  ein  angestrengtes  Streben, 

eine  nationale  Literatur  in  der  Muttersprache  zu  schaffen,  die 


222  ^-  Gruries 

Verbreitung  des  neuen,  von  Agvan  Dordjiev  geschaffenen  mongo- 
lischen Alphabets,  das,  wie  es  scheint,  den  Zweck  hat,  alle  Mongolen 
durch  die  Schriftsprache  zu  einen,  daneben  noch  die  Anstrengun- 
gen der  Japaner,  die  in  mongolischer  Sprache  verschiedene  Werke, 
z.  B.  Lehrbücher,  drucken,  und  Ähnliches. 

Nicht  verwunderlich  ist  es  also,  wenn  unter  solchen  Um- 
ständen ein  verstärkter  intellektueller  Aufschwung  auch  der  bur- 
jatischen nationalen  Geistlichkeit  vor  sich  gehen  kann,  was  sich 
auch  schon  zu  verwirklichen  beginnt. 

Somit  stehet!  wir  vor  einer  beginnenden  intellektuellen  Er- 
hebung der  lamaistischeu  Geistlichkeit,  stehen  vor  ihrem  Streben, 
das  intellektuelle  und  moralische  Niveau  ihres  Lebens  zu  erhöhen. 
Wollen  wir  noch  mehr  reale,  sozusagen  greifbare  Resultate  dieses 
StrebensV  Wir  können  hinweisen  auf  die  in  letzter  Zeit  be- 
gonnene Herausgabe  der  hl.  Bücher  des  Buddhismus  in  kal- 
mükischer  und  mongolischer  Sprache,  um  das  einfache  Volk  mit 
der  buddhistischen  Lehre  bekannt  zu  machen,  die  von  der  lamaisti- 
scheu Geistlichkeit  unternommen  und  auf  lithographischem  und 
typographischem  Wege  in  Petersburg  ins  Werk  gesetzt  worden  ist. 

Uns  sind  schon  einige  solche  vor  nicht  langer  Zeit  in  kal- 
mükischer  Sprache  herausgegebene  Bücher  bekannt  (gegenwärtig 
mehr  als  zwölf  neue  Bücher)  Als  hauptsächlicher  Imitator  er- 
scheint der  Bakschi  des  Dongebiets.  In  mongolischer  Sprache  sind 
der  buddhistische  Katechismus  für  den  Schulgebrauch  und  einige 
andere  Bücher,  z.  B.  Dhammapada  usw.  herausgegeben,  in  ein, 
zwei  Jahren  etwa  15  Werke:  eine  vollkommen  neue  Erscheinung. 

Nach  offiziellen  statistischen  Angaben  beträgt  gegenwärtig 
die  Zahl  der  großen  Churule  24,  der  kleinen  40,  im  ganzen  also  64. 
Die  Zahl  der  Geistlichen  bei  ihnen  ergibt  sich  für  die  letzten 
fünf  Jahre  in  folgenden  Ziffern: 

im  Jahre      Gelonge      Getsule 
1905:  539  304 

1906:  511  295 

1907:  470  292 


Der  Lamaismus  und  seine  Bestrebungen  123 

im  Jahre        Gelonge        Getsule      Mandjiken    in  Summa 
1908:  419  280  349  1048 

1909:  601  390  377  1374 

Wie  aus  dieser  Tabelle  sichtbar,  ist  die  Zahl  der  buddhisti- 
schen Geistlichen  in  der  letzten  Zeit,  der  Zeit  der  Freiheit  (Glau- 
benstoleranzgesetz in  Rußland  1905)  bedeutend  gewachsen.  Ein 
erstes  Anwachsen  ist  im  Jahre  1907  bemerkbar,  wo  der  Etat 
der  Mandjiken  mit  einem  Male  sich  um  264  Personen  vergrößert, 
aber  1909  erhöht  sich  die  Zahl  der  Gelonge  um  182,  die  der 
Getsule)  um  116,  im  ganzen  um  298  Personen,  d.i.  fast  völlig 
im  Verhältnis  zum  Anwachsen  der  Zahl  der  Mandjiken  im 
Jahre  1907.  Außerdem  kamen  auch  so  1909  noch  28  Mandjiken 
hinzu  (nach  statistischer  Angabe  des  kalmükischen  Volksamts  in 
Astrachan,  Dok.  Nr.  2670). 

Dann  darf  auch  nicht  vergessen  werden,  daß,  wenn  die  offi- 
ziellen Berichte  von  einer  so  progressiven  Erhöhung  der  Geist- 
lichkeit unter  den  Kalmüken  bekannt  sind,  ihre  nichtoffizielle 
Menge  bedeutend  größer  ist,  wie  die  beglaubigten  statistischen 
Angaben  des  Missionars  der  Station  Noin  Shirin  über  die  Churule 
seines  Missionsbezirks  mitteilen.  Nach  offiziellen  Angaben  be- 
standen 1909  im  Ulus  Manytsch  2  große  und  4  kleine  Churule, 
und  bei  ihnen  w^aren  11  Bakshi,  57  Gelonge,  37  Getsule  und 
39  Mandjiken,  im  ganzen  141. 

In  Wirklichkeit  ist  nach  dem  Zeugnis   des  Missionars  der 

Personalbestand  der  Geistlichkeit  und  die  Zahl  der  Churule  größer, 

!  ersterer  nm  fünf  Mal,  letztere  um  vier  Churule.  (Die  vom  Mis- 

i  sionar  der  Station  Noin- Shirin  über  den  Ulus  Manysch  mitge- 

I  teilten  Angaben  sind  vom  Interims  Verwalter  des  Ulus  bestätigt.) 

Auch  in  der  Eparchie  Stawropol  macht  sich  eine  Zahlerhöhung 

1  der  lamaistischen  Geistlichkeit  bemerkbar.  So  erhöhte  sich  1907 

;  die  Zahl   der   Gelonge   auf   10  000  Kalmüken  um  1 2,   die   der 

1  Getsulen  um  10  und  die  der  Mandjiken  um  7  (statistische  Angaben 

ides  Hauptaufsehers  der  nomadisierenden  Völker  des  Gouverne- 

!  iments  Stawropol,  Nr.  3733). 


I 


124  ^-  Guries     Der  Lamaismus  und  seine  Bestrebungen 

Eine  gewaltige  Stütze  seiner  Entwicklung  findet  der  Lamais- 
mus  unter  den  Kalraüken  in  der  Person  des  bekannten  Agvan 
Dordjiev,  der  alljährlicli  die  kalmüki sehen  Steppen  bereist,  den 
Stand  der 'Geistlichkeit  unterhält  und  unbedingt  auf  ihre  Ver- 
mehrung einwirkt,  die  dann  auch  in  den  Orten  stattfindet,  wo 
Agvan  Dordjiev  weilt,  d.  i.  vorzugsweise  im  nördlichen  und  süd- 
lichen Teile  des  Ulus  Maloderbet  (nach  Materialen  einer  Missions- 
konferenz). 

Außer  Agvan  Dordjiev  besuchen  die  Kalmüken  auch  Emi- 
granten aus  der  Mongolei  und  Tibet.  Was  Angaben  über  die  Zahl 
der  Fälle  betrifft,  in  denen  Auswanderer  der  Mongolei  und  Tibets 
die  kalmükische  Steppe  besuchten,  und  was  ihren  Einfluß  auf 
die  lamaitischen  Kalmüken  anbelangt,  so  bestätigt  das  kalmükische 
Yolksamt,  daß  solche  Fälle  nicht  selten  sind.  Häufiger  als  andere 
erscheinen  in  der  Steppe  Emigranten  aus  den  hinterbaikalischen 
Burjaten,  der  Mehrzahl  nach  einfache  Leute,  die  sich  für  geist- 
liche Personen,  ja  als  „Heilige"  ausgeben.  In  Wirklichkeit  ist 
Ziel  ihres  Besuches  die  gröbste  Exploitierung  der  leichtgläubigen, 
unaufgeklärten  Kalmüken,  die  mit  buddhistischen  Kultgegen- 
ständen aus  Baumrinde,  Medikamenten  u.  dgl.  mehr  beglückt 
werden.  Nach  Entdeckung  der  Ankunft  solcher  Personen,  die 
von  den  Kalmüken  sorgfältig  geborgen  werden,  in  der  Steppe 
verfügt  das  Kalmükenamt  sofortige  Verschickung  aus  den  Gou- 
vernementsgrenzen und  Abnahme  der  Kollekte. 

Der  schädliche  Einfluß  dieser  Emigranten,  wer  sie  auch  immer 
sein  mögen,  auf  die  Kalmüken  kann  nicht  unterschätzt  werden, 
besonders  wenn  man  bedenkt,  daß  damit  in  der  ungebildeten  Masse 
der  Glaube  an  die  Macht  und  die  Heiligkeit  des  lamaistischen 
Idolkultus  aufrechterhalten  werden  soll.  Zum  Glück  wird  die 
Mehrzahl  dieser  Emigranten  rechtzeitig  fortgeschickt  oder  ist 
infolge  ihrer  Vorbildung  nicht  geeignet,  auf  die  Kalmüken  einen 
ernsthaften  moralischen  Einfluß  auszuüben. 


über  die  litauischen  Yeles 

Von  R.  V.  d.  Meulen  in  Leiden^ 

Veles  sind  bei  den  Litauern  die  geisterhaften  Gestalten  der 
Verstorbenen.     Das  Wort  Vele  ist  mittels  des  Suffixes  -le  ge- 
bildet  von  der  fast  allen  indogermanisclien  Sprachen  gemein- 
samen Wurzel  ve-,    die  bekanntlich  „blasen,   wehen"    bedeutet^ 
und  somit  dem  Begriffe  nach  zu  vergleichen  mit  der  Parallele 
gr.  avs^og  ,^Wind"  —  lat.  animus,  anima  „Wind,  Seele,  Geist". 
Oft  werden  die  Veles  in  den  Raudos,  den  Totenklagen,  erwähnt 
und  dann  und  wann  ist  auch  in  den  Pasakos,  den  Volkserzäh- 
lungen und  Märchen,  von  ihnen  die  Rede.    Aber  bis  vor  unge- 
fähr zehn  Jahren  wußte  man  dennoch  nicht,  was  das  litauische 
Volk  eigentlich  unter  diesem  Namen,  der  schon  seit  dem  sech- 
zehnten Jahrhundert  bekannt  ist,  verstehe  und  welchen  Bedeu- 
tungsinhalt es  ihm  beimesse.   Es  ist  das  Verdienst  zweier  Litauer, 
die  ihr  Volk  und  ihre  Sprache  sehr  lieben,  daß  wir  jetzt  im- 
stande sind,  uns  eine  ziemlich  genaue  Vorstellung  von  dem  Leben 
und  Treiben  der  Menschenseelen  nach  dem  Tode  nach  dem  al- 
ten Glauben  der  so  lange  heidnisch  gebliebenen  Litauer,  obzwar 
mit  christlichen  Zusätzen  vermischt,  zu  bilden.   In  den  neunziger 
i  Jahren  des  vorigen  Jahrhunderts  hat  nämlich  ein  gewisser  Vilius 
j  Kalvaitis  in  seiner  Heimat,  dem  preußischen  Litauen,  besonders 
!  in  den  Bezirken  Tilsit,  Ragnit  und  Memel,  eine  ganze  Menge 
j  kurzer  Erzählungen  gesammelt,  aus  denen  wir  die  Veles  kennen 
!  lernen^  insoweit  dies  möglich  ist  bei  einem  Gegenstand,  der  aus 
I  dem  Volksbewußtsein  im  Verschwinden  begriffen  ist.   Die  Samm- 
I  lung  ist  gesichtet  und  geordnet  von  J.  Basanaviczius,   der  sie 
!  außerdem  vermehrt  hat  mit  einigen  Erzählungen  aus  dem  russi- 

i  scheu  Litauen,  besonders  aus  dem  Gouvernement  Suwalki,   so 

i 

j        ^  Vortrag  am  10.  Septbr.   1912    gehalten  auf  dem  4.  Internationalen 
'Kongreß  für   Religionsgeschichte  zu  Leiden. 


126 


R.  V.  d.  Meulen 


daß  das  Ganze,  von  ihm  herausgegeben  unter  dem  Titel:  Iß  gl 
venimo  Veliu  bei  Velniu  (Aus  dem  Leben  der  Veles  und  TeufelL  , 
Chicago  1 903,  einen  wichtigen  Beitrag  zu  unseren  dürftigen  Keni^l 
nissen  der  Religionsanschauungen  der  baltischen  Völker  bildet 

Ich  möchte  danach  hier  etwas  mitteilen  über  den  Eindruck, 
den  die  Veles  auf  die  sterblichen  Menschen  machen  und  über  die 
Fähigkeit,  welche  einige  Tiere  und  Menschen  besitzen,  die  Nähe 
der  Veles  zu  empfinden. 

In  den  meisten  Fällen,  wo  von  ihnen  die  Rede  ist,  zeigen 
sie  sich  in  ihrer  früheren  menschlichen  Gestalt;  ihr  Äußeres  ist 
wie  während  ihres  Lebens  auf  Erden.  Der  Mann  erscheint  als 
Mann,  das  Weib  als  Weib,  das  Kind  als  Kind,  sogar  der  Herr 
und  der  Prediger  erscheinen  als  solche.  Leibesfehler  wie  z.  B. 
Lahmheit  haben  sie  behalten.  Besonders  das  Antlitz  und  die 
Haare  sind  deutlich  wieder  zu  erkennen.  Weiß  ist  ihre  Farbe; 
weiß  sind  ihre  Kleider.  Es  sind  dies  meistens  dieselben  Kleider, 
in  welchen  man  sie  bestattet  hat.  Reiten  sie  ein  Pferd,  so  ist 
es  immer  ein  Weißschimmel.  Wer  in  diesem  Leben  Fischer 
war,  erscheint  auch  als  Vele  mit  einem  Fischnetz;  wer  liebte 
mit  einem  Stock  zu  gehen,  hat  diesen  auch  im  Jenseits  mit  sich. 
Daneben  gibt  es  aber  auch  einige  Erzählungen,  in  denen  die  Gestalt 
der  Geister  nicht  so  scharf  umrissen  und  genau  dem  menschlichen 
Auge  erscheint,  in  denen  sie  nur  bis  an  die  Mitte  deutlich  sicht- 
bar sind,  nach  unten  hin  eine  unbestimmte  Form  und  Ausdehnung 
haben.    Nicht  selten  zeigen  sie  sich  auch  als  ein  bloßer  Schatten. 

Es  steht  dies  damit  in  Einklang,  daß  sie  fast  ohne  Substanz 
sind.  Bloß  in  zwei  eigentümlichen  Aufzeichnungen  wird  erzählt, 
sie  fühlen  sich  bei  der  Berührung  an  wie  ein  Bündel  Baumwolle. 
Von  ihrer  Substanzlosigkeit  legen  übrigens  die  verschiedenen  Arten, 
aufweiche  sie  vor  dem  menschlichen  Auge  verschwinden,  wenn  miin 
sie  zu  berühren  versucht  oder  lange  nach  ihnen  hinschaut,  ein  klares 
Zeugnis  ab.  Alsdann  verschwinden  sie  wie  ein  Dunst,  ein  Wasser- 
nebel, wie  Staub  in  die  Luft,  wie  ein  Licht,  das  ausgeht,  oder  aber 
sie  werden  zuerst  durchsichtig  wie  ein  Spinnengewebe  oder  ziehen 


über  die  litauischen  Veles  127 

sich  ganz  lang  hin.  In  einem  bekannten  von  Schleicher  in  seinem 
litauischen  Lesebuch  mitgeteilten  Märchen  tritt  die  Braut  dem  zu 
ihr  als  Vele  wiedergekehrten  verstorbenen  Bräutigam  auf  die  Stiefel 
und  bemerkt  zu  ihrem  großen  Schrecken,  daß  diese  ganz  leer  sind. 

In  Gegensatz  zu  dieser  Substanzlosigkeit  oder  jedenfalls  ganz 
leichten  Materie  steht  der  Umstand,  daß  die  Veles  eine  große 
Kraft  ausüben  können  und  den  Menschen  grausam  quälen  und 
peinigen.  Manchmal  werfen  sie  ihn  zu  Boden,  rollen  ibn  hin 
und  her,  ringen  mit  ihm  oder  reißen  ihn  mit  sich  fort,  und  dem 
von  ihnen  ins  Antlitz  Geschlagenen  bleiben  die  schwarzblauen 
Fingereindrücke  auf  dem  Gesicht  stehen.  Sind  sie,  was  sich  oft 
ereignet,  in  einer  großen  Anzahl  gegenwärtig,  so  macht  ihre 
Schwere  ein  Boot  im  Wasser  untersinken.  Auf  dem  Wege  lassen 
sie  die  Menschen  fallen  oder  stolpern,  indem  sie  ihnen  fortwährend 
unter  den  Füßen  sind;  ja,  auf  ihren  nächtlichen  Zügen  reißen  sie 
sogar  alles  nieder,  was  ihnen  in  dem  Weg  steht,  wie  Dächer, 
Scheunen  und  Häuser.  Es  geschieht  dies  immer  bei  wildem,  stür- 
mischem Wetter,  bei  heftigem  Sturmwind.  Ganz  ähnlich  heißt  es 
im  Norden  Rußlands,  wenn  der  Sturm  das  Dach  vom  Hause  ab- 
reißt, daß  die  unzufrie'denen  und  erzürnten  Verstorbenen  es  tun. 

Aber  auch  ohnedem  bewegen  sich  die  litauischen  Veles  oft- 
mals wie  vom  Winde  fortgetrieben,  drehen  sich  wie  im  Wirbel- 
,  winde.  Auf  dem  Wasser  gleiten  sie  an  der  Oberfläche  wie  auf 
I  glattem  Eise.  Manchmal  berühren  sie  die  Erde  gar  nicht  und 
{fliegen  nahe  der  Erde  durch  die  Luft.  Sie  können  aber  auch 
i  wie  die  sterblichen  Menschen  auf  ihren  Füßen  gehen.  Von  einem 
'so  wandernden  Haufen  Veles  heißt  es  in  einer  Erzählung,  daß 
jer  näher  komme  wie  ein  schwarzes  Tannenwäldchen. 

Nach  dem  soeben  Gesagten  verstehen  wir  es,  wenn  der  Li- 
tauer die  Geister  hört  wie  das  Sausen  eines  plötzlichen  Windes 
; Vergleichen  ja  auch  die  nördlichen  Russen  den  heulenden  Wind 
imit  den  schreienden  Verstorbenen,  identifizieren  ihn  mit  ihren 
jGeistern,  indem  sie  sich  in  ihren  Totenklagen  zu  den  Winden, 
iden  stürmischen  Winden  wenden  mit  der  Bitte,  sie  mögen  den 


12S  ^-  '^'  ^-  beulen 

Toten  auferwecken  und  wieder  ins  Leben  zurückrufen.  Dem 
Eindruck,  den  die  Veles  auf  das  menschliche  Ohr  ausüben,  wird 
aber  von  den  Litauern  auch  in  anderer  Weise  Äußerung  gegebe^ 
Von  einem  plötzlich  erscheinenden  Geiste  wird  gesagt,  daß  er 
hört  wurde  wie  der  Laut,  den  der  Hahn  macht,  wenn  er  mit  d< 
Flügeln  schlägt,  bevor  er  zu  krähen  anfängt,  und  von  einer  ganz^ 
Schar  heißt  es,  sie  sausen  und  brausen  und  machen  einen  Läri 
als  ob  Holzflößer  auf  ihren  Flößen  nach  Rußland  zurückkehre 

Die  Nähe  der  Yeles  kann  aber  nicht  jedermann  mit  seil 
Sinnen  gewahr  werden.    Insbesondere  offenbaren  sie  sich  einigen 
Tieren,  namentlich  Hähnen,  Pferden  und  Hunden.    Der  Litauer 
sagt;  Wenn  der  Hahn  tüchtig  kräht,  sieht  er  einen  Habicht^ 
wenn  er  leise  und  langsam  kräht,  eine  Yele.    Je  näher  der  F^ic^^| 
hof,  desto  früher  fangen  die  Hähne  an  zu  krähen;  man  sagt,  die  ' 
Veles  wecken  sie.    Wenn  ein  Pferd  scheu  wird  und  prustet  und 
es  gibt  in  der  Nähe  nichts  besonderes  zu  sehen,  so  sieht  es  einen  ' 
Geist.   Gewöhnlich  ereignet  sich  dies  am  Abend  und  in  der  Nacht 
in  der  Umgebung  von  Friedhöfen  oder  Häusern,  wo  ein  Mensch 
gestorben  ist.    Drei  Tage  vor  dem  Tode  besuchen  die  Geister 
seiner  schon  vorher  gestorbenen  Verwandten  den  auf  dem  Sterbe- 
lager  liegenden  Kranken.     Es   fangen   alsdann   die  Hunde  an 
heftig  zu  bellen,  zu  heulen  und  zu  winseln.    Wer  einen  solchen 
Hund  ins  Haus  treibt,  dem  sind  die  Veles  sehr  dankbar,  wer  ihn 
aber  gegen  sie  hetzt,  dem  schicken  sie  eine  schwere  Krankheit. 

Wenn  die  Sinne  es  ihm  gestatten,  kann  jeder  Todkranke  auf 
seinem  Sterbebette  die  ihn  besuchenden  und  für  das  Leben  nach 
dem  Tode  den  Weg  bereitenden  Veles  sehen  und  hören.  Aber 
es  gibt  auch  Menschen,  welche  in  gesunden  Zeiten  während  des 
Lebens  diese  Fähigkeit  besitzen.  Solche  Geisterseher  nennt  der 
Litauer,  wenn  es  ein  Mann:  Dvasregis,  wenn  es  eine  Frau :  Dvasrege. 
Im  allgemeinen  zeigen  sich  die  Veles  Frauen  öfter  als  Männern. 
Die  Fähigkeit,  sie  zu  sehen,  ist  entweder  angeboren  oder  man 
hat  sie  später  erworben.  Wer  an  einem  Donnerstag,  besonders 
am  grünen  Donnerstag,  geboren  und  am  Sonntag  getauft  oder 


über  die  litauischen  Velea  129 

umgekehrt,  wer  am  Sonntag  geboren  und  am  Donnerstag  getauft, 
ißt  Dvasregis  bzw.  D vasrege.  In  einer  Erzählung  macht  eine 
schwangere  Frau  den  Versuch,  Geister  zu  erblicken,  auf  eine 
Weise,  die  ich  sofort  erwähnen  werde;  sie  erreicht  ihr  Ziel  nicht, 
aber  ihr  nachher  geborener  Sohn  wird  für  sein  Leben  Dvasregis. 
Während  des  Lebens  kann  man  Geisterseher  werden  nach  einer 
schweren  gefährlichen  Krankheit,  die  einen  dem  Tod  nahebringt; 
es  haben  die  Veles  einen  dann  schon  besucht  und  nach  der  Ge- 
nesung behält  der  frühere  Kranke  die  Fähigkeit,  sie  zu  erkennen. 
Ferner  durch  einen  plötzlichen,  heftigen  Schrecken  oder  auch 
durch  übermäßiges  Trinken.  Es  geschieht  das  alles  ohne,  ja  so- 
gar wider  den  Willen  des  Menschen,  denn,  wie  wir  bald  sehen 
werden,  es  ist  keine  beneidenswerte  Sache  Dvasregis  oder  Dvas- 
i  rege  zu  sein.  Aus  Neugier  oder  aus  Übermut  versucht  man  den- 
1  noch  bisweilen  jener  Eigenschaft  teilhaft  zu  werden  und  das  wird 
auf  verschiedene  Weise  für  möglich  gehalten.  Wir  sahen,  daß 
Hunde  und  Pferde  für  die  Veles  besonders  empfindlich  sind. 
Erstere  bellen,  heulen  und  winseln,  letztere  prusten,  schnauben 
jund  schnarchen,  wenn  sich  die  Veles  in  der  Nähe  aufhalten. 
Nimmt  man  nun  einen  solchen  heulenden  Hund,  der,  wie  man 
vermutet,  gegen  die  Geister  bellt,  oder  ein  solches  prustendes 
Pferd  bei  den  Ohren  und  schaut  durch  den  Raum  zwischen  den 
Ohren  hindurch,  so  erblickt  man  die  Veles  und  kann  diese  Fähig- 
keit nie  wieder  los  werden.  Aus  mehreren  Aufzeichnungen  er- 
;hellt  ganz  genau,  wie  man  diese  Handlung  bei  einem  Hund  zu 
|voUziehen  hat.  Ihm  auf  den  Schwanz  tretend,  faßt  man  das 
;Tier  mit  den  beiden  Händen  an  den  beiden  Ohren,  legt  diese 
jkreuzweise  übereinander,  indem  man  einen  kleinen  Raum  übrig 
jläßt  zwischen  dem  Kopf  und  dem  Kreuzpunkt  der  Ohren.  Nieder- 
[kauernd  schaut  man  nun  über  den  Kopf  und  unter  die  Ohren 
und  wird  die  Veles  erblicken.  Doch  gibt  es,  um  dieses  Ziel  zu 
erreichen,  noch  andere  Wege.  Alles,  was  mit  einem  Verstorbenen 
joder  mit  den  Toten  überhaupt  in  Beziehung  steht,  ist  von  der 
jGeisterwelt   umringt.     Es   gehört  sozusagen   zu   ihrem    Gebiet. 

Archiv  f.  ReligionswisBenachaft  XVII  9 


J30  R.  V.  d.  Meulen 

Wer  dieses  Gebiet  betreten  und  die  Geister  in  ihrem  Treiben 
betrachten  will,  muß  seine  Zuflucht  zu  Gegenständen  nehmen, 
welche  zu  diesem  Kreise  gehören.  Und  so  schaute  die  oben  er- 
wähnte schwangere  Frau  durch  das  nach  dem  Herausfallen  eines 
Splitters  in  einem  Grabkreuz  entstandene  Loch.  Ganz  ähnlich 
schaute  eine  andere  Frau  in  ihrer  Jugend  durch  das  ebenso  in 
einem  Stück  Brett  eines  Sarges  entstandene  Loch  und  wurde 
von  dem  Augenblick  an  auf  immer  Dvasrege.  Gleicherweise  wer 
beim  Totenmahl  durch  die  Quasten  eines  daselbst  benützten  Hand- 
tuchs nach  dem  Ehrenwinkel  hinblickt,  wo  vom  Sohne  der  Geist 
des  verstorbenen  Vaters  sich  verabschiedet  und  ihn  zum  letzten 
Male  mit  kalter  Hand  über  die  Wange  streichelt,  wird  die  er- 
sehnte Fähigkeit  erlangen.  Es  kann  diese  auch  von  dem  einen 
Menschen  auf  den  anderen  übergehen.  Eine  Frau,  die  ihrem 
Halbbruder,  während  er  Geister  sah,  über  die  linke  Schulter 
blickte,  wurde  selbst  Geisterseherin,  während  sie  ihn  davon  befreite. 
Denn  die  Dvasregiai  und  Dvasreges  fühlen  ihre  Lage  als  ein 
großes  Unglück.  In  allen  Dingen  müssen  sie  den  Veles  dienen 
und  helfen.  Bei  einer  Begegnung  müssen  sie  ihnen  aus  dem 
Wege  gehen  und  einen  großen  Umweg  machen,  sonst  würden 
sie  auf  peinliche  Weise  gequält  werden.  Die  gewöhnlichen  Men- 
schen aber,  welche  in  dieser  Hinsicht  nicht  begabt  sind,  können 
ihren  Weg  ruhig  verfolgen,  denn  die  Geister  müssen  ihnen  aus- 
weichen. Die  Geisterseher  meiden  dann  auch  immer  das  Gebiet 
der  Geisterweit-,  Sterbezimmer,  Sterbehäuser,  Totenwachen,  Toten- 
mahle, Begräbnisse  und  Friedhöfe  scheuen  sie.  Manchmal  sind 
sie  gezwungen,  die  Geister  in  großer  Anzahl  auf  ihren  Schultern 
zu  tragen.  Dvasregiai,  die  in  solcher  Weise  von  den  Geistern 
gequält  werden,  nennt  das  Volk  Dvasnesziai,  Geisterträger.  Diese 
haben  sich  der  sehr  ermüdenden  und  abmattenden  Plage  immer 
zu  unterwerfen  bei  der  Begegnung  von  kleinen  Veles,  Kinder- 
veies. Denn  nach  der  geläufigen  Vorstellung  sind  die  kleinen 
Kinder  im  Jenseits  nicht  imstande  auf  ihren  Füßlein  zu  gehen, 
sondern  sie  müssen  sich  auf  der  Erde  wälzen,  um  weiter  zu  kom- 


über  die  litauischen  Veles  131 

men.    Die  litauisclien  Mütter  werden  denn  aucli  gewarnt,  ihre 
verstorbenen  Kleinen  nicht  mit  zusammengewindelten  Füßlein 
in  den  Sarg  zu  legen,  sonst  haben  diese  sich  immer  zu  wälzen. 
Besonders  findet  das  Geistertragen  statt  am  grünen  Donnerstag- 
abend, von  den  Litauern  Veliu  Velykos,  d.  h.  der  Veles  Ostern,  ge- 
nannt. Es  gehen  dann  alle  Veles,  junge  und  alte,  kleine  und  große, 
in  die  Kirche  und,  um  dorthin  zu  gelangen,  hängen  sich  die  Klei- 
nen ohne  Gnade  auf  die  Schultern  der  ihnen  in  den  Weg  kommen- 
den Dvasnesziai  in  so  großer  Anzahl,  als  der  Raum  nur  gestattet. 
War  bisher  die  Rede  von  den  Veles  in  einer  mehr  oder  we- 
niger dem  Menschen  ähnlichen  Gestalt,  so  steht  neben  dieser 
Anthropomorphose  auch  eine  Theriomorphose  der  menschlichen 
Seele.    Im  Traume  verläßt  diese  den  Körper  durch  den  Mund 
in  der  Gestalt  einer  weißen  oder  rotbraunen  Maus.    Auch  den 
I  Veles,  welche  den  sterbenden  Menschen  während  dreier  Tage  vor 
dem  Tode  besuchen,  begegnen  wir  als  Tieren.    Von  einem  Sterbe- 
I  falle  aus  dem  Jahre  1872  heißt  es:  „Den  dritten  Tag  vor  dem 
I  Tode  kamen  am  Mittag  zwei  sehr  schöne  weiße  Vögelein,  Tauben 
I  ähnlich,  geflogen;  nachdem  sie  sich  in  das  Fenster  des  Kranken- 
I  Zimmers  von  außen  eingehakt  und  schön  gezwitschert,  flogen  sie 
I  hinweg,  und  dasselbe  wiederholten  sie  auch  den  zweiten  und  den 
1  letzten  Tag  um  dieselbe  Zeit/'    Weiße  Tauben  werden  in  dieser 
!  Hinsicht  oftmals  erwähnt,  aber  auch  weiße  Gänse  und  ein  weißes 
Hündchen  findet  man  anderswo  in  litauischen  Erzählungen.    Man 
'  vergleiche  die  Theriomorphose  der  Seele  in  den  russischen  Toten- 
i  klagen,  wo  sie  erscheint  als  kleines  Vögelein,  womit  der  Schmetter- 
iling  gemeint  ist,  als  Taube,  Ente,  Dohle,  als  Hase  und  Hermelin. 
j       Ich  habe  hier  nur  einiges  aus  der  Fülle  des  Materials  heraus- 
Igegriffen,  aber,  wie  ich  hoffe,  genug,  um  zu  zeigen,  wie  in  ent- 
ilegenen  und  der  modernen  Kultur  wenig  zugänglichen  Orten 
die  ehemals  im  großen  und  ganzen  wohl  allen  indogermanischen 
Völkern  gemeinsamen  Anschauungen  noch  nicht  gänzlich  ver- 
schwunden sind,  so  daß  hier  noch  eine  Quelle  sprudelt,  aus  der 
iwir  die  letzteren  besser  kennen  zu  lernen  vermögen. 

«__  9* 


LegendenmotiYe  in  der  rabbinischen  Literatur 

Von  A.  Marmorstein  in  London 
6    Sprechende  Bäume^ 

Der  singende  oder  sprechende  Baum  kommt  in  der  Agada 
sehr  häufig  vor.  Günter^  gibt  ein  Beispiel  dieser  Art.  Wir 
wollen  hier  einmal  auf  andere  Literaturkreise  hinweisen,  in  denen 
dieses  Motiv  heimisch  ist,  andererseits  aber  für  die  Verbreitung 
dieses  Motivs  in  der  rabbinischen  Literatur  einige  weitere  Be- 
lege liefern. 

Bereits  in  der  dem  zweiten  nach  ehr.  Jahrhundert  angehörenden, 
das  Testament  Abrahams  betitelten  Apokalypse  finden  wir  einen 
mit  menschlicher  Stimme  (dvd^QcoTtCvrj  (pcovfi)  sprechenden  Cy- 
pressenbaum.^  Der  verdienstvolle  Herausgeber  derselben,  Montague 
Rhodes  James,  hat  in  einem  besonderen  Abschnitt  the  legend 
of  speahing  tree  die  verwandte  Literatur  herangezogen.*  Aus  der 
reichen  und  verwandten  rabbinischen  Literatur  wird  jedoch  nur 
eine  einzige  Stelle  gebracht.^  Es  wird  daher  nicht  überflüssig 
sein,  dieses  Motiv  in  der  rabbinischen  Literatur  genauer  zu 
behandeln. 


*  Abschnitt  1  — 5  s.  in  diesem  Archiv  XVI  160  ff. 

^  Die  Christi.  Legende  des  Abendlandes,  Heidelberg  1910,  S.  94;  vgl. 
noch  S.  64  und  69.     Ct  Hagiga  14b. 

^  The  Testament  of  Abraham,  the  greek  text  now  first  edited  with  an 
introduction  and  notes,  in  Texts  and  Studies  contributions  to  biblical 
and  patristic  literature,  Cambridge  1892,  Nr.  2  S.  79  und  107. 

^  So  die  Passio  of  St.  Perpetua  c.  61,  die  Baarlam-  und  Josaphat- 
legende  ed.  Boissonade  S.  280,  Bendel  Harris  Best  of  the  words  of  Baruch 
c.  9  S.  62.  Belege  aus  der  klassischen  Literatur  Orpheus,  Argonautica 
1160;  Ps.  Callisthenes  III,  17  ed.  Müller.  Über  die  arabische  Literatur  b. 
Wolff  Muhamedanische  Eschatologie  S.  197;  Weil  Biblische  Legenden  der 
Muselmänner  18  i2  S.  8.  Äthiopisch  im  Buch  der  Mysterien  des  Himmels 
und  der  Erde,  von  Abba  Bahalya  Michael,  s.  Zotenberg  Cat.  Mss.  Aethiop. 
Paris  p.  138.  ^  Abot  des  B.  Natan  c.  1. 


Legendenmotive  in  der  rabbinischen  Literatur  133 

An  erster  Stelle  sei  erwähnt,  daß  von  R.  Jochanan  ben 
Zakkai  gesagt  wird,  er  habe  von  seinem  Lehrer  Hillel  sogar 
die  Sprache  der  Bäume,  der  Pflanzen  erlernt.^  Tatsächlich 
dachten  die  Rabbinen,  daß  die  Pflanzen  und  Bäume  sprechen 
könnten.  So  heißt  es  zu  Gen.  2,  5  von  allen  Gewächse  des  Feldes: 
Warum  wird  das  Wort  Hü  erwähnt?  die  Bäume  sprechen  mit- 
einander und  mit  den  Menschen.^  Wir  finden  ferner  in  den 
Pflanzenfabeln  mehrere  Gespräche.  So  das  Gespräch  zwischen 
den  Wald-  und  Fruchtbäumen ^,  in  der  Fabel  von  den  Bäumen 
und  dem  Eisen.*  Das  Gespräch  zwischen  Stoppeln,  Spreu, 
Stroh  und  Weizen.^  Die  Rabbinen  scheinen  eine  ganze  Gattung 
dieser  Gespräche  besessen  zu  haben,  die  sie  ^Gespräche  der 
Palmen'  (d'^bp^  rnntiü)  genannt  haben.  Wie  wir  wissen,  gab 
es  bereits  in  der  Bibliothek  des  assyrischen  Königs  in  Ninive 
eine  Sammlung  von  Pflanzenfabeln.^  Das  Volk  dachte,  daß 
selbst  Pflanzen  und  Bäume  die  Kraft  der  Sprache  besitzen  und 
ein  Dichter  des  Mittelalters  legte  allen  Pflanzen,  Früchten  und 
Bäumen  einen  Vers  in  den  Mund.^ 

Von  besonderem  Interesse  ist  das  Zwiegespräch  Gottes  mit 

dem  Feigenbaum,  Granatapfelbaum,  Walnuß-,  Citronen-,  Oliven-, 

i  Apfelbaum  und  Ceder  am  Libanon,  die  sich  alle  bereit  finden, 

j  dem  Haman  einen  Galgen  zu  liefern.^   Hier  kommt  die  Legenden- 

I  Stimmung  besonders  stark  zum  Ausdruck. 


^  SuJcka  28a,  Bdba  Batra  134a,  Tractat  Soferim  16,  9 ;  vgl.  Aruch  s.  v.  HO 

^  Genesis  raiba  c.  13. 

"''  Gen.  rdbla  c.  16. 

^  Gen.  rahha  c.  5.  Midras  Konen. 
\         ^  Gen.  rahha  c.  83,  Cant  r.  s.  v.  llnöM  "i:*N  T^^\ü,  Midras  Psalmen  c.  2, 
js.  meine  Beligionsgesch.  Studien  1.  Heft  S.  14tf. 

^  Haupt    Das    Gilgameschepos   S.  90,  frgmt.  c.  9717.  18  —  21;  ferner 
A    Wünsche  Die  Pflanzen fahel  in  der  Weltliteratur,  Leipzig  1905. 

^  ^T^'^^  "^pnr    oft    gedruckt,    s.  Benjacob    Ozar  Hasefarim  p.  498, 
Nr.  1201,  ein. 

i  ^  S.  Ägadot  Eszter  ed.  Buber  S.  60—61  besonders  Anm.  8,  wo  alle 
jParallelstellen  verzeichnet  sind,  ferner  M.  Gaster  The Chronicles of  Jeracli' 
\meel  S.  248  —  260. 


J34  ^-  Marmorstein 

7  Das  Erkennen  der  Schuld  oder  Unschuld 
durch  das  Stirnblech 
In  der  für  die  Legendengeschichte  so  wichtigen  apokryphen 
Schrift  'Das  Protoevangelium  des  Jakobus '^  findet  sich  die 
Stelle:  „Am  folgenden  Tage  aber  brachte  er  seine  Gaben  dar, 
indem  er  bei  sich  sprach:  wenn  Gott  der  Herr  mir  gnädig  ist, 
so  wird  mir's  das  Stirnband  des  Priesters  offenbar  machen. 
Und  so  brachte  Joachim  seine  Gaben  dar  und  achtete  auf  das 
Stirnband  des  Priesters,  als  er  zum  Altar  des  Herrn  hinauf- 
stieg, und  sah  keine  Sünde  an  ihm."^  Dem  Verfasser  schwebt 
die  Vorstellung  vor,  daß  man  an  dem  Stirnband  'die  Sünden 
erkennen  kann'.^  Diese  Vorstellung,  daß  man  die  Schuld  oder 
Unschuld  eines  Menschen  an  geweihten  Gegenständen  sehen 
kann,  ist  in  der  rabbinischen  Literatur  recht  häufig.  Als  Josua 
den  Achan  durch  das  Los  bestrafen  wollte,  da  sagte  diese? 
(Achan):  „Wie  kannst  du  dich  auf  das  Los  verlassen,  wirf  Lose 
zwischen  zwei  Unschuldigen,  so  wird  das  Los  auf  einen  fallen!^' 
Da  war  Josua  sehr  betrübt.  Er  blickte  in  die  zwölf  Steine  an 
der  Brust  des  Hohenpriesters.  Es  war  die  Überlieferung  ver- 
breitet, daß  wenn  ein  Stamm  gesündigt  hatte,  der  Stein  dieses 
Stammes  farblos  war,  sonst  aber  glänzend.  Hier  verdunkelte 
sich  die  Farbe  des  Stammes  Jehuda.  Da  erkannte  Josua,  daß 
der  Sünder  aus  dem  Stamme  Jehuda  sei  und  zwar  Achan.* 
Dasselbe  ereignete  sich,  als  Saul  denjenigen  ausfinden  wollte, 
der  gegen  seinen  Schwur  gehandelt  hatte,  nämlich  seinen  Sohn 
Jonatan.^  Übrigens  finden  wir  in  der  rabbinischen  Literatur  eine 
Legende,  die  die  Bekanntschaft  mit  der  an  erster  Stelle  erwähnten 
Vorstellung  deutlich  bezeugt.    Zu  Nr.  31,  18  „und  alle  Kinder 


^  S.  NeutestamenÜiche  Apokryphen,  herausgegeben  von  Edgar  Hennecke 
1904  S.  56.  «  K.  5,  1  — 2.  ^  Bandbuch  zu  den  Ntl.  ÄpoJcr.  S.  112. 

*  Die  Stelle  findet  sicli  Ph'Jce  des  B.  Eliezer  Kap.  38  korrekter  als  in 
den  verschiedenen  Ausgaben  im  Jalkut  Teil  2,  Nr.  18  und  in  dem  Midrasch 
Hachafez  (handschriftlich  Cod.  British  Museum  Or.  2351)  S.  72  b;  vgl. 
noch  Gaster  Das  Buch  Josua  in  hebräisch  -  samaritanischer  Rezension, 
ZDMG.  LXII  S.  247.  "  ebenda. 


Legendenmotive  in  der  rabbinischen  Literatur  135 

weiblichen  Geschleclites,  denen  noch  kein  Mann  beigelegen  hat, 
laßt  für  euch  am  Leben''.  Woher  konnten  sie  das  wissen? 
R.  Hanna  bar  Bizna  im  Namen  des  R.  Simon  des  Frommen 
erklärt:  man  hatte  sie  vor  das  Stirnband  gestellt,  wurde  das 
Gesicht  des  Mädchens  gelb,  so  erkannte  man,  daß  es  die  Jung- 
frauschaft bereits  verloren  hatte,  blieb  das  Gesicht  unverändert,  so 
hatte  es  die  Jungfrau schaft  noch  nicht  verloren.^  In  diesem 
Sinne  wird  man  sich  auch  Joachims  Vorgehen  erklären  müssen.^ 

8  Geld  im  Stecken 
Die  Verwandtschaft  zwischen  Konon  und  der  talmudischen 
Legende  über  das  Geld  im  Stecken,  die  Günter  gezeigt  hat, 
ist  besonders  lehrreich.^  B.  Heller  verweist  in  seiner  Be- 
sprechung des  Günterschen  Werkes  noch  auf  die  Parallelstellen 
in  der  talmudischen  Literatur  und  auf  die  in  diese  Kategorie 
gehörende  Bar-Talmionlegende*  Es  sei  erlaubt,  auf  eine  Reihe 
ähnlicher  Legenden,  resp.  Anspielungen  auf  dieses  Motiv  in  der 
rabbinischen  Literatur  hinzuweisen.  Das  Schwören  war  erlaubt, 
jedoch  frühzeitig  entstand  eine  Opposition  dagegen.  Spuren 
dieser  Opposition  finden  sich  bei  den  Essäern^  und  im  Neuen 
Testament,^  Aber  auch  die  Rabbinen  sind  dagegen.  „Ihr  sollt 
nicht  meinen,  daß  es  erlaubt  ist,  in  meinem  Namen  etwas  zu 
beeiden,  selbst  wenn  es  wahr  ist."^  Hierfür  werden  folgende 
Erzählungen   angeführt:    „Ein  Mann   hat   einst,   in  Jahren  der 

*  b.  Jehamot  60  b. 

'  Eine  andere  Art  der  beliebten  Gottesnrteile  ist  Tanhuma^  ed. 
Buber  Heft  lY  S.  148  erwähnt:  von  jedem,  der  bei  der  Sünde  des  Baal- 
Peor  scbuldtragend  war,  ist  die  Wolke  gewichen  und  die  Sonne  schien 
auf  ihn,  da  erkannte  man,  daß  die  betreffende  Person  schuldig  sei  und 
man  bestrafte  sie. 

^  Die  chrisü.  Legende  des  Abendlandes  S.  71. 

*  Eevue  des  Etudes  Juives  Tom.  62  S.  312,  und  meine  Bemerkungen 
iü  der  Egyetemes  Philologiai  Közlöny  1913  S.  196  —  9. 

^  Josepbus  Bellum  Judaicum  II,  8,  6. 

^  Ev.  Math.  23, 15;  s.  meine  Meligionsgeschichtlichen Studien  Heft  2  S.  69. 
^  lelamdenu  in  Jalkut  S.  79  a;   s.  Weinstein  Beiträge  zur  Geschichte 
der  Essäer,  Wien  1892,  S.  75. 


■^^Q  A.  Marmorstein 

Hungersnot,  einer  Witwe  ein  Goldstück  zum  Aufheben  gegeben. 
Sie  legte  es  in  den  Brotkorb,  in  welchem  sie  Brot  zu  backen 
pflegte.  Sie  gab  das  Brot  einem  armen  Mann.  Nach  Verlauf 
von  mehreren  Tagen  kam  der  erste  Mann  und  forderte  sein 
Geld.  Die  Witwe  schwor:  so  sollen  meine  Kinder  sterben, 
wenn  ich  von  deinem  Gelde  irgendwelchen  Genuß  gehabt  habe. 
Nach  wenigen  Tagen  starb  das  Kind."^  Gleichlautend  ist  die 
zweite  Erzählung.  Eine  Frau  ging  zu  ihrer  Freundin  den  Teig 
kneten,  sie  hatte  in  ihrer  Schürze  zwei  Denare,  die  in  den  Teig 
fielen.  Zu  Hause  suchte  sie  das  Geld,  fand  es  jedoch  nicht. 
Sie  ging  zu  ihrer  Freundin,  forderte  das  Geld,  welches  sie  im 
Hause  der  Freundin  verloren  hatte,  diese  sagte:  so  soll  mein 
Kind  sterben,  wenn  ich  etwas  von  der  ganzen  Sache  weiß! 
Tatsächlich  starb  ihr  Kind.  Als  sie  vom  Leichenbegängnisse 
heimkehrten,  bemerkte  eine  Frau  zur  anderen:  „Das  Kind  ist 
gestorben,  weil  die  Mutter  falsch  geschworen  hat."  Die  Frau 
hörte  das  und  sagte:  „So  soll  noch  ein  anderes  Kind  sterben, 
wenn  ich  von  dem  Gelde  irgendwelche  Kenntnis  habe.'^  Es 
starb.  Die  Leute  gingen  die  Frau  trösten  und  schnitten  (nach 
der  Trauersitte)  ein  Brot  auf  und  fanden  darin  die  zwei  Denare.^ 
Obzwar  wir  hier  wahre  Begebenheiten  vor  uns  haben,  so  sind 
die  Erzählungen  doch  wichtig,  weil  wir  dieses  Motiv  des  Geldes 
im  Brot  oder  in  der  Pastete  auch  in  Benfeys  Pan^atantra  aus 
Anor-i-Suhaili^undin  den  Gesta  Eomanorum*  wiederfinden,  wie 
M.  Gast  er  in  seinen  Beiträgen  zur  vergleichenden  Sagen-  und 
Märchenkunde  ^  gezeigt  hat.  Eine  Anspielung  auf  dieses  Motiv 
scheint  uns  in  einer  Parabel  vorzuliegen.  Ein  König  ließ  seinen 
Sohn  eine  Reise  machen.  Da  sagte  der  Sohn:  „Vater,  ich  fürchte 
mich  vor  Räubern  und  Piraten,  die  mich  überfallen  könnten.'^ 
Was  tat  der  Vater?    Er  nahm  einen  Stab,  höhlte  ihn  aus 


2  b.  Gitin.  35  a.  »  1.  S.  603.  *  c.  109. 

*  Monatsschrift  für  Geschichte  und  Wissenschaft  des  Judentums  1880 
S.  316. 


Legendenmotive  in  der  rabbinischen  Literatur  137 

und  gab  ein  Amulett  hinein.  Dann  sagte  er  zu  seinem  Sohn: 
„Nimm  diesen  Stab,  halte  ihn  fest  in  deiner  Hand  und  du 
brauchst  dich  nicht  zu  fürchten^'/^ 

9  Stillstand  der  Natur 
In  dem  bereits  erwähnten  Protoevangelium  Jakobi  kommt 
noch  ein  anderes  Motiv  vor,  das  für  die  religiösen  Vorstellungen 
wichtig  ist.  Es  heißt  dort:  ,,Ich  aber  Joseph  ging  umher  und 
ging  nicht  umher  und  ich  blickte  auf  an  das  Himmelsgewölbe 
und  sah  es  stillstehen  und  blickte  auf  in  die  Luft  und  sah 
sie  erstarrt,  und  ich  sah  die  Vögel  des  Himmels  unbeweglich 
und  ich  sah  auf  die  Erde  und  sah  eine  Schüssel  dastehen  und 
Arbeiter  darum  gelagert  und  ihre  Hände  in  der  Schüssel  und 
die  Kauenden  kauten  nicht,  und  die  am  Aufheben  waren,  brachten 
nichts  in  die  Höhe,  und  die  zum  Munde  führen  wollten,  brachten 
nichts  zum  Munde,  sondern  aller  Angesichter  waren  nach  oben 
gerichtet,  und  siehe,  Schafe  wurden  getrieben  und  blieben 
stehen,  und  es  hob  der  Hirte  seine  Hand  auf,  sie  zu  schlagen, 
und  seine  Hand  blieb  oben  stehen,  und  ich  sah  auf  den  Wasserlauf 
des  Flusses  und  sah  die  Mäuler  der  Böcke  darauf  gehalten, 
und  sie  tranken  nicht."^  Diese  Stelle  ist  eine  der  reizendsten 
Schilderungen  in  der  Legendenliteratur.  Eine  ganz  ähnliche 
Schilderung  besitzen  wir  in  der  rabbinischen  Literatur,  wo  die 
Offenbarung  mit  verwandten  Zügen  gezeichnet  wird.  R.  Abbahu 
im  Namen  R.  Jochanans  sagt:  „Als  Gott  den  Israeliten  die  Tora 
offenbarte,  kein  Vogel  flog,  kein  Hahn  krähte,  kein  Tier  brüllte 
die  Ofanim  standen  still,  die  Serafim  sagten  kein  Gebet,  die  Wellen 
des  Meeres  bewegten  sich  nicht,  sondern  die  ganze  Kreatur 
stand  still  ohne  die  geringste  Bewegung."^  Mit  diesem  Motiv 
dürfte  die  Sambatjonlegende  verwandt  sein."^  Die  Gewässer  des 
Sambatjonflusses   fließen  die   ganze  Woche,  jedoch  am  Sabbat 

^  Lev.  rabha  c.  25. 

^  S.  Hennecke  Neutestamentliche  Apokryphen  S.  61. 

^  Exodus  rabha  c.  29. 

*  Vgl.  Genesis  rahba  c.  11,  Pesikta  rahhiti  c.  23,  b.  Sanhed.  65b. 


138     ^-  Marmorstein     Legendenmotive  in  der  rabbinischen  Literatur 

steht  das  Wasser  still.  Diese  Agada  war  bereits  R.  Akiba, 
wie  auch  lateinischen  und  griechischen  Schriftstellern  bekannt.^ 

Der  Glaube  war  allgemein  verbreitet,  daß  in  großartigen 
Momenten,  wie  bei  der  Offenbarung,  beim  Tode  oder  der  Geburt 
eines  großen  Mannes,  besondere  Vorzeichen  notwendig  sind.  So 
geschah  es  auch  beim  Tode  Jesu:  „Der  Vorhang  des  Tempels 
zerriß  in  zwei  von  oben  bis  unten."^  Wir  wollen  einige  Bei- 
spiele für  dieses  Motiv  anführen:  Als  R.  Acha  starb,  sah  man 
den  Abend stern  am  Mittag.^  Als  R.  Hanau  starb,  stürzten  alle 
Statuen  und  Götterbilder  zusammen.*  Als  R.  Jochanan  starb, 
geschah  dasselbe.^  Als  R.  Hosaja  starb,  spaltete  sich  der  Ti- 
beriassee.*^  Als  R.  Isak  ben  Aljasab  starb,  stürzten  Häuser  ein.' 
Andere  Zeichen  ähnlicher  Art  sind:  die  Säulen  Cäsareas  weinten 
beim  Tode  B.  Abahus^  oder  die  Cedern  Palästinas  wurden 
entwurzelt  beim  Tode  R.  Samuel  bar  Isaks.^  In  der  Todes- 
stunde einiger  Lehrer  aus  Babylonien  berührten  einander  die 
Ufer  des  Euphrat  oder  des  Tigris. ^^  Hier  hat  wieder  Günter 
so  klar  gezeigt,  daß  es  die  gleichen  Zeichen  sind,  die  immer 
und  wieder  vorkommen  und  düstere,  aber  auch  fröhliche  Er- 
eignisse ankündigen  oder  begleiten.^^ 

Verwandt  mit  diesen  Zeichen  ist  ferner  die  Angabe  vieler 
Legenden  vom  hl.  Nikolaus,  der  sterbend  Wasser  verlangt,  das 
sich  in  süßen  Wein  verwandelt.*^ 


*  Plinius  31,  18;  Josephus  Bellum  VII  5,  1;  Zacher  Ps.  Callisthenes 
S.  185;  Nöldeke  Beiträge  zur  Geschichte  des  Alexanderromans  S.  48; 
Revue  des  Etudes  Juives  22,  285. 

'  Ev,  Marci  15,  88. 

^  j  Äboda  Zara  42  c.  8 ;  vgl.  b.  Moed  Katon  S.  25  b  beim  Tode  R.Jakobs. 

^  j  Ahoda  Zara  42  c.  9;  vgl.  b.  Moed  Katon  S.  25b.  Dasselbe,  als 
R.  Menacliem  ben  Jose  starb. 

^  j  Ahoda  Zara  42  c.  10;  vgl.  b.  Moed  Katon  S.  25  b;  R.  Tanhum 
b.  Hijja. 

®  j  Ahoda  Zara  42  c.  10.  ^  ebenda. 

^j  Ahoda  Zara  42  c.  22  b.  Moed  Katon  S.25a;  s.  bei  Eusebius  in  der 
Geschichte  der  pal.  Märtyrer  c.  9.  ^  j  Ahoda  Zara  42. 

^®  b.  Moed  Katon  S.  25b  ^^  a.  a.  0.  S.  112 ff.         ^^  ^_  a.  0.  S.  22. 


Der  Ursprung  des  Karneyals 

Von  C.  Clemen  in  Bonn 

Der  Karneval,  wie  wir  ihn  jetzt  in  den  größern  Städten  des 
Rheinlandes  kennen  und  wie  er  seinen  Mittelpunkt  im  Rosen- 
montagszug hat,  ist  erst  90  Jahre  alt.  Bis  zum  Jahre  1823 
erschienen  zu  Fastnacht,  und  vorher  schon,  nur  Einzelne  oder 
kleinere  Gesellschaften  verkleidet  und  maskiert  auf  den  Straßen, 
in  den  Häusern,  Wirtschaften  und  Tanzlokalen  —  soweit  nicht 
auch  das  unterblieh.  So  war  es  in  Köln  von  1796  bis  1800 
der  Fall,  und  bereits  in  den  vier  Jahrhunderten  vorher  war 
wiederholt  alles  „Vermummen"  verboten  worden  —  freilich, 
wie  eben  diese  immer  wiederholten  Verbote  zeigen,  ohne  großen 
Erfolg.  Schon  etwas  früher,  im  vierzehnten  Jahrhundert,  finden 
wir  ähnliche  Gebräuche  in  verschiedenen  Städten  Süddeutsch- 
lands (in  Augsburg,  "Nürnberg,  Frankfurt),  etwas  später  auch 
in  Frankreich,  Italien  (wo  der  Karneval  in  Rom,  Florenz  und 
Venedig  am  bekanntesten  geworden  ist),  sowie  in  Spanien  und 
Portugal.  Dagegen  noch  weiter  können  wir  ihn  in  dieser  Form 
meines  Wissens  nirgend  zurückverfolgen. ^ 

So  ließe  sich  bereits  daraus  ein  Bedenken  gegen  diejenige  Er- 
klärung entnehmen,  die  seit  dem  siebzehnten  Jahrhundert  immer 
wieder  gegeben  worden  ist  und  jetzt  als  die  herrschende  gelten 
kann,  die  Meinung,  daß  der  Karneval  zum  Teil  wenigstens  aus  den 


^  Vgl.  Ennen  Der  Kölner  Karneval,  Zeitschr.  f.  deutsche  Kulturge- 
schiclite  1873,  241  f.  und  Kemp  Zur  Geschichte  der  Kölner  Fastnacht, 
Zeitschr.  f.  rliein.  u.  westf.  Volkskunde  1906,  241  ff.  (aucli  separat),  wo- 
durch ältere  Darstellungen,  wie  die  von  Fahne  Der  Carneval,  1854, 155 ff. 
und  noch  Walter  Der  Carneval  in  Köln,  1873,  9 ff.  modifiziert  werden. 
Doch  gibt  das  Buch  von  Fahne  über  die  andern  oben  erwähnten  Ge- 
bräuche immer  noch  die  ausführlichste  Auskunft.  Speziell  für  Italien 
vgl.  Burckhardt  Die  Kultur  den  Renaissance  in  Italien^,  1885,  II,  150 ff. 


^^Q  C.  Giemen 

römischen  „Bacchanalien",  Hilarien,  Luperkalien  und  Saturnalien 
herstamme.^  An  dieser  Erklärung  ist  richtig,  daß  der  Karne- 
val allerdings  nicht  erst  in  der  christlichen  Kirche  ganz  neu 
entstanden  sein  kann,  denn  dazu  ist  er  zu  eigenartig;  aber  jene 
fremdländischen  Feste  sind  doch,  auch  wenn  man  auf  sie  einen 
solchen  volkstümlichen  Gebrauch  zurückführen  will,  natürlich 
nicht  annähernd  bis  ins  vierzehnte  Jahrhundert  gefeiert  worden, 
in  dem  wir  den  Karneval  zuerst  finden.  Indes,  er  könnte  ja 
umgekehrt  viel  älter  sein,  als  wir  bisher  nachzuweisen  imstande 
sind  —  ohne  daß  er  freilich  auch  dann  zum  Teil  aus  jener 
Quelle  abzuleiten  wäre. 

Denn  erstens:  außerhalb  Roms  —  und  dort  müßte  doch  wohl 
wenigstens  hier  und  da  jene  hypothetische  ältere  Form  des  Karne- 
vals enstanden  sein  —  sind  zunächst  die  Luperkalien  überhaupt 
niemals  gefeiert  worden.  Auch  der  Kult  des  Liber,  an  den  bei  den 
sog.  Bacchanalien  wohl  zu  denken  wäre,  läßt  sich  in  Spanien, 
Gallien  und  Germanien  nur  vereinzelt  nachweisen.^  So  blieben 
als  mögliches  Vorbild  des  Karnevals  nur  die  Hilarien,  die  wie 
der  ganze  Kybelekult  im  Abendlande  mehr  Verbreitung  gefunden 


^  Vgl.  Nicolai  De  ritu  antiquo  et  hodiertw  BacchanaUorum,  1679 
(Gronow  Thes.  graec.  antiquit  VIT,  1735, 171  ff.);  Schmidt  Fastel-Äbends- 
Sammlungen  oder  Geschichtmäßige  Untersuchung  der  Fastel -Abends -Ge- 
bräuche in  Teutschland  (1742),  48 f;  Blume  Über  den  Ursprung  und  das 
Eigentümliche  der  Faschingslustbarheiten  (1825),  6 ff.;  Fahne  a.a.O.  62 ff.; 
Heuser  Feste,  Kirchenlexikon ^  IV,  1886,  1409;  Karneval,  Brockhaus' 
Konv.-Lex.  X,  1902,  176;  Rademacher  Carnival,  Encycl.  of  Religion  and 
Ethics  in,  1910,  225  ff.;  Zscharnack  Fastnacht,  Die  Rel.  in  Gesch.  u. 
Gegenw.  II,  1910,  839.  Doch  werden  an  den  drei  letztgenannten  Stellen 
auch  noch  andere  Erklärungen  gegeben.  Goethe  sagt  in  seinem  römischen 
Karneval :  „In  diesen  Tagen  freuet  sich  der  Römer  noch  zu  unsern  Zeiten, 
daß  die  Geburt  Christi  das  Fest  der  Saturnalien  und  seine  Privilegien  wohl 
um  einige  Wochen  verschieben,  aber  nicht  aufheben  konnte",  ohne  daß 
das  so,  wie  Blume  a.  a.  0.  11  will,  zu  verstehen  wäre.  Und  auch  wenn 
die  damaligen  Römer  selbst  so  geurteilt  hätten,  würde  das  natürlich 
nichts  beweisen. 

^  Vgl.  Toutain  Les  cultes  paiens  dans  l'empire  Bomain  I  1, 1906,  360, 
auch  Wissowa  Liber,  Lex.  d.  Mythol.  II,  1890—97,  2027. 


Der  Ursprung  des  Karnevals  141 

hatten  als  irgendeine  andere  orientalisclie  Religion^,  und  die 
Saturnalien  übrig,  die  im  ganzen  römischen  Reiche  wohl  das 
populärste  und  beliebteste  Fest  des  alten  Kalenders  waren  ^, 
aber  sie  kommen  auch  nicht  in  Betracht. 

Denn  zweitens  wurden  die  Hilarien  am  25.  März,  die 
Saturnalien  vom  17.  bis  23.  Dezember  gefeiert^,  während  der 
Karneval  je  nach  dem  Osterfest  zu  verschiedener  Zeit,  aber 
jedenfalls  früher  als  die  Hilarien  (der  späteste  Termin  für  Ostern 
ist  ja  der  25.  April  und  Fastnacht  fällt  vierzig  Tage  früher) 
und  später  als  die  Saturnalien  stattfindet.  Nun  könnte  man 
freilich  diesem  Bedenken  gegenüber  darauf  hinweisen,  daß  der 
Karneval  doch  nicht  in  der  Fastenzeit  gehalten  werden  konnte 
und  manchmal  auch  in  älterer  Zeit  schon  früher  begonnen  habe, 
zu  Weihnachten  oder  wenigstens  am  Fest  der  heiligen  drei  Könige. 
Indes  einmal  waren  das  Ausnahmen  und  zweitens  erreichte 
doch  auch  dann  der  Karneval  seinen  Höhepunkt  am  Ende  — 
ohne  daß  sich  das  wohl  allein  daraus  erklären  ließe,  daß  man 
unmittelbar  vor  Beginn  der  Fastenzeit  erst  noch  einmal  besonders 
lustig  sein  wollte.  Yor  allem  aber  haben  die  Saturnalien  in 
anderer  Weise  viel  deutlicher  auf  die  christliche  Bevölkerung 
eingewirkt.  Wir  wissen  zunächst  aus  den  Klagen  der  Kirchen- 
väter und  späterer  christlicher  Schriftsteller,  daß  das  heidnische 
Fest  auch  von  den  Christen  mit-  oder  weitergefeiert  wurde ^, 
und  finden  dann  bis  zum  sechzehnten  Jahrhundert,  ja  hie  und 
da  noch  später,  in  der  Kirche  selbst  das  Narrenfest,  das  wohl 
sicher  auf  die  Saturnalien  zurückging.    Denn  einmal  wurde  es 


,  ^  Vgl.  Cumont  The  Oriental  Beligions  in  Roman  Paganism,  1911,58 
j(ich  zitiere  diese  englische  Ausgabe,  weil  sie  die  neuesten  Nachträge 
jdes  Yerf.  enthält).  Daneben  sind  freilich  die  einschränkenden  Bemerkungen 
TOn  Toutain  a.  a.  0.  I  2,  1911,  268  zu  beachten. 

^  Vgl.  Wissowa  Religion  und  Kultus  der  Römer'^^  1912,  207. 

^  Daß  die  Saturnalien  ursprünglich  und  auch  später  noch  im  Februar 
jgefeiert  worden  seien,    scheint  mir  Frazer  TJie  Golden  Bough^  III,  1900, 
jl44:ff.  nicht  bewiesen  zu  haben. 
:        *  Vgl   Böhmer  Narrenfest,  prot.  Realencycl.^  XllI,  1903,  651. 


142  C.  Giemen 

ungefähr  zur  selben  Zeit  wie  diese  gefeiert  (nur  natürlicli  erst 
nacli  Weihnachten)  und  zweitens  erinnerte  es  an  die  Saturnalieu 
nicht  nur  durch  seinen  allgemeinen  Charakter,  der  sich  ja  schon  in 
dem  Namen  Narrenfest  ausdrückt,  sondern  namentlich  dadurch,  daß 
an  ihm  ebenfalls  die  Rollen  zwischen  Vorgesetzten  und  Unter- 
gebenen vertauscht  wurden;  ein  niederer  Geistlicher  wurde  zum 
Bischof  oder  Papst  gewählt  und  parodierte  nun  dessen  Obliegen- 
heiten.^ Und  wollte  man  endlich  meinen,  da  sich  das  Narrenfest 
vor  allem  in  Frankreich,  England  und  Spanien  fand,  hätten 
die  Saturnalien  anderwärts  vielleicht  doch  zu  einer  andern,  spätem 
Zeit  des  Jahres  ein  ähnliches  Fest  hervorrufen  können,  so  ist 
das  Narrenfest  doch  auch  am  Rhein  und  in  Köln  bis  ins  sieb- 
zehnte, in  Mainz  bis  ins  achtzehnte  Jahrhundert  gefeiert  worden, 
also  zu  einer  Zeit,  in  der  dort  der  Karneval  längst  daneben 
bestand.  Und  auch  anderwärts  läßt  er  sich,  selbst  wenn  man 
über  die  Verschiedenheit  des  Termins  hinwegsehen  wollte,  aus 
den  Saturnalien,  wie  aus  den  Hilarien,  nicht  befriedigend  er- 
klären. 

Drittens  nämlich  hat  zunächst  der  Saturnalienkönig  im 
ältesten  Karneval,  soweit  ich  sehe,  keine  Parallele^;  der  Prinz 
oder,  wie  er  ursprünglich  hieß,  der  Held  Karneval  ist  wieder 
erst  eine  Erfindung  der  letzten  neunzig  Jahre.  Und  sollte  er 
in  anderer  Form  doch  älter  sein,  so  würde  das  noch  keine  Ab- 
hängigkeit von  den  Saturnalien  beweisen,  denn  einen  König  hat 
sich   auch   sonst  manchmal  eine  lustige   Gesellschaft  gewählt. 

^  Vgl.  ebd.  650  ff.,  wo  zugleich  die  ältere  Literatur  angeführt  wird. 
Hinzuzufügen  wäre  etwa  noch  Fahne  a.  a.  0.  48  ff.  und  Dreves  Zur  Ge- 
schichte der  feie  des  fous^  Stimmen  aus  Maria Laach  1894,  571  ff.;  neuestens 
ist  Zscharnack  Narrenfeste  ^  Die  Religion  in  Gesch.  u.  Gegenw.  lY,  1913, 
672 f.  hinzugekommen.  Die  Deutung,  die  Preuß  Der  Ursprung  der  Be- 
ligion  und  Kunst,  Globus  1904,  357  f  diesem  Feste  gibt  und  die  Schmidt 
Der  Ursprung  der  Gottesidee  1912,  453,  2  mit  Entrüstung  zurückweist,  ist 
in  der  Tat  wohl  unbegründet. 

*  Auch  gegen  Kauffmann  Balder,  1902,  282.  Die  den  Saturnalien- 
könig betreffenden  Ausführungen  von  Frazer  a.  a.  0.^  III,  139  ff.  scheinen 
mir  wieder  unbegründet  zu  sein. 


Der  Ursprung  des  Karnevals  143 

Ferner  kommen  Yerkleidungen,  wie  sie  allerdings  (wenngleich  wohl 
erst  später)  bei  den  Saturnalien  und  ebenso  bei  den  Hilarien^ 
üblich  waren,  auch  in  manchen  andern  im  römischen  Reiche 
herrschenden  Kulten,  wie  dem  der  Isis,  vor,  ja  sie  erklären  sich 
aus  dem  Sinn,  den  jene  beiden  Feste  hatten,  überhaupt  nicht. 
Die  Saturnalien  waren  ein  allgemeines  Freudenfest,  entstanden 
aus  einem  Fest  nach  Beendigung  der  Wintersaat,  bei  dem  sich  da- 
her vor  allem  die  Feldarbeiter  freuen  durften^;  die  Hilarien  wurden 
zur  Erinnerung  an  die  Wiederbelebung  des  Attis  gefeiert  — 
warum  sollte  man  sich  da  eigentlich  verkleiden?  Das  hat  über- 
all, wo  wir  die  Sitte  (auch  in  andern  Religionen)  finden,  und 
namentlich  bei  den  Primitiven,  wo  ja  auch  Masken  gebraucht 
werden,  ursprünglich  den  Sinn,  daß  man  sich  dadurch,  daß 
man  sich  in  einen  andern  verkleidet,  irgendwie  in  ihn  ver- 
wandelt; aber  was  für  Wesen  müßten  das  ursprünglich  bei  den 
Saturnalien  oder  Hilarien  gewesen  sein?  So  wird  die  Meinung, 
der  Karneval  stamme,  wenn  auch  nur  zum  Teil,  in  letzter  Linie 
aus  diesen  Festen  her,  endgültig  aufzugeben  sein;  wie  aber  ist  er 
dann  entstanden? 

Diese  Frage  wird  uns  durch  dasjenige,  was  wir  über  die 
Feier  des  Karnevals  vor  dem  vierzehnten  Jahrhundert  ausdrück- 
lich hören,  allerdings  noch  nicht  beantwortet.  Wie  später  und 
noch  heute,  so  hat  man  auch  vor  jenem  Termin  schon  zu  Fastnacht 
mehr  als  sonst  und  mehr  als  nötig  und  gut  gegessen  und  ge- 
trunken: Cäsarius  von  Heisterbach  (um  1180  bis  1240)  erzählt 
{dial.  mir.  X,  53)  von  einem  solchen  Fall  aus  Koblenz.^    Aber 

^  Dabei  ist  Voraussetzung,  daß  sich  Herodian  vita  Tiist.  I,  10,  6  auf 

j  sie  und  nicht  etwa  auf  die  zwei  Tage  später  gefeierte  und  oben  nachher 

.noch  zu  besprechende  lavatio  bezieht,  wie  das  auch  Wissowa  Beligion 

'322,4     für     möglich    hält,    während  Hepding  Attis,    1903,  168f.    nach 

Mommsen  und  Cumont  für  die  Hilarien  ist. 

*  Vgl.  Fowler  The  ReUgious  Experience  of  the  Eoman  People,  1911, 
101.  107. 

•'  Was  unter  den  sporcalia  in  Februario  im  indiculus  superstitionum 
Nr.  3  zu  verstehen  ist,  wage  ich  nicht  zu  entscheiden;  vgl.  darüber  zu- 
jletzt  Saupe  Der  inddc.  sup.,  Progr.  d.  städt.  Realgymn.  zu  Leipzig  1891, 7  ff. 


I 


144  C.  Giemen 

das  ist  natürlich' nocli  niclits  besonders  Charakteristisclies,  wor- 
aus man  den  Ursprung  des  Karnevals  erkennen  könnte.  Wir 
müssen  also  nach  deutlichem  Fastnachtsgebräuchen  fragen,  be- 
schränken uns  indes  hier  auf  diejenigen,  die  am  Rhein  noch 
vorkommen  oder  wenigstens  nachwirken. 

1.  Auch  in  Bonn  wird,  wie  anderwärts,  am  Aschermittwoch 
ein  sog.  Fastnachtsmann,  d.  h.  eine  Strohpuppe,  auf  dem  Markte 
verbrannt;  ähnlich  „wird  in  Marsberg  (Westfalen)  die  Fastnacht 
als  Strohpuppe  auf  der  Dängerstätte,  in  der  Eifel  die  Kirmes,  ein 
Strohmann  nebst  Flasche  und  Glas,  in  einer  Grube  vor  dem  Dorfe 
eingescharrt,  wogegen  in  Balwe  (Westfalen)  die  betreffende,  die 
Fastnacht  darstellende  Strohpuppe  in  den  Fluß,  die  Hönne,  geworfen 
wird".^  Anderwärts  wird  dieser  Gebrauch,  der  dann  allerdings 
meist  zu  einer  etwas  spätem  Zeit  beobachtet  wird,  als  den  Tod 
forttragen  bezeichnet,  aber  auch  damit  ist  wohl  noch  nicht  sein 
ursprünglichster  Sinn  aufgezeigt.  Ihn  lernen  wir  kennen,  wenn 
wir  uns  erinnern,  daß  unmittelbar  nach  dem  „Forttragen  des  Todes" 
vielfach  ein  Baum  eingeholt  wird,  der  hier  und  sonst  (namentlich 
in  der  Form  des  Maibaumes)  Leben  und  Fruchtbarkeit  bedeuten 
(oder  ursprünglich  bringen)  soll.  Oder  es  wird  das  Forttragen 
des  Todes  selbst  zugleich  als  ein  Einholen  des  neuen  Jahres,  des 
Frühlings,  des  Sommers,  des  Lebens  bezeichnet,  ja  manchmal 
steht  der  Bursche,  der  den  Tod  darstellt,  alsbald  wieder  auf^ 
Darauf  deutet  auch  hin,  wenn  in  manchen  Gegenden  der  Lau- 
sitz das  Hemd,  das  „der  Tod"  getragen  hat,  dann  dem  Baum, 
den  man  ins  Dorf  einholt,  angezogen  oder  wenn  in  Braller  in 

^  Vgl.  Mannhardt  Wald-  und  FeldkuUe  I,  ^  1904,  411  und  überhaupt 
333 ff.,  wo  auch  andere  Beispiele  beigebracht  werden,  mehr  noch  und  zu- 
gleich aus  außerdeutschen  Ländern  bei  Frazer  a.  a.  0.^  III,  1911,  '220ff. 
und  Kauffmann  a.  a.  0.  281  ff.,  dessen  Deutung  ich  aber  im  allgemeinen 
für  unrichtig  halte.  Die  griechischen  Gebräuche  stellt  am  vollständigsten 
Nilsson  Der  Ursprung  der  Tragödie,  Neue  Jahrb.  f.  d.  klass.  Altert.  1911,  I, 
677  f.  zusammen. 

^  Ebenso  der  „wilde  Mann",  der  in  Sachsen  und  Thüringen  zu  Pfingsten 
aus  dem  Holze  geholt  wird,  während  in  Wurmlingen  in  dem  Zug  wenig- 
stens ein  Dr.  Eisenbart  erscheint. 


Der  Ursprung  des  Karnevals  145 

Siebenbürgen  und  in  den  deutschen  Dörfern  in  Mähren  in  den 
Staat,  den  zuerst  „der  Tod"  getragen  hat,  dann  ein  junges 
Mädchen  gekleidet  wird.  „Der  Tod*'  ist  also  ursprünglich  viel- 
mehr der  Vegetationsgeist,  wie  ja  auch  daraus  hervorgeh  t^  daß  er  oft 
durch  einen  Strohmann  oder  eine  aus  Laub  hergestellte  Puppe 
repräsentiert  wird ;  ja  bei  den  Esthen  heißt  diese  Metziko,  d.  h. 
Waldgeist.  Verbrannt,  vergraben  oder  ins  Wasser  geworfen  aber 
wird  er  wohl,  damit  er  nicht  an  Altersschwäche  eingeht,  sondern 
vorher  durch  einen  lebenskräftigen  Nachfolger  ersetzt  werden  kann.^ 
So  erklärt  sich  das  Töten  von  Königen  und  Priestern,  so  kann  also 
auch  das  des  Vegetationsgeists  aufgefaßt  werden,  das  übrigens  nicht 
nur  beilndogermanen.  sondern  auch  den  Mexikanern  üblich  gewesen 
sein  könnte.'^  Daß  es  die  Fruchtbarkeit  erhöhen  soll,  wird  ja 
vielfach  bezeugt:  deshalb  wurde  die  Strohpuppe  in  Leipzig  den 
verheirateten  jungen  Frauen  gezeigt,  deshalb  pflanzt  man  die 
einzelnen  Halme  auf  das  Feld  oder  legt  sie  in  die  Krippe  oder 
in  das  Nest  der  Hühner  und  schlägt,  nachdem  man  den  Tod  fort- 
getragen und  vielleicht  mit  Stöcken  geschlagen  hat,  damit  dann 
(las  Vieh.^  Der  Karneval  war  also  insofern  von  Haus  aus  ein  Brauch 
zur  Beförderung  der  Fruchtbarkeit. 

2.  Am  Mittelrhein,  in  Heidelberg  und  in  der  Pfalz  wurde  bis 
vor  kurzem  oder  wird  noch  jetzt  am  Sonntag  Lätare  der  Kampf 
des  Sommers  mit  dem  Winter  aufgeführt.  Anderwärts  (so  in  der 
Schweiz)  liefern  sich  am  Hirsmontag,  d.  h.  dem  Tag  nach  Invokavit, 
zwei  Gemeinden  ein  Scheingefecht*,  oder  finden  wenigstens 
kriegerische  Spiele  statt.  Der  eben  erwähnte  Sonntag  selbst  wurde 
schon  im  14.  Jahrhundert  auch  von  der  Landbevölkerung  mit 
; Turnieren  begangen,  die  wohl  ursprünglich  ebenfalls  jenen  Sinn 
jhatten.   Oder  genauer:  durch  Nachahmung  des  Kampfes  zwischen 

1  Vgl.  Frazer  a.  a.  0.^  III,  9  ff. 

'  Vgl.  Reuterskiöld  Till  fragan  om  uppkomstm  af  säkrammtdla 
maltlder,  1908,  112ff.  =  Z)te  Entstehung  der  SpeisesaJcramente,  1912,  95  f. 

»  Vgl.  Frazer  a.  a.  O.'III,  236.  250 f  252. 

*  Vgl.  Dieterich  Sommertag  in  diesem  Archiv  VIII,  1905,  Beiheft 
S.  83  (=  Kleine  Schriften  326). 

ArchiT  f.  ReligionswiBBenschaft  XVII  10 


;[46  ^-  Clemen 

Winter  und  Sommer  sollte  der  Sieg  dieses  bewirkt  werden,  d.  h. 
es  handelte  sich  um  einen  sog.  Analogiezauber.  In  Indien,  das 
wir  wohl  bei  aller  sonst  in  dieser  Beziehung  gebotenen  Vorsicht 
hier  zum  Vergleiche  heranziehen  können,  hat  sich  ja  auch  noch 
eine  Erinnerung  an  jene  Auffassung  erhalten,  sofern  man  in  Nepal 
von  dem  Ausgang  jenes  Scheingefechts  auf  die  Fruchtbarkeit 
des  kommendes  Jahres  schließt.  Ebenso  meinen  die  Eskimos, 
wenn  bei  dem  Tauziehen,  das  sie  nun  allerdings  im  Herbst  ver- 
anstalten, die  im  Sommer  Geborenen  die  im  Winter  Geborenen 
besiegen,  daß  dann  auch  im  Winter  die  Sonne  scheinen  und  gutes 
Wetter  sein  wird,  ursprünglich  aber  wohl,  daß  jene  jedesmal  durch 
ihren  Sieg  über  die  im  Winter  Geborenen  diesen  selbst  besiegen 
können  und  müssend  So  könnte  also  wohl  der  Scheinkampf, 
der,  wie  früher  und  jetzt  noch  in  andern  Ländern^,  so  bei  uns 
zu  Fastnacht  aufgeführt  wird,  dieses  sich  gegenseitig  mit  der 
Pritsche  Schlagen,  mit  Konfetti  und  Papierschlangen  Bewerfen, 
schließlich  auch  die  ganze  Karnevalsneckerei  ursprünglich  jenen 
selben  Sinn  haben.  Doch  liegt  für  die  erste  Sitte  eine  andere  Er- 
klärung vielleicht  noch  näher.^ 


1  Vgl.Mannhardt  a.  a.  0.  548  flf.,  Frazer  a.  a.  0.^  V  2,  1912,  254  ff.,  auch 
Reiclihardt  Dz'e  deutschen  Feste  in  Sitte  und  Brauch^ ^  1911,  84  f.,  Kristensen 
Over  de  godsdienstige  beteekenis  van  erikele  oude  wedstrijden  en  speien, 
Theol.  Tijdschr.  1910,  Iff.,  Nilsson  a.  a.  0.  678  f. 

2  Vgl.  für  Indien:  Simpson  Puhjahs  in  the  Sutlej  Valley,  Himalayas, 
Journ.  of  the  R.  Asiat.  Soc.  1884,  21  f,  für  Ägypten :  Herod.  II,  63  und  dazu 
Wiedemann  Herodots  zweites  Buch,  1890,  265  f.  Da  die  hier  geschilderte 
Prügelszene  im  Kult  des  Osiris,  also  eines  Fruchtbarkeitsgottes  vorkommt, 
kann  sie  ursprünglich  auch  den  oben  angegebenen  Sinn  gehabt  haben. 
Vielleicht  ist  es  auch  ähnlich  zu  verstehen,  wenn  Diodor  Biblioth.  I, 
14,  2  von  den  Ägyptern  erzählt:  ■ncctärov  d'SQi6iiov  tovs  TCQmtovs  ccfnqd'ivrai 
6xd%vs  d'Evtag  rovg  ccvd'gmTtovg  KontBöd'ai  ■TcXrjölov  rov  dgay^atog  nal  tr}v 
'Iglv  ccvauccXstöd-ai.  Dagegen  sind  die  von  Frazer  Pausanias'  Description  of: 
Greece  III,  1898,  267  f.  angeführten  Beispiele  z.  T.  wenigstens  anderer  Art. 

^  Nur  vereinzelt  kommt  es  wohl  vor,  daß,  wenn  „der  Tod"  übei 
die  Grenze  der  einen  Gemeinde  hinausgetragen  wird,  die  andre  sich  da- 
gegen wehrt  (vgl.  Frazer  The  Golden  Bough^  lll,  247);  diese  Erklärung 
des  Kampfes  kann  also  unberücksichtigt  bleiben. 


Der  Ursprung  des  Karnevals  147 

3.  In  Niedersachsen  schlägt  man  zu  Fastnacht  die  Frauen  und 
Mädchen  mit  frischen  Birkenruten  oder  Zweigen  der  immergrünen 
Stecheiche,  wie  der  dafür  jetzt  noch  übliche  Ausdruck  fuen  (früher 
fuden,  fudeln  oder  futteln)  andeutet,  ursprünglich  wohl  auf  die 
Genitalien  —  und  das  kam  zu  Anfang  des  sechzehnten  Jahrhunderts 
in  Italien  noch  tatsächlich  vor — ,  später  manchmal  auf  den  Hintern, 
jetzt  zumeist  auf  Füße  und  Hände.    Man  wollte  damit  —  wie  bei 
dem  römischen  Luperkalienfest  durch  den  Schlag  mit  dem  bock- 
ledernen Riemen   die  Fruchtbarkeit  dieses  Tieres  —  die  der  be- 
treffenden Bäume  mitteilen,  wie  ja  wohl  auch  daraus  hervorgeht, 
daß  statt  der  grünen  Zweige  manchmal  zarte,  aus  Silberdraht  ge- 
wundene Ruten  gebraucht  wurden,  an  die  Wickelkinder,  schnäbelnde 
Täubchen  und  dergleichen  gebunden  waren.    Auch  wird  hier  und 
j  da,  wenngleich  zum  Teil  zu  anderer  Zeit,  das  Vieh,  und  werden 
I  sogar  Obstbäume  mit  Ruten  (manchmal  allerdings  nur  noch  mit 
I  Stöcken  oder  Peitschen)  geschlagen,  damit  sie  Frucht  tragen;  wenn 
I  auch  noch  andere  Wirkungen  davon  erwartet  werden,  so  beweist 
I  das  nur,  daß  man  den  ursprünglichen  Sinn  nicht  mehr  versteht. 
Und  so  erklärt  es  sich  nun  auch,  daß  in  den  ersterwähnten  Gegen- 
den zu  Fastnacht  nicht  nur  die  Frauen  und  Mädchen  geschlagen 
werden,  sondern  daß  sie  am  zweiten  Tage  umgekehrt  die  Männer 
schlagen  dürfen  —  wenn  diese  sich  nicht  loskaufen.^   Dann  aber 
kann  man  wohl  auch  das  sich  gegenseitig  mit  der  Pritsche  Schlagen 
ursprünglich  aus  jener  Sitte  ableiten;  es  handelt  sich  dabei  wieder 
um  einen  Zauber,  den  ich  im  Unterschiede  von  dem  vorhin  bespro- 
chenen Analogiezauber  einen  Berührungszauber  nennen  möchte. 
4.  In  unseren  Rosenmontagszügen  werden  jetzt  in  der  Regel 
auch  Wagen,  oft  in  der  Gestalt  von  Schiffen,  mit  aufgeführt.  Man 
könnte  das,  zumal  wenn  von  der  letzterwähnten  Eigentümlich- 
keit abgesehen  wird,  nicht  weiter  auffällig  finden,  aber  nachdem 
sich  schon  andere  Fastnachtsgebräuche  als  uralt  erwiesen  haben, 
darf  man  wohl  auch  hier  nach  einem  besonderen  Grund  dieser  Sitte 
fragen.    In  der  Tat  finden  wir  Wagen  im  Fastnachtszug,  wenn 
^  Vgl.  Mannhardt  a.  a.  0.  253 flF.,  auch  Reichhardt  a.  a.  0.  90t. 

10* 


L. 


j^48  ^-  Giemen 

auch  nicht  am  Rhein ^,  so  doch  in  Italien,  Süddeutschland,  Frank- 
reich schon  vom  vierzehnten  Jahrhundert  an,  indes  auch  das  ist, 
wenn  man  einmal  einen  Festzug  veranstaltet  (oder  bildet  auch  er 
schon  ein  Problem?),  vielleicht  nicht  allzu  verwunderlich  Aber 
merkwürdig  ist  nun  doch  wohl  sicher,  daß  die  Wagen  vielfach 
(bei  uns,  in  Süddeutschland  und  Flandern)  die  Gestalt  von  Schiffen 
haben  und,  wie  Sebastian  Brants  Narrenschiff  zeigt,  schon  im 
fünfzehnten  Jahrhundert  hatten.  Ja  man  hat  sogar  den  Namen 
Karneval  von  diesem  Schiffswagen  oder  carrus  navalis  ableiten 
wollen;  aber  das  ist  wohl  ebenso  unrichtig^  wie  die  Ableitung 
Fastnacht  von  Faseln^  jedenfalls  für  die  Frage  nach  dem  Ursprung 
der  verschiedenen  Fastnachtsgebräuche,  die  uns  hier  beschäftigt, 
ohne  große  Bedeutung.  Um  so  wichtiger  ist  dagegen,  was  der 
Mönch  Rudolf  in  seiner  Chronik  von  St.  Trond*  aus  dem  Jahre  11 33 
erzählt.  Danach  baute  im  ersten  Frühjahr  im  Walde  bei  luden 
oder  Kornelimünster  ein  Bauer  ein  auf  Rädern  gehendes  Schiff, 
das  dann  von  Webern  über  Aachen,  Maastricht,  Tongern,  Looz, 
St.  Trond  nach  Leau  gefahren  wurde,  überall  von  der  ganzen  Be- 
völkerung festlich  begrüßt  und  des  Abends  unter  Musik  und  Ge- 

^  Der  von  Burckhardt  a.  a.  0.  S.  146  erwähnte  Fall  ist  anderer  Art. 

^  Vgl.  darüber  neuestens  Merlo  Die  romanischen  Bezeichnungen  des 
Faschings,  Wörter  und  Sachen,  1912,  92:  „Daß  .  .  .  carnevale  von  carne 
levare  stamme,  wird  gesichert  durch  .  .  .  mlat.  .  .  .  carne  levamen,  carne 
levaris,  carne  levarium^''  und  dazu  Meyer -Lübke  ebd.  Anm,  3:  „Verf.  gibt 
keine  Einwände  gegen  carne  vale,  das  begrifflich  durchaus  paßt,  mor- 
phologisch viel  einfacher  ist  als  die  von  ihm  bevorzugte  Deutung  und  als 
Witz  der  Klostersprache  völlig  verständlich  ist."  Vgl.  übrigens  auch 
Merlo  ebd.  93:  „Ein  vulglat.  carnevale  hätte  sich  .  .  .  nicht  anders  ent- 
wickelt." 

^  Vgl.  auch  dazu  Merlo  ebd.  89,  1 :  „Ich  verberge  mir  die  Schwierig- 
keit nicht,  die  in  mhd.  vasenaJit  liegen,  aber  ich  möchte  doch  die  Auf- 
merksamkeit .  .  .  auf  die  romanischen  Formen  lenken,  die  in  dem  vor- 
liegenden Artikel  behandelt  werden ,  und  auf  die  anderer  christlicher  und 
indogermanischer  Völker,  die  dieselbe  Anschauung  zeigen:  kjmr.ynyd, 
ir  inid  initium,  griech.  7}  ccTtoyiQeoas  von  &7to  und  xps'ag  (=  carnis  priviwn). 
Auch  17  &7i!0}CQB(06LUf  aÄOxpswöt/xog  E0QT7],  ueugriech.  öjjyiaöig  „Aufgabe 
des  Fleisches"  (s.  arixoto  =  alga)  usw." 

*  Vgl.  Mon.  Germ.  hist.  Script.  X,  1852,  309  ff. 


Der  Ursprung  des  Karnevals  149 

schrei  umtanzt.  Da  das  Schiff  nur  von  den  (aus  welchem  Grund 
auch  immer)  als  Priestern  fungierenden  Webern  berührt  werden 
durfte,  muß  es  irgendwie  als  heilig  gegolten  haben;  da  die  Geist- 
lichkeit darin  etwas  Heidnisches  sah,  wird  es  sich  um  eine  alte 
Sitte  gehandelt  haben.  Doch  ist  bei  einem  solchen  volkstümlichen 
Brauch  —  ein  Bauer  hatte  ja  den  Wagen  gebaut  —  wohl  nicht 
an  eine  Nachahmung  des  Isidis  navigium,  der  Weihe  eines  Schiffes 
an  die  Isis,  die  am  5.  März  stattfand,  zu  denken;  wenn  die  wohl 
germanische  Göttin  Nehalennia  (der  das  in  der  Chronik  von 
St.  Trond  geschilderte  Fest  gegolten  haben  könnte^)  auf  Dar- 
stellungen, die  sich  auf  der  Insel  Walcheren  gefunden  haben, 
wie  Isis  abgebildet  wird,  und  wenn  eine  vielleicht  davon  ver- 
schiedene Gottheit,  die  nach  Tacitus  (Germ.  c.  9)  von  einem 
Teil  der  Sueben^  unter  dem  Bilde  eines  Schiffes  verehrt  wurde, 
von  dem  Geschichtschreiber  mit  Isis  gleichgesetzt  wird,  so  be- 
weist das  nicht  den  Ursprung  dieser  Gottheiten  aus  der  ägyp- 
tischen. Außerdem  berichtet  Tacitus  (c.  40),  daß  Nerthus  von 
sieben  germanischen  Stämmen  gemeinsam  in  der  Weise  verehrt 
wurde,  daß,  wenn  di^e  Göttin  im  AUerheiligsten  ihres  Insel- 
heiligtums erschien,  im  Lande  (nicht  etwa  nur  auf  der  Insel) 
ein  mit  einem  Teppich  bedeckter  und  von  Kühen  gezogener 
Wagen  —  also  wohl  auch  ein  Schiffswagen  —  umhergefahren 
wurde,  überall  mit  Freuden  empfangen.^    Auch  bei  andern  Völ- 


^  Wenn  es  Helm  Ältgerm.  Bdigionsgeschichte  I,  1913,  889  vielmehr 
mit  den  Karnevalsgebräuchen  römischer  Herkunft  zusammenbringt,  so 
wissen  wir  von  solchen  in  diesem  Sinne  wohl  nichts. 

2  Helm  a.  a.  0.  309.  311.  386,  14  7  will  freilich  Sueborum  streichen. 

^  Ygl.  Grimm  Deutsche  Mythologie^,  1854,  237 ff,,  Simrock  Handbuch 
der  deutschen  Mythologie^,  1887,  370 ff.,  543 ff.,  Mannhardt  a.  a.  0.  592 ff.. 
Ihm,  Nerthus,  Lex.  d.  Mythol.  HI,  1897—1909,  274ff.  und  die  Literatur- 
angaben bei  Kahle  Zum  NerthuskuU  in  diesem  Archiv  1911,  310,  1.  2, 
sowie  Helm  a.  a.  0.  311  ff.  Wenn  Simrock  a.  a.  0.  546  f.  auch  das  Gecken- 
berntchen  oder  -bähnchen,  das  jetzt  dem  Fastnachtszug  vorangeht,  auf 
Godan  (Wodan)  und  die  heiligen  Mädchen  und  Knechte,  die  dann  folgen, 
auf  die  Walküren  deutet,  so  hat  das  Kemp  a.  a.  0.  28  ff.  mit  Recht  zurück- 
gewiesen. 


]^50  ^-  Giemen 

kern  finden  wir  solclie  Prozessionen  auf  Schiffs-  oder  nur  auf 
andern  Wagen  ^,  ursprünglicli  aber  handelt  es  sich  immer  darum, 
der  betreffenden  Gegend  durch  den  Besuch  der  Gottheit  deren 
Segen  zuzuwenden,  also  wieder  um  eine  Art  von  Berührungs- 
zauber. Da  jener  Umzug  im  Jahre  1133  aber  im  ersten  Frühling 
stattfand  und  auch  das  Erscheinen  der  Nerthus,  der  Göttin  der 
Erde  und  Fruchtbarkeit,  vielleicht  aus  dem  Sprossen  des  ersten 
Grüns  erschlossen  wurde,  wird  man  genauer  an  einen  Fruchtbar- 
keitszauber denken,  wie  wir  ihn  schon  andern  Fastnachtsbräuchen 
zugrunde  liegend  fanden.^ 

5.  Ja  auch  noch  eine  andere  Sitte  dürfte  sich  so  erklären.  Tacitus 
berichtet  von  jener  Umfahrt  der  Nerthus  noch  weiter:  schließ- 
lich sei  der  Wagen,  die  Tücher  und,  wenn  man  es  glauben  wolle, 
die  Gottheit  selbst  (die  also  doch  vielleicht  irgendwie  dargestellt 
wurde)  in  einem  geheimen  See  abgewaschen  worden,  in  dem  die 
Sklaven,  die  dabei  halfen,  sofort  ertränkt  worden  seien.  Das  hat 
man  früher  als  Regenzauber  gedeutet;  aber  dazu  paßt  doch  nicht 
das  Getötetwerden  der  Sklaven.  Ferner  setzt  Tacitus  Nerthus  mit 
Terra  mater  gleich  und  wird  darunter  Kybele  verstanden  haben, 
deren  Bild  ja  auch  am  27.  März  in  Rom  auf  einem  von  Rindern 
gezogenen  Wagen  nach  dem  Almo  gefahren  und  dort  gebadet 
wurde.    Da  zwei  Tage  vor  dieser  lavatio  die  Wiedervereinigung 

*  Vgl.  für  Babylonien :  Jastrow  The  Religion  of  Bdbylonia  and  Assyria, 
1898,  654ff.,  679f.;  für  Ägypten:  Herodot  a.  a.  0.  und  dazu  wieder  Wiede- 
mann  a.  a.  0.  265,  sowie  Erman  Bie  ägypt.  Beligion^^  1909,  63;  für 
Griechenland:  Frickenhaus  Der  Schiffskarren  des  Dionysos  in  Athen, 
Jahrb.  d.  k.  d.  areh.  Instituts  1912,  72 ff.;  für  Gallien:  Sulp.  Sev.  vita 
St.  MartinilX.  Die  von  Mannhardt  a.a.O.  593 f.  angeführten  indischen 
Parallelen  sind  andrer  Art;  doch  gibt  es  im  übrigen  dort  bekanntlich 
auch  Götterwagen. 

2  Daß  man  auch  dem  Umzug  der  Kybele  solche  Wirkungen  zuschrieb, 
geht  aus  den  unanständigen  Liedern  hervor,  die  nach  Augustin  de  civ. 
Dei  II,  4  dabei  gesungen  wurden,  sowie  der  Bestreuung  der  Zugtiere 
mit  Frühlingsblumen,  von  der  Ovid  fast.  IV,  341  und  Lucrez  de  rerum 
nat.  II,  540  berichten.  Von  dem  Umzug  der  „Berecynthia"  in  der  Gegend 
von  Autun  sagt  Gregor  von  Tours  de  gloria  confessor.  55  ausdrücklich, 
er  geschehe  pro  salvatione  agrorum  et  vineanim. 


Der  Ursprung  dea  Karnevals  151 

der  Göttin  mit  Attis  gefeiert  wurde,  wird  das  Bad  ein  Reinigungs- 
bad gewesen  sein,  wie  es  nach  vollzogenem  Beilager  genommen 
wurde,  und  an  das  gleiche  darf  man  daher  wohl  auch  bei  dem 
Bad  der  Nerthus  denken.  Nicht  als  ob  der  IsQog  yd^og  in  diesem 
Fall  von  einem  Sklaven  vollzogen  worden  wäre;  Tacitus  spricht 
ja  nur  von  Sklaven  in  der  Mehrzahl  und  sagt  von  ihnen  (was 
auch  kaum  passen  würde),  daß  sie  dann  ertränkt  worden  seien; 
aber  er  erwähnt  daneben  noch  einen  Priester,  und  daß  er  als 
Gemahl  der  Göttin  galt,  also  in  der  Tat  ein  solcher  angenommen 
wurde,  dürfte  aus  den  allerdings  späten  Angaben  folgen,  die  über 
die  Verehrung  des  mit  Nerthus  engverwandten  Frey  gemacht 
werden.^  Danach  zog  dieser,  d.  h.  sein  Bild  mit  einem  jungen 
Weib,  das  als  seine  Frau  galt,  im  Lande  umher,  um  den  Leuten 
«in  fruchtbares  Jahr  zu  bringen,  und  als  das  Weib  von  Gunnar 
Helmingr,  der  sich  für  Frey  ausgab,  schwanger  wurde,  erschien 
das  als  ein  gutes  Zeichen.  Auch  die  Verbindungen  von  Göttern 
und  menschlichen  Frauen,  wie  sie,  ebenfalls  im  Frühling,  bei 
andern  Völkern  (z.  B.  den  Griechen)  stattfanden,  sollten  diese 
Wirkung  habendi  der'  Primitive  macht  eben,  wie  sich  ja  auch 
schon  aus  dem  oben  besprochenen  Brauch  des  sogenannten  Schlages 
mit  der  Lebensrute  ergibt,  zwischen  vegetativer  und  animalischer 
Fruchtbarkeit  keinen  Unterschied  und  glaubt  daher  jene  auch 
sonst  durch  diese  (bzw.  die  sie  bewirkenden  Vorgänge)  befördern 
zu  können.  So  erklären  sich  manche  andere  Gebräuche,  die  wir 
ibei  Natur-  und  bei  Kulturvölkern  finden:  zahlreiche  primitive 
•  Stämme  vollziehen  unmittelbar  vor  oder  bei  der  Aussaat,  bzw. 
i  dem  Pfropfen  der  Bäume  den  Coitus,  in  Indien  wird  namentlich  das 
Holi  im  Frühling  mit  unsittlichen  Bräuchen  gefeiert^,  und  in 
rder  Ukraine,  in  Deutschland,  Holland  und  England  wälzen  sich 

1  Vgl.  Flateyjarbok  I,  337  ff. 

2  Vgl.  Frazer  a.  a.  0.»I,  1911,  2, 130.  136 ff.    - 

'  Vgl.  neuestens  Hopkins  Festivals  and  Fasts  {Hindu)^  Encycl.  of 
!ßel.  and  Ethics  V,  1912,  869  f.  Auch  von  den  westsemitischen  Früh- 
llingsfesten  behauptet  Paton  Äshtart  (Äshtoret),  Ästarte  ebd.  II,  1909, 
117:  These  occasions  were  marked  hy  great  sexual  licence. 


-«52  .  C.  Giemen 

wenigstens  im  Frühling  oder  auch  im  Herbst  Männer  und  Frauen 
auf  den  Feldern.^  So  erklärt  es  sich,  daß  noch  jetzt  in  manchen 
Gegenden  am  Sonntag  vor  den  Fasten:  die  meisten  Ehen  ge- 
schlossen werden;  so  wohl  auch  die  Versteigerung  der  Mädchen 
am  1.  Mai  oder  am  letzten  Februar,  am  ersten  Fastensonntag 
oder  am  St.  Valentinstag,  d.  h.  am  14.  Februar,  denn  daß  dem 
allen  ursprünglich  noch  etwas  anderes  zugrunde  lag,  ersieht  man 
ja  schon  aus  den  Worten  Ophelias  im  Hamlet  (iV,  5): 

Auf  morgen  ist  St.  Valentins  Tag 

Wohl  an  der  Zeit  noch  früh, 

Und  ich,  ne  Maid,  am  Fensterschlag 

Will  sein  euer  Valentin. 

Er  war  bereit,  tat  an  sein  Kleid, 

Tat  auf  die  Kammertür, 

Ließ  ein  die  Maid,  die  als  ne  Maid 

Ging  nimmermehr  herfür. 

Sind  wir  damit  schon  wieder  auf  die  Fastnachtszeit  geführt 
worden,  so  lesen  wir  nun  auch  in  jener  Schilderung  des  k^^chifis- 
umzugs  im  Frühling  des  Jahres  1133,  daß  sich  Scharen  von  Frauen, 
die  einen  halbnackt^,  die  andern  nur  mit  einem  Hemd  bekleidet, 


^  Vgl.  Mannhardt  a.  a.  0.  480ff.;  Frazer  a.  a.  O.M  2,  97ff.;  Albr. 
Dieterich  Mutter  Erde""  1913,  94 ff.  134 f.,  aber  auch  Crawley  Dctv, 
Encjcl.  of  Rel.  and  Ethics  IV,  1911,  699:  Jt  is,  however,  inohahJe  (hat 
some  of  ihe  agricidtural  custows  included  in  the  general  practice  by 
U'hich  individuals  or  couples  'roll'  over  the  fields  are  not  survivals  of  a 
ritual  of  sympathetic  intercourse,  but  simply  express  the  Intention  of  rnb- 
hing  the  fertilizing  deio  into  the  ground.  In  Bussia,  for  insiance,  the 
Spiritual  person  of  the  priest  is  rolled  over  the  sproutirg  crop.  In  Holland 
ihere  is  still  practised  a  custom  of  ^fertilizing'  the  crops  by  actual  sexual  in- 
tercourse. It  taJces  place  at  Whitsuntide  and  is  signifcantly  called  dauic- 
iroppen,  'dew-  treading'.  Here  there  is  perhaps  a  combination,  natural 
enough,  of  the  tuo  methods.  Eolling  in  the  dew  inay  be  practised  for  varions 
reusons.  Dafür  sind  i^n  weiteren  Sinn  auch  die  von  Frazer  a.a.O.' 12, 
102  f.  1,  140 ff.  und  selbst  V  2,  66 f.  erwähnten  Gebräuche  zu  vergleichen. 

'  Vgl.  dazu  Heckenbach  De  nuditate  sacro,  191],  bes.  7.  17,  auch 
Mac  CuUoch  The  Religion  of  the  Ancient  Celts,  1911,  276:  By  unveiling 
the  body,  and  especially  the  sexual  organs,  icotnen  more  effectually  represen- 


Der  UrspruDg  des  Karnevals  153 

unter  die  Feiernden  gemischt,  und  als  der  Reigen  zu  Ende  ge- 
wesen, etwas  getrieben  hätten,  worüber  der  Berichterstatter  nur 
schweigen  und  weinen  zu  können  erklärt.  Auch  später  wird 
immer  wieder  über  die  ünsittlichkeit  des  Karnevals  geklagt,  und 
noch  jetzt  ist  sie  bekanntlich  größer  als  die  irgendeines  andern 
Volksfestes.  Man  muß  also  für  all  das  noch  einen  andern  Grund 
suchen,  als  er  für  die  nur  ähnlichen  Ausschreitungen  bei  sonstigen 
Gelegenheiten  maßgebend  ist,  und  wird  ihn  darin  finden  dürfen, 
daß  dadurch  die  Fruchtbarkeit  befördert  werden  sollte,  daß  der 
Karneval  also,  um  das  Bisherige  zusammenzufassen,  von  Haus 
aus  ein  Fruchtbarkeitszauber  war. 

Selbstverständlich  war  und  ist  dieser  ursprüngliche  Sinn  des 
Karnevals  später  und  heutzutage  so  gut  wie  niemand  mehr  be- 
wußt; man  denkt  sich  ganz  etwas  Anderes  dabei  oder  macht  diese 
Gebräuche  nur  mit,  weil  es  so  herkömmlich  ist.    Aber  von  sich 
aus  würde  man  eben  jetzt  nicht  auf  sie  verfallen;  es  steht  mit 
ihnen  anders  als  mit  sonstigen  Sitten,  die  sich  mit  dem  Karneval 
verbunden  haben  und  immer  wieder  verbinden  würden.    So  ist 
es  namentlich  ein  psybhologisches  Gesetz,  daß  eine  so  schon  er- 
I  regte  Menge  sich  immer  mehr  in  Erregung  bringt,  daß  einer  den 
andern  zu  überschreien  sucht,  und  wenn  die  eigene  Stimme  da- 
j  zu  nicht  mehr  ausreicht,  allerlei  Lärminstrumente  zu  Hilfe  nimmt. 
I  Wenn  das  amerikanische  Volk  einen  Wahlsieg  feiert,  so  geht 
\  es  auf  den  Straßen  ebenso  geräuschvoll  zu  wie  bei  uns  am  Kame- 
j  val.    Wir  können  außerdem  kein  Fest  feiern,  ohne  in  reicher m 
äMaße  als  sonst  Alkohol  zu  uns  zu  nehmen,  und  das  hat  wieder 
seine  besonderen  Wirkungen.  Aber  die  oben  erwähnten  Gebräuche: 
das  Begraben  oder  Ertränken  der  Fastnacht,  das  Sich  Schlagen, 


ited  the  goddess  of  fertility^  and  more  effectually  as  her  representatives ,  or 
through  their  own  powers,  magically  conveyed  fertility  to  the  fields.  Er- 
klärt sich  80  auch  der  von  Herod.  II,  60  berichtete  Zug,  daß  bei  dem 
jFest  in  Bubastis  manche  Franen  ccvaavQOvtai  ccviördiisvai'?  Daß  es  sich 
jdabei  nicht  um  ein  Frühlingsfest  handelt,  brauchte  ja  nichts  aus- 
Izumachen.  Über  die  Entblößung  bei  dem  mekkanischen  Hagg  vgl. 
Wellhausen  Reste  arab.  Heidentums,  1887,  106 f. 


254  ^-  Giemen 

das  Herumführen  von  (Schiffs-) Wagen,  die  außergewöhnliclie  Un- 
sittlichkeit  erklären  sich  auf  diese  Weise  noch  nicht  ^,  sie  be- 
wirken nur  umgekehrt,  daß  am  Karneval  auch  sonst  alles  als  er- 
laubt und  jeder  Unsinn,  dessen  Zweck  man  ebensowenig  wie  den 
jener  Gebräuche  einsieht,  als  geboten  gilt.  Ursprünglich  muß 
das,  ist  es  schon  Tollheit,  doch  Methode  gehabt  haben,  und  welcher 
Art  diese  war,  glaube  ich  im  Vorstehenden  gezeigt  zu  haben. 

Ja  vielleicht  dürfen  wir  nun  jetzt  noch  weiter  gehen.  Eine 
Reihe  von  andern  Fastnachtsgebräuchen  läßt  sich  gewiß  ebenfalls 
mehr  oder  minder  leicht  ohne  Rücksicht  auf  primitive  Anschauungen 
oder  Gebräuche  erklären,  aber  nachdem  einmal  der  Karneval  im 
allgemeinen  als  ursprünglicher  Fruchtbarkeitszauber  erwiesen  ist, 
dürfen  wir  wohl  auch,  wenngleich  mit  aller  Vorsicht,  noch  einige 
besondere  Gebräuche  von  da  aus  zu  verstehen  suchen. 

1.  Der  Tanz  spielt  bei  den  verschiedensten  Zauber-  und  Kult- 
gebräuchen des  Primitiven  eine  Rolle;  wenn  ein  sog.  Wilder  sich 
zum  Christentum  bekehrt,  sagt  man  von  ihm  manchmal  gerade- 
zu: er  tanzt  nicht  mehr.  Aber  eine  besondere  Bedeutung  hat  der 
Tanz  nun  doch  an  Frühlingsfesten  und  namentlich  zu  Fastnacht 
oder  schon  zu  Lichtmeß.  In  vielen  Gegenden  Deutschlands  und 
Österreichs  muß  man  da  auf  dem  Felde,  daheim  und  im  Wirts- 
haus tanzen,  damit  das  Getreide,  namentlich  Flachs  und  Hanf, 
gut  wächst;  so  hoch  man  dabei  springt;  so  hoch  wird  die  Saat.^ 
Auch  hier  handelt  es  sich  also  um  einen  Analogiezauber,  wie  es 
deren  zur  Beförderung  des  Wachstums  der  Saat  noch  viele  gibt, 
wieder  teils  bei  Natur-,  teils  auch  bei  Kulturvölkern.  Auf  Sumatra 
lassen  die  Frauen,  wenn  sie  Reis  säen,  ihr  Haar  hängen:  dann 
wächst  er  ebenso  üppig  und  treibt  lange  Halme.  Ebenso  verfuhr 
man  in  Mexiko  bei  der  Maissaat;  auf  Madagaskar  darf  umgekehrt 


^  Die  letztere  scheint  bei  andern  Festen  von  Naturvölkern  Durkheim 
Les  formes  eUmentaires  de  la  vie  religieuse,  1912,  307  ff.  nur  aus  dem  Ein- 
fluß der  Masse  auf  den  einzelnen  zu  erklären,  übersieht  aber  dabei,  daß 
jene  Feste  schon  ihre  bestimmten  Gründe  und  Zwecke  haben.^ 

2  Vgl.  Frazer  a.  a.  O.-'^I  1,  137ff. 


Der  Ursprung  des  Karnevals  155 

niemand  an  ilir  teilnehmen,  der  Zahnlücken  hat,  denn  sonst  wächst 
auch  der  Mais  lückenhaft.  Die  Malaien  säen  Reis  und  Mais  auch 
mit  vollem  Magen,  damit  er  dicke  Ähren  ansetzt;  doch  muß  man 
ersteren  mit  entblößtem  Oberkörper  einernten,  sonst  bekommt 
er  zu  dicke  Hülsen.  Um  umgekehrt  recht  dicke  Krauthäupter 
zu  erzielen,  winden  sich  die  Bäuerinnen  in  den  russischen  Ost- 
seeprovinzen und  den  Karpathen  Tücher  um  den  Kopf,  backen 
Pfannkuchen  oder  stellen  einen  in  weiße  Leinwand  gewickelten 
Stein  ins  Krautfeld.  In  Thüringen  muß  der  Mann,  der  Flachs 
ßäet,  den  Sack  damit  hin  und  her  schwingen  lassen,  damit  sich 
auch  der  Flachs  so  im  Winde  bewegt,  und  in  Bayern  der  Mann, 
der  Getreide  säet,  einen  goldenen  Ring  tragen,  damit  das  Korn 
schön  gelb  wird.^  Wenn  aber  andere  Karnevalssitten  ebenfalls 
als  Fruchtbarkeitszauber  zu  erklären  waren,  so  ist  es  wohl  nicht 
zu  kühn,  auch  unsere  Fastnachtstänze  zum  Teil  auf  jene  Wurzel 
zurückzuführen. 

2.  Bei  zahlreichen  Fruchtbarkeitszaubern  sind,  je  nach  ihrem 
Sinn,  Männer  oder  Frauen  nötig  und  müssen  also,  wenn  die  Be- 
treffenden aus  irgendeinem  Grunde  nicht  zur  Verfügung  stehen, 
die  andern  deren  Kleider  anziehen.  Verkleidung  bewirkt  ja  nach 
primitiver  Vorstellung*  Verwandlung  in  den,  dessen  Kleider  man 
trägt.^  Erklärt  es  sich  daraus,  daß  auch  bei  andern  Festlichkeiten, 
die  ursprünglich  jenen  Sinn  haben,  und  darunter  beim  Karneval, 
die  Geschlechter  ihre  Kleider  tauschen?  Daß  sie  dabei  im  übrigen 
seit  alter  Zeit  Grün,  Rot  und  Gelb  bevorzugen,  könnte  den  Grund 
haben,  daß  diese  Farben  besonders  grell  und  lustig  sind;  viel- 
leicht sind  es  (und  namentlich  Grün)  aber  ursprünglich  auch  die 
Farben  des  Frühlings,  den  die  Betreffenden  darstellen.^ 


1  Vgl.  ebd.«I  1,  135  ff. 

2  Vgl.  Mannhardt  a.  a.  0.  410  ff.   421,  auch  Baudissin  Ästarte  und 
.Aschera,  prot.  Realencycl.  'II,  1897,  157. 

I  '  Natürlich  hat  die  Freude  am  Sich -Verkleiden  dann,  wie  z.  B. 
jauch  im  Isiskult  (vgl.  Apul.  met  XI,  8),  noch  zu  andern  Kostümen  geführt, 
aber  die  ursprünglichsten  könnten  die  oben  angeführten  gewesen  sein. 


■[P)Q  '  C.  Giemen 

3.  Auffälliger  ist  jedenfalls,  daß  die  Fastnachtsnarren  schon  im 
fünfzelinten  Jahrhundert  Schellen  und  Glöckchen  trugen;  es  er- 
klärt sich  auch  das  wohl  kaum  daraus,  daß  diese  damals  und 
bereits  früher  in  Deutschland  zur  vornehmen  Tracht  gehörten,  die 
sich  bei  den  Narren  gehalten  hätte.  Vielmehr  wird  damit  das 
Problem  wohl  nur  zurückgeschoben  und  jedenfalls  finden  sich 
Schellen  und  Glöckchen  auch  dort,  wo  an  einen  Einfluß  jener 
Tracht  sicher  nicht  zu  denken  ist.  So  trägt  z.  B.  in  Uganda  der 
Vater  von  Zwillingen,  wenn  er  von  Garten  zu  Garten  geht,  um 
dort  seine  Fruchtbarkeit  auszuteilen  —  also  ein  ähnlicher  Ge- 
brauch wie  die  oben  erwähnten  —  an  den  Knöcheln  kleine  Glöck- 
chen.^ Besonders  aber  spielen  diese  wieder  bei  Frühlingsgebräuchen 
eine  Rolle.  In  Süddeutschland,  Osterreich  und  Skandinavien  zieht 
man  am  Dreikönigsabend  (5.  Januar),  zu  Petri  Stuhlfeier  (22. Fe- 
bruar), am  1 .  März,  24.  April  oder  auch  zu  Fastnacht  mit  Schellen 
und  Glocken  herum,  um  den  Frühling  oder  das  Gras  und  den 
Flachs  aufzuwecken.  Manchmal  sollen  die  Schellen  und  Glöck- 
chen vielleicht  auch  die  Stimme  des  Vegetationsgeistes  wieder- 
geben, der  bei  diesen  Gelegenheiten  von  einem  Menschen  repräsen- 
tiert wird^;  denn  wenn  auch  die  meisten  der  bisher  geschilderten 
Gebräuche  wohl  in  die  präanimistische  Zeit  zurückgehen,  in  der 
zwischen  Körper  und  Geist  noch  nirgend  unterschieden  wurde, 
später  geschah  das  doch.  Dagegen  hat  die  hier  in  Rede  stehende 
Sitte  mit  der  Vertreibung  feindlicher  Geister  durch  Glockenläuten 
ursprünglich  wohl  nichts  zu  tun. 

4.  Bei  dem  rheinischen  Karneval  wird  auch  die  sogenannte 
Streckschere  verwandt,  mit  der  man  einem  Entfernten  etwas  zu- 
reichen oder  ihm  auch  nur  ins  Gesicht  fahren  kann.  Sie  spielt 
ebenso  bei  dem  sogenannten  Perchtenlaufen  eine  Rolle,  das 
in  den  deutschen  Alpen  im  Winter  zu  dem  Zweck,  ein  gutes 
Erntejahr  zu  erzielen,  stattfindet.  Allerdings  ist  die  Streckschere 
da  das  Werkzeug  des  im  Festzug  miterscheinenden  Schneiders  ge- 

^  Vgl.  Frazer  a.  a.  0.  ^  I,  2,  102. 

2  Vgl.  Mannhardt  a.a.O.  326  f.  539  ff. 


Der  Ursprung  des  Karnevals  157 

worden,  mit  dem  er  den  Dabeistehenden  unversehens  die  Kopf- 
bedeckung raubt;  aber  das  ist  kaum  ihr  ursprünglicher  Sinn. 
Denn  der  Schneider  ist  da  wohl  ebensowenig  ursprünglich ; 
tritt  er  doch  schon  an  einer  andern  Stelle  des  Zuges  unter  den 
Vertretern  der  sonstigen  Berufe  auf.  Den  ursprünglichen  Sinn 
der  Streckschere  finden  wir  vielmehr  wohl  bei  den  Tusayan- 
Indianern  in  Arizona,  die  ich  hier  heranziehen  zu  dürfen  glaube, 
ohne  damit  sagen  zu  wollen,  daß  wir  uns  nach  ihnen  oder  einem 
beliebigen  andern  primitiven  Stamm  ohne  weiteres  unsere  Vorfahren 
vorstellen  dürften.  Bei  dem  Sommerfest  dieser  Indianer  erscheint 
ihr  Stammgott  Pü'ükong  nämlich  mit  einer  großen  hölzernen 
Streckschere,  und  da  jenes  Fest  Fruchtbarkeit  bewirken  soll,  stellt 
die  Streckschere  wahrscheinlich  den  Blitz  dar,  der  den  be- 
fruchtenden Gewitterregen  herbeiführt.^  Wenn  aber,  wie  das 
Perchtenlaufen,  so  der  Karneval  ursprünglich  ein  Fruchtbarkeits- 
zauber war,  könnte  die  Streckschere  auch  bei  ihnen  denselben 
Sinn  gehabt  haben, 

5.  Auch  die  Schnarre,  Knarre,  Ratsche,  Klapper  oder  wie 
man  sie  nennen  mag,»  die  bei  unserm  Karneval  als  bloßes  Lärm- 
instrument gebraucht  wird,  kommt  bei  verschiedenen  primitiven 
Stämmen  namentlich  Amerikas  als  Abbild  des  Donners  vor.    ür- 
'  ßprünglich   mag  sie,  ebenso  wie  das  Schwirrholz,  die  Wasser- 
I  flöte  und  Maultrommel,   der  Brummkreisel   als  solche,  wegen 
I  des  von  ihr  hervorgebrachten  Tons,  als  etwas  Übernatürliches 
j  oder  wenigstens  Außergewöhnliches  aufgefaßt  worden  sein,  daher 
!  sie  der  Angekok  der  Eskimos  zu  Heilzwecken  benutzt.^    Dann 
j  aber  wurde  ihr  Ton  als  Stimme  des  Donnergottes  aufgefaßt  (so 
!  bei  den  Tupi  in  Südamerika^),  und  von  da  aus  erklärt  es  sich, 
daß  die  Rassel  auch  als  Symbol  der  mexikanischen  Fruchtbar- 

^  Vgl.  Hein  Der  Schneider  im  Pongauer  Perchtenlaufen,  Corre- 
spondenzblatt  der  deutschen  Gesellsch.  f.  Anthropol.  1899,  137  f. 

^  Vgl.  Weule  Leitfaden  der  VölkerJcunde,  1912,  36. 

'  Vgl.  Ehrenreich  America,  South,  Encycl.  of  Rel.  and  Ethics  I, 
1908,  383. 


I^g  C.  Giemen     Der  Ursprung  des  Karnevals 

keitsdämonen  erscliien  und  beim  FrüMingsfest  gebraucht  wurde, 
das  danach  geradezu  mit  der  Rassel  säen  hieß^:  der  Donner  sollte 
eben  auch  hier  Regen  und  damit  Fruchtbarkeit  herbeibringen. 
Freilich  daß  mit  diesem  Gebrauch  der  Rassel  zum  Fruchtbarkeits- 
zauber ihre  Verwendung  bei  unserm  Karneval  zusammenhängt, 
das  könnte  man  mit  einiger  Sicherheit  wohl  erst  annehmen,  wenn 
die  Fastnachtsschnarre  auch  früher  schon  nachzuweisen  ist^;  und 
auch  dann  bliebe  es  natürlich  denkbar,  daß  das  Instrument  wie 
die  Streckschere  andern  Ursprungs  wäre  und  von  vornherein  nur 
zum  Lärmmachen  gedient  hätte. 

In  diesen  Fällen  enthalte  ich  mich  also  wenigstens  zunächst 
des  Urteils;  was  den  Karneval  im  übrigen  angeht,  so  glaube  ich 
dagegen  in  der  Tat  nachgewiesen  zu  haben,  daß  er  zum  guten 
Teil  in  uralten,  primitiven  Anschauungen  und  Gebräuchen 
wurzelt.  Was  man  sich  auch  später  bei  ihm  gedacht  haben 
und  jetzt  denken  mag,  ursprünglich  war  er  in  erster  Linie  ein  aus 
verschiedenen  Gebräuchen  bestehender  Fruchtbarkeitszauber. 


^  Ygl.  Preuß  a.  a.  0.  1905,  334.  336. 

^  Der  kirchliche  Gebrauch,  den  Andrea  JRatschen,  Klappern  und  das 
Verstummen  der  Karfreitagsglocken ^  Zeitschr.  des  Vereins  f.  Volkskunde 
1910,  250 ff.,  behandelt  und  bis  ins  siebente  Jahrhundert  zurückverfolgt, 
bedarf  wohl  selbst  erst  noch  der  Erklärung  aus  älteren  Sitten. 


Eine  apokryphe  Heilige  des  späten  Mittelalters 

Von  E.  A.  Stückeiberg  in  Basel 

In  dem  himmlischen  Senat  der  römisch-katholischen  Kirche 
thronen  so  viele  Tausende  von  authentischen  Heiligen,  deren 
Person  und  Lebenszeit  für  den  Historiker  fest  umrissen  ist, 
daß  kein  Verständiger  daran  Anstoß  nimmt,  wenn  die  eine 
oder  andere  Gestalt,  die  durch  menschlichen  Irrtum  zur  Schar 
der  Heiligen  gezählt  worden  ist,  als  legendäre  Erscheinung 
ausgesondert  bzw.  als  apokryph  bezeichnet  wird.  Hippolyte 
Delehaye^  formuliert  unsern  Gedanken  dahin,  daß  die  Erkennt- 
nis des  historisch  Minderwertigen  nicht  das  Leugnen  des  Aus- 
gezeichneten bedeutet  und  daß  es  heißt,  die  Ernte  retten,  wenn 
man  das  Unkraut  ausliest. 

Yon  diesem  Standpunkt  aus  hat  der  Verfasser  gewagt,  den 
kölnischen  Heiligen  näher  zu  treten  und  an  einem  charakte- 
ristischen Beispiel  —  'S.  Euphrosyna  von  BaseP  —  das  üppige 
Ranken  der  Legende  von  den  sog.  11000  Jungfrauen  zu  ver- 
folgen; von  diesem  Gesichtspunkt  aus  suchte  er  die  Katakomben- 
heiligen  von  den  historischen  Heiligen  zu  sondern.^  Dasselbe 
iZiel  verfolgte  er  auch  bei  der  Untersuchung  der  oberitalienischen 
1  Heiligen;  unter  den  in  der  Lombardei  verehrten  Märtyrerinnen 
jfand  sich  nun  eine  Jungfrau,  deren  Legende  zu  einer  genaueren 
'Erforschung  reizte.  Sie  trägt  den  Namen  S.  Eurosia  und  wird 
als  Schutzpatronin  der  Feldfrüchte  angerufen. 

Am  Südfuß  der  Pyrenäen,  am  Flusse  Arragon,  der  dem 
Lande,  der  heutigen  Provinz,  den  Namen  gegeben  hat,  liegt 
jJaca.     Diese  Stadt  ist  seit  1571  Sitz  eines  Bischofs. 

*  Die  hagiographischen  Legenden,  Kempten  u.  München  S.Y. 

*  Basler  Zeitschr.  für  Geschichte  und  Altertumskunde  1904  S.  37 — 46. 
^  Die  Katakombenheiligen  der  Schweiz,  Kempten  u.  München  1907. 


IQQ  E.  A.  Stückelberg 

Hier  hat  im  Jahr  1435  eine  Revelation  und  eine  Invention 
stattgefunden;  ein  Hirt  fand  den  wohlerhaltenen  Leichnam 
eines  Mädchens  in  einer  Höhle.  Man  transferierte  ihn  in  die 
Kathedrale;  seither  wurde  der  Schrein  mit  den  kostbaren  Reliquien 
häufig  in  Prozessionen  einhergetragen.^ 

Es  bildete  sich  eine  Legende^,  welche  die  damals  geläufigen 
hagiographischen  Züge^  auf  das  Haupt  der  Heiligen  sammelte. 
Danach  war  sie  fürstlichen  Geblütes,  floh  vor  einem  fürstlichen 
Bewerber,  wurde  in  schrecklicher  Weise  verstümmelt  und  ge- 
tötet —  man  schlug  ihr  Füße,  Hände  und  Haupt  ah  — ,  ihr 
Leib  strömte  Wohlgeruch  aus  und  die  Glocken  läuteten  von 
selbst  bei  ihrer  Translation.  Wenn  ihre  Reliquien  herausge- 
tragen werden,  hört  das  Ungewitter  stets  innerhalb  dreier  Tage 
auf.  Die  Höhle,  in  die  sie  geflüchtet  und  ein  Quell,  der  ihr 
geweiht  ist,  werden  gezeigt.  Als  der  Bischof  eine  Partikel  von 
ihrem  Leib  nehmen  wollte,  floß  Blut. 

Ihr  Kult  nahm  dadurch  einen  Aufschwung,  daß  ein  böhmischer 
Mönch  sie  1493  als  böhmische  Königstochter  bezeichnete.  Auf 
Betreiben  der  Habsburger,  welche  die  spanische  mit  der  böhmischen 
Krone  vereinigten,  sei  in  Rom  der  Versuch  gemacht  worden,  Eu- 
rosia  zu  kanonisieren,  melden  die  Rolland isten  in  ihrem  hand- 
schriftlichen Bericht  von  1568  über  die  Heilige;  ihr  Leben  wurde 
1583  in  lateinischer,  1596  in  spanischer  Sprache  gedruckt*. 

Am  1.  Mai  1902  erfolgte  eine  Kultapprobation  in  Rom. 
(A.  ecc.  X  243.) 

Durch  die  Verbindungen  Spaniens  mit  der  Lombardei,  welche 
infolge  des  Einzugs  Mailands  als  Reichslehen  unter  Karl  V.  und 
Philipp  IL  eintraten,  verbreitete  sich  der  Kult  der  h.  Eurosia 
nach  Oberitalien.  Als  Vermittler  derselben  dürften  Soldaten 
gelten,   daneben  auch  die  Somasken,   deren  Hauptsitz  im  Bis- 

^  Garns  Series  Episcoporum  p.  37. 

*  AA.  SS.  Juni  V  S.  88—91;  neue  Ausg.  1867  Juni  VII  S.  76  —  79. 
'  Vgl.  Günter  Die  christliche  Legende  des  Abendlandes,  1910.     Der 

Legendenbestand  S.  13  —  15. 

*  Ferner  Analecta  Boll.  XV  p.  322, 


Eine  apokryphe  Heilige  des  späten  Mittelalters  161 

tum  Como  lag.  Die  Verehrung  der  Heiligen  delmte  sich  über 
mehrere  Bistümer,  die  zwischen  dem  Apennin  und  den  Alpen 
liegen;  aus.  Wir  fanden  Heiligtümer  —  Kapellen,  Altäre, 
Bilder  und  Reliquien  —  der  h.  Eurosia  in  den  Diözesen  Mai- 
land, Como,  Cremona,  Pavia  und  Novara.  Überall  wird  die 
Heilige  am  25.  Juni  verehrt;  überall  gilt  sie  als  Beschützerin 
der  Feldfrüchte  (protettrice  dei  campi^).  Die  ältesten  gefundenen 
Zeugnisse  reichen  ins  16.  Jahrhundert  zurück,  die  jüngsten 
in  die  heutige  Zeit.  Noch  1908  ist  der  Heiligen  in  Trarego 
(Diözese  Novara)  an  ihrem  Festtag  eine  Statue  errichtet  worden, 
1912  verlangte  die  Pfarrei  Loco  Verlegung  des  Eurosiafestes.^ 

Hier  eine  Übersicht  über  die  bis  jetzt  gefundenen  kultischen 
Spuren  der  h.  Eurosia: 

Affori  (Mailand^).  —  Bigorio  (Lugano),  Ölgemälde  des 
18.  Jahrh.  —  Besäte  (Mailand).  —  Cannero  (Novara*)  — 
Canonica  Lambro  (Mailand).  —  Caravaggio  (Cremona^),  Kapelle 
von  Montissolo.  —  Cesano  Maderno  (Mailand),  Kapelle  von 
Cascina  Gaeta.  —  Cocquio  (Mailand),  bei  Sesto  Calende.  — 
Comano  (Lugano),  Wandgemälde  von  1661.  —  Como^,  Loreto- 
kirche.  —  Comarina  (Mailand),  bei  Castano  Prime.  —  Cressa 
;  (Novara).  —  Fara  d'Adda  (Mailand). —  Lesmo  (Mailand),  Kapelle 
ivon  Masciocco.  —  Loco  (Lugano). —  Medeglia  (Lugano),  Wand- 
!  gem.  des  16.  Jahrh.  —  Menzago  (Mailand). —  Monza,  S.  Biagio  (Mai- 
land).—  Pavia. — Puria  (Como)  Kapelle,  Altar,  Gem.des  16.  Jahrh.' — 


^  Älmanacco  Sacro  Pavese  1910  p.  65. 

*  Gütige  Mitteilung  von  Herrn  Prof.  Dr.  Maspoli,  bischöfl.  Kanzler 
'  jin  Lugano. 

I        ^  Die  mailändischen  Orte  verzeiclinet  im  Guida  Ufficiale  del  Clero 
(1910. 

*  Die  Orte  im  Bistum  Novara  verzeichnet  bei  Brusa  Novara  Sacra 
1909. 

^  Stato  del  Clero  .  .  .  di  Cremona  1910. 

^  Martyrölog.  Novocomense  1676. 

'  Nach  Pellegrini  La  Valsolda,  Milano  1909  p.  64  dem  Procaccino 
zugeschrieben;  in  Dasio  (dicht  bei  Puria)  erinnerte  ein  Bild  der  N.  S. 
lel  Pilar  an  die  Beziehungen  der  Talschaft  zu  Saragossa. 

Archiv  f.  Eeligionswissenschaft  XVII  1 1 


IQ2  E.  A.  Stückelberg 

Sigirino  (Lugano)  Reliquie.  —  Tajno  (Mailand).  —  Trarego 
(Novara).  —  Vighizzolo  (Mailand),  Kapelle  in  S.  Agata. 

In  den  übrigen  vom  Verfasser  bereisten  oberitalienischen  Bis- 
tümern fand  sich  Eurosia  bis  jetzt  nicht;  auch  die  Durchsicht 
der  bezüglichen  Publikationen  von  Bergamo,  Brescia,  Vercelli  er- 
«^ab  nichts.  Doch  ist  anzunehmen,  daß  da  und  dort  noch  ein 
Bild  zu  finden  sein  mag. 

Wir  haben  es  mit  einem  typischen  Yolkskult  zu  tun:  die 
Heilige  wird  auf  dem  Land,  nur  ausnahmsweise  in  der  Stadt,  ver- 
ehrt. Als  Beschützerin  der  Felder  und  Früchte,  bringt  sie  den  nöti- 
gen Regen^  und  schirmt  vor  Blitz.  Sie  ist  also  eine  Wetterheilige, 
wie  S.  Uguzo  (von  San  Lucio) ^,  S.  Mirus  (von  Sorico),  S.  Eu- 
tychius  (von  Nursia)  und  viele  andere  italienische  Schutzpatrone, 
auf  welche  die  Landwirtschaft  rechnete  und  heute  noch  zählt. 

Lassen  wir  noch  einige  ikonische  Zeugnisse^  sprechen. 

In  Puria  im  Yalsolda  befindet  sich  in  der  Eurosiakapelle 
der  Pfarrkirche  ein  sehr  schönes  Ölgemälde  des  16.  Jahr- 
hunderts, das  dem  Mailänder  Maler  Ercole  Procaccini  (1520  bis 
1591)  zugeschrieben  wird.  Es  zeigt  eine  h.  Jungfrau  in  reichem 
Kleid,  mit  weiten  gerafften  Ärmeln,  kniend  nach  links  ge- 
wendet. Sie  streckt  die  gefesselten  Hände,  die  ihr  abgehauen 
werden  sollen,  vor.  Hinten  Schergen,  oben  schwebende  Engel 
mit  Bandrolle  Künstlerisch,  wie  es  scheint,  das  bedeutendste 
Bild  der  Heiligen  Es  ist  auch  das  älteste  dem  Verfasser  in 
Italien  vor  Augen  gekommene  Bild  der  h.  Eurosia;  es  dürfte 
Mitte  des   16.  Jahrhunderts  entstanden  sein. 

Das  älteste  Gemälde  der  Heiligen  auf  Schweizerboden,  in 
der  Diözese  Lugano,  befindet  sich  an  der  Außenseite  einer  Pfarr- 

*  Über  dieses  ständige  Motiv  der  mittelalterlichen  Heiligenlegende 
vgl,  Toldo  bei  H.  Günter  Die  chrüüiche  Legende  des  Abendlandes  1910 
S.  U,  78—79. 

*  Vgl.  des  Verf.  San  Lucio.   Lugano  1912,  Grassi. 

'  Besichtigt  und  bescbrieben  vom  Verfasser  1909  und  1910;  die 
Attribute  beschrieben  und  kommentiert  bei  Cahier  Caracteristiques  des 
Saints  S.  478. 


Eine  apokryphe  Heilige  des  späten  Mittelalters  163 

kirche  des  Isonetals  (Bezirk  Bellinzona).  Es  ist  S.  Bartholo- 
mäus zu  Medeglia.  Ein  großes  Fresko  zeigt  die  Enthauptung 
einer  fürstlichen  Jungfrau.  Sie  kniet  auf  dem  Rasen  und  vor 
ihr  liegen  ihre  abgehauenen  Hände  und  Füße,  hinter  ihr  Krone 
and  Zepter.  Ein  schwebender  Engel  bringt  rote  und  weiße 
Blumen^  oder  Früchte.  Auch  dieses  Bild  scheint  dem  XVI.  Sae- 
culum  anzugehören  und  ist  wohlerhalten;  bei  den  Einwohnern 
aber  ist  seine  Bedeutung  nicht  mehr  bekannt,  niemand  wußte 
den  Namen  der  Heiligen. 

Ein  Freskogemälde  zu  Comano  im  selben  Bistum  findet 
sich  in  der  Pfarrkirche  der  Reinigung  Maria  an  der  Innen- 
seite der  Südmauer.  Hier  sieht  man  die  stehende  Gestalt  der 
h.  Jungfrau  und  Märtyrerin.  Sie  trägt  den  Palmenzweig  in  der 
Linken  und  zu  ihren  Füßen  liegt  eine  Krone.  Die  Unterschrift 
lautet:  S.  EYROSIA  •  Y  •  M  •  1661. 

Die  Bilder  halten  sich  an  die  Legende,  indem  sie  das 
fürstliche  Geblüt  durch  die  Krone  andeuten  und  außerdem  das 
Martyrium  mit  seinen  Einzelheiten  schildern. 

Fassen  wir  die  Ergebnisse  der  literarischen,  urkundlichen, 
kultischen  und  ikonischen  Überlieferung  zusammen,  so  ergibt 
sich  folgendes.  Eurosia  ist  keine  historische  Gestalt;  sie  tritt  erst 
in  die  Geschichte  ein  durch  und  mit  ihrer  Findung  ^  und 
kirchlichen  Anerkennung  zu  Jaca.  Sie  ist  eine  getaufte  Heilige, 
indem  es  sich  um  einen  anonymen  Leichnam  handelt,  dem  bei 
der  Findung  ein  Name  beigelegt  wurde.  Dieser  wurde  nach 
Analogie     der     zahlreichen    auf    Eu-^    anlautenden    Heiligen- 


^  Rosen  mit  Bezug  auf  den  Namen  Eurosia  auch  zu  Bigorio. 

'  Der  Vorgang  erinnert  an  die  Findung  des  Römergrabes  zu  Com- 
postella,  dessen  Inhalt  man  taufte  und  zwar  auf  den  Namen  eines 
historischen  Heiligen,  des  Apostels  Jacobus  Major;  dieser  Vorgang  fällt  ins 
iJahr830,  also  sechs  Jahrhunderte  vor  der  Invention  der  h.  Eurosia. 

'  Schon  das  Martyrologium  Hieronymianum  verzeichnet  viele  Dutzende 
von  Heiligennamen,  die  mit  Eu-  zusammengesetzt  sind;  die  Form  Eu- 
jcosius.-a,  kommt  indes  nirgends  vor.  Am  nächsten  steht  ihr  der  unter 
iem  5.  November  kommemorierte  Eurasius, 

11* 


164     E.  A.  Stückelberg    Eine  apokryphe  Heilige  des  späten  Mittelalters 

namen  und  mit  Kenntnis  des  in  Spanien  geläufigen  Namens 
Orosius,  -a,  gewählt.  Die  im  15.  Jahrhundert  beliebten 
Legendenmotive  werden  der  neuen  Heiligen  beigelegt.  So  aus- 
gerüstet findet  Eurosia  als  populäre  Gestalt  Eingang  in  außer- 
spanische Kreise.  In  Oberitalien  wird  sie  zu  einer  von  der 
Landbevölkerung  sehr  geschätzten  Schutzherrin  der  Felder,  die 
sie  vor  Dürre  verschont. 

S,  Eurosia  ist  eine  der  wenigen  spanischen  Heiligen,  deren 
Verehrung  in  Oberitalien  Eingang  gefunden  hat.^ 

*  Eine  andere  Märtyrerin  aus  Spanien,  Alodia,  findet  sich,  soviel  ich 
sehe,  nur  in  S.  Alo  verehrt;  Dr.  Diego  Sant  Ambrogio  teilt  mir  über  sie 
mit:  Sant  Alodia,  martire  in  Spagna,  nel  secolo  IX,  in  unione  alla  swello 
Nunilona.  Furono  decapitate  sotto  il  re  Moro  Äbderamo  II  per  non  avet 
voluto  repudiare  il  culto  cattolico.  La  feste  si  celebre  il  29  Octobre  dellt 
chiesa,  e  i  corpi  delle  due  martire  si  conservano  a  San  Salvatoi'e  di  Lejo 
in  Navarra. 


Das  religiöse  Problem  in  China 

Von  O.  Franke  in  Hamburg 

Wer  bei  einer  Betrachtung  der  vor  zwei  Jahren  in  China 
vollzogenen  Umformung  der  staatlichen  Verfassung  sich  das 
Wesen  des  bis  dahin  bestehenden  chinesischen  Staates  vor 
Augen  hält,  der  wird  beim  ersten  Blick  erkennen,  daß  es  sich 
hier  nicht  bloß  um  einen  politischen  oder  staatsrechtlichen  Vor- 
gang handelt,  sondern  um  unendlich  viel  mehr:  diese  Umfor- 
mung bedeutet  ein  Wegrücken  der  gesamten  Kultur  von  ihren 
bisherigen  Grundlagen,  sie  bedeutet  insbesondere  eine  Zertrüm- 
merung der  stärksten  dieser  Grundlagen,  der  Religion.  Der 
chinesische  Staat  war  bis  zum  Jahre  1911  weniger  Staat  als 
vielmehr  Kirche,  ja  noch  mehr,  er  war  das  versinnlichte  Dogma, 
die  verkörperte  Religion.  Diese  Religion  war  zusammengefügt 
aus  Ahnendienst  und' Naturdienst,  sie  war  vom  Altertum  her 
überkommen,  von  Tschou  kung,  dem  Gründer  des  kirchlichen 
üniversalstaates  im  12.  Jahrh.  v.  Chr.,  und  von  Konfuzius,  sei- 
nem Erneuerer  im  5.  Jahrh.  v.  Chr.  zum  Staatsrecht  entwickelt 
und  zur  Staatsverfassung  organisiert.^  Sie  fand  ihren  Ausdruck 
in  dem  Staatskultus  und  in  der  politischen  Ethik  des  konfu- 
zianischen Systems.  Der  Kaiser  war  Stellvertreter  Gottes  auf 
Erden  und  daher  ein  ^Heiliger',  der  Lehrer  und  Führer  der 
Menschheit  und  daher  auch  ihr  Vertreter  vor  Gott.  Aber  er 
durfte  auch  Himmel  und  Erde  als  sein  hohes  Elternpaar  be- 
zeichnen, und  wie  der  rechtmäßige  älteste  Sohn,  und  er  allein, 

^  In  einem  engliscli  geschriebenen  Confucius  and  New  China  be- 
titelten Buclae  (S.  23  ff.)  hat  ein  junger  Chinese,  WangChing-Dao,  kürzlich 
darzulegen  versucht,  daß  Konfuzius  niemals  den  Universal-Staat  im  Auge 
gehabt  habe.  Es  gehört  viel  Mut  oder  wenig  Wissen  dazu,  eine  solche 
Aufgabe  zu  unternehmen.  Der  Verfasser  sollte  einmal  Tung  Tschung 
Schu's  Tsch'un-tciu  fan  lu  (2.  Jahrh.  v.  Chr.)  durchlesen. 


166  '  0.  Franke 

den  verstorbenen  Ahnen  opfert  und  dient,  so  opferte  und  diente 
allein  der  'Sohn  des  Himmels'  seinen  göttlichen  Ahnen.  Wie 
ferner  dem  opfernden  ältesten  Sohne  seine  eigenen  jüngeren 
Brüder,  Kinder  und  Enkel  nach  dem  Grundgesetze  der  Pietät 
Untertan  sind,  so  war  das  Volk  dem  das  höchste  Ahnenopfer 
vollziehenden  Altesten,  dem  Kaiser,  Untertan.  Denn  der  Staat 
war  nur  die  große  Familie,  die  Familie  war  der  kleine  Staat. 
Der  Kaiser  war  Familienvater  des  Volkes,  und  wie  jeder  Vater 
in  seiner  kleinen  Familie,  so  er  in  seiner  großen  der  opfer- 
berechtigte Priester.  Jeder  Beamte  aber  im  Staate  übte  seine 
Befugnisse  aus  kraft  der  ihm  vom  Kaiser  zeitweilig  über- 
tragenen göttlichen  Teilgewalt,  und  dementsprechend  vollzog 
er  in  seinem  Amtsbezirke  die  staatlichen  Opferriten.  Also  auch 
er   war   ebensowohl  Priester   wie   Beamter    im    Kirchenstaate.^ 

Diese  Anschauungen  sind  es,  die  den  Kern  des  konfuziani- 
schen Systems  bilden,  d.  h.  jener  politischen  Religion,  deren 
Bestandteile  aus  vorkonfuzianischer  Zeit  stammen,  von  Konfu- 
zius gesammelt,  von  seinen  Anhängern  Jahrhunderte  hindurch 
zu  einem  immer  fester  werdenden  Ganzen  zusammengeschlossen 
sind.  Die  erleuchtetsten  Geister  Chinas  haben  ihm  die  klas- 
sische Form  gegeben,  Generationen  von  Gelehrten  haben  es 
ausgebaut  und  verbreitet,  für  jeden  Staatsmann  jeder  Dynastie 
war  es  ein  unverrückbares  Dogma,  bis  es  schließlich  zum  Fun- 
dament des  staatlichen  und  sozialen  Gefüges  wurde,  zum  gra- 
nitnen  Felsen,  auf  dem  sich  das  Gebäude  der  Kultur  erhob. 

Allerdings  hat  es  das  konfuzianische  System  nicht  verhin- 
dern können,  daß  sich  neben  ihm  andere,  meist   fremde  Reli- 

^  Wilhelm  Martens  Die  Beziehungen  der  Überordnung,  Nebenordnmig 
und  Unterordnung  zwischen  Kirche  und  Staat  (1877)  S.  7  will  statt 
„Kirchenstaat"  lieber  den  Namen  „Glaubensstaat"  angewendet  sehen, 
weil  die  erstere  Bezeichnung  „speziell  üblich  geworden  sei  für  das 
italienische  Territorium,  welches  bis  zum  Jahre  1870  der  weltlichen 
Souverainetät  der  Päpste  unterstand".  Ich  kann  diesen  Grund  nicht  als 
ausreichend  ansehen;  die  Bezeichnung „Glaubensstaat"  paßt  auch  im  Hin- 
blick auf  das  Wesen  des  Konfuzianismus  nicht  auf  den  chinesischen  Staat. 


Das  religiöse  Problem  in  China  167 

gionssysteme  in  China  zeitweilig  entwickelt  haben,  aber  keins 
von  ihnen  ist  vom  Konfuzianismus  unbeeinflußt  geblieben,  und 
keins  hat  es  mit  Aussicht  auf  Erfolg  wagen  können,  an  die 
Grundlehren  des  Konfuzianismus  zu  rühren.  Einheimische 
Taoisten,  indische  Buddhisten,  babylonische  Manichäer,  syrische 
Nestorianer,  persische  Mazdäer,  arabische  und  türkische  Muha- 
medaner  und  schließlich  abendländische  Christen,  sie  haben 
alle  auf  chinesischem  Boden  ihre  Lehren  verkünden  können 
und  auch  zahlreiche  Anhänger  bis  in  die  höchsten  Schichten 
hinauf  gefunden,  aber  ihre  Erfolge  standen  immer  im  Verhält- 
nis zu  dem  Maße,  wie  sie  willens  und  imstande  waren,  Teile 
ilirer  Eigenart  den  konfuzianischen  Anschauungen  zu  opfern. 
I  Das  Konfuzianertum  hat  diese  heterodoxen  Systeme  für  ge- 
I  wohnlich,  wenn  auch  unwillig,  geduldet,  aber  weit  mehr  aus 
hochmütiger  Gleichgültigkeit  als  aus  weitherziger  Toleranz.  Es 
I  sah  in  ihnen  entweder  Äußerungen  niederer  Kulturen,  die  keine 
Beachtung  verdienten,  oder  vielleicht  geschichtlich  interessante, 
aber  sonst  wertlose  Absonderlichkeiten.  Je  sorgsamer  im  Laufe 
der  Jahrhunderte  das  'konfuzianische  System  formuliert  wurde, 
und  je  mehr  sich  die  Staatsgewalt  mit  ihm  identifizierte,  um 
jso  fester  ergriff  der  Glaube  an  seine  unfehlbare  Ausschließlich- 
ikeit  von  dem  gesamten  chinesischen  Denken  Besitz.  So  oft 
Idaher  eine  der  fremden  Religionen  es  unternahm,  die  Grund- 
lagen des  Konfuzianismus  anzutasten,  namentlich  den  Ahnen- 
idienst,  die  Familienordnung  und  die  Stellung  des  Kaisers,  fuhr 
die  Paust  des  konfuzianischen  Kirchenstaates  zerschmetternd 
jauf  die  ^Rebellen'  wider  das  göttliche  Gebot  hernieder.  Dyna- 
stien sind  gekommen  und  wieder  verschwunden,  einheimische 
and  landfremde  Kaiser  haben  den  Thron  innegehabt,  die  Ein- 
teilung des  Reiches  und  die  Einrichtungen  seiner  Verwaltung 
?ind  oft  und  durchgreifend  geändert,  aber  das  konfuzianische 
System  und  mit  ihm  das  Wesen  des  Staates  haben  alles  über- 
dauert, ja  sie  sind  mit  jedem  Jahrhundert  ausgesprochener, 
ielbstsicherer  geworden. 


Ißg  0.  Franke 

Den  Höhepunkt  hat  diese  religiös  -  politische  Entwicklung 
unter  der  letzten  Mandschu-Dynastie  erreicht.  Vom  30.  Oktober 
1644  an,  wo  Schun-tschi,  der  erste  Kaiser  der  Dynastie,  am 
Altar  von  Himmel  und  Erde  seinem  höchsten  Ahnen,  dem 
Himmel,  anzeigte,  daß  er  seinen  Auftrag,  das  Reich  zu  be- 
herrschen, jetzt  ausführe,  zugleich  den  Schutz  des  hohen  Eltern- 
paares herabflehend,  bis  zum  12.  Februar  1912,  wo  der  letzte 
Kaiser,  Süan-t^ung,  der  Welt  verkündete,  daß  er  das  Erbe  seiner 
Väter  abgebe,  weil  er  im  Einklang  bleiben  wolle  mit  dem 
Worte  des  Konfuzius,  daß  'der  Tugendhafteste  und  Fähigste 
zum  Herrscher  gewählt  werden  solle' ^,  er  selbst  aber  dies  nicht 
sei:  während  dieser  ganzen  Zeit  ist  die  Kulturpolitik  der  Mandschu- 
Kaiser  bestrebt  gewesen,  den  konfuzianischen  Kirchenstaat  von 
fremden  Elementen  zu  säubern,  alle  staatlichen  Einrichtungen 
und  staatlichen  Funktionen  mit  konfuzianischem  Geiste  zu  er- 
füllen, ja  das  ganze  Denken  ihres  Volkes  in  konfuzianische 
Formen  zu  zwingen.  Es  war  K'ang-hi,  der  größte  der  Mandschu- 
Kaiser,  der  das  berühmte  'Heilige  Edikt'  erließ,  eine  religiös- 
politisch-soziale Predigt  an  das  Volk,  aus  16  Artikeln  bestehend, 
in  der  mit  ernsten  Worten  gemahnt  wird,  die  Gesetze  der  kon- 
fuzianischen Ethik  überall  zu  befolgen,  'davon  abweichende 
Ideen  von  sich  zu  weisen,  um  so  der  rechten  Lehre  allein  die 
Ehre  zu  geben'  (Art.  7).  K'ang-hi's  Verkündung  hatte  als  Vor- 
bild offenbar  ein  ähnliches  Kulturedikt,  mit  dem  sich  drei  Jahr- 
hunderte früher  der  erste  Kaiser  der  Ming-Dynastie,  Hung-wu, 
eingeführt  hatte,  aber  sie  geht  in  der  starken  Betonung  der 
ausschließlichen  Rechtmäßigkeit  des  konfuzianischen  Systems 
weit  über  jenen  Vorgänger  hinaus.  Von  K'ang-hi's  Nachfolgern 
hat  keiner  den  Standpunkt  seines  Vorfahren  verlassen,  wohl 
aber  hat  ihn  mancher  verschärft.  Kaiser  Yung-tscheng,  der  im 
Jahre  1724  seine  klassisch  gewordene  Paraphrase  zu  den 
16  Artikeln  seines  Vaters  verkündete,  gehörte  zu  den  letzteren. 
Für  ihn  waren   die  Taoisten,    Buddhisten   und   'die  Lehre   des 

^  Siehe  näheres  hierüber  unten  S.  187  Anm   1. 


Das  religiöse  Problem  in  China  169 

Westmeeres  vom  Herrn  des  Himmels',  d.  h.  die  Christen,  ^nagende 
Insekten  am  Besitztum  des  Volkes'^  (Paraphr.  zu  Art.  7).  E9 
entspracli  nur  diesen  Anschauungen;  wenn  während  der  Mandschu- 
Zeit  Buddhismus  und  Taoismus  auf  staatliche  Förderung  nicht 
zu  rechnen  hatten.  Gewaltsam  bekämpft  sind  sie  nur  in  Einzel- 
föllen,  namentlich  wo  sie  sich  zu  geheimen  Verbänden  zu- 
sammenschlössen, aber  infolge  der  Verachtung,  die  sie  von  den 
herrschenden  Klassen  des  konfuzianischen  Literatentums  er- 
fuhren, blieben  sie  auf  die  breiten  Schichten  des  Volkes  an- 
gewiesen und  verfielen  in  zunehmendem  Maße  dem  Paganismus. 
Der  Staat  als  solcher  wollte  lediglich  der  organisierte  Konfu- 
zianismus  sein. 

Nun  muß  allerdings  ein  Staat,  der  den  Anspruch  erhebt, 
eine  theokratische  Universalmonarchie  zu  sein,  bei  seinen  aus- 
wärtigen Beziehungen  sehr  rasch  zu  der  Erkenntnis  kommen, 
daß  er  sein  Dogma  nur  durchsetzen  kann  entweder  durch  dessen 
innere  Überzeugungskraft  oder  durch  überlegene  reale  Macht- 
mittel. Beide  Möglichkeiten  hat  der  mandschurische  Staat  be- 
nutzt, je  nachdem  seiner  Staatskunst  die  eine  oder  die  andere 
oder  ein  Zusammenwirken  beider  das  Gegebene  schien.  Das 
Dogma  von  der  göttlichen  Priesterstellung  des  Kaisers  hat 
unter  den  Völkern  Ost-  und  Mittelasiens  eine  starke  Werbe- 
kraft gehabt,  und  die  großen  Kaiser  des  17.  und  18.  Jahr- 
jhunderts  verfügten  auch  über  die  Macht,  ihren  universalen  An- 
sprüchen die  Geltung  zu  erzwingen.  Aber  es  liegt  im  Charakter 
des  Chinesentums  und  vor  allem  in  dem  der  chinesischen 
jStaatskunst,  einen  theoretischen  Gegensatz  in  der  Wirklichkeit 
|nie  auf  die  Spitze  zu  treiben  und  Schwierigkeiten  durch  Zu- 
geständnisse zu  begegnen.  Solche  Zugeständnisse  haben  die 
mandschurischen  Kaiser  den  religiösen  Faktoren  Innerasiens 
sowie  des  Abendlandes  wiederholt  gemacht,  den  letzteren  aller- 
jdings  nur  unter  dem  Druck  überwältigender  Kräfte.  Der  tibe- 
itische  und  mongolische  Lamaismus  hat  seitens  der  kaiserlichen 

^  Weiteres  über  den  Ausdruck  vgl.  unten  S.  181  Anm.  1. 


170  O.Franke 

Regierung  eine  wesentlicli  andere  Behandlung  erfahren  als  der 
heimische  Buddhismus.  Der  Dalai  Lama  und  die  gesamte  lama- 
istische  Hierarchie  mit  ihrem  weitgehenden  politischen  Einfluß, 
an  sich  unmögliche  Fremdkörper  im  konfuzianischen  Organis- 
mus, sind  von  den  mandschurischen  Kaisern  geduldet  und  ge- 
schützt worden,  weil  man  aus  politischen  Rücksichten  ihrer 
Dienste  bedurfte.  Aber  auch  dieses  Verhältnis  hatte  immer  die 
Anerkennung  des  kaiserlichen  Staats dogmas  zur  Voraussetzung. 
Sobald  sie  unerfüllt  blieb,  der  politische  Zweck  also  gefährdet 
war,  fiel  die  Rücksicht,  und  der  konfuzianische  Staat  setzte 
sich  mit  Gewalt  durch  —  soweit  es  ihm  möglich  war. 

Ganz  besonders  war  die  Stellung  dem  Christentum  gegen- 
über. Die  klugen  Jesuiten  im  17.  und  18.  Jahrhundert  haben  un- 
zweifelhaft durch  ihre  Gelehrsamkeit  und  ihr  würdevolles  Auf- 
treten auch  dem  Konfuzianertum  eine  gewisse  Achtung  vor  der 
*  Lehre  des  Westmeeres'  abgenötigt  und  sich  zeitweilig  der 
Gunst  des  Hofes  in  hohem  Maße  zu  erfreuen  gehabt,  ebenso 
wie  es  bei  den  ersten  Buddhisten,  den  ersten  Nestorianern  und 
vielleicht  den  ersten  Manichäern  der  Fall  war.  Die  Legende 
freilich,  daß  Kaiser  K*ang-hi  selbst  nahe  daran  gewesen  wäre, 
ein  katholischer  Christ  zu  werden,  bedarf  heute  kaum  noch  der 
Widerlegung^:  man  halte  sich  nach  allem,  was  bisher  gesagt 
ist,  den  Gedanken  vor  Augen,  daß  der  Herrscher  des  konfu- 
zianischen Weltstaates,  der  Vermittler  zwischen  Gott  und  der 
Menschheit,  den  Entschluß  faßt,  daneben  noch  ein  geistiger 
Untertan  des  Papstes  zu  werden!  Das  Schicksal  des  Christen- 
tums auf  chinesischem  Boden  hat  sich  zunächst  nicht  anders 
gestaltet  als  das  der  sonstigen  fremden  Religionen.  Die  ersten 
Vertreter,  weltgewandte,  gelehrte  Männer,  wurden  mit  freund- 
licher Neugier  aufgenommen,  mau  bewunderte  ihre  fremdartigen 
Künste,  hörte  auch  ihre  Lehren  mit  Teilnahme  an  und  behan- 


^  Vgl.  Wieger  Textes  Historiques  S.  2072:  II  ne  pensa  jamais  serieu- 
sement  ä  embrasser  le  christianisme,  affirment  les  P.  P.  Laureati  et  Bouvet, 
qui  le  connurent  hien. 


Das  religiöse  Problem  in  China  171 

delte  sie  als  seltsame,   aber   ungefährliclie  Ausländer.     Sobald 
eich  jedoch  ihre  Lehre  organisierte  und  nun,  was  sie  bei  aller 
Vorsicht   und    allen   Zugeständnissen    nicht  vermeiden  konnte, 
in  das  religiöse  und  soziale  Gewebe    des   Konfuzianismus   ein- 
griff, war  ihr  Schicksal  besiegelt.  Die  Stellung,  die  das  Christen- 
tum der  Ahnenverehrung  und  somit  auch  dem  Grundgesetz  der 
Pietät  gegenüber  einnahm  und  seinem  Wesen  nach  einnehmen 
mußte,   machte   es   in   dem   konfuzianischen  Kirchenstaate  un- 
möglich. Im  Jahre  1717  erließ  K^ang-hi  auf  die  Vorstellungen  von 
mehreren  Pro  vinzialbehörden  und  den  hauptstädtischen  Ministerien 
hin    ein    Edikt,    in    dem    die    Errichtung    christlicher   Kirchen 
fernerhin  verboten  wurde.  Die  Begründung  dieser  Vorstellungen 
war  bezeichnend  für  die  chinesische  Auffassung  von  Wesen  und 
Zweck  der  fremden  Religion.     Man    wies   darauf  hin,  daß  die 
Europäer  das  Christentum  zunächst  nach  Manila  und  von  dort 
nach   Japan    gebracht   hätten.     Mit    großem    Eifer   sei  es  hier 
verbreitet  worden,   damit  *die  Herzen  des  Volkes    dadurch  ge- 
wandelt' und  gefügig  für  den  fremden  Einfluß  gemacht  würden. 
Als  die  Fremden  glaubten,  dieses  nächste  Ziel  in  genügendem 
I  Maße  erreicht  zu  haben,  seien  sie  zum  Angriff  mit  Waffengewalt 
!  übergegangen,    um    so    das    Land    ihrer  Herrschaft   zu    unter- 
j  werfen.     Dieser  Angriff  sei   zwar   diesmal  mißlungen,   er  solle 
I  aber  bald  mit  besserem  Erfolge  erneuert  werden.^   Die  fremde 
\  *Lehre'  galt   also   als    der    erste  Vorbote   der  fremden  und  für 
I  den   Konfuzianer   unrechtmäßigen    Staatsgewalt.     Ob   K^ang-hi 
sich  diesen  Zusammenhang  völlig  zu  eigen  gemacht  hat,  wird 
j  schwer  zu  entscheiden  sein,  jedenfalls  war  er  bei  allem  persön- 
;  liehen  Wohlwollen    für    die    Missionare    nicht    imstande,    dem 
I  Drucke  der  konfuzianischen  Hierarchie  und  ihres  Dogmas,  wie 
jer   es    selbst   in    seinem   ^Heiligen  Edikt'  verkündet,  dauernd 
I  Widerstand  zu  leisten. 

Unter  K^ang-hi's  Nachfolgern  hat  sich  die  Abneigung,  wenn 
nicht  gegen  das  Christentum  an  sich,  so  gegen  seine  Ausbrei- 
^  Wieger  a.  a.  0.  S.  2069  ff. 


172  ^-  Franke 

tung  in  China  mit  Rücksiclit  auf  seine  Unvereinbarkeit  mit 
dem  konfuzianisclien  System  erheblicli  verscliärft,  und  die 
Staatsgewalt  hat  dieser  Abneigung  mit  den  für  sie  üblichen 
Mitteln  gewaltsamer  Unterdrückung  Ausdruck  gegeben.  Hätte 
sich  der  Gang  der  chinesischen  Geschichte  weiterhin  in  der- 
selben Bahn  und  denselben  Formen  vollzogen  wie  seither,  so 
würde  das  Christentum  in  der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts 
in  China  vernichtet  oder  in  ähnliche  Daseinsformen  hinein- 
gezwungen worden  sein  wie  Buddhismus  und  Taoismus.  Aber 
im  Jahre  1834  begann  der  neue  große  Abschnitt  im  Leben 
des  chinesischen  Staates:  die  erste  europäische  Großmacht  trat 
der  universalen  Zäsaropapie  mit  dem  Anspruch  auf  Gleich- 
berechtigung gegenüber.  Die  englische  Regierung  hatte  sich 
an  die  Stelle  der  „Ostindischen  Kompagnie'^  gesetzt  und  ver- 
langte völkerrechtliche  Beziehungen  zu  China.  Eine  derartige 
Zumutung  an  den  konfuzianischen  Weltstaat,  die  bald  von  an- 
deren abendländischen  Mächten  wiederholt  wurde,  mußte  mit 
Notwendigkeit  zu  gewaltsamen  Zusammenstößen  führen:  die 
verschiedenen  Kriege  und  —  was  weit  wichtiger  war  ^-  die 
ersten  Staatsverträge  auf  der  Grundlage  völkerrechtlicher  Gleich- 
ordnung waren  die  Folge.  Das  konfuzianische  System  mit  der 
Einheit  des  Menschengeschlechts  im  Weltkirchenstaate  und  dem 
Universalherrscher  im  Mittelpunkt,  zwar  von  jeher  nur  eine 
Theorie,  aber  eine  Theorie  von  gewaltiger  praktischer  Wirkung, 
hatte  den  ersten  verhängnisvollen  Stoß  erhalten  Durch  den 
englischen  Vertrag  von  1858  wurde  die  freie  Ausübung  der 
christlichen  Religion  in  China  —  erzwungenermaßen  —  gewähr- 
leistet. Diese  Bestimmung,  deren  Bedeutung  in  jener  Zeit  vom 
Abendlande  kaum  voll  erkannt  worden  ist,  hat  dem  Christen- 
tum in  China  eine  völlig  andere  Stellung  gegeben,  als  sie 
jemals  eine  Religion  vordem  gehabt  hat.  Unzweifelhaft  hat 
sie  zu  seiner  Ausbreitung  wesentlich  beigetragen,  aber  ebenso 
unzweifelhaft  ist  sie  die  Hauptquelle  der  Irrtümer,  des  Miß- 
trauens, der  Verachtung  und  des  Hasses  geworden,  die  während 


Das  religiöse  Problem  in  China  173 

der  folgenden  Jahrzehnte  die  Beziehungen  Chinas  zum  Ahend- 
lande  vergiftet  haben.  Sie  hat  dem  christlichen  Missionar  aller- 
dings eine  größere  Sicherheit  für  seine  Person  (wenn  auch 
durchaus  keine  unbedingte)  gegeben,  aber  sie  hat  ihn  dafür 
auf  lange  hinaus  seines  Einflusses  auf  die  gebildeten  Klassen 
beraubt  und  in  die  untersten,  einflußlosen  Schichten  des  Volkes 
verwiesen;  sie  hat  ihn  zum  Gegenstand  des  Widerwillens  und 
der  Verachtung  bei  allen  denen  gemacht,  die  er,  wie  einst  die 
Jesuiten,  durch  überlegenes  Wissen  und  kluges  Auftreten  zu- 
erst hätte  gewinnen  müssen;  sie  ist  auf  diese  Weise  zu  einem 
schweren  Hindernis  für  die  aufkeimende  Erkenntnis  geworden 
und  hat  dem  Christentum  einen  Makel  angeheftet,  unter  dem 
es  heute  noch  leidet.  Die  Ursachen  hierfür  sind  nach  dem 
vorhin  Gesagten  nicht  schwer  zu  erkennen.  Seit  langen  Zeit- 
räumen, jedenfalls  seit  der  orthodoxen  Dogmatisierung  des 
Konfuzianismus  vom  13.  Jahrhundert  ab,  waren  für  das  chine- 
sische Denken  die  Begriffe  Religion  und  Staatsorganisation  zu 
einer  untrennbaren  Einheit  zusammengewachsen,  und  zwar  je 
später,  um  so  fester.  Der  vorhin  mitgeteilte  Gedankengang 
i  der  Regierungsbehörden,  der  später  in  der  politischen  Literatur 
unendlich  oft  wiederholt  worden  ist,  zeigt  dies  auf  das  deut- 
lichste. Nun  trat  hier  die  fremde  ^  Lehre'  nicht  bloß  in  Be- 
gleitung mit  anderen,  und  zwar  gewalttätigen,  unrechtmäßigen 
Äußerungen  einer  fremden  Staatsgewalt  auf,  sondern  sie  wurde 
von  dieser  sogar  dem  konfuzianischen  Kirchenstaate  aufge- 
zwungen. Nichts  hätte  die  Chinesen  in  ihrer  Auffassung  mehr 
;  bestärken  können  als  dieser  Vorgang:  das  Christentum  hatte 
\  die  Aufgabe,  das  Volk  an  seinen  sittlichen  Normen  irre  zu 
i  machen,  das  konfuzianische  System  und  somit  den  konfuziani- 
schen Staat  zu  zerstören,  die  Herrschaft  einer  barbarischen 
Macht  aufzurichten  und,  zeitweilig  wenigstens,  den  Umsturz 
der  göttlichen  Weltordnung  herbeizuführen.  Man  muß  sich 
'diesen  Gedankengang  vor  Augen  halten,  wenn  man  die  dem 
abendländischen   Denken   zunächst   sinnlos  erscheinende  chine- 


174  0.  Franke 

sisclie  Auslandspolitik  bis  in  das  letzte  Jahrzehnt  des  vorigen 
Jahrhunderts  hinein  gerecht  beurteilen  will. 

Langsam  nur  und  bruchstückweise  kam  dem  Konfuzianer- 
tum  im  Laufe  der  Zeit  die  Erkenntnis  von  der  Eigenart  des 
abendländischen  Kulturlebens.  Und  diese  Erkenntnis  blieb  zu- 
nächst, den  rein  synthetischen  Denkmethoden  des  chinesischen 
Geistes  entsprechend,  an  äußeren  Einzelerscheinungen  haften, 
auf  deduktivem  Wege  eine  Einsicht  in  das  System  der  treiben- 
den Kräfte  zu  gewinnen,  blieb  dem  Chinesentum  noch  lange 
versagt  und  ist  ihm  auch  heute  erst  zu  einem  kleinen  Teile 
gelungen.  So  kam  ihm  auch  das  Verständnis  für  die  umfas- 
sendsten Kulturformen  des  Abendlandes,  denen  es  sich  doch 
am  unmittelbarsten  gegenübergestellt  sah,  für  Staat  und  Reli- 
gion, nur  zögernd,  unvollkommen,  von  Irrtümern  getrübt.  Die 
Anschauung,  daß  Staat  mit  Kirche,  Staatslehre  mit  Religion 
eins  sei,  in  ihrem  innersten  Wesen  uraltes  Erbgut  der  asiati- 
schen Kulturmenschheit  darstellend,  hatte  ihre  Herrschaft  zu 
lange  und  zu  fest  eingegraben,  als  daß  es  möglich  gewesen 
wäre,  sich  rasch  und  völlig  davon  freizumachen.  Der  erste 
Schritt  dazu  erfolgte  durch  die  konfuzianischen  Reformatoren 
der  K'ang  You  Wei'schen  Schule  am  Ende  des  vorigen  Jahr- 
hunderts. Sie  waren  es,  die  zuerst  den  Begriff  des  geschlossenen 
Nationalstaates  gegenüber  dem  unbegrenzten  Universalstaate 
erkannten  und  in  der  Öffentlichkeit  klarstellten,  allerdings,  wie 
leicht  verständlich,  unter  dem  leidenschaftlichen  Widerspruche 
der  Orthodoxie.  Man  hätte  meinen  sollen,  daß  es  von  hier 
nicht  mehr  allzu  weit  gewesen  wäre  bis  zur  Herausschälung 
des  Begriffes  Religion  aus  der  Verschmelzung  mit  Staat  und 
Staatsrecht,  oder  konkret:  bis  zur  Umwandlung  des  Kirchen- 
staates in  einen  Staat  mit  Kirche.  Aber  die  Entfernung  hat 
sich  für  das  chinesische  Denken  doch  als  zu  groß  erwiesen, 
als  so  groß,  daß  nur  einzelne  Persönlichkeiten  sie  bis  heute 
haben  zurücklegen  können.  Eine  Zwischenstufe  wurde  aller- 
dings noch  während  der  letzten  Jahre  der  beseitigten  Dynastie 


Das  religiöse  Problem  in  China  175 

erreicht.  Die  Erkenntnis,  daß  der  Universalstaat  ein  Gebilde 
sei,  das  von  den  harten  geschichtlichen  Tatsachen  zusammen- 
gedrückt würde,  und  daß  die  geschlossenen  nationalen  gleich- 
geordneten Staaten  ihre  Berechtigung  in  der  göttlichen  Welt- 
ordnung eben  durch  ihr  kraftvolles  Dasein  bewiesen,  mußte 
mit  Notwendigkeit  die  andere  Erkenntnis  nach  sich  ziehen, 
daß  die  Lehre  des  Konfuzius  entweder  einen  Fehler  enthalte 
oder  falsch  verstanden  sei.  Die  Reform konfuzianer  gaben  das 
letztere  ausdrücklich  zu,  die  Orthodoxie  gestand  es  nicht  ein, 
handelte  aber  nach  der  verschwiegenen  Erkenntnis. 

Wie  China  nicht  der  Weltstaat  oder  die  Weltkirche  sei, 
wofür  man  es  seither  angesehen,  so  lehrte  K'ang  You  Wei, 
sondern  nur  ein  Staat  unter  anderen,  ebenso  sei  auch  das  kon- 
fuzianische System  nicht  oder  noch  nicht  die  Weltreligion, 
sondern  nur  eine  Religion  unter  anderen.  Allerdings,  so  beeilte 
man  sich  hinzuzufügen,  sei  der  Konfuzianismus  die  höchste 
Ausdrucksform  der  Religion  an  sich.  In  seinem  sittlichen  Gesetz 
den  Systemen  des  Christentums  und  des  Buddbismus  verwandt, 
setze  er  sich  nicht,  'wie  diese  beiden,  in  einen  Gegensatz  zu 
den  Erkenntnismöglichkeiten,  er  wende  sich  an  die  natürliche 
Vernunft  und  bedürfe  keiner  transzendenten  Glaubenstheorien. 
I  Ihm  sei  es  daher  beschieden,  einst  die  Menschheit  zu  durch- 
!  dringen,  sie  ihrer  Einheit  bewußt  zu  machen  und  so  die  Reli- 
;  gion  der  Welt  zu  werden  oder  wenigstens  als  solche  zu  wirken. 
iDas  sei  der  eigentliche  üniversalismus  der  konfuzianischen 
I Lehre,  den  man  in  China  seit  zwei  Jahrtausenden  viel  zu  ein- 
jseitig  politisch  aufgefaßt  habe.^  Man  sieht,  wie  völlig  die 
.chinesische  Erkenntnis  infolge  der  seit  sieben  Jahrhunderten 
fest  geschlossenen  Denkgewohnheiten  im  Rationalismus  stecken 


'■  Des  Chinesiscben  nicht  kundige  Leser  finden  diese  Gedankengänge 
dargelegt  in  dem  englisch  geschriebenen  Werke  The  Economic  Principles 
'f  Confucius  and  His  School  von  Chen  Huan-Chang,  einem  eifrigen  An- 
iänger  der  K'ang  Yoa  Wei'schen  Schule.  Vgl.  auch  mein  Buch  Ost- 
\isiatische  Neubildungen  S.  41  u.  51  f 


176  0.  Franke 

geblieben  und  für  die  metapliysiscben  Bedürfnisse  des  mensch- 
lichen Empfindens  blind  geworden  ist. 

Wie  hoch  zum  wenigsten  der  ethische,  zugleich  damit  aber 
auch  der  religiöse  Wert  des  ältesten,  d.  h.  noch  nicht  als  poli- 
tisches System  gefaßten  Konfuzianismus  im  AbendJande  ge- 
wertet wurde,  als  man  ihn  zuerst  kennen  lernte,  das  zeigt  seine 
Beurteilung  durch  die  Jesuiten,  die  seine  Kenntnis  dem  Westen 
vermittelten.  Die  Patres  Intorcetta,  Herdtrich,  Rouge- 
mont  und  Couplet  bemühen  sich  in  ihrem  1687  erschienenen 
Buche  Confucius  Sinarum  Fhilosophus  sive  Scientia  Sinensis 
darzutun,  daß  die  ältesten  Chinesen  eine  ihnen  unmittelbar 
offenbarte  *  Kenntnis  des  wahrhaftigen  Gottes'  besessen  haben 
müßten  und  daß  diese  von  Konfuzius  den  folgenden  Geschlech- 
tern übermittelt  sei.^  Leibniz  sah  diese  Nachrichten  der 
Jesuiten  kritischer  an,  geriet  aber  auch  in  das  höchste  Er- 
staunen über  die  neu  entdeckte  Kirchenlehre,  deren  Wesen  er 
viel  richtiger  erkannte  als  seine  Gewährsmänner.  Nachdem  er 
einen  Vergleich  gezogen  hat  zwischen  dem  Stande  der  'prak- 
tischen Philosophie'  im  Abendlande  und  in  China,  kommt  er  )j 
zu  dem  Urteil:  Gerte  talis  nostrarum  rerum  mihi  videtur  esse  ' 
conditio j  gliscentihus  in  immensum  corrupteliSj  ut  propemodimi 
necessarium  videatur  Missionarios  Sinensium  ad  nos  mitti,  qui 
Theologiae  naturalis  usum  praxinque  nos  doceant,  quemadmodum 
nos  Ulis  mittimus  qui  Theölogiam  eos  doceant  revelatam.  Itaque 
credo,  si  quis  sapiens  non  formae  dearum,  sed  excellentiae  popu- 
lorum  judex  lectus  esset,  pomum  aureum  Sinensihus  daturum  esse, 
nisi  una  maxime  sed  supra-humana  re  eos  vinceremus,  divino 
scilicet  munere  Christianae  religionis} 

Die  konfuzianische  Orthodoxie  und  mit  ihr  die  Regierung 
machten  sich  diese  Auffassung  der  Reformatoren  nicht  zu  eigen 
oder  stellten  sich  wenigstens  so,  und  Tschang  Tschi  Tung, 


^  Vgl.  Proemialis  Beclaratio  S.  82fiF. 

*  Novissima  Sinica  historiam  nostri  temporis  illustratura,    Vorwort 
Benevolo  Lectori. 


Das  religiöse  Problem  in  China  177 

der  als  der  Sprecher  von  beiden  gelten  konnte,  erklärte  die 
Behauptung  einer  Verwandtschaft  zwischen  Konfuzianismus  und 
Christi  Lehre  für  geeignet,  'Verwirrung  und  Zweifel,  Zügel- 
losigkeit  und  Oberflächlichkeit  hervorzurufen,  so  daß  man 
Schaden  nähme  an  dem,  was  man  besitzt'.*  Aber  wie  mit  sehr 
vielen  von  K'ang  You  Wei's  neuen  Ideen,  so  ging  es  auch  mit 
dieser:  man  bekämpfte  sie  und  handelte  dann  stillschweigend 
danach. 

Die  starke  Stellung,  die  das  Christentum,  weit  weniger 
durch  seine  religiöse  Werbekraft  als  durch  seine  Verbindung 
mit  den  Machtmitteln  der  fremden  Staaten,  innerhalb  des  kon- 
fuzianischen Kirchenstaates  einnahm,  und  gegen  die  das  schwache 
China  vp^ehrlos  war,  dann  aber  auch  die  in  Japan  entstandene 
und  von  ihm  geförderte  Bewegung  zur  Neubildung  des  Bud- 
dhismus, der,  mit  konfuzianischen  und  christlichen  Momenten 
verquickt,  die  moderne  Religion  Ostasiens  werden  sollte,  diese 
herandrängenden  fremden  Kultsysteme  schienen  der  kaiserlichen 
Regierung  eine  ernste  Gefahr  für  den  staatlichen  Organismus 
zu  werden.  Sie  empfand  die  Notwendigkeit,  hiergegen  eine 
Schutzmauer  zu  errichten,  wie  sie  den  veränderten  Zeitverhält- 
nissen angemessen  war,  und  zu  diesem  Zwecke  mußte  der  Kon- 
fuzianismus zu  einer  wirklichen  'Religion'  im  abendländischen 
Sinne  gemacht  werden,  d.  h.  der  Kirchenstaat  sollte  bleiben, 
aber  in  individualer  Form,  ohne  Anspruch  auf  Wirksamkeit 
außerhalb  seiner  nationalen  Grenzen,  also  eine  Zwischenstufe 
zwischen  universalem  Kirchenstaat  und  konfessionslosem  Rechts- 
!  Staat.  Was  dem  Konfuzianismus  an  der  Bewertung  als  wirk- 
liche Religion  fehlte,  hatte  man  aus  dem  Verkehr  mit  dem 
Abendlande  gelernt:  es  war  das  metaphysische  Element,  die 
Verbindung  mit  dem  Überirdischen,  das,  was  Leibniz  die  Theo- 
logia  revelata  nannte,  also  eben  das,  was  Konfuzius  selbst  auch 
nur  zu  erörtern  sich  geweigert  hatte.  Dieser  Mangel  ließ  sich 
durch  bloße  Verwaltungsmaßnahmen,  wie  starke  Betonung  der 

^  K'üan  hüe  p'ien,   Wai  p'ien  fol.  47  r. 

Archiv  f.  Keligionswisseuscliaft  XVII  12 


178  0.  Franke 

orthodoxen  konfuzianisclien  Ethik  in  den  Schulen,  Zwang  zur 
Innehaltung  der  konfuzianischen  Riten,  Feste  und  Ehrenbezeu- 
gungen, Abdrängung  der  Buddhisten  und  Christen  von  allen 
staatlichen  Einrichtungen  u.  ä.,  nicht  ausgleichen,  sondern  hierzu 
waren  andere  Mittel  nötig.  Die  Art,  wie  die  Regierung  die 
innere  Umwandlung  vollzog,  läßt  das  christliche  Vorbild  deut- 
lich erkennen.  Am  30.  Dezember  1906  erschien  ein  kaiserliches 
Edikt,  in  dem  bestimmt  wurde,  daß  Konfuzius,  da  seine  sitt- 
liche Größe  die  Menschheit  aller  Zeiten  überrage  und  'Himmel 
und  Erde  gleichkomme',  in  Zukunft  auch  *des  gleichen  Opfer- 
rituals teilhaftig  werden  sollte  wie  Himmel  und  Erde,  wenn 
ihnen  der  Kaiser  opfere'.  Wenn  man  sich  das  Verhältnis 
zwischen  dem  hohen  Elternpaare,  Himmel  und  Erde,  und  dem 
Himmelssohne,  dem  Kaiser,  vergegenwärtigt,  wie  es  oben  (S.  165£) 
dargelegt  war,  so  wird  sofort  klar,  daß  ein  Hineinziehen  der 
Person  des  Konfuzius  hier  völlig  systemwidrig  ist  und  nur  aus 
Zweckmäßigkeitsrücksichten  unter  fremdem  Einflüsse  erfolgt 
sein  kann.  Die  Erklärung  ist  nach  dem  Gesagten  nicht  schwer. 
Wie  man  im  christlichen  Dogma  Jesus,  den  Sohn  Gottes,  Gott 
selbst  gleichgestellt  hat  und  ihn  wie  Gott  selbst  verehrt,  wie 
man  ihn  dann  als  Religionsgründer  zum  Mittelpunkt  der  durch 
ihn  'offenbarten'  Religion  selbst  gemacht  hat  und  in  ihm  die 
körperliche  Vermittlung  zwischen  Irdischem  und  Himmlischem 
sieht,  ebenso  machte  man  Konfuzius  zum  Gott,  zum  Ausdruck 
der  'Offenbarung'^,  zum  Mittelpunkt  der  Religion.  Wenn  hier- 

^  Schon  im  Jahre  1897  hatte  K'ang  You  We'i  in  seinen  Unter- 
suchungen zum  Wesen  des  Konfuzianismus,  anknüpfend  an  ein  W(  rt 
des  'Yang  tse':  'Der  Weise  ist  des  Himmels  Mund',  erklärt:  'Die  von 
Konfuzius  aufgestellten  Gesetze  und  Lehren  sind  alle  aus  den  Gedanken 
des  Himmels  entsprungen.  Der  Himmel  kann  nicht  mit  Worten  reden, 
daher  befahl  er  Konfuzius,  statt  seiner  Kunde  zu  geben.  Deshalb  sind 
Konfazius'  Worte  nicht  Konfuzius'  Worte,  sondern  des  Himmels  Worte, 
Konfuzius"  Gesetze  und  Lehren  nicht  des  Konfuzius,  sondern  des  Himmele 
Gesetze  und  Lehren."  Tung  schi  hüo  Kap,  5  fol.  2v°.  Wen  K'ang  mit 
dem  Yang  tse  meint,  weiß  ich  nicht.  Bei  Yang  Tschu  (4.  Jahrh.  v.  Chr. 
findet  sich  der  angeführte  Satz  nicht,  ebensowenig  bei  dem  ähnlich  ge 


Das  religiöse  Problem  in  China  179 

über  noch  ein  Zweifel  möglich  wäre,  so  würde  er  durch  die 
Kommentare  der  chinesischen  Zeitungen  beseitigt  worden  sein. 
Die  Thmg  wen  hu  pao  vom  14.  April  1907  schloß  eine  sehr 
ausführliche  Abhandlung,  die  das  Edikt  auch  geschichtlich  be- 
leuchtete, mit  den  Worten:  'Diese  Anwendung  des  höchsten 
Opferkultus  auf  Konfuzius  bedeutet  eine  Ehrung  des  Meisters, 
ein  Bekenntnis  zu  seiner  Lehre,  sie  ist  weit  verschieden  von 
dem  üblichen  Aberglauben  mit  Göttern  und  Geistern,  von  den 
Kultushandlungen,  bei  denen  man  um  Glück  und  Beistand 
betet,  sie  ist  etwas,  was  man  in  allen  zivilisierten  Staaten  be- 
obachtet, sie  entspricht  der  Ehrung  und  dem  Bekenntnis  von 
Jesus  Christus'. 

Somit  war  die  'Religion'  des  Konfuzius  geschaffen,  und  sie 
wurde  bewußt  als  die  Religion  Chinas  der  Religion  Jesu  Christi 
als  der  Religion  anderer  Staaten  gegenübergestellt.  Aber  Klar- 
heit darüber,  daß  das  Verhältnis  dieser  erneuerten  alten  Reli- 
gion zum  chinesischen  Staate  nicht  dasselbe  war  wie  das  des 
Christentums  zu  den  Staaten  des  Abendlandes,  bestand  noch 
durchaus  nicht.  Man'  wußte  noch  immer  nicht,  daß  man  sich 
in  einem  Kirchenstaate  befand,  während  die  abendländischen 
Staaten,  von  Rußland  abgesehen,  Rechtsstaaten  sind,  d.h.  Staaten, 
in  denen  alle  Religionen  gleichberechtigt  sind,  deren  'inneres 
Wesen  eben  in  der  Trennung  von  jeder  spezifisch  kirchlichen 
oder  allgemein  religiösen  Ordnung  besteht'*,  eine  Auffassung, 
die  allerdings  auch  im  Abendlande  von  den  Vertretern  des 
ultramontanen   Kultursystems,    das    dem   konfuzianischen  üni- 

ischriebenen  Yang  Hiung  (um    Christi   Geburt),  und  zwar  weder  im  Fa 

'  yen  noch  im  T'ai  Tiüan  hing,  wohl  aber  liest  man  im  Ts'ien  fu  lun  von 
Wang  Fu,  einem  Werke  über  die  konfuzianische  Staatsmoral  aus  dem 
2.  Jahrh.  n.  Chr.,  Kap.  2  fol.  3v"  folgendes:  'Der  Heilige  ist  des  Himmels 
Mund,  der  Weise  ist  des  Heiligen  Erklärer.  Daher  enthalten  die  Worte 
des  Heiligen  den  Willen  des  Himmels ,   und   was  der  Weise  spricht,  ist 

Ider  Gedanke  des  Heiligen/     K'ang  You  Wei  dürfte  sich  in  seinem  Ge- 

idächtnis  geirrt  haben. 

!  ^  Wilhelm  Märten s  Die  Beziehungen  der  Überordnung,  Nebenordnung 
und  Unterordnung  zicischen  Kirche  und  Staat  S  350. 

12* 


180  0-  Franke 

versalismus  wesensverwandt  ist;  grundsätzlich  bekämpft  wird.^ 
Zuweilen  scheint  es  zwar,  als  sei  von  den  Reformatoren  am 
Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  der  Unterschied  klar  erkannt 
worden,  wenn  man  z.  B.  in  einer  ihrer  politischen  Abhandlungen 
den  Satz  liest:  ^In  China  regiert  man  das  Reich  durch  die 
Religion,  in  Europa  durch  das  Recht' ^,  aber  gerade  die  Refor- 
matoren waren  es  auch,  die  das  konfuzianische  System  im 
Staate  am  entschiedensten  verfochten.  Und  wie  völlig  verworren 
gerade  im  konfuzianischen  Literatentum  noch  in  den  letzten 
Jahren  der  Dynastie  die  Anschauungen  über  Staat  und  Kirche 
waren,  das  zeigt  ein  Aufsatz  über  die  Trennung  beider  in 
Frankreich,  der  in  der  angesehenen  Zeitung  Sin  wen  pao  vom 
26.  Juli  1906  veröffentlicht  wurde.  ^Keinen  Staat  gibt  es  auf 
der  Erde',  so  führt  der  Verfasser  aus,  Mer  nicht  eine  Regie-  jj 
rung,  und  keinen,  der  nicht  eine  Religion  hätte.  Die  Regie- 
rung sorgt  um  das  Verhalten  der  Bürger  und  weist  sie  an, 
nichts  Unrechtes  zu  tun.  Die  Religion  sorgt  um  den  geistigen 
Zustand  der  Bürger  und  hält  sie  dazu  an,  daß  sie  es  nicht 
über  sich  gewinnen  sollen,  etwas  Unrechtes  zu  tun.  Wenn  also 
die  Regierung  die  Lücken  in  der  Wirksamkeit  der  Religion 
ausfüllt,  so  hilft  die  Religion  den  Mängeln  der  Regierung  ab. 
Beide  ergänzen  somit  einander  und  können  nun  und  nimmer  von- 
einander getrennt  werden.'  Hier  ist  also  die  Religion  ein  we- 
sentlicher Teil  der  Staatsgewalt,  der  so  wenig  von  ihr  losgelöst 
werden  kann  wie  die  Gesetzgebung.  Unzulässig  erscheint  dem 
Verfasser  natürlich  bei  seinem  Standpunkte  die  Organisation 
einer  besonderen  Kirche  innerhalb  dieses  Staates,  wie  dem 
Konfuzianer  die  Organisation  der  buddhistischen  und  der  tao- 
istischen  Kirche  innerhalb  des  chinesischen  Staates  stets  als 
ungesetzlich  erschienen  und  von  ihm  bekämpft  worden  ist.   Die 


*  Vgl.   L.  K.  Goetz  Der  Ultramontanismus  als  Weltanschauung  auf 
Grund  des  Syllahus  (1905)   S.  175  ff.     Katholische  Weltkirche   und  kon- j! 
fuziauischer  Universalstaat  gehen  beide  von  gleichen  Voraussetzungen  aus. 

'  Huang  tsch'ao  hing  seid  wen  sin  pien  Kap.  Ib  fol.  2Zx^. 


Das  religiöse  Problem  in  China  181 

von  diesen  Kirchen  vertretenen  Religionen  sind  für  ihn  Aber- 
glauben, der  sich  nur  deshalb  so  lange  zu  halten  vermag,  weil 
die  Bildung  des  Volkes  durch  den  Kirchenstaat  zu  langsam 
fortschreitet.  So  hält  der  Verfasser  auch  natürlich  die  katho- 
lische Kirche  im  französischen  Staate  für  etwas  an  sich  Un- 
zulässiges, aber  für  etwas,  das  von  selbst  verschwinden  muß 
und  wird.  'Die  katholischen  Priester',  meint  er,  'sind  für  die 
Staaten  Europas  nagende  Insekten,  ebenso  wie  für  China  die 
buddhistischen  Priester  nagende  Insekten  sind.  Eine  Beseitigung 
des  Einflusses  der  katholischen  Priester  ist  also  dasselbe,  wie 
wenn  in  China  unter  einem  an  Buddhas  Lehre  nicht  glauben- 
den Herrscher  plötzlich  eine  Austreibung  der  buddhistischen 
Priester  erfolgte.'^  'Aber',  so  heißt  es  schließlich,  'bei  allge- 
meiner Aufklärung  des  Volkes  und  fortschreitender  Bildung 
werden  die  abergläubischen  Vorstellungen  von  selbst  ver- 
schwinden. Der  natürliche  Lauf  der  Entwicklung  wird  dies 
mit  sich  bringen,  durch  irgendwelchen  künstlichen  Zwang  kann 
man  nichts  erreichen.'  Hier  tritt  uns  also  wieder  die  völlige 
Verständnislosigkeit  für  die  Begriffe  Religion,  Kirche  und  Staat 
entgegen,  die  dem  orthodoxen  Konfuzianertum  namentlich  seit 
der  Dogmatisierung  im  12.  und  13.  Jahrhundert  eigen  gewesen 
ist.  Wenn  man  in  diesem  Lichte  das  vorhin  besprochene  Edikt 
des  gleichen  Jahres  (1906)  betrachtet,  so  wird  man  in  der  Über- 
zeugung bestärkt,  daß  die  Kultuspolitik  der  Regierung  weit 
mehr  durch  Rücksichten  auf  die  politische  Zweckmäßigkeit 
bestimmt  worden  ist  als  durch  religiöse  Überzeugung. 

Welcher   Art  nun    aber    auch    die    treibende   Veranlassung 
gewesen   sein   mag,    es  kann  kaum  einem  Zweifel  unterliegen, 


*  Die  chinesisclie  Geschichte  kennt  mehrere  solcher  Austreibungen 
der  Buddhisten,  die  schlimmste  fand  im  Jahre  845  unter  dem  Kaiser 
Wu  Tsung  von  der  T'ang-Dynastie  statt.  Der  Ausdruck  'nagende  In- 
sekten' für  Priester  entstammt  dem  kaiserlichen  Edikt  von  845,  das  die 
Austreibung  anordnete.  Siehe  den  Text  bei  Havret  La  Stele  Chretienne 
de  Si-ngan-fou  II  379.  Von  da  hat  er  seinen  Weg  auch  in  Yung-tscheng's 
Paraphrase  zum  'Heiligen  Edikt'  gefunden.     Siehe  oben  S.  168 f. 


182  ^-  Franke 

daß  China,  wenn  die  mandscliurische  Dynastie  ihr  Reformwerk 
hätte  fortsetzen  können,  für  absehbare  Zeit  ein  Staat  mit  streng- 
theokratischem  oder  hierokratischem^  Charakter  geblieben,  und  der 
Konfuzianismus  mit  seinen  politischen  Dogmen  mehr  und  mehr  zu 
einer  Religion  in  unserem  Sinne  ausgebaut  worden  wäre.  Das 
Vorbild  hierfür  war  in  dem  heutigen  Japan  gegeben.  Auch  Japan 
ist  trotz  seiner  modernen  Verfassung  in  weit  höherem  Maße  eine 
Hierokratie  konfuzianischer  Herkunft,  als  im  Abendlande  ange- 
nommen wird.  Man  braucht  zum  Beweise  dessen  nur  einen 
Blick  auf  die  japanische  Verfassungsurkunde  von  1889  zu 
werfen.  Gleich  im  Eingange  heißt  es:  *Japan  wird  seit  undenk- 
lichen Zeiten  in  ununterbrochener  Erbfolge  von  dem  vom  Himmel 
stammenden  Kaiser  regiert.'  Und  in  der  Proklamation,  mit  der 
die  Verfassung  verkündigt  wird,  vollzieht  der  Kaiser  diese  Ver- 
kündigung ^ kraft  der  Würdigkeit  und  göttlichen  Macht,  die 
Wir  von  Unseren  Kaiserlichen  Vorfahren  ererbt  haben'.-  Wir 
haben  also  auch  hier  durchaus  den  chinesischen  ^Himmelssohn' 
und  Stellvertreter  Gottes,  allerdings  im  geschlossenen  Staate. 
China  würde  vermutlich  im  Staatskultus  noch  das  Priestertum 
des  Kaisers  stärker  betont  haben  als  Ausdruck  seines  im  Ahnen- 
dienst ruhenden  Verhältnisses  zu  Gott. 

Der  Sturz  der  Dynastie  im  Jahre  1912  und  die  weitere 
politische  Entwicklung  in  China  haben  nun  aber  der  religiösen 
Frage  in  einem  einzigen  Augenblicke  ein  gänzlich  anderes  Aus- 
sehen gegeben.  Der  Mittelpunkt  des  konfuzianischen  Systems 
in  religiösem  Sinne  war,  wie  oben  dargelegt,  der  Kaiser  als 
Mittler  zwischen  Gott  und  der  Menschheit.  Diese  Stellung  haftete 

*  Martens  a.  a.  0.  S.  7  will  für  ,,theokrati8ch"  lieber  „hierokratiscli'- 
sagen,  weil  es  richtiger  sei,  ,,den  Ausdruck  Theokratie  auf  die  eigen- 
tümliche Regierungsform  zu  beschränken,  welche  im  alten  Bunde  für  das 
Volk  Israel  galt".  Auch  diese  Begründung  scheint  mir  nicht  stichhaltig, 
indessen  paßt  der  Ausdruck  „hierokratisch"  vielleicht  noch  besser  anf 
die  chinesische  Staatsform  als  „theokratisch". 

'  Paul  Brunn  Über  die  staatsrechtliche  Stellung  des  japanischen  Kaiser 
Zeitschrift  „Ostasien",  X.  Jahrgang,  S.  421  u.  464. 


Das  religiöse  Problem  in  China  183 

nicht  an  der  einzelnen  Persönlichkeit,  auch  nicht  an  der  ein- 
zelnen Dynastie,  sondern  an  der  monarchischen  Idee.  Die  Dy- 
nastien als  Träger  des  göttlichen  Auftrags  konnten  wechseln, 
aber  die  Idee  dieses  Auftrags  war  unwandelbar.  Mit  der  Er- 
richtung einer  Republik  hatte  man  die  Trägerschaft  nicht  ver- 
wandelt, sondern  beseitigt,  das  konfuzianische  System  war  sei- 
nes leitenden  Gedankens  beraubt,  der  Religion  fehlte  das  Mittel- 
stück. Man  sollte  meinen,  daß  den  Gründern  der  neuen  Staats- 
form diese  Gedanken  mit  ihrer  ganzen  Folgenschwere  hätten 
zuerst  kommen  müssen,  vielleicht  ist  es  auch  hier  und  dort  der 
Fall  gewesen,  aber  vergeblich  späht  man  nach  einem  Versuche, 
sich  ernsthaft  mit  ihnen  auseinanderzusetzen.  Selbstverständ- 
lich mußte  sich  allmählich  denen,  die  überhaupt  noch  ein  Ver- 
ständnis für  das  Wesen  der  Kultur  des  eigenen  Landes  bewahrt 
hatten,  gebieterisch  die  Frage  aufdrängen:  Wie  soll  dasVer- 
liältnis  der  Republik  zu  der  ^kaiserliohen'  Religion 
vverden?  Ist  sie  in  dem  neuen  Staate  zu  halten?  und 
wenn  nicht,  soll  eine  andere  an  ihre  Stelle  treten?  und 
Avelches  ist  diese  'andere?  Das  ist  das  religiöse  Problem, 
das  den  denkenden  Geistern  in  China  während  der  letzten  Zeit 
Yor  die  Augen  getreten  ist.  Vereinzelt  zunächst,  leise  und  als 
theoretische  Frage.  Aber  je  fester  man  die  Augen  daraufrichtete, 

I  um  so  gewaltiger  wuchsen  seine  Größenverhältnisse,  um  so  un- 

:  heimlicher  wurde  sein  ganzes  Aussehen. 

Wer   mit   geschichtlichem  Urteil   und   mit  abendländischer 
Folgerichtigkeit  an  das  Problem  herantritt,  für  den  scheint  zu- 

i  nächst  nur  eine  Lösung  denkbar:  der  Konfuzianismus  mit  sei- 

j  nem  zäsaropapistischen  Grundgedanken,  mag  man  ihn  nun  als 
politische  Religion  oder  als  ethisch-philosophisches  System  an- 

;  sehen,  hat  in  dem  republikanischen  Staatswesen  keinen  Raum 
mehr,  er  muß  ausgeschieden,  und  der  mit  ihm  zusammengefügte 
Staatskultus  muß  beseitigt  werden.  Aber  religiöse  Entwick- 
lungen gehen  oft  seltsam  widerspruchsvolle  Wege.  Sie  bejahen 
später,  was  sie  früher  verneinten,  und  verneinen,  was  sie  sonst 


134  ^-  J^ranke 

bejahten.  So  mag  aucli  der  Konfuzianismus  weiter  als  Reli- 
gion umgebaut  und  ausgebaut  werden,  und  zwar  in  der  Weise, 
daß  er  auch  der  Republik  als  kulturelle  Grundlage  verbleibt. 
Fällt  der  Konfuzianismus,  so  würde  er  nur  eine  wissenscbaft- 
lich-gescliiclitliclie  Bedeutung  behalten,  etwa  wie  Piatos  Lehre 
vom  Staat.  Die  Republik  würde,  wenn  sie  diesen  kulturellen 
Zusammenbruch  überdauern  sollte,  reiner  Rechtsstaat  und  reli- 
gionslos werden;  alle  Religionen  würden  freien  Zutritt  haben 
und  ihre  Ausübung,  soweit  sie  nicht  wider  das  gemeine  Recht 
ist,  den  neutralen  Schutz  der  Staatsgewalt  genießen.  Im  an- 
deren Falle  aber  würde  man  die  Kultuspolitik  der  mandschu- 
rischen Dynastie  fortsetzen  und  weiter  darauf  denken  müssen, 
im  Konfuzianismus  das  metaphysische  Element  zu  schaffen 
und  zu  stärken,  das  ihm  für  die  Bewertung  als  Religion  fehlt. 
Dann  würde  aber  die  Republik,  wenn  außer  dem  Namen  über- 
haupt noch  etwas  vom  Konfuzianismus  übrigbleiben  soll,  einen 
durchaus  theokratischen  Charakter  haben,  also  ein  wunderliches 
Gemisch  aus  antiken  und  modernen  Staatsformen  darstellen,, 
dessen  Lebensfähigkeit  in  hohem  Maße  zweifelhaft  wäre.  Oder 
sollte  noch  eine  dritte  Lösung  möglich  sein?  Sollte  die  kon- 
fuzianische Ethik,  wenn  sie  doch  schon  ihre  ganze  Überliefe- 
rung verleugnet,  ihre  Zuflucht  in  einer  anderen  Religion  suchen 
und,  mit  dieser  organisch  vereint,  ein  neues,  unpolitisches  Re- 
ligionssystem bilden,  das  im  chinesischen  Empfindungsleben 
seinen  Nährboden  findet?  Folgen  wir  dem  Gang  der  Ereignisse. 
Es  war  noch  während  der  Entstehungskämpfe  der  Republik, 
unmittelbar  vor  der  Abdankung  der  Dynastie,  als  das  religiöse 
Problem  zum  erstenmal  sich  erhob,  oder  vielmehr  mit  der 
ganzen  Leichtfertigkeit  des  jungen  China  heraufbeschworen 
wurde.  Unter  den  Politikern,  die  sich  Ende  Dezember  1911 
in  Nanking  als  vorläufige  republikanische  Regierung  konstitu- 
ierten, befand  sich  ein  junger  konfuzianischer  Literat  namens 
Ts'ai  Yuan  P'ei,  der  den  Minister  des  Unterrichtswesens  dar- 
stellte.    Er   hatte  in  Leipzig  seine  Studien  betrieben   und  war 


Das  religiöse  Problem  in  China  185 

offenbar  über  die  moderne  Lehre  vom  Verhältnis  zwischen  Staat 
und  Kirche  besser  unterrichtet  als  über  das,  was  auf  dem  Wege 
praktischer  Politik  in  China  erreichbar  war.  Zweifellos  hatte 
sich  ihm  die  Erkenntnis  aufgedrängt,  daß  das  konfuzianische 
System  mit  einem  republikanischen  Staatswesen  weder  als  Staats- 
lehre noch  als  Staatskult  zu  vereinigen  sei,  und  entsprechend 
dieser  an  sich  durchaus  richtigen  Erkenntnis  wählte  er  die 
erste  der  erwähnten  Lösungen  des  Problems.  Im  Januar  1912 
erließ  er  eine  amtliche  Verordnung,  in  der  er  bestimmte,  daß 
aus  dem  Lehrplane  für  die  unteren  und  mittleren  Schulen,  für 
die  technischen  und  Fachschulen  sowie  für  die  Lehrerbildungs- 
anstalten aller  Grade  der  Unterricht  im  konfuzianischen  Kanon 
zu  entfernen  und  lediglich  den  geschichtlich-literarischen  Ab- 
I  teilungen  der  Hochschulen  vorzubehalten  sei.  Mit  der  ganzen 
Naivität  des  politischen  Doktrinärs  glaubte  Ts'ai,  auf  diese 
Weise  durch  einen  Federstrich  den  Staatsorganismus  von  sei- 
nen religiösen  Bestandteilen  befreit  und  den  rein  weltlichen 
Rechtsstaat  geschaffen  zu  haben. ^ 

Bei  den  radikalen  Elementen  der  republikanischen  Regie- 
rung in  Peking  schienen  diese  Gedanken  in  der  Tat  auf  frucht- 
baren Boden  zu  fallen.  Ohne  langes  Besinnen  machte  man  sich 
an    die    religiöse    Säuberung    und    begann    damit    bei    den   am 

^  Ts'ai  Yuan  P'ei*  hat   in  einem  Schreiben  an  den  „Ostasiatischen 
;  Lloyd"   die    Ziele    auseinandergesetzt,    die    ihm    für    den  Unterricht  in 
I  China  vor  Augen    stehen.     'Die   Pflicht    des  Volkserziehers   ist   es,  tun 
i  bildlich   zu   sprechen",   so    führt   er  aus,   'den  Schleier  fortzureißen,  der 
den  Blick  der  Menschen  dieser  Erde  trübt.     Seine  Aufgabe  ist,  zu  zei- 
;  gen,  daß  diese  Welt  nur  eine  Brücke  ist,  die  zur  zukünftigen  führt.  Die 
I  beiden  Welten   gehören   zusammen   und   sind   Eins,   unzertrennlich  und 
j  ohne  Gegensatz,  Das  erreicht  er  durch  den  Unterricht  in  der  sogenannten 
Weltanschauung.     Darunter    ist    die    Erziehung    zu   verstehen,    die   den 
Geist  anleitet,   die    Dinge  vom  Standpunkte  des  Weltganzen  im  Gegen- 
satz zu  einem  besonderen  Standpunkt  anzusehen;    die  ihn  anleitet,  die 
;  Dinge   großzügig   zu   betrachten,   ohne   ihn  einem  Vorurteil  für  irgend- 
jclne    besondere    Philosophie    oder   Religion    zu  unterwerfen.     Der  Geist 
'wird   dadurch   aller   Banden   frei  und  von  vorgefaßten  Meinungen  nicht 
'getrübt'  {Ostasiat.  Lloyd  vom  23.  August  1912,  S.  162). 


II 


136  0.  Franke 

meisten  in  die  Augen  fallenden  Zubehörstücken  des  ^überwun- 
denen' monarchischen  Staatskultus,  nämlich  den  großen  Heilig- 
tümern in  Peking,  den  Tempeln  des  Himmels,  der  Erde  und 
des  Ackerbaues.  Im  Juli  1912  wurde  die  Welt  mit  der  Nach- 
richt überrascht,  daß  der  neue  Ackerbauminister  beschlossen 
habe,  diese  drei  heiligen  Stätten  mit  ihren  ausgedehnten  Län- 
dereien für  ^praktische'  Zwecke  nutzbar  zu  machen  und  in  ein 
landwirtschaftliches  Mustergut,  eine  forstwirtschaftliche  Versuchs- 
anstalt und  eine  Gestütsfarm  umzuwandeln.  Aber  so  leicht  wie 
die  politischen  Formen  der  Monarchie  waren  die  kulturellen 
nicht  über  den  Haufen  zu  rennen,  und  die  südchinesischen 
Bilderstürmer  sowohl  wie  der  Volkserzieher  T^sai  Yuan  PVi 
erfuhren  bald,  daß  das  Verständnis  für  ihre  ^praktische'  Weis- 
heit noch  in  recht  enge  Kreise  eingeschlossen  war.  Die  Pläne 
des  Ackerbauministers  wurden  selbst  im  Süden  als  Roheit  und 
Tempelschändung  gebrandmarkt,  und  so  laut  wurde  die  Ent- 
rüstung, daß  das  Ministerium  im  August  1912  in  einer  längeren 
Darlegung  die  Öffentlichkeit  zu  beschwichtigen  unternahm,  seine 
Absichten  als  mißverstanden  hinstellte  und  über  den  Kultus 
und  seine  Bauten  nichts  zu  verfügen  versprach.^  Seitdem  ruht 
die  Angelegenheit. 

Nicht  viel  anders  erging  es  den  Verordnungen  Ts^ai  Yuan 
P'efs.  Auch  ihm  wurde  sein  Irrtum  in  der  Bewertung  der 
Lebenskraft  eines  so  alten  und  festgefügten  Kultursystems  rasch 
vor  Augen  geführt.  In  der  Provinz  Kuangtung,  dem  eigent- 
lichen Sitze  des  politischen  Umsturzes,  setzte  ein  heftiger  und 
nicht  zu  überwindender  Widerstand  gegen  die  Durchführung 
der  Verordnung  ein,  in  Mittel-  und  Nordchina  aber  erhob  sich 
ein  Sturm  der  Entrüstung  über  diesen  Frevel  wider  das  Hei- 
ligste und  Beste  in  der  chinesischen   Kultur,   und    der   Kampf 


^  Das  Schriftstück  ist  mitgeteilt,  allerdings  nacli  einer  anscheinend 
ganz  unzulänglichen  englischen  Übersetzung,  von  Missionar  Otto  Lohß 
in  einem  Aufsatze  Die  neue  Ära  und  der  Himmelsaltar  in  Peking  im 
Evangelischen  Missions-Magazin,  57.  Jahrgang,  3.  Heft  1913,  S.  116if. 


I 


Das  religiöse  Problem  in  China  137 

würde  wahrscheinlich  noch  sehr  viel  heftiger  und  nachhaltiger 
gewesen  sein,  wenn  nicht  die  allgemeine  Aufmerksamkeit  durch 
die  kriegerischen  und  politischen  Ereignisse  in  Anspruch  ge- 
nommen gewesen  wäre.  An  die  Spitze  der  Gegnerschaft  Ts^ai's 
stellte  sich  Tschen  Huan  Tschang  (Chen  Huan-Chang),  ein 
Schüler  und  Freund  K^ang  You  Wei's  und  Zögling  der  Columbia- 
Universität  in  New  York,  von  dem  bereits  oben  (S.  175  Anm.) 
die  Rede  war.  Schon  in  seinem  1911  erschienenen,  englisch 
geschriebenen  Werke  The  Economic  Principles  of  Confiicius  and 
His  School  hatte  er  es  unternommen,  nicht  nur  den  Nachweis 
dafür  zu  erbringen,  daß  der  Konfuzianismus  die  beste  Religion 
aller  Zeiten  und  Völker  sei,  sondern  auch  aus  den  kanonischen 
Schriften  die  erstaunliche  Tatsache  herzuleiten,  daß  das  letzte 
Ziel  dieser  Religion  in  der  Zukunft  die  soziale  Republik  mit 
dem  Individuum  als  ^unabhängiger  Einheit'  sei.  Tschen  ist, 
um  dieses  Ergebnis  zuwege  zu  bringen,  auch  vor  den  gröbsten 
Textfälschungen  nicht  zurückgeschreckt,  und  aus  Konfuzius, 
der  den  Idealzustand  der  Menschheit  in  die  Vergangenheit  ver- 
legte, der  den  Wert  der  Gegenwart  immer  nur  mit  dem  Maß- 
stabe des  Altertums  beurteilte,  für  den  der  von  Gott  berufene 
!  Universalherrscher  und  das  rechte  Verhältnis  des  Untertanen 
zum  Fürsten  einen  Ausgangspunkt  seiner  ganzen  Lehre  bil- 
deten, diesen  größten  laudator  temporis  acti  aller  Zeiten  macht 
er  zum  ahnungsvollen  Seher,  der  das  Heil  der  Menschheit  in 
der  Republik  der  Zukunft  erblickt!^   Nachdem  Tschen  erklärt 


i  ^  Tschen  legt  nach  dem  Vorbilde  K'ang  You  Wei's  dieser  Herleitung 
jdie  Stelle  aus  Li  Jci  VII  1  (Couvreur  Li  Ki  I  497  ff.)  zugrunde,  wo  Kon- 
ifuzius  vom  Altertum  spricht  und  ihm  nachrühmt,  daß  damals  die  Herr- 
jschaft  im  Staate  nicht  erblich  war,  wie  später,  sondern  'dem  Tugend- 
haftesten und  Fähigsten'  übertragen  wurde,  wie  dies  die  alten  Kaiser 
Jauch  getan  haben  sollen.  'Jetzt',  so  fährt  er  fort,  'ist  dieses  große  Gesetz 
iverloren  gegangen.'  Tschen  verlegt  diese  Schilderung  des  Altertums 
l^urzerhand  in  die  Zukunft  und  macht  aus  dem  Wahlkaisertum  eine 
'Republik.  Unter  chinesischen  wie  europäischen  Kommentatoren  ist  nie 
[3in  Zweifel  über  die  Bedeutung  dieser  Stelle  gewesen  {Li  ki  im  Schi 
>an.  hing  tschu  schu,    Kap.  21  fol.  21r°ff.),   wohl    aber  haben   beide    mit 


138  ^-  Franke 

hat,  daß  *der  Konfuzianismus  eine  demokratisclie  Religion  sei 
und  keine  monarchisclie  Idee  enthalte',  daß  *die  Konfuzianer 
niemals  politische  Vorrechte  genossen'  und  Maß  sie  niemals 
irgendwelche  politische  Macht  vom  Staate  genommen  hätten', 
überrascht  er  uns  einige  Zeilen  weiter  mit  den  folgenden,  in 
schärfstem  Gegensatz  hierzu  stehenden  Angaben:  'Das  Christen- 
tum ist  eine  einfache  (simple)  Religion  und  hat  mit  Staats- 
regierung nichts  zu  tun,  daher  kann  es  auch  vom  Staate  ge- 
trennt werden.  Der  Konfuzianismus  aber  ist  eine  mannigfach 
geartete  (complex)  Religion  und  hat  mit  der  Staatsregierung 
sehr  viel  zu  tun,  daher  kann  er  niemals  vom  Staate  getrennt 
werden  .  .  .  Mit  einem  Worte:  China  kann  den  Konfuzianismus 
niemals  vom  Staate  trennen,  oder  es  würde  seine  ganze  Zivili- 
sation zerstören.  Eine  solche  Trennung  ist  nicht  bloß  töricht 
und  unuötig,  sondern  auch  unmöglich'  (S.  86 f.)^.  Nach  diesen 
Proben  geschichtlicher  Unbefangenheit  und  unerschrockener  Dia- 
gutem Grunde  Bedenken  erhoben,  ob  sie  überhaupt  dem  Konfuzius  zu- 
geschrieben werden  darf;  jedenfalls  sieht  sie  bedenklich  nach  taoisti- 
schem  Einfluß  aus  (vgl.  Legge  Sacred  Books  of  ihe  East  XXVII  367 
Anm.  1  und  Couvreur  a.  a.  0.  S.  500  Anm.).  Ehrlicher  ist  Wang  Ching-Dao 
in  seinem  bereits  erwähnten  Buche  Confucius  and  New  China  (1912)  S.  36: 
Er  führt  die  Stelle  zwar  ebenfalls  als  „echt''  auf,  versteht  sie  aber 
wenigstens  richtig,  wie  er  denn  auch  die  Monarchie  als  der  Lehre  des 
Konfuzius  wesentlich  ansieht  (S.  31  ff).  Diese  höchst  fragwürdige  Li- 
ki-Stelle,  der  man  auch  noch  eine  gewaltsame  Wendung  nach  der  fal- 
schen Richtung  gegeben  hat,  ist  die  Grundlage  für  die  ganze  Argumen- 
tation der  Reformkonfuzianer  der  Republik  geworden.  Man  hat  sogar 
die  kaiserliche  Familie  gezwungen,  sie  in  ihr  Abdankungsedikt  aufzu- 
nehmen (s.  oben  S.  168),  und  die  heutige  Regierung  hat  kein  Bedenken 
getragen,  sie  sich  zu  eigen  zu  machen  (s.  unten  S.  194). 

^  Diese  Behauptungen  Tschen's  über  die  politische  Stellung  der 
Konfuzianer  sind  ungeheuerlich.  Sie  setzen  entweder  eine  Unkenntnis 
von  den  Tatsachen  der  chinesischen  Geschichte  voraus,  wie  man  sie  bei 
einem  konfuzianischen  Literaten  unmöglich  annehmen  kann,  oder  aber, 
und  das  ist  das  Wahrscheinlichere,  die  völlige  Unfähigkeit,  der  geschicht- 
lichen Wahrheit  gerecht  zu  werden,  eine  Eigentümlichkeit,  die  bei  den 
meisten  der  modernen  chinesischen  Schriftsteller  zutage  tritt.  Hier  ver- 
bindet sich  die  ungenügende  Schulung  der  neuen  'Literaten^  mit  der  Selbst- 
überschätzung der  alten. 


Das  religiöse  Problem  in  China  189 

lektik  wird  man  leicht  den  Wert  der  Argumente  ermessen 
können,  deren  sich  Tschen  Huan  Tschang  in  seinem  Kampfe 
mit  Ts^ai  Yuan  P^ei  bediente.  Tschen  und  seine  zahlreichen 
Anhänger  vertraten  mit  Leidenschaft  die  oben  erwähnte  zweite 
Lösung  des  religiösen  Problems,  von  dessen  Größe  sie  durch 
die  Erörterungen  mehr  und  mehr  erfaßt  wurden:  der  Konfu- 
zianismus  sollte  die  Staatsreligion  der  Republik  sein  und  bleiben, 
und  zu  diesem  Zwecke  sollte  er  als  wirkliche  vollwertige  Re- 
ligion organisiert  und  ausgebaut  werden  (eine  Umwandlung 
seiner  Lehren  war  bei  der  Art  von  Exegese,  wie  wir  sie  kennen 
gelernt  haben,  nicht  nötig).  Tschen  arbeitete  einen  bis  ins 
einzelne  gehenden  Plan  hierfür  aus  und  entwickelte  ihn  in 
einem  umfangreichen  Vortrage,  den  er  am  7.  Oktober  1912  bei 
der  Feier  von  Konfuzius'  Geburtstag  in  Schanghai  hielt.-^  In 
I  dem  ersten  Teile  wird  zunächst  nachgewiesen,  daß  der  Konfu- 
I  zianismus,  auch  an  den  Wertbegriffen  Europas  gemessen,  un- 
zweifelhaft als  eine  Religion  anzusehen  sei,  und  zwar  als  eine 
ReligioD,  die  Konfuzius  gegründet  habe.  Dieser  Nachweis  knüpft 
sich  sowohl  an  das  Wesen  der  Lehre  selbst,  wie  an  die  äußeren 
[Merkmale,  die  Zubehörstücke,  die  zu  einer  geschlossenen  Reli- 
I  gionsgemeinschaft  gehören.  Es  wird  also  dargelegt,  daß  die 
Schüler  und  Anhänger  des  Konfuzius  immer  eine  Gemeinschaft 
mit  bestimmtem  Namen  und  besonderer  Kleidung  gewesen 
seien,  daß  ein  schriftlicher  Kanon,  eine  von  Gott  inspirierte 
Bibel  (Tschen  spricht  schon  in  seinem  englischen  Werke  von 
der  'konfuzianischen  Bibel'),  ein  aus  70  Artikeln  bestehender 
(Katechismus  und  eine  Kultusordnung  vorhanden  seien,  daß  der 
'Konfuzianismus  seine  eigenen  Gotteshäuser  und  auch  seine 
'' heilige  Stätte'  (das  Grab  des  Konfuzius  in  K'ü-fu  hien  in 
Schantung)  habe,  und  daß  er  mit  großem  Erfolge  durch  die 
.  i70  Jünger  des  Konfuzius  verbreitet  worden  sei  (Missionstätig- 


*  Der  Text  ist  veröflFentlicht  in  der  Zeitschrift  Hie  ho  pao,  Jahr- 
,gang  III,  Nr.  2—8  (Oktober  und  November  1912).  Er  verdiente  eine 
vollst'ändisre  Übersetzuaer. 


190  0.  Franke 

keit).^  Audi  das  für  eine  Religion  wesentliclie  metaphysische 
Element  sei  vorhanden.  Die  Lehre  des  Konfuzius  enthalte  so- 
wohl den  Glauben  an  Gott,  wie  an  die  Unsterblichkeit  der 
Seele  und  an  die  göttliche  Heimsuchung  der  Sünden.  Die 
Argumentation,  auf  die  ohne  sinologische  Untersuchungen  sprach- 
licher und  geschichtlicher  Art  nicht  näher  eingegangen  werden 
kann,  ist  hinsichtlich  dieser  Punkte  natürlich  besonders  mühe- 
voll und  eigenartig.  Im  zweiten  Teile  wird  die  Pflicht  Chinas 
behandelt,  sich  heute  mit  besonderem  Eifer  zum  Konfuzianis- 
mus  zu  bekennen.  Hier  wird  die  von  Ts^ai  Yuan  P^e'i  und 
manchen  anderen  vertretene  Meinung  bekämpft,  daß  der  Kon- 
fuzianismus  mit  der  republikanischen  Staatsform  nicht  zu  ver- 
einigen sei.  Ganz  im  Stile  K'ang  You  Wei's,  aber  über  diesen 
hinausgehend,  bemüht  sich  Tschen,  die  Ewigkeitswerte  in  Kon- 
fuzius' Lehre  darzutun,  die  ihn  für  alle  Zeiten  und  für  jede 
Staatsform  geeignet  machen,  ja  er  wiederholt  die  von  den 
Reformatoren  gemachte  Voraussage,  daß  er  einst  die  Religion 
des  ganzen  Erdballs  sein,  daß  er  alle  Rassenunterschiede  ver- 
wischen und  das  Reich  der  allgemeinen  Menschenverbrüderung 
und  des  ewigen  Friedens  heraufführen  wird  (vgl.  oben  S.  175). 
Zum  Schluß  entwickelt  Tschen  einen  Organisationsplan  für  die 
modernisierte  Staatsreligion.  Es  müssen  danach  kirchliche  Ge- 
meinden mit  Personenstandsregistern  gegründet  werden,  die 
Zeitrechnung  soll  mit  dem  Jahre  von  Konfuzius'  Geburt  an- 
fangen (schon  die  Reformatoren  hatten  diesen  Brauch  einge- 
führt), Konfuzius'  Persönlichkeit  soll  Gott  ^zugesellt'  werden 
(s.  unten  S.  192)^  in  den  Schulen  Konfuzius  göttliche  Verehrung 
genießen,  seine  Religion  muß  an  bestimmten  Tagen  den  Massen 
gepredigt,  sein  Geburtstag  als  hoher  Festtag  gefeiert  werden^ 
bei  freudigen  und  traurigen  Anlässen  haben  die  Gemeindever- 
treter Gottesdienst  zu  halten,  und  endlich  soll  die  konfuzianische 
Kirche  eine  tatkräftige  Mission  nach  außen  treiben. 

^  Gemeint  sind  damit  offenbar  die  'Weisen  der  Vorzeit',  deren  Tafeln 
im  Tempel  des  Konfuzius  aufgestellt  sind.     Es  sind  ihrer  jetzt  79. 


Das  religiöse  Problem  in  China  191 

Man  sieht  auf  den  ersten  Blick,  daß  es  sich  hier  um  ein 
ganz  unter  abendländisch -christlichem  Einflüsse  entstandenes 
papiernes  Gebilde  handelt,  um  einen  mit  jener  souveränen  Ver- 
achtung der  wirklichen  Verhältnisse  entworfenen  Plan,  wie  sie 
immer  ein  Merkmal  des  konfuzianischen  Literatentums  gewesen 
ist.  Daß  Tschen  Huan  Tschang  die  kanonischen  Texte  mit  einer 
unerhörten  Kühnheit  handhabt,  um  eine  Religion  herauszudestil- 
lieren,  wie  er  sie  für  seine  Zwecke  braucht,  kann  nach  dem,  was 
oben  (S.  187  fl.)  über  ihn  gesagt  war,  nicht  überraschen.  An  die 
große  Frage  nach  dem  Verhältnis  der  Staatsgewalt,  für  die  doch 
die  kirchliche  Organisation  dieser  neuen  Religion  wie  bisher  einen 
Teil  ihres  Wesens  ausmacht,  zu  den  übrigen  Religionssystemen, 
deren  freie  Ausübung  im  Staate  verfassungsmäßig  gewährleistet 
ist^,  an  diese  Frage  rührt  Tschen  mit  keinem  Worte;  sie  scheint 
tatsächlich  gar  nicht  in  sein  Bewußtsein  getreten  zu  sein. 

Indessen  ohne  Wirkung  ist  die  von  Tschen  und  einer  be- 
trächtlichen Anzahl  Gesinnungsgenossen  —  ihre  Zahl  wuchs 
rasch  —  entfachte  und  geleitete  Agitation  nicht  geblieben. 
Von  Schanghai  aus  wurden  in  mehreren  Provinzialhauptstädten 
^Vereine  zur  B'örderung  der  konfuzianischen  Religion'  gegründet; 
im  April  1913  auch  in  Peking,  wo  die  Eröffnung  in  Gegen- 
wart eines  Vertreters  des  Präsidenten  feierlich  vollzogen  wurde. 
Für  den  Herbst  hofft  man  die  Vorbereitungen  so  weit  gefördert 
zu  haben,  daß  am  Geburtstage  des  Konfuzius  die  Eröffnung 
des  über  alle  Provinzen  verbreiteten  einheitlichen  Reichsver- 
bandes erfolgen  kann.  Inzwischen  hat  sich  die  Bewegung  aber 
bereits  eines  der  wichtigsten  Punkte  in  dem  Programm  Tschen 
Huan  Tschang's  bemächtigt,  nämlich  der  Frage  der  weiteren 
christusähnlichen  Vergöttlichung  des  Konfuzius,  und  sie  hat  in 
der  Tat  die  Regierung  gezwungen,  hierzu  Stellung  zu  nehmen. 
Im  Anfang   dieses    Jahres  (1913)    wurde   von   führenden   Per- 

^  Nach  Art.  6  Nr.  7  der  Vorläufigen  Verfassung  vom  März  1912. 
S.  Fritz  Jäger  Die  Vorverfassung  der  chinesischen  Republik  vom  März  1912 
im  Jahrbuch  des  öffentlichen  Rechts  711  497. 


192  0-  Franke 

sönliclikeiten  beim  Präsidenten  der  formelle  Antrag  gestellt, 
den  Himmelstempel  in  ein  öffentliclies  Gotteshaus  umzuwandeln 
und  Konfuzius  dem  Himmel,  d.  h.  Gott,  ^zuzugesellen'.  Um 
diesen  Gedanken  ricMig  zu  würdigen,  wird  man  sicli  seine  in 
sehr  frühe  Zeit  zurückreichende  Geschichte  vergegenwärtigen 
müssen.  Im  12.  Jahrh.  v.  Chr.,  so  berichtet  das  Schi  M,  brachte 
der  Herzog  von  Tschou  das  Große  Opfer  dar  und  gesellte  sei- 
nen Urahn  dem  Himmel  zu.^  Seitdem  ist  dieses  ^Zugesellen' 
irdischer  Personen  zu  bestimmten  Gottheiten  beim  Genuß  der 
Opfergaben  ein  wichtiger  Begriff  in  der  konfuzianischen  Kultus- 
scholastik geblieben,  und  wenn  jetzt,  bei  der  Schaffung  der 
neuen  Religion,  auf  diese  uralten  Vorstellungen  zurückgegriffen 
wird,  so  beweist  dies,  daß  auch  das  allerneueste  China  von 
seinem  alten  Kulturboden  nicht  loskommt,  und  wenn  es  sich 
noch  so  radikal  und  modern  gebärdet.  Es  wäre  gut,  wenn  es 
in  diesem  Zusammenhange  die  Quelle  seiner  Kraft  erkennen  und 
danach  seine  Reformen  einrichten  würde.  In  unsere  Sprache  über- 
setzt bedeutet  dieses  'Zugesellen'  nichts  anderes  als  die  Vergött- 
lichung einer  irdischen  Persönlichkeit,  und  der  Antrag  an  den  Prä- 
sidenten verlangt  im  Grunde  dasselbe,  was  durch  das  kaiserliche 
Edikt  von  1906  (S.  178)  bereits  verfügt  war,  d.h.  die  Erklärung 
des  'Religionsgründers'  Konfuzius  zum  Gott  oder  zu  Gottes  Sohn, 
ebenso  wie  der  Religionsgründer  Christus  zum  Gott  erklärt  war. 
Noch  ehe  die  Regierung  sich  zu  dem  bedeutungsvollen  An- 
trage hatte  äußern  können,  unternahm  es  die  konfuzianische 
Religionsgesellschaft,  sich  in  einer  Denkschrift  an  das  Staats- 
oberhaupt mit  Ts'ai  Yuan  P'ei  und  den  ihm  Gleichgesinnten 
vor  allem  über  die  grundlegende  Frage  auseinanderzusetzen,  ob 
die  Lehre  des  Konfuzius  überhaupt  mit  der  republikanischen 
Staatsform  vereinbar  sei.  Wer  der  geschichtlichen  Wahrheit 
die  Ehre  gibt  —  und  das  tat  Ts'ai  — ,  der  kann  diese  Frage 


^  S.  Chavannes  Les  Memoires  Historiques  de  Se-ma  Ts'ien  III  419. 
Weiteres  über  diese  Theorie  des  'ZugeselleDs'  in  meinem  Ackerbau  und 
Seidengewinnung  in  China  S.  12  f. 


Das  religiöse  Problem  in  China  193 

nur  mit  einem  bedingungslosen  Nein  beantworten,  und  es  bedarf 
der  groben  Textfälschung,  wie  Tschen  Huan  Tschang  und  das 
republikanische  Konfuzianertum  sie  begehen,  wenn  man  ein  Ja 
darauf  erzwingen  will.  Es  ist  wieder  die  schon  oben  (S.  187 
Anm.)  erwähnte  Stelle  aus  dem  Li  Jci,  auf  die  die  Verfasser 
ihre  phantastische  Argumentation  stützen.  Nur  als  einen  Not- 
behelf habe  Konfuzius  die  fürstliche  Macht  angesehen,  um  die 
Ordnung  einer  sittlich  tief  stehenden  Welt  aufrechtzuerhalten, 
und  er  habe  diese  Periode  daher  als  das  'Zeitalter  des  kleinen 
Friedens'  bezeichnet  im  Gegensatz  zum  'Zeitalter  der  großen 
Einheit'  in  der  Zukunft,  wo  das  Reich  eine  freie  Republik  sein 
werde.  Dieses  Zeitalter  sei  jetzt  angebrochen,  die  Weissagung 
des  Konfuzius  also  erfüllt.  Die  Antragsteller  bitten  dann,  die 
Verbreitung  der  'heiligen  Religion'  durch  Predigten,  religiöse 
Zeitschriften  und  Gründung  von  Gemeinden  staatlich  zu  orga- 
nisieren und  eine  entsprechende  Vorlage  beim  Parlament  ein- 
zubringen.^ Das  Ministerium  des  Innern,  dem  der  Antrag  über- 
wiesen war,  äußerte  sich  in  seinem  Bescheide  sehr  kühl:  zu- 
nächst ersetzte  es  den  Ausdruck  'heilige  Religion'  durch  'Lehre 
des  Konfuzius'  und  dann  erklärte  es,  daß  die  Anträge  vorerst 
von  dem  zuständigen  Ministerium  des  Kultus  und  Unterrichts 
zu  begutachten  seien,  im  übrigen  aber  die  ganzQ  Religionsfrage 
der  Entscheidung  des  Parlaments  vorbehalten  bleiben  müsse. 
Einen  Präsidialerlaß  darüber  zu  veröffentlichen,   sei  nicht  an- 

!  gängig.^  Diese  Haltung  der  Zentralregierung  sah  im  günstigsten 
Falle  wie  strenge  Neutralität  gegenüber   den  beiden  entgegen- 

j  gesetzten  Strömungen  aus,  und  den  gleichen  Eindruck  machte 
^  In  einem  Aufsatze  des  Missionars  0.  Lohss  im  „Evangelischen 
Missions-Magazin"  57.  Jahrgang,  Der  Konfuzianismus  in  China,  einst 
und  jetzt  S.  368  wird  ein  Bericht  des  Missionars  A.  Nagel  angeführt, 
wonach  bereits  1910  in  Kanton  eine  „konfuzianische  Kirche"  und  ein 
,, konfuzianisches  Kirchenblatt"  gegründet  worden  seien. 

^  Der  Wortlaut  der  Denkschrift  ist,  soweit  mir  bekannt,  nicht  ver- 
öffentlicht worden.    Dagegen  findet  sich  ein  sehr  umfangreicher  Auszug 

j  daraus  in  dem  Bescheide  des  Ministeriums,  der  im  Eegierungsauzeiger 
{Tscheng  fu  kung  pao)  vom  6.  März  1913  veröjffentlicht  ist. 

Archiv  f.  Keligionswissenschaft  XVII  13 


I 


194  ^-  Franke 

die  unter  dem  19.  März  ergangene  Entscheidung  über  den  An- 
trag auf  Umwandlung  des  Himmelstempels  und  Vergöttlichung 
des  Konfuzius.  Der  Ministerpräsident  erklärt,  daß  nach  den 
Gutachten  der  Ministerien  des  Innern  und  des  Kultus  diese 
Frage  eine  so  weitreichende  Bedeutung  habe,  daß  sie  den  sämt- 
lichen Provinzialregierungen  vorgelegt  werden  müsse,  die  dann 
ihrerseits  die  öffentliche  Meinung  darüber  festzustellen  haben 
würden.^  Die  bis  jetzt  aus  den  Provinzen  eingegangenen  Ant- 
worten, soweit  sie  hier  vorliegen,  sind  geteilt.  Unbedingt  dafür 
scheinen  nur  wenige  zu  sein  (z.  B.  Hupei  und  Schansi),  einige 
behalten  sich  die  Entscheidung  vor  (z,  B.  Hunan  und  Turkistan), 
warnen  aber  vor  einer  Profanierung  des  Himmelstempels,  die 
meisten  scheinen  unsicher.  Inzwischen  muß  aber  der  Druck  der 
neuen  Bewegung  stärker  geworden  sein,  denn  am  22.  Juni  erschien 
der  anfänglich  verweigerte  Präsidialerlaß,  zwar  nicht  ganz  so 
positiv  wie  die  Denkschrift  im  Anfang  des  Jahres  verlangt  hatte, 
immerhin  weit  ausgesprochener  als  die  bisherigen  Bescheide  der 
Ministerien.  Auch  der  Präsident  macht  sich  die  neue  Lehre  vom 
*  Zeitalter  des  kleinen  Friedens'  und  dem  *der  großen  Einheit'  zu 
eigen  und  nimmt  damit  den  Beweis  dafür,  daß  die  Republik  die 
Erfüllung  des  Konfuzianismus  sei,  als  erbracht  an.  Diejenigen, 
•die  die  Meinung  verbreiten,  man  müsse  die  Verehrung  des  Kon- 
fuzius beseitigen,  weil  seine  Lehre  die  Monarchie  betone  und  den 
Universalismus  hochhalte',  läßt  er  hart  an  und  nennt  sie  *eine  in 
Seichtheit  verirrte  Klasse  von  Menschen'.  Zum  Schluß  kündigt 
er  an,  daß,  sobald  die  Gutachten  aus  den  Provinzen  eingegangen 
seien,  die  neue  Ordnung  des  konfuzianischen  Gottesdienstes  im  ein- 
zelnen bestimmt  werden  solle.^  Ob  dieser  Erlaß,  dessen  tatsäch^ 
lieber  Wert  von  hier  aus  schwer  einzuschätzen  ist,  das  entschei- 
dende Wort  in  der  Frage  bedeutet,  kann  erst  die  Zukunft  lehren. 
Aber  mag  das  der  Fall  sein  oder  nicht,  das  religiöse  Pro- 
blem  ist   damit   noch  längst  nicht  gelöst.     Eine  Religion,  die. 

^  Tscheng  fu  Tcung  pao  vom  20.  März  1913. 
*  Pe-king  ji  pao  vom  23.  Juni  1913. 


Das  religiöse  Problem  in  China  195 

nichts  anderes  ist  als  ein  Kunstprodukt  patriotisclier  Geschichts- 
fälschung,  wird  schwerlich  hinreichende  Lebenskraft  in  sich 
tragen,  um  sich  eines  Gegners  zu  erwehren,  der  zwar  die  ganze 
Macht  der  Überlieferung  gegen  sich,  aber  die  geschichtliche 
Wahrheit  und  die  logische  Folgerichtigkeit  für  sich  hat.  Und 
dazu  kommt  noch  etwas,  was  die  Doktrinäre  in  beiden  Lagern 
übersehen,  nämlich  das  Verhältnis  zu  den  breiten  Schichten 
des  Volkes  und  die  Bestrebungen  der  anderen  Religionssysteme, 
namentlich  des  Buddhismus.  Beide  Fragen  haben  hier  nicht 
berührt  werden  können,  das  bedeutet  aber  keineswegs,  daß  sie 
für  belanglos  gehalten  werden.  Um  die  innersten  religiösen 
Bedürfnisse  des  Volkes  metaphysischer  Art  hat  sich  das  Kon- 
fuzianertum  niemals  gekümmert,  und  das  Volk  hat  seit  dem 
Altertum  deren  Befriedigung  auf  eigenen  Wegen  gesucht.  Pietät 
und  Ahnendienst  des  Konfuzianismus  sind  ihm  zwar  immer  die 
Grundelemente  seines  Empfindungslebens  gewesen,  aber  der 
Staatskultus  mit  seinem  von  Konfuzius  so  hoch  bewerteten 
Ritual  war  ihm  eine  verschlossene  Welt,  es  hatte  keinen  Teil 
daran,  und  die  Träger  der  Staatsgewalt  hüteten  ihn  als  ihr 
höchstes  Vorrecht.  Jetzt  soll  plötzlich  dieser  Staatskultus  Ge- 
meingut der  Massen  werden,  die  nie  danach  verlangt  haben 
und  seine  demokratische  Ausprägung  nicht  verstehen.  Es  ist 
zu  fürchten,  daß  das  breite  Volk  den  Offenbarungen  dieser  neu 
geschaffenen  Religion  gegenüber  in  derselben  mißtrauischen 
Ablehnung  verharrt,  die  es  der  ganzen  republikanischen  Tragi- 
komödie bezeigt.  Die  eigentliche  Volksreligion  hat  ihre  Kraft 
weit  mehr  dem  landfremden  Buddhismus  entnommen  (s.  oben 
"5.  169),  der  seinerseits  sich  wieder  konfuzianische  Ethik  einver- 
eibt  hat  und  dadurch  völlig  chinesisch  umgeschaffen  worden 
st.  In  diesem  jetzt  verwahrlosten  Buddhismus  aber  regt  es 
iich  neuerdings  unter  japanischer  Einwirkung,  und  die  von  der 
eichen  Hongwanji-Kirche  ausgehenden  Bestrebungen,  die  die 
ebenfalls  nach  christlichem  Vorbilde  umgeformte  und  modemi- 
ierte  Lehre  Säkyamuni's  zur  Religion  Ostasiens  machen  wollen, 

13* 


196  0.  Franke     Das  religiöse  Problem  in  China 

finden  jetzt  in  China  wesentlich  günstigere  Lebensbedingungen 
als  unter  der  streng  konfuzianischen  Mandschu-Dynastie :  die 
Republik  gewährleistet  in  ihrer  Verfassung  den  Bürgern  die 
Freiheit  des  religiösen  Bekenntnisses,  und  der  Buddhismus  er- 
hebt auf  Grund  dieser  Freiheit  seine  Ansprüche.  Vielleicht  wird 
er  bei  dem  eigenwilligen  Volke  mehr  Verständnis  dafür  finden 
als  der  neue  Konfuzianismus  für  die  seinigen. ^ 

Sicherlich  nicht  unbeteiligt   an   der   Lösung  des  religiösen 
Problems  will  das  Christentum  bleiben.    Wenn  aber  seine  be- 
rufsmäßigen Verbreiter   in    China    meinen,   das  Feld  liege  nun 
freier  vor  ihnen  als  früher,  und  es  sei  nur  noch  ihre  Aufgabe, 
es  von  den  verfallenen  Trümmern  der  einheimischen  Religionen 
zu  säubern,  die  ihre  Rolle  ausgespielt  hätten,  so  ehrt  dies  gewiß 
die  fröhliche  Zuversicht  ihres  Glaubens,  spricht  aber  nicht  für 
ein  großes  Maß  sachlicher  Erkenntnis.     Schwankend  und  halt- 
los  wie  die  Formen  der  einheimischen  Religionen   augenblick- 
lich sein  mögen,  sie  bergen  Lebenskraft  genug  für  die  Bildung 
eines   neuen   Organismus;   feindlich   und  eifersüchtig  wie  diese 
Religionen  auch  einander   gegenüberstehen,  sie  werden  immer 
einig  sein  zur  Bekämpfung  des  fremd  gearteten   Christentums 
aJs   ihres    gemeinsamen    Gegners.     Ob    dieses  aber,  wenn  seine 
politische  Ausnahmestellung   schwindet  und  die   anderen  Reli 
gionen  gleiche  Lebensbedingungen  erhalten,  lediglich  durch  seine 
innere  Überzeugungskraft  imstande  sein  wird,  die  Widersacher, 
das  'Heidentum'  und  den  'Götzendienst',  zu  verdrängen,  die  Frag€ 
wird    der   Unbeteiligte    schwerlich    bejahen.     Alle   begeisterter 
Schilderungen  der  Missionare  dürfen  über  die  wirklichen  Ver- 
hältnisse nicht  hinwegtäuschen    Wie  die  neue  Religion  Ostasiens 
sich  im  20.  Jahrhundert  gestalten  mag,  wird  kaum  jemand  vorbei 
künden  wollen;  eines  aber  scheint  mir  sicher:  das  Christentun: 
des  abendländischen  Dogmas  wird  diese  Religion  nicht  sein. 

*  Näheres  über  die  Propaganda  des  japanischen  Buddhismus  s.  Ost 
asiatische  Neubildungen  S.  158  ff.  und  Ein  huddhistischer  Beformversucl 
in  China  in  T'oung  Pao  Ser.  II,  Bd.  X  S.  667  ff. 


II  Berichte 


1  igyptisclie  Religion  (1910—1913)' 

Von  A.  "Wiedemann  in  Bonn 

Allgemeines.  Die  Hochflut  von  Gesamtdarstellungen  der 
ägyptischen  Religion,  welche  die  letzten  Jahre  gebracht  haben, 
beginnt  allmählich  abzuebben.^  Zu  nennen  ist  ein  Überblick  von 
Virey^,  der,  aus  Vorträgen  an  dem  Katholischen  Institut  zu 
Paris  erwachsen,  eine  Reihe  von  religiösen  Vorstellungen  unter 
besonderer  Betonung  der  Unsterblichkeitslehren  und  des  Gottes- 
begriffes für  weitere  Kreise  schildert.  Eine  ansprechend  ge- 
schriebene Übersicht  über  die  ägyptische  Religion  gab  C apart*, 
eine  solche  über  die  ägyptische  Götterwelt  und  eine  Reihe 
ihrer  Bearbeitungen  Röder^,  eine  weitere  über  die  Religion  in 
ihrer  Beziehung  zur  Kulturgeschichte  Bissing.^    In  dem  Ge- 

1  Ygl.  in  diesem  Archiv  VII  S.  471  —  86,  IX  S.  481  —  99,  XIII  344—  72, 
und  für  möglichst  vollständige  Verzeichnisse  der  ägyptologischen  Literatur 
iübeihaupt  die  jährlich  erscheinenden  Berichte  von  A.  Wiedemann  in 
'Jahresberichte  der  Geschichtswissenschaft  1908  — 11  (mit  Ausschluß  des- 
i  Sprach  liehen)  und  F.  LI.  Grif&th.  Ärchaeological  Beports  für  1908  — 12  (Egypt 
Exploration  Fund).  Kürzer  ist  G.  Röder  in  Zeitschr.  der  Deutsch.  Morgl. 
Ges.  LXV  S.  157  ff.,  LXVI  S.  346  ff.,  LXVII  S.  391  ff. 

*  Das  Werk  von  Erman  erschien  in  italienischer  (Erman  La  Beligione 
Egizia,  Bergamo  1908),  das  von  Naville  in  illustrierter  englischer  Über- 
setzung (Naville  The  old  Egyptian  Faith,  London  1910),  die  Schilderung 
ier  ägyptischen  Religion  durch  Erman  in  der  Kultur  der  Gegenwart, 
'L.eipzig ,  Teubner  1913  in  2.  Auflage.  Die  populäre  Schrift  von  Erman 
'Die  Hieroglyphen  (Sammlung  Göschen),  Berlin,  Göschen  1912, berührt  die 
Religion  nur  mit  vs^enigen  Worten. 

^  Ph.  Virey  La  Beligion  de  Vancienne  Egypte  (Etudes  sur  VHistoire 
les  Religions  4),  Paris,  Beauchesne  1910. 

*  La  Religion  Egyptienne  in  Bev.  Clerge  Frangais  LXIV  p.  257  ff, 
^  Bas  ägyptische  Pantheon  in  diesem  Archiv  XV  S.  59ff. 

®  Bie  Kultur  des  alten  Ägyptens  (Wissenschaft  und  Bildung  121), 
jeipzig,  Quelle  u.  Meyer  1913. 


198  A.WiedemanD 

Schichtswerke  von  Eduard  Meyer ^  wird  die  ägyptische  Religion 
eingehender  berührt  und  dabei  der  lokale  Charakter  der  Volks- 
götter hervorgehoben,  deren  jeder  im  Kreise  seiner  Anhänger 
universell  wirkte,  von  denen  aber  nur  einige  im  übrigen  Lande 
Macht  zu  gewinnen  wußten.  Auch  Kultus,  Zauberspruch  -  Samm- 
lungen, die  Bedeutung  des  Sonnenkultes,  die  Gräber  mit  ihrer 
Ausstattung  fanden  Besprechung. 

Im  allgemeinen  hat  sich  die  Tätigkeit  der  Forscher  stärker 
als  früher  der  Entwicklung  der  ägyptischen  Religion  und  ihren 
verschiedenen  Perioden  zugewendet.  Hierzu  bewog  vor  allem 
das  ZugäD  glich  werden  der  Pyramidentexte,  in  denen  man  eine 
Fülle  von  Andeutungen  über  den  Glauben  des  Alten  Reiches 
gewann,  während  bis  dahin  die  Grabinschriften  dieser  Zeit  nur 
spärliche  Bemerkungen  ergeben  hatten.  Es  lag  nahe,  dieses  neue 
Material  mit  den  umfangreichen  Angaben  späterer  Zeiten  und 
den  kurzen  Notizen  der  Nagada- Zeit  und  des  beginnenden  Alten 
Reiches  zu  vergleichen,  um  auf  diese  Weise  den  Verlauf  der 
Religionsentwicklung  festzustellen.  Dabei  stand  man  freilich 
zwei  großen  Schwierigkeiten  gegenüber.  Zunächst  erhob  sich 
die  Frage,  welche  absolute  Zahlen  für  die  Datierung  der  Denk- 
mäler zu  verwerten  seien.  Trotz  einer  äußerst  umfangreichen 
Literatur  ist  es  bisher  nicht  gelungen,  für  die  Zeit  vor  dem  Be- 
ginne des  Neuen  Reiches  (um  1650  v.  Chr.)  über  allen  Zweifel 
erhabene  Daten  zu  gewinnen.  Die  umfassende  Studie  über 
Chronologie  von  Eduard  Meyer  liegt  jetzt  in  französischer 
Übersetzung^  vor,  welche  die  verschiedenen,  von  Meyer  selbst 
gegebenen  Nachträge  einarbeitete  und  infolgedessen  in  manchem 
bequemer  benutzbar  ist  als  die  deutschen  Originalarbeiten. 
Hier  wird  das  vorhandene  Material  zusammengestellt  und  ge- 
sucht, die  ägyptische  Zeitfolge  von  der  Thronbesteigung  des  an- 
geblichen Reichsgründers  Menes   um  3315  v.  Chr.  an  und  die 

*  Geschichte  des  Altertums,  2.  Aufl.  I  2,  Stuttgart,  J.  G.  Cotta  1909. 
'  Chronologie  Egyptienne,  traduit  par  A.  Moret  (Ann.  Musee  Guiin  < 
Bibl.  d'Etudes  24  Heft  2)  Paris  1912. 


Ägyptische  Religion  (1910  — 1913)  199 

auf  den  19.  Juli  4241  gesetzte  Einführung  des  Kalenders  fest- 
zulegen. Während  eine  Reihe  von  Forschern  den  Datierungen 
Meyers  folgt,  haben  andere  mehr  oder  weniger  weitgehenden 
Widerspruch  erhoben  und  an  anderen,  um  Jahrhunderte  ab- 
weichenden Systemen  festgehalten.  Mir  selbst  erscheint  der  An- 
satz des  Beginnes  der  12.  Dynastie  um  2000  t.  Chr.  um  etwa 
500  Jahre  zu  niedrig  gegriffen,  und  ich  möchte  glauben,  daß 
man  sicherer  geht,  wenn  man  sich  einstweilen  für  das  Alte  und 
Mittlere  Reich  mit  einer  relativen  Chronologie  begnügt« 

Die  zweite  Schwierigkeit  liegt  darin,  daß  das  vorliegende 
Material  wesentlich  aus  magischen  Formeln  besteht,  welche  zum 
Teil  in  ihrem  Kerne  Jahrtausende  lang  im  Gebrauche  blieben. 
Man  stellte  einzelne  Teile  derselben  um,  modernisierte  gelegent- 
lich die  Sprache,  brachte  Zusätze  und  Streichungen  an.  Meist 
ist  es  aber  im  Einzelfalle  nicht  möglich  zu  entscheiden,  welche 
Sätze  jeweils  auf  neuer  Basis  beruhen,  welche  auf  uralte  Be- 
standteile zurückgehen.  Man  kann  daher  zwar  feststellen,  wann 
eine  Formelfassung  zuerst  in  den  uns  zugänglichen  Texten  sich 
findet,  nicht  aber,  oB  sie  damals  erst  entstanden  oder  nur  neu 

1  hergestellt  oder  aus  verschiedenartigen  älteren  Bestandteilen  zu- 
sammengestellt wurde.  Manche  Lehre,  welche  auf  Grund  ihres 
späten  Ai^tretens  jetzt  jung  erscheint,  wird  sich  vermutlich 
durch    neue    Funde    als    altes    religiöses    Gut   erweisen.     Eine 

;  historische  Darstellung  der  ägyptischen  Religion  kann  demnach 
nur  suchen,  unser  augenblickliches  Wissen  in  sich  folgende 
Perioden  einzugliedern,  in  vielen  Fällen  wird  aber,  wie  dies  die 

;  Erfahrung    bereits    mehrfach    gelehrt    hat,    die    Zukunft  jetzt 

!  sicher  erscheinende  Schlüsse  über  die  Zeitfolge  der  Lehren  als 
verfehlt  erweisen.  Dazu  kommen  tief  einschneidende  Lücken  in 
dem  vorliegenden  Materiale,  auf  die  bereits  in  einem  früheren 
Berichte^  zu  verweisen  war,  und  die  man  nur  durch  Vermutungen 
überbrücken  kann. 

Eine    endgültige    Lösung    des    entwicklungsgeschichtlichen 
^  Archiv  XIII  S.  347. 


200  A.Wiedemann 

Problems  ist  angesiclits  dieser  Sachlage  für  jetzt  nocli  nicht 
möglich.  Unter  den  hierher  gehörigen  Fragen  gewidmeten  und 
sie  der  Lösung  näher  führenden  Studien  ist  zunächst  die  neue 
Ausgabe  eines  Buches  von  Foucart^  zu  nennen.  Dieselbe  er- 
örtert den  Wert  der  ethnologischen  Forschung  und  der  ver- 
gleichenden Religionswissenschaft  für  die  ägyptische  Religion, 
und  umgekehrt,  den  Wert  der  ägyptischen  Religion  als  Ver- 
gleichsobjekt für  andere  Religionen  und  eine  Reihe  von  Glaubens- 
lehren im  Niltale,  wie  Tierkult,  Opfer,  Magie,  die  Toten,  Moral, 
vor  allem  um  an  solchen  Beispielen  entwicklungsgeschichtliche 
Momente  zu  verfolgen. 

Auf  ein  engeres  Gebiet  beschränkt  sich  zunächst  J.Baillet^, 
wenn  er  in  einem  umfangreichen  und  auf  ein  sehr  reichhaltiges 
Material  gestützten  Werke  die  ägyptische  MoraP  und  ihre  all- 
mähliche Ausbildung  darzustellen  sucht.  Er  erörtert  vor  allem 
den  Zusammenhang  der  Entwicklung  der  moralischen  Ideen  mit 
derjenigen  der  pharaonischen  Verwaltung,  wie  sie  in  dem  Ver- 
hältnisse zwischen  König  und  Untertanen  ihren  Ausdruck  fand. 
Die  Rechte  und  Pflichten  des  Herrschers  und  der  verschiedenen 
Klassen  von  Untergebenen  wurden  in  das  Auge  gefaßt  und  be- 
sonders auf  ihre  dauernde  Verbindung  mit  den  religiösen  Lehren 
und  Entwicklungen  hingewiesen.  Auf  populäre  Voiiräge  geht 
ein  von  den  Pyramidentexten  ausgehendes  und  dann  die  Zeit 
bis  zum  Ende  der  thebanischen  Blüte  behandelndes  Buch  von 
Breasted*  zurück. 

'  Histoire  des  Religions  et  Methode  comparative^  Paris  1912.  Die 
erste  Ausgabe  {La  Methode  comparative  dans  Vhistoire  des  Religions,  Paris 
1904)  wurde  Archiv  XIII  S.  346flF.  besprochen. 

'  Introduction  ä  V Etüde  des  Idees  morales  dans  VEgypte  antique, 
Blois  1912  (Paris,  Geuthner),  213  S.;  Le  Regime  pharaonique  dans  ses 
Rapports  avec  V Evolution  de  la  Mordle  en  Egypte,  Blois  1913  (Paris, 
Geuthner)  803  S. 

'  Eine  sehr  sorgsame  Übersicht  über  die  ägyptischen  Morallehren 
gab  A.  H.  Gardiner  Ethics  and  Morality  (Egyptian)  in  Hastings  Encyclo- 
paedia  of  Religion  Y  p.  475  ff. 

*  Development  of  Religion  and  Thought  in  ancient  Egypt,  London, 
Hodder  and  Stoughton  1912. 


Ägyptische  Religion  (1910—1913)  201 

Den  ägyptisclieii  Gottesbegriff  untersucht  Wiedemann.^   Das 
Ideogramm   für   das  Wort  Gott  ist  ein  Beil  und   scheint  auf 
einen  auch  sonst  gelegentlich  erwähnten  Waffenkult  hinzuweisen. 
Unter   den    Gottesauffassungen    findet   sich   der   Henotheismus, 
den  exklusiveren  Monotheismus  kennt  auch  die  vielbehandelte* 
Religionsreform  Amenophis'  IV.  nicht.    Göttersysteme  erstrecken 
sich  nur  auf  kleine  Göttergruppen ^,   nicht  auf  die  Gesamtheit 
des  Pantheons.    Die  Gottheiten  werden,  auch  wenn  man  sie  sich 
als  Tiere,  Pflanzen  oder  Steine  denkt,  völlig  anthropomorph  auf- 
gefaßt, so  daß  man  sog^r  den  Obelisken  als  Opfer  Kuchen  und 
Bier  darbrachte.    Die  Notwendigkeit  der  Befriedigung  mensch- 
licher Bedürfnisse  machte  die  Götter  von  den  Gaben  ihrer  An- 
hänger abhängig.    Noch  mehr  wurden  sie  dies  dadurch,  daß  sie 
I  der  Magie  unterworfen  waren  und  Formeln  sie  zwingen  konnten, 
je  nach  dem  Willen  des  Zauberers,  zu  helfen  oder  zu  schaden. 
Abweichend  von  dieser  Vorstellung  scheinen  auf  den  ersten  Blick 
die  Gedankengänge  auf  einer  Reihe  von  Stelen  zu  sein,  welche 
!  Maspero  und  neuerdings  vermehrt  Erman*  besprochen  hat.    In 
I  diesen  ist  nicht  die  Rede  von  einem  Zwingen  der  Gottheit,  man 
!  naht  ihr  vielmehr  preisend  und   bittend,  um  von  ihrer  Gnade 
I  Gaben  zu  erflehen.    Die  Ausnahme  erweist  sich  hier  bei  näherer 
Prüfung    als    eine   nur   scheinbare.     Die   fraglichen   Denkmäler 
gehen  von  Leuten  niederen  Ranges  aus,  welche  auf  magische 
Kenntnisse  und  Kraft  keinen  Anspruch  erheben  konnten.    Auf 
j  Erden  waren  sie  gewohnt  zu  bitten,  nicht  zu  befehlen.    Dieses 

^  God  (Egyptian)  in  Hastings  Encyclopaedia  of  Religion  Vi  p.  274  iF. 

•         '  Die  Geschichte  und  Bedeutung  des  Königs  schilderte  neuerdings 

j  A.  E.  P.  Weigall   The  Life   and  Times  of  Akhnaton,  Pharaoh  of  Egypt^ 

(London,  Blackwood  1910. 

!  '  Über  die  Ogdoas  von  Hermopolis,  in  der  er  das  älteste  uns  erhaltene 
ägyptische  theologische  System  sieht,  und  ihr  Verhältnis  zur  Enneade  von 
Heliopolis  handelte  J.  Capart  Lettre  ä  M.  Maspero  sur  V Enneade  Helio- 
poUtaine  in  Reo.  Trav.  (d.  i.  Recueil  de  Travaux  relatifs  ä  Ja  Philologie 

\Egyptienne)  XXXIII  p.  64ff. 

i  *  Denksteine  aus  der  thehanischen  Gräberstadt  in  Sitz.-Ber.  Akad. 
Berlin  1911  S.  1086ff. 


202  A.Wiedemann 

irdisclie  Verhältnis  übertrugen  sie  auf  ihre  Beziehungen  zu  der 
Gottheit  und  richteten  sich  dabei  mit  ihren  Wünschen  mit  Vor- 
liebe an  die  Volksgötter,  die  heiligen  Tiere  und  Sondergestalten, 
von  denen  sie  mehr  Herz  und  Zeit  für  Niedriggestellte  erwarten 
konnten  als  von  den  großen  Göttern  der  höheren  Kreise.  Wenn 
gelegentlich  vornehme  Leute  die  Gottheit  anflehen  undpreisen,  so 
wollen  sie  schmeichelnd  betonen,  für  wie  mächtig  sie  den  Gott 
halten  und  wie  sie  daher  auch  erwarten  können,  daß  er  von  seiner 
Macht  zu  ihren  Gunsten  entsprechenden  Gebrauch  macht.  Der 
Glaube  an  die  Allmacht  der  Magie  wfcrd  durch  solche  Bestre- 
bungen, durch  Güte  etwas  zu  erreichen,  ehe  man  zum  Zwange 
schreitet,  nicht  erschüttert. 

Eine  Publikation  besonders  wichtiger  religiöser  Texte  von 
Budge^  enthält  in  schönen  Faksimiletafeln,  teilweise  in  hiero- 
glyphischer Umschrift,  Übersetzung  und  Besprechung,  eine  neue 
Fassung  der  durch  den  Papyrus  Prisse  bekannten  Lebensregeln 
des  Ptah-hetep,  Hymnen  an  Rä-Harmachis  und  an  den  Mond, 
den  bereits  bekannten  magischen  Papyrus  Harris,  die  von  Wilkinson 
herrührende  Abschrift  der  Totenbuchkapitel  vom  Sarge  einer 
Königin  der  1 1 .  Dynastie,  einen  Kalender  der  Dies  fasti  et  nefasti, 
und  vor  allem  den  bisher  von  Budge  nur  in  Umschrift  und 
Übersetzung  zugänglich  gemachten,  aus  dem  Jahre  311  v.  Chr. 
stammenden  Papyrus  des  Nes-Min.  Letzterer^  setzt  sich  zu- 
sammen aus  einer  von  den  „Lamentationen  der  Isis  und  Nephthys" 
abweichenden  Fassung  dieser  Grabgesänge,  aus  Litaneien  des 
Sokaris  und  aus  den  Büchern  vom  Niederwerfen  der  Apepi- 
Schlange.  In  diesen  findet  sich  in  zwei  Exemplaren  ein  Welt- 
schöpfungsmythus, demzufolge  der  Sonnengott  seine  Tätigkeit 
hierbei  damit  eröffnete,   daß  er  durch  Masturbation  Schu  und 

*  E.  A.  Wallis  Budge  Facsimües  of  Egyptian  Hieratic  Papyri  in  the 
British  Miiseum  with  Descriptions ,  Translations  etc.,  London,  British 
Museum  1910. 

^  Die  Datierung  und  Einleitung  dieses  Textes  behandelte  Spiegelberg 
Das  Kolophon  des  liturgischen  Papyrus  aus  der  Zeit  des  Alexander  IV.  in 
Rec.Trav.  XXXV  p.  35  ff. 


Ägyptische  Religion  (1910— 1913)  203 

Tefnut  erzeugte^,  also  ohne  Zuhilfenahme  eines  weiblichen 
Wesens  schuf.  Als  man  es  in  späterer  Zeit  für  erforderlich 
hielt,  daß  jeder  männlichen  Gottheit  eine  weibliche  Ergänzung 
zur  Seite  stehe,  wurde  auf  Grund  dieses  Mythus  für  Rä-Tum 
eine  Göttin  Ter-f  ^ Seine  Hand'  gebildet^.  Das  Tagesverzeichnis 
unterscheidet  sich  von  dem  bekannten  Papyrus  Sallier  IV,  den 
unter  Hinzuziehung  ähnlicher  Texte  neuerdings  Wreszinski^ 
behandelt  hat,  dadurch,  daß  es  nur  den  Charakter  des  Tages 
anführt,  denselben  aber  nicht  mythologisch  zu  begründen  sucht. 
Man  wird  im  Zweifel  sein  können,  ob  hier  eine  ältere  Stufe 
dieser  Tagesverzeichnisse  vorliegt,  oder  ein  Auszug  aus  einem 
vollständigeren  Texte.  Letzteres  erscheint  mir  hier  ebenso  wie 
bei  einem  Kahuner  Papyrus,  welcher  für  die  Monatstage  Pro- 
gnosen enthält,  die  für  alle  Monate  die  gleichen  sind  (auch  die 
Schutzgottheiten  der  Monatstage  sind  in  Ägypten  für  alle  Monate 
dieselben  Gestalten),  wahrscheinlicher. 

Einen  hieratischen  Papyrus  zu  Petersburg,  welcher  unglück- 
liche Zeiten  Ägyptens  in  Gegensatz  zu  dem  glücklichen  Zu- 
stande unter  dem  Könige  Ameni  stellt,  veröffentlichte  in  vor- 
züglicher Weise  Golenischeff.*  Der  Text  gehört  einer  in 
Ägypten  weitverbreiteten  Literaturgattung^  an,  in  welcher  man 
Vorläufer  der  prophetischen  und  messianischen  Literatur  Israels 
I  hat  sehen  wollen,  ohne  daß  diese  Auffassung  bisher  hätte  sicher- 

;  gestellt  werden  können.® 

I  

1  ^  Vgl.  Wiedemann   Mn  altägypUscher  Weltschöpfungsmythus  in  Der 

i  Urquell  II  S.  57  fF.,  wo  auch  die  sonstigen  zahlreichen  Anspielungen  auf 
j  diesen  Mythus  aufgeführt  werden. 

!  '  E.  Chassinat  La  Deesse  Djeritef  in  Bull.  Inst.  Frang.  Arch.  Orient. 

\  X  p.  159f. 

'  Tagewählerei  im  alten  Ägypten  in  diesem  Archiv  XVI  S.  86  ff. 

*  Les  Papyrus  hieratiques  Nr.  1115,  1116^  et  1116B  de  VErmitage 
Imperial,  St.  Petersburg  1913,  pl.  23  —  5. 

*  Vgl.  R.  Weill  Les  derniers  Siecles  du  Moyen  Empire  Egyptien  I. 
i  Les HyJcsos,  Paris,  Imprimerie  Nationale  1911  (aus  Journ. asiat.  XVI S.  247  ff., 

507  ff.,  XVII  S.  5  ff.).     Fortsetzung  in  Journ.  asiat.  XI  Ser.  I  S.  535  ff. 
^  Vgl.  Archiv  XIII  S.  349  ff. 


204  ■^-  Wiedemann 

Die  Angaben  Herodots  über  die  ägyptische  Religion  wurden 
ausfübrlicb  von  Sourdille^  erörtert.  Über  Plutarcbs  Schilderung 
der  ägyptischen  Religion  gab  Scott-Moncrieff^  eine  Reihe  von 
Bemerkungen,  welche  hervorhoben,  daß  sie  in  alexandrinischem 
Sinne  gefärbt  und  von  Piatonismus  beeinflußt  sei.  Das  reiche 
Material,  welches  die  christlichen  Kirchenschriftsteller  für  die 
ägyptische  Religion  enthielten,  hat  Zimmermann^,  soweit  es  auf 
selbständigen  Quellenwert  Anspruch  erheben  kann,  zusammen- 
gestellt und  mit  den  Bemerkungen  der  Denkmäler  über  die  gleichen 
Punkte  verglichen.  Es  ergab  sich  hierbei,  daß  diese  Schrift- 
steller im  wesentlichen  nur  das  hervorheben,  was  für  ihre  Polemik 
gegen  das  Heidentum  ihnen  von  Wert  schien,  daß  aber  ihre  Be- 
hauptungen zuverlässig  und  vor  allem  für  die  ägyptischen  Volks- 
kulte, Tiergottheiten,  Sondergötter  und  Religionsauffassungen 
der  Spätzeit  von  großer  Bedeutung  sind.  Sie  füllen  zahlreiche 
Lücken  der  den  Kulten  der  höheren  Klassen  gewidmeten  In- 
schriften der  Tempel  und  reicheren  Gräber  aus. 

Eine  weitreichende  Förderung  der  Religionsforschung  ergab 
die  Fortsetzung  der  Sammlung  der  grundlegenden  Studien 
Masperos*,  welche  auf  diese  Weise  bequem  und  übersichtlich 
zugänglich  wurden.  Moret^  sammelte  eine  Reihe  seiner  po- 
pulären Aufsätze  in  einer  illustrierten  Ausgabe,  wobei  unter 
anderem  Amenophis  IV.,  der  Tod  des  Osiris,  die  Unsterblichkeits- 
lehre, der  römische  Isiskult  Besprechung  fanden. 

Beziehungen  zu  anderen  Religionen.  Für  die  be- 
sonders in  späterer  Zeit  herrschenden  Bestrebungen,  Osiris  mit 

^  Herodote  et  la  Religion  de  VEgypte,  Paris,  Leroux  1910. 

^  De  Iside  et  Osiride  in  Journ.  Hell.  Studies  XXIX  p.  78ff. 

'  Die  ägyptische  Meligion  nach  der  Darstellung  der  Kirchenschriftsteller 
und  die  ägyptischen  Denkmäler  (Studien  zur  Greschichte  des  Altertums 
heransgeg.  von  Drerup  V  5 — 6),  Paderborn  1912;  ausführlich  besprochen 
von  Wiedemann  Die  Bedeutung  der  alten  Kirchenschriftsteller  für  die 
Kenntnis  der  ägyptischen  Religion  in  Anthropos  VIII  S.  427  ff. 

*  Etudes  de  Mythologie  V — YI  {Bibliotheque  Egyptologique  XXVII  bis 
XXVIIl),  Paris,  Leroux  1911  —  12. 

^  Rois  et  Dieux  d'Egypte,  Paris,  Armand  Collin  1911. 


Ägyptische  Religion  (1910—1913)  205 

dem  Adonis  von  Byblos  gleichzustellen  und  anschließende  Erörte- 
rungen ist  das  grundlegende  Werk  von  Baudissin^  von  großer  Be- 
deutung. Die  viel  umstrittene  Frage,  inwieweit  ägyptische  reli- 
giöse Vorstellungen  und  Sitten  auf  die  Bildung  des  Israelitentums 
einwirkten,  wurde  von  Volt  er  in  Fortsetzung  seiner  früheren 
Studien  behandelt.  Auf  Grund  eines  sehr  reichhaltigen,  meist  der 
Spätzeit  entstammenden  Materials  suchte  er  eine  sehr  weitgehende 
Abhängigkeit  festzustellen,  welche  sich  bei  Festen^  und  vor  allem 
darin  zeige,  daß  die  israelitischen  Patriarchen,  Moses  und  Sim- 
son,  wesentlich  auf  ägyptische  Göttergestalten  zurückgingen.' 
Über  die  Einführung  des  Sarapis-Dienstes  und  sein  Verhältnis 
zum  Osiris-Apis  erschienen  zahlreiche  eingehende  Arbeiten*,  ohne 
daß  man  zu  einer  Einigung  über  diese  Punkte  gelangt  wäre. 
Späte  ägyptische  religiöse  Vorstellungen,  das  Verhältnis  des 
Sarapis  zu  Helios  und  seine  Sonnennatur,  die  Vergöttlichung 
des  Antinous  und  seine  Beziehungen  zu  Hermes,  die  im  späten 
Osiriskulte  auftauchenden  sogenannten  Kanopen  behandelte 
Weber.^  Auf  die  ägyptischen  Kulte  in  Karthago  und  Nordwest- 
Afrika  ging  Gsell*  ein,  während  ein  nachgelassenes  Werk  von 
» — 

^  Adonis  und  Esmun,  Leipzig,  J.  C.  Hinrichs  1911. 

*  Völter  Passah  und  Mazzoth  und  ihr  ägyptisches  Urbild^  Leiden, 
Brill  1912. 

'  Völter  Die  Patriarchen  Israels  und  die  ägyptische  Mythologie, 
Leiden,  Brill  1912;  Mose  und  die  ägyptische  Mythologie,  Leiden,  Brill  1912. 
Wer  war  Mose?    Leiden,  Brill  1913. 

*  E.  Petersen  Die  Serapislegende  in  diesem  Archiv  XIII  S.  47  ff.; 
C.  F.  Lehmann -Haupt  und  H.  Ph.  Weitz  Sarapis  in  Roschers  Lex.  der 
Myth.  IV  Sp.  338 ff.;  J.  Levy  8arapis  in  Rev.  Hist.  Bei.  LX  S.  285 ff., 
LXI  S.  162 ff.,  LXIII  S.  125 ff.;  Ernst  Schmidt  Die  Einführung  des  Sarapis 
in  Alexandria,  Heidelberger  Diss.  1909;  S.  de  Ricci  Sarapis  et  Sinope  in 
Rev.  Arch.XVl  p.  96 ff.;  U.  Wilcken  Zur  Geschichte  Pelusiums  in  Klio  IX 
S.  131  ff.;  H.  Ph.  Weitz  Zu  Sarapis  in  KHo  X  S.  120 ff.;  C.F.  Lehmann- 
Haupt  Zu  Sarapis  in  Klio  XS.394f.;  K.Sethe  Sarapis  und  die  sogenannten 
ytdtoxov  des  Sarapis  in  Abh.  Akad.  Göttingen  Phil.-Hist.  Kl.  XIV  Nr.  5. 

^  Drei  Untersuchungen  zur  ägyptisch- griechischen  Religion,  Heidelberg, 
Hörning  1911. 

®  Les  cultes  igyptiens  dans  le  nord-ouest  de  VAfrique  sous  V Empire 
Romain  in  Eev.  Hist.  Rel.  I  LX  p.  150  ff. 


206  ^-  Wiedemann 

Scott-Moncrieff^  die  wenig  tiefgreifenden  Zusammenliänge 
zwischen  ägyptisclien  und  christliclien  Vorstellungskreisen  und 
künstlerischen  Darstellungen  behandelte. 

Einzelne  Gottheiten.  In  übersichtlicher  Weise  stellte 
Röder^  das  Material  zusammen  für  Satis,  Schu,  Sechmet 
(Sechet),  Selket  (Serkt),  Seschat  (Safech),  Sobk  (Sebak),  Sokar, 
Sothis,  Sphinx,  und  besonders  eingehend^  für  Set  und  den 
Sonnengott.  Die  ägyptischen  Götterlegenden  sammelte  Budge.* 
Ein  interessantes  Beispiel,  wie  ägyptische  Gottheiten  in  Sonder- 
formen mit  beschränkter  Wirksamkeit  zerlegt  wurden,  brachte 
Daressy.^  Um  die  eine  Thueris  und  die  eine  Meschenit  zu  ent- 
lasten, bildete  man  12  Thueris,  welche  den  12  Monaten,  und 
5  Meschenit,  welche  den  5  Epagomenentagen  vorzustehen  hatten. 

Für  den  Hauptgott  der  Blütezeit  des  Neuen  Reiches  Amon-Rä 
war  ein  Text  aus  der  Zeit  des  RamseslI.®  sehr  interessant,  welcher 
alle  seine  Verehruugsorte  nennt  und  darlegt,  daß  alles  Existierende 
ihm  gehöre  und  ihm  zukomme,  da  er  alles  geschaffen  habe. 
Durch  ein  Dekret^  verlieh  der  Gott  dem  Oberpriester  Pi-net'em 
göttliche  Stellung  und  Rechte.  Eine  bisher  unbekannte  Sonder- 
form „Amon-Ap,  der  Bekämpfer  des  Übels"  traf  in  einem 
Graffito  auf*  Den  Sitz  des  Amon- Orakels,  die  Oase  Siwah, 
und  den  Weg  hierhin  schilderte  anschaulich  Falls^,  der  als  Be- 
gleiter des  Khedive  in  der  Lage  war,  die  Ruinenstätten  und  den 

^  PaganismandChnstianityinEgypt,  Cambridge,  üniversity  Press  1913. 

2  In  Roscber  Lex.  der  Myth.lY  Sp.413ff.,  565 ff.,  581ff.,  651ff.,  713ff., 
1093ff.,  1119ff.,  1273ff.,  1297ff. 

8  1.  c.  Sp.  725ff.,  1155  ff. 

^  Egyptian  Literature  1.     Legends  of  the  Gods,  London  1912. 

^  Thoueris  et  Meskhenit  in  Bec.  Tra?;.  XXXIY  p.  189  ff. 

^  Publiziert  und  behandelt  von  Daressy  Litanies  d'Amon  du  Temple 
de  Louxor  in  Bec.  Trav.XXXll  p.  62  ff. 

'  G.  Daressy  Le  Beeret  d'Ämon  en  faveur  du  grand  pretre  Pinozem 
in  Bec.  Trav.  XXXII  p.  175  ff. 

^  Wiedemann  Notes  on  some  Egyptian  Monuments  §  3  in  Proc.  Soc. 
Bihl.  Ärch.  XXXIII  p.  166. 

^  Siwah,  Die  Oase  des  Sonnengottes  in  der  libyschen  Wüste,  Mainz, 
Kirchheim  1910. 


Ägyptische  Religion  (1910—1913)  207 

angeblichen  Sonnenquell  unter  günstigen  Verhältnissen  zu  be- 
suchen und  gute  photographische  Aufnahmen  von  einer  Reihe 
interessanter  Punkte  zu  machen. 

Eine  ausführliche  monographische  Behandlung  wurde  dem 
Gotte  Ptah  gewidmet^,  für  den  auch  einige  neue  Texte,  ein 
Hymnus  an  ihn  und  Sechet^,  und  ein  solcher  an  ihn  und  die 
Lokalgöttin  der  thebanischen  Nekropole  Merseker^  zugänglich 
gemacht  wurden.  In  Memphis  fanden  sich  zahlreiche  Votiv- 
stelen  für  die  Sonderform  ,,Ptah,  der  Erhörer  der  Bitte",  welche 
die  Bilder  von  häufig  zahlreichen  Ohren '^  trugen.  Sie  sollten 
den  Gott  befähigen,  die  von  den  verschiedensten  Seiten  auf  ihn 
einstürmenden  Bitten  gleichzeitig  zu  vernehmen  und  zu  erhören. 
Ein  zur  Zeit  des  Sabako  aus  älteren  Urkunden  zusammen- 
gestellter, zuletzt  von  Erman^  behandelter  Text  gewährt  einen 
Einblick  in  Bestrebungen,  die  religiöse  Bedeutung  von  Memphis 
und  seinem  Gotte  Ptah  in  möglichst  hellem  Lichte  zu  zeigen. 

Ein  in  der  Spätzeit  verbreiteter  Sagenkreis  ^  schilderte,  wie 
die  verderbliche  Löwengöttin  Tefnut  nach  Ägypten  kam  und 
besänftigt  wurde.  Er  bildet  damit  einen  eigenartigen  Versuch, 
den  Widerspruch  auszugleichen,  der  auch  bei  anderen  löwen- 
köpfigen  Göttinnen  in  die  Erscheinung  tritt,  daß  sie  bald  mild, 
bald  schädigend  sind.    An  anderen  Stellen  hat  man  das  gleiche 


^  M.  Stolk  Ptah,  Leipziger  Diss.,  Berlin,  Bernhard  Paul  1911. 

*  Miss  Mogeusen  A  stela  of  the  XVIII f'^  or  XlX^f*  dynasty  with  a 
\hymn  to  Ptah  and  SeJchmet  in  Proc.  Soc.  Bibl.  Ärch.  XXXY  S.  37  ff.  und 

besser  Platt  Notes  on  the  Stele  of  SeTchmet-mer,  1.  c.  p,  129ff, 
I     .    '  Maspero  Notes  de  Voyage  §  13  in  Ann.  Serv.  Ant.  X  p.  143  f. 

*  W.  M.  Flinders  Petrie  Memphis  I,  London,  Quaritch  1909. 

^  Mn  DenJcmal  memphitischer   TJieologie  in   Sitz.-Ber.  Akad.  Berlin 
,1911  S.  915ff. 

I  ^  H.  Junker  Der  Auszug  der  Hathor-  Tefnut  aus  Nuhien  in  Abh.  Akad, 
Berlin  1911.  Anhang.  —  K.  Sethe  Zur  altägyptischen  Sage  vom  Sonnenauge, 
das  in  der  Fremde  war  (Untersuchungen  zur  Geschichte  und  Altertums- 
ikunde  Ägyptens  herausgeg.  von  Sethe  V  3),  Leipzig,  J.  C.  Hinrichs  1912, 
Iversuchte,  diese  und  analoge  Berichte  in  ihre  einzelnen  Bestandteile 
zu  zerlegen. 


208  ^'  Wiedemann 

io  bequemerer  Weise  erreicht,  indem  man  die  Gottheit  als  mild 
in  Gestalt  der  (Katze)  Bast  und  verderblich  in  der  der  (Löwin) 
Sechet  darstellte.  —  Anrufungen  der  Kronen  und  der  Uräus- 
schlange  des  Gottes  Sebak  wurden  veröffentlicht.^  Das  Bild 
des  widderköpfigen  Chnum,  der  den  König  auf  der  Töpferscheibe 
bildet,  diente  unter  Ramses  IL  als  Hieroglyphenzeichen^.  Eine 
Stele  ergab  Gebete  an  Hathor  und  Thoth  als  Gottheiten  der 
Sinai  -  Halbinsel.^  Den  großen  Hymnus  auf  den  Nil  gab  M  a  s  p  e  r  o 
in  hieroglyphischer  Umschrift  und  mit  eingehender  Einleitung 
heraus.*  Über  die  Dämonen,  welche  den  einzelnen  Teilen  des 
Jahres  vorstanden^,  über  einen  Bier- Dämon ^,  über  die  Anbetung 
des  großen  Fliegenwedels  des  Horus  neben  dem  Gotte  Horus^, 
über  die  Windgötter  ^  und  die  Beziehungen  zwischen  Amon 
und  den  Winden^  wurde  gehandelt.  Dem  Gotte  Bes  und  den 
mit  ihm  in  Verbindung  stehenden  Zwerggottheiten  widmete 
Ballod^^  eine  sorgsame  Untersuchung. 

Die  Kulte  Unter -Nubiens  entsprachen  zunächst  denen  Ägyp- 
tens, von  wo  aus,  besonders  unter  der  12.  Dynastie  und  unter 
Ramses  IL,  das  Land  mit  Tempeln  besetzt  worden  war.  All- 
mählich drangen  einzelne  einheimische  Vorstellungen  und  Gott- 
heiten auch  in  diese  Tempel  ein.  über  diese  Verhältnisse  er- 
gibt die  von   zahlreichen  Tafeln   begleitete   Gesamtpublikation 

*  Erman  Hymnen  an  das  Diadem  der  Pharaonen  in  Abh.  Akad. 
Berlin  1911. 

'  A.E.P.  Weigall  Miscellaneom  Notes  §  9  in  Ämi.  Serv.  Änt.  XI  p.  172  f. 
^  B.  Tnrajeff  J>«e  naophore  Statue  Nr.  97  im  Vatikan  in  Ägypt.  Zeitschr. 
XL  VI  S.  74  ff. 

*  Hymne  au  Nil  (Inst.  Frang.  Ärch.  Orient.  BiN.  d'  Etudes),  Kairo  1912. 
^  Daressy  La  Semaine  des  Egyptiens  II  in  Ann.  Serv.  Ant.  X  p.  180 ff. 
«  Wiedemann   Varia  §  6  in  Sphinx  XV  S.  130  ff. 

'  Maspero  Notes  de  Voyage  §  15  in  Ann.  Serv.  Ant.  XI  p.  152  f. 

^  W.  L.  Nash  Notes  on  some  Egyptian  Antiquities  §  42  in  Proc.  See. 
Bibl.  Arch.  XXXII  p.  193  f. 

®  Spiegelberg  Amon  als  Gott  der  Luft  oder  des  Windes  (Ttvsvficc)  lu 
Ägypt.  Zeitschr.  IL  S.  127  f. 

^°  Prolegomena  zur  Geschichte  der  zwerghaften  Götter  in  Ägypten^ 
Münchener  Diss.,  Moskau  1913. 


Ägyptische  Religion  (1910—1913)  209 

der  Tempel  in  dem  von  dem  Stausee  oberhalb  Assuan  bedrohten 
nördlichen  Teile  des  Landes^  wertvolle  Andeutungen.  Besonders 
sind  unter  den  nubischen  Göttern  zu  nennen  Arsenupbis,  den 
man  dem  Osiris  anzugleichen  trachtete  ^^  und  Mandulis,  an  den 
poetisch  abgefaßte  griechische  Weiheinschriften  erhalten  blieben.^ 
Ein  als  Neger  dargestellter  Gott,  den  eine  Stele  zu  Brüssel 
vorführt*,  steht  einstweilen  ganz  vereinzelt  da. 

Durch  einen  Formstein  des  beginnenden  Neuen  Reiches  in 
Berlin^  war  ein  vom  Wagen  aus  einen  Löwen  bekämpfender 
Gott  Sched  bekannt  geworden,  dessen  Namen  Erman^  als  ^Er- 
retter' (ägypt.  sched)  deutete  und  den  er  als  eine  Form  des 
Onuris  (Anher)  ansah.  Die  Benutzung  des  von  Pferden  ge- 
zogenen Wagens,  der  bei  ägyptischen  Göttern  erst  in  spät  saitischer 
Zeit  vorkommt'^,  spricht  nicht  für  ägyptischen  Ursprung  der 
Gestalt.  Aus  dem  benachbarten  Asien  kamen  dagegen  bereits 
früh  reitende  und  fahrende  Gottheiten  nach  dem  Niltale.  Der 
Name  wird  daher  eher  mit  dem  semitischen,  im  Alten  Testament 
nur  im  Plural  für  ^Dämonen'  verwendeten  ^6  zusammenhängen. 
Ein  neu  gefundenes  DönkmaP  aus  dem  ersten  Teile  der  18.  Dynastie 

^  Les  Temples  immer ges  de  la  Nubie:  R.  Gauthier  Le  Temple  de  Ka- 
Idbchah  (noch  unvollendet),  Kairo  1911;  G.  Roeder  und  F.  Zucker  Bebod 
lis  Kdlahsche,  3  Bde.  Kairo  1911—1912;  Blackman  The  Temple  of 
Dendur,  Kairo  1911;  H.  Gauthier  Le  Temple  de  Ouadi  es-Seboua,  2  Bde. 
Kairo  1912;  Maspero  ei  Bsbieanii  Eapports ,  Kairo  1909  — 1910;  Maspero 
Bocuments,  Kairo  1912  (bisher  eine  Lieferung). 

2  Blackman  The  Nubian  God  Ärsenuphis  as  Osiris  in  Proc.  Soc.  Bihl. 
Arch.  XXXII  S.  33  ff. 

'  Gauthier  Cinq  Inscriptions  Grecques  de  Kalahchah  (Nubie)  in  Ann. 
Serv.  Ant.  X  S.  66  ff. 

*  Capart  Sieles  egyptiennes  in  Bull.  Musees  Royaux  Bruxelles  XII S .  6 1  ff. , 
wo  auf  anderen  Stelen  eine  Statue  Amenophis'  III.  und  eine  solche  Ram- 
«es'  II.  göttlich  verehrt  werden. 

^•Publiziert  von  Schreiber  Alexandrinische  Toreutik  in  Abb.  Ges.  der 
Wiss.  Leipzig  XIY  S.  279,  im  Umriß  Erman  Ägypt.  Bei.  2.  Aufl.  Fig.  96. 

•^  Ägypt.  Religion  S.  91,  180. 

"'  Wiedemann  Notes  et  Remarques  §  5  in  Rec.  Trav.  XX  S.  137  ff. 

^  Davies  The  god  Shed  in  the  eighteenth  Bynasty  in  Agypt,  Zeitschr. 
IL  S.  125  f. 

Archiv  f.  Religionswissenschaft  XVII  14 


210  A.  Wiedemann 

zeigt,  daß  ScHed  ein  jugendliclier,  mit  dem  Bumerang  bewaff- 
neter, also  kriegerisclier  Gott  war. 

Die  Texte,  welche  in  Luxor  in  ausführlicher  Weise  die  gött- 
liche Zeugung  und  Geburt  des  Königs  Amenophis  III.  berichten 
und  welche  auch  für  Hätschepsut  und,  wenigstens  in  einem 
Bruchstück,  für  Ramses  IL  vorliegen,  wurden  zusammen  mit 
den  Berichten  über  seine  Krönung  und  Vergöttlichung  nach 
photographischen  Aufnahmen  veröffentlicht  und  besprochen.^  Die 
Verehrung  Amenophis  L  in  der  thebanischen  Nekropole^  und 
der  Kult  Ptolemäus  I.  zu  Ptolemais  in  Oberägypten  ^  wurden 
erörtert.  Griffith*  stellte  Angaben  zusammen,  welche  dafür 
sprechen,  daß  Ertrunkene  in  Ägypten  eine  gewisse  Göttlichkeit 
gewannen  und  dann  als  hesi  'Gepriesener'  bezeichnet  wurden. 
Da  letzterer  Ausdruck  aber  ein  auch  sonst  vorkommender  Ehren- 
titel ist,  so  ist  es,  falls  keine  anderweitigen  Anzeichen  vorliegea, 
im  einzelnen  Falle  nicht  möglich,  aus  ihm  allein  zu  erschließen, 
daß  sein  Träger  als  Ertrunkener  anzusehen  sei. 

Über  heilige  Bäume  äußerte  sich  Sethe^,  doch  wird  die 
Auffassung  von  äsch  als  Zeder  von  anderen  Agyptologen  stark 
bezweifelt.  Der  Kult  des  Granatbaumes  ^  und  die  den  Bewohnern 
von  Pelusium  zugeschriebene  Verehrung  von  Zwiebel,  Knoblauch 
und  Blähungen '^  wurden  besprochen. 

Tierkult.    Über  den  Tierkult  handelte  im  Zusammenhange 


*  Collin  Campbell  The  miraculous  hirth  of  hing  Amonhotep  III.,  Edin- 
burgh, Oliver  and  Boyd  1912. 

*  Erman  Zwei  Aktenstücke  aus  der  thebanischen  Graberstadt  in  Sitz.- 
Ber.  Akad.  Berlin  1910  S.  330  fiF. 

'  Planmann  Der  Stadtkult  von  Ptolemais  in  Hermes  XL  VI  S.  296  ff.; 
vgl.  Plaumann  Ptolemais  in  Oberägypten,  Leipzig,  Quelle  u.  Meyer  1910. 

*  Herodotus  II  90.  Apotheosis  by  drowning  in  Ägypt.  Zeitschr.  XL  VI 
S.  132ff. ;  vgl.  V.  Bissing  Apotheosis  by  drowning  in  Rec.  Trav.  XXXIV  S.  37  f. 

^  Osiris  und  die  Zeder  von  Byblos  in  Ägypt.  Zeitschr.  XL VII  S.  71  ff. 

^  Newberry  The  Tree  of  the  Heracleopolite  Nome  in  Ägypt.  Zeitschr. 
L  S.  78f. 

'  A.  Jacoby  Beiträge  zur  Geschichte  der  spätägyptischen  Religion  in 
Bec.  Trav.  XXXIV  S.  9  ff. 


Ägyptische  Religion  (3  910—1913)  2 1 1 

Wiedemann.^  Von  der  Bezeichnung  Totemismus  sieht  man  in 
Ägypten  besser  ab,  bis  eine  scharfe  und  allseitig  angenommene  De- 
finition dieses  Begriffes  festgestellt  ist.  Der  Ägypter  kennt  weder 
eine  Abstammung  von  seinen  heiligen  Tieren  noch  ein  sexuelles 
Tabu  oder  Speisevorschriften,  die  mit  dem  Kulte  in  Verbindung 
standen.  Der  Tierkult  bildete  eine  in  der  Nagada -Zeit  im  Kreise 
der  ürbewohner  des  Landes  verbreitete  Religionsform,  welche 
am  Ende  dieser  Periode  in  meist  wenig  geschickter  Weise  mit 
der  Verehrung  der  geistiger  gedachten  späteren  großen  Götter 
des  Landes  in  Verbindung  gebracht  worden  ist.  Der  reine  Tier- 
dienst bestand  dann,  besonders  im  Kreise  des  niederen  Volkes, 
dauernd  fort,  fand  aber  auch  Eingang  in  die  großen  Tempel. 
In  einer  Reihe  derselben  wurde  als  Verkörperung  des  Tempel- 
gottes ein  heiliges  Tier  verehrt  und  im  Naos  in  Gefangenschaft 
,  gehalten.  Für  diese  von  den  griechischen  Autoren  geschilderte 
'  Sitte  brachte  ein  einheimischer  Bericht  aus  Philae  wichtige  An- 
gaben.^ Er  führte  die  Zeremonien  bei  der  Inthronisation  eines 
heiligen,  aus  Nubien  bezogenen  Falken  auf,  deren  bereits  Strabo  ^ 
gedachte.  Das  Tier  galt  als  die  Seele  (ha)  des  Rä ,  wie  auch  andere 
heilige  Tiere  als  die  Seele  des  jeweilig  in  ihnen  verkörperten  großen 
Gottes  auftreten.  Aus  Äthiopien  oder,  wie  die  Texte  sagen,  aus 
Punt  bezog  man  das  heilige  Tier,  da  man  dort  im  Süden  das 
Ursprungsland  der  Sonne  suchte.  Politische  Gründe  oder  der 
'  Gedanke,   daß  in  Äthiopien  das  wahre  Gottesreich  fortbestehe, 

*  Der  TierJcult  der  alten  Ägypter  (Der  alte  Orient  XIV  1)  Leipzig,  J.  C. 
Hinrichs  1912.  Vgl.  Archiv  IX  S.  482ff.,  XIII  S.  358ff.,  XIV  S.  640f.  und 
^  die  sehr  sorgsame  Arbeit  von  Zimmermann  Der  ägyptische  Tierkult  nach 
der  Darstellung  der  Kirchenschriftsteller  und  die  ägyptischen  DenTcmäler, 
Bonner  Diss.  Kirchhain  N.  L.  1912  (Abdruck  aus  des  Verfassers  Die  ägyp- 
tische Religion  usw.,  Paderborn  1912).  Zahlreiche  Notizen  über  die  ägyp- 
tischen heiligen  Tiere  finden  sich  in  dem  reichhaltigen  Werke  von  0.  Keller 
Die  antike  Tienoelt,  2  Bde.  Leipzig,  W.  Engelmann  1909  —  1913. 

^  H.  Junker  Der  Bericht  Stratos  über  den  heiligen  Falken  von  Philae 
im  Lichte  der  ägyptischen  Quellen  in  Wiener  Zeitschr.  f.  d.  Kunde  des 
Morgenlandes  XXVI  S.  42  ff. 

»  XVII  p.  818. 

14* 


212  A.  Wiedemann 

den  griechiBclie  Berichte   von  dem  Ideallande  Äthiopien  nahe- 
legen könnten,  haben  dabei  kaum  mitgesprochen. 

Die  Bedeutung  des  Tierkultes  wuchs  in  der  Spätzeit  als  eine 
Art  Reaktion  gegen  die  in  das  Land  eindringenden  fremden  Kulte. 
Außerdem  hoffte  man  an  diesen  altnationalen  Göttern  eine  Stütze 
zu  finden,  nachdem  die  großen  Götter  im  Kampfe  Ägyptens 
mit  dem  Auslande  versagt  hatten.  Diese  Entwicklung  erklärt 
die  große  Zahl  der  aus  der  Spätzeit  stammenden  Mumien  und 
Statuetten  von  Tieren  und  die  vielfache  Erwähnung  des  Kultes 
bei  den  Griechen.  Die  Zahl  der  in  Einzelvertretern  oder  in  ihrer 
Gesamtheit  verehrten  Tierarten  war  sehr  groß,  sie  blieb  aber 
für  die  meisten  Arten  auf  kleine  Bezirke  beschränkt.  Dabei 
achtete  man  bei  den  als  unmittelbare  göttliche  Inkorporation 
geltenden  Geschöpfen  auf  bestimmte  Kennzeichen ,  verehrte  also 
eine  bestimmte  Art.  Bei  den  nur  hochgeachteten  Tieren  spielten : 
genaue  zoologische  Unterschiede  keine  Rolle,  wie  dies  vor  allem 
die  Mischung  ähnlicher  Arten  in  den  Tiemekropolen  beweist. 
So  fielen  die  verschiedenen  Sperber-  und  Falkenarten  zusammen, 
Schakal,  Hund  und  der  kleine  ägyptische  Wolf  wurden  nicht 
geschieden,  usf.  Reiche  Aufschlüsse  in  dieser  Beziehung  brachte 
vor  allem  die  Fortführung  der  Forschungen  von  L ortet  und 
Gaillard^,  welche  in  systematischer  Weise  die  Tiermumien 
und,  soweit  dies  angesichts  der  häufig  stark  schematisierten 
Darstellungen  möglich  war,  die  Abbildungen  zoologisch  be- 
stimmten. 

Bilder  einer  Reihe  heiliger  Tiere  fanden  sich  auf  Skarabäen 


^  La  Faune  momifiee  de  Vancienne  Egypte  Ser.  5  in  Arch.  Mus.  Hist 
Nat.,  Lyon,  Georg  1909;  Gaillard  Les  Oies  de  Meidoum  in  Bev.  Egypt. 
XII  S.  2 12  ff.  Vgl.  Archiv  XIII  S.  358.  —  Eine  Reihe  7on  Vogelarten  in 
den  Reliefs  behandelte  Boussac  in  Bec.  Trav.  XXXI  S.  138  f.,  180  f;  XXXII 
S.ÖOff.,  56ff.;  XXXIII  S.  56ff.;  XXXIV  S.  163 ff.;  XXXV  S.  56ff.;  Weigall 
in  Ann.  Serv.  Ant.  XI  S.  172  f.  Wiedemann  Notes  on  some  Egyptian  Mo- 
numents §  5  in  Proc.  Soe.  EM.  Arch.  XXXIII  S.  166f.  machte  anf  üschebtis 
und  Herzenskarabäen  aufmerksam,  welche  heiligen  Tieren  mitgegeben 
worden  waren. 


Ägyptische  Religion  (1910—1913)  213 

und  anderen  Amuletten.^  Stiftungen  für  den  lebenden  und  den 
toten  Apis  durcli  den  König  Nectanebus  I.  untersuchten  Dar essy^ 
und  Spiegelber g.^  Das  Anubistier  wurde  im  wesentlichen  für 
einen  Hund  erklärt."^  Amon-Rä  erschien  auf  einer  Stele  als 
Widder  dargestellt.^  Widder  und  Bock  besprach  Lefebure^, 
Stellen,  an  denen  als  heiliges  Tier  von  Mendes  ausnahmsweise 
der  Bock,  nicht  der  Widder  abgebildet  wird,  Wiedemann^, 
Nilpferdstatuen,  besonders  der  ältesten  Zeit,  v.  Bissing^  und 
Wiedemann^,  den  Falken  als  Tier  des  Gottes  Horus  auf  Grund 
einer  schönen  Statue  im  Louvre  Benedite^^,  die  Schwalbe  New- 
berry^^,  den  Phönix  Türk^^  und  Zimmer  mann.^^  Über  die  Be- 
i  stattung  von  heiligen  Sperbern  und  Ibissen  handelten  Ostraka 
I  aus  Kom  Ombo.^*    Für  die  Verehrung  des  Krokodils  war  eine 

j  *  A.  Grenfell  Les  Divinites  et  les  animaux  figures  sur  les  Scaräbees 

\  in  Rendiconti  Acad.  Lincei  XVII  S.  135  ff. 

^  Construction  d'un  Temple  d'Apis  par  Nectanebo  I«r  in  Ann.  Serv. 
Ant.lX  S.  154  ff. 

3  Bei  J.  E,  Quibell    ExcavaUons   at  Saqqara  (1907/08),  Kairo   1909 
S.  89  ff. 

*  V.  BisBing  Zu  den  Hundegöttern  in  Rec.  Trav.  XXXIII  S.  17f. 
^  Ahmed  Bey  Xamal  Rapport  sur  les  FouilJes  faites  dans  la  Montagne 
de  Sheikh  Smd  in  Ann.  Serv.  Ant.  X  S.  145  ff. 

®  LeBouc  des  Lupereales  in  Bev.Hist.Rel.  LIX  S.  73 ff.;  vgl.Burchardt, 
Ein  saitischer  Statuensockel  in  Ägypt.  Zeitschr.  XLVII  S.  111  ff. 
'  Varia  §  12  in  Sphinx  XVI  S.  15  ff. 

®  Altägyptische    Nilpferdstatuetten  in  Münchner  Jahrb.  für  Bildende 
Kunst  1909  S.  127  ff. 

®  Notes  an  some  Egyptian  Monuments  §  9  in  Froc.  Soc.  Bibl.  Arch. 
XXXIII  S.  197f. 

^°  Faucon  ou  Epervier ,  ä  propos  d'une  recente  acquisition  du  Musee 
tien  du  Louvre  in  Mem.  Acad.  Inscr.  Beiles  Lettres.    Fondation  Piot 
XVII  Nr.  1. 

"  In  Ann.  Arch.  Univ.  Liverpool  II  S.  49ff. 

*^  Phönix  in  Röscher  Lex.  der  Myth.  III  Sp.  3450  ff.  (Das  klassische 
^Material.) 

''  Die  Phönixsage  in  Theologie  und  Glaube  IV  S.  202  ff.  Vgl.  für  den 
ägyptischen  Namen  Spiegelberg  Zu  dem  Namen  des  Phönix  in  Ägypt. 
Zeitschr.  XL  VI  S,  142. 

^*  Mitteilung  in  Orient.  Lit.  Zeit.  XVI  Sp.  325. 


214  A.  Wiedemann 

von  Spiegelberg*  edierte  Inschrift  von  Interesse,  die  Fütterung 
des  heiligen  Krokodils  stellte  ein  römisches  Mosaik  dar.^  Weitere 
Besprechungen  fanden  der  Fisch ^,  die  Kröte*  und  das  auf  einem 
saitischen  Sarge  dargestellte  Seepferd. '^ 

Als  echter  Volksglaube  hat  der  Tierkult  den  Fall  der  ägyp- 
tischen Religion  überdauert.  Für  sein  Fortleben  im  heutigen 
Niltale  geben  zahlreiche  Volkserzählungen  von  der  dämonischen 
Natur  und  der  Unverletzlichkeit  bestimmter  Tierarten  Belege.*^ 
Vor  allem  die  Katzen  und  neben  ihnen  die  Eidechsen  treten  in 
ihnen  auf.  Letztere  sind  besonders  bemerkenswert,  da  zwar 
zahlreiche  kleine  Bronzesärge  das  Bild  einer  Waran- Eidechse 
tragen,  das  Tier  aber  in  den  Texten  keine  größere  Rolle  spielt. 
Nur  gelegentlich  wird  es  als  böses  Geschöpf  dargestellt'  und 
scheint  als  dem  Krokodile  nahestehend  angesehen  worden  zu  sein.^ 

Kultus.  Eine  neu  erschlossene  Kapelle  zu  Abusimbel  ent- 
hielt im  wesentlichen  noch  ihr  altes  Inventar  an  Altar,  Obelisken 
und  Statuen  und  gestattete  auf  diese  Weise  Rückschlüsse  auf 
die  Art  des  hier  dargebrachten  Kultes.^    Die  dem  Königskulte 

^  Eine  demotische  Inschriftvon  Gebel  el  -  Tarif  in  Ann.  Serv.  Ant.  X  S.  31  ff. 

'  Wiedemann  Notes  on  some  Egyptian  Monuments  §  14  in  Proc.  See. 
Bihl  Arch.  XXXIV  S.  300,  pl.  35. 

■'  Wiedemann  Der  Fisch  Änt  und  seine  Bedeutung  in  Sphinx  XIV 
S.  231  ff.,  XVI  S.  14 f.;  vgl.  Mahler  Das  Fischsymbol  auf  ägyptischen  Denk- 
mälern in  Zeitschr.  Deutsch.  Morgenl.  Ges.  LXVII  S.  37  ff. 

*  Nash  Notes  on  some  Fgyptian  Antiquities  §  41  in  Proc.  Soc.  BiU. 
^rc/i.  XXXII  S.  125. 

^  Murray  An  Egyptian  Hippocampus  in  British  SchoolArchaeol.Egypt, 
Hist  Studies  S.  39f. 

°  Literatur  bei  Wiedemann  in  Anthropos  VIII  S.  428.  Den  Bericht 
von  Legrain,  auf  den  Archiv  XIII  S.  360  hingewiesen  wurde,  hat  Wreszinski 
Theriomorphe  Vorstellungen  im  heutigen  Ägypten  in  diesem  Archiv  XVI 
S.  628  ff.  in  Übersetzung  wiedergegeben. 

^  Boussac  Sauriens  figures  sur  les  Cippes  d'Horu^s  in  Rec.  Trav.  XXXI 
S.  58 ff. 

^  Vgl.  für  derartige  Vorstellungen  Keller  Die  antike  Tierweltll  S.  275 f 

^  Maspero  La  Ghapelle  nouvelle  d'lbsamboul  in  Ägypt.  Zeitschr. 
XLVIII  S.  91  ff.;  Jdquier  Destination  de  l'autel  d'lbsamboul  in  Sphinx 
XVI  S.  109ff. 


Ägyptische  Religion  (1910—1913)  215 

in  den  thebanischen  Tempeln  der  Westseite  gewidmeten  Räume 
besprach  Maspero.^  Die  früher  vielfach  als  Altäre  aufgefaßten 
Steinwürfel  in  den  ägyptischen  Tempeln  deutete  Je quier^  ebenso 
wie  früher  Schäfer^  als  Postamente.  Kyle  hatte  gesucht  für 
Ägypten  das  Brandopfer  als  nicht  vorhanden  zu  erweisen*,  dem- 
gegenüber verwies  Jequier^  auf  Darstellungen  der  18.  Dynastie, 
welche  die  Opferverbrennung  deutlich  vorführen.  Auch  Junker^, 
der  gleichzeitig  das  Menschen-  und  Schlachtopfer  besprach,  hob 
das  Vorkommen  des  Verbrennens  von  Opfergaben  hervor.  Einer 
der  Zwecke  der  Libationen  im  Grab-  und  Tempelkulte  war, 
dem  Körper  die  verlorene  Feuchtigkeit  zurückzugeben.  Wenn 
•eine  ähnliche  Wirkung  vereinzelt  der  Räucherung  zugeschrieben 
zu  werden  scheint',  so  ist  deren  Hauptzweck  doch  die  rituelle 
Reinigung  und  Vertreibung  der  Dämonen.  Die  Räuchergefäße 
der  Ägypter  besprach  Wigand^  in  Verbindung  mit  den  son- 
stigen entsprechenden  Gefäßen  des  Altertums,  eine  besondere  Art 
des  Gerätes  erörterte  Blackman.^  Über  die  Verwendung  von 
Blumensträußen  im  Kulte  äußerte  sich  Röder.^^ 

Die  große  Inschrift  von  Abydos,  in  welcher  Ramses  IL  seine 

^  Notes  de  Voyage  §  14  in  Ann.  Serv.  Änt  XI  S,  145  ff. 

-  Äutels  ou  piedestaux  in  Sphinx  XVI  S.  114  ff. 

"  Ein  Tempelgerät  in  Ägypten  in  Ägypt.  Zeitschr.  XXXV  S.  98f. 

'^  E.  Meyer  Gesch.  des  Altertums,  2.  Aufl.  12  S.  93  erklärte,  daß  Brand- 
opfer in  Ägypten  in  der  Spätzeit  vorkämen,  dagegen  niemals  in  den 
Darstellungen  der  Denkmäler. 

^  La  Corribustion  des  Offrandes  funer air es  in  Reo.  Trav,  XXXII  S.  166  ff. 
Vgl.  Märchen  vom  Schiffbrüchigen  Z.  5 5 f.;  BituaTbuch  der  Mut  (Pap. 
Berlin  3053)  pl.  16  Z.  3  in  Hieratische  Papyrus  aus  Berlin  I  pl.  49. 

®  Die  Schlacht-  und  Brandopfer  umd  ihre  Symbolik  im  Tempelkulte 
der  Spätzeit  in  Ägypt.  Zeitschr.  XL VIII  S.  69ff. 

■^  Blackman  The  Significance  of  Incense  and  Libations  in  Funerary 
and  Tempel  Ritual  in  Ägypt.  Zeitschr.  L  S.  69ff. 

^  Thymiateria  in  Bonner  Jahrbücher  CXXII  S.  1  ff. 

^  RemarJcs  on  an  Incense- Brazier  depicted  in  Thuthotep's  Tomb  at 
El-Bersheh  in  Ägypt.  Zeitschr.  L  S.  66ff.  (Die  gleiche  Auffassung  des 
Geräts  bereits  Wiedemann  und  Pörtner  Ägyptische  Grabreliefs  zu  Karlsruhe, 
Straßburg  i.  E.  1906  S.  13  f.) 

^^  Die  Blumen  der  Isis  von  Philae  in  Ägypt.  Zeitschr.  XLVUI  S.  115  ff. 


2lQ  A.  Wiedemann 

Verdienste  um  die  dortigen  Tempel  schildert,  wurde  von  Ga  uthier 
übersetzt^  und  neu  herausgegeben.^  Das  Bruchstück  einer  Stele, 
welche  einst  ein  Verzeichnis  der  Stiftungen  Ramses'  IL  für  den 
Tempel  des  Amon-Rä  zu  Karnak  enthielt,  wurde  veröffentlicht.* 
In  Koptos  fanden  sich  eine  Reihe  von  Königsdekreten  des  Alten 
Reiches,  welche  den  Tempelbesitz  und  seine  Angehörigen  gegen 
die  Beamtenschaft  und  gegen  den  Pharao  selbst  schützen  sollten.* 
Eine  Inschrift  der  19.  Dynastie  berichtete  von  der  Wallfahrt, 
die  ein  Priester  nach  Bubastis  unternommen  hatte.^  Eine  in 
den  Tempelreliefs  häufig  sich  findende  Darstellung  zeigt  den 
König,  wie  er  in  springenden  Schritten  der  Gottheit  sich  naht. 
Er  trägt  dabei  verschiedenartige  Zeichen,  einen  Vogel  und  ein 
Bündel  Stäbe,  oder  zwei  hohe  Vasen,  oder  ein  Ruder,  oder  eine 
Geißel  und  ein  zweites  Herrschaftsymbol.  Kees^  zeigte,  daß 
hierdurch  kein  bestimmtes  Fest,  wie  etwa  das  sehr  verschieden 
gedeutete  Sed-Fest  gekennzeichnet  wurde,  sondern  daß  man  nur 
die  Eile  des  Herrschers  betonen  wollte. 

Eine  sehr  wichtige  Frage  bei  der  Organisation  des  ägyptischen 
Kultes  ist  die  nach  dem  Verhältnis  zwischen  den  eigentlichen 
Priestern  und  den  im  Tempel  tätigen  Laien.  Die  Zahl  der  Be-  ^ 
rufspriester  an  den  einzelnen  Heiligtümern  war  trotz  der  großen  || 
Zahl  der  zu  vollziehenden  Zeremonien  gering.  Es  mußten 
ihnen  daher  zahlreiche  Laien  zur  Aushilfe  zur  Seite  treten. 
Für  die  Zeit  der   12.  Dynastie  geben  die  Papyri  von   Kahun 

^  La  grande  Inscription  dedicatoire  d^Äbydos  in  Ägypt.  Zeitschr. 
XL VIII  S.  52  ff. 

'  La  grande  Inscription  dedicatoire  d'Äbydos  (Inst.  Frang.  Archeol. 
Orient.,  Bill.  d'Etudes),  Kairo  1912. 

^  Ahmed  Bey  Kamal  Bapport  sur  les  Fouilles  faites  dans  la  Montagne 
de  Sheikh  Said  §  2  in  Ann.  Serv.  Ant.  X  S.  153  f. 

*  R.  Weill  Les  Decrets  royaux  de  V Anden  Empire.,  Paris  P.  Geuthner 
1911;  Moret  Chartes  dHmmunite  dans  V Anden  Empire  in  Journ.  Asiat. 
XX  S.  73ff. 

^  Madsen  ün  pelerinage  ä  Bouba^te  in  Sphinx  XIII  S  263  f. 

'^  H.  Kees  Der  Opfertanz  des  ägyptischen  Königs^  Leipzig,  J.  C.Hin- 
richs  1912. 


Ägyptische  Religion  (1910—1913)  217 

über  diese  Leute  Notizen  und  zeigen,  daß  sie  genossenschaftlich 
organisiert  waren.  Neben  diesen  Tempelgenossenschaften  gab 
es  vermutlich  andere,  welche  unabhängig  von  den  Tempeln 
ihre  Sondergottheiten,  heilige  Tiere  usw.  verehrten.  Auf  solche 
Vereinigungen  weisen  die  griechischen  Papyri  hin,  wenn  sie  von 
Kultvereinen  in  der  hellenistischen  Zeit^  sprechen,  welche  ägyp- 
tische Gottheiten,  Isis,  Pramarres,  Hathor,  Suchos,  Thermuthis, 
u.  a.  m.  verehrten  und  jedenfalls  in  Traditionen  aus  dem  pharao- 
nischen  Ägypten  wurzelten,  in  dem  solche  Kulte  mehrfach  er- 
wähnt werden.^  Eine  demotische  Inschrift  berichtete  von  der 
Wiederherstellung  des  Vorhofes  der  Isis  im  Tempel  von  Dendera 
in  der  Zeit  des  Augustus  durch  eine  Kultgenossenschaft.^  Die 
Beschneidung  der  Priester  in  Ägypten,  besonders  in  späterer 
Zeit,  wurde  eingehend  besprochen.* 

Osirislehre.  In  populärer  Form  schilderte  Reisner  ägyp- 
tische Begräbnisgebräuche  und  Unsterblichkeitslehren. ^  C  u  m  o  n  t  ^ 
wies  auf  die  Wichtigkeit  des  Osirisglaubens  für  die  Unsterblich- 
keitsvorstellungen der  römischen  Kaiserzeit  hin.  Die  Darstellung 
der  Jenseits -Vorstellungen  von  Wiedemann^  erschien  in  neuer 
Auflage.  Ein  Loblied  auf  das  Reich  des  Todes  veröffentlichte 
Gardiner.^   In  Texten    über  die  Unsterblichkeitslehre  glaubte 

^  Mariauo  San  Nicolb  Ägyptisches  Vereinswesen  zur  Zeit  der  Ptole- 
mäer  und  Römer,  München,  C.  H.  Beck  1913.  *  Vgl.  ArcTiiü  XIII  S.  360  f. 

^  Spiegelberg  Denkstein  einer  Kultgenossenschaft  in  Dendera  aus  der 
Zeit  des  Augustus  in  Ägypt.  Zeitschr.  L  S.  36ff. 

*  P.  Foucart  Rescrit  d' Antonin  relatif  ä  la  circoncision  et  son  appli- 
eation  en  Egypte  in  Journal  des  Savants  1911  S.  Iff. 

^  The  Egyptian  Conception  of  Immortality  (The  Ingersoll  Lecture 
1911),  London  Constable  und  Co.  1912.  Flüchtig  gemalte  Szenen  aas  den 
j  Begräbniszeremonien  zeigte  ein  in  Theben  gefundener  Sarg  (G.  Möller  in 
Amtl.Ber.Berl.  Kunstsammlungen  XXXIII  Sp.  195  ff.). 

^  Les  Idees  du  Paganisme  Romain  sur  la  Vie  future  in  Ann.  Mus. 
Guimet,  Bihl.  de  Vulgarisation  XXXIV. 

'  Die  Toten  und  ihre  Reiche  im  Glauben  der  alten  Ägypter  y  3.  Aufl. 
(Der  alte  Orient  II  2),  Leipzig,  J.  C.  Hinrichs  1910. 

^  In  Fraise  of  Death:  A  Song  from  a  Theban  Tomb  in  Proc.  Soc. 
Bibl.Arch.XXX.Y  S.  165  ff. 


218  A.  Wiedemann 

Moret^  AndeutuDgen  wirkliclier  Mysterien  zu  finden,  docli  be- 
handeln die  Texte  niclit  diese  Lehre  selbst  als  Geheimnis,  sondern 
nur  Zauberformeln  und  vereinzelt  Volkskulte ,  denen  der  Schein 
des  Geheimnisvollen  eine  höhere  Weihe  geben  sollte.  Wichtig 
war  ein  Werk  von  Budge^,  vrelches  die  verschiedenen  Anschau- 
ungen, die  sich  an  Osiris  knüpfen,  seine  Feste,  seine  Unsterb- 
lichkeitslehren zusammenstellte,  durch  übersetzte  ägyptische 
Texte  belegte  und  dabei  eine  Fülle  ethnographischer  Parallelen, 
besonders  aus  afrikanischen  Gebieten,  verzeichnete.  Für  die 
Totenfeiern  für  Osiris  wichtig  waren  Inschriften  der  Ptolemäer- 
zeit,  welche  die  Dämonen  aufführten,  denen  während  der  zwölf 
Tages-  und  der  zwölf  Nachtstunden  der  Schutz  des  auferstehenden 
Gottes  oblag,  und  die  Formeln  verzeichneten,  welche  die  Toten- 
priester jeweils  zu  sprechen  hatten,  um  der  Klage  der  Hinter- 
bliebenen Ausdruck  zu  geben  und  dem  Gotte  Gaben  und  Schutz 
zu  versprechen,  um  so  seine  Auferstehung  zu  fördern.^  Weitere 
Ptolemäertexte  ergaben  in  zwei  Rezensionen  ein  interessantes 
auf  den  Gott  Thoth  zurückgeführtes  Dekret,  welches  die  am 
Osirisgrabe  im  Abaton  auf  Bige  zu  vollziehenden  Feiern,  die 
dort  geltenden  Verbote  und  Gebote  regelte  und  die  klassischen 
Angaben  über  die  Insel  ergänzte  und  klarer  stellte* 

Der  Isis-  und  Osiristempel  zu  Behbet  und  seine  Inschriften 
wurden  behandelt^,  auf  einen  bereits  in  älterer  Zeit  auftretenden 
Zusammenhang  zwischen  Isis  und  dem  Monde  hingewiesen", 
eine   Darstellung  des  Anubis  als  römischer  Krieger  veröffent- 

*  My Steves  Egyptiens  in  Ann.  Mus.  Guimet,  Bibl.  de  Vulgarisation 
XXXVII. 

*  Osiris  and  the  Egyptian  Resurrection,  2  Bde.  London,  Lee  Warner  1911. 

'  H.  Junker  Die  Stmidenwachen  in  den  Osirismysterien  nach  den  In- 
schriften zu  Bendera,  Edfu  und  Philä  in  DenkBchriften  der  Wiener  Akademie 
Philos.-Hist.  KI.  LIV  Nr.  1. 

*  H.  Junker  Das  Götterdekret  über  das  Abaton  in  Denkschriften  der 
Wiener  Akademie.  Philos.-Hist.  Kl.  LVI  Nr.  4. 

^  Röder  Der  Isistempel  von  Behbet  in  Ägypt.  Zeitschr.  XLVI  S.  62  fF. 
Edgar  und  Röder  Der  Isistempel  von  Behbet  in  Bec.  Trav.  XXXV  S.  89ff. 
«  Wiedemann   Varia  §  7  in  Sphinx  XV  S.  132  ff. 


Ägyptische  Religion  (1910—1913)  219 

licht  ^,  Inschriften  eines  von  Ptolemäus  Euergetes  IL  errichteten 
kleinen  Thoth- Tempels  gesammelt^,  Thoth  selbst  und  sein  heiliges 
Tier,  der  Hundskopfaffe,  besprochen.^  Für  die  Deutung  des  heiligen 
Tieres  des  Gottes  Set  wurden  neue  Vorschläge  gemacht.  Borchardt 
wies  auf  Stellen  hin,  an  denen  der  Schwanz  des  Tieres  als  ge- 
fiederter Pfeil  erscheint*,  doch  ist  diese  Vorführung  jedenfalls 
erst  in  einer  Zeit  entstanden,  in  welcher  man  den  Gott  Set  als 
schädliches  Wesen  ansah  und  sein  Bildnis  durch  diese  Ver- 
letzung bei  etwaiger  Belebung  unschädlich  machen  wollte.  In 
dem  Tiere  selbst  wollten  Jensen^  und  Bis  sing''  eine  Giraffe, 
Schweinfurth^  einen  Ameisenbär  erkennen,  welche  Geschöpfe 
die  Ägypter  sonst  aber  anders  wie  das  Settier  abzubilden  pflegen. 
Newberry^  dachte  an  das  kaum  in  Betracht  kommende  Pinsel- 
schwein (Potamochoerus  porcus),  Röder^  wie  die  älteren  Agypto- 
logen  mehrfach  an  ein  Fabeltier,  wofür  es  aber  kaum  phan- 
tastisch genug  für  den  ägyptischen  Geschmack  auftritt.  Unter 
diesen  Umständen  erscheint  mir  die  von  mir  ausgesprochene 
Deutung  als  Okapi  immer  noch  am  wahrscheinlichsten.  Gerade 
das  frühe  Vertreiben  dieses  Geschöpfes  durch  die  menschliche 
Kultur   erklärt  es,  wenn   es  so  schnell  schematisiert  und  ver- 

'  R.  Paribeni  Divinitä  straniere  in  abito  milüare  JRomano  in  Bull. 
Soc.  Arch.  Alexandrie  III  S.  177  ff. 

^  D.  Hallet  Le  Kasr  el-Agoüz  in  Mem.  Inst.  Frang.  Archeol.  Orient, 
du  Caire  XI  1909. 

'  Benedite  Scribe  et  Babouin  in  Mem.  Acad.  Inscr.  Beiles- Lettres. 
Fondation  Piot  XIX  S.  5  ff.  Eine  ähnliche  Gruppe  wie  die  hier  ver- 
öffentlichten, ist  in  Berlin  (besprochen  von  Erman  in  Amtl.  Ber.  Berl. 
Kunstsammlungen  XXXIII  Sp.  12  ff.). 

"*  Das  Sethiier  mit  dem  Pfeil  in  Ägypt.  Zeitschr.  XL  VI  S.  90  f. 

^  OJcapien  og  Guden  Set  in  Maaneds  Magasin  1909  S.  825  ff. 

«  Zum  Sethtier  in  Reo.  Trav.  XXXIII  S.  18  f. 

^  Das  Problem  des  dem  Gotte  Set  geheiligten  Tiers  in  Berliner  Tage- 
blatt 17.  Aug.  1913.  Für  den  Ameisenbär  vgl.  Lortet  et  Gaillard  La 
Faune  momißee  II  p.  179 ff.;  Reisner  Amulets  (Cat.  Kairo)  pl.  20,  wo  das 
Tier  im  Texte  irrig  als  Sau  gedeutet  wird. 

^  Archaeological  Notes  in  Athenäum  11.  Dez.  1909. 

'  Der  Name  und  das  Tier  des  Gottes  Set  in  Ägypt.  Zeitschr.  L  S.84ff. 


220  A-  Wiedemann 

schiedenen  anderen  Tieren,  in  der  Spätzeit  bekanntlich  öfters  dem 
EseP,  angeglichen  wurde.  Einzelbemerkungen  zu  dem  Namen  und 
den  Mythen  des  Gottes  Set  gaben  Bissing^  und  Wiedemann.^ 
Über  die  besonders  in  ältester  Zeit  übliche  Zerstückelung 
und  Wiederzusammenfügung  der  Leichen  wurde  gehandelt*  ebenso 
wie  über  die  spätere  Behandlung  von  Herz  und  Nieren  bei  der 
Einbalsamierung  und  die  religiöse  Bedeutung  dieser  Organe.^  Von 
den  ägyptischen  Seelenteilen  wurde  der  Ka  von  verschiedenen 
Seiten^,  vor  allem  von  Maspero'  besprochen.  Die  Ba- Seele  des 
gewöhnlichen  Menschen  gilt  als  ein  Vogel  mit  Menschenkopf^,  jl 
während  die  Seele  des  zum  Himmel  auffliegenden  Königs  die 
Gestalt  eines  Sperbers  besitzt.''  Die  Bedeutung  des  Namens  in 
Ägypten  besprach  Ballerini. ^^  In  den  Kreis  der  auch  in  Ägypten 

^  Mit  Eselkopf  erscheint  er  als  böses  Geschöpf  neben  Schildkröte, 
Schlangen  und  Krokodil  auf  einem  Talisman  aus  Edfu,  publiziert  von 
Daressy  Fierre- Talisman  d'Edfou  in  Ann.  Serv.  Ant.  XII  S.  143  f. 

2  Lesefrüchte  §  40  Zum  Gott  Seih  in  Bec.  Trav.  XXXIV  S.  23  ff. 

'  Notes  on  some  Egyptian  Monuments  §  4  in  Proc.  Soc.  Bibl.  Arch. 
XXXIII  S.  166. 

*  G.  Wainwright  The  Mite  of  Dismemlerment  in  Ancient  Egypt  in 
Petrie  The  Labyrinth^  London  1912.  Daß  die  Sitte  noch  in  der  Spätzeit 
auftrat,  zeigten  die  Mumien  der  Perserzeit  bei  M.  A.  Ruffer  und  A.  Rietti 
Notes  on  tioo  Egyptian  Mummies  in  Bull.  Soc.  Arch.  Alexandrie  III  S.  240 ff. 

*  EUiot  Smith  Heart  and  Beins  in  Mummification  in  Journ.  Manchester 
Orient.  Soc.  1911  S.  41ff. ;  Gardiner  Notes  on  Egyptological  Questions  I.  c. 
S.  47,  78,  85. 

®  V.  Bissing  Versuch  einer  neuen  Erklärung  des  Ka'i  der  alten  Ägypter 
in  Sitz.-Ber.  Akad.  München  Philol.  Kl.  1911  Nr.  6;  Steindorff  Der  Ka 
und  die  Grabstatu^n  in  Ägypt.  Zeitschr.  XL VIII  S.  152 ff.;  Spiegelberg  Zu 
Ka  gleich  Schutzgeist  in  Ägypt.  Zeitschr.  IL  S.  126 f.;  Weigall  Miscellaneous 
Notes  §  11  in  Ann.  Serv.  Ant.  XI  S.  173  (vgl.  hierzu  Totenbuchvignette 
zu  Kap.  105) ;  E.  Guimet  Les  Arnes  Egyptiennes  in  Rev.  Hist  Bei.  LXVIII S.  Iff. 

'  Le  ka  des  Egyptiens  est-il  un  genie  ou  un  double?  in  Memnon  VI 
S.  126  ff. 

^  Vgl.  Waser  Über  die  äußere  Erscheinung  der  Seele  in  diesem  Archiv 
XVI  S.  836  ff. 

^  Beispiele  für  diese  Vorstellung  sammelte  Gardiner  bei  Cumont  A 
propos  de  l'aigle  funeraire  in  Bev.  Hist.  Bei.  LXIII  S.  208  ff. 

*^  II  nome  e  la  sua  importanza  nelV  Egitto  antico  in  Bessarione  V 
fasc.  103—7  S.  40  ff.,  127  ff. 


Ägyptische  Religion  (1910—1913)  221 

verbreiteten  Vorstellung,  daß  man  seine  Seele  in  einem  außer- 
halb des  Körpers  befindlichen  Gegenstande  lokalisieren  könne^, 
gehört  die  Herzensepisode  des  Papyrus  d'Orbiney,  bei  der  es 
sich  um  ein  religiöses  Motiv,  nicht  um  ein  *  Märchen'^  handelt. 
Von  der  Publikation  der  Pyramiden  texte  durch  Sethe  ge- 
langte der  zweite  Band  zum  Abschlüsse.^  Einzelne  Stellen  dieser 
Texte  wurden  von  Rusch*  und  in  einer  von  anderen  Agyptologen 
öfters  stark  abweichenden  Weise  von  Amelineau^  behandelt. 
Die  besonders  in  ihnen  mehrfach  erwähnte  Befürchtung,  im 
Jenseits  von  Kot  und  Harn  leben  zu  müssen,  erörterte  Grapow.^ 
Über  die  Totenbuchtexte  des  Mittleren  Reiches,  die  sogenannten 
'Ältesten  Texte',  handelte  Röder.^  Wichtige  Totenbücher  aus 
der  21.  Dynastie,  deren  Textfassung  mit  der  der  18.  Dynastie 
übereinstimmt,  veröffentlichten  Naville^  und  Budge.^    Zahl- 


^  Vgl.  Capart  Les  Palettes  en  Schiste  de  VEgypte  primitive  in  Bev.  Quest. 
Scientif.  Avril  1908. 

*  Dies  nahm  Burchardt  Das  Herz  des  Bata  in  Ägypt.  Zeitschr.  L 
S.  118  f.  an.  Auf  die  von  diesem  erwähnte  skandinavische  Parallele 
hat  bereits  Mannhardt '  Zeitschrift  für  Deutsche  Mythologie  IV  (1859) 
S.  250  f.  hingewiesen.   Vgl.  auch  Renouf  Proc.  Soc.  BiU.  Arch.  XI  S.  177  ff. 

^  K.  Sethe  Die  altägyptischen  Pyramidentexte  Bd.  2,  Lief.  5  —  6,  Leipzig, 
J.  C.  Hinriclis  1910. 

*  Zum  Bau  der  Pyramidentexte  in  Ägypt.  Zeitschr.  XLVIII  S.  123 ff. 
^  Un  chapitre  difßcile  du  Livre  des  Pyramides  in  Journ.  asiat.  XI 

Ser.  I  Ö.  1  ff. 

®  Eine  alte  Version  von  Totenbuch  Kapitel  51/3  in  Ägypt.  Zeitschr. 
XLVII  S.  100  ff 

'  Die  ägyptischen' Sargtexte'  und  das  Totenbuch  in  diesem  Archiv  XVI 
S.  66 ff.  Anzufügen  sind  seiner  Liste  publizierter  Exemplare  die  Särge 
aus  Siut  bei  Chassinat  und  Palanque  üne  Campagne  de  Fouilles  dans 
la  Necropole  d'Assiout  {Mem.  Inst.  Frang.  Arch.  Orient.  XKIY),  Kairo  1911 
und  die  oben  S.  202  erwähnte  Publikation  von  Budge  aus  London.  Gegen 
die  Bezeichnung  'Sargtexte'  spricht,  daß  auch  die  späteren  Totenbuchtexte 
häufig  auf  Särgen  stehen,  und  ein  Teil  der  Hör -hotep- Texte  (publiziert 
von  Maspero  Trois  Annees  de  Fouilles  in  Mem.  Miss.  Frang.  au  Caire 
I  2 ;  Cat.  Kairo :  Lacau  Sarcophages  ant&rieurs  au  Nouvel  Empire  I  p.  42) 
an  den  Grabkammerwänden  sich  findet. 

^  Papyrus  funeraires  de  la  XXP  dynastie^  Paris,  Leroux  1912. 

®  The  Grenfell  Papyrus,  London  1912. 


222  ^'  Wiedemann 

reiche  Abschriften  von  Einzelkapiteln  des  Werkes  und  verwandter 
Kompositionen  ergaben  Särge  des  Kairener  Museums.^  Bebandelt 
wurden  eingebend  das  17.  Kapitel  von  Grapow^  und  in  viel- 
fach wenig  überzeugender  Weise  von  Amelineau.^  Die  theba- 
nischen  Kapitel  IB,  48,  125  besprach  Grapow.*  Eine  im  Jahre* 
63  n.  Chr.  niedergeschriebene  demotische  Übersetzung  des  125.  Ka- 
pitels des  Totenbuches,  welche  interessante  Varianten  ergab 
und  auf  den  Ersatz  einiger  Sondergötter  durch  große  Götter 
hinwies,  veröffentlichte  Lexa.^  Grapow*^  machte  auf  Stellen 
aufmerksam,  an  denen  sich  der  Wortlaut  des  Totenbuches- 
(Kap.  117—49,  144—47,  179)  mit  dem  des  im  Mittleren  Reiche 
verbreiteten  Zweiwegebuches  deckte.  Stücke  aus  dem  eine  von 
der  Osirianischen  Lehre  abweichende  Jenseits -Vorstellung  vor- 
aussetzenden Buche  von  den  Toren  fanden  sich  in  dem  Grabe 
des  Königs  Hör- em -heb.' 

Totenbeigaben.  Die  wichtigsten  unter  den  Grabbeigaben 
sind  die  Stelen,  welche  abgesehen  von  dem  Namen  des  Ver- 
storbenen zahlreiche  Angaben  über  das  private  und  öffentliche 
Leben,  Tracht,  Geräte,  Speisen  und  Getränke,  Beamtentum,  die 
verschiedenen  Ausgestaltungen  des  Totenkultes*  und  die  Toten- 


*  Cat.  Kairo:  Daressy  Cercueüs  des  Cachettes  Royales,  Kairo  1909; 
Moret  Sarcophages  de  Vepoque  Bubastiste  ä  Vepoque  Saite,  Fase.  1,  Kairo 
1912  und  in  dieser  Beziehung  besonders  ergiebig  Gauthier  CercueiU 
anthropoides  des  Pretres  de  Montou,  2  Bde.  Kairo  1912.  Ferner  Cledat 
Un  Couvercle  de  Sarcophage  anthropoide  de  Teil  el-MasTchoutah  in  Ann, 
Serv.  Ant.  IX  S.  211  f.  (Kap.  72). 

'  Das  17.  Kapitel  des  ägyptischen  Totenhuches  und  seine  religionS' 
geschichtliche  Bedeutung,  Diss.  Berlin,  B.  Paul  1912. 

'  Etudes  sur  le  chapitre  XVII  du  Livre  des  Morts  dans  Vancienne 
Egypte  in  Journ.  Asiat.  XV  S.  395  ff.,  XVI  S.  Iff. 

*  Beiträge  zur  Erklärung  des  Totenbuches  in  Ägypt.  Zeitschr.  IL  S.  42  ff. 
^  Das  Demotische  Totenbuch  der  Pariser  Nationalbibliothek  (Demotische 

Studien  herausgeg.  von  Spiegelberg  Heft  4),  Leipzig,  J.  C.  Hinrichs  1910. 

*  Zweiwegebuch  und  Totenbuch  in  Ägypt.  Zeitschr.  XLVI  S.  77  ff. 

^  Sehr  schöne  Publikation  von  Th.  M.Davis,  Maspero,  Daressy  und 
Crane  The  Tomhs  of  Harmhabi  and  Toutdnkhamanou ,  London,  Constable 
und  Co.  1912. 


Ägyptische  Religion  (1910—1913)  223 

götter  ergeben.  Die  Bearbeitung  dieses  Materials  durch  Pörtner^ 
war  für  Kultur-  wie  für  Religionsgeschichte  sehr  ergebnisreich. 
Über  die  Opferformel  des  Alten  Reiches  gab  Sottas^  einige 
Bemerkungen,  über  das  Dekret  zugunsten  des  Grabtempels  des 
Amenophis,  des  Sohnes  des  Hapu,  zu  Der  el  Medinet  handelte 
Möller^,  über  die  Aufstellung  von  Obeliskenpaaren  vor  Gräbern^ 
und  einen  kleinen  Holzobelisken,  in  welchem  eine  wie  eine  aus- 
getrocknete Mumie  aussehende  Ebenholzfigur  lag,  Bissing.^ 

In  den  TJschebti- Statuetten  sind  zwei  ursprünglich  gesonderte 
Grabbeigaben  zusammengeflossen:  die  Statuen  des  Verstorbenen 
selbst  und  die  seiner  Diener  in  ihren  Berufsstellungen.  In  späterer 
Zeit  wird  letztere  Bestimmung  weit  stärker  hervorgehoben  und 
bezeichnet  man  die  Statuetten  geradezu  als  Diener  des  Ver- 
storbenen.® Eine  weitere  Grundlage  der  Uschebti  bildeten 
Dämonen,  welche  für  den  Toten  zu  sorgen  und  seiner  vor  Osiris 
zu  gedenken  hatten  und  die  zu  den  Unterweltgöttern  und  zu 
dem  Sonnengotte  in  Beziehung  standen. "^  Ein  eigenartiges  Mittel, 
um  Uschebti  -  Statuetten  gegen  die  Usurpierung  zu  schützen,  war 

^  Die  ägyptischen  Totenstelen  als  Zeugen  des  sozialen  und  religiösen 
Lehens  ihrer  Zeit  (Studien  zur  Greschichte  des  Altertums  herausgeg.  von 
Drerup  IV  Heft  5),  Paderborn  1911. 

^  Quelques  Variantes  du  'Proscyneme'  sous  Vancien  Empire  in  Rec. 
Trav.  XXXIV  S.  25  ff. 

^  Bas  Dekret  des  Amenophis,  des  Sohnes  des  Hapu  in  Sitz.-Ber.  Akad. 
Berlin  1910  S.  932  ff. 

^  V.  Bissing  Lesefrüchte  §  38  Obeliskenpaare  vor  Gräbern  in  Rec.  Trav. 
XXXIV  S.  21f. 

^  Die  älteste  Darstellung  eines  Skeletts  in  Ägypt.  Zeitschr.  L  S.  63  ff. 

L         ®  Spiegelberg  Zu  der  Bedeutung  der  Totenstatuetten  in  Ägypt.  Zeitschr. 

|IL  S.  127.;  Diesen  Charakter  der  Statuetten  als  'Ernährer'  betonen  Mahler 

Notes  on  the  funeral  statuettes  of  the  ancient  Egyptians  commonly  called 

Ushdbti  figures  in  Proc.  Soc.  Bibl.  Ärch.  XXXIV  S.  14 6  ff.,  179  und  Pierret 

The  Ushabti  Figures  1.  c.  p.  247. 

^  Wiedemann  Die  Uschebti- Formel  Amenophis'  LIL  in  Sphinx  XVI 
S.  33 ff.  —  Wachsfiguren  der  vier  Totengenien,  die  hierbei  vor  allem  in 
Betracht  kommen,  kommen  mehrfach  vor:  vgl.  z.  B.  solche  des  Amset 
und  Hapi  bei  Nash  Notes  on  some  Egyptian  Antiquities  §  73  in  Proc. 
Soc.  Bibl.  Arch.  XXXV  S.  197. 


224  -A-,  Wiedemann 

es,  den  Namen  des  Besitzers  unter  der  Glasur  anzubringen.^  Der 
Name  war  dann  für  irdische  Augen  unerkennbar,  kennzeichnete 
aber  für  Jenseitszwecke  die  Statuette  in  genügender  Weise. 

Neue  Formeln  von  Canopen  etwa  der  26.  Dynastie  veröffent- 
lichte Daressy.^  Von  sonstigen  Grabbeigaben  wurden  zahl- 
reiche Opferplatten  mit  häufig  schönen  Bildern  der  Opfergaben  ^ 
und  eine  lange  Reihe  von  Bootsmodellen*  herausgegeben.  Letztere 
sollte  der  Tote  in  wirkliche  Boote  verwandeln,  um  Schiffahrten 
veranstalten  und  besonders  dem  Gotte  Osiris  in  Abydos  seine 
Aufwartung  machen  zu  können. 

Magie  und  Amulette.  Auf  die  schöpferische  Kraft  des 
Wortes  in  Ägypten  ging  Moret^  ein.  Formeln,  durch  welche 
die  Götter  bedroht  wurden,  um  dem  Verstorbenen  zu  Willen 
zu  sein,  stellt  Grapow^  zusammen.  Auch  in  der  ägyptischen 
Medizin  war  die  Zauberformel  sehr  wichtig,  da  es  sich  hier  in 
erster  Reihe  darum  handelte,  den  die  Krankheit  erregenden  Dämon 
zu  vertreiben.  So  enthält  denn  auch  der  große  medizinische 
Papyrus  zu  Berlin'  wesentlich  Formeln  gegen  Dämonen.  Spezial- 
formeln  für  Mutter  und  Kind^  und  2:ur  Beförderung  der  Men- 
struation'-^ ergaben  andere  Texte. 

Über  die  ägyptischen  Amulette  handelte  Wiedemann^^  und 

^  Maspero  Sur  une  variete  de  figurines  funeraires  inconnue  jusqu'ä 
present  in  Ann.  Serv.  Ant.  IX  p.  285  f. 

^  Canopes  ä  formules  nouvelles  in  Ann.  Serv.  Ant  IX  p.  152  f. 

'  Cat.  Kairo :  Ahmed  Bey  Kamal  Tables  d'offrandes  2  Bde.,  Kairo  1906—9. 

*  Cat.  Kairo:  Gr.  A.  Reisner  Models  of  Ships  and  Boats,  Kairo  1913. 

'^  Verhe  createur  et  revelateur  en  Egypte  in  Rev.  Hist.  Bei.  LIX  p.  279  ff. 

^  Bedrohungen  der  Götter  durch  den  Verstorbenen  in  Ägypt.  Zeitschr. 
IL  S.  48  ff. 

'  W.  Wreszinski  Der  große  Medizinische  Papyrus  des  Berliner  Museums 
(Pap.  Berlin  3038),  Leipzig,  J.  C.  Hinrichs  1909. 

^  Hieratische  Papyrus  aus  den  Kgl.  Museen  zu  Berlin^  III.  Heft  2, 
Leipzig,  J.  C.  Hinrichs  1911.  Vgl.  Erman  Zaubersprüche  für  Mutter  und 
Kind  in  Abh.  Akad.  Berlin  1901. 

^  Spiegelberg  .4ms  der  Straßburger  Sammlung  demotischer  Ostraka  in 
Ägypt.  Zeitschr.  IL  S.  34  ff. 

^^  Die  Amulette  der  alten  Ägypter  (Der  alte  Orient  XII  1),  Leipzig, 
J.  C.  Hinrichs  1910. 


Ägyptische  Religion  (1910-1913)  225 

hob  hervor,  daß  bei  ihrer  Beurteilung  diejenigen  Gestaltungen 
auszuscheiden  seien,  welche  nur  als  Grundlagen  für  die  Er- 
schaffung von  Gebrauchsgegenständen,  nicht  als  Zaubermittel 
dienen  sollten.  Yon  Einzelamuletten  wurden  veröffentlicht  und 
erörtert  ein  Lotussäulchen  mit  dem  Kapitel  159  des  Toten- 
buches ^,  zahlreiche  Skarabäen  mit  heiligen  Zeichen^,  die  Kopf- 
stütze, die  aus  einer  Vorlage  für  einen  Gebrauchsgegenstand  all- 
mählich ein  Amulett  wurde ^,  und  mehrere  Hypocephale.^  Das 
Zeichen  des  Lebens  stellt  eine  zusammengebundene  Schleife, 
allem  Anscheine  nach  das  ägyptische  Gürtelband,  dar  und  ge- 
hört in  die  lange  Reihe  der  Knotenamulette.  In  ihm  sah  Wünsch  ^ 
mit  Recht  die  Grundlage  des  Antoniterkreuzes  und  damit  des 
Wappens  der  Universität  Gießen.  Ein  Zaubermittel,  um  einen 
Dieb  zu  entdecken,  bei  dem  ein  Bild  des  Ut'a-Auges  eine  Rolle 
spielt,  schilderte  Jacoby.^  Einen  Torso  aus  Bubastis  mit  magi- 
schen Texten  und  Bildern,  ähnlich  denen  der  Metternich- Stele,  ver- 
öffentlichte Dare«sy^,  zwei  demotische  Horoskope  Thompson.^ 

^  Weigall  Miscellaneous  Notes  §  8  in  Ann.  Serv.  Änt.  XI  p.  172. 

'  A.  Grenfell  The  rare  Scardbs,  etc.  of  the  New  Kingdom  in  Rec.  Trav. 
XXXII  p.  113  ff. 

'  Naville  Les  amulettes  du  chevet  et  de  la  tete  in  Ägypt.  Zeitschr. 
'  XLVIII  p.  107 ff. ;   vgl.  Wiedemann   Amulette  S.  27 ff.     Die   auf  manchen 
I  Stücken  erscheinende  Darstellung  der  einen  Dämon  mit  Pfeilen  erschießen- 
den Neith  machte  Daressy  Ann.  Serv.  Ant.  X  p.  177 ff.  zugänglich. 
j  *  Nash  Notes  on  some  Egyptian  Antiquities  §  53  —  54  in  Proc.  Soc. 

\  Bibl  Arch.  XXXIII  p.  106  ff. 

°  Das  Antoniterkreuz  in  Hessische  Blätter  für  Volkskunde  XI  S.  49  ff. 

^  Ein  hellenistisches  Ordal  in  diesem  Archiv  XVI  S.  122  ff. 
i  "^  Quelques  inscriptions  provenant  de  Bubastis  §  2  in  Ann.  Serv.  Ant. 

'XI  p.  187  ff. 

^  Demotic  Horoscopes  in  Proc.  Soc.  Bibl.  Arch.  XXXIV  p.  227  ff. 


Archiv  f.  Eeligionswissenscliaft  XVII  15 


2  Iramsche  Eeligioa  1900-1910 

Von  Edv.  Lehmann  in  Lund 

Das  Archiv  liat  bis  jetzt  keinen  Literaturbericlit  zur  irani- 
scTien  Religionsgeschiclite  gebracht;  vielleicht  ist  es  nicht  zu 
spät,  dieses  für  die  Periode  1900 — 1910  nachzuholen.  Im  vor- 
aus sei  gesagt,  daß  diese  Periode  nur  wenige  größere  Werke 
geschaffen  hat.  Seit  James  Darmesteters  Tod,  seitdem  E.  W. 
West  seine  Pehleviübersetzungen  für  die  Sacred  Books  of  the 
East  beendigte  und  K.  Geldner  sich  wesentlich  der  Indologie 
zugewandt  hat,  ist  kein  eigentlicher  Führer  der  Studien  auf- 
getreten; auch  war  mit  Geigers  und  Kuhns  Grundriß  der 
iranischen  Philologie,  der  vor  1900  wesentlich  beendigt  war^ 
ein  relativer  Abschluß  der  Forschungsperiode  erreicht. 

An  Interesse  für  das  Iranische  fehlt  es  jedoch  nicht,  und 
gerade  die  Religionshistoriker  wenden  sich  den  iranischen  Reli- 
gionsbildungen eifriger  zu  als  früher;  die  weltgeschichtliche 
Bedeutung  der  persischen  Kultur  und  Religion  ist  mit  dem 
Fortschreiten  der  historischen  Erkenntnis  immer  einleuchten- 
der geworden.  Besonders  deutlich  tritt  diese  durch  die  Er- 
gebnisse der  deutschen  Turfanexpedition  ans  Licht;  die  Herr- 
schaft des  Manichäismus,  der  Einfluß  des  Parsismus  auf  Juden- 
tum, Hellenismus  und  Christentum  sind  Probleme,  die  sich, 
immer  mehr  in  den  Vordergrund  drängen. 

Hoffentlich  werden  diese  großen  Aufgaben  jetzt  jüngere  Ge- 
lehrte auf  den  Gedanken  bringen,  sich  direkt  als  Iranisten  zu  be- 
tätigen, so  wie  es  früher  Darmesteter,  Spiegel  und  Justi  waren  und 
heute  noch  Mills  und  Jackson  und  in  der  deutschen  Wissenschaft 


Iranische  Religion  1900—1910  227 

Andreas  und  Marquart  sind.  Sonst  war  es  ja  immer  der  Fluch 
der  Iranologie,  daß  sie  als  NebenfacH  von  Sanskritisten  (wie 
Roth^  Hang,  Geldner)  oder  von  Arabisten  (wie  Nöldeke 
und  Goldziher)  getrieben  wurde.  Der  Fluch  ist  aber  inso- 
fern ein  unabwendbarer,  als  das  iranische  Gebiet  immer  nur 
von  dem  als  Indologen  und  Semitisten  Geschulten  mit  Erfolg 
betreten  werden  kann.  Solange  das  Iranische  aber  auch  offiziell 
als  Nebenfach  betrachtet  wird,  kann  man  nicht  gut  verlangen, 
daß  junge  Menschen  es  zum  Hauptfach  wählen  und  sich  bereit 
erklären,  die  ungeheuren  Schwierigkeiten  überwinden  zu  wollen, 
die  der  eigentlichen  Forschung  im  Wege  stehen.  Noch  gibt  es 
aber  in  Deutschland  keine  ordentliche  Professur  für  das  Iranische 
(in  Oxford  besteht  seit  Jahren  eine);  keine  Zeitschrift,  kein  Ar- 
chiv, kein  Museum  hat  sich  in  Europa  iranische  Wissenschaft 
und  Kultur  zur  alleinigen  Aufgabe  gemacht.  Ich  bin  so  hoff- 
nungsfreudig, zu  erwarten,  daß  dieses  in  absehbarer  Zeit  geschehen 
wird,  einfach  weil  es  der  Sachlage  nach  geschehen  muß. 

Glücklicherweise  sind  indessen  die  ^' achkommen  der  alten 
Zarathustrischen  Kirche,  die  Parsigemeinde  in  Bombay,  für 
ihre  Religion  und  ihre  Vorzeit  genügend  interessiert,  um  aus 
der  Sache  vollen  Ernst  zu  machen.  Sie  haben  z.  B.  The  So- 
ciety for  the  Promotion  of  Researches  into  the  Zoroastrian  Reli- 
gion gegründet,  und,  da  die  Parsis  gewöhnlich  sehr  wohlhabend 
sind,  der  iranischen  Wissenschaft  bedeutende  Geldmittel  zur 
Verfügung  stellen  können  (so  z.B.  The  Parsee  Punchayet  Fund); 
sie  haben  eine  selbständige  wissenschaftliche  Zeitschrift  ^Zartoshti' 
(seit  1904)  gegründet  und  stiften  für  eigene  und  europäische 
I  Gelehrte,  die  sich  der  Erforschung  ihrer  Religion  gewidmet 
haben,  kostbare  Festschriften.  So  erschien  im  Jahre  1908  ein 
Spiegel  Memorial  Volume  Papers  on  Iranian  subjects 
written  by  various  scholars  in  honour  of  the  Late  Dr.  Frederic 
Spiegel.  Ed.  by  J.  J.  Modi,  Bombay,  Brit.  India  Press  LXX, 
307.  Diese  Denkschrift  für  Spiegel  enthält  nebst  Einleitung 
mit  Biographie   von  Spiegel  und  Verzeichnis   seiner  Schriften 

15* 


228  Edv.  Lehmann 

37  kürzere  Abhandlungen,  meist  von  Parsi-Gelehrten,  gemisch- 
ten, doch  wesentlich  religionsgeschichtlichen  Inhalts.  Als  be- 
sonders wertvoll  sind  hervorzuheben:  Nr  8.  P.  B.  Desai  Ira- 
nian  mythology,  ein  genaues  Verzeichnis  über  indo- iranische 
Namen  und  Mythen.  9.  E.  S.  D.  Bharucha  On  the  accurate 
pronounciations  of  the  Avesta  (die  traditionelle  Aussprache  der 
Parsis).  10.  E.  Wilhelm  Analogies  in  Iranian  and  Armenian 
Folklore.  14.  R.  F.  Gorvala  The  Immortal  Soul  (die  Psychologie 
der  Pehlevischriften).  23.  L.  H.  Gray  Mäonha  gaocithra 
^Über  den  Samen  des  Stiers  im  Monde',  über  das  Prinzip  der 
Fruchtbarkeit,  das  einerseits  als  Tau  erklärt,  andrerseits  mit 
Haoma  (Soma)  identifiziert  wird.  26.  G.  C.  0.  Haas  An  Avesta 
Fragment  on  the  Resurrection.  (Fr.  W.  4.)  29.  E.  M.  R.  Un- 
vala  A  Few  Parsee  Festivals.  30.  R.  E.  Sanjana  What  is 
the  first  principle  of  things  according  to  Zarathustrain  doctrine? 
(Charakteristisch  für  den  Rationalismus  der  modernen  Parsis: 
von  ihrer  Religion  wird  hier  behauptet,  daß  sie  ganz  genau 
mit  der  okzidentalischen  Wissenschaft  stimmt.)  32,  A.  W.  Jack- 
son A  historical  Sketch  of  Ragha.  Endlich  eine  sehr  will- 
kommene etymologische  Untersuchung  von  ahurischen  und 
ahrimanischen  Wörtern  von  L,  Frachtenberg  (Nr,  36). 

Auch  dem  größten  der  Parsi- Gelehrten,  dem  im  Jahre  1898 
verstorbenen  Hohenpriester  der  Bombay- Gemeinde  Behrämji 
Sanjäna  zu  Ehren  wurde  eine  Festschrift  nach  seinem  Tode 
von  der  Gemeinde  gestiftet,  nämlich:  Avesta,  Pahlavi  and  an- 
cient  Parsee  (?)  Studies  in  honour  of  the  late  Shams-ül-Ülama 
Dastar  Peshotanji  Bahramji  Sanjana  (Lpz.  1904).  E.W.West 
hat  in  einer  kurzen  Einleitung  sein  Lebenswerk  und  seine  Ver- 
dienste ins  schönste  Licht  gestellt:  ^In  most  cases  he has  been  the 
most  advanced  pioneer  in  his  translations,  well  in  advance  of 
grammars  and  glossaries;  it  is  doubtful  whether  any  one  could 
have  done  better  at  the  same  period'.  Sein  Hauptwerk,  die 
Ausgabe  und  Übersetzung  der  Pehlevischrift  Dinkard,  wird 
nach  seinem  Tode  von  seinem  Nachfolger  Dastur  Darebji  fort- 


Iraniflche  Religion  1900—1910  229 

gesetzt  Die  Festschrift  enthält  neben  Übersetzungen  von 
Geldners  ^Avesta-Litterature'  im  'Grundriß'  und  von  Justis 
Zarathustra  in  den  Preuß.  Jahrb.  88  eine  Reihe  Originalarbeiten 
von  europäischen  Iranisten.  Zunächst  Textausgaben  und 
Versionen:  'The  Pahlavi  Jamasp  Nämak'  teils  in  Pehlevitext 
nach  einer  Handschrift  des  Behramji  Sanjana,  teils  in  korri- 
gierten Päszend  nach  Haugs  MS.  Nr.  7  —  alles  von  West 
selbst  besorgt.  Derselbe  bringt  eine  Transkription  und  Über- 
setzung von  Pehlevi  Jasna  32  und  (im  Appendix  II)  die  erste 
Serie  vom  Pehlevi-Text  des  Zäd-sparam.  Casartelli  gibt  ein 
Dinkart- Fragment  (III  9)  im  Anschluß  an  seinen  Beitrag  zu 
den  Melanges  Charles  de  Harlez  (Leiden,  Brill  1896,  41 — 43), 
wo  er  eine  Übersetzung  des  ersten  Teils  des  Dinkart  gebracht 
hatte;  Geld n er  eine  Übersetzung  von  Vendidad  XYIII  samt 
einer  Deutung  von  Jasna  10,  14,  wo  er  nunmehr  värema  liest 
und  als  Herz  (hrdj  'Inneres'  übersetzt;  die  früheren  Über- 
setzungen, auch  Geldners  eigene,  waren  unbefriedigend.  Ebenso 
bringt  Jackson  eine  neue  Deutung  von  Js.  50,  7.  Paul 
Hörn  brachte  Inschriften  aus  Sasanidischen  Gemmen  und  eine 
Deutung  der  Behistun -Inschrift;  die  letztere  wird  im  Appendix  I 
von  einem  'Admirer'  gedeutet.  Mills  weist  durch  eine  Über- 
setzungsprobe die  Ähnlichkeit  der  Gätha-  und  Sanskritsprache 
nach.  Geiger  gibt  eine  kurze  Beschreibung  der  iranischen 
Hindukush- Dialekte  Munjäni  und  Yüdgha.  Kuhns  Nachweis, 
daß  die  in  Yäskas  Nirukta  2,  2  erwähnten  Kambodja  Iranier 
waren,  und  zwar  Zoroastrier,  die  schädliche  Tiere  {Mrafstra) 
töteten,  ist  für  die  Yerbreitungsgeschichte  des  Parsismus  inter- 
essant. E.  Wilhelm  gibt  eine  übersichtliche  Beschreibung  der 
Parther  und  Gray  Beiträge  zum  Avestischen  Kalender,  wesentlich 
Übersetzungen  von  Chrysosokkes  und  anderen  einschlägigen  Tex- 
ten, die  alle  das  persische  Jahr  auf  365(12x30-1-5)  Tage  setzen 
und  ferner  von  Schaltmonaten  und  Schaltjahren  sprechen. 

Wir  gruppieren  die  weitere  Literatur  nach  dem  Inhalt  ohne 
Rücksicht  auf  die  Zeitfolge. 


230  E^^-  Lehmann 

Unter  den  enzyklopädischen  Arbeiten  sei  auf  einzelne 
Artikel  in  Hastings'  Encyclopaedia  of  Religion  and  Ethics  (seit 
1908,  bis  jetzt  5  Bände  bis  Art.  Fichte)  aufmerksam  gemacht. 
Die  meisten  Iranisten  geben  diesem  Werke  Beiträge:  In  Bd.  I 
z.  B.  Cumont  Anähitä;  Edwards  Altar;  E.  Lehmann 
Ancestor  worship;  Söderblom  Ages  of  the  world;  Jackson 
Ahriman,  Amesha  Spentas;  Mills  Ahuna  Yairya;  Grray, 
Abandonment  and  exposure;  Achaemenians.  In  Bd.  II:  Söder- 
blom Ascetism;  Jackson  Avesta;  Gray  Calendar;  Mills 
Barsom;  Modi  Birth;  Casartelli  Celibacy;  Söderblom 
Communion  with  the  Deity;  Lehmann  Commuiuon  with  the 
dead;  Gray  und  Modi  Childern;  Casartelli  Charms  and 
amulets.  Eine  Übersicht  über  die  Verfasser  der  Artikel  findet 
sich  vorn  in  jedem  Band.  —  In  ^Die  Religion  in  Geschichte 
und  Gegenwart'  (seit  1909)  schreibt  Geldner  die  Artikel 
über  Zarathustrisches;  Hauptartikel  ^Avesta'  und  ^^erser, 
Parsismus'  (mit  Hinweisen  auf  die  anderen  Artikel). 

Von  allgemeinen  Geschichtswerken,  die  den  Parsismus 
behandeln,  berührt  Ed.  Meyers  Geschichte  des  Altertums  11,2 
(2.  Aufl.,  1909,  Stuttgart,  Cotta)  nur  punktuell  die  zoroastrische 
Religion;  er  geht  hier  überall  von  der  Voraussetzung  aus,  daß 
Zarathustra  als  historische  Person  und  zwar  als  Gründer  der 
Avestatheologie  zu  betrachten  ist.  Dagegen  enthält  Bd.  III 
(1901,  Das  Perserreich  und  die  Griechen)  eine  sehr  treffende 
Skizze  der  religiösen  Verhältnisse  unter  den  Achämeniden,  be- 
sonders der  Entwickelung  des  Polytheismus  und  der  gegen 
fremde  Kulte  (z.  B.  den  jüdischen)  erwiesenen  Liberalität. 
Über  den  Zeitpunkt  des  Auftretens  der  Zarathustrischen  Religion 
siehe  unten  S.  247.  J.  0.  Präsek  widmet  in  seiner  Geschichte 
der  Meder  und  Perser  (I,  IL  Gotha,  Perthes,  1906  —  10) 
der  Frage  nach  Dareios'  Verhältnis  zur  Zoroastrischen  Religion 
ein  Kapitel  (Bd.  II,  Kap.  XI,  §  33),  in  dem  er,  nach  CasarteUis 
Vorgang,  die  Religion  des  ersten  Achämeniden  aus  den  In- 
schriften herauszulesen    versucht.     Er    schildert    das    *  arische 


Iranisclie  Religion  1900—1910  231 

Gesetz'  des  Dareios  als  ein  Rückgreifen  auf  den  altarischen 
Naturkultus,  das  als  eine  Reaktion  gegen  das  rein  Formelle 
des  medischen  Magismus  auftrat.  Auch  der  Magismus  wird 
(S.  116  — 117)  als  ein  Naturkult  (Feuerkult,  chthonischer  und 
Schlangenkult)  beschrieben.  Mit  der  Avestareligion  haben  diese 
Konstruktionen,  die  das  Material  sehr  frei  verwerten,  nichts 
zu  tun;  der  Verfasser  scheint  auch  geneigt,  die  Avestatheologie 
in  eine  spätere  Periode  zu  verlegen,  jedenfalls  will  er  die  Zoro- 
asterlegende  auf  das  Ende  des  5*®^  vorchr.  Jahrh.  datieren  und 
überhaupt  die  Gestalt  des  Zarathustra  aus  der  Geschichte  ver- 
weisen (cf.  123  —  124);  er  argumentiert  bei  diesen  Behauptungen 
aus  dem  Schweigen  der  Inschriften  und  der  altgriechischen 
Geschichtsschreiber  und  läßt  das  Avesta  selbst  als  angeblich 
späteres  Erzeugnis  außer  Betracht.  (S.  die  Rezensionen  von 
Jackson  Am.  bist.  Rev.  16,  p.  102 — 4;  Sanda  Wochenschr. 
f.  klass.  Phil.  27,  Sp.  1361— 63;  Houtsma  Museum  Leiden  17, 
S.  338  — 40;  Hommel  Berl.  phil.  Wochenschr.  29,  756—59; 
Hoffmann-Kutschke  Rec.  d.  trav.  32,  1895;  Glotz  Rev. 
hist.  101,  p.  134;  vgl.  ferner  Ed.  Meyers  Replik  gegen  Präsek, 
Zeitschr.  f.  vergl.  Sprachf.  42,  22:  „den  ursprünglichen  Aus- 
gangspunkt der  arischen  Bewegung  im  heutigen  Armenien  zu 
suchen  —  was  eine  für  den  Verfasser  eines  Spezialwerkes  über 
die  ältere  iranische  Geschichte  geradezu  erstaunliche  Unkennt- 
nis der  Tatsachen  zeigt".) 

Zu  A.  Hoffmann-Kutschkes  vielumstrittener  Schrift  ^ Die 
Wahrheit  über  Kyros,  Därajawausch  und  Zarathuschtra', 
Stuttgart,  Kohlhammer,  1910,  vergleiche  die  ausführliche  scharfe 
Kritik  von  F.  H.  Weißbach,  ZDMG  63,  830  —  46  (dagegen 
E.  Herzfeld,  ebenda  64,  S.  63  f.  und  F.  Bork  64,  569—80; 
vgl.  wiederum  Weißbach,  ebenda  67,  271  ff.).  Sie  ist  von  tem- 
peramentvoller Polemik  so  stark  durchsetzt  und  bespricht  so 
vielerlei  auf  einmal,  daß  es  kaum  möglich  ist,  den  Faden  der 
Darstellung  festzuhalten.  Wo  die  Wahrheit  auf  einem  Titel- 
blatt prangt,  hat  sie  sich  häufig  auch  dadurch  erschöpft  und 


232  Edv.  Lehmann 

ist  im  Buche  selbst  spärlicher  vertreten.  Als  Probe  der  Re- 
sultate sei  S.  16  hingestellt:  „Mit  der  Tatsache,  daß  Wistäspa 
der  jüngeren  Linie  der  Achämenidenkönige  angehört,  wie  das 
Avesta  es  bezeugt  und  die  Keilinschriften,  ist  aber  auch  ge- 
geben, daß  der  Wistäspa,  Vater  des  Sfentadata  (neupers.  Isfendiar), 
der  Wischtaspa  der  Keilinschriften,  der  Vater  des  Därajawausch  ist 
und  daß  Sfendata  Name  des  Därajawausch  ist  und  sein  muß." 
Als  Beispiel  seiner  Methode  diene  S.  29:  „Da  Indien  vom  Aus- 
gangspunkte der  Indogermanen  (Europa)  weiter  entfernt  ist  als 
Iran,  so  muß  auch  aus  diesem  Grunde  sowohl  Religion  wie 
Sprache  schon  des  alten  Indiens  weniger  ursprünglich  sein  als 
Religion  und  Sprache  Altirans,  abgesehen  davon,  daß  das  Alter 
der  Veden^  selbst  des  Rigveda  ein  [sehr  geringes."  ist  über 
die  ^arische  Bewegung  im  Iranismus'  schreibt  G.  Hü  sing 
Die  iranische  Überlieferung  und  das  arische  System  (Mythol. 
Bibl.  II,  2.  Heft,  Leipzig,  Hinrichs  1909;  rezensiert  von  H  off- 
mann-Kutschke,  Rec.  d.  trav.  32,  187  —  89  und  E.  Siecke 
Or.  L.  Z.  1910,  165  — 167).  Hüsing,  der  die  alt- indogerma- 
nischen Mythen  für  Mondmythen  hält,  beschreibt  in  diesem 
Geiste  die  vorzarathustrische  Religion  der  iranischen  Arier. 
Nach  zwei  einleitenden  Abschnitten  über  das  arische  System 
untersucht  er  philologisch  die  iranische  Überlieferung,  um  sich 
in  einem  4.  Hauptabschnitt  dem  Keresaspa-  (Krsaaspa-)  Mythus 
vom  Schlangentöter  zu  widmen.  Er  führt  alle  iranischen 
Schlangentöter  auf  diesen  einen  zurück,  dessen  Mythus  er  als 
Mondmythus  deutet.  Dieses  sei  der  eigentliche  Körper  der 
iranischen  Religion,  Zarathustras  viel  spätere  Lehre  wird  als 
lauter  Abstraktionen  bezeichnet,  die  zum  iranischen  Volkstum 
keine  Beziehung  habe.  Zarathustras  Name  deutet  Hüsing  (Der 
Name  Zarathustra,  0.  L.  Z.  8,  Nr.  3)  als  Trankopfer  =  Staude  = 
Haoma,  —  jedenfalls  ein  sehr  ironischer  Name  für  einen  Mann, 
der  von  diesem  Gewächs  und  Getränk  nichts  wissen  will.  Seine 
Mond-Theorie  hat  Hüsing  in  Kürze  im  A.R.W. IV,  349  —  357 
*  Iranischer  Mondkultus'  dargelegt. 


Iranische  Religion  1900—1910  233 

J.  P.  Kapadia  History  of  the  rise  and  fall  of  the  Parsi  Em- 
pire from  the  remotest  times  up  to  its  Subversion  by  the  Arabs 
vol.  1,  Bombay  1906,  ist  von  R.  P.  Karkaria  in  As.  qu.  Rev. 
24,  195  —  98  rezensiert.  J.  Marquarts  grundgelehrte  Unter- 
suchungen zur  Geschichte  von  Eran,  deren  zweiter  Teil  im 
Supplemeiitband  X  des  „Philologus"  1905  erschien. ,  beschäftigen 
sich  durchweg  mit  profan-historischen  und  geographischen  Fragen. 
Das  Kapitel  „Die  Namen  der  Magier"  bringt  nur  späten  legen- 
darischen Stoff  über  die  heiligen  drei  Könige;  im  Stück  0 
„Die  Chronologie  des  Kambyses  und  der  Lügenkönige  und  der 
altpersische  Kalender"  kommt  der  Verfasser  auf  die  religiösen 
Motive  des  Magiermordes  und  der  Tat  des  Dareios  zu  sprechen 
„Er  fühlte  sich  ohne  Zweifel  als  ein  neuer  Fredün,  welcher 
dem  in  Gaumätä  wiedererstandenen  Drachen  Dahäka,  der  Ver 
körperung  aller  Ungesetzlichkeit  und  Gewalttat,  den  Kopf  zer- 
schmetterte. Freilich  erschien  Gaumätä  seinen  Standesgenossen, 
den  Magiern,  in  ganz  anderem  Lichte.  Ihnen  war  er  der  Vor- 
kämpfer für  die  reine  Mazdalehre,  wie  sie  die  Magier  Mediens 
weiter  ausgebildet  hatten,  und  im  Kampfe  für  diesen  Glauben 
war  er  als  Märtyrer  gefallen  (S.  136).  Seiner  Vorstellung  von 
der  Bedeutung  der  Tat  entsprechend  wählte  Dareios  mit  Be- 
dacht den  altpersischen  Neujahrstag  zur  Ermordung  des  Usur- 
pators, nämlich  den  Tag,  an  dem  das  Ungeheuer  erschlagen 
worden  war."  Das  Mihragänfest  als  ehemaliges  Neujahrsfest 
wird  S.  132 — 36  im  einzelnen  besprochen  und  beschrieben. 
Bei  der  näheren  Besprechung  des  altpersischen  Kalenders  tritt 
Alarquart  für  dessen  volle  Abhängigkeit  vom  babylonischen 
ein.  „In  der  Tat  entsprechen  den  altpersischen  Monatstagen 
der  Behistaninschrift  an  den  wenigen  Stellen  des  babylonischen 
Textes,  an  denen  die  Datumsangaben  erhalten  sind,  stets  die 
gleichen  Tage  des  dem  altpersischen  substituierten  babylonischen 
Monats.  Da  nun  das  babylonische  Jahr  gleich  dem  altgriechi- 
schen ein  gebundenes  Mondjahr  mit  abwechselnd  29  und  30 
Tagen   war"  (das   von   Herodot   1,  32  erwähnte  persische  Jahr 


234  Edv.  Lehmann 

von   12  mal  30  Tagen  hat  es   in  Wahrheit  nie  gegeben,  vgl. ': 
S.  203 — 204),  „das    alle   paar  Jahre  durch  Einschiebuag  eines  f 
ganzen  Monats   mit   dem  Sonnenjahre   ausgeglichen  wurde,   so 
daß   sein  Beginn  immer  wieder  auf  das  Frühlingsäquinoktium 
zurückwich,  so  war  eine  solche  Übereinstimmung  der  persischen 
mit  den  babylonischen  Monaten  selbstverständlich  nur  möglich, 
wenn   die  Perser  auch  das  ganze  Schaltsjstem  der  Babylonier 
übernommen  hätten.     Dieses  kann  aber  keinesfalls  einfach  und 
allgemeinverständlich  gewesen  sein,  da  es  bis  heute  nicht  ge- 
lungen  ist,   die   für   dasselbe   gültigen  Regeln  aus  den  Texten}: 
abzuleiten.     Es  war  also  uu zweifelhaft  schwierig  zu  handhabeu, ' 
und   daraus  würde    von    selbst  folgen,   daß   die  Perser   für  die 
Regelung  ihres  Kalenders  fortdauernd  von  den  sternkundigen 
Babyloniern  abhängig  blieben"  (S.  192). 

Von  weiteren  Arbeiten  zur  allgemeinen  persischen  Geschichte 
sind  zu  bemerken:  F.  C.  Andreas  Über  einige  Fragen  der 
ältesten  persischen  Geschichte  (Verh.  13.  Orient.  Kongreß  S.  93  bis 
99),  besonders  über  die  Nationalität  des  Kyros.  J.  Wells 
The  persian  friends  of  Herodotus,  Journ.  of  Hellenic  Studies 
27  p.  37 — 47.  Arthur  Chris tensen  Det  mediske  Dynasti 
hos  Herodot  og  Ktesias  (Nordisk  tidsskrift  f.  filologi,  3  Räkke 
19,  89  —  101).  Ders.  L'empire  des  Sasanides;  le  peuple,  Tetat, 
la  cour  (Det  kgl.  danske  Vidskbs.  Selskabs  Skr.  7  Räkke  hist. 
filos.  afd.,  Köbenhavn  1907,  120  p.),  das  in  gefälliger  Darstel- 
lung, auf  Grund  selbständiger  Forschungen,  ein  gutes  Bild  der 
sasanidischen  Kultur  gibt.  —  E.  S ach  au  Von  den  rechtlichen 
Verhältnissen  der  Christen  im  Sasanidenreiche  (Mitt.  d.  Seminars 
f.  Orient.  Sprachen  in  Berlin  X  2  S.  69  —  95)  bringt  höchst 
interessante  Aufschlüsse  über  die  Toleranz  vor  und  im  Islam; 
über  sasanidische  Toleranz  besonders  S.  72 — 73:  „Das  Christen-; 
tum  ist  zu  allen  Zeiten  der  Sasanidenherrschaft  toleriert  wor- 
den, selbst  in  den  Zeiten  der  heftigsten  Verfolgung.  .  .  Unter 
den  Augen  der  Regierung  hat  sich  das  orientalische  Christen- 
tum in  der  Reichshauptstadt  in  den  Synoden  von  410  und  420 


Iranisclie  Religion  1900-1910  235 

seine  Verfassung  gegeben.  .  .  Aphraates  verfaßte  seine  Homi- 
lien  zur  Zeit  der  ärgsten  Christenverfolgung  unter  Sapor  IL, 
läßt  aber  durch  nichts  erkennen,  daß  nicht  der  christliche  Gottes- 
dienst zu  seiner  Zeit  ungestört  und  in  gewohnter  Weise  aus- 
geübt worden  sei. .  .  Es  ergibt  sich  als  wahrscheinlich,  daß  die 
Sasanidenkönige  nach  dem  fehlgeschlagenen  Versuche  Sapors  II. 
von  der  Ausrottung  oder  Bekehrung  der  Christen  zum  Magismus 
als  von  einem  aussichtslosen  Beginnen  Abstand  genommen  haben." 
Allg.  Literaturgeschichte.  Neben  den  literaturgeschicht- 
liehen  Abschnitten  im  Grundriß  der  iranischen  Philologie  von 
Geldner,  West,  Nöldeke  und  Hörn,  die  schon  früher  er- 
schienen waren,  steht  P.  Horns  Geschichte  der  persischen  Litera- 
tur (Leipzig,  Amelang  1900),  die  in  einer  für  den  Nichtfach- 
mann  berechneten  Kürze  und  in  gefälliger  Darstellung  der 
Avestaliteratur  eine  geschmackvolle  Auswahl  übersetzter  Text- 
fltücke  bietet.  Das  Hauptwerk  auf  dem  Gebiete  der  späteren 
persischen  Literatur  ist  E.  G.  Browne  A  literary  history  of 
Persia,  London  1902:  in  der  Tat  eine  persische  Geschichte, 
die  über  alle  Hauptbegebenheiten  der  geistigen  Entwickelung 
ein  festes  und  klares  Wort  spricht.  Bezüglich  des  Awesta 
verhält  Verfasser  sich  wesentlich  referierend;  von  der  sasani- 
dischen  Periode  tritt  Browne  als  selbständiger  Kenner  auf  und 
gibt  meisterhafte  Skizzen  von  der  Kultur  der  Sasanidenzeit,  dem 
Manichäismus,  Mazda  und  dem  Sufismus. 

Reisewerke,  Ausgrabungen,  Archäologisches.  Eine 
erfreuliche  Reisebeschreibung  ist  die  von  A.  V.  Will.  Jackson 
Persia  past  and  present,  N.  J.  Macmillan  1906,  471p.).  Wenn 
sin  so  allseitiger  Iranist  Persien  bereist,  wird  er  vieles  bemerken 
Lind  erzählen  können,  was  anderen  Reisenden  entgeht.  Seinem  Tage- 
3uche  folgend,  ergeht  er  sich  in  gelehrte Digressionen  bald  über  al- 
lere, bald  über  neuere  religiöse  Verhältnisse  (z.  B.  über  den  Babis- 
nus).  Ein  ganzes  Kap.  (VII.)  widmet  er  dem  „Zoroaster  and  the 
\vesta".  Jackson  verläßt  sich  bekanntlich  sehr  auf  die  antike  und 
)ersische  Tradition  über  Zarathustras  Leben,  und  er  hatte  seinen 


* 


236  ^^^-  Le^niann 

Reiseplan  sozusagen  nach  diesem  Standpunkt  zurechtgelegt 
('I  used  my  own  volume  on  the  Prophets  life  as  a  sort  of  hand- 
book  for  my  journey'  S.  69).  Deswegen  hat  er  sich  mit  Vorliebe 
auf  dem  angeblichen  Geburtsort  Zarathustras,  Urumiah  aufge- 
halten und  hier  Ausgrabungen  unternommen;  in  Kanzavar  hat 
er  einen  Anahitatempel  untersucht.  Dem  zarathustrischen 
Gottesdienst  in  Shiraz  und  Yezd  hatte  Jackson  Gelegenheit 
beizuwohnen;  er  beschreibt  auch  Hochzeits-  und  Bestattungs- 
gebräuche aus  diesen  Gegenden,  —  überall  hat  der  Beobachter 
sein  literarisches  Wissen  zur  Hand  und  belebt  und  erklärt  das 
Gesehene  durch  das  Gelesene.  Beigegeben  sind  viele  gute  Illu- 
strationen nach  photographischen  Aufnahmen.  Ferner  hat 
Jackson  aus  seiner  Reise  in  Indien  in  Journ.  Amer.  or.  Soc. 
21,  321  über  eine  Yasna-  und  eine  Navjot-Zeremonie  berichtet, 
die  er  dort  erlebte;  dabei  beschreibt  er  gleichzeitig  Sanjan,  die 
erste  Heimat  der  Parsis  in  Indien. 

Ella  C.  Sykes  Persia  and  its  people,  London,  MethuB 
1910,  bietet  wenig  Stoff  von  antiquarischem  Interesse.  Merk- 
würdig ist  die  Beschreibung  der  persischen  Frauen  und  ihres 
elenden  Loses,  weil  die  Perser  sich  sonst  immer  durch  Ehrung  der 
Frauen  auszeichneten  und  weil  bei  mehreren  von  persischer  Kultur 
berührten  Stämmen  (z.  B.  im  Kaukasus)  noch  immer  Spuren 
von  diesem  Vorzug  nachzuweisen  sind.  Hugo  Grothes  ^Wan- 
derungen in  Persien;  Erlebtes  und  Erschautes'  ist  von  M. 
Hartmann  in  Orient.  Archiv  1  p.  223  ff.  besprochen.  Nicht  zu- 
gänglich waren  mir  J.  Adams  Persia  by  a  Persian:  Personal 
experiences  of  manners  and  customs  and  social  life  in  Persia, 
London,  Stock  1906,  536  pp.  und  Nweeya  S.  Kasha  Persia, 
the  land  of  the  magi  or  the  home  of  the  wise  men;  a  de- 
scription  of  Persia  from  the  earliest  ages  to  the  present  time.  3*** 
ed.  1907,  Harrasowitz.  —  Die  archäologischen  Arbeiten  im 
persischen  Boden  waren  wesentlich  von  der  großen  Morgan - 
Expedition  absorbiert,  deren  Arbeiten  teils  in  den  offiziellen 
Berichten    (Delegation    en    Perse,    Memoires    publiees   sous   ]a 


Iranische  Religion  1900—1910  237 

direction   de  J.  de  Morgan),  teils  in  Einzeldarstellungen  wie  J. 
de  Morgan  Les  travaux  de  la  delegation  scientifique  en  Perse 
und   desselben    L'histoire   de    l'Elam    d'apres    les    materiaux 
fournis    par   les    fouilles   en  Perse   (Rev.  arch.  40,  p.  149  — 71); 
C.  Fossay   Les   fouilles    de   la   delegation  Fran9aise  en  Perse, 
Journ.  des  Savants  1904-,  A.  Huart  Les  resultats  linguistiques  de 
la  mission  de  Morgan  en  Perse  (Yerh.  13.  Orient.  Kongr.  S.  117f.); 
F.  V.  Andrian  Die  französischen  Ausgrabungen  in  Elam  1897 
bis  1902  (Corresp.  Bl.  d.  Gesellsch.  f.  Antbropol.  33  S.  100-105) 
veröffentlicht  sind. 
j         Inschriften  und  Verwandtes.    L.  Mills  The  stone  sculp- 
i  tured  texts  and  the  manuscripts  of  old  Persia;  their  harmony 
j  and   authority  (As   quart.  Rev.  28);  F.  Sarre  und  E.  Herz  fei  d 
I  Iranische   Feldreliefs,   Aufnahme  und  Untersuchuncr  von  Denk- 
I  m'älern  aus  alter  und  mittelpersischer  Zeit,  Berlin,  Wasmuth  1910; 
j  F.  H.  Weißbach   Über    die  Inschriften   des   Darius  Hystaspes 
1  von    Naks -i- Rustam,    Leipzig,   Teubner    1910;    F.    H.   Weiß- 
(bach  und  W.  Bang  Die  altpersischen  Keilinschriften  in  Um- 
!  Schreibung  und  Übersetzung,  Leipzig,  Hinrichs  1908;  Ho  ff  mann - 
Kutschke    Die    altpersischen    Keilinschriften    des  Großkönigs 
Därajawaush   bei    Behistün,  Stuttgart,  Kohlhammer    1909,  rez. 
von   Präsek,    Glob.   96   S.    81;    L.  Mills    Behistün  (Hasting's 
Eucyclop.  Relig.  Ethics  II  450 — 54).    Die  Deutung  der  wenigen 
.und  leichtverständlichen  altpersischen  Keilinschriften  steht  ja  im 
lallgemeinen  fest;  der  Akribie  der  Herren  Weißbach  und  Bang  ver- 
danken wir  jetzt  eine  abschließende  Bearbeitung,  die  die  früheren 
lAusgaben  und  Übersetzungen  von  Spiegel   und  Oppert   ablöst. 
jFür  eine  Erweiterung  des  inschriftlichen  Materials  haben  Sarre 
•  fund  Herzfeld  gesorgt.     Zum  Schluß   sei   auf  die  numismatische 
jArbeit  des  inzwischen  verstorbenen  Theodor  Bloch  Die  Zoro- 
astrischen  Gottheiten  auf  den  Münzen  der  Küsana-Könige  (ZDMG 
j64,  739  -  44)  aufmerksam  gemacht. 

Textausgaben:  Awesta,  Pehlevi,  Päzend  etc.  Sanskrit. 
A.n  den  Texten  ist  in  unserem  Dezennium  sehr  fleißig  gearbeitet 


238  Edv.  Lehmann 

worden.  Auf  neue  Awes  tat  exte  ist  ja  leider  kaum  mehr  zu  hoffen ; 
die  Arbeit  muß  sich  hier  auf  neue  Ausgaben  und  Emendationen 
der  Texte  beschränken^  die  indessen  durch  das  immer  stärkere 
Heranziehen  der  Pehlevitexte  neue  Folie  erhalten.  Eine  um- 
fassende Arbeit  von  dieser  Art  ist  L.  Mills  The  Yasna  of  the 
Avesta,  a  study  of  Yasna  I  with  the  Avesta  Text  in  reconstructed 
edition,  the  Pahlavi  Text  edited  with  all  the  variants  in 
its  original  character  and  in  transliteration,  the  lather  re-edited 
from  ZDMG  1903,  also  with  the  Sanscrit  and  Persian  texts  in 
transliteration,  with  translations  of  the  Pahlavi  text  into 
English  as  here  first  offered,  the  Avesta  text  having  been 
translated  into  English  in  S.  B.  E.  1887,  Leipzig,  Brockhaus  1910. 
Zwei  Vendldäd-Ausgahen  verdanken  wir  gelehrten  Parsis:  The 
Vendidäd,  a  new  edition  prep.  by  E.  E.  K.  Antia,  Bombay 
1901  III,  und  Vendidäd  Avesta  Text  and  Pahlavi  translat., 
commentary  and  glossary  index  by  H.  Jamasp  und  M.  M.  Gan- 
devia  I — IT,  Bombay  1907.  H.  Goodwin  Smith  bringt  im 
A.R.W.  VI  eine  scharfe  Prüfung  der  das  Bekenntnis  Honover 
überliefernden  Texte.  N.  N.  Dhalla  The  Nyaishes  or  Zoroastrian 
litanies;  Avestan  text  with  the  Pahlavi,  Sanscrit,  Persian  and 
Güjaräti  versions,  Columbia  Univ.  Indo-Iran  Series  VI  1908. 
Zahlreicher  sind  die  Leistungen  auf  dem  Gebiete  der  Pehlevi- 
texte. Nur  die  wichtigsten  seien  hier  erwähnt.  Die  grund- 
legende Ausgabe  von  DinJcard  von  Peshotan  Dastur  Behramje 
Sanjana  erreichte  den  Band  XI  im  Jahre  1910;  die  Bände  8 — 9 
(1897 — 1900)  wurden  mit  gebührender  Anerkennung  besprochen 
von  E.W.  West  im  Journ.  of  Am.  or.  Soc  1901  p.  I54ff.  i 
In  den  Pahlavi  Text  Series  (vol.  III)  erschien  die  Faksimileausgabe 
BündahisJm,  von  Anklesaria  besorgt  (Bombay  Brit.  Ind.  Press  . 
1908).  —  Persian  texts  relat.  to  Zoroastrianism  Saddar  Nasr  -^ 
and  Saddar  BundehesJi  ed.  by  E.  B.  N.  Dhabar  (Bombay  Bri- 
India  Press  1909).  —  Palend  texts  collected  and  collated  by  | 
E.  E.  K,  Antiä,  Bombay  1909.  —  A.  Freimann  Pandnamah 
i   Zaratust    (WZKM   20).  —   Dazu     kommt    eine    Reihe    von 


Iranische  Religion  1900—1910  239 

Pelilevi-Übersetzungen  und  Kommentaren.  Den  Pehlevi 
Yasna  hat  Mills  allmälilich  ediert  in  ZDMG,  nämlich  X — XIII 
in  Bd.  56,  XIV— XIX  Bd.  57,  LV— LVI  und  LVIII— LXII 
Bd.  60;  LXX  (Sp.  LXIX)  Bd.  64;  ferner  Yasna  I  in  Museon 
Bd.  7  und  LVII-LXI  in  J.R.A.S.  1906.  —  M.  B.  Davar  The 
Pahlavi  Version  of  Yasna  IX  ed.  with  the  collation  of  mss.  a 
literal  translation  into  English,  London  1904.  Kanga  The 
Pahlavi  Vendidäd  with  English  notes,  Bombay  1901.  — 
Sanskritversionen:  Collected  Sanscrit  writings  of  the  Parsees 
ed.  E.S  D.  Bharücha  I.  Khorda- Avesta  (Parsee  Panchayet 
Funds,  Bombay  1904). 

Lexikalisches  und  Grammatisches.  Auf  lexikalischem 
Gebiete  ist  zunächst  das  Erscheinen  von  F.  Bartholomaes 
Altiranischem  Wörterbuch,  Straßburg  1904,  als  eine  erfreuliche 
Begebenheit  zu  notieren,  um  so  viel  mehr,  als  man  sich  bis 
jetzt  mit  Justis  gänzlich  veraltetem  Handbuch  der  Zendsprache 
(1864)  behelfen  mußte.  Bartholomae  verfügt  über  den  gesamten 
Sprachschatz  des  großen  iranischen  Gebietes  und  stellt  die 
Awestasprache  auf  ihren  eigenen  Boden,  behandelt  sie  nicht, 
wie  es  noch  immer  besonders  bei  den  deutschen  Philologen 
vorzugsweise  geschah,  durch  das  Medium  des  Sanskrit.  Dadurch 
hat  er  eine  Mannigfaltigkeit  von  Wortbedeutungen  erschlossen, 
die  zum  Verständnis  des  Awesta  beigetragen  haben.  Dieses 
gilt  vor  allem  dem  Sachlichen  oder  Dinglichen,  was  besonders 
dem  Vendidäd  zugute  kommt  und  die  Texte  über  den  schein- 
baren Unsinn  früherer  Deutungen  zu  einem  wirklichen  Sinn 
geführt  hat.  Wo  König  Yima  noch  nach  Darmesteters  Über- 
setzung Vend.  2,  10  die  Erde  „mit  einem  Ring  preßte  und 
einem  Dolche  bohrte",  um  sie  auszudehnen,  sieht  man  ihn  jetzt 
sie  mit  einem  Pfeil  und  einem  Pferdestachel,  ganz  nach  Art  des 
seine  Herde  treibenden  Nomaden  zum  Fortgang  anspornen 
u.  a.  m.  Man  wird  an  allen  derartigen  Stellen  durch  Wulffs 
Übersetzung  (s.  u.)  am  besten  von  der  großen  Veränderung  einen 
Eindruck  bekommen.     Weniger  bedeutet  das  Wörterbuch  für  die 


240  Edv.  Lehmann 

theoretischen  Teile  des  Awesta,  besonders  für  das  Verständnis 
der  Gäthas.  Die  Theologie  des  Awesta  versteht  man  durch 
bloße  Wort-  und  Formenkenntnis  so  wenig,  wie  ein  bloßer  Philolog 
das  Neue  Testament  verstehen  würde.  Bartholomae  ist  kein 
Awestatheologe,  und  seine  Gäthaübersetzung  (s.  u.)  hat  uns  die 
alten  Hymnen  und  Lehrgedichte  des  Awesta  nicht  wesentlich 
klarer  gemacht.  Sehr  hat  Bartholomae  den  Gebrauch  seines 
Buches  erschwert  durch  die  viel  zu  detaillierte  Transkription 
der  Awestaworte  und  noch  mehr  durch  die  unergründliche  lexi- 
kalische Ordnung  der  Wörter;  schon  seine  Grammatik  im  Grund- 
riß der  iranischen  Philologie  erliegt  ihrer  Unüberschaulichkeit, 
noch  erdrückender  ist  dieser  Nachteil  in  einem  Lexikon,  dessen 
erste  Pflicht  doch  sein  muß,  übersichtlich  zu  sein.  L.  H.  Mills 
1902  erschienener  Dictionary  of  the  Gäthic  Language  of  the 
Zend  Avesta,  Leipzig  Brockhaus,  rez.  von  H.  Hübsch  mann 
L.Z.  1904,  165  a  f.,  A.  Meillefc  Revue  crit.  1904  H,  390,  ist 
weniger  ein  eigentliches  Wörterbuch  als  eine  lexikalisch  ge- 
ordnete Kommentation  der  Gäthas,  ist  aber  ein  Thesaurus  von 
Beobachtungen,  der  durch  die  tiefe  Vertrautheit  des  Verfassers 
mit  den  Pehlevikommentaren  um  so  wertvoller  wird.  K.  E. 
Kangas  An  English  Avesta  Dictionary,  Bombay  1909  ist  mir 
unbekannt;  A.  Meillet  hat  es  rezensiert  Journ.  Asiat.  Ser.  X  T. 
15  p.  373  f.;  H.  C.  Tolman  Ancient  Persia  Lexicon  and  the 
texts  of  the  Achaemenidian  inscriptions  ist  rezensiert  von  Weiß- 
bach  ZDMG  63,  828—30.  Die  Awestischen  Lesebücher  von 
H.  Reichelt  Awestisches  Elementarbuch  Heidelberg,  Winter  1909 
(rez.  V.  A.  Meillet  Journ.  Asiat.  1909  p.  536— 56)  und  E.  Sh. 
D.  Bharucha  (Lessons  in  Avesta  I — II,  Bombay  1907 — 1908, 
(Harrasowitz)  wie  des  letzteren  Lessons  in  Pahlavi  Päzend  I 
(Bombay,  Leipzig  1908)  seien  hier  nur  nebenbei  erwähnt 
Reich elts  Buch  ist  als  praktisches  Hilfsmittel  sehr  zu  empfehlen, 
enthält  nur  etwas  zuviel  für  den  elementaren  Gebrauch.  Zur 
Transkription  und  Phonetik  hat  Bartholomae  in  seinem 
^Zum    Lautwert    der    awestischen    Vokalzeichen'   (WZKM   24) 


Iranische  Religion  1900—1910  241 

beigetragen;  viel  wichtiger  sind  aber  auf  diesem  Gebiete  die 
letzten  Arbeiten  von  F.  C.  Andreas,  vor  allem  sein  *Die  dritte 
Gäthä  des  Zaratustro  (Josno  30),  Versuch  einer  Herstellung 
der  älteren  Textformen  nebst  Übersetzung'  1  (G.  G.  N.  phil.- 
hist.  Klasse  1909  S.  42 — 49).  Andreas  unterwirft  die  bisherige 
Lesung  der  Awestaschrift  einer  tief  einschneidenden  Kritik 
und  mißt  mehreren  Schriftzeichen  einen  ganz  neuen  Lautwert 
bei;  er  sucht  überhaupt  den  Rückweg  vom  überlieferten 
Awestatext  zu  dem  in  aramäischer  Schrift  geschriebenen  Text 
der  Arsacidenzeit  zurück.  Daß  ein  so  kritisch  vorsichtiger 
Philologe  wie  J.  Wackernagel  sich  diesem  kühnen  Unter- 
nehmen angeschlossen  hat  (siehe  Andreas,  und  Wackernagel  in 
Nachr.  der  Gott.  Ges.  der  Wiss.  1911  S.  If.,  wo  die  Prinzipien 
erörtert  werden),  spricht  für  dessen  Bedeutung  sehr;  in  der 
Tat  ist  auch  durch  das  Zusammenarbeiten  dieser  Männer  viel 
Einleuchtendes  zutage  gebracht,  das  jeder  Awestaforscher 
mit  Dank  aufnehmen  wird,  z.  B.  daß  der  bis  jetzt  Äpaosa  ge- 
nannte Dämon  der  Dürre  Äpavrtra  zu  lesen  ist,  eine  Lesung, 
die  uns  auch  andersWo  über  das  schwierige  s  in  angenehmer 
i  Weise  hinausbringt.  Hoffentlich  wird  bald  eine  Reihe  von 
j  Texten  in  der  neuen  Umschreibung  den  ungeduldig  wartenden 
j  Iranisten  gebracht  werden. 

Zur  Pehlevi- Grammatik  hat  E.  Blochet  wertvolle  Beiträge 
gegeben,  Etudes  de  grammaire  pehlevi  (Rev.  de  linguistique 
jvol.  36,  37).  J.  Scheftelowitz  bringt  in  seinen  Altiranischen 
•Studien  (ZD^]G  57)  Beiträge  zur  Syntax  des  Awesta,  alt- 
jiranische  Etymologien  und  semitische  Lehnwörter  {magu  als 
lassyr.  Lehnwort  gibt  dem  Verfasser  Anlaß  zu  einer  interessanten 
iDigression  über  den  babylonischen  Charakter  des  altmedi sehen 
\Iagismus,  S.  168—169). 

Von  Übersetzungen  des  Awesta  sind  zunächst  da  die  schon 
charakterisierten  Arbeiten  von  Chr.  Bartholomae  (Die  Gathas 
;les  Avesta,  Zarathustras  Verspredigten,  übersetzt  Straßburg 
'905)  und  Fritz  Wolff  (Avesta,  die  heiligen  Bücher  der  Perser, 

Archiv  f. Religionswissenschaft  XVII  Iß 


1 


242  Edv,  Lehmann 

übersetzt  auf  der  Grundlage  von  Chr.  Bartholomaes  altiranischem 
Wörterbuch,  Straßburg  1910).  Letztere,  die  schon  dem  Titel 
nach  auf  keine  Originalität  Anspruch  erhebt,  hat  eben  dadurch, 
als  Festlegung  des  durch  Bartholomaes  Arbeiten  erreichten 
Status  Interesse.  Geldner,  von  dessen  Hand  man  immer 
noch  eine  vollständige  Awestaübersetzung  erwartet,  hat  durch 
eine  Reihe  von  Einzelübersetzungen  einen  Teil  der  Schuld  ab- 
getragen. Seine  Übersetzung  ^Die  neunte  Gätha  des  Zara- 
thustra  u.  d.  Honover',  Sehr.  d.  Kgl.  Ak.  d.  Wiss.  Berlin  Bd.  38, 
bezeichnet  Geldner  selbst  als  'Probe  einer  vollständigen  Über- 
setzung der  Zarathustrischen  Reden'.  Auch  ^Das  18*®  Kai 
des  Yendidäd,  übersetzt  von  K.  Geldner'  (Sitz.-Ber.  Ak.  d.  Wis« 
Berlin  1903)  ist  in  streng  wissenschaftlicher  Form  gehalten. 
Für  ein  populäres  Prachtwerk  'Marksteine  aus  der  Weltliteratui 
herausgegeben  von  J.  Baensch,  Drugulin  1902,  hat  Geldnc 
'Das  Zoroastrische  Glaubensbekenntnis'  besorgt.  Der  keinet 
wegs  knappen  Auswahl  aus  dem  Awesta,  die  Geldner  für 
Bertholets  'Religionsgeschichtliches  Lesebuch'  (Tübingen 
Mohr  1911)^  besorgt  hat,  dürfte  bei  derselben  Gelegenheit  er- 
wähnt werden.  Geldner  ist  hier  bestrebt,  die  Texte  systematisch 
zurechtzulegen,  was  leider  zu  einer  Zerstückelung  mancher 
Hymnen  geführt  hat.  Daneben  werden  jedoch  Proben  ganzer 
Awestatexte  geboten.  Geldners  Übersetzungen  zeichnen  sich 
immer  durch  Schärfe  und  Klarheit  aus;  er  sucht  immer  die 
Begriffe  und  die  Realitäten,  von  denen  die  Rede  ist,  ins  helle 
Licht  treten  zu  lassen,  und  speist  nicht  seinen  Leser  ab  mit 
einer  cognitio  circa  rem,  wie  die  meisten  älteren  Übersetzer  und 
selbst  in  vielen  Fällen  Darmesteter.  Vor  allem  respektiert  er 
die  bestimmte  Terminologie  der  awestischen  Theologie,  in  deren 
Grundgedanken  er  so  weit  eingedrungen  ist,  wie  der  Awestatext 
an  sich  wohl  erlaubt.  Dadurch  bezeichnet  Geldners  Arbeit  einen 
relativen  Abschluß  der  Awestaforschung;  die  weitere  Arbeit,  die 
offenbar  noch  sehr  groß  sein  wird,  wird  im  Eindringen  in  die 
'  S.  in  diesem  Archiv  XVI  1913,  293  f. 


»Iranische  Religion  1900—1910  243 

Fehle vikommentare  und  in  die  selbständige  Theologie  der  Pehlevi- 
schriften  bestehen.  J.  Scheftelowitz'  Altiranische  Studien 
(ZDMG  57,  107 — 172)  enthalten  eine  sorgfältige,  kommentierte 
und  textkritisch  vorbereitete  Übersetzung  von  Vendidäd  V— VIIT. 
—  In  einem  größeren  Parallelwerk  zu  Bertholets  Lesebuch, 
Nathan  Söderbloms  schwedischen  ^Främmande  Religions- 
urkunder'  (Stockholm,  H.  Geber  1908),^  hat  der  Herausgeber 
selbst  (in  Band  II  2  S.  690  —  783)  Awesta-  und  Pehlevitexte 
übersetzt.  Seine  Auswahl,  die  überall  das  Wesentliche  betont, 
meidet  die  Zerstückelung  der  Texte;  dieses  geschieht  natürlich 
auf  Kosten  der  Vollständigkeit  der  Auswahl,  die  zu  wenig  über 
die  Yazatas  (z.  B.  über  Mithra)  und  zu  viel  über  die  Fravashis 
i  bringt.  In  lobenswerter  Weise  läßt  Söderblom  die  Reinheits- 
gesetze und  sittengeschichtliche  Abschnitte  aus  dem  Vendidäd 
hervortreten. 

Englische  Übersetzungen  sind:  L.  Mills  The  hymns  of 
Zoroaster,  for  family  use,  London  1903.  —  The  first  Gätha 
of  the  Avesta  by  L.  C.  Casartelli,  Dubl.  Rev.  133,  1903 
(metrische  Übersetzung  von  Yasna  28).  Von  demselben:  Leaves 
from  my  Eastern  Garden,  Market  Weighton  1908  (metrische 
Übersetzung  aus  Tast  19;  8;  Vend.  19  und  Yast  22),  Nasar- 
vanji  M.  Cooper  The  imitation  of  Zoroaster,  London  1910, 
Blumenlese  aus  Awesta-  und  Pehlevi- Schriften.  —  N.  M.  Kanga 
The  Vendidäd  transl.  into  Engl,  from  Pahlavi,  Bombay 
1899  —  1900.  —  The  day  Khordäd  of  the  month  Farvardin 
eommonly  called  Khordädsäl.  Transl.  from  the  original  Pahlavi- 
text  by  Dastoor  Kaikhosroes  Jämäsp  Asänä.  Carya  Mem  1901. 
Allgemeines  über  Zarathtistrische  Religion.  — 
A.  W.  Jacksons  ^Die  iranische  Religion',  im  Grundriß  der 
iranischen  Philologie  herausgegeben  von  W.  Geiger  und  E.  Kuhn, 
bietet  gerade,  was  man  in  einem  derartigen  Handbuch  sucht, 
die  festen  Data  der  Religion  in  übersichtlicher  Form  mit  präzisen 
Details  und  sorgfältigem  Literaturapparat.  Es  kommt  hier 
*  S.  in  diesem  Archiv  XVI  1913,  294  ff. 

16* 


244  Edv.  Lehmann 

dem  Verfasser  mehr  auf  die  gedrungene  Fassung  des  Sacli- 
gehaltes  als  auf  Entfaltung  der  Grundgedanken  oder  Anschau- 
lichkeit der  Darstellung  an.  Ein  Buch  über  Zarathustra^  das 
Oldenbergs  Buddha  entsprechen  könnte,  fehlt  noch  immer. 
H.  Oldenbergs  eigene  Darstellung  ^Die  iranische  Religion'  in 
'Die  Kultur  der  Gegenwart'  (Teil  I,  Abt.  III)  ist  zu  kurz,  um 
hier  in  Betracht  zu  kommen,  aber  in  ihrer  Kürze  treffend  und 
in  der  Stellung  der  Hauptprobleme  anregend.  Anziehender 
Form  erfreut  sich  auch  V.  Henry  Le  Parsisme  (in  der  Samm- 
lung *Les  Religions  des  peuples  civilises'),  Paris,  Dujarrie  et  C^" 
1905,  302  p.  Henry,  der  sonst  als  Sanskritist  arbeitet  und  über 
vedische  Religion  und  indische  Magie  geschrieben  hat,  gibt  hier 
einen  raschen  Überblick  über  das  Nachbargebiet  der  iranischen 
Religion,  die  er  von  ihrem  Ursprünge  bis  an  den  modernen 
Parsismus  verfolgt.  An  einer  Vertiefung  in  das  System  oder 
den  Geist  des  Zarathustrismus  liegt  es  dem  Verfasser  offenbar 
nicht;  dagegen  versteht  er  die  äußeren  Phasen  der  ganzen 
iranischen  Religionswelt  sehr  geschickt  zu  geben:  die  Mannig- 
faltigkeit der  Götter  und  Dämonen,  der  Zeremonien  und  Bräuche, 
die  Bestrebungen  der  Wissenschaft,  die  Entwickelung  der  Helden- 
sage. J.  H.  Moulton  (Early  Religious  Poetry  of  Persia, 
Cambridge  Univ.  Press  1911)  ist  es  gelungen,  in  kürzester  Form 
ein  sehr  treffendes  Bild  der  Zarathustrischen  Religion  zu  geben, 
oder  vielmehr  eine  Reihe  von  kleinen  Bildern,  von  einschlägigen 
Textproben  belebt,  die  sich  zu  einem  leicht  übersichtlichen 
Ganzen  zusammenfügen.  Ebenfalls  will  der  Parsi  R.  H.  Mistri 
mit  seinem  ^Zoroaster  and  Zoroastrianism'  (Bombay  1906)  nur 
eine  Skizze  seiner  Religion  geben,  die  dem  Leser  als  praktische 
Anleitung  dienen  könnte.  Das  Buch  ist  übersichtlicher  und 
objektiver  als  populäre  Veröffentlichungen  aus  der  Parsigemeinde 
sonst.  —  Interessant  ist,  daß  der  Verfasser  in  der  Frage  von 
Zarathustras  Alter  die  persische  Tradition  ablehnt  und  auf 
Grund  eigener  Berechnungen  (S.  25)  zu  dem  Geburtsjahr  1236 
V.   Chr.  kommt.     Bei   der  Besprechung  der  heiligen   Schriften 


J 


Iranische  Religion  1900—1910  245 

der  Parsis  beschreibt  er  ausfübrlicher  die  Pehleviscbriften,  deren 
Inhalt  er  als  ein  Mann,  der  diese  Schriften  wirklich  lesen  kann, 
charakterisiert;  die  besondere  Moral  der  Fehle vischriften,  die 
sonst  leicht  übersehen  wird,  erhält  dadurch  ihren  gebührenden 
Platz.  Das  etwas  größere  Buch  ^Zarathustra  and  Zarathustrianism 
in  the  Avesta'  von  Rastamji  Edulji  Dastoor  Peshotan 
San  Jana  (Leipzig,  Harrasowitz  1906)  hat  die  Form  der 
wissenschaftlichen  Untersuchung  und  behandelt  die  einzelnen 
Punkte  (Zarathustra,  Mazda  usw.)  als  Probleme;  die  Darstellung 
ist  aber  viel  mehr  von  des  Verfassers  Standpunkt  als  zara- 
thustrischem  Bekenner  beherrscht  und  viel  weniger  von  euro- 
•päischer  Wissenschaft  beeinflußt  als  Mistris.  Was  die  Datierung 
des  Propheten  betrifft,  so  hat  er  sich  allerdings  von  der  par- 
sistischen  Tradition  befreit  und  verlegt  sie  ins  10.  Jahrhundert, 
kommt  aber  zu  dieser  Annahme  durch  nicht  ganz  plausible 
Berechnungen  der  geographischen  Verbreitung  der  Religion  von 
Ost -Iran  nach  Medien.  Die  Darstellung  der  Zarathustralehre 
ist  eine  modern- rationalisierende  Verschönerung  (oder  Aus- 
glättung)  der  Awestatheologie.  Mazdah  (dessen  Namen  er 
fälschlich  aus  mas  (groß)  und  da  (erkennen)  ableitet  und  als 
'AUwisseud'  übersetzt)  ist  ihm  der  Gott  des  rein  geistigen 
Monotheismus,  für  den  der  Parsipriester  mit  persönlicher  Wärme 
und  Überzeugung  plädiert.  ^His  supreme  Authority  as  this 
great  Creator  and  the  most  glorious  Ruler  exacts  our  admi- 
I  ration.  .  .  The  sense  of  this  Benevolence  and  of  this  Holiness 
!  arouses  our  love.  His  Truthfullness  and  Fidelity  fills  us  with 
limplicit  faith  and  trust  in  Him'  etc.  (S.  133),  was  alles,  ebenso 
!wie  die  moralischen  Ideale  Ho  possess  wisdom,  piety,  chastity, 
Ifidelity  and  sincere  love  in  order  to  draw  near,  attract  or  win 
ithe  hearts  of  each  other  and  live  united  together  in  ease  and 
felicity'  (S.  212)  als  quellenmäßige  Zeugnisse  von  der  Religiosität 
'der  modernen  Parsis  interessiert.  Der  Inhalt,  der  in  die  Awesta- 
jformen  hineingelegt  wird,  scheint  eine  Art  rationalistisch - 
'mystisches  Christentum,  im  Stile  des  besseren  Unitarianismus, 


246  ^d^-  Lehmann 

zu  sein.  —  Immerhin  ist  das  Bucli  des  biederen  Parsipriesters 
viel  ergiebiger  als  eine  Ausgeburt  der  europäischen  Wissenschaft 
wie  J.  Reiner  Zarathustra  (B.  L.  H.  Seemann  Nf.;  4.  Stereo- 
tjpauflage  ohne  Jahreszahl,  aber  1907  erschienen),  die  auf 
Grund  von  Kenntnissen  zweiter,  dritter  Hand  ein  ganz  undeut- 
liches; zum  Teil  verzeichnetes  Bild  der  Sache  bietet.  Zarathustra 
(dessen  Name  auf  einen  ursprünglichen  persischen  Sterndienst, 
den  Tiele  und  Justi  auch  anerkannt  haben  sollen,  deutet)  wird 
unter  den  Händen  des  Verfassers  ein  gescheiter  Privatdozent, 
der  „die  bereits  im  eigenen  oder  die  in  einem  anderen  Lande 
herrschenden  Religionen  und  sittlichen  Anschauungen  kritisch 
zusammengefaßt,  ergänzt  und  kodifiziert  hat".  Mit  derartigen 
Publikationen  vor  Augen  bereue  ich,  daß  ich  noch  nicht  meine 
Pflicht  und  Schuldigkeit  gegen  die  deutsche  Lesewelt  getan  habe, 
mein  dänisches  Buch  Zarathustra  (I,  H,  Kopenhagen  1900 — 1902, 
vgl.  die  Rezension  von  F.  Justi,  A.R.W.  VI,  249  —  259  und 
Söderblom,  R.H.R.47,  372—381),  das  immerhin  auf  Quellen- 
studien beruht,  zu  übersetzen.  Das  Buch  bemüht  sich,  die  ver- 
schiedenen Perioden  der  persischen  Religion,  das  voriranische 
Heidentum,  die  prophetische  Zeit,  die  klassische  Zeit  der  Achä- 
meniden,  die  Renaissancezeit  der  Sasaniden,  die  Scholastik  der 
Pehlevischriften  usw.  zeitlich  auseinander  zu  halten,  wobei  aller- 
dings die  Religion  der  Achämeniden  zu  unmittelbar  in  den 
Entwickelungsgang  der  Awestareligion  eingereiht  wird.  Auf 
drei  Hauptpunkte  konzentriert  sich  mein  Interesse:  auf  eine 
möglichst  erschöpfende  Darstellung  der  Theologie  der  Gäthas, 
auf  einen  Nachweis  des  ritterlich-epischen  Charakters  des  jüngeren 
Awesta  (des  Yashts)  und  eine  Darlegung  der  selbständigen  Moral 
der  Pehlevischriften;  das  zweite  Thema  wurde  im  A.  R.  W.  V 
1902,  202  ff.  ^Zur  Charakteristik  des  jüngeren  Awesta'  ver- 
öffentlicht, das  dritte  in  einem  Vortrag  des  Orientalistenkongresses 
in  Kopenhagen  besprochen  (Actes  du  XV.  Cong.  Internat,  des 
Orient.  1908).  Im  Stile  eines  Lehrbuches  ist  der  Hauptinhalt 
des   dänischen  Werkes  in  ^Die  Perser'   in   Chantepie   de   la 


Iranische  Religion  1900—1910  247 

Saussayes  Lehrbuch  der  Religionsgescb.  II  wiedergegeben, 
2.  Aufl.  1905,  S.  162  ff.  Die  noch  zu  einer  älteren  Forschungs- 
periode gehörende  Behandlung  der  zarathustrischen  Religion  in 
C.  P.  Tieles  Geschiednis  van  den  Godsdienst  in  de  oudheid 
tot  up  Alex.  d.  Groote  IL  1,  1901  (deutsch  von  Gehrich,  Gotha 
1903,  engl,  von  Nariman,  Ind.  Antiqu.  vol.  34)  bleibt  dank  der 
kritischen  Objektivität  und  klaren  Darstellungsweise  des  großen 
Religionshistorikers  immer  zuverlässig  und  instruktiv. 

Einzelfragen  zur  zarathustrischen  Theologie.  Einen 
ganz  wesentlichen  Beitrag  zur  Chronologie  der  zarathustrischen 
Religion,  der  auch  vielfach  Zustimmung  gefunden,  bietet  Ed. 
Meyer  ^Die  ältesten  Zeugnisse  der  iranischen  Sprache  und  der 
zoroastrischen  Religion'  (Z.  f.  vgl.  Sprachf.  42,  1 — 27).  In  der 
Namenliste  des  Tonprismas  Sargons  (George  Smith  Assyrian 
Discoveries  p.  288  f.),  die  wahrscheinlich  von  c.  713  herrührt, 
weist  Ed.  Meyer  eine  Reihe  iranische  Namen  nach,  die  auf  ein  tiefes 
Eindringen  der  Assyrer  in  Medien  deuten,  uns  aber  auch  dafür 
Sicherheit  gewähren,  daß  die  Meder,  welche  Sargon  unterworfen 
und  seine  Nachfolger  bis  an  den  Fuß  des  Eiburs  und  die  iranische 
Wüste  hin  beherrscht  haben,  ein  großes,  in  zahlreiche  Gaue 
und  Stammfürstentümer  zerfallendes  iranisches  Volk  gewesen 
sind.  Wenn  nun  unter  diesen  Namen  ein  Ma-as-da-Jcu  und 
Ma-as-ta-Jcu  (gleich  Mazddku)  vorkommt,  schließt  Meyer  aus 
diesem  Umstand,  daß  der  zarathustrische  Mazdaglaube  schon 
damals  in  Medien  eingebürgert  war.  „Das  beweist  unwiderleg- 
lich der  Eigenname  Mazdaka,  der  das  Bekenntnis  seines  Trägers 
zur  zarathustrischen  Religion  enthielt.  Denn  die  Ansicht,  daß 
es  vor  Zoroaster  einen  Gott  Mazdao  gegeben  habe,  halte  ich 
allerdings  für  gänzlich  undiskutabel.  Dieser  Name  ^Die  große 
Weisheit'  oder  nach  Bartholomae  'Der  Weise'  ist  ja  ein  Ab- 
straktum  wie  alle  vom  Propheten  geschaffene  Gestalten  und 
{trägt,  wenn  irgendeiner,  das  Gepräge  seiner  Individualität."  — 
(„Diese  Tatsache",  sagt  Meyer  ferner,  „ist  von  sehr  weittragender 
iBedeutunty.    Denn  wenn  im  Jahre  715  v.  Chr.  in  Medien  die  zoro- 


248  Edv.  Lehmann 

astrisclie  Lehre  weit  verbreitet  oder  vielmehr  herrschend  war,  so 
folgt  daraus  ohne  weiteres,  daß  Zoroaster  in  eine  sehr  viel  frühere 
Zeit  gehört.  Denn  daß  der  Prophet  nicht  in  Medien  aufgetreten 
ist,  steht  außer  durch  viele  andere  Indizien  vor  allem  dadurch 
fest,  daß  die  Religionsbiicher  den  Magiernamen  nicht  kennen, 
während  in  Medien  der  Stamm  der  Magier  (Herodot  I  106)  die 
Rolle  der  Teueranbeter'  übernommen  hat  und  dann  für  ganz  West- 
iran und  die  Propaganda  nach  Westen  der  Priesterstand  geworden 
ist.  Ich  halte  die  Versuche,  Zoroaster  ins  7.  oder  gar  6.  Jahrh.  hinab- 
zudrücken, auch  sonst  für  so  unüberlegt  und  unhaltbar  wie  möglich ; 
vor  dem  Zeugnis  unserer  Inschrift  stürzen  sie  definitiv  zusammen. 
Man  wird  seine  Zeit  mindestens  um  rund  1000  v.  Chr.  ansetze! 
müssen;  es  ist  aber  sehr  wohl  möglich,  daß  er  noch  ein  paar  Jahi 
hunderte  früher  gelebt  hat/^  —  A.  CarnoyLe  nom  des  Mages  (Mu*1 
seon  N.  S.  9,  121 — 158)  schildert  die  Magier  als  eine  der  indischen 
Priesterkasten;  vgl.  Scheftelowitz  Altiran. Studien  (s.  o.  S.  241). 
L.  H.  Gray  Additional  Classical  Passages  mentioning  Zoro- 
asters  Name  (Museon  N.  S.  9,  311 — 318)  ergänzt  die  in  Jacksons 
^Zoroaster,  The  Prophet  of  Ancient  Iran'  mitgeteilte  Liste  der  Aus- 
sagen der  klassischen  Autoren  über  Zoroaster.  L.  H.  Mills  The 
Archangels  of  the  Avesta  (Open  Court  20,  ^616  f.)  ist  ein  populärer 
Aufsatz,  in  dem  der  Verfasser  auf  den  Zusammenhang  zwischen  per- 
sischer und  jüdischer  Angelogie  (bes.  im  Buche  Tobias)  aufmerksam 
macht.  Der  begriffliche  und  ethische  Charakter  der  persischen 
Erzengel  bringt  die  Reinheit  und  Erhabenheit  der  Zarathustrischen 
Religion  zum  Ausdruck  —  ^and  this  at  a  time  when  Jupiter  was 
beating  his  annoying  wife  and  Indra  hiccoughing  from  too  much 
Soma'.  —  L.  H.  Gray,  der  sich  früher  über  die  vorzarathustri- 
sehen  Kulte  in  Iran  geäußert  hat,  z.  B.  The  Indo-Iranian  Deity  Apäm 
Napät  (A.  R.W.  III  18  —  51),  wo  er  diesen  Genius  als  einen  die 
Frauen  befruchtenden  Wassergott  erklärt,  behandelt  (The  double 
nature  of  the  Iranian  Archangels  A.  R.W.  VII  345 ff.)  die  Frage 
von  der  doppelten  Natur  der  Amesha  Spentas  im  Einklang  mit 
diesen  Untersuchungen,    Die  Naturseite  dieser  Erzengel  (Feuer,. 


Iranische  Eeligion  1900—1910  249 

Erde,  Wasser  usw.)  hält  er  für  ein  heidnisclies  Überbleibsel,  das 
neben  der  abstrakten  Fassung  weiterlebte  und  sich  späterhin 
auf  Kosten  dieser  letzteren  entwickelt  hat.  P.  A.Wadia  The 
Philosophy  of  the  Gäthas  (East  and  West  3,  708—721)  will  den 
Gegensatz  zwischen  Zarathustrianismus  und  Neuplatonismus  und 
dementsprechend  die  Geistesverwandtschaft  des  Parsismus  und 
des  Christentums  nachweisen.  ^Matter  as  such  is  not  evil  as 
withPlotinus;  consequently,  unlike  Neo-Platonism,  the  Zoroastrian 
religion  admits  the  possibility  of  a  reconciliation  or  union  of 
Finite  with  the  Infinite  mediated  through  the  conception  of  God'. 
A.  Meillet  Le  dieu  Indo-arien  Mitra  (J.  A.  10,  143  —  159)  be- 
stätigt die  bekannte  Deutung  von  Mitra  als  Bundesgott.  —  N. 
Söderblom  La  vie  future  d'apres  le  Mazdeisme  ä  la  lumiere 
des  croyances  paralleles  dans  les  autres  religions,  Etüde  d'escha- 
tologie  comparative  (Ann.  Mus.  Guimet  T.  9),  Paris,  Leroux  1901, 
ist,  wie  der  Titel  angibt,  in  der  Tat  eine  komparative  Eschatologie, 
die  alle  Momente  dieser  Glaubenssphäre  in  allen  Religionen  ver- 
folgt. Behandelt  sind:  1.  Der  Glaube  an  eine  Fortsetzung  des 
Lebens.  2.  Die  Lehre 'von  einer  Vergeltung.  3.  Physisches  Welt- 
ende und  Welterneuerung.  4.  Weltende  und  Lebenserneuerung 
unter  religiös -moralischen  Gesichtspunkten.  5.  Ewiges  Leben 
mittelst  Vereinigung  mit  Gott  auf  Erden.  Schwerpunkt  bleibt 
doch  immer  das  Awestische,  in  dem  der  Verfasser  die  genann- 
ten Formationen  in  den  verschiedenen  Schichten  des  Parsismus 
vertreten  findet.  Das  Buch,  das  als  grundlegend  überall  aner- 
kannt worden  ist,  ist  vielfach  rezensiert  worden,  ausführlich 
von  Bousset,  Theol.  LZ.  26  Nr.  19.  L.  H.  Mills  Avesta  Eschato- 
logy  compared  with  the  books  of  Daniel  and  Revelation,  Chicago - 
London  1908  (auch  in  The  mount  17,  321—46;  583—609)  be- 
I  schreibt  die  Hauptpunkte  der  awestischen  Eschatologie  nebst 
{ I  Angelogie,  Dämonologie  und  Kalender,  indem  er  den  Vergleich 
jjmit  den  entsprechenden  Phänomenen  im  Spätjudentum  vollzieht 
Vi  und  die  persische  Beeinflussung  der  Lehre  von  der  Auferstehung 
hund  vom  jüngsten  Gericht  festhält. 


I 


250  "Edy.  LehmaDn 

Wissenscliaft.  L.  H.  Gray  Calendar,  Persian  in  Hastings 
Enzyklopädie.  A.  Fouclier  Zur  Quellenkunde  der  persischen 
Medizin,  Leipzig,  Barth  1910  (rez.  von  Pagel.  Janus  15,  484). 

Sitten  und  Bräuche  sind  in  Hastings  Enzyklopädie  in  er- 
freulicher Weise  berücksichtigt  (z.  B.  Modi  Birth;  Casartelli  Ij 
Celibacy;  Söderblom  Ascetism;  Gray  Childern  (Iranian) ;  Modi  i 
Childern(Parsi);  Casartelli  Charms  and  Amulets;  ausführlichere 
Darstellungen    außer  in    den   Reisewerken    und    der    Literatur  j 
über   den   modernen  Parsismus   auch   bei  N.  M.  Cooper  The 
Zoroastrian  Code  of  Gentlehood  (Transactions  3  th  internat.  Congr.  ij 
f.  Hist.  of  Relig.  2,  100—104);  Ella  C.  Sykes  Persian  Folk-   1 
Lore  (Folk-Lore  12,  261 — 68)  bringt  besonders  gute  Beiträge  i 
zur   persischen    Dämonologie.     J.   J.    Modi    Marriage   customs  ( 
among  tbe  Parsees,  their  comparison  with  the  similar  customs  | 
of  the  other  nations,  Leipzig,  Hassaro witz  1900  (Journ.  Anthr.  | 
Soc.  vol.  5).     Ders.  Some  Parsee  marriage  customs.     How  far 
they  are   borrowed  from  the  Hindus  (ibid.  vol.  VIH  425 — 30). 
Th.  W.  Kingsmill  The  marriage  and  burial  ceremonies  of  the 
old    Persians,    translated  from  the  Wei  -  Shu,    a    Chinese»  Work 
of  the   6th   Cent.,   Ath.    1902.     D.    Menant   Les    rites    fune- 
raires  des   Zoroastriens   de   l'Lide,   Annales   du  Musee   Guimet 
Bibl.  d.  vulg.  35  p.  141—198.     J.  J.  Modi  The  funeral  cere- 
*  monies  of  the  Parsees,  Bombay  1905.  —  N.  N.  Dhalla  The  use 
of  ordeals   among  the  ancient  Iranians  (Museon  11,  121 — 133). 
—  J.   J.   Modi   The   gurz  (mace)  as  symbol  among  the  Zoro- 
astrians,  Journ.  Anthr.  Soc.  vol.  VII  478 — 96;  Ders.  Tbe  kiss  of 
Peace    (Journ.    Anthr.   Soc,  Bombay  8,   84 — 95);    Ders.  Tbe 
Kashas  of  the  Iranian  Berashmun   and  the   boundary  lines  of    | 
the  Roman  lustrum  (ib.  520  —  30);     Ders.  Two  Iranian  incan-  ji 
tations  for  burying  hair  and  nails  (ib.  537—72).  —  L.  H.  Gray   '^ 
The  Parsi-Persian   Burj-nämah   or  book  of  the   omens   of  the 
moon,  Jour.  Am.  or.  Soc.  30,  336-342. 

Späterer  Parsismus.  D.  Menant  Chez  les  Parsis  deBombay 
et  du  Guzerate  (Tour  du  monde  N.  Ser.  14  p.  157—216  ill.).    Die 


Iranische  Religion  1900—1910  251 

fleißige  Geschichtsschreiberin  der  Parsis  besuchte  ihre  Freunde 
in  Bombay  und  Guzerati  und  hat  nach  dieser  ihrer  letzten 
Reise  eine  ausführliche  und  lebhafte  Beschreibung  des  täglichen 
Lebens  und  der  Zeremonien  der  Parsis  sowohl  in  der  Stadt 
als  auf  dem  Lande  gegeben.  Eigentlich  neues  Material  scheint 
der  Bericht  nicht  zu  bieten,  aber  jede  genaue  Beschreibung 
des  Zustandes  dieser  Gemeinden  ist  ja  willkommen,  besonders 
weil  Frl.  Menant  auch  die  kleineren  und  ärmeren  Gemeinden 
in  der  Diaspora  besucht  hat.  Auch  für  die  vielen  photo- 
graphischen Aufnahmen,  die  u.  a.  von  dem  Reichtum  und  der 
Eleganz  der  Parsifamilien  einen  Eindruck  geben,  ist  man  dankbar. 
Dieselbe  hat  in  The  great  Religions  of  the  World  V  (vgL 
North.  Am  er.  Review  Jan.  1901)  eine  populäre  Skizze  'Zoro- 
astrianism  and  the  Parsis'  gegeben.  W.  Th.  Fee  The  Parsees 
and  the  towers  of  silence  Bombay  India  (Nat.  geogr.  Mag.  16, 
529 — 54)  gibt  eine  von  Illustrationen  unterstützte  Beschreibung 
der  jetzigen  Leichentürme   der  Parsis. 

Das  Verhältnis  des  Parsismus  zu  anderen  Reli- 
gionen, besonders  sefn  Einfluß  auf  Judentum  und  Christentum, 
wird  jetzt  sehr  eifrig  diskutiert.  E.  Staves  früheres  Buch 
'Parsismus  und  Judentum'  (1898)  veranlaßte  N.  Söderblom 
zu  einer  ausführlichen  Kritik  (R.  H.  R.  48) ;  er  stellte  sich  hier 
reserviert  gegenüber  der  Annahme  Staves  eines  —  übrigens  nicht 
weitgehenden  —  parsistischen  Einflusses  auf  die  israelitische 
Religion.  Während  diese  Debatte  überwiegend  die  allgemeinen 
IMöglichkeiten  einer  Beeinflussung  erwägt,  hat  Ernst  Böklen 
j(Die  Verwandtschaft  der  jüdisch-christlichen  mit  der  persischen 
Eschatologie,  Gott.  1902)  in  dankenswerter  Kürze  auf  die  kon- 
kreten Punkte  in  der  jüdischen  Religion,  die  auf  eine  Ent- 
lehnung deuten  könnten,  den  Blick  gelenkt;  er  hat  diese  in 
ziemlicher  Vollständigkeit  verzeichnet,  und  man  tut  immer  gut, 
zur  Erörterung  dieser  Frage  Böklens  kleines  Buch  zu  benutzen 
Ä.uch  gegen  Böklen  richtete  S  ö  de  rblom  eine  Kritik  (in  R.H.R.48, 
372f.  Notes  sur  les  relations  du  Judaisme  avec  le  Parsisme  ä 


252  Edv.  Lehmann 

propos  des  travaux  recents)  und  meint,  erstens  daß  viele  der 
besprochenen  Ähnliclikeiten  sicli  auch  bei  anderen  Völkern  wieder- 
finden, zweitens  daß  sieb  äußere  Ähnlichkeiten  über  prin- 
zipielle Verschiedenheiten  decken,  z.  B.  daß  die  Auferstehung 
bei  Daniel  und  Henoch  nicht  eine  allgemeine,  wie  im 
Parsismus,  ist.  Gleichzeitig  bespricht  Söderblom  die  Behandlung, 
die  das  Problem  gelegentlich  in  der  theologischen  Literatur 
erfahren  hat,  nämlich  bei  Johannes  Weiß  'Die  Predigt 
vom  Reiche  Gottes'  (2.  Aufl.  Gott.  1902),  wo  ßaöiXsCa  tcov  ^ 
ovQuv&v  etwas  kühn  von  dem  persischen  Khshatra  vairya  ab- 
geleitet wird,  und  Boussets  *Die  Religion  des  Judentums  im 
neutestamentlichen  Zeitalter',  Berlin  1903,  das  besonders  den 
Dualismus  und  die  Eschatologie  des  Judentums  durch  starke  i 
Beeinflussung  von  parsistischer  Seite  erklären  will. 

James  Moffat  Zoroastrianism  and  primitive  Christianity 
(Hibbert  Journal  1902  —  03  p.  763—80)  nimmt,  obgleich  seine 
Haltung  reserviert  ist,  immer  eine  parsistische  Beeinflussung 
des  ursprünglichen  Christentums  an;  andererseits  warnt  er  vor 
übereilten  Schlüssen,  besonders  aus  der  Pehleviliteratur  heraus, 
die  er  für  christlich  beeinflußt  hält.  —  P.  M.  J.  Lagrange  in 
La  religion  des  Perses,  la  reforme  de  Zoroastre  et  le  Juda'isme  j 
(Revue  bibl.  1904  p.  27  —  55;  188  —  212)  betrachtet  mit 
Darmesteter  die  Gäthas  als  späte  Erscheinung  im  Awesta,  was 
auch  seine  Lösung  der  Frage  nach  dem  persischen  Einfluß  auf 
das  Judentum  bestimmt;  nur  für  das  spätere  Judentum  sei  der 
Parsismus  von  Bedeutung  gewesen.  —  Mit  derselben  Frage  be- 
schäftigen sich  P.  Gar  US  The  Zoroastrian  Religion  and  the 
Bible  (Open  Court  20)  und  G.  Hol  1  mann  Das  Spätjudentura 
und  der  Parsismus,  Z.  f.  Missionskunde  u.  Religionswissen- 
schaft 21;  Fr.  Mari  Mazdeismo  Judaismo  (Riv.  di  Stud.  Relig.  7, 
671  —  709);  J.  L.  Koch  Parsismens  Indflyd  elese  paa  Jödedom 
og  Kristendom  (Theol.  Tidsskr.,  3^^«  Räkke  1,  97  f.;  dänisch). 
L.  H.  Whitney  Life  and  teachings  of  Zoroaster,  Chicago  1905, 
verrät   deutlich   die   Tendenz   in    dem   Untertitel    Mncluding   fi 


Iranische  Religion  1900—1910  253 

I  comparison  cf  tlie  Persian  and  Hebrew  religions,  showing  that 
I  the  Word  of  the  Lord  came  to  the  Hebrews  by  the  way  of 
'  Persia.  Part  VI  offers  the  proof  that  the  Jews  copied  heavily 
1    from  the  Hindu  Bible'. 

Das    Verhältnis    zum    Islam    ist    prinzipiell    erörtert    von 
1.  Goldziher   in    seinem   maßgebenden  Artikel   Islamisme   et 
I   Parsisme   (R.  H.  R.  43)    und   von  L.  H.  Gray    mit    besonderer 
i|  Rücksicht  auf  die  Eschatologie  (Zoroastrian  elements  in  Muha- 
medan  Eschatology,  La  Museon  N.  S.  VII).  Die  Vergleichspunkte^ 
die   er  findet,   sind   besonders   folgende:   erstens  der  dreitägige 
Aufenthalt  der  Seele  am  Sterbebett;   zweitens   die  Begegnung 
der   Seele   mit   ihrem   Genius   (der  Daena);   drittens    die  Wage 
und  das  Buch  des  Lebens  am  Gericht;    viertens  der  Paradies- 
garten und  die  Hölle;  fünftens  der  jüngste  Tag  und  die  körper- 
liche Auferstehung.     Gray   übersieht   dabei  die  Bedeutung   des 
christlichen  Einflusses   auf  den  Islam.  —  In  einer  Reihe  von 
Schriften  hat  L.  IL  Mills  die  weiteren  Einflüsse  auf  Spätjuden- 
tum,  Philo    und   Hellenismus   behandelt,   Zarathustra  and  the 
Logos  (Am.  J.  of  philol.  22);  Philos  dvvd^aig  and  the  Amesha 
Spenta  (J.  R.  A.  S.  1901);  Zoroaster,   Philo  and  Israel,  being  a 
treatise  upon  the  antiquity  of  the  Avesta,  Part  1  Zoroaster  and 
the    Greeks,   Leipzig    1903 — 04;    Zarathustra    and    Herakleitos 
(J.  R.  A.  S.  1902,  897  —  907).    Ferner  ^Exilic  Jewish  Eschatology 
in  how  far  was   it  Zoroastrian?'     (Imp.  As.  Quart.  Rev.  18); 
Our  own  religion  an   ancient  Persia;   Zoroaster  and  the  Bible 
(Open  Court  23,  385  ff.,  675  ff.).    Schließlich  'Identity  in  creeds 
without  historical  connexion',  Expos.  Times  21,  134 — 36.  Vgl. 
seine  Avestan  Eschatology  (s.  o.  S,  249).    Seine  Ansichten  (und 
mehrere  der  obigen  Abhandlungen)  hat  Mills  in  einem  großen 
Buch    gesammelt:    Zarathustra,    Philo,   the   Achaemenids   and 
•  Israel  being   a  treatise  up  the  Antiquity  and  Influence  of  the 
■  Avesta  I — VI.    Leipzig,  Brockhaus  1905  —  06.    Er  eifert  gegen 
mDarmesteters  Hypothese   vom    späteren   Ursprung   der    Gäthas, 
lindem  er  die  Hauptstütze  Darmesteters,  den  Brief  von  Tansar, 


254  Edv.  Lehmann   Iranische  Religion  1900—1910 

für  ein  Falsum  hält  (S.  65 — 66).  Die  Ähnlichkeiten  zwischen 
der  Ideenlehre  des  Awesta  und  der  der  älteren  Griechen  erklärt 
er  als  parallele  Gebilde.  Die  Logoslehre  Philos  beruhe  auf 
iranischen  Einflüssen.  Das  exilische  Judentum  hält  Mills  für 
stark  beeinflußt  vom  Parsismus,  besonders  was  den  ünsterb- 
lichkeitsglauben  betrifft.  Daß  eine  parallele  Entwickelung  dieser 
Ideen  bei  den  Juden  stattgefunden  habe,  wird  nicht  geleugnet; 
der  persische  Einfluß  soll  aber  nicht  nur  diesen  Keimen  zur 
Entfaltung  geholfen,  sondern  auch  die  ursprünglichen  Neigungen 
der  Juden  gerettet  haben.  —  Die  okzidentalischen  Einflüsse 
verfolgt  ebenfalls  K.  D.  Ruttonshaw  The  migration  of  a  form 
of  Iranian  Ideas  to  ancient  Rome  and  other  countries  (Journ. 
Anthr.  Soc.  8,  578  —  95). 


3  ReHgion  der  Japaner  1909-1913 

Von  Hans  Haas  in  Jena^ 

Allgemeines.  Selbst  wenn  man  zugebe,  sagt  Windelband 
in  seiner  Geschichte  der  Philosophie  (S.  18),  daß  die  erst  der 
neueren  Kenntnis  sich  erschließenden  Ansätze  zu  wirklicher 
Wissenschaft  bei  den  Völkern  des  Orients  sich  über  das  Morali- 
sieren oder  über  gelegentliche  Reflexionen  zu  wissenschaftlicher 
Begriffsbildung  erheben,  so  blieben  dieselben  doch  dem  in  sich 
einheitlichen  und  geschlossenen  Verlaufe  der  europäischen  Philo- 
sophie so  fern,  daß  ein  Lehrbuch  wie  das  seine  keine  Ver- 
anlassung habe,  darauf  einzugehen.  So  wenig  hiegegen  sich 
etwas  wird  einwenden  lassen,  so  richtig  wird  man  es  doch  auch 
wieder  finden,  daß  Paul  Deusseu  in  seiner  Allgemeinen  Ge- 
schichte der  Philosophie  meinte,  auch  die  von  unseren  Philosophie- 
historikern gemeinhin  ganz  vernachlässigte,  von  der  westasiatisch- 
europäischen  so  wesentlich  verschiedene  orientalische,  vor  allem 
die  indische  Gedankenwelt  in  eingehender  Weise  nach  ihrem  ge- 
schichtlichen Zusammenhange  zur  Darstellung  bringen  zu  müssen. 
In  einer  „Allgemeinen  Geschichte  der  Philosophie"  aber,  wenn 
sie  diesen  Namen  mit  Recht  beanspruchen  wolle,  so  bemerkt 
I  er  im  Vorwort  zur  Schlußabteilung  seiner  Darstellung  der  indischen 
1  Philosophie,  dürfe  als  Anhang  zu  ihr  und  als  Abschluß  der 
j  ganzen  ostasiatischen  Philosophie  auch  eine  Übersicht  der  philo- 
i  sophischen  Anschauungen  der  Chinesen  und  Japaner  nicht  fehlen. 
Und  so  enthält  denn  auch  dieser  TeiP  S.  673  —  715  einen  An- 


I 


^  Vgl.  in  diesem  Archiv  XIII  S.  373  —  397. 

*  Paul  Deussen  Allgemeine  Geschichte  der  Philosophie  mit  "besonderer 
Berücksichtigung  der  Religionen  1 3.  Die  nachvedische  Philosophie  der  Inder. 
Nebst  einem  Anhang  über  die  Philosophie  der  Chinesen  und  Japaner. 
Leipzig,  F.  A.  Brockhaus   1908. 


256  Hans  Haas 

hang  mit   der   Übersclirift  „Einiges   über  die  Philosophie  der 
Chinesen    und   Japaner".     Freilich   bekundet   dieser   Abschnitt,  ' 
besonders  soweit  er  sich  die  Würdigung  der  chinesischen  Geistes- 
Tvelt  angelegen  sein  läßt,  leider  allzusehr,  daß  diese  auch  dem 
Terehrten   Autor    selbst    ein   „fernes    Gebiet   des   menschlichen  ! 
Wissens"  ist.    Auf  Japan,  das  für  dieses  Referat  allein  in  Be-  , 
tracht  kommt,  entfallen  nur  wenige  Seiten  des  Anhangs  (1.  Vor- 
bemerkungen; 2.  Das  alte  Japan  und  die  Schinto- Religion;  3.  Der  ; 
Buddhismus   in   Japan;   4.  Neukonfuzianismus   und   Gegenströ- 
mungen; 5.  Beschluß).    Als  Quelle  wird  Florenz'  Geschichte  der 
japanischen  Literatur  (1906)  genannt,  neben  der  auch  ältere  Über- 
setzungen und  Darstellungen  sich  von  großem  Nutzen  erwiesen  ; 
hätten.     Hervorgehoben    seien,   weil  sie   eine   gute   Allgemein- 
orientierung geben,  die  folgenden  Sätze  S.  710f.:  „Wie  die  Ger-  j 
manen    erst    unter    dem   Einflüsse    des    Christentums    und    der  ! 
griechisch-römischen  Bildung  zu  höherem  geistigen  Leben  er- 
wacht sind  und  dadurch  der  Wohltat  verlustig  gingen,  die  in  . 
ihnen  liegenden  Bildungskeime  ungestört  durch  fremde  Einflüsse  : 
zu  entwickeln,  ebenso  und  ungefähr  gleichzeitig  mit  dem  Ein-  ; 
dringen  des  Christentums  in  Deutschland  wurde  Japan  im  6.  Jahr-  , 
hundert  p.  C.  durch  die  Einführung  des  Buddhismus  aus  Korea  ; 
und  China  und   der  ihm  nachströmenden  chinesischen  Kultur 
der  Zögling  einer   ausländischen  Weisheit,   welche  die  in  der  ; 
Schinto -Religion  liegenden  Keime  einer  rein  nationalen  Ent-  ' 
Wicklung  teils  erstickte,   teils  wenigstens  zurückdrängte.     Und 
als  nach  den  Zeiten  des  Verfalls,  in  denen  auch  der  Buddhis- 
mus viel  von  seiner  Triebkraft  eingebüßt  hatte,  seit  1600  p.  C. 
unter   der   kräftigen  und  weisen  Herrschaft  der  Schogune  eine 
Wiedergeburt  des  nationalen  Lebens  erfolgte,  da  war  es  wiederum 
der  Neukonfuzianismus,   welcher   auf  die   besseren  Kreise   der  ■ 
Nation  eine   stärkere  Anziehungskraft  ausübte  als    der   alters-  j 
schwache  Buddhismus  und  als  die  Versuche,  dem  einheimischen  ! 
Schintoismus  neues  Leben  einzuhauchen.   Immerhin  trugen  diese 
Versuche  dazu  bei,  die  große  Umwälzung  herbeizuführen,  welche  i 


Religion  der  Japaner  1909—1913  257 

1868  die  Macht  der  Schogune  brach,  um  dem  mit  der  Schinto- 
lehre  eng  verwachsenen  Kaisertum  die  so  viele  Jahrhunderte 
lang  entbehrte  Machtstellung  wiederzugeben.  Aber  eben  diese 
Umwälzung  war  es,  welche  der  europäischen  Bildung  die  Pforten 
des  Mikadoreiches  in  liberalster  Weise  öffnete  und  zum  dritten 
Male  Japan  unter  einen  ausländischen  Einfluß  stellte,  dem  es 
noch  bis  auf  die   Gegenwart  hin  unterliegt." 

Wird  mit  dem  diese  Skizze  dann  weiterhin  erläuternden  Blick 
auf  die  geistige  Geschichte  Japans  schwerlich  einem  Leser  viel 
geholfen  sein,  so  zeigt  der  Beitrag  über  das  japanische  Religions- 
wesen, den  Hackmann  zu  Schieies  noch  im  Erscheinen  be- 
griffenen Handwörterbuch  beigesteuert  hat^,  daß  man  nur  die 
vorhandene  neuere,  wirklich  zuverlässige  Literatur  zu  kennen 
und  zu  nützen  braucht  und  dann  dermalen  sehr  wohl  imstande 
ist,  die  geistige  Geschichte  Japans  ganz  anders  zu  skizzieren. 
Der  sehr  zweckdienliche  Artikel  ist  wohl  längere  Zeit  vor  Druck- 
legung zur  Ablieferung  gelangt  und  scheint  durch  die  Presse 
gebracht  zu  sein,  während  der  Verfasser  sich  auf  seiner  letzten 
Forschungsreise  befand.  Das  wird  es  erklären,  daß  man  bei 
den  Literaturangaben  einiges  Neuere  vermißt,  das  nachzutra- 
gen gewesen  wäre,  und  daß  auch  einige  Druckfehler  stehen 
geblieben  sind.  Für  Lloyel  (Sp.  265)  lies  Lloyd.  Mißlicher 
ist  in  einem  Artikel  eines  Nachschlagewerkes,  daß  Sp.  262  aus 
einer  Remmonkyö- Sekte  im  Drucke  eine  Kommonkyo  ge- 
worden ist. 

Ziemlich  viel  Kritik  hatte  ich  an  der  kurzen  Darstellung 
der  japanischen  Religion  zu  üben,  die  C.  von  Orelli  in  seiner 
1899  erschienenen  Allgemeinen  Religionsgeschichte  gegeben  (s. 
meine  Besprechung  in  Mitteil,  der  deutschen  GeseUsch.  für  Natur- 
11.  Völkerk.  Ostasiens  Bd.  IX,  Tl.  HI,  S.  367—389).    Ihre  volle 


^  Die  Beligion  in  Geschichte  und  Gegenwart  Handwörterbuch  in  gemein- 
verständlicher Darstellung,  unter  Mitwirkung  von  Hermann  Gunkel  und 
bto  Scheel   herausgegeben  von  Friedrich  Michael  Schiele  und  Leopold 
pseharnack,  Tübingen,  Mohr  (Paul  Siebeck)  1912  III  Sp.  258  —  265. 

Archiv  f.  E  eli  gions-wissenschaft  XVII  X  7 


258  Hans  Haas 

Bereclitigung  hat  der  Verfasser  unumwunden  zugegeben,  Sie  hat 
ihn,  als  er  ein  Jahr  vor  seinem  Ableben  die  Genugtuung  hatte^ 
eine  Neuauflage  seines  vom  offenbarungsgläubigen  Standpunkte 
aus  abgefaßten  theologischen  Handbuchs^  besorgen  zu  müssen^ 
bestimmt,  das  betreffende  Kapitel  nicht  nur  wie  viele  andere 
einer  gründlichen  Überarbeitung  zu  unterziehen,  sondern  ganz 
neu  zu  schreiben.  Aus  4Y2  Seiten  der  ersten  Auflage  sind  nun 
in  der  zweiten  deren  17  geworden.  War  der  Abschnitt,  wie  der 
verewigte,  um  die  allgemeine  Religionsgeschichte  hervorragend  ver- 
diente Forscher  im  Vorwort  der  2.  Auflage  selber  zugibt,  in  seiner 
früheren  Fassung  „höchst  unzureichend",  so  kann  er  sieh  in 
seiner  jetzigen  Gestalt,  alles  Wesentliche  richtig  bietend,  neben 
jedem  anderen  des  Buches  'sehen  lassen.  Als  den  Hauptvorzug 
der  Orellischen  Gesamtdarstellung  der  Religionsgeschichte  gegen- 
über anderen  ähnlichen  Werken,  die  wir  haben,  erachte  ich 
neben  der  sie  auszeichnenden  methodischen  Einheitlichkeit,  die 
naturgemäß  verloren  gehen  muß,  wo  eine  größere  Zahl  von 
Autoren  sich  in  die  Arbeit  teilen,  die  schon  von  P.W.  Schmidt, 
S.V.  D.,  rühmend  hervorgehobene  zutreffende  Darstellung  der 
ethnologischen  Gesamtverhältnisse  der  einzelnen  Völker.  So  geht 
auch  hier  der  Charakterisierung  der  in  Betracht  kommenden 
Religionen  (Schinto,  S.  106 — 113;  Kongtse  in  Japan,  S.  113 — 114^ 
der  Buddhismus  in  Japan,  S.  114 — 119;  die  Religion  im  heutigen 
Japan,  S.  119 — 121)  eine  Einleitung  (S.  104 — 106)  voraus,  die 
dem  Leser  das  Wichtigste  über  Abstammung,  körperliche  Eigen- 
schaften, geistige  Eigenart,  Sprache  und  Kultur  der  Bewohner 
von  Dai  Nippon  mitteilt.  Bei  Beschreibung  der  Religionen  selbst 
zeigt  sich  wie  auch  sonst  des  Verfassers  Bestreben,  diese  selbst 
sprechen  zu  lassen  und  ihrem  religiösen  Gehalt  gerecht  zu  werden, 
ohne  sie  zu  idealisieren.  Das  in  Lieferungen  erscheinende  Werk 
ist  noch  im  Erscheinen  begriffen.  So  kann  ich  kleine  Corrigenda 
dem  Herrn  Herausgeber  direkt  als  Beitrag  für  die  doch  wohl 

^  Allgemeine BeJigionsgeschichte,  Bd.  1  u.  2.  Bonn,  A.  Marcus  11.  E  Weber^ , 
1911  ff.  '' 


Religion  der  Japaner  1909—1913  259 

vorgesehene  Erratatabelle  zur  Verfügung  stellen  und  darf  davon 
absehen,  sie  hier  zu  vermerken. 

Mehr  geschieh tsphilosophische  Reflexionen,  die  beim  Leser 
schon  Vertrautheit  mit  der  japanischen  Religionsgeschichte  voraus- 
setzen, als  eine  eigentliche  Darstellung  des  japanischen  Religions- 
wesens in  seiner  Ganzheit  bietet  eine  hier  noch  zu  nennende 
Publikation,  die  zum  Verfasser  einen  längst  auch  bei  uns  rühm- 
lichst bekannten  japanischen  Religionshistoriker  hat:  Anesaki 
Masaharus  Le  sentiment  religieux  che0  les  Japonais}  Die 
interessante,  bereits  in  der  Bevue  du  Mois  veröffentlichte  Studie, 
die  vor  allem  geeignet  ist,  eine  Vorstellung  davon  zu  geben, 
wie  Japan  es  verstanden  hat,  durch  die  von  auswärts  im  Lande 
eingedrungenen  Religionsformen  sein  religiöses  Eigengut  be- 
fruchten zu  lassen,  gibt  sich  als  Conference  faite  au  Gerde  ^Äutour 
du  Monde'  d  Boulogne-siir- Seine,  dans  Fevrier  1908.  Bemerkens- 
wert ist  besonders,  was  Anesaki,  selber  freisinniger  Buddhist, 
über  die  gegenseitige  Beeinflussung  von  Christentum  und  Bud- 
dhismus im  Japan  der  Gegenwart  sagt:  „Das  Erlösungsdogma 
unter  anderem  findet  'sich  im  Denken  der  japanischen  Christen 
aller  Sühnevorstellung  entkleidet.  Der  exklusive  und  strenge 
Monotheismus  des  Alten  Testaments  sänftigt  sich  in  der  christ- 
lichen Religion  ab  zu  einer  Religion  kindlicher  Liebe  zu  dem 
Vater  im  Himmel,  —  eine  'Christianisierung',  sozusagen,  des 
Christentums,  die  ebenso  wie  dessen  rapides  Vorwärtsdringen 
mm  Teile  in  dem  Einflüsse  der  auf  Herstellung  einer  geistigen 
Gremeinschaft  gerichteten  idealistischen  Bestrebungen,  die  einen 
1er  wertvollsten  Bestandteile  des  japanischen  Seelenlebens  au^- 
uachen,  ihren  Grund  hat.  Wenn  die  ^jungen  Buddhisten'  sich 
)eflissen  zeigen,  sich  wieder  zum  Glauben  an  die  Person  des 
3uddha  zurückzuwenden  und  ihre  Religion  von  dem  ihr  anhaftenden 
^acerdotalismus  zu  reinigen,  so  darf  man  das,  zu  einem  gewissen 
»laße  wenigstens,   auf  die  vom  Pietismus  des  Protestantismus 

^  Erscliienen  im  First  Beport  of  the  Association  Concor dia  of  Japan ^ 
okyo  1913,  S.  94—114. 

17* 


260  Hans  Haas 

ausgehenden  Einwirkungen  zurückführen.  Und  so  auch  sind  es 
nicht  nur  die  praktischen  Methoden  der  christlichen  Propaganda, 
die  die  Buddhisten  dazu  führen,  sich  entsprechender  Praktiken 
zu  bedienen,  auch  der  Geist  und  die  Methoden  historischer  Kritik 
können  noch  einmal  für  den  Buddhismus  nutzbar  gemacht  werden 
und  eine  Renaissance  bei  den  Buddhisten  hervorrufen,  indem 
sie  diese,  zurzeit  in  eine  Unzahl  von  Sekten  zersplittert,  zam 
Bewußtsein  der  faktischen  Einheit  ihrer  Religion  bringen."  Als 
Beispiele  dahinweisender  Tendenzen  führt  eine  Fußnote  auf  die 
Gründung  von  buddhistischen  Jünglingsvereinen,  die  Ver- 
öffentlichung buddhistischer  Schriften  in  moderner  Gestalt,  die 
Diskussionen  über  die  Bedeutung  der  Persönlichkeit  Buddhas 
im  Buddhismus.  Hervorhebung  verdient  von  Einzelheiten  noch 
die  von  Anesaki  hier  gegebene  Definition  des  japanischen  Aware, 
ein  Wort,  für  das  sich  in  keiner  unserer  europäischen  Sprachen 
ein  wirkliches,  alle  Bedeutungsnuancen  des  schillernden  Ausdrucks 
wiedergebendes  Äquivalent  finden  läßt,  sowie  seine  Erklärung 
des  zur  Bezeichnung  Buddhas  gebrauchten  Terminus  Nyorai 
(Sanskr.  Tathägata):  Celui  qui  a  atteint  la  Lumiere  en  suivant 
la  Verite  und  zugleich  Cdui  qtä  est  venu  de  la  Verite. 

Das  Heft,  in  dem  Anesaki  seinen  Vortrag  hat  neu  drucken! 
lassen,  ist  ein  Bericht  über  die  vor  allem  auf  Betreiben  Naruses, 
des  Gründers  der  „Frauenuniversität"  in  Tokyo,  neuerlich  zu- 
standegekommene, auch  von  Führern  des  Geisteslebens  in  Deutsch-^ 
land  wie  Eucken,  Häckel,  Harnack,  Kind,  Kerschensteiner,  Lamp- 
recht, Matthias,  Ostwald,  Rein,  Weinel,  Wundt  in  Stammbuch- 
blattstilisierungen begrüßte  Gründung  einer  japanischen  Gesell- 
schaft Ki-itsu  Kyökwai  (Verein  Concordia),  die  sich  die  Aufgabt 
vorgesetzt  hat,  Ost  und  West  geistig  einander  zu  verbrüdern.- 
Ich  fürchte,  es  geht  wie  schon  so  oft  mit  solchen  Gründungen  ^ 
die  mit  viel  Getön  ins  Werk  gesetzt  wurden:  man  wird  in  de  ' 
Folge  nicht  eben  viel  mehr  von  ihnen  zu  hören  bekommen.   Vo] 

*  Siehe  Hans  Haas  West-östliche  Concordia  in  Internat.  Monatsschril 
8.  Jahrg.  (1913)  Nr.  3,  Sp.  363—372. 


Religion  der  Japaner  1909  —  1913  261 

den  auf  ihr  Programm  gesetzten  Problemen,  deren  Erörterung 
man  sich  angelegen  sein  zu  lassen  vorerst  den  guten  Vorsatz 
hat,  seien  aber  doch  wenigstens  die  auf  die  Religion  bezüglichen 
hier  mitgeteilt:  1.  Das  Wesen  des  religiösen  Glaubens,  mit  be- 
sonderer Berücksichtigung  der  fundamentalen  Einheit  der  ver- 
schiedenen Religionen;  2.  Die  Shinto- Sekten,  ihre  Eigenart  und 
die  von  ihnen  ausgeübten  Einflüsse;  3.  Die  buddhistischen  Sek- 
ten .  .  .  .;  4.  Die  christlichen  Kirchen  .  .  .  .;  5.  Die  konfuzianische 
Ethik,  ihre  Eigenart  und  ihr  wirklicher  Einfluß  auf  das  dermalige 
Leben  Japans;  6.  Die  gegenseitige  Beziehung  und  Beeinflussung 
unter  den  in  Japan  existierenden  Religionen,  mit  besonderer 
Berücksichtigung  des  Verhältnisses  zwischen  Buddhismus  und 
Christentum;  7.  Der  Platz,  den  der  religiöse  Glaube  im  sozialen 
Leben  der  Gegenwart  einnimmt;  8.  Allgemeine  Gedanken-  und 
Glaubenstendenzen  innerhalb  der  heutigen  Zivilisation. 

Shintö.  Eine  trotz  geringen  Umfanges  inhalt-  und  lehr- 
reiche quellenmäßige  Untersuchung  über  Shintö  nennt  0.  Nacho  d 
in  seinem  mir  eben  noch  rechtzeitig  zugehenden  elften  Japan- 
1  referat  in  den  Jahresberichten  der  Geschichtswissenschaft  XXX IV 
ein  mir  selber  noch  nicht  bekanntes  Heft  von  M.  W.  de  Visser^, 
(las  erste  einer  neuen  Reihe  holländischer,  kurz  gefaßter  Ab- 
handlungen, dazu  bestimmt,  Kenntnisse  über  die  religiösen  Ge- 
danken und  Begriffe  der  verschiedenen  Völker  aller  Zeiten  zu 
verbreiten.  Es  stützt  sich  nach  ihm  nicht  nur  auf  die  nicht 
ohne  selbständige  Kritik  verarbeiteten  wertvollen  abendländischen 
j größeren  Werke  auf  diesem  Gebiete,  sondern  auch  auf  einheimi- 
Isches  Material  Japans  wie  Chinas.  „Der  1.  Abschnitt  behandelt 
idie  Gottheiten  unter  stetem  Vergleich  mit  China  und  besonders 
mit  Hinweis  auf  Zusammenhänge  mit  ^Yang'  und  *Yin',  dem 
sog  positiven  und  negativen  Prinzip,  das  dort  alles  Denken  und 
auch  das  Alltagsleben  so  wirksam  beherrscht.    Im  2.  Abschnitt 

^  Shintö,  de  Godsdienst  van  Japan  {Groote  Godsdiensten^  1.  Ser.  Nr.  1\ 
Baarn  1910, 


262  Hans  Haas 

(die  Mythen)  entwirft  der  Verfasser  ein  möglichst  übersichtliches 
Bild,  so  gut  es  sich  aus  den  oft  so  zusammenhangslosen  Sagen 
über  die  Götterzeit  im  *Kojiki'  und  ^Nihongi'  herausschälen 
läßt.  Hierauf  folgt  ein  Abschnitt  über  den  Kultus^  in  dem 
Priesterschaft^  die  Kultstätten,  das  Grebet,  die  Opfergaben,  die 
Feste,  rituelle  Vorschriften,  Inspiration,  Weissagung  und  Zauberei 
behandelt  werden.  Ein  geschichtlicher  Überblick  würdigt  kurz 
die  Einwirkung  des  Buddhismus,  die  Verschmelzung  beider 
Religionen  (Ryöbu-Shintö)  und  die  Neubelebung  im  Zusammen- 
hang mit  den  politischen  Ereignissen  des  18.  und  19.  Jahrh." 
Zu  den  eingehenderen  monographischen  Darstellungen  der 
japanischen  Volksreligion,  die  im  vorigen  Referate  zu  besprechen 
waren,  ist  im  Berichtszeiträume  außer  einer  englisch  geschriebenen, 
die  mir  nicht  zugänglich  geworden^,  eine  neue  deutsche,  und  das 
eine  recht  brauchbare,  von  Emil  Schiller^  hinzugekommen, 
eine  Darstellung,  die  geeignet  sein  dürfte,  den  meisten,  die  sich 
für  den  Gegenstand  interessieren,  die  sonst  vorhandene  einschlägige 
Literatur  wohl  gar  zu  ersetzen.  Das  Buch,  mit  seinen  91  Seiten 
nicht  umfangreich  und  doch  alles  Wesentliche  bringend,  ist 
geradezu  fesselnd  geschrieben.  Sein  Verfasser,  seit  18  Jahren 
in  Japan  missionarisch  tätig,  erklärt,  bei  Abfassung  des  kleinen 
Werkes  vor  allem  an  die  gedacht  zu  haben,  denen  der  religiöse 
Fortschritt  des  japanischen  Volkes  am  Herzen  liegt.    Indem  er 

^  M.  Terry  The  Shinto  cult,  a  Christian  study  of  the  ancient  religion 
of  Japan  (98  S.).  —  H.  Huntley  Kami-no-michi.  Ihe  icay  of  the  gods  in 
Japan^  London,  Huntley,  XI,  339  S.,  —  ein  Buch,  dessen  Titel  zu  der 
Annahme  verleiten  mnß,  daß  man  es  mit  einer  Monographie  über  Shintö 
zu  tun  habe,  entpuppte  sich,  nachdem  ich  es  mir  durch  den  Buchhandel 
beschafft,  als  ein  Roman  aus  dem  Japan  unserer  Tage  mit  synkretistischer 
Tendenz,  dessen  Verfasserin,  unverkennbar  eine  Avatara  von  Lafcadio  Hearn, 
zugleich  gelehrige  Schülerin  Arthur  Lloyds,  daheim  wohl  im  okkultistischen 
Lager  zu  suchen  ist.  Das  phantastische  Dichtwerk,  das  bei  allen  sprach- 
lichen Schnitzern  und  sachlichen  Unmöglichkeiten  und  Entgleisungen 
immerhin  große  Vertrautheit  mit  der  japanischen  Welt  bekundet,  vertritt 
doch  auch  recht  vernünftige  Anschauungen  über  Religion  und  Religionen. 

^  Shintö,  die  Volksreligion  Japans^  Berlin -Schöneberg  1911,  Protest. 
Schriftenvertrieb. 


Religion  der  Japaner  1909—1913  263 

das  Kuriosum  der  Religionsgeschichte  zutage  treten  läßt,  daß 
in  Shintö  eine  primitive  durchaus  superstitiöse  Religionsform 
bei  einem  in  anderen  Stücken  so  hocli  entwickelten  und  welt- 
geschichtlicli  wichtigen  Kulturvolke  sich  bis  auf  den  heutigen 
Tag  erhalten  hat,  möchte  er  erweisen,  daß  auch  in  Japan  christ- 
liche Missionstätigkeit  durchaus  nicht  überflüssig  sei.  Dabei 
aber  verkennt  er  keineswegs  die  vielen  gewinnenden  Züge,  die 
der  Shintöreligion  eignen,  noch  kostet  es  ihm,  dem  Missionar, 
Überwindung,  diese  hervorzuheben.  Die  Mythologie,  die  als 
Unterlage  des  Shintö  in  dessen  Darstellungen  sonst  mit  Recht 
einen  breiten  Raum  einnimmt,  wird  von  Schiller  kurz  abgetan. 
Auf  die  Geschichte  der  Religion,  ihre  Ursprünge  und  ihre  Ent- 
wicklung wird,  wenn  es  natürlich  auch  an  gelegentlichen  Hin- 
weisen darauf  nicht  fehlt,  wenig  eingegangen.  Geflissentlich  ist 
es  dem  Verfasser  nur  darum  zu  tun  gewesen,  Shintö  darzustellen, 
so  wie  er  heute  im  japanischen  Volke  existiert  und  sich  auslebt, 
als  eine  Religion,  die  immer  noch  einen  gewaltigen  Einfluß  auf 
Denken  und  Fühlen  der  Massen  des  japanischen  Volkes  ausübt, 
diesem  einerseits  eine  geschlossene  nationale  Kraft  verleihend, 
aber  andererseits  auch  seinen  Kulturfortschritt  hemmend.  Insofern 
tritt  Schillers  Arbeit,  wie  ich  schon  an  anderem  Orte  (Theol. 
Literaturzeitung  1911,  Nr.  18  und  Zeitschr.  f.  Missionsk.  und 
Religionsw.  1911,  S.  123)  konstatiert  habe,  den  früheren  von 
Aston,  Florenz,  Revon,  die  auf  den  alten  literarischen  Quellen 
fußen,  ergänzend  zur  Seite.  In  etwas  ein  Ahnliches  lag,  wenigstens 
in  deutscher  Sprache,  bis  jetzt  nur  vor  in  der  Skizze  Langes  in  der 
dritten  Auflage  des  Lehrbuchs  der  Religionsgeschichte  von  Chan- 
tepie  de  la  Saussaye.  Die  13  Kapitel,  in  die  sich  der  Stoff  des  Werk- 
chens zerlegt,  tragen  die  Überschriften:  1.  Einleitung;  2.  Shintö 
als  Naturreligion;  3.  Shintö  als  Mikadoverehrung;  4.  Shintö  als 
Ahnenverehrung;  5.  Shintö  als  Heldenverehrung:  6.  Shintö  als 
Polytheismus;  7.  Die  heiligen  Orte;  8.  Die  Priester  und  der  Kultus ; 
9.  Das  Gebet;  10.  Heiligkeit;  11.  Die  Festfeiern;  12.  Urteil  über 
die  Shintöreligion;  13.  Die  Zukunft  der  Shintöreligion. 


264  Hans  Haas 

Wer  sicli  von  Schiller  in  den  Gegenstand  hat  einführen  lassen^ 
wird  wohl  vorbereitet  sein,  selbst  Stellung  zu  nehmen  zu  der 
von  Hackmann  in  seinem  letzten  Buche ^  aufgeworfenen  Frage, 
ob  denn  Shintö  überhaupt  als  eine  Religion  anzusehen  sei.  Die 
Reflexionen,  die  Hackmann  in  dem  „Das  Land  der  Sonnen- 
göttin" überschriebenen  nachdenklichen  Kapitel  anstellt,  laufen 
darauf  hinaus,  daß  ShintÖ  allerdings  ohne  Zweifel  einmal  wirk- 
lich eine  solche  gewesen  sei,  damals,  als  der  Japaner  noch 
ein  primitives  Naturkind  heißen  durfte,  daß  man  aber  Bedenken 
tragen  müsse,  das,  was  heute  noch,  nachdem  ihm  eine  andere 
religiöse  Macht,  der  Buddhismus,  gleichsam  die  Seele  heraus- 
gezogen und  nur  die  überlebten  Formen  habe  stehen  lassen,  als 
Shintö  auftritt,  Religion  zu  nennen. 

„Eine  Religion  im  modernen  Sinne  ist  Schinto  keineswegs, 
sondern  eine  Art  von  Verehrung  der  Majestät  der  Nation  und 
des  Kaisers.  Das  religiöse  Bedürfnis  wird  davon  nicht  befriedigt" 
—  war  auch  in  der  dritten  deutschen  Auflage  von  Tieles  be- 
kanntem Kompendium  der  Religionsgeschichte  (S.  61)  zu  lesen. 
In  der  1912  erschienenen  vierten  Auflage  dieses  Werkchens* 
gehört  auch  der  die  Shintöreligion  behandelnde  31.  Paragraph 
zu  den  74  von  dem  Bearbeiter  D.  Söderblom  gänzlich  neu 
geschriebenen  Abschnitten.  Zu  den  auf  S.  56  für  diesen  Teil 
gegebenen  Literaturangaben  sei  im  Vorübergehen  berichtigend 
bemerkt,  daß  an  den  in  Vol.  VII  und  IX  der  Transactions  of 
the  Asiatic  Society  of  Japan  veröffentlichten  Übersetzungen  der 
alten  japanischen  Rituale  Florenz  keinen  Anteil  hat ,  daß  dieser 
deutsche  Japanologe  aber  in  Vol.  XXVII  der  Transactions  p.  1 
bis  112  die  von  dem  Engländer  Ernest  Satow  begonnene  Ar- 
beit fortgesetzt  hat.^ 

^  Welt  des  Ostens,  Berlin,  Karl  Curtius  1912,  S.  284  —  318. 

*  Tieles  Kompendium  der  ReligionsgeschicJite.  Vierte,  völlig  um- 
gearbeitete Auflage  von  D.  Nathan  Söderblom.  Berlin,  Theophil  Biller  1912. 

^  Von  dem  ebenda  mitverzeichneten  bekannten  Vademecum  Chamber- 
lains  Things  Japanese  liegt,  wie  angemerkt  sei,  jetzt  auch  eine  deutsche 
Ausgabe  vor:  BasilHall  Chamberlain  Allerlei  Japanisches  (Things  Japanese). 


Religion  der  Japaner  1909—1913  265 

Florenz'  Abhandlung  über  Shintö  in  Hinnebergs  großem 
enzyklopädischen  Werke  wäre  dem  von  Söderblom  gegebenen 
Verzeichnis  der  wichtigsten  Arbeiten  noch  einzureihen.  Mittler- 
weile ist  übrigens  der  Band,  dem  sie  als  Teil  angehört,  in 
zweiter  Auflage  erschienen.  Die  wertvolle  Skizze  ^,  die  im  vorigen 
Referat  ausführlich  besprochen  wurde,  ist  darin  ganz  unverändert 
wieder  abgedruckt.  Gegen  die  von  M.  Revon  begründete  An- 
schauung, daß  die  gewöhnlich  als  Ritualgebete  bezeichneten, 
zum  Teil  uralten  Norito  nicht  wirklich  Gebete,  sondern  magische 
Formeln  seien  ^,  werden  nach  0.  Nach  od  (Jahresberichte  der  Ge- 
schichtswissenschaft 32,  in,  390)  von  einem  anderen  Erforscher 
des  Shintö  und  des  alten  Japans  überhaupt,  von  dem  inzwischen 
(22.  November  1911)  verstorbenen  Aston,  ernste  und  über- 
zeugende Einwände  erhoben,  ebenso  gegen  einige  andere  Aus- 
führungen in  der  Revonschen  Abhandlung.^  Aus  einem  vor 
hundert  Jahren  von  dem  Shintögelehrten  Hirata  verfaßten  Werke 
Tama-dasuki,  dessen  Inhalt  schon  Satows  alte  Abhandlung  The 
reviväl  of  pure  Shin-tau  skizziert  hat,  hat  R.  J.  Kirby  einen 
Abschnitt  in  extenso  übersetzt,  Hiratas  Kommentar  zu  dem  an 
die   Göttin   der  Nahrung  zu  richtenden   Gebet.*     (Vgl.  Satow 

j  a.  a.  0.  S.  75f.) 

I        Neues  Licht  über  eine  Seite  des  Shintökults,  der,  wie  schon 

I  Übersetzt  von  Bernhard  Kellermann.  Berlin,  Bondy  1912.  Nach  einer 
i  Besprechung  in  der  Ostasiatischen  Zeitschrift  II  Heft  2  S.  235  hat  die 
j  außerordentliche  Leichtfertigkeit  des  Übersetzers  dem  Buche,  das  im  Original 

seinerzeit  ein  sehr  verdienstliches  Werk  gewesen,  allen  Wert  genommen. 
^  Florenz  Der  Shintoismus  in  Die  Religionen    des   Orients   und  die 

altgermanische  Religion  (Die  Kultur  der  Gegenwart,  herausgeg.  von  Paul 
I  Hinneberg.  Teil  I  Abt.  III  1),  2.  Aufl.,  Leipzig  und  Berlin,  Teubner  1913. 
!  ^  Les  anciens  rituels  du  Shintö  consideris  comme  formules  magiques, 
\  Transact.  ofthe  3  d  Internat.  Congr.  for  the  Bist.  ofReligions  1  b).  165—181.  — 
\  Le  rituel  du  feu  dans  fanden  Shintö,  T'oung-Pao  Serie  II  Yol.  IX 
l|S.  214—235. 

j         ^  W.  G.  Aston  Are  the  Norito  magical  formulae?    T'oung-Pao  Serie  II 
iVol.  X  S.  559  —  566. 
I         *  Ukemochi  no  kami,  the  Shintö  goddess  of  food,  Transact.  ofthe  Asiat. 

8oc.  of  Japan  vol.  XXXVIII  part  II  39  —  56. 


266  Hans  Haas 

die  Dürftigkeit  der  diesbezügliclien  Literatur  zeigt,  bisher  nur 
wenig  BeacMung  geschenkt  worden  war,  verbreitet  in  ihrem 
ersten,  mit  den  shintoistischen  Formen  sich  befassenden  Teile 
eine  Studie  von  E.  Ohrt  über  die  Totengebräuche  in  Japan ^^ 
eine  der  wertvoHsten  Darbietungen,  die  uns  die  letzten  Jahre 
gebracht  haben.  Außer  zwei  Abhandlungen  von  A.  v.  Knobloch^ 
und  A.  Hyde  Lay^  und  einem  Artikel  in  einem  nicht  eben  so 
leicht  zugänglichen  neuen  enzyklopädischen  Werke ^  der  dem 
Verfasser  entgangen  zu  sein  scheint,  lag  bis  jetzt  an  Arbeiten 
über  den  Gegenstand  in  einer  europäischen  Sprache  auch  m.W. 
sonst  nichts  vor.  Eine  nicht  unbeträchtliche  einschlägige  Lite- 
ratur ist  dagegen  in  Japan  selbst  vorhanden,  und  diese  hat 
außer  Informationen,  die  auf  mündlichem  Wege  von  unter- 
richteten Japanern  gewonnen  wurden,  Ohrt  für  seine  sehr  dankens- 
werte Schilderung  der  Vorgänge  bei  einer  Totenbestattung  und 
der  später  stattfindenden  Totenfeiern  sich  zunutze  gemacht.  Haupt- 
sächlich ist  es  ein  vor  etwa  vierzig  Jahren  von  zwei  shintoisti- 
schen Autoritäten  Konoye  Tadafusa  und  Senge  Takatomi  ver- 
faßter Leitfaden  mit  dem  Titel  Sösai  Byahi  sliihi  (Abgekürztes 
Zeremoniell  für  Beerdigungen),  das  ihm  den  Stoff  für  seine  Ab- 
handlung geboten.  Auf  Grund  des  Glaubens,  daß  die  Seelen 
der  Verstorbenen,  nach  dem  Tode  an  der  Stätte,  wo  sie  gelebt 
haben,  weiter  lebend,  die  Fähigkeit  und  die  Aufgabe  haben, 
das  Land  und  insbesondere  die  Hinterbliebenen  zu  schützen, 
sind  diese  darauf  bedacht,  sich  das  Wohlwollen  der  Seelen  der 
Abgeschiedenen  durch  Darbringung  von  Opfern  und  durch  Ver- 

^  Mitteil,  der  Deutschen  Gesellsch.  f.  Natur-  u.  Völkerk.  Ostas.  Bd.  XIII 
Teil  2  S.  81—121. 

*  Die  Begräbnisgebräuche  der  Shintoisten^  Mitteil,  der  Deutschen  Ge- 
sellsch. f.  Natur-  u.  Völkerk.  Ostas.  Bd.  1  Heft  6,  S.  39 ff. 

^  Japanese  Funeral  Rites,  Transact.  of  the  Asiat.  8oc.  of  Japan  vol. 
XIX  part  III  507—544. 

^  Death  and  Disposal  ofthe  Dead  (Japanese),  Encyclopaedia  of  Religion 
and  Ethics  vol.  IV  485  —  497.  Die  Arheit  Ohrts  iit  von  Lloyd  bereits 
mitverwertet. 


Religion  der  Japaner  1909—1913  267 

ehrung  der  Toten  zu  sichern.  Die  für  diesen  Kult  vorgeschriebenen 
Formen,  natürlich  schon  lokal  gesondert,  sind  auch  in  den 
einzelnen  Sekten  —  man  unterscheidet  deren  dreizehn  im  Shintö  — 
nicht  ganz  einheitlich,  und  man  wird  im  Sinne  zu  behalten  haben, 
daß  das  in  der  vorliegenden  Arbeit  geschilderte  Zeremoniell  zu- 
nächst nur  das  einer  einzelnen  dieser  Korporationen,  der  Ver- 
fasser sagt  nicht  welcher,  darstellt.  Als  allgemein  shintoistisch 
wird  man  aber  wohl  die  mitgeteilten  agendarischen  Gebete^  an- 
sehen dürfen,  die  bei  den  verschiedenen  Akten  (1.  Hinüberlei- 
tung der  Seele  des  Verstorbenen  in  die  Ahnentafel  oder  das 
tamoshiro,  in  der  Regel  ein  Metallspiegel,  ein  Edelstein  oder 
etwas  Ahnliches;  2.  feierliche  Entfernung  des  Sarges  aus  dem 
Sterbehause;  3. Hauptfeier  für  das  gesamte  Trauergefolge;  4.  eigent- 
liche Beerdigung)  gesprochen  werden.  Sie  sind  durchweg  an 
die  Seele  der  als  Gottheiten  angeredeten  Abgeschiedenen  ge- 
richtet. Sofort  nach  beendeter  Beerdigung  beginnen  die  Feiern 
zum  Gedächtnis  des  Toten,  indem  während  der  ersten  fünfzig 
Tage  nach  dem  Tode  täglich  (an  jedem  zehnten  Tage  in  reich- 
licherer Menge)  neue  Opfer  vor  demtamashiro  dargebracht  werden. 
Am  fünfzigsten  Tage  wird  letzteres  aus  dem  provisorischen  Käst- 
chen, in  dem  es  bis  dahin  Aufstellung  gefunden  hatte,  in  den 
Ahnenschrein  {mitamaya)  des  Hauses  gesetzt,  wo  die  im  tamashiro 

\  verkörpert  gedachte  Seele  nunmehr  ihr  dauerndes  Domizil  hat. 
Bei  dieser  Überführung  werden  die  bereits  darin  behausten  Ahnen- 
seelen gebeten,  einzuwilligen,  daß  der  neue  Gast  fortab  gemein- 

j  sam  mit  ihnen  sich  an  den  dargebrachten  Opfern  labe.  Vor 
diesem  Ahnenschrein  werden  nun  weiterhin  am  hundertsten  Tage 
und  alljährlich  am  Jahrestage  des  Todes,  besonders  großartige 
am  1.,  3.,  5.,  10.,  20.,  30.,  40.,  50.  und  100.  Jahrestage,  ab- 
gehalten. Außerdem  veranstaltet  man  alljährlich  im  Frühling 
und  Herbst  an  einem  beliebig  gewählten  Tage  im  mittleren 
Monat   dieser   Jahreszeiten    eine    generelle  Totenfeier   für    alle 

^  Von  mir  wiedergegeben  in  dem  von  Edv.  Lehmann  herausgegebenen 
Textbuch  zur  Beligionsgeschiclite ^  Leipzig,  Deichert  1912,  S.  32  — 34. 


26g  Hans  Haas 

Ahnen  der  Familie.  Das  Frühlings-  und  Herbstahnenfest  für 
die  Ahnen  des  Kaiserhauses  am  21.  März  und  am  23.  September 
sind  japanische  Nationalfeiertage.  Näheres  über  die  Speiseopfer, 
die  neben  den  Gebeten  den  Kern  der  Kulthandlung  bilden^ 
findet  sich  in  einer  zweiten  Abhandlung,  die  Ohrt  am  gleichen 
Orte  veröffentlicht  hat,  der  genauen  Beschreibung  des  Staats- 
begräbnisses des  am  2Q.  Oktober  1909  in  Harbin  einem  Koreaner- 
attentate zum  Opfer  gefallenen  Fürsten  Itö.*  Staatsbegräbnisse, 
von  den  Japanern  erst  in  der  Meiji-Ara  mit  so  vielem  anderen 
von  der  westländischen  Kultur  übernommen  und  bisher  seit  1883 
erst  neun  Staatsmännern  als  höchste  Ehrung  zuteil  geworden, 
erfolgen  immer  nach  shintoistischem  Ritus,  gleichgültig  zu 
welchem  Glauben  sich  der  so  Geehrte  im  Leben  bekannte. 
Hierin  kommt  die  enge  Verbindung,  die  noch  immer  zwischen 
Staat  und  Shintö  aufrechterhalten  wird,  zum  Ausdruck.  Zur 
Zeit  des  Shogunats  waren  shintoistische  Begräbnisse  fast  gänz- 
lich auf  den  Kaiserlichen  Hof  beschränkt.  Erst  durch  die 
Restauration  wurden  sie  wieder  neubelebt.  Aber  auch  jetzt 
noch  sind  sie  den  buddhistischen  Beerdigungen  gegenüber  bei 
weitem  in  der  Minderzahl.  Dem  Vorbilde  des  Hofes  folgend, 
zieht  der  Adel  sowie  der  Offiziers-  und  Beamtenstand  das 
shintoistische  Begräbnis  dem  buddhistischen  vor. 

Unter  den  großen  Führern  der  seit  ca.  1700  einsetzenden 
nationalen  Reaktion,  die  auf  eine  Wiederbelebung  des  japanischen 
Altertums  unter  Ausscheidung  aller  eingedrungenen  buddhistischen 
und  konfuzianischen  Fremdelemente  ging  und  die  Wiederher- 
stellung der  Kaiserlichen  Macht  anbahnte,  war  der  eigentliche 
Shintö-Theologe  Hirata  Atsutane  (1776 — 1843),  dessen  ganz 
auf  den  Ahnenkult  und  das  Dogma  der  göttlichen  Abstammung 
des  Mikado  basiertes  System,  nach  der  politischen  Restauration 
vom  Jahre  1868  von  der  neuen  Regierung  sanktioniert,  als 
eigentliche  Staatsreligion  galt,  bis  es  die  durch  die  Verfassung 

^  Das  Staatshegrähnis  des  Fürsten  Itö^  Mitteil,  der  Deutschen  Gesellsch. 
f.  Natnr-  u.  Völkerk.  Ostas.  Bd.  XHI  Teil  2  S.  123  —  155. 


Religion  der  Japaner  1909—1913  269 

vom  Jahre  1889  proklamierte  Religionsfreiheit  dieses  Vorrangs 
wieder  verlustig  gehen  ließ.  Aus  alten  Vorträgen  dieses  Archäo- 
logen gibt  R.  J.  Kirby  in  englischer  Übersetzung  Auszüge \  die 
einen  guten  Einblick  in  das  Wesen  des  Shintö -Manismus  ge- 
währen. So  gleich  das  von  Hirata  seinen  Schülern  zum  täglichen 
Gebrauch  empfohlene  Gebet:  To  the  honouraUe  smds  offar  off 
honourahle  ancestorSj  to  the  gener ations  of  ancestorSj  to  all  the 
honouraUe  souls  of  relations  and  to  all  the  souls  worshipped  at 
this  soul-shrine.  I  reverence  and  adore  hefore  you  honourable 
souls j  and  pray  you  let  there  he  no  härm  happen  to  my  house 
or  hody.  Guard  me  night  and  day.  Hear  this  my  prayer  and 
guard  me.  Increasingly  prosper  my  great  grand  children^s  de- 
scendantSy  give  them  long  life  and  success  to  ahundantly  worship 
the  souls  of  you  their  ancestors.  I  pray  you  to  peacefully  hear 
my  prayer  and  to  guard  me  with  good  fortune.  In  fear  and 
tremUing  I  pray  and  worship  you!  Die  Unsterblichkeit  der 
Seele  ist  dem  Shintö-Theologen  unanfechtbares  Dogma.  Den 
Hinterbliebenen  sollen  die  Geister  der  Abgeschiedenen  ihres 
Hauses  Realitäten  sein;  nie  sollen  sie  ihr  Haus  verlassen,  ohne 
sich  zuvor  von  den  Seelen  im  Ahnenschrein  zu  verabschieden 
mit  Worten  wie  diesen:  „Ich  gehe  jetzt  aus.  Ich  fürchte,  da 
werdet  Ihr  Euch  einsam  fühlen,  aber,  bitte,  gebt  mich  ein  Weil- 
chen frei,  und,  bitte,  bewahret  mich  auf  meinem  Ausgang  vor 
jedem  Unfall  und,  bitte,  seht  zu,  daß  dem  Hause  nichts  passiert'/* 
Nach  der  Rückkehr  verpassen  sie  nie,  zuerst  wieder  vor  die 
Seelentafeln  zu  treten  und  zu  sprechen:  „Da  bin  ich  wieder 
uod  Dank  Eurem  Schutze  ist  mir  nichts  zugestoßen.  Ich  fürchte, 
Ihr  habt  Euch  einsam  gefühlt."  Und  all  das,  wird  noch  aus- 
drücklich gesagt,  darf  nicht  etwa  bloß  eine  Formsache  sein.  Ob- 
gleich die  Seelen  im  Hause  wohnen  und  da  tägliche  Verehrung  ge- 
nießen, sollen  die  Hinterbliebenen  darum  doch  nicht  meinen, 
an  den  Gedenktagen  des  Todes  den  Gang  zur  Begräbnisstätte 

^  Äncesträl  worship  in  Japan,  Transact.  of  the  Asiat.  Soc.  of  Japan 
vol,  XXXVIII  part  lY  232  —  267. 


270  Hans  Haas 

sicli  schenken  zu  können.  Wenn  ein  Mensch  stirbt,  so  wird  er 
eine  Gottheit,  deren  Seele  sich  vielfach  teilt,  wie  ein  Feuerbrand 
in  Flammen  züngelt,  also  daß  sie  nicht  nur  im  Ahnenschrein 
der  Häuser  eines  jeden  seiner  Kinder,  ob  er  deren  gleich  zehn 
hinterlassen  hätte,  und  auf  dem  Friedhof,  sondern  allüberall 
weilt,  wo  man  sie  verehrt.  Große  Sorgfalt  ist  auf  dieZubereituüg 
der  Speiseopfer  zu  verwenden.  Man  soll  es  damit  nicht  leicht 
nehmen  und  sich  dabei  nach  dem  Geschmack  der  Verstorbenen 
richten.  It  goes  without  saying  as  regards  father  and  mother^ 
hut  in  fad  in  mdking  offerings  to  any  one,  we  ought  to  offer 
what  they  liked  wJien  alive,  or  sJiould  we  at  any  Urne  he  eating 
any  tasty  thing  tJiey  would  fancy,  then  ought  we  to  offer  it.  In 
spedking  of  my  own  wishes  I  intend  of  course  to  ask  my  cMldren 
that  after  my  death  they  will  give  me  plenty  of  fish  and  vege- 
tahle  offerings  of  all  Mnds.  Daß  das  Quantum  der  vor  den  Seelen- 
tafeln aufgestellten  Speisen  sich  nicht  vermindert,  sei  ganz  und 
gar  kein  Beweis  dafür,  daß  die  Geister  diese  unberührt  ließen. 
Sie  saugen  nur  ein  wenig  in  sich  ein  von  seinem  Dufte.  If 
there  is  any  one  who  douhts  this,  let  him  compare  the  flavour  of 
the  offerings  after  they  have  heen  taken  down  from  the  shelves 
with  some  food  which  has  simply  heen  put  in  one  side,  and  he 
will  he  ahle  to  distinguish  a  slight  difference.  A  person  with  a 
Jceen  taste  will  notice  this  at  once. 

Am  Schlüsse  seines  1905,  veröffentlichten  Werkes  über  Shintö 
kurz  auf  die  modernen  Sektenschößlinge  der  japanischen  Volks- 
religion, Tenrikyö  und  Remmonkyö,  zu  sprechen  kommend, 
meinte  Aston  damals,  es  sei  nicht  wahrscheinlich,  daß  beide  in 
der  Religionsgeschichte  irgendwelche  Rolle  spielen  würden.  Die 
Gründer  beider  Sekten,  bemerkte  er,  waren  ungebildete  Frauen 
aus  dem  Volke,  und  ihre  Lehren  sind  nichts  als  ein  Mischmasch 
konträrer  Ideen,  die,  von  verschiedenen  Quellen  entlehnt,  durch 
keinen  großen  Zentralgedanken  beherrscht  werden.  Auch  <^^H| 
Kongregationalistenmissionar  D.  Green e,  einer  der  besten  Kenne" 
Japans  und  der  Japaner,  der  sich  1895  in  einer  sehr  dankens- 


Religion  der  Japaner  1909—1913  271 

werten   Abhandlung  in  den  Transactions  of  the  Asiatic  Society 
of  Japan  mit  der  Tenrikyö  beschäftigte^,  glaubte  derselben  trotz 
des   Anschwellens    ihrer   Gläubigenzahl    die   baldige   Auflösung 
prophezeien  zu  dürfen.    Die  schon  damals  zutage  tretende  Neigung 
der  Führer  der  Sekte,  durch  Abstreifung  des  anfänglich  starken 
supranaturalen  Elements  dem  wachsenden  Einfluß  rationalistischer 
Anschauungen  in  Japan  Rechnung  zu  tragen  und  das  Schwer- 
gewicht mehr  auf  die  Moral  zu  legen,  dies  schon  erschien  dem 
missionarischen  Beurteiler  als  Eingeständnis  der  Schwäche  und 
als  ein  Zeichen  des  Verfalls,  der  damit  bereits  eingesetzt  habe. 
Trotz  solcher  Prophezeiungen  und  trotz  der  Verachtung,  die  sie 
lange   Zeit   erfahren   hatte,   hat   die  Tenrikyö   sich   stetig  aus- 
gebreitet, und  zwar  dermaßen,  daß  das  Ministerium  Katsura,  dem 
Erfolg  sich  beugend,  1908  die  seit  1888  von  der  Regierung  als 
eine    eigene    Shintö- Sekte    anerkannte    neue    Gemeinschaft    als 
eine  besondere,   unabhängige  Religion  neben  Shintö,  Buddhis- 
mus und  Christentum  anerkannte.    Während  das  Christentum  in 
Japan  oft  mit  viel  Geräusch  seine  geistigen  Erobererpfade  ging, 
I  bis  es  bei  seiner  großen  Heerschau  anläßlich  der  Feier  des  Halb- 
1  Jahrhundertjubiläums  japanischer  Missionsarbeit  im  Oktober  1909 
I  konstatieren  konnte,   daß   die  Zahl   der  von  ihm  gesammelten 
liebenden  Anhänger  sich  auf  zirka  170000  belaufe,  hat  in  der 
1  gleichen  Zeit  in  aller  Stille  die  Kirche  der  „Lehre  der  himm- 
lischen   Wahrheit   (oder   Vernunft)"  eine   Anhängerschaft   von 
etlichen  Millionen   gesammelt.    Das  Wichtigste  über  ihre  Ent- 
1  stehung,    Dogmatik,    Ethik,    Kultpraxis    und   Literatur  bieten 
!  Abhandlungen  und  Übersetzungen  von  L.  Bai  et  (französisch)^ 
'und   H.  Haas.^   Einen  andern  modernen  Schößling  des  Shintö, 

*  Ein  ausfübrliches  Referat  über  diese  Arbeit  findet  sich  in  der 
ZeitscJir.  f.  Missionsk.  u.  Religionstviss.  Jahrg.  22  S.  196  ff. 

I         '  Le  Tenrikyö,  Religion  de  la  Raison  Celeste,  Melanges  Japonais  VI 

iS.  291-323  und  439  —  466. 

j  ^  Tenrikyö.  Ein  neues  synkretistisches  Religionsgebilde  im  Japan  unserer 
Tage^  Zeitschrift  f.  Missionsk,  u.  Religionswiss.  Jahrg.  25  S.  129—145.  — 
Die  Tanzpsalmen  der  Tenrikyö -kwai^  ebenda  S.  162— 173  und  193  — 205. 


272  Hans  Haas 

die  Konkökyö,  die,  von  einem  erst  1883  gestorbenen  unge- 
bildeten Japaner  begründet  und  seit  1900  als  autonome  Shintö- 
Korporation  anerkannt,  zusehends  wächst,  hat  J.  B.  Duthu^  be- 
schrieben. La  secte  Konkö  a  quelque  chose  de  particulier  parmi 
toutes  les  sedes  shintoistes.  Ce  qui  lui  est  special  et  lui  vaut  sa 
vogue  actuelle  n'est  autre  chose  que  ceci:  le  fondateur  Konk'Oj  tont 
en  niant  le  faste  et  le  nefaste  en  quelque  direction  et  dans  quel- 
que domaine  que  ce  füt,  rehdbilita  Konjin,  le  dieu  metal.  S'il 
n'alla  peut-ctre  pas  jusqu'd  nier  categoriquement  et  dbsolument 
toute  distinction  de  faste  et  de  nefaste,  du  moins  il  proclama  que 
Konjin  etait  un  dieu  archifaste,  un  dieu  qui  rend  toutes  cJioses 
fastes  pour  ses  proteges  et  qui  neutralise  toutes  les  influences  m- 
fastes  quand  on  s^est  mis  sous  sa  protection.  KonM  rCa  donc  pas 
precisement  supprime  une  superstition,  il  s'est  plutöt  contente  de 
la  deplacer  au  pro  fit  de  son  dieu  Konjin.  Le  dieu  metal,  au  Heu 
d'etre  le  dien  malfaisant  de  Vancien  temps,  est  devenu  une  divi- 
nite  bienfaisante.  Et  comme  le  nombre  de  ceux  qui  cherchent  a 
attirer  le  precieux  metal  dans  leur  hourse  n!a  pas  diminue  par 
ces  temps  de  civilisation  materielle,  rien  d^etonnant  quHls  aient 
tröUve  dans  Konjin,  dieu  metal,  le  dieu  digne  de  leur  culte;  en 
le  servant,  c^est  toujours  Vantique  veau  d'or  qu'ils  servent  sans  le 
savoir  (p.  19 f.). 

Wie  wenig  die  alte  Volksreligion  Japans  ist  oder  doch  jeden- 
falls sich  selber  fühlt,  als  was  europäische  Beurteiler  sie  hinzu- 
stellen sich  für  berechtigt  halten,  ein  entseelter  Kult,  das  mag 
zum  Schlüsse  noch  der  Hinweis  auf  ein  vor  kurzem  in  Japanisch 
erschienenes  Buch  über  den  ursprünglichen  Shintö  dartun,  das 
Kakehi  Katsuhiko,  einen  Professor  der  Kaiserlichen  Uni- 
versität Tokyo,  zum  Verfasser  hat,  einen  Gelehrten,  der  auch 
die  allgemeine  Religionsgeschichte  kennt  und  sich  mit  religions- 
philosophischen Studien  befaßt  hat.  Auf  ca.  400  Seiten  müht 
er  sich  in  allem  Ernste,  die  Superiorität  des  Shintö  über  jed- 
wede andere  Glaubensform  zu  erweisen  und  zu  zeigen,  daß  er 

/  La  secte  Konkö,  Melanges  Japonais  VI  S.  1—22. 


Religion  der  Japaner  1909—1913  273 

wohl  tauge,  die  eine,  universale,  absolute  Religion  abzugeben. 
So  können  Urteile  auseinandergehen! 

Buddhismus.  Auf  dem  Internationalen  Kongreß  für  Keligions- 
geschichte  zu  Paris  hat  um  die  Jahrhundertwende  ein  Vertreter 
der  japanischen  Buddhisten,  J.  Tchicadzumi,  der  Hoffnung  Aus- 
druck gegeben,  das  20.  Jahrhundert  werde  die  Epoche  einer 
Wiedergeburt  des  japanischen  Buddhismus  sein,  eine  Epoche, 
in  der  sich  derselbe  auch  nicht  mehr  darauf  beschränken  werde, 
nur  in  Japan  seine  Rolle  weiter  zu  spielen,  sondern  auf  der 
internationalen  Schaubühne  der  Welt  als  Aktor  figurieren  müsse. 
Der  Redner  schloß  daran  die  Mahnung:  N^etudiez pas  notre  Boud- 
dhisme  comme  ime  ancienne  religion  et  dans  le  seul  hut  de  satis- 
faire  votre  curiosite;  mais  etudiez-le  comme  une  religion  vivante^ 
wmme  une  religion  d'aujourd'hui  memel^  Die  Religionsgemeinde, 
:als  deren  Vertreter  Tchicadzumi  im  Jahre  1900  in  Paris  ge- 
sprochen, hat  das  von  ihm  kundgegebene  Ziel  all  die  Zeit  fest 
im  Auge  behalten  und  in  aller  Stille  auch  verfolgt.  Sie  hat  ihre 
Missionare  nach  Formosa,  nach  Korea,  nach  China,  nach  Singapore, 
nach  San  Francisco,  auch  nach  England  und  Deutschland  ge- 
sandt. Über  die  Gründung  einer  Ch^i-huan  tsing-she  d.  h.  Je- 
tavana-Schule  in  China,  hinter  welcher  der  japanische  Buddhismus 
«teht,  berichtet  0.  Franke^,  von  den  chinesischen  Statuten  des 
Unternehmens  und  von  einem  Aufrufe  zu  Beiträgen  für  dasselbe 
eine  wortgetreue  Übersetzung  gebend.  Eine  neu  entstandene 
politische  Atmosphäre  sich  zunutze  machend,  geht  man  auf  nichts 
Geringeres  aus,  als  das  literarisch  gebildete  China  wieder  für  den 
Buddhismus  zu  interessieren,  Achtung  vor  seiner  Gelehrsamkeit, 

^  Coup  cVoeil  sur  Vhistoire  du  Bouddhisme  au  Japon  in  der  Bevue 
'de  Vhistoire  des  religions  Bd.  XLIII  S.  160. 

*  Ein  buddhistischer  Beformversuch  in  China.    Toung-Pao^  Serie  II 
|To1.  X  Nr.  5  S.  567—602.  Siehe  auch  O.Franke,  Ostasiatische  Neubildungen. 
Beiträge  zum  Verständnis  der  politischen  und  kulturellen  Entwicklungs- 
iTorgänge  im  fernen  Osten  (1910),  S.  158  —  165:  Die  Propaganda  des  japa- 
nischen Buddhismus  in  China. 

Archiv  f.  Eeligionswissenschaft  XVII  13 


274  Hans  Haas 

Verständnis  für  seinen  sittlichen  Gehalt  in  ihm  zu  erwecken  und 
so  eine  Wiedergeburt  der  Religion  Buddhas  in  China,  wo  diese 
hauptsächlich  durch  ihre  IQosterinsassen  in  verdienten  Mißkredit 
gekommen  ist,  herbeizuführen.  Und  das  ist  jedenfalls  ein  Ver- 
such, der,  da  er  sich  von  vornherein,  statt  auf  den  verkommenen 
Klerus,  auf  das  gebildete  buddhistische  Laien -Element  stützt, 
keineswegs  als  ganz  aussichtslos  anzusehen  ist.  Während  so 
mancherlei  die  stolze  HojBFnung  gerechtfertigt  erscheinen  lassen 
kann,  daß  der  japanische  Buddhismus  für  das  künftige  Geistes- 
leben zum  wenigsten  Ostasiens  noch  eine  bedeutende  Rolle  zu 
spielen  berufen  ist,  hat  man  sich  bei  uns  allzulange  gar  nicht 
darum  gemüht,  sich  erkenntnismäßig  genauer  mit  ihm  vertraut 
zu  machen.  Ein  besonderes  Studium  aber  heischt  diese  Spielart 
des  Buddhismus,  das  Mahäyäna- System  der  Sukhävati- Schulen, 
denen  die  überwiegende  Mehrzahl  der  Buddhisten  Japans  zu- 
zuzählen ist,  und  die,  während  die  anderen  Sekten  mehr  oder 
weniger  in  Lethargie  versunken,  eigentlich  nur  mehr  historisches, 
antiquarisches  Interesse  beanspruchen  können,  eben  in  der  Gegen- 
wart durch  propagandistische  Rührigkeit  ihre  ungeschwächte 
Lebenskraft  bekunden.  Mit  Befriedigung  kann  nun  gesagt  werden, 
daß  gerade  in  den  Jahren,  die  dieser  Bericht  zu  umspannen  hat, 
eine  Reihe  von  Arbeiten  in  englischer  und  in  deutscher  Sprache 
erschienen  sind,  die  dem  Rechnung  trugen.  Am  diensamsten  zu: 
einer  ersten  allgemeinen  Orientierung  mag  vielleicht  der  unten  i 
angeführte  Aufsatz  des  Referenten^  sich  erweisen.  Aus  einer  Serie 
von  Vorträgen,  die  A.Lloyd  im  Winter  1909/10  in  Tokyo  über 
die  Lehre  der  von  Shinran  (1173—1262)  begründeten  Jödoshin-| 
shü  gehalten,  ist  ein  Buch  von  180  Seiten  mit  etwas  inadäquatem] 
Titel    erwachsen^,    dessen  wissenschaftlichen  Charakter  freilich 

^  H.  Haas  Die  japanische  JJmgestaltimg  des  Buddhismus  durch  Honen 
8h(jnin(1133—1212)  und  Shinran  Shönin(117 3—1262),  Zeitschr.  f.  Missionsk. 
u.  Religionswiss.  27.  Jahrg.  (1919)  S.  129-145. 

^  A.  Lloyd  Shinran  and  his  work,  comparative  studies  in  Shinshü] 
theology,  Tokyo,  Kyöbunkwan  1910. 


Religion  der  Japaner  1909  —  1913  275 

nicht  wenig  das  Bestreben  verkümmert,  dem  Leser  zu  erweisen, 
was  dem  Verfasser  selbst  von  vornherein  feststeht:  daß  der 
Shinshü- Gläubige,  wenn  er  sein  Namu  Amida  Butsu  spricht, 
dieselbe  göttliche  Person  anredet,  auf  die  sich  des  Christgläubigen 
Anbetung  richtet,  daß  beider  Religion  den  gleichen  Ursprung 
hat.  Die  von  ihm  beliebte  Argumentationsweise,  so  erklärt 
Lloyd  selbst  in  der  Einleitung,  erspare  ihm  eine  Menge  anti- 
quarischer Nachforschungen  und  historischer  Untersuchungen, 
Untersuchungen,  die  ja  schließlich  doch  nur  von  geringem 
Werte  seien,  wo  es  sich  um  praktische  Lebensinteressen  handle 
(S.  6).  Wo  er  solche  doch  bringt,  in  den  Fußnoten  und  in  den 
zwei  Appendices  {Römyöji^  und  Manichaean  influences  in  the 
Shinshu),  stößt  man  auf  sehr  zweifelhafte  Aufstellungen  und  an- 
fechtbare Deduktionen.  Auch  die  eingereihte  erstmalige  Über- 
setzung eines  chinesischen  Hymnus  auf  die  Lehre,  der  Shinran 
zum  Verfasser  hat,  des  Shöshinge,  ist  mehr  eine  freie,  in  vielen 
Einzelheitenden  Ideen  Lloyds  angepaßte  und  dogmatischer  Termini 
der  christlichen  Theologie  sich  bedienende  Paraphrase  als  eine 
wirkliche  philologische  Übertragung  des  Textes.  S.  93  — 101 
findet  man,  einem  japanischen  Werke  mit  dem  Titel  Shinshü 
Seikun  entnommen,  eine  Blütenlese  von  Äußerungen  meist  mittel- 
alterlicher Priester  über  die  Kraft  des  Glaubens,  bei  deren  Aus- 
wahl ihr  Anklingen  an  neutestamentliche  Worte  bestimmend  war. 
S.  134  — 140  wird  die  Beschreibung  des  Shinshü -Zeremoniells, 
wie  es  bei  der  Bestattung  Köshos,  des  21.  Abtes  des  östlichen 
Hongwanji  in  Kyoto  (gest.  15.  1.  1894),  beobachtet  wurde,  mit- 
geteilt. Den  Hauptinhalt  des  Lloydschen  Buches  —  die  an- 
eführten  Stücke  sind  als  bloße  Zugaben  anzusehen  —  bildet 
iie  gekürzte,  gelegentlich  glossierte  Wiedergabe  eines  vor  nicht 
langer  Zeit  japanisch  geschriebenen  kleinen  Buches  von  R.  Nishi- 
noto,   eines  Katechismus    mit  hundert  Fragen  und  zum  Teil 

^  Dieser  Anhang,  der  die  Bedeutung  zeigen  soll,  die  der  Patriarch 
iCndö  in  der  Geschichte  des  Jödo-Mahäyäna  gehabt,  ist  wiederabgedruckt 
dem  weiter  unten  zu  nennenden  Buche  The  creed  of  half  Japan. 

18* 


276  Hans  Haas 

sehr  ausführlichen  Antworten.^  Den  ganzen  Text  eben  dieses 
Originals  bis  auf  eine  längere  Auslassung  bei  Frage  24  —  die 
Geschichte  der  Untersekten  der  Shinshü  betreffend  —  hat 
A.  K.  Rei  schau  er  übersetzt^,  so  daß  damit  die  Hauptpartien 
des  Lloydschen  Buches  eigentlich  überflüssig  geworden  sind.  Die 
Abschnitte  1 — 17  zeigen  die  Sonderstellung,  die  die  Shinshü  im 
Gesamtsystem  des  japanischen  Buddhismus  einnimmt;  Abschn. 
18  —  28  folgt  die  Biographie  des  Begründers  und  die  äußere  Ge- 
schichte der  Sekte;  der  Rest  ist  der  Darstellung  ihrer  Dogmatik 
gewidmet.  Auch  was  man  da  zu  lesen  bekommt  von  einer  Er- 
lösung für  alle,  einzig  durch  den  Glauben  an  die  gnädige  Ver- 
heißung Amidas,  eine  Erlösung,  die  einem  jeden,  auch  dem 
ärgsten  Sünder,  offen  stehen  soll,  wofern  er  nur,  der  eigenen 
Vernunft  und  Kraft  mißtrauend,  sein  Hoffen  auf  die  Huld  des 
AUerbarmers  setzt,  der  ihm  daraufhin  sicherlich  einhelfen  werde 
zur  Seligkeit  in  seinem  himmlischen  Reiche,  dem  herrlichen  Para- 
dies im  Westen,  das  alles  klingt  so  durchaus  unbuddhistisch, 
daß  sich  darüber  jedem,  der  die  Lehre  Buddhas  kennt,  tatsäch- 
lich die  Frage  aufdrängen  muß,  welche  Garantie  man  denn  habe, 
daß  Nishimoto,  der  Verfasser  des  Shinshü  Hyakuwa,  wirklich 
Shinrans  Theologie  wiedergibt  und  nicht  einen  christlich  tin- 
gierten  modernen  Shinshü -Buddhismus.  So  bemerkt  z.  B.  einl 
französischer  Kritiker  des  Lloydschen  Buches^,  man  könne  heil 
dessen  Lektüre  nicht  umhin  zu  bedauern,  daß  so  wenig  Zitate 
aus  den  Werken  der  großen  Lehrer  des  Amidaismus ,  des  Honen 
und  Shinran  und  ihrer  unmittelbaren  Schüler,  angeführt  würden, 
die  allein,  wo  sie  in  gleichem  Sinne  lauteten  wie  ISTishimotos  Auß-i| 
führungen,  den  Argwohn  benehmen  könnten,  den  man  sonst  nicht 
leicht  los  werde:  daß  diese  der  christlichen  Doktrin  so  frappant: 
ähnelnden  Lehren   bloße  Umbiegungen   der   genuinen  Shinshü- 

^  Shinshü  HyaJcmva.     Tokyo,  Moriya, 

^  A  catechism  of  the  Shin  sect  (Buddhism),  Transact.  of  the  Asiat,  r 
of  Japan  vol.  XXXVIIl  part  V  331—395. 
^  Melanges  Japonais  VII  436  —  447. 


Religion  der  Japaner  1909—1913  277 

Gedanken  in  geflissentlicher  oder  unbewußter  Annäherung  an  die 
von  einem  heutigen  Buddhisten  natürlich  gekannte  christliche 
Theologie  seien.  Was  hier  gewünscht  wird,  eben  das  will  mein 
Buch  *Amida  Buddha  unsere  Zuflucht'^  bieten:  eine  wirk- 
liche TJrkundensammlung.  Sie  gibt  wohl  zur  Genüge  authen- 
tisches Material  an  die  Hand,  durch  das  jedermann  in  den  Stand 
gesetzt  ist,  sich  mit  der  eigentümlichen  Entwicklungsform  bekaimt 
zu  machen,  in  der  sich  die  Religion  indisch- müder  Weltabkehr 
einem  tatkräftigen  Volke  mit  Welteroberungsinstinkten  annehm- 
bar gemacht.  Geflissentlich  habe  ich  der  naheliegenden  Ver- 
suchung widerstanden,  die  hier  erstmalig  erschlossenen  Schriften 
zu  glossieren,  uüd  nur  auf  ein  paar  gelegentliche  Fingerzeige  mich 
beschränkt,  gewiß ,  daß  der  achtsame  und  denkende  Leser  dieser 
simplen  Urkunden  einer  schlichten  Religion  der  Erlösung,  die 
anstatt  des  sonst  im  Buddhismus  vorwaltenden  Intellektualismus 
die  seligmachende  Kraft  des  Glaubens  an  das  Erbarmen  einer 
beinahe  monotheistisch  gefaßten  Heilandsgottheit  predigt,  einer 
Anleitung  zur  Anstellung  der  rechten  Reflexionen  nicht  bedürfen 
wird.  Was  aber  zum'  Verständnis  des  Sinnes  der  dargebotenen 
Texte  selbst  nötig  sein  mag,  das  ist  in  der  den  Urkunden  voraus- 
geschickten Einleitung  und  in  Fußnoten,  mit  denen  nicht  gekargt 
wurde,  wohl  genugsam  dargeboten.  Eine  aus  Raumrück'sichten 
fortgelassene  Homilie  des  Priesters  Köa  Shönin  (1269  —1330) 
das  Fushi  sögö  (siehe  'Amida  Buddha  unsere  Zuflucht'  S.  25), 
habe  ich  an  anderem  Orte  mitgeteilt.^ 

Nicht  bloß  christliche  Klänge,  sondern  geradezu  christliche 
"1  Bücher  findet  Timothy  Richard,  Missionar  der  englischen. 
Baptistenmission  in  China,  in  zwei  Texten  des  chinesischen  und 
japanischen  Tripitaka,   die   er   deshalb   ins  Englische  übersetzt 

*  Urkunden  zum  Verständnis  des  japanischen  Sukhävatl- Buddhismus 
(Quellen  der  Religionsgeschiclite,  heraus^-,  im  Auftrage  der  Religions- 
geschichtl.  Kommission  bei  der  Königl.  Gesellsch.  der  Wissenschaften  in 
Göttingen)  1910. 

^  Christliche  Klänge  im  japanischen  Buddhismus,  Zeitschr.  f.  Mission sk. 
u  Religionswiss.  27.  Jahrg.  S.  1 — 13  n.  34  —  46. 


278  Hans  Haas 

hat^,  dem  Maliäyänasraddhotpäda  und  einem  Saddharmapundarika- 
Extrakt.  Besonders  der  ersten^  dieser  beiden  Schriften  mißt 
er  als  einem  ,, religiösen  Eirenicon  zwischen  dem  Osten  und 
dem  Westen"  eine  geradezu  unberechenbare  Bedeutung  bei.  Die 
Grund-  und  Kernidee  des  Buches  findet  er  in  dem  Begriffe  Chen 
ju  (jap.  Shinnjo).  Teitaro  Suzuki,  der  dasselbe  bereits  im 
Jahre  1900  einmal  ins  Englische  übersetzt  hat,  hat  diese  Be- 
zeichnung für  das  absolute  Sein  als  das  chinesische  Äquivalent 
für  Sanskrit  Bhütatathatä  genommen  und  mit  Suchness  wieder- 
gegeben, eine  Übersetzung,  der  Paul  Carus  seine  Approbation 
erteilte.^  Richard  ist  der  Ansicht,  daß  dieses  Suchness  den  Sinn 
des  ganzen  Buches  verdunkele,  und  versteht  seinerseits  unter 
Chen  ju  'Triie  Model,  True  Form,  Archetype,  d.i.  Gott'  (S.  3 
u.  46).  Wenn  er  dann  weiterhin  sich  für  berechtigt  hält,  Julai 
(jap.  Nyorai  =  Tathägata)  mit  Messias  oder  Gott  im  Fleisch  (the 

^  The  New  Testament  of  Higher  Buddhism.  Edinburgh,  T.  &  T.  Clark  1910. 

^  Schon  drei  Jahre  früher  einmal  von  ihm  veröflfentlicht :  The  awa- 
kening  of  faith  in  the  Mahayana  doctrine  —  the  Neiv  Buddhism.  By  the 
Patriarch  Ashvagosha,  who  died  about  A.  D.  100.  Translated  into  Chinese 
by  Faramartha  (Chen  Ti),  ivho  lived  in  the  Liang  dynasty  (A.  I).  502 — 555). 
Translated  into  English  in  1894  by  Rev.  Timothy  Richard,  Litt.  D.,  assisted 
hy  Mr.  Yang  Wen  Hivui.  Shanghai,  Christian  Literature  Society  1907. 
Dieser  Ausgabe  ist  der  chinesische  Text  beigegeben. 

'  Der  Begriff  Suchness  ist  nach  Carus  pure  form,  or  the  purely  formal 
aspect  of  things,  determining  their  nature  according  to  mathematical  and 
mechanical  latus.  Suchness,  according  to  Agvaghosha,  is  the  cosmic  order 
or  Gesetzmässigkeit  of  the  icorld;  it  is  the  sum  total  of  all  thosefactors  ichich 
shape  the  universe  and  determine  the  destinies  of  its  creatures.  It  is  the 
norm  of  existence  and  is  compared  to  a  womb  in  which  all  things  take  shajje 
and  from  which  they  are  born.  It  is  Plato's  realm  of  ideas  and  Goethes 
Mothers'  of  the  second  pari  of  Faust.  (T.  Suzuki  Agvaghosha' s  Discourse 
on  the  aivakening  of  faith,  S.  4  f.)  Mir  selbst  schrieb  der  genannte  Ge- 
lehrte :  I  know  as  little  a  terse  Gei-mün  translation  for  "suchness'  as  you  do. 
Of  course  the  meaning  of  the  icord  is  'quality' ,  but  the  value  of  the  word 
in  its  context  consists  in  bringing  out  the  original  meaning  of  'quality' 
and  its  connection  with  'qualis'.  The  same  difficuUy  would  obtain  in  trans- 
lating  Hhisness',  the  scholastic  Hocceity.  Perhaps  ' Bas- hei f  and  'So-heif 
lüould  corresxwnd  to  Hhisness'  and  'suchness'.  (Privatbrief  vom  27.  Dez. 
1905) 


Religion  der  Japaner  1909—1913  279 

trm  Model  become  Incarnate,  the  incarnate  God)  wiederzugeben, 
und  der  Meinung  ist,  damit  den  wahren  buddhistischen  Schlüssel 
zum  Verständnis  der  Schrift  zu  besitzen,  so  ist  es  schließlich 
nicht  zu  verwundern,  wenn  seine  ganze  englische  Übersetzung 
christlichen  Anstrich  bekommt.  Hackmann  hat  gemeint,  ihr 
nachrühmen  zu  dürfen,  sie  sei  vielfach  genauer  als  die  ihr  vorauf- 
gegangene Übertragung  Suzukis,  der  freilich  seinerseits  die 
Terminologie  des  Buddhismus  geschickter  handhabe.^  Er  hat 
dabei  übersehen,  daß  Suzuki  und  Richard  nach  zwei  verschiedenen 
chinesischen  Versionen  des  Textes  übersetzt  haben,  die  selbst 
hinwiederum  nicht  auf  ein  und  dasselbe  Sanskritoriginal,  das 
bis  jetzt  nicht  aufgefunden  ist,  zurückgehen  mögen.  Suzuki 
entschied  sich  für  die  Version  ^ikshänandas  (gest.  710  n.  Chr.), 
während  der  Richardschen  Übertragung  die  ältere  chinesische 
Übersetzung  von  Paramärtha  (gest.  569  n.  Chr.^)  zugrunde  liegt, 
die  in  China  wie  in  Japan  mehr  gelesen  ist  als  jene.  Eine  arge 
Übertreibung  ist  es,  wenn  Richard,  der  nicht  ansteht,  die  Schrift 
als  eines  der  bedeutendsten  Bücher  der  gesamten  Weltliteratur 
zu  bezeichnen  (S.  37),  sagt:  If  we  estimate  the  value  of  looks 
hy  the  number  of  adherents  to  their  doctrines,  then,  after  the  Bible, 
the  Koran y  the  Confucian  Classics,  and  the  VedaSj  this  volume, 
ahout  the  sise  of  the  Gospel  of  Marc,  ranJcs  next,  or  fifth,  among 
the  sacred  hoolcs  of  the  world  (S.  38).  Im  Japan  von  heute  jeden- 
falls, und  so  erst  recht  in  China,  werden  die  Priester  zu  zählen 
sein,  die  das  Buch  je  gelesen  haben,  und  noch  seltener  sind 
natürlich  die  Laien,  die  sich  an  einen  so  schwierigen  philoso- 
phischen Text  machen.  Richard  hält  es  für  ausgemacht,  daß 
sein  Verfasser  Asvaghosha  ist,  „der  Apostel  Paulus  des  Buddhis- 
mus, der  nur  fünzig  Jahre  nach  Paulus  lebte"  (S.  21  und  9). 
Demgegenüber  sei  darauf  hingewiesen,  daß  die  Datierung  der 
Lebenszeit  Asvaghoshas  und  des  Königs  Kanishka,  als  dessen 
Zeitgenosse  er  bezeichnet  wird,  bis  heute  noch  eine  sehr  strittige 

^  Jahresbericht  der  Geschichtswissenschaft  XXX,  III  S.  348. 
2  Richards  Daten  S.  51  sind  falsch. 


280  Hans  Haas 

ist^  und  daß  ganz  neuerdings  M.  Winternitz^,  wie  übrigens 
auch  eine  japanische  Autorität,  Takakusu,  die  Abfassung  de» 
Sraddhotpäda  durch  ihn  für  ausgeschlossen  hält.  Wie  dieses^ 
philosophische  Werk,  so  ist  dem  Verfasser  auch  das  Saddharma- 
pundarika-sütra,  in  dem  er  dieselben  wundervollen  Wahrheiten 
von  Licht,  Liebe,  Leben  finden  will,  wie  sie  das  Johannes- 
evangelium bietet,  eine  Schrift  —  er  nennt  sie  ein  fünftes  Evan- 
gelium — ,  die  eine  Brücke  schlage  über  die  Kluft,  durch  welche 
die  Religion  des  Ostens  bisher  von  der  des  Westens  geschieden 
gewesen  sei.  Nicht  freilich  das  ganze  Sutra,  wie  es  uns  bereits 
in  Kerns  und  Burnoufs  Übersetzungen  vorliegt.  Hier  sei  das 
Manna  des  Neuen  (Mahäyäua)  Buddhismus,  von  dem  seit  andert- 
halbtausend Jahren  so  viele  Millionen  gezehrt  hätten,  zu  sehr 
überdeckt  von  indischen  Fabeleien  und  altbuddhistischen  Mytho- 
logemen.  Was  es  ihm  angetan  hat  und  was  er  in  Übersetzung- 
darbietet,  ist  ein  Auszug  des  Wesentlichsten  aus  dieser  bei  den 
Mahayanisten  in  so  hohem  Ansehen  stehenden  Schrift,  ein  chine- 
sisches Exzerpt  aus  Kumarajivas  Übersetzung,  das  er  einer  von 
K.  S.  Fukagawa  besorgten  und  von  der  Nichiren-shü  veröffent- 
lichten japanischen  Ausgabe  in  Gestalt  von  Kopfnoten  beigegeben 
gefunden  hat.  Noch  enthusiasmierter  urteilt  er  über  das  To 
Sin  King  (jap.  Shinkyö  ==  Mahäprajnäpäramitährdaya-sütra),  the 
Creed  of  half  Äsia^  wie  er  es  nennt,  das  es  verdiene,  den  er- 
habensten literarischen  Hervorbringungen  des  menschlichen 
Geistes  von  Hiob  bis  Kant  sowie  denen  der  besten  Dichter 
Indiens  und  Chinas  beigezählt  zu  werden.  S.  268  f.  gibt  er  auch 
hiervon  eine  englische  Übersetzung.     Sie  scheint  gefertigt  zu 

^  Auch  die  neueste,  mir  selber  noch  nicht  zugänglich  gewordene 
Untersuchung  von  F.  W.  Thomas  im  letzten  Jahrg.  des  Journal  of  the 
Royal  Asiatic  Society  (1913)  The  Date  of  KanisTika  sowie  die  an  dieselbe 
sich  anschließenden  Erörterungen  anderer  (in  der  Oktobernummer)  werden 
wohl  schwerlich  die  Unsicherheit  behoben  haben. 

'  Geschichte  der  indischen  Literatur,  2.  Band  I.Hälfte:  Die  buddhisti- 
sche Literatur  S.  2 10 f.,  und  desselben  Gelehrten  Beiträge  zur  buddhistischen 
Sanskritliteratur  in  der  Wiener  Ztschr.  f  d.  K.  d.  M.  Band  27  (1913)  S.  34  L 


|-  Religion  der  Japaner  1909—1913  281 

sein  ohne  jede  Zuhilfenahme  buddhistischer  Kommentare,  eine 
Verwegenheit,  die  sich  gerächt  hat.*  Aber  auch  wie  Richard 
den  kurzen  Text  verstanden  hat,  rechtfertigt  er  in  keiner  Weise 
den  ihm  vom  Übersetzer  gewidmeten  verzückten  Lobpreis,  wie 
es  vermutlich  auch  keinem  seiner  Leser  gelingen  wird,  in  dem 
Saddharmapundarika- Exzerpt  eine  Religion  zu  finden,  so  mar- 
vellously  like  Christianity  in  its  central  teaching  thät  it  migJit  well 
he  called  Pre-Nestorian  Christianity  (S.  12),  oder,  wie  man  an 
einer  anderen  Stelle  liest,  eine  Theologie,  Christian  in  every- 
ihing  almost  hut  its  nomenclature  (S.  27).  Und  dies  trotz  der 
Unmasse  der  in  den  Fußnoten  aufgewiesenen  neutestam entlichen 
Parallelen,  unter  ihnen  solche  wie:  Be  fearless  (S.  179):  vgl. 
Joh.  14,  27;  Fear  not  (S.  179):  vgl.  Matth.  10,  2S.  Ein  selt- 
sames Buch,  auf  dessen  Autor  A.  Lloyds  Mantel  gefallen  ist, 
könnte  man  versucht  sein  zu  sagen.  Aber  in  gleichem  Sinne 
hat  Rev.  Richard  schon  vor  langen  Jahren  sich  hören  lassen, 
und  Lloyd  war  um  ein  Vieles  vorsichtiger.  Was  er  als  bloße 
Hypothese  vorgebracht,  das  trägt  sein  Genosse  in  China  kein 
Bedenken  bereits  als  Tatsache  zu  nehmen  und  zu  Folgerungen 
zu  verwerten  (vgl.  S.  11).  Aber  auf  Einzelheiten  kann  hier 
nicht  eingegangen  werden.  Sei  denn  nur  noch  gesagt,  daß 
Richard  nicht  dafür  hält,  daß  die  seinem  Neu -Buddhismus, 
d.  h.  dem  Mahäyäna,  und  dem  Christentum  gemeinsamen  Lehren 
{voneinander  entlehnt  seien.  Sie  kamen  nach  ihm  beide  von 
i  einer  gemeinsamen  Quelle,  von  Babylon,  wo  jüdische  Propheten 
lihre  Gesichte  von  dem  Reiche  Gottes,  das  da  kommen  sollte, 
i  aufgezeichnet.  Von  dieser  Zentrale  der  damaligen  Welt  aus 
I  seien  die  großen  Lebenswahrheiten,  wie  Samenkörner  vom  Winde, 
sowohl  nach  dem  Osten  wie  nach  dem  Westen  getragen  worden, 
wo  sie  unter  dem  Einflüsse  verschiedener  Bedingungen  modi- 
fiziert worden  seien  (S.  49). 

Ein  Verdienst  Richards  bleibt  es  trotz  allem,  daß  er  erneut 

i        ^  Vgl.  mit  Richards  Übersetzung   die  von  mir  selbst  mitgeteilte  bei 
Edv.  Lehmann  Textbuch  zur  Beligionsgeschichie  S,  21  f 


232  Hans  Haas 

die  Aufmerksamkeit  auf  die  beiden  von  ihm  über  Gebühr  ge- 
würdigten Werke  gelenkt  hat.  Unsere  Beachtung  verdienen  sie 
jedenfalls  vor  vielen  anderen  des  chinesischen  und  japanischen 
Kanons,  Die  über  6000  Bände,  die  diesen  ausmachen,  sind  von  sehr 
verschiedenem  Werte,  und  Luther  hätte  in  diesem  Bücherhauf  wohl 
mehr  als  eine  ^stroherne  Epistel'  gefunden.  Die  alte  Sanron- 
schule  zwar  hielt  dafür,  daß  alle  Schriften  gleich  heilig  und 
schätzbar  seien,  da  eben  der  Buddha,  auf  den  sie  zurückgeführt 
werden,  als  ein  weiser  Arzt  nicht  aUen  Kranken  eine  und  die- 
selbe Medizin  dargereicht  habe,  sondern  in  seiner  Riesenapotheke 
so  viel  verschiedene  Mittel  bereitstelle,  als  es  bei  den  lebenden 
Wesen  verschiedene  Krankheiten  gebe.  Die  anderen  Schulen 
alle  aber,  mit  einziger  Ausnahme  der  Zen-shü,  die  über  alle 
Schriftweisheit  die  Innenschau  und  das  Lehren  ohne  Worte,  von 
Geist  zu  Geist,  stellt,  haben  aus  der  Masse  dieses  Schrifttums 
einzelne  wenige  Schriften,  eine  jede  von  ihnen  andere,  heraus- 
gehoben, auf  die  sie  sich  gründen  und  die  für  sie  die  eigentliche 
Glaubens-  und  Lehrnorm  bilden.  Es  ist  von  vornherein  an- 
zunehmen, daß  diese  ausgewählten  Schriften  wirklich  die  gehalt- 
vollsten des  Kanons  sind.  Sehr  erquickliche  Lektüre  freilich  bieten 
auch  sie  nicht  durchaus.  In  solcher  Erkenntnis  geht  man  neuerdings 
in  Japan  daran,  besonders  für  die  buddhistische  Laienwelt  die 
schönsten  und  tiefsten  Sätze  aus  diesen  Schriften  auszuheben 
und  zu  Anthologien  zu  vereinigen.  Eine  solche  systematisch 
geordnete  Sammlung  von  Goldkörnern  hat  A.  K.  Reischauer 
ins  Englische  übertragen.^  Wann  und  wo  seine  japanische  Vor- 
lage erschien,  von  wem  sie  zusammengestellt  wurde  und  wie 
sie  betitelt  ist,  wird  vom  LFbersetzer  nicht  angegeben.  Die  in 
drei  Abteilungen  (1.  Lehre,  2.  Glaube,  3.  Praktische  Ermahnungen) 
verteilten  Sprüche  sind  fast  ausschließlich  der  Sutraliteratur 
entnommen.  Der  Name  der  Quelle  ist  den  einzelnen  Stellen 
beigefügt,  unbegreiflicherweise  leider  nur  in  chinesischen  Cha- 
rakteren, mit  denen  dem  westländischen  Leser  nicht  gedient  ist. 
^  Buddhist goldnuggets,  Transact.  ofthe  Asiat.  Soc.  of  Japan  vol.XLl— 44. 


Religion  der  Japaner  1909—1913  283 

Schade  übrigens,  daß  Reischauers  Wahl  nicht  auf  ein  anderes 
japanisches  Werk  dieser  Art  gefallen,  ich  meine  das  1905  von 
Nanjio  und  Mayeda  kompilierte  viel  bessere  Bukkyö  Seiten, 
ein  Buch,  das  einen  ganz  außerordentlichen  buchhändlerischen 
Erfolg  gehabt,  nicht,  wie  sein  Titel  „Die  heiligen  Schriften  des 
Buddhismus"  annehmen  lassen  muß,  eine  Auswahl  in  extenso 
dargebotener  Schriften  des  Kanons,  die  den  Herausgebern  die 
geeignetsten  zum  Zwecke  der  Erbauung  und  populären  Unter- 
weisung erschienen,  sondern  auch  eine  solche  Blütenlese  wichtiger 
Stellen,  die  dem  Leser  systematisch  geordnet  mitgeteilt  werden, 
so  etwas  ungefähr  wie  unsere  nach  den  Hauptstücken  des  christ- 
lichen Glaubens  angeordneten  Spruchbücher. 

Von  einer  außerkanonischen  japanischen  Schrift  gibt,  ohne 
ihren  Verfasser  zu  nennen,  ein  Japaner,  J.  Sawai,  eine  deutsche 
Übersetzung.^  Es  ist  dies  derselbe  Text,  von  dem  schon  die 
Transactions  of  the  Third  International  Congress  for  tJie  Histöry 
of  Beligions  vol.  I,  löOff.  einen  Auszug  in  Englisch  brachten.^ 
Dort  belehrt  eine  wohl  von  dem  englischen  Herausgeber  her- 
rührende Fußnote  (S.  150),  man  habe  es  mit  einem  vor  kurzem 
(recently)  von  der  Sötö- Schule  für  ihre  Anhänger  kompilierten 
Werke  zu  tun.  Das  ist  ein  Irrtum,  den  ich  hier  berichtigen 
möchte.  Womit  man  es  zu  tun  hat,  ist  ein  bei  der  Sötö-shü 
seit  über  650  Jahren  in  höchstem  Ansehen  stehender  ethischer 
Traktat,  dessen  Verfasser  kein  Geringerer  als  der  Begründer  des 
japanischen  Sötö-Zweigs  des  Zen-  oder  Dhyäna- Buddhismus,  der 
berühmte  Priester  Dogen  oder,  wie  er  seit  1880  heißt,  ShöyöDaishi 
(1200 — 1253)  ist.  Im  Japanischen  hat  die  Schrift  den  Namen 
Sötö  kyökwai  shüshögi.^    Weniger  brauchbar  als  ihre  Über- 

^  Grundsätze  der  Erleuchtung  und  deren  Ausübung  im  Sinne  der  Sötö- 
Sekte.  Mitteil,  der  Deutschen  Gesellsch.  f.  Natur-  u.  Völkerk.  Ostas.  Bd.  XIII 
Teil  3  S.  187—197. 

\  *  Principles  of  practice  and  enUgJitenment  of  the  Soto  Zen  shu.    By 

I  Zenkai  Omori. 

j  *  Ygl.  des  Ref.  Übersetzung  in  der  Zeitschr.  f.  MissionsTc.  u.  Beligions- 

'  wiss.,  Jahrg.  27  S.  200  —  209. 


234  Hans  Haas 

Setzung  ist  die  am  gleiclien  Orte  von  Sawai  für  einen  anderen 
wichtigen  Text  gelieferte  ^,  dessen  Autor  seltsamerweise  ebenfalls 
nictt  von  ihm  genannt  wird.  Es  ist  derselbe  Shöyö  Daishi, 
und  der  Titel  dieser  Schrift,  die  eine  sehr  ins  einzelne  gehende 
Anweisung  für  die  in  derZen-shü  gepflegte  Kontemplationspraxis 
gibt,  ist  im  Japanischen  Fukwan  Zazengi. 

Die  Erstübersetzung  einer  Schrift,  die  einen  anderen  Begründer 
einer  der  Hauptsekten  des  japanischen  Buddhismus  zum  Ver- 
fasser hat,  enthält  auch  A.  Lloyds  letztes  Buch^  in  seinem 
25.  Kapitel:  Nichirens  *Risshö  Ankokuron',  ein  Text  in  Dialog- 
form, in  dem  der  zornmütige  Fanatiker  besonders  gegen  den 
zu  seiner  Zeit  alles  Volk  an  sich  ziehenden  Amitäbha-Buddhismus, 
aber  auch  noch  gegen  vieles  andere,  das  in  seinen  Augen  Ver- 
derbtheit war,  eifert  und  dem  Volke,  wenn  es  nicht,  von  aller 
falschen  Lehre  sich  abkehrend,  das  von  ihm  als  köstlichstes  Sutra 
empfohlene  Hokekyö  (Saddharmapundarika)  annehme,  Unheil 
aller  Art  prophezeit.  Die  ersten  sechzehn  Kapitel  Lloyds,  die 
Seiten  1 — 167  seines  Werks  umfassend,  die  einen  Überblick 
über  die  Geschichte  des  Buddhismus  in  Indien  und  China  von 
den  Tagen  seines  Stifters  an  bis  zum  Jahre  552  n.  Chr.,  wo  er 
sein  äußerstes  östliches  Thule  erreichen  sollte,  geben,  kommen 
für  uns  hier  nicht  eigentlich  in  Betracht.  Vom  Buddhismus  in 
Japan  wird  erst  vom  17.  Kapitel  ab  gehandelt,  unter  folgenden 
Überschriften:  17.  Der  Buddhismus  erreicht  Japan.  18.  Der 
Kronprinz  Shötoku  Taishi.  19.  Der  Buddhismus  während  der 
Nara- Periode.  20.  Der  Heian- Buddhismus.  21.  ^Namudaishi'. 
22.  Der  Buddhismus  der  Gempei- Periode.  23.  Der  Buddhismus 
von  Kamakura,  24.  Nichiren  und  die  älteren  Sekten.  25.  Risshö 
Ankoku    Ron.     26.    Die    Mongolen.    27.   Der   Buddhismus    der 


^  Die  Lehre  über  das  direkt  von  Buddha  inspirierte  Dhyäna.   Mitteil, 
der  Deutschen  Gesellßch.  f.  Natur-  u.  Yölkerk.  Ostas.     Bd.  XHI  Teil 
S.  181—185. 

^  The  creed  of  half  Japan,  historical  sJcetches  of  Japanese  Buddhism, 
London,  Smith,  Eider  and  Co.  1911. 


Religion  der  Japaner  1909  —  1913  285 

Muromachi-Ära.  28.  Die  Periode  der  katholischen  Missionen. 
29.  Der  Buddlüsmus  der  Tokugawaperiode.  30.  Rekapitulation. 
Eingehend  besprochen  habe  ich  das  Buch,  das  als  eine  zweite, 
vollständig  neugeschriebene  Auflage  von  Lloyds  erster,  grund- 
legender Studie,  den  17  Jahre  früher  in  Vol.  XXII  der  Trans- 
actions  of  tlie  Äsiatic  Society  of  Japan  veröffentlichten  Developments 
of  Japanese  BuddhisMy  bezeichnet  werden  kann,  in  der  Ost- 
asiatischen Zeitschrift  (Jahrg.  I  S.  238  —  245).  Die  dort  ge- 
machten Ausstellungen  will  ich  hier  nicht  wiederholen.  Sie 
ließen  sich  noch  vermehren.  Aber  Dank  darf  man  dem  un- 
ermüdlichen ersten  Bahnbrecher  auf  diesem  Gebiete,  der  so  reiche 
Anregungen  gegeben,  doch  auch  für  diese  seine  letzte  Gabe  wissen. 
Die  Überschrift  des  21.  Kapitels  seines  Buchs,  ^Namudaishi', 
bedeutet  „Ehre  sei  dem  großen  Lehrer!"  und  ist  der  Titel  einer 
religiösen  Ballade  auf  Kükai  oder  Köbö  Daishi  (774  —  835),  die 
Lloyd  für  Übersetzenswert  gehalten,  weil  sie  einen  guten  Abriß 
^es  Lebens  dieses  großen  Priesters  und  Pioniers  der  japanischen 
Kulturentwicklung  gibt,  so  wie  dieses  dem  gewöhnlichen  Gläu- 
bigen in  Japan  erscheint.  Über  ihr  Alter  bemerkt  der  Über- 
setzer nichts;  es  ist  aber  anzunehmen,  daß  man  es  mit  keiner 
Schrift  neueren  Datums  zu  tun  hat.  Ganz  eine  solche  ist  dagegen 
^ie  von  E.  Schiller  in  Übersetzung  gebrachte,  im  Japanischen 
Gogaku  no  kumo,  „Wolke  von  Gogaku",  betitelte  Köbö- 
Biographie.^  Gogaku  ist  der  Name  eines  Berges,  von  welchem 
Köbö  sich  herabstürzte,  um  sein  Schicksal  zu  prüfen  (vgl.  die 
Versuchungsgeschichte  Jesu);  eine  Wolke  aber  trug  ihn,  so  daß 
■er  keinen  Schaden  nahm.  Dieses  preisgekrönte  Schriftchen,  zur 
Verteilung  unter  den  Besuchern  des  Haupttempels  der  von  Köbö 
begründeten  Shingonsekte  an  dessen  Geburtstagsfeier  (15.  Juni)^ 

'^  Gogaku  no  Tcumo.  Eine  populäre  Biographie  Köbö  Daishis,  Mitteil, 
^er  Deutschen  Gesellsch.  f.  Natur-  u.  Völkerk.  Ostas.  Bd.  XI  Teil  4  S.  405 
bis  439,  auch  Zeüschr.  f.  Missionsk.  u.  Beligionswiss.,  24.  Jahrg.  S.  179  bis 
185,  193  —  215. 

*  Erst  seit  dem  Jahre  1898  eingeführt,  in  Nachahmung  christlichen 
Brauchs.  Bis  dahin  feierte  die  Shingonsekte  nur  den  Todestag  ihres  Stifters. 


286  Hans  Haas 

im  Jalire  1901  bestimmt,  unterscheidet  sich  von  dem  'Namudaishi' 
hauptsächlich  darin,  daß  es,  und  das  ist  charakteristisch  für  den 
Rationalismus  der  heutigen  Generation,  die  Wunder  im  Leben 
des  Helden  ausmerzt. 

Einen  späteren,  weniger  bedeutenden  Priester  des  japanischen 
Buddhismus,  den  Mönch  Kenkö-höshi  (1283 — 1350),  lernen  wir 
in  seinem  von  den  Japanern  von  jeher  ho chge werteten  Haupt- 
werke, dem  Tsure-zure-gusa,  durch  eine  englische  Übersetzung 
kennen,  die  G.  B.  Sansom  gefertigt  hat.^  In  den  243  kürzeren 
oder  längeren,  in  keinerlei  innerem  Zusammenhange  miteinander 
stehenden  Abschnitten  dieses  Skizzenbuchs  „Aus  Stunden  der 
Muße  und  Langeweile'^,  aus  dem  schon  Florenz  in  seiner  Ge- 
schichte der  japanischen  Literatur  eine  Anzahl  größerer  Auszüge 
in  deutscher  Übersetzung  mitgeteilt  hat,  gibt  sein  Verfasser  sich 
zwar  als  ein  Eklektiker  zu  erkennen,  der  bald  taoistische,  bald 
konfuzianische,  bald  shintoistische  Ideen  vertritt,  im  großen  und 
ganzen  aber  hat  doch  die  buddhistische  Weltanschauung  das 
Übergewicht,  und  zwar  ist  es  der  Buddhismus  der  Tendai-Sekte, 
dem  er  anhängt.  Als  Appendix  ist  der  Übersetzung  ein  Beitrag 
von  Professor  M.  Anesaki,  der  Sansom  auch  bei  der  Wieder- 
gabe buddhistischer  Termini  seinen  sachkundigen  Beistand  lieh, 
über  die  religiösen  Zustände  in  Japan  im  14.  Jahrhundert  bei- 
gegeben. Die  am  gleichen  Orte  veröffentlichte  Abhandlung 
M.  Anesakis  über  die  buddhistische  Ethik ^  ist  ein  durch  Bei- 
fügung chinesischer  Ausdrücke  ergänzter  Wiederabdruck  des 
von  diesem  Gelehrten  .für  den  Band  V  von  Hastings'  Encyclo- 
paedia  of  Beligion  and  Ethics  gelieferten  Artikels.  Die  ver- 
schiedenen Kapitel  tragen  die  folgenden  Überschriften:  1.  General 
Characteristics ;  2.  Basis  and  Aim  of  Morality,  MetapJiysics  of 
the  Good;  3.   Virtiies  and  Rules  of  Conductj  Practical  Ethics: 

^  The  Tsuredzure  gusa  of  Yoskida  no  Kaneyoshi.  Being  the  Medi- 
tations of  a  Recluse  in  the  14  ^^  Century.  Translated,  with  Notes.  Trans- 
actions  of  the  Asiat.  Soc.  of  Japan  vol.  XXXIX. 

*  Buddhist  Ethics  and  Morality,  Tratisact.  of  the  Asiat.  Soc.  of  Jai 
vol.  XL  S.  115—152. 


» 


Religion  der  Japaner  1909  —  1913  287 


4.  Efficacy   of  Moral   Praäice,   Ecdesiastical  Siele   of  Ethics; 

5.  Mental  Training  and  Spiritual  Ättainments.  Was  die  Ab- 
handlung gibt,  ist  melir  eine  allgemeine  Charakterisierung  der 
buddhistischen  Ethik  überhaupt.  Sie  schließt  mit  dem  Satze: 
To  trace  the  various  development  and  complications  of  Buddhist 
morality  helongs  to  the  domain  of  a  special  history  of  morals  in 
all  the  countries  converted  to  Buddhism.  Schade,  daß  in  der  ge- 
nannten Enzyklopädie  Anesaki  nicht  auch  den  Artikel  über  die 
Ethik  in  Japan  geliefert  hat.  Ihn  hat  S.  Tachibana  bei- 
gesteuert^, und  er  ist,  besonders  für  die  Ethik  des  Buddhismus, 
etwas  sehr  dürftig  ausgefallen.  Ausführlicheres  bieten  über  diese 
drei  von  mir  gehaltene  und  nachher  gedruckte  Vorträge.^  Was 
ich  über  die  buddhistische  Ethik  in  meiner  Skizze  des  japanischen 
Buddhismus  in  dem  Sammelbande  'Die  orientalischen  Religionen' 
in  Hinnebergs  Enzyklopädie  gesagt,  habe  ich,  da  ich  nun  auf 
diese  Aufsätze  verweisen  konnte,  in  der  2.  Auflage  des  Bandes 
gestrichen,  wie  ich  auch  sonst  Kürzungen  an  dieser  Darstellung^ 
vorgenommen  habe.  Im  übrigen  ist  die  Abhandlung,  von  einigen 
Zusätzen  abgesehen,  unverändert  geblieben.  In  dem  schon  oben 
unter  Shintö  genannten  neuen  holländischen  Sammelwerke  Groote 
Godsdiensten  hat  M.  W.  de  Visser,  Konservator  am  Ethnogra- 
phischen Reichsmuseum  in  Leiden,  auch,  eine  knapp  gefaßte 
Darstellung  des  Buddhismus  in  Japan  gegeben^:  21  Seiten  sind 
der  Geschichte  der  Religion  von  ihrer  Einführung  im  Jahre 
552  bis  zur  Gregenwart  gewidmet;  in  der  Hauptsache  nach  Fu- 
jishimas  bekanntem  Buch  wird  auf  den  folgenden  9  Seiten  das 

i  Wichtigste  über  die  einzelnen  Sekten  gesagt:  eigene  im  Lande 

^  Ethics  and  Morality  (Japanese),  Hastings'  Encycl.  ofRel  and  Ethics 
V  498  —  501. 

*  Das  Moralsystem  des  japanischen  Buddhismus,  Zeitschr.  f.  Missionsk. 
u.  Religionswiss.    Jahrg.  1912  S.  193  —  209,  227  —  241,  257  —  269. 

'  Der  Buddhismus  der  Japaner  (Die  Religionen  des  Orients  und  die 
altgermanische  Religion,  2.  Aufl.  S.  217  — 242). 

*  Het  Buddhisme   in  Japan  (Groote  Godsdiensten^   1.  Serie   Nr.  8), 
Baarn  1911. 


288  Hans  Haas 

gemachte  Beobachtungen  des  Verfassers  finden  sich  im  dritten 
Abschnitt,  der  die  Kultpraxis  beschreibt  (S.  30  —  48).  Wohl 
aus  Langes  Darstellung  in  Chantepie  de  la  Saussayes  Lehrbuch 
der  Religionsgeschichte  ist  die  Angabe  S.  47  entnommen,  daß 
das  in  Tibet  eine  so  große  Rolle  spielende  Gebetsrad  in  Japan 
sich  nur  bei  der  Tendai-  und  der  Shingon- Sekte  finde.  Daß 
dies  nicht  zutrifft,  habe  ich  bereits  vor  einem  Jahrzehnt  bemerkt, 
und  eine  neuere  Untersuchung  von  K.  Steiner  hat  es  bestätigt.^ 
Von  de  Visser  ist  auch  noch  eine  gelehrte  Monographie  über 
den  nächst  Kwannon  bedeutendsten  Bodhisattva  des  Buddhismus 
von  China  und  Japan,  Ti-tsang  (Jizö),  hier  anzuführen,  von 
der  freilich  bei  Ablieferung  dieses  Referats  nur  erst  das  erste 
Stück  vorliegt^,  das  auf  den  Kult  dieses  Heiligen  oder  dieser 
Grottheit,  des  indischen  Kshitigarbha,  in  Japan  noch  nicht  zu 
sprechen  kommt,  sondern  nach  Betrachtung  der  auf  ihn  sich 
beziehenden  -Sutraaussagen  nur  von  seinem  Kult  in  Indien,  Tibet 
und  Turkestan  handelt.  Soviel  ergibt  sich  bereits  aus  den  bis 
jetzt  veröffentlichten  Darlegungen  de  Vissers,  daß  die  japanischen 
Vorstellungen  von  Jizö  durchweg  vom  Kontinent  her  über- 
nommen sind. 

Noch  einmal  muß  genannt  werden  die  schon  oben  erwähnte 
Abhandlung  von  E.  Ohrt  über  Totengebräuche  in  Japan,  da 
sie  in  ihrem  zweiten  Teile  mit  den  buddhistischen  Formen  sich 
befaßt.  Bemerkenswert  ist  des  Verfassers  Hervorhebung  (S.  83), 
daß,  während  die  Shintoisten  sich  offenbar  durch  die  Tatsache, 
daß  ein  Fremder  sich  für  ihre  Riten  interessiere,  geschmeichelt 
fühlten  und  alles  taten,  seine  Neugierde  zu  befriedigen,  bud- 
dhistische Priester  ihm  eine  merkliche  Abneigung  gezeigt  hätten, 
über  religiöse  Gebräuche,  die  angeblich  nur  mündlich  überliefert 

'  Das  buddhistische  Gebetsrad  in  Japan,  Zeitschr.  f.  Missionsk.  u. 
Religionswiss.  Jahrg.  1910  S.  34  —  44.  —  Hans  Haas  Das  Gebetsrad  im 
japanischen  Buddhismus.  Ebenda  S.  65—67.  —  Replik  von  Steiner,  ebenda 
S.  304—307. 

*  The  Bodhisattva  Ti-tsang  (Jizö)  in  China  and  Japari,  Ostasiat. 
Zeitscbr.    2.  Jabrg.  Heft  2  S.  179-198. 


Religion  der  Japaner  1009—1913  289 

würden  und  ein  Geheimnis  ihres  Tempels  seien,  Auskunft  zu  geben. 
Dem  entspreche  es,  daß  auch  keine  Bücher  über  die  buddhi- 
stischen Beerdigungsformen  veröffentlicht  sind.  Auch  innerhalb 
der  buddhistischen  Totengebräuche  herrscht  eine  große  Ver- 
schiedenheit. Die  Ohrtsche  Arbeit  will  nur  einen  allgemeinen 
Überblick  geben.  Auf  den  religiösen  Teil  der  Totenfeiern  wird 
nicht  tiefer  eingegangen.  Die  Schilderung  der  im  Tempel  vor 
sich  gehenden  Zeremonien  richtet  sich  nur  nach  den  in  der 
Jödo- Sekte  üblichen  Formen.  Um  so  dankbarer  muß  man  für 
einen  ausführlichen  Artikel  von  Lloyd  sein,  der,  hauptsächlich 
auf  Informationen  des  oben  genannten  S.  Tachibana,  eines  bud- 
dhistischen Priesters  der  Zen- Sekte,  beruhend,  das  religiöse  Be- 
gräbnisritual beschreibt,  wie  es  bei  der  Zen-,  der  Shingon-,  der 
Tendai-,  der  Jödo-,  der  Shin-  und  der  Nichiren- Sekte  ist.^  Hand- 
schriftliche Agenden  gibt  es  also,  wie  man  sieht,  doch  auch  bei 
allen  Sekten  des  japanischen  Buddhismus.  Und  daß  diese  Litur- 
gien auch  gedruckt  werden,  sieht  man  daraus,  daß  eine  der 
Beschreibungen  Lloyds,  die  für  die  Shin-shü  gegebene,  einer 
gedruckten  Vorlage  entstammt.  Es  ist  der  in  der  Februar- 
nummer  1894  der  Zeitschrift  Füzokugwahö  erschienene  Bericht 
-über  die  bei  der  Bestattung  des  in  eben  diesem  Jahre  verstorbenen 
9A.  Abtes  des  östlichen  Hongwanji  vollzogenen  Obsequien. 

Zuletzt  ist  hier  noch  ein  neues  Hilfsmittel  zu  erwähnen, 
das  sich  für  die  Benützung  des  chinesischen  Tripitaka  sehr  dien- 
sam  erweist.  Zu  dessen  Erschließung  hat  bekanntlich  bis  heute 
das  Beste  ein  japanischer  Gelehrter,  der  Hongwanji- Priester 
Bunyiu  Nanjio,  getan.  1883  veröffentlichte  er,  damals  bei 
i  Max  Müller  in  Oxford  Sanskritstudien  betreibend,  seinen  hochver- 
dienstlichen Katalog,  nachdem  bereits  1876  Samuel  Beal  die  gleiche 
Arbeit  verrichtet  hatte,  so  gut  er  es  vermochte.  Kaum  bekannt 
scheint  dagegen  bei  uns  zu  sein,  daß  uns  seit  vier  Jahren  eine 

^  Death  and  Disposdl  of  the  Dead  (Japanese),  Hastings'  Encycl.  of 
Rel.  and  Ethics  IV  485  —  497.  —  Vgl.  Ders.  Das  Begräbnisritual  der 
japanischen  Mantra- Sekte,  Zeitschr.  f.  Mission sk.  u.  Religionswiss.  Jahrg. 
1910  S.  13  — 15;  und  Ders.  Shinran  and  his  Work  S.  134  ff. 

Archiv  f.  Keligionswissenschaft  XYII  19 


290  Hans  Haas 

sehr  schätzenswerte  Ergänzung  zu  Nanjios  wissenschaftlichem 
Verzeichnis  beschert  ist.  Ein  Mangel  seines  Katalogs,  den 
viele  Benutzer  immer  wieder  werden  empfunden  haben,  ist  das 
Fehlen  eines  alphabetischen  Index  der  chinesischen  Titel.  Eben 
diesen  hat  nun  E.  Denison  Roß  hergestellt  und  als  eine  Ver- 
öffentlichung des  Archaeölogical  Department  of  India  drucken 
lassen.*  Seine  Nützlichkeit  noch  zu  erhöhen,  hat  der  Kompilator 
durchweg  auch  auf  die  1903 — 1905  in  Kyoto  mit  beweglichen 
Lettern  gedruckte  Neuausgabe  des  Kanons  verweisen  zu  sollen  ge- 
meint. Schade  ist  es,  daß  ihm  in  Calcutta  statt  ihrer  oder  neben 
ihr  nicht  die  1881 — 1885  in  Tokyo  hergestellte  Ausgabe,  nach  der 
wenigstens  die  japanischen  Gelehrten  jetzt  in  wissenschaftlichen 
Publikationen  zu  zitieren  pflegen,  zur  Verfügung  gestanden.  Statt 
der  von  Nanjio  beliebten,  nicht  eben  einfachen  Transkription  zu 
folgen,  hat  er  —  auch  das  wird  vielen  lieb  sein  —  alle  chinesischen 
Titel  nach  dem  bekannten  Wadeschen  System  transkribiert. 

Konfuzianismus.  In  einem  vor  drei  Jahren  für  die  Special 
Japan  numher  of  the  Times  (London)  geschriebenen  Artikel 
Religion  in  Japan  brachte  A.  Lloyd  einleitend  in  Erinnerung, 
daß  kurz  nach  dem  Kriege  zwischen  Japan  und  China  von  ernsten 
Gelehrten,  die  mittlerweile  freilich  längst  eines  Besseren  sich 
hätten  belehren  lassen,  allen  Ernstes  der  VorscWag  gemacht 
worden  sei,  die  Äsiatic  Society  of  Japan  in  Tokyo  aufzulösen 
on  the  ground  that  Japan  was  an  exhausted  mine,  from  tvJiich 
it  would  he  impossihle  in  the  future  to  extract  any  more  of  the 
precious  ore  of  useful  information.  Zu  dieser  Zeit  sei,  um  nur 
von  solchem  zu  reden,  was  das  japanische  Religionswesen  an- 
gehe, einiges  getan  gewesen,  die  Shintöreligion  aufzuhellen  — 
die  monumentalen  Arbeiten  von  Satow,  Aston,  Chamberlain] 
lagen  ja  damals  bereits  vor  —  und  besondere  Perioden  der  ja 


*  Alphabetical  List  of  the  Titles  of  Works  in  the  Chinese  Buddhist 
TripitaJca,  being  an  hidex  to  Bunyiu  Nayjio's  Catalogue  and  to  the  1905 
Kioto  Reprint  of  the  Buddhist  Canon ,  Calcutta,  Superintendent  Govern 


ment  Printing,  India  1910. 


ßeligion  der  Japaner  1909—1913  291 

panischen  Religionsgeschichte  seien  in  ziemlicher  Ausführlich- 
Keit  und  in  kritischer  Weise  behandelt  gewesen.  Aber  das 
geradezu  unermeßliche  Gebiet  des  japanischen  Buddhismus  sei 
nur  eben  ganz  oberflächlich  erst  augerührt  und  die  gleicher- 
maßen wichtigen  Schriften  der  japanischen  Konfuzianer  seien  nur 
in  sehr  bruchstückhafter  Weise,  in  ein  paar  auf  einzelne  Autoren 
und  eine  bestimmte  Periode  sich  beschränkenden  Monographien, 
bekannt  gemacht  gewesen.  Von  dem,  was  man  fancy  religions 
von  Japan  nennen  könne,  sei  damals  in  der  westländischen  Li- 
teratur erst  recht  überhaupt  noch  nicht  die  Rede  gewesen.  — 
Was  den  japanischen  Konfuzianismus  anlangt,  hat  sich  an 
dieser  Sachlage  auch  in  der  Folge  nicht  eben  viel  geändert,  und 
so  wenig  diesbezüglich  das  die  Jahre  1905 — 1908  umfassende 
Sammelreferat  zu  vermelden  hatte,  so  wenig  hat  das  gegenwärtige 
von  Arbeiten  zu  berichten,  die  auf  diesem  Gebiete  unser  Wissen 
vertieft  und  erweitert  haben.  Die  knappe  Skizze  'Die  japanische 
Philosophie',  die  der  Philosophieprofessor  der  Kaiserlichen  Uni- 
versität Tokyo,  Inouye  Tetsujiro,  für  die  Hinnebergsche  Enzy- 
klopädie geliefert  hat,  ist  in  der  nach  fünf  Jahren  nötig  ge- 
wordenen zweiten  Auflage  des  betrefi'enden  Bandes  ^  unverändert 
wiederabgedruckt  worden.  Ihre  Durchsicht  für  den  Neudruck 
war  vom  Herrn  Herausgeber  mir  anvertraut.  So  konnte  ich  selbst 
die  bessernde  Hand  an  die  Literaturzusammenstelluug  legen,  die 
für  die  erste  Auflage  in  wenig  befriedigender  Weise  ein  in  Berlin 
studierender  Landsmann  des  Verfassers  gegeben  hatte.  So  aber  ist 
nun  auch  in  diesem  Sammelbande  bereits  W.  Denings  Resume 
von  Inouyes  drei  großenjapanischverfaßten  Werken  über  die  kon- 
fuzianische Philosophie  in  Japan  ^  verzeichnet.  Nach  neun  einleiten- 
den Seiten,  auf  denen  Dening  nähere  Mitteilungen  über  die  vor 
drei  Jahrzehnten  begründete  Japanische  philosophische  Gesell- 

^  Allgemeine  Geschichte  der  Philosophie  (Die  Kultur  der  Gegenwart, 
|Teil  I  Abt.  Y)  2.  Aufl.  Leipzig  und  Berlin,  B.  G.  Teubner. 

^  Confucian  philosophy  in  Japan.  Beviews  of  Br.  Inoue  Tetsujiro's 
\three  volumes  on  this  philosophy,  Tramact.  of  the  Asiat.  Soc.  of  Japan  vol. 
[XXXVI  S.  101-152. 

19* 


292  Hans  Haas 

Schaft  (Nihon  Tetsugakkwai)  macht,  in  der  die  Anhänger  von  vier 
verschiedenen  Schulen,  der  buddhistischen,  konfuzianischen,  christ- 
lichen und  evolutionistischen  oder  agnostischen,  in  uns  seltsam 
anmutender  Toleranz  vreniger  darauf  ausgehen,  philosophische 
Probleme  zu  lösen,  als  vielmehr  nur  Informationsmaterial  über 
philosophische  Fragen  zu  sammeln,  bespricht  er  in  einem  ersten 
Kapitel  zunächst  Inouyes  Mhon  Yomei  gakuha  no  tetsugaku,  d.  i. 
sein  Werk  über  die  idealistische  Philosophie  der  chinesischen  Wang 
Yang- ming- Schule,  die,  in  Japan  erfolgreich  zuerst  von  Nakae 
Töju,  dem  „Weisen  von  Omi",  einem  Zeitgenossen  Spinozas^,  ver- 
treten, hier  der  bis  dahin  alleinherrschenden  Philosophie  der  Chu 
Hi- Schule  sich  entgegenzusetzen  strebte.  16  Seiten  widmet  das 
folgende  Kapitel  dem  zweiten  Werke  Inouyes,  Nihon  Kogakuha 
no  tetsugaku,  in  dem  die  japanischen  Protestanten  des  Kon- 
fuzianismus  behandelt  werden,  die,  ebenfalls  der  herrschenden 
Chu  Hi- Philosophie  sich  widersetzend,  den  Ruf  erhoben:  Zu- 
rück zu  den  Quellen,  d.  i.  zu  Konfuzius  und  Mengtsze!  Die  Ge- 
schichte dieser  Schule  ist  wesentlich  die  Geschichte  dreier  großer 
Führer:  Yamaga  Sokö  (1622—1685),  Itö  Jinsai  (1627—1705) 
und  Butsu  Sorai  (1666  — 1728).  Das  letzte  Kapitel  des  Referats 
resümiert  kurz  den  Inhalt  des  1905  erschienenen  Schlußbandes 
von  Inouye,  betitelt  Chutsze  gakuha  no  tetsugaku,  der  den  auf 
Chu  Hi  zurückgehenden  Konfuzianismus  behandelt,  die  sogenannte 
Shushi- Philosophie^,  die  während  der  Herrschaft  der  Tokugawa- 
Dynastie  in  Japan  als  die  einzig  orthodoxe  in  Geltung  war.  To 
ihe  question  which  has  so  offen  heen  asked  during  the  past  few 
yearSj  whence  comes  tJie  Japanese  fine  ethical  Standard,  Dr.  Inoue 
replies,  it  undoubtedly  originated  with  the  teaching  of  Chutsz  as 
explained,  modified  and  carried  into  praetice  in  this  country.  The 
moral  philosophy  of  the  Chutsz  school  in  Japan  compared  with 

*  Das  von  Dening  S.  118  für  Nakae  Töjus  Tod  gegebene  Jahr  167b 
ist  in  1648  zu  korrigieren. 

'  Ausführlich  hat  über  den  Inhalt  dieses  Bandes  schon  früher  referiert 
A.  Lloyd  Historical  development  of  the  Shushi- philosophy  in  Japan  in  den 
Transact.  of  the  Asiat.  Soc.  of  Japan  vol.  XXX IV  part  IV  1—80. 


Religion  der  Japaner  1909—1913  293 

that  of  tJie  otJier  tivo  schools  was  moderate  in  tone,  free  from 
eccentricities ,  and  practical  to  a  rare  degree.  In  the  enormous 
importance  it  attached  to  self-cuUtire  and  ivhat  is  hnown  in  modern 
terminölogy  as  self-realization  (jiga-jitsugen),  the  teaching  of  the 
Ghutsz  school  of  moralists  in  this  country  differed  in  no  material 
respeds  from  the  doctrines  of  the  new  Kantists  in  England, 
Muirhead,  Green  and  others  (p.  135).  Indem  Dening  diese 
Würdigung  des  Shushi-Konfuzianismus  wiedergibt,  scheint  ihm 
nicht  gegenwärtig  zu  sein,  daß  er  selbst  im  ersten  Abschnitt 
seines  Referats  (S.  117)  geschrieben,  Inouyes  Darstellung  der 
Wang  Yangming- Philosophie  sei  certainly  the  best  answer  that 
we  have  met  with  to  the  question,  whence  comes  that  high  moral 
Standard  of  everyday  life  with  which  those  foreigners  who  are 
able  to  speah  the  language  and  who  have  heen  accustomed  to  asso- 
ciate  with  Japanese  gentlemen  are  so  familiär.  Das  Richtigere 
wird  es  natürlich  sein,  die  gesellschaftliche  Moralität  mit  Inouye 
von  derjenigen  konfuzianischen  Schule  herzuleiten,  die  als  die 
einzig  staatlich  anerkannte  während  der  letzten  drei  Jahrhunderte 
allein  recht  in  der  Lage  war,  den  japanischen  Charakter  zu  formen. 

J.  B.  Duthu,  der  in  der  letzten  Nummer,  die  von  der  nach 
siebenjährigem  Bestehen  leider  wieder  eingegangenen  Zeitschrift 
Melanges  Japonais  erschienen  ist,  den  japanischen  Konfuzianismus 
behandelt*,  bietet  in  diesem  Aufsatze  nichts  Neues.  Hingegen 
1  sind  dankenswert  desselben  Verfassers  am  gleichen  Orte  gegebene 
Lebensbilder  zweier  bedeutsamer  japanischer  Konfuzianer.^ 

Den  Typus  eines  echten,  rechten  in  die  Gegenwart  herein- 
ragenden Vollblutkonfuzianers  lernt  man  kennen,  indem  man 
jsich  in  die  Auszüge  vertieft,  die  N.  Asaji  und  Rev.  J.  C.  Pringle 
ganz  vor  kurzem  erst  aus  einer  japanisch  im  Jahre  1900  er- 
schienenen Sammlung  des  Barons  Motoda  Toya  in  englischer 

^  Le  confucianisme  Japonais,  notes  et  essais,  Melanges  Japonais  YII 
S.  451—480. 

2  Hayashi  Razan,  un  Confucianiste  du  XVII«  siede,  Melanges  Japonais 
VI  S.  324  —  343  und  487  —  510.  —  Ders.  Kumazawa  Banzan,  1619  —  1691, 
, ib. VII  S.  1—18  und  145—164. 


294  Hans  Haas 

Übersetzung  dargeboten.^  Die  Vorlesungen  sind  an  den  ver- 
storbenen Kaiser  Mutsuhito  (Meiji-tennö)  gerichtet,  der  alsbald 
nach  Antritt  seiner  Regierung  den  damals  bereits  in  den  Fünfzig 
stehenden  Kumamoto- Samurai  sozusagen  als  konfuzianischen 
Hofprediger  in  den  Kaiserlichen  Haushalt  berief.  Als  solcher 
genoß  er  bis  zu  seinem  1891  erfolgten  Tode  in  ungewöhnlichem 
Maße  das  Vertrauen  des  Herrschers,  unter  dessen  Regierung 
Japans  Volk  sich  entschlossen  von  den  alten  Wegen  ab-,  der 
westlichen  Kultur  zuwandte.  Wie  auf  den  jugendlichen  Regenten, 
dem  die  Mission  zufiel,  seine  Untertanen  in  die  neue  Ordnung 
der  Dinge  hinüberzuführen,  doch  auch  die  historische  Vergangen- 
heit mit  Macht  ihre  Rechte  geltend  machte,  bringt  einem  viel- 
leicht nichts  besser  zum  Bewußtsein  als  die  Vorträge,  die  er  sich 
von  seinem  konfuzianischen  Mentor  halten  ließ  oder  mußte  halten 
lassen.  Nur  ein  paar  Proben:  I,  miserable  wretch,  apostrophiert 
der  Prediger  in  der  ersten  Vorlesung  seinen  Kaiserlichen  Zögling, 
am  tut  a  tyro  in  Japanese  and  Chinese  learning,  a  complete 
ignoramus  in  western,  and  iotally  unqualified  to  discuss  these 
questions  in  your  Majesty's  presence.  Nevertheless  I  helieve  the 
government  of  the  empire  is  an  impossibüity  without  a  creed  in 
which  shall  he  found  hlended  the  principles  of  our  early  emperors 
and  the  teaching  of  Confucius  (S.  88  f.).  —  The  national  hody 
of  doctrine  which  we  call  Shintö  is  chiefly  concerned  with  paying 
the  honour  due  to  the  Emperor,  the  worship  diie  to  the  gods,  and 
maintaining  our  original  institutions  and  their  ceremonies:  btit 
when  its  reproduction  of  the  sublime  way  of  life  of  our  ancient 
emperors  is  really  adequate,  then  it  is  found  to  differ  in  no  way 
from  that  religious  life  of  ours  which  depends  upon  Confucianism 
(S.  67).  —  No  doubt  you  can  find  plenty  of  detail  in  the  western 
sciences  of  ethics,  law,  politics,  and  economics,  but  Confucius  is 
the  one  veritable  teacher  ofthe  world,  ancient  or  modern  (S.  68).  — 

*  Lectures  delivered  in  the  presence  of  His  Imperial  Majesty  the  Emperor 
of  Japan.  By  the  late  Baron  Motoda.  Extracts  from  a  translation  bj 
N.  Asaji  and  J.  C.  Pringle,  Transact.  of  the  Asiat.  Soc.  of  Japan  vol.  Xt 
S.  46  — 113. 


I 


Religion  der  Japaner  1909—1913  295 

A  System  of  education  suitable  to  Japan  can  he  found  in  Con- 
fucius,  nowhere  eise  {ß.  90).  —   The  main  ohject  of  educatimi 
everywhere  is  to  train  tJie  future  menibers  of  the  Community.    In 
Japan  a  System  of  education  which  was  not  mainly  directed  towards 
the  development  of  the  Japanese  spirit  would  he  worse  than  useless. 
The  Crown  Frince  TJmaya  Do  (d.  i.  Shotoku  Taishi,  572  —  621 
n.  Chr.)  was  a  very  intelligent  man,  hut  he  was  a  heliever  in 
Buddhism  .  .  .  For  my  pari  I  fail  to  see  how  students  ofto-day, 
educated  on  European  or  American  lines,  can  hecome  anything 
hut  Imitators  of  TJmaya  Do  (S.  lOOf.).  —  Buddhists,  Christians, 
and  Professors  of  ivestern  science  —  sie  alle  sind  mere  Wanderers 
on  trifling  side-tracJcs  leading  away  from  the  great  highway  of 
irue  Confucianism  (S.  Q>^y   Von  uns  Westländern  im  besonderen 
liest  man:   Their  hearts  are  corrupt,  their  manners  and  customs 
degraded.    Their  lives  are  spent  in  the  pursuit  of  gain  and  the 
Mruggle  for  power:  —  one  round  of  iniquity.    The  greater  the 
development  of  their  arts  and  sciences  the  more  complete  is  the 
depravity  of  their  people,  and  the  whole  evil  is  due  to  their  mis- 
directed  studies  (S.  68).    The  condition  of  these  countries  is  a 
warning  to  us  of  the  vital  importance  of  ordering  our  studies 
uright.    First  and  foremost,  the  Emperor^s  studies,  on  which  the 
well  heing  of  the  whole  empire  depends,  must  he  exclusively  the 
worhs  of  Confucius  (S.  69).    So  ist,  was  man  liest,  durchweg  im 
Grunde  nichts  weiter  als  eine  eintönige  Verherrlichung  des  Con- 
fucius.   Dazu  in  steter  Wiederholung  das  intolerante  Extra  ec- 
desiam  nulla  salus.    Den  ersten  elf  Vorlesungen  der  japanischen 
1  Sammlung,   von    denen   die   Übersetzer  uns   die   erste   und   die 
!  sechste  mitteilen,  liegen  Lunyü -Aussprüche  zugrunde;  die  zwölfte 
I  und  dreizehnte  haben  Stellen  aus  dem  Shuking  zum  Text;  die 
j  vierzehnte,  hier   mitübersetzte,  und   die  fünfzehnte  lassen  sich 
I  gar  über  Stücke  aus  dem  Yihking  aus.    In  der  Ära  Meiji,  d,  i. 
I  der  erleuchteten  Regierung,   sucht  im  Palast  von  Tokyo   der 
\  Herrscher  Erbauung  und  Erleuchtung,  der  Auslegung  der  uralt- 
!  chinesischen  Hexagramme  lauschend! 


4  Neues  Testament 

Von  Johannes  "Weiß  in  Heidelberg 

Am  4.  August  1910  starb  der  bisherige  Berichterstatter  über 
das  Neue  Testament,  H.  J.  Holtzmann;  seinen  letzten  Beitrag 
bat  das  Archiv  im  XV.  Jahrg.  (1912)  S.  513—29  veröffentlicht; 
er  schließt  mit  einer  kurzen  Besprechung  meiner  Schrift  „Jesus 
von  Nazareth  —  Mythus  oder  Geschichte?  Eine  Auseinander- 
setzung mit  Kalthoff,  Drews,  Jensen"  und  bricht  unvollendet  ab. 
Die  seitdem  erschienene  wichtigere  Literatur  über  die  Frage  der 
Geschichtlichkeit  Jesu  sei  hier  kurz  registriert^,  nachdem  Holtz- 

*  Drews  Die  Christusmythe  \  2.  Teil:  Die  Zeugnisse  für  die  Geschicht- 
liclikeit  Jesu.  Jena  1911.  —  W.B.Smith  Ecce  Deus,  Die  urchristliche 
Lehre  des  reingöttlichen  Jesus.  Jena  1911.  —  Zimmern  Zum  Streit 
um  die  „Christusmythe''.  Das  babylonische  Material  in  seinen  Haupt- 
punkten dargestellt.  Berlin  1910.  —  J.  M.  Robertson  Die  Evangelien- 
mythen. Jena  1910.  —  Steudel  Zum  Kampf  um  die  Christusmythe.  Jena 
1910.  —  Lublinski  Der  urchristliche  Erdkreis  und  sein  Mythos;  I.Band: 
Die  Entstehung  des  Christentums  aus  der  antiken  Kultur;  II.  Band:  Das 
werdende  Dogma  vom  Leben  Jesu.  Jena  1910.  —  Jensen  Hat  der  Jesus 
der  Evangelien  wirklich  gelebt?  Frankfurt  1910.  —  Gegenschriften:  Be- 
richt von  H.  Windisch.  Theol.  Bundschau  1910—1913.  —  Carl  Clemen  Der 
geschichtliche  Jesus.  Gießen  1911.  —  D.  Chwolson  Über  die  Frage ,  oh  Jesus 
gelebt  hat.  Leipzig  1910.  —  K.  A.  Dietze  Kritische  Bemerkungen  zur  neuesten 
Auflage  von  A.  Drews'  Ghristusmythe.  Bremen  1910.  —  J.  Frey  Die  Glaub- 
würdigkeit der  Überlieferung  über  Jesus.  Reval  1911.  —  Gottlieb  Klein 
(Rabbiner  in  Stockholm)  Ist  Jesus  eine  historische  Persönlichkeit?  Tübingen 
1910.  —  A.  Jeremias  Hat  Jesus  Christus  gelebt?  Leipzig  1911.  —  Dunk- 
mann Der  Kampf  um  die  Christusmythe.  Berlin  o.  J.  —  F.  Meffert  Die 
geschichtliche  Existenz  Christi.  M.- Gladbach  1910.  —  Erich  Klostermann 
Die  neuesten  Angriffe  auf  die  Geschichtlichkeit  Jesu.  Tübingen  1912.  — 
Dr.  H.  Türck  Hat  Christus  gelebt  und  lebt  er  noch  heute?  Schwerin  1912  und 
vieles  andere;  vgl.  das  Verzeichnis  bei  A.Schweitzer  S.  498f.  —  P.  Bat- 
tiffol  Orpheus  et  Vevangile  (Paris  1910),  Gegenschrift  gegen  Sal.  Reinach 
Orpheus.   Paris  1909.  —  Case  The  historicity  of  Jesus.    Chikago  1912, 


Neues  Testament  297 

mann  im  Archiv  XII  S.  398  f.  die  vorhergehende  besprochen 
hatte.  Ein  näheres  Eingehen  auf  sie  glaube  ich  mir  ersparen 
zu  dürfen,  nachdem  ich  meine  prinzipielle  Stellung  zu  den  Ver- 
suchen, die  Entstehung  des  Christenturas  aus  dem  Mythus  des 
sterbenden  und  auferstandenen  Gottes  zu  erklären,  im  letzten 
Heft  dieser  Zeitschrift  soeben  (Archiv  XVI  1913,  S.  423  ff.)  aus- 
gesprochen habe.  Außerdem  kann  ich  auf  den  vorzüglichen  Be- 
richt^ in  der  2.  Aufl.  der  Schrift  von  Albert  Schweitzer'  ver- 
weisen, die  durch  drei  inhaltsreiche  Kapitel  über  „die  neueste 
Bestreitung  der  Geschichtlichkeit  Jesu",  „die  Diskussion  über 
die  Geschichtlichkeit  Jesu"  und  die  neueste  Literatur  über  das 
Leben  Jesu  von  1907 — 12  in  sehr  zweckdienlicher  Weise  erwei- 
tert ist.  Eine  Hauptrolle  spielt  hier  bekanntlich  die  Umdeutung 
der  Evangelienberichte  in  mythischer,  astrologischer  oder  sym- 
bolischer Weise.  Hier  ist  zunächst  zu  nennen  J.  M.  Robertsons 
Christianity  and  Mythology  (London  1910),  dessen  dritter  Teil 
deutsch  unter  dem  Titel  „Die  Evangelienmythen"  (Jena  1910, 
240  S.)  erschienen  ist.  Der  Bericht  der  Evangelien  ist  aufzu- 
fassen als  Niederschlag  von  szenischen  Darstellungen  gewisser 
Mythen  im  Kultus;  „neben  den  ^Mysterienspielen'  der  Geburt  und 
Passion  kommen  noch  die  der  Verklärung  und  des  Leidens  in 
Gethsemane  und  die  Rituale  der  Bestattung  und  der  Auferstehung, 
die  dem  Attis-  und  dem  Dionysoskultus  entlehnt  waren,  in  Be- 

^  Vgl.  auch  den  Bericht  von  Windisch  Theol. Bundschau  1910 — 1913. 
'  Die  1.  Aufl.  unter  dem  Titel  Von  Reimarus  zu  Wrede  1906;  die  2. 
unter  dem  Titel  Geschichte  der  Lehen-  Jesu- Forschung  1913    Ich  benutze 

j  die  Gelegenheit,  weitere  Kreise  nachdrücklichst  auf  das  schriftstellerisch 
wie  sachlich  höchst  bedeutende  Werk  hinzuweisen.  Obwohl  das  einseitige 
Ergebnis  des  Verfassers  m.  E.  abzulehnen  ist,  wird  auch  der  anders  Ur- 
teilende diese  plastische  und  geistvolle  Darstellung  mit  größter  Anteilnahme 
und  mit  Belehrung  lesen.  Wir  haben  nicht  viele  so  gutgeschriebene  und 
von  so  tiefer  geistiger  Durchbildung  zeugende  Bücher  in  unserer  Literatur. 
Der  Verfasser  ist  bekanntlich,  nachdem  er  sich  den  medizinischen  Doktor- 

i  hut  erworben ,  in  die  Missionsarbeit  am  Kongo  übergegangen  und  wird  auch 
dort  seine  hohe  Begabung  sicherlich  nicht  nur  im  Interesse  der  Mis- 
sion, sondern  auch  der  Wissenschaft  verwerten. 


I 


298  Johannes  Weiß 

tracht";  die  Vertreibung  der  Wechsler  aus  dem  Tempel  geht  zu- 
rück auf  die  in  der  assyrischen  und  babylonischen  Religion  vor- 
kommende Darstellung  eines  Ruten  tragenden   Gottes,   Simon 
von  Kyrene  auf  die  Darstellung  des  Herakles,  wie  er  die  beiden 
Säulen  unter  den  Armen  trägt,  daß  sie  gerade  ein  Kreuz  bilden. 
Nach  Fuhrmann  „Der  Astralmythus  van  Christus"  (1912)  sind 
alle  Geschehnisse  des  Lebens  Jesu  auf  Vorgänge  am  Himmels- 
gewölbe zurückzuführen.    Die  symbolische  Auffassung  wird  von 
B.W.  Smith  in   seinem   zweiten  Werke  JEcce  Dens,  das  „den 
Manen  des  Origenes"  gewidmet  ist  (Jena  1911),  vertreten,  einst- 
weilen nur  in  „flüchtiger  Skizze":  Die  Dämonenaustreibungen  Jesu 
sind    zu   verstehen  von  der  Bannung  des  Götzendienstes  durch 
die  Predigt  von  Jesus;   der  reiche  Jüngling  ist   das  Judentum, 
dem  Jesus   zumutet,   auf  seine  geistigen  Privilegien   und  seine 
Prärogative  zu  verzichten;  die  zehn  Aussätzigen  die  zerstreuten 
zehn  Stämme  (anders  s.  Arch. XVI S.  487. 500).  Markus  erzählt  also 
nicht  die  Geschichte  eines  Menschen,  sondern  schildert  das  Wesen 
eines  Gottes;  seine  Darstellung  wurde  dann  fortgesetzt  immer  mehr 
vermenschlicht  bei  Matthäus,  Lukas,  Johannes.    Über  A.  Drews' 
2.  Band  (Die  Christusmythe.    Zweiter  Teil,  Jena  1911),  in  dem 
er  sich  mit  mir,  Weinel  und  anderen  Gegnern  auseinandersetzt, 
enthalte  ich  mich  jedes  Wortes.    Der  Ton  dieser  Schrift  über- 
hebt mich  der  Notwendigkeit,  mich  mit  ihr  zu  beschäftigen. 
Aus  dem  Bericht  Schweitzers  ist  zu  ersehen,  daß  er  seine  For- 
schung durch  das  astrologische  Motiv  bereichert  hat,  und  daß 
er  nunmehr  auch  mit  der  Ungeschichtlichkeit  der  paulinischen 
Briefe  rechnet.  Außerordentlich  ernst  und  lehrreich  ist  Schweitzers 
Versuch,   das  Problem   aus   der   Sphäre   des  Tagesstreites  und 
aus   der  Vereinzelung   der  Fragen   auf  ein  höheres  Niveau  zu 
heben.  In  seiner  Komplexität  besteht  das  Problem  aus  vier  Haupt 
fragen :   einer  religionsphilosophischen   (die  Bedeutung   der  in 
den  Evangelien  geschilderten  Persönlichkeit  Jesu  für  die  christ- 
liche Religion),   einer  religionsgeschichtlichen  (ob   aus   der  im 
Synkretismus  etwa  vorhandenen  Idee  eines  sterbenden  und  auf- 


I 


Neues  Testament  299 

erstehenden  Erlösergottes  die  Annahme  eines  historischen  Jeßus 
zu  erklären  ist),  einer  dogmengeschichtlichen  (ob  jene  religione- 
geschichtliche  Hypothese  mit  den  feststehenden  Tatsachen  der 
Weiterentwicklung  des  Christentums  in  Einklang  gebracht  werden 
kann),  einer  literarhistorischen  (ob  die  Evangelien  Überlieferungen 
von  einer  historischen  Persönlichkeit  oder  zu  Geschichte  erstarrte 
Mythen  oder  symbolische  Erzählungen  sind).  Unter  diesen  er- 
scheint ihm  die  religionsphilosophische  Frage  als  die  bei  weitem 
wichtigste.  Und  auch  Drews  ist  nur  als  Religionsphilosoph  ernst  zu 
nehmen,  wenn  er  über  das  „ewige  Problem  der  unlöslichen  Wechsel- 
beziehungen zwischen  unmittelbarem  religiösen  Denken  und  ge- 
schichtlicher Religion  spekulierte^  „Wahr  ist,  und  dies  Verdienst 
muß  ihm  jeder  Unbefangene  zuerkennen,  daß  Drews  mehr  als 
die  anderen  auf  die  religionsphilosophische  Bedeutung  der  even- 
tuellen Ungeschichtlichkeit  Jesu  hingewiesen  hat.  Dieser  Vor- 
zug wird  aber  in  der  Christusmythe  dadurch  wieder  in  Frage 
gestellt,  daß  er  die  prinzipielle  Frage  unlöslich  mit  seiner  ge- 
schichtlichen Hypothese  verknüpft/^  >>Der  Historiker  führt  das 
Wort  und  der  Philosoph  macht  die  entsprechenden  Gesten,  Die 
Stimme  ist  Jakobs  Stimme,  aber  die  Hände  sind  Esaus  Hände." 
Demgegenüber  fehlt  es  der  Theologie  seit  liitschl  an  wirklichem 
Zusammenhang  mit  der  Philosophie  und  Religionsphilosophie. 
Die  Gegner  Drews'  „gingen  vor  allem  auf  die  historische  Refu- 
tation aus  . . .  die  religionsphilosophische  Frage  aufzurollen  unter- 
ließen sie,  nicht  nur  weil  sie  außerhalb  ihres  Gesichtskreises  lag, 
sondern  auch  weil  sie  nur  das  Unhaltbare  ihrer  Situation  ans  Licht 
bringen  konnte.  Wie  sollten  sie  sich  zu  dem  hypothetisch  ange- 
nommenen Fall  eines  Verzichts  auf  die  Geschichtlichkeit  Jesu 
äußern,  wo  die  moderne  Dogmatik  ein  Menschenalter  hindurch  die 
Fiktion  durchzuführen  versucht  hatte,  daß  alle  Anschauungen  des 
modernen  Christentums  auf  ihn  zurückgingen  und  durch  ihn 
gewährleistet  wurden!  So  verlegte  man  sich  einseitig  auf  das 
historische  Widerlegen."  Dies  alles  ist  zuzugeben;  ich  bin  durchaus 
mit  dem  Verfasser  der  Meinung  und  habe  dies  auch  ausgesprochen 


3Q0  Jobannes  Weiß 

(„Jesus  von  Nazareth"  S.  4ff.),  daß  nicht  erst  Drews,  sondern  die 
gesamte  wahrhaft  kritische  Erforschung  des  Lebens  Jesu,  durch 
welches  dieses  in  die  historische  Relativität  hineingestellt  und 
in  großen  und  kleinenDingen  unsicher  gemacht  wird,  der  Religions- 
philosophie oder  der  Dogmatik  die  Aufgabe  stellt,  das  „Wesen 
des  Christentums"  in  einer  von  der  Historie  unabhängigen  Weise 
so  zu  bestimmen,  daß  es  leben  kann  trotz  aller  Kritik.  Aber 
es  war  nicht  meines  Amtes,  diese  Fragen  zu  bearbeiten;  für 
mich  und  meine  Kampfesgenossen  steht  doch  zunächst  nur  das 
historische  Problem  in  Frage,  inwiefern  die  Geschichtlichkeit 
Jesu  und  seine  in  den  Evangelien  hervortretende  Eigenart  die 
notwendige  Voraussetzung  für  die  Entstehung  und  Entwicklung 
des  Urchristentums  bildet.  Dieser  Frage  bin  ich  in  dem  obigen 
Artikel  ( Arch.XVI  S.  423  ff.)  nachgegangen.  Die  prinzipielle  Frage 
ist  behandelt  von  Troeltsch^  und  Bousset^;  über  ihre  ihn 
keineswegs  befriedigenden  Ergebnisse  lese  man  die  höchst  ein- 
drucksvollen Seiten  522  —  26  bei  Schweitzer.  Sehr  energisch 
äußert  er  sich  auch  über  die  religionsgeschichtliche  Methode  in 
ihrer  Anwendung  auf  diese  Fragen,  insbesondere  über  die  Populari- 
sierung der  Ergebnisse;  „man  ist  erstaunt,  wieviel  Verallgemei- 
nerungen, Kombinationen  und  Hypothesen  denjenigen,  die  aus 
zweiter  Hand  kaufen,  hinzugewogen  werden.  An  den  großartigen 
Fortschritten  der  Religionsgeschichte  sind  die  neuen  Funde  mit 
dreißig  Prozent  beteiligt,  der  Rest  kommt  zum  größten  Teile 
auf  das  Konto  phantasiereicher  Darstellung  und  eflPektvoller  Auf- 
machung." So  bekämpft  er  den  Sprachgebrauch  „Gnosis  lange 
vor  dem  Christentum";  den  Namen  Gnosis  will  er  lediglich  der  reli- 
giös-spekulativen Natur-  und  Geschichtsphilosophie  vorbehalten 

^  E.  Troeltsch  Die  Bedeutung  der  Geschichtlichkeit  Jesu  für  denGlauben. 
Tübingen  1911. 

^  W.  Bonsset  Die  Bedeutung  der  Person  Jesu  für  den  Glauben. 
Historische  und  rationale  Grundlagen  des  Glaubens.  Scböneberg  1910. 
Vgl,  auch  Peisker  Die  Geschichtlichkeit  J.  Chr.  und  der  christl.  Glaube. 
Tübingen  1913,  und  K.  NoU  Der  Kampf  um  die  Geschichtlichkeit  Jesu. 
Gütersloh  1913. 


I 


Neues  Testament  301 

wissen,  die  das  Schicksal  des  Einzelnen  im  Zusammenhang  mit 
dem  großen  Weltendrama  erfaßt.  Davon  zu  unterscheiden  ist  der 
Synkretismus,  d.h.  Zusammenschau  und  Ausgleich  von  Religionen 
und  Kulten  mit  mehr  oder  weniger  griechisch -religiöser  Färbung; 
er  ist  primitiv  und  weniger  spekulativ.  In  diesem  Zusammen- 
hang macht  er  ausgezeichnete  Bemerkungen  über  den  christlichen 
Gnostizismus,  der  erst  aus  seinem  Gegensatze  zur  eschatologisch- 
urchristlichen  Weltanschauung  verständlich  sei:  „Auch  bei  der 
letzteren  wird  die  Erlösung  des  Einzelnen  aus  einer  Welterlösung, 
die  auf  ein  historisches  Faktum  mit  kosmologischer  Bedeutung 
zurückgeht,  begreiflich  gemacht.  Der  Gnostizismus  tut  nichts 
anderes,  als  daß  er  die  materialistischen  Voraussetzungen  dieser  Er- 
klärung durch  die  griechische  Annahme  des  Gegensatzes  von 
Materie  und  Geist  ersetzt/^  (S.  529  Anm.)  Ferner  polemisiert 
Schweitzer  gegen  die  Annahm«,  als  ob  die  synkretistischen  Ele- 
mente aus  dem  Parsismus,  der  assyrisch-babylonischen  Religion 
und  die  Kulte  der  Vegetationsgottheiten  sich  gegenseitig  zu  einer 
Art  Universalreligion  durchdrungen  hätten.  „Dem  ist  aber  nicht 
so."  „Der  Synkretismus  war  gar  nicht  so  allumfassend.  Wo  er- 
scheinen denn  die  assyrisch -babylonischen  Vorstellungen  mit  der 
auf  Vegetationskulten  gegründeten  Mysterienreligion  gemischt? 
Wo  haben  sich  die  letzteren  von  den  spekulativen  Gedanken  des 
Parsismus  durchdringen  lassen?*^  „Man  mute  uns  also  nicht 
zu,  das  Vorhandensein  einer  allgemeinen  synkretistisch-gnosti- 
schen  Erlösungsreligion  anzunehmen,  wo  wir  über  Umfang  und 
Durcheinander  der  Vorstellungen  so  wenig  wissen."  „Wer  die 
Dinge  nüchtern  ansieht,  kann  nicht  in  die  pathetischen  Dekla- 
mationen über  die  'synkretis tische  Gnosis'  mit  einstimmen.  Von 
wirklicher  Tiefe  läßt  sich  in  den  Mysterienreligionen  nicht  viel 
entdecken.  Auch  von  lebendigen  ethischen  Werten  ist  wenig  zu 
verspüren.  Von  großzügigem  spekulativen  Denken  ist  nicht  ein- 
mal eine  Spur  vorhanden.  Das  einzig  Religiöse  ist  die  lebens- 
müde und  zugleich  auch  merkwürdig  oberflächliche  griechische 
Erlösungssehnsucht,  die,  weil  sie  den  Zusammenhang  mit  leben- 


302  Johannes  Weiß 

digem  Denken  und  Wollen  und  einer  zielbewußten  Weltanscliau- 
ung  verloren  hat  und  sich  durch  magische  Instinkte  leiten  läßt^ 
an  allen  möglichen  alten  Kulten  Halt  sucht  und  für  diese  auto- 
ritative Stütze  soundsoviel  an  Geistlosigkeit  und  nicht  selten 
auch  an  Gemeinheit  mit  in  Kauf  nimmt/^  Daß  das  Christentum 
nicht  aus  dem  Gnostizismus  entstanden  ist,  ergibt  sich  dogmen- 
geschichtlich daraus,  daß  es  mit  dem  Gnostizismus  sofort  in  Kon- 
flikt gekommen  ist,  anstatt  in  ihm  Geist  von  seinem  Geist  zu 
erkennen.  Es  handelt  sich  hier  um  einen  Gegensatz  in  den  all- 
gemeinsten Voraussetzungen  der  Weltanschauung.  Eine  ihrem 
Ursprung  nach  als  gnostisch  ausgegebene  Religion  erweist  sich 
plötzlich  als  total  ungnostisch,  sowie  sie  mit  einer  wirklichen 
gnostischen  Bewegung  in  Parallele  tritt.  Den  schwächsten  Punkt 
in  der  Lage  der  Verneiner  der  Geschichtlichkeit  Jesu  findet 
Schweitzer  in  ihrer  Stellung  zu  Paulus,  dessen  Geschichtlichkeit 
sie  meist  nicht  anzutasten  wagen  und  dessen  Briefe  sie  nur  mit 
Zaudern  preisgeben.  Schweitzer  hat  uns  mit  einem  glänzen- 
den Parallelwerke  zur  Geschichte  der  Leben- Jesu -Forschung  be- 
schenkt: „Geschichte  der  paulinischen  Forschung"  (Tübingen 
1911)^,  in  dem  hier  vor  allem  die  Polemik  gegen  die  religions- 
geschichtliche Erklärung  des  Paulus  aus  der  hellenistischen  Gnosis 
und  Mystik  interessiert.  Statt  dessen  will  er  die  Mystik  des 
Paulus  aus  der  jüdisch- apokalyptischen  Eschatologie  erklären. 
Das  verheißene  Werk  über  dies  Thema  steht  leider  noch  aus. 
Aber  die  Grundrisse  seiner  Anschauung  sind  doch  schon  erkenn- 
bar.^ Seine  Äußerungen  haben  ßeitzenstein,  gegen  dessen  Buch 


^  Ein  Gegenstück  dazu   der  Bericht  des  Holländers  Van  den  Bergh 
van  Eysinga  Die  holländische  radikale  Kritik  des  N.  T.    Jena  1912. 

^  Ich  bedauere,  bei  Schweitzer  ein  so  mattes  Argument  lesen  zu  müssen, 
daß  bei  Paulus   der  Ausdruck   „Wiedergeburt",   der  für  die  Mysterien- 
religion  charakteristisch  ist,  nicht  vorkomme.    Gewiß  kommt  er  nicht  vor^ 
aber  doch  nur,  weil  Paulus,  durch  die  konkrete  Tatsache  von  Tod  und  Au 
erstehung  Christi  veranlaßt,  die  Vorstellung  in  das  ,, Mitsterben  und  Ai 
erstehen"  umformt.  Der  Struktur  nach  ist  aber  der  Gedanke  völlig  identisc 
mit  dem  der  Wiederoreburt. 


Neues  Testament  3Q3 

„Die  hellenistische  Mysterien religion"  er  sich  hauptsächlich  ge- 
wandt hatte,  Anlaß  gegeben^  sich  in  einem  sehr  wichtigen  Ar- 
tikel (Zeitschr.  f.  neut.  Wissenschaft  XIII  1912,  S.  1  —  28)  über 
j,Religionsgeschichte  und  Eschatologie"  auszusprechen,  dabei  zu- 
gleich auch  über  allgemeine  und  prinzipielle  Fragen  der  religions- 
geschichtlichen Methode  (vgl.  in  diesem  Archiv  XVI  S.  432).  Er 
benutzt  die  Gelegenheit,  zu  erklären,  daß  es  nicht  seine  Absicht 
gewesen  sei,  ein  Gesamtbild  des  Paulus  zu  zeichnen,  sondern 
nur  eine  Seite  im  Wesen  des  Apostels  zu  beleuchten,  und  er 
habe  sie  nicht  einmal  als  die  wichtigste  hingestellt.  Damit  ist 
auch  von  seiner  Seite  jeder  Anlaß  zu  der  optischen  Täuschung 
beseitigt,  als  ob  für  ihn  Paulus  nur  Mystiker  im  Sinne  und 
unter  dem  Einfluß  hellenistischer  Mysterienreligion  sei.^  Nun- 
mehr werden  auch  diejenigen,  die  seinen  Arbeiten  bisher  skep- 
tisch gegenüberstanden,  die  Freudigkeit  haben,  den  reichen  Schatz 
von  Belehrung,  der  aus  ihnen  für  die  Paulus -Forschung  zu  ge- 
winnen ist,  zu  heben.  Ich  habe  damit  für  mich  lange  angefangen 
und  davon  in  meinem  Kommentar  zum  1.  Korintherbrief  (Göt- 
tingen 1910)  Proben  gegeben,  aber  ich  erkenne  immer  wieder, 
wie  vieles  mir  (auch  im  „Poimandres")  noch  entgangen  ist,  und 
wie  notwendig,  freilich  auch  wie  schwierig  es  ist,  die  von  Reitzen- 
stein  beigebrachten  Parallelen  für  die  Erklärung  zu  verwerten. 
Es  ist  ganz  in  meinem  Sinne,  daß  hierbei  auch  die  sprachliche 
Seite  des  Problems  besonders  stark  berücksichtigt  wird.  Gerade 
die  festen  Begriffe,  mit  denen  Paulus  operiert,  erweisen  sich  als 
übernommen;  nun  kommt  es  auf  die  Nuance  an,  mit  der  er  sie 
verwendet.  Die  hellenistischen  Einflüsse  auf  Paulus  hat  Hans 
Bö  hl  ig  etwas  näher  zu  präzisieren  versucht,  indem  er  „die 
Geisteskultur  von  Tarsus  im  augusteischen  Zeitalter"  (Göttingen 
1913)  aus  den  Zeugnissen  der  Schriftsteller  (wobei  DioChrysostomus 


;  *  Damit  entsteht  nun  die  Frage  nach  dem  Verhältnis  der  paulinischen 

j    Mystik  zum  Ganzen  seiner  übrigen  Anschauungen,  ein  sehr  schwieriges 
I    Thema,  auf  das  ich  in  nächster  Zeit  eingehen  zu  können  hoffe  (vgl.  meine 
Schrift  Die  Mystik  des  Paulus  1914). 


304  Johannes  Weiß 

eine  Hauptrolle  spielt)  veranschauliclit.  So  unvorteilhaft  solche 
lokale  Konfrontierung^  die  doch  immer  etwas  Zufälliges  hat,  sein 
mag;  so  sind  doch  seine  Zusammenstellungen  dankenswert.  In 
einem  Aufsatze  desselben  Verfassers  im  „Memnon"  (V  S.  188 
bis  205)  „Zum  Weltbilde  des  Paulus"  will  er  insbesondere  die 
Anschauung  vom  dreigeteilten  Himmel  (2.  Kor.  13,  2 — 4)  auf 
Poseidonios  zurückführen,  der  durch  Athenodorus  von  Tarsus 
auf  Paulus  gewirkt  habe.  Einen  Beweis  für  direkte  Beeinflussung 
zwar  wagt  er  hierin  nicht  zu  sehen;  immerhin  aber  bleibt  es 
eine  gute  Vermutung,  der  weiter  nachgegangen  werden  möge 
Ich  benutze  die  Gelegenheit,  um  im  Namen  der  theologischen 
Forscher  die  dringende  Bitte  an  die  Philologie  zu  richten,  uns 
baldmöglichst  eine  bequeme  Übersicht  über  alle  Poseidonios-Frag- 
mente  und  alle  Stücke  zu  geben,  in  denen  Poseidonios  sicher  oder 
wahrscheinlich  benutzt  ist.  Das  braucht  ja  nichts  Abschließendes 
zu  sein.  Aber  für  unsereinen  ist  es  wirklich  nicht  leicht,  sich  von 
dem  wirklichen  oder  hypothetisch  enPoseidonios  ein  Bild  zu  machen. 
Und  wie  wichtig  wäre  das!  Auf  alle  Fälle  ist  es  ein  verlorener 
Posten,  den  Bonhöffer  vertritt,  wenn  er  den  Einfluß  der  Stoa 
auf  Paulus  leugnet  (Epiktet  und  das  N.  T.,  RGW  Bd.  X  1911). 
Nachdem  er  die  Behauptung  der  Abhängigkeit  Epiktets  vom  N.  T. 
(Zahn;  Kuiper)  aufs  neue  widerlegt  hat,  erörtert  er  die  Frage  der 
Abhängigkeit  des  N.  T.  von  der  Stoa,  die  für  die  Evangelien 
ganz  geleugnet,  für  die  späteren  Bücher  mit  Einschränkungen 
zugestanden,  für  Paulus  auf  ein  Minimum  reduziert  wird.  Den 
Schluß  bildet  eine  Vergleichung  Epiktets  mit  dem  N.  T.  Ich 
kann  in  diesem  in  Einzelheiten  nützlichen  Buche  keine  Förde- 
rung des  Problems  sehen,  wenigstens  nicht,  was  den  Paulus 
betrifft.  Bonhöffer  bekämpft  eine  Meinung,  die  niemand  ver- 
tritt. Daß  es  sich  immer  nur  um  einen  stoischen  Einschlag 
handeln  kann,  daß  auch  da,  wo  Stoisches  übernommen  ist,  die 
Gedanken  und  die  Worte  in  dem  neuen  Zusammenhang  eine 
veränderte  Bedeutung  gewinnen,  daß  Paulus  weder  stoische  Werke 
studiert  noch   stoische  Predigten  mit  angehört  hat,  das  ist  so 


Neues  Testament  3()5 

selbstverständlich,  daß  es  darüber  keiner  Belehrung  mehr  be- 
durft hätte.  Daß  er  aber  —  in  vielen,  namentlich  den  dia- 
lektischen Partien  seiner  Briefe  —  von  der  dialogischen  Form 
der  Diatribe  beeinflußt  ist,  daß  er  m.  a,  W.  diese  Diktionsweise 
in  seiner  Jugend  gelernt  hat,  meinetwegen  bei  einem  jüdischen 
Lehrer,  der  durch  stoische  Bildung  hindurchgegangen  ist,  oder 
daß  er  sich  an  Schulmustern  gebildet  hat,  das  ist  doch  nicht 
zu  bestreiten.  Wenn  Bonhöfier  die  Schrift  von  R.  Bultmann 
,,Der  Stil  der  paulinischen  Predigt  und  die  kynisch- stoische 
Diatribe",  Göttingen  1910  (Forschungen  f.  Rel.  u.  Lit.  d.  A.  u. 
N.  T.  Heft  13)  nicht  erst  während  des  Druckes  kennen  gelernt 
hätte,  sondern  früher,  würde  er  vielleicht  anders  darüber  urteilen. 
Richtig  ist  ja,  daß  wir  Epiktet  nur  faute  de  mieux  heranziehen 
müssen,  weil  wir  die  älteren  Muster,  denen  auch  er  folgt,  ab- 
gesehen von  Teles  und  Musonius,  nicht  mehr  besitzen;  und  es 
ist  bedauerlich,  daß  Bultmann  die  kynisch -stoischen  Diatriben- 
Elemente  bei  Philo  nicht  stärker  benutzt  hat.  Wir  kennen  daher 
die  unmittelbaren  Vorlagen,  denen  Paulus  folgte,  noch  nicht. 
Über  das  ganze  Problem  würde  Bonhöffer  vielleicht  auch  anders 
urteilen  und  namentlich  meine  Position  besser  verstehen,  wenn 
«r  schon  meinen  Kommentar  zum  l.Korintherbrief  gekannt  hätte; 
er  würde  auch  meine  frühere  Schrift  über  die  Freiheit^  rich- 
tiger beurteilen  nach  dem,  was  ich  zu  1.  Kor.  7,  22  bemerkt  habe. 
Für  die  —  ich  kann  nicht  anders  sagen  als:  verständnislose  — 
Art,  mit  der  Bonhöffer  die  ganze  Frage  anfaßt,  ist  bezeichnend, 
daß  er  Stellen  wie  1.  Kor.  3,  21  und  4,  8  so  gut  wie  gar  keiner  Er- 
lörterung  würdigt,  obwohl  gerade  hier  das  Verhältnis  zur  Stoa  —  Be- 
jrührung  und  Unterschied  —  in  vollem  Lichte  erscheint.^  Auch  durch 
E.Nordens  großartiges  Buch  „Agnostos  Theos"  (Leipzig  1913; 

^  Die  christliche  Freiheit  nach  der  Verkündigung  des  Apostels  JPaulits. 
Göttingen  1902. 

'  Vgl.  hierzu  die  Besprechung  von  Bousset  Altes  Christentum  und 
iriech.  Philosophie,  Theol.  Rundschau  1913  über  Caird  Die  Entivicklung 
^er  Theologie  in  der  griech.  Philosophie,  Halle  1909;  M.  Pohlenz  Vom 
^orne  Gottes,  Göttingen  1909  und  Bonhöffer. 

Archiv  f.  Religionswissenschaft  XVII  20 


306  Johannes  Weiß 

siehe  darüber  auch  die  Artikel  von  Reitzenstein  in  den  N.  Jahrb. 
f.  d.  Klass,  Altertum  1913,  146  u.  393  ff.  und  die  inhaltsreichen 
Rezensionen  von  Bousset  in  der  Theol.  Lit.-Ztg.  1913;  Walther 
Bauer  in  der  Theol.  Rundschau  1913;  Jäger  in  den  Gott.  Gel. 
Anzeigen  1913,  S.  39  ff.  sowie  Weinreich  inder  DLZ)  ist  die  Frage 
vom  Verhältnis  des  Paulus  zur  Stoa  neu  beleuchtet;  ich  nenne 
hier  nur  den  Abschnitt  über  die  stoische  Allmachtsformel  in 
Rom.  11,  35;  Kol.  1,  I5f.  Aus  dem  überreichen  Inhalt  ist  für 
das  N.  T.  besonders  wichtig  der  einschneidende  Aufsatz  über  das 
Logion  Matth.  11,  25  —  27,  in  dem  Norden  einen  Typus  helle- 
nistischer Prophetenrede  nachweisen  zu  können  glaubt;  ein  ein- 
gehend begründetes,  nicht  unbedingt  zustimmendes  Urteil  dar- 
über gedenke  ich  demnächst  zu  veröffentlichen.  Mit  Entzücken 
und  Dankbarkeit  verfolgte  ich  die  Studien  zur  Stilgeschichte  der 
Prädikationsformeln,  die  zur  Unterscheidung  hellenischer  und 
orientalischer  Herkunft  religiöser  Stücke  einen  wichtigen  Schlüs- 
sel bieten,  über  hellenischen  und  semitischen  Satzparallelismus 
u.a.m.  Für  uns  Theologen  ist  es  außerordentlich  heilsam,  wie 
hier  die  Form  als  das  eigentliche  Kriterion  zum  Entscheide  der 
Abhängigkeitsfragen  angerufen  wird.  Wenn  er  die  Formeln  €v 
st,  iyd)  siiiv,  ovtog  iötiv  wohl  mit  Recht  als  unhellenisch  emp- 
findet, und  wenn  er  insbesondere  das  häufige  iyd)  sI^l  des  Jo- 
hannes- Evangeliums  als  typische  Bekenntnisformel  ekstatischer 
Propheten  deutet,  so  müssen  wir  ihm  unbedingt  zustimmen. 
Die  Anwendung,  die  er  davon  auf  das  Bekenntnis  Jesu  vor  dem 
Hohenpriester  macht,  und  sein  kritischer  Ausscheidungsversuch 
würde  bedeutend  gewonnen  haben,  wenn  er  die  Lukasparallele 
herangezogen  hätte,  in  der  das  iy6  si^i  fehlt  oder  doch  von  Jesus 
den  Fragern  in  den  Mund  gelegt  wird  (vgl.  meine  Erklärung  der 
Stelle  in  den  Sehr.  N.  T.).  Als  klassisch  nicht  hellenische  Prädi- 
kation empfindet  Norden  das  Partizipium  mit  Artikel;  durcli 
diese  Betrachtung  wird  namentlich  die  Stelle  2.  Kor.  1,  3  f.  wunder- 
voll erleuchtet;  vgl.  das  jüdische  Sch'ma.  Von  hier  aus  wird  auch 
der  Stil  des  Kolosser-  und  vor  allem  des  Epheserbriefes  Licht 


Neues  Tesfcament  307 

gewinnen.  Das  aktuelle  Interesse  von  Nordens  Buch  hängt  an 
seinen  Beiträgen  zur  Apostelgeschichte.  Zum  Prooemium  er- 
neuert Norden  die  Hypothese  von  Sorof-Gercke,  daß  der  erste 
Satz  der  Acta,  der  die  Rekapitulation  des  1.  Buches  euthält, 
vom  Redaktor  um  seine  Fortsetzung,  die  den  Plan  des  2.  Buches 
angah,  verstümmelt  worden  sei.  Niemand  kann  verkennen,  daß 
der  erste  Satz  unvollständig  ist.  Aber  Bedenken  habe  ich  gegen 
die  Annahme,  daß  er  der  Anfang  der  Wir- Quelle  sei,  in  die 
vom  Redaktor  der  Gesamtinhalt  des  ersten  Teiles  eingeschoben  sei. 
Danach  wäre  das  2.  Buch  des  Lukas  halb  so  lang  gewesen  wie 
das  Evangelium;  ferner  ist  es  unmöglich,  das  Lukas -Evangelium 
in  die  Zeit  des  Paulus  zu  setzen.  Es  müßte  also  erwiesen  werden, 
daß  auch  dieses  ähnlich  wie  die  Apg.eine  stark  erweiternde  Bearbei- 
tung erfahren  hätte,  und  zwar  vom  Redaktor  der  Apg.  —  dies  aber 
scheint  wenigstens  in  weitem  Felde  zu  liegen.  Nein,  Act.  1,  1 
gehört  dem  Redaktor,  ebenso  wie  Luk.  1,  Iff.  Freilich  ist  dann 
der  Abbruch  des  Satzes  ein  Problem.  Dies  aber  hängt  mit  der 
Himmelfahrtsgeschichte  zusammen,  die  im  Vergleich  zum  Schlüsse 
des  Evangeliums  eine  Anomalie  bedeutet.  Nordens  Ausführungen 
über  die  Areopagrede,  die  zu  bekannt  sind,  als  daß  ich  darauf  ein- 
zugehen brauchte  (vgl.  meine  Anzeige  in  der  „Frankfurter  Zeitung^' 
vom  7.  Mai  1913),  haben  sofort  eine  Entgegnung  durch  A.  Harnack 
gefunden  („Texte  und  Untersuchungen"  XXXIX,  1),  die  aufs  neue 
zeigt,  daß  der  große  Forscher  sich  leider  auf  seine  unhalt- 
bare Position  allzusehr  festgelegt  hat^;  er  ist  nun  natürlich 
nicht  imstande,  das  Ergebnis  von  Norden  zu  akzeptieren.  Sein 
Versuch,  die  Areopagrede  als  ein  Werk  desselben  Lukas  zu 
erweisen,  dem  auch  der  Reisebericht  angehört,  ist  scharf  kriti- 
siert worden  von  Reitzenstein  (Neue  Jahrb.  1913,  S.  393  bis 
[422),  der  insbesondere  die  mechanische  Methode  seines  sprach- 
lichen Beweises   mit  Recht  beanstandet.     Die  beiden  neuesten 


^  Den  älteren  kritischen  Standpunkt  vertritt  Harnack  gegenüber  mit 
(Glück  P.W.  Schmidt  Die  Apostelgeschichte  hei  De  Wette -OverhecJc  und  bei 
Ad.  Harnack.    Basel  1910. 

20* 

i 


308  Johannes  Weiß 

Kommentare  zur  Apostelgeschiclite  von  H.H.  Wen  dt,  Meyers 
Kommentar  9.  Aufl.  (1913)  und  E.  Preuschen  im  Handbuch  . 
zum  N.  T.  (1912),  beide  in  ihrer  Art  unentbehrliche  Hilfsmittel 
zum  Verständnis,  haben  Nordens  Werk  nur  noch  in  den  Vor- 
worten erwähnen  können,  beide  mit  Zustimmung,  wie  denn  über- 
haupt beide  im  Prinzip  auf  dem  Standpunkte  Nordens  stehen. 
Das  Urteil  Wendlands  in  seinen  „Urchristlichen  Literatur- 
formen'' (Handbuch  zum  N.  T.  I,  3.  1912)  knüpft  vielfach  an 
Wellhausens  und  E.  Schwartz'  ^  Hypothesen  an.  Wellhausen  hat 
u.  a.  die  Demetriusgeschichte  und  den  Seefahrtsbericht  für  fremde 
literarische  Berichte  erklärt,  die  erst  vom  Redaktor  auf  Paulus 
zugepaßt  seien;  E.  Schwartz  hat  sehr  viele  äußerst  feine  und 
scharfsinnige  Beiträge  beigesteuert;  seine  Folgerungen  für  die 
Chronologie  bedürfen  dagegen  der  Nachprüfung.  Insbesondere 
geht  es  nicht  an,  den  Apostelkonvent  vor  die  Ermordung  des 
Jakobus  durch  Agrippa  zu  setzen;  denn  das  Fehlen  des  Zebe- 
daiden  Jakobus  Gal.  2  beweist,  daß  er  nicht  mehr  am  Leben 
war.  Dies  Datum  entscheidet  auch  gegen  den  gleichzeitigen 
Tod  der  beiden  Zebedaiden.  Für  das  Martyrium  des  Johannes 
bleibt  übrig  die  Zeit  der  Ermordung  des  Herrenbruders  Jakobus 
durch  Ananos  vor  dem  Amtsantritt  des  Albinus  63;  aus  diesem 
Nebeneinander  eines  Jakobus  und  Johannes  ist  sowohl  die  bekannte 
Papiasnotiz  wie  die  Doppelfeier  im  syrischen  Martyrologium  zu 
erklären.  Die  Zebedaiden -Weissagung  Marc.  10  würde  doppelt 
wirkungsvoll  sein,  wenn  die  volle  Erfüllung  des  Herren  Wortes 
erst  ganz  vor  kurzem  eingetreten  wäre.  Zu  den  belehrendsten  Ab-  , 
schnitten  bei  Wendland  rechne  ich  vor  allem  die  literarhistorische 
Beurteilung:  „Nicht  mit  der  Komposition  hellenischer  Geschichts-  i 
werke  treten  die  Akta  in  Konkurrenz  . .  sie  finden  ihre  eigentliche  . 
Fortsetzung  wesentlich  in  den  Geschichten  der  Märtyrer  und  Heili-  ! 
gen  . .  am  meisten  vergleichbar  den  novellistischen  oder  panegyri- 
schen Darstellungen  großer  geschichtlicher  Persönlichkeiten  und 

^  Wellhausen  Noten  zur  Apostelgeschichte  \  E.  Schwartz  Zur  Chrono- 
logie des  Paulus,  beide  in  den  Nachr.  d.  Göttinger  Ges.  d.Wiss.  1907.    • 


Neues  Testament  309 

religiöser  Wundermänner  .  .  die  noch  nicht  Literatur  im  hohen 
und  strengen  Sinne  waren  .  ."  Das  Motiv  der  Doppelvision  in 
Kap.  9.  10  erinnert  an  Ähnliches  in  hellenistischen  Novellen 
(Wendland  De  fahellis  S.  27,  28),  die  häufigen  Weissagungen 
auf  Paulus'  Tod  an  die  Häufung  der  Vorzeichen  vor  Cäsars 
Tod  bei  Nicolaus  und  Plutarch,  der  Tod  des  Herodes  am  Würmer- 
fraß und  das  Ende  des  Judas  an  Strafwunder  für  Gottlosigkeit 
(seit  Herodot  IV  205  häufig  bei  Aelian  und  Plutarch).  In  der 
Gesamtbeurteilung  der  Apg.  steht  Wendland  auf  dem  Standpunkte 
der  kritischen  Schule  (mit  Ausnahme  Harnacks);  leider  äußert 
er  sich  nicht  zur  Frage  der  Josephus -Benutzung;  der  Nachweis 
des  höchst  deuteropaulinischen,  geradezu  katholischen  Charakters 
des  Werkes  hätte  eindringender  geführt  werden  können.  Sehr 
lehrreich  ist  die  Konfrontierung  mit  den  apokryphen  Apostel- 
geschichten, die  hier  zum  ersten  Male  eine  wirklich  literar- 
historische Würdigung  erfahren  (nach  dem  Vorgange  von  Reitzen- 
steins  hellenistischen  Wundererzählungen) ;  es  zeigt  sich  hier  doch 
recht  der  wenn  auch  nicht  prinzipielle,  so  doch  sachlich  sehr  starke 
Unterschied  der  kanonischen  Apg.  Überhaupt  ist  Wendlands  Buch 
für  die  theologische  Forschung  ein  Fortschritt,  insofern  als  die 
literaturhistorische  Betrachtung,  die  Beachtung  der  literarischen 
Form,  die  über  den  „Einleitungsfragen"  so  gut  wie  völlig  ver- 
nachlässigt war,  nunmehr  nicht  wieder  aufgegeben  werden  kann. 
Eine  von  Wendland  unabhängige,  fast  gleichzeitig  mit  seinem 
Buche  erschienene  Skizze  der  Literaturgeschichte  des  N.  T.  in 
Schieies  „Religion  in  Geschichte  und  Gegenwart"  (Bd.  III)  hat 
der  Referent  geschrieben,  die  sich  in  vielem  mit  Wendland 
berührt,  so  in  der  Beurteilung  der  Paulusbriefe,  wo  Wendland 
sagt:  „Deißmann  geht  zu  weit,  wenn  er  den  paulinischen  Briefen 
jeden  literarischen  Charakter  abspricht,  und  er  überschätzt  den 
Wert  der  aus  den  Papyri  bekannt  gewordenen  Alltagsbriefe  für 
k  das  Verständnis  des  Wesens  der  Paulusbriefe."  „Deißmann  legt, 
>|  indem  er  Paulus  den  unteren  Schichten,  aus  denen  jene  Papyrüs- 
ij  briefe  stammen,  möglichst  nahe  rückt,  den  klassizistischen  Maß- 


310  Johannes  Weiß 

stab  des  Literarischen  an;  Paulus  hat  aber  weder  nach  seiner 
sozialen  Stellung,  da  sein  Yater  schon  das  römische  Bürgerrecht 
besaß,  noch  nach  seiner  Bildung  den  unteren  Schichten  angehört. 
Nicht  nur  die  Originalität  des  Genius,  sondern  auch  seine  jüdische 
Bildung  und  seine  Theologie  schafft  einen  Abstand  zwischen  ihm 
und  den  meisten  seiner  Gemeindeglieder,  auf  dem  seine  Überlegen- 
heit und  seine  Wirkung  beruht."  Daß  Wendland  auch  den  zweiten 
Thessalonicherbrief  und  den  Kolosserbrief  unter  die  pseudopaulini- 
schen  Briefe  rechnet,  zeigt  ihn  von  einer  kritischen  Stimmung 
abhängig,  die  im  Schwinden  begriffen  ist  (man  lese  den  muster- 
haften, gelehrten  und  eindringenden,  die  Echtheitsfrage  vorsichtig 
abwägenden  Kommentar  von  v.  Dobschütz  [Meyers  Kommentar, 
7.  Aufl.  Göttingen  1909],  sowie  den  nach  der  religionsgeschicht- 
lichen Seite  hin  reichen  von  Dibelius  [Handb.  zum  N.  T.  1911]). 
Im  übrigen  verstehe  ich  nicht  ganz  die  Verwahrung  Wendlands 
gegen  eine  angebliche  Scheu,  im  N.  T.  Pseudonyme  anzuerkennen. 
Ist  es  denn  nicht  genug,  wenn  Eph.,  die  Pastor  albrief e ,  Jak.  1. 
u.  2.,  Petr.,  Judas  von  den  meisten  Forschern  als  pseudonym  be- 
handelt werden?  Wo  ist  hier  von  Scheu  oder  Befangenheit  die 
Rede?  Wichtiger  als  solche  allgemeine  Betrachtungen  wäre  es, 
wenn  ein  Philologe  auf  breitester  Grundlage  Geschichte  und  Wesen 
pseudonymer  Schriftstellerei,  sowie  das  dabei  mitwirkende  Be- 
wußtsein der  Skriptoren  uns  verdeutlichte.  Wie  weit  ist  hier  Naivi- 
tät oder  Täuschung  im  Spiel,  wie  weit  wirkt  hier  ein  künst- 
lerischer Trieb  mit,  wie  weit  ist  diese  Schriftstellerei  nur  eine 
konventionelle  Form,  durch  die  niemand  mehr  sich  täuschen  läßt? 
Wußte  z.B.  die  Umgebung  des  Verfassers,  daß  er  der  Verfasser 
war?  Dies  alles  sind  Fragen,  die  nur  von  höchster  Warte  aus 
beantwortet  werden  können,  wobei  auch  die  altt.  Pseudonyma 
bzw.  durch  große  Namen  wie  Jesajas  angezogenen  Stücke 
zu  berücksichtigen  wären.  Solange  wir  hier  nicht  klarer  sehen, 
wird  immer  wieder  eine  gewisse  Abneigung  vorhanden  sein, 
„Fälschungen"  zuzugeben.  Beim  Kolosserbrief  hätte  Wendland  der 
Hypothese  Holtzmanns   etwas   mehr  Aufmerksamkeit  schenken 


Neues  Teßtament  3X1 

können,  wie  überhaupt  die  Frage  einer  Redaktion  der  Briefe  bei 
Gelegenheit  der  Sammlung  nicht  eindringend  genug  behandelt 
ist.  Auch  gegen  Dibelius'  Kolosserkommentar  (im  Handbuch 
zum  N.T.  1912)  möchte  ich  diesen  Vorwurf  erheben.  Ich  ver- 
stehe ebensowenig,  daß  man  den  Brief  für  unecht  halten  kann, 
wie  daß  man  ihn  in  allen  Stücken  für  paulinisch  halten  mag. 
Eine  Überarbeitungshypothese  im  Sinne  Holtzmanns  drängt  sich 
immer  wieder  auf,  und  der  Exeget  sollte  das  gerade  bei  ein- 
dringender Exegese  empfinden.  Diese  tritt  ja  nun  überhaupt  im 
Handbuch  etwas  zurück  hinter  der  religionsgeschichtlichen  Be- 
leuchtung durch  Parallelen  usw.  In  dieser  Beziehung  ist  Dibelius' 
Kommentar  verdienstlich;  ihn  befähigen  zum  Verständnis  seine  aus- 
gezeichneten Studien  über  „die  Geisterwelt  im  Glauben  des  Paulus" 
(Göttingen  1909).  Zu  den  örot^sta  roi>  7tö6^ov  ist  zu  erwähnen 
der  Beitrag  von  F.  Pfister  im  Phüol.  69  Heft  3,  S.411ff.,  der 
eine  Stelle  aus  dem  Alexander-Roman  beibringt,  wo  es  von  Necta- 
nebos  heißt:  tä  yaQ  xoö^ixä  6toi%sla  Xöyo)  Ttdvta  avta  Vjtstdööero^ 
das  sind  nach  einer  Version  ol  äyysXov  aal  ^aog  Atßvi^g  '^i^^cov, 
nach  einer  anderen  ol  d'sol  x&v  hncodcbv  Tial  äsQicc  Ttvsv^ccra  aal 
ol  %axa%^6vioi  daC^ovsg.  —  Was  den  Epheserbrief  betrifft,  so  ist 
die  Abhängigkeit  vom  Kolosserbrief  oder  wenigstens  von  einem 
ihm  sehr  ähnlichen  Schriftstück  von  Wendland,  Dibelius  an- 
erkannt, ebenso  die  aus  sachlichen  und  stilistischen  Gründen  ge- 
gebene Unechtheit;  nicht  beantwortet  ist  aber  das  eigentliche 
literarische  Problem:  wie  verhält  sich  der  Verfasser  zur  Samm- 
lung der  Paulinen?  und  das  religionsgeschichtliche:  woher  stammt 
die  eigentümliche  gnostisch-mystische  Färbung  seiner  Ausdrucks- 
weise? Sollten  nicht  die  Oden  Salomos  hier  Licht  geben  können? 
Für  die  Pastoralbriefe  verweise  ich  auf  die  tüchtige,  wenn  auch 
nicht  erschöpfende  philologische  Arbeit  von  H.  Mayer  „Die 
Pastoralbriefe"  (Göttingen  1913)  —  eine  neue,  mit  neuen  Mitteln 
(die  vorhanden  sind)  arbeitende  Untersuchung  des  Problems  ist 
erforderlich;  sie  hätte  namentlich  die  Frage  der  Einheit  oder 
Überarbeitung  noch  schärfer  ins  Auge  zu  fassen.      Dazu  jetzt 


312  Johannes  Weiß 

der  soeben  erschienene  Kommentar  von  Dibelius  (Hand- 
buch z.  N.T.  1913).  Das  literarische  Problem  des  Hebräer- 
briefes wird  durch  die  Annahme,  daß  der  Schreiber  des 
13.  Kap.  die  Fiktion  wenn  auch  nicht  durchführe,  so  doch 
versuche,  daß  der  Brief  von  Paulus  herrühre,  nicht  gelöst 
werden.  (Vgl.  auch  die  Abhandlungen  von  Burggaller  und 
Perdelwitz  in  der  Zeitschr.  für  neut.  Wissenschaft  1908/10.) 
An  der  Abhandlung  von  Perdelwitz  zu  I.Petrus  „Die  Mysterien- 
religion und  das  Problem  des  l.Petrusbriefes^^  (RGW XI,  3,  Gießen 
1911)  ist  der  Nachweis,  daß  der  Verfasser  in  vielen  Ausdrücken 
und  Vorstellungen  von  der  Mysterienreligion  abhängig  ist,  so- 
wie die  Vermutung,  daß  eine  Taufrede  an  Neophyten  zugrunde 
liegt,  überzeugender,  als  die  kritische  Herausschälung  der  letz- 
teren, die  nur  von  1,  3— 4, 11  reichen  soll.  Der  vortreffliche  Kom- 
mentar von  R.  K  n  o  p  f  zu  den  Briefen  Petri  und  Judae  (Meyers  Kom- 
mentar, 7.  Aufl.  Göttingen  1912),  den  Perdelwitz  noch  nicht  kennt, 
hat  doch  im  1.  Petrusbrief  schon  sehr  reichlich  den  Mysterien- 
Sprachgebrauch  herangezogen.  Im  Handbuch  zum  N.  T.  hat 
Wind i seh  die  Erklärung  der  katholischen  Briefe  geliefert;  er 
spricht  sich  über  die  Echtheitsfrage  zu  Jak.  und  1 .  l  'etr.  schwankend 
aus,  im  letzteren  Falle  für  die  Silvanus  -  Hypothese  (5,  12).  Im 
übrigen  ist  dieser  wie  alle  Teile  des  Handbuches,  aber  ebenso  die 
neueren  Bearbeitungen  des  Meyerschen  Kommentars  (v.  Dob- 
schütz,  Knopf,  Wendt,  Preuschen,  J.  Weiß)  durchaus  im  Sinne 
religionsgeschichtlicher  Methode  und  nach  den  Anforderungen 
heutiger  Philologie  geschrieben.  Die  Darstellung  der  Evangelien- 
literatur bei  Wendland  setzt  mit  einer  glänzenden  Charakteristik 
des  M  arku  s  ein ;  zur  Beleuchtung  seiner  Methode  lese  man  folgende 
Sätze:  „Der  Mangel  künstlerischer  Komposition,  die  Gebundenheit 
des  dem  Stoffe  sich  unterordnenden  Autors  an  eine  ursprünglich 
mündliche  Tradition,  die  mancherlei  unwillkürliche  Wandlungen 
und  Umbildungen  erfahren  hatte,  die  öfter  noch  kenntliche  Lage- 
rung mehrerer  sich  voneinander  abhebender  Schichten  stellen 
den  Exegeten  vor  besondere  Aufgaben.     Mit  dem  Grundsatze, 


Neues  Testament  313 

daß  die  Interpretation  einer  Schrift  wesentlich  aus  ihr  selbst 
zu  gewinnen  und  Feststellung  des  Sinnes  und  der  Absicht  des 
Schriftstellers  die  eigentliche  Aufgabe  sei,  kommt  man  hier  oft 
nicht  aus.  Wir  haben  es  hier  nicht  mit  einem  literarischen 
Kunstwerk  zu  tun,  das  die  Bedingungen  seines  Verständnisses 
in  sich  tragen  soll,  aus  dem  ein  einheitlicher  Plan  und  die  kon- 
sequent durchgeführten  Absichten  sich  abstrahieren  lassen.  Die 
Momente,  von  denen  die  Erklärung  abhängt,  liegen  hier  gar  oft 
nicht  in  der  Individualität  des  Autors,  sondern  in  einem  ihm 
vorausliegenden  Entwicklungsprozeß  der  Traditionen.  Ihn  zu 
verstehen  und  in  einzelnen  Fällen  zu  rekonstruieren,  ist  nur 
möglich,  wenn,  wie  in  der  Analyse  homerischer  Dichtungen  oder 
des  Pentateuchs,  geschichtliche  und  philologische  Arbeit  Hand  in 
Hand  geht.  Daß  sie  beständig  ineinandergreifen  und  die  eine 
die  Ergebnisse  der  anderen  bald  voraussetzt,  bald  berichtigt,  ist 
unumgänglich,  wenn  es  auch  wie  ein  Zirkel  aussieht.^'  Hiernach 
möchte  man  Klostermanns  nach  der  sprachlichen  Seite  vor- 
trefflichen, an  Parallelen  aus  Sprache  und  Religion  der  Umwelt 
reichen  Kommentar  zu  Markus  und  Matthäus  (Handbuch  zum  N.  T. 
Tübingen  1907. 1909)  erheblich  vertieft  wünschen.  Die  vor  Markus 
liegende  Überlieferung,  einen  aus  zwei  älteren  Schriften  (M  ^  und 
M^)  zusammengesetzten  Ur- Markus  sucht  Wendling  höchst 
scharfsinnig,  wenn  auch  zum  Teil  anfechtbar  zu  rekonstruieren 
(„Die  Entstehung  des  Markus -Evangeliums",  Tübingen  1908;  vgL 
meine  Besprechung  in  der  Theolog.  Rundschau  1913).  Der 
Kommentar  von  Wohlenberg  (Zahns  Komm,  zum  N.  T, 
Leipzig  1910)  geht  von  der  Annahme  aus,  daß  Markus  den 
aramäischen  Matthäus  benutzt  habe,  während  der  griechische 
Übersetzer  des  Matthäus  wieder  den  Markus  benutzt  hat.  Diese 
I  Hypothese  ä  deux  mains  stammt  von  Th.  Zahn,  von  dem  sein 
j  Schüler  glücklicherweise  auch  noch  besseres  gelernt  hat,  näm- 
llich  Textkritik  und  Exegese.  Hierin  erweist  sich  Th.  Zahn  als 
i  Meister  —  sofern  nicht  dogmatisch  heikle  Punkte  ins  Spiel  kom- 
men —  in  dem  soeben  vollständig  vorliegenden  Lukaskommen- 


314  Johannes  Weiß 

tar  (Leipzig  1913)^,  der  ein  unentbehrliches  Hilfsmittel  für  jeden 
Mitarbeiter  ist.  Das  Problem  im  Lukasevangelium  liegt  darin,  daß 
der  3.  Evangelist  an  sehr  vielen  Stellen  neben  unverkennbarer  Ab- 
hängigkeit von  Markus  einen  primitiveren,  oft  sogar  hebraisti- 
scheren,  judenchristlicheren  und  demnach  besseren  Bericht  bietet 
als  jener,  so  daß  sich  auch  in  den  mit  Markus  parallelen 
Partien  die  Vermutung  aufdrängt,  er  habe  eine  Nebenquelle 
herangezogen  und  teilweise  vorgezogen.  Diese  Eindrücke  haben 
F.  Spitta  zu  seiner  Annahme  geführt,  daß  „die  synoptische 
Grundschrift''  (so  der  Titel;  Leipzig  1912)  am  reinsten,  bei 
Lukas  erhalten  sei.  Diese  trotz  ihrer  handgreiflichen  Schwächen 
und  oft  willkürlichen  Begründung  doch  nicht  unwichtige  Hypo- 
these sollte  wegen  jenes  granum  salis  doch  nicht  von  den 
Mitarbeitern  ignoriert  werden  (vgl.  meine  Besprechung  in  der 
Theol.  Rundschau  1913).  —  Die  johanneische  Frage  ist  neuer- 
dings wieder  in  Fluß  gekommen  durch  eine  Reihe  von  Arbeiten, 
die  sich  den  Nachweis  einer  oder  mehrerer  Überarbeitungen  zum 
Ziel  setzen.^  Sie  haben  entschiedene  Gegnerschaft  gefunden,  nicht 
nur  aus  dem  Lager  der  konservativen,  sondern  auch  der  kritischen 
Theologie.^    Die  Frage  liegt  noch  in  der  Schwebe.    Der  Grund, 

^  Selbst  Zahn  lehnt  das  unmögliche  Datum  für  die  Abfassung  der 
Apostelgeschichte  im  Jahre  63,  das  nach  Blass'  Vorgange  von  Mauren- 
brecher, Harnack  und  H.  Koch  Die  Abfassung  des  lukan.  Geschichtswerkes, 
Leipzig  1911,  vertreten  wird,  energisch  ab.  Hier  nenne  ich  noch  zwei  katho- 
lische Untersuchungen:  K,  Six  S.  J.  Das  ÄposteldeJcret ,  Innsbruck  1912; 
K.Pieper  Die  Simon-  Magus-Perikope^  München  1911. 

2  Wellhausen  Erweiterungen  und  Änderungen  im  4.  Ev.  Berlin  1907. 
Das  Evangelium  Johannis.  Berlin  1908.  —  E.  Schwartz  Aporieen  im 
4.  Ev.  (Nachr.  d.  Gott.  Ges.  d.  Wiss.  1907.  1908).  —  Dazu  ßoussets  Be- 
sprechung in  der  Theol.  Bundschau  1909  und  A.  Meyers  Bericht  Theol 
Rundschau  1910.  —  F.  Spitta  Das  Johannes- Evangelium  als  Quelle  der 
Geschichte  Jesu.  Göttingen  1910.  —  Wendt  Die  Schichten  im  4.  Ev. 
Göttingen  1911;  vgl.  den  Bericht  von  A.  Meyer  Theol.  Bundschau  1912. 

^  Zahn  Das  Evangelium  des  Johannes  unter  den  Händen  seiner  neuest 
Kritiker.  Leipzig  1911.  —  C.  Giemen  Die  Entstehung  des  Johannes  -  Evai 
geliums.  Halle  1912.  —  B.  Weiß  Das  Johannes- Evangelium  als  einhei^ 
liches  Werk.    Berlin  1912. 


Neues  Testament  315 

warum  so  energische  und  scharfsinnige  Kritiker  wie  Wellhausen 
und  Schwartz  mit  ihren  Ergebnissen  nicht  durchgedrungen  sind, 
ist  der  sprunghafte  und  zufällige,  oft  stimmungsmäßige  Charakter 
ihrer  Beobachtungen,  die  ein  überzeugendes  Gesamtbild  nicht 
ergeben;  dagegen  leidenSpittas  und  Wendts  Bemühungen  an  dem 
entgegengesetzten  Fehler,  daß  ein  System  durchgeführt  werden 
soll,  dem  sich  die  Einzelkritik  unterordnen  muß.  Die  Aufgabe 
der  zukünftigen  Forschung  ist  eine  feine  und  wirklich  dem  Ver- 
fasser gerechtwerdende,  aus  wirklicher  Interpretation  hervor- 
gehende Einzelkritik,  die  zu  einem  in  sich  übereinstimmenden 
und  historischen  Gesamtergebnis  führt.  Dazu  gehört  aber  nicht 
nur  Scharfsinn,  sondern  auch  Geschmack  und  Gefühl  und  ein 
ganz  klein  wenig  Liebe  für  den  Autor;  man  darf  ihm  nicht  allzu 
eifrig  ins  Wort  fallen,  sondern  muß  ihn  einmal  anhören  und 
mit  seinen  Eigentümlichkeiten  etwas  Geduld  haben.  Daß  damit 
nicht  einer  exegetischen  Methode  das  Wort  geredet  werden  soll, 
die  alles  zu  verstehen  und  zu  verdauen  vermag  und  alles,  was 
im  Texte  steht,  herrlich  findet,  versteht  sich  von  selbst.  Und 
mir  wenigstens  scheint  zweifellos,  daß  die  Wahrheit  mehr  in 
der  Richtung  der  Überarbeitungs-  als  in  der  Einheitshypothese 
liegt.  Die  „unsterbliche  Form"  der  Gedanken  dieses  begrenzten, 
aber  scharf  umrissenen  Typus  der  Frömmigkeit  muß  und  wird 
doch  noch  einmal  aus  dem  Schutt  der  Reflexion,  mit  dem  sie 
überdeckt  ist,  sich  erheben.  Die  neuesten  Kommentare  sind  von 
Th.  Zahn  (Leipzig  1908)  und  W.  Bauer  (Handbuch  zum  N.  T. 
1912)  und  mögen  in  ihrer  Verschiedenheit  sich  ergänzen.  Letzterer 
hat  die  neuen  Arbeiten  auf  dem  Gebiete  der  hellenistischen  Reli- 
gion verwertet  und  eingearbeitet,  ersterer  ist  durch  die  Sorg- 
falt der  sprachlichen  Exegese  und  Textkritik  musterhaft;  auf  eine 
Förderung  des  Einheitsproblems  verzichten  beide,  Th.  Zahn  aus 
Grundsatz,  W.  Bauer  aus  Vorsicht  oder  aus  einer  gewissen  Skepsis 
gegen  die  neueren  Versuche.  Wen  dl  and  ist  im  allgemeinen 
von  der  Notwendigkeit  überzeugt,  eine  Grundschrift  und  Be- 
arbeitung zu  scheiden,  will  aber  vielfach  eigene  Wege  einschlagen. 


316  Johannes  Weiß 

Leider  hat  er  gerade  den  schwächsten  Teil  der  Wellhau  senschen 
Hypothese,  daß  das  Hin-  und  Herreisen  zwischen  Galiläa  und 
Jerusalem  der  Grund schrift  noch  nicht  angehört  habe,  sich  an- 
geeignet. Über  die  ganze  bisherige  Arbeit  am  Johannesevan- 
gelium hältOverbecks,aus  seinem  Nachlaß  vonBernouilli  heraus- 
gegebenes Werk  („Das  Johannesevangelium,  Studien  zur  Kritik 
seiner  Erforschung",  Tübingen  1911)  ein  scharfes  Gericht,  ins- 
besondere über  alle  Yermittlungshypothesen.  Die  Sprache  der 
Reden  des  4.  Ev.  ist  durch  Reitzenstein  und  Norden  aus  der 
hellenistischen  Mystik  schlagend  beleuchtet  worden.  Der  an- 
ziehendste Teil  des  Abschnittes  über  die  Evangelien  bei  Wend- 
land behandelt  das  Wachstum  und  die  Variabilität  der  Über- 
lieferung (ähnlich  hat  der  Referent  geurteilt  in  seiner  Einleitung 
zu  den  drei  ältesten  Evangelien  in  Sehr.  N.  T.  I) ;  mit  Recht 
hat  er  hierbei  den  Übergang  vom  Ursprünglichen  zur  Legende, 
vom  Kanonischen  zum  Apokryphen  als  einen  durchaus  fließenden 
behandelt;  weder  zwischen  Synoptikern  und  Johannes,  noch 
zwischen  kanonischen  und  apokryphen  Evangelien  besteht  in 
dieser  Beziehung  ein  prinzipieller  Unterschied.  Dies  erkennt  man 
an  der  sehr  dankenswerten  Zusammenstellung  von  W.  Bauer, 
„Das  Leben  Jesu  im  Zeitalter  der  neutestam entlichen  Apo- 
kryphen" (Tübingen  1909),  wobei  nur  noch  die  Linien  etwas 
kräftiger  auch  nach  rückwärts  hätten  gezogen  werden  sollen. 
Überall  bieten  sich  hier  verwandte  Motive  aus  hellenistischen 
Wundergeschichten  zum  Vergleiche  an.  Der  Einfluß  des  Weis- 
sagungsbeweises auf  die  Ausgestaltung  besonders  der  Leidens- 
geschichte zeigen  K.  Peigel,  „Der  Einfluß  des  Weissagungs- 
beweises und  anderer  Motive  auf  die  Leidensgeschichte"  (Tübingen 
1910)  und  K.  Weidel  in  den  „Theol.  Studien  und  Kritiken*' 
(1910,  S.  83— 109,  163—195).  Wichtige  Einzelfragen  zur 
Geschichte  Jesu  behandeln  M.  Dibelius,  „Die  urchristlich8_ 
Überlieferung  von  Johannes  dem  Täufer"  (Göttingen  1911] 
die  einzige  neuere  Schrift,  die  sogar  vor  dem  Oberzensor  B( 
nouilli   (im  Anhang  zu  Overbecks  Werk)  Gnade  gefunden  h! 


Neues  Testament  317 

wegen  ihres  in  der  Tat  in  hohem  Grade  vorhandenen  „Willens 
zur  Methode";  daneben  nicht  zu  übersehen  die  tüchtige  Marburger 
Dissertation  von  H.  Peter,  „Johannes  der  Täufer  in  der  urchrist- 
lichen  Überlieferung"  (1911);  H.  Windisch,  „Der  messianische 
Krieg  und  das  Urchristentum"  (Tübingen  1909),  gegen  Kauts- 
kys  Hypothese  vom  „Rebellen"  Jesus ;  M.  Goguel  Les  sources  du 
redt  johannique  delapassion  (Paris  1910);  J.Frey,  „Der slavische 
Josephusbericht  über  die  urchristliche  Geschichte  nebst  seinen 
Parallelen  kritisch  untersucht"  (Dorpat  1908).   Heinr.  G.  Voigt, 
„Die  Geschichte  Jesu  und  die  Astrologie.  Eine  religionsgeschicht- 
liche und  chronologische  Untersuchung  zu  der  Erzählung  von 
den  Weisen  aus  dem  Morgenlande"  (Leipzig  1911)  berichtet  zu- 
nächst über  Keplers,   v.  Oefeles  u.  a.  Versuche,  die   Sternkon- 
stellation im  Jahre  6  v.  Chr.  nachzuweisen,  die  dem  Bericht  zu- 
grunde liegen  könnte,  sucht  dann  aus  den  astrologischen  Lehren 
der  Zeit  zu  erweisen,  daß  in  der  Tat  zuerst  diese  Konstellation 
die  Magier  nach  Judäa  gewiesen  und  auf  die  Geburt  eines  Welt- 
herrschers geführt  haben  könne.   Auch  die  Romreise  des  Tiridates 
kann  nur  —  nach  Voigt  —  wieder  durch  eine  im  Jahre  66  nach- 
gewiesene  besondere  Konstellation  veranlaßt  sein.   „Wenn  aber 
die  Jupiter -Mars -Konstellation  des  Jahres  66  n.Chr.  auf  Magier 
von   solchem  Eindruck   sein  konnte,  wie   er  sich  bei  Tiridates 
I   erkennen  läßt,   so   ist  mehr   als  wahrscheinlich,  daß  die  astro- 
'  logisch  noch  viel  bedeutenderen  Konstellationen  der  Jahre  7  und 
6  V.  Chr.  auf  selten  von  Magiern  nicht  unbeachtet  blieben.    Es 
vermindert  demnach  die  Tiridatesgeschichte  nicht  die  Glaubwürdig- 
keit des  zweiten  Mt- Kapitels,  sondern  erhöht  sie  vielmehr",  wie 
1  denn  Voigt  auch  in  anderen  Punkten  die  Geschichtlichkeit  des 
'  Vorganges  zu  erweisen  sucht.    Der  Wert  des  Buches  liegt  darin, 
daß  es  die  Erzählung  und  die  chronologischen  Fragen  überhaupt 
i  in  Zusammenhang  mit  der  astrologischen  Weltanschauung  der 
j  Zeit  gebracht  hat.    Über  die  Einzelheiten  kann  ich  nicht  urteilen. 
1  Auf  den  Halleyschen  Kometen  bezieht  den  Stern  Jesu  A.  Stentzel 
„Jesus  Christus  und  sein  Stern"  (Hamburg  1913);  andere  chrono- 


318  Johannes  Weiß 

logische  Berechnungen  wieder  bei  Westberg,  „Zur  neutesta- 
mentlichen  Chronologie  und  Golgathas  Ortslage"  (Leipzig  1911). 
Zur  biblischenTheologie  sind  einegroße  Anzahl  vonMono- 
graphien  zu  verzeichnen^;  eine  nähere  Besprechung  würde  über  den 
Rahmen  dieses  Berichtes  hinausgehen^;  ich  erwähne  hier  nur 
C.  Giemen,  „Der  Einfluß  der  Mysterienreligionen  auf  das  älteste 
Christentum"  (RGW  XIII,  1 ;  Gießen  1913)  wegen  des  prinzipiellen 
Charakters  dieser  Schrift.  Der  Verfasser,  der  in  der  Literatur 
über  die  Mysterienreligionen  gut  zuhause  ist,  lehnt  eine  Ein- 
wirkung dieser  Religionen  auf  das  vorpaulinische  Christentum, 
insbesondere  auf  die  Entstehung  von  Taufe  und  Abendmahl,  gänz- 
lich  ab,  für  Paulus   gesteht  er  Berührungen  mit  dem  Sprach- 


^  P.  Metzger  Der  Begriff  des  Reiches  Gottes  im  N.  T.  Stuttgart  1910.  — 
Bowen  The  Resurr ection  in  the  N.  T.  An  Examination  of  the  Earliest  Re- 
ferences  to  theRising  of  Jesus  and  of  Christians  from  the  Dead.  NewYork- 
London  1911.  —  Bacon  Jesus  the  son  of  God  or  primitive  Christologij. 
New  Haven  1911.  —  Rostron  The  Christölogy  of  St.  Paul.    London  1912. 

—  Olaf  Moe  Paulus  und  die  evangelische  Geschichte.  Zugleich  ein  Bei- 
trag zur  Vorgeschichte  der  Evangelien.  Leipzig  1912.  —  E.  Weher  JDas 
Problem  der  Heilsgeschichte  nach  Rom.  9  —11.  Leipzig  1911.  —  Wett-er 
Der  Vergeltungsgedanke  hei  Paulus.  Eine  Studie  zur  Religion  des  Apostels. 
Göttingen  1912.  —  Behm  Ber  Begriff  Siccd-ijyiri  im  N.  T.  Leipzig  1912.  — 
Deißner  Aufersiehungshoffnung  und  Pneumag edanlce  iei  Paulus.  Leipzig 
1912.  —  Gschwind  Die  Niederfahrt  Christi  in  die  Unterwelt.  München 
1911.  —  G.  Loeschcke  Zur  Frage  nach  der  Herkunft  und  Einsetzung  der 
Eucharistie.  Frankfurt  a.  M.  1912  (Sonderabdruck  aus  der  Zeitschr.  f.  wies. 
Theol.  54,  III).  Schmitz  Die  Opferanschauungen  des  späteren  Judentums 
und  die  Opferaussagen  des  N.  T.  Tübingen  1910.  Dazu  der  Artikel  von 
Fiebig  Das  kultische  Opfer  im  N.  T.  (Zeitschr.  f.  v^iss.  Theol.  53,  III  1911). 

—  Fr.  Wieland  Der  vorirenäische  Opferbegriff.  München  1909.  —  K.  Wieland 
Die  üeilstat  Christi  als  Neuschöpfung  und  Wiedergeburt.  Herausgeg.  von 
Bruno  Wieland,  Selbstverlag  Leipzig  1910  (Franz  Wagner).  —  P.  Möhring 
Die  Sittenlehre  Jesu.  Ihre  leitenden  Gesichtspunkte  und  religiösen  Grund- 
lagen. Leipzig  o.  J.  —  Wohlrab  Das  neutestamentliche  Christentum  auf 
psychologischer  Grundlage  dargestellt.  Dresden  1910.  —  Die  neutestament- 
liche Glaubenslehre  auf  psychologischer  Grundlage  dargestellt.  Dresden  193 
B.  Wehnert  Jesu  Diesseitsreligion.    Groß-Salza  1911. 

'  Ich  bemerke  überhaupt,   daß  ich  mich  bei  der  ungeheuren  Mas 
der  aufgelaufenen  Literatur  diesmal  kurz  fassen  mußte. 


Neues  Testament  319 

gebrauch  desselben,  aber  so  gut  wie  keinen  Einfluß  auf  die 
Gedankenbildung  zu,  nicbt  einmal  in  dem  Gedanken  des  Mit- 
sterbens und  -auferstebens  in  der  Taufe.  Es  wird  sehr  schwer 
sein,  Art  und  Maß  dieses  eventuellen  Einflusses  richtig  zu  be- 
stimmen, und  es  ist  gut,  wenn  den  Übertreibungen  in  Bausch 
und  Bogen,  die  vorgekommen  sind,  der  Tatbestand  so  nüchtern 
vorgehalten  wird.  Aber  darum  wird  man  nicht  herumkommen: 
der  dem  vorpaulinischen  Christentum  gegenüber  neue  Gedanke 
des  Paulus,  daß  die  Christen  das  Erlebnis  Christi  an  sich  selbst 
nacherleben  müssen,  ist  ein  Mysteriengedanke,  und  ebenso  ist 
die  Verkündigung  des  Todes  Christi  im  Herrenmahl  in  Form 
des  Brotbrechens  ein  Mysterienbrauch,  insofern  als  beidemal 
die  Vorgänge  des  'Mythos'  im  Kultus  wiederholt  werden.  Im 
übrigen  scheint  mir  sicher,  daß  beide  Gedanken  bei  Paulus  zwar 
vorkommen,  aber  keine  allbeherrschende  Bedeutung  haben;  wie 
weit  sie  im  Brauche  und  Empfinden  der  Gemeinde  wirklich 
lebten,  ist  mir  zweifelhaft. 

Mehrere  Gesamtdarstellungen  der  Biblischen  Theologie  des 
N.  T.  liegen  vor  von  Schlatter  (Calw  u.  Stuttgart  1909.  1910), 
P.  Feine  (2.  Aufl.  Leipzig  1911),  H.  Weinel  (2.  Aufl.  Tübingen 
1913),  dazu  die  2.  Aufl.  von  H.  J.  Holtzmanns  „Neutestam ent- 
licher Theologie",  herausgegeben  von  A.  Jülich  er  und  W.Bauer 
(Tübingen  1911).  Dieses  auffallende  gleichzeitige  Auftreten  zu- 
sammenfassender Darstellungen  zeigt,  daß  in  der  Theologie  nach 
Jahrzehnten  unendlicher  Kleinarbeit  die  Neigung  zur  Synthese 
wieder  erwacht  ist.  Es  kann  hier  nicht  darauf  ankommen,  diese 
umfangreichen  Werke  ausführlich  zu  rezensieren.  Ich  verweise 
dafür  auf  die  eingehenden  Besprechungen  von  Wind i seh  in  der 
Zeitschr.  für  wissensch.  Theol.  52  und  54,  Knopf  in  den  Theol. 
Studien  und  Kritiken  1913,  Bousset  in  der  Theol.  Lit.- Zei- 
tung 1912. 

Ich  stelle  hier  nur  die  Frage,  in  welcher  Weise  sich  die 
vier  Verfasser  zu  dem  religionsgeschichtlichen  Problem  stellen, 
|i  das  augenblicklich  im  Vordergrunde  steht:  das  Verhältnis  des 


320  Johannes  Weiß 

entstehenden  Christentums  zu  der  umgebenden  religiösen  Welt 
des  orientalisch  -  hellenistisclien  Synkretismus.  Am  wenigsten 
merkt  man  von  dieser  Fragestellung  bei  Schlatter,  der  überhaupt 
als  Schriftsteller  und  Theologe  völlig  sui  generis  ist.  Weit  mehr 
selbst  als  Feine  steht  er  in  ungebrochener  innerer  Übereinstimmung 
mit  der  Schrift;  er  denkt  selber  aus  der  Seele  der  neutestament- 
lichen  Schriftsteller  heraus,  kann  sich  noch  ganz  mit  ihnen 
identifizieren;  er  redet  in  einer  Sprache,  die  zwar  keineswegs 
mehr  die  Sprache  der  Bibel  ist,  aber  auch  nicht  die  des  modernen 
Menschen  und  Schriftstellers,  sondern  die  eines  bestimmten  reli- 
giösen Kreises.  Die  Kritik,  sowohl  die  literarische  wie  die  histo- 
rische, kann  hierbei  nicht  genügend  zu  Worte  kommen,  noch 
viel  weniger  die  Frage,  inwieweit  Jesus  und  Paulus  und  die 
anderen,  inwieweit  die  ganze  Religion,  die  hier  entsteht,  an 
dem  Material  der  umgebenden  Religionswelt  sich  genährt  hat.  Als 
die  einzige  wirkliche  Voraussetzung  gilt  hier  das  A.  T.  und  das 
Judentum.  Eine  gute  Kenntnis  der  rabbinischen  Theologie  und 
jüdischen  Geschichte  setzt  den  Verfasser  instand,  Verwandt- 
schaft und  Gegensatz  zu  zeichnen.  In  dieser  Beziehung  ist  z.  B. 
das  Kapitel:  ^jBer  Kampf  Jesu  gegen  den  Pharisäismus "  sehr 
lehrreich.  „Weil  der  Kampf  gegen  den  Pharisäismus  die  Ge- 
schichte Jesu  und  des  Christentums  von  Anfang  an  bestimmt, 
ist  jener  an  dieser  wirksam  mitbeteiligt,  weil  der  Gegner,  durch 
dessen  Überwindung  der  eigene  Besitz  erworben  und  bewahrt  wird, 
diesen  mitbestimmt.  Das  weitverbreitete  Sträuben  gegen  die 
Tatsache,  daß  das  Christentum  ohne  die  Herrschaft  des  Phari- 
säismus über  die  jüdische  Gemeinde  undenkbar  ist  und  in  der 
Anlehnung  an  ihn  wie  im  Gegensatz  gegen  ihn  seine  Ge- 
schichte und  Lehre  erhalten  hat,  schädigt  das  Verständnis  der 
neutestamentlichen  Geschichte  in  allen  ihren  Vorgängen  und 
erzeugt  eine  Menge  von  Phantasien,  die  nun  Fremdartiges,  heid- 
nische oder  gnostische  Gedanken  mit  den  christlichen  Über- 
zeugungen in  Beziehung  bringen.  Sie  sind  aber  nur  durch  die 
herkömmlichen  Karikaturen  des  Pharisäismus  gestützt,  die  für 


Neues  Testament  321 

seinen  religiösen  Ernst  blind  bleiben/"  Wenn  ich  diesen  charak- 
teristischen Satz  zutreffend  deute,  so  will  Schlatter  sagen,  daß 
der  richtig  verstandene  Pharisäismus  (wie  man  ihn  z.  B.  aus 
den  Salomonischen  Psalmen  oder  dem  4.  Esra-Buch  kennen 
lernen  kann)  in  Verwandtschaft  und  Gegensatz  für  die  Ent- 
stehung des  Christentums  eine  konstitutive  Bedeutung  hat,  und 
daß  dies  von  der  modernen  Religionsgeschichte  verkannt  zu 
werden  püegt,  weil  sie  zu  einseitig  auf  den  Hellenismus  ein- 
gestellt ist.  Wenn  das  die  Meinung  ist,  so  tann  ich  ihm  darin 
nur  beistimmen;  die  Zusammenarbeit  von  Theologie  und  Philo- 
logie wird  solange  einseitig  bleiben,  als  nicht  auch  die  eigent- 
lich jüdischen  Quellen  in  sie  hineinbezogen  werden.  An  diesem 
Punkte  liegt  der  Grund  für  eine  Reihe  noch  bestehender  Miß- 
verständnisse. Eine  Berührung  Jesu  mit  dem  Hellenismus  ge- 
steht Schlatter  insofern  zn,  als  er  sich  zwar  von  den  gnostischen  Strö- 
mungen des  Judentums,  wie  dem  Essenismus,  und  von  dem  sonst 
im  damaligen  Judentum  vorhandenen  hellenistischen  Element 
aufs  schärfste  scheidet:  dem  Intellektualismus,  der  Aufklärung; 
andererseits  ist  der  von  Jesus  schon  vorausgesetzte  individuelle 
ünsterblichkeitsgedanke  und  ein  gewisses  Maß  von  Heraus- 
arbeitung psychologischer  Begriffe  ein  Ergebnis  hellenistischer 
j  Einwirkung,  auf  dem  Jesus  fußt.  Bei  Paulus,  obwohl  das 
I  Grundwesen  seiner  Religion  durchaus  auf  die  Herkunft  aus 
I  und  den  Kampf  mit  dem  Judentum  zurückgeführt  wird,  wird 
doch  anerkannt,  daß  er  „in  seiner  Art  zu  denken  und  zu  handeln 
ein  starkes  griechisches  Element  in  sich  trägt".  Aber  „Mischungen 
j  des  Wortes  Jesu  mit  den  griechischen  Tendenzen  sind  durch 
I  Paulus  nicht  entstanden",  „griechische  Denkformen"  hat  er  nur 
.  in  geringem  Maß  verwertet,  auch  im  Weltbild  des  Paulus  wird 
kein  griechischer  Einfluß  sichtbar;  nur  Begriffe  wie  vovg  und 
övvsCdrjöig,  die  Bilder  vom  Wettkampf,  die  Verwendung  des 
Ehrmotivs  bei  der  Arbeit  (q)LXori,^sl6d'aL)  sind  griechisch;  „einen 

^  Ich  benutze   die  Gelegenheit,    um  auf  das  lehrreiche    Buch    von 
Herford  Der  Pharisäismus  hinzuweisen. 

Archiv  f.EeligionswiBBenschaftXVII  21 


322  Johannes  Weiß 

griecliisclien  Ton  hat  auch  die  Forderung  der  Besonnenheit  und 
Würdigkeit";  „da  der  Grieche  in  dieser  Beziehung  hoch  entwickelt 
war,  wurde  es  sofort  für  die  Christenheit  zu  einer  wichtigen 
Aufgabe,  daß  sie  in  diesem  Verhalten  alles  vermied,  was  den 
Eindruck  des  Lächerlichen  und  Gemeinen  machte".  Diese  Zu- 
geständnisse hellenistischen  Einflusses  sind  natürlich  zu  gering^ 
immerhin  erscheint  mir  der  entgegengesetzte  Fehler  der  Nichts 
Würdigung  jüdischer  Überlieferung  bei  Paulus  fundamentaler, 
und  in  dieser  Beziehung  ist  das  Bild  Schlatters  reich  und  über- 
zeugend. Feine  kommt  trotz  seines  konservativen  Stand- 
punktes in  der  Christologie  den  Forderungen  und  Anschauungen 
der  religionsgeschichtlichen  Forschung  weit  entgegen,  so  be- 
deutet sein  Buch  nicht  nur  eine  sehr  gründliche  und  instruk- 
tive, sondern  auch  relativ  unparteiische  Einführung  in  die  neue- 
ren Probleme;  man  lese  z.  B.  den  Abschnitt:  Zeitgeschichtliche 
Elemente  in  der  paulinischen  Theologie:  „Für  die  wissenschaft- 
liche Forschung  unterliegt  es  keinem  Zweifel,  daß  auch  Paulus 
sein  Christusbild  und  seine  gesamten  lehrmäßigen  Gedanken  nur 
in  den  Formen  der  Bildung  und  Anschauung  seiner  Zeit  dar- 
stellen konnte  . . .  Wir  haben  gelernt,  das  Christentum  nicht 
zu  isolieren,  sondern  es  im  Zusammenhang  und  in  der  Aus- 
einandersetzung mit  den  Geistes-  und  Kulturmächten  zu  be- 
trachten, in  deren  Mitte  es  eintrat."  Im  einzelnen  geht  Feine 
in  der  Anerkennung  übernommener  Elemente  recht  weit,  nament- 
lich gibt  er,  richtiger  als  andere,  ein  gewisses  Verhältnis  des 
Paulus  zur  Stoa  zu.  Seine  Verwahrungen  gegen  Extravaganzen 
der  religionsgeschichtlichen  Methode  würden  überzeugender  sein, 
wenn  sie  bloß  wissenschaftlicher  Natur  wären;  es  mischt  sich 
aber  hier  sehr  oft  das  religiöse  oder  dogmatische  oder  kirchliche 
Empfinden  des  Verfassers  ein,  wie  er  auch  selber  zugesteht j 
damit  wird  die  Stoßkraft  des  wissenschaftlichen  Arguments  ge- 
schwächt, und  auch  der,  der  den  Standpunkt  des  Verfassers 
teilen  möchte,  wird  unsicher,  weil  die  ganze  Beweismethode  sich 
im  Grunde  nicht  genügend  über  das  „Ja — aber"  erhebt.  Es  fehlt 


Neues  Testament  323 

an  einer  wirklicli  lebendigen  genetisch- oTganischen  Darstellung, 
in  der  das  Nebeneinander  alttestamentlich- jüdischer  und  helle- 
nistisch-synkretistischer  Elemente  als  ein  unvermeidliches  oder 
notwendiges    Ineinander   aufgezeigt   würde.     Wenn    man  über 
diese  Seite  des  Feineschen  Buches  hinwegsehen  kann,  wird  man 
es  als  nützlich  und  in  vielem  lehrreich  empfinden.    Sein  buch- 
händlerischer Erfolg  ist  nicht  erstaunlich.    Es  fehlt  ein  Werk, 
das  bei  genügender  Wissenschaftlichkeit  die  Grundpositionen  der 
kirchlichen  Frömmigkeit  nicht  preisgibt.     Einen  nicht  minder 
großen  Erfolg  hat  Weineis  „Biblische  Theologie'^  mit  dem  Unter- 
titel „Die   Religion  Jesu  und  das  Urchristentum"  im  anderen 
Lager  gehabt,  weil  es  hier  anderen  und  doch  ähnlichen  Wünschen 
und  Bedürfnissen  entgegenkommt.   Gfegenüber  der  Kritik,  welche 
die  erste  Auflage  erfahren  hat,  verteidigt  Weinel  die  Anlage  und 
Urteilsweise  seines  Werkes  in  der  Vorrede  der  zweiten  als  einen 
„Anfang,   aus  der  krassen  Empirie  herauszukommen,  die  jetzt 
auf  dem  Gebiete  der  Religionsgeschichte  herrscht".  „Demgegen- 
über ruht  meine  Darstellung  auf  einer  umfassenden  Betrachtung 
der  Religion  in  der  Religionsgeschichte  und  sucht  von  der  Fest- 
stellung der  Struktur  dieser  geistigen  und  praktischen  Erschei- 
nung aus  den  Religionen  vergleichend  gerecht  zu  werden." 
Insbesondere  verteidigt  er  seinen  Sprachgebrauch,  wonach  die 
anderen  gleichzeitigen  Erlösungsreligionen  als  „ästhetische"  be- 
zeichnet werden;  „der  Begriff  der  ästhetischen  Erlösungsreligion 
1  ist  sachlich  deutlich  genug  gemacht  als  Inbegriff  der  Religionen, 
denen   die  Erlösung  von  Leid  das  Wesentliche  ist.    Das  Wort 
^ästhetisch'    ist  nicht  gut,    weil   wir  es   gewöhnlich  in  einem > 
engeren  Sinne  nehmen;  aber  es  ist  schwer  zu  ersetzen.    Schon 
Schleiermacher  hat  es  verwenden  müssen,  um  auch  monotheistische 
Religionen  vom  Christentum  abzuheben".  Für  das  Verständnis  der 
Anlage  des  Buches  lese  man  den  interessanten  einleitenden  §  1, 2,  in 
idem  der  Verfasser  ein  Schema  der  „Morphologie  der  Religion" 
entwickelt,  das  alle  wesentlichen  Fragestellungen  einer  wirklichen 
Religionsgeschichte  enthält.  Bewunderungswürdig  und  auch  dem 

21* 


524  Johannes  Weiß 

gelehrtesten  Religionshistoriker  zu  empfelilen  ist  die  gedrängte 
„ Religionsgescliiclitliche  Einleitung",  in  der  die  leitenden  Ideen 
des  Verfassers   schon  hervortreten;   ich  hebe  hervor  seine  Be- 
tonung des  vorchristlichen  „Monotheismus  der  Andacht"  (§  3  fin.), 
des   ethischen  Monotheismus  bei  Deuterojesaja  (§  4, 1),  die  Be- 
urteilung der  Mysterienreligionen  (bes.  §  5;2e)  und  die  meister- 
haft knappe  Schilderung  der  eschatologischen  Erlösungsreligion 
(§5,5),  wobei  die  hellenistischen  Hoffnungen  und  die  jüdischen 
als  wurzelhafte  Einheit  betrachtet  werden.     Der  erste  Teil  der 
eigentlichen  Darstellung  beginnt  nun  sofort  mit  der  Fragestellung 
nach  dem  Grundcharakter  der  Religion  Jesu,  „ob  Jesus  in 
die  ästhetische  Erlösungsreligion  hineingehört".   Obwohl  „Jesus 
die  Zukunftshoffnungen  der  eschatologischen  Erlösungsreligion  . . 
geteilt  hat",  wird  jene  Frage  verneint:  „denn  er  teilt  gerade  die 
Züge  nicht  mit  ihr,  die  ihr  Wesen  ausmachen":  statt  ihrer  Phan- 
tastik  seine  Schlichtheit,  statt  des  Rechnens  mit  Zahlen  und  Zeiten 
die  schlichte  Gewißheit  der  Nähe  und  der  Ernst  der  Drohung  und 
Mahnung:  „das  alles  stellt  Jesus  in  die  Reihe  der  Propheten  ein 
und  nicht  in  die  Reihe  der  Apokalyptiker".    Namentlich  in  der 
Beurteilung  der  Güter  und  Gemeinschaften   der  Erde  sind  die 
„  Töne  der  ästhetischen  Erlösungsreligion  nur  ganz  leise  und  ver- 
schwindend zu  vernehmen.     Überall  klingt  in  starken  Worten 
die  sittliche  Forderung  vor".  „Ganz  und  gar  nicht  ist  die  Sittlich- 
keit als  eine  zeitweilige  Askese  gedacht,  der  ein  Freudentaumel 
im  Jenseits  folgt  . .  die  Enthaltung  ist  ein  höchstes  sittliches  Opfer, 
das  nur  bestimmten  Menschen  und  in  bestimmten  Lagen  auf- 
erlegt ist  durch  dasselbe  Ideal  der  Reinheit  und  Güte,  das  auch 
das  schlichte  Leben  des  einfachen  Menschen  bestimmen  und  reif 
machen  soll  für  das  Gottesreich.''    Sakramentales  fehlt  bei  ihm 
völlig,  ebenso  die  Mystik.   So  „stammt  Jesus  nicht  aus  der  nur  leise 
anklingenden  und  auf  bestimmte  Kreise  beschränkten  Seitenlinie 
seines  Volkes  her,   sondern   aus   dem  Hauptstrom  der  prophe 
tisch -sittlichen  Gedanken".   Der  zweite  Abschnitt  schildert  dem 
entsprechend.  ,^die  Vollendung  der  sittlichen  Religion  durch  Jesus'^ 


I 


Neues  Testament  325 


Überwindung  der  Gesetzlichkeit,  Ausscheidung  des  Kultischen 
aus  dem  Willen  Gottes ,  das  neue  sittliche  Ideal,  das  Gemein- 
schaftsleben, die  Überwindung  des  Eudämonismus.  „Die  großen 
Linien  sittlicher  Entwicklung,  die  in  der  Geschichte  der  Mensch- 
heit auf  Bändigung  des  Trieblebens  und  auf  Nächstenliebe  hin- 
laufen,  sind  von   ihm   zu  Ende  geführt  .  .   es  ist  ein  Mensch- 
heits-  und  Persönlichkeitsideal,  dem  stoischen  nahe  verwandt, 
doch  frei  von  einigen  seltsamen  Schlacken,  die  dieses  zeigt,  und 
auf  das  Affektleben  ausgedehnt.     Die  Überwindung  der  eudä- 
monistischen  Motive  und  die  Durchbrechung  des  Lohngedankens 
weisen  nun  aber  zurück  auf  einen  neuen  Gottesgedanken,  auf  die 
eigentliche  Religion  Jesu.    „Man  nennt  sie  am  besten  die  sitt- 
liche Erlösungsreligion",  weil  sie  den  Menschen  von  einer 
als  äußere  Autorität  gegebenen  und  darum  ohnmächtigen  sitt- 
lichen Forderung  befreit  und  ihm  die  Kraft  eines  neuen  Lebens 
schenkt.    Darin  liegt  dann  freilich  auch  eine  Erlösung  aus 
dem  Leid:  der  neue  Mensch  schaut  die  Welt  mit  anderen  Augen 
an.  Aber  diese  Erlösung  wird  hier  nur  nebenbei  erreicht,  nicht 
als  das  Wesentliche  gesucht.    Der  Darstellung  dieser  sittlichen 
Erlösungsreligion  ist  der  dritte  Abschnitt  gewidmet:  Der  neue  Gott. 
i  Das  Gebet.  Das  religiöse  Erlebnis.  Das  neue  Leben.  Der  vierte  Ab- 
schnitt handelt  von  der  Erlösungsreligion  und  der  Erlöserpersön- 
lichkeit, d.h.  vom  messianischen  Selbstbewußtsein  Jesu.  „Er  hat 
!  sich  für  die  entscheidende  und  abschließende  Offenbarung  Gottes  ge- 
!  halten",  für  das  Schicksal  seines  Volkes.  „Wer  sich  ihn  bescheidener 
wünscht  und  deshalb  all  diese  Worte  streicht,  tut  der  Überlieferung 
! Gewalt  an,  meist  aber  auch  mit  einem  Maßstab,  der  zu  klein  ist." 
jWeinel  kommt  zu  dem  Ergebnis,  daß  ein  Sohnes-  und  Messias- 
bewußtsein bei  Jesus  überwiegend  wahrscheinlich  sei  —  trotz 
ider  Einwendungen  neuerer  Forscher.    Der  zweite  Teil  behandelt 
ikurz  die  Religion  des  vorpaulinischen  Urchristentums  und  dann 
! —  nicht  ganz  in  dem  Umfang,  der  der  Religion  Jesu  gegönnt 
iist  —  Paulus.  „P.  hat  nicht  nur  das  pharisäische  Erbe  mitgebracht. 
Ebenso  wesentlich,  noch  wesentlicher  war  für  ihn  und   seine 


326  Johannes  Weiß 

Auffassung  des  Evangeliums  die  hellemstische  Religion ,  Tor  allem 
die  Erlösungsselineuclit  des  Hellenismus.  Er  hat  dieses  Erbe  wahr- 
seheinlich  nicht  erst  von  den  älteren  christlichen  Hellenisten  über- 
kommen.   Es  liegt  —  wenn  man  so  sagen  darf  —  tiefer.    Er 
stammt  wirklich  nach  seiner  Frömmigkeit  aus  der  pessimistischen 
Linie  der  jüdischen  Entwicklung.    Neben  Philo  und  den  Ver- 
fasser des  4.  Esrabuches  muß  man  ihn  stellen.    Er  ist  die  direkte 
Fortsetzung  jener  Sehnsucht  nach  Ewigkeit  und  heiligem  Geist, 
in  der  wir  das  Letzte  sahen,  wozu  jüdische  Frömmigkeit  von  sich 
aus  und  unter  dem  Einfluß  des  Hellenismus  kommen  konnte."  „Wir 
werden  sehen,  daß  es  sich  doch  nur  um  eine  Form  Verschiebung 
ins  Hellenistische,  um  die  dualistisch- pessimistische  Gestalt  der 
sittlichen  Erlösungsreligion  handelt,  wobei  dann  freilich  die  ästhe- 
tische Erlösungsreligion  viel  stärker  eingewirkt  hat  als  bei  Jesus." 
Weinel  veranschaulicht  das,  indem  er  zuerst  die  „sittliche Erlösungs- 
religion" darstellt,  dann  die  „beibehaltene  oder  wieder  eingedrun- 
gene Frömmigkeit  früherer  Stufen",  die  Sakramentsreligion,  die  bei 
Paulus  „geradezu  eine  besondere  Religion  neben  der  sittlichen  Er- 
lösungsreligion" ist.  „Man  kann  alle  Aussagen  über  die  Religion 
und  ihr  Verhältnis  zur  Sittlichkeit  ebenso   im  Anschluß  an  die 
Sakramente  machen  wie  im  Anschluß  an  den  Glauben  und  das 
neue  Erleben  des  Geistes  oder  des  Christus."    „Für  die  sittliche 
Religion  bedeutet  dieses  Zusammengehen  mit  der  Sakramentsreli- 
gioö  in  sittlich  wenig  starken  Menschen  die  Gefahr  ihres  Unter- 
ganges im  Zauber  des  Sakraments."    „Die  Sakramente  sind  ein 
Fremdkörper  in   der  Religion   des  Paulus",   „Rest  einer  über- 
wundenen Stufe";  „es  ist  durchaus   nicht  wahrscheinlich,  daß 
er  seine  Mystik  aus  den  Sakramenten  erst  entwickelt  hat.   Viel- 
mehr ist  deutlich,  daß   die  Mystik  bei  ihm   das   ganze  Leben 
durchdringt,  das  Sakrament  aber  nicht."  Es  folgt  dann  noch  eine 
Darstellung  der  Ethik  und  der  Weltanschauung  und  Geschichts- 
betrachtung des  Paulus.    Das  S.Buch  des  zweiten  Teils  behan- 
delt das  „Christentum  dör  werdenden  Kirche"  —  ein   äußerst 
wertvoller  Abschnitt,  der  in  den  älteren  Werken  über  dem  System 


Neues  Teatament  ^27 

der^Lehrbegriffe"  und  bei  der  Bescbränkung  auf  die  kanonischen 
Bücher  des  N.  T.  sehr  zu  kurz  gekommen  war.    Das  charakter- 
volle und  durchweg  fesselnde  Buch  Weineis  ist  eine  schriftstelleri- 
sche und  Gedankenleistung,  wie  wir  deren  wenige  zu  verzeichnen 
haben.  Über  seinen  wissenschaftlichen  Wert  als  historische  Arbeit 
urteilt  Windisch  folgendermaßen:  „Es  ist  keine  rein  historische 
Darstellung,  vielmehr  ist  die  Ausführung  von  einem  religions- 
philosophischen oder  religionspsychologischen  Begriffsschema  be- 
herrscht, das  dem  Stoffe  nicht  ganz  gerecht  wird."  „  Die  Beurteilung 
und  Einspannung  in  Kategorien,  die  aus  der  Dogmatik  oder  der 
modernen  Religionsphilosophie  stammen,  ist  niemandem  zu  ver- 
bieten, ist  sogar  für  die  Gewinnung  einer  eigenen  religiösen  Weltan- 
schauung unerläßlich,  aber  es  ist  ein  Fehler,  wenn  das  Geschäft  mit 
4er  historischen  Arbeit  dermaßen  verquickt  wird,  wie  es  Weinel 
tut.    Es  wird  doch  auch  hier  der  historische  Tatbestand  einer 
nicht  ganz  adäquaten  Religionsauffassung  dienstbar  gemacht . .  es 
werden  Wertungen  vorgenommen,  über  die  das  Urchristentum 
jedenfalls  keine  prinzipielle  Klarheit  besessen  hat.*'    „Noch  be- 
denklicher ist,  daß  bei  solcher  Methode  die  Empfindungen  des 
modernen  Forschers  zu  leicht  auch  dem  Objekt  der  Forschung 
untergeschoben  werden.    Dieser  Gefahr  ist  Weinel  nicht  entgan- 
gen. Ein  Gelehrter  wie  Weinel  zielt  mehr  oder  weniger  unbewußt 
4iuf  den  Nachweis  ab,  daß  die  Predigt  Jesu  in  ihren  Hauptpunkten 
auf  der  Höhe  religiöser,   sittlicher  und  intellektueller  Einsicht 
'«teht,  die  wir  von  einem  Religionshelden  verlangen,  vor  dem 
wir  uns  beugen,  daß  also  in  seiner  Predigt  dasselbe  als  Haupt- 
sache hervortritt,  was  für  uns  Moderne  Hauptsache  ist."    Diese 
/etwas  harten  Urteile  sind  doch  in  der  Hauptsache  nicht  un- 
zutreffend —  bei   aller  Bewunderung  für  die  Leistung  Weineis 
wird  man  es  verstehen  können,  wenn  der  moderne  Forscher  sich 
-in  Holtzmanns  Werke  heimischer  fühlt.     Obwohl  hier  das 
Schema  der  Lehrbegriffe  und  die  literarische  Betrachtung  in  einer 
micht  mehr  zu  billigenden  Weise  vorwaltet,  hat  man  doch  viel- 
rinehr  die  Empfindung  eines  Ringens  um  wirklich  historisches 


328  Johannes  Weiß 

Verständnis;  die  Probleme  als  Bolche  treten  viel  schärfer  hervor, 
und  die  geradezu  rührende  Berücksichtigung  der  Mitarbeit  auch 
sehr  verschiedenartiger  Forscher  gibt  einen  besseren  Eindruck  von 
der  wirklichen  Arbeitslage,  als  die  glänzende,  überzeugte  und  oft 
mitreißende  Darstellung  Weineis.  Es  ist  eine  schöne  Fügung,  daß 
durch  die  neue  Auflage  die  wissenschaftliche  Persönlichkeit  Holtz- 
manns  über  seinen  Tod  hinaus  noch  für  eine  lange  Zeit  als  Vor- 
bild und  Helfer  für  unsere  Arbeit  lebendig  erhalten  worden  ist. 
„Das  Christentum  in  den  ersten  drei  Jahrhunderten*^  (2  Bände, 
Leipzig  1912)  von  Hans  Achelis  bedeutet  unter  den  bisherigen 
Darstellungen  der  alten  Kirchengeschichte  ein  Novum,  sowohl 
der  Anlage  und  Disposition  nach  —  die  übliche  Einteilung  in  die 
Perioden:  apostolisches,  nachapostolisches,  altkatholisches  Zeit- 
alter ist  aufgegeben  —  wie  dem  Inhalt  nach:  war  die  bisherige 
Darstellungsweise  ganz  überwiegend  auf  dogmengeschichtliche 
Gesichtspunkte  eingestellt,  so  tritt  hier  die  Kirche  als  Gemein- 
schaft, das  Gemeinschaftsleben  ganz  außerordentlich  und  fast 
einseitig  in  den  Vordergrund.  Die  religionsgeschichtliche  Frage, 
wie  das  Christentum  aus  der  Religion  der  Antike  entstanden  ist, 
tritt  deshalb  hier  sehr  stark  zurück;  es  wäre  aber  für  unsere 
radikalen  Heißsporne,  die  sich  getrauen,  das  Christentum  in  einem 
synkretistischen  Mythos  aufzulösen,  sehr  nützlich,  wenn  sie  diese 
Darstellung  lesen  wollten.  Sie  könnten  lernen,  daß  diese  Reli- 
gion von  Anfang  an  sehr  viel  mehr  und  im  Grunde  etwas  anderes 
gewesen  ist  als  ein  Mythos  oder  ein  Kultus  des  sterbenden  und 
auferstehenden  Gottes,  nämlich  eine  Gemeinschaft  mit  sehr  charak- 
teristischen praktischen  Zielen  und  Lebensformen.  Auch  die  Skep- 
tiker, die  da  meinen,  daß  wir  über  das  älteste  Christentum  nichts 
wissen  können,  die  Hypothesenbauer,  die  ihre  Gebäude  ohne 
Fundament  und  Steine  in  die  Luft  bauen,  mögen  sich  von  dem 
Reichtum  der  Daten  überzeugen,  über  die  wir  verfügen;  viel- 
leicht werden  sie  dann  dem  Worte  Achelis'  zustimmen:  „daß  wir 
über  die  Geschichte  des  Christentums  ungleich  besser  unterrichtet 
sind  —  auch  schon  in  seiner  ältesten  Zeit  —  als  über  irgendeine 


Neuea  Testament  329 

andere  Religion,  die  mit  der  Kirche  in  historische  Parallele  gesetzt 
wird".  Auf  der  Darstellung  des  Gemeindelebens  ruht,  wie  gesagt, 
bei  H.  Achelis  der  Hauptnachdruck.  Vorausgeschickt  sind  zwei 
Kapitel  über  „die  Gemeinde  in  Jerusalem"  und  über  „Paulus"; 
dann  folgt  eine  breite  Schilderung  der  heidenchristlichen  Gemeinde-, 
der  Abschnitt  „Zusammenhang  mit  der  Synagoge"  ist  sehr  wichtig 
für  die,  welche  das  Christentum  nur  aus  dem  Hellenismus  herleiten 
möchten;  die  Taufe  wird  hier  ganz  aus  dem  Judentum  abgeleitet, 
wenn  auch  ein  Nebenhereinwirken  „antiker  Überlieferungen"  zu- 
gestanden wird  —  hier  erwartet  man  ein  stärkeres  Eingehen  auf  die 
heute  brennende  Frage;  auch  bei  der  Handauflegung  scheint  heid- 
nischer Ursprung  ebenso  wahrscheinlich  wie  jüdischer  (I,  S.  145). 
Im  5.  Kapitel  erhalten  wir  eine  knappe  Charakteristik  der 
Gnosis;  auch  hier  wird  auf  Darlegung  der  Systeme,  d.  h.  auf 
den  dogmengeschichtlichen  Gesichtspunkt  verzichtet,  dagegen 
die  großen  praktischen,  für  die  Kirche  als  Gemeinschaft  wichtigen 
Züge  stark  hervorgehoben:  „Tausendfache  Elemente  antiker  Reli- 
gionen drängten  sich  an  das  Christentum  heran.  Sie  hatten 
ihre  Herkunft  noch  häufiger  in  orientalischen  Überlieferungen 
als  in  den  griechischen  Kulten;  im  einzelnen  widersprachen  sie 
sich  und  hoben  sich  gegenseitig  auf.  Gemeinsam  war  ihnen 
nur  das  Bestreben,  Einfluß  auf  die  junge  Kirche  zu  gewinnen 
und  sie  ihrer  auf  dem  Boden  des  Judentums  gewachsenen  Tradi- 
tionen zu  entkleiden.  Die  Kirche  sollte  sich  ausgleichen  mit 
den  anderen  Religionen,  die  im  römischen  Reich  sich  ausbreite- 
ten; sie  sollte  ihre  starre  Ausschließlichkeit  aufgeben  und  sich 
auf  einen  Austausch  ihrer  religiösen  Güter  einlassen.  Christus 
sollte  eintreten  in  den  weiten  Göttersaal;  man  war  bereit,  ihm 
dort  einen  der  ersten  Plätze  einzuräumen."  „Hätte  die  Gnosis 
an  Einfluß  gewonnen,  so  würde  das  Christentum  mit  der  Zeit 
das  A.  T.  vergessen  haben,  die  Schriften  des  N.  T.  wären  um- 
i  gestaltet  worden,  die  Gemeinden  hätten  ihre  eschatologische  Er- 
wartung fallen  lassen,  die  Sittenzucht  wäre  eingeschlafen,  die 
iGlut  der  Liebesgemeinschaft  erloschen,  die  ideale  Einheit  der 


^30  Johannes  Weiß    Neues  Testament 

Kirche  hätte  sich  in  eine  Anzahl  von  kleinen  Schulen  aufgelöst^ 
die  von  immer  neuen  Propheten  geleitet  und  hin  und  her  ge- 
zerrt worden  wären/^  „Unter  ihrem  Einfluß  hätte  sich  die  Kirche 
dem  Niveau  der  antiken  Religiosität  angenähert  .  .  .  wäre  auf- 
gegangen  in  dem  religiösen  Synkretismus."  Der  Kampf  gegen 
die  Gnosis  war  also  ein  Akt  der  Selbstbehauptung  des  Christen- 
tums. Das  Glanz-  und  Hauptstück  des  ganzen  Werkes  ist  die 
Schilderung  der  Entstehung  der  katholischen  Kirche  (2.  Band). 
Hier  hat  der  Verfasser  aus  zahllosen  Einzelzügen  ein  außer- 
ordentlich eindrucksvolles  Bild  geschaffen.  Mit  dem  Kapitel: 
„Staat  und  Kirche"  schließt  die  Darstellung,  die  durch  konkrete 
Lebendigkeit  und  Anschaulichkeit,  durch  die  Ruhe  der  Diktion, 
durch  ein  von  Stubengelehrsamkeit  freies  menschliches  Urteil 
eine  außerordentlich  fesselnde  und  lehrreiche  Lektüre  bildet 
Was  ihr  an  „theologischem"  Kolor  fehlt,  ersetzt  sie  reichlich 
und  zum  Vorteil  der  Sache  durch  die  Wärme  und  Liebe,  die 
eine  Begleiterscheinung  eindringender  Stoffbeherrschung  ist  Das 
Zurücktreten  der  religionsgeschichtlichen  Probleme  im  engeren 
Sinne  wird  freilich  von  manchem  als  ein  Mangel  empfunden 
werden.  Es  läßt  sich  aber  durchaus  nichts  gegen  die  Methode 
einwenden,  auch  einmal  die  Dinge  zu  schildern,  wie  sie  waren, 
und  auf  eine  Erklärung  zu  verzichten,  die  nach  Lage  der  Dinge 
vielfach  nur  einen  hypothetischen  Charakter  tragen  muß.  Eher  darf 
man  dem  Verfasser  vorwerfen,  daß  er  keine  Schilderung  des  jüdi- 
schen und  heidnischen  Milieus  gegeben  hat,  innerhalb  dessen  das 
Christentum  aufgetreten  ist.  Aber  an  derartigen  Darstellungen  ist 
ja  heute  kein  Mangel.  Mit  Freude  und  Dankbarkeit  verzeichnen  wir 
zum  Schlüsse  noch  das  Erscheinen  einer  zweiten  Auflage  von 
Wendlands  Werk:  „Die  hellenistisch-römische  Kultur  "(Tübin- 
gen 1912).  Die  Schnelligkeit,  mit  der  sie  auf  die  erste  gefolgt  ist, 
beweist  die  große  Teilnahme,  die  das  ausgezeichnete  Buch  bei 
Theologen  und  anderen  gefunden  hat;  die  neue  Darstellung  ist 
überall  vertieft  und  bereichert  und  wird  auch  in  dieser  Gestalt  als 
Fundgrube  und  Hilfe  für  die  theologische  Arbeit  sich  bewähren. 


III  Mitteilungen  und  Hinweise 


A.  Milchliöfers  Nachlaß  zur  antiken  Religion 

Dem  Unterzeichneten  wurden  von  Frau  Prof.  E.  Milchhöfer  zwei 
große  Hefte  und  drei  Mappen  übergeben,  die  den  wissenschaftlichen 
Nachlaß  Arthur  Milchhöfers  enthalten.  Eine  Durchsicht  zeigte, 
daß  es  sich  um  sehr  reiche  Materialsammlungen  handelte ,  die  für  ein 
großes  Werk  aus  dem  Gebiet  der  griechischen  Religionsgeschichte  be- 
stimmt waren.  Da  nichts  Druckfertiges  oder  auch  nur  näher  Aus- 
geführtes sich  darunter  befindet,  muß  Unterzeichneter  sich  auf  einige 
allgemeine  Mitteilungen  aus  den  Manuskripten  beschränken.  Er  kann 
dies  nicht  tun,  ohne  sein  tiefstes  Bedauern  ausgesprochen  zu  haben, 
daß  es  Milchhöfer  nicht  vergönnt  war,  dies  große  Werk  der  Wissen- 
schaft zu  schenken.  Per  Nachlaß  ist  jetzt  durch  Vermittlung  des 
Herrn  Prof  Sudhaus  auf  der  Universitätsbibliothek  in  Kiel,  an  Milch- 
höfers Wirkungsstätte,  aufbewahrt,  wo  er  leicht  zugänglich  ist.  Hof- 
fentlich findet  er  bald  einen  dankbaren  Benutzer. 

Das  Werk  sollte  die  älteste  Geisteskultur  Griechenlands  mit  be- 
sonderer Berücksichtigung  der  Kunst  und  Religion  behandeln  und 
vielleicht  den  Titel  führen:  „Neue  Studien  zur  ältesten  Kimst  und  Re- 
ligion Griechenlands."  Als  Problem  der  Probleme  faßte  M.:  Wie  die 
Griechen  und  ihre  Kunst,,  griechisch"  wurden,  und  als  Weg  dazu  sah 
«r  den  erneuerten  Versuch  der  Nutzanwendung  der  bisherigen  forma- 
listischen Studien.  Demgemäß  berücksichtigt  die  Materialsammlung 
lieben  dem  religionsgeschichtlichen  vor  allem  das  die  ältere  Zeit  betref- 
fende archäologische  Material  (bes.  Kreta,  Mykenisches,  Inselkultur  usw.). 
Ein  Faszikel,  der  für  den  allgemeinen  kulturellen  Hintergrund  der 
allerältesten  Zeit  Material  enthält,  ist  betitelt:  Mykenisches  und 
Religion  in  Kreta.  Besonders  die  Inselsteine  bieten  ergiebiges  Ma- 
terial. Auch  allgemeine  Bemerkungen  über  M.s  „Anfänge  der  Kunst" 
finden  sich  hier  (zum  Teil  gegen  Heibig  gerichtet).  Zu  dem  archäo- 
logischen Material  treten  Notizen  und  Sammlungen  über  Homer.  Die 
örtliche  und  zeitliche  Ausdehnung  der  mykenischen  Kultur  ist  durch 
feste  Tatsachen  gesichert.  Dagegen  strittig  ist  die  Frage  1.  nach  der 
Nationalität  ihrer  Träger,  2.  nach  der  Art  des  Besitzes  (d.  h.  dem 


332  Mitteilungen  und  Hinweise 

Grad  der  Abhängigkeit).  Die  erste  Frage  darf  nicht  lediglich  auf  die 
Alternative  „Griechen  oder  Nichtgriechen?"  gestellt  werden.  Denn 
die  Zeiten  sind  vorüber,  in  denen  man  die  griechischen  Volkselemente 
überhaupt  vom  Besitz  oder  wenigstens  Mitbesitz  der  mykenischen  Kultur 
hat  ausschließen  wollen.  Einige  einfache  Erwägungen  sind  dabei  an- 
zustellen: 1.  über  die  Thraker,  2.  über  die  dorische  Wanderung,  3.  über 
das  Epos.  Schon  früh  fanden  Besiedelungen  der  Inseln  und  Klein- 
asiens statt;  auch  die  Beziehungen  zu  Thessalien,  Arkadien  und  Kreta 
sind  zu  beachten. 

Von  vier  Kapiteln  finden  sich  Überschriften:  Kap.  I.  Die  große 
Göttin  und  ihr  Kreis.  Große  Materialsammlung  unter  dem  Stich- 
wort Potnia.  Wer  glaubt,  daß  diese  Gestalt  glatt  in  Artemis  auf- 
gehe, wird  ihr  nicht  gerecht.  Anpassungsfähigkeit  an  einen  Gott, 
bzw.  Heros:  z.  B.  als  Basile  an  Neleus  (Kodros),  Kronos,  Zeus,  Dio- 
nysos (als  Artemis,  Hera,  Persephone,  Aphrodite,  Meter,  Demeter). 
Überall  finden  sich  stehengebliebene  Reste  ihres  Kultes,  der  sonst  (meist 
von  den  Mysterien göttinnen)  aufgesogen  ist.  Es  ist  verkehrt,  in  den 
pelasgischen,  ältesten  Kulten  Demeter  und  Köre  vorauszusetzen.  Köre 
ist  nur  eine  der  kovqccl,  die  nach  Pindar  die  große  Göttin  (liknovrccL. 
Artemis  hatte  kein  rechtes  Personal,  besonders  kein  männliches,  da- 
her ist  sie  isoliert.  —  Ferner  ist  Material  vorhanden  für  kniende 
Gebärerinnen,  die  nackte  Göttin  (das  Motiv  hat  zunächst  nichts 
mit  der  Geschlechtsgöttin  zu  tun;  vielmehr  ist  Nacktheit  ein  Früh- 
stadium a  la  geometrischer  Kunst).  —  Das  Personal,  das  den  hel- 
lenischen Göttinnen  fast  durchaus  fehlt,  verbindet  die  große  Göttin 
mit  den  Gestalten  Kleinasiens  (Ephesia,  Ma);  s.  deren  Priester  Schäften, 
Amazonen,  Hierodulen,  ganze  Hierarchien. 

Kap.  II.  Nymphen  und  Verwandtes.  Vor  allem  über  Pare- 
droi;  Einzahl  und  Mehrzahl;  Sondergötter.  Die  Sondergötterwissen- 
schaft  führte  bisher  ins  Zusammenhangslose,  nie  zum  Ganzen;  eine 
Deroute;  Zerstückelung.  Sie  wird  erst  fruchtbar,  wenn  man  sie  von 
begrifflichen  auf  die  lokalen  Numina  überträgt. 

Kap.  III.   Tiergestalt  und  Tierattribut. 

Kap.  IV.  Elementargeister  und  -dämonen.  Heroen  und 
Götter.  Das  Heroentum  ist  gehoben  und  konserviert  nicht  sowohl 
durch  das  Lied  als  durch  den  genealogisierenden  heroisierenden  Sinn, 
der  durch  Geschlechtergliederung,  Familienkult,  Ahnenkult  festgesetzt 
wurde,  also  Parallelerscheinung  zum  Epos,  bzw.  gleiche  Wurzel.  Im 
allgemeinen  ist  M.  gegen  die  Annahme  von  Hypostasen,  abgestorbenen 
Göttern.  Allerdings,  die  assimilierende  Kraft  des  Heroentums  hat  vor 
den  Göttern  nicht  Halt  gemacht;  seiner  Vorarbeit  verdanken  wir  die 
hohe  Menschlichkeit  der  Götter,  aber  das  Heroentum  ist  ein  eigener, 
selbständiger  Trieb, 

Gegen  die  Annahme  von  Hypostasen:  Sie  haben  allenfalls  Sinn 


Mitteilungen  und  Hinweise  333 

in  der  Legende  und  im  Mythos;  auf  diesem  Umwege  mußten  dann 
neue  Kulte  entstehen;  dies  ist  wenigstens  denkbar. 

Von  dem  übrigen  Material  ist  ein  großes  Heft  hervorzuheben,  das 
eine  lokale  Ordnung  der  Kulte  enthält. 

Heidelberg  Friedrich  Pfister 


Zur  ^Mutter  Erde' 

Schon  Albrecht  Dieterich  hatte  es  in  seiner  'Mutter  Erde'  neben 
dem  üblichen  Niederlegen  des  geborenen  Kindes  auf  die  Erde  beiläufig 
(S.  8, 1)  als  eine  nordgermanische  und  persische  Sitte  erwähnt,  daß 
die  Geburt  selbst  auf  der  Erde  bzw.  auf  dem  Fußboden  des  Hauses 
erfolgte.  Dieser  Brauch  ist  dann  von  E.  Samter  im  ersten  Kapitel  seines 
Buches  über  'Geburt,  Hochzeit  und  Tod'  (1911)  näher  untersucht 
worden.  Er  hat  ihn  (S.  5  f.)  bei  den  verschiedensten  Völkern  belegt 
und  einleuchtend  aus  dem  Wunsche  erklärt,  die  Gebärende  mit  der 
Erde  in  Verbindung  zu  setzen  und  bei  der  Geburt  aus  der  Erde  die 
Seele  des  Kindes  emporsteigen  zu  lassen  (S.  20,  vgl.  6;  R.  Wünsch  in 
den  Nachträgen  zu  Dieterichs  'Mutter  Erde'^  S.  122).  Erfüllt  wird 
dieser  Zweck  sonst  immer  durch  Niederlegen  der  Kreißenden  auf  die 
Erde,  bzw.  den  Boden.  Nur  im  klassischen  Altertum  fand  Samter  diese 
Form  nicht  (S.  6),  sondern  statt  dessen  die  gleichbedeutenden  Modi 
des  Niederkniens  (S.  6  ff.)  und  des  Fassens  der  Erde  mit  den  Händen 
(S.  16  ff.). 

Nun  ist  aber  in  Wahrheit  auch  bei  den  Griechen  jener  einfachere 
Ritus  des  Niederlegens  der  Schwangeren  auf  die  Erde  zu  treffen.  Das 
ergibt  sich  mit  aller  nur  wünschenswerten  Klarheit  aus  einem  lehr- 
reichen Zeugnis,  das  man  bisher  übersah,  aus  der  Phaedrus-Fabell  18 
{Mulier  parturiens),  die  ich  im  Wortlaute  hersetze : 

Nemo  libenter  recoUt  qui  laesit  locum. 
Instante  partu  muUer  actis  mensibus 
liumo  iacehat  flebiles  gemitus  ciens. 
Vir  est  hortatus,  corpus  lecto  reciperet, 
5  onus  naturae  melius  quo  deponeret. 
:  Minime,  inquit,  illo  posse  confido  loco 

malum  finiri,  quo  conceptumst  initio. 

Also  die  Gebärende  liegt  in  ihren  Wehen  auf  dem  Boden.  Der  Gatte 
rät  ihr,  sich  doch  auf  das  bequemere  Lager  des  Bettes  zu  legen.  Sie 
-aber,  lehnt  das  ab  mit  der  die  Pointe  des  Stückchens  enthaltenden  an- 
züglichen Begründung,  daß  sie  zum  Bett,  auf  dem  sie  in  diesen  schmerz- 
vollen Zustand  gekommen,  kein  Zutrauen  habe.  Aus  dieser  ihrer  Ant- 
wort zieht  der  Römer  die  billige  Moral  seines  Promythiums  (V.  1),  die 
wir  etwa  mit  dem  Sprichwort  wiedergeben  können:  ' Gebrannte  Kinder 
scheuen  das  Feuer'. 


334  Mitteilungen  und  Hinweise 

Die  sonderbare  ^ Fabel',  über  die  wohl  mancher  Leser  den  Kopf 
schütteln  mochte,  erhält  durch  die  folkloristische  Betrachtung  über- 
haupt erst  ihr  rechtes  Verständnis.  Wir  lernen  sie  als  ein  Beispiel 
des  beliebten  Typus  der  ätiologischen  Erzählung  erkennen.  Zugrande 
liegt  ihr  als  fest  gegebene  Voraussetzung  der  herrschende  Volksbrauch, 
daß  sich  die  Kreißende  zur  Geburt  auf  den  Erdboden  legt.  Der  Sinn 
der  alten  Übung  wird  nicht  mehr  begriffen.  Man  findet  sie  unpraktisch 
und  hält  sich  darüber  auf.  Man  möchte  erklären,  warum  man  ihr  immer 
noch  treu  bleibt.  Aus  diesem  Gedankengange  heraus  ist  die  witzige 
Wendung  entstanden. 

Phaedrus  scheint  zunächst  nur  fürs  römische  Leben  zu  zeugen.  Nun 
wissen  wir  aber,  daß  der  römische  Freigelassene  mindestens  im  ersten 
Buch  seiner  Fabeln,  laut  seiner  eigenen  Angabe  (Iprol.  If.),  lediglich 
ein  griechisches  Prosa-Asop-Buch  benutzt  und  in  Verse  gesetzt  hat. 
Und  in  unserem  Falle  sind  wir  zudem  in  der  glücklichen  Lage,  eine 
griechische  Parallele  zu  besitzen,  bei  Plutarch  {Coniugalia  praecepta 
39  p.  143  E),  dessen  mehrfache  ähnliche  Berührungen  mit  Phaedrus  man 
mit  Recht  auf  eine  gemeinsame  griechische  Quelle  zurückführt  (vgl. 
Denis  De  Ja  fable  dans  Vantiquite  classique,  Caen  1883  S.  49f.;  Cru- 
sius,  Rhein.  Museum  XXXIX  1884  S.  604 f.;  Christoffersson  Studia  de 
fontibus  fahularum  Babrianarum^  Diss.  Lund  1904  S.  75 ff.;  Bieber 
Studien  zur  Geschichte  der  Fabel  in  den  ersten  Jahrhunderten  der 
Kaiserzeit,  Diss.  München  1906  S.  50).  Plutarch  freilich  erzählt  die 
Geschichte  leider  nicht  so  ausführlich,  wie  wir  es  uns  wünschten.  Da 
es  ihm  nur  darauf  ankommt,  seinem  Satz,  daß  die  beim  ehelichen 
Lager  entstandenen  Zerwürfnisse  zwischen  den  Gatten  schwer  an  an- 
derem Ort  und  zu  anderer  Zeit  geschlichtet  werden  können,  als  rhe- 
torisches Pendant  jenen  Ausspruch  der  kreißenden  Frau  vorausschickend 
gegenüberzustellen,  so  erwähnt  er  nicht  ausdrücklich  die  für  uns  wich- 
tige Grundsituation  der  Anekdote  (das  Liegen  auf  dem  Boden),  sondern 
begnügt  sich  mit  den  Worten:  *jene  Frau  in  ihren  Geburtswehen  und 
ihrem  Unmut  sagte,  als  man  sie  aufs  Bett  legen  wollte:  ^wie  kann  denn 
das  Bett  dieses  Übel  kurieren,  in  das  ich  auf  dem  Bette  geriet?'  i] 
^sv  yaQ  oodlvovöa  %ccl  dvßcpOQOvOa  TtQog  xovq%axa%Xivovxcc(;  avtr^v  h'leys' 
'^Tt&g  d'  ccv  1]  %UvY]  tccvra  d-eQüCTCsvasLEv  olg  iitl  ti^g  %XLvrjg  7t£QU7te6ov / 
Das  aarccTiXLvovTccg  glaube  ich  im  Hinblick  auf  Phaedrus  de  conatu  ver- 
stehen zu  dürfen.  Sollte  es  dagegen  heißen,  daß  man  die  Frau  einfach 
und  wirklich  aufs  Bett  legte,  so  würde  das  als  bemerkenswerte  Tat- 
sache für  die  Zeit  wie  für  die  Persönlichkeit  des  Plutarch  eine  völlige 
Preisgabe  des  alten  Volksbrauchs  mutmaßen  lassen. 

Czernowitz  G.  A.  Gerhard 


Mitteilungen  und  Hinweise  335 


Zur  Legende  vom  Kyniker  Diogenes 

Als  der  unter  obigem  Titel  in  diesem  Archiv  (XV  1912  S.  388 ff.) 
gedruckte  Aufsatz  erschien,  war  bereits  ein  neues  interessantes  Dokument 
für  das  Weiterleben  des  volkstümlichen  Philosophen  zutage  getreten, 
auf  das  mich  zuerst  die  Güte  W.  Spiegelbergs  aufmerksam  machte. 
Sir  Herbert  Thompson  publiziert  in  den  Froceedings  of  the  Society  of 
BiUical  Archaeology  XXXIV  1912  S.  197  mit  Faksimüe  (Flate  XXn) 
ein  in  seinem  Besitze  befindliches  griechisches  Ostrakon  aus  dem  ägyp- 
tischen Theben  vom  (3.  oder)  4.  Jahrh.  nach  Chr.  mit  folgenden  zwei 
Diogenes-Chrien,  die  offenbar  von  der  Hand  eines  Schulknaben  stammen 
und  damit  einen  weiteren  Beleg  für  eine  schon  bekannte  Schulpraxis 
liefern  (vgl.  P.  Beudel  Qua  ratione  Graeci  liheros  docuerint,  papyriSj 
ostracis,  tahulis  in  Äegypto  inventis  illustratur,  Diss.  Münster  1911 
S.  16 f.):  I.  Jioyivrjg  6  KvviKog  cpdoöocpog  [iQcorrj'd'elg  vrco  rivog^  zu  tilgen] 
idobv  AhioTCcc  (sie)  %aQ^aqLOv  eßd-ovxa  eItüv'  * i]  vvh,  xriv  rjfieQccv  tQcoyet 
und  IL  Jioyivrig  6  avvLKog  cpLl6ßO(pog  SQcorrid'slg  vito  nvog^  nov  cct 
MovciaL  naroLTiOvöLVy  elitBv'  ^ iv  rcctg  rcbv  7t€7t[^DCL]6sv(isvcov  ipvicctg\ 

Thompson  hält  die  unter  sich  recht  ungleichartigen  Aussprüche 
beide  für  neu.   In  Wahrheit  lag  der  gehaltlose  Witz  Nr.  I  in  besserer 
Gestalt  ('Idcöv  AlQ'Coita  %a^ocqov  XQcoyovrcc ' '  Idov^  r)  vv^  xriv  rjfiSQccv  Ttviyei) 
bereits  im  Papyrus  Bouriant  (Stud.  Pal.  VI  1906  S.  158  Nr.  4)  vor 
und  wurde  in  meinem  »Vortrag  S.  407,  4  besprochen.   Der  Schreiber 
des  Ostrakons  hat  im  Eingang  die  zwei  typischen  Chrienformeln  eqoiXTi^Blg 
vno  XLvog  und  I8(av  {xivcc)  fälschlich  kumuliert.   Man  kann  sie  nicht 
I  mit  dem  Herausgeber  durch  die  Änderung  löovxog  (quesiioned  hy  one 
!  who  saw)  miteinander  vereinbaren,  sondern  muß  die  erste  Wendung, 
I  die  nur  im  zweiten  Diktum  am  Platze  ist,  streichen.  Im  Apophthegma 
selbst  nimmt  die  Scherbe  statt  des  gewählten  itviyHv  mit  Zerstörung 
1  des  Bildes  aus  dem  Anfang  das  XQcoyeiv  herüber,  das  seinerseits  dort 
1  durch  ead'iLv  ersetzt  wird.  Kad-aQog  (uQXog),  das  Weißbrot,  das  Crönert 
1  (Stud.  Pal.  VI  S.  185,  darnach  Beudel  S.  17)  mit  Unrecht  auf  Ägypten 
beschränkte  (vgl.  meinen  Aufsatz  S.  401,  4),  mußte  der  den  Papyri 
geläufigen  Form  Kad'ccQLog  weichen.  —  Für  die  zweite,  bisher  unbekannte 
Chreia  hat  Thompson  an  das  berühmte,  schöne  Epigramm  des  Piaton 
auf  Aristophanes  (Nr.  29  S.  310*,  Bergk)  erinnert:  Al  XccQLXsg  xifievog 
TL  XaßsLv  OTtSQ  ov^l  TtsösixccL  |  ^rjxovöca  ijjviriv  evQOv  l/iqiGxoipavovg.  Indessen 
ist  mit  diesem  tief  und  ernst  empfundenen  Gleichnis  das  Kynikerwort 
nur  scheinbar  verwandt.   Bei  Diogenes  sind  andere  Tendenzen   ent- 
scheidend, wie  sie  seinem  historischen  Charakter  durchaus  entsprechen: 
leinmal  die  aufklärerische  Ablehnung  der  Götterwelt  und  die  Verachtung 
unnützer  mythologischer  Weisheit  (vgl.  z.  B.  die  'Oövcaicog  kcckcc  bei 
D.L.  VI  27),  sodann  die  hohe  Schätzung  der  'Bildung'  {naiöda}^  wie 


336  Mitteilungen  und  Hinweise 

er  sie  versteht  (s.  etwa  D.  L.  VI  68  und  loann.  Damasc.  XIII  92  bei 
Meineke,  Stob.  IV  S.  201). 

Czernowitz  G-.  A.  Gerhard 

Das  Fischsymbol 

Zu  Archiv  XVI  S.  307 

,jLebkucMge  Fische",  d.  h.  aus  Lebkuchenteig  hergestellte  Fisch- 
iiguren  sind  wie  die  sogenannten  Brotfische  aus  einfacherem  Brot- 
teige früher  ein  sogenanntes  Pflichtenbrot  gewesen,  das  von  beson- 
derer Güte  und  Größe  der  Kloster -Maier  auf  Weihnachten  (Neujahr) 
statt  des  ursprünglichen  lebenden  Großfisches  dem  Kloster  Muri  (in 
der  Schweiz)  zu  entrichten  hatte  (Argovia  1861,  S.  32  —  35).  Waren 
sie  besonders  schwammig,  dann  hießen  sie  „Schwummfische'^  Auch 
im  Kloster  St.  Ursula  (Villingen  in  Baden)  gab  es  solche  mit  einer 
Fruchtfarce  „gefüllte  Fische".  Solche  Fischgebäcke  sind  nur  der  Er- 
satz für  die  lebendigen  Fische;  zum  Beispiel  bei  Zinslieferungen  an 
Kirchen  oder  Klöster,  wie  der  Hahn,  Korn,  Hafer;  daher  auch  der  häufige 
oberbayerische  Hausname  „Fisch -Haber".  Als  solches  Klostergebäck 
kam  es  unter  das  Landvolk.  Im  Elsaß  und  in  der  Schweiz  sind  die 
im  Sturzmodell  gebackenen  Fische  von  der  Gestalt  einer  fingerlangen 
Grundel  eine  früher  sehr  beliebte  Fastenspeise  aus  Gugelhupfteig 
auf  Weihnachten  und  Kirchweih.  Fischmodelle  aus  Kupfer  kann  man 
heute  noch  in  alten  Bürgerhäusern  sehen.  Zum  Weihnachtsgebäck, 
das  an  dem  Weihnachtsbaume  aufgehängt  wird,  kann  der  Lebkuchen- 
fisch (Klosterzinsfisch)  erst  sehr  spät  geworden  sein,  da  der  Weihnachts- 
baum selbst  nicht  so  alt  und  in  weiten  oberdeutschen  Volksschichten 
heute  überhaupt  noch  nicht  volkstümlich  ist.  Ein  Zusammenhang 
dieses  Fischgebäckes  mit  christlichen  Symbolen  besteht  sicher  nicht. 
Aus  dem  Flußfische,  der  auf  Weihnachten  gezinst  wurde,  ist  das  Weisat 
(wisat)  des  Brotfisches  geworden,  mit  dem  man  sich  in  der  Zeit  von 
St.  Nikolaus  bis  zum  Neujahrstage  in  der  Schweiz  noch  beschenkt 
(vgl.  meine  Weihnachtsgebäcke  1905,  Supplement  III  zu  Band  XI  der 
Zeitschr.  f.  österr.  Volkskunde).  Erst  als  solches  Neujahrsgebäck  kam 
der  lebkuchene  Fisch  auch  auf  den  modernen  Weihnachtsbaum. 

Tölz  M.  Höfler 

Der  Messias  'ben-Nun'  im  jüdischen  Folklore 

Zu  Archiv  XVI  S.  304  f. 

In  jüdischen  Volkssagen,  Scherzen  u.  dgl.,  die  heute  noch  im  Um- 
lauf sind,  ist  nicht  selten  von  Wundererscheinungen  des  Propheten 
Elias  oder  des  präexistenten,  derzeit  noch  Verborgenen'  Messias  die 
Rede:  es  erscheint  z.B.  „der  im  Kamelhaarmantel"  (d.h.  Elias)  und 
beteiligt  sich  an  einem  Gespräch  über  eine  schwierige  Schriftauslegungs- 


Mitteilungen  und  Hinweise  337 

frage  oder  entscheidet  einen  verwickelten  Rechtsfall  in  überraschender 
Weise;  oder  es  erscheint  „der  Meleh"  (König),  manchmal  der  „meleh 
David"  (d.  h.  König  David  redivivus,  der  Messiaskönig  der  Endzeit) 
oder  „der  auf  dem  weißen  Esel"  (Sach.  9a)  u.  dgl.  und  stellt  einem 
Glücklichen  drei  Wünsche  frei  usw. 

Im  Licht  dieser  Parallelen  scheint  mir  eine  der  zur  Einleitung 
der  vielen  Dialoge  über  mystische  Schriftauslegung  im  Buch  Sohar 
(I  fol.  5  f.)  benützten  Rahmenerzählungen  Beachtung  zu  verdienen. 
Es  heißt  dort  (franz.  Ausgabe  von  de  Pauly^  vol.  I  p.  28 ff.):  R.  Eleazar 
und  R.  Abba  ritten  einst,  begleitet  von  einem  Packträger,  des  Weges, 
um  R.  Simeon  b.  Lakunia,  den  Schwiegervater  des  Erstgenannten, 
zu  besuchen.  Der  Sitte  gemäß  verkürzen  sie  sich  die  Zeit  mit  Ge- 
sprächen über  Stellen  der  Schrift.  Hinter  ihnen  zieht  nun  auf  seinem 
Esel  ein  Mann  daher,  den  sie  für  einen  Kaufmann,  d.  h.  einen  un- 
gelehrten Laien,  halten.  Er  mischt  sich  aber  in  das  Gespräch  der 
Lehrer,  zuerst  mit  bescheidenen  Fragen,  endlich  aber  mit  Auf  klärungen 
von  solcher  Tiefe,  daß  Eleazar  und  Abba  ihn  umarmen  und  ausrufen 
(p.  31):  Un  komme  verse  dans  la  science  commetoi,  ne  doit  pas  mar  eher 
ä  nötre  suife,  mais  devant  nous;  dis  nous^  qui  tu  es.  Der  Unbekannte 
weigert  sich,  seinen  Namen  zu  nennen  und  setzt  das  Lehrgespräch 
fort  zum  Entzücken  der  beiden  andern  (p.  32):  B.  Eleazar  et  B.  Äbha 
se  mirent  ä  rire  et  ä  pleurer  puls  dirent:  ^Fa,  monte  ä  cheval^  et  nous 
irons  ä  dne  derriere  toi.'  II  leur  repondit:  ^Ne  vous  ai-je  pas  averti, 
que  c'est  un  ordre  du^Boi  (d.  h.  Gottes),  que  fagisse  ainsi  jusqu'ä  ce 
qu'arrive  celui  qui  sera  monte  sur  un  dne\  Wieder  fragen  sie  ihn 
um  seinen  Namen  und  Wohnort.  Er  antwortet:  ^Mon  Heu  d'habitation 
est  heau  .  .  .  c'est  une  tour  (d.  h.  der  Himmel;  vgl.  im  Hirten  des 
Hermas  S.  235 ff.  Hennecke  den  Turm  des  dritten  Gesichtes),  qui  vole 
dans  l'air,  forte  et  imposante.  Elle  a  pour  häbitants  le  Saint ^  heni 
soit-il,  et  un  pauvre  (den  ehiön.,  den  Armen,  d.i.  den  leidenden  Messias 
ben  Josef).  Teile  est  ma  residence;  mais  je  Vai  quittee  et  je  vais  ä 
dne.'  B.  Abba  et  B.  Eleazar  le  considererent  et  ses  paroles  leur 
parurent  douces  comme  la  manne  et  le  miel.^  Sie  fragen  nun 
aufs  demütigste  nach  dem  Namen  des  Vaters  des  Fremden ,  der  darauf 
antwortet  (p.  33):  ^Mon  pere  demeure  dans  la  grande  mer; 
c'etait  un  grand  poisson,  qui  embrassait  la  grande  mer  d'un 
hout  ä  Vautre.  II  est  grand  et  ancien  dejours^;  aussi  avale-t-il 
tous  les  autres  poissons  de  la  mer,  puis  il  les  rend  vivants 
(bezieht  sich   auf  Tod    [Jona  2]    und  Auferstehung   der  Frommen) 

^  S.  in  diesem  Archiv  XVII  339. 

'  Mit  Manna  und  Honig  speist  der  Messias  die  Frommen  im  Himmel- 
reich {Jew.  Encydop.  V  218). 

'  Es  ist  der  durch  den  Fisch  symbolisierte  „Alte  der  Tage"  (Gottes- 
bezeichnung nach  Daniel). 

Archiv  f.  Religionswissenschaft  XYII  22 


338  Mitteilungen  und  Hinweise 

remplis  de  tous  les  Mens  du  monde.  II  parcouri  Ja  mer  en  un  instant 
gräce  ä  sa  puissance.  II  m'a  fait  sortir  comme  une  f  leche  dans  la 
main  du  heros  (Ps.  37,4),  le  puissant,  et  m'a  Cache  dans  Vendroit 
gue  je  vous  ai  dit  (d.  h.  im  Turm).  Quant  ä  lui  il  est  retour ne  cliez 
lui  et  s'est  cacJie  dans  la  mer.' 

Nach  weiteren  Proben  seiner  übernatürlichen  Weisheit  werfen  sich 
Arba  und  Eleazar  vor  ihm  nieder,  aber  im  selben  Augenblick  wird 
er  unsichtbar. 

Es  kann  kein  Zweifel  daran  bestehen,  daß  der  „Eselreiter",  der 
„Sohn  des  Fisches",  der  verborgen  im  „Turm"  mit  Gott,  dem  Hoch- 
gelobten und  dem  „Armen",  zusammenwohnt  und  der  seinen  Mit- 
unterrednern plötzlich  entschwindet,  der  präexistente  Messias  sein  soll. 
Daß  ihn  die  beiden  Rabbinen  nicht  erkennen  und  zuerst  für  den  Sohn 
des  im  Sohar  so  oft  gefeierten  R.  Ham-nuna,  dann  für  den  „alten 
Ham-nuna"  selber  halten,  der  aus  dem  Jenseits  wiedergekehrt  ist, 
gehört  mit  zur  Fabel,  da  der  Messias,  bevor  er  auf  den  Wolken  des 
Himmels  kommt  und  von  Elias  kundgetan  wird,  unerkannt  bleiben 
muß.  Zugleich  soll  natürlich  jener  Kabbaiist  —  aus  dessen  pseudepi- 
graphen  Schriften  der  Sohar  u.  a.  die  in  Wirklichkeit  von  Ekphantos 
entdeckte  Achsendrehung  der  Erde  zitiert  —  durch  den  Irrtum  aufs 
höchste  geehrt  werden. 

Im  übrigen  liegt  der  Verwechslung  natürlich  die  von  Scheftelowitz 
nach  J.  J.  Kahan  in  diesem  Archiv  XIV  385  besprochene  Deutung- 
des  Namens  Ham-nuna  als  „warmer  Fisch"  zugrunde,  wenn  andersj 
nicht  der  seltsame  Ausdruck  „du  solltest  nicht  Ham-nuna  heißei 
sondern  Kar-nuna"  vielleicht  anders  zu  verstehen  ist.  Nach  Anleitung 
der  Namen  Hamu-el  „mein  Geschlechtshaupt  ist  Gott",  „Hamu-tal' 
„mein  Geschlechtshaupt  ist  der  Tau"  (Enc.  Bibl.  s.  vv.)  kann  Ham^ 
nuna  einfach  „mein  Geschlechtshaupt^  ist  der  Fisch"  heißen,  was  be- 
sonders  gut  in   den  Gedankenzusammenhang   der  Soharstelle   paßi 
Kar-nuna  aber  kann  einfach  der  mythische  Kar -fisch  (karo  macyo] 
des  Bundahesh  (c.  XVIII;  cf.  Farg.  19,42w;  Bahr.  Y.  29;  Din.  Y.  7; 
sein,  von  dem  es  heißt,  seine  Augen  überschauen  die  ganze  Welt.    Als( 
(ironisch):  „Du  solltest  nicht  bloß  „Geschlechtsgenosse  des  Fisches' 
sondern  —  wegen  Deiner  Scharfsichtigkeit  —  Kar -fisch  heißen!" 

Zum  Schluß  möchte  ich  noch  auf  eine  Überlieferung  aufmerksai 
machen,  auf  die  ich  erst  gestoßen  bin,  nachdem  Archiv  XVI  3041 
längst  gedruckt  war  und  die  in  schlagender  Weise  bestätigt,  dal 
man  den  Messias  als  „Fisch"  (^ben  Nun')  vor  allem  deshalb  bt 
zeichnete,  weil  man  ihn  als  Wiedergeburt  eines  vorzeitlichen  Rettei 
beiden  erwartete.  Es  heißt  nämlich  in  der  Mechiltha  Shirah  9| 
im  Sanhedrin  92  b    und    in    den    Pirke    di    R.  Eliezer    XL VIII  (cfj 


^  Wörtlich  „Schwiegervater".     Zur  Bedeutung  s.  Enc.  Bibl  1948  f. 


Mitteilungen  und  Hinweise  339 

Jew.  Enc.  I  627),  daß  die  Söhne  Ephraims  schon  vor  dem  mosa- 
ischen Auszug  aus  Ägypten  den  Versuch  machten,  aus  dem  Land 
der  Knechtschaft  zu  entrinnen  und  zwar  unter  der  Führung  eines 
vornehmen  Ephraimiten  namens  Nun  (=  Fisch).  Dieser  Mann  — 
in  dem  wir  natürlich  den  im  AT  nicht  weiter  erwähnten  Vater  des 
ebenfalls  als  Ephraimiten  bezeichneten  Josuah  zu  erblicken  haben  — 
sei  jedoch  anläßlich  dieser  mißlungenen  Unternehmung  von  den 
Ägyptern  gemartert  und  getötet  worden.  Der  leidende  Erlöser  der 
Endzeit  konnte  also  auch  unmittelbar  als  Reinkarnation  jenes  vor- 
zeitlichen Märtyrers  für  die  Befreiung  seines  Volkes  ^ben  Nun'  ge- 
nannt werden. 

Zu  Archiv  XVI  303  —  Theudas,  der  sich  durch  das  Jordan- 
wunder als  neuen  Josuah  erweisen  will  —  wäre  noch  auf  jenen 
ägyptischen  Juden  zu  verweisen,  der  sich  nach  Josephus  Antiqq.  XX  8,  6 
(Mommsen,  Rom.  Gesch.  V  528)  —  offenbar  in  der  gleichen  Ab- 
sicht —  den  Messerhelden  gegenüber  anheischig  machte,  die  Mauer- 
türme  von  Jerusalem  durch  Posaunenschall  zum  Einsturz 
zu  bringen,  so  wie  Josuah  es  einst  mit  denen  von  Jericho  getan 
hatte.  Zum  Jordanfluß,  der  sich  bei  der  Taufe  Jesu  —  des  wieder- 
geborenen Josuah  —  zum  zweiten  Male  mauergleich  aufstaut,  hätte 
ich  vor  allem  auf  die  im  7.  Jahrh.  in  Alexandrien  entstandene 
Weltchronik  (Chronicon  paschale,  Bonner  Ausg.  p.  420  f.)  verweisen 
sollen,  wo  es  heißt:  slTtev  öe  6  KvQiog  rro  ^Icocivvr}'  elitov  ro5  ^Ioq- 
davri  6triQ-L  .  .  .  %al  sv^scog  eötrjaav  xa  vSaxa  .  .  .  xoxs  %axaßccvxcov 
aixmv  iitl  x6  vÖcoq  avsKoiXaaav  xa  vdaxcc  cognsQ  TiSKQccfi^evov  ijöcoQ^ 

Feldafing  Robert  Eisler 

Die  französisclie  Ausgabe  des  Buches  Sohar 

Dank  den  unermüdlichen  vieljährigen  Bemühungen  des  allzufrüh 
verstorbenen  französischen  Semitisten  Jean  de  Pauly  —  dessen  1888 
erschienene  Übersetzung  des  Schulchan  Aruch  damals  von  Gildemeister, 
Dillmann,  P.  de  Lagarde,  C.  v.  Orelli,  T.  Wright  u.  a.  als  eine  Meister- 
leistung bezeichnet  worden  ist  —  und  dank  der  Opferwilligkeit  und 
Hingabe  seines  Freundes  und  Mäcens,  des  Herrn  Emile  Lafuma-Giraud, 
der  das  monumentale  Werk  aus  dem  Nachlaß  des  Erstgenannten  in 
der  sorgsamsten  und  würdigsten  Weise  herausgegeben  hat  (bei  Erneste 
Leroux,  Paris,  1906 — 12),  verfügt  die  religionsgeschichtliche  For- 
Sjchung  seit  kurzem  über  eine  vollständige,  sehr  getreue,  mit  einer  Un- 
zahl von  nützlichen  Anmerkungen  und  Verweisen  ausgestattete  fran- 
zösische Übersetzung  des  Buches  Sohar  (yitr^  *^DD  „Buch  des  Licht- 
glanzes") in  sechs  Bänden  von  zusammen  über  3000  Seiten.  Dieses 
berühmte,  von  den  jüdischen  Pietisten  (Ohasidim)  der  Bibel  selbst  an 
Heiligkeit  gleichgehaltene  Werk  ist  das  wichtigste  Quellen  werk  für 

22* 


340  Mitteilungen  und  Hinw  «  ise 

das  Studium  der  unter  dem  Namen  Kabbala  ([geheime]  Überlieferung) 
bekannten  mystischen  Schriftauslegung  bei  den  Juden.  „Wenn  die  Kab- 
bala noch  fortlebt",  heißt  es  im  „Raja  Mehemna"  {Pastor  ßdus),  so 
ist  es  nur  dank  den  Lichtstrahlen  des  Buches  Sohar."  An  derselben 
Stelle  wird  das  große  Werk  der^ Arche  Noe  verglichen ,  weil  nur  zwei 
aus  einer  Stadt  oder  sieben  aus  einem  ganzen  Königreiche  Zutritt  zu 
seinem  Innern  haben.  In  der  Tat  ist  der  Sohar  —  zum  Unterschied 
von  andern  mystischen  Traktaten  wie  z.  B.  dem  Sepher  Jezirah  (Liher 
formaiionis  [fnundi])^  der  in  einem  ärmlichen,  leichtverständlichen 
Hebräisch  abgefaßt  ist  —  in  einem  so  schwierigen,  mit  den  entlegensten 
Lehnworten  und  merkwürdigsten  technischen  Ausdrücken  überladenen 
Aramäisch  abgefaßt,  daß  das  Verständnis  vieler  Partien  selbst  tüchti- 
gen Kennern  anderer  Gebiete  der  spätjüdischen  Literatur  fast  ganz 
verschlossen  bleiben  mußte.  Es  gehört  das  Studium  eines  langen 
Menschenlebens  dazu,  um  sich  in  den  Originaltext  einzuarbeiten,  und 
man  kann  behaupten,  daß  de  Pauly  der  einzige  moderne  Gelehrte  war 
—  von  den  vielen  chasidischen  Adepten  der  Kabbala  sehe  ich  dabei 
natürlich  ab  —  ,\,der  den  Sohar  in  extenso  gelesen  hat.  Wer  je  einen 
der  Riesenfolianten  mit  den  alten  Drucken  des  Textes  —  die  editio 
princeps  ist  in  Mantua  1559  hergestellt  —  zu  wälzen  versucht  hat, 
wird  sich  nicht  wundern  zu  hören,  daß  die  wenigen  gelegentlichen 
Zitate  aus  dem  Sohar,  denen  man  in  religionsgeschichtlichen  Werken 
begegnet,  fast  nie  aus  erster  Hand  geschöpft  sind,  ja  daß  —  nach  de 
Pauly  —  selbst  J.  Karppe,  der  Verfasser  des  meistzitierten  Werkes 
über  die  Kabbala  (der  Doktordissertation  Le  ZoJiar,  Paris  1901),  den 
Text  nicht  selbständig  zu  meistern  vermocht  hat.  Übersetzt  ins  Latei- 
nische waren  bisher  nur  kleine  Abschnitte  (Sifra  di  Zeniuta,  Idra  Rabba 
und  Idra  Suta)  in  Knorr  von  Rosenroths  Kahhala  denudata^  Sulz- 
bach 1672,  einem  Buch,  das  u.  a.  auf  Leibniz  nicht  ohne  merklichen 
Einfluß  geblieben  ist  und  höchstwahrscheinlich  auch  Goethes  Auf- 
merksamkeit auf  sich  gezogen  hat. 

Bisher  hat  man  sich  über  die  Unkenntnis  dieses  merkwürdigen 
Buches  mit  der  nb.  unbewiesenen  und  auch  in  dem  neuesten  Nach- 
schlageartikel über  das  Buch  Sohar  in  der  Jewish  Encyclopaedia  ab- 
gelehnten rabbinischen  Behauptung  getröstet,  das  Buch  Sohar  sei  von 
einem  spanischen  Juden  des  13.  Jahrhunderts  namens  Mose  de  Leon 
ohne  weitere  Unterlagen  gefälscht  worden.  Niemand,  der  das  Buch 
jetzt  als  Ganzes  auf  sich  wirken  läßt,  wird  imstande  sein,  fernerhin 
an  dieser  Auffassung  festzuhalten,  da  es  auf  den  ersten  Blick  klar  ist, 
daß  das  jeder  wie  immer  gearteten  festeren  Disposition  entbehrende 
Riesenwerk  in  der  Hauptsache  mündlichen  Traditionsstoff  gesammelt 
zur  Darstellung  bringt,  für  dessen  Beurteilung  im  einzelnen  es  wenig 
verschlägt,  ob  die  erste  Aufzeichnung  im  13.  Jahrhundert  in  Spanien 
oder  im  9.  Jahrhundert  in  Persien  erfolgt  ist.  Daß  der  Sohar  von  Mose 


Mitteilungen  und  Hinweise  341 

ben  Shem  Tob  de  Leon  im  13.  Jahrhundert  „verfaßt"  worden  ist,  wie 
noch  1908  Prof.  Strack  (Einleitung  in  den  Talmud  S.  93)  sich  aus- 
gedrückt hat,  ist  ebenso  wahr  oder  so  falsch,  wie  die  Behauptung  es 
Aväre,  die  deutschen  Kinder-  und  Hausmärchen  seien  im  19.  Jahrhun- 
dert von  zwei  Berliner  Professoren  und  einer  alten  Märchenerzählerin 
„verfaßt"  worden.  Schon  Karppe  hatte  auf  eine  ganze  Reihe  von  auf- 
fallenden Berührungen  zwischen  der  Bibel-Exegese  des  Buches  Sohar 
und  den  Philonischen  Schriften  hingewiesen.  Durch'^Lauterbachs  aus- 
gezeichnete Untersuchung  (Jew.  Quart.  Bev.l291S.)  über  die  ganz 
wenigen  im  Talmud  erhalten  gebliebenen  Fragmente  der  dorshe  reshu- 
moth  („Lehrer  der  Allegorien")  sehen  wir  jetzt  sehr  klar,  daß  die  alle- 
gorische Schriftauslegung  keine  Besonderheit  der  alexandrinischen 
Schule  war,  sondern  in  Palästina  schon  vor  Philo  geblüht  hat,  nur 
daß  diese  —  mündlich  umlaufenden  —  Lehren  der  von  Horodezkj 
in  diesem  Archiv  XV  110  ff.  so  glücklich  charakterisierten  Aggadisten 
von  den  Halachisten  wegen  ihrer  Gefährlichkeit  für  den  Bestand  der 
starren  Gesetzlichkeit  heftig  bekämpft  und  in  dem  Hauptzweig  der 
Überlieferung  in  der  Tat  bis  auf  ganz  wenige  Ausnahmen  ausgemerzt 
worden  sind.  Es  kann  gar  kein  Zweifel  darüber  bestehen,  daß  eine 
Menge  von  diesem  früh  verschollenen  Material  in  der  besonders  zu 
treuer  Bewahrung  hergebrachten  Lehrgutes  geeigneten  mündlichen 
Überlieferung  der  Juden  erhalten  geblieben  ist  und  später  in  solchen 
Werken  wie  dem  Sohar  seine  Auferstehung  erlebte.  Mit  de  Pauly  bin 
ich  überzeugt,  daß  die  Basale  ha^idra'  („Herren  der  Dreschtenne", 
d.  h.  die  Lehrer,  die  in  der  Schrift  den  Weizen  des  esoterischen  Sinnes 
von  der  Spreu  des  Wortsinnes  sondern),  nach  deren  Tätigkeit  die  Ab- 
schnitte Idra  suta,  Idra  de  mashkana  etc  im  Sohar  ihren  Namen  haben, 
mit  den  „dorshe  reshumoth"  oder  „dorshe  hamuroth"  des  Talmud  wesens- 
ein s  sind.  Daß  daher  das  Studium  der  neuen  Soharausgabe  der  ßeli- 
gionsgeschichte  reiche  Früchte  bringen  wird,  steht  mit  Sicherheit  zu 
erwarten.  Möchte  doch  zu  der  Ausgabe  das  versprochene  Sachregister 
raschestens  hergestellt  oder  doch  einstweilen  ein  Verzeichnis  der  an- 
gezogenen Bibelstellen  herausgegeben  werden.  Schon  das  wäre  ein  un- 
schätzbares Hilfsmittel  weiterer  Forschung. 

Feldafing  Robert  Eisler 

Sterbende  werden  anf  die  Erde  gelegt 

Theodor  Zachariae  in  diesem  Archiv  IX,  538  f.,  Ernst  Samter, 
Geburt,  Hochzeit  und  Tod  (1911)  4,  und  A.  Dieterich,  Mutter  Erde  ^ 
(1913)  26  f.,  haben  zu  diesem  Brauche  Belege  gesammelt.  Hübsch 
reiht  sich  diesen  noch  folgender  an:  *  Hern  acher  aber,  da  sie  vast 
alle  Kräfften  verlohren ,  fiengen  die  Frawen ,  welche  zu  ihrer  Wacht 
vnd  Abwart  bestellet,  vnder    einander  an   zu  reden,   wie    ein   hart 


342  Mitteilungen  und  Hinweise 

vnd  herbes  End  sie  also  im  Bett  wurde  auszstehen  müssen,  greiflfen 
sie  derhalben  an,  auff  die  Erden  herunder  zu  lieben  Sihe,  da  sagt 
sie  mit  klaren  vernemblichen  Worten:  Lasz  mich  ligen:  Wilt  du  dasz 
ich  ehe  sterben  solle,  ehe  es  Gott  dem  Herren  gefellig?'  Conradus 
Vetter,  Von  dem  Jungfrawkloster  S.  Benedictordens  in  Riga  (1614)  31. 
Breslau  G-eorg  Schoppe 

Kleideropfer 

E.  Samter,  Geburt,  Hochzeit  und  Tod  (1911),  hat  auf  S.204f. 
eine  Anzahl  Belege  für  Kleideropfer  zusammengestellt.  Ich  möchte 
noch  auf  folgende  Stellen  aufmerksam  machen:  ,üie  höchste  Höhe 
der  Tauren  ist  das  sogenannte  Thörl,  wo  ein  Herr -Gott  steht,  dem 
die  vorübergehenden  abergläubischen  Älpler  ein  Kleidungsstück  zu- 
werfen, damit  ihn  nicht  friere!'  Karl  Julius  Weber,  Deutschland  11 
(1827)  468. 

*Um  Mittag  gelangten  wir  an  einen  großen  Baum,  welchen  die  Ein- 
geborenen Nima  Taba  nennen.  Er  war  mit  einer  unzähligen  Menge 
Lumpen  und  kleinen  Zeugschnitzchen  behängt,  welche  Reisende  wahr- 
scheinlich deshalb  an  die  Zweige  geknüpft  haben,  um  dem  Wanderer 
anzuzeigen,  daß  Wasser  in  der  Nähe  zu  finden  sei.  Dies  ist  aber  durch 
die  Länge  der  Zeit  eine  so  heilige  Gewohnheit  geworden,  daß  es  jetzt 
niemand  wagt,  vor  dem  Baume  vorüberzugehen,  ohne  etwas  daran  zu 
hängen.'    Mungo  Park  1799,  Reisen  im  Innern  von  Afrika  30  f. 

Angeschlossen  mag  noch  ein  anderer  Wegzauber  werden,  den  der- 
selbe Reisende  auf  Seite  59  mitteilt:  *Als  wir  einige  Stunden  ziemlich 
frohen  Mutes  geritten  waren,  ohne  daß  uns  etwas  merkwürdiges  auf- 
stieß, kamen  wir  an  einen  Baum,  nach  welchem  mein  Dolmetscher 
Johnson  oft  gefragt  hatte.  Wir  mußten  Halt  machen,  und  nun  zog 
er  ein  weißes  Huhn  hervor,  daß  er  zu  diesem  Zweck  in  Dschog  ge- 
kauft hatte,  band  es  mit  den  Füßen  an  einen  Zweig,  und  sagte:  nun 
könnten  wir  sicher  fortreiten,  es  werde  uns  nichts  übles  begegnen.' 

Breslau  Georg  Sohoppe 

Eine  Spur  sakraler  Prostitution 

In  der  im  Arader  Komitat  gelegenen  Gemeinde  Nagyhalmagj 
herrscht  eine  eigentümliche  Sitte,  den  Frühling  zu  begrüßen.  Am 
15.  März  jedes  Jahres  wird  in  dieser  Gemeinde  ein  Kußmarkt  ab- 
gehalten. An  diesem  Tage  ist  es  allen  Frauen  und  Mädchen  gestattet, 
nach  freier  Wahl  fremde  Männer  zu  küssen.  Aus  der  Umgebung  ver- 
sammeln sich  an  diesem  Tage  alle  jungen  Frauen,  die  seit  den  letzten 
Ostern  geheiratet  haben,  und  küssen  dort  die  fremden  Männer  nach 
Herzenslust  ab.  So  berichtet  das  „Neue  Wiener  Journal"  vom  20.  März 
1913.    Der  Vergleich  mit  Herodots  Bericht  (I  199)  über  die  ent- 


Mitteilungen  und  Hinweise  3^3 

sprechende  babylonische  Sitte  ist  sehr  lehrreich:  Ersetzung  des  Bei- 
schlafes durch  den  Kuß  und  eine  dadurch  ermöglichte  Umwandlung 
<les  Zwanges  in  freie  Wahl. 

Wien  E.  Lorenz 

Enlamo 

E.  Wünsch  (Sethianische  Verfluchungstafeln  S.  84)  und  im  An- 
schluß an  ihn  Waser  (Pauly-Wissowa  s.  Eulamos)  konstatieren  einen 
Dämon  Eulamos,  für  dessen  Namen  Wünsch  als  eine  mögliche  Er- 
klärung die  ümkehrung  von  a&^a  Xvs  erklärt,  da  diese  Formel  in  Ver- 
iDindung  mit  jenem  Namen  erscheint.  Da  jedoch  auch  die  Namens- 
form Eulamon  vorkommt,  könne  an  und  für  sich  auch  an  eine  Zu- 
sammensetzung mit  dem  Gottesnamen  Ammon  gedacht  werden.  Endlich 
erinnerte  A.  Dieterich  bei  Wünsch  a.  a.  0.  an  die  für  Unterweltsdämonen 
charakteristische  Wurzel  kccfi  schlingen. 

Der  Tatbestand  ist  jedoch  keiner  dieser  Annahmen  günstig.  Der 
Name  erscheint  in  folgenden  Formen  (ich  zitiere  nach  Audollent,  De- 
fixionum  tabellae): 

in  Syrien EvAajtiO)  15,  35.37  16  I  18;  in  Africa EvAa/io  304,9  252, 
13-18  253,  22—27.  31.  68;  in  Rom  EvXccii[co]  nr  151  1  (so  nach 
dem  Bild  bei  Wünsch  S.  13;  Wünsch  und  Audollent  lesen  [wv]: 
es  ist  unsicher,  ob  ^in  oder  zwei  Buchstaben  fehlen)  187.  EvXafimv 
155  ff.,  im  ganzen  32  mal.    Acc.  EvXa^ovav  155  B21  EXa(i[G)v] 
nr  148  (8);  in  Ägypten  Pap.  OXXIII,  8  (C.  Wessely,  Wiener  Denk- 
schriften XLII  2  S.  61)  EvXccfico  oder  EvXccficog^  die  Worttrennung 
ist  unsicher;  Pap.  Mimaut  (Wessely  ebenda  XXXVI  141)  57  Ev- 
Xci(ico  oder  EvXa^icog. 
Bei  diesen  Zeugnissen  ist  zu  beachten,  daß  hier  nicht  die  Anzahl 
«der  Belege,  sondern  die  Verschiedenartigkeit  der  Dokumente  ins  Ge- 
wicht fällt.    Ohne  weiteres  ergibt  sich  aus  dieser  Zusammenstellung, 
daß  EvXcc^cog  selten  vorkommt,  also  davon  für  die  Erklärung  (acbficc 
Xvs)  nicht  ausgegangen  werden  darf.    Sonst  und  in  den  ältesten  Do- 
kumenten (nr  187  ist  die  älteste  Verfluchungstafel)  erscheint  der  Name 
"als  Eulamo,  in  Rom  jüngeren  Datums  als  Eulamon.    Hierzu  stimmt 
•die  andere  Tatsache,  daß  Eulamo  indeklinabel  ist  (15,  37),  EvXdficov 
.aber    dekliniert    erscheint    (zum  Acc.   EvXd(iovav   vergleiche  Mely- 
Ruelle,  Lapid.  Grecs  p.  42  n.  19,  Audollent  D.  T.  22,  10  d%vsv^(ovav^ 
17  'AQLötcovav,  25,9  u.  a.  Zu  demNom.  — (»v  eines  ursprüngl.  Nomens 
auf  — CO  vgl.  den  Acc.  'Icovcc,  der  doch  wahrscheinlich  mit  'Icc(o  zusammen- 
hängt, Wünsch,  Antike  Fluchtafeln,  Lietzmanns  Kl.  Texte  20, 2.  Aufl.  1  o). 
Das  Wort  scheint  demnach  weder  ein  Anagramm  noch  überhaupt 
griechischen  Ursprungs  zu  sein.  Auch  die  Zusammenstellung  mit  hebr. 
^ilam  (welches  in  öefisöLXccfi  —  so  auch  Pap.  Berol.  (Abh.  Berl.  Akad. 


344  Mitteilungen  und  Hinweise 

1865  S.  155)  n  168,  wo  Parthey  und  nach  ihm  Wessely  ösfieödaog 
lesen  —  vorliegt,  U.  Kopp  Palaeogr.  crit.  III  p.  668  sq.)  =  alc6v,  hat, 
wie  Wünsch  mit  Recht  hervorhebt,  ihre  Bedenken.  —  Als  Element 
in  Personennamen  erscheint  EvXafico,  worauf  Wünsch  mich  brieflich 
verweist,  in  EvXdfiiog^  bei  Suidas  s.  v.  Ja^ccöKLog  und  IlQeaßeLg',  es  ist 
ein  Phryger.  Das  führt  uns  aber  auch  nicht  bis  zum  Ursprung 
dieses  Gottesnamens  zurück.  Für  diesen  bietet  sich  als  einzig  mögliche 
Etymologie  die  Herleitung  vom  assyrischen  ullamii  (vgl.  Fr.  Delitzsch, 
Assyrische  Lesestücke,  Leipzig  1900,  im  Glossar  p.  154  s.  ullü)^  das 
„ewig"  bedeutet.  Die  lautlichen  Verhältnisse  stehen  dieser  Etymologie 
nicht  im  Wege;  denn  die  Wiedergabe  von  anlautendem  assyr.  ul- 
durch  griech.  eul-  haben  wir  ebenso  bei  dem  Flußnamen  Evlaiog^ 
der  assyr.  Ulaa,  hebr.  Ulai  lautet.  Die  Entsprechung  assyr.  u  = 
griech,  o  im  In-  und  Auslaut  ist  die  regelmäßige,  wie  aus  assyr. 
sussu  =  griech.  65)66og  (Delitzsch  a.  a.  0.  187  s.  v.)  usw.  erhellt. 

In  diesem  Zusammenhange  ist  auch  auf  den  aus  der  phoinikischen 
Kosmogonie  des  Mochos  bei  Damaskios  (ed.  Ruelle  I  323)  bekannten 
Ovlco^iog  zu  verweisen,  der,  wie  Baudissin,  Adonis  und  Esmun, 
Leipzig  1911,  488 f.  des  weiteren  ausführt,  dem  griechischen  Aimv 
entspricht  und  obigem  Evkafico  nicht  nur  begriffs-,  sondern  auch 
wortverwandt  ist. 

Münster  i.  W.  R.  Ganschinietz 

Zu  Tosefta  Aboda  zara  2,6 

Es  heißt  dort  a.  a.  0, :  „Wenn  einer  in  Theater  und  Zirkus  geht  und 
ansieht  die  Beschwörer  und  Zauberer"  etc.  Die  Erklärung  dieser  Stelle 
bereitet  H.  Blaufuß,  der  sie  in  seiner  wertvollen  Studie  „Römische 
Texte  und  Feiertage  nach  den  [Talmud-]  Traktaten  über  fremden  Dienst" 
Progr.  Nürnberg  1909  S.  24  f.  beibringt,  einige  Schwierigkeit,  da  er 
von  der  Tatsache  ausgeht,  daß  es  ausgeschlossen  ist,  „daß  Theater 
oder  Zirkus  der  Platz  für  Zauber-  und  Beschwörungsexperimente  ge- 
wesen sei"  (S.  26);  er  erklärt  demnach:  „Die  Kunst  der  Schau- 
spieler, Wagenlenker  und  was  mit  ihnen  gemeinsam  in  Tätigkeit  tritt, 
soll  als  eine  besondere  Art  von  Zauberei  betrachtet  und  demgemäß 
verurteilt  werden."  Es  war  diese  Einschätzung,  wie  Blaufuß  weiter 
richtig  ausführt, möglich,  da dieseVeranstaltungen  unter  den  religiösen 
Gesichtspunkt  sich  stellten.  Daran,  daß  Beschwörer  und  Zauberer 
im  Zirkus  nicht  auftreten,  sondern  dort  nur  ihre  Buden  haben,  erinnert 
R,  Wünsch  in  diesem  Archiv  XIV  597.  Doch  scheint  eine  andereJ 
Erklärung  näher  zu  liegen:  daß  jene  „Zauberer  und  Beschwörer"  -O-av-j 
^axoitoiol  sind.  Von  diesen  wissen  wir  in  der  Tat,  daß  sie  im  Theater 
auftraten  (Hermann -Blümner,  Griech.  Antiquitäten  IV,  S.  503),  ol 
im  Bunde  mit  den  dionysischen  Techniten,  mit  denen  sie  deshall 
Gasaubonus  zu  Unrecht  (Animadv.  in  Athen,  ed.  Schweighäuser  I  p.  51j 


MitteiluDgen  und  Hinweise  345 

zu  Theophrast  Char.  6)  identifizierte.  Das  Richtige  hat  0.  Lüders 
(Die  Dionysischen  Künstler  S.  59)  gesehen,  da  er  schreibt:  „Den 
Truppen  schlössen  sich  bald  Jongleurs,  Zauberer  und  Wundertäter 
{d-av^atoitOLOi)^  Spieler  jeglicher  Art  an  und  produzierten  ihre  Fertig- 
keiten mit  gleichem  Erfolg  neben  denen  der  dionysischen  Künstler." 
Dies  führt  H.  Reich,  Der  Miraus  I,  Berlin  1903,  S.  227  eingehender 
aus.  Wie  nah  sich  aber  die  d'av^ccroitouKrj  (Plato  Soph.  p.  224a)  mit 
wirklichem  Zauber  in  der  äußern  Erscheinung  berührt,  ist  vor  allem 
aus  Hippolytos,  Refut.  haer.  IV  28  —  42  zu  sehen.  Dort  erfahren  wir 
auch,  daß  hie  und  da  tatsächlich  zur  Erhöhung  des  Eindrucks  STtaoLÖaC 
die  Handlungen  begleiteten.  Ich  möchte  deshalb  die  bei  Blaufuß 
folgende  Aufzählung  der  Personen  der  Atellana  nicht  als  Epexegese 
zu  „Beschwörer  und  Zauberer"  fassen,  sondern  als  eine  weitergehende 
Aufzählung  des  verbotenen  Theaterprogramms.  Zu  diesem  Verbot 
mögen  in  der  Tat  die  von  Blaufuß  geltend  gemachten  Gesichtspunkte 
geführt  haben,  wiewohl  mir  eher  der  frivole  Charakter  —  denn  es 
sind  nur  Personen  der  Komödie  genannt  —  der  Grund  zum  Verbot 
zu  sein  scheint. 

Münster  i.  W.  H.  Ganschinietz 

Ars  magica 

Unter  den  vielen  Bemerkungen,  die  A.  Abt,  Apologie  des  Apuleius 
(RGW  IV  2)  bringt,  findet  sich  S.  104  eine  weniger  zutreffende: 
„Bei  Quintilian  decl.  X.  wird  der  Magier  definiert  als  Mensch  cuius 
ars  est  ire  contra  naturam  .  .  .  ars  mit  einem  entsprechenden  Beiwort 
oder  im  Zusammenhange  auch  ohne  dieses  bezeichnet  den  Zauber, 
der  ja  zum  mindesten  in  seiner  weitern  Ausgestaltung  eine  Technik 
hat,  die  von  der  Naturanlage  allein  nicht  erreicht  werden  kann  Im 
Griechischen  entspräche  xEyyT].  Das  Wort  findet  sich  aber,  so  viel  ich 
sehe,  in  der  magischen  Literatur  nicht"  usw.  Aber  das  Wort  findet 
sich  tatsächlich  im  Griechischen  ebenso  oft  wie  im  Lateinischen,  wofür 
einige  Beispiele.  Iren.  115  a.6xqoXoyL%riq  efi7tet,QE  kccI  fiayinfig  riivr]g, 
Lukian.  Necyom.  6  Gvyyiyvo^aC  xivi  r&v  XocköaLcov  Coopip  ccvdQL  Kai 
d'EöTtEöLcp  xr}v  xiyvriv.  Ebenfalls  in  der  christlichen  Legendenliteratur 
z.  B.  Mart.  Petri  et  Pauli  17  (Acta  Apost.  Apocr.  ed.  R.  Lipsius  Bd.  I 
134,  13)  8 La  xfiq  fiayL%7]g  6ov  xiyyrig  xovg  xov  XqlCxov  V7t8QVL%ri<jSLg 
^ad'rjxag^  ibd.  32  (146,12)  xrj  ^ayLzrj  avxov  xi'/^vr}  STtQa^sv,  Iva  %qlo($ 
ccTtoKScpalLöd-r}.  Pseudo-Kallisthenes  4  6  avrjQ  (Nektanebos)  6  sid'ia- 
^svog  xrj  ttJ^  ^aydag  xiyvri  (s.  a.  J5.  34.  259).  Hippolyt.  Refut. 
haer.  IV  34  avxol  8e  ot  xov  ßlov  Iv^s&veg  ^dyoL  ai6%vvd-rj6ovxaL  rr} 
xiivrj  iQco^evoL.  IV  36  x6  xfjg  xe%vr]g  ^eysO-og  xovxov  i'fjc.i  xov  XQonov. 
IV  42  <hv  (xa)V  iidycov^  xr]v  xiy^vriv  KaxaTtXaysvxsg  ot  aLQEöLccQiaL 
ifiLfirjaavxo  .  .  .  7}  x&v  ^dycov  itavovQyog  Kai  aßvcxaxog  xe%vri.  Kyrillos 
Alex,  in  Isai.  XIII  6 — 8  (Migne  PG.  70  col.  353)  Tt^laßeig  öi,  oI^kl^  (prjöl 


346  Mitteilungen  und  Hinweise 

rovg  t&v  elöcoXcov  LSQOVQyovg,  rovg  rfj  fiayo)  TEyyri  dLCiTtQSTceötäxovg. 
Const.  Apost.  IV  7  Zl^odv.  .  .  rfj  tsivrj  ^dyog.  Synesios  Kyr.  Calv. 
encom.  (Migne  PG  66  col.  1185)  eyco  yccQ  anovco  leyovroiv^  &)g  av  ävriQ 
AlyvTttiog  rixvrjv  iitl  rovg  d-EOvg  &%u.  de  insomn.  2.  4  (1.  c.  col.  1285. 
1289  B)  hymn.  VII  20  (1.  c.  1612)  ^ayog  a  7toXv(pQ(ov  xiyya  .  .  .  &oi}i- 
ßy^aev  ccfii]%avog  und  öfter.  Dazu  Nikephor.  Greg,  in  den  Scholien  (Migne 
PG  149  col.  558).  Ol  itEQt  rovg  d-eDyg  rs^vtrai,  heißen  bei  Xenophon 
(Kyrop.  VJII  3,l)  die  persischen  Magier.  Daneben  finden  sich  ficcytKri 
ifiTtSLQlcc  (Const.  Apost.  VI  7)  und  eviqysia  resp.  dvva^ig  (Pseudo-Kall. 
1,  96);  das  Verhältnis  der  beiden  zur  riyyvi  ist  gut  zu  ersehen  aus 
Const.  Apost.  V  5  rcag  ovv  (lav&dvcov  riyvrjv  nvd^  ßlsTtcov  rov  didcc- 
öKulov  avrov,  Slcc  rfig  ivSQyeiag  %al  8(i7tEi,QLccg  ccTtaQrC^ovrcc  rrjv  rByyriv 
avrov  %cci  avrbg  ^tjXol  ars. 

Münster  i.  W.  R.  Ganschinietz 

Zum  Pergameuischen  Zanbergerät 

R.  Wünsch  hat  in  der  Publikation  des  „Antiken  Zaubergeräts  aus 
Pergamon  (Archäolog.  Jahrb.  Ergänz. -Heft  VI,  Berlin  1905)"  auch 
über  die  Bedeutung  des  Nagels  im  Zauber  gesprochen,  und  zwar 
zunächst  in  seiner  Verbindung  mit  den  übrigen  Teilen  gerade  jenes 
Gerätes.  Doch  möchte  ich  hier  noch  auf  eine  zweite  Bedeutung  des 
Kagels  hinweisen,  die  ihm  eine  selbständige  Stellung  in  der  Magie 
zuweist.  Durch  seine  Verwendung  in  der  Defixion  —  die  Figur  der 
Defigierten  wird  oft  von  einem  Nagel  durchbohrt  (vgl.  auch  J.  H.  Mar- 
shall Journ.  Hell.  Stud.  XXIV  [1904]  332  f.)  —  hat  er  selbst  auch 
ohne  die  Defixion  jene  Bedeutung  und  Kraft,  die  sonst  den  Defixionen 
eigen  ist,  erhalten.  Im  Mittelalter  erzählte  man  sich  mehrere  Bei- 
spiele hiervon,  von  denen  ich  eines  mitteilen  will.  Es  steht  bei  Boissard, 
de  divinatione,  Oppenheim  1615  p.  50:  hie  addam  quod  gestum  esse 
audivi  a  viro  nobili  ut  furtum  incognitum  retegeret:  famulum  habuit 
stabularium  juvenem,  satis  rusticum  qui  Domini  cubiculum  ingressus 
ut  ab  eo  aliquid  posceret,  scyphum  deauratum  ex  abaco  sustulit  absente 
Domino  insciisque  omnibus,  furtumque  fimo  stabttli  abscondit.  cum  paulo 
post  instante  cena  diu  quaesitus  non  inveniretur  scyphus,  neque  furti 
auctor  cognosceretur.  Dominus  jussit  omnes  famulos  in  unum  locum  se 
conferre,  secedensque  in  conclave,  murmuratis  verbis  quibusdam  et  ad- 
plicato  clavo  ferreo  characteribus  designatis  tribus  mallei  ictibus  ad- 
hibitis  totidem  vulnera  capiti  inflixit  stabularii  absentis.  Jedenfalls 
liegt  der  Gedanke  auch  einer  solchen  Verwendung  für  den  Nagel 
aus  Pergamon  nahe  (über  die  Bedeutung  des  Nageleinschlagens  bei 
den  Römern  ausführlich  Trotz  in  der  Note  zu  p.  302  sq.  von  H.  Hugo, 
de  prima  scribendi  origine  Utrecht  1738;  s.  auch  Archiv  XVI  122 ff.). 

Ein  Zaubertisch,  der  ähnlich  wie  der  pergamenische  konstruiert 
ist,   begegnet  bei  Kedrenos  (Migne,  Bd.  121,  p.  613),  der  erwähnt, 


Mitteilungen  und  Hinweise  347 

ort  iv  Tc5  6xqaxr]yL(p  (in  praetorio  Byzantino)  Idxlv  6  xqlTCovq  ^Eoidtrig 
(Ein  pergamenischerMagierwird  ebd. col.  864 erwähnt).  Zauberscheiben 
gibt  es  mehrere.  Bekannt  ist  die  Zauberscheibe  der  Lappen,  wie  sie 
Olaus  Magnus  in  die  Literatur  einführte.  Ihr  Gebrauch  ähnelt  dem 
der  pergamenischen  sehr.  Boissard  1.  c.  65:  tjmpanum  habent  ingens 
aheneum,  in  cuius  fronte  superiore  plana  depicta  sunt  quadrupedia 
vel  volabilia,  quae  in  illis  regionibus  versantur.  In  medio  tympani 
virga  ferrea  oblonga  et  teres  infigitur  cuius  summitate  rana  ahenea 
suspensa  est  ad  perpendiculum.  Incurvati  circumquaque  incantatores 
verba  quaedam  ad  numeros  modulata  obmurmurant  et  tympanum 
feriunt:  ad  cuius  sonitum  rana  delabitur;  et  in  cuiuscunque  animalis 
figuram  insidet,  animal  designatum  disquirunt  et  offenso  deo  mactant. 

Ganz  ähnlich  ist  die  Zauberscheibe,  die  P.  Ath.  Kircher,  Oedipus  II 
class.  XI  cap.  7  §  1  als  rota  Aegyptiorum  beschreibt.  Nach  Schott, 
Magia  Universalis,  Würzb.  1658  Bd.  I  p.  51  „hanc  rotam  ita  statue- 
bant,  ut  circa  axem  centro  infixum  verti  posset  in  gyrum,  apposita 
extra  circumferentiam  manu  immobili  digitum  indicem  extendente. 
Cum  igitur  divinare  volebant  quodnam  Numen  invocare  deberent  ad 
obtinendum  id  quod  petere  cupiebant,  rotam  praemissa  adiuratione 
et  invocatione  Numinum  quorum  hieroglyphica  symbola  inscripta  erant 
vertebant;  et  symbolum  quod  sub  manu  quiescebat,  illud  Numen  esse 
credebant,  quod  ad  obtinendam  rem  desideratam  invocare  deberent." 
Schott  beschreibt  in  weiterem  Verlaufe  die  rota  divinatoria  Hebrae- 
orum,  die  aus  mehreren  konzentrischen  Pergamenscheiben  bestand  mit 
den  Buchstaben  des  hebräischen  Alphabets  an  der  Peripherie.  Ich  kann 
aber  nicht  sagen,  von  welcher  Güte  diese  Informationen  Kirchers  sind; 
doch  verdienen  seine  Angaben  jedenfalls  geprüft  zu  werden. 

Münster  i.  W.  R,  Ganschinietz 

Zum  großen  Pariser  Zauberpapyrus 

In  dem  vielbehandelten  Zauber  nqbg  öaL^ovLcc^o^ivovg  JJißr]- 
%Emg^  V.  3007  ff.,  findet  sich  die  Stelle:  OQ^i^to  <((?«)>,  tov  iv  rrj  Kccd'aQä 
^legoöolvficOy  ro  t6  ccößecrov  TtvQ  ölcc  itavrbg  alwvog  TtQOöTtaQccKEitccL 
(V.  3069 f.).  Die  Bearbeiter  der  Stelle  haben  an  dem  Ausdruck  tvvq 
%qo<STtciqa%BixaL  keinen  Anstoß  genommen;  ich  finde  es  dennoch  min- 
destens sonderbar  gesagt:  einFeuerliegt  vor- und  daneben.  Deißmann 
(Licht  vom  Osten  ^194,  22)  bemerkt  zur  Stelle:  ^Gemeint  ist  das 
Feuer  des  Brandopferaltars  in  Jerusalem.'  Als  vorbildlich  für  sie  führt 
er  LXX  3.  Mose  6,  9.  12.  13  an:  xo  Ttvq  xov  Q'vGiaßxriqiov  Kccv^^rjaexai, 
in  avxov,  ov  aßsad-rjaexai . . .  öia  itavxbg  Kavd'rjösxai,.  Also  vom  ^Liegen' 
des  Feuers  ist  hier  nicht  die  Rede,  sondern,  wie  natürlich,  vom  Brennen. 
So  auch  in  der  bisher  noch  nicht  notierten  Parallelstelle  zum  obigen 
Zitat,  die  im  Par.  Pap  V.  1217 f.  steht:  ^Eitvaalov^ai  6s  xov  iv  r& 
%Qva&  Ttsxdkcp^  (p  6  aößeöxog  Xv^vog  öirjveK&g  TCccQdKccsxccL^  6  {liyag 


348  Mitteilungen  und  Hinweise 

0£og,  6  cpavelg  iv  oXco  tc5  %66(i(p^  xara  ^IeQ0v6aXri(i  ^aQfiaLQCOv  ^  kvqls 
'lacö,  ETtdyad'og  %vQL(ogy.  Nach  dieser  Stelle  wird  man  oben  mit  Sicher- 
heit TtQoaTtaQccTidsrcci  herstellen  dürfen.  Als  Beleg  aus  der  LXX  sei 
noch  gegeben  Ex.  27,  20  tW  %ccritcci.  (oiaLrjtaL  cod.  Alex.,  Ambr.) 
Xv^vog  Slu  Ttavtog  ev  rrj  öKTjvy  rov  fiaQXVQLOv^  £%cod-£v  xov  yiccxa- 
7t£xd6(iarog  xov  iicl  X7]g  ÖLad-rjKrjg.  Kavaei  avxo  {avxov  Alex.)  'Aaqav  . . . 
ivccvxtov  KVQLOv'  vo^Lfiov  ccicovLOv  .  .  .  Das  illustriert  zugleich  die 
Präpositionen  TtQog-itaQa.  (Ähnlich  übrigens  auch  Herodot  von 
einem  geweihten  Licht  II  130:  vv%xcc  ds  SKaaxrjv  itdvvviog  Xv^vog 
Ttaqay.aiBxai ) 

Deißmann  benutzt  die  Stelle  V.  3069,  um  einen  terminus  ant& 
quem  für  den  ganzen  Zauber  zu  konstatieren:  ^Da  dieses  Feuer  im 
Jahre  70  n.  Chr.  für  immer  erlosch,  ist  jedenfalls  dieser  Teil  des 
Papyrus  vor  der  Zerstörung  Jerusalems  entstanden'.  Ist  das  berechtigt, 
so  gilt  das  gleiche  auch  für  den  Teil  1167  — 1226. 

Heidelberg  K.  Preisendanz 

Damalis 

In  meinem  Buch  „Die  Geisteskultur  von  Tarsos  im  augusteischen 
Zeitalter"  habe  ich  mich  bei  der  Besprechung  der  antiken  Götterwelt 
von  Tarsos  auch  mit  der  Gestalt  der  Damalis  beschäftigt.  In  Anbetracht 
des  mangelhaften  Quellenmaterials  mußte  ich  wie  auch  Höfer  in  seinem 
Artikel  Sandas  in  Roschers  Mythologischem  Lexikon  mich  mit  Ver- 
mutungen abfinden.  Meine  auf  S.  74  geäußerte  Vermutung  8diiicclLg''= 
ßovg  zu  setzen  scheint  sich  nun  durch  mir  bisher  nicht  bekannte  Münzen 
zu  rechtfertigen.  Herr  Islay  F.  Burns,  Tutor  und  Librarian  des  West- 
minster-Kollege  zu  Cambridge  machte  mich  freundlichst  auf  verschiedene 
Münzen  aufmerksam,  die  sich  im  Catalogue  of  GreeJc  Coins  in  the 
Hunterian  Collection  Band  III  (Macdonald)  finden.  S.  272  findet  sich 
dort  Herakles  auf  der  einen  Seite  der  Münze  und  eine  Kuh  mit  säugendem 
Kalb  auf  der  Kehrseite.  S.  273  zeigt  eine  andere  Münze  dieselbe  Dar- 
stellung. Eine  zweite  Münze  derselben  Seite  bringt  den  Perserkönig 
anstatt  der  Gestalt  des  Herakles,  während  die  Rückseite  wiederum 
die  Kuh  mit  dem  Kalb,  nur  in  etwas  anderer  Stellung,  darbietet.  Die 
Münzen  werden  unter  der  Rubrik  Uncertain  ofPhoenicia  gebracht  und 
der  persischen  Epoche  von  500  ab  zugezählt.  Eine  überhaupt  nicht 
näher  bestimmte  Münze  auf  S.  731  bringt  auf  der  einen  Seite  eben- 
falls eine  Kuh  abgebildet,  die  ihren  Kopf  einem  Kalb  zuwendet,  während 
die  andere  Seite  nur  einen  Blütenschmuck  aufweist.  Es  liegt  nahe, 
auch  diese  Münze  in  den  Zusammenhaug  der  obigen  zu  bringen ,  wenn 
auch  hier  die  Gegengestalt  des  Heros  fehlt.  Nach  Basilius  (Vita  S.  The- 
clae  2, 15,  Migne  Ser.  Graec.  85  S.  592)  wird  Sandan  mit  Damalis  zu- 
sammengestellt und  zwar  auf  kilikischem  Boden.  Ob  Tarsos  gerade  ge- 
meint ist,  bleibt  zweifelhaft,  es  liegt  näher,  an  einen  Ort  im  Innern  des 


Mitteilangeu  und  Hinweise  34*) 

rauhen  Kilikiens  zu  denken.  Sand  an  aber  wird  in  den  antiken  Quellen 
mit  Herakles  gleichgesetzt  oder  doch  wenigstens  als  sein  Sohn  be- 
zeichnet. Da  nun  ddfiaXi,g  sowohl  junge  Kuh  als  auch  junges  Mädchen 
bezeichnen  kann,  so  erhebt  sich  die  Frage:  Stehen  obige  Münzen  nicht 
in  engster  Beziehung  zu  dem  Sandan- Damalis -Kult,  von  dem  Basilius 
redet?  Vielleicht  kommt  man  auf  diesem  Wege  dem  schwierigen  Problem 
leichter  bei  als  durch  etymologische  Ableitungen  von  MccXig  oder 
MoXtg.  Nun  liegt  es  gewiß  nahe,  mit  Beziehung  auf  Tobias  1,  5  und 
1 .  Könige  1 2, 28  f.  in  der  Gestalt  der  kilikischen  Damalis  palästinensisch- 
ägyptischen Einfluß  zu  sehen.  Damalis  ist  dann  die  Ba'alat,  die  wir 
in  den  verschiedensten  Gestaltungen  der  phönizischen  Astarte  wieder- 
finden. Der  Charakter  der  Muttergottheit  (Damalis,  Kuh  und  Kalb 
gleich  Astarte ,  als  nackte  Gestalt  mit  dem  Kind  auf  dem  Arm)  stimmt 
dazu.  Doch  die  Tatsache,  daß  die  Vorstellung  der  Muttergottheit  in 
ganz  Vorderasien  seit  der  Steinzeit  sich  bereits  findet,  gestattet  auch 
die  Möglichkeit,  in  der  kilikischen  Damalis  den  Rest  einer  in  dieser 
Gegend  von  jeher  heimischen  Göttervorstellung  zu  sehen.  Vielleicht 
hilft  der  Hinweis  auf  die  genannten  Münzen  einem  Berufeneren  dazu, 
das  Dunkel  über  der  Damalisgestalt  zu  lichten.  Aus  diesem  Grunde 
glaube  ich  den  Hinweis  des  Herrn  Burns  nicht  vorenthalten  zu  dürfen. 
Berlin  Hans  Böhlig 

Einen  besonderen  Hinweis  verdient  das  neuerschienene  Buch  von 
P.  Sayntyves,  La 'Simulation  du  3Ierveilleux  (Paris,  E.  Flammarion, 
1912).  Es  bringt  aus  alter  und  neuer  Literatur  eine  Fülle  von  Stoff, 
auf  Grund  dessen  zuerst  die  Vortäuschung  von  Krankheiten  an  sich, 
dann  die  von  „übernatürlichen"  Krankheiten,  wie  Besessenheit,  ex- 
statischen Zuständen,  himmlischer  Stigmatisierung  und  ähnliches,  be- 
sprochen wird.  In  einem  dritten  Teile  gibt  S.  eine  Kritik  der  Wunder- 
heilungen, wobei  er  ganz  besonders  für  die  Klarstellung  der  Wunder 
von  Lourdes  ein  reiches  Material  beibringt.  Dies  scheint  S.s'  eigenstes 
Gebiet  zu  sein,  und  so  ist  auch  die  Analyse  der  Wunderheilung  des 
P.  de  Rudder  vor  allem  lehrreich.  In  welchem  Umfange  Vortäuschungen 
auf  diesen  verschiedenen  Gebieten  an  der  Tagesordnung  sind,  wie 
geradezu  eine  Industrie  und  Schule  der  Simulation  sich  herausgebildet 
hat,  darüber  wird  auch  der,  dem  der  Gegenstand  nicht  fremd  ist,  bei 
der  Lektüre  von  S.s'  Buch  geradezu  verblüfft  sein.  —  Vorzüglich  der 
dritte  Teil  und  auch  der  zweite  des  S. sehen  Buches  enthalten  viel 
Wichtiges  für  religionsgeschichtliche  Studien.  In  seinen  eigenen  Be- 
merkungen faßt  sich  S.  bei  aller  Entschiedenheit  und  anerkennens- 
wertem Freimut  der  Kritik  meist  sehr  kurz,  oft  beinahe  zu  knapp, 
doch  will  er  wohl  absichtlich  in  erster  Linie  die  Dokumente  selbst 
reden  lassen.  Psychopathologisch  vermißt  man  einen  ernsteren  Versuch, 
der  Simulation  psychologisch  näher  zu  kommen,  es  bleibt  nur  bei 


350  Mitteilungen  und  Hinweise 

Anfängen  in  dieser  Richtung.  Auch  ist  es  nicht  ganz  unbedenklich^ 
daß  für  den  Nichtarzt  die  Eigenart  der  Simulation  auf  Grund  psy- 
chischer Störung,  so  bei  Hysterie,  nicht  scharf  genug  gegenüber  dem 
Gemeinsamen,  dem  Bestreben  der  Vortäuschung  hervorgehoben  ist, 
ein  Nachteil,  auf  den  der  Pariser  Neurologe  Janet,  einer  der  besten 
Kenner  des  Wesens  der  Hysterie  und  verwandter  Neurosen,  in  den  ein- 
leitenden Worten  zu  S.s'  Buch  schon  hinweist.  Im  ganzen  erscheint 
jedoch  Janets  sonst  warmes  Lob  wohl  berechtigt. 

Königsberg  i.  Pr.  E.  Meyer 

Altchristliches 

1.  Die  Magier  aus  Morgenland.  In  einer  Studie  mit  dieser 
Überschrift  sucht  Ludwig  von  Sybel  in  den  Römischen  Mitteilungen 
XXVII  1912  S.  311  —  329  die  eigenen  knappen  Berichte  in  seiner 
Christlichen  Äntihe  (I  249  ff.,  11  135 ff.)  zu  ergänzen  und  zwar  im 
Anschluß  an  drei  neuere  Beiträge  zur  Typogenese  und  Ikonographie 
der  „Weisen  aus  dem  Morgenland"  von  Hugo  Kehrer  {Die  heiligen 
drei  Könige  in  Literatur  und  Kunst,  zwei  Bände,  Leipzig  1909)^, 
Peter  Bienkowski  (De  prototypo  quodam  Romano  adorationis  Magorum^ 
in  der  Zeitschrift  Eos  XVII  1911,  45  ff.,  Taf.I— IV)  und  Francesco 
Fornari  {Bella  origine  del  tipo  dei  Magi  nelVantica  arte  cristiana^ 
im  Nuovo  Bullettino  di  Ärcheologia  cristiana  XVII  1911,  69 — 76). 
Vornehmlich  das  typologische  Moment,  die  Typogenese  findet  da 
Berücksichtigung,  zumal  auch  wird  gefahndet  nach  antiken  Vor- 
bildern bzw.  Analoga:  „Die  Bildwerke  pflegen  die  Magier  nicht  in 
fußfälliger  Adoration  darzustellen,  sondern  sie  lassen  sie  mehr  oder 
minder  eilfertig  zu  dem  Kinde  kommen,  und  zwar  die  Geschenke 
darbringend,  in  den  Händen  oder  auf  Schüsseln"  (v.  Sybel),  und 
Fornari  stellt  das  Bild  zum  Schema  nicht  des  adorante,  sondern  des 
off'erente.  Als  vorbildlich  hat  man  den  „Aufwärtertyp"  herangezogen 
(so  V.  Sybel,  Christi.  Antike  II 136,  vgl.  z.  B.  ebd.  1 190  in  Abbildung 
das  Seligenmahl  in  der  Gruft  der  Vibia,  auch  bei  Ernst  Maaß  Orpheus 
die  Taf.  zwischen  S.  222  u.  223.  Joseph  Wilpert  Die  Malereien  d. 
Katali.  Roms  Taf.  132,  l),  ferner  —  gewissermaßen  ein  heroisches 
Beispiel  für  den  „Aufwärtertyp"  —  den  Odysseus,  wie  er  dem 
Polyphem  mit  beiden  Händen  den  Becher  mit  Wein  reicht  (so  For- 
nari a.a.O.,  vgl.  die  Statuette  Pamfili,  S.  Rein  ach  Rep.  de  la  sta- 
iuaire  I  502,  4,  in  welchem  Sinne  auch  zu  ergänzen  ist  die  bekannte 
vatikanische  Statuette  im  Museo  Chiaramonti,  wo  Odysseus  die  Schale 
bloß   mit   der   Linken    darbietet,   Walther   Amelung  Sculpt.  d.  Vat. 

*  Vom  selben  Verfasser  ist  bereits  1904  eine  Monographie  über  den 
Gegenstand  erschienen:  Die  „heiligen  drei  Könige"  in  der  Legende  und 
in  der  deutschen  bildenden  Kunst  bis  Albrecht  Dürer,  als  Heft  63  der 
Studien  zur  Deutschen  Kunstgesch.,  Straßburg,  J.  H.  Ed.  Heitz,  1904. 


Mitteilungen  und  Hinweise  351 

I  7 90 ff.  Nr.  704  Taf.  85;  Heibig  Führer  d.  d.  Sammlungen  Mass. 
Altert,  in  Rom'-^  I  69 f.,  Nr.  117;  Baumeister  Denkm.  d.  Mass.  Altert. 

II  1038  Abb.  1251;  Röscher  MytJi.  Lex.  III  675  Abb.  14,  vgl.  auch 
Sp.  2705  Abb.  4;  Fornari  a.  a.  0.  S.  73  Fig.  7),  ferner  die  Barbaren- 
darstellungen in  Reliefs  auf  einer  Basis  in  Villa  Borghese,  Cat. 
nr.  CXC  (so  Bieiikowski  a.  a.  0.,  vgl.  Heibig  a.  a.  0.  II  246f.  nr.  1555; 
Böm.  Mitt.  a.  a.  0.  S.  313  Fig.  l),  ferner,  als  späten  Nachklang  der 
ursprünglichen  einheitlichen  Komposition ,  den  Sockelstreif  der  Elfen- 
beintafel Barberini  im  Loavre  (so  v.  Sybel  Böm.  Mut.  a.  a.  0.  S.  314  f. 
Fig.  2),  usw.  Meines  Wissens  aber  noch  nie  hat  man  hingewiesen 
auf  jene  „Deputierten  der  Provinzen"  im  untersten  Streifen  der  sog. 
Perservase,  die,  1851  zu  Canosa,  dem  alten  Canusium  in  Apulien, 
gefunden,  heute  im  Museo  nazionale  zu  Neapel  aufbewahrt  wird, 
bekannt  als  eine  der  apulischen  Prachtamphoren  aus  dem  vorgerück- 
ten vierten  Jahrhundert  v.  Chr.,  vgl.  Heinr.  Heydemann  Ann.  d.  Inst. 
XLV  1873,  20ff.  z.  Monum.  JX  t.  L/LI;  Baumeister  s.  v.  Dareios 
S.  408/10  z.  Taf.  VI  Abb.  449;  Sal.  Reinach  Rep,  des  vases  1 194  f.; 
A.  Ruesch  Guida  illustrata  del  M.  naz.  di  Napoli  S.  473/75  Nr.  1959 
Fig.  123;  Baumgarten,  Poland,  Wagner  Die  hellen.  Kultur^  S.  515 
Abb.  468;  Springer -Michaelis^  I  S.  325  Abb.  584  usw.  Zumal  die 
Magier  der  Mosaikdarstellung  in  S.  Apollinare  Nuovo  zu  Ravenna 
am  Ostende  des  Nordfrieses  (vgl.  z.  B.  die  Tafel  bei  Franz  Xaver 
Kraus  Gesch.  d.  Christi.  Kunst  1  Abb.  332)  erinnern  in  ihrer  ganzen 
Auffassung,  in  Tracht  und  Haltung,  besonders  in  ihrer  eiligen  Vor- 
wärtsbewegung, in  der  Art,  wie  sie  sich  eilenden  Laufes  und 
scbon  zum  Knien  geneigt  der  Gottesmutter  nähern  (Job.  Rud. 
Rahn  Ravenna  [1869]  S.  27)  an  jenen  Provinzialen  am  meisten 
links  (hinter  dem  am  Tischchen  sitzenden  Schatzmeister),  der  rechts- 
hin  „eilend  und  in  demütiger  Haltung"  drei  ineinanderge- 
setzte  goldene  Schalen  herbeiträgt.  Wenn  aber  diese  Magier  nach 
Jean  Paul  Richter  „vom  Scheitel  bis  zur  Zehe  Produkte  eines  mo- 
dernen Mosaicisten '^  sind,  herrührend  von  einer  neueren,  1830  ge- 
machten Restauration^,  dann  mag  man  zur  Vergleichung  mit  dem 
Tributpflichtigen  der  „Perservase"  beispielsweise  heranziehen  die 
Magierhuldigung  auf  einem  Sarkophag  in  S.  Giovanni  Battista  zu 
Ravenna,  abgebildet  z.  B.  bei  Walter  Goetz  Ravenna  (Berühmte 
Kunststätten  Nr.  10)  S.  83  Abb.  85:  auch  so  ist  doch  gewiß  die 
Parallele  frappant  genug!  Oder  es  sei  etwa  noch  neben  Mosaik - 
und  Sarkophagdarstellung  aus  dem  Bereich  der  Katakombenmalerei 
angeführt  jene  Anbetung  der  Magier  aus  der  ersten  Hälfte  des  vierten 
Jahrhunderts  im  Coemeterium  Domitillae,  Orazio  Marucchi  Guida 
del  Cimitero  di  Bomitilla  (1902)  S.  38  ;  Fornari  a.  a.  0.  S.  69  Fig.  4; 

^  Vgl.  J,  P.  Richter  Die  Mosaiken  von  Ravenna,  Wien  1878,  S.  65, 
vgl.  auch  Rahn  a.a.O.;  Kraus  a.a.O.  S.433;  Kehrer  Monogr.  von  1904,  S.41. 


QrjO  Mitteilungen  und  Hinweise 

farbig  bei  Wilpert  a.a.O.  Taf.  116,  wo  auffallender  und  beachtens- 
werter Weise  statt  der  üblichen  drei  ihrer  vier  Magier  erscheinen, 
je  zwei  zu  jeder  Seite  der  Madonna:  offenbar  hat  der  Wunsch, 
symmetrisch  zu  gruppieren,  die  Forderung  der  literarischen  Tradi- 
tion durchbrochen  —  wie  denn  auch  gelegentlich  aus  ebendiesem 
Grund  die  Reduktion  auf  zwei  Magier  dürfte  eingetreten  sein  bei 
jener  etwas  früheren  Darstellung  im  Coemeterium  der  Heiligen  Petrus 
und  Marcellinus  (noch  aus  der  ersten  Hälfte  des  dritten  Jahrhun- 
derts), Wilpert  Taf.  60  (farbig),  Springer -Neuwirth  Handh.  d.  Kunst- 
gesch.^  S.  6  Fig.  6;  Bruno  Schrader  Bie  röm.  Campagna  (Berühmte 
Kunststätten  Bd.  49,  Lpz.  1910)  S.  84  Abb.  28,  wo  zu  beiden  Seiten 
der  Madonna  in  symmetrischer  Anordnung  nur  je  ein  Magier  wieder- 
gegeben ist. 

Zürich  Otto  Waser 

Der  Seelenbrunnen 

Zu  Dieterich,  'Mutter  Erde'  2.  Aufl.  S.  1 8ff.  vgl.  Söhar  I  fol.  235  a, 
de  Pauly  II  526:  zum  „Brunnenlied"  Num.  21,  18  („dies  ist  der 
Brunnen")  sagt  R.  Eleazar:  C'est  de  lä  que  sortent  les  esprits  et  les 
dmes  qui  animent  les  enfants  des  hommes.  —  Unter  dem  hl.  Felsen  im 
haram  zu  Jerusalem  liegt  die  Höhle  guhh  el-arwah  oder  blr  el-arwaJi, 
der  „Seelenbrunnen",  auch  „magäret  el-arwäh"  „Seelenhöhle"  ge- 
nannt (Dalman,  Paläst.  Forsch.  IJ,  Leipzig  1912  S.  129). 

Feldafing  Robert  Eisler 

Zur  *  Mutter  Erde' 

In  den  ^Sprüchen  des  Menander',  aus  dem  Syrischen  übersetzt  von 
Fr.  Schultheß,  Ztschr.  f.  at.  Wiss.  1912,  207  heißt  es:  'Wer  seine  Mut- 
ter prügelt,  was  soll  dem  geschehen?'  Spricht  er  zu  ihnen:  'Die  Erde 
soll  ihn  nicht  aufnehmen,  denn  sie  ist  die  Mutter  aller  Menschen '.  — 
Das  Legen  Sterbender  auf  die  Erde  bezeugt  auch  Caesarius  von  Heister- 
bach Lihri  VIII  miraculorum  p.  101  Meister:  in  mada  positus  .  .  ex- 
piravit.  Ebenda  p.  183:  cum  iaceret  super  cilicium.  S.  auch  George  L. 
Hamilton  The  sources  of  tJie  Symbolicdl  Lag  communion,  Bomanic  Re- 
view IV  1913,  224.  —  In  der  2.  Auflage  von  A.  Dieterichs  'Mutter 
Erde'  muß  es  S.  126  Z.  8  statt  'Herzogsbrunnen'  heißen  'Herrgotts- 
brunnen', S.  Brandt  verweist  dafür  brieflich  auf:  Ed.  Haas,  Jugend- 
erinnerungen aus  der  alten  Saarbrücker  Zeit,  Saarbrücken,  Gebr.  Hofer 
1912  S.  43.  Zu  den  Schweizer  Anschauungen  über  die  Herkunft  der 
Kinder  vgl.  jetzt  E.  Hoffmann-Krayer,  Feste  und  Bräuche  des  Schwei- 
zer Volkes,  Zürich  1913  S.  23f. 

Münster  i.  W.  R.  Wünsch 


(Abgeschlossen  am  1.  Januar  1914.) 


.^■^ 


L  Abliandluiigen 

Die  SündentilgTing  durch  Wasser 

Von  I.  Scheftelowitz  in  Cöln  a.  Rh. 

Inhalt 

1.  Die  Sündenreinigung  durch  ein  Tauchbad  oder  durch  Besprengen 
mit  Wasser.^ 

2.  Mittelbare  Übertragung  der  Sünden  auf  Wasser  durch  eine  magische 
Handlungsweise. 

3.  Ursprung  der  Idee  von  der  sündentilgenden  Kraft  des  Wassers. 

4.  Übereinstimmung  des  Ritus  der  Dämonen  Vertreibung  mit  dem  der 
Sündentilgung:  a)  Apopompe,  b)  Sühnepuppen,  c)  die  kath artische 
Wirkung   des  Wassers,    d)  die   apotropäische  Wirkung   des  Wassers. 

1  Die  Sündenreinigung  durch  ein  Tauchbad 
oder  durch  Besprengen  mit  Wasser 
Auf  primitiver  Kulturstufe  wird  der  wissentliche  und  un- 
wissentliche Verstoß  gegen  die  kultische  Ordnnng^  aber  auch 
häufig  ein  Vergehen  gegen  die  althergebrachte  soziale  Sitte, 
die  unter  der  Obhut  einer  Gottheit  steht,  als  eine  religiöse  Ver- 
fehlung, als  Sünde  angesehen,  die  den  Zorn  der  Götter  erweckt. 
Eine  Folge  der  Sünde  sind  die  physischen  Übel  und  alles  Unheil, 
das  über  einen  Menschen  hereinbricht.^  Im  alten  Peru  mußten 
etwa  folgende  Sünden  dem  Priester  gebeichtet  werden:  Mord, 
Ehebruch,  Diebstahl,  Vergiftungen,  Nachlässigkeit  in  der  Ver- 
ehrung der  Götter,  üble  Nachreden  und  Ungehorsam  gegen  den 
Inka.^  Die  Sünde  wurde  bei  allen  primitiven  Religionen  durch 
äußere  rituelle  Mittel  beseitigt.     Das  Wort  Sünde  fehlte  dem 


^  Vgl.  A.  W.  Whipple  Beport  upon  the  Indian  tribes,  Washington  1855, 
35;  Preuß  Glolus  Bd.  83,  253 ff.,  268 ff.;  Hodson  in  diesem  Archiv  XII  451; 
G  Turner  Nineteen  years  in  Polynesia  1861,  345;  M.  Jastrow  Meligion 
Assyr.  und  Bdbyl.  II  95 ff.;  Oldenberg  Religion  des  Veda  290;  Waitz-Ger- 
land  Anthropologie  Yl  Bis  f.,  349  f. 

*  J.  J.  V.  Tschudi  Beiträge  zur  Kenntnis  des  alten  Peru  1891,  66, 

Archiv  f.  Eeligionswissenschaft  XVII  23 


354  ^-  Scheftelowitz 

Sprachscliatze  der  heidnisclien  Grönländer  und  mußte  aus  dem 
Dänischen  entlelint  werden.  Sünde  war  nach  der  Auffassung 
der  Neubekehrten  alles,  was  den  europäischen  Gemeinden  zum 
Schaden  gereichte.^ 

Im  alten  Indien  galt  als  das  wirksamste  Mittel  zur  Tilgung 
der  Sünden  das  Rezitieren  von  gewissen  Veda-Liedern  in  Ver- 
bindung mit  einem  Bade  im  fließenden  Wasser.  So  sagt  Yäjna- 
yalkya  III  326,  daß  man  sich  von  den  Sünden  reinigen  kann, 
indem  man  dreimal  am  Tage  badet,  die  ^reinigenden  Verse' 
hersagt  und  Opferkuchen  mit  einem  Gäyatri-Vers  weiht:  Mryät 
trisavanasnäyl  hrcchram  cändräyanam  tatM,  paviträni  japet  pin- 
dän  gäyatryä  cabhimantrayet.  Die  'reinigenden  Verse'  (päva- 
mäms),  die  besonders  von  Manu  (V  86;  XI  258)  als  sünden- 
tilgend bezeichnet  werden,  bestehen  aus  den  ersten  67  Liedern 
des  9.  Mandala  des  Rgveda  nebst  dem  sich  daran  anschließen- 
den apokryphen  (khila)  Abschnitte,  der  in  dem  ältesten  Rgveda- 
Ms.  (Käsmir-Ms.)  aus  sechs  Versen  sich  zusammensetzt.^ 

Diese  sechs  apokryphen  Verse  entstammen  etwa  derselben 
Zeit,  in  welcher  die  beiden  letzten  Verse  von  Rgv.  IX  67  ent- 
standen sind,  die  ohne  Zweifel  später  als  das  Lied  selbst  ver- 
faßt wurden,  denn  sie  beziehen  sich  nicht  auf  den  Hymnus 
IX  67  allein,  sondern  auf  die  ihnen  vorangehenden  67  Lieder 
des  9.  Mandala,  welche  diePävamäni-  ('reinigenden')  Verse  bilden. 
Aus  Rgvidhäna  III  3,  2  geht  deutlich  hervor,  daß  diese  beiden 
letzten  Verse  (IX  67,  31 — 32)  zu  den  eigentlichen  Pävamänis 
nicht  mitgerechnet  werden,  denn  die  dort  erwähnten  Pävamänis 
satäni  sat,  'die  600  Pävamäni -Verse',  umfassen  die  ersten   drei 


1  Globus  19,  13. 

^  Die  Anhänger  des  "Väjasaneya  Samhita  gebrauchen  statt  der  Päva- 
mäni-Verse  des  Rgv.  den  Abschnitt  Väj.  Samh.  16,  vgl.  Kaivdlya  Upan. 
am  Schluß:  'Wer  das  Satudriyam  {Väj.  S.  16)  rezitiert,  der  wird  durch 
Feuer  gereinigt,  durch  Wind  gereinigt,  durch  den  Atman  gereinigt,  der 
w^ird  gereinigt  vom  Branntweintrinken,  gereinigt  vom  Brahmanenmord, 
gereinigt  vom  Diebstahl  des  Goldes,  gereinigt  vom  Gebotenen  und  Ver- 
botenen,' 


J 


Die  Sündentilgung  durch  Wasser  355 

Anuväkäs  des  9.  Mandala,  Sükta  1  —  67  Vers  30.  Im  Säma- 
veda  115,  2,  8  finden  sich  diese  beiden  Rk- Verse  IX  67,  31—32 
am  Schlüsse  von  vielen  aus  dem  9.  Mandala  des  Rgveda  ent- 
nommenen Versen,  und  zwar  sind  dort  diese  beiden  Verse  ver- 
mehrt um  vier  weitere,  welche  mit  den  ersten  drei  Versen  und 
mit  dem  6.  Vers  des  apokryphen  (Jchila)  Abschnitts  überein- 
stimmen. Auch  im  Taitt.  Brähm.  1,  4,  8  stehen  die  beiden  letzten 
Rk.- Verse  von  IX  67,  gefolgt  von  sechs  weiteren  Versen,  von 
denen  die  ersten  zwei  Verse  mit  Vers  1  und  2  meiner  Khila- 
Ausgabe^  sich  decken,  der  dritte  Vers  von  dem  zweiten  sich 
nur  durch  eine  Lesart  unterscheidet,  und  die  drei  folgenden 
Verse  mit  Vers  3 — 5  meiner  Khila- Edition  übereinstimmen. 
Demnach  bildeten  die  sechs  apokryphen  Verse  mit  den  letzten 
beiden  Rgveda- Versen  IX  67  schon  im  Veda-Zeitalter  ein  zu- 
sammengehöriges Ganze.  Wenn  also  das  Käsmir-Ms.  nur  sechs 
Verse  überliefert,  so  haben  wir  hier  eine  sehr  alte  Form  der 
Khila -Überlieferung,  während  die  übrigen  Rgveda- Mss.  (wie 
India  Office  Nr.  1473;  2131;  1690  und  1691;  Bodleiana  Wil- 
son Nr.  429—432;  434;  435-438;  British  Mus.  Add.  Nr.  5351) 
neben  diesen  sechs  noch  vierzehn  sekundäre  Verse  enthalten. 
Die  ersten  neun  Verse  des  sekundären  Teils  dieses  Khilas  be- 
stehen aus  Beichtformeln,  die  insofern  sehr  interessant  sind, 
als  sie  die  einzelnen  Sünden  aufzählen,  deren  Vergebung  man 
durch  Rezitation  der  Pävamäni- Verse  und  durch  das  Tauchbad 
erwirken  will.  Hieran  sind  dann  am  Schlüsse  in  ganz  junger 
Zeit  noch  fünf  Verse,  die  aus  Brhaddevatä  und  Rgvidhäna  ent- 
nommen sind,  hinzugekommen.^  Ich  will  nun  die  Übersetzung 
dieser  20  ^sündentilgenden  Verse'  nach  dem  Texte  meiner  Khila- 
Ausgabe  geben: 

1.  Die  Pävamäni- (' reinigenden^)  Verse  sind  glückbringend, 
denn  gut  nährend  sind  die  von  Ghrta  träufelnden  Verse.    Von 

^  Vgl.  Scheftelowitz  Apokryphen  des  Bgv.  1906,  95  ff. 

*  Daß  die  Zusätze  sehr  jung  sind,  geht  aus  ihrem  Inhalte  hervor  und 
aus  dem  Ausdruck  hutäsana  in  V  8  (für  Agni),  welches  zuerst  in  Mah. 
Bhar.  und  Maitri  Up.  6,  38  vorkommt. 

95i* 


356  ^-  Scheftelowitz 

den  Rsis  ist  ihr  Extrakt  angesammelt,  bei  den  Brahmanen  ist 
dieses   unsterbliclie  Gut  niedergelegt. 

2.  Die  Pävamäni -Verse  sollen  uns  diese  und  auch  die  zu- 
künftige Welt  zeigen,  sie  sollen  unsere  Wünsche  erfüllen,  sie 
die  Göttinnen,  welche  vereint  sind  mit  den  Göttern. 

3.  Durch  welches  Läuterungsmittel  die  Götter  sich  stets 
läutern,  durch  dieses,  welches  1000  Ströme  hindurchläßt,  sollen 
mich  die  Pävamäni -Verse  läutern. 

4.  Die  von  Prajäpati  stammende  Seihe  ist  mit  100  Strängen 
versehen,  golden,  mit  dieser  läutern  wir,  die  wir  das  Brahman 
kennen,  das  klare  Brahman. 

5.  Indra  zugleich  mit  der  Suniti  soll  mich  läutern,  Soma 
mit  Svasti,  Varuna  mit  Samici,  Der  König  Yama  mit  den  ver- 
nichtenden Göttinen  sollen  mich  läutern,  Jätavedas  mit  der 
kraftvollen  Göttin  soll  mich  läutern. 

6.  Diese  Pävamäni -Verse  sind  glückbringend,  durch  welche 
man  ins  Paradies  gelangt  und  geweihte  Speisen  genießt  und 
die  Unsterblichkeit  erreicht. 

7.  Welche  ungeheure  Sünde  ich,  als  ich  noch  im  Mutter- 
schoß verweilte,  und  welche  sonstige  Sünde  ich  bei  meiner  Ge- 
burt, und  welche  Sünde  ich,  nachdem  ich  geboren  war,  beging, 
und  welche  ich  während  meines  Heranwachsens  beging,  diese 
reinige  ich  durch  die  Pävamäni -Verse. 

8.  Welches  Gebot  der  Mutter  und  des  Vaters  von  mir  nicht 
ausgeführt  ist,  welches  festgesetzte  Wort  hinfällig  gemacht  wor- 
den ist^,  dieses  mir  schauererregende  Wort  eines  jeden  reinige 
ich  durch  die  Pävamäni -Verse. 

9.  Von  Kauf  und  Verkauf,  von  geschlechtlichem  Vergehen, 
von  Trank  und  Speise,  von  Entgegennahme  von  Bachschis  und 
auch  davon,  daß  man  keine  Nahrung  zu  sich  nimmt,  reinige 
ich  den  Frevler  mit  diesen  Pävamäni -Versen. 


^  Auch  der  Babylonier  fühlt  sich  schuldbewußt:  'hat  er  mit  Herz 
und  Mund  versprochen,  es  aber  nicht  gehalten/  Vgl.  A.  Jeremias  D.  Alte 
Test,  im  Lichte  d.  alten  Orients^  1906,  209. 


Die  Sündentilgung  durch  Wasser  357 

10.  Von  Rindermord  ^,  von  Diebstahl,  von  Frauenmord  und 
worin  sonst  die  Sünde  bestellt,  von  jenen  Taten  reinige  ich  auch 
den  Bösewicht  durch  diese  Pävamäni -Verse. 

11.  Von  Brahmanenmord,  Branntweingenuß  ^,  von  Goldraub, 
von  dem  geschlechtlichen  Verkehr  mit  einem  Südra-Weib,  von 
dem  geschlechtlichen  Verkehr  mit  der  Frau  seines  Lehrers  reinige 
ich  durch  diese  Pävamäni -Verse. 

12.  Von  Kindesmord,  von  Elternmord,  von  dem  Umgang 
und  geschlechtlichen  Verkehr  mit  (einem  Weibe  aus)  jeder  be- 
liebigen Kaste ^,  von  Fehltritten  und  Bestechung'^  reinige  ich 
jeglichen  Übeltäter,  sobald  er  sie  von  sich  gestoßen  hat  {pra- 
harati  loc.  absol.),  durch  diese  Pävamäni -Verse. 

13.  Und  welche  Speise  auch  immer  ohne  Opferspruch  be- 
gleitet, dem  Feuergott  geopfert  ist,  und  welche  Sünde  vor 
einem  Jahr  begangen  ist,  reinige  ich  durch  diese  Pävamäni- 
Verse. 

14.  Den  Sündhaften,  der  fehlerhaft  geopfert  oder  fehlerhaft 
auswendig  rezitiert  hat"*,  wenn  man  es  nicht  unwissentlich  voU- 

^  Tötung  einer  Kuh  ist  nach   Yäjnavalkya  III 234  eine  Sünde. 
^  'Wer  einen  Brahmanen  getötet,  wer  Branntwein  getrunken,  ein  Dieb 
und   wer  das  Ehebett  seines  Lehrers  befleckt,   diese  sind  große  Sünder, 

k sowie  auch  wer  mit  ihnen  verkehrt'  {Yäjnavalkya  III  227). 
'  Vgl.  Yäjiiavalkya  II  294:  'Einen  Mann,  der  zu  einer  Frau  geht, 
Bis  der  niedrigsten  Kaste  angehört,  soll  man  mit  schimpflichen 
iieichen  brandmarken  und  verbannen.  Ein  Südra,  der  dieses  tut,  soll  ein 
niedrigster  werden.  Einem  Mann  der  niedrigsten  Kaste,  der  zu  einer 
höheren  Frau  geht,  ist  der  Tod  bestimmt."  II  286:  'Bei  Unzucht  eines 
Mannes  mit  einer  Frau  derselben  Kaste  trifft  ihn  die  höchste  Geldstrafe, 
mit  einer  Frau  niederer  Kaste  die  mittlere  Geldstrafe,  mit  einer  Frau 
höherer  Kaste  der  Tod/ 

*  Auch  in  Babylonien  galt  es  für  eine  Sünde,  wenn  jemand  'seines 
Nächsten  Weib  sich  genaht'  oder  wenn  jemand  einem  'durch  Bestechung 
zum  Recht  verhelfen  hat'  (A.  Jeremias  D.  Alte  Test,  im  Lichte  d.  alten 
Orients^  1906,  208 f.). 

^  Bei  den  alten  Indern  ist  ein  beim  Opfern  gesprochenes  Lied,  das 
nicht  richtig  gesprochen  und  betont  wird,  nicht  nur  unwirksam,  sondern 
dem  Opfernden  sogar  schädlich  (vgl.  Siksci  52).  'Wenn  die  Priester  ihre 
Sache  schlecht  machtenr  sei  es,  daß  sie  das  Rituell  schlecht  verstanden. 


358  I-  Scheftelowitz 

bracht  hat,  die  Frauen,  die  nicht  haben  opfern  lassen,  oder  mit 
denen  man  an  einem  Opfer  nicht  teilnehmen  darf^,  reinige  ich 
durch  diese  Pävamäni -Verse. 

15.  Die  Geburtsstätten  der  heiligen  Ordnung,  die  Stätte  der 
Unsterblichkeit,  alle  diese  Gewässer,  welche  den  Göttern  an- 
genehm duften,  diese  unsere  Gewässer  sollen  weg- 
führen die  Sünde;  gläubig  komme  ich  in  die  Welt  des 
Rechtschaffenen,  durch  diese  Pävamäni -Verse  reinige  ich. 

16.  Wer  an  einen  Pävamäni -Vers,  an  die  Manen,  an  die 
Götter  und  an  Sarasvati  denken  würde,  dessen  Milchspende, 
Opferschmalz,  Honig  und  Wasser  möchte  zu  den  Manen  gelangen. 

17.  Alle  Rsis,  die  den  Himmel  zu  erringen  suchten,  haben 
sich  den  Kasteiungen  unterzogen,  das  Wertvollste  von  allen 
Kasteiungen  sind  die  Pävamäni- Verse,  diese  flüstere  man. 

18.  Wer  den Pävamäna- Abschnitt,  das  vorzüglichste  Brahman, 
andächtig  rezitiert,  der  würde  ein  zum  siebenten  Male  wieder- 
geborener Weiser  sein,  vedakundig  und  reich. 

19.  Die  letzten  zehn  Verse  und  diese  600  Pävamäni- Verse, 
so  leise  hersagend,  will  ich  eine  Spende  darbringen,  auf  diese 
Weise  kann  man  die  schreckliche  Furcht  vor  dem  Tode  besiegen. 

20.  Der  Pävamäna-Abschnitt,  das  vorzüglichste  Brahman, 
das  lautere  Licht,  das  unvergängliche,  würde  dann  zu  den  Rsis 
gelangen  und  zugleich  dessen  Milchspende,  Opferschmalz,  Honig 
und  Wasser. 

Die  sündenreinigende  Kraft  des  Wassers  wird  besonders  im 
Rgveda  geschildert.  So  heißt  es  Rgv.  I  23,  22  (X  9,  8):  ^0 
Wasser,   traget   fort,   was    irgend    Böses  und  Unrechtes  ist  in 

sei  es,  daß  sie  absichtlich  falsch  opferten,  so  traf  den  Opfernden  das  Un- 
heir  (A.  Weber  Ind.  Stud.  X  152).  Auch  bei  den  Juden  wurde  das  Opfer, 
wenn  es  der  Priester  nicht  mit  der  richtigen  Andacht  und  Aufmerksam- 
keit oder  vorschriftswidrig  darbrachte,  ungültig  (Misnä  Ze&aÄim  Abschn.  2 ; 
Talm.  Zehahim  1). 

^  Über  den  Ausschluß  von  Frauen  bei  kultischen  Handlungen  in 
klassischer  Zeit  vgl.  Th.  Wächter  Beinheitsvorschriften  im  griech.  Kult 
(RGW  JXl)  125ff, 


Die  Sündentilgung  durch  Wasser  359 

mir,  wenn  ich  ein  Leid  zugefügt  oder  wenn  ich  geflucht  habe.' 
Nicht  durch  Lobsprüche  allein  danken  die  Gewässer  dem  Indra 
für  ihre  Befreiung  von  dem  Wasserdämon  Vrtra  (vgl.  Kgv.  II 
11,  2;  VIII  76,  3),  sondern  sie  wollen  auch  die  Sünde  des  Indra, 
die  er  durch  die  Tötung  des  Vrtra  begangen  hat  (vgl.  Säyana 
zu  IV  18,  7:  asyendrasyävadyam  hrahmahatyädirupam  päpam 
didhisante),  willig  auf  sich  nehmen  und  sie  weit  forttragen,  vgl. 
Säyana  zu  IV  18,  17:  indrenotsrstä  äpas  tasya  päpam  jagrhur 
ityarthah  ^Die  von  Indra  befreiten  Wasser  haben  des  Indra 
Sünde  auf  sich  genommen'.  Der  Vers  Rgv.  IV  1 8,  7,  den  die 
Mutter  des  Indra  spricht,  nachdem  die  Wasser  ihr  rühmend  er- 
zählt haben,  was  ihr  Sohn  vollbracht,  und  daß  sie  die  Sünde 
des  Indra  wegspülen  werden,  lautet  demgemäß:  ^Flüstern  die 
Wasser  ihm  (dem  Indra)  etwa  nur  Lobsprüche  zu?  Sie  wollen 
sogar  des  Indra  Sünde  auf  sich  nehmen.  Mein  Sohn  nämlich 
hat  diese  Flüsse  strömen  lassen,  nachdem  er  mit  gewaltigem 
Schlage  den  Vrtra  getötet  hat.'  Den  Indra,  der  sich  durch  die 
Ermordung  des  Götterpriesters  Trisiras  eine  große  Sünde  zu- 
gezogen hatte,  befreit  der  Rsi  Sindhudvipa  dadurch  von  der 
Schuld,  daß  er  ihn  mit  Wasser  besprengt  und  dabei  die 
Hymne  Rgv.  X  9  rezitiert.^  Der  Sünder  fleht:  äpas  sundhantu 
mainasah  'Die  Wasser  mögen  mich  von  der  Sünde  reinigen'.^ 
'Sieben  göttliche  Wasser  sind  geflossen,  mögen  sie  uns  vom 
Leid  befreien.'"  'Was  ich  an  Übeltat  beging,  von  allem  wasche 
mich  das  Wasser  rein.'*  Zu  diesem  Zwecke  nimmt  er  ein  Bad 
und  spricht  beim  Verlassen  desselben:  'Ich  schreite  über  die 
Sünde,  die  eine  Klippe  ist,  hinweg.  Ich  lasse  den  Sünden- 
schmutz am  heiligen  Orte  (im  Wasser)  zurück.  Ich  steige  empor 
zu  dieser  Welt  der  Rechtschafi"enen,  zu  der  die  Rechtschaffenen, 
nicht  aber  die  Missetäter  gelangen.'^     Ein  Vedaschüler,  der  das 

^  Brhaddevatä  ed.  Macdonell  VI  150—153. 

2  Väj.  Samh.  XX  20;  S'at.  Br.  XII.  9,  2,  7.     »  Äth.  Ved.  XII  112,  1. 
'  Fränägnihotra  Upan.  1. 

^  Taitt.  Brahm.  III  7,  12,  2,   vgl.  Geldner  in  Bertholet  Beligionsgesch. 
Lesebuch  1908,  121. 


360  ^-  Schefteiowitz 

Keusclilieitsgelübde  gebrochen  hat,  wird  dadurcli  entsühnt,  daß 
ihm  der  Brahmane  einen  aus  Gras  geflochtenen  Strick  um  den 
Hals  schlingt  und  ihn  dann  mit  geweihtem  Wasser  begießt. 
Hierauf  bindet  er  ihm  die  Schlinge  los,  indem  er  den  Vers 
Ath.  Yeda  YI  63,  1  rezitiert:  'Die  Fessel,  die  unlösbare,  die  dir 
die  Göttin  Nirrti  (* Vernichtung')  ^um  den  Hals  geknüpft,  die 
löse  ich  dir.'  Durch  das  Wasser  wird  hier  also  die  über  den 
Sünder  geworfene  Unheilschlinge  der  Nirrti  unschädlich  gemacht.^ 
Im  heutigen  Indien  richtet  der  Brahmane  frühmorgens  ein 
Gebet  an  das  Wasser,  worin  es  heißt:  '0  Wasser  des  Meeres 
der  Flüsse,  der  Teiche,  der  Quellen  höre  gnädig  auf  meine  Ge- 
bete und  Gelübde.  Ebenso  wie  ein  Wanderer,  ermüdet  vor  der 
Hitze,  Ruhe  und  Behagen  unter  dem  Schatten  eines  Baumes 
findet,  so  möge  ich  in  dir  Trost  und  Beistand  in  allem  meinem 
Unglück  finden  und  Verzeihung  für  alle  meine  Sünden  .  .  . 
Reinige  mich  von  meinen  Sünden  und  alle  übrigen 
Menschen  von  ihren  Sünden.'  Nach  Beendigung  dieses  Ge- 
betes taucht  er  ein  Grasbüschel  ins  Wasser  und  besprengt  da- 
mit sein  Haupt.  Hierdurch  hat  er  seine  Sünden  weggespült.^ 
Besonders  haben  die  zahlreichen  heiligen  Flüsse  und  Seen  eine 
sündentilgende  Kraft,  wenn  man  ein  Bad  darin  nimmt.^  Bevor 
ein  Brahmane  in  den  Fluten  des  heiligen  Ganges   untertaucht, 

^  Kaus.  S.  46,  19 ff.;  Caland  Altind.  Zauberritual  152;  Scheftelowitz 
Schlingen-  und  Netzmotiv  RGVVXII?,  7  ff.  Eine  ähnliche  Zeremonie  wird 
mit  zwei  Brüdern  vorgenommen,  von  denen  sich  der  jüngere  dadurch  ver- 
sündigt hat,  daß  er  vor  dem  älteren  geheiratet  hat  (Kaus.  S.  46,  26 — 29, 
Caland  a.  a.  0.  153  f.). 

2  J.  A.  Dubois  Hindu  Manners  2.  Ed.  Oxford  1899,  253 f.;  W.  Crook 
Natives  of  Northern  India  1907,  227.  Besonders  gilt  der  Zusammenfluß 
zweier  heiliger  Ströme  für  sündentilgend  und  heilbringend  gegen  Krank- 
heiten (Crooke  Populär  Religion  of  Northern  India^  I  38).  Der  König 
Trisanku,  der  drei  Todsünden  begangen  hatte,  indem  er  eine  Kuh  und 
einen  Brahmanen  tötete  und  seine  Stiefmutter  heiratete,  wird  von  dem  Rsi 
Visvamitra  dadurch  gesühnt,  daß  er  Wasser  von  den  verschiedensten 
hl.  Strömen  der  Erde  nahm  und  ihn  damit  abwusch  (vgl.  Crooke  IPop. 
Relig.^  IZS),.    - 

8  J.  A.  Dubois  a.  a.  0.  198  f. 


Die  Sündentilgung  durch  Wasser  361 

richtet  er  folgendes  Gebet  an  den  Fluß;  0  Ganges!  who  were 
hörn  in  BrdhmaJs  pitcherj  wJience  yoii  descended  in  streams  on 
to  Siva^s  hair^  from  Siva's  hair  to  Vishnii's  feet,  and  thence 
flowed  on  to  the  earth  to  wash  out  the  sins  of  all  men,  to 
purify  them  and  promote  their  happinessf  You  are  the  stay  and 
Support  of  all  living  creatures  here  helow !  I  thinh  of  you,  and 
it  is  in  my  mind  to  hathe  in  your  sacred  waters.  D eigne  to 
hlot  out  my  sins  and  deliver  me  from  all  evil}  In  Coorg 
(Indien)  gilt  ein  Spritzbad  an  den  Wasserfällen  des  Laksman- 
tirtha  als  besonders  sündentilgend,  weshalb  Tausende  zu  die- 
sem Zwecke  dahin  pilgern.^ 

Nach  der  Auffassung  der  Eweer  in  Südtogo  kann  man  die 
Sünden,  womit  man  sein  Inneres  besudelt  hat,  durch  ein  Fluß- 
bad abwaschen,  gleichzeitig  wird  alles  ihm  anhaftende  Unheil 

'  Dubois  a.  a.  0.  244. 

*  L.  Rice  Mysore  and  Coorg  III  1878,  266.  Infolge  solcher  Anschau- 
ungen betrachtet  der  Dajak  (Borneo),  wenn  er  träumt,  er  habe  ein  Bad 
genommen,  dieses  für  ein  gutes  Omen  (Spenser  St.  John  Life  in  the 
forests  of  the  far  East  18G3,  I  200.)  In  Kombakonum  (bei  Madras)  ist  ein 
hl.  Teich,  der  sich  dadurch  auszeichnet,  daß  in  jedem  zwölften  Jahr  sein 
Wasser  eine  so  entsühnende  Kraft  gewinnt,  daß  ein  Bad  darin  alle  Sünden 
und  körperlichen  Leiden  von  dem  Benutzer  wegnimmt.  Dazu  ist  es  aber 
nötig,  daß  der  Teich  mit  Gangeswasser  vermischt  wird.  Denn  der  Ganges 
ist  ja  aus  dem  Haupte  Sivas  entsprungen  und  durchfließt  Himmel,  Erde 
und  Unterwelt.  Wer  an  seinen  Ufern  stirbt  oder  vor  seinem  Tode  Wasser 
davon  trinkt,  ist  des  Paradieses  sicher.  Aus  diesem  Grunde  trägt  man 
Sterbende  zu  ihm  und  versendet  sein  Wasser  weithin  {Globus  71,  294  f.). 
Dieselbe  Rolle  wie  das  Gangeswasser  spielt  bei  den  Juden  die  Erde  des 
gelobten  Landes.  'R.  Meier  sagt:  Wer  sich  im  gelobten  Lande  ansiedelt, 
dessen  Sünden  sühnt  die  Erde  des  gelobten  Landes'  {Sifre  P.  Haazinä 
§  333;  Jalqut  zu  5.  M.  32,43).  Nach  R.  Eliezer  und  R.  Josua  sühnt  die 
Erde  des  gelobten  Landes  nur  die  Sünden,  die  ein  Gerechter  begeht 
{Misle  BahM  X  3).  'R.  Eliezer  sagt:  Wer  im  hl.  Lande  begraben  wird, 
dem  sühnt  Gott  seine  Schuld'  {Midras  Tanhumä  P.  Wajehi  (ed.  Buber 
1885)  S.  108).  'R.  'Anan  sagt:  Wer  im  hl.  Lande  begraben  wird,  ist 
gleichsam  unter  dem  Altar  begraben,  dessen  Erde  die  Sünden  sühnt' 
',Talm.  Ketuböt  lila).  Da  die  Erde  Palästinas  eine  sühnende  Wirkung 
ausübt,  so  wird  jedem  Toten  etwas  Erde  vom  gelobten  Lande  mitge- 
geben und  haben  viele  alte  Juden  den  sehnsüchtigen  Wunsch,  im  hohen 
Alter  nach  Palästina  zu  gehen  und  dort  zu  sterben. 


362  I-  Scheftelowitz 

mit  fortgeschwemmt.^  Die  Creekindianer  glaubten  nicht  nur 
durch  Brech-  und  Purgier  mittel,  sondern  auch  durch  Baden  und 
Waschen  unter  bestimmten  Zeremonien  alle  Übeltaten  des  ver- 
flossenen Jahres  außer  Mord,  tilgen  zu  können.^  Dieselbe  An- 
schauung von  der  sündenreinigenden  Kraft  des  Wassers  herrschte 
auch  im  alten  Mexiko.  Bei  dem  zeremoniellen  Bade,  dem  ein 
neugeborenes  Kind  unterworfen  war,  sprach  die  eingeborene 
Hebamme:  ^Steige  hinab  in  das  Bad,  in  welchem  dich  der  un- 
sichtbare Gott  wasche  von  allem  Mißgeschick,  welches  die  Götter 
schon  vor  deiner  Geburt  über  dich  yerhängten,  und  von  deinen 
Sünden  und  der  Unreinigkeit,  welche  du  von  deinen  Eltern 
mitnahmst.'^  Bei  den  Azteken  wurde  das  neugeborene  Kind 
mit  folgenden  Worten  gewaschen:  *Möge  dieses  Wasser  reinigen 
und  dein  Herz  läutern,  möge  es  jegliches  Übel  hinwegspülen.'* 
In  Polynesien  konnten  alle  Sünden  durch  Abwaschung  mit 
Wasser  gesühnt  werden.^ 

Bei  den  klassischen  Völkern  sind  dieselben  Vorstellungen 
nachweisbar.  Die  Griechen  glaubten,  daß  selbst  die  schwerste 
Sünde,  wie  Mord,  durch  eine  Reinigung  in  14  Gewässern  ge- 
sühnt werden  könnte.^  Nach  griechischer  Auffassung  haftete 
an  dem  Mörder  auch  das  iiCae^a  der  ihn  verfolgenden  Seele 
des  Getöteten  und  der  ihr  beistehenden  Dämonen.  Daher  war 
selbst  nach  der  gesetzlich  erlaubten  Tötung  eine  Reinigung  er- 
forderlich. Diese  Katharsis  geschah  durch  Besprengen  mit  dem 
Blute  eines  womöglich  jungen  Schweines  oder  Lammes  und  durch 
Baden  in  einer  Quelle,  einem  Flusse,  oder  im  Meere.^ 

*  J.  Spieth  Beligion  der  Eweer  1911,  19  u.  41. 

*  Ad&ii  History  of  the  American  Indians  1775  p.  106  u,  120;  School- 
craft  History  .  .  .  of  the  Indian  tribes  1851,  V  266  f.,  685. 

«  H.  Floß  Das  Kind  P  302;  Globus  27,  316. 

*  L.  R.  Farneil  Evolution  of  Beligion  1905,  157. 
^  Waitz- Gerland  Anthropologie  1872,  Yl  361  f. 

«  E.  Rohde  Psyche*  II  405. 

'  Th.  Wächter  Beinheitsvorschriften  im  griech.  Kult  (RGW  IX  1.)  64, 
65  ff.,  74;  vgl.  aucli  TertuUian  bapt.  5:  penes  vetercs  quisque  se  ho- 
micidio  infecerat,  purgatrices  aquas  explorabat.    Schon  Heraklit  bekämpft 


Die  Sündentilgung  durch  Wasser  363 

Ovid  Fasti  II  35 — AQ  wendet  sich  gegen  den  Aberglauben, 
daß  jede  Sünde,  selbst  der  Mord,  durch  Wasser  getilgt  werden 
kann.^  Der  römische  Kaufmann  schöpfte  aus  der  Quelle  am 
Capenischen  Tore  Wasser,  tauchte  darin  einen  Lorbeerzweig 
und  besprengte  damit  sich  und  seine  Waren,  indem  er  Mercur 
anflehte,  er  möge  seine  früheren  meineidigen  Reden  und  täu- 
schenden Worte  hinwegspülen:  ahlue  praeteriti  periuria  tem- 
poris,  inquity  dblue  praeteritae  perfid a  verha  die  (Ovid  Fasti  V 
673 — 681).  Durch  Waschen  der  Hände  in  einer  Quelle  und 
durch  Springen  über  ein  Feuer  sühnten  die  Hirten  am  Feste 
der  Pales  ihre  Freveltaten.^  Midas,  der  die  Gunst  des  Bacchus 
mißbraucht  hatte,  fleht  wehmütig  den  Bacchus  an:  'Vater  Le- 
näus,  verzeihe  mir,  ich  habe  gesündigt!'  Bacchus  sagt  ihm 
hierauf,  daß  er  in  der  schäumenden  Quelle  des  Flusses  Pacto- 
lus,  wo  er  am  stärksten  hervorsprudelt,  das  Haupt  untertauchen 
solle,  dann  werde  er  zugleich  mit  dem  Leibe  die  Schuld  ab- 
waschen.^ 

diese  Katharsis:  'Reinigung  von  Blutschuld  suchen  sie  vergeblich,  indem 
sie  sich  mit  Blut  Besudeln,  wie  wenn  einer,  der  in  Kot  getreten,  sich  in 
Kot  abwaschen  wollte'  (H.  Diels  HeraTdeitos  von  Ephesos  1909,  17  §5). 

^  Über   die   Katharsis   des   Mörders  in  Rom  vgl.  M,  Voigt  Über  die 
Leges  regiae  in  Abhdl.  Sachs,  Ges.  Wiss.  VII  620,   624.     Nach   Catullus 
LXXXVIII  hat  der  in  Blutschande  lebende  Mann  ein  so  schweres  Ver- 
brechen begangen,  daß  es  nicht  durch  den  Ozean  weggespült  werden  kann: 
Ecquid  scis  quantum  suscipiat  sceleris? 
Suscipit . .  .  quantum  non  ultima  Tethys 
nee  genitor  Nympharum  ahluit  Oceanus. 

^  Ovid  Fasti  IV  778 ff.  Bei  den  Türkis  in  Turkestan  existiert  ein 
Frühlingsfest,  an  dem  sie  über  ein  Feuer  springen,  wodurch  sie  sich  von 
begangenen  Sünden  befreien  und  vor  den  Angriffen  der  Dämonen  schützen 
(A.  Featherman  Soc.  Hist.  of  Baces  of  ManJcind  IV,  287).  Im  heutigen 
Griechenland  und  in  der  Türkei  zündet  man  zur  Zeit  der  Sonnenwende  ein 
Feuer  an,  durch  welches  die  Frauen  springen  mit  dem  Rufe:  *Ich  lasse 
meine  Sünden'  (Preller  Böm.  MytJi.  1 41,  Boul  Les  Turques  en  Europe  II 500). 

^  Ovid  Met.  XI  132 — 141.  Das  Wasser  vermag  nach  antiker  Auf- 
fassung vom  menschlichen  Körper  alles,  was  irgend  dem  Tode  verfallen 
ist,  wegzuspülen  und  es  ins  Meer  zu  tragen,  so  daß  nur  noch  der  bessere, 
der  unsterbliche  Teil  vom  Menschen  zurückbleibt  (Ovid  Jf et  XIII  9ö0ff., 
XIV  601  ff.). 


364  ^-  Scheftelowitz 

Die  Verehrerinnen  der  Isis  glaubten  durch  zahlreiches  Baden 
im  Flusse  ihre  ehemaligen  Sünden  zu  sühnen  und  so  ihre  ur- 
sprüngliche Unschuld  wiederzugewinnen;  JuvenaP  schildert^  wie 
sie  sogar  im  Winter  das  Eis  des  Tibers  aufschlagen,  um  im 
Flusse  ein  Bad  zu  nehmen.  Die  im  Rufe  großer  Unzüchtigkeit 
stehenden  Mysterien  der  thrakischen  Göttin  Kotys  waren  mit 
einem  Bade  der  Eingeweihten  verbunden,  weshalb  diese  Mysten. 
Bdntai  hießen.^ 

Während  die  heidnischen  Völker  sich  nur  aus  Furcht  vor 
dem  Zorne  der  Götter  vor  der  Sündenstrafe,  die  in  Krankheit 
und  Elend  besteht,  sich  von  den  Sünden  durch  äußere  rituelle 
Mittel  zu  reinigen  suchen^,  so  erstreben  die  biblischen  Pro- 
pheten die  Besserung  des  inneren  Menschen.  Die  Sünde  ver- 
mag der  Mensch  nach  biblischer  Auffassung  nicht  durch  Ver- 
ehrung, Opfer  und  Wasser,  sondern  vor  allem  durch  Reue  und 
einen  reinen  Lebenswandel  zu  sühnen.*  ^Selbst  wenn  du  dich 
mit  Lauge  waschen  und  dir  reichlich  Seife  nehmen  würdest, 
so  würde  deine  Sünde  kleben  bleiben  vor  mir,  spricht  Gott, 
der  Herr'  (Jerem.  2,  22).  So  bleibt  der  jüdischen  Religion 
das    Verdienst,    das    Sittliche    in    seiner    Reinheit    und    Voll- 

^  Saiirae  VI  524  ff. :  Hibernum  fractä  glacie  descendet  in  amnem 
Ter  matutino  Tiberi  mergetur  et  ipsis 
Vorticihus  timidum  caput  dbluet. 

*  Pauly-Wissowa  Bealenzylcl.  d.  Jclass.  Alt.  II  2850.  Auch  im  Altnor- 
dischen scheint  Mordtat  durch  Baden  im  Ozean  getilgt  werden  zu  können. 
Nach  der  Edda  entzieht  sich  Gudrun,  welche  ihren  zweiten  Gatten  Atli 
und  seine  Kinder  ermordet  hatte,  der  furchtbaren  Strafe  der  sie  ver- 
folgenden Nornen  dadurch,  daß  sie  sich  in  die  See  stürzt,  ans  jenseitige 
Ufer  schwimmt  und  dort  im  Lande  des  Jonakur  ein  neues  Leben  beginnt 
{Gudrunarhvöt  12  f.). 

^  Selbst  die  altindische  Philosophie  der  üpanisads  vermochte  sich 
nicht  von  diesen  primitiven  Vorstellungen  frei  zu  machen,  vgl.  Nrsim- 
hapürvatäpaniya  Up.  2,  1 :  'Wer  sich  vor  dem  Tode,  vor  den  Sünden  und 
vor  der  Seelenwanderung  fürchtet,  der  ergreife  seine  Zuflucht  zu  der 
Nrsimha-Formel,  so  besiegt  er  Tod,  überwindet  die  Sünde  und  die  Seelen- 
wanderung/ 

*  VgL  Ps.  51,  8  u.  110,  12;  Mika  6,  6ff.  ;  Hos.  6,  6;  Am.  5,  21  —  25; 
Jes.  1,  11—17;  Jes.  7,  21—23;  Jes.  55,  6—7. 


Die  Sündentilgung  durch  Wasser  365 

kommenheit  zuerst  erkannt  zu  haben.  Daher  ist  die  volkstüm- 
liche Idee  von  der  Abwaschung  der  Sünde  in  dem  Alten  Te- 
stament zu  einem  poetischen  Bilde  erstarrt^,  vgl.  Jes.  1,  16: 
Waschet  euch,  reinigt  euch,  schaffet  eure  bösen  Taten  weg, 
höret  auf  zu  freveln.'  Ezech.  36,  25 f.:  'Ich  werde  über  euch 
reines  Wasser  sprengen,  daß  ihr  rein  werdet;  von  all  euren 
Unreinheiten  und  Lastern  will  ich  euch  läutern.'  Ps.  51, 4: 
^Wasche  mich  ganz  rein  von  meiner  Schuld,  und  von  meiner 
Sünde  reinige  mich.'  Ps.  73,  13:  'Nutzlos  habe  ich  mein  Herz 
reingehalten  und  meine  Hände  in  Unschuld  gewaschen.'  Hiob 
9,29 — 31:  'Ich  soll  schuldig  sein?  Wozu  nun  mich  abmühen? 
Wenn  ich  mich  auch  im  Schneewasser  wüsche  und  meine  Hände 
mit  Seife  reinigte,  dann  würdest  du  (Gott)  mich  in  Schlamm 
tauchen,  daß  er  meine  Gewänder  besudelte.' 

Daneben  hat  sich  aber  im  israelitischen  Volksglauben  noch 
die  Vorstellung  von  der  sündentilgenden  Kraft  des  Wassers 
lebendig  erhalten.  So  heißt  es  Zach.  13,  1:  'An  jenem  Tage 
wird  sich  eine  Quelle  öffnen  dem  Hause  Davids  und  den  Be- 
wohnern Jerusalems  für  die  Sünde  und  die  Unreinheit.'  In 
Pesiqtä  Rabbäti  P.  20  heißt  es:  'Das  Sternbild  des  Eimers  ist 
deshalb  von  Gott  erschaffen,  weil  Gott  auf  die  Menschen  reines 
Wasser  sprengen  wird,  um  sie  von  ihren  Sünden  zu  reinigen.' 
Nach  Firqe  de  Mab  Eli^ezer  cap.  20  hatte  Adam  nach  dem 
Sündenfall  sich  sieben  Wochen  lang  in  einem  Flusse  gebadet 
und  dabei  gefastet,  wodurch  er  die  göttliche  Vergebung  er- 
langte. Jesaja  Horwitz,  der  um  1600  gelebt  hat,  erwähnt  in 
seinem  Werke  Sene  Luhöt  Jidbberit  den  Volksbrauch,  daß  man 
am  Vorabend  des  Versöhnungsfestes  ein  Tauchbad  im  Quell- 
wasser nehme;  er  sagt,  man   solle  jedoch   vor  dem  Bade  voll 

^  Wenn  4.  M.  8,  7  das  Lustrationswasser,  womit  die  L^iviten,  wenn 
sie  unrein  geworden  waren,  besprengt  worden  sind,  niüH  "*?:  'Entsün- 
digungswasser'  heißt,  so  scheint  ursprünglich  dieses  Wasser  auch  zurSünden- 
reinigung  benutzt  worden  zu  sein.  Der  hebräische  Ausdruck  nbD  'Sünden 
Tergeben'  bedeutet  eigentlich  etymologisch  'besprengen"  (assyr.  salächu 
'besprengen'). 


366  I.  Scheftelowitz 

Reue  dreimal  das  Sündenbekenntnis  hersagen,  ^denn  das  Tauch- 
bad reinigt  nur  die  Bußfertigen  von  allen  Sünden'.^ 

Diese  primitive  Vorstellung  von  der  sündentilgenden  Kraft 
des  Wassers  spielt  auch  in  der  altcbristliclien  Taufe  eine  große 
Rolle.  Die  Taufe  gebt  ursprünglich  auf  die  altjüdische  Vor- 
schrift zurück,  daß  ein  Heide,  wenn  er  zum  Judentum  über- 
trat, unmittelbar  nach  seiner  Beschneidung  ein  Tauchbad  in 
einem  fließenden  Wasser  nehmen  mußte.^  Nach  dem  Talmud 
war  das  Bad  deshalb  vorgeschrieben,  um  hierdurch  die  an  den 
Heiden  haftende  Unreinheit  des  Götzendienstes  zu  beseitigen, 
denn  sowohl  Menschen,  die  die  im  Alten  Testament  vorgeschrie- 

^  T^miiy  h'Di2  i)Dii:3>  i'n'üb  nm^ön  '^b:^sb  nb-^nürr  n*^?!  ^^  Michel  Ep- 

Btein  Qissur  sene  luhöt  hdbberit,  Fürth  5492  Bl.  77  b.  Noch  heute  existiert 
dieser  Brauch  bei  den  slawischen  Juden.  Nach  der  älteren  Auffassung 
diente  das  Tauchbad,  das  man  vor  Beginn  des  Köshassänä- Festes  und 
des  Jömkippur  nehmen  sollte,  nur  zur  rituellen  Reinheit,  da  man  die 
an  diesen  heiligen  Tagen  im  Tempel  vorgeschriebenen  Gebete  nur  in 
rituell  reinem  Zustande  sprechen  dürfe  {KolBö  %  64  und  68,  Venetia 
6327,  69  a  und  75  a),  vgl.  auch  Misnä  Jömä  III,  3 ;  Josephus  Arch.  XVIII  5,  2 
betont,  daß  die  Essäer  das  Tauchbad  nur  zur  Heiligung  des  Leibes, 
'nicht  aber  zur  Abbüße  irgendwelcher  Sünde'  (fir/  iTti  tlvcov  ä^ccgtciScov 
TiaQuitriGSi)  anwendeten.  Der  niedere  Volksglaube  scheint  jedoch  in 
dieser  Zeremonie  des  Tauchbades  eine  Art  Sündentilgung  gesehen  zu 
haben. 

*  Vgl.  Schürer  Gesch.  d.  Jüd.  Volkes  lll  181  f;  Scheftelowitz  in  diesem 
Archiv  XIV  17;  H.  Windisch  Die  Taufe  und  Sünde  im  älteren  Christen- 
tum 1908;  Fortheringham  The  doctrine  of  Baptism  in  Holy  Scripture  in 
Princeton  Theological  Review  IlI  441  ff.,  6 18 ff.;  Drews  in  Herzogs 
RealenzyJcL  f.  prot.  Theologie^  XIX  399;  W.  Brandt  Die  Baptismen 
und  religiösen  Waschungen  im  Judentum  1910,  58 ff.;  G.  Hoennicke 
Judenchristentum  1908,  271  ff.  Die  jüdische  Vorschrift,  daß  diejenige 
Person,  die  ein  solches  Tauchbad  nahm,  jeden  Ring  ablegen  und 
daß  eine  Frau  ihre  Haare  lösen  und  die  Haarnadeln  entfernen  mußten, 
damit  das  Wasser  den  Körper  vollständig  berühre  (vgl.  Josef  Karo  Jore 
de'ä  §  198),  herrschte  auch  in  der  altchristlichen  Kirche  (F.  Dölger  Exor- 
zismus im  altchristlichen  Taufritual  1909,  112).  Nach  R.  Jaäqöb  Ben  Mose 
Hallewi,  der  im  14.  Jahrhundert  lebte,  dient  das  Tauchbad  des  Proselyten 
zur  Buße  (üisTiibn).  Aus  demselben  Grunde  wäre  es  auch  üblich,  vor  Be- 
ginn des  Versöhnungsfestes  ein  Tauchbad  zu  nehmen.  {Sefer  Maharil 
P.  Hilköt  Jörn  Kippur,  Frankfurt  a.  M.  5448  Bl.  114  a.) 


Die  Sündentilgung  durch  Wasser  367 

benen  Reinheitsgesetze  außer  acht  gelassen  hatten,  als  auch 
Gegenstände,  die  von  Heiden  herrührten,  galten  für  unrein.* 
Das  für  den  Proselyten  vorgeschriebene  Tauchbad  war  also  im 
Judentum  nicht  das  Symbol  der  Sündenreinigung,  sondern  nur 
ein  Mittel  zur  Erlangung  der  levitischen  Reinheit.  Diese  jüdische 
Vorschrift  des  Tauchbades  für  den  Neophyten  hatte  ursprüng- 
lich auch  der  Islam  entlehnt.  Dieses  sollte  den  Neophyten  von 
der  rituellen  Unreinheit  befreien,  die  er  vorher  nicht  beob- 
achtet hatte.^  Nach  der  jüdischen  Auffassung  werden  dem 
Proselyten  nicht  durch  das  Tauchbad,  sondern  durch  die  An- 
nahme und  Befolgung  der  Toravorschriften  die  früheren  Sünden 
vergeben,  weshalb  ^er  einem  Neugeborenen  gleicht'.^ 

Im  Christentum  ist  nun  diese  Taufe  mit  der  damals  herr- 
schenden heidnischen  Vorstellung  von  der  sündentilgenden  Kraft 
des  Wassers  verquickt  worden.  Die  Taufe  diente  nach  alt- 
christlicher Meinung  zur  Reinigung  von  den  Sünden,  vgl. 
Marc.  1,  4,  Luc.  3,  3,  Römer  6,  1 — 13,  Augustinus  Epistolae 
185,43:  non  haptizas,  ut  aUuas  a  peccatis?  Augustinus*  nennt 
daher  die  Taufe  auch  sacramentum  remissionis  peccatorum. 
Clemens  Alexandrinus^  hebt  hervor,  daß  durch  die  Taufe  Ver- 
gebung der  bisherigen  Sünden  eintritt. 

Auch   in    der  mandäischen  Religion,  die  sehr  viele  christ- 

^  Jebämöt  46 ;  Keritöt  9  a;  Pesahim  92a;  1.  Mos.  35,  2 ;  4.  Mos.  31,  23  f. ; 
Jer.  2,23;  7,30.  Ez.  20,  31;  22,  4;  23,  7;  36,  18.  E.  König  in  Herzogs 
JReälenzyJcl.^  XVI  579.  Weil  die  Götzen  für  unrein  galten,  so  hat  Josia 
die  Asche  der  verbrannten  Götzen  auf  den  unreinen  Ort,  nämlich  auf 
den  Leichenplatz,  geworfen  (II  Reg.  23, 16). 

^  J.  Goldziher  in  diesem  Archiv  XIII  32. 

'  Jer.  Röshassänäh  4,  8;  Bab.  Jebämöt  48b. 

*  De&opi.Vcap  21§29,vgl. auchDamasicarmmal01,5:  ablue fönte sacro 
veteris  contagia  vitae;  Hieronymus  Comm.  Zach.  3,  13:  huius  .  .  .  sordes 
Christi  abluentur  baptismate;  Cyprianus  JEpist.  75,  17:  per  baptismi  sacra- 
mentum sordes  veteris  homines  abluere.  Nach  Origines  In  Luc.  Evang. 
Hom.  15  werden  die  Sünden,  mit  denen  das  Kind  geboren  wird,  durch 
die  Taufe  beseitigt.  Bereits  der  jüdische  Häretiker  Elchasai  empfahl 
das  Tauchbad  im  fließenden  Wasser  als  Mittel  gegen  sämtliche  Sünden 
(W.  Brandt  Die  jüd.  Baptismen  99  ff.).  ^  Stromata  II  20,  116,  3. 


368  ^'  Scheftelowitz 

liehe  Elemente  enthält,  bewirkt  die  Taufe,  die  ein  Tauchbad 
in  fließendem  Wasser  ist,  die  Vergebung  der  Sünden.^  Der 
Mandäer,  der  durch  eine  Sünde  unrein  wird,  reinigt  sich  hier- 
von durch  Waschungen  und  Gebete.  Alljährlich  findet  auch 
für  die  ganze  Gemeinde  ein  fünftägiges  Tauffest  statt,  wodurch 
man  wieder  Sündenreinheit  erlangt.^ 

Die  mandäische  Auffassung,  daß  das  neugeborene  Kind  durch 
die  Taufe  vor  den  Dämonen  gerettet  ist^,  ist  den  primitiven 
Glaubensvorstellungen  entlehnt.  Das  neugeborene  Kind  gilt 
nämlich  bei  vielen  heidnischen  Völkern  Europas,  Afrikas,  Asiens, 
Amerikas  und  der  Südsee  als  von  Dämonen  besessen  oder  bedrängt 
und  muß  daher  durch  eine  Wasserzeremonie  gegen  Dämonen 
gefeit  werden.  Entweder  wurde  das  Kind  in  einem  Flusse  unter- 
getaucht  oder  völlig  gewaschen   oder  mit  Wasser  besprengt.^ 

^  Keßler  in  Herzogs  Bealenzykl^  XII  174. 

2  Keßler  a.  a.  0.  XII  175,  174. 

^  W.  Brandt  Die  Mandäische  Religion  1889,  67;  Keßler  in  Herzogs 
RealenzyJcl.^  XII  174.  Auch  nach  den  pseudoclementinischen  Schriften 
vertreibt  die  Taufe  'die  zum  Bösen  verführenden  Dämonen'  (W.  Brandt 
Die  jüd.  Baptismen  97). 

*  Zahlreiches  Material  hierfür  hat  H.Ploß  Das  Kind  P  295 ff.  ge- 
sammelt. Ich  will  hierzu  noch  mehrere  Belege  hinzufügen.  Aristoteles 
Folit  p.  1336 B.  berichtet,  daß  manche  barbarischen  Völker  die  neu- 
geborenen Kinder  in  einem  Flusse  untertauchen.  Im  Flusse  gebadet 
wurde  das  neugeborene  Kind  bei  den  Malaien  (Skeat  und  Bladgen  Malay 
Magic  1900,  334),  in  Java,  Malakka  {Glohus  84,  232),  auf  Celebes,  Su- 
matra (Featherman  Soc.  Hist.  of  races  of  Mankind  1887,  II  65,  327),  bei 
den  Dajaks  {Globus  72,  272),  den  Santals  in  Indien  (Featherman  a.  a. 
0.  1891,  IV  65),  den  Garos  in  Assam  (Playfair  Garos  1911,  99).  Bei  den 
Wotiäken  wird  das  Kind  zum  Schutze  gegen  die  Dämonen  gleich  nach  der 
Geburt  mit  Asche  abgerieben  und  dann  in  Salzwasser  gebadet  (Featherman 
a.  a.  0.  IV  532,  Globus  40,  326).  Auch  in  Westschottland  wurde  das 
Kind  gleich  nach  der  Geburt  in  Salzwasser  gebadet  und  mußte  dreimal 
davon  schmecken,  denn  Salz  galt  für  ein  Apotropäum  {Globus  36,  287). 
Die  Neger  in  Afrika  besprengten  das  Kind  gleich  nach  der  Geburt  mit 
Wasser  {Globus  90,  385;  R.  H.  Nassau  Fetichism  in  West-Africa  1904, 
213;  S.  R.  ^iQinvuQiz  Rechtsverhältnisse  von  eingeborenen  Völkern  1903,  308; 
A.  B.  EUis  Yoruba  - speaking  peoples  1894,  153;  A.  F.  Mockler-Ferryman 
British  Nigeria  p.  231).     In   Indien  besprengt  der  Purohita  gleich  nach 


Die  Sündentilgung  durch  Wasser  369 

Außer  den  biblischen  Propheten,  die  den  Begrijff  der  Sünde 
innerlich  erfaßt  haben,  bekämpfen  einzelne  buddhistische  und 
jainistische  Schriften  die  Auffassung,  daß  die  Sünde  rein  äußer- 
lich beseitigt  werden  kann.  ^Nicht  durch  Wasser  wird  der  Mensch 
rein,  mag  er  auch  noch  soviel  baden;  in  dem  Wahrheit  und 
Tugend  wohnt,  der  ist  rein,  der  ist  ein  Brahmane.'^  Ebenso 
bemerkt  der  Jainist  Arvitagati:  'Einige  behaupten,  man  könnte 
durch  das  Baden  auch  ohne  früheres  sittliches  Leben  sofort 
rein  werden;  das  ist  falsch;  denn  das  Wasser  kann  kaum  den 
äußeren  Schmutz  abwaschen,  um  wieviel  weniger  den  inneren; 
nur  die  Tugend  macht  rein.'^  Ahnliche  Gedanken  haben  auch 
einzelne  griechische  und  römische  Philosophen  ausgesprochen 
So  sagte  Theophrastos  in  seiner  Schrift  il£(>i  svösßsCag^:  'Man 

der  Geburt  die  Wöchnerin,  das  Kind,  den  Yater  wie  auch  das  ganze 
Haus  mit  Weihwasser,  um  die  unreinen  Dämonen  zu  bannen  (J.  A.  Dubois 
Hindu  Manners,  Customs  etc.  Oxford  1899,  157).  In  Madagaskar,  Neu- 
seeland und  Samoa  wird  das  neugeborene  Kind  in  einem  Flusse  oder 
in  der  See  gebadet  (A.  v.  Gennep  Tahou  et  Totemisme  ä  Madagascar 
175ff.;  R.  Taylor  New  Zedland  and  its  Inhabüants  1870,  185;  J.  S.  Polack 
Manners  and  Customs  of  the  New  Zealanders  1840,  I  48 ;  J.  B.  Stair  Old 
Samoa  1897,  177).  Bei  den  Pueblo-Indianern  wird  der  Kopf  des  Kindes 
20  Tage  nach  der  Geburt  mit  geweihtem  Wasser  gewaschen.  Ebenso 
wird  das  Kind  am  dritten  Tage  nach  seiner  Geburt  bei  den  Cherokees 
getauft  (Whipple  Beport  upon  the  Indian  Tribes^  Washington  1855,  36; 
F.  Krause  Pueblo  Indianer^  Halle  1907,  89).  Die  Mexikaner  badeten  das 
Neugeborene  in  einer  Quelle,  wodurch  jedes  Unheil  von  ihm  abgewendet 
wurde  {Globus  27,  318).  Bei  den  Tlinkit-Indianern  wurde  es  mit  kaltem 
Wasser  gewaschen  (A.  Krause  Tlinkit- Indianer  1885,  215).  Der  Blackfeet- 
Indianer  badete  das  Neugeborene  sofort  in  kaltem  Wasser  und  färbte 
dann  seinen  ganzen  Körper  rot  {Globus  70,  323  f.).  Die  Germanen  be- 
netzten das  neugeborene  Kind  mit  Wasser,  wodurch  es  gegen  alle  dämo- 
nischen Einflüsse  geschützt  ist,  'dann  vermag  einst  den  Mann  sogar  im 
Gemetzel  der  Schlacht  kein  Feind  mit  dem  Schwert  zu  erschlagen' 
(Rigsmal  8;  18;  31;  Havamal  161). 

^  üdäna  I  9,  transl  D.  M.  Streng,  London  1902. 

^  Vgl.  N.  Mironow  Dharmapariksä  des  Amitagati  (Straßburger  Diss.) 
1903,  37. 

^  Vgl.  J.  Bernays  Theophrastos'  Schrift  über  Frömmigkeit  S.  66 f.: 
ToLvvv  y(,ad"riQaiiEvovg  to  rjd'og  Uvcci  d'vöovTccgj  tot?  d'sotg  Q'eocpiXstg  tag 
d'vöLccg  TtQOödyovtccg  ccXXcc  fii}  JtoXvtsXstg.  vvv  äh  ied'iircc  ^ikv  XafiJCQccv  tcsqI 
Archiv  f.  Eeligionswissenscliaft  XVII  24 


370  ^'  Scheftelowitz 

muß  also  die  Gresinnung  reinigen,  etie  man  opfern  geht  und 
den  Göttern  gottgefällige  Opfer  darbringen,  nicht  kostbare. 
Jetzt  aber  glauben  die  Menschen  allerdings,  daß  ein  sauberes 
Gewand,  um  einen  unreinen  Leib  angelegt,  der  zum  Opfer  er- 
forderlichen Reinheit  nicht  genüge;  wenn  hingegen  Leute  sauber 
zwar  an  ihrem  Leibe  wie  in  ihrer  Kleidung,  jedoch  mit  einer 
vom  Bösen  nicht  gereinigten  Seele  zum  Opfer  gehen,  so  glau- 
ben sie,  das  mache  nichts  aus,  als  wenn  die  Gottheit  nicht  am 
meisten  Gefallen  haben  müßte  an  dem  reinen  Zustande  unseres 
göttlichsten  Teiles,  der  ihr  ja  der  verwandteste  ist.  Im  Vorhofe 
zu  Epidauros  hatte  man  auch  die  Inschrift  angebracht:  »Nur 
wer  rein  ist,  betrete  die  Schwelle  des  duftenden  Tempels,  nie- 
mand aber  ist  rein,  außer  wer  Heiliges  denkt«.'  *Ein  Flecken 
in  der  Gesinnung',  sagt  Cicero^,  *kann  weder  durch  die  Länge 
der  Zeit  entschwinden,  noch  durch  Ströme  Wassers  abgespült 
werden.' 

2  Mittelbare  Übertragung  der  Sünden  auf  Wasser 
durch  eine  magische  Handlungsweise 

Sündenschuld  konnte  nach  primitivem  Glauben  durch  Be- 
rührung mit  der  Hand  und  durch  eine  magische  Handlung  auf 
ein  anderes  Wesen  oder  einen  Gegenstand  übertragen  werden, 
die  dann  zwecks  endgültiger  Beseitigung  der  Sünde  gewöhn- 
lich ins  Wasser  geworfen  wurden.    Eine  derartige  Sündenüber- 

6&ILCC  iiT]  Kccd'aQov  cc^(pi,B6a^ivoig  ovx  &QXEiv  vo^l^ovöl  Ttgbg  rb  tmv  d'vci&v 
ayvov,  oxav  dh  to  öm^ia  fisrcc  tfjs  i6d"rir6g  rivsg  Xa^iCQVVouLBVOi  iir}  Kad'ccgav 
TtUK&v  X7]v  ipvxi]v  ^ovre?  l'coöt  Tcgog  rag  Q-vGlccg^  ovShv  SiacpigEiv  vo^i^ovGiVy 
möTtSQ  ov  t&  d'SLOTccTq}  ys  t&v  iv  ij^tv  %atpofra  ^idXiöTcc  tbv  d'sov  Slccxsl- 
fiEvoj  Kccd'aQ&gy  ats  övyysvst  nsfpvKori.  iv  yovv  'E7tidccvQ(a  'nQosysyQanro' 

äyvbv  XQ'h  vaolo  %'vmdhog  ivtbg  lovra 
^^^svat,'  ayvsir]  d'  ^6ti  cpqovBlv  o6ia. 

*  De  legibus  II  10.  Über  weitere  Belege  dafür,  daß  in  klassischer 
Zeit  vielfach  die  äußere  ritnelle  Reinheit  als  Symbol  der  moralischen 
Reinheit  aufgefaßt  ist,  siehe  Plato  leg.  lY  716 E,  ferner  Th.  Wächter 
JReinheüsvorschriften  (RGW  IX  1)  S.  8flF. 


Die  Sündentilgung  durch  Wasser  371 

tragung   bezeichnete    der   alte   Inder   mit  dem  Verbum  mrjati 
^jemandem  (Sünde)  anwischen'.^ 

Im  alten  Peru  hat  der  von  Sünden  niedergebeugte  Mensch 
dem  Priester  an  dem  Rande  eines  fließenden  Wassers  gebeichtet. 
Der  Priester  riß  dort  eine  Handvoll  Grras  aus  und  ließ  den 
Beichtenden  in  dasselbe  spucken  und  warf  dann  dieses  Bündel 
Gras,  auf  welches  durch  den  Speichel  der  Sündenstoff  über- 
tragen ist,  in  das  Wasser,  indem  er  betete,  daß  das  Wasser 
das  Gras  mit  den  Sünden  in  das  Meer  tragen  möge,  damit  sie 
dort  auf  immer  versenkt  seien.  Wenn  der  Inka  sich  seiner  Sün- 
den entledigen  wollte,  ging  er  mit  einem  Büschel  Gras  in  der 
Rechten  an  den  Strom  herab  und  erzählte  dort  dem  Sonnen- 
gott seine  Sünden  und  bat  dann  den  Fluß,  seine  Sünden  in 
das  Meer  zu  tragen,  spuckte  in  das  Gras  und  warf  es  in  das 
Wasser.  Hierauf  stieg  er  in  das  Wasser  und  sprach:  'Ich  habe 
meine  Sünden  gebeichtet,  du,  o  Fluß,  empfange  sie  und  trage 
sie  zum  Meere,  damit  sie  nicht  mehr  erscheinen.'^  In  Neusee- 
land übertrug  ein  ganzer  Stamm  seine  Sünden  mittels  einer 
Beschwörung  auf  eine  Einzelperson.  An  diese  Person  wurde 
dann  ein  Farnkrautstengel  angebunden,  mit  welchem  sie  in 
einen  Fluß  sprang.  Dort  band  sie  sich  den  Stengel,  auf  den 
alle  Sünden  hinübergeleitet  sind,  vom  Körper  los.  Der  Stengel, 
der  alsdann  zum  Meere  hin  fortschwamm,  trug  gleichzeitig  alle 
Sünden  des  Stammes  davon.^  Der  Neuseeländer,  der  seine  Sün- 


^  Vgl.  Ath.  VedaYl  113,  1;  Maitr.  Samh.  lY  1,  9.  'An  (den  göttlichen) 
Trita  wischten  die  Götter  diese  Sünden  ab;  Trita  hat  sie  an  die  Men- 
schen abgewischt.  Wenn  davon  etwas  an  mich  gekommen  ist,  so  soll 
mich  das  Hausfeuer  von  dieser  Sünde  lossprechen'  {Taitt. Brähm.lU.  7, 12,  5). 

'  J.  J.  V.  Tschudi  Beiträge  zur  Kenntnis  des  alten  Peru,  Wien  1891,  65  f. 

'  R.  Taylor  New  Zealand  and  its  Inhdbitants  1870,  101.  Auch  nach 
einem  aramäischen,  in  Babylonien  gefundenen  Zaubertext  kann  man 
Sünde  und  Schuld  (NnNün,  N73'^1DÖ<)  mittels  eines  Zaubers  auf  einen  un- 
schuldigen Menschen  übertragen  (Schwab  Froc.  of  the  Soc.  of  Bibl.  Arch, 
XII  299).  In  England  und  Irland  glaubte  man,  daß  die  Sünden  eines 
Toten  auf  einen  Lebenden  übertragen  werden  könnten,  wenn  jener 
Speisen,   die  man  zuvor  auf  den  Leichnam  gelegt  hatte,   verzehrt.     Zu 

24* 


372  ^-  Scheftelowitz 

den  los  werden  wollte,  warf  einen  Fisch  in  die  See,  der  nach 
seiner  Meinung  seine  Sünden  hinwegträgt.^ 

Bei  dem  Gebet  um  Sündenreinheit  warf  der  Babylonier  die 
Sünde,  in  irgendeiner  materiellen  Form  verkörpert,  ins  Wasser.^ 
Er  flehte:  'Mein  Drangsal  möge  der  Fisch  wegnehmen,  der 
Strom  fortführen.'  'In  Not  bin  ich,  mein  Drangsal  ist  groß, 
die  Erde  empfange  und  trage  mein  Drangsal  ins  Meer.'^ 

In  der  Shintoreligion  Japans  wird  man  auf  folgende  Weise 
rituell  und  moralisch  rein:  man  bittet  den  Priester  um  eine 
menschliche  Papierfigur,  die  eine  Stellvertretung  für  den  Men- 
schen bezeichnet,  schreibt  darauf  sein  Geburtsdatum  und  Ge- 
schlecht und  reibt  diese  Papierfigur  über  seinen  Körper.  Auf 
diese  Weise  wird  die  moralische  Unreinheit  auf  die  Figur  hin- 
übergeleitet. Alsdann  gibt  man  sie  dem  Priester  zurück,  damit 
er  sie  ins  Meer  versenke.  Auf  solche  Papierfigürchen  werden 
auch  Krankheitsdämonen  übertragen,  weshalb  viele  Kinder  die- 
selben stets  in  ihrem  Amulettbeutelchen  haben.*  Die  sündhaften 
Israeliten,  welche  ihre  Sünden  abbüßen  wollten,  versammelten 
sich  in  den  Tagen  Samuels  zu  Mizpa,  'dort  schöpften  sie  Wasser 
und  gössen  es  aus  vor  Gott;  sie  fasteten  an  jenem  Tage  und 
sprachen:  Wir  haben  gesündigt  gegen  Gott'.^  Das  Wasser  soll 
hier  gleichsam  die  Sünde  wegspülen.  Jesaja  Horwitz  erwähnt 
in  seinem  oben  S.  365  zitierten  Werke  Sene  lüJwt  habherit,  daß 
unter  den  Juden  der  Volksglaube  herrsche,  man  könne  am  Neu- 
jahrstag, wenn  man  an  einen  Fluß  gehe,  dort  seine  Sünden  ab- 

diesem  Zwecke  wurde  oft  ein  Mensch  gemietet,  daß  er  die  Sünden 
des  Verstorbenen  auf  sich  nehme.  Ein  solcher  wurde  'sin-eater'  ge- 
nannt (Wood -Martin  Traces  of  the  eider  faiths  of  Ireland  1902  I  295). 

^  Polack  Manners  and  Customs  of  New  Zealanders  1840,  I  264. 

2  M.  Jastrow  Beligion  der  Assyrer  und  Babylonier  II  96. 

8  M.  Jastrow  a.a.O.  S. 94 und 95.      *  E.Schiller ;S/imto, Berlin  1911,  69 f. 

°  1.  Sam.  7,  6.  Bei  den  Graslandbewohnern  Nordwestkameruns  nimmt 
alljährlich  der  Häuptling  eine  Reinignngszeremonie  vor,  bei  der  er  durch 
Ausgießen  von  Wasser  auf  der  Schwelle  seines  Gehöfts  das  Gemeinwesen 
entsühnt  (B.  Ankermann  Korrespondenzbl.  d.  deutsch.  Ges.  f.  Anthrop., 
Ethn.  u.  ürg.  41,  82). 


Die  Sündentilgung  durch  Wasser  373 

schütteln,  indem  man  die  Taschen  seiner  Kleider  ausschüttele. 
Diese  Anschauung  hält  er  für  eine  Entweihung  Gottes ;  er  sagt, 
nur  deshalb  pflege  man  am  Neujahrstag  zu  einem  Flusse,  der 
Fische  enthält,  zu  gehen,  weil  die  Menschen  mit  lebenden 
Fischen  zu  vergleichen  sind,  welche  plötzlich  in  ein  Netz  ge- 
fangen werdend  Also  die  Rabbiner  suchten  diesen  Brauch  als 
ein  ideales  Symbol  aufzufassen  und  ihm  jede  magische  Wir- 
kung abzusprechen.  Der  Wert  dieser  äußeren  Handlung  besteht 
nur  noch  in  dem  subjektiven  religiösen  Gefühl,  das  an  dieses 
Symbol  geknüpft  ist.  Noch  heutzutage  schütteln  die  slavischen 
Juden  am  Neujahrstage  ihre  Taschen  am  Flusse  aus  und  werfen 
Brotkrumen  ins  Wasser  für  die  Fische,  mit  dem  Wunsche,  daß  sie 
die  Sünden  wegtragen  sollen,  indem  sie  folgendes  Gebet  sprechen: 
'Wer  ist  ein  Gott  wie  du,  der  Schuld  vergibt  und  Missetaten 
nachsieht  dem  Überreste  seines  Erbes.  Nicht  auf  immer  läßiT 
er  anhalten  seinen  Zorn,  denn  Gefallen  hat  er  an  Gnade;  wie- 
derum wird  er  sich  unser  erbarmen  und  unsere  Schuld  unter- 
drücken; du  wirsjb  alle  ihre  Sünden,  in  die  Tiefen  des  Meeres 
senden.^  Alle  Sünden  deines  Volkes,  des  Hauses  Israel,  wirst 
du  an  einen  Ort  senden,  wo  ihrer  nicht  gedacht  und  ihrer 
nicht  erwähnt  wird  und  wo  sie  nimmer  in  den  Sinn  kommen. 
Du  wirst  Treue  erweisen  Jakob,  Huld  dem  Abraham,  wie  du 
geschworen  unsern  Yätern  von  den  Tagen  der  Urzeit  her.'* 
Die  Eingeborenen  von  Sukla-Tirtha  in  Indien  legen   ihre 

1  Vgl.  Micliel  Epstein  Qismr  sene  luhöt  habberit,  Fürth  5492  Bl.  73  a; 
Selömö  Lurja  (Silo)  Masseket  Bös  hassänäh,  Abschnitt  'Ämöd  haddin. 
Der  im  14.  Jahrhundert  lebende  Ja'aqöb  Ben -Mose  Hallewi,  der  diese 
Sitte  kennt,  bemerkt,  daß  man  jedoch  den  Fischen  keine  Nahrung  zu- 
werfen solle  {Sefer  Mdharü,  Frankfurt  a.  M.  S.  448  Bl.  97  b).  R.  Moses 
Isseries,  der  im  16.  Jhdt.  lebte,  beachtete  nicht  diesen  Brauch 
[Leqet  jäser  I  97  a).  R.  Jösef  Karo  erwähnt  nicht  diesen  Brauch  in  seinem 
Sulhän  Ärük.     Scheftelowitz  in  diesem  Archiv  XIY  116  f. 

*  Nach  dem  Ausdruck  'du  wirst  senden'  (hebr.  taslik)  hat  dieser  Brauch 
den  Namen  Taschlich  erhalten. 

*  Dieses  Gebet,  das  sich  in  allen  Gebetbüchern  findet,  ist  mit  Aus- 
nahme eines  Satzes  aus  Mika  7,  18 — 20  entnommen. 


374  I-  Scheftelowitz 

sämtlicilen  Sünden  in  einen  Topf  und  werfen  ihn  in  den  Fluß.^ 
Die  Biajas  auf  Borneo  und  die  Brahmanen  in  Siam  laden  all- 
jährlicli  alle  Sünden  und  alles  Unlieil  auf  ein  kleines  Boot  und 
stoßen  es  ins  Meer  hinaus.  Die  Leute  desjenigen  Schiffes,  das 
mit  diesem  'Sündenhoot'  zusammenstößt,  werden  von  allen  die- 
sen Sünden  und  allem  Unheil  befallen.^ 

Grenau  dieselbe  Idee  von  der  Übertragung  der  Sünde  liegt 
dem  biblischen  Sündenbock  zugrunde,  auf  den  alle  im  Laufe 
des  Jahres  unabsichtlich  begangenen  Sünden  des  Volkes  am  Ver- 
söhnungstage kraft  der  Handauflegung  des  Hohepriesters  auf  den 
Bock  übertragen  werden.  Sowohl  der  Hohepriester,  der  den  Sün- 
denbock berührt  hatte,  als  auch  der  Bote,  der  den  Bock  in  die 
Wüste  führte,  mußten  ein  Bad  nehmen  und  sich  die  Kleider 
waschen,  da  sie  durch  die  Berührung  mit  dem  Sündenbock,  an 
'dem  alle  Sünden  des  Volkes  hafteten,  infiziert  worden  waren.^ 
Vielleicht  gab  es  ein  Analogon  zum  biblischen  Sündenbock  auch 
in  Rom.  Eine  Ziege  ^mit  leuchtendem  Gehörn'  hatte  sich  in  der 
Stadt  gezeigt.  Man  entfernte  dies  Portentum,  indem  man  es  zu- 
gleich dazu  verwendete,  den  Sündenstoff  der  ganzen  Stadt  mitzu- 
nehmen, als  sie  aus  den  Grenzen  der  Stadt  hinausgeführt 
wurde.  'Daß  dies  durch  die  Porta  Naevia  geschieht,  hat  seinen 
guten  Grund  .  .  .  Vor  der  Porta  Naevia  liegt  der  Schlupfwinkel 
der  Verbrecher:  das  sündenbeladene  Tier  gehört  zu  den  sünden- 
beladenen  Menschen.'*     Die  Batagas    in  Südindien   übertragen 

^  Frazer  Golden  JBough  ^  III  106. 

*  A.Bastian  Der  Mensch  in  der  Geschichte  II  93;  E.  Young  Kingdom 
of  the  yellow  rohe  1900,  361. 

^  Vgl.  III  M.  16.  In  einem  etwa  aus  dem  10.  Jhdt.  n.  Chr.  stammenden 
Gebete  heißt  es:  „Befleckung  mit  bewußten  und  unbewußten  Sünden 
reinigte  der  fortgeschickte  Bock,  er  trug  sie  zu  dem  Felsen  der  Wüste 
{Selihöt  lemussafseljöm  Kippur^  beginnend  mit  den  Worten:  Ariel  hihejöto). 

*  R.  Wünsch  in  Siebs'  Festschrift  zur  Jahrhundertf eier  der  Universität  zu 
Breslau  1911,  17f.  Im  alten  Peru  warf  der  Oberpriester  seine  Sünden 
ins  Feuer,  indem  er  während  seiner  Sündenbeichte  einen  Strauß  von  Gras 
und  wohlriechenden  Blumen  in  der  Hand  hielt,  dann  darein  spuckte  und 
ihn  ins  Feuer  schleuderte  mit  dem  Wunsche,  daß  der  Rauch  seine  Sünden 
weit  wegtragen  möge  (J.  J.v.  Tschudi  Beiträge  zur  Kenntnis  des  alten  Peru  66). 


Die  Sündentilgung  durch  Wasser  375 

beim  Tode  eines  Mannes  dessen  Sünden  mittels  eines  Zaubers 
auf  ein  Büffelkalb,  das  zu  keinen  Arbeiten  verwendet  werden 
darf  und  das,  wie  sie  glauben,  bald  spurlos  verschwinden  wird> 
Juvenal  VI  521  ff.  berichtet  uns,  daß  der  sich  sündig  fühlende 
Verehrer  der  Magna  Mater  seine  Kleider  auszieht  und  sie  dem 
Oberpriester  (Archigallus)  überreicht,  um  so  auf  diese  Weise 
sich  der  Sünden  des  ganzen  Jahres  zu  entledigen  (ut,  quidquid 
suhiti  et  magni  dis  criminis  instat,  in  tunicas  eat  et  totum  semel 
expiet  annum), 

3  Ursprung  der  Idee  von  der  sündentilgenden  Kraft 
des  Wassers 
Den  primitiven  Menschen  beugt  die  Sünde  nicht  deshalb 
nieder,  weil  sie  einen  Bruch  mit  der  sittlichen  oder  göttlichen 
Weltordnung  bedeutet,  sondern  weil  er  sich  vor  den  Unheil 
und  Krankheit  bringenden  Dämonen  fürchtet.  Nach  der  primi- 
tiven Anschauung  ist  die  Sünde  ebenso  wie  jedes  Unheil  von 
Dämonen  verursacht.^ 

^  Frazer  Golden  Bough^  III  16. 

*  Vgl.  Polack  Manners  and  Customs  of  New  Zealanders  1840,  I  236; 
Sp.  St.  John  Life  in  the  forests  of  the  far  JEast  1863,  I  70.  Auch  den 
Römern  und  Papuas  schienen  Krankheiten  und  Leiden  von  bösen  Gott- 
heiten herzurühren  (Juvenal  Satirae  XIII  229  ff. ;  Globus  78,  4).  Das  Unglück 
(päpman)  ist  im  Altindischen  als  ein  Dämon  {äsura)  aufgefaßt  worden; 
vgl.  A.Weber  Ind.  Stud.  IX  149 ff.  In  der  altpersischen  Religion  sucht 
Angromainyu  den  Zarathustra  zu  verführen,  indem  er  ihm  irdische  Güter 
bietet,  wenn  er  Ahuramazda  untreu  werden  würde {Vendidäd  19).  Buddha 
wird  ebenfalls  von  dem  Teufel  (Mära)  versucht,  der  ihn  davon  abzu- 
bringen sucht,  ein  Heiliger  zu  werden;  er  verspricht  ihm  dafür,  daß  er 
innerhalb  sieben  Tagen  die  Herrschaft  über  die  ganze  Welt  erlangen  werde 
{Nidänakathä  p.  63).  Auch  Abraham  und  Isaak  werden,  als  Abraham 
Gottes  Gebot,  seinen  Sohn  zu  opfern,  ausführen  wollte,  von  dem  Teufel 
in  Versuchung  gebracht  {Talm.  Sanhedrin  89  b;  Beresit  Bahbä  P.  66  zu 
cap.  22,  7).  Der  Satan  sucht  in  Gestalt  eines  schönen  Weibes  die  Weisen 
Rabbi  Akiba,  Rabbi  Meir  und  Rabbi  Matia  zur  Sünde  zu  verleiten  (Talm. 
Kiddusin  81a,  Midras  Jalqut  I M.  c.  49).  Der  Teufel  wollte  den  hl.  Antonius 
von  der  Askese  abhalten,  indem  er  ihn  an  seinen  früheren  Besitz,  an  die 
Sorge  für  seine  Schwester,  an  seinen  vornehmen  Stand,  an  den  Genuß  er- 
innert. Als  dieses  vergebens  war,  suchte  ihn  der  Teufel  in  Gestalt  eines  schö- 


376  I-  Scheftelowitz 

Nach  1.  Chron.  21,  1  verleitet  Satan  den  David  zu  einer 
Sünde.^  Im  Buche  der  Jubiläen  und  im  Henochbuche  suchen 
böse  Geister  den  Menschen  zur  Sünde  zu  verleiten.  In  ur- 
christlicher Zeit  kommen  vom  Satan,  dem  obersten  Dämonen, 
nicht  nur  die  Krankheiten  und  Leiden^,  sondern  auch  alle  Sün- 
den her.^ 

Im  primitiven  Glauben  ist  die  Sünde  als  ein  von  Dämonen 
herrührender  Stoff  angesehen  worden,  der  Unheil  zur  Folge 
hat,  und  sie  ist  nur  wegen  des  damit  verbundenen  Unheils  ge- 
fürchtet worden.  Der  Sündenstoff  war  also  mit  Unheil  iden- 
tisch, da  beides  für  etwas  Dämonisches  angesehen  worden  ist. 
Der  Sünder  ist  mit  dämonischem  Stoff  behaftet.  So  steht  im 
Altindischen  die  Vorstellung  von  der  Sünde  auf  einer  Linie 
mit  Behextheit,  mit  Unheil  und  bösen  Träumen,  die  sämtlich 
das  Wasser  fortzutragen  vermag.*  Im  griechischen  Zauber 
werden  Sünde  und  Meineid  in  derselben  Weise  wie  Dämonen, 

nen  Weibes  zur  Wollust  zu  verführen  (vgl.  G.  Eoskoff  Gesch.  d.  Teufels  1869, 
278).  Über  die  Yersucliang  Jesu  durch  den  Satan  (Matth.  4,  Luc.  4) 
vgl.  E.  Windiscli  Mära  und  Buddha  1895,  214fF.  Die  heidnische  Vor- 
stellung von  dem  eigenmächtigen  Walten  der  schädigenden  Dämonen 
erfuhr  im  biblischen  Monotheismus  eine  Umwandlung.  Sie  können  nicht 
ohne  Gottes  Geheiß  Schaden  zufügen.  Gott  allein  hat  Gewalt  über  sie, 
er  kann  ihr  Wirken  hindern  oder  zulassen,  so  daß  also  in  Wirklichkeit 
alles  Übel  von  dem  einzigen  Gott  selbst  veranlaßt  wird.  Gott  aber  sucht 
deshalb  die  Menschen  durch  diese  Dämonen  heim,  um  sie  zu  versuchen, 
zu  prüfen.  So  entwickelte  sich  aus  dem  Dämonenglauben  die  Gestalt 
des  biblischen  Satans,  'des  Widersachers',  der  nur  mit  der  Erlaubnis 
Gottes  einen  Menschen  heimzusuchen  vermag.  Jedoch  hat  der  Satan 
in  späterer  Zeit  unter  dem  Einfluß  der»  persischen  Religion  auch  manche 
Züge  von  dem  persischen  Angromainyu  angenommen.  So  ist  er  nach  dem 
Talmud  nicht  nur  'der  böse  Trieb',  sondern  auch  'der  Todesengel' 
(Bäbä  Baträ  16)  und  wird  in  der  messianischen  Zeit  von  Gott  getötet 
werden  (Sukkä  52). 

^  Vgl.  hierzu   Ed.  König   Gesell;  der  alttestam.  Religion  1912,  191  ff. 

'  Vgl.  Matth.  12,  25ff.;  Luc.  13,  16;  Clemens  Alex.   Stromata  6,  268. 

^  Joh.  13,  2  u.  27.  So  versucht  der  Satan  Jesus  (Luc.  c.  4);  vgl. 
Dölger  Der  Exorzismus  im  altchristUchen  Taufritual. 

^  Äth.  Ved.  V  30,  2—4,  X  5,  24,  vgl.  Oldenberg  Religion  des  Veda 
288,  Anm.  1. 


Die  Sündentilgung  durch  Wasser  377 

böse  Träume  und  Behexung  durcli  Exorzismus  gebannt.^  Ebenso 
wird  in  der  babylonischen  Religion  ein  enger  Zusammenhang  von 
Sünde  und  Unheil  angenommen,  die  als  'notverursachende  Dä- 
monen' den  Menschen  bestürmen.  So  fleht  der  Sünder:  *Du  siehst 
gnädig  auf  den  Sünder,  und  den  Übeltäter  weisest  du  täglich  zu- 
recht .  .  .  Ach  verkünde  Versöhnung  meinem  Gemüt,  mit  Tränen 
und  Seufzern  gesättigt  .  .  .  Vertreib  die  böse  Hexerei  aus  meinem 
Leib  .  . .  Wie  lange  noch,  meine  Göttin,  soll  der  notverursachende 
Dämon  mich  bestürmen?  Er  hat  mich  anhaltend  in  Trauer  ver- 
setzt .  . .  Krankheit,  Siechtum,  Verderben  und  Verwüstung  haben 
mich  befallen,  Drangsal,  Unmut,  Unwillen  und  Zornesfülle  .  .  . 
Löse  meine  Schuld,  mein  Vergehen,  meine  Missetat  und  Sünde.'* 
'Mit  brennendem  Fieber  belastet  durch  einen  Dämon,  mit  böser 
Krankheit  ist  mein  Körper  geschwächt.  Gegen  einen  bekannten 
oder  unbekannten  Gott  habe  ich  schwer  gesündigt.'^  Der  ba- 
bylonische Priester  fleht  für  den  Sünder,  der  ein  Opfer  dar- 
gebracht hat:  'Erfasse  seine  Hände,  befreie  ihn  von  seiner 
Schuld,  entferne  E^rankheit  und  Elend  von  ihm!  An  der  Mün- 
dung des  Verderbens  schmachtet  dein  Knecht;  führe  hinaus 
deine  Strafe  in  den  Fluß.'*  Der  Glaube,  daß  der  Mensch 
durch  einen  Dämon,  der  in  den  Körper  eindringt,  zur  Sünde 
verleitet  wird,  herrschte  in  Ägypten.^  Auch  nach  buddhisti- 
scher Anschauung  dringt  der  Teufel  (Mära)  in  den  mensch- 
lichen Körper  ein:  'In  der  Zeit  aber  war  Mära  der  Böse  dem 
ehrwürdigen  Mahämogalläna  in  den  Leib  gefahren  und  saß  in 
seinen  Gedärmen',  so  berichtet  ein  buddhistisches  Werk.  Der 
Mära  Düsin  fährt  in  die  brahmanischen  Hausväter:  'Da  nun 
schimpften,  schalten,  erzürnten,  ärgerten  diese  von  dem  Mära 
Düsin  besessenen  brahmanischen  Hausväter   die   tugendhaften, 

*  Ygl.  Wessely  JDenkschr.  Wien.  Ak.  Wiss.  X\^Yl^  81:    nvsvitaxa 
%%'6vLCCi  aiiagriccL,  övsigoi,  oQycoL,  ßaßuccvlccL. 

^  M.  Jastrow  Beligion  d.  Assyrer  u.  Babylonier  II  67flf. 
'  Jastrow  a.  a.  0.  II  116. 

*  Jastrow  a.  a.  0.  II  87. 

^  Vgl.  F.  Zimmermann  Die  ägyptische  Beligion  1912,  76. 


378 


I.  Scheftelowitz 


vortrefFliclien  Mönclie.'^  Im  Awesta  wird  der  Sünder  'ein  Ge- 
fäß der  Dämonen'  (daevanam  xurribo)  genannt.^  Diese  An- 
schauung ist  auch  in  den  jüdisch  -  cliristliclien  Quellen  vor- 
handen. Den  Sünder  bewohnt,  wie  die  Testamente  der  zwölf 
Patriarchen  VIII  8  sich  ausdrücken,  der  Teufel  Vie  sein  eigenes 
Gefäß'.  Der  Verfasser  des  Barnabasbriefes  nennt  das  von  bösen 
Gedanken  erfüllte  Herz  'ein  Haus  der  Dämonen'.  Diese  Be- 
zeichnung war  durch  das  ganze  2.  Jahrhundert  bei  den  christ- 
lichen Schriftstellern  geläufig.^  Die  Anschauung,  daß  die  Sünde 
durch  einen  bösen  Geist  hervorgerufen  wird,  der  in  den  Men- 
schen einfährt,  ist  auch  in  den  jüdischen  Quellen  des  3.  Jahr- 
hunderts n.  Chr.  zu  belegen.  'Der  Mensch  sündigt  nur  dann, 
wenn  in  ihn  der  Geist  der  Verblendung  einfährt',  sagt  Rabbi 
Simeon  Ben  Lakis.*  Im  nachapostolischen  Zeitalter  glaubte 
man,  daß  ein  jedes  schwere  Vergehen  zur  Folge  hat,  daß  der 
Teufel  in  das  Menschenherz  eindringt.  'Gewiß  ist'  —  sagt 
Origenes  —  'daß  zur  Zeit  der  Sünde  im  Herzen  eines  jeden 
ein  böser  Geist  ist.'^  Nach  den  klementinischen  Schriften 
kehren  mit  den  Sünden  in  die  Seele  Dämonen  (ptvsv^ata)  ein, 
welche  aber  durch  die  Taufe  wieder  ausgetrieben  werden.^  Im 
2.  Jahrhundert  herrschte  die  christliche  Lehre,  daß  die  Unge- 
tauften  von  bösen  Geistern  erfüllt  wären,  deren  Austreibung 
die  Taufe  bewirkt.  Die  Taufe  diente  in  den  ersten  Jahrhun- 
derten vor  allem  zur  Abwehr  dämonischer  Einflüsse,  sie  hatte 
also  einen  exorzistischen  Charakter.'^  In  einem  aus  dem  3.  Jahr- 


^  Märatajjaniyasutta,  vgl.  E.  Windisch  Mära  und  Buddha.,  Leipzig 
1895,  150,  152.  2  Yendidäd  8,  31  f. 

^  F.  Dölger  Der  Exorzismus  im  altchristlichen  Taufritual  5  f.,  26. 
Nach  Matth.  12,  43 — 44  ist  der  Körper  eines  Kranken  das  'Haus'  eines 
Dämons. 

*  Talm.  Sota  3  a.  Die  Sünde  war  nach  dem  damaligen  jüdischen 
Volksglauben  ein  Dämon  (Sanhedrin  64  a). 

5  Dölger  a.  a.  0.  25  f.,  35.         *^  Dölger  a.a.  0.  29  ff. 

^  Dölger  a.  a.  0.  6 ff.,  10 f.;  8,  160,  164.  In  dem  Testament  der  zwölf 
Patriarchen  wird  Rüben  vor  folgenden  sieben  Geistern  der  Sünde  (TtvEv- 
(iat(x  tr]s  7fXdvr,g)  gewarnt:  TtOQvsia,  yccctgi^agyia,  iid^ri,  yisvodo^icc,  vtisq- 


Die  Sündentilgung  durch  Wasser  379 

hundert  stammenden  christlichen  Gebete,  das  man  bei  der  Tauf- 
wasserweihe und  bei  der  Eucharistie  spricht,  ist  mit  der  Bitte 
um  Vertreibung  jedes  bösen  Dämons  und  um  leibliche  Ge- 
nesung auch  gleichzeitig  der  Wunsch  um  Nachlaß  der  Sünden 
Yerknüpft:  dies  ist  ^ein  Beispiel  dafür,  wie  sehr  man  gewohnt 
war,  die  Sünde  einerseits  als  Grund  der  körperlichen  Krank- 
heit, anderseits  selbst  als  Krankheit  zu  fassen.  Dadurch  ist  es 
auch  nahegelegt  worden,  die  Katechumenen  genau  wie  die 
Kranken  und  Besessenen  durch  Darbietung  von  Exorzismus- 
brot und  Exorzismuswasser  von  Sünde  und  Sündendämon  zu 
befreien.'^  Sünde  und  Unheil  stehen  auch  im  Neuen  Testament 
in  engster  Beziehung.^  Die  Vorstellung,  daß  'immaterieller 
Unsegen  durch  einen  materiellen  Reinigungsakt'  entfernt  wer- 
den kann^,  beruht  auf  dem  poly dämonischen  Glauben,  gemäß 
welchem  jedes  Unheil  als  eine  dämonische  Macht  angesehen 
worden  ist,  die  man  durch  gewisse  kathartische  Handlungen 
beseitigen  kann.  Von  Dämonen  bedroht  hielt  man  den  Kranken, 
die  Wöchnerin,  das  neugeborene  Kind,  das  weibliche  Geschlecht 
während  der  Menses,  das  Brautpaar.  Außerdem  konnte  ein 
Zauberer,  da  er  Gewalt  über  die  Dämonen  hat,  mittels  eines 
Zaubers  in  jede  beliebige  Person  einen  Dämon  hineinversetzen  * 

Ticpavlcc,  ipEvdos,  ädiyilcc.  Nach  Hermas  sind  die  einzelnen  Sünden  gleich- 
falls als  Dämonen  zu  denken  (G.  HoennickeJMfZencÄmieniwm  1908,  314  ff.). 
Origenes  nimmt  an,  daß  ein  jedes  größere  Laster  durch  einen  Haupt- 
dämon vertreten  sei,  dem  wieder  eine  Menge  der  gleichen  Gattung 
untergeordnet  sind.  'Besiegt  der  Christ  irgendein  Laster  durch  die 
entgegengesetzte  Tugend,  so  besiegt  er  dadurch  auch  einen  Dämon' 
(F.  Dölger  a.  a.  0.  34f.).  Auf  Grund  solcher  Anschauungen  lehrte  der 
jüdische  Häretiker  Elchasai,  daß  Tauchbäder  in  fließendem  Wasser 
sowohl  die  Krankheiten  als  auch  die  Sünden  beseitigen  (W.  Brandt  Bie 
jüd.  Baptismen  103).  Nach  altbiblischer  Auffassung  besitzt  der  Mensch 
die  Willensfreiheit,  vermöge  deren  er  die  sündhafte  Regung  zu  unter- 
drücken vermag,  vgl.  V  M.  30,  15  und  19;  IM.  4,  7;  Hieb  2, 10. 

^  Dölger  a.a.  0.  92.       ^  Matth.  9,  2—6;  vgL  F.  Dölger  a.  a.  0.  141  ff. 

^  Vgl.  L.  Deubner  in  diesem  Archiv  XVI  133. 

*  Vgl.  z.  B.  für  das  Ägyptische  F.  Zimmermann  Die  ägyptische  Religion 
1912,  75. 


3gQ  I.  Scheftelowitz 

Besonders  erschien  der  Leiclinam  als  ein  Haus  der  Dämonen, 
weslialb  die  Berührung  mit  ihm  eine  Lustrafcion  erforderte. 
Die  Mittel,  die  zur  Yerscheuchung  der  Dämonen  angewandt 
werden,  wie  Wasser,  Feuer,  Blut,  Speichel,  Amulette,  dienen 
daher  auch  zur  Beseitigung  der  Sünde,  die  ja  eine  dämonische 
Infektion  ist.  Für  die  Wegtilgung  der  Sünde  durch  Feuer 
habe  ich  bereits  oben^  einige  Beispiele  angeführt.  Der  Myste 
des  Kybelekultes  glaubte,  wenn  sein  ganzer  Körper  von  dem 
warm  herausspritzenden  Blute  des  geschlachteten  Opferstieres 
besprengt  werden  würde,  ^durch  diese  Bluttaufe  von  seinen 
Sünden  rein  und  der  Gottheit  gleich  zu  werden'.  ^  Hat  ein 
Eingeborener  auf  Borneo  eine  Sünde  begangen,  so  opfert  er 
ein  Schwein  und  besprengt  mit  dessen  Blut  die  Türen  seines 
Hauses,  wodurch  die  Sünde  beseitigt  ist.^  Nach  dei^  römischen 
Volksglauben  vermag  derjenige,  der  darüber  von  Gewissens- 
bissen geplagt  ist,  weil  er  seinem  Nebenmenschen  eine  schwere 
Körperverletzung  beigebracht  hat,  seine  Schuld  dadurch  zu  be- 
seitigen, daß  er  in  die  Hand  speit,  mit  der  er  die  Wunde  zu- 
gefügt hat.  Hierdurch  ist  'seine  Schuld  erleichtert'  (levatur 
culpd).^  Im  Altindischen  diente  jedes  dämonenvertreibende 
Mittel,  wie  gewisse  Kräuter,  Amulette,  Zaubersprüche,  auch  zur 
Vernichtung    der    Sündenschuld.^      So    lautet    das    zu    j^gveda 

1  S.  363  Anm.  2  und  S.  374  Anm.  4. 

*  F.  Cumont  Die  oriental.  Beligionen  übers,  v.  Gehrich,  1910,  80. 

3  Sp.  St.  John  Life  in  ihe  forests  of  the  East  1863,  I  164;  H.  Ling 
Roth  Natives  of  Sarawak  1896,  I  117.  Der  Dajak  sühnt  die  Sünde  der 
Blutschande  dadurch,  daß  die  ganze  Ortschaft,  in  der  ein  einzelner  diese 
begangen  hat,  durch  das  Blut  eines  Schweines  oder  Büfifels  gereinigt  wird 
(Grrabowski  Globus  42,  28).  Ähnliches  geschieht  bei  der  Sühnung  einer 
Mordtat  im  alten  Griechenland,  vgl.  oben  S.  362. 

*  Plinius  N.  H.  XXVIII  36. 

^  Vgl.  H.  Oldenberg  Religion  des  Veda  323,  Wenn  ein  Jao  in  Britisch 
Zentralafrika  seinen  Bruder,  sein  Kind  oder  Sklaven  erschlägt,  so 
sühnt  er  dadurch  seine  Schuld,  daß  er  dem  Häuptling  eine  bestimmte 
Strafe  zahlt,  welcher  ihm  hierauf  ein  Amulett  zum  Schutze  gegen  den 
racheschnaubenden  Totengeist  gibt  (A.  Werner  Natives  of  British  Central 
Africa  1906,  67;  265).     Auf  die    Vorstellung,    daß  Sünde    in   derselben 


Die  SündentilguBg  durch  Wasser  381 

X  98  überlieferte  Khila,  das  nur  in  dem  von  mir  edierten 
Käsmir-Ms.  und  im  Ms.  des  Britischen  Museums  Add,  Nr.  5351 
vorhanden  ist: 

yäc  ca  hrtdm  ydd  okrtam  ydd  enas  cakrmä  vayäm, 
ösadhayas  tdsmät  päntu  duritad  enasas  pdri. 
^Welche  Tat,  welche  Untat  und  welche  Sünde  wir  begangen 
haben,  vor  diesem  Unglück  der  Sünde  sollen  die  Kräuter 
ringsumher  schützen.'  Also  das  Unglück,  das  eine  Folge  der 
Sünde  ist,  wird  zugleich  mit  der  Sünde  durch  ein  dämonen- 
abwehrendes Kraut  beseitigt.  Die  enge  Verwandtschaft  von 
Sünde  und  Unheil  geht  auch  aus  folgendem  Beispiel  hervor: 
der  Itälme,  der  glaubt,  daß  er  wegen  einer  begangenen  Sünde 
von  Unheil  befallen  sei,  macht  sich  eine  Holzfigur,  die  sein 
Stellvertreter  sein  soll,  und  trägt  sie  in  den  Wald,  wo  er  sie 
an  einen  Baum  stellt.^  Will  der  Eweer  seine  gegen  den  Gott 
Seiisa  begangenen  Sünden  tilgen,  so  bringt  er  dem  Priester  eine 
Ziege  oder  ein  Huhn,  ferner  Kaurimuscheln,  gegorenes  Getränk 
und  eine  Erdfigur  in  Menschengestalt.  Der  Priester  streicht  mit 
diesen  Gegenständen  über  den  Körper  des  Sünders,  dessen  Schuld 
gesühnt  werden  soll  und  schlachtet  sein  Tier  über  den  Gegen- 
ständen. Dann  nimmt  er  die  Kaurimuscheln,  bestreicht  damit  den 
ganzen  Menschen  und  wirft  die  Muscheln  auf  die  Erdfigur. 
Hierauf  stellt  er  den  Kopf  des  Tieres  auf  den  Kopf  des  Men- 
schen und  sagt:  ^Der  Kopf  des  Tieres  geht  nicht,  ehe  der  Kopf 
des  Menschen  auch  geht.'  Dann  gießt  er  gegorenes  Getränk  auf 
den  Tierkopf  und  stellt  ihn  auf  den  Weg  für  den  Seiisa  hin.^ 

Weise  zu  beseitigen  sei  wie  Krankheit,  geht  das  Bild  des  Psalmisten 
61,  9  zurück:  'Entsündige  mich  mit  Ysop,  daß  ich  rein  werde/  Hier 
ist  'die  ursprüngliche  sinnliche  Form  der  Handlung  ihrer  sinnlichen  Be- 
deutung entkleidet  und  in  das  Symbol  eines  innern  geistigen  Vorgangs 
übergeführt'  worden.  Der  Ysop  wurde  bei  der  Reinigung  eines  Aussätzi- 
gen angewandt,  vgl.  IHM.  14,  14 ff. 

'  G.  W.  Stellers  Beschreibung  von  Kamtschatka  1774,  276.  Ein  an- 
deres Beispiel  dafür,  daß  man  den  Sündendämon  auf  eine  stellvertretende 
Figur  überträgt,  findet  sich  in  Japan,  vgl.  oben  S.  372. 

2  J.  Spieth  Beligion  der  Eweer  1911,  34. 


3g2  ^-  Scheftelowitz 

Mittels  der  Muscheln  ist  hier  die  Sünde  des  Menschen  auf  die 
Figur  übertragen  worden,  und  durch  das  Tieropfer  ist  die  böse 
Gottheit  besänftigt  worden.  Diese  Zeremonie  nennt  der  Eweer 
'Schuldentilgung'. 

Weil  die  primitive  Denkweise  noch  nicht  zwischen  äußerer 
und  innerer  Wirkung,  zwischen  Physischem  und  Psychischem 
zu  scheiden  vermag,  wird  die  Sünde  auf  die  gleiche  Stufe  wie 
jede  sonstige  dämonische  Befleckung  gestellt.  So  unterzieht 
sich  nicht  nur  der  Mörder,  der  eine  Todsünde  auf  sich  geladen 
hat,  einer  Lustration,  sondern  auch  der  Krieger  nach  einem 
Feldzuge  und  jeder,  der  sonst  mit  einer  Leiche  in  Berührung 
gekommen  ist.  Den  Mörder  quälte  nur  die  Furcht  vor  dem 
Groll  der  racheschnaubenden  Seele  und  vor  den  Leichen- 
dämonen, von  denen  er  durch  die  Berührung  mit  dem  Toten 
infiziert  worden  ist.  In  dem  Moment,  wo  er  diese  bösen  Geister 
durch  äußere  Mittel  von  sich  endgültig  verscheucht  hatte,  fühlte 
er  sich  frei  von  der  Sündenlast.  Mit  der  Verscheuchung  der 
Dämonen  erschien  ihm  also  gleichzeitig  die  Todsünde  beseitigt. 

Ursprünglich  haben  im  israelitischen  Volke  die  gleichen 
Vorstellungen  geherrscht,  jedoch  haben  die  uralten  Bräuche 
betreffs  der  Dämonenbeseitigung  in  der  Bibel  einen  anderen 
Sinn  erhalten.  Wurde  in  der  Nähe  einer  Ortschaft  ein  Er- 
schlagener gefunden  und  war  der  Mörder  unbekannt,  so  mußten 
nach  VM.  21,  Iff.  die  Ältesten  der  nächstgelegenen  Ortschaft, 
die  sich  an  der  Tat  unschuldig  fühlte,  ein  junges  Kalb,  das 
noch  zu  keiner  Arbeit  gebraucht  war,  töten,  'und  sie  sollen 
über  dem  Kalbe  ihre  Hände  waschen  und  laut  sprechen:  Unsere 
Hände  haben  dieses  Blut  nicht  vergossen  und  unsere  Augen 
haben  nichts  gesehen;  vergib,  o  Gott,  deinem  Volke  Israel,  das 
du  erlöst,  daß  das  unschuldige  Blut  deinem  Volke  Israel  nicht 
zur  Last  falle.  Es  soll  die  Blutschuld  dadurch  gesühnt 
werden.'  Die  Sündenschuld  lastete  deshalb  auf  derjenigen 
Ortschaft,  in  deren  Weichbild  der  Mord  geschah,  weil  in  ältester 
Zeit   die   Gemeinschaft  verantwortlich  für  die  Verbrechen  des 


Die  Sündentilgung  durch  Wasser  383 

einzelnen  war.^  An  Stelle  der  rachedurstigen  Seele  des  Er- 
mordeten und  der  Leichendämonen,  die  durch  ein  Opfer  ver- 
söhnt werden  mußten^,  ist  im  Monotheismus  Gott  allein  ge- 
treten. Und  das  Wasser,  womit  man  ursprünglich  die  bösen 
Geister  verscheuchte,  ist  hier  zum  Symbol  der  Unschuld  um- 
gewandelt,^ Die  ursprüngliche  Zeremonie  der  Verscheuchung 
der  Dämonen  ist  in  der  Bibel  versittlicht  worden.  Die  Lustra- 
tion, die  eigentlich  zur  Beseitigung  der  Dämonen  vorgenommen 
wird,  heißt  in  der  Bibel  ^entsündigen'  (^^r^).*  So  mußten  nach 
einer  Schlacht  die  israelitischen  Krieger  durch  geweihtes  Spreng- 
wasser 'entsündigt'  werden,  und  deren  Geräte,  die  mit  einem 
Leichnam  in  Berührung  gekommen  sind,  außerdem  noch  über 
Feuer  gehalten  werden.^  Bei  den  Herero  und  den  Bechuanen 
gilt  der  mit  fremdem  Blute  besudelte  Krieger  für  unrein,  und 
er  und  seine  Waffen  müssen  mit  geweihtem  Wasser  besprengt 

^  Dieses  ist  z.  B.  der  Fall  in  China  (vgl.  J.  Macgowan  Sidelights  on 
Chinese  Life,  London  1907,  28 \  bei  den  Negervölkern  Afrikas  (vgl.  R.  H. 
Nassau  Fetichism  in  West  Africa  1904,  4;  S.  R.  Steinmetz  BecMsverhält- 
nisse  von  eingeborenen  Völkern  1903,  16,  29,  64,  205,  222,  329),  ebenso 
auf  Madagaskar,  im  Bismarckarchipel  (vgl.  Steinmetz  a.  a.  0.  366,401)  und 
bei  den  Römern.  Wenn  z.  B.  eine  Vestalin  ihr  Keuschheitsgelübde  ver- 
letzt, so  schickt  die  Gottheit  eine  Seuche  der  Gesamtheit,  die  erst  dann 
wieder  aufhört,  wenn  die  Schuldige  ihre  Strafe  erhalten  hat  (F.  Cumont 
D.  oriental.  Religionen  übers.  Gehrich  1910,  44).  Auch  in  altisraelitischer 
Zeit  herrschte  dieser  Grundsatz,  vgl.  Jos.  c.  7;  22,  20;  II.  Sam.  c.  24.  Je- 
doch nach  dem  biblischen  Gesetz  und  dem  Talmud  durfte  nur  das 
Individuum,  das  sich  vergangen  hat,  zur  Verantwortung  gezogen  werden 
(vgl.  Scheftelowitz  Monatsschr.  f.  Gesch.  und  Wiss.  d.  Judent.  1912, 
133  f.). 

^  Vgl.  A.  Bertholet  Deuter onomium  1899,  64.  Findet  der  Dajak  (in 
Borneo)  im  Gebüsch  einen  Erschlagenen,  so  opfert  er  dort  dem  Toten- 
geist ein  Schwein  (Sp.  St.  John  Life  in  the  forests  of  the  far  East 
1863,  I  198). 

^  Vgl.  Ps.  26,  6:  'Ich  wasche  meine  Hände  in  Unschuld.'  Ps.  73, 13: 
'Ja  umsonst  habe  ich  mein  Herz  reingehalten  und  meine  Hände  in  Un- 
schuld gewaschen";  ferner  Ps.  18,  21    (=  II  Sam,  22,  21),  Hieb  4,  30. 

*  Vgl.  IV  M.  19,  11  f.  Von  dämonischer  Besessenheit  muß  man  ent- 
sündigt werden  (III  M.  14,  52). 

°  IV  M.  31,  19—23. 


334  I-  Scheftelowitz 

werden.^  Die  Lustration  für  die  Krieger  nacli  der  Rückkehr  vom 
Kampfe  ist  bei  vielen  heidnischen  Völkern  üblich,  so  bei  den 
Basutos^,  Kaffern^,  Puebloindianern^,  Makedoniern.^  Bei  den 
Mekeo  (in  Neu -Guinea)  muß  der  heimkehrende  Krieger,  bevor 
er  das  Dorf  betritt,  sich  einer  Reinigungszeremonie  mittels 
Wassers  unterziehen.  Vorher  darf  er  keine  Speisen  mit  der 
Hand  berühren.^ 

Nur  wer  vollständig  frei  von  dämonischem  Stoffe  war, 
durfte  Heiliges  berühren,  ein  Heiligtum  betreten  und  sich  den 
Göttern  nahen,  sonst  lud  er  eine  schwere  Sünde  auf  sich.^    Da- 

^  Brincker  Mitteil.  d.  Seminars  f.  oriental.  Sprachen  III  76;  G.  Fritsch 
Die  Eingeborenen  Südafrikas  201. 

2  Tylor  Primitive  Culture  11^  433. 

^  H.  Spencer  Bescriptive  Soeiology  IV  30,  zitiert  bei  S'chwally  Semit. 
Kriegsaltertümer  1901,  I  67. 

^  Voth  Traditions  of  the  Hopi  in  Field  Columbian  Museum  Yol.  YIII 
1903,  67 f.,  60 f.;  Stevenson  Zuni  Indians  in  23.  Ann.  Rep.  of  Bureau  of 
Ethnol.,  Washington  1904,  578 f.         ^  Nilsson  in  diesem  Archiv  XYI  314. 

^  Seligman  Melanesians  of  British  New  Guinea  1910,  333. 

'  Ein  Heiligtum  wird  verunreinigt  durch  die  Berührung  mit  einem 
Leichnam  (II  Reg.  23,  14,  16).  Wer  Gott  aufsucht,  soll  sich  absondern 
'von  der  Unreinheit  der  heidnischen  Völker'  (Esra  6,  21)  und  soll  sich 
zuvor  waschen  (I  M.  35,  2).  Nach  der  Meinung  Saadjas  {Emunöt  we- 
de<^öt  III)  und  des  Maimonides  {Möre  hannehuhim  III  c.  35  u.  47)  sind  die 
rituellen  Reinheitsgesetze  nur  erforderlich,  wenn  man  den  Tempel  be- 
sucht. In  Jerusalem  mußte  jeder  Israelit  alljährlich  den  10.  Teil  seiner 
Bodenerzeugnisse  in  natura  oder  in  Geldwert  unter  Beobachtung  ritueller 
Reinheit  verzehren  (V  M.  14,  22f).  Verschiedene  Gaben  mußte  er  unter 
Beobachtung  ritueller  Reinheit  zum  Besten  der  Priester  aussondern  (iV 
M.  15,  19  f.).  Als  der  Priester  Ahimelech  dem  auf  der  Flucht  befindlichen 
David  erklärte^  daß  er  ihm  kein  gewöhnliches,  sondern  nur  heiliges  Brot 
reichen  könnte,  fand  es  David  für  nötig,  ihn  dahin  zu  beruhigen,  daß  er 
und  seine  Leute  sich  im  Zustande  vollkommenster  ritueller  Reinheit  be- 
fänden (I  Sam.  21,  5  f.).  Die  Leviten  wurden  für  das  Heiligtum  geweiht, 
indem  ihr  Körper,  nachdem  er  gänzlich  von  Haaren  befreit  worden  war, 
mit  'Entsündigungswasser'  besprengt  wurde,  und  sie  ihre  Kleider  waschen 
mußten  (IV  M.  4,  6).  Über  die  biblischen  Reinheitsgesetze  vgl.  auch 
W.Brandt  Die  jüdischen  Baptismen  1910,  20ff. ;  über  die  griechischen 
und  römischen  vgl.  Th.  Wächter  a.  a.  0. 11  fiF.  Der  bigotte  Grieche  näherte 
sich  'weder  einem  Grabmahle,  noch  einem  Toten,  noch  einer  Wöchnerin  , 
um  sich  nicht  zu  verunreinigen  (Theophrast  Charaktere  XVI), 


i 


Die  Sündentilgung  durch  Wasser  385 

her  war  Vorsorge  getroffen,  daß  jeder  einzelne  Tempelbesucher  am 
Eingange  eines  Tempels  sich  zuvor  kultisch  reinigte.  So  befand 
sich  an  den  Eingängen  der  griecbischen  Tempel  ein  großer 
Kessel  mit  geweihtem  Wasser.  Alle,  die  den  Tempel  betraten, 
besprengten  sich  mit  diesem  Wasser.^  Auf  diese  kultische  Rei- 
nigung weist  auch  die  Etymologie  von  lat.  deluhrum  ^Tempel'  hin. 
Nach  Cincius  bei  Serv.  Aen.  II  225  war  Delubrum  ursprünglich 
die  Bezeichnung  des  am  Tempeleingange  befindlichen  fließenden 
Wassers,  an  welchem  man  die  vor  der  Opferhandlung  erforder- 
liche Waschung  vornahm.^  Kultische  Reinheit  war  den  Ägyptern, 
besonders  den  Priestern,  vorgeschrieben.  In  den  Tempeln  stan- 
den Wasserbecken  zur  Reinigung.  'Wenn  an  dem  Eingang 
der  inneren  Tempelräume  geschrieben  steht:  „Ein  jeder,  der 
hier  eintritt,  sei  rein",  so  ist  das  nicht  als  Phrase  aufzufassen.' 
Der  Priester  wurde  bei  seiner  Einführung  in  dem  unmittelbar 
am  Tempel  gelegenen  Teich  gebadet.  Bevor  ein  Priester  eine 
heilige  Handlung  verrichtete,  mußte  er  sich  Kopf  und  Hände 
waschen.  Daher  hat  das  ägyptische  Wort  für  Triester'  eigentlich 
die  Bedeutung  'der  Reine'.  Daß  diese  äußere  Reinheit  zugleich 
als  Symbol  der  inneren  und  des  Freiseins  von  Sünde  betrachtet 
worden  ist,  ist  textlich  ebenfalls  belegt.^  Ebenso  befinden  sich  auf 
den  Vorhöfen  der  shintoistischen  Tempel  Japans  Wasserbecken 
für  die  Tempelbesucher,  die  sich  beim  Eintritt  in  denselben  zu- 
nächst waschen  müssen.  Wer  das  Gebet  besonders  wirkungsvoll 
machen  will,  nimmt  zuvor  ein  Bad.''  Kultische  Reinheitszere- 
monien mittels  Wassers  sind  auch  üblich  bei  den  Lappländern 
und  sibirischen  Schamanen.^    In  gleicher  Weise  haben  die  Isra- 

^  Vgl.  F.  Ast  Theophrasti  Char  acter  es,  Lipsiae  1816,  143  f. 

*  Vgl.  G.  Wissowa  Beligion  und  Kultus  der  Römer  ^467,  Pauly- 
Wissowa  Realenzykl.  IV  2703. 

^  A.  Eiman  Die  ägyptische  Beligion^  86  f.,  202  Anm. ;  v.  Lemm  Das 
Büualbuch  des  Ammondienstes  1882,  4;  B.  Poertner  Die  ägyptischen  Toten- 
stelen 1911,  44.  Auch  das  assyrische  Wort  ramku  Triester'  bedeutet 
eigentlich  'der  Reine'  (ramäku  'sich  waschen'). 

^  Chantepie  de  la  Saussaye  Lehrh.  d.  Beligionsgeseh.^  1905,  159 f. 

^  Vgl.  Westermarck  Globus  93,  110  f. 

Archiv  f.  Religionswissenschaft  XVII  25 


386  I.  Scheftelowitz 

eliten^  und  die  Syrer  nacli  der  Berührung  mit  einem  Toten  sieben 
Tage  lang  warten  müssen,  bis  sie  wieder  den  Tempel  betreten 
durften.  Wer  früher  hineingebt,  begeht  eine  Sünde.  Erblickte  der 
Syrer  einen  Toten,  so  durfte  er  an  demselben  Tage  das  Heilig- 
tum nicht  betreten,  sondern  mußte  sich  am  folgenden  Tage  zu- 
erst reinigen.^ 

Das  Gebet,  das  man  nur  nach  einer  vorher  vollzogenen 
Reinigung  seines  Körpers  sprechen  solF,  darf  gleichfalls  nur 
an  einem  reinen  Orte  stattfinden*,  denn  auf  Schmutz  halten 
sich  die  Dämonen  auf,  sie  selbst  sind  schmutzig^,  und  von 
ihnen  geht  auch  Schmutz,  materielle  Verunreinigung  aus  ^  Die 
Dämonen  gewinnen  über  denjenigen  Macht,  der  ungewaschen 
ausgeht."^   Daher  gebietet  der  Parsismus  und  der  jüdische  Volks- 

*  IV  M.  19,  13.  Wer  unrein  war,  durfte  den  Tempel  nicht  betreten, 
vgl.  Talm.  SeWöt  7b;  Bast  zu  IHM.  16,  16. 

*  Lucian  De  dea  Syria  c.  52  f.  Auch  bei  den  Griechen  verunreinigte 
schon  der  Anblick  eines  Toten,  wodurch  man  vom  Tempelbesuch  aus- 
geschlossen war  (Th.  Wächter  a.  a.  0.  57). 

»  Vgl.  Buchholz  Homerische  Realien  IIb  §  118;  III  2  S.  277  ff.  Auch  in 
Babylonien  mußte  man  sich  vor  dem  Gebete  die  Hände  waschen  (Zimmern 
Beitr.  z.  Kenntnis  d.  hdbyl.  Bei.  1900,  Surper  III  44). 

*  Z.B.  bei  den  Persern  (vgl.  Benjamin  Persia,  London  1887,  444; 
John  G.  Bourke  Scatalogic  Bites,  Washington  1891,  152),  bei  den  Indern 
(vgl.  Chänd.  Upan.  8,  15;  Yäjhavalkya  I  148—150),  bei  den  Juden  (vgl. 
Misnä  Beraköt  3,  5). 

^  Vgl.  Firdüsi  ed.  Vullers  P.  I  30:  div  pelld  'schmutziger  Dämon'. 
So  halten  sich  nach  dem  Glauben  der  Inder  und  Slaven  auf  Aborten, 
Misthaufen  und  schmutzigen  Plätzen  die  Dämonen  auf  (Crooke  Populär 
Religion  of  Northern  India^  1  293;  F.  S.  Krauss  Slavische  VoIJcs- 
forschungen  1908,  71). 

®  Vgl.  im  Awesta  Vend.  VII  56:  'Denn  dieses  ist  die  Freude  der 
Dämonen,  solange  bis  endlich  dort  ihr  Gestank  haften  bleibt.'  Wer  in 
Indien  oder  in  Deutschland  mit  den  bösen  Geistern  in  Verbindung  treten 
will,  der  muß  ein  ganz  schmutziges  Äußere  haben  (Crooke  Natives  of 
Northern  India  1907,  258;  A.  Wuttke  Deutscher  Volksabergl^  264). 

'  Zingerle  Sitten,  Meinungen  und  Bräuche  des  Tiroler  Volkes  p.  58; 
vgl.  auch  A.  Kuhn  Westfälische  Sagen  II  30.  Im  alten  Griechenland  und 
im  deutschen  Mittelalter  galt  die  Waschung  der  Hände  mit  Wasser  als 
ein  Schutzmittel  gegen  Behexung  (S.  Seligmann  Der  böse  Blick  II  234). 


Die  Sündentilgung  durch  Wasser  387 

glaube,  daß  man  schmutzige  Hände  stets  abwaschen  solle. ^  Rab 
Huna  hatte  aus  diesem  Grund  einen  Krug  mit  Wasser  an  die 
Tür  seines  Hauses  gehängt,  damit  jeder,  der  sein  Haus  betrat, 
zunächst  die  Hände  wasche,  um  nicht  durch  einen  Dämon  be- 
schädigt zu  werden.^  Nach  dem  Parsismus  und  dem  Judentum 
darf  man  Speisen  nur  mit  gewaschenen  Händen  zu  sich  neh- 
men.^ Unter  konsequenter  Festhaltung  solcher  sinnlichen  Vor- 
stellung wird  bei  den  Akikuyu  die  Sünde  durch  gewisse  Ab- 
führungsmittel, die  der  Priester  gibt,  beseitigt.^  Der  innere  dä- 
monische Schmutz  der  Sünde  wird  hierdurch  aus  dem  Körper 
entfernt. 

Wenn  in  vielen  Sprachen  der  Ausdruck  ^Schmutz'  auch 
'Sünde'  heißt,  so  ist  die  sittliche  Verschuldung  in  sinnlicher  Weise 
als  ein  dem  inneren  Menschen  anhaftender  Makel  aufgefaßt  wor- 
den, z.  B.  altindisch  halka  (m  )  'Kot,  Schmutz,  Vergehen,  Sünde' 
adj.  'böse,  sündhaft';  JcalanJca  (m.)  und  hdlmasa  (n.)  'Schmutz, 
Fleck,  Sünde';  dosa  (m.)  und  tamas  (n.)  bedeuten  'Dunkelheit, 
Schlechtigkeit,  SünJe'.  Armenisch  pitj  'schmutzig,  unrein,  süiid- 
haft';  met  'Sünde';  ai.  mala  (n.)  'Schmutz,  Sünde',  adj.  'gott- 
los'; lit.  melas  'Lüge',  altirisch  mellaim  'betrüge',  gr.  ^slag 
'schwarz',  lett.  melns  'schwarz',  melums  'Schmutzflecken',  poln. 
mul  'Schmutz,  Schlamm'.  Slovenisch  skrunöba  'Unreinigkeit, 
Schandtat,  Laster',  skruniti  'verunreinigen,  beflecken,  verun- 
ehren,  entweihen',  sliTÜn  'unrein,  befleckt,  abscheulich,  schänd- 
lich'. Altirisch  sorh  'schmutzig,  Laster',  sorhaim  'sich  beflecken'. 
Griech.  [ivöos  'Verbrechen',  ^vdagög  'unrein,  abscheulich':  ^vdog 
'Fäulnis'  (Prell witz  Et.  Wtb.).    Assyrisch  marsu    'befleckt,  un- 


^  Säyast  lä  Säyast  VII  7,  Nach  Rab  Abbaji  soll  man  deshalb  un- 
reine Hände  abwaschen,  weil  der  Dämon  Sibbetä  auf  ihnen  ruht  {Talm. 
Jömä  77  b).         ^  ^alm.  Taanit  20  b. 

^  Säyast  lä  Säyast  9,  8;  Misnä  Hagigä  II  5;  Beräköt  8,  2;  Talmud 
Beräköt  43  a,  Toseftä  Beräköt  IV  8.  Im  sibyll.  Orak.  III  590  ff.  ist  Rein- 
heit der  Hände  das  Symbol  der  inneren  Reinheit. 

*  Frazer  Golden  Bough*  P.  II,  S.  214.  Auch  die  Creekindianer  rei- 
nigen sich  von  ihren  Sünden  durch  Brechmittel,  vgl.  oben  S.  362. 

25* 


388 


I,  Scheftelowitz 


rein,  böse,  sündhaft'.  Türk.  Mtü  ^dunkel,  schlecht,  sündhaft'. 
Ebenso  bedeutet  bei  den  Zulus,  den  Basutos  und  den  mexika- 
nischen Eingeborenen  das  Wort  'Schmutz'  auch  'Sünde'.^ 

4  Übereinstimmung  des  Ritus  derDämonenvertreibung 

mit  dem  der  Sündentilgung 

a)  Die  Apopompe 

Infolge  der  Verwandtschaft  von  Sünde  und  Unheil,  die  beide 
von  Dämonen  herrühren,  stimmt  auch  der  Ritus  der  Dämonen- 
vertreibung mit  dem  der  Sündentilgung  gänzlich  überein.  Dä- 
monen, die  in  einem  Menschen  hausen,  können  auf  stellver- 
tretende Wesen  und  Figuren  oder  auf  entlegene  Orte  hinüber- 
geleitet werden.^  R.  Wünsch  nennt  diese  Art  der  Übertragung 
der  Dämonen,  da  dieser  Vorgang  im  griechischen  Zauberritual 
durch  das  Verb  aTCOTte^Tteiv  bezeichnet  wird,  'Apopompe',  dessen 
Sinn  sich  auch  mit  dem  hebr.  Wort  taslik  (gewöhnlich  bei  den 
Juden  ausgesprochen  tascJilich),  womit  die  Sündenübertragung 
auf  das  Wasser  bezeichnet  wird^,  vollständig  deckt. 

Wütet  in  einem  Dorfe  Zentralindiens  die  Cholera,  so  schicken 
die  Eingeborenen  eine  weiße  Ziege  unter  Beschwörungsformeln 
ia  die  Wildnis,  damit  sie  den  Dämon  dieser  Plage  mit  sich 
fortführe.*  Will  ein  Eingeborener  auf  Madagaskar  sich  von 
allem  Übel  befreien,  so  nimmt  er  ein  Tier  auf  seine  Schulter 
und  wünscht  auf  dessen  Haupt  alles  Übel  herab  und  trägt 
dieses  Tier  nach  einem  einsamen  Ort.^  Auch  in  Babylonien 
herrschte   dieser  Glaube,  weshalb   es  in  einem  Hymnus  heißt ^; 

^  heslieAmong  the  Zulus  p.  170;  Casalis  Les  Bassoutos  p.  269;  Preuß 
Globus  83,  257  u.  269. 

'  Ygl.  Frazer  Gglden  Bough^  II  13  ff.,  Wünsch  in  Siebs'  Festschr.  z.  Jahr- 
hundertfeier d  Üniv.  Breslau  1911,  15 ff.;  Scheftelowitz  Schlingen-  u.  Netz- 
motiv RGVVXII  2,  34ff.;  derselbe  Das  Huhnopfer  RGW  XIV  3,  37 ff., 
N.  W.  TJiomas  The  scapegoat  in  Europea'ft  Folklore^  in  Folklore 
XVII  258 ff.         »  Vgl.  oben  S.  372  Anm.  2. 

^  J.  Forsyth  Highland  of  Central- India,  London  1889,  186. 

^  J.  Sibree  Madagascar  1870,  391. 

^  King  Bdbylonian  Beligion  S.  212;  M.  Jastiow  Religion  d.  Ässyrer 
u.  Babylonier  II  95. 


Die  Sündentilgung  durch  Wasser  389 

'Der  Yogel  möge  das  Unheil  zum  Himmel  emportragen  .  .  . 
möge  das  Getier  des  Feldes  es  von  mir  entfernen,  möge  das 
•Flußwasser  mich  reinwaschen.'  Der  Inder,  der  drohendes  Un- 
heil beseitigen  will,  zieht  sich  ein  schwarzes  Kleid  an,  geht  an 
einen  Fluß,  wo  er  dasselbe  ablegt  und  in  ein  kleines,  aus  Schilf 
geflochtenes  Boot  tut,  das  alsdann  durch  den  Strom  fortge- 
schwemmt wird;  oder  er  wirft  das  Kleid  direkt  ins  Wasser.^ 
Auf  diese  Weise  hat  er  das  Unglück  von  sich  abgeschüttelt. 
Die  Eingeborenen  von  Leti,  Moa  und  Lakor  entsenden  alljährlich 
alle  Krankheiten  aufs  Meer,  indem  jeder  einzelne  etwas  Reis,  Früch- 
te, ein  Huhn,  zwei  Eier  und  Insekten  in  ein  Boot  legt,  das  dann  ins 
Meer  hinausgestoßen  wird.^  Der  Zauberer  unter  den  Malaien  glaubt 
die  schädigenden  Geister,  die  eine  Gegend  heimsuchen,  auf  ge- 
weihte Boote  zu  bannen,  die  dann  auf  das  Meer  hinausgetrieben 
werden.^  Bei  den  Inlandstämmen  Ostsumatras  wird  der  Krank- 
heitsdämon mittels  Beschwörungen  auf  ein  kleines  Schiff  über- 
tragen, das  dann  auf  den  Fluß  hinausbefördert  wird.*  Ein 
ähnlicher  Brauch  .existierte  auch  bei  den  Babyloniern.^  In 
Bolivia  bindet  man  den  Krankheitsdämon  auf  ein  Lama  und 
treibt  dieses  ins  Gebirge.^  Herodot  II  99  erwähnt,  daß  die 
Ägypter  zwecks  der  Beseitigung  eines  Unheils  einem  Tiere  den 
Kopf  abschneiden,  indem  sie  dabei  beten,  daß  alles  Böse  auf 
ihn  übergehen  möge  und  ihn  dann  ins  Wasser  werfen.  Im 
Talmud  wird  folgende  Krankenbeschwörung  überliefert:  der 
Kranke  gehe  mit  einem  neuen  Topf  an  einen  Fluß  und  spreche : 
Tluß,  Fluß  leihe  mir  einen  Topf  Wasser  für  den  Gast,  der 
bei  mir  zufällig  eingekehrt  ist',  schwinge   diesen  Topf  sieben- 

1  Kaus.  S   18,  7—9;  17—18;  Colsrnd Ältind.  Zauberritual  1900,  43,  45. 

*  Frazer  Golden  Bough^  III  105. 

"^  R.  J.  Wilkinson  Malay  Beliefs  1906,  67  u.  72. 

*  Moszkowski  Globus  94,  313. 

^  Globus  95,  239.  Wenn  Jesus  die  Krankheitsdämonen  zweier  Be- 
sessener in  eine  Schweineherde  versetzt,  die  dann  vom  Abhänge  sämt- 
lich, ins  Meer  stürzen  und  dort  ertrinken  (Matth.  8,  28 ff.,  Marc.  5,  Iff.)» 
so  liegt  hier  der  Gedanke  der  Dämonenübertragung  aufs  Meer  zugrunde. 

«  Globus  97,  226. 


ggQ  I.  Scheftelowitz 

mal  über  seinen  Kopf,  werfe  ihn  dann  hinter  sich  mit  den 
Worten:  Tluß,  Fluß!  nimm  zurück,  was  du  mir  gegeben  hast, 
denn  der  Gast,  den  ich  hatte,  ist  am  Tage  gekommen  und  am. 
selben  Tage  wieder  verschwunden.'^  Ein  südslavisches  Wiegen- 
lied für  ein  beschrienes  Kind  lautet:  ^Schlaf,  Töchterlein,  schlaf! 
Der  Fluß  trage  dir  die  Beschreiungen  davon,  trage  sie  vorbei 
an  deinem  Wiegelein.'^  In  Serbien  setzt  sich  ein  Fieberkranker 
auf  einen  Rohrstab  und  reitet  auf  demselben  bis  zu  einem  Fluß 
Das  Rohr  wird  ins  Wasser  geworfen  und  der  Kranke  spricht: 
^Mich  ladet  die  Dämonin  (Wila)  zu  ihrer  Hochzeit  ein,  ich  kann 
zu  ihrer  Hochzeit  nicht  kommen,  sondern  ich  schicke  ihr  mein 
Roß  (das  Rohr)  und  das  Fieber.'  Ohne  sich  umzusehen,  kehrt 
er  dann  nach  Hause.  Oder  der  Kranke  steigt  auf  einen  Baum 
und  spricht  dort  dreimal  seinen  Namen  aus.  Dann  steigt  er 
vom  Baum  herab  und  verläßt  den  Garten,  ohne  sich  umzusehen. 
Bei  leichteren  Kopfschmerzen  spricht  der  Serbe  folgende  Be- 
schwörungsformel: ^Krankheit,  geh  ins  Meer  oder  ziehe  dich  in 
die  Erde  hinein,  damit  dem  Kranken  so  leicht  wird  wie  eine 
Feder .'^  Die  ungarischen  Zigeuner  glauben,  daß  der  Krankheits- 
dämoD,  der  das  kalte  Fieber  erzeugt,  die  Gestalt  einer  weißen 
Maus  hat.  Ist  jemand  von  diesem  Fieberdämon  besessen,  so 
wickelt  man  einen  Zwirnfaden  fest  um  den  kleinen  Finger 
seiner  linken  Hand.  Dann  gibt  man  ihm  den  Magen  und 
die  Lunge  einer  Maus,  zu  Pulver  gestoßen,  in  Branntwein  zu 
trinken.  Hierauf  muß  er  den  enthäuteten  Kadaver  der  Maus 
zu  einem  Bache  tragen;  den  Kopf  trennt  er  vom  Leibe  und 
wirft  ihn  in  das  fließende  Wasser,  wobei  er  sagt:  ^Hier  ist 
dein  Kopf!'  Alsdann  wirft  er  den  Leib  ins  Wasser  und  sagt: 
^Hier  ist  dein  Bauch!'    Zuletzt  wirft  er  die  Füße  in  das  Wasser 


^  Talm.  Sabbat  66  b. 

^  Krauss  Volksglaube  und  relig.  Brauch  der  Südslaven  43. 

'  Globus  33,  350.  Betreffs  der  Übertragung  der  Dämonen  anf  Bäume 
vgl.  R.  Wünscli  in  Siebs'  Festschrift  Z.Jahrhundertfeier  d.  Univ.  Breslau  1911, 
26  ff.;  E  Thurston  Ethnogr.  Notes  in  Southern  India  1906,  305,  313; 
Scheftelowitz  Schlingen-  u.  Netzmotiv  (RGW  XII2)  34. 


Die  Sündentilgung  durch  Wasser  391 

und  sagt:  ^Und  hier  sind  deine  Füße,  geh  ins  Wasser!'^  Ist 
jemand  nach  dem  Glauhen  der  Zigeuner  von  der  Krankheits- 
dämonin  Lilyi  heimgesucht,  so  wird  die  Figur  dieser  Dämonin 
auf  ein  Holztäf eichen  eingebrannt,  über  deren  Kopf  ein  Sarg- 
nagel oder  ein  sonstiger  Nagel,  der  zuvor  mit  einem  Leich- 
nam berührt  worden  ist,  eingeschlagen  wird.  Diese  Holzfigur 
hängt  man  an  den  Leib  des  Kranken.  Nach  neun  Tagen  wird 
sie  in  einen  Bach  geworfen  mit  den  Worten:  'Ich  gebe  dir  die 
Krankheit,  friß  sie.'^  In  Nord-  und  Mitteldeutschland,  Böhmen, 
Mähren,  bei  den  Lausitzer  und  Elbslaven  und  den  Polen  war 
es  üblich,  alljährlich  den  Tod  aus  den  Ortschaften  zu  bannen. 
Am  Sonntage  'Lätare',  in  Böhmen  am  Sonntage  'Judica',  der 
deshalb  auch  der  Totensonntag  genannt  wird,  versammelten  sich 
in  den  Ortschaften  die  Erwachsenen  and  Kinder,  machten  aus 
Holz,  Lumpen  und  Stroh  das  Bild  der  Todesgöttin,  banden  es 
an  eine  Stange  und  trugen  es  in  den  S.traßen  umher.  Zuletzt 
wurde  diese  Puppe  ins  Wasser  geworfen  oder  verbrannt  oder 
zuweilen  über  die  Gemeindegrenze  auf  das  Gebiet  der  Nachbar- 
gemeinde geworfen,  worüber  jene  in  große  Aufregung  geriet. 
Die  Puppe  heißt  'der  Tod'  und  diese  Feier  'den  Tod  austreiben'. 
Die  Tschechen  singen,  wenn  die  Puppe  ins  Wasser  geworfen  wird: 
'Der  Tod  schwimmt  auf  dem  Wasser,  das  neue  Jahr  kommt  zu 
uns;'  und  bei  der  Rückkehr  ins  Dorf  singen  sie:  'Den  Tod 
haben  wir  aus  dem  Dorf  getragen,  das  neue  Jahr  tragen  wir  ins 
Dorf.'^  Bei  den  Wotiäken  versammeln  sich  am  7.  Tage  nach 
Weihnachten  die  Mädchen  des  Dorfes  mit  Knütteln,  die  am 
vorderen  Ende  neunfach  gespalten  sind,  und  schlagen  in  alle 
Ecken  der  Häuser  und  Höfe  mit  dem  Rufe:  'Den  Dämon 
treiben  wir  aus  dem  Dorfe.'  Alsdann  werden  die  Knüttel  außerhalb 
des  Dorfes  in  den  Fluß  geworfen,  damit  der  Dämon  zum  näch- 
sten Dorf  hinwegschwimme. ^ 

^  H.  V.  Wlislocki  Aus  dem  innern  Lehen  der  Zigeuner  1892,  17  f. 
2  V.  Wlislocki  a.  a.  0.  S  10. 

•'*  Globus  30, 299  f. ;  38, 327   Dieses  ist  ein  ursprünglich  slavischer  Brauch, 
denn  im  Slavischen  ist  der  Tod  feminin.  *  M.  Buch  Globus  40,  284. 


392  ^*  Scheftelowitz 

b)  Sühnepuppe 

Genau  in  derselben  Weise  wie  der  Sündendämon  auf  eine 
stellvertretende  Figur  übertragen  werden  kann^,  so  werden  die 
Krankbeitsdämonen  auf  Figuren,  die  das  Ebenbild  des  Kranken 
darstellen  sollen,  binübergeleitet.  Dem  Bilde  baftet  ja  nacli 
dem  primitiven  Seelenglauben  Seelenstoff  des  Prototyps  an.  Im 
Gegensatz  zu  den  ^Racbepuppen'^  möcbte  icb  solcbe  Figuren 
Sübnepuppen  nennen.  In  Assyrien  wurde  von  einem  Kranken 
ein  Ebenbild  bergestellt  und  der  Krankbeitsdämon  mittels  einer 
Bescbwörungszeremonie  auf  diese  Puppe  übertragen.  In  einer 
derartigenBescbwörungsformel lautet  es:  'Über  ibm  (dem Kranken) 
zerbricb  es  (das  stellvertretende  Bild)  und  es  sei  sein  Stellver- 
treter.' Dadurcb,  daß  dieses  Bild  dem  Dämon  überantwortet  wird, 
wird  die  Genesung  des  Kranken  erzielt.^  Wurde  ein  Mann  von 
einem  Totengeist  beimgesucbt,  so  wurde  eine  Lebmpuppe  ge- 
macht, die  diesen  Mann  darstellen  sollte,  und  auf  dieselbe  sein 
Name  geschrieben.  Sodann  legte  man  diese  Figur  in  das  Hörn 
einer    Gazelle  und    begrub    sie    in    dem    Schatten   eines  Dorn- 


*  Vgl.  die  Beispiele  in  Japan,  bei  den  Itälmen  und  Eweern  oben 
S.  372  u.  381. 

*  Über  Rachepuppen  vgl.  z.B.  Frazer  Golden  Bough^  1911,  I  55 ff.; 
R.  Wünsch  in  Philologus  LXI  26 ff.;  Skutsch  Festschr.  z.  Jahrhundertfeier 
d.  Univ.  Breslau  1911,  529 ff.;  C.  Thompson  Semitic  Magic  150 ff.;  in  die- 
sem Archiv  XV  313 ff.;  Ad.  Abt  Apologie  des  Apuleius  (RGW  IV  2) 
80  f.,  211,  239;  Ztschr.  f.  deutsche  Myth.  I  442;  Ztschr.  d.  Ver.  f.  Volksk. 
VII  252;  XII  10;  XIII  440  ff.;  J.  W.  Wolf  Niederländische  Sagen  1843, 
Nr.  294;  Tallqvist  Die  assyrische  Beschwörungsserie  Maqlu  p.  18;  K.  Ras- 
mussen  Peoples  of  the  Polar  North  ed.  G.  Herring  1908,  155  ff.;  R.  H. 
Nassau  Fetichism  in  West-Africa  1904,  117;  E.  Pechuel-Loesche  Volks- 
künde  von  Loango  1907,  339;  Mackay  und  J.  A.  Macdonald  From  far 
Formosa  1896,  254;  C.  J.  F.  S.  Forbes  British  Burma  1878,  232; 
E.  Thurston  Ethnogr.  Notes  1906,  328;  H.  C.  Robinson  FascicuU 
Malayenses  II  1904,  50. 

^  0.  Weber  Dämonenbeschwörung  hei  den  Bahyloniern  und  Assyrern 
1906,  23 — 26.  Um  einen  Pestkranken  zu  heilen,  wird  das  Ebenbild  aus 
Lehm  hergestellt  und  dann  unter  Beschwörungen  der  Krankheitsdämon 
auf  diese  Figur  übertragen  (L.  W.  King  Ztschr.  f.  Assyr.  XI  50). 


Die  Sündentilgung  durcli  Wasser  393 

busches.^  In  Malabar  (Südindien)  wird  zur  Beseitigung  des 
Krankendämons  eine  mit  Kupfermünzen  besteckte  stellvertre- 
tende Figur  über  dem  Kranken  hin  und  ber  geschwenkt  und 
dann  auf  einen  Platz  gebracht,  wo  sich  drei  Straßen  schneiden.* 
Bei  den  Yerukalas  (Südindien)  führt  der  Medizinmann  den 
Kranken  außerhalb  des  Weichbildes  des  Dorfes  und  macht  dort 
eine  stellvertretende  Puppe,  um  welche  gekochter  Reis  uud  an- 
dere Speisen  gestellt  werden.  Der  Kranke  sitzt  in  der  Nähe 
des  Kopfes  dieser  liegenden  Puppe.  Ein  Ziegenbock  wird  ge- 
opfert, dessen  Kopf  zu  Füßen  der  Figur  gelegt  wird,  Körner 
werden  dann  über  die  Figur  gestreut  und  ein  Glas  voll  Arrak 
darauf  gestellt,  um  auf  diese  Weise  den  Krankheitsdämon  aus 
dem  Patienten  auf  die  Puppe  hinüberzulocken.  Nachdem  der 
Kranke  bis  zu  den  Füßen  der  Puppe  gegangen  ist,  geht  er, 
ohne  sich  umzuschauen,  nach  Hause.^  In  Siam  verfertigt  der 
Zauberdoktor  aus  Ton  das  Ebenbild  des  Kranken.  Nachdem 
er  eine  Beschwörungsformel  ausgesprochen  hat,  mittels  deren 
der  Krankheitsdämon  auf  die  Figur  übertragen  wird,  vergräbt 
er  sie  im  Gebüsch.*  Bei  den  Annamiten  bannt  der  Medizin- 
mann den  Krankheitsdämon  in  eine  kleine  stellvertretende 
Puppe.      Auf    den    Inseln    Romang,    Dama,    Teun,    Nila   und 


^  C.  Thompson  Semitic  Magic  1908,  34.  Hörn  und  Dornbusch,  die 
hierzu  verwendet  werden,  sind  apotropäische  Mittel;  vgl.  Scheftelowitz 
in  diesem  Archiv  XV  474ff.,  Schlingen-  u.  Netzmotiv  1912,  50  Anm.  3. 

^  E.  Thurston  Ethnographie  Notes  in  Southern  India  1906,  256.  Wenn 
in  Madras  sich  jemand  ganz  krank  fühlt,  so  weiht  er  einer  Gott- 
heit eine  silberne  Figur,  die  ihn  darstellen  soll.  Sind  nur  einzelne 
Glieder  an  ihm  krank,  so  weiht  er  einem  Tempel  die  Figur  des  betref- 
fenden Gliedes,  wie  des  Gesichts,  der  Hände,  Füße,  des  Hinterteils,  der 
Zunge,  Nase,  Ohren,  Augen  usw.  (Thurston  Ethnogr.  Notes  353). 

^  Thurston  a.  a.  0.  1906,  327.  In  Malabar  wird  zur  Heilung  des 
Kranken  eine  stellvertretende  Figur  aus  gekochtem  Reis  geformt,  neben 
deren  Kopf  der  Kranke  sitzt.  Ein  Hahn  wird  geschlachtet,  mit  dessen 
Blut  die  Figur  besprengt  wird,  dann  wird  getrommelt  und  laut  geblasen, 
wobei  der  Medizinmann  tanzt  und  einen  lebenden  Hahn  beißt,  aus  dessen 
Wunde  er  hastig  Blut  trinkt  (Thurston  a.  a.  0.  334). 

*  E.  Young  Kingdom  of  the  yelloio  rohe  1900,  121. 


394  ■'••  Scheftelowitz 

Serua  stellt  man  solche  Sülinepuppe  über  den  Kopf  des 
Kranken.  Davor  setzt  man  als  Lockmittel  Pinang,  etwas  Reis, 
mit  einer  halben  Eierschale,  während  man  ein  Stückchen  von 
einem  Ei  auf  die  Stirn  des  Kranken  legt.  Der  Dämon  verläßt 
dann  den  Körper  des  Kranken,  ißt  dasjenige,  was  auf  der  Stirn 
des  Kranken  liegt,  und  begibt  sich  darauf  in  das  Bild,  um  den 
dargebotenen  Pinang  und  Reis  zu  genießen.  Indessen  betet 
und  lärmt  der  Medizinmann,  damit  der  Dämon  endgültig  den 
Kranken  verlasse.  Dann  preßt  er  wütend  das  Bild  und  schlägt 
ihm  den  Kopf  ab,  damit  der  Dämon,  der  in  dieser  Puppe  weilt, 
nicht  mehr  imstande  sei,  zurückzukehren.^  Auch  in  Borneo 
dient  eine  Puppe  als  Stellvertreter  des  Kranken.^  Der  Kranken- 
beschwörer bei  den  Dajaks  (auf  Borneo)  macht  zwecks  Besei- 
tigung des  Krankheitsdämons  eine  menschliche  Puppe,  die  den 
Kranken  darstellen  soll,  setzt  sie  in  ein  Boot,  das  er  in  einen 
Fluß  versenkt.  Hierauf  wird  der  Körper  des  Kranken  mit 
Wasser  gewaschen.^  Herrscht  in  einem  Dorfe  auf  den  Luang- 
und  Sermatainseln  eine  Epidemie,  so  werden  viele  Holzpuppen, 
nachdem  sie  zunächst  mit  dem  Kranken  in  Berührung  ge- 
bracht worden  sind,  in  ein  Boot  gelegt,  das  dann  auf  die  See 
hin  ausgetrieben  wird.  Dieser  Glaube,  daß  die  Dämonen  auf 
solche  hölzerne  Ersatzmänner  des  Kranken  übergehen,  herrscht 
auch  auf  den  Tanembar-  und  Timorlaoinseln,  in  Sumatra  und 
Siam.*    Bei  den  Kirgisen  wird    die  Krankheit  eines  Menschen 

1  M.  Bartels  Medizin  der  Naturvölker  1893,  195  f. 

*  Intern.  Arch.  f.  JEthn.  I  133.  Das  einem  Kinde  drohende  Unheil 
bannen  die  Dajaks  in  eine  männliche  Figur  aus  Backwerk,  die  dann  im 
Fluß  zerrieben  wird  (Globus  72,  272). 

^  H.  Ling  Roth  Natives  of  Sarawak  1896,  I  284. 

*  M.  Bartels  a.  a.  0.  255  f  Zwecks  Austreibung  des  Krankheitsdämons 
fertigt  der  Malaie  auch  aus  Teig  die  Figur  eines  Tieres  (z.  B.  eines 
Huhnes,  Büffels  oder  Fisches)  an,  das  ein  Stellvertreter  des  Kranken 
sein  soll  Diese  Figur  wird  in  eine  Opferschüssel  gelegt,  wo  brennende 
Kerzen  stehen  An  eine  dieser  brennenden  Kerzen  ist  eine  teilweise  ge- 
färbte Schnur  gebunden,  deren  anderes  Ende  der  Patient  in  der  Hand 
hält.  Nachdem  er  eine  Beschwörungsformel  hergesagt  hat,  die  mit  den 
Worten  beginnt:  'Ich  habe  eine  Stellvertretung  für  dich  gemacht',  wird 


Die  Sündentilgung  durch  Wasser  395 

ebenfalls  auf  eine  Puppe  übertragen,  die  auf  ein  Pferd  gelegt 
wird  Von  Hunden  aus  dem  Dorfe  gehetzt,  trägt  so  das  Pferd 
den  Krankbeitsdämon  weit  weg  ^  Auch  bei  den  Giljaken  heilt 
der  Schamane  einen  Kranken  dadurch,  daß  er  den  Dämon  in 
eine  Holzpuppe,  die  mit  Fisch,  Tabak  und  Wurzeln  gefüllt  ist, 
hineinzulocken  sucht.  Mit  einer  Trommel  macht  er  großen 
Lärm,  damit  der  Dämon  nicht  wieder  in  den  Kranken  zurück- 
kehre.^ Die  Eingeborenen  an  der  Südwestküste  Madagaskars 
machen  bei  einem  schweren  Krankheitsfall  eine  stellvertretende 
Holzfigur,  die  je  nach  dem  Geschlecht  des  Patienten  als  männ- 
lich oder  weiblich  geformt  wird.^  Auf  den  Shortlands-Inseln 
macht  sich  der  Krankenbeschwörer  eine  Puppe  von  dem  be- 
treffenden Kranken,  und  unter  gewissen  Beschwörungen  wird  die- 
selbe entweder  in  der  See  ersäuft  oder  verbrannt.^  Auch  bei  den 
Ureinwohnern  Australiens  wird,  wenn  jemand  schwer  krank  liegt, 
eine  Puppe  hergestellt,  die  in  wollene  Lappen  eingehüllt  ist.  Indem 
nun  diese  Puppe  an  die  Brust  des  Kranken  gedrückt  wird,  geht  die 
Krankheit  auf  dieselbe  über.^  Nach  dem  Tiroler  Aberglauben 
wird  ein  durch  eine  Hexe  verwünschtes  Kind  folgendermaßen 
von  der  Verwünschung  befreit:  man  macht  aus  Lumpen  eine 
stellvertretende  Puppe,  setzt  ihr  die  Haube  des  Kindes  auf, 
trägt  sie  zum  Bache  und  wirft  sie  mit  abgewandtem  Angesichte 
in  das  Wasser  mit  den  Worten:  ^Hexe,  da  hast  dein  Kind!'^ 

der  Dämon  veranlaßt,  mittels  der  Schnur  auf  die  Figur  überzugehen. 
Hierauf  löst  der  Medizinmann  drei  Schleifknoten  und  wirft  diese  auf- 
gelöste Schleife  aus  dem  Hause  heraus  (Skeat  und  Bladgen  Mdlay  Magic 
1900,  432f). 

^  R.  Karutz  Unter  Kirgisen  1911,  131. 

*  Ch.  H.  Hawes  In  the  uttermost  East  1903,  237. 
'  Karutz  Glohus  LXXX  30. 

*  C  Ribbe  Zwei  Jahre  unter  den  Kannibalen  der  Salomo -Inseln, 
Dresden  1903,  149 

^  J.  Dawson  Australian  Ahorigines  1881,  57  ff.  Will  in  Neu-Ireland 
ein  Totengeist  einen  Lebenden  holen,  so  wird  eine  menschliche  Figur  aus 
Kalk  gemacht,  damit  der  Tote  dieses  Bild  statt  des  Lebenden  heimsuche 
(W.  Powell  Wanderings  in  a  wild  country  1884,  197). 

*  Ztschr.  f.  deutsche  Mythol.  1853,  1  237. 


39g  I.  Scheftelowitz 

c)  Die  kathartische  Wirkung  des  Wassers 
Die  Sündentilgung  bei  den  primitiven  Völkern  ist  nichts 
anderes  als  ein  Exorzismus.  Infolge  des  Glaubens  an  eine 
wirkliebe  Dämoneneinwobnung  in  den  Sündern  ist  eine  ge- 
nügende Grundlage  für  die  Apopompe  der  Sünden  gegeben. 
Der  Sündenexorzismus  bat  desbalb  seine  Zeremonien  vollständig 
vom  Exorzismus  der  leiblicben  Besessenbeit  hergenommen,  weil 
in  beiden  Fällen  eine  wirkliebe  Dämonenbesessenbeit  gesehen 
worden  ist.  Am  wirksamsten  wird  aber  das  dem  Mensehen  an- 
haftende oder  drohende  Unheil  durch  Wasser  fortgespült.  Da 
die  Zeremonie  der  Sündentilgung  eine  rein  kathartische  Hand- 
lung ist,  die  vorhandenes  Unheil  fortschafft,  so  will  ich  hier 
vor  allen  Dingen  die  kathartische  Wirkung  des  Wassers  be- 
handeln. 

Der  alte  Inder  wünscht,  daß  die  Dämonen  in  den  Strom 
eingehen  sollen.^  TOe  Wasser  sind  sehr  heilvoll,  die  Wasser 
vertreiben  die  Krankheit',  heißt  es  im  Atharvaveda.^  Krank- 
heiten werden  dadurch  geheilt^  daß  Flußwasser  über  den  Patien- 
ten gegossen  wird,  wovon  er  gewöhnlich  auch  trinken  muß. 
Die  kranke  Stelle  eines  Mannes,  die  durch  Behexung  entstanden 
ist,  wird  von  dem  Brahmanen  mit  Weihwasser  besprengt.^  Zur 
Heilung  einer  beliebigen  Krankheit  begießt  man  den  Patienten 
mit  geweihtem  Wasser,  wischt  ihn  vom  Haupte  bis  zur  Sohle 
ab  und  läßt  ihn  auch  von  dem  Wasser,  womit  man  ihn  begießt, 
trinken.*  Die  kinderlose  Frau,  an  welcher  die  Zauberhandlung 
gegen  die  Unfruchtbarkeit  vorgenommen  werden  sollte,  mußte 
vorher  baden.^  In  Assyrien  suchte  man  den  Kranken  dadurch 
vom  Dämon  zu  befreien,  daß  man  ihn  wusch  uüd  über  ihn  Wasser 


1  Atharvaveda  lY  37,  3. 

«  III  7,  5;  VI  91,  3;  vgl.  auch  VI  24. 

»  Kaus.  S.  25,  34;  28,  1,  19;  29,  8,  30;  30,  13;  31,  6;  31,  21;  39,  28; 
vgl.  Caland  Altind.  Zauberritudl. 

*  Kaus.  S.  27,  34;  Caland  Altind.  Zauberritudl.  86.  Die  Krankheit  wird 
hier  ebenso  weggewischt  wie  die  Sünde  bei  den  Indern,  vgl.  p.  359  f, 

°  Oldenberg  Religion  des  Veda  423. 


Die  Sündentilgung  durch  Wasser  397 

sprengte.  So  heißt  es  in  einem  Beschwörungstext:  ^Dein  Zauber, 
deine  Hexerei,  deine  Vergiftung,  deine  bösen  Zerstörungen,  deine 
Kniffe  .  .  .  mögen  mit  dem  Wasser  meines  Körpers  und  mit 
dem  Reinigungswasser  meiner  Hände  abgerissen  werden.'^  Das 
Wasser  schwemmt  nach  antiker  Auffassung  den  bösen  Zauber 
weg.-  Glaubte  jemand  in  Griechenland,  daß  ein  Feind  ihm  eine 
böse  Gottheit  in  seine  Wohnung  hineingebannt  hätte,  so  nahm 
er  eine  Lustration  an  seinem  ganzen  Hause  vor.^  Besonders 
wurde  die  reinigende    Kraft  des  Meerwassers   als  kathartisches 


^  0.  Weber  Dämonenbeschwörung  bei  den  Babyloniern  und  Assyrern 
20;  P.  A.  Schollmeyer  Sumer-babylon.  Hymnen  1912,  38 f.;  Hommel  Gesch. 
Babyl.  u.  Assyr.  255;  A.  Jirku  Die  Dämonen  und  ihre  Abwehr  im  Alten 
■Test.  1912,  64  Dieses  benutzte  Wasser,  das  den  Krankheitsdämon  ent- 
hielt, wurde  dann  auf  die  Seite  der  Landstraße  ausgegossen  (Lenormant 
Die  Magie  u.  Wahrsagekunst  d.  Ghaldäer,  deutsche  Ausg.  72).  Nach  baby- 
lonischer Auffassung  ist  es  unheilvoll,  beim  Gehen  auf  der  Straße  auf 
solchem  weggeschütteten  Wasser  zu  schreiten;  'ihm  haften  natürlich  jetzt 
alle  schädlichen  dämonischen  und  krankhaften  Eigenschaften  an,  die  jedem, 
der  damit  in  Berührung  kommt,  unheilvoll  werden  können'  (C.  Frank 
Zischr.  f.  Assyr.  24,  157  f.).  Auch  im  jüdischen  Volksglauben  herrscht 
diese  Ansicht.  In  Talmud  Pesähim  lila  heißt  es,  daß  sich  derjenige  den  Tod 
zuzieht,  'der  über  weggeschüttetes  Wasser  schreitet,  auch  wenn  es  seine 
Frau  hinweggeschüttet  hat;  dieses  trifft  nur  zu,  wenn  man  das  hingeschüt- 
tete Wasser  nicht  mit  Erde  bestreut  hat  oder  zuvor  darauf  gespuckt  hat/ 
Der  im  4.  Jahrhundert  lebende  Abbaji  sagt,  man  solle  das  zur  Hände- 
ßäuberung  benutzte  Wasser  unmittelbar  auf  die  Erde  gießen,  damit  es 
schnell  in  der  Erde  einziehen  könne,  weil  sonst  sich  ein  Dämon  in 
solchem  Wasser  niederläßt  (Talmud  HuUin  106  b).  Nach  mittelalterlich- 
jüdischem Aberglauben  soll  man  das  Wasser,  womit  man  seine  Hände 
gewaschen  hat,  nicht  an  einem  Orte  ausgießen,  wo  Menschen  vorbeigehen, 
denn  Dämonen  sind  in  solchem  unreinen  Wasser  enthalten  und  können 
den  Leuten  Schaden  zufügen.  Man  soll  daher  solches  Wasser  unterirdisch 
ableiten  und  ja  darauf  achten,  daß  dieses  Wasser  sich  nicht  eine  Hexe 
aneignet,  da  sie  damit  einen  wirksam  behexen  kann  (Sebi  Hirs  Jerahmiel 
Sefer  Nahelat  Sebi  II  Amsterdam  5580  p.  5  a). 

^  Rieß  in  Pauly-Wissowa  B.-E.  I  44.  Auch  nach  den  aramäischen 
Zaubertexten  bannen  Wasser  und  Feuer  die  Dämonen  (J.  A.  Montgomery 
Aramaic  Incantation  texts  from  Nippur  1913,  235). 

'  Vgl.  Theophrast  Charactere  c.  XVI  und  die  Anmerk.  der  Ausgabe 
▼on  F.  Ast,  Lipsiae  1816,  149. 


398  ^'  Scheftelowitz 

Gegenmittel  verwendet.^    Der  Midras  berichtet,  daß  es  bei  den 
Heiden  üblicb  sei,  denjenigen  Menscben,  in  den  ein  böser  Geist 
gefahren    sei,   auszuräuchern  und    mit  Wasser  zu    besprengen, 
worauf  der  böse  Geist  die  Flucht  ergreife.^  Nach  Talmud  Sanhedrin 
67  b   verschwindet  der    einem   Dinge   anhaftende  Zauber,   wenn 
man  es  mit  Wasser  in  Berührung  bringt.     ^Jeder  Zauber,  den 
man  ins  Wasser  taucht,  verschwindet',  heißt  es  in  einem  jüdischen 
kulturhistorischen  Werke  aus   dem   12.  Jahrhundert.^     Dieselbe 
Anschauung  existiert  auch  bei  den  Zigeunern.^    Auch  nach  dem 
deutschen  Volksglauben  kann  man  Krankheiten  in  ein  fließendes 
Wasser  werfen  und  sie  so  wegschwemmen.^  Im  Mittelalter  herrschte 
der  Glaube,  daß  man  Dinge,   die  zu  Zauberzwecken  verwendet 
worden  waren,  erst  nachdem  man  sie  im  fließenden  Wasser  ge-. 
reinigt   hat,   zum  Guten   gebrauchen    kann.^     In  Irland  bricht 
das  Wasser,    das   am   Vorabend   des    1.  Mai    aus   einer  Quelle 
geschöpft    ist,  jeden    Zauber.'^      Palladius     berichtet    um    420, 
daß    Makarius    von    Alexandrien    einen    besessenen    Jüngling 
dadurch  geheilt  hätte,  daß  er  ihn  mit  heiligem  Öl  salbte  und  dann 
ihn  mit  geweihtem  Wasser  begoß.^    Auch  die  Bojken  (Ruthenen) 
vertreiben  die  Krankheit  durch  Weihwasser,  mit  welchem  sich 
der  Patient  den  Körper  wäscht  und   das   er  außerdem  trinkt^ 
Bei  den  Ewenegern  wird  der  Kranke  mit  geweihtem  Wasser 
gebadet.^®    In  Peru  geht  der  kranke  Indianer   an  den  Zusam- 
menfluß   zweier    Ströme,    wo    der  Medizinmann   seinen  Körper 


^  Vgl.  R.  Wünsch  Festschr.  der  Jährhundertfeier  d.  Univ.  Breslau 
1911,  16. 

^  Bamidbär  Bdbhä  P.  19;  Midr.  Jelamdenu  (Tanchumä)  P.  Huqqat, 
Pesiqtä  de  B.  Kahana  P.  4. 

'  Sefer  hasidim,  Sulzbach  5445  §  1144. 

*  Globus  51,  270. 

ß  A.  Wuttke  Deutscher  Volksaberghube^  S.  335  flP. 

•  G.  Grupp  Kulturgesch.  d.  Mittelalters^  1912,  40. 

^  Wood-Martin  a.  a.  0.  I  281.      Krankes   Vieh   wurde   in   Irland   in 
gewisse  Flüsse  getrieben,  die  als  heilbringend  galten  (Wood-Martin  1281  ff.). 
^  F.  Dölger  Exorzismus  im  altchristl.  Taufritual  85  f. 
»  Globus  79,  15.  ^<>  J.  Spieth  Beligion  der  Eweer  1911,  45. 


Die  Sündentilgung  durch  Wasser  399 

mit  Wasser  und  weißem  Maismehl  wäscht,  wodurch  er  bewirkt, 
daß  die  Krankheit  in  den  Strom  übergeht.^  Ehemals  gab  es 
in  Peru  ein  Fest,  an  welchem  eine  Schar  Krieger  durch  Waffen- 
geklirr alles  Übel  zu  vertreiben  glaubte,  indem  sie  dabei  schrie: 
^Verschwindet  alle  bösen  Geister!'  Hierauf  badete  sich  diese 
Schar  im  Flusse,  während  das  Volk  draußen  vor  den  Haus- 
türen ihre  Kleider  ausschüttelte.^  In  Polynesien  vermag  man 
sich  von  einem  bösen  Zauber  dadurch  zu  befreien,  daß  man 
rasch  in  einem  Strome  badet,  während  der  Priester  dabei 
allerlei  Gebete  hermurmelt.^ 

Der  Leichnam,  in  welchem  nach  der  Anschauung  der  meisten 
Völker  Dämonen  hausen*,  wird  mittels  Wassers  von  den  Leichen- 
dämonen befreit.  Daher  ist  der  Brauch,  die  Leiche  nach  er- 
folgtem Tode    zu    waschen,    sehr    weit  verbreitet.^     Aber  auch 

*  C.  R.  Markham  Narratives  of  the  Bites  of  the  Incas  1873,  64. 

*  Molina  Fahles  and  Bites  of  the  Incas  (Hakluyt-Society)  S.  22. 
^  Waitz-Gerland  Anthropologie  VI  362. 

*  Ygl.Aicesta  Vend^  V  27 f.;  VII  If.;  Sartori  Ztschr.  d.  Ver.  f.  Volksk. 
XVIII  353  f. ;  J.  G.  Frazer  On  certain  Burial customs  in  Journ.  ofthe  Änthrop. 
Inst.  XV  1886,  79 f. 

^  Vgl.  Sartori  a.  a  0.  354  ff.,  ferner  in  Asien  (Caland  Die  altind. 
Toten-  u.  Bestattungsgebräuche  1896,  14;  W.  Crooke  Natives  of  Nor- 
thern India  1907,  217;  J.  A.  Dubois  Hindu  Manners  and  Custotus, 
Oxford  1894,  490;  E.  Thurston  Ethnographie  Notes  in  Southern  India 
1906,  134;  J.  Anderson  Beport  on  the  Exped.  to  Western  Junan^ 
Calcutta  1871,  129;  J.  Shakespear  Lushei  Kuki  1912,  84;  S.  Endle 
Kachäris  1911,  46;  J.Butler  Travels  in  the  Province  ofÄssam  1855,  86 f.; 
W.W.  Hunter  Ännals  of  Bural  Bengal,  7.  Ed.,  London  1897,  209;  Ch. 
Lyall  MiUrs,  London  1908,  38;  Playfair  Garos,  London  1909, 106;  Feather- 
man  Soc.  Hist.  of  races  of  Mankind  IV  142;  E.  Young  Kingdom  of  the 
yelloiv  rohe  1900,246;  A.H.  Savage  Länder  Gems  of  the  East  1904,  II  45; 
Skeat-Bladgen  Malay  Magic  1900,  399 f.;  E.  H.  Gomes  Seventeen  Years 
among  the  Sea-Byaks,  London  1911,  134;  H.  Ling  Roth  Natives  of  Sa- 
rawak  1896,  I  138;  Elbert  Sunda  Expedition  1911,  1  270;  E.  Schuyler 
Turkistan  1876,  1 150;  F.  v.  Schwarz  Turkestan  1900,306;  W.  Sieroszewski 
Korea  113  f.;  Featherman  Soc.  Hist.  of  Baces  IV  532,  540;  S.  Curtiß  Ur- 
semitische Beligion  1903,  191),  in  Afrika  (W.  Hunzinger  Sitten  u.  Becht 
der  Bogos  1859, 39;  Glohus  76, 338  (Nubier);  Featherman  Soc.  Hist.  of  Baces 
ofMank.  I  (1885)  395,  471,  455,  V  321;  A.  Wernei  Natives  of  British  Central 


^QQ  I.  Scheftelowitz 

diejenigen,  die  sich  mit  der  Bestattung  des  Leiclinanis  befaßt 
haben  oder  in  die  Nähe  desselben  gekommen  sind,  sind  von 
Leichendämonen  besessen  und  bedürfen  der  Lustration.-^     Sehr 

Africa  1906, 157;  H.  Klose  Togo  1899,  272;  C.  Veiten  Sitten  u.  Gebräuche  der 
Suaheli  1903,  258;  A.  Seidel  Sitten  u.  Gebräuche  des  Bakwirivolkes  in  Ka- 
merun 1902,  13;  H.  Johnston  Georg  Grenfell  and  Congo  1908,11  643;  R.  E. 
Dennet  Notes  on  the  Folklore  of  the.Fjort  1898,  111;  R.  E.  Dennet  Ni- 
gerian  Studies  1910,  30;  A.  B.  EUis  Yoruba-spealcing  peoples  1894,  153; 
derselbe  Tshi-spealcing  peoples  1887,  237;  Sibree  Madagascar  270),  bei 
den  Indianern  Amerikas  (A.  Featherman  a.  a.  0.  III  375,  Anthropos  1911, 
707;  C.  Hill-Tout  British  North  America  I  1907,  199).  Auch  bei  den 
Juden  ist  es  seit  ältester  Zeit  Brauch,  den  Leichnam  zu  waschen  {Misna 
Sabbat  2S,  6;  Tahn.  Sabbat  152b);  ebenso  bei  den  Griechen  (E.  Rohde 
Psyche  I*  219;  Ilias  XXIV  777  ff.),  Römern  (Marquardt  Privatleben^  347), 
bei  den  alten  Germanen  {Quida  Brynhildar  I  34),  bei  den  Slaven  {Globus 
90,  140;  29,  125;  50,  139),  Wotiäken  {Globus  40,  248)  und  den  Chewsuren 
{Globus  76,  210).  In  Rumänien  besprengt  der  Pope  den  Leichnam  mit 
einem  Gemisch  von  öl  und  Wein  {Globus  69,  197).  Der  Neuseeländer 
wäscht  den  Leichnam  eines  Häuptlings  mit  öl  (J.  S.  Polack  Manners  and 
Customs  of  the  New  Zealanders  1840  I  65.) 

^  Auch  die  Hütte,  worin  ein  Leichnam  liegt,  und  Gegenstände,  die 
mit  ihm  in  Berührung  gebracht  sind,  gelten  als  'unrein',  als  gefährlich 
für  die  Menschen.  Dieses  ist  z.  B.  der  Fall  bei  den  Negern  Afrikas  (S. 
R.  Steinmetz  Bechtsverhältnisse  von  eingeborenen  Völkern  1903,  320, 
377;  Alberti  Kaffern  160;  C.  Gouldebury  und  Sheane  Northern  Bhodesia 
1911,  184),  den  Dajaken  {Globus  42,  44),  Singhalesen  {Globus  16,  237),  Grön- 
ländern (19,  23),  Tscheremissen  {Arch.  f.  Ethnogr.  X52),  Israeliten  (IV.  M. 
19,  15—18).  Daher  wird  die  Hütte  entweder  mit  Wasser  besprengt  (so 
z.  B.  bei  den  Dajaken  und  Israeliten)  oder  ausgeräuchert  (z.  B.  bei  den 
Negern  Rhodesias)  oder  um  einige  Meter  versetzt.  Zuweilen  wird  sie  ganz 
und  gar  verlassen  oder  verbrannt.  In  Großrußland  werden,  nachdem  die 
Leiche  aus  dem  Dorfe  herausgeschafft  ist,  die  Dielen  des  Sterbehauses, 
ferner  die  zum  Leichnam  benutzten  Lappen,  Besen,  das  Stroh,  auf  dem 
die  Leiche  gelegen  hatte,  der  Topf,  aus  welchem  man  ihn  gewaschen 
hatte,  der  Kamm,  mit  dem  man  ihn  gekämmt  hatte,  außerhalb  des 
Weichbildes  des  Dorfes  gebracht  und  am  Scheideweg  fortgeworfen  {Globus 
50,  141).  Bei  den  Annamiten  wird  das  Wasser,  das  zum  Waschen  der 
Leiche  benutzt  ist,  vergraben,  da  es  sonst  verhängnisvoll  wirkt  (Sartori 
Ztschr.  d.  Ver.f.  Volksk.XYlll  358).  InSchwedenmuß  es  sofort  ausgegossen 
werden,  denn  sonst  kehrt  der  Tote  wieder  {Globus  83,  45).  In  Mecklen- 
burg wird  es  so  ausgegossen,  daß  niemand  darüber  geht.  Wer  etwa 
darüber  schreitet,  dem  widerfährt  großes  Leid.  Derselbe  Brauch  herrscht 
auch  in  Böhmen  und  Schlesien  (Sartori  a   a.  0.  359).     Bei  den  Tschere- 


Die  Sündentilgung  durch  Wasser  401 

anschaulich  schildert  das  altiranische  Religionswerk  den  Exor- 
zismus einer  solchen  dämonischen  Besessenheit  mittels  Wassers: 
Personen,  die  einen  menschlichen  Leichnam  oder  einen  toten 
Hund  berührt  haben,  müssen,  nachdem  sie  sich  zunächst  einer 
Reinigungszeremonie  mit  Kuhurin  unterzogen  haben,  ihren 
Körper  waschen.  Durch  die  Besprengung  der  einzelnen  Glieder 
mit  Wasser  werden  die  in  ihm  hausenden  Leichendämonen 
{Nasus)  aus  dem  Körper  allmählich  herausgedrängt,  bis  sie 
zuletzt  aus  den  Zehen  des  linken  Fußes,  wenn  diese  am  Schlüsse 
mit  Wasser  benetzt  werden,  hinausschlüpfen.^  Auf  allen  Erd- 
teilen läßt  sich  der  Brauch  nachweisen,  daß  die  Teilnehmer 
einer  Bestattung  wegen  ihrer  dämonischen  Verunreinigung  sich 
mit  Wasser  reinigen.^ 

Die  Berührung  mit  einem  Toten  verunreinigte  bei  den  Baby- 
loniern.  Neben  Wasser  wirkte  Wein,  Honig,  Butter,  Salz  rei- 
nigend.^   Der  heidnische  Araber,  der  in  die  Nähe  eines  Leich- 

missen   müssen   die   durch   die  Leiche   verunreinigten  Gegenstände   drei 

Tage  lang  im  Freien  liegen  {Arch.  f.  Ethn.  X  52).     Gemäß  dem  A.  T. 

sind  die  offenen  Gefäße  in  der  Sterbehütte  unrein  und  müssen  mit  dem 

'Entsündigungswasser'    besprengt  werden  (IV  M.  19,  15  ff.).      Auch   das 

Wasser  im  Sterbehause  gilt  als  unrein  und  wird  daher  gleich  ausgegossen. 

Diese  Sitte  herrscht  bei  den  Eingeborenen  von  Loango  (E.  Pechuel-Loesche 

Volkskunde  v.  Loango  1907,  307),  in  manchen  Gegenden  Frankreichs,  in 

Deutschland  (Sartori  Ztschr.  d.  Ver.  /*.  Volksk.  XVIII  363 ;  Wuttke  Deutscher 

Volksabergl.^  459).    Seit  dem  Anfang  des  13.  Jahrhunderts  kommt  diese 

I  Sitte    auch  bei    den   Juden   vor  (Sefer  Hasidim  ed.   Wistinetzki   1891, 

'Nr.  562;  Jösef  Karo  Sulhan  'Aruk  II:  Jöre  deä  §  439  nebst  Komm.  Tur 

zähab\  Abraham  Lewysohn  Sefer  Meqöre  Minhägim^  Berlin  1846,   125. 

1  Globus  80,  159;  91,  360;  L.  Herzfeld  Predigten^,  Leipzig  1863,  175).  Nach 

\  dem  jüdischen  Volksglauben  hat  nämlich  der  Todesengel  in  dem  Wasser 

jsein  Schwert    abgewaschen.     Über    diesen  Brauch  vgl.  auch  Frazer  in 

Journ.  of  the  Änthrop.  Inst.  XV  89  f. 

1  Vend.  VIII  35-72;  vgl.  Scheftelowitz  ZBMG  LVII  150  ff. 
*  Vgl.  Sartori  Ztschr.  d.  Ver.  f.  Volksk.  XVIII  369  f.     Bereits  Wilken 
Vher  das  Haaropfer  (Revue  Coloniale  Internationale  1886)  und  S.  R.  Stein- 
imetz  Entwicklung  der  Strafe  I  178   nehmen   an,  daß  das  Waschen  eine 
.mechanische  Befreiung  von  den  bösen  Geistern  sei. 

^  A.  Jeremias  Bas  Alte  Test,  im  Lichte  d.  alt.  Orients^  1906,  432 
and  431. 

Archiv  f.  Eeligionswissenschaft   XVII  26 


402  ^-  Scheftelowitz 

nams  kam,  mußte  sich  baden  und  seine  Kleider  waschen.^ 
War  im  alten  Grieclienland  ein  Leichnam  in  einem  Hause,  so 
wurde  an  die  Tür  des  Gemaches  zur  Reinigung  der  durch  die 
Annäherung  an  den  Leichnam  Befleckten,  wenn  sie  das  Haus 
wieder  verlassen,  ein  Wassergefäß  voll  reinen,  aus  fremdem 
Hause  entlehnten  Wassers  gestellt.-  Die  Teilnehmer  an  der 
Leichenbestattung  des  Misenus  wurden  dadurch  gereinigt,  daß 
ein  Genosse  dreimal  Wasser  um  sie  herumträgt  und  sie  damit 
besprengt.^  Die  Römer,  die  an  einer  Leichenbestattung  teil- 
genommen hatten,  schritten  über  ein  Feuer  und  besprengten 
sich  mit  Wasser.^  Wenn  die  Russen  vom  Begräbnisplatz  zurück- 
kehren, waschen  sie,  bevor  sie  ihr  Haus  betreten,  die  Hände 
und  nehmen  dann  mit  einer  Feuerzange  eine  glühende  Kohle,  die 
sie  hinter  sich  werfen.^  Bei  allen  indischen  Völkern  ist  es  Brauch, 
daß  sich  die  Teilnehmer  eines  Begräbnisses  durch  Wasser  rei- 
nigen, indem  sie  gewöhnlich  ein  Vollbad  in  fließendem  Wasser 
nehmen  oder  sich  wenigstens  die  Hände  waschen.^  Bei  den 
Kakhyens  (Indien)  müssen  die  Verwandten  eines  Toten  nach 
dem  Begräbnis,  bevor  sie  das  Haus,  in  welchem  der  Todesfall 
vorkam,  betreten,  mit  Wasser  besprengt  werden  und  über  ein 
Bündel  Gras  treten,  das  zuvor  mit  dem  Blute  eines  dem  Toten 


^  D.  Nielsen  Die  altardb.  Mondreligion  1904,  206  f.  Ein  ähnlicher 
Brauch  herrscht  bei  den  Mandäern,  Herzogs  Beal-EnzyJcl.  f.  Prot  Theol. 
XII  175.  2  E.  Rohde  Psyche  I  219. 

^  Vgl.  L.  Deubner  in  diesem  Archiv  XVI  128 

*  Vgl.  Paulus  Festi  2 :  Funus  prosecuti  redeuntes  ignem  supergradie- 
hantur,  aqua  asper si;  quod  purgationis  genus  vocabant  sufßtionem 

^  Globus  29,  123. 

^  Caland  Bie  altind.  Toten-  u.  Bestattungsgebr.  1896,  73,  76;  Thurston 
Ethnograph.  Notes  in  Southern  India  1906,  185;  W.  Crooke  Natives  of 
Northern  India  1907,  219;  W.  H.  R.  Rivers  Todas  1906,  403;  W.  S.  und 
K.  Routledge  Äkikuyu  1910,  169;  A.  Featherman  Soc.  Eist.  1891,  IV  67, 
100,  142;  II  66.  Der  Jainist,  der  an  einem  Begräbnis  teilgenommen  hat, 
reibt  seine  Hände  nach  dem  Begräbnis  mit  Erde  und  Wasser  ab,  um 
'die  Unreinheit  des  Todes'  zu  entfernen  (Crooke  Pop.  Rel.  of  North 
India^  I  29).  Die  Mohammedaner  (Crooke  a.  a.  0.  29)  und  Juden  pflegen, 
wenn  sie  kein  Wasser  haben,  Erde  zur  Reinigung  der  Hände  zu  nehmen. 


I 


Die  Sündentilgung  durch  Wasser  403 

geopferten  Huhnes  beträufelt  ist.^  Die  Tibetaner  waschen  sich 
nach  der  Leichenbestattung  den  Kopf,  nachdem  sie  die  Haare 
abgeschoren  haben. ^  Im  shintoistischen  Japan  müssen  sich  die 
vom  Begräbnis  Zurückkehrenden  die  Hände  waschen,  sich  den 
Mund  ausspülen,  und  es  wird  Salz  über  sie  geworfen.^  Die  Ver- 
wandten, die  mit  der  Leiche  in  Berührung  gekommen  sind, 
dürfen  während  der  hunderttägigen  Trauerzeit  keinen  Tempel 
besuchen.  Wer  ein  Totenhaus  betritt,  ist  drei  Tage  lang  un- 
rein. Hat  man  die  Leiche  aus  dem  Trauerhause  herausgeschafft, 
so  wird  im  Innern  des  Hauses  und  vor  der  Haustüre  Salz  ge- 
streut; außerdem  wird  vor  der  Haustür  ein  Feuer  angezündet;.* 
Auch  nach  dem  Glauben  der  Tscheremissen  sind  Menschen  und 
Gegenstände  durch  eine  Leiche  verunreinigt.  Daher  waschen 
sich  die  Leidtragenden  nach  einem  Begräbnis  und  wechseln 
ihre  Kleider,  während  die  verunreinigten  Gegenstände  drei  Tage 
lang  im  Freien  liegen  müssen.^  Die  Wotiäken  reiben  sich 
außerdem  noch  die  Hände  mit  Asche  ab.^  Bei  den  Chewsuren 
müssen  diejeuigen,  die  die  Leiche  gewaschen  haben,  sechs  Tage 
lang  ein  Bad  nehmen.  Während  dieser  Zeit  betreten  sie  nicht 
ihr  Haus.'^ 

In  Afrika  nehmen  die  Neger,  die  einen  Toten  berührt  oder 
an  einem  Begräbnis  teilgenommen  haben,  ein  Bad  im  fließen- 
den Wasser,  um  sich  von  den  Leichendämonen  und  vom  Toten- 
geist  zu  befreien.'*     Bei  den  Schanaka  auf  Madagaskar  werden 

^  J.  Anderson  Report  an  the  Exped.  to  Western  Yiinan,  Calcutta 
1871,  130.  Die  dajakische  Witwe  nimmt  nach  Beendigung  der  Trauer- 
zeit ein  Bad  {Globus  42,  45). 

2  Ch.  A.  Sherring  Western  Tibet  1906,  131. 

*  Chantepie    de  la  Saussaye  Lehrb.  d.  Beligionsgesch.  1905,  P  165  f. 

^  E.  Schiller  Shinto  1911,  66  f.  ">  Int.  Ärch  f.  Ethn.  X  52. 

°  A.  Featherman  Soc.  Hist.  IV  532  ;  M.  Buch  Globus  40,  249. 

^  Globus  76,  210. 

^  Featherman  a  a.  0.  I  156;  ß.  H.  Nassau  Fetichism  in  West  Africa 
1904,  219;  Globus  81,  190;  H.Klose  Togo  1899,  274;  J.  Shooter  Kafirs 
of  Natal  1857,  240;  J.  Spieth  Beligion  der  Eweer  1911,  187;  A.  Werner 
Natives  of  British  Central  Africa  1906,  157,  162;  A.  B.  Ellis  Tshi-speaJc- 
ing    Peoples    1887,    241;     Derselbe    Ewe-speaking    Peoples    1890,    160; 


404  ^-  Scheftelowitz 

nach  einer  Beerdigung  sowohl  die  Wände  des  Sterbehauses  als  auch 
die  zu  diesem  Zwecke  versammelten  Angehörigen  des  Verstorbenen 
mit  eigens  hierfür  präpariertem  Wasser  besprengt.^ 

Auch  die  Indianer  Amerikas  sind  durch  die  Berührung  mit 
einem  Toten  oder  nach  einem  Leichenbegängnis  unrein  und 
müssen  sich  durch  Wasser  reinigen^  um  so  den  Totengeist  von 
sich  abzuschütteln.^  Bei  den  Hupaindianern  müssen  diejenigen, 
die  sich  an  der  Leichenbestattung  beteiligt  haben,  ein  Schwitz- 
bad nehmen,  wobei  ein  Priester  eine  Reinigungsformel  rezitiert.^ 

Ebenso  sind  in  Ozeanien  Waschungen  nach  einem  Begräb- 
nis üblich.*  In  Samoa  sind  diejenigen,  die  eine  Leiche  berührt 
haben,  unrein  und  dürfen  daher  keine  Speisen  anrühren,  son- 
dern gleich  kleinen  Kindern  steckt  man  ihnen  die  Speisen  in 
den  Mund.  Erst  am  fünften  Tage  nach  der  Bestattung  unter- 
ziehen sie  sich  der  Reinigungszeremonie,  indem  sie  sich  in 
heißem  Wasser  baden. ^ 

Dieser  in  der  ganzen  Welt  weitverbreitete  Brauch  hat  sich 

S.  R.  Steinmetz  Eechtsverhältnisse  von  eingeborenen  Völkern  1903,  234; 
Gouldsbury  und  Sheane  Northern  Bhodesia  191],  183.  Die  Ewe-Witwe 
badet  sich  erst  am  Ende  einer  sechsmonatlichen  Trauerzeit,  schneidet 
sich  Haar  und  Fingernägel  ab  und  zieht  sich  neue  Gewänder  an,  während 
sie  die  alten  Kleider  samt  den  Haaren  und  Nägeln  verbrennt  (EUis 
Ewe-speahing  Peoples  160). 

^  Goldziher  in  diesem  Archiv  XIII  41. 

2  E.  B.  Tylor  Primitive  Culture^  11  433;  C.  Hill-Tout  British  North 
America  I  1907,  202  f.  Über  die  Grönländer  vgl.  K.  Rasmussen  People 
of  the  Polar  North  ed.  Herring,  London  1908,  143.  Nach  dem  Tode  ihres 
Gatten  müssen  die  Witwen  einige  Zeit  isoliert  leben  und  dann  ein  Bad 
nehmen  (Bancroft  Native  Baces  I  289  Anm.  194). 

^  Goddard  Life  and  Culture  of  the  Hupa,  Berkeley  1903,  71. 

*  Klemm  Ällgem.  Kulturgesch.  lY  325;  Steinmetz  Ethnol.  Stud.  zur 
ersten  Entwicklung  der  Strafe  I  217;  Waitz-Gerland  AnthropologieY  14:09; 
Globus  64,  361;  Wollaston  Pygmies  and  Papuans  1912,  138.  Auf  Neu- 
seeland gelten  diejenigen,  die  mit  einem  Toten  in  Berührung  gekommen 
sind,  für  'tapu',  sie  dürfen  in  diesem  Zustande  keinen  Menschen  und  keine 
Nahrung  anrühren,  sondern  man  steckt  ihnen  die  Nahrung  in  den  Mund 
(Polack  Manners  and  Customs  of  the  New  Zedlanders  1840  I  65). 

^  S.  Turner  Samoa  1884,  145;  Derselbe  Nineteen  years  in  Polynesia 
1861,  228. 


Die  Sündentilgung  durch  Wasser  405 

auch  im  Alten  Testament  erhalten.  Der  durch  einen  Toten  Ver- 
unreinigte wurde  mit  Wasser,  worin  sich  Asche  einer  roten  Kuh 
befand,  besprengt,  und  außerdem  mußte  er  am  siebenten  Tage 
nacb  seiner  Verunreinigung  ein  Vollbad  in  fließendem  Wasser 
nehmen.  Erst  dann  durfte  er  das  Heiligtum  wieder  betreten.^ 
Bei  den  Juden  herrscht  die  alte  Sitte,  daß  man,  wenn  man 
eine  Leiche  berührt  hat  oder  den  Friedhof  verläßt,  sich  außer- 
halb des  Trauerhauses  und  des  Friedhofes  die  Hände  wäscht, 
um  die  bösen  Geister,  die  einem  folgen,  zu  verscheuchen. 
Außerdem  war  es  Brauch,  sich,  bevor  man  ein  Wohnhaus  be- 
trat, unterwegs  dreimal  oder  siebenmal  niederzusetzen,  weil 
bei  jedesmaligem  Sichsetzen  die  Geister  fliehen.^ 

Da  die  heidnischen  Völker  glaubten,  daß  das  neugeborene 
Kind,  die  Wöchnerin  und  das  weibliche  Geschlecht  während 
der  Menstruation  mit  Dämonen  behaftet  sind,  so  mußten  sie 
sich  einer  kathartischen  Zeremonie  unterziehen^,  zu  der  ge- 
wöhnlich Wasser  genommen  worden  ist. 

1  IV  M.  19,  17;  19,  ,13 

^  R.  Moses  Isseries  zu  Sulhän  "Äruk^  Jore  de'a  §  376,  4.  Der  Gaon 
Sar  Sälöm  Bar  Böäs,  der  um  850  lebte,  sagt  in  seinem  Werke  Sa'are 
sedeq  III  4,  19.  20:  'Wenn  die  Weisen  gesagt  haben:  Man  setze  sich  bei 
der  Rückkehr  von  einem  Leichnam  siebenmal  hin,  so  war  es  nur  für 
den  Fall  gemeint,  daß  man  sich  nach  dem  Friedhof  begeben  hat  und 
von  dort  zurückkehrt  und  nur  für  Verwandte,  auch  nur  für  den  ersten 
Tag  und  vor  allem  nur  für  diejenigen  Orte,  wo  sich  der  Brauch  einge- 
bürgert hat.  Das  siebenfache  Wiederholen  des  Sichsetzens  geschah  mit 
Rücksicht  auf  die  bösen  Geister,  die  den  Heimkehrenden  begleiten  und 
von  denen  jedesmal,  wenn  man  sich  hinsetzte,  je  einer  verschwinden 
sollte.' 

'  Über  das  neugeborene  Kind  habe  ich  bereits  oben  S.  368  gehandelt. 
Der  Glaube  an  die  Unreinheit  der  Wöchnerin  ist  auf  allen  Erdteilen 
vorherrschend.  Dieselbe  wird  vor  allem  durch  Wasser  beseitigt;  vgl. 
H.  Floß  Das  Weib''  II  403 f.,  408 f.;  E.B.Tylor  Primitive  Culture*  II  432 f.; 
Th.  Wächter  a.  a.  0.  38  f.  Ferner  ist  ein  Reinigungsbad  im  fließenden  Wasser 
vorgeschrieben  bei  den  Garos  in  Assam  (Playfair  Garos,  London  1911 ,  99) ;  in 
Oberburma  (H.  J. Wehrli  Beitr.  z.  Ethnol.  d.  Chingpmv  von  Oberburma,  Leiden 
1904,  60),  bei  den  Malaien  (Skeat  und  Bladgen  MaJay  Magic  1900,  334),  auf 
den  Sundainseln  teils  gleich  nach  der  Niederkunft  {Olobus  44,  349),  teils 
am  neunten  Tage  nach  der  Geburt  (Elbert  Sundaexped.  1911,  110),  in 


406 


I.  Scheftelowitz 


d)   Die   apotropäische  Wirkung  des  Wassers 

Durch  Wasser  wird  auch  von  außen  her  drohendes  Unheil 
beseitigt.  In  Babylonien  hat  man  Unglück  und  böse  Omina 
durch  Wasser  abgewendet.  Eine  Beschwörung  lautet:  Mch  habe 
meine  Hände  gewaschen,  den  Körper  gereinigt  mit  hellem 
Quellwasser,  welches  in  Eridu  vorhanden  ist  Alles  Böse,  alles 
Nichtgute,  das  in  meinem  Körper  ist,  in  meinem  Fleische,  in 
meinen  Gliedern  ist,  böse  Träume,  Zeichen  und  unheilvolle 
Omina'  mögen  durch  die  Lustration  schwinden.^  Der  Inder,  der 
seine  Lebenskraft  zu  erhöhen  wünscht,  begießt  sich  mit  Wasser, 
das  unter  Hersagung  von  fünf  bestimmten  Atharvavedaliedern  ge- 
weiht  worden   ist.     Wer  Wohlfahrt  erlangen   will,   gießt   sich 

Samoa  (J.  B.  Stair  Old  Samoa  1897, 177),  bei  den  Grönländern  (K.  Rasmussen 
People  ofthe  Polar  North  ed.  Herring,  London  1908,  120),  den  Musquakie- 
indianern  (M.  A.  Owen  Folk-lore  ofthe  Musquakie  Indians,  London  1904, 
65).  Bevor  die  Wöchnerin  bei  den  Tlinkit-Indianern  die  isolierte  Geburts- 
hütte verläßt,  wäscht  sie  sich  und  ihr  Kind  und  zieht  sich  neue  Kleider 
an  (A.  Krause  Tlinkit- Indianer  1885,  215).  Bei  den  Zapoteku  (Mexiko) 
werden  Wöchnerin  und  Kind  im  Fluß  gewaschen  (Globus  27,  318).  Mit 
Wasser  besprengt  oder  gewaschen  wird  die  Wöchnerin  bei  den  Kachäris 
in  Indien  sechs  Wochen  nach  der  Geburt.  Diese  Reinigungszeremonie 
heißt  mntilya  (G.  Endle  Kachäris,  London  1911,  42).  Bei  den  Hindu  in 
Indien  wird  sie  gleich  nach  der  Geburt  mit  Weihwasser  besprengt,  um 
die  Dämonen  zu  bannen  (J.  A.  Dubois  Hindu  manners  etc.  1899,  157), 
und  zwei  oder  drei  Tage  darauf  nimmt  sie  ein  Bad  (Crooke  Pop.  Bei. 
of  North.  India^  126,  ders.  Natives  of  North.  India  196  f.)  In  Sumatra 
wird  die  Gebärende  dreimal  mit  besonders  bereitetem  Wasser  besprengt 
und  ihr  dreimal  ein  Schluck  davon  gegeben  {Globus  84,  232).  Bei  den 
Ovaherero  in  Afrika  wird  die  Wöchnerin  nach  einem  Monat  mit  Wasser 
besprengt  (S.  R.  Steinmetz  Rechtsverhältnisse  von  eingeborenen  Völkern 
1903,  308;  Globus  38,  364).  Bei  den  Ondonganegern  badet  sie  sich  nach 
14  Tagen  außerhalb  des  Dorfes  in  einer  mit  Wasser  gefüllten  Grube.  In 
demselben  Wasser  werden  auch  bei  allerlei  Krankheiten  Kuren  vorgenom- 
men (Steinmetz  a.  a.  0.  334).  Reinigungszeremonien  mittels  Wassers  finden 
ferner  statt  in  Britisch  Nigeria  (A.  F.  Mockler-Ferryman  British  Nigeria 
231),  auf  Neu-Caledonien  (Featherman  Soc.  Hist  of  Baces  of  Mankind 
1887,  II  87).  Über  die  Reinigungszeremonie  einer  Menstruierenden  vgl. 
Floß  Das  Weib'  I  426 ff. 

^  M.  Jastrow  Beligion  d.  Babylon,  u.  Assyr.  I  320. 


Die  Süadentilgung  durch  Wasser  407 

Regenwasser  aufs  Haupte  Der  Nordinder,  der  gegen  die  An- 
griffe eines  Tigers  gefeit  sein  und  selbst  dessen  Höhle  ohne 
Gefahr  betreten  will,  badet  sich  siebenmal  an  sieben  Dienstagen.^ 
Im  alten  Indien  und  in  Malabar  hält  man  es  für  ein  unglück- 
liches Zeichen,  wenn  eine  Krähe  auf  eine  Person  oder  deren 
Kleider  ihre  Exkremente  fallen  läßt.  Dem  bevorstehenden  Unheil 
kann  man  nur  dadurch  entgehen,  daß  man  entweder  den  Kot  mit 
Wasser  abwäscht,  das  mit  dem  Atharvavedaliede  VII  64  geweiht 
ist,  oder  daß  man  mit  seinen  Kleidern  angetan  ein  Bad  nimmt.'* 
Theophrast  (Charaktere  XVI)  bespöttelt  den  Abergläubischen,  der 
sich  zum  Schutze  gegen  Dämonen  die  Hände  reinwäscht,  mit 
Weihwasser  besprengt  und  ein  Lorbeerblatt  in  den  Mund  nimmt. 
*Er  ist  wohl  auch  unter  denen,  die  sich  sorgfältig  mit  Meerwasser 
besprengen.'^  Im  arabischen  Volksglauben  wird  das  Besprengen 
mit  Wasser  als  Zaubermittel  gegen  dämonische  Einflüsse  an- 
gewandt.^ Begibt  sich  jemand  in  Anatolien  auf  Reisen  und  will 
man,  daß  er  gesund  zurückkehren  soll,  so  gießt  man  hinter 
dem  Wagen,  auf  dem  er  wegfährt,  einen  Krug  Wasser  aus.® 
Geweihtes  Wasser  hält  bei  den  Ruthenen  alles  Böse  fern.  Wer 
davon  trinkt  und  sich  damit  wäscht,  wird  von  dem  Teufel  be- 
freit. Um  vom  Hause  während  des  Jahres  das  Böse  fernzuhalten, 
wird  bei  den  Bojken  (Ruthenen)  am  Vortage  der  heiligen  drei 
Könige  bei  der  Vesper  Wasser  geweiht,  mit  dem  man  das  Haus, 
den  Hof  und  alle  Wirtschaftsgebäude  besprengt.  In  manchen 
Gegenden  pflegen  Männer  und  Frauen  mit  ihren  Kleidern  in 
solches   geweihtes  Wasser  zu   springen,    um    hierdurch    gegen 

^  Kaus.  S.  13,  10;  24,  41. 

^  Crooke  Natives  of  Northern  India  256. 

s  Kaus.  S.  46,  47;  vgl.  Caland  AUind.  Zauberrü.  155;  E.  Thurston 
Ethnographie  Notes  1906,  277.  Im  alten  Indien  werden  böse  Omina,  die 
einem  durcli  Unglücksvögel  verkündet  werden,  auch  durch  Feuer  abgewen- 
det {Ätharvaveda  VII  64,  2). 

^  Auch  böse  Träume  verlangen  in  Griechenland  und  Indien  Lustration, 
vgl.  Theophrasts  Charaktere^  Leipzig  1897,  129  zu  XVI  11;  J.  v.  Negelein 
Traumschlüssel  des  Jagaddeva  (RGW  XI 4)  S.  35;  vgl.  auch  oben  S.  376. 

^  I.  Goldziher  in  diesem  Archiv  XIII  38.  ^  Globus  91,  116. 


408  ^-  Scheftelowitz 

das  Böse  gefeit  zu  sein.^  Die  ganze  serbisclie  Dorfjugend  badet 
sicli  am  Georgitage  vor  Sonnenaufgang  im  Flusse,  oder  wenn  das 
Dorf  keinen  Fluß  hat,  so  gebt  jeder  in  seinen  Garten,  wo  er  sich 
wäscht,  um  das  ganze  Jahr  hindurch  gesund  zu  bleiben.^  Wer  sich 
nach  dem  deutschen  Volksglauben  am  Ostertage  in  fließendem 
Wasser  badet,  bleibt  das  ganze  Jahr  hindurch  von  aller  Krankheit 
frei.  In  Ostpreußen  wurden  deshalb  die  Pferde  in  der  Osternacht 
geschwemmt.  In  Bayern,  im  Erzgebirge,  in  Böhmen  und  Baden  ist 
man,  wenn  man  am  Karfreitage  im  Flusse  vor  Sonnenaufgang 
ein  Bad  nimmt,  vor  Krankheit  geschützt.  In  der  Niederlausitz 
gilt  das  Wasser  als  heilbringend.  Darum  wurde  der  Hirt,  der  die 
Herde  vom  ersten  Austreiben  heimbrachte,  und  derjenige,  der 
im  Frühjahr  von  der  ersten  Ackerarbeit  heimkehrte,  mit  Wasser 
begossen.  Darum  wird  auch  das  Vieh,  das  gekauft  ist,  bevor 
es  in  den  Stall  kommt,  mit  Wasser  besprengt,  um  es  gesund 
zu  erhalten.  In  Süddeutschland  wird  noch  heute  alles  Böse 
vom  Hause  dadurch  beseitigt,  daß  Haus  und  Stallung  mit 
Weihwasser  besprengt  werden.^  Der  Indianer  in  Mexiko  be- 
sprengt alle  und  auch  das  Vieh  mit  einem  in  Wasser  getauchten 
Schilfrohr.  Von  dieser  Zeremonie  erwartet  er  viel  Segen:  'Daß 
wir  darin  das  Leben  haben',  heißt  es  in  dem  Gebet,  das  bei 
dieser  Besprengung  geflüstert  wird.  In  einem  Gebet  an  eine 
Gottheit  heißt  es:  'Es  möge  kein  Übel  da  sein,  wirf  es  hinter 
dich  in  den  Wind  .  .  .  Sprenge  dorthin  dein  Lebenswasser 
und  gib  dort  Leben  den  Göttern  des  Westens.'* 

Der  weitverbreitete  Brauch,  hinter  der  Leiche,  unmittelbar 
nachdem  sie  aus  dem  Hause  getragen  ist,  Wasser  auszugießen^, 

1  Gloius  73,  244;  79,  150  f.  ^  qiqJ^us  30,  94. 

8  A.Wnttke  Deutscher  VoJJcsahergl.^  72  und  74,  Globus  12,  S62;  Ztschr. 
d.Ver.f.VolksJc.  1913,  285.  Über  Anwendung  von  Wasser  als  Apotropäum 
vgl.  auch  L.  Seligmann  Der  böse  Blick  II  235  ff. 

*  K.  Th.  Preuß  Die  Nayarit- Expedition  1  1912,  9,  vgl.  auch  46;  245. 

'^  So  im  alten  Griechenland  (E.  Samter  Geburt,  Hochzeit  und  Tod 
1911,  88),  im  heutigen  Griechenland,  bei  den  Dajaken  auf  Borneo,  bei 
den  Arabern  (Sartori  Ztschr.  d.  Ver.  f.  VolJcsJc.  XVIII  365,  Goldziher  in 
diesem  Archiv  XIII  40  f.),  den  Syrern  (S.J.  Curtiß  Ursemit.  Beligion  IdO^, 


Die  Sündentilgung  durch  Wasser  409 

beruht  auf  der  Vorstellung,  daß  der  Totengeist  und  die  Leichen- 
dämonen hierdurch  verscheucht  werden  sollen.  Bei  den  Arabern 
werden  selbst  die  später  nach  einem  Leichenzuge  vorbeiwan- 
dernden Leute  mit  Wasser  besprengt^  da  sich  auf  diesem 
Pfade,  wo  vorher  eine  Leiche  weggeführt  ist,  Dämonen  auf- 
halten.^ Der  Römer,  der  die  nächtlich  wandelnden  Toteii- 
geister  verscheuchen  will,  nimmt  schwärzliche  Bohnen,  wirft 
sie,  ohne  sich  umzusehen,  nach  hinten  mit  den  Worten:  ^Ja 
die    Meinigen    und    mich    sühne    ich    mit    diesem    Geschenk.' 

231  Anm.  2),  in  Deutschland,  wo  außerdem  noch  das  Gefäß  zerschlagen 
wird,  damit  durch  dieses  Geklirr  die  apotropäische  Wirkung  erhöht 
werde  (vgl.  Sartori  Ztschr.  d.  Ver.  f.  VolksJc.  XVIII  364;  derselbe  Sitte 
und  Brauch  1  144;  JBavaria  II  1,  323;  Ztschr,  d.  Ver.  f.  rhein.  u.  westf. 
Volksk.  1905,  197;  A.  Wuttke  Deutscher  Volksabergl.^  465).  Bereits  der 
im  11.  Jhdt.  lebende  Bischof  Burchard  von  Worms  erwähnt  diesen 
Brauch,  Wasser  hinter  der  Leiche,  die  aus  dem  Hause  geschafft  wird, 
auszugießen:  Fecisti  illas  vanitates  aut  consensisti,  quas  stultae  mulieres 
facere  solent,  dum  cadaver  mortui  hominis  adhuc  in  domo  iacet,  currunt 
ad  aquam  et  adducunt  tacite  vas  cum  aqua  et  cum  sublevatur  corpus 
mortui,  eandem  aquam  fundunt  subtus  feretrum  (Burchard  aus  Worms, 
Colonia  1548  p.  195).  Ferner  vgl.  Hans  Vintler  Blumen  der  Tugend  ed. 
Zingerle,  Vers  7830 f.:  'So  tragen  etlich  leute  aus  das  wasser  alles  aus 
dem  haus,  wenn  man  einen  toten  trait  für  das  haus,  als  man  sait.'  In  Ar- 
menien wird  ein  Wassertopf,  sobald  der  Tote  hinausgetragen  ist,  außer- 
halb des  Hauses  zertrümmert  mit  den  Worten:  'Geh'  und  komm'  nicht 
zurück'  (Sartori  Ztschr.  d.  Ver.  f.  Volksk.  XIII  365).  Gegen  diesen  Brauch 
scheint  sich  der  Talmud  zu  wenden:  'Wenn  jemand  Wasser  auf  die  Straße 
gießt  mit  dem  Rufe:  'Weg  (ihr  Dämonen}',  so  ist  dieses  ein  heidnischer 
Brauch.  Ruft  er  aber  wegen  der  Vorübergehenden,  so  ist  es  erlaubt' 
{Toseftä  Sabbat  Yll  §  11).  Die  Litauer  halten  nach  einem  Sterbefalle  voni 
Tage  des  Todes  bis  zum  Begräbnis  Totenwache,  wobei  man  die  Leiche 
oft  mit  kaltem  Wasser  begießt,  um  die  Leichendämonen  zu  verscheuchen 
{Globus  22,  239).  In  Zentral australien  beschmieren  sich  bei  einem  Todes- 
falle die  nächsten  Verwandten  mit  Ocker  und  Fett,  um  hierdurch  vor  dem 
Totengeist  geschützt  zu  sein  {Globus  97,  57).  • 

^  Goldziher  in  diesem  Archiv  XIII  41. 

»  Vgl.  Awesta,  Vend.VlIl  14-22;  Scheftelowitz  ZDMG  LVII  146ff. 
Daher  dürfen  in  Westafrika  Frauen  unmittelbar  nach  einem  Leichen- 
begängnis nicht  dieselbe  Straße  passieren,  auf  der  eine  Leiche  befördert 
ist,  damit  ihre  Kinder  nicht  krank  werden  (R.  H.  Nassau  Fetichism  in 
West-Africa  1907,  218). 


410  ■'■•  Scheftelowitz 

Dieses  sagt  er  neunmal,  ohne  sich  umzublicken.  Hierauf  be- 
sprengt er  sich  mit  Wasser  und  klirrt  mit  ehernen  Geräten, 
indem  er  die  Totengeister  anfleht,  sein  Haus  zu  verlassen.^ 
Auch  den  bei  den  mohammedanischen  Völkern  vorherrschenden 
Brauch,  Wasser  auf  das  Grab  zu  gießen,  erklären  Sartori  und 
Goldziher  als  Abwehr  gegen  Dämonen.^ 

Da  nach  dem  primitiven  Glauben  das  Brautpaar  von  Dä- 
monen bedrängt  wird,  so  wird  im  Hochzeitsritual  vieler  Völker 
Wasser  angewendet.  So  wurde  die  römische  Braut  mit  Wasser 
besprengt.  Nach  Plutarch  berührte  sie  Feuer  und  Wasser.^  Die 
Araber  schützen  das  Brautpaar  vor  dämonischen  Einflüssen 
durch  Besprengung  mit  Wasser."*  Im  alten  Indien  badeten  Braut 
und  Bräutigam  vor  der  Hochzeit,  und  am  vierten  Tage  nach 
derselben,  vor  der  ersten  ehelichen  Beiwohnung,  wurden  sie 
mit  Wasser,  in  das  die  Überreste  von  Unheil  vertreibenden 
Opferspenden  getan  waren,  besprengt.^  In  Coimbatore  (Indien) 
badet  sich  das  Brautpaar  in  Wasser,  das  mit  Gelb  wurzeln  ge- 
mengt ist,  damit  es  gegen  den  *bösen  Blick'  gefeit  sei.*'  Bei 
den  Bodo-Kacharis  (in  Nepal  und  Assam)  wird  Wasser  über 
das  Brautpaar  gesprengt."^  Die  Karens  in  Burma  gießen  über 
die  Braut  Wasser,  wenn  sie  in  des  Bräutigams  Haus  geführt 
wird.^  Bei  der  Hochzeitszeremonie  der  Siamesen  wird  das  Braut- 

1  Ovid  FasH  V  436  ff. 

2  Ztschr.  d.  Ver.  f.  Volksk.  XVIII  367;  Archiv  XIII  43  f.  Mit  Unrecht 
bestreitet  W.  v  Baudissin  Adonis  und  Esmun  1911,  437  Anm.  diese 
Auffassnng. 

8  Vgl.  E.  Samter  Familienfeste  der  Griechen  und  Körner  15;  derselbe 
Geburt,  Hochzeit  und  Tod  88  f.;  Wissowa  jBe?«^ion  und  Kultus  der  Bömer 
914  Anm.  6. 

*  I.  Goldziher  in  diesem  Archiv  XIII  31  f. 

^  H.,  Oldenberg  Religion  des  Veda  423,  427;  Winternitz  Das  altind. 
Hochzeitsrituell  1892,  43,  46 f. 

^  E.  Thurston  Ethnographie  Notes  73.  Bei  den  Origa-Stammen  bringen 
Mädchen,  die  noch  nicht  mannbar  sind,  von  sieben  verschiedenen  Dörfern 
Wasser  für  das  Brautpaar  herbei,  worin  es  ein  Bad  nimmt  (Thurston  a. 
a.O.  79).  7  Featherman  Soc.  Hist.  IV  30. 

«  H.  C.  ThrumbuU  The  Blood  covenant  1887,  193. 


Die  Sündentilgung  durch  Wasser  41 1 

paar  von  dem  Priester  mit  geweihtem  Wasser  begossen.'  Das- 
selbe geschieht  auch  bei  den  Sasakern  (auf  den  Sundainseln) 
mit  den  Worten:  ^Das  reinigende  Wasser  gieße  ich  über  euch, 
das  heiligende  Wasser  verbinde  euch  fürs  Leben  ...  Es  wird 
das  über  sie  ausgesprengte  Wasser  sie  läutern  vor  den  Göttern, 
sie  reinigen  vor  den  Menschen.  Mögen  böse  Geister  ihnen  nicht 
in  den  Weg  treten.'^  Bei  den  Dajaks  (Borneo)  wird  das  Braut- 
paar sowohl  mit  Tierblut  als  auch  mit  Wasser  besprengt.^  Auf 
Nias  wird  bei  der  Hochzeitszeremonie  Wasser  in  ein  Becken 
geschüttet  und  Gold  im  Werte  von  ungefähr  einem  Gulden  für 
die  Priesterin,  die  die  Trauung  vollzieht,  hineingelegt.  Von 
dem  Wasser  sprengt  sie  auf  die  Köpfe  des  Brautpaars.^  Bei 
den  Zambalen  (Luzon)  begibt  sich  das  Brautpaar  am  Vorabend 
der  Hochzeit  zum  nächsten  Fluß  und  nimmt  ein  Bad.^  Am 
letzten  Tage  vor  der  Hochzeit  wird  die  kurdische  Braut  von 
den  Frauen  ihrer  Verwandtschaft  und  der  Bräutigam  von  den 
Seinen  ins  Bad  geführt.^  Bei  den  Haussas  wird  nur  die  Braut 
am  Hochzeitstage  gebadet."^  Bei  der  Hochzeitszeremonie  der 
Faebloindianer  werden  die  Köpfe  des  Brautpaars  mit  Weihwasser 
gewaschen.^  Auch  in  Rumänien  wird  das  Brautpaar  mit  Wasser 
besprengt.^  Nach  einem  Straßburger  Ritual  vom  Jahre  1742 
besprengte  ein  Priester  das  Brautpaar  und  das  Ehegemach  mit 
Weihwasser,  indem  er  dabei  sprach:  Visita  .  . .  Domine,  hdbita- 
tionem  isiam  et  omnes  insidias  ah  ea  longe  repelle}^  Auch 
in  Schweden  wurde  ehemals  das  Brautpaar  mit  Weihwasser  be- 
sprengt.'^ Bei  den  Russen  ist  das  Brautbad  am  Tage  vor  der 
Hochzeit  üblich.  Alsdann  muß  sich  die  Braut  noch  mit  Weih- 
wasser waschen,  wohl  ^als  Entsühnung'  für  das  aus  heidnischer 

*  E.  Young  Kingdom  of  the  yellow  rohe  1900,  95. 

'  i .Whei^,  Sunda  Expedition  1911,  106.  »  Thrumbull  a.  a.  0.  192. 

*  J.W.  Thomas  Brei  Jahre  in  Südnias,  Barmen  1892,  13. 

^  Globus  49,  125.  ^  Globus  69,  15.  '  Globus  69,  375. 

*  F.  Krause  Puebloindianer  1907,  90. 

*  Ztschr.  f.  vergl.  Rechtswiss.  1909,  96. 

*°  E.  Fehrle  in  diesem  Archiv  XIII  158.  ^^  Globus  89,  381. 


412  I-  Scheftelowitz  Die  Sündentilgung  durch  Wasser 

Zeit  stammende  Brautbad,  das  vom  christliclien  Standpunkt  als 
heidniscli  und  sündhaft  empfunden  wird.^ 

Da  gerade  die  Wöclinerin  vonDämonen  heimgesucht  wird,  so  hat 
man  zur  Femhaltung  derselben  ebenfalls  Wasser  benutzt.  So  heißt 
es  Tosifta  Ö abbat  VI  4:  ^Man  darf  ein  Gefäß  mit  Wasser  vor  das  Bett 
einer  Wöchnerin  stellen,  ohne  hierdurch  sich  einer  abergläubischen 
Handlung  schuldig  zu  machen.'^  In  Karlsbad  und  Umgebung 
muß  die  Wöchnerin  nebst  Kind  früh  und  abends  mit  Weihwasser 
besprengt  werden,  um  gegen  böse  Einflüsse  gefeit  zu  sein.^  Nach 
der  arabischen  Volksmedizin  setzt  man  demjenigen,  der  an  Schlaf- 
losigkeit leidet,  ohne  daß  er  es  merkt,  an  das  Kopfende  des  Bettes 
ein  Gefäß  voll  Wasser.*  Bei  den  Tenaindianern  steht  in  jedem  Zelt 
nachts  ein  wassergefülltes  Gefäß,  wodurch  die  Dämonen  fern- 
gehalten werden  sollen.^  In  Schleswig-Holstein  schützt  ein  Eimer 
Wasser  unter  dem  Krankenbett  vor  dem  ^Durchliegen'.^ 

Es   würde   zu    weit  führen,  hier  Feuer,  Blut  und  Speichel, 
die,  wie  wir  oben  S.  380  gesehen  haben,  ebenfalls  sündentilgende 
Mittel   sind,   in   ihren  Wirkungen  zu  behandeln."^     Die  Unter- 
suchung  hat   gelehrt,   daß   gerade  das  Wasser  im  Exorzismus 
eine  große  Rolle  spielt,    und    daß  die  Sünde,  da  sie  im  primi* 
tiven  Glauben    ein    dämonischer   Stoff  ist,   genau  in  derselbe! 
Weise  wie  jede  andere  dämonische  Besessenheit  beseitigt  wordei 
ist.  Diese  Auffassung  von  der  Sünde  tritt  besonders  in  denjenigei 
Religionen  stark  in  den  Vordergrund,  in  denen  der  Begriff  dei 
Sünde  sich  bereits  nach  der  ethischen  Seite  hin  entfaltet  hat,  wej 
halb  gerade  dort  das  lebhafte  Verlangen  nach  der  Beseitigung  dei 
Sünde  durch  Lustration  oder  durch  Übertragung  vorherrscW 

*  Globus  76,  316. 

^  Noch  heutzutage    stellen   die  Juden  in  Bayern  und  Hessen  einei 
Eimer  oder  ein  Faß  voll  Wasser  vor  die  Tür  einer  Wöchnerin. 

»  H.  Floß  Bas  Kind^  1109.         *  I.  Goldziher  in  diesem  Archiv  XIII 35^ 

^  Änthropos  1911,  723.  «  Ztschr.  d.  Ver.  f.  Volksk.  1913,  282. 

'  Diese  sollen  für  eine  besondere  Untersuchung  aufgespart   bleiben.] 
Über  das  Blut  vgl.  Scheftelowitz  Bas  Huhnopfer  S.  41  ff.  (RGW  XIV  3). 


Die  altisraelitische  Vorstellimg  Yon  unreinen  Tieren^ 

Von  Earl  Wigand  in  Godesberg  bei  Bonn 

Die  Israeliten  haben  von  jeher  —  schon  im  Altertum  nicht 
weniger  als  im  Mittelalter  und  in  der  Neuzeit  —  das  besondere 
Interesse  der  übrigen  Kulturvölker  erregt.  Der  Grund  hierfür 
waren  in  erster  Linie  ihre  sonderbaren  Gebräuehe,  an  denen 
dieses  Volk  mit  großer  Zähigkeit  festgehalten  hat  und  noch  fest- 
hält. Von  diesen  ist  wohl  stets  das  Verschmähen  des  Schweine- 
fleisches den  Andersgläubigen  vor  allem  aufgefallen.  Doch  nicht 
das  Schwein  allein,  sondern  auch  andere  Tiere  hielten  und  halten 
die  Israeliten  für  unrein.  Im  folgenden  soll  nun  untersucht  wer- 
den, wie  die  altisraelitische  Vorstellung  von  unreinen  Tieren  der 
vergleichenden  Religionsbetrachtung  erscheint,  und  wo  die  Quelle 
für  diese  eigenartigen  Verbote  zu  suchen  ist. 

Unsere  Kenntnis  der  altisraelitischen  Vorstellung  von  un- 
reinen Tieren  schöpfen  wir  aus  zwei  Kapiteln  des  Pentateuchs : 
Leviticus  XI  und  Deuteronomium  XIV.  Nach  der  herrschenden 
Ansicht^  ist  letztere  im  8. —  7.  Jahrhundert  entstanden,  während 
die  Aufzählung  im  Lev.  XI   der  Quelle  des   esoterisch-priester- 

*  Vorliegende  Arbeit  ist  von  Herrn  Geheimrat  Eduard  König  in 
Bonn  angeregt  worden,  dem  ich  hierfür,  sowie  für  verschiedene  Hinweise 
auch  an  dieser  Stelle  meinen  herzlichen  Dank  ausspreche.  Da  ich  von 
Beruf  kein  Alttestamentier  und  Orientalist  bin,  so  kann  das  Thema  von 
mir  nicht  abschließend  behandelt  werden.  Vielmehr  sollen  nur  die  bis- 
herigen Auffassungen  vom  Ursprung  dieser  Anschauung  (bes.  in  metho- 
discher Hinsicht)  kritisiert  werden.  Dabei  werden  sich  einige  neue  Ge- 
sichtspunkte und  Probleme  ergeben. 

^  Vgl.  z.  B.  Marti  bei  Kautzsch  Die  Heilige  Schrift  des  Alten  Testa- 
ments, 3.  Aufl.,  Tübingen  1909/10,  S.  261;  Ed.  König  Eint,  in  das  Alte 
Testament,  Bonn  1893,  S.  215—222;  E.  Seilin  Einl.  in  das  Alte  Testament, 
\   Leipzig  1910,  S.  17  und  39  ff. 


414  Karl  Wigand 

liehen  Pentateucherzählers  angehört,  der  nach  Ed.  König^  alte 
Bestandteile  enthält,  in  der  uns  vorliegenden  Gestalt  allerdings 
erst  aus  dem  6.  vorchristlichen  Jahrhundert  stammt.^  Der 
Bericht  des  Deuteronomiums  unterscheidet  sich  von  dem  jüngeren 
dadurch,  daß  in  ihm  eine  ganze  Rubrik  der  unreinen  Tiere, 
das  Gewürm,  wie  wir  diese  der  Kürze  halber  bezeichnen  wollen, 
fehlt;  ist  aber  darin  ausführlicher,  daß  er  in  Vers  4  und  5  eine 
Aufzählung  von  reinen  Säugetieren  gibt.  Im  übrigen  ist  die 
Übereinstimmung  der  beiden  Quellen  so  groß,  daß  wir  mit 
Marti  ^  und  Oettli*  eine  gemeinsame  ältere  schriftliche  Vorlage 
annehmen  müssen,  die  auch  von  Bertholet ^  für  möglich  ge- 
halten wird. 

Im  folgenden  geben  wir  in  Form  einer  Disposition  eine 
Übersicht  über  die  Deuteronomium  XIV  3  —  20  gegebene  Ein- 
teilung der  Tierwelt. 

A.  Säugetiere 

L  Keine  Tiere: 

a)  Angabe  der  einzelnen  Tiere:  V.  4  —  5. 

b)  Merkmale  der  reinen  Säugetiere:  V.  6. 
II.  Unreine  Tiere: 

Nennung   einzelner  Tiere   mit  Angabe   des  Grundes  ihrer 
Unreinheit:  V.  7  — 8. 

B.  Wassertiere 

I.  Merkmale  der  reinen  Wassertiere:  V.  9. 
II.  Merkmale  der  unreinen  Wassertiere:  V.  10. 

C.  Geflügelte  Tiere 

I.  Erlaubnis,  die  reinen  Vögel  zu  essen:  V.  11. 
IL  Aufzählung  der  unreinen  Vögel:  V.  12 — 18. 
IIL  Verbot,    die     geflügelten    Kriechtiere    (Septuaginta: 

SQTCstä  t0v  Ttstsivcjv)  ZU  essen:  V.  19. 
IV.  Erlaubnis,  alle  reinen  geflügelten  Tiere  zu  essen:  V.  20. 

*  Gesch.  d.  alttestamentlichen  Religion  kritisch  dargestellt^  Gütersloh 
1912,  S.  11. 

2  König  Einleitung  S.  231. 

^  Bei  Kantzsch  Heilige  Schrift  S.  264. 

^  Bei  Btrsick-Yölker  Kurzgefaßter  Kommentar  {zu  Deut.  XIV)  S.  61; 

^  Bei  Marti  Kurzer  Handkommentar  (zu  Deut.  XIV)  S.  44. 


Die  altisraelitische  Vorstellung  von  unreinen  Tieren  415 

Es  fragt  sich  noch,  was  mit  dem  V.  20  genannten  näv 
TistSLvbv  xa^uQÖv  gemeint  ist.  Man  könnte  nach  Martis  Über- 
setzung^ bei  Kautzsch  a.  a.  0.  annehmen,  daß  nichts  anderes 
gemeint  sei  als  in  V.  11.  Doch  erscheint  eine  einfache 
Wiederholung  nicht  wahrscheinlich.  Vielmehr  bezieht  sich  die 
Angabe  von  V.  11  speziell  auf  die  oQvea  (hebr.  zippor),  die 
Vögel,  während  V.  20  jcstsivd  (hebr.  oph\  also  ein  allgemeinerer 
Ausdruck  gebraucht  wird,  der  Tiere  mit  Flügeln  schlechthin 
bezeichnet.  Ich  glaube,  daß  V.  20  eine  Einschränkung  von 
V.  19  gibt,  ohne  daß  dies  jedoch,  was  eigentlich  zu  erwarten 
wäre,  ausdrücklich  gesagt  wird.  Dies  tut  jedoch  der  Parallel- 
bericht Lev.  XL  21 — 22,  in  dem  bestimmte  Arten  der  Heu- 
schrecken als  rein  bezeichnet  werden,  während  der  vorhergehende 
(V.20)  und  der  folgende  Vers  (V.23)  Deuteronomium  XIV  19 
entsprechen.  Diese  unterscheiden  sich  nur  dadurch,  daß  die 
„geflügelten  kleinen  Tiere"  in  den  Leviticusstellen  noch  näher 
bestimmt  werden  durch  den  Ausdruck  „die  auf  vieren  gehen", 
bez.  „die  vier  Füße  'haben".  Daß  diese  Bestimmung  als  Glosse 
irrig  in  den  Text  geraten  sei,  wie  Kautzsch  a.  a.  0.  S.  160, 
Anm.  b,  meint,  scheint  mir  eine  unnötige  Annahme  zu  sein; 
vielmehr  dürfte  sie  wohl  hier  an  ihrem  ursprünglichen  Platze 
stehen.  Fragen  wir  uns,  welche  Tiere,  zoologisch  betrachtet, 
damit  gemeint  sind,  so  bieten  sich  hier  zwei  Erklärungs- 
möglichkeiten: 

1.  Es  gibt  tatsächlich  geflügelte  kleine  Tiere  mit  vier 
Beinen,  die  sog.  geflügelten  Drachen,  die  im  Orient  vorkommen.^ 

2.  Wahrscheinlicher  erscheint  jedoch,  daß  unter  den  frag- 
lichen Tieren  die  Insekten  zu  verstehen  sind,  und  daß  die  An- 
gabe von  vier  Beinen  auf  einer  irrtümlichen  Vorstellung  beruht, 
die  uns  nicht  so  fern  liegt,  wie  man  denken  möchte;  denn  in 


^  „Alles  reine  Geflügel  dürft  ihr  essen." 

^  Vgl.  über  diese  Tiere:  Ph.  L.  Martin  Illustrierte  Naturgesch.  der 
Tiere  II  1,  Abb.  S.  6  und  S.  88;  Brehms  Tierleben,  Kleine  Ausgabe,  Leip- 
zig-Wien 1893,  S.  17—18;  Leunis  Synopsis  des  Tierreichs  S.  392. 


^^Q  Karl  Wigand 

der  ältesten  uns  erhaltenen  illustrierten  Naturgeschichte  aus 
der  Mitte  des  14.  Jahrhunderts,  deren  Verfasser  Konrad  von 
Meggenberg^  ist,  erscheinen  die  Heuschrecken  nicht  der  Wirk- 
lichkeit entsprechend  mit  sechs,  sondern  mit  yier  Beinen.  Diese 
Vorstellung  konnte  sich  sehr  leicht  bilden;  denn  tatsächlich 
nehmen  die  Insekten,  wie  ich  es  zur  Zeit  an  den  exotischen 
Stabheuschrecken  beobachten  kann,  oft  Stellungen  ein,  in  denen 
der  Beobachter  nur  vier  Beine  an  ihnen  sieht. 

Wenden  wir  uns  nun  zu  dem,  worin  Lev.  XI  ausführlicher 
ist  als  Deut.  XIV,  zu  V.  24  ff.,  die  Kautzsch  a.  a.  0.  als  Ein- 
schub  bezeichnet.  Zunächst  scheint  mir  die  Abteilung,  wie  sie 
in  der  Kautzschschen  Bibelübersetzung  vorliegt,  nicht  ganz 
richtig  zu  sein;  denn  V.  23  ist  eine  Wiederholung  von 
V.  20  und  dürfte  so  keinen  Abschluß  des  Abschnittes  bilden, 
paßt  vielmehr  besser,  wenn  wir  ihn  zum  folgenden  ziehen. 
Diese  Auffassung  zeigt  auch  die  Septuaginta,  in  der  das  von 
Kautzsch  durch  „folgende^'  übersetzte  Wort  mit  tovtoig  wieder- 
gegeben ist,  was  nur  auf  das  Vorhergehende  gehen  kann,  und 
dem  widerspricht  auch  nicht  das  im  Hebräischen  gebrauchte 
Wort.  Es  wird  so  noch  zu  den  unreinen  geflügelten  Kriech- 
tieren hinzugefügt,  was  ihr  Aas  für  Unreinheiten  mit  sich 
bringt.  Hieran  werden  einige  weitere  Gruppen  von  Tieren  an- 
geschlossen, deren  Genuß  und  deren  Aas  verunreinigt: 

1.  V.  27—28:  Tappengeher. 

2.  V.  29 — 30:  Kleine  Vierfüßler  (ra  BQTtstä  rä  STtl  Tfjg  yfjg). 

3.  V.  31  —  38:  Wirkungen  und  Verhaltungsmaßregeln  betr. 
das  Aas  solcher  unreiner  Tiere. 

4.  V.  39 — 40:  Wirkungen  und  Verhaltungsmaßregeln  betr. 
das  Aas  reiner  Tiere. 

Nach  dieser  Abschweifung  werden  gegen  Schluß  von  Lev.  XI, 
V.  41  ff.  weitere  unreine  Tiere  aufgezählt,  und  zwar 


'  Vgl.  die   neueren   großen  Ausgaben  von  Meyers  und  Brockhaus' 
Konversationslexikon  s.  v.  Meggenberg. 


Die  altisraelitische  Vorstellung  von  unreinen  Tieren  417 

5.  V.  41:  „Kleine  Tiere,  die  sich  auf  der  Erde  tummeln" 
Septuag.:  SQTterbv  o  6Q7C6l 

y.  42: 

6.  Tiere,  „die  auf  dem  Bauche  kriechen",  d.  h.  Schlangen 
(vgl.  Gen.  III  14b), 

7.  Tiere,  „die  auf  vieren  gehen", 

8.  Tiere,  die  mehr  als  vier  Füße  haben. 

9.  V.  43 — 45:  Besonderer  Hinweis  auf  das  Verbot  der 
„kriechenden  Tiere"  unter  Bezugnahme  auf  die  Heiligkeit  Gottes. 

Wenn  wir  uns  fragen,  wie  man  dazu  gekommen  ist,  diese 
Tiere  für  unrein  zu  halten,  so  wird  es  gut  sein,  erst  bei  anderen 
Völkern  des  Altertums  nach  ähnlichenVorschriften  zu  suchen, 
in  denen  vielleicht  der  Schlüssel  zur  Lösung  der  Frage  liegen  könnte. 

I.  In  Ägypten,  wo  eine  reiche  Überlieferung  vorliegt, 
fehlen  wenigstens  für  die  ältere  Zeit  zusammenhängende  Vor- 
schriften dieser  Art,  wie  mir  von  ägyptologischer  Seite  ^  mit- 
geteilt wird.  Nur  von  wenigen  Tieren  ist  hier  der  Genuß 
verboten:  so  untersagt  die  der  Zeit  um  750  v.  Chr.  angehörende 
Pianchi- Stele ^  das  Essen  von  Fischen,  die  bei  den  Juden  als 
rein  galten.  Dasselbe  überliefern  auch  Herodot  (II 37)  und 
Porphyrius  (de  abstinentia  IV  7).  Unrein  war  den  Ägyptern 
wie  den  Juden  das  Schwein,  das  jedoch  nach  Herodot  (II 47) 
und  Plutarch  (de  Iside  et  Osir.  VIII)  an  einem  bestimmten 
Vollmondstage  geopfert  und  gegessen  wurde.  Die  Vermutung, 
daß  die  Juden  dieses  Verbot  von  den  Ägyptern  übernommen 
hätten,  dürfte  wohl  zurückzuweisen  sein,  da  der  Genuß  von 
Schweinefleisch  fast  im  ganzen  Altertum  ^  verboten  war.    Ferner 


^  Diese  Mitteilung  sowie  den  Hinweis  auf  die  Pianchi- Stele  ver- 
danke ich.  Herrn  Prof.  Wiedemann  in  Bonn. 

^  Vgl.  die  Übersetzung  der  Pianchi- Stele  von  H.  Bragsch-Bey  in 
seiner  Geschichte  Ägyptens  unter  den  Pharaonen^  Leipzig  1877,  S.  682  ff., 
bes.  S.  706,  Nr.  150  —  151. 

^  Theodor  Wächter  Beinheitsvorschriften  im  griech.  Kult  (Religions- 
geschichtliche Versuche  u.  Vorarbeiten  IX  1,  1910)  S.  82  ff.  bringt  Belege 
für  die  Skythen,  Kappadokier,  Syrer,  Phönizier,  Kreter,  Cyprier  und  Libyer, 

Archiv  f.  ReligionswisseiiBcliaft  XVII  27 


41^8  Karl  Wigand 

galten  nacli  Sommer^  den  Ägyptern  für  unrein  der  Esel,  die 
Maus,  die  öpv|^  dieses  Tier  im  Gegensatz  zu  den  jüdischen 
Gesetzen,  wenn  die  Septuaginta  Deuteron.  XIV  5  die  richtige 
Übersetzung  gibt. 

Über  einige  weitere  Tiere,  die  wenigstens  im  1.  Jahrhundert 
der  Kaiserzeit  für  unrein  gehalten  wurden,  berichtet  Plutarch 
in  seiner  Schrift  De  Iside  et  Osiride,  Kap.  lY — V.  Danach 
verschmähten  die  Ägypter  die  Wolle  und  das  Fleisch  der 
Schafe,  und  zwar  nach  Plutarch  infolge  ihres  ausgesprochenen 
Reinlichkeitsgefühles.  Es  scheint,  daß  Plutarch  hiermit  das 
Richtige  trifft.  Machen  doch  seine  Erörterungen  den  Eindruck, 
daß  er  gut  mit  ägyptischen  Verhältnissen  vertraut  ist,  was  ja 
auch  schon  lange  festgestellt  ist.^  Jedenfalls  galt  den  Ägyptern 
das  Schaf  nicht  etwa  deshalb  für  unrein,  weil  es  in  dem 
Widdergott  von  Mendes  göttlich  verehrt  wurde;  denn  andere 
ebenfalls  heilige  Tiere  durften  gegessen  werden. 

Für  den  Fischgenuß  haben  sich,  wie  es  scheint,  die  Vor- 
schriften in  späterer  Zeit  spezialisiert;  denn  Plutarch  (de  Is.  VII) 
berichtet,  daß  „nicht  alle"  sich  des  Genusses  aller  Meerfische 
enthielten,  sondern  nur  einiger,  so  die  Bewohner  von  Oxyrhynchos 
der  mit  dem  Angelhaken  gefangenen.  Der  Grund  hierfür  ist 
nach  Plutarch  religiöser  Natur:  die  Bewohner  dieser  Stadt 
verehrten  den  Oxyrhynchos -Fisch  göttlich  und  fürchteten  daher, 
daß  bei  dem  Fischfang  ein  nicht  reiner  Angelhaken  ihren 
heiligen  Fisch  treffen  könnte.  In  gleicher  Weise  mieden  die 
Einwohner  von  Syene  den  Phagros  (er  wird  von  Aristoteles 
in  Athenaeus^  Deipnosoph.  VII  327  ausdrücklich  als  Raubfisch, 
als  6aQxoq)d'yog,  bezeichnet),  denn  dieser  erschien  beim  Steigen 
des  Nils  und  wurde  gern  gesehen  als  Künder  dieses  für  Ägypten 


^  Bein  und  unrein  (Biblische  Abhandlungen  1848)  S.  284. 

^  Eine  nicht  näher  bestimmbare  Gazellenart. 

'  Die  Literatur  über  Plutarchs  Quellen  gibt  P.  Wendland  Die  helle- 
nistisch-römische Kultur  in  ihren  Beziehungen  zu  Judentum  und  Christen- 
tum'^ S.  118. 


I 


Die  altisraelitische  Vorstellung  von  unreinen  Tieren  419 

so  wichtigen  Naturereignisses.  Die  Priester,  so  berichtet  aus- 
drücklich Plutarch,  enthielten  sich  ganz  des  Fischgenusses. 

Bei  Porphyrius  (de  abstinentia  JV  7)^  ist  ein  Passus  er- 
halten, in  dem  eine  Klassifizierung  der  unreinen  Tiere 
Ägyptens  gegeben  ist.  Die  betreffende  Stelle  lautet  in  der 
Ausgabe  von  Nauck:  tcjv  dh  Tcat  avt^v  Atyvictov  ixd'vcov  rs 
ccTteCxovxo  Ttdvtmv  xal  tstguTCÖdcov  o6a  ^(bvv%a  7)  7toXv6%L8fi 
7J  fii)  TiSQCcöcpÖQa  Jttrjvcjv  ÖS  06a  GaQTiOfpdya'  TtoXXol  dh  nad'dTtcc^ 
tcbv  i^tjjvxcov.  „Hiernach  galt  ihnen  und  den  Hebräern  genau 
dasselbe  für  rein;  denn  wenn  die  einhufigen  und  die  mit  viel- 
spaltigen  Klauen  versehenen  Vierfüßler  als  unrein  ausgeschieden 
werden,  so  blieben  die  Zweihufer  oder  Wiederkäuer  übrig,  und 
da  von  diesen  ferner  noch  diejenigen  Gattungen,  bei  welchen 
keine  Hörner  vorkommen,  also  die  Kamele  und  was  sonst  aus 
$  mangelhafter  Naturkenntnis  zu  den  Wiederkäuern  gerechnet 
sein  mag,  z.  B.  Hasen,  Bergmäuse,  abgetrennt  werden,  so  ist 
hier  die  Anzahl  der  reinen  gerade  so  beschränkt  wie  im 
mosaischen  Gesetze.^'  '  So  die  Worte  Sommers  a.  a.  0.  S.  287 
zu  der  Stelle. 

Diese  Übereinstimmung  der  jüdischen  und  ägyptischen 
Speisegebote  erregt  unsere  Verwunderung,  da,  wie  erwähnt, 
ifür  das  Ägypten  der  älteren  Zeit  nichts  von  ihnen  überliefert 
ist.  Doch  sind  Zweifel  an  der  Richtigkeit  dieser  Nachricht 
Snicht  berechtigt;  denn  Porphyrius  gibt  Kap.  IV  8  (am  Schluß) 
tan,  daß  seine  Nachrichten  über  die  ägyptische  Religion  V7t*  äv- 
dQoq  (piXaX-qd'ovs  'Pf  ^cal  dxQißovs  £v  re  tolg  ötcoLKolg  ngay 
iiarixcbtccta  (piXo0o(p7]öavtog  bezeugt  (^s^ccQrvQrjiisva)  seien. 
Es  erhebt  sich  daher  die  Frage  nach  der  Quelle  dieser  späten 
ägyptischen  Scheidung  der  Tiere  in  reine  und  unreine.  In  der 
Zeit  des  Porphyrius,  also  im  3.  nachchristlichen  Jahrhundert, 
Jestand  in  Ägypten  neben  dem  Christentum  eine  Mischreligion 
|}tärkster  Art,  wie  durch  die  Literatur,  besonders  auch  durch 

^  Zitiert  von  Sommer  a.  a.  0.,  auch  von  Knobel  -  Dillmann  Exod.  tmd 
Umt.  S.  482. 

27* 


420  ^^^^  Wigand 

die  neugefuudenen  Papyri,  feststellt.  Daß  diese  auch  von  dem 
Judentum  beeinflußt  worden  ist,  zeigt  z.  B.  aufs  deutlicliste  ein 
von  Kenyon^  publizierter  Papyrus  in  London,  der  vom  Heraus- 
geber ins  3.  Jahrhundert  unserer  Zeitrechnung  gesetzt  wird. 
Es  dürfte  daher  wohl  auch  jene  spätägyptische  Scheidung  der 
Tiere,  wie  sie  uns  Porphyrius  überliefert  hat,  auf  jüdischen 
Einfluß  zurückzuführen  sein.  Waren  doch  von  den  acht  Milli- 
onen Bewohnern  Ägyptens  in  jener  Zeit  mindestens  eine  Million 
Juden.^  Und  ist  doch  auch  für  andere  orientalische  Religionen 
der  Kaiserzeit  der  Einfluß  des  Judentums  festgestellt,  so  nach 
F.  Cumont^  sicher  für  den  Sabazioskult  und  wahrscheinlich 
auch  für  den  Kybele- Dienst.  Ein  weiterer  Beleg  für  den  Ein- 
fluß des  Judentums  ist  auch  eine  Notiz  in  Plinius'  Naturalis 
Historia  (XXX  11),  nach  der  eine  Richtung  der  Magie  von 
Moses,  Jannes,  Jotapes  und  den  Juden  abhängig  wäre.  Zu 
vergleichen  sind  hier  auch  jene  Worte  des  Philosophen  Seneca,* 
daß  die  jüdische  Sitte  durch  alle  Länder  verbreitet  sei,-  und 
daß  die  Juden,  obwohl  besiegt,  den  Siegern  Gesetze  gegeben 
hätten.  Charakteristisch  ist  nun  für  diese  spätägyptischen 
Speiseverbote,  daß  neben  den  in  hellenistisch -römischer  Zeit 
übernommenen  jüdischen  sich  das  für  Ägypten  ein  Jahrtausend 
früher  bezeugte  Verbot  der  Fischnahrung  gehalten  hat,  das  den 
jüdischen  eigentlich  widerspricht. 

*  Greelc  Papyri  in  ihe  Brit.  Museum  1893,  Nr.  CXXT,  Col.  19  S.  104. 
^  Über  die  Bedeutung  der  Juden  im  hellenistisch -römischen  Ägypten 

vgl.  Mommsen  JBöm.  Geschichte  V  S.  489  und  586  ff.;  Hermann  Thiersch 
An  den  Bändern  des  römischen  Beichs  S.  9;  zuletzt  Wilcken- Mittels 
Chrestomathie  der  Papyruskunde  I  1  S.  24 — 26,  wo  ältere  Literatur, 
namentlich  Schürer  Geschichte  d.  jüd.  Volkes  im  Zeitalter  Jesu  Christi 
III*  38  ff.  zitiert  wird. 

'  Die  orientalischen  Beligionen  im  römischen  Heidentum  (ins  Deutsche 
übersetzt  von  G.  Gehrich),  Leipzig  u.  Berlin  1910,  S.  78. 

*  Zitiert  von  Augustin  De  civitate  Bei  VI  10,  abgedruckt  bei  Theodore 
Reinach  Textes  d'auteurs  grecs  et  romains  relatifs  aujudaisme^  Paris  1895, 
Nr.  145  S.  263.  Den  Hinweis  auf  diese  Stelle  verdanke  ich  Albrecht 
Die  Geschichte  des  Volkes  Israel  von  Mose  bis  auf  die  Gegemvart^  Berlin 
1909/10,  HI  S.  19. 


I 


Die  altisraelitische  Vorstellung  von  unreinen  Tieren  421 

IL  Stammlicli  nahe  mit  den  Juden  verwandt  sind  die  Be- 
wohner Arabiens,  eines  Landes,  für  das  in  älterer  Zeit  uns 
ausführlichere  Nachrichten  fast  ganz  fehlen.  Erst  aus  der 
Zeit  nach  der  Hedschra  stehen  uns  umfangreichere  Mitteilungen 
zu  Gebote.  Nach  Sommer  a.  a.  0.  S.  314  und  nach  Knobel- 
Dillmann  a.  a.  0.  S.  482  ist  in  den  späten  sabäischen  Speise- 
geboten alles  zu  essen  verboten,  was  zugleich  in  beiden  Kinn- 
laden Zähne  hat.  Hiermit  ist,  wie  Sommer  richtig  hervor- 
gehoben hat,  die  größte  Zahl  der  Säugetiere  gemeint:  denn 
die  Tiere,  bei  denen  die  Zähne  in  der  oberen  Kinnlade  schein- 
bar fehlen  —  in  Wirklichkeit  nur  in  der  Mitte  des  Ober- 
kiefers, nicht  an  den  Seiten  —  sind  die  Wiederkäuer.^ 
Genauer  noch  entspricht  dem  jüdischen  Gesetze  das  Verbot, 
Vögel  mit  Krallen,  also  Raubvögel,  zu  essen.  Da  sich  nun 
sicher  in  den  Jahrhunderten  nach  der  Zerstörung  Jerusalems 
durch  Titus,  höchstwahrscheinlich  auch  schon  viel  früher, 
die  Juden  in  Arabien  so  stark  verbreiteten,  daß  es  sogar  im 
6.  Jahrhundert  nacl\  dem  Übertritt  eines  Königs  der  Land- 
schaft Jemen  ein  freilich  kurzlebiges,  jüdisch-arabisches  Königtum* 
gab,  so  dürfte  hier  wohl  nicht  alte  Parallelbildung  oder  mittel- 
bare Verwandtschaft,  sondern  unmittelbare  späte  Beeinflussung 
des  arabischen  Heidentums  durch  die  jüdische  Religion  vorliegen. 

III.  Über  die  reinen  und  unreinen  Tiere  in  Babylonien 
und  Assyrien  läßt  sich  zurzeit  sehr  wenig  feststellen.  Eine 
Scheidung  der  Tiere,  wie  wir  sie  bei  den  Juden  finden,  scheint 
nicht  zu  existieren.  AVohl  aber  ist  für  bestimmte  Tage  der 
Genuß  bestimmter  Speisen  verboten,  so  „Fisch  für  den 
9.  Ijjar,  Schweinefleisch  für  den  30.  Ab  und  Rindfleisch  für 
den  27.  Tischri",   von   denen   ja    Fisch    und   Rindfleisch^   den 

^  Ygl.  hierzu  Otto  Schmeil  Lehrbuch  der  Zoologie,  Stuttgart-Leipzig 
1905  l^  S.  119-120  (mit  Abbildung). 

^  Alfred  Jeremias  Das  Alte  Testament  im  Licht  des  Alten  Orients 
S.270\  S.432  2. 

^  Dies  bemerkt  richtig  Ed.  König  Gesch.  d.  alttestamentlichen  Reli- 
gion kritisch  dargestellt  S.  280  f. 


422  ^arl  Wigand 

Israeliten  zu  essen  erlaubt  waren.  Nur  auf  Grund  einer  ge- 
nauen Kenntnis  von  babylonisclier  Sprache  und  Religion 
könnte  man  eine  Antwort  auf  die  Frage  geben,  warum  an 
diesen  Tagen  der  Genuß  der  betreffenden  Tiere  verboten  war. 
IV.  Auch  bei  den  Völkern  der  indogermanischen  Rasse 
finden  sieb  den  jüdischen  ähnliche  Vorschriften  über  reine  und 
unreine  Tiere,  die  ältesten  wohl  bei  den  Indern,  die  schon 
von  Sommer^  zum  Vergleich  herangezogen  sind.  Charak- 
teristischerweise ist  hier  der  erste  Ansatz  zu  Speiseverboten 
erst  zur  Zeit  der  Yajurveden,  also  zwischen  1000  und  800 
V.  Chr.,  zu  konstatieren.  Zusammenhängende  Vorschriften  die- 
ser Art  finden  wir  nach  Leopold  v.  Schroeder"  erst  im  indi- 
schen Mittelalter,  das  vom  6.  vorchristlichen  bis  zum  1 6.  nach- 
christlichen Jahrhundert  gerechnet  wird.  Wichtig  ist  es, 
hier  im  Unterschied  von  dem  jüdischen  Gesetze  festzustellen, 
daß  im  Prinzip  jede  Fleischnahrung  verabscheut  wird.  Daher 
sind  auch  alle  Tiere,  die  sich  selbst  vom  Fleisch  anderer 
Tiere  nähren,  d.  h.  in  erster  Linie  alle  Raubtiere,  verboten. 
Diese  sind  in  den  indischen  Gesetzen  als  „Tiere  mit  fünf 
Klauen"  bezeichnet,  eine  umfangreiche  Rubrik,  von  der  jedoch 
einige  bei  v.  Schroeder^  angeführte  Tiere  ausgenommen  sind. 
Doch  charakteristischerweise  sind  dies  alles  Tiere,  die  sich 
nicht  von  Fleisch  nähren,  darunter  besonders  die  Wiederkäuer 
außer  dem  Kamel.  Von  den  erlaubten  Ausnahmen  mögen 
zum  Unterschied  von  den  jüdischen  Bestimmungen  Hase, 
Stachelschwein  und  Eidechse  erwähnt  werden.  Ausdrücklich 
verboten  sind  die  Fische  verzehrenden  Taucher.  Galten  bei 
den  Israeliten  die  Haustiere  als  rein,  so  ist  bei  den  Indern 
das  Gegenteil  der  Fall.  Gerade  Rinder,  die  auch  für  heilige 
Tiere  galten,   zu  essen,  ist  streng  verboten,  untersagt  ist  auch 


'  a.  a.  0.  S.  309. 

*  Indiens  Literatur  und  Kultur  in  historischer  Entwicklung,  Leipzig 
1887,  S.  406. 

a.  a.  0.  S.  407  oben. 


Die  altisraelitische  Vorstellung  von  unreinen  Tieren  423 

das   Fleisch  vom  „zahmen"  Schwein,    ferner   der  Hahn  sowie 
alle  Vögel,  die  in  Städten  oder  Dörfern  nisten. 

Die  Entstehung  der  indischen  Speisegesetze  wird  von 
V.  Schroeder^  in  Zusammenhang  gebracht 

1.  „mit  der  allgemeinen  ethischen  Richtung,  gemäß  wel- 
cher die  Schonung  alles  Lebendigen,  Mitleid  mit  jedem  Wesen, 
NichtVerletzung  anbefohlen  wurde", 

2.  mit  dem  „Einfluß  des  immer  mächtiger  wirkenden 
Glaubens  an  die  Seelenwanderung". 

V.  Auch  bei  den  Griechen  und  Römern  gab  es  Tiere, 
die  bei  bestimmten  Kulten  oder  von  gewissen  philosophischen 
Sekten  nicht  gegessen  werden  durften.  Doch  läßt  sich  hier 
von  unreinen  Tieren  nicht  in  dem  Sinne  sprechen,  wie  wir 
dies  in  der  altisraelitischen  Religionsgeschichte  zu  tun  pflegen, 
da  diese  Vorschriften  nicht  für  das  ganze  Volk  gelten.  Das 
griechische  Material  ist  gesammelt  bei  Theodor  Wächter, 
Reinheitsvorschriften  im  griechischen  Kult^,  S.  76 — 102. 

Wächter   bezeichriLet    in    erster    Linie    diejenigen   Tiere    als 
unrein,   die   in  bestimmten  Kulten  nicht  geopfert  werden  durf- 
ten.    Dieses  „Unrein"   ist  nicht   das    gleiche  wie  das  jüdische; 
denn   im    altisraelitischen   Kultus   durften,  abgesehen  von   den 
unreinen  Tieren,   auch   nur   bestimmte   von   den  reinen  Tieren 
I  geopfert  werden.      Etwas   näher   kommen   der  jüdischen  Vor- 
!  Stellung   von    Rein   und   Unrein   diese   Begriffe    bei    religiösen 
I  Sekten    der   Griechen,    in   erster  Linie   bei    den   Pythagoreern, 
1  denen  nur  bestimmte  Tiere  zu  essen  erlaubt  war. 
I       Es  leidet,  wie  mir  scheint,  Wächters  Untersuchung  an  dem 
I allerdings    in    der    modernen    vergleichenden    Religionswissen- 
; Schaft  weit  verbreiteten  Bestreben,  überall  religiöse  Gründe  zu 
suchen.     Hierbei    werden    dann    die    aus    dem   Altertum    über- 
lieferten Gründe  für  die  Unreinheit  der  Tiere  ignoriert,  während 

*  Indiens  Literatur  und  Kultur  in  historischer  Entwicklung,  Leipzig 
1887,  S.  406. 

*  S.  oben  S.  417  Anm.  3. 


424  K^^l  Wigand 

doch,  zu  beachten  ist,  daß  die  Alten  mit  den  Anschauungen 
enger  verwachsen  waren  und  dem  Ursprung  derartiger  Verbote 
zeitlich  wesentlich  näher  standen  als  wir. 

Ein  Beispiel  illustriere  die  geübte  Kritik.  Es  bestand  in 
Attika  ein  uralter  Brauch^,  der  von  Älian  (in  den  Variae 
Historiae  V  14)  überliefert  ist  und  der  nach  Diogenes  Laertius 
(YIII 20)  in  den  pythagoreischen  Vorschriften  sich  erhalten 
hat,  daß  ein  im  Dienste  des  Menschen  stehender  Stier,  der,  wie 
etwa  Älian  sagt,  die  Mühen  des  Ackerbaues  mit  den  Menschen 
teilt, ^  nicht  geopfert  wurde,  bezw.  daß  sein  Fleisch  von  den 
Pythagoreern  nicht  genossen  wurde.  Den  Grund  hierfür  sucht 
Wächter  darin,  daß  das  „Rind  bei  den  Griechen  in  früherer 
Zeit  als  dämonisches  oder  heiliges  Tier  galt'^  Er  ignoriert 
also  die  Überlieferung,  diS  ganz  plausibel  erscheint,  nämlich 
daß  der  Stier  wegen  seiner  treuen  Dienste  und  vielleicht  auch 
aus  rein  praktischen  Gründen  vom  Menschen  nicht  geopfert 
wurde.  Hierzu  kommt  noch,  daß  gerade  mit  diesem  Verbot  die 
Griechen  nicht  alleinstehen,  sondern  es  mit  anderen  indo- 
germanischen Völkern  teilen.  So  war  nach  Ovids  Fasten 
(IV  413  ff.)  aus  demselben  Grunde  im  Kulte  der  römischen 
Feldgöttin  Ceres  das  Stieropfer  verboten  und  das  Schweine- 
opfer gefordert.  Ganz  ähnliche  Vorschriften  fanden  wir  bei 
den  Indern,  die  den  Genuß  der  dem  Menschen  im  täglichen  Leben 
nahestehenden  Tiere  meiden.  Aus  dieser  kurzen  komparativen 
Betrachtung  dürfte  die  Richtigkeit  der  antiken  Überlieferung 
hervorgehen,  die  freilich  für  die  Quellen  der  altisraelitischen 
Speisegebote  nichts  ergibt. 

Aus  demselben  Grunde  wie  die  Stiere  könnten  auch  Schafe, 
Ziege  und  Pferd  in  gewissen  griechischen  und  römischen  Kulten 
für  unrein  angesehen  worden  sein,  obwohl  die  Überlieferung 
hierüber  nichts  direkt  angibt.  Jedenfalls  weist  schon  die  Ver- 
schiedenheit der  Verbote,  an  verschiedenen  Orten  und  bei  ver- 

^  Zitiert  von  Wächter  a.  a.  0.  S.  89  f. 
*  ävQ'Qoa'itois  xaftaroov  y.oivcovog. 


Die  altisraelitische  Vorstellung  von  unreinen  Tieren  425 

schiedenen  Kulten  gewisse  Tiere  nicht  zu  opfern,  darauf  hin, 
daß  wir  mit  einem  Erklärungsprinzip  nicht  auskommen.  Ich 
glaube,  daß  bei  der  Erklärung  in  erster  Linie  auch  die  mensch- 
lichen Gefühle,  Aversion  oder  Sympathie  für  gewisse  Tiere  mit 
herangezogen  werden  müssen;  denn  daß  diese  bei  den  Menschen, 
und  dann,  wie  so  häufig,  entsprechend  auch  beim  Kult,  eine 
Rolle  gespielt  haben,  dürfte  wohl  klar  sein.  Dabei  werden 
nicht  bei  allen  Völkern  und  Stämmen  im  Altertum  die  gleichen 
Anschauungen  geherrscht  haben,  die  sich  auch  nur  in  den 
wenigsten  Fällen  mit  unsern  modernen  decken  werden  So 
galt  nach  Plutarch,  wie  oben  erwähnt,  den  Ägyptern  das  Schaf 
als  ein  besonders  schmutziges  Tier,  während  wir  es  für  ein 
Symbol  der  Reinheit  und  Unschuld  halten.  Die  Athener 
standen  der  Ziege  wenig  freundlich  gegenüber,  und  zwar  nach 
doppelter  Tradition^  darum,  weil  die  Ziegen  gern  die  frischen 
Schößlinge  des  für  Attika  so  wichtigen  und  von  seinen  Be- 
wohnern überaus  geschätzten  Ölbaums  fraßen.  Daher  durfte 
keine  Ziege  die  Akropolis  betreten  noch  der  Athena  ge- 
opfert werden.  Der  Grund  hierfür  scheint  auf  den  ersten 
Blick  künstlich  konstruiert  zu  sein,  entspricht  aber  in 
Wirklichkeit  der  rein  praktischen  Denkweise  der  Athener,  so 
daß  religiöse  Motive  zur  Begründung  nicht  herangezogen  zu 
werden  brauchen.  In  Sparta  dagegen  wurde  nach  Pausanias 
(III  15,9)  gerade  die  Ziege  der  Hera  geopfert.  Als  weitere 
mögliche  Gründe  für  die  antike  Abneigung  gegen  die  Ziege 
erwähnt  Plutarch  {Quaestiones  i?ömawae  Kap.  11 1)  erstens  die 
Geilheit,  zweitens  die  Kränklichkeit,  die  tatsächlich  für  dieses 
Tier  charakteristisch  ist.  Für  die  Unreinheit  der  Hunde  wurden 
im  Altertum  ^  als  Gründe  angegeben  der  ungezügelte  und  offene 
Geschlechtsverkehr,  ferner  das  streitsüchtige  Wesen  der  Hunde, 
die  das  Asylrecht  der  Tempel  hätten  in  Frage  stellen  können. 
Im  übrigen  galt  der  Hund  als  chthonisches  Tier^   und  wurde 

^  Wächter  a.  a.  0.  S.  87.  ^  Plutarch  a.  a.  0. 

3  Erwin  Rohde  Psyche »  II  S.  40G  ff. 


426 


Karl  Wigand 


daher  der  Hekate  geopfert,  analog  iv  Tiad-aQöia)  ^rjvC,  im 
Reinigungsmonat,  im  Februar,  an  den  römischen  Luperkalien, 
während  in  Sparta  junge  Hunde  dem  Enyalios  dargebracht  wurden. 

Es  ergibt  sich  also  hieraus,  daß  man  wegen  gewisser,  dem 
Menschen  verabscheuenswert  erscheinenden  Eigenschaften  die 
Tiere  für  unrein  und  nicht  zum  Götteropfer  geeignet  erklärte. 
Dieser  Gesichtspunkt,  über  den  für  das  späte  Ägypten  die 
Hieroglyphika  des  HorapoUo  Nilus  ^  reichlich  Aufschluß  geben, 
muß  auch  bei  der  Frage,  warum  gerade  dieses  oder  jenes  Tier 
bei  den  Juden  für  unrein  galt,  berücksichtigt  werden,  was 
freilich  eine  besondere  Untersuchung  verlangt;  denn  hierzu 
müßte  das  Verhältnis  der  Juden  zu  den  einzelnen  Tieren  und 
die  jüdische  Zoologie,  wie  sie  uns  im  Alten  Testament  und 
auch  später  im  Talmud  vorliegt,  herangezogen  werden. 

Ein  weiterer  Grund  für  die  griechischen  Speiseverbote  be- 
rührt sich  wiederum  mit  einem  bei  den  Indern  angeführten: 
es  ist  die  seit  dem  G.Jahrhundert  in  Griechenland  weit  ver- 
breitete Lehre  von  der  Seelenwanderung,  nach  der  die  Seele 
des  Menschen  auch  auf  Tierleiber  übergehen  kann.^  Diese 
Lehre  hatte  zur  Folge,  daß  die  Pythagoreer  sich  im  Prinzip 
alles  Fleischgenusses  enthielten;  in  praxi  machten  sie  eine 
Scheidung  zwischen  reinen  und  unreinen  Tieren,  indem  als 
rein  die  den  Olympiern  zu  opfernden  Tiere  angesehen  ^  wurden, 
während  sie  den  Genuß  anderer  Tiere  als  unrein  mieden.  Man 
braucht  also  keineswegs  dämonische  Kräfte  als  Erklärung  der 
unreinen  Tiere  bei  den  Pythagoreern  anzunehmen,  wie  dies 
Wächter  tut. 

Im  folgenden  zähle  ich  die  Tiere  auf,  die  nach  Wächter 
bei  den  Griechen  für  unrein*  galten:  Schwein  S.  82 ff.,  Ziege 
S.  87,  Schafs.  89,  Rind  S.  90,  Pferd  S  91,  Hirsch  S.  92,  Hund 


^  Ed.  Conr.  Leemanns,  Amsterdam  1835. 
2  Rohde  Psyche  II  162  ff.  »  Ebenda  II  164,  Anm.  1. 

*  Die  beigefügte  Zahl  gibt  die  Stelle  an,  wo  Wächter  über  die  be- 
treffenden Tiere  spricht. 


Die   altisraelitiche  Vorstellung  von  unreinen  Tieren  427 

S.  92,  Fliege  S.  93,  Vögel  S.  93,  Fische  S.  95.     (Liste  der  ver- 
botenen Fische  S.  lOlf.) 

Betrachten  wir  weiter  nach  dieser  Übersicht  die  Ansichten 
der  modernen  Gelehrten  über  den  Ursprung  der  alt- 
israelitischen Anschauung  von  reinen  und  unreinen 
Tieren.  Am  meisten  verbreitet  ist  jetzt  die  wohl  zuerst  von 
W.  Robertson  Smith^  entwickelte  Ansicht,  daß  die  unreinen 
Tiere  „Uberlebsel"  aus  jener  Zeit  der  israelitischen  Religion 
seien,  in  der  diese  Tiere  als  Sitz  der  Gottheit,  als  heilig  oder 
dämonisch^,  angesehen  wurden.  Diese  Wesen  galten  daher  als 
tabu,  wurden  also  „mit  religiöser  Scheu  betrachtet"  und  durften 
daher  nicht  getötet  werden.  Das  Verbot,  sie  zu  schlachten  und 
zu  essen,  hätte  sich  auch  noch  in  späteren  Zeiten  erhalten,  als 
diese  Religionsstufe  längst  überwunden  war.  Hiergegen  ist 
zunächst  mit  M.  J.  Lagrange^  und  Ed.  König^  geltend  zu  machen, 
daß  es  sich  bei  dieser  Ansicht  von  „Überbleibseln"  in  der  israe- 
litischen Religionsgeschichte  um  eine  völlig  unbewiesene  Be- 
hauptung handelt.  Damit  fällt  natürlich  auch  die  Beweiskraft 
der  Parallelen  aus  der  modernen  Ethnologie,  die  für  eine  tote- 
mistische^  Herleitung  der  unreinen  Tiere  sprechen  und  beson- 
ders von  Smith  a.a.O.  und  von  Stade^  herangezogen  werden. 
Ferner  spricht  auch  dagegen  der  Begriff  der  Unreinheit,   der, 

^  Smith.  Lectures  on  the  religion  of  the  Semites,  Edinburgh  1889, 
S.  143  u.  ö.  (ins  Deutsche  übersetzt  von  Stube). 

^  Falsch  ist  es,  wenn  Stade  in  seiner  Bibl.  Theologie  des  Alten  Testa- 
ments (B.  I  1905)  S.  141  die  Begriffe  „dämonisch",  „unrein"  und  „als 
Totem  betrachtet"  ohne  Begründung  einander  gleichsetzt,  was  auch 
schon  Ed.  König  Gesch.  d.  alttestamentlichen  Religion  kritisch  dargestellt 
S.  63  rügte;  unrichtig  bezeichnet  Stade  so  S.  142  das  Schwein  als  Totem. 

^  Etudes  sur  les  religions  semitiques  1905  S.  113. 

*  Im  Nachtrag  zu  seinem  Artikel  Beinigungen  in  der  Protest. 
Realenzyklopädie  (3.  Auflage),  den  ich  in  der  vom  Verfasser  freundlichst 
zur  Verfügung  gestellten  Korrektur  lesen  durfte. 

^  Über  den  immer  noch  nicht  ganz  klaren  Begriff  des  Totemismus 
hat  erst  jüngst  Edgar  Reuterskiöld  in  diesem  Archiv  XV  S.  1—23  ge- 
handelt. 

«  a.  a.  0.  S.  135. 


428  ^^^^  Wigand 

wie  erwähnt,  nur  nacli  Analogie  aus  der  modernen  Ethnologie, 
aher  ohne  zwingende  Gründe  mit  Heiligkeit  identifiziert  worden 
ist.  Richtiger  hat  ihn,  wie  mir  scheint,  Eduard  Meyer^  definiert: 
„Sie  sind  unrein  und  verabscheut,  nicht  weil  sie  göttlich  sind, 
sondern  weil  sie  ganz  und  gar  ungöttlich  sind.^^  Das  Ursprüng- 
liche war  weiterhin,  daß  die. als  tabu  geltenden  Tiere  nicht  ge- 
gessen und  auch  nicht  geopfert  werden  durften.  Daher  wäre 
es  doch  wahrscheinlich,  daß  zu  den  unreinen  Tieren  auch  alle 
nicht  zu  opfernden  gehörten.  Das  ist  aber  keineswegs  der  Fall; 
denn  nach  den  jüdischen  Satzungen  durften  durchaus  nicht  alle 
reinen  Tiere  geopfert  werden.  Ferner  spricht  noch,  wie  ich 
glaube,  folgende  Erwägung  gegen  die  „dämonistische"  ^  Theorie: 
Dem  ganzen  Altertum,  den  Asiaten  sowohl  wie  den  Ägyptern, 
galt  der  Stier  als  heiliges  Tier,  ein  Glaube,  der  bis  in  die 
ältesten  Zeiten  hinauf  zu  verfolgen  ist,  in  Ägypten  mit  Sicher- 
heit bis  in  die  ersten  Dynastien^,  in  Babylonien  bis  zur  Zeit 
Gudeas^  (um  2340).  Auch  den  Israeliten  lag  diese  Anschauung 
nicht  fern,  wie  die  Erzählung  vom  goldenen  Kalb  und  die  auf 
der  Stufe  der  altprophetischen  Religion  zur  Yeranschaulichung 
Jahwes  verwandten  Stierbilder ^  beweisen.  Aber  gerade  das 
Kalb  galt  den  Juden  nicht  als  unreines  Tier.  Auch  bei  den 
Griechen  wird  das  Rind  sehr  häufig  als  Opfertier  gebraucht 
und  ist  nicht  zu  essen  verboten,  obwohl  nach  religionsgeschicht- 
lich begründeter  Annahme  die  ßo&Ttig  "Hqu  ursprünglich  als 
Kuh  verehrt  wurde.  Es  erheben  sich  also  verschiedene  Be- 
denken gegen  die  dämonistische  Ableitung,  und  diese  finden 
ihre  Stütze  darin,  daß  die  Herkunft  der  heiligen  Tiere  aus 
dem  mit  der  dämonistischen  Theorie  verwandten  Totemismus, 

*  Geschichte  des  Altertums  1  2^  S.  79. 

*  Zu  dieser  Nomenklatur  vgl.  die  Darlegung  Ed.  Königs   Gesch.  d. 
dlttestamentlichen  JReligion  S.  63. 

^  Erm&n  Ägijpt.  Religion  (Handb.  der  Berl.  Kgl.  Museen)  1909*  S.2S 

*  Frank  Studien  zur  habyl.  Beligion  1911  S.  245. 
^  Zuletzt  besproclien  von  König  Gesch.  d.  alttestamentlichen  Religi 

S.  40  u.  210. 


Die  altisraelitische  VorstelluDg  von  unreinen  Tieren  429 

wenigstens  für  Ägypten,  jetzt  abgelehnt  wird.  So  setzt  Erman^ 
an  Stelle  der  älteren  Versuche  eine  neue  Erklärung  der  ägyp- 
tischen heiligen  Tiere.^ 

Ein  weiteres  Argument  gegen  die  dämonistische  Hypothese, 
das  uns  nicht  gerade  durchschlagend  erscheint,  aber  doch  be- 
rücksichtigt zu  werden  verdient,  ist  Orellis^  Frage,  ob  es  wahr- 
scheinlich oder  möglich  sei,  daß  die  Hebräer  auf  jener  früheren 
Stufe  zwar  weder  Stier  noch  Kuh,  wohl  aber  Sumpfvögel, 
Insekten,  Würmer  u   dergl.  für  göttlich  gehalten  haben. 

Mit  der  dämonistischen  Theorie  hängt  eng  zusammen  die 
weithin  vertretene  Ableitung  der  unreinen  Tiere  aus  dem  Tote- 
mismus.  Freilich  ist  man  hier  z.  T.  von  unbewiesenen  Vor- 
aussetzungen ausgegangen,  indem  z.  B.  Stade  *  verlangt,  daß 
man  das  „Vorkommen  von  Stammnamen  als  Tiernamen"  zu- 
gleich mit  dem  „Vorkommen  heiliger  Tiere  und  der  Gewohnheit, 
bestimmte  Tiere  nicht  zu  essen'*  erklären  müsse.  Nach  dieser 
Hypothese  wurden  in  jenen  alten  Zeiten  nicht  alle  Tiere  vom 
ganzen  Volk  als  heilig  angesehen,  sondern  nur  in  jedem  Stamm 
das  dem  betreffenden  Clan  heilige  Tier.  In  späterer  Zeit,  als 
die  verschiedenen  Stämme  sich  zu  einem  einheitlichen  Volk 
zusammengeschlossen  hatten,  hätte  man  alle  diese  heiligen  Tiere 
im  mosaischen  Gesetz  als  unrein  für  das  gesamte  Volk  zu- 
sammengefaßt. Diese  Ansicht,  die  man  hauptsächlich  aus  den 
einigen  Stämmen  beigelegten  Tiernamen,  die  sich  in  Arabien 
besonders  häufig  finden,  geschlossen  hat,  ist  mit  guten  Gründen 
in   der  von  E.  König,  Gesch.  d.  alttest.  Rel.  S.  62   kritisierten 


1  a.  a.  0.  S.  9. 

*  Erman  leitet  ihre  Heiligkeit  ab  aus  Liedern,  in  denen  das  ägyp- 
tische Volk  mit  kühnen  Bildern  zu  spielen  liebte.  Weil  nun  „die  naive 
Phantasie  den  Mondgott  einem  Ibis  und  die  Göttin  Bastet  einer  Katze 
verglichen  hatte,  wurden  diese  Götter  nun  auch  wirklich  als  Ibis  und 
Katze  gedacht  und  dargestellt.  Das  hinderte  aber  nicht,  daß  man  ihnen 
gleichzeitig  auch  menschliche  Gestalt  zuschrieb.^' 

^  Bei  Herzog-Hauck  Protest.  BealenzyMopädie  XVIII  S.  605. 

*  a.  a.  0.  S.  39. 


430  ^^^1  Wigand 

Schrift  Zapletals  über  den  „Totemismus  und  die  Religion 
Israels"  abgelehnt  worden  und  wird  auch  von  Kautzsch  ^  zurück- 
gewiesen. Weitere  Gründe  gegen  den  Totemismus  sind  neuer- 
dings von  Ed.  König  ^  vorgebracht  worden.  Er  weist  hier 
darauf  hin,  daß  wir  keinen  Anhalt  für  die  Annahme  haben, 
daß  es  den  Juden  überhaupt  verboten  gewesen  wäre,  die  un- 
reinen Tiere  zu  töten,  eine  Vorschrift,  die  sich  sonst  bei  Völkern 
mit  totemistischer  Religion  findet.  Als  weiteren  Grund  führt 
König  den  Umstand  an,  daß  das  Verzehren  der  betrefi*enden 
Tiere  bei  den  Juden  für  alle  Zeiten  verboten  war,  nicht  bloß 
für  die  Zeit,  in  der  das  neue  Totemtier  heranwächst. 

Weit  verbreitet  ist  ferner  die  Ansicht,  daß  alle  — ■  oder 
wenigstens  einige  —  Tiere  deshalb  für  unrein  galten,  weil  sie 
in  den  heidnischen  Religionen  der  Nachbarvölker  als  heilig 
verehrt  wurden.  Diese  Annahme  wird  scheinbar  gestützt  durch 
Levit.  XX  22  K,  wo  in  dem  der  Quelle  des  esoterisch -priester- 
lichen Pentateucherzählers  angehörenden  Heiligkeitsgesetz  als 
Zweck  der  Scheidung  der  Tiere  die  Trennung  Israels  von  den 
Nachbarstämmen  angegeben  wird.  Aber  es  erscheint  uns  mehr 
als  zweifelhaft,  ob  man  mit  König  ^  sagen  kann,  „daß  einige 
von  den  für  unrein  gehaltenen  Tieren  deshalb  so  angesehen 
worden  sind,  weil  sie  in  einem  der  israelitischen  Religion  vor- 
ausgehenden und  jedenfalls  von  ihr  verschiedenen  Kult  als 
heilige  Tiere  galten";  denn  da  keine  beweiskräftigen  Gründe 
vorliegen,  kann  man  mit  demselben  Recht  die  Übereinstimmung 
unreiner  Tiere  bei  den  Israeliten  mit  heiligen  Tieren  bei  ihren 
Nachbarn  für  eine  zufällige  halten.  Hierfür  spricht  entschieden 
die  Tatsache,  daß  einige  Tiere,  die  bei  den  Nachbarn  der  Juden 
seit  uralten  Zeiten  als  heilig  galten,  wie  z.B.  das  Rind  und 
die  Fische*,  bei  den  Juden  nicht  unrein,  sondern  zu  essen  er- 

^  Heilige  Schrift  I  S.  160.  »  S.  oben  S.  427  Anm.  2. 

'  Gesch.  d.  alttestamentlichen  Religion  S.  63. 

*  Wie  die  Ägypter  sich  zu  den  Fischen  verhielten,  sahen  wir  oben 
S.  418f.     Daß  Fische  den   Syrern  als  heih'g  galten,  berichten  Cicero  De 


Die  altisraelitische  Vorstellung  von  unreinen  Tieren  43  J 

laubt  waren.  Außerdem  verträgt  sich  diese  Hypothese  nicht 
mit  dem  erhabenen  Standpunkt  der  offiziellen  jüdischen  Reli- 
gion, wie  sie  bei  Josephus^  in  folgendem,  dem  Osarsephos- 
Moses  zugeschriebenem  Gesetz  zum  Ausdruck  kommt :  „sie 
sollten  weder  Götter  verehren,  noch  sich  irgendeines  der  be- 
sonders in  Ägypten  verehrten  heiligen  Tiere  enthalten,  sondern 
vielmehr  alles  opfern  und  verwenden".  Was  nun  die  oben 
zitierte  Leviticus-Stelle  anbetrifft,  so  sagt  sie  durchaus  nicht, 
daß  der  Zweck  der  Scheidung  der  Tiere  in  reine  und  unreine 
der  Antagonismus  gegen  die  heidnischen  Kulte  ^  gewesen  sei, 
sondern  nur  eine  in  die  Augen  fallende  Sitte,  durch  die  sich 
Israel  von  seinen  Nachbarn  unterscheiden  sollte,  und  dies  war 
tatsächlich  der  Fall,  wie  unsere  komparative  Betrachtung  dar- 
gelegt hat. 

Einen  anderen  Grund  für  die  Unreinheit  der  Tiere  hat 
man  in  dem  Festhalten  an  alten  rituellen  Gebräuchen  erkennen 
wollen.  So  hat  Pietschmann^  eine  Erklärung  dafür  zu 
geben  versucht,  daß'  gerade  das  Schwein  im  Altertum,  speziell 
bei  den  Phöniziern,  für  unrein  angesehen  wurde.  Er  weist 
darauf  hin,  daß  es  „in  den  Ländern,  in  denen  der  phönizische 
Stamm  vor  seiner  Übersiedelung  nach  Phönizien  gehaust  hat% 
keine  Schweine  gegeben  habe.  Obwohl  nun  in  den  späteren 
Wohnsitzen  das  Schwein  verbreitet  war,  hätte  man  infolge  des 
Festhaltens  an  alten  rituellen  Vorschriften  keine  Schweine 
geopfert,   sondern  sie  vielmehr  für  unrein   gehalten.     Dagegen 

natura  deorum  III  §  39  und  andere  bei  Smith  Lectures  S.  430  Anm.  1 
aufgeführte  Schriftsteller  des  Altertums. 

^  Jos.  contra  Äpionem  V  239  (26)  Niese,  zitiert  in  anderem  Zusammen- 
hang von  Ed.  König  Gesch.  des  Reiches  Gottes  bis  auf  Jes.  Christus  1908 
S.  84:  'O  dh  7CQ&X0V  ^hv  avroTg  voiiov  ^d^sTo,  iirjrs  jtQOöyivvEtv  d'sovg,  {irits 
rä)v  iidXLöta  iv  AlyvTCta)  d'siiiöTsvo^ivcov  Isq&v  ^aoov  änix^öd'aL  ^ridsvoSt 
TtcLvra  dh  Q'vsiv  xccl  ccvaXovv. 

'  Eine  Parallele  hätte  er  in  dem  Verbot  des  Pferdefleischgenusses 
bei  den  christlichen  Germanen  im  Kampf  gegen  die  heidnisch- germa- 
nischen Religionen. 

^  Geschichte  der  Phoenizier  S.  218  —  219. 


^ß2  ^^^^  Wigand 

spriclit  der  praktische  Grund,  daß  man  für  die  Opfer  diejenigen 
Tiere  gebraucMe,  von  denen  man  eine  genügende  Menge  besaß. 
Galt  docli  aucli  in  Ägypten,  wo  man  das  Schwein  seit  den 
ältesten  Zeiten  kannte^,  dieses  als  unreines  Tier.  Man  wird  also 
den  Grund  für  die  Unreinheit  des  Schweines  in  einer  anderen 
Richtung  zu  suchen  haben.' 

Der  wirkliche  Grund  mag  in  der  Natur  dieses  Tieres  zu 
suchen  sein,  das  in  Brehms  Tierleben^  folgendermaßen  charak- 
terisiert wird:  „Die  Schweine  sind  Allesfresser  in  des  Wortes 
vollster  Bedeutung,  ....  wenige  von  ihnen  ernähren  sich  aus- 
schließlich von  Pflanzenstoffen,  ....  die  übrigen  verzehren 
nebenbei  auch  Kerbtiere  und  deren  Larven,  ....  Lurche,  Mäuse, 
ja  selbst  Fische,  und  mit  Vorliebe  Aas.  Ihre  Gefräßigkeit  ist 
bekannt,  daß  darüber  nichts  gesagt  zu  werden  braucht:  in  ihr 
gehen  eigentlich  alle  übrigen  Eigenschaften  unter,  mit  alleiniger 
Ausnahme  der  beispiellosen  Unreinlichkeit,  welche  ihnen  die 
Mißachtung  der  Menschen  eingetragen  hsi."  Infolge  der  ge- 
nannten Eigenschaften  flößt  dieses  Tier  Ekel  ein,  und  dies  gilt 
auch  von  den  meisten  anderen,  den  Juden  zu  essen  verbotenen 
Tieren,  besonders  den  Schlangen,  den  schlangenähnlichen  Aalen 
und  dem  Gewürm,  bei  denen  freilich  Unreinlichkeit,  wie  beim 
Schwein,  nicht  wahrzunehmen  ist.  In  dem  Ekel,  der  gewiß 
wohl,  wie  Stade*  hervorhebt,  bisweilen  erst  durch  Verbote 
anerzogen  worden  sein  kann,  aber  durchaus  nicht  braucht,  in 
dem  natürlichen  Abscheu  vor  gewissen  Tieren  haben  wir  eine 
der  wichtigsten  Quellen  für  Unreinheit  zu  erkennen.  Können 
wir  doch  wohl  auch  beim  Durchsehen  der  beiden  Listen  im 
Pentateuch  feststellen,   daß  alle  oder  die  meisten  der  hier  ge- 

*  A  Wiedemann  Herodots  2.  Buch  S.  85,  zitiert  von  Schrader  JRedl- 
lexikon  d.  indogerm.  Altertumskunde  1901  S.  746. 

^  Pietschmann  nimmt  den  angeführten  Grand  aucli  für  die  anderen 
Völker  des  Altertums  an,  bei  denen  das  Schwein  für  unrein  galt,  was 
natürlich  erst  für  jedes  einzelne  Volk  zu  beweisen  wäre. 

'  Kleine  Ausgabe  für  Volk  und  Schule,  Leipzig -Wien  1893,  S.  654. 

*  a.  a.  0.  S.  142. 


I 


Die  altisraelitische  Vorstellung  von  unreinen  Tieren  433 

nannten  Tiere  für  uns  ekelerregend  sind.  In  bezug  auf  diese 
Quelle  hat  im  Gegensatz  zum  Totemismus  Orelli  a.  a.  0.  mit 
Recht  hervorgehoben,  daß  der  Ekel  bei  weitem  älter  ist  als 
Totemismus  und  Tabuismus.  Da  nun  im  Alten  Testament  die 
physische  Reinlichkeit  direkt  zu  den  religiösen  Pflichten  ge- 
rechnet wird^,  hat  sicherlich  bei  der  Auswahl  der  Tiere  schon 
in  älterer  Zeit  das  Bedürfnis  nach  äußerer  Reinlichkeit  mit- 
gewirkt, das  Kautzsch^  für  die  ältere  Zeit  ablehnt,  für  die  Zeit 
der  Zusammenstellung  der  Gesetze  aber  annimmt;  ist  doch 
auch  „die  anfänglich  rein  materiell  aufgefaßte  Reinheit"  „den 
Semiten  nicht  ausschließlich  eigen  %  aber  sie  haben  „ihr  einen 
einzigartigen  Wert  beigelegt".^ 

Weiter  ist  den  meisten  der  im  Alten  Testament  aufgeführten 
unreinen  Tiere  gemeinsam,  daß  sie  sich  fast  durchweg  von 
Fleisch  ernähren,  daß  sie  also  bei  ihrer  Nahrung  das  Blut  der 
betreffenden  lebenden  Wesen  in  sich  aufnehmen.  Da  nun  im 
Altertum  und  auch  von  den  Juden  das  Blut  für  den  Sitz  der 
Seele ^  gehalten  wurde,  so  schreckte  man  vor  dem  Genuß  dieser 
Tiere  zurück.  Mit  vollem  Recht  hat  daher  Ed.  König  ^  darauf 
j  hingewiesen,  daß  der  Abscheu  vor  Blut  für  die  Israeliten  ein 
I  Grund  war,  solche  Tiere  als  unrein  zu  meiden. 

Ferner  ist  noch  zu  berücksichtigen  —  und  hierauf  ist  schon 
j  verschiedentlich  im  Altertum,  z.  B.  von  Plutarch  (Sympos.  lY  5, 
!  Kap.  3)  hingewiesen  worden  — ,  daß  man  aus  hygienischen 
i  Gründen    den    Genuß    mancher    Tiere    gemieden    hat.     Dieser 

I  Gesichtspunkt,  der  von  Stade  ^,  freilich  ohne  triftige  Gründe 
{abgelehnt  worden  ist,  erscheint  durchaus  einleuchtend  und  ist 
lauch,  wenigstens  in  bezug  auf  das  syrische  Verbot,  Fische  zu 

essen,  neuerdings  von  einem  so  trefflichen  Kenner  der  orien- 
talischen  Religionen  wie  F.  Cumont^  wieder  anerkannt  worden. 

II  *  Vgl.  König  an  dem  S.  427   Anm.  2  a.  0. 

2  Heilige  Schrift  I  S.  160.  «  Cumont  Orient.  Belig.  S.  142. 

^  Belege  siehe  bei  Wächter  a.  a.  0.  S.  81   Anm.  3. 

^  Protest.  Realenzyklopädie  s.  v.  Reinigungen. 

^  a.  a.  0.  S.  141.  ^  a.  a.  0.  S.  284  Anm.  36. 

Archiv  f.  Keligionswissenschaft  XVII  28 


434  ^^^1  Wigand 

Um  bei  dem  angeführten  Beispiel,  dem  Schwein,  zu  bleiben, 
so  sei  nur  an  die  Trichinen  erinnert  und  darauf  hingewiesen, 
daß  man  auch  jetzt  noch  im  heißen  Klima  des  Orients  kein 
Schweinefleisch  ißt.  Mäuse  und  Ratten  verbreiten  im  Orient 
die  Pest,  und  dies  ist  wohl  auch  bei  einer  Reihe  anderer 
„unreiner  Tiere"  der  Fall,  wie  mir  von  medizinisch- natur- 
wissenschaftlicher Seite  mitgeteilt  wird.  Ob  dieser  Grund  auf 
alle  unreinen  Tiere  anzuwenden  ist,  mag  dahingestellt  bleiben. 
Vielleicht  bringt  uns  die  weitere  naturwissenschaftliche  Forschung 
in  Zukunft  mehr  Klarheit.  Mit  dem  zuletzt  Angeführten  berührt 
sich  die  im  Altertum^  aufgestellte  Ansicht,  daß  der  Genuß  des 
Fleisches  gewisser  Tiere  der  Psyche  nicht  zuträglich  sei.  Ob 
an  diesem  Grunde  etwas  Richtiges  ist,  vermag  ich  nicht  zu 
entscheiden.  ZapletaP  hält  die  Richtigkeit  nicht  für  aus- 
geschlossen. 

Vielleicht  hat  noch  ein  anderer  Faktor  bei  der  Auswahl 
jener  Tiere  mitgewirkt:  wir  finden  unter  ihnen  eine  Reihe  von 
Tieren,  die  nicht  einer  bestimmten  Gattung  anzugehören  scheinen, 
sondern  die  der  naive  Mensch  gleichsam  als  Mischgestalten  auf- 
faßt. Hierzu  sind  die  Wassertiere  zu  rechnen,  die  keine  Flossen 
und  Schuppen  haben,  so  besonders  der  Aal,  der  scheinbar  weder 
Fisch  noch  Schlange  ist  und  dessen  Genuß  aus  dem  gleichen 
Grunde  den  alten  Römern^  untersagt  gewesen  sein  mag.  Hier- 
her gehört  auch  das  hebräische  teo,  in  der  Septuaginta  und 
Vulgata  xu^rjXoTtdQÖaXLg  genannte  Tier,  wenn,  was  freilich  sehr 
zweifelhaft  erscheint,  die  Übersetzungen  hier  das  Richtige  wieder- 
geben; denn  die  Giraffe  erschien,  wie  der  antike  Name  zeigt, 
den  Alten  als  Mischwesen  aus  Kamel  und  Panther.  Eines 
dieser  Tiere  ist  auch  der  Lev.  XI16  genannte  Strauß,  dessen 
griechischer  Name  ötQOvd'Oxä[i7]Xog,  eine  Bezeichnung,  die  sich 

*  Vgl.  z.  B.  Clemens  Alexandr.  Stromata  Yll  6,  §  33  und  Plutarch 
De  esu  carnium  I  Kap.  6;  auch  II  Kap.  1. 

2  a.  a.  0.  S.  86. 

»  Plinius  Nat  Bist.  XXXII  20  nach  dem  altrömischen  Annalisten 
Cassius  Hemina. 


Die  altisraelitische  Vorstellung  von  unreinen  Tieren  435 

noch  jetzt  als  Struthio  camelus  in  der  zoologischen  Wissenschaft 
findet,  ihn  deutlich  als  Mischwesen  kennzeichnet.  Dazu  kommt 
noch,  daß  dieses  Tier,  das  seinem  inneren  Körperbau  nach  den 
Übergang  von  den  Vögeln  zu  den  Säugetieren  bildet^,  trotz 
seiner  Flügel  nicht  fliegen  kann,  und  daß  es,  wie  das  Schwein, 
alles  frißt,  was  ihm  in  den  Weg  kommt. 

Auf  eine  andere  Möglichkeit,  die  altisraelitische  Scheidung 
der  Tiere  in  reine  und  unreine  zu  erklären,  weisen  die  oben 
angeführten  indischen  Überlieferungen  hin.  Man  hat  hier  den 
Eindruck,  daß  die  indischen  Speiseverbote  in  erster  Linie  den 
Zweck  hatten,  den  im  Prinzip  verbotenen  Fleischgenuß  einzu- 
schränken. Da  nun  die  vorsintflutlichen  Menschen  nach  Gen.  IX  3 
Vegetarier  waren  und  die  Scheidung  der  Tiere  in  reine  und 
unreine  doch  den  Fleischgenuß  voraussetzt,  so  kann  diese  vor 
der  Sintflut  nicht  bestanden  haben,  wie  Gen  VI  19  [EP];  VII 2  8; 
VIII 20  [J]  angibt.  J  und  EP  haben  sich  also  hier  eine  Un- 
genauigkeit  zuschulden  kommen  lassen,  die  sich  leicht  aus  ihrer 
Zeit  erklärt,  in  der  die  Scheidung  der  Tiere  allgemein  bekannt 
war.  Es  steht  also  nichts  der  Annahme  entgegen,  daß  die  alt- 
israelitische Scheidung  der  Tiere  in  reine  und  unreine  ursprüng- 
lich denselben  Zweck  hatte  wie  die  indische:  nämlich,  den  neu 
entstandenen,  im  Orient  aber  besonders  für  die  Gesundheit  nicht 
gerade  zuträglichen  Fleischgenuß  einzuschränken.  Danach  müßte 
sich  die  Scheidung  der  Tierwelt  bald  nach  Noah  entwickelt 
haben;  der  Irrtum  des  Jahwisten  in  der  zeitlichen  Ansetzung  der 
reinen  und  unreinen  Tiere  wäre  also  kein  großer.  Eine  In- 
korrektheit  scheint  J  auch  untergelaufen  zu  sein,  wenn  Gen.  VII  2 
I  Jahwe  Noah  befiehlt,  von  allen  reinen  Tieren  7,  von  den  unreinen 
2  mit  in  die  Arche  zu  nehmen,  während  nach  Vers  8   nur  je 

!  ^  Biblische  Naturgeschichte,  Calw -Stuttgart  1854^,  S.  170.  Hier  sei 
Inoeh  auf  den  Hasen  hingewiesen,  der  angeblich  mit  offenen  Augen 
schläft.  Es  dürfte  daher  nicht  unwahrscheinlich  sein,  daß  man  infolge 
jdieser  vermeintlichen  Eigenschaft  ein  gewisses  Grauen  vor  diesem  flüchtigen 
:Tier  empfand,  und  daß  deshalb  die  Israeliten,  wie  auch  die  Bewohner 
iBritanniens  (Caesar  Bellum  Gull.  Y  12),  sein  Fleisch  zu  essen  vermieden. 
*  28* 


436     ^9-^1  Wigand  Die  altisraelitische  Vorstellung  von  unreinen  Tieren 

2  Paare  mit  hineingingen.  Die  letzteren  Zahlen  stimmen  mit 
der  ersten  Aufforderung  Jahwes  vor  dem  Bau  der  Arche 
(Gen.  VI  19 — 20)  üherein,  die  Kautzsch  dem  P  zuweist.  Danach 
könnte  man  daran  denken,  auch  Gen.  VII 8 — 9  dem  P  zuzuweisen. 
Fragen  wir  noch  zuletzt,  wie  man  zu  der  Einteilung  ge- 
kommen ist,  die  in  den  beiden  Kapiteln  des  Pentateuchs,  Lev.  XI 
und  Deuteron.  XIY  vorliegt,  so  dürfte  hier  wohl  die  herrschende 
und  schon  von  Sommer^  ausgesprochene  Ansicht  die  richtige 
sein:  die  üblichen  Haustiere,  wie  Rind,  Schaf  und  Ziege,  galten 
für  zweifellos  rein.  Die  gemeinsamen  Eigenschaften  dieser^Tiere, 
d.h.  Wiederkäuen  und  gespaltene  Hufe,  wurden  dann  als  Norm 
für  die  reinen  Säugetiere  hingestellt,  die  anderen  galten  als 
unrein.  Die  Vögel  schied  man  nach  der  Art  der  Nahrung; 
denn  die  meisten  unreinen  gehören  zu  den  Raubvögeln.  Hinzu- 
genommen wurden  noch  einige,  die  sich  durch  Absonderlichkeit 
oder  durch  Unreinlichkeit  auszeichneten.  Das  kleine  Gewürm 
galt  für  unrein,  wie  sich  dies  ,.nach  dem  angeborenen  Wider- 
willen gegen  dergleichen  Fleischspeise  leicht  erklären  läßt".^ 
Wenn  auch  schon  in  früherer  Zeit  infolge  natürlicher  traditio- 
neller Anschauungen  diese  Tiere  als  unrein  galten,  so  konnte 
ihre  Einsetzung  doch  als  göttliche  überliefert  werden,  zumal 
da  sie  ein  so  gottbegnadeter  Prophet  wie  Moses  dem  jüdischen 
Gesetze  einverleibte. 


*  a.  a.  0.  S.  250.  ^  Sommer  a.  a.  0.  S.  258. 


Eine  weibliche  Inkarnation  in  Tibet 

Von  Albert  Grünwedel  in  Berlin 

In  dem  hierarchisclieii  System  von  wiedergebornen  Heiligen, 
welches  in  Tibet  und  der  Mongolei  mit  den  beiden  Groß-Lamas, 
dem  Dalai  Lama  und  dem  Pan  c'en  an  der  Spitze  die  sicht- 
bare Kirche  darstellt,  vor  der  alle  Laien  sich  tief  in  den 
Staub  bücken,  gibt  es  neben  zahllosen  männlichen  Wieder- 
gebornen auch  einen  weiblichen  Chubilghan  von  so  hohem 
Range,  daß  die  bezügliche  Äbtissin  bei  ihrem  gelegentlich  statt- 
findenden feierlichen  Besuch  in  Lha-sa  vom  Dalai  Lama  nur 
mit  den  höchsten  Ehrenbezeigungen  empfangen  wird.  Schon 
die  ersten  ausführlicheren  Nachrichten  über  den  Klerus  Tibets, 
welche  wir  der  Kapuziner mission  des  18.  Jahrhunderts  ver- 
danken, sind  hierfür,  beachtenswert.  A.  A.  Georgi  (Alphabetum 
Tibetanum,  Romae  1762)  sagt  S.  271  seines  dickleibigen  Quar- 
tanten:  ^Inter  Tibetanas  Lhamissas  celebris  est  Lhamö  renata 
in  regno  Tzhang.  Certum  renatae  signum  est  porci  rostrum, 
quod  ab  ipso  statim  partu  in  cervice  enatum  Magna  Dea 
spectandum  porrexerit';  und  S.  451  sagt  er,  wo  er  ihren  Wohn- 
ort  (* Palte:   Lacus,    alias   Jamdrö   aut   Jang-sö^  nuncupatus') 

I  ^  Es  handelt  sich  um  das  Kloster  hSam  Idin  c^os  sde  auf  einer  der 

drei  Inseln  des  Pal-ti-See,  benannt  nach  der  Stadt  dFdl  di,  nördlich  da- 
Hvon;  gewöhnlich  heißt  der  See  aber  yans  mts'o  *der  ausgedehnte  See' 
\  \  oder  g,  yu  mts'o,  'der  Jade-See',  d.h.  'grüne  See'  oder  auch  g,  yan  abrog, 
rdie  glückliche  Eremitage'  (?)  unter  28^57' 15"  nördl.  Breite,    90»  28' 
östl.  Länge,  13  800  engl.  Fuß  üb.  M.,  vgl.  C.  F.  Koppen  Die  Beligion  des 
Buddha^  Berlin  1859,  2,  354.    Der  tibetische  Geograph  Mintschul  hutuktu 
nennt  den  See  Yar  abrog  g,yu  mts'o  Feorpaoifl  Tnöexa  . . .  B.  BacflJibeBa 
C.  lIcTepo.  1895,    ^.20  =  Journ.  As.  Soc.  Bengal  1887  Nr.  1  S.  12  'den 
grünen  See  der  hochliegenden  Weiden';  .er  nennt  auch  die  drei  Klöster: 
sDag  lun  pa,  aBrug  ra  lun  und  Bo  don's  Kloetev  =  bSam  Idin,  wo  die 
iukamierte  VajravaräM  Tib.  rDo  rje  p'ag  mo  haust,  um  die  Überschwem- 
mungsgefahr aus  dem  benachbarten  'Teufelssee'  (bDud  mts^o)  zu  beseitigeü. 


438  Albert  Grünwedel 

nennt:  ^Sedes  est  Magnae  Renatae  Lliamissae  Turcepamö.  Eam 
Indi  quoque  Nekpallenses  tamquam  ipsissimam  Deam  Bavani 
veneraütur  et  colunt.  Tibetani  vero  Ciangciubium,  hoc  est 
Spiritum  quendam  sanctum,  atque  divinum  in  hac  deformi  foe- 
mina  liaud  aliter  quam  in  Supremo  Lhama  renatum  putant. 
Nee  domo  nee  lacu  egreditur,  neque  vero  iter  facit  unquam  in 
Urbem  Lhassa,  nisi  pompa  praeeat,  totaque  via  thuribula  duo 
semper  incensa,  atque  fumantia  praeferantur.  Tum  venit  Dea 
sub  umbella  advecta  throno:  illius  lateri  adbaeret  Asceta  om- 
nium  senior  tamquam  spiritualis  vitae  rector  et  institutor.  Se- 
quitur  postremo  ordo  reliquus  religiosorum  hominum  ferme 
triginta,  qui  comitatum  et  aulam  componunt.  Ubi  cohors  Lbassam 
pervenerit,  Divam  adeunt  veneraturi  cum  Trabae  ipsi,  tum  Laici 
praesertim,  qui  ter  bumi  prostrati  eam  adorant,  cumulantque 
muneribus.  At  illa  nescio  quod  sigilli  genus  bonis  adoratoribus 
osculandum  praebet,  eosque  divinitatis  suae  participes  facii' 

Einen  zweiten  Beriebt  über  die  inkarnierte  Heilige  ver- 
danken wir  Mr.  Bogle  aus  der  Zeit  der  Sendung  des  Warren 
Hastings  1774 — 1775  nach  Tibet.^  Damals  wurde  die  sieben- 
undzwanzigjäbrige  Vajravarähi  von  Dr.  Hamilton,  dem  Arzt  der 
Expedition,  bebandelt. 

Einen  ausführlicben  Beriebt  über  das  Kloster  verdanken  wir 
Sarat  Chandra  Das,  der  im  Jahre  1882  sieh  dort  aufhielt 
uad  der  dort  während  einer.  Erkrankung  leibliche  und  geistige 
Stärkung  von  der  Äbtissin  erhielt.  Sein  Bericht  ist  vielfach 
wieder  reproduziert  worden.^ 


^  Vgl.  Clements  R.  Markbam  Narratives  of  the  Mission  of  G.  Bogle 
of  Tibet,  London,  Trübner  1876. 

^  Rv.  Graham  Sandberg  Calcutta  Review,  July  1890;  The  Englishman, 
Jani  sott  1890;  Ders.  Tibet  and  the  Tibetans,  London  1906,  S.  57, 117—20 
Sarat  Chandra  Das  Journey  to  Lhasa  and  Central  Tibet,  2<i  edit.,  Londor 
1902,  ed.  by  W.  W.  Rockhill,  New  edition  1904,  S.  181  ff.;  vgl.  auch  Journ 
As.  Sog.  Bengal,  LXVII  1898  Pt.  1  S.  256 ff.;  L.A.  Waddell  The  Buddhisn 
of  Tibet  or  Lamaism,  London  1899,  S.  245;  A.  11 03 AHt,eB'fa  CKa3«Hie  ( 
xOiKAeHin  bT)  TaöeTCKyio  Cxpany,  C.  üerepö.  1897,  S  241  Note. 


Eine  weibliche  Inkarnation  in  Tibet  439 

Danach  beherbergt  das  Kloster  Mönche  und  Nonnen;  die 
Disziplin  der  Inkarnation  ist  sehr  streng;  so  darf  sie  z.B.  nachts 
nicht  liegend  schlafen,  sondern  muß  meditierend  sitzen.  Bei 
Tage  mag  sie  in  einem  Stuhle  sitzend  ruhen.  In  einer  be- 
sonderen Kapelle  ihres  Klosters  sitzen  die  Mumien  ihrer  Vor- 
gängerinnen, welche  sie  einmal  im  Leben  besuchen  muß. 

Die  rDo  rje  p^ag  mo  soll  am  Nacken  ein  Mal  in  Form 
eines  Schweinerüssels  zeigen,  da  die  Gottheit,  die  sich  in  ihr 
inkarniert,  einst  mit  einem  Schweinekopfe  versehen  einen  Dämon 
überwunden  haben  soll. 

Eine  zweite  Inkarnation  dieser  Göttin  ist  am  Ufer  des  gNam 
mts^o  p'yid  mo  (Tängri  Nor),  eine  dritte  in  Markula  (Lahul), 
eine  vierte  erwähnt  Sven  von  Hedin.^ 

Die  Englische  Expedition  im  Jahre  1904,  als  deren  Chief 
Medical  Officer  W.  A.  Waddell  mit  nach  Lhasa  zog,  berührte 
auch  hSam  Idin  Waddell  gibt  uns  eine  ausführliche  Beschrei- 
bung des  Klosters  mit  einer  Abbildung  desselben.^  Die  inkar- 
nierte  Heilige,  damal's  ein  Kind  von  sechs  Jahren,  war  mit  ihren 
Nonnen  usw.  geflohen. 

Graham  Sandberg  gibt  in  seinem  Handbook  den  Namen 
rDo  rje  p^ag  mo  als  gleichwertig  mit  rDo  rje  rnal  abyor  ma 
(Yajravarähi  =  Vajrayogini)  an.^  Der  Name,  den  Koppen  einst 
drastisch  mit  'Diamantsau'  übersetzte,  ist  in  der  Tat  unüber- 
setzbar. Yogini  (rnal  abyor  ma)  und  ihr  Synonym  Varähi 
(p'ag  mo)  ist  die  Bezeichnung  der  weiblichen  Gehilfin  eines 
Yogin,  eines  Tantrikers,  die  Komposition  mit  Yajra  'Donner- 
keil, Diamant'  gibt  dem  Betreffenden  transzendente  Kräfte,  die 
Eigenschaft,  über  die  Naturgesetze  erhaben  zu  sein. 

^  Transhimalaja  Ul^  Leipzig  1912,  S.  158 ff.  Vgl.  auch  Graham  Sand- 
berg Handbook  of  colloquial  Tibetan,  Kalkutta  1894,  S.  199.  Besonders 
hoch  verehrt  wird  sie  im  Kloster  bTsun  t'an  im  nördlichen  Sikhim,  vgl. 
W.A.  Waddell  GazeUeer  of  Sikhim,  Kalkutta  1894,  S.  287. 

^  Lhasa  and  its  Mysteries,  London  1905,  S.  292  ff. 

'  Die  Identität  erhellt  auch  aus  der  Legende  des  Kälavirüpa,  Kdhhab 
dun  dan  S.  12. 


440  Albert  Grünwedel 

Die  Legenden  der  Tantriker  geben  uns  oft  merkwürdige 
Proben  der  allegorischen  Bedeutung  der  niedrigen  Bescbäftiguog 
des  Schweinebütens  ^y  und  in  diesen  Zusammenbau g  gebort  die 
Legende,  welcbe  seit  S.  Cbandra  Das  so  oft  reproduziert  wor- 
den ist,  von  der  Täuschung  des  Sungariscben  Eroberers  im 
Jabre  1716.  Er  wollte  das  Kloster  plündern,  verlangte  aber 
von  der  inkarnierten  Äbtissin,  sie  solle  herauskommen,  damit 
er  sehen  könne,  ob  sie  einen  Schweinskopf  habe.  Auf  die 
Antwort,  er  möge  nicht  versuchen,  das  Kloster  zu  sehen,  zog 
der  Mongole  wütend  heran  und  legte  die  äußeren  Mauern  nieder, 
da  soll  er  eine  wüste  Stätte  gefunden  haben,  auf  der  Schweine 
unter  Obhut  einer  großen  Sau  weideten.  Als  die  Gefahr  vor- 
über war,  verwandelten  sie  sich  wieder  in  Nonnen  mit  ihrer  Vor- 
steherin.   Da  soll  der  Mongole  das  Kloster  reich  beschenkt  haben. 

F.  Grenard  hat  zuerst  darauf  hingewiesen,  daß  die  Anschau- 
ung der  Tibeter  von  einem  Hausgotte  in  Schweinegestalt  die 
Adaptierung  dieser  Tantragottheit  erleichtert  haben  möge.^   Er 

^  Vgl.  besonders  die  Legende  des  Anangavajra  und  Saroruhavajra 
im  KaTibdb  dun  dan  des  Täranätha  ed.  S.  Chandra  Das,  Calcutta  1901, 
S.  18,  Z.  22ff. 

*  Im  Vaidürya  dkar-po,  dem  großen  astrologischen  und  historischen 
Kompendium  des  sDe-srid  Sans-rgyas  rgya-mts'o  (vergl.  über  ihn 
A.  Csoma  de  Koros  Tibet.  Grammar,  Calcutta  1834,  S.  181  und  S.  191 
Note,  C.  F.  Koppen  Beligion  des  Buddhall,  Berlin  1859,  S.  171  ff.)  wird 
Fol.  458  B  des  schönen  Berliner  Holzdrucks  der  Sammlung  W.  A.  Waddell 
der  Hausgott  des  tibet.  Volksglaubens  abgebildet.  Es  heißt  dort  von 
ihm :  rGya  nag  skad  du  ahrug  rje  zer  bod  du  nan  Iha  zes  pa  ni  mi  lus 
pag  gi  mgo  bo  can  etc.,  auf  Chinesisch  'Edler  Donner',  auf  Tibetisch 
'der  innere  Gott';  er  hat  einen  menschlichen  Körper,  aber  den  Kopf  eines 
Schweines.  W.  A.  Waddell  hat  diese  Abbildung  reproduziert  im  Ga- 
zetteer  of  Sikhim,  Calcutta  1894,  S.  368,  vgl.  auch  Indian  Antiquary  1894 
S.  199  U8W.  An  beiden  Stellen  gibt  Waddell  den  chinesischen  Namen 
als  Zug  je  wieder:  offenbar  ein  Lesefehler,  da  das  Aksara  abru  seines 
Exemplars  undeutlich,  ein  azug  aber  unmöglich  ist.  Eine  zweite  A 
bildung  des  Gottes  im  Vaidürya  dkarpo  Fol.  459 A.  „Das  Schwein  spiel 
eine  große  Rolle  in  der  tibetischen  Volksreligion;  es  ist  ein  mächtig 
Feind  der  bösen  Geister;  der  Gott  des  Herdes  wird  mit  einem  Schweine 
köpf  dargestellt."  J.  L.  Dutreuil  de  Rhins  Mission  scientifique  dans  la 
haute  Asie,   2  eme  Partie;  Fr.  Grenard   Le  Turkesian  et   le  Tibet,   Pa: 


es 

I 

e-     1 


Eine  weibliche  Inkarnation  in  Tibet  441 

ist  es  auch,  der  zuerst  die  Anschauung  ausspricht,  die  indische 
Götterform  möchte  ursprünglich  die  Göttin  der  Morgenröte 
Märici  gewesen  sein.^  Allein  Vajravarähi  und  Märici  sind  keines- 
wegs dieselben  Wesen,  sie  lassen  sich  schlechterdings  nicht 
vereinigen. 

Die  Legende,  welche  S.  Chandra  Das  zuerst  mitteilte,  wie 
die  schwgineköpfige  Göttin  mit  dem  pferdenackigen  Hayagriva 
—  die  beiden  sind  Manifestationen  der  Tärä  und  des  Avalo- 
kitesvara  —  den  Dämon  Matrankaru  bändigen  und  ihn  zwingen 
als  Mahäkäla  Buddhas  Lehre  zu  schützen,  genügt  völlig  zur 
Erklärung  und  bedarf  der  Heranziehung  der  Märici  nicht. 

Da  das  Kloster  bSam  Idin  der  roten  Religion  angehört  und 
als  rNih  ma  pa  Kloster  bezeichnet  wird,  so  mögen  wir  in  der 
Literatur  des  Begründers  dieser  Schule  die  Legende  finden. 
Und  in  der  Tat  enthält  das  große  Legendenbuch  des  Padma- 
sambhava  die  von  S.  Chandra  Das  skizzierte  Geschichte,  die 
in  ihrem  Puräna- artigen  Stil  an  den  Varäha-Avatära  Visnus 
bei  den  Hindus  erinnert.  Man  wird  zugeben,  daß  die  von  Ge- 
org! schon  bemerkte  Ausgleichung  der  in  der  Vajravarähi  er- 
scheinenden Form  der  Tärä  mit  der  brahmanischen  Göttin 
Bhaväni  seitens  der  Nepalesen  erträglich  genannt  werden  kann. 

Im   Kapitel  6   der   umfangreichen   Lebensbeschreibung    des 


1898  S.  422.  Es  scheint  diese  Anschauung  aber  auch  zu  denen  zu  ge- 
hören, an  welchen  die  Nachbarvölker  partizipieren,  und  die  Grenard  selbst 
I.e.  so  geschickt  geschildert  hat.  Ich  erinnere  mich,  im  Hause  unseres 
türkischen  Wirtes  in  Urumtsi  (1902,  Okt.)  in  einer  Ecke  des  Gastzim- 
mers einen  grotesken  Bilderbogen  aufgeklebt  gesehen  zu  haben,  der 
schwarze  Schweine  zwischen  stilisierten  Lilien  darstellte.  Die  Frage  nach 
dem  Zweck  der  Darstellung,  die  in  einem  mohammedanischen  Hause 
auffallen  mußte,  wurde  nur  mit  Lachen  beantwortet;  der  Umstand  aber, 
daß  ein  solches  Bild  seit  1881  im  Museum  sich  befindet  (es  stammt  aus 
Samarkand),  beweist,  daß  kein  Zufall  vorliegt. 

*  Noch  mehr  ausgeführt  hat  dies  Charles  Endes  Bonin  Les  Boyau- 
mes  des  Neiges,  Paris  1911  S.  173  —  188.  Über  die  Verwechslung  von 
Märici  und  Vajravarähi  vgl.  A.  Foucher  Etüde  sur  V Iconographie  Boud- 
dhique,  Paris  1900  S.  148  u.  ders.  1905  S.  94. 


442  Albert  Grünwedel 

Guru  Padraasambhava,  welche  den  Titel  hat  Ru  aksa  sakari^, 
kürzer,  wie  es  scheint,  in  Kapitel  5 — 6  der  Pekinger  Ausgabe, 
welche  Emil  Schlagintweit  zu  seinen  Exzerpten  in  den  Ab- 
handl.  d.  k.  bayer.  Ak.  d.  Wiss  .1  CI.  XXI,  II,  1899  S.419ff.  be- 
nutzt hat,  ist  die  Unterwerfung  Rudras,  der  durch  das  Mantra 
Rudra  mantra  marudra  Herr  über  alle  Räksasas  geworden  ist, 

erzählt.     Da    durch    die    erwähnte   Notiz    des    Sarat    Chandra 

* 

Das  die  Wiedergeburt  des  Vajravarähi  mit  dieser  Legende  in 
Verbindung  steht,  gebe  ich  im  folgenden  den  Text  dieses  aben- 
teuerlichen, aber  in  mehr  als  einer  Beziehung  interessanten 
Kapitels  mit  einer  versuchsweisen  deutschen  Übersetzung  des 
keineswegs  leichten  Originals. 

Nunmehr  wird  erzählt  die  Art,  wie  Rudra  bekehrt  wurde.  Es 
machten  eine  Beratung:  von  dem  Palaste  Akanistha,  der  höch- 
sten S'uddhaväsa- Wohnung  aus  der  Dharmakäya  Samantabhadra^ 
mit  den  ihn  umgebenden  Scharen,  aus  dem  mit  Karunä  be- 
gabten Ksetragebiete  Ghanavyüha  der  Sambhogakäya  Mahä- 
vajradhara  und  seine  Umgebung,  von  dem  höchstheiligen  Wohn- 
ort Adakita  aus  der  Nirmänakäya  Vajrapäni  und  seine  Um- 
gebung, aus  der  Unermeßlichkeit  der  selbst  zauberhaft  entstan- 
denen Schöpfung,  alle  drei  Körper  (Käyas)  ohne  Unterschied 
vertretend,  Samantadhara  mit  den  Scharen  seiner  Umgebung, 
aus  dem  im  Osten  liegenden  Ksetrabereiche  Allfreude  der 
Buddha  Vajrasattva  und  seine  Umgebung,  aus  dem  im  Süden 
liegenden  Ksetrabereiche  des  Segens  Buddha  Ratnasambhava 
und  seine  Umgebung,  aus  dem  im  Westen  liegenden  Ksetra- 
bereiche   Sukhävati   Buddha   Amitäbha   und    seine   Umgebung, 

^  Vgl.  über  dieses  merkwürdige  Buch  Bäßler- Archiv  lll  1,  1912  S.  3fF. 
E.  Schlagintweits  Text  hat  immer  Rütra  statt  Rudra,  übrigens  ist  die 
Ligatur  dra  von  tra  in  Holzdrucken  häufig  nicht  zu  unterscheiden.  Bei 
Chandra  Das  (New  edition  1904,  S.  186)  steht  statt  Rudra  mantra  marudra : 
Matrankaru.  Wegen  des Unterscheidungszeichens-|-(Donnerk eil) vgl. J5äyöZe^ 
Archiv  1.  c.  S.  4  Note. 

^  Über  diese  Trinität,  neben  der  hier  noch  alle  die  drei  Form« 
umlassende  Essenz  des  Samantadhara  ('Allerhalter')  als  besondere  Persc 
auftritt,  vgl.  Bäßler- Archiv  III  1,  1912  S.  6. 


Eine  weibliche  Inkarnation  in  Tibet  443 

aus  der  Mitte,  aus  dem  mit  Bodhi  geschmückten  Ksetrabereiche, 
Buddha  Yairocana  und  seine  Umgebung,  aus  dem  im  Norden 
liegenden  vollendet  reinen  Ksetrabereiche  der  Buddha  Amogha- 
siddha  und  seine  Umgebung  und  andere  zahllose  in  Frieden 
hingegangene  (sugata)  nicht  zu  zählende,  nicht  zu  beschreibende 
in  Sambhogakäyas  Vollendete  und  Vidyädharas  also:  „Wenn 
durch  Buddhas  Macht  Rudra  nicht  bekehrt  wird,  so  wird  es 
schlecht  ergehen  und  Buddhas  Lehre  nicht  gedeihen ;  diese  Ver- 
körperung, geschaffen  durch  alle  Verworfenheit,  muß  ein  Rächer 
mit  Waffen  schlagen;  wenn  also  die  alten  Verheißungen  sich 
nicht  erfüllen ,  wird  der  Jina,  der  die  Wahrheit  redet,  zum 
Lügner  werden,  also  geschehe  seine  Unterdrückung,  damit  er 
nicht  mehr  zu  fürchten  sei/' 

So  berieten  sie  und  waren  einmütig  in  ihren  Worten.  Als 
nun  darauf  bei  dieser  Gelegenheit  alle  Sugatas  mit  den  Augen 
der  Weisheit  genau  nachsahen,  für  wen  es  zutreffe  und  bei  welcher 
Gelegenheit  und  von  wem  dann  das  Auftreten  und  die  Voll- 
bringung der  Bekehrung  zu  leisten  sei,  da  erkannten  sie,  daß 
die  Gelegenheit  zu  bekehren  für  zwei  vorliege:  für  S'äkyaku- 
mära  und  Aryabhakti.  Zu  jener  Zeit  hatte  Acärya  S'äkyaku- 
mära  bei  Vajrasattva  die  Bodhi  erlangt  und  Aryabhakti  wohnte 
bei  Vajrapäni;  als  diese  sich  mit  großem  Gefolge  versammelt 
und  uiedergesetzt  hatten,  da  erhielten  sie  unter  persönlicher 
Einwilligung  der  Jinas  der  zehn  Weltgegenden  und  ihrer  Söhne 

Fol.22B4:  de  nas  ru  drai  htul  ts'ul  hsad  pa  ni  -f-  gtsan  mai  gnas 
mc'og  'og  min  c'os  Tcyi  p'o  hran  nas  c'os  sku  Jcun  tu  bzan  po  a¥or  dan 
Icas  pa  rnams  dan  -^  t'ugs  rje  Man  pa  stug  po  bkod  pai  zin  ¥ams  nas 
Ions  sku  rdo  rje  ac'an  c'en  a¥or  dan  bcas  pa  rnams  dan  -§-  Ican  lo  can 
gyi  gnas  mc'og  dam  pa  nas  sprul  sTcu  p'yag  na  dro  rje  a¥or  dan  bcas 
pa  rnams  dan  -|-  bkod  pa  Ihun  gyis  grub  pai  gzal  yas  nas  sku  gsum 
dbyer  med  kun  tu  ac'an  c'en  a¥or  dan  bcas  pa  rnams  dan  -§-  sar  p'yogs 
mnon  par  dga  bai  zin  Farns  nas  sans  rgyas  rdo  rje  sems  dpa  q¥or 
dan  bcas  pa  rnams  dan  ■%■  Iho  dpal  daii  Idan  pai  zin  ¥ams  [24  B]  nas 
Sans  rgyas  rin  c'en  abyun  Idan  alcor  dan  bcas  pa  rnams  dan  -f-  nub  bde 
ba  can  gyi  zin  ¥ams  nas  sans  rgyas  snan  ba  mfa  yas  a¥or  dan  bcas  pa 
rnams  dan  -§-  dbus  byan  c^ub  kyis  brgyan  pai  zin  ¥ams  nas  sans  rgyas  rnam 


444  Albert  Grünwedel 

Abhiseka  und  Konsekration.  In  folgenden  Worten  wurde  ihnen 
ihr  Auftrag  erteilt:  „Ihr  habt  getragen  die  Attribute  des  Ava- 
lokitesvara  und  der  Tärä,  jetzt  ist  es  an  der  Zeit  der  als  glück- 
lich verkündeten  Prophezeiung,  nehmt  als  Hülle  eurer  Häupter 
einen  Pferde-  und  einen  Schweinekopf!" 

So  lautete  der  Auftrag.  Darauf  verwandelten  sie  sich,  dem 
Geheiß  der  Sugatas  entsprechend,  in  den  hochheiligen  Haya- 
griva  mit  S'akti  und  in  der  Ausrüstung  des  Heruka,  wechselten 
in  den  neun  Tanzformen  der  großen  Flammengarbe  ihrer  Ver- 
körperung und  gelangten  auf  die  Spitze  des  Berges  Malaya, 
wo  Rudra  wohnte.  An  den  vier  Toren  dort  waren  vier  Hüter: 
Pferd  und  Schwein,  Löwe  und  Hund.  Da  wandte  der  Hoch- 
heilige das  Mittel  der  Leidenschaftslosigkeit  an  und  segnete  sie. 

Sofort  entstanden  je  vier  Torhüterinnen,  weiße  mit  Pferde- 
kopf, schwarze  mit  Schweinekopf,  rote  mit  Löwenkopf,  grüne 
mit  Hundekopf.  Und  weiter,  bei  dieser  Gelegenheit  sich  in 
Krämpfen  krümmend,  wurden  sie  zu  je  acht,  die  die  Tore  he- 
par snan  mdsad  ak'or  dan  bcas  pa  rnams  dan  ■%■  hyan  rnam  par  dag  pai 
zifi  k'ams  nas  sans  rgyas  don  yod  grub  pa  ak'or  dan  bcas  pa  rnams  dan  -f- 
gmn  yan  bde  bar  gsegs  pa  dpag  tu  med  ein  grans  med  brjod  du  med  pa 
ste  -f-  Ions  spyod  rdsogs  pai  sTcu  dan  rig  adsin  dan  bcas  pas  bka  bgros 
mdsad  pa  -|-  sans  rgyas  mfu  yis  ru  dra  ma  btul  na  -§-  sans  rgyas  bstan 
pa  mi  ap'el  nan  agror  Itun  -|-  kun  tu  log  pa  byas  pai  lus  la  ni  ■%■  gsed 
mas  mts'on  c'a  rnams  kyis  gdab  par  run  -§-  snan  c'ad  byas  pa  fams  c'ad 
ma  smin  na  -f-  bden  pa  rab  brjod  rgyal  ba  brdsun  par  agyur  -§-  ajigs  par 
gyur  pa  ma  yin  non  par  gyis  -|-  zes  bka  bgros  te  zal  ac'am  par  gyur  to  -§• 
de  nas  dei  ts'e  bde  bar  gsegs  pa  rnams  kyis  gan  gis  adul  bai  adul  bskal 
dan  las  ap'ro  su  la  yod  skabs  su  la  bab  -|-  legs  par  ye  ses  kyi  spyan  gyis 
gzigs  pas  -§-  fub  ka  gzon  nu  dan  dad  ap'ag  gnis  kyis  gdul  ba  dus  la  bab 
par  gzigs  so  -|-  dei  ts'e  slob  dpon  fub'^  ka  gzon  nu  rdo  rje  sems  dpa  ru 
sans  rgyas  ■%■  dad  ap'ag  [24  A  1]  p'yag  na  rdo  rjer  gnas  gyur  nas  de  ak'or 
dan  bcas  pa  adus  te  a¥od  par  gyur  pa  las  -§-  p'yogs  bcui  rgyal  ba  sras 
dan  bcas  pas  zal  mfun  par  dban  bskur  byin  gyis  brlabs  rab  tu  gnas  par 
mdsad  de  -f-  bka  bsgoi  gsun  adi  skad  ces  bka  stsal  to  -|-  spyan  ras  gzigs^ 
dban  sgrol  ma  mts'an  rtags  bzun  -|-  rta  gdon  p'ag  gdon  zal  gyi  gnon 
gyis  -§-  legs  par  gsun  bai  bka  gros  dus  la  bab  -§-  ces  gsuns  so  -^  de 
dei  ts'e  bde  bar  gsegs  pa  rnams  kyis  bka  bsgo  ba  bzin  du  |-  dpal  c'en 
rta  mgrin  yab   yum   du  bsgyur   nas  he   ru  kai  c'a  lugs  kyis  -§-  las 


Eine  weibliche  Inkaroation  in  Tibet  445 

hüteten,  als  Löwe,  Tiger,  Wolf,  Schakal,  Geier,  Kranich,  Rabe 
und  Eule.  Da  wandte  er  wieder  das  Mittel  der  Leidenschafts- 
losigkeit an  und  segnete  sie  und  dadurch  wurden  alle  die  acht 
mit  den  Tierköpfen  (Löwe  usw.)  zu  Hexen. 

Sobald  diese  alle  nun  in  der  Folge  in  der  Verkörperung 
der  mit  Sugataattribut  auftretenden  männlichen  Form  den  Gott 
erkennende  übernatürliche  Weisheit  erlangen,  geben  sie  die 
Tierform  wieder  auf  und  erhalten  je  ihre  Köpfe  wieder,  und  von 
der  Mischung  dieser  übernatürlichen  Weisheit  mit  der  Welt- 
zugehörigkeit heißen  sie  dem  Namen  nach  Hexen.^ 

Als  sie  nun  wieder  Krämpfe  bekamen,  entstanden  aus  ihnen 
acht  Wiesen:  Märakanyä,  Räksasi,  Mädani,  Bhairavi,  Vimatä, 
(Jlosini,  Sarakadhari,  Kharparadhari,  und  sofort  wandte  er  wieder 
das  Mittel  der  Leidenschaftslosigkeit  an,  und  es  wurden  die  acht 
Mätrkäs  des  Machtbereichs  der  Keurima^  daraus.  Begabt  mit  über- 
natürlichem Wissen,  wodurch  sie  die  Verkörperung  der  männ- 
lichen Form,  welche  das  Aussehen  eines  Gottes  hatte,  erkannten, 

abar  ha  c'en  poi  gar  dgur  hsgyur  zin  ru  dra  gnas  pai  ri  ma  la  yai  rtse 
mor  p'yin  pas  -|-  dei  sgo  hzi  na  sgo  ha  rta  dan  p'ag  dan  sen  ge  dan  ¥yi 
dan  hzis  hsruns  sin  gnas  pa  las  -§-  dpal  c'en  pos  ma  c'ags  fahs  hyi  shyor 
ha  mdsad  nas  hyin  gyis  hrlahs  pas  -^  sgo  ma  rta  gdon  dJcar  mo  ■%■  j/ag 
gdoTi  nag  mo  -§•  sen  ge  gdon  dmar  mo  -|-  ¥yi  gdon  Ijan  ¥u  hzir  byun 
no  -f-  yan  dei  ts'e  nan  rol  du  hyon  pa  dan  sen  ge  dan  -§  stag  dan  ■%■  wa 
dan  %■  spyan  ¥u  dan  -f-  hya  rgod  dan  ■%■  Jcani  ha  dan  -f-  hya  rog  dan  -§- 
'ug  pa  ste  brgyad  kyis  hsruns  sin  gnas  pa  las  -§-  yan  ma  c'ags  fahs  Jcyi 
shyor  ha  mdsad  de  hyin  gyis  hrlahs  pas  -§-  sen  gei  mgo  can  la  sogs  p'ra 
men  [24  B  1]  ma  hrgyad  hyun  no  •§• 

^  Das  auffallendste  Beispiel  dieser  Art  ist  die  Legende  des  Mahä- 
siddha  Kambala,  der  in  Udyäna  den  Däkinis  Schafköpfe  verschaffte; 
unter  dem  Einfluß  seiner  Macht  verschwanden  diese  wieder,  vgl.  A.  Schief- 
ner Täranätha,  Deutsche  Übersetzung  S.  3'.'4  ad  S  182,  2;  S  186,  2  der 
russischen  Übersetzung  und  Kahhab  dun  dan  ed.  Chandra  Das,  Calcutta 
1901  S.  24;  vgl.  meine  demnächst  in  der  Bihliotheca  Buddhica  erschei- 
nende deutsche  Übersetzung. 

^  So  der  Text,  richtiger  wäre  Kauri-ma  i.  e.  Gauri.  Nach  einem  Traktat 
über  Streuopfer  usw.  der  Samml.  Kozlov,  St.  Petersburg,  Klon  c'en  snin  gi 
tig-le  heißen  diese  acht  Hexen:  Gauri,  Cauri,  Pramohä,  Vaitäli,  Pukkasi, 
Ghasmari,  Smesani,  Candäli,  alle  mit  dem  Zusatz  Vajra-  vor  dem  Namen. 


I 


446  Albert  Grünwedel 

nahmen  sie  unter  Stimrunzeln  furchtbare  Form  an,  da  sie  dä- 
monische Mätrkäs  waren.  Als  sie  nun  wieder  in  Krämpfe 
fielen,  verwandelte  sich  der  Hochheilige  in  die  Gestalt  Rudras, 
indem  er  die  Methode  befolgte,  als  ginge  er,  seine  Speise  zu 
suchen,  die  etwa  in  Menschenfleisch  bestand,  als  stünde  Rudra 
als  Mensch  vor  ihm;  dann  übte  er  der  Frau  des  Rudra  gegen- 
über, es  war  die  Räksasi  Krodhesvari,  Leidenschaftslosigkeit 
und  gab  ihr  den  Segen.  Auf  den  Anruf  *Heruka'  erschien  ein 
Sohn^,  ein  heiliger,  in  der  Gestalt  des  zürnenden  sechsarmigen, 
dreiköpfigen  Vajraheruka. 

Als  nun  darauf,  was  S'ri-Hayagriva  und  seine  S'akti  betrifft, 
das  Pferd  drei  wiehernde  Tonstöße,  das  Schwein  fünf  grun- 
zende hervorbrachte,  da  kam,  bebend  und  angstvoll,  Rudra 
heran  und  sprach  also:  „Du  pferd-  und  schweineköpfiges  Paar, 
was  redest  du  da?  Die  Götter  der  Welt  und  die  Asuras  alle 
preisen  meine  Tugend  und  loben  sie  und  stehen  ergebenen 
Sinnes  vor  meinem  Angesicht;   ich  bin  nicht  überwunden;   du 

de  dag  kyan  yah  bde  bar  gsegs  pai  c'a  adsin  pas  lus  hla  la  m¥yen 
pai  ye  ses  dan  Man  pa  yin  la  ■%■  ma  byol  son  yin  pas  so  soi  mgo  can  du 
byun  ste  -f-  ye  ses  dan  ajig  rten  pa  adres  pas  min  yan  p'ra  men  ma  zes 
byao  -|-  de  nas  yan  dei  nan  rol  du  byon  pas  -|-  bdud  dan  srin  poi  bu  mo 
myos  byed  ma  dan  -|-  skrag  byed  ma  dan  -f-  dri  med  ma  dan  skem  pa 
ma  dan  -|-  p'or  fogs  ma  dan  -§-  gzon  fogs  ma  dan  brgyad  qdug  pa  la  yan 
ma  c'ags  fabs  kyi  sbyor  ba  mdsad  pas  -f-  keu  ri  ma  gnas  kyi  ma  mo 
brgyad  byun  ste  -§-  yab  hlai  c'a  adsin  pas  Ins  mk'yen  pai  ye  ses  mna 
ba  -f-  ma  srin  mo  yin  pas  kWo  gner  ajigs  pai  ts'ul  du  byun  no  -§-  yan 
dei  nan  rol  du  byon  pas  rudra  mi  adug  ste  mi  sa  la  sogs  pai  zas  ts'ol 
du  son  bai  sul  du  dpal  c'en  pos  rudrai  c'a  lugs  su  bsgyur  te  -§-  rudrai 
c'un  ma  srin  mo  kro  dhe  sva  ri  ma  la  ma  c'ags  fabs  kyi  sbyor  ba  mdsad 
nas  byin  gyis  brlabs  te  ■%■  he  ru  ka  zes  brjod  pas  sras  boom  Idan  adas 
va  dsra  he  ru  ka  zal  gsum  p'yag  drug  pa  ¥ro  boi  c'a  lugs  su  byun  no-%- 
de  nas  dpal  rta  mgrin  yab  yum  gyis  rta  skad  fens  gsum  ats'er  zin  p'ag 
skad  fens  Ina  nur  bas  -f-  ru  dra  bred  ein  dnans  te  mdun  du  byun  nas 
adi  skad  ces  zer  ro  -f-  rta  p'ag  wgrin  bu  c'un  k'yod  ji  skad  zer  %jig  rten 
hla   dan  hla   min  la  sogs  pa  kun  gyis  na  yi  [25  A  1]  yon  tan  brjod  ein 

^  Diese  Stelle  wird  verständlich  durch  die  Darlegungen  von  Louis 
de  la  Vallee  Poussin  Bouddhisme,  JEtudes  et  Materiaux,  London  IS 98 
S.  153:  'pitari  dvesam  krtvä  mätary  anurägam  ca.' 


Eine  weibliche  Inkarnation  in  Tibet  447 

selbst  scheinst  (darüber)  glücklicli  zu  sein;  wenn  ich  auch 
früher  zur  Seite  nicht  in  Ehren  gewesen,  so  bin  ich  doch  nicht 
überwunden."  So  sprach  er,  erhob  die  Hand  und  beugte  sie 
zum  Kopfe.  Darauf  trat  der  heilige  Hayagriva  auf  das  Gesäß 
des  Rudra  Kälamoksa,  streckte  den  Pferdekopf  auf  seinen  Kopf- 
wirbel und  legte  ihn  darauf,  und  als  jener  mit  ausgestreckten 
Händen  und  Füßen  lag,  wurde  der  Pferdekopf  von  flüssigem 
Fett  grün  gefärbt  und  vom  Blut,  das  die  Mähne  befleckte,  rot 
und  von  der  Galle,  die  das  Gesäß  befleckte,  gelb,  und  das  Ge- 
hirn spritzte  auf  die  Stirne  und  geriet  auf  die  Nüstern.  Und 
so  erhielt  er  ein  Aussehen,  das  in  entsetzlicher  Weise  seinen 
Körper  verzierte,  so  daß  seine  furchtbar  heldenhafte  Gebarung 
nur  Schrecken  bringen  konnte.  Zur  gleichen  Zeit  trat  das 
Schwein  von  oben  dem  Weibe  Rudras  in  das  Geschlechtsglied 
und  als  der  Schweinekopf,  hin  und  her  fahrend,  ihr  auf  den 
Scheitel  kam,  wurde  der  Schweinekopf  von  Fett  schwarz. 
Nun  vereinigten  Pferd  und  Schwein  ihre  Gesichter,   ließen 

bsnags  ~-  gus  pai  sems  kyis  na  yi  zal  la  Ita  ■%-  na  non  ma  yin  ¥yod 
ran  hde  bar  qdug  -f^  snon  dus  zur  gos  pas  kyan  na  ma  non  -f-  ces  zer  te 
lag  pa  sgren  nas  mgo  la  btud  do  -§-  de  nas  dpal  rta  mgrin  gyis  ru  dra  far 
pa  nag  poi  'og  sgor  zugs  te  rta  mgo  spyi  gtsug  tu  rgyan  sie  bton  nas  -f-  ¥oi 
rJcan  lag  fama  cad  rab  tu  brgyans  pas  rta  mgo  tsHl  ¥us  ts'os  nas  Ijan  ¥ur 
gyur  -f-  Frag  rnog  ma  la  gos  pas  dmar  po  -f-  mJc'ris  pa  p^um  la  gos  pas 
ser  po  —-  Tdad  pa  dpral  bar  bo  bas  gzur  du  gyur  to  -|-  sin  tu  dpa  zin 
sgeg  pa  ajigs  su  run  la  ya  na  bat  sJcu  rgyan  c'a  lugs  dan  Man  par  gyur 
to  ^  dei  ts'e  p^ag  mos  kyan  ru  drai  c'un  ma  dei  bha  gai  nan  du  yar 
zugs  te  p'ag  mgo  spyi  boi  gtsug  tu  yer  byun  bas  °  p'ag  mgo  tsSl  k'us 
ts'os  nas  nag  por  gyur  to  -|-  de  nas  rta  p'ag  gnis  po  zal  sbyor  mdsad  de 
sme  ba  brtsegs  pa  bskran  par  mdsad  nas  ^  rta  skad  fens  drug  ats'er  zin 
p'ag  skad  fens  Ina  nur  bai  mod  de  nid  la  bde  bar  gsegs  pai  dmag  dpun 
ni  rol  bya  afibs  pa  bzin  du  nam  m¥ai  ¥ams  yons  su  gan  sie  -f^  zi  ha 
dan  kWo  bo  dun  zi  ma  k'ro  la  sogs  pai  dmag  dpun  bsam  gyis  mi  ¥ydb 
pa  sprin  gyi  p'un  po  Itar  ak'rigs  so  -|-  dei  ts'e  rudra  far  pa  nag  po 
brgyans  pai  na  ts'as  ma  bzod  nas  c'o  nes  adebs  [25  B  1]  sin  du  abod  c'^en 
po  byas  pa  -—  p'a  ma  hu  ¥yu  -|-  7'ta  p'ag  gnis  kyis  ru  dra  p^am  ^  sans 
rgyas  kyis  ni  bdud  rnams  p'am  —  c'os  ma  yin  rnams  c'os  kyis  p'am  -|-  dge 
qdun  gyis  ni  mu  Stegs  p'am  -|-  dban  pos  Iha  min  p'am  par  agyur  -f-  Iha 
min  rnams  kyis  zla  ba  p'am  -f-  nam  m¥a  Idin  gis  rgya  mts'o  p'am  |-  me 


448  Albert  Grünwedel 

die  Blässen  steil  anschwellen,  und  das  Pferd  brachte  sechs 
wiehernde  Stöße  hervor,  das  Schwein  fünf  grunzende  Töne,  und 
in  demselben  Augenblick  wurde  der  ganze  Himmelsraum  aus- 
gefüllt, als  ob  eine  zum  Himmelsfrieden  eingegangene  Armee, 
zu  magischen  Zwecken  sich  ballend,  herniederstiege,  eine  in 
der  Vorstellung  nicht  zu  fassende  Heeresmasse  von  gütigen 
(sänta)  und  bösen  (krodha^)  männlichen  und  weiblichen  Wesen 
ballte  sich  zu  Haufen  wie  ein  Wolkenwirbel. 

Indessen  konnte  Rudra  Kälamoksa  die  Schmerzen  des  Aus- 
gestrecktliegens  nicht  ertragen,  er  begann  zu  jammern  und  er- 
hob ein  großes  Geschrei:  „Vater  und  Mutter,  hu  hu!  Pferd  und 
Schwein  haben  Rudra  besiegt,  die,  welche  außerhalb  Buddhas 
Lehre  stehen,  sind  von  ihr  überwunden,  der  Sangha  hat  die 
Tirthikas  besiegt,  Indra  ist  Überwinder  der  Asuras  geworden, 
die  Asuras  haben  den  Mond  überwunden,  der  Garuda  hat  das 
Meer  überwunden,  das  Feuer  hat  alles  Holz  überwunden,  das 
Wasser    hat   das  Feuer   bewältigt,   der  Wind   hat  die  Wolken 

yis  sin  rnams  p'am  par  agyur  -|-  c'i(S  ni  me  yan  p'am  par  agyur  -|-  rlun 
•gis  sprin  rnams  afor  bar  agyur  -^  rdo  rje  yis  ni  rin  c'^en  p'ug  —■  mdan 
gsuin  rmi  lam  nan  no  hyas  -f-  gsod  dam  ci  mdsad  myur  du  mdsod  ~  ces 
zer  ha  dan  zag  rdsas  cig  sor  nas  rgya  mts'o  c'en  poi  nan  du  Ihun  bas  ^ 
isan  dan  sprul  gyi  snin  po  dpag  bsam  gyi  Ijon  sin  c'en  por  gyur  te  -f-  de 
yan  rtsa  ba  llui  yul  la  zug  pa  ~  lo  adab  Iha  min  gyi  yul  du  a¥rig  pa  ^ 
abras  bu  ni  ITiai  yul  du  smin  par  gyur  te  ^  min  yan  bdud  rtsi  amrta 
zes  bya  o  ^  de  nas  rta  p'ag  gnis  rgyu  bde  ba  dan  ■—  lam  bde  ba  dan  |- 
abras  bu  bde  zin  bde  ba  c'en  poi  rol  rtsed  sna  ts'ogs  pa  mdsad  ein  -° 
abar  bai  gar  dgui  bro  a¥rab  pa  la  sogs  pai  c'os  ap'rul  sna  ts'ogs  ston 
to  ---  de  Uar  dper  na  dmag  brgyab  te  mi  bsad  nas  °-  go  mts'on  bsus  nas 
ran  gis  gyon  ein  lus  la  btags  -|-  gnans  ¥yer  nor  tob  pai  dpa  bo  g,yul 
las  rgal  ba  bzin  du  ^  dpal  e'en  pos  ru  dra  bsgral  bai  ru  drai  c'as 
[26  A  1]  brgyad  dan  |-  abar  bai  gar  dgui  gsog  pa  la  sogs  pa  fams  ead  ye 
ses  kyi  e'as  su  byin  gyis  brlabs  nas  -f-  rta  p'ag  gnis  e'os  kyi  dbyins  su 
gsegs  so  ~  de  Itar  rudrai  c'as  fams  ead  Ihai  c'as  su  byin  gyis  brlabs 
nas  -f-  1ha  la  dbu  gsum  yon  ba  dan  ^  dur  Urod  kyi  e'as  brgyad  dan  | 
dpal  gyi  c'as  brgyad  dan  -|-  gsog  pa  yon  bai  rgyu  mts'an  ni  de  bzin  no  -|- 
de  nas  dei  ts^e  dpal  p^yag  na  rdo  rjes  sprul  pa  yan  sprul  iiin  sprul  k'ro 
bo  c'en  po  ajigs  su  run  bai  sku  rnams  su  sprul  pas  -|-  dei  ts'e  ru  dras 
kyan  sprul  pa  bkye  ba  g,di  Ita  bur  sprul  te  -^  dbu  dgii  p'yag  bco  brgyad 


Eine  weibliche  Inkarnation  in  Tibet  449 

vertrieben,  der  Diamant  (Yajra)  hat  den  Edelstein  zerspalten.^ 
Da  ich  in  letzter  Nacht  einen  schlechten  Traum  hatte  und  mir 
kaum  etwas  anderes  bevorsteht  als  der  Tod,  so  töte  mich  so 
schnell  als  möglich!"  Als  er  so  gerufen  hatte,  wirkte  Zauber- 
kraft seines  Jammers,  er  fiel  ins  Meer,  da  wurde  er  zu  einem 
großen  Paradies -Kalpavrka,  einem  zauberhaften  Sandelbaum. 
Die  Wurzeln  reichten  hinab  in  die  Welt  des  Nägas,  die  Blätter 
bedeckten  die  Welt  der  Asuras,  die  Früchte  reiften  in  der  Welt 
der  Götter,  sie  hießen  mit  Namen  Amrta. 

Darauf  zeigten  Pferd  und  Schwein  viele  Götterfreuden  von 
höchstem  Tugend  verdienst,  da  Wandel,  Weg  und  Früchte  da- 
bei Tugendverdienst  brachten;  sie  zeigten  magische  Bilder,  mit 
den  neun  Tänzen  in  Flammengarben  beginnend.  So  zum  Bei- 
spiel einen  Krieger  niederzuschlagen,  den  Mann  zu  töten,  Har- 
nisch und  Waffen  abzunehmen  und  sich  selbst  anzulegen,  wie 
ein  siegreicher  Schlachtenkämpfer,  welcher  ihm  überlassene  und 
erraffte  Beute  erlangt  hat.  Es  waren  acht  Manifestationen  Rudras, 

pai  stobs  c'en  ajigs  su  run  ha  ri  rdb  tsam  zig  tu  sprul  par  nus  so  -|-  de 
Itar  sdig  pai  ahras  hu  rnams  smin  pa  la  de  Uar  sprul  mi  nus  so  snam 
de  Uar  ma  yin  te  ^  ¥o  sa  hrgyad  non  pai  hyan  c'uh  sems  dpa  zig  p'yir 
log  pas  -f-  hde  har  gsegs  pa  rnams  Jcyis  hyan  gdul  dka  bar  gyur  pa  yin— 
IJia  dan  hcas  pai  ajig  rten  pa  rnams  Jcyis  ni  Ita  smos  Tcyan  ci  dgos  ~  de 
nas  dpal  p'yag  na  rdo  rjes  de  has  Jcyan  sprul  pai  rdsu  ap'rul  c'en  po 
hkye  ste  -f-  stobs  c'en  dpal  c'en  dgui  ¥ro  ho  yan  sprul  nin  sprul  hsam  gyis 
mi  ¥yab  pa  sprul  te  nam  mJc'ai  ¥ams  fams  cad  yons  su  gan  har  byas 
te  -f-  ru  dra  gdul  hai  fabs  sna  ts'ogs  Tcyi  sgo  nas  adul  bar  mdsad  ein  °- 
ru  drai  lus  la  [26  B  1]  sans  rgyas  fams  cad  ma  lus  pai  p'o  bran  btab 
nas  bzugs  pas  -°-  ru  dras  na  ts^a  ma  bzod  de  c'on  nes  qdebs  sin  du  abod 
hyas  pas  ■%-  p'yogs  hcur  gnas  pai  a¥or  rnams  hrgyugs  -f-  fod  mJc'ar  sgo 
agram  g,yas  g,yon  nas  -f-  bza  sin  ra  bai  nags  ts'al  gnas  gnod  sbyin  srin 
po  qbyun  poi  ts'ogs  -f-  hye  ha  ston  pWag  brgya  mcHs  pas  -|-  rem  cig  myur 
bar  da  Ita  rem  -f-  q¥or  gnas  yul  ni  ni  su  rtsa  hzi  yi  -f-  ru  drai  c^a  qdsin 
hye  ha  dun  p'yur  dmag  -|-  ci  hgyi  hJca  nan  p'o  nar  mnags  pai  qJc'or  — 

*  Vgl.  die  Parallelstelle  in  Ssanang  Ssetsen  Geschichte  der  Ost- 
mongolen S.  51:  ,,  Der  Wind  wirbelt  die  Erde  umher,  die  Erde  bedeckt 
das  Wasser,  das  Wasser  löscht  das  Feuer,  der  Vogel  Garudi  besiegt  die 
Wasserdrachen,  mit  Diamant  werden  Edelsteine  durchbohrt,  die  Tegri 
besiegen  die  Asuris,  Buddha  besiegt  die  Schimnus"  usw. 

Archiv  f.  Religionswissenschaft  XVII  29 


450 


Albert  Grünwedel 


welche  der  Yon  dem  Heiligen  auszuführenden  Erlösung  Rudras 
angehörten,  nachdem  sie  endlich  alle  durch  Segenspenden  zu 
erkennenden  Manifestationen  gemacht  waren,  für  alle  Erkennt- 
nisse, welche  mit  den  neun  Tänzen  in  Flammenstrahlen  be- 
ginnen, gelangte  er  auf  die  Basis  der  Lehre  (dharmadhätu)  von 
Pferd  und  Schwein.  So  wurden  durch  Segen  alle  Manifesta- 
tionen des  Rudra  zu  göttlichen  Manifestationen;  es  geschah 
dies  ganz  in  der  Reihe  des  Zusammenhanges  der  einzelnen 
Basen  (nimitta),  daß  der  Gott  drei  Häupter  erhält,  acht  Mani- 
festationen auf  Leichenäckern,  acht  Segensmanifestationen  — 
dies  sind  die  Basen  der  Sühne.  Darauf  brachte  bei  dieser  Ge- 
legenheit S'ri  -Yajrapäni  Gestalten  nacheinander  hervor,  Zauber- 
gebilde der  dritten  Stufe,  den  Großzürner  zu  schrecken;  gleich- 
zeitig brachte  auch  Rudra,  so  wie  er  konnte,  ein  Zauberwesen  her- 
vor; denn  er  vermochte  es,  eine  Schreckgestalt  zu  zaubern,  so 
groß  als  der  Berg  Meru,  schreckenbringend,  von  furchtbarer 
Macht  mit  achtzehn  Händen  und  neun  Köpfen.  Da  er  sich 
aber  vorstellte,  da  die  Früchte  seiner  bösen  Tat    reiften,   ver- 

dpag  tu  med  pa  p'yogs  mts'ams  fams  cad  nas  ~  bar  snans  gzi  kun 
aWrigs  bse  sgra  sgrogs  °-  om  dg  ru  lu  ru  lui  sgra  sgrogs  sig  -- 
lag  gis  mts'on  c'a  Tcun  gyis  dus  geig  rgijoh  ^  ces  S77iras  pas  ^  geig 
kyan  nan  m¥an  med  ein  ran  gi  ak'or  du  adur  ma  nan  par  -§■  dpal 
c'en  po  boom  Man  adas  vadsra  he  ru  kai  ak'or  du  dban  du  bsdus 
pas  -|-  dei  ts'e  ru  drai  ak'or  la  bka  grub  pa  dan  -|-  mk'a  agro  ma 
sum  rtsu  gnis  dan  ^  ma  bdun  srin  bzi  dan  ~  qbar  ma  brgyad  dan  |- 
gyin  brgyad  dan  -f-  p'o  na  drug  cu  rtsa  bzi  la  sogs  pa  fams  cad  he  ru 
kai  a¥or  du  agyur  to  ~  dei  ts'e  sras  mc'og  sme  ba  brtsegs  pas  Iha  rnams 
kyi  gsol  bya  ba  mdsad  ^  de  nas  hcom  Idan  adas  rdo  rje  adsin  pas  sprul 
pai  ¥ro  bo  bau  la  p'ur  pa  re  btad  nas  -^  [27 AI]  ru  dra  ak'or  dan  bcas 
pa  sgröl  cig  ces  mna  gsol  te  bka  bsgo  o  -|-  dei  ts'e  yan  dpal  rta  mgrin 
byon  nas  rta  skad  fens  gsum  bsgrags  pas  —■  ru  drai  dmag  dpun  fams 
cad  ran  dban  med  par  adus  nas  ■--  de  nas  far  pa  nag  po  ak'or  dan 
bcas  pa  fams  cad  nam  fag  ste  |-  dhan  po  rnams  du  la  bar  gyur  nas 
ran  nid  gnas  pai  yul  dan  |-  ran  gi  lus  kyi  rgyan  dan  -|  ran  ran  gi 
srog  gi  snin  po  p'ul  nas  p'yag  ats'al  zin  adi  skad  ces  gsol  to  -°-  sans  rgyas 
spyod  yul  ¥yod  la  p'yag  ats'al  lo  -§-  rnam  smin  bskyed  mdsad  k'yod  la 
p'yag  ats'al  lo  -|-  bdag  gi  las  kyi  bras  bu  yod  gyur  ein  |-  sna  ma  gan 
byas  adi  la  smin  te  Itos  -|  p^yi  ma  gar  agro  da  Itai  las  kyis  spyod  -|  las 


Eine  weibliche  Inkarnation  in  Tibet  451 

möge  er  es  nicht,  so  gelang  es  auch  nicht.  So  an  acht  Stellen 
unterdrückt,  kehrte  er  als  Bodhisattva  wieder,  der  wäre  aber 
auch  für  Sugatas  schwer  zu  bekehren  gewesen,  geschweige  denn 
Göttern,  die  mit  ihrem  Gefolge  noch  der  Welt  angehören.  Nun- 
mehr setzte  S'ri  Yajrapäni,  indem  er  ein  gewaltiges  zauber- 
haftes Gaukelspiel  begann,  die  Bekehrung  auf  Grund  aller 
Kniffe,  Rudra  zu  unterwerfen,  ins  Werk,  indem  er  alle  Regi- 
onen des  Himmels  erfüllte  mit  in  Gedanken  nicht  zu  fassen- 
den Massen  von  Zauberwesen  dritter  Stufe,  Zürnern  der  neun 
Glückskräfte  großer  Macht.  Auf  Rudras  Leib  baute  er  einen 
Palast  der  Arüpabuddhas  und  betrat  ihn;  Rudra,  der  den 
Schmerz  nicht  mehr  ertragen  konnte,  erhob  ein  großes  Geschrei, 
Jammerlaute  hervorbringend.  Es  eilten  herbei  die  Scharen 
seiner  Umgebung,  welche  in  den  zehn  Weltgegenden  wohnen, 
die  Scharen  von  Bhütas,  Räksasa's  und  Yaksas  aus  den  Parks 
und  Obstgärten,  rechts  und  links  auf  dem  Platz  neben  dem 
Tore  des  hohen  Baues  (?),  hunderttausend  Millionen  erschienen. 
„Seid  stark,  rasch  jetzt  alle  Kräfte  heran!"     Von  vierund- 

ni  Jus  dan  grib  ma  hzin  du  agrogs  -f-  ran  gi  byas  pa  ran  gi  myon  ba 
yin  -|-  yid  c'ad  agyod  Jcyan  las  dban  bcos  su  med  -^  las  Jcyis  mnar  bai 
skye  bo  bdag  adra  rnams  -^  lus  adi  gdan  du  abul  bas  bzes  su  gsol  -|-  zes 
Ins  bzugs  gdan  du  p'ul  bas  Iha  rnams  Jcyi  hzugs  gdan  du  ru  dra  p'o  mo 
yod  pai  rgya  mts'an  yan  de  Itar  yin  no  -°-  de  nas  rudrai  a¥or  abans 
dban  p'yug  rnams  Jcyis  gsol  ba  -f-  dbus  na  mcH  bai  sJcal  ba  med  -^  dJcyil 
q¥or  mfa  la  ned  rnams  zog  -|-  jp'wcZ  la  ats'al  bai  skal  ba  med  -|-  Ihag  ma 
zal  c'ab  bzes  Ihag  [27  B]  zw  ^  da  nas  abans  yin  no  mi  bzlog  -|^  ci  bgyi 
bJca  nan  ned  kyis  bsgrub  ^  ma  byams  bu  la  aJc'ril  ba  Uar  -|-  dam  la  nes 
par  ne  bar  bya  ^  zes  zer  te  mna  dor  ro  -f-  de  na^  gsan  bai  bdag  po  dpal 
p'yag  na  rdo  rje  va  dsra  he  ru  Tca  c^en  pos  p^yag  mts'an  ¥a  tvan  ga  ru 
dra  la  bsnun  te  gan  rJcyal  du  sgyel  te  bsgral  -f-  las  dan  non  mons  pai 
sdig  sgrib  fams  cad  dus  geig  la  sbyans  -|-  dban  bsJcur  dam  tsHg  bsgrags 
te  dam  c'u  blud  ^  lus  nag  yid  gsum  byin  gyis  brlabs  te  gnas  gsum  du 
dam  tsHg  gi  dor  rje  bzag  nas  -°-  c^os  shyon  bai  bsrun  ma  legs  Man  nag 
por  dban  bskur  -^  sans  rgyas  bstan  pa  bsrun  bar  gner  gtad  -f-  gsan  mts'an 
ma  hä  kü  lar  btags  te  rdo  rje  feg  pai  gral  la  bzag  go  ^  de  nas  bkod  pa 
Ihun  grub  tu  sans  rgyas  fal  bai  dban  po  zes  bya  bar  lun  bstan  to  ^  de 
nas  ru  drai  p'un  po  gan  rkyal  du  bsgyel  te  mgo  bo  Iho  nub  -|-  rkan  pa 
byan  sar  du  bstan  te  Iho  p'yogs  adsam  bui  glin  du  ap^ans  pas  sa  gzir 

29* 


4,52  Albert  Grünwedel 

zwanzig  Aufenthaltsorten  in  der  Umgebung  erschienen  hunderi}| 
Millionen  Kämpfer,  welche  das  Aussehen  Rudras  hatten,  voa; 
allen  Weltgegenden  her  eine  zahllose  umgebende  Masse  als 
Boten  gesandt,  um  auf  den  Befehl  zu  hören,  was  sie  tun  sollten, 
erhoben  sie  ein  ermunterndes  Geschrei,  alle  Himmelsräume  durch- 
hallend: „Om!  schreit  den  Ruf  Ru-lu  Ru-lu,  schlagt  zu  glei- 
cher Zeit  mit  Waffen  aller  Art  in  den  Händen!"  So  hieß  es, 
da  doch  keiner  da  war,  der  eigentlich  darauf  zu  hören  gehabt 
hätte;  auch  konnte  man  nichts  hören,  da  ihre  eigenen  Scharen 
dahertrabten.  So  sammelten  sie  sich  alle  unter  dem  Machtein- 
fluß des  Mahäs'ri  Bhagavän  Vajraheruka  unter  seinen  Scharen 
und  so  kamen  bei  dieser  Gelegenheit  alle,  welche  zu  Rudras 
Scharen  gehört  und  ihm  Untertan  gewesen  waren,  unter  Heru- 
kas  Macht,  also :  die  zweiundzwanzig  Däkinis,  die  sieben  Mätrkäs, 
die  vier  Schwestern,  die  acht  'Bar-ma's,  die  acht  Gyin  und  die 
vierundsechzig  Dütas.  Darauf  brachte  der  beste  Sohn  Ucchusma 
die  Gelübde  der  Götter  in  Gang.  Bhagavän  Vajradhara  trieb 
für  die  zehn  Zürner  einen  Nagel  ein,  formulierte  den  Auftrag 
und  sprach  ihn  aus:  „Befreit  (erlöst)  den  Rudra  mit  seinen 
Scharen!"  Da  kam  auch  wiederum  S'ri  Hayagrlva  herbei  und 
gab  drei  wiehernde  Töne  von  sich.  Alle  Heeresscharen  des 
Rudra  hatten  sich  ohne  ihren  Herrn  versammelt,  Kälamoksa 
und  seine  Scharen  waren  erschöpft,  ihre  Sinne  schwanden,  sie 
opferten    auf  den    Ort,   wo   sie  ihr  Wesen  gehabt  hatten,  die 


gyur  pa  ni  —■  de  yan  mgo  lo  sin  ga  lai  yul  -f-  lag  pa  g,yas  fo  gar  yul  -|- 
g,yon  U  yul  |-  rTcan  pa  g,yas  bal  yul  ~  g,yon  ¥a  c'ei  yul  -f-  nan  k'rol 
za  hör  yul  -f-  shin  u  rgyan  yul  -f-  lin  ga  ma  ga  tai  yul  lo  -|-  yul  c'en  po 
hrgyad  do  -f-  tsau,  u  ri  ma  la  sogs  pa  gnas  kyi  ma  mo  hrgyan  dan  -|- 
po  ta  la  sogs  pa  [28  A]  ran  hyun  gi  mc'od  rten  hrgyad  dan  mfon  fos 
rnam  pai  qpWul  drag  la  sogs  pai  yan  tan  hrgyad  dan  -^  srin  mo  ra  ro 
mal  nu  ma  la  sogs  pai  bsrun  ma  hrgyad  dan  -f-  gzan  yan  sin  c'en  po 
hrgyad  dan  -|-  zin  sJcyon  c'en  po  hrgyad  dan  -|-  mts'o  c'en  po  hrgyad 
dan  ~  Jclu  c'en  po  hrgyad  dan  -§-  sprin  c'en  po  hrgyad  dan  ~  p'yogs 
shyon  c'en  po  c'en  hrgyad  la  sogs  te  dur  ¥rod  c'en  po  hrgyad  du  hyun 
har  gyur  to  -f- 


Eine  weibliche  Inkarnation  in  Tibet  453 

Ausstattung  ihrer  Körperlichkeit,  ja  den  Keim  von  all  ihrem 
Leben,  falteten  die  Hände  und  sprachen  also: 

„Yor  dir  falten  wir  die  Hände,  Ort,  wo  Buddha  weilt,  vor  dir, 
der  du  die  Reife  unsres  Karman  schaffst,  siehe  da,  wie  hier  gereift 
ist,  was  wir  früher  taten,  da  nun  die  Früchte  unsres  Karman 
eintreten  sollen,  wohin  wir  nachher  kommen  werden,  das  ergibt 
sich  aus  unserm  jetzigen  Karman;  denn  das  Karman  hängt  an 
uns  wie  der  Schatten  am  Körper,  was  wir  uns  selbst  erwirkt 
haben,  werden  wir  auch  selbst  ertragen  müssen,  die  Wirkung 
des  Karman  kann  es  auch  nicht  wegschaffen,  wenn  wir  auch 
gläubig  Reue  empfinden;  nimm  du  uns  nun  an,  so  wie  wir 
sind  als  Geschöpfe  leidend  durch  unser  Karman,  nachdem  du 
diese  Verkörperung  an  ihren  Sitz  gebracht  hast."  Also  ward 
ihre  Körperlichkeit  an  den  Ruheplatz  gebracht  und  es  geschah 
so  wie  das  Mudrälaksana  war  für  das  Götterpaar  Rudra  mit 
S'akti  am  Orte,  wo  die  Götter  wohnen. 

Darauf  sprachen  die  Untertanen  in  der  Umgebung  Rudras, 
isvaras  Leute,  die  »Bitte  aus:  „Da  es  nicht  dein  Anteil  ist,  in 
die  Mitte  zu  kommen,  ordnen  wir  uns  am  Rande  des  Kreises, 
da  es  nicht  dein  Anteil  ist,  zur  Seite  bittend  zu  stehen,  so 
bitten  wir,  kommen  zu  dürfen,  um  dich  zu  bedienen;  denn  von 
jetzt  ab  ist  uns  die  Möglichkeit  nicht  verwehrt,  Diener  zu  sein, 
wir  haben  aufgehört,  auf  Befehle  zu  hören;  wie  eine  liebende 
Mutter  ihr  Kind  umfaßt,  so  müssen  wir  dem  Gelübde  anhängen/' 
So  ward  die  Botmäßigkeit  aufgegeben. 

Darauf  schlug  Guhyapati,  S'ri-Vajrapäni,  der  große  Yajra- 
heruka,  mit  seiner  Handwaffe,  dem  Khatvanga,  den  Rudra,  warf 
ihn  kopfüber  zu  Boden  und  erlöste  ihn,  reinigte  ihn  mit  einem 
Male  von  allen  bösen  Flecken  der  mit  seinem  Karman  verbun- 
denen Erbsünde,  reichte  ihm  das  Wasser  des  Gelöbnisses  unter 
Aussprache  der  Gelöbnisformel  des  Abhiseka,  segnete  Leib, 
Mund  und  Geist,  wirkte  an  diesen  drei  Stellen  mit  dem  Vajra 
der  Gelübdeformel  bindend,  weihte  ihn  zum  Kälabhadra  als  Be- 
schützer der  Bewahrung  des  Dharma,  übertrug  ihm  die  Sorge 


454         Albert  Grönwedel   Eine  weibliche  Inkarnation  in  Tibet 

des  Schutzes  der  Religion  Buddhas,  gab  ihm  den  Geheimnamen 
Mahäkäla  und  reihte  ihn  dem  Vajrayäna  an;  auch  gab  er  ihm 
die  Verkündigung,  er  werde  später  im  selbstentstandenen  Him- 
mel Buddha  Bhasmendra^  werden. 

Da  stürzte  der  Körper  des  Rudras  kopfüber  herab,  er  wandte 
den  Kopf  nach  Südwesten,  die  Füße  nach  Nordosten,  als  er 
auf  das  im  Süden  liegende  Jambudvipa  herabfiel,  kam  er  also 
auf  den  Boden:  der  Kopf  nach  Simhaladvipa,  die  rechte  Hand 
nach  dem  Land  Thogar,  die  linke  nach  Li,  der  rechte  Fuß  nach 
Nepal,  der  linke  nach  Käsmira,  die  Eingeweide  nach  Zahor,  das 
Herz  nach  Udyäna,  das  Geschlechtsglied  nach  Magadha;  das 
sind  die  acht  großen  Länder.  Und  es  entstanden  die  acht 
Mätrkäs  der  Gruppe  mit  Cauri  mätrkä^,  die  acht  selbstentstan- 
denen Caityas  mit  Potala  an  der  Spitze,  die  acht  Gunas,  be- 
ginnend mit  dem  Zauberschrecken  des  Sehens,  Hörens  und  Er- 
strebens,  die  acht  Wächter,  beginnend  mit  der  berauschenden 
Brust  des  Räksasi,  ferner  die  acht  großen  Bäume,  die  acht 
großen  Ksetrapälas,  die  acht  großen  Seen,  die  acht  großen 
Nägas,  die  acht  großen  Wolken,  die  acht  großen  Dikpälas,  diese 
acht  Großen  sind  auf  den  acht  großen  Leichenstätten  in  Er- 
scheinung getreten. 


^  In  der  Tibetischen  Lehensgeschichte  des  Qakyamuni  von  A.  Schief- 
ner, St.  Petersburg  1849,  S.  14  und  Note  13  (S  84)  ist  die  Bändigung 
S'ivas  durch  Vajraj)äni  ähnlich  erzählt.  Der  Buddha,  als  welcher  S'iva 
wiedergeboren  werden  soll,  heißt  dort  fäl  hai  dhyans,  was  Schiefuer  mit 
Bhasmakrosa  oder  Bhasmaghosa  'Aschen stimme'  übersetzt;  unser  Text 
bietet  t'al  ba  dban,  woraus  leicht  mißverständlicherweise  t\  dbyans  ent- 
standen sein  kann;  ich  halte  die  hier  vorliegende  Form  'Aschenfürst', 
'Aschenindra',  da  S'iva  als  Asket  mit  Asche  beschmiert  ist,  für  richtig. 

*  Vgl.  oben  die  Note  über  Keurima. 


Zum  Zerstückelungs-  und  Wiederbelebungswunder 
der  indischen  Fakire 

Von  A.  Jacoby  in  Luxemburg 

Das  Märchenland  Indien  hat  vor  anderen  heute  noch  den 
Ruhm,  Menschen  zu  beherbergen,  denen  auch  das  kritisch  ge- 
stimmte Europa  trotz  seiner  Überlegenheit  ohne  Zögern  Un- 
glaubliches zutraut.  Man  braucht  oft  nur  den  Namen  *  Fakir' 
auszusprechen,  und  die  den  Trägem  dieses  Namens  zugeschrie- 
bene Faszination  teilt  sich  gleichsam  mit  dem  Klang  des  Wortes 
den  Gemütern  weiter  Kreise  mit  und  zieht  sie  in  ihren  Bann. 
Wer  hört  nicht  mit  einem  Staunen,  dem  sich  geheimes  Grrauen 
beimischt,  die  Erzählungen  von  den  Männern,  die  Tage,  ja 
Wochen  hindurch  im  Grabe  liegen,  um  dem  Schoß  der  Erde 
dann  wieder  frisch  und  lebendig  zu  entsteigen?  Die  vor  den 
Augen  der  bewundernden  Zuschauer  in  wenigen  Augenblicken 
aus  dem  eben  gepflanzten  Kern  den  hohen  Mangobaum  auf- 
wachsen lassen?   Die  noch  viel  Unbegreiflicheres  vollbringen? 

Vor  einigen  Jahren  stellte  sich  Prof.  R.Schmidt,jetzt  in  Münster, 
die  Aufgabe^,  das  Wesen  dieser  ^menschlichen  Narrheit'  einem 
weiteren  Leserkreis  zugänglich  und  deutlich  zu  machen.  An 
der  Hand  der  Quellen  wird  allerlei  über  Lehre  und  Praxis 
der  indischen  Yogin  mitgeteilt,  die  in  einer  eigentümlichen 
Methode  der  Autosuggestion  besteht  und  dem  Adepten  Un- 
sterblichkeit, Erlösung  und  Wunderkraft  verleiht.  Das  Buch 
ist  reich  illustriert  durch  87  Abbildungen  der  Yogapraxis, 
Darstellungen  zur  Gherandasamhita,  einem  der  Hauptwerke 
über  die  Yogins.  Die  von  Professor  Garbe  zur  Verfügung 
Schmidts  gestellten  Aquarelle  sind  aber  nicht,  wie  dieser  meint, 

^  Fakire  und  Fdkirismus  1908. 


456  ^'  Jacoby 

ein  Unikum.  Das  chinesisclie  Wan -  schon -hsien-slm  oder  ^die 
Kunst,  die  Unsterbliclikeit  zu  erlangen',  eine  gleichartige  chine- 
sische Anweisung,  ist  gleichfalls  mit  87  Abbildungen  geschmückt, 
von  denen  38  in  einer  Publikation  der  Deutschen  Gesellschaft 
für  Natur-  und  Völkerkunde  Ostasiens  wiedergegeben,  49  an- 
dere als  im  Original  vorhanden  außerdem  erwähnt  sind.^  Die 
87  Illustrationen  waren  also  wohl  traditionell  und  kanonisch. 
Die  Wunder'  der  sog.  Fakire  sind  nun  zum  Teil  gewiß  nichts 
anderes  als  außerordentlich  geschickte  Taschenspielerkünste,  die 
nach  dem  alten  Satze  'Geschwindigkeit  ist  keine  Hexerei'  zu 
erklären  sind.  Zum  Teil  aber  sind  sie  auch  nach  moderner 
Annahme,  die  in  vielen  Fällen  wohl  recht  haben  wird,  da» 
Produkt  und  der  Erfolg  einer  Suggestion  oder  Hypnotisierung. 
Es  sind  z.  B.  Kunststücke,  die  uns  ähnlich  aus  hypnotischen 
Sitzungen  Europas  geläufig  sind,  wenn  A.  Bastian  aus  Birma 
erzählt,  'die  Zuschauer  des  Zea  (d.  i.  Zauberers)  sehen  eine 
wunderschöne  Melone  vor  sich,  so  saftig  und  reif,  daß  ihnen 
das  Wasser  im  Munde  zwischen  den  Zähnen  zusammenläuft. 
Wenn  sie  aber  ein  Stück  in  den  Mund  stecken  wollen,  beißen 
sie  in  ihren  eigenen  Finger,  wie  weiland  die  durch  Albertus 
Magnus  geneckten  Höflinge  im  heiligen  römischen  Reich'.^ 
Solche  Halluzinationen  vergleiche  man  etwa  mit  den  von  Bern- 
heim in  seiner  Klinik  in  Nancy  hervorgerufenen.^  Die  Anabiose 
der  Fakire  ist  öfters  untersucht  worden.^  Daneben  finden  sich 
aber  auch  'Wunder',  die  einfacher  und  ungezwungener  sich  er- 
klären; sie  sind  wohl  nur  Sage. 


^  Mitteilungen  der  Deutschen  Gesellschaft  für  Natur-  und  Völkerkunde 
Ostasiens  in  Tokio  VI  1893,  8  ff.,  in  dem  Aufsatz  von  v.  d.  Goltz  Zau- 
berei und  Hexenkünste  etc.  in  China. 

'  Östliches  Asien  II  420. 

*  De  la  Suggestion  3.  ed.  1891  im  zweiten  Kapitel  p.  31ff. 

*  Combos  Vanahiose  des  fakirs,  Bullet,  de  la  societe  acad.  indo- 
chinoise  de  France  II  3,  642—543 ;  Hellwald  Die  Magiker  Indiens,  Schrif- 
ten der  Gresellschaft  f.  Experimental-Physiologie  II.  III;  Stoll  Suggestion 
und  Hypnose  in  der  Völkerpsychologie,  2.  Aufl.  1904. 


Zum  Zerstückelungs-  u.Wiederbelebungswnnder  der  indischen  Fakire    457 

So  kehrt  auch  in  Schmidts  Buch  eine  Wundererzätlung 
wieder,  deren  Geschichte  interessant  genug  ist,  um  eine  zu- 
sammenhängende Untersucliung  zu  lohnen.  Sie  ist  m.  E.  ein 
Beispiel  dafür,  daß  man  mit  der  Erklärung  durch  Hypnose 
und  Suggestion  nicht  vorsichtig  genug  sein  kann. 

Schmidt  berichtet  nach  Yairagyanandas  Hinduhypnotismus^: 
'Der  Yogin  hypnotisiert  sein  Publikum  ohne  dessen  Einwilli- 
gung und  Wissen.  Das  Publikum  ist  visionierend.  Die  phä- 
nomenale Echtheit  der  Fakirvorführungen  wird  dem  Leser  durch 
zahlreiche  Protokolle  bewiesen,  welche  die  notariell 
beglaubigten  Unterschriften  zahlreicher  Mitglieder 
der  britischen  Aristokratie,  vieler  Offiziere  der  Armee 
und  anderer  angesehener  Personen  tragen.  So  lesen  wir 
in  einem  Bericht,  wie  ein  Fakir  ein  Garnknäuel  in  die  Luft 
warf.  Es  flog  hoch,  bis  es  vor  den  Augen  des  bestürzten 
Publikums  verschwand.  Während  seines  Fluges  wickelte  es  sich 
auf.  Ein  Ende  des  Knäuels  blieb  am  Erdboden,  während  das 
andere  Ende  anscheinend  bis  in  die  Wolken  hinaufreichte.  Nun 
gebot  der  Fakir  einem  Jungen  hinaufzuklettern.  Der  Knabe 
gehorchte  und  kletterte  anscheinend  so  schnell,  daß  man  ihn 
bald  nicht  mehr  sehen  konnte.  Sofort  befahl  ihm  der  Fakir, 
wieder  umzukehren,  ohne  trotz  mehrfacher  Wiederholung  des 
Befehls  Gehorsam  zu  finden.  Da  ergriff  er  wütend  ein  Messer 
und  kletterte  dem  Knaben  nach.  Nach  einer  kurzen  Pause  er- 
wartungsvollsten Stillschweigens  hörte  man  in  der  Luft  einen 
entsetzlichen  Schrei  und  die  blutigen  Glieder,  Kopf  und  Rumpf 
des  Jungen  kamen  einzeln  heruntergeflogen.  Das  Publikum 
nahm  eine  drohende  und  entrüstete  Haltung  an,  so  daß  sich 
der  zurückkehrende  Fakir,  anscheinend  um  sein  Leben  besorgt, 
bewogen  fühlte,  sein  Verbrechen  wieder  gutzumachen.  Er  setzte 
die  Glieder  des  Jungen  zusammen,  murmelte  einige  Mantrams 
und  beschrieb  mit  dem  Finger  geometrische  Figuren  in  der  Luft. 
Sogleich  fügte  sich  der  zerstückelte  Leichnam  zusammen  und 

*  Übersetzt  von  Harry  Bondegger  22  ff.     Bei  Schmidt  167. 


458  ^'  Jacoby 

der  Knabe  sprang  frölilicli  lachend  wieder  auf.  —  Diese  Vor- 
führung, welche  von  verschiedenen  Yogins  viele  Male 
veranstaltet  wurde,  wurde  in  einem  Protokoll  bis  in  jede 
Einzelheit  beschrieben  und  von  den  Zuschauern  unter  genauer 
Durchsicht  unterzeichnet.  Wie  überrascht  waren  alle,  als  ihnen 
ein  amerikanischer  Journalist  mehrere  photographi- 
sche Aufnahmen  derselben  Vorstellung  zeigte.  Auf 
jedem  Bilde  konnte  man  den  Fakir  und  Jungen  behäbig  schmun- 
zelnd auf  einer  Matte  sitzen  sehen.  Von  anderen  Dingen  war 
nichts  zu  entdecken.  Der  Fakir  war  während  der  ganzen 
Sitzung  nicht  von  seiner  Matte  aufgestanden,  hatte  in  Wirk- 
lichkeit die  Vorgänge  unter  Konzentration  seiner  Aufmerksam- 
keit nur  erzählt,  und  das  faszinierte  Publikum  hatte  alle  Wun- 
der nur  in  der  eigenen  Phantasie  leibhaftig  geschaut.  Auf  die 
tote  photographische  Platte  konnte  sich  der  Einfluß  des  Magiers 
nicht  erstrecken.  Es  gibt  dafür  nur  eine  Erklärung:  der  Hindu 
psychologisiert  oder  hypnotisiert  seine  Zuhörer.  Er 
bringt  deren  Geist  in  einen  derartigen  Zustand,  daß  Vorstellung 
weiter  nichts  als  Einbildung  repräsentiert.' 

Es  mögen  jetzt  etwa  zehn  Jahre  her  sein,  daß  durch  die 
Zeitungen  ein  ähnlicher  Bericht  ging,  den  ich  damals  in  der 
'Straßburger  Post'  las;  leider  ist  er  mir  nicht  mehr  zur  Hand. 
Immerhin  entsinne  ich  mich  noch  genau  der  Tatsache,  daß 
dort  von  einer  doppelten  Aufnahme  der  Vorführung  die  Rede 
war:  während  der  eine  Journalist  das  Kunststück  mehrfach 
photographierte,  zeichnete  ein  anderer  die  einzelnen  Stadien  mit 
dem  Stifte  nach.  Die  photographische  Platte  zeigte  nichts  als 
den  die  Zuschauer  scharf  anblickenden  Fakir,  die  Zeichnungen 
dagegen  gaben  die  verschiedenen  Momente  der  eben  erzählten 
wunderbaren  Vorführung  wieder,  woraus  daun  gleichfalls  der 
Schluß  auf  hypnotische  Einwirkung  gezogen  wurde 

Die  Geschichte  mit  diesen  amerikanischen  Journalisten  ist 
aber  nichts  anderes  als  eine  kühne,  wohlgelungene  Irreführung 
des  Publikums   gewesen;   die   schlauen  Zeitungsmänner  hatten 


Zum  Zerstückelungs-  u. Wiederbelebungswunder  der  indischen  Fakire    459 

mit  der  Leichtgläubigkeit  dem  mystischen  Humbug  gegenüber 
gerechnet,  und  nicht  ohne  Erfolg.  Als  die  Chicago  Tribüne' 
im  Jahre  1890  ihre  auffallenden  Mitteilungen  brachte,  da  nahm 
sich  die  um  die  Erforschung  der  menschlichen  Seelenkräfte  so 
verdiente  englische  Society  for  psychological  researches  der  Sache 
auj  konnte  aber  in  Indien  nicht  einen  einwandfreien  Zeugen 
des  Wunders,  viel  weniger  einen  Fakir  finden,  der  das  Wunder 
selbst  auszuführen  vermochte.  Eine  nähere  Untersuchung  der 
Herkunft  der  Zeitungsberichte  ergab  denn  auch,  daß  es  sich 
um  eine  bewußte  Täuschung  der  Leser  handelte.  Das  Genauere 
über  diese  freilich  etwas  wenig  wunderbare,  überraschende  Lö- 
sung der  Frage  ist  in  einem  interessanten  Buche  des  Direktors 
am  psycho -physischen  Laboratorium  der  Universität  Kopen- 
hagen, Dr.  A.  Lehmann,  zu  lesen.^ 

Lehmann  spricht  dort  auch  davon,  daß  die  gleiche  Ge- 
schichte von  der  bekannten,  aber  nicht  einwandfreien  Theo- 
sophin  Madame  Blavatski  mitgeteilt  werde.  Sie  beruft  sich 
an  der  Stelle^  auf  einen  älteren  Zeugen,  den  marokkanischen 
Reisenden  Ibn  Batüta^,  der  im  14.  Jahrhundert  bis  nach  China 
gelangte.  Nun  war  Ihn  Batüta  ein  leichtgläubiger,  supersti- 
tiöser  Mann,  dessen  umfangreiches  Reisewerk  allerlei  berichtet, 
was  nur  mit  Vorsicht  benutzt  werden  darf  Er  will,  als  er  am 
Hofe  des  Emirs  Korthai  in  Chansa,  heute  Hang-tscheu-fu,  sich 
aufhielt,  folgendes  Erlebnis  gehabt  haben:  ^Es  präsentierte  sich 
ein  Gaukler,  und  der  Emir  sagte  ihm:  ,Laß  uns  eines  deiner 
Wunder  sehen'.  Er  nahm  nun  eine  Holzkugel  mit  mehreren 
Löchern,  durch  welche  lange  Leinen  liefen.  Er  warf  sie  in  die 
Luft  und  sie  stieg  so  hoch,  daß  wir  sie  nicht  mehr  sahen. 
Wir  befanden  uns  in  der  Mitte  der  Zitadelle  und  es  war  zur 
Zeit  der  großen  Hitze.  Als  ihm  nur  noch  ein  kleines  Ende  der 

^  Aberglauben  und  Zauberei  1898,  304  f. 

*  Isis  miveüed^  I  472 f. 

'  Collection  d'ouvrages  orientaux  publice  par  la  societe  asiatique, 
4  Bde.,  IV.  Vgl.  auch.  Stoll  Suggestion  und  Hypnotismus  in  der  Völker- 
psychologie, 2.  Aufl.  1904,  S.  270. 


460  ^-  Jacoby 

Leine  in  der  Hand  blieb,  befahl  der  Gaukler  einem  Gehilfen, 
sich  an  die  Leine  zu  hängen  und  daran  in  die  Luft  zu  klettern, 
was  er  tat,  bis  wir  ihn  nicht  mehr  sahen.  Der  Gaukler  rief 
ihn  dreimal,  ohne  eine  Antwort  zu  erhalten;  dann  ergriff  er 
ein  Messer,  wie  wenn  er  zornig  wäre,  hängte  sich  an  das  Seil 
und  verschwand  ebenfalls.  Dann  warf  er  eine  Hand  des  Knaben 
herunter,  dann  einen  Fuß,  dann  die  andere  Hand,  den  anderen 
Fuß,  den  Rumpf  und  den  Kopf.  Er  kam  dann  keuchend  und 
ganz  außer  Atem  wieder  herab,  seine  Kleider  waren  blutbefleckt; 
er  küßte  vor  dem  Emir  die  Erde  und  sagte  zu  ihm  etwas  auf 
Chinesisch.  Als  ihm  der  Emir  etwas  befohlen  hatte,  nahm  der 
Gaukler  die  Glieder  des  Knaben,  fügte  sie  Stück  an  Stück  zu- 
sammen, gab  ihm  einen  Fußtritt,  und  siehe  da!  der  Knabe  er- 
hob sich  und  stand  ganz  aufrecht.  All  das  setzte  mich  in  großes 
Staunen  und  ich  bekam  ein  Herzklopfen,  wie  damals,  als  ich 
beim  König  von  Indien  Zeuge  einer  ähnlichen  Begebenheit  ge- 
wesen war.  Man  ließ  mich  eine  Arznei  einnehmen,  welche 
mich  von  meiner  Unpäßlichkeit  befreite.  Der  Kadi  Afchareddin 
saß  neben  mir  und  sagte  zu  mir:  ,Bei  Gott,  es  ist  weder  Auf- 
steigen, noch  Herabkommen,  noch  Abschneiden  von  Gliedern, 
alles  ist  nur  Gaukelei^' 

StoU  denkt  bei  dieser  Erzählung  an  Suggestion,  an  einen 
hypnotischen  Zustand  des  Marokkaners.  Ob  das  tatsächlich 
eine  begründete  Annahme  ist,  kann  natürlich  nur  der  Fach- 
mann entscheiden.  Bei  einer  beschränkten  Zuschauerzahl,  wie 
sie  hier  vorausgesetzt  wird,  hat  diese  Vermutung  jedenfalls 
mehr  Wahrscheinlichkeit  für  sich,  als  in  jenen  ersten  Berichten, 
wo  man  eine  richtige  Massensuggestion  annehmen  müßte. 

Einen  anderen  Zeugen  für  das  nämliche  Wunder  bringt 
E.  D.  Hauber^  aus  Meltons  Morgenländischer  Reisebeschreibung 
bei:   'Man   findet  unter  den  Chinesen  viele  Zauberer,  Zeichen- 

^  Bihliotheca,  acta  et  scripta  magica.  Gründliche  Nachrichten  und 
Urtheile  von  solchen  Büchern  und  Handlungen,  welche  die  Macht  des 
Teufels  in  leiblichen  Dingen  betreffen.     XIV.  Stück,  1740,  114  ff. 


Zum  Zerstückelungs-  u.Wiederbelebungswunder  der  indischen  Fakire    46 1 

deuter,  Wahrsager,  und  künstliche  Possenreißer  oder  Gaukeier, 
so  von  einem  Ort  nach  dem  andern  reisen,  um,  wie  es  scheint, 
in  Gefahr  ihres  Lebens,  ein  Stück  Brodts  zu  verdienen.  Ich 
sähe  eine  solche  Gesellschaft  im  December  (Anno  1676)  zu 
Batavia  solche  Dinge  thun,  über  welche  man  sich  billig  ver- 
wundern muß,  davon  ich  dem  Leser  etwas  mitteilen  will.  Erst- 
lich kröche  einer  von  der  Gesellschaft  unter  einen  Korb,  der 
so  enge  war,  daß  er  kaum  darunter  sitzen  kunte,  gleich  dar- 
auf stach  sein  Cammerad  mit  einem  spitzen  Degen  so  tapffer 
durch  denselben  Korb  durch  und  durch,  daß  der  darunter 
sitzende  überlaut  zu  schreyen  anfing,  und  das  Blut  allenthalben 
herfür  drung.  So  bald  er  aber  wieder  hervor  kommen,  kunte 
man  nicht  das  geringste  an  ihm  erblicken.  Wir  stunden  in 
hoher  Verwunderung,  daß  er  nicht  von  einem  eintzigen  dieser 
Stichen  getroffen  worden,  da  doch  der  Korb  überaus  enge,  der 
Dege  stets  durch  und  durch  gedrungen,  und  wir  das  Blut  auch 
vielfältig  gesehen  hatten.  (Nach  diesem  von  den  in  Europa 
reisenden  Fakiren  oft  vorgeführten  Kunststück^  folgen  bei 
Melton  dann  allerlei  andere  Akrobatenstückchen.)  —  Aber  jetzo 
wil  ich  etwas  erzählen,  welches  allen  Glauben  übertrifft, 
und  welches  hier  einzurücken  ich  mich  nimmermehr  unter- 
stehen würde,  dafern  es  nicht  über  tausend  Menschen 
neben  mir  mit  ihren  leiblichen  Augen  gesehen  hätten. 
Einer  von  den  Gauklern  nahm  ein  aufgewickeltes  Klauen  von 
einem  Strick,  davon  er  das  eine  Ende  in  die  Hand  nahm,  und 
das  Klauen  mit  einer  solchen  Gewalt  in  die  Luft  hinein  warf, 
daß  es  niemand  mit  seinem  Gesicht  erreichen  kunte,  hieselbst 
kletterte  dieser  Mensch  mit  solcher  Geschwindigkeit  an  dem- 
selben Strick  in  die  Luft,  daß  man  ihn  endlich  nicht  mehr 
sehen  kunte.  Ich  stund  damahlen  in  großer  Verwunderung,  nicht 
wissend,  was  daraus  werden  solte,  bis  ich  inzwischen,  und  alle 
Zuschauer  neben   mir,   sahen,  daß  ein  Bein  aus  der  Luft  her- 

^  Ygl.  E.  V.  Hesse -Wartegg  ZauberJcünste  der  indischen  Fakire^  Da- 
heim 39.  Jahrg.  1902/03  Nr.  5,  23  ff. 


462  ^'  Jacoby 

unterfiel.  Einer  von  diesen  Gauklern  rafte  es  augenblicklich 
auf,  und  warf  es  in  den  vorbeschriebenen  Korb.  Ein  Augen- 
blick hernach  fiel  eine  Hand  herunter,  und  gleich  darauf  aber- 
mahl ein  Bein,  kurtz  zu  melden,  alle  Glieder  des  Leibes  kamen 
solcher  gestalt  aus  der  Luft  herunter  gefallen,  und  wurden  zu- 
sammen in  den  Korb  geworffen.  Das  allerletzte  Stücke,  so 
wir  herunter  kommen  sahen,  war  der  Kopff,  welcher,  sobald 
er  nur  die  Erde  berühret,  von  dem,  der  die  Glieder  aufge- 
sammlet  hatte,  unterst  zu  oberst  gekehret  ward.^  Hierauf 
sahen  wir  vor  unseren  Augen,  wie  alle  diese  Glieder  wieder 
zusammen  krochen,  und  sich  vereinigten,  daß  alsobald  ein 
vollkommener  Mensch  daraus  ward,  der  alsobald  wieder  stehen 
und  gehen  kunte,  wie  vorher,  ohne  einigen  Schaden  an  ihm 
zu  mercken.  Ich  habe  mich  niemahlen  über  etwas  so  sehr 
verwundert,  als  da  ich  dieses  Werck  sähe,  und  ich  zweifele  fast, 
ob  alles,  absonderlich  das  letzte  Stück,  ohne  eines  andern 
Hülffe  hat  zugehen  können.'  So  weit  Melton  in  seiner  Reise- 
Beschr.  part.  4,  c.  18,  pag.  m.  498.^  —  Weil  ich  die  Reise- 
Beschreibung  des  Meltons  noch  nicht  habe  zu  sehen  bekommen, 
auch  von  diesem  Autore  bey  anderen  Schreibern  noch  nichts 
antreffen  können,  so  habe  ich  die  vorgedachte  Erzählung  aus 
E.  G.  Happalii  größten  Denckwürdigkeiten  der  Welt,  oder  so 
genanten  Belationibus  curiosis  entlehnt,  in  deren  ersten  Theil 
dieselbe  p.  445.  446  gelesen  wird/^ 

Den  gleichen  Meltonschen  Bericht  gibt  auch  P.  Walbaum* 
nach  einem  Werke  PauUinis.^  Hier  heißt  es  aber  vom  Kopf 
des  Fakirs:   'Das  allerletzte  war  der  Kopf,   welcher  gleichfalls 

*  Das  ist  wohl  ein  Irrtum,  s.  gleich  den  Bericht  Walbaums. 

'  Edward  Melton  Zee-  en  Land  Beizen  door  Egypten,  Westindien, 
Perzien,  TurJceyen,  Oost-Indien  etc.     Amsterdam  1660.  1677.  1681.  1702. 

'  E.  Guernerus  Happel  Größte  Denkwürdigkeiten  der  Welt  oder  so- 
genannte Belationes  Curiosae.     Hamburg  1683.    5  vol. 

*  Histwie  der  ost-indischen  Insel  Groß-Java,  Leipzig  1764,  S.  170. 

^  Ant.  Paullini  Curieuses  Gdbinet  ausländischer  Merkwürdigkeiten 
1717  —  1719  S.  246-249. 


Zum  Zerstückelungs-  u.Wiederbelebmigswunder  der  indischen  Fakire    463 

in  den  Korb  kam,  worauf  selbiger  umgekelirt  wurde.'  Am 
Schluß  ist  deutlich  gesagt  Vas  ohne  des  bösen  Feindes 
Hülfe  gewiß  nicht  zugehen  konnte'. 

Ihn  Batüta  und  Melton  erzählen  beide  von  chinesischen 
Gauklern,  nicht  von  indischen.  Aber  ganz  merkwürdig  ist  von 
Melton  die  Zerstückelung  berichtet:  der  Gaukler  nimmt  sie  an 
sich  selbst  vor.  Das  ist  eine  so  groteske  Vorstellung,  daß 
man  nicht  gerade  viel  Vertrauen  zu  ihr  fassen  wird. 

Bei  Hauber  findet  sich  nun  ferner  eine  Illustration^,  die  er 
Johann  Neuhofs  ^Gesandtschaft  der  Ost-Indischen  Gesellschaft'*, 
der  die  Künste  der  chinesischen  Gaukler  selbst  gesehen  hat, 
entnahm.  Neben  den  reinen  Akrobaten-  und  Dressurkunst - 
Stückchen  ist  dort  auch  die  Vorführung  des  im  Korb  einge- 
schlossenen und  mit  dem  Degen  durchbohrten  Mannes  darge- 
stellt, dabei  auch  ein  Gaukler,  der  einen  Knäuel  Seil  in  die 
Luft  wirft,  was  vielleicht  auf  das  uns  beschäftigende  Kunst- 
stück zu  deuten  ist.  Neuhof  schildert  diese  Künste  auch  im 
Text^,  aber  während  er  jenes  Stückchen  mit  dem  Korb  ver- 
zeichnet, fehlt  bei  ihm  wie  bei  Ysbrands  Ides*  das  von  Melton 
berichtete,  so  daß  Hauber  der  Vermutung  Worte  gibt^:  ^Ich 
mache  daraus  den  vernünftigen  Schluß,  daß  dieses  letztere 
Kunst- Stück  denen  Chinesischen  Gaucklern  würklich  unbekant 
j  sey,  und  Melton  die  Erzählung  darvon  erdichtet  habe,  aus 
I  Scherz,  wie  ich  meyne,  und  weil  er  dachte,  kluge  Leser  wer- 
I  den  ohnedem  wissen,  was  sie  darvon  zu  urtheilen  haben.'  Daß 

^  Sie  geht  dem  20.  Stück  der  Magischen  Bibliothek  1740,  vgl.  S.  576, 
voraus. 

^  Vgl.  a  a.  0.  18.  Stück  1740  S.  371 :  Die  Gesandtschaft  der  Ost- 
Indischen  Gesellschaft  in  den  vereinigten  Nieder- Ländern ,  an  den  Tar- 
tarischen  Chane,  und  nunmehr  auch  Sinischen  Kayser:  Durch  Herrn  Jöh. 
Neuhof.    Amsterdam  1669. 

»  Neuhof  240—241,  vgl.  Hauber  a.  a.  0.  371  f. 

*  Dreijährige  Reise  nach  China  durch  den  Moscovitischen  Abgesa  ndten 
Herrn  E.  Ysbrands  Ides.  Aus  dem  Holländischen  übersetzt.  Frankfurt 
1707,  167.  184—185.     Hauber  a.  a.  0.  372. 

^  a.  a.  0.  376. 


464  ■^-  J^-coby 

freilich,  die  Erdichtung  nicht  von  Melton  selbst  stammen  kann, 
zeigt  Ihn  Batüta. 

Der  Ruhm  der  indischen  und  chinesischen  Gaukler  wird 
aber  bedeutend  eingeschränkt  durch  die  Tatsache,  daß  auch 
Europas  Künstler  ähnliche  Vorführungen,  wir  sagen  nicht,  voll- 
brachten, sondern  getan  haben  sollen.  Es  war  in  der  Zeit 
der  Mesmer,  Cagliostro  und  anderer  Helden  des  Mystizismus 
am  Ausgang  des  18.  Jahrhunderts,  als  sich  in  Göttingen  der 
Zauberer  Johann  Philadelphia  1777  produzierte.^  Von  ihm  er- 
zählte man  sich,  sein  Diener  habe  ihn  in  Stücke  zerschneiden 
müssen  und  die  Stücke  in  ein  Faß  gesteckt.  Leider  wurde  das 
Faß  zu  früh  geöffnet;  man  sah  wohl  einen  Embryo,  der  aber, 
vorzeitig  aufgedeckt,  nun  sterben  mußte.  Die  Wiederbelebung 
des  Zauberers  war  durch  den  Fehlgriff  verhindert  worden.  Das 
ist  aber  nichts  anderes,  als  was  man  im  Mittelalter  sich  von 
dem  Erzzauberer  Virgil  erzählte^,  was  man  im  Siebengebirge 
von  Theophrastus  Paracelsus  berichtete  und  was  auch  von  an- 
deren umlief.^  Die  Lebensgeschichte  des  Philadelphia  war  offen- 
bar durch  die  Volkssage  ausgeschmückt  worden.  Nun  weiß 
die  Sage*  von  ihm  aber  weiter,  daß  er  gliederweise  aus  der 
Luft  herabfiel  und  von  seinem  Diener  zusammengesetzt  wurde  — 
das  Fakirwunder  in  europäischer  Tradition  in  der  aus  Melton  uns 
bekannten  Form;  aber  niemand  wird  es  für  geschehen  ansehen. 

Daß  es  bereits  früher  bekannt  war,  dafür  scheint  mir  eine 
Bemerkung  Delrios  iu  seinen  Disquisitiones  magicae^  die  1599 
zuerst   erschienen,   zu  sprechen^:  Huc  referendae  sunt  ludifica- 

^  Philadelphias  gesammelte  Sckriften  über  natürliche  Magie  hat 
V.  Poppe  in  seinem  Neuen  Wunderschauplatz  der  Künste  und  inter- 
essantesten Erscheinungen  im  Gebiete  der  Magie  etc.,  Stuttgart  1839, 
6  Bde,  herausgegeben. 

'  Sommer  Sagen,  Märchen  und  Gebräuche  aus  Sachsen  und  Thüringen 
178.    Vgl.  Mannhardt  Germanische  Mythen  64  ff. 

'  Müller  Beiträge  zur  Geschichte  des  Hexenglaubens  in  Siebenbürgen 
1854,  26.    Vgl.  Mannhardt  a.  a.  0. 

*  Ersch  und  Gruber  Enzyklopädie  UI  22,  262  ff. 

"  Ed.  1720,  134. 


Zum  Zerstückelungs-  u.Wiederbelebungswunder  der  indischen  Fakire    465 

tiones  Zedechiae  Judaei,  qui  fuit  tempore  Ludovici  Pii,  et  homi- 
nem  in  aera  jactahat,  et  in  memhra  discerpehat,  et  ea 
recollecta  adunahaty  currum  etiam  onustum  foeno  cum  equis  et 
agitatore  coram  toto  populo  dbsorbebat  etc.,  während  J.  Trithemius 
von  Sponheim  von  dem  gleichen  sagt^:  amputabat  hominihus 
capita,  manus  vel  crura:  quae  postquam  visenda  praestitit  caeteris, 
ad  locum  unde  videbantur  desumpta,  mox  sine  detrimento  vel  lae- 
sione  reposuit} 

Kehren  wir  noch  einmal  nach  Indien  zurück,  so  begegnet 
uns  das  Wunder  bereits  im  Leben  des  Urbildes  der  Yogin,  bei 
Buddha,  und  zwar  in  einem  Zusammenhang,  der  für  die  Grlaüb- 
würdigkeit  des  Wunders  kennzeichnend  genug  ist.  Die  aus 
dem  Sanskrit  ins  Chinesische  übertragene  und  bearbeitete  Le- 
bensbeschreibung Buddhas,  Buddha- carita-kavya,  des  A9vagosha 
aus  dem  fünften  nachchristlichen  Jahrhundert  erzählt,  wie 
Buddha  seinen  Vater  und  das  Volk  für  seine  Lehre  durch 
allerlei  Wunder  gewann^: 

Um  ihm  des  Geistes  Auge  zu  eröffnen, 
Und  Mitleid  fühlend  für  des  Volkes  Menge, 
Erhob  er  sich  bis  in  des  Luftraums  Mitte, 
Und  faßte  mit  den  Händen  Mond  und  Sonne. 
Darauf  bewegt  er  hin  und  her  im  Räume 
Sich,  die  Gestalt  in  mannigfacher  Weise 
Umwandelnd;  seinen  Leib  in  Stücke  teilend, 
Vereint  er  diese  dann  zum  Ganzen  wieder. 
1  Auf  Wasser  ging  er  wie  auf  festem  Lande, 

I  Sank  in  die  Erde  ein  wie  in  das  Wasser, 

Ging  ungehindert  durch  Steinmauern,  Feuer 
I  Und  Wasser  strömten  ihm  aus  beiden  Seiten. 

Da  gab,  erfüllt  von  Freude,  den  Gedanken 
Von  Vater  und  Sohn  gänzlich  auf  der  König, 
Und  frei  im  Raum,  auf  einem  Lotus  thronend, 
Erklärte  Buddha  das  Gesetz  dem  Vater. 
^  Chronicon  Hirsaugense  ed.  1690,  I  34. 
2  Vgl.  Delrio  37. 

'  Vgl.  die  deutsche  Übertragung  von  Th.  Schultze  Beelamsche  Uni- 
versalhihliothek  Nr.  3418—3420  S.  201,  Vers  1551  ff. 

Arcliiv  f.  Keligionswissenscliaft  XVII  30 


466  ^'  Jacoby 

Es  würde  zu  weit  führen,  zu  zeigen,  wie  die  Mystik  und 
Zauberkunst  aller  Zeiten  und  Völker  gleiches  und  ähnliches 
ihren  Helden  zuschreibt.  Jedenfalls  wäre  es  nicht  schwer, 
Parallelen  in  Fülle  zu  jedem  Einzelzug  in  diesem  Bilde  bei- 
zubringen. Daß  das  Ganze  heilige  Legende  ist,  braucht  nicht  be- 
wiesen zu  werden,  auch  nicht  für  den  Zug  von  der  Selbstzerstücke- 
lung und  Wiedervereinigung   der  Stücke   des  Leibes  Buddhas. 

Merkwürdig  ist,  daß  diese  Kunst  sich  auch  im  alten  Mexiko 
fand.  In  einer  Abhandlung  *  Zauberei  und  Zauberer  im  alten 
Mexiko'  hat  Seier  aus  Sahagun  folgenden  interessanten  Abschnitt 
übertragen^:  ^Der  sogenannte  Selbstzerschneider  machte  seine 
Kunststücke  ebenfalls  auf  dem  Palasthofe.  Sogleich  zerschneidet 
er  sich,  an  gesonderte  Stellen  legt  er  seine  Hände,  seine  Füße, 
so  viel  Gelenke  er  hat,  so  viele  löst  er  heraus.  Nachdem  er 
sich  zerschnitten  hat,  bedeckt  er  es  mit  einer  buntgestreiften  , 
Schulterdecke,  daß  es  von  neuem  wachse,  sprieße,  aufgehe,  als 
ob  er  sich  gar  nicht  zerschnitten  hätte.  Darin  zeigt  er  sich, 
das  ist  ebenfalls  ein  Zauberspiel.  Dafür  wurde  er  beschenkt.'  ■ 
Stoll  denkt  bei  dieser  Schilderung  an  Hypnotismus;  ob  mit 
Recht?  Das  Ganze  macht  doch  den  Eindruck  des  Unmög- 
lichen, so  gut  wie  die  *  Selbstzerstückelung'  der  indischen  und 
chinesischen  Gaukler. 

In  diesem  Fakirwunder,  dessen  verschiedene  Berichte  oben 
auch  in  ihren  Widersprüchen  abgedruckt  sind,  treten  uns  nun 
zwei  Züge  entgegen:  einmal  das  Entschwinden  in  der  Luft  an 
dem  hochgeworfenen  Faden  oder  Seil,  dann  das  Herabfallen 
der  einzelnen  Glieder  des  zerstückelten  Körpers  und  ihre  Zu- 
sammenfügung und  Wiederbelebung.  Es  läßt  sich  der  Nach- 
weis leicht  liefern,  daß  sie  gesondert  in  der  Zauberliteratur 
und  Sage  Europas  weit  verbreitet  sind. 

Lehmann  weist  in  seinem  Buche  auf  Kiesewetters  Psychische 
Studien  hin,  in  denen  eine  Erzählung  aus  dem  Hauptwerk  des 

^  Verölfentlichungen  aus  dein  Königl.  Museum  f.  Völkerkunde^  Berlin, 
VI  1899,  2—4.  Heft,  S.  37. 


Zum  Zerstückelungs-  u.Wiederbelebungs wunder  der  indischen  Fakire    467 

in  der  Geschiclite  der  Hexenprozesse  und  des  Aberglaubens  so 
rühmlich  bekannten  Arztes  Weier  enthalten  sei,  die  zu  dem 
Fakirwunder  in  Parallele  stehe.  Kiese wetters  Buch  war  mir 
nicht  zugänglich,  aber  es  kann  sich  kaum  um  eine  andere  Er- 
zählung handeln,  als  die  von  dem  Auftreten  eines  Gauklers  in 
Magdeburg  berichtende^,  die  z.  B.  auch  Lercheimer  erwähnt.^ 
Praestigiator  quidam  magicus  Magdeburgi  equulum  in  tJieatro 
frequenti  per  circidum  transilientem  ostentabat  certa  stipe:  in  fa- 
liäae  exitu  paucam  se  apud  mortales  collegisse  pecuniam  questus, 
se  in  coelum  conscendere  velle  ait.  Hinc  in  sublime 
eiecto  fune,  consequitur  in  altum  equulo:  praestigiator 
quasi  cum  cauda  retenturus  quoque  ascendit:  cuius  uxor  maritum 
appreJiendens  assedatur^  ibidem  ancillaj  ut  viderentur  ascensu 
contiguo  velut  concatenati,  simul  aera  petere.  Haec  dum  populus 
ad  stuporem  spedaret,  cuidam  civi  eo  forte  dedinanti,  quaerentique 
qiiidnam  rermn  ibi  ageretur?  responsum  est,  circulatorem  cum 
equulo  in  aera  conscendere:  hie  se  statim  vidisse  cum  in  vico  ad 
diversorium  abeuntem  asseveravit.  lllusos  itaque  se  ubi  animad- 
verterent  discesserunt. 

Noch  näher  kommen  aber  einige  andere  Geschichten.  Leib- 
niz    schickte   seiner  Ausgabe  der  Otia  imperialia  des  Gervasius 
von  Tilbury   die  folgende  Erzählung  aus  dem  Leben  des  Ger- 
vasius von  Radulph  voran^:  Eine  Hexe  war  zum  Scheiterhaufen 
verdammt  w^orden.     Aber   sie  lachte   ihrer  Richter  .  .  .  concite 
glomum  fili  extraxit,   et  extra   quandam  magnam  fene- 
\ strähn  projecit,  capite  fili  in  manibus  retento,  cundisque 
\audientibus  voce  sonor a  dixit:  Becipe.    Ad  quod  verbum  mox  a 
\terris  elevata  glomum  agili  volatii  cunctis  aspicientibus 
\extra  fenestram  subsecuta  est,   malignorum  spirituum  mi- 
\nisterio,  ut  credimus,  subvecta;  qui  quondam  Simonem  Magum  in 


I         ^  De  praesügiis  daemonum  1563,  II  7,  S.  159 

^  Christliche  Bedencken  und  Erinnerung  von  Zauberei  1585. 
^  Scriptores   rerum   Brunsvicarum  I  881  ff.     Die    Sage    gehört   dem 
13.  Jahrh    an.     Den    Hinweis    auf   sie    und   einzelne   der  folgenden  ver- 
danke ich  Liebrechts  Gervasius  von  Tilhury  XI. 

30* 


468  ^'  Js-coby 

aera  sustulerunt  Quo  autem  illa  malefica  deveneritf  vel  ad  quem 
locum  transportata  fuerit,  ab  aspicientihus  omnino  sciri  nonpotuit. 
Ferner  erzählt  Simon  Grünaus  Chronik,  die  dem  16.  Jahr- 
hundert angehört,  nach  v.  Tettau  und  Temme^:  TJnter  dem 
Regimente  des  neunundzwanzigsten  Hochmeisters  Heinrich  Reuß 
von  Plauen  befand  sich  in  einem  Städtlein  Preußens  ein  Schul- 
meister, welcher  der  schwarzen  Kunst  kundig  war.  Durch 
diese  hatte  er  bewirkt,  daß  ihm  des  Bürgermeisters  Tochter, 
für  die  er  entbrannt  war,  allnächtlich  von  den  Geistern  ge- 
bracht wurde,  so  daß  er  mit  ihr  der  Liebe  pflegen  mochte. 
Eine  Zeitlang  schwieg  die  Jungfrau  aus  Scham,  endlich  aber 
entdeckte  sie  die  Sache  ihrem  Vater,  doch  konnte  sie  nicht 
sagen,  an  welchen  Ort  sie  gebracht  wurde,  außer  daß  er  ihr 
nicht  fern  von  der  Kirche  zu  sein  scheine.  Die  Eltern  ließen 
hierauf  die  Tochter  nachts  zwischen  sich  liegen,  dennoch  wurde 
sie  entführt,  befand  sich  am  Morgen  aber  wieder  an  der  Stelle, 
wo  sie  sich  abends  hingelegt.  Da  hieß  der  Yater  die  Tochter 
ein  Knäuel  nehmen  und  dies  bei  ihrer  Heimführung  an  dem 
Orte,  wo  sie  die  Nacht  zugebracht,  zurücklassen,  das  Ende  des 
Fadens  aber  in  der  Hand  behalten.  Und  also  geschah  es;  da 
fand  denn  der  Vater,  als  er  frühmorgens  um  die  Kirche  herum- 
ging, das  Zeichen.  Als  nun  die  Tochter  in  der  nächsten  Nacht 
wieder  davongeführt  war,  ging  er  mit  der  Scharwache  in  das 
Schulhaus,  und  da  fanden  sie  beide  schlafend;  die  Tochter 
aber  ließ  er  im  Hemde,  wie  sie  war,  in  sein  Haus  führen,  den 
Schulmeister  aber  einkerkern.  Als  nun  dieser  durch  den  Flammen- 
tod seinen  Frevel  büßen  sollte,  da  bat  er  die  Jungfrau,  daß 
sie  ihm  verzeihe,  die  Eltern  aber,  daß  sie  ihm  jene  zur  Ehe 
geben  und  ihn  von  dem  Scheiterhaufen  befreien  möchten.  Die 
Jungfrau  vergab  ihm  zwar  sein  Vergehen,  der  Vater  woUte 
ihm  aber  die  Strafe  nicht  erlassen.  Als  nun  der  Schwarz- 
künstler sah,  daß  er  diesen  durch  Bitten  nicht  zu  beugen  ver- 

^  Grünau  tract.  XVIII  c.  1,  vgl.  v.  Tettau  und  Temme  Die  Volkssagen 
Ostpreußens,  Litthauens  und  Westpreußens  Nr.  122  S.  127. 


Zum  Zerstückelungs-  u.  Wiederbelebnngs-wnnder  der  indischen  Fakire    469 

möge,  da  forderte  er  von  der  Jungfrau  irgendein  Pfand  der 
Vergebung,  und  als  ihm  diese,  die  gerade  nichts  anderes  zur 
Hand  hatte,  aus  ihrem  Täschlein  einen  seidenen  Faden 
gereicht,  warf  er  solchen  in  die  Luft  und  schwang 
sich,  indem  er  die  Jungfrau  umfaßte,  geheime  Worte 
murmelnd,  an  diesem  mit  ihr  auf  und  verschwand  vor 
den  Augen  der  Anwesenden  in  der  Luft.' 

Eine  andere  norddeutsche  Sage  ähnlicher  Art  erzählt  K.  Mül- 
lenhoff.^  'Auf  dem  Husbyer  Felde,  an  der  Stelle,  wo  noch 
jetzt  der  Überrest  eines  Galgens  steht,  sollte  einst  eine  Hexe 
verbrannt  werden.  Zu  diesem  Schauspiele  hatte  sich  eine  große 
Menschenmenge  versammelt.  Schon  brannte  der  Scheiterhaufen 
in  hellen  Flammen  und  die  Hexe  sollte  hineingeworfen  werden, 
da  gewahrte  sie  im  Volkshaufen  eine  Frau,  welche 
strickte.  Sie  bat  sie  um  ihr  Garnknäuel.  Die  Frau 
reichte  es  ihr.  Da  wickelte  die  Hexe,  indem  sie  einige 
Worte  hermurmelte,  es  um  ihre  Finger,  und  wie  sie 
das  gethan,  flog  sre  vor  aller  Leute  sichtlichen  Augen 
in  die  Luft  und  man  hat  sie  nachher  nicht  wieder  ge- 
sehen.' 

Noch  ein  Beispiel  dieser  alten  Sage  aus  Böhmen!^  Ein 
i  Pfarrer  schoß  eines  Tages  mit  einer  geweihten  gläsernen  Kugel 
jeine  Hexe  aus  einer  Gewitterwolke.  'Der  Pfarrer  übergab  sie 
lals  Hexe  einer  Gerichtssitzung  und  das  Urteil  lautete:  Hin- 
richtung durch  Feuertod.  Als  der  Scheiterhaufen  fertig  ge- 
j  stellt  war  und  die  Hexe  darauf  stand,  erbat  sie  sich  noch  als 
Gnade  einen  Knäuel  Zwirn.  Man  erfüllte  ihr  Begehren. 
Und  als  das  Holz  unter  ihr  zu  brennen  anfing,  wickelte  sie 
den    losen    Zwirnfaden    um    einen    Finger    der   linken 

Hand;  mit  der  rechten  warf  sie  den  Knäuel  mit  einem 

i \ 

^  Sagen,  Märchen  und  Lieder  der  Herzogtümer  Holstein  v/nd  Lauen- 
\burg  Nr.  572  S.  564. 

'  '  Sammlung  gemeinnütziger  Vorträge,  hrsg.  vom  Deutschen  Verein  zur 
Verbreitung  gemeinnütziger  Kenntnisse  in  Prag  Nr.  230  (1897):  Der  Hexen- 
tvahn,  von  A.  Hauffen,  16  Anm. 


470  ^'  Jacoby 

Schrei  aufwärts  und  fuhr  blitzschnell  sammt  dem 
Knäuel  in  die  Höhe.'  Die  Stelle  wurde  dem  berichtenden 
Herrn  G.  Blau  in  Neuern  noch  gezeigt. 

Etwas  anderer  Art  ist  endlich  eine  irische  Erzählung.^  Der 
Caol  E-iava,  ein  reisender  Gaukler,  vollbringt  allerlei  Künste. 
Tote  Soldaten,  die  sich  untereinander  erschlagen  haben,  läßt 
er  vom  Türhüter  durch  ein  Kraut  wieder  ins  Leben  rufen; 
einem  Prahlhans  geht  der  eigene  Finger  durch  die  Hand  und 
ein  Ohr  bleibt  ihm  bei  Berührung  in  der  Hand,  ähnlich  wie 
Faust  die  Leute  nach  dem  deutschen  Volksbuch  neckte.  Am 
schönsten  aber  ist  folgendes  Stückchen:  Der  Gaukler  holte  aus 
seinem  Sacke  einen  großen  Ballen  Zwirn,  wickelte  das 
Ende  um  seinen  Finger  und  warf  ihn  schrägs  hinaus 
in  die  Luft.  In  die  Höhe  flog  er  und  wickelte  sich 
immer  weiter  ab,  während  ihm  alle  hochverwundert 
nachschauten,  bis  er  sich  in  den  Wolken  verlor.  Dann 
holte  er  aus  seinem  Sacke  einen  schönen  Hasen  heraus,  den 
er  auf  den  Faden  setzte,  worauf  zum  wachsenden  Erstaunen 
der  Zuschauer  das  Tier  auf  ihm  flink  und  sicher  aufwärts  lief, 
als  ob's  sein  Lebtage  nichts  anderes  als  Seiltanzen  getrieben 
hätte.  Alsdann  holte  er  ein  Windspiel  heraus,  das  er  gleicher- 
weise auf  den  Faden  setzte,  worauf  das  Tier  dem  Hasen  so 
eifrig  und  scharf  nachsetzte,  als  ob  heide  auf  der  Kildaer  Renn- 
wiese an  einem  Märzmorgen  liefen.  'Nun',  sagte  der  Caol 
Riava,  'hat  einer  Lust,  dem  Hund  nach  hinaufzulaufen  und 
die  Jagd  mit  anzusehen?'  'Ich  will',  sagte  der  Mann,  der  vor- 
hin zweimal  gesprochen  hatte.  'Ihr  seid  immer  zur  Hand', 
sagte  der  Gaukler,  'aber  ich  fürchte,  Ihr  seid  faul,  denn  Ihr 
seid  fast  so  breit  als  lang,  und  Ihr  schlaft  mir,  furcht'  ich, 
unterwegs  ein  und  laßt  den  Hund  den  Hasen  fressen.'  'Es 
gibt  keinen  rührigeren  Mann  auf  Gottes  Erdboden,  als  just  den 
Mann,  der  eben  mit  Euch  spricht',  sagte  der  Dicke.  'Also 
hinauf  mit  Euch',  sagte  der   Gaukler;  'aber  das  sag'  ich  Euch, 

*  Erin  Eine  Sammlung  irischer  Erzählungen  VI  130  ff. 


Zum  Zerstückelungs-  uWiederbelebungswunder  der  indischen  Fakire    47 1 

wenn  Ihr  mir  meinen  Hasen  totbeißen  laßt,  so  haue  ich  Euch 
den  Kopf  ab,  wenn  Ihr  herunterkommt.'  Der  dicke  Geselle 
lief  den  Faden  hinauf  und  bald  verschwanden  alle  drei.  Nach- 
dem er  eine  lange  Zeit  hinaufgeschaut  hatte,  sagte  der  Caol 
Riava:  ^Ich  fürchte  immer,  der  Hund  frißt  den  Hasen  und 
unser  Dicker  ist  eingeschlafen.'  Damit  begann  er  den  Zwirn 
aufzuwickeln  und  fand,  daß  es  sich  richtig  so  verhielt,  wie  er 
vermutet  hatte;  den  Dicken  fest  eingeschlafen  und  den  Hund 
mit  dem  letzten  Bissen  vom  Hasen  zwischen  den  Zähnen.  Er 
zog  sogleich  sein  Schwert  und  hieb  dem  jungen  Mann  auf 
einen  Streich  den  Kopf  ab.  Darüber  stand  der  Thady  O'Kelly 
auf  und  sagte,  dergleichen  Thun  wolle  ihm  nicht  behagen  und 
könne  er  nimmermehr  gutheißen,  daß  ein  junger  Mann  der- 
weise  unter  seinem  Dache  gemordet  werde.  ^Wenn's  Euch 
Kummer  macht',  sagte  der  Caol  Riava,  ^so  kommt's  mir  nicht 
darauf  an,  ihn  wieder  zu  heilen  wie  zuvor;  aber  ein  Denk- 
zeichen an  seine  Yorschnelligkeit  muß  er  doch  von  uns  haben.' 
So  sprechend  setzte  er  den  Kopf  wieder  auf  die  Schultern  und 
heilte  ihn  an,  aber  so,  daß  das  Gesicht  verkehrt  schaute,  wor- 
auf er  diese  Reime  sagte: 

^Wie  ich's  nahm,  gab  ich's  wieder  ohn'  alle  Beschwer, 
Ihm  sitzt's  auch  weit  besser  gewiß  als  vorher; 
Sagt  einer,  ich  hätt'  ihm  da  Unrecht  gethan, 
So  lügt  er,  das  saget  von  mir  nur  dem  Mann; 
I  Denn  ein  Prahlhans,  ein  frecher,  schaut  possiger  drein. 

Als  ein  Narr,  mit  dem  Gesicht,  wo  der  Schädel  sollt  sein.' 

j        Nach  den  Versen  verschwindet  der  Gaukler  mit  seinem  Be- 

I  gleiter.   Es  folgt  nachher  noch  eine  andere,  in  der  Zauber-  und 

Hexenliteratur  nicht   unbekannte    Geschichte:    der    Caol   Riava 

Iwird   dreimal    gehängt,   aber   in  Wirklichkeit  ist's  dreimal  ein 

anderer,   der   am    Galgen   ist,    während    der  Caol  Riava  seinen 

:  Henkern   gesund    und    munter   begegnet.     In  dieser  Erzählung 

!  verbindet  sich  der  Zug  von  dem  in  die  Luft  geworfenen  Zwirn 

mit  der  Tötung  und  Wiederbelebung  des  jungen  Mannes,  wenn 

j  letztere  auch  etwas  abgewandelt  erscheint. 


472  ^-  Js-coby 

Als  der  oben  erwälinte  Zauberer  Philadelphia  in  Göttingen 
auftrat,  da  sandte  ihm  G.  Christoph  Lichtenberg^  folgende  Ver- 
spottung vorauf:  ^Avertissement.  Allen  Liebhabern  der  über- 
natürlichen Physik  wird  hierdurch  bekannt  gemacht,  daß  vor 
ein  Paar  Tagen  der  weltberühmte  Zauberer  Philadelphus  Phil- 
adelphia, dessen  schon  Cardanus  in  seinem  Buche  de  natura 
supernaturäli  Erwähnung  thut,  indem  er  ihn  den  von  Himmel 
und  Hölle  Benedeiten  nennt,  allhier  auf  der  ordinären  Post 
angelangt  ist,  ob  es  ihm  gleich  ein  Leichtes  gewesen  wäre, 
durch  die  Luft  zu  kommen.  Er  ist  nämlich  derselbe,  der 
im  Jahre  1482  zu  Venedig  auf  öffentlichem  Markt 
einen  Knaul  Bindfaden  in  die  Wolken  schmiß  und 
daran  in  die  Luft  kletterte,  bis  man  ihn  nicht  mehr 
gesehen'  usw.  In  der  Tat  erzählte  die  Sage,  daß  er  in  Göt- 
tingen an  dem  Faden  eines  in  die  Luft  geworfenen  Knäuels 
Bindfaden  so  hoch  in  die  Wolken  hinaufgestiegen  sei,  bis  er 
sich  den  Augen  der  gaffenden  Menge  entzogen  hatte. ^ 

Damit  hätten  wir  den  einen  Zug  in  genügenden  Beispielen 
belegt,  um  ihn  als  altes  europäisches  Sagengut  erkennen  zu 
können.  Dem  seien  nun  noch  einige  Beispiele  für  den  zweiten 
Zug  beigefügt. 

In  Moldautein  spukte  es  in  einer  Mühle.^  Ein  durchziehen- 
der Komödiant  mit  Affen,  Papageien  usw.  bat  um  Nachtquartier 
und  versprach,  das  Gespenst  zu  vertreiben.  So  verweilte  er 
denn  in  dem  berüchtigten  Zimmer.  Da  fielen  um  11  Uhr 
durch  die  Decke  zwei  menschliche  Füße  auf  den  Boden. 
Das  Geräusch  weckte  den  Eingeschlafenen.  Um  ein 
Viertel  auf  zwölf  Uhr  fiel  eine  Hand,  um  halb  die 
zweite,  um  drei  Viertel  der  Leib  herunter.  Um  zwölf 
Uhr  blieben  die  Räder  der  Mühle   stehen  und  nun    fiel   ein 


1  Vermischte  Schriften  1867  III.  Band  185. 
'  Ersch  und  Gruber  Enzyklopädie  III  22,  262  ff. 
^  Tb.  Vernaleken  Mythen  und  Bräuche  des  Volkes  in  Österreich  1859, 
180  Nr.  12. 


Zum  Zerstückelungs-  u.Wiederbelebnngswunder  der  indischen  Fakire    473 

;  Kopf  mit  langen  grünen  Haaren  herunter  und  ver- 
einigte sich,  mit  den  anderen  Teilen  zum  Hastrmann, 
der  anfing  im  Zimmer  herumzuspringen.  Zwischen  ihm  und 
dem  Afi'en  kam  es  zum  Kampf,  der  mit  des  Gespenstes  Flucht 
endete.  Die  Geschichte  klingt  aus  in  das  bekannte  Sagenmotiv 
vom  Wasserbären,  die  Frage  nach  der  Katze. 
;  Bedeutend   älter   ist   eine  andere  Aufzeichnung,  die  bereits 

j  im  17.  Jahrhundert  fixiert  wurde.^  Ein  Edelmann  mußte  in 
I  Flensburg,  weil  im  Gasthaus  kein  anderer  Raum  mehr  frei 
!  war,  in  einem  Zimmer  über  Nacht  bleiben,  in  dem  es  nicht 
geheuer  war.  'Die  Nacht  war  noch  nicht  halb  herum,  als  es 
i  anfing,  im  Zimmer  hier  und  dort  sich  zu  regen  und  zu  rühren 
und  bald  ein  Rascheln  über  das  andere  sich  hören  ließ.  Er 
hatte  anfangs  Mut,  sich  wider  den  anschauernden  Schrecken 
festzuhalten,  bald  aber,  als  das  Geräusch  immer  wuchs,  ward 
die  Furcht  Meister,  so  daß  er  zu  zittern  anfing,  er  mochte 
widerstreben  wie  er  wollte.  Nach  diesem  Vorspiel  von  Getöse 
und  Getümmel  kam'  durch  ein  Kamin,  welches  im  Zimmer 
war,  das  Bein  eines  Menschen  herabgefallen,  bald  auch 
ein  Arm,  dann  Leib,  Brust  und  alle  Glieder,  zuletzt, 
wie  nichts  mehr  fehlte,  der  Kopf.  Alsbald  setzten 
sich  die  Teile  nach  ihrer  Ordnung  zusammen,  und  ein 
ganz  menschlicher  Leib,  einem  Hofdiener  ähnlich,  hob 
sich  auf.  Jetzt  fielen  immer  mehr  und  mehr  Glieder 
herab,  die  sich  schnell  zu  menschlicher  Gestalt  ver- 
einigten, bis  endlich  die  Thür  des  Zimmers  aufging  und  der 
helle  Haufen  eines  völligen  königlichen  Hofstaats  eintrat.' 

Also   auch   der   zweite  Zug  unseres  Fakirwunders   ist  alter 
Gespenstersage  Europas  keineswegs  fremd. 


^  Erasmus  Franciscus  Höllischer  Proteus  1690  S.  426.  Joh.  Jac. 
ßräuners  Physicalisch  und  historisch  erörterte  Curiositäten  oder  entlarvter 
teufflischer  Aberglaube  von  Wechselbälgen  usw.  1737  S.  336  f.  Grimm 
Deutsche  Sagen  "1816,  I  257  Nr.  176.  K.  Müllenhoff  Sagen^  Märchen  und 
Lieder  der  Herzogtümer  Schleswig-Holstein  und  Lauenburg  218  Nr.  295. 


474  ^'  J^c<^^y 

Der  Schluß  liegt  nahe:  da  niemand  zuverlässig  das  Fakir- 
wunder gesehen  hat,  vielmehr  die  Differenzen  der  Erzählungen 
dieses  Wunders  und  die  Erfahrungen  mit  dem  Bericht  der 
Journalisten  für  Erdichtung  sprechen,  so  wird  man  es  neben 
die  europäischen  Parallelen  als  Sage  einreihen.  Die  letzteren 
sind  dies  sicher;  von  Hypnose  ist  da  keine  Rede.  Wie  denn 
auch  die  Annahme  einer  Massensuggestion  auf  große  Schwierig- 
keiten stößt. 

Auch  von  dem,  was  durch  unverdächtige  Zeugen  über  den 
Mangotrick  erzählt  wird  ^  und  sich  offenbar  leicht  erklärt*,  hat 
die  alte  Zauberkunde  Europas  gewußt.  Delrio^  erzählt  von 
Fürsten,  die  durch  Zauberer  allerlei  Wunder  vor  sich  darstellen 
ließen,  darunter:  trium  horarum  spatio  arbusculam  veram  spi- 
tamae  longitudine  e  mensa  facere  ut  excrescat;  ut  arhores  ibidem 
frondiferae  et  frmtiferae  subito  enascantur.  Und  was  Louis 
Jacolliot,  der  bekannte,  höchst  unzuverlässige  Schriftsteller  über 
die  Fakire,  berichtet:  d^un  geste  ou  d'un  seul  acte  de  sa  volonte, 
ü  remuait  des  meubles  situes  au  fond  de  la  salle^,  das  wird 
eigentlich  von  europäischen  Magiern  übertroffen,  denen  Delrio^ 
nachrühmt:  argenteas  pateras  et  similia  magni  ponderis  super 
mensa  locata,  sine  funicidOy  capillo  vel  alio  instriimento  ab  um 
extremo  ad  aliud  subsaltantia  attrahere.  Es  ließe  sich  noch 
manches  derart  beibringen,  doch  mag  es  damit  genug  sein! 

Es  sei  nur  noch  darauf  hingewiesen,  daß  diese  ^Wunder' 
zum  Teil  einfach  mit  technischen  Kunstgriffen  hervorgebracht 
wurden.   Ein  Mann,  der  es  verstehen  mußte,  schrieb  ihm  doch 


'  Fr.  Buchanan  A  Journay  from  Madras  through  the  countries  of 
Mysore,  Canara  and  Malabar,  London  1807,  1  25.  Mantegazza  India 
4.  Edit.,  Milano  1888,  309.     Stoll  a.  a.  0.  94. 

'  Vgl.  Hesse-Wartegg  a.  a.  0. 

*  Disquisüiones  magicae,  in  der  Ausgabe  von  1720  S.  125. 

*  Voyage  au  pays  des  perles,  nach  A.  d'Assier  Essai  sur  Vhumanite 
posthume  209.  Zu  Jacolliot  vgl.  J.  Vinson  Revue  de  linguistique  et  de 
Philologie  comparee  XXI  1888,  76—79. 

*  a  a.  0.  125. 


Zum  Zerstückelungs-  u.Wiederbelebungswunder  der  indischen  Fakire    475 

die  Zeitgeschichte  tiefe  Kenntnisse  in  der  Magie  und  Zauberei 
zu,  der  Abt  Joh.  Trithemius^,  sagt  über  den  oben  erwähnten 
jüdischen  Arzt  und  Erzzauberer  Sedechias  in  den  Tagen  des 
frommen  Ludwig:  inulta  his  operabatur  similia,  quae  vel  dae- 
nionum  auxilio,  vel  alicuius  suhtillissimae  fictionis  si- 
militudiney  ut  pictura  vesicarum  facta  fuisse  creduntur. 
Das  letztere  deutet  doch  wohl  auf  eine  Laterna  magica,  deren 
Tätigkeit  z.  B.  auch  E.  Bischoff^  die  Wunder  des  Rabbi  Low 
Ton  Prag  zuschreibt,  nämlich  die  Erscheinung  der  Patriarchen 
und  des  Prager  Hradschin  in  seinem  Studierzimmer  vor  Kaiser 
Rudolf.  Der  Magier  ließ  auch  mittelst  eines  Hohlspiegels  Bil- 
der auf  starken  Rauch  fallen  und  bewirkte  so  Geistererschei- 
nungen.^  Derartige  Künste  mögen  auch  zu  den  vorliegenden 
Sagen  den  Anstoß  gegeben  haben,  die  dann  nachschaffende 
Volksphantasie  erweiterte,  vergrößerte  und  da  und  dort  lokali- 
sierte. 

Wenn  de  Jong  in  seinem  Buche  über  ^das  antike  Mysterien- 
wesen'* unseren  Fakirtrick  einen  interessanten,  aber  verwirren- 
I  den  Gegenstand  nennt,  so  scheint  er  mir  wohl  ersteres  zu  sein. 
I  Das  Verwirrende  wird  nach  unserer  Untersuchung  der  klaren 
I  Einsicht  in  die  Dinge  Platz  machen  müssen.  Plus  mirandi 
\  sunt  tdlia  admirantes  quam  facienteSj  sagt  Trithemius.^ 

I 

*  Chronicon  Hirsaugense  ed.  Ann.  1690,  St,  Gallen,  I  34. 
'  Die  Kabhalah  1903,  100. 

^  Allgemeine  deutsche  Eealencyclopädie^  Leipzig,  Brockhaus,  5.  Aufl. 
1820,  VI  34. 

*  S.  349.         ^  a.  a.  0.  I  608. 


Die  Yorchristlichen  baltischen  ToteEgebräuche' 

Von  W,  Caland  in  Utrecht 

Die  Totengebräuche  der  baltisclien  Stämme,  d.  h.  der  Alten 
Preußen,  der  Litauer  und  der  Letten,  sind,  soweit  mir  bekannt 
ist^,  noch  nirgends  in  ihrem  Zusammenhang  so  beschrieben, 
daß  auch  ein  größerer  Kreis  von  nicht  mit  dem  Litauischen  Be- 
kannten sich  damit  vertraut  machen  kann.  In  diesen  Zeilen 
habe  ich  versucht,  diese  Lücke  auszufüllen,  und  zwar  auf  Grund 
folgender  Quellen  und  in  folgender  Weise.  Die  Quellen  sind 
dreierlei  Art:  1.  Erzählungen,  wie  sie  noch  heute  unter  den 
Litauern  über  ihre  Vorfahren  angetroffen  werden.  Diese  finden 
wir  in  einem  litauisch  geschriebenen  Büchlein:  „Wie  lebten  die 
alten  Litauer''  von  Prof.  Cappeller  aus  der  Gegend  von  Stallu- 
pönen  zusammengestellt.^  Was  uns  hier  mitgeteilt  wird,  enthält 
über  diesen  Gegenstand  wenig  Wissenswertes;  hier  sind  offen- 
bar alle  Spuren  von  vorchristlichen  Gebräuchen  verschwunden.  — 
2.  Daukantas'  Beschreibung  in  seinem  Buche:  „Sitten  und  Ge- 
bräuche aus  dem  Altertum  der  Ober-  und  Niederlitauer".*  Dieses 
Buch  ist  ursprünglich  in  dem  Dialekt  abgefaßt,  der  in  Telsz 
von  Daukantas  gesprochen  wurde;  weil  aber  dieser  Dialekt  von 
dem  sogenannten  Schrift -Litauischen  ziemlich  stark  abweicht, 
wurde  das  Buch  später  von  neuem  in  der  mehr  allgemein  gebräuch- 

*  Dieser  Aufsatz  ist  die  deutsche  Bearbeitung  des  größten  Teiles  eines 
Vortrags,  welcher  am  S.Juni  1913  gehalten  wurde  zur  Eröffnung  der  all- 
gemeinen Mitgliederversammlung  der  Provinciaal  Utrechtsch  Genootschap 
voor  Künsten  en  Wetenschappen. 

^  Die  knappe  Beschreibung  Fridericis  in  der  Ältpr.  Monatschr.  IX, 
137  ff.  bekam  ich  erst  zu  Gesicht,  als  die  meinige  abgeschlossen  war. 
'  Kaip  seneji  Letunivinkai  gyveno,  Heidelberg  1904,  S.  33  ff. 

*  Buda  senowes  Utuwiu  halnienu  ir  zämajtiu  iszrasze  pagal  senowes 
rasztü  Jokyb's  Laukys.   Petropilie  1845. 


Die  vorchristlichen  baltischen  Totengebräuche  477 

liclieii  Sprache  herausgegeben.^  Selbst  in  dieser  Gestalt  ist  das 
Buch  des  Daukantas  aber  nicht  immer  leicht  zu  verstehen,  weil 
es  reich  an  Wörtern  und  Ausdrücken  ist,  die  anderswoher 
nicht  bekannt  sind  und  deren  Sinn  man  oft  erraten  muß.^  Die 
Zuverlässigkeit  des  Daukantas  ist  von  verschiedenen  Seiten 
angezweifelt  worden  und  sicher  darf  man  nicht  alles,  was  er 
sagt,  ohne  Vorbehalt  annehmen.  Wo  es  mir  möglich  war,  hahe 
ich  ihn  kontrolliert,  aher  da  er  nicht  immer  seine  Quellen  an- 
gibt und  einige  dieser  Quellen  russische  oder  polnische  Werke 
sind,  hahe  ich  seine  Berichte  nicht  immer  prüfen  können.  Auch 
sind  einige  der  von  ihm  zitierten  Bücher  äußerst  schwer,  ja 
gar  nicht  zu  Gresicht  zu  bekommen.  —  Was  unsere  anderen 
Quellen  über  die  baltischen  Stämme  anbetrifft,  so  sind  völlig  zu- 
verlässig und  von  der  allergrößten  Bedeutung  die  Berichte,  welche 
der  bekannte  von  dem  Deutschen  Orden  mit  den  zum  Christen- 
tum bekehrten  Preußen  im  Jahre  1249  abgeschlossene  Vertrag 
enthält.^  Von  großer  Wichtigkeit  ist  ferner  die  kurze  Beschrei- 
bung der  Totengebräuche  in  dem  bekannten  Werkchen  des  La- 
sicius.*  Der  Teil,  in  welchem  Lasicius  diese  Beschreibung  gibt, 
ist  wörtlich  einem  Briefe  des  Jan  Malecki  (Joh.  Maeletius),  des 
ersten  Rektors  der  Universität  zu  Königsberg,  entnommen:  de 
sacrificiis  et  idiölatria  veterum  Borussorum  Livonum  dliarumgue 
vicinarum  gentium]  er  datiert  aus  der  zweiten  Hälfte  des  16.  Jahr- 
hunderts. Etwas  späterer  Zeit  gehört  das  Werk  des  Matthaeus 
Praetorius  an,  des  Geistlichen  zu  Niebudzen,  der  in  seinen  etwa 
100  Jahre  später  geschriebenen  yfDeliciae  prussicae  oder  preu- 

^  Budas  senoves  Lietuvki  kalnenu  ir  Zemaicziu  parasze  Simanas  Dau- 
kantas^ antras  spaudimas,   Plymouth  1892. 

^  Eine  kurze  Beschreibung  gibt  Daukantas  auch  in  seiner  Lietuvos 
Istorija  I  S.  87—90. 

'  Der  lateinische  Text  u.  a.  bei  Lucas  David  PrcMy8«scÄe  Chronik  IIL  Bd. 
S.118flF. 

*  De  diis  samagitarum  caeterorumque  sarmatarum  et  falsorum  christia- 
norum,  von  neuem  herausgegeben  mit  Erläuterungen  vieler  Einzelheiten 
in  dem  Magazin,  herausgeg.  von  der  Lettischen  Ges.,  XIV .  Teil ,  S.  82  ff. 
(S.  57  und  58  der  ursprünglichen  Ausgabe). 


478  ^^-  Caland 

ßische  Schaubüline"  viel  Wissenswertes  mitteilt.  Daneben  stehen 
die  älteren  Chronisten  wie  Peter  von  Dusburg  aus  dem  14., 
Lucas  David  aus  dem  16.  Jahrhundert.  —  3.  An  dritter  Stelle 
sind  unter  unseren  Quellen  die  jetzt  noch  im  Volke  herrschenden 
Überlieferungen  und  Gebräuche  zu  nennen.  Von  diesen  besitzen 
wir  seit  1903  eine  äußerst  wertvolle  Sammlung  in  einem  auf 
Litauisch  geschriebenen  Werke  des  Basanavicius:  ,,Aus  dem  Leben 
der  Geister  und  Teufel  bei  den  Litauern".^  Der  Hauptinhalt 
dieses  Buches  besteht  aus  Geschichten,  Überlieferungen  und  Er- 
zählungen, von  einem  gewissen  Vilius  Kalvaitis  aus  Tilsit  zu- 
sammengelesen; er  nennt  den  Gewährsmann  und  die  Herkunft 
jeder  Geschichte  und  jeder  Mitteilung.  Hier  haben  wir  also  eine 
zuverlässige  lebendige  Quelle  ersten  Ranges.  Basanavicius  hat 
diese  Sammlung  mit  einer  ausführlichen  (auf  Litauisch  verfaßten) 
Einleitung  versehen,  in  welcher  er  die  von  Kalvaitis  gesammelten 
Daten  klassifiziert  und  mit  demjenigen,  was  von  anderen  Seiten 
über  die  baltischen  Völker  bekannt  ist,  vergleicht.^ 

Im  folgenden  habe  ich  versucht,  alle  diese  Data  zu  einem 
Ganzen  zu  verarbeiten.  Meiner  Beschreibung  lege  ich  die  Arbeit 
des  Daukantas  zugrunde,  alles  was  nicht  genau  zur  Sache  ge- 
hört und  was  mir  von  geringerer  Bedeutung  schien,  fortlassend. 
In  diese,  die  heidnische  Zeit  betreffende  Beschreibung  füge  ich 
die  von  Kalvaitis  gesammelten  Data  von  heutigem  Volksglauben 
und  Volksbrauch  ein.  Ich  meine  dies  um  so  eher  tun  zu  können, 
als  man  ja  sicher  sein  kann,  daß  diese  Volksüberlieferungen, 
diese  Muster  von  unverfälschtem  Aberglauben,  nicht  in  der  Gegen- 
wart entstanden  sind,  sondern  von  alters  her  überliefert  sein 
müssen.  Gleichwohl  habe  ich  die  älteren  von  den  späteren 
Mitteilungen  dadurch  unterschieden,  daß  ich  überall,  wo  Dau- 

^  Isz  gyvenimo  UetuviszJcu  veliu  hei  velniu,  surinko  Dr.  J.  Basana- 
vicius.    Chicago  1903. 

^  Eine  vierte  Art  Data  liefert  die  Archäologie.  Da  mir  hierfür  aber 
nur  das  zu  Gebote  stand,  was  Basanavicius  in  seiner  Einleitung  (im  IX.  Ab- 
schnitte) mitteilt,  und  ich  seine  Erörterungen  nicht  habe  prüfen  können,  ist 
diese  Art  von  Stoff  in  die  obige  Abhandlung  nicht  eingearbeitet  worden. 


Die  vorchristlichen  baltischen  Totengebräuche  479 

kantas  uod  die  älteren  Autoren  mir  das  Material  lieferten,  das 
Präteritum,  wo  Kalvaitis  mein  Gewährsmann  war,  das  Präsens  be- 
nutze. Die  in  dieser  Weise  entstandene  Beschreibung  beansprucht 
also  keineswegs  die  Totengebräuche,  so  wie  sie  zu  einer  be- 
stimmten Zeit  bei  den  Litauern  oder  x41ten  Preußen  üblich  waren, 
darzustellen,  sondern  will  nur  eine  zusammenhängende  Skizze 
der  älteren  und  neueren  Gebräuche  und  Überlieferungen  geben, 
wie  sie  einstmals  angetrojffen  wurden  und  teilweise  noch  jetzt 
angetroffen  werden,  nicht  nur  bei  den  Litauern,  sondern  im  all- 
gemeinen bei  den  Völkern  des  baltischen  Stammes.  Als  Nachtrag 
gedenke  ich  der  Beschreibung  des  Totenrituals  einige  Bemerkun- 
gen beizugeben  zur  Erläuterung  dieser  öfters  fremdartig  und  un- 
begreiflich erscheinenden  Handlungen  und  Denkweisen. 

Wenn   ein  Kranker  glaubte   sterben   zu   müssen,   entbot  er 

einen  Priester  zu  sich,  der,  zu  den  Göttern  betend,  ihn  Tag  und 

Nacht  bewachte.     Die  Bewachung  währte  so  lange,  bis  es  zum 

zweiten  Male  Neumond  geworden  war.^    Darauf  tat  der  Kranke, 

um  den  Zorn  der  Götter  zu  sühnen,  ein  Gelübde.     Hatte  dies 

alles  keinen  Erfolg,  so  begaben  sich  die  Priester  zum  Hain  der 

heiligen  Eiche  und   gaben,  nachdem   sie  dort  Asche  von  dem 

heiligen   Feuer   zusammengeschürt  hatten,   diese  dem  Kranken 

als  letztes  Heilmittel  zu  trinken.    Vermochte  auch  dieses  nicht 

zu  helfen,  so  kamen  die  Verwandten  zusammen  und  hielten  Rat; 

wenn  keine  Genesung  möglich  war,  so  pflegte  der  Kranke,  falls 

er  Kinder  hatte,  seinen  jüngsten  Sohn,  wie  es  Landesbrauch  war, 

I  zum  Erben  einzusetzen.  Wenn  der  Kranke  diese  Bestimmungen 

!  getroffen  und  von  Verwandten  und  Freunden  Abschied  genommen 

I  hatte,  legten  die  Priester  ein  Kissen  oder  Polster  auf  seinen  Kopf 

j  und  erstickten  ihn.    Auch  in  der  Zeit  des  Praetorius  kam  es  vor, 

!  daß  man  den  Todkranken  durch  Erstickung  von  seinem  Leiden  er- 

^  So  Daukantas;  „wenn  vier  Monat  verfloszen  waren",  Hartknoch 
Altes  und  neues  Preußen  (Frankfurt  a.  M.  1648)  S.  131.  Auch  die  Hindus 
i pflegten  es  so  einzurichten,  daß  ein  Kranker  nicht  in  der  dunklen  Monats- 
hälfte starb,  d.h.  in  der  Periode  zwischeu  V'oli-  und  Neumond,  vgl.  Verf. 
Die  altindischen  Toten-  und  Bestattungsgebräuche  §  2. 


iL 


480  ^-  Caland 

löste  ^;  in  unserer  Zeit  nimmt  man  den  Sterbenden  aus  seinem 
Bette  und  legt  ihn  auf  den  Boden,  auf  Stroh,  auf  ein  Brett  oder 
auf  Sand.^  Während  eines  Sterbefalles  darf  niemand  im  Hause 
schlafen,  deshalb  nimmt  man  selbst  die  kleinen  Kinder  aus  der 
Wiege.^  Den  Spiegel  soll  man  mit  einem  Tischtuche,  Bettuche 
oder  Taschentuche  verhüllen.*  Nach  dem  Tode  wird  in  einigen 
Ortschaften  ein  Loch  in  die  Mauer  demBeite  gegenüber  gemacht^, 
an  anderen  Orten  werden  alle  Fenster  (und  Türen)  geöffnet.^ 
Aller  Samen  wird  aus  der  Wohnung  entfernt'  und  allen  Haus- 
tieren wird  der  Todesfall  feierlich  angesagt.^  Unmittelbar  nach 
dem  Eintreten  des  Todes  schließt  man  der  Leiche  die  Augen.^ 
Dann  wurde  sie  mit  heißem  Wasser  gewaschen,  in  Weiß  ge- 
kleidet und  an  eine  kühle  Stätte  gelegt.  Die  Alten  Preußen 
verstanden  es  durch  Anwendung  von  Kälte  den  Leichnam  so  zu 
konservieren,  daß  er  nicht  nur  Wochen,  sondern  einige  Monate 
lang  vor  Verwesung  bewahrt  blieb.^°  Das  Gefäß  mit  dem  Wasser 
und  das  zur  Waschung  benutzte  Tuch  verbirgt  man  im  preu- 
ßischen Litauen  bis  zum  Tage  des  Begräbnisses ;  an  diesem  Tage 
zertrümmert  man  das  Gefäß  an  einem  der  Räder  des  Wagens, 
auf  welchem  man  den  Leichnam  fortschafft,  oder  man  wirft  es 
fort,  so  daß  es  durch  die  Räder  zerbrochen  wird.^^  Das  Stroh, 
auf  welchem  der  Tote  während  der  Waschung  gelegen  hat,  wird 
sofort  verbrannt.^^    In  den  Sarg  gab  man  dem  Toten  im  Alter- 


^  Praetorius  JDeliciae  prussicae  ed.  Pierson  S.  19. 

2  Basanavicius  op.cit.l  10,  18,  19,  25. 

8  Bas.  1  25.  *  Bas.  IX  13  (18).  ''  Bas.  I  14. 

ß  Bas.  I  18,  XIII  3,  4,  vgl.  Brand  Beysen  (Wesel  1702)  S.  98:  „lassen 
wohl  offtermahlen ,  nach  altem  Brauch  der  Heyden,  die  Fenster  des  Nachts 
offen".  '  Bas.  I  14. 

ö  Bas.I  19,  vgl.  I  15  (S.  6);  bei  Cappeller  {op.  cit.  S.  36)  wird  der 
Brauch  als  heidnisch  erwähnt.  ^  Bas.  [  14. 

^°  Nach  dem  Wulffstanschen  Berichte  (s.  unten  S.485  f )  behielt  man  bei 
den  Aestii  die  Leiche  vor  der  Verbreimung  längere  Zeit  im  Hause.  Mit 
seinem  Berichte  über  künstliche  Kühlung  stimmt  Praetorius  {Delpruss. 
S.  45)  merkwürdig  überein. 

^^  Bas.  l  19.  12  ßas.  I  24. 


Die  vorchristlichen  baltischen  Totengebräuche  481 

tum,  und  an  einigen  Orten  ist  das  jetzt  noch  ebenfalls  Sitte, 
allerhand  mit:  einem  Schmiede  seinen  Hammer,  einem  Schuster 
seine  Ahle  und  seinen  Pechdraht,  einem  Zimmermann  sein  Beil 
und  seine  Axt,  einer  Hausfrau  ihren  Flachs  und  ihre  Spule, 
einem  Soldaten  seine  Lanze  und  seinen  Sähel.^  Wie  schon  von 
einem  Schriftsteller  des  17.  Jahrhunderts  erwähnt  wird^,  daß 
man  dem  Toten  einen  Krug  speziell  für  die  Begräbnisfeier  ge- 
brautes Bier  mitgab,  so  kam  es  noch  1881  vor^,  daß  die 
Gattin  ihrem  Manne  eine  gestopfte  Pfeife,  eine  gefüllte  Tabaks- 
dose, Kartoffeln,  Kohl,  Brot  und  Salz  in  den  Sarg  mitgab.  Heut- 
zutage legt  man  dem  Toten  vielfach  ein  Gesangbuch  unter  das 
Kinn  und  begräbt  mit  ihm  auch  den  für  seine  letzte  Toilette 
benutzten  Kamm.*  Allgemein  ist^  und  war  es  Brauch,  dem 
Töten  einiges  Geld  mitzugeben,  sei  es  in  den  Sarg,  sei  es  in 
das  Grab;  zuweilen  legte  man  dem  Toten  ein  Geldstück  unter 
die  Zunge  ^,  und  unter  den  Kopf  legt  man  ein  mit  Spänen  und 
Splittern  ausgefülltes  Kissen.'  In  Ostpreußen  bindet  man  dem 
Leichnam  ein  Taschentuch  über  den  Kopf  unter  das  Kinn,  welches 
man  wieder  fortnimmt,  wenn  die  Leiche  in  den  Sarg  gebettet 
wird.^  Merkwürdig  ist  der  von  verschiedenen  Gewährsmännern 
aus  dem  Dorfe  Ozkabalys  bezeugte  Glaube,  daß  der  Geist  des 
Verstorbenen  während  der  drei  Tage,  die  der  Leichnam  in  dem 
Hause  weilt,  traurig  gestimmt  am  Kopfende  stehe.^  Wenn  man 
die  Leiche  in  den  Sarg  bettet,  oder  schon  unmittelbar  nach  dem 
Tode  verläßt  der  Geist  die  Wohnung  durch  das  Fenster  oder 
die  Tür,  die  deshalb,  wie  schon  erwähnt,  geöffnet  sein  sollen, 
und  begibt  sich  während  der  Ausfahrt  an  den  für  ihn  bestimmten 
Ort.^^  Andere  glauben,  daß  sich  die  Geister  noch  immer  unter 
den  Menschen  aufhalten  bis  zum  grünen  Donnerstag  oder  so 
lange,  bis  wiederum  ein  anderer  in  demselben  Hause  stirbt  und 


^  Bas.  1  11,  25a.E.  ^  Praetorius  op.  cü.  S.  102. 

'  Bezzenberger  Litauische  Forschungen  S.  84  Anm.  2. 

*  Bas.I  10,  19.         '^  Bas.  I  10,  12.        ^  ßas.  I  12.        "'  Bas.  I  14,  24. 

«  Bas.  I  19.  ^  Bas.  XIII  4.  i°  Bas.  IX  18  und  sonst. 

Archiv  f.  Religionswissenschaft  XVII  31 


482  ^'  Caland 

seinen  Vorgänger  von  einer  Art  Wache  ablöst,  die  er  am  Ein- 
gang des  Kirchhofes  hält.^ 

Noch  während  der  letzten  Augenblicke  des  Sterbenden  hat 
man  sich  zur  sogenannten  ,Totenwache^  ^  vorbereitet,  d.  h.  zur 
Feier  am  Vorabend  der  Ausfahrt,  welche  auch  jetzt  noch  üblich 
ist.^  Für  diese  Feier  wurde  eine  gute  Quantität  Bier  gebraut. 
Man  sandte  berittene  Boten  zu  den  Verwandten  des  Verstorbenen, 
um  ihnen  mitzuteilen,  daß  Soundso  aus  dieser  Welt  hingeschieden 
war,  damit  sie  zur  ^Wache'  zusammenkämen.  Wenn  die  Ver- 
wandten und  Bekannten  sich  im  Hofe  des  Verstorbenen  ver- 
sammelt hatten,  wusch  man  den  Leichnam  zum  zweiten  Male, 
beschuhte  ihn  und  kleidete  ihn  in  das  Leichengewand  und  setzte 
den  Toten  in  sitzender  Haltung  auf  einen  Stuhl.^  Wenn  alle 
der  Reihe  nach  in  demselben  Gemach  eine  Schale  Bier  getrunken 
hatten,  setzten  sie  sich  auf  die  Bänke  an  der  Wand.  Dann 
weinten  und  jammerten  die  sogenannten  Klageweiber^,  zusammen 
mit  den  nächsten  Verwandten  rings  um  den  Toten  auf  dem  Boden 
stehend,  indem  die  an  der  Wand  Sitzenden  sangen,  dem  Toten 
mit  diesen  Worten  zuredend:  „0  Wehe!  0  Wehe!  Warum  bist 
du  gestorben!  Hattest  du  denn  nicht  ein  gutes  Weib,  ein  flinkes 
Roß,  tüchtige  Waffen,  fleißige  Knechte,  großen  Reichtum,  schnelle 
Falken,  gute  Jagdhunde!  Warum  bist  du  gestorben!"  usw.^   In 

*  Bas.  XIII 5— 7;  vgl.  Bezzenberger  IM.  Forsch.  S.  84:  „Wer  begraben 
wird,  muß  auf  dem  Kirchhof  so  lange  die  Totenwache  halten,  bis  ein 
folgender  begraben  wird";  Brand  Observations  on  populär  antiquities 
S.  480  sagt  über  die  Bewohner  gewisser  Dörfer  in  Argyllshire:  They 
lelieved  that  the  spirit  of  the  last  interred  Tcept  watch  around  the  churchyard 
until  the  arrival  of  another  occupant,  to  whom  üs  custody  was  transmitted. 

'  hudyne  nach  Daukantas,  budetuwes  nach  Bas.  I  15  (S.  6  Z.3),  1 
19  (S.  10  Z.  24);  die  Beteiligten  heißen  budetojei  (Cappeller  op.cit.  S.  33). 

'  Bas.  l.  c. ;  anderswo  (Bas.  1 24, 26)  scheint  diese  Feier  szerminys  zu  heißen, 
womit  für  gewöhnlich  das  Totenmahl  nach  dem  Begräbnisse  bezeichnet  wird. 

*  Lasicius  op.  dt.  S.  57:  defunctorum  enini  cadavera  vestibus  et  calceis 
induuntur  et  erecta  super  sellam  locantur;  vgl.  Praetorius  Del.pruss.  S.  101. 

*  raudes  (Daukantas  S.  145;  S.  116  der  späteren  Bearbeitung). 

*  Derartige  Klagen  sind  überliefert  von  Brand  Beysen  S.  99;  Prae- 
torius  Deliciae  pruss.   S.  102   und    in  Erleutertes  Preußen  (bei  F.  und 


Die  vorchristlichen  baltischen  Totengebräuche  483 

dieser  Weise  wurde  alles,  was  dem  Verstorbenen  teuer  gewesen 
war,  in  der  Klage  erwähnt.  Solche  Totenklagen  kamen  noch 
1865  vor.*  Offenbar  sind  diese  Klagen  die  einfachste  Form 
der  bekannten  raudos  oder  Klagelieder  der  Litauer,  deren  eine 
Menge  auf  uns  gekommen  ist  und  die,  wenn  auch  unter  dem 
Einfluß  der  Geistlichkeit  langsam  außer  Gebrauch  geratend,  doch 
auch  noch  gegenwärtig,  vor  allem  im  polnischen  Litauen,  sei 
es  im  Hause  beim  Sarge,  sei  es  am  Grabe,  gesungen  werden.^ 
Während  die  an  der  Wand  sitzenden  'Wächter'  in  dieser 
Weise  sangen,  weinten  die  Klageweiber  zugleich  mit  den  Ver- 
wandten, ihre  Tränen  in  kleine  irdene  oder  gläserne  Gefäße  sam- 
melnd, deren  Inhalt  später  in  das  Tränenfläschchen  übergegossen 
wurde,  das  dann  in  den  Grabhügel  bei  der  Asche  des  Toten  hin- 
gelegt wurde;  wollte  oder  konnte  jemand  nicht  weinen,  so  mußte 
er  ein  fremdes  Klageweib  mieten,  um  es  an  seiner  Stelle  zu  tun. 
Noch  heutzutage  lebt  die  Überlieferung  unter  dem  Volke,  daß 
man  weibliche  Klagende  mietete,  um  den  Toten  zu  beweinen; 
diese  bekamen  nachher  etwas  aus  der  Erbschaft  als  Belohnung.^ 
Wenn  die  Klage  beendigt  war,  regten  die  Verwandten  des  Ver- 
storbenen die  Wächter  zum  Biertrinken  an.  In  dieser  Weise 
hielt  man  'die  Wache'  während  einiger  Tage  und  Nächte,  nach 
dem  Maße  der  Wohlhabenheit  des  Hingeschiedenen.  Niemand 
i durfte  da  so  essen,  daß  es  gesehen  werden  konnte;  hungerte 
leinen,  so  genoß  er  in  aller  Stille  etwas  in  einem  Hinterzimmer, 
und  so  macht  man  es  auch  heute  noch  in  verschiedenen  Ort- 
1  Schäften  im  polnischen  Litauen.*     Wenn  man  in  der  beschrie- 

H.  Tetzner  Dainos,  Reclam- Ausg.  Nr.  3694,  S.  17);  Schwabe  Geistliche 
Wallfahrt  (XZXLIV  S.  360),  vgl.  auch  Bas.  I  14,  15  und  Encydopaedia 
pf  Religion  and  JEthics  II.  Band  S.  20. 

i  ^  Bas.  Einl.  S.  XL;  Cappellers  Gewährsmann  (l.  dt.  S.  34)  erwähnt  den 
jOebrauch  gleichfalls  und  bemerkt  darüber:  „einst  geschah  das  auch  so 
ibei  uns,  wie  ich  von  Älteren  vernommen  habe,  aber  dieser  Brauch  ist 
schon  längst  verschwunden". 

2  Dr.  V.  d.  Meulen  teilt  in  X^XLIV  S.  363ff.  zwei  1909  von  ihm  ge- 
iiörte  raudos  mit. 

^  Bas.  1 16.       ^  In  Seredys,  Gouv.  Kowno;  Bas.  I  24  (S.  13  Z.  5  v.  u  ). 

31* 


484  ^'  Caland  ^ 

benen  Weise  wiederholt  die  Klage  abgehalten  hatte,  trank  schließ- 
lich jedermann  der  Reihe  nach  dem  Toten  zu,  sich  von  ihm 
verabschiedend  und  die  Hoffnung  aussprechend,  der  Verstorbene 
möge  seine  Eltern,  Verwandten  und  Bekannten  im  Jenseits  grüßen 
und  sich  ebenso  freundlich  ihm  gegenüber  verhalten  wie  er  ihm 
auf  Erden  gut  gewesen  sei.  Wenn  man  darauf  den  Leichnam 
(oder  den  Sarg)  aus  der  Wohnung  getragen  hatte,  legte  man 
ihn  auf  einen  Wagen,  der  von  den  Weibern  bis  an  die  Grenze 
des  Dorfes^,  von  den  Männern  bis  an  den  Bestattungsort  be- 
gleitet wurde.  In  einigen  Gegenden  gehen  noch  gegenwärtig^, 
wie  es  früher  Brauch  war,  auch  die  Klageweiber  mit,  und  in 
verschiedenen  Gegenden  fahren  die  nächsten  weiblichen  Ver- 
wandten auf  demselben  Wagen  klagend  und  weinend  mit,  auf 
welchem  der  Tote  fortgefahren  wird^;  so  machen  es  auch  heut- 
zutage die  Letten  im  Kreis  Dinaburg.*  Von  den  Letten  im  all- 
gemeinen wird  folgender  merkwürdiger  Brauch  erwähnt^,  daß 
man  früher  alle  Kinder,  die  man  zusammenbringen  konnte,  sick 
auf  den  Sarg  setzen  ließ  und  sie  so  nach  dem  Bestattungsorte 
fuhr.  „Gegenwärtig  erzählt  man,"  fügt  der  Gewährsmann  hin- 
zu, „daß  dies  deshalb  geschieht,  damit  die  Kinder  eine  gute  Er- 
innerung daran  behalten  mögen:  damit  sie  der  Zeit  des  Ster- 
bens und  des  Ortes,  wo  der  Tote  bestattet  worden  ist,  einge- 
denk sein  mögen."  „Vielleicht",  so  sagt  er  weiter,  und  man 
wird  ihm  hierin  sicher  beistimmen,  „könnte  diese  Sitte  auch 
einen  anderen  Grund  haben." 

In  der  heidnischen  Zeit  wurde  der  Tote  von  den  männlichen 
Verwandten  begleitet,  die,  zu  Pferde  sitzend,  das  entblößte  Schwert 
schwangen,  die  bösen  Geister  forttreibend  und  schreiend:  „Holla! 

^  Audi  bei  Praetorius  Del.pruss.  S.  103;  in  dem  Erleuterten  Preußen 
(bei  Tetzner,  Dainos,  S.  17)  heißt  es:  „Wenn  ein  Mann  stirbet,  so  gehet 
das  Weib  nicht  mit  zum  Grabe,  sie  gehet  nur  bisz  an  die  Hausthür- 
Schwelle".  Während  kiemas  in  einigen  Dialekten  'Dorf  bedeutet,  be- 
zeichnet  es    in  anderen  Dialekten:   'Bauernhof;  daher  der  Unterschied 

2  Bag^  I  14  ^s  5  2. 16  V.  u.).  '  Bas.  I  24  (S.  14  Mitte). 

*  Bas.  I  26.  «  Bas.  I  25  (S.  16  Mitte). 


Die  vorchristlichen  baltischen  Totengebräuche  485 

Gehet  fort!  Flüchtet  hin,  ihr  bösen  Geister !^^  ^  Dasselbe  wird 
von  Jucewicz  noch  für  die  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  er- 
wähnt.^ Etwas  sehr  Merkwürdiges  fand  nach  Lucas  David,  dem 
Verfasser  der  preußischen  Chronik  aus  der  zweiten  Hälfte  des 
16.  Jahrhunderts,  in  diesem  Moment  statt.  Er  berichtet^  das 
Folgende:  „Die  Frauen  begleiten  den  Leichnam  bis  auf  die  Grenze 
des  Dorfes;  da  ist  ein  Pfall  in  die  erden  geschlagen,  darauf 
eine  breidte  Muntze  wie  ein  Schilling  geleget.  Alle  die  zu  Rosz 
sind  rennen  nach  dem  Pfole.  Der  erste  so  dahin  kompt  nimbt 
die  Muntze  vom  Pfole  und  zeiget  die  denen  so  mit  Ime  haben 
danach  gerennet.  So  bald  sie  die  Münze  in  seinen  Händen  sehen, 
kehren  sie  alle  umb  und  rennen  wieder  zum  todten. "  In  diesem 
interessanten,  aber  auf  dem  ersten  Blick  wenig  begreiflichen  Be- 
richt lebt  ohne  Zweifel  ein  Brauch  fort,  der  uns  aus  viel  früherer 
Zeit  überliefert  ist,  und  zwar  für  den  die  Aestii  genannten  Volks- 
stamm. In  seinem  auf  Angelsächsisch  zwischen  880  und  890 
verfaßten  Periplus  berichtet  uns  nämlich  Wulffstan  das  Folgende'* : 
„An  demselben  Tage,'  wo  sie  ihn  zum  Scheiterhaufen  tragen 
woUen,  zerteilen  sie  seine  Habe,  die  da  nach  dem  Trinken  und 
Spielen  übrig  ist,  in  fünf  oder  sechs,  manchmal  in  mehrere 
(Teile),  je  nach  der  Größe  der  Habe.  Sie  legen  es  darauf  hin, 
den  größten  Teil  in  einer  Entfernung  von  mindestens  einer  Meile 
vom  Hofe  (wo  der  Leichnam  sich  befindet),  dann  den  zweiten, 
dann  den  dritten,  bis  alles  über  diese  eine  Meile  hingelegt  worden 
list;  der  kleinste  Teil  muß  sich  am  nächsten  bei  dem  Ort,  wo 
ider  tote  Mann  liegt,  befinden.  Nun  müssen  sich  alle  Männer 
Isammeln,  die  im  Lande  die  schnellsten  Rosse  besitzen,  in  (einer 

'        ^  Lasicius  op.eit.S.b7  (nach  Malecki):  strictisque  gladiis  verberantes 
lauras  vociferantes:  geigeite  hegaüe  peJcelle,  zu  lesen  mit  Bas.  S.  XXXI:  ei, 
\eikitef  legMte  pylcoliai,  vgl.  Stryikowski  Kronika  bei  Bas,  S.  XL  VI. 
I        2  Bas.  I  14  a.  E. 

!        '  Preußische  Chronik  J.  Bd.  S.141.  Daukantas,  der  Wulffstan  folgt,  fügt 
pie  Zerteilung  der  Habe  nach  der  Verbrennung  und  vor  der  Heimkehr  ein. 
*  S.  den  angelsächsischen  Text  in  den  Scriptores  rerum  prussicarum 
voll  S.  732. 


436  W.  Caland 

Entfernung  von)  mindestens  fünf  oder  sechs  Meilen  von  der 
Habe.  Dann  rennen  sie  alle  auf  die  Habe  zu;  dann  kommt  der 
Mann,  der  das  schnellste  Roß  hat,  zu  dem  ersten  und  größten 
Teile  und  so  der  eine  nach  dem  anderen,  bis  alles  genommen 
ist;  und  den  kleinsten  Teil  erreicht  derjenige,  der  am  nächsten 
beim  Hofe  die  Habe  erreicht.  Darauf  reitet  jedermann  seines 
Weges  mit  dieser  Habe  und  sie  dürfen  es  alles  behalten."  Man 
sieht,  daß  der  von  Wulffstan  beschriebene  Brauch  an  einem 
anderen  Momente  im  Ritual  seinen  Platz  findet  als  der  von 
Lucas  David  mitgeteilte.  Zweifellos  ist  der  Platz,  den  er  bei 
Wulffstan  einnimmt,  der  ursprüngliche  und  richtige. 

Wenn  man  mit  dem  Leichnam  an  dem  Bestattungsort  an- 
gelangt war,  ging  man  klagend  und  weinend  dreimal  um  den 
Wagen,  auf  welchem  er  lag,  herum  ^,  legte  ihn  auf  ein  Bett  von 
Stroh  und  hob  ihn  in  dieser  Weise  auf  den  Holzstoß;  neben  den 
Toten  legte  man  sein  Streitroß,  seinen  Kreuzbogen,  seine  Pfeile, 
seinen  Speer,  sein  Schwert  oder  seinen  Dolch,  seinen  am  meisten 
geliebten  Knecht,  seine  Jagdhunde  und  Falken  und  so  wurde 
er  den  Flammen  übergeben.*  Als  das  Begraben  mehr  allgemein 
Sitte  wurde,  warf  man  Geldstücke  ins  Grab  und  legte  Brot  und 
eine  Flasche  Bier  an  das  Kopfende  des  Toten.^  Wenn  der  Rauch 
des  Scheiterhaufens  emporzusteigen  begann,  stimmten  die  heid- 
nischen Priester  einen  Gesang  an  und  rühmten  alle  Kriegstaten 


^  Lucas  David,  I.  Bd.  S.  142;  Hartknoch  Altes  und  neues  Preußen 
S.  182. 

'  Das  älteste  Zeugnis  bei  Wulflfstan:  and  forbaerned  mid  his  vaepnum 
and  hraegle.  Ein  unverdächtiges  Zeugnis  im  Vertrage  von  1249  (vgl.  Anm.  10 
auf  S.  480) :  et  fideliter  promiserunt  quod  ipsi  vel  heredes  eorum  in  mortuis  com- 
hurendis  vel  subterrandis  cum  equis  sive  hominibus  vel  cum  armis  seu  vesti- 
bus  vel  quibuscumque  aliis  preciosis  .  .  .  ritus  gentilium  de  cetero  non 
servdbunt.  Ein  Zeugnis  aus  der  Mitte  des  13.  Jahrh.  gibt  Ditlebs  von  Aln- 
peke  (s.  Bas.  S.  XXIX) ;  vgl.  auch  Matthias  a  Michovia  in  de  Sarmatia  (Pol. 
bist,  corpus,  tom.  I  fol.  144):  habebant  {Samagitae)  praeterea  in  silvis  prae- 
fatis  focos  in  familias  et  domos  distinctos  in  quibus  omnihus  carorum  et 
familiarium  cadaveracum  equis,  seTlis,et  vestimentis potioribus  incendebant. 

'  Lasicius  op.  cit.  S.  57;  Praetorius  Erl.  Preußen  (bei  Tetzner,  S.  17). 


Die  vorchristlichen  baltischen  Totengebräuche  487 

und  Heldenstücke  des  Toten.  Sobald  die  Flamme  am  Holzstoß 
sichtbar  ward,  riefen  die  Priester,  den  Blick  zum  Himmel  ge- 
hoben, sie  sähen  den  Toten  durch  das  Himmelsgewölbe  auf  seinem 
Roß,  in  blitzendem  Panzer  und  mit  einem  Falken  auf  der  Hand 
inmitten  eines  großen  Gefolges  nach  der  jenseitigen  Welt  ziehen.^ 
Die  Letten  glaubten,  daß  der  Geist  glücklich  sein  werde,  wenn 
bei  der  Verbrennung  der  Rauch  des  Scheiterhaufens  gerade  in 
die  Höhe  stieg;  schlug  dagegen  der  Rauch  seitwärts  nieder,  so 
sei  der  Geist  untergegangen.^  Verschiedenen  Berichterstattern 
nach  war  es  in  der  heidnischen  Zeit  üblich,  Bären-  oder  Luchs- 
krallen in  das  Feuer  zu  werfen,  damit  der  Geist  mit  deren  Hilfe 
den  hohen  schlüpfrigen  Berg  des  Jenseits  besteigen  könne.^ 
Etwas  Ahnliches  wird  im  Jahre  1890  erwähnt:  „Zu  alten  Zeiten 
pflegten  die  Menschen  die  abgeschnittenen  Nägel  nicht  auf  den 
Boden  zu  werfen,  sondern  versteckten  dieselben  in  ihrem  Busen 
(d.  h.  in  dem  Bausch  ihres  Gewandes),  weil  sie  glaubten,  daß  der 

^  Die  hierauf  bezüglichen  Worte  des  Vertrages  des  Deutschen  Ordens 
lauten:  promiserunt  etiam  quod  inter  se  non  haiebunt  de  cetero  TuUssones 
vel  Ligaschones  homines  videlicet  mendacissimos  histriones,  qui  quasi  gen- 
tilium  sacerdotes  in  exequiis  defunctorum  ne  (der  Text  hat  ve)  tormentorum 
!  infernalium  poena  premerentur  (der  Text  des  L.  David  hat  promerentur 
und  läßt  poena  fort),  dicentes  malum  ionum  et  laudantes  moHuas  de  suis 
furtis  et  spoliis  immunditiis  et  rapinis  ac  dliis  vitiis  et  peccatis,  quae  dum 
viverent  perpetrarunt,  ac  erectis  in  coelum  luminihus  (Voigt  Gesch.  Preußens 
übersetzt:  'und  flammende  Lichter  emporhebend'  und  ihm  folgend  gleich- 
falls unrichtig  Dank  antas:  deganczias  Swakes  augstyn  keldami)  exclamantes 
mendaciter  asserunt  se  videre  praesentem  defunctum  per  medium  coeli  volan- 
tem  in  equo  armis  fulgentibus  decoratum  nisum  in  manu  ferentem  cum  comi- 
täte  magna  in  aliud  secuJum  procedentem.  Ein  Zeugnis  aus  etwas  späterer 
jZeit  (1326)  ist  das  des  P.  von  Dusburg  {Script,  rer.pruss.  I  54):  unde  contin- 
I  gehat  quod  cum  noiilibiis  mortuis  arma  equi  servi  et  ancillae  vestes  canes 
venatici  et  aves  rapaces  et  alia  quae  spectant  ad  militiam,  urerentur. 
j  '  Nach  Guilbert  de  Lannoy,  der  1413  —  1414  eine  Reise  durch  Kur- 
jland  machte,  vgl.  Script,  rer.  pruss  vol.  lll  S.  446.  Ein  ähnlicher  Glaube 
jauch  bei  den  Hindus  und  den  Dajaks,  vgl.  Verf.  Dze  altindischen  Toten - 
und  Bestattmigsgebräuche  S.  59. 

i  ^  Dies  wird  berichtet  für  1212  und  1382  von  Stryikowski  und  P.  von 
Dusburg  (Bas.  S.  XLII  — XLIV),  vgl.  auch  Daukantas  Istorija  I  S.  126  mit 
Hartknoch  Altes  und  neues  Preußen  S.  187. 


488  W.  Caland  |^ 

Mensch,  wenn  er  gestorben  war,  über  eine  gläserne  Brücke  auf 
einen  gläsernen  Berg  klettern  mußte  ".^ 

Wenn  nun  der  Leichnam  verbrannt  war,  tat  man  die  Asche 
in  eine  Urne  und  legte  auch  Spangen,  Ohrringe,  Fingerringe, 
Halsketten,  alte  Münzen  und  andere  Wertsachen  hinein.  Schließ- 
lich setzte  man  die  Urne  in  einem  Grabhügel  bei,  der  in  folgender 
Weise  angefertigt  wurde.  Auf  den  Boden  legte  man  Steine  in 
konzentrischen  Kreisen  und  in  der  Mitte  errichtete  man  aus  vier 
glatten  Steinen  eine  Art  Gewölbe,  in  dessen  Mitte  man  die  Urne 
mit  der  Asche  stellte.  Von  dieser  Urne  aus  legte  man  wie  die 
Strahlen  eines  Sternes  oder  die  Speichen  eines  Rades  nach  allen 
Seiten  hin  Reihen  Steine  und  häufte  darüber  hügelartig  die  Erde 
in  der  Form  eines  Ovales  an,  dessen  Höhe  von  dem  Ansehen  des 
Toten  abhiug.  Eine  Menge  solcher  Grabhügel  findet  man  jetzt 
noch  im  preußischen  und  polnischen  Litauen.^ 

Ehe  man  nach  der  Beisetzung  das  Grab  verläßt,  ist  es  bei  den 
Letten  üblich,  auf  dem  Grabe  selbst  die  Verwandten  mit  Bier, 
Brot  und  Käse  oder  mit  Bohnen  und  Erbsen,  Bier  und  Brannt- 
wein zu  bewirten^.  Einem  Gewährsmann  des  Kalvaitis  teilte  man 
mit,  daß  in  alter  Zeit  die  Bewohner  des  Dörfleins  Cranz,  wo  viele 
Litauer  und  Alte  Preußen  wohnen  sollen,  auf  dem  Friedhofe  ein 
Rind  zu  schlachten  pflegten  und,  nachdem  sie  an  Ort  und  Stelle 
das  Fleisch  gesotten  und  gebraten,  dort  das  Totenmahl  feierten. 
Dies  war,  sozusagen,  eine  Festmahlzeit  der  Lebendigen  in  Ge- 
sellschaft mit  den  Geistern  der  Toten.*  Darauf  gehen  die  Teil- 
nehmer, und  zwar  die  Letten  von  Dinaburg,  fröhlich  singend 
und  schreiend^  nach  dem  Sterbehause  zurück.  Bei  der  Türe  stand 
ein  Eimer  mit  Wasser  und  einem  Handtuch  fertig  und  jeder- 
mann, er  mochte  den  Toten  oder  die  Erde  berührt  haben  oder 


1  Bas.  II  6. 

*  Bas.  Einl.  Abschn.  X  (S.  LlXff.)-    ^^  seiner  Geschichte  Preußens  gibt 
Voigt,  dem  Titel  gegenüber,  eine  Abbildung. 

3  Bas.  I  25  (S.  16  Z.  10),  I  26  (S.  17  Z.  10  v.  u.). 

*  Bas.  I  28  (S.  18  Z.  11  v.  u.).  '  Bas.  I  26  (S.  17  Z.  8  v.  u.). 


Die  vorchristlichen  baltischen  Totengebräuche  489 

nicht,  mußte  sich  die  Hände  waschen.*  Nun  endlich  wurde  die 
eigentliche  Toten mahlzeit  gehalten.  Wieder  bei  den  Letten  mußte 
jeder  Gast  seine  eigene  Mahlzeit  mitbringen:  ein  Butterbrot  mit 
Käse,  und  jedermann  mußte  dann,  ehe  er  von  dem  Wirte  zu 
Tisch  geladen  wurde,  davon  einen  Bissen  nehmen.^  Früher 
glaubte  man  und  auch  jetzt  glaubt  man,  daß  der  Geist  des  Ver- 
storbenen persönlich  zum  Sterbehause  zurückkehre;  deshalb  legt 
man  in  Ostpreußen  während  des  Ganges  nach  dem  Grabe  an  die 
Grenze  des  Dorfes  wie  an  den  Eingang  des  Friedhofes  ein  Büschel 
Stroh  hin,  damit  die  Seele  sich  dort  auf  dem  Heimwege  aus- 
ruhen könne ^,  und  deshalb  stellt  man  in  dem  Gemach,  wo  der 
Mensch  gestorben  und  wo  die  Verwandten  später  zum  Mahle 
zusammenkommen,  abends  einen  Schemel  bei  der  Türe  auf  und 
daneben  ein  Glas  Kaffee,  damit  der  Geist  trinken  könne.^  Noch 
gegenwärtig  glaubt  man,  daß  der  Geist  des  eben  Verstorbenen, 
begleitet  von  allen  schon  verstorbenen  Familienmitgliedern,  nach 
Hause  zurückkehre  und  während  des  Abendbrots  sich  unter  die 
Lebendigen  mischend;  die  Finger  in  alle  Schüsseln  steckend,  von 
allen  Speisen  kostet  Andere  behaupten,  der  Geist  verberge  sich 
während  des  Leichenmahles  hinter  dem  Handtuch,  das  an  der 
Stubentür  hängt;  diejenigen,  die  den  Mut  hatten,  durch  ein  Loch 
in  diesem  Tuche  oder  durch  die  Fransen  zu  gucken,  erblickten 
den  Geist.*  Bei  der  eigentlichen  Totenmahlzeit  ^  saßen  die  Gäste, 

*  Praetorius  Bei.  pruss.  S.  99, 103  ed.  Pierson. 

^  Bas.  I  25  (S.  17  Z.  17  v.  n.).  Von  den  Letten  wird  ferner  berichtet 
(Bas.  I  26),  daß  die  Verwandten  an  dem  für  das  Begräbnis  bestimmten 
Tage  znm  Totenmahl  Fleisch,  Gerstenkuchen,  Branntwein  und  Bier  mit- 
bringen. —  „Es  war  ein  alter  Brauch,"  so  erzählt  Cappellers  Gewährs- 
mann {op.cit.  S.  23),  „daß  jeder  Eingeladene  ein  Fäßchen  Branntwein 
für  den  Veranstalter  der  Feier  mitbrachte ;  dann  übergab  man  ihm  alles, 
was  jeder  mitgebracht." 

^  Bas.  119  (S.  lOZ.  11  v.u.);  ein  derartiger  Brauch  noch  im  Sam- 
land,  vgl.  AUpr.  Monatschr.  36  S.  106. 

^  Bas.  119  (S.  HZ.  7).        ">  Bas.  VIII  5  (S.  74  Z.  14  v.  u.),  vgl.  0  37,  IX  8. 

«  Bas.Vni2,  39,  1X17;  für  Samland  Ygl  AUpr.  Monatschr.  36  S.106. 

'  Daukantas  gibt  eine  ausführliche  Beschreibung,  die  viele  von  ihm 
selbst  herrührende  Zutaten  zu  enthalten  scheint,  aber  in  den  Hauptsachen 


490  ^'  Caland 

ohne  zu  reden,  wie  stumm  zu  Tiscli;  Messer  benutzten  sie  nicht, 
und  zwei  Frauen  warteten  ihnen  auf,  die,  ebenfalls  ohne  Messer 
zu  benutzen,  ihnen  die  Speisen  auftrugen.^  Jedermann  warf  von 
jedem  Gerichte  einen  kleinen  Teil  unter  den  Tisch  und  goß  ein 
wenig  von  seinem  Getränke  auf  den  Boden  aus,  in  dem  Glauben, 
daß  der  Geist  dies  zu  sich  nehme.  Wenn  zufällig  etwas  auf  den 
Boden  fiel,  so  hob  man  es  nicht  auf,  sondern  ließ  es  liegen, 
damit  die  verlassenen  Geister,  die  keine  Verwandten  oder  Freunde 
hatten,  um  ihnen  eine  Mahlzeit  zu  bereiten,  es  genießen  möchten. 
Nach  der  Mahlzeit  erhob  sich  der  Priester  und,  indem  er  mit 
Besen  das  Geraach  kehrte,  vertrieb  er  mit  dem  Staube  die  Geister 
der  Toten,  als  wären  es  Flöhe,  mit  den  Worten:  „Ihr  habet  ge- 
gessen, Ihr  habet  getrunken,  o  Geister,  geht  jetzt  fort,  gehet 
fort!"  Darauf  fingen  die  Gäste  zu  reden  an  und  um  die  Wette 
zu  trinken;  die  Männer  und  Weiber  tranken  sich  zu  und  küßten 
sich.  —  Über  jenes  Auskehren  der  Geister  haben  wir  auch  einen 
sehr  zuverlässigen,  sich  auf  die  Letten  beziehenden  Bericht  aus 
dem  Jahre  1606^;  außerdem  erfahren  wir  aus  diesem  Berichte 
die  Eigentümlichkeit,  daß  man  mit  einem  Beile  in  den  vier 
Ecken  des  Hauses  Löcher  schlug,  um  die  Geister  gänzlich  aus- 
zutreiben. 

Diese  Totenmahlzeit  wird  am  dritten,  sechsten,  neunten  und 
vierzigsten  Tage  nach  der  Bestattung  wiederholt  und  zuweilen, 
wie  es  scheint,  auf  dem  Grabe  selbst.    Aus  seiner  Zeit,  also  um 

doch  mit  dem  anderswoher  Bekannten  übereinstimmt.  Ich  habe  denn 
auch  nicht  seine  Beschreibung  hier  aufgenommen,  sondern  die  des  Lasi- 
cius  {op.cit.S.  57  —  58),  obschon  dieser  Autor  die  Mahlzeit  beschreibt  als 
geltend  für  die  3.,  6.,  9.  und  40.  Tage  nach  der  Beisetzung;  vgl.  auch 
Praetorius  op.  dt.  S.  103  und  Lucas  David  I.  Bd.  S.  144. 

^  Dasselbe  bei  Lucas  David  (l.  c.) :  „  Zwee  Weiber  dienen  Inen  zu 
Tisch  und  legen  einem  Iden  für  was  er  essen  solle.  Die  Speise  aber  ist 
vorhin  zurtheilet,  dasz  keiner  alda  ein  Messer  ziehen  darf  noch  musz." 

'  Mitth.  der  Litt.  Ut.  Ges.  III  S.  384 fiF.;  es  ist  der  Bericht  einer  katho- 
lischen Mission  nach  Riga:  Ultimo  scopant  hypocaustum  et  expelliont  ani- 
mas  ex  hypocausto;  alter  arripit  securim  et  parietes  secat  per  quattuor  an- 
gulos  easdem  expellens  ne  haereant  in  quodam  loco. 


Die  vorchriBtlichen  baltischen  Totengebräuche  491 

1680,  berichtet  uns  Praetorius^  daß,  als  ein  Litauer  verstorben 
war,  die  nächsten  Freunde  vier  Wochen  nach  dem  Sterbefall  zu- 
sammenkamen; sie  hatten  Bier  gebraut  und  Essen  zugerichtet 
und  setzten  sich,  wenn  das  Essen  aufgetragen  war,  alle  zu  Tische; 
die  erste  halbe  Stunde  saßen  sie  ganz  stille  und  redeten  kein 
Wort;  dann  knieten  alle  nieder  und  beteten,  Gott  wolle  die  Seele 
ruhen  lassen;  hernach  setzten  sie  sich  wieder  zu  Tisch  und  fingen 
an  zu  essen  und  zu  trinken;  von  allem  aber,  sei  es  Fleisch,  Brot 
oder  Fisch,  warfen  sie  zuerst  ein  wenig  unter  den  Tisch  und  gössen 
die  erste  Schale  Bier  auf  den  Boden  für  die  Seele.  „Die  Seele 
könne  nicht  ruhen,"  so  versicherten  die  Litauer  dem  Praetorius, 
„wenn  sie  ihr  nicht  den  Tisch  deckten",  und  das  nannten  sie  „der 
Seelen  den  Tisch  decken".  Nach  Beendigung  des  Totenschmauses 
nimmt  man  in  Ostpreußen  heute  die  folgende  Maßregel  vor, 
um  den  Geist  fernzuhalten:  einige  Männer  nehmen  die  Tisch- 
decke, bringen  dieselbe  eine  Strecke  fort,  stehen  still  und  be- 
schwören den  Toten,  sich  ruhig  zu  verhalten;  darauf  kehren  sie 
zurück  in  der  festen  ^ Überzeugung,  daß  er  sie  in  Ruhe  lassen 
wird.^  Nach  dem  Gesagten  wird  man  nicht  verwundert  sein  zu 
erfahren,  daß  ein  solcher  Totenschmaus  öfters  in  eine  Zecherei 
ausartet,  bei  welcher  Musik  und  sogar  Tanz  nicht  fehlen.^  Auch 
wird  es  niemand  wundern,  daß  eine  solche  Totenmahlzeit  zu- 
weilen an  die  3000  Mark  kostet* 

I  Neben  diesen  Totenfeiern  für  einen  einzelnen  Verstorbenen 
!  kommen  auch  allgemeine  vor.  Besonders  verdient  eine  Feier, 
jdie  sogenannte  Ilges,  die  mit  unserem  Allerheiligen  oder  Aller- 
lseelen zusammenfiel,  die  Aufmerksamkeit.  Diese  Feier  schloß 
!  sich  derjenigen  Festlichkeit  an,  die  Ende  Oktober  stattfand,  wenn 
die  Ernte  der  Feldfrüchte  ganz  eingeholt  war;  bei  dieser  Ge- 
legenheit wurden  verschiedene  Opfertiere  geschlachtet.   Ehe  man 

^  Erleutertes  Preußen  bei  Tetzner,  Dainos,  S.  17. 
';        ^  Bas.  I  19  a.  E.    Ursprünglich  wurde  wohl  die  noch  an  der  Tischdecke 
^haftend  gedachte  Seele  abgeschüttelt. 

=  Bas.  I  19  (S.  10  unten);  I  26  (S.  27  Z.  6  v.  u.). 

*  Zweck  Litauen,  eine  Landes-  und  Volkskunde^  Stuttgart  1898  S.173, 


492  ^^-  Caland 

selbst  zu  essen  anfing,  warfen  alle  Beteiligten  ein  klein  wenig 
von  jedem  Gerichte  in  die  Ecken  des  Gemaches,  für  die  ^Erd- 
geister', womit  ohne  Zweifel  die  Geister  der  Verstorbenen  ge- 
meint sind.^  Am  dritten  Tage  nach  diesem  Feste  wurde  eine 
Feier  zu  Ehren  des  Waizgauthos,  des  Gottes  des  Flachses,  be- 
gangen. An  diesem  Feste  lud  man  die  Toten  aus  ihren  Gräbern 
in  das  Badezimmer  und  zur  Mahlzeit  ein;  wieviele  eingeladen 
waren,  soviele  Sessel  und  Stück  Ober-  und  Untergewänder  legte 
man  in  einer  zu  diesem  Zwecke  erbauten  Hütte  bereit.  Wenn 
dann  ein  Tisch  mit  Essen  und  Trinken  beladen  war,  kehrten  sie 
zu  ihren  Hütten  zurück  und  veranstalteten  ein  Trinkgelage,  das 
drei  Tage  dauerte.  Am  Ende  ließen  sie  alles,  was  für  die  Toten 
bestimmt  war,  auf  den  Gräbern  zurück,  nachdem  sie  diese  mit 
Getränk  begossen  hatten.  Schließlich  verabschiedeten  sie  sich 
von  den  Geistern.^ 

Mit  einer  sinnvollen  und  rührenden  Schilderung  einer  all- 
gemeinen Totenfeier,  die  wir  dem  Autor  Krasinski^  (gest.  1859) 
verdanken  und  die  sich  also  fast  mit  unserer  Zeit  berührt,  möge 
diese  Darstellung  des  Totenkults  der  baltischen  Stämme  schließen. 

^  Lasicius  spricht  von  einer  Erdgottheit  {Zemiennik),  Daukantas  von 
den  zemelukes.  Das  in  alle  Ecken  Werfen  deutet  jedenfalls  auf  eine  Mehr- 
zahl von  Geistern. 

^  Lasicius  op.  dt.  (nach  Guagnini ,  der  seinerseits  Stryikowski  folgt), 
S.  49,  50 ;  vgl.  die  ausführliche  Darstellung  des  Daukantas  Budas  S.  110 
bis  112  und  v.  Brand  Beysen  S.  81  über  die  Kurländer  (d.  h.  die  Letten): 
„Dannenhero  etliche  unter  ihnen  gar  heimlich,  den  4.  Jan.  St.  N.  auf  aller 
Seelen  tag,  einen  langen  Tisch  mit  ihren  gewöhnlichen  besten  Speisen 
versehen,  in  einer  verschlossenen  stube  anzurichten  pflegen,  sagend  in 
ihrer  sprach:  mus  si  weczäke  dwesely  melämi,  das  ist:  „Wir  speisen  der 
Voreltern  Seelen."  Gehen  darauf  hinausz,  lassen  die  Speise  die  nacht 
über  stehen.  Morgens  wird  die  thür  wiedrumb  geöffnet;  finden  sie  nun 
obgemeldete  speisen  ohn verzehret  (man  erwartet  gerade  das  Gegenteil, 
vgl.  z.  B.  Bas.  I  28),  deuten  sie  es  vor  ein  sonderbares  glück  und  segen 
ihrer  Früchten,  viehs  und  dergleichen,  wo  nicht,  befürchten  sie  heftig 
eines  künftigen  Unglücks,  das  ihr  vieh,  äcker  und  dergleiche  befallen 
werde". 

'  Bei  Bas.  I  30,  vgl.  Lippert  Die  Relig.  der  europ.  CuUurvölker  S.  70. 


Die  vorchristlichen  baltischen  Totengebräuche  493 

„Nach  Sonnenuntergang  pflegten  sich  die  Leute  zu  versammeln 
und  sich  in  Gruppen  zu  teilen:  die  erste  Gruppe  bestand  aus 
verheirateten  Leuten  beiderlei  Geschlechtes,  die  zweite  aus  Witwern 
und  Witwen,  die  dritte  aus  Jünglingen  und  Mädchen,  die  vierte 
aus  Kindern.  Diese  Gruppen  begaben  sich,  von  den  Ältesten 
geführt,  singend  nach  dem  Flußufer,  wo  ein  hölzernes  Gestell 
errichtet  worden  war.  Ein  nahe  am  Wasser  stehendes  Faß  mit 
brennendem  Pech  erhellte  die  ganze  Szene.  Ein  bejahrter  Führer 
erklomm  das  Gestell,  kniete  und  winkte  mit  dem  Finger  nach 
den  vier  Himmelsrichtungen ;  dann  betete  er  laut  zu  den  Geistern 
der  Vorfahren,  damit  sie  gnadenreich  auf  ihre  Nachkommen 
sehen  und  Gott  bitten  möchten,  daß  er  ihnen  ihre  Fehler  und  Ver- 
irrungen  vergeben  möge,  damit  sie  nach  ihrem  Tode  die  Himmels- 
pforte geöffnet  finden  und  ihre  Vorfahren  erblicken  möchten. 
Darauf  erklommen  je  vier  Knaben  und  Mädchen  das  Gestell;  sie 
gössen  aus  Krügen  Bier,  Branntwein,  Milch  und  Honig  nach 
allen  Himmelsgegenden  aus  und  setzten  Brot  und  allerlei  andere 
Speisen  zu  Boden.  Wenn  sie  dann  einander  bei  der  Hand  ge- 
faßt hatten,  fingen  sie  an  rings  um  die  Opfergabe  zu  tanzen  und 
sangen  dabei  Trauerlieder.  Nach  dem  Tanze  warfen  die  Mädchen 
Kränze  und  Blumen  in  den  Fluß.  Dann  wurde  dieselbe  Szene 
von  dem  Chore  der  Witwer  und  Witwen  und  von  dem  der  ver- 
heirateten Leute  wiederholt,  von  denen  jedesmal  vier  das  Gestell 
erklommen.  Am  Ende  nahm  der  älteste  der  Männer  einen  Kranz, 
aus  Friedhofsblumen  geflochten,  und  warf  denselben  ins  Wasser, 
die  Augen  geschlossen  haltend,  bis  der  Strom  den  Kranz  aus  dem 
Gesichtskreise  weggeführt  hatte.  Dieser  Kranz  war  der  zuletzt 
verstorbenen  Jungfrau  gewidmet.^  Dann  wurden  die  Bretter  des 
Gestells  auseinander  gerissen  und  die  Menschen  riefen:  „Genug, 
o  Geister,  habt  ihr  getrunken,  genug  habt  ihr  gegessen!  Kehret 
zurück  (nach  dem  Ort),  wo  ihr  weilet!"  Die  Bretter  häufte  man 

^  Dieses  Detail  erinnert  lebhaft  an  die  von  Schrader  beschriebene 
Totenhochzeit;  vgl.  auch  Brand  Observations  on  populär  antiquities  S.  481 
besonders  vgl.  S.  487. 


494  ^-  Caland 

zusammen  und  verbrannte  sie,  die  Knaben  und  Mädchen  tanzten 
traurig  singend  darum  herum.  Dann  zerstreuten  sie  sieb  dem 
Flußufer  entlang  und  verspeisten  das  Mitgebrachte.  Diese  Mahl- 
zeit währte  bis  zum  ersten  Hahnengeschrei;  dann  verstummte 
jeder  Laut  und  man  entfernte  sich  eiligst  von  der  Stelle,  wo  man 
die  Erinnerung  an  die  teuren  Verstorbenen  gefeiert  hatte/* 

Demjenigen,  der  sich  mit  den  Sitten,  Gebräuchen  und  An- 
sichten der  kulturlosen  Völker  vertraut  gemacht  hat,  wird  vieles 
von  dem  hier  über  die  Totengebräuche  der  Völker  baltischen 
Stammes  Mitgeteilten  nicht  neu  sein;  manchmal  wird  er  sich 
gesagt  haben:  „Was  da  mitgeteilt  worden  ist,  gilt  ebenso  für 
dieses  oder  jenes  Volk."  Da  ich  aber  annehmen  muß,  daß  eine 
Anzahl  der  Leser  mit  dem  Gedankenkreise,  dem  die  hier  be- 
schriebenen Sitten  entsprossen  sind,  weniger  vertraut  ist,  so 
ist  es  vielleicht  nicht  überflüssig,  einige  Bemerkungen  hinzu- 
zufügen,  die   zur  Erläuterung  des  Mitgeteilten  dienen  können. 

Um  also  das  oben  dargelegte  Totenritual  und  die  darin  ent- 
haltene Anschauung  über  das  Wesen  der  Seelen  der  Verstorbenen 
zu  begreifen,  muß  man,  wie  man  es  wohl  nennt,  ^animistisch 
denken',  d.  h.  man  muß  sich  in  die  Denkweise  der  kulturlosen 
Völker  hineindenken,  welche  meinen,  daß  nicht  nur  der  Mensch, 
sondern  alle  Wesen,  ebensogut  wie  der  Mensch,  eine  Seele  haben, 
und  daß  die  psychische  Existenz  nicht  an  die  physische  gebunden 
ist:  die  Seele  hängt  mit  dem  Körper  nur  lose  zusammen  und 
kann  z.  B.  während  des  Schlafes  den  Körper  verlassen  und  allerlei 
erleben;  ein  Traum  ist  also  nicht  ein  Phantasiegebilde,  sondern 
eine  Art  Wirklichkeit.  Die  Seele  gilt  dem  animistisch  Denken- 
den keineswegs  als  etwas  Unmaterielles,  im  Gegenteil,  sie  be- 
steht aus  einer  Substanz,  aber  diese  Substanz  ist  äußerst  subtil 
und  kann  von  einigen  gesehen  und  berührt  werden.  Wenn  nach 
dem  Tode  der  Körper  leblos  daliegt,  bleibt  die  Seele  in  der 
Nähe,  solange  noch  etwas  vom  Körper  übrig  ist,  aber  führt 
eine  teilweise  immaterielle  Existenz.  Es  ist  begreiflich,  daß  der 


Die  vorchristlichen  baltischen  Totengebiäuche  495 

Lebende  überzeugt  ist,  daß  die  Seelen,  die  ja  ein  besonderes 
Leben  haben,  soviel  wie  möglich  in  den  für  sie  bestimmten  Ver- 
hältnissen, in  der  ihnen  zukommenden  Existenz  zurückgehalten 
werden  müssen.  Die  Art  und  Weise,  die  Toten  zu  behandeln,  hat 
zum  Zwecke,  sie  dort  festzuhalten  und  die  Maßregeln  zu  nehmen^ 
die  die  Lebendigen  vor  dem  Toten  schützen  können.  Sonst  wäre 
die  Gefahr  groß,  daß  die  Seelen  der  Toten  zurückkommen  würden, 
und,  wenn  nicht  alles  für  sie  getan  wäre,  worauf  sie  Anspruch 
hätten,  so  würden  sie  den  Lebendigen  schaden.  In  der  ersten 
Zeit  nach  dem  Tode  kann  sich  die  Seele  noch  nicht  ganz  von 
ihrer  materiellen  Hülle  trennen;  sie  verbleibt  noch  in  der  Wohnung, 
und  man  soll  alles  tun,  um  ihr  das  Fortgehen  bequem  zu  machen: 
darum  öffnet  man  entweder  Türen  und  Fenster  oder  macht  ein 
Loch  in  die  Wand.  Die  Geister,  subtil  von  Substanz,  wie  sio 
sind,  fürchten  nichts  so  sehr  als  Wasser  und  Feuer;  bei  vielen 
kulturlosen  "Völkern,  und  als  Überrest  älterer  Denkweise  auch 
bei  Kulturvölkern,  begießt  man  den  Scheiterhaufen  ringsum  mit 
einem  Wasserstrahle  o(Jer  bringt  nach  der  Beisetzung  einen  künst- 
lichen Fluß  an,  in  welchen  die  Überlebenden  sich  hinein  be- 
geben. Das  Ausgießen  des  zur  letzten  Waschung  gebrauchten 
Wassers,  wie  es  die  Litauer  vollziehen,  bezweckt  offenbar  das 
gleiche:  eine  Barrikade  zwischen  sich  und  den  Toten  zu  stellen. 
Der  Volksglaube,  der  als  Grundgedanken  angibt:  „Wenn  man  das 
Wasser  nicht  vor  dem  Begräbnisse  ausgösse,  so  würde  der  Tote 
im  Jenseits  keine  Ruhe  haben" ^,  ist  ein  wenig  getrübt;  der  zu- 
1  gründe  liegende  Gedanke  muß  gewesen  sein:  „Man  muß  das  Wasser 
{nach  dem  Begräbnisse  ausgießen,  dann  muß  der  Geist  in  jener 
|Welt  bleiben".  Daß  der  für  die  letzte  Toilette  gebrauchte  Kamm 
lim  Sarg  mitgegeben,  und  daß  das  für  die  letzte  Waschung  be- 
inutzte Gefäß  zertrümmert  wird,  ist  vollkommen  begreiflich:  solche 
{Sachen  sind  tabu  und  dürfen  von  den  Lebenden  nicht  mehr  ge- 
lbraucht werden.  So  zerbrechen  auch  die  Hindus  den  Krug,  der 
Izum  Begießen  des  Holzstoßes  gedient  hat.  Ein  anderes  Mittel, 
'  Bas.  I  19. 


496  ^'^'  Caland 

um  dem  Geiste  die  Heimkehr  zu  erschweren,  ist  die  Sitte  der 
Letten^,  die  Dorfstraße  und  den  Feldweg,  den  die  Leichenprozession 
nehmen  wird,  mit  Ästen  vom  Taxus,  einem  giftigen  Nadelbaum^, 
zu  bestreuen.  So  pflegen  die  Kongoneger,  die  barfuß  gehen  und 
sich  naturgemäß  den  Geist  ebenso  denken,  auf  dem  Wege  vom 
Hause  zum  Grabe  Dornen  auszustreuen^.  Ob  das  im  Volks- 
glauben vom  Schließen  der  Augen  des  Toten  gegebene  Motiv 
(„sonst  wird  der  Geist  des  Verstorbenen  einen  anderen  anlocken^')* 
das  richtige  ist,  scheint  noch  nicht  so  ganz  sicher  zu  sein;  nach 
Frazer^  gehört  die  Maßregel  zu  der  Kategorie  von  Riten,  durch 
die  man  den  Toten  verhindern  wollte,  den  Weg  zurückzufinden; 
man  konnte  sich  ja  schwerlich  den  Geist  in  einer  von  seiner 
sterblichen  Hülle  verschiedenen  Gestalt  denken  (vgl.  auch  das 
eben  über  die  Kongoneger  Gesagte)  und  nahm  daher  allerhand 
Maßregeln  vor,  um  dem  Körper  selbst  die  Heimkehr  unmöglich 
zu  machen.  Nach  meiner  Ansicht  gehört  hierher  auch  der  oben 
erwähnte  Brauch,  dem  Leichnam  ein  Taschentuch  über  den  Kopf 
unter  das  Kinn  zu  binden,  denn  die  Tatsache,  daß  man  das  Tuch 
wegnimmt,  nachdem  die  Leiche  in  den  Sarg  gelegt  worden  ist, 
läßt  vermuten,  daß  dieser  Brauch,  ursprünglich  wenigstens,  zu 
jener  Kategorie  von  Maßregeln  gehört,  die  den  Toten  unschäd- 
lich zu  machen  beabsichtigen^;  ein  analoger  Brauch  ist  dann 
das  anderswo  so  vielfach  anzutreffende  Zusammenschnüren  der 
Daumen  und  großen  Zehen  mit  Schnüren,  die  nach  Ankunft  am 
Kremations-  oder  Begräbnisplatz  wieder  losgeknüpft  werdend  So 

1  Bas.I  26. 

*  Der  Taxus  wird  auch  anderswo  mit  dem  Tode  in  Verbindung  ge- 
bracht, besonders  in  England,  vgl.  Brand  Oiservations  on  populär  anti- 
quities^  S.  451  ff.  {the  dismal  or  fatal  ewe);  in  der  alten  Zeit  (Z.  c.  S.  459) 
pflegten  die  Trauernden  einen  Taxusast  bei  der  Prozession  in  der  Hand 
zu  halten  und  diesen  ins  Grab  unter  den  Sarg  zu  legen. 

"  Encydopaedia  of  Religion  and  Ethics  vol.  IV  S.  426  a.        "  Bas.  I  14. 

^  Im  Journal  of  the  Anthrop.  Institute  vol.  XV  S.  68. 

^  Verf.  in  der  Monatsschrift  Museum  (Groningen)  Vol.  X  S.  35. 

'  Man  könnte  auch  meinen,  daß  die  hier  erwähnte  Maßregel  einfach 
genommen  wird,  damit  der  Mund  geschlossen  bleibe,  und  daß  das  Tuch 


Die  vorchristlichen  baltischen  Totengebräuche  497 

wird  von  den  Eingeborenen  der  Insel  Nias  berichtet,  daß  sie  nicht 
nur  die  Finger  und  Zehen,  sondern  auch  die  Kiefer  festschnüren 
und  Pfropfen  in  die  Nasenlöcher  hineinstecken;  auch  die  Mos- 
lims  binden  sowohl  die  Beine  wie  die  Kiefer  fest^  Meines 
Erachtens  bezweckte  auch  das  von  den  Litauern  dreimal  aus- 
geführte Herumgehen  um  den  Wagen,  auf  welchem  der  Leich- 
nam lag,  ursprünglich,  sich  vor  dem  Toten,  vor  dem  Geiste  zu 
schützen.  Ich  würde  diesen  früher  schon  eingehend  behandelten^ 
Brauch  hier  nicht  erörtern,  wenn  nicht  vor  kurzer  Zeit  von 
Prof.  Eerdmans  eine  von  der  meinigen  abweichende  Erklärung 
vorgeschlagen  worden  wäre^  Eerdmans  äußert  sich  über  diesen 
Gebrauch  folgendermaßen:  „Das  Tragen  um  die  Kirche  geschah 
ursprünglich  nicht  in  so  guter  Ordnung  {000  ordelijlc)  wie  gegen- 
wärtig. Es  fand  wiederholt  statt,  wohl  auch  in  schnellem  Tempo. 
Die  Absicht  war,  so  viele  Male  um  die  Kirche  herumzugehen, 
daß  man  über  die  Anzahl  der  Umgänge  nicht  mehr  vollkommen 
sicher  war.  In  dieser  Weise  würde  der  Geist  des  Toten  sich  leicht 
irren  können,  wenn  er  den  Versuch  machen  wollte,  denselben 
Weg  zurückzulegen."  Nun  ist  es  freilich  möglich,  daß  das  Herum- 
tragen um  die  Kirche  zuweilen  eine  unbestimmte  Anzahl  Male 
stattfand,  aber  es  ist  Tatsache,  daß  alle  bekannten  Quellen  der 
verschiedensten  Völker  indogermanischer  Herkunft  den  Umgang 
als  dreimalig  erwähnen.  Dreimal  z.  B.  wird  er  nach  Gallee*  auch 
in  der  Provinz  Friesland  und  in  gewissen  katholischen  Gemeinden 
des  platten  Landes  in  anderen  Provinzen,  z.B.  in  Overijsel,  ab- 
entfernt wird,  nachdem  die  Rigidität  eingetreten  ist:  anstandshalber  also. 
Aber  vgl.  Gallee  Sporen  van  Indogermaansch  ritueel  in  Germaansche  h'jJc- 
plechtigheden ,  Volkskunde  Bd.  XIII  S.  4:  daarna  (d.  h.  nach  dem  Ein- 
treten des  Todes)  moest  hij  (de  mond)  echter  gesloten,  want,  hleef  h'y  open, 
dan  Jcon  de  ziel  in  't  lichaam  terugTceeren  en  de  overledene  werd  een^ revenanf . 

1  Encycl.  of  Bei.  and  Ethics  vol.  IV  S.433a  und  500  a. 

^  In  Verslagen  en  Mededeelingen  der  Kon.  Acad.  van  Wetensch.  te 
\  Amsterdam,  Afd.  Letterkunde  IV«  Beeks,  2«  deel,  pag.  275 ff.  und  Encycl. of 
^  Meligion  and  Ethics  vol.  III  S.  657,  vol.  IV  S.  454  a. 

^  In  Driemaandelijksche  Bladen  XII.  Jahrg.  S.  51  ff. 

*  Loc.  dt.  S.  9. 

Archiv  f.  Eeligionswissenacliaft  XVII  32 


493  ^-  Caland 

gehalten,  wobei  Gallee  zweimal  Augenzeuge  war.  Ursprünglich 
bezweckte  der  uralte  Brauch  des  dreimaligen  Herumgehens,  daß 
man  sich,  wenn  man  dabei  der  Person  oder  der  Sache  die  linke 
Seite  zukehrte,  sich  vor  dem  bösen  Einfluß  schützte,  der  von 
der  gedachten  Person  oder  Sache  ausgehen  konnte,  während 
das  dreimalige  Herumgehen  mit  Zukehrung  der  rechten  Seite 
beabsichtigte,  eine  gewisse  Person  oder  Sache  vor  bösem  Ein- 
fluß zu  sichern.  Das  letzte  artete  in  eine  Art  von  Ehrerbietung  ab. 
Der  animistisch  Denkende  meint  auch  imstande  zu  sein,  die 
Geister  zu  verscheuchen;  das  taten  denn  auch  die  alten  Litauer, 
wenn  sie  mit  gezogenem  Schwerte  und  laut  schreiend  die 
bösen  Geister  vertrieben.  Ob  diese  Maßregel  nicht  ursprünglich 
die  Absicht  hatte,  den  Geist  des  Verstorbenen  aus  dem  Dorfe 
zu  verjagen,  will  ich  dahingestellt  sein  lassen^;  soviel  jedoch 
ist  sicher,  daß  das  entblößte  Schwert  hier  von  Bedeutung  ist. 
Eine  von  den  Sachen,  die  die  Geister  fürchten,  ist  das  Eisen, 
um  wie  viel  mehr  das  scharfe  Eisen ^!  Daß  dieser  Volksglaube 
noch  unter  den  jetzigen  Litauern  lebendig  ist,  geht  deutlich  aus 
der  folgenden  Geschichte  hervor,  die  von  Kalvaitis  aus  dem  Munde 
eines  gewissen  Mauricius  aus  Pilkalnis  aufgezeichnet  wurde:  „Als 
ich  noch  beim  Militär  war,  begab  sich  einer  von  unseren  Freunden 
zur  Begräbnisfeier  seines  Vaters.  Als  er  zurückgekehrt  war,  er- 
zählte er:  am  Abend  der  Leichenfeier  gebot  mir  mein  Oheim 
der  Geister  sehen  kann,  meinen  Säbel  abzuhaken  und  beiseite 
zu  legen.  Als  ich  nach  dem  Abendessen  mich  an  den  Tisch 
lehnte,  hatte  ich  das  Gefühl,  als  ob  mir  jemand  mit  einer  kalten 
Hand  über  die  Backen  strich;  darüber  erschrak  ich  und  ich  er- 
zählte es  meinem  Oheim;  dieser  antwortete:  ich  hatte  gesehen, 
daß  der  Geist  deines  Vaters,  dich  streichelnd,  sich  von  dir  ver- 
abschieden wollte,  und  gebot  dir  deshalb  deinen  Säbel  beiseite 
zu  legen,  weil  dieser  eingesegnet  ist.  Daher  schaute  der  Geist 
bis  auf  den  Augenblick,  da  du  ihn  hinlegtest,  bloß  aus  der  Ferne 

^  Vgl.  Encycl.  of  Religion  and  Ethics  vol.  IV  S.  440  b. 
^  Vgl.  im  allgemeinen  Frazer  Golden  Bough^  vol.  I  S.  351. 


Die  vorchristlichen  baltischen  Totengebräucbe  499 

zu  dir  hin."^    Das  vom  Oheim  angeführte  Motiv  ist  schwerlich 
richtig.  —  Man  erkennt  jetzt  auch,  daß  die  alte  Beschreibung  des 
Meletius  (Lasicius,  oben  S.  490),  wo  er  erzählt,  daß  beim  Toten- 
mahle keine  Messer  benutzt  werden  dürfen,  einen  Zug  alten  und 
unverfälschten  Volksaberglaubens  enthält.  —  Femer  wendet  man 
sowohl  gewalttätige  Mittel  wie  Überredung  an,   um  den  Geist 
oder  die  Geister  fernzuhalten.    Ein  gewalttätiges  Mittel  ist  das 
Wegfegen  nach  Ablauf  des  Totenmahles;   obschon  etwas  Der- 
artiges meines  Wissens  nirgendwo  anders  ausdrücklich  überliefert 
ist,  enthält  doch  ein  gewisser  Brauch  im  heutigen  Griechenland 
einen  analogen  Grundgedanken,  das  Verbot  nämlich,  nach  einem 
Sterbefall,  d.h.  also  während  der  Tage,  die  der  Geist,  wie  man 
meint,  noch  im  Sterbehause  verweilt,  die  Wohnung  auszufegen, 
und  das  Gebot,  nach  dem  Ausfegen  den  Besen  zu  verbrennen.^  — 
Ein  weniger  gewaltsames  Mittel  ist  erstens,  daß  man  den  Geist 
ermahnt,  sich  ruhig  zu  halten,  d.  h.  nicht  mehr  zurückzukehren, 
nachdem  er  nun  ein  für  allemal  aus  der  Umgebung  der  Lebendigen 
entfernt  worden  ist,^  und  zweitens,  daß  man  nach  der  Beendigung 
des  Totenfestes  die  Geister  beschwört  nach  dem  Orte  hinzugehen, 
wohin  sie  gehören,  mit  den  Worten:  „Ihr  habet  gegessen,  Ihr 
habet  getrunken,  o  Geister,  gehet  fort  jetzt".  Dies  erinnert  leb- 
,  haft  sowohl   an  die  Ermahnung  der  alten  Griechen    nach  der 
!  Totenfeier  am  Schlüsse  der  Anthesterien:  „Hinaus,  Ihr  Geister, 
I  die  Anthesterien  sind  nun  vorüber!"*,  als  an  die  Beschwörung 
•  der  Römer  nach  den  Lemuria:  Manes  exite  paterni^  und  an  die 
Worte  der  Hindus  nach  der  allmonatlichen  Totenspende:  „Gehet 
j  hin,  Ihr  freundlichen  Väter,  auf  den  tiefen  uralten  Pfaden  und 
:  begebet  euch  zu  den  gütigen  Vätern,   die  zusammen  mit  Gott 
Yama  schwelgen". 


'  Bas.  IX  3. 

2  Encycl.  of  Bei.  and  Ethics  vol.  IV  S.  430  a. 

^  Für  Parallelen  s.  Encycl  of  Bei  and  Eth.  vol.  IV  S.  426  a.  E. 

*  Frazer  Golden  Bough'  vol.  111  S.  88. 

"  Ovid  Fasti  V  443. 


5Q0  W.  Caland 

Allgemein  ist  indessen  der  Glaube,  daß  die  Seele  eines  eben 
Verstorbenen  nicbt  sofort  weggebt,  sondern  nocb  eine  gewisse 
Zeit,  entweder  solange  der  Leicbnam  unbeerdigt  ist  oder  noch 
einige  Zeit  nach  der  Beerdigung,  sieb  im  Sterbebause  aufhält 
oder  dortbin  zurückkehrt.  Der  Glaube  der  Litauer,  daß  der  Geist 
während  der  drei  Tage,  die  der  Leichnam  noch  im  Hause  weilt, 
in  trauriger  Stimmung  am  Kopfende  stehe,  hat  eine  merkwürdige 
Parallele  in  der  bekannten  Überlieferung  der  Pärsis,  die  eben- 
falls meinen,  daß  die  Seele  während  der  ersten  drei  Tage  am 
Kopfende  der  Leiche  niedersitzt.  Diejenigen  Litauer,  die  be- 
haupten, die  Geister  sehen  zu  können,  wissen  allerhand  Merk- 
würdiges über  das  Betragen  des  Geistes  unmittelbar  nach  dem 
Tode  zu  erzählen:  er  fordert  die  Überlebenden  auf,  schnell  den 
Leichnam  zu  waschen,  die  Türe  zu  öffnen  und  ihm  das  Geleit 
zu  geben;  aus  der  Wohnung  ausziehend,  verabschiedet  sich  der 
Geist  von  den  Seinigen;  bei  der  Leiche  steht  nicht  nur  der  Geist 
des  Verstorbenen  selbst,  sondern  auch  andere  Geister  in  einer 
Gruppe  versammelt;  wenn  man  das  Totenkleid  näht,  schaut  der 
Geist  zu;  geht  man  das  Grab  graben,  so  geht  der  Geist  voran, 
um  Ort  und  Stelle  anzuweisen,  und  wenn  die  Grube  fertig  ist, 
so  sieht  er  dieselbe  nach ;  während  der  Ausfahrt  sitzt  er  trauernd 
auf  dem  Sarge  und  während  der  Beerdigung  ist  der  Kirchhof 
voll  von  Geistern,  die  sich  von  der  Leiche  verabschieden^.  Ge- 
wisse Litauer  nämlich  sind,  entweder  infolge  besonderer  Um- 
stände oder  infolge  bestimmter  Handlungen,  imstande,  die  für 
die  gewöhnlichen  Menschen  unsichtbaren  Geister  zu  schauen*;  von 
Natur  sollen  diejenigen  die  Geister  sehen  können,  die  um  Mitter- 
nacht zwischen  Samstag  und  Sonntag  geboren  sind^;  andere  er- 

^  Bas.  Einl.  S.  XIX  und  Abschn.  IX  passim.  —  The  Huron  ghost  icalks 
in  front  of  the  funeral  procession  and  remains  in  tJie  cemetery  until  the 
feastofthe  dead;  hy  night,  however,  it  stalks  through  the  village  andeatsthe 
leavings  ofthe  food  of  the  Uving:  Encycl.  of  Bei.  and  Ethics  vol.  IV  S.  434  a. 

*  These  shadow  beings  can  he  obscrved  hy  seers  and  hy  others  under 
certain  conditions  heißt  es  von  den  Zunis  {Bur.  Amer.  Ethn.  1904  S.  307). 

»  Bas.  XVII  7  S.  124.   S.  in  diesem  Archiv  XVII 125  ff. 


Die  vorchristlichen  baltischen  Totengebräuche  501 

werben  dieses  Vermögen  dadurcli,  daß  sie  durch  die  runde  Öfl&iung 
im  Holze  eines  Grabkreuzes  ^  oder  durch  die  mit  der  Hand  zu- 
sammengefaßten Ohren  eines  heulenden  Hundes*  oder  eines  ohne 
sichtbare  Ursache  scheu  gewordenen  Pferdes^  hindurch  gucken. 
Vom  Hund,  Pferd  und  Hahn  heißt  es  ja,  daß  sie  die  Geister 
sehen  können*.  Aber,  ein  Vergnügen  ist  es  nicht,  die  Geister 
erschauen  zu  müssen,  und  manchmal  preisen  Kalvaitis'  Gewährs- 
leute die  anderen  Menschen  glücklich,  denen  dieses  Vermögen 
abgeht^;  meistens  auch  vermeiden  sie  es,  den  Leichenfeiern  bei- 
zuwohnend 

Weil  nun  der  Geist  die  ersten  Tage  sich  noch  im  Sterbe- 
hause aufhält,  ist  vieles  gefährlich.  Alles  was  mit  dem  Tode 
in  Berührung  kommt,  ist  der  Gefahr  ausgesetzt,  seine  Wirkung, 
seine  Fruchtbarkeit  einzubüßen;  daher  der  Brauch,  aUen  Samen 
aus  der  Wohnung  zu  entfernen,  weil  er,  wie  der  Berichterstatter 
ganz  richtig  bemerkt,  sonst  nicht  mehr  keimen  wird"^.  Wahr- 
scheinlich ist  derselbe  Aberglaube  aus  den  Berichten  über  andere 
Völker  ebenfalls  belegbar;  bis  jetzt  habe  ich  ihn  aber  nicht  an- 
getroffen; in  gerade  demselben  Gedanken  jedoch  wurzelt  der 
Brauch  der  Hindus,  das  Einsammeln  der  Gebeine  der  verbrannten 
I  Leiche  von  weiblichen  Personen  verrichten  zu  lassen,  bei  welchen 
die  Menses  aufgehört  haben;  offenbar  ist  der  zugrunde  liegende 
Gedanke  dieser,  daß,  wenn  man  diese  Handlung  von  einer  noch 
I  Menstruierenden  verrichten  ließe,  Unfruchtbarkeit  die  Folge  sein 
I  würde.  Es  ist  bekannt,  daß  die  Römer  einen  Verbrecher  an 
einer  infelix  arbor,  d.  h.  einem  keine  Frucht  tragenden  Baum 
aufzuhängen  pflegten^;  ein  fruchtbarer  Baum  würde  offenbar 
keine  Frucht  mehr  tragen.  —  Auf  dem  Glauben,  daß  der  Geist 
noch  in  der  Wohnung  herumspukt,  beruhen  noch  andere  Ge- 
bräuche, nämlich  daß  niemand  während  des  Sterbens  schlafen 
darf;  im  Schlafe  verläßt  ja  die  Seele   den  Körper  und  die  so 

^  Bas.  VIII  12.  «  Bas.  VII  22,  24,  26.  »  Bas.  VIII  18. 

*  Bas.  VII  passim.  *  Z.  B.  Bas.  VIII  21.  «  Bas.  VIII  25. 

'  Bas.  I  14.  «  Liv.  I  36. 


502  ^-  Caland  ^ 

herumirrende  Seele  eines  Lebendigen  würde  leicht  vom  Toten 
angelockt  werden  können,  was  einen  neuen  Todesfall  herbeiführen 
könnte.  Die  Spiegel  werden  mit  Tüchern  verhüllt;  der  Gewährs- 
mann dieses  Berichtes  gibt  als  Grund  an:  „täte  man  es  nicht,  I 
so  würde  man  den  Geist  des  Verstorbenen  darin  zu  erblicken  be- 
kommen"^, und  man  weiß,  wie  man  sich  davor  fürchtet.  Ob  dies 
aber  der  wirkliche  Grund  dieses  so  weit  verbreiteten  Yolksbrauches 
ist,  scheint  nicht  ganz  sicher  zu  sein.  Die  Gelehrten  deuten  ihn 
verschieden*.  —  Sehr  eigentümliche  Vorschriften  gelten  für  die  Art 
der  Speise,  die  man  während  der  Tage,  die  der  Geist  noch  im 
Hause  weilt,  genießt  und  für  die  Weise,  wie  die  Hinterbliebenen 
speisen.  Für  die  Litauer  gilt,  wie  wir  gesehen  haben,  die  Vor- 
schrift, daß  man  nicht  in  demselben  Gemach  essen  darf,  wo  der 
Leichnam  aufgestellt  ist,  und  für  die  Letten,  daß  sie  für  den 
Leichenschmaus  selbst  ihre  Speise  mitbringen.  Das  Ursprüng- 
liche ist  jedenfalls  die  Verbindung  dieser  zwei  Vorschriften: 
man  speist  nicht  in  dem  Gemach,  wo  der  Tote  steht,  und  was 
man  ißt,  wird  von  anderswo  herbeigeschaflpfc,  d.  h.,nicht  im  Ster 
hause  selbst  zugerichtet,  gekocht^.  Auch  dieser  Gebrauch  wird 
sehr  verschieden  gedeutet;  einige  behaupten*,  daß  die  Speise- 
restriktion aus  Anlaß  eines  Sterbefalles  nichts  anderes  ist  als 


*  Bas.  IX  13. 

'  Mit  der  Deutung  des  litauischen  Gewährsmannes  stimmt  der  vou 
Zachariae  (Zeitscfir.  d.  Ver.f.  YoRshmde  1905  S.  75)  zitierte  Bericht  über- 
ein: „Sie  (die  Priester)  zeigen  ihnen  (den  Witwen  bei  den  Hindus,  die 
man  auffordert,  sich  mit  ihrem  rerstorbenen  Gatten  verbrennen  zu  lassen) 
einen  Spiegel,  worin  sie  ihnen  den  Verstorbenen  vorstellen,  der  sie  ein- 
ladet ,  zu  ihm  zu  kommen " ;  übrigens  hat  bei  den  Hindus  der  Spiegel  im 
allgemeiuen  übel -abwehrende  Wirkung,  vgl.  Zachariae  Zoc.  c/Y.  S.  76.  — 
Frazers  Deutung  des  Yerhüllens  des  Spiegels  findet  man  Golden  Bough^ 
vol.1  S  294;  wieder  anders  Sidney  Hartland  in  Encycl.  of  BeUgion  and 
Ethics  vol.  IV  S.41öb. 

'  Für  die  Hindus:  „man  ißt  Speise  —  kein  Fleisch  —  die  man  ge- 
kauft oder  geschenkt  bekommen  hat  und  (zwar  allein)  am  Tage"  {Pär 
grhs.  III  10,26);  „in  der  Nacht  koche  man  keine  Speise;  man  genieße 
gekaufte  oder  schon  vorhandene  Speise"  {Äsv.  grhs.  lY A,  11,  Ib). 

*  S.  u.  a.  Groenman  Eet  rasten  by  Israel  S.  60. 


Die  vorchristlichen  baltischen  Totengebräuche  503 

die  äußerste  Konsequenz  der  vollständigen  Übergabe  von  allem 
au  die  Seele  des  Verstorbenen.  Kruijt^  erklärt  sie  aus  dem  Be- 
streben der  Lebenden,  sich  ebenso  wie  die  Toten  zu  gebaren, 
die  ja  auch  nicht  oder  wenigstens  in  anderer  Weise  als  die  Leben- 
digen essen.  Frazer^  und  Oldenberg^  erklären  sie  als  die  Kon- 
sequenz der  Erwägung,  daß  die  im  Sterbehause  zubereitete  Speise 
durch  die  Seelensubstanz  des  Toten  affiziert  sein  könne.  Die 
letzte  Deutung  kommt  mir  in  vieler  Hinsicht  am  besten  be- 
gründet vor:  ganz  ebenso  wie  der  Samen  durch  die  Anwesen- 
heit der  Seele  unfruchtbar  wird,  könnte  auch  die  Speise  minder 
gewünschte  Eigenschaften  bekommen.  Daß  und  warum  man 
in  einem  Sterbehause  und  im  allgemeinen  nach  einem  Sterbe- 
falle nur  mit  gewisser  Vorsicht  ißt  und  trinkt,  wird  u.  a.  treffend 
illustriert  durch  die  Mitteilung  über  die  Eskimos  an  der  Bering- 
straße:  wenn  ein  Vater  seinen  Sohn  durch  den  Tod  verloren 
hat,  soll  er  nicht  aus  einer  unbedeckten  Schale  trinken,  „denn 
wenn  er  dies  tut,  so  ist  er  in  Gefahr,  eine  gewisse  Emanation 
der  Seele,  die  anwes'end  sein  kann,  zu  verschlucken  und  der 
Tod  wird  die  Folge  sein"*.  So  wird  über  die  Bengaler  berichtet, 
daß  sie  ihren  Trinknapf  mit  der  durchbohrten  Hälfte  einer  Kokos- 
nuß bedecken.  Es  wird  nämlich  erzählt,  daß  die  Seele  eines 
schlafenden  Mannes  einst  den  Körper  verlassen  hatte;  sie  machte 
einen  Spaziergang  und  wurde  durstig;  um  zu  trinken,  begab 
sich  die  Seele  in  einen  Wassernapf,  aber  unerwarteterweise 
wurde  der  Napf  durch  den  zuklappenden  Deckel  geschlossen; 
die  Seele  konnte  nicht  mehr  hinauskommen,  und  folglich  starb 
der  Mann^.  —  Der  Geist  eines  soeben  Verstorbenen  hält  sich 
'nicht  nnr  solange  in  der  Wohnung  auf,  als  der  Leichnam  noch 
;über  der  Erde  steht,  sondern  besucht  in  der  ersten  Zeit  noch 
seine  einstmalige  Wohnstätte;  deshalb  werden  zuweilen  auf  dem 

^  Het  Animisme  in  d^n  indischen  Archipel  S.  283. 
'  Journal  of  the  Anthrop.  Inst.  yoI.  XV  8. 92  ff. 

*  Religion  des  Veda  S.  690. 

*  18.  Bep.  Bur,  Ethn.  Wash.  1889  S.  422. 

*  Jou>rn.  Anthrop.  Soc.  Bombay  vol.  I  S.  355. 


5Q4  W.  Caland 

Wege  zwischen  Begräbnisstätte  und  Wohnort  Büschel  Stroh 
hingelegt,  damit  der  Geist  sich  ausruhen  könne,  und  deshalb 
wird  auf  einem  Schemel  Trank  für  ihn  bereitgestellt.  So  stellten 
auch  die  Hindus,  als  sie  von  der  Kremation  heimgekehrt  waren, 
auf  einen  Stein  an  der  Türe  des  Sterbehauses  morgens  und  abends 
einen  Reiskloß  als  Speise  für  die  Seele  ^,  und  so  glauben  die 
russischen  Bauern,  daß  die  Seele  des  Verstorbenen  sechs  Wochen 
lang  jede  Nacht  ihre  Hütte  besucht  und  Wasser  aus  einer  Schale 
trinkt,  die  zu  diesem  Zwecke  gefüllt  hingestellt  wird^ 

Außer  daß  man  den  Geist  im  Jenseits  zu  halten  sucht,  in- 
dem man  ihn  mit  allem  versieht,  was  er  dort  zu  seiner  nur 
teilweise  immateriellen  Existenz  an  Speise  und  Trank  braucht, 
pflegt  man  ihm  alles  das  mitzugeben,  worauf  er  bei  seinem 
Leben  ein  Anrecht  hatte.  Wir  haben  gesehen,  daß  man  dem 
Litauer  einiges  Geld  mitgibt,  als  Reisegeld,  wie  es  heißt,^  und 
daß  ihm  zuweilen  ein  Geldstück  unter  die  Zunge  gelegt  wird, 
geradeso  wie  man  dem  Griechen  einen  Obolos  in  den  Mund 
legte,  damit  er  Charon  für  die  Überfahrt  über  den  Styx  bezahlen 
könne,  und  wie  man  dem  russischen  Lappländer  eine  Börse  mit 
Geld  in  die  Hand  legte,  damit  er  sich  den  Zugang  ins  Paradies 
erkaufen  könne,*  Es  ist  klar,  daß  von  diesem  an  so  verschiedenen 
Punkten  der  Erde  vorkommenden  Brauche  weder  das  Motiv, 
das  die  Litauer,  noch  dasjenige,  welches  die  Griechen  und  die 
Lappländer  zur  Begründung  anführen,  das  ursprüngliche  gewesen 
sein  kann.  Es  ist  vielmehr  in  hohem  Grade  wahrscheinlich,  daß 
man  dem  Toten  ursprünglich  seine  ganze  Habe  mitgab  und  daß 
später  für  das  ganze  Vermögen  das  einzelne  Geldstück  oder  die 
Börse  mit  Geld  substituiert  wurde.  Auch  dem  eigentümlichen 
Volksbrauch,  den  Todesfall  nicht  bloß  den  Bienen,  sondern  allem 

^  Baudh.  pi.  sü.  III  4  (ed.  Raabe,  S.  30,  2);  Gaut.pi.sü.  I  4,  17  —  21; 
Verf.  Die  dltind.  Toten-  und  Best.-Gebr.  S.  82. 

^  Encycl.  of.Bel  and  Ethics  vol.  IV  S.  24  a  unten. 

'  Lasicius  op.  dt.  S.  57:  nummos  projiciunt  in  sepulchrum  futurum 
mortui  viaiicum. 

*  Encycl.  of  Beligion  and  Ethics  vol.  IV  S.  430  a. 


Die  vorchristlichen  baltischen  Totengebräuche  505 

Vieh  feierlich  anzusagen,  liegt  wohl  derselbe  Gedanke  zugrunde. 
Deutlich  wird  dies  von  den  Litauern  ausgesprochen,  welche 
sagen,^  daß,  wenn  man  es  versäumte,  diese  Maßregel  zu  nehmen, 
alles  Vieh  und  alle  Haustiere  dem  Toten,  dessen  Eigentum  sie 
ja  sind  und  bleiben,  folgen  würden^.  So  pflegte  auch  bei  den 
Dajaks  das  Familienhaupt  alle  Kinder  und  anderen  Verwandten 
bei  ihrem  Namen  anzurufen,  um  den  Toten  zu  verhindern,  ihre 
Seelen  hinwegzulocken,  in  welchem  Falle  sie  sterben  würden  ^ 
Bei  den  Toradjas  pflegen  an  einer  Witwe  allerhand  Zeremonien 
vorgenommen  zu  werden,  um  ihre  Seele  in  ihr  zu  befestigen, 
weil  sie  sonst  ihrem  Gatten  (zu  dessen  Eigentum  sie  ja  gehört) 
folgen  müßte.*  Einer  der  auffallendsten  und  fremdartigsten  Ge- 
bräuche im  Totenritual  der  baltischen  Stämme  ist  ohne  Zweifel 
der  von  Wulfi'stan  beschriebene  Wettlaufund  die  damit  zusammen- 
hängende Verteilung  der  Habe  des  Hingeschiedenen.  Ich  stehe 
nicht  an,  auch  diesen  Brauch  zu  der  Kategorie  zu  rechnen,  von 
welcher  hier  die  Rede  ist:  diese  Handlung  ist  nichts  anderes  als 
eine  Ausartung  des  'ursprünglichen  Brauches,  dem  Toten  all 
das  Seinige  mitzugeben,  nur  ist  die  Verteilung  unter  Fremde 
an  die  Stelle  der  gänzlichen  Vernichtung  getreten.  Merkwürdige 
Analogien  werden  bei  den  nordamerikanischen  Stämmen  an- 
getroffen. So  wurde  bei  den  Eingeborenen  von  Porto -Rico  alles 
Eigentum  des  Dahingeschiedenen  unter  die  Fremden,  welche 
die  Totenklage  abgehalten  hatten,  verteilt^;  bei  einem  anderen 
Stamme  wurden  die  persönlichen  Besitztümer  des  Toten  ver- 
nichtet, und  wenn  sich  darunter  Vieh  befand,  so  wurde  dies 


'  ßas.  I  19  (S.  9  Z.  7  V.  u.). 

^  Vgl.  auch  Zweck  Litauen  S.  173:  „Ein  Rind  muß  zum  Begräbnis 
eines  Wirtes  schon  deshalb  geschlachtet  werden,  weil  nach  den  aber- 
gläubischen Vorstellungen  des  Litauers  sonst  alles  Vieh  erkranken  und 
sterben  würde." 

"  Intern.  Archiv  f.  Anthrop.  II  S.  182. 

*  Kruijt  Over  het  Jcoppensnellen  bij  de  Toradjas,  in  Verslagen  en  Meded. 
der  Kon.  Acad.  van  Wetensch.  te  Amst.^  Afd.  Lett,  IVe  Becks,  3«  Deel 
S.  188.  ^  25.  Rep.  Bur.  Ethn.  W.  S.  70. 


506  ^'  Caland 

von  beliebigen  Personen  geschlachtet  und  verspeist,  aber  den 
nächsten  Verwandten  war  es  untersagt,  etwas  davon  zu  essen  ^; 
bei  den  Omahas  werden  nach  dem  anläßlich  eines  Sterbefalles 
gegebenen  Feste  Wett laufe  gehalten,  und  einige  von  den 
Verwandten  beigetragene  Stücke  Eigentums  unter  die  Sieger 
verteilt^;  bei  den  Sioux  endlich  kommt  es  vor,  daß  die  Habe 
des  Toten  denjenigen  gegeben  wird,  die  sich  an  der  Leichen- 
feier beteiligt  haben,  wenngleich  die  Familie  dadurch  in  Ar- 
mut verfällt^.  In  dem  Wulffstanschen  Berichte  finden  wir  also 
zwei  Motive  vereinigt:  die  Verteilung  der  nachgelassenen  Habe 
und  den  Wettlauf,  gerade  wie  bei  den  Omahas.  Mit  dem  Wett- 
lauf könnte  man  die  Leichenspiele  nach  Patroklos'  Tode  und  die 
Decursio  der  Römer  vergleichen,  d.  h.  das  im  vollen  Trabe  um 
den  Scheiterhaufen  eines  ansehnlichen  Kriegsobersten  ausgeführte 
Defilieren.  Die  von  Lucas  David  übermittelte  Beschreibung  (man 
erinnert  sich,  daß  auch  nach  diesem  Autor  ein  Wettlauf  statt- 
findet, wobei  der  Sieger  ein  Geldstück  von  dem  Pfahle  nimmt) 
enthält  offenbar  eine  von  der  Wulffstanschen  noch  weiter  aus- 
geartete Vorstellung,  die  ohne  jene  uns  total  unbegreiflich  seia 
würde.  Der  Davidsche  Bericht  verhält  sich,  sozusagen,  zu 
dem  Wulffstanschen  gerade  so  wie  das  Mitgeben  des  einzelnen 
Geldstückes  zur  Vernichtung  der  ganzen  Habe.  Der  Bericht 
des  Lucas  David  übrigens  hat  für  uns  um  so  größere  Bedeutung, 
als  dadurch  erstens,  wie  mir  scheint,  die  Echtheit  beider  Be- 
richte unumstößlich  dargelegt  wird,  denn  es  ist  in  hohem  Grade 
unwahrscheinlich,  daß  Lucas  David  den  aus  dem  9.  Jahrhundert 
herrührenden  angelsächsischen  Bericht  gekannt  hat,  und  zweitens 
liegt  die  Folgerung  auf  der  Hand,  daß  die  von  Wulffstan  ge- 
meinten Aestii  ohne  den  mindesten  Zweifel  ein  baltischer  Stamm 
gewesen  sind. 

Einzelne  Punkte  aus  dem  baltischen  Totenritual  erheischen 
noch   eine  Erörterung.    Welcher  Gedanke  mag  wohl  z.  B.  dem 

»  36.  Bep.  Bur.  Ethn.  W.  S.  194.         «  27.  Bep.  Bur.  Eihn.  TT.  S.692. 
»  1.  Bep.  Bur.  Ethn.  W.  S.  159,  164. 


Die  vorchristlichen  baltischen  Totengebräuche  507 

lettischen  Braucli  zugrunde  liegen,  alle  Kinder,  die  man  nur 
zusammenbringen  konnte,  sich  auf  den  Sarg  setzen  zu  lassen? 
Diese  Sitte  ist  um  so  mehr  auffallend,  als  man  sonst  so  eifrig  be- 
müht ist,  sich  von  dem  Toten  fernzuhalten  und  sich  vor  dem 
Geist  zu  schützen  Es  ist  aber  eine  dem  Ethnologen  wohlbekannte 
Tatsache,  daß  heilende  und  schützende  Wirkung  zugeschrieben 
wird  der  Berührung  sowohl  mit  dem  Toten  selbst  als  auch  mit 
den  von  Toten  herrührenden  Gegenständen.  So  bei  den  Römern : 
„Halsanschwellungen,  Geschwülste  hinter  dem  Ohre  und  Kropf- 
anschwellungen werden  geheilt,  indem  man  dieselben  mit  der 
Hand  eines  vorzeitig  Verstorbenen  in  Berührung  bringt,  nach 
einigen,  eines  beliebigen  Verstorbenen,  wenn  nur  der  Tote  gleichen 
Geschlechts  mit  dem  Kranken  sei  und  die  Berührung  mit  der 
linken  Hand  stattfinde,  deren  Fläche  nach  unten  gekehrt  sei" 
und:  „der  Eckzahn,  den  man  aus  dem  Munde  einer  noch  nicht 
beerdigten  Leiche  nimmt  und  dann  an  den  schmerzenden  Zahn 
anbindet,  macht  die  Schmerzen  aufhören",  und:  „Geschwüre 
breiten  sich  nicht  aus,  wenn  man  vermittels  eines  Menschen- 
knochens einen  Kreis  um  dieselben  zieht",  so  berichtet  uns  Pli- 
nius^.  Derartige  Heilkuren  sind  heute  noch  auf  Island  in  Ge- 
brauch, wo  man  sich  vor  Zahnweh  zu  schützen  meint,  wenn  man 
den  Zahn  eines  Toten  im  Munde  trägt,  und  eine  Warze  los- 
werden zu  können  meint,  wenn  man  dieselbe  mit  Erde,  die  einem 
Kirchhofe  entnommen  ist,  einreibt^.  Im  Böhmerwald  reibt  man 
die  Warze  mit  dem  Knochen  eines  Toten  ein,  legt  darauf  den 
Knochen  auf  die  Stelle,  von  der  man  ihn  entnommen  hat,  und 
geht,  ohne  hinter  sich  zu  blicken,  zurück^.  Wenn  die  Knochen 
der  Verstorbenen  von  den  Toradjas  ausgegraben  werden,  klopft 
man  siebenmal  auf  die  Häupter  der  am  Totenfest  Beteiligten  mit 
einem  ausgegrabenen  Totenkopfe*.  Wenn  von  den  alten  Hindus 
die  Vorschrift  erwähnt  wird,  daß  der  Leichnam  in  ein  neues  Ge 

'  H.  N.  XXVni  11. 

«  Zeitschr.  d.  Ver.  f.  Volksic.  VIII  S.  287. 

»  Op.cü.l  S.202,  vgl. auch Wuttke  Der  deutsche  VolksaI)ergl%%  lSd,lS6. 

*  Kruyt  Over  het  Icoppensnellen  S.  199. 


I 


508  ^'  Caland 

wand  gekleidet  wird  und  daß  der  Sohn,  der  Bruder  oder  die 
Witwe  oder  der  nächste  Verwandte  das  bisher  vom  Toten  ge- 
tragene Kleid  nehmen  und  dasselbe  tragen  müssen,  bis  es  alt 
geworden  ist^,  und  wenn  über  die  heutigen  Näyars  von  Malabar 
berichtet  wird,  daß  der  älteste  männliche  Verwandte  eines  Ver- 
storbenen ein  Stück  von  einem  der  neuen  auf  die  Leiche  ge- 
legten Kleider  nimmt  und  dasselbe  um  seine  Mitte  schlingt^,  so 
wird  man,  eingedenk  der  Anschauungen  der  kulturlosen  Völker, 
in  diesen  Handlungen  schwerlich  eine  Äußerung  von  Pietät  sehen. 
Die  Galelareer  von  Halmaheira  tragen  zu  Bändern  gedrehte  Stücke 
von  dem  Leichengewand  eines  verstorbenen  Verwandten  um  den 
Hals,  die  Handgelenke  und  die  Fußknöchel^.  Kruyt  meint  hierin 
einen  Beweis  für  die  These  sehen  zu  dürfen,  daß  die  Hinter- 
bliebenen sich,  soviel  ihnen  möglich  ist,  wie  Geister  gebaren, 
damit  die  Toten  sie  ebenfalls  für  Geister  halten  und  sie  nicht 
quälen.  Es  scheint  mir  aber,  daß  sowohl  dieser  letzterwähnte 
Brauch  als  die  anderen  vorhin  zitierten  auch  eine  andere  Deutung 
zulassen,  und  zwar  die,  daß  alles,  was  mit  dem  Toten  in  Be- 
rührung gewesen  ist,  von  einer  gewissen  mysteriösen  Kraft,  einer 
Art  Seelensubstanz  durchzogen  ist,  die  man  sich,  um  die  eigene 
Seele  zu  stärken,  durch  Berührung  zu  eigen  macht.  In  diesen 
Gedankenkreis  nun  paßt,  wie  mir  scheint,  der  lettische  Brauch, 
die  Kinder  auf  dem  Sarg  Platz  nehmen  zu  lassen,  vollkommen. 
Ein  ähnlicher  Volksbrauch  existiert  auch  in  Ostpreußen,  wo  es 
als  nützlich  für  die  Gesundheit  gilt,  sich  unmittelbar  nachdem 
der  Leichnam  in  den  Sarg  gelegt  worden  ist,  auf  das  Brett  oder 
worauf  sonst  der  Leichnam  gelegen  hat,  niederzusetzen*.  Aus 
dem  Ritual  der  Hindus  läßt  sich  hiermit  die  Vorschrift  vergleichen, 
daß  der  Vedaschüler  drei  Nächte  in  der  unmittelbaren  Nähe  des 
Ortes  zubringt,  wo  die  Leiche  seines  Lehrers  verbrannt  worden 

*  Baudh.  pi.  sü,  I  1:   5.  2;   Rir.  pi.  sü.  I  2:   34.  15,  vgl.  Verf.  Die 
altind.  Toten-  und  Best. -Gebr.  §8  (S.  17). 

2  Thurston  Ethnogr.  notes  in  Southern  India  S.  209. 
^  Kruyt  Änimisme  S.  272.  *  Bas.  I  19. 


Die  vorchristlichen  baltischen  Totengebräuche  509 

ist^,  offenbar  in  dem  Glauben,  hierdurch  seines  Lehrers  gute  Eigen- 
schaften erwerben  zu  können. 

Die  Deutungen  des  Brauches,  den  Menschen  nicht  in  seinem 
Bette,  sondern  auf  Stroh  am  Boden  enden  zu  lassen,  sind  zu 
zahlreich,  um  hier  behandelt  zu  werdend  Welche  Erwägung 
die  Litauer  veranlaßt,  das  unter  den  Kopf  des  Toten  zu  legende 
Kissen  mit  Spänen  und  Splittern  zu  füllen,  ist  mir  nicht  recht 
deutlich,  aber  ein  paar  Worte  mögen  der  Mitteilung  des  Dau- 
kantas  gewidmet  werden,  daß  die  gemieteten  Klageweiber  ihre 
Tränen  in  Fläschchen  tropfen  ließen,  die  dann  im  Grabe  der 
Urne  beigegeben  wurden.  Auch  Banavicius  in  seinem  mehrfach 
zitierten  Werke  erwähnt^  diese  Tränenfläschchen,  und  zwar  auf 
Grund  einer  polnischen  Arbeit  über  die  archäologischen  Funde 
in  Grabhügeln  in  Litauen  und  Rußland*.  Die  Überlieferung  über 
Tränenfläschchen  hat  lange  Zeit  auch  für  das  klassische  Alter- 
tum, namentlich  für  die  Römer,  gegolten.  Roulez  hat  aber  ge- 
zeigt^, daß  die  Stellen  aus  den  klassischen  Autoren  und  die  In- 
schriften, die  zugunsten  dieses  Brauches  zitiert  zu  werden 
pflegen,  keinen  zwingenden  Beweis  liefern,  und  die  archäologische 
Forschung®  hat  sichergestellt,  daß  die  als  Tränenfläschchen  be- 
zeichneten Gefäße  oft  Überreste  von  wohlriechender  Salbe  ent- 
halten. Merkwürdig  ist  indessen  ein  Bericht  in  den  Beilagen 
zur  Münchener  Allgemeinen  Zeitung':  „Obschon  im  allgemeinen 
bekannt  ist,  daß  in  Persien  die  Witwen  ihre  Tränen  in  Flaschen 

^  Kausika  Sütra  46;  15  mit  Bern.  7  in  der  AUindischen  Zauberei. 

2  S.  Encycl.  of  Beligion  and  Ethics  vol.  IV  S.  414 ;  in  diesem  Archiv 
Vol.  IX  S.  538,  XI  S.  152;  Museum  X  S.  33;  Verf.  Die  altind.  Toten-  und 
Best-  Gebr.  §  3. 

^  Isz  gyvenimo  etc.,  Einl.  S.  LXXVI. 

*  K.  Tyszkiewicz  OkurhanachnaLetwieiRusizachnodniej,  Berl.  1868, 
St.  39,  50. 

^  Sur  les  vases  vulg.  app.  Lacrimatoires  im  Bulletin  de  VAcademie  royale 
des  Sciences  (Bruxelles),  V.  Band,  1838,  S.  226  ff. 

^  Kisa  Bas  Glas  im  Altertum,  II.  Band,  S.  316.  Diesen  Nachweis 
verdanke  ich  meinem  hiesigen  Kollegen  Prof.  W.  Vogelsang. 

'  1903  Nr.  10. 


510  ^'  Caland 

sammeln,  um  das  Grab  des  verstorbenen  Gatten  damit  zu  be- 
sprengen, findet  man  doch  die  wirklich  gebräuchlichen  Tränen- 
flaschen, die  aus  wundervollem  blauen  Glas  gemacht  sind,  sehr 
selten.  Sie  haben  eine  Höhe  von  ungefähr  30  cm  und  da,  wo 
sie  am  weitesten  sind,  einen  ebensolchen  Umfang",  Etwas  Näheres 
über  diesen  Gebrauch  unter  den  heutigen  Persern  zu  ermitteln, 
ist  mir  nicht  gelungen.  Hätte  man  bloß  das  Zeugnis  unserer 
litauischen  Autoren,  so  könnte  man  vermuten,  daß  diese,  unter  dem 
Einfluß  der  mutmaßlich  mißverstandenen  klassischen  Quellen  — 
Daukantas  war  mit  den  Klassikern  gründlich  bekannt  —  ge- 
wissen in  den  Gräbern  gefundenen  Gefäßen  dieselbe  Bestimmung 
zuerkannt  hätten,  die  ihnen  von  anderswo  bekannt  war.  Jetzt 
aber,  wo  dieser  Brauch  in  einem  von  den  Berichten  der  Klassiker 
anscheinend  ganz  unberührten  Gebiete  auftritt,  ist  ein  gewisser 
Zweifel  berechtigt,  zumal  da  auch  die  Stellen  aus  der  klassischen 
Literatur  sich  nicht  der  Auffassung  widersetzen,  daß  gewisse  in 
den  Gräbern  gefundene  Fläschchen  den  gemeinten  Zweck  gehabt 
haben  können.  Indessen  ist  Professor  Bezzenberger  so  freundlich,, 
mir  mitzuteilen:  „Ich  habe  viele  Hunderte  von  litauischen  Gräbern 
aufgedeckt,  aber  nie  ein  ^Tränenfläschchen'  gefunden."  —  Was 
die  gemieteten  Klageweiber  anbetrifft,  so  treten  diese  bei  den  ver- 
schiedensten Völkern  auf;  bei  den  Litauern  sind  es  die  raiides^  oder 
7noteriszkes  verkejos^j  die  man  mietete,  um  den  Toten  in  zierlicher 
Rede  zu  beklagen,  und  die  zum  Lohn  ein  Stück  aus  dem  Nachlaß  des 
Verstorbenen  erhielten^;  es  heißt:  „Wenn  es  in  der  Familie  keine 
geschickte  Klagefrau  gab,  lud  man  wenigstens  eine  fremde  ein." 
Bekannt  genug  sind  die  praeficae  der  Römer:  praeficae  diamtiir 
mtilieres  ad  lamentandiim  mortuum  conductae}  Ob  diese  Klage- 
weiber auch  bei  den  alten  Hindus  auftraten,  ist  noch  nicht 
sicher;  im  Verse:  „Mögen  die  heulenden  Weiber  sich  nicht  bei 


^  Daukantas  Budas  S.  116  (S.  145  der  urspr.  Ausgabe). 
2  Bas.  I  16.  '  Bas.  I  14  (S.  5  Z.  11). 

*  Becker-Göll   Gdllus,    III.  Band    S.  503;  Festus  p.  223  M.  (250,  6 
Lindsay). 


Die  vorchristliclien  baltischen  Totengebräuche  51 1 

dir^  hinsetzen"^  brauchen  nicht  bestimmt  gemietete  Klagefrauen 
gemeint  zu  sein.  Wohl  aber  wird  der  Brauch  für  den  An- 
fang des  vorigen  Jahrhunderts  von  Dubois  in  seinem  Hindu 
manners  customs  and  ccremonies^  erwähnt.  Gemietete  Klage- 
weiber treten  ferner  auf  bei  den  Maltesern,*  den  Chiriguanos 
von  Südamerika,^  den  Kopten,^  den  Moslims'  und  aucli  —  früher 
wenigstens  —  in  England,  besonders  in  Irland.^  Noch  merk- 
würdiger ist  der  Inhalt  der  Totenklage,  die  zuweilen,  wie  bei 
den  Litauern,  einen  Vorwurf  an  den  Toten  enthält,  daß  er,  ob- 
schon  er  es  hier  auf  Erden  doch  so  gut  hatte,  dennoch  weg- 
gegangen sei.  Von  den  Hindus  erzählt  Dubois,  daß  die  Klage- 
frauen die  Tugenden  und  Vorzüge  des  Verstorbenen  loben  und 
ihn  dann  anreden,  ihm  vorwerfend,  daß  er  dieses  irdische  Leben 
so  eilig  verlassen  habe  und  nichts  Törichteres  habe  tun  können. 
Aus  einem  Briefe  eines  Lord  Chesterfield  teilt  Brand  mit,^  daß 
die  Irländer  geringeren  Standes,  bevor  sie  den  letzten  Klageton 
hören  lassen,  dem  Toten  ernstlich  vorwerfen,  daß  er  gestorben 
ist,  obschon  er  eine  Vorzügliche  Frau,  eine  Milchkuh,  tüchtige 
Kinder  und  einen  zureichenden  Vorrat  Kartoffeln  sein  eigen  nannte. 

Noch  ein  Punkt,  obschon  nicht  unmittelbar  mit  den  eigent- 
lichen Totengebräuchen  zusammenhängend,  möge  schließlich  er- 
örtert werden.  Man  erinnert  sich,  daß  nach  der  Beschreibung 
des  Daukantas  ein  Litauer,  wenn  er  meinte,  daß  der  Tod  ihm 
bevorstand,  nach  Landesbrauch  seinen  jüngsten  Sohn  zum  Erben 
einsetzte.  Anfänglich  kam  mir  dieser  Bericht  befremdend,  ja  so- 
gar etwas  verdächtig  vor.  Eine  nähere  Betrachtung  jedoch  brachte 
das  Folgende  ans  Licht.  In  demselben  Buch,  welchem  Daukantas' 
Data  über  die  Totengebräuche  von  mir  entnommen  sind,  lesen 

^  Wörtlich  statt  'nicht  bei  dir':  'auf  eine  andere  Stelle  als  bei  dir*. 

2  Baudh.  grJis.  I  6;  Bhär.  grhs.  I  14;  Hir.  grhs.  I  19.  7;  Mantraj^ätha 
I  4.  9;  Sämaveda  mantrdbrahmana  I  1.  13. 

•'  S.  355. 

^  Encycl.  of  Beligion  and  Eihics  vol.  IV  S.  416  b. 

^  Ic.  «  op.  cit  vol.  IV  S.  455b.  '  ib.  S.  501a  und  501b. 

^  Brand  Ohservations  on  populär  ardiquities  S.  461. 

^  op.  cit.  S.  462. 


512      ^'  Caland    Die  vorchristlichen  baltischen  Totengebräuche 

wir*:  „Die  Erbschaft  der  Eltern  wurde  von  den  Kindern  in  der 
folgenden  Weise  verteilt:  die  ältesten  Söline  waren  nie  Erben 
ihrer  Eltern  und  erhielten  nichts  aus  der  Erbschaft  als  das  Roß 
und  die  Feldfrüchte, ^  die  sie  selber  bei  ihrem  Yater  verdient 
hatten,  und  damit  mußten  sie  auf  dem  Meere  oder  in  der  Fremde  ihr 
Glück  versuchen;  . . .  der  jüngste  Sohn  blieb  im  Hause  und  erbte 
den  väterlichen  Nachlaß;  er  sorgte  für  die  Aussteuer  seiner 
Schwestern  in  der  Weise,  wie  ihm  sein  Vater  das  auf  seinem 
Sterbebette  aufgetragen  hatte".  Meinem  hiesigen  Kollegen  Prof. 
Dr.  juris  Naber  verdanke  ich  die  erwünschten  Nachweise  über  diese 
eigentümliche  Form  des  Erbrechts.  Erstens  wird  sie  auch  in  ge- 
wissen Ortschaften  Englands  angetroffen:  „Es  ist  Sitte  in  ver- 
schiedenen alten  Gemeinden  (horoughsy'y  so  heißt  es^,  „und  des- 
halb borough-english  genannt,  daß  der  jüngste  Sohn,  mit  Aus- 
schließung seiner  älteren  Brüder,  den  Landbesitz  mit  Zubehör 
(tJie  estate)  ererbt ''.  Aber  auch  in  mehreren  Gegenden  Deutsch- 
lands hatte  dies  sogenannte  Minorat  noch  vor  kurzer  Zeit  Geltung: 
in  Teilen  von  Thüringen,  Hannover,  Westfalen,  Braunschweig, 
usw.  Über  Friesland  liest  man:  Na  landrecht  gehöre  it  dem  jüngsten 
sone  dat  vaderliche  erve  te  hewanen^.  Der  litauische  Brauch  steht 
also  keineswegs  allein;  er  hat  seinen  Grund  in  dem  Bestreben, 
den  Besitz  ungeteilt  in  einer  Hand  zu  lassen. 

Die  hier  behandelten  Totengebräuche  der  baltischen  Stämme 
sind  also  denen  anderer  Völker  analog.  Der  früher  von  mir  auf 
die  altindischen  Totengebräuche  angewandte  Winternitzsche  Satz: 
Manhind  is  the  same  all  over  the  globe  and  one  laiv  rules  the 
human  mindj^  bewährt  sich  auch  hier. 

*  Budas  S.  144  (S.  179  der  urspr.  Ausg.),  vermutlich  nach  Kojalowicz 
Historia  Lithuanica.  ^  anglius  {anglus). 

'  Blackstone  Commentaries  of  the  Law  of  England  vol.  I  S.  58. 

*  Stobbe  Handb.  des  Deutschen  Privatrechts,  1885,  Y.  Band  §  322 
Anm.  42,  vgl.  §  283  Anm.  17. 

^  Winternitz  in  The  new  World  vom  Sept.  1888  S.  20. 


Zur  Entstellung  der  Seelenwanderungslehre 
des  Pythagoras 

Von  Diedrieh  Fimmen  in  Athen 
Vor  einiger  Zeit  ist  an  etwas  entlegener  Stelle^  ein  be- 
achtcDswerter  Aufsatz  von  A.  B.  Keith  über  Pythagoras  und 
die  Seelenwanderungslebre  erschienen.  Keith  wendet  sich  mit 
aller  Entschiedenheit  gegen  die  von  Schröder^  begründete, 
unter  den  deutschen  Sanskritisten  hauptsächlich  von  Garbe  ^ 
betonte  Herleitung  pythagoreischer  Lehren  aus  Indien.  Es  wäre 
kaum  nötig  gewesen,  nachzuweisen,  daß  die  vorbuddhistischen 
Lehren  der  Brahmanen  (Buddha  war  jüngerer  Zeitgenosse  des 
Pythagoras)  nicht  so  geartet  sind,  daß  sie  als  Wurzeln  der 
pythagoreischen  Seelen  Wanderungslehre  in  Anspruch  genommen 
werden  können,  denn  daß  zur  Zeit  des  Pythagoras  keine  Ver- 
bindung zwischen  Griechenland  und  Indien  bestand,  die  einen 
derartigen  Gedankenaustausch  ermöglichte,  ist  den  Historikern 
eine  ausgemachte  Tatsache.*  Keith  sucht  dann  das  Entstehen 
der  Seelenwanderungslehre  ohne  fremden  Einfluß  in  Griechen- 
land selbst  nachzuweisen.  Gewiß  waren  —  seit  Rohdes 
Tsyche'  zweifelt  niemand  daran  —  Gedanken  über  Unsterblich- 
keit der  Seele  seit  langem  in  den  Schichten  des  griechischen 
Volks  lebendig^,  die  sich  vom  homerischen  Seelenglauben  frei- 


^  Journal  of  ihe  Boy  dl  Asiatic  Society  1909,  569  —  606. 

*  Leop.  von  Schröder  Pythagoras  und  die  Indier  1884. 
'  Garbe  Sämkhya-Fhilosophie  1894  S.  85  ff. 

*  Erst  seit  Alexander  ist  Indien  den  Griechen  erschlossen;  in  das 
3.  Jahrh.  v.  Chr.  fällt  auch  die  erste  Erwähnung  der  Griechen  in  indischen 
Quellen;  A.  Weber  Ber.  Berl.  Ak.  1890,  901  ff.  Die  beiden  melischen 
Steine  des  7.  Jahrh.  (Furtwängler  Antike  Gemmen  III  75)  können  natürlich 
Jahrhunderte  nach  ihrer  Entstehung  nach  Indien  gelangt  sein  und  sind 
kein  Beweis  für  alte  Handelsbeziehungen. 

^  Daß  die  Anschauungen,  die  sich  in  der  Nekyia  der  Odyssee 
aussprechen,  im  griechischen  Altertum  nicht  ausstarben,  beweisen  die 
iunteritalischen  Vasen  mit  Unterweltsdarstellungen  des  3.  Jahrh,  v.  Chr.; 
Dieterich  Nekyia  S.  128. 

Archiv  f.  Eeligionswissenschaft  XVJI  33 


514  Diedrich  Fimmen 

gemacht  hatten.  Orphische  Lehrer  mögen  diese  Ideen  thrakischer 
Herkunft  schon  vor  der  Zeit  des  Pythagoras  verbreitet  haben; 
es  ist  unmöglich,  den  Anfang  ihrer  Wirksamkeit  zeitlich  fest- 
zulegen. Pythagoras  selbst  mag  ihre  Lehren  gekannt  haben. 
Dennoch  kann  nicht  zugegeben  werden,  daß  der  thrakische 
Unsterblichkeitsglaube  einen  Keim  enthält,  aus  dem  die  Lehre 
von  der  Wanderung  der  Seele  durch  die  verschiedensten  Körper- 
formen entwickelt  sein  könnte.  Ihre  Entstehung  ist  einer  An- 
regung von  anderer  Seite  zu  verdanken. 

Ich  gehe  davon  aus,  daß  Pythagoras  im  6.  Jh.  als  erster 
in  Griechenland  die  Seelenwanderung  lehrte.  Das  beweisen  die 
einzigen  gut  beglaubigten  Zeugnisse  der  Alten.  Das  bekannte 
Fragment  des  Xenophanes,  in  dem  jemand  die  Seele  eines 
Freundes  in  einem  winselnden  Hunde  wiedererkennt,  stammt 
noch  aus  dem  6.  Jh.;  Diogenes  Laertius  weiß  aus  dem  Zu- 
sammenhang der  Elegie,  deren  Anfang  er  auch  zitiert,  daß 
Xenophanes  hier  witzig  übertreibend  von  Pythagoras  spricht.^ 
Zur  Bestätigung  berichtet  Aristoteles  als  pythagoreische  Worte, 
daß  beliebige  Seelen  in  beliebige  Körper  eingehen.^  Pythagoras 
vertrat  also  sicher  die  Ansicht,  die  Menschenseele  könne  in 
andere  Körper,  auch  in  Tierkörper  übergehen. 

Der  Lehrer  des  Pythagoras,  der  Theologe  Pherekydes  von 
Syros,  ist  natürlich  nur  deshalb  in  später  Zeit  zum  Vertreter 
der  Metempsychose  gemacht  worden^,  damit  sein  Schüler  Pytha- 
goras sie  von  ihm  gelernt  haben  kann;  ältere  Quellen,  die  z.B. 
von  Diogenes  Laertius  im  Leben  des  Pherekydes  und  des  Pytha- 
goras benutzt  sind,  wissen  nichts  davon. 

Nun  sind  aber  gelegentlich  die  orphischen  Theologen  selbst 
als  die  ersten  Vertreter  der  Seelenwanderungslehre  in  Anspruch 
genommen   worden.*     Die    diesen   zugeschriebenen  Aussprüche 

^  Xenophanes  fr.  7  (Diels)  bei  Diog.  Laert.  VIII  36.  Vgl.  Zeller  Ber, 
Berl  Ak.  1889  S.  985  f. 

'  Aristot.  de  anima  I  3  Schluß,  •  Suidas  s.  v.  ^sQ£%vdriq. 

*  Zeller  Fhilos.  d.  Griech.  I  1  (5.  Aufl.  1892)  S.  57  ff.  Auch  Gruppe 
Orpheus  bei  Röscher  III  1131  f.  hält  das  für  denkbar. 


Zur  Entstehung  der  Seelenwanderungslehre  des  Pythagoras     515 

tragen  kein  Kennzeichen  ihres  Alters;  aber  auch  angenommen, 
daß  der  einzige  Ausspruch,  auf  den  sich  diese  Beanspruchung 
der  Orphiker  stützt,  älter  als  die  Zeit  des  Pythagoras  wäre,  so 
enthält  er  doch  nichts,  was  die  eigentliche  Seelenwanderungslehre 
irgendwie  berührt.  ^Der  Körper  sei  das  Grab  der  Seele',  sollen 
nämlich  nach  Philolaos  die  alten  Theologen  und  Wahrsager, 
nach  Plato  die  Orphiker  gesagt  haben.  ^  Wie  dieser  Satz  die 
Orphiker  zu  Lehrern  der  Seelenwanderung  stempeln  soll,  ist 
nicht  einzusehen. 

Überhaupt  läßt  sich  aus  den  Zeugnissen  der  Alten,  obgleich 
ihnen  in  der  Regel  alles  Orphische  für  uralt  galt,  sehr  wohl 
noch  erkennen,  wieviel  die  Orphiker  erst  von  den  Pythagoreern 
übernahmen,  und  wie  sehr  sich  erst  nach  der  Zeit  des  Pytha- 
goras ihre  Wirksamkeit  ausdehnte.  Im  5.  Jh.  stehen  Dichter 
und  Dichterphilosophen,  ein  Pindar^  und  ein  Empedokles^,  ganz 
augenscheinlich  unter  dem  Einfluß  der  Orphiker,  während  im 
6.  Jh.  etwa  bei  Solon  sich  noch  nicht  die  geringste  Spur  irgend- 
welcher orphischer  Beeinflussung  findet.  Und  wenn  Ion  von 
Chios,  oder  wer  sonst  der  Verfasser  der  Triagmoi  war,  berichtet, 
Pythagoras  habe  einiges,  was  er  gemacht  habe,  auf  Orpheus 
zurückübertragen*,  so  muß  er  erkannt  haben,  daß  manches,  was 
unter  des  Orpheus  Namen  lief,  in  Wirklichkeit  pythagoreisch 
war.  Pythagoreer  wurden  auch  sonst  mehrmals  als  die  wahren 
Verfasser  orphischer  Schriften  genannt.^  Herodot^  geht  sogar 
so  weit,  zu  sagen,  daß  die  sogenannten  Orphiker  eigentlich, 
Ägypter  und  Pythagoreer  wären,  was  doch  nichts  anderes 
heißen  kann,  als  daß  sie  ihre  Lehre  größtenteils  den  Ägyptern 

1  Clem.  Alex.  Strom.    III  17  p.  203  Stählin.     Plato  Kratyl  400  BC. 

2  Pindar  Threnoi  fr.  133  (Schröder)  bei  Plato  Meno  81  B  C;   Olymp. 
II  75  flF. 

»  Empedokles  fr.  117  (Diels)  bei  Diog.  Laert.  VIII  77. 
^  Ion  fr.  2   (Diels)   bei  Diog.   Laert.   YIII  8  und  bei  Clem.   Alex. 
Strom.  I  131  p.  81  Stählin. 

^  Epigenes  in  der  eben  zitierten  Clemensstelle.  Cic.  de  nat.  deor.  1 107. 
«  Herod.  1181. 

33* 


516  Diedrich  Fimmen 

—  auf  diese  gehe  ich  gleich  ein  —  und  den  Pythagoreern 
verdankten.  Und  was  sollen  die  Orphiker  den  Pythagoreern 
eher  verdanken  als  die  für  Pythagoras  schon  so  früh  bezeugte 
Seelenwanderungslehre ! 

Läßt  sich  also  keine  Spur  von  vorpythagoreischen  Seelen- 
wanderungslehren nachweisen,  vielmehr  die  Entlehnung  vieler 
orphischer  Dogmen  aus  pythagoreischen  wahrscheinlich  machen, 
so  stammt  die  strikte  Behauptung  des  Diogenes  Laertius  (YIII  14j, 
daß  Pythagoras  als  erster  die  Seelen  Wanderung  gelehrt  habe, 
sicher  aus  guter  Quelle  und  darf  daher  mit  Recht  zum  Aus- 
gangspunkt genommen  werden. 

Bevor  ich  nun  die  Hauptfrage,  wie  Pythagoras  zur  Seelen- 
wanderungslehre gekommen  ist,  erörtere,  muß  ich  ganz  kurz 
die  älteste  nachweisbare  Gestalt  der  Lehre  des  Pythagoras  mit 
Abstrahierung  vom  orphischen  Unsterblichkeitsglauben  darlegen.^ 
Zwei  Bestandteile  sind  zweifellos  ursprünglich  pythagoreisch:  die 
Folge  immer  neuer  Verkörperungen  der  abgeschiedenen  Seele  ucd 
die  Abwägung  des  Lebenswandels  verbunden  mit  einer  Vergel- 
tung nach  dem  Tode. 

Für  das  erste  Dogma  habe  ich  die  Zeugnisse  des  Xeno- 
phanes  und  Aristoteles  schon  angeführt;  wenn  Empedokles 
(fr.  117)  nicht  eine  erst  orphische  Ausgestaltung  übermittelt, 
konnte  die  menschliche  Seele  nicht  bloß  in  Tiere,  auch  in 
Pflanzen  übergehen.  Daß  Pythagoras  die  wiederholte  Ver- 
körperung der  Seele  nicht  Metempsychose,  sondern  Palingenesie 
genannt  haben  solP,  mag  richtig  sein;  was  dagegen  in  jungeu 
Berichten  über  die  Erinnerung  des  Pythagoras  an  seine  frühereu 
Existenzen  gesagt  wird^,  gehört  wohl  ins  Reich  der  Fabel. 

Auch  das  zweite  Dogma  der  Vergeltung  eines  guten  Lebens 

*  Vgl.  Bauer  Der  ältere  Pythagoreismus  1897.  Das  Buch  von  Naber 
Das  Theorem  des  Pythagoras  (wiederhergestellt  in  seiner  ursprünglichen 
Form  und  betrachtet  als  Grundlage  der  ganzen  pythagoreischen  Philo- 
sophie), 1908,  war  mir  nicht  zugänglich. 

2  Servius  Comm.  in   Verg.  Äen.  III  68. 

»  Die  Stellen  bei  Rohde  Psyche  S  454  A.  1. 


Zur  Entstehung  der  Seelenwanderungslehre  des  Pythagoras     517 

an  der  abgeschiedenen  Seele  wird  für  Pythagoras  schon  im 
5.  Jh.  durch  Ion  von  Chios  bezeugt/  Eine  z.  T.  asketische 
Lebensweise  ist  den  Pythagoreern  daher  vorgeschrieben.^  Die 
Vergeltung  nach  dem  Tode  kann  nur  so  verstanden  werden, 
daß  die  Bedingungen  des  neuen  Lebens  von  dem  früheren  ab- 
hängig sind.  Allerdings  wird  auch  von  Strafen  in  der  Unter- 
welt gesprochen  ^,  die  dann  nur  als  Ort  der  Buße  zwischen  zwei 
Verkörperungen  der  Seele  angesehen  werden  kann.  Auf  die 
Läuterung  der  Seele  kommt  es  an.  Das  letzte  und  höchste 
Ziel  ist  die  Erlösung  aus  der  Kette  der  immer  neuen  Geburten 
überhaupt,  denn  nur  XL^cogCag  xccqlv,  weil  sie  noch  nicht  frei 
von  Schuld  ist,  muß  die  Seele  noch  eine  neue  Verkörperung 
eingehen*;  Selbstmord  ist  als  eigenmächtiger  Eingriff  in 
den  Willen  der  Gottheit  streng  verpönt.^  Eine  allrichtende 
Gottheit  ist  die  Voraussetzung  dieser  ganzen  Vergeltungs- 
lehre. 

Ich  lasse  hier  beiseite,  was  in  der  späteren  Überlieferung  über 
das  körperlose  Fortleben  der  zur  höchsten  Höhe  emporgeführten 
reinen  Seele  im  Weltenraum  und  ihr  Übergehen  in  die  Gott- 
heit gesagt  wird^,  da  nicht  auszumachen  ist,  wie  weit  diese 
Gedanken  schon  dem  älteren  Pythagoreismus  angehören,  und 
da  sie  für  die  Frage,  durch  welche  Elemente  Pythagoras  in  der 
Bildung  seiner  Lehre  beeinflußt  ist,  keine  Bedeutung  haben. 
Auch  das  den  Pythagoreern  zugeschriebene  Dogma  von  der 
I  Wiederkehr  aller  Dinge,   und    also    auch  jeder  Seele,  in  jeder 

*  Bei  Diog.  Laert.  I  120  in  einer  angeblich  auf  Pherekydes  gehenden 
Grabschrift.     Vgl.  Zeller  Ber.  Berl.  Ak.  1889  S.  990. 

'  Plato  Staat  X  600  B.     Die  Lebensregeln   der  Pythagoreer   sucht 
Böhm  De  symboUs  Pythagoreis,  Diss.  Berlin  1905,  zu  erklären. 

"  Aristot.  Andlyt.  post  II  10.     Vgl.  Rohde  Bhein.  Mus.  26  S.  555  f. 
1  {Kl.  Schriften  II  103  f.). 
1         *  Euxitheos  bei  Äthenaeus  IV  157  c. 
t         ^  Euxitheos  1.  c;  Plato  Phaidon  62  B. 

j         °  Alexander  Polyhistor  bei  Biog.  Laert.  VIII  31.  Pseudo-Philolaos  bei 
I;  Claudianus  Mamertus  de  statu  animae  II  7  p.  120  (Engelbrecht).   Carmen 
aureum  70  f.  (Nauck). 


513  Diedrich  Fimmen 

Weltperiode  ^  kann  schon,  weil  es  mit  der  Seelenwauderung  in 
keinem  unmittelbaren  Zusammenhang  steht,  übergangen  werden. 

Dem  von  den  Orphikern  verbreiteten  Unsterblichkeitsglauben 
konnte  Pythagoras,  wie  anfangs  betont,  keine  irgendwie  wesent- 
lichen Elemente  seiner  Lehre  entnehmen.  Auch  sonst  fehlen 
im  ältesten  Griechenland  Grundvorstellungen*,  die  ihm  die 
Veranlassung  zu  seiner  Lehre  hätten  bieten  können:  daß  die 
Seele  zur  Existenz  eine  Verkörperung  nicht  entbehren  könne, 
oder  daß  in  besonders  verehrten  Tieren  eine  einst  menschliche 
Seele  stecke.^  Ohne  irgendwelche  äußere  Anregung  kann  eine  so 
wenig  primitive  Seelen wanderungslehre  aber  nicht  entstanden  sein. 

Von  Herodot  wird  Ägypten,  das  den  Griechen  der  Zeit  des 
Pythagoras  durch  viele  Reisen  und  Handelsbeziehungen  wohl- 
bekannt war,  als  Ursprungsland  der  Seelen  wanderungslehre  hin- 
gestellt.* Das  hat  man  für  richtig  gehalten,  bis  durch  die 
historische  Durchforschung  Ägyptens  klar  geworden  war,  daß 
von  einer  Seelenwanderungslehre  der  Ägypter  nicht  die  Rede 
sein  könne.  Dann  verwarf  man  das  Zeugnis  des  Herodot.^ 
Man  fiel  aus  einem  Extrem  in  das  andere,  denn  die  Möglichkeit, 
daß  die  ausgebildete  Seelenlehre  der  Ägypter  einem  griechischen 
Denker,  der  nach  Ägypten  kam,  Anregung  zu  einer  Seelen- 
wanderungslehre geben  mußte,  wurde  nicht  bedacht.    Und  doch 

*  Eudemus  bei  Simplicius  in  Fhys.  IV  12  p.  732  (Berl.  Ak.) ;  Porphyr. 
VitPyth.  19.    Vgl.  Gomperz  Griechische  Denker  I  S.  113  ff. 

2  R.  Wünsch  Das  Frühlings  fest  der  Insel  Malta,  1902  S.  34  ff.  hat 
die  Ansicht  ausgesprochen,  daß  die  orphisch-pythagoreische  Lehre  von  der 
Seelenwanderung  aus  Elementen  auch  des  griechischen  Volksglaubens 
besteht.  Er  hält  nach  brieflicher  Mitteilung  diese  Meinung  auch  jetzt 
noch  für  richtig. 

^  Tierverwandlung  als  mythologische  Wurzel  der  Seelenwanderungs- 
lehre bei  W.  Wundt  Völkerpsychologie  II  3  S.  167  ff.  Nirgends  sei  die 
Seelenwanderungsidee  bei  Naturvölkern  und  ohne  philosophische  Speku- 
lation möglich,  betonter  ebenda  S. 591. 

*  Herodot  II  123. 

^  Ed.  Meyer  hält  (Geschichte  Ägyptens  S.  377  f.  u.  Geschichte  des 
Altertums  I  1.  Aufl.  §  470)  noch  an  ägyptischem  Ursprung  fest,  Bd.  II 
§  455  spricht  er  sich  aber  entschieden  dagegen  aus. 


Zur  Entstehung  der  Seelen wanderungslehre  des  Pythagoras     519 

finden  sich  für  alle  Bestandteile  der  Lehre  des  Pythagoras  die 
wesentlichsten  Elemente  gerade  und  allein  in  Ägypten. 

Wie  nahe  den  Ägyptern  der  Gedanke  an  die  Möglichkeit  des 
Überganges  der  Seele  von  einem  Körperwesen  zum  anderen  lag, 
geht  schon  aus  der  kleinen  Geschichte  von  den  Brüdern  Anubis 
undBata  im  Papyrus  d'  Orbiney  hervor,  der  aus  einem  Königsgrab  der 
19.  Dynastie  stammt.^  Die  Seele  des  Bata  nimmt,  wie  hier  erzählt 
wird,  nacheinander  die  Gestalt  einer  Beere  und  eines  Stiers  an,  geht 
vermittels  zweier  Blutstropfen  in  zwei  Perseabäume  und  endlich 
vermittels  eines  Holzsplitters  in  einen  Prinzen  ein.  Vorstellungen 
von  Seelenverwandlung  und  von  Seelenwanderung  gehen  in 
diesem  volkstümlichen  Märchen  durcheinander. 

Aber  auch  der  offizielle  Glaube  der  Ägypter*,  der,  im  Neuen 
Reich  zum  Abschluß  gelangt,  in  allen  wesentlichen  Zügen   in 
die  saitische  Zeit  der  26.  Dynastie,  die  des  Pythagoras,  hinüber- 
gegangen  ist,   läßt   genug  von   den   Schicksalen   der  Seele  des 
i  Verstorbenen   erkennen.     Sie  hat  nach  dem  Tode  noch  einen 
>  langen  Weg  zurückzulegen,   über  den  die  Sprüche  des  Toten- 
j  buches,  die  man  dem  Verstorbenen  ins  Grab  mitzugeben  pflegte, 
I  oder  mit  denen  man  den  Sarkophag  beschrieb,  Aufschluß  geben. ^ 
I  Unterwegs  stellt  man  sie  sich  in  Menschengestalt  oder  als  Vogel 

!  ^  Übersetzt  von  Maspero  Bev.  arch.  1878  Bd.  36  S.  164  0".  'Eine 
;  Seelenwanderungsgeschichte  märchenhafter  Art'  nennt  sie  Teichmüller 
,  GöU,  gel.  Anz.  1880  II  S.  1069,  ein  "Märchen'  Burchardt  Zeitschr.  f.  ägypt. 
\  Sprache  50,  1912,  118  f.;  das  religiöse  Motiv  hebt  dagegen  wieder  Wiede- 
I  mann  in  diesem  Archiv  XVII  1914,  221  hervor. 

I         *  Maspero  Etudes  de  mythologie  et  d'archeölogie  Egyptiennes  (Biblio- 
'  theque  Egyptologique)    1893  I  p.  35  ff.  und  388  ff.   II  p.  463  ff.,  Histoire 
I  ancienne  des   peupJes  de  l'orient  classique   I  1895  p.  108  ff.     Wiedemann 
Die  Religion  der  alten  Ägypter  1890  S.  123  ff..  Die  Toten  und  ihre  Tteiche 
im  Glauben  der  alten  Ägypter  (Der  alte  Orient  II  2)  1901.     Erman  Ägyp- 
ten 1885   S.  413  ff.  und   besonders  Die  ägyptische  Religion  2.  Aufl.  1909 
iS.lOlff. 

I         '  Für   die  Ausgaben   des  Totenbuchs   und   die   Schwierigkeiten   der 
1  Deutung  genügt  es  jetzt,  auf  das  ausgezeichnete  Referat  von  G.  Roeder 
sin  diesem  Archiv  XVI  66 ff.  zu  verweisen;   neuste  Literatur   bei   Wiede- 
mann Archiv  XVII  221  f. 


520  Diedrich  Fimmen 

mit  Menschenkopf  vor^;  so  ersclieiiit  sie  im  Gericht  vor  Osiris 
(Kap.  125  des  Totenbuclis),  wo  sie  sich  den  42  Totenrichtern 
gegenüber  ganz  ausführlich  zu  rechtfertigen  hat,  um  sich  frei 
zu  erweisen  von  jeglicher  Schuld;  gleichzeitig  wird  von  Horus 
und  Anubis  das  Herz  gewogen,  das  nicht  für  leichter  befunden 
werden  darf  als  die  Wahrheit.  Mit  Recht  hat  man  darauf  hin- 
gewiesen, daß  diese  Reinigung  und  Rechtfertigung  seit  ältester 
Zeit  nicht  bloß  zeremoniell  aufzufassen  ist,  sondern  bis  zu 
gewissem  Grade  moralische  Ziele  verfolgt.^  Den  verdammten 
Seelen  drohen  schreckliche  Ungeheuer,  und  das  Gefilde  der 
Seligen  ist  ihnen  verschlossen.  Die  für  gerecht  befundenen 
Seelen  erhalten  dagegen  Freiheit  und  die  Kraft,  an  beliebigem 
Ort  in  beliebige  körperliche  Gestalten  einzugehen. 

Über  diese  Annahmen  verschiedener  Gestalten  handeln  die 
Kapitel  76  —  88  des  Totenbuchs  ^,  nach  denen  es  oft  geradezu 
^das  Buch  vom  Herausgehen  am  Tage'  genannt  wird;  Bilder 
verdeutlichen  die  mannigfaltigen  und  in  den  erhaltenen  Papyri 
und  Sargtexten  vielfach  voneinander  abweichenden  neuen  Wesen. 
Beliebt  sind  die  Gestalten  von  Vögeln,  des  Reihers  oder  Kranichs, 
der  Schwalbe,  der  Taube,  des  Falken,  des  Sperbers,  auch  des 
menschenköpfigen  Sperbers  und  des  Phönix,  ferner  von  Insek- 
ten, der  Biene  oder  des  Schmetterlings,  auch  von  Pflanzen,  be- 
sonders der  Lotosblume,  dann  wieder  des  Krokodils,  des  Wurmes, 
der  Schlange  und  die  von  Herrschern  und  göttlichen  Wesen. 
Alle  diese  Formen  sollen  die  göttliche  Macht  der  gerechten 
Seele  bezeugen,  die  sich  sogar  mit  den  Göttern  selbst  identi- 
fizieren kann. 

Niemals  allerdings  bedeutet  die  Verwandlung  der  Seele  den 
Eingang  zu  einem  neuen  körperlichen  Leben.    Eine  eigentliche 

*  Der  Begriff  des  Toten  und  seiner  Seele  läßt  sich  in  diesen  Vor- 
stellungen nicht  auseinanderhalten. 

*  Breasted  Development  of  religion  and  thought  in  ancient  Egypty 
1912  p.  171. 

'  Über  diese  Kapitel  speziell  vgl.  Brugsch  Zeitschr.  f.  ägypt.  Sprache 
1867  S.  21  ff.  mit  einer  Tafel. 


Zur  Entstehung  der  Seelenwanderungslehre  des  Pythagoras     521 

Seelenwanderung  ist  den  Ägyptern  durchaus  fremd.  Aber  sowohl 
die  Rechtfertigung  der  Seele  vor  dem  göttlichen  Richter  wie 
die  Fähigkeit  der  Seele,  beliebige  Gestalten  anzunehmen,  scheinen 
mir  wesentliche  Elemente  und  Anregungspunkte  für  die  aus- 
gebildete Seelenwanderungslehre  des  Pythagoras  zu  sein. 

Vorbedingung    ist   natürlich,    daß    Pythagoras    Gelegenheit 
gehabt  hat,  den  Glauben  der  Ägypter  kennen  zu  lernen,  daß  er 
eine  ägyptische  Reise  gemacht  hat.    Diese  ist  durch  zahlreiche 
antike  Nachrichten  bezeugt.    Das  älteste  Zeugnis  steht  allerdings 
gerade  in  einer  Prunkrede  des  Isokrates^,  die  an  sich  nicht  als 
sicher  historische   Quelle   benutzt   werden   darf.     Warum  aber 
hätte  Isokrates  als  Beispiel  eines  Mannes,  der  Ägypten  und  seine 
Religion  kennen  gelernt  hatte,  gerade  Pythagoras  wählen  sollen, 
wenn  es  für  dessen  Reise  keinen  Anhaltspunkt  in  älterer  Über- 
lieferung gab?    Später  wird  oft  von  der  Reise  des  Pythagoras 
nach  Ägypten  und  den  von  ihm  dort  erworbenen  Kenntnissen 
gesprochen;    Kallimachos    hebt    geometrische    Lehren   hervor^, 
ein  leider  nicht  näher  bekannter  Antiphon  die  Erlernung  der 
ägyptischen   Sprache   und   den   Zutritt   zu   den   Heiligtümern.* 
j  In  römischer  Zeit  erwähnen  außer  vielen  anderen  Cicero,  Pom- 
I  pejus  Trogus  und  Strabo  diese  Reise.*     Man  braucht  aber  auf 
I  diese   späten  Quellen   kein   großes  Gewicht   zu   legen,  da  man 
j  als   indirektes    Zeugnis   schon    ein  Wort    des   Heraklit   geltend 
i  machen  kann,  der  nur  einige  Jahrzehnte  jünger  als  Pythagoras 
1  war.    Die  IötoqCcCj  die  Forschung,  die  nach  diesem  Philosophen 
i  Pythagoras  in  höherem  Maße  als  alle  anderen  Menschen  betrieben 
j  hat,  kann  sich  nicht  auf  das  Studium  von  Schriftwerken,  son- 
!  dem  nur  auf  Anschauung  und  Erkundung,  also  in  erster  Linie 

1  Isokrates  XI  (Busiris)  28. 

^  Kallimachos  beiDiodor  X  6,4^{Excerpta  de sententüs  nr.  77  Boissevain). 

'  Antiphon  (nr.  16  bei  Pauly-Wissowa)  bei  Diog.  Laert.  VIII  3  und 
,  bei  Porphyr.  Vit.  Pyth.  7. 

^  Cicero  de  fin.  V  87 ;  Pompeius  Trogus  bei  Justin  XX  4,  3 ;  Strabo 
XIV  1,  16.  Weitere  Nachrichten  bei  Wiedemann  Herodots  zweites  Buch 
1890  S.  339. 


^22  Diedrich  Fimmen 

auf  Reisen  beziehen.^  Nun  wurde  gerade  in  der  Zeit  des  Amasis, 
in  der  ja  Pythagoras  lebte,  Ägypten  auswärtigem  Verkehr  weiter 
geöffnet,  und  Samos,  die  Heimat  des  Pythagoras,  trat  unter 
Polykrates  in  ganz  besonders  nahe  Beziehungen  zu  Ägypten.^ 
Im  damaligen  Weltverkehr  lag  jedem,  der  über  die  hellenischen 
Grenzen  hinaus  ging  —  und  das  muß  doch  der  größte  Forscher 
der  Zeit  getan  haben  —  Ägypten  am  allernächsten.  An  einer 
Reise  des  Pythagoras  nach  Ägypten  wird  daher  nicht  gezweifelt 
werden  können.^ 

Pythagoras  konnte  hier  nun  nicht  lernen,  was  nach  Herodot 
die  griechischen  Vertreter  der  Seelenwanderungslehre  aus  ägyp- 
tischer Quelle  schöpften,  daß  die  Menschenseele  in  einem  Zeit- 
raum von  3000  Jahren  alle  Erd-  und  Seetiere  und  Vögel  bis 
wieder  zum  Menschen  durchlaufe*;  so  war  weder  der  ägyptische 
Glaube,  noch  hat  so  Pythagoras  seine  Seelenwanderungslehre 
gefaßt.  Ob  diese  herodoteische  Auffassung  überhaupt  jemals 
irgendwo  vertreten  wurde,  läßt  sich  nicht  ausmachen;  am  wahr- 
scheinlichsten ist,  daß  sie  sich  ihm  durch  eine  irrtümliche 
Verbindung  der  Lehre  von  der  Seelenwanderung  und  der  von 
der  wiederkehrenden  Weltperiode  gebildet  hat. 

Aber  Pythagoras  hörte  in  Ägypten,  daß  die  menschliche 
Seele  Vergeltung  für  ihr  körperliches  Leben  erfuhr,  und  daß 
die  Seele  des  Verstorbenen  in  beliebige  andere  körperliche  Wesen 
eingehen  konnte.  Nicht  bei  der  Möglichkeit  der  Annahme  neuer 
Körperformen  wie  in  Ägypten,  aber  bei  der  Gewißheit  dieser 
Tatsache  konnte  die  Neuverkörperung  selbst  zu  einer  Vergeltung 
werden;  nicht  auf  beliebige  kurze  Zeit,  sondern  das  ganze  Leben 

»  Heraklit  bei  Diog.  Laert.  VIII  6.  Vgl.  Gomperz  Ber.  Wien.  AJc.  1886 
S.  1001  f.  u.  S.  1031 ;  Zeller  Ber.  Berl  AJc.  1889  S.  986  flf. 

'^  Daß  die  Ausgrabungen  diese  Beziehungen  bestätigt  haben,  siebt 
man  bei  Prinz  Funde  aus  Naukratis  1908  S.  39  f. 

^  Gegenüber  Zeller  Philosophie  S.  308  A.  1  hält  auch  Ed.  Meyer 
Gesch.  d.  Altert.  II  §  502  A.  einen  Aufenthalt  des  Pythagoras  in  Ägypten 
für  selbstverständlich. 

*  Herodot  II  123  und  Wiedemann  Herodots  zweites  Buch  S.  467  ff. 


Zur  Entstehung  der  Seelenwanderungslehre  des  Pythagoras     523 

von  der  Geburt  bis  zum  Tode  mußte  die  Seele  einen  neuen 
Körper  bewohnen.  Diese  Überlegungen  führten  den  griechischen 
Forscher  zu  einem  systematischen  Ausbau  der  in  Ägypten 
erhaltenen  Anregungen  und  vor  allem  zu  einer  ethischen  Ziel- 
setzung. Was  anders  konnte  der  Sinn  und  Zweck  der  neuen 
Verkörperungen  der  Seele  sein,  als  sie  durch  diese  zu  läutern? 
Durch  "diese  Gedanken  des  Pythagoras  erhielt  die  Lehre  eine 
ganz  neue  Bedeutung;  nicht  als  Belohnung  der  guten  Seele, 
sondern  als  Strafe  der  noch  nicht  reinen  Seele  ist  die  neue 
Verkörperung  aufzufassen,  als  Strafe,  die  zugleich  eine  Läuterung 
bedeutet,  und  die  die  schließliche  Erlösung  aus  der  Kette  der 
Geburten  vorbereitet.  Nur  ganz  geläutert  und  rein  kann  die 
Seele  zur  Gottheit  werden. 

Herodot  sagt,  daß  Griechen  —  Namen  will  er  hier  nicht 
nennen  —  in  älterer  und  jüngerer  Zeit  die  Seelenwanderung  als 
ihre  eigene  Lehre  ausgegeben  haben;  und  das  konnten  sie  aller- 
dings mit  größerem  Rechte  tun,  als  Herodot  ihnen  völlige  Ab- 
hängigkeit von  Ägypten  zuschreibt.  Denn  erst  der  schöpferische 
Geist  des  Griechen  hat  das  Gedankengebäude  aufgerichtet,  zu 
dem  sich  ein  paar  Grundsteine  in  Ägypten  fanden. 

Es  ist  hier  gegangen  wie  so  oft  in  der  Geschichte  der  grie-, 
chischen  Kultur  und  Kunst,  daß  ägyptischer  Formalismus  durch  ; 
lebendigen  Griechengeist  zu  einem  hohen  Werte  umgeschaffen  I 
1  worden  ist.    Wie   schon   in   mykenischer  Zeit   die  Achäer   ein 
ägyptisches    Bild   nicht   trocken   kopierten,    sondern    frei    um- 
I  gestalteten,   so   entstand  etwa  in  der  Zeit  des  Pythagoras   aus 
1  ursprünglich  ägyptischen  Elementen  die  frei  bewegte  Palmetten- 
ranke, das  schönste  Gebilde  der  griechischen  Ornamentik.    Die 
Überlegenheit  des  griechischen  Geistes  zeigt  sich  eben  in  allen 
Gebieten.     Durch    ihn    gewandelt    und    geläutert    wirken    alt- 
orientalische Formen  und  Anschauungen  bis  heute  nach. 


Hymnologica 

Von  Otto  ■Weinreich  in  Halle  a.  S. 

I 
*rjLir£xf/  nQoaayÖQBvöig 

*Aucli  ganz  gelegentliclie  Erwähnungen  (von  Hymnen),  auf 
die  einmal  systematiscli  zu  achten  wäre,  geben  einiges  aus'; 
so  sagt  Wünsch  in  seinem  ^Hymnus'- Artikel  bei  Pauly-Wissowa 
IX  159,  67  ff.  Eine  derartige  Erwähnung,  die  m.  W.  noch  nicht 
ausgenützt  ist,  bietet  eine  auch  sonst  sehr  lehrreiche  Inschrift 
aus  Didyma.  Die  Bedeutung  des  in  ihr  erwähnten  ^dvd'sos 
ütSQißoiiLö^ög  hat  mir  Hepding  dargelegt,  vgl.  Deutsche  Literatur- 
zeitung 1913,  2958  f.;  hier  sei  aus  der  Inschrift  nur  ausgezogen,  was 
sich  auf  den  Begrüßungshymnus  der  Artemis  bezieht,  der  ihr  bei 
der  Einweihung  eines  neuen  Altares  gesungen  werden  soll.  Die 
Inschrift  stammt  aus  dem  IL — III.  Jahrh.  n.  Chr.  und  ist  an  der 
Südostecke  des  Tempels  gefunden  (Th.  Wiegand,  Siebenter  vor- 
läufiger Bericht  über  Ausgrabungen  in  Milet  und  Didyma, 
Abhandl.  d.  Berliner  Akad.  1911  S.  64,  18 ff.):  'O  nQog)rjtrjg  6ov 
zJa^iavbg  igcatä  hnl  xqti^ikd  6a  d^sCco'  ijtstQsfag  avtc5  iv  xo 
Uq^  6ov  7C£QLßa>^i6^(D  lÖQvöccöd'aL  ßcoiibv  xfjg  ccyLCOtdtrjg  %a- 
xqCov  avxov  %'säg  UcotCgag  KÖQtjg  Ttagä  tbv  rrjg  ösßaö^icstdtrjg 
7iccQ7CotQ6(pov  Jij^rjtQog  ßco^iöv'  (Die  Interpunktion  ßco^iöv]  ver- 
stehe ich  nicht,  denn  die  Erlaubnis,  den  Altar  zu  errichten, 
ist  ja  schon  erteilt,  vgl.  Z.  16f.;  Damianos  setzt  das  noch  ein- 
mal auseinander,  weil  es  die  Voraussetzung  für  die  neue  Bitte 
bildet,  die  er  jetzt  zu  stellen  hat.)  öltai  6ov  xal  rfjg  sv- 
cpijtiov  xal  viivLKrjg  slg  a'bx^v  ^QOöayoQSvösog  wbxov 
öh  vo^od'sxrjv  yBreöd-ccL.  ®sbg  sxQtj^sv 

HihxLQav  TiXri^o^sv  vn*  svcsqolöl  ßoal6i 
liCXi^ov,  dvxCa  stvai  [a]6l  6vv  firjxsQi  ^rjoL 
Also  der  Gott  erlaubt  dem  Damianos  nicht  nur,    den  Hymnus 
zu   übernehmen,   sondern    er   wird   auch   der  vo^o^hrjg  dieser 


Hymnologica  525 

sijq)rjnog  xal  '{j^viTc^  TCQoöa'yÖQBvöLgj  und  zwar  dadurch,  daß  er 
in  seinen  Orakel versen  gewissermaßen  das  Thema  formuliert 
und  gleich  die  wesentlichsten  Epitheta  der  Göttin,  die  in  dem 
Hymnus  aufzunehmen  sind,  namhaft  macht.  Wie  der  ausge- 
führte Hymnus  lautete,  wissen  wir  natürlich  nicht,  aber  ver- 
muten dürfen  wir  einiges.  Der  antiken  Theorie  nach  wäre  der 
Hymnus  unter  die  xXrjtiaoC  einzureihen  (Wünsch  182,  18),  vgl. 
xZi^So3/i£v.  Die  Genealogie  der  angerufenen  Göttin  war  in  ihm 
angedeutet  (oder  ausführlicher  behandelt),  wie  wir  nach  zahl- 
reichen Analogien  erschließen  müßten  (Wünsch  l47,  38  ff.),  auch 
wenn  die  Mutter  Leto  nicht  ausdrücklich  genannt  wäre;  Apol- 
lon  als  Bruder  wird  nicht  gefehlt  haben.  Von  Namen  und 
Epitheta  der  Göttin  waren  sicher  enthalten  2^6tsiQa  und  ^sC- 
liXOSf  und  was  man  sich  von  ihr  wünschte,  ist  auch  deutlich: 
sie  soll  ävt^a  slvai,  natürlich  im  freundlichen  Sinne,  also  stand 
im  Hymnus  wohl  svoivtrjtog,  das  im  orphischen  Artemishymnus 
gleich  zweimal  begegnet,  XXXVI  7  svccvtr^ts  und  14  f.  ild's^ 
d-sä  6G)X£iQa  (also  auch  dies  übereinstimmend)  (pCXri  [ivötriöiv 
a%a6iv^  svdvtrjtog.  Von  sonstigen  Belegen  aus  hymnischer  Li- 
teratur nenne  ich  nur  noch  den  letzten  Vers  des  Hymnus  auf 
Antaia  (XLI  10):  iXd'siv  svdvtritov  h%^  svlsqcd  6bo  fivötji,  weil 
hier  svCsQog,  was  wir  ja  auch  in  unserer  Inschrift  haben,  gleich 
neben  svccvtrjtog  steht.^   Epigraphische  Beispiele  für  eMvtrjtog 


*  Es  verdient  eine  Anmerkung,  da  es  in  den  orphischen  Hymnen 
häufig,  sonst  recht  selten  ist.  Das  meines  Wissens  älteste  Beispiel  steht 
in  einem  Paian  aus  alexandrinischer  Zeit,  Oxyrh.  Pap.  IV  675,  14  svii- 
Qojv  nsXdlvcav].  Dann,  sehr  wichtig,  steht  es  in  der  Mysterieninschrift 
(Von  Andania,  also  92/91  v.  Chr.  {d-viiccta  svisga  xccd'aQU  oXottlriQu^  Ditt. 
'SylV  653,  70  =  Ziehen  LGrS  68  =  IGY  1,  1390).  In  die  erste  Kaiser- 
zeit gehört  ein  Epigramm  des  Philippos  auf  Isis ,  dcci^ov,  in  svtigovg 
ß^d"!,  Q'vnnoXiug  {A.P.  VI  231,  2;  Baege  De  Macedonum  sacris,  Diss. 
Phil.  Hai.  XXII  1  S.  160),  ins  2.  oder  3.  Jahrh.  dann  unsere  Inschrift  vti' 
IsviigoiüL  ßoatai.  Nicht  zu  datieren  vermag  ich  ein  Grabepigramm  aus 
dem  Gebiet  von  Amasia,  in  dem  das  Wort  vorkommt:  iv  sviiga)  ^dXcc 
itviißa,  Th.  Reinach  Rev.  Et  Grecques  VIII  1905,  81  Nr.  11;  XV  1902, 
322  Nr.  25.  Daß  nicht  svBQyo)  zu  lesen  ist,  sondern  sviigm,  bestätigt  die 
neue  Copie  von  Munro,  vgl.  Cumont  Studia  Pontica  III  177  Nr.  170.    Ob 


526  ö^^o  Weinreicli 

in  der  Kultsprache  sind  Athen.  Mitt.  XXXVII  1912  S.  41  A.  1 
gesammelt,  zwei  weitere  aus  Kleinasien  möchte  ich  hinzu- 
fügen: JlavsCvLOs  IIccQcciiovog^E\x]dt[iß}  svavtijtG)  sv[xr]]v  (Calder 
Klio  X  1910  S.  241  Nr.  13).  .  .  .  ^ibg  MByC6to[y  'OXv'jvTtCov 
Ivo)^  ^iovvöm  [svDcvt]7Jt(p  xtL  (Calder,  JHS.  XXXI 1911  S.  196; 
Quandt  De  Baccho  in  Asia  min.  cuUOf  Diss.  Phil.  Hai.  XXI  2 

auf  einem  thrakischen  Dionysosrelief  Jlovvöov  £'6[lsqov']\[s]^xccq7cov  zu 
ergänzen  ist,  bleibt  unsicher;  Seure  Bev.  arch.  1913  II  235 f.,  der  dies  in 
Erwägung  zieht,  entscheidet  sich  für  sv[avd-fi'].  sviigov  Bdxxoio  im 
Orph.  Hymn.  (s.  unten)  könnte  für  ersteres  sprechen,  aber  es  gibt  gerade 
bei  Dionysos  allzuviel  mit  sv-  anlautende  Epitheta,  als  daß  irgendeine 
Sicherheit  zu  erzielen  wäre.  Im  Hestiahymnos  des  Aristonoos  hatte 
Hiller  von  Gaertringen  Z.  12  ßaiiovg  . .  s-ut  ]  [gj  ^ovg  vorgeschlagen ,  P.  Maas 
die  metrisch  erforderliche  Länge  durch  iQi\['^]Qovg  erzielt  {BpJiW.  1912, 
1396),  Colin  gibt  jetzt  als  Lesung  igt  \  tlhovs  FouiUes  de  Belphes  III,  2, 
217.  Die  orphischen  Hymnen  verwenden  es  ähnlich  wie  Philippos  a.  a.  0., 
z.  B.  11,  22  §ulv^  inl  Xoißalg  sviigoig,  79,  12  llXd'oig  .  . .  sviigovg  inl  fivßro- 
TCoXovg  riXstag,  75,  3  in'  sviigoiai  tsXst^öiv  iXO-stv,  7,  12  U&sr  in'  svlsqov 
TsXETjie  TCoXviöTOQug  ccd-Xovg/n,  10  sviigov  TsXsrfig,  66,  10  Jtgbg  evUgovg 
iTtiXoißdg.  Dann  steht  es  7,  2  bei  cpcav^  (in  unserer  Inschrift  bei  ßoi]), 
44,  9  bei  tgans^a,  53,  10  bei  Ttagnog,  57,  8  bei  gdßdog.  Bei  Personen: 
41,  10  in'  svLEQG)  eio  n>v6tj},  bei  Göttern:  71,  12  (Meilinoe)  sv(iEvhg  EvLigov 
(ivetciLg  (paLVovtcc  TtQoacoTtoVj  42,  3  äyv^v  x  evisqov  tb  MlariVf  24, 11  evleqov 
Bd-K%0L0.  Außerhalb  der  orphischen  Hymnen  kann  ich  es  nur  noch  be- 
legen aus  dem  Athena-Hymnos  des  Proklos  (33:  an'  Eviigcov  öio  ^vd-av), 
in  einem  chaldäischen  Orakel  (21:  svUqov  nvg,  vgl.  Psellos  Migne,  Patrol 
Gr.  122,  1136  B;  Kroll  De  orac.  Ghald.  68)  und  bei  Paulus  Silentiarius  in 
der  563  n.  Chr.  geschriebenen  "ExcpQUGig  tov  vaov  rfjg  ayiag  Eo(piag  175: 
EviEQOLg  ßißXoiöLv  (Friedländer  Johannes  von  Gaza  S.  262),  ein  Nachweis, 
den  ich  P.  Maas  verdanke.  Hauck  De  hymn.  orph.  aetate  37  rechnet  das 
Wort  zu  den  'hymnorum  vocabulis  saec.  p.  Chr.  n.  tribuendis',  obwohl  er 
den  wichtigen  Hinweis  auf  die  ältere  Mysterieninschrift  von  Andania  bei 
Herwerden,  den  er  zitiert,  finden  konnte.  Evisgog  ist  natürlich  ähnlich 
zu  beurteilen  wie  Evävxrixog  (vgl.  A  M.  a.  a.  0.) :  es  gehört  der  Kultsprache 
an.  Sein  Vorkommen  bei  älteren  Dichtern  und  Inschriften  (bei  Nonnoe 
habe  ich  es  bis  jetzt  noch  nicht  gefunden)  gibt  ein  neues  Indizium  dafür 
ab,  wie  verfehlt  Haucks  Datierung  der  Hymnen  (nachNonnos)  ist,vgl.Wünsch 
171,  43;  Kern  BphW.  1912,  1438 ff. 

^  In  ITSl  glaubte  Miss  Ramsay  eine  Graecisierung  von  Jehova  er- 
kennen zu  dürfen,  was  Calder  auch  nicht  aus  Höflichkeit  hätte  erwähnen, 
geschweige  denn  billigen  sollen.  '"Ivog  vox  similem  habet  vim  atque 
E^iog'  so  richtig  Quandt  a.  a.  0.  233.  * 


Hymnologica  527 

S.  232).  An  die  orphischen  Hymnen  erinnerten  schon  die  zwei 
Hexameter  des  Orakels;  wäre  die  ganze  v^vixij  7CQo6a'y6QSv0Lg 
aus  Didyma  erhalten,  so  würde  das  wohl  noch  deutlicher  werden, 
und  wir  hätten  damit  ein  neues  Indizium  für  die  kleinasiatische 
Herkunft  wenn  auch  nicht  aller,  so  doch  mancher  der  orphischen 
Hymnen  (vgl.  Wünsch  171,  49ff.). 

11 
Knien  beim  Hymnos  auf  Dionysos 

(Zu  den  Hymnen  des  Aelius  Aristides) 
Otto  Walter  hat  in  den  Österr.  Jahresh.  XIll  1910  Beiblatt 
S.  229  ff.  die  Darstellungen  von  knienden  Adoranten  auf  atti- 
schen Reliefs  gesammelt  und  dabei  auch  der  literarischen  Nach- 
richten über  Knien  beim  Gebet  gedacht.  Unter  den  Gottheiten, 
für  die  es  sich,  sei  es  aus  Denkmälern,  sei  es  aus  Texten,  be- 
legen läßt,  ist  Dionysos  nicht  vertreten.  Es  ergibt  sich  auch 
für  ihn  aus  einer  bisher  übersehenen  Stelle  des  Aelius  Ari- 
stides, die  zugleich  für  die  Hymnendichtung  des  Rhetors 
locus  classicus  ist  und  zu  Wünschs  Ausführungen  (Artikel 
Hymnus,  P.W.  IX,  173,  27  ff.)  hinzugefügt  werden  mag. 

Aristides  berichtet  in  der  vierten  heiligen  Rede  (II  435 
§§  38  ff.  Keil),  daß  ihm  Asklepios  im  Traum  den  Befehl  gegeben 
habe,  diaxQlßsiv  iv  aö^aeft,  xal  ^liXsSi^  otal  drj  xal  Tiait^eiv  ts 
Tcal  TQStpeLv  TCalöag.  Die  Lieder  wurden  von  Knaben  gesungen, 
und  Aristides  hatte  oft  genug  Gelegenheit,  die  Heilkraft  dieser 
geistlichen  Musik  am  eigenen  Leibe  zu  erfahren.^  Der  Inhalt 
der  (leXi]   war   der   hymnische  Preis  verschiedener  Götter:   des 

^  TDC  ö'  acybuxa  'fjdov  ol  Ttccidsg ,  xal  otcote  t)  TtviyBöQ'ccv  öv^ißalvoi^ 
tov  tQccx'^^ov  tcid'ivTOs  i^ccLcpvrig  j}  xov  öro^iäxov  Karaßrccvrog  stg  cctco- 
giag,  i]  ng  aXXri  yivoito  a-JtoQog  TtgoößoX'^,  nccgoav  av  ©sodorog  6  largog 
v,al  ^isiivrnisvog  x&v  ivvnviojv  iytiXsvs  xovg  italdccg  adsiv  x&v  ^eX&v,  aal 
lisxcc^v  adovxav  XdO'Qa  xig  iyiyvBxo  qccöxmvr],  ^exiv  8'  oxs  Kai  JtavxsX&g 
ScTCißsi,  Ttäv  xb  XvTcovv.  y.ccl  xovxo  dri  xoaovxov  xBgdog  fiv  xccl  xb  xfjg  xi^iyg 
?Ti  xovxov  iist^ov  svdoxl^si  yaQ  aal  xa  iiiXri  naga  x&  &ea).  Auch  beim 
Diclaten  der  Hymnen  selbst  verspürt  er  befreiende  Wirkung,  393  §  73  K.: 
XiTCoipvxovvxa  yial  navxsXcog  ccjtoQOv^Bvov  7C0L7]6ai  ^leXrif  yd^ov  x& 
KoQ(ov LSog  xal  yivsGiv  xov  %'sov  (über  die  Genealogie  des  Gottes  in 


528  ^^^^  Weioreich 

Asklepios  selbst,  des  Pan,  der  Hekate  und  des  Acheloos.  Was 
Aristides  dann  über  seine  Hymnen  auf  Athena,  Dionysos,  Zeus 
und  andere  Götter  erzählt,  ist  von  großem  Interesse,  weil  er 
nicht  nur  über  die  Veranlassung  und  Ausarbeitung  —  zuweilen 
dichtet  er  im  Reisewagen  oder  beim  Spazierengehen  —  berichtet, 
sondern  auch  Bruchstücke  aus  seinen  Hymnen  zitiert,  die  uns 
einige  Epiklesen  liefern  und  erkennen  lassen,  daß  verschiedene 
Metra  zur  Anwendung  gelangten.  Da  der  Rhetor,  obwohl  er 
eine  der  wichtigsten  Quellen  für  die  Religionsgeschichte  des 
2.  Jahrh.  n.  Chr,  ist  und  namentlich  für  die  synkretistischen 
Kulte  Kleinasiens  ausgezeichnetes  Material  enthält,  sich  heut- 
zutage bei  den  Philologen  fast  allgemeiner  Unbeliebtheit  er- 
freut, mag  es  erlaubt  sein,  die  für  die  Geschichte  des  Hymnus 
wichtige  Stelle  im  Wortlaut  zu  geben:  '^xsv  dh  /,cd  jcag'  ^A^t]- 
vag  (ivaQ  vyivov  e%ov  tfjg  d^sov  xal  uqx'^'^  xoidvds' 

"Ikb6%^s  IIsQydiiG)  veoL^ 
xal  etBQOv  ix  /Ilovvöov^  ov  tö  k7t(f86yLSvov  ^v 

Xalg'  o)  q.va  möösv 

l^iövvös].^ 

Hymnen  vgl.  oben  S.  525),  ycal  Trjv  6TQ0(pr}v  mg  inl  ^irj^LGtov  unotBlvcci. 
y.ccl  iTCOLTiöcc  tä  a6{Laxa  icp  ii6v%lag  ohtaal  -nal  xar  iiiavrbv  ivd'v^irid'sis, 
y,al  Ttdvxav  ridri  ^TJO-rj  ^v  rav  dv6%SQa)v.  Die  Heilkraft  der  Musik  war 
schon  früh  erkannt,  Pythagoras  soll  davon  Gebrauch  gemacht  haben, 
und  Theophrast  schrieb  über  sie  in  seinem  Buch  Ttigl  'Evd'ovöLccöfiov 
(frg.  87  W.).  Aber  besonders  nahe  mit  der  zuerst  angeführten  Aristides- 
stelle  berühren  sich  Nachrichten  aus  Marinos  Vita  Prodi  C.  17:  El  d« 
TtOTB  tig  x&v  yv(0Qi(i03v  vooqj  Y,avsi%BtOy  TCQcbtov  fihv  tohg  ^sovg  XiTcagm^ 
IxiTEVEv  vTihQ  ccvTOv  ^Qyoig  TS  xccl  vfivoLg,  ^Tcsitcc  Tai  y,dybvovti  TcaQfjv 
iTtiiisXsGtccTU^  Tcal  rovg  iccTQOvg  avvrjysv^  iTtslycov  xä  ccTto  xrig  xi%vr\g 
&}isXX7jxl  TtQOixxBiv.  Kccl  XI  "Kccl  avxog  iv  xovxoig  tcsqlxxoxsqov  sl6r}ystto, 
nal  ■TtoXXovg  ijdri  ix  x&v  iisyloxav  xLvävvoav  ovToag  igQvöaxo.  In  seiner 
eigenen  letzten  Krankheit  läßt  Proklos,  um  Erleichterung  zu  finden,  seine 
Freunde  orphische  Hymnen  beten,  was  ihm  hilft,  Cap.  20 :  TtccQSxsXsvsro 
ovv  ij^tv  §acc6xoxE  v^ivovg  Xiysiv,  aal  Xeyo^ivcov  x&v  v^vcov,  näöa  elg'^vr, 
x&v  Ttad'&v  iyiyvsxo  kccI  ocxccqcc^lu  .  .  .  ccQXO^iivav  .  .  ijii&v  v^ivslVj  indtvog 
ccvsTfXriQOv  xovg  v^vovg  xccl  x&v  'OgcpiK&v  in&v  xcc  tcXeiöxcc.  So 
versteht  man,  warum  in  seinen  eigenen  Hymnen  die  Bitte  um  Gesund- 
heit so  oft  wiederkehrt.  ^  Getilgt  von  Wilamowitz. 


Hymnologica  529 

^So^dvov  d'  avtov  Tcad"'  vitvov  nBQiigQBi  tä  &ta  xal  rjxri 
d'uvfiaötrj.  aal  sdsi  rb  y6vv  tö  ds^ibv  xXCvavta  (vgl. 
oben)  IxstevsLv  ta  Tcal  xaXslv  Avöiov  xov  d'söv  aal  svsötv 
tavta  iv  tolg  aöfiaöLv.  aal  etegov  ^ksv  ii,  a'htov  ^Jiög  —  o 
Ti  dh  ^v   tovtcsv  tJ  TCQcbtov  r)    vöxeqov   ov^l   iiBiivr^^ai  —   aal 

ixSQOV     £K    /llOVVäOV     TtCcXiV     ^ Ol)  XoaÖ [IT^V^     (pQci^OV     TCQOÖSiTCSlv 

tbv  d-söv.  G)(pd-7]  dh  aal  6  'EQ^fjs  trjv  ts  avvfiv  extav  aal  xb 
adXXog  d-av^aöxbg  aal  xr^v  aCvrjöiv  vzsQtpvijg  (alles  für  Traum- 
erscheinungen  typische  Züge)'  aal  adov  avxbv  aal  yavviiavog 
Sg  Qc^diog  xs  aal  7rQoö7]aovxa  sl^rjahg  dcpvjtvi^ö^rjv .  edo^a  öh 
aal  tcsqI  x&v  iv  IJ^vqvj}  ^s&v  &aov6ai  xov  XQog)B(og,  ot^ai, 
Sg  ova  OQd'Gig  avxav  kTtiXBXri^iiBVog  xvy%dvonii'  slabg  yaQ 
alvai  aal  xavxaig  v^ivov  i7ti,nBX7]d"fjvaL  jtXBiöxa  dh  slg  !A7t6XX(o^ 


*  Schon  vorher  433  §  31  K.  hatte  Aristides  erzählt,  daß  ihn  Askle- 
pios  zuerst  in  Rom  Ttgog  xt\v  xmv  fiBX&v  Ttoirieiv  angetrieben  habe.  Das 
■erste  war  ein  Paian  auf  ApoUon :  t^IQ-b  yccg  fioi  ivvnviov  cpgci^ov  xov  xs 
rcaiävcc  mg  diov  7Coi,7]6ai  x&  d^sat  nccl  a^a  xriv  agxrjv  avxovj  ycal  sI^bv 
ovxoa  Ttag' 

^OQiilyycov  avccKxa  Tlcci&va  ^Xriiöo). 

ijnÖQriGa    iihv    di}    o   xi   %Qri6(0^ai   diä   xb  ^riTCCi  TCQoed'Bv  i(i(xvxov  tcbIquv 
i6%r\yiivaL  tcbqX  xavxcc,  aXV  id6v.ovv  TtavxBl&g  ^%biv  ccSwccxcog'  o^Kog  d^  iv- 
BXBLQr]aa   tcccI   xfjg   ccQxfjg   olov    inißdd'Qag   ix6y>Bvog    iTtsgavcc   xb  äöiia 
\iv  dvoiv  GxQocpcctv,  Kai    xgixriv,   ol^oci^    xivä  ^nriyccyov,  riv  na- 
\Xov6iv  ol  ygainiccxitiol  fioL  doKstv  iTtadov.     Kaum  war  das  ac/i« 
i  fertig,    als    er   hörte,   daß   die   Ludi   Apollinares  gefeiert  würden.    Als 
I  Gotteslohn  für  diesen  Paian  betrachtet  er  dann  die  wunderbare  Rettung 
I  aus  dem  Sturm  des  Meeres  bei  der  Überfahrt  nach  Delos  (S.  434 f.,  das 
Wortspiel  Tcaidv^  nuimv,  itdvxa  TcavBvv  in  §  37  sei  hervorgehoben,  es  kann 
;flehr  wohl  im  Hymnos  selbst  gestanden  haben,  da  seit  den  homerischen 
(Hymnen  und  Hesiod  derartige  etymologische  Ausdeutungen  des  Götter- 
namens  in   sacraler  Poesie  beliebt   sind).     Ein  anderes   Fragment   aus 
einem  Hymnos   des  Aristides   steht  S.  414  §  4;  er  träumt,   die   Knaben 
in  einem  diSueyiaXBlov   zu  Alexandria   sängen  sehr  schön  folgende  ^sttj: 
noXlovg  d'  ix  Q-avdxoio  igveaxo  ÖBQKoyiBvoiOy 
döxQacphööL  7tvXr]6LV  in*  avxjjöLv  ßEßccmxocg 

\xuvxcc  d'  iexl  x&v  riiisxiQcov  inrnv,  a  tcq&xcc  exBdov  imo^'^öaiiBv  x&  d'sä. 
9'uviid^Eiv  olv  on(og  ijSr]  dLaTtscpoixri-iioxu  stg  xriv  Alyvjtxov  a/rj  xal  xuIqbiv 
inBQcpv&g,  oxv  di]  xvyxdvoiyn  y.axBi,Xr\(pcag  ddo^Bva  x&^avrov. 

Archiv  f.  Keligionswissenschaft  XVII  34 


530  ^**^  Weinreich 

TS  xal  'AöxXrjTtLOV  iTtoLr/d^rj  xar«  tag  t&v  dvsiQccrov  iTtiTCvoCag, 
Tcal  to'ötcov  tä  TtoXXä  0%s8hv  aTcb  iiv^fiTjg  ovtG)6i^  ÖTtöts  alco- 
Qot^rjv  ijtl  tov  ^svyovg'^  rj  xal  ßaöC^OL^i.  xal  dri  xal  Maxe- 
öövi  avÖQC.)  svl  xcbv  6vyLCpoixriXG)v^  '6vaQ  yCyvsrai,  cjg  ccjtiqyyeXXiv 
i^ol  <^6>  0s6dotog  —  oi)  yäQ  wötbg  bI%sv  öwri^cog  i^oC  — 
ävtixQvg  (fSQOV  elg  i^is.  idöxsi  yaQ  adsiv  ifibv  jcaiäva^  hv  ra 
lavtriv  triv  TCQÖöQrjiSiv  slvai'  "Ji^  JTatav  "HQa^Xsg  HötcXt}- 
mi^  (vgl.  S.  330  K.).  xal  ovxa  8ri  tov  jcaiäva  dxedmxa  ä^Kpo- 
TSQOig  tolg  d-eolg  tcolvöv. 

Wir  sehen  also,  daß  ähnlicli  wie  der  Prophetes  Damianos 
in  Didyma  die  Orakelverse  des  Gottes  zu  einem  Hymnos  be- 
nutzte, so  Aristides  den  gottgegebenen  Träumen  nicht  nur  die 
Veranlassung,  sondern  auch  einzelne  Worte  und  Verse  zu  sei- 
ner geistlichen  Poesie  entnahm.^ 

Zu  dem  ersten  Dionysoshymnos  des  Aristides,  den  er  kniend 
zu  sprechen  glaubte,  noch  ein  Wort.  Als  Avöiog  soll  er  den 
Gott  anrufen;  auf  die  gleiche  Epiklese  bezieht  sich  Aristides 
auch  in  dem  X6yog  auf  Dionysos  (331  §  7  K):  ovdav  &Qa 
ovxGig  ßsßaCcjg  dsÖTJöexai^  ov  v66(pj  ovx  6(>yg,  ov  xvxji  ovde/ito, 
0  ^ii  olöv  t'  €6xaL  Xv6ai  x(p  /diovv6(p.  Die  Verwandtschaft 
ist   nicht   verwunderlich,   denn   seine    Götterreden   muten   Vie 


*  Vgl.  426  %  i:  71  dh  Ttogsia  (zu  den  Heilquellen  der  Arteiüis  Ther- 
maia  am  Aisepos)  iyiyvETo  vtco  XaiindScav.  ivravd'a  di]  TtccvtsX&g  olovsl 
nad-LSQÖoiiTiv  TS  'üccl  Bix6[Lriv^  Ticci  ^01  TCoXXä  ^ihv  sis  ocbtbv  xov  Ecoz'nQci 
inoiT^d'r}  iiiX'^f  dtg  ^xv%ov  nad'rinivog  inl  xov  t^vyovg^  noXXcc  8h  äi'g  xb 
xov  AiCrinov  -xal  NviKpag  xal  xijv  Osg^iaiav  "Jqxs^iiv,  t]  xag  nr\yäg  xag 
d'EQ^iccg  ^;^et,  dovvccL  Xv6iv  UTcdvxcav  fiS-q  x&v  dvö^sgübv  xal 
y,(xxa6xf}Gai  TtdXiv  sig  xb  i^  dgx^g.  Sowohl  die  Angabe  des  Ortes, 
wo  die  Göttin  weilt,  wie  die  Bitte  um  Xvcig  (vgl.  unten  S.  531  Anm.  2)  war 
wohl  im  Hymnus  enthalten,  man  vergleiche  etwa  die  Hymnen  des  Proklos 
oder  Synesios,  hymn.  HI  553  ff. :  6v  dk  QvöLog  sl  .  .  .  ScnoXvs  xaxmv,  a%6- 
Xvs  vÖGoaVf  ccTtoXvB  TiiSccg.  Über  die  Reise  des  Aristides  s.  Wiegand  AM 
XXIX  1904  S.  281—284,  über  die  Artemis  Thermaia  AM  XXXVII  1912 
S.  27  f. 

2  Lehrreich  Welcker  Kl.  Sehr.  III  148—151;  was  ich  RGW  VIII  1 
S.  4  ff.  zusammenstellte,  ließe  sich  leicht  mehren. 


Hymnologica  531 

aufgelöste  Hymnen'  an.^  Dionysos  Av6ios  kennen  wir  aus 
Theben  (Paus.  IX  16,  6),  und  von  da  kam  der  Gott  nach  Ko- 
rinth  (II  2,  6)  und  Sikyon,  und  ebenda  bezeugt  Pausanias  ein- 
heimische Hymnen.^  Von  diesen  ist  Aristides  gewiß  nicht  be- 
einflußt, er  dichtet  jene  Hymnen  inPergamon,  in  Kleinasien,  dessen 
weitausgebreiteten  Dionysoskult ^  er,  der  geborene  Mysier  und 
weitgereiste  Wanderer, natürlich  gut  kennt.  Und  dahin  weist  wieder 
der  orphische  Hymnos  auf  Dionysos  Avöiog  (hymn.  50  Av- 
elov  ATqvaCoVy  v.  2  Xv6i£  dal^ov,  v.  8  Xv6iB\  vgl.  auch  52,  2 
Ni^öts,  Xv6sv),  Die  Prosahymnen  des  Aristides,  seine  Nach- 
richten über  Vershymnen^  die  orphische  und  sonstige  Hymnen- 
poesie des  Synkretismus  und  kleinasiatische  religiöse  Inschriften, 
das  ist  ein  Material,  das  eine  gemeinsame  Verarbeitung  wohl 
verdienen  würde. 


*  Wünsch  173,  28;  ytQOoi(iLa  nannte  sie  deshalb  Apsines,  vgl.  Spengel 
Ehet.  Gr.  1  343.  Aristides  selbst  bezeichnet  den  Prosa-^dyos  auf  Sarapis 
als  liymnos,  362  §  34  tov  ts  v^vov  tovSs.  Seine  Athenapredigt  ist  ein 
Xoyog  .  .  .  /iixTog  Bvxfjs  trs  ticcI  vilvov  304  §  1. 

2  II  7,  6:  ein  Fest  iisrcc  .  .  .  v^vov  i7iixaiQi(ov.  Darüber  und  über  die 
Bedeutung  NonAvciog  vgl.  Nilsson  Griechische  Feste  300 ff.;  auch  Bruch- 
mann Epitheta  deorum  88.  Für  Aristides  ist  Dionysos  natürlich  in  erster 
Linie  als  Erlöser  von  Krankheit  Avöiog,  man  vergleiche  die  Bitte  an 
Artemis  oben  S.  530  Anm.  1  und  den  Traum  440  §  59.  Als  er  schwer  am 
Fieber  darniederlag,  sieht  er  den  Rhetor  Lysias  als  vsccvlöyiov  ovti 
u%aQLv  erscheinen.  Der  Name  wirkt  vorbedeutend:  iXvQ'ri  ro  voari^cc. 
Wieviel  mehr  muß  also  im  Namen  des  Dionysos  Lysios  das  Lösen  von 
Krankheiten  empfunden  werden.  Über  Dionysos  als  Heilgott  s.  EGVV 
Villi  S  28. —  'luTQOs  Kai  Xvßig  xax&v,  ^laöovg  6  XQi6{6rb)S',  6  inl  nav- 
x(siv'®B{6g).  Inschrift  aus  Syrien,  Prentice  Greelz  and  Latin  inscriptions 
1908  (Publ.  of  an  Amer.  Archaeol.  Exped.  to  Syria,  vol.  III)  S.  214  Nr.  251. 

'  Auf  die  sorgfältige  Dissertation  von  Quandt  De  Baccho  in  Asia 
\  minore  culto,  Diss.  Phil.  Hai.  XXI  2  möchte  ich  auch  darum  verweisen, 
weil  sie  die  orphischen  Hymnen  S.  256  ff.  zusammenstellt. 


34* 


II  Berichte 


5  Keligionen  der  Naturvölker  1910—1913 

Allgemeines^ 

Von  K.  Th.  Preuß  in  Berlin 

I.  Methode 

Solange  die  Völkerkunde  bestellt,  hat  das  Sammeln  des 
Materials  aus  den  rasch  dahinschwindenden  primitiven  Kulturen 
weitaus  die  meisten  ethnologischen  Forscher  so  in  Anspruch 
genommen,  daß  ein  Ausblick  auf  die  Gesamtheit  immer  nur 
nebenbei  erfolgte.  Der  methodische  Fortschritt  vollzog  sich 
naturgemäß  in  der  Richtung  des  tieferen  Eindringens  in  die 
Verhältnisse  des  einzelnen  Volkes  und  seiner  kulturellen  Be- 
ziehungen zu  den  Nachbarstämmen.  Die  wenigen  Forscher 
aber,  die  sich  mit  dem  Ganzen  befaßten  und  dann  gewöhnlich 
der  einzelnen  regionalen  Völkerkunde  fernstanden,  begnügten 
sich,  aus  der  Masse  der  neu  gefundenen  Tatsachen  Nebenein- 
anderstellungen vorzunehmen  und  Entwicklungsreihen  aufzu- 
stellen in  der  Annahme,  daß  an  verschiedenen  Stellen  der  Erde 
elementare  Schöpfungen  emporgesproßt  seien  und  sich  ent- 
sprechend der  Umwelt,  dem  Charakter  und  den  Schicksalen 
verschieden  entwickelt  hätten.  Daß  sich  hierbei  trotz  aller 
Fortschritte  befriedigende  Methoden  gebildet  hätten,  kann  man 
angesichts  der  weltumspannenden  kühnen  Fragen,  die  an  die 
Völkerkunde  gestellt  werden,  gar  nicht  erwarten.  Denn  es  ist 
der  Vorzug,  aber  zugleich  der  Fluch  der  Ethnologie,  daß  sie 
von  vornherein  zu  den  weitgehendsten  Fragen  nach  der  allge- 
meinen Entwicklung  der  Menschheit  führt,  während  der  be- 
scheidenen regionalen  Einzelforschung,  die  bei  allen  historisch- 

'  S.  in  diesem  Archiv  XIII  398  ff. 


Religionen  der  Naturvölker  1910 — 1913  533 

philologischen  Wissenschaften  die  Hauptsache  bildet  und  ohne 
die  die  ganze  Völkerkunde  ein  bloßes  Geschwätz  bleiben  würde, 
eine  selbständige  Bedeutung  überhaupt  nicht  zuerkannt  wird, 
sondern  ihr  nur  die  Rolle  als  Teil  eines  Ganzen  zufällt. 

Das  ist  nun  noch  weit  mehr  der  Fall  in  der  neuesten  Rich- 
tung innerhalb  der  Ethnologie,  der  wir  auch  eine  ^Methode' 
verdanken,  freilich  nicht  als  eine  Zurückführung  der  schon  be- 
stehenden Arbeitsweisen  auf  feste  Grundlagen,  sondern  unter 
Verwerfung  des  Vorhandenen,  da  es  wenig  mehr  denn  ^Kurio- 
sitätensammeln'  sei,  als  eine  Rechtfertigung  einiger  extremer 
ethnologischer  Arbeiten  und  als  eine  Aufforderung  zur  Forschung 
für  die  Zukunft. 

Gemeint  ist  das  Büchlein  von  F.  Graebner,  Methode  der 
Ethnologie.^  Diese  behandelt  zunächst  in  sehr  verständiger 
Weise  die  Kritik  der  unmittelbaren  Zeugnisse  (Sammlungs- 
objekte) und  der  Berichte,  wie  man  sie  für  jede  Richtung  in 
der  Ethnologie  brauchen  könnte.  In  dem  zweiten  Abschnitt 
über  die  'Interpretation'  der  Erscheinungen,  d.  h.  die  Frage  ihrer 
Bedeutung,  tritt  aber  bereits  die  Tendenz  der  Schrift  klar  zu- 
tage, indem  die  'Ferninterpretation',  d.  h.  die  Erklärung  einer 
Erscheinung  durch  eine  ähnliche  an  entfernter  Stelle,  nur  dann 
von  Wert  sei,  wenn  beide  Erscheinungen  demselben  Kultur- 
zusammenhang angehören.  Infolgedessen  seien  die  sämtlichen 
Untersuchungen,  die  bis  jetzt  auf  dem  Gebiet  der  vergleichenden 
Religions-,  Rechts-,  Kunstwissenschaft  usw.  gemacht  worden 
sind,  von  sehr  geringem  Wert,  da  sie  zu  sehr  der  individuellen 
Willkür  unterworfen  und  das  Endziel  nur  Vermutungen  seien. 
Durch  bloßen  Zufall  seien  sie  allerdings  nicht  ganz  nutzlos, 
da  die  Forscher  öfters,  bewußt  oder  unbewußt,  das  Haupt- 
gewicht der  Vergleichung  auf  Gebiete  gelegt  hätten,  für  die 
ein  enger  kultureller  Zusammenhang  ohnehin  wahrscheinlich  ist. 

Man  sollte  nun  erwarten,  daß  der  Verfasser  die  Folgerung  aus 

^  Heidelberg  1911.  Kulturgeschichtl.  Bibliothek,  1.  Reihe:  JEthnoL 
Bihl.  I,  XVIII  und  192  Seiten. 


534  ^-  Th.  Preuß 

diesen  durchaus  richtigen  Anschauungen  ziehen  und  jede  Ver- 
gleichung,  abgesehen  von  solcher  auf  geographisch  anstoßenden 
Gebieten,  ohne  weiteres  ablehnen  werde.  Dann  würde  in  der  Tat 
das  dringendste  Bedürfnis  in  der  Ethnologie  gefördert  werden, 
nämlich  einmal  das  wissenschaftliche  Schürfen  auf  kleinem  Raum 
mit  allen  Mitteln  der  Textaufnahmen,  der  Beobachtung  und  der 
technischen  Untersuchung  und  anderseits  die  Feststellung  der 
kulturellen  Durchdringung  und  Verbreitung  an  der  Hand  der 
geographischen  Unterlagen.  Und  jeder,  der  dann  noch  nach 
alter  Art  entfernte  Dinge  vergleicht,  müßte  sich  stets  dessen 
bewußt  bleiben,  daß  sein  Beginnen  nur  ein  Notbehelf  sei,  daß 
er  damit  keineswegs  dauernd  Befriedigendes  geben  könne,  son- 
dern in  subjektiver  Verwertung  des  Materials  den  Fragen  nach- 
gehe, die  ihm  nun  einmal  auf  der  Seele  brennen  und  wohl  nie, 
sicher  aber  nicht  bei  seinen  Lebzeiten,  auch  nur  einigermaßen 
gelöst  werden  können. 

DerVerfasser  ist  aber  nicht  so  grausam,  solche  weitschauenden 
Vergleiche  von  vornherein  zu  verbieten.  Ihm  ist  es  hauptsäch- 
lich darum  zu  tun,  zunächst  einmal  die  herrschende  Idee  einer 
selbständigen  Entstehung  paralleler  Erscheinungen  aus  der  psy- 
chischen Anlage  zu  zerstören  und  dann  mit  großem  Optimis- 
mus an  die  Vergleichung  heranzutreten,  indem  alles,  was  wirk- 
lich als  gleich  erwiesen  wird,  als  Urverwandtschaft  bzw.  Kultur- 
übertragung wieder  in  den  Kreis  der  Betrachtung  hineingezogen 
wird.  Das  nennt  er  ein  objektives  Verfahren  gegenüber  dem 
subjektiven  der  bisherigen  Vergleichung.  Wie  diese  neue  Me- 
thode einwandfrei  durchzuführen  ist,  behandelt  der  dritte  Ab- 
schnitt, die  ^Kombination',  d.  h.  die  Herstellung  der  Kausal- 
zusammenhänge zwischen  den  Einzelerscheinungen,  deren  Ziel 
eine  Entstehungsgeschichte  dieser  Erscheinungen  und  ihrer 
Komplexe  sei,  nämlich  eine  Gesamtgeschichte  der  menschlichen 
Kultur.  Der  Hauptgedanke  darin  ist  die  Herausarbeitung  von 
Kulturkreisen,  d.h.  solchen  Gebieten,  die  eine  Reihe  von  Kultur- 
gütern gemeinschaftlich  haben  und  daher  verwandt  sind.     Ge- 


Religionen  der  Naturvölker  1910—1913  535 

hören  nun  zwei  ähnliche  Erscheinungen  zu  dem  gleichen  Kulfcur- 
kreis,  so  seien  sie  vergleichbar  und  für  die  Entwicklung  der 
Erscheinung  zu  verwerten.  Auf  die  Feststellung  der  zusammen- 
gehörigen Kulturkomplexe  wird  demnach  das  größte  Gewicht 
gelegt.  Der  Verfasser  beschränkt  sich  dabei  aber  nicht  auf  geo- 
graphisch nahe  beieinander  liegende  Gebiete,  sondern  bringt 
auch  kühn  ganze  Erdteile  zu  einem  Kulturkomplex  in  Beziehung, 
wie  aus  seiner  Arbeit  ^Die  Bogenkultur' ^  besonders  deutlich 
hervorgeht,  wo  die  Südsee  sowohl  zu  Amerika  als  auch  zu  dem 
prähistorischen  Europa  in  Beziehung  gebracht  wird.  Es  ist 
aber  noch  nicht  genug,  daß  die  Zugehörigkeit  eines  Objektes, 
sei  es  der  geistigen  oder  materiellen  Kultur,  das  man  vergleichen 
will,  zu  einem  Kulturkreis  nachgewiesen  wird,  es  muß  auch 
festgestellt  werden,  ob  nicht  in  jedem  einzelnen  Verbreitungsfalle 
eine  bloße  Entlehnung  vorliegt  und  welche  Komplexe  von  Ob- 
jekten jünger  oder  älter  sind  als  andere. 

Kurz,  der  Verfasser  möchte  die  Flächenhaftigkeit  der  Tatsachen 
in  der  Völkerkunde  in  ein  historisches  Nacheinander  verwandeln. 
So  rückhaltlos  man  diesen  Bestrebungen  zustimmen  möchte 
und  so  sehr  es  der  Wahrheit  entspricht,  daß  jede  Vergleichung 
erst  nach  der  Feststellung,  ob  ein  Objekt  urverwandt,  entlehnt 
oder  selbständig  entstanden  ist  und  in  welcher  historischen  Be- 
ziehung es  sich  zu  anderen  Kulturgütern  befindet,  —  die  rich- 
iige  Lösung  verspricht,  so  kann  ein  solches  Unternehmen  leider 
nur  in  der  Theorie  Bedeutung  haben.  Die  Erfahrungen,  die 
der  Referent  auf  seinem  Spezialgebiet  mit  solchen  Unter- 
suchungen gemacht  hat,  z.  B.  in  der  Vergleichung  der  mexi- 
kanischen mit  der  Mayakultur  oder  mit  der  nordamerikanischen 
Pueblokultur  oder  mit  der  der  Prärie-  und  Seenstämme,  endeten 
j  zwar  immer  in  der  Überzeugung,  daß  hier  bis  zu  gewissem 
I  Grade  Verwandtschaft  vorliege,  aber  diese  im  einzelnen  fest- 
I  zulegen  oder  die  historische  Schichtung  aufzuzeigen,  erschien 
hoffnungslos.     Deshalb    ist  das  vorgeschlagene  Verfahren  vor- 

^  Anthropos  IV. 


536  ^-  Th.  Preuß 

läufig  selbst  auf  geographisch  beschränkten  Gebieten  nur  unter 
besonders  günstigen  Umständen  möglich.  Man  ist  heute  in  der 
Völkerkunde    sowieso    geneigt,    Zusammenhänge  auf  räumlich 
nicht   weit   entfernt    liegenden    Gebieten    anzunehmen,    sobald 
Ähnlichkeiten  vorhanden  sind.    Im  einzelnen  weiter  führt  uns 
das  aber  auch  noch  nicht,  und  wären  wir  überzeugt,  daß  alle 
Übereinstimmungen  auf  der  ganzen  Welt  auf  Urverwandtschaft 
und  Wanderung  zurückgehen,  so  könnten  wir  zwar  in  Theorien 
schwelgen,   wie   die   Kulturwellen    über  die  Erde  dahingewogt 
sind:  objektive  Forschung  wäre  das  aber  nicht.    Und  will  man 
gar  nachweisen,  wo  der  Totemismus  oder  der  Animismus  ent- 
standen ist  und  wie  er  sich  verbreitet  hat,  so  müßte  man  das  bei 
wohlwollender  Beurteilung  als  Utopie  bezeichnen.    Die  Methode 
ist  das  Ergebnis  des  noch  sehr  geringen  Materials  in  der  Völker- 
kunde.    Die   einzelnen   hervorstechenden  Züge  der  Vergleichs- 
objekte fordern  dazu  heraus.     Man   muß  daher  zunächst  über 
die   bloßen  Vergleichstabellen,    in  denen  die  Vergleichsobjekte 
durch  ein  bloßes  Schlagwort,  z.  B.  Spiralornamentik,  Weberei, 
Bienenkorbhütte,    bezeichnet    werden,    zu    eingehender    Unter- 
suchung jedes  einzelnen  Gegenstandes,   der  Psychologie  seiner 
Entstehung,  Veränderung  usw.  fortschreiten  und  muß  vor  allem 
die    ganze    Kultur,   nicht   nur   das,   was    einem  paßt,  zu  Hilfe 
nehmen,  um  die  Schwierigkeit  dieser  kulturgeschichtlichen  Me- 
thode voll  zu  erfassen.    Nach  Beseitigung  dieser  Kinderkrank- 
heiten wird  man  vielleicht  auf  engerem  Gebiet  dadurch  manches 
Brauchbare    auffinden   können    und  das   Schädliche  vermeiden. 
Denn    es    liegt   eine    große    Gefahr  darin,    daß    zugunsten   des 
systematischen  Vergleichens  die  genaue  Untersuchung  des  Boden- 
ständigen und  die  Auffindung  immer  neuen  sicheren  Materials 
vernachlässigt  wird.  Mag  man  auch  öfters  darin  zu  weit  gehen, 
aus    einer   Fülle   von  Tatsachen    auf  kleinem  Gebiet  die  Ent- 
wicklung   —    unter    Zuhilfenahme   allgemeiner    ethnologischer 
Kenntnisse  —  abzuleiten,  so  fördert  ein  solches  Vorgehen  doch 
immerhin  die  Durchdringung  der  Einzelheiten,  während  es  für 


Religionen  der  Naturvölker  1910—1913  537 

die  bodenständige  Forschung  bedenklich  ist,  bei  jeder  Erschei- 
nung immer  sofort  die  Blicke  nach  anderen  Gebieten  zu  richten^ 
um  eine  Erklärung  zu  gewinnen. 

In  der  Diskussion  über  diese  Theorie  der  Urverwandtschaft 
und  Entlehnung  ist  besonders  ihre  Stellung  zur  selbständigen 
EntstehungausgemeinsamerpsychischerAnlage  behandelt  worden. 
Weitergekommen  ist  man  aber  darin  weder  nach  der  einen  noch 
nach  der  anderen  Seite.  Es  steht  vielmehr,  wie  natürlich,  Be- 
hauptung gegen  Behauptung,  und  jeder  kann  nach  Geschmack 
beim  einen  wie  beim  anderen  beharren.  Es  seien  hier  nur  die 
entsprechenden  Vorträge  auf  der  42.  Versammlung  der  Deut- 
schen Anthropologischen  Gesellschaft  in  Heilbronn  erwähnt^,  wo- 
B.  Anker  mann  die  Lehre  von  den  Kulturkreisen  in  einem  für 
Graebner  günstigen  Sinne  beurteilt  hat,  während  M.  Haber-^ 
landt.  Zur  Kritik  der  Kulturkreislehre,  und  Fritz  Krause,. 
Amerika  und  die  Bogenkultur,  dagegen  sprachen.  Im  allgemeinen 
ist,  wie  gesagt,  die  Stimmung  innerhalb  der  Völkerkunde  über- 
haupt dagegen. 

Noch  vor  Graebners  ^Methode'  sind  die  Gedanken  an  weit- 
gehende Kulturverwandtschaft  und  Übertragung  im  Gegensatz 
zum  ^  Elementargedanken'  mehrfach  angewandt  worden,  und  es 
wurde  daher  schon  1906  eine  geographische  Preisaufgabe  von 
der  Technischen  Hochschule  in  München  über  die  Berechtigung 
dieser  Theorie  gegenüber  der  Übertragungstheorie  gestellt,  was- 
an  den  neueren  Untersuchungen  über  Mythologie  und  Zähl- 
und  Rechenmethoden  erörtert  werden  sollte.  Dieser  Auf- 
gabe hat  sich  Julius  Eisenstädter  in  einer  Erstlingsarbeit 
^Elementargedanke  und  Übertragungstheorie  in  der  Völkerkunde'^ 
unterzogen,  die  erst  1912  gedruckt  ist,  aber  das  nach  1906 
Erschienene  nicht  mehr  berücksichtigt.  Da  Mythen  und  Zähl- 
methoden infolge  ihrer  verzweigten  Differenzierung  sehr  geeignet 

1  Korrespondenzhlati  d.  JDtsch.  Ges.  f.  A.,  E.  u.  U.  XLII  1911  S.löö, 
bis  173. 

2  Stuttgart  1912. 


538  ^-  "^^^  P^e^ß 

für  eine  praktische  Förderung  dieser  Streitfrage  sind,  so  wäre 
es  an  sicli  interessant,  zu  sehen,  bis  zu  welcher  Grenzlinie  beide 
Parteien  hierin  gehen.  Eisenstädter  macht  sich  bezüglich  der 
Mythen  die  Aufgabe  insofern  leicht,  als  er  besonders  die  von 
Frobenius,  Das  Zeitalter  des  Sonnengottes,  gesammelten  Motive 
zur  Grundlage  der  Diskussion  macht:  Jungfraumuttermjthus, 
Mädchenangelmythen,  Sonnenfang  in  der  Schlinge,  Schwanen- 
jungfrau.  Gewandverbrennen,  Augen diebstahl  und  Heilung  der 
blinden  Frauen.  Gegenüber  den  schrankenlosen  Wanderungs- 
hypothesen von  Frobenius  macht  der  Verfasser  meistens  mit  Ge- 
schick die  selbständige  Entstehung  wahrscheinlich,  indem  er 
das  geographische  Gebiet  der  besonderen  Ausführung  jedes 
Motivs  scharf  umgrenzt  und  die  Grundidee  selbständiger  Ent- 
stehung zuweist.  Selbstverständlich  ist  damit  das  letzte  Wort 
darüber  nicht  gesprochen.  Denselben  Standpunkt  nimmt  er 
gegenüber  den  Zähl-  und  Rechenmethoden  ein. 

Im  anderen  Sinne  hat  die  Vereinigung  der  historischen  und 
vergleichenden  Methode  Goblet  d'Alviella  in  seinem  auf  dem 
IV.  Internationalen  Religionskongreß  in  Leiden  gehaltenen  Vor- 
trage Du  concours  qwe  doivent  se  preter  mutuellement  dans  la 
science  des  religions  la  methode  historique  et  la  methode  compara- 
tive^  befürwortet.  Die  historische  Methode  bezieht  sich  für  ihn 
auf  das  Gebiet  der  Kulturvölker,  die  vergleichende,  flächenhafte 
auf  das  der  Naturvölker,  dem  er  —  besonders  den  Angriffen  in 
F  o  Vi cart  8  Histoire  des  religions  et  methode  comparative,  2^^  edition 
1912^  gegenüber  —  in  vollem  Maße  die  ihm  gebührende  Be- 
rücksichtigung zuweist. 

Am  besten  betrachtet  man  auch  das  besonders  für  den  Re- 
ligionsforscher wichtige  Buch  von  L.  Levy-Bruhl  Les  fonc- 
tions  mentales  dans  les  societes  inferieures^  unter  dem  Gesichts- 
punkt eines  Beitrags  zur  Methode,  denn  die  Untersuchung  der 

^  Actes  du  congres  1913  S.  57—63. 
'  Vgl.  Archiv  XIII  S.  399. 
8  Paris  1910.     461  Seiten  8^ 


Religionen  der  Naturvölker  1910 — 1913  539 

Oeistesfunktionen  in  der  primitiven  Gesellscliaft  führt  zu  einer 
allgemeinen  psychisclien  Beurteilungsweise  der  Erscheinungen, 
die  von  unserer  gewöhnlichen,  auf  Grund  unserer  eigenen  Denk- 
operationen vorgenommenen,  erheblich  abweicht  und  deshalb, 
ihre  Richtigkeit  vorausgesetzt,  stets  angewendet  werden  müßte. 
Wie  zu  erwarten  ist,  wird  in  dem  Buche  nicht  vollkommen 
neues  geboten,  aber  durch  die  Energie,  mit  der  die  ^prälogische', 
synthetische,  kollektive  Vorstellungsweise  an  Stelle  unserer  lo- 
gischen, analytischen,  kontradiktorischen  beleuchtet  und  nach 
allen  Seiten  an  zahlreichen,  gut  ausgewählten  Beispielen  aus 
der  Völkerkunde  durchgeführt  wird,  dürfte  es  dazu  beitragen, 
daß  wir  noch  mehr  als  bisher  dem  Standpunkt  der  Primitiven 
gerecht  werden.  In  der  Hauptsache  wandelt  der  Verfasser  die 
Bahn,  die  durch  die  Vertreter  des  Präanimismus  eingeleitet  ist, 
indem  er  ausführt,  daß  die  Naturvölker  nicht  eine  Begründung 
für  alles  und  jedes  verlangen  und  durch  assoziative  Elemente 
zu  logischen  Schlußfolgerungen  kommen,  sondern  ohne  weiteres 
Zusammengehörigkeiten  heterogener  Dinge  annehmen,  die  zu- 
gleich stets  einen  mystischen  Inhalt  haben.  Er  nennt  diese  prä- 
logischen Verbindungen  zwischen  den  Dingen,  vermöge  deren 
sie  für  sich  bestehen  und  zugleich  in  anderen  Objekten  wirken 
können,  la  loi  de  participation.  Ich  selbst  habe  früher  in  ähn- 
lichem Sinne  von  *  Verwandlungen'  gesprochen  (Globus,  Bd.  87 
S.  380).  Daher  tritt  Brühl  auch  mit  besonderer  Schärfe  der 
nach  unserer  Denkart  aufgebauten  animistischen  Theorie  E.  B. 
Tylors  entgegen,  indem  er  das  Aufkommen  der  Idee  einer 
Seele  für  verhältnismäßig  spät  erklärt.  Der  Begriff  ^kollektive 
Vorstellung'  bezieht  sich  bei  ihm  auf  das  soziale  Denken  der 
Naturvölker  im  Gegensatz  zum  Denken  des  Individuums  bei 
uns,  und  dementsprechend  wird  dem  Gedächtnis  der  Naturvölker 
«ine  besondere  Stellung  zugewiesen.  Der  Vorzug  des  Werkes 
liegt  darin,  daß  das  Gesetz  der  Partizipation  in  alle  Lebens- 
verhältnisse und  Tätigkeiten  hinein  im  einzelnen  verfolgt  und 
auch  die  Sprache  und  die  Zählmethoden  hineingezogen  werden. 


540  ^-  Tb.  Preuß 

Ein  Nachteil  ist  es  aber,  daß  bei  allen  Gruppen  von  Beispielen 
immer  nur  die  Erklärung  erfolgt,  daß  eine  participation  vor- 
liegt und  daher  dieses  Wort  schließlich  nur  noch  wie  ein  Schlag- 
wort wirkt.  Es  geht  daraus  hervor,  daß  das  Ergebnis  mehr 
negativ  ist  in  dem  Sinne  einer  Art  Warnung,  mit  welchen  Ge- 
danken man  nicht  an  die  Naturvölker  herantreten  dürfe.  Auch 
die  teilweise  künstliche  Isolierung  ihrer  Geistesfunktionen  gegen- 
über den  unserigen,  obwohl  sie  dem  Verfasser  bewußt  ist,  wirkt 
störend.  Man  kann  doch  nicht  sagen,  daß  es  da  nur  einen 
Gegensatz  gibt,  sondern  man  muß  auch  die  Übereinstimmungen 
und  die  gemeinsame  Grundlage  heranziehen. 

Es  ist  charakteristisch  und  erfreulich,  daß  das  Streben  nach 
psychologischer  Vertiefung  sich  nicht  mehr  mit  dem  Beschreiben 
dessen  begnügt,  was  dem  Forschungsreisenden  an  Beobachtungs- 
ergebnissen aufstößt,  sondern  daß  der  Versuch  gemacht  wird, 
die  geistische  Beschaffenheit  in  dem  Verlauf  einer  Tätigkeit 
möglichst  klarzustellen  und  auch  absichtliche  Problemstellungen 
experimentell  zu  untersuchen.  Als  ein  solches  nachahmens- 
wertes Beispiel  von  allgemeinerer  Bedeutung  hebe  ich  heraus 
RichardThurnwald,Ethno-psychologische  Studien  an  Südsee- 
völkern auf  dem  Bis marck -Archipel  und  den  Salomo- Inseln.^ 
Die  meisten  Versuche  haben  zwar  keine  direkte  Beziehung  zur 
religiösen  Forschung,  wie  z  B.  die  Messung  der  Druckfähig- 
keit der  rechten  und  linken  Hand,  wobei  die  Unterschiede  sich 
nicht  so  groß  erwiesen  wie  bei  uns  und  Doppelhändigkeit  das 
Gewöhnliche  war;  der  Farbensinn  und  die  Farbenbezeichnungen; 
die  Aufmerksamkeit  und  Merkfähigkeit;  Suggestion;  Fort- 
pflanzen von  Berichten  u.  dgl.  m.  Man  darf  freilich  nicht  ver- 
gessen, daß  Versuche,  die  die  Intelligenz  des  Individuums  be- 
treffen, zudem  sehr  von  dem  Interesse  des  Versuchsobjekts  ab- 
hängen und  auch  insofern  Fehlerquellen  unterworfen  sind,  als 
die  Methoden  eher  in  das  Milieu  .weißer  Versuchspersonen  ge- 

'■  Leipzig  1913  Beihefte  z.  Ztschr.  f.  angewandte  Psychol.  u.  psychol. 
Sammelforschung  6,  163  Seiten  S**  u.  21  Taf 


Religionen  der  Naturvölker  1910 — 1918  541 

hören,  auf  die  man  doch  die  gewonnenen  Ergebnisse  schließ- 
lich des  Vergleichs  wegen  reduzieren  muß.  Dasselbe  muß  be- 
sonders auch  von  den  Versuchen  des  Zeichnens  gesagt  werden. 
Diese  sind  um  so  wichtiger,  je  mehr  die  Versuche  der  land- 
läufigen Art  der  Darstellung  und  dem  autochthonen  Motiven- 
schatz entsprechen,  während  Bleistiftzeichnungen  und  neue 
Motive  mehr  eine  bloße  Prüfung  der  Auffassungs-  und  Charak- 
terisierungsfähigkeiten sind.  Deshalb  sind  die  psychologischen 
Betrachtungen,  die  der  Verfasser  an  den  tatsächlich  einheimi- 
schen ortsüblichen  Zeichnungen  und  den  plastischen  Figuren, 
Masken  usw.  angestellt  hat,  die  wichtigsten.  So  gehen  manche 
auf  die  Nachbildung  der  Leiche  und  des  Schädels  zurück. 
Ferner  ist  die  Prüfung  tatsächlicher  Verhältnisse,  z.  B.  des  Ge- 
fühls der  Verwandtschaft  gegenüber  dem  einzelnen  und  der 
Gruppe,  der  Kenntnis  der  Metamorphosen  der  Tiere  (die  Ent- 
wicklung der  Puppe  aus  der  Raupe  ist  nicht  bekannt),  der 
magischen  Identifizierung  zwischen  heterogenen  Objekten,  der 
Grenzen  zwischen  Zaubereigenschaft  und  gewöhnlicher  Kausa- 
lität, des  Zurückreichens  historischer  Tradition,  des  logischen 
I  Denkens  und  vieles  anderen,  wie  es  der  Verfasser  in  Betracht 
'gezogen  hat,  sehr  wohl  eines  weiteren  erfolgreichen  Ausbaues 
lin  der  Ethnologie  fähig. 

II.  Gesamtdarstellungen 
I  In  den  Gesamtdarstellungen  der  Religion  haben  wir  einige 
1  erfreuliche  Erscheinungen  zu  verzeichnen,  weil  sie  das  Ergebnis 
leingehender  Untersuchungen  sind.  Ich  rechne  in  erster  Linie 
jdazu  P.  W.  Schmidt,  Der  Ursprung  der  Gottesidee,  eine  histo- 
risch-kritische und  positive  Studie,  I.  Historisch -kritischer 
fTeil^,  der  von  einem  Ethnologen  geschrieben  ist.  Die  Aus- 
führungen fanden  sich  bereits  in  französischer  Sprache  im  An- 
•thropos  III — V,  1908 — 1910,  und  sind  jetzt  vervollständigt 
iworden.  Der  vorliegende  Teil  beschäftigt  sich  aber  noch  nicht 

'  Münster  1912.     XXIV  und  500  Seiten. 


542  ^  Th.  Preuß 

mit  der  Heranbringung  'positiven'  Materials,  ausgenommen  für 
die  höclisten  Götter  Südostaustraliens,  worüber  bereits  von 
W.  Foy  in  diesem  Archiv  (XV  S.  492 ff.)  von  facbmänniscbem 
Standpunkt  geurteilt  worden  ist.  Foy  hat  hier  besonders  be- 
tont, daß  naturmythologische  Züge  zu  den  höchsten  Göttern 
gehören,  so  daß  von  einer  reinen  alten  Gottesidee,  wie  Schmidt 
sie  aufstellt,  keine  Rede  sein  kann.  Der  sonstige  Inhalt  bringt 
eine  sehr  eingehende  Kritik,  und  nicht  nur  das,  sondern  auch 
eine  übersichtliche  Darstellung  sämtlicher  religiöser  Theorien 
über  die  Naturvölker  bis  zu  den  neuesten  präanim istischen,  so 
daß  man  sehr  gut  daraus  einen  Überblick  über  diese  gewinnen 
kann.  Allerdings  darf  man  von  dem  Verfasser  nicht  das  Menschen- 
unmögliche verlangen.  Denn  da  er  zugleich  ein  temperament- 
voller Vertreter  einer  eigenen  Meinung  ist,  deren  endgültige 
Gestaltung  er  freilich  erst  von  eingehenden  Einzeluntersuchungen 
abhängig  sein  lassen  will,  kann  es  nicht  ausbleiben,  daß  trotz 
alles  objektiven  Bemühens  und  alles  Eindringens  in  die  Einzel- 
heiten die  Sehnsucht  durchscheint,  überall  Beweisgründe  für 
die  eigene  Meinung  zu  sehen  und  andere  Anschauungen  trotz 
mancher  Anerkennung  im  einzelnen  bedenklich  zu  finden.  Das 
dämpft  bei  diesem  kritischen  Bande  die  Freude,  daß  ein  ge- 
wissenhafter Forscher  das  ganze,  nicht  wenig  umfangreiche 
Material  der  Theorien  durchgearbeitet  hat,  woran  es  bis  jetzt 
durchaus  fehlte.  Was  nun  seine  eigene  Meinung  anbetrifft,  so 
tritt  der  die  objektive  Betrachtung  erschwerende  Umstand 
hinzu,  daß  das  Hauptgewicht  auf  die  Nachrichten  über  einen 
höchsten  Gott  auf  primitivster  menschlicher  Stufe  gelegt  wird, 
dem  Eigenschaften  der  Moral,  Güte,  Allmacht,  Allwissenheit 
u.  dgl.  m.  bei  geringem  oder  gar  keinem  Kulte  zugeschrieben  wer- 
den, während  die  weit  zahlreicheren  Berichte  über  das  gewöhn- 
liche magisch-religiöse  Leben  der  Naturvölker  als  etwas  Spä- 
teres, mit  der  Idee  des  höchsten  Gottes  zunächst  nicht  Zu- 
sammenhängendes behandelt  werden.  Die  erstere  hat  dem  Ver- 
fasser nach  ihre  eigene  Psychologie,  und  diese  Isolierung  vom 


Reli^onen  der  Naturvölker  1910—1913  543 

Übrigen  Material  ist  ihr  Grundfehler:  Die  Gottesidee  sei  eben 
die  einfachste,  ursprüngliche  Idee  von  der  persönlichen  Ur- 
sache, bedürfe  deshalb  keiner  weiteren  Erklärung,  man  brauche 
sie  keiner  Uroffenbarung  zuzuschreiben,  aber  auch  die  Ethno- 
logen dürften  nichts  dagegen  einzuwenden  haben,  wenn  außer 
der  gewöhnlichen  psychologischen  Entstehung  dieser  Idee  noch 
eine  Uroffenbarung  angenommen  werde,  denn  man  könne  nicht 
unterscheiden,  was  dem  einen  oder  anderen  zugeschrieben  wer- 
den muß.  Diese  Idee  als  etwas  siii  gmeris  erklären,  wie  es 
Andrew  Lang,  ihr  Entdecker  oder Yerkündiger  tat,  oder  sie 
einer  Uroffenbarung  zuschreiben,  muß  für  den  Ethnologen 
völlig  dasselbe  sein,  und  das  ist  auch  bisher  der  sehr  berech- 
tigte Grund  gewesen,  weshalb  die  monotheistischen  Theorien 
Andrew  Längs  wenig  Beachtung  gefunden  haben. 

Wie  sehr  dem  Verfasser  die  Theorie  eines  'präanimistischen 
Monotheismus',  dem  wir  noch  später  an  einem  Beispiel  näher 
treten  werden,  am  Herzen  liegt,  ergibt  sich  rein  äußerlich  dar- 
aus, daß  er  ihr  fast  zwei  Drittel  seines  Buches  widmet  (S.  105 
bis  411).     Aber    auch    für   die    anderen  Theorien   hat   er  ent- 
sprechend   seiner    Stellung,    wie    sie   seine  Gottestheorie  nach- 
träglich unterstützt  hat,  mehr  oder  weniger  übrig.  Dazu  kommt 
noch,  daß  seiner  Definition  nach  die  Religion  ^die  Anerkennung 
eines  oder  mehrerer  persönlicher,  über  die  irdischen  und  zeit- 
lichen Verhältnisse   hinausragender  Wesen   und   das  sich  Ab- 
I  hängigfühlen    von    denselben'    ist.     Deshalb    hat   für   ihn    der 
i  Animismus  eine  große  Bedeutung,  denn  durch  den  Animismus 
'  sei    erst    die    Geistnatur    des  präanim istischen  höchsten  Gottes 
!  geschaffen.     Doch  bemüht  er  sich,  auch  der  Zauberei,  obwohl 
sie  ihm  etwas  Unorganisches  ist,    Interesse    zu    beweisen   und 
behandelt  demgemäß  auch  die  von  ihm  so   genannten  ^präani- 
;  mistischen    Zaubertheorien',   als    deren  ersten  Vertreter  er  mit 
,  Recht  J.  H.  King  Tlie  Supernatural,  its  Origin,  Natur e  and  Evo- 
lution, 2  Bde.,  1892  rechnet,  der  von  den  Präanimisten  selbst 
unbeachtet  geblieben  ist.  Der  Ausdruck  'präanimistische  Zauber- 


544  K.  Th.Preuß 

theorie'  hat  nur  insofernr  Berechtigung,  als  die  Zauberei  in 
eine  organische  Verbindung  mit  der  Religion  gebracht  ist, 
während  daneben  sowohl  im  Anfang  als  auch  im  Verlauf  der 
Entwicklung  ebenso  andere  Faktoren  auftreten  wie  bei  anderen 
religiösen  Theorien.  Es  ist  nun  bezeichnend,  daß  der  Gegen- 
satz zwischen  dem  Verfasser  und  dem  Präanimismus  sich  eigent- 
lich nur  auf  die  grundlegenden  Momente  beschränkt,  die  für 
seine  Theorie  notwendig  sind,  und  selbst  da  kommen  die  Gegen- 
sätze zum  Teil  nur  künstlich  zur  Geltung,  indem  sich  P.  Schmidt 
nicht  an  das  Ganze  der  Auffassung  eines  Autors,  sondern  an 
die  einzelne  Schrift  und  darin  wieder  an  den  Wortlaut  einzel- 
ner Sätze  hält,  was  besonders  deshalb  mißlich  ist,  weil  fast 
alle  besprochenen  präanimistischen  Arbeiten  gedrängte,  nur 
Teilgebiete  behandelnde  Skizzen  sind.  Der  Gegensatz  ist  wohl 
auch  auf  dem  Wege  zu  erklären,  daß  die  Literatur  der  letzten 
Jahre^  nicht  mehr  berücksichtigt  ist.  So  bedingt  die  im  Vor- 
dergrund der  Schmidtschen  Theorie  stehende  göttliche  Persön- 
lichkeit den  Einwurf,  daß  der  Präanimismus  den  Begriff  der  Per- 
sönlichkeit und  die  persönliche  wie  natürliche  Kausalität  im  An- 
fang nicht  berücksichtige.  Projizierung  der  eigenen  Persönlichkeit 
in  viele  scheinbar  belebte  Naturobjekte,  die  der  Verfasser  (S.  96) 
allerdings  mit  Tylor  als  Anfang  der  Naturbeseelung  auffassen 
möchte,  ist  dem  Präanimismus  keineswegs  fremd.  Vielmehr 
bildet  diese  Personifikation  —  doch  ohne  den  animistischen 
Geistgedanken  —  auch  für  den  Präanimisten  mit  die  Grund- 
lage der  Götterentwicklung.  Deshalb  ist  ihm  auch  die  Willens- 
kausalität nicht  fremd  und  ebensowenig  die  natürliche  Kausa- 
lität, denn  wenn  ich  z.  B.  sage,  daß  im  Anfang  magische  und 
rationelle  Handlungen  vollständig  durcheinandergehen  (Globus 
Bd.  87  S.  418),   so    steht    eben    von  Anfang    an  die  Magie  im 


^  Z.  B.  S.  Hartland  im  Report  of  fhe  British  Ässoc.  for  the  Ädcan- 
cement  of  Science,  York  1906;  s.  Archiv  XIII  S.  425 f,  meine  Ausfüh- 
rungen ebenda  S.  430.  433.  Bedauerlich  ist  auch,  daß  das  oben  be- 
sprochene Werk  von  Levy-Bruhl  nicht  herangezogen  ist. 


Religionen  der  Naturvölker  1910—1913  545 

Kampf  mit  der  natürlichen  Kausalität,  und  letztere  setzt  sich 
naturgemäß  für  gewohnheitsmäßige  Wirkungen  durch,  aller- 
dings ohne  Gewähr  für  erneute  Erfassung  durch  die  magische 
Auffassung.  Der  Präanimismus  will  durchaus  nicht  die  un- 
persönliche Kraft,  das  'Sachliche',  zur  Alleinherrschaft  in  der 
Keligion  bringen,  sondern  dieser  Kraft  nur  die  ihr  neben  den 
übrigen  Faktoren  gebührende  Stelle  zuweisen.  Wenn  nun  noch 
Schmidt  zugibt  (S.  480),  'daß  die  Magie  in  mehreren  ihrer 
Formen  des  Animismus  nicht  erst  bedurfte,  um  ins  Leben  zu 
treten,  und  daß  deshalb  zum  wenigsten  die  Vermutung  sehr 
nahe  liegt,  daß  sie  nicht  bloß  ohne  ihn,  sondern  vor  ihm  ent- 
standen seien',  so  ist  dadurch  die  Grundlage  für  eine  frucht- 
bare Diskussion  zwischen  scheinbar  extremen  Gegensätzen  ge- 
funden. Neigt  der  Verfasser  dazu,  die  Magie  in  der  Religion 
als  Anrufungen  und  Symbole  aufzufassen,  während  die  Prä- 
animisten  sagen:  'Es  ist  Magie,  aber  zum  Teil  als  Gottesdienst 
unter  göttliches  Gebot  gestellt',  so  muß  man  eben  durch  ein- 
wandfreie Materialbeschaffung  und  Untersuchung  im  einzelnen 
weiterzukommen  suchen.  Man  darf  bei  der  Gewissenhaftigkeit 
des  Verfassers  hoffen,  daß  er  sich  ebensowenig  wie  die  Ethno- 
logen überhaupt  in  eine  allgemeine  Theorie  verbohren  wird,  die 
doch  nur  ein  vorläufiges  Gerüst  sein  kann,  um  die  gefundenen 
Bausteine  aneinanderzupassen. 

In  diesem  Sinne  ist  auch  die  kleine  Schrift  aufzufassen,  die 
der  Referent  infolge  einer  Aufforderung  der  Verlagsbuchhand- 
lung über  das  geistige  Leben  des  geschichtslosen  Men- 
schen für  die  Sammlung  'Aus  Natur  und  Geisteswelt' ^  ge- 
schrieben hat.  Es  erübrigt  sich  infolgedessen,  auf  manche  an- 
deren Ausstellungen  von  P.  Schmidt  gegen  den  Präanimismus 
hier  einzugehen,  da  dort  eine  gewisse  Abrundung  meiner  ersten 
Abhandlung  'Ursprung  der  Religion  und  Kunst'  ^  geboten  wird, 
indem  einige  nicht  genügend  belegbare  Meinungen  aufgegeben 
sind   und  mehr   das    Ganze,  einschließlich  der  primitiven  Idee 

1  Leipzig  1912.         *  Globus  Bd.  86/7,  1904/5 

Archiv  f.  Religionswissenschaft  XVII  35 


546  K-  Th.  Preuß 

eines  höchsten  Wesens,  in  seinen  verschiedenen  Seiten  nach 
dem   Stande    der   augenblicklichen  Kenntnisse  beleuchtet  wird. 

In  dem  Buche  von  P.  Schmidt  fällt  es  auf,  mit  welcher 
Sicherheit  er  seine  Idee  eines  präanimistischen  Monotheis- 
mus exakt  zu  beweisen  hoflFt.  Für  solche  frühen  Zeiten  der 
Menschheit,  für  die  selbstverständlich  nur  Annäherungswerte 
zu  erlangen  sind,  kann  es  zwar  eine  entschiedene  Überzeugung 
von  der  Wahrheit  der  eigenen  Meinung  geben,  wie  sie  der  Ver- 
fasser besitzt,  aber  er  muß  sich  dessen  bewußt  bleiben,  daß 
das  Material  nicht  ausreicht.  Daß  dies  aber  bei  P.  Schmidt 
nicht  der  Fall  ist,  zeigt  sein  Buch  'Die  Stellung  der  Pjgmäen- 
völker  in  der  Entwicklungsgeschichte  des  Menschen'^,  das  der 
Typus  einer  Beweisführung  zugunsten  des  höchsten  Wesens  ist. 
Freilich  der  Unterschied  zwischen  Wollen  und  Können  ist  dem 
Verfasser  nicht  ganz  unbewußt  geblieben,  da  er  nach  einer 
Äußerung  in  der  Vorrede  des  vorhin  besprochenen  Werkes  die 
Untersuchung  wiederholen  will,  sobald  mehr  neuere  Literatur 
vorliegt.  Die  Pygmäenstämme  Afrikas  und  Asiens,  von  denen 
er  die  Andamanesen,  Semang,  die  Negritos  der  Philippinen, 
die  zentralafrikanischen  Pygmäen  und  die  Buschmänner  be- 
handelt, stellt  er  als  die  primitivste  Urrasse  hin,  die  älter  sei 
als  die  Quartärmenschen  Europas,  obwohl  eine  Verwandtschaft 
der  Stämme  untereinander  in  keiner  Weise  nachgewiesen  ist, 
und  demgemäß  betrachtet  er  seine  Erörterung  ihrer  physischen 
Merkmale  und  ihrer  Kultur,  die  das  alles  beweisen  soll,  als 
eine  Studie  nach  exakt  historischer  Methode.  Die  Primitivität 
wird,  wie  gesagt,  sowohl  durch  anthropologische  Merkmale,  be- 
sonders Brachycephalie  und  Kraushaarigkeit,  als  auch  durch  den 
ethnologischen  Kulturbesitz,  da  er  jünger  sei  als  der  austra- 
lische, 'bewiesen'. 

Was  das  erstere  betrifft,  so  ist  bereits  von  einem  anthro- 
pologischen Fachmann,  J.  Czekanowski^,  nachgewiesen  worden, 

^  Stuttgart  1910.    XI  und  315  Seiten. 
«  Zeitschr.  f.  Ethnol.  1910  S.  830  f. 


Religionen  der  Naturvölker  1910 — 1915  547 

daß  Kurzköpfigkeit  und  Kraushaarigkeit,  die  nur  bei  den  Pyg- 
mäen vorkommen  sollen,  auch  bei  großwücbsigen  Menschen, 
nämlich  den  östlichen  Bantu,  vorhanden  sind.  Ebenso  kann 
ich  den  *  Beweis'  aus  dem  materiellen  Kulturbesitz,  z.  B.  daß 
die  Pygmäen  die  Erfinder  von  Bogen  und  Pfeil  sind,  nur  denen 
überlassen,  für  die  die  geringsten  Anhaltspunkte  zur  exakten 
Lösung  der  schwersten  Probleme  genügen.  Für  uns  haben  nur 
—  soweit  man  bei  diesen  Prämissen  noch  von  Interesse  sprechen 
kann  —  die  Folgerungen  des  Verfassers  für  das  religiöse  Leben 
Interesse.  Da  die  Pygmäen  sich  bei  aller  Einfachheit  ihres 
Kulturbesitzes  durch  Intelligenz,  hochstehende  Sittlichkeit,  Mono- 
gamie, Friedfertigkeit,  Wahrheitsliebe,  soziale  Fürsorge  und 
eine  Reihe  anderer  Tugenden  auszeichnen  und  ihre  Religion 
in  einem  ethischen  Monotheismus  bestehe,  so  glaubt  der  Ver- 
fasser in  diesem  Buche  über  ein  ungeheueres  Leichenfeld  der 
bisherigen  Theorien  zu  schreiten  —  so  ähnlich  drückt  er  sich 
aus  — ,  denn  sie  alle,  die  ja  nicht  historisch  oder  evolutioni- 
stisch,  sondern  ideologisch  seien,  müßten  nun  fallen.  Schade 
nur,  daß  der  Ethnologe,  der  an  sehr  vielen  Naturvölkern  ein 
sittliches,  den  Forscher  herzlich  berührendes  Verhalten  neben 
minder  erfreulichen  Zügen  findet,  an  dem  monotheistischen 
Rausche  des  Verfassers  bei  dem  Mangel  an  Nachrichten  über 
die  Pygmäen  und  seinen  gewaltsamen  Versuchen,  alles  Störende 
fortzuinterpretieren,  nicht  teilhaben  kann.  Ein  klassisches  Bei- 
;  spiel  bilden  die  Andamanesen,  über  die  noch  die  meisten  Nach- 
richten von  drei  Gewährsmännern  vorliegen.  Wie  da  nicht  nur 
bewiesen  wird,  daß  alle  mythologischen  Züge  zu  dem  höchsten 
Wesen  Puluga  erst  später  hinzugekommen  sind,  und  wie  trotz 
der  nur  gedanklichen  Beziehungen  der  Menschen  zu  ihm  durch- 
aus auch  Verehrung,  ein  Primi tialopfer  an  Früchten,  Gebete, 
iLiebe  und  Dankbarkeit  nachgewiesen  werden,  oder,  wo  die 
'[Quellen  das  Gegenteil  bekunden,  der  Satz  zu  Hilfe  genommen 
wird,  daß  die  Quellen  hier  nicht  ausreichen  —  das  mag  man 
selbst   nachlesen    (S.  192  ff.).     Daß    er  nicht  geboren   und  un- 

i  •       35* 


548  K-  Th.  Preuß 

sterblich,  Schöpfer,  *  scheinbar'  allwissend  und  allmächtig,  gütig, 
Lehrer  des  Volkes  und  Hüter  der  sittlichen  Ordnung  ist,  dürfte 
so  lange  nicht  merkwürdig  erscheinen,   als  authentische  Texte 
zeigen,   daß  damit  Auffassungen  verbunden  sind,  die  über  das 
gewöhnliche  Vorkommen  solcher  Formulierungen  bei  beliebigen 
Gottheiten  vieler  anderer  Kulturvölker  hinausgehen.  Auch  was 
der  Verfasser  als  Primitialopfer  anspricht,   das   Nichtgenießen 
junger  Früchte  bis  zu  gewissem  Zeitpunkt,  ist  doch  etwas  sehr 
Gewöhnliches,  aber  es  dürfte  schwer  sein,  immer  den  Ursprung 
anzugeben.     Es  wäre  auch  zu  erwägen,  ob  die  teilweise  einen 
biblischen   Anstrich    verratende    Erzählung   von  Puluga  nicht 
gewandert  ist.   Die  'historische  Methode'  arbeitet  ja  auch  sonst 
so  sehr  mit  Übertragungen  und  Schichtungen.  Als  Entstehung 
des  Gottes  Puluga  und  ähnlicher  höchster  Wesen  möchte   ich 
dem  Verfasser  vorschlagen,  große  flächenhafte  Gebilde,  wie  den 
Nacht-  oder  den  Taghimmel,  als  Personifikationen  anzunehmen. 
Solche  Personifikationen  sind  früh  möglich,  wie  ich  schon  in 
meiner   Nayarit  -  Expedition  S.  LXIX    und    in    dem  vorhin  er- 
wähnten Büchlein  ausgeführt  habe;  die  Gottheiten  würden  sich 
auf  natürliche  Weise  in  das  übrige  Pantheon  einordnen,   ihre 
Verbindung    mit   Elementen    der   Natur,  Wind,   Blitz,   Feuer. 
Himmel,  Gestirnen  usw.,  würde  sehr  gut  zu  verstehen  sein,  und 
ebenso  ihre  Weltferne  und  Güte  und  das  Schweben  über  dem 
Ganzen   ohne   praktisches    religiöses    Band.     Freilich,    "^exakt- 
historisch'  wäre  das  nicht,  aber  nach  den  bisher  vorliegender 
Proben    muß    man   vor    der   'exakten   Historie'    in  der  Ethno- 
logie, namentlich  sobald  sie  sich  über  weite  Gebiete   ausdehnt 
Furcht  haben.     Hoffen  wir   daher,   daß  auch  der  zweite  Banc 
des  'Ursprungs  der  Gottesidee'  weniger  'historisch'  ist,  als  de- 
Verfasser in  Aussicht  stellt,  und  wir  die  vom  Verfasser  beizu 
bringenden,  jedenfalls  sehr  beachtenswerten  Tatsachen  als  bloß' 
evolutionistische    oder,   wie  er  sagt,  ideologische  Schichtungei 
ohne  Kopfschütteln  über  unhaltbare  historische  Prämissen  ge 
nießen  können. 


Religionen  der  Naturvölker  1910—1913  549 

In  dem  Buche  von  H.  Vis  eher,  Religion  und  soziales  Leben 
bei  den  Naturvölkern^,  lernen  wir  die  Auffassung  eines  Theo- 
logen kennen,  was  sich  aber  nicht  durch  Konstruktionen,  son- 
dern nur  durch  gelegentliche  Bezugnahmen  bemerkbar  macht. 
Um  jedoch  vorurteilslos  dem  religiösen  Leben  nachgehen  zu 
können,  das  sich  bereits  in  den  allerniedrigsten  und  primitivsten 
Formen  der  Zauberei  offenbare,  ist  es  für  den  Verfasser  not- 
wendig, eine  persönliche  Perspektive  zu  gewinnen,  indem  er 
durch  den  Sündenfall,  durch  die  autonome  menschliche  Selbst- 
bestimmung, die  heilige  Einheit  des  transzendenten  und  imma- 
nenten Wesens  Gottes  im  Menschen  zerstört  sein  läßt,  wodurch 
das  Tasten  und  Suchen  nach  der  Gottheit  begann.  Diese  An- 
sicht scheint  auch  in  seiner  Erklärung  der  höchsten  weltfernen 
Gottheit  mancher  primitiven  Stämme  durch  Degeneration  etwas 
nachzuwirken.  Er  gibt  nicht  eine  vollständige  Entwicklung 
der  Religion,  da  besonders  die  Entstehung  der  Götter  aus 
rudimentären  Anfängen  und  die  Darstellung  der  einzelnen  Typen 
fehlt,  sondern  begnügt  sich  mit  den  niedrigeren  Formen  der 
Zauberei,  des  Fetischismus,  Totemismus,  der  Tabus  und  des  Ahnen- 
kults und  behandelt  die  Familienformen,  die  politische  Organi- 
sation und  die  gesellschaftlichen  Verbände:  Geschlechtsgenossen- 
schaften, Altersklassen,  Geheimbünde  usw.  In  der  Annahme 
der  vollkommenen  Durchdringung  des  sozialen  Lebens  durch 
die  Religion,  wie  es  auf  primitiven  Stufen  der  Fall  sei,  liegt 
die  Berechtigung  für  das  Buch.  Doch  ist  der  Verfasser  nicht 
geneigt,  Institutionen,  die  nicht  ohnehin  allgemein  als  religiös 
beeinflußt  anerkannt  werden,  z.  B.  die  Familienformen,  Exo- 
gamie  usw.,  in  Abhängigkeit  von  der  Religion  zu  behandeln, 
so  daß  die  beiden  Themata  vielfach  selbständig  nebeneinander 
herlaufen.  Besondere  Ideen  verbindet  er  mit  der  Entstehung 
des  Ahnendienstes,  dem  er  mehr  soziale  Bedeutung  zuschreibt, 
als  gemeinhin  angenommen  wird.  Die  Ahnen  seien  nämlich 
die  Ursache    des    Beharrens   in   allen   Sitten  und  Gebräuchen, 

^  2  Bde.,  VI  und  286,  Yll  und  573  Seiten  8«,  Bonn  1911. 


550  K.Th.Preaß 

und  wie  der  Yater  im  Leben  die  Stütze  der  Familie  sei,  so  sei 
er  das  auch  nach  dem  Tode.  Eher  möchte  man  umgekehrt 
eine  Verehrung  der  Ahnen  darauf  begründen,  daß  infolge  der 
Beharrung  in  alten  Zeremonien  und  Sitten  es  allmählich  zum 
Bewußtsein  kommt,  welchen  Anteil  die  Vorfahren  an  der  Ein- 
führung haben.  Weiter  wird  die  Bedeutung  des  geschlecht- 
lichen Elementes  in  der  Religion,  die  Zauberkraft  des  Phallus 
und  der  Nacktheit  u.  dgl.  m.  mit  dem  Ahnendienst  in  Verbin- 
dung gebracht.  Es  bestehe  an  sich  eine  Art  Wechselwirkung 
zwischen  sexuellem  und  religiösem  Leben,  in  denen  beiden  die 
höchsten  Affekte  verborgen  liegen,  weshalb  z.  B.  auch  ge- 
schlechtliche Begehungen  vor  heiligen  Handlungen  verboten 
seien.  Anderseits  trete  die  Lebenskraft  der  Natur  und  des 
eigenen  Geschlechts  in  Parallele.  Die  schaffenden  Naturmächte 
würden  personifiziert,  man  komme  zu  ihnen  in  religiöse  Be- 
ziehung und  ebenso  zu  den  Vorfahren.  In  beiden  präge  sich 
die  Fruchtbarkeit  verleihende  Kraft  aus.  Daher  seien  z.  B.  auch 
die  Ahnenbilder  an  der  Nordküste  von  Neuguinea  mit  großen 
Geschlechtsteilen  ausgestattet.  Die  Bedeutung  der  Vorfahren 
für  die  Fruchtbarkeit  ist  sicher  in  einzelnen  Fällen  richtig. 
Die  Verallgemeinerung  und  die  Folgerungen:  zauberische  Eigen- 
schaft des  Phallus  u.  dgl.  m.  ist  wohl  kaum  anzunehmen.  Für 
obszöne  Ackerbaukulte  fehlt  der  Beweis  des  Zusammenhanges 
mit  den  Ahnen. 

Im  allgemeinen  dürfte  das  Werk  eine  annehmbare  Einfüh- 
rung in  die  Tatsachen  sein,  auch  der  Grundgedanke,  die  Durch- 
dringung des  primitiven  sozialen  Lebens  durch  die  Religion  im 
weitesten  Sinne,  ist  anzuerkennen.  Nur  fehlt  in  mancher  Hin- 
sicht die  psychologische  Vertiefung,  wie  sie  die  Theorien  der 
neueren  Zeit  gebracht  haben.  Zuweilen  tritt  auch  an  die  Stelle 
einer  Erklärung  ein  teleologischer  Gesichtspunkt.  So  wird  die 
Exogamie  folgendermaßen  erläutert:  Es  gehöre  zur  Natur  des 
Menschen,  daß  er  blutschänderische  Ehen  verabscheut.  Diesen 
Abscheu  habe  er  deshalb,  weil  bei  solchen   Ehen   die  Mensch- 


Religionen  der  Naturvölker  1910 — 1913  551 

heit  ihre  Bestimmung  nicht  erreichen  würde.  Man  habe  gleich- 
sam intuitiv  eine  Ahnung  gehabt,  daß  Unfruchtbarkeit  und 
Degeneration  die  Folgen  davon  sein  würden.  Letzteres  ist 
übrigens,  wie  bekannt,  in  keiner  Weise  bewiesen.  —  Was  seine 
Quellen  anbetrifft,  so  hat  er  seine  Belege  in  den  meisten  Fällen 
aus  guten  Originalberichten  geschöpft,  geht  jedoch  zuweilen 
•nur  auf  bearbeitetes  Material  zurück,  das  besser  nicht  benutzt 
worden  wäre,  z.  B.  J.  G.  Müller,  Geschichte  der  amerikanischen 
ürreligionen  1855  und  Z.  Nuttall  The  Fundamental  Principles 
of  Old  and  New  World  Civilizations, 

Martin  P.  Nilsson,  Primitive  Religion^,  entwirft  in  ge- 
drängten Umrissen,  indem  für  jedes  Kapitel  ein  paar  allge- 
meine Werke  als  Quelle  angeführt  werden,  ein  vielseitiges  Bild 
der  Religion  der  Naturvölker.  Der  Verfasser  gliedert  stofflich, 
nachdem  er  die  psychologischen  Grundlagen  (Magie,  Anima- 
tismus,  Magie  und  Religion  usw.)  im  Gegensatz  zur  historischen 
Methode  behandelt  hat:  Tier-  und  Pflanzenkult,  Entstehung 
des  Polytheismus,  Menschenkultus,  Grab-  und  Seelenkultus, 
Opfer  und  Gebet,  Zauberer  und  Priester  usw.  Es  ist  ihm  we- 
niger um  eine  innere  Entwicklung,  als  um  eine  Darstellung 
des  Tatsächlichen  zu  tun,  wobei  er  sich  mit  den  ethnologischen 
Anschauungen  im  allgemeinen  vertraut  zeigt.  Eine  fortlaufende, 
jedoch  sehr  summarische  Entwicklung  gibt  er  nur  für  die  Ent- 
stehung der  Götter.  Dabei  geht  er  von  Maretts  Bezeichnung: 
Animatismus  für  alle  scheinbar  belebten  Naturobjekte  und  die 
Numina  aus,  verwirft  mit  Recht  Useners  Idee  des  Augenblicks - 
gottes,  unterscheidet  individuelle  und  kollektive  (Gattungs-) 
Numina,  von  denen  erstere  zeitlich  voranstehen,  läßt  durch 
den  Kult  den  persönlichen  Gott  entstehen  und  berührt  schließ- 
lich die  Übertragung  des  menschlichen  Seelenbegriffs  auf  die 
Gottheit  als  etwas  sehr  Wichtiges,  indem  dadurch  z.  B.  die 
Scheidung    des    Stofflichen  und   Geistigen   vorgenommen  wird 

^  Beligionsgeschichtl.  Volksbücher  III.  Reihe,  13./ 14.  Heft,  Tübingen 
1911.     124  Seiten  8<». 


552  K.  Th.  Preuß 

und  das  Numen  so  nicht  mehr  an  den  Stoff  gebunden  ist. 
Leider  fehlen  hier  Beispiele,  so  daß  man  nicht  weiß,  was  der 
Seelenglaube  noch  soll,  nachdem  die  Entwicklung  der  Götter 
so  weit  gediehen  ist.  Viel  zu  sehr  wird  der  Totemismus  bei 
dem  Tierkult  vorgeschoben  und  zu  sehr  außer  acht  gelassen, 
daß  er  sich  nur  auf  ein  Tier  bei  einer  Gruppe  bezieht.  Die 
Furcht  bei  der  Entstehung  der  Numina  wird  etwas  einseitig 
betont.  Die  frühen  kultarmen  monotheistischen  Gottheiten 
Andrew  Längs  sind  nach  ihm  bloße  Erzeugnisse  des  Mythus, 
und  darin  liegt  manches  Wahre. 

Eine  streng  stoffliche  Gliederung  weist  der  besonders  viel 
Material  aus  der  Völkerkunde  verwendende  Aufsatz  von  Ed- 
vard Lehmann,  Erscheinungswelt  der  Religion^,  auf.  Jedoch 
ist  nur  eine  sehr  summarische  Quellenübersicht  gegeben.  Das 
ganze,  schier  unbegrenzte  Material  wird  unter  den  Überschriften 
Heilige  Bräuche,  Heilige  Worte,  Heilige  Menschen  zusammen- 
gefaßt. Die  'heiligen  Bräuche'  enthalten  Magie  und  Kultus, 
die  fast  unmöglich  zu  trennen  seien;  die  'heiligen  Worte'  u.  a. 
auch  Mythen  und  Götterlehre;  die  'heiligen  Menschen'  zugleich 
alle  äußeren  Mittel  und  Tätigkeiten,  wodurch  Menschen  in 
einen  besonderen  Zustand  versetzt  werden:  Pubertätsweihen, 
zeremonielle  Vorbereitungen  für  Krieg,  Jagd  usw.  Die  Bedeu- 
tung liegt  in  der  systematischen  Anordnung.  Aus  der  zweiten 
Auflage  von  Edvard  Lehmann,  Die  Anfänge  der  Religion 
und  die  Religion  der  primitiven  Völker*  (vgl.  Archiv  XIII 
S.  424),  erwähne  ich  die  Auffassung  des  Totemismus  als  Eta- 
blierung einer  Menschengattung  durch  feste  Verbindung  mit 
einer  Naturordnung,  hier  also  einer  Tiergattung  usw.  Das  ist 
ein  Gedanke,  den  ich  unabhängig  vom  Verfasser  auch  in  meiner 
oben  erwähnten  Schrift  in  etwas  anderer  Weise  verfolgt  habe. 

*  In  Gunkel  und  Scheel  Die  Beligion  in  Geschichte  und  Gegenwart 
II  1910    Sp.  497—578. 

'  Paul  Hinneberg  Die  Kultur  der  Gegemvart,  Berlin  und  Leipzig 
1913,  I  3  S.  1—32. 


Religionen  der  Naturvölker  1910—1913  553 

Der  jüngst  verstorbene  Lord  Avebury  hat  in  einem  Buche 
Marriage^  Totemism  and  Religion,  an  Answer  to  Critics^  noch 
kurz  vor  seinem  Tode  Gelegenheit  genommen,  einige  seiner 
Theorien,  die  er  unter  dem  Namen  JohnLubbock  in  den  be- 
kannten Werken  Prehistoric  Times  1865  und  The  Origin  of 
Civilization  and  the  Primitive  Condition  of  Man  1868  aufgestellt 
hat,  gegen  Einwürfe  und  seitdem  aufgekommene  andere  Theo- 
rien zu  verteidigen  und  aufrecht  zu  erhalten.  Dadurch  wird  eine 
ganze  Reihe  von  Meinungen  über  die  betreffenden  Themata 
während  des  verflossenen  Zeitraums  von  fast  50  Jahren  durch 
kurze  Zitate  vor  unseren  Blicken  entrollt,  so  daß  man  sich 
daraus  besonders  über  die  Anschauungen  von  Ehe,  Exogamie 
und  Totemismus,  wenn  auch  etwas  einseitig,  informieren  kann. 
Die  Theorien  Lord  Aveburys  sind  freilich  trotz  aller  Be- 
mühungen dadurch  nicht  zu  retten.  Und  auch  die  Beweis- 
führung, namentlich  bezüglich  der  Annahme,  daß  eine  wirk- 
liche Religion  unter  den  niedrigst  stehenden  Völkern  nicht 
vorhanden  sei,  steht'  in  der  summarischen  Anführung  von  Ur- 
teilen der  Berichterstatter  im  Gegensatz  zur  heutigen  genaueren 
Forschung.  Der  Verfasser  setzt  an  den  Anfang  die  Gemein- 
schaftsehe,  aus  der  durch  Weiberraub  der  persönliche  Besitz 
eines  Weibes  und  die  Exogamie  hervorgegangen  sei.  Der  To- 
temismus sei  durch  entsprechende  Tiemamen  für  den  Anführer 
einer  Gruppe  entstanden,  indem  die  Benennung  auf  die  ganze 
Gruppe  übertragen  worden  sei.  Wenn  er  den  niedrig  stehenden 
Naturvölkern  die  Religion  abspricht,  so  erklärt  dies  sich  dar- 
aus, daß  er  die  Magie,  der  er  ein  besonderes  Kapitel  widmet, 
die  Seelen  der  Verstorbenen  sowie  Geister  und  Dämonen  nicht 
dazu  rechnet.  Zum  Gotte  und  zur  Religion  gehören  seiner  An- 
schauung nach  Anbetung  und  Opfer.  Deshalb  polemisiert  er 
auch  besonders  gegen  A.  Längs  High-God-Theorie,  deren  'Götter' 
eben  keine  seien;  ihr  Wesen  erschöpfe  sich  vielmehr  in  dem 
Ausdruck  'mythische  Persönlichkeiten'. 

^  London  1911.  VIII  und  243  Seiten  8°. 


554  ^-  Th-  Preuß 

Das  Büchlein  von  F.  B.  Je  von  s  The  Idea  of  God  in  Early 
Beligions^  gehört  scheinbar  nicht  mehr  in  die  religionswissen- 
schaftlichen Untersuchungen  hinein,  denen  das  Archiv  dient, 
denn  es  hält  sich  in  der  Qrundauffassung  nicht  mehr  objektiv 
an  die  religiösen  Erscheinungen,  sondern  an  die  Erfahrungen 
des  eigenen  Ich,  in  denen  die  Idee  von  Gott  und  das  wahre 
Sein  Gottes  vermittels  des  Glaubens  nebeneinander  wohnen, 
während  die  Idee  von  der  Gottheit  für  sich  allein  nichts 
mehr  als  bloße  Worte  sei.  Neue  Religionsformen  seien  daher 
stets  nur  Wiedergeburten,  die  nicht  auseinander  entspringen, 
sondern  aus  der  Seele  des  Menschen,  in  dem  sich  die  Idee 
von  der  Gottheit  findet.  Doch  spricht  er  daneben  wenigstens 
noch  von  einer  ausstrahlenden,  zerstreuenden  Bewegung  der  Ent- 
wicklung gegenüber  der  irrigen  Annahme  einer  fortlaufenden  Linie, 
und  aus  diesem  Gesichtspunkt  lassen  sich  seine  Anschauungen  sehr 
wohl  verstehen.  In  der  Religion  sei  alles  in  einer  unbestimmten 
Art  schon  so  vorhanden  gewesen,  wie  wir  selbst  die  Gottheit 
betrachten,  und  alles  Abweichende  seien  Abirrungen.  Es  genügt 
daher,  etwas  von  des  Verfassers  Anschauungen  in  der  Reihen- 
folge seines  Buches  anzuführen,  ohne  unserseits  Einwendungen 
dagegen  oder  Zustimmungen  vorzubringen.^ 

Einen  engen  Zusammenhang  zwischen  Magie  und  Religion 
läßt  er  nicht  gelten.  Erstere  sei  mehr  zugunsten  des  Indi- 
viduums da,  letztere  für  das  Wohl  der  Allgemeinheit.  Wunder- 
tuende Propheten  und  Zauberer  gingen  aber  beide  auf  eine 
gemeinsame  Grundform  zurück,  und  ebenso  trete  die  Zauberei 
in  der  Religion  unter  die  Obhut  der  Götter.  Derselbe  Unter- 
schied des  individuellen  und  des  Gesamtwohls  bestehe  zwischen 
Fetischen  und  Göttern,  auch  für  diese  beiden  gebe  es  eine  ge- 
meinsame Form  in  der  Vergangenheit.  Dämonen  seien  namen- 
los, Götter  persönlich.    Von  Anfang  an  seien  die  Götter  mora- 

^  Cambridge  1910.     X  und  170  Seiten  kl.  8^ 

^  Vgl.  Archiv  XIII  S.  414,  Besprechung  von  Jevons  Introduction  to 
the  Study  of  Comparative  HeUgion. 


Religionen  der  Naturvölker  1910—1913  555 

lisch,  entsp rechend  der  Moral  der  Gesamtheit,  und  von  Anfang 
an  sei  die  unbestimmte  Idee  einer  persönlichen  Gottheit  vor- 
handen gewesen,  die  größer  ist  als  der  Mensch,  und  die  Ent- 
wicklung dieser  Idee  zu  klareren  Vorstellungen  sei  die  Ge- 
schichte der  Religion.  Es  wird  nun  die  Gottesidee  im  Mythus, 
im  Kult  und  im  Gebet  gesondert  behandelt.  Der  Polytheismus 
sei  die  Grundlage  des  Mythus,  weshalb  da,  wo  Mythen  exi- 
stieren, vorher  Götter  bestanden  haben  müssen,  und  wenn  z.  B, 
die  Australier  Mythen  von  einer  Gottheit  haben,  der  keine 
Verehrung  dargebracht  wird,  so  sei  das  eben  früher  der  Fall 
gewesen.  Die  Gabentheorie  —  do  ut  des  —  sei  erst  allmäh- 
lich als  Abirrung  von  der  wahren  Religionsübung  entstanden. 
Der  Gläubige  habe  vielmehr  etwas  dargebracht,  um  seinen 
Wunsch,  der  Gottheit  zu  gefallen,  dadurch  zu  symbolisieren: 
Dankopfer,  Versöhnungsopfer,  gemeinsames  Mahl  mit  der  Gott- 
heit. Wo  das  Opfer  selbst,  z.  B.  wie  in  Mexiko  der  Mais,  gött- 
lich und  Gott  wurde,  sei  es  wegen  mangelnder  Individualität 
der  Gottheit  geschehen.  Überwiegt  der  Kult  wie  in  australi- 
schen Riten,  so  sei  eben  früher  eine  Gottheit  dabei  vorhanden 
gewesen.  Die  Magie  als  Ursprung  der  Religion  aufzufassen, 
sei  jetzt  von  allen  Gelehrten  aufgegeben.  Diese  irrige  Ansicht 
sei  daher  gekommen,  daß  die  Religion  auf  niedrigen  Stufen 
j  öfters  in  Zauberei  versinke.  Zauberspruch  und  Gebet  gingen 
I  auf  einen  gemeinsamen  Ursprung  zurück;  sie  drückten  beide 
I  den  Wunsch  aus,  und  der  Primitive  sei  nicht  in  der  Lage  ge- 
j  wesen,  beides  klar  zu  unterscheiden.  Anfangs  sei  auch  das 
Gebet  oder  der  Zauberspruch  nicht  vorhanden  gewesen,  und 
I  bloße  Symbole  hätten  genügt. 

I       Wilhelm  Wundt,  Elemente  der  Völkerpsychologie,  Grund- 
1  linien  einer  psychologischen  Entwicklungsgeschichte  der  Mensch- 
heit^, fußt,  soweit  die  Religion  in  Betracht  kommt,  auf  seinem 
größeren  Werke  Völkerpsychologie  II,  3  Teile,  das  bereits  im 
vorigen  Bericht  (Archiv  XIII  S.  401  ff.)  ausführlich  gewürdigt 
^  Leipzig  1912.    XII  und  523  Seiten  8^ 


556  KTh.Preuß 

worden  ist.  Hier  ist  aber  die  gesamte  Entwicklungsgeschichte 
der  Menschheit  in  gedrängterer  Kürze  (leider  ohne  Quellen- 
angaben) gegeben,  so  daß  eine  straffere  Gliederung  notwendig 
wurde  und  eine  Übersicht  über  die  Meinung  des  Verfassers 
leichter  zu  gewinnen  ist.  Nach  diesen  beiden  Richtungen  hin 
sei  daher  auf  das  Buch  noch  einmal  kurz  eingegangen,  zumal 
es  dank  den  Vorzügen  der  Schreibweise  und  der  Durcharbei- 
tung des  Materials  auch  abgesehen  von  dem  berühmten  Namen 
des  Verfassers  eine  weite  Verbreitung  erlangen  wird.  Meine 
Bedenken  bezüglich  der  Seelentheorie  Wundts  und  der  Ablei- 
tung des  Zaubers,  des  Totemismus,  Fetischismus  sowie  der  ge- 
samten Religion  von  ihm  sind  freilich  ebenso  stark  wie  in  der 
oben  erwähnten  Besprechung  des  Hauptwerkes.  Ich  brauche 
daher  nicht  mehr  darauf  einzugehen.  Als  Ganzes  genommen  steht 
das  Buch  der  Ethnologie  sehr  nahe,  da  auch  diese  des  psycho- 
logischen Durchdenkens  der  Erscheinungen  nicht  entbehren 
kann.  Ob  in  der  Behandlung  eine  Domäne  der  Völkerpsycho- 
logie erblickt  werden  kann,  möchte  ich  bezweifeln.  Auf  alle 
Fälle  aber  darf  man  sich  freuen,  daß  Wundt  sich  dieser  Arbeit 
unterzogen  hat. 

Durch  die  Konzentration  und  das  Streben  nach  einer  über- 
sichtlichen Entwicklung  läuft  die  Darstellung  Gefahr,  schema- 
tisch zu  werden,  was  schon  an  und  für  sich  durch  die  Grund- 
lage der  Seelentheorie  gegeben  ist.  Wundt  behandelt  nämlich 
sein  Thema  nach  vier  aufeinanderfolgenden  Perioden,  von  denen 
eigentlich  nur  zwei:  das  totemistische  Zeitalter  und  das  Zeitalter 
der  Helden  und  Götter,  übrig  bleiben,  da  von  den  Erscheinungen, 
die  Wundt  und  den  Ethnologen  am  Herzen  liegen,  in  das 
erste  des  primitiven  Menschen  und  das  letzte,  das  der  Huma- 
nität, wenig  hineingehört.  Ja,  wie  wir  sehen  werden,  reprä- 
sentiert auch  das  Zeitalter  der  Helden  und  Götter  gar  nicht 
mehr  die  Stufe  der  Naturvölker.  Nun  ist  aber  mit  dem  Unter- 
schied zwischen  dem  totemistischen  Zeitalter  und  dem  der 
Helden,  wie  ersichtlich,  die  Hineinpfropfung  alles  dessen,  was 


Religionen  der  Naturvölker  1910—1913  557 

sich  in  der  Idee  auf  Tiere  bezieht,  in  das  eine,  und  was  sich 
auf  den  Menschen  bezieht,  in  das  andere  ohne  weiteres  ge- 
geben. Es  läßt  sich  jedoch  nur  mit  einiger  Wahrscheinlich- 
keit sagen,  daß  aus  anthropomorphen  Auffassungen  schwer  die 
Tiergestalt  wird,  nicht  aber,  daß  Mensch  und  Tier  nicht  von 
jeher  gleichzeitig  in  der  religiösen  und  künstlerischen  Ideen- 
welt der  Naturvölker  bestanden  haben.  Auch  erhält  man  von 
der  wirklichen  Bedeutung  des  Totemismus  ein  ganz  falsches 
Bild,  wenn  man  schlechterdings  alles,  was  mit  dem  Tierkult 
zusammenhängt,  darauf  zurückführen  will.  Selbst  alle  Tabu- 
gesetze sollen  von  dort  ihren  Ursprung  nehmen.  Nimmt  man 
nur  die  gewaltige  Kluft  zwischen  Stammes-  und  Individual- 
totemismus,  so  kann  die  Einsetzung  derselben  Wurzel  für  so 
vieles  andere  nicht  mehr  befriedigen.  Zudem  ist  der  Totemis- 
mus an  sich  durchaus  nicht  überall  verbreitet,  und  man  darf 
auch  nicht  annehmen,  daß  er  überall  vorhanden  gewesen  ist. 
Es  ist  daher  völlig  unmöglich,  von  einem  totemistischen  Zeit- 
alter zu  sprechen.  Die  Ausbildung  der  totemistischen  Sippe 
sei  in  dieser  Periode  erfolgt,  und  mit  ihr  die  Exogamie,  die 
äußerst  rationalistisch  von  einer  Raub-  und  Tauschehe  inner- 
halb des  Stammes  hergeleitet  wird.  Alle  die  wunderlichen 
strengen  Verbote  der  Meidung  naher  Verwandten  und  der  Hei- 
rat innerhalb  des  Clans  seien  erst  eine  Folge  der  Exogamie. 
Sehr  lehrreich  und  klar  ist  im  *  Zeitalter  ier  Helden  und 
Götter'  die  Entstehung  der  Gottesvorstellung.  Wundt  rechnet 
dazu  den  besonderen  Wohnort,  die  Unvergänglichkeit  und  die 
übermenschliche  und  doch  zugleich  menschliche  Persönlichkeit. 
Sehr  wichtig  sei  dabei  das  Hinzutreten  des  Heldenhaften  zu 
den  Dämonen,  den  Personifikationen  aller  möglichen  Natur- 
elemente. Dadurch  erlangten  die  Götter  die  Individualität  und 
Unabhängigkeit  von  der  Naturgrundlage,  den  eigenen  persön- 
lichen Willen,  während  neben  ihnen  dämonische  Wesen  fort- 
bestanden. Stellt  man  diese  Forderungen  an  die  Gottheit  auf, 
so  muß  man  aber  sofort  hinzufügen,  daß  die  Naturvölker  samt- 


558  KTh.Preuß 

lieh  noch  nicht  zu  dieser  Höhe  einer  Gottheit  fortgeschritten 
sind,  ebensowenig  Halbkulturvölker  wie  die  Mexikaner.  Die 
Götter  sind  vielmehr  alle  noch  von  den  vertretenen  Naturele- 
menten mehr  oder  weniger  abhängig.  Anderseits  zieht  dann 
Wundt  die  Grenze  für  die  Dämonen  viel  zu  enge,  da  sie  meist 
irdische  Wesen  sein  oder  ihren  Wohnsitz  höchstens  in  den 
Wolken  haben  sollen.  Tatsächlich  haben  die  Dämonen  dieser 
Art  ebenso  als  Gestirne  den  Himmel  inne.  Wundt  läßt  also 
für  die  Schilderung  der  persönlichen  Dämonen,  die  weder  in 
das  totemistische,  noch  in  das  Zeitalter  der  'Helden  und  Götter' 
gehören,  zu  wenig  Raum.  Tatsächlich  erwachsen  sie  noch  in 
enger  Verbindung  mit  den  tierischen  Dämonen,  die  dem  tote- 
mistischen  Zeitalter  zugeschrieben  werden.  Ebenso  finden  die 
pantheistischen  Ideen  der  Naturvölker,  wie  sie  sich  z.  B.  in 
dem  Manitu  der  Algonkin  offenbaren,  und  ihre  Vorstufen  in 
dem  Buch  keinen  Raum.  Ziehen  wir  alles  das  in  Betracht,  so 
möchte  man  doch  weit  mehr  Gewicht  auf  das  Gefühl  der  Ab- 
hängigkeit von  höheren  Mächten  legen,  wie  es  sich  in  den 
Kulthandlungen  offenbart,  als  auf  die  idealistische  menschliche 
Persönlichkeit  der  Gottheit,  wenn  wir  überhaupt  die  Begriffe 
Religion  und  Gott  begrenzen  wollen.  Tritt  doch  schon  in 
jeder  Zauberkraft  des  Menschen  oder  eines  Objekts  das  Herr- 
schen der  Idee,  die  Abwendung  von  der  Wirklichkeit  und  die 
Sehnsucht  nach«  Höherem  hervor.  Wundts  Definition  hat  also 
nur  für  unsere  modernen  Anschauungen,  nicht  aber  für  die 
Menschheit  als  Ganzes  Berechtigung.  Mag  man  aber  im  ein- 
zelnen genug  Einwendungen  erheben,  so  wird  man  doch  durch 
die  Großzügigkeit  in  dem  dargebotenen  Bilde  der  menschlichen 
Entwicklung  und  durch  die  Fülle  der  Gesichtspunkte  in  der 
entwicklungsgeschichtlichen  Gruppierung  der  Tatsachen  immer 
wieder  fortgerissen.  Namentlich  geschieht  das  auch  durch  die 
eingehende  Betrachtung,  die  der  Verfasser  den  einen  so  ge- 
waltigen Raum  im  Leben  der  Naturvölker  und  der  späteren 
Zeit   einnehmenden   mythischen  Erzählungen  widmet.     Bemer- 


Religionen  der  Naturvölker  1910 — 1913  559 

kenswert  ist  hier  besonders  die  Frontstellung  gegen  die  Mond- 
und  anderen  Himmelsmythologen  wenigstens  insofern,  als  der 
Nachweis  irgendwelcher  Himmelsmotive  in  einem  Mythus  durch- 
aus nicht  die  Identifikation  des  Helden,  eines  Ortes  oder  eines 
Vorgangs  mit  einem  Himmelskörper  oder  seinen  Bewegungen 
beweise,  sondern  lediglich  das  Vorhandensein  assoziativer  Ele- 
mente dartue  Dadurch  werde  der  irdische  Vorgang  eines 
Mythus  oder  eines  Mythenmärchens,  wie  Wundt  das  ursprüng- 
liche Zaubermärchen  nennt,  ebensowenig  geändert,  wie  eine 
Gottheit  durch  einen  solchen  Zug  zu  einem  bestimmten  Ge- 
stirn gestempelt  wird.  Es  dürfte  wohl  lohnen,  diesem  Gedanken 
nachzugehen. 

Eine    allgemein   gültige   Darstellung   des  religiösen  Lebens 
will   auch  das  Werk  von  Emile  Durkheim  Les  formes  ele- 
mentaires  de  la  vie  religieuse,  le  Systeme  totemiqiie  en  Australien 
bieten,  obwohl  es  sich  nur  mit  dem  Totemismus  der  Australier 
beschäftigt.     Der    Totemismus    sei    nicht,    wie    man  allgemein 
glaubt,  eine  Erscheinung,  die  der  Erklärung  aus  der  magisch- 
religiösen   Sphäre    bedürftig    ist,    sondern    bilde    selbst    den 
Ursprung  für  Zauberei  und  Religion.    Der  Ausgangspunkt  für 
diese    These    sind    die   sozialen   Kräfte,   die  jeder  einzelne  bei 
zeremoniellen  Handlungen   der  ganzen    Gruppe   vermittels   der 
I  allgemeinen   Erregung    in    sich  entfesselt  fühle.     Die    religiöse 
i  Kraft,  die  er  Mana  nennt,  sei  nichts  anderes  als  die  kollektive 
1  anonyme  Kraft  des  Clans,  und  diese  sei  nur  unter  der  Gestalt 
!  des  Totems  vorstellbar.   Man  brauchte  dafür  einen  Namen  und 
j  ein  Emblem  und  fand  es  in  einem  Tier  oder  in  einer  Pflanze, 
die   in   der  Nachbarschaft  des  Versammlungsortes  der  Gruppe 
am   häufigsten   war,    und    zwar  sei  das  Tier  als  das  für  diese 
Jäger   und    Fischer    wesentlichste   Element    der  ökonomischen 
Umwelt   zuerst  maßgebend   gewesen  und  dann  als  sekundäres 
■  Element  die  Pflanze  hinzugekommen.     Wesentlicher   noch   als 
der  Name  seien  die  Embleme  gewesen,  in  denen  sich  die  Kraft 
^  Paris  1912.     647  Seiten  8^ 


560  K.Th.Preuß 

der  Gesellschaft  wie  in  einer  Fahne  symbolisierte,  wi-e  das 
Churinga,  Nurtunja  usw.  Das  soziale  Mana  sei  in  dem  Totem- 
vorfahren  verkörpert,  jeder  einzelne  fühle  einen  Teil  dieser  un- 
persönlichen Kraft,  des  Wesens  des  Totems  in  sich,  es  indivi- 
dualisiere sich  in  jedem  einzelnen  und  gelange  bei  der  Geburt 
in  das  einzelne  Individuum,  indem  es  von  dem  Totemvorfahren 
in  die  Mutter  eingehe.  Wirkliche  und  ideelle  Objekte  gingen 
da  durcheinander,  und  so  entstehe  aus  dem  Begriff  der  Seele 
der  Gesamtheit  der  individuelle  Seelenbegriff,  der  logisch,  aber 
nicht  zeitlich  auf  das  soziale  Mana  gefolgt  sei,  vielmehr  mit 
diesem  gleichzeitig  bestehe.  Aus  dem  Bewußtsein  der  sozialen 
Kraft,  die  sich  im  Totem  verkörpert,  folge  auch  die  Zauber- 
kraft der  einzelnen,  besonders  auch  des  Blutes,  das  in  den 
Zeremonien  eine  so  große  Rolle  spielt,  und  des  Haares.  Die 
Geister  und  Götter  entspringen  dem  Seelenbegriff.  Sie  seien 
die  mythischen  Vorfahren,  wie  z.  B.  die  Alcheringa,  die  im 
Anfang  der  Zeiten  auf  Erden  gelebt  haben;  andere  entwickeln 
sich  an  den  heiligen  Plätzen,  Quellen,  Felsen,  Bäumen  usw., 
wo  sie  für  den  ganzen  Clan  Bedeutung  gewinnen.  Dazu  kom- 
men die  bestimmten  Ahnen  als  persönliche  Beschützer  jedes 
einzelnen.  Über  den  Clan  hinaus  haben  die  Ahnen  Bedeutung, 
die  Kulturgüter  gebracht  und  Gebräuche  eingeführt  haben, 
über  deren  Einhaltung  sie  Wache  halten,  und  diese  wiederum 
bilden  den  Übergang  zu  den  bekannten  höchsten  Göttern,  den 
Schöpfern  der  Welt. 

Die  Betrachtungsweise  Durkheims  ist  nur  daraus  zu  ver- 
stehen, daß  ein  verstandesgemäßer  Anfang  des  religiösen  Lebens 
nicht  einwandfrei  festzustellen  ist.  Daß  die  gemeinschaftliche 
Erregung  das  grundlegende  Bewußtsein  der  übernatürlichen 
Kraft  und  schließlich  der  Gottheit  hervorbringt,  verschiebt  nur 
das  Problem,  indem  der  auch  sonst  heute  vielfach  verfolgte] 
Gedanke,  daß  die  Gesellschaft  besonders  in  den  religiösen! 
Untersuchungen  an  die  Stelle  des  einzelnen  zu  treten  hat,  auf 
die  Spitze  getrieben  ist.     Meines  Erachtens  ist  überhaupt    mit 


Religionen  der  Naturvölker   1910 — 1913  561 

einer  solclien  Auffassung  nur  insoweit  etwas  gewonnen,  als  die 
Gruppe  in  bezug  auf  sich  selbst,  ihre  Zusammengehörigkeit 
und  Zusammenfassung  zu  einem  einheitlichen  Wesen  bestimmte 
Anschauungen  zeitigt,  und  auf  dieser  Grundlage  kommt  in 
erster  Linie  der  Totemismus  in  Betracht.  Der  Fortschritt  des 
Werkes  beruht  also  darauf,  daß  der  Totemismus  nicht  aus  son- 
stigen religiösen  Erscheinungen,  sondern  als  sui  generis  erklärt 
wird.  Daß  er  aber  selbst  zur  Erklärung  für  alles  übrige  dienen 
ßoU,  ist,  wie  gesagt,  eine  unverständliche  Übertreibung  der  Ge- 
sellschaftsidee und  schon  aus  dem  Grunde  nicht  angängig, 
weil  er  durchaus  nicht  überall  verbreitet  ist.  In  Australien, 
das  der  Verfasser  allein  betrachtet,  spielt  er  allerdings  eine 
bedeutende  Rolle.  Weil  nun  aber  der  Verfasser  die  Verbindung 
des  Totemismus  mit  den  Anschauungen  und  Zeremonien  der 
Australier  im  einzelnen  verfolgt  und  eine  geistvolle,  genau 
durchdachte  Darstellung  der  Entwicklung  gibt,  so  wird  man 
vieles  daraus  lernen  können,  auch  wenn  man  mit  der  Idee  des 
Ganzen  nicht  einverstanden  ist.  Und  niemand  wird  sich  dem 
Schwünge  der  Darstellung  entziehen  können,  in  der  die  Reli- 
gion als  Grundlage  aller  geistigen  Errungenschaften  der  Mensch- 
heit hingestellt  wird.  Doch  ist  es  hier  nicht  angebracht,  auf 
diese  tief  philosophischen  Betrachtungen  einzugehen.  Ebenso 
ist  leider  die  eindringende  und  teilweise  sehr  treffende  Kritik 
anderer  Anschauungen  vom  Ursprung  der  Religion  nicht  möglich 
zu  erörtern.  Nur  die  scharfe  Ablehnung  der  Tylorschen  Theorie 
sei  erwähnt.  Man  muß  das  Buch  lesen,  eine  dürre  Inhaltsangabe, 
wie  sie  hier  vorgenommen  ist,  kann  ihm  nicht  gerecht  werden. 

Es  sind  nur  noch  einige  programmatische  Skizzen  bzw. 
Kritiken  der  Auffassung  über  primitive  Religion  kurz  zu  er- 
wähnen. A.  Titius  hielt  auf  dem  IV.  Internationalen  Religions- 
;  kongreß  in  Leiden  einen  mit  vielem  Beifall  aufgenommenen 
Vortrag  'Der  Ursprung  des  Gottesglaubens',  dessen  Leitsätze 
in  den  Akten  des  Kongresses  vorliegen.^    Es  müsse  eine  Stufe 

^  Actes,  Leiden  1913  p.  64 f. 

Archiv  f.  Eeligionswiasenschaft  XVII  3g 


562  K.  Th.Preuß 

der  Prähistorie  angenommen  werden,  wo  der  Gottesglaube  noch 
nicht  vorhanden  war.  Er  sei  nicht  identisch  mit  der  Annahme 
übermenschlicher  Kräfte  (Geister),  sondern  setze  Handeln  mit 
Beziehung  auf  das  Subjekt  und  Verehrung  durch  dasselbe  vor- 
aus, sei  also  von  der  Magie  prinzipiell  zu  unterscheiden.  Die 
Mannigfaltigkeit  von  Seelenkult  und  Götterkult  weise  auf  eine 
ursprüngliche  Divergenz  hin.  Trotz  des  Alters  henotheistischer 
Tendenzen  sei  es  unmöglich,  sie  zum  religiösen  Ausgangspunkt 
zu  machen.  —  Die  aufgestellten  methodologischen  Grundsätze 
mit  ihrer  Verbindung  historischer,  psychologischer  und  prinzi- 
pieller Erwägungen  nebst  evolutionistischer,  den  Idealismus 
nicht  ausschließender  Auffassung  sind  auch  für  den  Ethnologen 
recht  annehmbar.  Auch  die  Magie  als  ein  Teil  des  Gottes- 
dienstes kam  in  dem  Vortrag  mehr  zu  ihrem  Recht,  als  es  die 
kurzen  Leitsätze  andeuten.  Unklar  bleibt  nur  die  Stellung  der 
Magie  an  sich,  wo  sie  sich  nicht  mit  der  Religion  vereinigt. 
Sehr  beachtenswert  ist  auch  die  einige  Kernpunkte  scharf 
heraushebende  Abhandlung  von  E.  W.  Mayer,  Zur  Frage  vom 
Ursprung  der  Religion^,  die  ebenfalls  wie  die  vorige  die  inter- 
essierte Meinung  eines  Theologen  über  den  Wert  der  Religions- 
forschung auf  dem  Gebiet  der  Naturvölker  enthält.  Hierin 
ist  besonders  die  Forderung  fruchtbar,  daß  die  Frage  nach  der 
ersten  Religionsform  und  ihrer  Entstehung  zurückzustellen  sei 
hinter  der  Frage  nach  den  bleibenden  Motiven  der  Religion 
überhaupt.  Er  ist  daher  in  der  Lage,  den  empirischen  Er- 
scheinungsformen der  Religion  ohne  jede  Voreingenommenheit 
und  Erregung  gegenübertreten  zu  können,  denn  der  christliche 
Standpunkt  ist  mit  Recht  gewahrt,  sobald  in  jedem  Menschen 
die  natürliche  Anlage  zu  Religion  und  Sittlichkeit  vorausgesetzt 
werden  darf.  Auf  diese  Weise  vermag  er  sogar  mit  einer  ge- 
wissen Vorliebe  bei  dem  Präanimismus  oder,  wie  er  lieber  sagt, 
dem  Dynamismus  zu  verweilen,  indem  selbst  die  Anerkennung 
einer  noch  unpersönlichen  Macht,  von  der  man  sich  abhängig 
^  Theologische  Mundschau  XVI  S.  1—12,  33—48. 


Religionen  der  Naturvölker  1910—1913  563 

fühlt,  bereits  als  etwas  Religionsartiges  aufzufassen  sei.  Und 
wenn  er  hierin  Maretts  Betrachtungsweise  eine  gesunde  nennt, 
so  erscheint  ihm  sogar  in  Übereinstimmung  mit  meinem  Stand- 
punkt das  reflektierende  Bewußtsein  gegenüber  dem  tierischen 
Triebleben  als  eine  fundamentale  Bedingung  für  das  Aufkommen 
der  Religion.  Im  übrigen  bieten  ihm  aber  auch  die  verschie- 
denen präanimistischen  Anschauungen  genug  Anlaß  zur  Kritik, 
z.  B.  auch  mit  Recht  das  Zusammenwerfen  von  Manitu,  Orenda, 
Mana,  da  sie  sehr  verschiedenartig  seien.  Infolge  seines  Stand- 
punktes der  bleibenden  religiösen  Werte  ist  ihm  die  Tylorsche 
Theorie,  die  eine  ihrer  Hauptwurzeln  in  den  Nachtgesichten 
schlecht  verdauender  Wilden  habe,  sehr  fragwürdig.  Das  ist 
um  so  bemerkenswerter,  als  der  Animismus  in  theologischen 
und  philologischen  Kreisen  vielfach  so  eingewurzelt  ist,  daß  er 
auch  in  seinen  unberechtigten  Auswüchsen  unausrottbar  erscheint. 
Der  Henotheismus  Andrew  Längs  und  des  P.  W.  Schmidt,  so 
sehr  der  Verfasser  sich  für  die  zugrunde  liegenden  Tatsachen 
interessiert  und  eine  Erklärung  dafür  wünscht,  ist  ihm  als 
natürlicher  Anfang  der  Religion  durch  bloßen  Kausalitäts-  und 
I  Personifikationsdrang  ebenfalls  völlig  unmöglich.  Es  weht  in 
j  seinen  Ausführungen  überall  ein  frischer  Wind,  so  daß  man 
I  hier  auf  kurzem  Raum  in  alle  neueren  Theorien  der  primitiven 
I  Religionswissenschaft  prägnant  eingeführt  wird  und  durch  allen 
I  Wirrwarr  der  Meinungen  hindurch  doch  die  einende  Richtung 
erblickt. 

Eine  eingehende  Darstellung  und  Kritik  widmet  Frederic 
Bouvier    den    hauptsächlichsten    religiösen   Theorien    in    der 
!  Ethnologie  in  zwei  Schriften  Änimismey  preanimisme,  religion 
und  Beligion  et  magie^,  doch  hat  er  es  vermieden,  eigene  An- 
schauungen über  die  Ziele  kundzugeben.  Z.  B.  spricht  er  gegen 
jden  übertriebenen  Geltungsbereich  des  Animismus  in  den  Re- 
jligionen,   indem   er   besonders  die  Anschauungen  Goblet  d'Al- 

^  In  den  Becherches  de  science  religieuse,  Bulletin  d'histoire  comparee 
des  religions  Nr.  1,  1911  p.  62—104  und  Bd.  III  p.  170—200. 

36* 


.^64  K.Th.Preuß  ^ 

viellas  seinen  Betrachtungen  zugrunde  legt.  Die  rein  verstan- 
desgemäße Aufeinanderfolge  der  Etappen  des  Animismus  be- 
zeiclinet  er  als  künstlich.  Gegen  Levy-Bruhl  macht  er  geltend, 
daß  die  Verstandesoperationen  der  Wilden'  doch  die  gleichen 
sein  müssen  wie  die  unseren,  da  sie  zur  Bildung  göttlicher 
Persönlichkeiten  gelangt  sind.  Besondere  Sympathien  hat  er 
für  den  präanimistischen  Monotheismus  von  Andrew  Lang  und 
P.  W.  Schmidt.  Namentlich  zollt  er  auch  der  ganzen  Methode 
des  letzteren  viel  Anerkennung. 

Als  Ergänzung  unserer  Berichte  sei  noch  auf  Louis  Henry 
Jordan  Comparative  Beligion,  a  Survey  of  its  Recent  Literatur e, 
Second  Section  1906 — 1909'^  hingewiesen,  eine  Besprechung  von 
25  Werken  über  vergleichende  Religionswissenschaft,  haupt- 
sächlich von  englischen  Verfassern,  unter  denen  sich  auch 
manche  zum  Teil  ethnologischen  Inhalts  befinden,  z.  B.  Marett 
The  Threshold  of  Religion]  Dufourcq  Histoire  comparee  des  reli- 
gions  paiennes  et  de  la  reUgion  juive^  Encyclopaedia  of  Religion 
and  Ethics  ed.  by  James  Hastings  usw.  Zum  Schluß  wird  auf 
die  Fortschritte  hingewiesen,  die  die  vergleichende  Religions- 
wissenschaft in  der  Zahl  der  Arbeiten  und  in  der  Anerkennung 
von  Seiten  der  Universitäten  und  der  theologischen  Kreise  ge- 
funden hat. 

III.  Einzelne  Probleme 

Gleich  dem  schon  angeführten  Buche  von  Durkheim  be- 
schäftigt sich  eine  ganze  Anzahl  von  Schriften  mit  dem  Tote- 
mismus,  aber  dieser  wird  nicht  wie  in  jenem  Buche  als  Ur- 
grund aller  Religion  betrachtet,  sondern  als  eine  einzelne  Er- 
scheinung. Gegenüber  den  Erörterungen  über  den  Ursprung 
und  die  Beurteilung  des  Totemismus,  die  in  den  übrigen  Schriften 
enthalten  sind,  nimmt  J.  G.  Frazers  Werk  Totemism  and  Exo- 
gamy^  einen  besonderen  Platz  ein,  da  der  Verfasser  sich  vor- 

^  Edinburgh  1910.     72  Seiten  S^. 

*  A  Treatise  on  Certain  Early  Forms  of  Superstition  and  Society, 
4.  vol ,  XX  und  579,  VII  und  640,  VII  und  583,  379  Seiten  8^  London  1910. 


Religionen  der  Naturvölker  1910 — 1918  565 

genommen   hat,  nichts   Geringeres   zu   liefern  als  ^eine  ausge- 
dehnte Sammlung   und   eine    genaue   Klassifizierung   der    Tat- 
sachen,  um   eine   feste   Grundlage   für  das  induktive  Studium 
des  Primitiven  zu   liefern'.     In   der  Tat  wäre  jede  andere  Be- 
trachtungsweise  des  Werkes   nicht  am   Platze.     Das   Studium 
des    Totemismus   hat   nun   eigentlich   zu  beginnen,  sowohl  in 
bezug  auf  historische  Zusammenhänge  der  geographisch  grup- 
pierten Tatsachen  als  auch  hinsichtlich  der  psychologischen  Frage- 
stellung im  einzelnen.     Es  ist  bisher  immer  nur  der  Totemis- 
mus als  Ganzes  berücksichtigt  worden,  indem  jeder  sein  Ver- 
ständnis aus  den  ihm  gerade  aufstoßenden  Tatsachen  schöpfte. 
Es  zeigt  daher  das  Streben  Frazers  nach  Vertiefung  im  glän- 
zendsten Lichte,  daß  er  sich  selbstlos  dieser  ungeheuren  Arbeit 
unterzogen   hat,   wobei   in  der  Beurteilung  zu  berücksichtigen 
ist,   daß    natürlich    unmöglich   ist,   alle    mit  dem  Totemismus 
in  Beziehung  stehenden  Tatsachen,  Ursachen  wie  Folgeerschei- 
nungen, zu  registrieren,  aus  dem  einfachen   Grunde,  weil  wir 
die  Erscheinung   nocli   nicht   recht  verstehen   und  noch  nicht 
wissen,  was  alles  dazu  gehört.    Vollends  darf  man  nicht  mehr 
als  Hinweise  auf  totemistische  Embleme  und  Zeremonien  ver- 
I  langen.     Auch   ist   es   ausgeschlossen,   daß    nun  jede    einzelne 
!  Quelle  in  dem  Buche  ihren  Platz  gefunden  hat.   Der  Verfasser 
j  beschränkt  sich  nicht  nur  auf  die  besten  Quellen,  sondern  wird 
i  auch  manche  gute  Angabe  übersehen  haben,  denn  das  liegt  in 
:  der  Zahl  der  Quellenschriften.  Aber  das,  was  an  Material  hier 
i  wirklich    vorhanden   ist,    wird    jedem    erlauben,    einen    tiefen 
j  Einblick  in  die  Tatsachen  und  einen  Anhalt  zu  gewinnen,  wo 
ser  weiter  nachlesen  muß,  sei  es,  daß  er  eine  besondere  Frage- 
stellung innerhalb  des  Totemismus  verfolgen  will,  sei  es,  daß  er 
bei  Erforschung  eines  einzelnen  Stammes  Vergleichsreihen  und 
I Winke   braucht,   worauf  er    sein  Augenmerk    zu   richten  hat. 
|Im  Anfang   des   ersten   Bandes   ist   zunächst   die    Abhandlung 
des  Verfassers  Totemism   1887  und  zwei  Aufsätze  The   Origin 
of  Totemism  1899  und  The  Beginnings  of  Beligion  and  Totemism 


566 


K.  Th.  Preuß 


among  the  Äustralian  Ahorigines  1905  noclimals  abgedruckt, 
wozu  in  Band  lY  ebenso  wie  für  das  Folgende  Berichtigungen 
und  Ergänzungen  geliefert  sind.  Band  I  bringt  weiter  das 
australische  Material,  Band  II  die  Tatsachen  aus  Neuguinea, 
Melanesien,  Polynesien,  Indonesien,  Indien  und  die  Spuren  im 
übrigen  Asien,  sowie  den  afrikanischen  Totemismus,  Band  III 
den  amerikanischen  und  Band  IV  die  Erörterungen  mancher 
bisheriger  Theorien  und  der  eigenen  Anschauungen  nebst  einem 
sehr  ausführlichen  Index  und  den  schon  erwähnten  umfang- 
reichen Notes  and  Corrections.  Von  den  acht  beigegebenen 
Karten  enthält  die  eine  eine  Übersicht  über  die  Verbreitung 
des  Totemismus  und  sieben  eine  Darstellung  der  Verbreitung 
der  einzelnen  Stämme  in  den  Hauptgegenden  des  Totemismus. 
Von  einer  Behandlung  der  Frage  nach  dem  Totemismus  im 
klassischen  und  orientalischen  Altertum  ist  mit  Recht  abge- 
sehen. Jeder  Erörterung  des  Totemismus  der  Hauptstämme, 
die  in  streng  ethnographischer  Anordnung  folgen,  geht  eine 
kurze  Darstellung  der  Natur  der  Umgebung  und  der  sozialen 
Verhältnisse  voraus.  Die  Exogamie  ist  im  wesentlichen  nur 
insoweit  behandelt,  als  sie  zusammen  mit  dem  Totemismus 
vorkommt. 

Da  wir  sozusagen  noch  im  Anfang  der  Diskussion  über 
Totemismus  und  Exogamie  stehen,  dürfen  wir  uns  auch  nicht 
wundern,  daß  entsprechend  den  verschiedenen  Auffassungen 
über  ihren  Ursprung  auch  die  Erklärungen  Frazers,  so  sorg- 
fältig sie  durchdacht  sind,  vielfachem  Widerspruch  begegnen 
werden.  Der  Nutzen  seiner  ausführlichen  Erörterungen  zum 
Verständnis  des  Ganzen  liegt  vielmehr  darin,  daß  alle  zur  Be- 
urteilung zunächst  in  Betracht  kommenden  Momente  über- 
sichtlich zu  Schlußfolgerungen  verwertet  sind,  so  daß  jeder 
Nachfolger  in  seinen  Denkoperationen  außerordentlich  unter- 
stützt wird.  Frazer  geht  auch  bei  seiner  neuesten  Erklärung 
wie  in  seinen  beiden  früheren,  die  er  jetzt  verwirft,  von  einer 
einzelnen  positiven  Tatsache  aus,  indem  er  sie  verallgemeinert 


Religionen  der  Naturvölker  1910—1913  567 

und  daraus  in  strenger,  das  moderne  Kausalitätsbedürfnis  be- 
friedigender Weise  den  Totemismus  entwickelt.  Dieses  Mal  ist 
68  der  Glaube  bei  zentralaustraliscben  Stämmen,  daß  in  dem 
Augenblick,  wo  eine  Frau  sich  schwanger  fühlt,  ein  Geister- 
kind von  den  Vorfahren  aus  einem  nahe  befindlichen  Natur- 
objekt in  sie  eingegangen  ist,  und  da  man  weiß,  an  welchen 
Plätzen  die  bestimmten  Totemvorfahren  sich  aufhalten,  so  wird 
dadurch  jedesmal  bestimmt,  welchem  Totem  das  Kind  angehört. 
Geht  nun,  so  folgert  Frazer,  bei  noch  primitiveren  Zuständen, 
nicht  der  Totemvorfahr,  sondern  das  Naturobjekt  selbst  in  den 
Leib  der  Frau  ein,  so  kann  daraus  unschwer  der  Totemismus 
entstehen.  Einen  solchen  Vorgang  hat  nun  Rivers  auf  den 
Banks-Inseln  festgestellt.  Zwar  herrscht  dort  kein  Totemismus, 
aber  es  besteht  die  Anschauung,  daß  Tier-  oder  Pflanzengeister 
in  die  Frau  eingehen,  und  daß  die  nachher  geborenen  Kinder 
sich  mit  den  betreffenden  Objekten  identisch  fühlen.  Diese 
Erklärung  steht  etwa  auf  derselben  Stufe  wie  die  Ableitung 
des  Gruppentotemismus  vom  Individualtotemismus.  In  beiden 
Fällen  besteht  der  Einwand,  daß  beim  Gruppentotemismus  stets, 
wenn  wir  von  den  genannten  zentralaustralischen  Stämmen 
absehen,  das  Totem  vererbt  wird.  Ferner  ist  die  unzulässige 
Verallgemeinerung  sehr  bedenklich,  ganz  abgesehen  davon,  daß 
die  Methode,  eine  einzelne  Tatsache  in  den  Vordergrund  zu 
schieben,  heute  nur  ausnahmsweise  gebilligt  wird.  Frazer  glaubt 
zu  seiner  Theorie  die  gleichzeitige  Annahme  nötig  zu  haben, 
daß  die  Beihilfe  des  Vaters  zur  Konzeption  nicht  bekannt  war, 
wie  es  zunächst  irrtümlicherweise  von  zentralaustralischen  Stäm- 
men berichtet  wurde.  Tatsächlich  ist  das  aber  nicht  erforder- 
lich, da  eine  Beihilfe  des  Vaters  sehr  wohl  neben  dem  gleich- 
zeitigen Eindringen  des  Kindes  von  außen  bestehen  kann.  Was 
nun  die  Exogamie  anbetrifft,  die  der  Verfasser  als  in  keiner  Be- 
ziehung zum  Totemismus  stehend  ansieht,  so  huldigt  er  der 
Ansicht,  daß  sie  in  bewußter  Absicht  eingeführt  ist,  um  zu- 
nächst die  Heirat  zwischen  Geschwistern  und  zwischen  Mutter 


568  K.Th.Preuß 

und  Kindern  unmöglich  zu  machen,  während  er  anderseits  zu- 
gesteht, daß  ein  Grund  für  die  Vermeidung  des  Inzestes  nicht 
festgestellt  werden  kann.  Um  die  Einführung  der  Exogamie 
als  Mittel  gegen  die  Ehe  zwischen  den  nächsten  Verwandten 
verständlicher  zu  machen,  nimmt  der  Verfasser  vorhergehende 
Promiskuität  an,  wie  er  auch,  namentlich  wegen  der  klassifi- 
katorischen  Verwandtschaftsbezeichnungen,  der  Gruppenehe  das 
Wort  redet,  die  zunächst  infolge  der  Exogamie  entstanden  sei. 
Doch  gibt  er  zu,  daß  sowohl  auf  Promiskuität  wie  auf  Gruppen- 
ehe nur  aus  einigen  Überlebseln  geschlossen  werden  kann.  Auch 
ich  halte  die  Vermeidung  von  Ehen  nächster  Verwandten  für 
eine  Hauptursache  der  Exogamie,  aber  ohne  daß  gewissermaßen 
ein  gesetzlicher  Akt  stattfand  oder  .Promiskuität  vorherging 
und  Gruppenehe  folgte.  Vielmehr  trieb,  wie  in  meinem  Vor- 
trag auf  dem  Leidener  Religionskongreß  ^Die  religiöse  Grund- 
lage der  Exogamie'^  ausgeführt  wurde,  der  Glaube  an  die  Ein- 
heit zwischen  Geschwistern  und  zwischen  Eltern  und  Kindern 
die  beiden  Geschlechter  voneinander  und  veranlaßte  nicht  nur 
die  Vermeidung  des  Beischlafs,  sondern  auch  das  vielfach  nach- 
gewiesene völlige  Femhalten,  die  Vermeidung  der  Namens- 
nennung usw.,  weil  sonst  bei  der  bestehenden  engen  magischen 
Verbindung  der  weibliche  Einfluß  jeden  Erfolg  des  Mannes 
bei  allen  Unternehmungen  unterbunden  hätte. 

Den  schärfsten  Ausdruck  gewinnt  die  Opposition  gegen  die 
Deutung  des  Totemismus  aus  irgendeinem  hervorstechenden 
Merkmal  bei  A.  A.  Goldenweiser  Totemism,  an  Andlytical 
Study}  Diese  Arbeit  geht  überhaupt  mit  großem  Skeptizismus 
an  die  Analyse  des  Komplexes  von  angeblich  totemistischen  Merk- 
malen, indem  der  Verfasser  besonders  die  Verhältnisse  auf  den 
beiden  Gebieten  des  ausgeprägtesten  Totemismus,  in  Australien 

*  Actes  p.  49 — 53.  Ygl.  die  etwas  näheren  Ausführungen  in  meinem 
oben  (S.  545)  erwähnten  Büchlein  Das  geistige  Lehen  des  geschichtslosen 
Menschen. 

'  Journal  of  American  Folklore  XXIII  1911  p.  179—293. 


Religionen  der  Naturvölker  1910 — 1913  569 

und  an  der  nordwestamerikanischen  Küste,  genau  miteinander 
ver gleicht  und  nun  keinesfalls  geneigt  ist,  einen  Ausgleich  der 
sehr  großen  Unterschiede  durch  psychologische  Voraussetzungen 
und  entsprechende  Hinzufügungen  eintreten  zu  lassen,  sondern 
schonungslos  nur  die  Tatsachen  sprechen  läßt.  So  kommt  er 
zu  dem  Ergebnis,  daß  keine  besonderen  Züge  als  unveränderte 
Charakteristika  des  Totemismus  angesehen  werden  können,  noch 
irgendein  Kern  vorhanden  ist,  an  den  sich  alles  übrige  ansetzt 
oder  ansetzen  kann.  Nicht  die  Elemente  sind  das  Ausschlag- 
gebende, aus  denen  sich  der  totemistische  Komplex  irgendeines 
Stammes  zusammensetzt,  sondern  daß  sich  überhaupt  Asso- 
ziationen zwischen  sozialen  Gruppen  als  Ganzes  und  zeremo- 
niellen, ästhetischen  und  sonstigen  Elementen  finden.  Da» 
wichtigste  Merkmal  für  diese  Assoziation  ist  die  Abstammung. 
Den  Totemismus  definiert  er  demnach,  indem  er  den  Ausdruck 
'religiös'  für  die  konstituierenden  Elemente  eliminiert  und  da- 
für emotional  setzt,  als  die  spezifische  Sozialisierung  emotio- 
naler Werte.  Die  Ähnlichkeiten,  die  man  bei  den  totemisti- 
schen  Komplexen  findet,  betrachtet  er  als  Konvergenzerschei- 
nungen. Besondere  Wichtigkeit  auch  für  den  Totemismus  hat 
die  Feststellung  des  historischen  Zusammenhanges  der  sozialen 
Organisation,  der  Religion  und  der  materiellen  Kultur  auf  be- 
stimmten Gebieten,  den  es  z.  B.  in  der  Entwicklung  der  Stämme 
in  Britisch  Kolumbien  nachzuweisen  geglückt  ist,  und  er  ver- 
mutet überhaupt,  daß  die  Ähnlichkeit  und  teilweise  völlige 
Identität  der  sozialen  Gliederung  auf  weiten  Gebieten  nur  durch 
Ausbreitung  von  wenigen  Zentren  aus  zu  erklären  ist. 

Diesen  im  ganzen  negativen  kritischen  Ergebnissen  darf 
man  wohl  zustimmen.  Man  darf  getrost  die  Bankerotterklärung 
der  totemistischen  Forschung,  soweit  Einzelerscheinungen  als 
Grundlage  des  Ganzen  gesucht  werden,  als  gegeben  annehmen^ 
uüd  muß  nur  zu  verstehen  suchen,  weshalb  die  'spezifische 
Sozialisierung  emotionaler  Werte'  erfolgt  ist.  (Ob  freilich  diese 
Definitionsform,  zu  deren  Verständnis  viele  Erläuterungen  ge- 


570  K.Th.Preuß 

hören,  treJBfend  gewählt  und  nicht  zu  allgemein  ist,  sei  dahin- 
gestellt.) So  fragen  wir  uns  nach  wie  vor,  weshalb  sich  Clans 
den  Namen  einer  Tiergruppe  usw.  zugelegt  haben,  weshalb  sie 
die  einzelnen  Tiere  der  Gruppe  als  Verwandte  betrachten 
u.  dgl.  m.,  nur  daß  wir  mehr  eine  allgemeine  Gedankenrichtung 
statt  einer  speziellen  Einzelheit  als  Grundlage  annehmen  möchten. 
Das  tut  auch  der  kurze  Aufsatz  von  R.  Thurnwald,  Die  Denk- 
art als  Wurzel  des  Totemismus^,  worin  im  übrigen  der  Stand- 
punkt Goldenweisers  und  seiner  Vorgänger  eingenommen  wird. 
Der  Verfasser  nimmt  besonders  seine  persönlichen  Beobach- 
tungen bei  den  Salomo-Insulanern  zur  Grundlage  seiner  psycho- 
logischen Betrachtungen  und  hat  die  Tendenz,  unsere  eigene 
Psyche  bzw.  die  von  Kindern,  Geistesgehemmten  usw.  zum 
Verständnis  heranzuziehen.  So  treffend  und  feinsinnig  nun 
auch  seine  Bemerkungen  über  die  Geistesbeschaffenheit  der 
Primitiven  im  allgemeinen  sind,  so  erscheinen  sie  doch  bei  der 
Anwendung  auf  die  springenden  Punkte  der  Abhandlung  nicht 
befriedigend.  So  wird  die  Namengebung  nach  Totemobjekten 
dadurch  erklärt,  daß  für  eine  typisch  betrachtete  Eigenschaft 
vereinfachend  das  ganze,  diese  Eigenschaft  tragende  Objekt 
eingesetzt  werde:  daher  die  Wölfe,  die  Haifische,  die  Känguruhs. 
Die  Tabus  setzen  eine  gewisse  Ausschaltung  der  von  unserer 
Wissensstufe  abhängigen  Bedingtheitskomplexe  in  unserem 
Denken  voraus,  wie  sie  bei  Ungebildeten,  bei  Kindern  und  in 
den  Mätzchen  und  Zwangsvorstellungen  Geisteskranker  zutage 
treten.  So  entstanden  die  gesetzmäßigen,  zwingenden  Verbote 
und  Gebote. 

Für  Goldenweisers  Auffassung  sind  derartige  positive 
Ideen  für  die  Entstehung  des  Totemismus  freilich  schon  zu 
w^eitgehend.  In  einem  weiteren  Aufsatz  The  Origin  of  Totemism^ 
erörtert  er  dementsprechend  nicht,  wie  irgendeine  totemistische 

*  Korrespondenz})!,  d.  Dtsch.  Ges.  f.  Anthr.,  Ethn.  u.  Urg.  XLII  1911 
S.  173-179,  4«. 

'  American  Anthropologist  vol.  XIV  1912  p.  600—607. 


Religionen  der  Natnrvölker  1910 — 1913  571 

Anschauung  entstand,  sondern  nur,  wie  eins  der  totem  istischen 
Elemente,  ein  Tiername,  ein  Ursprungsmythus  usw.,  allmählich 
sozialisiert  und  dadurch  totemistisch  wurde,  daß  es  bei  vielen 
Clans  Eingang  fand.  So  gilt  ihm  die  gewissermaßen  mecha- 
nische Durchdringung  des  sozialen  Organismus  durch  ein  sol- 
ches Element  alles,  die  Idee  selbst  wenig.  Mit  diesem  'Sozia- 
lisieren' wird  aber  recht  wenig  erklärt.  Geht  man  darauf  aus, 
den  Totemismus  als  die  Sozialisierung  unscheinbarer  Anfänge 
in  ein  Nichts  aufzulösen,  wie  Goldenweiser  es  tut,  so  schiebt 
man  die  psychologischen  Fragen  nur  weiter  zurück. 

Eine  Diskussion  der  zahlreichen  Meinungen  über  den  To- 
temismus eröffnet  auch  Luis  Maria  Torres  in  der  Arbeit 
El  Totemismo,  su  origen,  significado,  efectos  y  superviv€ncias\  in 
der  er  sich  besonders  an  Frazers  Werk  anschließt  und  nament- 
lich auch  auf  südamerikanische  Verhältnisse  und  archäologische 
Funde  im  südlichen  Südamerika  eingeht. 

Mit  Befriedigung  können  wir  begrüßen,  daß  nun  auch  eine 
deutsche  Übersetzung  des  im  vorigen  Bericht  (Archiv  XIII, 
S.  444  ff.)  angezeigten  schwedisch  geschriebenen  Buches  über 
den  Totemismus  von  EdgarReuterskiöld,  Die  Entstehung  der 
Speisesakramente^,  erschienen  ist. 

Von  wahrhaft  unermüdlicher  Schaffenskraft  hat  sich  J.  G. 
Frazer  wiederum  in  einem  neuen  Werk  The  Belief  in  Im- 
mortality  and  ihe  Worship  of  the  Dead  gezeigt,  wovon  Band  I 
The  Belief  among  the  Ähorigines  of  Äustralia,  the  Torres  Straits 
Island,  New  Guinea  and  Melanesia  soeben  erschienen  ist.^  Es 
ist  aus  Vorlesungen  erwachsen,  die  der  Verfasser  im  Winter 
1911  und  1912  an  der  Universität  St.  Andrews  hielt,  und  ent- 
hält eine  so  systematische  und  gründliche  Sammlung  des  Ma- 

1  Anales  del  Museo  Nacional  de  Buenos  Aires  ^  Tomo  XX  1911 
p.  485—553. 

^  Übersetzt  von  Hans  Sperber.  ReligionswissenschaßUche  Bibliothek^ 
herauBgeg.  von  W.  Streitberg  und  R.  Wünsch,  Heidelberg  1912.  VH  und 
141  Seiten. 

'  London  1913.     XXI  und  495  Seiten  8«. 


572  ^'  Th.  Preuß 

terials,  wie  wir  sie  von  Frazer  aucli  sonst  gewohnt  sind  Be- 
gräbnisgebräuche, Zeremonien,  Anschauungen,  Mythen  —  alles 
ist  hier  mit  steter  Rücksicht  auf  Erklärungen  und  Entwick- 
lungen zusammengetragen,  um  den  tiefen  und  weitreichenden 
Einfluß  des  Glaubens  an  Unsterblichkeit  und  der  Verehrung 
der  Toten  auf  das  menschliche  Leben  klarzulegen,  der  nach 
des  Verfassers  Meinung  wahrscheinlich  größer  ist  als  der  Ein- 
fluß irgendeiner  der  vielen  Formen  natürlicher  Religion.  Es 
ist  ein  Quellenwerk  ersten  Ranges,  das  hier  jedoch  nur  vor- 
läufig angekündigt  werden  kann,  weil  sich  erst  im  weiteren 
Verlauf  der  Darstellung  die  volle  Tragweite  und  die  Gestaltung 
als  Ganzes  ergeben  wird. 

Die  Promotionsarbeit  von  Jan  Petrus  Benjamin  de 
Josselin  de  Jong  De  waardeeringsonderscheiding  van  'levend' 
en  Hevenloos^  in  het  Indogermaansch  vergeleken  met  hetzelfde  ver- 
schijnsel  in  enkele  Älgonhin-tälen.  Ethno-psychologische  Studie^ 
beschäftigt  sich  mit  dem  wichtigen,  bisher  nie  ernstlich  in 
Angrijff  genommenen  Problem,  was  es  mit  der  Unterscheidung 
der  Wortklassen  auf  sich  hat,  die  in  manchen  Sprachen  be- 
stehen und  gemeinhin  mit  'lebend'  und  'ohne  Leben'  oder 
auch  mit  'beseelt'  und  'unbeseelt'  bezeichnet  werden.  Zugrunde 
gelegt  werden  die  indogermanischen  und  drei  Algonkin-Dialekte, 
das  Ojibwe,  Cree  und  Blackfoot.  Da  der  Verfasser  in  beiden 
Sprachgruppen  gut  zuhause  ist  —  von  den  Ojibwe  und  Black- 
foot hat  er  selbst  an  Ort  und  Stelle  in  mustergültiger  Weise 
Texte  aufgenommen  — ,  so  haben  wir  eine  systematische  und 
nach  allen  Richtungen  gut  durchgearbeitete  Behandlung  des 
Themas  vor  uns,  und  auch  die  erklärende  Hypothese,  auf  die 
die  Arbeit  hinauskommt,  dürfte  alle  Beachtung  verdienen,  so- 
weit eine  Lösung  zurzeit  überhaupt  möglich  ist.  Zunächst 
wird  im  Indogermanischen  als  Kennzeichen  des  Unterschiedes 
von  'lebend'  und  'ohne  Leben'  das  Zusammenfallen  von  tran- 
sitiv-aktiv   und   intransitiv-passiv   mit   der  Unterscheidung  des 

1  Leiden  1913.     224  Seiten  8«. 


Religionen  der  Naturvölker  1910—1913  573 

grammatisclierL  Geschlechts  bzw.  des  Geschlechtslosen  als  be- 
sonders wichtig  festgestellt  und  dadurch  ein  wichtiger  Hinweis 
auf  die  Entstehung  gewonnen.  Sodann  folgt  die  Aufstellung 
der  entsprechenden  Wortgruppen,  um  sie  mit  den  Gruppen 
aus  den  Algonkinsprachen  vergleichen  zu  können,  wo  die  gram- 
matische Teilung  aller  Substantiva  in  solche  mit  und  ohne 
Leben  viel  offenkundiger  ist.  Der  Verfasser  hat  sich  auch 
redliche  Mühe  gegeben,  sich  für  seine  Erklärungszwecke  in  die 
mannigfachen  Theorien  über  Seele,  Persönlichkeit,  Zauberkraft, 
Mana  usw.  zu  vertiefen,  und  hat  die  verschiedenen  Auffassungen 
recht  objektiv  dargestellt.  Er  vermag  aber  eine  bestimmte 
Stellung  zu  ihnen  nicht  einzunehmen  und  hält  sie  als  Grund- 
lage für  ein  Verständnis  der  Wortkategorien  des  Lebenden  und 
Unbelebten  für  ungeeignet,  da  sich  zu  viel  Widersprüche  er- 
geben würden.  Vielmehr  glaubt  er,  die  indogermanische  Unter- 
scheidung des  Transitiv-Aktiven  und  des  Intransitiv-Passiven 
auch  auf  die  genannten  amerikanischen  Sprachen  ausdehnen  zu 
können,  weil  trotz  aller  Verschiedenheiten  der  Wortgruppen 
einige  darauf  hinzielende  Übereinstimmungen  zu  finden  sind. 
So  gehören  fast  alle  Glieder  der  Menschen-Tiergruppe  in  Klasse  I, 
ebenso  die  meisten  Baum-  und  Pflanzennamen,  während  die 
Früchte  in  die  Klasse  II  fallen.  Baum  gehört  zu  I,  Holz  zu  II, 
rohe,  unbearbeitete  Haut  zu  I  (wobei  das  Aktive  in  dem  Ge- 
brauch zu  Zeremonialtänzen,  Medizinen  usw.  liegen  soll),  be- 
arbeitete zu  II  u.  dgl.  m.,  wobei  der  Verfasser  sich  in  den  ein- 
zelnen Fällen  bemüht,  seine  Theorie  verständlich  zu  machen. 
Von  dem  Buche  Th.  W.  Danzels,  Die  Anfänge  der  Schrift^, 
sei  nur  das  Kapitel  über  die  magischen  Symbole  S.  6ß — 90 
erwähnt  und  der  Grundgedanke  für  die  Entstehung  der  Schrift. 
Danzel  unterscheidet  spielmäßiges  Zeichnen  und  solches,  das 
nicht  aus  bloßer  Lust  hervorgegangen  ist,  wozu  auch  das  reli- 
giöse Zeichnen  gehört.    Das  Bild  erhält  nach  ihm  durch  asso- 

^  Beiträge  zur  Kultur-  und  Universalgeschichte  Heft  21    X  und  219 

Seiten  S*»  nebst  40  Tafeln. 


574 


K.  Th.  Prenß 


ziative  Vorstellungen  eine  magische  Bedeutung,  indem  ent- 
sprechend den  Auffassungen  Vierkandts  im  Globus,  Bd.  92 
(vgl.  Archiv  XIII.  S.  433  ff.)  erst  Affektwirkungen,  später  Fern- 
wirkungen auftreten,  während  die  Seelenvorstellungen  erst 
später  damit  verknüpft  werden.  Die  Bilderschrift  entsteht  nun 
auf  dem  Umweg  über  die  religiösen  Symbole,  die  allmählich 
einen  festen  Wert  erhalten,  als  mnemotechnisches  Hilfsmittel. 
Verworfen  wird  dagegen  die  Entstehung  der  Bilderschrift  aus 
der  beschreibenden  Zeichnung,  da  diese  einen  zu  großen  Affekt- 
wert in  sich  besitze,  um  als  zweckmäßiges  Mittel  zur  Mittei- 
lung verwandt  zu  werden.  Die  Arbeit  wird  durch  die  sorg- 
fältige Gruppierung  der  zahlreichen  Belege  wichtig  und  ruht 
auf  ethnologischer  Grundlage.  Man  kann  der  Beweisführung 
die  Berechtigung  nicht  absprechen  und  darf  die  Arbeit  als 
Ausgang  für  weitere  Forschungen  empfehlen. 

^Das  gleichgeschlechtliche  Leben  der  Naturvölker'  behan- 
delt F.  Karsch-Haack.*  Es  ist  darin  mit  großer  Sorgfalt 
möglichst  alles  Material  über  Neger,  Australier,  Melanesier, 
Polynesier,  Mikronesier,  die  arktischen  Völker  und  Indianer 
zusammengetragen,  während  die  übrigen  Völker  der  Erde,  meist 
Halbkultur-  und  Kulturvölker,  in  vier  weiteren  Bänden  behan- 
delt werden  sollen.  Bezüglich  der  Gliederung  der  Völker  dieses 
Bandes  ist  zu  bemerken,  daß  die  Zusammenstellung  der  neger- 
artigen Völker:  Austronesier,  Melanesier  (wozu  auch  z.  B.  die 
Singhalesen  gerechnet  sind)  und  der  afrikanischen  Neger  sehr 
gewagt  ist.  Im  wesentlichen  hat  der  Verfasser  nur  im  Auge, 
die  Verbreitung  über  die  Erde  festzustellen,  um  daraus  den 
Schluß  zu  ziehen,  daß  der  Trieb  zur  gleichgeschlechtlichen 
Liebe  ein  natürliches  Vorkommnis  sei  und  sich  ebensowenig 
erklären  lasse  als  die  anders  geschlechtliche  Liebe.  Dagegen 
lagen  ihm  die  einzelnen  Probleme,  nämlich  in  welcher  Weise 
sich  die  besondere  Ausbildung  der  Erscheinung  an  manchen 
Orten    erklären   lasse   und    inwieweit   dabei    die   religiöse  und 

^  München  1911.     XVI  und  666  Seiten  8». 


Religionen  der  Naturvölker  1910—1913  575 

zauberisclie  Auffassung  beteiligt  ist,  fern.  Auch  für  die  mora- 
lischen  und  sonstigen  Folgen  wäre  die  Ethnologie  sehr  inter- 
essiert. Aber  daß  -diese  Dinge  nicht  verfolgt  worden  sind,  ist 
dem  Verfasser  um  so  weniger  zur  Last  zu  legen,  als  das  Ma- 
terial gerade  nach  dieser  Richtung  hin  sehr  lückenhaft  und 
spröde  ist.  Es  genügt  daher  zu  betonen,  daß  dieses  Werk, 
ebenso  wie  früher  die  Abhandlungen  des  Verfassers  'üranismus 
oder  Päderastie  und  Tribadie  bei  den  Naturvölkern'  im  III.  Jahr- 
buch für  sexuelle  Zwischenstufen  1901,  S.  72—201  und  'Daa 
gleichgeschlechtliche  Leben  der  Kulturvölker'  —  worin  nur  die 
Ostasiaten  untersucht  werden  —  das  einzige  ist,  in  dem  man 
über  die  wichtigen  Fragen  ausführliches  Material  nebst  genauen 
Quellenangaben  finden  kann.  Wir  sind  freilich  nicht  mehr  so 
befangen,  daß  wir  dieses  Thema,  weil  es  sich  um  ^Perversi- 
täten' handele,  um  jeden  Preis  meiden,  aber  doch  muß  man 
auch  heute  noch  den  Mut  des  Verfassers  anerkennen  und  wir 
wünschen  ihm  sehr,  daß  er  das  ganze  geplante  Werk  vollenden 
und  die  Genugtuung  haben  möge,  andere  Forscher  die  hier 
fehlende  Durchdringung  der  mannigfachen  Erscheinungen  und 
Probleme  der  gleichgeschlechtlichen  Liebe  anbahnen  zu  sehen, 
was  sowohl  am  Schreibtisch  wie  bei  den  Naturvölkern  selbst 
geschehen  muß. 

Gleich  den  homosexuellen  Erscheinungen  gelangen  auch 
die  gewöhnlichen  geschlechtlichen  Vorgänge  vielfach  in  Be- 
ziehung zum  religiösen  Leben,  weshalb  hier  auch  auf  das  Werk 
von  Iwan  Bloch,  Die  Prostitution,  Band  P  aufmerksam  gemacht 
sei,  das  diese  Seite  des  Sexuallebens  S.  67 fi^.  schildert.  Frei- 
lich liegt  der  Absicht  des  Buches,  das  den  Ursprung  der  mo- 
dernen Prostitution  von  den  ältesten  Zeiten  und  von  dem  an- 
geblichen ungebundenen  Geschlechtsverkehr  der  Naturvölker 
an  schildern  will,  eine  eingehende  Darlegung  der  zeremoniellen 
und  zauberischen  Wurzeln  der  eiuzelnen  Kulte  fern,  aber  wir 

^  Handbuch  der  gesamten  Sexualwissenschaft  in  Einzeldarstellungen  J» 
Berlin  1912,  XXXVI  und  870  Seiten  8". 


.576  ^-  Th.  Preuß 

finden  ein  buntes  Durcheinander  von  Beispielen  namentlicli  der 
religiösen  Prostitution.  Das  Verständnis  dafür  wird  dadurch 
beeinträchtigt,  daß  vieles,  den  Auffassungen  älterer  Forscher 
entsprechend,  auf  ursprüngliche  Promiskuität  und  Gruppenehe 
zurückgeführt  wird,  während  heute  nur  noch  sehr  wenige  der- 
artige Verhältnisse  in  der  Urzeit  annehmen.  Gerade  die  viel- 
gerühmte Natürlichkeit  der  Naturvölker  in  sexueller  Beziehung 
ist  seit  den  neueren  Untersuchungen  immer  mehr  der  Über- 
zeugung von  der  Gebundenheit  durch  mannigfache  Vorschriften 
meist  auf  Grund  magischer  Ideen  gewichen,  und  so  wäre  es 
für  ein  tieferes  Eindringen  notwendig,  das  Verhältnis  der  Pro- 
stitution zu  den  Regeln  der  Ehe,  z.  B.  der  Exogamie,  festzu- 
stellen. Während  sich  der  Verfasser  sonst  bemüht,  überall  die 
Originalbelege  beizubringen,  sind  für  diesen  Abschnitt  als 
Quellen  zu  sehr  sekundäre  Arbeiten  benutzt,  unter  denen  be- 
sonders F.  V.  Reitzensteins  populäre  Büchlein  unliebsam  auf- 
fallen. Als  Ganzes  zeichnet  sich  das  Werk  durch  sympathische 
Behandlung  des  heiklen  Themas,  eingehende  Untersuchung  der 
klassischen  Zeit  und  des  Mittelalters  und  durch  großzügige 
Auffassung  des  Sexualproblems  überhaupt  aus,  die  der  Verfasser  für 
die  sozialen  Bedürfnisse  der  Gegenwart  fruchtbar  machen  will. 
Seine  sehr  anfechtbare  Theorie  geht  dahin,  daß  das  Ausleben 
der  Naturvölker  in  geschlechtlicher  Beziehung  durch  Promis- 
kuität, Gruppenehe  usw.  bei  den  Kulturvölkern  unterbunden 
wurde,  daß  der  Wertbegriff  der  ehrbaren  Frau  in  der  klassi- 
schen Welt  die  Prostitution  vollends  ausbildete,  und  daß  wir 
die  Erben  jener  Auffassung  der  Frau  sind,  die  deshalb  für 
unsere  Zeit  eine  Änderung  erfahren  muß. 

Nachdem  1882  H.  Ploß,  Das  Kind  in  Brauch  und  Sitte 
der  Völker  in  zweiter  Auflage  erschienen  war,  hat  nun  end- 
lich eine  Neubearbeitung  dieses  gerade  auch  für  religions- 
wissenschaftliche Forschungen  wichtigen  Themas  durch  B.  Renz^ 

*  2  Bde.,  IV  und  608,  bzw.  927  Seiten  8»  mit  230  bzw.  274  Abbil- 
dungen.    Leipzig  1911. 


Religionen  der  Naturvölker  1910—1913  577 

stattgefunden,  in  der  das  völkerkundliche  Material  entsprechend 
der  regen  ethnologischen  Forschertätigkeit  der  letzten  Jahr- 
zehnte ganz  bedeutend  vermehrt  und  die  Gruppierung  ent- 
sprechend erweitert  und  umgestaltet  ist.  Es  tritt  damit  würdig 
an  die  Seite  des  alle  paar  Jahre  in  neuer  Auflage  erscheinen- 
den Ploß-Bartels,  Das  Weib,  in  dem  allerdings  auch  schon  das 
Mädchen  von  der  Geburt  an  behandelt  worden  ist.  Das  Ganze 
ist  in  60  Kapitel  nach  Stoffen  gegliedert,  von  dem  Wunsche 
nach  Kindern,  der  Schwangerschaft  usw.  an  bis  zu  den  Puber- 
tätsfesten und  der  Verheiratung.  Innerhalb  der  Kapitel  ist 
meist  die  geographische  Anordnung  gewahrt,  und  ein  Überblick 
über  das  Ganze  schließt  jedes  einzelne  Kapitel.  Alle  Angaben 
sind  durch  genaue  Quellenbezeichnung  belegt. 

Mythologie 
Von  den  Büchern  über  allgemeine  Mythologie  ist  besonders 
Paul  Ehrenreich,  Die  allgemeine  Mythologie  und  ihre  ethno- 
logischen Grundlagen^,  zu  erwähnen,  das  eine  besonnene  Aus- 
sprache über  alle  mythenbildenden  Elemente   auf  Grund  einer 
sehr  guten  Kenntnis  des  Materials  nicht  nur  aus  dem  engeren 
ethnologischen  Gebiet,  sondern  auch  aus  dem  der  Kulturvölker 
bringt.    Wir    dürfen    das  Buch  um  so  mehr   dem  Nachdenken 
j  der   philologischen    Spezialisten    empfehlen,   als  es   in  der  Tat 
I  ausgeschlossen  erscheint,  daß  mythologische  Studien  auf  engem 
1  geographischen   Gebiet   ohne  Befruchtung  von  Seiten    der  ver- 
I  gleichenden    Mythenforschung    zu   befriedigenden    Ergebnissen 
führen.     Freilich  hat  der  Verfasser  einen  entschiedenen  Stand- 
punkt,   indem   er   in  jedem  Mythus  oder  Märchen  den  Natur- 
kern zu  finden  sucht  und  den  himmlischen  Erscheinungen,  na- 
mentlich  auch   dem   Monde,    eine   große  Bedeutung  darin  bei- 
mißt;  aber   einmal   betrachtet    er   die  Aufgabe  des  Verstehens 
I  nicht  dadurch  als  erfüllt,  daß  in  einer  Erzählung  eine  zusammen- 
hanglose  Reihe    von   Naturmotiven  aneinandergereiht  ist,  und 

1  VIII  und  288  Seiten  S*'.     Leipzig  1910. 

Archiv  f.  Eeligionswissenschaft  XVII  37 


578  K.Th.Preuß 

anderseits  verfolgt  er  auch  die  irdischen  Erscheinungen  sowie 
die  individuellen  und  sozialen  Verhältnisse,  an  die  sich  wunder- 
bare Erzeugnisse  der  Phantasie,  namentlich  auch  magische  Ge- 
dankengänge, anknüpfen  können.  Nur  ist  naturgemäß  ent- 
sprechend der  emsigen  Arbeit  der  Mythenerklärer  das  erstere 
Gebiet  viel  reicher  mit  Belegen  bedacht,  während  das  andere 
nur  summarisch  behandelt  wird.  Wer  also  nicht  gerade  auf 
dem  Standpunkt  steht,  daß  es  zum  Verständnis  der  Mythen 
der  Schicksale  von  himmlischen  Naturerscheinungen  nicht  be- 
darf, und  nicht  alle  Motive  für  Erfindungen  der  in  Anlehnung  an 
gewöhnliche  menschliche  Verhältnisse  schaffenden  Phantasie 
hält,  der  wird  bei  dem.  Buche  auf  seine  Rechnung  kommen. 
Man  darf  es  am  besten  als  eine  Art  Nachschlagebuch  betrachten, 
in  dem  man  Anregungen  zum  Nachdenken  erhält,  an  welche 
Naturerscheinungen  sich  die  Phantasie  bei  bestimmten  Motiven 
angelehnt  hat.  Es  schadet  nichts,  wenn  man  hierin  nicht  immer 
mit  dem  Verfasser  übereinstimmt.  Ich  glaube  z.  B.  nicht,  daß 
Tarnkappe,  Zerstückelung  und  Wiedererstehung,  Hautabziehen, 
Durchbrechen  der  mütterlichen  Seite  bei  der  Geburt  und  ähn- 
liches durchaus  immer  auf  den  Mond  zurückzuführen  ist.  Wie 
mich  ein  Huicholindianer  fragte,  ob  auch  die  mexikanischen 
Frauen  menstruieren,  und  ein  anderer  mir  erzählte,  daß  es  noch 
vor  kurzem  in  einem  nahen  Dorfe  Menschen  ohne  Anus  ge- 
geben habe,  so  gibt  es  für  die  Phantasie  der  Naturvölker  kaum 
eine  durch  die  Erfahrung  gezogene  feste  Schranke.  Daher 
kommt  es  für  die  Erklärung,  was  das  Motiv  bedeutet,  ganz 
auf  den  Zusammenhang  an,  und  man  tut  gut,  sich  nicht  sche- 
matisch auf  Motive  festzulegen,  zumal  die  psychologische  Unter- 
suchung noch  in  den  ersten  Anfängen  steckt.  Um  Mythen  zu 
verstehen,  ist  meines  Erachtens  ganz  besonders  die  Erforschung 
von  Religion  und  Zauberei  notwendig,  und  da  man  hierin  noch 
nicht  weit  fortgeschritten  ist,  so  kann  auch  die  hier  gebotene 
Unterlage:  Personifikation  der  Naturerscheinungen,  Seelenglaube, 
worauf  die    Zauberei  beruhe,  usw.  nur  unzureichend  sein,  na- 


Eeligionen  der  Naturvölker  1910—1913  579 

mentlich  da  der  Verfasser  tiefere  psychologische  Vorstellungen, 
wie  den  sog.  Präanimismus ,  auf  eine  Stufe  mit  der  Theorie 
des  sprach-  oder  feuerlosen  Menschen  stellt.  Wie  man  diese 
nicht  beobachten  könne,  so  müsse  auch  der  Präanimismus  aus 
der  Betrachtung  heraus.  Daß  der  Animismus  zwar  bequem, 
aber  unzureichend  zur  Erklärung  der  religiös  -  magischen  Tat- 
sachen ist,  daran  zweifeln  heute  nur  noch  sehr  wenige  Ethno- 
logen, mag  man  ergänzende  Theorien  Präanimismus  oder  sonst- 
wie nennen. 

Entsprechend  seiner  Auffassung,  daß  gerade  die  gleichen 
himmlischen  Motive  an  verschiedenen  Stellen  entstehen  können, 
steht  der  Verfasser  im  Gegensatz  zu  den  Verfechtern  jeder 
schrankenlosen  historischen  Ordnung,  die  Schichtungen  und 
Kulturwellen  feststellen  will,  wie  es  für  die  geschichtliche  Zeit 
europäischer  Kulturvölker  möglich  ist.  Anderseits  gehört  er 
selbst  zu  denen,  die  jedem  positiven  Nachweis  von  Mythen- 
wanderung durch  die  Aufeinanderfolge  gleicher  Motive  die 
Bahn  freigeben.  Das  ist  gegenwärtig  der  richtige  Standpunkt, 
da  eingehende  Untersuchungen  noch  fehlen.  Aber  auch  diesem 
Mangel  wird  nun  dank  dem  Interesse  an  den  Mythenstoffen 
abgeholfen,  und  zwar  ist  gleich  der  erste  Versuch  ein  umfas- 
sendes, großzügiges  Werk  geworden,  das  ein  gewaltiges  Stoff- 
material, wenn  auch  natürlich  durchaus  nicht  alles  überhaupt 
vorhandene  Material,  in  sehr  ansprechender  Weise  meistert. 
Es  ist  das  Werk  von  Oskar  Dähnhardt,  Natursagen,  von 
dem  jetzt  in  Band  III  und  IV  Die  Tiersagen ^  herausgegeben 
worden  sind,  letzterer  Band  im  Verein  mit  A.  v.  Löwis  of 
Menar.  Jeder  Ethnologe  wird  es  den  Verfassern  Dank  wissen, 
daß  man  jetzt  ohne  Mühe  etwaige  Parallelen  zur  Hand  hat 
und  namentlich  in  die  Lage  versetzt  wird,  mit  ziemlicher 
Sicherheit  autochthones  Gut  von  dem  sehr  bedeutenden  Ma- 
terial zu  sondern,  das  erst  durch  das  Vordringen  der  Europäer 
über   den   Erdball   verbreitet   ist.     So   hat   man  neuerdings  in 

'  XVI  und  658  bzw.  IX  und  322  Seiten  8^  1910  und  1912. 

37* 


I 


580  ^'  Th.  Preuß 

dem  spanisdien  Nord-  und  Mittelamerika  eine  Menge  Tier- 
märclien  in  spanisclier  Sprache  aufgezeiclinet,  die  sicherlich 
durch  die  Spanier  herübergebracht  sind  und  die  man  ebenso 
in  den  Idiomen  der  Indianer  sammeln  kann.  Ich  werde  dar- 
auf noch  in  dem  amerikanischen  Religionsbericht  näher  ein- 
gehen. Deshalb  ist  gerade  Teil  II  der  Tiersagen  äußerst  inter- 
essant, da  dort  die  Verfasser  bemüht  sind,  die  Wanderungen 
griechischer,  indischer  und  nord-  sowie  mitteleuropäischer  Tier- 
erzählungen festzustellen.  Für  Teil  I,  der  das  Gros  der  Tier- 
sagen enthält,  ist  die  Zurückhaltung  Dähnhardts  gegenüber 
Wanderungshypothesen,  aber  vielleicht  noch  mehr  gegenüber 
der  Feststellung  bloßer  unabhängiger  Analogien  bemerkenswert. 
Er  hat  durchaus  recht,  daß  Wanderungen  leichter  zu  beweisen 
sind  als  unabhängige  Entstehung.  Bei  letzterer  werden  wir 
immer  nur  von  einer  Überzeugung  und  davon  sprechen  können, 
daß  das  Gegenteil  nicht  bewiesen  ist.  So  verwerflich  und 
leichtsinnig  es  demnach  ist,  mit  Gewalt  überall  unbewiesene 
Wanderungen  vorzubringen,  so  notwendig  ist  es,  zunächst  durch 
methodische  Untersuchung  der  Wanderungsfrage  nachzugehen 
und  schließlich  zu  sehen,  was  übrig  bleibt.  Exakte  übersicht- 
liche Sammlung  des  Mythenmaterials  durch  eine  Vereinigung 
von  vielen  Forschern  ist  daher  das  nächstliegende  und  nicht 
zu  umgehende  Ziel  der  Mythenforschung,  wenn  man  überhaupt 
weiterkommen  will. 

Es  sei  noch  die  kleine  Mythensammlung  von  Georg  Ger- 
land, Der  Mythus  von  der  Sintflut^,  erwähnt,  die,  schon  vor 
längerer  Zeit  zu  Kollegzwecken  entstanden,  eine  Vollständig- 
keit nicht  erzielen  will  und  die  neueren  Veröffentlichungen 
nicht  mehr  berücksichtigt.  Wir  freuen  uns,  den  von  alter  Zeit 
her  auf  ethnologischem  Gebiet  hochgeschätzten  Verfasser  wie- 
der zu  vernehmen.  Seine  Auffassung  der  Tatsachen  als  Himmels- 
mythus, und  zwar  mit  dem  Nachthimmel  als  Wasser  und  dem 
Monde  als  Fahrzeug,  entspricht  in  der  Tat  vielen  Darstellungen 

*  124  Seiten  8<>,  1912. 


Religionen  der  Naturvölker  1910—1913  581 

des  Stoffes,  und  er  ist  wohl  im  Rechte,  den  Ursprung  der 
Mythen  von  bloßen  Flutkatastrophen  her  ganz  beiseite  zu 
schieben.  Nicht  verständlich  ist  dagegen  die  Erklärung  der 
Sündhaftigkeit  der  Menschen,  die  deshalb  vernichtet  werden 
müssen.  Der  Verfasser  leitet  sie  von  dem  Tabubegriff  ab,  der 
in  der  Zwangsvorstellung  des  Himmels  als  übermächtiger,  die 
Menschen  bald  segnender,  bald  strafender  Einheit  wurzele. 
Wenn  der  Verfasser  mit  seinen  weiteren  Ausführungen  darüber 
im  wesentlichen  nur  sagen  will,  daß  alles  Ungemach  als  eine 
persönliche  Einwirkung  von  außen  her  aufgefaßt  und  daß  schon 
das  bloße  Gefühl  des  Ungemachs  demgemäß  als  Strafe  ange- 
sehen wurde,  so  mag  er  recht  haben.  Doch  fürchte  ich,  die 
Schattierung  seiner  kurzgefaßten  Meinung  nicht  völlig  ver- 
standen zu  haben.  Man  hätte  überhaupt  ein  näheres  Eingehen 
auf  die  psychologische  und  religiöse  Seite  gewünscht,  da  seine 
Ausführungen,  namentlich  seine  Auffassungen  von  großen  Natur- 
einheiten als  Persönlichkeiten,  vielversprechend  sind. 


^ 


6  Eeligioneü  der  NatnrYölker  Indonesiens 

Von  H.  H.  JuynboU  in  Leiden 

Celebes.  In  der  ausgezeichneten  Monograpliie  von  Adriani 
und  Kruyt,  De  Baree-sprekende  Toradja's  van  Midden- Celebes 
(Band  1  und  2,  Batavia  1912)  wird  natürlicli  die  Religion  der 
Toradjas  sehr  ausführlich  besprochen.  Zumal  im  10.  Kapitel 
des  ersten  Bandes  (S.  245  ff.)  werden  die  geistlichen  und  reli- 
giösen Begriffe  erörtert.  Der  Mensch  ist  von  Kombengi,  dessen 
Name  von  wengi  (Nacht)  abgeleitet  ist,  geschaffen.  Der  Mythus 
vom  Paradiese  und  der  Sintflut  kommt  auch  hier  vor.  Die 
Toradjas  unterscheiden  die  tanoana  (Seele  im  lebenden  Körper) 
von  der  angga  (Seele  nach  dem  Tode).  Das  Wort  tanoana 
bedeutet  eigentlich  homunculus  und  dann  weiter  auch  ^  Seelen- 
stoff', der  sich  in  allen  Körperteilen  befindet.  Ein  anderes 
Wort  zur  Bezeichnung  von  Seelenstoff  ist  wajo  oder  limhajo 
(etymologisch  "^Spiegelbild,  Schatten',  wie  mal.  hajang,  jav.  wa- 
jang).  Wenn  der  Seelenstoff  den  Körper  verläßt,  geschieht  dies 
meistens  durch  den  Scheitel  und  durch  die  Gelenke,  aber  wenn 
man  niest,  kann  der  Seelenstoff  auch  durch  die  Nase  hinaus- 
gehen. Außerhalb  des  Körpers  nimmt  der  Seelenstoff  die  Ge- 
stalt eines  Homunculus  oder  eine  Tiergestalt  (Schmetterling, 
Regenwurm,  Schlange,  Fliege  oder  Maus)  an.  Schreck  und 
starkes  Verlangen  können  die  Trennung  des  Seelenstoffs  vom 
Körper  veranlassen.  Man  betrachtet  Träume  von  fernen  Orten 
als  einen  Beweis,  daß  der  Seelenstoff  den  Körper  verlassen 
kann.  Derartige  Träume  kann  man  verursachen,  indem  man 
an  einer  von  einem  Geist  bewohnten  Stelle  sich  schlafen  legt. 
Dies  heißt  im  Baree  moharatapa,  von  mal.  hertapa  (Wurzel 
tapas  ^Askese'  im  Sanskrit)  abgeleitet  mit  dem  Präfix  mo-. 

Die  Leute,  deren  Seelenstoff  den  Körper  verläßt  mit  dem 
Zweck,  sich  von  dem  Seelenstoff  anderer  Menschen  zu  nähren, 


Religionen  der  Naturvölker  Indonesiens  583 

werden  tau  mepongko  genannt.  Sie  können  dabei  die  Gestalt 
eines  Hirsclies,  eines  Schweines,  eines  Krokodils^  eines  Affen, 
eines  Büffels  oder  einer  Katze  annehmen.  Wie  bei  vielen  an- 
deren Indonesiern  herrscht  auch  bei  den  Toradjas  der  Glauben, 
daß  es  Hexen  gibt,  die  ihren  Kopf  und  ihre  Eingeweide  vom 
Körper  trennen  können,  um  des  Nachts  den  Schlafenden  das 
Blut  auszusaugen.  Diese  tau  mebutu  (abgeleitet  von  hutu  gleich 
mal.  putus  'abgebrochen')  entsprechen  also  den  penanggalan 
(Vampyren)  der  Malayen. 

Der  Seelenstoff  des  Menschen  kann  sich  in  allerlei  Tier- 
gestalten zeigen,  z.  B.  von  Affen,  Büffeln,  Krokodilen,  Haus- 
eidechsen und  Vögeln.  Zu  den  Pflanzen,  die  Seelenstoff  ent- 
halten, gehören  der  Reis,  die  Dracaena  terminalis,  die  Pinang- 
nuß, die  Zuckerpalme  (Arenga  saccharifera),  die  Kokos-  und 
die  Sagopalme  (Metroxjlon). 

Nach  den  Toradjas  haben  Vater  Himmel  {I  Lai)  und  Mutter 
Erde  (J  Ndara)  die  Menschen  aus  Stein  geschaffen.  Pue  di 
Songi  (der  Herr  im  kleinen  Zimmer)  teilt  der  Priesterin  mit, 
wo  der  verlorene  Seelenstoff  geblieben  ist.  Ngkai  mantande 
songka  (der  Großvater,  der  die  Befehle  empfängt)  sitzt  in  einem 
Hause,  wo  die  Seelen  der  Menschen  an  Schnüren  hängen.  Puu 
mPalaburu  (Herr  Kneter)  setzt  die  Schöpfung  von  Lai  und 
Ndara  fort  und  ist  als  der  Gott  der  Sonne  und  des  Himmels 
zu  betrachten.  Regentropfen  sind  Tränen  der  Götter.  Früher 
verkehrten  die  Menschen  mit  den  Göttern  an  einer  Liane  ent- 
lang kletternd,  die  später  zerhackt  wurde.  Zu  den  niedrigeren 
Göttern  gehören  die  Wurake,  die  zwischen  den  Göttern  und 
der  Erde  wohnen  und  die  Schutzgeister  der  Menschen  sind, 
wie  die  Sangiang  bei  den  Dajak,  ferner  die  Meergeister,  die 
nur  Fisch  essen,  die  Berggeister,  die  Flußgeister  (imhu),  die 
Waldgeister  {heia)  und  die  Erdgeister.  Den  Göttern  und  Geistern 
wird  sirih-pinang^  Kalk,  Tabak,  gelber  Reis,  Eier  und  Leber 
auf  Opfertischen  geopfert.  Vögel  betrachtet  man  als  Abgesandte 
der  Götter,   zumal  die  Eule  (poa),  deren  Geschrei  Glück  oder 


584  H-  ^'  Jiiynboll 

Unglück  prophezeit.  Die  Verehrung  der  Seelen  der  Verstor- 
benen ist  sehr  populär;  dagegen  kommt  Verehrung  von  Leichen 
wenig  vor.  Die  Anitu  [genannten  Geister  im  Dorftempel  sind 
die  Seelen  von  Menschen,  die  im  Kriege  getötet  sind.  Diese 
Dorftempel  (loho)  werden  ausführlich  beschrieben  und  abgebildet 
(S.  285).  Sie  sind  mit  Krokodilen  (Symbolen  der  Tapferkeit) 
und  Genitalien  (Symbolen  der  Fruchtbarkeit)  verziert.  Das 
Tempelfest  (montjojo)  hatte  den  Zweck,  alle  Bewohner  des 
Dorfes  zu  Kopfjägern  zu  machen:  Frauen  und  Kinder  hacken 
mit  Schwertern  aus  Bambus  in  ein  Stück  Menschenschädel. 
Später  werden  diese  Schwerter  in  das  Dach  des  Tempels  ge- 
steckt (rasojowi),  daher  der  Name  des  Festes  montjojo  (vom 
Stamm  sojOy  d.  i.  jav.  serep  ^einstecken'). 

Im  12.  Kapitel  (S.  361  ff.)  werden  die  Priesterinnen  und  ihre 
Wirksamkeiten  ausführlich  besprochen.  Bei  dem  mowuräke  der 
Baree-Toradjas  verläßt  der  Seelenstoff  (tanoana)  der  Priesterin 
den  Körper,  um  bei  den  Geistern  Hilfe  zu  suchen;  bei  dem 
mdhalia  der  Parigier,  Paluesen  und  Berg-Toradja's  aber  fährt 
ein  Geist  in  den  Körper  der  Priesterin.  Nur  selten  treten  Männer 
als  Priesterinnen  auf.  Sie  heißen  hajasa  (Betrüger)  und  ähneln 
den  hasir  der  Olo  Ngadju  von  Südborneo.  Man  wird  Lehrling 
einer  Priesterin,  indem  man  sie  stets  bei  ihrer  Wirksamkeit 
begleitet.  Der  Lohn  der  Priesterinnen  besteht  meistens  in  einem 
Stück  Kattun,  einem  Hackmesser,  einem  Stück  Baumrinde  (fuja) 
und  dem  Opfer  für  die  helfenden  Geister.  Die  Priesterinnen 
bitten  den  wurake  (einen  der  Geister  zwischen  Erde  und  Himmel), 
sie  nach  dem  Himmel  zu  führen.  Das  momparüanglca  ('an  die 
erhabene  Stelle  setzen')  hat  den  Zweck,  die  Seelen  aller  Frauen 
und  Mädchen  nach  dem  Himmel  zu  senden.  Bei  diesem  Fest 
sind  sie  in  weiße  Baumrinde  gekleidet.  Der  Tanz  (motaro)  bei 
dieser  Gelegenheit  ist  als  ein  Streit  mit  den  Geistern  aufzu- 
fassen. Während  dreier  Nächte  müssen  die  Mädchen  inner- 
halb des  Vorhangs  (langJca)  bleiben.  Am  zweiten  Tage  des 
Festes  geschieht  das  mdlonto  ali  (Springen  über  Matten).    Das 


Religionen  der  Naturvölker  Indonesiens  585 

Ausbreiten  eines  Kleides  über  die  Mädchen  und  das  Schlagen 
mit  Dracaena  terminalis  -  Blättern  auf  ihren  Kopf  (mowurake 
moöko  lipa)  hat  den  Zweck,  die  Mädchen  zu  den  wurake -GeiBtern 
zu  bringen,  damit  dieselben  ihnen  bei  dem  Aufbau  ihrer  Häuser 
helfen.  In  der  zweiten  Nacht  des  Festes  stampfen  die  Mädchen 
mit  Dracaena-Zweigen  auf  den  Boden,  angeblich  um  die  Dörfer 
der  Geister  (dimalele)  zu  überfallen  und  Köpfe  zu  erbeuten. 
Am  letzten  Tage  geschieht  das  Reinigen  der  Mädchen  und  das 
Zurückbringen  des  Seelenstoffs  in  ihren  Körper.  —  Eine  kranke 
Frau  soll  zuerst  die  Wirksamkeit  der  Priesterinnen  von  den 
himmlischen  Geistern  gelernt  haben.  Die  Priesterin  wird  ge- 
rufen, um  den  Seelenstoff  der  Menschen  oder  des  Reises  zurück- 
zuführen, und  um  die  wuraJce-G eister  anzurufen  für  Gewährung 
von  Regen  oder  Trockenheit.  Sie  geht  mit  dem  wurahe-Geist 
auf  dem  Regenbogen  nach  dem  Hause  von  Pue  di  Songi,  um 
den  Seelenstoff  des  Kranken  zurückzuerbitten.  Indem  sie  mit 
Dracaenablättern  auf  den  Kopf  des  Patienten  schlägt,  verur- 
sacht sie,  daß  der  Seelenstoff  in  denselben  zurückkehrt.  Um 
den  wuraJce- Geist  zurückzubringen,  wirft  sie  einen  Büschel 
lebenskräftiger  Pflanzen  nach  oben  {mantende  rare),  oder  sie 
beschließt  die  Zeremonie  mit  einer  mowurake  mpompalakana 
(Rezitation  des  Abschiednehmens)  genannten  Rezitation.  Bei 
jedem  Todesfall  muß  die  Priesterin  den  Seelenstoff  der  noch 
Lebenden,  den  die  Seele  des  Toten  mitgenommen  hat,  aus  dem 
Seelenland  unter  der  Erde  zurückholen.  (Bisweilen  ruft  man 
auch  bei  einem  Opfermahl  den  Baum-  oder  Höhlengeist  [heia'] 
an,  um  den  entführten  Seelenstoff  zurückzuerhalten.  Dies  heißt 
mompatirani.)  In  schlimmen  Fällen  verfertigt  die  Priesterin 
eine  Puppe  als  Stellvertreterin  des  Kranken.  Der  Kranke  wird 
an  einen  Opfertisch  gestellt,  während  er  eine  Rotanschnur  fest- 
hält, die  später  nach  der  Litanei  durchgehauen  wird.  Die  Puppe 
wird  dem  Baumgeist  statt  des  Seelenstoffes  des  Kranken  an- 
geboten. Dies  heißt  moiourake  ri  tana  (auf  dem  Boden).  Wenn 
man  meint,  daß   der  Obergott  Puu  mPalaburu  den  Baumgeist 


586  H-  S-  JaynboU 

geschickt  hat,  um  den  Menschen  krank  zu  machen,  wird  eine, 
mowase  genannte,  weitschweifige  Zeremonie  gefeiert.  Hierbei 
fungieren  verschiedene  Priesterinnen,  und  es  wird  ein  Geister- 
haus verfertigt.  Die  Zeremonie  ist  so  genannt  nach  dem  Blute 
(walte  im  Napuschen  Dialekt)  der  Opfertiere,  mit  dem  die 
Priesterin  den  Kranken  und  andere  Anwesende  bestreicht.  Wenn 
man  keine  Opfertiere  hat,  wird  ein  Gelübde  abgelegt  (ratanga), 
bei  dem  man  Puu  mPalaburu  verspricht,  später  das  Opfer  zu 
bringen.  Wenn  die  Seelen  der  verstorbenen  Helden  (anitu) 
jemand  krank  gemacht  haben,  schwingt  die  Priesterin  einen 
Schild  und  ein  Schwert  siebenmal  über  den  Kranken,  bevor 
sie  ihre  Litanei  rezitiert.  Wenn  aber  die  Geister  der  Schmiede- 
kunst (majasa)  die  Ursache  der  Krankheit  sind,  wird  ein  die 
Schmiede  darstellendes  Miniaturhaus  siebenmal  über  dem  Kranken 
hin  und  her  bewegt.  Wenn  die  Geister  im  Reisfelde  jemand 
krank  gemacht  haben,  verfertigt  die  Priesterin  eine  Kette  aus 
Perlen,  die  sie  mit  einem  Hackmesser  siebenmal  über  dem 
Kopf  des  Patienten  hin  und  her  bewegt.  Wenn  nach  einer 
Kopfjagd  die  Seele  einer  Person  nicht  zurückgekehrt  ist,  bringt 
die  Priesterin  dieselbe  zurück,  indem  sie  mit  einem  Zweig  von 
Dracaena-  und  anderen  Blättern  (aro)  schlägt  (moaro).  Ist  je- 
mand fast  von  einem  Tier  getötet  worden,  so  verfertigt  man 
eine  geflochtene  Schlange,  der  man  Reis,  pinang  und  Ei  opfert. 
Dies  heißt  mantondo  ulo.  Wenn  Leute  längere  Zeit  krank  ge- 
wesen sind,  streicht  die  Priesterin  mit  einer  Schnur  über  die 
Glieder,  während  sie  mit  Dracaena-Blättern  auf  diese  Schnur 
schlägt.  Diese  Handlung,  durch  welche  die  Krankheit  in  die 
Schnur  zieht,  heißt  tanadusi.  Bei  der  Einweihung  eines  neuen 
Hauses  kommt  die  Priesterin,  um  den  Seelenstoff  der  Bewohner 
zu  befestigen,  indem  sie  Päckchen  mit  lebenskräftigen  Kräutern 
über  die  Anwesenden  hin  und  her  bewegt  und  diese  Päckchen 
dann  im  Dache  aufbewahrt.  Die  Priesterin  wird  gerufen,  um 
festzustellen,  wo  sich  eine  Reisegesellschaft  befindet.  Zu  diesem 
Zweck  sucht  sie  mit  dem  wurake-Geist  diese  Gesellschaft  und 


Religionen  der  Naturvölker  Indonesiens  587 

teilt  nachlier  das  Resultat  ihres  Suchens  in  einer  Litanei  mit. 
Wenn  der  Reis  nicht  gut  wächst,  geht  die  Priesterin,  um  den 
Seelenstoff  von  den  Luftgeistern  zurückzuerbitten,  was  mowurdke 
tanoana  mpae  heißt.  Die  Priesterinnen  können  Regen  verur- 
sachen, indem  sie  Büffel  in  Wasser  treten  lassen,  wodurch 
dieses  übertritt.  Diese  Handlung  heißt  mdbuntasi  lamha  (*aus- 
stürzen  [des  Wassers  durch  die]  Büffel').  Aus  dem  Obigen  er- 
hellt, wie  vielumfassend  die  Funktionen  der  Priesterinnen  sind. 

Im  zweiten  Bande  (S.  109 — 146)  wird  über  die  Seele  nach 
dem  Tode  ausführlich  gehandelt.  Wenn  jemand  gestorben  ist, 
steigt  seine  Seele  {angga)  hinab  in  das  Schattenreich  unter 
der  Erde  (torate),  das  sie  aber  erst  betreten  darf,  nachdem  das 
Fleisch  des  Toten  verzehrt  ist.  Die  Seele  nach  dem  Tode 
{angga)  kann  die  Gestalt  eines  Tieres  (Feuerfliege,  Schlange, 
Maus  oder  Vogel)  annehmen,  zeigt  sich  aber  gewöhnlich  in 
menschlicher  Gestalt.  Der  Weg  nach  dem  im  Westen  gelegenen 
Seelenlande  (torate)  führt  vorbei  an  einer  Areka-Palme,  einem 
riesigen  Schwein,  einer  Schmiede,  einem  von  einer  Katze  be- 
wachten Wasserbrunnen  und  einem  Flusse  (Sambira  Dolo)  mit 
halb  rotem,  halb  blauem  Wasser.  Interessant  ist  es,  daß  auch 
auf  Bali  der  Glauben  an  ein  Schwein  in  der  Hölle  vorkommt, 
so  daß  dieser  Glauben  malayo-polynesisch  zu  sein  scheint. 

Einzelne  Seelen  gehen  nicht  nach  dem  Seelenland,  u.  a.  die 
der  im  Kriege  Getöteten  und  die,  deren  Kopf  vom  Körper  ge- 
trennt ist.  Wie  fast  überall  im  Archipel  glaubt  man  auch  hier, 
daß  die  Seelen  der  im  Wochenbett  gestorbenen  Frauen  sich 
in  Vögel  mit  scharfen  Klauen  (puntiana)  verwandeln.  Um  dies 
zu  verhüten,  legt  man  in  die  Achseln  oder  in  die  Handfläche 
der  Leiche  ein  Ei.  Die  Seelen  setzen  im  Totenreich  ihr  irdi- 
sches Leben  fort:  es  ist  dort  aber  sehr  unheimlich  und  trüb- 
selig. Die  auf  dieselbe  Weise  Verstorbenen  bewohnen  dieselbe 
Abteilung  des  Himmels.  Die  Seelen  von  Männern  sterben  acht- 
mal, diejenigen  von  Frauen  aber  neunmal.  Nachher  verwandelt 
sich   die   Seele   in  Wasser,   das   vom  Tropfstein  in   das  Feuer 


538  S-  2-  Jayiiboll 

herabtröpfelt  und  so  ganz  verschwindet.  Wie  viele  andere 
Völker  haben  auch  die  Toradja's  Erzählungen  von  Menschen, 
die  lebendig  das  Totenreich  besucht  haben. 

Das  große  Opferfest  heißt  mompemate  und  hat  den  Zweck, 
die  Seelen  feierlich  nach  dem  Seelenland  zu  geleiten  (S.  119). 
Für  das  Opferfest  werden  Hütten  (hantaja)  errichtet,  denen 
man  pinang  und  Reis  opfert.  Das  Opfer  wird  den  Göttern 
(lamoa)  und  dem  gefräßigen  Geist  Lantjadoko  gebracht.  Man 
ladet  Gäste  ein,  indem  man  ihnen  eine  Schnur  mit  Knoten, 
welche  die  Anzahl  der  Nächte  bis  zum  Opfer  darstellen,  sendet. 
Diejenigen,  welche  die  Knochen  der  Toten  sammeln,  heißen 
tonggöla  und  sind  auf  besondere  Weise  gekleidet.  Am  ersten 
Tage  werden  Päckchen  in  te?m-Blatt  gewickelten  Reises  {windln) 
verfertigt,  die  am  zweiten  Tage  gekocht  und  am  dritten  Tage 
ausgeteilt  werden.  Am  ersten  Tage  werden  auch  die  Knochen 
der  Toten  gesammelt.  Hierbei  hält  man  ein  Spiegelgefecht 
zur  Vertreibung  der  Geister.  Mit  einem  Totenschädel  heilt 
eine  weibliche  tonggöla  (s.  oben)  jeden,  der  sich  unwohl  fühlt. 
Bisweilen  werden  nur  Haare  und  Nägel  statt  Knochen  der 
Toten  als  Medium  gebraucht,  um  die  Seelen  nach  dem  Seelen- 
lande zu  bringen.  Die  Priesterinnen  geleiten  die  Seelen  der 
Knochen  nach  dem  Seelenlande,  indem  sie  ihren  Seelenstoff 
dorthin  voraussenden  (montölaJco).  Am  Abend  nach  der  Mahl- 
zeit singt  man  zur  Ehre  der  Verstorbenen  (mohajöri).  Den 
Schluß  des  Opferfestes  bildet  das  Austeilen  von  Lohn  (mearai) 
an  die  tonggöla  und  die  Priesterinnen.  Einige  Tage  später 
werden  die  Knochen  in  Kisten  (sosoronga)  begraben  oder  in 
einer  Höhle  beigesetzt.  Neben  diesem  einfachen  mompemate 
steht  ein  umständlicheres  Totenfest  {motenglie),  das  im  Dorf- 
tempel gefeiert  wird,  und  bei  welchem  hölzerne  Masken  (pernio) 
verwendet  werden.  Einen  Monat  vor  diesem  Feste  schlägt  man 
auf  die  Trommel  (karatu).  Die  Seelen  der  Verstorbenen  wer- 
den durch  Trommelwirbel  (momenomeno)  aufgerufen.  Am  vierten 
Tage  verfertigt  man  einen  Katafalk  für  die  Toten.  Die  Knochen- 


Religionen  der  Naturvölker  Indonesiens  589 

päckchen  werden  mit  Masken  verziert;  diese  werden  dann  nacli 
dem  Feste  in  der  Reisscheune  aufgehängt.  Die  Knoclien- 
päckchen  werden,  nachdem  Sklavinnen  mit  ihnen  getanzt  haben 
{moende  poso),  im  Katafalk  aufgestellt.  Fünf  Priesterinnen  und 
zwei  Priester  laufen  um  einen  Korb  (taru)  mit  Asche  und 
leiern  dabei  eine  Litanei  ab.  In  dieser  Litanei  werden  die 
Toten  gerufen,  damit  sie  aus  dem  Totenland  nach  der  Erde 
kommen.  Wenn  die  Seelen  aus  der  Unterwelt  in  dem  Tempel 
angekommen  sind,  stimmen  die  Gäste  den  tenghe-Sung  an.  Am 
folgenden  Tage  gehen  die  fünf  Priesterinnen  und  zwei  Priester 
mit  den  Knochen  wieder  rings  um  den  Katafalk,  um  die  aus 
Knochen  verfertigten  Puppen  endgültig  nach  dem  Seelenlande 
zu  bringen.  Der  siebente  Tag  ist  der  letzte  und  zugleich  der 
Glanzpunkt  des  Festes  (mata  ntjusa).  Bei  den  anderen  Toradja- 
stämmen  wird  das  Totenfest  etwas  abweichend  gefeiert,  z.  B. 
bei  den  To  Ondae  verfertigt  man  nicht  nur  Masken,  sondern 
vollständige,  gleichfalls  pemia  genannte  Puppen  aus  Holz.  Bei 
den  To  Puu  mBoto  Verden  zwar  die  Knochen  eingepackt,  aber 
keine  Masken  gebraucht.  Bei  den  To  Lalaeo  werden  die  Knochen 
der  Verstorbenen  nicht  mehr  gesammelt.  Die  Seelen  werden 
dort  von  den  Priestern  in  sarungs  aufgefangen.  Bei  den  To 
Napu  werden  die  Leichen  bei  dem  großen  Totenfest  (tenghe) 
nicht  mehr  aufgegraben. 

Prof.  A.  Grubauers  Werk:  Unter  den  Kopfjägern  in  Central- 
Celebes  (Leipzig  1913)  schließt  sich  einigermaßen  an  das  oben 
besprochene  Buch  von  Adriani  und  Kruyt  an,  obgleich  das 
von  ihm  durchreiste  Gebiet  südlicher,  um  den  Golf  von  Boni 
herum,  liegt.  Auch  hat  sein  Buch  die  Form  einer  Reise- 
beschreibung, so  daß  die  Nachrichten  über  die  Religion  sich 
hier  überall  zerstreut  finden.  Im  Register  fehlt  sogar  das  Wort 
^Religion'.  Ich  habe  aber  u.  a.  folgendes  über  die  Religion 
gefunden. 

Die  religiösen  Vorstellungen  der  Tobela  am  Matanua-See 
beruhen   auf  durchaus   animistischen    Ideen.     Jedes    irgendwie 


590  ^-  H.  Juynboll 

auffällige  Ereignis  schreiben  sie  guten  oder  bösen  Geistern  zu, 
deren  Wohnsitze  sie  sich  in  Bäumen,  auf  Felsen,  auf  Berg- 
gipfeln, auf  Grabstätten,  im  Meere  usw  denken.  Alles  erscheint 
ihnen  beseelt:  die  Reispflanze,  das  Wasser,  das  Feuer,  ein  Stein. 
Man  sacht  die  Gunst  der  bösen  Geister  durch  Opfergaben  zu 
erkaufen.  Für  die  freundlich  gesinnten  haniu  (das  malayische 
Wort  für  'Geist')  hält  man  aber  Opfergaben  nicht  für  nötig. 
Die  Seelen  Verstorbener  fliegen  zum  hohen  VVawonnango-Berge 
im  Mori-Gebirge  bei  Torea.  Dort  leben  die  Seelen  aller  guten 
Menschen  gesellig  beisammen,  während  die  der  schlechten  Menschen 
ruhelos  zwischen  diesem  Berge  und  dem  ehemaligen  Wohnsitze 
der  Verstorbenen  hin  und  her  wandern.  Dasselbe  Schicksal 
ereilt  die  Seelen  verunglückter  oder  eines  gewaltsamen  Todes 
gestorbener  Menschen  (S.  54 — 55).  Bei  den  Tobela  traf  Gru- 
bauer  drei  Sando  genannte  Zauberer,  die  To  Mori  waren.  Sie 
besuchten  die  Dörfer,  um  den  Segen  der  Reisgeister  auf  die 
Neupflanzungen  herabzuflehen.  Zu  diesem  Zweck  wurden  Opfer- 
tische errichtet,  vor  denen  sie  endlose  Litaneien  herunter- 
leierten. Dabei  warfen  sie  Reiskörner  unter  Beschwörungs- 
formeln, welche  an  die  Geister  der  Wolken,  des  Regens  und 
der  Winde  gerichtet  waren,  in  die  Höhe  (S.  91 — 92  mit  Abb.  70 
und  Taf.  III). 

Interessant  ist  die  Beschreibung  des  Mäbugi-Festes  (S.  242 
bis  244),  bei  dem  mit  den  Dewata  gesprochen  wird  (von  hugi 
'sprechen'  abgeleitet).  Dies  ist  der  Fall,  wenn  man  z.  B.  eine 
gute  Reisernte,  Fruchtbarkeit  der  Büffel,  das  Aufhören  einer 
Seuche,  Verminderung  der  Kindersterblichkeit  usw.  wünscht. 
Bei  der  Debatte  fühlt  sich  schließlich  einer  der  Anwesenden 
inspiriert  und  glaubt,  mit  den  Göttern  zu  sprechen.  Dies  ist 
also  Schamanismus.  Die  Veranlassung  zu  der  Feier,  die  der  Ver- 
fasser beschreibt,  war  eine  dysenterische  Seuche.  Um  das  Wieder- 
aufleben der  Krankheit  zu  verhindern,  wird  gesungen  und  ge- 
tanzt (makelong),  wobei  die  bösen  Geister  aufgefordert  werden, 
nach  ihren  Wohnsitzen  zurückzukehren. 


Religionen  der  Naturvölker  Indonesiens  591 

Bei  dem  Mdbogan-  oder  Regenfest  (S.  350 — 355)  erfleht 
man  von  den  Göttern  Regen,  um  mit  dem  Anpflanzen  des 
Reises  beginnen  zu  können.  Dieses  Fest  bestellt  hauptsächlich 
im  Opfern  von  Büffeln,  um  welche  die  Männer  und  Weiber 
tanzen,  wobei  die  Geister  angerufen  werden. 

Die  Geisterhäuser  werden  an  mehreren  Stellen  dieses  Buches 
abgebildet  oder  beschrieben  (Abb.  187,  S.368— 371  mit  Abb.  199, 
S.  388-390  mit  Abb.  207,  S.  401—405  mit  Abb.  213—215, 
S.  476—477  mit  Abb.  246,  S.  543  mit  Abb.  298). 

Im  Dorfe  Tagolu  sah  Grubauer   zwei  Bambusgestelle,  die 
mit  Fuja-Fähnchen   geschmückt  waren.    Auf  dem  höheren  be- 
fanden   sich    zwei   holzgeschnitzte    Figuren    in   halb    liegender 
Stellung,   die   einen  Mann   und   eine  Frau  darstellten.     Davor 
lagen   Zaubermedizinen,   wie  Wurzeln   und  Kräuter    sowie  ein 
Ei.     Auf  dem   kleineren  Tischgestell  befanden  sich  ein  Körb- 
chen mit  Mais  und  Reiskörnern  und  viele  alte  Kupfermünzen. 
i  Das   Ganze    stellte   einen  Abwehrzauber   gegen   Einschleppung 
I  von  Krankheit  vor  (S.  445—446  mit  Abb.  238  und  239).    Die 
j  Kleidung  einer  Priester-Arztin  der  Kajeli  wird  S.  570 — 572  be- 
i  schrieben  und  abgebildet.  Der  Name  dieser  Priesterinnen  (walia) 
I  ist  derselbe  wie  derjenige  der  dajakischen  Priesterinnen  (halian), 

Borneo.     In    dem   großen,   aus    zwei  Bänden  bestehenden 
i  Werke  von  Charles  Hose  und  William   McDougall    The 
\pagan  iribes  of  Borneo  (London  1912)  sind  vier  Kapitel  (XIII 
i  bis  XVI)    des    zweiten   Bandes    der   Religion    der    Dajak    ge- 
!  widmet.     Im  13.  Kapitel   werden   der   Geisterglauben   und   die 
darauf  beruhenden  religiösen  Handlungen  ausführlich  besprochen. 
Die  Kayan  meinen,  daß  sie  von  Geistern  umgeben  sind,  die 
bisweilen  in  menschlicher  Gestalt  und  mit  menschlichen  Attri- 
buten dargestellt  werden.   Andere  Geister  sind  als  das  Lebens- 
prinzip von  Tieren  oder  Pflanzen  zu  betrachten.   Von  den  Be- 
wohnern Borneos   gilt    es  nicht  ebenso  wie  von  den  Toradjas, 
daß   sie  jedem  Gegenstand  eine  Seele  zuschreiben.     Mau  kann 


592  2-  ^  Juynboll 

die  Geister  in  drei  Gruppen  teilen:  1.  die  anthropomorphen 
Geister,  die  als  Götter  verehrt  werden,  und  die  an  weit  ent- 
fernten Orten  wohnen  sollen.  2.  die  Geister  lebender  oder 
verstorbener  Personen  oder  Tiere,  die  rorbedeutende  Kraft  haben 
wie  Schweine,  Hühner,  Hunde,  Krokodile.  3.  die  Geister,  die 
nicht  zu  einer  der  beiden  vorigen  Gruppen  gehören,  die  man 
fürchtet,  und  deren  Gunst  man  sich  erfleht. 

Die  Kayan  kennen  eine  Anzahl  Götter,  u.  a.  den  Kriegsgott, 
drei  Lebensgötter,  den  Donner-  und  Sturmgott,  den  Feuergott, 
Erntegötter,  einen  Gott  der  Seen  und  Flüsse,  den  Gott  des 
Irrsinns,  den  Gott  der  Furcht  und  die  Begleiter  der  Seelen 
nach  der  Unterwelt,  Über  allen  diesen  Göttern  steht  Laki 
Tenangan.  Einzelne  Personen  glauben,  daß  die  Götter  im 
Himmel,  andere  aber,  daß  sie  auf  der  Erde  wohnen.  Einige 
Götter,  z.  B.  der  Kriegs-,  Lebens-,  Ernte-  und  Feuergott,  wer- 
den als  den  Menschen  freundlich,  andere  aber,  wie  die  Götter 
des  Irrsinns  und  der  Furcht,  als  bösartig  und  schrecklich  be- 
trachtet. Die  Kayan  wissen,  daß  ihr  Laki  Tenangan  mit  dem 
Pa  Silong  der  Klemantan  (Land-Dajak)  und  dem  Bali  Pony- 
long  der  Kenyah  identisch  ist.  Die  Gemahlin  von  Laki  Tenangan 
heißt  Doh  Tenangan  und  wird  zumal  von  Frauen  angerufen. 
Es  ist  nicht  deutlich,  ob  die  Kayan  den  Laki  Tenangan  als 
den  Schöpfer  der  Welt  betrachten.  Die  in  menschlicher  Ge- 
stalt geschnitzten  hölzernen  Pfähle  vor  den  Häusern  sind  mehr 
Altäre  als  Götzenbilder.  Mit  Caladiumblättern  behängte  Bambus- 
stangen deuten  an,  daß  ein  Ort  Tabu  ist.  Die  Kayan  versuchen 
durch  das  Verhalten  der  vorbedeutenden  Vögel  und  aus  den 
Eingeweiden  der  geschlachteten  Schweine  und  Hühner  die  Weise 
zu  erraten,  in  der  die  Götter  auf  ihre  Gebete  erwidern  werden. 
Die  Gewohnheit,  die  Götter  mittels  solcher  Vögel  zu  Rate  zu 
ziehen,  scheint  zur  Folge  zu  haben,  daß  die  Götter  selbst  in 
den  Hintergrund  treten.  Die  Namen  vieler  niedrigeren  Götter 
sind  eigentlich  gewöhnliche  menschliche  Eigennamen.  Hieraus 
läßt  sich  schließen,  daß  diese  Götter  vergötterte  Ahnen  mäch- 


Religionen  der  Naturvölker  Indonesiens  593 

tiger  Häuptlinge  sind.    Sogar  vor  kurzem  verstorbene,  einfluß- 
reiche  Häuptlinge   genießen  bei   den  Klemantan  (Land-Dajak) 
und  den  See-Dajak  eine  gewisse  Verehrung.   Alle  Kayan  rufen 
die  Hilfe  und  Fürbitte  von  Oding  Lahang  bei  Laki  TenangaiL 
an.     Auch   die   Kenyah   rufen   in   ihren    Gebeten  verschiedene 
Geister   an,   die   als   verstorbene  Mitglieder  ihres  Stammes  zu 
betrachten   sind,   wie  Tokong  und  Utong.     Alle   Kenyah   und 
viele  Klemantan  behaupten,  vom  Kenyah -Donnergotte  Balingo 
abzustammen.  Es  ist  nicht  wahrscheinlich,  daß  die  Kayan  ihre 
Auffassung   eines   obersten   Gottes   (Laki  Tenangan)  den  Mus- 
limen entlehnt  haben.   Auch  die  Kenyah  kennen  einen  Haupt- 
gott  (Bali  Penylong)    und   neben   ihm    niedrigere  Götter,    wie 
Bali  Atap,   den   Beschützer   des   Hauses.     Die   Kenyah   wissen 
die   Götzenbilder  schöner  auszuschnitzen   als  die  Kayan.     Bali 
Utong  bringt  dem  Hause  Glück,  Bali  ürip  ist  der  Lebensgott, 
Balingo  der  Donnergott.     Bali  Sungei   wird  als  eine  Schlange 
oder  ein  Drache,  der  Überschwemmungen  verursacht,  dargestellt. 
Bali  Penylongs  Gem-ahlin  Bungan  wird  nicht  so  ausschließlich 
von  den  Frauen  verehrt  wie  Doh  Tenangan  unter  den  Kayan. 
Bali  Flaki  ist  der  wichtigste  Omenvogel  der  Kenyah,  der  den 
Kriegsgott   in  den   Hintergrund  gedrängt  hat.     Zu  den  Altar- 
pfählen  gehören   die    Dracaenapflanze  und  eine  Anzahl  kugel- 
förmiger   Steine    {hatu  tuloi).     Der  Kriegsgott   Toh   Bulu   der 
Kayan  scheint  ursprünglich  der  Buceros  zu  sein,  dessen  Federn 
ein  Symbol  der  Tapferkeit  im  Kriege  sind. 
1        Die   Geister   niedrigeren   Ranges  heißen  bei  den  Kayan  im 
!  allgemeinen  toh  und  werden  als  bösartig  betrachtet.  Die  wich- 
1  tigsten   derselben    sind    diejenigen,    die   man    sich  mit   den  in 
I  jedem   Hause   hängenden,  getrockneten  Menschenschädeln  ver- 
bunden vorstellt,  weshalb  man  diese  mit  Ehrfurcht  behandelt. 
I  Wenn  man  diese  Schädel  berührt,  setzt  man  sich  der  Gefahr 
I  aus,   irrsinnig   zu  werden.     Obgleich  man  sie  fürchtet,  glaubt 
'  man  doch,  daß  sie  gute  Ernten  verursachen.  Tod,  Krankheit  usw. 
wird  den  toh  zugeschrieben.  Wenn  man  Bäume  fällt,  läßt  man 

Archiv  f.  Religionswissenschaft  XVII  38 


594  H«  H.  Juynboll 

einzelne  derselben  für  die  tdh  stehen,  weil  man  meint,  daß  sie 
in  denselben  wobnen.  Zumal  kleine  Kinder  sind  dem  bösen 
Einfluß  der  toh  ausgesetzt,  weshalb  man  ihnen  während  der 
ersten  zwei  oder  drei  Jahre  keinen  Namen  gibt.  Mit  Ruß 
macht  man  sich  ein  schwarzes  Zeichen  auf  die  Stirn,  um  sich 
für  die  toh  unkenntlich  zu  machen.  Je  unzugänglicher  die 
Berge  sind,  desto  furchtbarer  sind  die  darauf  wohnenden  toh. 
An  einzelnen  Orten  glaubt  man,  daß  die  toh  einen  günstigen 
Einfluß  haben.  Auch  die  KSnyah  und  Klemantan  nennen  die 
Geister  toh,  die  See-Dajak  aber  petara  (ein  hindu -javanischer 
Name)  oder  antu  (das  malayische  Wort  für  toh). 

Im  14.  Kapitel  werden  die  Vorstellungen  von  der  Seele,  die 
Bestattungsgebräuche,  das  Fangen  der  Seele  und  der  Exorzis- 
mus besprochen.  Einzelne  Krankheiten,  wie  Wahnsinn,  werden 
den  toh,  andere  aber  dem  Umstände,  daß  die  Seele  den  Körper 
verlassen  hat,  zugeschrieben.  Bei  den  Kayan  ist  die  Dayong 
(Priesterin)  gewöhnlich  eine  Frau,  die  ihre  Seele  aussendet, 
um  die  Seele  (hlud)  des  Patienten  zurückzuholen.  Sie  spricht 
zuerst  ein  Gebet  an  Laki  oder  Doh  Tenangan.  Die  Dayong 
bringt  die  entwischte  Seele  in  Gestalt  eines  kleinen  Tieres, 
eines  Reiskorns  oder  eines  Holzsplitters  in  den  Kopf  des  Kranken 
zurück,  indem  sie  den  betreflenden  Gegenstand  auf  dem  Kopfe 
herumreibt.  Danach  wird  ein  mit  Blut  bestrichener  Palmblatt- 
streif um  den  Puls  des  Patienten  gebunden.  Exorzismus  des 
toh  findet  bei  den  Kayan  selten  statt.  Wenn  jemand  gestorben 
ist,  wird  eine  wertvolle  Glasperle  unter  jedes  Augenlid  gelegt, 
wahrscheinlich  als  Reisegeld  für  den  Geist  bei  dem  Übersetzen 
über  den  Totenfluß.  Für  die  Seele  werden  Päckchen  gekochten 
Reises  und  Tabak  hingestellt.  Neben  dem  Sarge  sitzt  eine 
Dayong  mit  einem  Schwert,  das  sie  bisweilen  schwingt,  um  die 
toh  abzuwehren.  Die  Dayong  unterrichtet  die  Seele  des  Toten, 
wie  diese  den  Weg  nach  der  anderen  Welt  finden  kann.  Die 
Kayan  unterscheiden  zwei  Seelen,  die  hlua  und  die  urip,  die 
sich   unterscheiden   wie    Seele   und    Geist,    anima  und  animus, 


Religionen  der  Naturvölker  Indonesiens  595 

^vx^i  und  nvBv^ia.  Bei  der  Bestattung  soll  die  Leiche  das 
Haus  auf  einem  ungewöhnliclien  Wege  verlassen;  man  gibt  den 
Toten  Gegenstände  mit,  die  bei  den  Kayan  unbeschädigt,  bei 
den  Klemantan  aber  beschädigt  sind.  Die  Trauer  äußert  man, 
indem  man  einen  Teil  des  Kopfes,  der  sonst  rasiert  wird,  nicht 
rasiert;  allerdings  fällt  bei  einzelnen  Klemantanstämmen  gerade 
das  Gegenteil  auf.  Eigentlich  soll  eigens  für  das  Totenfest 
ein  Kopf  erbeutet  werden,  dieser  wird  aber  jetzt  gewöhnlich 
geliehen.  Der  Geist  des  Toten  wird  mitunter  nach  der  auf 
seinen  Tod  folgenden  Ernte  eingeladen,  in  einem  Hause  zu  er- 
scheinen, wo  Speisen  und  Getränke  für  ihn  hingestellt  sind. 

Über  das  Leben  nach  dem  Tode  herrschen  die  folgenden 
Begriffe.  Bei  den  Kayan  gehen  die  wegen  hohen  Alters  Ver- 
storbenen nach  der  Apo  Leggan,  diejenigen,  die  eines  gewalt- 
tätigen Todes  sterben,  nach  Long  Julan,  wo  das  Bawang  Daha 
(Blutmeer)  ist,  diejenigen,  die  ertrinken,  nach  Ling  Yang,  die 
totgeborenen  Kinder  nach  Tenyu  Lalu,  Selbstmörder  nach  Tan 
Tekkan,  die  Malayen  und  sonstige  Fremde  aber  nach  dem 
rechten  Ufer  des  Flusses.  Die  Seelen  sollen  über  den  Long 
Malan  setzen  auf  einem  fortwährend  von  Maligang  bewachten 
Holzblock  {bitang  sekopa).  Die  Punan  glauben  außerdem,  daß 
eine  Ungap  genannte  Frau  die  Brücke  bewacht  und  den  Seelen 
hilft,  wenn  sie  ihr  Glasperlen  geben.  Die  Malanaus  von  Muka 
(Klemantan)  glauben,  daß  ein  zweiköpfiger,  Maiwiang  genannter 
Hund  den  Übergang  bewacht  und  durch  Glasperlen  überredet 
werden  muß,  daß  er  die  Seelen  hindurchläßt.  Dieser  Glauben 
an  einen  Hund  und  eine  Brücke  in  der  Unterwelt  findet  sich 
auch  bei  den  Toradja  sowie  auf  der  Insel  Bali.  Statt  des 
I  Tötens  von  Sklaven  am  Grabe  eines  Häuptlings  hält  man  jetzt 
einen  Hahnenkampf  ab. 

Die  Kayan  betrachten  Wahnsinn  als  Besessenheit  von  einem 
bösen  Geist,  der  ausgetrieben  werden  muß.  Sie  glauben  an  die 
Seelenwanderung,  z.  B.  in  Menschen  (Enkel)  oder  Tiere.  Die 
Klemantan  begraben  die  Leichen  in  verzierten  Särgen  oder  in 

38* 


596  ^-  2-  J^ynboii 

Töpfen,  die  Murut  meist  in  Töpfen.  Die  See-Dajak  begraben 
ihre  Toten  in  Matten  gewickelt  in  der  Erde.  Die  Land-Dajak 
von  Oberserawak  und  einzelne  Klemantanstämme  in  Südbomeo 
verbrennen  die  Leichen  oder  die  Knochen. 

Im  15.  Kapitel  werden  die  mit  Tieren  und  Pflanzen  ver- 
bundenen animistischen  Anschauungen  behandelt.  Der  wich- 
tigste Omenvogel  der  Kenyah  ist  der  Haliaster  intermedius,  der 
als  Bali  Flaki  angeredet  wird.  Er  wird  zu  Rate  gezogen,  be- 
vor man  in  den  Krieg  zieht,  und  bevor  man  anfängt  mit  Säen. 
Wenn  ein  neues  Haus  gebaut  ist,  wird  eine  Holzfigur  von  Bali 
Flaki  verfertigt,  der  man  opfert.  Der  Habicht  wird  als  ein 
Bote  und  Vermittler  zwischen  den  Menschen  und  Bali  Penya- 
long  betrachtet.  Andere  Omenvögel  sind  drei  Arten  von 
Arachnothera,  die  man  isit  nennt,  drei  Arten  von  Harpactes, 
dem  Specht  (Lepocestes  porphyromelas),  den  sie  Jcieng  nennen, 
und  zwei  Arten  von  Buceros,  den  sie  Ivng  nennen.  Die  Kenyah 
opfern  dem  Bali  Penyalong  Schweine.  Die  Zukunft  wird  aus 
der  Leber  eines  Schweines  geweissagt.  Man  opfert  Hühner 
bei  dem  Aufhören  einer  Blutfehde,  bei  dem  Zurückrufen  der 
Seele  eines  Kranken  und  bei  dem  Trinken  von  Blutbruder- 
schaft. Auch  Hühnereier  werden  an  Stelle  der  Hühner  ge- 
opfert. Die  Kenyah  nennen  das  Krokodil,  wenn  sie  von  ihm 
sprechen,  'alter  Großvater'.  Man  darf  es  nur  töten,  wenn  es 
zuerst  einen  Menschen  getötet  hat.  Die  Kenyah  betrachten  es 
nicht  als  Ahnen.  Die  Kenyah  töten  keine  Hunde,  weil  sie 
meinen,  dadurch  wahnsinnig  zu  werden.  Auch  Hirsche  und 
kleines  Vieh  töten  sie  nicht.  Der  Laut  des  Hirsches  (Cervulus 
muntjak)  und  des  plandoh  (Tragulus  napu)  ist  vorbedeutend. 
Auch  das  Fleisch  der  Tigerkatze  (Felis  nebulosa)  wird  nicht 
gegessen.  Andere  von  den  Kenyah  mit  abergläubischer  Ehr- 
furcht betrachtete  Tiere  sind  der  Varanus,  die  Schlange  und 
der  Orang-Utan  (majas).  Wie  bei  den  Kenyah  gilt  auch  bei 
den  Kayan  der  Habicht  (Laki  Neho)  als  Vermittler  zwischen 
den  Menschen  und  Laki  Tenangan,  und  zwar  verehren  sie  die 


Religionen  der  Naturvölker  Indonesiens  597 

Habichte  auch  im  allgemeinen.  Auch  die  Anschauungen  über 
Krokodile,  Schweine,  Hühner,  Tiger,  Affen  usw.  stimmen  bei 
den  Kayan  im  wesentlichen  mit  denen  der  Kenyah  über  ein. 
Bei  den  Klemantan  ist  der  Habicht  (Bali  Flaki)  der  Bote  von 
Bali  Utong  (dem  höchsten  Wesen).  Sie  opfern  Schweine  und 
Hühner,  wie  die  Kenyah  und  Kayan.  Nur  die  Malanau  opfern 
bei  feierlichen  Eiden  Hunde.  Die  meisten  Klemantan  töten  und 
essen  Hirsche  und  Vieh.  Einzelne  zeigen  Ehrfurcht  vor  ein- 
zelnen Hirscharten  (Cervulus  muntjak,  plandok,  Cervus  equinus), 
Bärkatzen  (Artictis)  oder  Paradoxurus.  Zumal  Krokodile  ge- 
nießen bei  den  Klemantan  eine  große  Verehrung. 

Die  Punan  haben  dieselben  Omenvögel  wie  die  Kenyah, 
aber  sie  essen  alle  anderen  Tiere.  Das  Krokodil,  das  sie  Bali 
Penyalong  nennen,  betrachten  sie  als  einen  Gott.  Auch  die 
Eidechse  gilt  als  vorbedeutend.  Die  See-Dajak  oder  Iban  kennen 
kein  höchstes  Wesen,  aber  viele  P^tara,  den  Kulturheros  Klieng 
und  den  Kriegsgott  Singalang  Burong,  den  ganz  anthropomorph 
aufgefaßten  Habicht.  Das  Zurateziehen  von  Vorzeichen,  die 
durch  Vögel  oder  andere  Tiere  gegeben  werden,  nennen  sie 
hehurong.  Auch  der  Buceros,  der  Reisgott  oder  Großvater  {aM) 
des  Reises  {padi),  Pulang  Gana  genannt,  und  das  Krokodil 
genießen  große  Verehrung.  Sie  opfern  ihnen  Schweine  und 
Hühner,  aber  sie  essen  ihr  Fleisch  wie  Hirschfleisch. 

Der  Ngarong  oder  der  geheime  Helfer  spielt  bei  den  Iban 
eine  große  Rolle.  Es  ist  gewöhnlich  die  Seele  eines  verstor- 
benen Blutsverwandten,  die  in  ein  Tier  oder  einen  Gegenstand 
übergehen  kann.  Die  Tierart,  in  welche  der  Ngarong  einge- 
gangen ist,  darf  nicht  getötet  werden. 

Vielleicht  ist  der  Tierkult  aus  einem  ursprünglichen  Totem- 
ismus,  der  seit  der  Einführung  des  Reises  (padi)  aus  Java 
(vor  drei  Jahrhunderten)  und  den  Philippinen  (vor  150  Jahren) 
in  Verfall  geraten  ist,  hervorgegangen.  Es  ist  aber  nicht  wahr- 
scheinlich, daß  der  Totemismus  je  bei  den  Kenyah  bestanden 
hat,  denn  bei  den  Punan,  die  in  jeder  Hinsicht  mit  ihnen  über- 


KQo  H.  H.  Juynboll 

einstimmen,  findet  sich  keine  Spur  desselben.  Tieropfer  sind 
oft  aus  früheren  Menschenopfern  entstanden. 

Der  Totemismus  ist  vielleicht  aus  dem  Ngarong  der  Iban 
hervorgegangen,  der  bisweilen  ein  Fetisch  und  bisweilen  ein 
individuelles  Totem  ist.  Wenn  man  von  einem  Tier  träumt, 
wird  dies  der  Fetisch.  Einzelne  meinen,  daß  sie  von  Kroko- 
dilen oder  Afi^en  abstammen.  Außer  dem  Reis  wird  auch  der 
silat-Yalme  eine  Seele  zugeschrieben.  Eine  Caladiumart  (long) 
wird  gebraucht  zur  Andeutung,  daß  etwas  tabu  ist.  Die  oröbong- 
Pflanze  wird  bei  Niederkünften  verwendet.  Die  Dracaena  wird 
bei  weiten  Reisen  an  ein  Boot  gebunden.  Die  Iban  und  einzelne 
Klemantan  betrachten  es  als  Entweihung,  den  tapang -^2i\im 
(Arbouria)  zu  fällen. 

Kapitel  16  handelt  über  Magie  und  Amulette  (S.  114). 
Die  Magie  spielt  eine  geringe  Rolle  bei  den  Kay  an,  Kenyah, 
Punan,  Iban  und  den  meisten  Klemantan;  bei  den  Küsten- 
stämmen der  Klemantan  aber  (z.  B.  den  Malanau  und  Kadayan) 
wird  sie  mehr  geübt.  Die  Dayong  der  Kayan  sind  mehr 
Priesterinnen  und  Arztinnen  als  Zauberinnen.  Einzelne  tragen 
Masken.  Die  Medizinmänner  der  Iban  heißen  manang.  Die 
manang  häli  tragen  Frauenkleider  und  gebärden  sich  wie  Frauen. 
Die  tau  tepang  bei  den  Iban  sind  Zauberer  oder  Hexen.  Schwarze 
Magie  bezweckt  den  Tod  eines  persönlichen  Feindes,  u.  a.  bei 
den  Sebop  (Klemantan).  Zu  den  therapeutischen  Handlungen 
gehört  das  Ausziehen  der  angeblichen  Ursache  der  Krankheit. 
Dies  ist  die  Aufgabe  der  Dayong.  Durch  eine  Röhre  saugen 
sie  die  Ursache  des  Übels  in  Gestalt  eines  Stückchens  Wachs 
aus  dem  Körper  des  Patienten.  Die  Küstenstämme  lassen  Krank- 
heiten in  Gestalt  hölzerner  Puppen  auf  einem  Floß  nach  dem 
Meere  treiben.  Man  verbrennt  die  abgeschnittenen  Haare  aus 
Furcht,  daß  mit  denselben  gezaubert  werden  könnte.  Magische 
Handlungen,  um  Feinden  zu  schaden,  finden  sich  namentUch 
bei  den  Küsten-Klemantan,  Kadayan  und  Malanau  und  sind 
den  Malayen  entlehnt. 


Religionen  der  Naturvölker  Indonesiens  599 

Amulette  werden  weniger  von  den  Kayan  als  von  den  Kenyah 
gebraucht,  bei  denen  sie  siap  aiöh  heißen.  Sie  bestehen  aus 
Zahnbüscheln,  zumal  von  Krokodilen,  Holzstückchen  usw.  Die 
Punan  tragen  derartige  siap  an  ihren  Pfeilköchern.  Bei  den 
Iban  heißen  die  Amulette  pengaroh  oder  empungau.  Talismane, 
um  Liebe  zu  erregen,  finden  sich  weniger  bei  den  Kayan  und 
Kenyah  als  bei  den  Iban,  die  Halsketten  aus  starkriechendem 
Samen  (huah  halong)  tragen,  und  bei  den  Klemantan,  wo  sie 
meist  aus  wohlriechendem  Ol  bestehen  und  sangJcü  heißen.  Ein 
Jagdamulett  bei  den  Iban  hat  die  Gestalt  eines  Stabes  mit  einer 
Menschenfigur  am  oberen  Ende  geschnitzt.  Wenn  ein  Kenyah 
einen  verbotenen  Gegenstand  berührt  hat,  reinigt  er  sich  durch 
eine  lemäwa  genannte  Zeremonie.  Eine  Zeremonie,  um  den 
Dämon  des  Wahnsinns  zu  vertreiben,  findet  sich  bei  den  zu 
den  Klemantan  gehörenden  Malanau  und  heißt  hajoh. 

Außer  dieser  großen  Monographie  erschien  im  Jahre  1913 
auch  eine  kleine  Abhandlung  von  P.  te  Wechel,  Erinnerungen 
aus  den  Ost-  und  West-Dusunländern  (Borneo),  in  besonderem 
Hinblick  auf  die  animistische  Lebensauffassung  der  Dajak 
(Internat.  Archiv  für  Ethnogr,  XXII  S.  1—24).  Hier  wird  (S.  11) 
über  die  Seele  während  und  nach  dem  Leben  gesprochen.  Der 
Maänjan  spricht  von  einer  Seele  (amiroe)  des  Menschen  und 
des  Reises,  aber  von  einem  roh  (das  arabische  Wort  ruh  für 
Seele)  des  Holzes  oder  eines  Steins.  Die  Seele  des  Reises  wird 
also  als  der  menschlichen  verwandt  betrachtet.  Der  Dajak 
sagt:  amiroe  ist  djiwa  (das  Sanskritwort  für  'Leben,  Lebens- 
stoff'), d.  h.  Schattenbild  oder  Spiegelbild.  Amiroe  ist  also  der 
unpersönliche  Seelenstoff,  wie  Kruyt  sich  ausdrückt;  adiau 
aber  ist  die  Seele  nach  dem  Absterben  des  Körpers  (die  Hau 
der  Olo  Ngadju).  Krdma  nennt  der  Maänjan  dasjenige,  was 
beim  Sterbenden  den  Körper  verläßt  und  dann  ganz  ver- 
schwindet. Amiroe  bewohnt  zwar  den  ganzen  Körper,  aber  vor- 
zugsweise Haare,  Nägel,  Speichel,  Blut  und  Gehirn.  Amiroe 
ist  die  Seele,  die  während  des  Lebens,  z.  B.  bei  Träumen,  den 


QQQ  H.  H.  Juynboll 

Körper  verläßt.  Auch  bei  plötzlichem  Schreck  kann  der  amiroe 
den  Körper  verlassen,  weshalb  Kinder  selten  oder  nie  geschlagen 
werden. 

Die  oberste  Gottheit  der  Dajakstämme  von  Buntok  heißt 
AUatala  oder  Atala,  was  auf  muhammedanischen  Einfluß  zurück- 
zuführen ist  (Korrumpierung  von  Allah  Ta'äla),  auch  Tohan 
(malayisch  tuhan,  Herr).  Er  wird  weniger  verehrt  als  die  ala 
genannten  Geister,  die  sehr  gefürchtet  werden.  Zu  ihnen  ge- 
hören: die  Seelen  (adiau)  verstorbener  Menschen,  für  die  noch 
kein  Totenfest  gefeiert  worden  ist,  die  Seelen  (roh)  der  Tiere 
(z.  B.  des  Tigers  und  des  Krokodils)  und  der  Pflanzen,  die 
panganto  (Krankheit  verursachend)  heißen,  die  äla  von  Men- 
schen, deren  adiau  die  Seelenstadt  niemals  erreichten,  und  die 
Dämonen  (malayisch  hantu). 

Eine  gewisse  Art  ala  leistet  bei  Krankheit  Hilfe.  Dies  sind 
die  seniang  der  Biadju.  Unter  den  ala  gibt  es  Luftgeister  und 
Erdgeister.  Die  Pontianak  heißt  in  Westdusun  Kunkianak. 
Harimaung  ist  ein  Waldgeist  in  Gestalt  eines  Tigers,  der  Tieren 
und  Menschen  das  Blut  aussaugt.  Njaro  ist  der  Donnergott, 
der  als  ein  Hund  dargestellt  wird.  Njanjo  Kowawe  ist  ein 
Hirschgeist.  Durch  Opfer  kann  man  jeden  ala  in  einen  Schutz- 
geist (Hiang  Piombung)  verwandeln.  Gewöhnlich  ist  dieser 
Hiang  Piombung  ein  Tier  (Tiger,  Hirsch  oder  Fisch).  Meistens 
hat  er  sein  besonderes  Häuschen  in  der  Wohnung  des  Anbeters. 

Die  pangantoho  sind  Fetische  aus  Stein,  in  denen  ein  Hiang 
Piombung  haust.  Bei  den  Dusun-Barito  und  Lawangan  wird 
ein  Schädel  als  pangantoho  gewählt.  Auch  Tierschädel  oder 
Holzstücke,  die  in  der  Gestalt  einem  Menschen  oder  Tier  ähneln, 
werden  als  pangantoho  betrachtet. 

Die  Zauberer  (balian  oder  wadian)  lassen  sich  einteilen  in: 
1.  hälian  rawoh  (oder  warah),  die  bei  Totenfesten  fungieren 
und,  außer  bei  den  Padju  Empat,  Männer  sind ;  2.  halian  Mwoh, 
Medizinmänner,  gleichfalls  Männer,  bei  den  Lawangan,  oder 
halian  Maänjan  (dada)  bei  den  Maänjan;   diese  letzteren  sind 


Religionen  der  Naturvölker  Indonesiens  601 

aber  Frauen;  3.  halian  idbih  (makan  dla),  die  den  Geistern 
Opfer  darbieten.  —  Der  halian  kann  die  Götter  und  Geister 
zwingen,  zu  erscheinen.  Als  Medizinmann  leistet  er  bisweilen 
gute  Dienste. 

Die  Dajak  meinen,  die  Krankheit  entstehe,  indem  ein  Krank- 
heitsgeist in  den  Körper  des  Kranken  fährt  und  dessen  Seele 
(amiroe)  entflieht.  Die  letztere  muß  also  zurückgeholt  und  der 
erstere,  bisweilen  ein  adiaii,  ausgetrieben  werden.  Gewöhnliche 
Krankheiten  sind  z.  B.  sahit  mangga,  eine  Art  Asthma,  und 
.saUt  sahor,  eine  durch  den  Geist  Sahor  verursachte  Abnahme 
der  Körperkräfte  sowie  eine  durch  den  Geist  Rangung  yerur- 
sachte  Anschwellung  der  Beine.  Die  letztere  ist  speziell  eine 
Strafe  für  Diebe. 

Sumatra.  Im  zweiten  Bande  der  großen  Monographie  von 
Alfred  Maaß,  Durch  Zentral-Sumatra  (Berlin  1912)  wird  über 
die  Religion  nur  an  einzelnen  Stellen  gesprochen,  z.  B.  S.  48, 
wo  erzählt  wird,  wie  die  Eingeborenen  fürchten,  daß  man  mit 
einer  Haarlocke  zugleich  den  darin  befindlichen  Seelenstoff  er- 
hält und  damit  den  Menschen  selbst  ganz  in  seine  Macht  be- 
kommt, so  daß  man  ihm  alles  Böse  antun  kann.  Wegen  der- 
selben Ursache  vermeiden  es  die  Eingeborenen,  ihren  eigenen 
Namen  zu  nennen.  Dies  gilt  nicht  nur  von  den  Malaien  Su- 
matras, sondern  auch  von  denen  Malakas  sowie  von  den  Dajak 
I  und  den  Papua. 

!        Betreffs  des  Wahnsinns  glaubt  man  in  Zentral-Sumatra  (S.  38 1 ), 
I  daß  dieser  dadurch  verursacht  wird,  daß  der  Wahnsinnige  von 
einem  bösen  Geist  besessen  wird,  weshalb  man  die  Irrsinnigen 
am   Kopf  und   Körper  mit   dem   Safte   des   Citrus  papeda  be- 
streicht, um  dadurch  den  bösen  Geist  zu  bannen.     Eine  Form 
i  zeitweiligen  Wahnsinns,  die  bei  den  Frauen  bisweilen  epidemisch 
!  auftritt,  wird  dem  bösen  Geist  Si-mabau-bungä   zugeschrieben. 
In  einigen  Gegenden  der  Padanger  Hochländer  glauben  die  Ein- 
geborenen,    daß     böse     Geister     die     Seele    {sumange')    einer 


602  H.  H.  Juynboll 

Frau  entführen  können,  wodurch  sie  einen  Anfall  von  dieser 
Krankheit  bekomme.  Auch  auf  Bali  und  in  Atjeh  wird  Wahn- 
sinn einem  bösen  Geiste  zugeschrieben. 

Namentlich  im  Kapitel  über  böse  Geister  (S.  413 — 448) 
werden  diese  als  Verursacher  von  allerlei  Krankheiten  bezeichnet. 
Schon  die  Berührung  eines  Geistes  genügt,  um  jemand  krank 
zu  machen.  Auch  das  Aussaugen  des  Blutes  oder  das  Werfen 
von  Sand  oder  sonst  einem  Stoff  als  Krankheitsübertrager  auf 
den  Körper  sind  Mittel,  die  ein  böser  Geist  anwendet,  um 
Menschen  krank  zu  machen. 

In  Taluk  stellt  man  sich  die  Geister  {hantu)  als  gewöhn- 
liche Menschen  vor.  Sie  hausen  besonders  in  Sümpfen  und 
im  Walde  oder  an  bestimmten  Stellen  längs  der  Mußufer.  Die 
Dämonen  können  auch  bisweilen  in  die  Wohnungen  der  Men- 
schen eindringen.  Zur  Abwehr  verbrennt  man  starkriechende 
Kräuter  oder  man  hängt  dornige  Sträucher  über  dem  Eingang 
des  Hauses  auf.  Auch  trägt  man  Amulette  zum  Zweck,  dem 
Angriff  eines  Geistes  vorzubeugen.  In  Taluk  glaubt  man  nicht, 
daß  die  Geister  der  Verstorbenen  imstande  sind,  jemanden 
krank  zu  machen  oder  jemandes  Seele  zu  rauben ;  in  Si- 
Djundjung  aber  glaubt  man  das  letztere  wohl.  Auch  bei  den 
Minangkabauern  besteht  die  Vorstellung,  daß  Krankheiten  in- 
folge der  Entführung  der  Seelen  durch  einen  Geist  verursacht 
werden.  Nicht  nur  bei  Krankheiten,  sondern  auch  während 
des  Schlafes  und  infolge  eines  Schreckens  kann  der  Lebens- 
geist den  Körper  zeitweilig  verlassen. 

Nach  dem  Glauben  der  Bewohner  von  Taluk  sitzt  die  Seele 
in  allen  Organen,  vorzugsweise  aber  im  Herzen  und  in  der 
Leber.  Auch  im  Blute,  in  den  Haaren  und  Nägeln  ist  Seelen- 
stoff vorhanden.  In  der  Plazenta  und  der  Nabelschnur  befindet 
sich  nach  den  Talukern  keine  sumange%  in  Si-Djundjung  aber 
glaubt  man  gerade  das  Gegenteil.  In  Taluk  wird  verneint,  daß 
die  Sekrete  und  Exkremente  des  Menschen  Seelenstoff  enthalten. 
In  Zentral-Sumatra  glaubt  man,  daß  man  durch  allerlei  Zauber- 


Religionen  der  Naturvölker  Indonesiens  603 

mittel  imstande  ist;  andere  krank  zu  machen,  z.  B.  indem  man 
jemand  einen  bezauberten  Faden  um  den  Finger  bindet.  Es 
gibt  in  Zentral-Sumatra  eine  Kategorie  von  Menschen,  die  ge- 
fürchtet werden,  weil  sie  imstande  sein  sollen,  sich  in  irgend- 
ein Tier,  namentlich  in  einen  Tiger,  zu  verwandeln  (Lykan- 
thropie).  Der  Schreiber  dieses  Kapitels  über  die  bösen  Geister, 
Dr.  J.  P.  Kleiweg  de  Zwaan,  schließt  sich  der  Meinung  von 
Prof.  de  Groot  an,  daß  es  sich  hierbei  nicht  nur  um  eine 
einfache  Seelenwanderung  handelt,  sondern  daß  auch  der  Körper 
allmählich  eine  tierische  Gestalt  annimmt. 

Das  Obige  genügt,  um  zu  zeigen,  wie  auch  in  diesen  nomi- 
nell muhammedanischen  Gegenden  die  verschiedenen  Formen 
von  Naturreligionen  noch  gar  nicht  erloschen  sind. 

Nias.     In   der   Monographie   von   Dr.  J.  P.  Kleiweg   de 
Zwaan,  Die  Insel  Nias  bei  Sumatra.  Die  Heilkunde  der  Niasser 
(Haag  1913)   findet  sich,  zumal  im  ersten  Kapitel  (S.  1 — 82), 
vieles   über  die  Religion   der  Bewohner  von  Nias.     Die  Heil- 
kunde der  Niasser  ist  auf  das  innigste  mit  ihrer  Religion  ver- 
bunden.  Besonders  die  bösen  Geister  sollen  imstande  sein,  bei 
1  den   Menschen   Krankheiten   zu   erregen,  jedoch  auch  die  ver- 
!  schiedenen  Gottheiten,  wie  Lowalangi,  die  höchste  Gottheit  der 
j  Niasser.     Lature   soll,   nach   einzelnen  Niassern,   den  von  den 
!  Menschen  an   den  Himmel  geworfenen  Schatten  aufessen,  die 
.  bösen  Geister  (heghu)  aber  den  auf  die  Erde  fallenden  Schatten 
j  der  Menschen.   Die  unterirdische  Gottheit  Baluwa-dano  schickt 
bisweilen   einen   bösen   Geist  auf  die  Erde,  um  die  Menschen 
I  durch  Krankheiten   zu   strafen.     Barasi-luluö   oder  Baliu  ver- 
j  leihen  den  Menschen  die  Seele. 

i        Nach  den  Nord-Niassern  ist  aller  Seelenstoff  im  Besitz  der 
I  Sibarassia   Nosso.     Türe   Luluwe   wiegt  die  für  den  einzelnen 
1  Menschen  bestimmte  Menge  Seelenstoff  ab,  und  Lowalangi  be- 
stimmt, wie  viel  Seelenstoff  einem  jeden   zuteil  wird.    Von  den 
bösen  Geistern  (heghu)  werden  zumal  Afocha  und  Nadaoja  sehr 


604  H.  H.  Juynboll 

gefürchtet,  weil  man  meint,  daß  sie  die  Schatten  der  Menschen 
aufessen. 

In  Süd-Nias  (^Telok  Dalam)  glaubt  man,  daß  Malaria  gewöhn- 
lich durch  Nadaoja  verursacht   wird.     Dieser  ist,   wie  Afocha, 
ein   Baumgeist.    Von   den   heghu  hat   Sibua   es   besonders  auf 
schwangere   Frauen  abgesehen.     Der  leghu   salawa  macht  die 
Menschen  krank,  indem  er  sie  erschreckt.     Der  heghu  lauweha 
soll  im  Meere  oder  nach  anderen  im  Walde  hausen.  Der  heghu 
nassi   läßt   die  Bemannung  der  Fahrzeuge   ertrinken.     Zu  den 
Waldgeistern    gehören  die  heghu  hedoja,  welche  die  Menschen 
durch   ihre   Berührung  krank   machen,   und  huka  huJcai.     Der 
heghu  di  hunu  macht,  daß  Menschen  vom  Fieber  befallen  wer- 
den, und  der  Erdgeist  djumhala  tanah  verursacht  Beriberi.    In 
Nord-Nias  (Lahewa)  wird  der  Grottengeist  heghu  doya  sehr  ge- 
fürchtet.    Sihelu  dano  dringt  in  die  menschlichen  Wohnungen 
ein    und    macht   die   Bewohner   krank.     In   Süd-Nias    ist   der 
heghu  saho,  der  in  Gestalt  einer  weißen  Katze  in  Bäumen  sitzt, 
sehr  gefürchtet.     Die  heghu  lauru  und  gafore  sind  die   Geister    ' 
der  Korn-  und  Schweinemaße.    Auch  die  Geister  der  Verstor- 
benen trachten,  die  Hinterbliebenen  kränk  zu  machen.  Deshalb 
verfertigt  man  sofort  nach  dem  Tode  ein  hölzernes  Abbild  des 
Verstorbenen.    Man  gibt  dem  Toten  für  das  Jenseits  verschie- 
dene   Gegenstände   mit.     Die   Seele    (rnoko-möko)   verläßt   den 
Körper   einige   Zeit  nach   dem  Tode  in  Gestalt  einer  Spinne, 
die  zu  dem  hölzernen  Abbild  {adu)  des  Verstorbenen  gebracht 
wird.  Nach  einem  Todesfall  werden  meistens  dem  Verstorbenen 
Opfer   gebracht.    Um    den    Toten    zu    hindern,  wieder    aufzu- 
erstehen, bindet  man  seine  Beine  zusammen  und  verstopft  seine 
Nasenlöcher.   Auch  das  Nehmen  eines  Bades  und  verschiedene 
andere  Vorschriften   haben   den   Zweck,  sich  gegen  die  Rache 
des  Verstorbenen  zu  schützen.  Wenn  trotzdem  doch  eine  Krank- 
heit  ausbricht,    so   muß   für   den  Verstorbenen   ein  neuer  adu 
gemacht  werden,  dem  ein  Opfer  gebracht  wird.  Bei  einem  Todes- 
falle macht  man  Lärm,  um  den  Geist  des  Verstorbenen  zu  ver- 


Religionen  der  Naturvölker  Indonesiens  605 

jagen.  Für  verstorbene  Stammeshäupter  wird  statt  eines  höl- 
zernen Bildes  häufig  ein  großer  Steinblock  errichtet.  Auch  die 
Geister  verstorbener  Tiere  sollen  imstande  sein,  Menschen  krank 
zu  machen. 

Die  Kopfjagd  scheint  teilweise  eine  Äußerung  des  Ahnen- 
kultus zu  sein.  Früher  hatten  die  Kopfjäger  ihre  eigene  Gott- 
heit, die  sie  beschützte,  und  der  sie  ein  Götzenbild  errichteten. 
Nach  Kruyt  und  Schröder  ist  der  eigentliche  Zweck  des  Kopf- 
abschlagens,  sich  in  den  Besitz  des  Seelenstoffes  dieses  Kopfes 
zu  setzen.  Nach  Frieß  ist  das  Köpfeschnellen  eine  Äußerung 
des  Spiritismus. 

Auch  auf  Nias  fürchtet  man  die  matianäk  oder  Geister  im 
Wochenbett  gestorbener  Frauen.  Bei  der  Bekämpfung  von 
Krankheiten  spielen  die  Priester  und  die  dukun  eine  große  Rolle. 
Die  Niasser  fürchten  sich  vor  dem  Regenbogen  und  vor  Kometen. 
Regen  mit  Sonnenschein  wird  für  gefährlich  gehalten,  weil  dann 
die  Krankheit  verursachenden  Geister  umherschweifen.  Auch 
andauernde  Regengüsse  und  Erdbeben  gelten  als  schlechtes 
Vorzeichen.  Wenn  jemand  Priester  werden  will,  versteckt  er 
sich  im  Walde,  damit  seine  Kamponggenossen  dann  glauben, 
daß  ein  böser  Geist  ihn  entführt  hat.  Nachdem  der  Jüngling 
zurückgekehrt  ist,  wird  er  auf  einen  hohen  Berg  geführt,  um 
die  Berggeister  kennen  zu  lernen. 

Gewöhnlich  wird  eine  Krankheit  verursacht,  indem  ein  böser 
Geist  die  Seele  des  Menschen  fortnimmt.  Wenn  der  böse  Geist 
(heghu)  den  Schatten  des  Menschen  aufgegessen  hat,  fleht  der 
Priester  einen  heia  genannten  Geist  an,  den  heghu  zu  zwingen, 
die  Seele  dem  Kranken  zurückzugeben.  Man  stellt  sich  also 
den  Schatten  des  Menschen  beseelt  vor. 

Böse  Geister  können  die  Menschen  auch  krank  machen 
[durch  Ausstreuen  von  Krankheitskeimen,  z  B.  Pockenkeimen, 
[Asche,  Steinchen  usw.  Auch  in  das  Wasser  streuen  sie  Krank- 
heitskeime. Daher  die  Furcht  der  Niasser,  zu  baden,  und  ihre 
Unreinlichkeit.     Die   heghu   können   die  Menschen  auch  krank 


6Q6         H.  H.  Juynboll  Religionen  der  Naturvölker  Indonesiens 

machen,  indem  sie  dieselben  erschrecken  oder  auch  berühren, 
oder  indem  sie  in  den  Körper  der  Menschen  eindringen.  Man 
versucht,  mittels  Opfergaben  die  bösen  Geister  günstig  für  sich 
zu  stimmen  und  wendet  gegen  die  Krankheit  erregenden  heghu 
Amulette  an. 

Das  Anfertigen  der  hölzernen  Götzenbilder  (adu)  steht  mit 
der  Geisterverehrung  und  Geisterfurcht  in  Verbindung.  Sie 
spielen  eine  bedeutende  Rolle  bei  der  Bekämpfung  der  Krank- 
heiten. Wahrscheinlich  sind  die  adu  Medien,  durch  welche  man 
mit  den  wohlgesinnten  heia  in  Kontakt  kommen  kann.  Die 
heia  sind  Geister,  die  auf  den  Gipfeln  der  Bäume  wohnen.  Es 
gibt  auch  böse  helaj  die  die  Menschen  krank  machen  und  Frauen 
schwängern.  Wo  die  adu  mit  großen  Genitalien  versehen  sind, 
ist  dies  als  ein  Fruchtbarkeitssymbol  zu  betrachten. 

Man  trägt  Armbänder  von  Metall  gegen  Zauberei.  Viele 
Krankheiten  werden  auf  Zauberei  zurückgeführt.  Auch  in  Liebes- 
angelegenheiten spielt  die  Zauberei  eine  große  Rolle,  indem 
man  durch  Zaubermittel  Liebe  einflößen  kann.  Viele  Leute  be- 
sitzen die  Kraft,  ihre  Mitmenschen  durch  Verwünschungen  krank 
zu  machen.  Die  heghu  nassi  genannten  Geister  können  durch 
ihre  Blicke  Krankheit  verursachen.  Pocken  oder  Wahnsinn 
werden  als  Strafe  für  ein  begangenes  Unrecht  aufgefaßt.  Zahn- 
leiden und  Hautkrankheiten  werden  durch  ein  Tier  verursacht. 
Lowalangi  läßt  die  Menschen  durch  Ertrinken  umkommen. 

Das  Obige  wird  genügen,  um  zu  zeigen,  wieviel  in  diesem 
Buche  über  'Die  Heilkunde  der  Niasser'  auch  über  die  Religion 
dieser  interessanten  Insulaner  sich  findet.^ 


*  Die  Besprechung  des  wertvollen,    1912  erschienenen  Werkes  von 
Eiber    Die  Sundaexpedition  behalte  ich  mir  für  den  nächsten  Bericht  vor. 


7  Der  indische  Bnddhisnms  (1910—1913) 

Von  H.  Oldenberg  in  Göttingen 

Unter  „indischem"  Buddhismus  wolle  man  den  vor derindi sehen 
(im  Ganzen,  Ceylon  eingeschlossen)  verstehen.  Daß  gelegentlich 
doch  auch  Hinterindisches  —  ebenso  Zentralasiatisches  —  zu 
erwähnen  war,  das  mit  den  der  Berichterstattung  direkt  unter- 
liegenden Materialien  und  Problemen  zusammengehört  und  auf 
diese  Licht  wirft,   versteht  sich  von  selbst.     Eine  vollkommen 
scharfe  Grenzlinie   zu   ziehen,   war  natürlich   unmöglich.     Das 
I  massenhafte  Material,  für  das  neben  der  Orientalischen  Biblio- 
j  graphie  auch  auf  die  vorzüglichen  Zusammenstellungen  Ballinis 
j  in  der  Rivista  degli  Studi  Orientali  zu  verweisen  ist,  durfte  ich 
vollkommen  zu  erschöpfen  aus  äußeren  wie  inneren  Gründen 
nicht  versuchen. 

Unter  den  Gesamtdarstellungen  erwähne  ich  zuvörderst  das 
kleine,  höchst  inhaltreiche  Buch  von  Mrs.  Rhys  Davids^.  Es 
legt  die  so  oft  dargestellten  Einzelheiten  des  alten  Buddhismus 
nicht  von  neuem  vor,  sondern  gibt  —  auf  Grund  der  Päli- 
quellen  —  dem,  der  dessen  äußeres  Bild  in  sich  aufgenommen 
hat,  ein  Gesamtbild,  ich  möchte  sagen,  seiner  inneren  Struktur. 
An  die  Spitze  stellt  die  Verfasserin  die  Vorstellung  des 
„Dhamma"  als  einer  unpersönlichen,  ewigen  Ordnung  der  Dinge, 
welche  deren  Bewegung  und  Leben  beherrscht.  Sie  verfolgt  den 
Dhamma  in  seinen  Erscheinungsformen:  in  der  Leugnung  eines 
Ich,  im  Kausalitätsgesetz,  der  von  der  Vorstellung  des  Karman 
beherrschten  Moral,  dem  Erlösungsstreben  und  seinem  Ziel, 
dem  Nirvana.  Mit  der  ihr  eignen  Feinheit  und  Klarheit  ist 
sie  bestrebt,  von  den  Fragen,  welche  die  Alten  bewegten,  und 
ihren  Antworten  darauf  alle  Elemente  abzulösen,   die  den  Be- 

*  Mrs.  Rhys  Davids  Buddhism,  a  study  of  the  Buddhist  norm  (Home 
University  Library).     London,  ohne  Jahr  (erschienen  1912). 


gQ3  H.  Oldenberg 

trachter  der  Versuchung  des  thinking  of  something  eise  unter- 
liegen lassen.  So  hat  sie  es  erreicht,  die  Hüllen  des  Unwesent- 
lichen abstreifend  vom  Wesentlichen  der  altbuddhistischen  Ge- 
dankengänge ein  nicht  geringes  Maß  uns  vor  Augen  zu  stellen. 
Weiter  ist  von  Gesamtdarstellungen  des  Buddhismus  oder 
wenigstens  des  alten  Buddhismus  die  im  vorigen  Bericht 
(Archiv  XIII  582)  besprochene  Edv.  Lehmanns  jetzt  erfreulicher- 
weise in  deutscher  Bearbeitung  erschienen.^  In  neuer  Auflage 
erschien  das  Buch  des  gegenwärtigen  Berichterstatters^  und 
dasjenige  Pischels^,  das  letztere  unter  Absehen  von  tiefer 
greifenden  Änderungen  von  Lüders  herausgegeben,  überall 
tritt  in  diesem  Buch  der  außergewöhnliche  Umfang  von 
Pischels  Wissen  und  Belesenheit  hervor,  und  man  wird  dem 
Urteil  des  Herausgebers  beipflichten,  der  es  zu  den  besten  der 
Arbeiten  Pischels  rechnet.  Die  auch  in  Pischels  Forschungen 
über  den  Veda  so  energisch  sich  kundgebende  Neigung,  in  der 
Auffassung  alt  indischer  geistiger  Schöpfungen  späteren  Tradi- 
tionen entscheidendes  Gewicht  einzuräumen,  scheint  mir  hier 
und  da  ihn  zu  irrigen  Ergebnissen  geführt  zu  haben.  Ich 
habe  dies  schon  an  anderm  Ort  hinsichtlich  der  Ansicht  Pischels 
ausgeführt,  die  für  die  Auffassung  der  Entwicklung  der  Jätaka- 
literatur  entscheidend  sein  und  diese  revolutionieren  würde,  daß 
die  alte  Zahl  dieser  Erzählungen  34  sei:  offenbar  wegen  des 
allem  Anschein  nach  erst  in  später  Zeit  dem  Buddha  beige- 
legten Epithetons  „Kenner  der  34  Jätakas"  (s.  dazu  meine 
Ausführungen  Nachr.  Gott.  Ges.  Wiss.  1912,  183  ff.).  Ich  glaube, 
daß  das  Gewicht,  das  Pischel  bestimmten  Formulierungen  der 
Sämkhyaphilosophie  in  der  Deutung  der  buddhistischen  Lehre 
zugesteht,  ähnliche  Bedenken  herausfordert.  Anderer  Art  sind 
Zweifel,     die    ich    gegen    Pischels    Parallelisierung    des    bud- 

^  Edv.  Lehmaun  Der  Buddhismus  als  indische  Sekte,  als  Weltreligion. 
Tübingen  1911. 

^  H.  Oldenberg  Buddha,  sein  Leben,  seine  Lehre,  seine  Gemeinde. 
6.  Auflage,  Stuttgart  und  Berlin  1914. 

'  R.  Piscbel  Leben  und  Lehre  des  Buddha.    2.  Auflage,  Leipzig  1910. 


Der  indische  Buddhismus  (1910—1913)  609 

dhistischen  Freundschaftsgefühls  (maitri)   mit    der  christlichen 
Liebe  erhebe  (s.  meinen  unten  S.  617  A.  1  angeführten  Aufsatz; 
vgl.  auch  dies  Archiv  XIII  586).    Erfreulicherweise  hat  Pischel 
von  den  großartigen  Entdeckungen  in  Zentralasien,  um   deren 
Erreichung  er  selbst  sich  so  hervorragende  Verdienste  erworben 
hat,    vieles    noch    für    diese    Arbeit   nutzbar    machen    können. 
—  In  neuer,  wesentlich  erweiterter  Auflage  ist  auch  das  fein- 
sinnige und  gedankenreiche,  leider  allzu  stark  von  den  Über- 
setzungen K.  E.  Neumanns  abhängige  Buch  von  de  Lorenzo^ 
erschienen.  —  La  Yallee  Poussin^  stellt  den  alten  Buddhismus 
in  seinem  Hervorwachsen   aus   dem  Brahmanentum   und  nach 
den  Grundzügen  seines  eignen  Wesens  mit  der  dem  Verfasser 
eignen   Unabhängigkeit    des   Urteils    in    der   Kürze    dar.     Die 
treffende    Bemerkung    Barths,     daß    die     feindlichen    Brüder, 
Brahmanen  und   Buddhisten,   doch   in  Wahrheit  Brüder   sind, 
I  kann  als  ein  Leitmotiv  seiner  Ausführungen  angesehen  werden. 
Noiis  n'essaierons  pas  de  ramener  leurs  (der  Buddhisten)  opinions 
ä  une  doctrine  coherente:  ce  serait  perdre  notre  temps;  mais  nous 
sommes  fixes,  ou  ä  peu  pres,  sur  leurs  principales  pensees  habi- 
tuelles et  par  consequent  dirigeantes:   man  wird   diesem  Grund- 
i  Satz    der   Darstellung   nur   beistimmen    können.      Ebenso    der 
I  Lösung,    zu    welcher    der    Verfasser    in    dem    vieldiskutierten 
I  Nirvanaproblem  sich  bekennt:   das  Nirvana  n^est  pas  le  neanty 
I  mais  ce  n'est  aucune  forme  connue  ou  imaginable  d'existence.  — 
I  Über  das  Buch  von  Costa^,   der  auf  theoretischem  Gebiet  die 
j  buddhistische    Ablehnung    der   Annahme    absoluter   Prinzipien 
I  und  die  Lehre  von  der  Unbeständigkeit,  der  Nichtsubstanzialität 
!  alles  Daseins  in  Verbindung  mit  der  Diskussion  der  Gedanken- 
gänge leitender   abendländischer  Systeme   in   den  Vordergrund 
stellt,   auf  praktischem  Gebiet  die  Idee  des  Mitleids,   habe  ich 

I  1  G.  de  Lorenzo  India  e  Buddhismo  antico  (Bibl.  di  Cultura  moderna). 
J2.  ediz.,  Bari  1911. 

2  L.  de  la  Yallee  Poussin  Bouddhisme  et  religions  de  VInde  (Christus 
p.  220—298).     Paris  1912. 

^  Alessandro  Costa  Füosofia  e  Buddismo.    Turin  1913. 

Archiv  f.  Eeligionewissenachaft  XVII  39 


QIQ  H.  Oldenberg 

an   anderm    Ort   (Deutsche  Lit.  Zeit.  1913,   2715  ff.)    berichtet 
und   die   Reserven,    die   ich    hier    machen    möchte,    bezeichnet. 
Ebenso  über  die  Schrift  von  Mme  Alexandra  David^,   die  den 
Buddhismus  —  wenn  ich  mich  nicht  täusche,   ihn   bemerkbar 
modernisierend   —    als   proche    des    conclusions    de    la    science 
d'aujourd'hui  et^  foserais  dire,   de   la  science   de   demain   dem 
einzelnen  als  Führer,  dem  sozialen  Leben  als  Leuchte  darbietet 
(vgl.  Deutsche  Lit.  Zeit.  1912,  220  f.).  -   Dahlke^  hat  entdeckt, 
daß  man  den  Buddhismus  nicht  versteht,  wie  in  geradezu  pein- 
licher Weise  aus  der  Literatur   über   ihn   hervorgehe.     Seiner- 
seits historischem  Denken  fernstehend   erläßt  er   es    sich,    um 
ein  Verständnis  des  Buddhismus  sich  zu  bemühen,  wie  er  mit 
den  ihm  vorangehenden  Phasen   des  Gedankens   verknüpft   an 
seiner    Stelle    innerhalb    des    altindischen    Geisteslebens    steht. 
Für   Dahlke   ist   die   Lehre   des  Buddha  —  d.  h.   in  Wahrheit 
eine  Mischung  von  Buddha  und  Dahlke  —  nicht  allein  großartig 
und    tief   wie    die   Heraklits,    die    des   Vedänta    es    auch    ist. 
Sie  ist  mehr  als  das:   sie   ist   wirklich.     Man   stelle   alle  Eeli- 
gionen,    alle   philosophischen   und    wissenschaftlichen   Systeme 
der  Welt  auf  die  eine  Seite:   auf  die  andre  kommt  allein   der 
Buddhismus.     Der  Buddha   steht   wie   der  Erwachsene   gegen- 
über Kindern  da.     Um   für   seine  Lehre  Platz   zu   machen    — 
während  Kant  „als   einer   der   größten  Schädlinge   am  Baume 
des   geistigen  Lebens   der  Menschheit''   entlarvt   wird  —  muß 
„die  nichtwirkliche   und   die   rückwirkliche  Form   der  Weltan- 
schauung,  wie   sie   als    Glaube   und    Wissenschaft   überall   die 
freie  Aussicht  versperren,   hinweggeräumt    oder   doch   auf  das 
ihnen   zukommende   Gebiet  begrenzt  werden".     Ein   folgender 
Band  wird  die  Bedeutung  des  Buddhismus  für  Moral  und  Reli- 
gion den  wenigen  darlegen,   für   die  Dahlke   schreibt  —  „das 

^  Alexandra  David  Le  Modernisme  touddhiste  et  le  Bouddhisme  du 
Bouddha.    Paris  1911. 

2  P.  Dahlke  Buddhismus  als  Weltanschauung.  Breslau  1912.  Vgl. 
ancli  denselben  Die  Bedeutung  des  Buddhismus  für  unsere  Zeit. 
Breslau  1912. 


Der  indische  Buddhismus  (1910—1913)  611 

sind  die  wenigen,  die  viel  sind".  —  B.  Jayatilaka,  ein  ceylo- 
nesisclier  Gelehrter,  besckreibt  in  einem  Vortrag,  den  er  auf 
dem  Weltkongreß  für  freies  Christentum  (Berlin  1910)  hielte 
die  buddhistische  Lehre  als  ein  „System  von  praktisch- ethischen 
Regeln,  deren  Ziel  die  Ausmerzung  des  Schlechten  ist,  die 
Entwicklung  des  Guten  und  die  Reinigung  des  Herzens". 
Wenn  ein  Blatt,  das  diesen  Vortrag  veröffentlichte,  von  ihm 
rühmte,  er  gewähre  Einblicke  in  das  Wesen  des  Buddhismus, 
wie  sie  aus  den  in  Europa  bekannten  Kommentaren  dieser 
Lehre  bisher  kaum  zu  gewinnen  seien,  so  schien  es  dem  gegen- 
wärtigen Berichterstatter^  wichtig,  auf  das  aus  der  Untersuchung 
der  alten  Quellen  und  allein  aus  dieser  zu  gewinnende  echte 
Bild  des  ursprünglichen  Buddhismus  gegenüber  der  bequemen 
und  freien  modernen  Umdeutung  zurückzuweisen.  —  Kurze, 
verschiedenen  Zwecken  angepaßte  Darstellungen  des  Buddhismus 
hat  der  Verfasser  des  vorliegenden  Berichts  an  den  beiden 
unten  verzeichneten  Stellen^  gegeben.  Hier  darf  auch  ein 
gleichfalls  kurzer,  vor  der  Asiatic  Society  of  Bengal  gehaltener 
Vortrag  desselben*  erwähnt  werden,  der  die  Entwicklung  der 
Arbeit  an  einigen  leitenden  Problemen  der  Buddhismusforschung 
in  den  letzten  Jahrzehnten  und  die  Stellung  des  Vortragenden 
dazu  charakterisiert.  —  Weiter  sind  einige  der  älteren  Aufsätze 
L.  von  Schroeders^  in  diesem  Zusammenhang  zu  erwähnen,  die 


1  B.  Jayatilaka  Buddha.  Berliner  Tageblatt  Nr.  409,  14.  August  1910. 
\—  Englisch  unter  dem  Titel  The  Message  of  Buddhism,  The  Buddhist 
JReview,  Okt.  bis  Dez.  1910  S.  307  ff. 

I        2  H.  Oldenberg  Unechter  und  echter  Buddhismus.   Internat.  Wochen- 
schrift für  Wissenschaft,  Kunst  u.  Technik,  5.  Jahrg.  Berlin  1911  S.  545  ff. 

»  H.  Oldenberg  in  Kultur  der  Gegenwart,  Teil  I,  Abt.  III,  1.  2.  Aufl. 
Leipzig  u.  Berlin  1913,  S.  74ff.  83.  —  Derselbe  Buddha  und  der  alte  Bud- 
ihismus,  Jahrbuch  des  Freien  Deutschen  Hochstifts  zu  Frankfurt  a.  M.  1910. 
I  ^  H.  Oldenberg  A  Note  on  Buddhism,  Journ.  and  Proceedings  of  the 
ksiatic  Society  of  Bengal  IX,  123  ff.     Calcutta  1913. 

^  L.  von  Schroeder  Beden  und  Aufsätze  vornehmlich  über  Indiens 
Literatur  und  Kultur.  Leipzig  1913;  Buddha  S.  194 ff.;  Buddha  und 
msere  Zeit  S.  216  ff. 


g22  H-  Oldenberg 

bei  der  Herausgabe  von  dessen  gesammelten  Reden  und  Auf- 
sätzen der  Öffentlichkeit  neu  dargeboten  sind.  —  Formichi^  legt 
in  einem  formschönen,  in  Rom  gehaltenen  Vortrage,  größtenteils 
im  Anschluß  an  die  Predigt  Buddhas  von  Benares  —  die 
historische  Authentizität  von  deren  Überlieferung,  möchte  ich 
glauben,  überschätzend:  doch  darauf  kommt  wenig  an;  die 
größte  innere  Authentizität  wohnt  jener  Rede  sicher  bei  — 
die  Grunddogmen  des  Buddhismus  und  die  das  buddhistische 
Leben  beseelenden  Stimmungen  dar.  In  der  Yergleichung  der 
buddhistischen  Verkündigung  mit  der  christlichen  übersieht  er 
die  Unterschiede  in  Form  und  Ton  keineswegs.  Die  den 
inneren  Gehalt  betreffenden  würde  ich  doch  in  mancher  Hinsicht 
für  tiefergehend  halten,  als  er  tut.  Wenn  er,  mit  Pischel  sich 
berührend,  eine  die  Übungen  der  maitrl  verherrlichende  Stelle 
als  canto  delV  amore  betrachtet,  möchte  ich  an  die  Bedenken 
erinnern,  die  ich  dem  gegenüber  erhoben  habe  (s.  oben  S.  609). 
Döi?'  e  piü  V  egoismo?  fragt  er.  Aber  ist  denn  wirklich  das  alt- 
buddhistische Erlösungsstreben  von  einem  Zug  des  Egoismus 
frei?  Der  Weg  zur  eignen  Erlösung  ging  geradeaus,  auch  über 
Qualen  andrer;  ich  erinnere  an  die  Geschichte  von  Vessantara. 
—  Pizzagalli^  schließt  Bemerkungen  über  die  philosophische 
und  ethische  Struktur  des  Buddhismus  an  die  Analyse  einiger 
neuerer  Arbeiten  auf  diesem  Gebiet  an  (La  Vallee  Poussins 
Übersetzung  von  Öäntidevas  Bodhicaryävatära;  das  oben  er- 
wähnte Buch  de  Lorenzos  u.  a.).  —  Formichi  und  Belloni- 
Filippi^  untersuchen  das  Verhältnis  der  religiösen  Elemente  im 
Buddhismus  zu  den  philosophischen.  —  Von  Behandlungen  des 
Buddhismus  im  Rahmen  umfassenderer  religionsgeschichtlicher 

*  Carlo  Formichi  La  dottrina  dt  Gautama  Buddha  e  i  suoi  valori 
umani  (Conferenze  e  prolusioni,  Anno  VI  Nr.  6).    Roma  1913. 

^  A.  M  Pizzagalli  Buddha  e  i  dogmi  del  Buddhismo  (Nuova  Antologia, 
16.  Luglio  1912),     Roma  1912. 

"  C.  Formichi  E  il  Buddhismo  una  religione  o  una  füosofia?;  Ferd. 
Belloni-Filippi  Ancora  sul  tema:  E  il  Buddhismo  una  religione  o  una 
filosofia?    (Rivista  di  Filosofia  Ann.  III  217 ff.  713 ff.)  Genova  1911. 


Der  indische  Buddhismus  (1910—1913)  613 

Darstellungen  erwähne  ich  die  von  Farquhar^,  Geden^,  dem  zu 
früh  verstorbenen  Speyer^  —  der,  wenn  ich  mich  nicht  täusche, 
den  philosophischen  Gehalt  des  Buddhismus  allzu  wenig 
herausgearbeitet  hat  —  sowie  diejenige  in  Söderbloms  Neu- 
bearbeitung des  Tieleschen  Kompendiums.*  Hier  ist  auch  der 
auf  den  Buddhismus  bezüglichen  oder  diesen  berührenden,  teil- 
weise höchst  wichtigen  Artikel  in  der  Encyclopaedia  of  Religion 
and  Ethics  (von  Rhys  Davids,  Mrs.  Rhys  Davids,  de  la  Vallee 
Poussin  u.  a.)  sowie  einzelner  in  der  „Religion  in  Geschichte 
und  Gegenwart"  zu  gedenken. 

Von  Besprechungen  einzelner  buddhistischer  Dogmen,  Vor- 
stellungen, Prinzipien  hebe  ich  die  folgenden  hervor. 

Gjellerup^  beschäftigt  sich,  veranlaßt  durch  die  Darstellung 

des  Buddhismus  in  Deussens  Allg.  Geschichte  der  Philosophie 

(Bd.  I  Abteilung  3),  mit  der  buddhistischen  Erlösungslehre  vor 

allem   unter  Hervorhebung   des  „Anatta"gedankens  (Leugnung 

eines  ätman  [„Selbst"])  und  der  von  ihm  mit  Walleser  —  ich 

bezweifle,  ob  mit  Recht  —  angenommenen  Stellungnahme  der 

Nidänaformel  zum   erkenntnis- theoretischen  Grundproblem  der 

Bewußtseinsimmanenz  der  empirischen  Realität.  —  In  populärer 

Sprache  gibt  Bhikkhu  Siläcära^  ein  lebendiges  Bild  vom  Wesen 

und    der    sittlichen  Wirksamkeit    der    eben   berührten  Anatta- 

;  lehre.  —  Es  war  ein  glücklicher  Gedanke  von  la  Yallee  Poussin', 

j  '  J.  N.  Farquhar  The  Crown  of  Hinduism  (Oxford  1913)  an  mehreren 

i  Stellen  (s.  das  Register). 

I  2  Alfred  S.  Geden  Studies  in  the  BeUgions  of  the  East  (London  1913), 

I  432  ff. 

'         ^  J.  S.  Speyer  Bie  indische  Theosophie.  Leipzig  1914,  136  ff. 

*  Tiele  Kompendium  der  Religionsgeschichte.   4.  völlig  umgearb.  Aufl. 
> ;  von  N.  Söderblom.  Berlin  1912,  274ff. 

!         ^  K.  Grjellerup  Die  buddhistische  Erlösungslehre   und   die   Geschichte 
der  Philosophie  (Preuß.  Jahrbücher  Bd.  142  S.  21ff.).  Berlin  1910. 

^  Bhikkhu  Siläcära  Bas  Ichprohlem  im  Buddhismus.  Ein  Vortrag. 
Übersetzt  von  Alfred  Eichelberger.     Breslau,  ohne  Jahr. 

^  L.  de  la  Vallee  Poussin  Bouddhisme,  etudea  et  materiaux:  Theorie 
des  douze  causes  (Universitö  de  Gand,  Recueil  de  travaux  publies  par  la 
Faculte  de  Philosophie  et  Lettres).  Gand  1913. 


614  H.  Oldenberg 

älterere  und  jüngere,  die  neuerdings  soviel  behandelte  Nidäna- 
(Kausalitäts-)forniel  betreffende  ganze  Texte  (wie  das  Sälistam- 
basütra)  und  zerstreute  Materialien  zu  sammeln.  Er  bat  das 
in  großer  Reicbbaltigkeit  getan,  wertvolle  Erörterungen  über 
den  ursprünglichen  Sinn  und  über  spätere  Deutungen  jener 
Formel  seinerseits  hinzufügend,  eine  Arbeit,  die  sich  würdig 
an  die  im  vorigen  Bericht  (S.  583  ff)  besprochene  Oltramares 
anschließt.  Ich  kann  nicht  für  zweifelhaft  halten,  daß  die 
Verteilung  der  Glieder  der  Kausalitätsformel  auf  drei  Existenzen 
der  Seelenwanderung  (wenn  dieser  Terminus  hier  gebraucht 
werden  darf,  wo  ja  die  Vorstellung  einer  „Seele"  durchaus  fern 
zu  halten  ist),  in  der  Weise,  wie  es  S.  36  dargestellt  ist,  den 
wahren,  ursprünglichen  Sinn  der  Formel  trifft:  1.  Vie  ante- 
rieure:  avidyä  et  samskäras.  2.  Vie  actuelle:  vijnäna  .  ,  .  hhava. 
3.  Vie  ä  venir:  jäti-jarämarana.  —  Auf  dieselbe  fundamental 
wichtige  Formel  bezieht  sich  auch  ein  kürzerer  Aufsatz,  den 
wir  Belloni-Filippi^  verdanken.  Mit  vollem  Recht,  meine  ich^ 
lehnt  er  es  ab,  in  dieser  Formel  ein  adattamento  di  un  antico 
mito  cosmogonico  (Kern)  oder  ww'  amalgama  d'  idee  eterogenee 
(Deussen)  zu  sehen.  Wenn  er  ebenso  auch  die  von  ihm  mir 
zugeschriebene  Annahme  einer  fusione  di  due  serie  di  principi 
abweist,  möchte  ich  mich  zu  dieser  Auffassung  in  der  Tat  nur 
in  dem  Sinn  bekennen,  wie  das  in  der  eben  bei  Gelegenheit 
von  La  Vallee  Poussins  Arbeit  besprochenen,  mir  überzeugend 
scheinenden  Verteilung  der  Glieder  der  Kausalitätsreihe  auf 
verschiedene,  einander  ablösende  Existenzen  liegt.  —  Mit  dem 
Terminus  satkäya  bez.  Päli  saMäya  beschäftigt  sich  Walleser*, 
welcher  die  Etymologie  von  Childers  für  saklcäya  (sva-käja)  an- 
nimmt, mit  der  Modifikation,  daß  er,  um  das  doppelte  Je  zu  erklären, 
als  Urform  vielmehr  Hvat-lmya  ansetzt  (sva-  behandelt  in  der  Weise 
von  mad,  tvad):  meines  Erachtens  allzu  gewagt,  satkäya  wäre  dann 

^  Ferd.  Belloni-Filippi  II  'Paticcasamuppäda'    (Rivista  di  Filosofia, 
Anno  IV  Fase.  3)    Genova  1912. 

2  M.  Walleser  Satkäya     ZDMG  LXIV  1910,  581  If.   Vgl   darüber  in 
derselben  Zeitschrift  Bd.  LXIII  Lefmann  (S.  438 f.)  und  Oldenberg  (S  858 f.). 


Der  indische  Buddhismus  (1910—1913)  615 

verfehlte  Sanskritisierung;  aus  jüngeren  Texten  weist  Walleser 
in  der  Tat  die  Form  svakäya  nach.  —  Den  Terminus  Tathägata 
—  die  Bezeichnung,  die  sich  Buddha  beigelegt  zu  haben 
scheint,  wo  er  von  sich  selbst  redete;  ich  pflege  zu  übersetzen 
„der  Vollendete" —  untersucht  Hopkins^  unter  Herbeiziehung  des 
epischen  Sprachgebrauchs.  Er  denkt  an  die  Möglichkeit  der  Ver- 
einigung zweier  Vorstellungen:  the  One  Who  is  Perfect  und  the 
One  Who  Died.  —  Die  Lehre  des  jüngeren  Buddhismus  von  den 
drei  Mtja  des  Buddha  (dharmaMya,  samhJiogaMya,  nirmmahäya)^ 
mit  der  sich  früher  namentlich  la  Vallee  Poussin  beschäftigt 
hat,  studiert  jetzt  Masson-OurseP.  Le  pröbleme  des  trois  corps 
naquit  d'un  effort  speculatif  pour  concilier  les  traits  contradidoires 
de  la  personndlite  du  Bouddha:  la  valeur  ahsolue  de  son  enseigne- 
ment  et  les  eontingences  de  sa  vie  humaine.  La  Solution  con- 
siste  ä  poser  dans  Veternel  un  DharmaMya  dbsolu,  et  ä  projeter 
dans  le  temps,  dans  Vespace,  dans  le  monde,  une  ombre  de  ce 
dieu,  le  NirmänaJcäya.  Der  Verfasser  vermutet,  daß  die  Indo- 
skythen  Kaniskas  als  Vermittler  zwischen  dem  iranisch-grie- 
chischen und  dem  indischen  Denken  zur  Bildung  dieser  Lehre 
beigetragen  haben,  während  er  einen  Einfluß  der  christlichen 
Trinität  aus  chronologischen  Gründen  ablehnt.  Doch  will  er 
über  die  Annahme  fremder  Einwirkung  den  wesentlich  indischen 
Ursprung  der  Lehre  nicht  verkennen:  einerseits  intrusion  des 
philosophies  ambiantes  (SämMiya,  Vedänta)  au  sein  du  houd- 
dhisme,  andrerseits  influence  de  Vhindouisme  populaire.  —  La 
Vallee    Poussin^    untersucht    das   Ineinanderspielen  des    Auto- 

^  E.  W.  Hopkins  Buddha  as  Tathägata  (Amer.  Journ  of  Philology 
XXXII  205  ff.)  Baltimore  1911.  Vgl.  auch  den  Exkurs  Frankes  in  seinem 
JDighanikäya  (siehe  unten  S.  624). 

^  P.  Masson-Oursel  Les  trois  corps  du  Bouddha  (Journ.  as.  1913,  I 
581  ff.)  Paris  1913. 

^  L  de  la  Vallee  Poussin  Faith  and  Reason  in  Buddhism.  Transact. 
of  the  3.  Congr.  of  Rel.  (Oxford  1908),  V.  Religions  of  India  and  Iran 
32  ff.  —  Man  gestatte  mir,  diese  und  die  folgende  Nummer  hier  nach- 
träglich zu  verzeichnen,  obgleich  vor  dem  zu  behandelnden  Zeitraum 
erschienen. 


ßlQ  H.  Oldenberg 

ritätsglaubens  und  des  Sichstützens  auf  die  Kraft  der  eignen 
Vernunft  im  Buddhismus.  Sehr  gut  bemerkt  er:  I  doubt  if 
there  is  a  Buddhist,  I  mean  an  enlightened  one,  who  is  not 
something  of  a  mystic,  of  a  rationalist,  and  of  a  heliever.  —  Mrs. 
Rhys  Davids^  untersucht  das  Verhältnis  der  pannä  (intuition 
or  insight)  zu  dem  System  der  fünf  Tihandha,  der  Konstituenten 
des  empirischen  leiblich  -  geistigen  Daseins.  —  Beckh^  be- 
schäftigt sich  mit  den  Berichten  über  visionäre  Erlebnisse  des 
Buddha,  der  mit  himmlischen  Wesen  in  Beziehung  zu  stehen 
glaubte  (nur  kurze  Inhaltsangabe  liegt  vor).  —  De  Blonay^ 
gibt  Ergänzungen  zu  seinen  früher  veröffentlichten  Unter- 
suchungen über  die  Göttin  Tärä  (Materiaux  pour  servir  ä  Vhis- 
toire  de  la  deesse  huddhique  Tärä  1895). 

Unter  Behandlungen  von  Problemen  der  Moral  und  des  geist- 
lichen Lebens  begegnen  wir  zunächst  einer  Arbeit  von  Anesaki*, 
welche  dies  ganze  Gebiet  in  der  Kürze  umfaßt.  Er  findet  einen 
fundamentalen  Gegensatz  der  buddhistischen  Moral  zur  brahma- 
nischen  darin,  daß  jene  sich  nicht  an  die  sozialen  Institutionen 
und  Traditionen  anlehnt,  sondern  die  Basis  der  Moral  in  den 
Grundwahrheiten  der  Weltanschauung  aufsucht.  Im  Buddha, 
dem  Verkünder  dieser  Weltanschauung,  personal  perfection  is 
united  with  universal  truths  .  .  .  The  ideal  of  Buddhist  morality 
consists  in  the  imitation  of  the  Buddha.  Es  wäre  lockend,  darf 
aber  natürlich  an  dieser  Stelle  nicht  unternommen  werden,  zu 
untersuchen,  inwieweit  der  Buddhismus  die  Probleme,  ich  möchte 
sagen,  die  Antinomien,  deren  Keim  in  diesen  Sätzen  liegt,  her- 
ausgearbeitet hat.     Viele  feine  Bemerkungen  Anesakis  würden 

^  C.  A.  F.  Rhys  Davids  Knowledge  and  Intuition  in  BuddMsm. 
Ebendas.  43  f. 

2  H.  Beckh  Über  das  Verhältnis  Buddhas  zu  übersinnlichen  Wesen- 
heiten (Devatäs)  im  Mdhäparinibbänasuttam  und  seine  Begründung  im 
yb^ra  (Actes  du  XYI.  Congr.  Intern,  des  Orientalistes,  Athene8l912,  lOlf.). 

^  G.  de  Blonay  Note  sur  la  deesse  buddhique  Tärä.  Melanges  S.  Levi 
35ff.     Paris  1911. 

*  M.  Anesaki  Buddhist  Ethics  and  Morality.  Transactions  of  the 
Asiatic  Society  of  Japan  1912  (auch  in  der  Encycl.  of  Religion  and  Ethics). 


I  Der  indische  Buddhismus  (1910—1913)  617 

einem  solclieii  Unternehmen  zu  Hilfe  kommen.  Nur  möchte 
man  bedauern,  daß  die  Perioden  der  Geschichte  des  Buddhis- 
mus vom  Verfasser  nicht  strenger  auseinander  gehalten  sind. 
Der  Einblick  in  die  Auffassungen  des  einzelnen  Zeitalters  ge- 
winnt so,  scheint  mir,  nicht  volles  Leben.  Und  ebenso  heben 
sich  die  großen  Linien,  in  denen  die  Entwicklung  sich  vor- 
wärts bewegt  hat,  nicht  in  der  Klarheit  hervor,  die  bei  einer 
anderen  Anlage  der  Darstellung  erreicht  worden  wäre.  —  Mein 
schon  im  vorigen  Bericht  (S.  586)  erwähnter  Aufsatz  über  die 
buddhistische  maitrl  (vgL  oben  S.  609)  ist  neu  gedruckt  worden.^ 
—  Mit  einigen  auf  das  Mönchsleben  bezüglichen  Ausdrücken  — 
es  handelt  sich  um  Details  des  Almosenganges  —  beschäftigt 
sich  Hoernle.^  —  Über  die  Lebensführung  des  buddhistischen 
Laiengläubigen  schreibt  A.  Fisher.^  —  Hier  sei  schließlich  ein 
Vortrag  erwähnt,  der  die  Stellung  des  Buddhismus  zum  Alkohol- 
I  genuß  unter  Heranziehung  hygienischer  und  statistischer 
Materialien  beleuchtet  und  zur  Enthaltung  mahnt.*  — 

Wir  wenden  uns  zur  Literatur  des  Buddhismus.  Voran- 
gestellt werde,  was  die  Päli-  und  Sanskritliteratur  (resp.  die 
sonstigen  mit  der  letzteren  zusammen  zu  behandelnden  aus  dem 
Norden  stammenden  Texte)  gemeinsam  betrifft.  Dann  soll  von 
der  Päliliteratur,  hierauf  von  der  nördlichen  gesprochen  werden. 

An  vorderster  Stelle  ist  hier  der  erste  Versuch  zu  erwähnen, 
die  gesamte  Literatur  des  Buddhismus  eingehend  darzustellen. 
Dem  Werke   von  Winternitz^    kommt   die   sehr   ausgebreitete 

;         ^  H.  Oldenberg  Der  Buddhismus  und  die  christliche  Liebe.   Ana  dem 
j  alten  Indien  Iff.  Berlin  1910. 

2  A.  F.  Rud.  Hoernle27ie  Buddhist  Monastic  terms  samatittiTca,  sapadäna, 
and  uttari-bhanga.    JRAS  1912,  736  ff.,  vgl.  auch  1913,  681  f. 
j        '  Alex.  Fisher   The  Daily  Life  of  a  Lay-follower    of  the  Buddha 
'(The  Buddh.  Review  vol.  11  280 ff.)  London  1910. 

*  Bhikkhu  Siläcära,  Rangoon,  Buddhismus  und  Alkohol.  Übersetzt 
von  A.  Eichelberger.    Breslau  1913.^ 

^  M.  Winternitz  Geschichte  der  indischen  Literatur,  2.  Bd.,  I.Hälfte: 
Die  buddhistische  Literatur  (Die  Literaturen  des  Ostens  in  Einzel- 
darstellungen, 9  Bd.,  2.  Abt.,  1  Hälfte).     Leipzig  1913. 


ßlQ  H.  Oldenberg 

Belesenheit  zugute,  die  dem  Verfasser  auf  dem  so  weiten  und 
in  so   disparate  Regionen  auseinanderfallenden  Gebiet  zur  Ver- 
fügung   steht.     So    stellt    seine    Arbeit    ein    überall   nützliches 
Hilfsmittel  dar.     In  bezug  auf  die   Grundfrage,   die   hier   alles 
beherrscht,    das    Verhältnis    der    Päliüberlieferung    zu   der   in 
Sanskrit  usw.  vorliegenden,   nimmt  Winternitz  den  schon  seit 
langem   von  mir  vertretenen  Standpunkt  ein,    daß    „das    Päli- 
exemplar  (der  kanonischen  Texte),  natürlich  nicht  von  unfehl- 
barer Korrektheit,  doch  als  hervorragend  gut  erhalten  beurteilt 
werden    muß".     Im   einzelnen  scheint  mir  in  der  Feststellung 
der  Tatsachen,  in  der  Führung  der  Untersuchungen  und  der 
Charakteristik  der  literarischen  Strömungen   doch  die  Schärfe 
und   Sicherheit,   die   dem  Buch  den  vollen  Wert  geben  würde, 
nicht  immer  erreicht.   Ich  exemplifiziere.  „Ein  wirklicher  Kanon 
heiliger  Texte^',   sagt  Winternitz  (S.  6)  „wurde  wahrscheinlich 
erst  auf  dem  dritten  Konzil  zusammengestellt,  das  nach  dem 
mit  Legenden  ausgeschmückten,  aber  in  der  Hauptsache  durchaus 
glaubwürdigen  Bericht  der  Chronisten  von  Ceylon  zur  Zeit  des 
berühmten  Königs  Asoka  stattfand",   indem    nach   der   Über- 
lieferung   „der    gelehrte    und    hochangesehene    Mönch    Tissa 
Moggaliputta   .  .  .   236  Jahre   nach   dem  Tode   des   Buddha 
eine    Versammlung    von    tausend    Mönchen    nach    der    Stadt 
Pätaliputra  (dem  heutigen   Patna)  einberief,   um  einen  Kanon 
von  Texten  der  wahren  Religion  zusammenzustellen".    Betrachtet 
man    die    alte    Überlieferung    (Samantapäsädikä,    Dipavamsa, 
Mahävamsa),  so  findet  man  als  die  Geschehnisse  dieses  Konzils 
die  Proklamation  des  Textes  Kathävatthu,   welcher  es  mit  der 
Widerlegung   von    Häresien   zu   tun   hatte;    dazu   den  Vortrag 
(samgäyimsu,  samgäyanto  sagt  die  Samantapäsädikä)  von  Dhamma 
und  Vinaya,  wie  einst  unter  Mahäkassapa  und  Yasa  geschehen. 
Vergleicht   man   die  Traditionen  über  das  Konzil  von  Vesäli, 
deren  ältestes  Exemplar  bekanntlich  in  die  kanonische  Literatur 
(CuUavagga)    zurückreicht,    so    erscheint   in   diesem   Exemplar 
als  Inhalt  jenes  Konzils  allein  der  Streit  über  die  allbekannten 


Der  indische  Buddhismus  (1910—1913)  619 

zehn  Punkte,  die  von  gewissen  Mönclien  der  strengen  Ordnung 
gegenüber  zugelassenen  Indulgenzen.  Im  Unterscliied  hiervon 
läßt  die  jüngere  „Überlieferung"  auf  die  Verhandlung  über  die 
zehn  Punkte  eine  Redaktion  des  Kanon  folgen  der  ähnlich, 
die  auf  dem  ersten  Konzil  vorgenommen  sein  soll.  Drängt 
sich  nicht  die  Wahrscheinlichkeit  auf,  daß  auch  in  der  Ver- 
sammlung von  Pätaliputta  —  oder  in  dem  Bilde,  das  man  sich 
von  dieser  machte  —  der  eigentliche  alte  Kern  in  der 
Proklamation  des  Kathävatthu  zu  suchen  ist,  und  daß  dann, 
genau  wie  für  das  zweite  Konzil,  die  Geschichte  von  der 
Rezitation  oder  Redaktion  des  Kanon,  dem  geläufigen  Schema 
entsprechend,  hinzugefügt  worden  ist?  Und  selbst  wenn  eine 
samgiti  von  Dhamma  und  Vinaya  bei  dieser  Gelegenheit  in  der 
Tat  stattgefunden  haben  sollte,  liegt  es  nicht  nah,  darin  eben 
eine  vielleicht  gegen  gewisse  Ketzereien  ihre  Spitze  kehrende 
Durcharbeitung  des  Kanon,  wahrscheinlich  im  speziellen  Interesse 
einer  bestimmten  Schule,  zu  vermuten?  Daß  ein  „wirklicher 
Kanon"  erst  jetzt  zusammengestellt  sei:  wie  weit  liegt  diese 
Vorstellung  vom  Überlieferten  ab !  Wie  ganz,  glaube  ich  hinzu- 
fügen zu  dürfen,  entbehrt  sie  der  inneren  Wahrscheinlichkeit! 
Vom  Vinaya  sprechend  findet  Winternitz  (S.  5  f.)  —  meines 
Erachtens  mit  Recht  —  daß  schon  zur  Zeit  des  zweiten  Konzils 
ein  Kanon  von  Vorschriften  für  das  Leben  der  Mönche  vor- 
handen gewesen  sein  muß  „von  der  Art,  wie  er  in  unserm 
Vinayapitaka  vorliegt".  Wenn  er  dann  aber  einen  „wirklichen 
Kanon"  erst  zu  Pätaliputta  festgestellt  sein  läßt,  so  drängt 
I  sich  die  Frage  auf,  inwiefern  jener  frühere  Kanon  des  Vinaya 
j  unwirklich  gewesen  sein  soll,  weshalb  er  nicht  mit  dem  Kanon 
!  der   späteren   Zeit   identisch,    oder   vielleicht   im   wesentlichen 

I  identisch  gewesen  sein  kann.    Doch  würde  ich  bedauern,  wollte 

i 

\  man  dem  Widerspruch,  zu  dem  ich  mich  hier  und  nicht  selten 

anderwärts  durch  die  Aufstellungen  von  Winternitz  heraus- 
gefordert fühle,  entnehmen,  daß  die  Vorzüge  seiner  mühevollen 
Arbeit  von  mir  nicht  voll  gewürdigt  werden. 


ß20  ^-  Oldenberg 

Zur  Lösung  der  oben  (S.  618)  bezeichneten  Grundfrage  der 
buddhistischen    Literaturgeschichte,    der   nach   dem  Verhältnis 
der  Päliüberlieferung  zu  den  andern  Traditionsmassen,  habe  ich 
in  Fortführung  früher  vorgelegter  Untersuchungen  (Buddhistische 
Studien,    ZDMQ    LII    1898,   6 13  ff.)    in   den   zwei   unten    an- 
gegebenen Aufsätzen^  beizutragen  versucht.     Der  erste  untei 
nimmt  es  für  das  Mahävastu  ein  Verhältnis  nachzuweisen,  dessei 
allgemeinere     Geltung    der    zweite    dann    an    andern   Textet 
(Divyävadäna,  Avadänasataka)  aufzeigt.    Es  tritt  in  Texten  wij 
diesen  eine  starke  üngleichmäßigkeit  der  Diktion  hervor:  voi 
Abschnitten  modernen  stilistischen  Charakters   (Stil  A)  heb< 
sich    solche    ab,    die    denselben    archaischen   oder   hieratische 
Stil  wie  die  kanonischen  Pälitexte  zeigen  (Stil  B).     Dem  Vei 
fasser   oder   Anordner   des   Mahävastu   lag   eine  Sammlung  i\ 
B-Stil   verfaßter,   offenbar   dem   Pälikanon  sehr  nahestehende 
Texte  vor:  der  Kanon  der  Schule,  welcher  er  selbst  zugehöri 
Wo    wir    kompakte    Textstücke    dieser    Schule   mit   den   eni 
sprechenden  Stücken  des  Pälikanon  konfrontieren  können,  zeij 
sich,   daß   das  Päliexemplar   zwar   dem  nördlichen  Parallelte] 
gegenüber  nicht  überall  das  Richtige  zu  haben  braucht,  da 
aber  über  den  nördlichen  Text  eine  Durcharbeitung  —  wem 
nicht  mehrere  —  hingegangen  ist,  die  an  zahlreichen  Stellen 
kleinere,  an  einigen  größere  Zufügungen  im  Geschmack  jüngerer 
Zeit    vorgenommen    hat.      Wenn    in    den    glänzenden    Unter- 
suchungen   Sylvain  Levis    (s.  den  vorigen  Bericht,    S.  596  ff.) 
die  kanonischen  Texte  —  z.  B.  der  Vinaya  —  der  Schule  der 
Mülasarvästivädin  denen  der  Pälischule  als  gleichberechtigte  Mit- 
bewerber um  den  Preis  der  Ursprünglichkeit  an  die  Seite  gestellt 
werden,  scheint  mir  dem  eben  dies  entgegenzuhalten,  daß  mit 
typischer  Regelmäßigkeit  in  jenen  nördlichen  Texten  zwei  —  min- 


1  Hermann  Oldenberg  Studien  zum  Mahävastu.  NGGW  1912,  123  ff. 
—  Studien  zur  Geschichte  des  buddhistischen  Kanon,  ebendas.  165  ff.  — 
Hier  mögen  über  die  Stellung  des  Mahävastu  zur  Päliliteratur  auch  die 
Bemerkungen  von  A.  J.  Edmunds  JBAS 1913,  385  ff.  angeführt  werden. 


Der  indische  Buddhismus  (1910—1913)  621 

destens  zwei  —  Schichten  sich  voneinander  sondern.  Unter  einer 
Oberfläche,  in  der  das  Werk  modernerer  Bearbeiter  zu  erkennen 
ist,  kommt  eine  tiefere  Schicht  zum  Vorschein,  das  von  jenen 
Bearbeitern  Vorgefundene:  dies  aber  erweist  sich  als  gleich- 
artig, teilweise  als  identisch,  mit  dem  Pälikanon.  Neben  den 
bisher  genannten  nördlichen  Texten  werden  in  der  zweiten 
meiner  hier  in  Rede  stehenden  Arbeiten  auch  sanskritische 
Kanonfragmente,  die  neuerdings  in  so  großer  Zahl  aufgetaucht 
sind,  und  Specimina  chinesischer  Übertragungen  mit  der  Päli- 
redaktion  verglichen.  Die  gewonnenen  Resultate  werden  verwandt, 
den  Aufbau  des  alten  Kanon  und  die  Art,  in  welcher  er  später 
Erweiterungen  und  Ausschmückungen  erfahren  hat,  zu  charak- 
terisieren: auf  diese  Weisö  wird  versucht  scharfe  Unterscheidung 
von  Altem,  das  in  recht  tiefe  Vergangenheit  zurückreicht,  und  von 
darüber  gelagertem  Neuem  der  Auffassung  entgegenzustellen,  die 
vor  kurzem  S.  Levi  in  dem  Satz  ausgedrückt  hat:  La  Constitution 
du  Canon  est  un  fait  tardif  qui  s'est  vraisemUaUement  produit 
dans  les  diverses  ecoles  vers  la  meme  periode,  un  peu  avant  Vere 
chretienne  (Levi  Les  Saintes  Ecritures  du  Bouddhisme  1909, 
S.  19).  —  Von  einem  Abschnitt  dieser  meiner  Untersuchungen, 
der  sich  speziell  mit  den  Jätakas  beschäftigt,  wird  weiter  unten 
die  Rede  sein. 

Ein  inhaltreicher  Aufsatz  S.  Levis  ^  beschäftigt  sich  mit  in- 
schriftlichen oder  in  den  Wortschatz  des  Päli  hineinversprengten 
Spuren  eines  andern  Dialekts,  die  lautliche  Abweichungen  vom 
Päli  und  den  Dialekten  der  Asokainschriften  zeigen.  Über  Einzel- 
heiten wird  sich  streiten  lassen;  an  vielen  Stellen,  glaube  ich, 
wird  man  Levi  in  seinen  Worterklärungen  und  wohl  -auch  in 
der  Herleitung  der  Worte  aus  einem  verlorenen  Dialekt  zu  folgen 

;  haben.     So,  wenn  er  die  Bezeichnung  für  die  schwersten  Ver- 
gehen des  Mönchs  päräjika  von  paränc  ableitet  (irre  ich  nicht, 

'  hat  schon  Leumann  vorzeiten  dieselbe  Vermutung  geäußert); 

^  Sylv.  Levi  Observations  sur  wne  langue  precanonique  du  Bouddhisme. 
Journ.  as.  1912  II,  495  ff. 


ß22  -S-  Oldenberg 

wohl  aucli,  wenn  er  den  Namen  der  nächstschweren  Vergehen 
samgMdisesa   mit  Kern   (doch   anders   als   dieser   deutend)  als 
samghätisesa  erklärt.    Zum  Schluß  aber  bemerkt  er:  Les  conse- 
quences  qui  s^en  degagent  sont  d^une  gravite  inattendue.  Les  steriles 
debats  sur  Vauthenticite  du  canon  pali  ou  du  canon  sanscrit  sont 
elimines.  Sanscrit  et  pali  n^apparaissent  plus  que  comme  lesheritiers 
tardifs  d'une  tradition  anterieure,  recitee  ou  redigee  dans  un  dialecte 
disparu,  qui  avait  otteint  dejä  un  stage  avance  d''usure  phonetique . . . 
Si  Äsoha,  le  patron  de  V Orthodoxie,  a  connu  le  canon  pali,  il  ne  Va 
point  adoptCj  et  le  credit  du  canon  pali  se  trouve  cruellement  atteint. 
Ou  hien  Äsolca,  les  moines  de  Pätaliputra  et  les  moines  de  Bharhut 
ne  Vont  pas  connu ,  parce  qu'il  n'existait  pas  encore,  et  la  date  du 
canon  pali  s'ahaisse  jusqu^au  IB  siede  av.  J.-  C,  si  ce  n'est  plus 
tard  encore.    Doch  ist  das  nicht  längst,  ganz  unabhängig  von 
der  Beurteilung  der  von  Levi  untersuchten  Worte  und  phonet 
sehen  Erscheinungen,  Gemeingut,  ich  darf  nicht  sagen  aller,  ab( 
doch  der  meisten  Forscher,  daß  der  Pälikanon  so  gut  wie  d( 
sanskritische  Übersetzung  aus  einem  dritten  ist?  Wer  üb( 
die  Authentizität  der  beiden  erstgenannten  streitet,  denkt  dab( 
doch  nicht  an  das  sprachliche  Gewand,  das  sie  tragen,  sondei 
an  die  literarischen  Kompositionen  selbst,  welche  hier  dieses,  doi 
jenes  Gewand  angelegt  haben.  Entsprechend  der  altbuddhistischei 
Auffassung,  daß  es  nur  auf  den  Inhalt,  nicht  auf  dies  Gewanc 
ankommt  (CuUavagga  V  33),  wird  es  in  Indien,  der  Vielheit  de 
Dialekte  entsprechend,  eine  größere  oder  geringere  Vielheit  voi 
Exemplaren  des  Kanon  gegeben  haben.  Warum  sollte  Asoka  ode^ 
die  Mönche  von  Bharhut  sich  gerade  des  Exemplars  bediei 
haben,  das  durch  sein  Hingelangen  nach  Ceylon  dazu  prädestiniei 
war,  uns  erhalten  zu  bleiben?  Oder  wenn  Asoka  es  gekannt  hat 
aber  um  irgendwelcher  Bedenken  willen  ne  Va  point  adopte:  sine 
die  Gesichtspunkte,   die  wir  dem  alten  gläubigen  König  zuzu<ä 
schreiben  haben,  nicht  von  denen  der  historischen,  kritischen 
Forschung  so  verschieden,   daß   damit   noch   immer  nicht  die 
Autorität  jenes  Kanon  für  uns  cruellement  atteinte  wäre? 


Der  indische  Buddhismus  (1910—1913)  623 

Gegenüberstellungen  nördlicher  und  südliclier  Materialien  das 
Dharmapada  betreffend,  die  wir  S.  Levi  verdanken,  sollen  weiter 
unten  (S.  635)  erwähnt  werden. 

Die  buddhistischen  Predigten  im  allgemeinen  charakterisiert, 
überwiegend  mit  Bezugnahme  auf  die  Übersetzungen  von 
K.  E.  Neumann,  L.  v.  Schroeder  in  zwei  Aufsätzen,  die  einige 
Jahre  zurückliegen  und  jetzt  neu  gedruckt  sind.^  — 

Wenden  wir  uns  nun  speziell  zum  Pälikanon,  so  sei  zu- 
vörderst eine  Mitteilung  Finots  ^  über  die  älteste  Spur  von  dessen 
Existenz  in  Birma  erwähnt:  eine  Tontafel,  die  ein  paar  Zeilen 
des  Vibhanga  in  Charakteren  etwa  des  6.  Jahrhunderts  enthält. 
Eine  größere  Masse  von  Texten  des  Pälikanon  legt  in  Über- 
setzungen K.  Seidenstücker  vor,  in  einem  Buch,  über  das  ich 
schon  an  anderem  Ort  berichtet  habe.^   Hier  sei  auch  die  kleine 
Sammlung  gut  ausgewählter  kanonischer  Pälitexte  (dazu  kurzer 
Abschnitte  des  Milindapanha  und  der  Asokainschriften)  erwähnt, 
1  die  P.  Tuxen  und  Helmer  Smith  in  Lehmanns  „Textbuch'^  über- 
setzt haben.*  Wenn  dort  ein  Stück  unter  der  Überschrift  „Aus 
dem  Vinaya  Pitaka"  erscheint,  so  hätte  man  lieber  einen  Text 
gesehen,  der  eigentlichen  Vinayainhalt  und  eine  Probe  der  für 
I  den  Vinaya  charakteristischen  Darstellungsweise  gibt  (ein  Stück 
1  Pätimokkha  hätte  meines  Erachtens  nicht  fehlen  dürfen),  als 
einen  Abschnitt  dogmatischen  Inhalts,  der  auch  im  Sutta  Pitaka 
zu  zahllosen  Malen  vorgetragen  wird:   die  (an   sich  natürlich 
Mitteilung  durchaus  verdienende  und  beanspruchende)  Kausalitäts- 
formel. 


I         ^  L.  V.  Schroeder   Die  Reden  des  Buddha.     Nochmals  die  Reden  des 

[Buddha.    (Reden  und  Aufsätze.    Leipz.  1913  S.  245 flf.  264 ff.) 

I         '  Finot  Le  plus  ancien  temoignage  sur  Vexistence  du  canon  päli  en 

\Birmanie.     Journ.  as.  1913  IT,   193 ff.     Ich    weise  hier  auch   auf  Finots 

■Aufsatz  J.  a.  1912  U,  121  ff.   hin,  wichtig  für  die  ältere  Geschichte  des 

Buddhismus  in  Birma. 

I        ^  Karl  Seidenstücker  Päli-Buddhismus  in  Übersetzungen  (Yeröff.  der 

Deutschen  Päli-Gesellschaft).  Breslau  1911.    Vgl.  dazu  H,  0.  Theolog  Lite- 

fatur Zeitung  1911  Sp.  353. 

^  Edv.  Lehmann  Textbuch  zur  Religionsgeschichte.  Leipz.  1912  S.  2 14  ff. 


024  -S-  Oldenberg 

Die  im  vorigen  Bericht  (S.  592)  erwähnte  höchst  wichtige 
Arbeit  einer  Konkordanz  der  kanonischen  Päliverse  ist  von  Franke  ^ 
rüstig  weitergefördert  worden.  Im  Interesse  der  Wirkung,  die 
man  dem  großartig  angelegten,  entsagungsvoll  durchgeführten 
Werk  wünscht,  ist  zu  bedauern,  daß  es  —  vermutlich  aus 
zwingenden  äußeren  Gründen  —  verteilt  auf  eine  Reihe  ver- 
schiedener Zeitschriften  erscheint,  und  so  nicht  nur  der  imposante 
äußere  Eindruck,  sondern  —  was  wichtiger  ist  —  die  bequeme 
Benutzbarkeit,  wie  sie  die  vedische  Konkordanz  Bloomfields  aus- 
zeichnet, ihm  verloren  geht.  Ebenfalls  mit  äußeren  —  vielleicht 
auch  hier  zwingenden  —  Gründen  hängt  wohl  das  Arrangement, 
das  Franke  gewählt  hat,  zusammen:  Anordnung  nach  den  Texten, 
in  denen  die  einzelnen  Verse  sich  finden,  nicht  nach  deren  alpha- 
betischer Folge.  Auch  dies  wirkt  leider  erschwerend  für  die 
Benutzung:  man  kann  einen  Vers,  über  den  man  informiert 
zu  werden  wünscht,  nicht  auffinden,  bis  man  konstatiert  hat, 
in  welchem  der  kanonischen  Texte  und  an  welcher  Stelle 
dieses  Textes  er  steht.  Die  hier  erwachsenden  Hemmungen 
wird  man  um  so  mehr  bedauern,  je  dankbarer  man  die  ein- 
greifende Förderung  empfindet,  die  dies  Werk  allen  Arbeiten 
auf  dem  Gebiet  des  buddhistischen  Kanon  zu  bringen  im- 
stande ist:  ich  kann  hier  aus  vielfältiger  eigener  Erfahrung 
sprechen. 

Gehen  wir  zu  den  einzelnen  Suttasammlungen  über,  so  ist 
die  Publikation  des  Digha  Nikäya  seitens  der  Pali  Text  Society, 
die  gegenwärtig  den  Pälikanon  annähernd  bewältigt  hat,  zu  er- 
freulichem Ende  geführt  worden.^  Derselbe  Nikäya  ist  in  IJber- 
setzungen  vielfach  behandelt.  Über  das  Fortschreiten  derjenigen 

*  R.  O.Franke  Die  Suttanipäta- GätJiäs  mit  ihren  Parallelen,  ZDMG 
LXIV  1910  S.  Iff.  760 ff.;  LXVI  1912  S.  204 ff.  699 ff.  —  Die  Gäthäs  des 
VinayapitaTca  und  ihre  Parallelen,  WZ  KM  XXIY  1910,  Iff.  225  ff.  —  Die 
Gäthäs  des  Dighanikäya  mit  ihren  Parallelen^  Journ.  Pali  T.  Soc.  1910, 
3 11  ff.  —  Konkordanz  der  Gäthäs  des  Majjhimanikäya,  WZKM  XXVI  1912, 
171  ff. 

^  The  Dlgha  Nikäya  vol.  III.  Ed.  by  J.  Estlin  Carpenter.  London  1911. 


Der  indische  Buddhismus  (1910—1913)  625 

von  Neumann  \  das  einen  baldigen  Abschluß  seines  großen  Unter- 
nehmens erhoffen  läßt,  habe  ich  schon  anderweitig  berichtet  und 
dabei  von  neuem  versucht,  die  persönliche,  allzu  persönliche, 
auch  hier  unverändert  sich  kundgebende  Eigenart  dieser  Über- 
setzungen Neumanns  zu  charakterisieren:  Hingabe  an  die  weihe- 
volle Größe  des  Originals,  an  vielen  Stellen  geradezu  hinreißende 
Schönheit  der  Sprache,  aber  oft  Verfallen  des  Ausdrucks  ins 
Manierierte;  unsichere,  oft  wenig  glückliche  Hand  in  der  Be- 
handlung der  philologischen  Probleme;  endlich  ein  überaus 
störendies  Sichgehenlassen  in  behaglich  keifender  und  witzelnder 
Polemik.  Hier  sei  auch  die  von  Neumann  gesondert  heraus- 
gegebene, mit  zahlreichen  bildlichen  Beigaben  geschmückte  Über- 
setzung des  hochwichtigen  Sutta  von  Buddhas  Tode^  erwähnt.  — 
Dasselbe  zweite  Drittel  des  Digha  Nikäya  wie  Neu  mann  haben 
auch  die  beiden  Rhys  Davids  in  bekannter,  verdienstvoller  Weise 
übersetzt:  auch  hier  kann  ich  auf  einen  an  anderem  Ort  von  mir 
gegebenen  Bericht  verweisen^.  —  Von  besonderer  Wichtigkeit 
ist  die  große  Frankesche  Übersetzung  einer  Auswahl  aus  dem 
Digha  Nikäya*:  man  bedauert,  daß  nicht  der  ganze  Nikäya  ge- 
geben worden  ist.   Der  Übersetzung  Neumanns  steht  diese,  man 


*  Karl  Eugen  Neumann  Die  Beden  Gotamo  Buddhos  aus  der  längeren 
Sammlung  Dighanikäyo  des  Päli-Kanons  übersetzt,  Bd.  2.  München  1912. 
Vgl.  H.  0.  Theol  Literaturzeitung  1913  Sp.  514 f. 

*  K.  E.  Neumann  Die  letzten  Tage  Gotamo  Buddhos  aus  dem  großen 
Verhör  über  die  Erlöschung  Mahäparinibbänasuttam  des  Päli-Kanons  über- 

[setzt.   München  1911.    Vgl.  dazu  H.  Oldenberg  Süddeutsche  Monatshefte, 
Jahrg.  IX  S.  673 ff.  (München  1912.) 

^  T.W.  and  C.  A.  F.  Rhys  Davids  Dialogues  of  the  Buddha,  translated 
from  the  Pali  of  the  Digha  Nikäya.  Part  II  (The  Sacred  Books  of  the 
Buddhistsvol.  III).  London  1910.  Vgl.  H.O.  Unechter  und  echter  Buddhismus, 
Internat.  Wochenschrift  für  Wissensch ,  Kunst  u.  Technik  1911  Sp.  661  ff. 

*  R.OtioFiSLnke  Dighanikäya,  das  Buch  der  langen  Texte  des  buddhisti- 
ächen  Kanons,  in  Auswahl  übersetzt  (Quellen  der  ßeligions-Geschichte  hrsg. 
im  Auftrage  der  Religionsgesch.  Kommission  bei  der  Kgl.  Ges.  der  Wiss. 
SU  Göttingen;  Gruppe  8,  Bd.  4).  Göttingen  und  Leipzig  1913.  -—  Vgl.  dazu 
ienselben  Die  Verknüpfung  der  Dlghanikäya-Suttas  untereinander,  ZDMG 
LXVII  1913,  409  ff. 

Archiv  f.  Religionswissenschaft  XVII  40 


Q26  ^'  Oldenberg 

kann  sagen,  in  Antipodenferne  gegenüber.  Die  Sprache  ist  schliclit. 
Wenn  Franke  Verse  des  Originals  in  Yersen  wiedergibt,  hat  er 
das  Yorgefühl,  daß  die  seinigen  „ja  wobl  kein  Lob  verdienen 
werden".  Dafür  waltet  überall  die  peinlichste,  die  Materialien 
nach  Möglichkeit  erschöpfende,  philologische  Gewissenhaftigkeit, 
die  es  sich  nicht  erläßt,  wie  im  Großen  so  im  Kleinen  und 
Kleinsten  jeder  Frage  auf  den  Grund  zu  gehen.  Als  Anhänge 
beschäftigen  sich  eingehende  UntersuchuDgen  mit  den  Begriffen 
Tathägata  (vgl.  oben  S.  615),  Araham,  Bhikkhu,  Samana  und 
schließlich  mit  dem  besonders  schwierigen  Samkhära.  Aus  der 
umfänglichen  Einleitung  hebe  ich  die  beiden  Kapitel  hervor: 
1.  Wie  kam  der  Dighanikäya  zustande?  2.  Welche  Gewähr 
haben  wir  für  die  Verläßlichkeit  der  buddhistischen  Über- 
lieferung? Auch  die  Verdienstlichkeit  der  umfänglichen  Register 
darf  nicht  übergangen  werden.  Die  eben  erwähnte  Frage,  wie 
der  Digha  Nikäya  zustande  gekommen,  beantwortet  Franke  da- 
hin, daß  derselbe  „ein  einheitliches  Werk  irgend  eines  Literaten, 
nicht  aber  eine  Sammlung  von  Reden  Buddhas  aus  ganz  ver- 
schiedenen Jahren  seines  fünfzigjährigen  Wirkens  ist".  Zu- 
sammengehalten werde  das  Werk  durch  einen  einheitlichen 
Grundgedanken.  Es  handle  sich  um  den  zur  Erlösung  führenden 
Heilsweg,  der  gepredigt  sei  von  einem  Tathägata:  ein  solcher 
Tathägata  nun  sei  Gotama  Buddha,  und  die  Absicht,  ihn  als 
solchen  zu  erweisen,  beherrsche  die  Gesamtheit  des  Werks.  Daß 
die  eben  bezeichneten  Gedanken  in  der  Tat  zentrale  in  der  ganzen 
altbuddhistischen  Literatur  sind,  ist  unzweifelhaft.  Darum,  meine 
ich,  treten  sie  auch  im  Digha  Nikäya  fortwährend  hervor  und 
wäre  eine  andre  Sachlage  recht  befremdend.  Man  erwäge  noch, 
daß  ein  kürzerer  Text  naturgemäß  leichter  vom  Hauptinhalt 
der  buddhistischen  Verkündigung  abgehend  zufällige  Seiten- 
richtungen einschlagen  kann  als  ein  längerer:  im  Digha  Nikäys 
aber  sind  eben  die  längsten  Suttas  vereinigt.  Daß  indessen  übei 
das  damit  Gesagte  hinausgehend  einheitliche  Konzeption  und  eir 
individueller  Verfasser  des  Ganzen  anzunehmen  wäre,  ist  mii 


Der  indische  Buddhismus  (1910—1913)  627 

durch  Frankes  Ausführungen  nicht  überzeugend  geworden.  Meine 
Bedenken  zu  begründen,  ist  dies  nicht  der  Ort.  Nur  das  sei 
vor  allem  bemerkt,  daß  ich  auf  der  andern  Seite  auch  den  Digha 
Nikäya  keineswegs  als  Sammlung  von  Reden  Buddhas  aus  ver- 
schiedenen Zeiten  seines  Wirkens  auffassen  möchte.  Den  Grad 
von  Authentizität,  der  ihnen  damit  beigelegt  wäre,  besitzen  diese 
Predigten  nicht.  Sie  erscheinen  mir  als  Kompositionen,  in 
denen  man  die  dogmatischen  Gedanken  des  Dhamma  und  Ver- 
wandtes dem  Buddha  in  den  Mund  gelegt  hat,  in  stark  stilisierter 
Form,  vermutlich  hier  und  da  tatsächliche  Erinnerungen  an 
wirkliche  Erlebnisse,  an  wirklich  gehaltene  Reden  mit  hinein- 
verarbeitend, im  ganzen  gewiß  die  Gedanken  des  Buddha  richtig 
wiedergebend.  Für  den  Verfasser  dieser  Reden  halte  ich  nicht 
e  in  Individuum,  sondern  einen  Bhikkhu  (oder  Kreis  von  Bhikkhus) 
hier,  einen  dort  —  überallhin  durch  die  weiten  Regionen  des  alten 
Samgha.  Was  so  produziert  worden  war,  wurde  gesammelt,  die 
Differenzen  ausgeglichen,  einheitliche  (oder  annähernd  einheit- 
liche) Ausdrucks  weise  überall  durchgeführt.  Es  wird  von  Wichtig- 
keit sein,  mit  Untersuchungen  über  den  Digha  Nikäya  ent- 
sprechende über  den  Majjhima  Nikäya  in  Verbindung  zu  setzen. 
Sind  das  nicht  zwei  Teile  derselben  Sammlung,  so  daß  man 
die  längeren  Suttas  (vielleicht  ohne  daß  die  Grenzlinien  des 
I  längeren  und  kürzeren  mit  vollkommener  Strenge  gezogen 
waren)  in  den  Digha  Nikäya,  die  minder  langen  in  den  Majjhima 
Nikäya  tat?  Zeigen  sich  zwischen  der  Redigierweise  der  Digha- 
bhänaka  und  der  Majjhimabhänaka  irgendwelche  Differenzen, 
ursprüngliche  oder  im  Laufe  der  Weiterüberlieferung  hinein- 
'  geratene?  Durchaus  zutreffend  ist  die  Beobachtung  Frankes  (auch 
i  ich  hatte  sie  gemacht,  ohne  sie  in  der  Vollständigkeit  wie  Franke 
I  durchzuführen,  und  ohne  sie  zu  veröffentlichen),  daß  zwischen 
j  direkt  benachbarten  oder  wenigstens  nahe  beieinander  stehenden 
1  Suttas  vielfach  Gemeinsamkeit  von  kürzeren  oder  längeren  Text- 
partien obwaltet  (s.  namentlich  den  S.  624  A.  1  angeführten  Auf- 
satz Frankes  in  der  ZDMG).     Von  großem  Interesse  ist  dabei 

40* 


^28  ^-  Oldenberg 

(s.  dort  S.  4l5f.),  daß,  wie  Franke  zeigt,  diese  Gemeinsamkeit 
stark  vermindert  wird,  wenn  man  die  Suttas  in  der  Reihenfolge 
des  chinesisclien  Dirghägama  liest  (vorläufig  natürlich  die  Päli- 
Buttas,  in  Erwartung  der  Zeit,  wo  auch  der  Nichtsinolog  von 
dem  chinesischen  Text  eine  genauere  Vorstellung  erhalten  haben 
wird,  als  ihm  jetzt  erreichbar  ist).  Vielleicht  deutet  diese  wert- 
volle Beobachtung  auf  höhere  Ursprünglichkeit  des  Päliexemplars : 
welcher  Schluß  natürlich  nur  ganz  vorläufig  gezogen  werden  darf, 
bis,  wie  eben  angedeutet,  für  eine  eindringende  Untersuchung  des 
Verhältnisses  beider  Redaktionen  die  Zeit  gekommen  sein  wird 
(ich  beziehe  mich  hier  auf  meine  Bemerkungen  NGGW  1912, 
182).  Ich  bemerke  schließlich,  daß  Frauke  im  Abschnitt  II  seiner 
Einleitung  („Welche  Gewähr  haben  wir  für  die  Verläßlichkeit 
der  buddhistischen  Überlieferung?")  auf  seine  in  meinem  vorigen 
Bericht  S.  613  f.  erwähnte  Skepsis,  namentlich  gegenüber  der 
Chronik  Dipavamsa,  zurückkommt  und  seinen  Standpunkt  gegen- 
über Geiger  verteidigt.  Dem  Kanon  selbst  sagt  er  ^Nicht- 
Authentizität'  nach.  Aber  er  schränkt  dann  dies  Urteil  doch 
ein:  „Wir  dürfen  ja  immerhin  hofi'en,  daß  die  Verfasser  der 
Werke  des  Kanons,  wenn  sie  auch  das  ihre  hinzutaten,  doch 
echtes  Buddha -Wort  hineinverarbeitet  haben.  Diese  Schätze 
wollen  wir  allmählich  herausgraben  und  festhalten,  den  Schutt 
aber  ehrlich  als  Schutt  bezeichnen  und  preisgeben."  Welchen 
Sätzen  ich  nur  dies  hinzufügen  möchte,  daß  auch,  was  nicht  im 
vollen  und  strengen  Sinn  ^Buddha-Wort'  ist,  darum  doch  noch 
nicht  'Schutt'  zu  sein  braucht.  Die  Gedankenwelt  und  die 
Lebensformen  der  buddhistischen  Gemeinde  verdienen,  meine  ich, 
erforscht  zu  werden,  auch  wo  wir  sie  nicht  auf  den  Meister  selbst 
zurückverfolgen  können,  auch  wo  wir  vielleicht  ihr  Zurückgehen 
auf  den  Meister  für  ausgeschlossen  zu  halten  Grund  finden.  — 
Das  Satipatthänasutta  übersetzt  J.  v.  Ott  \  —  Mit  den  älteren 

*  Jul.  von  Ott  Das  Satipatthäna-Sutfam,  die  Rede  des  Buddho  Gotamo 
über  die  Grundlagen  des  Eingedenkseins  (Majjh.  Nik.  Nr.  10),  übersetzt  und 
mit  Anmerkungen  versehen  (Veröffentlichungen  der  Deutschen  Päli- Gesell- 
schaft).   Breslau  1913. 


Der  indische  Buddhismus  (1910—1913)  629 

und  jüngeren  Traditionen  über  jenen  Ratthapäla,  der  im  Mittel- 
punkt eines  Sutta  des  Majjhima  Nikäya  (Nr.  82)  steht,  be- 
schäftigt sich  M.  Bode^:  ich  darf  hier  auf  meine  Bemerkungen 
NGGW  1912,168  A.  2;  187  A.  1  verweisen.  —  Zum  Anguttara 
Nikäya  veröffentlicht  die  Pali  Text  Society  einen  geradezu  un- 
schätzbaren Indexband.^ 

Viele  Förderung  hat  die  Literatur  des  Khuddaka  Nikäya  ge- 
funden. Texte  moralischen  Inhalts,  die  diesem  Nikäya  angehören, 
hat  Pavolini^  übersetzt:  zu  seiner  Übersetzung  des  Dhammapada 
(vgl.  den  vorigen  Bericht  589)  fügt  er  Ausgewähltes  aus  Sut- 
tanipäta  und  Itivuttaka.  —  Vom  Suttanipäta  ist  höchst  erfreu- 
licherweise eine  Neubearbeitung  der  FausböUschen  Ausgabe 
auf  erweiterter  handschriftlicher  Grundlage  durch  D.  Andersen 
und  H.  Smith  besorgt  worden.*  —  Mein  Aufsatz  über  diesen 
Text  (s.  den  vorigen  Bericht  589  f.)  ist  neugedruckt,  auch  in 
englischer  Übersetzung  erschienen.^  —  Von  der  Ausgabe  des 
Dhammapada-Kommentars  (s.  den  vorigen  Bericht  589)  hat  der 
schmerzlich  beklagte  Norman  einen  zweiten  und  dritten  Band 
erscheinen  lassen.®  Der  dritte  schließt  mit  Vers  319;  das  Er- 
scheinen des  vierten,  letzten,  steht  bevor.  —  Burlingame',  dazu 

*  Mabel  Bode  The  legend  of  Ratthapäla  in  the  Päli  Apadäna  and 
Buddhaghosas  Commentary.  Mälanges  Ldvi  183  ff.  (Paria  1911.)  —  Vgl. 
auch  L.  V.  Schroedei Batthapälo  (Reden  und  Aufsätze.  Leipz.  1913  S.  270  ff.). 

^  Anguttara -Nikäya  vol.  VI,  Indexes  by  Mabel  Hunt,  rev.  and  ed. 
by  C.  A.  F.  Rhys  Davids  (Pali  T.  Soc;  London  1910). 

^  P.  E.  Pavolini  Testi  di  Morale  buddistica.  1.  Dhammapada.  2.  Sut- 
tanipäta. 3.  Itivuttaka.  Traduzione  e  Introduzione.  (Cultura  dell'  Anima ) 
Lanciano  1912. 

*  The  Sutta-Nipäta.  New  edition  by  Dines  Andersen  and  Helmer 
Smith.     (Pali  T.  Soc.)  London  1913. 

*  H.  Oldenberg  Eine  Sammlung  althuddhistischer  Dichtungen  (Aus 
dem  alten  Indien,  Berlin  1910,  S.  23 ff.).  —  The  Sutta  Nipäta,  a  Collection 
of  Old  Buddhist  Poems.  From  the  German.  (The  Buddhist  Review,  vol.  II 
!p.  243  sqq.     London  1910.) 

!  ®  The  Commentary  on  the  Dhammapada.,  ed.  by  H.  C.  Norman.  "Vol.  II, 
III.     (Pali  T.  Soc.)     London  1911,  1912. 

^  E.  W.  Burlingame  Buddhaghosa's  Dhammapada  Commentary  and 
the  Titles  of  its  three  hundred  and  ten  Stories,  together  with  an  Index 


g30  H-  Oldenberg 

angeregt  von  Lanman,  gibt  ein  Inhaltsverzeiclinis  und  alpha- 
betisches Register  zu  den  Erzählungen  des  Dhammapada  Kom- 
mentars sowie  die  Analyse  eines  Teiles  dieser  Erzählungen.  — 
Den.  Khuddakapätha  übersetzt,  mit  Anmerkungen,  Seidenstücker> 
—  Derselbe^  gibt  eine  fleißig  und  sorgfältig  gearbeitete  Ein- 
leitung zum  üdäna.  Von  deren  reichhaltigem  Inhalt  seien  her- 
vorgehoben die  Untersuchungen  über  die  Entstehung  der  ein- 
zelnen Suttas  und  über  die  Struktur  der  ganzen  Sammlung,  die 
Verzeichnung  von  Parallelen  aus  südlicher  und  nördlicher  Lite- 
ratur, die  Bemerkungen  über  die  Zeit  der  Kompilation  des 
Werks:  das  Udäna  zum  alten  Stamm  des  Khuddaka  Nikäya 
gehörig,  spätestens  um  Mitte  des  3.  Jahrhunderts  v.  Chr.  zum 
Abschluß  gelangt,  vielleicht  viel  früher,  etwa  (was  sich  mir 
kaum  zu  empfehlen  scheint,  vgl.  oben  S.  6 18  f.)  bei  Gelegenheit 
des  Konzils  von  Vesäli.  Für  die  chronologische  Frage  möchte 
ich  übrigens  nicht  mit  Seidenstücker  auf  die  Beobachtung  Ge- 
wicht legen,  daß  wir  hier  „vergeblich  nach  jener  minutiösen 
Terminologie  suchen,  die  sich  im  Lauf  der  Zeit  in  der  bud- 
dhistischen Literatur  immer  mehr  herausgebildet  hat  .  .  .;  hier 
weht  noch  deutlich  spürbar  der  Geist  des  alten  Samanentums". 
Jene  Terminologie  halte  ich  doch  für  wesentlich  älter,  als 
Seidenstücker  zu  tun  scheint;  tritt  sie  in  diesem  Text  nicht 
hervor,  kann  das  andere  als  chronologische  Gründe  haben.  Auch 
der  Glaube  von  Seidenstücker,  daß  die  dem  nördlichen  Udäna- 
varga  und  dem  Päli-Kanon,  darunter  dem  Päli-Üdäna,  gemein- 
samen Texte  wirklich  Reminiszenzen  an  die  verha  ipsissma 
magistri  bieten,  erscheint  mir  —  ohne  daß  ich  für  den  einzelnen 


thereto  and  an  Analysis  of  Vaggas  I — IV.    (Proc.  of  the  Amer.  Acad.  of 
ArtB  and  Sciences,  vol.  XLV,  Nr.  20.     Boston  1910.) 

*  Khudddka-Pätho.  Kurze  Texte.  Eine  kanonische  Schrift  des  Päli- 
Buddhisnms.  Aus  dem  Päli  übersetzt  und  erläutert  von  K.  Seidenstücker 
(Veröff.  der  Deutschen  Päli-Geselischaft).    Breslau  1910.  w\ 

2  Dr.  phil.  K.  Seidenstücker  Das  Udäna,  eine  kanonische  Schrift  dd^* 
Päli-Buddhismus.     Erster  Teil:   Allg.  Einleitung.     Leipzig  1913.  —  Vgl. 
zum  üdäna  auch  Mazumdar,  JBA8  1911,  197  ff 


Der  indische  Buddhismus  (1910—1918)  631 

Fall  die  Denkbarkeit  hiervon  bestreite  —  als  recbt  gewagt.  Sollte 
zwiscben  diesem  Glauben  und  der  Skepsis  Frankes  die  Wahr- 
heit nicht  in  der  Mitte  liegen?  —  Ihrer  Übersetzung  der 
Therlgäthä  (s.  den  vorigen  Bericht  590)  hat  Mrs.  Rhys  Davids 
jetzt  eine  gleich  formvollendete  der  Theragäthä^  folgen  lassen. 
Die  eingehende  Einleitung  handelt  mit  der  dieser  Forscherin 
eignen  Feinheit  von  der  literaturgeschichtlichen  Stellung  und 
den  literarischen  Qualitäten  dieser  Dichtungen,  von  den  Kreisen 
ihrer  Verfasser,  deren  Stand  im  weltlichen  Dasein,  von  dem 
geistlichen  Leben,  das  sich  in  ihren  Poesien  spiegelt,  von  dem 
Wert  des  zugehörigen  Kommentars.  Hier  sei  auch  des  auf  den 
Thera-  und  Therigäthä  beruhenden  anziehenden  Aufsatzes  derselben 
Verfasserin  über  die  buddhistische  Liebe  zur  Natur  gedacht.* 
Für  die  Jätakasammlung  ist  ein  Registerband  zur  eng- 
lischen Übersetzung  erschienen.^  —  Nariman*  spricht  von  den 
Pälijätakas  (insonderheit  Nr.  56)  als  einem  Dokument  für  la 
simplicite  remarquaUe  de  Venseignement  primitif  du  JBouddha. 
Meines  Erachtens  baut  er  auf  einer  allzu  schmalen  Grundlage 
Schlußfolgerungen  auf,  deren  Gewicht  jene  nicht  tragen  kann. 
Insonderheit  in  der  Benutzung  der  Prosapartien,  die  ja  nicht 
kanonisch,  sondern  Eigentum  des  Kommentators  sind,  ist 
größere  Vorsicht  am  Platz,  als  er  geübt  hat.  —  In  zwei  Auf- 
sätzen habe  ich  mich  mit  Fragen  betreffend  die  Jätakas  be- 
schäftigt.^ Ich  versuche  die  neuerdings  in  Zweifel  gezogene 
(s.  namentlich   Keith   JRAS  1911,   985;    vgl.  jetzt  noch   das. 


^  Mrs.  Rhys  Davids  Psalms  of  the  early  Buddhists.  II  Psalms  of 
the  Brethren.    London  1913.     (Pali  Text  Society,  Translations  Series.) 

^  Dieselbe  The  Love  of  Nature  in  Buddhist  Poems.  (Quest  E-eview, 
April  1910.     London.) 

'  The  Jätaha  or  Stories  of  the  Buddhas  former  births.  Transl.  from 
the  Pali  by  various  hands  under  the  editorship  of  E.  B.  Cowell.  Index 
Volume.     London  1913. 

*  G.  K.  Nariman  Notes  su/r  le  Jätdka  Pali,  Joum.  asiatique  1912, 
II  115  sqq. 

^  H.  Oldenberg  Zwei  Aufsätze  zu/r  altindischen  Chronologie  und  Lite- 
raturgeschichte.   IL  Der  Typus  der  prosaisch-poetischen  Erzählung  und 


um 

3 


632  H.  Oldenberg 

1912,  435  ff.)  Auffassung  der  Jätakas  als  prosaisch -poetischer 
Akhyänas  zu  stützen,  den  ältesten  erreichbaren  Typus  der 
Jätakas  mit  möglichster  Bestimmtheit  zu  beschreiben  und  ihn 
dann  durch  seine  Weiterentwicklung  zu  verfolgen.  —  Foucher^ 
hat  in  einer  besonders  ergebnisreichen  Untersuchung,  unter 
Herbeiziehung  der  monumentalen  Überlieferung,  die  Geschichte 
des  Jätaka  vom  sechszähnigen  Elefanten  aufgehellt.  Er  zeigt 
u.  a.,  daß  die  älteste  Gestalt  in  den  Versen  der  Päliredaktion 
vorliegt,  während  die  zugehörige  Prosa  ein  viel  späteres  Stadium 
der  Entwicklung  repräsentiert.  —  Mit  einzelnen  Jätakas  (d 
Bhisajätaka,  vgl.  dazu  auch  Geldner  ZDMG  LXV  1911,  3' 
Oldenberg  NGGW  1911,  464,  und  dem  Gandhärajätaka) 
schäftigt  sich  Charpentier.^  —  Levi  knüpft  an  das  Babylon 
erwähnende  Bäverujätaka  Erörterungen  über  die  Verbreitung 
des  Pfauen  im  Westen  und  Osten.^  —  Einige  Textbesserungen 
zum  Jätaka  gibt  Andersen.*  —  Dem  Forschungsgebiet  der 
Jätakas  nah  steht  die  an  Materialien  außerordentlich  reiche, 
in  ihren  Schlußfolgerungen  mich  nur  teilweise  überzeugende 
(vgl.  meine  Bemerkungen  NGGW  1912,  184f.)  Arbeit  Char- 
pentiers  über  das  Cariyäpitaka.  ^ 

Auf  dem  Gebiet  des  Päli-Abhidhamma  ist  zuvörderst  die 
Veröffentlichung    des   Yamaka*   durch   die   Pali   Text    Society 

die  Jätakas,  NGGW  1911,  441  ff.  (englisch  im  Journ.  Pali  T.  Soc.  1912). 
—  Studien  zur  Geschichte  des  buddh.  Kanon,  NGGW  1912,  183  ff.,  s. 
auch  214  ff. 

^  A.  Foucher  Essai  de  classement  chronologique  des  diverses  versions 
du  Saddanta-jätaka.     M^langes  Levi  (Paris  1911),  231  ff. 

2  J.  Charpentier  Studien  über  die  indische  Erzählungsliteratur. 
ZDMG  LXIV  1910,  65ff;  LXYI  1912,  38ff. 

^  S.  Levi  Autour  du  Bäveru-jätaka  (Annuaire  de  l'Ecole  prat.  des 
Hautes  Etudes  1913—14).     Paris  1913. 

*  D.  Andersen  Corrections  to  some  Jätaka  verses  (Actes  du  XVL  Congr. 
Intern,  des  Orientalistes,  Äthanes  1912),  99. 

*  J.  Charpentier  Zur  Geschichte  des  Cariyäpitaka.  WZKM  XXIV 
1910,  351  ff. 

*  The  Yamaka,  being  the  sixth  book  of  the  Abhidhammapitaka,  ed. 
by  Car.  Rhys  Davids,  assisted  by  Mary  C.  Foley  and  Mabel  Hunt  (bez. 


Der  indische  Buddhismus  (1910—1913)  633 

hervorzuheben.    —   Derselben   Gesellschaft   verdanken    wir   die 
Publikation    einer    Arbeit    des    birmanischen    Gelehrten    Shwe 
Zan  Aung:  der  vortrefflichen  Übersetzung  und  Erklärung  eines 
jüngeren   Leitfadens    des    Abhidhamma,    des   Abhidhammattha- 
Samgaha   des  Anuruddha  (zwischen  8.  und  12.  Jahrhundert  n. 
Chr.?)^,  dessen  Pälitext  schon  vor  langer  Zeit  von  Rhys  Davids 
(Journ.  Pali  T.  Soc.  1884,  Iff.)  veröffentlicht  worden  war.    Von 
den    überwiegend    rein    katalogartigen    Aufzählungen    psycho- 
logischer und  sonstiger  philosophischer  Kategorien,  von  denen 
dieser   Text   voll   ist,   gewinnt   ein   nicht   geringer  Teil   Leben 
durch  die  Ausführungen  Aungs  in  seinem  einleitenden  Aufsatz. 
I  Der  Überblick  über  die  Tatsachen   des  Bewußtseins   (mit   be- 
sonderer Betonung  des   übernormalen  Bewußtseins),   den   dort 
der   in  westlichen    Gedankenkreisen  heimische  Verfasser   gibt, 
unterliegt   bisweilen,   wenn   ich   mich  nicht   täusche,   der  Ver- 
suchung, die  alten  Vorstellungen  im  Sinn  dieser  Gedankenkreise 
zu  modernisieren:   wo  dann  in   die   geläuterte  Atmosphäre,   in 
der  sich  der  Leser  zu  befinden  meint,  Betrachtungen  wie  bei- 
spielsweise die  über  die  Natur  von  Buddhas  Lächeln  oder  vom 
j  Lächeln   des  Moggalläna  beim  Anblick   eines   Peta   (Gespenst) 
I  fremdartig  genug  hineinblicken.     Sehr  dankenswert  ist  die   im 
I  Appendix   gegebene   Diskussion   einer   größeren  Zahl   philoso- 
'  phischer  Termini.    —    Hier    sei   noch    der    Hinweis    auf    eine 
i  Arbeit   angeschlossen,    die    Lanman    seiner   wohl   bald    zu    er- 
i  hoffenden    Ausgabe    von    Buddhaghosas    Visuddhimagga    (be- 
I  gönnen   von   Warren)    als    Vorläufer   vorangeschickt   hat:    die 

j  assisted  by  Cec.  Dibben,  Mary  C.  Foley,  Mabel  Hunt  and  May  Smith). 
Pali  Text  Soc,  2  Bde.    London  1911  —  13.  —  Hier  erwähne  ich  auch  die 

I  Yamakappakaranatthakathä,  from  the  Pancappakaranatthakathä,  ed.  by 
C.  A.  F.  Rhys  Davids.  Journal  Pali  T.  Soc.  1910—12,  51  ff.  (London  1912). 
^  Compendium  of  Philosophy,  being  a  translation  new  made  for  the 
first  time  from  the  original  Pali  of  the  Abhidhammattha-Sangaha,  with 
Introductory  Essay  and  Notes,  by  Shwe  Zan  Aung.  Revised  and  edited 
by  Mrs.  Rhys  Davids.  London  1910  (Pali  Text  Society,  Translations  Series). 
—  Ich  nenne  auch  die  Arbeit  desselben  birmanischen  Forschers  Abhi- 
dhamma Literature  in  Burma,  Journ.  Pali  T.  Soc.  1910 — 12,  112ff. 


ß34  H-  Oldenberg 

Analyse  der  beiden  ersten,  die  Lehre  vom  slla  (Moralität)  und 
den  dhutahga  (den  dreizehn  asketischen  Observanzen)  um- 
fassenden Bücher  jenes  Werks. ^  — 

Wir  gehen  zur  nördlichen  Literatur  über.  Hier  ist  vor  allem 
der  überaus  wichtigen  Erweiterungen  unserer  Kenntnisse  zu  ge- 
denken, welche  uns  durch  die  im  Norden  entdeckten  größeren 
oder  kürzeren  Fragmente  kanonischer,  teilweise  dem  alten  Kanon 
angehöriger  Texte  gebracht  sind.  Diese  Fragmente  sind  bald 
in  Sanskrit  verfaßt,  bald  in  den  durch  die  zentralasiatischen 
Funde  neu  zutage  geförderten  Sprachen;  zur  Orientierung 
über  diese  sei  unter  der  rasch  anschwellenden  Literatur  etwa 
folgendes  hervorgehoben:  A.  Meillet,  Les  nouvelles  langues  indo- 
europeennes  trouvees  en  Asie  centrale  (Revue  du  mois,  Aug.  1912. 
Paris);  derselbe,  Le  Tokharien  (Indog.  Jahrbuch  1913,  Iff.); 
H.  Reichelt,  Das  'Nordarische'  (ebendas.  20 ff.).  Weiter  sei  hier 
vorangeschickt,  daß  mit  der  literargeschichtlichen  Stellung  eines 
Teiles  der  hierher  gehörigen  Sanskritfragmente  ich  mich  NGGrW 
1912,  171  ff.  (vgl.  oben  S.  629)  beschäftigt  habe. 

Ich  beginne  mit  der  Vinayaliteratur  und  verzeichne  die  am 
eben  angeführten  Ort  schon  von  mir  näher  besprochenen 
Sanskritfragmente,  die  Finot  publiziert  hat^;  ein  von  Hoernle 
mitgeteiltes  Stück  eines  Sanskritvinaya^ ;  die  überwiegend  den 
Vinaya  betreffenden  Mitteilungen  in  einem  Aufsatz  la  Vallee 
Poussins*;  sodann  ein  tocharisches  Prätim oksafragment^  und 
einen  andern  tocharischen  Vinayaabschnitt.^ 

Von    Sütras   hebe   ich   hervor    Sanskritfragmente   aus   dem 

*  Ch.  R.  Lanman  Buddhaghosa's  Treatise  on  Buddhism,  entitled  the 
way  of  salvation :  Analysis  of  Part  I,  on  Morality  (Proc.  of  the  American 
Academy  of  Arts  and  Sciences,  vol.  XLIX,  no.  3,  Boston  1913) 

'  L.  Finot  Fragments  du  Vinaya  sanskrü,  Journ.  as.  1911,  II  619  flF. 
»  Hoernle  JRAS  1912,  736  ff.  (vgl.  oben  S.  617,  Anm.  2). 

*  L,  de  la  Vallee  Poussin  Nouveaux  Fragments  de  la  Collection  Stein, 
JRAS  1913,  843  ff. 

^  S.  Levi  Tökharian  Prätimoksa  Fragment,  ebendaselbst  109  ff. 
®  S.  Levi    Un   Fragment  Tokharien  du  Vinaya  des  Sarvästivädins, 
.Tonm.,a8,  1912,  I  101  ff. 


Der  indisclie  Buddhismus  (1910—1913)  635 

Samyuktägama*  und  ein  soghdisches  Dirghanakhasütra.^  Ver- 
schiedene Sanscritica  weiter^  darunter  Fragmente  eines  Nagaro- 
pama  und  einer  Raksä,  eines  Dasabalasütra,  des  Saddhar- 
mapundarika,  vereinigen  Mitteilungen  von  la  Vallee  Poussin^; 
ähnlich  eine  solche  von  S.  Levi*:  ich  erwähne  Stücke  eines 
Nidänasütra,  eines  Dasabalasütra  und  des  Dharmapada.  Hiermit 
sind  wir  denn  zu  den  reichhaltigen  Materialien  geführt,  die 
das  Dharmapada  bez.  den  Udänavarga  betreffen;  mit  Sonderung 
dieser  beiden  Benennungen  beschäftige  ich  mich  hier  nicht.  Ich 
verweise  auf  meine  Bemerkungen  im  vorigen  Bericht  S.  607 f. 
über  die  von  Pischel  begonnene  Bearbeitung  der  betreffenden 
Materialien,  auf  deren  Fortsetzung  durch  Lüders  wir  hoffen 
dürfen,  und  verzeichne  unten  einige  neue  hier  einschlagende 
Publikationen.^  Besondere  Erwähnung  verdient  eine  wenigstens 
teilweise  auf  den  zentralasiatischen  Funden  beruhende  ein- 
gehende Studie,  die  niemand  als  eben  ihr  Verfasser  uns  zu 
geben  imstande  gewesen  wäre:  die  Arbeit  S.  Levis,  die  für  den 
Apramädavarga  des  Dharmapada  eine  Gegenüberstellung  der 
zahlreichen  Redaktionen,  einschließlich  der  tibetischen  Über- 
setzung und  der  chinesischen,  unternimmt.® 

Sehr  umfangreiche  Partien  einer  soghdischen  Übersetzung 

^  L.  de  la  Vallee  Pousein  Documents  sanscrits  de  la  seconde  Collection 
Stein,  JRAS  1913,  569  ff. 

^  R.  Gauthiot  Le  Sütra  du  religieux  Ongles-Longs.  Texte  sogdien  et 
traduction,  Mem.  Soc.  Ling.  XVII  357  ff.  (Paris  1912). 

'  L.  de  la  Vallee  Poussin  Documents  sanscrits  de  la  seconde  Collection 
Stein,  JRAS  1911,  759  ff.  und  1063  ff. 

*  S.  Levi  Textes  sanscrits  de  Touen-houang,  Journ.  as.  1910,  II  433  ff, 

^  S.  Levi  Etüde  des  documents  toJchariens  de  la  mission  Pelliot.   I. 

Les  Ulingues,  Journ.  as.  1911,  I  431ff.  (vgl.  auch  S.  138  ff.).  —  L.  de  la 

Vallee  Poussin  Documents  sanscrits  de  la  seconde  Collection  M.  A.  Stein: 

;  Fragments  de  V  Udänavarga  de  Dharmaträta,  JRAS  1912,  355  ff.  —  Derselbe 

!  Essai  d' Identification  des  Gäthäs  et  des  Udänas  en  prose  de  V  Udänavarga 

\  de  Dharmaträta,  Journ.  as.  1912,  I  311  ff.     Vgl.  auch  denselben,  Gott. 

Gel.  Anz.  1912,  190  ff. 

®  S.  Levi  L'Apramäda-varga.  Etüde  sur  les  recensions  des  Dharma- 
padas,  Journ.  as.  1912,  II  203  ff. 


ß36  H-  Oldenberg 

des  Yessantara  Jätaka  veröffentliclit  und  übersetzt  Gauthiot.^ 
—  Der  Jätakaliteratur  gehört  auch  ein  von  Levi  veröffent- 
lichtes  Legendenfragment  in  tocharisclier  Sprache  an*,  das  es 
mit  der  Geburt  des  Bodhisattva  als  König  Ambara  zu  tun  hat 
(Levi  gibt  auch  die  sanskritischen  Paralleltexte). 

Es    war    im    Vorangehenden    nicht    möglich,    eine    scharfe 
Scheidung  älterer  und  jüngerer  Texte  vorzunehmen.    Es  folgen 
noch  einige  jüngere:  Stücke  der  Vajracchedikä  und  des  Aparimi- 
täyuhsütra^   sowie   des   Suvarnaprabhäsasütra^  in  der  Sprache, 
welche  Leumann  nordarisch  nennt,  Gauthiot  und  Pelliot  ostira- 
nisch. Lüders  u.a.  sakisch.  Mit  den  Fragmenten  der  Vajracchedikä 
und  des  Aparimitäyuhsütra  sowie  mit  teils  sanskritischen,  teils 
„nordarischen"    Stücken    der   Adhyardhasatikä    Prajnäpäramitä 
beschäftigt  sich  Leumann.^  Über  ein  als  apokryph  erscheinendes 
Sütra  des  causes  et  des  effets  du  hien  et  du  mal  berichtet  Pelliot*: 
unter  den  Funden  seiner  Expedition  erscheint  es  in  soghdische 
Sprache;    nunmehr   ist  es  ihm  gelungen,    im   Supplement  de 
Tripitaka   von   Kyoto   die  chinesische  Fassung,    die  zum  Vei 
ständnis  der  andern  führt,  zu  entdecken.    Endlich  erwähne  i( 
ein  in  einer  Turfanhandschrift  vorliegendes  Sütra  in  türkisch« 
Übersetzung^,  uigurische  Schrift  mit  Brähmiglossen:  eine  von' 
Buddha  den  im  Anfang  seiner  Buddhaschaft  ihm  begegnenden 

*  R.  Gauthiot  Une  version  sogdiennc  du  Vessantara  Jätaka,  Jonrn.  as. 
1912,  I  163  ff.  und  429  ff. 

2  S.  Levi  Une  legende  du  Karunä-pundarlka  en  langue  tokharienne, 
Festschrift  für  V.  Thomsen,  155  ff.  (Leipzig  1912). 

'  Hoernle  The  'ünJcnown  Languages'  of  Eastern  Turkestan,  JRAS 
1910,  834  ff.,  1283  ff.    Vgl.  auch  das.  1911,  447  ff. 

*  P.  Pelliot  Un  fragment  du  Suvarnaprahhäsasütra.  Mem.  Soc. 
Ling.  XVIII  89  ff.  (Paris  1913). 

^  E.  Leumann  Zur  nordarischen  Sprache  und  Literatur  (Schriften 
der  Wiss.  Gesellsch.  in  Straßburg,  Heft  10.   Straßburg  1912)  S.  56  ff.,  84  ff 

*  P.  Pelliot  Un  hilingue  sogdien-chinois,  Melanges  S.  Levi  329  ff. 

'  Tisastvustik.  Ein  in  türkischer  Sprache  bearbeitetes  buddhistisches 
Sütra.  Transscr.  und  Übers,  von  W.  Radioff.  Bemerkungen  zu  den 
Brähmiglossen  des  Tisastvustik-Manuskripts  von  Baron  A.  v.  Stael-Holstein 
{Bibl  Buddhica  XII).     St.  Petersburg  1910. 


Der  indische  Buddhismus  (1910—1913)  637 

Kaufleuten  Trapusa  und  Bhallika  (der  Text  verwandelt  diese 
in  Türken)  mitgeteilte  Sammlung  mystischer  Formeln  (Dhärani) 
und  Namen  von  Göttern  und  Dämonen  zum  Schutz  der  Reisenden, 
in  erster  Linie  reisender  Kaufleute.  — 

Wir  werden  in  besonderem  Zusammenhang  noch  zu  einem 
der  im  Norden  gelungenen  Funde  —  in  mancher  Hinsicht  dem 
wichtigsten  von  ihnen  allen  —  zurückzukehren  haben.  Für 
jetzt  wenden  wir  uns  zu  den  in  anderweitiger  Überlieferung 
vorliegenden  Texten  und  den  an  sie  anknüpfenden  Unter- 
suchungen. 

Von  Forschungen,  welche  die  Genesis  und  geschichtliche 
Stellung  von  Texten  wie  Mahävastu  und  Divyävadäna  betreffen, 
war  oben  S.  620  die  Rede.  Bemerkungen  zu  verschiedenen 
Texten  dieser  Gruppe  gibt  Wintemitz^  (Sittengeschichtliches: 
Verschleierung  der  jungen  Ehefrau  im  Lal.  Vistara,  dabei 
Allgemeines  über  diesen  Text  in  seiner  literaturgeschichtlichen 
und  dogmatischen  Stellung.  Über  Säntideva  als  angeblichen 
Verfasser  eines  Sütrasamuccaya.^  Einige  Stellen  des  Divyäva- 
däna). 

Besondere  Aufmerksamkeit  haben  wir  auf  die  bedeutende 
literarische  Persönlichkeit  des  Asvaghosa  zu  richten.  Diesem 
Vornehmsten  unter  den  Kunstdichtern  des  Buddhismus  ist 
auch  jetzt  wieder  eifrige  Arbeit  zu  gute  gekommen,  dazu  ein 
Fund  ersten  Ranges,  der  unsern  Besitz  in  erwünschtester  Richtung 
erweitert. 

Unter  den  Publikationen,  die  altbekannte  Werke  Asva- 
ghosas  betreffen,  stelle  ich  die  von  Formichi^  voran:  eine  sorg- 
fältige   und   elegante   Übersetzung   des    Buddhacarita,  welcher 

*  M.  Winternitz  Beiträge  zur  buddh.  Sanskritliteratxir.  WZ  KM  XXVI 
1912,  237  ff. 

2  Hier  sei  auch  aufmerksam  gemacht  auf  den  das  Leben  und  die 
literarische  Tätigkeit  dieses  Autors  behandelnden  Aufsatz  von  Mahämaho- 
pädhyäya  Haraprasäd  Shästri  Säntideva^  Ind.  Antiq.  1913,  49  ff. 

'  Formichi  Ägvaghosa  poeta  del  buddhismo  (Biblioteca  di  Cultura 
moderna).     Bari  1912. 


ß38  2-  Oldenberg 

eine  umfängliche  Einleitung  (insonderheit  Erzählung  des  In- 
halts) vorangeht,  eingehende  überwiegend  textkritische  An- 
merkungen angehängt  sind.  Die  verdienstliche  Arbeit  läßt  doch, 
scheint  mir,  manche  Wünsche  unerfüllt.  Wenn  die  An- 
merkungen zeigen,  daß  Formichi  auch  die  speziellen  Interessen 
der  Fachleute  zu  berücksichtigen  gedachte,  werden  diese  eine 
Reihe  von  Untersuchungen,  für  die  sie  dem  Verfasser  dankbar 
gewesen  wären,  vermissen.  So  im  Großen  vor  allem  die 
Prüfung  der  Stellung  von  Asvaghosa's  Erzählung  inmitten  der 
übrigen  Formen  des  Berichts  vom  Leben  des  Buddha.  Im 
Kleineren  und  Einzelnen,  Untersuchungen  wie  z.  B.  über  die 
Bedeutung  des  Berichts  von  Aräda's  Lehre  für  die  Geschichte 
der  indischen  Philosophie:  man  wird  bedauern,  daß  der  Ver- 
fasser gefunden  hat,  daß  ein  Eingehen  auf  dieses  nicht  un- 
wichtige, mehrfach  behandelte  Problem  ^  trascende  i  limiti  e  gVin- 
tenti  äi  questa  nostra  esposmone  (was  S.  392  f.  hierüber  ge- 
sagt wird,  rührt  in  der  Tat  den  Gegenstand  nur  an).  Besonders 
hätte  man  in  der  Behandlung  der  Frage  nach  dem  Grund- 
bestandteil des  Werkes  und  den  Ergänzungen  größere  Schärfe 
gewünscht.  Für  ganz  unwahrscheinlich  halte  ich,  daß  das 
ursprüngliche  Gedicht  termina  e  deve  terminare  con  la  sconfitta 
di  Mära  (S.  107).  Ein  Buddhaepos,  welches  das  entscheidende 
Ereignis,  die  Erlangung  der  Buddhaschaft,  nicht  erzählt,  sondern 
unmittelbar  davor,  inmitten  der  Vorgänge,  die  zu  jenem  Höhe- 
punkt hinführen,  plötzlich  abbricht?  — 

Von  sehr  viel  geringerer  Bedeutung  als  die  Arbeit  Formich  i's 
ist  die  deutsche  Bearbeitung  des  Buddhacarita,  welche  nach  der 
chinesischen  Übersetzung,  mit  vielen  willkürlichen  Kürzungen 
und  mit  der  auf  eigne  Rechnung  unternommenen  Hervor- 
bringung eines  „biblischen  Gepräges"  der  Diktion  von  Held 
hergestellt  worden  ist.^ 

^  Zuletzt:  O.Strauß  Zur  Geschichte  des Sämkhya.  WZKM  XXVII  257 ff. 

^  H.  L.  Held  Buddha,  sein  Evangelium  und  seine  Auslegung .  1-3  Aufl. 
München,  Leipzig  1911/12.  Vgl.  dazu  Oldenberg,  Theol.  Lit.  Zeitung 
1912,  643  f. 


Der  indische  Buddhismus  (1910—1913)  639 

Eine  neue  in  Indien  erschienene  Ausgabe  und  Übersetzung 
der  ersten  Kapitel  des  Buddhacarita^  bedaure  ich  nicht  gesehen 
zu  haben;  nach  einem  Bericht  Finot's  wäre  ihr  Ertrag  nicht 
eben  hoch  anzuschlagen.  —  Einzelheiten  zum  Buddhacarita 
bieten  la  Vallee  Poussin  und  Watanabe.^  —  Einschaltungsweise 
sei  hier  ein  den  Funden  Stein's  entstammendes  Fragment  eines 
andern  Buddhacarita  erwähnt.^ 

Unser  Besitz  an  Werken  des  Asvaghosa  ist  nun  aber  in 
bedeutsamster  Weise  weiter  vermehrt  worden. 

Zunächst  ist  es  Haraprasäd  Shästri  gelungen,  für  das  von 
ihm  entdeckte  Werk  dieses  Poeten  Saundarananda  Kävya  (von 
der  Bekehrung  des  Nanda  handelnd)  hinreichende  Materialien  zu- 
sammenzubringen, so  daß  eine  Ausgabe  möglich  geworden  ist.* 

Vor  allem  aber  ist  hier  des  Fundes  von  Lüders  zu  gedenken, 
der  unsrer  Kenntnis  der  indischen,  der  buddhistischen  Literatur 
ein  Novum  ersten  Ranges  dargeboten  hat.^  Unter  den  Manu- 
skripten, die  V.  Le  Coq  mitgebracht  hat,  fanden  sich  Fragmente 
einer  Palmblatthan^schrift,  die  in  Indien  geschrieben  sein 
muß,  und  deren  Schriftcharakter  sie  als  die  weitaus  älteste  bisher 
bekannte  indische  Handschrift,  aus  der  Zeit  der  Kusanadynastie 

'  Ashvaghosha's  Buddha-charita  (cantos  I-V)  with  a  scJioUum  by 
Dattatraya  Shastri  Nigudkar,  a7id  IntroducUon ,  Notes  and  Translation 
hy  K.M.  Joglekar.     Bombay  1912.  —  Vgl.  dazu  Finot  J.  as.  1913  I  685  f. 

2  L.  de  la  Valle'e  Poussin  Buddhacarita  I  30,  JRAS  1913,  417  ff.; 
K.  Watanabe  Two  Notes  on  ihe  Buddhacarita,  Journ.  Pali  T.  Soc. 
1910-12,  108  ff. 

'  L.  de  la  Yallee  Poussin  JBASjdll,  770  f. 

*  Saundaranandam  Kävyam  by  Arya  Bhadanta  Asva  Ghosa,  ed.  by 
Mahämahopädhyäya  Harapraaäda  Shästri.  Calc.  1910  (Bibl.  Indica).  Vgl. 
dazu  Baston  Journ.  as.  1912  I  79 ff.  (Analyse;  Übersetzung  der  beiden 
ersten  Kapitel);  Speyer  Some  Notes  on  the  text  of  Saundarananda.,  Versl. 
en  Mededeel.  der  K.  Akad.  vau  Wetensch.,  Afd.  Letterkunde,  4.  Reeks, 
Deel  XII.     Amsterdam  1913;  F.  W.  Thomas  JRAS  1912,  1125 f. 

^  H.  Lüders  BruchstücTce  buddhistischer  Dramen  (Kgl.  Preuß.  Turf  an- 
Expeditionen. Kleinere  Sanskr.-Texte  Heft  1),  Berlin  1911.  —  Ders.  Bas 
SäriputrapraJcarana,  ein  Drama  des  Asvaghosa,  Sitz. -Bericht  der  K.  Pr. 
Akad.  der  Wiss.  1911,  388  ff.  —  Ders.  Buddh.  Dramen  aus  vorklassischer 
Zeit,  Internat.  Wochenschrift  1911,  677  ff. 


ß40  S-  Oldenberg 

erweist  (nach  der  von  mir  für  richtig  gehaltenen  Ansicht  über 
diese  Dynastie  um  das  Ende  des  1.  bzw.  im  2.  Jahrh.  n.  Chr.). 
In  dieser  und  in  einer  zweiten,  einem  Palimpsest^  haben  sich 
Fragmente  dreier  Dramen  gefunden,  die  um  mehrere  —  viel- 
leicht drei  —  Jahrhunderte  älter  sind  als  die  ältesten  bisher 
bekannten.  Die  Prakritdialekte ,  deren  sich  die  Frauen  und 
Angehörigen  der  niederen  Stände  bedienen,  sind  wesentlich 
älter  als  die  sonst  bekannten  Prakrits  der  Dramen.  Alle  drei 
Dramen  sind  als  buddhistisch  zu  bezeichnen.  Das  eine  ist 
allegorisch:  Weisheit,  Standhaftigkeit  und  Ruhm  begeben  sich 
zur  höchsten  Verkörperung  aller  Tugenden,  dem  Buddha.  Das 
zweite  hat,  scheint  es,  lustigeren  Charakter.  Neben  einem 
buddhistischen  Mönch  tritt  eine  Hetäre  auf,  dann  der  Vidüsaka, 
die  lustige  Person.  Im  dritten  Stück  endlich  ist  vom  Eintritt 
der  beiden  Hauptjünger,  des  Säriputra  und  Maudgalyäyana,  in 
den  Jüngerkreis  die  Rede.  In  seiner  ersten  Mitteilung  über 
den  wundervollen  Fund  sprach  Lüders  die  Ansicht  aus,  der 
Verfasser  müsse  dem  Dichterkreise  angehören,  dessen  ragender 
Mittelpunkt  Asvaghosa  war.  Die  Bestätigung  ließ  nicht  lange 
auf  sich  warten.  Für  das  letzterwähnte  der  drei  Dramen  fand 
sich  die  den  Verfasser  nennende  Unterschrift:  es  war  niemand 
anders  als  Asvaghosa  selbst.  Der  Umkreis  der  buddhistischen 
Literatur  erweitert  sich  durch  diese  mehr  oder  minder  religiösen 
Dramen  in  einer  vollkommen  neuen  Richtung.  Für  die  Ge- 
schichte des  Dramas  aber  wird  man  wenigstens  große  Wahr- 
scheinlichkeit der  Schlußfolgerung  zuerkennen,  die  Lüders  zieht: 
die  Hypothese,  daß  sich  das  indische  Drama  unter  dem  Ein- 
flüsse der  griechischen  Komödie  entwickelt  habe,  kann  jetzt 
nicht  mehr  aufrecht  erhalten  werden.  Auf  Lüders  bedeutsame, 
durch  seinen  Fund  veranlaßte  Ausführungen  zur  Geschichte 
der  Präkrtdialekte  kann  ich  eben  nur  hinweisen. 

Ich  schließe  diese  auf  Asvaghosa  bezüglichen  Darlegungen 
mit  der  Angabe,  daß  von  dem  berühmten,  bisher  allein  in 
tibetischer  und  chinesischer  Übersetzung  vorliegenden  Hymnus 


Der  indische  Buddhismus  (1910—1913)  641 

des  Mätrceta  (identisch  mit  Asvagho^a?)  auf  Buddha  Fragmente 
von  Stein  und  Pelliot  mitgebracht  sind,  welche  jetzt  veröffent- 
licht vorliegen.^ 

Wichtige  Fortschritte  hat  die  Durcharbeitung  der  Literatur 
der  Mädhyamikaschule  gemacht.  Seine  Ausgabe  des  funda- 
mentalen Textes  dieser  Schule,  der  Mülamadhyamakakärikäs 
mit  dem  Kommentar  des  Candrakirti  (dieser  aus  dem  Ende  des 
6.  oder  Anfang  des  7.  Jahrhunderts?)  hat  la  Yallee  Poussin 
nach  langjähriger  Arbeit  glücklich  zu  Ende  geführt.^  Den 
Kommentar  Akutobhayä  des  Nägärjuna  selbst  hat  aus  der 
i  im  Tanjur  erhaltenen  tibetischen  Version  Walleser  übersetzt; 
ebenso  alsdann  den  chinesischen  Text  Gun-lun  des  Kumärajiva: 
sei  es,  daß  dieser  als  freie  Bearbeitung  der  Akutobhayä  oder 
als  die  Übersetzung  eines  andern  dieser  nahestehenden  indi- 
schen Originals  aufzufassen  ist.^  Zu  seinem  eben  erwähnten 
Kommentar  fügte  Candrakirti  das  Werk  Madhyamakävatära, 
eine  Einleitung  in  dia  Philosophie  der  Mädhyamikaschule.  Eine 
Ausgabe  auch  dieses  tibetisch  im  Tanjur  vorliegenden  Textes, 
dazu  eine  Übersetzung  (gegenwärtig  noch  unvollendet),  ver- 
danken wir  wieder  der  ünermüdlichkeit  la  Yallee  Poussins.* 
In  die  durch  den  Namen  Nägärjuna  bezeichnete  Entwicklungs- 
linie gehört  auch  das  Werk  Abhisamayälamkära  des  Maitreya- 
nätha,  über  dessen  Auffindung   Haraprasäd   Shästri  berichtet.^ 

1  La  Yallee  Poussin  JBAS 1911,  762  ff.;  S.  Le'vi  Jowrn.  as.  1910 II 450  ff 

^  Mülamadhyamakakärikäs  (Mädhyamikasütras)  de  Nägärjuna  avec 
la  Prasannapadä  Commentaire  de  Candrakirti,  publie  par  L.  de  la  Vallee 
Poussin  (Bibl.  Buddhica),  St.  Petersburg  1903—13. 

'  M.  Walleser  Die  Mittlere  Lehre  (Mädhyamika-sästra)  des  Nägärjuna, 
nach  der  tibet.  Version  übertragen,  Heidelberg  1911.  —  Ders.  Die  Mitt- 
lere Lehre  des  Nägärjuna,  nach  der  chines.  Version  übertragen,  Heidel- 
berg 1912. 

*  Madhyamakävatära  par  Candrakirti,  Trad.  tibetaine  publice  par 
L.  de  la  Vallee  Poussin  (Bibl.  Buddhica),  St.  Petersburg  1912.  — 
Museon  1907,  249  flF.;  1910,  272  ff.;  1911,  235  ff. 

'  Mahämahopädhyäya  Haraprasäda  Shsistri  Discovery  of  Abhisamayä- 
lamkära hy  Maitreyanätha,  Journ.  and  Proc.  As.  Soc.  Bengal  1910 
(Calcutta  1911)  425  ff. 

Archiv  f.  Keligionswissenschaft  XVII  41 


642  H.  Oldenberg 

Zum  Gebiet  der  Yogäcäraschule  hinüber  führt  uns  die  große 
Arbeit,  zu  deren  Vollendung  wir  S.  Levi  beglückwünschen  dür- 
fen. Im  vorigen  Bericht  (S.  602)  wurde  über  seine  Ausgabe  von 
Asangas  Mahäyäna-Süträlamkära  referiert.  Als  zweiten  Band 
hat  er  jetzt,  nebst  einer  Einleitung,  die  Übersetzung  dieses 
hochwichtigen  Werkes  folgen  lassen.^  —  Der  von  Asahga  in- 
augurierten Richtung  gehört  auch  der  altjavanische  Kate- 
chismus an,  den  J.  Kats  veröffentlicht  hat  (von  mir  nicht  gesehen), 
und  dessen  einleitende,  vielleicht  indisches  Erbgut  darstellende 
Sanskritstrophen  —  Anreden  des  Guru  an  den  zu  weihenden 
Jünger  —  Speyer  bespricht.^  —  Hier  ist  nachträglich  noch 
des  Überblicks  über  die  buddhistische  Logik  in  S.  Ch.  Vidya- 
bhusanas  schon  1909  erschienener  Geschichte  der  mittelalter- 
lichen Logik  Indiens  zu  gedenken.^  Die  literaturgeschichtlichen 
Daten  treten  darin  gegenüber  den  Problemen  der  Gedanken- 
entwicklung in  den  Vordergi'und. 

Von  poetischen  Werken  ist  hier  zu  erwähnen  zunächst  die 
von  Watanabe  herausgegebene  kleine  lyrische  Komposition 
Bhadracari  (mit  Übersetzung  von  Leumann),  von  der  wir  aus 
dem  vierten  Jahrhundert  hören,  daß  sie  in  buddhistischen  Landen 
überall  rezitiert  worden  sei:  im  Sinn  des  Mahäyäna  Bekenntnis 
zu  den  geistlichen  Pflichten,  Ausdruck  der  Wünsche  und  der 
auf  Amitäbha  gerichteten  Hoffnungen/  Sodann  die  Behandlung 
der  Mahajjätakamälä,  eines  in  Nepal  erhaltenen,  teilweise  an 
die   Jätakamälä  des  Aryasüra  sich  anlehnenden  Werks,  durch 


*  S.  Levi  Mdliäyäna-Sütralamkära,  Expose  de  la  doctrine  du  Grand 
Vehicule  selon  le  Systeme  Yogäcära,  T.  II:  Traduction,  Introduction,  Index 
(Bibl.  de  r:6cole  des  Hautes  Etudes),  Paris  1911.  . 

2  J.  Kats  Sang  hyang  Kamahdyänikan  (Kon.  Inst,  voor  de  Taal-, 
Land-,  en  Volkenkunde  van  Ned.  Indie.).  1910.  —  J.  S.  Speyer  Ein  alt- 
javanischer   mahäyänistischer  Katechismus,   ZDMG   LXVII   (1913),    347  ff. 

'  Mahämahopädhyäyar  Satis  Chandra  Vidyabhusana  History  of  the 
Mediaeval  School  of  Indian  Logic  (Calcutta  1909)  S.  57  ff. 

*  K.  Watanabe  Die  Bhadracari,  eine  Proie  buddhistisch -religiöser 
Lyrik  (Straßb.  Diss.),  Leipzig  1912. 


Der  indisclie  Buddhismus  (1910—1913)  643 

E.  Lang.^  Dieser  Gelehrte  bereitete  eine  Ausgabe  des  ganzen 
Textes  vor.  Der  frühe,  tragische  Tod,  den  er  wie  einst  Bergaigne 
im  Gebirge  fand,  hat  die  Wissenschaft  dieser  und  wohl  mancher 
andern  schönen  Hoffnung  beraubt.  Der  vorliegende  Aufsatz 
gibt  eine  Analyse  des  ganzen  Werks  sowie  Text  und  Über- 
setzung von  zwei  ausgewählten  Erzählungen  (der  Töpfer 
Vrhaddyuti;  der  Sklave  Kulmäsapindin).  —  Hier  darf  endlich 
die  reiche  Gabe  nicht  unerwähnt  bleiben,  die  Chavannes^  mit 
der  Übersetzung  seiner  fünfhundert  Erzählungen  aller  Art  aus 
verschiedenen  chinesischen  Texten,  überwiegend  aus  der  Zeit 
vom  3.  bis  5.  Jahrhundert  n.  Chr.,  der  Wissenschaft  des  Folk- 
lore und  speziell  auch  der  buddhistischen  Forschung  gemacht 
hat:  denn  es  ist  das  buddhistische  Indien,  in  welches  diese 
Texte  uns  als  in  ihre  wahre  Heimat  zurückführen.  — 

Ich  wende  mich  zu  den  Arbeiten,  die  Fragen  der  buddhistischen 
Kirchengeschichte  betreffen. 

Zu  dem  schon  früher  (s.  den  vorigen  Bericht  611)  von  ihm 
behandelten  Problem  des  Datums  von  Buddhas  Tode  und  der 
entsprechenden  Ära  kehrt  Fleet  zurück.^  Speziell  die  birmanische 
Ära  von  Buddhas  Tode  ist  mehrfach  behandelt  worden.* 

Dasselbe  gilt  von  der  alten  Mönchssekte  der  Ajivika.^ 

Legenden,  den  König  Asoka  betreffend,  übersetzt  Laksmana 

*  E.  Lang  La  MahajjätaJcamälä ,  Journ.  as.  1912,  I  511  ff.  Vgl.  auch 
S.  Levi  Festschr.  f.  Vüh.  Thomsen,  162  f. 

^  Ed.  Chavannes  Cinc[  cents  conies  et  apologues  extraits  du  Tripitaka 
(^inois  et  traduits  en  frangais,  Paris  1910  (3  Bde.).  Vgl.  dazu  mein 
Referat  Buddhistische  Fabeln  und  Märchen,  Deutsche  Rundschau,  Juni  1911. 

8  Fleet  The  Date  of  the  Death  of  Buddha,  JRAS  1912,  239  ff.  — 
Hier  ist  auch  auf  Geigers  Einleitung  zu  seiner  Übersetzung  des  Mahä- 
vamsa  zu  verweisen  (s.  unten  S.  644)  sowie  auf  Ayrton  JBÄS  1911,  1142  f. 

*  Blagden  The  Bevised  Buddhist  Era  in  Burma,  JRAS  1910,  474. 
Vgl.  dazu  Fleet  das.  476  ff.,  Blagden  das.  850  ff.,  wiederum  Fleet  857  ff., 
Blagden  das.  1911,  209  ff.,  Taw  Sein  Ko  das.  212  ff.,  Fleet  das.  216  f. 

^  K.  B.  Pathak  The  Äjivikas,  a  Sect  of  Buddhist  BhiTckhus,  Ind. 
Ant.  1912,  88 ff.;  D.  R.  Bhandarkar  Äjivikas,  ebendas.  286 ff.  —  Hier  sei 
an  Hoernles  sehr  wichtigen  Artikel  über  die  Äjivikas  in  der  Encycl.  of 
Rel.  and  Ethics  erinnert. 

41* 


644  H.  Oldenberg 

Sästri.^  —  Über  das  Land  Mahisamandala,  wohin  eine  der  von 
Asoka  ausgeschickten  Missionen  ging,  sind  eingehende  Dis- 
kussionen geführt  worden.^  —  Mit  der  angeblich  (doch  s.  Greiger 
in  seiner  Übersetzung  des  Mahävamsa  S.  86,  Anm.  2  und  Fleet 
JRAS  1910,  428)  nach  Birma  gerichteten  Missionsreise  des 
Sona  und  Uttara,  und  im  Anschluß  daran  mit  dem  Eindringen 
des  Buddhismus  auf  den  Sundainseln  beschäftigt  sich  ein  Aufsatz 
von  MüUer-Heß,  von  dem  Nariman  eine  englische  Übersetzung 
vorlegt.^  —  Beziehungen  des  angeblich  unter  Asoka  ent- 
standenen Textes  Kathävatthu  (dem  Abhidhamma  Pitaka  zu- 
gehörig) zu  nordbuddhistischen  Traditionen  untersucht  la  Vallee 
Poussin.* 

Dem  hohen  Verdienst,  das  er  sich  durch  seine  Ausgabe  der 
ceylonesischen  Chronik  Mahävamsa  erworben  (vgl.  den  vorigen 
Bericht  594),  hat  Geiger  ein  neues  durch  Veröffentlichung  einei 
ausgezeichneten  Übersetzung  dieses  Textes^  hinzugefügt.     Di 
reichhaltige   Einleitung   beschäftigt    sich    mit    den    Quellenvei 
hältnissen  und  der  Glaubwürdigkeit  von  Mahävamsa  und  Dipl 
vamsa  (Auseinandersetzung  mit  der  Skepsis  Frankes),  mit  de 
Chronologie   der    ceylonesischen   und   indischen    Könige   so^ 
der    buddhistischen    Lehrer,    von    denen    die    Chronik    sprich! 
endlich  mit  den  Problemen,  welche  die  Konzilien  betreffen. 
Chronologische   Fragen,    die   mit  dem   Mahävamsa  zusammei 


^  Laksmana  Sästri  Buddhist  Legends  of  Asoka  and  Ms  Times,  trai 
lated  from  the  Päli  of  the  Rasavähini,  with  a  Prefatory  Note  by  H.  C.  Normi 
Jonrn.  and  Proc.  of  the  As.  Soc.  of  Bengal  1910,  57  ff. 

2  Fleet  JBAS  1910,  425  ff.;  1911,  816  ff.;  1912,  245  ff.  —  Pargi 
das.  1910,  867  ff.  —  Rice  das.  1911,  809  ff.;  1912,  241  ff. 

'  E.  Müller-Heß  The  Peregrinations  of  Indian  Buddhists  in  Burma  and 
in  the  Sunda  Islands,  transl.  from  the  German  by  G.  K.  Nariman,  Ind. 
Antiquary  1913,  38  ff. 

*  L.  de  la  Vallee  Poussin  Buddhist  Notes:  The  'Five  Points'  of  Ma 
deva  and  the  Kathävatthu,  JRAS  1910,  413  ff. 

*  The  Mahävamsa  or  the  Great  Chronicle  of  Ceylon,  transl.  into 
English  by  Wilh.  Geiger,  assisted  by  Mabel  H.  Bode,  London  (Päli  Text 
Society)  1912. 


Der  indische  Buddhismus  (1910—1913)  ^5 

hängen,  werden  behandelt  von  Ayrton^  (Besuch  des  Fa  Hian 
in  Ceylon  und  in  Verbindung  damit  Datierung  von  Buddhas 
Nirväna  im  Mahävamsa)  und  von  Hultzsch^  (Synchronismen 
zwischen  den  das  Mittelalter  betreffenden  Partien  des  Mahävamsa 
und  den  Daten  der  südindischen  Epigraphik). 

Schrader^  fragt,  was  in  den  Ausdrücken  Mahäyäna  und 
Hinayäna  yäna  ursprünglich  bedeutet.  Er  entscheidet  sich 
gegen  „Wagen",  für  „Schiff'^  Mna  bedeutet  ,,niedrig,  inferior, 
gemein":  was  die  alte  Lehre  als  verächtlich  erscheinen  ließ, 
war  die  Abwesenheit  des  Bodhisattva-Ideals. 

N.  Peri*  untersucht  das  bestrittene  Datum  des  hochberühmten 
Vasubandhu.  Auf  Grund  einer  Prüfung  der  Texte  der  ersten 
Serie  des  Supplements  des  Tripitaka  von  Kyoto  gelangt  er  zu 
dem  Resultat,  daß  Vasubandhu  im  4.  Jahrhundert,  genauer  in 
dessen  erster  Hälfte  gelebt  hat. 

In  der  sehr  einleuchtenden  Behauptung  des  Einflusses  bud- 
dhistischer Spekulation  auf  die  Vedäntalehre  treffen  la  Vallee 
Poussin  und  Walleser  zusammen.^ 

Die  Geschichte  des  Buddhismus  in  Zentralasien  zu  verfolgen, 
liegt  außerhalb  der  Grenzen  dieses  Berichts  und  meiner  persön- 
lichen Kompetenz.  Dagegen  sei  auf  die  im  wesentlichen  von 
Haraprasäd  Shästri  angeregten  Bemühungen  hingewiesen,  den  Bud- 
dhismus in  Bengalen  und  Orissa  bis  in  die  Neuzeit  zu  verfolgen.®  — 

^  E.  R.  Ayrton  The  Date  of  Buddhadäsa  of  Ceylon  from  a  Chinese 
source,  JRAS  1911,  1142  ff. 

*  EMnltzachContributionstoSinghaleseChronology, ebendas.  1913,517 ff. 
'  F.  Otto    Schrader    Zur   Bedeutung    der    Namen   Mahäyäna   und 

Hinayäna,  ZDMG  LXIV  341  ff. 

*  Noel  Peri  Ä  propos  de  la  date  de  Vasubandhu,  Bull,  de  l'fic.  fr. 
d'Extr.-Orient  XI  1911,  339  ff.  —  Vgl.  zu  der  Frage  auch  S.  Lävi  Mahä- 
yäna-SüträlarnJcära,  vol.  II  p.  *2. 

^  L.  de  la  Vallee  Poussin  Buddhist  Notes:   Vedänta  and  Buddhism, 
\   JRAS  1910,  129  ff.  —  M.  Walleser  B er  ältere  Vedänta.    Geschichte,  Kritik 
!   und  Lehre,  Heidelb.  1910,  insonderheit  S.  25ff.  —  Vgl.  schon  V.A.  Sukh- 
tankar  WZKM  XXII  1908,  137  f. 

^  Nagendranäth  Vasu  The  Ärchaeological  Survey  of  Mayürabhanja, 
vol.  I.    Publ.  by  the  Mayürabhanja  State  1911  (Einleitung).    Vgl.  Dinesh 


546  H-  Oldenberg 

Der  Aufführung  von  Arbeiten  über  Beziehungen  zwischen  Bud- 
dhismus und  Christentum  schicke  ich  den  Hinweis  auf  eine 
Sammlung  von  Berührungen  des  ersteren  mit  dem  Parsismus 
voran.^  Der  Sammler,  Nariman,  nimmt,  wenn  ich  ihn  recht 
verstehe,  bald  Einfluß  des  Zarathustrismus  auf  den  Buddhis- 
mus, bald  die  entgegengesetzte  Richtung  der  Beeinflussung  an. 

Unter  den  Veröffentlichungen,   die  sich  mit  der  neuerdings 
so  reichlich  diskutierten  Frage  des  buddhistischen  Einflusses  auf 
die  altchristliche  Überlieferung  beschäftigen   (vgl.  den  vorigen 
Bericht  G14  A.  4),  stelle  ich  zwei  wichtige  Aufsätze  von  Garbe 
voran.^    In  überzeugender  Weise  betont  dieser  die  wesentliche 
Verschiedenheit   der   angeblich   buddhistischen  Elemente    in 
den  kanonischen  Evangelien  und  der  wirklich  buddhistischen 
Elemente  in  den  apokryphen   Evangelien.     „Die   Erzählungen 
der  kanonischen  Evangelien,  die  an  buddhistische  Erzählung« 
anklingen,    tragen   nicht   einen    spezifisch    buddhistischen    od« 
überhaupt  spezifisch  indischen  Charakter;   ihre  Entstehung  ig 
auch  ohne  die  Hypothese  indischer  Herkunft  vollkommen  vei 
ständlich.     Wogegen   die    Geschichten   der   apokryphen    Evt 
gehen,  zu  denen  sich  Parallelen  in  der  buddhistischen  Literati 
finden,  die  echten  Züge  der  indischen  Märchenwelt  aufweisen.} 
(Etwas  anders   freilich   derselbe    in   seinem  Buch  „Indien 
das  Christentum '^  1914,  dessen  Besprechung  dem  nächsten  ß« 
rieht  vorbehalten  bleibt.)  So  läßt  Garbe  den  buddhistischen  Einfli 

Chandra  Sen  History  of  Bengäl  Language   and  Liter ature  (Calc.  1911 
S.  403. 

^  Nariman  Quelques  paralleles  entre   le  Bouddhisme  et  le  Parsi 
Revue  de  l'hist.  des  religions,  Bd.  LXV  1912,  79  ff.  (englisch  in  C.  P.  Tiel 
The  Religion  of  the  Iranian  Peoples,   Part  I,  transl.  by  G.  K.  Narims 
Bombay  1912  S.  148  ff.). 

*  Eich.  Garbe  Was  ist  im  Christentum  buddhistischer  Herkunf 
Dentsche  Rundschau  Juli  1910.  —  Buddhistisches  in  der  christlichen 
gende,  ebendas.  Oktober  1911.  —  Beide  Aufsätze  in  englischer  Be£ 
beitung:  Contrihutions  of  Buddhism  to  Christianity,  The  Monist  XXI  5091 
(Chicago,  Oct.  1911).  ~  Vgl.  auch  Garbe  in:  Das  Freie  Wort  Xi  6' 
(Frankf.  a.  M.  Dez.  1911). 


Der  indische  Baddhismus  (1910—1913)  647 

auf  Christliches  erst  bei  den  Apokryphen  anfangen.  „Jedenfalls 
haben  die  verschiedenartigsten  Kräfte  bei  der  Entstehung  des 
Christentums  zusammengewirkt,  aber  der  Buddhismus  war  —  das 
kann  fast  mit  Bestimmtheit  behauptet  werden  —  dabei  nicht  betei- 
ligt." In  der  späteren  Entwicklung  der  christlichen  Traditionen  liegt 
die  Sache  bekanntlich  fraglos  anders:  Garbe  hebt  die  Heiligen- 
legenden des  St.  Eustachius  (Eustathius)  Placidus  und  des  St.Chri- 
stophorus  heraus,  um  für  sie  —  nach  dem  Vorgang  von 
Gaster  und  Speyer  —  Jätakavorbilder  naebzuweisen.  —  Hier 
sei  aucb  die  Arbeit  desselben  Forsebers  erwähnt,  die  in  um- 
gekehrter Richtung  die  Frage  der  Beeinflussung  des  Buddhis- 
mus durch  das  Christentum  zum  Gegenstand  hat.^  Garbe 
wendet  sich  insonderheit  mit  entscheidenden  Gründen  gegen 
die  von  J.  Dahlmann  ausgesprochene  Ansicht,  nach  welcher  in 
der  Gandhärakunst  und  der  Lehre  des  Mahäyäna  christlicher 
Einfluß  zu  erkennen  sei.  Daß  in  späterer  Zeit  christlicher 
Einfluß  im  nördlichen  Buddhismus  Spuren  zurückgelassen  habe, 
ist  Garbe  dagegen  geneigt,  zu  bejahen;  insonderheit  hält  er  für 
wahrscheinlich,  daß  die  allbekannten  Ähnlichkeiten  gewisser 
Äußerlichkeiten  des  lamaistischen  und  des  römisch-katholischen 
Kultus  in  diesem  Sinn  aufzufassen  sind.  —  Zum  gleichen  Er- 
gebnis wie  Garbe  gelangt  Wecker  in  bezug  auf  die  Zurück- 
weisung der  erwähnten  Dahlmannschen  Theorie ;  auch  er  denkt 

;  an  die  Möglichkeit  oder  Wahrscheinlichkeit  katholischer  Ein- 
flüsse auf  den  Lamaismus,  gegen  dessen  Bezeichnung  als  „bud- 
dhistischer Katholizismus"  er  übrigens  protestiert.^  —  Skeptisch 

I  oder  ablehnend  wird  die  Frage  nach  buddhistisch-evangelischen 

I  Beziehungen  auch  von  Lehmann  in  seinem  „Buddhismus"  (vgl. 

\  oben  S.  608),  S.  7 8  ff.,  von  Winternitz  —  doch  mit  wesentlichen 

^  R.  Garbe  Ist  die  Entwicklung  des  Buddhismus  vom  Christentum 
beeinflußt  worden?  Deutsche  Rundschan  April  1912.  Englisch  in  The  Monist 
XXII  leijff.  (Chicago,  Apr.  1912). 

^  0.  Wecker  Christlicher  Einfluß  auf  den  Buddhismus?  Theol.  Quar- 
talschrift Tübingen  XCII  1910,  417 ff.  538 ff.  —  Derselbe  Lamaismus  und 
Katholizismus.    Ein  Vortrag,  Rottenburg  a.  N.  1910. 


648  S-  Oldenberg 

Einscliränkungen  —  in  seiner  oben  (S.  617)  erwähnten  „Buddh. 
Literatur"  S.  277 fi.,  von  la  Vallee  Poussin^  erörtert.  Über 
Fabers  den  gleichen  Gegenstand  behandelnde  Schrift  habe  ich 
schon  an  anderm  Orte  berichtet.^  Auch  ein  älterer,  jetzt  neu- 
gedruckter Aufsatz  L.  von  Schroeders  ist  hier  zu  erwähnen.^ 
Die  bekannte  und  vortreffliche  Darstellung  des  entgegengesetzten 
Standpunkts  von  van  den  Bergh  van  Eysinga"^  ist  in  einer 
neuen,  etwas  erweiterten  Auflage  erschienen.  —  Mit  großem 
Nachdruck  vertritt  nach  wie  vor  Edmunds^  die  Annahme  bud- 
dhistischer Einflüsse  auf  den  Westen  und  insonderheit  auf  die 
christliche  Überlieferung.  Er  hofft,  daß  Sir  Aurel  Stein  die 
indische  Regierung  bestimmen  wird,  durch  ihren  Einfluß  beim 
Emir  von  Afghanistan  die  Entdeckung  eines  Sütras  in  griechischer 
Sprache  und  des  buddhistischen  Originals  der  Yersuchungsge- 
schichte  bei  Lukas  zu  ermöglichen.  Auch  W.  H.  Schoff^  ist 
hier  zu  nennen.  —  Von  dem  Hauptproblem  dieses  Gebiets  ab- 
liegend möge  hier,  obwohl  nicht  Indisches,  sondern  Zentral- 
asiatisches dabei  in  Betracht  kommt,  ein  Aufsatz  von  P.  Carus 
erwähnt  werden.^  Er  beschäftigt  sich  mit  vier  Fresken,  die 
Grünwedel  in  Qyzyl  nahe  bei  Kutcha  entdeckt  hat.  Ihr  Gegen- 
stand ist  die  wunderbare  Heilung  des  kranken  Königs  Ajätasatru 
durch  den  Anblick  von  Malereien,   welche  Hauptmomente  aus 

^  L.  de  la  Vallee  Poussin  L'Histoire  des  Beligions  de  l'Inde  et 
VÄpologetique.  Revue  des  Sc.  Philos.  et  The'ol.  VI  1912,  490 ff.  Auch 
separat,  London  1912. 

'  Gr.  Faber  Buddhistische  und  neutestamenüiche  Erzählungen.  Das 
Problem  ihrer  gegenseit.  Beeinflussung.  (Untersuchungen  z.  Neuen  Test. 
4.  Heft.)     Leipzig  1913.     Vgl.  Theol  Lit.  Zeitung  1914  Sp.  4. 

^  L.  von  Schroeder  Buddhismus  und  Christentum.  In:  Reden  und 
Aufsätze  (Leipz.  1913)  85  ff. 

*  G.  A.  van  den  Bergh  van  Eysinga  Indische  Einflüsse  auf  Evan- 
gelische Erzählungen.     2.  verbess.  Aufl.     Göttingen  1909. 

">  The  Open  Court  XXV  (Chicago  1911),  257 ff.;  XXVI  1912,  61  f.  The 
Monist  XXII  1912,  129  ff.  633  ff  636  f. 

«  The  Monist  XXII  1912,  138  ff.  637  f. 

^  P.  Carus  A  Buddhist  Veronica,  The  Open  Court  XXV  650  ff. 
(Chicago  1911). 


Der  indische  Buddhismus  (1910—1913)  649 

dem  Leben  des  Buddha  darstellen.  Carus  vergleicht  die  Er- 
zählungen vom  Tuch  der  Veronika,  ohne  doch  hier  geschicht- 
lichen Zusammenhang  zwischen  christlicher  und  buddhistischer 
Legende  anzunehmen.  — 

Von  der  denBuddhismus  berührenden  inschriftlichen  Literatur, 
den  Publikationen  namentlich  in  der  Epigraphia  Lidica  —  für 
die  speziellen  Verhältnisse  von  Ceylon  ist  die  Epigraphia  Zeyla- 
nica  zu  nennen  — ,  den  epigraphischen  Diskussionen  namentlich 
im  Journal  of  the  Royal  Asiatic  Society  (London)  kann  hier 
nur  Wichtigeres  hervorgehoben  werden.  Insonderheit  das  rein 
Sprachgeschichtliche  —  wie  die  Forschungen  Michelsons  über 
die  Dialekte  der  Asokainschriften   —  muß   ich  beiseite  lassen. 

Zuvörderst  ist  hier  der  auch  vom  Standpunkt  buddhistischer 
Forschungen  besonders  zu  begrüßenden  Fertigstellung  der 
Lüdersschen  Liste  der  älteren  in  Brähmischrift  geschriebenen  In- 
schriften (mit  Ausschluß  derer  Asokas,  in  geographischer  Ord- 
nung) zu  gedenken.^  Sie  ergänzt  die  Listen  Kielhorns,  welche 
die  jüngeren  Inschriften  geben  (Epigr.  Indica  Voll.  V.  VII),  in 
erwünschtester  Weise.  Im  Unterschied  von  jenen  ist  versucht 
worden,  die  Bibliographie  jeder  Inschrift  vollständig  zu  geben. 

Unter  den  Inschriften  Asokas  hat  namentlich'  die  Gruppe 
derer  von  Sahasräm,  Rüpnäth  usw.  das  Interesse  der  Forschung 
auf  sich  gezogen:  jene  Äußerungen  des  Königs  über  sein  Ver- 
hältnis zur  buddhistischen  Gemeinde,  denen  nach  früher  weit- 
verbreiteter Ansicht  eine  chronologische  Angabe  —  welche  dann  in 
der  Tat  die  höchste  Wichtigkeit  besessen  hätte  —  über  die 
Zahl  der  seit  Buddhas  Nirväna  verflossenen  Jahre  beigefügt 
wäre.  Mit  evidentem  Recht  haben  jetzt,  voneinander  unab- 
hängig, F.  W.  Thomas  und  Sylvain  Levi  an  der  hierfür  ent- 
scheidenden Stelle  das  Wort  läti  (gleich  skt.  rätri)  „Nacht" 
erkannt.     Der  König   spricht  nicht   von  256  Jahren  seit  dem 

^  H.  Lüders  Ä  List  of  Brähml  Inscriptions  from  the  earliest  times  to 
about  A.  B.  400,  with  the  exception  of  those  of  Asoka.  Epigr.  Ind.  vol.  X. 
Calc.  1912. 


650 


H.  Oldenberg 


Nirväna,  sondern  von  256  Nächten,  die  er  auf  Reisen  zuge- 
bracht hat.^  —  Über  das  Rüpnätli-Edikt  zusammen  mit  der» 
Säuleninschrift  von  Särnätli,  sodann  über  das  Säncbi-Ediktj 
spricht  Hultzsch.^  —  Mit  der  Inschrift  von  Bhabra,  vrelche  be- 
kanntlich eine  Anzahl  von  kanonischen  Texten  nennt,  beschäftigt] 
sich  Dharmananda  Kosambi.^  —  D.  R.  Bhandarkar*  will 
4.  Felsenedikt  Asokas  die  dort  erwähnten  vimäna  mit  denen  desj 
buddhistischen  Textes  Yimänavatthu  verbinden  und  in  dem! 
hatthi  jener  Inschrift  den  Weißen  Elefanten  d.  h.  Buddha  sehen.| 

Die  Inschrift   des  Reliquiengefäßes  von   Piprävä  behandeli 
K.  E.  Neumann'^;   die   des  Reliquienbehälters    von  Bhattiproli 
Luders.^     Die  Kharosthiinschrift  des  jetzt  im  British  Museui 
befindlichen  Gefäßes  von  Wardak  (Afghanistan)  erläutert  Par- 
giter.''     Über    eine    Inschrift  von  Kasiä,  welche   den   Ort  voi 
Buddhas  Tod  bestimmen  hilft,  s.  unten  S.  654  Anm.  3. 

Dem  epigraphischen  Gebiet  darf  die  Fülle  der  Arbeiten  zuge- 
rechnet werden,   die  auf  die  Chronologie  des  Königs  KaniskaJ 
auf  die  Aera,  nach  welcher  dieser  und  seine  Nachfolger  datierei 
Bezug  haben.     Bei  der  bedeutenden  Stellung,  die  dieser  Köni| 
in  der  Geschichte  des  Buddhismus  einnimmt,  insonderheit  aucl 
bei    der   chronologischen   Verbindung,   die    zwischen  ihm   undj 
Asvaghosa  besteht,  kann  eine  Berichterstattung  über  die  buddhi- 
stische Forschung  der  letzten  Jahre   an  den  Erörterungen,  di( 
hierüber  stattgefunden  haben,  nicht  vorübergehen. 

Während   früher   die   überwiegende  Neigung   der   Forschei 

1  F.  W.  Thomas  Journ.  as.  1910,  I  507;  JBÄ8  1912,  477  ff.  —  S.  L6\ 
Journ.  as.  1911,  I  119  ff.  —  Hultzsch  JBAS  1910,  142  ff.,  1308  ff.;  1911J 
1114  ff.  — Fleet  ebendas.  1910,  146  ff.  1301  ff.;  1911,  1091  ff.;  1913,  656 ff. 
T.  K.  Laddu  ebendas.  1911,  1117  ff.  —  D,  R.  Bhandarkar  Ind.  Antiquar 
1912,  170  ff.  —  K.  E.  Neumann  Die  Beden  Gotamo  Buddhos  aus  d.  längere 
Sammlung  II  227  (vgl.  auch  denselben  ZDMG  67,  346). 

=*  JBAS  1912,  1053  ff.  —  1911,  167  ff.         «  Ind.  Antiquary  1912,  37 

"  Ebendas.  1913,  25  f.         ^  a.  a.  0.  250  f. 

^  H.  Lüders  Epigraphische  Beiträge,  Sitz.-Ber.  der  Kgl.  Pr.  Akad.  de^ 
WisB.  1912,  806  ff. 

'  F.  E.  Pargiter  J72J.Ä  1912,  1060 ff.;  Indian  Antiquary  XI 1912,  202 


Der  indische  Buddhismus  (1910—1913)  651 

dahin  gegangen  war,  die  Aera  des  Kaniska  sei  es  mit  der  Saka- 
Aera  (78  n.  Chr.)  zu  identifizieren,  sei  es  doch  in  deren  un- 
gefähre Nähe  zu  rücken,  hatten  sich  neuerdings  Stimmen  er- 
hoben, die  vielmehr  die  Yikrama-Aera  (57  v.  Chr.)  befürworte- 
ten. So  urteilte  vor  allem  Fleet,  mit  welchem  von  anderer 
Seite  her  der  Sinolog  0.  Franke  (Zur  Kenntnis  der  Türkvölker 
und  Skythen  Zentralasiens.  Abh.  Berl.  Akad.  1904,  90  0".)  zu- 
sammentraf. Eine  Äußerung  von  Lüders  (in  seinem  oben  S.  639 
verzeichneten  Werk  ^Bruchstücke  buddhistischer  Dramen'  S.  11) 
bewegte  sich  in  derselben  Richtung.  Mit  der  so  versuchten 
Umlegung  der  Kaniska- Aera  hing  die  Umstellung  mehrerer 
Könige  in  der  zeitlichen  Umgebung  des  Kaniska  gegenüber 
der  bisher  angenommenen  Reihenfolge  zusammen.  Ohne  diese 
Umstellung  stieß  die  Kombination  Kaniskas  mit  der  Yikrama- 
Aera  auf  unüberwindliche  Hindernisse. 

Diese  Lage,  in  welcher  das  Problem  sich  befand,  gab  mir^ 
Veranlassung,  dasselbe  erneuter  Prüfung  zu  unterwerfen,  die 
sich  naturgemäß  teils  auf  epigraphischem,  numismatischem,  paläo- 
graphischem  Gebiet  zu  bewegen  hatte,  teils  die  auf  die  be- 
treffende Königsreihe  bezüglichen  Angaben  der  chinesischen  Über- 
lieferung (Annalen  der  späteren  Han-Dynastie,  s. Franke  a.a.O. 66; 
Chavannes,  T'oung  Pao  1907,  189  ff.)  ins  Auge  fassen  mußte. 
Mein  Ergebnis  war,  daß  die  Vikrama-Aera  für  Kaniska  ausge- 
schlossen, die  Saka-Aera  möglich  ist:  doch  erschien  es  mir  als 
glaublicher,  daß  die  Aera  Kaniskas  in  Wahrheit  vielmehr  etwas 
später  als  die  letztere  anzusetzen  ist.  Bezieht  sich  eine 
chinesische  Angabe  über  einen  230  n.  Chr.  in  Indien  regieren- 
den König  Po-t'iao  auf  den  in  Inschriften  vielgenannten,  der 
Kaniskareihe  zugehörigen  Yäsudeva,  so  würde  die  Aera  Kanis- 
kas in  die  Zeit  um  130 — 150  n.Chr.  herabgerückt  werden:  etwas 
weiter  nach  unten,  als  man  im  übrigen  wahrscheinlich  finden  wird. 

^  H.  Oldenberg  Zwei  Aufsätze  zur  altindischen  Chronologie  und  Lite- 
raturgeschichte. 1.  Zur  Frage  nach  der  Aera  des  Kaniska,  NGGW  1911, 
427  ff. 


652  H.Oldenberg 

Nicht  lange  nach  dem  Erscheinen  dieser  Arbeit  versuchte, 
zunächst  ohne  von  jener  Kenntnis  zu  haben,  J.  Kennedy^  in 
einer  ausführlichen  Untersuchung  seinerseits,  im  Einklang  mit 
Fleet,  zu  begründen  that  Kanishka  lived  in  58  B.C.;  that  he 
must  have  lived  then;  and  that  he  cannot  have  lived  at  any 
other  time.  Unter  den  Erwägungen,  die  er  anstellt,  hehe  ich 
die  handelsgeschichtlichen  und  währungsgeschichtlichen  hervor: 
The  ahundance  of  gold  (welches  Kaniska  prägte)  must  be  ascrih- 
ed  to  a  sudden  and  great  revölution  in  trade.  Stich  a  revolution 
toök  place  at  the  commencement  of  the  first  Century  B.  C,  when, 
for  the  first  time  in  the  annals  of  the  world,  the  trade  of  China 
made  its  way  to  the  West.  —  TJie  hisiory  of  the  siTk  trade  is 
the  hey  to  the  coinage  of  Kaniska. 

Die  Untersuchungen  Kennedys  führten  erneute,  sehr  viel- 
seitige und  eingehende  Diskussionen  in  einer  Sitzung  der  ß. 
Asiatic  Society  herbei,  die  durch  F.  W.  Thomas  eingeleitet, 
von  einer  Reihe  anderer  Gelehrter  weitergeführt  wurden.^  Mir 
scheint  im  Lauf  dieser  Erörterungen  das  Problem  insonderheit 
auf  der  einen  Seite  durch  Rapson  geklärt  worden  zu  sein, 
welcher  hervorragende  Numismatiker  in  kurzen,  aber  höchst 
überzeugenden  Bemerkungen  jene  Umstellung  münzprägender 
Könige,  die  von  den  Anhängern  der  Vikramahypothese  vorge- 
nommen wird,  in  genauer  Übereinstimmung  mit  den  Ergeb- 
nissen, zu  denen  ich  gelangt  war,  als  unmöglich  zurückwies. 
Auf  der  andern  Seite  hebe  ich  die  vielseitigen  und  sehr  klaren 
Darlegungen  von  Thomas  hervor,  der  alle  für  die  Sache  un- 
wesentlichen Verirrungen  der  Untersuchung  in  Seitenrichtungen 

1  J.Kennedy  The  secret  of  Kanishka,  JRAS  1912,  665 flF.  981  ff.  Vgl. 
auch  denselben,  ebendas.  1913,  369  ff. 

*  F.  W.  Thomas  The  date  of  Kaniska,  Journ.  R.  Ab.  Soc.  1913,  627  ff. 
—  The  date  of  Kaniska,  Diseussion:  Prof. Rapson,  Dr.  J. F. Fleet,  J.Kennedy, 
Vinc.  Smith,  Dr.  L.  D.  Barnett,  Lieut.-Colonel  Waddell,  M.  Longworth  Dames, 
Dr.  Hoey,  Dr.  Thomas.  Ebendas  S.  911  ff.  —  Hier  weise  ich  auch  auf  den 
Aufsatz  von  Fleet  hin  The  Saka  Era\  ebendas.  1910,  818 ff.,  sowie  auf 
Th.  W.  Kingsmill  The  Vikramäditya  Samvatsara  and  the  Founding  of  the 
Kushan  Kingdom,  Journ.  As.  Soc.  Bengal  1911,  721  ff. 


Der  indische  Buddhismus  (1910—1913)  653 

abschneidend  zu  dem  Ergebnis  gelangte,  daß  Kaniskas  Aera 
auf  78  n.  Chr.  oder  in  some  near  proximity,  say  in  A,  D.  70 
or  80  anzusetzen  sei.  In  Wahrheit  glaubt  der  genannte  For- 
scher offenbar  eben  an  das  Jahr  78.  Vielleicht  wird  man 
gegen  diese  Zuspitzung  seines  Resultats  Bedenken  behalten 
und  auch  die  Grenzen  der  Möglichkeit  etwas  weiter  ziehen, 
als  er  es  in  den  eben  angeführten  Worten  tut.  Doch  der 
Hauptsache  nach  kann  ich  in  der  Zurückweisung  der  Yikrama- 
Aera  und  der  Fixierung  der  Zeit  Kaniskas  in  der  ungefähren 
chronologischen   Region,  auf  die  meine  Untersuchung   geführt 

I  hatte,   mich    der    Übereinstimmung    mit   Thomas   nur   freuen. 

I  Weitere  Bestätigung  und  Präzisierung  darf  vom  Fortschritt  der 
archäologischen  Untersuchungen  erhofft  werden :  in  dieser  Hin- 
sicht können  schon  die  kurzen  Bemerkungen  von  Thomas 
JRAS  1913,  1042  A.  1,  die  auf  Mitteilungen  des  Director- 
General  of  Archaeologj  für  Indien,  Mr.  Marshall  beruhen,  einen 
Vorschmack  des  zu  Erwartenden  geben.  Nicht  überzeugt  kann 
ich  mich  freilich  bekennen,  wenn  Luders^  —  im  Gegensatz  zu 
seiner  früheren  Ansicht  (s.  oben  S.  651)  —  jetzt  der  Inschrift 

'  von  Ära  im  Museum  zu  Labore  die  urkundliche  Bestätigung 
dafür  entnehmen  zu  können  meint,  daß  die  Kaniska-Königsreihe 
nicht  in  die  vorchristliche  Zeit  gesetzt  werden  könne.  Dort 
werde  dem  Kaniska  —  oder  besser  einem  Kaniska,  der  sich  von 
dem  großen  König  dieses  Namens  zu  unterscheiden  scheint; 
als  Datum  wird  41  offenbar  der  Kaniska- Aera  angegeben  — 
der  Titel  Kaisara  (Caesar)  beigelegt.  Ich  habe  den  Stein 
selbst  sorgfältig  und  in  günstigster  Beleuchtung  untersucht;  mir 
scheint  die  in  Frage  kommende  Stelle  allzu  hoffnungslos  zerstört, 
als  daß  wir  zur  Lesung  Kaisara  und  den  wichtigen  damit  zusammen- 
hängenden Schlußfolgerungen  Zuversicht  haben  könnten.^  — 

^  H.  Lüders  Epigraphische  Beiträge  II;  Sitz.-Ber.  d.  K.  Preuß.  Akad.  d. 
Wiss.  1912,  824  ff.  (Berlin  1912). 

'  Ich  führe  hier  zwei  an  den  erwähnten  Artikel  von  Lüders  an- 
knüpfende Aufsätze  an:  Fleet  The  question  of  Kanishka,  JRAS  1913,  95 ff.; 
Kennedy  Kanishka's  GreeJc,  ebendas.  121  ff. 


654  H.  Oldenberg 

Die  Gewinnung  neuen  archäologischen  Materials  und  die 
Verarbeitung  des  schon  bekannten  hat  auch  in  diesen  Jahren 
energische  Fortschritte  gemacht.  Ich  hebe  hervor  die  glänzenden 
Reports  des  Archaeological  Survey^  und  die  kürzeren,  den 
Reports  vorauseilenden  Berichte,  welche  die  Leiter  des  Survey 
im  Journal  of  the  R.  Asiatic  Society  (London)  erscheinen 
lassen.^  Unter  den  erreichten  Erfolgen  ist  die  Sicherung  der 
bestrittenen  Identifizierung  von  Saheth-Maheth  mit  Srävasti  und 
dem  Jetavana,  dem  Lieblingsaufenthalt  des  Buddha,  hervorzu- 
heben; nicht  minder  die  wohl  definitive  Feststellung  der  Lage 
von  Buddhas  Todesort  (Kusinärä  d.  i.  Kasiä  im  Gorakhpur 
District).^  Sodann  der  Fortschritt  der  Arbeiten  in  Särnäth  (bei 
Benares)  an  der  Stelle  von  Buddhas  erster  Predigt,  in  Basarh 
(Muzaffarpur  District),  der  Stätte  des  alten  Yesäli,  und  die  so 
erfolgreichen  Ausgrabungen  in  Shäh-ji-ki-Dheri :  der  eingehende 
Bericht  Spooners  (Annual  Rep.  1908 — 09,  38  ff.)  über  den  dort 
aufgedeckten  Stüpa  Kaniskas  mit  jenem  Reliquiengefäß,  das 
die  Figur  des  Königs  selbst  trägt  (vgl.  meinen  vorigen  Bericht 
S.  604),  liegt  jetzt  vor.  Für  die  Zukunft  wird  man  größte 
Hoffnungen  auf  die  jetzt  in  Angriff  genommenen,  von  demselben 
Forscher  geleiteten  Ausgrabungen  an  der  Stelle  des  alten  Pätali- 
putra  setzen  dürfen.  Hier  mögen  auch  die  mehrfach  das 
Gebiet  buddhistischer  Forschungen  berührenden  Untersuchungen 
im  Staate  Mayürabhanja  (Orissa)  erwähnt  werden.^  —  Als 
außerhalb   meiner  Aufgabe   liegend    sehe   ich   es   an,   von   den 

^  Mir  ißt  bekannt  geworden :  Archaeological  Survey  of  India,  Annual 
Report  1907—08  (Calc.  1911),  1908—09  (Calc.  1912).  —  Annual  Report  of 
the  Arch.  Survey  of  India,  Eastern  Circle,  for  1911—12  (Calc.  1912).  — 
Annual  Report  of  the  Arch.  Survey  of  India,  Frontier  Circle,  for  1911— J 2 
(Peshawar  1912). 

*  J.  H.  Marßhall  Archaeological  Exploration  in  India  1909 — 10 
JRAS  1911,  127  ff.  —  J.  Ph.  Vogel  Archaeological  Exploration  in  India 
1910-^11,  das.  1912,  113  ff. 

^  Ygl.  dazu  noch  besonders  Pargiter  A  Copperplate  discovered  at 
Kasia,  and  Buddha' s  Death-place,  JRAS  1913,  151  ff. 

^  Siehe  die  Anführung  oben  S.  645  A.  6. 


Der  indische  Buddhismus  (1910—1913)  655 


glänzenden  archäologischen  Ergebnissen  der  zentralasiatischen 
Expeditionen  zu  sprechen,  in  denen  die  großen  Nationen  einen 
so  erfolgreichen  Wetteifer  entwickeln;  ebenso  von  den  hinter- 
indischen Funden,  über  die  namentlich  von  französischer  Seite, 
im  Bulletin  de  la  Commission  archeologique  de  l'Indochine, 
reichhaltigste  Mitteilungen  vorliegen.  — 

Wenn  nun  weiter  über  die  Durcharbeitung  der  archäolo- 
gischen Materialien  zu  berichten  ist,  sind  zwei  umfassende  Werke 
voranzustellen.  Zuvörderst  die  erste  große  Gesamtdarstellung 
der  Geschichte  der  indischen  bildenden  Kunst,  die  wir  V.  Smith 
verdanken.^  Die  hier  vollzogene  Vereinigung  der  ungeheuren 
zerstreuten  Materialienmassen,  auch  die  Fülle  von  Illustrationen, 
macht  das  Buch  zu  einem  überaus  nützlichen  Hilfsmittel  für 
die  Beschäftigung  mit  der  buddhistischen  Kunst  und  daher  mit 
dem  Buddhismus  überhaupt.  Sodann  ist  mit  Freude  zu  er- 
wähnen, daß  das  Werk  Fergussons,  welches  unser  Wissen  von 
indischer  Architektur  begründet  und  durch  eine  Reihe  von  Jahr- 
zehnten die  führende  Stellung  auf  diesem  Gebiet  behauptet  hat, 
in  der  notwendigen  Neubearbeitung  erschienen  ist*:  auch  dies 
eine  wichtige  Förderung  buddhistischer  Studien.  —  Hier  ist 
sodann  der  wichtigen  Arbeit  Laufers  zu  gedenken,  der  sich 
mit  einigen  im  Tanjur  (Bd.  123  der  Sütra)  in  tibetischer  Über- 
setzung erhaltenen  kunstwissenschaftlichen  Texten  beschäftigt; 
die  Sanskrit- Originale  scheinen  verloren.  Zwei  dieser  Werke 
geben  sich  schon  durch  ihren  Titel  als  buddhistisch:  ^Über  das 
Wesen  der  plastischen  Darstellung  Buddhas'  und  'Von  dem 
Sambuddha  verkündeter  Kommentar  über  die  Größen verhält- 
j  nisse  der  (Buddha-)Statue'.    Diese  beiden  und  eine  Theorie  der 

! 

!  *  Yincent  A.  Smith  A  History  of  Fine  Art  in  India  and  Ceylon  front 

j  the  earliest  times  to  the  present  day,  Oxford  1911.  Vgl.  meinen  eingehenden 

!  Bericht    Internat.  Monatsschrift  für  Wissenschaft,   Kmist  und    Technik 

j  1912,  817  ff. 

'  J.  Fergusson  History  of  Indian  and  Eastern  Architecture.   Revised 

;  and  edited  with  additions:  Indian  Arch,  by  J.  Burgess,  Eastern  Arch.  by 

R.  Phene  Spiers,  London  1910. 


656  H-  Oldenberg 

Größenverhältnisse  der  Statuen'  gedenkt  Laufer  später  zu  edieren 
und  zu  übersetzen.  Für  jetzt  legt  er  Text  und  Übersetzung 
einer  'Theorie  der  Malerei'  vor,  die  zwar  keine  Spuren  von 
speziell  Buddhistiscliem  enthält,  doch  ihrer  Provenienz  wegen 
hier  zu  erwähnen  ist.^ 

Foucher^  beschäftigt  sich  mit  den  Anfängen  der  buddhistischen 
Kunst,  insonderheit  mit  dem  in  die  Augen  fallenden  Phänomen, 
daß  in  der  Zeit,  welche  den  griechischen  Einflüssen  vorangeht, 
die  Gestalt  des  Buddha  selbst  in  den  künstlerisch  dargestellten 
Szenen  durchweg  fortgelassen,  höchstens  durch  ein  Symbol  an- 
gedeutet ist.  Foucher  findet  die  naheliegende  Erklärung  un- 
befriedigend, daß  die  Künstler  hier  durch  religiöse  Scheu  oder 
durch  das  Gefühl,  einer  in  so  grenzenlose  Höhen  hinauf- 
führenden Aufgabe  nicht  gewachsen  zu  sein,  zurückgehalten 
worden  seien.  Die  Künstler,  sagt  er  seinerseits,  taten  eben  nicht, 
was  die  Gewohnheit  nicht  zu  tun  gebot.  Die  Gewohnheit  aber 
bildete  sich  im  Zusammenhang  der  kultischen  Gebräuche  aus. 
Zu  diesen  gehörten  Pilgerfahrten  zu  den  heiligen  Stätten  des 
Glaubens.  Wenn  die  Kunst  sich  bemühte,  den  Pilgern  kleine 
Erinnerungszeichen  an  das,  was  sie  dort  gesehen,  zu  liefern, 
so  boten  sich  die  Bilder  des  heiligen  Baumes,  des  Rades,  des 
Stüpa  von  selbst  dar.  Indem  diese  als  schematische  Dar- 
stellungen der  entscheidenden  Ereignisse  aus  dem  Leben  des 
Buddha  aufgefaßt  wurden,  war  damit  der  Ausgangspunkt  für 
die  Praxis  der  alten  Kunst  de  representer  la  vie  du  Bouddha  sans 
le  Bouddha  gegeben.  Den  Zweifel,  den  mir  hier  die  Darlegungen 
des  Meisters  auf  diesem  Forschungsgebiet  lassen,  den  Glauben, 
daß  die  von  ihm  abgelehnten  Motive  jener  künstlerischen  Praxis 
doch  in  Wahrheit  nicht  unwirksam  gewesen  sind  (schon  er  selbst 
hat  auf  Divyävadäna  p.  547  verwiesen),  kann  ich  hier  nur  andeuten. 


^  Bertb  Laufer  Dokumente  der  indischen  Kumt.  1.  Heft  Malerei. 
Das  Citralaksbana  nach  dem  tibet.  Tanjur  herausgegeben  und  übersetzt, 
Leipzig  1913. 

*  A.  Foucher  Les  debuts  de  Vart  houddhique,  Journ.  as.  1911,  I  65  ff. 


fc 


Der  indische  Buddhismus  (19 10-- 191 3)  657 


Die  Säulen  Asokas  und  ihren  Skulpturenschmuck  bespricht 
Y.  Smith.^  —  Foucher^  erläutert  die  Skulpturen  des  östlichen 
Tores  von  Sänchi.  —  Hultzsch^  identifiziert  Szenen  aus  einigen 
Jätakas  (Nr.  528,  516,  539)  auf  den  Skulpturen  von  Bharhut. 

Wenden  wir  uns  zur  gräkoindischen  Kunst,  so  ist  zuvörderst 
zu  bemerken,  daß  in  den  oben  (S.  650  ff.)  besprochenen  Diskussionen 
über  die  Kaniskafrage  auch  die  Chronologie  jener  Kunst  mehr- 
fach berührt  worden  ist.  Es  scheint  erfreulicherweise,  daß  von 
dem  großen  Werk  Fouchers,  welches  auf  diesem  Gebiet  die 
Grundlagen  unserer  Kenntnis  legt  (L'art  greco-bouddhique),  der 
zweite,  abschließende  Band  nicht  mehr  lange  auf  sich  warten 
lassen  wird.  Einstweilen  hat  Foucher  einen  Vorläufer  voraus- 
geschickt in  Gestalt  eines  Vortrags,  in  dem  er  den  griechischen 
Ursprung  des  Buddhabildes  in  der  ihm  eigenen  tiefdringenden 
und  reizvollen  Weise  behandelt.*  —  Eine  andre  Untersuchung 
desselben  Forschers  hat  zwar  keinen  sehr  wesentlichen  Bezug 
auf  den  Buddhismus^,  aber  sie  geht  doch  die  mit  diesem  eng 
verbundene  gräkoindische  Kunst  auf  das  erheblichste  an  und 
mag  darum  hier  erwähnt  werden.^  Foucher  stellt  gräkoindische 
Figuren  des  Schutzgottheitenpaares  Päncika-Häriti  ähnlichen 
Gruppen  aus  dem  römischen  Gallien  gegenüber.  Die  sehr  aus- 
gesprochene Ähnlichkeit  erklärt  sich:  Vati  du  Gandhära  a  emprunte 
sa  technique  ä  Vart  hellenistique:  il  ne  se  peut  donc  pas  qu'il  rüait 
plus  d'un  trait  commun  avec  Vart  greco-romain  et,  par  voie  de 
consequence,  avec  Vart  gallo -romain.  Die  Entwicklung  der  Häriti- 
Darstellungen,  ihren  Weg  von  der  gräkoindischen  Kunst  durch 


^  Yinc.  A.  Smith  The  MonoUihic  Pillars  or  Columns  of  AsoJca^ 
ZDMG  LXV  221  ff.  (1911). 

2  A.  Foucher  La  Porte  Orientale  du  Stüpa  de  Sdnchi  (Bibl.  de  vul- 
garisation  du  Musee  Guimet,  t.  XXXIV),  Paris  1910. 

2  E.  Hultzsch  Jätakas  at  Bharaut,  JRAS  1912,  399  ff. 

*  A.  Foucher  L'origine  grecque  de  Vimage  du  Bouddha  (Bibl.  de  vulg. 
du  Musee  Guimet,  t.  XXXVIII),  Chalon-sur-Saone  1913. 

^  A.  Foucher  Le  Couple  Tutelaire  dans  la  Gaule  et  dans  Vlnde^  Rev. 
archeol.  1912,  II  341  ff. 

Aichiv  f.  Keligions Wissenschaft  XVII  42 


658  H.Oldenberg 

das  zentrale  und  östliche  Asien  hatte  Foucher  schon  vorher  in 
einer  eignen  Publikation  mit  schönen  Tafeln  verfolgt.^  — 

Über  die  Versuche,  den  Buddhismus  zu  einer  herrschenden 
Macht  im  Leben  auch  der  westlichen  Welt  zu  erheben  (vgl.  das 
schon  oben  S.  610  Gesagte),  habe  ich  nicht  vor  eingehender  zu 
berichten.  Nur  wenige  Anführungen  von  Veröffentlichungen, 
die  mir  eben  ungesucht  zur  Hand  sind,  seien  hier  gestattet. 
Partei  für  oder  wider  zu  nehmen,  sehe  ich  nicht  als  meine 
Aufgabe  an. 

Über  den  Buddhismus  in  Europa,  die  Bestrebungen  der 
Buddhist  Society  of  Great  Britain  and  Ireland  und  die  ver- 
wandten Erscheinungen  in  Deutschland  —  so  die  Deutsche  Päli- 
Gesellschaft  in  Breslau  — ,  in  der  Schweiz,  Italien,  Ungarn  be- 
richtete der  früh  verstorbene  Pfungst^;  auch  De  Lorenzo  (s.  das 
S.  609  angeführte  Werk,  452 ff.)  sowie  die  Enzyklopädie 'Religion 
in  Geschichte  und  Gegenwart'  unter  ^Neubuddhismus';  nament- 
lich über  die  Breslauer  Bestrebungen  Th.  von  Scheffer  .^  Auf 
kürzestem  Raum  eine  Anschauung  vom  Wesen  dieser  Bestrebungen 
gibt  der  Katechismus,  den  ich  unten  anführe.*  Ich  hebe  als 
Probe  die  23.  Frage  und  Antwort  heraus:  „Welches  ist  das  Ver- 
dienst des  Buddho,  und  weshalb  verehren  wir  ihn?  —  Der  Buddho 
ist  der  Erste  und  Einzige  gewesen,  der  die  wahren  Gesetze  über 
das  Dasein  aufgefunden  und  sie  uns  gelehrt  hat.  Seine  Lehre 
bringt  allen  Wesen  den  Frieden  und  die  Erlösung."  Eine  pole- 
misch gehaltene  Schilderung  des  Neo-Buddhismus  gibt  das  S.  613 
angeführte  Buch  von  Speyer  S.  308 ff.;  vom  katholischen  Stand- 


*  A.  Foucher  LaMadone  bouddhique  (Fondation  E.Piot.  Extr.  des  Monu- 
ments et  Memoires  publies  par  TAcad.  des  Inscr.  et  Beiles -Lettres,  XVII), 
Paris  1910. 

2  Dr.  A.  Pfungst  Fortschritte  des  Buddhismus  in  Europa^  Das  Freie 
Wort  X  724  ff.  (Frankf.  a.  M.  1910). 

'  Dr.  Thassilo  von  Scheffer  Neues  vom  Buddhismus,  Xenien  V  252  ff. 
(Leipzig  1912). 

*  W.  Markgraf  Kleiner  Buddh.  Katechismus.  Zum  Gebrauch  für  Eltern 
und  Lehrer,  Breslau  1912, 


Der  indische  Buddhismus  (1910—1913)   .  659 

punkt  aus  die  unten  verzeichnete  Schrift.^  P.  Carus*  schildert, 
zum  Teil  mit  den  eignen  Worten  des  Geschilderten,  die  merk- 
würdige und  verehrungswerte  Gestalt  des  greisen  Dr.  Mazzinia- 
nanda  Svami,  der  in  Ispahan  geboren,  einen  Teil  seines  Lebens 
in  Indien  und  Lhassa  zugebracht,  dann  in  Europa  eine  Reihe 
wissenschaftlicher  Grade  erworben  hat  und  gegenwärtig  in  jugend- 
licher Frische  an  der  Spitze  der  buddhistischen  Mission  in 
Sacramento  steht. 


^  P.  Otto  Maas,  0.  F.  M.  Der  Buddhismus  in  alten  v/nd  neuen  Tagen, 
Hamm  (Westf.)  1913. 

'  P.  Carus  A  Buddhist  Prelate  of  California,  The  Open  Court  XXVI 
65  ff.  (Chicago  1912). 


42* 


III  Mitteilungen  und  Hinweise 


Altchristliches  ^ 

2.  Der  Flußgott  Jordan.  In  meinem  Artikel  „Flußgötter" 
für  die  Neubearbeitung  von  Paulys  Real -Enzyklopädie  d.  klass.  Alter- 
tumswiss.  durch  Georg  Wissowa  habe  ich  (Pauly-Wissowa  VI  2789, 
2  6  ff.)  auch  der  Darstellung  des  Flußgottes  Jordan  gedacht  in  den 
beiden  Kuppelmosaiken  von  S.  Giovanni  in  fönte,  dem  Battistero 
degli  Ortodossi,  und  von  S**  Maria  in  Cosmedin,  dem  Taufhaus  der 
Arianer,  zu  Ravenna,  wo  der  Jordan  beidemal  als  bärtiger  Fluß- 
gott der  Taufe  Christi  beiwohnt.  Das  eine  Mal  steht  er,  inschrift- 
lich bezeichnet  als  „Jordann",  rechts,  etwas  im  Hintergrund,  im 
Wasser,  mit  halbem  Leib  aus  dem  Strom  emporragend,  mit  Kranz 
im  Haar,  nicht  „mit  Schilfstaude  in  den  Händen",  sondern  mit 
beiden  Händen  für  den  Täufling  das  Tuch  zum  Abtrocknen  bereit- 
haltend, also  mit  der  Aufgabe  betraut,  die  vom  sechsten  Jahrhundert 
an  (z.B.  schon  an  der  Cathedra  Maximiani,  s.u.)  auf  Engel  über- 
tragen erscheint,  dermaßen  hilfbereit  der  heiligen  Handlung  zuschauend, 
vgl.  z.  B.  Walter  Goetz  Ravenna  (Berühmte  Kunststätten  Nr.  10)  S.  29f. 
Abb.  20f.  Das  andere  Mal  (vgl.  Goetz  a.  a.  0.  S.  37  Abb.  26  [S.  47f.]) 
sitzt  der  Jordan  zur  Linken  am  Flußufer,  eine  mächtige  Gestalt, 
kompositioneil  dem  Täufer  rechts  entsprechend,  mit  Krebsscheren  als 
originellem  Kopfschmuck,  mit  nacktem  Oberkörper,  um  den  Unter- 
leib einen  grünlichen  Mantel  gehüllt;  den  rechten  Unterarm  an  ein 
Gefäß  lehnend  schultert  er  mit  der  R.  eine  S chilf stände ,  die  L,  hat 
er  erhoben  mit  teilnehmender  Gebärde,  wie  erschreckt,  dazu  Kopf 
und  Oberkörper  etwas  neigend  nach  seiner  Linken  hin.  Josef  Strzy- 
gowski  {Taufe  Christi  S.  15)  erklärt  diese  Bewegung  und  ganze  Haltung 
des  Jordan,  die  scheues  Staunen  ausdrücke,  aus  Ps.  77,  17  („Die 
Wasser  sahen  dich,  o  Gott,  und  ängstigten  sich"),  wozu  Georg  Stuhl- 
fauth  {Die  Engel  in  d.  altchristl.  Kunst  in  Joh.  Fickers  Arch.  Stud. 
z.  Christi.  Altert. u. Mittelalter,  3.  Heft,  Freib.  1897,  S.  191 .  192,  2)bei- 
fügt  Ps.  114,  3.  5  und  zumal  als  „durch  jene  Psalmworte  unmittel- 
bar beeinflußt"  die  ungemein  zutreffende  Stelle  Ephrems  des  Syrers 
{Hymni  in  festum  epipJianiae  XIV  31,  ed  Lamy  t  Icol  124),  der 
den  Täufer  zu  Christus  sagen  läßt  über  die  sich  ängstigenden  Wasser: 
Aquae  viderunt  te  et  valde  tremuerunt;  viderunt  te  aquae  et  con- 
cussae  sunt;  spumat  prae  agitatione  amnis  et  ego  inßrmus  quomodo 

^  S.  in  diesem  Archiv  XVII  360. 


Mitteilungen  und  Hinweise  Qß\ 

tibi  haptismum  conferre  audeam,  vgl.  dazu  auch  Herrn.  Usener  Die 
Sintflutsagen  (Bonn  1899)  S.  235f.  Wenn  dieser  zweite  Jordan, 
mit  dem  andern  verglichen,  etwas  eingebüßt  hat  vom  Charakter 
des  antiken  Gottes  und  an  Unmittelbarkeit  der  Übernahme,  so  ist  da- 
für im  zweiten  Mosaik  Christus  selber  echter,  d.h.  ganz  und  gar  noch 
ein  antiker  Knabe,  vgl.  Goetz  S.  75  Abb.  68.  Auch  in  der  Relief- 
darstellung einer  zu  Konstantinopel  gefundenen  und  daselbst  im  Tschi- 
nili- Kiosk  des  Kaiserl.  ottomanischen  Museums  aufbewahrten  marmor- 
nen Säulentrommel  erkennt  man  noch  die  kleine  Figur  des  Jordan 
aus  den  Resten  zu  Füßen  der  beiden  Engel,  die,  dem  auf  der  rechten 
Seite  befindlichen  Täufer  entsprechend,  links  von  Christus  stehen: 
eine  nackte,  rechtshin  sitzende  Gestalt  ist  es,  die  neben  sich  einen 
Henkelkrug  hat,  dem  das  Wasser  entströmt,  vgl.  Strzygowski  JDie 
althymntin.  Plastik  d.  Blütezeit ^  Byz.  Zeitschr.I  1892,  578 ff.  (583)  z. 
Taf.IIl;  Victor  Schnitze  Ärch.  d.  altchristl  Kunst  S.  331  Fig.  102; 
Stuhlfauth  a.  a.  0.  S.  191.  Das  zu  Anfang  des  fünften  Jahrhunderts 
erbaute  Baptisterium  der  Orthodoxen  zu  Ravenna  erhielt  seinen  Mosaik- 
schmuck unter  Erzbischof  Neon  (449  —  452)^5  gQg^T^  hundert  Jahre 
später  anzusetzen  ist  das  Kuppelbild  von  S**  Maria  in  Cosmedin  u. 
gleichfalls  erst  ins  sechste  Jahrhundert  (nicht  schon  „um  500",  wie 
Strzygowski  annehmen  möchte  a.  a.  0.  S.  584)  das  letztgenannte  Kon- 
stantinopler  Marmon*elief,  vgl.  Stuhlfauth  S.  191  A.  1.  3.  G.  —  Deut- 
lich wiederum  gibt  sich  die  Personifikation  des  Jordan  in  Elfenbein- 
reliefs mit  Taufe  Christi,  einmal  an  der  „Cathedra  Maximiani", 
dem  berühmten  Stuhl  des  heil.  Erzbischofs  Maximian  von  Ravenna 
(545  —  556)^,  z.B.  Goetz  a  a.  0.  S.  102  Abb.  115,  sodann  roher  u. 
unvollständig  in  dem  meines  Wissens  noch  nicht  in  die  Diskussion 

^  449  als  Jahr  der  Wahl  und  der  10.  II.  452  als  Todestag  des  hl.  Erz- 
bischofs Neon  sind  zu  entnehmen  der  Series  episcoporum  des  P.  Pius  Boni- 
facius  Garns  (Regensburg  1873)  S.  717,  vgl.  auch  Wetzer  und  Weite's  Kirchen- 
Zeaj.^X  1897,  825  (s.  Ravenna);  Ernst  Ziegeler  Aus  Ravenna  (Gymnasial- 
Bibl.  27.  Heft,  1897)  S.  68f.;  Goetz  a.  a.  0.  S.  28;  Springer-Neuwirth  Handh. 
d. Kunstgesch.^  S.  55;  Baedeker  06enY.^' (1906)  S.  365  usw.;  dagegen  findet 
man  vielfach  dem  Erzbischof  Neon  die  Amtszeit  des  hl.  Exuperantins 
(425—430)  zugeteilt,  so  bei  Joh.  Rud.  Rahn  Bavenna  (1869)  S.  4f. ;  Jean 
Paul  Richter D*e  Mosaiken  v.  Ravenna  (1878)  S.  9 ;  Stuhlfauth  a.  a.  0.  S.  191, 1 ; 
ebenso  geben  V.  Schultze  a.  a.  0.  S.  205  und  Carl  Maria  Kaufmann  Handh. 
d.  Christi.  Arch.*  (1913)  S.  455  zu  S.  Giovanni  in  fönte  die  Jahrzahl  480 
(statt  450?),  und  425  bietet  Ludwig  v.  Sybel  Christl.Ant.il  331. 

2  „Alle  anderen  Angaben  sind  falsch!"  sagt  Georg  Stuhlfauth  Die 
altchristl.  Elf enleinplastik  (in  Joh.Fickers  Arch.  Stud.  usw.  2.  Heft,  1896) 
S.  87,  1.  Die  gewöhnliche  Datierung  ist  546  —  556,  so  in  der  Se^'ies  epi" 
scoporum  a.  a.  0.;  Wetzer  u  Weite's  Kirchenlex.^  a.  a.  0.  Sp.  826 f.  Kauf- 
mann a.  a.  0.  S.  193  (falsch  S.  542,  wo  546  —  553);  v.  Sybel  a.  a.  0.  II 
255  usw. ;  ein  Schwanken  besteht  zumal  in  der  Ansetzung  des  Todesjahres, 
wofür  bei  J.  P.  Richter  a.  a.  0.  S.  22.  108,  1;  Baedeker  a.  a.  0.  S  366  usw. 
das  Jahr  552. 


QQ2  Mitteilungen  und  Hinweise 

einbezogenen  Bruchstück,  das  Robert  Forrer  in  Straßburg  erworben  und 
Hans  Graeven  pbotographisch  wiedergegeben  bat  in  seiner  Zusammen- 
stellung FrühcJiristl.  u.  mittelalterl.  ElfenheimverTce  in  photograph.  Nach- 
bildung ^  Serie  I:  Aus  Sammlungen  in  England  (Rom  1898)  Taf.  28. 
Für  die  Beschreibung  halten  wir  uns  zunächst  an  die  feinere  Arbeit 
und  vollständige  Darstellung  von  der  Cathedra  Maximiani.  Wir 
sehen  links  den  Täufer,  an  Gottvater  selbst  erinnernd  mit  seinem 
wallenden  Haupthaar  und  Vollbart,  im  härenen  Gewand;  er  legt 
die  Rechte  auf  das  Haupt  seines  jugendlichen  Täuflings,  der  nackt 
im  Wasser  steht,  durchaus  knabenhaft  gebildet,  ein  antiker  Melle- 
phebe  von  edeln  Formen  (wie  in  S**  Maria  in  Cosmedin);  rechts 
im  Hintergrund  halten  zwei  geflügelte  Engel  Tücher  bereit,  in  Demut 
ihre  Köpfchen  neigend;  von  oben  senkt  sich  die  Taube  des  Heiligen 
Geistes  hernieder  in  der  typischen  Wiedergabe.  Aber  nun,  was  er- 
schaut man  denn  außer  Jesus  im  Wasser  des  Jordan,  rechts  unten 
in  den  beiden  Bildern?  An  der  Cathedra  ist  es  eine  männliche, 
jugendlich  unbärtige  Gestalt,  vom  Rücken  gesehen,  den  Kopf  herum- 
drehend, sodaß  er  im  Profil  nach  links  erscheint,  aufblickend  zum 
Täufling.  Das  ist  gewiß  etwas  Profanes,  Heidnisches,  das  sich  er- 
schreckt abwendet,  beziehungsweise  angstvoll  Reißaus  nimmt  mit 
bezeichnender  Gebärde  der  Rechten;  es  ist  der  Flußgott  Jordan, 
doch  möchten  wir  nicht  sagen  mit  Rahn  a.  a.  0.  S.  16  „nach  anti- 
ker Weise  auf  eine  Wasserurne  sich  stützend",  sondern  eher  mit 
Strzygowski  a.a.O.  „wie  er,  sich  mit  der  linken  Hand  auf  eine 
Vase  stützend,  davon  zu  eilen  scheint".  Und  die  ängstliche  Hand- 
bewegung wiederholt  sich  bei  dem  Jordan  des  Fragmentes ,  der  in- 
des nahezu  von  vorn  gegeben  ist,  im  Vordergrund  des  Bildes  vor 
dem  Täufling,  von  diesem  sich  abwendend,  also  gelagert  auf  dem 
Grund  des  Flußbettes.  Eine  gewisse  Entwicklung  veranschaulichen 
diese  verschiedenen  Darstellungen:  immer  mehr  erscheint  der  Jordan 
von  einem  antiken  Flußgott  degradiert  zu  einer  daimonischen  Ge- 
stalt. —  Auch  im  Zusammenhang  mit  der  Himmelfahrt  des  Prophe- 
ten Elias  begegnet  wiederholt  die  Personifikation  des  Jordan.  Viel- 
leicht schon  in  der  Katakombenmalerei,  im  Lünettenbild  des  rechten 
Arkosols  der  IV.  Kammer  im  Coemeterium  Domitillae,  angehö- 
rend der  zweiten  Hälfte  des  vierten  Jahrhunderts,  vgl.  Joseph  Wil- 
pert  Die  KatäkomhengemäJde  u  ihre  alten  Gopten  (1891)  S.  33  zi 
Taf.  XVI  1  (wo  die  vom  vierten  Zeichner  Ciacconios  angefertij 
Kopie  des  Bildes);  derselbe  Die  Malereien  d.KataJc. Borns  (1903] 
Taf.  230,  2.  Auf  der  rechten  Seite  des  Bildes  ist  ein  unbärtiger  Zu^ 
schauer  angebracht  in  der  gegürteten  ärmellosen  Tunika;  was  ex 
auf  dem  Kopf  trägt,  ist  unsicher  (vielleicht  doch  ein  Schilfkranz) j 
die  Rechte  hat  er  erhoben,  auf  die  Rosse  weisend,  am  Vorgang 
Anteil  nehmend,   die  Linke   gesenkt;  den    (zerstörten)  rechten  Ful 


Mitteilungen  und  Hinweise  663 

hatte  er  aufgestützt  auf  einen  Stein.  Während  Wilpert  an  erst- 
zitierter Stelle  der  Deutung  dieser  Figur  auf  Jordan  unbedenklich 
zustimmte,  meint  er  im  großen  Katakombenwerk  S.  418,  6,  als  Jordan 
hätte  der  Künstler  in  herkömmlicher  Weise  einen  bärtigen  nackten 
Mann  in  halbliegender  Stellung  gemalt,  entsprechend  etwa  jenem 
Flußgott,  den  man  als  Tigris  bezeichnet,  auf  dem  Fresko  der  Kata- 
kombe unter  der  Vigna  Massimo  (gleichfalls  aus  der  zweiten  Hälfte 
des  vierten  Jahrhunderts),  Taf.  212  bei  Wilpert.  Aber  was  soll 
denn  die  Figur  anderes  sein,  wenn  nicht  der  Jordan  des  Textes?^ 
Bloß  „der  Symmetrie  wegen"  sollte  sie  der  Maler  beigefügt  haben? 
Jedenfalls  ist  Tatsache,  daß  auch  sonst  in  Darstellungen  der  Himmel- 
fahrt des  Elias,  die  analog  gegeben  wird  wie  der  Raub  der  Perse- 
phone  durch  Hades,  die  Stelle  der  etwa  beim  Raub  der  Persephone 
unter  dem  Viergespann  gelagerten  Gaia  der  Jordan  einnimmt,  so  auf 
einem  altchristlichen  Sarkophag  von  Arles,  vgl.Edmond  Le  Blant 
Etüde  sur  les  sarcopJiages  chretiens  antiques  de  la  ville  d'Arles 
(Paris  1878)  S.  31  Nr.  XXIV  1  zu  pl.XVIII  I5  Karl  Michel  Gelet 
u.  Bild  in  frühchristl.  Zeit  (in  Joh.  Fickers  Stud.  über  christl.  Denk- 
mäler, n.  F.  d.  Arch.  Studien  z.  christl.  Altert,  u.  Mittelalter  1 .  Heft,  1 902) 
S.  102;  vgl.  auch  Rahn  Über  d.  Ursprung  u.  die  Entwicklung  d.  christl. 
Central-  u.  Kuppelbaus  (Lpz.  J866)  S.  6,  8,  wo  verwiesen  wird  auf 
Bellermann  Die  ältesien  christl.  Begräbnisstätten  u.  bes.  die  Katah.  gu 
Neapel  mit  ihren  Wandgemälden  (Hamb.  1839)  S.  35,  und  endlich 
auch  V.  Schnitze  Arch.  S.  37 6t,  der  dafür  zitiert  Raffaele  Garrucci 
Storia  delVarte  cristiana  t.  327,  3.  324,  2.  147,  1  (Handschrift  des 
Kosmas  Indikopleustes).  Zweimal  schließlich  läßt  sich  der  Jordan 
auch  nachweisen  auf  der  Josuarolle  des  Vatikan  (deren  Publikation 
ja  schon  Winckelmann  ins  Auge  gefaßt  hat),  etwas  jugendlicher  in 
der  Überführung  der  Bundeslade  über  den  Jordan,  in  leichter  Hal- 
tung bei  der  Steinigung  Achans,  vgl.  Garrucci  a.  a.  0. 1. 158, 1. 163, 1. 
3.  S.  ürbano  alla  Caffarella.  Draußen  vor  Rom,  vor  Porta 
S.  Sebastiano,  also  im  Süden,  Südosten  der  Stadt,  wenn  man  einige 
hundert  Schritte  jenseits  des  denkwürdigen  Kirchleins  Domine  quo 
vadis  von  der  Via  Appia  einlenkt  in  den  Feldweg  mit  der  Bezeich- 
nung Vicolo  della  Caffarella,  wandert  man  zehn  Minuten  zwischen 
Hecken  und  gelangt  dann  bald  zum  sog.  Tempel  des  Dens  Redi- 
culus  und  weiter  im  Tale  des  Almo^  zu  dem  als  „Grotte  der  Egeria" 
populär  gewordenen  Njmphaeum  und  zum  Kirchlein  S.  ürbano  alla 
Caffarella.  So  wenig  wie  der  als  Tempio  di  Dio  redicolo  bekannte 
Ziegelbau  geht  das  ehemalige  Kirchlein  S.  ürbano  auf  eine  antike 
Tempelanlage  zurück,  etwa  einen  Tempio  di  Bacco,  auch  wenn  sich 

^  So  auch  V.  Sybel  a.  a.  0. 1  223. 

*  Vgl.  Hülsen  bei  Pauly-Wissowa  Real-Eneycl.  d.  class.  Altertumswiss. 
I  1589,  34ff.;  Heinr.  Nissen  Ital  LandesJc.  II  1902,  491.  547. 


654  Mitteilungen  und  Hinweise 

im  Untergeschoß  ein  Bacchusaltar  gefunden  hat  (der  dann  als  Weih- 
wasserhecken henutzt  ward),  vielmehr  sind  die  l3eiden  Ziegelbauten 
ihrem  Ursprung  nach  zwei  typische  Beispiele  von  Gräbern  in 
Kapellenform,  bzw.  in  der  alten  Form  des  Hauses  als  Wohnung  auch 
des  Toten,  gelegen  zwischen  Via  Appia  und  einstiger  Via  Latina.  — 
Im  Innern  nun  von  S,  Urbano  überraschen  hochinteressante  Fresken, 
die  Szenen  darstellen  aus  dem  Leben  Christi  und  aus  dem  Mar- 
tyrium der  Heiligen  Caecilia,  ürbanus  und  Annulinus,  Fresken  aus 
dem  elften  Jahrhundert,  genauer  von  1011  und  von  der  Hand  eines 
sonst  nicht  bekannten  Bonizzo,  wie  man  der  Inschrift  entnimmt  über 
der  Tür,  wo  die  Darstellung  der  Kreuzigung^:  Bonizzo  fr(a)t(er) 
xpi  MXI,  was  als  Künstlerinschrift  aufzufassen  ist:  „Obwohl,  wie 
die  Malereien  selbst,  auch  die  Inschrift  gelitten  hat  und  übermalt 
ist,  liegt  keine  Veranlassung  vor,  das  Datum  zu  bezweifeln;  viel- 
mehr sind  gerade  auch  dieses  Datums  wegen  die  vielfach  unter- 
schätzten Fresken  in  S.  Urbano  für  die  Geschichte  der  römischen 
Monumentalmalerei  dieser  Epoche  von  besonderem  Wert"^  —  ja, 
fügen  wir  bei,  diese  Fresken  mahnen  direkt  zum  Aufsehen!  Sie 
sind,  so  will  uns  bedünken,  ein  bedeutsames,  in  mancher  Hinsicht 
vielleicht  einzigartiges  Zeugnis  dafür,  wie  die  Tradition  der  Kata- 
kombenmalerei, altchristlicher  Kunst  überhaupt  und  deren  eigentüm- 
liche Formensprache  weiterlebte  neben  der  allgemein  überhandneh- 
menden byzantinischen  Richtung.  Unmittelbar  in  Übereinstimmung 
mit  der  Katakombenmalerei  steht  beispielsweise  die  Ornamentierung 
der  Pilaster  und  die  Farbengebung,  wie  sie  sich  noch  an  Stellen 
erkennen  läßt,  wo  die  spätere  Übermalung  neuerdings  wieder  weg- 
gefallen ist.  Auch  hier  ist  Christus  teilweise  noch  unbärtig.  Zur 
Darstellung  der  Kreuzigung,  in  der  „das  Antlitz  Christi  im  Todes- 
kampfe Heiterkeit  bewahrt,  die  offenen  Augen  keinen  Schmerz  aus- 
drücken" (Crowe  und  Cavalcaselle  Gesch.  d.  Italien.  Malerei^  deutsche 
Orig.- Ausgabe,  besorgt  von  Max  Jordan  I  [1869]  S.  53),  mag  man 
vergleichen  jene  frühe,  vielleicht  früheste  im  Codex  Laurentianus 
zu  Florenz,  den  586  der  Mönch  Eabulas  in  einem  syrischen  Kloster 
angefertigt,  vgl.  z.  B.  Karl  Woermann  Gesch.  d.  Kunst  aller  Zeiten 
und  Völker  II  (1905"»  S.  49.  Freilich  ist  offenbar  diese  Szene  durch 
die  guterhaltene  Übermalung  so  stark  entstellt,  daß  vom  ursprüng- 
lichen Zustand  eine  genaue  Vorstellung  nicht  mehr  gewonnen  werden 
kann;  doch  wohl  dadurch  hat  sich  Franz  Xaver  Kraus  (Die  Wand- 
gemälde der  St.  SylvesterTcapelle  zu  Goldlach  am  Bodensee,  München 
1902,  S.  9)   verleiten   lassen   zu   einer  Ansetzung   dieses  Bildes  ins 

1  Vgl.  Adolfe  Venturi  Storia  delVarte  ital.  II  (1902)  S.  223  Fig.  182 ;  Bruno 
Schrader  Bie  röm.  Campagna  (Ber.Kunstst.  Bd.  49,  Lpz.  1910)  S.  57  Abb.  15. 

^  So  Swarzenski  bei  Thieme-Becker  Allg.  Lex.  d.  bild.  Künstler  IV  303,. 
wo  weitere  Lit. 


Mitteilungen  und  Hinweise  665 

vierzehnte  Jahrhundert,  die  uns  wenig  glaubwürdig  erscheint  (vgl. 
auch  Venturi  a.  a.  0.  S.  265).  Dagegen  wiederum  ganz  der  Formel- 
sprache altchristlicher  Kunst  ist  entnommen  das  vor  Christus  kauernde 
Weib  in  der  Auferweckung  des  Lazarus,  das  ja  geradezu  ein  Cha- 
rakteristikum ausmacht  der  so  häufigen  Wiedergabe  dieses  Wunders 
in  altchristlicher  Kunst,  zumal  in  Sarkophagreliefs;  es  ist  des  Lazams 
Schwester  Maria,  die  flehend  zu  den  Füßen  des  Herrn  kniet  (vgl. 
z.  B.  Carl  Maria  Kaufmann  Handh.  d.  christt.  ArcJi}  1913,  S.  356), 
wie  dies  z.  B.  deutlich  hervorgeht  aus  einer  Buchmalerei  im  Codex 
Egberti  zu  Trier,  im  sog.  Egbert-Evangeliar,  das  um  980  von  den 
Mönchen  Kerald  und  Heribert  von  Reichen  au  für  den  Erzbischof 
Egbert  von  Trier  ausgeführt  wurde,  vgl.  Venturi  a.  a  0.  S.  341  Fig.  248; 
hier  sind  beide  Schwestern  vor  dem  Herrn  auf  den  Knien  zu  sehen, 
als  Maria  und  Martha  durch  Beischrift  genau  bezeichnet.  —  Kurz, 
diese  Fresken  in  S.  ürbano  dürften  direkt  die  Brücke  schlagen  von 
frühchristlicher  Kunst  zur  großen  Freskomalerei  eines  Giotto,  somit 
das  Band  darstellen  zwischen  der  altrömischen  und  der  italienischen 
Kunst.  Auch  Jakob  Burckhardt  z.B.  (Cicerone^  II  589  f.)  spricht 
von  einer  verwilderten,  alteinheimischen  Kunstübung,  die  neben  dem 
in  Italien  herrschend  gewordenen  Byzantinismus  fortexistierte,  die 
man  im  Gegensatz  gegen  die  byzantinische  etwa  als  eine  altlongo- 
bardische  (?)  benenne;i  mag,  und  gedenkt  als  eines  namhaften  Denk- 
mals dieser  Art  der  „Wandmalereien  neutestamentlichen  und  legen- 
darischen Inhaltes  in  dem  vermeintlichen  Bacchustempel  S.  Urbano 
alla  Cafi"arella  bei  Rom";  allein  es  ist  ihm  entgangen  der  offen- 
kundige Zusammenhang  mit  der  altchristlichen  Kunst,  und  so,  wie 
er,  hat  auch  Franz  Xaver  Kraus,  der  doch  in  richtiger  Erkenntnis 
den  Freskenzyklus  von  S.  Urbano,  wenigstens  „seinem  größeren  Teil 
nach",  der  „altchristlich-römischen  Kunst"  zuweist  (vgl.  a.  a.  0.  S.  9 
u.  23),  nicht  wahrgenommen  die  unmittelbare  Anknüpfung  noch  an 
die  Malerei  der  benachbarten  Katakomben.  Freilich,  vom  neunten 
Jahrhundert  ab  gerieten  ja  die  Katakomben  mehr  und  mehr  in  Ver- 
fall und  immer  mehr  auch  in  Vergessenheit;  doch,  wie  zum  min- 
desten noch  die  Katakomben  von  S.  Sebastiano  weiterhin  bekannt 
und  den  Pilgern  zugänglich  blieben,  wird  auch  die  Kenntnis  der 
übrigen  Katakomben  nicht  so  von  einem  Tag  zum  andern  erloschen 
sein:  in  nächster  Nähe  aber  von  S.  ürbano  liegt  z.  B.  das  Coeme- 
terium  S.  Praetextati. 

Zürich  Otto  Waser 


I 


Der  Fisch  als  Symbol  Gottes 

Zu  Archiv  XIV  S.  384 
Scheftelowitz  fühi-t  a.  a.  0.  aus  einem  Kabbalisten  des  16.  Jahr- 
hunderts (R.  Isaak  Lurja)  die  Worte  an:  „Man  soll  Fische  am  Sabbat 


QQQ  Mitteilungen  und  Hinweise 

genießen,  weil  sie  keine  Augenlider  haben  und  dadurch  die  göttliche 
Vorsehung  veranschaulichen". 

Lurja  schöpft  hier  aus  dem  Traktat  Idra Rabba  des  Sohar  (III  129  h; 
de  Pauly  V  339):  dort  heißt  es,  daß  die  Augen  des  „Weißen  Kopfes" 
(d.h.  des  „Alten  der  Tage"  aus  Daniel,  also  „Gottes")  keine  Lider 
und  Wimpern  haben.  Farce  qu'il  est  ecrit  (Ps.  121,4):  ^celui  qui 
garde  Israel  ne  s'assoupit  ni  ne  s'endort' .  .  .  B.  Simeon  dit  ä  B.  Ähha: 
^Quelle  est  la  creature,  qui  peut  servir  d'emhleme  ä  la  Tete 
Blanche?'  B.  Äbha  repondit:  ^Le  poisson  de  la  mer  qui  n'a  ni 
paupieres  ni  cils  sur  les  yeux  qui  ne  dort  pas  et  qui  n'a  pas 
hesoin  d^aucun  preservatif  pour  Vceuil.  A  plus  forte  raison 
V Anden  des  Anciens  n'a-t-il  pas  hesoin  de  preservatifs  pour  les  yeux?' 
Auffallend  ist  hier  der  Parallelismus  mit  der  von  Pischel  SBAW 
1905,  529  nachgewiesenen  buddhistischen  Gottesbezeichnung  animisa 
animisadrs  animesa,  d.  h.  „nicht  Augen  schließend". 

Feldafing  Robert  Eisler 

Berührungszauber 

Zu  Archiv  XIV  S.  314 
Zu  der  von  L.  ßadermacher  treffend  erörterten  Stelle  aus  dem 
pseudo- platonischen  Dialog  Theages  (130  d),  die  den  Glauben  an  eine 
Übertragbarkeit  geistiger  Güter  zwischen  Lehrer  und  Schüler  durch 
körperliche  Berührung  bezeugt,  finde  ich  eine  lehrreiche  jüdische  Paral- 
lele im  Buch  Söhar  (Idra  Rabba  fol.  127  h,  de  Pauly  V  332),  wo 
der  große  R.  Simeon  sich  anschickt,  besonders  geheime  Mysterien 
einem  auserwählten  Kreis  von  zehn  Gelehrten  zu  enthüllen.  Dort 
heißt  es:  B.  Simeon  se  leva  et  fit  sa  priere.  Ensuite  il  s'assit  au  milieu 
d'eux  et  dit:  ^Que  chacun  de  vous  mette  sa  main  sur  mon  genou.'  Ils 
tendirent  les  mains  et  B.  Simeon  les  saisit,  II  commenga  ensuite  ä 
parier  ainsi.  Die  hier  geschilderte  Situation  erinnert  lebhaft  an  die 
in  mediumistischen  Seancen  so  beliebte  Kettenbildung  behufs  Ge- 
dankenübertragung. Die  Stelle  bestärkt  mich  in  der  Vermutung,  daß 
die  bekannte  Stelle  Ev.  Joh.  13,  23:  tjv  äva%H^Evog  dg  1%  t&v  (iad"rixG>v 
ccvtov  SV  Tc5  KokTtG)  xov  ^Itjüov  im  Sinne  solcher  Analogien  zu  beurteilen 
ist.  Kundigere  werden  vielleicht  mitteilen  können,  ob  es  patristische 
Zeugnisse  für  diese  Auffassung  gibt.  Die  von  Preuschen  in  seinem 
Lexikon  s.  v.  KolTtog  gesammelten  Stellen  des  Neuen  Testaments  zeigen, 
daß  der  Ausdruck  sich  zunächst  nur  auf  den  Ehrenplatz  neben  dem 
Meister  beim  Symposion  bezieht,  ohne  daß  damit  notwendig  eine  körper- 
liche Berührung  vorausgesetzt  wäre.  Aber  die  Phrase  hat  unbedingt 
diesen  Nebensinn,  und  ein  aufmerksames  Studium  antiker  Mahlszenen 
wird  jeden  überzeugen,  daß  man  mit  dem  Gedanken  unmittelbarer 
gegenseitiger  Berührung  der  Tischnachbarn  vertraut  sein  mußte.  Es 
kann  kein  Zufall  sein,  daß  man  sich  für  das  Evangelium,  das  den 
pneumatischen,  anagogischen  Sinn  so  mancher  Aussprüche  und  Taten 


I 


Mitteilungen  und  Hinweise  667 

des  Herrn  zu  enthüllen  unternahm,  gerade  auf  das  Zeugnis  dieses 
Jüngers  berief,  der  neben  ihm  zu  Tische  lag. 

Seit  Radermachers  Notiz  erschienen  ist,  bemühe  ich  mich  vergebens, 
durch  Nachschlagen  und  Nachfragen  eine  einzige  jüdische  Analogie 
zu  dem  nicht  weniger  auffallenden  (la&riri^g,  ov  TjydTta  6  ^Irjaovg^  zu 
finden.  Nirgends  in  den  vielen  rabbinischen  Angaben  über  die  Dia- 
dochien  von  Lehrern  und  Schülern  in  der  rabbinischen  Überlieferung 
heißt  es  von  irgend  jemandem,  er  sei  der  Lieblings-  oder  „geliebte" 
Schüler  seines  Meisters  gewesen.  Sollte  ich  mich  täuschen,  wenn  ich 
in  diesem  Zug  eine  spezifisch  hellenische,  genauer  platonisierende 
Färbung  wahrzunehmen  glaube?^ 

Feldafing  Robert  Eisler 

Zn  Friedländers  Buch  über 
'Die  Chadhirlegende  und  den  Alexanderroman'^ 

Das  lebhafteste  Bedenken  regt  sich  gegen  den  griechischen  Ursprung 
der  Chadhirvorstellung.  Diese  geht,  so  behauptet  Friedländer  in  seinen 
Ergebnissen  (S.  241),  „auf  eine  griechische  Legende  zurück,  die  den 
Grundgedanken,  daß  die  Unsterblichkeit  für  den  sterblichen  Menschen 
ein  Fluch  sei,  zur  Anschauung  bringen  will".  Demgemäß  beginnt 
seine  Untersuchung  mit  der  griechischen  Sage  vom  Lebensquell,  die 
uns  bei  Pseudo-Kallisthenes  aufbewahrt  ist  (S.  2  fi".).  Nun  hat  Fried- 
länder richtig  betont,  daß  der  Alexanderroman  eine  Kompilation  aus 
verschiedenen  Sagenstoö'en  ist  (S.  25  f.).  Die  Erzählung  von  der 
Auffindung  der  Lebensquelle  ist  ursprünglich  selbständig  umgelaufen 
und  uns  in  syrischen  und  hebräischen  Traditionen  noch  selbständig 
erhalten  (S.  59).  Mit  ihrer  Hilfe  versucht  Friedländer  die  „ursprüng- 
liche" Fassung  der  Sage  zu  rekonstruieren  (S.  26  ff.).  Diese  Eekon- 
struktion  ist  zum  Teil  ausgezeichnet,  doch  scheint  sie  mir  in  einem 
wichtigen  Punkte  verfehlt  zu  sein,  der  für  die  folgende  Darstellung 
von  entscheidender  Bedeutung  ist.  Der  griechische  Erzähler  hat  allein, 
im  Gegensatz  fast  zu  allen  orientalischen  Eezensionen,  die  Haupt- 
sache richtig  bewahrt:  Alexander,  der  die  Lebensquelle  suchen  will, 
gelangt  nach  vielen  Abenteuern  durch  das  Land  der  Finsternis  in 
eine  quellenreiche  Gegend,  ohne  zu  wissen,  daß  sich  auch  die  Lebens- 
quelle  dort  befindet.     Zufällig  wird   er  eines    Tages  hungrig,    und 

!  ^  Die  auf  Lazarus  bezügliche,  übrigens  auch  nur  bei  Johannes  (11,3) 

'<  zu  findende  Stelle  Kvqls,  l'ds  ov  cpiXstg  ccöd-Evst  fasse  ich   im  herkömm- 

I  liehen  Sinn  ganz  ohne  prägnantere  Nebenbedeutung  auf. 
'  ^  Einer   freundlichen  Mitteilung  von  R.  Wünsch  entnehme  ich,  daß 

I  schon   A.  Dieterich   vor  Jahren    eine    ähnliche    Meinung    ausgesprochen 

!  hat  und   nur   deshalb   nichts    diesbezügliches  veröffentlicht  hat,  weil  er 

j  die  Sache  für  allgemein  bekannt  hielt.     In  der  Tat  scheint  jedoch  noch 

i  nie  ausdrücklich  darauf  hingewiesen  worden  zu  sein. 

»  Leipzig  1913.   S.auch  in  diesem  Archiv  XIII  (1910)  S.  161  ff. 


ßß3  Mitteilungen  und  Hinweise 

befiehlt  seinem  Koch,  das  Essen  zu  bringen.  Zufällig  nimmt  dieser 
einen  gesalzenen  Fisch,  wie  ihn  die  Keisenden  mit  sich  zu  führen 
pflegen,  und  wäscht  ihn  in  der  nächsten  Quelle,  um  ihn  zuzubereiten. 
Zufällig  gerät  er  gerade  an  die  Lebensquelle;  der  gesalzene  Fisch 
wird,  sobald  er  mit  dem  Wasser  in  Berührung  kommt,  lebendig  und 
schwimmt  davon.  Ein  Moment  der  höchsten  Spannung:  So  hat 
nun  Alexander  das  ewige  Leben  gewonnen?  Nein,  obwohl  ihm 
so  nahe,  verscherzt  er  es  für  immer  durch  die  Beschränktheit  des 
Koches,  der  die  Bedeutung  des  Vorganges  nicht  ahnt  und  aus 
Furcht  vor  Strafe  nichts  davon  erzählt,  bis  es  zu  spät  ist.  Der 
Sinn  dieser  Erzählung  ist  —  von  einer  „Tendenz"  kann  man  nicht 
reden  — ,  daß  dem  Menschen  das  ewige  Leben  verwehrt  ist,  und 
mag  er  auch  wie  Alexander  bis  ans  Ende  der  Welt  und  darüber 
hinaus  bis  zur  Lebensquelle  vordringen.  Denselben  Sinn  hat  das 
babylonische  Gilgamesch-Epos;  eine  literarische  Abhängigkeit  des 
Alexanderromans  vom  Gilgamesch-Epos  ist  ausgeschlossen.  Wohl 
aber  darf  man  behaupten,  daß  auf  den  Helden  Alexander  ein  ver- 
wandter Stoff  übertragen  ist  wie  auf  den  Helden  Gilgamesch  (vgl. 
meine  Erklärung  des  „Gilgamesch-Epos",  Göttingen  1911,  S.  152). 
Da  dieser  Stoff  in  Babylonien  schon  um  2000  v.  Chr.  bezeugt  und 
da  er  auch  später  im  vorderen  Orient  verbreitet  ist,  so  darf  man 
weiter  mit  großer  Wahrscheinlichkeit  vermuten,  daß  er  vom  Orient 
aus  zu  den  Griechen  kam.  Die  zahlreichen  und  zum  Teil  stark  ab- 
weichenden Varianten  der  Lebensquellsage,  die  bei  den  Syrern  und 
bei  den  Arabern  bis  nach  Persien  und  Indien  hinein  überliefert 
sind,  lassen  sich  schwerlich  erklären,  wenn  man  wie  Friedländer  von 
dem  Alexanderroman  ausgeht  und  griechischen  Ursprung  vermutet. 

Friedländer  hat  sich  das  richtige  Verständnis  versperrt,  weil  er 
die  „Glaukosepisode"  mit  zu  dem  ältesten  Bestandteil  der  Lebens- 
quellsage rechnet  (S.  38),  während  sie  in  Wirklichkeit  später  als 
ein  aufgesetztes  Licht  hinzugefügt  worden  ist.  Sie  fehlt  noch  in  den 
meisten  Fassungen  der  syrischen  und  arabischen  Sage;  Friedländer 
vermutet  umgekehrt,  sie  sei  später  wegen  ihres  heidnischen  Charakters 
abgestoßen  worden  (S.  60,  106).  In  seiner  Rekonstruktion  der 
„ursprünglichen"  Sage  lautet  diese  „Glaukosepisode"  kurz  so  (S.  29  ff.): 
Der  Koch  Alexanders,  Andreas  genannt,  springt  dem  lebendig  ge- 
wordenen Fische  nach,  um  ihn  zu  fangen,  und  wird  auf  diese  Weise 
unsterblich,  ohne  es  zu  wissen.  Als  Alexander  erfährt,  daß  er  durch 
die  Schuld  des  Dieners  um  das  ewige  Leben  betrogen  sei,  versucht 
er  vergeblich,  ihn  zu  töten.  Schließlich  versenkt  er  ihn  ins  Meer, 
wo  der  Diener,  in  einen  Seedämon  verwandelt,  seitdem  ein  freudloses 
Dasein  fristen  muß.  Daraus  erschließt  Friedländer  als  „Tendenz"  der 
Sage,  daß  die  Unsterblichkeit  für  den  Menschen  nicht  einmal  be- 
gehrenswert sei.     Gegen    diese  Rekonstruktion  lassen  sich  folgende 


Mitteilungen  und  Hinweise  669 


Bedenken  geltend  machen:  1.  Es  entspricht  schwerlich  der  Art 
einer  urspünglichen  Sage,  daß  der  Diener  die  Unsterblichkeit  gewinnt, 
während  der  Herr  sie  verliert;  das  Verhältnis  des  Herrn  zum  Diener  läßt 
das  Gegenteil  erwarten.  2.  Die  alten  Sagen  fassen  die  Unsterblichkeit 
als  das  höchste  Gut  der  Götter  und  als  das  erstrebenswerteste  Ziel 
der  Menschen  auf;  wo  das  ewige  Leben  als  ein  Fluch  erscheint, 
wie  bei  Ahasver,  wirkt  spätere  Reflexion  ein,  3.  Friedländer  vermutet, 
daß  hinter  dem  Koch  Andreas  der  Meeresgott  Glaukos  steht.  Wenn 
dies  richtig  ist,  darf  man  aus  der  Ursage  den  notwendig  dazu- 
gehörigen Zug  nicht  ausscheiden:  Pseudo-Kallisthenes  erzählt,  daß 
der  Koch  nicht  nur  selbst  unsterblich  wurde,  sondern  auch  etwas 
Lebenswasser  in  einem  silbernen  Gefäße  mit  sich  nahm.  Dies  gab 
er  später  der  Kaie,  der  Tochter  Alexanders  zu  trinken,  so  daß  auch 
sie  die  Unsterblichkeit  erlangte.  Sie  wurde  daraufhin  von  Alexander 
verstoßen  und  zur  Nereide  gemacht.  Diese  Nereide  kann  man 
von  dem  Seedämon  nicht  gut  trennen,  und  Friedländer  gibt  auch 
zu,  daß  die  Kaie-Episode  „altertümlich  aussieht"  (S.  31,  Anm.  1). 
Da  gerade  von  Glaukos  bekannt  ist,  daß  er  von  den  Nereiden 
geliebt  wurde  (vgl.  Gädechens  ^Glaukos'  in  ßoschers  Lex.  d.  Myth.  I 
Sp.  1681),  so  ist  es  wohl  möglich,  daß  die  Glaukossage  auf  die 
Alexandersage  eingewirkt  hat.  Dann  muß  folglich  das  Glaukos - 
motiv  später  hinzugefügt  worden  sein.  Nach  den  uns  überlieferten 
Sagen  von  Glaukos  soll  dieser  das  Lebenskraut  gefunden  oder  von 
der  Lebensquelle  getrunken  haben  und  dann  zu  einem  Meeresgott 
geworden  sein.  Dagegen  wissen  wir  nichts  von  irgendwelchen 
Wanderungen  bis  ans  Ende  der  Welt  oder  ins  Jenseits,  um  die 
Lebensquelle  zu  suchen,  was  gerade  für  die  Alexandersage  charak- 
teristisch ist.  Die  Glaukos-  und  die  Alexandersage  sind  einander 
nahe  verwandt  und  haben  sich  eben  deshalb  angezogen,  wie  das 
bei  verwandten  Sagenstoffen  oft  geschehen  ist.  Aber  man  darf 
sich  nicht  vorstellen,  als  ob  die  Wanderung  zur  Lebensquelle 
ursprünglich  von  Glaukos  erzählt  und  später  auf  Alexander  über- 
tragen worden  sei,  wie  Friedländer  behauptet  (S.  241).  Gegen 
diese  ganze  Hypothese  läßt  sich  freilich  einwenden,  daß  der  Koch 
nicht  Glaukos  heißt,  wie  man  erwarten  sollte,  sondern  Andreas. 
Es,  ist  daher  fraglich,  ob  das  „Glaukosmotiv"  erst  auf  griechischem 
Boden  hinzugefügt  wurde.  Da  die  Lebensquellsage  ein  orientalischer 
Stoff  ist,  der  auf  Alexander  übertragen  wurde,  so  war  das  „Glaukos- 
motiv" wahrscheinlich  schon  auf  orientalischem  Boden  mit  ihr 
verschmolzen.  Für  die  orientalische  Heimat  spricht,  daß  sich  nur 
eine  einzige  Variante  zum  „Glaukosmotiv"  nachweisen  läßt,  die 
ursprünglich  wohl  aus  dem  ^Iräq  stammt  (S.  105 ff.):  der  Diener 
wird  nicht  in  einen  Seedämon  verwandelt,  sondern  auf  ein  Schiff 
gesetzt,  auf  dem  er  wie  der  ewige  Jude  ruhelos  bis  zur  Auferstehung 


570  Mitteilungen  und  Hinweise 

herumfährt      Demnach   wäre  „Glaukos^'  (oder  „Andreas")    nur   der 
griechische  Ersatz  für  eine  orientalische  Gestalt. 

Der  wundeste  Punkt  in  der  ganzen  Beweisführung  Friedländers 
liegt  aber  darin,  daß  Glaukos,  der  in  der  Lebensquellsage  überhaupt 
niemals  erwähnt  wird,  das  Urbild  Chadhirs  gewesen  sein  soll.  Um 
diese  These  plausibel  zu  machen,  vermutet  Friedländer  eine  syrische 
Variante  der  Alexandersage,  in  welcher  der  Diener  nicht  als 
Andreas,  sondern  „mit  seinem  ursprünglichen  Epitheton  als  Glaukos" 
bezeichnet  wurde  (S.  242).  Als  die  Sage  dann  von  den  Syrern  zu 
den  Arabern  kam,  wurde  der  griechische  Name  „Glaukos"  oder 
richtiger  das  entsprechende  syrische  Äquivalent  aufgegeben  und 
dafür  der  arabische  Name  al-Chadhir  (oder  al-Chidhr)  „der  Grüne",  ein- 
getauscht (S.  1 1 3  ff.,  242).  Gegen  diese  Auffassung  erheben  sich  schwer- 
wiegende Bedenken:  1.  Chadhir  ist  eine  Schutzgottheit  oder  —  wie  nach 
korrektem  Islam  gelehrt  wird  —  ein  Heiliger  der  Landreisenden  und  vor 
allem  der  Seereisenden,  der  Fischer  und  Schiffer.  Obwohl  er  oft  mit 
Elias  identifiziert  wird,  wird  er  ihm  bisweilen  auch  entgegengesetzt  als 
der  „Seemännische"  gegenüber  dem  „Festländischen",  als  der  „Herr  des 
Meeres"  gegenüber  dem  „Herrn  der  Wüste".  Seine  Beziehung  zum 
Meere  ist  von  den  syrischen  Küsten  bis  Bengalen  nachweisbar.  Dieser 
göttliche  Charakter  Chadhirs  wäre  völlig  unbegi'eiflich,  wenn  er  nichts 
weiter  wäre  als  der  Abklatsch  des  Koches  Alexanders,  auch  wenn 
dieser  Glaukos  geheißen  haben  sollte;  das  Umgekehrte  wäre  eher 
denkbar,  da  ein  Schutzheiliger  wohl  zum  Begleiter  Alexanders  werden 
konnte.  2.  Es  muß  alsEegel  gelten,  daß  Gottheiten  und  Heilige  nicht 
auf  Grund  einer  Sage  oder  gar  einer  fremdländischen  Sage  entstehen, 
sondern  daß  umgekehrt  die  Sagen  als  sekundäre  Zutaten  den  bereits 
vorhandenen  göttlichen  Gestalten  angehängt  werden.  Mit  größerer 
Wahrscheinlichkeit  darf  man  Chadhir  daher  als  den  muslimischen 
Ersatz  einer  im  vorderen  Orient  weitverbreiteten  Gottheit  ausgeben 
(vgl.  auch  die  Bemerkung  Nöldekes  S.  324  zu  S.  117  oben).  Nach  der 
ältesten  arabischen  Tradition,  die  uns  im  Koran  entgegentritt  und  die 
von  Friedländer  zu  gering  eingeschätzt  wird,  gilt  Chadhir  als  der 
Weiseste,  daher  oft  der  „Wissende"  genannt,  der  an  der  „Vereinigung 
der  beiden  Meere"  wohnt,  dort,  wo  sich  die  Lebensquelle  befindet; 
Mose  macht  sich  mit  seinem  Diener  auf,  ihn  zu  besuchen  (S.  62). 
Nach  einer  anderen  Vorstellung  wohnt  er  auf  einer  Insel  im  Meere 
(S.  94 ff.).  Schon  diese  Nachrichten  dürften  genügen,  um  in  Chadhir 
den  babylonischen  Ea-Oannes  zu  vermuten.  Was  Friedländer  (S.  302  ff.) 
über  den  dunklen  Ausdruck  des  Korans  „Vereinigung  der  beiden 
Meere"  beibringt,  befriedigt  nicht.  Dieser  erklärt  sich  sehr  einfach 
aus  der  babylonischen  Redewendung  von  der  „Mündung  der  beiden 
Ströme",  von  der  nach  den  Zaubertexten  das  heilige  Wasser  oder  das 
„Wasser   des  Lebens"  geholt   wird.    Ea   ist   wie   Chadhir  Gott   der 


Mitteilungen  und  Hinweise  671 

Weisheit,  des  Meeres,  der  Quellen  und  Fluren,.Bescliützer  der  Menschen, 
der  Handwerker,  der  Landwirte,  ausdrücklich  aber  auch  als  „Gott 
der  Seefahrer"  bezeugt.  Mit  den  SchiiFern  wird  sein  Kult  überall  an 
den  Küsten  verbreitet  worden  sein,  aber  auch  zu  Lande  wanderte  er 
mit  den  Handelsleuten,  den  babylonischen  Juden  nach  Westen  über 
Persien  nach  Arabien  und  Syrien  und  vielleicht  darüber  hinaus  nach 
Griechenland.  Es  ist  zwar  absurd,  wenn  man  die  Juden  für  die  Ur- 
heber der  Chadhirlegende  ausgegeben  hat,  wie  Friedländer  mit  Recht 
behauptet  (S.  48),  aber  auf  der  anderen  Seite  kann  kein  Zweifel  sein, 
daß  Mohammed  die  Sage  von  den  Juden  gehört  hat,  da  sie  im  Koran 
nicht  auf  Alexander,  sondern  auf  Mose  übertragen  ist.  Derselbe  Sagen- 
stofF  ist  in  einer,  freilich  sehr  viel  späteren  und  schlechteren,  Fassung 
auch  im  babylonischen  Talmud  überliefert,  wo  er  bereits  mit  der 
Gestalt  Alexanders  verknüpft  ist.  War  das  Urbild  Chadhirs  in  Ba- 
bylonien  zu  Hause,  dann  begreift  sich  auch  am  leichtesten,  wie  die 
Lebensquellsage,  deren  babylonischer  Ursprung  schwerlich  geleugnet 
werden  kann,  gerade  mit  ihm  kombiniert  werden  konnte.  So  erklärt 
es  sich  auch,  daß  Chadhir  seine  Gestalt  als  Meeresgott  am  deutlichsten 
im  Osten  bewahrt  hat  und  daß  die  Chadhirsagen  immer  zahlreicher 
und  lebendiger  werden,  je  weiter  wir  uns  dem  *Iräq  und  dem  Osten 
überhaupt  nähern. 

Nach  Friedländer  ist  der  Sagenstoff  und  die  Sagengestalt  Chadhirs 
aus  dem  Westen  nach  dem  Osten  gewandert;  mich  dünkt  die  umge- 
kehrte Wanderung  aus  dem  Osten  nach  dem  Westen  wahrscheinlicher. 
Aber  wenn  auch  die  Hauptthese  Friedländers  zweifelhaft  ist  und  sich 
vielleicht  nicht  halten  läßt,   so   sei  demgegenüber  betont,  daß   der 
Wert  seines  Buches  dadurch  nicht  geschmälert  wird.   Denn  viel  öfter 
als  der  Widerspruch  regt  sich  die  Zustimmung;   und  auch  wo  man 
i  anderer  Meinung  ist,  wird  man  dem  Verfasser  warmen  Dank  schulden 
j  für  seine  nicht  nur  mühevolle,  sondern  auch  ertragreiche  Arbeit. 
Berlin- Westend  Hugo  Greßmann 

Ein  Bestattungsbrauch  der  Potawatomie  und  Ottawa 

Die  Potawatomie-Indianerundihre  Verwandten,  die  Ottawa,  übten 
in  der  voreuropäischen  Zeit  an  ihren  Toten  Erdbestattung^  verbrannten 
jedoch  die  Leichen  all'  der  Leute,  die  als  Nachkommen  des  Heil- 
bringers  galten.  Sie  waren  des  Glaubens,  daß  andernfalls,  wenn  sie 
auch  die  Leichen  der  Heilbringersprossen  der  Erde  übergäben,  der 
Heilbringer  bewirken  würde,  daß  der  Winter  andauere  und  der 
Frühling  nicht  einträte. 

Wenn  man  darauf  aufmerksam  macht,  daß  zur  Zeit,  als  die  Mis- 
sionare den  in  Rede  stehenden  Brauch  beobachteten  (Winter  1666/67 

^  Für  die  Einzelheiten  der  hier  gegebenen  Schilderung:  The  Jesuit 
Relaiions  ed.  Thwaites  vol.  51  p.  32 ff.,  vol.  64  p.  152. 


Q12  Mitteilungen  und  Hinweise 

bei  den  Potawatomie ,  1716 — 1726  bei  den  Ottawa),  der  Heilbringer 
von  den  Gläubigen  als  Schneehase  (lepus  americanus)  gedacht  wurde, 
dessen  Haarkleid  im  Winter  bekanntlich  weiß  und  im  Sommer  braun 
ist,  so  hat  man  zur  Erklärung  noch  nicht  genug  gesagt.  Bedenkt 
man  indessen,  daß  der  Auffassung  vom  theriomorphen  Heilbringer 
doch  vielleicht  eine  altertümlichere  vorangegangen  ist,  der  zufolge  der 
Heilbringer  (pot.  Nanäböcö  mor^?iW5  ille,  qui  revertitur  flammis  ardenSj 
Ott.  Nenäbösö,  dasselbe,  bzw.  Micäbü(s)  magnus  ille,  qui  revertitury 
als  die  wiederherbeigeholte  Sonnenwärme  oder  dergl.  galt^,  so  ist  eine 
Deutung  nicht  schwer:  die  Nachkommen  des  Heilbringers  d.i.  des  Gottes 
der  Sonnenwärme,  werden  als  seine  Repräsentanten  (nach  ihrem  Tode)  in  s 
Feuer  geopfert,  damit  die  Sonnen  wärme  selbst  zu  Kräften  kommen  konnte, 
den  Winter  vertrieb  und  den  Wiederbeginn  des  Frühlings  gewährleistete. 
Berlin  John  Loewenthal 

Ein  Zauberglaube  der  Pawnee 

In  den  von  G.  A.  Dorsey  gesammelten  Traditions  of  the  Skidi 
Pawnee^  wird  Nr.  57  berichtet*,  wie  eine  Ente  von  einem  Manne 
gegen  den  Habicht  beschützt  ward;  zum  Danke  für  die  Rettung, 
heißt  es  in  dieser  Geschichte,  gab  die  Ente  dem  Manne  Enten-Macht 
und  zauberkräftige  Dinge,  nämlich  einen  magischen  Schild  und 
Entenfedern,  welche  Regen  und  Nebel  bewirken  und  den  Träger 
dadurch  unsichtbar  machen  konnten. 

In  der  Anmerkung^  zu  dieser  Geschichte  verweist  Dorsey  auf 
Nr.  53  derselben  Sammlung,  wo  berichtet  wird,  wie  eine  Eule  jemandem 
die  Augen  so  machte,  thathe  could  see  in  the  night  as  well  as  in  the  day.^ 
Ich  glaube  hierzu  einige  weitere  Parallelen  bringen  zu  können. 

Zunächst  aus  dem  Glauben  der  alten  Mexikaner.  In  der  Be- 
schreibung des  Festes  Etzalqualiztli  (Mas  Maiskörnerspeiseessen'),  das 
zu  Ehren  des  Regengottes  Tlaloc  (^er  macht  aufsprießen')  gefeiert 
wurde,  heißt  es  im  Urtexte  (Sahagun  MS  Buch  II,  Kap.  25), 
den  ich  der  Freundlichkeit  meines  Lehrers,  des  Herrn  Prof.  Seier 
verdanke,  von  den  Priestern  des  Regengottes,  die  im  dazu  bestimmten 
Teiche  waren  und  im  Wasser  planschten,  das  Wasser  mit  den 
Händen  und  den  Füßen  schlugen':   Tmtzitinemi  icauacatinemi.  quin- 

"■  Ztschr.  f.  Ethnologie  Bd.  45  (1913)  S.  45. 

2  ebenda  S.  7 7  f.;  vgl  meine  Schrift  Die  Religion  der  Ostalgonkin 
(Leipziger  Dissert.  1913)  S  62—69. 

»  Mem.  of  the  Anier.  Folk-Lore  Soc.  vol.  VIII  (1904). 

*a.  a.  0    S.  219.         '^  a  a,  0.  S.  353.         6^^.0.8.207. 

'  vgl.  ebenda :  Äuh  in  oacito  atenco  in  innealtiaya  tlamacazque  nauhcampa 
in  moncain  ayauhcalli — niman  ye  ic  neteteco  netlalilo.  tlatzitzilca  tlauiuiyoca 
tlacuecuechca.  netlautzitzilitzalo.  —  iye  yuqui  niman  ic  tlatoa  in  ueue  itoca 
chßlchiuquacuilli  quitoa:  ^couatl  igomocayan.  amoyotl  icaucayan.  atapalcatl 
inechiccauauayan.  aztapilcucuetlacayau.'  —  in  oconito  iniuan  ye  ic  onne- 


Mitteilungen  und  Hinweise  673 

tlayeyecalhuia  in  ixquichtin  totome  ceijuin  cauauh  ilatoa  tlacacauia 
cequintin  quintlayeyecalhuia  in  pipitzÜi  pipiMatoa  cequintin  quinüaye- 
yecalhuia  yn  aeacalome  acacalotlatoa.  Cequintin  aztlatoua,  cequintin 
axoquentlatoa  cequintin  tocuilcoyotlatoa.  D.h.  nach  Seier:  „Sie  schreien, 
sie  machen  Lärm,  sie  ahmen  "die  Stimmen  sämtlicher  (Wasser-) 
Vögel  nach,  einige  schreien  wie  Enten,  sie  schnattern,  einige  ahmen 
die  kleinen  Krickenten^  nach,  sie  schreien  wie  die  Krickenten,  einige 
ahmen  die  Sichler^  nach,  sie  schreien  wie  die  Sichler,  einige  schreien 
wie  die  großen  weißen  Reiher^,  einige  schreien  wie  die  Eisvögel*, 
einige  schreien  wie  die  Kraniche."  ^ 

Es  ist  klar,  daß  die  Regenpriester  durch  solches  Tun  den  Eintritt  des 
Regens  erzwingen  wollten,  und  daß  im  alten  Mexiko  die  Wasservögel 
als  mächtig  über  den  Eintritt  des  Regens  angesehen  wurden. 

Aber  nicht  bloß  im  alten  Mexiko  finden  wir  den  Glauben  an 
die  besondere  Zaubermacht  der  Vögel,  er  herrscht  auch  bei  den  so 
weit  ab  von  Mexiko  wohnenden  Cherokee.  Mooney  berichtet  darüber^: 
tTie  eyes  of  a  cJiild  he  hathed  witJi  water  in  which  one  of  the  long 
w'mg  or  tail  feathers  of  an  owV  has  heen  soaJced,  the  child  will  he 
able  to  keep  äwaJce  all  night.  The  feather  must  he  found  hy  chance, 
and  not  procured  intentiondlly  for  the  purpose.  On  the  other  hand,  an 
application  of  water  in  which  the  feather  of  a  hlue  jay^,  procured  in 
the  same  way,  has  heen  soaTced  will  malte  the  child  an  early  riser. 

Es  ist  wohl  ohne   weiteres   klar,   daß   hier  dieselbe   Anschauung 
vorausgesetzt  wird  wie  bei  den  Pawnee  und  den  alten  Mexikanern.^ 
Berlin  John  Loewenthal 

Mystische  Meineidszeremonien  bei  den  Juden? 

H.  Stocks  erwähnt  in  diesem  Archiv  XIII  154  eine  bei  den 
oberschlesischen     und    posenschen    Juden    vorkommende    Meineids- 

iepeualo  in  atlan  tlachachaquatztinemi  in  atlan.  ilamauitecti  nemi  tlacxiui 
tectinemi  atlaciuitectinemi.  D.h.  nach  Seier :  'Und  wenn  sie  (die  Priester) 
am  Ufer  angelangt  sind,  an  dem  Badeplatze  der  Priester  —  es  befinden 
sich  dort  Nebelhäuschen  an  den  vier  Seiten  —  so  legen  sie  sich  nieder, 
hocken  sich  nieder :  sie  klappern,  sie  zittern,  sie  beben,  sie  klappern  mit 
den  Zähnen.  Indem  dies  so  ist,  spricht  der  Alte,  der  der  Edelsteinpriester 
heißt.  Er  spricht:  'dies  ist  der  Ort,  da  die  Schlangen  beißen,  da  die 
Mücken  summen,  da  die  Löffelenten  {spatula  clypeata)  auffliegen,  da  die 
Binsen  rauschen/  Nachdem  er  dies  gesprochen,  stürzen  sie  (die  Priester) 
sich  nach  allen  Seiten  ins  Wasser,  planschen  im  Wasser  umher,  schlagen 
mit  der  Hand,  mit  den  Füßen,  schlagen  das  Wasser  mit  den  Füßen.' 

^  Nettion  carolinense.       *  Plegadies  guarauna.      '  Herodias  egretta. 

*  Ceryle  dlcyon.  ^  Grus  mexicana. 

^  19  th  Änn.Bep.  of  the  Bur.  of  Amer.  Ethnol.  pt  I  p.  284. 

"^  Buho  virginianus  saturatus,  syruium  nebulosum,  megascops  asio 
(so  Mooney).  ^  Cyanocitta  cristata. 

^  Vgl.  Loewenthal  Beligion  der  Ostalgonkin,  1913,  S.  23. 

Arcliiv  f.  Keligionswissenschaft  XVH  43 


074  Mitteilungen  und  Hinweise 

Zeremonie,  die  ihm  einige  ungenannte,  von  dort  stammende  pro- 
testantische Predigerseminaristen  berichtet  hätten.  Da  ich  mich  ein- 
gehend mit  den  jüdischen  Volksbräuchen  befaßt  habe  und  mir  eine 
derartige  Zeremonie  völlig  unbekannt  ist,  so  erkläre  ich  auf  Grund 
meiner  genauen  Nachforschungen  in  Oberschlesien  und  Posen  jene 
Angaben  für  unrichtig.  Nach  altjüdischem  Brauch  hat  der  Jude 
beim  Schwören  die  Thora  in  der  Hand  gehalten  (Talmud  Sebuöt  38b), 
und  noch  heutzutage  gehen  in  Rußland  zwei  Juden,  die  einen  Rechts- 
handel haben,  zum  Rabbiner,  der  mit  Hinzuziehung  von  zwei  Assi- 
stenten das  Urteil  fällt.  Schiebt  er  jemandem  einen  Eid  zu,  so 
legt  jener  eine  Hand  auf  die  Thora  und  schwört.  R.  Jösef  Karo  in 
seinem  Komm.  Bet  Jösef  zu  Tur  Hosen  Mispät  §  87,  25  schreibt, 
daß  es  üblich  sei,  beim  Schwur  die  ganze  Hand  auf  die  Thora  zu 
legen.  Maharil  (um  d.  J.  1400)  gebietet,  daß  man  bei  Schwüren, 
die  man  vor  Gericht  ablegen  müsse,  stets  die  Hand  auf  den  Penta- 
teuch  legen  solle,  weil  „die  Christen  meinen,  daß  bei  den  Juden 
nur  ein  in  dieser  Weise  abgelegter  Eid  Geltung  habe"  (vgl.  M.  Güde- 
mann,  Gesch.  d.  Erziehungswesens  und  der  Kultur  der  Juden  III  153f ). 
Diesen  Brauch  erwähnt  auch  der  Sachsenspiegel  c.  259:  „Sol  din 
rehte  haut  in  dem  buoche  (=  Pentateuch)  ligen,  biz  an  daz  riste 
(=  Handgelenk)."  Um  1680  schwur  der  norddeutsche  Jude,  indem 
er  die  Torarolle  in  dem  Arm  hielt  (Denkwürdigkeiten  der  Glückel 
von  Hameln,  hrsg.  v.  A.  Feilchenfeld  1913,  140).  Nach  dem  Talmud 
(Öebuöt  36a+b)  hat  einer,  der  den  Eid  leisten  soll,  schon  dadurch, 
daß  er  auf  den  Inhalt  des  Schwures,  den  man  ihm  vorher  kund- 
tut, mit  „Amen"  (^es  ist  wahr')  antwortet,  den  Schwur  getan.  In 
Posen  und  Oberschlesien  wurde  bis  vor  etwa  35  Jahren  der  vom 
Gericht  auferlegte  Schwur  eines  Juden  in  der  Synagoge  in  Anwesen- 
heit eines  Rabbiners  abgelegt,  wobei  der  Schwörende  während  der 
Eidleistung  eine  Hand  auf  die  Thora  legte.  Die  Thora  gilt  aber  als 
unbrauchbar  (''^^?),  wenn  darin  Buchstaben  völlig  abgerieben  oder 
verschrieben  sind.  Der  bigotte  Jude  leistet  überhaupt  keinen  Schwur, 
selbst  wenn  er  hierdurch  den  Prozeß  verlieren  sollte.  Herr  Rabbiner 
Professor  Dr.  Ph.  Bloch  in  Posen,  der  73  Jahre  alt  ist  und  noch 
den  alten  Judeneid  aus  seiner  Praxis  kennt,  schreibt  mir  auf  meine 
Anfrage:  „Es  ist  mir  nicht  bekannt  —  und  wenn  es  so  wäre,  wie 
jene  Zöglinge  des  Predigerseminars  es  angeben,  wäre  es  mir  bekannt 
geworden  — ,  daß  in  Oberschlesien,  wo  ich  geboren  und  erzogen  bin, 
und  ebensowenig  in  der  Stadt  Posen  und  deren  Umgebung,  in  der 
ich  seit  40  Jahren  lebe  und  amtiere,  derartige  Praktiken  im  Schwange 
waren  oder  überhaupt  als  wirksam  betrachtet  wurden,  um  einen 
Schwur  außer  Kraft  zu  setzen.  Übrigens  war  bei  der  Schwurabnahme 
stets  ein  Rabbiner  zugegen,  der  sicherlich,  wenn  derartiges  geübt 
worden,  den  Richter  darauf  aufmerksam  gemacht  hätte,  auch  den 


Mitteilungen  und  Hinweise  675 

Schwörenden  regelmäßig  darauf  hinwies,  daß  er  nicht  in  seinem 
Sinne,  sondern  im  Sinne  der  Richter  und  Gottes  den  Eid  leiste. 
Verdächtig  erscheinen  mir  die  Mitteilungen  jener  Predigerseminaristen 
schon  darum,  weil  es,  wenn  ich  nicht  irre,  länger  als  30  Jahre  her 
ist,  daß  bei  derThora  nicht  geschworen  wird,  während  jene  Seminaristen 
doch  sicherlich  tief  unter  diesem  Alter  stehen.  Ich  kann  nur  be- 
tonen, daß  ich  von  all  diesem  niemals  etwas  zu  hören  bekommen 
habe.  Wohl  aber  weiß  ich,  daß  die  Juden  eine  —  vielleicht  aber- 
gläubische —  Scheu  vor  der  Eidesleistung  haben,  und  daß  die  Rabbinen 
selbst  einen  richtigen  Eid  perhorreszieren  (vgl.  Wajiqrä  Rabbä,  Par.  6; 
Gittin  35  a)."  Natürlich  wird  es  wohl  zu  allen  Zeiten  Juden  gegeben 
haben,  die  auch  einen  Meineid  leisteten,  aber  es  gibt  keinen  jüdischen 
Brauch,  der  den  Meineid  begünstigt.  R.  Meir  aus  Rothenburg,  der  um 
1250  lebte,  gebietet,  daß  die  Juden  verpflichtet  wären,  einen  Glaubens- 
genossen, der  einem  Andersgläubigen  gegenüber  falsch  schwören  wolle, 
auf  jede  mögliche  Weise  an  seinem  Vorhaben  zu  verhindern  (vgl.  M. 
Güdemann  a.  a.  0.  I  149).  Derjenige  Jude,  der  also  einen  Meineid 
leistet,  kann  sich  auf  einen  jüdischen  Brauch  nicht  stützen. 
Cöln  J.  Scheftelowitz 

Zur  ^Mutter  Erde' 

Durch  die  Freundlichkeit  von  G.  Thiele  in  Marburg  werde  ich 
nachträglich  darauf  aufmerksam,  daß  die  oben  S.  333f.  gegebene 
Erklärung  der  Phaedrusfabel  118  schon  in  der  folgenden,  von 
mir  übersehenen  Notiz  der  Berliner  Dissertation  (1911)  PÄae^inawa 
von  A.  Tacke  (S.  45,4)  kurz  angedeutet  vorlag:  ad  hanc  fdbulam, 
quam  ego  aetiologicam  esse  puto  (de  hoc  gener e  disserit  Thieleus 
a.  1908.  in  Nov.  Annal.  vol.  21,  p.  380.  389s.)  cf.  initivm  libri 
Georgii  (sie)  Samteri,  qui  inscrihitur  Geburt,  Hochzeit,  Tod  {a.l911.), 
maxime  p.l5ss.,  ubi  leges  medicos  graecos  idem  egisse  ac  virtmi  fdbeüae. 

Czernowitz  G-.  A.  Gerhard 

Hagiographisches 

Die  (lateinische)  Vita  S.  Genovefae  hat  C.  Künstle  in  der 
Bibliotheca  Teubneriana  (Leipzig  1910)  neu  herausgegeben.  Die 
Einleitung  bietet  eine  gegen  Br.  Krusch  gerichtete  Besprechung  der 
verschiedenen  Rezensionen  der  Legende;  der  Text  ist  nach  der  Re- 
zension 0  gegeben,  die  nach  Künstle  die  relativ  älteste  ist  (vgl.  die 
Besprechung  von  Carl  Weyman,Berl.philol.Wochenschr.  191 1,1026 ff.^ 
wo  einer  Überschätzung  des  Schriftstückes  entgegengetreten  wird). 
—  In  dem  Büchlein  von  W.  Lüdtke  imd  Th.  Nissen,  Die  Grab- 
schrift des  Aberkios  (Leipzig  u.  Berlin  1910)  wird  auf  die  Be- 
deutung der  kirchenslawischen  Überlieferung  (vgl.  A.  Semenov,  BerL 
philol.  Wochenschr.  1911,   1534)  der  Aberkiosinschrift  hingewiesen 

43* 


ß76  Mitteilungen  und  Hinweise 

und  der  Text  der  Inschrift  in  den  wichtigsten  Parallelfassungen 
vorgelegt.  Die  Ausführungen  Nissens  bezwecken,  eine  'Aufarbei- 
tung der  gesamten  indirekten  Überlieferung  der  Aberkiosvita'  zu 
veranlassen  und  'zu  verhüten,  daß  jemand  in  der  nicht  zur  Ruhe 
kommenden  Diskussion  über  die  Grabschrift  fürderhin  urteile,  ohne 
zu  der  handschriftlichen  Überlieferung  und  ihren  Problemen  Stellung 
genommen  zu  haben'  (S.  33f.).  —  Eine  verdienstvolle  Leistung  ist 
M.Hub  er  s  Buch  Die  Wanderlegende  vonden  Siebenschläfern 
(Leipzig  1910),  in  dem  auf  Grund  umfassender  Ausnutzung  des 
okzidentalischen  und  orientalischen  Textmaterials,  sowie  sorgfältiger 
Untersuchung  des  gegenseitigen  Verhältnisses  der  einzelnen  Fassungen, 
die  Geschichte  der  Legende  gezeichnet  und  die  Frage  nach  ihrer 
Entstehung  beantwortet  wird.  Der  Verfasser  nimmt  literarischen 
Ursprung  der  Legende  an,  indem  er  die  alttestamentlich -  apokryphe 
Abimelechlegende  als  Vorbild  betrachtet  und  die  Möglichkeit  er- 
wägt, daß  ein  Reliquienfund  die  entscheidende  Anregung  zur  Ab- 
fassung der  Siebenschläferlegende  gegeben  habe.  Von  besonderem 
Interesse  sind  die  behutsamen  Ausführungen  über  die  sprachliche 
Urform  der  Legende,  in  deren  Verfolg  die  Priorität  der  syrischen 
Fassung  zugunsten  der  okzidentalischen,  speziell  lateinischen,  ab- 
gelehnt wird.  Hier  ist  viel  zu  lernen.  Hingewiesen  sei  auch  auf 
die  allgemein  methodologischen  Bemerkungen  S.  35 6 ff.,  die  gegen 
die  Auffassung  von  einem  Fortleben  des  Heidentums  im  Christen- 
tum Stellung  nehmen,  des  öfteren  mit  Recht.  Seltsam  indessen 
liest  sich  eine  Darlegung  wie  die  auf  S.  370:  'Wenn  ein  Weiblein 
gestern  vor  ihrem  heidnischen  Bild  und  heute  nach  seiner  Taufe 
vor  einem  Heiligenbild  eine  Kerze  anzündet,  so  erblickt  es  darin 
weder  bewußt  noch  unbewußt  eine  Verquickung  von  heidnischen 
und  christlichen  Anschauungen;  es  will  nur  den  neuen  Fürsprecher 
mit  denselben  Mitteln  sich  geneigt  und  günstig  machen,  mit  denen 
es  sich  bisher  an  den  früheren  gewandt.'  Die  Vertreter  der  Re- 
ligionswissenschaft, gegen  die  sich  der  Verfasser  hier  wendet,  haben 
m.  W.  nicht  von  einer  Verquickung  gesprochen,  sondern  davon,  daß 
in  vielen  Fällen  der'  christliche  Kult  in  den  Formen  des  heidnischen 
sich  fortbewegte ,  weil  die  Menschen ,  wie  Usener  zu  bemerken  pflegte, 
nicht  aus  ihrer  Haut  heraus  können.  Eben  dies  aber  sagt  in  dem 
Schlußsatz  der  ausgehobenen  Stelle  mit  anderen  Worten  auch  der 
Verfasser.  —  Ein  Gegenstück  zu  dem  Werke  Hubers  ist  das  Buch 
Joh.  B.  Aufhausers,  das  mit  straffer  philologischer  Methode  das 
Drachenwunder  des  hl.  Georg  in  der  griechischen  und  latei- 
nischen Überlieferung  untersucht  (Leipzig  1911).  Nachdem  in 
der  Einleitung  sämtliche  griechisch  überlieferten  Wunder  des  Heili- 
gen skizziert  und  die  Quellen  ihrer  Überlieferung  durchmustert  sind, 
werden  die  gruppenweise  geordneten  griechischen  Texte  des  Drachen- 


Mitteilungen  und  Hinweise  077 

Wunders  in  folgender  Weise  behandelt:  von  jeder  Gruppe  wird  zu- 
nächst die  Überlieferung  vorgelegt,  dann  der  Text  ediert,  dem  sich 
sprachliche  und  sachliche  Einzelbemerkungen  anschließen,  und  zu- 
letzt eine  Analyse  gegeben,  indem  der  Text  nach  dem  Vorbilde  von 
K.  Krumbacher  (s.  Abb.  bayr.  Akad.  phil.  bist.  Kl.  XXV  3,  1911  S.  XU) 
in  seine  Einzelmotive  zerlegt  und  auf  das  Verhältnis  der  Rezen- 
sionen und  Gruppen  zueinander  hingewiesen  wird.  In  derselben 
Weise  verarbeitet  der  Verfasser  in  dem  zweiten  Hauptteil  die  la- 
teinische Überlieferung,  innerhalb  deren  die  Fassung  der  Legenda 
aurea  am  weitesten  verbreitet  ist.  Der  Schluß  faßt  die  Resultate 
zusammen,  die  sich  für  die  Entstehung  der  Drachenlegende  ergeben. 
Das  Motiv  des  Drachenkampfes  war  in  der  hagiographischen  Lite- 
ratur wohlbekannt,  ehe  es  im  12.  Jahrhundert  von  einem  wahr- 
scheinlich griechischen  Verfasser  auf  den  hl.  Georg  übertragen  wurde. 
Die  ältesten  Akten  des  Heiligen  enthalten  den  Drachenkampf  nicht. 
Ein  Zusammenhang  mit  heidnischen  Legendenmotiven  ist  höchstens 
indirekt  vorhanden.  Derselbe  Aufhauser  hat  in  der  Bibliotheca 
Teubneriana  1913  herausgegeben:  Miracula  S.  Georgii. 

Maraunenhof  L.  Deubner 

Slawisches 

In  den  Anndles  Academiae  Scieniiarum  Fennicae  Bd.  1  (Hel- 
singf.  1909)  Abb.  3  untersucht  V.  J.  Mansikka  russische  Zauber- 
formeln, besonders  diejenigen  von  epischem  Charakter.  Die  wert- 
volle Arbeit  weist  nach,  daß  die  russischen  Formeln  in  großem 
Umfang  gelehrte  Produkte  darstellen,  deren  Motive  der  christlichen 
Symbolik  entstammen.  Die  aufgezeigte  Entwicklung  und  Entartung 
der  behandelten  Formeln  läßt  daran  keinen  Zweifel,  auch  die 
literarische  Verbreitung  tritt  klar  hervor.  Deutsche,  lateinische, 
griechische  Quellen  werden  konstatiert.  Von  den  Russen  wan- 
derten zahlreiche  Formeln  zu  den  finnischen  Völkern,  wie  der  An- 
hang 289  ff.  ausführt.  Die  Neigung  des  Verfassers,  die  Bedeutung 
des  mystisch-heidnischen  Elementes  in  den  Zauberformeln  zu  negieren 
oder  zurückzudrängen,  scheint  mir  an  manchen  Stellen  zu  weit  zu 
gehen.  Eine  genauere  Abgrenzung  wird  überhaupt  erst  möglich 
sein,  wenn  die  einzelnen  Motive  eine  schärfere  Analyse  erfahren 
haben.  Belehrend  sind  die  Ausführungen  über  Entstehung  von 
Zaubersprüchen  aus  Riten  (283  ff.).  Eingeleitet  wird  die  Abhand- 
lung durch  eine  interessante  Übersicht  über  die  Geschichte  der 
Volkskunde  in  Rußland.  Besondere  Aufmerksamkeit  verdienen  die 
auf  S.  11  mitgeteilten  sehr  modernen  Ansichten  O.Millers  (1865). — 
A.  von  Löwis  of  Menar,  Der  Held  im  deutschen  und  russischen 
Märchen,  Jena  1912,  gibt  eine  eingehende  Analyse  der  Märchen- 
Motive,  die  sich  auf  den  ^Helden'  beziehen,  zunächst  für  das  deut- 
sche,   dann    für    das   russische  Gebiet.     Alter,    Name,   Milieu,  Ver- 


678  Mitteilungen  und  Hinweise 

wandtschafts Verhältnisse,  Verlöbnis  und  Heirat,  Charakter,  Fähig- 
keiten, psychische  Motive,  Erlebnisse  und  Nebenfiguren  des  Helden 
w^erden  behandelt.  Ein  Schlußabschnitt  faßt  die  Ergebnisse  zusam- 
men, die  darin  gipfeln,  daß  das  russische  Märchen  altertümlicher, 
formelhafter,  typischer,  phantastischer,  farbiger,  detaillierter  ist  als 
das  deutsche;  dafür  hat  dieses  vor  dem  russischen  insbesondere 
eine  stärkere  Verinnerlichung  voraus.  —  Volkstümliche  bulgarische 
Riten,  ihre  Umwandlung  unter  dem  Einfluß  fremdländischer  Bräuche 
und  des  christlichen  Kalenders  behandelt  M.  Arnaudoff  in  seiner 
bulgarisch  geschriebenen,  mit  französischem  Resume  versehenen  Ab- 
handlung Eites  et  legendes  Vulgares,  Etüde  comparee  I  {Extrait  de 
la  Bevue  de  VAcademie  Bulgare  des  Sciences  IV,  Sofia  1912). 
Maraunenhof  L.  Deubner 

Modernes  Bauopfer 

Herrn  R.  Heberdey  verdankt  das  Archiv  folgende  freundliche 
Mitteilung  über  einen  Ritus,  der  noch  heute  auf  der  Stätte  des  alten 
Ephesos  bei  Grundsteinlegungen  ausgeübt  wird.  Wenn  die  Funda- 
mentgräben ausgehoben  sind,  gibt  es  ein  kleines  Fest.  Der  Uaitag 
erscheint  und  weiht  das  heilige  Wasser  (ayLa^a\  das  in  vier  kleinen 
Gefäßen  (%0V7CBg)  in  die  vier  Ecken  'ganz  unten'  vergraben  wird.  Dann 
schlachtet  man  ein  Tier  —  je  nach  den  Verhältnissen  des  Bauherrn 
ein  aqvL  oder  einen  Hahn  (netuvog)  oder  eine  Henne  {%6llu)  — 
dessen  Blut  in  die  Grundfesten  rinnen  muß.  Zuweilen  wird  das 
geschlachtete  Tier  ringsum  getragen,  so  daß  sich  das  Blut  in  alle 
vier  Gräben  ergießt;  doch  scheint  dies  nicht  unumgänglich  nötig  zu 
sein.  Das  Tier  wird  hinterher  von  den  Bauarbeitern  verzehrt.  Im 
Jahre  1896  ist  die  Grundsteinlegung  des  österreichischen  Expeditions- 
hauses in  Ephesos  durch  das  geschilderte  Bauopfer  gefeiert  worden. 

Maraunenhof  L,  Deubner 

Aphrodite  in  Ephesos 

Unter  den  ^KuvKlriGeLg  der  Aphrodite  verzeichnen  unsere  Hand- 
bücher eine  ^Eitidairla  in  Ephesos.  Das  beruht  auf  dem  erweiterten 
Servius  Aen.  I  720 :  Apud  Epliesios  Yener em  Automaten  {Automatem  C) 
dixerunt  vel  Epidaetia  (so  C  aus  Epidecia  korrigiert).  Nachdem 
das  Aition  erzählt  ist,  fährt  er  fort:  quod  ergo  sponte  <^funes  Thilo) 
fuissent  soluti,  Automatae  Veneri  nomen  sacravit,  quodque  cum 
epulas  pararet,  virgo  ei  aquis  fuisset  advecta,  Epidaeti  (so  C)  sacra- 
vit. Thilo  setzt  Epidaetia^in)  resp.  Epidaeti<^aey  ein ;  indessen  führt 
die  Überlieferung  an  der  zweiten  Stelle  auf  Epidaeti(diy  und  an  der 
ersten  ist  Epidaeti(ßya  kaum  schwerer  als  die  Korrektur  der  Vul- 
gata.  Das  so  gewonnene,  formal  einwandfreie  EniöaLTig  läßt  sich 
leicht  erklären.  In  Ephesos  gab  es  einen  Platz  z/am^,  zu  dem  die 
dsLTtvocpOQLanr]  TtofiTtr}  der  Artemis  ging  (Et.M.  252,11;  Heberdey, 
Ost.  Jh.  VII  1904,  210;  BerLKlass. Texte  V  2, 119).   An  ihm  lag  also 


Mitteilnngen  und  Hinweise  ß79 

der  Aphroditetempel,  und  die  Göttin  iitl  JairCÖL  wurde  durch 
„Hypostase"  zur  'EnCStmxLg.  Avxo^dxn]  als  Beiname  gerade  der  Aphro- 
dite ist  verständlich;  die  Avxo^axia  Timoleons  (Plut.Tim.  36, 3) 
und  Avxoiiaxov  (oder  Avxo^iaxog?)  in  Pergamon  (Hepding,  Ath, 
Mitt.  XXXV  1910,458)  bieten  nur  sehr  entfernte  Analogien. 
Königsberg  i.  Pr.  K.  Latte 

Neue  Förderungeu  der  religiousgeschichtlichen  Arbeit 

1 .  Ad.  Harnack  hat  der  Königl.  Preußischen  Akademie  der  Wissen- 
schaften zu  Berlin  eine  Stiftung  überwiesen,  deren  Ertrag  zur  För- 
derung der  kirchen-  und  religionsgeschichtlichen  Studien  im  Rahmen 
der  römischen  Kaiserzeit  (d.  h.  der  Zeit  vom  I.  bis  VI,  Jahrhundert 
n.  Chr.)  dienen  soll.  Von  diesem  Ertrag  sollen  auf  dem  bezeichneten 
Gebiete  Preise  für  bestimmte,  vorher  gestellte  Aufgaben  verliehen, 
ausgezeichnete  Werke  zum  Druck  befördert  oder  prämiiert  und 
deutsche  Gelehrte  in  ihren  Arbeiten  und  Studienreisen  unterstützt 
werden.     (Sitz.-Ber.  Berl.  Akad.  1913  S.  965.) 

2.  Bei  der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften  zu  Göttingen 
ist  eine  religionsgeschichtliche  Kommission  gebildet  worden,  die 
„Quellen  der  Religionsgeschichte"  zu  sammeln  und  in  deutscher  Sprache 
herauszugeben  beabsichtigt.  Der  Zweck  dieses  Unternehmens  ist, 
der  religionsgeschichtlichen  Forschung  ein  möglichst  umfassendes 
und  zuverlässiges  Quellenmaterial  zur  Verfügung  zu  stellen.  Es 
wird  Wert  darauf  gelegt,  möglichst  für  alle  Religionen  der  Erde, 
vergangene  wie  lebendige,  die  wichtigsten  Quellen  in  geordneten 
Gruppen  herauszugeben.  Wo  es  wünschenswert  ist,  sollen  die  Ori- 
ginaltexte in  einer  besonderen,  zwanglosen  Reihe,  als  „Texte  zu 
den  Quellen  der  Religionsgeschichte"  in  kritischen  Ausgaben  bei- 
gegeben werden.  Dabei  soll  die  philologische,  geschichtliche  und  literar- 
geschichtliche  Forschung,  die  allein  die  sichere  Grundlage  zu  liefern 
imstande  ist,  hier  nicht  Selbstzweck  sein,  sondern  der  Religions- 
wissenschaft die  Wege  ebnen  und  sich  in  ihren  Dienst  stellen. 

Obige  Sätze  sind  mit  einigen  Kürzungen  aus  dem  Programm 
der  Kommission  genommen,  das  ausführlich  auch  über  die  für  die  ein- 
zelnen Religionen  geplanten  Werke  unterrichtet.  Wer  dies  Programm 
genauer  kennen  lernen  will,  erhält  es  auf  Wunsch  kostenfrei  zu- 
geschickt von  Prof.  D.  Titius,  Göttingen,  Nikolausbergerweg  66. 
Münster  i.  W.  R.  Wünsch 


[AbgoBchlosaen  am  16.  Mai  1914.] 


Register 

Von  Richard  Kohl 


Aal  76;  432;  434 
Aaron  29 
Aas  401;  416 
Abendmahl  318 
Aberkios  675  f. 
Abraham  49  f.;  57;  59;  375,2 
Acheloos  528 
Ackerbauriten   145;    151f.; 

154 f;  408;  550;  690;  596 
Aditja  39 
Adonis  205 
Affe  583  f.;  596  f. 
Afrikanisches  3 f.;  154;  156; 

218;  342;  361;  368;  372,5; 

380,5;    381;    383  f.;    388; 
-395;    398;    399,5;    400,1; 

401;    403;    405,3;    408,5; 

409;    412;     496;     546  f.; 

666;  574;  s.  auch  Ägyp- 
tisches u.  Arabisches 
Agathos  Daimon  22  f. 
Agni  34;  355,2 
Ägyptisches    146,2;    150,1; 

153;    196ff.;    377;  379,4; 

385;    389;   417  ff.;    428  f.; 

515;  518  ff. 
Ahnenkult  9;    165  ff.;    195; 

267  fiF.;    332;   491;  549 f.; 

560;  584;  592f. ;  605 
Ahnenschrein     s.    Geister- 
häuser 
Ahriman  39;  228 
Aion  344 
Alodia  164,1 
Altar    20;    27 f.;     34;    66; 

214 f.;  524;  592 f.;  664 
Altchristliches  141;  251  ff.; 

360  ff.;  366 ff.;  376;  378 f.; 

660 ff.;  s.  auch  Neutesta- 

mentliches 
Altte8tamentliche8l5f.;  29; 

34;  41ff.;  203;  205;  209; 

248;     364f;    366 f.;    372; 

374;    375,2;    376;    378,7; 

382ff.;  884.7;  397,1;  400,1; 

405;  413  ff. 
Amazonen  332. 
Amerikanisches   157;   363; 

368;     371;     374,4;     389; 


398 f.;    404;    500;    505 f.; 

511;  535;  566;  569;  571; 

572f.;  580;  s.  auch  India- 
nisches u.  Mexikanisches 
Amon-Rä  206 f.;  208;  211; 

213;  216;  311;  343 
Amphidromien  34 
Amulett    50;     137;    212 f.; 

224f.;  250;  372;  380;  699; 

602;  606 
Anabiose  der  Fakire  456 
Anagramm  343 
Anahita  b9;  236 
Analogiezauber      146  ff.; 

152,1;  154f  ;  672  f. 
Anäth-Jähu  51 
Anattalehre  613 
Animatismus  9;  561 
Animismus  Iff.;  8;  18;  26; 

90;  201;  494 f.;  539;  543  ff.; 

563  f.;  579;  589  ff.;   599 
Antaia  525 
Anthesterien  25;  499 
Anthropomorphismus     6  f.; 

21;  34;  126;  201;  429,2; 

619;  548;  550;  557;  563; 

582;  587;  591;  597;  602 
Antoniterkreuz  225 
Anubis  218;  519 f. 
Anubistier  213 
Apaturien  32 
Apepischlange  202 
Aphrodite  33;  332;  678 
Apis  213 
Apollon  529 

Apopompe  388  ff. ;  585;  598 
Apostelkonvent  308 
Arabisches  152,2;  401;  407; 

408,5;    409 f.;    412;    421; 

429;  668;  670 
Areopagrede  d.  Paulus  306 
Aristides  527  ff. 
ScQUTSLa  33 

Armbänder  als  Amulett  606 
ars  magica  345 
Artemis  332;  524f.;  530,1 
Asche  67;  367,1;  368,4;  403; 

405;  454,1;  479;  488;  589; 

605 


Aschermittwoch  144 
Aschim  52 
Asklepios  527  f.;  530 
Asoka  618;    621  ff.;    643 f.; 

649 f.;  657 
Assyrisches  247;  298;  301; 

345;     385,3;     387;     392; 

396;  421  f. 
Astarte  54;  349 
Astrologisches  39;  49;  202; 

218;  232;  246;  298;  317 
Asvagosha  279  f.;  465;  637ff.; 

65') 
Athene    29,2;    425;    525,1; 

528;  631,1 
Attis  143;   151;  297 
Augen  d.  Toten  geschlossen^ 

496 
Augenblicksgötter  551 
Augendiebstahl  538 
Ausfegen  zur  Dämonenver-| 

treibung  490;  499 
Australisches  5;  7;  23;  31; 

368,4;    371;    375,2;    396; 

399,5;  404,4;  405,3;  408,6; 

542;     555;     561;     566  f.; 

568  ;  570  f.;  574 ;  s.  auch 

Polynesisches 
Avesta  s.  Iranisches. 

Baal  48;  54 
Babylonisches  21 ;  30;  46,1; 

150,1;     167;    233;     241; 

281;  298;  301;  343;  356,1; 

357,4;    372;    377;    386,2; 

388 f.;    397,1;    401;    406; 

421  f.;    428;     632;     668; 

670  f. 
Backwerk  336;  394,2,  4. 
Bad  67;  77;  80;  95ff.;  161; 

353  ff.;  385;  396  ff.;  406 ff.; 

480;  482;  585;  604 
Bajami  5;  7 

Bakchos  33;  140;  363;  664 
Bakchosfeste  31  f.;  140 
Baltisches  s.  Litauisches 
Basile  332 
Bastet  208;  429,2 
Bata  519 


B'egiiter 


681 


Baum,  heiliger  28;  71;  210; 
342;  479;  598;  656;  — , 
sprechender  oder  singen- 
der 133  f  ;  — ,  (Maibaum) 
144 ;  — ,  u.  Dämonen  390 ; 
593  f. 

Baumgeist  685;  590;  604;  606 

Bauopter  393,5;  596;  678 

Beichtformeln  355  ff. 

Beil  201 

Berggeister  583;  590;  605 

Berührungszauber  29;  130; 
147;  150;  152,1;  156; 
507  ff.;  602;  604;  666 

Bes  208 

Beschneidung  217;  366 

Beseelung  s.  Animismus 

Bestattungsplätze  70  ff;  81 ; 
K'5;  110;  128;  198;  207; 
367,1;  405;  488;  600 

Betelnuß  im  Totenkult  71  f. 

Bethel,  Wortbedeutung  51 

Bhütatathatä  278 

Bienen  504;  520 

Bierdämon  208 

(Blaue  Farbe  587 
Blumen  im  Kult  160,2;  215; 
374,4;  493 
Blut  27;   362;    380;    393,2; 
402;  411f.;  433;  619;  660; 
583;  586;  594;  699  f.;  602; 
678 
Blutschande    360,2;    363,1; 
380,8;  550  f.;  s.  Exogamie 
Bock  147;  213;  374 
Böser  Blick  410;  606 
Bouphonia  29 
Brahma  11;  38 
Brahmanismus     11  f.;     88; 

1360  f.;     369;     374;     377; 
508;    609;    616;    s.  auch 
Indisches 
randopfer  215 
rauronien  33 
Brautleute,    von   Dämonen 

bedroht  379;  410 
Brotaufschneiden  b.  Trauer 

136 
Buceros  593;  696  f. 
Buddha    260;    282;    376,2; 
465;  513;  608;  612;  615; 
626f;  633; 636; 643; 649; 
654;  666 

uddhistisches  116ff.;  122  f. 
167 ff  ;  177;  180 f.;  196; 
266;     258f.;      262;     268; 


273 ff.;  369 f.;  877;  437 ff.; 

607 ff.;  666;  s.  Mahäyäna 

Büffel  375;  394,4;  683;  587. 

—  Opfer  380,3;  591 
Butter  401;  s.  auch  Fett 

Ceres  424 

Chadir  667  ff. 

Ch^rem,  Bedeutung  62 

Chinesisches  9 ;  13 f.;  165 ff. 
266 f.;  261;  273 f;  275 
277;  383,1;  463;  465 
621;  628;  635  f.;  638 
640 f.;  643;  661 

Christentum  u.  ägypt.  Re- 
ligion 204;  206;  —  u. 
Astrologie  298;  —  u. 
Buddhismus  269;  276  ff.; 
609;  615;  646 ff.;  —  u. 
Griechentum301ff.;304ff.; 
318 f.;  321  f.;  328 f.;  — 
u.  Mahäyäna  281 ;  —  u. 
Mythologie  297 f.;  —  n. 
Konfuzianismus  168  ff. ; 
178 f.;  196;  —  u.  Parsis- 
mus   234 f.;   249;    251  ff.; 

—  u.  Symbolismus  298 
Chronologie,   ägypt.  198 f.; 

— ,    altchristliche     308 ; 

— ,   babylonische  233  f; 

— ,  indische  644;  660 ff.; 

— ,  persische  229;  233  f.; 

249  f. 
Chthonische  Götter  30 
X'itQOL  28 

Damalis  348  f. 
Damianos  530 
Dämonen  49;  88;  208;  223; 

244;     249f.;     311;     332; 

375ff.;386;388ff.;392ff.; 

396 ff.;  427 ff.;  439;  484; 

653 f.;  557 f.;  662;  582 f.; 

690 ff.;  600 ff.;  637 
Dämonenabwehr  156 ;  368f.; 

382;     406 ff.;     484;    491; 

495;  498;  688;  691;  693; 

602 
Dämonenaustreibung  26;  80; 

90;     216;     224;     376ff.; 

388  ff.;      392  ff.;      396  ff.; 

480;     490;    499;    686  f.; 

688;  590;  694 f.;  —Jesu 

298 
Daumen,     zusammenge- 
schnürt b.   Toten    496  f. 
David  337;  376;  384,7 


Deborulied  67;  69 
decursio  606 
Defixion  846;  891 
deluhrum  SSb 
Demeter  21,2;  882;  624 
Demophon  21,2 
Deutscher  Aberglaube 

144 ff.;   161;    166 f.;    842; 

386,6,6;    391;    396;    898; 

400,1;  408;  411  f.;  469 ff.; 

607;  674 f;  677;  s    auch 

Germanisches 
Dbamma  468;  607;  618 f.; 

627 
Dhammapada  122;   629 f.; 

636 
Dbaramoolan  84 
Diebesstrafe  601 
Dienstag  407 
Diogenes  336 
Dionysos  24;    27;    32;    62; 

297;    332;    626,1;    627ff. 
divinatio  43 
Dohle  131 

Donnergott  167;  692 f.;  600 
Donnerstag  128 
Domen  393,i;  496;  602 
Drache  33;  593 
Drachenwunder  676  f. 
Dreigeteilter   Himmel  804 
Dreizahl  66;  82;  128;  268; 

267;     364;     366;     368,4; 

890;    402 f.;    406 f.;    410; 

442;  446;  460;  463;  481; 

490;  492;  497;  600;  622; 

684;  688;  692 
Dryops  32 
dvva^ii  ^ytxT}  846 

Ehe  6;  162;  260;  842;  668; 
667;  666 f.;  676;  B.  auch 
Exogamie;  —  zw.  Him- 
mel U.Erde  10;  166;  178 

Eidechse  76;  214;  422;  688; 
697 

Eingeweideschan  592;  696 

Einzahl  u.  Mehrzahl  882 

Eisen  und  Geister  484; 
498 f.;  686;  694 

Elephantine,  Urkunden  von 
86;  60  f. 

Elias  336 f.;  662 f.;  670 

Empedokles  616  f. 

i(i7tsiQia  iucyiifq  346 

ivigyBia  iiaytxil  846 

Enyalios  426 


682 


Resrister 


iitccoidai  345 

Epidaitis  678  f. 

Epheben  32 

Ephesia  332 

Erbteilung  479 ;  483 ;  485  f. ; 
505 f.;  510;   511  f. 

Erde  68;  94;  249;  361,2 
381;  392 f.;  397,1;  402; 
607;MutterErde40;333f.; 
341  f.;  352;  480;  509;  675 

Erdgeister  492;  583;  600 

Erinyen  20 

Erntebräuche  491;  595 

Erntegötter  592 

Ertrunkene,  göttlich  210 

Erzengel  248 

Eschatologisches  bei  den 
Ägyptern  217;  220 ff.;  — 
bei  d.  Indonesiern  587 ff.; 
595;  —  bei  d.  Japanern 
266 ff.;  —  bei  d.  Litauern 
125  ff. ;  —  im  Parsismus 
249;  253;  —  auf  d.  Salomo- 
inseln  84  ff. 

Esel  220,1;  418 

Eskimo  146;  167;  503 

svccvrriros  525  f. 

svLSQog  525  f. 

Eulamo  343  f. 

Eule  583;  672 

Euripides  40 

Eurosia  159  ff. 

Exkremente  221;  407;  — 
als  Seelensitz  602 

Exogamie  31;  550;  553; 
557;  566 ff.;  576 

Exorzismus  s.  Dämonen- 
austreibung 

Faden  s.  Schnur 

Fakire  455  ff. 

Falke  211  ff.;  520 

Fangen  der  Seele  s.  Seelen- 
fang 

Fastenbräuche  147  f. ;  152  ff.; 
336 

Fastnachtsmann  144  f. 

Fetischismus  3;  40,i;  649; 
554;   556;  598;  600 

Fett  408/;  s.  Butter 

Feuer  21,2;  34;  102;  231 
248;  363;  371,1;  374,4 
380;  383;  397,2;  402 f. 
407,8;  410;  487;  496;  587 
690;  672 

Feuergott  357;  592 


Figur,    menschliche     372; 

381;392ff.;585;589;591; 

598 f.;  604;   — ,  tierische 

394,4;  600;  604 
Fingernägel  250;  403,8;  487; 

688;  599;  602 
Fisch    68;    70f.;    80;    214; 

338 f.;    372  f.;   394,4;  395; 

417ff.;421;427;430;433; 

583;  600 
Fischsymbol  336;  665  f. 
Fliege  427;  582;  587 
Flüsse,  heilbringende  360  f. ; 

398,7 
Flußgeister  583;  592 
Flußgott  Jordan  661  ff. 
Freya  151 
Fruchtbarkeitsförderung 

30;  145;  147;  151  f.;  152,2; 

154ff.;    396;     587;     590; 

593;  672 
Fruchtbarkeitsminderung 

durch  Leichen   480;  501 
Fruchtbarkeitssymbole  147; 

550;  584;   606 
Frühlingsfest  144  f.;  148  ff.; 

151;  156;  158;  342;  363,1; 

672 
Fünfzahl     206;    267;    368; 

404;  485;  589 
Füße  der  Toten  zusammen- 
gebunden 496;  604 

Ganges  361 

Gans  131 

Garn,  in  die  Luft  geworfen 

457 ff.;  467 ff. 
Geburt    332;    333 f.;   405,8; 

678;  598;  s.  auch  Wöch- 
nerin 
Gebet  6;  30;  56;  68  ff.;  208; 

262;  263;  265;  267;  269; 

359 ff.;    362 f.;    368;  373; 

374,3;  379;  386 f.;  388 ff.; 

399;  408;  491;  547;  651; 

555;  592  f. 
Gebetsrad  288 
Gehirn  als  Seelensitz    599 
Geister  d.  Toten    26;  69  f. 

77;    84 ff.;    125 ff.;    266 f. 

380,5;    382;    392;    400,1 

409;  481;  488 ff.;  495 ff. 

553;  582 ff.;  586 ff.;  690 

592;   602;  604 f. 
Geisterhäuser  267;  270 ;  586 ; 

588;  591;    600 


Geisterseher       103;      106; 

128 ff.;    489;    498;    500 f. 
Geistertragen  130  f. 
Gelbe  Farbe  156 
Geld,  d.  Toten  mitgegeben 

65;    93;    97;    481;     486; 

488;  504;  594 
Geld  im  Stecken  135  f. 
Gelenke  u.  Seele  582 
Germanisches     333;  368,4; 

399,5;  431,2;  496,7;  s.auch 

Deutscher  Aberglaube 
Geschwüre  507 
Gestirnkult     39;    61;   202; 

246;   s.   auch  Mondkult; 

Sonnenkult 
Gewandverbrennen  538 
Giraffe    219;  434 
Glaukos  669  f. 
Gleichgeschlechtliches 

674  f. 
Gnostizismus    301  ff.;    321; 

329  f. 
Gottesanschauung,    ägypt. 

201;  — ,  Israel.  45 
Gottesbewußtsein,    Fehlen 

des  18  ff. 
Gottesglaube,  Entwicklung 

542ff.;551;657;560;561ff' 
Gottesurteil  134f ;  250 
Göttin,  große  332;  — ,  nackte 

332 
Göttinnen ,     löwenköpfige 

207;  — ,  schweinsköpfigt 

439  ff. 
Göttliche  Kraft,   Ausstrah 

lung  d.  29  f. 
Götzenbilder       49;     367,1 

5921;  596;  605  f. 
Grab  in  Kapellenform  66^ 
Grabhügel  488 
Gras   im    Kult     360;    371 

374,4;  402 
Grazien  27 
Griechisches  17  ff.;  37;  39  f 

138;  144,1;   148,8;   150,3 

151;     231;     233; 

303 ff.;    309;    321; 

343;    345 f.;    347 f. 

362;    369 f.;    376; 

385;    386  1,6;    387; 

399,5;    402;    407; 

423 ff.;    428; 

606;    513  ff. 

640;     648; 

676 


253  f. 

333  f 

;    352 

384,7 1 

;    3971 

408,5 

499;     604 

680;    615 

657;    666  ff.  j 


Register 


683 


Gründonnerstag    128;  131; 

481 
Grüne  Farbe  155;  444 

Baar    34;  384,7;  560;  688; 

599;  601  f.;  — ,  aufgelöst 

154;  366;  — ,  geschoren 

403;  595;   — ,  verbrannt 

250;  403,8;  598 
Habicht  596  f. 
Hahn  128;  393,3;  423;  501; 

595;  678 
Halsketten  als  Amulett  599 
Hamingja  4 
Hammurapi  46 
Hand  d.  Toten    496 f.;  607 
Händereinigung   363;  382; 

383,4;    385;    386,2,6,  387; 

397,1;    402 f.;     407;     489 

ase  131;  419;  422;  435,1; 

672 
uustiere     146;  147;   408; 

422;  436;  480;  505  f. 

aut   2 7 f.;  84 f. 
lautabziehen  578 
jHayagriva  441 
Heilige,    Christliche     138,; 

159ff.;    308;    376,2;    647; 

649;  664 f.;   675 ff. 
Heiliges  Edikt  168;  171 
Heilung  d.  blinden  Frauen 

538 
Hekate  426;  528 
Held  677  f. 
Helios  205 

Hellenistisches    s.  Griechi- 
sches 
Hera   332;  425;  428 
Herakles   348 f.;  530  —  u. 

Simon  v.  Kyrene  298 
Heraklit   362,7;   521;    610; 

—  u.  Zarathustra  253 
JHermelin  131 

Hermes  24;  205;  529 
Herodot   u.   Ägypten  204; 

—  u.  Persien  234 
Heroentum  332 
Herrgottsbrunnen  352 
Herz  220 f.;  520;  602 
Hesiod  39 

iHestia  525,1 
Hethiter  39 
Heuschrecken  415  f. 
Hexe    376 f.;    395 f.;    397,1; 

386,6;    445;    467;    469f.; 

583;   598 


Hierodulie  46;  332;  s.  auch 

Prostitution,  sakrale 
Hilarien  140  f. 
Hippolytos  34 
Hirsch  426;  683;  596  f.;  600 
Hochzeitsbräuche  236;  250; 

410  ff. 
Höhlengeist  585;  604 
Hölle   94 ff.;  253;  520;  587 
Holi  151 
Homer  39 

Honig  337,2;  358;  401;  493 
Hom  393,1 
Horoskop  225 
Horus  208;  213 
Hund     94  ff.;    128  f.;     131; 

212f.;    401;   425ff.;  444; 

501;  592;  596 ff.;  600 
Huhn  342;  381;  389;  394,4; 

403;  592;  596 f. 
Hypostasen  332;  679 

Ibis  213;  429 

Indianisches  3;  157;  362; 
368,4;  384;  398;  399,5; 
404;  405,3;  408;  411  f.; 
506;  572;  574;  578;  580; 
671  ff.;  s,  auch  Amerika- 
nisches u.  Mexikanisches 

Indisches  11  f. ;  28 ;  38  f. ;  146 
151;  354 ff.;  364,3;  368 
373f.;  375,2;  376;  380 
386 ff.;  389;  393 f.;  396 
402;  405,8;  406  f.;  410 f. 
422 f.;  435;  455ff.;  479,1 
487,2;  495;  499;  601 
602,2,3;  503f.;  507  f.;  510f. 
5l3;566;680;607ff.;668 
s.  auch  Indonesisches 

Indonesisches  154;  368,4; 
374;  380;  383,2;  389; 
394;  400,1;  405,3;  408,5; 
411;  497; 505; 566;  582 ff.; 
644;  8.  auch  Indisches 
und  Polynesisches 

Indra  39;  249;  359 

infelix  arbor  501 

Inschriftliches  25;  39;  198; 
207ff.;215ff.;228f.;230f; 
232;  237;  247;  371;  509; 
524 ff.;  621;  623;  645; 
649 ff.;  675 f.  i 

Iranisches  38 f.;  167;  226 ff.;  ! 
301;  333;  375,2;  378;  I 
386f.;  401;  600;  509;  616;  ! 
646;  668  I 


Irisches  871,8;  398;  470; 
611 

Isis  143;  146,»;  149;  166,1; 
202;  204;  2l7ff.;  864 

Isidis  navigium  149 

Islam  12;  167;  234f.;253f.; 
867;  402,6;  410;  440,2;  497; 
611;  593;  600;  670f. 

Israelitisches  132 ff.;  230 
249;  261  ff.;  281;  302 
836  ff.;  357,6;  361,2;  365  ff. 
372 f.;  376,2;  378;  384,7 
886;  386 f.;  397,1;  399,5 
400,1;  402,6;  405;  412,2 
564;  666 f.;  667;  673 ff. 
s.  auch  Alttestament- 
liches 

Jagdzauber  68 f.;  80;  407; 

599 
Jahve  15;  29;  34;  44;  46 f.; 

61;  54ff.;  59f. ;  428;  485; 

526,1 
Jainistisches  369;  402,6 
Japanisches  182 ;  196 ;  256  ff.; 

372;  386;  403 
Jason  33 
Jeremias  36;  46;  56;  364; 

s.  auch  Prophetismus 
Jesaias  44 ff.;  324;  s.  auch 

Prophetismus 
Jesus  138;  178;  296 ff.;  806; 

316 ff.;  320 f.;  339;  389,5; 

664  f. ;  —  u.  Pharisäismus 

320f ;— ,Taufe660ff.;— , 

Versuchungsgeschichte 

286;  376,2;  376,3;  648 
Johannes  d.  Täufer  316 f.; 

660  ff. 
Johannesevangelium     298; 

306;  314ft\ 
Jordan   660  ff. 
Josua  134;  339 
Jungfraumuttermythus  638 

Kamel  422;  434 

Kampf     zw.     Sommer     u. 

Winter  145 f.;  672 
Kaniska  615;  660 ff.;  657 
Kanopen  206;  224 
Karfreitag  27;  408 
Karneval  138  ff. 
Katze  208;  214;  429;  583; 

587;  «04 
Keilinschriften      39;     232; 

237;  247 


684 


Register 


Keuschheitsgelübde ,      ge- 
brochenes 360;  383,1 
Kiefer,     festgebunden     b. 

Toten  481;  496  f. 
Kinder  5;    66;  250;  364,4; 

372;     394,2;    480;    484; 

493;    576 f.;    594 f.;    600; 

673  —  i.  Jenseits  130 f.; 

507  f.     — ,    neugeborene 

224;     362;     367,4;     368; 

379;  405;  412 
Kirchenschriftsteller    u. 

Ägypten  204 
Kirgisisches  394  f. 
Klageweiber  482 ff.;  510 f. 
Kleider    der    Gestorbenen 

508 
Kleiderablegen  144 f.;  375; 

389;  403 f.;  405,3 
Kleiderausschütteln      373; 

399 
Kleideropfer  342 
Knien  332 f.;  526 f. 
Knochen  e. Toten 507; 5 88 f.; 

593;   s.  auch  Menschen- 
schädel 
Köbö  285 

Kokosnuß  im  Kult  68f.;  79 
Konfuzianismus  14;  165ff. ; 

256;  290ff. 
Konkökyö  272 
Könige,  hl.  drei  141;  156; 

233;  317;  350f.;  407 
Kopfjagd  584 f.;  586;  589; 

595;  605 
Köre  332 
Korybanten  26 
Kotys  364 
Krähe  407 
Krankheit  82;  87;  90;  99; 

128;     224;     376f.;     379; 

388 ff;  392 ff.;  396;  479; 

585 f.;  590 f.;  598;  601  ff.; 

8.  auch  Volksmedizin 
Krankheitsdämonen     s. 

Krankheit 
Krankheitskeime  605 
Kretisches  32f.;  331;  417,3 
Krieger,     Entsühnung     d. 

383  f. 
Kriegsgott  592 f.;  597 
Krokodil  213 f.;  220,1;  520; 

582;  584;  592;  596  f.; 

598  f. 
Kronos  332 
Kröte  214 


Kuh  149;  348 f.;  357;  360,2;  |  Ma  832 

401;  405;  428;  s.  Rind  j  Mädchen angelmythen  538 
Kultvereine  in  Ägypten  217 
Kureten  20 f.;  31;  33 
Kuß  250;  342 
Kybele  32;  140;  150;  375; 

380;  420 


Labyadai  33 

Lamaismus     113  ff.;    169  f.; 

436 ff.;  647 
Lappenbäume  342 
Lappländer   347;  385;  504 
Lärm    z,    Dämonenvertrei- 
bung    156;    394 f.;    899; 

408,5;     410;    484;     498; 

586;  604 
Leben    nach     d.    Tode    s. 

Eschatologisches    u. 

Geister  d.  Toten 
Lebend  (Begriff)  572  f. 
Lebensgötter  592  f. 
Lebensquell  667  f. 
Lebensrute  147;  151 
Lebenssymbol  225 
Leber  583;  596;  602 
Leichendämonen  380;  383; 

399  ff. 
Leichenverbrennung    64  ff. ; 

480,10;  486 ff.;  501;  596; 

671 
Leichenzerstückelung     220 
Leichnam     65;     129;    220; 

371,3;  380;  382 f.;  384,7; 

386;   391;  399 ff.;  480 ff.; 

500;  507 f.;  541;  584;  595 
Lemurien  499 
Leto  33;  525 
Lettisches  s.  Litauisches 
Liber  s.  Bakchos 
Liebeszauber  599;  606 
Lilyi  391 

LinkeSeite  390;  4  Ol;  498;  507 
Litauisches      125  ff.;      387; 

408,5;  476 ff. 
Lorbeer  363;  407 
Lotos  225;  520 
Löwin  207  f. 
Luftgeister  587;  600 
Lukasevangelium  298;  307; 

314 
Luperkalien  140;  147;  213,6; 

426 
lustrum  250 
Lykanthropie  603 
AvGiois  531 


Maenaden  2 Off. 
Magie  s.  Zauber 
Magier  aus   dem   Morgen- 
land  s.  Könige,  hl.  drei 
Mahäyäna    274ff.;    278ff.; 

615;  642 f.;  645;  647 
Mahävastu  620;  637 
Malayisches      155;     368, i; 

389;    394,4;    405,3;    587; 

594;  598;  600 f.;  s.  auch 

Indo-  u.  Polynesisches 
Mana    2 ff.;    11;    27f.;    90; 

560;  563;  573 
Manasse  54;  59;  61  f. 
Mandäismus  367  f.;  402,1 
Manichäismus     167;     235; 

275 
Manitu  3;  558;  563 
Markusevangelium  298; 

312  f. 
Masken  139; 143; 155; 541 

588 f;  598 
Matthäusevangelium    298 

313 
Maus      131;     390;     418  f. 

434;  582;  587 
Mazdah  245 
Mazdaismus  39;  167;  231; 

233;     235;     245;     247  f.; 

249;    252;    s.    auch   Ira- 
nisches. 
Medizinmann     5;     7;    21; 

393  f.;  398;  598;  600  f. 
Meergeister  583;  590;  604 
Meineid     136;     363;    376; 

673  ff. 
Menschenopfer  150 f.;  215; 

595;  598 
Menschenschädel  541;  584; 

588;  593;  600 
Mercur  363 
Messer  b.  Totenmahl  490; 

499 
Messianisches     203;     317; 

325;  336  ff.;  375,2 
Meter  332 
Mexikanisches     145;    164; 

157;     362;     368,4;     388; 

405,8;    408;     466;     535; 

555;  558;  672  f. 
Midas  363 
Mithra  39;  249 
Mittelwesen  53;  182 


Register 


685 


Mönchleben  im  Buddhis- 
mus 617;  621  f.;  631; 
643 

Mond  49;  202;  218;  250; 
429,2;  479 

Mondmythen  228 ;  232 ;  448 ; 
569;  577 f.;  580 

Monotheismus,  präanimi- 
stischer  543;  546 

Mord  353;  354,2;  357;  359; 
362  f.;  364,2;  380,5;  382; 
517 

Moses  15  f.;  49  f.;  56,1;  57; 
59;  205;  420;    671 

Muhamedanismus  s.  Islam 

Mura-mura  7 

Muscheln  bei  Sündentil- 
gung 381 

Musik  bei  Dämonenver- 
treibung 26;  166;  s.  auch 
Lärm;  — ,  heilend  527 f. 

Mykenisches  331  f. 

Mysterien  31  f.;  40;  218 
301;  303;  312;  316;  318f. 
324;  364;  380;  476;  525 

Mythologisches  5;  10;  84  f. 
91  ff.;  132  ff.;  165;  178 
202  f.;  206ff.;  210;  220 
228;  232;  248  f.;  297  f. 
328;  442 ff.;  487 f.;  538 
548;  555;  559;  572;  577 
680;  583  f.;  585ff.;  592ff. 
595;  600;  603  f.;  632 

Nacktheit    152;    156;    332; 

650 
Nagel  im  Zauber  346;  391; 

452 
Namennennung  30 ;  83 ;  390 ; 

505;  568;  594;  601 
Narrenfest  141  ff. 
Nasenlöcher  b.  Toten  497; 

582;  604 
Nehalennia  149 
Nektanebos  311 
Neleus  332 
Nephthys  202 
Nereiden  669 
Nerthus  149  ff. 
Neubuddhismus   610;  668; 

s.  Mahäyäna 
Neujahrsbräuche  233;  336; 

372  f.;  391 
Neunzahl  391;  406,2;  410; 

444;  449  ff.;  687 
Neuplatonismus  12;  249 


Neutestamentliches    1 35,6 ; 

138;    296ff.;    389,5;    666; 

s.  auch  Altchristliches  u. 

Jesus 
Nidanaformel  613  f. 
Nieren  220 
Nilpferd  213 
Nirvana  609 
Nordisches  2;  4;  146;  166 

221,2;    354;    364,2;   386 

400,1;  404,2;  405,8;  411 

496;  507 
Nymphen  332;  530,1 
Nzambi  3 


Ocker  408,5 

Offenbarungsreligion  15 

Ohrringe  als  Amulett  60 

öl  398;  399,4;  599 

Opfer  12;  22  ff.;  27  f.;  30 
49;  55  f.;  166;  178;  200f. 
215;  223 f.;  262;  266 ff. 
270;  354;  357  f.;  364 
380 ff.;  410;  491  f.;  547  f. 
551;553;655;583;585f. 
688 f.;  690 f.;  600f.;  606 
--,  Huhnopfer  342;  381 
403;  596 f.;  678;  S.  auch 
Bau-,  Brand-,  Menschen-, 
Schweine-,  Totenopfer 

Opferblut    27;    362;    380; 
393,3;  402;  411;  586 

Opfertische  583;  585;  590  f. 

Ophiogeneis  31 

Orenda  3;  11;  563 

Orphisches  12;  514 f.;  626; 
527  f.,  531 

o'evl  418 

Osiris    146,2;    204  f.;    209; 
217ff;  520 

Ostern  131;  342;  408 

OvXtoiiog  344 

Pales  363 

Pan  528 

Panspermia  25 

Paradies    95f  ;    253;    356; 

361,2;  504;  520;  582 
Paredroi  332 
Parsismus  s.  Iranisches 
Paulus  279;    302ff.;  319f.; 

321  f.;  326  f.;  329 
Perchtenlaufen  156  f. 
Persephone  332;  663 
Persisches  s.  Iranisches 


Pferd  128  f.;  209;  395;  424; 
426;   431,2;  444ff.;  501 

Pfingstbräuche  144,2;  162,1 

Pflanzen  in  Kult  u.  Zauber 
6;  65;  67f.;  79f.;  82 
145;  147;  210;  363;  371 
380f.;  389;  393,3;  394  f. 
407;  409f.;  448;  480 
496;  501;  519f.;  561 
559;  567;  683;  586f. 
588;  590 f.;  593 f.;  596 
598;  602;  8.  auch  Baum, 
Blumen,  Dornen,  Gras 

Phallus  550 

Pharisäismus  u.  Jesus  320  f. 

Pherekydes  614 

Philo  253  f.;  306;  326;  341 

Phönix  213;  520 

PhönizischeB48;  348;  417,8; 
431 

Plutarch  u.  Ägypten  204 

Polynesisches  2;  4;  64  ff. 
362;  375,2;  384;  394  f. 
399;  404;  540;  566  f. 
570;  574;  587;  s.  auch 
Australisches  und  Ma- 
layisches 

Polytheismus ,  Entstehung 
551 

Porta  Naevia  374 

Poseidonios  304 

Potnia  332 

Präanimismus  156;  539; 
543 ff.;  662;  663 f.;  579 

Prädikationsformeln  306 

Preußisches  125  ff.;  408; 
468;  476  ff. 

Priester  7;  12;  29;  53;  57 
134;  145;  149;  161;  152,1 
166;181;206;216f  ;248 
262f.;288;306;332;353 
357,6;  360f.;  371  f.;  374 f. 
377;  381;  384,7;  385;  399 
404;  411;  419;  479;  486  f. 
490;  502,2;  561;  584  ff. 
591;  594;  605;  672  f. 

Prophetismus  15;  53  ff.; 
58 ff.;  203;  281;  364 ff.; 
428;  —  Verhalten  z. 
Yolksreligion  53  ff. 

Proselyten  366  f. 

Prostitution,  sakrale  46;  61 ; 
332;  342  f.;  576  f. 

Ptah  207 

Ptah-hetep  202 

Pubertätsriten  30f.;  652 ;  677 


686 


Register 


Puluga  547  f. 
Pyramidentexte  198 f.;  200; 

221 
Pythagoreisches  12;  423 f.; 

426;  513  ff. 

Eachepuppen  392 

Rauch     215;     374,4;     398; 

400,1;  487 
Räuchergefäße   d.  Ägypter 

215 
Raudos  125;  483 
Rechte  Seite  50;  371;  498; 

674 
Regen  407;  583;  605 
Regenbogen  585;  605 
Regenzauber  30;    34;    150; 

158;  585;  587;  590 f.;  672 
Reinheitsvorschriften    151; 

215;  243;    355 ff.;   488 f.; 

8.    auch     Bad;     Hände- 
reinigung ;  Speisegebote ; 

Wasser 
Reisezauber  342";  407 ;  686  f. ; 

598;  637 
Religion,     Begriff      17  ff.; 

549 f.;  551;  554 f.;  561  ff.; 

563  f. 
Rhabdomantie  43 
Rhea-Kybele  32 
Rind    28;    34;    48 f.;     357; 

380;  382;  421  f.;  424; 426; 

428;  430;  436;  488;  505,2; 

519;  s.  auch  Kuh 
Ring  156;  366,2 
Römisches  140 ff.;  147;  204; 

250;    375,2;    380;    383,1; 

399,5;  402;  409 f.;  423 ff.; 

434;     499;     501;     506  f.; 

609 f.;  657;  676 
Rote    Farbe    65;    94;    155; 

368,4;  405;  444;  587 
Rudra  442  ff. 
Russisches  127;  131;  152,i; 

155;  400;  402;  411;  500; 

509;    677;    s.   auch   Sla- 

visches 
Ruten  tragender  Gott  216; 

298 

Sabazios  420 
Sabbath  137 
Salier  20 

Salz  368,4;  401;  403 
Sand    als    Krankheitsüber- 
trager 602;  605 


Sandan  348  f. 
Sarapis  205;  531 
Satan  s.  Teufel 
Saturnalien  140  f. 
Säule,  heilige  28 
Schaf  418;  424 ff.;  436 
Schakal  212;  445 
Schamanismus  3;  385;  395; 

590 
Schang  Ti  9 ff.;  13 
Schatten  603  ff. 
Sched  209  f. 
Scheinkampf  146;  688 
Scheitel  und  Seele  582 
Schellen  156 
Schiffs  wagen  148  ff. 
Schildkröte  220,i 
Schlaf  86;  131;   480;   601; 

503;  602 
Schlange    30;    220,1;    231; 

417; 432;  520;  582;  586 f.; 

593;  596 
Schlangenboschwörung    45 
Schlangentöter  232 
Schließen  d.  Augen  d.  Toten 

496 
Schlinge   225;    360;    394,4; 

538 
Schmetterling  a.  Seelentier 

131;  520;  582 
Schmutz  =  Sünde  387  f. 
Schnur  b.  Zauber  226;  390; 

394,4;  585 f.;  603 
Schu  202;  206 
Schwalbe  213;  520 
Schwanenjungfrau  538 
Schwarze  Farbe  66;  389; 

409;  444;  594 
Schwein   74 f.;   389,5;   413; 

421; 426;  431  f.; 440;  583; 

687:  692;  696f.;  — inder 

Hölle  94;. 587 
Schweineköpfige        Göttin 

439  ff. 
Schweineopfer  30;  84;  362; 

380;  383,2;  424;  596  f. 
Schweizerisches  146;    336; 

352 
Schwur  32;  135  f.;  697;  674  f. 
Sebak  206;  208 
Sechet  206  ff. 
Sechszahl  403,8;  405,3;  446; 

485;  490;  504 
Seele  1;  3ff.;  86ff.;  125  ff  ; 

220 f.;  253;  266 ff.;  352 f.; 

434;  494 ff.;  513 ff.;  639; 


651;  656;  560;  573;  582  f.; 

586ff.;   594 f.;    699;    600; 

602;   —  verläßt  zeitwei- 
lig  den  Körper  86;  131; 

494;  501;  503;   582;  594; 

699;  601  f. 
Seelenboot  224 
Seelenbrunnen  362 
Seelenfang  585f.;  594;  596 
Seelenglaube  s.  Animismus 
Seelenhöhle  352 
Seelentiere  131;  211;   260; 

519 f.;  582 f.;  587;  604 
Seelenwauderung        364,2; 

423;     426;     513ff.;    682; 

587  f.;  595;  597;  603 
Seepferd  214 
Selbstmord  617;  595 
Serbisches  390;  408 
Set  206;  219 
Settier  219 
Sexuelle  Differenzierung  d. 

Gottheit  51;  61;  203 
Shinshu  274  ff. 
Shinto256;258;261ff.;290; 

372;  385;  403 
Siamesisches     374;     393  f.; 

574 
Siebenschläfer  676 
Siebenzahl  82;  189;  358 f.; 

365;  375,2;  386;  391;  405; 

407;  410,6;  462;  586 
Simon  v.  Kyrene  u.  Herakles 

298 
Simson  206 
sin-eater  371,8 
Sintflut  680 f.;  682 
Skarabäus  212;  225 
Skirophoria  30 
Slavisches  366,1;  386,4;  390  f; 

398;    399,5;    400,1;    407; 

677 f.;  s.  auch  Russisches 
Sokrates  62 
Sondergötter  332 
Sonnenfang  538 
Sonnengott  39;  202 f.;  223 

371;  538;  583 
Sonnenkult  198 
Sonntag  128 f.;  206;  500 
Speichel   371;    374,4;   380: 

397,1;  599 
Speisegebote     81  ff.;     211: 

222;384;387;404;413tf.: 

483;  502 f.;  506;  696 f. 
Specht  696 
Spinne,  Seelentier  604 


Begister 


687 


Sperber  212 f.;  220;  620 
Spiegel  267:  480;  502 
Stachelschwein  422 
Stelen     201;     207  ff.;    216; 

222 f.;   417 
Sterbende  128;  341  f.;  352; 

361,2;  479  ff. 
Sternschnuppe,  beseelt  85; 

94 

Stillstand   d.   Natur   137  f. 
Stirnblech  134  f. 
Stoa  u.  Paulus  304  f. 

6X0l%Bta  tov    KOCllOV    311 

Strauss  434 
Streckschere  156  f. 
Sufismus  235 
Sühnepuppen   392 ff.;   585; 

598 

Sündenbock  374 
Sündenboot  374;  389;  394 
Sündentilgung     d.    Brech- 

und    Purgiermittel    362 ; 

387;    —    d.    Besprengen 

m.  Blut  362;  380;  —  d. 

Springen  über  Feuer  363 ; 

383;  —  d.  Wasser  353ff. 
Sündenübertragung  370  ff. 
Syrisches    167;    352;    386; 

408,5;  417,3;  430,4;    433; 

670;  676 
Synkretismus  301;  320 

Tabu  4;  22f.;  71;  75ff.; 
81  ff.;  104ff.;  211;  404; 
427 ff.;  433;  495;  549; 
557;  570;  581;  592 f.;  598 

Tages  verzeichnisse  inÄgyp- 
ten 202  f. 

Talmudistisches  53;  135; 
341;  344;  366;  375,2; 
378,4;  383,1;  387;  389 f.; 
397,1;  398;  408,5;  412; 
426;  674  s.  Israelitisches 

Tanz,  magische  Bedeutung 
5;  20f.;  33;  154;  584; 
590 f.;  —  bei  d.  Bestat- 
tung 66  f. ;  84 ;  491 ;  493  f. ; 
588  f. 

Taoisten  167  f.;  180 

Tapferkeitssymbole  584;ö93 

Tärä  616 

Tarnkappe  578 

Taube  131;  520 

Tauchbad  360;  363;  365 ff.; 
378,4 

Taucher  422 


Taufe   818 f.;    829;    866 ff.; 

378  f. 
Taxus  496 

tixvri  =  ars  magica  845  f. 
Tefnut  203;  207 
Tempel     186;     189;     192 

194;  208f.;   211;    214ff. 

218 f.;    223;    236;    347 f. 

370;     384  f.;    403;     584 

588 f.;  663 f. 
Tenrikyö  2 70  f. 
ieo  434 

d-ciVfiatoTCOLoL  344  f. 
Theriomorphismus     33  f. ; 

332;  557;  600;  603;  672; 

—    d.    Seele    131;    211; 

220;  519;  582 f.;  587 
Thesmophorien  30 
Tibetanisches  113ff.;  288; 

403;  437 ff.;    635;    640 f.; 

655;  8.  auch  Lamaismus 
T'ien  9 ff.;  13 
Tiere,  unreine  413  ff. 
Tiere  u.   Seelenwanderung 

131;   423;  618 ff.;  582 ff.; 

597;  603 
Tierkult    7;    34;    49;   200; 

211  ff.;  332;    428;    551  f.; 

557;  592;  596ff.;  600 
Tiger  407;  445;  596 f.;  603 
Tiroler   Aberglauben    156; 

342;  386,6;  895 
Ti-tsang  288 
Todansagen  480;  504  f. 
Todesengel  375,2;  400,1 
Totemismus  7 ;  23 ;  31 ;  71ff.; 

211;     427 ff.;     433;    549; 

552f.;556f.;559f.;564ff.; 

697  f. 
Toten,     Anblick    d.     103; 

105;  126 ff.;  386;  s.  auch 

Geister  d.  Toten 
Totenbräuche     64  f.;     200; 

217;  222;  236;  250;  266f.; 

275;    288 f.;    476 ff.;  572; 

585;  588 f.;  594 f.;  596 f.; 

604;  671  f. 
Totenbuchtexte  221  f.;  226; 

519f. 
Totforttragen  144;  391 
Totengaben    65;    69;     79; 

94ff.;222ff.;481ff.;488ff.; 

595;  604 
Totenhochzeit  493,i 
Totenklagen  65;   79;  125; 

127;  131;  482 f.;  501;  511 


Totenland  91  f.;  487;  61»; 

686;    687 ff.;     690;     696; 

600 ;    8.    auch   Paradies 

u.  Hölle 
Totenmahl  66;  68;  80;  180; 

488;  588 
Totenopfer   26;    68 ff.;    82; 

267 f.;  402;    491  ff.;    499; 

588 f.;  604 
Totenreise  91  ff.;  127;  224} 

587;  594 
Totenspeise  69;  107;  481; 

486;  489;  604;  588;  594  f. 
Tränenfläschchen  483 ;  609  f. 
Trankopfer  23  ff. 
Trauerbräuche  66 ;  68 ;  81  ff.; 

482 ff.;  595 
Traum  45;  131;  861;  876 f.; 

406;    407,4;    494;    527 ff.; 

563;  682;  598f. 
Tschou  kung  165 
Türkisches  363,2;  388;  636 

Übertragungstheorie  534  f. ; 

637  f. 
Umgang  um  d.  Kirche  497 
Unbelebt  (Begrifi)  572  f. 
Unsichtbarkeit  672 
Unverwundbarkeit  368,4 
UräusBchlange  208 
Urheber  8  ff. 
Urmonotheismus    11;     16; 

542  ff. 
Urverwandtschaft  536  f. 
Urwesen  5  ff. 
Uschebti-statuetten  228 
Urzah  29 

Vampyr  583;  600;  602 

Varüna  39;  356 

Yeda  s.  Brahmanismus  u. 

Indisches 
Vedänta  610;  615;  645 
Vegetationsgeist  145;  156; 

297;  301;  328 
Vereinswesen   in    Ägypten 

217 
Verkleidung  189;  143;  156; 

598;  8.  auch  Masken 
Verwünschungen  606 
Vesali,   Konzil  von   618  f. 

630;  644 
Vestalin  383,1 
Vierzahl     69;     444;      462; 

479,1;  491;  678 
Vinaya  618 f.;  623;  634 


688 


Register 


Visionen  45;  309;  457;  616 

Vögel212f.;220;407;414fE. 
421;  423;  427;  436;  519  f. 
522;  583;  587;  593;  672  f. 
—  Omenvögel  407;  583 
592 f.;  596 f. 

Volksmedizin  333 ;  341 ;  390 ; 
412;   479;  507 

Volkspropheten  43  ff. 

Volksreligion  bei  Indern 
38;  bei  Iraniern  3S;  bei 
Helenen  39;  bei  Israeli- 
ten 41  ff.;  —  Gegensatz 
zum  Propbetismus  54  ff. 

Vorzeichen  138;  250;  407; 
597 

Votivgaben  207;  393,2 

Wachs  598 

Waffengeklirr  z.  Dämonen- 
vertreibung 399;  484; 
498;  586 

Waffenkult  201 

Wahrsagerei  43;  53;  583; 
592 ;  596 ;  8.  auch  (Omen-) 
Vögel 

Wahnsinn  379;  398;  592ff.; 
596;  599;  601;  606 

Wakanda  3 

Waldgeister  583;  600;  604 

Wasser  im  Kult  39;  249 
353  ff.;  480;  482;  488 
495;  504;  530,1;  587 
590;  605;  s.  auch  Bad 
Tauchbad;  Weihwasser 

Wassergott  39;  248;  592 

Warzen  Vertreibung  507 

Weib  5;  145;  147;  151;  154 
224;236;248;342;357f. 
379;  396;  405;  409,2 
501;  677;  584f.;  587 


Weihnachtsbräuche    336; 

891 
Weihwasser     360;     361,2; 

368,4;  379;  383;  396;  398; 

405,3;  407 f.;  411  f.;   678 
Wein  22 ff.;  399,1;  401 
Weisse  Farbe   49;  68;  81; 

94;   126;   131;  342;   388; 

390;  399;  444;  480;  684; 

604;  672 
Weltschöpfungsmythen   5 ; 

202;  249;  583 
Wetterheilige  162 
Wettlauf  485  f.;  505  f. 
Widder  30;  208;  218;  418; 

678 
Wiederbelebung  455;  578 
Windgötter   127;  208;  590 
Witwe       403,1,8;        404,2; 

481,1;  484,1;  493;  502,2; 

505;  508  f. 
Wöchnerin      368,4;      379; 

384,7;    405;     412;     687; 

605;  s.  auch  Geburt 
Wodan  16;  149,3 
Wolf  212;  445 
Wotiäken  368,4;  391;  399,6; 

403 
Wunder  132  ff.;  160;  285f.; 

309;     336ff.;     339;     349; 

374;  455  ff.;  648  f.;  676  f. 
Wurm  414;  432;  436;  520; 

582 

Xenophanes  40;  514 

Zahl  im  Aberglauben  und 
Kult  70;  82;  189;  267; 
356;  358;  362;  368,4; 
384,7;  389;  402  ff.;  443  f.; 
449  f.;     452;     454;     479; 


485  f.;  490;  522;  587; 
589;  634;  g.  auch  die 
einzelnen  Zahlen 

Zahn  e.  Toten  507 ;  — ,  als 
Amulett  599 

Zarathustra  15;  38;  62; 
230  f.;  232;  235  f.;  243  ff; 
247  ff.;  375,2 

Zauber  17  ff.;  39;  45;  53; 
200  f.;  224f.;  250;  262; 
343ff.;879;388ff.;  392 ff.; 
396  ff.;  406  ff.;  466  ff.; 
543 ff.;  549;  551;  553 ff.; 
556;  559 f.;  562 f.;  573; 
578;  584 ff.;  598;  600 f.; 
602  f.;  672  f.;  8.  auch 
Analogiezauber;  Berüh- 
rungszauber; Dämonen- 
abwehr u.  -austreibung; 
Fruchbarkeitsförderung ; 
Jagdzauber;  Liebeszau- 
ber; Regenzauber;  Reise- 
zauber 

Zaubergerät  156  ff.;  225; 
346 f.;  390;  392ff.;  467ff.; 
573  f.;  603;  672 

Zaubersprüche  llf.;  20  f.; 
198f.;  218;  224f.;  250; 
265;  380;  394,4;  397; 
406;  490f;  493;  555; 
690;  677 

Zeh  401;  496 

Zerstücklung  220;  455ff.;  578 

Zeus  21;  30;  32f.;  34;  248; 
332;  528 

Ziege  374;  381;  388;  393; 
424ff.;  436 

Zigeuner  390  f.;  398 

Zweiwegebuch  222 

Zwerggottheiten  208 

Zwölfzahl    206;    218;   361,1 


[Abgeschlossen  am  8.  Juli  1914.] 


Druck  von  B.  G.  Teubner  in  Dresden 


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9L  Archiv  IUI'  Roligionswisßen- 

4  Schaft  vereint  mit  d^n 

A8  Beiträgen  zur  Religiond- 

Bd. 17  wissenschaftlichen  Gesell- 

schaft in  Stockhol» 


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