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Full text of "Archiv für Urkundenforschung"

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HANDBOUND 
AT  THE 


UNIVERSITY  OF 
TORONTO  PRESS 


a90 


Archiv 


für 


ürkundenforschung 


Herausgegeben 


von 


Dr.  Karl  Brandi 

0.  Professor  an  der  Universität  Göttingen 


Dr.  fiarry  Bresslau 

0.  Professor  an  der  Universität  Straßburg 


Dr.  Michael  Tangl 

o,  Professor  an  der  Universität  Berlin 


Zweiter  Band 

Mit  einer  Tafel 


Leipzig 

Verlag  von  Veit  5f  Comp. 

1909 


919490 


Druck  von  Metzger  &  Wittig  in  Leipzig. 


Inhalt 

Seite 
Wilhelm  Lüders,   Capella.     Die  Hofkapelle  der  Karolinger  bis  zur  Mitte  des 

neunten  Jahrhunderts.     Capellae  auf  Königs-  und  Privatgut 1 

I.    Der  Kultus  der  capella  s.  Martini. in  merowingisbher  Zeit    ....  2 

§  1.    Der  Einfluß  der  Martinslegende    ....,"■. 2 

§  2.    Der  Kultus  der  capella  s.  Martini  am  merowingischen  Hofe  .  8 
§  3.    Die  capella  s,  Martini  in  den  Händen  der  karolihgischen  Haus- 
meier     .     .     .     .     , 14 

§4.    Der  Übergang  von   der  capella  s.  Martini  zur  karolingischen 

Hofkapelle.     Das  erste  Auftreten  der  capellani 17 

II.    Die  Entwicklung  der  Hofkapell^  uijiter  Pippin,  Karlmann  und  Karl 

dem  Großen '^. '^.?'  h  *.-  ^ 23 

§  1.    Die  Mitglieder  der  Hofkapelle 24 

1.  Der  oberste  capellanus 24 

A.  Die  theoretischen  Erörterungen  des  9.  Jahrhunderts     .  24 

B.  Die  Persönlichkeiten  der    obersten    capellani    bis    zum 
Tode  Karls  des  Großen 25 

C.  Die  Stellung  des  obersten  capellanus  am  Ende  der  Re- 
gierung Karls  des  Großen 34 

2.  Die  übrigen  capellani 38 

A.  Die  niederen  capellani  des  Königs 38 

B.  Die  capellani  der  übrigen  Mitglieder  der  karolingischen 
Familie      . 43 

§  2.    Der  Ursprung  und  die  Entwicklung  der  königlichen  Pfalzkapellen  45 

§  3.    Die  karolingische  Hofkapelle  in  ihrer  Gesamtheit  .....  49 

1.  Kapellane  und  Pfalzkapellen  als  Bestandteile  der  Hofkapelle  49 

2.  Die  Hofkapelle  ohne  festen  Sitz 50 

3.  Die  Marienkirche  zu  Aachen  als  Sitz  der  Hofkapelle     .    .  52 
III.    Die  Hofkapelle  unter  Ludwig  dem  Frommen  und  seinen  Söhnen  bis 

zur  endgültigen  Vereinigung  der  Ämter  des  archicapellanus  und  des 

obersten  cancellarius  im  Ostfrankenreiche 55 

§  1.    Die  Mitglieder  der  Hofkapelle  unter  Ludwig  dem  Frommen    .  55 

1.  Die  Erzkapellane 55 

2.  Die  Stellung  der  Erzkapellane  unter  Ludwig  dem  Frommen  59 


IV  Inhalt 

Seite 
3.   Die  Kapellane.     Reaktion   der   Hierarchie  gegen   die  Hof- 
geistlichkeit unter  Ludwig  dem  Frommen 60 

S  2.   Die  Erzkapellane  der  Söhne  Ludwigs  des  Frommen    ....  64 

1.  Lothar  I 64 

2.  Pippin  L  von  Aquitanien 66 

3.  Karl  der  Kahle 66 

4.  Ludwig  der  Deutsche 66 

§  3.    Die  großen  Pfalzkapellen  des  neunten  Jahrhunderts    ....  70 

1.  Die  Neugründungen  nach  dem  Vorbilde  der  Aachener  Marien- 
kirche      70 

2.  Die  Pfalzkapellen  des  neunten  Jahrhunderts  als  selbständige 
Stifter 72 

IV.   Capella   als  Eigenkirche   ohne  Verbindung  mit   Residenz  und  Hof- 
geistlichkeit    78 

§  1.   Capellae  auf  Königsgut 78 

1.  Die  Entstehung  der  gewöhnlichen  Pfalzkapellen  neben  den 
großen  Residenzkapellen 78 

2.  Die  Stellung  der  gewöhnlichen  capellae  unter  den  Heilig- 
tümern des  Königs 79 

3.  Die  königlichen  capellae  in  der  Eigenkirchenfrage     ...  83 
§  2.    Capellae  auf  nichtköniglichem  Boden •     .  87 

1.  Privatkapellen  auf  ursprünglich  königlichem  Boden    ...  88 

2.  Auf  nichtköniglichem  Boden  gegründete  capellae  ....  90 

3.  Die  capellae  auf  Privatboden  in  der  Eigenkirchenfrage  .    .  92 
Exkurs.    Hat  der  oberste  capellanus  den  Titel  apocrisiarius  geführt?  .  93 

Hermann  Thimme,  Forestis.    Königsgut  und  Königsrecht  nach  den  Forst- 
urkunden vom  6.  bis  12.  Jahrhundert 101 

I.   Forestis  bis  zum  Ende  der  Karolingerzeit 102 

1.  Forestis  und  silva 102 

a)  „Silva  nostra",  „silva  regalis" 103 

b)  Forestis  als  Eigenname 104 

c)  Silva  de  (ex)  foreste 105 

d)  Siedlungen  und  Kulturland  in  Forsten 107 

2.  Forstregal     .    * 109 

3.  Forst-  und  Grundeigentum 111 

4.  Jus  forestis 114 

5.  Forestarii 120 

6.  Ergebnisse 123 

IL    Forestis  vom  Ende  der  Karolinger-  bis  zum  Ende  der  Salierzeit .    .  126 

1.  Betonung  der  Jagd 127 

2.  Forst-  und  Grundeigentum 129 

3.  Die  Bezeichnungen  der  Forst-  und  Wildbanngebiete      ....  141 

4.  Schluß 145 

Exkurse 147 

L   Forestis  Arbonensis 147 

IL   Entwicklung  des  ürkundenformulars  für  die  Forstverleihungen  vom  6. 

bis  zum  Anfang  des  12.  Jahrhunderts 149 


Inhalt  V 

Seite 

K.  Brandi,  ürkundenforschung 155 

/V\.  Tangl,  Forschungen  zu  Karolinger  Diplomen 167 

I.   Tironiana  und  Konzeptfrage 167 

II.    Die  Osnabrücker  Fälschungen 186 

1.  Die  Überlieferung 186 

2.  Die  Gründungsurkunden  für  die  sächsischen  Bistümer  ....  193 

3.  Der  Zehntstreit 218 

4.  Die  gefälschten  Urkunden 250 

5.  Die  Anfänge  des  Bistums  Osnabrück 310 

F.  Philipp i,  Forst  und  Zehnte 327 

Andreas  Walther,   Kanzleiordnungen  Maximilians  I.,  Karls  V.  u.  Ferdinands  I.  335 

Einleitung 335 

I.    Der  Begriff  „Kanzleiordnung"  aus  dem  System  der  Behörden  entwickelt  338 

1.  Kanzleiordnung  und  Hofordnung 338 

2.  Kanzlei  und  Sekretariat 341 

3.  Kanzlei  und  Bureau  der  Finanzen 345 

4.  Die  verschiedenen  Kanzleien  auf  dem  Gebiete  des  Rechts     .     .  348 

5.  Kanzlei  und  gelehrter  Rat  am  Hofe 351 

6.  Die  Typen  von  Kanzleiordnungen 356 

II.  Die  einzelnen  Ordnungen 357 

1.  Unter  Maximilian  1 357 

2.  Am  Hofe  Karls  V 363 

3.  Unter  Ferdinand  I 375 

III.  Dokumente 379 

1.  Consultation  du  grand  chanceliier  Mercurinus  sur  le  tiltre,  signa- 
ture,  armes,  seaulx  et  monnoyes,  Dez.  1519  oder  Jan.  1520  .     .  379 

2.  Die  Rubriken  für  Rat  und  Kanzlei  aus  aragonischen  Hofstaats- 
verzeichnissen   383 

a)  Aus  einem  Verzeichnis  von  1520—1522 383 

b)  Aus  einem  Verzeichnis  vom  Ende  der  20er  Jahre    .    .     .  385 

3.  Status  et  ordinationes  cancellariae  imperialis,  1.  Januaris  1522, 
verfaßt  von  Gattinara 387 

4.  Conceptum  ordinationum  cancellariae  imperialis  revisum  9.Aprilis 
1550,  verfaßt  von  Viglius  van  Zwichem 392 

Erich  Kleeberg,  Stadtschreiber  und  Stadtbücher  in  Mühlhausen  i.  Th.  vom 
14. — 16.  Jahrhundert,  nebst  einer  Übersicht  über  die  Editionen  mittelalter- 
licher Stadtbücher 407 

Rat  und  Ratsbehörden  in  Mühlhausen 407 

Erstes  Kapitel:  Die  Anfänge  des  Stadtschreiberamtes  und  die  Entwick- 
lung der  Kanzlei  bis  zur  Mitte  des  15.  Jahrhunderts 416 

§  1.    Die  städtischen  Schreiber  1314—1460 -416 

§  2.    Entwicklung  des  Amtes 422 

§  3.    Tätigkeit  der  Stadtschreiber .425 

§  4.    Entwicklung  der  Kanzleibücher 434 

§  5.    Die   offiziellen   Schreiber   in    der  Stadt  neben    dem    Stadt- 
schreiber: Gerichtsschreiber  und  öffentliche  Notare     .    .    .  441 


VI  Inhalt 

Seite 
Zweites  Kapitel:    Entwicklung   des  Stadtschreiberamtes  zum  Syndikat, 

1460—1575 445 

§  1.    Der  geistliche  Stadtschreiber  macht  sich  frei  vom  niederen 

Kanzleidienst 446 

§  2.    Erster  Stadtsyndikus  und  weltlicher  Oberschreiber      .    .    .    452 

§  3.    Lukas  Otto  und  Nikolaus  Fritzlar 458 

§  4.    Stellung  der  Schreibbeamten  innerhalb  der  Bürgerschaft  und 

ihr  Dienstverhältnis 466 

§  5.    Die  amtliche  Tätigkeit  der  Kanzleischreiber;  Stadtbücher  im 

16.  Jahrhundert 471 

Anhang:  Beschreibung  der  Mühlhäuser  Stadtbücher  des  13.— 16.  Jahr- 
hunderts, mit  einem  Verzeichnis  wichtiger  Editionen  mittelalterlicher 
Stadtbücher 479 

Ernst  Müller,  Das  Königsurkunden-Verzeichnis  des  Bistums  flildesheim  und 

das  Gründungsjahr  des  Klosters  Steterburg 491 

L.  Schmitz-Kallenberg,  Die  Umhüllung  eines  päpstlichen  Breves  von  1453. 

(Hierzu  Tafel  I) .    . 513 


Capella 

Die  tiofkapelle  der  Karolinger  bis  zur  Mitte  des  neunten 

Jahrhunderts 
Capellae  auf  Königs-  und  Privatgut 

von 

Wilhelm  Lüders 


Die  Geschichte  der  karolingischen  Hofkapelle  ist  bereits  von  vielen 
Gelehrten,  teils  in  gelegentlicher  Erwähnung,  teils  in  ausführlicher  Dar- 
stellung behandelt  worden.  Die  eingehendste  Untersuchung  hat  ihr 
Waitz  in  seiner  Verfassungsgeschichte  gewidmet.  Über  die  von  ihm 
gewonnenen  Ergebnisse  führen  auch  die  neueren  seitdem  erschienenen 
Werke  nicht  hinaus.^ 

Den  Ursprung  der  Hofkapelle  sieht  man,  namentlich  seit  Waitz' 
Darlegungen,  fast  allgemein  in  der  capella  sancti  Martini,  dem  Gewände 
des  Heiligen,  das  am  merowingischen  Hofe  die  höchste  Verehrung  ge- 
nossen haben  soll.  Diese  Ansicht  findet  allerdings  ihre  Stütze  in  den 
ausdrücklichen  Zeugnissen  des  Walahfrid  Strabo  und  des  Monachus 
Sangallensis.^  Aber  beide  Gewährsmänner  gehören  doch  erst  dem 
9.  Jahrhundert  an,  also  einer  Zeit,  die  dem  Übergange  von  der  Martins- 
reliquie zur  Hofkapelle  bereits  sehr  fern  lag.    Diesen  Übergang  durch 


^  Ducange  ed.  Favre  s.  v.  capa,  capella,  capellanus.  Giesebrecht,  Gesch. 
d.  deutschen  Kaiserzeit  I^  139.  323  Anm.  Waitz,  VG.  IIP,  516ff.  Pustel  de  Cou- 
langes,  tiist.  des  institutions  politiques  de  l'ancienne  France.  Bd.  III,  La  monarchie 
franque  (1888)  p.  149  ff.  Bd.  VII,  Les  transformations  de  la  royaute  pendant  l'epoque 
carolingienne  (1892)  p.  331  ff.  Bresslau,  Handbuch  der  ürkundenlehre  I,  295 f. 
Wetzer  u.  Weites  Kirchenlexikon  s.  v.  „Kapelle"  und  „Kaplan".  Mühlbacher, 
Deutsche  Gesch.  unter  den  Karolingern  S.  253.  Glasson,  tiist.  du  droit  et  des  in- 
stitutions de  la  France  II,  431  f.  Flach,  Les  origines  de  Tancienne  France  III  (1904), 
p.  458 ff.  Werminghoff,  Gesch.  der  Kirchenverfassung  Deutschlands  im  Mittelalter  I 
(1905),  S.  51. 

'  Vgl.  die  Zitate  unten  S.  12,  A.  1  und  2. 
Afü    II  »1 


2  Wilhelm  Lüders 

mehr  gleichzeitige  Quellen  oder  durch  innere  Gründe  glaubhaft  zu 
machen  und  Zeit  und  Verlauf  des  Vorganges,  auf  dem  sich  ein  für 
die  deutsche  Geschichte  so  wichtiges  Institut  wie  die  karolingische 
tiofkapelle  aufbaut,  näher  darzulegen,  hat  Waitz  leider  unterlassen. 

So  hat  es  denn  auch  nicht  an  Widerspruch  gefehlt,  und  noch 
heute  wird,  wenn  auch  nur  vereinzelt,  die  Ansicht  vertreten,  daß  capella 
von  capsa,  Reliquienkapsel,  herzuleiten  sei.^ 

Ebenso  wie  der  Ursprung  der  Hof  kapeile,  ist  auch  ihre  Weiter- 
entwicklung in  vieler  Beziehung  noch  nicht  genügend  aufgeklärt.  Die 
folgende  Arbeit  will  daher,  ausgehend  von  dem  Kultus  der  capella 
sancti  Martini,  auf  Grund  möglichst  gleichzeitiger  Quellen  die  Frage 
nach  dem  Ursprünge  der  Hofkapelle  einer  eingehenden  Nachprüfung 
unterziehen  und  weiterhin  ihre  Entwicklung  und  die  von  ihr  sich  ab- 
zweigenden Gebilde  bis  zur  Mitte  des  9.  Jahrhunderts  verfolgen. 


I.  Der  Kultus  der  capella  s.  Martini  in  merowingischer  Zeit 

§1.    Der  Einfluß  der  Martin.slegende 

Über  kaum  einen  zweiten  Heiligen  der  an  Wundergeschichten  und 
Legenden  wahrlich  nicht  armen  vormerowingischen  und  merowingischen 
Zeit  besitzen  wir  eine  solche  Fülle  von  Nachrichten  wie  über  den  heiligen 
Martin  von  Tours. 

Schon  sein  Schüler  Sulpicius  Severus  hat  in  zwei  Werken,  der 
Vita  s.  Martini  und  den  Dialogi,  seinen  Meister  verherrlicht.  An  ihn 
schließen  sich  dann  Paulinus  von  Perigueux  und  Venantius  Fortunatus 
an.  Auch  Gregor  von  Tours  hat,  wo  sich  nur  Gelegenheit  bot,  sowohl 
in  der  Historia  Francorum  wie  in  einem  besonderen  Werke,  den  Virtutes 
s.  Martini,  das  Lob  seines  Vorgängers  auf  dem  Bischofsstuhle  von  Tours 
verkündet. 

Allerdings  bestehen  die  uns  überlieferten  Nachrichten  meist  nur 
in  Erzählungen  von  Wundern  des  Heiligen.  Aber  gerade  diese  völlig 
unhistorischen  Wundergeschichten  rufen  die  Anschauungen  hervor,  die 
über  einen  Heiligen  im  Volke  herrschend  werden.  Einzelne  Wunder 
finden  besonderen  Anklang  bei  der  Menge  und  begründen  die  Popu- 
larität des  heiligen  Mannes.    Sie  geben  der  Verehrung,   die  ihm  bald 


^  Richter-Dove-Kahl,  Lehrbuch  des  kath.  und  evangel.  Kirchenrechts  (S.A. 
1886),  S.  463,  A.  3. 


Capeila  3 

allgemein  gezollt  wird,  eine  ganz  bestimmte  Richtung.  Es  bildet  sich  auf 
Grund  eines  Wunders  oft  geradezu  ein  typisches  Bild  des  Heiligen  heraus.^ 

So  können  wir  auch  die  allmähliche  Entstehung  des  Kapellakultes, 
den  wir  in  der  spätmerowingischen  Zeit  ausgebildet  vorfinden,  an  der 
Hand  der  Martinslegende  verfolgen. 

Während  bei  der  Verehrung  anderer  Heiligen  oft  die  mündliche 
Legende  eine  grundlegende  Rolle  spielt,  scheidet  diese  bei  Martin  von 
vornherein  aus,  da  die  älteste  schriftliche  Überlieferung  bereits  auf 
seinen  Schüler  Sulpicius  Severus  zurückgeht.  Bei  diesem  ist  auch 
augenscheinlich  schon  der  Grund  zu  der  späteren  Verehrung  der 
capella  gelegt.  Allerdings  sind  es  zwei  Wunder,  die  man  als  Aus- 
gangspunkt ansehen  kann,  und  man  kann  zweifeln,  für  welches  man 
sich  entscheiden  soll.  Das  eine^  berichtet,  wie  Martin,  als  er  noch 
römischer  Kriegsmann  war,  mitten  im  Winter  Christus,  der  ihm  vor 
dem  Tore  von  Amiens  in  Gestalt  eines  frierenden  Bettlers  erschienen 
sei,  mit  der  Hälfte  seines  Mantels  beschenkt  habe.  Das  andere^  da- 
gegen erzählt,  daß  Martin  seine  tunica  einem  Armen  geschenkt  und 
dann,  nur  bekleidet  mit  einer  bigerrica  vestis  brevis  atque  hispida  den 
Gottesdienst  verrichtet  habe;  zum  Lohne  für  diese  Barmherzigkeit  und 
Demut  habe  Gott  ihn,  als  er  gerade  vor  dem  Ahare  stand,  in  himm- 
lischem Glänze  erstrahlen  lassen. 

Dieses  zweite  Wunder  sieht  Ducange*  als  den  Ausgangspunkt  der 
späteren  Kapellaverehrung  an,  indem  er  vermutet,  daß  jene  bigerrica 
vestis  zum  Andenken  an  das  Wunder  aufbewahrt  sei  und  sich  später 
die  Bezeichnung  capella  dafür  eingebürgert  habe. 

Die  Hypothese  Ducanges,  die  auch  von  Flach  ^  vertreten  wird, 
dürfte  sich  jedoch  schweriich  ohne  weiteres  erweisen  lassen.  Es  wäre 
ebensowohl  möglich,  daß  der  Kultus  der  capella  sich  von  dem  Wunder 
von  Amiens  herschriebe  ^  und  diese  der  Legende  nach  der  zerteilte 
Mantel  Martins  sein  sollte. 


^  Sehr  richtig  handelt  über  die  Entstehung  eines  Heiligenkultes  Bernoulli, 
Die  Heiligen  der  Merowinger,  Vorrede  VIIL 

'  Vita  Mart.  cap.  3  (Migne,  Patrol.  lat.  20,  162  =  Auct  antiq.  IV  1,  p.  297). 

'  Dial.  li  cap.  1  (Migne,  Patrol.  lat.  20,  201f.  =  Auct.  antiq.  IV  1,  p.  330f.). 

*  Ducange  ed.  Favre  ,11  116,  1. 

^  Flach,  Les  origines  de  l'ancienne  France  III,  459.  —  Nicht  ganz  klar  drückt 
sich  Pardessus  (Diplomata  I,  Prolegomena  p.  260)  aus:  sancti  Martini  capella  huius 
sancti  fuit  capa  brevior  .  .  .,  quae  .  .  .  habebatur  pro  „mantello"  quo  sanctus  pau- 
perem  vestivit;  doch  meint  er  wohl,  wie  aus  den  letzten  Worten  hervorgeht,  das 
Wunder  von  Amiens. 

'^  Daß  in  Amiens  sich  ein  Oratorium  zum  Andenken  an  die  Episode  von  dem 
geteilten  Mantel  befand,  erwähnt  Gregor,  Virtutes  s.  Mart.  I  c.  17  (SS.  rer.  Merov.  I, 
598;  auch  Bernoulli  a.  a.  0.  S.  229). 

1* 


4  Wilhelm  Lüders 

Eine  sichere  Entscheidung  läßt  sich  von  vornherein  nicht  treffen. 
Es  ist  daher  angemessen,  die  Geschichte  beider  Wunder  zu  untersuchen. 
Das  Hauptaugenmerk  wird  dabei  auf  die  Bezeichnungen  der  Kleidungs- 
stücke zu  richten  sein,  um  die  es  sich  in  jenen  Wundern  handelt.  Die 
Frage  nach  dem  Ursprünge  des  Kapellakultes  würde  sofort  ihre  Lösung 
gefunden  haben,  sobald  sich  für  eines  von  ihnen  die  Bezeichnung 
capella  fände. 

Vita  Mart.  cap.  3  gebraucht  Sulpicius  Severus  von  dem  zerteilten 
Mantel  den  Ausdruck  chlamys  (daneben  das  allgemeine  vestis).^  Ebenso- 
wenig verwendet  er  die  Bezeichnung  capella  Dial.  II  1,  wo  er  von  der 
verschenkten  tunica  und  dem  sich  daran  anschließenden  Wunder  spricht. 
Das  Kleidungsstück,  mit  dem  Martin  seine  Blöße  deckt,  nennt  er  bi- 
gerrica  vestis  brevis  atque  hispida;  außerdem  kommt  nur  noch  vestis 
zweimal  allein  vor. 

Paulinus  von  Perigueux,  der  die  Zerteilung  des  Mantels  im  1.  Buche 
seiner  Vita  Martini^  erwähnt,  nennt  ihn  ebenfalls  chlamys  (zweimal; 
daneben  nur  die  allgemeinen  Ausdrücke  amictus  und  tegmina),  in 
Buch  IV  auch  allgemein  vestis.^  Das  Sulpicius  Dial.  II  1  entsprechende 
Wunder  erzählt  er  Vita  Martini  B.  IV :^  sowohl  für  das  an  den  Armen 
verschenkte  Kleidungsstück,  wie  für  das,  mit  welchem  Martin  sich 
nachher  selbst  bekleidet,  hat  er  die  Bezeichnung  vestis;  für  das  letztere 
findet  sich  auch  der  allgemeine  Ausdruck  tegmen. 

Auch  Venantius  Fortunatus  berichtet  über  diese  Wunder.  Außer 
in  seiner  Vita  Martini  nimmt  er  auch  in  seinen  übrigen  Werken  häufig 
darauf  Bezug. 

Allerdings  ist  seine  Vita  Martini,  ebenso  wie  die  des  Paulinus,  nur 
eine  Übertragung  der  Vita  und  der  Dialogi  des  Sulpicius  in  Hexa- 
meter; stofflich  hat  er  nichts  hinzugetan.  Demgemäß  findet  sich  dann 
auch  das  Wunder  von  Amiens  in  genauem  Anschluß  an  Sulpicius 
wiedererzählt;  wie  dieser,  redet  auch  Fortunatus  nur  von  der  chlamys 
und  vestis  Martins.^    Genau  entsprechend  Dial.  II 1  läßt  er  ferner  Vita 


^  Der  Ausdruck  vestis   findet   sich    auch   bei   Ennodius,   der  im  Hymnus  s. 
Martini  V.,17ff.  (Auct.  antiq.  VII,  255)  auf  die  Teilung  des  Mantels  anspielt: 

„Qua  veste  nudum  texerat, 
Hac  rex  nitebat  aetheris. 
Sordente  panno  adquiritur, 
Quo  fulget  astrorum  globus." 

'  Migne,  Patrol.  lat.  61,  lOllff.  —  Über  Paulinus  von  Perigueux  vgl.  Pott- 
hast' 897,  1459. 

^  Migne  a.  a.  0.  p.  1038:  „vel  cum  divisae  remaneret  portio  vestis." 

*  Migne  a.a.O.  p.  1037 ff. 

'  Vita  Mart.  I  V.  50ff.  (Auct.  antiq.  IV  1,  297). 


Capella  5 

Martini  III  24ff.  den  h.  Martin  einem  Armen  seine  tunica  schenken;^ 
für  das  Kleidungsstück,  mit  dem  der  Heilige  dann  seine  Blöße  deckt, 
hat  er  jedoch  andere  Bezeichnungen  als  Sulpicius.^ 

Vergebens  suchen  wir  den  Ausdruck  capella.  Auch  in  den  Car- 
mina,  in  denen  er  naturgemäß  selbständiger  ist,  gebraucht  er  ihn  nicht, 
obwohl  er  mehrfach  auf  die  erwähnten  Taten  Martins  anspielt.  So  oft 
er  von  der  Teilung  des  Mantels  spricht,  verwendet  er  fast  durchgehends 
chlamys.^  Das  Gewand,  das  der  Heilige  nach  dem  anderen  Wunder 
verschenkt,  bezeichnet  er  stets  als  tunica.*  Auch  das  Kleidungsstück, 
das  Martin  dann  selbst  anlegt,  erscheint  hier  als  tunica;^  daneben 
kommen  die  allgemeinen  Ausdrücke  tegmen  und  vestis  vor.^ 

Welche  Schlüsse  darf  man  aus  dem  Obigen  ziehen?  Welche  der 
beiden  Episoden  ist  als  Ausgangspunkt  der  Kapellaverehrung  zu  be- 
trachten? 

Nirgends  begegnet  der  Ausdruck  capella,  der  die  Frage  sofort  zu- 
gunsten eines  der  beiden  Wunder  beantworten  würde.  Gleichwohl 
müssen  wir  uns  für  die  Episode  von  Amiens  entscheiden  und  somit 
die  Hypothese  von  Ducange  und  Flach  ablehnen. 

Dafür  sprechen  allein  schon  die  oben  zusammengestellten  Bezeich- 
nungen der  in  Betracht  kommenden  Kleidungsstücke.  Denn  der  Aus- 
druck capella  bezeichnet  immer  nur  ein  Obergewand,  einen  Mantel  mit 
Kapuze;  niemals  aber  ist  er  gleichbedeutend  mit  tunica  gebraucht. '  Er 
kann  somit  nur  an  die  Stelle  von  chlamys  getreten  sein.  Allerdings 
begegnen  in  der  Vita  Martini  des  Fortunatus  auch  für  das  Gewand, 
womit  der  Heilige  in  dem  anderen  Wunder  seine  Blöße  deckt.  Aus- 
drücke, wie  palla,  tegmen  abollae,  die  auf  eine  Art  Obergewand  hin- 
zuweisen scheinen.  Aber  die  herrschende  Ansicht  ist  doch  geworden, 
daß  es  sich  hier  um  ein  Untergewand  handele.  So  gebraucht  Fortu- 
natus an  anderer  Stelle  die  richtige  Bezeichnung  tunica,  und  noch  der 


'  Vita  Mart.  III  V.  34,  61  (Auct.  antiq.  IV  1,  330f.). 

^  Nämlich  „hirsuta  bigerrica  palla"  V.  49,  „tegmen  abollae"  V.  45,  „tegimen 
vile"  V.  47,  „vestes"  V.  46,  „vestis"  V.  48,  „amictus"  V.  51. 

^  Carmina  VIII  20,  5.  X  6,  26 f.  (hier  auch  der  allgemeine  Ausdruck  „palla" 
V.  30)  und  103.  X  7,  57.  X  10,  16.  Vita  tiilarii  c.  9  (Auct.  antiq.  IV  2,  5).  — 
Daneben  „vestis"  Carm.  X  6,  104;  „amictus"  X  6,  105. 

*  Carminal  5,  7  (mit  der  Überschrift:  In  cellulam  s.  Martini  ubi  pauperem 
vestivit.  rogante  Gregorio  episcopo.  —  Daß  die  Überschriften  vom  Dichter  selbst 
herrühren,  erweist  Leo,  Vorrede  S.  XVII).     X  6,  3.  109.     X  10,  17. 

'"  So  „vili  tunica"  Carm.  I  5,  9  (vgl.  18,  20);    „pars  tunicae  parva"  X  6,  110. 

®  „Inopi  tegmine",  Carm.  I  5,  10;  „vestis"  X  6,  7. 

^  So  schließen  sich  z.  B.  tunica  und  cappella  aus  in  Vita  Walarici  abb.  Leuco- 
naensis  c.  26  (SS.  rer.  Merov.  IV,  171):  „tunica  cum  cappella  tantum  utens." 


5  Wilhelm  Lüders 

Monachus  Sangallensis  spricht  gelegentlich  von  demselben  Kleidungs- 
stücke als  dem  roccus  des  Heiligen.  ^ 

Aber  nicht  nur  diese  formalen,  sondern  auch  noch  andere  Gründe 
weisen  uns  auf  das  Wunder  von  Amiens  hin. 

Bei  Fortunatus  hat  es  den  Anschein,  als  ob  beide  Taten  damals 
noch  in  gleicher  Weise  gefeiert  und  populär  gewesen  wären.  Er  nennt 
sie  an  mehreren  Stellen  seiner  Carmina  unmittelbar  zusammen.^  Als 
Gregor  in  der  nach  einem  Brande  renovierten  Martinskirche  zu  Tours 
von  einheimischen  Künstlern  Szenen  aus  Martins  Leben  malen  ließ,^ 
dichtete  sein  Freund  Fortunatus  zu  den  einzelnen  Bildern  kurze  Epi- 
gramme.* Unter  ihnen  befindet  sich  auch  eines  mit  der  Überschrift 
„chlamys  divisa",  sowie  ein  anderes  mit  dem  Titel  „tunicam  dedit";  es 
waren  also  beide  Szenen  in  der  Kirche  dargestellt.  Aber  gleichwohl 
scheint  schon  damals  die  Episode  von  der  geteilten  chlamys  das  Über- 
gewicht erlangt  und  jenes  typische,  dem  ganzen  Mittelalter  bekannte 
Bild  des  Heiligen  geschaffen  zu  haben,  das  ihn  als  den  mildtätigen 
Krieger  darstellt.  Es  ist  vielleicht  nur  Zufall,  daß  Gregor  in  seinen 
Virtutes  sancti  Martini  nur  auf  dieses,^  nicht  auch  auf  das  andere 
Wunder  von  der  verschenkten  tunica  zu  sprechen  kommt.  Dagegen 
ist  um  so  bezeichnender  ein  Zug,  der  sich  gleichfalls  in  den  Virtutes 
sancti  Martini  findet:  als  hier  der  Teufel,  um  einen  Gläubiger  zu  irren, 
die  Gestalt  Martins  annimmt,  erscheint  er  eben  in  der  Gestalt  eines 
Kriegers.^  Endlich  scheint  man  auch  bei  dem  späteren  Gebrauche,  die 
capella  des  Heiligen  mit  in  die  Schlacht  zu  nehmen,"^  mehr  an  den 
streitbaren  Reiter,  der  die  Hälfte  seines  Mantels  einem  Armen  schenkt, 


^  II  c.  17  (SS.  II,  760):  „Carolus  habebat  pellicium  berbieinum,  non  multum 
amplioris  praecii,  quam  erat  roccus  ille  s.  Martini,  quo  pectus  ambitus  nudis  brachiis 
Deo  sacrificium  obtulisse  .  .  .  comprobatur."  —  Belege,  daß  roccus  gleich  tunica  ge- 
braucht wird,  bei  Graff,  Althochdeutscher  Sprachschatz  II,  430. 

«  Carm.  X  6,  Iff.  und  25ff.  X  7,  47f.  und  57f.  X  10,  16ff.  —  Auch  Pauli- 
nus  kommt,  als  er  von  der  an  den  Armen  verschenkten  vestis  redet  (Migne  a.a.O. 
p.  1038),  wieder  auf  das  bereits  im  1.  Buche  erzählte  Wunder  von  der  Teilung 
der  chlamys  zu  sprechen. 

"  Gregor  erwähnt  dies  kurz  Hist.  Franc.  X  c.  31.  Vgl.  Bernoulli  a.  a.  0.  S.  225. 

^  Carm.  X  6.  —  Zur  Charakteristik  dieser  Epigramme  vgl.  W.  Meyer,  Der 
Gelegenheitsdichter  Venantius  Fortunatus  (Abh.  der  k.  Ges.  d.  Wiss.  zu  Göttingen, 
phil.-hist.  Kl.,  N.  F.  Bd.  IV  no.  5)  S.  68. 

*  I  cap.  17  (SS.  rer.  Merov.  I,  598). 

®  II  cap.  18  (SS.  rer.  Merov.  I,  615):  „Conponens  autem  (seil,  inimicus)  se  in 
speciem  veterani  venit  ad  eum  dicens:  ,Ego  sum  Martinus*.  .  ."  —  Hierzu  bemerkt 
Ruinart  (vgl.  SS.  rer.  Merov.  I,  615  A.  2):  „Militis  scilicet,  quod  iam  forte  tunc 
temporis  beatus  vir,  ut  nunc  fit,  in  militis  chlamydem  suam  cum  paupere  dividentis 
speciem  depingeretur  ob  praeclari  facinoris  celebritatem." 

'  Vgl.  unten  S.  12. 


Capeila  7 

als  an  den  friedfertigen  Bischof,  der  zum  Gottesdienste  geht,  gedacht 
zu  haben.  Kurz,  alles  führt  uns  auf  das  Wunder  von  Amiens  als  den 
Ursprung  des  Kapellakultes  hin.^ 

So  waren  etwa  um  600,  in  der  letzten  Zeit  des  Venantius  Fortu- 
natus,  alle  Vorbedingungen  für  die  Kapellaverehrung  gegeben.  Das 
Wunder,  das  als  ihr  Ausgangspunkt  anzusehen  ist,  war  damals  be- 
sonders populär  und  beim  Volke  beliebt;  immer  wieder  kommt  Fortu- 
natus  darauf  zu  sprechen. 

Dürfen  wir  aber  annehmen,  daß  bereits  damals  eine  Verehrung 
des  Martinsgewandes,  sei  es  nun  unter  der  Bezeichnung  capella  oder 
unter  einer  anderen,  sich  herausgebildet  hatte? 

Ein  Kultus  des  Martinsgewandes  unter  der  Bezeichnung  capella 
ist  ohne  weiteres  abzulehnen.    Denn  nirgends  begegnet  dieser  Ausdruck. 

Aber  auch  eine  Verehrung  des  Martinsgewandes  unter  einer  anderen 
Benennung  ist  für  jene  Zeit  sehr  unwahrscheinlich.  Allerdings  läßt  sich 
nur  ein  argumentum  ex  silentio  anführen,  doch  ist  dieses  bei  der  Fülle 
von  Nachrichten,  die  wir  sonst  über  den  Martinskult  besitzen,  sehr  ge- 
wichtig. 

Weder  Venantius  Fortunatus  noch  Gregor  erwähnen  etwas  von 
der  Verehrung  des  Martinsgewandes.  Ein  Kultus  des  Martinsgewandes 
zu  Tours,  das  als  Hauptsitz  der  Verehrung  des  Heiligen  am  ehesten 
in  Frage  kommen  könnte,  erscheint  dadurch  für  jene  Zeit  so  gut  wie 
gänzlich  ausgeschlossen.^  Denn  namentlich  durch  die  Schriften  Gregors 
sind  wir  so  genau  über  den  dortigen  Martinskult  unterrichtet,  daß  auch 
die  Verehrung  des  Gewandes,  falls  sie  wirklich  vorhanden  war,  ohne 
Zweifel  uns  bekannt  geworden  wäre. 

Auch  der  Kultus  des  Gewandes  als  Reichsreliquie  in  der  Pfalz 
eines  der  merowingischen  Könige  ist  für  die  Zeit  bis  etwa  600  so  gut 
wie  ausgeschlossen.  Denn  eine  solche  Ehrung,  die  einer  Reliquie  seines 
Vorgängers  auf  dem  Bischofsstuhle  von  Tours  gezollt  wäre,  hätte  Gregor, 
der  keine  Gelegenheit  vorübergehen  läßt,  wo  er  das  Lob  des  Heiligen 
seiner  Stadt  verkünden  kann,  sicherlich  nicht  unerwähnt  gelassen.  Auch 
den  Einwand  kann  man  nicht  machen,  daß  Gregor  eine  Verehrung  des 
Martinsgewandes  am  Königshofe  etwa  unbekannt  geblieben  wäre.    Dies 

^  Wenn  noch  Alcuin,  Vita  s.  Mart.  c.  2  (Migne,  Patrol.  lat.  101,  659),  als  er 
auf  das  Wunder  von  Amiens  zu  sprechen  kommt,  von  der  chlamys  redet,  anstatt 
den  zu  seiner  Zeit  gebräuchlichen  Ausdruck  capella  für  die  berühmte  Martinsreliquie 
zu  verwenden,  so  dürfte  dies  lediglich  auf  die  literarische  Abhängigkeit  von  Sulpi- 
cius  zurückzuführen  sein.  —  Die  Erzählung  von  der  verschenkten  tunica  urjd  dem 
sich  daran  anschließenden  Wunder  kommt  bei  ihm  nicht  vor. 

^  Von  der  Kappaprozession,  die  BernouIIi  S.  209  erwähnt,  habe  ich  für  diese 
Zeit  keinerlei  Belege  gefunden. 


8  Wilhelm  Lüders 

ist  bei  ilim,  der  als  einer  der  höchsten  Würdenträger  des  Reiches  eine 
große  politische  Rolle  spielte  und  häufig  an  den  Höfen  der  Franken- 
könige weilte,  ausgeschlossen.  Auch  für  den  Geschichtschreiber  Gregor, 
der  sehr  oft  gerade  das  Nebensächliche,  sobald  es  für  ihn  Interesse 
hat,  eingehend  behandelt,  wäre  eine  Nichterwähnung  des  Kultes  sehr 
auffallend. 

So  waren  zwar  in  der  Wertschätzung  und  Beachtung,  die  das 
Wunder  vom  geteilten  Mantel  zu  der  Zeit  des  Gregor  und  Fortunatus 
genoß,  bereits  die  Keime  der  späteren  Kapellaverehrung  enthalten ;  aber 
um  das  Jahr  600  hat  diese  augenscheinlich  noch  nicht  bestanden. 


§2.    Der   Kultus   der  capella  s.  Martini  am   merowingischen 

Hofe 

1.   Die  Eidesleistung  über  der  capella. 

Die  ersten  Nachrichten  von  einem  Kultus  der  capella  s.  Martini 
am  merowingischen  Hofe  erhalten  wir  in  einer  Urkunde  Theuderichs  III. 
vom  Jahre  679^  und  in  einer  Formel  der  Sammlung  Markulfs.  ^  Beide 
Stücke  weisen  in  den  formelhaften  Partien  so  große  Übereinstimmung 
auf,  daß  man  eine,  wenn  nicht  unmittelbare,  so  doch  sicherlich  mittel- 
bare Abhängigkeit  des  einen  Stückes  von  dem  anderen  annehmen  muß.^ 

Wie  tritt  uns  nun  die  capella  s.  Martini  in  den  beiden  Dokumenten 
entgegen? 

Beides  sind  Placita;  sie  enthalten  Aufzeichnungen  über  prozessuale 
Vorgänge,  die  sich  in  der  Pfalz  des  Königs  abgespielt  haben. 

In  der  Formel  klagt  ein  Mann  einen  anderen  beim  Pfalzgerichte 
des  Königs  an,   daß  er  seinen  flüchtigen  Sklaven  aufgenommen  habe 

^  Pardessus  II  p.  185  no.  394=  Pertz,  p.  45  no.  49.  —  Der  erstere  setzt  die 
Urkunde  zu  680,  der  letztere  zu  679.  Das  Richtige  ist  679;  denn  die  Urkunde  ist 
datiert  „sub  die  segundo  kalend.  Julias,  annum  VII  rigni  nostri,  Lusareca,  in  Dei 
nomene  feliciter";  Theuderich  III.  aber  trat  die  Regierung  zwischen  dem  11.  März 
und  Mitte  April  673  an  (Levison,  Kleine  Beiträge  zu  Quellen  der  fränk.  Gesch.  II. 
Zur  Chronologie  der  späteren  Merowinger,  NA.  XXVII,  365). 

-  I,  38  (MG.  Form.  p.  67). 

^  Welches  der  beiden  Dokumente  älter  ist,  dürfte  sich  kaum  mit  Sicherheit 
entscheiden  lassen.  Während  man  früher  die  Sammlung  Markulfs  mit  Sicherheit 
etwa  650—660  ansetzen  zu  können  glaubte,  ist  sie  nach  der  neueren  Ansicht  erst 
gegen  Ende  des  7.  Jahrhunderts  zusammengestellt  (Zeumer,  Formulae  p.  34;  Brun- 
ner, RG.  I,  406).  Dies  beweist  jedoch  noch  nicht,  daß  die  Formel  jünger  als  die 
Urkunde  Theuderichs  ist.  Denn  sie  kann  auf  Formeln  oder  Urkunden  zurückgehen, 
die  älter  als  die  Urkunde  von  679  sind.  Eine  sichere  Entscheidung  dürfte  sich 
schwerlich  treffen  lassen,  ist  auch  für  unsere  Zwecke  durchaus  nicht  nötig,  da  die 
beiden  Stücke,  außer  in  allen  formelhaften  Elementen,  so  vor  allem  auch  in  der  Art, 
wie  die  capella  s.  Martini  erscheint,  durchgehends  übereinstimmen. 


Capeila  9 

und  seine  Auslieferung  verweigere.  Der  andere  will  dagegen  von  dem 
Sklaven  nichts  wissen  und  wird  daher  von  den  Großen  (proceres),  die 
unter  diem  Vorsitze  des  Pfalzgrafen  das  Gericht  bilden,  dazu  verurteilt, 
daß  er  nach  einer  bestimmten  Frist  mit  sechs  Eideshelfern  wiederum 
in  der  Pfalz  erscheinen  und  sich  mit  ihnen  durch  einen  Eid  von  dem 
Verdachte  reinigen  soll.  Der  Eid,  so  heißt  es,  soll  stattfinden,  „in 
palatio  nostro  super  capella  domni  Martini,  ubi  reliqua  sacramenta 
percurrunt." 

Ganz  ähnlich  ist  der  Vorgang  in  der  Urkunde  Theuderichs  III. 
Hier  klagt  eine  Frau,  Namens  Achildis,  gegen  einen  gewissen  Amal- 
garius,  daß  er  ihr  einen  Teil  der  Villa  Les  Batignolles,  der  ihr  durch 
Erbschaft  zukäme,  widerrechtlich  vorenthalte.  Als  Amalgarius  dem- 
gegenüber behauptet,  daß  das  strittige  Besitztum  bereits  seit  31  Jahren 
in  seinem  und  seines  Vaters  Besitze  gewesen  sei,  wird,  gerade  wie  in 
der  Formel,  auch  hier  von  den  proceres  das  Urteil  gefällt,  daß  Amal- 
garius nach  einer  bestimmten  Frist  wiederkommen  und,  von  sechs 
Eideshelfern  unterstützt,  durch  einen  Eid,  wiederum  super  capella 
domni  Martini,  sein  Besitzrecht  an  dem  umstrittenen  Gute  erhärten 
soll.  Während  aber  die  Formel  von  der  Eidesleistung  selbst  nichts 
enthält,^  berichtet  die  Urkunde  genau  darüber:  Amalgarius  erscheint 
zur  festgesetzten  Zeit  wiederum  in  der  Pfalz  und  leistet,  in  quantum 
inluster  vir  Dructoaldus,  comes  palatii  noster,  testimoniavit,^  den  vor- 
geschriebenen Eid. 
K.  Die  beiden  Stücke  lassen  deutlich  die  damaligen  Funktionen  der 
capella  Martini  und  ihre  Verehrung  als  Reliquie  erkennen. 

Nach  der  Formel  wird  sie  im  Palatium  des  Königs  aufbewahrt. 
Noch  genauer  wird  ihr  Aufbewahrungsort  in  der  Urkunde  angegeben: 
sie  hat  ihren  Platz  im  Oratorium,  dem  Heiligtume,  das  sich,  wie  über- 
haupt auf  jeder  Villa,  so  auch  bei  jedem  Palatium  des  Königs  befand.^ 

^  Sie  ist,  wie  die  Überschrift  sagt,  eine  „carta  paricla",  also  eine  Urkunde,  die 
den  Parteien  ausgestellt  zu  werden  pflegte,  nachdem  das  urteil  bereits  gefällt,  der 
Prozeß  selbst  aber  noch   nicht  durch  den  im  urteil   anbefohlenen  Eid  beendet  war. 

^  Über  diese  in  sämtlichen  merowingischen  Placita,  welche  vollständig  über- 
liefert sind,  wiederkehrende  Formel  vgl.  Brunner,  Festgaben  für  Heffter  (1873) 
S.  166ff.,  über  die  Urkunde  Theuderichs  III.  speziell  S.  170,  A.  1. 

^  Mabillon,  De  re  dipl.  p.  470  (Notatio  zu  dem  Placitum  Theuderichs)  nimmt 
an,  daß  das  hier  genannte  Oratorium  ein  „o.  portatile"  sei  (oratorium  hoc  regium 
'fuisse  ac  portatile  puto)  und  faßt  es  also,  entsprechend  den  „sancta"  desMonachus 
Sangall.  I  c.  4  (MG.  SS.  II,  732),  auf  die  er  sich  beruft,  als  Reliquiensammlung  auf, 
welche  die  merowingischen  Könige  beständig  mit  sich  zu  führen  pflegten  und  in 
welcher  die  capella  Martins  den  hervorragendsten  Platz  einnahm.  Der  klare  Wort- 
laut der  Urkunde  setzt  jedoch  außer  Zweifel,  daß  oratorium  in  rein  örtlichem"  Sinne 
zu  fassen  ist;  denn  es  heißt,  daß  der  Eid  stattfinden  soll  „m  oraturio  nostro".  — 
Vgl.  auch  die  Urkunde  Childeberts  von  710  (unten  S.  14):  Jn  oraturio  suo." 


10  Wilhelm  Lüders 

Daß  die  capella  stets  bei  dem  königlichen  Hofhalte  war  und  mit 
ihm  von  einer  Pfalz  zur  anderen  zog,  wo  sie  dann  zweifellos  jedesmal 
eben  in  dem  Oratorium  der  betreffenden  Pfalz  ihren  Platz  fanrd,  geht 
aus  der  Urkunde  Theuderichs  hervor.  Denn  als  Achildis  und  Amal- 
garius  zum  ersten  Male  vor  dem  Pfalzgerichte  erscheinen,  hält  sich 
der  König  gerade  zu  Compiegne  auf.  Hier  wird  auch  das  Urteil  ge- 
fällt. Als  dann  aber  Amalgarius  zur  Eidesleistung  wiederkommt,  be- 
findet sich  die  capella  zu  Luzarches.  Hier  findet  der  Schwur  statt; 
hier  ist  auch  das  Placitum  ausgefertigt.  Man  muß  annehmen,  daß  in- 
zwischen der  Hof  seinen  Sitz  von  Compiegne  nach  Luzarches  verlegt 
und  die  capella  Martins  dorthin  mitgenommen  hat. 

Daß  die  capella  als  Reliquie  damals  in  hohem  Ansehen  stand, 
kann  man  eben  aus  der  Tatsache  schließen,  daß  ein  Eid  bei  ihr  so 
hohe  Geltung  hatte  und  sie  mit  Vorliebe  gerade  bei  den  Verhandlungen 
des  Pfalzgerichtes  Verwendung  fand.  Denn  daß  dieser  Gebrauch 
häufiger  war  als  man  nach  den  wenigen  überlieferten  Zeugnissen  an- 
nehmen sollte,  dafür  bürgt  schon  der  Umstand,  daß  der  Eid  über  der 
capella  gerade  auch  in  einer  Formel  überliefert  ist. 

2.  Zeit  und  Ort  des  Ursprunges  der  Kapellaverehrung 
dürften  sich  schwerlich  genauer  bestimmen  lassen. 

Nur  soviel  kann  man  sagen,  daß  sie  etwa  zwischen  dem  Jahre  600, 
wo  sie  nach  dem  oben  gewonnenen  Ergebnisse  noch  nicht  vorhanden 
war,  und  dem  Jahre  679,  in  dem  die  capella  zuerst  unzweifelhaft  in 
den  Quellen  begegnet,  entstanden  sein  muß.  Einen  Zeitpunkt  inner- 
halb dieser  Periode  festzulegen,  ist  unmöglich,  bei  dem  Mangel  an 
allen  Belegen  kann  man  nur  Vermutungen  aussprechen.  Einerseits  ist 
es  nicht  wahrscheinlich,  daß  die  Entwicklung  sofort  nach  Gregor  und 
Venantius  Fortunatus,  die  noch  keine  Spur  des  Kapellakultes  zeigen, 
eingesetzt  habe.  Andererseits  tritt  in  der  Urkunde  Theuderichs  der 
Schwur  über  der  capella  bereits  als  etwas  ganz  Selbstverständliches 
auf,  so  daß  die  Verehrung  des  Martinsgewandes  in  der  königlichen 
Pfalz  immerhin  schon  eine  gewisse  Zeit  bestanden  haben  muß.  Es 
mag  dahingestellt  bleiben,  ob  man  hierfür  die  Formel  Markulfs  an- 
führen kann,  die  ja  vielleicht  auf  ein  Vorbild,  das  älter  als  die  Urkunde 
Theuderichs  ist,  zurückgeht.  Das  Wahrscheinlichste  ist  demnach,  daß 
die  Verehrung  der  capella  in  der  Königspfalz  sich  etwa  um  die  Mitte 
des  7.  Jahrhunderts  ausgebildet  hat.^ 


^  Eine  andere  Frage  ist  die,  wann  die  Verwendung  der  capella  bei  gerichtlichen 
Eiden  entstanden  sein  könnte.  Hierfür  würde  man  einen  gewissen  Anhalt  an  den 
übrigen  Placita,  die  aus  jener  Zeit  überliefert  sind,  haben,  wenn  man  etwa  nach- 
weisen könnte,  daß  vor  679  Eidesleistungen  bei  anderen  Gegenständen  oder  Reliquien 


Capeila  ^^ 

Für  die  Bestimmung  des  Entstehungsortes  des  Kapellakultes  ist 
es  bedeutsam,  daß  die  Urkunde  Theuderichs  aus  der  Zeit  vor  der 
Schlacht  bei  Testri  herrührt,  also  aus  einer  Zeit,  wo  Neustrien  noch 
im  Besitze  seiner  Selbständigkeit  war.  Hier  in  Neustrien  ist  auch  die 
Formelsammlung  Markulfs  entstanden.^  Aber  nicht  nur  die  Spuren 
der  Überlieferung  weisen  nach  der  westlichen  Reichshälfte;  auch  sonst 
waren  in  Neustrien  alle  Vorbedingungen  für  einen  derartigen  Martins- 
kult in  weit  höherem  Maße  gegeben  als  in  Austrasien.  Namentlich 
war  man  dort  dem  Ausgangspunkte  aller  Martinsverehrung,  der  Bischofs- 
stadt Tours  näher,  wo  noch  immer  das  Grab  des  Heiligen  der  Mittel- 
punkt eines  ausgedehnten  Kultes  war.^  Es  ist  nicht  unmöglich,  daß 
gerade  von  hier  die  uns  in  der  Königspfalz  entgegentretende  Sitte  des 
Eides  über  der  capella  ausgegangen  ist.  Denn  daß  auch  über  dem 
Grabe  Martins  Eidesleistungen  stattfanden,  teilt  Gregor  an  mehreren 
Stellen  mit.^  Auch  die  Schriften  des  Gregor  und  Fortunatus  werden 
mitgewirkt  haben.  So  ist  es  ohne  Zweifel,  daß  sich  in  Neustrien  die 
Verehrung  der  capella  Martins  entwickelt  hat.* 


in  der  Pfalz  gebräuchlich  gewesen  wären.  Doch  habe  ich  unter  den  bei  Pertz  ent- 
haltenen Placita  sonst  keines  gefunden,  in  dem  überhaupt  ein  gerichtlicher  Eid 
stattfände. 

^  Zeumer,  MG.  Form.  p.  34,  17:  Markulf  sei  höchstwahrscheinlich  Mönch  in 
dem  monasterium  Resbacense  (=  Rebais,  dep.  Seine-et-Marne)  gewesen;  vgl.  NA.  XXX, 
716ff.,  wo  Zeumer  an  dieser  Ansicht  gegenüber  Caro  festhält. 

^  Charakteristische  Beispiele  hierfür  liefert  namentlich  Gregor  allenthalben  in 
seiner  Hist.  Franc,  und  den  Virtut.  s.  Mart.  —  Vgl.  Bernoulli  S.  212ff.,  der  das 
Grab  Martins  geradezu  ein  „Reichsheiligtum'*  nennt.  Ein  charakteristisches  Zeugnis 
aus  karolingischer  Zeit  bietet  Alcuin,  Vita  s.  Martini  cap.  16  (Migne,  Patrol.  lat. 
101,  664):  „In  qua  (d.  h.  in  der  von  Perpetuus  über  dem  Martinsgrab  erbauten 
Kirche)  etiam  usque  hodie  multa  miraculorum  signa,  plurimae  sanitatum  virtutes, 
consolationes  moerentium  et  pietates  laetantium,  praestante  Domino  Jesu  Christo, 
fieri  solent."  Über  die  große  Bedeutung  von  Martins  Grab  vgl.  auch  M.  l'abbe 
C.  Chevalier,  Origines  de  l'eglise  de  Tours  (Mem.  de  la  soc.  archeol.  de  Touraine, 
T.  XXI  1,  Tours  1871). 

^  Hist.  Fr.  V  c.  48:  „iurans  saepius  super  sepulchrum  sancti  antistitis";  V  c.  49: 
„sacramentum  super  sepulchrum  sancti  Martini  dederat";  vgl.  auch  V  c.  48:  „Sed 
post  inlata  damna  iterat  iterum  sacramenta  pallamque  sepulchri  beati  Martini  fide- 
iussorem  donat,  se  nobis  numquam  adversaturum." 

*  Übrigens  scheint  —  wenn  man  einer  Notiz  bei  Joh.  H.  Kessel  (Geschichtl. 
Mitt.  über  die  Heiligt,  der  Stiftsk.  zu  Aachen  S.  141)  trauen  darf  —  das  Gewand 
des  h.  Martin  nicht  die  einzige  Reliquie  gewesen  zu  sein,  die  am  fränkischen  Hofe 
unter  der  Bezeichnung  capella  verehrt  wurde.  Nach  Kessel  befindet  sich  nämlich 
noch  heute  unter  den  Reliquien  der  Aachener  Stiftskirche  „ein  ziemlich  umfang- 
reicher grober  Leinenstoff**,  der  durch  zwei  Inschriften  näher  bezeichnet  wird. 
Die  eine,  „in  merowingischer  Schrift  geschrieben"  und  „aus  dem  6.  höchstens  aus 
dem  7.  Jahrhundert"  stammend,  lautet:  ,, Hie  sunt  Reliquias  sei  Martialis  epci,"  wäh- 
rend eine  zweite,  ,, vielleicht  um   ein  Jahrhundert  jüngere**  Inschrift  das  Gewand  ge- 


12  Wilhelm  Lüders 

3.    Die  capella  in  der  Schlacht. 

Die  Quellen  aus  merowingischer  Zeit  lassen  nur  die  Verwendung 
der  capella  bei  gerichtlichen  Eiden  erkennen.  Dagegen  ist  in  späteren 
Quellen,  bei  Walahfrid  Strebo^  und  dem  Monachus  Sangallensis^  über- 
liefert, daß  die  fränkischen  Könige  die  cappa  oder  capella  Martins  auch 
in  den  Krieg  mitzunehmen  pflegten,  in  dem  Glauben,  daß  sie  durch 
die  Kraft  der  Reliquie  selbst  vor  Unfall  oder  Niederlage  bewahrt  würden 
und  mit  ihrer  Hilfe  um  so  leichter  den  Sieg  errängen. 

Wenn  gleichzeitige  Nachrichten  über  einen  derartigen  Gebrauch 
auch  gänzlich  fehlen,  so  dürfte  doch  den  späteren  Nachrichten  Glauben 
zu  schenken  sein.^  Gerade  eine  Reliquie  Martins,  der,  wie  schon  oben 
gezeigt  ist,  vornehmlich  in  der  Gestalt  eines  Kriegers  im  ganzen 
Frankenreiche  gefeiert  war,  verdiente  es,  vor  den  Reliquien  aller  übrigen 
Heiligen  mit  in  den  Krieg  genommen  zu  werden.  Daß  Martin  schon 
sehr  früh  von  den  Frankenkönigen  als  Verleiher  des  Sieges  angesehen 
wurde,  läßt  deutlich  eine  Stelle  der  Historia  Francorum  (II  c.  37)  Gregors 
erkennen:  als  Chlodovech  durch  das  Gebiet  von  Tours  gegen  die  West- 
goten zieht,  verbietet  er,  um  die  Hilfe  Martins  zu  erlangen,  jede 
Plünderung;  als  sich  trotzdem  ein  Krieger  gegen  sein  Gebot  vergeht, 
tötet  er  ihn  mit  den  Worten:  „ubi  erit  spes  victuriae,  si  beato  Martino 
offendimus?"  Ferner  sendet  er  Boten  mit  reichen  Geschenken  nach 
Tours;  als  diese  in  der  Basilika  Martins  ein  günstiges  Vorzeichen  er- 
halten, zieht  er  getrost  in  den  Krieg.  Reiche  Schenkungen  an  die 
Kirche  des  Heiligen  sind  nach  gewonnenem  Siege  des  Königs  Dank 
für  die   geleistete   Hilfe.     Als   Schützer   der   Person   des   Königs   tritt 


nauer  definiert:  „Hie  est  cappella  sei  Martialis  epci."  uns  interessiert  besonders 
die  zweite  Inschrift.  Nach  der  Datierung,  die  ihr  Kessel  gibt,  muß  die  Möglichkeit 
in  Betracht  gezogen  werden,  daß  der  Kultus  der  capella  s.  Martialis  älter  sei 
als  die  Verehrung  der  capella  s.  Martini.  Aber  für  die  Priorität  des  Kultus  der 
Martinsreliquie  spricht  schon  allein  der  Umstand,  daß  in  den  uns  überlieferten 
Miracula  Martials  (Acta  SS.  Boll.  Juni  30  VII,  507 ff.),  soviel  ich  sehe,  nirgends  ein 
Kleiderwunder  erscheint,  an  das  sich  jene  Verehrung  hätte  anschließen  können.  Man 
wird  daher,  was  ja  auch  Kessel  zugibt,  jene  zweite  Inschrift  frühestens  in  das 
8.  Jahrhundert  datieren  dürfen. 

^  De  oxordiis  et  incrementis  rer.  eccl.  cap.  32  (Capitularia  reg.  Fr.  II,  515): 
„Dicti  sunt  autem  primitus  cappellani  a  cappa  beati  Martini,  quam  reges  Francorum 
ob  adiutorium  victoriae  in  proeliis  solebant  secum  habere,  quam  ferentes  et  custo- 
dientes  cum  ceteris  sanctorum  reliquiis  derlei  cappellani  coeperunt  vocari." 

^  Vita  Caroli  Magni  I  c.  4  (MG.  SS.  II,  732):  „Quo  nomine  (sc.  cappella)  Fran- 
corum reges  propter  cappam  sancti  Martini,  quam  secum  ob  sui  tuitionem  et 
hostium  oppressionem  iugiter  ad  bella  portabant,  sancta  sua  appellare  solebant." 

^  Auch  BernouUi  S.  225  nimmt  die  Nachricht,  daß  die  merowingischen  Könige 
sich  Martins  Mantel  in  die  Schlacht  nachtragen  ließen,  als  richtig  an.  Ebenso 
Waitz,  VG.  III,  516;  Flach,  Les  origines  de  l'ancienne  France  III,  549. 


Capeila  13 

Martin  bei  Gregor,  Hist.  Franc.  V  c.  25  auf:  „Guntchramnus  vero,  cum 
super  se  mortem  cerneret  inmineri,  invocato  nomen  Domini  et  virtutem 
magnam  beati  Martini,  elevatoque  contu,  Dracolenum  artat  in  faucibus." 

Mögen  diese  Erzählungen  auch  nicht  sicher  verbürgt  sein,  so  geben 
sie  doch  zum  mindesten  die  zur  Zeit  Gregors  herrschenden  Anschau- 
ungen wieder.  Wir  haben  deshalb  keinen  Grund,  an  den  Angaben 
Walahfrids  und  des  Monachus  Sangallensis  zu  zweifeln,  zumal  durch 
gleichzeitige  Zeugnisse  ein  Kultus  der  capella  in  der  merowingischen 
Pfalz  nachgewiesen  ist.  Nur  kann  der  Brauch,  das  Martinsgewand 
auch  in  die  Schlacht  mitzuführen,  nicht  eher  entstanden  sein  als  der 
Kultus  der  capella  in  der  Pfalz  überhaupt,  also  keinesfalls  vor  dem 
Jahre  600,  sondern  erst  im  Laufe  des  7.  Jahrhunderts.^ 

4.   Der  „Abt"  am  merowingischen  Hofe. 

Ob  schon  damals  besondere  Geistliche  für  die  Bewachung  und 
Bedienung  der  capella  bestellt  waren,  erfahren  wir  aus  den  Quellen 
jener  Zeit  nicht. 


^  Ducange  (ed.  Favre  II,  112,  3)  scheint  geneigt,  diesen  Brauch  auf  byzanti- 
nischen Einfluß  zurückzuführen,  indem  er  folgende  Stelle  des  aus  dem  6.  Jahrhundert 
stammenden  ^^iQaTtjyLxöv  des  Maurikios  (Krumbacher,  Gesch.  der  byz.  Lit.  S.  635) 
zitiert:  T'cvo^svcov  de  avccjp  sv  tcT  ii]g  naguTä^scog  lönco  lavaTat  6  ng^cov^  xnl  fisi"  avibv 
6  ßavöofpöqog.,  6ni(r&6P  ds  aviov  6  xrjv  xünnav  ßacriaCcov,  xal  fiev  avibv  6  ttjv  rovßav 
(ed.  Scheffer,  üpsala  1664,  lib.  XII,  c.  8,  11,  p.  315;  vgl.  auch  IIb.  III,  c.  1,  p.  78, 
aber  nicht  lib.  VII,  wie  Scheffer  p.  429  und  Ducange  zitieren).  Aber  was  heißt  hier 
xttTTTra?  Weder  die  völlig  unsinnige  Erklärung  Scheffers  (p.  429),  der  an  die  icct-nna 
des  Feldherrn  denkt,  noch  die  Ducanges,  der  das  Wort  allgemein  als  „sacrae  reli- 
quiae"  interpretiert,  schaffen  eine  befriedigende  Lösung.  Denn  wenn  auch  Ducanges 
Interpretation  anfangs  eine  gewisse  Stütze  in  dem  Monachus  Sangall.  (s.  o.  S.  12  A.  2) 
zu  finden  scheint,  so  geht  doch  gerade  aus  diesem  hervor,  daß  sich  die  Bezeichnung 
capella  für  sancta  (s.  u.  II  §  2)  erst  aus  der  cappa  s.  Martini  verallgemeinert 
hat.  Es  läßt  sich  also  Lianna,  an  jener  Stelle  schwerlich  erklären.  Dagegen  hat 
Ducange  richtig  herausgefühlt,  daß  es  sich  hier  zweifellos  um  Reliquien  handele,  und 
er  selbst  führt  (a.  a.  0.)  mehrere  Belege  an,  daß  auch  die  Byzantiner  dem  Gebrauche, 
solche  mit  in  die  Schlacht  zu  nehmen,  gehuldigt  haben.  Mir  scheinen  sich  daher 
alle  Schwierigkeiten  zu  lösen,  sobald  man  die  einfache  Emendation  zu  xaTiaa,  xä-tpa  = 
Reliquienbehälter,  vornimmt.  Allerdings  habe  ich  nicht  ermitteln  können,  wie  dazu 
die  handschriftliche  Überlieferung  steht;  doch  scheinen  mir  die  tiss.  mehr  oder 
weniger  verwandt  zu  sein  (vgl.  K.  K.  Müller,  Festschr.  für  L.  ürlichs,  Würzb.  1880, 
S.  106 ff.).  Auch  paläographische  Gesichtspunkte  sprechen  nicht  gegen  die  Emendation, 
zumal  auch  in  lat.  tiandschriften  die  Verwechslung  von  cappa  und  capsa  und  von 
ihren  Ableitungen  nicht  selten  vorkommt  (vgl.  z.  B.  Thes.  ling.  lat.  III,  354  s.  v.  cappa). 
[Mit  dieser  Emendation  fällt  aber  vollends  jede  Möglichkeit  des  Zusammenhanges 
jmit  dem  fränkischen  Kapellakultus  in  sich  zusammen.  —  Die  vorstehende  Stelle 
Ides  Maurikios  ist  benutzt  in  Leonis  imp.  Tactica  VII,  54  (Joa.  Meursi  Opp.  ex-  rec. 
iJoa.  Lami,  Flor.  1745,  tom.  VI,  p.  605;  vgl.  Krumbacher  S.  636);  doch  findet  sich 
jhier  gerade  der  Passus  mit  KÖLnnot.  (oder  Ki'tipa)  nicht.  Hat  vielleicht  der  Verfasser 
Jdiesen  bereits  nicht  mehr  verstanden? 


14  Wilhelm  Lüders 

Nähere  Kunde  erhalten  wir  nur  von  dem  obersten  der  mero- 
winglschen  tiofgeistlichen,  der  den  Titel  „abbas"  führte.  Er  hatte  wohl 
ohne  Zweifel  auch  die  Oberaufsicht  über  die  am  Hofe  befindlichen 
Reliquien  und  damit  auch  über  die  besonders  hoch  im  Ansehen 
stehende  capella  sancti  Martini.^ 

§3.    Die  capella  s.  Martini  in  den  Händen  der  karolingischen 

Hausmeier 

Die  nächste  Nachricht  von  der  capella  s.  Martini  erhalten  wir  in 
einer  Urkunde  Childeberts  III.  aus  dem  Jahre  710.^  Hier  ist  die 
Situation  bereits  eine  wesentlich  andere  als  in  der  Formel  und  der 
Urkunde  Theuderichs. 


^  Allerdings  sind  die  Zeugnisse,  die  uns  von  dem  Amte  des  „Abtes"  am  mero- 
wingischen  Hofe  berichten,  meist  erst  aus  nachmerowingischer  Zeit.  Aus  dem 
T.Jahrhundert  (vgl.  Wattenbach  \\  127)  stammt  allein  die  Vita  s.  Bathildis, 
wo  es  cap.  4  der  Fassung  A  (SS.  rer.  Merov.  II,  486)  heißt:  „Cui  (seil.  Bathildi)  ipse 
rex  (seil.  Chlodoveus  II.)  pius  consulens  iuxta  fidem  et  devotionem  eins,  dedit  ei  in 
adiutorium  suum  fidelem  famulum  abbatem  Genesium"  etc.;  von  ihm  heißt  es  gleich 
darauf:  „Tunc  enim  in  palatio  Francorum  erat  assiduus";  ähnlich  lautet  die  Fassung  B. 
Dagegen  ist  die  bei  Migne  80  (die  übrigen  Druckorte  siehe  beit  Potthast  II,  1586 
und  SS.  rer.  Merov.  IV,  370f.)  gedruckte  Vita  s.  Sulpitii  ep.  Bituricensis,  wo  es  S.  577 
heißt:  „Illico  ab  episcopo  poscit,  ut  pro  salute  sua  ac  exercitus  sui  licentia  daretur, 
ut  vir  beatus  in  suis  castris  abbatis  officio  potiretur,"  eine  jüngere,  erst  aus  dem 
9.  Jahrhundert  (SS.  rer.  Merov.  IV,  370)  stammende  Fassung;  die  älteste  von  Krusch 
edierte  Vita  (SS.  rer.  Merov.  IV)  erwähnt  nichts  von  einem  solchen  Amte  des  Sul- 
pitius.  Auch  die  Vita  Desiderii  Cadurcae  urbis  episcopi,  die  cap.  1  (SS.  rer.  Merov.  IV, 
563)  von  der  „abbatia  regalis  basilicae"  und  cap.  2  (a.  a.  0.  p.  564)  von  der  „abbatia 
palatini  oratorii"  redet,  stammt  frühestens  aus  dem  Ende  des  8.  Jahrhunderts  (SS. 
rer.  Merov.  IV,  556;  Wattenbach  T,  126)  Ob  man  daher,  wie  Waitz  (VG.  III,  517; 
vgl.  auch  Fustel  de  Coulanges,  La  monarchie  franque,  Paris  1888,  p.  150),  von 
dem  „Vorsteher  oder  Abt  des  königlichen  Oratoriums"  oder  gar  dem  „Abt  der  könig- 
lichen Capelle"  (VG.  II,  2.  102)  sprechen  darf,  ist  doch  sehr  fraglich.  Ist  der  Titel 
„Abt  des  Oratoriums"  wenigstens  sachlich  möglich,  so  wird  andererseits  die  Be- 
zeichnung „Abt  der  königlichen  Capelle"  als  leicht  irreführend  besser  vermieden. 
Denn  wenn  Waitz,  VG.  II,  2,  102,  A.  3,  argumentiert:  „Von  der  Capelle  sagt  der 
König  Dipl.  49  S.  45:  in  oraturio  nostro",  so  vermag  das  für  die  Stellung  eines  Abtes 
der  königlichen  „Capelle"  nichts  zu  beweisen;  an  jener  Stelle  ist  capella  nichts 
anderes  als  das  Gewand  des  h.  Martin.  —  Auch  Tardif,  Etudes  sur  les  institutions 
politiques  et  administratives  de  la  France  I,  39  beruft  sich  allein  auf  die  Vita 
Desiderii.  Glas  so  n,  tiist.  du  droit  et  des  institutions  de  la  France  II,  309  nimmt 
ohne  jeden  Grund  den  Titel  „abbas  palatinus"  an. 

^  In  den  Drucken  der  Urkunden  finden  sich  zwei  verschiedene  Lesarten. 
Mabillon  (De  re  dipl.  p.  483  no.  29),  Ducange  ed.  Favre  II  115,  3,  Bouquet  IV, 
p.  685  no.  97,  P  a  r  d  e  s  s u  s  II,  p.  286  no.  478  lesen :  „ut ...  in  oraturio  suo,  seu  cappella 
sancti  Marcthyni,  memorate  homenis  hoc  debirent  coniurare."  Tardif  p.38  no.45  und 
Pertz  p.  69  no.  78  dagegen  lesen:  „in  oraturio  suo  super  cappella  sancti  Marcthyni.* 
Nach   der  ersten  Lesart  müßte  man  annehmen,    daß  die  Bezeichnung  cappella  sich 


Capeila  15 

Agentes  des  Klosters  Saint-Denis  erscheinen  vor  dem  Pfalzgerichte 
Childeberts,  der  sich  gerade  in  seinem  Palatium  zu  Maumacques^  auf- 
hält, und  führen  Klage  gegen  die  ebenfalls  erschienenen  agentes  des 
iiausmeiers  Grimoald,  daß  dieser  eine  innerhalb  seiner  Besitzung  Ver- 
num^  gelegenen  Mühle,  die  in  Wahrheit  zu  der  dem  Kloster  schon  seit 
langem  gehörigen  Villa  Latiniacum^  gehöre,  als  sein  Eigentum  ansehe. 


bereits  von  der  Reliquie  auf  ihren  Aufbewahrungsort  übertragen,  daß  also  cappella 
bereits  die  Bedeutung  von  Oratorium  angenommen  hätte,  und  so  scheint  es  in  der 
Tat  auch  Kraus,  Realencykl.  der  christl.  Altert,  (s.  v.  capella)  aufzufassen.  Nach  der 
zweiten  Lesart  hätte  man  es  jedoch  noch  mit  der  Reliquie  zu  tun,  über  (super!)  der, 
wie  in  der  Formel  und  der  Urkunde  Theuderichs,  so  auch  hier  ein  Eid  geleistet 
wird.  Die  Frage  ist  also  von  prinzipieller  Bedeutung.  Für  die  zweite  Lesart  sprechen 
folgende  Gründe: 

1.  Die  Urkunde  Childeberts  ist,  wie  die  folgende  Zusammenstellung  und  auch 
sonst  mancherlei  Übereinstimmungen  zeigen,  in  ihrer  Form  abhängig  von  der  Formel 
und  dem  Placitum  Theuderichs,  wenn  nicht  unmittelbar,  so  doch  sicherlich  durch 
Vermittlung  eines  oder  mehrerer  Zwischenglieder: 

Formel:  Urkunde  Theuderichs:  Urkunde  Childeberts: 


ut  .  .  .  in  palatio  nostro, 
super  capella  domni  Mar- 
tini, ubi  .  .  .  percurrunt, 
debeat  coniurare. 


ut .  .  .  in  oraturio  nostro, 
super  cappella  domni  Mar- 
tini, ubi  .  .  .  percurribant, 
hoc  dibiret  coniurare. 


ut .  .  .  in  oraturio  suo,  su- 
per (seu)  cappella  sancti 
Marcthyni,  memorate  home- 
nis  hoc  debirent  coniurare. 


2.  wenn  man  seu  als  richtig  annimmt,  so  ist  kein  Gegenstand  vorhanden,  bei 
oder  über  dem  der  Eid  geleistet  werden  soll.  Soweit  ich  aber  dem  Gebrauche  nach- 
gegangen bin,  wird  fast  immer,  sowohl  in  merowingischer  wie  in  späterer  Zeit,  bei 
Eidesleistungen  ein  solcher  Gegenstand  genannt.  Namentlich  die  Präposition  super 
ist  ungemein  häufig  (vgl.  z.  B.  die  zahlreichen  Beispiele  in  MG.  Formulae).  Darum 
ist  auch  hier  zweifellos  super  capella  zu  schreiben. 

^  Oder  Montmacq  =  Mamaccas  Urkunde,  am  linken  Ufer  der  Oise  zwischen 
Noyon  und  Compiegne  (Tardif  p.  688;  Bonnell,  Die  Anfänge  des  karolingischen 
Hauses  S.  125). 

^  „farinario  illo  in  loco  noncopante  Cadolaico,  infra  termeno  Verninse."  Der 
locus  Cadolaicus  ist  Chailly  (in  pago  Meldensi;  Pertz,  Index  p.  221);  der  termenus 
Verninsis  —  gleich  nachher  Verno  in  der  Urkunde  —  ist  heute  Vern  (in  pago  Sues- 
sionensi  Pertz,  Index  p.  234). 

^  Es  ist  Lagny-sur-Marne  (dep.  Seine-et-Marne,  arr.  Meaux),  von  Theuderich  III. 
an  Saint-Denis  geschenkt,  nachdem  es  vorher  schon  im  Besitze  der  Hausmeier 
Ebroinus,  Waratto  und  Ghislemarus  gewesen  war  (Pertz  p.  51  no.  57);  daß  es  sich 
Vorher  im  Besitze  des  Ebroinus  befand,  erwähnt  auch  unsere  Urkunde.  Pertz  (In- 
dex p.  226)  nennt  fälschlich  Lagny-le-Sec  (dep.  Oise);  doch  vgl.  SS.  rer.  Merov.  II, 
415,  Anm.  10.  Lagny-le-Sec  wird  bereits  von  Nanthechildis,  der  Gemahlin  Dago- 
berts I.,  an  Saint-Denis  geschenkt,  nach  Gesta  Dagoberti  I.  regis  Franc,  c.  49  (SS.  rer. 
Merov.  II,  423):  „Testamentum  autem  de  villis,  quibus  eam  rex  Dagobertus  et  filius 
,J  ipsius  Hludowius  ditaverant,  eodem  tempore  ad  loca  oportuna  sanctorum  fieri  ordi- 
navit,  in  quo  etiam  Latiniacum  villam,  quae  sita  est  in  Brieio,  ad  basilicam  domni 
Dyonisii  tradens,  inserere  iussit";  vgl.  dazu  SS.  rer.  Merov.  II,  423,  A.  1. 


16  Wilhelm  Lüders 

Doch  die  Angelegenheit  kon>mt  in  der  Königspfalz  nicht  zum  Aus- 
trag. Grimoald  zieht  vielmehr  selbst  den  Prozeß  an  sich  und  läßt, 
nachdem  die  Inquisition  offenbar  ein  für  Saint- Denis  günstiges  Er- 
gebnis geliefert  hat,  noch  sechs  zuverlässige  Leute  aus  Vernum  und 
die  gleiche  Anzahl  aus  Latiniacum  „in  oraturio  suo,  super  cappella 
sancti  Marcthyni"  schwören,  daß  die  umstrittene  Mühle  von  jeher  zu 
Latiniacum  gehört  habe  und  somit  Besitz  des  Klosters  Saint-Denis  sei. 

Der  Eidesleistung  wohnt  Sigofridus,  der  auditur  Grimöalds,  bei; 
er  verrichtet  also  ganz  dieselbe  Funktion,  die  in  der  Formel  und  der 
Urkunde  Theuderichs  dem  Pfalzgrafen  zufiel.^  Wie  dort  auf  das  Zeugnis 
des  Pfalzgrafen  hin  eine  Königsurkunde,  so  wird  hier  auf  das  Zeugnis 
des  Siegfried  hin  von  Grimoald  den  agentes  des  Klosters  Saint-Denis 
eine  Urkunde  ausgestellt,  daß  die  betreffende  Mühle  diesem  zugehöre. 
Dann  erst  wird  eine  Königsurkunde  über  den  Fall  ausgefertigt,  nach- 
dem der  Pfalzgraf  Bero  auf  Grund  des  Zeugnisses  des  Siegfried  aus- 
gesagt hat,  daß  die  Angelegenheit  vor  dem  Richterstuhle  des  Grimoald 
erledigt  sei. 

Der  Prozeß  liegt  also  völlig  in  den  Händen  Grimöalds;  er  ent- 
scheidet ihn  fern  und  unabhängig  von  dem  königlichen  Pfalzgerichte. 
Am  beachtenswertesten  ist  jedoch,  daß  auch  die  Eidesleistung  über 
der  capella  nicht  mehr  in  der  königlichen  Pfalz,  sondern  in  dem  Ora- 
torium des  Grimoald  stattfindet.  Dieses  Oratorium  ist,  obwohl  es  nicht 
näher  bezeichnet  wird,  wohl  das  der  Villa  Vernum,  wo  sich  Grimoald 
damals  befunden  zu  haben  scheint,  und  welches  ja  auch  für  die  Eid- 
leistenden sowohl  aus  Vernum,  wie  aus  Latiniacum  am  bequemsten  zu 
erreichen  war. 

Doch  wie  kommt  Grimoald  in  den  Besitz  der  capella  Martins? 
Man  darf  schwerlich  annehmen,  daß  er  sie  nur  für  diesen  einzelnen 
Fall  der  Eidesleistung  aus  der  königlichen  Pfalz  gewissermaßen  ent- 
liehen habe.  Denn  ebenso,  wie  in  der  Formel  Markulfs  und  in  dem 
Placitum  Theuderichs,  hätte  auch  in  diesem  Falle  der  Eid  über  der 
capella  in  dem  Oratorium  des  königlichen  Palatiums  geleistet  werden 
können.  Auch  sonst  ist  kein  Grund  zu  ersehen,  aus  dem  die  capella 
dem  Hausmeier  Grimoald  nur  zeitweilig  überlassen  sein  könnte.  Viel 
wahrscheinlicher  ist  es,  daß  sie  dauernd  in  seinen  Besitz  übergegangen 
sei.    Denn  wie  Grimoald  in  seiner  unbeschränkten  Machtfülle  als  Haus- 


^  Es  findet  sich  ganz  derselbe  Ausdruck  dafür.  Formel:  „in  quantum  inlustris 
vir  ille,  comes  palati  nostri,  testimoniavit"  (findet  sich  hier  allerdings  schon  bei 
dem  urteil,  nicht  bei  der  Vollziehung  der  späteren  Eidesleistung,  die  in  der  Formel 
fehlt);  Urkunde  Theuderichs:  „in  quantum  inluster  vir  Dructoaldus,  comes  palatii 
noster,  testimoniavit";  Urkunde  Childeberts:  „in  quantum  inluster  vir  Sigofridus 
auditur  ipsius  viro  Grimoaldo  testemoniavit." 


Capeila  17 

meier  hier  ohne  weiteres  einen  Prozeß»  von  dem  Pfalzgerichte  des  Königs 
weg  vor  sein  eigenes  Gericht  zieht,  so  wird  er  auch  im  Besitze  der 
capella,  bei  der  gerichtliche  Eide  geleistet  zu  werden  pflegten,  gewesen 
sein;  und  wie  er  nunmehr  anstatt  der  schwächlichen  Frankenkönige 
die  Kriege  führte,  so  wird  er  auch  die  Reliquien,  die  jene  in  den 
Krieg  mitzunehmen  pflegten,  und  vor  allem  auch  die  capella  Martins 
mit  sich  geführt  haben/ 

Die  Urkunde  von  710  gibt  also  einen  wichtigen  Fingerzeig:  die 
capella  ist  zu  jener  Zeit  bereits  in  den  dauernden  Besitz  des  Haus- 
meiers Grimoald  und,  so  darf  man  jedenfalls  weiter  folgern,  damit 
auch  in  die  Hände  des  karolingischen  Geschlechtes  überhaupt  über- 
gegangen. Dieses  aber  hat,  wie  schon  Waitz^  nachdrücklich  hervor- 
hebt und  wie  auch  weiter  unten  zu  zeigen  sein  wird,  zuerst  die  capella 
als  Hofinstitut  und  die  Stellung  der  mit  ihr  in  Zusammenhang  stehen- 
den capellani  bewußt  entwickelt  und  ausgebaut.  Wenn  also  die  spätere 
karolingische  Hofkapelle  ihren  Ursprung  wirklich  in  der  capella  Martins 
hat,  so  haben  wir  in  der  Urkunde  Childeberts  III.  von  710  das  erste 
Dokument  jener  Entwicklung  zu  sehen. 

Es  erübrigt  nur,  den  Zusammenhang  zwischen  der  Reliquie  und 
der  späteren  Hofkapelle  überzeugend  nachzuweisen. 


§4.    Der  Übergang  von  der  capella  s.  Martini  zur  karolingi- 
schen Hofkapelle.    Das  erste  Auftreten  der  capellani 

Die  Frage,  ob  ein  Zusammenhang  zwischen  der  capella  s.  Martini 
und  der  karolingischen  Hofkapelle  besteht,  ist  von  den  meisten 
Forschern  in  bejahendem  Sinne  beantwortet.  Sie  ist  jedoch  bisher 
ebensowenig  eingehend  und  überzeugend  erörtert  wie  die  Frage,  in 
welcher  Weise  sich  jener  Übergang  vollzogen  habe. 

Waitz  und  andere  Forscher^  legen  meiner  Ansicht  nach  zu  großes 
Gewicht  auf  die  Übertragung  der  Bezeichnung  capella  von  der  Martins- 
reliquie auf  die  Oratorien  der  königlichen  Pfalzen.    Diese  Übertragung 


^  Allerdings  ist  für  diese  Zeit  noch  nicht  nachzuweisen,  daß  die  Hausmeier 
Reliquien  in  die  Schlacht  mitzuführen  pflegten.  Doch  ist  es  anzunehmen,  zumal 
da  in  dem  Kapitulare  Karlmanns  vom  Jahre  742  c.  2  (Capit.  I  p.  25  no.  10:  sancto- 
rum  patrocinia  portanda)  davon  als  von  etwas  ganz  Selbstverständlichem  die 
Rede  ist. 

'  VG.  III^  517. 

^  VG.  III-,  516.  —  Ferner  Giesebrecht,    Gesch.   der  deutschen   Kaiserzeit  I, 
323  Anm.     Fustel   de  Coulanges,    Les    transformations    de   la    royaute    pendant 
l'epoque  carolingienne  (Paris  1892)   p.  331.     Br esslau,    Handbuch    der    ürkunden- 
lehre  I  p.  295f.     Flach,  Les  origines  de  l'ancienne  France  III,  458ff. 
AfU    II  «2 


18  Wilhelm  Lüders 

hat  allerdings,  wie  sich  aus  den  Quellen  der  Folgezeit  erschließen  läßt 
und  wie  noch  weiter  unten  nachzuweisen  sein  wird,  später  zweifellos 
stattgefunden.  In  den  Quellen  der  ausgehenden  Merowingerzeit  findet 
sie  jedoch  keinerlei  Bestätigung.^ 

Wir  müssen  daher  auf  einem  anderen  Wege  den  Zusammenhang 
zwischen  der  capella  s.  Martini  und  der  Hof  kapeile  zu  erweisen  suchen; 
dieser  Weg  bietet  sich  in  der  Entwicklung  der  capellani. 

Eine  spätere  Nachricht  des  Walahfrid  Strabo^  behauptet  den  Zu- 
sammenhang zwischen  der  Martinsreliquie  und  den  capellani  ohne 
weiteres.  Doch  lassen  wir  dieses  Zeugnis  zunächst  außer  acht  und 
sehen  uns  nach  früheren  Belegen  um. 

Das  erste  unzweifelhafte  Zeugnis  für  das  Vorhandensein  der  capel- 
lani findet  sich,  soweit  ich  sehe,  in  einer  Schenkungsurkunde  Karl 
Martels  für  Saint-Denis  aus  dem  Jahre  741.^  Hier  wird  unter  den 
Zeugen  auch  ein  Audoenus  cappellanus  genannt. 

Aus  dem  folgenden  Jahre  ist  dann  jenes  wichtige  Kapitular  Karl- 
manns erhalten,  das,  auf  die  Anregung  des  Bonifatius  zurückgehend, 
sich  mit  der  Neuordnung  der  kirchlichen  Verhältnisse  im  Frankenreiche 
befaßt.*     Cap.  2  verbietet,  entsprechend   den  Bestimmungen   früherer 

^  Trotzdem  hat  man  sich  durch  spätere  Zeugnisse  zu  der  Annahme  verleiten 
lassen,  daß  schon  in  merowingischer  Zeit  die  Oratorien  der  königlichen  Pfalzen  als 
capella  bezeichnet  seien  (so  namentlich  Giesebrecht  a.  a.  0.).  Wir  sahen  jedoch, 
daß  sich  die  Verehrung  des  Martinsgewandes  unter  dem  Namen  capella  überhaupt 
erst  sehr  spät,  erst  im  Laufe  des  7.  Jahrhunderts,  in  der  Königspfalz  der  Mero- 
winger  entwickelt  hat.  Noch  in  der  Urkunde  von  679  heißt  es  ausdrücklich,  daß 
der  Schwur  stattfinden  soll  in  oraturio  nostro  super  capella  domni  Martini.  Ganz 
ähnlich  lautet  die  Formel  auch  in  der  Urkunde  von  710.  Selbst  in  Jahre  710  hatte 
also  die  Übertragung  der  Bezeichnung  capella  von  der  Martinsreliquie  auf  das  Pfalz- 
oratorium noch  nicht  stattgefunden. 

^  Siehe  das  Zitat  oben  S.  12  A.  1. 

^  BM.  43  (Pertz  p.  101  no.  14  =  Pardessus  II  p.  380  no.  563):  „Audoenus  cap- 
pellanus subscripsit."  Das  Original,  welches  noch  Mabillon  (De  re  dipl.  p.  189) 
sah,  ist  jetzt  verloren  (BM.  a.  a.  0.).  Die  sonstigen  angeblich  der  Merowingerzeit 
angehörigen  Zeugnisse,  in  denen  capellani  oder  archicapellani  genannt  werden, 
stammen  sämtlich  erst  aus.  späterer  Zeit:  Pertz  p.  146  no.  29  (Pard.  no.  260).  Pertz 
p.  152  no.  33  (Pard.  no.  253).  Pardessus  no.  311,  no.  325.  Pertz  p.  210  no.  2  (Pard. 
no.  419).  Pertz  p.  211  no.  4  (Pard.  no.  433).  —  In  der  Vita  Betharii  ep.  Carnoteni 
c.  5  (SS.  rer.  Merov.  III,  615;  von  Tardif,  Etudes  sur  les  instit.  polit.  et  administr. 
de  la  France  I,  39  A.  4  mit  unrecht  als  vollgültiges  Zeugnis  verwertet)  wird  Betha- 
rius,  in  der  Vita  Dagoberti  III.  reg.  Franc,  c.  10  (SS.  rer.  Merov.  II,  517)  Bonifatius 
fälschlich  archicapellanus  genannt. 

*  MG.  Capit.  I  p.  25  no.  10.  —  Diese  Bestimmungen  finden  sich  auch:  S.  Boni- 
fatii  epistulae  (EE.  III,  310,  22 ff.);  Concilium  Germanicum  742  c.  2  (Conc.  II,  3); 
Caroli  Magni  capitulare  primum  vom  Jahre  769  oder  später  (Capit.  I,  44,  23ff.), 
hier  mit  mechanischer  Wiederholung  des  Titels  princeps,  der  damals,  wo  die  Karo- 
linger schon  längst  im  Besitze  des  Königstitels  waren,  keinen  Sinn  mehr  hat. 


Capeila  19 

Synodalbeschlüsse/  den  Geistlichen,  Waffen  zutragen  und  mit  in  den 
Krieg  zu  zielien.  Ausgenommen  liiervon  sollen  nur  die  sein,  „qui 
propter  divinum  ministerium,  missarum  scilicet  solemnia  adinplenda 
et  sanctorum  patrocinia  portanda  ad  hoc  electi  sunt".  Das  Kapitular 
fährt  dann  erklärend  fort:  „Id  est  unum  vel  duos  episcopos^  cum 
capellanis  presbiteris  princeps  secum  habeat,  et  unusquisque  prae- 
fectus  unum  presbiterum,  qui  hominibus  peccata  confitentibus  iudicare 
et  indicare  poenitentiam  possint." 

Vergleichen  wir  nun  damit  die  spätere  Nachricht  Walahfrids,  so 
können  wir  den  Charakter  und  die  Obliegenheiten  der  capellani  in 
dieser  Zeit  mit  ziemlicher  Deutlichkeit  erkennen.  Walahfrid  sagt:^ 
„Dicti  sunt  autem  primitus  cappellani  a  cappa  beati  Martini,  quam  reges 
Francorum  ob  adiutorium  victoriae  in  proeliis  solebant  secum  habere, 
quam  ferentes  et  custodientes  cum  ceteris  sanctorum  reliquiis  derlei 
cappellani  coeperunt  vocari." 

Aus  dem  Kapitular  Karlmanns  ersehen  wir,  daß  die  capellani 
durchaus  nur  zu  der  Umgebung  des  Hausmeiers  gehörten.  Denn  nur 
dieser  ist  unter  dem  hier  genannten  princeps  zu  verstehen,  wie  die  an 
der  Spitze  des  Kapitulars  stehende  Intitulation  „Ego  Karlmannus  dux 
et  princeps  Francorum"  beweist.  Bei  dem  Presbyter  dagegen,  den  jeder 
praefectus  haben  soll,  fehlt  bezeichnenderweise  der  Zusatz  capellanus.* 

Die  Pflichten  der  capellani  sind  augenscheinlich  vor  allem  durch 
das  voraufgehende  sanctorum  patrocinia  portanda  gekennzeichnet.  Sie 
haben  also  noch  dieselben  Obliegenheiten,  die  ihnen  Walahfrid  als 
ihre  ursprüngliche  Tätigkeit  zuschreibt:  Die  Fürsorge  für  die  in  den 
Krieg  mitgeführten   Reliquien.^      Ob   sie    darüber    hinaus   auch   noch 

^  Vgl.  Conc.  Matisconense  (583)  cap.  5  (Concil.  I,  156,  23 ff.);  Conc.  Burde- 
galense  (663—675)  cap.  1  (Concil.  I,  215,  18 ff.);  Conc.  Latunense  (673—675)  cap.  2 
(Concil.  I,  218,  Iff.). 

^  Ducanges  Zitat  (ed.  Favre  II  119,  1)  ist  irreführend;  die  Stelle  „id  est 
unum  etc."  ist  von  dem  Vorhergehenden  zu  trennen  und  mit  dem  Folgenden  zu 
verbinden.  Außerdem  muß  es  statt  „unum  vel  duos  Presbyteros"  (Ducange) 
vielmehr  „unum  vel  duos  episcopos"  heißen. 

^  Siehe  das  Zitat  oben  S.  12  A.  1. 

'*  Fälschlich  nimmt  Hü  ff  er,  Korveier  Studien  p.  169  f.  an,  daß  es  sich  um 
capellani  presbyteri  der  Bischöfe  handele.  Auch  Wattenbach  F,  156  scheint 
diese  Stelle  im  Auge  zu  haben,  wenn  er  sagt:  „der  Hof  .  .  .,  an  dessen  Bewegungen 
und  Heerfahrten  auch  die  Bischöfe  mit  ihren  Kaplänen  fortwährend  sich  beteiligen 
mußten."    Auch  er  zieht  also  die  capellani  fälschlich  zu  den  episcopi. 

^  Denn  so  ist  patrocinia  zweifellos  zu  interpretieren.  Die  Sitte,  Reliquien  mit 
in  die  Schlacht  zu  nehmen,  begegnet  auch  sonst  in  karol.  Zeit;  vgl.  z.  B.  Miracula 
s.  Dionysii  I  c.  21,  wo  es  von  Karl  dem  Großen,  als  er  gegen  die  Sachsen  zu  Felde 
zieht,  heißt:  ,,Hic  pignora  beatorum  martyrum  secum  ferri  fecerat,  et  custodes 
clericos,  qui  secum  proficiscebantur,  delegaverat,  uti  eis  vicissim  sibi  succedentibus 
debita  exhiberetur  religio."     (Zitat  nach  Ducange  ed.  Favre. II  119,  1). 

2* 


20  Wilhelm  Lüders 

andere  geistliche  Funktionen  zu  erfüllen  hatten,  wie  sie  das  Kapitular 
noch  nennt,  läßt  sich  nicht  ohne  weiteres  entscheiden.  Wahrscheinlich 
ist  es;  denn  soweit  die  capellani  die  Priesterweihe  hatten,  besaßen  sie 
zweifellos  auch  das  Recht,  die  Messe  zu  zelebrieren  und  Beichte  zu  hören. 

Die  Nachricht  Walahfrids  erfährt  also  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
ihre  Bestätigung  durch  das  Kapitular  Karlmanns.  Wenn  in  diesem  auch 
die  capella  iY\artins  nicht  ausdrücklich  genannt  wird,  so  erscheinen  die 
capellani  doch  wenigstens  als  die  Hüter  der  Reliquien,  die  in  den  Krieg 
mitgeführt  wurden.  4 

Wir  haben  daher  keinen  Grund,  an  Walahfrids  Angabe,  daß  die" 
capellani  geradezu  von  der  capella  Martins  ihren  Namen  erhalten  hätten, 
zu  zweifeln,  zumal  oben  nachgewiesen  ist,  daß  diese  in  der  mero- 
wingischen  Pfalz  eine  sehr  geachtete  Stellung  einnahm  und  auch  in 
den  Krieg  mitgenommen  zu  werden  pflegte.  Daß  ein  solches  Reichs- 
heiligtum eigene  Hüter  erhielt  und  diese  dann  allmählich  auch  davon 
den  Namen  bekamen,  ist  ein  Vorgang,  der  alle  Wahrscheinlichkeit  für 
sich  hat. 

Damit  ist  die  am  Anfang  aufgeworfene  Frage  gelöst.  Der  Zu- 
sammenhang zwischen  der  Martinsreliquie  und  der  späteren  karo- 
lingischen  Hofkapelle  ist  hergestellt;  die  Entwicklung  liegt  klar  vor 
unseren  Augen. 

Dieser  Zusammenhang  ergibt  sich  aber  auch  noch  durch  eine 
andere  Betrachtungsweise,  lediglich  aus  den  Zeugnissen  der  aus- 
gehenden Merowingerzeit,  selbst  wenn  man  die  Nachricht  Walahfrids 
ganz  außer  acht  lassen  will. 

Die  capella  Martins  erscheint,  wie  wir  oben  sahen,  in  der  Urkunde 
Childeberts  vom  Jahre  710  im  Besitze  der  Karolinger.  Da  ist  es  nun 
gewiß  kein  Zufall,  daß  auch  die  beiden  Dokumente  der  ausgehenden 
Merowingerzeit,  welche  die  capellani  erwähnen,  von  den  Karolingern 
ausgehen.  So  werden  wir  auch  auf  diesem  Wege  auf  den  Zusammen- 
hang zwischen  Martinsreiiquie  und  Hofkapelle  geführt. 

Aber   auch   noch   einen   zweiten   nicht    minder   wichtigen   Schluß 
können  wir  daraus  ziehen,  nämlich  in  bezug  auf  die  Frage,  in  welcher  ' 
Weise  sich  der  Übergang  von  der  capella  s.  Martini  zu  der  Hofkapelle 
vollzogen  hat. 

Die  Karolinger  sind  es  gewesen,  die  den  entscheidenden  Einfluß 
auf  die  Entwicklung  von  der  Reliquie  zur  Hofkapelle  ausgeübt  haben. 
Das  eigentliche  für  die  Folgezeit  fruchtbare  Moment  in  dieser  Ent-  . 
Wicklung  ist  nicht  in  der  Übertragung  der  Bezeichnung  capella  von  ] 
dem  Martinsgewande  auf  die  Pfalzoratorien  zu  suchen,  sondern  viel- 
mehr in  der  bewußten  Ausbildung,  die  das  karolingische  Geschlecht 
den  capellani  gab. 


Capeila  21 

Die  Urkunde  Childeberts  von  710  nebst  den  beiden  vorhergehenden 
Dokumenten,  der  Urkunde  Theuderichs  III.  und  der  Formel  Markulfs, 
und  auf  der  anderen  Seite  die  beiden  Zeugnisse  von  741  und  742 
sind  gewissermaßen  zwei  Phasen,  von  denen  wir  auf  die  dazwischen 
liegende  Entwicklung  der  capellani  schließen  müssen.  Dabei  ist  es 
schließlich  ohne  große  Bedeutung,  ob  die  Hüter  der  capella  bereits  am 
Hofe  der  letzten  selbständigen  Merowinger  oder  erst  unter  den  karo- 
lingischen  Hausmeiern  die  Bezeichnung  capellani  erhalten  haben.  Wenn 
sie  wirklich  schon  unter  diesem  Namen  zu  der  Zeit  der  drei  Urkunden, 
die  uns  die  capella  Martins  als  hochgeehrte  Reliquie  überliefern,  vor- 
handen waren,  so  kann  doch  ihre  Stellung  nicht  bedeutend  gewesen 
sein;  dieser  geringen  Bedeutung  ist  es  jedenfalls  zuzuschreiben,  wenn 
sie  niemals  in  den  Quellen  erwähnt  werden. 

Der  für  die  ganze  fernere  Entwicklung  der  Institution  entscheidende 
Umschwung  trat  jedenfalls  erst  ein,  als  die  Martinsreliquie  und  damit 
auch  die  sie  bedienenden  capellani  am  Ende  des  7.  oder  am  Anfange 
des  8.  Jahrhunderts  in  die  Hand  der  Karolinger  kamen.  Diese  haben 
die  Befugnisse  der  capellani  allmählich  mehr  und  mehr  erweitert  und 
sie  ganz  bewußt  zu  einem  Pfalzklerus,  zu  ihren  Hof-  und  Feldgeist- 
lichen ausgebildet.  So  wird  es  verständlich,  daß  ein  capellanus  für 
würdig  gehalten  wird,  eine  Urkunde  Karl  Martels  zu  bezeugen,  und 
daß  in  dem  Kapitular  Karlmanns  die  Aufgaben  der  capellani  näher 
umgrenzt  werden. 

Beachtenswert  ist  der  Zusatz  presbyteris,  der  sich  in  dem  Kapitular 
zu  capellanis  findet.  Es  bestanden  demnach  die  capellani  nicht  bloß 
aus  niederen  Klerikern,  sondern  sie  hatten,  entsprechend  ihrem  ge- 
steigerten Einfluß,  zum  Teil  auch  die  priesterliche  Würde  inne.  Aber 
ihre  Bedeutung  ist  noch  nicht  mit  der  späteren  zu  vergleichen.  Gerade 
in  dem  Kapitular  ist  der  Zusammenhang  mit  ihren  früheren  Aufgaben 
noch  unverkennbar.  Noch  ist  alles  im  Werden  begriffen;  von  einem 
in  sich  festgeschlossenen  Hofinstitute  ist  noch  keine  Rede. 

Nur  auf  einen  Umstand  muß  noch  hingewiesen  werden.  Es  ist 
auffallend,  daß  nach  der  Urkunde  Childeberts  vom  Jahre  710  die 
capella  Martins  niemals  mehr  am  karolingischen  Hofe  erwähnt  und 
die  capellani,  abgesehen  von  der  späteren  Nachricht  Walahfrids,  an 
keiner  Stelle  mehr  in  Verbindung  mit  ihr  genannt  werden.  Nachdem 
sie  von  jener  Reliquie  kaum  ihren  Namen  und  ihre  Stellung  erhalten 
haben,  erscheinen  sie  kurz  darauf  bereits  völlig  von  ihr  losgelöst.  So 
sind  sie  in  dem  Kapitular  Karlmanns  nicht  mehr  Hüter  und  Bewahrer 
der  capella  Martins,  sondern  der  patrocinia  sanctorum  überhaupt.  Ein 
Zusammenhang  zwischen  ihnen  und  dem  Martinsgewande  ist  nicht 
mehr  ohne  weiteres  aus  den  Quellen  zu  erkennen, ,  sondern  muß  erst 


22  Wilhelm  Lüders 

durch  Kombination  aus  ihnen  heraus  bewiesen  werden.  Diese  überaus 
schnelle  Entwicklung,  die  sich  innerhalb  eines  Zeitraumes  von  etwa 
dreißig  Jahren  von  der  engsten  Verbindung  bis  zur  fast  völligen  Außer- 
achtlassung dieser  Zusammengehörigkeit  vollzogen  hat,  muß  im  höchsten 
Grade  auffallen.  Doch  dürfte  die  Lösung  dieser  Schwierigkeit  in  der 
kirchlichen  Richtung  der  ersten  Karolinger  zu  suchen  sein. 

Die  Hausmeier  übernahmen  den  Kultus  desjenigen  Heiligen,  der 
während  der  merowingischen  Herrschaft  die  Hauptrolle  im  Franken- 
reiche gespielt  hatte,  den  des  heiligen  Martin,  indem  sie  die  Verehrung 
seines  Gewandes  fortsetzten.  Auf  diese  Weise  befriedigten  sie  sowohl 
die  öffentliche  Meinung  wie  ihr  eigenes  religiöses  Bedürfnis.  Die 
Übernahme  des  Kapellakultes  ist  nur  eine  Seite  der  klerikalen  Richtung, 
die  sie  einschlugen,  so  selbständig  sie  auch  sonst  in  Fragen  der  Macht 
und  des  Besitzes  der  Kirche  gegenübertreten  mochten. 

Doch  im  weiteren  Verlaufe  bildeten  sie  die  übernommene  Institution 
insofern  weiter  aus,  als  es  sich  um  den  darin  enthaltenen  prak- 
tischen Kern,  die  Ansätze,  welche  die  Ausbildung  eines  eigenen  Pfalz- 
klerus ermöglichten,  handelte.  Die  Verehrung  des  altmerowingischen 
Heiligen  selbst  aber,  von  dem  diese  ganze  Institution  ausging,  trat 
mehr  und  mehr  in  den  Hintergrund.  Zwar  blieb  Martin  noch  immer 
ein  hervorragender  Heiliger  der  fränkischen  Kirche.  Er  wurde  auch 
noch  immer  zu  den  besonderen  Schützern  des  karolingischen  Ge- 
schlechtes gezählt,^  wie  denn  auch  das  Kloster  St.  Martin  in  Tours 
noch  lange  eines  der  bedeutendsten  Klöster  im  ganzen  Frankenreiche 
blieb.  Aber  gerade  in  der  für  unsere  Erörterung  entscheidenden 
Zwischenzeit,  unter  der  Regierung  Karl  Martels,  hat  Martin  anscheinend 
eine  gewisse  Einbuße  seiner  Machtstellung  erlitten.  Der  Heilige,  der 
ihn  in  seinem  Einflüsse  zurückdrängte,  war  der  h.  Dionysius.  Welch 
ausschließliches  Ansehen  dieser  bei  Karl  Martel  genossen  hat,  beweist 
noch  eine  Urkunde  Ludwigs  des  Frommen  aus  dem  Jahre  835:  Karl 
Martel  glaubte  nur  durch  die  Fürbitte  des  h.  Dionysius  seine  Herrscher- 
stellung erlangt  zu  haben. ^ 


^  Vgl.  z.  B.  die  Urkunde  Karls  des  Großen  für  St.  Martin  in  Tours  vom  April  782 
(BM.  250  =  DK.  141):  „Itherius,  abbas  de  basilica  peculiaris  patroni  nostri  sancti 
Martini."  Danach  die  Urkunde  aus  den  Jahren  796  —  800  (BM.  no.  358  =  MG.  DK. 
no.  195):  „Alcuinus,  abbas  de  basilica  peculiaris  patroni  nostri  sancti  Martini."  — 
Ebenso  BM.  629,  630,  631,  632,  909,  910,  967  etc.  Auch  Urkunden  Karls  des  Kahlen 
(Bouquet  VIII  p.  451,  452,  453,  482,  500,  502,  572,  574,  576).  —  Noch  kurz  vor  seinem 
Tode  besucht  Pippin  das  Kloster  St  Martins  in  Tours  und  bittet  ihn,  Fürsprecher 
seiner  Sünden  vor  Gott  zu  sein  (Cont.  Fredeg.  SS.  rer.  Merov.  II,  192,  21  ff.) 

*  BM.  951  (Migne  104,  1326);  zuerst  ist  von  der  Verehrung  der  praedecessores, 
der  merowingischen  Könige,  für  den  h.  Dionysius  die  Rede;  dann  heißt  es  weiter: 
„Progenitores  (d.  h.  die  karolingischen  tiausmeier  und  Könige)   quoque  nostri  melli- 


Capeila  23 

Infolgedessen  mußte  unter  Karl  Martel  das  ausschließliche  Ansehen 
Martins  als  Patron  des  Reiches  notwendigerweise  eine  Einbuße  erleiden. 
Das  übte  aber  naturgemäß  auch  auf  den  Kultus  der  capella  seinen  Ein- 
fluß aus:  man  hört  in  der  Folgezeit  nichts  mehr  von  ihrer  Verehrung 
am  karolingischen  Hofe;  Walahfrid  spricht  davon  wie  von  etwas  längst 
Vergangenem. 

So  ist  es  gekommen,  daß  die  capella  s.  Martini  mit  der  Zeit  völlig 
in  den  Hintergrund  trat,  und  daß  die  sich  bald  selbständig  weiter- 
entwickelnde Hofkapelle  gänzlich  von  ihr  losgelöst  wurde.  Der  alte 
Zusammenhang  zwischen  ihr  und  der  Martinsreliquie  wurde  bald  fast 
gar  nicht  mehr  beachtet,  sondern  nur  durch  eine  dünne  Tradition  not- 
dürftig bekannt  erhalten. 


IL   Die  Entwicklung  der  Hofkapelle  unter  Pippin, 
Karlmann  und  Karl  dem  Großen 

Die  Hofkapelle  gegen  Ende  der  Regierung  Karls  des  Großen  be- 
steht, wie  aus  den  Quellen  ohne  weiteres  hervorgeht,  aus  zwei  ver- 
schiedenen Elementen.  Einmal  aus  einem  persönlichen:  die  capellani 
bilden  unter  der  Leitung  des  obersten  capellanus  ein  festgeschlossenes 
Kollegium,  einen  von  der  übrigen  Geistlichkeit  des  Reiches  streng  ab- 
geschlossenen und  ein  eigenartiges  Sonderleben  führenden  Pfalzklerus, 
der  auch  selbst  unter  dem  Namen  capella  zusammengefaßt  wird.  Da- 
neben tritt  jedoch  auch  ein  räumliches  Element  in  den  Quellen  deut- 
lich erkennbar  zutage:  die  capella  ist  auch  der  geheiligte  Raum  bei 
oder  in  dem  Palatium  des  Königs. 

Die  folgende  Untersuchung  wird  sich  vor  allem  damit  zu  be- 
schäftigen haben,  das  Verhältnis  klarzulegen,  in  dem  diese  Bestand- 
teile der  karolingischen  Hofkapelle  zueinander  stehen.  Doch  lasse  ich 
zunächst  die  Entwicklung  der  beiden  Elemente  für  sich  folgen. 


fluum  nomen  domini  Dionysii  (sie  enim  verbis  ac  scriptis  suis  eum  appellare  con- 
suevere)  non  incongrue  pia  dilectione  et  dilectissima  pietate  amplexi  sunt.  Quia 
proavus  noster  Carolas  princeps  Francorum  inclytus  per  orationes  ipsius  excellentis- 
simi  martyris  indeptum  se  fuisse  gratulatus  est  apicem  principatus,  eidemque  decurso 
mortalitatis  tempore,  quod  charius  potuit  habere  depositum,  corpus  scilicet  proprium, 
in  magni  die  iudicii  suscitandum  et  animam  Domino  praesentandam  fideliter  cdmmen- 
davit,  ac  per  hoc  maxime  devotionem  atque  fiduciam  cordis  sui  erga  peculiarem 
patronum  patenter  ostendit." 


24  Wilhelm  Lüders 

§1.    Die  Mitglieder  der  Hofkapelle  | 

1.   Der  oberste  capellanus 

A.   Die  theoretischen  Erörterungen  des  9.  Jahrhunderts 

Das  Amt  des  obersten  capellanus  hat  bereits  bei  den  Zeitgenossen 
lebhaftes  Interesse  erregt.  Bereits  im  9.  Jahrhundert  findet  es  in 
mehreren  theoretischen  Abhandlungen  Erwähnung. 

Die  für  uns  wertvollste  Darstellung,  die  des  826  verstorbenen 
Adalhard  von  Corbie,  ist  leider  verloren,  und  diesen  Verlust  vermag 
auch  der  Auszug  nicht  zu  ersetzen,  den  Hinkmar  davon  in  sein  882 
verfaßtes  Werk  „De  ordine  palatii"  aufgenommen  hat.^  Dann  kommt 
Walahfrid  Strabo,  wenn  auch  nur  mit  einigen  Worten,  in  seinem 
Werke  „De  exordiis  et  incrementis  rerum  ecclesiasticarum",  auf  den 
obersten  capellanus  zu  sprechen.^  Ausführlicher  ist  dagegen  wieder 
die  Darstellung  Hinkmars  von  Reims.  ^ 

Alle   diese  Erörterungen   sind  für   uns   insofern    sehr  interessant, 
als  wir  aus  ihnen  ersehen,   welche  Beachtung   damals   das  Amt   des  ! 
obersten  capellanus  fand.    Aber  andererseits  wird  man  sie  doch  nur 
mit  Vorsicht  benutzen  können,  wenn  es  sich  darum  handelt,  die  Ent-  | 
Wicklung   des  obersten   capellanus   genauer  zu   untersuchen.     Gerade 
tiinkmar,  der  die  ausführlichsten  Angaben  bietet,  ist  doch  zeitlich  be- 
reits zu  weit  von  den  Anfängen  der  Hofkapelle  unter  Pippin  und  Karl 
dem  Großen  entfernt;   sein  Blick  mußte  dadurch,   daß  er  eine  bereits 
abgeschlossene  Entwicklung  vor  sich  sah,  unwillkürlich  getrübt  werden. 
Aber  auch  sonst  tut  man  gut,   seinen  Angaben   von   vornherein   mit  ] 
einigem  Mißtrauen  zu  begegnen;  denn  auch  anderweitig  hat  er  Proben 
genug   davon  abgelegt,   daß  es   ihm,   wo   seine  Interessen   im  Spiele 
waren,  auf  eine  Unwahrheit  oder  Fälschung  nicht  ankam.* 

Es  ist  daher  angebracht,  die  Entwicklung  des  obersten  capellanus 
zunächst  an  der  Hand  der  gleichzeitigen  Quellen  zu  untersuchen. 


^  Wattenbach  T,  303. 

2  Cap.  32  (Capit.  II,  515). 

'  De  ordine  palatii  cap.  13,  14,  15,  16,  19,  20,  32  (Capit.  II,  522ff.).  —  Das 
Werk  richtet  sich  an  die  „Ersten  des  Reiches,  welche  ihn  zu  dieser  schriftstelleri- 
schen Arbeit  aufgefordert  haben"  (v.  Noorden,  Hinkmar  von  Reims  p.  385),  an  die 
boni  et  sapientes  viri,  ad  institutionem  .  .  .  regis  (Karlmann)  et  ad  reerectionem 
honoris  et  pacis  ecclesiae  ac  regni  (Capit.  II,  518). 

*  Vgl.  das  urteil  Wattenbachs  a.  a.  0.  p.  303.  —  Ich  meine  hier  vor  allem 
den  Titel  apocrisiarius,  den  Hinkmar  für  den  obersten  capellanus  gebraucht.  Vgl. 
hierüber  den  Exkurs. 


Capeila  25 

B.   Die  Persönlichkeiten  der  obersten  capellani  bis  zum  Tode  Karls  des  Großen 

a)   Fulrad  von  Saint-Denis. 

Der  erste,  der  die  Würde  des  obersten  capellanus^  bekleidete,  war 
Abt  Fulrad  von  Saint-Denis;  er  erhielt  sein  Amt  von  Pippin. 

Diese  Maßnahme  Pippins  wurde  von  ausschlaggebender  Bedeutung 
für  die  gesamte  Weiterentwicklung  der  Hofkapelle; ^  und  zwar  mußte 
sie  einen  doppelten  Einfluß  ausüben.  Einmal  nach  innen,  insofern  als 
erst  jetzt  eine  straffe,  feste  Organisation  unter  einem  Oberhaupte  ge- 
schaffen wurde  und  als  sich  erst  jetzt  der  Pfalzklerus  zu  einem  in  sich 
abgeschlossenen  Kollegium  ausbildete;  fernerhin  aber  auch  nach  außen, 
denn  eine  Institution,  an  deren  Spitze  ein  so  angesehener  Geistlicher 
wie  Fulrad  trat,  mußte  notwendigerweise  an  Ansehen  und  Geltung  ge- 
winnen. 

Fulrad  führte  seitdem  den  Titel  „capellanus",^  aber  durchaus  nicht 
etwa  ausschließlich.  Im  Gegenteil,  in  den  Quellen  erscheint  er  meist 
als  „abbas",  „abbas  s.  Dionysii''  oder  dergleichen.  Daneben  wird  er  auch 
„presbyter"*  oder  mit  besonders  auszeichnendem  Titel,  der  zweifellos 


^  Über  das  Amt  des  obersten  capellanus  ist  bereits  an  vielen  Stellen  vereinzelt 
gehandelt.  So  von  Waitz,  VG.  III,  517ff.  und  in  den  Jahrbüchern  der  deut- 
schen Geschichte  (die  betreffenden  Stellen  werde  ich  besonders  zitieren);  vgl. 
namentlich  auch  Sickel,  Wiener  SB.  39,  149  und  Acta  regum  et  imperatorum  Karo- 
linorum  I,  70  A.  12.  —  Die  Aufzählung,  die  Hinkmar,  De  ord.  pal.  c.  15  (Capit  II, 
523)  von  den  obersten  capellani  gibt,  ist  zuverlässig:  .  .  .  ,, tempore  Pippini  et  Caroli 
hoc  ministerium  consensu  episcoporum  per  Fulradum  presbyterum,  tempore  etiam 
Caroli  per  Engelramnum  et  Hildiboldum  episcopos,  tempore  denique  tiludowici  per 
tiilduinum  presbyterum  et  post  eum  per  Fulconem  item  presbyterum,  deinde  per 
Drogonem  episcopum  extitit  hoc  ministerium  executum."  —  Ich  gebrauche  im  fol- 
genden den.  Titel  „oberster  capellanus",  um  den  Leiter  der  Kapelle  von  den  übrigen 
capellani  zu  unterscheiden;  in  den  Quellen  dieser  Zeit  findet  sich  noch  keine  be- 
sondere Bezeichnung  für  dieses  sonst  deutlich  erkennbare  Amt. 

^  Schon  Waitz  hat  die  Tragweite  dieser  Maßnahme  richtig  hervorgehoben 
(VG.  III,  517).  Vgl.  ferner  über  Fulrad:  Ölsner,  Jahrbücher  des  fränk.  Reiches  unter 
König  Pippin  p.  13,  38,  421  f.,  Abel,  Karl  d.  Gr.  I.  395;  Simson,  Karl  d.  Gr.  II  (1883) 
p.  540ff.  Dubruel,  Fulrad  abbe  de  Saint-Denis,  Colmar  1902,  der  jedoch  p.  26 f.  zu 
der  seltsamen  Annahme  neigt,  daß  Fulrad  nicht  der  einzige  „Erzkapellan**  gewesen 
sei,  sondern  neben  sich  vielleicht  noch  mehrere  andere,  wenn  auch  weniger  be- 
deutende „Erzkapellane"  gehabt  habe.  —  Waitz  (VG.  III,  517)  sieht  den  obersten 
capellanus  als  Nachfolger  des  merowingischen  „Vorstehers  oder  Abts  des  königlichen 
Oratoriums"  an;  das  ist  in  mancher  Hinsicht  richtig,  aber  Waitz  treibt  doch  die 
Suche  nach  Analogien  zu  weit  (vgl.  darüber  oben  S.  14  A.  1);  in  der  Hauptsache 
sind  Name  und  Wesen  des  obersten  capellanus  rein  karolingisch,  eher  im  Gegensatze 
zu  dem  merowingischen  Abte  denn  als  dessen  Fortsetzung  geschaffen. 

'  Vgl.  Waitz,  VG.  III,  517  A.  3;  Simson,  Karl  d.  Gr.  II,  540  A.  2-4.    ' 

*  Eine  Zusammenstellung  von  Quellen,  wo  Fulrad  diesen  Titel  führt,  bei  Simson 
a.  a.  0.  p.  541  A.  1. 


26  Wilhelm  Lüders 

ebenfalls  auf  seine  hohe  Stellung  als  Vorstand  der  capellani  hinweist,^ 
„archipresbyter"  oder  gar  „Franclae  archipresbyter"  genannt. 

Wann  Fulrad  die  Leitung  der  capellani  erhalten  hat,  dürfte  sich 
schwerlich  genau  bestimmen  lassen.  Selbst  aus  den  Urkunden,  in 
denen  er  erwähnt  wird,  wird  man  keinen  durchaus  sicheren  Schluß 
ziehen  können. 

Wir  haben  im  ganzen  dreizehn  Urkunden  Pippins,  in  denen  Fulrad 
genannt  wird,  und  zwar  aus  den  Jahren  750 — 768.^  Aus  der  Haus- 
meierzeit stammen  nur  die  drei  ersten;  die  übrigen  rühren  von  Pippin 
als  König  her.  In  ihnen  allen  führt  Fulrad  nur  den  Titel  abbas,  abbas 
s.  Dionysii  oder  dergleichen.  Nur  in  der  Urkunde  BM.  109  =  DK.  27, 
vom  23.  Sept.  768,  erscheint  er  als  capellanus.^ 

Die  sonstigen  Zeugnisse,  die  ihn  als  capellanus  Pippins  erwähnen, 
beweisen  nichts;  so  z.  B.  die  Ann.  Lauriss.  maiores  749*  und  die  Ann. 
Einhardi  749  und  755;^  denn  da  der  erste  Teil  selbst  der  Annales 
Laurissenses  keine  gleichzeitige  Aufzeichnung,  sondern  jedenfalls  erst  um 


*  Das  dürfte  hervorgehen  aus  DK.  27,  wo  capellanus  und  archypresbiter  eng 
verbunden  und  gewissermaßen  als  dieselbe  Bezeichnung  erscheinen  (s.  unten  A.  3). 
Zusammenstellung  bei  Waitz,  VG.  III,  517  A.  3;  Simson  a.a.O.  p.  541  A.  2.  — 
Dazu  kommt  noch  die  zuerst  von  Kr u seh  SS.  rer.  Merov.  I,  465  herausgegebene 
Notiz  über  Pippins  Salbung  durch  Papst  Stephan  zu  Saint-Denis  am  28.  Juli  754; 
bei  ihr  ist  auch  „vir  venerabilis  Folradus  archipresbiter  et  abbas"  zugegen.  Die 
Notiz  hat  fast  urkundlichen  Wert,  da  sie  nicht  viel  später,  im  Jahre  767,  nieder- 
geschrieben ist.  —  Ob  Fulrad  den  Titel  „Franclae  archipresbiter"  den  ihm  Papst 
Hadrian  I.  beilegt,  auch  offiziell  geführt  hat,  läßt  sich  nicht  sagen,  da  er  sich 
sonst  nirgends  mehr  findet  (Simson  a.  a.  0.  p.  541  A.  2). 

^  Fulrad  wird  in  folgenden  Urkunden  Pippins  erwähnt: 

750  Aug.  17 

751  Juni  30 
750-751 

752  März  1 

753  Juli  8 

754  Jan.-Juli 

755  Juli  29 

In  DK.  6  steht  außerdem   in  tironischen  Noten  der  Vermerk   „Eius  rogante  Fulrado" 
(Tan gl,  Archiv  für  ürkundenforschung  I,  90 ff.). 

^  DK.  27:  „viro  venerabili  Fulrado  capellano  nostro  sive  archypresbitero"; 
„vir  venerabilis  Fulradus  capellanus  noster";  „praedictus  Fulradus  capellanus  noster 
sive  archypresbiter". 

*  MG.  SS.  I,  136  (ed.  Kurze  p.  8) :  „Burghardus  Wirzeburgensis  episcopus  et 
Folradus  capellanus  missi  fuerunt  ad  Zachariam  papam."  Ähnlich  die  Ann.  Einh.  749 
(MG.  SS.  I,  137  =  Kurze  p.  9). 

°  MG.  SS.  I,  141  (ed.  Kurze  p.  13):  „et  Stephanum  papam  cum  Folrado  pres- 
bytero  capellano  et  non  minima  Francorum  manu  Romam  remisit."  Die  Ann.  Lauriss. 
zu  diesem  Jahre  (MG.  SS.  I,  138  =  Kurze  p.  12)   nennen  Fulrad  ohne  jeden  Titel. 


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.  58 

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59 

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65  = 

DK. 

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7 

78  = 

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8 

BM.  89  =  DK.  12 

759  Okt.  30 

„  104=  „  23 

766  Juli 

,.  107  =  „  25 

768  Sept.  23 

„  108  =  „  26 

768  Sept.  23 

„  109  =  „  27 

768  Sept.  23 

„  110  =  „  28 

768  Sept. 

I 


Capella  27 

das  Jahr  788  entstanden  ist,^  so  kann  er  für  unseren  Zweck  auch 
keinerlei  Wert  beanspruchen.  Durchaus  ohne  Belang  ist  die  Nachricht 
der  Ann.  Enhardi  Fuldensis  zum  Jahre  738,  die  den  Fulrad  als  „abbatem  '^ 
sancti  Dionisii  et  summum  capellanum  regis  Pippini"  bezeichnet;^  denn 
ihre  fast  wörtliche  Vorlage  ist  die  Epistola  synodi  Carisiacensis  ad 
tiludowicum  regem  Germaniae  directa  vom  Jahre  858,^  ganz  abgesehen 
davon,  daß  die  Bezeichnung  summus  capellanus  einer  viel  späteren 
Zeit  angehört* 

Wir  haben  also  für  die  Zeit  Pippins  nur  ein  sicheres  Zeugnis, 
welches  Fulrad  als  capellanus  bezeichnet,  und  gerade  dieses  eine  Zeug- 
nis befindet  sich  bemerkenswerterweise  unter  den  allerletzten  Urkunden 
Pippins,  einen  Tag  vor  seinem  Tode  in  Saint-Denis  ausgefertigt.^  Dar- 
aus wird  man  nun  allerdings  nicht  schließen  dürfen,  daß  Fulrad  den 
Titel  capellanus  und  damit  die  Oberleitung  über  die  anderen  capellani 
erst  zu  jener  Zeit  erhalten  habe.  Denn  auch  in  den  Urkunden  BM.  107 
(DK.  25)  und  108  (DK.  26),  die  ebenfalls  am  23.  Sept.  768  ausgefertigt 
sind,  sowie  BM.  110  (DK.  28),  die  wenigstens  sicher  aus  dem  Sept.  768 
stammt,  führt  Fulrad  den  Titel  capellanus  nicht. ^  Aber  immerhin  ist 
es  doch  auffallend,  wenn  bei  einer  solchen  Anzahl  von  Urkunden,  die 
sich  noch  dazu  auf  einen  Zeitraum  von  18  Jahren  verteilen,  die  Be- 
zeichnung des  Fulrad  als  capellanus  erst  so  spät  hervortritt.  Auch /7./)  ^ 
von  den  übriger!  Titeln,  die  ihn  als  Leiter  der  Hofkapelle  kennzeichnen,  '• 
führt  keiner  über  das  Jahr  751  hinaus.  Zum  mindesten  wird  man 
daraus  den  Schluß  ziehen  dürfen,  daß  Fulrad  die  Oberleitung  der 
capellani  nicht  sogleich  nach  750,  dem  Jahre,  in  dem  er  zuerst  urkund- 
lich erwähnt  wird,  erhalten  habe.  Mit  anderen  Worten:  es  ist  als  sehr 
wahrscheinlich  anzusehen,  daß  Fulrad  erst,  nachdem  Pippin  im  Jahre  751 
das  Königtum  erlangt  hatte,  zum  obersten  capellanus  ernannt  worden 


'  Wattenbach  \\  215. 

'  MG.  SS.  I,  345. 

^  MG.  Capit.  II,  433,  5ff.:  „Fulradum  abbatem  monasterii  sancti  Dyonisii  et 
summum  capellanum  regis  Pippini  ad  se  vocavit."  Vgl.  SS.  I,  345  A.  4;  ferner 
Ann.  Fuld.  ed.  Kurze  p.  4. 

^  Ebensowenig  kommt  natürlich  Benedicti  Chronicon  c.l8  (SS.  III,  704)  in  Betracht. 

^  Pippin  starb  zu  Saint-Denis  am  24.  Sept.  768. 

^  Der  unterschied  in  der  Titulierung  Fulrads  in  diesen  zeitlich  so  naheliegenden 
Urkunden  dürfte  sich  daraus  erklären,  daß  BM.  109  (=  DK  27),  wo  Fulrad  als  capel- 
lanus sive  archypresbiter  erscheint,  eine  Urkunde  für  ihn  persönlich  ist  (Pippin  be- 
stätigt ihm  Güter  im  Elsaß  und  Ortenau),  BM.  107,  108  und  110  sich  dagegen  auf 
Schenkungen  an  das  Kloster  Saint-Denis  beziehen.  Im  ersten  Falle  kommt  daher 
das  persönliche  Verhältnis,  in  dem  Fulrad  zu  Pippin  steht,  durch  den  Titel  capellanus 
zum  Ausdruck;  im  zweiten  Falle  ist  Fulrad  hingegen  der  offizielle  Vertreter  des 
Klosters,  dem  die  Schenkung  gemacht  wird;  daher  der  Titel  abbas. 


h 


V 


28  Wilhelm  Lüders 

ist.  Ganz  unzweifelhaft  läßt  sich  allerdings  diese  Annahme  nicht  er- 
weisen; doch  hat  sie,  nach  den  allerdings  spärlichen  Quellen  zu  urteilen, 
immerhin  größere  Wahrscheinlichkeit  für  sich  als  die  entgegengesetzte, 
daß  Fulrad  bereits  in  der  Hausmeierzeit  Pippins  dessen  oberster  capel- 
lanus  geworden  sei.-^  Außerdem  paßt  die  ganze  Stellung,  die  Fulrad 
als  Leiter  der  capella  einnahm,  weit  eher  zu  Pippins  Königsherrschaft 
als  zu  seinem  Hausmeiertume.  Denn  solange  die  Karolinger  noch  Haus- 
meier waren,  nahmen  die  capellani  die  Stellung  ein,  die  wir  oben 
kennen  gelernt  haben;  sie  waren  Hof-  und  Feldgeistliche,  mit  der 
Aufsicht  über  die  Reliquien  und  der  Vornahme  der  gottesdienstlichen 
Handlungen  bei  Hofe  und  im  Felde  betraut,  aber  noch  ohne  ein  Ober- 
haupt, noch  nicht  unter  diesem  zu  einer  festgeschlossenen  Gemein- 
schaft vereinigt.  Erst  nachdem  Pippin  die  Königswürde  erlangt  hatte, 
steigerte  er  auch  die  Macht  seines  Pfalzklerus  dadurch,  daß  er  ihm  in 
einem  so  angesehenen  Geistlichen  der  fränkischen  Kirche,  wie  es  Fulrad 
war,  ein  Oberhaupt  gab  und  so  dem  Institute  neue  Bahnen  wies.  Der 
erste  Schritt  zur  Bildung  eines  stolzen  und  von  der  bischöflichen  Ge- 
walt unabhängigen  Pfalzklerus  war  getan.  Daß  Pippin  wohl  fähig 
war,  die  ganze  Tragweite  eines  solchen  Schrittes  zu  ermessen  und 
ihn.  mit  bewußter  Absicht  zu  tun,  beweist  die  Umsicht  und  Tatkraft, 
mit  der  er  auch  sonst  seine  Kirchenpolitik  führte.^ 

Ob  Pippin  bei  der  Bestellung  Fulrads  zum  Leiter  der  Hofkapelle 
die  ausdrückliche  Eriaubnis  der  Bischöfe  eingeholt  hat,  ist  nicht  sicher 
verbürgt.  Wir  besitzen  dafür  nur  das  zweifelhafte  Zeugnis  Hinkmars.^ 
Schwerer  fällt  ins  Gewicht,  daß  später  Karl  der  Große  bei  Fulrads  Nach- 
folger Hildebald  um  die  Bewilligung  der  Bischöfe  nachgesucht  hat. 
Aber  damals  handelte  es  sich  in  erster  Linie  um  Entbindung  von  der 
bischöflichen  Residenzpflicht;  bei  Fulrad  jedoch,  der  nur  Abt  war, 
brauchte  Pippin  eine  solche  Rücksicht  nicht  zu  üben.  Es  zwingt  uns  also 
nichts,  eine  besondere  Erlaubnis  von  selten  der  Bischöfe  anzunehmen. 

Fulrad  war  dann  auch  der  Kaplan  Karlmanns,  des  Bruders  Karls 
des  Großen,  wie  eine  Urkunde  vom  Jahre  769  für  Saint-Denis  beweist.^ 


*  So  tiahn,  Jahrbücher  des  fränk.  Reiches  741 — 752  p.  4,  indem  er  sich  auf 
die  Ann.  Lauriss.  maiores  749  und  die  Ann.  Einh.  749,  ja  sogar  auf  die  Notiz  der 
Einh.  Fuld.  Ann.  738,  auf  deren  Bedeutungslosigkeit  oben  hingewiesen  ist,  beruft. 
Ferner  M.  Tangl,  NA.  XXXII,  169.  Dubruel,  Fulrad  abbe  de  Saint-Denis  (Colmar 
1902)  p.  26. 

^  Vgl.  Hauck,  Kirchengesch.  Deutschlands  II^  Iff. 

^  Hinkmar  sagt  allerdings  ausdrücklich  „consensu  episcoporum"  (vgl.  oben 
S.  25  A.  1),  doch  ist  das  bei  ihm,  der  immer  ein  Verfechter  der  bischöflichen  Autorität 
war,  ganz  abgesehen  von  der  zeitlichen  Entfernung,  nicht  ohne  weiteres  beweisend. 

*  BM.  116  (DK.  43):  „Fulradus  abba  seu  cappellanus  noster." 


i 


Capella  29 

In  zwei  weiteren  Urkunden  Karlmanns  vom  Januar  und  iV\ärz  769  wird 
er  nur  als  abbas  bezeichnet.^ 

Ob  Karl  während  der  Regierungszeit  seines  Bruders  einen  eigenen 
obersten  capellanus  gehabt  hat,  ist  nicht  zu  ermitteln;  es  wird  kein 
Name  genannt.  Daß  während  dieser  Zeit  etwa  Fulrad  auch  der  oberste 
capellanus  Karls  gewesen  sei,  ist  ausgeschlossen.  Die  Urkunde  Karls 
für  Saint- Denis  vom  Januar  769,  die  Fulrad  einfach  abbas  et  custos 
von  Saint-Denis  nennt, ^  ist  allerdings  kein  durchschlagender  Beweis; 
wohl  aber  die  Notiz  der  Ann.  Lauriss.  maiores  vom  Jahre  771;  sie  läßt 
deutlich  erkennen,  daß  Fulrad  nur  Kaplan  Karlmanns  war:  er  wird  aus- 
drücklich zu  dessen  Großen  gerechnet.^ 

Erst  nach  der  Abdankung  Karlmanns  ist  Fulrad  Karls  Kaplan  ge- 
worden. So  nennt  er  sich  selbst  in  der  eigenhändigen  Unterfertigung 
seines  Testamentes  aus  dem  Anfange  des  Jahres  777  „capalanus".^  In 
der  Urkunde  Karls  vom  6.  Dezember  777  findet  sich  dann  zum  ersten 
Male  die  ausführlichere  Bezeichnung  „cappellanus  palacii  nostri",^  die 
nun  für  längere  Zeit  der  offizielle  Titel  wurde. 

Nicht  minder  bemerkenswert  und  bezeichnend  für  die  Obliegen- 
heiten, die  dem  obersten  capellanus  als  berufenem  Hüter  der  könig- 
lichen Reliquien  zufielen,  ist  die  Anrede  als  „custos  capellae",  die  Alkuin 
in  Fulrads  Epitaph,^  das  er  wohl  bald  nach  dessen  am  16.  Juli  784 
erfolgten  Tode  verfertigte,  gebraucht. 


'  B/V\.  117  (DK.  44)  und  119  (DK.  46). 

'  BM.  131  (DK  55). 

^  MG.  SS.  I,  148  (=  Kurze  p.  32,  auch  zitiert  von  Simson,  Karl  d.  Gr.  II, 
540  A.  4.) :  „Domnus  rex  Carolus  venit  ad  Corbonacum  villam,  ibique  venientes 
Wilcharius  archiepiscopus  et  Folradus  capellanus  cum  aliis  episcopis  et  sacerdotibus, 
Warinus  et  Adalhardus  comites  cum  aliis  primatibus,  qui  fuerunt  Carlomanni!' 

^  M.  Tan  gl,  Das  Testament  Fulrads  von  Saint-Denis,  NA.  XXXII,  210  u.  212; 
vgl.  ferner  a.  a.  0.  214.  —  Das  Verhältnis  der  vier  Ausfertigungen,  die  uns  von  dem 
Testamente  Fulrads  vorliegen,  ist  nunmehr  durch  Tangl  a.a.O.  167ff.  klargestellt. 
Danach  ist  A  am  Hofe  Karls  des  Gr.  zu  Herstal  777  (Jan.-März)  ausgefertigt;  B,  das 
früher  unter  dem  Namen  des  „kleineren  Testamentes"  ging  (so  Wirtemb.  ÜB.  I,  19), 
eine  „Neuredaktion  von  A  zum  Zwecke  einer  besseren  und  zutreffenderen  topographi- 
schen Anordnung  des  aufgezählten  Einzelbesitzes"  (Tangl  a.  a.  0.  189);  C  ein  gleich- 
zeitige, auf  Befehl  Fulrads  durch  einen  Mönch  von  Saint-Denis  niedergeschriebene 
Fassung  (Tangl  a.  a.  0.  194,  196);  D  eine  Fälschung  vom  Ende  des  9.  oder  Anfang 
des  10.  Jahrhunderts  (Tangl  a.a.O.  206,  215).  A  und  B  sind  von  Fulrad  eigen- 
händig unterfertigt  (vgl.  die  von  Tangl  beigegebenen  Faksimiles). 

^  B/n.  213  (DK.  118).  —  Sonst  erscheint  Fulrad  im  Texte  der  Urkunden  Karls, 
ebenso  in  den  tironischen  Noten  von  DK.  104,  131,  136,  139,  140,  150  (Tangl,  Arch. 
f.  ürkundenforsch.  I,  95,  98,  99,  101,  162)  stets  ohne  den  Titel  capellanus. 

^  Alcuini  Carm.  92,  2  (Poetae  lat.  aevi  Carol.  I,  319): 

„Corpore  Fulradus  tumulo  requiescit  in  isto, 
Notus  in  orbe  procul,  noster  in  orbe  pater. 


30  Wilhelm  Lüders 

b)   Angilram  von  Metz. 

Fulrads  Nachfolger  als  Vorstand  der  capellanl  wurde  Bischof 
Angilram  von  Metz.^ 

Wie  eine  wenig  spätere  Mitteilung  besagt,  gewährte  Papst  tiadrian  I. 
Karl  dem  Großen  ausdrücklich  das  Recht,  Angilram  zur  Erledigung 
der  Geschäfte,  die  ihm  als  oberstem  capellanus  zufielen,  dauernd  an 
seinem  Hofe  zu  behalten,^  obwohl  er  nach  kanonischem  Rechte  eigent- 
lich an  seinen  Sprengel  gebunden  war.  Daß  Karl  für  ihn  auch  noch 
die  besondere  Genehmigung  der  Bischöfe  eingeholt  habe,  wird  nicht 
berichtet;  es  ist  jedoch  anzunehmen,  da  diese  Maßnahme  Karls  wenige 
Jahre  darauf  bei  Angilrams  Nachfolger  Hildebald  ausdrücklich  bezeugt 
wird.^ 

über  den  Zeitpunkt,  an  dem  Angilram  zum  obersten  capellanus 
ernannt  wurde,  liegen  keine  genaueren  Nachrichten  vor.  Die  früheste 
Erwähnung  seiner  neuen  Würde  stammt,  obwohl  sein  Vorgänger  bereits 
am  16.  Juli  784  gestorben  war,  erst  vom  11.  Juni  788.*  Es  bleibt 
also  ein  Spielraum  von  vier  Jahren.  Ölsner^  nimmt  daher  an,  daß 
Angilram  erst  787  oder  kurz  vorher  die  Leitung  der  Hofkapelle  be- 
kommen habe.  Doch  werden  die  Verhandlungen  mit  dem  Papste  um 
die  notwendige  Entbindung  von  der  Residenzpflicht  schon  früher  im 
Gange  gewesen   sein.    Rettberg   und  Abel^  haben   mit   Recht  darauf 


Inclytus  iste  sacrae  fuerat  custosque  capellae,  \ 

Hie  decus  ecclesiae,  promptus  in  omne  bonum."  ! 

Ob  allerdings  hierunter  ein  offizieller  Titel  zu  verstehen  ist,  bleibt  zweifelhaft.  In 
der  Urkunde  Karls  vom  13.  Jan.  769  (BM.  131  =  DK.  55)  bezieht  sich  die  Stelle  „ubi 
F.  abbas  et  custos  praeesse  dinoscitur"  auf  Saint-Denis,  nicht  auf  die  Pfalzkapelle. 
Der  Titel  custos  ist  sonst  erst  bei  Hildebald  nachzuweisen.  —  Über  den  Todestag 
Fulrads  vgl.  Simson,  Karl  d.  Gr.  II.  541  nebst  A.  3. 

^  Über  Angilram  vgl.  Rettberg,  Kirchengeschichte  Deutschlands  I,  501f.  (hier 
jedoch  fälschlich  Archicapellan  genannt);  Waitz,  VG.  III,  518;  Abel,  Karl  d.  Gr.  I, 
395;  Simson  II,  541;  Ölsner,  Art.  Angilram  in  der  Allg.  deutschen  Biogr.  I,  460. 

^  Synod.  Francof.  c.  55  (Conc.  II,  171  =  Capit.  I,  78)  vom  Jahre  794:  „Dixit 
etiam  domnus  rex  in  eadem  synodum,  ut  a  sede  apostolica,  id  est  ab  Adriano  ponti- 
fici,  licentiam  habuisse,  ut  Angilramnum  archiepiscopum  in  suo  palatio  assidue 
haberet  propter  utilitates  ecclesiasticas"  .  .  . 

'  Synod.  Francof.  794  c.  55.     Siehe  unten  S.  32  A.  3. 

*  Allerdings  hat  es  Tangl  (Archiv  f.  ürkundenforsch.  I,  106)  sehr  wahrschein- 
lich gemacht,  daß  wir  in  den  tironischen  Noten  von  BM.  276  =  DK.  154  (786  Nov.  5) 
lesen  müssen:  „Ordinante  domno  rege  per  Angil[rara]num."  Das  würde  unmittelbar  den 
Beweis  liefern,  daß  Angilram  bereits  786  oberster  capellanus  war  (s.  unten  Abschn.  C), 
doch  lassen  wir  dieses  immerhin  nicht  ganz  gesicherte  Zeugnis  hier  außer  acht. 

^  Allg.  d.  Biogr.  I,  460.  —  Ölsner  nennt  nämlich  fälschlich  787  anstatt  788 
als  das  Jahr,  in  dem  A.  zuerst  erwähnt  wird. 

^  Rettberg,  KG.  I,  502;  Abel,  Karl  d.  Gr.  I,  395. 


Capella  31 

hingewiesen,  daß  Angilram  den  erzbischöflichen  Titel,  in  dessen  Be- 
sitze er  auch  bereits  bei  jener  ersten  Erwähnung  im  Jahre  788  er- 
scheint, von  Hadrian  gerade  mit  Rücksicht  auf  seine  neue  hohe  Würde 
bei  Hofe  und  gewissermaßen  als  Höflichkeitsbezeugung  gegen  Karl  er- 
halten haben  werde. ^  Es  ist  also  anzunehmen,  daß  Karl  bald  nach 
784  den  Angilram  bereits  zum  Leiter  der  Hofkapelle  ausersehen  hatte, 
und  daß  dieser  bei  seinem  Aufenthalte  zu  Rom,  höchstwahrscheinlich 
im  Jahre  785,^  sich  sowohl  den  Dispens  von  der  bischöflichen  Residenz- 
pflicht wie  auch  das  erzbischöfliche  Pallium  holte. 

Folgende  Titel  bezeichnen  das  Amt  des  Angilram. 

In  einer  Urkunde  vom  11.  Juni  788  nennt  Karl  ihn  „Mettensis 
ecclesie  archiepiscopus  atque  capellanus  palacii  nostri",^  also  mit  dem- 
selben Titel,  den  auch  Fulrad  in  der  oben  zitierten  Urkunde  Karls  vom 
6.  Dezember  777  führt.  In  einer  anderen  Urkunde  Karls  vom  25.  Ok- 
tober 788  findet  sich  eine  eigenartige  Umschreibung  des  Titels:  „Engil- 
rammus  archiepiscopus  .  .  .,  qui  et  sanctam  capellam  palacii  nostri 
gubernare  videtur".^  Ebenso  neu  ist  die  Bezeichnung,  die  Alkuin  in 
einem  Briefe  an  den  Abt  Usuald  von  Monte  Amiata,  der  in  die  Jahre 
794—796,  also  in  die  Zeit  kurz  nach  dem  Tode  Angilrams  fällt,  ge- 
braucht: „Angilramnum  archiepiscopum  etsanctae  capellae  primicerium".^ 

c)   Hildebald  von  Köln. 

Nachdem  Angilram  auf  dem  Feldzuge  gegen  die  Avaren  am  26.  Ok- 


^  Gerade  so  erhalten  auch  die  beiden  anderen  Bischöfe,  die  später  als  oberste 
capellani  erscheinen,  Hildebald  von  Köln  und  Drogo  von  Metz,  den  Titel  Erzbischof. 
Es  ist  also  sehr  interessant  zu  beobachten,  wie  der  Papst  auf  diese  durchaus  fränkische, 
ganz  außerhalb  der  hergebrachten  kirchlichen  Hierarchie  stehende  Institution  Rück- 
sicht nimmt  und  bemüht  ist,  ihr  durch  Erteilung  des  Palliums  auch  seinerseits  eine 
höhere  Weihe  zu  geben.  Auch  Fulrad  wurde  ja  schon  vom  Papste  archipresbyter 
Franciae  genannt. 

^  Diesen  Aufenthalt  Angilrams  erwähnt  Alkuin  (EE.  IV,  134);  allerdings  steht 
das  Jahr  nicht  ganz  sicher  fest  (Hauck  IP,  206  A.  3);  doch  halte  ich  die  Vermutung 
Jaffes,  der,  auf  einer  Stelle  der  Capitula  Angilramni  fußend,  zuerst  auf  785  hin- 
gewiesen hat  (EE.  IV,  134  A.  4),  diesem  ganzen  Zusammenhange  nach  für  sehr  wahr- 
scheinlich. 

'  BM.  294  (DK.  161).  —  Ebenso  Catalogus  episc.  Mett.  (SS.  XIII,  306):  „Anghil- 
rammus  archiepiscopus  [et  palatii  capellanus]";  vgl.  auch  SS.  II,  269. 

*  BM.  298  (DK.  162). 

^  EE.  IV,  134.  —  Über  den  Ursprung  des  Titels  primicerius  vgl.  Brunn  er, 
RG.  II,  122.  —  Die  übrigen  Zeugnisse  kommen,  teils,  weil  sie  gefälscht,  teils,  weil 
sie  erst  späteren  Datums  sind,  nicht  in  Betracht;  so  z.  B.  wenn  Angilram  in  der  ge- 
fälschten Urkunde  Ludwigs  d.  Fr.  (BM.  962,  angeblich  vom  15.  Mai  836)  „archicapel- 
lanus  palatii",  oder  wenn  es  in  den  Epistulae  ad  divortium  Lotharii  II.  regis  per- 
tinentes  no.  9  (EE.  VI,  223)  heißt:  „Engilramnus  .  .  .  summus  capellanus  eius  et 
apocrisiarius  apostolicae  sedis  in  istis  regionibus"  (vgl.  hierüber  den  Exkurs). 


32  Wilhelm  Lüders 

tober  791  gestorben  war,^  wurde  Bischof  Hildebald  von  Köln^  mit  der 
Leitung  der  Hofkapelle  betraut. 

Auch  bei  ihm  zogen  sich  die  Verhandlungen  mit  dem  päpstlichen 
Stuhle  um  die  Entbindung  von  der  Residenzpflicht  anscheinend  in  die 
Länge.  Erst  auf  der  Frankfurter  Synode  von  794  erhielt  Karl  dann 
auch  von  den  Bischöfen  die  Genehmigung,  Hildebald  dauernd  an  seinem 
Hofe  behalten  zu  können.^ 

Gerade  wie  sein  Vorgänger  Angilram,  bekam  auch  Hildebald, 
zweifellos  eben  als  Leiter  der  Hofkapelle,  vom  Papste  das  erzbischöf- 
liche Pallium.  In  seinem  Besitze  erscheint  er  zuerst  795,^  während  er 
vorher^  und  noch  auf  der  Frankfurter  Synode  von  794^  ausdrücklich 
nur  als  episcopus  bezeichnet  wird.  Er  wird  also  794  oder  spätestens 
795  zum  Erzbischof  ernannt  sein.^ 

Für  Hildebald  ist  die  Anzahl  der  Zeugnisse,  die  ihn  als  Leiter  der 
Hof  kapeile  bezeichnen,  weit  größer  als  für  seine  Vorgänger.  Aus  den 
Königsurkunden  läßt  sich  die  Würde  Hildebalds  allerdings  nicht  er- 
kennen;^  dagegen  wird   er   sehr   oft   in   den  Traditionsurkunden    des 


^  Ann.  Laureshamenses  791  (SS.  I,  34).  —  Simson,  Karl  d.  Gr.  11,  542. 

^  Vgl.  Waitz,  VG.  III,  518  A.  2;  Simson,  Karl  d.  Gr.  II,  542  nebst  A.  2. 

^  Synod.  Francof.  c.  55  (Capit.  I,  78  =  Conc.  II.  171):  „Deprecatus  est  et  eadem 
synodum,  ut  eo  modo,  sicut  Angilramnum  habuerat,  ita  etiam  Hildeboldum  episcopum 
habere  debuisset,  quia  et  de  eodem,  sicut  et  de  Angilramnum,  apostolicam  licentiam 
habebat.  Omnis  synodus  consensit,  et  placuit  eis  eum  in  palatium  esse  debere 
propter  utilitates  ecclesiasticas." 

*  Trad.  S.  Cass.  et  Flor.  no.  32.  —  Dieses  Traditionsbuch  zuerst  veröffentlicht 
von  Perlbach,  NA.  XIII,  145—170  (vgl.  Hauck  II,  206  A.  4). 

^  Trad.  S.  Cass.  et  Flor.  no.  14  (787  Okt.  9  bis  788  Okt.  9). 

^  S.  oben  A.  3. 

^  Auch  die  Erhebung  Hildebalds  zum  archiepiscopus  war,  wie  die  Angilrams, 
in  erster  Linie  zweifellos  eine  persönliche  Auszeichnung,  die  Karl  beim  Papste  für 
den  Leiter  seiner  tiofkapelle  erwirkte.  Man  kann  also  deshalb  nicht  ohne  weiteres 
das  Jahr  794  oder  795,  wie  schon  Rettberg,  Kirchengesch.  Deutschlands  I,  540 
(R.  schwankt  allerdings,  da  er  die  Trad.  S.  Cass.  et  Flor,  noch  nicht  kannte,  zwischen 
794  und  799)  richtig  bemerkt,  als  Entstehungsjahr  der  Kölner  Erzdiözese  ansehen. 
Diese  bildete  sich  allerdings  nach  der  Frankfurter  Synode  von  794,  auf  der  die  Ein- 
richtung von  festgeschlossenen  Metropolitansprengeln  beschlossen  wurde,  allmählich 
aus.  Karl  wandte  jedoch  dieser  Angelegenheit  nur  geringes  Interesse  zu.  Man  wird 
daher  den  Titel  archiepiscopus  vor  allem  als  persönliche  Auszeichnung  für  Hildebald 
betrachten  müssen  (vgl.  Hauck  II,  206  A.  4.  208).  —  Daß  Hildebald  auch  nach  795 
gelegentlich  noch  episcopus  genannt  wird,  woran  Rettberg  Anstoß  nimmt,  kommt 
auch  sonst  bei  Erzbischöfen  (so  z.  B.  auch  gerade  bei  dem  Titularerzbischof  Drogo 
von  Metz)  vor  und  ist  ohne  Belang. 

^  Nur  in  den  tironischen  Noten  BM.  429  (DK.  206,  807  Aug.  7)  heißt  es:  „Hilde- 
baldus  episcopus  ita  firmavit."  BM.  295  (DK.  245)  mit  der  Rekognition  „Hildibaldus 
archiepiscopus  Coloniensis  et  sacri  palatii  capellanus  recognovi"  ist  Fälschung;  der 


Capeila  33 

Klosters  Mondsee  und  des  Stiftes  St.  Cassius  und  Florentius  in  Bonn, 
die  er  von  Karl  als  Dotation  erhalten  hatte,  genannt,  so  daß  wir  für 
seine  Stellung  als  oberster  capellanus  zahlreiche  Belege  besitzen. 

In  den  Traditionen  für  St.  Cassius  und  Florentius  wird  er  als 
Leiter  der  Hofkapelle  zuerst  799  (no.  26)  erwähnt,  und  zwar  als  „archi- 
episcopus  et  palacii  capellanus",  ebenso  801  (no.  30)  als  „episcopus 
atque  palatii  capellanus".  Dagegen  findet  sich  in  einer  Urkunde  vom 
5.  April  804  (no.  12)  der  Titel  „episcopus  et  sacri  pallatii  capellanus". 

Wir  dürfen  daraus  schließen,  daß  Hildebald  zunächst  noch  den- 
selben Titel  wie  seine  Vorgänger  Fulrad  und  Angilram  geführt  hat. 
iDann  aber  hat  sich,  nach  der  Krönung  Karls  zum  römischen  Kaiser 
und  augenscheinlich  unter  dem  Einflüsse  des  griechischen  Zeremoniells, 
das  nun  auch  am  fränkischen  Hofe  mehr  und  mehr  Eingang  fand,  die 
feierlichere  Bezeichnung  „sacri  palatii  capellanus"  festgesetzt;  sie  führt 
Hildebald  in  der  Folgezeit  fsfSt  ausschließlich,  und  man  darf  sie  daher 
wohl  als  offiziellen  Titel  auffassen.^ 

Diese  Annahme  wird  durch  die  Mondseer  Traditionen  bestätigt. 
Auch  hier  wird  er  meist,  im  ganzen  siebzehnmal,  „sacri  palatii  capellanus" 
genannt,  und  zwar  in  Urkunden,  die  den  Zeitraum  von  803 — 814  um- 
fassen.^ In  zwei  Urkunden  bezeichnet  ersieh  sogar  selbst  mit  diesem 
Titel.  ^ 

Sehr  interessant  ist  auch  die  Bezeichnung  Hildebalds  als  „archi- 
episcopus  et  sacri  palacii  inperialis  custus",^  die  sich,  wie  der  Titel 
„archiepiscopus  custus  capellanus",^  zweifellos  ebenfalls  auf  das  Ver- 
hältnis zur  Hofkapelle  bezieht  und  noch  deutlich  das  Wächteramt  über 
die  königlichen  Reliquien,  das  wir  schon  bei  Fulrad  kennen  gelernt 
haben,  erraten  läßt.  Aber  zugleich  deutet  jener  Titel  auch  an,  daß  der 
Einfluß  des  obersten  capellanus  nicht  bloß  auf  rein  geistliche  Angelegen- 
heiten beschränkt  war,  sondern  sich  über  den  ganzen  Hof  erstreckte. 


Versuch  tiüffers,  Korveier  Stud.  S.  99  A.  5,  sie  zu  retten,  ist  keineswegs  über- 
zeugend. Vgl.  Simson,  Der  Poeta  Saxo  und  der  angebliche  Friedensschluß  zu 
Salz  (NA.  XXXII,  44). 

^  Bloß  archiepiscopus  und  capellanus  nennt  ihn  die  Vita  Leonis  III.  (Muratori, 
SS.  rer.  Ital.  III 1,  198). 

^  Traditiones  Lunaelacenses  (ÜB.  des  Landes  ob  der  Enns,  Bd.  1)  no.  11,  14, 
21,  30,  36,  48,  51,  58,  72,  86,  95,  101,  102,  103,  107,  110^  110^  118. 

^  Trad.  Lunael.  36:  „Hildepaldus  divina  clemencia  archiep.  atque  sacri  palacii 
capellanus  Lantperhto  salutem."  Trad.  Lunael.  102:  „e^o  H.  archiep.  et  sacri  palacii 
capellanus." 

*  Tr.  Lunael.  no.  84. 

^  Tr.  Lunael.  no.  68.  —  Dagegen  bezieht  sich  rector  (Tr.  Lunael.  14  und  51) 
nur  auf  die  Leitung  des  Klosters,  wie  Tr.  Lunael.  no.  59  (Maninseo,  ubi  H.  episcopus 
rector  esse  videtur)  klar  beweist. 

AfU    II  3 


34  Wilhelm  Lüders 

Dieser  beherrschende  Einfluß  kommt  auch  in  der  Schilderung,  die 
Angilbert  von  der  Tätigkeit  Hildebalds  entwirft,  klar  zum  Ausdruck: 

„Cur  te  non  memorem,  magnae  primicerius  aulae, 
Aaron  quippe  prius  magnus  sub  Mose  sacerdos 
In  te  nunc  nostra  subito  reviviscit  in  aula. 
Tu  portas  Effoth,  sacrumque  altaribus  ignem, 
Ore  poli  clavem  portas  manibusque  capellae, 
Tu  populum  precibus  defendis  semper  ab  hoste."  ^ 

Es   kann   daher   nicht  verwundern,    wenn   Hildebald   gelegentlich 
geradezu  als  „sacri  palatii  archiepiscopus"  bezeichnet  wird.^ 


C.   Die  Stellung  des  obersten  capellanus  am  Ende  der  Regierung 
Karls  des  Großen 

Das  Amt  des  obersten  capellanus  wuchs  seit  seiner  Gründung 
durch  Pippin  bis  in  die  letzte  Zeit  Karls  des  Großen  zu  immer  mehr 
überragender  Machtfülle  empor.  Beim  Tode  des  großen  Kaisers  hatte 
es  den  Höhepunkt  seiner  Entwicklung  erreicht. 

Das  läßt  sich  schon  aus  den  Titeln  jener  Zeit  erkennen.  Während 
Fulrad  anfangs  noch  den  einfachen  Titel  „capellanus"  führt,  prägt  sich 
Hildebalds  machtvolle  Stellung  in  den  mannigfaltigsten  Bezeichnungen 
aus;  heißt  jener  bloß  „custos  capellae",  so  führt  dieser  den  anspruchs- 
vollen Titel  „sacri  palacii  inperialis  custus". 

Demgemäß  waren  denn  auch  die  Befugnisse  des  obersten  capellanus 
am  Ende  von  Karls  Regierung  sehr  ausgedehnt  und  bedeutend.^ 


^  Carm.  2  V.  56—61  (MG.  Poetae  Carol.  aevi  I,  361  f.). 

^  Concil.  Mogunt.  813  praef.  (Mansi  XIV,  64  =  Coric.  II,  259).  —  Co n ring  hat 
mit  unrecht  an  dieser  Bezeichnung  Hildebalds  Anstoß  genommen;  er  vermutet^  daß 
statt  archiepiscopus  zu  setzen  sei  archicapellanus,  oder  vielleicht  auch  archiepiscopus 
sacri  palatii  archicapellanus.  Dem  hat  mit  Recht  schon  Mabillon,  De  re  dipl. 
p.  116  widersprochen.  Der  Ersatz  archicapellanus  ist  unmöglich,  da  dieser  Titel  813 
noch  nicht  vorkommt.  Die  richtige  Erklärung  hat  jedenfalls  Hauck  II,  211  A.  1 
getroffen,  indem  er  darauf  hinweist,  daß  auch  damals  noch  die  erzbischöfliche  Würde 
in  erster  Linie  als  eine  „persönliche  Auszeichnung"  angesehen  wurde;  man  konnte 
sie  sich  also  auch  damals  noch  nicht  nur  in  Verbindung  mit  einem  Erzbistum, 
sondern  auch  lediglich  in  Verbindung  mit  dem  Amte  des  obersten  capellanus,  dem 
ja  Hildebald  ursprünglich  das  erzbischöfliche  Pallium  zu  verdanken  hatte,  denken 
(vgl.  oben  S.  32  A.  7).  Am  passendsten  dürfte  der  Titel  sich  daher  mit  „Erzbischof 
beim  Palatium"  übersetzen  lassen. 

^  Vgl.  Waitz,  VG.  III,  522;  Bresslau,  Handbuch  der  ürkundenlehre  I,  S.  295f. 
—  Auch  hier  werde  ich  mich  vor  allem  auf  gleichzeitige  Zeugnisse  stützen ;  lediglich 
zur  Unterstützung  werde  ich  daneben  Hinkmars  Werk  heranziehen. 


Capella  35 

Das  Amt  war  zunächst  noch  immer  ein  rein  geistliches.  Wie  es 
seinen  Ursprung  in  der  Verehrung  einer  Reliquie,  der  capella  s.  Martini, 
hatte,  so  gehörte  auch  jetzt  noch  die  Pflege  und  Bewahrung  der  könig- 
lichen Reliquien  zu  den  vornehmsten  Aufgaben  des  obersten  capella- 
nus/  Dieser  hatte  ferner  die  Oberaufsicht  über  die  gesamte  tiofgeist- 
lichkeit;^  er  war  ihr  alleiniger  Vorgesetzter  und  Berater.  Mit  ihrer 
tlilfe  sorgte  er  für  die  Vollziehung  der  gottesdienstlichen  Handlungen 
am  tiofe,^  wozu  auch  die  Segnung  der  Speisen  vor  jeder  Mahlzeit  ge- 
hörte.* 

Kann  man  so  sein  Amt  mit  dem  eines  modernen  Oberhofpredigers  ^ 
vergleichen,  ging  doch  andererseits  sein  Einfluß  weit  über  die  rein 
geistlichen  Angelegenheiten  des  Hofes  hinaus.  Auch  in  Fragen,  die 
die  gesamte  fränkische  Kirche  betrafen,  hatte  er  eine  entscheidende 
Stimme. 

Häufig  fand  er  Verwendung  in  wichtigen  diplomatischen  Missionen. 
So  hatte  schon  Fulrad  großen  Anteil  an  den  Verhandlungen,  die  Pippin 
vor  und  nach  seiner  Thronbesteigung  mit  dem  päpstlichen  Stuhle  führte.^ 
Sein  Nachfolger  Hildebald  war  unter  den  Abgesandten  Karls,  die  den 
vertriebenen  Papst  Leo  III.  nach  Rom  zurückführen  und  die  gegen  ihn 
erhobenen  Beschuldigungen  untersuchen  sollten.'^ 

Eine  noch  wichtigere  Rolle  spielte  der  oberste  capellanus  in  der 
inneren  Kirchenpolitik. 

Namentlich  bei  Personalfragen,  wie  bei  der  Besetzung  von  Bis- 
tümern und  Abteien,  übte  er  einen  entscheidenden  Einfluß  aus;  denn 
da  jene  schon  zu  Karls  Zeit  häufig  mit  Mitgliedern  der  Hofkapelle  be- 
setzt wurden  und  er  also  die  in  Betracht  kommenden  Persönlichkeiten 
genau  kennen  mußte,  so  wird  sein  Vorschlag  vor  allen  anderen  Be- 
achtung gefunden  haben. 

Der  oberste  capellanus  war  ferner  der  Vermittler  zwischen  der 
übrigen  Geistlichkeit  und  der  Person  des  Königs,  die  offizielle  Instanz, 
an  die  zunächst  alle  kirchlichen  Angelegenheiten  des  Reiches  berichtet 


^  Vgl.  die  Titel  „custos  capellae",  „sacri  palacii  inperialis  custus",  „archiepis- 
copus  custus  capellanus".  —  Der  Titel  „palatii  custos"  findet  sich  auch  bei  Hinkmar 
c.  16,  19,  32. 

'''  Walahfrid,  De  exordiis  et  incrementis  rer.  eccl.  c.  32  (Capit.  II,  515).  Hink- 
mar c.  16.    unten  S.  38  A.  5. 

^  Vgl.  die  Schilderung,  die  Angilbert  von  der  Tätigkeit  Hildebalds  entwirft, 
oben  S.  34. 

'  Vgl.  Waitz,  VG.  III,  522  A.  1. 

^  Der  Vergleich  bei  Bresslau  a.  a.  0. 

®  Ann.  Lauriss.  maiores  und  Ann.  Einhardi  749  (MG.  SS.  I,  136f.)  und  755 
(MG.  SS.  I,  138,  141). 

^  Mühlbacher,  Deutsche  Gesch.  unter  den  Karolingern,  S,  199. 

3* 


36  Wilhelm  Lüders 

wurden.^  Auf  den  Synoden  hatte  er  augenscheinlich  den  Standpunkt 
des  Königs  gegenüber  den  Bischöfen  zu  vertreten.^ 

Infolge  dieser  weitreichenden  und  umfassenden  Befugnisse  des 
obersten  capellanus  hat  man  begreiflicherweise  von  jeher  die  Frage 
aufgeworfen,  ob  er  vielleicht  auch  zu  der  anderen  Zentralbehörde  am 
karolingischen  Hofe,  der  Kanzlei,  in  einem  amtlichen  Verhältnis  ge- 
standen habe.  Diese  Frage  lag  um  so  näher,  als  man  annehmen 
durfte,  daß  der  oberste  capellanus,  nachdem  er  dem  Könige  über 
irgendeine  kirchliche  Angelegenheit  oder  Schenkung  Vortrag  gehalten 
hatte,  nun  auch  bei  der  Abfassung  der  hierüber  ausgestellten  Urkunden 
seinen  Einfluß  geltend  zu  machen  suchte.  Aus  dem  Texte  der  Königs- 
urkunden dieser  Zeit  ließ  sich  allerdings  eine  solche  Stellung  des 
obersten  capellanus  zur  Kanzlei  nicht  erweisen,  und  sie  ist  daher, 
nach  dem  Vorgange  Th.  Sickels,  noch  bis  in  die  jüngste  Zeit  immer 
wieder  aufs  entschiedenste  geleugnet.^  Erst  aus  den  von  ihm  richtig 
entzifferten  tironischen  Noten  glaubt  nunmehr  Tangl  den  Vorstand  der 
Kapelle  auch  als  obersten  Leiter  der  Kanzlei  erweisen  zu  können.^ 

Am  häufigsten  sind  die  Vermerke,  die  Fulrads  Anteil  am  ürkunden- 
wesen  erkennen  lassen:  er  erteilt  im  Namen  des  Königs  an  die  Kanzlei 
Befehle  auf  Ausfertigung  von  Urkunden.^  Für  Angilram  besitzen  wir 
kein  sicher  beglaubigtes  Zeugnis;  doch  hat  es  Tangl  sehr  wahrschein- 
lich gemacht,  daß  wir  ein  solches  in  BM.  276  (=  DK.  154)  zu  erblicken 
und  hier  zu  lesen  haben:  „Ordinante  domno  rege  per  Angilramnum".^ 
Auf  Hildebalds  Anteil  am  ürkundenwesen  weist  hin  der  sehr  be- 
zeichnende Vermerk  zu  BM.  429  (=  DK.  206):  „Hildebaldus  episcopus 
ita  firmavit";'  Hildebald  hat  also  hier  unmittelbar  an  der  Vollziehung 
der  Urkunde  teilgenommen.  Aus  alledem  geht,  wie  Tangl  meint,  hervor, 
daß  bereits  zur  Zeit  der  ersten  Karolinger  der  oberste  capellanus  eine 
ähnliche  Stellung  gegenüber  der  Kanzlei  eingenommen  hat,  wie  man 

^  Sowohl  Walahfrid  c.  32  wie  Hinkmar  c.  19  vergleichen  ihn  daher  sehr 
treffend  mit  dem  comes  palatii;  vgl.  auch  Hinkmar  c.  20. 

^  Es  ist  dafür  sehr  bezeichnend,  wenn  Hildebald  auf  der  Mainzer  Synode  813 
geradezu  als  „sacri  palatii  archiepiscopus"  bezeichnet  wird. 

^  Weniger  schroff  als  Sickel  ist  Bresslau  a.  a.  0.  296. 

^  Archiv  für  ürkundenforschung  I  (1907),  87ff.,  besonders  162ff. 

^  Es  begegnen  dafür  ordinäre  DK.  104,  139,  140;  ambasciare  DK.  136;  rogare 
DK.  6.  Ob  DK.  150  (wie  DK.  131:  Folradus  abba  et  Rado)  „Fulradus  abba'  oder 
„F.  ambasciavif  zu  lesen  ist,  läßt  Tangl  a.  a.  0.  S.  101  zweifelhaft.  —  „Ambasciare" 
erklärt  Bresslau  (Der  Ambasciatorenvermerk  in  den  Urkunden  der  Karolinger,  Arch. 
f.  ürkundenf.  I,  168ff.)  nunmehr  als  „nuntiare",  „referre",  d.  h.  den  königlichen  Be- 
urkundungsbefehl der  Kanzlei  melden  und  übermitteln  (S.  177). 

^  Arch.  f.  ürkundenf.  I,  106.  Mühlbacher  liest  DK.  154:  „ordinante  domno 
rege  per  .  .  .  virtum". 

'  Arch.  f.  ürkundenf.  I,  103. 


I 


Capella  37 

sie  sonst  erst  seit  Ludwig  dem  Deutschen  für  ihn  annehmen  zu  müssen 
glaubte.^ 

Wie  dem  auch  sei,  ob  wir  dem  obersten  capellanus  nicht  nur  die 


m 


'  Doch  vgl.  Seeliger,  Hist.  Vierteljahrsschr.  1908,  I,  76 ff.  —  Gleichwohl  wird 
an  auch  jetzt  noch  —  nach  den  Ausführungen  Tangls  — ,  entgegen  Sickel  (Acta 
1,  9,  101;  Beitr.  z.  Dipl.  II,  Wiener  S.-B.  39,  149),  Waitz  (VG.  III,  523f.)  und  Mühl- 
bacher (Deutsche  Geschichte  unter  den  Karolingern  S.  182),  daran  festhalten  müssen, 
daß  Archiv  und  Kapelle  nicht  identisch  waren.     Allerdings  heißt  es  Synod.  Francof. 
C.3  vom  Jahre  794  (Capit.  I,  74  =  Conc.  II,  166),   daß   eine  Abschrift  der   Urkunde, 
die  Tassilo    erhält,    „in    sacri    palatii    capella"    (vgl.    unten    II,  §  3,  2)   niedergelegt 
werden  soll.    Bresslau,  ürkundenlehre  I,  132  A.  5  hat  mit  Recht  darauf  aufmerksam 
gemacht,  daß  nicht  das  in  die  Kapelle  gebrachte,   sondern  das  in  der  Pfalz  zurück- 
behaltene das   Archivexemplar  war;    im   übrigen   vermag  aber  auch   er  diesen   nur 
vereinzelt  überlieferten   Fall   nicht    zu   erklären,    denn  seine  Ansicht,    daß   lediglich 
wegen  ihrer  besonderen  Bedeutsamkeit  eine  Abschrift  jener  Urkunde  in   der  Kapelle 
deponiert  sei,  befriedigt  doch  nicht  durchaus.    Dagegen  scheint  mir  eine  Erklärung  in 
der  bekannten  Stelle  der  Vita  Hadriani  zu  liegen,  in  der  Kari  d.  Gr.  das  Schenkungs- 
versprechen seines  Vaters  wiederholt:  sowohl  der  König  wie  der  Papst  erhalten  be- 
sondere Ausfertigungen,  dagegen  entspricht  das  Exemplar,  das  Kari  selbst  am  Grabe 
des  h.  Petrus  deponiert,  genau  der  in  der  Pfalzkapelle  niedergelegten  Urkunde  (Vita 
Hadriani  ed.  Duchesne  c.  43,   auch  bei  Mirbt,  Quellen  zur  Gesch.  des  Papsttums* 
no.  160;  zu  dem  Gebrauche,  Urkunden  bei  der  Confessio  s.  Petri  zu  deponieren,  vgl, 
die  Noriz  NA.  XXXI,   260  no.  65).     Es  scheint  mir  daher  nicht  ausgeschlossen,   daß 
die   uns    zum    Jahr  794   überiieferte   Maßnahme    mit    der    Urkunde  Tassilos    nichts 
anderes   als  eine   bloße  Nachahmung  des   in   Rom   üblichen   Brauches  ist.  —  Ganz 
verkehrter  Weise  gibt  Eberl,  Stud.  zur  Gesch.  der  Karol.  in  Bayern  (Progr.  Straubing 
1891)  S.  38  sacri  palatii  capella  wieder  durch  „Bibliothek  der  königlichen  Kanzlei". 
—  Auf  die  zuerst  von  Monod  (Etudes  critiques  sur  les  sources  de  l'hist.  carolin- 
gienne  I;  1898)  ausgesprochene,  von  Bloch  (Gott.  gel.  Anzeigen  1901;  S.  878 ff.)  da- 
gegen zurückgewiesene  Ansicht,   daß   die  einzelnen  Erzkapellane  von  Angilram   an 
persönlich   einen   bestimmenden  Anteil   an   der  Abfassung  der  Reichsannalen  gehabt 
hätten,  gehe  ich  hier  nicht  näher  ein.    Nur  in  einem  Punkte  möchte  ich  M.  bestimmt 
widersprechen  und   die  Ausführungen  Blochs  unterstützen,     um  den  seiner  Ansicht 
nach    unbestreitbaren,    mit    dem   Jahre  801    einsetzenden    Stilwechsel    zu    erklären, 
nimmt  M.  an,  daß  Angilbert  bis  zu  diesem  Jahre  sich  mit  Hildebald  in  der  Leitung 
der  Kapelle  geteilt  und  auf  die  Abfassung  der  Annalen  bestimmend  eingewirkt  habe. 
Schon  Bloch  hat  aus  stilistischen  Gründen  die  Unmöglichkeit,  bei  diesem  Jahre  einen 
Einschnitt  zu   machen,    betont.     Aber  auch   die  Hypothese,   die  M.   zur  Erklärung 
seiner  Ansicht  anführt,  entbehrt  jeder  Grundlage.     Angilbert  kann  höchstens  in  den 
Jahren  791  bis  794  größeren   Einfluß   in   der  Hofkapelle  gehabt  haben;   aber  nicht 
einmal  in  dieser  Zeit  war  er  ihr  offizieller  Leiter  (s.  unten  S.  40f.);  nichts  berechtigt 
uns  vollends,   ihn   nach  794  Hildebald  als  gleichberechtigten  Kollegen  an  die  Seite 
zu   stellen.     Monods  Versuch,   die   Reichsannalen   auf  die  Persönlichkeiten  der  Erz- 
kapellane zu  verteilen  und  ihnen  einen  bestimmenden,  vielleicht  sogar  unmittelbaren 
Anteil  an  ihrer  Abfassung  zuzuschreiben,  ist  daher  als  mißlungen  zu  betrachten.    Nur 
soviel  wird  man  sagen  können,  daß  die  Reichsannalen  in  den  Kreisen  der  Hofgeist- 
lichkeit entstanden  seien.     Die  Einschränkung,   die  Bloch  (S.  882)   macht,   wenn  er 
sagt  „in  der  Hofgeistlichkeit  der  kaiseriichen  Kapelle",  halte  ich  nach  dem,  was  ich 
unten  S.  39  A.  1  ausgeführt  habe,  nicht  für  nötig. 


38  Wilhelm  Lüders 

Funktionen  eines  „Ministers  der  geistlichen  Angelegenheiten",^  sondern 
im  besonderen  auch  die  eines  „obersten  Kanzleichefs"  zuschreiben 
dürfen:  er  war  vor  allem  ein  Symbol  für  die  kirchliche  Politik  Karls 
des  Großen,  der  sich  in  dem  obersten  capellanus  ein  Gegengewicht 
gegen  die  in  der  Verbindung  mit  Rom  und  in  der  bischöflichen  Macht 
schlummernden  zentralisierenden  Tendenzen  geschaffen  hatte,  ein  Amt, 
das  so  gar  nicht  in  den  regelmäßigen  Bau  der  kirchlichen  Hierarchie 
hineinpaßte  und  das  trotzdem  auf  die  kirchlichen  Verhältnisse  des 
weiten  Reiches  den  größten  Einfluß  ausübte. 


2.    Die  übrigen  capellani 

A.    Die  niederen  capellani  des  Königs 

Die  niederen  capellani  —  capellani  minores  nennt  sie  Walahfrid^  — 
treten  neben  dem  obersten  capellanus  naturgemäß  mehr  in  den  Hinter- 
grund. Sie  finden  daher  auch  in  den  Quellen  weniger  Beachtung. 
Jedenfalls  muß  man  sich  das  Kollegium  der  capellani  weit  größer  vor- 
stellen, als  es  den  Quellen  nach  den  Anschein  hat. 

Waren  die  wenig  zahlreichen  capellani  Karlmanns,  nach  dessen 
Kapitular  aus  dem  Jahre  742  zu  urteilen,  wohl  vorwiegend  Presbyter, 
so  finden  sich  in  der  späteren  Kapelle  alle  kirchlichen  Grade  vertreten.^ 

In  rechtlicher  Beziehung  waren  die  capellani  von  der  bischöflichen 
Gewalt  völlig  unabhängig;  sie  standen  lediglich  unter  dem  obersten 
capellanus.* 

Zu  den  capellani  gehörten  zunächst  zweifellos  alle  Kleriker,  die 
unter  der  Leitung  des  obersten  capellanus  die  Reliquien  des  Königs 
zu  behüten  und  die  gottesdienstlichen  Handlungen  in  der  Pfalz  zu  ver- 
richten hatten.  Aber  auch  darüber  hinaus  werden  zu  ihnen  überhaupt 
alle  Geistlichen  gerechnet  sein,  die  sich  dauernd  am  Hofe  des  Königs 
aufhielten;  zum  mindesten  unterstanden  sie,  da  sie  sonst  keinem  kirch- 
lichen Oberen  unterworfen  waren,  der  geistlichen  Aufsicht  des  obersten 
capellanus.^ 


^  So  Bresslau,  ürkundenl.  I,  296;  Mühlbacher,  Deutsche  Gesch.  unter  den 
Karolingern,  S.  74. 

^  De  exordiis  et  incrementis  rer.  eccl.  c.  32. 

'  Waitz,  VG.  III,  526. 

^  Das  geht  vor  allem  aus  der  scharfen  Polemik  hervor,  die  zur  Zeit  Ludwigs 
des  Frommen  Wala  gegen  den  Stand  der  capellani  führte,  und  auf  die  ich  unten 
(III,  §1,  3)  noch  zu  sprechen  kommen  werde.  —  Vgl.  Stutz,  Gesch.  des  kirchl. 
Benefizialwesens  I,  234  A.  90. 

^  Hinkmar,  De  ordine  palatii  c.  16:  „omnem  clerum  palatii  sub  cura  et  dis- 
positione  sua  regebat." 


Capeila  39 

Ein  doppeltes  Verhältnis  verband  daher,  falls  die  oben  erläuterte 
tiypothese  Tangls  zutrifft,  die  Kleriker  der  Kanzlei  mit  dem  Leiter  der 
Hofkapelle.  Einmal  waren  sie  seine  Untergebenen  als  Geistliche  und 
andererseits  als  Beamte  der  Kanzlei.  Aber  auch  ganz  abgesehen  davon 
kann  es  nicht  verwundern,  wenn  der  Kanzler  Karlmanns,  /Y\aginarius, 
und  der  Karls,  Hitherius,  gelegentlich  geradezu  auch  als  capellani  be- 
zeichnet werden.^ 

Auch  der  Stand  der  unteren  capellani  erforderte  bedeutende  Männer. 
Das  läßt  sich  schon  daraus  schließen,  daß  Mitglieder  der  tiofkapelle 
oft  bei  wichtigen  diplomatischen  Verhandlungen  Verwendung  fanden 
und  vielfach  auch  zu  hohen  kirchlichen  Würden  gelangten.^ 

Ich  stelle  im  folgenden  einige  capellani  zusammen,  die  sich  in 
den  Quellen  mit  Namen  belegen  lassen,  ohne  dabei  auf  Vollständigkeit 
irgendwie  Anspruch  erheben  zu  wollen.  Die  Notizen  sollen  nur  den 
Zweck  haben,  eine  Vorstellung  von  der  Ausdehnung  der  Hofkapelle 
unter  Pippin  und  Karl  dem  Großen  zu  geben  und  die  Funktionen,  in 
denen  ihre  Mitglieder  erscheinen,  zu  zeigen.^ 

Papst  Paul  I.  erwähnt  in  einem  Briefe  an  König  Pippin  aus  den 


^  Zu  Maginarius  s.  unten  S.  40.  —  Beiden  Männern  hat  man  den  Titel  capcl- 
lanus  absprechen  wollen.  Die  Frage,  ob  der  capellanus  Maginarius  mit  dem 
gleichnamigen  Kanzler  Karlmanns  identisch  sei,  ist  von  Sickel  (Acta  Karol.  I,  77 
A.  1)  verneint,  von  Simson  (Karl  d.  Gr.  I,  487,  II,  543  A.  2)  und  Mühlbacher 
(MG.  DK-  I,  61)  offen  gelassen,  nunmehr  jedoch,  nach  dem  Vorgange  von  Waitz 
(VG.  III,  515  A.  5),  durch  Tangl  (NA.  XXXII,  185)  auf  dem  Wege  der  Schrift- 
vergleichung in  bejahendem  Sinne  entschieden.  —  Damit  erledigt  sich  auch 
eigentlich  die  von  Sickel  I,  78,  101  und  Simson  (Karl  d.  Gr.  II,  542  A.5)  ver- 
neinte, von  Waitz  (VG.  III,  512  A.  2  und  515  A.5)  und  Bresslau  (ürkundenl.  I, 
276  A.  3)  dagegen  bejahte  Frage,  ob  der  Kanzler  Karls,  Hitherius,  den  Titel 
capellanus,  den  ihm  die  Vita  Hadriani  (ed.  Duchesne  c.  42,  auch  bei  Mirbt, 
Quellen  zur  Geschichte  des  Papsttums^  no.  160)  beilegt,  zu  Recht  führe.  Nur 
den  Einwand  könnte  man  erheben,  daß  Maginarius  erst  längere  Jahre,  nachdem  er 
Karlmanns  Kanzler  gewesen,  als  capellanus  erscheine  und  also  inzwischen  vielleicht 
seine  Stellung  gewechselt  habe,  Hitherius  dagegen,  nach  der  Vita  Hadriani,  im 
Besitze  beider  Funktionen  zu  gleicher  Zeit  erscheine  und  daher  unmöglich  capellanus 
sein  könne.  Aber  auch  dieses  Bedenken  ist  meiner  Ansicht  nach  hinfällig,  sobald 
man  capellanus  in  dem  allgemeinen  Sinne  als  Mitglied  der  Hofgeistlichkeit  faßt;  ob- 
gleich ich  es  nicht  für  ausgeschlossen  halte,  daß  ein  Kleriker  der  Kanzlei  gelegent- 
lich auch  zu  den  capellani  im  engeren  Sinne,  die  speziell  die  Kulthandlungen  am 
Hofe  verrichteten,  gehört  habe.  Vielleicht  durch  ein  gemeinsames  Oberhaupt  ver- 
bunden, werden  Kapelle  und  Kanzlei,  unbeschadet  ihrer  sonstigen  Selbständigkeit, 
jedenfalls  hinsichtlich  der  in  ihnen  dienenden  Persönlichkeiten  nicht  immer  streng 
geschieden  gewesen  sein.  Die  jeweilige  Verwendung  eines  Geistlichen  in  einer  der 
beiden  Behörden  wird,  wie  Tangl  (Arch.  f.  ürkundenf.  I,  164)  richtig  bemerkt,  von 
dem  Belieben  des  obersten  capellanus  abhängig  gewesen  sein. 

^  Vgl.  die  im  Text  gegebenen  Beispiele. 

^  Vgl.  hierzu  namentlich  Simson,  Karl  d.  Gr.  II,  543—545. 


40  Wilhelm  Lüders 

Jahren  764—766  einen  Flaginus  eapellanus,  der  von  Pippin  als  Ge- 
sandter an  ihn  abgeschickt  war.^  Ende  781  oder  Anfang  782  wird  in 
einem  Briefe  tiadrians  I.  an  Karl  den  Großen  der  Abgesandte  Karls 
an  den  Papst,  Maginarius ,  als  religiosus  eapellanus  bezeichnet;^  auch 
sonst  wird  Maginarius  noch  öfters  genannt,^  allerdings  nicht  mehr  als 
eapellanus;  nach  dem  Tode  Fulrads  im  Jahre  784  wurde  er  dessen 
Nachfolger  als  Abt  von  Saint-Denis.^  Die  Gesta  abbatum  Fontanellen- 
sium  erwähnen  einen  Witboldus,  gloriosissimi  regis  Karoli  tum  tem- 
poris  eapellanus;^  er  wurde  um  786  als  Gesandter  in  der  tieirats- 
angelegenheit  der  Prinzessin  Rotrud  nach  Byzanz  geschickt;  nach  seiner 
Rückkehr  erhielt  er  das  Kloster  des  h.  Sergius  bei  Angers.  Ende  787 
oder  Anfang  788  bezeichnet  tiadrian  I.  in  einem  Briefe  an  Karl  den 
Großen  den  auch  sonst  aus  den  Verhandlungen  zwischen  Karl  und 
Hadrian  bekannten  Roro  als  eapellanus,^  sonst  kommt  dieser  Titel  bei 
Roro  nicht  mehr  vor. 

Zu  vielen  Irrtümern  und  falschen  Auffassungen  hat  die  Stellung 
Angilberts  in  Karls  Hofkapelle  Anlaß  gegeben.'  Es  muß  im  Auge  be- 
halten werden,  daß  nur  in  einem  Briefe  Hadrians  an  Karl  den  Großen, 
aus  dem  Frühjahr  des  Jahres  791,  das  Verhältnis  Angilberts  zur  könig- 
lichen Kapelle  unzweifelhaft  zum  Ausdruck  kommt:  Hadrian  nennt  ihn 
hier  „minister  capellae".^  Nur  die  spätere,  von  Anscher  verfaßte  Vita  be- 


^  Codex  Carolinus  no.  36  (EE.  III,  544).  —  Dagegen  ist  der  Zusatz  zu  Ann. 
Lauriss.  769  (SS.  I,  148):  „simulque  Launum  episcopum  eiusdem  civitatis,  qui  fuerat 
eapellanus  domni  Pippini  regis  patris  sui,  quem  ipse  rex  Pippinus  episcopum  fecerat 
de  ipsa  civitate",  ohne  Wert  und  zu  verwerfen;  vgl.  Ölsner,  Pippin  S.  403  A.  3; 
Sickel,  Acta  Karol.  I,  70  A.  12. 

'  Cod.  Carol.  no.  71  (EE.  III,  601). 

'  Vgl.  EE.  III.  599,  603,  609,  615,  618,  656. 

*  Alkuins  Epitaph  auf  ihn  Poetae  lat.  aevi  Carol.  I,  319. 

"  SS.  II,  291;  ed.  Loewenfeld  (1886)  p.  46.    Vgl.  Simson,  Karl  d.  Gr.  II,  543. 

'  Cod.  Carol.  no.  80  (EE.  III,  612).    Vgl.  Simson  a.  a.  0.  II,  543  A.  4. 

'  Vgl.  Waitz,  VG.  III,  518  u.  519  A.l;  Abel,  Karl  d.  Gr.  I,  320f.  Simson, 
Karl  d.  Gr.  I,  388.     unten  S.  44  A.  3. 

^  EE.  V,  7  (die  Datierung  nach  fiampe,  NA,  XXI,  100):  „Directus  a  vestra 
clementissima  praecelsa  regalis  potentia  fidelem  familiärem  vestrum  Angilbertum 
abbatem  et  ministmm  capellae,  qui  pene  ab  ipsis  infantiae  rudimentis  in  palatio 
vestro  enutritus  est  et  in  omnibus  consiliis  vestris  receptus,  et  ideo,  sicut  a  vobis 
in  omni  familiaritate  recipitur,  ideoque  et  a  nobis  reciperetur  et  condecenter  hono- 
raretur."  —  Die  Bezeichnung  abbas  bezieht  sich  nicht  auf  die  capella,  sondern  seit 
etwa  790  war  Angilbert  bereits  Abt  von  Saint-Riquier  (EE.  V,  7  A.  3).  —  Der  Titel 
minister  capellae  bekundet  durchaus  nicht  eine  beherrschende  Stellung  innerhalb  der 
Hofkapelle,  sondern  er  ist  ähnlich  aufzufassen  wie  Alcuini  carm.  26  (Poetae  lat.  aevi 
Carol.  I,  245): 

„Tu  dignos  equidem  misisti  sorte  ministros, 
Ordinibus  sacris  iam  per  loca  nota  capellae.'' 


Capeila  41 

zeichnet  ihn  außerdem  als  „primatem  capeilanorum'V  doch  kommt  sie, 
da  sie  erst  im  12.  Jahrhundert  verfaßt  ist,  nicht  in  Betracht.  Trotz- 
dem hat  man  über  Angilberts  Würde  in  der  Kapelle  die  verschiedensten 
Vermutungen  geäußert.  Man  hat  ihn  sogar  die  Stellung  des  späteren 
Erzkapellans  einnehmen  lassen;  so  Mabillon,  der  glaubt,  Angilbert  sei 
„archicapellanus  honorarius"  gewesen,  und  Monod,  der  ihn  für  die 
Jahre  794—801  dem  Erzkapellan  Hildebald  als  gleichberechtigt  an  die 
Seite  setzt. ^  Alle  diese  Mutmaßungen  hat  bereits  Waitz  mit  Recht 
zurückgewiesen.^  In  Wirklichkeit  wird  zwar  Angilbert  infolge  seines 
nahen  persönlichen  Verhältnisses  zu  Karl,*  namentlich  als  in  den 
I Jahren  791—794  ihre  Leitung  vakant  war,^  eine  sehr  einflußreiche 
Stellung  in  der  tiofkapelle  eingenommen  haben,  aber  offiziell  kann  sie 
nicht  über  die  der  übrigen  capellani  hinausgegangen  sein. 

Auffallend  häufig  begegnen  capellani  in  dem  erst  788  von  Karl 
neu  gewonnenen  Teile  des  Reiches,  in  Bayern. 

Bereits  die  letzten  Agilolfinger,  Odilo  und  Tassilo,  hatten,  ohne 
Zweifel  nach  dem  Vorbilde  des  fränkischen  Nachbarreiches,  ihren  Hof- 
geistlichen die  Bezeichnung  capellani  gegeben.^  Nach  der  Einverleibung 
werden  aber  auch  Kapellane  des  fränkischen  Königs  ziemlich  oft  in 
Bayern  erwähnt. 

So  begegnet  uns  in  einer  Passauer  Urkunde  von  799  ein  sonst 
nicht  weiter  bekannter  Kapellan  Karls  namens  Rodland.'  Er  hatte  die 
Martinskirche  in  Linz  zu  Lehen.    Da  er  die  Kirche  frühestens  788  be- 


'  SS.  XV,  1,  180.  —  Wattenbach  l\  193. 
^  Siehe  hierzu  oben  S.  37  A.  1. 


'  VG.  III,  519  A.  1.  —  Vgl.  Hauck  II,  174 f. 

^  Karl  nennt  ihn  selbst  seinen  auricolarius  (EE.  IV,  135  und  137,  beide  von  796). 

'"  Gerade  in  diese  Zeit,  22.  Febr.  794,  fällt  auch  der  tironische  Vermerk  zu 
BM.  321  (  =  DK.  176):  „Ercanbaldus  advicem  Radonis  recognovi  et  subscripsi  ipso 
iubentae  et  Angilberto  abbate  ambassiante." 

^  Einen  capellanus  Odilos,  namens  ürsus,  erwähnen  die  allerdings  erst  späteren 
Notizen  Indic.  Arn.  VIII  6  (ed.  Keinz  p.  26):  „Tunc  quoque  ürso  capellanus  Otilonis 
petiit,  ut  ei  ipsas  res  ex  integro  daret  in  beneficium;  et  ita  Otilo  fecit  et  tulit  hoc 
per  vim  de  monasterio  Salzburch,"  und  Brev.  Not.  Salzb.  Villi  (ed.  Keinz  p.  33): 
„In  peregrinatione  Otilonis  ducis  fuit  cum  eo  quidam  presbyter  capellanus  eins  ürsus 
nomine."  Wenn  freilich  Stutz,  Gesch.  des  kirchl.  Benefizialwesens  S.  197  A.  2  daraus 
folgert,  daß  Odilo  bereits  eine  völlig  ausgebildete  Hofkapelle,  in  dem  Sinne  der 
späteren  karolingischen,  gehabt  habe,  so  geht  er  darin,  meiner  Ansicht  nach,  zu 
weit;  selbst  wenn  er  noch  mehr  capellani  an  seinem  Hofe  gehabt  haben  sollte,  werden 
doch  deren  Funktionen  nicht  über  die  der  capellani  Karlmanns  hinausgegangen  sein. 
—  Ein  capellanus  Tassilos,  namens  Fater,  wird  urkundlich  (Bitterauf,  Die  Tradi- 
tionen des  tiochstifts  Freising,  Bd.  I  no.  37,  769 — 777  Aug.  1)  erwähnt;  er  wurde  777 
Abt  des  von  Tassilo  gegründeten  Klosters  Kremsmünster. 

^  Mon.  Boica  XXVIlP  p.  36:  „Rodland  capellanus  domini  nostri  regis." 


42  Wilhelm  Lüders 

kommen  haben  kann  und  diese  andererseits  sich  799  schon  im  Be- 
sitze der  Passauer  Kirche  befindet,  so  ergeben  sich  ungefähr  die 
Jahre  788—799,  zwischen  denen  er  als  capellanus  Karls  angesehen 
werden  kann. 

Bei  den  Verhandlungen,  die  804  (16.  Juni)  auf  einer  Synode  zu 
Tegernsee  über  den  Zehntstreit  zwischen  dem  Bistum  Freising  und 
dem  Kloster  Tegernsee  geführt  wurden,  war  unter  den  zahlreichen 
Geistlichen  auch  ein  „Perhtratus,  presbiter  et  capellanus  domni  impera- 
toris",  zugegen;^  er  rangiert  in  der  Urkunde  hinter  den  Bischöfen  und 
Äbten  und  dem  Archipresbyter  Ellanodo,  aber  vor  den  übrigen  Pres- 
bytern, ein  Beweis,  daß  er  eben  kraft  seiner  Stellung  in  der  Hofkapelle 
höheres  Ansehen  als  diese  genoß. 

Ist  in  diesen  Fällen  die  Zugehörigkeit  zur  fränkischen  tiofkapelle 
ohne  weiteres  klar,  so  kann  man  in  anderen  Fällen,  in  denen  sich  der 
bloße  Zusatz  capellanus  findet,  über  den  Charakter  dieser  Kapellane 
anfangs  zweifelhaft  sein.^    Aber  auch  sie  können  nichts  anderes  sein 

'  Bitterauf  no.  197  (Mei.chelbeck,  tiist.  Fris.  T  no.  121  =  Conc.  II,  231); 
vgl.  Pereis,  Die  kirchlichen  Zehnten  im  karolingischen  Reiche  (Berl.  Diss.  1904) 
S.  89  ff. 

^  So  waren  auf  einer  Synode  zu  St.  Emmeram  in  Regensburg  unter  anderen 
auch  ein  „Reginperht  cappellanus  presbiter"  und  ein  „Wolfheri  cappellanus  presbiter" 
anwesend  (Bitterauf  no.  197  =  Meichelbeck  I''  no.  121).  In  einer  zwischen  806 
und  810  ausgestellten  Urkunde  aus  Freising  (Bitterauf  no.  242  =  Meichelbeck  I** 
no.  239)  steht  unter  anderen  Zeugen  ein  „Egino  cappellanus",  in  einer  808  aus- 
gestellten (Bitterauf  no.284  =  Meichelbeck  I^  no.241)  ein  „tiieremias  cappellanus". 
Ein  „capellanus  Ascrih"  schenkt  am  25.  Aug.  830  seinen  Besitz  zu  Oberreith  der  Freisinger 
Kirche  (Bitterauf  no.  600  =  Meichelbeck  I*"  no.  557).  —  Daß  es  sich  in  einzelnen 
dieser  Fälle  um  capellani  des  entthronten  fierzoggeschlechtes  handelte,  ist  von  vorn- 
herein ausgeschlossen;  es  würde  dann  sicherlich  eine  nähere  Bezeichnung  nicht  fehlen. 
Es  bliebe  aber  die  Frage,  ob  wir  es  bereits  mit  bischöflichen  capellani  zu  tun  hätten. 
Diese  Annahme  liegt  besonders  nahe  bei  Wago,  der  in  den  Jahren  806  bis  830  in 
Freisinger  Urkunden  häufig  genannt  wird.  Er  ist  zweifellos  geborener  Bayer;  schon 
seine  Eltern,  sein  Bruder  und  sein  Oheim  haben  der  Freisinger  Kirche  Schenkungen 
gemacht,  er  selbst  bestätigt  und  vermehrt  sie  (Bitterauf  no.  465,  523^  333^  und  ^; 
nach  Bitterauf  no.  465  wäre  er  auch  mit  dem  Wago  identisch,  der  bereits  am 
12.  Aug.  776  (no.  72*^)  seinen  Besitz  an  Freising  schenkt);  er  erscheint  häufig  als 
Zeuge  (Bitterauf  no.  226,  315,  338,  462,  492,  499^  547^  572,  591,  594);  als  Stell- 
vertreter der  Freisinger  Kirche  nimmt  er  einmal  die  Investitur  mit  der  Kirche  ge- 
schenktem Besitz  entgegen  (Bitterauf  no.  558);  er  wird  auch  zu  der  familia  der 
h.  Maria  in  Freising  mit  hinzugerechnet  (Bitterauf  no.  315,  462):  kurz,  er  steht 
zu  den  Freisinger  Bischöfen  im  engsten  Verhältnis.  Gleichwohl  kann  er  nichts 
anderes  als  königlicher  Kapellan  gewesen  sein.  Denn  wir  dürfen  für  Karls  d.  Gr. 
und  Ludwigs  d.  Fr.  Zeit  noch  keine  bischöflichen  capellani  annehmen;  ganz  ab- 
gesehen davon,  daß  sich  der  capellanus  eines  Bischofs  in  den  Königsurkunden  erst 
BM.  1542  (879  Mai  10)  nachweisen  läßt,  ist  das  wichtigste  Argument  gegen  das 
Vorhandensein    bischöflicher   capellani    bereits    zu    dieser  Zeit  die   überaus  scharfe 


I 


Capeila  43 

als  fränkische  capellani,  die  diesen  Titel  bei  ihrem  Aufenthalte  am 
karolingischen  Hofe  erhalten  haben  müssen.^  Andere  capellani  hat  es 
zu  jener  Zeit  noch  nicht  gegeben. 

Auch  dürfte  sich  das  verhältnismäßig  zahlreiche  Vorkommen  von 
Kapellanen  in  Bayern  auf  eine  sehr  einfache  Weise  erklären.  Wie  es 
sich  für  den  Kapellan  Rodland  ganz  bestimmt  nachweisen  läßt,  so  ist 
anzunehmen,  daß  Karl  der  Große  auch  sonst  das  neugewonnene  Ge- 
biet, in  dem  ihm  viel  herrenloses  Land  zur  Verfügung  stand,  dazu  be- 
nutzte, um  vor  allem  Mitglieder  seiner  tiofkapelle  mit  irgendeinem 
[Heiligtum  oder  Landbesitz  auszustatten.^ 


B.   Die  capellani  der  übrigen  Mitglieder  der  karolingischen  Familie 

Der  Gebrauch,  daß  auch  andere  Mitglieder  der  königlichen  Familie 
außer  dem  Könige  einen  oder  mehrere  Kapellane  für  sich  erhielten, 
scheint  sich  überraschend  früh  entwickelt  zu  haben. 

Nach  einer  allerdings  nicht  sicher  verbürgten  Nachncht  der  Gesta 
abbatum  Fontanellensium^  hätte  sogar  schon  Bertrada,  die  Gemahlin 
Pippins,  einen  eigenen  Kapellan  gehabt,  nämlich  den  Gervoldus,  den 
späteren  Abt  von  Saint-Wandrille. 

Als  Karls  Söhne  Pippin  und  Ludwig  im  Jahre  781  die  Herrschaft 
über  ein  Teilkönigreich  bekamen,  erhielten  sie  auch  ihre  besondern 
capellani. 

Der  Leiter  von  Ludwigs  Kapelle  in  Aquitanien  war  Reginpert, 
Bischof  von  Limoges.^ 

Nach  dem  Capitulare  Papiense  Pippins  vom  Oktober  787  soll  der 
eine  der  königfichen  Missi,  welche  die  Klöster  des  italienischen  Reiches 


Polemik  gegen  die  kaiserlichen  Kapellane  unter  Ludwig  d.  Fr.,  deren  Hauptträger 
gerade  die  Bischöfe  sind;  von  ihr  wird  weiter  unten  noch  zu  handeln  sein. 

VSo  liegt  die  Sache  offenbar  auch  bei  den  drei  capellani  Adhelricus  levita, 
Adalbertus  Magus  und  Guntarius,  die  Alcuin  in  einem  Briefe  an  Arn  von  Salzburg 
grüßen  läßt  (EE.  IV,  422;  die  Namen  EE.  IV,  418). 

^  Nach  Bitterauf  no.  369^  (=  Meichelbeck  I**  no.  340,  vom  20.  Dez.  816) 
stattete  Karl  d.  Gr.  auch  einen  aus  Sachsen  stammenden  Priester  mit  einem  Lehen 
in  Bayern  aus:  .  .  .  „ego  Sigifrid  presbiter  de  genere  Saxorum,  .  .  .,  ut  domnus 
Imperator  Karolus  beneficium  in  sua  elymosina  mihi  concessit  in  Baioaria  in  eodem 
loco  supradicto  ad  Seun"  ...  —  Auch  die  obersten  capellani  Angilram  und  Hilde- 
bald erhalten  von  Karl  Dotationen  in  Bayern,  jener  Chiemsee  (Hauck  II,  202  A.  3), 
dieser  Mondsee  (s.  oben  S.  33). 

'  Cap.  16  (SS.  II,  291.  Ed.  Loewenfeld  p.  45).  VgL  Waitz,  VG.  III,  525. 
Das  Werk  ist  erst  zwischen  834  und  845  verfaßt  (Watten bach  V,  241). 

^  BM.  516  (794  Aug.  3):  „In  Dei  nomine  Reginpertus  seu  indignus  vöcatus 
episcopus  sive  cappalanus  Ludovico  regis  Aquitaniorum  subs."  (Migne  104,  979). 
VgL  Simson,  Ludwig  d.  Fr.  II,  251. 


44  Wilhelm  Lüders 

inspizieren,  ein  Mönch,  der  andere  bemerkenswerterweise  jedoch  ein 
capellanus  sein.^  Bei  den  Verhandlungen,  durch  die  im  Jahre  804  zu 
Aibling  die  königlichen  Missi,  darunter  Arn  von  Salzburg,  einen  Streit 
zwischen  Bischof  Atto  von  Freising  und  Abt  Liutfrid  von  Chiemsee 
entschieden,  war  auch  ein  Hludiperht  cappellanus  Pippini  zugegen.^ 

In  den  achtziger  Jahren  war  Angilbert  der  Leiter  von  Pippins  Hof- 
kapelle in  Italien.^ 


'  Cap.  11  (MG.  Capit.  I,  199). 

'  Meichelbeck  P  no.  120. 

^  Diese  Annahme  ist  allerdings  sehr  umstritten.  Sie  stützt  sich  auf  die  In- 
skription eines  Briefes  Alkuins  an  Angilbert  (EE.  IV,  37):  „Fideli  amico  et  venerabili 
Angilberto  primicerio  humilis  levita  Albinus  salutem",  und  auf  die  ausdrückliche 
Überschrift:  „Ad  Angelbertum  primicerium  palatii  Pipini  regis",  die  sich  außerdem 
in  einigen  Handschriften  findet.  Namentlich  Simson,  Karl  d.  Gr.  II,  435  A.  6  (schon 
vorher  weniger  schroff  Abel,  Karl  d.  Gr.  I,  320)  hat  sich  sehr  scharf  gegen  diese 
Ansicht  ausgesprochen,  indem  er  nachzuweisen  sucht,  daß  die  Überschrift,  die  nur 
in  zwei  Handschriften  vorkomme,  von  denen  die  eine  noch  dazu  die  Kopie  der 
anderen  sei,  aus  der  Inskription  (Fideli  amico  et  venerabili  Angilberto  primicerio) 
und  dem  Inhalte  des  Briefes,  in  dem  Alkuin  den  Angilbert  bittet,  einen  nach  Rom 
reisenden  Pilger  dem  König  Pippin  zu  empfehlen,  kombiniert  sei.  Dagegen  hält  eine 
ganze  Anzahl  neuerer  Forscher  an  dem  entgegengesetzten  Standpunkte  fest,  so  nament- 
lich Waitz,  VG.  III,  519  A.  1  und  Watten b ach  (Allg.  D.  Biogr.  I,  459;  Geschichts- 
quellen r,  192  A.  1,  wo  allerdings  die  Unsicherheit  zugegeben  wird;  eine  weitere 
Aufzählung  von  Vertretern  dieser  Ansicht  gibt  Simson  II,  435  A.  6).  AuchHauck 
II,  175  A.  5  findet  „die  von  Simson  verworfene  Ansicht  sehr  wahrscheinlich",  und 
seine  Gründe  sind  in  der  Tat  sehr  einleuchtend:  erhebt  hervor,  daß  jene  Handschrift 
von  Troyes  bereits  dem  9.  Jahrhundert  angehöre;  ferner  hat  Angilbert  den  Titel 
primicerius  nur  in  Italien  geführt,  später  in  Deutschland  jedoch  nicht  mehr.  —  Auch 
ich  muß  mich  dieser  Ansicht  anschließen  und  zwar  aus  folgendeii  Gründen.  Selbst 
für  den  Fall,  daß  die  Überlieferung,  welche  Angilbert  als  „primicerius  palatii  Pipini 
regis"  bezeichnet,  unzuverlässig  sei,  bleibt  doch  der  Titel  primicerius  bestehen. 
Diesen  haben  wir  aber  bereits  oben  als  unzweifelhaften  Titel  des  obersten  capellanus 
kennen  gelernt:  in  dem  einen  Falle  (oben  S.  31)  gebraucht  ihn  ebenfalls  Alkuin  von 
Angilram,  in  dem  anderen  (oben  S.  34)  sogar  Angilbert  selbst  von  Hildebald.  Wenn 
die  Bezeichnung  primicerius  für  den  Leiter  der  Hofkapelle  vielleicht  auch  keine  offi- 
zielle war^  so  muß  sie  doch  zum  mindesten  in  den  Kreisen  des  Hofes,  zu  denen 
Alkuin  und  Angilbert  gehörten,  gebräuchlich  gewesen  sein.  Da  nun  Angilbert  diese 
Stellung  unmöglich  am  Hofe  Karls  bekleidet  haben  kann,  so  kann  man  nicht  anders 
als  jenen  Titel  auf  Italien  beziehen:  Angilbert  muß  also  in  der  Tat  Pippins  Kapelle 
zeitweilig  geleitet  haben.  —  Die  Frage,  wann  Angilbert  die  Leitung  der  Kapelle 
Pippins  innegehabt  habe,  läßt  sich  nicht  mit  Sicherheit  beantworten.  Die  neue  Aus- 
gabe der  Briefe  Alkuins  (MG.  EE.  IV)  setzt  den  Bnef,  der  Angilbert  als  primicerius 
bezeichnet,  allerdings  mit  einem  Fragezeichen,  in  das  Jahr  792;  Jaffe  (Bibl.  rer. 
Germanicarum  VI,  149)  dagegen  setzt  ihn,  wenn  auch  nicht  mit  Sicherheit,  so 
doch  zweifellos  mit  mehr  Recht,  in  die  achtziger  Jahre  (783—785).  Denn  nach  790, 
wo  Angilbert  außerdem  die  Abtei  Saint-Riquier  erhielt,  war  er  nicht  mehr  dauernd 
in  Italien,  sondern  nur  zu  verschiedenen  Malen  vorübergehend  als  Gesandter  Karls 
am  päpstlichen  Hofe  (über  diese  Gesandtschaften  vgl.  Hampe,  NA.  XXI,  95 ff.).    Er 


C  a  p  e  1 1  a  45 


§2.    Der  Ursprung  und  die  Entwicklung  der  königlichen 

Pfalzkapellen 

Das  zweite  Element,  das  neben  den  capellani  das  Wesen  der  karo- 
Ingischen  Hofkapelle  ausmacht,  sind  die  königlichen  Pfalzkapellen.  Sie 
erscheinen  in  den  Quellen  weit  später  als  die  capellani. 

Einen  sicheren  urkundlichen  Belegt  für  eine  Pfalzkapelle  vermag 
eh  zuerst  in  der  Gerichtsurkunde  Karls  des  Großen  vom  28.  Juli  775 
lachzuweisen.^ 

Es  handelt  sich  um  einen  Streit  zwischen  Bischof  Herchenrad  von 
aris  und  Abt  Fulrad  von  Saint-Denis  über  den  Besitz  des  Klosters 
laisir.  Die  Entscheidung  wird  herbeigeführt  durch  das  Gottesurteil 
1er  Kreuzprobe  in  der  Pfalzkapelle  zu  Düren.  Es  heißt  in  der  ür- 
lunde:  „.  . .  iobemus  emanare  iudicium,  ut,  dum  per  ipsis  strumentis 
ie  utrasque  partis  certamen  non  declaratur,  ut  recto  trhamite  ad  dei 
udicium  ad  crucem  eorum  homenis  his  nominibus:  Adelramno  de 
)arte  sancti  Dionisii  vel  Folrato  abbate  et  Corello  de  parte  sancti 
Aarie  vel  sancti  Stephani  et  sancti  Germani  vel  Herchenrado  episcopo 
ixiere  adque  stare  deberint.    Quod  ita  et  in  capella  nostra  recensenda 


ehörte  damals  wieder  zu  Karls  Kapelle,  wie  die  Anrede  als  minister  capellae  in  dem 
>riefe  Hadrians  aus  dem  Frühjahr  791  beweist  (vgl.  oben  S.  40  A.  8).  Es  bleiben 
Iso  nur  die  achtziger  Jahre  für  seinen  längeren  Aufenthalt  in  Italien  übrig  (Watten- 
ach, Allg.  D.  Biogr.  Art.  Angilbert);  genauer  wird  sich  jedoch  die  Zeit  nicht  be- 
timmen  lassen.  —  Die  Nachricht,  die  einen  gewissen  Ra  toi  das  als  „principem 
acerdotem"  von  Pippins  Palatium  bezeichnet  (Ztschr.  f.  Gesch.  d.  Oberrh.  XXIV,  12), 
lalte  ich  mit  Waitz  (VG.  III,  519  A.  1)  für  sehr  zweifelhaft. 

^  Die  Urkunden  der  merowingischen  Zeit,  welche  capellae  im  Sinne  von  Oratorium, 
lern  geheiligten  Gebäude  oder  Raum  der  merowingischen  Pfalzen,  anführen,  sind 
ämtlich  gefälscht.  Es  sind  Pertz  p.  114  no.  2  (Pard.  no.  65),  Pertz  p.  129  no.  13 
Pard.  no.  143),  Pertz  p.  158  no.  40  (Pard.  no  276) ,  Pertz  p.  162  no.  44  (Pard. 
10.  283),  Pertz  p.  169  (Pard.  no.  378  mit  anderem  Text),  Pertz  p.  184  no.  68  (Pard. 
10.  362,  von  Ducange  fälschlich  als  echt  zitiert),  Pertz  p.  192  no.  76  (Pard.  no.  395), 
•ertz  p.  196  no.  82  (Pard.  no.  462);  Pardessus  no.  369. 

'  BM.  191  (DK.  102,  Original  im  Nationalarchiv  zu  Paris).  —  Die  Anordnung 
er  Kreuzprobe  findet  sich  auch  in  der  Fälschung,  die  Grandidier  (Hist.  de  Stras- 
ourg  IP,  118  no.  69,  daraus  u.  a.  auch  bei  Migne  97,  954  no.  33)  nach  der  775 
►ez.  jedenfalls  in  Schlettstadt  ausgefertigten  Gerichtsurkunde  Karls  (BM.  200  =  DK.  110) 
urch  eine  Erweiterung  und  Übernahme  echter  örkundenteile  aus  B/V\.  191  (DK.  102) 
ornahm;  doch  findet  sich  in  der  Fälschung  die  Stelle  „in  capella  nostra"  nicht.  — 
Iber  die  Kreuzprobe  vgl.  ferner:  Kapitulare  Karls  vom  März  779,  cap.  10  (Capit.  I, 
9);  Kapitulare  über  die  Reichsteilung  von  806,  cap.  14  (Capit.  I,  129);  Kapitulare 
ippins  von  Italien  (Capit.  I,  208);  auch  Capit.  I,  268,12;  269,32.  Verbot  der  Kreuz- 
robe Capit.  I,  279  (cap.  27);  vgl.  Simson,  Ludwig  d.  Fr.  I,  98.  Außer  an  der  oben 
itierten  Stelle  ist  nirgends  mehr  ausdrücklich  davon  die  Rede,  daß  die  Kreuzprobe 
1  der  capella  stattfinden  solle. 


46  Wilhelm  Lüders 

missa  Harnaldo  presbitero  visi  fuerunt  stetisse  et  ea  hora  protegente 
devina  dextera  dei  deus  omnipotens  suum  iustum  iudicium  decla- 
ravit  .  .  ." 

Die  Bezeichnung  capella  erscheint  also  hier  bereits  an  Stelle  des 
früheren  Oratorium,  dem  wir  in  merowingischer  Zeit  begegneten. 

Noch  etwas  weiter  zurück,  in  das  Jahr  765,  führt  vielleicht  eine 
Nachricht  der  Vita  s.  Sturmi  des  Eigil.  Nach  ihr  soll  Sturm,  als  er 
von  Pippin  aus  der  Verbannung  zurückberufen  war,  über  sein  Schicksal 
noch  im  Ungewissen,  sich  zunächst  mehrere  Tage  in  der  Kapelle  des 
Königs  aufgehalten  haben:  „Qui  cum  adductus  ad  palatium  concite 
fuisset,  et  ibi  in  capella  regis  per  plures  esset  dies,  Deum  orans,  ex- 
pectans,  quid  ei  rex  imperasset,  contigit  quadam  die,  ut  in  venationem 
rex  pergeret,  ac  ut  solitus  erat,  ad  orationem  primo  diluculo  veniret. 
et  ceteri  servi  Dei  post  vigilias  matutinas  quiescerent;  solus  Sturmi 
vigilabat,  et  ingressum  regis  observans,  ianuas  ei  ecclesiae  aperuit,  e1 
cum  claro  lumine  ad  orationem  ante  eum  ibat".^ 

Was  hier  unter  capella  zu  verstehen  ist,  besagt  deutlich  der  gleich 
darauffolgende  Ausdruck  ecciesia:  es  ist  wiederum  das  Pfalzheiligtum 
das  als  capella  bezeichnet  wird.  Wir  dürfen  also  wohl  schließen,  dal; 
bereits  765  in  einzelnen  Pfalzen  die  Heiligtümer  den  Namen  capelk 
geführt  haben. 

Die  weiteren  Belege  für  Kapellen  in  königlichen  Pfalzen  sind  in 
8.  Jahrhundert  äußerst  spärlich.  Doch  aus  gewissen  Anzeichen  geh 
hervor,  daß  ihre  Anzahl  weit  größer  war,  als  man  den  Quellen  nach 
erwarten  sollte. 

Bereits  in  einer  Urkunde  aus  dem  Jahre  783  schenkt  Bischo 
Awarnus  von  Cahors  an  das  Kloster  Moissac  unter  anderem  auch  eir 
vom  königlichen  Fiskus  erworbenes  Gut  im  Gau  von  Toulouse,   au 


'  MG.  SS.  II,  374,36ff.  Vgl.  Ölsner,  König  Pippin  S.  390;  Hauck  II,  6ff 
Eigil  schreibt  allerdings  erst  beträchtlich  später  (Wattenbach  V,  254),  und  gerad' 
bei  der  Entwicklung  der  capellae  ist  jede  zeitliche  Differenz  deshalb  aufs  genauestt 
zu  beachten,  weil  jene  gerade  seit  der  Mitte  des  8.  Jahrhunderts  überaus  schnell  un 
sich  gegriffen  haben.  Aber  wie  bei  seinen  sonstigen  Nachrichten  dürfte  Eigil  aucl 
hier  zuverlässig  sein.  Infolgedessen  wird  man  auch  den  Ausdruck  capella  unbedenk 
lieh  übernehmen  können.  Stände  dieses  Zeugnis  von  einer  königlichen  Pfalzkapell 
für  jene  Zeit  allein  da,  so  müßte  man  es  allerdings  mit  größter  Vorsicht  aufnehmen 
So  aber,  wo  es  durch  die  oben  zitierte  Urkunde  Karls  von  775  bestätigt  wird,  ver 
dient  es  durchaus  die  Glaubwürdigkeit,  die  man  ihm  auch  sonst  immer,  allerding 
ohne  jene  wertvolle  Stütze  zu  beachten,  geschenkt  hat.  —  Zu  weitgehend  ist  jedocl 
die  Schlußfolgerung  von  Waitz,  VG.  III,  525  A.  3,  daß  Sturm  in  den  Dienst  de 
Kapelle  eingetreten  sei;  denn  das  ist  in  der  Stelle  Eigils  nicht  enthalten.  Aucl 
Ölsner  a.  a.  0  S.  390  A.  4  hält  die  Schlußfolgerung  von  Waitz  für  verkehrt. 


Capeila  47 

dem  sich  eine  Peterskapelle  befindet.^  Am  3.  Januar  791  bestätigt 
ferner  Karl  der  Große  dem  Kloster  Kremsmünster  im  Traungau  den 
v^on  Tassilo  geschenkten  Besitz,  darunter  eine  Martinskapelle  zu  Al- 
burg  im  heutigen  bayrischen  Bezirksamt  Straubing.^  Im  Jahre  799  ist 
die  Passauer  Kirche  im  Besitze  der  Martinskapelle  zu  Linz,  die  bereits 
frühei  ein  Kapellan  Karls,  namens  Rodland,  zu  Lehen  gehabt  hatte.^ 
In  Italien  werden  cappellae  in  einem  Kapitular  Pippins,  das  zwischen 
301  und  810  erlassen  sein  muß,  genannt.^ 

Wir  finden  also  die  Bezeichnung  capella  schon  früh  in  weit  ent- 
legenen Teilen  des  Reiches,  ja  sogar  auf  fremdem  Boden,  auf  den  sie 
erst  durch  Übertragung  aus  den  Stammlanden  des  Frankenreiches  ge- 
langt sein  kann.^  Dies  war  aber  natürlich  nur  dann  möglich,  wenn 
die  Bezeichnung,  die  man  auf  fremdes  Gebiet  übertrug,  bereits  in  der 
Heimat  weit,  verbreitet  war.  Wir  dürfen  also,  trotzdem  die  Quellen 
nur  wenige  ausdrückliche  Angaben  bieten,  den  Schluß  ziehen,  daß  in 
den  sechziger,  siebziger  und  achtziger  Jahren  des  8.  Jahrhunderts  die 
Bezeichnung  capella  für  die  Pfalzheiligtümer  bereits  eine  ziemliche  Ver- 
breitung gefunden  hatte. 

Sie  wird  sich  allerdings  nicht  sofort  für  jedes  Pfalzheiligtum  fest- 
gesetzt haben;  man  darf  auch  nicht  erwarten,  daß  nun  capella  wie  ein 
Fester  technischer  Ausdruck  unter  Ausschluß  aller  übrigen  Benennungen 
erscheine.  Im  Gegenteil,  es  hat  höchstwahrscheinlich  in  der  Bezeich- 
nung noch  großes  Schwanken  geherrscht.  Aber  die  Heiligtümer 
wenigstens  der  wichtigeren  Königspfalzen  werden  zeitig  neben  den  alten 
Bezeichnungen  wohl  auch  die  Benennung  capella  gehabt  haben. 


:ti( 

^  Vaissette,  Hist.  de  Languedoc  (nouv.  ed.  par  Dulaurier)  11,1   p.  50  no.  7 

äl  (vgl.  Stutz,  Gesch.  d.  kirchl.  Benefizialwesens  S.  335f.):  •  .  .  „et  alio  loco,  in  ipso 

pago  Tolosano  aliud  praedium  meum,   quod  de  fisco  regali  competenti  servitio  ad- 

quisivi,  .  .  .  cum  capella  Sancti  Petri  sibi  coniuncta.' 

^  BM.  311  (DK.  169):  .  .  .  „et  ad  Alburc  illam  capellam  in  honore  sancti  Martini 
rallconstructam". 

Mon.  Boica  XXVIII  \  36  (der  Druck  hat  einmal  fälschlich  „quendam  capella- 
tium"  statt  „quandam  capellam"). 
*  MG.  Capit.  I,  209  (cap.  7). 

^  Das  beweist  z.  B.   die  oben  zitierte  Urkunde  BM.  311   (DK.  169)    für  Krems- 

oilmünster.     Die  Urkunde  Tassilos  vom  Jahre  777  (ÜB.  des  Landes  ob  der  Enns  II,  2), 

welche  durch  sie  bestätigt  wird,   nennt  die  capella  ad  Alburc   noch  nicht;  es  heißt 

statt  dessen  nur:  „ad  Alpurc  ecclesiastica  pecuniam,  que  ibidem  adesse  videtur,  ad 

Ipsum  predictum  monasterium  .  .  .  concessi."  —  Allerdings  hätte  nach  dem  Brevia- 

jo  rium  ürolfi  (Mon.  Boica  XI,  14)  bereits  sogar  Odilo  dem  Kloster  Niederaltaich,  drei 

capellae,  nämlich  zu  Pasuhhinga,  Walhinesdorf  und  Elirespach,  geschenkt.     Doch 

;^ii  rührt  die  Bezeichnung  als  capella  zweifellos  erst  aus  der  Zeit  ürolfs  (799—806)  her, 

da  für  die  Zeit  Odilos  selbst  im  Frankenreiche  sich  noch  keine  capellae  belegen  lassen. 


I 


48  Wilhelm  Lüders 


I 


Woher  stammt  nun  diese  Bezeichnung  capella  für  die  Pfalzheili; 
tümer? 

Eine  spätere  Nachricht  des  Walahfrid  Strabo  läßt,  ebenso  wie  die 
capellani,  auch  die  Pfalzkapellen  von  der  cappa  oder  capella  s.  Martini 
ihren  Namen  erhalten/  und  sie  trifft  zweifellos  das  Richtige.  Selbst 
wenn  wir  sie  ganz  außer  acht  lassen  wollen,  läßt  sich,  nachdem 
oben  auf  Grund  von  gleichzeitigen  Zeugnissen  ein  Zusammenhang 
zwischen  den  capellani  und  der  capella  s.  Martini  nachgewiesen  ist, 
auch  der  Zusammenhang  zwischen  den  Pfalzkapellen  und  der  Martins- 
reliquie nicht  mehr  von  der  Hand  weisen.  Die  Entwicklung  von  dem 
Martinsgewande  zu  den  Pfalzkapellen  muß  sich,  auch  wenn  die  gleich- 
zeitigen Quellen  ganz  darüber  schweigen,  auf  dem  Wege  vollzogen 
haben,  den  auch  Waitz^  und  andere  neuere  Forscher  annehmen. 

Die  capella  bezeichnete  zunächst  nur  das  Gewand  des  h.  Martin 
von  Tours,  so  noch  zuletzt  in  der  Urkunde  Childeberts  III.  vom 
Jahre  710.  Dann  aber  muß  sich  die  Bezeichnung  capella  auf  die 
Reliquiensammlung  der  karolingischen  Hausmeier,  in  deren  Besitz  ja 
das  Martinsgewand  übergegangen  war,  übertragen  haben.  Noch  der 
Monachus  Sangallensis  definiert  das  Wort  capella  folgendermaßen: 
„Quo  nomine  Francorum  reges  propter  cappam  sancti  Martini,  quam 
secum  ob  sui  tuitionem  et  hostium  oppressionem  iugiter  ad  bella 
portabant,  sancta  sua  appellare  solebant."  ^ 

Von  da  war  es  nicht  mehr  weit  zu  einer  anderen  Verwendung 
des  Ausdruckes  capella.  Dieser  übertrug  sich  nicht  nur  auf  die  Re- 
liquiensammlung, sondern  auch  auf  den  zu  gottesdienstlichen  Hand- 
lungen notwendigen  Apparat  an  heiligen  Gefäßen,  Büchern,  Gewändern 
und  anderen  Kostbarkeiten.^ 

Schließlich  wurde  der  heilige  Raum  der  königlichen  Pfalzen  selbst 
capella  genannt.    Denn  in  ihm  pflegten  die  Karolinger  ihren  Reliquien 
schätz,  den  sie,  ebenso  wie  früher  die  merowingischen  Könige,  beständi| 


^  Carm.  65,  1  V.  11  (Poetae  lat.  aevi  Carol.  II,  407):  „quodque  domus  medio 
quae  cappae  ex  nomine  dicta  est."  unter  domus  ist  hier,  wie  der  Zusammenhang, 
ergibt,  das  Gebäude,  eben  die  Pfalzkapelle  zu  verstehen. 

'  VG.  III,  516.     Vgl.  oben  S.  17  A.  3. 

^  SS.  II,  732. 

^  Karl  d.  Gr.  bestimmt  in  seinem  Testamente  (Einhard,  Vita  Karoli  M.,  SS.  II 
462):  „Capellaniy  id  est  aecclesiasticum  ministerium,  tam  id  quod  ipse  fecit  atqui 
congregavit,  quam  quod  ad  eum  ex  paterna  hereditate  pervenit,  ut  integrum  esset 
neque  uUa  divisione  scinderetur,  ordinavit.  Si  qua  autem  invenirentur  aut  vasa 
aut  libri,  aut  alia  ornamenta,  quae  liquido  constaret  eidem  capellae  ab  eo  collat« 
non  fuisse,  haec  qui  habere  vellet,  dato  iustae  aestimationis  praetio,  emeret  et  haberet.* 
—  Diese  Bedeutung  von  capella  hat  sich  das  ganze  Mittelalter  hindurch  erhaltet 
(zahlreiche  Belege  bei  Ducange). 


C  a  p  e  1 1  a  49 

mit  sich  führten/  bei  ihrem  jeweiligen  Aufenthalte  in  der  betreffenden 
Pfalz  aufzubewahren. 

Allerdings  kann  sich  diese  Entwicklung  nicht  zu  der  Zeit  vollzogen 
haben,  die  man  bisher  gewöhnlich  annahm.  Giesebrecht  spricht  ge- 
radezu von  der  Kapelle  als  dem  „geweihten  Raum  in  der  Pfalz  der 
Merowinger",^  und  auch  Waitz^  scheint  dieser  Ansicht  zuzuneigen 
Jene  Entwicklung  hat  aber  nicht  mehr  in  der  merowingischen  Zeit 
und  am  merowingischen  Hofe,  sondern  erst  beträchtlich  später,  unter 
den  karolingischen  tiausmeiern  und  Königen,  stattgefunden.  Auf  be- 
stimmte Jahre  wird  sie  sich  allerdings  nicht  festlegen  lassen;  als 
sichere  Grenze  nach  unten  haben  wir  nur  die  Urkunde  Childeberts  III. 
vom  Jahre  710,  in  der  capella  noch  nichts  anderes  als  die  Reliquie  des 
h.  Martin  bedeutet.  Aber  wenn  wir  den  Charakter  der  Quellen  in  Betracht 
ziehen,  so  ist  es  doch  am  wahrscheinlichsten,  daß  die  Bezeichnung 
capella  für  die  Pfalzoratorien  nicht  lange  Zeit,  bevor  sie  in  den  Quellen 
erscheint,   also  wohl  unter   der  Regierung  Pippins   aufgekommen   ist. 

Vielleicht  läßt  sich  sogar  die  Gegend,  in  der  diese  Übertragung 
zuerst  stattfand,  näher  bestimmen.  Wenn  sich  die  Karolinger  nicht 
gerade  auf  Kriegszügen  befanden,  hielten  sie  sich  vorzugsweise  in  den 
großen  Pfalzen  ihres  Stammlandes,  in  der  Gegend  der  mittleren  Maas 
und  dem  nördlichen  Frankreich  auf.  Da  ist  es  nun  auffallend,  daß 
auch  die  beiden  zuerst  erwähnten  Pfalzkapellen,  die  zu  Düren  und  die 
nicht  näher  bezeichnete  der  Vita  s.  Sturmi,^  in  diesen  Gegenden  liegen. 
Man  darf  daraus  den  Schluß  ziehen,  daß  dort  sich  auch  die  Über- 
tragung der  Bezeichnung  capella  auf  das  bisherige  Pfalzoratorium  am 
frühsten  vollzogen  habe.  Hierfür  spricht  auch  schon  die  einfache  Er- 
wägung, daß  jene  Übertragung  dort  am  ehesten  und  leichtesten  vor 
sich  gehen  konnte,  wo  die  Karolinger  am  häufigsten  mit  ihren  Reliquien  zu 
verweilen  pflegten,  und  diese  Bedingung  war  gerade  in  den  großen  Pfalzen 
an  der  mittleren  Maas  und  im  heutigen  nördlichen  Frankreich  gegeben. 

§3.    Die  karolingische  Hofkapelle  in  ihrer  Gesamtheit 

1.    Kapellane  und  Pfalzkapellen  als  Bestandteile  der  üofkapelle 

Die  Hofkapelle  in  ihrer  Gesamtheit  umschließt  so  gut  das  persön- 
liche Element  der  capellani  wie  das  räumliche  der  Pfalzkapellen. 

'  Vgl.  oben  S.  19  A.  5. 

^  Giesebrecht,  Gesch.  d.  deutschen  Kaiserzeit  I^,  323  Anm. 
'  Vgl.  Waitz,  VG.  II  2 ^  102  (oben  S.  14  A.  1). 

*  Denn  auch  diese  muß  in  jenen  Gegenden  gelegen  haben,   da  Sturm  aus  dem 
Kloster  Jumieges  bei  Rouen  herbeigeholt  wird.    Auch  nach  dem  bei  BM.  für  765  ge- 
tf!  gebenen  Itinerar  hat  sich  Pippin  in  jenem  Jahre  in  den  dortigen  Gebieten  aufgehalten; 
!  einen  auswärtigen  Kriegszug  hat  er  nicht  unternommen. 

Afü    II  4 


50  Wilhelm  Lüders 

Beide  Elemente  haben  ihren  Namen  von  der  capella  s.  Martini 
erhalten.  Gleichwohl  kann  man  ihre  Entwicklung  nicht  eigentlich  eine 
gemeinsame  nennen;  sie  bildeten  sich  vielmehr  parallel  und  unabhängig 
voneinander  aus.  Während  die  Kapellane  vielleicht  noch  in  die  mero- 
wingische  Zeit,  sicher  aber  in  die  ersten  Jahrzehnte  des  8.  Jahrhunderts 
zurückreichen,  kam  die  Bezeichnung  capella  für  die  Pfalzoratorien  erst 
geraume  Zeit  später  auf. 

Beide  Elemente  sind  also  sehr  wohl  für  sich  allein  denkbar.  Wenn 
sie  trotzdem  in  der  fiofkapelle  eng  verbunden  erscheinen,  so  hat  diese 
Vereinigung  fast  etwas  Zufälliges  an  sich. 

An  und  für  sich  steht  nichts  der  Annahme  im  Wege,  daß  das  ge- 
samte Hofinstitut  der  capella  sich  allein  auf  dem  rein  persönlichen 
Elemente  der  capellani  aufbaute.  Wir  würden  dann  eine  ganz  durch- 
sichtige und  geradlinige  Entwicklung  vor  uns  haben  und  capella  sehr 
einfach  als   die  „Gesamtheit  der  fiofgeistlichkeit"  ^  definieren   können. 

Aber  diese  Definition  ist  doch  entschieden  zu  einseitig.  Wenn 
auch  in  dem  persönlichen  Elemente  der  capellani  zweifellos  das  ent- 
scheidende, für  die  Entwicklung  der  Hofkapelle  eigentlich  grundlegende 
Moment  zu  suchen  ist  und  die  Übertragung  der  Bezeichnung  capella 
auf  die  Pfalzheiligtümer  daneben  nur  eine  untergeordnete  Rolle  spielt, 
ohne  an  und  für  sich  neue  rechtliche  Verhältnisse  zu  schaffen,  so  ist 
doch  zweifellos  auch  das  räumliche  Element,  die  Pfalzkapelle,  ein  Teil 
der  karolingischen  Hofkapelle. 

Diesen  Anteil  festzustellen,  ist  der  Gegenstand  der  folgenden 
Untersuchung.  Damit  hängt  eng  eine  andere  Frage  zusammen,  die 
meines  Wissens  ebenfalls  noch  nicht  gelöst  ist,  obwohl  bereits  Ölsner^ 
sie  aufgeworfen  hatte:  War  das  Institut  der  Hofkapelle  von  vornherein 
an  eine  einzige  hervorragende  Pfalzkapelle  gebunden,  oder  aber  stand 
die  Vielheit  der  Pfalzkapellen  mit  ihm  in  Verbindung? 


2.  Die  fiofkapelle  ohne  festen  Sitz 

Bevor  Karl  der  Große  in  den  neunziger  Jahren  des  8.  Jahrhunderts; 
Aachen  zu  seiner  dauernden  Residenz  machte,  war  ohne  Zweifel  ein 
fester  Sitz  für  das  Institut  der  Hofkapelle  nicht  vorhanden;  diese  war 
an  kein  einzelnes  Pfalzheiligtum  gebunden. 

Hierauf  scheinen  allerdings  Titel  wie  „custos  sacrae  capellae"  (aus 


*  Vgl.  Giesebrecht,  Gesch.  d.  deutschen  Kaiserzeit  I^  323  Anm.;  Bresslau, 
tiandbuch  der  ürkundenl.  I,  S.  295. 
'  König  Pippin  S.  390  A.  4. 


Capeila  51 

dem  Jahre  784  oder  etwas  später),^  „minister  capellae"  (791),^  „sanctae 
capellae  primicerius"  (794-796),^  oder  die  Umschreibung  „Engilrammus..., 
qui  et  sanctam  capellam  palacii  nostri  gubernare  videtur"  (25.  Okt.  788)* 
hinzuweisen.  Aber  man  wird  sie  in  derselben  Weise  interpretieren 
müssen,  wie  z.  B.  den  Titel  comes  palatii.  Gleichwie  auch  hier  auf 
die  Mehrheit  der  Pfalzen  keinerlei  Rücksicht  genommen  wird,  so  be- 
ziehen sich  auch  jene  nicht  auf  eine  einzige  bestimmte  Pfalzkapelle, 
sondern  in  ihnen  kommt  nur  die  Idee  der  königlichen  fiofkapelle  als 
eines  einheitlichen,  in  sich  festgeschlossenen  flof Institutes  zum  Aus- 
druck. Aber  diese  Einheitlichkeit  verkörperte  sich,  ehe  Karl  die 
Aachener  Pfalzkapelle  erbaute,  nicht  in  einem  bestimmten  Pfalzheilig- 
tum, sondern  in  dem  Kollegium  der  capellani  unter  der  Leitung  des 
obersten  capellanus. 

Auch  schon  aus  rein   sachlichen  Erwägungen   verbietet   sich    die 
Annahme  nur  einer  Pfalzkapelle  als  des  Sitzes  der  Hofkapelle  während 
[der  Regierung  Pippins  und  der  ersten  Periode  Karls  des  Großen.    Denn 
'eine  solche  mußte  ihren  Zweck  völlig  verfehlen,  wenn  der  König  be- 
ständig durch  lange  Kriegszüge  ferngehalten  wurde  oder  von  Pfalz  zu 
Pfalz  zog,  ohne  in  einer  von  ihnen  dauernd  Aufenthalt  zu  nehmen. 

Dagegen  war  schon   damals  für  jedes  Pfalzheiligtum   im  Prinzip 
die    Möglichkeit    gegeben ,    wenigstens    zeitweilig    den    capellani    als 
Wirkungskreis  zu  dienen.     So  oft  der  König  eine  Villa  bezog,  fanden 
die  Geistlichen   seiner  Umgebung  mit   ihren   Reliquien   eben   in   dem 
.  Heiligtum  der  betreffenden  Pfalz  den  Sitz  ihrer  Tätigkeit.    Mochte  nun 
j  dieses   Heiligtum   die   Bezeichnung    capella   bereits    seit   früherer  Zeit 
führen  oder  sie  auch  noch  nicht  bekommen  haben:   solange  die  den 
,  König  begleitenden  capellani  nebst  ihren  Reliquien  in  ihm  sich  auf- 
hielten, war  es  die  „capella",  die  „sacri  palatii  capella"  oder  dergleichen; 
in  ihm  verkörperte  sich  während  dieser  Zeit   das   räumliche  Element 
der  Hofkapelle. 

In  dieser  Weise  wird  man  zwei  Stellen  der  Frankfurter  Synodal- 
beschlüsse von  794  erklären  müssen. 

An  der  ersten  Stelle  ist  die  Rede  von  den  „clerici  qui  in  capella 
regis  habitant".^    794  hielt  sich  Karl  einen  großen  Teil  des  Jahres  in 


'  Poetae  lat.  aevi  Carol.  I,  319.     Vgl.  oben  S.  29  A.  6. 

'  EE.  V,  7.    Vgl.  oben  S.  40  A.  8. 

'  EE.  IV,  134.     Vgl.  oben  S.  31. 

*  BM.  298  (DK.  162).     Vgl.  oben  S.  31. 

^  Cap.  38  (Capit.  I,  77  =  Conc.  II,  170):  „De  presbyteris  qui  contumaces  fuerint 
contra  episcopos  suos:  nequaquam  communicentur  cum  clericis  qui  in  capella  regis 
habitant,  nisi  reconciliati  fuerint  ab  episcopo  suo,  ne  forte  canonica  excommunicatio 
super  eos  exinde  veniat." 

4* 


52  Wilhelm  Lüders 

Frankfurt  auf;  er  ist  zuerst  am  22.  Februar,  zuletzt  am  10.  August  dort 
nachweisbar.^    Mit  ihm  waren  auch  die  capellani  nach  Frankfurt  ge- 
kommen; für  die  Dauer  ihres  Aufenthaltes  war  das  dortige  Pfalzheilig-  '. 
tum  der  Sitz  ihrer  Tätigkeit  und  bekam  so   die  Bezeichnung  „capella  <■ 
regis". 

In  demselben  Sinne  ist  auch  die  zweite  Stelle  zu  interpretieren,  i 
nach  der  ein  ürkundenexemplar  in  der  „capella  sacri  palatii"  nieder- 
gelegt werden  soll.^  Auch  hier  kann  nichts  anderes  als  das  Frank- 
furter Pfalzheiligtum  gemeint  sein.  Die  Urkunde  blieb  hier  unter  den 
übrigen  Kostbarkeiten  und  Reliquien,  welche  die  capellani  zu  hüten 
hatten,  so  lange  verwahrt,  bis  Karl  seinen  Sitz  nach  einer  anderen 
Pfalz  verlegte  und  die  Hofkapelle  ihm  dorthin  folgte. 

3.    Die  Marienkirche  zu  Aachen  als  Sitz  der  Hofkapelle 

Einen  festen  Mittelpunkt  ihrer  Tätigkeit  erhielten  die  capellani  erst, 
als  Karl  der  Große  Ende  der  neunziger  Jahre  in  seiner  neuen  Residenz 
zu  Aachen  mit  großer  Pracht  die  Marienkirche  erbaute.^ 

Allerdings  ist  die  Bezeichnung  capella,  gerade  wie  für  die  übrigen 
Pfalzkapellen,  auch  für  sie  nicht  durchgehend.  Einhard  nennt  sie 
z.  B.  in  der  Vita  Karoli  nur  basilica;*  auch  der  Name  ecclesia  kommt 
vor.^  Aber  in  ihrem  Verhältnis  zur  Hofkapelle  war  sie  fortan  gewisser- 
maßen die  capella  xar  h^o^riv.  Wenn  die  Quellen  dieser  Zeit  von  der 
capella  ohne  nähere  Bezeichnung  reden,  so  verstehen  sie  darunter  aus- 
schließlich die  Aachener  Marienkirche.*' 


^  Vgl.  BM.,  Regesten  zu  794. 

^  Cap.  3  (a.a.O.  S.  74):  „ünde  tres  breves  ex  hoc  capitulo  uno  tenore  con- 
scriptos  fieri  praecepit:  unum  in  palatio  retinendum,  alium  praefato  Tasiloni,  ut 
secum  haberet  in  monasterio  dandum,  tertium  vero  in  sacri  palatii  capella  recon- 
dendum  fieri  iussit."     Vgl.  oben  S.  37  A.  1. 

^  Ihren  Bau  erwähnt  das  Chronicon  Moissiacense  zum  Jahre  796  (SS.  I,  303): 
„Ibi  firmaverat  sedem  suam  atque  ibi  fabricavit  ecclesiam  mirae  magnitudinis  .  .  . 
et  cum  magna  diligentia  et  honore  ...  in  ceteris  ornamentis  ipsam  basilicam  com- 
posuit."  —  Weitere  Stellen  siehe  bei  Simson,  Karl  d.  Gr.  II,  557—559,  der  II,  318 
A.  5  die  z.  B.  auch  von  Kessel  (Geschichtl.  Mitt.  über  die  Heiligtümer  der  Stiftskirche 
zu  Aachen,  1874)  S.  4  für  wahr  gehaltene  Legende,  daß  Papst  Leo  804  die  Marien- 
kirche geweiht  habe,  zurückweist.    Vgl.  Rettberg  I,  549. 

^  So  c.  17,  26,  31,  32. 

^  Thegani  Vita  filudowici  imperat.  c.  6  (SS.  II,  591),  c.  7.  Vita  Hludowici  des 
Astrologus  c.  28  (SS.  II,  621). 

®  Vgl.  die  Stelle  des  Briefes  der  Brüderschaft  vom  Kloster  auf  dem  Ölberge  an 
Papst  Leo  III.  (809),  die  sich  auf  die  Anwesenheit  eines  Mönches  des  Klosters  am 
Hofe  Karls  d.  Gr.  im  Jahre  799  bezieht  (EE.  V,  65f.):  „dum  essem  ego  Leo  servus 
vester  ad  sancta  vestigia  vestra  et  ad  pia  vestigia  domni  Karoli  piissimi  imperatoris 


Capeila  53 

So  tritt  uns  am  Ende  der  Regierung  Karls  des  Großen  das  Wesen 
der  Hofkapelle  vollkommen  klar  entgegen.  In  der  Aachener  Pfalz- 
kapelle vereinigten  sich  sowohl  das  persönliche  wie  das  räumliche 
Element  zu  dem  Hofinstitute  der  königlichen  Kapelle.  Seitdem  Karl 
in  seinen  späteren  Regierungsjahren  beständig  in  Aachen  residierte  und 
hier  den  Bau  der  Pfalzkapelle  vollendet  hatte,  war  Aachen  auch  der 
ständige  Sitz  der  capellani;  hier  liefen  die  Fäden  der  gesamten  In- 
stitution zusammen.  Die  Marienkirche  war  das  Heiligtum,  um  welches 
sich  die  gesamte  Hofgeistlichkeit  gruppierte,  der  Wirkungskreis  der 
capellani  unter  der  Leitung  des  obersten  capellanus.  Hier  fanden  der 
große  Schatz  an  Reliquien,^  den  die  Karolinger  allmählich  gesammelt 
hatten,  und  sicherlich  auch  noch  mancher  andere  kostbare  und  wich- 
tige Gegenstand  unter  der  Obhut  der  capellani  ihren  Platz. 

Am  Ende  der  Regierung  Karls  ist  die  Hofkapelle  fertig  ausgebildet 
in  allen  ihren  Teilen.   Als  eine  starke  Sonderinstitution  ist  sie  inmitten 


filiique  vestri,  audivimus  in  capella  eins  diel  in  symbolo  fidei"  .  .  .,  und  weiter  unten: 
„et  niandare  digneris  domno  Karolo  imperatori  filio  vestro,  quod  nos  istum  ser- 
monem  in  eius  capella  audivimus  ..."  (zu  der  ganzen  Angelegenheit  vgl.  Hauck  II, 
331 — 337).  —  Auch  in  dem  bekannten  Gedichte,  in  dem  Angilbert  den  Hof  Karls  zu 
Aachen  schildert,  kommt  er  zweimal  auf  die  capella  zu  sprechen;  so  in  der  (schon 
oben  S.  34  zitierten)  Schilderung  des  obersten  capellanus  Hildebald  (Poetae  lat.  I,  361): 
„Tu  portas  Effoth  sacrumque  altaribus  ignem, 
Ore  poli  clavem  portas  manibusque  capellae,"' 
und  ferner  V.  82,  wo  er  dem  poetischen  Brieflein  (cartula  V.  72)  zuruft : 

„Et  sie  ad  sacram  citius  tunc  curre  capellam."' 
Die  Entstehungszeit  dieses  Werkes  ist  allerdings  nicht  ganz  sicher.  Du  mm  1er  (Poetae 
lat.  aevi  Carol.  I,  357  A.  1)  nimmt  etwa  795,  Wattenbach  \\  195  A.  4  dagegen 
800  oder  die  Zeit  bald  darauf  an.  Ich  möchte  mich  Wattenbachs  Annahme  an- 
schließen; denn  es  handelt  sich  hier  doch  ohne  Zweifel  um  die  Aachener  Pfalz- 
kapelle, die  795  noch  nicht  vollendet  war.  —  Die  überragende  Stellung  der  Aachener 
Pfalzkapelle  läßt  auch  noch  eine  Nachricht  der  Ann.  Einhardi  829  (SS.  I,  218,  ed. 
Kurze  p.  177)  deutlich  erkennen;  hier  wird  die  „sanctae  Dei  genitricis  basilica" 
durch  den  bezeichnenden  Zusatz  „quam  capellam  vocant"  näher  erklärt. 

^  Daß  die  Kapelle  zu  Aachen  vornehmlich  auch  zur  Aufbewahrung  der  Reliquien 
erbaut  war,  läßt  sich  deutlich  aus  der  Urkunde  Ludwigs  d.  Fr.  für  Korvey  ersehen 
(BM.  779;  823  Juli  27):  „et  ad  idem  coenobium  dedicandum  ex  sacro  palatio  a  capella 
nostra  misimus  venerabiles  ac  sacrosanctas  reliquias  beati  Stephan!  protomartyris"; 
ferner  aus  der  Urkunde  Karls  des  Kahlen  vom  Jahre  877  für  das  von  ihm  begründete 
Marienstift  zu  Compiegne  (Bouquet  VIII,  659):  „quia  divae  recordationis  Imperator 
avus  scilicet  noster  Karolus  .  .  in  palatio  Aquensi  capellam  in  honore  beatae  Dei 
genitricis  et  virginis  Mariae  construxisse,  ac  clericos  inibi  Domino  ob  suae  animae 
remedium  atque  peccaminum  absolutionem,  pariterque  ob  dignitatem  apicis  imperialis 
deservire  constituisse,  ac  congerie  quamplurima  reliquiarum  eumdem  locum  sacrasse 
...  dinoscitur."  —  Vgl.  J.  H.  Kessel,  Geschichtl.  Mitt.  über  die  Heiligtümer  der 
Stiftskirche  zu  Aachen,   Köln  u.  Neuß  1874,  S.  5ff. 


54  Wilhelm  Lüders 

der  fränkischen  Kirche  emporgewachsen,  und  zwar  vor  allem  auf 
Kosten  der  bischöflichen  Macht.  Man  kann  die  Stellung  der  capellani 
in  gewissem  Sinne  unter  demselben  Gesichtspunkte  wie  die  der  Geist- 
lichen an  den  Eigenkirchen  betrachten.  Sie  haben,  im  Grunde  ge- 
nommen, denselben  Ursprung  wie  diese,  nur  mit  dem  bemerkens- 
werten unterschiede,  daß  ihr  Wirkungskreis  nicht  an  den  Heiligtümern 
von  Privaten,  sondern  an  denen  des  Königs  war.  Auch  der  Unter- 
schied besteht  zwischen  den  capellani  und  den  gewöhnlichen  Eigen- 
kirchenpriestern,  daß  jene  nicht  an  eine  bestimmte  Kirche  gebunden 
waren,  sondern  unter  ihrem  obersten  capellanus  dem  Könige  von  Pfalz 
zu  Pfalz  folgten,  bis  sie  endlich  in  der  Marienkirche  zu  Aachen  ihr 
Hauptheiligtum  erhielten.  Aber  im  übrigen  sind  die  capellani  doch 
eine  dem  Eigenkirchenwesen  sehr  verwandte  Erscheinung.  Ebenso  wie 
die  an  den  Privatkirchen  angestellten  Priester  bildeten  auch  sie  eine 
von  der  Macht  der  Bischöfe  unabhängige  Geistlichkeit;^  sie  standen 
daher  zu  dem  Episkopate  des  Reiches  in  demselben  Gegensatze  wie 
jene.  Auch  die  capellani  befanden  sich  zu  ihrem  Herrn,  dem  König, 
in  einer  Art  von  persönlichem  Abhängigkeits-  und  Treueverhältnis; 
Walahfrid  vergleicht  sie  daher  nicht  unpassend  mit  den  weltlichen 
Vasallen  des  Königs.^ 

Als  dann  Karl  der  Große  die  Verhältnisse  der  fränkischen  Eigen- 
kirchen und  der  an  ihnen  angestellten  Geistlichen  regelte  und  ihre 
Macht  wesentlich  verringerte,^  ließ  er  die  Sonderstellung  seiner  Hof- 
kapelle unangetastet.  Er  war  nicht  gewillt  sich  dieses  Institutes,  das 
für  das  Leben  seines  Hofes,  ja  seines  gesamten  Reiches  so  außer- 
ordentlich wichtig  geworden  war,  zu  berauben.  Im  Gegenteil,  er 
steigerte  noch  beständig  den  Einfluß  sowohl  des  obersten  Kapellans 
wie  auch  der  niederen  Kapellane.  Wohl  mag  sich  daher  bei  manchen 
Bischöfen  schon  unter  seiner  Regierung  eine  starke  Mißstimmung  ge- 
regt haben;  aber  zu  einem  offenen  Ausbruche  des  Gegensatzes  kam 
es  unter  ihm  noch  nicht.^    Es  kennzeichnet  Karls  kluge  und  scharfe 


^  Stutz,  Geschichte  des  kirchlichen  Benefizialwesens  S.  234  A.  90.  —  Vgl. 
oben  S.  38  A.  4. 

^  De  exord.  et  increm.  rer.  eccl.  c.  32  (Capit.  II,  515):  „Cappellani  minores  ita 
sunt,  sicut  hi,  quos  vassos  dominicos  Gallica  consuetudine  nominamus."  —  Ob  aller- 
dings in  dieser  Zeit  sich  schon  ein  förmliches  Vasallitätsverhältnis  zwischen  den 
capellani  und  dem  Könige  herausgebildet  hat,  ist  wohl  fraglich.  Später  muß  es 
jedoch  häufig  vorgekommen  sein  (so  Libellus  proclamat,  Caroli  Calvi  reg.  adv. 
Wenilonem  archiep.  Senonensem  cap.  1,   Capit.  II,  451).     Vgl.  Brunner,   RG.  II,  56. 

'  Stutz  S.  223ff. 

^  Maaßen,  Glossen  des  kanonischen  Rechts  aus  dem  karolingischen  Zeitalter, 
Wiener  S.-B.  84  (1876),  246.     Stutz  S.  234  A.  90. 


Capeila  55 

Konflikte  vermeidende  Art,  daß  er  bei  der  Ernennung  des  obersten 
Kapellans  auch  den  Bischöfen  eine  gewisse  Mitwirkung  einräumte;  so 
bedeutungslos  diese  in  Wirklichkeit  auch  gewesen  sein  wird,  so  blieb 
doch  immer  ein  gewisser  Schein  von  Einfluß  den  Bischöfen  in  dieser 
Frage  gewahrt.  Zum  offenen  Kampfe  der  übrigen  Geistlichkeit  gegen 
die  capellani  sollte  es  erst  unter  Karls  schwachem  Nachfolger  Ludwig 
dem  Frommen  kommen. 


III.   Die  Hofkapelle  unter  Ludwig  dem  Frommen 

und  seinen  Söhnen  bis  zur  endgültigen  Vereinigung  der 

Ämter  des  archicapellanus  und  des  obersten  cancellarius 

im  Ostfrankenreiche 

§  1.  Die  Mitglieder  der  Hofkapelle  unter  Ludwig  dem  Frommen 

1.   Die  Erzkapellane 
A.  Hilduin  von  Saint-Denis. 

In  den  ersten  Jahren  Ludwigs  des  Frommen^  wurde  die  Hof- 
kapelle noch  von  Hildebald  geleitet.  Er  führte  dem  Anscheine  nach 
bis  zu  seinem  Tode  den  Titel  „sacri  palatii  capellanus",  den  er  bereits 
unter  Karl  innegehabt  hatte.^ 

Als  Hildebald  am  3.  September,  wahrscheinlich  des  Jahres  818. 
gestorben  war,^  folgte  ihm  als  Leiter  der  Hofkapelle  der  Abt  Hilduin 


^  Vgl.  namentlich  Simson,  Ludwig  d.  Fr.  II,  232ff.;  Sickel,  Acta  regum  et 
imperatorum  Karolinorum  I,  70  A.  12.  —  Die  Aufzählung  der  obersten  capellani  bei 
tiinkmar,  De  ordine  palatii  c.  15  s.  oben  S.  25  A.  1.  —  Über  die  Fabel,  welche 
Einhard  als  tiofkapellan  Karls  d.  Gr.  und  Ludwigs  d.  Fr.  nennt,  vgl.  Simson  a.  a.  0. 
1,  348  A.  9. 

*  Trad.  Lunaelacenses  110^  (ÜB.  des  Landes  ob  der  Enns,  Bd.  l)  v.  Jahre  814. 
—  Daß  auch  Hildebald  bereits  den  Titel  „archicapellanus  sacri  palatii",  den  ihm  die 
Vita  Hludowici  imp.  c.  26  (SS.  II,  620)  zum  Jahre  816  zuschreibt,  geführt  habe,  ist 
ausgeschlossen;  denn  Hilduin  führt  diesen  Titel,  wie  die  Urkunden  zeigen,  erst  seit 
825,  vorher  jedoch  nur  den  Titel  ,,summus  capellanus". 

^  Vgl.  Simson  a.a.O.  S.  232,  der  die  Annahme  Sickels  I,  70  A.  12,  daß 
Hildebald  erst  im  Sept.  819  gestorben  und  sein  Amt,  in  dem  schon  am  1.  Mai  819 
Hilduin  erscheint,  noch  vor  seinem  Tode  niedergelegt  habe,  zurückzuweisen  sucht. 
Allerdings  weichen  die  Quellen  in  der  Angabe  des  Todesjahres  voneinander  ab,  doch 
scheint  auch  mir,  wie  Simson,  die  Nachricht  der  Ann.  S.  Petri  Coloniensis  den' Vor- 
zug zu  verdienen.  Für  819  auch  Hauck  II,  789.  Wattenbach  T,  315  läßt  es 
zweifelhaft. 


k 


56  ■       Wilhelm  Lüders 

von  Saint- Denis.  Unter  ihm  prägte  sich  die  beständig  zunehmende 
Macht  des  obersten  capellanus  durch  zwei  neue  Titel  aus.  Gleich  in 
der  ersten  Urkunde,  in  der  er  nach  seinem  Amtsantritt  zu  belegen  ist, 
heißt  er  „summus  sacri  palatii  capellanus",  wozu  dann  bald  der  Titel 
„sacri  palatii  archicapellanus"  oder  bloß  „archicapellanus"  tritt.  Dieser 
plötzliche  Übergang  ist  schwerlich  nur  aus  einem  Wechsel  im  Ge- 
brauche zu  erklären;  die  beiden  neuen,  so  unvermittelt  auftretenden 
Titel  müssen  von  vornherein  einen  offiziellen  Charakter  getragen  haben; 
vielleicht  beruhen  sie  sogar  auf  einer  direkten  Verleihung  des  Kaisers. 

Kurze  Zeit  hindurch  gehen  beide  Benennungen  nebeneinander  her, 
aber  in  der  letzten  Hälfte  von  Hilduins  Amtszeit  findet  sich  ausschlief 
lieh  der  Titel  „sacri  palatii  (nostri)  archicapellanus'',  wie  sich  deutlicn 
aus  den  Kaiserurkunden  ersehen  läßt.^ 

Auf  die  zahlreichen  Stellen  in  anderen  Quellen,  die  Hilduii 
Stellung  als  Leiter  der  Hofkapelle  erkennen  lassen,  einzugehen,  ist 
überflüssig.'^  Er  wird,  wie  in  den  Kaiserurkunden  der  letzten  Zeit 
seiner  Amtsführung,  meist  als  „archicapellanus"  bezeichnet.^  Wenn  ihn 
Agobard  von  Lyon  in  einem  Briefe  aus  dem  Jahre  826  „sacri  palatii 
antistes"  nennt,*  so  ist  dies  natürlich  nur  als  feierliche  Anrede,  nicht 


^  Als  sacri  palat 

n  summus  ca} 

S.  233  A.l): 

BM.  691 

819  Mai  1. 

„     727 

820  Sept.  27 

„    729 

820  Okt.  22 

„     746 

821  Nov.  6 

„     747 

821 

BM.  782 

823  Aug.  29 

„     796 

825  Juni  3 

„    803 

819—825 

„    804 

823-825 

Als  archicapellanus  erscheint  Hilduin: 

BM.  794  825  Jan.  3. 

Dann  aber  findet  sich  in   den  letzten  Amtsjahren  nur  noch   die  Bezeichnung 
sacri  palatii  (nostri)  archicapellanus: 


BM.  844 

827  Nov. 10 

BM.  848 

828 

„    846 

828  Febr.  26 

„    857 

829  Jan.  13. 

„    847 

828 

Obwohl  Sickel  L.  260  auch  die  Urkunde  BM.  857  verzeichnet,  gibt  er  dochj 
1,  71  A.  12  die  Urkunde  L  255  =  BM.  846  irrig  als  die  letzte  an,  in  welcher  Hilduin ;i 
als  Erzkapellan  genannt  wird.  —  BM.  683  (angeblich  819  Febr.  13)  und  842  (angeb- 
lich 827  Aug.  4)  sind  gefälscht. 

^  Vgl.  Simson,  Ludwig  d.  Fr.  II,  233  A.l. 

^  So  bei  Walahfrid,  De  imagine  Tetrici  (vom  Jahre  829,  Poetae  lat.  aevi 
Carol.  II,  376);  ebenso  in  einem  Briefe  Hrabans  an  Hilduin  aus  dem  Jahre  829  (EE 
V,  402):  Hildvino  abbati  et  sacri  palatii  archicapellano;  vgl.  auch  Thegan,  Vita 
Hludowici  imp.  c.  36  (SS.  II,  597)  zum  Jahre  830. 

*  EE.  V,  179. 


Capella  57 

aber  als  offizieller  Titel  zu  verstehen;  ebenso  die  gelegentlich  für  ihn 
vorkommende  Bezeichnung  „magister  ecclesiasticorum".^ 

Hilduins  Einfluß  bei  Hofe  und  auf  die  Person  des  schwachen 
Kaisers  war  außerordentlich  groß. 

Aber  trotz  des  engen  Verhältnisses,  in  dem  er  zu  Ludwig  stand, 
wurde  auch  er,  gleich  manchen  anderen  hervorragenden  Geistlichen 
des  Reiches,  durch  die  Bestrebungen  der  Kaiserin  Judith  allmählich  in 
die  Opposition  gedrängt;  er  nahm  im  Jahre  830  an  der  Empörung 
gegen  seinen  Herrn  teil.  Infolgedessen  verlor  er  auf  dem  Reichstage 
zu  Nymwegen  830  sein  Amt  als  Erzkapellan  und  erhielt  es  auch  nicht 
zurück,  als  sich  seine  Beziehungen  zu  Ludwig  sehr  bald  wieder  besserten.^ 

B.   Fulko. 

Hilduins  Nachfolger  als  Erzkapellan  wurde  Fulko. 

über  seine  Persönlichkeit  sind  wir  sehr  mangelhaft  unterrichtet. 
Hinkmar^  nennt  ihn  presbyter.  Er  war  zweifellos  Abt;  aber  ob  er  mit 
einem  der  Äbte  dieses  Namens,  denen  von  St.  Wandrille,  St.  Hilaire, 
Jumieges,  St.  Remi,  identisch  gewesen  ist,  oder  ob  es  sich  vielleicht  gar 
in  allen  Fällen  um  dieselbe  Person  handelt,  läßt  sich  nicht  entscheiden.^ 


^  Lupi  abbatis  Ferrariensis  epistolae  no.  110  vom  Jahre  853  (EE.  VI,  94);  vgl. 
Waitz,  VG.  III,  519  A.  2.  —  Daß  Hilduin  auch  den  Titel  abbas  sacri  palatii  geführt 
habe,  wie  Waitz  und  andere  (vgl.  Pustel  de  Coulanges,  Les  transformations  de  la 
royaute  pendant  l'epoque  carolingienne,  p.  332  A.  1;  vgl.  auch  SS.  rer.  Merov.  IV, 
563  A.  4)  annehmen,  halte  ich  nicht  für  zutreffend.  Sämtliche  von  Waitz,  VG.  III, 
519  A.  2  angeführten  Beispiele  sind  meiner  Ansicht  nach  in  der  Weise  zu  erklären, 
daß  sich  die  Bezeichnung  abbas  nicht  auf  den  Palast,  sondern  auf  die  Klöster,  die 
tiilduin  von  Ludwig  d.  Fr.  übertragen  waren,  besonders  auf  Saint-Denis  bezieht.  In 
der  Urkunde  bei  Mansi  XIV,  634  (Mabillon,  De  re  dipl.,  p.  518):  abbatem  sacrique 
palatii  conspicuum  archicappellanum,  gehört  sacri  palatii  nur  zu  archicapellanum,  in 
der  Lücke  vor  abbatem  muß  jedoch  das  Kloster,  zu  dem  dieser  Titel  gehört,  aus- 
oefallen  sein,  das  noch  erkennbare  .  .  .  erii  dürfte  zu  Eleutherii  oder  monasterii  (vgl. 
BA\.  905)  zu  ergänzen  sein;  Sickel,  Acta  I,  71  A.  12  bezieht  übrigens  diese  Stelle 
fälschlich  auf  Fulko.  Ebenso  erkläre  ich  die  Stelle  aus  Hinkmar,  epist.  de  s.  Dionysio 
(Mabillon,  Analecta,  ed.  2,  p.  212):  Hilduini  abbatis  sacri  palatii  clericorum  summi, 
indem  ich  abbatis  für  sich  nehme  und,  wie  es  kaum  anders  möglich  ist,  sacri  palatii 
clericorum  summi  miteinander  verbinde;  vielleicht  ist  das  et,  welches  Ducange  nach 
palatii  einschieben  will,  nach  abbatis  zu  setzen  oder  es  ist  zu  lesen  abbatis  sacrique 
palatii  clericorum  summi,  wie  z.  B.  BM.  782  ganz  ähnlich  lautet:  Hildoinus  abbas 
sacrique  palatii  nostri  summus  capellanus  (Migne  104,  1022),  vgl.  BM.  796  (abbas 
et  sacri  palatii  summus  capellanus),  848;  auch  Flach,  Les  origines  de  l'ancienne 
France  III,  460  scheint  die  Stelle  ähnlich  zu  erklären,  wenigstens  spricht  er  von  dem 
summus  clericorum  palatii. 

'  Vgl.  Hauck  II,  495ff.;  Simson,  Ludwig  d.  Fr.  I,  335,  351,  361;  II,  3,. 9. 

^  De  ordine  palatii  c.  15. 

*  Vgl.  Hampe,  Zur  Lebensgesch.  Einhards,  NA.  XXI  (1896),  617  A.  4.  —  Sickel, 
Acta  I,  71  A.  12  und  Funck,  Ludwig  d.  Fr.  S.  150,  267f.  halten  ihn,  nach  der  ge- 


58  Wilhelm  Lüders 

Auch  in  den  beiden  Kaiserurkunden,  die  Fulko  nennen,  führt 
keinerlei  Titel/  Wir  würden  also  daraus  nicht  einmal  ohne  weiten 
sein  Amt  als  Erzkapellan  folgern  dürfen.  Doch  nennt  ihn  Hinkm; 
auf  das  bestimmteste  in  der  Reihe  der  anderen  Erzkapellane. 

Mit  der  Gefangennahme  Ludwigs  auf  dem  Rotfelde  am  30.  Juni  8c 
und  der  hierauffolgenden  Auflösung  des  kaiserlichen  Hofhaltes  hat 
auch  das  Amt  des  Fulko  sein  Ende  erreicht.  Möglich,  daß  er,  w 
SickeP  annimmt,  formell  erst  zurücktrat,  als  sich  der  Kaiser  mit  di 
bischöflichen  Partei  wieder  aussöhnte. 

C.   Drogo  von  Metz. 

Als  Ludwig  am  1.  März  834  zu  Saint-Denis  feierlich  in  seine  alte 
Stellung  wieder  eingesetzt  war,  wählte  er  den  Bischof  von  Metz,  seinen 
Halbbruder  Drogo,  der  in  allen  Gefahren  treu  zu  ihm  gestanden  hatte, 
zu  seinem  Erzkapellan. 

Urkundlich  ist  Drogo  erst  seit  dem  8.  Januar  836  in  seiner  neuen 
Stellung  nachzuweisen.^  Es  läßt  sich  daher  nicht  mit  Bestimmtheit  ent- 
scheiden, ob  seine  Einsetzung  zum  Leiter  der  Hofkapelle  bereits  834^ 
oder  erst  835^  erfolgt  ist;  das  wahrscheinlichere  ist  wohl  835. 

wohnlichen  Ansicht,  für  den  Abt  von  Jumieges.  Doch  vgl.  Simson,  Ludwig  d.  Fr. 
I,  361  A.2;  II,  305.  —  Den  Abt  Fulko  von  St.  Hilaire  in  Poitiers  (vgl.  Cham  pol lio n- 
Figeac,  Documents  historiques  inedits  III,  417:  Fulco  venerabilis  ex  sancti  Hilarii 
coenobio  abbas,  Urkunde  Pippins  I.  vom  Jahre  827)  hält  man,  zufolge  einer  Nach- 
richt der  Transl.  s.  Juniani  zum  Jahre  830  (Mabillon,  AA.  SS.  ord.  s.  Benedict! 
IV,  1,  433),  auch  für  den  Erzkapellan  Pippins  I.  von  Aquitanien  (vgl.  Simson  I, 
361  A.  2;  II,  192  A.  7);  vielleicht  nicht  mit  unrecht,  denn  der  im  Jahre  834  als  Abt 
desselben  Klosters  erscheinende  Bischof  Fridebert  von  Poitiers  (s.  unten  III  §  2,  2)  wird 
gleichzeitig  als  Leiter  von  Pippins  Kapelle  bezeugt.  Da  demnach  Fulko  damals  nicht 
mehr  Abt  in  Poitiers  war,  so  steht  wenigstens  zeitlich  nichts  der  Annahme  im  Wege, 
daß  wir  in  ihm  auch  den  Erzkapellan  Ludwigs  d.  Fr.  und  den  späteren  Abt  von 
St.  Remi  zu  erblicken  haben.  —  Mühlbacher  Reg.  (1889)  p.  LXXXVI  spricht  übrigens 
fälschlich  von  dem  „Erzbischof"  Fulko  von  Reims;  der  Abt  Fulko  von  St.  Remi  ver- 
waltete allerdings  nach  Ebos  Absetzung  835  das  Erzbistum  Reims,  ohne  jedoch  die 
bischöfliche  Weihe  erhalten  zu  haben  (vgl.  Werminghoff,  NA.  XXV,  372);  auch 
Chorbischof  war  er  nicht  (vgl.  Schrörs,  Hinkmar  von  Reims,  S.  36  A.  42). 

^  BM.  921  (833  April  4)  und  925  (833  Juni  10).  In  den  tironischen  Noten  der- 
selben Urkunden  erscheint  er  ebenfalls  ohne  Titel,  mit  impetravit  bzw.  impetraverunt 
(Tangl,  Archiv  f.  ürkundenf.  I,  124,  126;  Bresslau,  ebenda  S.  181  ff.). 

^  Acta  I,  71  A.  12;  schon  vorher  Funck,  Ludwig  d.  Fr.,  S.  150,  der  S.  265  no.  2 
den  Fulko  mit  dem  Phasur  identifiziert,   welchen  Paschasius  Radbertus  V.  Walae 
c.  16  (SS.  II,  562)  833  als  Hauptanhänger  des  Kaisers  und  Gegner  des  Papstes  und 
der  Söhne  Ludwigs  nennt. 

'  In  das  Jahr  835  gehört  vielleicht  ein  von  den  Magdeburger  Centuriatoren 
erhaltenes  Exzerpt  eines  Briefes  Hrabans  von  Fulda,  in  dem  Drogo  als  summus 
capellanus  bezeichnet  wird  (EE.  V,  520);  doch  läßt  es  sich  nicht  genauer  bestimmen. 

*  So  Funck,  Ludwig  d.  Fr.,  S.  150;  Sickel,  Acta  I,  70  A.  12,  97. 

'  So  Simson,  Ludwig  d.  Fr.  II,  233. 


Capeila  59 

Drogo  erscheint  in  den  Kaiserurkunden  zweimal  mit  dem  Titel 
,sacri  palatii  archicapellanus'V  einmal  findet  sich  daneben  die  Bezeich- 
nung „sacri  palatii  summus  capellanus".^  Auch  in  anderen  Quellen  wird 
r  gewöhnlich  „archicapellanus",  seltener  „summus  capellanus"  genannt.^ 

Gleichwie  die  beiden  Bischöfe,  die  schon  vor  ihm  die  Hofkapelle 
geleitet  hatten,  Angilram  und  Hildebald,  erhielt  auch  Drogo  das  erz- 
bischöfliche Pallium  als  persönliche  Auszeichnung,  wie  es  scheint,  zu- 
gleich mit  der  Ernennung  zum  obersten  capellanus.*  Er  blieb  Ludwigs 
Erzkapellan  bis  zu  dessen  Tode  am  20.  Juni  840. 


2.   Die  Stellung  der  Erzkapellane  unter  Ludwig  dem  Frommen 

Die  Funktionen  des  Erzkapellans  blieben  unter  Ludwig  im  wesent- 
ichen  dieselben  wie  zur  Zeit  Karls  des  Großen.  Daß  seine  tatsäch- 
iche  Macht  hingegen  zunächst  noch  beständig  zunahm  und  er  die 
einflußreichste  Persönlichkeit  des  kaiserlichen  Hofes  wurde,  lag  allein 
m  dem  schwachen  Charakter  Ludwigs,  der  den  Rückhalt  einer  festen 
Persönlichkeit  nicht  entbehren  konnte.  Unter  Hilduin  war  die  Be- 
deutung des  Amtes  am  größten,  größer  als  es  die  Herrschernatur  Karls 
les  Großen  jemals  einem  seiner  Hofkapellane  gestattet  hatte.  Auch 
ier  Titel  wurde,  entsprechend  dem  ganzen  Zeremoniell  am  Hofe  Lud- 
mgs,  feierlicher:  der  „capellanus  sacri  palatii"  verwandelte  sich  gleich 
n  den  ersten  Jahren  nach  Karls  Tode  in  den  „summus  capellanus" 
ind  bald  in  den  „archicapellanus  sacri  palatii". 

Nur  in  dem  Verhältnis  des  obersten  capellanus  zur  Kanzlei  bahnte 
>ich,  falls  die  oben  angeführte  Hypothese  Tangls  zutrifft,  bereits  unter 
iilduin  eine  Schmälerung  seines  Einflusses  durch  das  immer  mehr 
mporstrebende  Amt  des  Kanzlers  an.^  Allerdings  wird  gerade  Hilduin 
iberaus  häufig  in  den  tironischen  Noten  der  Kaiserdiplome  als  ambasciator 


^  BM.  952  (836  Jan.  8)  und  971  (837  Dez.  20).  —  Mit  dem  Titel  archiepiscopus 
n  den  tironischen  Noten  von  BM.  952,  ohne  Titel  in  denen  von  BM.  954  und  971 
Tangl  a.  a.  0.  127f.) 

'  BM.  990  (839  April  18).  —  BM.  980  (angeblich  838)  und  981  (angeblich  838 
>ept.  7)  sind  gefälscht;  ebenso  BM.  928  (angeblich  834  Mai  15),  wo  die  Bezeichnung 
Is  „Mettensis  et  summae  sanctae  palatinae  dignitatis  praesul"  aus  Vita  Anskarii  c.  12 
SS.  II,  698)  entnommen  ist. 

'  Z.  B.  Ruodolfi  Fuld.  Ann.  840  (SS.  I,  362),  Nithard  I  c.  8,  Vita  tiludowici  imp. 
63  (SS.  II,  647)  zum  Jahre  840.  —  Catalogus  episc.  Mett.  (SS.  II,  269). 

^  Brief  Karls  des  Kahlen  vom  Jahre  864  (EE.  VI,  223):  „ut  una  cum  praedicto 
jninisterio  et  imperatoris  et  apostolicae  sedis,  etiam  usu  pallii  potiretur."    S.  unten 
jlen  Exkurs. 
1        ^  Tangl,  Arch.  f.  ürkundenf.  I,  165.    S.  oben  S.  36 f. 


60  Wilhelm  Lüders 

genannt.^  Aber  das  war  zu  jener  Zeit  nicht  mehr  eine  Amtsbefugnis  | 
lediglich  des  obersten  capellanus;  vielmehr  erscheinen  neben  ihm  auch^ 
andere  hervorragende  Personen  des  Hofes  ganz  in  derselben  Weise  als 
ambasciatores.^  Noch  weniger  vermag  Hilduins  häufiges  Vorkommen  in 
dem  Texte  der  Urkunden  etwas  in  dieser  Hinsicht  zu  beweisen;  denn! 
das  Amt  des  Vortrages,  das  er  noch  dazu  meist  in  eigener  Angelegenheit- 
ausübt,^  erscheint  ebensowenig  als  sein  alleiniges  Vorrecht*  wie  das 
des  Ambasciators.  Kein  Zweifel,  wenn  die  Erzkapellane  jemals  vorher! 
auch  die  Leitung  der  Kanzlei  in  Händen  gehabt  haben,  so  bahnte  sich 
seit  Hilduin  eine  Entwicklung  an,  die  mit  Erfolg  bestrebt  war,  die 
Kanzlei  der  Oberaufsicht  des  Erzkapellans  zu  entziehen  und  ihm  als 
gleichberechtigten  Beamten  den  Kanzler  zur  Seite  zu  stellen. 

Dem  Kaiser  kann,  nachdem  bei  dem  Abfall  Hilduins  das  Amt  des 
obersten  capellanus  so  völlig  versagt  hatte,  eine  gewisse  Schmälerung 
seines  Einflusses  nicht  einmal  unerwünscht  gewesen  sein.  Wohl  aus 
demselben  Grunde  hat  er  daher  später  eine  so  wenig  bedeutende  Per- 
sönlichkeit wie  Fulko  oder  einen  ihm  so  treu  ergebenen  Bischof  wie 
seinen  Halbbruder  Drogo  zum  Leiter  der  Hofkapelle  eingesetzt. 

3.   Die  Kapellane.    Reaktion  der  Hierarchie  gegen  die  iiof- 
geistlichkeit  unter  Ludwig  dem  Frommen 

Auch  in  dem  Kollegium  der  unteren  capellani  machten  sich  währenc 
der  Regierung  Ludwigs,  namentlich  in  den  zwanziger  Jahren  unter  Hil- 
duins Leitung,  erhebliche  Mißstände  bemerkbar.^  In  demselben  Maße 
wie  die  Macht  des  Erzkapellans,  war  auch  der  Einfluß  der  niederer 
capellani  beständig  gestiegen,   und  die  mancherlei  ünzuträglichkeiten 


'  BM.  727,  729,  735,  746,  796,  803,  833,  844,  846,  847  (Tan gl  a.a.O.  S.  111-119) 

2  Tangl  a.a.O.  S.  164f. 

'  BM.  691,  727,  729,  746,  747,  803,  844,  846,  847,  848,  857.  In  fremder  An 
gelegenheit  nur  BM.  782,  789,  79^,  796.  —  Fast  durchgehends  begegnet  dafür  dr 
Bezeichnung  „innotescere";  nur  BM.  794  heißt  es:  „quia  vir  illuster  Leibulfus  comei 
per  Hilduinum  archicapellanum  nostrum  nobis  subiecit^ 

*  So  erscheint  bei  Tauschverträgen  Hilduins  auch  die  andere  Partei  vor  den 
Könige,  und  die  Angelegenheit  wird,  wie  der  Plural  innotuerunt  beweist,  von  beidei 
Parteien  dem  Könige  vorgetragen  (BM.  727,  729,  746,  747,  803,  804,  844). 

'"  Ich  verzichte  darauf,  eine  Übersicht  über  die  zahlreichen  in  den  Quellen  er 
scheinenden  capellani  am  Hofe  Ludwigs  zu  geben;  vgl,  Simson,  Ludwig  d.  Fr.  II 
251  ff.  —  Daß  es  auch  einen  besonderen  capellanus  der  Kaiserin  (es  ist  wohl  Juditl 
gemeint)  gegeben  hat,  geht  hervor  aus  Einharti  ep.  no.  69  (EE.  V,  143);  Dümmle 
(NA.  VII,  402)  hat  die  Vermutung  ausgesprochen,  daß  es  Walahfrid  Strabo  gewesa 
sei;  ebenso  Wattenbach  V,  279.  —  Der  Titel  „sacri  palatii  archidiaconus",  den  Hrabai 
dem  Gerold  beilegt  (Simson,  Ludwig  d.  Fr.  II,  251  A.  7),  wird  auf  dieselbe  Weis 
zu  erklären  sein  wie  oben  S.34  A.2  der  Titel  „sacri  palatii  archiepiscopus"  für  Hildebalc 


Capella  61 

lie  daraus  erwuchsen,  riefen  den  Unwillen  und  die  lauten  Klagen  der 
librigen  Geistlichkeit  hervor.  Allgemein  wandte  man  sich  gegen  die 
)evorzugte  Stellung  der  Hofgeistlichkeit. 

Schon  unter  Karl  dem  Großen  wurden  Mitglieder  der  Hofkapelle 
ielfach  anderen  Geistlichen  vorgezogen.  Das  Capitulare  de  villis^  be- 
;timmte  ausdrücklich,  daß  nur  Kleriker,  die  der  königlichen  Familie  oder 
Kapelle  angehörten,  die  Kirchen  der  königlichen  Güter  erhalten  sollten. 
'Sehr  bezeichnend  ist  auch  der  in  den  Formulae  Salzburgenses^  über- 
ieferte  Brief  eines  Bischofs  an  einen  capellanus:  der  Absender  bittet 
len  Adressaten,  seinem  Neffen  bei  der  Erlangung  eines  Benefiziums 
im  Kaiserhofe  behilflich  zu  sein.  Es  kam  auch  unter  Karl,  ja  sogar 
5chon  unter  Pippin,  vor,  daß  Mitglieder  der  Hofkapelle  zu  hohen  geist- 
ichen  Würden,  und  selbst  zu  Bischofssitzen  gelangten.^  Doch  wagten 
sich  unter  dem  großen  Kaiser  noch  keine  Klagen  über  dieses  Ver- 
ahren  hervor. 

Dieser  Gebrauch  setzte  sich  unter  Ludwig  fort.  So  erhielt  um 
521  Bernald  das  Bistum  Straßburg,*  Otgar  wurde  825  Erzbischof  von 
>\ainz.^    Beide  waren  vorher  capellani  des  Kaisers  gewesen. 

Aber  zugleich  machten  sich  unter  Ludwig  auch  wirkliche  Miß- 
stände in  der  Hofkapelle  breit,  und  es  erhoben  sich  daher  bald  von 
3llen  Seiten  die  heftigsten  Klagen  und  Angriffe.  Namentlich  ihr 
Trachten  nach  irdischem  Gewinn  warf  man  den  capellani  vor.  So  wandte 
sich  bereits  Ardo  in  seiner  822  verfaßten  Lebensbeschreibung  des 
^bts  Benedikt  von  Aniane^  sehr  unzweideutig  gegen  die  Hofgeistlich- 
rieit,  die  clerici,  welche  mit  unrechtmäßigen  Mitteln  nach  der  Herrschaft 
über  die  Klöster  der  Mönche  strebten.  Auch  Walahfrid  Strabo  ereiferte 
sich  gegen  sie  in  der  Visio  Wettini.  ^ 


'  Cap.  6  (Capit.  I,  83).  '  MG.  Formulae  p.  455. 

'  Vgl.  Waitz,  VG.  III,  525.  ""  Wattenbach  \\  277. 

^  Ann.  Xantenses  825  (SS.  II,  225):  „tiaistulfus  archiepiscopus  Magontiae  civi- 
tatis obiit,  et  successit  in  locum  eius  Otgerus  capellanus  dominicus.'*  —  Vgl.  Sim- 
son,  Ludwig  d.  Fr.  II,  84:  Dumm  1er,  Gesch.  des  ostfr.  Reiches  I,  93. 

^  Cap.  39  (SS.  XV  1,  217):  „Cernens  quoque,  nonnullos  totis  nisibus  anelare  in 
adquirenda  monachorum  coenobia,  eaque  non  tantum  precibus,  ut  obtineant,  verum 
etiam  decertare  muneribus,  suisque  usibus  stipendia  monachorum  expendi,  ac  per 
hoc  diruta  nonnulla,  alia  vero,  fugatis  monachis,  a  secularibus  obtineri  clericis,  adiit 
hac  de  causa  piissimum  imperatorem  precibusque  pulsat,  ut  ab  huiuscemodi  con- 
tentionibus  clericos,  monachos  vero  ab  hoc  redderet  periculo  extorres."  —  Über  die 
Abfassungszeit,  ein  Jahr  nach  Benedikts  Tode  (t821),  siehe  Wattenbach  \\  231. 
'  Poetae  lat.  aevi  Carolini  II,  314  (V.  327ff.): 

„Magna  sacerdotum  numero  pars,  angelus  inquit, 
Lucra  petunt  terrena  quibusque  inhiantur  adhaerent, 
Atque  palatinis  pereuntia  praemia  quaerunt 
Obsequiis"  .  .  . 


62  Wilhelm  Lüders 

Die  Zeit  war  eine  andere  geworden.  Alles  in  der  Kirche  drängte 
nach  Reform.  Abt  Benedikt  von  Aniane,^  der  sich  der  Gunst  und  der 
Unterstützung  des  Kaisers  erfreute,  suchte  eine  durchgreifende  Reform 
des  Klosterlebens  durchzuführen.  Wurden  einerseits  die  Klöster  wieder 
zu  der  strengen  Regel  Benedikts  von  Nursia  zurückgeführt,  so  soüte 
auch  jeder  andere  Verband  von  Geistlichen  nach  einer,  wenn  auch 
leichteren  Regel,  ein  gemeinsames  Leben,  die  vita  canonica,  führen. 
In  diesem  Sinne  waren  die  Beschlüsse  des  Aachener  Konzils  im 
Jahre  816  abgefaßt." 

Ludwigs  Haltung  inmitten  dieser  Bewegung  war  schwankend,  tr 
konnte  sich  anscheinend  nicht  entschließen,  auch  für  seine  flofkapelle 
die  vita  canonica  einzuführen.  Um  so  heftiger  waren  die  Angriffe,  die 
auf  die  Hofkapelle  gemacht  wurden. 

Der  erste  offene  Angriff  erfolgte  von  selten  Walas  auf  der  Ver- 
sammlung zu  Aachen  im  Dezember  828,  auf  welcher  der  Kaiser  mit 
den  Großen  über  die  Abhilfe  der  allgemeinen  Mißstände  im  Reiche 
beriet.^  Nach  dem  Berichte  des  Paschasius  Radbertus*  ging  Wala 
gegen  die  militia  clericorum  im  Palaste,  die  man  gemeinhin  capellani 
nenne  —  man  beachte  die  Verachtung,  die  sich  hier  einem  Titel 
gegenüber  kundgibt,  den  die  bedeutendsten  Geistlichen  des  fränkischen 
Reiches  bereits  hundert  Jahre  mit  Ehren  geführt  hatten  — ,  aufs  aller- 
schärfste  vor.  Die  capellani  seien  nur  auf  kirchliche  Ehren  und  weli 
liehen  Gewinn  bedacht;  man  könne  in  ihnen  überhaupt  keinen  geisi 
liehen  Stand  sehen,  da  sie  weder  nach  der  Mönchsregel  noch  als 
Kanoniker  unter  einem  Bischöfe  lebten.  So  sehr  waren  bereits  die 
Ideen  Benedikts  zum  Durchbruch  gekommen,  daß  Wala  wagen  durfte 
zu  behaupten,  neben  jenen  beiden  Formen  geistlichen  Lebens  sei  eine 
dritte  überhaupt  nicht  möglich. 

Ähnliche  Angriffe  erfolgten  dann  auch  auf  der  Synode  zu  Paris 
im  Jahre  829.    Aus  den  Akten  des  Pariser  Konzils  ist  der  Passus,  der 


^  Vgl.  Puckert,  Aniane  und  Gellone,  1899. 

^  Vgl.  Werminghoff,  Die  Beschlüsse  des  Aachener  Konzils  im  Jahre  816 
(NA.  XXVII,  605ff.).  ' 

*  Vgl.  Simson,  Ludwig  d.  Fr.  I,  303,  318;  Dümmler,  Gesch.  des  ostfränk. 
Reiches  I,  46—49. 

*  Vita  Walae  II  c.  5  (SS.  II,  550):  „Praesertim  et  militiam  clericorum  in  palatio, 
quos  capellanos  vulgo  vocant,  quia  nullus  est  ordo  ecclesiasticus,  denotabat  plurimum, 
qui  non  ob  aliud  serviunt,  nisi  ob  honores  ecclesiarum  et  quaestus  saeculi,  ac  lucri 
gratiam  sine  probatione  magisterii,  atque  ambitiones  mundi;  quorum  itaque  vita 
neque  sub  regula  est  monachorum,  neque  sub  episcopo  militat  canonice,  praesertim 
cum  nulla  alia  sunt  tirocinia  ecclesiarum,  quam  sub  his  duobus  ordinibus.  Aiebat 
namque  idem,  quod  aut  canonicus  quisque  esse  deberet,  aut  laicus,  aut  monachus; 
quod  si  neutrum,  iam  sub  nullo  monstratur  ordine,  quia  videntur  esse  sine  capite." 


Capeila  63 

sich  gegen  die  tiofkapelle  wendet,  wörtlich  in  die  Beschlüsse  der 
Bischöfe  übergegangen,  die  im  August  829  auf  dem  Reichstage  zu 
^orms  aus  den  Akten  der  vier  Synoden  des  Jahres  829  (Paris,  Mainz, 
Lyon,  Toulouse)  vereinbart  und  dem  Kaiser  zur  Bestätigung  vorgelegt 
cvurden.  Die  Bischöfe  verlangten,  wie  vorher  schon  Wala,  geradezu 
jie  Aufhebung  der  gesamten  Hofkapelle.^ 

Noch  schroffer  als  in  diesen  offiziellen  Aktenstücken  kommt  der 
3egensatz  zur  Hofkapelle  und  ihren  Kapellanen  in  einer  sehr  inter- 
essanten Glossensammlung  zu  der  tiadriana  zum  Ausdruck.^  Die  hier 
n  Betracht  kommenden  Stücke  sind  zweifellos  zu  derselben  Zeit,  als 
die  kirchliche  Reaktion  gegen  Ludwig  den  Frommen  einsetzte,  und 
mar  bemerkenswerterweise  im  Westen  des  Reiches,  wo  die  Opposition 
im  stärksten  war,  verfaßt.  In  tendenziöser  Weise  werden  die  Be- 
stimmungen früherer  Konzilien  interpretiert,  um  aus  ihnen  das  Verbot 
kaiserlicher  Kapellen  und  Kapellane  herzuleiten. 

So  wird  das  cap.  6  des  concilium  Gangrense,  das  sich  ganz  all- 
gemein gegen  kirchliche  Konventikel  richtet,  folgendermaßen  glossiert:^ 
,Hic  damnantur  capellae  cum  capellanis,  qui  sine  metu  episcopi  dio- 
:eseos  in  contemptu  ecclesiasticae  dispensiationis  et  regulae  canonicae 
^eculari  potentatu  abusis  disciplinis  spiritualibus  in  domibus  regum, 
d  est  demoniorum,  mollibus  libidinibus  vestiuntur." 

Ebenso  tendenziös  ist  die  Interpretation  des  cap.  11  des  concilium 
^ntiochenum.  Während  hier  nur  ganz  allgemein  von  der  Unsitte  vieler 
jeistlichen,  den  Kaiser  fortwährend  mit  Anliegen  zu  belästigen,  die 
^ede  ist,  benutzt  der  Verfasser  der  Glossen  diese  Gelegenheit  zu  einem 

i" — 

I  ^  Conc.  Paris.  VI,  Hb.  III,  c.  19  (Mansi  XIV,  601):  „De  presbiteris  et  capellis 
Jpalatinis  contra  canonicam  auctoritatem  et  aecclesiasticam  honestatem  inconsulte 
""  labitis  vestram  monemus  sollertiam,  ut  a  vestra  potestate  inhibeantur."  Vgl.  Pertz, 
V\G.  LL.  fol.  I,  340;  Capit.  II,  39.  —  Die  willkürliche,  auch  von  Waitz  (VG.  III,  517 
V  1)  gutgeheißene  Änderung  von  Pertz  in  „de  presbiteris  et  capellanis  palatinis" 
statt  capellis  der  tis.)  ist  meiner  Ansicht  nach  falsch.  Die  Lesart  capellis  gibt  einen 
iehr  guten  Sinn,  sobald  man  das  palatinis  mit  auf  presbiteris  bezieht;  die  presbiteri 
)alatini  sind  nichts  anderes  als  die  capellani;  es  wäre  also  auffällig,  wenn  die  capel- 
ani  nochmals  besonders  daneben  Erwähnung  fänden.  Dagegen  gibt  capellis  einen 
lehr  guten  Sinn;  das  Vorgehen  gegen  diese  fällt  zusammen  mit  Conc.  Paris.  VI^ 
ib.  III,  c.  6  (Mansi  XIV,  597):  „Admonemus,  ut  posthabitis  aediculis,  quas  usus 
nolitus  capellas  appellat"  .  .  .;  hier  wie  dort  sind  die  capellae  für  den  Besuch  der 
V\esse  hinderlich.  —  Vgl.  Simson,  Ludwig  d.  Fr.  I,  318;  Dümmler,  Gesch.  d.  ostfr. 
Reiches  I,  49. 

^  Veröffentlicht  .von  Maaßen,  Glossen  des  kanonischen  Rechts  aus  dem  karo- 
ingischen  Zeitalter.  Wiener  S.-B.  84  (1876),  235 ff.  —  Zur  Hadriana  vgl.  tiauck  II, 
514  A.  2. 

'  Maaßen  a.  a.  0.  S.  247. 


64  Wilhelm  Lüders 

neuen  Angriffe  gegen  die  Hofgeistlichen:^  „tiic  damnantur  palatini  clerici, 
qui  sine  consensu  aeclesiae  et  episcoporum  parvipendentes  unitatem 
ecclesiasticae  professionis  ad  publica  et  comitatus  praesidia  se  con- 
ferunt." 

Wie  so  viele  Wünsche  der  Reform synoden  des  Jahres  829,  blieb 
auch  das  Verlangen  der  Bischöfe  nach  Aufhebung  der  Hofkapelle  un- 
berücksichtigt. Ludwig  setzte  hier  den  Bischöfen  entschiedenen  Wider- 
stand entgegen.  Selbst  als  sich  die  Institution  beim  Abfalle  Hilduins 
nicht  bewählte,  setzte  er  doch  bald  einen  neuen  Erzkapellan  ein.  Nur 
sorgte  er  dafür,  daß  dieses  Amt  jetzt  so  treuen  Anhängern,  wie  Fulko 
und  Drogo  es  waren,  anvertraut  wurde.  Die  Mißstände  unter  den 
capellani  haben  sich  aber  augenscheinlich  unter  diesen  Männern  nicht 
gebessert.  Denn  in  einem  Briefe  des  Abtes  Odo  von  Ferrieres  aus 
dem  Jahre  840  tönt  wieder  die  alte  Klage,  daß  die  clerici  palatii  nach 
der  Herrschaft  über  mehrere  Klöster  strebten.^ 

Aber  so  ganz  ohne  Nachwirkung  bUeb  die  Bewegung  gegen  die 
capellani  doch  nicht.  Wenn  sie  auch  nicht  eine  Aufhebung  der  ge- 
samten Einrichtung  erreichte,  so  war  doch  die  Folge,  daß  mehr  und 
mehr  eine  Erstarrung  der  überlieferten  Formen  eintrat.  Die  Zeiten,  wc 
die  Hofkapelle  in  der  politischen  und  kulturellen  Entwicklung  dee 
Reiches  noch  eine  große  Rolle  spielte,  waren  vorbei.  Im  9.  Jahr- 
hundert fand  sich  kein  Herrscher  mehr,  der  sich  die  Kräfte,  die  ir 
der  Hofkapelle  schlummerten,  wie  einst  Karl  der  Große  dienstbar  ge- 
macht hätte. 


§2.    Die  Erzkapellane  der  Söhne  Ludwigs  des  Frommen 

1.   Lothar  I. 

Wie  die  Söhne  Karls  des  Großen,  so  erhielten  auch  die  Söhnt 
Ludwigs  des  Frommen  mit  der  Herrschaft  über  selbständige  Teilreich( 
ihre  eigene  Hofkapelle. 

Schon  im  Jahre  814  setzte  Ludwig  seinen  ältesten  Sohn  Lotha 
zum  Könige  von  Bayern  ein;^  doch  war  dessen  Wirksamkeit  hier  nu; 
von  kurzer  Dauer.  Es  ist  daher  fraglich,  ob  er  während  seiner  Re 
gierungszeit  in  Bayern  überhaupt  einen  eigenen  Hofkapellan  gehab 
hat.    Man  will  ihn  allerdings,  fußend  auf  einer  Mitteilung  der  Magde 


^  Maaßen  a.  a.  0.  S.  247. 

^  EE.  VI,  32:  „Ceterum  fama  versatur  inter  nos  cleri9ps  palatii  diversorun 
coenobiorum  sibi  dominium  optare  atque  poscere,  quibus  nulla  sit  alia  cura,  nisi  u 
suae  avaritiae  oppressione  servorum  Dei  satisfaciant." 

^  Simson,   Ludwig  d.  Fr.  I,  28;  Dümmler,  Gesch.  des  ostfr.  Reiches  I,  19i 


C  a  p  e  1 1  a  65 

burger  Centuriatoren,  in  dem  Bischof  Baturich  von  Regensburg  sehen.^ 
Doch  ist  dies  unmöglich;  denn  da  Baturich  erst  817  Bischof  von  Regens- 
burg wurde,  so  ist  schwerlich  anzunehmen,  daß  er  dann  noch  von 
Lothar,  der  bereits  817  von  seinem  Vater  zum  Mitkaiser  ernannt  wurde, 
zum  Erzkapellan  in  Bayern  eingesetzt  sei.  Ich  nehme  daher  mit 
Dümmler^  an,  daß  in  der  Mitteilung  der  Centuriatoren  Lothario  fälsch- 
lich für  Ludovico  stehe. 

Eine  eigene  Hof  kapeile  wird  wohl  Lothar  erst  erhalten  haben,  als 
er  822  mit  der  Regierung  Italiens  betraut  wurde.  Als  Leiter  der  Hof- 
kapelle wird  in  einer  Urkunde  vom  7.  März  835  Ruktald  genannt,  und 
zwar  noch  mit  dem  alten  Titel  „sacri  palatii  capellanus".^  Genaueres 
über  sein  Leben  und  die  Dauer  seines  Amtes  ist  nicht  bekannt. 

Später  hat  Drogo  das  Amt  des  Erzkapellans,  das  er  schon  unter 
Ludwig  dem  Frommen  innegehabt  hatte,  auch  unter  Lothar  geführt. 
Wann  ihm  diese  Würde  übertragen  ist,  läßt  sich  nicht  genau  sagen; 
erst  eine  Urkunde  vom  Jahre  852  läßt  sie  unzweideutig  erkennen.* 
hl  den  ersten  Regierungsjahren  Lothars,  während  des  Bruderkrieges, 
scheint  er  sie  jedenfalls  noch  nicht  erhalten  zu  haben.  Zwei  Zeugnisse 
des  Jahres  840,  eine  Urkunde  Lothars  für  St.  Arnulf  in  Metz^  und  das 
Restitutionsedikt  für  Ebo  von  Reims,^  nennen  ihn  bloß  archiepiscopus 
bzw.  episcopus.  Drogo  wird  also  erst,  nachdem  er  sich  nach  seinem 
vorübergehenden  Anschlüsse  an  Karl  den  Kahlen  842  wiederum  Lothar 
zugewandt  hatte,^  zum  Erzkapellan  ernannt  sein.  Wir  dürfen  wohl  an- 
nehmen, daß  er  im  Jahre  844,  wo  Lothar  für  ihn  die  Ernennung  zum 
päpstlichen  Vikar  beim  Papste  Sergius  IL  durchsetzte,  bereits  archi- 
capellanus  war  und  nicht  zum  mindesten  mit  Rücksicht  auf  diese 
Würde  den  Vikariat  für  das  fränkische  Reich  erhielt.® 

^  EE.  V,  517:  „Baturicus,  monachus  Fuldensis,  a  Ludovico  surrogatus  est  Adel- 
vino:  ac  postea  a  Lothario  archicapellanus  constitutus  est."  —  Vgl.  EE.  V,  517  A.  7. 

2  Gesell,  des  ostfränk.  Reiches  II,  433  A.  2. 

^  BM.  1049.  —  Vgl  Simson,  Ludwig  d.  Fr.  II,  119. 

■*  BM.  1156:  „dilectissimus  patruus  noster  Drogo  venerabilis  archiepiscopus 
nostrique  palatii  capellanus." 

^  BM.  1071:  „Drogo  venerabilis  archiepiscopus  avunculus  noster." 

®  BM.  1072:  „Drogo  episcopus  assensi." 

'  Dümmler,  Gesch.  d.  ostfr.  Reiches  I,  253;  Simson,  Allg.  D.  Biogr.  V,  413. 

•*  Hauck  II,  515.  —  Nach  dem  Texte  des  Apologetium  Ebonis,  den  Werming- 
hoff,  NA.  XXV,  361ff.  veröffentlicht  hat,  wäre  Drogo  sogar  schon  842  Lothars  Erz- 
kapellan gewesen.  Hier  findet  sich  nämlich  S.  371  in  dem  Restitutionsedikt  für  Ebo 
(BM.  1072,  s.  oben  A.  6)  zu  dem  Namen  Drogo  eine  längere  Interpolation,  in  der  er 
als  „filius  Karoli  gloriosi  Augusti,  frater  tiludowici,  excellentissimorum  augustorum 
totiusque  sanctae  ecclesiae  istorum  palatinus  archipraesul"  erscheint.  Werminghoff 
'  sieht  in  Ebo  selbst  den  Verfasser  der  Schrift  und  setzt  die  Abfassung  in  das  Jahr 
^j842;  er  muß  jedoch,  um  jene  Interpolation,  in  der  Drogo  bereits  als  Inhaber  des 
i      Afu    II  5 


* 


i 


56  Wilhelm  Lüders 

Gestorben  ist  Drogo  bald  nach  Lothar  (f  29.  September)  am  5.  De- 
zember 855. 

2.    Pippin  I.  von  Aquitanien 

Über  die  Kapelle  Pippins  I.  von  Aquitanien  ist  sehr  wenig  bekannt. 

In  einer  Urkunde  aus  dem  Jahre  834  nennt  er  den  Bischof  Fride- 
bert  von  Poitiers,  der  zugleich  Abt  des  dortigen  Klosters  St.  Hilaire 
war,  als  seinen  archicapellanus.^ 

Ob  vorher  der  Abt  Fulko  von  St.  Hilaire  in  Poitiers  sein  Erz- 
kapellan gewesen  ist,  ist  zwar  nicht  unwahrscheinlich,  läßt  sich  aber 
nicht  mit  Sicherheit  entscheiden.^ 

3.   Karl  der  Kahle 

Erzkapellan  Karls  des  Kahlen  in  der  ersten  Zeit  seiner  Regierung 
war  der  Bischof  Ebroin  von  Poitiers.  Er  führt  als  solcher  gewöhnlich 
den  Titel  „archicapellanus  (palatii  nostri)"  oder  „archicapellanus  sacri 
palatii".^  Daneben  kommt  aber  auch  der  auffällige  gräzisierende  Titel 
„sacri  palatii  protocapellanus"  vor.* 

4.    Ludwig  der  Deutsche 

Ludwig  der  Deutsche  trat  die  Regierung  Bayerns,  das  ihm  durch 
die  Reichsteilung  von  817  zugefallen  war,  im  Jahre  826  an.^ 

um  diese  Zeit  wird  er  auch  seine  eigene  Kapelle  eingerichtet 
haben.    Allerdings  sind  wir  nur  sehr  dürftig  hierüber  unterrichtet. 

Eine  einzige  Urkunde  vom   6.  Oktober  830  nennt  zwar  den  Abt 


päpstlichen  Vikariates  erscheint,  zu  erklären,  zu  der  ihm  selbst  etwas  gewaltsamen 
Annahme  greifen,  daß  842  zwar  Drogo  den  Titel  eines  Vikars  noch  nicht  besessen, 
daß  man  ihn  jedoch  bereits  in  der  Umgebung  Lothars  zu  dieser  Würde  ausersehen 
habe  (S.  374f.).  —  Nicht  richtig  Prou,  Ausg.  von  üinkmars  De  ord.  pal.  S.  40  A.  10. 

^  Bouquet  VI,  672:  Fridebestus  (lies  Fridebertus)  episcopus,  archicapellanus 
noster  seu  et  abbas  ex  monasterio  S.  Hilarii,  quod  est  situm  in  suburbano  Picta- 
vensi."  —  Vgl.  Simson,  Ludwig  d.  Fr.  II,  192. 

'  Vgl  Simson,  Ludwig  d.  Fr.  I,  361  A.  2;  II,  192  A.  7.  -  S.  oben  S.  57  A.  4. 

^  Bouquet  VIII,  480  no.  58;  481  no.  59;  514  no.  101.  —  „Summus  cappellanus 
Karoli  regis"  heißt  er  in  einer  Randbemerkung  des  codex  Laudunensis  zu  der  Über-. 
Schrift  „Canones  concilii  in  Verno  palatio  habiti,  ubi  praesedit  Ebroinus  Pictavorum 
episcopus"  des  conc.  Vernense  im  Dez.  844  (Capit.  II,  382). 

*  Bouquet  VIII,  490  no.  70.  —  Im  Jahre  862  scheint  Ebroin  bereits  tot  zu 
sein;  denn  auf  der  Synode  zu  Soissons  (Tardif  no.  187  u.  188)  ist  Ingenaldus  als 
Bischof  von  Poitiers  anwesend;  nach  Gams,  Series  episc.  I,  601  ist  er  858  gestorben. 
Ebroins  Nachfolger  bedürfen  einer  neuen  Untersuchung;  eine  ungenügende  Dar- 
stellung gibt  Prou  a.  a.  0. 

'"  Dümmler,  Gesch.  d.  ostfränk.  Reiches  I,  24. 


Ca  pell  a  67 

^iGozbald  von  Altaich  als  seinen  obersten  Pfalzkapellan ;^  aber  dessen 
sonstige  Funktionen  entsprechen  ganz  denen  des  obersten  Kanzlers; 
30  werden  Urkunden  an  seiner  Statt  rekognosziert.^  Da  wir  für  diese 
lelt,  wie  am  Hofe  Ludwigs  des  Frommen,  so  auch  an  dem  seines 
Sohnes  eine  Vereinigung  der  Ämter  des  obersten  cancellarius  und 
Dbersten  capellanus  nicht  annehmen  dürfen  und  außerdem  der  Titel 
ür  Gozbald  völlig  vereinzelt  dasteht,  so  bleibt  nur  der  Ausweg,  den 
schon  Sickel  gefunden  hat,  daß  nämlich  summus  capellanus  ein  Fehler 
les  Abschreibers  —  die  Urkunde  ist  nur  in  zwei  Kopien  saec.  XII  und 

bidll  überliefert  —  für  summus  cancellarius  sei.^ 

I  Der  erste  Erzkapellan  Ludwigs  war  demnach  Baturich,  der  seit 
317  bereits  auf  dem  Bischofsstuhle  von  R.egensburg  saß.  Er  ist  aller- 
dings erst  in  einer  Urkunde  vom  4.  April  844  als  Leiter  von  Ludwigs 
<apelle  nachzuweisen.^  Das  Jahr,  in  dem  er  seine  Würde  erhalten 
lat,  läßt  sich  daher  nicht  mit  Gewißheit  bestimmen.  Daß  dies  bereits 
^26,  also  gleich  beim  Regierungsantritte  Ludwigs,  geschehen  sei,^  ist 

BA\.  1340:  „vir  venerabilis  Cozbaldus  sacri  palatii  nostri  summus  capellanus 
;t  abba  monasterii  quod  dicitur  Altaha.* 

^  BM.  1340  (830  Okt.  6.),  1342,  1343.  1344,  1345,  1346,  1347,  1348,  1350,  1351, 
L352  (833  Mai  17).     BM.  1341  ist  Fälschung. 

^  Sickel,   Beitr.  z.  Dipl.  II,   151  A.  1  (Wiener  S.-B.  39).  —   Diese  Emendation 

r(|  lahm  allerdings  Sickel  vor  in  der  festen  Überzeugung,  daß  vor  Ludwig  d.  D.  niemals 

;ine  Vereinigung  der  Ämter  des  obersten  capellanus  und  cancellarius  bestanden  habe; 

her  auch  nachdem  Tangl  diese  ältere  Ansicht  nunmehr  erschüttert  hat,  besteht  jene 

/erbesserung  durchaus  zu   Recht.     Wir  müssen    auch    am  Hofe   Ludwigs  d.  D.  für 

liese  Zeit  die  Entwicklung  zu  jenem  Dualismus  annehmen,  der  sich  am  Hofe  seines 

™  /aters  durch  das  Emporsteigen  des  obersten  Kanzlers   angebahnt  hatte.    Jedenfalls 

ind  wir  nicht  berechtigt,  auf  Grund  eines  einzigen,  noch  dazu  schlecht  überlieferten 

Zeugnisses,  die  Vereinigung  der  beiden  Ämter,  die  vielleicht  unter  Karl  d.  Gr.  bestanden 

latte  und  später  durch  Ludwig  d.  D.  selbst  wiederhergestellt  wurde,  auch  für  diese  Zeit 

bJmzunehmen,  zumal  die  sich  ergebende  Emendation   durch  andere  Beispiele  gestützt 

.11  «rd.     Denn   der  Titel  „summus  cancellarius"   ist  bei  Gozbalds  Nachfolger  Grimald 

Ol  JM.  1357  (835  Sept.  30)  nachzuweisen,   ferner  für  Radleic  in   den  tironischen  Noten 

ctf^on  B/V\.  1366  (840  Dez.  10).    Den  Titel  „sacri  palatii  nostri  summus  cancellarius",  der 

lieh  nach  Sickels  Änderung  in  BM.  1340  für  Gozbald   ergibt,  führt  bereits  Fridugis 

n  einer  Urkunde  Ludwigs  d.  Fr.   vom   18.  Sept.  820  (BM.  726,   allerdings  cop.  saec. 

(III).  —  Derselben  Ansicht  wie  Sickel  ist  Dumm  1er,  Gesch.  d.  ostfränk.  Reiches  II, 

128  A.  1.    unklar  und  nicht  richtig  sind  dagegen  die  Ausführungen  Dümmlers  1,26 

und  178),  wo  er  Gozbald  als  Erzkaplan  des  heiligen  Palastes  und  zugleich  als  Vor- 

iteher  der   Kanzlei   bezeichnet,   also   die  Vermengung  zwischen   den   beiden  Ämtern 

'ornimmt,  vor  der  er  selbst  II,  428  A.  1  warnt.    In  denselben  Fehler  verfällt  Eberl, 

5tud.  zur  Gesch.  des  fränk.  Königreiches  Bayern  (Progr.  Passau  1895)  S.  10. 

^  BM.  1376 :    „Baturico   venerabili    episcopo  summoque  capellano   nostro."    — 
)ümmler  II,  433 ff. 

^  So  Dümmler  II,  433.   —   Auch   die  Angabe  der  Magdeburger  Centuriatoren 
EE.  V,  517;  s.  oben  S.  65)   ist  zu  unbestimmt. 

5* 


» 


68  Wilhelm  Lüders 

nicht  zu  erweisen.  Doch  möchte  ich  wenigstens  annehmen,  daß  Batu- 
rich  vor  831  die  Leitung  der  tiofkapelle  bel^onimen  habe;  denn  der  in 
einer  Urkunde  aus  diesem  Jahre  ^  erscheinende  Erchanfridus  diaconus 
et  capellanus  setzt  doch  wohl  auch  einen  archicapellanus  voraus,  und 
das  kann  eben  kein  anderer  als  Baturich  gewesen  sein. 

Nachdem  Baturich  im  Jahre  847  gestorben  war,  folgte  ihm  Grimald 
als  Erzkapellan  Ludwigs  des  Deutschen.  In  den  zwanziger  Jahren  war 
er  bereits  Kapellan  am  Hofe  Ludwigs  des  Frommen  gewesen;  als  solchen 
nennt  ihn  die  Widmung  von  WalahfridsVisio  Wettini  ^  aus  dem  Jahre  824. 
Im  Jahre  833  wurde  er  oberster  Kanzler*  Ludwigs  des  Deutschen  und 
blieb  es,  bis  837  sein  Name  plötzlich  aus  den  Urkunden  verschwindet; 
möglich,  daß  er  sich,  wie  Dümmler^  annimmt,  nicht  mehr  mit  Ludwigs 
Politik  gegen  seinen  Vater  einverstanden  fühlte  und  deshalb  von  seinem 
Amte  zurücktrat.  Doch  war  jedenfalls  die  Entfremdung  nicht  dauernd. 
Schon  841  übertrug  Ludwig  ihm  die  Leitung  des  Klosters  St.  Gallen, 
und  auch  Weißenburg,  dessen  Abt  er  schon  vorher  gewesen  war,  er- 
hielt er  bald  zurück. 

Wann  er  zum  Erzkapellan  ernannt  wurde,  läßt  sich  nicht  mit 
Sicherheit  bestimmen.  Obwohl  sein  Vorgänger  bereits  847  gestorben 
war,  erscheint  er  doch  erst  in  zwei  Urkunden  vom  22.  Juli  854  als 
archicapellanus.^  Es  ist  aber  wohl  anzunehmen,  daß  er  diese  Würde 
entweder  noch  im  Jahre  847  oder  wenigstens  bald  darauf  erhalten  hat' 

Unter  Grimald  fand  dann  die  endgültige  Vereinigung  der  Amtei 
des  Erzkapellans  und  des  Kanzleivorstandes  statt,  welche  im  deutschen 
Reiche  auch  in  den  folgenden  Zeiten  geblieben  ist.    Auch  dieses  Er- 


^  BM.  1345  (831  Aug.  18).  —  Dazu  paßt  auch  sehr  gut  der  tironische  Vermerl» 
zu  BM.  1353  (833  Okt.  19),  in  dem  Baturich,  ebenso  wie  in  dem  zu  BM.  1376  ah 
ambasciator  erscheint  (Tangl,  Arch.  f.  ürkundenf.  I,  150,  152);  der  bloße  Titel  epis- 
copus,  den  Baturich  BM.  1345  und  in  dem  tironischen  Vermerke  zu  BM.  1353  führt 
beweist  keineswegs,  daß  er  damals  etwa  noch  nicht  oberster  capellanus  gewesen  sei 
denn  auch  in  den  tironischen  Noten  zu  BM.  1376  und  im  Texte  von  BM.  1378  (84^ 
Juli  28)  heißt  er  bloß  episcopus  bzw.  episcopus  rector  ipsius  monasterii  (seil,  sanct 
tiemmerammi). 

'Vgl.  über  Grimald  namentlich  Dum  ml  er  I,  92  A.  6;  II,  430f.,  434ff 
Hauck  II,  616. 

^  Poetae  lat.  aevi  Carol.  II,  301  und  334.  —  Den  Zweifel  Sickels,  Acta  I,  10: 
A.  7,  halte  ich  für  nicht  berechtigt. 

*  Zuerst  nachweisbar  BM.  1353  (833  Okt.  19). 

^  Gesch.  des  ostfränk.  Reiches  II,  431. 

«  BM.  1409  und  1410. 

^  Dümmler,    Gesch.  des  ostfränk.  Reiches  II,  434.    —   Hauck  II,  616  A. 
dagegen  meint,   daß  er  erst  854  „oder  kurz  vorher"   Erzkapellan  geworden  sei.    Zt 
einem   sicheren  Ergebnis  führen  auch   die  bei   Zeuss,  Traditiones  Wizenburgense* 
abgedruckten  Urkunden  nicht  (vgl.  no.  156,  158,  165,  166,  167,  200,  204  =  254,  272! 


Capeila  69 

eignis  müssen  wir  nunmehr,  wenn  Tangls  auf  genauer  Lesung  der 
tironischen  Noten  beruhende  Hypothese  zutrifft/  unter  einem  ganz 
anderen  Gesichtspunkte  betrachten.  Sah  man  früher  jene  Vereinigung 
von  Kapelle  und  Kanzlei  in  der  Person  ihres  obersten  Leiters  als 
eine  Neuerung  an,  die  erst  Ludwig  der  Deutsche  eingeführt  habe,  so 
hätte  nach  Tangl  diese  Verbindung  bereits  unter  Pippin  und  Karl 
dem  Großen  bestanden  und  wäre  nur  durch  das  Emporsteigen  des 
Kanzlers  unter  Ludwig  dem  Frommen  zerstört.  Die  Maßnahme  Lud- 
wigs des  Deutschen  war  demnach  keine  Neuerung,  sondern  nur  eine 
Rückkehr  zu  dem  alten  Brauche;  und  doch  wurde  gleichzeitig  etwas 
Neues  geschaffen,  das  für  die  Reichsverfassung  des  Mittelalters  von 
großer  Bedeutung  sein  sollte. 

Ludwig  selbst  scheint  sich  weder  der  Anknüpfung  an  das  Alte 
noch  der  Tragweite,  die  seine  Änderung  haben  mußte,  recht  bewußt 
gewesen  zu  sein.^  Ihn  scheinen  in  erster  Linie  rein  persönliche  Be- 
weggründe bestimmt  zu  haben  :^  Grimald  hatte  sich  schon  früher  als 
Vorstand  seiner  Kanzlei  bewährt,  und  daher  wählte  er  ihn,  als  jetzt 
kurz  nacheinander  zwei  seiner  Kanzler  starben,  auch  zum  Leiter  jener 
Behörde,  obwohl  er  bereits  die  Würde  des  Erzkapellans  inne  hatte. 

Der  König  selbst  hat,  dem  Anscheine  nach,  diese  Maßnahme  an- 
fangs nur  als  provisorisch  angesehen.  Denn  nur  so  wird  man  das 
Schwanken  erklären  können,  das  nach  854  in  den  Rekognitionen  der 
Urkunden  herrscht,  und  das  uns  verbietet,  Grimalds  Erzkanzleramt  von 
2inem  bestimmten  Termine  an  zu  rechnen.^  Nachdem  der  Kanzler 
Radleic  am  14.  Juni,  wahrscheinlich  des  Jahres  854,^  gestorben  war, 
A^erden  zwei  Urkunden  vom  22.  Juli  854  an  Grimalds  Statt  rekognos- 


^  Tangl,  Arch.  f.  ürkundenf.  I,  87 ff.  —  Die  älteren  Darstellungen  sind  nament- 
ich:  Waitz,  VG.  III,  523;  Br esslau,  Handbuch  der  ürkundenlehre  I,  296;  Mühl- 
)acher,  Reg.  (1889)  p.  LXXXVIIf.,  XCVIIIf.;  neuerdings  Erben,  ürkundenlehre  S.51f. 
in  der  Sammlung  von  Below  und  Meinecke). 

'  Das  hebt  Erben  a.  a.  0.  mit  Recht  hervor. 

^  So  Sickel,  Acta  I,  101,  Bresslau,  Erben  a.a.O.  —  Dagegen  möchte  ich 
licht,  wie  Waitz,  VG.  III,  523 f.,  einen  Grund  für  die  Vereinigung  beider  Ämter  darin 
erblicken,  „daß  in  der  Kapelle  auch  wichtige  Urkunden  aufbewahrt  zu  werden  pflegten". 
)ie  irrige  Ansicht,  daß  in  der  Kapelle  das  Archiv  zu  suchen  ist,  ist  bereits  oben 
>.  37  A.  1  zurückgewiesen  worden. 

*  Sickel,  Dümmler  (Gesch.  d.  ostfränk.  Reiches  II,  433),  Bresslau  nehmen  854, 
\\ühlbacher,  Reg.  a.  a.  0.  dagegen  856  an.  Das  Material  reicht  allerdings  zu  einer 
jnzweideutigen  Beantwortung  der  Frage  nicht  aus;  doch  neigt  man  heute  mehr  und 
nehr  der  zuerst  von  Seeliger  (Erzkanzler  und  Reichskanzleien  S.  225,  Waitz, 
^G.  VI-,  347)  vorgetragenen  Ansicht  zu,  daß  zunächst  ein  gewisses  Schwanken,  der 
v^erhältnisse  anzunehmen  sei.  Über  die  Frage  orientieren  jetzt  am  besten  Erben, 
Jrkundenlehre  S.  52  A.  1  und  Seeliger,  Hist.  Vierteljahrsschr.  1908,  I,  83ff. 

^  Das  Todesjahr  ist  nicht  überliefert  (Mühlbacher,  Reg.  a.  a.  0.). 


I 


70  Wilhelm  Lüders 

ziert. -^  Dann  scheint  Ludwig  nochmals  in  Baldrich  einen  selbständigen 
Leiter  der  Kanzlei  gefunden  zu  haben.  Als  jedoch  auch  dieser  bereits 
am  6.  Februar  856  starb,^  wurde  der  Erzkapellan  Grimald  wiederum  zu- 
gleich Vorstand  der  Kanzlei,  eine  Neuerung,  die  nach  einer  abermaligen 
Unterbrechung  während  der  Zeit  von  858—860,  wo  Witgar  in  den  Re- 
kognitionen  als  Kanzler  erscheint,  sich  in  den  nächsten  Jahren  im  Ost- 
frankenreiche allmählich  Geltung  verschaffte,  bis  schließlich  die  Würde 
sowohl  des  Erzkapellans  wie  des  Erzkanzlers  eine  erbliche  Zubehör  der 
Mainzer  Erzbischöfe  wurde. 


§3.    Die  großen  Pfalzkapellen  des  neunten  Jahrhunderts 

1.   Die  Neugründungen  nach  dem  Vorbilde  der  Aachener 

Marienkirche 

Wie  in  der  letzten  Zeit  Karls  des  Großen,  blieb  auch  unter  Lud- 
wig dem  Frommen  die  Marienkirche  zu  Aachen  der  eigentliche  Sit2 
des  Institutes  der  Hofkapelle.  Sie  war,  inmitten  der  sich  stetig  ver- 
mehrenden Anzahl  der  übrigen  capellae  gewissermaßen  noch  immei 
die  capella  xar  h^oxnv^  die  alle  anderen  an  Bedeutung  weit  überragte.' 

Entsprechend  dem  bedeutenden  Ansehen,  das  die  Aachener  Pfalz- 
kapelle im  ganzen  Frankenreiche  genoß,  wurden  nach  ihrem  Vorbilde 
auch  anderwärts  Kirchen  und  Kapellen  erbaut,  vor  allem  die  großer 
Pfalzkapellen  der  späteren  KaroÜnger,  aber  auch  minder  bedeutende 
Bauwerke. 

So  heißt  es  von  der  unter  Ludwig  dem  Frommen  begonnener 
und  im  Jahre  939  allerdings  noch  nicht  vollendeten  Pfalzkapelle  zi 
Diedenhofen  ausdrücklich,  daß  sie  nach  dem  Vorbilde  der  Aachene: 
gebaut  sei.*    Auch  in  der  Pfalz  Gondreville  war  eine  gewiß  nicht  un 

^  BM.  1409  und  1410,  beide  für  sein  Kloster  St.  Gallen.  —  Auch  der  tironisch» 
Vermerk  zu  BM.  1409  (domnus  Ludouicus  rex  fieri  iussit  et  Grimaldus  abba  scriben 
precepit;  Tangl,  Arch.  f.  ürkundenf.  I,  153)  weist  darauf  hin,  daß  Grimald  hie 
tatsächlich  die  Funktionen  des  Kanzlers  ausübt. 

'  Mühlbacher,  Reg.  a.  a.  0. 

'  Vgl.  Ann.  Einhardi  829  (SS.  I,  218  =  Kurze  p.  177);  s.  oben  S.  52  A.  6. 

*  Continuator  Reginonis  939  (SS.  I,  618):  „Omnibus  tamen  Lothariensibus  sub 
actis  (von  Otto  I.)  aliquamdiu  resistere  conatus  est  episcopus  Mettensis,  unde  Theodoni 
Villa  capellam  domni  Ludovici  pii  imperatoris,  instar  Aquensis  inceptum,  ne  perficeretu 
aut  pro  munimine  haberetur,  destruxit."  Vgl.  Simson,  Ludwig  d.  Fr.  II,  263.  - 
Waitz,  VG.  III,  517  A.  2  nennt  irrtümlich  Ingelheim,  indem  er  sich  auf  obige  Stell 
beruft.  Natürlich  hat  auch  hier,  wie  in  allen  karolingischen  Pfalzen,  eine  capell; 
existiert;  wenigstens  war  die  Möglichkeit  gegeben,  das  dort  befindliche  Heiligtun 
mit  diesem  Namen  zu  bezeichnen. 


Capella  71 

igi  bedeutende  Kapelle;   denn  Ludwig  beauftragte  den  Bischof  Frotharius 
faJIvon  Toul,  sie  durch  ein  Bauwerk,  das  jedenfalls  nach  dem  Muster  des 
ortikus  bei  der  Aachener  Marienkirche  errichtet  werden  sollte,  mit  dem 
^falzgebäude  zu  verbinden.^    Vielleicht  war  auch    die  Kirche,   welche 
Bischof  Theodulf  von  Orleans  zu  Germigny  errichtete,  eine  Nachbildung 
Oilder  Aachener  Marienkirche.^ 

Durch  den  Vertrag  zu  Verdun  kam  die  Aachener  Pfalzkapelle  in  die 
land  Lothars  und  seiner  Nachfolger.     Es  war  daher  ganz  natürlich, 
daß  die  übrigen  Karolinger,  deren  Reiche  kein  so  hervorragendes  Pfalz- 
heiligtum  aufzuweisen  hatten,   sich    durch  Neugründungen  Ersatz   zu 
Ischaffen  suchten. 

^So  errichtete  Ludwig  der  Deutsche^  die  Marienkapelle  zu  Frank- 
•t,  der  Pfalz,  in  der  er  häufig  residierte;  das  Heiligtum  wurde  am 
September  852  durch  Erzbischof  Hraban  von  Mainz  geweiht.^  Eine 
zweite  große  Kapelle,  ebenfalls  der  heiligen  Maria  geweiht,  erbaute 
Ludwig  zu  Regensburg, ^  wo  er  schon  als  junger  König  von  Bayern 
|mit  Vorliebe  seinen  Aufenthalt  genommen  hatte. 

Selbst  als  durch  den  Vertrag  von  Mersen  870  die  Aachener  Pfalz- 
Ikapelle  an  das  Ostreich  gekommen  war,  stifteten  die  Nachfolger  Lud- 
wigs des  Deutschen  besondere  königliche  Kapellen,  so  Karlmann  zu 
lÖtting,  Arnulf  zu  Roding  und  Ranshofen.^ 

Karl  der  Kahle  errichtete  für  sein  Reich  das  Stift  zu  Compiegne, 
das  im  Jahre  877  vollendet  wurde.'  Daß  er  diese  Gründung  nicht 
früher  vornahm,  erklärt  sich  daraus,  das  er  immer  noch  auf  die  Er- 
werbung der  Aachener  Pfalzkapelle  selbst  gehofft  hatte.  Diese  Hoff- 
nung war  jedoch  durch  den  Vertrag  von  Mersen  zuschanden  geworden,® 
und  so  wollte  er  wenigstens  durch  die  Gründung  eines  großen  Stiftes 
zu  Compiegne  Ersatz  schaffen. 


-" 


^  Brief  des  Frotharius  an  Hilduin  vom  Jahre  828  (EE.  V,  282);  vgl.  Simson, 
Ludwig  d.  Fr.  II,  262. 

^  Simson,  Karl  d.  Gr.  II,  559.  —  Mühlbacher,  Deutsche  Gesch.  unter  den 
Karolingern  S.  233  nennt  auch  Otmarsheim  im  Elsaß. 

^  Monachus  Sangall.  II  c.  11  (SS.  II,  754):  „Oratoria  nova  ad  Franconovurt  et 
Reganesburg  admirabili  opere  construxit." 

*  Dümmler,  Gesch.  des  ostfränk.  Reiches  I,  359 f.,  II,  422. 

^  Dümmler,  a.  a.  0.  I,  359f.,  II,  385,  482. 

'  Dümmler,  a.  a.  0.  III,  139,  477. 

'  Dümmler,  a.  a.  0.  II,  422;  III,  41. 

^  Im  Anfange  der  uns  erhaltenen  Stiftungsurkunde  (Bouquet  VIII,  659)  nimmt 
Karl  ausdrücklich  darauf  Bezug:  „cum  pars  illa  regni  nobis  sorte  divisionis  nondum 
contigerit." 


72  Wilhelm  Lüders 

2.    Die  Pfalzkapellen  des  neunten  Jahrhunderts  als  selbständige 

Stifter 

Die  großen  Pfalzheiligtümer  des  9.  Jahrhunderts  führen  meist  noch 
die  alte  Bezeichnung  capella,  oder  die  Herrscher  geben  ihr  besonderes 
Interesse  für  sie  durch  die  Bezeichnung  als  capella  regalis  ^  oder  capelh; 
nostra^  zu  erkennen.  Daneben  finden  sich  aber  auch  neue  Benennungen. 
So  wird  die  Aachener  Marienkirche  870  im  Vertrage  zu  Mersen  als 
abbatia  de  Aquis  bezeichnet.^  Karl  der  Kahle  nennt  das  von  ihm  be- 
gründete Marienstift  zu  Compiegne  monasterium,*  ebenso  Karlmann  die 
von  ihm  zu  Ötting  erbaute  Kirche,^  während  sie  von  seinen  Nachfolgern 
wiederum  nur  als  capella  bezeichnet  wird. 

Schon  diese  neuen  Bezeichnungen  lassen  den  Umschwung  er- 
kennen, der  sich  im  Laufe  des  9.  Jahrhunderts  mit  den  großen  Pfalz- 
kapellen vollzog:  diese  lösten  sich  von  dem  obersten  capellanus  und 
den  capellani  allmählich  völlig  los  und  bildeten  schließlich  selbständige 
große  Stifter,  in  denen  unter  der  Leitung  eigener  Abte  Kanoniker 
ihren  Sitz  hatten. 


'  BM.  1920  (896  Aug.  2). 

^  BM.  1502,  1509,  1652,  1690,  1710,  1955.  —  capellam  suam  BM.  1570,  1645. 

'   MG.  Leg.  I  fol.,  516 f. 

"•  Bouquet  VIII,  659. 

'  BM.  1521. 

®  Daß  die  königlichen  Kapellen  dieser  Zeit  durchweg  Kanonikate  und  nicht 
Mönchsklöster  gewesen  sind,  ist  zweifellos,  obwohl  Haagen,  Gesch.  Aachens  I,  19 
behauptet,  daß  im  Aachener  Marienstifte  Benediktiner  gelebt  hätten  (vgl.  Qu  ix,  fiist. 
Beschr.  der  Münsterkirche  in  Aachen,  Aachen  1825,  S.  63;  J.  H.  Kessel,  Geschieht!. 
Mitt.  über  die  Heiligt,  der  Stiftskirche  zu  Aachen,  1874,  S.  3).  Allerdings  sind  die 
Zeugnisse,  die  unzweifelhaft  den  Charakter  der  Kapellen  als  Kanonikate  dartun,  in 
unserem  Material  nur  spärlich:  erst  901  (BM.  1995)  ist  ausdrücklich  von  den  „fratres 
.  .  .  canonice  degentes"  zu  Ötting  und  um  dieselbe  Zeit  (900—911,  BM.  2069)  von 
den  „canonici  in  capella  Radisponensis  civitatis  .  .  .  famulantes"  die  Rede.  Aber  auch 
die  Bezeichnungen  abbas,  monasterium,  fratres,  abbatia  (de  Aquis)  beziehen  sich 
nicht  notwendig  auf  ein  Mönchskloster.  Denn  nach  Werminghoff,  Die  Beschlüsse 
des  Aachener  Konzils  im  Jahre  816  (NA.  XXVII,  625)  werden  die  Vorsteher  der  Stifter 
nicht  selten  abbates  canonici  genannt;  der  gebräuchlichste  Titel  der  Leiterin  eines 
Kanonissenstiftes  ist  sogar  das  bloße  abbatissa  (nur  einmal  weiß  Werminghoff 
praelata  und  abbatissa  canonica  zu  belegen,  a.  a.  0.  S.  632),  was  also  genau  unserem 
abbas  entsprechen  würde.  Ebenso  ist  das  bloße  monasterium  (a.  a.  0.  S.  631)  eine 
häufige  Bezeichnung  eines  Kanonissenstiftes,  also  auch,  so  dürfen  wir  folgern,  für 
ein  Kanonikerstift  möglich.  Kommen  demnach  Ausdrücke,  die  unzweifelhaft  auf 
Mönchsklöster  hinweisen,  nirgends  vor,  so  ist  andererseits  gerade  die  Bezeichnung 
clerici  in  dieser  Zeit  ein  häufiger  Ausdruck  für  Kanoniker  (vgl.  Puckert,  Aniane 
und  Gellone  S.  19  A.  12f.).  VgL  auch  H.  Schäfer,  Pfarrkirche  und  Stift  im 
deutschen  Mittelalter  (Stutz'  kirchenrechtl.  Abhandlungen  3.  Heft  1903)  S.  125 f. 


Capella  73 

Der  Grund  zu  dieser  Entwicklung  ist  ohne  weiteres  klar.  Hatte 
unter  Karl  dem  Großen  und  Ludwig  dem  Frommen  der  oberste  Kapellan 
noch  selbst  die  Pfalzkapelle  mit  den  darin  dienenden  capellani  unter 
isich  gehabt,  so  mußte  ihn  unter  den  folgenden  Karolingern  seine  zu- 
nehmende Machtstellung  und  sein  sich  stetig  erweiternder  Geschäfts- 
kreis, namentlich  seitdem  er  unter  Ludwig  dem  Deutschen  noch  die 
'Oberaufsicht  über  die  Kanzleigeschäfte  erhalten  hatte,  bald  an  der  Aus- 
übung jener  Pflichten  hindern.  Andererseits  wurde  durch  mancherlei 
Schenkungen  auch  der  Besitz  der  Pfalzkapellen  so  bedeutend,  daß  sie 
2iner  selbständigen  Leitung  bedurften. 

Man  wird  nicht  fehlgehen,  in  dieser  Entwicklung  eine,  wenn  auch 
späte  Nachwirkung  der  Reformen  Benedikts  von  Aniane  zu  sehen. 
Schon  in  den  zwanziger  Jahren  hatte  die  kirchliche  Reformpartei  die 
Hofgeistlichkeit  scharf  angegriffen,  weil  sie  weder  zu  den  Mönchen 
noch  zu  den  Kanonikern  zu  zählen  sei.^  Ludwig  der  Fromme  hatte 
damals  diesen  Angriffen  kein  Gehör  gegeben:  er  hatte  weder  die 
Hofkapelle  aufgehoben ,  noch  sie  zur  Annahme  der  vita  canonica 
igezwungen.  Nun  aber  drang  die  vita  canonica  doch  noch  in  die 
Hofgeistlichkeit  ein,  allerdings  nicht  in  der  Weise,  daß  diese  in  ihrer 
Gesamtheit  sie  annahm,  sondern  vielmehr  in  der  Weise,  daß  sich 
an  den  einzelnen  großen  Pfalzkapellen  besondere  Kanonikate  heraus- 
bildeten. 

Bei  welcher  der  großen  Pfalzkapellen  die  Entwicklung  zu  einem 
selbständigen  Stifte  zuerst  eingesetzt  hat,  läßt  sich  nicht  mit  Bestimmtheit 
entscheiden;  doch  ist  es  am  wahrscheinlichsten,  daß  sie  am  frühesten 
bei  der  Aachener  Pfalzkapelle  stattgefunden  hat.  Denn  wenn  die  erste 
Urkunde,  die  uns  darüber  Aufschluß  gibt,  auch  erst  aus  dem  Jahre  887, 
oder  will  man  die  Stelle  „abbatiam  de  Aquis"  des  Mersener  Teilungs- 
vertrages mitrechnen,  aus  dem  Jahre  870  stammt,  so  muß  jene  Ent- 
wicklung doch  weit  früher  eingesetzt  haben,  da  die  großen  nach  dem 
Vorbilde  der  Aachener  Marienkirche  gegründeten  Pfalzkapellen,  zuerst 
die  852  geweihte  Pfalzkapelle  zu  Frankfurt,  bereits  von  vornherein  den 
Charakter  von  Stiftern  tragen. 

Nach  der  Urkunde  Karls  des  Kahlen  für  Compiegne  aus  dem 
Jahre  877  hätte  sogar  schon  Karl  der  Große  der  Aachener  Kapelle  die 
Verfassung  eines  Stiftes  gegeben,  indem  er  dort  clerici  eingesetzt 
hätte.  ^     Aber   Karl    der   Große    war    kein   Freund    klösterlicher   Neu- 


^  Siehe  oben  S.  62. 

^  Bouquet  VIII,  659:  „imperator  avus  .  .  .  noster  Karolus  ...  in  pälatio 
Aquensi  capellam  in  honore  beatae  Dei  genitricis  et  virginis  Mariae  construxisse  ac 
clericos   inibi  Domino   ob   suae  animae  remedium  atque  peccaminum   absolutionem 


74  Wilhelm  Lüders 

gründungen;^  diese  clerici  sind  zweifellos  nichts  anderes  als  die  „cleric 
qui  in  capella  regis  habitant",  welche  bereits  794  auf  der  Frankfurte 
Synode  erwähnt  werden,  oder  die  „clerici  de  capella  nostra",  von  dener 
Karl  im  Capitulare  de  villis  spricht;  also  nichts  anderes  als  eben  di( 
capellani,  welche  unter  der  Leitung  des  obersten  capellanus  den  Diens 
in  der  Kapelle  verrichteten.  Immerhin  waren  doch  Ansätze  zu  de 
späteren  Entwicklung  gegeben. 

Auch  unter  Ludwig  dem  Frommen  verlautet  noch  nichts  davon,  dat 
die  Pfalzkapelle  zu  Aachen  den  Charakter  eines  Stiftes  gehabt  habe. 

Wenn  nun  die  königliche  Kapelle  zu  Frankfurt,  welche  852  ge 
weiht  ist,  gleich  von  Anfang  an  einen  solchen  gehabt  hat,  so  wird  dii 
Aachener  Marienkirche  jedenfalls  unter  Lothar  I.  Stift  geworden  sein 
Daß  diese  Entwicklung  schwerlich  früher  eingesetzt  hat,  läßt  sich  schoi 
daraus  schließen,  daß  keine  der  uns  erhaltenen  Schenkungsurkundei 
für  die  Aachener  Kapelle  über  die  Regierung  Lothars  IL  zurückweist;^  fall: 
sie  sich  eher  zu  einem  selbständigen  Stifte  entwickelt  hätte,  so  würdei 
sich  wohl  auch  Schenkungsurkunden  aus  früherer  Zeit  erhalten  haben 

Diese  Schenkungsurkunden  sind  es  eben,  welche  das  Wesen  de 
großen  Pfalzkapellen  während  dieser  Zeit  erkennen  lassen.  Obwoh 
diese  Entwicklung  mit  der  früheren  Kapelle,  wie  sie  am  Hofe  Karl: 
des  Großen  und  Ludwigs  des  Frommen  bestand,  eigentlich  nichts  meh 
zu  tun  hat,  sei  sie  doch  im  folgenden  kurz  skizziert. 

Die  erste  Urkunde  zugunsten  der  Aachener  Marienkirche,  von  de 
wir  hören,  eine  Schenkung  König  Lothars  IL,  ist  verloren;  doch  laß 
sich  ihr  Inhalt  aus  der  Urkunde  Arnulfs  vom  13.  Juni  888  rekon 
struieren.^    Die  Kapelle  erhielt  den  Neunten  von  43  königlichen  Villen, 


pariterque  ob  dignitatem  apicis  imperialis  deservire  constituisse."  —  Auf  Grun( 
dieser  Nachricht  nimmt  Simson,  Karl  d.  Gr.  II,  560  auch  wirklich  an,  daß  Kar 
an  der  Marienkirche  ein  „Stift  von  Klerikern"  begründet  habe. 

'  Hauck  II,  565. 

^  Die  verlorene  Urkunde  Lothars  IL,  erwähnt  BM.  1796,  ist  die  älteste  erkenn 
bare  Schenkung  für  die  Aachener  Marienkapelle.  —  Daß  vielleicht  Lothar  IL  über 
haupt  erst  die  Umwandlung  der  Aachener  Marienkirche  in  ein  Stift  vorgenommer 
hätte  und  demnach  Ludwigs  des  Deutschen  Gründung  zu  Frankfurt  (852)  als  dii 
erste  königliche  Kapelle  mit  Stiftsverfassung  anzusehen  wäre,  ist  deshalb  nicht  an 
zunehmen,  weil  Karl  d.  K.  877  bereits  Karl  d.  Gr.  die  Gründung  des  Aachener  Stift; 
—  wenn  auch  zweifellos  mit  unrecht  —  zuschreibt.  Hätte  Lothar  IL  (855—869 
jene  Umwandlung  vorgenommen,  so  hätte  dies  Karl  d.  K.  im  Jahre  877  noch  wisser 
müssen. 

'  BM.  1796.  —  BM.  1170,  angeblich  eine  Urkunde  Lothars  I.  vom  16.  Jan.  855 
ist  gefälscht.  Die  hier  tradierte  Peterskapelle  in  Sinzig  ist,  nach  Mühlbacher,  ur 
kundlich  erst  Ende  des  12.  Jahrhunderts  im  Besitze  der  Aachener  Marienkirche 
nachzuweisen. 

*  Darunter  sind  Aachen,  Mersen,  Elsloo,  Heristal,  Jupille,  Ambl^ve,  Düren. 


Capella  75 


ilso  eine  außerordentlich  bedeutende  Zuwendung.  Augenscheinlich  war 
lie  Pfalzkapelle  noch  nicht  lange  selbständiges  Stift,  und  es  handelte 
;ich  darum,  durch  reiche  Schenkungen  ihren  Bestand  zu  sichern.  Nicht 
ninder  wichtig  ist  dann  die  Urkunde,  durch  die  Karl  III.  im  Jahre  887 
ier  Marienkirche  die  Villa  Bastogne  im  Ardennengau  nebst  ihrem 
v\arkte  schenkte;  denn  hier  wird  zum  ersten  Male  der  Abt,  welcher 
zweifellos  seit  Umwandlung  der  Kapelle  in  ein  Stift  an  der  Spitze  der 
3rüder  stand,  urkundlich  erwähnt.^  Das  Privileg  vom  13.  Juni  888,  in 
iem  Arnulf  die  Schenkungen  Lothars  IL  und  Karls  IIL  bestätigt,  nennt 
hn  „rector  atque  provisor  capellae".^ 

Auch  Ludwig  stattete  seine  Gründung  zu  Frankfurt  reichlich  aus, 
ndem  er  ihr  eine  große  Anzahl  von  Kapellen  und  Kirchen  nebst  den 
iazugehörigen  Zehnten  schenkte.^  Außer  den  Priestern  der  einzelnen 
<irchen  sollten  zwölf  clerici  an  der  Pfalzkapelle  ihren  Unterhalt  haben. 
3er  Abt,  der  auch  hier  der  Pfalzkapelle  vorstand,  sollte  für  immer  von 
ier  Heerfahrt  befreit  sein.^  Als  solcher  erscheint  in  den  Urkunden 
Ludwigs  IIL  und  Karls  IIL,  welche  die  Anordnungen  ihres  Vaters  be- 
stätigten, Williheri,  zugleich  Abt  von  St.  Maximin  in  Trier;  er  hatte 
edenfalls  auch  schon  unter  Ludwig  dem  Deutschen  die  Leitung  der 
Pfalzkapelle  in  Händen  gehabt. ^^ 

Ganz  dieselbe  Verfassung  hatte  die  Regensburger  Kapelle.  Auch 
liier  stand,  wie  in  Frankfurt,  ein  abbas,^  der  gelegentlich  auch  „rector 
ecclesiae"  genannt  wird,'  an  der  Spitze  des  Stiftes  und  seiner  Kanoniker.^ 


ne 


^  BM.  1739:  „nullusque  eiusdem  ecclesiae  a66a5  benefaciendi  habeat  licentiam. 

Mühlbacher  hat  in  dem  Regest  den  Zusatz  „kein  Abt,  jetzt  Propst  geheißen", 

doch    habe    ich    in    den    von    mir   benutzten    Drucken    (Quix,    Cod.   dipl.  Aqu.    4, 

La  com  biet  I    no.  74)    keinen    derartigen    Zusatz    gefunden.      Erst    Lacomblet  I 

nilno.  107  (vom  Jahre  996)  heißt  es  abbas,  qui  modo  prepositus  dicitur;  vgl.  Schäfer, 

1(1  Pfarrkirche  und  Stift  im  deutschen  Mittelalter,  S.  128  A.  6. 

'  BM.  1796. 

^  Alle  diese  Maßnahmen  Ludwigs  sind  ersichtlich  aus  den  Bestätigungsurkunden 
Ludwigs  III.  (BM.  1570,  880  Nov.  17)   und   Karls  IIL  (BM.  1645,  882  Dez.  2).     Auch 
3b(| Schenkungen  von  Privatleuten  an  die  Kapelle  kamen  vor;  so  bestätigt  873  (BM.  1502) 
Ludwig  d.  D.  die  Schenkung  einer  Frau  Rotlind. 

*  BM.  1570  (und  1645):  „ab  illo  abbate,  cui  ipsa  cappella  commissa  fuerit, 
nulla  umquam  hostilis  expeditio  exigatur." 

^  Die  Bemerkung  im  Codex  dipl.  Moenofrancofurtensis  ed.  2,  I,  3,  daß  Williheri 
in  den  Libri  confraternit.  s.  Galli  I,  76,  14  als  Williheri  abbas  Francofurt.  cappellanus 
erscheine,  ist  irreführend;  im  Texte  steht  nur  Williheri,  das  übrige  ist  Erläuterung 
des  Herausgebers  in  der  zugehörigen  Anmerkung. 

^  BM.  1652,  1710. 

'  BM.  1652  (883  März  23). 

'  Diese  heißen  BM.  1509  (875  Mai  18)  nur  fratres,  BM.  2069  (900—911)  jedoch 
ausdrücklich  „canonici  in  capella  Radisponensis  civitatis  in  honore  sanctae  Dei 
genitricis  constructa  Domino  salvatori  famulantes". 


76  Wilhelm  Lüders 

Unter  Karl  III.  hatte  Engilmar  die  Abtswürde  inne.^  Von  den  letzter 
Karolingern  wurde  die  Regensburger  Kapelle  aufs  reichste  mit  Schen- 
kungen bedacht.^  Später  geriet  sie  in  Verfall,  bis  sie  durch  Heinrich  II 
neu  begründet  wurde.^ 

Ein  sehr  großes  Stift  war  die  von  Karl  dem  Kahlen  gegründete 
Marienkirche  in  der  alten  Merowingerpfalz  zu  Compiegne.  Die  hervor- 
ragende Stellung,  die  sie  im  gesamten  Westfrankenreiche  einnehmen 
sollte,  wird  durch  die  Bezeichnung  als  monasterium  regium  gekenn- 
zeichnet* Sie  sollte  mit  dem  Kloster  Prüm  und  dem  Frauenstifte  der 
heiligen  Maria  zu  Laon  auf  einer  Stufe  stehen.  Die  stattliche  Anzahl 
von  hundert  clerici  erhielt  dort  ihren  Unterhalt,  um  für  den  Bestand 
der  Kirche  und  des  Reiches  sowie  für  Karls  Person  und  Familie  die 
Gnade  Gottes  anzuflehen.  Eine  große  Menge  von  Villen  und  Kapellen 
wurde  von  Karl  zum  Unterhalte  des  Stiftes  und  seiner  Kanoniker  ge- 
schenkt. 

Die  Pfalzkapelle  zu  Ötting,  die  Karlmann  zu  Ehren  der  h.  Maria 
und  des  Apostels  Philipp  erbaute  und  sich  zu  seiner  letzten  Ruhestätte 
ausersah,  wurde  von  ihm  selbst  mit  der  Abtei  Mattsee  und  einer  Kapelle 
zu  Ötting  nebst  einem  Hofe  zu  Buch  beschenkt.^  Auch  von  Karl  III., 
Arnulf  und  Ludwig  dem  Kinde  erhielt  sie  reiche  Zuwendungen.^  Als 
Abt  der  bei  ihr  lebenden  Kanoniker  wird  901  Burkhard  genannt.'^ 

Die  von  Arnulf  zu  Ehren  des  Apostels  Jakob,  des  heiligen  Pankraz 
und  der  von  Rom  in  die  Heimat  mitgebrachten  Heiligen  erbaute  könig- 
liche Kapelle  zu  Roding  beschenkte  der  Gründer  selbst  am  2.  August  896.^ 
Ein  Abt  wird  nicht  erwähnt,  es  ist  bloß  von  den  dort  Gott  dienenden 
Brüdern  die  Rede.^ 

Die  letzte  derartige  Gründung  der  karolingischen  Zeit  scheint  die 
von  Arnulf  erbaute  Kapelle  zu  Ranshofen  gewesen  zu  sein.    Sie  wird 


^  BM.  1652,  1710. 

2  BM.  1509,  1652,  1690,  2069. 


»  Vgl.  BM.  2069.  —  MG.  DD.  III,  29  Urkunde  Heinrichs  II.  vom  16.  Nov.  1002. 

*  Bouquet  VIII,  659:  „infra  tarnen  potestatis  nostrae  ditionem,  in  palatio 
videlicet  Compendio  .  .  .  monasterium,  cui  regium  vocabulum  dedimus,  fundotenus 
extruximus." 

^  BM.  1521  (877  Febr.  24). 

«  BM.  1711,  1955,  1995. 

^  BM.  1995.  —  In  derselben  Urkunde  ist  auch  ausdrücklich  von  den  „fratres 
ibidem  canonice  degentes"  die  Rede. 

^  BM.  1920:  „qualiter  nos  aecclesiam  et  regalem  capellam  nostram,  quam  ad 
Rotagin  a  fundamentis  construere  iussimus  et  dedicare  fecimus  in  honore  et  vene- 
ratione  sancti  Jacobi  apostoli  fratris  domini  et  sancti  Pancratii  sanctarumque  quas 
a  Roma  nobiscum  in  istam  patriam  deferimus,  istis  infra  titulatis  casis  dotavimus  . . ." 

®  BM.  1920:  .  .  .  „ad  memoratam  cappellam  nostram  Rotagin  ad  opus  fratrum 
ibidem  Deo  die  noctuque  famulantium  .  .  .  donamus  et  tradimus  . .  ." 


Capella  77 

ftj  erst  ganz  am  Ende  seiner  Regierung,  am  17.  Oktober  898  und  am 
.  Februar  899,^  erwähnt.  Auch  konnte  sie  sich  nicht  mehr  zu  großer 
edeutung,  vielleicht  nicht  einmal  zu  einem  regelrechten  Stifte  ent- 
j^^ickeln,  obwohl  von  den  „servi  Dei  ibidem  divina  persolventes  officia" 
jie  Rede  ist.^  Denn  Arnulf  verfügte,  daß  sie  nach  dem  Ableben  ihres 
Inhabers,  des  Priesters  Ellimpreht,  an  die  Kapelle  zu  Ötting  fallen  und 
so  ihre  Selbständigkeit  einbüßen  sollte.^ 


Auf  der  Entwicklungsstufe,  die  die  Hofkapelle  in  der  zweiten  Hälfte 
des  9.  Jahrhunderts   erreicht   hatte,   blieb   sie   im   wesentlichen   auch 

d  während  der  folgenden  Jahrhunderte  im  Deutschen  Reiche  stehen. 

Eine  strenge  Konzentration  und  trotzdem  eine  klare  Scheidung 
des  persönlichen  und  des  räumlichen  Elementes  bestand  nur  unter 
Karl  dem  Großen  und  auch  noch  unter  Ludwig  dem  Frommen.  Aber 
der  auf  diese  Weise  kaum  geklärte  Begriff  der  Hofkapelle  war  nicht 
von  langer  Dauer.  Bald  schieden  sich  wieder  die  einzelnen  Elemente 
voneinander.  Etwa  seit  der  Mitte  des  9.  Jahrhunderts  stand  in 
Deutschland    wieder   auf    der    einen   Seite    die   Hofgeistlichkeit    unter 

^  dem  archicapellanus,  der  nun  außerdem  noch  die  Leitung  der  Kanzlei 
erhielt,  und  auf  der  anderen  Seite  das  räumliche  Element,  das  sich 
jetzt  in  selbständigen  großen  Residenzkapellen  unter  der  Leitung  eigener 
Äbte  verkörperte. 

Diese  Trennung  blieb  auch  in  der  Folgezeit  bestehen.  Das  Erz- 
kapellansamt wurde  bald  eine  erbliche  Zubehör  ausschließlich  der 
Mainzer  Erzbischöfe.  Andererseits  fuhren  Kaiser  und  Könige  fort,  an 
den  jeweilig  von  ihnen  bevorzugten  Pfalzen  große  Stifter  zu  gründen 
und  sie  mit  umfassenden  Vorrechten  auszustatten.^  Auch  für  sie  be- 
gegnet noch  nach  Jahrhunderten  die  alte  Bezeichnung  capella.^ 

Aber  mit  dieser  Abspaltung  des  Begriffes  capella  von  der  ursprüng- 
lichen Hofkapelle  war  es  noch  nicht  genug.    Capella  wurde  im  Laufe 

^  des  9.  Jahrhunderts  auch  ein  gebräuchlicher  Ausdruck  für  jede  andere 


'  BM.  1946  und  1951. 

'  BM.  1951. 

«  BM.  1946. 

*  Vgl.  Ficker,  Reichsftirstenstand,  S.363ff.;  ferner  G.  N öl deke,  Verfassungsg. 
des  kaiserlichen  Exemtstiftes  SS.  Simonis  et  Judae  zu  Goslar  von  seiner  Gründung 
bis  zum  Ende  des  Mittelalters,  Gott.  Diss.  1904. 

'"  So  heißt  es  z.B.  in  der  bei  N  öl  deke  a.a.O.  S.  3  A.  1  zitierten  Urkunde 
vom  Jahre  1295  (Goslarer  Urkundenbuch  II,  479):  „nos  .  .  .  eidem  monasterio  (näm- 
lich SS.  Simonis  et  Judae  zu  Goslar)  tamquam  speciali  nostre  capelle  gracias  fruc- 
tuosas  regni  nostri  temporibus  intendimus  impertiri  ..." 


78  Wilhelm  Lüders 

Art  von  Heiligtümern,  mochten  sie  nun  in  Händen  des  Königs,  in 
denen  von  Bischöfen,  Klöstern  oder  Laien  sein.  Wie  sich  diese  Ab- 
spaltung vollzogen  hat,  wird  der  folgende  Abschnitt  untersuchen. 


IV.   Capeila  als  Eigenkirche  ohne  Verbindung  mit 
Residenz  und  Hofgeistlichkeit 

§  1.   Capellae  auf  Königsgut 

1.    Die  Entstehung  der  gewöhnlichen  Pfalzkapellen  neben  den 
großen  Residenzkapellen 

Wir  sahen  oben,  daß  im  Prinzip  für  jedes  Heiligtum  einer  könig- 
lichen Villa  die  Möglichkeit  gegeben  war,  dadurch,  daß  der  Hof  mit 
seinen  Reliquien  und  ihren  Hütern,  den  capellani,  in  der  betreffenden 
Pfalz  seinen  Aufenthalt  nahm,  mit  der  Hofkapelle  in  Verbindung  zu 
treten  und  so  die  Bezeichnung  capella  zu  erhalten. 

Dann  trat  jedoch  eine  für  die  Folgezeit  entscheidende  Neuerung 
ein:  Karl  der  Große  machte  die  von  ihm  erbaute  Marienkirche  zu 
Aachen  zum  ständigen  Sitz  der  Hofkapelle,  und  auch  unter  seinen 
Nachfolgern  kamen  zu  diesem  Reichsheiligtum  nur  noch  wenige  aus- 
erlesene Pfalzkapellen  hinzu. 

Diese  Maßnahme  mußte  für  die  Weiterentwicklung  der  Kapellen 
von  entscheidender  Bedeutung  werden.  Durch  sie  wurde  die  gesamte 
Masse  der  capellae  in  zwei  große  Gruppen  geschieden.  Auf  der  einen 
Seite  standen  nunmehr  die  großen  privilegierten  Residenzkapellen,  auf 
der  anderen  jedoch  die  gewöhnlichen  Pfalzkapellen,  die  mit  dem  Hof- 
institute in  keiner  Verbindung  mehr  standen.  Diese  hatten  also  eigent- 
lich die  Berechtigung,  den  Namen  capella  noch  weiter  zu  führen,  ver- 
loren. Aber  diese  Bezeichnung  war  schon  zu  weit  verbreitet.  Schon 
vor  der  Gründung  der  Aachener  Kapelle  führten  königliche  Pfalzheilig- 
tümer in  ganz  entgegengesetzten  Teilen  des  Reiches  diesen  Namen;  ^ 
ja,  vielleicht  hatten  schon  damals  manche  von  ihnen  niemals  mit  dem 
Hofinstitute  in  Verbindung  gestanden  und  nur  in  Analogie  zu  anderen 
Pfalzheiligtümern  die  Bezeichnung  capella  erhalten. 

So  kam  es,  daß  die  Bewegung  nicht  ins  Stocken  geriet,  sondern 
im  Gegenteil  immer  weiter  um  sich  griff.     Das  läßt  sich  schon   aus 


^  Siehe  oben  S.  46  f. 


Capella  79 

jem  stetigen  Häufigerwerden  des  Ausdruckes  capella  in  den  Königs- 
jrkunden  erschließen.  Die  Quellen  des  8.  Jahrhunderts  nennen  nur 
A^enige  capellae.  Naturgemäß  wird  ihre  Anzahl  in  dieser  Zeit  auch 
loch  verhältnismäßig  gering  gewesen  sein.  Doch  muß  man  anderer- 
seits auch  mit  der  lückenhaften  Überlieferung  rechnen;  jedenfalls  ist 
3s  eine  sehr  beachtenswerte  Tatsache,  daß  capellae  sich  schon  früh  in 
A/eit  entlegenen,  ja  sogar  in  eben  erst  eroberten  Gebieten  des  Reiches, 
A^ie  Bayern  und  Italien,  finden.  Seit  dem  Anfange  des  9.  Jahrhunderts 
A^erden  sie  immer  häufiger  erwähnt. 

Während  die  eine  Schicht  der  capellae  durch  die  Karolinger  zu 
^roßer  Macht  und  hohem  Ansehen  erhoben  wurde,  blieb  die  andere  in 
ier  niederen  Stellung,  die  sie  schon  vorher  innegehabt  hatte.  Gleich- 
vohl  hat  auch  sie  ihre  Geschichte. 


1.    Die   Stellung   der   gewöhnlichen   capellae   unter   den  Heilig- 
tümern des  Königs 

Die  karolingischen  Heiligtümer  waren,  als  die  Bezeichnung  capella 
ufkam,  sämtlich  dem  germanischen  Eigenkirchenrechte  unterworfen, 
fVelches  sich  im  letzten  Jahrhundert  der  Merowingerherrschaft  zum 
•  l'ölligen  Siege  im  Frankenreiche  durchgerungen  hatte. ^ 

In  ihrer  rechtlichen  Stellung  unterschieden  sie  sich  in  keiner  Weise 
/on  den  übrigen  grundherrlichen  Kirchen.^  Sie  waren  zum  Teil  Pfarr- 
■  jnd  Taufkirchen,  in  der  Mehrzahl  jedoch,  gerade  wie  auch  die  meisten 
ihrigen,  nichtköniglichen  Eigenkirchen,  bloß  kleinere  Heiligtümer,  die, 
)hne  das  Taufrecht  und  die  sonstigen  Rechte  der  größeren  Kirchen  zu 
)esitzen,^  lediglich  zur  Befriedigung  der  täglichen  kirchlichen  Bedürf- 
lisse  der  umwohnenden  Bevölkerung  dienten.  Die  Bezeichnung  der 
jrsteren  Gattung  war  in  der  merowingischen  Zeit  meist  ecclesia  oder 
)arrochia,  die  letzteren  wurden  gewöhnlich  Oratorium,  sehener  basilica 
)der  martyrium  genannt.^ 

l 


^  Stutz,  Gesch.  des  liirchlichen  Benefizialwesens,  S.  137. 

^  Stutz  S.  153. 

^  Über  die  Sonderrechte  der  Pfarr- und  Taufkirchen  vgl.  Loening,  Gesch.  des 
leutschen  Kirchenrechts  II,  347 ff. 

*  Vgl.  Loening  II,  354.  —  So  setzt  z.  B.  Alcimus  Ecdicius  Avitus,  Bischof 
/on  Vienne,  in  einem  Briefe  aus  dem  Jahre  517  oratoria  sive  basilicae  im  Gegen- 
>atz  zu  ecclesiae  (Auct.  antiq.  V  2,  35).  Bei  Venantius  Fortunatus  bezeichnet  basilica 
nit  einem  Genitiv,  z.  B.  basilica  s.  Martini,  die  gewöhnlichen  Kirchen,  ecclesia,  ebenso 
mt  bei  Gregor  von  Tours,  die  Bischofskathedralen  (W.  Meyer,  Der  Gelegenh'eits- 
iichter  Venantius  Fortunatus,  Abh.  d.  königl.  Ges.  d.  Wiss.  zu  Göttingen,  phil.-hist. 
Klasse,   N.  F.,   Bd.  IV,  Nr.  5,   S.  81):  die  oratoria  sind  auch  hier  die  einfachen   Bet- 


80  Wilhelm  Lüders 

Zu  Beginn  der  karolingischen  Zeit  hatten  sich  diese  Bedeutungen 
insofern  ausgeglichen,  als  zwar  ecclesia  speziell  noch  immer  die 
große  Pfarr-  und  Taufkirche  bezeichnete,  aber  zugleich,  wie  zahl- 
reiche Beispiele  beweisen,  auch  identisch  mit  Oratorium  und  basilica 
gebraucht  wurde.  Andererseits  wurde  basilica  auch  in  der  Bedeutung 
von  Pfarr-  und  Taufkirche,  ja  sogar  in  der  von  Bischofskirche  ver- 
wendet.-^ 

Die  neu  aufkommende  Bezeichnung  capella  setzte  sich  in  erstei 
Linie  natürlich  für  den  Ausdruck  Oratorium  fest,  der  bis  dahin  der  arr, 
häufigsten  vorkommende  Name  für  die  Heiligtümer  der  königlicher 
Pfalzen  gewesen  war.^ 

Wie  der  Sprachgebrauch  für  basilica  und  Oratorium  schon  frühei 
nicht  völlig  fest  war,  so  wechselt  jetzt  ferner  capella  mit  basilica.  Dit 
Annales  Laureshamenses  berichten  zum  Jahre  785  den  Bau  einer  ba- 
silica auf  der  Eresburg;^  sie  wird  am  20.  Juni  826  von  Ludwig  den 
Frommen  und  Lothar  an  Korvey  verschenkt,  doch  nennt  sie  die  Ur- 
kunde nunmehr  capella.^  Eine  Urkunde  Ludwigs  des  Frommen  be- 
stätigt am  19.  Dezember  822  dem  Bischof  Vulgär  von  Würzburg  untei 
anderen  Kirchen  auch  den  Besitz  einer  basilica  der  h.  Maria  zu  Würz- 
burg; ^  derselbe  Wortlaut  findet  sich  wieder  in  der  Bestätigung  Lud 
wigs  des  Deutschen  vom  5.  Juli  845;^  dagegen  ist  statt  dessen  in  de 
Bestätigung  Arnulfs  vom  21.  November  889  von  der  capella  zu  Würz 
bürg  die  Rede;^  dies  ist  um  so  auffallender,  als  sonst  die  Urkunde  dit 
beiden  Vorurkunden  fast  wörtlich  wiedergibt,  ein  Beweis,  daß  sich  fiii 
das  Heiligtum  zu  Würzburg  inzwischen  der  Ausdruck  capella  fest 
gesetzt  haben  muß.  Auch  das  ist  bemerkenswert,  daß  die  Urkundei 
Ludwigs  des  Frommen  und  Ludwigs  des  Deutschen  die  geschenkter 


Häuser,  die  jeder  Private  bauen  konnte  (W.  Meyer  a.  a.  0.  S.  103).  In  den  Capitulc 
episcoporum  Papiae  edita  (855—860,  Capit.  II,  81)  werden  die  basilicae,  welch» 
Privatleute  iuxta  domos  suas  habent,  in  Gegensatz  zu  den  maiores  ecclesiae  gesetzt 

^  So  z.  B.  in  Freisinger  Urkunden  (Bitterauf,  Die  Traditionen  des  tiochstift; 
Freising;  Meichelbeck,  Hist.  Fris.  D. 

^  Vgl.  Capit.  II,  186  (Conc.  Mogunt.  852  c.  3).  —  Der  Monachus  Sangall.  II  c.  11 
(SS.  II,  754)  nennt  sogar  die  großen  königlichen  Kapellen  zu  Frankfurt  und  Regens 
bürg  oratoria. 

'  SS.  I,  32. 

*  BM  830;  allerdings  frühestens  nur  in  einem  Cartular  saec.  X.  überliefert,  docl 
sehe  ich  keinen  Grund,  an  der  Mitteilung  der  Urkunde  zu  zweifeln.  —  Dagegen  is 
die  angebliche  Urkunde  Ludwigs  d.  Deutschen  (BM.  1406,  angebl.'vom  22.  Mai  853) 
welche  die  ecclesia  Eresburg  erwähnt,  gefälscht. 

'  BM.  768  (Or.). 

^  BM.  1382  (Or.). 

'  BM.  1835  (Or.). 


Capella  81 

i)asilicae  und  ecclesiae  als  cellulae^  vel  basilicae  zusammenfassen,  die 
iJrkunde  Arnulfs  dagegen  die  bestätigten  Heiligtümer  einfach  mit  dem 
Samen  capellae  bezeichnet.  Auch  die  Urkunde  Arnulfs  vom  15.  Ok- 
tober 889   nennt  die   capella   im   Königshofe   zu  Aufhausen   zugleich 

;  i)asilica.^ 

Il       Ebenso   häufig   ist   die   synonyme   Verwendung  von   capella   mit 

^tcclesia  zu  belegen.  So  bezeichnet  schon  die  Passauer  Urkunde  von 
if99  die  capella  zu  Linz  zugleich  als  ecclesia.^  Eigil  nennt  die  könig- 
iche  capella,  in  der  sich  Sturm  nach  seiner  Rückkehr  aus  der  Ver- 
)annung  aufhält,  auch  ecclesia.*  Die  capella,  die  Arnulf  am  28.  Ja- 
luar  888  dem  Priester  Ruodpert  bestätigt,^  ist  mit  der  am  9.  Mai  881 
Jon  Karl  III.  verschenkten  ecclesia^  identisch. 

Die  angeführten  Beispiele,  die  sich  ohne  Mühe  noch  vermehren 
ießen,  zeigen,  daß  die  neue  Bezeichnung  capella  an  sich  keinerlei 
echtliche  Sonderstellung  gegenüber  den  anderen  Heiligtümern  des 
vönigsgutes  schuf,  sondern,  nur  ein  anderer  Ausdruck,  in  buntem 
A/echsel  mit  den  übrigen  Bezeichnungen  gebraucht  wurde. 

Daraus  werden  wir  auch  ohne  weiteres  auf  den  rechtlichen  Charakter 
ler  capellae  schließen  können.  Wir  dürfen  annehmen,  daß  der  Aus- 
Iruck  capella  sich  sowohl  für  die  kleinen  Bethäuser  wie  auch  für  die 
*farr-  und  Taufkirchen  des  Königsgutes  festsetzte.  Allerdings  kam  der 
ßtztere  Fall  schon  deshalb  seltener  vor,  weil  die  Kirchen  mit  Pfarr- 
echt naturgemäß  auch  auf  Königsgut  bei  weitem  nicht  so  häufig  wie 
lie  gewöhnlichen  Heiligtümer  waren.    Es  kann  daher  nicht  verwundern, 

es  i^enn  die  capellae  gelegentlich,  in  den  Akten  des  Pariser  Konzils  vom 
lahre  829,  als  aedicula,  kleine  Heiligtümer  ohne  die  Vorrechte  der 
;rößeren  Kirchen,  bezeichnet  werden.^  Doch  ist  es  zweifellos,  daß, 
benso  wie  sich  für  die  großen  Residenzkirchen  der  Karolinger  die 
Bezeichnung  capella  einbürgerte,  so  auch  gelegentlich  eine  Pfarr-  und 
aufkirche  auf  Königsgut  capella  genannt  wurde.® 

Wenn  die  Bezeichnung  capella  für  ein  Heiligtum  nun  auch  an  sich 

^lleine  rechtliche  Sonderstellung  schuf,   so  war   doch   die  Vorstellung, 


^  Denn    es   wird    auch    das  Marienkloster  zu   Karleburg  am   Main    unter   den 
Schenkungen  aufgeführt. 
'  BM.  1831  (Or.). 
'  Siehe  oben  S.  47. 
*  Siehe  oben  S.  46. 
^        '  BM.  1776  (Or.). 
j;  '  BM.  1619  (Or.). 

^  Lib.  III  c.  6  (Mansi  XIV,  597):  „Admonemus,   ut  posthabitis   aediculis,  quas 
sus  inolitus  capellas  appellat,   basilicae  deo    dicatae   ad    missarum   celebrationem 
udiendam  .  .  .  adeantur."    Vgl.  lib.  III  c.  19  (Mansi  XIV,  601;  Capit.  II,  39). 
'  Vgl.  Stutz  S.  258  A.  72. 
Afü    II  6 


82  Wilhelm  Lüders 

daß  sie  ursprünglich  auf  königlichem  Boden  entstanden  sei  und 
deshalb  auch  in  erster  Linie  den  Heiligtümern  des  Königs  zu- 
komme, noch  lange  lebendig.  Ja,  man  kann  sagen,  daß  in  den 
ersten  Jahrzehnten  des  9.  Jahrhunderts  capella  wenn  nicht  der  aus- 
schließliche, so  doch  der  gebräuchlichste  Ausdruck  für  die  königliche 
Fiskalkirche  war;  es  haftete  ihm  gewissermaßen  eine  technische  Be- 
deutung an. 

In  diesem  Sinne  wird  die  Bezeichnung  capella  gerade  in  solcher 
Zeugnissen  gebraucht,  die  eine  typische  Geltung  haben,  wie  z.  B.  ii 
Formeln.  In  Form.  Senonens.  rec.  no.  3  findet  ein  gerichtlicher  Eic 
statt  „super  altario  sancti  illius  in  illa  capella  que  est  in  curte  fisci,  uh 
reliqua  sacramenta  soluta  sunt".^  Die  Brevium  exempla  ad  describenda^ 
res  ecclesiasticas  et  fiscales  führen  auf  einem  Fiskus  unter  andere 
auch  eine  „capella  ex  lapide  bene  constructa"  an.^ 

Ein  geradezu  schlagendes  Beispiel  bietet  jedoch  eine  Freising- 
Urkunde  vom  3.  April  822.  Auf  einem  Gerichtstage  zu  Ergolding  ver 
künden  die  kaiserlichen  Sendboten  Nidhart  und  Frecholf,  sie  hättei 
vom  Kaiser  den  Auftrag  erhalten,  zu  untersuchen,  ob  die  ecclesia  zi 
Oberföhring  bischöfliches  Eigentum,  oder  ob  sie  eine  capella  sei  un( 
als  solche  zum  Königsgute  gehöre.^  Die  hier  gebrauchte  Terminologii 
läßt  keinen  Zweifel  übrig:  es  ist  in  der  ganzen  Urkunde,  sowohl  al: 
die  Besitzfrage  noch  streitig,  wie  auch  als  sie  zugunsten  des  Bischof: 
entschieden  ist,  nur  von  der  ecclesia  zu  Feringa  die  Rede;  nur  an  de 
einen  Stelle,  als  es  sich  um  die  Frage  handelt,  ob  das  betreffend! 
Heiligtum  vielleicht  königlicher  Besitz  sei,  wird  es  ausdrücklich  capel 
genannt.  Dies  ist  um  so  auffallender,  als  während  des  ganzen  9.  Jahr 
hunderts  in  der  großen  Menge  der  Freisinger  Urkunden  dieser  Aus 
druck  sonst  nicht  weiter  zu  belegen  ist;  die  große  Anzahl  der  hier  ge 
nannten  Privatkirchen  wird  stets  als  Oratorium,  ecclesia  oder  basilic; 
bezeichnet.  Wir  haben  daher  hier  einen  vollen  Beweis,  daß  zu  jene 
Zeit  der  Ausdruck  capella  noch  in  erster  Linie  als  Bezeichnung  für  di( 
königlichen  Fiskalkirchen  gefühlt  und  verstanden  wurde. 


^  Anfang  des  9.  Jahrhunderts.  —  MG.  Formulae  p.  212. 

^  Etwa  810.  Capit.  I,  255:  „Invenimus  in  illo  fisco  domlnico  casam  regaler 
.  .  .  capellam  ex  lapide  bene  constructam." 

^  Bitterauf,  Die  Traditionen  des  tiochstifts  Freising  no.  463  (=  Meichel 
beck  I^  229f.  no.  434):  „a  domno  imperatore  eis  iniunctum  fuisse  pro  ipsam  ec 
clesiam  investigare,  utrum  ad  episcopatum  pertinere  aut  specialiter  cappella  ad  opu 
dominicum  fieri  deberet,  eo  quod  Gregorius  domno  imperatore  referebat,  Hittoneti 
episcopum  ipsam  praefatam  ecclesiam  iniuste  praeripuisse."  —  Der  Ausdruck  ecclesi 
begegnet,  abgesehen  von  obigen  beiden  Fällen,  noch  dreimal  in  der  Urkunde. 


C  a  p  e  1 1  a  83 


3.   Die  königlichen  capellae  in  der  Eigenkirchenfrage 

Eine  vorläufige  Regelung  der  Eigenkirchenfrage  hatte  unter  Karl 
lern  Großen  stattgefunden.^  So  hören  wir  denn  auch  während  seiner 
Regierung  nichts  von  Klagen  gegen  die  königlichen  capellae.  Ebenso- 
wenig wie  die  allmähliche  Machtsteigerung  der  Hofkapelle  und  der  in 
hr  dienenden  Geistlichen,  wird  auch  das  Zunehmen  der  capellae  bei 
er  übrigen  Geistlichkeit  auf  Widerstand  gestoßen  sein;  ungehindert 
tonnten  sie  sich  immer  weiter  verbreiten. 

Auch  auf  die  capellae  fanden  alle  Änderungen  im  Eigenkirchen- 
echte  und  in  der  Zehntfrage,  die  unter  Karl  vorgenommen  wurden, 
Anwendung.  Gleichwie  alle  Fiskalkirchen  besaßen  sie  den  schon  seit 
angem  für  die  Bevölkerung  der  Krongüter  bestehenden  Fiskalzehnten.^ 
)urch  das  Capitulare  de  villis  erhielten  sie  dann  auch  den  kirchlichen 
lehnten,  den  die  Pfarrkirchen  unter  ihnen  schon  immer  besessen 
latten,  in  ihrer  Gesamtheit  von  den  Insassen  der  königlichen  fisci 
uerteilt,  soweit  dadurch  nicht  die  Rechte  anderer  Kirchen  beeinträchtigt 
l/urden.^ 

Auch  im  übrigen  genossen  die  capellae  ganz  dieselbe  Stellung  wie 
>de  andere  Eigenkirche  des  Königs  oder  eines  Privaten,  nur  daß  sie 
der  Mehrzahl  ohne  die  Funktionen  der  Pfarr-  und  Taufkirchen  ge- 
wesen sein  werden.  Sie  mußten  stets  mit  einem  gewissen  Existenz- 
linimum  ausgestattet  sein.  Die  an  ihnen  den  Gottesdienst  verrichtenden 


^  Durch  eine  Anzahil  von  Kapitularien,  namentlich  aber  auf  der  Frankfurter 
ynode  794;  Stutz  S.  223  ff. 

^  Nur  um  Fiskalzehnten  kann  es  sich  Form.  imp.  no.  39  (MG.  Form.  p.  316), 
uf  einer  Urkunde  Ludwigs  vom  1.  Okt.  814  beruhend  (Form.  p.  285),  handeln:  Ludwig 
stätigt  dem  Kloster  Malmedy  die  ihm  bereits  von  seinen  Vorfahren  geschenkten 
cimae  et  capellae  in  einer  Reihe  von  fisci  (darunter  Düren,  Klotten,  Bonn,  Sinzig, 
ndernach  etc.,  BM.  545);  den  kirchlichen  Zehnten  erhielten  die  königlichen  Heilig- 
mer  aber  allgemein  erst  durch  das  capit.  de  villis  (s.  die  folgende  Anm.);  man 
hüßte  sonst  schon  annehmen,  daß  es  sich  bei  den  erwähnten  capellae  durchweg  um 
Ite  Pfarrkirchen  handele.  —  Vgl.  Stutz  S.  164;  Pereis,  Die  kirchlichen  Zehnten 
h  karolingischen  Reiche  (Berl.  Diss.  1904)  S.  71. 

^  Cap.  6  (Capit.  I,  83):  „Volumus,  ut  iudices  nostri  decimam  ex  omni  con- 
iboratu  pleniter  donent  ad  ecclesias  quae  sunt  in  nostris  fiscis,  et  ad  alterius  ec- 
lesiam  nostra  decima  data  non  fiat,  nisi  ubi  antiquitus  institutum  fuit."  —  Zweifel- 
'S  sind  unter  den  hier  genannten  ecclesiae  auch  die  capellae  mit  zu  verstehen, 
)weit  sie  nicht  das  Pfarrecht  besaßen.  Darin  liegt  eben  das  Eigenartige  jener  Be- 
;immung,  daß  sich  die  Zehntleistung  der  Insassen  der  königlichen  fisci  nicht  nur 
jf  die  Pfarr-  und  Taufkirchen  —  denn  die  Entrichtung  der  Zehnten  an  diese  war 
ilbstverständlich  — ,  sondern  auch  auf  die  kleineren  tieiligtümer  erstrecken  sollte; 
ie  königlichen  Eigenkirchen  hatten  also  durch  diese  Bestimmung  ein  Recht  vor  den 
brigen  Privatheiligtümern  voraus.    Vgl.  Stutz  S.  154  A.  6,  244f.;  Pereis  S.  22,  42. 

I- 


84  Wilhelm  Lüders 

Geistlichen,  die  sehr  oft  aus  der  Hofkapelle  hervorgingen/  wurden  vom 
Könige  bestellt;  ob  dem  immer  die  gesetzliche  Präsentation  und  Appro- 
bation durch  den  Bischof  der  betreffenden  Diözese  vorangegangen  ist, 
darf  man  wohl  bezweifeln.  Der  König  war,  wie  es  schon  seit  alten 
Zeiten  gehandhabt  und  auch  durch  die  Bestimmungen  Karls  von  neuem 
festgesetzt  wurde,  unbedingter  Herr  über  die  Verwendung  seiner  Kirchen, 
wenn  auch  dem  Bischof  die  Aufsicht  darüber  vorbehalten  war.  Hieraus 
erklären  sich  die  zahlreichen  Traditionen  von  Kapellen  sowohl  an  Geist- 
liche wie  an  Laien,  die  sich  in  den  Urkunden  namentlich  der  späteren 
Zeit  finden,  sei  es  nun  zu  Lehen  oder  zu  lebenslänglichem  oder  gar 
dauernd  freiem  Eigentume.^ 

Schien  so  die  Frage  der  Eigenkirchen  unter  Karl  befriedigend 
wenn  auch  überwiegend  zugunsten  des  Königs  und  der  übrigen  Grund- 
herren gelöst,  so  wurde  sie  von  neuem  bereits  unter  Ludwig  dem 
Frommen  brennend.  Sowohl  die  Bischöfe  wie  die  Grundherren  ver- 
langten eine  Erweiterung  ihres  Einflusses  auf  die  Eigenkirchen. 

Unter  Leitung  des  Kaisers,  der  an  dieser  Frage  wiederum  selbst 
aufs  stärkste  interessiert  war,  fand  ein  neuer  Kompromiß  statt,  desser 
Bestimmungen  uns  in  dem  Aachener  Kirchenkapitular  aus  den  Jahrer 
818/819  erhalten  sind.^  Doch  der  beabsichtigte  Zweck  wurde  nicb 
erreicht.  Namentlich  auf  selten  der  Hierarchie  dauerte  die  Unzufriedei 
heit  fort. 

Als  die  stetig  wachsende  Zerfahrenheit  der  kirchlichen  Verhältnis 
unter  Ludwig  dem  Frommen  zu  den  großen  Konzilien  des  Jahres  8. 
führte,  entbrannte  der  Streit  sofort  von  neuem.    Seit  dieser  Zeit  spiel 
der  Ausdruck  capella,   der,   wie  wir  sahen,   seit  Anfang  des  9.  Jahi 
hunderts   die   eigentlich   technische   Bezeichnung   für    die   königlicher 
Eigenkirchen   geworden   war,   in   der  Bewegung   eine  große  Rolle;   ei 
wurde  gewissermaßen  das  Schlagwort,  um  das  sich  der  ganze  Kamp 
drehte. 

Gleich  unter  den  Punkten,  die  Ludwig  zu  Beginn  des  Jahres  82^ 
für  die  Beratung  auf  den  Synoden  aufstellte,  findet  sich  als  erster 
„Über  die  Zehnten,  die  an  die  königlichen  Kapellen  entrichtet  werden 


*  Das  Capitulare  de  villis  c.  6  sagt  von  den  Fiskalkirchen :  „Et  non  alii  cleric 
habeant  ipsas  ecclesias  nisi  nostri  aut  de  familia  aut  de  capella  nostra."  Vgl.  dii 
folgende  Anm. 

^  Ein  sehr  gutes  Beispiel  für  die  Verleihung  einer  capella  aus  der  Zei 
Karls  d.  Gr.  ist  Mon.  B.  XXVIir,  36  no.  39  (vom  Jahre  799):  Die  Martinskapelle  zu  Lin: 
hatte  zuerst  ein  Kapellan  Karls,  namens  Rodland,  von  dem  Könige  zu  Lehen  er 
halten,  später  Bischof  Waldrich  von  Passau  zu  freiem  Eigen  (quandam  capellan 
ipsius  ex  cessione  regis),  der  sie  seinerseits  dem  Grafen  Keroldus  zu  Lehen  gibt. 

'  MG.  Capit.  I,  275ff.     Vgl.  Stutz  S.  235ff. 


Capeila  85 

und  die  Leute,  die  sie  inne  haben  und  zu  ihrem  Nutzen  verwenden."^ 
Es  handelte  sich  um  die  Frage  der  seit  dem  Capitulare  de  vilHs  von 
den  Bewohnern  der  kirchUchen  Güter  an  die  Kapellen  entrichteten 
l^ehnten,  deren  Verleihung  namentlich  an  Laien  zu  argen  Mißbräuchen 
'geführt  hatte. 

Noch  schlimmer  wurden  die  Angriffe  der  Bischöfe  auf  den  Synoden 
Jieses  Jahres  selbst.  Die  uns  erhaltenen  Verhandlungen  der  Pariser 
Synode  lassen  deutlich  erkennen,  mit  welcher  Schärfe  man  nicht  nur 
^egen  etwaige  Mißbräuche,  welche  das  Wesen  der  königlichen  capellae 
lach  sich  gezogen  hatte,  sondern,  gerade  so  wie  gegen  die  Stellung 
ier  tiofkapellane,  gegen  sie  überhaupt  vorging.  Nicht  einmal  den  Aus- 
iruck  capellae  wollte  man  gelten  lassen:  an  einer  Stelle  sprachen  die 
Mschöfe  die  Ermahnung  aus,  daß  man,  unter  Hintansetzung  der  kleinen 
leiligtümer,  die  ein  allgemein  gewordener  Gebrauch  capellae  nenne, 
iie  Pfarrkirchen  fleißig  und  in  aller  Demut  aufsuche,  um  die  Messe 
:u  hören  und  Leib  und  Blut  Christi  zu  genießen.^  Werden  hier  die 
apellae  des  Königs  nicht  geradezu  genannt,  so  wendet  sich  ein  anderer 
*assus  gegen  sie  mit  nicht  mißzuverstehender  Schärfe  und  Deutlich- 
jieit:  der  Kaiser  wird  aufgefordert,  die  Pfalzkapellen,  die  gegen  die 
kanonischen  Bestimmungen  und  die  Ehre  der  Kirche  verstießen,  zu 
leseitigen;  denn  sie  seien  schuld  daran,  daß  die  Umgebung  des  Kaisers 
n  den  Festtagen  den  Besuch  der  Pfarrkirchen  verabsäume.^  Dieser 
2tzte  Passus  ist  auch  in  die  Relation  übernommen,  welche  die  Bischöfe 
loch  in  demselben  Jahre  dem  Kaiser  zu  Worms  vorlegten;^  aber  irgend- 
/elche  Änderungen  in  dem  Wesen  und  dem  Bestände  der  Kapellen  hat 


^  MG.  Capit.  II,  6:  „Haec  capitula  ab  episcopis  tractanda  sunt.  1.  De  decimis, 
uae  ad  capellas  dominicas  dantur,  et  hominibus,  qui  eas  habent  et  in  suos  usus 
onvertunt.*'    Vgl.  Stutz  S.  264. 

^  Mansi  XIV,  597  (lib.  III  c.  6):  „Admonemus,  ut  posthabitis  aediculis,  quas 
süs  inolitüs  capellas  appellat,  basilicae  Deo  dicatae  ad  missarum  celebrationem 
udiendam  et  corporis  et  sanguinis  dominici  perceptionem  sumendam  assidue  de- 
oteque  adeantur." 

^  Mansi  XIV,  601  (lib.  III  c.  19  =  Capit.  II,  39):  „De  presbiteris  et  capellis 
alatinis  contra  canonicam  auctoritatem  et  aecclesiasticam  honestatem  inconsulte 
abitis  vestram  monemus  soUertiam,  ut  a  vestra  potestate  inhibeantur ;  quoniam 
ropter  hoc  et  honor  ecclesiasticus  vilior  efficitur,  et  vestri  proceres  et  palatini 
linistri  in  diebus  sollemnibus,  sicut  decet,  vobiscum  ad  missarum  celebrationes  non 
rocedunt.  Nam  et  obnixe  deprecamur,  ut  in  observatione  diei  dominici,  sicuti  iam 
udum  deprecati  sumus,  debitam  adhibeatis  curam,  quatinus,  nisi  magna  conpellente 
ecessitate,  in  ipsa  die  a  curis  et  sollicitudinibus  mundanis,  quantum  potestis,  vos 
xuatis  et,  quod  tantae  diei  venerationi  competit,  et  vos  faciatis  et  vestros  sapro 
estro  exemplo  et  doceatis  et  agere  conpellatis."  —  Daß  capellis  und  nicht  capellanis, 
ie  Pertz  und  Waitz  wollen,  zu  lesen  ist,  ist  bereits  oben  S.  63  A.  1  hervorgehoben. 

'  MG.  Capit.  II,  39. 


i 


85  Wilhelm  Lüders 

auch  sie,  wie  überhaupt  die  ganze  kirchliche  Bewegung  des  Jahres  829, 
nicht  hervorgerufen.  Selbst  Benedictus  Levita  (Leg.  fol.  I  2,  66)  verbot 
sie  nicht  gänzlich,  sondern  machte  ihre  Gründung  nur  von  der  bischöf- 
lichen Genehmigung  abhängig.  Immerhin  erfolgten  noch  mancherlei 
Anfeindungen. 

Auf  der  Synode  zu  Meaux  im  Jahre  845  führte  die  westfränkische 
Geistlichkeit  bereits  von  neuem  heftige  Klagen  über  die  Mißbräuche, 
welche  die  Vergabung  der  königlichen  Kapellen  an  Laien  nach  sich  ge- 
zogen habe.  Die  Sprache  der  Bischöfe  ist  äußerst  selbstbewußt:^  Der 
König  habe  nicht  recht  daran  getan,  die  Kapellen  seiner  Villen  an 
Laien  zu  vergeben;^  denn  jene  hätten  die  Fiskal-  wie  die  Kirchen- 
zehnten nur  dazu  verwendet,  ihre  Hunde  und  Dirnen  zu  unterhalten; 
statt  dessen  müsse  der  König  —  für  den  Fall  der  Weigerung  wird  ihm 
sogar  mit  dem  Bannfluche  gedroht  —  die  Kapellen  an  Priester  oder 
andere  Geistliche  verleihen,  damit  diese  die  Zehnten,  wie  es  sich  ge- 
bühre, zur  Instandhaltung  der  Kirchengebäude  und  zur  Beschaffung 
der  Lichter,  sowie  zur  Pflege  der  Fremden  und  Armen  verwenden 
könnten. 

Diese  Forderungen  wurden  von  Karl  dem  Kahlen  auch  tatsächlich 
auf  dem  Reichstage  zu  Epernay  im  folgenden  Jahre  bestätigt.^  Doch 
hat  er  in  seinen  späteren  Jahren  sich  augenscheinlich  wieder  von 
diesen  Bestimmungen  losgemacht.  Wenigstens  finden  sich  auch  aus 
den  letzten  Jahren  seiner  Regierung  mehrere  Urkunden,  in  denen 
capellae  an  getreue  Laien  vergabt  werden.*  Zweifellos  hängt  diese 
Schwenkung  mit  der  Stellung  Karls  zur  Eigenkirchenfrage  zusammen, 
die  er  nach  der  erfolgreichen  Verteidigung  des  Eigenkirchensystems 
durch  fiinkmar  von  Reims  ^  gegenüber  Prudentius  von  Troyes  einnahm. 

Im  Ostfrankenreiche  fand  unter  den  Nachfolgern  Ludwigs  des 
Frommen  kein  starker  Angriff  gegen  das  Eigenkirchenwesen  mehr 
statt.  Infolgedessen  konnten  sich  hier  auch  die  königlichen  capellae 
ungehindert  weiterentwickeln.  Die  Synode  zu  Mainz  im  Jahre  852  be- 
gnügte  sich  damit,   von  neuem  einzuschärfen,   daß  in  den  Kapellen, 


'  MG.  Capit.  II,  419.     Vgl.  Stut^  S.  267;  Pereis  S.  48. 

^  Daß  dies  tatsächlich  geschehen  war,  beweisen  z.  B.  Bouquet  VIII,  435  (843), 
440  no.  7  (843). 

'  Stutz  S.  267. 

*  So  Bouquet  VIII,  636  no.  241  (871),  674  (877). 

^  In  der  Schrift  „Collectio  de  ecclesiis  et  capellis"  (gedruckt  in  Briegers  Zeitschr. 
für  Kirchengesch.  1889  X,  92—145;  ferner  Bibliotheca  iurid.  medii  aevi  II,  Iff., 
Bononiae  1892).  Zur  Datierung  vgl.  Stutz  S.  285  A.  20,  der  sie  in  die  Jahre  858 
bis  860  verlegt.  Eine  eingehende  Würdigung  des  Inhalts  und  der  Bedeutung  dieses 
erst  wieder  seit  den  achtziger  Jahren  des  vorigen  Jahrhunderts  bekannten  Werkes 
bei  Stutz  S.  285—295. 


I 


C  a  p  e  1 1  a  87 


nochten  sie  nun  noch  in  der  Hand  des  Königs  oder  zu  Lehen  oder 
onstwie  vergabt  sein,  die  Bischöfe,  wenn  sie  der  kirchlichen  tiand- 
Lingen  wegen  dorthin  kämen,  mit  der  g;ebührenden  Ehre  aufgenommen 
bürden;  im  übrigen  sollten  die  seit  altersher  bestehenden  Kirchen 
lurch  neuerbaute  Heiligtümer  weder  an  den  Zehnten  noch  am  sonstigen 
)esitze  benachteiligt  werden.^ 

So  entwickelten  sich  auch  hier,  gerade  wie  im  Westfrankenreiche, 
lie  königlichen  capellae  immer  weiter.  Der  König  wahrte  sich  volles 
/erfügungsrecht;  mit  der  zunehmenden  Anzahl  der  capellae  wurden 
luch  ihre  Vergabungen,  sowohl  an  Laien  wie  an  Geistliche,  an  Klöster, 
(irchen  oder  andere  Kapellen  immer  häufiger. 

In  Italien  entwickelten  sich  die  Verhältnisse  im  wesentlichen 
larallel  denen  des  Ost-  und  Westfrankenreiches.  Daß  auch  hier  schon 
)ald  nach  der  fränkischen  Eroberung  der  Ausdruck  capella  aufkam, 
)eweist  ein  Kapitular  Pippins,  das  zwischen  801  (vielleicht  auch  806) 
md  810  anzusetzen  ist.^  In  ihm  empfiehlt  der  König  den  Bischöfen 
ingelegentlich  die  Fürsorge  für  die  in  ihrer  Diözese  liegenden  Kirchen 
|md  Kapellen:  sie  sollen  dafür  sorgen,  daß  immer  die  genügenden 
iAittel  vorhanden  seien,  damit  die  nötigen  Lichter  beschafft  werden 
:önnten  und  Priester  in  ihnen  ihr  hinreichendes  Auskommen  hätten. 

Wie  sich  aus  späteren  Königsurkunden  ergibt,  besaßen  auch  hier 
lie  Könige  eine  große  Anzahl  von  Kapellen,  die  sie,  gerade  so  wie  es 
n  Deutschland  und  Frankreich  geschah,  nach  Belieben  vergeben 
konnten. 

§2.   Capellae  auf  nichtköniglichem  Boden 

Da  die  Bezeichnung  capella  zuerst  für  die  Heiligtümer  der  könig- 
ichen  Güter  aufkam ,  so  können  die  capellae  auf  nichtköniglichem 
5oden  erst  die  Frucht  einer  sekundären  Entwicklung  sein.  Diese  muß 
iber  auch  bereits  sehr  früh  eingetreten  sein. 

Ihrer  Entstehung  nach  zerfallen  die  capellae  auf  Privatboden  in 
:wei  große  Gruppen.  Die  erste  dieser  Gruppen  ist  auf  königlichem 
besitz  von  den  Königen  errichtet  und  erst  nachträglich  durch  Ver- 
gabung oder  anderweitige  Übertragung  an  Privatleute  auf  nichtkönig- 


*  Cap.  3  (MG.  Capit.  II,  186):  „Statuimus,  ut  per  aecclesias  monachorum  vel 
aicorum  et  per  cappellas  dominicas  seu  beneficiatas,  ubi  decime  dantur,  episcopi 
digno  honore  suscipiantur,  ut  ecclesiasticum  officium  ibi  persolvere  possint.  Ecclesiae 
imtiquitus  constitute  propter  nova  oratoria  nee  decimis  nee  possessionibus  aliis 
3riventur  nee  ullam  omnino  iniuriam  paeiantur"  (der  Passus  ecelesiae  .  .  .  priventur 
ist  fast  wörtlich  aus  Cone.  Mogunt.  813  und  847  übernommen). 

'  Cap.  7  (Capit.  I,  210). 


88  Wilhelm  Lüders 

liehen  Boden  gekommen.  Die  zweite  Gruppe  wird  dargestellt  durch 
solche  Heiligtümer,  die,  durch  Privatleute  auf  eigenem  Grund  und 
Boden  errichtet,  von  Anfang  an  die  Bezeichnung  capella  geführt  haben. 


1.    Privatkapellen  auf  ursprünglich  königlichem  Boden 

Die  erste  Gruppe,  die  Privatkapellen,  die,  auf  ursprünglichem  Königs- 
gut begründet,  erst  nachträglich  in  die  Hände  von  Privatleuten  gelangt 
sind,  ist  naturgemäß  die  ältere;  sie  ist  auch  für  längere  Zeit  die  einzige 
geblieben. 

Im  ganzen  8.  Jahrhundert,  ja  selbst  in  den  ersten  Jahrzehnten  de^ 
9.  Jahrhunderts  vermag  ich  in  dem  von  mir  benutzten  Material  noch 
kein  Heiligtum  nachzuweisen,  das,  von  Privatleuten  gegründet,  von  An 
fang  an  die  Bezeichnung  capella  geführt  hätte.  Vielmehr  lassen  alli 
während  dieser  Zeit  auf  Privatbesitz  vorkommenden  capellae  noch  un- 
mittelbar ihre  ursprüngliche  Entstehung  auf  Königsgut  erkennen. 

So  sagt  der  Bischof  Awarnus  von  Cahors,  der  bereits  783  dem 
Kloster  Moissac  ein  Gut  im  Gau  von  Toulouse  mit  einer  darauf  be- 
findlichen Peterskapelle  schenkt,  ausdrücklich,  daß  er  es  von  den 
königlichen  Fiskus  erworben  habe.^  Die  Martinskapelle  zu  Linz,  weicht 
799  Bischof  Waldrich  von  Passau  an  den  Grafen  Gerold  zu  Lehen  gibt, 
war  schon  vorher  von  Karl  dem  Großen  einem  seiner  Kapellane,  namen^ 
Rodland,  zu  Lehen  gegeben;  dann  hatte  er  sie  der  Kirche  von  Passau 
geschenkt.^ 

Etwas  anders  scheint  auf  den  ersten  Blick  die  Sache  mit  der 
capella  ad  Alburc  zu  liegen,  die  Karl  am  3.  Januar  791  auf  Grund 
einer  Urkunde  Tassilos  vom  Jahre  777  dem  Kloster  Kremsmünster 
schenkt.^  Diese  Kapelle  hatte  streng  genommen  niemals  auf  frän 
kischem  Königsboden  gelegen.  Gleichwohl  sind  auch  hier  die  Ver- 
hältnisse ganz  analog.  Denn  durch  die  Eroberung  Bayerns  war  der 
fränkische  König  Herr  des  früher  dem  Herzoge  gehörigen  Landes  ge- 
worden; auch  das  bereits  von  Tassilo  dem  Kloster  Kremsmünster  ge- 
schenkte Land  konnte  er,  solange  es  noch  nicht  von  ihm  bestätigt 
war,  als  sein  Eigentum  ansehen.*    Die  Kapelle  lag  also,  wenigstens  in 


^  Vaissette,  Hist.  de  Languedoc  (nouv.  ed.  par  Dulaurier)  III,  p.  50  no.  7: 
„in  ipso  pago  Tolosano  aliud  praedium  meum,  quod  de  fisco  regali  competenti  ser- 
vitio  adquisivi  .  .  .  cum  capella  S.  Petri  sibi  coniuncta."    Vgl.  oben  S.  47  A.  1. 

^  M.  Boica  XXVIlP,  36:  „ego  Keroldus  comes  .  . .  deprecatus  sum  W.  episcopo 
quandam  capellam  ipsius  ex  cessione  regis  .  .  !'    Vgl.  oben  S.  47. 

^  BM.  311  (DK.  169).    Die  Urkunde  Tassilos  ÜB.  des  Landes  ob  der  Enns  II,  2. 

*  Karl  sagt  das  selbst  unzweideutig  in  der  Urkunde:  „quia  iam  per  dicti  Tassi- 
loni  traditionem  hoc  firmiter  et  stabile  minime  permanere  poterat,  idcirco  petiit  (seil. 


Capeila  89 

ier  Fiktion,  eine  gewisse  Zeit  lang  auf  fränkischem  Königsboden, 
'außerdem  ist  zu  beachten,  daß  sich  der  Ausdruck  capella  erst  in  der 
Jrkunde  Karls  findet,  während  es  in  der  Schenkung  Tassilos  nur  heißt: 
,ad  Alpurc  ecclesiastica  pecuniam,  que  ibidem  adesse  videtur".  Es  ist 
ilso  anzunehmen,  daß  auch  hier  die  Bezeichnung  capella  erst  nach  der 
fränkischen  Eroberung  aufgekommen  ist.^ 

In  vielen  Fällen  werden  Heiligtümer,  die  schon  zu  einer  Zeit,  als 
Hie  Bezeichnung  capella  noch  wenig  oder  gar  nicht  gebräuchlich  war, 
/on  königlichem  in  privaten  Besitz  übergegangen  waren,  noch  nach- 
Täglich  jene  Bezeichnung  erhalten  haben.  So  bestätigt  Ludwig  der 
-romme  am  1.  Oktober  814  dem  Kloster  Malmedy  die  schon  von 
seinen  Vorfahren  geschenkten  Kapellen  nebst  den  Fiskalzehnten  auf 
den  königlichen  Gütern  Düren,  Klotten,  Bonn,  Sinzig,  Andernach,  Bodo- 
3rio,  Wasitico,  Awanno,  Staneux,  Thommen,  Glains,  Cherain,  Theux  und 
^iria.^  Die  Pfalzkapelle  zu  Düren  ist  allerdings  schon  775  bezeugt;^ 
aber  im  übrigen  darf  man  annehmen,  daß  in  den  uns  verlorenen 
Fraditionsurkunden,  in  denen  dem  Kloster  Malmedy  jene  Verleihungen 
gemacht  wurden,  der  Ausdruck  capella  noch  nicht  auf  alle  hier  ge- 
nannten Heiligtümer  angewandt  sein  wird.^ 


"ater  abbas)  serenitati  nostre,  ut  denuo  in  nostra  ^lymosina  per  nostram  auctoritatem 
Dlenius  hoc  circa  ipsum  sanctum  locum  cedere  at  confirmare  deberemus,  sicuti  et 
fecimus"  (DK.  169).  Vgl.  Eberl,  Studien  zur  Geschichte  der  Karolinger  in  Bayern 
:Progr.  Straubing  1891)  S.  2.    Vgl.  oben  S.  47  A.  5. 

*  Infolge  der  Entwicklung,  die  sich  aus  den  oben  und  den  schon  früher  S.  45 ff. 
ingeführten  Beispielen  für  den  Begriff  „capella"  ergibt,  möchte  ich  den  von  Jostes 
^Die  münstersche  Kirche  vor  Liudger  und  die  Anfänge  des  Bistums  Osnabrück, 
Zeitschr.  f.  vaterländ.  Gesch.  und  Altertumsk.  Bd.  62,  S.  98ff.,  Münster  1904)  an- 
genommenen Ausdruck  capellania,  der  für  seine  Rekonstruktion  der  ältesten  Ver- 
hältnisse in  den  Bistümern  Münster  und  Osnabrück  eine  große  Rolle  spielt,  für  das 
Ende  des  8.  Jahrhunderts  doch  sehr  in  Frage  ziehen.  Eine  solche  Weiterbildung 
aus  dem  selbst  erst  kurz  vorher  entwickelten  Begriffe  capella  wäre  im  höchsten 
Grade  auffallend.  Auf  die  Theorie  selbst,  die  Jostes  von  der  Entstehung  der  beiden 
Bistümer  vorträgt,  gehe  ich  nicht  weiter  ein.  Nur  möchte  ich  noch  bemerken,  daß 
die  späteren  capellaniae,  falls  sie  wirklich  in  Verhältnissen  der  zweiten  tlälfte  des 
S.Jahrhunderts  wurzeln  sollten,  sich  weit  leichter  aus  ursprünglich  auf  Königs- 
boden gelegenen  capellae,  die  ja  auch  das  Pfarrecht  besitzen  konnten  (siehe  oben 
5.81),  erklären  lassen  würden.  Doch  wird  man  wohl  über  Vermutungen  nicht 
hinauskommen. 

'  BM.  545  (MG.  Form.  p.  316).     Oben  S.  83  A.  2. 
^  Siehe  oben  S.  45. 

*  Ähnlich  verhält  es  sich  auch  mit  den  drei  im  Breviarium  ürolfi  (M.  Boica 
I,  14)   genannten  capellae,  welche  Odilo  von  Bayern  (737 — 748)  an   Niederaltaich 

schenkte.  Die  Bezeichnung  capella  haben  sie  zweifellos  erst  in  dem  unter  Abt 
ürolf  (799—806,  vgl.  Stutz  S.  196  A.  3)  angelegten  Breviar  erhalten.  Vgl.  oben 
S.  47  A.  5. 


I 


90  Wilhelm  Lüders 


2.   Auf  nichtköniglichem  Boden  gegründete  capellae 

Die  Entwicklung,  daß  auch  die  Heiligtümer,  welche  Privatleute  auf 
ihrem  Grund  und  Boden  erbauten,  von  vornherein  die  Bezeichnung 
capella  führten,  vollzog  sich  in  der  ersten  Hälfte  oder  gegen  die  Mitte 
des  9.  Jahrhunderts. 

Dieser  Übergang  tritt  natürlich  in  den  Quellen  nicht  so  deutlich 
zutage.  Denn  wenn  auch  selbst  in  den  Königsurkunden  des  9.  Jahr- 
hunderts capellae  auf  Privatbesitz  immer  häufiger  genannt  werden,^  so 
kann  man  doch  diese  Fälle  hier  nicht  als  Beweis  anführen,  da  sich 
nicht  mit  Bestimmtheit  entscheiden  läßt,  ob  die  Kapellen  auch  wirklich 
auf  Privatgut  gegründet  und  nicht  vielleicht  erst  durch  königliche 
Schenkung  in  den  Besitz  von  Privatleuten  gelangt  sind.  Auch  die 
Privaturkunden  dieser  Zeit  bieten  keinerlei  schlagende  Beispiele.^ 

Gleichwohl  muß  die  Gründung  von  Kapellen  auf  Privatboden, 
nachdem  sich  einmal  die  Bezeichnung  capella  für  die  königliche  Fiskal- 
kirchen durchgesetzt  hatte  und  viele  ursprünglich  königliche  capellae  in 
den  Besitz  von  Privateigentümern  übergegangen  waren,  im  Laufe  des 
9.  Jahrhunderts  immer  häufiger  geworden  sein.  Diese  Übertragung  der 
Bezeichnung  capella  war  unvermeidlich,  zumal  der  rechtliche  unter- 
schied  zwischen    königlichen    und   privaten   Heiligtümern   nur  gering 


'  Vgl.  z.  B.  BM.  no.  857  (829  Jan.  13),  906  (832  Aug.  26),  1157  (852),  1487  (871 
Juni  13),  1699  (885  Mai  20),  1727  (886  Okt.  27),  2039  (906  Okt.  20),  1409  (854  Juli  22). 

^  Der  Indiculus  Arnonis,  die  Breves  notitiae  Salzburgenses  (ed.  Keinz,  München 
1869),  die  Mondseer  Urkunden  (ÜB.  des  Landes  ob  der  Enns  I,  1—101),  der  Codex 
Laureshamensis  diplomaticus  (Bd.  1 — 3  Mannhemii  1768 — 70),  die  große  Anzahl  der 
Freisinger  (ed.  Bitterauf,  Die  Traditionen  des  Hochstifts  Freising,  1.  Bd.,  München 
1905;  vgl.  Meichelbeck,  Hist.  Fris.  I'')  und  Weißenburger  Urkunden  (ed.  Zeuss, 
Traditiones  Wizenburgenses,  Spirae  1844)  während  des  8.  und  9.  Jahrhunderts:  sie 
alle  haben  den  Ausdruck  capella  nicht.  Die  Weißenburger  und  Lorscher  Urkunden, 
die  namentlich  für  die  Zeit  Karls  d.  Gr.  sehr  zahlreich  sind,  gebrauchen  statt  dessen 
die  Ausdrücke  basilica  und  ecclesia;  ebenso  die  Freisinger  Urkunden,  doch  läßt  sich 
in  ihnen  auch  die  Bezeichnung  Oratorium,  die  in  den  Königsurkunden  dieser  Zeit 
ziemlich  selten  ist,  bis  in  die  zwanziger  Jahre  des  9.  Jahrhunderts  belegen.  Das 
Polyptychon  Irminonis  (ed.  Guerard  und  Longnon)  nennt  neben  35  Kirchen  die 
verschwindend  kleine  Anzahl  von  zwei  capellae  (in  Bitry  11,  p.  155  und  Saint- 
Germain-de-Secqueval  II,  p..297).  Ebenso  vereinzelt  sind  die  capellae  in  den 
Privaturkunden  des  mittelrheinischen  und  niederrheinischen  ürkundenbuches,  in  den 
St.  Galler  (Wartmann,  ÜB.  der  Abtei  St.  Gallen),  Passauer  (M.  Boica  XXVIII")  und 
Fuldaer  Traditionen  (Dronke,  Codex  diplomaticus  Fuldensis);  wo  wirklich  capellae 
in  dieser  Zeit  in  ihnen  vorkommen,  läßt  es  sich  nirgends  mit  Sicherheit  entscheiden, 
ob  es  sich  um  capellae  auf  ursprünglichem  Königsgut  oder  um  solche,  die  mit  dieser 
Bezeichnung  von  vornherein  auf  Privatgut  gegründet  sind,  handelt;  vgl.  z.  B.  Dronke, 
Codex  diplomaticus  Fuldensis  no.  225,  417,  492;  Mittelrh.  ÜB.  no.  134. 


Capella  91 

\^ar.  Auch  bieten  die  Quellen  dieser  Zeit  wenigstens  einige  Anhalts- 
punkte.^ 

Auf  Klostergut  wird  eine  capella  nach  Form.  Paris,  no.  2  errichtet.^ 
in  Pariser  Bischof  gestattet  dem  Abte  und  der  Brüderschaft  eines 
Klosters,  eine  Kapelle  zu  erbauen,  damit  das  kirchliche  Leben  der 
jläubigen  durch  die  weite  Entfernung  von  der  Mutterkirche  hinfort 
licht  mehr  beeinträchtigt  werde;  sie  soll  indessen  immer  von  der 
Vlutterkirche  abhängig  bleiben  und  weder  den  Zehnten  noch  das  Tauf- 
pder  Begräbnisrecht  erhalten. 

Nicht  ganz  so  evident  sind  die  Zeugnisse  für  die  Gründung  einer 
Kapelle  auf  Laiengut.  Doch  wird  man  hierher  wohl  den  in  die  Jahre  820 
)is  838  fallenden  Brief  des  Bischofs  Albrich  von  Langres  an  Frotharius 
/on  TouP  ziehen  dürfen.  Der  Bischof  von  Langres  beklagt  sich,  daß 
iie  alte  Kirche  in  dem  Orte  Bosonis  monasterium  durch  die  neuen 
/on  jenem  geweihten  Kapellen  des  Teudericus  geschädigt  würde;  wenn 
rotharius  diesem  Übelstande  nicht  abhelfe,  werde  er  vor  einer  Ver- 
sammlung von  Bischöfen  Klage  erheben.  Die  Situation  wird  hier  die 
sein,  daß  ein  Laie,  namens  Teudericus,  mehrere  Kapellen  gegründet 
pnd  ordnungsgemäß  von  dem  Bischof  seines  Sprengeis  hatte  weihen 
assen.  Es  ist  einerlei,  ob  es  sich  hier  um  Pfarrkirchen  oder,  was 
edenfalls  wahrscheinlicher  ist,  nur  um  kleinere  Heiligtümer  handelt; 
denn  auch  diese  besaßen  ja  seit  dem  Aachener  Kapitular  von  818/819 
den  kirchlichen  Zehnten.  Um  diesen  gerade  ist  hier  der  Streit  ent- 
standen. Eine  benachbarte  ältere  Kirche,  die  gleichfalls  in  dem  Sprengel 
von  Toul  gelegen  ist,  aber  dem  Bistum  von  Langres  gehört,  ist  durch 
die  neuen  Kapellen  in  ihrem  Zehntrecht  geschädigt  worden. 

Auch  in  der  Urkunde  Ludwigs  des  Frommen  und  Lothars  L  vom 
110.  Juli  826,   in  der  diese  von  dem  Grafen  Boso  durch  Tausch  eine 


^  BM.  1089  (841  Okt.  17)  wäre,  nach  dem  Wortlaut  des  Regestes  zu  urteilen, 
ein  vortreffliches  Beispiel  für  die  Gründung  einer  Kapelle  auf  Bistumsgut.  Doch 
teilte  mir  Herr  Prof.  Tangl  gütigst  mit,  daß  das  Regest  ungenau  sei  und  im  Original 
nicht  capella,  sondern  cellula  und  cella  ständen. 

^  MG.  Form.  p.  264.     Die  capella  wird  auch  aecclesia  genannt. 

^  EE.  V,  293 f.:  „De  cetero  innotescimus  vestrae  dilectioni,  quia  quendam  vicum 
■  habemus  in  vestra  parrochia,  qui  dicitur  Bosonis  monasterium;  sed  nunc  et  nomen 
pariter  cum  privilegio  ac  censu  perdit,  propter  Teuderici  scilicet  a  vobis  dedicatas 
\  novas  capellas.  ünde  tuam  fraternam  depraecor  dilectionem,  ut  secundum  sinceri- 
tatem  episcopalem  ac  ecclaesiasticam  sanctionem  agatis,  ne  propter  novellas  capellas 
antiquissima  quod  per  tot  annos  tenuit  perdat  ecclaesia,  et  mihi  non  sit  necesse 
pro  hoc  episcopalem  pulsare  conventum,  quia  vos  non  absque  culpa  et  ego  reus 
esse  potero,  si  per  nos  amittit,  quod  semper  tenuit."  —  Der  Ort  Bosonis  monasterium 
ist  noch  nicht  erklärt;  man  hat  Bouzancourt  (canton  de  Doulevant)  vermutet;  vgl. 
EE.  V,  293  A.  4. 


92  Wilhelm  Lüders 

Kapelle  in  der  Villa  Beek  bei  Nymwegen  erwerben,  wird  es  sich  wohl 
um  ein  altes  Privatheiligtum  Bosos  handeln;  denn  es  wird  ausdrück- 
lich gesagt,  daß  die  Kapelle  auf  dem  Eigengute  Bosos  liege.^  Ähnlich 
wird  der  Fall  liegen  bei  der  Peterskapelle,  die  Kaiser  Ludwig  11.  am 
5.  April  868  von  dem  Römer  Petrus  durch  Kauf  erwirbt.^ 

Selbst  wenn  diese  Beispiele  nicht  überzeugend  wirken  sollten,  ii 
der  Sache  selbst  kann  nach  allem,  was  vorher  ausgeführt  ist,  keii 
Zweifel  bestehen:  seit  den  ersten  Jahrzehnten  des  9.  Jahrhundert 
konnte  auch  ein  Laie  das  von  ihm  begründete  Heiligtum  capel! 
nennen. 

3.    Die  capellae  auf  Privatboden  in  der  Eigenkirchenfrage 

Gerade  so  wie  die  capellae  auf  Fiskalgut,  nahmen  auch  die  capellae 
in  Privatbesitz  denselben  Anteil  an  der  Eigenkirchenbewegung  wie  alle 
übrigen  Heiligtümer. 

Waren  sie  durch  königliche  Tradition  in   die  Hände  von  Privat 
leuten   übergegangen,   so   behielten   sie   selbstverständlich   den  Besit 
und  die  Rechte,  mit  denen  sie  tradiert  waren.   Es  konnten  also  capella 
in  Privatbesitz  schon  sehr  früh  den  Fiskal-  und  Kirchenzehnten  be- 
sitzen.   Im  übrigen  besaßen  sie  das  Zehntrecht  in  älterer  Zeit  nur  in- 
sofern,  als  sie  Pfarr-  und  Taufkirchen  waren,   und   das  werden   auf 
Privatboden  noch  weniger  capellae  als  auf  Königsgut  gewesen  sein.' 
In  ihrer  Gesamtheit  erhielten  sie  den  kirchlichen  Zehnten  erst  durch 
das  Aachener  Kirchenkapitular  von  818/819;  jedes  neu  errichtete  Heilig- 
tum erhielt  jetzt  das  Zehntrecht,  wenn  an  ihm  ein  eigener  Priester  be- 
stand und  die  Rechte  älterer  Kirchen  nicht  verletzt  wurden.^ 

Bei  den  Angriffen,  welche  das  Eigenkirchensystem  in  den  fol- 
genden Jahren  noch  zu  bestehen  hatte,  werden  auch  die  capellae  auf 
Privatboden  öfters  genannt. 

So  wandten  sich  schon  auf  dem  Pariser  Konzil  von  829  die 
Bischöfe  gegen  die  „aedicula,  quas  usus  inolitus  capellas  appellat".^  Am 
schärfsten  kommt  jedoch  der  Gegensatz  wiederum  in  den  Glossen  zur 
Hadriana  zum  Ausdruck.^  Vor  allem  sind  es  natürlich  die  Laien- 
kapellen, gegen  die  sich  der  Haß  des  geistlichen  Verfassers  richtet. 
So  findet  sich  zu  c.  2  des  concilium  Antiochenum,  welcher  verbietet, 
mit  Exkommunizierten  in  den  Häusern  zu  beten,  der  Zusatz:  „Hie  de- 


'  BM.  831. 

'  BM.  1239  k  (Muratori  SS.  II\  931). 

'  Vgl.  oben  S.  81. 

*  Stutz  S.  258. 
^  Vgl.  oben  S.  81  A.  7  und  85  A.  2. 

*  Veröffentlicht  von  Ma aßen,  Wiener  S.-B.  84  (1876),  235ff.;  vgl.  oben  S.  63f. 


Capeila  93 

estantur  capellae  domorum'V  und  ähnlich  zu  c.  58  des  concilium  Lao- 
license:  „Hie  prohibentur  capellae  laicorum".^  C.  7  des  concilium  Gan- 
ijrense  wird  benutzt,  um  die  Verwerflichkeit  des  an  Laienkapellen  und 
•lie  an  ihnen  funktionierenden  Kleriker  entrichteten  Zehnten  nachzu- 
v/eisen:  „Decimae  capellae  secularis  anathematizantur,  quas  laici  suis 
:lericis  secularibus  anathematizandis  ad  officia  terreni  usus  dare  con- 
;ue[ve]runt".^ 

So  schroff  wie  hier  tritt  in  den  Konzilien  und  Erlassen  der  Folge- 
:eit  der  Gegensatz  der  Hierarchie  gegen  die  Privatkapellen  nicht  mehr 
'.utage.  Immerhin  war  die  Lage  der  Kapellen,  wie  der  Eigenkirchen 
iberhaupt,  je  nach  den  Verhältnissen  und  dem  Gange  der  Politik  sehr 
/erschieden  und  schwankend.  Aber  zu  einem  ausdrücklichen  Verbote 
iam  es  nicht  mehr.^  Selbst  das  Vorgehen  der  westfränkischen  Geist- 
ichkeit,  an  deren  Spitze  der  Bischof  Prudentius  von  Troyes  stand, 
liegen  das  Eigenkirchenwesen  mißlang;  Karl  der  Kahle  behauptete  mit 
iilfe  Hinkmars,  der  zur  Verteidigung  seine  Schrift  „Collectio  de  ecclesiis 
li  capellis"  schrieb,^  das  Feld. 

Das  Endergebnis,  das  sich  im  Laufe  des  9.  Jahrhunderts  heraus- 
)ildete,  war,  daß  sich  capellae  schließlich  sowohl  in  den  Händen  des 
<önigs  wie  in  denen  von  Laien,  im  Besitze  von  Bischöfen  wie  in  dem 
jon  Klöstern  befanden. 


Exkurs 

Hat  der  oberste  capellanus  den  Titel  apocrisiarius 

geführt  ? 

In  mehreren  Werken"*  wird  demobersten  capellanus  auch  der  Titel 
apocrisiarius  beigelegt  und  meist  damit  die  Anschauung  verbunden,  daß 
jener  kraft  seines  Amtes  der  ständige  Vertreter   des  Papstes  im   ge- 


'  Maaßen  a.  a.  0.  S.  249. 

^  Das  Konzil  von  Meaux  c.  77  (Capit.  II,  419)  vom  Jahre  845  begnügt  sich 
damit,  den  an  den  Kapellen  vornehmer  Laien  angestellten  Priestern  einzuschärfen, 
auf  Anstand  und  Sitte  unter  den  ihrer  Obhut  anvertrauten  Personen  zu  achten. 

'  Vgl.  oben  S.  86  A.  5. 

*  Öls n er,  König  Pippin  S.  13,  38.  Gi es eb recht,  Gesch.  d.  deutschen  Kaiser- 
zeit P,  139.  Glasson,  Hist.  du  droit  et  des  institutions  de  la  France  II,  431. 
Pustel  de  Coulanges,  Les  transformations  de  la  royaute  pendant  l'epoque  caro- 
lingienne  (Paris  1892),  p.  332.  Mühlbacher,  Deutsche  Geschichte  unter  den  Karo- 
lingern S.  74.  Dubruel,  Fulrad  abbe  de  Saint-Denis  (Colmar  1902),  gebraucht  zwar 
S.  24ff,  u.  ö.  den  Titel  apocrisiarius,  leugnet  jedoch  eine  Ernennung  durch  den  Papst 


k^ 


94  Wilhelm  Lüders  . 

samten  Frankenreiche  gewesen  sei;   sogar  Fulrad,  der  erste  Kapellai 
Pippins,  wird  bereits  mit  diesem  Titel  bezeichnet. 

In  den  Quellen  läßt  sich  diese  Bezeichnung  jedoch  erst  sehr  spät 
belegen.^  Erst  ein  Brief  vom  Jahre  864,  in  dem  Karl  der  Kahle  Papst 
Nikolaus  I.  um  Gnade  für  den  in  den  Ehehandel  Lothars  IL  verstrickten 
Bischof  Adventius  von  Metz  bittet,  hat  für  die  Bischöfe  Angilram  und 
Drogo  von  Metz  den  Titel  „summus  capellanus  et  apocrisiarius  aposto- 
licae  sedis  in  istis  regionibus".^ 

Ausführlicher  handelt  dann  Hinkmar  in  seinem  882  verfaßten 
Werke  „De  ordine  palatii"^  von  dem  apocrisiarius,  den  er  ebenfalls  mit 
dem  obersten  capellanus  identifiziert,  wie  die  Zusätze  „quem  nostrates 
capellanum  vel  palatii  custodem  appellant"  (c.  16),  „qui  vocatur  apud  nos 
capellanus  vel  palatii  custos''  (c.  19),  „id  est  capellanus  vel  palatii  custos" 
(c.  32),  beweisen.  Er  nennt  ihn  als  ersten  in  der  Reihe  der  hohen  Be- 
amten des  Hofes.  Seinen  Ursprung  führt  er,-  indem  er  sich  auf  die  be- 
kannte Fälschung  der  konstantinischen  Schenkung  beruft,  in  die  Zeit 
Kaiser  Konstantins  zurück.  Damals,  als  dieser  Kaiser  dem  Papste  Sil- 
vester die  Stadt  Rom  geschenkt  und  seine  Residenz  selbst  nach  Byzanz 
verlegt  habe,  sei  jenes  Amt  zuerst  in  Wirksamkeit  getreten.^  unter 
anderen  habe  auch  Papst  Gregor  zeitweilig  die  Vertretung  des  aposto- 
lischen Stuhles  in  Byzanz  innegehabt.^ 


oder  eine  Stellvertretung  des  apostolischen  Stuhles  aufs  entschiedenste,  indem  er 
den  Titel  lediglich  als  eine  andere  Bezeichnung  des  fränkischen  archicapellanus  auf- 
faßt (S.  33). 

^  Die  Bedeutungslosigkeit  der  anderen  Stellen  hat  bereits  P  r  o  u ,  Ausg.  von 
Hinkmars  De  ord.  pal.  Bibl.  de  l'Ecoie  des  hautes  etudes  Bd.  58,  S.  34  A.  2  erwiesen. 

^  EE.  VI,  223:  „.  .  .  ut  Engilramnus,  praedecessor  istius  (sc.  Adventii),  summus 
capellanus  eius  (sc.  Karoli  imperatoris)  et  apocrisiarius  apostolicae  sedis  in  istis  re- 
gionibus  aliquandiu  fieret,  et  postea  deprecatione  sanctae  recordationis  pii  augusti 
domni  et  genitoris  nostri  excellenti  genio  a  sede  apostolica  in  praefato  patruo  nostro 
Drogone  venerando  episcopo  fuerat  honorata,  ut  una  cum  praedicto  ministerio  et 
imperatoris  et  apostolicae  sedis  etiam  usu  pallii  potiretur."  —  Das  ministerium  im- 
peratoris bezieht  sich  auf  das  obige  summus  capellanus,  das  ministerium  apostolicae 
sedis  auf  apocrisiarius  apostolicae  sedis  in  istis  regionibus. 

*  Capitularia  II,  517 ff.  —  Über  die  Tendenz  des  Werkes  siehe  oben  S.  24  A.  3. 

*  Cap.  13:  ...  „cuius  (sc.  apocrisiarii)  ministerium  ex  eo  tempore  sumpsit  ex- 
ordium,  quando  Constantinus  magnus  Imperator  christianus  effectus  propter  amorem 
et  honorem  sanctorum  apostolorum  Petri  et  Pauli,  quorum  doctrina  ac  ministerio 
ad  Christi  gratiam  baptismatis  sacramenti  pervenit,  locum  et  sedem  suam,  urbem 
scilicet  Romanam,  papae  Silvestro  edicto  privilegii  tradidit  et  sedem  suam  in  civitate 
sua,  quae  antea  Byzantium  vocabatur,  nominis  sui  civitatem  ampliando  aedificavit; 
et  sie  responsales  tam  Romanae  sedis,  quam  et  aliarum  praecipuarum  sedium  in 
palatio  pro  ecclesiasticis  negotiis  excubabant." 

^  Cap.  14:  „Aliquando  per  episcopos,  aliquando  vero  per  diaconos  apostolica  sedes 
hoc  officio  fungebatur.   Quo  officio  beatus  Gregorius  in  diaconi  ordine  functus  fuit." 


Capella  95 

Als  dann  mit  der  Taufe  Chlodevechs  das  Frankenreich  zur  Blüte 
gelangt  sei,  hätten  einzelne  Bischöfe  der  gallischen  Kirche  die  Ver- 
retung  des  Papstes  in  den  Ländern  diesseits  der  Alpen  geführt.^ 

Auf  diese  Weise  wird  es  Hinkmar  nicht  schwer,  die  Verbindung 
mit  der  Reihe  der  Männer,  die  seit  König  Pippin  das  Amt  des  obersten 
:apellanus  geführt  haben,  herzustellen.  Sie  alle  —  er  nennt  sie  von 
-ulrad  bis  Drogo  ausdrücklich  mit  Namen  ^  —  haben  nach  seiner 
Darstellung  den  Titel  apocrisiarius  und  damit  die  Stellvertretung  des 
apostolischen  Stuhles  in  den  Ländern  diesseits  der  Alpen  in  Händen 
gehabt. 

Dürfen  wir  nun  den  Angaben  dieser  beiden  späten  Quellen,  wie 
es  viele  neuere  Forscher  getan  haben,  Glauben  schenken? 

Schon  von  anderer  Seite  ist  lebhafter  Widerspruch  dagegen  laut 
geworden.  Waitz  ist  der  Ansicht,  daß  „in  der  ganzen  Ausführung" 
des  Werkes  „De  ordine  palatii"  über  den  apocrisiarius  „offenbar  vieles 
nur  Hinkmars  Ansicht  sei".^ 

Ist  schon  die  Berufung  auf  die  sogenannte  konstantinische  Schen- 
Jiung  nicht  geeignet,  großes  Vertrauen  für  Hinkmars  Angaben  zu  er- 
wecken,^ so  können  wir  doch  seinen  Versuch,  das  Amt  des  obersten 
capellanus  an  spätrömische  Verhältnisse  anzuknüpfen,  hier  ganz  außer 
acht  lassen.  Denn  wir  sahen,  daß  das  Amt  des  obersten  capellanus, 
wie  die  gesamte  Hofkapelle  überhaupt,  in  rein  fränkischen  Verhält- 
nissen seine  Wurzel  hatte.  Für  uns  kommt  es  allein  darauf  an,  zu 
Juntersuchen,  ob  wirklich  die  obersten  capellani  seit  der  Zeit  Fulrads 
'den  Titel  apocrisiarius  und  die  damit  verbundenen  Befugnisse  eines 
Stellvertreters  des  apostolischen  Stuhles  gehabt  haben. 

Zwei  Momente  scheinen  den  Ausführungen  Hinkmars  eine  Stütze 
zu  verschaffen.  Einmal  der  schon  oben  angeführte  Brief  Karls  des 
Kahlen  vom  Jahre  864  und  zweitens  der  Umstand,  daß  gerade  der 
Teil  von  Hinkmars  Werk,  der  die  Ausführungen  über  den  apocrisiarius 


^  Cap.  14:  „Et  in  iiis  cisalpinis  regionibus,  postquam  Hludowicus  praedicatione 
beati  Remigii  ad  Christum  conversus  et  ab  ipso  cum  tribus  millibus  Francorum  in 
vigilia  sanctae  paschae  baptizatus  extitit,  per  successiones  regum  sancti  episcopi  ex 
suis  sedibus  et  tempore  competenti  palatium  visitantes  vicissim  hanc  administrationem 
disposuerunt." 

'  Siehe  oben  S.  25  A.  1. 

'  VG.  III,  520f.  —  Ferner  Abel,  Karl  d.  Gr.  I,  395  A.  5.  Brunner,  RG.  II, 
116  A.  18. 

*  Natürlich  hat  Hinkmar  an  der  Echtheit  der  konstantinischen  Schenkung  nie 
gezweifelt.  Hat  er  doch  nicht  einmal  daran  gedacht,  die  ünechtheit  der  pseudo- 
isidorischen  Dekretalen,  deren  Fälschung  zu  seinen  Lebzeiten  geschah,  zu  entlarven, 
soviel  Unbequemlichkeiten  sie  ihm  auch  verursachten  (vgl.  Noorden,  Hinkmar  von 
Rheims  S.  282;  Schrörs,  Hinkmar  von  Reims  S.  400). 


96  Wilhelm  Lüders 

enthält,  auf  das  uns  verlorene  Werk  des  826  verstorbenen  Abtes  Adal- 
hard  von  Corbie  zurückgeht.^ 

Gehen  wir  zunächst  auf  Adalhards  Schrift  ein.  Wenn  sich  nach- 
weisen ließe,  daß  die  Ausführungen  Hinkmars  über  den  apocrisiarius 
in  der  Tat  bereits  in  ihr  enthalten  waren,  so  würden  wir  ihnen  aller 
dings  vollen  Glauben  schenken  müssen.  Aber  gerade  dieser  Nachweis 
wird  sich  nicht  führen  lassen.  Im  Gegenteil,  es  sprechen  gewichtige 
Gründe  dafür,  daß  in  Adalhards  Werk  der  Titel  apocrisiarius  für  den 
obersten  capellanus  unmöglich  sich  gefunden  haben  kann.  Denn  sonst 
wäre  uns  doch  sicherlich  unter  den  verhältnismäßig  zahlreichen  Titeln 
jener  Zeit  auch  die  Bezeichnung  apocrisiarius  überliefert;  andererseits 
paßt  aber  das  Amt  des  apocrisiarius  und  die  mit  ihm  verbundene 
Idee  eines  apostolischen  Stellvertreters  in  die  kirchenpolitischen  Ver- 
hältnisse der  Zeit,  in  der  Adalhard  schrieb,  nicht  hinein.  Unter  Pippin 
wurde  die  Verbindung  mit  dem  Papste  allerdings  dauernd  hergestellt. 
Aber  sowohl  er  wie  seine  beiden  Nachfolger  wahrten  in  inneren  kirch- 
lichen Fragen  sich  volle  Selbständigkeit;  eine  dauernde  Vertretung  des 
Papstes  hatte  an  ihrem  Hofe  und  in  ihrem  Reiche  keinen  Platz.  Am 
wenigsten  aber  war  diese  Idee  vereinbar  mit  dem  Amte  des  obersten 
capellanus,  das  aus  rein  fränkischen  Verhältnissen  erwachsen  und  nur 
dazu  berufen  war,  in  der  Kirche  die  Interessen  des  Königs,  nicht  aber 
die  des  Papstes  zu  vertreten. 

War  so  die  Zeit,  wo  der  Kaiser  noch  über  ein  einheitliches  Reich 
gebot  und  auch  unbeschränkter  Herr  der  Kirche  war,  nicht  geeignet, 
die  Idee  des  apocrisiarius  aufkommen  zu  lassen,  so  war  die  Zeit  bald 
darauf  einem  solchen  Gedanken  um  so  günstiger. 

Es  ist  unverkennbar:  die  Befugnisse,  wie  sie  Hinkmar  dem  apo- 
crisiarius zuschreibt,  berühren  sich  eng  mit  denen  des  apostolischen 
Vikars.^  Die  Geschichte  des  apostolischen  Vikariats  enthält  zugleich 
auch  die  Lösung  unserer  Frage,  wann  die  Idee,  daß  der  oberste  capel- 
lanus den  Titel  apocrisiarius  und  damit  die  Stellvertretung  des  Papstes 
innehabe,  aufgekommen  ist. 


^  Hauck,  Kirchengesch.  Deutschlands  11,  174  A.  1.    v.  Noorden,  Hinkmar  von 
Rheims  S.  385. 

^  Soviel  ich  sehe,  hat  bisher  bloß  Prou  (Bibl.  de  l'Ecole  des  hautes  etudes. 
Bd.  58,  Ausg.  von  Hinkmars  Werk  De  ordine  palatii,  1884,  p.  34  A.  2)  die  Vermutung 
ausgesprochen,  daß  Drogos  Vikariat  Hinkmar  veranlaßt  habe,  für  den  obersten 
capellanus  die  Bezeichnung  apocrisiarius  einzuführen.  Allerdings  hat  er  den  Briei 
Karls  des  Kahlen  an  Nikolaus  I.  übersehen,  doch  hat  er  in  der  Sache  selbst  recht 
denn  gerade  Hinkmars  Darstellung  liefert  den  Beweis,  daß  die  Begriffe  apocrisiarius 
und  vicarius  sich  in  vieler  Beziehung  decken.  Auch  die  episcopi,  die  Hinkmar  c.  1^ 
(oben  S.  95  A.  1)  nennt,  sind  nichts  anderes  als  die  Bischöfe  von  Ades,  von  derer 
Vikariat  gleich  im  folgenden  die  Rede  sein  wird. 


i\ 


Capeila  97 


Der  Gedanke  des  apostolischen  Vikariats  ist  sehr  alt.  Schon  in 
1er  gallischen  und  später  in  der  fränkischen  Kirche  unter  den  mero- 
.vingischen  Königen  hatten  die  Bischöfe  von  Arles  diese  Würde  inne.^ 
bann  bekam  Bonifatius  die  Stellvertretung  des  apostolischen  Stuhles 
liesseits  der  Alpen. ^  Nach  seinem  Tode  wurde  das  Amt  zunächst  nicht 
A^ieder  vergeben.  Der  erste,  der  es  wieder  erhielt,  war  Bischof  Drogo 
von  Metz,  der  Erzkapellan  Kaiser  Lothars  I.^  Lothar  selbst  hatte  beim 
^apste  Sergius  II.  im  Jahre  844  die  Ernennung  Drogos  zum  Vikar 
durchgesetzt,  und  es  war  eine  durchaus  praktische  Politik,  die  ihn 
jazu  bewogen  hatte.  Er  hoffte,  nachdem  durch  den  Vertrag  zu  Verdun 
jie  politische  Einheit  des  Karolingerreiches  endgültig  vernichtet  war, 
.v^enigstens  auf  kirchlichem  Gebiete  durch  die  Stellung  des  ihm  treu 
ergebenen  Vikars,  seines  Erzkapellans,  auf  die  Reiche  seiner  Brüder 
^inen  gewissen  Einfluß  auszuüben.^  Aber  er  hatte  nicht  mit  dem 
vViderstande  der  auf  ihre  Selbständigkeit  bedachten  westfränkischen 
Geistlichkeit  gerechnet.  Ihr  Bescheid  auf  der  Synode  von  Verneuil  im 
Jahre  844  kam  einer  Ablehnung  gleich.^  Drogo  ist  nie  dazu  ge- 
iiommen,  den  Vikariat  praktisch  auszuüben. 

Gleichwohl  ließ  Lothar  nicht  von  seinem  Plane  ab.  Wenige  Jahre 
später,^  als  es  ihm  darauf  ankam,  sich  mit  seinem  Bruder  Karl  aus- 
zusöhnen und  zu  diesem  Zwecke  den  Beistand  des  damals  auf  der 
Höhe  seines  Einflusses  stehenden  Erzbischofs  tiinkmar  von  Reims  zu 
gewinnen,  ließ  er  Drogo  fallen  und  suchte  bei  Leo  IV.  für  Hinkmar  die 
Ernennung  zum  päpstlichen  Vikar  durchzusetzen;  allerdings  mit  wenig 
Erfolg,  denn  Leo  erklärte,  den  Wunsch  des  Kaisers  nicht  erfüllen  zu 
können,  da  der  Vikariat  bereits  an  Drogo  vergeben  sei.' 

Trotzdem  scheint  das  Bestreben ,  einem  ergebenen  Bischof  die 
Rechte  des  päpstlichen  Stellvertreters  zu  verschaffen,  auch  in  der 
Folgezeit  eine  Tradition  der  kaiserlichen  Politik  geblieben  zu  sein. 
Allerdings  haben  wir  für  derartige  Absichten  Kaiser  Ludwigs  IL  kein 
ausdrückliches  Zeugnis  erhalten.     Aber  einmal  ist  es  schon   an   sich 


'  Gundlach,  Arles  und  Vienne  (NA.  XV,  235 ff.). 

^  Gundlach  a.  a.  0.  S.  252. 

^  Dümmler,  Gesch.  des  ostfränk.  Reiches  I,  252.  Hinkmar  redet  ausführlich 
in  seinem  Werke  De  iure  metropolitanorum  davon;  hier  sagt  er  selbst,  daß  Drogo 
nach  Bonifatius  wieder  der  erste  apostolische  Vikar  war  (Schrörs,  tiinkmar  von 
Reims  S.  369;  Noorden  S.  326). 

*  Schrörs  a.  a.  0.  S.  50f.' 

'  Noorden  S.  16f.;  Schrörs  S.  51. 

^  Das  Jahr  steht  nicht  fest.  Schrörs  S.  57  nimmt  849  oder  850,  Gundlach 
(NA.  XV,  255)  851  an;  neuerdings  E.  Lesne,  Revue  des  questions  historiques,  Nouv. 
Serie  XXXIV,  5—58  (angezeigt  NA.  XXXI,  278  no.  138),  sogar  847. 

'  tiauck  II,  519  A.  5.    Schrörs  a.  a.  0. 
Afü    II  7 


98  Wilhelm  Lüders 

nicht  wahrscheinlich,  daß  dieser  energische  Herrscher  die  Forderung, 
die  bereits  sein  Vater  erhoben  hatte  und  die  auch  bei  Karl  dem 
Kahlen,  sobald  er  nur  die  Kaiserkrone  erlangt  hatte,  sofort  wieder 
hervortrat,  ganz  außer  acht  gelassen  hätte.  Und  auf  der  anderen  Seite 
erscheint  sein  Erzkapellan  Bischof  Joseph  von  Ivrea  bezeichnender- 
weise, wenn  auch  nur  in  einem  Falle,  als  „archicapellanus  totius  ec- 
clesiae  in  qua  haec  constituta  sunt  capitula'V  dieser  Titel  kann  aber 
nicht  anders  gedeutet  werden,  als  daß  jener  in  der  Tat  Ansprüche  auf 
einen  gewissen  Vorrang  unter  den  übrigen  Bischöfen  des  Reiches  und 
eine  Art  Stellvertretung  des  Papstes  erhob. 

Man  sieht,  es  bahnte  sich  eine  Entwicklung  an,  die  bestrebt  war, 
dem  obersten  capellanus  des  jeweiligen  Kaisers  die  Stellung  eines 
päpstlichen  Stellvertreters  zuzuschreiben.  Es  steckt  also  sowohl  in 
dem  Briefe  Karls  des  Kahlen  an  Papst  Nikolaus  wie  auch  in  den  Aus- 
führungen Hinkmars  ein  Kern  von  Wahrheit.  Das  Falsche  liegt  darin, 
daß  jener  nicht  nur  Drogo,  sondern  auch  Angilram  als  apocrisiarius 
bezeichnet,  und  daß  dieser  apocrisiarius  und  obersten  capellanus  ohne 
weiteres  identifiziert. 

Wie  sind  nun  diese  falschen  Angaben  zu  erklären?  Sind  es 
bloße  Irrtümer,  oder  sind  es  bewußte  Fälschungen?  Und  wenn  das 
letztere,  welchen  Zweck  verfolgten  sie? 

Bleiben  wir  zunächst  bei  dem  Briefe  Karls  des  Kahlen.    Der  Wider 
stand,  den  Karl  der  Ernennung  Drogos  zum  päpstlichen  Vikar  entgegen 
setzte,  ist  bekannt.^  Wenn  er  auch  Drogo  und  Lothar  I.  gegenüber  Er- 
folg hatte,   so  erhob  doch,   wie  wir  sahen,   Ludwig  IL  dieselben  An 
Sprüche.     Da  ist  nun  die  Betonung   des  Titels  apocrisiarius   für   de 
obersten   capellanus   in   zwei  Zeugnissen,   die   beide   aus   dem   West- 
frankenreiche stammen,  höchst  auffallend.    Wir  kommen  nicht  um  dk 
Annahme  weg,  daß,  gewissermaßen  als  Gegengewicht  gegen  die  kaiser- 
lichen Ansprüche,  zu  der  Zeit,  in  der  der  Brief  an  Nikolaus  abgefaßi 
wurde,  im  Reiche  Karls  des  Kahlen  die  Theorie  aufgekommen  war,  dal^ 
der  Erzkapellan,  auch  der  des  Westfrankenreiches,  schon  kraft  seinem 


^  Capit.  II,  117  (Synode  zu  Pavia  850).  Gerade  der  Zusatz  „totius  ecclesiae"  isi 
für  ein  derartiges  Bestreben  Ludwigs  bezeichnend.  Denn  in  der  Interpolation,  di( 
sich  in  der  von  Werminghoff  (NA.  XXV,  371)  mitgeteilten  Fassung  von  Eboe 
Restitutionsedikt  findet,  heißt  es  gleichfalls:  „Drogo  filius  Karoli  gloriosi  August! 
f rater  Hludowici,  excellentissimorum  augüstorum  totiusque  sanctae  ecclesiae  istorii: 
palatinus  archipraesul."  Diese  Interpolation,  die  auch  Werminghoff  als  einen  Hinwe; 
auf  Drogos  Vikariat  ansieht,  stammt  aber  vielleicht  von  Ebo  selbst  aus  dem  Jahn 
842,  zum  mindesten  also  ebenfalls  aus  Kreisen,  die  der  kaiserlichen  Politik  dei 
vierziger  Jahre  nahestanden.  Man  wird  daher  mit  Recht  auch  den  Zusatz  „totius 
ecclesiae"  in  dem  Titel  Josephs  ähnlich  deuten.     S.  oben  S.  65  A.  8. 

^  Noorden  S.  16f.,-  Schrörs  S.  51. 


Capella  99 


Amtes  und  als  eine  uralte  Kompetenz  desselben  die  Stellvertretung  des 
apostolischen  Stuhles  ohne  weiteres  inne  habe.  Es  war  ein  Versuch, 
sich  durch  diese  Theorie  von  der  in  Anspruch  genommenen  kaiser- 
llichen  Oberherrschaft  in  kirchlichen  Dingen  zu  befreien,  und  diesem 
Versuche  kam  der  Umstand  zustatten,  daß  sowohl  Drogo  wie  Joseph 
nicht  nur  Vikare,  sondern  auch  Erzkapellane  waren.  Man  konnte  jene 
Theorie  also  sogar  mit  einem  Scheine  des  Rechtes  vorbringen.  Nur 
wagte  man  es  nicht,  den  Titel  vicarius  selbst  in  Anspruch  zu  nehmen, 
sondern  wählte  lieber  die  weniger  anspruchsvolle  Bezeichnung  apo- 
crisiarius. 

Lange  Zeit  hat  diese  Theorie  auch  dem  Anscheine  nach  am  Hofe 
Karls  selbst  nicht  bestanden.  Daran  wird  es  liegen,  wenn  wir  keine 
ausführlicheren  Nachrichten  darüber  besitzen,  sondern  gewissermaßen 
nur  einen  Niederschlag  jener  Anschauung  in  dem  Briefe  an  Nikolaus 
erhalten.  Karl  selbst  machte  sich  sofort  von  ihr  frei,  sobald  er  die 
Kaiserkrone  errungen  hatte.  Hatte  er  vorher  den  Grundsatz  verfochten, 
daß  auch  die  westfränkischen  Erzkapellane  Stellvertreter  des  Papstes 
seien,  so  setzte  er,  kaum  zum  Kaiser  gekrönt,  bei  Johann  VIII.  die  Er- 
nennung des  Erzbischofs  Ansegis  von  Sens  zum  päpstlichen  Vikar 
durch.  Aber  er  hatte  nicht  mehr  Erfolg  als  Lothar  I.  mit  Drogos 
Vikariat.  Auch  der  Vikariat  des  Ansegis  von  Sens  trat  nicht  in  Wirk- 
samkeit; er  scheiterte  an  dem  Widerstände  des  westfränkischen  Epi- 
skopats, als  dessen  Vorkämpfer  Hinkmar  auftrat.^ 

Damit  dürften  wir  zugleich  den  Schlüssel  zu  der  Darstellung,  die 
Hinkmar  in  seiner  Schrift  „De  ordine  palatii"  von  dem  apocrisiarius  gibt, 
gefunden  haben. 

Es  ist  völlig  ausgeschlossen,  daß  Hinkmar  den  späten  Ursprung 
■der  Theorie,  die  er  von  dem  apocrisiarius  vortrug,  nicht  gekannt  hätte. 
iSeine  Jugend  und  selbst  sein  Mannesalter  reichten  noch  in  Zeiten 
zurück,  denen  jene  Anschauung  völlig  fremd  war. 

Es  wäre  ja  nun  denkbar,  daß  er  ohne  irgendwelche  Nebenabsichten 
nur  die  Theorie  mitteilte,  wie  sie  tatsächlich  eine  Zeitlang  am  west- 
'fränkischen  Hofe  bestanden  hatte.  Aber  dazu  ist  doch  seine  ganze 
Darstellung  zu  tendenziös;  immer  wieder  und  wieder  begegnet  an 
nachdrücklich  hervorgehobener  Stelle  der  Titel  apocrisiarius.^  Es  ist 
nicht  anders  möglich,  er  muß  mit  seinen  Ausführungen  über  den  apo- 
crisiarius ganz  bestimmte  Absichten  verfolgt  haben.  Sie  werden  ohne 
weiteres  klar,  wenn  wir  seinen  Gegensatz  zu  der  Idee  des  päpstlichen 
Vikariats  ins  Auge  fassen.    Denn  noch  lebte  im  Jahre  882,  als  Hink- 


'  Noorden  S.  318ff.;  Schrörs  S.  360ff.;  Gundlach,  NÄ.  XV,  256. 
'  Vgl.  cap.  13,  16,  19,  20,  32;  außerdem  cap.  14,  15. 

7* 


k 


100  Wilhelm  Lüders,   Capella 

mar  sein  Werk  verfaßte,  Ansegis  von  Sens/  wenn  er  auch  längst  un- 
schädlich war,  und  ein  neuer  Vikar  war  sogar  noch  obendrein  im 
Reiche  Bosos  in  Rostaing  von  Arles  erstanden.^ 

Die  Theorie  des  apocrisiarius,  wie  sie  Hinkmar  vorfand,  schloß 
einen  päpstlichen  Vikariat  völlig  aus;  neben  dem  apocrisiarius  war  für 
den  vicarius  kein  Platz  mehr.  Zugleich  war  aber  der  apocrisiarius  der 
Freiheit  der  gallischen  Kirche  und  vor  allem  den  Metropoliten  weit 
weniger  gefährlich  als  dieser.  Die  Stellvertretung  des  apostolischen 
Stuhles,  die  ihm  Hinkmar  zugesteht,  ist  weiter  nichts  als  ein  Ehren- 
vorrecht. Hinkmar  erwähnt  nichts  davon,  daß  der  apocrisiarius  Synoden 
berufen  oder  sonst  irgendwie  Rechte  ausüben  konnte,  welche  die  Selb- 
ständigkeit der  Metropoliten  gefährdet  hätten.^ 

Hinkmar  starb,  bald  nach  Vollendung  seines  Werkes  „De  ordine 
palatii",  am  21.  Dezember  882.  Praktische  Folgen  hat  seine  Lehre  von 
der  Stellung  des  apocrisiarius  ebensowenig  wie  vorher  die  vom  Hofe 
Karls  des  Kahlen  ausgehende  Theorie  gehabt.  Weder  unter  Karl  dem 
Kahlen  noch  in  der  Folgezeit  hat  ein  Erzkapellan  den  Titel  apocrisiarius 
geführt,  geschweige  denn  die  Stellvertretung  des  apostolischen  Stuhles 

innegehabt.  I 

■  I 

'  Er  starb  am'  25.  Nov.  882  (Schrörs  S.  372). 

'  Im  Jahre  878,  vgl.  Noorden  S.  358;  Gundlach,  NA.  XV,  257.  : 

^  Vgl.  die  Ausführungen  Hinkmars  über  die  Befugnisse  des  apocrisiarius  cap.20.l 


] 


Forestis 

Königsgut  und  Königsrecht  nach  den  Forsturkunden  vom 
6.  bis  12.  Jahrhundert 

von 

Hermann  Thimme 


Forestis,  ein  Wort,  das  im  6.  Jahrhundert  zum  ersten  Male  auf- 
taucht, entspricht  sprachlich  unserem  „Forst".  Sachlich  sind  beide 
Begriffe  durchaus  verschieden. 

Die  vorliegende  Abhandlung  versucht,  wesentlich  aus  den  Urkunden 
die  Grundbedeutung  von  forestis  festzustellen,  und  die  Bedeutungs- 
^ntwicklung  dieses  Wortes  bis  zum  Anfang  des  12.  Jahrhunderts  zu 
/erfolgen.  Es  wird  sich  zeigen,  daß  forestis  schon  im  11.  Jahrhundert 
iine  ganz  andere  Färbung  hat,  als  etwa  im  achten.  Was  Wunder, 
*venn  man  in  den  heutigen  „Forsten"  die  forestes  der  Merowinger-  und 
Karolingerzeit  nicht  wiedererkennen  kann! 

Es  wird  sich  zeigen,  daß  die  forestes  in  der  Wirtschafts-  und 
V^erfassungsgeschichte  des  früheren  Mittelalters  eine  bemerkenswerte 
Rolle  spielen,  daß  sie  hier  einen  hervorragenderen  Platz  verdienen,  als 
ir  ihnen  bisher  zuteil  geworden  ist.  Für  Probleme  wie  Entstehung  des 
Privateigentums,  Art  und  Schicksale  des  Königsgutes  und  der  gemeinen 
'Vlark,  ist  die  Erkenntnis  von  dem  Wesen  der  forestes  gewiß  nicht 
Dhne  Wert. 

In  Forst-  und  Rechtsgeschichten  hat  forestis  eine  zum  Teil  ein- 
gehende Behandlung  erfahren.  Manche  Punkte,  die  dabei  zu  kurz 
gekommen  sind,  sollen  in  der  vorliegenden  Arbeit  ergänzt,  in  anderen 
Punkten  soll  eine  von  der  herrschenden  Meinung  abweichende  Ansicht 
begründet  werden. 


102  Hermann  Thimme 

I.    Forestis  bis  zum  Ende  der  Karolingerzeit 

1.   Forestis  und  silva 

So  weit  auch  in  anderen  Punkten  bei  der  Beurteilung  von  foresti 
die  Anschauungen  auseinandergehen,  darin,  daß  forestis  auch  ur 
sprünglich  wie  das  heutige  „Forst"  eine  Bezeichnung  für  den  Wal 
gewesen  sei,  ist  man  sich  ziemlich  einig.  Schwappachs  Definition: 
„Foresta  ist  ursprünglich  eine  Bezeichnung  des  königlichen  Walde 
zum  Unterschied  von  den  übrigen  Waldungen"  gibt  die  übliche  Aul 
fassung  wieder. 

Die  Etymologie,  das  ist  vorweg  zu  bemerken,   ist  bei  dieser  Ar 
schauung   unbeteiligt,   oder   sollte   es   wenigstens   sein.      Meist    wir' 
forestis   mit   foris   in   Zusammenhang   gebracht,    eine   Ableitung,    d 
sprachlich  so  gut  wie  jede  andere  hypothetisch   bleibt.  ^     Die  Quelle 
haben  allein  die  Entscheidung. 

Zum  ersten  Male  ist  von  forestis  in  den  Urkunden  der  Merowing 
die  Rede.      Die   einzige   Bezeichnung   für  Wald    ist   in   allen   übrige 
Quellen  dieser  Zeit  silva,  saltus.   Weder  in  den  Volksrechten  noch  in  d( 
„SS.  rer.  Merow."  begegnet  man  dem  Ausdruck  forestis.    Eine  Tatsach 
die  mehr  Beachtung  verdient,  als  ihr  bisher  zuteil  geworden.  ^    Forest 
ist  also  offenbar  kein  allgemein  gebräuchliches  Wort  für  den  Wald  ; 
solchen  gewesen.     Auch  nicht  für  den  Wald  des  Königs.     Wäre 
nicht  befremdlich,  wenn  man,  bloß  um  das  Eigentum  des  Königs  a 
Walde  zu  bezeichnen,  das  Wort  Wald  (silva)  durch  einen  neuen  Ausdru 
ersetzt  hätte?    Das  Charakteristische  am  Wald  als  solchen,  woran  c; 
Namengebung  anknüpft,  ist  doch  schwerlich,   daß   er  Eigentum  irgel 
eines  Besitzers  ist.    Aus  silva  regis,  silva,  regalis  kann  unmöglich  oh? 
weiteres  forestis  werden. 

Mit  besonderer  Aufmerksamkeit  wird  man  die  Stelle  ins  Aui 
fassen,  wo  unser  Wort  zum  ersten  Male  auftaucht,  wo  zum  ersten  M 
in  der  Geschichte  von  einem  Forst  die  Rede  ist.    Im  Jahre  556  schei  t 


^  Hdb.  d.  Forst-  und  Jagdgeschichte,  Bd.  1,  S.  56.  Noch  etwas  schärfer  End 
im  tidwörtb.  d.  Staatswiss.  III ^  S.  1127:  „Diese  ursprünglich  nur  aus  Wald  besteh;- 
den  Jagdbezirke  nannte  man  Forste."  Ähnlich  definieren:  Stieglitz,  Geschicl. 
Darstellung  der  Eigentumsverhältnisse  an  Wald  und  Jagd,  S.  47f,;  Roth,  Gesch  1. 
Forst-  und  Jagdwesens,  S.  83;  v.  Inama  Sternegg,  D.  W.  G.  I,  S.  127  u.  4i; 
Waitz,  VG.  II,  S.  316;  Brunner,  D.  RG.  II,  S.  38;  Schröder,  D.  RG.*,  S.  38  u/. 
Vgl.  dagegen  die  Bemerkung  bei  Jostes,  Ztschr.  f.  Westf.  1904,  S.  119:  „Foresin 
hat  ja  an  sich  mit  Wald  überhaupt  nichts  zu  tun",  die  freilich  nicht  näher 
gründet  wird. 

*  Vgl.  Schwappach  a.  a.  0.,  S.  58  A.  8. 

'  Vgl.  Hdwörtb.  d.  Staatswiss.,  Bd.  3,  S.  1127. 


Forestis  103 

hildebert  I.  an  St.  Vinzenz  in  Paris  ^  den  Fiskus  „Isciacus".  Bei  der 
'erleihung  handelt  es  sicli  hauptsächlich  um  Fischereien:  „tias  omnes 
iscationes,  quae  sunt  et  fieri  possunt  in  utraque  parte  fluminis  sicut 
;os  tenemus  et  nostra  forestis  est,  ^  tradimus  ad  ipsum  locum."  Das 
ligentum  des  Königs  an  Fischereien  innerhalb  eines  abgegrenzten  Ge- 
ietes  wird  hier  entweder  schlechthin  als  forestis  selbst,  oder  doch 
enigstens  als  Bestandteil  eines  Forstes  hingestellt.  Eines  steht  fest: 
orestis  bedeutet  hier  durchaus  nicht  Wald.  Der  erste  „Forst",  von  dem 
ie  Geschichte  berichtet,  ist  kein  Forst  im  heutigen  Sinne  des  Wortes. 
Es  ist  interessant,  daß  drei  Jahrhunderte  später  in  den  Urkunden 
arls  des  Kahlen  forestis  an  drei  Stellen  in  derselben  Bedeutung  ver- 
andt  wird,  wie  in  der  Urkunde  Childeberts.  Es  handelt  sich  um  zwei 
chenkungen  für  St.  Denis  und  um  eine  dritte  für  das  Kloster  des 
1.  Benignus  in  Dijon.  St.  Denis  erhält:^  „forestem  piscationis  atque 
enationis  tam  infra  quam  extra  Votuo  ad  ipsam  potestatem  legaliter 
c  juste  pertinentem."  Ferner  a.  870:^  „villam  R.  necnon  forestem 
(juaticam  a  fluvio  Saure  usque  Cambreias  cum  ripaticis  .  .  .  atque 
idulgemus  omnes  exactiones  regias  in  aqua  cuicunque  potestati  sunt 
3  |ipatici."  Endlich  heißt  es  in  der  Urkunde  für  S.  B.  de  Dijon  a.  869:"^ 
iSunt  enim  haec,  quae  in  eodem  pago  ipsi  loco  concessimus  .  .  .  terram 
ominicatam  .  .  .  silvam  ubi  possunt  saginari  porci  DC,  forestem  pis- 
ium  in  aqua  a  ponte  Divionis  castri  usque  ad  Rouratum  farinarios 
ex."  ^  — Hier  hat  man  also  Stellen,  bei  denen  Identifizierung  von  forestis 
nd  Silva  von  vornherein  ausgeschlossen  ist.  Wir  werden  sehen,  daß 
uch  sonst  in  der  ganzen  Merowinger-  und  Karolingerzeit,  einerseits 
ilva  und  forestis  wesensverschiedene  Begriffe  sind,  andererseits  die 
•erste  keineswegs  lediglich  aus  Waldungen  bestanden  haben.  Ver- 
chiedene  Umstände  zeigen  dies. 


a)  „Silva  nostra",  „silva  regalis" 

Daß  diese  Ausdrücke  in  den  Quellen  unserer  Periode  relativ  häufig 
orkommen,  verdient  besonders  hervorgehoben  zu  werden.  Wenn  silva 
egalis  und  forestis  identisch  wären,  warum  die  doppelte  Ausdrucksweise? 


i 

\i 

i  *  MG.  DD.I.  ed.  Pertz,  S.  7.     Kopie  d.  9.  Jahrhunderts. 

{         ^  Bouquet,  Rec.  IV.  S.  622  hat  „nostrae  forestis  est".     Waitz,  VG.  II,  S.  317 

i  rklärt  gerade  diese  Stelle  für  interpoliert,  gibt  aber  keinen  Grund  dafür  an. 

<\        '  Bouquet,  Rec.  VIII,  S.  558. 

'  Bouquet,  Rec.  VIII,  S.  629. 

'  Bouquet,  Rec.  VIII,  S.  618. 

^  Darauf,  daß  es  noch  a.  1251  heißt:  „Conquerebantur,  quod  comitissa  volebat 
acere  forestem  in  aqua  de  N"  .  .  .  weist  du  Gange,  Glossar  unter  „forestis"  hin. 


104  Hermann  Thimme 

Bei  Gregor  v.  Tours  ^  heißt  es  ...  .  „dum  ipse  Gunthchrammus 
rex  per  Vosagum  silvam  venationem  exerceret,  vestigia  occisi  buvali 
depraehendit.  Cumque  custodem  silvae  artius  distringeret,  quis  haec 
in  regale  silva  praesumpsisset,  Cliundonem  cubicularium  regis  prodidit". 

Sigibert  II.  schenkt  einem  neugegründeten  Kloster:  ^  „leuvas  tres  de 
Silva  nostra  üriacinse"  und  „ex  alia  silva  dominica  alias  tres  leuvas". 

„Foresta  nostra  Roverito"^  liegt  in  demselben  Gau  an  demselben 
Fluß  wie  „Silva  nostra  Carmoletus".  *  Bevor  Childebert  III.  letzteren  Wald 
vergabt,  gehört  er  zum  königlichen  Fiskus  und  den  „forestarii"  ist  seine 
Pflege  anvertraut,  wenn  man  „vel  forestarii  nostri  usque  nunc  defen- 
sarunt"  so  übersetzen  darf.  Da  hier  silva  nostra  steht,  ist  um  so  auf- 
fallender, daß  forestarii  mit  dem  Wald  zu  tun  haben.  Auf  ihre  Stellun:. 
werden  wir  zurückkommen.  Jedenfalls  gehört  zu  einem  forestarius  ein 
forestis.  „Silva  nostra  Carmoletus"  muß  also  ein  Teil  eines  Forstes  ge- 
wesen sein,  von  dem  die  forestarii  ihren  Namen  bekommen  haben.  ^ 

Dasselbe  möchte  man  annehmen  von  der  „silva  Chrisciacensis", 
weil  innerhalb  dieses  königlichen  ^  Waldes  eine  „cella"  gegründet  wird, 
welche  den  Namen  Forestis  erhält. ' 

b)  Forestis  als  Eigenname 

Hiernach  scheint  bereits  in  der  Merowingerzeit  forestis  auch  als 
Eigenname  verwandt  zu  sein.  Dagegen  sind  die  beiden  Urkunden, 
welche  eine  „habitatio  Foreste"  ^  und  eine  „silva  Foresteila"  ^  nennen, 
Fälschungen.  Immerhin  ist  die  Tatsache,  daß  eine  solche  Namengebung 
überhaupt  und  jedenfalls  noch  in  sehr  früher  Zeit  stattgefunden  hat, 
ein  beachtenswertes  Moment.  Die  „habitatio  Foreste"  finden  wir  wieder 
in  einer  Urkunde  Karls  des  Großen  ^^  und  bei  Karl  dem  Kahlen  in  den 


'  L.  10,  Kap.  10. 

'  MG.  DD.I.  S.  21. 

'  DD.I.  S.  77. 

*  DD.I.  S.  63. 

^  Auch  auf  DD.  Karlmann  no.  55,  Pippin  no.  15,  Karl  d.  Gr.  no.  103  (MG.  D. 
Karol.),  Ludwig  d.  Fr.,  BM.  522,  712,  881  sei  hingewiesen:  Urkunden,  in  welchen 
ebenfalls  von  Schenkungen  königlicher  Wälder  berichtet  wird,  ohne  daß  von  ,, forestis" 
die  Rede  ist. 

^  Siehe  Vita  Richarii  (MG.  SS.  Merow.  IV,  S.  396):  „Cui  G  . .  .  et  Maurontus  no- 
bilis  quidam  vir  et  terrarum  vel  silvarum  ad  regem  pertinentium  servator  praebuerant 
locum  manendi  in  silva  Chrisciacinse,  qui  et  ipse  M.  postea  saeculari  habito  deposito 
monachus  factus  est  in  eodem  loco." 

^  SS.  Merow.  a.  a.  0.  (vgl.  die  Anmerkung  des  Herausgebers). 

'  DD.I.  S.  182. 

'  DD.I.  S.  210. 

'"  D.  Karol.  I,  no.  182. 


k 


Forestis  105 

ahren  844  und  855.  ^  Analoga  zu  „silva  Foresteila"  sind  „silva,  quae 
ocatur  Forestis"  ^  und  „silva  Forst".  ^  Forestis(e)  als  Name  für  eine 
iedlung  gestattet  wohl  jede  Deutung  von  forestis.  Etwas  anderes  ist 
s  aber,  wenn  ein  Wald  (silva)  Forestis  bzw.  Forestella  heißt.  Sehr 
ft  hören  wir  von  Forsten  mit  bestimmten  Namen  —  ein  forestis,  der 
Forestis"  hieße,  wäre  ein  Unding.  Und  so  ergibt  sich  ferner  aus  der 
trt  und  Weise,  wie  silva  und  forestis  in  denselben  Urkunden  neben- 
inander  verwandt  und  gewissermaßen  gegeneinander  kontrastiert 
'erden,  die  Verschiedenheit  beider  Begriffe. 

c)  Silva  de  (ex)  foreste 

Chlotar  schenkt  dem  Kloster  Corbie:^  „immoque  et  villam,  quae 
ocatur  Templum  Martis,  sitam  in  pago  Ambianense  ad  integrum  cum 
lagena  de  silva  de  foreste  nostro  Windegonia."  Silva  ist  hier  nicht 
lur  quantitativ  sondern  auch  qualitativ  von  forestis  verschieden. 
V^arum  —  die  Schenkung  eines  Waldes  ist  beabsichtigt  —  hieße  es 
onst  nicht  einfach:  „cum  pagena  de  foreste  nostra  Windegonia?" 

Es  gibt  nur  eine  Erklärung:  Forestis  bedeutet  hier  Bezirk  schlecht- 
lin  und  nicht  Wald.  Dem  Namen  Windegonia  begegnen  wir  später, 
.0  viel  ich  sehe,  nur  noch  einmal.  Und  zwar  wird  in  den  Annal. 
/edastini^  „silva  Vitconia"  erwähnt.  Es  handelt  sich  hier  um  eine 
irscheinung,  die  uns  noch  öfters  entgegentritt:  Wie  neben  forestis 
kVindegonia  silva  Vitconia,  so  steht  neben  forestis  Ardinna  „silva 
i^rdinna''  und  „saltus  Ardenensis",  ^  neben  forestis  Vosagus  „silva  Vo- 
.aga"  und  „saltus  Vosagus"^  neben  „in  foresto  Dervo"  „in  saltu  Dervensi".® 

Hieraus  darf  man  natürlich  nicht  auf  Identität  von  silva  und 
orestis  schließen.  Ebensowenig  wie  man  etwa  aus  dem  Nebeneinander 
''on  Silva  Ardinna  und  pagus  Ardenensis  folgern  darf:  silva  =  pagus. 
iVahrscheinlich  hat  in  den  meisten  dieser  Fälle  der  Forst  von  dem 
IVald  seinen  Namen  empfangen.  Der  umgekehrte  Vorgang  ist  freilich 
jiuch  möglich,  aber  nicht  so  naheliegend,  weil  forestis  schon  nach  den 
iDisherigen  Feststellungen  als  ein  sekundärer  Begriff  erscheint.  Außer- 
dem muß  man  im  Auge  behalten,  daß  zu  „silva  Vosaga",  „Ardinna", 
',Chrisciacensis"   ebensogut  Kulturland   und  Siedlungen   gehört   haben 

'  Bouquet,  Rec.  VIII,  S.  468  u.  538. 

'  D.  Karol.  I,  no.  182. 

^  MG.  Nekrol.  I,   S.  230. 

'  DD.I.  S.  37. 

'  MG.  SS.  II,  S.  520. 

•^  DD.I.  S.  22  und  sonst  sehr  häufig. 

'  BM.  545  usw. 

'  DD.I.  S.  30  und  MG.  D.  Karol.  S.  72. 


j^06  Hermann  Thimme 

können  wie  zum  heutigen  Schwarzwald,  Böhmer-  oder  Thüringerwald 
Der  Eigenname  gibt  dem  Gattungsnamen  immer  eine  ganz  besondere 
Färbung.  Ein  Forst,  der  innerhalb  (oder  in  der  Nähe)  einer  silva  N 
gelegen  ist,  braucht  noch  lange  nicht  bloß  aus  Waldungen  bestander 
zu  haben. 

Den  Merowingerurkunden  treten  analoge  Karolingerurkunden  zui 
Seite.  Karl  der  Große  schenkt  der  durch  Abt  Folrad  von  St.  Deni« 
erbauten  Zelle  Fulradovillare:  ^  „aliqua  loca  silvestria  in  pago  Alisacense 
ex  marca  fisco  nostro  Quuningishaim  .  .  .  hoc  est  silva  ex  forest 
nostra  superius  nominata^  .  .  .";  folgt  Grenzbeschrieb.  Gemeint  is 
der  Wasgauforst,  wie  die  Bestätigung  Lothars  I.  zeigt.  ^ 

Kloster   Münster    im    Gregoriental    erhält    von    Ludwig  dem  Fr. 
„partem  quandam  de  foreste  nostra  contigua  ipso  monasterio,  quae  ac 
fiscum  nostrum  nomine  Columbariam  ^  aspicere  vel  pertinere  videtur  . . 
et  de  praefata  foreste  nostra  partem  quandam  per  loca  denominata  .  . 
quantumcunque  vero  de   prenominata  foreste  nostra  infra  denominat. 
et  determinata  loca  esse  videtur,  totum  .  .  .  concedimus  .  .  .  prenomi- 
natam   partem   silvae   de   praescripta  foreste  nostra".     Für   beide  Ur- 
kunden  gilt  dasselbe,   was   bereits  vom  Forst  Windegonia  gesagt  ist 
In  einem  Diplom  Arnulfs  für  die  Kirche  von  Eichstädt^  —  er  sehen! 
den  Ort  „Sezzi  cum  quadam  parte  silvae  vel  foresti"  —  spricht,  zuma 
bei   dem   bekannten  mittelalterlichen  Gebrauch   von  vel   und  et,    da^ 
Nebeneinander  von  silva  und  forestis  fast  noch  deutlicher  für  die  Ver 
schiedenheit  beider  Begriffe. 

Interessant  ist,  was  wir  vom  „forestis  Aequalina"  in  einer  Urkunde 
Pippins  für  St.  Denis '  erfahren:  „Donamus  .  .  .  foreste  nostra  cogno- 
minante  Aequalina  cum  omni  merito  et  soliditate  sua,  quicquid  ad  ipsc 
Silva  aspicere  vel  pertinere  videtur,  sicut  usque  nunc  a  nobis  fui: 
possessa." 

Mit  „ipsa  Silva"  ist  schwerlich  der  ganze  Forst,  sondern  nur  etwe 
der  Kern  desselben  gemeint.  Das  geht  aus  dem  Folgenden  deutlicl- 
hervor:  „Propterea  . .  ..specialius  jubemus  atque  perpetualiter  statutun 
esse  volumus,  ut  jam  dicta  silva  Aequalina  cum  omni  integritate  sua 
quicquid  de  intus  seu  a  foris  ibidem  aspicit,  id  est  tam  mansis,  terri^ 

'  D.  Karol.  I,  no.  84. 

^  Das  „superius  nominata"  gehört  wohl  zu  silva,  und  beides  bezieht  sich  au 
„aliqua  loca  silvestria". 

'  BM.  1167. 

*  BM.  772. 

^  Vgl.  BM.  881.  Ludwig  d.  Fr.  restituiert  der  Zelle  Barisis  „quandam  silvam 
quae  conjungitur  ad  silvam  nostram,  quae  dicitur  Columbarias". 

'  BM.  1840. 

'  D.  Karol.  I.  no.  28. 


oc 


li 


Forestis  107 

omibus,  aedificiis,  accolabus,  mancipiis,  silvis,  vineis,  campis,  pratis, 
iscuis,  a  quis  aquarumve  decursibus  .  .  .,  peculiis  utriusque  sexus, 
egis  cum  pastoribus  nee  non  et  diversa  feraminum  genera  seu  et 
restarios  .  .  in  ipsa  foreste  vel  per  diversa  loca  commanentes";  es 
Igt  die  Aufzählung  von  zwölf  Orten.  Nicht  durch  den  Wald  Aequa- 
la  allein  wird  der  Forst  gleichen  Namens  gebildet;  die  lange  Auf- 
ihlung  der  Pertinenzformel  muß  dazu  kommen.  Der  Wald  mit  seiner 
mgebung,  deren  weite  Ausdehnung  aus  der  großen  Zahl  der  mit 
amen  genannten  Siedlungen  ersichtlich  ist,  macht  den  Forstbezirk 
is.  Bezeichnend  ist,  daß  in  der  Pertinenzformel  ^  noch  einmal  silvae 
^nannt  werden.  Silvae  sind  eben  für  einen  Forst  nicht  charakte- 
stischer  als  vineae,  terrae,  campi,  prati,  pascui  etc. 

Hiermit  sind   wir  zum   letzten  Punkt  unserer  Beweisführung  ge- 
ommen. 

d)  Siedlungen  und  Kulturland  in  Forsten 


Die  Forsten  sind  vielfach  besiedelt;  Wald  und  Feld,  Ödland  und 
ulturland  sind  in  ihnen  gleicherweise  vertreten.  Außer  der  letztge- 
annten  Urkunde  sind  hierfür  eine  ganze  Reihe  von  Belegen  aus 
nserer  Periode  anzuführen.  Stablo  und  Malmedy  sind,  wie  wir  aus 
pner  Urkunde  König  Sigiberts  III.  ^  erfahren,  gegründet  „in  foreste 
ostra  nuncupante  Ardinna,  in  quibus  caterva  bestiarum  germinat." 
ichon  Rubel  ^  weist  darauf  hin,  daß  „im  Forste  eine  gänzlich  unbewohnte 
Ide"  nicht  gewesen  ist.  Man  sieht  dies  am  deutlichsten  aus  der  Be- 
tätigungsurkunde Childerichs  IL,  der  a.  667  dem  durch  Sigiberts  Privileg 
eschaffenen  Provisorium  die  endgültige  Regelung  folgen  läßt:*  „Ea 
lamen  conditione  sie  petierunt  ipsi  servi  dei,  ut  versus  curtes  nostras, 
i  est  Amblavam,  Charuncho,  Lethernacho,  de  ipsis  mensuris  duodecim 
Jnillibus  dextrorum  saltibus  sex  millia  subtrahere  deberemus." 

Denn  man  darf  doch  wohl  annehmen,  daß  die  drei  curtes  inner- 
kalb  des  Forstes  gelegen  haben.    Dort  werden  vermutlieh  die  forestarii 


^  Den  Pertinenzformeln  gegenüber  muß  man  natürlich  slieptisch  sein,  immerhin 
k'ird  man  doch  nicht  umhin  können,  ihnen  einige  Bedeutung  beizumessen.  So  sagt 
'.  B.  Mühlbacher  von  der  Pertinenzformel  in  den  Urkunden  Karls  III.,  Wiener  S.B. 
'j2,  S.  425:  „So  stereotyp  diese  zu  sein  scheint,  so  entbehrt  sie  doch  nicht  der  Indi- 
vidualität .  .  .  vineae  und  silvae  sind  bald  gebraucht,  bald  nicht."  Dasselbe  dürfte 
|5ich  vermutlich  überall  nachweisen  lassen.  Zutage  tritt  es  z.  B.  in  den  Urkunden 
ier  sächsischen  Kaiser;  es  kann  doch  wohl  kaum  Zufall  genannt  werden,  daß  „silvae" 
n  56  Pertinenzen  fehlt,  während  es  in  allen  übrigen  Fällen  mit  aufgezählt  wird! 

'  DD.I.  S.  22. 

^  Rubel,  Die  Franken,  S.  61. 

*  DD.I.  S.  28  f.  Sigibert  hatte  dem  Kloster  12  Meilen  „gyrum  gyrando"  zu- 
gewiesen.    Childerich  schenkt  ihm  die  tiälfte  davon  völlig  zu  eigen. 


108  Hermann  Thimme 

gewohnt    haben,    vor    deren    „impugnatio"    Childerich    den    Mönche 
Schutz  verspricht.  l 

Auch  im  forestis  Dervo  befinden  sich  Niederlassungen.  Gebeter 
„ut  concederemus  eo  quendam  locum  in  foreste  Dervo,  in  quo  sit 
liceret  Monasterium  construere",  schenkt  Childerich  II.  dem  Abt  Bur 
charius:^  „ultra  Ligerim  in  Herla  scilicet  et  Saturiaco  vel  Damnofront 
cum  appendiciis  suis  et  Disco  cum  appendiciis  suis." 

Bei  einem  Tausch  zwischen  Grimoald  von  St.  Gallen  und  Gra 
Chuonrad,  welchen  Ludwig  der  Deutsche  bestätigt,  ^  erhält  Grimoal' 
„ac  de  terra  culta  LX.  jugera  in  foreste  jacentia  nee  non  et  unu 
novale  jacentem  in  marca  A."  Ludwig  das  Kind  verbietet  zugunst*. 
des  Bischofs  Erchambald  von  Eichstädt^  allen  die  Nutzungsrechte:  „i 
illa  propria  marca  predicti  monasterii  et  in  locis  —  (sechs  werden  auf 
gezählt)  —  parte  illius  foresti  erga  Sezzin  et  Affintal  nominatis  .  .  .  i 
silvis  maioribus  vel  minoribus.''  Diese  Stellen  bedürfen  keiner  weitere; 
Erläuterung.  Auf  das  bereits  erwähnte  Diplom  Karls  des  Großen  fü 
St.  Denis*  müssen  wir  zurückkommen.  Vor  allem  ist  hier  nämlic 
darauf  hinzuweisen,  daß  außer  dem  Walde,  dem  Objekt  der  Schenkung 
noch  weitere  Ländereien  zu  dem  Forst  gehören,  die  zwar  nicht  mi 
verschenkt  werden,  die  aber  als  „pastura"  von  den  Empfängern  benutz 
werden  dürfen:  „et  jubemus,  ut  per  tota  illa  foreste  nostra  foras  ipso 
finis  denominatas  pastura  ad  eorum  pecunia  ex  nostra  indulgenti 
concessum  habeat."  ^ 

Besonders  eingehend  handeln  von  den  Forsten  die  Kapitularii 
Karls  des  Großen.  Auf  sie  legen  auch  die  meisten  üntersuchungei 
über  die  Forsten  das  größte  Gewicht,  ohne  jedoch,  wie  mir  scheint,  au: 
ihnen  die  Folgerungen  zu  ziehen,  die  gezogen  werden  müssen.  Kla 
und  deutlich  tritt  auch  in  den  Kapitularien  zutage,  daß  bei  dei 
Forsten  von  einer  einheitlichen  geographisch-botanischen  Beschaffenhei 
nicht  die  Rede  sein  kann. 

Zunächst  das  Capitulare  Aquisgranense:^  „üt  vilicus  bonus  .  .  eli 
gatur,  qui  sciat  etc.  in. forestis  mansum  regale  et  ibi  vivaria  cum  pisces 
et  homines  ibi  maneant  et  plantent  vineas,  faciant  pomaria  et  ubi 
cumque  inveniunt  utiles  homines,  detur  illis  silva  ad  stirpandum." 

Vivaria  —  vinea  —  pomaria  —  silva! 

'  MG.  DD.I.  s.  30. 

^  ß/V\.  1445. 
.  '  BM.  2049. 

*  D.  Karol.  I,  no.  84. 

^  In  einer  Urkunde  Herzog  Tassilos:  (ÜB.  d.  Landes  ob  der  Enns  11,  S.  3 f.)  „dt 
pascuis  vero  illorum,  quos  vulgo  nominat  forst"  werden  Weideländereien  ausdrück 
lieh  als  Forst  bezeichnet. 

'  MG.  LL.  II,  Cap.  I,  S.  172,  c.  18  und  19. 


Forestis  109 

Dann  das  Cap.  de  villis:^  „üt  silvae  vel  forestes  nostrae  bene 
snt  CListoditae,  et  ubi  locus  fuerit  ad  stirpandum,  stirpare  faciant  et 
(mpos  de  Silva  increscere  non  permittant;  et  ubi  silvae  debent  esse 
Mn  eas  permittant  nimis  capulare  etc.  .  .  Et  judices  si  eorum  porcos 
saginandum  in  silvam  nostram  ^  miserint,  vel  maiores  nostri  aut 
iHnines  eorum,  ipsi  primi  illam  decimam  donent."  xAuch  hier  treten 
iis  die  Forsten  als  Bezirke  entgegen,  wo  Wald  und  Ackerland  neben- 
(nander  liegen  und  gleichmäßig  geschützt  werden  sollen. 

Nur  einmal  in  der  bisher  betrachteten  Periode  wird  forestis  schein- 

ocjfr  mit  silva  nostra  identifiziert,  nämlich  in  einer  Schenkung  Karls 
s  Großen  für  das  Kloster  Bobbio.  ^  Dabei  ist  jedoch  beachtenswert, 
bß  „forestem"  hinter  einem  verwischten  Wort  steht.  Möglicherweise 
t  in  der  Kopie  des  12.  Jahrhunderts  „forestem"  für  ein  „silvam"  des 
riginals  eingesetzt- 

Wie  dem  auch  sei.  Wenn  auch  schon  in  der  Karolingerzeit  eine 
jwisse  Annäherung  der  Begriffe  silva  und  forestis  stattgefunden  haben 
ag, *  unter  allen  Umständen  muß  es  scharf  betont  werden,  daß  ur- 
)rünglich  Forst  und  Wald  ebensowenig  miteinander  zu  tun  haben 
ie  etwa  Gau,  Grafschaft,  Hundertschaft  und  Wald.  Wenn  silva  und 
restis    als   Bezeichnungen   für   ein    und    dasselbe   Gebiet    verwandt 

pi  erden,  dann  ist  mit  silva  der  Waldbestand,  mit  forestis  etwas  all- 
imeineres  bezeichnet.  Aber  ebensogut  wie  es  möglich  ist,  daß  ein 
)rst  ganz  oder  im  wesentlichen  nur  aus  bewaldetem  Gebiet  bestanden 
it,  ist  es  denkbar,  daß  zu  einem  Forst  gar  kein  Wald  gehört  hat. 
leoretisch  wenigstens.  Wenn  es  in  Wirklichkeit  vielleicht  nie  der 
all  gewesen  ist,  so  liegt  das  einfach  an  der  großen  Ausdehnung  der 
Wälder  im  frühen  Mittelalter.  Und  noch  an  einem  anderen  Grunde, 
jf  welchen  ich  später  eingehen  werde. 

2.   Forstregal 

Forestis  ist  kein  botanischer  Begriff.  Durch  ihre  geographische 
eschaffenheit  wird  das  Wesen  der  Forste  nicht  erschöpft.  Ganz  andere 
aktoren  müssen  hier  eine  Rolle  spielen.  Die  Forste  sind  nicht  von 
jornherein  da,  so  wenig  wie  Königreiche,  Grafschaften,  Diözesen.  Sie 
büssen   erst  geschaffen   werden.     Es  kann  geradezu  gesagt  werden: 

'  MG.  ib.  I,  S.  86,  c.  36. 

^  Es  macht  den  Eindruck,  als  ob  zunächst  von  „forestis"  die  Rede  sei,  und 
ann  mit  dem  Satz:   „et  judices"  ...  zu  den  „silvae  nostrae"  übergegangen  würde. 

'  D.  Karol.  1,  no.  80. 

'  Vgl.  z.B.  D.  Karol.  no.  28  (s.  oben  S.  106f.).  Nach  Graff,  Ahd.  Sprach- 
:hatz  III,  S.  699  gibt  in  ahd.  Glossen  forst  fünfmal  nemus,  einmal  saltus  wieder. 


110  Hermann  Thimme 

„De  foreste,  quam  Autharius  comes  habere  vult,  ubi  ea  prius  no 
fuisse  dicitur."^  So  wird  auch  der  Akt,  dessen  es  zum  Zustande 
kommen  eines  Forstbezirkes  bedarf,  in  unseren  Quellen  wiederholentlic 

—  klar  genug  —  durch   construere,  constituere,  instituere  bezeichne 
Schon  a.  681  heißt  es  in  einem  Diplom  Theuderichs  III.,  ^  worin  diese 
eine  Schenkung  Sigiberts  IL  bestätigt,  „de  foreste  fiscibus  nostris  supe 
fluvium  Amblava   constructa".     Karl  der  Große   verleiht   dem  Kloste 
St.  Bertin  das  Jagdrecht  in  dessen  eigenen  Waldungen  unter  der  Be 
dingung:  „salvas  forestes  nostras,  quas  ad  opus  nostrum  constituta 
habemus",  ^  und  Ludwig  der  Fromme  bestimmt  in  seinen  Kapitularier 
„De  forestibus  noviter  institutis:  ut  quicumque  illas  habet,  dimittat  . . 
nisi  forte  indicio  veraci  ostendere  possit,  quod  per  jussionem  domi| 
Karoli  genitoris  nostri  eas  instituisset/'^    Oder:  „De  forestibus  nostri; 
ut  ubicunque  fuerint,  diligentissime  inquirant,  quomodo  salvae  sint  ( 
defensae  et  ut  comitibus  denuntient,  ne  ullam  forestem  noviter  inst 
tuant,  et  ubi  noviter  institutas  sine  nostra  jussione  invenerint,  dimitter  I 
praecipiant."  ^    Dem  „instituere"  wird  hier  sogar  ein  „dimittere"  g^g^ 
übergestellt.  i 

Hier  erfahren  wir  auch,  wem  die  Forsten  ihre  Existenz  verdankei  ' 
dem  Könige.    Ein  Mißbrauch  ihrer  Gewalt  ist  es,  wenn  die  Grafen  a 
eigene  Faust  Forstgebiete  herstellen,  sie  maßen  sich  damit  eine  Befugni  i 
an,  die  allein  dem  Könige  zusteht.    Unter  Karl  dem  Großen  war  es  sc  ' 
Ludwig  der  Fromme  beansprucht  für  sich  dasselbe  Recht;  bis  tief  in 
Mittelalter  hinein  haben  die  deutschen  Könige  und  Kaiser  es  gehandhab 

Man  darf  annehmen,  daß  es  von  Anfang  an  so  gewesen  ist.    D' 
Tatsache,  daß  im  6.  und  7.  Jahrhundert  nur  in  den  Königsurkundi 
forestes  erwähnt  werden,  in   allen  übrigen  Quellen,  besonders  in  de  i 
Volksrechten  aber  nicht,  beweist  das  zur  Genüge.    Die  „forestes"  sin  ' 
eine  Institution  der  fränkischen^  Könige.   Noch  mehr:  die  ersten  Forstei 

'  MG.  LL  II.  Cap.  1,  S.  314. 
'  DD.I.  S.  47f. 

*  D.  Karol.  I,  no.  191. 

*  MG.  LL  II.  Cap.  1,  S.  288. 

'  MG.  LL.II.  Cap.  1,  S.  291,  c.  22. 

®  Forestis  ist  ein  spezifisch  fränkisches  Wort.  In  fränkischen  Urkunden  taucl; 
es  zum  erstenmal  auf.  Nach  England  ist  es  erst  von  den  Normannen  gebrach 
Vgl.  Liebermann,  Pseudo-Cnuts  Const.  de  foresta.  Halle  1894.  In  Kemble,  Coc 
dipl.  Anglo-Sax.  I — VI,  findet  sich  forestis  kein  einziges  Mal.  Wenn  es  in  Bayer 
schon  im  8.  Jahrhundert  vorkommt  (ürk.  Tassilos  im  ÜB.  des  Landes  ob  der  Enns  I 
S.  3f.),  so  erklärt  sich  das  leicht  aus  der  engen  Berührung  der  Franken  und  Bayerr 

—  Noch  gegen  Ende  des  10.  Jahrhunderts  wird  forestis  als  altfränkische  Bezeich 
nung  empfunden.  Vgl.  BM.  1968  (Fälschung  auf  den  Namen  Zwentebolds) :  „t 
quandam  silvam  in  bannum  mitteremus  et  ex  ea,  sicut  Franci  dicunt,  forestem  h 
ceremus." 


Forestis  111 

ie  es  überhaupt  gegeben  hat,  müssen  Königsforsten  gewesen  sein, 
enn  eine  Kräftigung  ihrer  eigenen  Macht,  eine  Sicherung  ihres  eigenen 
2sitzes  werden  die  Könige,  welche  das  Forstrecht  schufen,  im  Auge 
3habt  haben. 

Daneben  muß  freilich  betont  werden:  Schon  die  Merowinger  ver- 
denken Forsten  oder  Teile  von  Forsten  an  ihre  Untergebenen.  Also, 
3n  dem  ersten  Augenblick  an,  wo  man  in  der  Geschichte  von  Forsten 
3rt,  gibt  es  nicht  nur  Königsforsten,  sondern  auch  Privatforsten.  Das 
arf  man  nicht  aus  dem  Auge  verlieren,  wenn  man  die  Forsten  als  ur- 
jrünglich  königlichen  Besitz  bezeichnet.^ 

Aber:  Kein  Forst  kommt  ohne  Mitwirkung  des  Königs  zustande. 

Alle  Forsten  stehen  dadurch  in  Beziehung  zum  König,  fast  alle  (von 
enen  die  Urkunden  berichten)  sind  einmal  im  Besitz  des  Königs  ge- 
esen,  sind  Königsgut,  wenn  anders  forestis  überhaupt  eine  Bezeich- 
ung  für  Grundbesitz  als  solchen  ist. 

»3.  Forst-  und  Grundeigentum 
Ob  dies  der  Fall  ist,  oder  ob  forestis  nur  ein  gewisses  Recht, 
omit  gewisse  Bezirke  ausgestattet  werden,  zum  Ausdruck  bringt  — 
lit  anderen  Worten,  ob  der  König  und  die  von  ihm  Privilegierten  sich 
ei  Forestierungen  auf  eigenen  Grund  und  Boden  beschränken  müssen, 
der  ob  sie  berechtigt  sind,  fremdes  Besitztum  mit  hineinzuziehen  — 
as  ist  eine  Frage  von  erheblicher  Bedeutung.  Von  der  Beantwortung 
erselben  hängt  es  ab,  ob  man  die  Forstvedeihungen  des  Königs  nur 
Is  Vedeihungen  von  Forstrechten,  oder  zugleich  als  Vergabungen  von 
irund  und  Boden  auffassen  soll.  Dafür,  daß  unter  Umständen  hieraus 
onsequenzen  von  großer  Tragweite  gezogen  werden  müssen,  ist  ein 
eispiel  der  „forestis  Arbonensis",  über  den  im  Exkurs  ausführlicher 
ehandelt  werden  soll. 

Und  gerade  über  diesen  Punkt  sind  sich  die  Gelehrten  keineswegs 
mig.  Schröder  ^  bringt  seine  Auffassung  im  Gegensatz  zu  der  Brunners 
'  blgendermaßen  zum  Ausdruck:  „Kraft  des  Bodenregals  hatten  die 
^^önige  das  unbeschränkte  Recht,  überall  im  Reiche  für  sich  oder  ein- 
zelne Begünstigte  Wildbänne  (Bannwälder,  forestes  venationis,  und 
ianngewässer,  forestes  piscationis)  abzugrenzen,  die  dadurch  bei  Strafe 


^  Vgl.  Scliwappach  a.  a.  0.  D^m  entspricht,  wenn  es  in  den  Merowinger- 
jrkunden  heißt:  ,,nostra  forestis",  „foreste  nostra  Ardinna",  „foreste  nostra  Winde- 
jonia"  usw.  Beispiele,  die  sich  aus  der  Karolingerzeit  noch  sehr  vermehren  ließen. 
|»as  „nostra"  charakterisiert  eine  Zeit,  wo  es  auch  Forsten  gab,  die  sich  nicht  in 
öniglichem  Besitz  befanden. 

'  D.RG.^  S.  195f. 


112 


Hermann  Thimme 


des  Königsbannes  dem  Rechte  des  freien  Tierfanges  und  der  Verfügung 
des  Grundbesitzers  gleichmäßig   entzogen  (daher  forestare,  von  foris} 
und  dem  besonderen  Jagd-  oder  Fischereirecht  des  Königs  oder  des 
von  ihm  Privilegierten  vorbehalten  wurden."    Und  ^  „Brunner  beschränkl 
das  Wildbannrecht  des  Königs,  abgesehen  von  den   fiskalischen  Be- 
sitzungen, auf  solche  Waldungen,  jn  denen  der  König  sich  das  An 
eignungsrecht  beilegte,  die  Quellen  stellen  aber  außer  Zweifel,  daß  e 
auch  auf  Privatgüter  ausgedehnt  werden  konnte,  wenn  auch  tatsächlic 
der   König    den   Grundherren    die    größte   Schonung   bewiesen   habe 
dürfte." 

Eine  mittlere  Ansicht  vertreten  Heusler,  ^  Endres,  ^  Roth  *  u.  a. 
Ursprünglich  hätten  sich  die  Könige  auf  die  königlichen  Waldungen  (' 
beschränkt,  dann  aber  doch  (und  zwar  noch  in  fränkischer  Zeit!)  „zu 
Abrundung  und  auch  zur  Erweiterung  ihrer  Jagdreviere  fremdes  Eigen- 
tum in  deren  Bezirk"  gezogen. 

Die  ganze  Untersuchung  ist,  wie  mir  scheint,  dadurch  in  ein  falsches 
Licht  gerückt,  daß  man  Jagdrecht,  Wildbannrecht  und  Forstrecht  mehi 
oder  weniger  einander  gleichgestellt  hat.     Daß  dies  für  die  fränkische 
Zeit  unstatthaft  ist,  soll  noch  nachgewiesen  werden.     Aber  selbst,  wa 
das  königliche  Jagdrecht  anbetrifft,  so  würde  man  wünschen,  daß  di 
Quellen  angeführt  wären,  die  es  „außer  Zweifel  stellen"  sollen,  daß  da^ 
selbe  auch  auf  Privatgüter  ausgedehnt  werden  konnte  oder  ausgedehn 
ist.^    Daß  die  Grafen  durch  ihre  mit  Erlaubnis  Karls  des  Großen  er 
richteten  Forsten  das  Jagdrecht  der  Grundeigentümer  aufgehoben  haben, 
ist  nur  eine  tiypothese.    Gegen  die  Beeinträchtigung  bestehender  Rechte 
wenden    sich    ja   jene    Bestimmungen    Ludwigs   des   Frommen.  "^      Ir 
späteren  Zeiten  sind  freilich  in  fast  allen  Punkten  andere  Zustände  ein- 
getreten.   Es  ist  m.  E.  ein  Grundfehler  der  bisherigen  Forschung,  daf; 
sie  die  verschiedenen  Epochen  auf  diesem  Gebiete  nicht  sorgfältig  genu^ 
auseinandergehalten  hat. 

Der  Befund  der  merowingischen  und  karolingischen  Quellen  is 
aber  folgender. 

Bei  einem  erheblichen  Prozentsatz  von  Forstverleihungen  liegt  es  au 
der  Hand,  daß  es  sich  um  Verleihungen  von  Grund  und  Boden  handelt 


( 


*  D.  RG.*,  S.  210. 

'  Institutionen  I,  S.  370ff. 

^  Hdwörtb.  d.  Staatswiss.  3.  Bd.,  S.  1127. 

*  a.a.O.  S.  81f. 

'  Vgl.  Schröder  a.  a.  0. 

*  Vgl.  Roth  a.a.O. 

'  Sie  können  z.  B.  sehr  gut  den  Schutz  des  königlicher  Verfügung  unterstehen 
den  herrenlosen  Landes  bezweckt  haben. 


Forestis  113 

lämlich  überall  da,  wo  Pertinenzen  oder  sonst  Zubehör  von  Forsten 
enannt  werden/  wo  Teile  von  Forsten  zur  Vergabung  gelangen.^ 
;isweilen  muß  man  sogar  mit  der  Möglichkeit  rechnen,  daß  die  bisher 
lit  dem  Grundbesitz  verbundenen  Forstrechte  gar  nicht  mit  verliehen 
/erden.  Solche  Forstverleihungen  würden  dann  vor  gewöhnlichen  Land- 
bertragungen  gar  nichts  voraus  haben.  Ein  charakteristisches  Beispiel 
ierfür  ist  eine  Urkunde  Arnulfs  für  die  Kirche  von  Sehen -Brixen.^ 
Zugleich  zeigt  sie  schlagend,  daß  forestis  eine  Bezeichnung  für  Grund- 
besitz, nicht  etwa  schlechthin  für  Wildbannrecht  ist. 

Auf  Bitte  des  Bischofs  Zacharias:  „ut  venationem,  quae  infra  cuius- 
lam  foresti  ad  episcopatum  suum  pertinentes  term.inos  reperitur  hac- 
lenus  inde  prorsus  exstitit  alienata  pariter  cum  eodem  foresto  dona- 
ilonis  nostrae  tenore  ad  ecclesiam  suam  concederemus"  .  .  .  erfolgt 
lie  Schenkung:  „decrevimus  ita  fieri,  dedimusque  praefatae  ecclesiae 
andem  venationem,  sicuti  per  subscriptorum  ejusdem  foresti  locorum 
imites  distinguitur  . .  .,  ea  videlicet  ratione,  ut  nullus  comes  neque  ullius 
irdinis  potestas  ullo  umquam  tempore  deinceps  infra  praescriptos  crebro 
licti  foresti  terminos  .  .  .,  ullam  omnino  venationem  exercere  praesumat." 
)er  Forst  als  Grundbesitz  war  der  Kirche  offenbar  schon  länger  verliehen. 
letzt  erhält  sie  nachträglich  auch  das  Jagdrecht,  welches  zuerst  wohl 
ür  den  König  vorbehalten  war. 

Mit  aller  wünschenswerten  Deutlichkeit  werden  die  Forsten  im  Capi- 
ulare  de  villis  und  im  Cap.  Aquisgranense  als  königlicher  Grundbesitz 
geschildert.^  In  allen  anderen  Fällen  wird  nichts  über  diesen  Punkt 
jtusgesagt.  Wenn  also  viel  dafür  und  nichts  dagegen  spricht,  wird 
ban  nicht  umhin  können  zu  folgern:  So  weit  die  Quellen  reichen, 
assen  sie  uns  keinen  Zweifel  darüber,  daß  bei  den  Forsten  Eigentums- 
echt des  Forstinhabers  auf  Grund  und  Boden  des  Forstbezirkes  ein 
anbedingtes  Erfordernis  ist.  ^ 

Auch  darauf,  daß  die  Forsten  öfters  als  Immunitätsgebiete  gekenn- 
:eichnet  werden,  muß  in  diesem  Zusammenhang  hingewiesen  werden. 
ZYsi  vom  10.  Jahrhundert  an  beginnen  die  Immunitätsbezirke  sich  über 
pen  Grundbesitz  der  Immunitätsherrn  hinaus  auch  auf  fremden  Grund 
and  Boden  auszudehnen,  während  sie  bis  dahin  an  den  Grundbesitz 


'  Vgl.  Kap.  1. 

^  z.  B.  D.  Karol.  I,  no.  84:  „cum  pagena  de  silva  ex  foreste  nostra"  usw. 

'  BM.  1887. 

*  Vgl.  oben  S.  108  f. 

^  Infolgedessen  wird  Heusler,  der  den  Zusammenhang  des  Forstbannes"  mit 
dem  Bodenregal  bestreitet  (Inst.  S.  210)  gegen  Schröder  (D.RG.*  S.  208  u.  Anm.) 
recht  behalten. 

Afü    II  8 


m 


-[j^4  Hermann  Thimme 

gebunden  waren.  ^  Den  beiden  von  Schwappach  angeführten  Urkunden- 
tritt  das  Privileg  Childeberts  für  Stablo  und  Malmedy  an  die  Seite. 
worin  es  heißt:  „üt  hoc  totum  —  nämlich  einen  Teil  des  Ardennen- 
forstes  —  et  ad  integrum  cum  Dei  gratia  et  nostra  teneant  atque 
possideant  cum  emunitate  nomenis,  ut  absque  ullius  impugnatione 
forestariorum  vel  cuiuslibet  personae  liceat  ipsam  familiam  Dei  quietc 
ordine  residere." 

Am  lehrreichsten  ist  doch  wohl  jene  St.  Galler  Formel:^  „Noticia  di- 
visionis  possessionum  regalium  vel  popularium,  episcopalium  vel  monas- 
terialium,"  wo  es  heißt:  „deliberaverunt,  ut  immunitas  regis  a  villa  ac 
villam  .  .  .  singula  per  se  —  sine  ullius  communione  esse  deberet 
nisi  forte  precario  cuilibet  ibi  et  Servitute  pro  merito  eius  necessaric 
concederentur.  Si  autem  quis  sine  permissione  praefecti  vel  procura- 
toris  regis  aut  venationem  ibi  exercere  vel  ligna  aut  materiem  ceden 
convictus  fuerit,  juxta  decretum  senatorum  provinciae  componai"  Denr 
der  hier  mit  „immunitas  regis"  bezeichnete  Bezirk  ist  nichts  anderem 
als  ein  forestis.  Die  Aufzählung  der  Nutzungsrechte,  deren  Ausübung 
den  „pagienses"  bei  Strafe  untersagt  wird,  charakterisiert  ihn  als  solchen 

Wichtige  Punkte  des  Forstrechts  sind  hier  schon  genannt.  Sehet 
wir  genauer  zu,  worin  es  besteht. 

4.   Jus  forestis* 

Es  ist  nicht  identisch  mit  Wildbannrecht,  d.  h.  dem  Ausschlul 
Fremder  von  der  Jagd  des  Forstgebietes. 

Nicht  einmal,  daß  die  Jagd  unter  den  Forstnutzungsrechten  ai 
erster  Stelle  gestanden  hat,  wird  man  nachweisen  können.  In  de 
ganzen  Merowingerzeit  ist  von  der  Jagd  als  Forstnutzung  kein  einzige 
Mal  die  Rede.  Wenn  die  Forsten  nicht  mehr  gewesen  wären  als  könig 
liehe  Jagdbezirke,  würde  dies  außerordentlich  auffällig  sein.  Erst  ii 
der  Karolingerzeit  wird  in  einzelnen  Urkunden  das  Jagdverbot  schärfe 
hervorgehoben.  ^     Energisch   betont  wird  dagegen  das  Jagdrecht  um 


^  Vgl.  Seeliger,  Grundherrschaft,  S.  122.  S.  Ulf.  hebt  Seeliger  die  enge  Be 
Ziehung  zwischen  Bann-  und  Immunitätsbezirken  hervor,  ohne  freilich  die  „Bann 
forsten"  zu  erwähnen. 

^  D.  Karol.  I,  Pippin  no.  28,    Karl  d.  Gr.  no.  87. 

^  MG.  Form.  S.  403.     Vgl.  auch  unten  S.  117. 

*  Chilperich  II.  schenkt  St.  Denis  „foreste  nostra  Roverito  cum  omnem  Jure  vi 
termine  suo  ad  integrum"  (DD.I.  S.  77). 

^  Besonders  Pippin  no.  28  und  die  Bestätigung  Karls  d.  Gr.  no.  87.  Wenn  hie 
und  an  anderen  Stellen  —  etwa  70%  aller  für  unsere  Periode  überlieferten  Forsi 
Verleihungen  kommen  den  Klöstern  zugute  —  Klöstern  das  Jagdrecht  verliehen  wir( 
so  scheinen  damit  jene  karolingischen  Bestimmungen,   die  den  Klerikern   die  Jag 


Forestis  j^j^5 

der  Wildschutz,  wo  es  sich  um  königliche  Forste  handelt.  Besonders 
kharf  geht  das  Capitulare  miss.  generale  ^  vor: 

„üt  in  forestes  nostras  feramina  nostra  nemine  furare  audeat,  quod 
|am  multis  vicibus  fieri  contradiximus,  et  nunc  iterum  banniamus  fir- 
iTiiter,  ut  nemo  amplius  hoc  faciet,  sicut  fidelitatem  nobis  promissa  unus- 
quisque  conservare  cupiat,  ita  sibi  caveat.  Siquis  autem  comis  vel 
:entenarius  aut  bassus  noster  aut  aliquis  de  ministerialibus  nostris 
:'eramina  nostra  furaverit,  omnino  ad  nostra  praesentia  perducantur 
id  rationem.  Caeteris  autem  vulgis,  qui  ipsum  furtum  de  feraminibus 
"ecerit,  omnino  quod  justum  est  conponat,  nullatenusque  eis  relaxetur. 
5i  quis  autem  hoc  sciente  alicui  perpetratum,  in  ea  fidelitate  conservatam, 
quam  nobis  promiserunt  et  nunc  promittere  habent,  nullus  hoc  celare 
äudeat."  Ähnliche  Maßregeln  werden  im  Cap.  de  villis  angeordnet: 
,unusquisque  judex  per  singulos  annos,  quid  de  feraminibus  in  forestis 
nostris  sine  nostro  permisso  captis  .  .  .  nobis  notum  faciant,  ut  scire 
i^aleamus,  quid  vel  quantum  de  singulis  rebus  habeamus."  ^ 

Auf  das  Cap.  Aquisgranense  ^  und  das  Capitulare  Italicum  *  sei  an 
dieser  Stelle  nur  kurz  hingewiesen. 

Da  das  Jagdverbot  bei  den  Forstbestimmungen  der  Kapitularien 
2inen  so  breiten  Raum  einnimmt,  ist  es  verständlich,  daß  man  zu  der 
'Ansicht  gekommen  ist,  in  dem  Jagdrecht  das  Wesen  der  Forsten  zu 
sehen.  Man  muß  sich  aber  klar  machen,  daß  tatsächlicher  Zustand 
Lind  hervorgehobene  Bedingungen  keineswegs  proportional  zu  sein 
brauchen.  Das  Verbot  wird  dann  besonders  scharf  betont,  wenn  die 
Gefahr  einer  Übertretung  nahe  liegt,  oder  wenn  gar  wiederholt  Über- 
tretungen stattgefunden  haben.    Das  Jagdverbot  steht  deshalb  an  erster 


streng  untersagen,  im  Widerspruch  zu  stehen.  Schon  Schwappach  hat  sie  zu- 
sammengestellt (a.  a.  0.  S.  61).  Es  wären  etwa  noch  hinzuzufügen  eine  Verordnung 
von  Papst  Eugen  II.  (MG.  LL  II.  Cap.  1  S.  373):  „üt  sacerdotes  ...  fenore  aliquo 
aut  venatione  .  .  .  non  occupentur"  und  von  Bischof  Hatto  von  Basel  (S.  364):  „nee 
canes  ad  venandum  nee  accipitres  nee  falcones  nee  sparavarios  .  .  .  licentiam  habeant." 
Die  Klöster  werden  jedoch  in  der  Regel  ihre  venatores  gehabt  haben.  In  einem  Diplom 
Karls  d.  Gr.  für  St.  Bertin  (no.  191)  heißt  es  ausdrücklich:  „ut  ex  nostra  indulgentia 
in  eorum  proprias  Silvas  licentiam  haberent  eorum  homines  venationes  exercere,  unde 
fratres  consolationem  habere  possint  tam  ad  volumina  librorum  tegenda,  quamque  et 
municias  et  ad  zonas  faciendas";  nicht  die  „fratres"  sondern  die  „homines",  Laien- 
angehörige des  Klosters,  sind  hier  die  Jäger.  Vgl.  Karl  d.  Gr.  no.  87:  „necnon  ex 
supradicta  venatione  infirmorum  fratrum  corpora  ad  tempus  reficienda,  reparanda 
let  corroboranda."  Das  wichtigste  aber  ist  bei  Forstverleihungen  an  die  Klöster 
'natürlich  die  Vermehrung  ihres  Grundbesitzes. 

'  MG.  LL.  IL   Cap.  1,  S.  98. 

'  a.  a.  0.  S.  88,  c.  62. 

'  a.  a.  0.  S.  172,  c.  18. 

*  a.  a.  0.  S.  211,  c.  17. 

•       8* 


^1ß  tiermann  Thimme 

Stelle,  weil  Wilddiebereien  offenbar  an  der  Tagesordnung  gewesen  sind, 
„ünusquisque  judex  per  singulos  annos!"  (S.  115).  Solche  Stellen  lassen 
ahnen,  wie  schwer  es  den  alten  Deutschen  geworden  ist,  sich  darein  zu 
finden,  daß  die  Jagd  mehr  und  mehr  an  das  Grundeigentum  gebunden 
wurde,  von  dem  sie  doch  ursprünglich  unabhängig  war.  ^ 

Daß  sie  es  wird,  ist  ein  Prozeß,  der  vermutlich  mit  der  Gründung 
des  ersten  Forstes  eingesetzt  und  mit  dem  Anwachsen  der  Forstgebiete 
gleichen  Schritt  gehalten  hat. 

Trotzdem  sind  die  Forsten  doch  weit  mehr  als  bloße  Jagdbezirke 
Gerade  aus  den  Kapitularien  geht  dies  mit  aller  wünschenswerter 
Klarheit  hervor. 

Die  betreffenden  Stellen  sind  bereits  zitiert.^  Um  Jagd  allein  is 
es  jedenfalls  dem  Könige  nicht  zu  tun,  sondern  ebensosehr  um  möglichs 
weitgehende  Kultivierung  dieses  seines  Grundbesitzes,  um  Rodung 
darauf  befindlicher  Waldungen  usw.  So  heißt  es  auch  in  der  Urkunde 
für  St.  Bertin:  „salvas  forestes  nostras,  quas  ad  opus  nostrum  con- 
stitutas  habemus."  „Ad  opus  nostrum"  heißt  ganz  allgemein:  „zi 
unserem  Nutzen."  Neben  der  Jagd  stehen  eine  Reihe  anderer  Nutzungen 
welche  in  den  Forsten  Sonderrechte  der  Forstbesitzer  werden. 

In  engem  Zusammenhang  mit  der  Jagd  steht  der  Fischfang.^  Be 
einzelnen  Forsten  spielt  er  eine  ganz  besondere  Rolle.  Ausdrücke  wi( 
„forestem  aquaticum",  „forestem  piscium"  haben  vielleicht,  „forestem  pis 
cationis  atque  venationis"  sicher  nicht  mehr  zu  bedeuten:  Pars  pro  toto 

Vor  allem  aber  sind  Holzschlag,  Schweinemast  und  Viehweide  fü 


^  Ich  möchte  mich  hier  Schröder  anschließen,  wenn  er  sagt  (D.  RG.  S.  536) 
„Das  Jagdrecht  hat  seinen  Ausgang  in  Deutschland  nicht  von  der  Jagdberechtigung 
der  Grundbesitzer,  sondern  von  dem  Recht  des  freien  Tierfanges  genommen.  Aucl 
die  Grundbesitzer  bedurften  eines  königlichen  Wildbannprivilegs,  um  eine  ausschließ 
liehe  Jagdberechtigung  auf  ihrem  Grund  und  Boden  zu  erlangen.  Außerhalb  de 
königlichen  Bannforsten  galt  das  Recht  des  freien  Tierfangs,  dem  der  Grundbesit: 
als  solcher  nur  tatsächliche  aber  nicht  rechtliche  Schranken  zu  setzen  vermochte.' 
Vgl.  hierzu  die  Urkunde  Karls  d.  Gr.  für  St.  Bertin  (a.a.O.):  „ut  ex  nostra  indul 
gentia  in  eorum  proprias  Silvas  licentiam  haberent  eorum  homines  venationen 
exercere."  In  späterer  Zeit  werden  wir  ähnlichen  Belegen  begegnen.  Freilich  heiß; 
es  schon  in  der  Lex  Sal.  XXXIII:  „Si  quis  de  diversis  venationibus  furtum  fecerit  ef 
celaverit  praeter  capitale  et  dilaturam  1800  den.  qui  faciunt  sol.  45  culpabilis  judi 
cetur.  Quia  lex  de  venationibus  et  piscationibus  conservare  convenit.**  (Ahnlicl 
L.  Rib.  XLII,  1.  Vgl.  Schwappach  a.  a.  0.  S.  54.)  Aber  das  zeigt  nur,  daß  es  zu 
Zeit  der  Lex  Sal.  schon  Sonderjagden  gegeben  hat;  durchaus  nicht,  daß  die  Jag( 
„ein  Zubehör  und  Ausfluß  des  Grundeigentums"  gewesen  ist. 

2  S.  oben  S.  108  f. 

^  S.  oben  S.  103f.  Außerdem  verleiht  Zwentebold  den  Mönchen  von  St.  Evre  fü 
Mittwoch  und  Freitag  „piscationem  scilicet  in  foreste  nostra  super  fluvium  Mosellae.' 
BM.  1972. 


n 


Forestis  117 


jie  Forstbesitzer  wichtige  Sonderrechte.  Mehrfach  werden  sie  gegen 
\bgabe  eines  Zehnten  oder  auch  sonst  innerhalb  von  Forsten  verliehen. 

Sigibert  IL  bestimmt  zugunsten  der  Kirche  von  Speyer:  ^  „Sic  et 
lomines  fisci  faciant  decimas  porcorum,  qui  in  forestis  insaginantur, 
mt  omne  genus  pecorum,  quantum  in  ipso  pago  Spirensi  ad  fiscos 
lostros  pertinetur."  Karl  der  Große  schenkt  Abt  Folrad:^  „silva  ex 
oreste  nostra  ...  et  jubemus,  ut  per  tota  illa  foresta,  foras  ipsos  fines 
jenominatas  pastura  ad  eorum  pecunia  ex  nostra  indulgentia  concessum 
labeat."  Arnulf  schenkt  der  Kapelle  von  Ranshofen:^  „et  in  foresto 
idjacenti  videlicet  in  Wilhart  succisionem  lignorum  tarn  ad  aedificia 
:onstruenda,  quamque  ad  focum  nutriendum  prout  ipsi  loco  sufficere 
^idetur  .  .  .  Idemque  in  altero  foresto  Hohenhart  et  mutuoque  sagina- 
;ionem  porcorum  absque  ulla  districtione  provisorum"  und  der  Kirche 
v^on  Eichstädt:  *  „locum  Sezzi  cum  quadam  parte  silvae  et  foresti  de 
:urte  Wizenburch."  Bei  Strafe  des  Bannes  ist  hier  jedermann  verboten, 
3hne  Erlaubnis  des  Bischofs:  „ligna  cedere  vel  fenum  secare,  seu  aliquo 
pastu  perfrui."  Ebenso  werden  wohl  in  einer  Urkunde  Ludwigs  des 
Deutschen/  wodurch  dieser  einen  Tausch  zwischen  Grimuald  von 
St.  Gallen  und  Graf  Chuonrad  bestätigt,  und  der  Graf  dem  Kloster 
verleiht:  „Insuper  etiam  ...  ad  prefatum  monasterium  convenimus, 
ut  ipsa  familia  in  ipsa  cellula  manens  potestatem  habeant  materia  et 
;ligna  cedendi  et  pasturam  animalibus"  .  .  .  Forstnutzungen  gemeint 
isein,  da  in  derselben  Urkunde  bereits  ein  Forst  erwähnt  ist. 

Ganz  besonders  deutlich  ist  eine  Urkunde  Ludwigs  des  Kindes  für 
iBischof  Erchambald  von  Eichstädt:^  „Insuper  etiam  volumus  atque 
omnino  jubemus,  ut  nulla  persona  audeat  in  illa  propria  marca  pre- 
dicti  monasterii  et  in  locis  ...  (6  werden  genannt)  . . .  parte  illius  foresti 
erga  Sezzin  et  Affintal  nominatis  sine  consensu  et  voluntate  Ercham- 
baldi  ...  in  silvis  majoribus  vel  minoribus  porcos  saginare,  feras 
silvaticas  venare,  arbores  abscindere,  aut  ullam  injuriam  facere." 

Man  wird  jetzt  verstehen,  warum  ich  das  in  der  St.  Galler  Formel 
als  immunitas  regis  bezeichnete  Gebiet  als  forestis  hingestellt  habe.  "^ 
Und  noch  eine  zweite  Formel  ähnlichen  Inhalts  ist  anzuführen,  bei  der 
es  durch  einen  anderen  Umstand  außer  Frage  gestellt  wird,  daß  man 
es  mit  einem  Forst  zu  tun  hat:^ 

'   DD.I.  S.  24f. 

'  D.  Karol.  I,  no.  84. 

'  BM.  1951. 

'  BM.  1840. 

'  BM.  1445. 

^  BM.  2049. 

'  S.  oben  S.  114. 

'  MG.  Form.  LL  V.  S.  383f. 


j^j^g  Hermann  Thimme 

„Notum  Sit  Omnibus,  quod  ad  distinendam  diutissimorum  litem, 
factus  est  conventus  procerum  vel  mediocrum  inter  locum  sancto  illo 
et  illo  sacratum  ...  et  reliquos  eorundem  locorum  pagenses  pro  qua- 
dam  Silva  vel  potius  saltu  latissimo  longissimoque,  utrum  et  ceteri  cives 
et  eorum  lignorum  materiarumque  caesuram,  pastumque  saginam  ani- 
malium  habere  per  suam  auctoritatem  an  ex  eiusdem  loci  dominis  pre- 
cario  deberent.  Tunc  jussu  missorum  imperatoris  A  (wahrscheinlich 
fälschlich  für  K,  Anm.  d.  Herausg.)  diviserunt  eundem  saltum  hoc  modo, 
ut  de  fluviolo,  qui  dicitur  N.  sursum  ...  ad  cellam  sancti  illius  proprle 
pertinere  deberent,  et  nullus  in  eisdem  locis  aliquem  usum  habeat, 
nisi  ex  permissione  rectorum  eiusdem  sancti  loci.  Deorsum  versus 
autem  supradictorum  fluviolorum  omnes  illi  pagenses  similiter  sicut 
familia  sancti  illius  usum  habeant  caedendi  ligna  et  materies,  sagi- 
namque  porcorum  vel  pastum  peccorum,  eo  tarnen  pacto,  ut  forestarius 
sancti  ipsius  eos  admoneat,  ne  nimo  derote  ruendo  arbores  glandiferas 
et  sibi  nocüi  et  sancto  loco  inveniantur  infesti."  Das  Auftreten  des- 
forestarius  läßt  keinen  Zweifel  darüber,  daß  der  dem  Kloster  zugewiesene 
Teil  des  saltus  nicht  nur  dem  Rechte  nach,  sondern  auch  dem  Namen' 
nach  ein  forestis  gewesen  sein  soll. 

Alle  Sonderrechte  der  Forsten  wird  man  sich  etwa  zusammen- 
gefaßt denken  dürfen  in  jenem  Diplom  Arnulfs,^  in  dem  der  Hof' 
Velden  verschenkt  wird:  „cum  omni  utilitate  in  foresto",  und  wenn 
Karl  der  Dicke  „fideli  suo  Theodoni"  schenkt:  ^  „communia  de  foreste 
nuncupante  Hulsinas."  Gerade  der  Ausdruck  „communia"  ist  sehr 
charakteristisch.  Alle  Rechte  und  Nutzungen,  welche  sonst  „com- 
munia" d.  h.  Allmende  sind,  —  bei  den  forestes  werden  sie  zu 
Sonderrechten. 

Sondergut  sind  also  die  Forsten,  hinsichtlich  sämtlicher  Nutzungs- 
rechte: Jagd,  Fischerei,  Schweinemast,  Viehweide,  Holzhieb,  Siedelung,^ 
für  Draußenstehende  geschlossen.^ 

und  zwar  bei  Strafe  geschlossen.  Das  muß  noch  besonders  her- 
vorgehoben werden.  Denn  gerade  durch  die  Vorkehrungen,  die  zu 
ihrem  Schutz  getroffen  sind,  erhalten  die  Forsten  ein  ganz  besonderes 
Gepräge.  Die  auf  Verletzung  eines  Forstes  gesetzte  Strafe  kann  in! 
der  Tat  nicht  ganz  unbeträchtlich  gewesen  sein.  Jene  beiden  armem 
Wilddiebe,   für   die  sich  Einhard   in   seinem  Brief  an  Graf  Poppo  ini 


^  BM.  1955. 

2  BM.  1713. 

^  Vgl.  Urkunde  Sigiberts  DD.I.,  S.  22:  „ut  nullius  umquam  tempore  vitae  suac 
quaelibet  persona  ipsum  forestem  audeat  irrumpere,  aut  mansiones  aut  domos  aedi- 
ficare,  nisi  tantum  modo  illi  servi  Dei." 

*  Vgl.  Inama  Sternegg,  D.  WG.  I,  S.  416. 


Forestis  119 

ührender  Weise  verwendet,  ^  haben  dies  zu  ihrem  Schaden  erfahren 
nüssen. 

Man  ist  gewohnt  von  Bannforsten  zu  reden.  Auffällig  ist  es 
mmerhin,  daß  erst  am  Schluß  der  Karolingerzeit  vereinzelt  von  „bannus" 
)ei  Forsten  die  Rede  ist,^  während  in  späteren  Jahrhunderten  der 
Cönigsbann  fast  regelmäßig  bei  Forstverleihungen  als  übliche  Strafe 
ür  Forstverletzungen  und  zwar  speziell  für  Jagdfrevel  angeführt  wird, 
m  Cap.  Ital.  ^  wird  zwar  auf  das  Legen  von  Fußangeln  „in  foreste 
lominica"  der  „bannus  dominicus"  gesetzt,  doch  ist  das  hier,  wie  der 
Zusatz:  „nee  in  quolibet  loco"  zeigt,  die  Strafe  für  die  Tat  als  solche 
licht  für  die  Verletzung  des  Forstes.  Mit  Schwappach  *  am  Ende  des 
3.  Jahrhunderts  einen  Einschnitt  zu  machen  und  auf  der  einen  Seite 
n  den  Forsten  königlichen  Wald  schlechthin,  auf  der  andern  Seite  aber 
3annforsten  sehen  zu  wollen,  liegt  also  keine  Veranlassung  vor. 

Wenn  man  zur  Untersuchung  von  forestis  nur  die  merowingischen 
jnd  karolingischen  Quellen  hätte,  würde  man  schwerlich  auf  den  Aus- 
druck „Bannforsten"  gekommen  sein.  Banngebiete  sind  insbesondere 
die  königlichen  Forsten  natürlich  von  Anfang  an  gewesen.  Ob  die 
spätere  Betonung  der  Bannstrafe  eine  bloß  formelle  Zutat  ist,  oder  ob 
etwa  in  bezug  auf  die  Strafen  erst  in  späterer  Zeit  eine  Regelung  er- 
folgt ist,  ^  mag  dahingestellt  bleiben. 

Zweimal  hören  wir  in  spätkarolingischer  Zeit  von  Wäldern,  die 
unter  königlichem  Bann  gestanden  haben.  So  heißt  es  in  einer  von 
Waitz^  angeführten  Stelle:  „nemoribus,  quae  in  regio  banno  sunt"  und 
jin  einer  Urkunde  Karls  des  Dicken:^  „bannum  etiam  nostrum  pro 
'silva,  quod  exactores  nostri  requirebant."    Leider  erfährt  man  nichts 


^  MG.  Ep.  V,  S.  133:  „Duo  pauperes  homines  confugerunt  ad  limina  beatorum 
Christi  martyrum  .  .  .  fatentes  se  culpabiles  esse,  qui  in  praesentia  vestra  convicti 
fuerunt  de  quodam  furtu,  quod  cotfimiserunt  furando  feramina  in  dominica  foreste 
cuius  partem  compositionis  jam  solverunt,  et  adhuc  solvere  debent.  Sed  ut  asserunt, 
non  habent  unde  solvere  propter  paupertatem  suam.  Proinde  precamur  .  .  ut  eis  .  . 
parcere  dignemini. 

^  Vgl.  die  bereits  mehrfach  genannte  Schenkung  Arnulfs  für  die  Kirche  von 
Eichstädt:  „ut  eodem  banno  sicut  antea  fuit  ad  memoratum  ecclesiam  secure  per- 
tineant"  und  eine  Urkunde  Karls  d.  Einfältigen  für  Bischof  Stephan  von  Lüttich  a.  915 
„Delegavimus  namque  ipsatn  forestem  ...  in  proprium  tenendam  .  .  .  Si  quis  ita 
temerario  ausu  in  ea  venari  praesumpserit,  sie  regium  bannum  inde  componat, 
quomodo  antea  componebatur,  dum  regum  in  manibus  steterat." 

'  MG.  LL.  II.  Cap.  1,  S.  211. 

*  a.a.O.  S.  56f. 

°  Ausdrücke  wie  „perducantur  ad  rationem"  und  „quod  justum  est  componat* 
(Cap.  missor.  gener.  a.  a.  0.)  könnte  man  so  auffassen. 

'  VG.  IV,  S.  128,  Trad.  Sangall.  S.  281. 

'  BM.  1707. 


■ 


120  Hermann  Thimme 

Näheres  von  diesen  Bannwäldern,  und  ob  sie  mit  Forsten  etwas  za 
tun  haben.  ^ 

5.  Forestarii^ 

Als  Banngebiete  haben  die  Forsten  ebenso  wie  die  Immunitäts- 
bezirke ihre  eigenen  Beamten.  Das  Forstrecht  zu  wahren,  die  Verletzung 
der  Forstgebiete  durch  Unbefugte  zu  verhindern  oder  zu  ahnden,  das 
ist  die  Aufgabe  der  forestarii. 

Sie  gehören  zu  den  Forstbewohnern.  Vom  Forst  Aequalina  heißt^ 
es:^  „seu  et  forestarios  cum  ipsorum  mansibus  in  ipsa  foreste  vel  per 
diversa  loca  conmanentes."  ^  Hinsichtlich  ihrer  wirtschaftlichen  Lage^ 
werden  sie  mit  den  Meiern  und  den  übrigen  Beamten  in  der  Villen- 
verfassung Karls  des  Großen  auf  eine  Stufe  gestellt:  „üt  maiores  nostri 
et  forestarii,  poledrarii,  cellerarii,  decani,  telonarii  vel  ceteri  ministeriales 
rega  faciant  et  sogales  donent  de  mansis  eorum."  ^  Ihre  bäuerliche^ 
Tätigkeit  tritt  hier  zutage.^ 

Was  ihre  soziale  Stellung  anbetrifft,  so  werden  wohl  alle  Klassen^ 
der  damaligen  Bauernbevölkerung  auch  bei  den  forestarii  vertreten  ge- 
wesen sein.  Die  „liberi  forestarii"  in  den  Vogesen  befreit  Ludwig  der 
Fromme^  von  Bann,  Heerbann,  Lieferungen  und  Spanndiensten,  nur 
die  „stoffa"  wird  ihnen  nicht  erlassen.  Die  „servi  forestarii"  müssen^ 
von  ihren  Mausen  Fronarbeit  nebst  Zins  und  schuldigen  Diensten 
leisten,  ganz  entsprechend  dem  allgemeinen  Los  unserer  Bauern  da- 
maliger Zeit. 

Auf  den  ersten  Blick  könnte  befremden,  daß  unter  den  forestarii, 
für  die  Ludwig  der  Fromme  seine  Urkunde  ausgestellt  hat,  sich  auch 
Kirchenleute  befinden:  „servi  forestani  tam  ecclesiastici,  'quam  fiscalini.* 
Dagegen   muß  man  bedenken,   daß   der  Vogesenforst  sicherlich  nicht' 


*  Vielleicht  ist  auf  sie  ein  Wort  von  Waitz  (a.a.O.)  anzuwenden:  „bannus 
kommt  aber  auch  als  Abgabe  für  den  König  für  die  Benutzung  einer  silva  vor." 

*  Vgl.  Bernhardt,  Gesch.  des  Waldeigentums  I,  S.  48.  Roth  a.  a.  0.  S.  87 f.  u. 
323f.    Waitz,  VG.  IV,  145 f. 

^  D.Karol.  I,  Pippin  no.  28. 

*  Schon  hier  sei  auf  eine  Urkunde  Konrads  II.  für  Salzburg  hingewiesen.  (9t.  1957.) 
Zur  Pertinenz  des  „forestum  Heit"  gehören  „forestenses  mansi".  Prümer  Güter- 
verzeichnis Beyer  I,  S.  169:  „Warinus  forestarius  habet  mansum  dimidium " 

^  Cap.  de  villis  a.  a.  0.  S.  84. 

"  Ludwig  das  Kind  schenkt  den  Lorscher  Mönchen,  was  der  Schmied  Helmerich 
und  der  forestarius  Engibrecht  von  Krongut  in  Sandhofen  und  Schaarhof  im  Lobden- 
gau  besaßen. 

^  BM.  764.  MG.  Form.  S.  326.  Aus  dem  Satz:  „forestarios  nostros  . .  .  immunes 
constituimus"  ganz  allgemein  zu  folgern:  „den  Forstbeamten  stand  Immunität  zu" 
(vgL  Bernhardt  a.  a.  0.)  ist  nicht  statthaft. 


^ 


Forestis  j^21 


nehr  in  seiner  ursprünglichen  Ausdehnung  königlicher  Besitz  war. 
feile  desselben  werden  ebensogut  zur  Vergabung  gelangt  sein,  wie  dies 
Ton  Teilen  des  Ardennenforstes  bezeugt  ist.  So  liegt  z.  B.  „foreste 
)ervo"  mit  dem  Kloster  gleichen  Namens  „in  fine  Wasciacinse."  ^  Und 
;bensogut  können  Teile  von  Forsten  als  Benefizien  oder  in  irgend  einer 
)eliebigen  Leihform  an  Kirchen,  Klöster  usw.  ausgetan  gewesen  sein. 
)er  Annahme,  daß  die  „forestarii  ecclesiastici"  etwa  auf  solchen  Forst- 
)enefizien  gesessen  haben,  steht  nichts  im  Wege.  In  ihr  Dienst- 
/erhältnis  macht  unsere  Urkunde  ja  auch  gar  keinen  Eingriff.  Aus- 
Irücklich  wird  betont:  die  servi  forestarii  sollen  von  ihren  Mausen 
^ins  und  schuldige  Dienste  leisten.  Nur  die  Verordnungen,  welche 
jlie  amtliche  Stellung  der  forestarii  angehen,  sollen  für  alle,  für  die 
Jiberi  forestarii  quam  servi  ecclesiastici  aut  fiscalini"  gelten. 

Als  Beamte  bilden  die  forestarii  eine  Korporation,  an  deren  Spitze 
,magistri",  „ministri",  „principes"  stehen:  „sed  quicquid  . . .  possessione 
jiut  in  occupatione  egerint  aut  cuilibet  tulerint  clamorem,  coram  minis- 
!;ris  forestariorum  illorum  justiciam  faciant  et  si  justiciam  facere  de- 
raxerint,  hoc  ad  nostram  justiciam  deportetur."  ^  Arnulf  schenkt  dem 
Kloster  Kremsmünster  ^  den  Hof  Neuhofen  „cum  omnibus  ad  eam  per- 
bnentibus,  cum  .  .  .  forestis  omnibusque  forestariis  et  venatoribus, 
:iuorum  princeps  Fuondimuh  vocatur." 

Für  die  Tätigkeit  der  forestarii  wird  schon  in  der  Merowingerzeit 
Jas  Wort  defensare  verwandt.  ^  In  einer  Urkunde  Childeberts  III.  ^  heißt 
35  von  „Silva  nostra  Carmoletus":  .  .  .  „vel  forestarii  usque  nunc  defen- 
isarunt"  und  dementsprechend  im  Cap.  Aquisgr.:  ^  „De  forestis,  ut  fores- 
tarii bene  illas  defendant,  simul  et  custodiant  bestias  et  pisces." 

Der  forestarius  in  der  S.  118  zitierten  St.  Galler  Formel  hatte  die 
Aufgabe  auch  über  den  Forst  des  Klosters  hinaus  in  der  Allmende, 
an  welcher  seine  Herrschaft  mitberechtigt  war,  den  Holzhieb  der  „pa- 
jgenses"  zu  kontrollieren.  Überhaupt  sieht  man  an  verschiedenen 
Stellen,  daß  die  forestarii  sehr  geneigt  waren,  ihre  Befugnisse  möglichst 
;weit  auszudehnen.  Den  Mönchen  von  Stablo  und  Malmedy  wird  für 
jdas  ihnen  geschenkte  Forstgebiet  zugesichert,  daß  sie  von  den  fores- 
tarii nicht  behelligt  werden  sollen:  „ut  absque  ullius  impugnatione 
forestariorum   .  .  .  liceat  ipsam  familiam  Dei  quieto  ordine  residere." 


'  D.  Childerich  II.  S.  30. 
'  BM.  764. 
'  BM.  1772. 

*  In  der  Urkunde  Ludwigs  d.  Fr.  „providere".    „Quia  forestarios  nostros,  .  .  . 
qui  forestem  in  Vosago  provident  .  .  ." 
'  DD.I.  S.  63. 
'  a.  a.  0.  S.  172. 


j^22  Hermann  Thimme 

Falls  sie  zu  weit  gegangen  sind,  was  durch  die  Ausdrücke  „quicquid 
possessione  aut  in  occupatione  egerint  aut  cuilibet  tulerint  clamorem' 
bezeichnet  wird,  sollen  die  forestarii  in  den  Vogesen  vor  dem  „ministei 
forestariorum"  Rechenschaft  ablegen.  Ein  besonders  drastisches  Bei- 
spiel für  das  Temperament,  mit  dem  gerade  in  den  Vogesen  forestari 
die  Sache  ihres  kaiserlichen  Herrn  vertreten  haben,  bringt  gleichsarr 
als  Illustration  zu  dem  letztgenannten  Satz  aus  der  Urkunde  Ludwige 
Hincmars  vita  Remigii,:  ^  „forestarii  ejus  invaserunt  partem  de  silva 
quam  in  saltu  Vosage,  ut  supra  ostendimus  sc.  Remigius  in  vitc 
sua  pretio  comparaverat,  intra  fines  eins  dicentes,  quod  plus  per- 
tineret  ipsa  silva  ad  fiscum  imperatoris,  quam  ad  partem  sc.  Remigii 
Contradicentibus  antem  hominibus  de  potestate  Remensis  ecclesiae,  unu! 
eorum  altercando  venit  ad  porcos  suos,  quos  in  eandem  silvam  ac 
pastionem  miserat  .  .  .  Frater  vero  concite  pergens  in  partem  alteran 
pervenit  ad  quandam  petram  et  dixit:  Omnibus  notum  sit,  quin  usqm 
hanc  petram  est  silva  imperatoris." 

Die  ganze  Geschichte  mit  dem  wunderbaren  Gottesurteil  (der  eim 
rennt  sich  den  Schädel  ein,  der  andere  verliert  durch  ein  Felsstück 
das  er  mit  seiner  Axt  losschlägt,  beide  Augen),  trägt  zwar  einen  starl 
legendenhaften  Anstrich,  gibt  aber  doch  von  den  Aufgaben  und  voi 
der  Tätigkeit  der  forestarii  ein  anschauliches  Bild.  Man  beachte:  „veni 
ad  porcos  suos."  Auch  diese  forestarii  nehmen  an  dem  Wirtschafts 
betrieb  im  Wasgauforst  selbsttätigen  Anteil. 

An  einigen  Stellen  treten  uns  unter  anderer  Benennung  docl 
offenbar  forestarii  entgegen.  So  ist  kaum  daran  zu  zweifeln,  daß  ii 
der  Urkunde  Arnulfs  ^  mit  dem  Satz:  „Idemque  in  altero  foresto  Hohen 
hart  .  .  .  saginacionem  porcorum  absque  ulla  districtione  provisorum" 
mit  den  „provisores"  forestarii  gemeint  sind.  Zu  den  „ministeriales"  de: 
Cap.  Missor.  Gen.,^  denen  die  Wilddieberei  verboten  wird,  werden  aucl 
die  forestarii  gehört  haben.  Speziell  für  die  forestarii  gilt  der  Satz  in 
Cap.  Aquisgr.:  ^  „Et  si  rex  alicui  intus  foreste  feramen  unum  aut  magi 
dederit,  amplius  ne  prendat,  quam  illi  datum  sit."  Daß  die  forestari 
nicht  mit  den  ebenfalls  mehrfach  erwähnten  „venatores"  zu  verwechseli 
sind,  haben  bereits  Bernhardt  und  Roth  hervorgehoben. 

Technische  Beamte  der  Markensetzung  sind  die  forestarii  niemal 
gewesen.^    Es  geht  weder  aus  der  betreffenden  Urkunde  Ludwigs  de 


^  MG.  SS.  Merow.  III,  S.  323. 

*  BM.  1951. 

^  Vgl.  „absque  ullius  impugnatione  forestariorum". 

*  a.  a.  0.  S.  98. 

'  a.  a.  0.  S.  172. 

«  Rubel,  a.  a.  0.  S.  308ff.    Vgl.  Brandi,  GGA.  1908.  Nr.  I. 


« 


Forestis  123 


Tommen,  noch  aus  irgend  einer  anderen  Urkunde  hervor.  Nur  ein 
einziges  Mal  erscheinen  sie  bei  einer  Grenzabsetzung  als  mittätig.  In 
euer  Urkunde  für  Stablo-Malmedy.^  Daraus  so  weitgehende  Schlüsse 
:u  ziehen,  wie  Rubel  es  tut,  ist  zum  mindesten  sehr  gewagt.  Fast  so 
*ewagt  wie  eine  andere  Behauptung  auf  S.  287,  wo  der  erstaunte  Leser 
lört,  daß  zur  Schaffung  des  Thüringer  Rennstieges  ein  „Beamtenapparat 
/on  Hunderten  von  forestarii"  nötig  gewesen  sein  soll.  Bei  Childerichs 
Jrkunde  ist  zu  beachten,  daß  die  forestarii  keineswegs  die  Grenzen 
ies  Forstes  selbst  absetzen  —  dieser  existierte  ja  schon  länger  — ; 
jine  Grenzlinie  innerhalb  des  Forstes  herzustellen,  dazu  konnten  sie 
latürlich  als  Bewohner  desselben  ganz  gut  behilflich  sein. 

Zu  einem  forestarius  gehört  unbedingt  ein  forestis.  Wo  ein  Forst- 
Bezirk  vorhanden  ist,  wo  ein  neuer  eingerichtet  wird,  da  sind,  da 
A^erden  die  Bewohner  forestarii.  Das  „mensurare  et  designare"  be- 
zeichnet höchstens  einen  einmaligen  vorübergehenden  Akt,  die  fores- 
arii  aber  sind  seßhafte  Forstbewohner  und  ziehen  nicht  von  einem 
-  >t  zum  andern. 

jA       Ob  nun  in  der  Regel  alle  Bewohner  eines  Forstes  forestarii  ge- 

r  iiannt   sind,   und   nur   einzelne   von   ihnen  jene  geschilderte  amtliche 

3efugnis  besaßen,  oder  ob  nur  die  von  den  Bewohnern,  denen  dies 

^mt  zuteil  ward,  den  Namen  forestarii  empfingen,  muß  dahingestellt 

bleiben. 

Eins  ergibt  sich  aus  dem  Gesagten  mit  Sicherheit.    Ebensowenig 
me  sich  forestis  mit  Forst  im  heutigen  Sinne  des  Wortes  deckt,  eben- 
sowenig haben  die  forestarii  mit  den  heutigen  „Förstern"  gemeinsam. 
Forestis  und  forestarii  sind  eben  zwei  Begriffe,  für  die  es  in  der 
Gegenwart  kein  Analogon  gibt. 

6.   Ergebnisse 

Wir  haben  forestis  in  seiner  ursprünglichen  Bedeutung  kennen 
'gelernt  als  Königsgut,  für  welches  ein  bestimmtes  „jus  forestis"  gilt. 
Welche  Stellung  nimmt  forestis  innerhalb  des  gesamten  Königsgutes 
ein?    Wie  hat  man  sich  die  Entstehung  der  Forste  vorzustellen? 

In  erster  Linie,  so  wird  man  sagen  dürfen,  sind  die  Forste  das 
Ergebnis  der  durch  den  König  erfolgten  Okkupation  des  herrenlosen 
Landes.^  Bei  dem  alten,  bereits  in  Kultur  genommenen,  königlichen 
Erbgut,  wird  ein  „jus  forestis"  bereits  sowieso  auch  ohne  besonders 
erfolgte  rechtliche  Formulierung  bestanden  haben,  hier  waren  die  „com- 


'  S.  oben  S.  107  f. 

'  Vgl.  Inama  Sternegg,  a.  a.  0.  S.  282  u.  111. 


j^24  Hermann  Thimme 

pagienses"  wenn  nicht  durch  rechtliche,  so  doch  durch  tatsächliche 
Schranken  von  den  Nutzungen  ausgeschlossen.^  —  Das  zur  Erklärung,*; 
daß  nicht  das  sämtliche  Königsgut  forestis  heißt. 

Innerhalb  dieser  Forsten,  des  aus  herrenlosem  Gut  entstandenen 
königlichen  Sondereigentums,  wird  dann  zum  Teil  eifrig  Kulturarbeit 
getrieben.  So  kommt  es  einerseits,  daß  manche  stark  besiedelte  Forst- 
gebiete begegnen,  andererseits,  daß  forestis  und  silva  sich  so  oft  be- 
rühren, was  ja  nicht  zu  leugnen  ist,  wenn  auch  silva  und  forestis 
an  und  für  sich  nichts  miteinander  zu  tun  haben.  ^ 

Durch  die  Entstehung  von  königlichen  forestes  werden  ferner 
den  Allmenderechten  der  Markgenossenschaften  mehr  oder  weniger 
feste  Schranken  gesetzt:  wir  sahen,  daß  das  „jus  forestis"  alle  die 
einzelnen  Nutzungsrechte  in  sich  schloß,  die  sonst  den  Mark- 
genossen an  der  Allmende  zustehen.  In  jenen  beiden  St.  Galler 
Formeln  waren  die  Gebiete,  die  den  Markgenossen  entzogen  wurden, 
forestes. 

Die  Entstehung  von  „Forsten"  kennzeichnet  die  Ausdehnung  des 
Privateigentums  auf  Kosten  der  gemeinen  Mark,  kennzeichnet  im 
Grunde  den  Abschluß  in  der  Entwicklung  der  Idee  des  Privateigen- 
tums an  Grund  und  Boden  überhaupt. 

Das  Wort  forestis  ist  von  einer  Zeit  geprägt,  der  das  Vorhanden- 
sein von  Privateigentum  zum  ersten  Male  klar  und  deutlich  zum  Be- 
wußtsein kommt,  einer  Zeit,  die  dieses  Wortes  bedurfte,  um  den  Gegen- 
satz gegen  den  vorhandenen  Begriff  der  gemeinen  Mark^  herzustellen. 

Der  Gegensatz  zu  forestis  ist  nicht  etwa  Königsgut,  welches  nicht 
als  forestis  bezeichnet  wird  —  fiscus  schlechthin  — ,  sondern  die  ge- 
meine Mark.  Forestis  ist  Sondergut,  welches  außerhalb  der  gemeinen 
Mark  liegt.  Forestarii  sind  die  Wächter  dieses  ersten  offiziellen 
Privateigentums.  Forestis  und  foris  gehören  zusammen.  Man  wird  in 
der  Tat  diese  Etymologie  für  gesichert  halten  dürfen.^    Forst  ist  kein 


'  Vgl.  Schröder,  a.  a.  0.  S.  536.    S.  oben  S.  115. 
-     '  S.  oben  S.  109. 

^  Forestis  bürgt  daher  von  seinem  ersten  Auftauchen  an  für  die  Existenz  eines; 
solchen  Gemeinbegriffes,  Rübeis  Behauptung,  „daß  die  Markgenossenschaft  ir; 
Deutschland  eine  späte  zwangsstaatliche  Einrichtung  ist",  ist  also  geradezu  umzukehren. 

*  Wenn  bei  J.  Grimm,  D.  RA.  II^  S.  412f.  für  eine  spätere  Zeit  eine  Reihe  von 
Stellen  angeführt  werden,  wo  forestis  die  Bedeutung  gefreiter  Bezirk  im  Sinne  von 
Gerichtsstätte  hat,  so  wird  das  ebenfalls  der  durch  die  Ableitung  von  foris  charakte- 
risierten uralten  Grundbedeutung  von  forestis  entsprechen.  Anno  1109  stiftete  Konrad 
von  Merlenheim  dem  Kloster  Hirsau  Güter  „in  pago  Spirensi  in  comitatu  Liutrammes- 
forst".  Württemb.  ÜB.  I,  S.  338.  Nach  Acta  Theod.  Pal.  III,  S.  255  (Mannheim  1773) 
befand  sich  in  Liutrammesforst  die  öffentliche  Gerichtsstätte  („mallum  publicum") 
und  davon  habe  der  ganze  comitatus  seinen  Namen  erhalten.    (Vgl.  DH.IV.  St.  2874: 


1- 


Forestis  125 


ort  germanischen  Ursprungs.  Es  ist  auch  ins  Deutsche  übertragen: 
pann  heißt  es  „Sunder". 

Für  das  Vorkommen  dieses  Wortes  bietet  RübeP  zahlreiche  Belege, 
mf  die  im  einzelnen  hier  nicht  eingegangen  werden  soll.  Am  frühsten 
begegnet  es  danach  in  der  Zusammensetzung  „pagus  Kuningessuntra" 
3.  819  in  einer  Urkunde  Ludwigs  des  Frommen, ^  aber  erst  etwa  seit 
:nde  des  11.  Jahrhunderts  scheint  es  weitere  Verbreitung  gefunden 
L\i  haben  und  kommt  für  sich  alleinstehend  vor.^  Die  Interpretation 
/on  „pagus  Kuningessuntra"  als  ein  „ursprünglich  der  Alleinverfügung 
jes  Königs  unterworfenes  Territorium"  wird  das  Richtige  treffen.  Wo- 
jei  freilich  mit  der  Möglichkeit  gerechnet  werden  muß,  daß  das  eigent- 
liche Königssundern  nur  etwa  den  Kern  des  „pagus"  gebildet  hat.  Etwas 
Ähnliches  mag  beim  „pagus  Sundergeuue"  der  Fall  sein,  welcher  mehr- 
fach in  Ottonischen  Urkunden  erwähnt  wird.*  Sundergau  ins  Latei- 
nische übertragen  würde  heißen:  pagus  forestensis.  Ein  solcher  „pagus 
forestensis"  ist  in  einer  Urkunde  Ottos  I.^  für  die  bischöfliche  Kirche 
^on  Utrecht  belegt:  „ut  nullus  comitum  aliorumve  hominum  in  pago 
forestensi  . . .  cervos  venare  absque  presulis  permissu  presumat."  Man 
{Wird  kaum  fehl  gehen,  wenn  man  annimmt,  daß  königliche  forestes 
'wie  beim  pagus  forestensis  so  auch  beim  pagus  Kuningessuntra  und 
Sundergeuue  den  Kern  gebildet  haben. 

Besonders  interessant  ist  eine  Stelle  aus  Norbert,  vita  Bennonis.^ 


H.  schenkt  dem  Bistum  Speyer  „duos  comitatus  unum  in  Liutramesforste  situm  in 
pago  Sprichgave.")  und  wenn  es  noch  im  13.  Jahrhundert  in  den  Annal.  Januens. 
heißt:  (MG.  SS.  XVIII,  p.  442)  a.  a.  1260  „restituit  in  integrum  omnes  forefactos 
rlanue  et  districtus  ab  omnibus  forestationibus  et  bannis,  dum  tamen  si  aliquis  esset 
forestatus  pro  offensa,  quam  alicui  fecisset  .  .  ;  und  a.  a.  1264:  (p.  249)  „ipsum  G. 
potestas  bannivit  et  forestavit,  de  quo  banno  et  forestatione  exire  non  posset,  nisi 
communi  Janue  non  solveret  libras  10000  Januinorum",  so  kommt  hier  das  in  forestis 
liegende  foris  zu  ganz  besonders  prägnantem  Ausdruck.  Über  die  „forenses"  und 
„forastici",  die  „terra  forastica"  im  Reimser  Polyptychum  und  im  Polyptichum 
Irminos  vgl.  Seeliger,  Hist.  Vjs.  1907,  tieft  3,  S.  315. 

'  a.  a.  0.  S.  254ff. 

'  a.  a.  0.  S.  426ff. 

^  Noch  heute  finden  sich  an  verschiedenen  Stellen  „Sunder"  genannte  Waldungen. 
1848  forderten  die  unruhigen  Loccumer  Einwohner  von  der  Klosterverwaltung:  „De 
Sundern  schal  deelt  warden." 

*  z.  B.  DO.I.  no.  29:  St.  Emmeran  erhält:  „locum,  qui  vocatur  ti.  cum  foresto 
et  forestariis  atque  venatione  nee  non  et  nostro  regio  banno,  insuper  .  .  N.  in 
pago  Sundergeuue  .  .  .  cum  omnibus,  quae  ad  eadem  loca  et  forestum  jure  legittime- 
que  pertinentibus."  Daß  hier  ein  forestum  genannt  wird,  der  im  Sundergau  liegt, 
braucht  kein  Zufall  zu  sein! 

'  DO.I.  no.  62. 

^  ed.  Bresslau,  S.  17. 


j^26  Hermann  Thimme 

Die  „commarchiones"  haben  ihre  Herden  in  einen  dem  Bischof 
gehörenden  Wald  getrieben:  „rem  episcopi  propriam  communi  usui 
nuncupare  coeperunt."  Den  zwischen  ihnen  und  dem  bischöflichen 
„praefectus"  ausbrechenden  Streit  entscheidet  der  „prudens  episcopus" 
an  dem  dazu  bestimmten  Tage  auf  folgende  Weise:  „Itaque  super  hac 
re  die  constituta  advocatum  nominatum  Meginbaldum,  qui  adhuc  in 
extrema  senectute  apud  Disnam  est  advocatus,  homo  probus  et  nobilis 
secum  adduxit,  qui  illico  equo  ascenso,  secumque  quibusdam  loci  huius 
peritis  assumptis,  maxima  populi  multitudine  cum  episcopo  congregata 
praesente,  ipse  praecedens  montem  circumivit  totum  spatium,  quod  hoc 
ambitu  designaverat,  ispse  propria  jurans  manu  episcopo  suisque  suc- 
cessoribus  aeterna  possessione  firmavit,  et  quod  hie  vulgo  Sunder  ap- 
pellatur,  eo  quod  seorsum  privato  alicuius  usui  separatum  a  communi 
hominum  utilitate  secernit  vocari  et  esse  constituit." 

Es  bedarf  hier  keiner  weiteren  Erläuterung.  Man  vergleiche  etwa 
eine  Urkunde  Konrads  11.^  für  die  Kirche  von  Würzburg:  „quandam 
silvam  hactenus  communi  compagiensium  usui  habitam  ...  ab  hinc 
sub  forestis  nomine  comprehensimus."  Das  ist  genau  derselbe  Vor- 
gang, und  der  vollkommene  Parallelismus  von  forestis  und  Sunder 
liegt  auf  der  Hand.^ 

Mit  den  letzten  Zitaten  haben  wir  bereits  auf  eine  spätere  Periode  vor- 
gegriffen. Großen  Änderungen  und  Umwandlungen  ist  in  ihr  der  Begriff 
forestis  unterworfen.  Es  geht  ein  gut  Stück  weiter  auf  dem  Wege,  der 
zur  Bedeutung  unseres  heutigen  Wortes  Forst  hinführt.  Wir  wollen  ihn 
bis  zum  Ende  des  11.  Jahrhunderts  verfolgen.  Wir  werden  dann  freilich 
nicht  einen  Wendepunkt  erreicht  haben  von  ähnlich  einschneidender 
Bedeutung  wie  der,  bei  welchem  wir  uns  jetzt  befinden,  wohl  aber 
einen  Höhepunkt,  welcher  zu  einem  Rückblick  auf  das  durchmessene 
Stück  Weges  und  zu  einem  Ausblick  nach  vorwärts  geeignet  erscheint 


IL   Forestis  vom  Ende  der  Karolinger-  bis  zum  Ende 

der  Salierzeit 

Man  kann  die  Zeit  der  Sachsenkaiser  in  bezug  auf  die  Entwick- 
lung des  Forstwesens  eine  Übergangszeit  nennen.  Deutlich  ist  hier 
das  Festhalten  eines  alten  Begriffes,  das  Aufkommen  eines  neuen,  das 
Ineinandergleiten  und  die  Verschmelzung  beider  zu  beobachten. 

'  St.  2024. 

'  Charakteristisch  ist  der  Ausdruck  „forestum  Sunderenhart"  in  einer  Urkunde 
tieinrichs  IV.  St.  2582. 


Forestis  \21 

Unter  Heinrich  IL  hat  sich  forestis  schon  ziemlich  weit  von  seiner 
irsprünglichen  Bedeutung  entfernt  und  am  Schluß  der  Salierzeit  be- 
gegnen nur  noch  vereinzelt  Forsten  merowingisch-karolingischer  Art, 
pärliche  Überbleibsel  einer  längst  vergangenen  Periode. 

1.   Betonung  der  Jagd 

Während  ursprünglich  forestis  ein  hinsichtlich  aller  Nutzungsrechte 
geschlossenes  Gebiet  bezeichnet,  kann  man  beobachten,  wie  sich  seine 
Weutung  allmählich  verengt  und  spezialisiert.  Daß  sich  forestis  mehr 
ind  mehr  der  Bedeutung„Wildbann"  nähert,  darin  liegt,  wie  mir 
icheint,  die  entscheidende  Änderung  gegen  früher. 

Es  ist  dies  ein  Prozeß,  dessen  Bedingungen  unschwer  zu  erkennen 
;ind,  der  sich  im  einzelnen  freilich  oft  kompliziert,  im  großen  und 
ganzen  doch  mit  einheitlicher  Konsequenz  entwickelt. 

Seine  Anfänge,  welche  bis  in  die  Karolingerzeit  zurückreichen, 
laben  wir  bereits  bei  der  Betrachtung  dieser  Periode  beobachtet.^ 

Von  allen  Nutzungsrechten  ist  die  Jagd  am  spätesten  an  das 
Privateigentum  gebunden.^ 

Forestis  charakterisiert  ursprünglich  die  Proklamierung  von  herren- 
osem  Grund  und  Boden  zu  absolutem  Privateigentum.  Je  länger 
-orstbezirke  diesen  Charakter  des  Privateigentums  tragen,  desto  selbst- 
/erständlicher  wird  der  Ausschluß  der  „compagienses"  von  Nutzungen 
^ie  Rodung,  Viehweide  usw.,  destoweniger  braucht  er,  wo  Forstver- 
^abungen  stattfinden,  betont  zu  werden.  Das  ist  der  Grund  dafür,  daß 
/om  10.  Jahrhundert  ab  die  Jagdverbote  und  Jagdbestimmungen  bei 
ien  Forstprivilegien  einen  solch  breiten  Raum  einnehmen,  während  die 
ihrigen  Forstnutzungen  mehr  und  mehr,  schließlich  ganz  in  den  Hinter- 
grund treten. 


'  Vgl.  oben  S.  112 ff. 

^  Vgl.  oben  S.  116  Anm.  1.  Dafür  ist  besonders  nocii  folgende  Erscheinung 
:harakteristisch.  In  den  Königs-  und  Kaiserurkunden  bis  Otto  I.  werden  venationes 
jin  den  Pertinenzformeln  nicht  erwähnt.  So  viel  ich  sehe,  nur  mit  der  einzigen 
i^usnahme  BM.  1409.  (Die  umgekehrte  Behauptung  Roths  a.a.O.  S.  56:  „Venationes 
und  piscationes  sind  in  den  Urkunden  der  karolingischen  Zeit  regelmäßig  unter  den 
Zugehörungen  großer  Güter  benannt",  ist  nicht  richtig.)  Dann  aber  kann  man  ein 
stetig  zunehmendes  Eindringen  des  Terminus  „venationibus"  in  die  Pertinenzformel 
wahrnehmen.  Bei  Otto  I.  kommt  er  noch  recht  selten  vor.  In  den  Urkunden 
^Heinrichs  II.  finden  wir  ,,venationibus"  schon  über  hundertmal  vertreten.  Darin 
ikommt  einerseits  wohl  zum  Ausdruck,  daß  die  Jagd  mehr  und  mehr  aufhört  Gemein- 
gut zu  sein,  andererseits  vielleicht  auch,  daß  man  es  in  einer  Zeit,  wo  das  Jagd- 
recht der  freien  Eigentümer  oft  beschränkt  wird,  für  angebracht  hält,  besonders 
hervorzuheben,  wo  dies  nicht  der  Fall  ist.     Vgl.  auch  oben  S.  116  f.  A.  1. 


I 


j^28  Hermann  Thimme 

In  jener  Urkunde  Arnulfs^  für  die  Kirche  von  Eichstädt  hieß  es 
noch  in  bezug  auf  einen  Forst:  „ut ...  sub  eodem  banno  sicut  antea  fuit,' 
ad  memoratam  ecclesiam  secure  pertineant ...  Ea  videlicet  ratione,  ut 
nullius  ordinis  vel  potestatis  persona  ullo  umquam  tempore  infra  pre- 
scriptos  terminos  aut  venationem  exercere,  seu  aliquam  infestationis 
calumniam  ingerere,  aut  ligna  cedere  vel  fenum  secare  seu  aliquo 
pastu  perfrui  seu  ullo  usu  omnino  potiri ...  presumat."  Dagegen  Jagd 
und  nichts  weiter  ist  es,  die  von  jetzt  an  ausdrücklich  bei  Forst- 
verleihungen unter  den  Schutz  des  Königsbannes^  gestellt  wird,  und 
man  hat  recht,  wenn  man  bei  den  sogenannten  Bannforsten^  in  erster 
Linie  an  Wildbannbezirke  denkt.* 

Unter  diesen  Umständen  erscheint  es  nur  als  die  letzte  Stufe  einer 
sich  konsequent  in  der  bezeichneten  Richtung  bewegenden  Bedeutungs- 
entwicklung, wenn  forestis  in  einer  Urkunde  Konrads  II.  für  die  Kirche 
von  Verden^  als  Ausdruck  für  das  Jagdrecht  oder  die  Jagd  schlechthin 
begegnet:  „forestum  etiam  cervorum,  cervarumque  per  totum  pagutr 
Sturmi, . . .  ea  ratione,  ut  absque  illius  loci  episcopi  licentia  nemo  venari 
aut  huiusmodi  feras  capere  audeat". 

So  kann  es  auch  nicht  befremden,  wenn  Wildbannbezirke,  die  sich 


'  BM.  1840  s.  oben  S.  117. 

^  Eine  auffällige  Verschiedenheit,  für  welche  ich  keinen  Grund  anzugeben  weiß 
herrscht  in  den  Angaben  über  die  Empfänger  der  Bannstrafen.  Sie  sind  übrigens 
sehr  oft  nicht  genannt  (in  den  Urkunden  der  Salier  am  seltensten).  In  den  meister 
Fällen:  DO.I.,  110;  (Fälschung  des  10.  Jahrhunderts)  DO.IL,  66;  DDO.III.  43,  93 
358;  DDH.II.,  244,  493,  erhalten  die  Forstbesitzer  selbst  die  Banngelder.  Einmal 
DO.I.,  302  (für  Osnabrück:  „nee  non  debitum  pro  delicto  in  regalem  fiscum  reddi 
turum")  der  königliche  Fiskus.  Ein  paarmal  werden  sie  unter  dem  königlichen  fiscui 
und  den  Forstbesitzern  geteilt.  In  DH.II.,  496  und  D.  Konr.  II.  Stück  2024  halb  un( 
halb.  Nach  D.H. II.  235  sollen  gegebenenfalls  an  den  Fiskus  „auri  libras  X"  an  der 
Bischof  von  Toul  „auri  libras  III"  gezahlt  werden. 

'  S.  oben  S.  119f. 

*  DH.II.,  8  erweitert  seine  Vorlage  DO.I.,  302  durch  den  Satz :  „cum  omn 
integritate  in  porcis  videlicet  silvaticis  atque  cervis  omnique  venatione  qua  sul 
banno  usuali  more  ad  forestum  deputatur."  In  einer  Urkunde  Heinrichs  III.  fü 
Bischof  Engilbert  v.  Passau  (St.  2369)  findet  sich  die  Wendung:  „tradimus  et  atqui 
concessimus  ius  et  potestatem  legitimi  banni  super  venatione  et  foresto  .  .  ."  Dii 
Wendungen,  mit  welchen  die  Ausübung  der  Jagd  in  den  Forsten  untersagt  wird 
sind  —  formelhaft  im  ganzen  —  im  einzelnen  sehr  mannigfaltig.  Feierlich:  „ut  nem( 
successorum  nostrorum  regum  vel  quaelibet  alia  persona  bestia  in  ipsa  capere  qua 
cunque  venationis  arte  . . .  praesumat,  quod  si  quis  fecerit  bannum  nostrum  solvere . . 
cogatur."  DO.I.,  110  (Fälschung  des  10.  Jahrhunderts).  Mit  detaillierter  Aufzähluni 
des  jagdbaren  Wildes :  „Ius  igitur  forestense  ei  suisque  successoribus  nostrorun 
regum  quoque  et  imperatorum  more  per  bannum  nostrum  imperiale  firmavimus,  it; 
vero,  ut  nullus  ibi  cervum  vel  cervam,  ursum  vel  ursam,  aprum  vel  lefam,  capreo; 
vel  capreas  sine  licentia  .  .  .  capiat"  DH.II.,  367  usw.  usw.;  vgl.  Exkurs  II. 

'  St.  1869. 


I 


Forestis  129 

iber  das  Grundeigentum  ihrer  Besitzer  hinaus  auf  fremden  Grund  und 
l5oden  ausdehnen,  forestes  genannt  werden,  obwohl  derartige  „Forste" 
Init  dem  ursprünglichen  forestis  kaum  noch  etwas  zu  tun  haben. 


2.   Forst-  und  Grundeigentum 

Wenn  man  berechtigt  war,  in  den  Forstverleihungen  aus  Mero- 
Vmger-  und  Karolingerzeit  Vergabungen  von  Grund  und  Boden  zu 
ehen,^  so  wird  das  jetzt  anders. 

Freilich  begegnen  immer  noch  viele  Forstverleihungen  merowingisch- 
larolingischer  Art,  und  Neueinforstungen,  die  sich  auf  den  Grundbesitz 
1er  Privilegierten  beschränken,  aber  —  was  früher  selbstverständlich 
var,  wird  jetzt  gewissermaßen  Zufall. 

Die  Ausdehnung  der  Forstbezirke  auf  fremden  Grund  und  Boden 
indet  in  den  Urkunden  ihren  Ausdruck  darin,  daß  die  Zustimmung 
1er  Markgenossen  —  „consensus  comprovincialium"  usw.  —  bei  Neu- 
inforstungen  hervorgehoben  oder  als  Bedingung  gestellt  wird.  Von 
ler  Regierung  Heinrich  II.  ab  häufiger,  unter  den  Sachsenkaisern  noch 
ehr  selten.^ 

Schröder^  findet  für  diese  Tatsache  in  der  allmählich  sinkenden 
)edeutung  des  Bodenregals  eine  Erklärung.  Solange  dasselbe  noch 
n  voller  Kraft  gestanden  habe,  hätten  die  Könige,  z.  B.  Otto  I.,  aber 
luch  schon  die  Karolinger,  ganz  frei  über  Forst-  und  Wildbanngrenzen 
erfügt.  Erst  nach  Abschwächung  des  Bodenregals  sei  eine  weitergehende 
(ücksichtnahme  auf  die  „compagienses"  erforderlich  geworden. 

Wir  ziehen  den  umgekehrten  Schluß:  die  wenigen  erst  am  Ende 
les  10.  Jahrhunderts  auftretenden  Fälle,  wo  von  „consensus"  berichtet 
i/ird,  beweisen,  daß  in  der  Sachsenzeit  die  Forste  nur  ausnahmsweise 
luf  fremden  Grundbesitz  ausgedehnt  sind. 

Die  Urkunden  sprechen  teilweise  dafür,  teilweise  nicht  dagegen. 
Jji  Schröder  beruft  sich  auf  zwei  Urkunden  Ottos  I.  Otto  bestimmt 
Zugunsten  der  Utrechter  Kirche:^  „ut  nullus  comitum,  aliorumve  homi- 
lum  in  pago  forestensi  .  .  .  cervos  .  . .  venari . .  .  presumat.  Volumus 
luoque  firmiterque  regalis  edicto  munificentie  precipientes  jubemus,  ut 
n  eodem  pago  ac  in  silva,  quae  nuncupatur  Fulnaho  ac  universis 
inibus  eins  ac  prefati  pagi  actusque  adjacentes  ceteras  regiones  pre- 
iicte  Traiectensi  ecclesie  ius  servetur  forestense  utpote  nobis  in  nostris." 


'  S.  oben  S.  11 2  ff. 

^  DDO.IIL,  43  u.  233.     DO.IL,  50,    wo  freilich   nicht  von   „forestis",   sondern 
iiir  von  „bannum  super  eas"  (seil,  bestias)  die  Rede  ist. 
'  a.  a.  0.  S.  536f. 
'  no.  62. 

AfU    II  *  9 


j^30  tiermann  Thimme 

Unter  „pagus  forestensis"  wird  ein  Gau  zu  verstehen  sein,  in  dem 
sich  mehrere  Forsten  befunden  und  den  größten  Teil  des  Gaues  aus* 
gemacht  haben. ^  Man  ist  etwa  geneigt,  an  die  vier  Forsten  zu  denken, 
welche  Karl  der  Große  der  Kirche  von  Utrecht  geschenkt  hat.^  Wes- 
halb durch  diese  Urkunde  frühere  Rechte  fremder  Grundbesitzer  ge- 
schädigt sein  sollen,  ist  nicht  ersichtlich.  Warum  kann  die  Kirche  von 
Utrecht  nicht  selbst  Grundbesitzerin  des  in  Frage  kommenden  Gebietes 
gewesen  sein? 

Auffälliger  ist  allerdings  die  Urkunde  für  Kloster  Fulda: ^  „quas- 
dam  res  ad  sc.  Bonifacium  traditas  ab  antecessoribus  nostris  regibus 
augmentare  decrevimus,  id  est,  ut  forestam,  quae  ad  villam  Achizuuila; 
pertinet,  in  qua  prius  erat  communis  omnium  civium  venatio,  nullusi 
venandum  audeat  ingredi  nisi  licentia  eiusdem  abbatis  Hadamari"  .  . 
aber  ein. freies  Verfügungsrecht  des  Königs  über  Forst  und  Wildbann^ 
beweist  sie  durchaus  nicht.  Das  Jagdverbot  kann  ebensogut  die  be- 
treffenden „cives"  von  der  Jagd  auf  fremden  Grund  und  Boden  aus^ 
schließen,  als  den  Abt  von  Fulda  zum  einzigen  Jagdberechtigten  auf 
fremdem  Gebiete  einsetzen  wollen.  Es  kommt  eben  darauf  an,  wem 
die  Villa  Achizuuila  gehört  hat.  Die  Bewohner  dieser  Villa  werden  mit 
„cives"  doch  schwerlich  gemeint  sein.  Auffällig  ist  die  Bedeutung,  in 
welcher  hier  forestis  verwandt  wird.  Ein  Forst,  in  dem  jedem  di^ 
Jagd  freisteht  —  das  scheint  in  jedem  Bezüge  ein  Widerspruch  in 
sich  selbst. 

Auf  die  verschiedenartige  Verwendung  von  forestis  in  dieser  Zeit 
werden  wir  zurückkommen  (S.  141). 

Noch  weniger  als  die  beiden  genannten  geben  die  übrigen  hierher; 
gehörenden  Urkunden  Ottos  Anhaltspunkte  für  die  Vermutung,  daß 
eine  Ausdehnung  der  Forsten  über  fremden  Grundbesitz  in  irgend- 
welcher Form  stattgefunden  habe.  Von  „consensus"  ist  keine  Rede 
Dem  wird  entsprechen,  daß  sich  die  Forstprivilegien  auf  den  Grund 
und  Boden  der  Forstempfänger  beschränkt  haben.  Was  der  Nachbai 
mit  seinem  eigenen  Besitz  anfing,  das  ging  den  Gaugenossen  gai 
nichts  an,  oder  dazu  hatte  er  wenigstens  nichts  zu  sagen. 

Aus  demselben  Grunde  ist  es  auch  weiter  nicht  wunderbar,  dal; 
die  von  Schröder^  genannten  Urkunden  Ottos  II.  keiner  Zustimmung 
gedenken.  Es  handelt  sich  eben  entweder  um  Schenkungen  von  mi 
Forstbann  ausgestattetem  Grund  und  Baden,  oder  um  Wildbannver- 
leihungen  für  bereits  vorhandenen  Grundbesitz  der  Empfänger. 


'  S.  oben  S.  125. 
''  D.Karol.  117. 
'  DO.I.  no.  131. 


Forestis  \^^ 

Otto  II.  urkundet  für  Erzbischof  Theoderich  von  Trier:^  „quicquid 
in  ambitu  videretur  habere  ecclesie  Treverensis  atque  Prumiensis  . . . 
iotum  sibi  in  forestum  .  .  .  perpetuo  tenendum  concessimus  .  . .  eo 
Itenore,  ut  omnia  hec  jam  dicta  hoc  terminorum  ambitu  circumclusa 
sancto  Petro  eiusdemque  sancte  Treverensis  ecclesie  archipresuli  in 
jusum  foresti  deinceps  cum  omnibus  eorum  legalibus  iustisque  appen- 
;    diciis  possidenda  constent." 

Ausdrücken  wie  „habere",  „in  usum  foresti",  „cum  .  . .  appendiciis 
possidenda"  braucht  weiter  nichts  hinzugefügt  zu  werden.  Von  Jagd 
ist  hier  gar  nicht  die  Rede.  Daß  nicht  das  ganze  umschriebene  Ge- 
biet zum  erzbischöfüchen  Grundbesitz  gehört  hat,  läßt  schon  die  For- 
mulierung: ,,quicquid  in  ambitu  videretur  habere"  erkennen.  So  war 
z.  B.  der  Kylwald,  welcher  innerhalb  der  angegebenen  Grenzen  liegt,  ein 
Kampfobjekt  zwischen  den  Edelen  („principes")  des  Bydegaus  und  den 
Trierer  Erzbischöfen.  Daß  die  Urkunde  Otto  II.  deshalb  von  letzteren 
als  Rechtstitel  auch  für  den  Besitz  des  Kylwaldes  verwandt  wurde,  ist 
begreiflich,  ist  aber  ein  Mißbrauch  dieses  Privilegs.  Zu  einer  Aus- 
dehnung des  Forstes  über  den  eigenen  Grundbesitz  hinaus  berechtigte 
les  die  Erzbischöfe  nicht.  Das  wird  von  Roth  a.  a.  0.  p.  230  nicht 
jbeachtet. 

Interessant  ist  der  schließlich  erfolgte  Vergleich  von  Erzbischof 
Poppo  mit  den  betreffenden  ,,principes",  auf  den  er  sich  wohl  schwer- 
lich eingelassen  haben  würde,  wenn  ihn  die  kaiserliche  Urkunde  zu 
weitergehenden  Ansprüchen  berechtigt  hätte:  Beyer,  Mittelrhein.  ÜB.  I. 
S.  348:  c.  a.  1020:  „predecessoribus  meis  . . .  cum  quibusdam  sui  epis- 
copatus  principibus  de  communi  eorundem  principum  silva,  quae  voca- 
tur  Kilewalt  per  sepem  certantibus  et  eandem  silvam  in  suam  potestatem 
usurpantibus . . .,  donec  ex  regis  imperio,  qui  tunc  temporis  erat,  bannum 
acceperunt,  et  eandem  silvam  repugnantibus  ac  contrahentibus  predictis 
principibus,  cum  hoc  sibi  perhenni  jure  confirmaverunt.  Ego  . .  .  hanc 
contentionem  voluerim  finire  . .  .,  ut  ex  hoc,  quod  predecessores  mei 
contra  voluntatem  illorum  regali  banno  tenueruht(!)  quasdam  partes 
illis  remitterem."  ^ 
il  Ganz  eindeutig  ist  ferner  die  Schenkung  für  Kloster  Fulda,^  wenn 
*'auch  hier  wie  in  DO.I.  131  die  Verwendung  von  forestis  auffällt:  „Qua- 
liter  fidelis   noster  Uuerinharius   (Abt  von   Fulda)...   nostram   adivit 


'  DO.II.  no.  39. 

^  Beachtenswert  ist  auch  die  wechselnde  Bezeichnung  des  Kylwaldes  als 
forestis  und  silva.  Es  folgen  aufeinander:  „de  predicta  silva"  —  „de  predicta 
foreste"  —  „de  prenominata  silva". 

'  DO.II.  no.  221. 

9* 


132  tiermann  Thimme 

celsitudinem,  dicens  nobis,  quomodo  forastum  quendam  ad  ecclesiam 
cui  praesidet  pertinentem  nostrae  dominationis  adiutorio  in  perpetuum 
ecclesie  jus  vellet  submittere,  ita  ut  nullus  in  eo  venationis  aut  alterius 
commodi  usum  . . .  possit  habere,  rogavitque  . . .  ut  banno  praeceptoque 
nostro,  ne  quis  hoc  faceret  firmiter  interdiceremus." 

Wenn  schließlich  Otto  II.  vom  Bischof  zu  Merseburg  gebeten  wird:^ 
„donari  forestum  in  eodem  episcopatu  .  . .  cum  banno  adpertinenti" 
und  nach  Vollzug  der  Schenkung  das  Jagdverbot  hinzufügt  mit  den 
Worten:  „Insuper  statuimus",  so  zeigen  das  „a^pertinenti"  und  das 
„insuper''  klar  genug,  daß  wir  es  mit  einer  Grundbesitzverleihung  zu 
tun  haben. 

Was  das  angeblich  freie  Verfügungsrecht  der  Könige  über  die 
Jagd  auch  auf  fremden  Grund  und  Boden  ^  anbetrifft,  so  bestätigt  Otto  II. 
der  Kirche  von  Salzburg:^  „et  forestum  Susel  cum  banno  sicut  in  potes- 
tate  illius  et  sua  fuit,  venationemque  in  Dulcibus  vallibus,  quam  po- 
pulus  cum  sacramentis  in  potestatem  regiam  affirmavit,  id  est  ebdo- 
madas  tres  ante  aequinoctiam  autumnale  ac  postea  usque  in  natale 
sc.  Martini  ad  venandos  ursos  et  apros." 

Es  kann  mit  der  Verfügungsfreiheit  der  Könige  über  die  Jagd 
doch  nicht  allzuweit  her  gewesen  sein,  wenn  „das  Volk"  wie  hier  zu 
Worte  kommt.  Man  darf  die  Aussagen  einer  einzelnen  Urkunde  nicht 
verallgemeinern  —  hier  aber  handelt  es  sich  nicht  um  einen  Ausnahmefall. 
Ottos  Diplom  für  Salzburg  befindet  sich  in  Übereinstimmung  einerseits 
mit  der  Tatsache,  daß  bis  gegen  Ende  des  10.  Jahrhunderts  Forst-  und 
Wildbannverleihungen  auf  fremden  Grundbesitz  nicht  übergreifen.  Ander- 
seits damit,  daß,  nachdem  hierin  eine  Änderung  eingetreten  ist,  auch 
die  Zustimmung  der  Gaugenossen  erforderlich  wird.  Es  kennzeichnet 
gewissermaßen  den  Übergang  von  einem  zum  andern:  Dem  Beispiel 
des  Königs,  der  sich  zunächst  selbst  Jagdrecht  auf  fremdem  Grund- 
besitz schafft,  folgen  die  Großgrundbesitzer.  In  jedem  Falle  wird  auf 
die  früheren  Jagdinhaber  Rücksicht  genommen. 

Vom  11.  Jahrhundert  ab  nehmen  natürlicherweise  in  dem  Maße, 
in  welchem  die  Forstverleihungen  mit  Einwilligung  dritter  — d.h.  die  Ver- 
leihungen, die  sich  über  fremdes  Eigentum  erstrecken  —  zunehmen, 
die  Forsten  in  älterem  Sinne  des  Wortes  eine  weniger  hervorragende 
Stellung  ein.  Immerhin  sind  sie  doch  mit  einer  ganzen  Reihe  von 
Beispielen  vertreten,  auf  die  in  folgendem  im  Interesse  der  Kontrast- 
wirkung hingewiesen  sei. 


'  DO.II.  no.  90. 

'  S.  oben  S.  129. 

'  DO.II.  no.  275  (vgl.  BM.  1850). 


Forestis  j^33 

Heinrich  II.  schenkt  an  Kloster  Fulda  ^  „quandam  juris  nostri  regni 
i|forestim  (innerhalb  des  angegebenen  Grenzbeschriebs  liegt  Fulda  selbst) 
.  . .  cum  banno  .  .  .  ea  scilicet  ratione,  ut  predictus  abbas  Brantho  suique 
successores  de  predicta  foresti  et  eins  pertinentiis  liberam  dehinc  po- 
testatem  habeant,  quicquid  sibi  inde  placuerit  faciendi,  ad  usum  tarnen 
ecclesiae." 

Für   die  Kirche   von   Paderborn: ^   „quandam    nostrae   proprietatis 
forestim  .  .  .  cum  omni  utilitate,   quae  ab  eadem  ullatenus   provenire 
.  jpossit  .  . .  concedimus".    Auch  hier  heißt  doch  wohl  proprietas  Eigen- 
tum an  Grund  und  Boden. 

Privilegierung  im  Anschluß  an  alten  Besitzstand  liegt  vor  in  den 
Ifolgenden  Fällen: 

Bischof  Balderich  von  Lüttich  ^  und  ein  Graf  gleichen  Namens  er- 
jhalten:  „bannum  nostrum  bestiarum  .  . .  super  eorum  proprias  Silvas."^ 

In  einer  Urkunde  für  Kloster  Ellwangen  ^  heißt  es:  „quandam  silva 
Virigunda  dictam  ad  Elwacense  cenobium  pertinentem,  per  nostram 
jimperialem  potenciam  legali  banno  forestem  facimus  cum  omnibus 
jterminis  eiusdem  silve  .  .  .  Super  que  omnia  nostro  imperiali  banno 
Iprecipimus,  ut  in  eadem  foresti  a  nobis  constituta  nulli  venari  aut 
ipiscari  aut  quidlibet  exercere  liceat  ...  Sit  haec  silva  cum  omnibus 
supradictis  finibus  prefate  ecclesie  nostro  banno  in  legale  foreste  amo- 
do  firmata  cum  omnibus,  que  in  foresti  aut  scribi  aut  nominari  pos- 
sunt  utilitatibus." 

I       Ganz  besonders  charakteristisch  in  ihrer  Formulierung  sind  einige 
Forstschenkungen  der  Salier. 

Heinrich  III.  hatte  anno  1056  der  Domkirche  von  Speyer  geschenkt:^ 
curtem  Bruoselle  cum  foresto  ad  eandem  curtem  pertinentem  Luzhard 
nominato  .  .  .  cum  omnibus  suis  pertinentiis  (folgt  große  Pertinenz). 
Hierauf  nimmt  Heinrich  IV.^  Bezug:  „quoddam  forestum  Luizhard  nuncu- 
patum  a  predicto  genitore  Heinrico  imperatore  ad  monasterium  sc. 
Marie  in  Spira  quondam  traditum  et  confirmatum,  locis  infra  sub- 
notatis  terminos  sitis  adauximus  ac  melioravimus  . . .  Hec  eiusdem 
foresti  augmenta  cum  banno  etiam  nostro  .  . .  donavimus  ...  ea  videlicet 
Iratione,  ut  prefatus  episcopus  . .  tali  deinceps  lege  ac  proprietate  his 


^  DH.II.  no.  235;  vgl.  Landau,  Gesch.  d.  Jagd.     Kassel  1849. 
'  no.  418. 

^  no.  186.    Die  Ausführungen  von  S.  127ff.  zeigen,  weshalb  die  Urkunde,  obwohl 
in  ihr  der  Ausdruck  forestis  nicht  vorkommt,  doch  in  diesen  Zusammenhang  gehört. 
^  Vgl.  für  diese  und  die  folgende  Urkunde  oben  S.  116  A.  1. 
'  no.  505. 
'  St.  2497. 
'  St.  2619. 


II 


j^34  Hermann  Thimme 

additamentis  nostris  utantur,  quali  idem  episcopus  illo  antiquo  foresto 
Luizhard  hactenus  est  usus." 

„Illo  antiquo  foresto!"  Ein  uralter  Forst.  Eigenster  Grund  und 
Boden  des  Besitzers,  nach  jeder  Richtung  hin  seiner  unbeschränkten 
Verfügung  unterstehend,  durch  Königsbann  gegen  Eingriffe  Unbefugter 
irgend  welcher  Art  sichergestellt. 

Eine  ähnliche  Vergrößerung  eines  bereits  von  Konrad  II.  ver- 
schenkten Forstes  berichtet  eine  Urkunde  Heinrichs  IV.^  für  Erzbischof 
Adalbert  von  Bremen.  Ausdrücke  wie  „perpetuo  proprietatis  jure  possi- 
dendum"  und  „in  proprium  condonantes  tradimus"  zeigen,  daß  sowohl 
die  alten  Bestandteile  des  Forstes  wie  die  neu  hinzugefügten  Gebiete 
zum  Grundbesitz  der  Hamburger  Kirche  gehören.  In  derselben  Ur- 
kunde wird  von  der  Schenkung  eines  zweiten  Forstes  berichtet  mit 
den  Worten:  „Addimus  autem  eidem  ecclesiae  nostrae  proprietatis 
forestum  in  pago  Ameri  situm  .  .  .  perpetuae  possessionis  jure  reti- 
nendum." 

Zu  den  Forsten  „forestum  Heit"  und  „forestum  Helesinesstuda" 
gehören  große  Pertinenzen.  Beide  schenkt  Konrad  11.^  an  die  Kirche 
von  Salzburg.  Letzteren  „ea  videlicet  ratione,  ut  Th  .  . .  suique  suc- 
cessores  liberam  dehinc  habeant  potestatem  de  supradicto  foresto 
tenendi,  vendendi,  tradendi,  commutandi,  vel  quicquid  sibi  placuerit 
faciendi"  .  . . 

Dieselbe  Wendung  kehrt  wieder  in  einer  Schenkung  Heinrichs  IV. 
für  die  Verdener  Kirche:  „quoddam  forestum,  quod  pater  noster  durn 
vixit  proprium  retinuit  et  ad  nos  hereditario  iure  transmisit  positum 
in  Magetheida  . .  .  cum  banno  cervorum  cervarumque,  suum,  capreo- 
lorum  atque  cum  omni  utilitate,  que  ullo  modo  inde  provenire  potesi 
in  proprium  dedimus  ac  tradimus  ea  videlicet  ratione,  ut  predictus 
episcopus  ceterique  sui  successores  de  prefato  foresto  liberam  dehinc 
potestatem  habeant  tenendi,  commutandi,  precariandi  vel  quicquid  eis 
pro  usu  sue  ecclesie  placuerit  inde  faciendi  et  ut  nulli  sine  consensi 
. . .  Verdensis  episcopi  in  prenominato  foresto  venari  aut  quidlibet  jus 
exercere  liceat." 

Es  ist  als  ob  ein  karolingischer  Forst  beschrieben  würde. ^ 

Ein  Diplom  Heinrichs  IV.  für  Bischof  Heinrich  von  Augsburg^  möge 
diese  Reihe  schließen:  Ein  Wildbann,  dessen  weitere  Ausdehung  vor 
einem  Anwachsen  der  Besitzungen  des  Empfängers  abhängig  gemach 


*  St.  2634.    „forestum  in  Ertenebrok  atque  in  caeteris  circumjacentibus  sylvis.' 

*  St.  1957  u.  1958. 

*  St.  2586. 

*  Vgl.  aucli  tl.IV.,  St.  2668  u.  2686. 

*  St.  2568. 


Forestis  135 

wird:  „quoddam  forestum  uuiltpannum  .  .  .  atque  super  tale  praedium 
,  quäle  ipse  ab  aliis  suis  comprovincialibus  ullo  modo  acquirere  posset." 

Wenn  die  Überlieferung  durch  die  vorgeführte  Reihe  von  Urkunden 
jerschöpft  wäre,  dann  würde  keine  Veranlassung  vorliegen,  am  Schluß 
jder  Karolingerzeit  einen  Einschnitt  zu  machen.  Dann  würde  man  etwa 
Iganz  allgemein  von  einem  quantitativen  Anwachsen  der  Forstgebiete 
sprechen  können,  dagegen  nichts  wesentlich  Neues  gegen  früher  kon- 
statieren. 

Auch  daß  Jagd  und  Jagdverbot  zuweilen  schärfer  betont  werden, 
würde  nicht  weiter  auffallen,  denn  abgesehen  davon,  daß  dieser  um- 
stand in  den  S.  116  und  S.  128f.  erörterten  Verhältnissen  eine  aus- 
reichende Erklärung  finden  würde,  begegnen  doch  eine  Anzahl  Ur- 
kunden, in  denen  überhaupt  nicht  von  Jagd  sondern  ganz  allgemein 
von  „Nutzungen"  die  Rede  ist.^  Und  wieder  andere,  bei  denen  das 
Jagdverbot  durch  eine  andere  Nutzungsrechte  andeutende  Wendung 
ergänzt   wird.  ^     Bei    einer   Forstverleihung   Heinrichs  11.  ^   für   Bischof 

:  iBerthold  von  Toul  wird  das  Rodungsrecht  ausdrücklich  hervorgehoben. 
'  Was  schließlich,  um  auch  das  nicht  unerwähnt  zu  lassen,  die  geo- 
graphisch-botanische Beschaffenheit  dieser  Art  Forsten  anbelangt,  so 
würde  auch  auf  sie  die  S.  109  für  die  Merowinger-  und  Karolingerzeit 

gegebene  Charakteristik  durchaus  anwendbar  sein.^ 

W/f  Und  trotzdem  muß  man  sagen,  daß  im  Laufe  des  10.  und  11.  Jahr- 

Mhünderts  tiefgreifende  Veränderungen  im  Wesen  der  Forsten  statt- 
gefunden  haben:   Die   bisher   betrachteten  Quellen   repräsentieren  das 


'  So  DO.II.,  39;  DDH.IL,  253  u.  418;  DH.III.,  St.  2497;  D.  Konr.  IL,  St.  1958; 
DDH.IV.,  St.  2619  u.  2668. 

'  DH.IL,  505  (vgl.  S.  133).  DH.  IV.,  St.  2586:  „ut  nulli  ...  in  prenominato 
foresto  venari  aut  quidlibet  jus  exercere  liceat." 

^  DH.II.,  235:  „concessimus,  ut  nulla  deinceps  nobilis  aut  ignobilis  persona  .  .^. 
in  ea  foreste  potestatem  habeat  stirpandi  aut  venandi  seu  aliquid  operis  exercendi." 

*  Außer  auf  die  Forsten  „Heit"  und  „tielesinestuda",  zu  denen,  wie  schon  er- 
wähnt (s.  oben  S.  134)  große  Pertinenzen  gehören,  sei  noch  auf  eine  Urkunde  des 
Erzbischofs  Sigwin  von  Köln  hingewiesen  (Lacomblet,  ÜB.  I,  S.  150).  Er  schenkt 
der  Kirche  von  Deutz:  „decimationes  novalium  de  duabus  forestibus  supradictis, 
quicquid  agrorum  vel  vinearum  ad  praesens  innovatum  est  vel  deinceps  innovatum 
fuerit  .  .  ."  Ähnlich  wie  in  den  königlichen  Forsten  des  Capitulare  de  villis  wird 
hier  noch  am  Ende  des  11.  Jahrhunderts  Land  für  Acker  und  Weinbau  gewonnen. 
Derartige  Beispiele  ließen  sich  leicht  noch  mehr  beibringen.  Vgl.  auch  das  Neben- 
einander von  Silva  und  forestis  in  DO.IIL,  73  (für  Minden):  „in  proprium  dedimus 
forestos  nostros  Huculinhago  et  Stioringowald  .  .  .  dedimus  silvam  Suntel  .  .  .  ea 
videlicet  ratione,  ut  nulla  dehinc  persona  ...  in  predictis  forestis  aut  silva  super 
jam  nominata  venari  .  .  .  presumat  .  .  .  sed  predicti  foresti  et  suprascripta  silva  sub 
perpetuo  iure  viventis  episcopi  .  .  .  consistat. 


j^36  Hermann  Thimme 

Vermächtnis    der   Merowinger-   und   Karolingerzeit.     Ihnen   gegenüber 
müssen   die   Urkunden,  welche   das   spezifisch   Neue   zur   Darstellung, 
bringen,  ins  Auge  gefaßt  werden. 

Von   diesem  „Neuen"   ist   die  Ausdehnung  der  Forstbezirke  über 
fremdes   Gebiet  verfassungsgeschichtlich   bei   weitem   am   wichtigsten 
Denn  sehr  deutlich  wird  durch  sie  die  auf  Kosten  der  gemeinen  Mark 
steigende  Macht  des  Großgrundbesitzes  gekennzeichnet,  und  es  liegt 
in  ihr  ein  bemerkenswerter  Ansatz  zur  Territorialität.^ 

Die  hierher  gehörenden  Urkunden  lassen  sich  in  zwei  Klassen 
einteilen,  welche  zwei  scheinbar  verschiedene  Entwicklungsstufen  in 
dem  Ausdehnungsprozeß  der  Forsten  über  den  Privatgrundbesitz  hinaus 
zur  Anschauung  bringen. 

Die  erste  Klasse  gewährt  Einblicke  in  die  Schicksale  der  Mark- 
genossenschaft. Erst  für  diese  Periode  kann  mit  vollem  Recht  behauptet 
werden,  daß  die  Forsten  viel  dazu  beigetragen  haben,  den  Bestand  der 
alten  markgenossenschaftlichen  Verfassung^  zu  zerstören.  Ehe  die 
Forstprivilegien  fremden  Privatgrundbesitz  angreifen  —  das  wäre  die 
zweite  Klasse  —  kommen  die  Markgenossenschaftsallmenden  an  die 
Reihe.  Man  kann  dies  mit  ziemlicher  Sicherheit  aus  den  ver- 
schiedenen Wendungen  und  Formeln  der  Urkunden  erschließen. 

So  mögen  diese  auch  in  folgendem  dementsprechend  angeordnet 
werden.  Freilich  darf  man  sich  darüber  nicht  täuschen,  daß  zwischen 
beiden  hier  äußerlich  voneinander  getrennten  Prozessen  gewiß  niemals 
scharfe  Grenzen  bestanden  haben.  Daß  sie  im  Gegenteil  sehr  oft  ineinander 
übergegangen  sein  werden,  liegt  in  der  Natur  der  Sache  begründet.  . 

Otto  III.  urkundet  für  die  Kirche  von  Worms:  ^  „concessimus  re- 
gium  bannum  in  silvis  .  .  .  quas  ille  cum  nostra  licentia  et  auctoritate 


^  Nicht  einmal,  daß  die  „Zustimmung"  der  iV\arl<genossen,  die  freilicli  meistens 
erwähnt  wird,  auch  wirl<lich  eingeholt,  oder  wirklich  immer  freiwillig  erteilt  ist,  wie 
in  einzelnen  Fällen  (DDtl.llI.,  St.  2347  u.  2436:  „voluntario  consensu  collaudantibus") 
wohl  betont  wird,  wird  man  behaupten  dürfen.  Eine  Urkunde  wie  DH.II.,  326,  wo 
zugunsten  der  Kirche  von  Würzburg  einfach  diktatorisch  verfügt  wird:  ,,in  feris 
prescripto  ambitu  forestandis  hanc  pacem  et  securitatem  de  caeteris  conterminalibus 
et  circumsidentibus  .  .  .  obtineat,  qua  haec  eadem  caeteraeque  aecclesiae  hactenus  usi 
sunt",  ist  wohl  geeignet,  den  Verdacht  eines  gewaltsamen  Vorgehens  zu  erwecken. 

'^  Vgl.  Schwappach  S.  212f.  Vom  Jadgrecht  her  wird  häufig  auf  das  Grund- 
eigentum selbst  Anspruch  erhoben.     Heusler  a.a.O.  S.  371  ff. 

^  Vgl.  Inama  Sternegg  a.  a.  0.  I,  S.  329.  v.  Inama  verlegt  denselben  Prozeß 
schon  in  die  Karolingerzeit.  Die  Belege  gehören  aber  erst  einer  späteren  Zeit  an, 
in  welcher  überhaupt  der  Zersetzungsprozeß  der  Markgenossenschaften  durch  die 
Grundherrschaften  schon  weiter  vorgeschritten  war. 

*  DO.III.  no.  43. 


Forestis  137 

c  voluntate  et  assensu  bonorum  militum  in  circuitu  habitantium  no- 
riter  inforestat."  Heinrich  II.  für  die  Kirche  von  /V\etz:^  „quandam  silvam 
■onsensu  vicinorum  banno  nostro  imperiali  constringere  et,  ut  rustice 
iicunt,  forastare  concedimus".  Die  boni  milites,  die  vicini  sind  offenbar 
licht  Grundeigentümer  sondern  nur  Nutzungsberechtigte  der  betreffen- 
'len  Waldungen.  In  einigen  Urkunden  wird  dieser  Charakter  der  Zu- 
timmenden  sogar  besonders  hervorgehoben.  So  heißt  es  in  einem 
)iplom  Heinrichs  II.  für  Bischof  Adalbero  von  Basel: ^  „saltum  occidentem 
. .  assenciente  omni  populo  eiusdem  saltus  actenus  usum  habente  in 
iroprium  .  . .  condonavimus"  (es  folgt  Jagdverleihung  mit  Königsbann). 

Heinrich  III.  schenkt  Erzbischof  Baltwin  von  Salzburg:^  „forestum 
nfra  terminos  .  . .  folgt  Grenzbeschrieb  und  eine  Reihe  von  Namen  . . . 
aeterisque  omnibus  ibidem  praedia  circumquaque  id  ipsum  forestum 
ttigentia  sive  aliquid  communionis  in  eo  habentium  voluntario  con- 
ensu  collaudantibus." 

Besonders  charakteristisch  heißt  es  in  der  bereits  S.  126  genannten 
Jrkunde  Konrads  II.  für  die  Kirche  von  Würzburg: ^  „quandam  silvam 
lactenus  communi  compagiensium  usui  habitam  .  .  .  consensu  et 
ollaudatione  prenominati  abbatis  R.  suique  advocati  R.  necnon  0. 
omitis  caeterorumque  in  eadem  silva  communionem  habentium  ab 
linc  sub  forestis  nomine  comprehensimus." 

Wenn  hier  nicht  näher  gesagt  wird,  auf  welche  Waldnutzungen 
lie  „compagienses"  usw.  zugunsten  der  Privilegierten  verzichten,^  in 
;wei  weiteren  Urkunden  Konrads  II.  wird  auch  an  dieser  Stelle  aus- 
Irücklich  die  Jagd  genannt.  Für  Bischof  Meginhard  von  Würzburg: ^ 
quandam  silvam  .  . .  consensu  et  collaudatione  provincialium  —  es 
werden  12  aufgezählt  —  penitusque  omnium  antea  in  eadem  silva 
:ommunionem  venationis  habentium' .  .  .  donamus  ab  hinc  sub  forestis 
lomine."  Für  Bischof  Sigibert  von  Minden:^  „quandam  silvam  .  .  . 
fum  consensu  et  collaudatione  prefati  ducis  B.  et  sui  fratris  D.  cete- 
orumque  civium  in  eadem  silva  usque  modo  communionem  venandi 
labentium  . . .  forestari  concessimus." 


'  DH.II.  no.  379. 

'  no.  80. 

'  St.  2436. 

*  St.  2024. 

^  Daß  allerdings  auch  hier  wenigstens  in  erster  Linie  an  die  Jagd  gedacht  sein 
nuß,  zeigt  die  Verleihung  des  Wildbannes  am  Schluß  der  Urkunden. 

'  St.  1960. 

^  Daß  die  nähere  Charakteristik  der  Zustimmenden  auch  für  die  zuerst  ge- 
lannten  Herren  gelten  soll,  wird  man  bei  dieser  Urkunde  und  bei  allen  übrigen,-  wo 
lie  gleiche  Anordnung  vorliegt,  voraussetzen  dürfen. 

'  St.  1988. 


j[38  Hermann  Thimme 

Ausdehnung  von  Forsten  auch  über  fremden  Privatgrundbesity 
stellen  folgende  Urkunden  außer  Frage: 

Ein  Diplom  Heinrichs  II.  für  einen  Grafen  Adalbero^  macht  den 
Anfang.  Besonders  lehrreich,  weil  hier  die  Zusammensetzung  der  Wild- 
bannbezirke aus  verschiedenen  Herrschaftsgebieten  sich  genau  erkennen 
läßt:  „bannum  super,  agrestes  feras  .  .  .  tam  super  propriam  ipsiu; 
terram,  quam  super  domorum  pontificalium  vel  monasteriorum  in  ab- 
baciis,  que  ibi  nobis  pertinent  terras,  sive  omnium  illorum  hominum 
terras,  qui  in  presenti  vel  in  futuro  huiusmodi  rem  cum  eo  collauda- 
bunt."    Eigenes  Land,  Reichskirchengut,  fremder  Grundbesitz! 

Der  Kirche  von  Basel  verleiht  Heinrich  11.^  „bannum  nostrum  besti- 
arum  super  illas  Silvas  his  terminis  ac  finibus  succinctas  . .  .  secundun 
coUaudationem  comprovincialium  inibi  praedia  habentium."  Das  Jnib, 
praedia  habentium"  —  ebenso  in  einer  Urkunde  Heinrichs  II.  für  dae 
Bistum  Lüttich  ^  —  kontrastiert  mit  dem  „omnibus  ibidem  praedic 
circümquaque  id  ipsum  forestum  attigentia".*  Unsicher  bleibt  die  Inter- 
pretation von  „ex  consensu  et  voluntate  Erchanbaldi  Moguntininensie 
archiepiscopi  ...  et  omnium  circa  habitancium,  qui  ibi  juxta  praedic 
habere  noscuntur"  in  einer  Wildbannverleihung  Heinrichs  II.  für  Fulda. 

Von  Heinrich  IV.  gehören  vier  Urkunden  in  diese  Reihe. 

Für   Kloster   Fulda: ^   „wiltbannum    super  quoddam   forestum  .  . 
Consenserunt  autem   huic   nostrae  träditioni  Adalbero  Wirzeburgensij 
episcopus  .  .  .  quicunque  aliquod  praedium  aut  beneficium  sive  advo 
cationem  in  his  prescriptis  terminis  possederunt." 

Für  die  Kirche  von  Würzburg:  '^  „wiltbannum  per  quoddam  forestum . . 
Sigefrido  Moguntino  archiepiscopo ,  Witrado  Fuldense  abbate  ceteris- 
que  omnibus,  qui  in  praescriptis  terminis  aliquod  proprii  possederun 


^  DH.II.  no.  54. 

'  no.  188. 

^  no.  184:  „quondam  regni  nostri  forestim  . . .  cum  banno  nostro  ceterisque  eiu: 
pertinentiis  seu  cum  omnibus,  que  quolibet  modo  dici  vel  scribi  possunt  utilitatibu; 
secundum  .  .  .";  wie  oben.  Bei  der  ganzen  Formulierung  der  Urkunde  (vgl.  ober 
S.  135)  ist  auffällig,  daß  überhaupt  von  „collaudatio"  die  Rede  ist.  Wenn  ein  Fors 
bloß  von  einer  Hand  in  die  andere  übergeht,  dann  hat,  so  sollte  man  denken,  dl' 
Zustimmung  der  Forstanwohner  keinen  rechten  Sinn  mehr.  Daß  hier  ein  innere, 
Widerspruch  vorliegt,  hat  auch  schon  Roth  a.a.O.  S.  233f.  empfunden.  Er  sieh 
sich  deshalb  veranlaßt,  eine  Neueinforstung  anzunehmen.  So  oder  so  —  eine  Ge 
dankenlosigkeit  der  Kanzlei  scheint  auf  jeden  Fall  vorzuliegen.  Vgl.  auch  DH.II., 
und  dazu  Roth  a.  a.  0.  S.  259f.  (Das  Bistum  Worms  erhält:  „regium  bannum  ii 
foresto  Forehahi."    In  diesem  Bezirk  liegt  Kloster  Lorsch  und  Lorscher  Besitztum. 

*  Vgl.  S.  137  DH.IIL,  St.  2436. 

*  DH.II.  no.  327. 
•^  St.  2582. 

'  St.  2588. 


Forestis  139 

ollaudantibus".  Für  die  Kirche  von  tiildesheim:^  „cum  consensu  — 
ünf  hohe  Würdenträger  werden  genannt—  caeterisque  omnibus,  quorum 
raedia  et  possessiones  sitae  erant  intra  eos  terminos,  quos  scribi  ju- 
»emus,  quoddam  forestum  et  bannum." 

Schließlich  für  Bischof  Hezilo  von  Hildesheim r  „bannum  super 
luoddam  forestum  .  .  .  collaudantibus  Duce  Ottone,  Ekkiberto  comite, 
item  Godescalco  comite  ceterisque,  qui  infra  praedictos  terminos  prae- 
lium  possident."^ 

Interessant  zu  beobachten,  wie  die  einzelnen  Momente  eines  Ent- 
i'icklungsprozesses  sich  gegenseitig  beeinflussen  und  bedingen.  Wer 
reilich  den  Versuch  macht,  sie  in  kausaler  Reihenfolge  anzuordnen, 
\nfangs-  und  Schlußglied  der  Kette  genau  zu  bezeichnen,  wird  sich 
n  den  meisten  Fällen  der  Gefahr  einer  mehr  oder  weniger  willkürlichen 
(onstruktion  aussetzen.  Denn  oft  wird  als  Bedingung  mitgewirkt  haben, 
vas  als  Ergebnis  erscheint,  und  umgekehrt. 

In  diesem  Sinne  will  auch  das  Folgende,  wo  auf  einen  neuen  Zu- 
sammenhang aufmerksam  gemacht  werden  soll,  verstanden  sein. 

Zu  der  Spezialisierung  des  „jus  forestis"  zu  einem  jus  venationis, 
^u  der  in  weitgehendem  Maße  stattfindenden  Ausdehnung  der  Forsten 
liber  den  Grund  und  Boden  ihrer  Besitzer  hinaus,  tritt  ein  Drittes, 
dessen  Ansätze  freilich  weit  zurück  liegen. 

Schon  mehrmals  ist  darauf  hingewiesen,  daß  von  Anfang  an  eine 
Annäherung  an  den  Begriff  „Silva"  eine  gewissermaßen  immanente 
irendenz  des  Wortes  „forestis"  ist.  ^  Notwendigerweise  verschärft  wird 
'sie  durch  die  Betonung  der  Jagd.  Aber  erst  durch  das  neue  Verhältnis 
jvon  Forst  und  Grundeigentum  scheinen  die  Bedingungen  geschaffen, 
welche  die  schließlich  völlige  Identität  von  Forst  und  Wald  besiegeln. 
Denn,  wenn  früher  innerhalb  der  Forsten  eifrig  Kulturarbeit  getrieben 
kvurde,  so  haben  da,  wo  sich  die  Forsten  über  fremden  Grundbesitz 
ausdehnen,  ihre  Inhaber  zunächst  kein  Recht  auf  Rodung  und  Bewirt- 
ischaftung. 
!        Hier  bleibt  für  forestis  die  Bedeutung  „Wald".    Von  hier  aus  wird 


'  St.  2604. 
'  St.  2673. 


^  unbestimmt  gehalten  sind  die  betreffenden  Wendungen  in  DO. 11.  no.  50  (hier 
wird  Einwilligung  Dritter  bei  der  Einrichtung  eines  Wildbannes  überhaupt  zum  ersten- 
mal erwähnt):  „cum  populi  consensu";  in  DO.III.,  233  für  die  Kirche  von  Mainz: 
„forestum  et  bannum  . . .  cum  consensu  Conradi  ducis  ceterorumque  quam  plurimorum 
fidelium  nostrorum."  DO.I.,  302  wird  durch  D.  Karol.  273  (Fälschung  um  1077) 
erweitert  durch  den  Satz:  „collaudatione  illius  regionis  potentum."  Vgl.  Brand i, 
Westdeutsche  Ztschr.  1900,  S.  126. 

*  S.  oben  S.  109  u.  124. 


140  Hermann  Thimme 

ohne  Frage   diese   ganze  Bedeutungsentvvicklung   erheblich   unterstützt, 
und  beschleunigt. 

Bei  den  meisten  Neueinforstungen,  von  denen  uns  berichtet  wird^ 
handelt  es  sich  um  „silvae".  Schon  in  einer  Urkunde  Ottos  III.  für 
Würzburg  ^  heißt  es  in  der  Pertinenzformel:  „cum  .  .  .  silvis  forestatis, 
venationibus"  etc.,  und  für  die  Kirche  von  Worms  ^  „regium  bannum 
in  silvis  circa  Wippinam  civitatem,  quas  ille  .  .  .  noviter  inforestavit." 

Unter  Heinrich  II.  häufen  sich  die  Belege:  Für  Bischof  Berthold  von 
Toul:^  „forestem  videlicet  et  bannum  venationis  ex  silvis  infra  nominan- 
dis."  Für  die  Kirche  von  Würzburg: ^  „in  feris  forestandis  hanc  pacem  . 
obtineat,  qua  haec  eadem  ceteraeque  ecclesiae  usi  sunt,  quae  ...  de 
huiusmodi  forestandis  silvis  vel  silvulis  praecepta  susceperunt."  Füt 
die  Kirche  von  Metz:  ^  „quandam  silvam  .  .  .  banno  nostro  imperial! 
constringere,  et  ut  rustice  dicunt,  forastare  concedimus."  Für  die  Kirche 
von  Trier:  ^  „silvam  his  finibus  .  .  .  forestare  concedimus."  Für  Klostet 
Ellwangen:'  „quandam  silvam  Virigunda  dictam  ad  Elwacence  ceno- 
bium  pertinentem  .  .  .  legali  banno  forestem  facimus  cum  omnibus 
terminis  eiusdem  silve." 

Konrad  II.  für  Bischof  Kadelhoho  von  Naumburg :  ^  „licentiam 
faciendi  foresti  in  fageto,  quod  proximum  adjacet  eidem  civitati",  füt 
die  Kirche  von  Würzburg:  ^  „quandum  silvam  abhinc  sub  forestii 
nomine  comprehensimus."  fieinrich  III.  für  die  Kirche  von  Basel :^" 
,,saltum  forestavimus." 

Auch  jene  Fälschung  auf  den  Namen  Zwentebolds,^^  die  etwa  Ende 
des  10.  Jahrhunderts  entstanden  ist,  wäre  hier  einzureihen:  „ut  quani 
dam  silvam  in  bannum  mitteremus  et  ex  ea,  sicut  Franci  dicunt,  forestem 
faceremus." 

Nun  darf  freilich  nicht  behauptet  werden,  daß  in  allen  diesen  Fällen 
Kulturland  irgendwelcher  Art  schlechterdings  ausgeschlossen  sei.  So 
schenkt  z.  B.  Heinrich  IV.  seinem  Getreuen  Otnand  ^^  den  Teil  eines 
Waldes  mit  einer  Pertinenz,  in  der  „cum  aedificiis,  terris  cultis,  agris^ 
campis,  molendinis"  usw.  nicht  fehlt.  Oder:  In  den  Grenzen  des  Forstes^ 
den  Abt  Bernhard  von  Hersfeld  mit  Erlaubnis  Heinrichs  II.  „de  silva^ 
quae  dicitur  Eherineuirst"  herstellt,  ^^  liegt  das  Kloster  Hersfeld  selbst 
und  gewiß  noch  manche  andere  Niederlassung.  Man  beachte  auch 
folgende  Stelle  einer  Urkunde  Konrads  II.  für  Bischof  Sigibert  vom 
Minden:  ^^  „quandam  silvam  ...  in  silvis  campis  et  paludibus  . . .  fores-, 


'  DH.II.  no.  235.   *  no.  326. 

'   no.  505.       '  St.  1996. 
"  BM.  1968;  vgl.  D.  Karol.  S.  392. 
^'  St.  1988. 


'  DO.III.  no.  361. 

'  no.  43. 

'  Dti.II.  no.  379. 

"  no.  493. 

'  St.  2024. 

'"  St.  2174. 

''  St.  2591. 

'^  no.  51. 

Forestis  j^4j^ 

m  concessimus."  Mehr  und  mehr  gilt  aber  offenbar  bei  den  Forsten 
es  10— 12. Jahrhunderts  für  das  Charakteristische  das  bewaldete  Gebiet 
Ti  Gegensatz  zum  gerodeten  Land.  Das  bedeutet  in  den  angeführten 
Irkunden  die  sich  so  oft  wiederholende  Verbindung:  „silvam  f^-estare." 
Jnd  das  ist  das  Entscheidende.     In  früheren  Zeiten  war  es  nicht  so. 


3.   Die  Bezeichnungen  der  Forst-  und  Wildbanngebiete 

Um  sich  von  den  kompHzierten  Verhältnissen,  die  bei  den  Forsten 
p  jeder  Beziehung  an  Stelle  einheitlicher  Zustände  getreten  sind,  eine 
bbhafte  Vorstellung  zu  verschaffen,  braucht  man  nur  die  Verschieden- 
eit  der  Bedeutungen,  welche  bei  der  Verwendung  des  Wortes  forestis 
elbst  entgegentritt,  ins  Auge  zu  fassen.  Weil  sich  hier  Altes  und 
leues  in  bunter  Mannigfaltigkeit  spiegelt,  erscheint  dies  zur  Ergänzung 
nd  Vervollständigung  des  bisher  von  forestis  gewonnenen  Bildes 
eeignet. 

Wenn  man  etwa  ganz  allgemein  definieren  wollte:  forestis  ist  die 
ezeichnung  eines  mit  einem  bestimmten  Forstrecht  ausgestatteten  Ge- 
ietes,  so  würde  diese  Definition  zwar  sowohl  auf  die  Forsten  mero- 
/ingisch-karolingischer  Art,  wie  auf  die  Wildbannbezirke  des  11.  Jahr- 
underts  anwendbar  sein,  auch  der  Frage  nach  dem  Grundbesitz  nicht 
orgreifen,  aber  doch  der  Geschichte  dieses  in  seltener  Weise  biegsamen 
Begriffes  nicht  gerecht  werden. 

Denn  darüber  hinaus  scheint  sich  die  Bedeutung  von  forestis  nach 
wei  entgegengesetzten  Richtungen  entwickelt  zu  ,  haben,  deren  jede 
ugleich  ein  wichtiges  Moment  in  der  Forstentwicklung  überhaupt  zum 
bsdruck  bringt.  Nur  daß  jedesmal  das  eine  auf  Kosten  des  anderen 
•Clont  wird. 

1.  Um  da,  wo  wir  abbrachen,  wieder  anzuknüpfen:  Schon  ver- 
ältnismäßig  früh  führt  die  gekennzeichnete  Annäherung  der  Begriffe 
ilva  und  forestis  dazu,  daß  vereinzelt  forestis  als  Bezeichnung  für 
|Vald  schlechthin  vorkommt.  Man  kann  wenigstens  mit  einiger  Sicher- 
ieit  darauf  schließen.  Denn:  an  einigen  Stellen  werden  Gebiete,  forestis 
genannt,  ohne  scheinbar  mit  irgend  einem  spezifischen  Forstrecht  aus- 
gestattet gewesen  zu  sein.  Und  wenn  es  rechtliche  Qualitäten  nicht 
gewesen  sind,  müssen  wohl  oder  übel  geographische  Qualitäten  den 
^nlaß  zu  dieser  Benennung  gegeben  haben. 

Auf  die  auffällige  Verwendung  von  forestis  in  Ottos  I.  Urkunde 
ür  Fulda  a.  951  ist  schon  aufmerksam  gemacht.  ^  Man  wird  kaum 
ehl  gehen,  wenn  man  annimmt,  daß  hier  zum  ersten  Male  forestis  rnit 

'  S.  oben  S.  130. 


k 


j[42  Hermann  Thimme 

„Forst"  im  heutigen  Sinne  des  Wortes  wiedergegeben  werden  darf. 
Noch  deutlicher  tritt  dasselbe  zutage  in  einer  ebenfalls  bereits  zitierten 
Urkunde  Ottos  IL  für  Fulda.  ^  Unbeschränkte  Verfügung  über  Jagd  und 
anderweitige  Nutzungen  werden  für  ein  dem  Kloster  gehörendes  Gebiet 
verliehen,  das  offenbar  schon  vor  diesem  Verleihungsakt  „for^stum" 
genannt  ist.  ^    Es  wird  ein  Wald  gewesen  sein. 

Flierher  gehört  auch  die  sehr  charakteristische  Wendung:  „forestum 
forestare."  In  einer  Wildbannverleihung  Heinrichs  II.  für  Fulda  heißt 
es:^  „in  feris  infra  praefatos  fines  forestandis  hac  nostra  imperiali  tra- 
dicione  talem  pacem  et  securitatem  ...  de  ceteris  comprovincialibus 
et  circumsedentibus  obtineant,  qualem  hec  eadem  cetereque  ecclesie 
hactenus  habere  vise  sunt,  quae  nostra  sive  predecessorum  nostrorum 
.  .  .  de  huiusmodi  forestibus  forestandis  precepta  susceperunt."  Hiei 
stoßen  zwei  verschiedene  Bedeutungen  von  forestis  aufeinander.  Es  isi 
naheliegend,  daß  die  eine  forestis  =  silva  ist.  * 

2.  Auf  der  anderen  Seite:  Wir  haben  gesehen,  wie  der  Wildbanr 
bei  den  Forsten  immer  mehr  in  den  Vordergrund  trat  —  dem  entsprich 
es,  wenn  forestis  als  Bezeichnung  für  das  Jagdrecht  schlechthin  ver- 
wandt wird.  Jene  oben  zitierte  Urkunde  Konrads  II.  für  die  Kirche 
von  Verden:  ^  „forestum  cervorum  cervarumque  per  totumpagum  Sturmi' 
wird  besonders  dadurch  charakteristisch,  daß  es  in  der  Vorurkund( 
Ottos  III.  heißt:  ^  „venacionem  cervorum  cervarumque  per  totum  paguir 


'  S.  oben  S.  IvSlf. 

^  In  diesem  Falle  darf  man  wegen  der  Formulierung  der  Urkunde  („fidelis  noste 
V...  nostram  adivit  celsitudinem,  dicens  nobis,  quomodo  forestum"  etc.)  schwer 
lieh  annehmen,  daß  der  betreffende  Forst  überhaupt  etwa  erst  durch  das  königlich^ 
Diplom  zustande  gekommen  sei,  während  er  vor  demselben  als  forestum  nicht  existier 
habe.  Schon  eher  wäre  bei  DO. III.,  243  „bannum  nostrum  supra  forestos  sex"  ein' 
derartige  Vermutung  berechtigt.  Auch  ein  paar  Urkunden  Heinrichs  IV.  sind  ander 
kaum  verständlich.  So  wird  ein  äußerst  umfangreicher  Wildbannbezirk,  der  freilicl 
mehrere  ältere  Forsten  in  sich  schließt  (vgl.  Landau  a.a.O.  S.  45f.),  dem  Kloste 
Fulda  geschenkt  mit  den  Worten:  „wiltbannum  super  quoddam  forestum",  St.  2582 
Ebenso  St.  2588  für  die  Kirche  von  Würzburg:  „wiltbannum  per  quoddam  forestum" 
St.  2673:  für  Bischof  Flezilo  von  Hildesheim:  ,, bannum  super  quoddam  forestum. 
Hier  liegt  fremder  Grundbesitz  ,,praedia",  „proprium"  innerhalb  der  Wildbannbezirkc 
so  daß  die  Deutung  forestis  =  Wald  wegfällt. 

'  DH.II.  no.  327. 

*  Wenn  es  in  Konrads  II.  Urkunde  für  Bischof  Sigibert  von  Minden  (St. 2042)  heißt 
„supplicans,  quatenus  nos  quoddam  forestum  sui  scilicet  juris  per  imperiale  nostt 
praeceptum  forestari  faceremus",  so  erhält  hier  allerdings  das  „forestum  forestari' 
durch  den  Zusatz  ,,sui  scilicet  juris"  eine  besondere  Modifizierung,  so  daß  man  e 
auch  interpretieren  kann:  Ein  Gebiet,  in  dem  Bischof  Sigibert  sich  auf  eigene  Faus 
Forstrechte  zu  verschaffen  gesucht  hatte,  zum  öffentlich  rechtlich  anerkannten  Bann 
forst  machen. 

'  S.  oben  S.  128.  '  DO.III.  no.  23. 


I 


Forestis  143 

,;turmi  .  .  .  ut  absque  eiusdem  loci  episcopi  .  .  .  nemo  venari  au- 
leat/' 

In  den  zitierten  Urkunden  fand  sich  wiederholt  der  Ausdruck 
,,forestari(e)".  Es  ist  ein  Wort,  das  in  der  Karolingerzeit  noch  keinmal 
'orkommt,  also  erst  nach  den  großen  Veränderungen,  denen  das  alte 
orestis  unterworfen  war,  geprägt  ist.  Als  Faktitivum  zu  forestis  heißt 
;s  „zum  Forst  machen"  und  ist  identisch  mit  „ex  Silva  forestem  facere", 
;inem  ebenfalls  öfter  gebrauchten  Ausdruck.  ^  So  entspricht  auch  in 
;inem  Diplom  Ottos  III.  für  den  Erzbischof  von  Worms  '^  dem  „quas 
lle  .  .  .  noviter  inforestavit"  ein  „praedicta  silvarum  spatia  concedimus 
lostra  regia  potestate  ...  in  forestum  redigi". 

Immerhin  fällt  durch  eine  Urkunde  Heinrichs  II.  für  die  Kirche  von 
Y\etz^  auf  die  Bedeutung  von  forestare  ein  ganz  besonderes  Licht: 
,quandam  silvam  .  .  .  consensu  vicinorum  banno  nostro  imperiali  con- 
itririgere  et,  ut  rustice  dicunt,  forastare  concedimus  ...  ut  .  .  .  epis- 
:opus  suique  successuri  liberam  dehinc  habeant  potestatem  eandem  sil- 
vam forestandi  omnium  hominum  regni  nostri  contradictione  remota." 

„Ut  rustice  dicunt":  Klingt  das  nicht  gewissermaßen  wie  eine  Ent- 
chuldigung  dafür,  daß  hier  dieser  eigentlich  inkorrekte  Ausdruck  ge- 
braucht wird?  Und  weshalb  man  daran  Anstoß  genommen  hat?  Etwa 
deshalb,  weil  forestare  an  dieser  Stelle  dieselbe  Bedeutung  hat,  in  der 
es  uns  in  Verbindung  mit  „ferae"  oft  genug  begegnet:  „in  feris  fores- 
landis"  —  „feras  forestatas"  usw.? 

Man  vergleiche  eine  Urkunde  Heinrichs  II.  für  Würzburg:*  „bannum 
jnostrum  super  feras  diversi  generis  in  silvis  et  subscripto  ambitu,  in 
iquo  etiam  Hugo  ejusdem  sedis  episcopus  ...  in  eodem  bivangio  feras 
torestatas  habuit  ...  in  feris  prescripto  ambitu  forestandis  hanc  pacem 
.  .  .  obtineat,  qua  haec  eadem  ceteraeque  ecclesiae  hactenus  usi  sunt, 
quae  ...  de  huiusmodi  forestandis  silvis  vel  silvulis  praecepta  sus- 
ceperunt." 

Feras  forestare  —  und  silvam  forestare  wird  dasselbe  bedeuten  — 
heißt:  Das  jagdbare  Wild  unter  denselben  Schutz  stellen,  den  es  in 
den  Forsten  genoß.  Durch  den  Akt  des  forestare  werden  Wildbann- 
jbezirke  geschaffen,  keine  Forsten  in  älterem  Sinne  des  Wortes.  Damit 
gelangen  wir  wieder  in  einen  größeren  Zusammenhang.    Wie  die  Wild- 


^  Zwentebold  (BM.  1968)  „ut  quandam  silvam  in  bannum  mitteremus  et  ex  ea, 
sicut  Franci  dicunt,  forestem  faceremus."  DH.II.  51:  „abbas  B.  liberam  habeat  po- 
testatem .  .  .  dominicale  forestum  faciendi  ...  de  Silva,  que  dicitur  Eherinevirst"  und 
Dti.II.  505:  „quandam  silvam  .  .  .  legali  banno  forestem  facimus." 

'  DO.III.  no.  43. 

'  DH.II.  no.  379. 

'  DH.II.  no.  326. 


j^44  Hermann  Thimme 

banne  sich  aus  den  Forsten  entwickelt  haben,  und  wie  die  Forsten 
schließlich  zu  Wildbanndistrikten  geworden  sind,  ist  bereits  zu  zeigen 
versucht.  An  dieser  Stelle  muß  darauf  aufmerksam  gemacht  werden, 
daß  sich  aus  der  Terminologie  der  Urkunden  ergibt,  wie  man  sich 
noch  im  11.  Jahrhundert  ein  Gefühl  für  die  ursprüngliche  Bedeutung 
von  forestis  bewahrt  hat.  Das  tritt  nämlich  nicht  nur  da  hervor,  wo 
wirklich  von  alten  Forsten  die  Rede  ist,^  sondern  bezeichnender  Weise 
auch  da,  wo  Wildbanngebiete  gekennzeichnet  werden.  An  das  „ut 
rustice  dicunt",  welches  so  seine  Erklärung  finden  wird,  erinnert  ein 
zweimal  in  Urkunden  Konrads  II.  belegter  Ausdruck.  In  einer  Schenkung 
für  Bischof  Meginhart  von  Würzburg  ^  heißt  es:  „quandam  silvam  .  .. 
consensu  et  collaudatione  provincialium  .  .  .  penitusque  omnium  antea 
in  eadem  silva  communionem  venationis  habentium  .  .  .  donamus  ab 
hinc  sub  forestis  nomine  perpetualiter  permanenda,  banni  nostri  distric- 
tione  firmissima  confirmamus"  und  ganz  ähnlich  wohl  mit  Benutzung 
der  vorigen  Urkunde  ebenfalls  für  die  Kirche  von  Würzburg:  ^  „quandam 
silvam  hactenus  communi  compagiensium  usui  habitam  .  .  .  cum  con- 
sensu ...  ab  hinc  sub  forestis  nomine  comprehensimus  ac  districtionis 
nostrae  bannum  super  eam  .  .  .  donavimus." 

Klingt  das  „sub  forestis  nomine"  nicht  als  ob  gesagt  werden 
sollte:  Dem  Namen  nach  ein  Forst  —  die  eigentlichen  Forsten  sind 
freilich  doch  noch  etwas  anderes? 

3.  Schließlich  muß  noch  einer  Reihe  von  Wildbannverleihungen  ge- 
dacht werden,  bei  denen  Ausdrücke  wie  forestare,  forestis  überhaupl 
nicht  vorkommen.  Man  erinnert  sich,  daß  schon  in  der  Karolingerzeil 
von  Bannwäldern  die  Rede  war:*  „nemoribus,  quae  in  regio  banne 
erant"  usw.  Dazu  kommt  unter  den  Ottonen:  Otto  I.  für  die  Kirche  vor 
Salzburg:  ^  in  der  Pertinenz:  „silvis  bannisque  silvarum."  Otto  II.  für 
die  erzbischöfliche  Kirche  von  Köln:^  „bannum  et  potestatem  bannique 
super  eas  (seil,  bestias)  ad  regiam  pertinuit  potestatem".  Unter 
Heinrich  IL  für  Bischof  Adalbero  von  Basel: '  „saltum  ...  in  proprium 
condonavimus  . . .  nostro  banno  interdicente"  —  Jagdverbot.  Für 
Bischof  Balderich  von  Lüttich  :^  „bannum  nostrum  bestiarum  . . .  super 
eorum  proprias  Silvas."  Für  die  Kirche  von  Basel :^  „bannum  nostrumj 
bestiarum  super  illas  Silvas."  Für  den  Grafen  Adalbero:  ^^  „bannum! 
super  agrestes  feras  concessimus."  Wenn  es  in  dieser  letzten  Urkunde 
am  Schlüsse  heißt:  „feras  illas,  quae  in  aliis  dominicalibus  forestis  in 
banno  sunt  positae  . . .  nullus  audeat  capere",   so   scheint  auch   hiei 

'  S.  oben  S.  133ff.  ^  3^^  ^gg^ 

'  St.  2024.    Vgl.  DH.II.  64  „cum  suo  nominative  foresto". 

*  S.  oben  S.  119.  '  DO.I.  no.  389.         '  DO.II.  no.  50.         '  DH.II.  no.  80 

'  no.  186.  «  no.  188.  *«  no.  54. 


Forestis  145 

in  unterschied  zwischen  Wildbann  und  Forst  zum  Ausdruck  zu 
ommen.  Dasselbe  geschieht  in  besonders  merl^würdiger  Weise  in 
inem  Diplom  Heinrichs  II.  für  die  Kirche  von  Würzburg:  ^  „bannum 
ostrum  super  feras  ...  de  nostro  jure  in  legittimam  forestim  indisso- 
ibiliter  stabilimus."  Denn  gerade  hier  sieht  man  nicht,  inwiefern 
urch  die  Urkunde  neue  Verhältnisse  geschaffen  werden,  zumal  eine 
^eihe  von  hohen  Würdeträgern  aufgezählt  werden,  die  ihre  Zustimmung 
bgeben. 

Solche  Urkunden  bleiben  eben  charakteristisch  für  eine  Zeit,  wo 
leue  Begriffe  an  Stelle  von  älteren  treten,  ohne  diese  doch  ganz  zu 
'erdrängen. 

Der  Ausdruck  Wildbann  selbst  kommt  erst  unter  Heinrich  IV.  vor. 
j)a  aber  auch  ohne  Verbindung  mit  forestis  oder  forestare  in  Urkunden 
tir  die  Bischöfe  von  Bamberg,  Brixen,  Eichstädt,  Freising  und  für  Anno 
|on  Köln.  2 

4.  Schluß 

Das  Band,  welches  alle  diese  Forsten  und  Wildbänne  in 
In  den  verschiedenen  Formen,  in  welchen  sie  auftreten,  mit 
en  Forsten  einer  früheren  Zeit  verbindet,  ist  ihre  Beziehung 
ium  König.  Denn  immer  noch  hat  dieser  allein  offiziell  das  Recht, 
'erartige  Gebiete  herzustellen.  Freilich  läßt  sich  nicht  sagen,  inwieweit 
ieses  „Forstregal"  bloße  Formensache  geworden  ist.  Das  ursprünglich 
jur  Aussonderung  von  Königsgut  geschaffene  Recht  tritt  ja  immer 
hehr  in  den  Dienst  des  Großgrundbesitzes.  Die  steigende  Macht  der 
Iroßgrundbesitzer  berechtigt,  ein  eigenmächtiges  Vorgehen  derselben 
uch  in  diesem  Punkte  vorauszusetzen.  Eine  Stelle  wie:  „sive  omnium 
ijorum  terras,  qui  in  presenti  vel  in  futuro  huiusmodi  rem  cum  eo 
ollaudabunt"  in  dem  Wildbannprivileg  für  Graf  Adalbero^  deutet  das- 
elbe  an.  Von  der  Auseinandersetzung  des  Grafen  mit  seinen  Nach- 
jarn  wird  hier  eine  beliebige  Ausdehnung  des  Wildbanndistriktes  ab- 
iängig  gemacht.  Und  wie  der  König  hier  ganz  allgemein  Einforstungs- 
^cht  verleiht,  die  Anwendung  und  Ausdehnung  desselben  ganz  dem 
rivilegierten  überlassend,  so  werden  andere  vermutlich  auch  auf  eigene 
aust  vorgegangen  sein,  den  König  gänzlich  ignorierend,  oder  von  ihm 
ur  Bestätigung  eines  selbständig  geschaffenen  Zustandes  erbittend, 
och  deutlicher  spncht  hierfür  ein  Erlaß  des  Erzbischofs  Engelbert  von 


'  DH.II.  no.  496. 

'  St.  2732,  2761,  2823,  2782,  2762. 

'  DH.II.  54  (oben  S.  138);  vgl.  auch  Dtl.IV.  St.  2568. 

Afü  II  ♦  10 


^46  Hermann  Thimme 

Trier  zugunsten  des  Klosters  Stlrmin  oder  Oeren.^  Er  schenkt:  „silvan 
unam  s.  Marie  quidem  propriam,  sed  nostro  forestario,  ut  dicebantui 
juri  obnoxiam,"  und  verfügt:  „Ab  hac  forestali  lege  deinceps  liberan 
facio  et  absolutam,  ut  nullus  legatus  publicus  vel  magister  forestariu 
eam  invadere  praesumat,  sed  quicquid  commodi  vel  servitii  vel  utilitati 
inde  haberi  potest  sive  medena  sive  quicunque  usus  inde  proveniai 
omnino  in  ecclesiae  utilitate  consistat."  Diese  in  mehrfacher  Hinsich 
interessante  Urkunde  führt  uns  einen  eigenmächtigen  Übergriff  der  Erz 
bischöfe  von  Trier  vor  Augen,  der,  wie  er  ohne  Mitwirkung  des  König 
begangen,  so  auch  ohne  dieselbe  von  Erzbischof  E.  wieder  gut  ge 
macht  wird.  Ähnliche  Fälle  sind  natürlich  sehr  viel  häufiger  vor 
gekommen,  als  dies  die  Überlieferung  erkennen  läßt.  Freilich  war  e 
schon  in  der  Karolingerzeit  nicht  anders  —  aber  jetzt  sieht  sich  kei 
König  mehr  veranlaßt,  unrechtmäßig  entstandene  Forstgebiete  wiede 
aufzuheben ,  wie  es  Ludwig  der  Fromme  getan  hatte.^  Bereits  untc 
den  Saliern  werden  die  königlichen  Forstprivilegien  seltener,  und  di 
Zeit,  wo  sie  ganz  aufhören,  ist  nicht  mehr  fern.^ 

So  ist  schließlich  im  Laufe  der  Jahrhunderte  die  ursprünglich 
Bedeutung  von  forestis  mehr  und  mehr  verloren  gegangen. 

Je  selbstverständlicher  der  forestis-Charakter  des  Privateigentum 
überhaupt  wird,  desto  entbehrlicher  wird  die  äußere  Betonung  dej' 
selben.  Von  hier  aus  versteht  man  die  zunächst  befremdende  Ta 
Sache,  daß  forestis,  geprägt  als  Bezeichnung  für  den  entdeckten  Begri 
des  Privateigentums,  schließlich  ein  einzelnes  Sonderrecht  kennzeichne 
das  gerade  mit  dem  Privateigentum  nicht  mehr  in  Zusammenhan 
steht;  versteht  man  die  ganze  dazwischenliegende  Entwicklung,  die  ii 
einzelnen  widerspruchsvoll  und  kompliziert,  im  ganzen  doch  einheitlic 
und  folgerichtig  verläuft.  1 

Diese  Entwicklung  zu  schildern,  nicht  eine  Geschichte  der  eir 
zelnen  Forstgebiete  zu  geben,*  war  der  Zweck  der  vorliegenden  ünte 
suchung. 

Geographische  Beschaffenheit,  Jagd-  und  GrundbesitzverhältnisJ 
der  Forste  stehen  miteinander  in  engem  Zusammenhang.  Wenn  ; 
einem  dieser  Punkte  eine  Veränderung  stattfindet,  lassen  sich  in  dt 
andern  entsprechende  Umwandlungen  konstatieren. 

Di.e  am  tiefsten  greifenden  Veränderungen  in  der  Geschichte  d 
Forsten  finden  um  die  Wende  des  9.,  im  Laufe  des  10.  Jahrhunder 


^  Beyer,  Mittelrhein.  ÜB.  I.  457;  vgl.  Schwappach  a.a.O.  S.  203. 

^  S.  oben  S.  110. 

'  Vgl.  Roth  a.a.O.  S.  267. 

*  Vgl.  die  Übersicht  bei  Roth  a.  a.  0.,  Kap.  III,  S.  229ff. 


Forestis  j[47 

tatt.     Um  sie  zu  verstehen,  mußten  die  Forstverhältnisse  in  der  vor- 
lergehenden  und  in  der  nachfolgenden  Periode  untersucht  werden. 

Daß  im  späten  Mittelalter  die  Forstentwicklung  nicht  still  gestan- 
jlen  hat,  ist  selbstverständlich.  Es  ist  bekannt,  zu  welch  unerträglichen 
!:uständen  sie  gegen  Ende  des  Mittelalters  geführt  hat.  Aber  alles  das 
^ird  schon  im  11.  Jahrhundert  angedeutet.  Von  den  Forsten,  den 
Vildbannbezirken  des  11.  Jahrhunderts,  die  das  Jagdrecht  des  gemeinen 
Cannes  beschränken,  die  sich  in  weitem  Umfange  über  fremden  Grund- 
>esitz  ausdehnen,  bis  zu  einem  Forst-  und  Jagdrecht,  wie  es  nach 
Ausbildung  der  Landeshoheit  herrschte,  ist  es  nur  ein  Schritt.  Oder 
loch  nur  ein  paar  Schritte.  Daher  ist  auch  der  Schlußpunkt  der  vor- 
legenden Arbeit  nicht  ganz  willkürlich  gewählt. 


Exkurse 
I.   Forestis  Arbonensis 

Zwischen  Beyerle  ^  und  Caro^  besteht  eine  Kontroverse   über   die 

rünglichen  Grundbesitzverhältnisse  des  Klosters  St.  Gallen.  Beyerle 
t  im  Gegensatz  zu  Caro  an,  daß  St.  Gallen,  „auf  Konstanzer  Boden 

ut,  ursprünglich  Eigenkloster  des  Bistums  war". 

Die  Streitfrage  würde  aus  dem  Rahmen  unserer  Untersuchung 
jierausfallen,  wenn  nicht  bei  der  Argumentation  Beyerles  der  „forestis 
\rbonensis"  einen  Hauptplatz  einnähme. 

In  der  Urkunde  Friedrich  Barbarossas  a.  1155  ^  wird  dieser  unter 
liem  Besitz  der  Konstanzer  Kirche  mit  aufgeführt,  ohne  daß  etwas 
käheres  über  ihn  ausgesagt  wäre.  Es  heißt  einfach:  „Praeterea  sunt 
ermini  forestis  Arbonensis  .  .  ."  nebst  dem  Grenzbeschrieb. 

Ausschlaggebend  ist,  wie  auf  den  ersten  Blick  einleuchtet,  die 
präge,  wann  der  „forestis  Arbonensis"  entstanden  ist.  Auf  Grund  der 
Jntersuchung  über  die  Grundbesitzverhältnisse  bei  den  Forsten  von 
ier  Entstehung  der  Forstgebiete  an  bis  hinein  ins  12.  Jahrhundert 
glaube  ich  hierüber  folgendes  sagen  zu  können:  Wenn  der  Forst  der 
<irche  von  Konstanz  während   der  Merowinger-   oder   Karolingerzeit 


^  Schriften   des  Vereins  für  die  Gesch.  des   Bodensees  31,  1903,  S.  26ff.   und 
^tschr.  für  die  Gesch.  des  Oberrheins  Bd.  22,  Heft  1,  S.  106ff. 

-  Beitr.  z.  älter,  dtsch.  Wirtschafts-  u.  Verfassungsgesch.  S.  106f. 
'  Wirttemb.  ÜB.  11.  S.  95ff. 

10=^ 


148  Hermann  Thimme 

verliehen  ist,  so  würde  dies  in  der  Tat  ihre  einstige  Grundherrschaft 
im  Arbongau  außer  Frage  stellen. 

Wenn  aber  der  Forst  erst  im  11.  oder  12.  Jahrhundert  geschaffen 
sein  sollte,  dann  gestattet  er  keine  Schlüsse  auf  die  Grundbesitzver- 
hältnisse des  von  ihm  bezeichneten  Territoriums,  denn  vom  Ende  des 
10.  Jahrhunderts  ab  sind  Forst  und  Wildbannbezirke  nicht  mehr  scharf ' 
zu  trennen,  und  erfahren  sehr  häufig  eine  Ausdehnung  über  fremdes 
Grundeigentum. 

Was  dafür  zu  sprechen  scheint,  daß  der  Forst  und  seine  Grenz- 
beschreibung dem   frühen  Mittelalter   angehören,   hat  Beyerle   bereits 
zusammengetragen.    Das  wichtigste  Argument  scheint  mir  die  archa-  - 
istische  Namensform  „Sydrona"  zu  sein.    Daß  im  Gegensatz  zu  dem 
in   derselben  Urkunde   gleich    darauf  beschriebenen    Forstgebiet   beim 
„forestis  Arbonensis"  von  Jagd  und  Jagdrecht  nichts  erwähnt  wird,  ist 
ebenfalls  in  der  Tat  beachtenswert  und  deutet  auf  frühe  Entstehungszeit 
hin.    Daß  innerhalb  des  durch  die  Grenzen  des  „forestis  Arbonensis"  t 
bezeichneten  Gebiets  die  Bannwälder  liegen,  von  denen  in  der  St.  Galler  1 
Urkunde  a.  890  die  Rede  ist,  besagt  für  das  Alter  des  Forstes  nichts.  \ 
Denn  es  ist  an  und  für  sich  gut  möglich,  daß  der  forestis  aus  diesen 
Bannwäldern  entstanden   ist.     „Nemora,   quae   in   regio   banno   sunt", 
brauchen  durchaus   nicht   etwa   einen   forestis   zur  Voraussetzung  zu  ! 
haben.    Weshalb  der  Satz  in  der  Grenzbeschreibung:   „ubi  in  vertice 
rupis   similitudo   lune   iussu   Dagoberti   regis   ipso   praesente   sculpta 
cernitur  ad  discernendos  terminos  Burgundie  et  Curiensis  Rhetie"  auf 
ein  Forstprivileg  Dagoberts  hinweisen  soll,  ist  mir  nicht  ganz  klar. 

Trotzdem  wird  man,  wenn  man  mit  Beyerle  den  „forestis  Arbonensis'' 
für  ein  uraltes  Forstgebiet  hält,  seine  Entstehung  in  die  Merowinger- 
zeit  verlegen  müssen.  Denn  in  der  Karolingerzeit  kann  er  nicht  ent- 
standen sein.  Karl  der  Große  bestätigt  a.  780  einen  Vertrag  zwischen 
Bischof  Sidonius  von  Konstanz  und  Abt  Johannnes  von  St.  Gallen,  durch 
welchen  den  Äbten  des  von  Konstanz  abhängigen  Klosters  gegen  einen 
Jahreszins  freies  Verfügungsrecht  über  das  Klostereigentum  eingeräumt 
wird,  und  unter  Ludwig  dem  Frommen  ^  wird  St.  Gallen  ein  könig- 
liches Kloster.  Hiermit  würde  sich  eine  etwa  durch  Karl  den  Großen 
erfolgte  Schenkung  des  „forestis  Arbonensis"  an  die  Kirche  von  Konstanz 
in  unvereinbarem  Widerspruch  befinden. 

Dafür,  daß  der  Arboner  Forst  etwa  im  12.  Jahrhundert  entstanden 
sei,  spricht  an  und  für  sich  gar  nichts.  Wenn  man  es  aber  aus  an- 
deren Gründen  für  unmöglich  hält,  daß  St.  Gallen  ursprünglich  ein 
bischöfliches  Eigenkloster  gewesen   sei,   so   ist   man   gezwungen,   die 


'  Vgl.  Caro  a.  a.  0.  S.  27. 


Forestis  149 

Entstehung  des  Forstes  in  eine  Zeit  zu  verlegen,  in  der  die  Forsten  auf 
fremden  Grundbesitz  übergreifen.  Dann  muß  man  den  „forestis  Arbo- 
nensis"  als  einen  Wildbann  auffassen,  der  sich  weit  über  St.  Galler 
IGrundbesitz  ausgedehnt  hat.  Dagegen,  daß  St.  Gallen  innerhalb  eines 
|der  Konstanzer  Kirche  gehörenden  Wildbannbezirkes  gelegen  haben 
kann,  ist  an  und  für  sich  nichts  einzuwenden.  Es  genügt  auf  den 
analogen  Fall  von  Worms  und  Lorsch  hinzuweisen.^ 

Ob  aber  „andere  Gründe"  überzeugend  genug  sind,  jene  gewich- 
tigen Argumente,  die  für  ein  hohes  Alter  des  „forestis  Arbonensis" 
sprechen,  aus  dem  Felde  zu  schlagen,  muß  hier  unerörtert  bleiben. 


IL   Entwicklung  des  ürkundenformulars  für  die  Forst- 
Iverleihungen  vom  6.  bis  zum  Anfang  des  12.  Jahrhunderts 

Im  folgenden  soll  eine  Übersicht  über  die  jeweils  formelhaft  ge- 
[wordenen  Wendungen  der  Forst-  und  Wildbannverleihungen  in  den 
Königs-  und  Kaiserurkunden  gegeben  werden.  Sie  beleuchtet  noch 
einmal  das  von  forestis  gezeichnete  Bild  und  mag  dazu  dienen,  Ein- 
ordnung und  Zeitbestimmung  zweifelhafter  Forstverleihungen  (vgl. 
forestis  Arbonensis)  zu  erleichtern. 

Jedesmal  wird  die  typische  Form  durch  ein  oder  mehrere  Beispiele 
charakterisiert,  und  die  Urkunden,  welche  ihr  wenigstens  in  der  Haupt- 
sache folgen,  werden  namhaft  gemacht.  Alle  einzelnen  Abweichungen 
brauchen  um  so  weniger  hervorgehoben  zu  werden ,  als  auf  die 
Mannigfaltigkeit  der  Wendungen  bereits  an  verschiedenen  Stellen  der 
Arbeit  unter  Anführung  erläuternder  Beispiele  aufmerksam  gemacht 
ist.^  Fälschungen  werden  nach  ihrer  mutmaßlichen  Entstehungszeit 
jiingereiht.  Durch  *  werden  Urkunden  mit  Grenzangaben  von  Forsten 
kenntlich  gemacht. 

1.   iWerowinger-  und  Karolingerzeit 

a)   Ein  bestimmtes  Forstrecht  wird  nicht  genannt 

D.  Chilperich  II.  (MG.  DD.I,  S.  75)  „totam  ipsam  forestem  Gemmeti- 
censem".   Vgl.  DK.d.Gr.  117;  DDL.  d.  Fr.  BiY\.  772*  und  917;  DDL.d.D. 


S.  oben  S.  138  Anm.  3. 

Vgl.  besonders  S.  141  ff.  usw. 


150  Hermann  Thimme 

BM.  1407  und  1434*  (1434  mit  dem  Zusatz:  „ad  saginandos  porcos  du- 
centos")  D.Ludwig III.  BM.  1567*. 

D.  Chilperich  II.  (a.  a.  0.  S.  77)  „foreste  nostra  Roverito  cum  omnem 
jure  vel  termene  ...  et  nulla  requisicione  nee  nullo  impedimento  ab 
judicibus  pubiicis  ...  ab  hoc  habire  non  pertimescat." 

D. Sigibert IL  (a.a.O.  S.22)  „ut  nullius  unquam  tempore  vitae  suae 
quelibet  persona  ipsam  forestem  audeat  irrumpere  aut  mansiones  aut 
domos  aedificare." 

D.  Childerich  II.  (a.  a.  0.  S.28*)  „üt  hoc  totum  et  ad  integrum  cum 
Dei  gratia  et  nostra  teneant  atque  possideant  cum  emunitate  nomenis 
et  in  eins  temporibus,  ut  absque  ullius  impugnatione  forestariorum  vel 
cuiuslibet  personae  liceat  ipsam  familiam  Dei  quieti  ordine  residere." 

b)  Betonung  von  Fischerei,  Jagd,  Immunität 

D.  Childebert  L  (a.a.O.  S.  7)  „Has  omnes  piscationes  ...  sicut  nos 
tenemus  et  nostra  forestis  est"  (s.  oben  S.  103). 

DK.  d.  K.  (Bouquet  VIII.  S.  558) :  „forestem  piscationis  atque  vena- 
tionis."  VgL  DDK.d.K.  a.a.O.  S.  618,  629  und  oben  S.  103. 

D.Pippin  (D.Karol.  I.)  28*:  „praecipimus,  ut  nulla  praesumptio  iudi- 
ciariae  potestatis  pro  quibusdam  occasionibus  aut  aliquid  exercitandum 
venationibus  absque  permissum  rectoris  ipsius  monasterii  ullo  umquam 
tempore  infra  ipsos  terminos  ibidem  ingredi  paenitus  non  praesumat." 

DK.  d.  Gr.  87*:  „foreste  Equalina  .  .  .  cum  utriusque  sexus  genera 
feraminum  ...  ita  ut  nullus  comes  nee  vicecomes  nee  vicarius  nee  cen- 
tenarius  nee  ullus  exactor  judiciariae  potestatis  aut  teloneum  aut  freda 
exigenda  aut  feramina  sine  licentia  abbatis  capienda,  aut  laqueos  ten- 
dere  vel  pedicas  aut  ullam  consuetudinem  .  .  .  superaddere  audeat." 

c)   Nutzungsrecht  unter  Königsbann  ^m 

D.Arnulf  BiV\.1840*  (s.  oben  S.  117, 128)  „dedimusque  illum  prefat" 
locum  . . .  cum  quadam  parte  silvae  et  foresti  . .  .  ut  prelibatae  res  suh 
eodem  banno  sicut  antea  fuit  ad  memoratam  ecciesiam  secure  per- 
tineant .  . .  Ea  videlicet  ratione,  ut  nullius  ordinis  vel  potestatis  persona 
ullo  umquam  tempore  infra  prescriptos  terminos  aut  venacionem  exer- 
cere,  seu  aliquam  infestacionis  calumniam  ingerere,  aut  ligna  cedere  ve 
fenum  secare  seu  aliquo  pastu  perfrui  seu  ullo  usu  omnio  potiri . . 
presumat." 


Forest!  s  151 

2.   Sachsen-  und  Salierzeit 

A.   Forstverleihungen 
a)   Ohne  Hervorhebung  des  Jagdrechts 
a)   Ohne  Bann. 

DO.I.  352*:  „foresto  de  Tribleo  .  .  .  forestum  pariter  de  Corezo." 
Vgl.  DO.II.  165*:  (forestem  a  termino  .  .  .  usque  .  .  .  ubi  terminus  forestis 
Ratpotoni  comitis  se  de  isto  disjungit),  DO.III.  384",  DDH.II.  17*  und 
210*,  DH.IV   St  2634. 

DH.II.  418*:  „quandam  nostrae  proprietatis  forestim  .  .  .  cum  omni 
jutilitate,  quae  ab  eodem  provenire  ullatenus  possit . .  .  concedimus." 
Konr.  IL' St.  1957  (mit  Pertinenz),  desgl.  1958  mit  Zusatz:  „ea  videlicet 
ratione,  ut .  . .  liberam  dehinc  habeant  potestatem  de  supradicto  foresto 
^enendi,  vendendi,  tradendi,  commutandi  vel  quicquid  sibi  placuerit 
faciendi." 

ß)   Mit  Bann. 

DO.ll.  165:  „forestum  Susel  cum  panno."  Vgl.  D0.I1I.  9;  DH.II.  253* 
(mit  ähnlichem  Zusatz  wie  DKonr.  1958.);  DH.IV.  St.  2631:  „forestum 
letiam  cum  nostro  banno  regali  per  omnem  comitatum,  hiis  tantum 
venationibus  exceptis." 

DH.II.  184*:  „cum  banno  nostro  ceterisque  eins  pertinentiis  seu 
cum  Omnibus  que  quolibet  modo  dici  vel  scribi  possunt  utilitatibus." 
Vgl.  DH.V.  St.  2886*.  DH.IV.  2619*:  „Quoddam  forestum  Luizhard  .  . . 
adauximus  ac  melioravimus.  .  . .  Hec  eiusdem  foresti  augmenta  cum 
banno  etiam  nostro  . .  donavimus,  . . .  ea  videlicet  ratione,  ut  prefatus 
lepiscopus  suique  successores  tali  deinceps  lege  ac  proprietate  his  ad- 
ditamentis  nostris  utantur,  quali  idem  episcopus  illo  antiquo  foresto 
Luizhard  hactenus  est  usus." 

b)   Mit  ausdrücklichem  Jagdverbot 

DO.I.  302*:  „quoddam  nemus  vel  forestum  .  .  .  donavimus,  ea  vi- 
delicet ratione,  ut  nullus  contumaciae  deditus  nemus  prelibatum  nostro 
videlicet  banno  munitum  sine  praedictae  sedis  episcopi  . . .  licentia  studio 
venandi  aut  aliquod  huiusmodi  negocium  peragendi  presumat  intrare."^ 

DH.II.  1*:  „regium  bannum  in  forestu  Forehahi  .  .  .  Hunc  prefatum 
forestum  cum  tota  integritate  et  universis  utilitatibus  ad  se  pertinen- 


^  In  Dti.II.  8  erweitert  um:  ,,cum  omni  integritate,  in  porcis  videlicet  silvaticis 
atque  cervis  omnique  venatione,  quae  sub  banno  usuali  more  ad  forestum  deputatur"; 
vgl.  Brandi,  Westd.  Ztschr.  19,  S.  125. 


I 


j^52  tiermann  Thimme 

tibus  concedimus  . . .  ut  nulla  de  eo  forestu  persona  parva  sive  magna 
aiiquam  feram  vel  bestiam  ibi  venari  .  .  .  presumat ...  et  bannus  ac 
pax  sicut  aliis  forestibus  a  regibus  vel  imperatoribus  jam  concessum 
est.,  consistat."  Vgl.  DO.II.  90;  DDO.lIl.  73,  164*,  233*,  252,  418; 
DO.I.  110*  (Fälschung  gegen  Ende  des  10.  Jahrhunderts,  vgl.  DK.d.Gr. 
268);  DDH.Il.  8*,  235*,  244*,  367*;  DDH.III.  St.  2344*,  2347*;  DDH.IV.  2568*, 
2586*,  2604*. 

DKonr.II.  St.l869:„forestum  etiam  cervorum  cervarumque  per  totum 
pagum  Sturmi."  ^ 

B.   Neueinforstungen 

DO.II.  39*:  „quicquid  in  ambitu  videretur  habere  .  .  .  totum  sibii 
in  forestum  nostra  imperiali  potencia  perpetuo  tenendum  concessimus... 
eo  tenore,  ut  omnia  hec  jam  dicta  hoc  terminorum  ambitu  circumclusa.., 
in  usum  foresti  deinceps  cum  omnibus  eorum  legalibus  justisque  ap- 
pendiciis  possidenda  constent."    Vgl.  DO.III.  93*. 

DO.III.  43*:  „concessimus  regium  bannum  in  silvis  .  . .  quas  ille 
cum  nostra  licentia  noviter  inforestavit  .  .  .  ea  videlicet  ratione  prae- 
dicta  Silvarum  spatia  concedimus  ...  in  forestum  redigi,  ut  . ."  folgt 
Jagdverbot.  Vgl.  D.Zwentebold  BM.1968*  (Fälschung  Ende  des  10.  Jahr^ 
hunderts)  DDH.IL  51*,  505*;  DKonr.II.  St.  1996*;  DH.III.  2436*.      ' 

DH.II.  496*:  „bannum  nostrum  super  feras  ...  in  legittimam  forestira 
indissolabiliter  stabilimus." 

DKonr.II.  St.  i960*:  „quandam  silvam  . . .  donamus  ab  hinc  sub 
forestis  nomine  perpetualiter  permanenda  banni  nostri  districtione  fir- 
missima  confirmamus."    Vgl.  DKonr.  2024*. 

DO.II.  221*:  „super  forestum  eundem  Branvirst  nominatum . . .  bannum 
nostrum  facere  jussimus  .  . .  ita  ut  nemo  preter  licentiam  predicti  abbatis 
...  in  eodem  foresto  . .  .  dehinc  venari  aut  alium  aliquem  usum  habere 
presumat."  Vgl.  DO.III.  243*;  DH.III.  St.  2369;  Dfi.IV.  2673*;  DDH.IV. 
2582  und  2588:  „wiltbannum  per  quoddam  forestum."  Vgl.  DH.IV. 
2580.    DKonr.II.  2042*:  „forestum  forestari." 

DO.III.  358*:  „statuimus,  ut  omnis  silva  .  . .  sicut  nostri  juris  pub- 
licum forestum  .  . .  forestata  habeatur . .  .  folgt  Jagdverbot.    Vgl.  DDH.IL  \ 
379*,  493*;  DDKonr.IL  St.  1983*,  1988*;  DH.IIL  2174*. 

DH.II.  726*:  „bannum  nostrum  super  feras  ...  in  feris  prescripto 
ambitu  forestandis  hanc  pacem  et  securitatem  de  caeteris  contermina- 
libus  et  circumsedentibus  .  . .  obtineat,  qua  haec  eadem  ceteraeque  ec- 


Forestis  153 

blesiae  hactenus  usi  sunt,  quae  ...  de  huiusmodi  fprestandis  silvis  vel 
[ilvulis  praecepta  susceperunt."    Vgl.  DDti.II.  327*,  350*. 

DO.II.  50*:  „omnes  bestias  inter  haec  loca  ...  et  bannum  et  potes- 
latem  bannique  super  eas  ad  regiam  pertinuit  potestatem."  Vgl.  DDti.II. 
i')4*,  80*,  186*,  188*. 

DH.IV.  St.  2732*:  „bannum  unum,  quod  vulgo  wiltban  dicitur." 
^gl.  DDH.IV.  2761*,  2762*,  2823*. 

C.   Consensus  ^ 


I 

|V   DO.III.  233:  „cum  consensu  Conrad!  ducis  ceterorumque  plurimorum 
iidelium  nostrorum." 


DO.II.  50:  „cum  populi  consensu." 

DO.III.  43:  „auctöritate  ac  voluntate  et  assensu  bonorum  militum 
[ärcüitü  habitantium."' 


j  DH.II.  54:  „bannum  super  agrestes  feras  . . .  tam  super  propriam 
erram,  quam  . .  .  sive  omnium  illorum  hominum  terras,  qui  in  presenti 
kl  in  futuro  rem  cum  eo  collaudabunt." 


DH.II.  80:  „assenciente  omni  populo  eiusdem  saltus  actenus  usum 
abente. 


DH.II.  184:  „secundum  collaudationem  comprovincialium  inibi predia 
labentium.''  Vgl.  DDH.II.  188,  327. 

DH.II.  379:  „consensu  vicinorum." 

DH.II.  496:  „consentientibus  atque  conlaudantibus  Eberhardo  epis- 
topo  cum  suis  militibus  . . .  ceterisque  insuper  eiusdem  regionis  com- 
)rovincialibus  maioribus  et  minoribus." 

DKonr.  II.  St.  1960:  „consensu  et  coUaudatione  provincialium  .  .  . 
2  Namen  . . .  penitusque  omnium  antea  in  eadem  silva  communionem 
enationis  habentium"  vgl.  DDKonr.  IL  1988,  2024. 

DKonr.  II.  1983:  „cum  consensu  et  laudatione  ...  12  Namen  ...  et 
aeterorum,  qui  amodo  per  eins  voluntatem  suorumque  successorum  id 
psum  collaudare-  voluerunt." 

DH.III.  St.  2344:  „bis  omnibus,  quos  in  presenti  conscribimus  lau- 
lantibus  atque  voluntarie  consentientibus  . .  .  Qui  antem  hoc  forestum 
ieri  laudaverunt  hi  sunt"  ...  29  Namen  genannt. 


^  Bresslau,  tidb.  d.  ürkundenlehre  S.  696f.;  s.  oben  S.  130f. 


I 


j[54  Hermann  Thimme,   Forestis 

DH.III.  2347:  „caeterisque  omnibus  ibidem  praedia  circumquaqut 
id  ipsum  forestum  attigentia  sive  aliquid  communionis  in  eo  haben- 
tibus  voluntario  consensu  conlaudantibus.' 

DH.III.  2436:  „collaudentibus  provinciarum  illarum  optimatibus.' 
(30  genannt.) 

DH.IV.  St. 2582:  „Consenserunt ...  quicunque  aliquod  praedium  au 
beneficium  sive  advocationem  in  bis  prescriptis  terminis  possederunt' 
Vgl.  DDH.IV.  2585,  2604,  2673. 

DK.d.Gr.  (DKarol.I,  273  Fälschung  von  1077):^  „collaudatione  iiliue 
regionis  potentum"  (Zusatz  zur  echten  Vorlage). 


^  Vgl.  Brandi  a.  a.  0. 


örkundenforschung 


von 


K.  Brandi 


Es  ist  gefährlich,  die  wissenschaftliche  Terminologie  zu  beunruhigen 
jund  neue  Ausdrücke  und  Bezeichnungen  an  die  Stelle  alteingebürgerter 
'zu  setzen,  auch  wenn  deren  ursprünglicher  Sinn  bis  an  die  Grenze 
der  Fassungskraft  gespannt  ist.  Manchmal  tut  das  freie  Fremdwort 
den  Dienst,  sich  immer  neue  Begriffserweiterungen  gefallen  zu  lassen, 
^eil  es  nicht  im  Widerstreite  steht  mit  dem  lebendigen  Inhalt  eines 
iGebrauchswortes  der  eigenen  Sprache. 

Das  Fremdwort  ,Diplomatik'  scheint  eben  deshalb  bequem  und 
itauglich  auch  für  den  wechselnden  Inhalt  einer  unablässig  werdenden 
und  täglich  bereicherten  Wissenschaft.  Allein  gerade  das  Wort 
, Diplom'  hat  in  der  diplomatischen  Terminologie  einen  eigenen  und 
ganz  besonders  engen  Sinn  erhalten,  dem  zwar  nach  Inhalt  und  Ab- 
sicht Mabillons  Bücher  De  re  diplomatica  (IdSl)  so  gut  wie  Theodor 
von  Sickels  „Beiträge  zur  Diplomatik"  (1861ff.)  einigermaßen  ent- 
sprachen, nicht  aber  die  inzwischen,  u.  a.  von  Sickel  selbst,  vor- 
genommene Ausweitung  unserer  Wissenschaft  So  glaube  ich  mich 
auch  in  der  Annahme  nicht  zu  täuschen,  daß  der  vulgäre  wissenschaft- 
jliche  Sprachgebrauch  mit  dem  Begriff  ,Diplomatik'  im  ganzen  die 
lengste  Vorstellung  verbindet,  daß  man  dabei  in  erster  Linie  nicht  nur 
;an  die  Methode,  sondern  auch  an  das  vornehmste  Material  jener  Be- 
gründer unserer  Wissenschaft  denkt. 

Nicht  unwesentlich  weiter  sind  stets  gewesen  die  Begriffe  , Urkunde' 
und  ,ürkundenlehre'.  1867  gab  Sickel  seine  „Lehre  von  den  Urkunden 
der  ersten  Karolinger"  heraus  und  1877  J.  Ficker  seine  „Beiträge  zur  Ur- 
kundenlehre", die  dem  Material  nach  weiter  ausgriffen  als  Sickels  Bei- 
träge zur  Diplomatik.  Entsprechend  hat  H.  Bresslau  1889  sein  „Hand- 
buch der  Urkundenlehre"  betitelt,  und  diese  Bezeichnung  ist  unter  Führung 
der  Österreicher  0.  Redlich  und  W.  Erben  soeben  (1907)  für  die  letzte 
große  systematische  Zusammenfassung  unseres  Wissens  wieder  fest- 


156  K.  Brandi 

gehalten  worden.  Man  braucht  nur  in  diesem  Buche  zu  blättern  oder 
sich  vorzustellen,  was  in  des  Mitherausgebers,  L  Schmitz-Kallen- 
berg,  „Lehre  von  den  Papsturkunden"  (nach  seiner  Skizze  in  Meisters 
Grundriß)  zu  lesen  sein  wird,  um  sofort  darüber  klar  zu  sein,  daß^ 
auch  hier,  wie  bei  Bresslau,  die  Welt  der  , Urkunde'  im  juristischen 
Sinne  weit  überschritten  wird.  Nicht  bloß  die  Entwürfe  zu  Urkunden' 
und  die  Kopien  von  Urkunden  —  Konzepte  und  Register  —  sind 
mit  in  den  Kreis  der  Betrachtung  gezogen,  nicht  bloß  die  Kanzleien, 
die  Urkunden  schrieben  und  besiegelten,  sondern  auch  die  damit  in 
Zusammenhang  stehenden  Finanz-  und  Gerichtsbehörden  und  wieder 
bei  allen  diesen  Behörden  nicht  nur  die  formellen  Ausfertigungen, 
„welche  bestimmt  sind,  als  Zeugnisse  über  Vorgänge  rechtlicher  Natur 
zu  dienen",  sondern  der  ganze  Bereich  ihrer  Schriftsätze  —  der  ,Akten'. 
Alles  das  mit  Recht,  denn  erstens  sind  diese  Akten  nach  ihrer  Ent- 
stehung nicht  zu  trennen  von  den  , Urkunden',  zweitens  sind  sie  (selbst 
die  juristische  Distinktion  zugestanden)  ihrem  Quellenwerte  nach  gleich- 
artig als  unmittelbare  Reste  und  Zeugen  vergangener  Wirklichkeiten, 
und  drittens  überwiegen  sie  an  Masse  und  Ergiebigkeit  (gerade  als 
absichtslose  Zeugnisse,  wie  etwa  kassierte  Konzeptkorrekturen)  weit  die 
eigentlichen  Urkunden,  sobald  man  einmal  die  frühen  Zeiten  eines  ge- 
bundenen und  schwerfälligen  Schrifttums  und  einer  sehr  wählerischen 
Überlieferung  verläßt. 

Systematik  und  Unterricht  werden  freilich  immer  von  der  „Urkunde 
im  Rechtssinne"  als  dem  strengsten  Begriff  ausgehen;  allein  ebenso 
sicher  ist,  daß  unsere  Wissenschaft,  wenn  anders  sie  lebt,  von  hier 
aus  immer  weitere  Kreise  in  das  Gebiet  der  Akten  hineinziehen  muß. 
Urkunden,  Briefe  und  Akten  nennen  wir  „urkundliche  Quellen"  im 
Gegensatz  zu  den  „literarischen".  Beide  werden  als  zwei  große 
Gruppen  zusammengehalten  nach  ihrer  Entstehung  und  nach  ihrer 
Überlieferung.  Die  einen  entstammen  der  freien  Gestaltungskraft,  nach 
den  nicht  allzu  harten  Gesetzen  der  literarischen  Tradition;  sie  bilden 
die  Bestände  der  Handschriftensammlungen  und  Bibliotheken.  Die 
anderen  entstammen  dem  Rechts-  und  Staatsleben  unmittelbar,  stehen 
im  Zwang  der  Bräuche  von  Kanzleien  und  Schreibstuben,  genießen  den 
Schutz  der  Registraturen  und  liegen  abgeschichtet  in  den  Archiven. 

So  faßt  man  längst  Briefe,  Urkunden  und  Akten  auch  in  einheit- 
lichen Publikationen  zusammen,  die  man  noch  nicht  einmal  immer 
nach  der  vorherrschenden  Kategorie  betitelt.  Man  ediert  „Urkunden 
und  Aktenstücke  zur  Geschichte  des  Kurfürsten  Friedrich  Wilhelm", 
„Briefe  und  Akten .  zur  Geschichte  des  16.  Jahrhunderts",  einen  „ür- 
kundenband  zur  Geschichte  Philipps  des  Großmüthigen"  (obwohl  darin 
wesentlich  Briefe),  „Deutsche  Reichstagsakten"  (obwohl  die  im  Mittelpunkte 


1 


ürkundenforschung  157 


;tehenden  Abschiede  selbst  Urkunden  sind).  Mittelalterliche  ürkunden- 
)ücher  sind  voll  von  Rechnungen  und  Briefen.  Mit  Recht  nimmt 
n'emand  daran  Anstoß.  Nur  wenn  die  Disharmonie  zwischen  Titel  und 
nhalt  gar  zu  stark  wird,  wenn  man  etwa  unter  dem  Titel  eines  „Brief- 
ii^echsels"  oder  der  „Korrespondenz"  eines  Fürsten  ganz  allgemein 
^kten,  Protokolle  und  Urkunden  publiziert,  —  leidet  nicht  nur  die 
bequeme  Übersicht,  sondern  auch  die  sachlich  gebotene  methodische 
!)ehandlung,  wie  ich  das  gelegentlich  an  einem  Einzelfall  dargetan 
labe  (Gott.  Gel.  Anz.  1902,  113  und  1905,  901). 

In  allen  diesen  Fragen  erfreue  ich  mich  der  vollkommenen  Über- 
instimmung  mit  den  Ausführungen  von  H.  Steinacker.^  Es  ist  auch 
nzweifelhaft  richtig,  daß  historisch,  —  entwicklungsgeschichtlich  — 
lle  diese  urkundlichen  Quellen  auf  die  „zwei  Wurzeln:  Brief  und  Ur- 
unde",  man  kann  auch  sagen:  auf  die  schriftliche  Mitteilung  und  das 
rotokoll  der  mündlichen  Verhandlung,  zurückgehen. 

Gewiß  ist  der  allgemeinste  Begriff  derjenige  der  ,Akten',  der 
,ngste  Begriff  der  ,Brief.  Dagegen  wird  , Urkunde*  im  engeren  und 
/eiteren  Sinne  gebraucht;  auf  der  einen  Seite  hat  das  Wort  nach 
einem  ursprünglichen  Sinn  den  allgemeinen  Inhalt  von  „Zeuge"  und 
Zeugnis"  behalten;  auf  der  anderen  nach  der  Geschichte  der  Wissen- 
chaft  in  Deutschland  eine  starke  Assoziation  des  Begriffes  der  metho- 
ischen  Forschung  gewonnen.  Deshalb  empfiehlt  es  sich  in  der  Tat, 
n  diesem  Wort  für  den  ganzen  Bereich  urkundlicher  Quellen  und 
rkundlicher  Forschung  festzuhalten,  und  wir  haben  auch  für  unsere 
eitschrift  die  glückliche  Prägung  unseres  Herrn  Verlegers  „Archiv  für 
rkundenforschung"  gern  akzeptiert. 


Als  wir  dem  ersten  Heft  ein  Geleitwort  auf  den  Weg  gaben,  schien 
s  uns  im  übrigen  unnötig,  so  weit  auszuholen  oder  gar  zur  Begrün- 
jung  unseres  Vorhabens  ein  irgend  erschöpfendes  Bild  von  der  Ge- 
richte unserer  Wissenschaft  zu  geben.  Wir  glaubten  uns  beschränken 
a  sollen  auf  den  Ausdruck  der  Hoffnung,  die  wir  an  diese  Sammlung 
jrößerer  Arbeiten  zur  Urkundenforschung  knüpften,  der  Hoffnung  auf 
M^rlichen  Austausch  unter  den  jüngeren  Forschern,  der  Hoffnung 
iuf  allgemeinere  Anregungen  und  Ausweitung  der  Probleme,  kurz  der 
Öffnung  auf  eine  günstige  Rückwirkung  gleichgestimmter  methodischer 
orschung  auf  die  gesamte  Urkundenwissenschaft  und  ihre  Pflege  an 
nseren  Hochschulen.  Zu  unserer  Freude  befanden  wir  uns  in  wesent- 
chen  Punkten  im  Einklang  mit  denjenigen  Fachgenossen,  die  damals 


^  Theodor  von  Sickel,  Festworte.     Mit  einem  bibliographischen  Anhang.    Wien 
W.    S.  12,  13f. 


I 


158  K.  Brandi 

und  seither  zu  solchen  Fragen  Stellung  genommen  haben.^  H.  Stein- 
acker urteilte  in  seiner  Festrede  auf  Sickel,  S.  15 f.  ganz  ähnlich  über 
die  Aufgaben  unserer  Wissenschaft,  und  fand  auch  (Mist.  Ztschr.  100, 
365)  die  neue  Zeitschrift  „sehr  begrüßenswert";  ähnlich  urteilte,  wenn 
auch  mit  Vorbehalt,  Redlich  (Mitt.  d.  Inst,  für  österr.  Gesch.  1907,  711) 
und  selbst  K.  Uhlirz  erklärte  in  der  „Deutschen  Literaturzeitung  1908,' 
Sp.  1351,  die  Begründung,  daß  „an  unseren  Universitäten  und  Archiven 
kaum  die  alte  Diplomatik  recht  eingebürgert"  sei,  gelte  in  der  Tat  „für 
einen  Teil  der  Universitäten  des  Deutschen  Reiches  noch  heute,  und' 
rufe  die  Erinnerung  an  den  hartnäckigen  Widerstand  hervor,  der  dort 
durch  Jahrzehnte  dem  Betriebe  hilfswissenschaftlicher  Studien,  die  an 
den  österreichischen  Universitäten  seit  einem  halben  Jahrhundert  eifrige 
Pflege  gefunden  haben,  entgegengesetzt  wurde". 

Umso  befremdlicher,  daß  unsere  verehrten  österreichischen  Kollegen 
statt  sich  zu  freuen  über  verspätete  Einsicht,  den  größten  Teil  unserer 
„Einführung"  vollkommen  mißverstanden  haben  und  insbesondere 
Uhlirz  seiner  Verstimmung  über  das  ganze  Archiv  in  unzweideutigei' 
und  zugleich  unerfreulicher  Weise  Ausdruck  gegeben  hat.  I 

Es  ist  eine  unzutreffende  Berichterstattung,  wenn  Uhlirz  den  ent-i 
scheidenden  ersten  Satz  unserer  Einführung  über  den  Zweck  des  Archivs 
den  Lesern  der  „Deutschen  Literaturzeitung"  vorenthält,  daß  nämlich 
„das  Archiv  eine  Vereinigungsstelle  sein  solle  für  solche  gelehrter 
Untersuchungen,  die  den  Umfang  von  Zeitschriftenaufsätzen  über- 
schreiten, insbesondere  für  alle  allgemeinen  und  systematischen  Ar- 
beiten auf  dem  Gebiet  der  Urkundenwissenschaft  in  weiterem  Sinne" 
Denn  danach  hätte  er  uns  nicht  mehr  (wie  er  es  gleich  im  Eingang 
tut)  das  alte  Recht  der  „Mitteilungen  des  Instituts  für  österreichische 
Geschichtsforschung"  entgegenhalten  dürfen.  Aus  demselben  Grunde 
war  es  verfehlt,  die  Gefahr  einer  weiteren  Zersplitterung  an  die  Wanc 


^  Ich  nenne  vor  allem  G.  Seeligers  ausführliciie  Anzeige  in  seiner  Historischei 
Vierteljahrsschrift  1908,  I,  75 ff.  —  Auf  briefliche  Äußerungen  dachte  ich  mich  hie 
nicht  zu  beziehen;  nachdem  mir  aber  H.  Bresslau  soeben  die  gewichtigste  von  allen 
zugänglich  gemacht  hat,  will  ich  wenigstens  diese  eine  hierher  setzen.  Th.  v.  Sicke 
beantwortete  am  11.  April  1907  eine  Zusendung  und  knüpfte  daran  die  Bemerkung 
„Wenn  vollends,  trotz  aller  nach  und  nach  erkannten  Ausnahmen  die  Regel  fest 
gehalten  und  von  neuem  eingeschärft  wird ,  bin  ich  gradezu  dankbar  für  solch 
Arbeit.  In  gleichem  Sinne  begrüße  ich  den  mir  gestern  zugegangenen  Prospekt  de 
Archivs  für  Urkundenforschung"  —  und,  nach  einigen  Bemerkungen  über  Bresslau 
Anwendung  der  diplomatischen  Methode  auf  die  Kassettenbriefe,  —  „Ihre  trefflich 
Abhandlung  hat  mich  in  solchem  Versuch  bestärkt  und  ich  habe  an  diese  oft  ge 
dacht,  als  ich  später'  meine  Römischen  Berichte  vorbereitete.  So  findet  die  in 
Prospekt  angekündigte  Ausdehnung  der  diplomatischen  Forschung  auf  das  neuer 
Material  meinen  vollen  Beifall." 


ürkundenforschung  •    ^59 

ZU  malen,  denn  was  sollen  im  „Neuen  Archiv"  und  „in  landes-  und 
iortsgeschichtlichen  Zeitschriften"  die  „allgemeinen  und  systematischen 
lArbeiten"?  und  in  welchen  Zeitschriften  konnten  bisher  alle  jene 
spezialdiplomatischen  Abhandlungen  Unterkunft  finden,^  die  als  Disser- 
tationen heute  auf  den  Bibliotheken  vielfach  nur  als  Teildrucke  erhält- 
lich sind?! 

I  Es  ist  ferner  höchst  überflüssig,  daß  sich  ühlirz  unsere  Köpfe 
darüber  zerbricht,  „ob  der  Stoff  für  eine  selbständige  Zeitschrift  aus- 

|reichen,  ob  es  nicht  notwendig  sein  wird minderwertige  Arbeiten" 

aufzunehmen.  Uns  sind  alle  tüchtigen  Arbeiten  willkommen,  minder- 
wertige haben  wir  bisher  schon  abgelehnt,  und  nachdrücklich  müssen 
wir  dagegen  Einspruch  erheben,  daß  gegen  unser  Unternehmen  so  ins 
Blaue  hinein  Stimmung  gemacht  wird. 

I  Ebenso  erscheint  uns  gänzlich  deplaciert  Uhlirz'  Befürchtung  „daß 
jden  Hilfswissenschaften  die  selbständige,  aus  dem  Zusammenhange 
mit  der  geschichtlichen  Forschung  im  allgemeinen  gelöste  Stellung 
picht  zum  Guten  ausschlagen  werde",  —  „trotz"  unserer  „schönen 
^Vorte".  Wie  äußerlich  und  wie  unhöflich!  Wir  sind  doch  wahrhaftig 
nach  unserer  ganzen  Lebensarbeit  die  letzten,  die  einer  Auslösung  der 

filfswissenschaften  aus  der  allgemeinen  Geschichte  das  Wort  reden; 
nd  es  ist  mehr  als  komisch,  daß  der  Herr  Rezensent  in  meinem  Auf- 
satz über  den  byzantinischen  Kaiserbrief  und  die  fränkisch -byzanti- 
bischen  Beziehungen  gerade  das  überflüssig  findet,  was  diesen  Zu- 
sammenhang aufs  lebendigste  dokumentiert. 

Wie  Uhlirz  die  einzelnen  Abhandlungen  bewertet,  die  seinem 
Verständnis  zum  Teil  offenbar  fernerliegen,  mag  auf  sich  beruhen;  er 
möge  die  Äußerungen  von  Seeliger  und  Steinacker  und  diejenige 
feines  Sachkenners  in  der  Byzantinischen  Zeitschrift  XVII,  230f.  nach- 
lesen und  sich  sagen,  daß  man  über  sehr  mühsame  Untersuchungen 
mit  neuen  Materialien  in  noch  unerschlossenen  Gebieten  etwas  zurück- 
naltender  urteilen  sollte.  Allein  diese  frostig  abwehrende. Behandlung 
pes  einzelnen  ist  unverkennbar  nur  der  Ausfluß  eines  mir  wenigstens 
Unbegreiflichen  Ärgers  über  das  Gesamtunternehmen  und  seine  Be- 
gründung. Denn  eben  diese  ist  von  ihm  teils  völlig  mißverstanden, 
'eils  ganz  ungerecht  gewürdigt  worden. 

In  unserer  Einführung  ist  kein  anderer  Name  genannt,  als  der- 
enige"  Theodor  von  Sickels,  und  zwar  nur  im  Zusammenhang  eines 
ausdrücklichen  Bekenntnisses  zu  seiner  Methode  und  zu   seinen  An- 


^  Beispielsweise  die  Studien  zur  »Privaturkunde*,  über  die  soeben  Steinacker 
n  den  Mitteilungen  des  Instituts  für  österr.  Gesch.  1908,  XXIX,  347 ff.  berichtet. 
vVie  erwünscht  wäre  es,  sie  irgendwo  beieinander  zu  haben. 


I 


160  '  K.  Brandi 

regungen.^  „Die  grundlegende  Methode  der  ürkundenkritik  ist  —  durch 
th.  V.  Sickel  im  Prinzip  zum  Abschluß  gebracht",  —  und  „indem  wir 
an  die  Arbeiten  Sickels  und  seiner  Generation  überall  anknüpfen", 
wollen  wir  —  natürlich  in  seinem  Sinne  —  „vordringen  zu  einer 
möglichst  genauen  Erkenntnis  der  Bedingtheiten  und  damit  der  histo- 
rischen Verwendbarkeit  unserer  urkundlichen  Quellen".  Herr  Uhlirz 
wird  doch  nicht  behaupten  wollen,  daß  auch  hier  schon  ein  Abschluß 
erfolgt  sei?!  Zu  den  Worten  aber  „und  seiner  Generation"  macht  er 
ein  Ausrufungszeichen;  ich  möchte  wissen,  was  das  soll?  Gehört 
Julius  Ficker,  dessen  Schüler  wir  alle  sind,  auch  diejenigen  die  nie 
zu  seinen  Füßen  gesessen  haben,  nicht  zu  Sickels  Generation?  Und 
darf  ich  als  Schüler  von  P.  Scheffer-Boichorst  und  Victor  Bayer  mich 
nicht  in  unmittelbarer  Tradition  jener  Generation  fühlen?  Ist  Stumpf- 
Brentano  so  gar  nichts  gewesen,  und  darf  man  neben  Sickel  nicht 
auch  an  Jaffe  denken,  der  Bresslaus  und  Posses  eigentlicher  Lehrer 
war?  Oder  sollen  wir  verpflichtet  sein,  nur  an  die  Generation  von 
Sickelschülern  anzuknüpfen,  zu  denen  ühlirz  gehört? 

Die  eigentliche  Versündigung  gegen  das  Andenken  Sickels  soll 
aber  darin  liegen,  daß  Sickel  als  Vertreter  einer  „alten"  Diplomatik  hin- 
gestellt werde,  demgegenüber  es  nun  zu  einer  „neuen"  Diplomatik 
kommen  müsse.  Sehr  ausführlich  sucht  uns  ühlirz  zu  belehren,  daß 
alles  was  wir  von  der  Zukunft  erwarteten,  auch  von  Sickel  schon  — 
gefordert  sei,  und  mit  Emphase  schließt  seine  lange  Auseinander- 
setzung: „Neue  wissenschaftliche  Bahnen  hat  das  Archiv  für  ürkunden- 
forschung  also  nicht  gewiesen." 

Mit  Verlaub  —  wo  steht  denn  in  unserer  Einführung  irgend  etwas* 
dergleichen  ?  .  Wo  steht  irgend  etwas  von  einer  Gleichsetzung  defi 
Arbeiten  Sickels  mit  „alter  Diplomatik"?  Ein  unbefangener  Leser  wirdi 
gar  nicht  auf  die  Idee  solcher  Charakteristik  kommen,  und  selbsti 
ühlirz  muß  gestehen  (Sp.  1351),  daß  er  sie  „nur  aus  einem  Satze,  der^ 
sich  wenige  Zeilen  vorher  findet",  geschlossen  habe.  Nun  muß  man 
eine  gewagte  Interpretation,  einen  unsicheren  „Schluß"  nach  allen 
Regeln  philologischer  Kritik  an  ihren  Konsequenzen  prüfen,  tiier* 
wäre  die  Konsequenz  des  Schlusses  von  ühlirz,  daß  wir  von  Sickel 
sagten:  er  sei  „ausgegangen  von  forensischen  Interessen  —  und  von 
forensischer  Methode"!  Einen  solchen  Unsinn  wird  uns  doch  selbst; 
ühlirz  nicht  zutrauen. 

Für  ihn  scheint  es  nichts  zu  geben  als  für  oder  gegen,  vor  oder 

^  Wie  auch  Bresslaus  Vorrede  zum  3.  Bande  der  Diplomata  gipfelt  in  dem 
Satze:  „und  wenn  er  niemals  unser  Lehrer  gewesen  ist,  so  bekennen  wir  uns  darum 
nicht  minder  als  seine  dankbaren  Schüler"  (MG.  DD.  III,  XV).  Für  Tan  gl  darf  ich 
mich  jetzt  auf  seinen  Nachruf  auf  Sickel  beziehen  (NA.  XXXIII,  773ff.  778). 


ürkundenforschung  151 

nach  Sickel.  Aber  er  möge  anderen  erlauben,  auf  die  Wurzeln  unserer 
jWissenschaft  gelegentlich  zurückzugreifen  und  in  einzelnen  Zügen, 
z.B.  der  unverhältnismäßigen  Bevorzugung  der  ,ürkunden'  im  Rechts- 
,sinn,  die  späten  Nachtriebe  der  „alten  forensischen  Diplomatik"  zu 
bezeichnen.^  Denn  daß  dem  so  ist,  wird  doch  nicht  bestritten  werden 
'können :  Ausgegangen  ist  die  Kritik  der  Publizisten  des  XVI.,  XVII. 
XVIII.  Jahrhunderts  von  Rechtsstreitigkeiten ,  von  den  produzierten 
Urkunden,  und  wie  es  seit  dem  Altertum  den  Begriff  und  das  Delikt 
der  Urkundenfälschung  und  damit  eine  forensische  Urkundenkritik, 
mehr  oder  minder  entwickelt  oder  unentwickelt,  gegeben  hat,  so  ist 
die  Diplomatik  langehin  nur  die  freie  Umsetzung  des  Rechtsinteresses 
in  ein  wissenschaftliches,  und  bis  heute  hat  sie  nicht  mit  Unrecht  auf 
die  Echtheitskritik  den  Hauptnachdruck  gelegt.^  Die  von  Uhlirz  heran- 
gezogene Stelle  aus  Sickels  Lehre  von  den  Urkunden  der  ersten  Karo- 
linger, S.  62:  „...um  dieser  Aufgabe  willen  —  hat  man  die  Diplo- 
'matik  früher  einfach  definiert  als  ars  diplomata  vera  et  falsa  discernendi; 
.  .  .  aber  in  Wirklichkeit  leistet  sie  mehr"  usw.  —  diese  Stelle,  weit 
jentfernt  gegen  uns  Zeugnis  abzulegen,  gibt  vielmehr  mit  Sickels  eigenen 
Worten  annähernd  dasselbe,  was  wir  „an  die  Arbeiten  Sickels  und 
seiner  Generation  überall  anknüpfend"  aufs  neue  als  Ziel  einer  um- 
Ifassenden  Urkundenwissenschaft  hinstellen. 

IH    Nun  ist  dem  Irrtum  von  Uhlirz  auch  H.  Steinacker  verfallen,  ob 

IH  sich  schon  viel  höflicher  ausdrückt  und  viel  ernstlicher  auf  Würdi- 

^ng  und  Verständigung  bedacht  ist.    Doch  über  die  Art  wie  er  sich 

unsere  scheinbare  Meinungsverschiedenheit  konstruiert  und  den  Lesern 

jder  Historischen  Zeitschrift  (Bd.  100,  S.  365ff.)  vorführt,  muß  ich  mich 

ibeschweren.     Er  zitiert   unsere   Einführung  wörtlich,    stellt   aber   die 

iSätze  beliebig  um  und  setzt  beliebig  eigene  oder  verstellte  „Dagegen" 

j„aber",  „zwar",  und  „neu"  ein;  das  ist  nicht  erlaubt.    Nachdem  er  erst 

lunsere  Worte  über  Sickels  Methode  und  die  von  ihm  angeregten  „er- 

|sprießlichsten  spezialdiplomatischen  Untersuchungen"  zitiert  hat,  fährt 

jer  (unter  Aufnahme   eines   in  Wahrheit  vorhergehenden  Satzes)   fort: 

,Dagegen  soll  nun  die  neue  „umfassende  und  zugleich   eindringende 

Urkundenwissenschaft"    zwar  „an   die  Arbeiten   Sickels   usw.   überall 

[anknüpfen"  aber—  „vordringen  zu  einer  möglichst  genauen  Kenntnis" 

iusw.'    Da  er  sich  so  einen  Gegensatz  künstlich  konstruiert  hat,  der  in 


'  Vgl.  dazu  P.  Kehr,  Gott.  Gel.  Anz.  1906,  595  (unten  S.  165). 

^  Da  die  forensische  Kritik  noch  heute  besteht  und  ihre  eigenen  technischen 
Begriffe  prägt,  so  kann  auch  heute  die  ürkundenlehre  meines  Erachtens  nicht  ganz 
daran  vorbeigehen,  wie  ich  in  der  Besprechung  von  Redlichs  ürkundenlehre 
(Deutsche  Lit.-Ztg.  1907,  2534)  betont  habe. 

AfU     II  11 


I 


162  K.  Brandi 

Wahrheit  gar  nicht  vorhanden  ist,  rückt  er  mir  vor,  ich  setze  mich  in  , 
Widerspruch  mit  eigenen  früheren  Äußerungen.  I 

In  der  Tat  habe  ich  (1898)  den  Aufsatz  Müh! bachers  über  Kaiser-' 
Urkunde  und  Papsturkunde  (Mitt.  des  Inst.  f.  österr.  Gesch.  Erg.-Bd.  IV) 
einen  köstlichen  Anfang  vergleichender  Diplomatik  genannt  und  „ein 
ganzes  Programm"  darin  gefunden  (Hist.  Ztschr.  83,  152);  ich  habe' 
auch  im  Anschluß  an  Sickels  „Römische  Berichte"  gerühmt,  wie  sehr 
„vorbildlich  (Sickel)  die  historischen  Materialien  nach  ihren  Entstehungs- 
und Überlieferungsverhältnissen"  betrachte;  nicht  minder  (Hist.  Ztschr. 
96,  487)  —  übrigens  auf  Sickels  briefliche  Bitte  —  die  Publikation 
von  Jos.  Susta  angezeigt  und  seine  Bearbeitung  der  Tridentiner  Kon- 
zilsakten für  musterhaft  erklärt,  und  hinzugefügt:  „es  hat  doch  ein  all- 
gemeineres Interesse  zu  sehen,  wie  sehr  sich  die  methodische  Schulung 
an  der  mittelalterlichen  Diplomatik  auch  auf  anderem  Gebieten  be- 
währt". Und  endlich  habe  ich  (Deutsche  Lit-Ztg.  1907,  2534)  auch 
Erben-Redlichs  ürkundenlehre  „einen  Abschluß  im  Sinne  der  Sickel- 
schen  Lebensarbeit"  genannt,  von  der  in  unserer  Einführung  gesagt 
war,  sie  habe  in  erster  Linie  „die  ersprießlichsten  spezialdiplomatischen 
Untersuchungen  angeregt". 

Alles  das  würde  ich  auch  heute  noch  gerade  so  sagen,  glaube 
auch  damit  durchaus  im  Einklang  zu  sein  mit  den  richtig  verstandenen 
Äußerungen  unserer  Einführung.  Im  übrigen  will  ich  gar  nicht  urgieren, 
daß  ein  „Programm"  eben  ein  Programm  ist,  und  daß  die  Arbeiten 
über  das  Trienter  Konzil  der  Gegenwart  angehören  in  der  wir  noch 
stehen.  Wohl  aber  muß  ich,  wieder  nach  allen  Regeln  historischer 
Kritik  fordern,  daß  man  sich  von  den  Anschauungen  eines  Menschen 
ein  Bild  mache,  nicht  nach  einem  selbstkonstruierten  Widerspruch, 
sondern  nach  seinem  Verhalten  und  nach  seinen  unzweideutigen,  in 
diesem  Fall  sogar  zahlreichen,  und  einem  langen  Zeitraum  angehörigen 
Äußerungen.^  Und  was  die  Spezialdiplomatik  angeht,  so  sagt  (Sp.  1352) 
doch  auch  ühlirz  genau  wie  unsere  Einführung,  daß  „die  Richtung  auf 
die  Spezialdiplomatik  zunächst  maßgebend  werden  mußte"  und  Stein- 
acker meint  am  Eingang  seiner  Besprechung  von  Erben-Redlich  nicht 
minder,  daß  sie  ihre  „Aufgabe  richtig  gestellt"  hätten,  „daß  die  spezial- 
diplomatische Behandlung  dem  Entwicklungsgange  der  modernen  Diplo- 
matik" entspreche. 

Daß  ich  in  der  Sache,  insbesondere  bezüglich  der  Aufgaben  für 
die  Zukunft,  wenigstens  mit  Steinacker  vollkommen  übereinstimme, 
will  ich  noch  durch  zwei  Äußerungen  illustrieren,  die  geradezu  drastisch 

^  Ich  zitiere  noch  die  prinzipiellen  Bemerkungen  in  meiner  Besprechung  von 
Küch,   Politisches  Archiv  Philipps  d.  Gr.  von  Hessen  (Gott.  Gel.  Anz.  1905,  QOlff.). 


ürkundenforschung  163 

zeigen,  wie  sehr  mit  Unrecht  unsere  österreichischen  Kollegen  an 
der  Grundtendenz  unseres  Programms  gemäkelt  haben.  Sie  nehmen 
Anstoß  daran,  —  am  meisten  ühlirz,  aber  auch  Redlich  und  Stein- 
acker —  daß  wir  nicht  nur  „der  ürkundenwissenschaft  die  uns  (den 
Herausgebern)  als  die  wichtigste  neuere  Errungenschaft  auf  dem  Ge- 
biete der  historischen  Methode  erscheint",  erhebliche  Aufgaben  zu- 
messen im  Gesamtbetriebe  der  historischen  Wissenschaften,  sondern 
dazu  bemerken:  „für  solche  Dienste  der  Diplomatik  sind  die  Voraus- 
setzungen in  weitem  Umfange  noch  zu  schaffen."  Ferner  daran,  daß 
jiach  unserer  Meinung  „gewisse  bisher  stark  vernachlässigte  Gruppen 
irkundlicher  Quellen  erst  in  die  methodische  Bearbeitung  hineingezogen 
—  werden"  müssen. 

Nun  schließt  Steinacker  selbst  seine  Festworte  auf  Sickel  (S.  15): 
,ünd  so  wie  es  heute  keinen  Historiker  gibt,  der  nicht  die  methodische 
Kritik  erzählender  Quellen  verstünde,  so  wird  wohl  auch  die  Zeit 
kommen,  wo  die  von  Sickel  begründete  Methode  der  Kritik  nicht- 
iterarischer  Quellen  zum  eisernen  Bestand  der  Fachbildung  gehören 
vird.  Vorher^  aber  muß  sich  diese  Methode  erst  noch  für 
alle  die  aufgezählten  Quellenarten,  namentlich  die  neuzeit- 
ichen  allgemein  durchsetzen,  und  in  diesem  Sinne  ist  der  Name 
Sickels  auf  lange  Zeit  hinaus  ein  Programm. 

Wir^  sind  gewiß  noch  weit  von  diesem  Ziele." 
Und  in  der  Besprechung  von  Erben-Redlich  sagt  Steinacker  (a.  a.  0. 
5.  368):  „wir  sind  heute  ganz  klar  über  die  ,idealen'  Forderungen  an 
he  diplomatische  Bearbeitung  des  ganzen  für  die  Geschichte  einer 
Nation  vorhandenen  Urkundenstoffes.  Jüngst  hat  sie  Brandi  im  Hin- 
Mick  auf  das  geplante  Corpus  aller  griechischen  Urkunden  sehr  klar 
ormuliert  (Byzant.  Ztschr.  XIll,  690ff.).    Aber  von  der  praktischen  Durch- 

ührung  sind  wir  in  Deutschland  selbst  noch  weit  entfernt. Für 

lie  Mehrheit  der  Historiker  wäre  die  Privaturkunde  das  wichtigste 
liplomatische  Gebiet.  Und  gerade  hier^  kann  die  Urkundenlehre 
leute  noch  kaum  mehr  als  die  Probleme  formulieren." 


Wahrhaftig,  wir  sind  noch  weit  vom  Ziele!  Ehe  wir  uns  in  selbst- 
;ufriedener  Behaglichkeit  sagen:  der  Weg  ist  ja  gewiesen,  es  bedarf 
leiner  neuen  Aufklärung,  —  wollen  wir  schon  lieber  hundertmal  aufs 
leue  nach  den  Wegen  und  nach  den  Zielen  fragen. 

Und  haben  wir  nicht  schon  im  ersten  Bande  neue  Gebiete  berührt 
)der  weiter  aufgeschlossen?  Freilich  im  Verein  mit  anderen,  wie  es 
'n   aller  Wissenschaft   zu   sein   pflegt.     Was  hat  es  denn  bisher  an 


I 


^  Von  mir  gesperrt. 

11* 


j^54  K.  Brandi 

Führung,  ich  will  gar  nicht  sagen  Untersuchungen,  auf  dem  Gebiete 
des  byzantinischen  Urkundenwesens  gegeben,  bevor  C.  Neu  mann 
Krumbacher,  P.  Marc  und  ich  hier  einsetzten?  Was  hat  es  denn 
auf  dem  Gebiet  des  altrömischen  Urkundenwesens  an  zusammenfassen- 
den Arbeiten  vor  den  Studien  von  Faaß  gegeben?  Wer  hatte  die 
Anregungen  von  Bresslau  und  Steinacker  über  das  römische  Re- 
gisterwesen aufgenommen  in  so  umfassender  Art  wie  jetzt  R.  v.  Heckel 
auf  Veranlassung  von  Tangl. 

Über  alles  das  was  von  uns  in  der  Einführung,  S.  2  und  3  über 
weitere  Aufgaben  unserer  Wissenschaft  gesagt  worden  ist,^  hat  Herr 
Uhlirz  sich  vollkommen  ausgeschwiegen:  er  wird  weder  behaupten 
können,  daß  sie  bereits  gelöst  seien,  noch  bestreiten  wollen,  daß  ihre 
Lösung  dringend  wünschenswert  ist.  An  dieser  Stelle  hätte  seine 
Kritik  einzusetzen  gehabt.  Statt  dessen  begnügt  er  sich  mit  der  höchst 
überflüssigen  und  mißverständlichen  Erklärung:  „neue  wissenschaftliche 
Bahnen  hat  das  Archiv  für  Urkundenforschung  nicht  gewiesen." 

Wieder  verhält  sich  Steinacker  erheblich  verständnisvoller.  Nur 
vermag  ich  sein  freundliches  Zugeständnis,  die  „neue  Diplomatik"  ver- 
lege den  Schwerpunkt  des  Interesses  von  der  Wertung  der  Urkunden 
auf  die  kulturgeschichtliche  Verwendbarkeit  ihrer  formalen  Elemente, 
schon  deshalb  nicht  anzunehmen,  weil  zumal  in  so  enger  Fassung  von 
einer  neuen  Diplomatik  überhaupt  nicht  die  Rede  sein  kann.  Wohl 
aber  bin  ich  allerdings  der  Meinung  —  und  darin  befinde  ich  mich 
im  Einklang  mit  meinen  verehrten  Freunden  und  Meistern  L  Traube 
und  Wilhelm  Meyer  — ,  daß  zu  dem  mittelalterlichen  Quellenforscher 
auch  die  Schrift  mit  ihrem  vielgestaltigen  Leben  in  Wahrheit  sprechen 
sollte.  Denn  auch  sie  „hat  ihr  eigenes  Wesen,  auch  sie  ist  ein  zartes 
Abbild  des  Menschlichen".  Daß  „Schrift  und  Urkundenwesen  nicht 
Kulturgebiete  selbständiger  Art"  seien,  „wie  Recht,  Sprache,  Kunst",  kann 
ich  nicht  zugeben.  Wie  Sprache  und  Kunst  sind  sie  Formen  der  Mit- 
teilung, gewiß  untergeordnet  für  die  meisten  Menschen;  aber  einen 
rechten  mittelalterlichen  Historiker  kann  ich  mir  nicht  denken  ohne' 
Organ  für  alles  das,  was  schon  für  sich  Handschriften  und. Urkunden 
aussagen.  Nimmt  man  sie  zugleich  als  „Ausdruck  für  die  weiteren 
Zusammenhänge  der  Kultur,"  so  können  sich  auch  dabei  bescheidene, 
aber  darum  doch  nicht  verächtliche  Ergebnisse  erzielen  lassen.  ^ 

*  Nach  den  verschiedensten  Richtungen  hin  hätten  diese  Bemerkungen  noch  aus- 
geführt werden  liönnen,  ich  erinnere  nur  an  das  große  Gebiet  des  englischen  ürl<unden- 
wesens,  das  ich  berührt  habe  in  der  Anzeige  der  Facsimiles  of  royal  and  other 
charters  in  the  British,  Museum  (I,  1903)  in   den  Gott.  Gel.  Anz.  1905,  954  u.  a.  m. 

'^  Geradezu  glänzend  müssen  die  Ergebnisse  genannt  werden  die  L.  Traube 
in  den  Nomina  sacra  lediglich  aus  der  Untersuchung  der  Abkürzungsformen  ge- 
wonnen hat.     Vgl.  jetzt  auch  L.  Traube,  Vorlesungen  und  Abhandlungen  I,  132 ff  ; 


ürkundenforschung  165 


Eben  deshalb  wird  keinem  Vernünftigen  einfallen,  derartige  Dinge 
in  den  Mittelpunkt  der  Wissenschaft  rücken  zu  wollen.  Aufgabe  des 
jürliundenforschers  und  gerade  des  ürkundenforschers  ist  nur,  sich  gar 
nichts  entgehen  zu  lassen,  da  nun  einmal  gerade  die  urkundlichen 
Quellen  als  Stücke  vergangener  Wirklichkeiten  überreich  sind  an  ab- 
sichtslosen und  deshalb  höchstwertigen  Zeugnissen. 


Allein  die  ,neuen*  Probleme  und  Betrachtungsarten  mögen  einmal 
auf  sich  beruhen,  —  so  stehen  wir  doch  auf  keinem  Gebiet  der  Wissen- 
schaft, daß  nicht  auch  die  älteren  Objekte  der  Forschung  immer  wieder 
der  Nachprüfung,  die  sichersten  Methoden  der  Ergänzung  bedürften. 
Ja,  es  besteht  überall  die  Gefahr,  daß  Traditionen  abreißen,  daß  ge- 
wisse Betrachtungsarten  „abkommen".  So  hat  jüngst  P.  Kehr  in  der 
Selbstanzeige  seiner  Italia  pontificia,  Bd.  I.  (Gott.  Gel.  Anz.  1906,  595 f.) 
sich  ausgesprochen  über  „die  eigentliche  Richtung,  welche  die  ürkun- 
denlehre  in  den  letzten  dreißig  Jahren  genommen  hat",  und  wie  man 
zweckmäßig  auch  an  ältere  Stufen  wieder  anknüpfen  könne.  „Sie 
stand  und  steht  noch  heute  unter  der  Aufgabe,  die  ihr  einst  die  Mau- 
riner  gestellt  hatten:  Feststellung  der  Echtheit.  Das  ist,  trotz  aller 
Evolutionen  nach  rechts  und  links,  immer  noch  das  Zentralproblem 
der  Diplomatik.  Auch  des  Erneuerers  der  Diplomatik,  Sickels,  nächste 
Ziele  waren  diese,  und  sie  konnten  für  die  Karolingerzeit  auch  nicht 
andere  sein.  Das  Neue,  was  Sickel  hinzubrachte,  war  die  neue  Methode, 
mit  der  er  jene  Aufgabe  sicherer  löste  als  seine  Vorgänger,  nämlich 
die  Schrift-  und  Diktatvergleichung,  die  er  zu  immer  feinerer  Ausbil- 
dung brachte,  bis  sie  im  weiteren  Verlauf  zur  Basis  für  neue  und 
bedeutungsvolle  Studien  wurde;  ich  meine  die  auf  diesen  Vergleichungs- 
methoden sich  aufbauenden  Forschungen  zur  Kanzleigeschichte,  die 
besonders  für  die  jüngeren  Perioden  bald  wichtiger  wurden  als  die 
Fälschungsprobleme.  Sie  boten  so  viel  Neues  und  Belehrendes,  daß 
sie  das  Interesse  aller  mit  Urkunden  sich  beschäftigenden  Forscher 
mehr  und  mehr  ergriffen  und  die  überlieferungsgeschichtlichen 
Fragen  in  den  Hintergrund  treten  ließen,  zumal  an  ihnen  die  strenge 
Diplomatik  eigentlich  nur  ein  Interesse  hat,  soweit  es  sich  um  die 
Auffindung  neuer  Originale  handelt." 

„Und  doch,"  fährt  Kehr  fort,  „finden  sich  schon  bei  Sickel  und 
zuerst  in  seinen  Acta  Karolinorum  Ansätze  zu  einer  Art  von  urkund- 
licher Quellenkunde".  Er  hätte  hinzufügen  können,  daß  sie  in 
den  „Römischen  Berichten"  in  der  bedeutendsten  Weise  aufgenommen 
sind.  Genug,  eben  solche  erstrebt  Kehr,  —  „indem  er  an  die  Arbeiten 
Sickels  anknüpft"  —  unter  erneuter  Kontrolle  der  Itinera  diplomatica 


I 


j[56  K.  Brandi,  ürkundcnforschung 

und  der  Archive  selbst,  und  alle  Welt  weiß,  daß  dieses  Streben  nicht 
vergeblich  gewesen  ist. 

Was  aber  die  Erhaltung  der  Tradition  betrifft,  so  steht  —  um  ein 
naheliegendes  Beispiel  zu  nehmen  —  bekanntlich  auch  die  sichere 
Beherrschung  der  tironischen  Noten  auf  wenig  Augen.  Muß  man  nicht, 
geradezu  dringend  wünschen,  daß  sich  neue  Organe,  neue  Kreise  öffnen 
für  solche  Dinge?  Meine  Mitherausgeber  werden  vermutlich  noch 
Stellung  nehmen  zu  einzelnen  Einwendungen,  die  man  an  ihre  Studien 
über  die  tironischen  Noten  geknüpft  hat,  —  aber  beide  Untersuchungen 
lehren  doch,  daß  selbst  in  dem  so  lange  bevorzugten  Stammlande  der 
Diplomatik  noch  fruchtbare  Arbeit  zu  tun  ist.  Und  dasselbe  lehrt, 
hoffe  ich,  auch  die  in  diesem  Heft  vorgelegte  Arbeit  über  die  „Capella", 
die  ausgehend  von  dem  Interesse  an  der  karolingischen  Zentralver- 
waltung, sich  zu  einem  so  wichtigen  Beitrag  zur  Geschichte  des  Königs- 
gutes und  der  Eigenkirche  ausgewachsen  hat,  daß  wir  ihr  die  methodisch 
verwandte  Untersuchung  über  „Forestis"  beigesellt  haben,  obwohl  die  Be- 
ziehung zur  Urkundenlehre  hier  nur  in  der  systematischen  Aufarbeitung 
der  bislang  vielfach  Schwierigkeiten  machenden  Forstprivilegien  liegt. 

Eben  diese  Arbeiten  führen  mich  aber  zum  Schluß  noch  auf  etwas 
anderes.  Unsere  Einführung  zum  ersten  Heft  des  Archivs  klingt  in 
die  Erklärung  aus,  daß  wir  „alle  Arbeiten  begrüßen  über  Wesen  und 
Bedingungen  urkundlicher  Quellen;  nicht  minder  solche,  die  aus  der 
vollkommenen  Beherrschung  dieser  besonderen  Bedingungen  auch  der 
materiell  historischen  Forschung  dienen."  Die  Fühlung  mit  der  all- 
gemeinen Geschichte  ist  darin  deutlich  genug  gewahrt.  Denn  auf 
diese,  nicht  auf  irgendeine  Seite  der  geschichtlichen  Interessen,  muß 
es  bei  einer  glücklichen  Entwicklung  der  Hilfswissenschaften  ankommen. 
Unsere  urkundlichen  Quellen  im  weitesten  Umfange  zu  kennen,  nach 
ihrer  besonderen  Natur  zu  betrachten  und  zu  beurteilen,  und  dadurch 
ihre  sichere  Benutzung  nach  Möglichkeit  zu  erleichtern,  das  ist  das  Ziel. 

Auf  der  einen  Seite  also  eine  Fülle  von  alten  und  neuen  Aufgaben, 
auf  der  anderen  Seite  der  ernstliche  Wille  zu  unserem  Teil  an  ihrer 
Lösung  mitzuwirken.  Verdient  das  angesichts  der  doch  wahrlich  an 
unseren  deutschen  Universitäten  nicht  allzu  lebhaften  Tätigkeit  auf 
diesem  Gebiete  noch  Tadel?  Ist  es  wirklich  so  nutzlos  oder  gar 
schädlich,  wie  Herr  Uhlirz  glauben  machen  will,  daß  wir  versuchen, 
Arbeiten  dieses  Geistes,  die  sonst  in  Monographien,  Zeitschriften  ver- 
schiedenster Art  und  Akademieabhandlungen  zerstreut  sein  würden,  zu 
einer  Sammlung  zu  vereinigen? 


Forschungen  zu  Karolinger  Diplomen 

von 

M.  Tangl 


I.  Tironiana  und  Konzeptfrage 

Seit  Ostern  1907,  dem  Zeitpunkt,  da  ich  meine  Arbeit  über  die 
Tironischen  Noten  in  den  Urkunden  der  Karolinger  als  meinen  Beitrag 
zum  Eröffnungsheft  dieser  Zeitschrift  abschloß,  hatte  ich  teils  selbst 
Gelegenheit,  manche  Beobachtung  neu  oder  an  besseren  Überlieferungs- 
formen zu  machen,  teils  erschienen  Arbeiten  und  Besprechungen,  mit 
denen  mich  auseinanderzusetzen  ich  für  nötig  halte. 

1.  Bei  einer  Reihe  von  Diplomen  —  meist  italischen,  daneben  auch  ein 
paar  französischen  --  standen  mir  zunächst  nur  Handpausen  und  Nach- 
zeichnungen zur  Verfügung.  Ich  habe  sie  von  vornherein  nur  als  Notbehelfe 
jbezeichnet  und  mich  bei  ihrer  Verwertung  meist  vorsichtig  gefaßt.  Von 
mehreren  dieser  Urkunden  konnte  ich  mittlerweile  die  Originale  selbst 
'einsehen  und  dabei  eine  Beobachtung  machen,  die  mich  nicht  allzusehr 
jüberraschte.^  Auch  nicht  eine  dieser  tiandzeichnungen  war  völlig  zu- 
verlässig; alle  gaben  sie  die  Noten  entweder  nicht  genau  oder  nicht 
vollständig  wieder,  ohne  daß  ich  daraus  einen  Vorwurf  gegen  die 
Jänner  ableiten  möchte,  die  sich  mit  Eifer  und  Gewissenhaftigkeit  an 
ihrer  schwierigen  Aufgabe  versuchten.  Die  ohnedies  so  häufig  schlecht 
erhaltenen  Noten  sind  unter  dem  Pauspapier  nicht  mehr  ausreichend 
zu  sehen.  Vor  allem  aber  ist  es  gar  nicht  möglich,  diese  Schrift- 
zeichen, bei  denen  es  auf  jede  Kleinigkeit  entscheidend  ankommt, 
richtig  wiederzugeben,  ohne  selbst  ihrer  kundig  zu  sein,  und  selbst 
die  Nachzeichnung  des  Kundigen  unterliegt  noch  gewissen  Bedenken. 
Indem  er  sogleich  zu   einer  Deutung  vorzudringen  strebt,  ist  er  wohl 

^  Für  Karl  d.  Gr.  und  Ludwig  d.  Fr.  halte  ich  jetzt  diese  Nachträge  im  wesent- 
lichen für  beendet.  Von  Lothar  I.  an  werde  ich  aber  eine  Reihe  von  Diplomen  noch 
nachzuprüfen  haben  und  ich  muß  daher  weitere  Nachträge  auf  diesem  Gebiet  mit 
dem  Fortschreiten  der  Diplomata-Ausgabe  schon  jetzt  in  Aussicht  stellen. 


168  ^-  Tangl 

versucht,  zweifelhafte  Zeichen  im  Sinne  seiner  Lesung  festzulegen. 
Ein  Ecke  statt  der  Rundung,  eine  gerade  statt  der  Wellenlinie  oder 
umgekehrt,  und  der  Sinn  ist  verändert,  die  Nachprüfung  unmöglich. 
Selbst  von  der  Hand  des  mit  der  Notenschrift  Vertrauten  ist  die  Nach- 
zeichnung daher  nur  als  Notbehelf  hinzunehmen,,  wenn  der  üble  Er-, 
haltungszustand  oder  das  die  Noten  halb  verdeckende  Siegel  eine 
andere  Reproduktion  ausschließen.  Sonst  aber  dürfen  als  Grundlage 
für  Lesung  und  Kontrolle  nur  die  Photographie  und  ihre  technisch 
möglichst  vollendete  Vervielfältigung  dienen,  und  zwar  eine  Reproduk- 
tion, welche  die  Noten  im  Rahmen  des  ganzen  Rekognitionszeichens 
wiedergibt.  Es  ist  dies  einer  der  wenigen  Punkte,  in  denen  ich  mich 
mit  Jusselin  nicht  verstehe.  Seine  ausgezeichnete  Arbeit  über  die 
Tironischen  Noten  in  den  Urkunden  der  Merovinger  ist  erst  durch  die 
prächtige  Lichtdruckausgabe  dieser  Diplome  durch  Lauer  und  Samaran 
voll  benutzbar  geworden;  denn  bei  seinen  eigenen  Reproduktionen 
dieser  allerschwierigsten  Noten  hatte  er  den  Benutzer  von  der  Mit- 
prüfung der  Scheidung  zwischen  Noten  und  Schnörkeln  von  vorn- 
herein ausgeschlossen.^ 

Ich  werde  im  folgenden  noch  Veranlassung  nehmen,  auf  diese 
Reproduktionsfragen  zurückzukommen.  Jetzt  wende  ich  mich  zunächst 
den  Einzelheiten  zu.  Die  Urkunden  sind  wieder  kurz  nach  der  zweiten 
Auflage  von  Mühlbachers  Regesten,  die  bis  814  nach  den  Nummern 
der  Neuausgabe  in  den  Monumenta  Germaniae  zitiert. 

M.  612  für  Cambray,  Or.  Lille.  Nach  dem  Kontext  stehen  die  Noten 
Hon-fri-dus  scribere  iussit.  Es  ist  wohl  der  rhätische  Graf  Hun- 
frid,  der  823  als  Königsbote  erwähnt  wird  (vgl.  Simson,  Ludwig  d.  Fr. 
1,  203).  Die  Art  der  Buchstabenverbindung  läßt  für  die  erste  Silbe 
die  obenstehende,  etwas  abweichende  Lesung  gesichert  erscheinen. 
Für  die  an  Vermerken  arme  erste  Zeit  Ludwigs  d.  Fr.  ist  dieser  Zu- 
wachs willkommen. 

M.740  für  Niederaltaich,  Or.  München.  Die  Lesung  dieser  Noten, 
soweit  sie  über  Sickels  Entzifferung  hinausging,  hatte  ich  „nur  ver- 
mutungsweise und  mit  allem  Vorbehalt"  gegeben.  Nach  nochmaliger 
Einsicht  in  das  Original  kann  ich  für  die  Worte  „Prumia  monasterio 
actum"  mit  Bestimmtheit  eintreten,  und  zu  gleicher  Deutung  war  un- 
abhängig von  mir  F.  Rueß  in  München  gelangt,  auf  dessen  Besprechung 


^  Maurice  Jusselin,  Notes  Tironiennes  dans  les  diplomes,  M^rovingiens.  Bibl. 
de  l'ecole  des  chartes,  1907,  68,1—28.  Ph.  Lauer,  Cli.  Samaran,  Les  diplomes 
originaux  des  Merovingiens,  Fac-similes  phototypiques  avec  notices  et  transcriptions, 
Paris  1908.  Vgl.  meine  Anzeige  beider  Arbeiten  im  Neuen  Archiv  34,  310—313. 
Auf  einen  wichtigen  neuen  Ertrag  beider  Werke  komme  ich  bei  Erörterung  der 
Konzeptfrage  noch  näher  zurück. 


Forschungen  zu  Karolinger  Diplomen  169 

meiner  Arbeit  ich  unten  näher  eingehe.  Das  Ungewöhnliche  des  Ver- 
merks (Datum  und  Actum)  erklärt  sich  aus  dem  Auftreten  eines  sonst 
nicht  nachweisbaren  Rekognoszenten  und  aus  dem  Schriftbestand  des 
Originals.  Eine  erste  Hand  schrieb  den  Kontext.  Sigibert  fügte  die 
I^ekognition  bei  und  Hirminmar  die  Datierung,  deren  Jahres-  und  Orts- 
angaben ihm  in  den  Noten  des  Rekognitionszeichens  vorgeschrieben 
waren.  Ohne  Verstoß  ging  es  dabei  trotzdem  nicht  ab,  denn  der  Kaiser- 
name und  das  „octavo"  des  Regierungsjahres  stehen  auf  starker  Rasur. 

M.  831  für  den  Grafen  Boso,  Or.  Parma.  Die  Auflösung  war  nach 
einer  Nachzeichnung  gegeben.  Die  Einsicht  des  Originals  ergab  als 
kleine  Bereicherung  um  das  Wörtchen  „ita".  Der  Vermerk  lautet  also 
„magister  ita  dictavit  et  scribere  atque  firmare  iussit". 

M.  872  für  Suniefredus,  Or.  Carcassonne.  Zu  diesem  Diplom  teilte 
mir  Jusselin  eine  in  den  letzten  Worten  stark  abweichende  Auflösung 
mit,  in  der  ich  eine  gute  alte  Bekannte  wiederfand,  meine  erste  eigene 
Deutung,  die  ich  schon  vor  Jahren  als  nach  meiner  Überzeugung  nicht 
haltbar  aufgegeben  hatte.  Ich  habe  ihm  die  Gründe  für  meine  Ent- 
scheidung auseinandergesetzt  und  muß  es  jetzt  ihm  überlassen,  ob  er 
trotzdem  auf  die  Sache  noch  zurückkommen  will.  Ich  werde  dann, 
da  ich  ihm  jetzt  nicht  vorgreifen  will,  meine  Ansicht  verfechten. 

M.  931  für  die  Kanoniker  von  Langres,  Or.  Chaumont.  Hier  hatte 
ich  mich,  da  mir  nur  eine  Nachzeichnung  zur  Verfügung  stand,  von 
vornherein  vorsichtig  ausgedrückt,  und  mein  Mißtrauen  war  gerecht- 
fertigt. Die  Noten  lauten  nach  Einsicht  des  Originals  nicht  „magister 
impetravit  et  firmare  iussit",  sondern  „magister  ita  fieri  iussit". 

M.  963  für  Fulbert,  Or.  Dijon.  Auch  hier  lag  mir  nur  eine  Nach- 
zeichnung vor.  Das  Original  ergibt  für  den  letzten  Satz  der  Noten- 
schrift „magister  Hugo  fieri  et  firmare  iussit"  eine  kleine  Berichtigung. 
Von  der  Note  „magister"  ist  nichts  zu  sehen,  und  von  „Hugo"  steht  nur 
die  erste  Silbe  mit  der  schwer  zu  erklärenden  Endung  „e"  (verkürzt  aus 
Hugo  ipse?)  da.  Der  Name  ist  trotzdem  wohl  gesichert. 
fl  Die  neue  Beobachtung  ist  aber  deshalb  von  Wichtigkeit,  weil  sie 
auch  einer  neuen  und  viel  befriedigenderen  Lesung  der  Noten  in  M.  986 
Bahn  bricht.  Hier  war  seit  jeher  die  erste  Note  der  letzten  Reihe  ein 
Stein  des  Anstoßes,  einen  brauchbaren  Sinn  zu  gewinnen  (vgl.  meine 
Ausführung  a.  a.  0.  S.  129).  Kopps  und  Sickels  Lesung  „his"  gab  keinen 
Sinn  und  mein  „vel"  keinen  guten.  Die  Deutung  der  Note  als  die 
Silbe  „hu"  entspricht  aber  nicht  nur  dem  Schriftbestande  am  aller- 
besten (Eckung  des  ersten  Ansatzes,  nicht  Rundung  wie  bei  „vel")  und 
gibt,  auch  hier  als  abgekürzte  Schreibung  für  den  Namen  des  Kanzlei- 
vorstandes genommen,  eine  vollauf  befriedigende  Lösung:  „Hugo  ipse 
sigillavit,  magister  ambasciavit". 


I 


170  M.  Tangl 

Die  Vermerke  aus  der  Kanzlei  Ludwigs  d.  Fr.  vermehren  sich  end 
lieh  noch  durch  eine  erst  im  12.  Jahrhundert  entstandene  Rheinaue; 
Fälschung  auf  den  Namen  Ludwigs  d.  Deutschen,  M.  1402,  die  abe 
über  den  Trümmern  eines  durch  Rasur  getilgten  Diploms  Ludwigs  d.  Fr 
geschrieben  ist.  Die  Rasur  hatte  damals  vor  dem  Siegel  Halt  gemacht 
das  als  Beglaubigung  auch  für  das  neue  Machwerk  dienen  sollte 
heute  aber  abgefallen  ist  und  die  Reste  des  echten  Rekognitions- 
Zeichens  erkennen  läßt.  Diesen  Sachverhalt  hatte  schon  Sickel  irr 
Anzeiger  für  Schweizerische  Geschichte  N.F.  5,  1874,  S.  40  festgestell 
und  dort  auch  die  Lesung  der  Noten  gegeben:  „magister  ita  scri- 
bere  iussit".  Eine  nähere  Einreihung  der  zerstörten  Urkunde  laß 
sich  daraus  leider  nicht  gewinnen ,  da  sich  ähnliche  Vermerke  ir 
früherer  wie  späterer  Zeit  finden.^ 

Einige  nicht  unwichtige  Nachträge  habe  ich  zu  den  Noten  in  der 
Diplomen  Lothars  L  zu  bieten. 

M.  1107  für  Arezzo,  Or.  ebenda  (Rodmundus  notarius  advicem  Agil- 
mari).  Im  fast  ganz  zerstörten  Rekognitionszeichen  sind  noch  die 
Noten  erhalten  „ad  vicem  Agil[mari]"  und  .,Remigius  magister" 
Die  beiden  letzten  Worte  sind  gegenüber  dem  Faksimile,  das  mir  bisher 
zu  Gebote  stand,  neu,  und  sie  reihen  unser  Diplom  in  die  Gruppe  der 
Urkunden  ein,  die  ich  S.  140 f.  meiner  früheren  Arbeit  besprochen  hatte. 

M.  1127  für  Suitgar,  Or.  Chaumont.  Hier  hatten  die  beiden  Nach- 
zeichnungen nicht  genügt,  eine  zuverlässige  Lesung  zu  verbürgen,  und 
ich  muß  daher  das,  was  ich  a.  a.  0.  S.  141  als  gesichert  oder  doch 
wahrscheinlich  feststellen  zu  können  glaubte,  stark  berichtigen.  Die 
Noten  lauten  „Rodmundus  notarius  ad  vicem  Hilduini  Daniel 
iu beute".  Daniel,  der  in  der  letzten  Zeit  Ludwigs  d.  Fr.  seit  836  als 
Rekognoszent  erscheint,  ist  dann  vereinzelt  auch  noch  unter  Lothar  1. 
tätig;  die  Diplome  M.  1095,  1105,  1135,  1136  und  1139  sind  von  ihm 
rekognosziert.  Der  Name  ist  genau  so  geschrieben  wie  in  M.  994, 
dessen  Faksimile  ich  a.  a.  0.  S.  132  mitteilte,  die  Lesung  kann  daher 
einem  Zweifel  nicht  unterliegen.  Leider  ist  der  Erhaltungszustand  des 
Diploms  an  der  Stelle  des  jetzt  abgefallenen  Siegels  so  wenig  gut,  daß 
es  mir  weder  bei  Bearbeitung  des  Originals,  noch  an  der  Hand  einer 
Photographie,  die  ich  durch  die  große  Güte  des  Herrn  Pierre  Gauthier, 
Archivars  der  Haute-Marne,  erhielt,  bisher  möglich  war,  die  wenigen 
Noten  zu  entziffern,   die  rechts  vom  Rekognitionszeichen  und  Siegel- 


^  Ich  war  auf  diese  Urkunde  längst  aufmerksam  geworden  und  hatte  sie  mir 
zur  Bearbeitung  für  ein  Tafelwerk  über  Urkundenfälschungen  zurechtgelegt.  Gerade 
das  aber  hat  verschuldet,  daß  ich  sie  bei  meiner  zusammenfassenden  Arbeit  über 
die  Tironischen  Noten  übersah. 


Forschungen  zu  Karolinger  Diplomen  171 

schnitt  stehen.  Die  letzte  von  ihnen  dürfte  wahrscheinlich  sigillavit 
jheißen.  Es  wäre  dies  bis  jetzt  die  erste  von  Rodmundus  rekognoszierte 
|üfkunde,  in  der  die  Berufung  auf  den  ihm  übergeordneten  Notar  Re- 
jmigius  fehlte.  Tatsächlich  aber  ist  dieser  Name  auch  hier  vertreten, 
iund  zwar  im  Chrismon,  das  Rodmundus  seiner  Rekognition  voran- 
Istellte.  Doch  auf  diese  Frage  der  Noten  in  den  Chrismen  der  Diplome 
Lothars  I.  muß  ich  unten  noch  näher  eingehen. 

Für  Diplome  Lothars  II.  kann  ich  nur  ganz  geringfügige  Nachträge 
»ieten.  In  M.  I3ll,  Or.  Parma,  ist  der  Rekognition  „Grimblandus  re- 
[iae  dignitatis  cancellarius  recognovi"  die  Note  „ego"  vorangestellt; 
in  M.  1319,  Or.  Parma,  endet  die  Datumzeile,  wie  ich  schon  an  dem 
'aksimile  festgestellt  hatte,  in  Notenschrift  „actum  Dodiniaco  villa  in 
dei  nomine  feliciter  amen.  Von  großem  Interesse  war  mir  dagegen 
die  Beobachtung,  die  ich  in  Chaumont  am  Originaldiplom  Karls  III. 
Itür  die  Kirche  von  Langres,  M.  1740,  machen  konnte.  In  vollstem 
pegensatz  zu  dem,  was  ich  über  den  Niedergang  der  Kenntnis  der 
'Notenschrift  in  der  ostfränkischen  Kanzlei  seit  den  50er  Jahren  des 
).  Jahrhunderts  und  ihr  Aufhören  unter  den  Nachfolgern  Ludwigs  des 
Deutschen  ausgeführt  hatte,  stehen  hier  im  Rekognitionszeichen  die 
tadellos  korrekt  geschriebenen  Noten  „domnus  Imperator  fieri 
lussit  hoc  preceptum",  das  Wort  preceptum  ganz  genau  nach  der 
Forschrift  für  preceptor  CNT.  6,  28  geschrieben.  Ich  nahm  daraufhin 
iTiein  Material  für  Karl  III.  und  Arnulf  nochmals  vor  und  kann  nur 
'/ersichern,  daß  dies  der  einzige  Ausnahmefall  ist,  den  ich  bisher  nach- 
mweisen  vermag.  Das  Diplom  stammt  aus  der  kurzen  Zeit,  da  Karl  IIL 
mch  über  Westfrancien  gebot  (es  datiert  aus  Schlettstadt,  887  Januar  15), 
ind  die  Erklärung  dürfte  wohl  darin  zu  suchen  sein,  daß  ein  west- 
ränkischer  Schreiber  die  Urkunde  mundierte  und  die  Noten  einfügte.^ 

2.  Einen  besonderen  Nachtrag  habe  ich  über  Noten  in  Fälschungen 
md  Nachzeichnungen  zu  geben.  Als  ich  S.  134  meiner  Abhandlung 
iie  Osnabrücker  Fälschung  auf  den  Namen  Ludwigs  d.  Frommen, 
A.  870,  besprach,  urteilte  ich,  daß  der  Fälscher  es  über  einen  stümper- 
laften  Versuch,  die  Rekognition  des  Durandus  nachzuahmen,  nicht 
linausbrachte.  Und  solange  man  die  echte  Rekognition  des  Durandus 
ils  Vorbild  heranzieht,  wird  man  kaum  zu  einem  anderen  urteil  ge- 
angen  können.  An  welche  andere  Vorlage  sollte  man  aber  denken 
')ei  einer  Rekognition,  deren  Fassung  „Durandus  diaconus  ad  vicem 
Tidugisi"  lautet?  Als  ich  aber  kurz  darauf  die  Osnabrücker  Urkunde 
vieder  zur  Hand  nahm,  gingen  mir  über  den  wahren  Sachverhalt  ganz 

^  Die  vom  gleichen  Tag  datierten  und  ebenfalls  in  Chaumont  verwahrten 
)riginaldiplome  M.  1742  und  M.  1743  tragen  keine  tachygraphischen  Vermerke. 


I 


172  ^-  Tangl 

anders  die  Augen  auf.^  Das  Erkenntnismittel  zum  richtigen  Vergleich 
das  Rekognitionszeichen  des  unter  Lothar  I.  führend  tätigen  Remigius 
hatte  ich  allerdings  erst  a.  a.  0.  138,  Fig.  25,  veröffentlicht.  Denn  dieses 
lag  tatsächlich  dem  Fälscher  vor,  und  dieses  hat  er  nicht  stümperhaft 
sondern  schier  meisterhaft  nachgebildet.  Der  Vergleich,  den  jedermanr 
an  dem  genannten  Faksimile  meiner  Abhandlung  und  dem  Lichtdrucl^ 
bei  Jostes,  die  Kaiser-  und  Königsurkunden  des  Osnabrücker  Landes 
Taf.  III,  selbst  anstellen  kann,  wirkt  einfach  verblüffend. 

Der  Gewinn,  der  aus  dieser  Erkenntnis  fließt,  ist  aber  für  die 
Kritik  dieser  schwierigen  Gruppe  recht  beachtenswert.  Wir  könner 
zunächst  an  einem  vollkommen  zweifellosen  Beispiel  die  Mosaikarbei 
eines  Fälschers  verfolgen,  was  manche  bis  heute  noch  immer  nicht  zu- 
geben wollen.  Für  die  eine  Zeile  der  Urkunde  allein  sind  zwei  ganz 
getrennte  Vorlagen  benutzt,  die  echte  Fassung  der  Rekognition  eine« 
Diploms  Ludwigs  d.  Fr.  und  das  echte  Rekognitionszeichen  einer  Ur- 
kunde Lothars  I.  Doch  damit  ist  die  Verwertbarbeit  dieser  Erkenntnis 
noch  nicht  abgeschlossen.  Wie  gelangte  der  Fälscher  überhaupt  zui 
Kenntnis  eines  Lothar-Diploms?  Osnabrück  lag  gar  nicht  im  Reichsteil 
der  Lothar  L  zugefallen  war.  Die  Erlangung  einer  Urkunde  dieses 
Herrschers  wäre  trotzdem  auf  ganz  normalem  Wege  möglich  gewesen 
denn  wir  kennen  auch  sonst  aus  dieser  und  der  folgenden  Zeit  Fälle 
daß  sich  Kirchen  Besitz,  den  sie  in  anderen  Teilreichen  hatten,  vor 
den  betreffenden  Fürsten  gewährleisten  ließen.  Ich  erinnere  nur  an  dk 
Bestätigung  ostfränkischen  Besitzes  an  St.-Denis  durch  Ludwig  d.  Deut- 
schen. Weniger  harmlos  gestaltet  sich  die  Erklärung  schon,  wenn  wii 
an  das  Beispiel  Fuldas  denken.  Hrabanus  Maurus,  damals  Abt  vor 
Fulda,  hatte  sich  nach  dem  Tode  Ludwigs  d.  Frommen  die  Bestätigung 
der  Immunität  nicht  beim  ostfränkischen  König  Ludwig  d.  Deutschen 
sondern  beim  Kaiser  geholt  und  mußte  diesen  Schritt  mit  seinei 
Absetzung  büßen.  Könnte  sich  aus  einem  ähnlichen  Verhältnis  be 
Osnabrück  die  offenkundig  feindselige  Haltung  Ludwigs  d.  Deutscher 
gegen  dieses  Bistum  erklären?  Es  gibt  aber  noch  eine  dritte  Deutung; 
die  ich  den  beiden  anderen  vorziehe.  Die  eine  der  Osnabrückei 
Fälschungen  auf  den  Namen  Karls  d.  Gr.,  MG.  DK.  271,  weist  durcl 
die  Rekognition  „Jacob  ad  vicem  Radoni",  und  durch  sie  ganz  allein 
auf  Benutzung  einer  echten  für  einen  italischen  Empfänger  aus- 
gestellte Vorlage.  Erklärt  sich  nicht  aus  gleicher  Quelle  am  besten  di( 
Verwertung  der  Rekognition  des  Remigius,  die  am  häufigsten  ebenfalls 
in   Urkunden    für    italische    Empfänger   begegnet?     Der    Osnabrückei 


*  Ich  habe  darüber  schon  ganz  kurz  im  Arch.  f.  Stenographie  1907,  S.  31( 
berichtet. 


Forschungen  zu  Karolinger  Diplomen  173 

rälscher  hatte,  darüber  kann  ein  Zweifel  gar  nicht  bestehen,  Kenntnis 
l;on  einer  bestimmten  ürkundengruppe  für  einen  italischen  Empfänger. 
:r  verwertete  sie  als  Ergänzung  und  Aufputz  zu  den  echten  Vorlagen, 
die  ihm  aus  dem  Archiv  seiner  eigenen  Kirche  zur  Verfügung  standen, 
and  es  ist  in  hohem  Maße  wahrscheinlich,  daß  er  davon  nicht  bloß 
n  dem  einen  Falle,  bei  der  Karl-Fälschung,  Gebrauch  gemacht  hat. 

Abschriftliche  Überlieferungen  pflegen  sonst,  wenn  sie  nicht  wie 
Sachzeichnungen  oder  Fälschungen  vorsätzlich  darauf  ausgehen,  ihre 
v^orlagen  möglichst  nachzuahmen,  für  die  Kritik  der  äußeren  Merkmale 
jnd  damit  auch  der  Tironischen  Noten  nicht  in  Betracht  zu  kommen. 
:ine  Ausnahme  macht  hier  unter  den  deutschen  Gruppen  das  in  der 
ersten  Hälfte  des  12.  Jahrhunderts  angelegte  Chartular  von  Kempten, 
Jessen  Eigentümlichkeiten  Sickel  in  den  Acta  Karolinorum  2,  307f.  eine 
ibenso  anziehende  wie  sachkundige  Ausführung  gewidmet  hat.  Der 
khreiber  gibt  Chrismen,  Monogramme  und  Rekognitionszeichen  so 
>ut  wieder,  daß  wir  sie  auf  die  Kanzleiherkunft  der  Vorlagen  hin  noch 
eststellen,  und  Tironische  Noten  so  leidlich,  daß  wir  sie  in  einzelnen 
-allen  noch  lesen  können.  Da  ein  guter  Teil  der  älteren  Diplome  noch 
n  Originalen  vorliegt,  vermögen  wir  sein  Verfahren  auch  nachzu- 
)rüfen,  und  dabei  erscheint  er,  wie  Sickel  schon  nachwies,  allerdings 
ils  wunderlicher  Heiliger,  unleugbare  Gewandtheit  und  völliges  Ver- 
tagen, Gewissenhaftigkeit  und  freie  Willkür  stehen  sich  fast  unvermittelt 
gegenüber.  Neben  dem  getreulich  nachgebildeten  Chrismon  Hirminmars 
nalt  er  in  anderen  Fällen  phantastische  Chrismen  und  schöne  Mono- 
gramme auch  dann,  wenn  die  Originale  weder  die  eine  noch  die  andere 
^ier  aufweisen.  Ein  sicheres  allgemeines  Urteil  ist  daher  nicht  zu  ge- 
winnen, und  die  Kritik  muß  bei  jeder  Urkunde  von  vorne  einsetzen. 
[3ei  einem  Diplom  Ludwigs  d.  Fr.,  dem  nur  im  Chartular  überlieferten 
V\.  978,  hatte  Sickel  in  sein  Regest  Acta  Karol.  2, 196  L.  361  einen 
\mbasciatorenvermerk  (Adalardo  ambasciante)  aufgenommen  und  da- 
lurch  angedeutet,  daß  er  ihn  als  ausreichend  gesichert  im  Chartular 
estgestellt  zu  haben  meinte.^  Da  zu  der  Zeit,  da  ich  vor  15  Jahren 
las  Chartular  zum  erstenmal  bearbeitete,  die  Tironischen  Noten  für 
nich  noch  ein  Buch  mit  7  Siegeln  waren,  beschloß  ich,  das  Chartular 
lach  dieser  Richtung  jetzt  nachzuprüfen,  was  mir  durch  Übersendung 
ies  Chartulars  und  der  Originale  durch  das  Kgl.  Bayr.  Reichsarchiv  in 
V\ünchen  ermöglicht  wurde,  wofür  ich  hier  meinen  ergebensten  Dank 
lusspreche.  Ich  berichte  darüber  hier  zusammenfassend  und  kann 
iber  Sickels  Ergebnisse  doch  hinausführen.    Mit  der  Vergleichung  der 


^  Es  ist  ein  Irrtum  Mühlbachers,  wenn   er  in  seinem  Regest  zu  978  in  dem 
Adalardo  ambasciante"  die  wörtliche  Wiedergabe  des  Vermerkes  sah. 


I 


174  M.  Tangl 

Originale  müssen  wir  hierbei  beginnen.  In  M.  883  sind  die  Notei 
„Guntbaldus  abba  impetravit"  wenigstens  teilweise  brauchbar  nach 
gebildet;  in  M.  921  wäre  das  „Fulco  impetravit"  auch  im  Chartula 
allein  noch  zulesen;  dagegen  sind  in  M.  929  die  Noten  des  Original: 
„Hilduinus  abba  fieri  iussit"  im  Chartular  gar  nicht  nachzubilden  ver, 
sucht.  In  M.  1377  ist  der  Vermerk  „domnus  rex  fieri  iussit"  mit  seh 
wechselndem  Glück  wiedergegeben;  „rex"  genau,  „iussit"  ohne  tiilfs 
zeichen,  „fieri"  im  Grundzeichen,  an  dem  nichts  zu  verderben  wai 
genau,  während  das  Hilfszeichen  durch  ein  Minuskel-n  ersetzt  ist  un( 
„domnus"  ebenso  durch  ein  d.  Nun  gehe  ich  zu  den  im  Chartula 
allein  überlieferten  Diplomen  über. 

M.  889,   Rekognoszent  Hirminmar,  keine  Noten. 

M.  899,  Rekognoszent  Hirminmar,  dessen  Rekognitionszeichen  nu 
in  diesem  einen  Fall  wirklich  gut  nachgebildet  ist,  während  sich  de 
Schreiber  sonst  damit  kaum  ernste  Mühe  gab.  Rechts  vom  Rekognitions 
zeichen  stehen  die  Worte  „Tatto  impetravit",  und  zwar  „Tatto' 
( —  es  war  der  Abt  von  Kempten  selbst  — )  in  Minuskel,  „impetravit 
darunter  in  tadelloser  Note.  Daß  man  in  Kempten  zu  Anfang  de; 
12.  Jahrhunderts  noch  in  der  Lage  war,  Noten  zu  entziffern,  ist  gan: 
ausgeschlossen.  Es  ergibt  sich  daher,  daß  der  Name  des  Abtes  aucl 
im  Original  in  Minuskel  geschrieben  gewesen  sein  mußte  —  in  der 
Diplomen  Ludwigs  d.  Fr.  übrigens  nicht  der  einzige  Fall.  ^  Links  davor 
stehen  aber  zwei  Linien  zu  je  4  und  3  Noten,  mit  denen  ich  allerdings 
nichts  anzufangen  weiß.  Die  erste  und  zweite  wären,  wenn  korrek 
geschrieben,  als  Grund-  und  Hilfszeichen  für  „idem"  zu  lesen;  aber  es 
bedurfte  gar  nicht  großer  Entstellung,  um  ein  ursprüngliches  „fieri' 
hierzu  umzugestalten;  diese  Deutung  wird  nämlich  dadurch  wahrschein- 
lich, weil  die  nächstfolgende  Note  das  einfache  und  nicht  gut  zu  ver- 
derbende Zeichen  für  „ac"  darstellt:  also  „fieri  ac".  Die  letzte  Not( 
der  ersten  Reihe,  die  bereits  unmittelbar  an  „Tatto"  sich  anschließt,  ist 
wie  sie  hier  steht,  ein  c  oder  e;  ein  Punkt  darüber  würde  die  Lesung 
„ego"  ergeben.  In  der  unteren  Reihe  steht  zunächst  ein  „per"  (ob  abei 
zuverlässig,  ist  eine  große  Frage)  und  nach  ihm  zwei  so  entartete  Ge- 
bilde, daß  ihnen  gegenüber  jede  Liebesmüh  umsonst  ist.  Als  er- 
schwerender umstand  kommt  noch  hinzu,  daß  der  Schreiber,  wie  wii 
an  zwei  Beispielen  gleich  sehen  werden,  lange  nicht  alle  Noten,  die  ei 
wirklich  vorfand,  wiedergab.  Die  Trümmer  und  Verderbungen  lassen 
—  ganz  vermutungsweise  —  etwa  auf  einen  Vermerk  schließen:  „N 
precepit  (iussit)  fieri  ac  ego  ipse  (—  „per"  wäre  als  Entstellung  von 


*  In  m.  735  ist  „sigillari",  in  M.  849  „Judit"  in  Minuskel  geschrieben. 


I  Forschungen  zu  Karolinger  Diplomen  175 

ipse"  durch  die  Hand  eines  Unverständigen  gar  nicht  so  undenkbar  — ) 
'Sigillavi?]. 

M.  978,  Rekognoszent  Bartholomaeus.  Im  Rekognitionszeichen  ist 
|ine  erste  Reihe  von  Noten  bestimmt  auf  den  Namen  Bartolomeus  zu 
feuten;  von  der  notwendigen  Fortsetzung  dieser  ersten  Eintragung  ist 
|W  nichts  zu  sehen.  Die  Deutung  der  unteren  Reihe  hat  schon 
iickel  vollkommen  zutreffend  erkannt;  es  steht  „Ad-a-la-ardus  ci-a'', 
jlso  „Ad-a-la-ardus  [ambas]cia[vit]". 

M.  990,   Rekognoszent  Hirminmar,  keine  Noten. 

M.  998,  Rekognoszent  Hirminmar,  im  Rekognitionszeichen  eine 
'eihe  von  Noten,  die  bei  aller  Entstellung  (—  alle  Noten  sind  hier 
anz  sinnlos  mit  Punkten  versehen  — )  doch  auch  als  ursprünglichen 
lestand  wenigstens  ahnen  lassen  „Adalaardus  ambasci[avit]".  Die 
ttellung  des  Seneschall  Adalhard,  die  wir  schon  bisher  als  einflußreich 
lannten,  gewinnt  durch  diese  neu  hinzutretenden  Zeugnisse  noch  mehr 
n  Bedeutung. 

M.  1364,  Ludwig  d.  Deutsche.  An  den  Schluß  des  Kontextes  reihen 
ich  3—4  Notengebilde,  deren  vorletztes  ein  sicheres  und  sogar  nicht 
jbel  gelungenes  „fieri"  ist,  und  deren  letztes  sich  auch  in  der  Ver- 
ierbung  des  Grundzeichens  und  dem  Fehlen  des  Hilfszeichens  noch 
Is  „iussit"  erkennen  läßt.  Das  Vorhergehende  können  wir  allerdings 
ur  erraten,  stehen  hier  aber  bei  der  häufig  wiederkehrenden  und  in 
irer  Fassung  fast  feststehenden  Art  dieser  Vermerke  auf  ziemlich  ge- 
ichertem  Boden.  Der  Vermerk  muß  gelautet  haben:  „ipse  (dies  im 
rsten  Zeichen  vielleicht  sogar  noch  kenntlich)  domnus  rex  fieri 
issit".  Wie  wir  sehen,  hat  der  Ertrag  das  Durcharbeiten  dieses  selt- 
amen  Chartulars  doch  noch  sehr  gelohnt. 

3.  M.  Jusselin  hat  in  seiner  kleinen  Studie  „L'invocation  mono- 
rammatique  dans  quelques  diplomes  de  Lothaire  I^'  et  de  Lothaire  II, 
loyen  Age  1907,  p.  318—322,  die  fast  gleichzeitig  mit  meiner  Arbeit 
schien,  und  in  seiner,  oben  schon  genannten,  größeren  zusammen- 
issenden  Abhandlung  über  die  Tironischen  Noten  in  den  Merovinger 
iplomen  der  Entwicklung  der  monogrammatischen  Invokation  und 
irer  Ausstattung  mit  tachygraphischen  Zeichen  eingehende  Aufmerk- 
ämkeit  gewidmet.  Im  ersten  Punkt  zwar  geht  er  meines  Erachtens 
i  weit,  wenn  er  die  Grundform  des  Chrismon  aus  der  Note  für 
Christus"  herleiten  will.  Den  Ausgangspunkt  für  dieses  Zeichen 
ildete  das  einfache  Kreuz,  und  auch  in  die  Weitergestaltung  ist  ohne 
nlehnung  an  bestimmte  Notengebilde  erfolgt.  Wohl  aber  sind  einzelne 
hrismen  in  Merovinger  Diplomen  mit  Noten  ausgestattet,  die  in  den 
/orten  „in  nomine  Christi"  oder  in  ähnlichen  Wendungen  die  sym- 
Olische   Invokation    verstärken    und    so    die   Vorläufer    der   späteren 


I 


176  ^-  '^^"g^ 

Verbalinvokation  bilden.  In  Karolinger  Diplomen  wird  dieser  Braud 
zunächst  nicht  übernommen,  er  lebte  aber  —  dies  hat  Jusselin  seh; 
verdienstvoll  nachgewiesen  —  nach  mehr  als  hundertjähriger  unter 
brechung,  und  allerdings  nur  vorübergehend,  durch  einen  bestimmter 
Notar  in  der  Kanzlei  Lothars  I.  und  IL  wieder  auf,  durch  denselber 
Rodmundus,  auf  dessen  Noten  in  der  Rekognition  ich  S.  140L  ein* 
gegangen  war.  Nur  schrieb  er  in  seinen  Chrismen  jetzt  Dinge,  dii 
uns  für  die  Kenntnis  der  Kanzleiorganisation  viel  willkommener  sind 
Sowohl  in  den  Lichtdruckfaksimiles  von  M.  1143  und  1175,  KöiA.  VII.  ^ 
und  5,  wie  im  Pariser  Original  iV\.1114  stellte  Jusselin  in  den  Chrismei 
die  beiden  Namen  „Remigius"  und  „Rodmundus"  fest,  und  be 
dem  ersten  noch  den  Vermerk  „Signum  habebat".^  Ähnliche  Ver 
merke  kann  ich  jetzt  noch  von  anderen  Originalen  beibringen. 

M.  1108,  Or.  Arezzo,  Rekognoszent  Remigius,  aber  der  Kontext  voi 
Rodmundus;  im  Chrismon  vor  dem  Kontext  „Remigius.  Rodmundus' 

M.  1107,  Or.  Arezzo,  Rekognoszent  Rodmundus;  im  Chrismon  zwei 
mal  „Remigius". 

M.  1127,  Or.  Chaumont,  Rekognoszent  Rodmundus;   im  Chrismo 
„Remigius". 

Die  Zeugnisse  dafür,  daß  Rodmundus  in  einem  Abhängigkeits 
Verhältnis  zu  Remigius  stand  (vgl.  S.  141 — 142  meiner  Arbeit)  habe 
sich  durch  Jusselins  Beobachtung  und  meine  Nachträge,  deren  eine, 
ich  schon  oben  S.  170  zu  M.  1107  erwähnte,  verdoppelt,  ja  die  leitend 
Stellung  des  Remigius  wird  durch  die  Worte  „Signum  habebat"  sogg 
bestimmter  bezeichnet  Nur  kann  ich  hier  der  Deutung  Jusselins  allei 
dings  nicht  folgen.  Er  sieht  in  dem  Vorrecht,  das  dem  Remigius  hit 
zugesprochen  wird,  das  der  Verwahrung  des  Siegels  (das  heißt  als 
für  diese  Zeit  des  Siegelringes,  des  anulus).  Dieser  Ansicht  muß  ic 
aber  doch  entgegenhalten,  daß  „Signum"  als  Bezeichnung  für  das  Sieg« 
in  den  Diplomen  Karls  d.  Gr.  und  Ludwigs  d.  Fr.  auch  nicht  durch  ei 
sicheres  Beispiel  bezeugt  ist  und  auch  später  noch  zu  den  größte 
Seltenheiten  gehörte.^  Was  „Signum"  wirklich  bedeutet,  kann  nach  de 
massenhaften  Zeugnissen  von  Diplomen,  Privaturkunden  und  Formula 
Sammlungen  kaum  zweifelhaft  sein,  es  ist  die  Unterschrift,  oder  de 
Zeichen,  das  sie  vertrat.  Und  diese  Deutung  trifft  wohl  auch  hier  zi 
„Remigius  hatte  das  Signierungsrecht".    Es  stimmt  dies  zu  der  Beol 


*  im  Rekognitionszeichen  bericlitigt  Jusselin  unabhängig  von  mir  und  mit  m 
übereinstimmend  die  Lesung  Sickels  „et  magister"  zu  „Remigius  magister". 

'  MG.  DOII.  231  für  Reggio  „signo  nominis  sigillare".  DOII.  257  für  Parn 
„nostro  signo  eam  iussimus  insigniri".  DHU.  42  für  Moellenbeck  „nostrae  imagin 
signo  iussimus  insig'niri".  DHU.  54  für  den  Grafen  Adalbero  „signo  nostrae  im 
ginis  imprimi  iussimus". 


1 


Forschungen  zu  Karolinger  Diplomen  177 


ichtung,  die  ich  schon  an  den  Diplomen  Ludwigs  d.  Fr.  machen  konnte, 
lur  die  leitenden  Notare,  unter  Ludwig  Durandus  und  Hirminmar  und 
mter  Lothar  L  später  Remigius,  haben  das  Recht,  die  Urkunden  zu 
lekognoszieren.  Die  unter  ihnen  tätigen  Männer  sind  auf  die  Her- 
Ltellung  der  Reinschriften  des  Kontextes  beschränkt  oder  haben  sich, 
/enn  sie  ausnahmsweise  als  Rekognoszenten  eintreten,  stets  auf  die 
löhere  Weisung,  die  sie  hierzu  ermächtigte,  zu  berufen. 

4.  Meine  Arbeit  über  die  Tironischen  Noten  in  den  Urkunden  der 
Urolinger  hatte  sich  bisher  warmer  Anerkennung  und  beifälliger  Be- 
prechung  durch  zwei  Männer  zu  erfreuen,  die  ihrem  Forschungsgebiet 
lach  in  ganz  verschiedenen  Lagern  stehen.  Ferdinand  Rueß  zählt  seit 
angen  Jahren  zu  den  allerbesten  Theoretikern  auf  dem  Gebiet  der 
'ironischen  Noten, ^  aber  der  Beschäftigung  mit  Urkunden  steht  er 
Brner.  Gerhard  Seeliger  gehört  zu  unseren  ersten  ürkundenforschern, 
ber  nicht  eben  nach  dieser  Seite  der  äußeren  Merkmale  hin.^  Beide 
[lachten  von  dieser  ihrer  wissenschaftlichen  Richtung  aus  aber  auch 
/orbehalte  und  Einwendungen,  Rueß  gegen  einzelne  Lesungen,  Seeliger 
;egen  die  Folgerungen,  die  ich  im  letzten  Abschnitt  hinsichtlich  der 
Unzleiorganisation  gezogen  hatte.  Auf  die  Bedenken  nach  der  einen 
Ae  nach  der  anderen  Richtung  will  ich  hier  näher  eingehen. 

In  DK.  6  will  Rueß  als  letztes  Wort  noch  ein  „ordinamus"  lesen. 
:h  verstehe  sehr  wohl,  was  er  dafür  hält  (es  ist  das  letzte  Gebilde 
echts  unten  auf  der  von  mir  S.  90  gebotenen  Reproduktion),  und  will 
iicht  leugnen,  daß  die  Deutung  naheliegt.  Aber  ich  muß  doch  bitten, 
der  der  Erfahrung  des  ürkundenmenschen  zu  trauen.  Aus  der  Ver- 
[leichung  mit  anderen  Rekognitionszeichen  desselben  Eins  ergibt  sich 
liämlich  mit  voller  Sicherheit,  daß  es  sich  lediglich  um  Schnörkel 
landelt,  deren  Notenähnlichkeit  ich  allerdings  nicht  in  Abrede  stelle. 
I^us  den  gleichen  Gründen  muß  ich  auch  den  Vorschlag  ablehnen, 
'n  DK.  154  noch  ein  „consiliarius"  zu  lesen. 

In  M.  846  muß  ich  die  Bedenken  von  Rueß  gegen  die  Richtigkeit 
Jer  Lesung  der  letzten  Note  mit  „domni  nostri"  als  berechtigt  an- 
erkennen. Die  CNT.  47,  66  sehen  für  diese  Verbindung  in  der  Tat 
in  etwas  anders  gestaltetes  Zeichen  vor,  das  auch  in  der  von  mir 
üngst  veröffentlichten  „Messe  in  Tironischen  Noten"  wiederholt  be- 
>egnet.^    Aber  die  Verbindung  ist  nach  meinem  Urteil  eine  zwar  selb- 


*  Seine  Besprechung  im  Archiv  f.  Stenographie,  1908,  S.  59 — 62.  Ich  bekenne 
lankbar  und  gerne,  daß  ich  seinen  beiden  Arbeiten  über  die  Funktionen  des  Punktes 
iind  über  die  Endungen  der  Tironischen  Noten  viel  verdanke. 

'        ^  Zur   Geschichte  der  fränkischen  Kanzlei   im  9.  Jahrhundert.     Histor.  Viertel- 
ahrsschrift,  1908,  S.  75—86.     Besprechung  des  Eröffnungsheftes  unserer  Zeitschrift. 
^  Arch.  f.  Stenographie,  1907,  S.  336ff.,  mit  Faksimile. 
AfU    II  12 


I 


178  M-  Tangl 

ständige,  aber  ganz  korrekte;  der  Schriftbestand  von  d  +  n,  der  Note 
für  „domnus"  ist  belassen,  aber  das  n  in  die  Lage  gebracht,  die  es 
sonst  in  dem  Zeichen  für  „noster"  einnimmt,  und  ebenso  die  Stellung 
des  Hilfszeichens  der  bei  „noster"  entsprechend  gestaltet. 

Bei  M.  883  ist  der  Einspruch,  den  Rueß,  nicht  gegen  die  Lesung 
wohl  aber  gegen  die  Erklärung  des  tiilfszeichens  erhebt,  berechtigt, 
Es  bedarf  in  der  Tat  nicht  der  künstlichen  Deutung  die  ich  vorschlug 
sondern  wir  haben  es  lediglich  mit  einem  nicht  ganz  regelmäßig  ge- 
ratenen a  zu  tun. 

In  iV\.920  bezweifelt  Rueß  die  Lesung  „sigillare"  und  wäre  geneigt 
an  ihrer  statt  „agnoscere"  einzusetzen.  Aber  was  er  für  das  Grund- 
zeichen „ad"  ansieht,  ist  überhaupt  keine  Note,  sondern  Schnörkel: 
die  wirkliche  Note  für  „sigillare"  sitzt,  der  photographischen  Repro- 
duktion unzugänglich,  unter  dem  Siegelrand  verborgen. 

In  M.  971  sind  die  Bedenken  gegen  die  Lesung  des  Namens  Droge 
hinfällig;  in  iV\.1343  ist  die  Lesung  „pro  me  ambasciavit"  statt  „ad  me 
ambasciavit",  die  ich  selbst  mit  in  Erwägung  gezogen  hatte,  nach  dem 
Schriftbestand  wohl  ausgeschlossen,  ebenso  wie  in  M.  1358  die  vor- 
geschlagene Ergänzung  „domnus  rex  prae scripta  ita  fieri  iussit" 
Auf  die  Vorschläge,  die  Rueß  zu  den  auch- von  mir  als  zweifelhaft 
und  unfertig  bezeichneten  Lesungen  der  Noten  in  M.  977  und  1006 
macht,  komme  ich  noch  zurück. 

Seeliger  bestreitet  die  Richtigkeit  der  Folgerungen,  die  ich  aus 
den  Vermerken  für  die  Organisation  der  Kanzlei  gezogen  hatte;  ei 
glaubt  feststellen  zu  können ,  daß  „ordinäre"  und  „ambasciare"  in 
wesentlich  gleicher  Bedeutung  verwendet  würden,  nur  zeitlich  sich  ab- 
lösten, und  daß  daher  meine  Schlüsse  aus  dem  „ordinäre"  auf  e\m 
ständige  amtliche  Befehlsgewalt  des  Erzkaplans  irrig  sind.  Mit  dieser 
Ansicht  trennt  er  sich  auch  von  Bresslau,  der  (Arch.  f.  Urkunden- 
forschung  1,  S.  179  Anm.)  sein  urteil  dahin  zusammenfaßte,  daß  dei 
Ausdruck  „ordinäre"  wie  „praecipere"  und  „fieri  iubere"  doch  sicher- 
lich auf  eine  amtliche  Befehlsgewalt  hinweist. 

Bevor  ich  auf  diese  Einwendungen  näher  eingehe,  muß  ich  übei 
die  Beobachtungen  berichten,  die  ich  im  September  1908  an  dem  Original 
von  DK.  150  in  Arezzo  machen  konnte.  Gegenüber  der  dunklen  Ab- 
tönung des  Lichtdruckfaksimües  bei  Pasqui,  Documentidi  Arezzo  1,  28, 
der  auch  meine  davon  genommene  Reproduktion  entsprach,  war  ich 
aufs  angenehmste  überrascht,  ein  selten  schön  erhaltenes  Original- 
diplom vor  mir  zu  sehen,  von  dessen  hellem  Pergament  sich  die 
Schriftzeichen  vollkommen  scharf  abheben.  Die  Lesung,  der  ich  schon 
früher  als  der  wahrscheinlichsten  zuneigte,  fand  dabei  ihre  volle  Be- 
stätigung:  es   steht  mit  größter  Deutlichkeit   da  „Fulradus  abba"' 


Forschungen  zu  Karolinger  Diplomen  179 

andererseits  aber  kann  ich  versichern,  daß  das  „ambasciavit",  das  Erben 
!n  seiner  gleich  zu  nennenden  Arbeit  aus  einer  Nachzeichnung  noch 
lerauslesen  wollte,  nicht  dasteht,  daß  auf  die  Note  „abba"  nur  noch 
Schnörkel  folgen.  Der  Photograph  hatte  sich  hier  seiner  Aufgabe  aus- 
!,iahmsweise  schlecht  entledigt,  der  Faksimilator  aber  noch  immer 
A^eniger  gut. 

Und  nun  bitte  ich,  mir  bei  der  Ordnung  folgender  Gruppen  von 
Vermerken  zu  folgen: 

DK.  6      für  St.  Denis:  ro gante  Fulrado. 

DK.  136  für  St.  Denis:  Fulradus  ambasciavit. 

DK.  104  für  Hersfeld:   ordinante  domno  meo  Karolo  rege  Fran- 

corum  et  Fulrado  abbate. 
DK.  139  und  140  für  Fulda:  Folradus  ordinavit. 
DK.  150  für  Arezzo:  Fulradus  abba. 
DK.  131  für  Nonantula:  Folradus  abba  et  Rado. 
DK.  123  für  St.  Marcel  bei  Chalon:  Rado  precepit. 
DK.  122  für  St.  Germain-des-Pres:   advicem   ipsius  Radoni  ordi- 

nantis. 

Die  Ausdrücke  „ordinäre,  praecipere"  oder  die  mit  ihnen  gleich- 
wertige einfache  Einsetzung  des  Namens  bilden  die  Regel,  ob  nun 
jpulrad  allein,  neben  dem  König,  vor  seinem  ünterbeamten  Rado  oder 
dieser  allein,  vom  König  oder  von  Fulrad  ermächtigt,  genannt  ist.  Die 
Ausnahme  mit  dem  „rogare"  und  dem  hier  zum  erstenmal  angewandten 
„ambasciare"  bilden  zwei  Urkunden  für  St.  Denis,  dessen  Abt  Fulrad 
Iwar,  an  deren  Zustandekommen  er  daher  in  erster  Linie  selbst  als 
Partei  mitwirkte  und  bei  denen  daher  eine  ausdrückliche  Berufung  auf 
peine  amtliche  Befehlsgewalt  sehr  verständig  vermieden  wurde. 

Ich  überlasse  es  ruhig  dem  ürteüe  der  Fachgenossen,  ob  diese 
geschlossene  Scheidung  der  beiden  Gruppen  zugunsten  der  Auseinander- 
haltung der  Begriffe,  die  Bresslau  und  ich  vertreten,  oder  zugunsten 
'der  Einwendungen  Seeligers  spricht.^ 

Einen  Kernpunkt  bildet  der  Vermerk  in  DK.  206:  „Hildebaldus 
episcopus  ita  firmavit".  Seeliger  sucht  ihn  als  zufälliges  Eingreifen 
des  Erzkaplans  hinwegzudeuten.  Erben  (Mitteil.  d.  Instituts  f.  österr. 
;GF.  29, 158)  bezweifelt  zunächst  die  Sicherheit  der  Lesung;  denn  die 
Note  „firmavit"  sei  nach  meinem  eigenen  Geständnis  unregelmäßig  ge- 
schrieben. Gewiß!  Worin  besteht  aber  diese  ganze  Unregelmäßigkeit? 
Darin,  daß  der  Schreiber  das  Grundzeichen  steiler  als  gewöhnlich  stellte, 

^  Außer  Betracht  bleiben  DK.  94  für  St.  Denis:  „ordinante  domno"  und  DK.  116 
für  Fulda:  „domno  rege  ordinante".  Es  war  selbstverständlich,  daß  in  jedem  Fall 
der  König  ohne  jeden  Mittelsmann  als  Auftraggeber  eintreten  konnte. 

12* 


I 


180  M-  Tangl 

um  die  für  dieses  Verbum  charakteristische  Kreuzung  des  Grund 
Zeichens  mit  der  Endung  „vit"  leichter  herstellen  zu  können,  währenc 
die  in  den  Vermerken  häufig  begegnende  Form  „firmare"  umgekehr 
bei  stärkerer  Schrägstellung  des  Grundzeichens  sich  glatter  schrieb 
Weiter:  die  Note  für  „ita"  bedeute  auch  „inter".  Richtig!  Soichi 
doppeldeutige  Noten  begegnen  in  den  Commentarii  zu  Dutzenden.  Auf 
gäbe  des  Bearbeiters  ist  es  dann  eben,  sich  für  die  durch  den  Zu 
sammenhang  des  Satzes  geforderte  Deutung  zu  entscheiden.  Wenr 
aber  jemand  durchaus  statt  des  sinngemäßen  „ita  firmavit"  das  sinn 
lose  „inter  firmavit"  lesen  will,  so  kann  ich  ihn  daran  natürlich  nich 
hindern.  Die  Anzweifelung  der  Note  „episcopus",  bloß  deshalb  wei 
der  die  Nominativform  kennzeichnende  Punkt  sich  schon  mit  de 
folgenden  Note  berührt,  ist  ernster  Widerlegung  vollends  nicht  wert 
Aber  Erben  hat  noch  ein  anderes  Eisen  im  Feuer:  Der  Erzkaplan  Hilde 
bald  von  Köln  war  ja  seit  795  schon  Erzbischof,  er  wird  hier  als( 
wohl  gar  nicht  gemeint  sein  (ohne  daß  Erben  allerdings  einen  gleich- 
zeitigen Bischof  Hildebald  nachzuweisen  vermochte).  Die  Tatsache  kennt 
ich;  ich  trage  sie  seit  13  Jahren  in  der  Verfassungsgeschichte  dei 
mittelalterlichen  Kirche  vor  und  kann  daher  die  Belehrung  entbehren 
Ich  weiß  aber  auch,  daß  in  einem  offiziellen  Aktenstück  wie  den: 
Testament  Karls  d.  Gr.  vom  Jahre  811  Hildebald  an  der  Spitze  dei 
fränkischen  Metropoliten  und  gleich  diesen  als  „episcopus"  erscheint. 
An  der  Zuverlässigkeit  der  Lesung  und  an  der  Richtigkeit  der  Be- 
ziehung auf  den  Erzkaplan  Hildebald  von  Köln  kann  daher  ein  Zweifel 
nicht  bestehen. 

Seeligers  Bedenken  muß  ich  aber  vor  allem  noch  entgegenhalten, 
daß  ich  meine  Beweisführung  doch  nicht  ausschließlich  auf  die  tachy- 
graphischen  Vermerke  in  den  Urkunden  begründet,  sondern  auf  das 
Zusammenstimmen  mit  anderen  Beobachtungen  aufgebaut  habe,  die 
teils  längst  bekannt  waren,  deren  einzelne  ich  aber  zuvor  in  meiner 
Arbeit  über  das  Testament  Fulrads  von  St.  Denis  neu  beigebracht 
hatte.  Dieses  Beweismaterial  verstärkt  sich  mir  aber  von  Monat  zu 
Monat.  Wenn  Seeliger  nur  zugeben  will,  daß  sich  unter  Ludwig  d.  Fr. 
„die  Ansätze  zur  Bildung  eines  Zwischenamts  zwischen  Kanzleichef 
und  Notaren  finden  lassen,  so  kann  ich  ihm  jetzt,  nachdem  ich  die 
Untersuchung  über  Kanzlei  und  Schreiber  unter  Ludwig  d.  Fr.  ab- 
geschlossen habe,  versichern,  daß  sich  diese  dreifache  Abstufung 
zwischen   Kanzleivorstand],    Rekognoszenten    und    Ingrossatoren   ganz 


'  Einhardi  Vita  K'aroli  iW.  SS.  rr.  Germ.  ed.  quinta  p.  35;  ganz  abgesehen  von 
anderen  Belegen  aus  dem  8.  und  9.  Jahrhundert,  daß  Metropoliten  auch  sonst  wieder- 
holt einfach  als  episcopi  aufgeführt  werden. 


Forschungen  zu  Karolinger  Diplomen  181 

'^  ;charf  erkennen  und  durchführen  läßt;  und  für  Lothar  I.  haben  allein 
'^le  Nachträge,  die  ich  oben  bieten  konnte,  das  Material  verdoppelt. 
Veit  entfernt  daher,  meine  Ausführungen  irgend  einzuschränken  oder 
;twas  von  ihnen  zurückzunehmen,  sehe  ich  der  letzten  Entscheidung, 
lie  erst  nach  voller  Aufarbeitung  der  Karolinger  Urkunden  möglich 
lein  wird,  mit  der  festen  Zuversicht  entgegen,  daß  sie  nicht  gegen 
nich,  sondern  gegen  die  alte  Lehre  fallen  wird,  für  die  Seeliger  eine 
^anze  gebrochen  hat. 

5.  Ein  minder  freundlicher  Kritiker  ist  der  Entzifferung  der  Tiro- 
lischen Noten  im  ersten  Band  der  Karolinger  Diplome  und  später  auch 
neiner  Monographie  in  W.  Erben  entstanden.^  Es  ist  für  mich  vor 
^llem  eine  Ehrenpflicht,  die  ich  dem  Andenken  Engelbert  Mühlbachers 
chuldig  bin,  den  Vorwurf  zurückzuweisen,  daß  er  „den  Tironischen 
Hüten  nicht  die  gebührende  Aufmerksamkeit  geschenkt  hat".^  Das 
lat  er  im  Gegenteil  in  vollem  Maße  getan.  Nur  hatte  er  in  seinem 
:ntwicklungsgange    keine    Möglichkeit    gehabt,    selbst    sich   in   diese 

"l  ebenso  schwierige  wie  abgelegene  Materie  einzuarbeiten ,  und  dem 
'ünfziger  war  neben  wichtigeren  und  allgemeineren  Aufgaben,  die 
hm  als  Abteilungsleiter  oblagen,  die  Pflege  dieses  Sondergebietes 
licht   mehr  zuzumuten.     Es   zählte   aber   zu   seinen  ersten  Schritten, 

^  laß  er  sich  der  Mitarbeiterschaft  des  überhaupt  besten  Tironianisten 

"liVilhelm  Schmitz'  versicherte.  Leider  starb  dieser  in  dem  Augenblick, 
ils  die  erste  Sammlung  photographischer  Aufnahmen  zur  Absendung 
m  ihn  bereit  lag;  und  nun  war  innerhalb  der  Abteilung  guter  Rat 
illerdings    teuer.     Da    erbot    ich    mich    unter   freudiger  Zustimmung 

"•Vlühlbachers,  der  bei  den  damals  geführten  Beratungen  eine  Aus- 
schaltung dieses  immerhin  grundlegend  wichtigen  Stoffes  ausdrück- 
ich  als  ganz  ausgeschlossen  erklärte,  die  Aufgabe  auf  mich  zu  nehmen, 
ch  erinnere  mich  noch  lebhaft  seiner  hellen  Freude  über  den  ersten 
)edeutenden  Erfolg,  die  Entzifferung  des  Entwurfs  einer  unbekannten 
Jrkunde  Karls  d.  Gr.  (jetzt  DK.  115),  die  Erben  für  gut  hielt,  bei  Zu- 
sammenstellung der  Ergebnisse  der  Bearbeitung  der  Tironiana  einfach 
otzuschweigen.  Daß  es  dann  infolge  der  räumlichen  Trennung  der 
Arbeit  ohne  Irrungen  nicht  abging,  daß  von  den  Noten  eines  Diploms 
nir  keine  Photographie  geschickt,  daß  in  einem  anderen  Falle  meine 
Entzifferung  nicht  abgewartet  und  in  einem  dritten  (bei  DK.  206)  die 
ergänzende  Lesung,  die  ich  einsandte,  als  die  alleinige  in  den  Text 
angesetzt  wurde,   bedauere   ich   selbst   lebhaft,   habe  diese  Verstöße 

||         ^  Erben,  Zur  Herausgabe  der  Karolingerurkunden.     Histor.  Zeitschr.  99,  S.  531 
'ois  547;   Derselbe,  Zu  den  Tironischen  Noten   der  Karolinger  Diplome,   Mitteil.  d. 
nstituts  f.  österr.  GF.  29,  S.  153—162. 
'  Histor.  Zeitschr.  99,  S.  539. 


I 


182  ~  M-  Tangl 

auch  in  den  Nachträgen  zur  Ausgabe  offen  einbekannt  und  dort  unc 
in  meiner  Monographie  berichtigt.  Aber  alles  das  zusammengenommer 
berechtigte  Erben  noch  nicht  entfernt  zu  dem  schroffen  Urteil,  dal 
Mühlbachers  Edition  „hinter  den  berechtigten  Erwartungen  der  Paläo 
graphen  zurückgeblieben  sei"  (a.  a.  0.  S.  538).  Von  seinen  eigener. 
Ausstellungen  muß  ich  die  eine  zu  DK.  21  glatt  zurückweisen.  Wenr 
er  hier  vor  „Baddilo  subscripsi"  noch  ein  „ego"  zu  erblicken  glaubte 
so  gelangte  er  dazu  nur  dadurch,  daß  er  sich  statt  der  Photographic 
bei  tierquet  der  Nachzeichnung  bei  Kopp  bediente,  während  sich  auj 
der  Photographie  und  schärfer  noch  aus  dem  Original  ergibt,  dal 
Kopp  einen  bedeutungslosen  Schnörkel  irrig  nachgezeichnet  hatte 
Zugeben  muß  ich  dagegen,  daß  in  DK.  218  das  Wort  „imperii"  zu  er- 
gänzen ist;  die  Auslassung  entsprang  hier  einem  entschuldbaren  Ver- 
sehen.^ 

In  seiner  zweiten  Arbeit  hat  Erben  zu  meiner  Monographie  in 
allgemeinen  nicht  Stellung  genommen,  im  einzelnen  aber  bei  gani 
wenigen  Urkunden  Abänderungsvorschläge  gemacht,  die  ich  mit  einei 
einzigen  Ausnahme  gänzlich  ablehnen  muß.  Über  zwei  dieser  Diplome 
DK.  150  und  206,  habe  ich  mich  oben  S.  178 — 179  schon  ausgesprochen 

Die  Deutung  der  Noten  in  der  Nachzeichnung  von  DK.  154  hab( 
ich  selbst  nur  als  eine  wenigstens  mögliche  Vermutung  erklärt.  Waj 
Erben  darüber  hinaus  S.  157 — 158  vorbringt,  versteigt  sich,  wi( 
schon  sein  erster  Versuch  (Histor.  Zeitschr.  S.  538  A.  2)  in  ein  von  der 
wirklich  vorliegenden  Schriftzeichen  sich  so  entfernendes  wildes  Raten 
daß  es  sich  nicht  verlohnt,  darauf  auch  nur  mit  einem  Wort  einzugehen 

Wichtig  und  wertvoll  sind  nur  seine  Bemerkungen  zu  M.  977.  Hiei 
hat  er  an  dem,  was  ich  vorsichtig  gelesen  hatte,*  nichts  verbessert 
wohl  aber  mit  Erfolg  und  zweifellos  auch  mit  Recht  ergänzt.  An^ 
unteren  Rand  der  ausgebrochenen  Siegelstelle  steht  in  der  Tat  die  nac^ 
ihrer  unteren  Partie  einwandfrei  feststellbare  Note  „archiepiscopus" 
Die  weitere  Ergänzung  des  folgenden  zu  „et  ar[chicapella]nus"^  ha 
wenigstens  eine  nicht  geringe  Wahrscheinlichkeit  für  sich,  obwohl  icl 
auch  jetzt  immer  noch  versichern  muß,  von  dem  möglichen  Schrift- 


*  Lechner  hatte  in  die  Zettel  unseres  Apparates  die  in  den  „Kaiserurkunder 
in  Abbildungen"  und  sonst  schon  vorliegenden  Lesungen  eingetragen.  Ich  prüfte 
meinerseits  die  Texte  der  Kaiserurkunden  mit  den  Faksimiles  und  hielt  mich  bei 
den  Stücken,  deren  Lesung  ich  abschließend  richtig  fand,  nicht  länger  auf.  Lechnei 
aber  war  das  Unheil  .begegnet,  in  der  Übertragung  auf  unsere  Zettel  das  Werl 
„imperii"  auszulassen,  das  ging  als  Fluch  dieser  bösen  Tat  in  die  Ausgabe  über. 

Rueß  vermutet  „archidiaconus",  was  aber   dem  Sinne  nach  hinter  archiepis- 
copus ausgeschlossen  ist. 


« 


Forschungen  zu  Karolinger  Diplomen  183 


pestand  dieses  Wortes  nur  das  sicher  zu  sehen,  was  ich  als  Lesung 
|30t  „ar  .  .  .  nus". 

Allerdings  hat  Erben  die  Commentarii  zu  Hilfe  gerufen  und  dort 
:NT.  108,  77  die  Note  für  „capella"  entdeckt.  Aber  dabei  ist  ihm  ein 
deiner  Unfall  begegnet;  „capella"  steht  allerdings  im  Register  bei 
Schmitz,  in  den  Noten  selbst  aber  folgen  sich  die  Zeichen  für  „capra, 
paprea,  caprella,  capriola!^  Ob  Gaislein  oder  königHche  Kapelle,  die 
Noten  für  beide  müßten  sich  unter  allen  Umständen  recht  ähnlich 
sehen;  gerade  das  aber  kann  ich  bei  aller  Mühe  nicht  finden.  Ich 
lü^/iederhole,  die  Vermutung  Erbens  hat  hier  trotzdem  viel  für  sich.^  Es 
'ist  sogar  möglich,  daß  Hirminmar  bei  dem  Fehlen  einer  wirklichen 
l^orschrift  für  die  Noten  von  capella,  capellanus,  archicapellanus,  und 
(bei  dem  Bestreben,  die  fatale  Verwechslung  mit  der  caprella  zu  ver- 
jmeiden,  zu  diesen  in  Gestalt  und  Anordnung  merkwürdig  unsicheren 
[Noten  gelangte.  Die  notwendige  Folge  der  Lesung  ist  dann  in  der 
'Tat,  daß  in  der  jetzt  ausgebrochenen  Stelle  der  Name  Drogos  von 
[Yletz  gestanden  haben  müßte. 

Gegen  Erbens  letzten  Ergänzungsvorschlag  kann  ich  wieder  nur 
Widerspruch  erheben.  Es  handelt  sich  um  die  Noten  von  M.  1006, 
in  denen  ich  das  eine  Wort  vor  „impetravit"  nicht  enträtseln  zu  können 
erklärte.  Erben  fand  hier  folgendes:  Der  Empfänger  der  Urkunde  hieß 
„Helis",  er  war  wohl  zugleich  derjenige,  auf  den  sich  das  „impetravit" 
des  Vermerks  bezog.  Den  Namen  aber  vermochte  der  Notar  Meginarius 
nicht  so  ohne  weiteres  zu  schreiben  und  sah  sich  daher  in  den  Com- 
imentarii  um  Hilfe  um.  Dort  entdeckte  er,  daß  Elisaeus  eigentlich  recht 
[ähnlich  laute,  und  setzte  daher  die  Note  für  den  alten  Propheten, 
JCNT.  121,  72  in  den  Vermerk  ein.  Diese  Erklärung  „behebt"  nach 
JErbens  Urteil  „alle  Zweifel". 

Meginarius  schrieb  seinen  eigenen  Namen  korrekt  und  gewandt 
silbentachygraphisch  und  war,  wie  fast  alle  seine  Kollegen,  gewohnt, 
auch  andere  Eigennamen  so  zu  behandeln.  Und  dieser  Mann  soll  auch 
nur  einen  Augenblick  ratlos  vor  der  Schreibung  zweier  der  alier- 
einfachsten  und  bekanntesten  Silben  „he— lis"  gestanden  haben?  Aber 
gesetzt,  es  wäre  der  Fall  gewesen,  und  er  hätte  sich  aus  den  Com- 
mentarii Rat  erholt,  wie  kam  er  dazu,  sich  nicht  die  beiden  in  enger 


^  Diese  Fanggrube  in  den  Commentarii  ist  mir  längst  bekannt,  ich  bin  vor 
Jahren  selbst  in  sie  hineingefallen. 

^  Sein  geringschätziges  urteil  über  die  Güte  der  von  mir  S.  128  gebotenen 
Reproduktion  dieser  Noten  muß  ich  aber  sehr  entschieden  zurückweisen.  Die  Photo- 
graphie dieses  Rekognitionszeichens  ist  gerade  sehr  scharf,  und  die  Vervielfältigung 
blieb  hinter  ihr  nicht  zurück.  In  der  Wiedergabe  dessen,  was  das  Original  über- 
haupt zu  sehen  gab,  ist  hier  das  irgend  Mögliche  geleistet. 


I 


184  ^'  Tangl 

Nachbarschaft  CNT.  17,  23  und  17,  50  verzeichneten  Silben  nachzu- 
schlagen, sondern  auf  den  alten  Propheten  zu  verfallen  und  sich  dabei 
gerade  für  die  Note  von  „Eliseus"  und  nichtf  ür  die  sprachlich  ungleich 
näherliegende  und  in  den  Commentarii  in  untrennbarer  Nachbarschaft 
mit  ihr  verbundene  von  Elias  zu  entscheiden?  Und  auch  dies  wieder 
vorausgesetzt,  wie  konnte  er  dann  die  Note  nur  so  fehlerhaft  in  seine 
Urkunde  malen?  Denn  das  ist  in  der  Tat  der  Fall:  Die  Note  für  Eliseus 
ist  über  dem  „e"  als  Grundzeichen,  die  in  unserem  Diplom  aber  über 
dem  „s"  aufgebaut;  das  ist  zwischen  beiden  der  nicht  nebensächliche, 
sondern  grundsätzliche  Unterschied.  Behoben  ist  hier  jeder  Zweifel  nur 
darüber,  daß  der  von  Erben  vorgeschlagene  Ausweg  nicht  gangbar  ist. 

Viel  beachtenswerter  hat  hier  Rueß  eine  andere  Vermutung  auf- 
gestellt, indem  er  wieder  an  das  „scriptum"  anknüpfte,  das  schon 
Sickel  lesen  zu  können  gemeint  hatte,  das  auch  ich  erwogen,  aber 
wegen  des  darüberstehenden  Punktes  neben  der  Endung  „tum"  für 
ausgeschlossen  erklärt  hatte.  Rueß  macht  jetzt  geltend,  daß  der  Punkt 
als  weiteres  Endungszeichen  trotzdem  seinen  sehr  guten  Sinn  habe 
und  zwar  als  bekannte  Bezeichnung  für  die  Partikel  „que".  Der  Ver- 
merk würde  also  nach  dieser  Lesung  lauten:  „Meginarius  notarius 
atque  diaconus  ad  vicem  Hugonis  recognovi  scriptumque  impetravi  et 
ego  sigillavi".  Sprachlich  fällt  er  ganz  aus  dem  üblichen  Rahmen,  das 
ist  übrigens  bei  manchem  anderen  auch  der  Fall;  auch  die  sachliche 
Deutung  ist  mir  noch  recht  zweifelhaft;  aber  dem  Schriftbestande  nach 
ist  es  die  bestgegründete  Vermutung,  die  hier  bisher  ausgesprochen 
wurde.  j 

6.  Über  die  Konzeptfrage  in  Karolinger  Diplomen  mitzusprechen,' 
glaube  ich  ein  gewisses  Anrecht  dadurch  erworben  zu  haben,  daß  ich 
die  zwei  einzigen  bisher  überhaupt  bekannten  Konzepte  auffand,  einen 
Parteientwurf  und  einen  tatsächlich  in  der  Reichskanzlei  entstandenen 
Vorakt.^  Jüngst  ist  es  nun  Jusselin  in  seiner  oben  schon  genannten 
Monographie  über  die  Tironischen  Noten  der  Merovinger  Diplome  ge- 
lungen, auf  der  Rückseite  eines  Diploms  Chlodowechs  III.  vom  1.  No- 
vember 691  Noten  zu  entziffern,  die  sich  als  vollkommenes  Seitenstück 
zu  meinem  Fund  aus  der  Kanzlei  Karls  d.  Gr.  herausstellen.^  Auch 
hier  ist  es  nur  ein  bestimmter  Satz,  der  dann  wörtlich  mitten  in  der 
Disposition  der  Urkunde  verwertet  ist.  Immerhin  ist  unser  Bestand  an 
solchen  Konzepten  noch  kläglich  gering  und   bleibt  weit  hinter  dem 

^  Der  Entwurf  einer  Königsurkunde  aus  Karolingerzeit,  Neues  Archiv  25,  S.  345ff. 
Der  Entwurf  einer  unbeitannten  Urkunde  Karls  d.  Gr.  in  Tironischen  Noten,  Mitteil, 
d.  Instituts  f.  österr.  GF.  21,  S.  344ff. 

'  Lichtdruckfaksimile  der  Urkunde  und  des  Vermerks  jetzt  bei  Lauer  und 
Samaran  Taf.  20  und  Taf.  40.  Nr.  9. 


Forschungen  zu  Karolinger  Diplomen  185 

;urück,  den  wir  von  älteren  Privaturkunden  kennen.  Wohl  aber  wird 
;ich  gerade  aus  der  Spärlichkeit  der  Funde  die  Behauptung  aufstellen 
assen,  daß  diese  Art  der  Anbringung  von  Konzepten  oder  Vorakten 
luf  der  Rückseite  der  Diplome  einen  nur  ganz  vereinzelten  Ausnahme- 
all gebildet  haben  kann.  Es  müßten  uns  sonst  bei  der  doch  nicht 
;  geringen  Zahl  erhaltener  Originaldiplome  ungleich  mehr  solcher  Bei- 
spiele vorliegen.  Diese  Konzepte  müssen,  wenn  ihre  Anfertigung  über- 
laupt  beliebt  wurde,  entweder  unabhängig  von  dem  Pergament  des 
)iploms  auf  Wachstafeln  oder  Einzelblätter  geschrieben,  oder  sonst 
mders  als  in  dorso  angebracht  worden  sein. 

Aus  dem  reichen  ürkundenbestand  von  St.  Gallen  sind  uns 
wenigstens  ein  paar  Fälle  noch  überliefert,  daß  dieser  Vorakt  auf  den 
schadhaften  Teil  oder  den  Rand  der  Vorderseite  des  Urkunden- 
oergaments  geschrieben  wurde.  Ich  habe  darüber  in  meinen  Schrift- 
afein  III,  Erläuterung  zu  Taf.  71b  berichtet  und  damals  schon  die  Be- 
Tierkung  beigefügt,  daß  wir  kaum  einen  Maßstab  zur  Beurteilung  haben, 
n  welchem  Umfange  solche  Randvermerke  etwa  sonst  vorgenommen 
A^urden,  da  sie,  nachdem  sie  ihren  Zweck  erfüllt,  durch  Beschneiden 
des  Pergaments  entfernt  werden  konnten.  Ich  hatte  ebenfalls  damals 
schon  darauf  aufmerksam  gemacht,  daß  die  St.  Galler  Urkunde,  die  ich 
auf  Taf.  72b  reproduzierte,  einen  solchen,  die  Oberschäfte  der  ersten 
^eile  köpfenden  Schnittrand  aufweist. 

Diese  Beobachtung  konnte  ich  aber  im  Laufe  der  Jahre  an  älteren 
Karolinger  Diplomen  in  immer  reichlicherem  Maße  machen.  Wir  kennen 
i'me  Reihe  von  Urkunden,  die  im  Laufe  der  Jahrhunderte  verstümmelt, 
deren  Ränder  zugestutzt,  deren  Datierungen  fortgeschnitten  wurden, 
und  wir  suchen  die  alleinige  Erklärung  hierfür  selbstverständlich  in 
den  Verwahrungsverhältnissen  dieser  Urkunden.  Anders  aber  muß  sich 
unser  Urteil  gestalten,  wenn  wir  wahrnehmen,  daß  sonst  besterhaltene 
Diplome  und  solche  für  verschiedenste  Empfänger  solche  Beschneidung 
gerade  des  oberen  Randes  zeigen,  und  wenn  die  fortgesetzte  Beobachtung 
hier  geradezu  zu  dem  Ergebnis  führt,  daß  dies  eine  regelmäßige 
Erscheinung  bei  fast  allen  Urkunden  Karls  d.  Gr.  und  bei  der 
Mehrzahl  jener  Ludwigs  d.  Fr.  ist.^ 


'  ^  Ich  verweise  hier   einfach  zunächst  auf  die  Faksimiles,  an  denen  jedermann 

die  Beobachtung  selbst  nachprüfen  kann.  Pippin:  Pal.  Soc.  120,  Herquet,  Spec. 
dipl.  Fuld.  T.  3.  Karlmann:  KüiA.  III.  1,  Dipl.  imp.  1.  Karl  d.  Gr.:  KüiA.  I.  2—5, 
III.  2—3,  VII.  1,  Diplomi  imp.  e  reali  I.  2.  Pal.  Soc.  237,  Album  pal.  16,  Musee  des  arch. 
depart.  2,  Herquet  T.  4,  5.  Ludwig  d.  Fr.:  KüiA.  I.  6,  III.  5—7,  Diplomi  imp.  e 
reali  3 — 5.  Eine  systematische  Beobachtung  dieser  Frage  war  bei  der  Bearbeitung 
jder  Karolinger  Diplome  von  vornherein  leider  noch  nicht  angestellt  worden,  ich 
versuchte  aber,  sie  nach  Möglichkeit  nachzuholen,  und  kann  für  Ludwig  d.  Fr.  allein 


I 


186  M-  Tangl 

Das  kann  natürlich  nicht  durch  die  verschiedenen  Urkunden 
empfänger,  sondern  das  muß  einheitüch  in  der  Kanzlei  selbst  geschehe! 
sein,  und  diese  Maßregel,  bei  der  z.  B.  in  KöiA.  III.  3  ganze  Buchstaben 
teile  der  ersten  Zeile  samt  einem  guten  Stück  des  Chrismon  dem  Messe 
oder  der  Schere  zum  Opfer  fielen,  muß  einen  bestimmten  Zweck  ge 
habt  haben. 

Ausdrücklich  auf  fortgeschnittene  Vorbemerkungen  zu  schließen 
blieb  trotzdem  mißlich,  weil  uns  aus  anderen  ürkundengruppei 
kein  Beweis  vorlag,  daß  gerade  an  dieser  Stelle  ein  Vorakt  für  di( 
Ausfertigung  der  Urkunden  angebracht  wurde.  Dieser  Beweis  ist  abe 
jetzt  erbracht;  er  findet  sich  in  der  neuen  prächtigen  Lichtdruck 
Publikation  von  Bonelli,  Codice  paleografico  Lombardo,  Mailand  1908 
Die  Urkunde  vom  7.  Januar  792  zeigt  den  ganzen  oberen  Rand  ent- 
lang eine  Linie  mit  Tironischen  Noten,  die  Chatelain  entzifferte,  unc 
die  sich  als  Vorakt  zur  unten  folgenden  Urkunde  herausstellen. 

Ich  trage  kein  Bedenken,  aus  der  Handhabe,  die  uns  diese  Ur- 
kunde bietet,  nunmehr  bestimmtere  Schlüsse  aus  der  besprochener 
Beschaffenheit  der  älteren  Karolinger  Diplome  zu  ziehen,  und  anzu- 
nehmen, daß  auch  bei  ihnen  konzeptartige  Aufzeichnungen  den  oberer, 
Rand  entlang  geschrieben  und  nach  Ausfertigung  der  Diplome  durch 
Wegschneiden  des  Randes  entfernt  worden  sind.  Bresslaus  Vermutung, 
daß  Vollkonzepte  für  diese  frühere  Zeit  nicht  anzunehmen  sind,  würde 
dadurch  nur  eine  weitere  Stütze  erhalten. 


IL   Die  Osnabrücker  Fälschungen 

1.   Die  Überlieferung 

Das  17.  und  zum  Teil  auch  noch  das  18.  Jahrhundert  bedeuten 
in  der  Urkundenliteratur  Deutschlands  die  Zeit  der  sogenannten  bella 
diplomatica,  in  denen  die  Verbindlichkeit  aus  alter  Zeit  noch  fort- 
wirkender Rechtsverhältnisse  durch  Zurückgreifen  auf  die  ihnen  zu- 
grundeliegenden Rechtstitel,  eben  die  alten  Urkunden,  geprüft  und  je 
nach  dem  Parteistandpunkt  ebenso  erbittert  angefochten  wie  hartnäckig 
verteidigt  wurde.  Die  Deduktionsschriften,  wie  wir  diese  Erzeugnisse 
prozessualer  Urkundenkritik  benennen,   wurden  nach  zwei  Richtungen 


ausdrücklich  noch  folgende  Originale  namhaft  machen:  M.  552,  623,  740,  746,  747, 
767,  803,  804,  833,  844,  846,  847,  883,  918,  921,  927,  929,  933,  971,  977,  986.  In 
M.  993  sind  solche  Spüren  kaum  wahrzunehmen  und  nur  in  M.  618,  740,  963  sind 
die  Oberschäfte  sicher  nicht  durch  Beschneiden  gekürzt  und  ebenso  nicht  in  den 
Faksimiles  KüiA.  III.  4,  Musee  des  arch.-dep.  3,   Mon.  graph.  IX.  1. 


Forschungen   zu  Karolinger  Diplomen  187 

lin  wertvoll.  Bei  aller  Unzulänglichkeit  des  eigenen  Rüstzeuges,  bei 
bft  kindischem  Fehlgreifen  im  Urteil,  wiesen  sie  doch  der  erwachenden 
Jrliundenkritik  mit  der  Zeit  bessere  Wege;  andererseits  gaben  sie  viel- 
:ach  die  erste  Kunde  von  Inhalt,  Fundstätten  und  Überlieferungsformen 
i^er  ältesten  Urkunden. 

Ein  solcher  Urkundenkrieg  war,  obwohl  nicht  gerade  vor  gericht- 
lichem Forum,  seit  dem  Jahre  1717  auch  über  Osnabrück  entbrannt. 
Seinen  Ausgangspunkt  bildete  die  wunderliche  Bestimmung  einer  an- 
geblichen Urkunde  Karls  d.  Gr.,  daß  dem  Bischof  von  Osnabrück,  wenn 
immer  der  deutsche  Kaiser  für  seinen  Sohn  eine  griechische  Prinzessin 
'zu  freien  gedächte.  Mühen  und  Ehren  der  Werbefahrt  zufallen,  und  daß 
zu  diesem  Zweck  in  Osnabrück  stets  griechische  und  lateinische  Schulen 
blühen  sollten.  Von  hier  ausgehend,  verbreitete  sich  der  Streit  über 
Gründung  und  Ausstattung  der  Osnabrücker  und  auch  der  übrigen 
Kirchen  im  Sachsenlande.  Im  Verlauf  dieses  Streites  brachte  im 
jJahre  1721  der  Jesuit  Henseler  die  ältesten  Königsurkunden  für  Osna- 
'brück  in  für  seine  Zeit  sehr  sorgfältiger  Weise  zum  Abdruck,  und  zwar 
wenigstens  einen  Teil  von  ihnen  nach  den  ihm  vorliegenden  Ur- 
schriften. Seither  waren  die  Urkunden  verschollen,  obwohl  die  Hoff- 
nung, daß  sie  einst  wieder  auftauchen  würden,  niemals  schwand  und 
'noch  durch  einen  bestimmten  Anhaltspunkt  genährt  wurde. 

Der  im  Jahre  1855  verstorbene  Osnabrücker  Weihbischof  Lüpke 
ihatte  in  sein  nach  dem  Jahre  1815  erworbenes  Exemplar  von  Sandhoffs 
'„Antistites  Osnabrugenses"  bei  einzelnen  und  zwar  gerade  den  ältesten 
Urkunden  Verbesserungen  „nach  dem  vor  Augen  gehabten  Originale" 
eingetragen.  Zwischen  1815  und  1855  waren  also  wenigstens  einzelne 
der  ältesten  Urkunden  noch  vorhanden  gewesen;  wo  aber  waren  sie 
hingeraten?  Nicht  ins  Kgl.  Staatsarchiv  zu  Osnabrück,  wo  sich  aus  der 
ganzen  ziemlich  zahlreichen  Gesellschaft  nur  eine  Urkunde  Ottos  I. 
(DO.  I.  212)  befindet,  und  nicht  ins  Archiv  des  Domkapitels,  wo  die 
Reihe  der  Königsurkunden  erst  mit  einem  Originalmandat  Fleinrichs  IV. 
beginnt,  nicht  in  andere  sorgsam  durchsuchte  deutsche  Fundstätten. 
Ein  Gerücht  wies  auf  persönliche  Verwahrung  in  des  Bischofs  Hand. 
An  dieser  Stelle  wurde  der  Besitz  dieser  Urkunden  niemals  ausdrück- 
lich abgeleugnet,  aber  noch  weniger  je  offen  zugestanden.  So  blieben 
Henselers  Dissertatio  critico-historica  und  seine  Urkundenabschriften, 
zu  denen  nur  noch  Kopialbücher  aus  dem  15.  und  16.  Jahr- 
hundert traten,  die  Grundlagen  für  Ausgabe  und  Textkritik  der  Osna- 
brücker Urkunden,  mit  denen  sich  Sickel  bei  Bearbeitung  dieser  Gruppe 
für  den  ersten  und  zweiten  Band  der  Diplomata  und  Philippi  bei  seinem 
Osnabrücker  Urkundenbuch  bescheiden  mußten. 

Anklagen  zu  erheben  oder  umständlich  nach  den  Gründen  dieser 


I 


188  ^'  Tangl 

in  zäher,  nahezu  zweihundertjähriger  Tradition  festgehaltenen  und  fort- 
gesetzten Urkunden  verhehlung  zu  fragen,  ist  heute  nicht  mehr  an- 
Platze, seit  der  letzte  Vertreter  dieser  Tradition,  der  im  Herbst  1898 
verstorbene  Bischof  Dr.  Höting,  dafür  gesorgt  hat,  daß  sie  nach  seinen 
Tode  in  entscheidender  Weise  unterbrochen  wurde.  In  seiner  letzt- 
willigen  Verfügung  bestimmte  er,  daß  im  Falle  seines  Todes  die  Ur- 
kunden Herrn  Professor  Dr.  Jostes  (Münster)  „und  keinem  anderen" 
zur  Bearbeitung  angeboten  werden  sollten.^ 

Wir  können  es  Jostes  nicht  genug  Dank  wissen,  daß  er  die  Be- 
denken niederkämpfte,  die  ihn,  den  Germanisten,  von  dem  Betreten 
eines  wenn  auch  benachbarten  und  durch  eigene  ernste  Forschung, 
vor  allem  durch  seine  Heimatkenntnis  vielfach  vertrauten,  aber  doch 
teilweise  fremden  Gebietes  abmahnten.  Seine  Ausgabe  der  „Kaiser- 
und  Königs- Urkunden  des  Osnabrücker  Landes"  in  prächtigen,  in 
Originalgröße  hergestellten  Lichtdrucken,  die  während  der  Sedisvakanz 
fertiggestellt  wurde  und  dann  als  Widmung  an  den  neuen  Oberhirten 
des  Osnabrücker  Sprengeis  erschien,  ist  von  uns  allgemein  als  erlösende 
Tat  begrüßt  worden  und  wird  ihm  stets  zur  Ehre  angerechnet  bleiben, 
um  so  mehr  als  die  Gabe  viel  reichhaltiger  ausfiel,  als  wir  zu  hoffen 
gewagt  hatten.  Nicht  einzelne,  sondern  alle  Königsurkunden,  von 
denen  wir  durch  die  Textüberlieferung  überhaupt  Kunde  erlangt  hatten, 
sind  noch  in  Urschriften  erhalten:  von  Karl  d.  Gr.  bis  auf  Heinrich  IV. 
ihrer  22.  Daß  Jostes  überdies  auch  den  einzigen  bisher  in  Urschrift 
bekannten  Flüchtling  aus  dem  Osnabrücker  Staatsarchiv,  die  Urkunde 
Ottos  L  vom  13.  Juni  960  in  sein  Werk  aufnahm,  verdient  nur  volle 
Zustimmung.  In  der  Geschichte  der  Urkundenreproduktion  gebührt 
dem  Werke  das  sehr  beachtenswerte  Sonderverdienst,  daß  es  den 
ersten  Versuch  darstellt,  die  Königsurkunden  einer  bestimmten  Emp- 
fängergruppe in  geschlossener  Reihe  vorzuführen. 

Nach  dieser  grundlegenden  Publikation  hat  sich  auch  die  Zitierung; 
der  Urkunden  zu  richten,  die  ich  zunächst  einzeln  aufzähle;  den- 
Nummern  nach  Jostes  sind  die  Zitate  nach  der  Diplomata-Ausgabe  der 
Monumenta  Germaniae,  soweit  diese  reicht,  ferner  nach  Philippis  Osna- 
brücker Urkundenbuch  und  die  nach  den  Regestenwerken  von  Mühl- 
bacher, Ottenthai  und  Stumpf  angefügt. 


*  Vgl.  die  genaue  Erklärung  des  Sachverhaltes  durch  den  Osnabrücker  General- 
vlkariats-Sekretär  Beckschäfer  in  der  Wissenschaftl.  Beilage  zur  Münchener  All- 
gemeinen Zeitung  1900  Nr.  86.  Kurz  zuvor  hatte  ebenda  Nr.  70  Heinrich  Finke  die 
Tatsache  festgestellt,  daß  ihm  der  Bischof  1897  die  beiden  Urkunden  Karls  d.  Gr.  — 
allerdings  unter  dem  Siegel  der  Verschwiegenheit  —  zur  Einsicht  anvertraute.  Für 
die  Vorbereitung  des  Bruches  mit  der  bisherigen  Tradition  war  auch  dieser  Schritt 
—  darin  stimme  ich  Finke  bei  —  schon  von  wesentlicher  Bedeutung. 


Forschungen  zu  Karolinger  Diplomen  189 

I.  Karl  d.  Gr.  803  Dezember  19,  DK.  271,  Philipp!  1,  3  Nr.  3,  Mühl- 
bacher 406  (398). 

II.  Karl  d.  Gr.  804  Dezember  19,  DK.  273,  Philipp!  1,  5  Nr.  5,  Mühl- 
bacher 408  (401). 

III.  Ludwig  d.  Fr.  829  September  7,  Philipp!  1, 10  Nr.  14,  Mühlbacher 
870  (841). 

IV.  Ludwig  d.  Deutsche  848  November  10,  Philipp!  1, 17  Nr.  32,  Mühl- 
-^     bacher  1389  (1349). 

Iw.  Arnulf  889  Oktober  13,  Philipp!  1,  42  Nr.  54,  Mühlbacher  1829 

H  (1780). 

Wmi  Arnulf  889  Oktober  13,  Philipp!  1,  44  Nr.  55,  Mühlbacher  1830 

ll  (1781). 

1  VIL  Arnulf  889  Dezember  12,  Philipp!  1,  45  Nr.  56,  Mühlbacher  1841 

'  (1792). 

VIII.  Arnulf  895  Juli  16,  Philipp!  1,  61  Nr.  75,  Mühlbacher  1911  (1860). 

IX.  Otto  I.  938  Mai  18,  DO.L20,  Philipp!  1,  68  Nr.  87,  Ottenthai  76. 

X.  Otto  I.  952  Juni  7,  DO.  1. 150,  Philipp!  1,  75  Nr.  95,  Ottenthai  213. 

XI.  Otto  I.  960  Juni  13,  DO.  L  212,  Philipp!  1,  78  Nr.  98,  Ottenthai  284. 
I  XII.  Otto  I.  965  Juli  15,  DO.  1. 302,  Philipp!  1, 81  Nr.  102,  Ottenthal  404. 
XIII.  Otto  I.  972  September  17,  DO.  L  421,  Philipp!  1,  85  Nr.  107,  Otten- 
thal 554. 

|XIV.   Otto  IL  975  April  25,  DO.  IL  100,  Philipp!  1,  88  Nr.  109,  Stumpf  648. 
XV.   Otto  IL  977  Oktober  29,  DO.  IL  169,  Philipp!  1,  90  Nr.  111,  Stumpf 

719. 
KVL  Heinrich  IL  1002  Juli  28,  DH.IL8,  Philipp!  1, 105  Nr.  118,  Stumpf 

1314. 
:V1L   Heinrich  IL   1023  Juli  27,   DH.  IL  491,   Philipp!  1,  109  Nr.  128, 

Stumpf  1807. 
VIIL   Konrad  IL  1028  (Juni),  DK.  IL  123,  Philipp!  1, 114  Nr.  133,  Stumpf 

1974. 
klX.   Heinrich  III.  1051  Mai  25,  Philipp!  1,  131  Nr.  147,  Stumpf  2404. 
|XX.   Heinrich  IV.  1057  Mai  26,  Philipp!  1,  132  Nr.  149,  Stumpf  2541. 
XXL   Heinrich  IV.  1077  Dezember  30,  Philipp!  1,  153  Nr.  182,  Stumpf 

2808. 
:XIL  Heinrich  IV.  1079  Januar  27,  Philipp!  1, 156  Nr.  183,  Stumpf  2814. 
XIIL  Heinrich  IV.  1079  März  30,  Philipp!  1, 159  Nr.  185,  Stumpf  2814a. 
Gleichzeitig  mit  diesen  wirklichen  oder  angeblichen  Original- 
'kunden  tauchte  aus  dem  Nachlaß  des  Bischofs  Höting  auch  das 
teste  Chartular  von  Osnabrück  aus  dem  Ende  des  13.  Jahrhunderts 
if,^  das  einen  Teil  unserer  Urkunden  enthält,  nämlich  I  (f.  1),  II  (f.  2), 

^  Die  Eintragungen  von  erster  Hand  reichen   bis   1289,   die  Nachträge  setzen 
89'  mit  1298  ein. 


I 


190  M.  Tangl 

yil  (f.  2 ),  VIII  (f.  50,  IX  (f.  8),  X  (f.  5),  XII  (f.  7'),  XIV  (f.  7),  XVII  (f.  4) 
XXIII  (f.  16).  Von  großer  Wichtigkeit  aber  ist,  daß  das  Chartular  ar 
Königsurkunden  auch  nicht  um  ein  Stück  mehr  enthält,  als  wir  au« 
den  noch  vorhandenen  Urschriften  und  den  jüngeren  ßberlieferunger 
kennen.  Wir  gewinnen  hier  für  den  Ausgang  des  13.  Jahrhunderte 
schon  dieselbe  Erkenntnis,  wie  aus  dem  Verzeichnis  der  Urkunden  de« 
Domarchives  vom  Jahre  1415,  das  Jostes  im  Anhang  zum  Text  seine 
Publikation  abdruckte.  Die  Zeit  für  die  Annahme  größerer  Verlusti 
von  Urkunden,  die  1077  noch  vorhanden  waren,  später  aber  ver 
schwunden  sein  sollen,  womit  bisher  bei  der  Kritik  der  Osnabrücke 
Urkunden  stark  gearbeitet  wurde,  schränkt  sich  auf  ziemlich  genai 
zwei  Jahrhunderte  ein  und  macht  gegen  vorschnelle  Annahme  größere 
Verluste  überhaupt  vorsichtig. 

Es  gereicht  mir  endlich  zur  Freude,  feststellen  zu  können,  dal 
der  Wunsch,  den  ich  unmittelbar  nach  dem  Erscheinen  der  Publikatioi 
von  Jostes  aussprach,^  in  Erfüllung  gegangen  ist.  Die  Urkundei 
werden  heute  im  bischöflichen  Generalvikariat  in  Osnabrück  in  vortreff 
lieber  Weise  verwahrt  und  sind  der  Forschung  ohne  jede  Schwierig 
keit  zugänglich.  Ich  selbst  hatte  mich,  als  mir  im  Herbst  1907  eim 
Nachprüfung  einzelner  Beobachtungen  an  den  Urschriften  nötig  schier 
vollen  Entgegenkommens  und  freundlicher  Aufnahme  durch  den  Hern 
Bischof  von  Osnabrück,  Dr.  Hubert  Voss,  zu  erfreuen,  dem  ich  hierfü 
meinen  ergebensten  Dank  ausspreche. 

Schon  seit  dem  Beginn  des  18.  Jahrhunderts  standen  sich  in  de 
Kritik  der  Osnabrücker  Königsurkunden  Ankläger  und  Verteidiger  gegen 
über;^  und  das  allgemeine  Urteil  stellte  sich  seither  insofern  auf  di 
Seite  der  Anklage,  als  an  völlige  Rettung  aller  in  Betracht  kommendei 
Urkunden  heute  wohl  niemand  mehr  denkt.  Auch  über  die  Zahl  de 
gefälschten  Urkunden  hat  sich  eine  herrschende  Meinung  heraus 
gebildet:  man  rechnet  zu  ihnen  sämtliche  Karolinger  Urkunden  (I— Vlli 
und  noch  zwei  Urkunden  Ottos  I.  (XI  und  XIII).  Und  dieses  Urteil  is 
durch  das  Erscheinen  der  Publikation  von  Jostes  nur  gefestigt  worden 
während  es  früher  über  Einzelheiten  noch  schwankte.  So  erwog  Philipp 
für  XXII  und  XXIII   die  Möglichkeit   späterer  Überarbeitung,   währenc 


^  Beilage  zur  Münchener  Allgemeinen  Zeitung  1899,  Nr.  278:  „Mögen  die  ür 
künden  aber  auch  fürderhin  im  Sonnenlicht  der  Forschung,  jedem  Berufenen  frei  un< 
offen  zugänglich,  verbleiben!     Dies  unser  ernster  und  dringender  Wunsch." 

^  Auf  Einzelheiten  für  die  frühere  Zeit  einzugehen,  verlohnt  nicht  mehr;  icl 
verweise  auf  die  Ausführungen  von  Jostes  in  der  Einleitung  zu  seiner  Ausgabe 
der    ich    auch    oben    die   wesentlichen    Angaben   über   die   Überlieferungsgeschicht 


entnahm. 


Forschungen  zu  Karolinger  Diplomen  191 

lundlach  XXI  verwarf.^  Und  Diekamp  brach  noch  gegen  die  Diplomata- 
iUSgabe  für  die  lange  allein  bekannte  Urschrift  von  XI  eine  Lanze,^  ein 
i'efsuch,  dessen  Haltlosigkeit  er  angesichts  des  neuen  Vergleichsmate- 
als  als  erster  selbst  zugegeben  haben  würde. 

^  Einigkeit  herrscht  auch  darüber,  daß  sich  Fragen  des  Zehntstreites 
lit  Korvey  und  Herford  wie  ein  roter  Faden  durch  die  Reihe  der  an- 
efochtenen  Urkunden  ziehen,  und  daß  hierin  der,  wenn  auch  nicht 
inzige,  so  doch  beherrschende  Grund  für  die  Entstehung  der  Fäl- 
Ichungen  zu  suchen  ist.  Zweifel  blieben  nur  hinsichtlich  der  Ent- 
jtehungszeit.  In  diesem  Punkte  schloß  Wilmans^  auf  längere  Zeit 
inaus  die  Forschung  mit  der  Annahme  ab,  daß  die  Fälschungen  ein- 
eitlich  in  den  siebziger  Jahren  des  11.  Jahrhunderts  anläßlich  des 
ehntstreites  entstanden,  den  damals  Bischof  Benno  II.  von  Osnabrück 
rfolgreich  führte.  Seiner  Beweisführung  schlössen  sich  im  wesent- 
Ichen  auch  Sickel  bei  Herausgabe  der  Ottonendiplome  und  Mühl- 
acher bei  Bearbeitung  der  ersten  Auflage  seiner  Karolinger  Re- 
esten  an. 

Zu  ganz  anderen  Ergebnissen  gelangte  Philippi  bei  Bearbeitung 
es  ersten  Bandes  seines  Osnabrücker  Urkundenbuches.  Benno  II.  hat 
;ach  ihm  durchaus  in  gutem  Glauben  gehandelt;  denn  die  Arnulf- 
ind  Otto-Urkunden,  die  er  im  Zehntstreit  vorlegte  (V— VIII,  XI,  XIII), 
|aben  damals  schon  seit  etwa  einem  Jahrhundert  bestanden,  ihre  Her- 
stellung oder  Verunechtung  falle  dem  Bischof  Ludolf  von  Osnabrück 
968—978),  der  früher  als  Notar  und  Kanzler  in  der  Reichskanzlei  gedient 
atte,  zur  Last.  Die  gröberen,  auf  die  früheren  Karolinger  lautenden 
älschungen  I— IV  habe  Benno  noch  gar  nicht  gekannt;  sie  gehören 
Tst  etwa  der  Mitte  des  12.  Jahrhunderts  an. 

Wenige  Jahre  später  unternahm  Georg  Hüffer  in  seinen  Korveyer 
■tudien  (1897)  den  eigenartigen  Versuch,  bei  den  Gründungsurkunden 
er  sächsischen  Bistümer  unter  Preisgabe  der  überlieferten  Form  mög- 
chst  viel  von  ihrem  Inhalt  zu  retten  und  als  gute  und  zuverlässige 
Tadition  zu  sichern.  Ich  komme  auf  den  Gang  seiner  Beweisführung, 
1  die  er  auch  die  ältesten  Osnabrücker  Urkunden  einbezog,  im  nächsten 
abschnitt  näher  zurück. 

Zwei  Jahre  später  erfolgte  die  entscheidendste  Förderung,  welche 
ie  Untersuchung  der  verwickelten  Frage  finden  konnte,  durch  die 
Veröffentlichung  der  Lichtdruckfaksimiles   der  Osnabrücker  Urkunden. 

^  Gundlach,  Ein  Diktator  aus  der  Kanzlei  Kaiser  Heinrichs  IV.  Innsbruck 
884.    Exkurs  S.  128  ff. 

'  Westfäl.  ÜB.  Supplement  68,  Nr.  437. 

^  Kaiserurkunden  der  Provinz  Westfalen,  1.  Bd.,  1867;  vgl.  besonders  die  zu- 
ammenhängende  Darstellung  S.  319—386. 


I 


192  M-  Tangl 

Jostes  erklärte  dabei,  in  die  eigentliche  Streitfrage,  besonders  ihre  tech 
nische  Seite,  nicht  eingreifen  zu  wollen,  aber  mit  seinem  Herzen  be 
kannte  er  sich  offen  als  warmen  Anhänger  der  alten  Osnabrücke 
Tradition;  und  in  der  Wertung  der  Namensformen  für  die  Urkunden 
kritik  sprach  er,  wie  schon  bei  früherem  Anlaß,  so  auch  hier  ge- 
wichtig  mit.  Als  neuen,  sehr  willkommenen  und  auch  nach  de 
historischen  Seite  hin  sehr  vertieften  Beitrag  ließ  er  1904  eine  Unter 
suchung  über  „die  Münstersche  Kirche  vor  Liudger  und  die  Anfänge 
des  Bistums  Osnabrück"  folgen.^ 

Von  selten  der  Historiker  nahm  zunächst  Brandi  zur  neuen  Er 
kenntnisgrundlage  Stellung  in  einer  Anzeige  der  Publikation  von  Jostes 
die  sich  zu  einer  umfangreichen  und  gehaltvollen  Abhandlung  aus 
weitete,  mit  der  ich  mich  im  folgenden  Schritt  für  Schritt  auseinander 
zusetzen  habe.^  Sein  Ergebnis  ging  dahin,  daß  der  Ansatz  von  Wil 
mans  durch  das  Wiederauftauchen  der  Urkunden  in  der  Hauptsache  ein^ 
glänzende  Rechtfertigung  erfahren  habe,  daß  die  Fälschung  im  wesent 
liehen  einheitlich  und  unter  Benno  II.  erfolgt  sei,  nur  nicht  ganz  ii 
einem  Ruck,  sondern  in  zwei  oder  drei  durch  eine  Frist  weniger  Jahn 
getrennten  Absätzen,  in  die  mitten  hinein  die  Entscheidung  Heinrichs  IV 
vom  Jahre  1077  gefallen  sei. 

Auch  Philippi  nahm  wieder  das  Wort  zu  „Bemerkungen  zu  der 
unechten  Urkunden  Karls  d.  Gr.  für  Osnabrück",^  die  er  jetzt,  wesent 
lieh  auf  Grund  der  Kritik  der  äußeren  Merkmale,  von  der  späteren  ir 
die  von  ihm  angenommene  frühere  Fälschungsperiode  unter  Bischo 
Ludolf  hinaufrückte. 

Zu  den  Diplomen  der  sächsischen  Kaiser  aus  der  Osnabrückes 
Gruppe  veröffentlichte  E.  v.  Ottenthai  lehrreiche  Beobachtungen.^  Bei 
mehreren  dieser  Diplome,  an  deren  Zuverlässigkeit  wir  auch  bishei 
nicht  gezweifelt  hatten,  konnte  er  die  Originalität  durch  die  Fest^ 
Stellung  der  Schreiber  nachweisen.  Bei  XII  war  in  der  Diplomata^ 
Ausgabe  (DO.  I.  302)  auf  Grund  der  Diktatuntersuchung  ausgesprocher 
worden,  daß  die  Urkunde  außerhalb  der  Kanzlei  verfaßt  worden  sei 
Diese  Annahme  erfuhr  bei  Prüfung  des  Originales  durch  die  nicW 
feststellbare  Hand  des  Kontextes  ihre  volle  Bestätigung.  Ottenthai  hat 
aber  auch  die  beiden  Fälschungen  XI  und  XIII  in  den  Kreis  seinei^ 
Untersuchung  einbezogen  und  über  sie  ein  Urteil  gefällt,  das  sich 
vollkommen   mit  Beobachtungen  deckt,   die  ich  unabhängig  von  ihm 

^  Zeitschr.  f.  vaterländ.  Gesch.  u.  Altertumskunde  (Westfalens),  62.  Bd. 

*  Die  Osnabrücker  Fälschungen,  Westdeutsche  Zeitschr.  19,  120—174. 

*  Mitteil.  d.  histor.  Vereins  z.  Osnabrück  27,  245—265,  1903. 

*  Bemerkungen  zu  den  Urkunden  der  sächsichen  Kaiser  für  Osnabrück.  Mitteil. 
d.  Instituts  f.  österr.  G.-F.,  Erg.-Bd.  6,  25—40. 


Forschungen  zu  Karolinger  Diplomen  193 

und  noch  vor  Erscheinen  seiner  Abhandlung  machen  konnte.  Ich 
verde  also  hier  sein  Ergebnis,  das  ich  wohl  als  unser  gemeinsames 
)ezeichnen  darf,  einfach  zu  übernehmen  haben. 

Der  großen  Freundlichkeit  von  Jostes  verdanke  ich  es,  daß  ich 
iie  Urkunden  zum  Zwecke  der  Bearbeitung  für  die  Ausgabe  der  Karo- 
linger Diplome  bei  ihm  im  Juli  1899  einsehen  konnte.  Meine  Arbeit 
iber  diese  Gruppe  war  in  einer  ersten  Fassung  der  Vollendung  nahe, 
ils  mir  Brandi  zuvorkam.  Ich  mußte  von  vorne  beginnen  und  stellte 
iie  Arbeit  hinter  andere  drängende  Aufgaben  zunächst  zurück.  Indem 
ch  mich  ihr  von  neuem  zuwende,  halte  ich  es,  ehe  ich  an  die  Vor- 
ührung  und  Kritik  der  einzelnen  Urkunden  herantrete,  für  notwendig, 
amächst  zwei  Fragen  zu  erörtern,  auf  die  später  wiederholt  Bezug  ge- 
lommen  werden  muß;  die  Kritik  der  Gründungsurkunden  anderer  säch- 
i;ischer  Bistümer  und  die  Geschichte  des  Osnabrücker  Zehntstreites 
Im  der  Hand  der  zuverlässigen  Zeugnisse. 

Über  die  erste  Frage  habe  ich,  schon  als  Vorarbeit  für  mein 
fhema,  jüngst  gesondert  gehandelt.^  Da  aber  die  Publikation,  in  der 
;s  geschah,  engeren  Fachgenössen  nicht  mit  Sicherheit  zugänglich  sein 
lürfte,  schien  es  mir  für  das  Verständnis  des  Zusammenhanges 
jvünschenswert,  das  Wesentliche  zu  wiederholen.  Bei  Erörterung  der 
■^ehntfrage  behandle  ich  dann,  um  einen  gesicherten  Ausgangspunkt 
:u  gewinnen,  eingehend  die  Urkunden  Heinrichs  IV.  XXI— XXIII  und 
iiier  vor  allem  auch  die  Frage,  was  sie  an  Fälschungen  als  unbedingt 
!/orhanden  schon  voraussetzen.  Dann  wende  ich  mich  der  Einzel- 
Kritik  dieser  Fälschungen  zu  und  fasse  endlich  in  einem  Schlußkapitel 
iie  Ergebnisse  zusammen. 


2.   Die  Gründungsurkunden  für  die  sächsischen  Bistümer 

Die  Urkunden,  um  die  es  sich  hier  handelt,  sind  folgende: 

Halberstadt.  Karl  d.  Gr.  Salz  802  (803,  804)  Mai  15,  Mühlbacher 
^94  (386b)  nicht  in  vollem  Wortlaut,  sondern  nur  in  zum  Teil  wört- 
lichem Auszug  erhalten  in  den  verschiedenen  Ableitungen  der  Halber- 
kädter  Bistumschronik.  Inhalt  der  Urkunde  war  die  Gründung,  Be- 
yidmung  (besonders  mit  den  Kirchenzehnten)  und  Zirkumskription  des 
leuen  Bistums. 

Ludwig  d.  Fr.  Aachen  814  September  2,  Mühlbacher  535  (516),  im 
vVortlaut  überliefert  in  der  jüngeren  Halberstädter  Bistumschronik  des 


^  Die  Urkunden  Ottos  I.  für  Brandenburg  und  Havelberg  die  Vorbilder  für  die 
gefälschten  Gründungsurkunden  der  sächsischen  Bistümer,  Beiträge  zur  brandenburg. 
i.  preuß.  Geschichte  (Festschrift  für  Schmoller)  1908,  S.  369—401. 
Afu    II  13 


I 


194  M.  Tangl 

13.  Jahrhunderts.    Inhalt:  Bestätigung  der  von  Karl  d.  Gr.  verliehenen , 
Immunität  unter  Wiederholung   der  hier   in   anderer  Form   gegebenen 
Umgrenzung  und  der  Zuwendung  der  Zehnten. 

Bremen.  Karl  d.  Gr.  Speier  788  Juli  14,  MG.  DK.  245,  Mühlbacher 
295  (286),  überliefert  bei  Adam  von  Bremen  Gesta  Hammaburgensis, 
ecclesiae  pontificum  I.  13. 

Verden.  Karl  d.  Gr.  Mainz  786  Juni  29,  MG.  DK.  240,  Mühlbacher 
271  (263),  überliefert  als  angebliches  Original  aus  der  Mitte  des  12.  Jahr-i 
hunderts.  Inhalt  dieser  beiden  Urkunden  wie  bei  Halberstadt,  nur,  da; 
hier  der  volle  Wortlaut  vorliegt,  viel  ausführlichere  Erzählung  des  Her-; 
ganges  der  Bistumsgründung,  Bewidmung  mit  Besitz  und  Zehnten,'. 
Zirkumskription. 

Diese  Urkunden  sind  längst  als  berüchtigte  Fälschungen  bekannt,  i 
an  denen  die  Forschung  seit  vielen  Jahren  wie  an  einem  richtigen 
Schulbeispiel  die  Lösung  der  Frage  übt,  in  welchem  Ausmaße  auch 
die  Fälschung  noch  Erkenntnisquelle  bleibt.  Daß  die  Fälschung  ganz 
bedeutenden  Quellenwert  für  die  Zeit  besitzt,  zu  der  sie  entstand,  ist 
heute  allgemein  anerkannt.  Grundbedingung  dieser  Wertung  aber  ist, 
daß  diese  Zeit  und  die  Tendenz,  aus  der  die  Fälschung  entsprang,; 
auch  zuverlässig  festgestellt  werden  kann.  Eine  andere  Fragte  ist,  wie 
weit  sie  auch  für  die  Zeit  noch  verwertbar  ist,  aus  der  zu  kommen 
sie  vorgibt.  Es  wird  dies  davon  abhängen,  ob  und  in  welchem  Maße 
ein  echter  Kern  in  ihr  steckt,  und  ob  der  Fälscher  seine  Nachrichten 
im  eigenen  Hause  als  feste  historische  Überlieferung  fand  oder  vor 
fremden  Türen  auflas.  In  dieser  Hinsicht  war  weitgehendes  Mißtrauen 
gegenüber  den  Angaben  dieser  Urkundengruppe  geradezu  zur  festen 
Tradition  geworden,  die  nach  dem  Vorgang  der  Einzelforschung  in 
den  Werken  von  Rettberg  und  Hauck,  in  den  Regesta  imperii  und  den 
Jahrbüchern  der  deutschen  Geschichte  ihren  Niederschlag  fand. 

Völlig  neue  Bahnen  schlug  hier  Georg  Hüffer  in  seinen  Korveyer 
Studien,  Münster  i.  W.  1898,  ein.  Die  überlieferte  Form  der  Urkunden 
gab  auch  er  preis,  ihren  Inhalt  aber  hielt  er  nicht  nur  für  durchaus 
ursprünglich  und  zuverlässig,  sondern  meinte,  daß  die  üble  Über- 
lieferung uns  hier  noch  weit  besseres  verhülle,  daß  es  nur  der  rich- 
tigen Methode  bedürfe,  aus  ihr  Bausteine  zu  noch  viel  weitergehender 
Erkenntnis  zu  sammeln. 

Ich  will  nicht  leugnen,  daß  Hüffers  Ausführungen,  abgesehen  von 
der  großen  äußeren  Gewandtheit,  mit  der  sie  vorgetragen  werden,  noch 
durch  etwas  anderes  zunächst  für  sich  einnehmen:  durch  die  sichere 
Heimatkenntnis  und  durch  die  mächtig  hervortretende  Heimatliebe,  die 
ihn  für  seine  Darstellung  lebhafte  Farben  und  warme  Töne  finden 
lassen.    Die  Lebhaftigkeit  dieser  Gefühle  hat  aber  bei  Hüffer  über  die 


Forschungen  zu  Karolinger  Diplomen  195 

Besonnenheit  des  Forschers  Oberhand  gewonnen  und  er  hat  dadurch 
Iden  Vorsprung,  den  ihm  Orts-  und  Landeskenntnis  gaben,  wieder  ein- 
,geT)üßt. 

Zum  Ausgangspunkt  für  seine  Forschungen,  soweit  sie  uns  hier 
interessieren,  nimmt  Hüffer  den  Frieden  von  Salz  vom  Jahre  803,  den 
man  bisher  so  gut  wie  allgemein  für  eine  Erfindung  des  Poeta  Saxo 
|oder  seiner  in  diesem  Punkte  bereits  ebenso  unzuverlässigen  Quelle 
Ihielt,  den  er  aber  als  unumstößlich  erwiesene  Tatsache  nimmt.  Da- 
|mals  fand  nach  ihm  zu  Salz  an  der  fränkischen  Saale  im  Mai  803  die 
große  und  endgiltige  Aussprache  zwischen  Karl  d.  Gr.  und  den  Sachsen 
statt,  gleichzeitig  wurden  die  sächsischen  Geiseln,  aus  der  Haft  ihrer 
verschiedenen  Hüter  befreit,  in  die  Heimat  entlassen,  die  lex  Saxonum 
aufgezeichnet,  die  Bestallung  der  acht  sächsischen  Bistümer  feierlich 
H^erbrieft.  Auf  diesen  Vorgang  bezieht  sich  der  einleitende  und  er- 
■zählende  Teil  der  erhaltenen  Gründungsurkunden,  aber  auch  nur  er. 
Per  eigentliche  Kern,  Ausstattung  und  Zirkumskription  ist  früheren 
brkunden  von  786—787  entnommen,  und  auch  sie  bestätigen  nur 
dnen  ersten  Gründungsakt  von  780.  So  gewinnt  Hüffer  aus  jeder  der 
erhaltenen  Fälschungen  2—3  verlorene  echte  Urkunden. 

Die  Frage  des  angeblichen  Friedens  zu  Salz  hat  mittlerweile  Bern- 
(lard  V.  Simson,  der  schon  vor  mehr  als  40  Jahren  über  sie  gehandelt 
^atte,  aufs  sorgfältigste  neu  untersucht^  und  dabei  Hüffer  die  Grund- 
lage seines  allzu  kühnen  Baues  ganz  und  gar  entzogen.  Der  Versuch, 
'ias  Tagesdatum  der  Halberstädter  Urkunde  Karls  d.  Gr.  (15.  Mai)  als 
mverlässige  Überlieferung  dieses  Salzer  Friedens  zu  retten,  ist  schlagend 
zurückgewiesen;  denn  durch  den  glücklichen  Fund  der  ursprünglichen 
passung  der  Metzer  Annalen^  ist  diesem  Ansatz  die  letzte  schwache 
Stütze  geraubt.  Wir  wissen  jetzt,  daß  Karl  d.  Gr.  Aachen  nicht  „post 
oascha",  wie  der  Text  der  späteren  Überarbeitung  lautete,  sondern  erst 
i,estatis  tempore"  verließ.  Das  steht  in  bestem  Einklang  mit  dem  tat- 
pächlich  für  den  August  803  bezeugten  Aufenthalt  des  Kaisers  zu  Salz, 
\vährend  dessen  aber  ganz  andere  Fragen  als  der  Sachsenfriede  zur 
Verhandlung  kamen.^  Die  Halberstädter  Urkunde  kann  daher,  wenn 
hre  Tagesangabe  wirklich  auf  eine  echte  Vorlage  zurückgehen  sollte, 
iuf  diesem  Hoftag  zu  Salz  nicht  erlassen  sein.  Der  Reichstag  zu 
When,  aus  dessen  Verhandlungen  die  lex  Saxonum  hervorging,  fand 
licht  803,  sondern  bereits  im  Oktober  802  statt.  Der  Prolog  zu  diesem 


*  Der  Poeta  Saxo  und  der  angebliche  Friedensschluß  Karls  d.Gr.  mit  den  Sachsen, 
SA.  32,  27—50;  die  erste  Abhandlung  1862  im  1.  Bd.  der  Forsch,  z.  deutsch.  Gesch. 

*  Annales  Mettenses  priores,  ed.  Simson  SS.  rr.  Germ.  1905. 

^  Mühlbacher  Reg. ,   2.  Aufl.,  Nr.  400—402.     Die  Nummern  der  Regesten  sind 
m  folgenden  stets  nur  nach  der  jetzt  abgeschlossenen  zweiten  Auflage  zitiert. 

13* 


I 


196  M.  Tangl 

(jesetz  aber,  der  nach  Hüffer  die  Hauptquelle  für  den  Bericht  des  Poeta 
Saxo  abgegeben  haben  sollte,  ist  weder  erhalten,  noch  durch  irgend- 
welche Anhaltspunkte  als  einst  vorhanden  bezeugt.  Den  Indiculus 
obsidum  Saxonum,  aus  dem  Hüffer  die  gleichzeitige  Rückgabe  der 
sächsischen  Geiseln  geschlossen  hatte,  setzt  Simson  mit  guten  und, 
überzeugenden  Gründen  in  das  Jahr  805—806.  Kurz  die  Ereignisse, 
aus  deren  Zusammentreffen  Hüffer  seine  Schlüsse  gewonnen  hatte 
fallen  tatsächlich  ganz  auseinander,  verteilen  sich  auf  mehrere  Jahre 

Auf  die  Urkunden  will  ich  jetzt  selbst  ein  wenig  näher  eingehen 
und  nicht  zum  erstenmal,  denn  ich  hatte  bereits  1897  über  die  Ur- 
kunden Karls  d.  Gr.  für  Bremen  und  Verden  gehandelt.^  Ich  brachte 
damals  die  bis  dahin  noch  immer  nicht  sicher  gelöste  Frage  übei 
Priorität  und  Abhängigkeitsverhältnis  der  beiden  Fälschungen  zur  Ent- 
scheidung, indem  ich  nachwies,  daß  die  Verdener  Urkunde  erst  in  den 
fünfziger  Jahren  des  12.  Jahrhunderts  entstand  und  in  die  Zeit  dei 
Gründung  der  Slavenbistümer  durch  Heinrich  den  Löwen  und  seines 
Streites  mit  Hartwig  von  Bremen  fällt.  Bischof  Hermann  von  Verden 
erhob  damals  selbst  Ansprüche  auf  die  ostelbischen  Gebiete  und  be- 
gründete sie  durch  die  Fälschung.  Der  Zweck  mißlang;  der  Bischol 
wurde  1158  mit  seinen  Ansprüchen  zurückgewiesen  und  mußte  sich 
mit  einer  sehr  bescheidenen  Entschädigung  begnügen. 

Aber  auch  die  Arbeitsweise  des  Fälschers  konnte  ich  näher  auf- 
decken. Er  entnahm  den  Text  der  Bremer  Urkunde  dem  Geschichts- 
werk Adams  von  Bremen,  änderte  willkürlich  einiges  an  Namen  und 
Zahlen,  gewann  für  Verden  den  Ruhm,  das  ältere  Bistum  zu  sein, 
durch  künstliche,  jedes  zuverlässigen  Beleges  entbehrende  Zurück- 
datierung, und  fügte  aus  einer  Verdener  Papsturkunde  des  12.  Jahr- 
hunderts drei  Sätze  an.  Diesen  Nachweis  hat  selbst  Hüffer  nicht  be- 
stritten und  Wichmann  in  seinen  Untersuchungen  zur  älteren  Geschichte 
des  Bistums  Verden  mit  der  kleinen  Berichtigung  bestätigt,  daß  als 
Papsturkunde  nicht  das  Privileg  Eugens  III.  vom  6.  Januar  1153,  sondern 
ein  etwas  früheres  desselben  Papstes  vom  20.  April  1147  benutzt  ist.- 
Entstehungszeit  und  Tendenz  der  Fälschung  werden  dadurch  nicht  be- 
rührt, und  der  Quellenwert  dieses  Machwerkes  beschränkt  sich  ganz 
auf  diese  Vorgänge  um  die  Mitte  des  12.  Jahrhunderts.  Von  eigenen 
Urkunden  aus  Karolingerzeit  findet  sich  hier  nicht  der  geringste  Rest, 
sondern  alles  ist  erborgt  oder,  soweit  es  über  die  Entlehnung  hinaus- 


*  Mitteil.  d.  Instituts  f.  österr.  G.-F.  18,  53—68. 

^  Wichmann  a.a.O.  lOOf.  Druck  des  Privilegs  v.  Pflugk-tiarttung,  Act. 
Pont.  1,  191.  Die  Fälschung  schließt  sich,  wie  Wich  mann  richtig  bemerkt,  an  diese 
Urkunde  noch  etwas  näher  an  als  an  die  jüngere. 


Forschungen  zu  Karolinger  Diplomen  197 

igeht,  erfunden.  Trotzdem  hat  Hüffer  selbst  für  diese  Urkunde  eine 
lanze  eingelegt.  Er  sieht  in  ihr  (S.  154ff.)  eine  in  allen  wesentlichen 
Teilen  echte  Urkunde  Karls  d.  Gr.  vom  Jahre  786  und  in  ihrem  angeb- 
ilichen  Empfänger  Suitbert  tatsächlich  den  ersten  Bischof  von  Verden, 
lobwohl  längst  erkannt  war,^  daß  es  sich  hier  um  den  bereits  713  ge- 
storbenen Friesenmissionar  Suitbert,  den  Gründer  des  Klosters  Kaisers- 
werth  (Werdensis  ecclesia!)  handelt.  Die  Verwechslung  wurde  neben 
der  großen  Ähnlichkeit  des  Namens  auch  dadurch  gefördert,  daß  später 
die  Bischöfe  von  Verden  zugleich  Äbte  von  Kaiserswerth  waren,  und 
daß  auch  Hermann  von  Verden,  unter  dem  die  Fälschung  entstand, 
diese  Doppelwürde  bekleidete.  Auch  hier  hat  jetzt  Wichmann  eine 
neue  und  schlagende  Beobachtung  ins  Treffen  geführt:^  Die  beiden 
Suitberte  stehen  in  Nekrologien  zum  gleichen  Todestag  (1.  März)  ver- 
jzeichnet!  Es  hat  eben  nie  mehr  als  den  einen  historisch  bekannten 
jund  gesicherten  Missionar  dieses  Namens  gegeben,  der,  713  schon 
verstorben,  auch  nicht  Empfänger  des  Alkuin-Briefes  sein  kann,  zu  dem 
ihn  Hüffer  zu  machen  wünschte.  Die  Erwähnung  des  „Alcquini  insignis 
Ipredicatoris"  (!)  in  der  Verdener  Fälschung  gehört  eben  zum  charakte- 
ristischen Trugwerk,  das  gerade  in  allerplumpsten  Fälschungen,  von 
denen  jetzt  die  Diplomata-Ausgabe  mit  ihren  nahe  100  Fälschungen 
auf  den  Namen  Karls  d.  Gr.  eine  recht  reichhaltige  Zusammenstellung 
bietet,  noch  manches  hübsche  Seitenstück  findet. 

Die  erschreckende  Dürftigkeit  der  Quellenzeugnisse  für  die  Ge- 
schichte dieses  alten  Bistums^  gelangt  gerade  durch  diese  hilflose  Un- 
wissenheit über  die  ganze  erste  und  frühere  Zeit  der  Bistumsentwick- 
lung deutlich  zum  Ausdruck.  Der  wirkliche  erste  Missionsbischof 
Von  Verden  war  der  Abt  Patto  (oder  Spatto)  von  Amorbach.  Damit 
hängt  wohl  auch  zusammen,  daß  Verden  im  Verbände  der  Mainzer 
Kirchenprovinz  blieb  und  nicht  der  für  Niedersachsen  viel  näher- 
liegenden, etwas  jüngeren  Kölner  Kirchenprovinz  angegliedert  wurde, 
ganz  ähnlich  wie  die  Würzburger  Mission  im  Gebiete  von  Paderborn 
in  gleichem  Sinne  den  Ausschlag  gab. 

Der  Kritik  dieser  Verdener  Fälschung  galt  damals  wesentlich  allein 
meine  Untersuchung;  die  Bremer  Urkunde  habe  ich  nur  kurz  gestreift, 
eine  Erörterung  über  die  ganze  Gruppe  der  Urkunden  für  die  säch- 
sischen Bistümer  gar  nicht  beabsichtigt.    Diese  ist  aber,  wie  Hüffer 


^  Vgl.  iiauck,  Kirchengesch.  Deutschlands,  3.  u.  4.  Aufl.,  1,437. 

^  a.  a.  0.  S.  101  Anm.  Über  die  Verwechslung  der  beiden  Suitberte  vgl.  auch 
Simson,  JB.  Karlsd.  Gr.  2,  591,  der  schon  mit  allem  Nachdruck  dafür  eintrat,  daß 
es  sich  hierbei  nur  um  die  eine  Person  des  bekannten  Friesenmissionars  handelt. 

'  Vgl.  Wichmann  S.  2ff. 


I 


198  ^-  Tangl 

und  Simson  ^  mit  Recht  betonen,  gar  nicht  möglich  ohne  Hereinziehun^ 
der  tialberstädter  Überlieferung,  die  Hüffer  mit  dem  Ausruf  „ex  Oriente 
lux"  begrüßt.    Folgen  wir  ihm  dorthin. 

An  der  Immunität  Ludwigs  d.  Fr.  für  Halberstadt  vom  2.  Sep- 
tember 814,  Mühlbacher  535,  hat  Mühlbacher  eine  ganz  überzeugende 
Rettung  unternommen.^  Während  man  die  Urkunde  von  alters  hei 
bis  auf  Simson  einfach  als  Fälschung  verworfen  hatte,  wies  er  nach 
daß  Datierung,  Rechtsinhalt  und  Formeln  in  allen  wesentlichen  Teiler 
zuverlässig  und  nur  zwei  Einschübe  über  die  Zehnten  und  die  Bistums- 
grenzen als  deutlich  sich  abhebende  Interpolationen  auszuscheiden  sind 
Ein  dritter  Satz,  den  Mühlbacher  zunächst  ebenfalls  als  interpoliert  aus- 
geschieden hatte,  steht,  worauf  Hauck  sehr  zutreffend  aufmerksam 
machte,  gleichlautend  in  der  Immunität  Ludwigs  d.  Fr.  für  die  ost- 
friesische Missionszelle  Visbeck  (Mühlbacher  702).  Mühlbacher  hat  ir 
diesem  Punkte  seine  ursprüngliche  Ansicht  in  der  Neuauflage  seinei 
Regesten  auch  geändert;  als  „sachlich  belanglos",  wie  er  es  jetzt  tut 
möchte  ich  den  Satz  aber  nicht  bezeichnen,  sondern  sehe  in  ihm  viel- 
mehr eine  für  solche  Missionsgebiete  recht  charakteristische  Ergänzung 
der  Immunitätsformel:  Predictam  vero  parrochiam  illius  circumquaque 
per  diversos  pagos  sitam  nemo  fidelium  nostrorum  ei  exinde  aliquic 
abstrahere  aut  prohibere  presumat,  quin  ei  liceat  per  hanc  nostram 
auctoritatem  verbum  predicationis  domino  auxiliante  exercen 
et  ministerium  säum  plene  peragere. 

Hildigrim,  der  erste  Missionsbischof  von  Halberstadt  und  Emp- 
fänger dieser  Immunität,  wird  in  der  Urkunde  als  „Catholanensis  epis- 
copus"  bezeichnet.  Mühlbacher  hält  dies  für  spätere  Verderbung.  Abei 
auch  hier  muß  ich  den  Einspruch  Haucks  als  berechtigt  anerkennen. 
Über  die  Persönlichkeit  Hildigrims  sind  wir  durch  die  Lebensbeschreibung 
seines  Bruders,  des  heiligen  Liudger,  leidlich  gut  unterrichtet.  Viel 
jünger  als  sein  Bruder,  war  er  797  noch  Diakon,  809  beim  Tode 
seines  Bruders  aber  bereits  Bischof  von  Chälons-sur-Marne,  doch 
sicher  erst  seit  kurzer  Zeit.^  Fortan  wirkte  er  als  Missionsbischof  im; 
Gebiet  von  Halberstadt,  dessen  Kirche  dem  gleichen  Schutzheiligen  wie 
die  Mutterkirche  zu  Chälons,  dem  heiligen  Stephanus,  geweiht  wurde.^ 

^  Gegen  Simson  (NA.  32,  44)  muß  ich  aber  doch  bemerkten,  daß  ich  schon 
zwei  Jahre  vor  Erscheinen  seines  Aufsatzes  —  allerdings  an  leicht  zu  übersehender 
Stelle  in  den  Nachrichten  des  NA.  30,  517—518  —  mein  urteil  über  die  ganze  Gruppe 
ausgesprochen  und  kurz  in  die  Leitsätze  gefaßt  hatte,  die  ich  jetzt  hier  vertrete. 

'  NA.  18,  282—293. 

'  Vgl.  die  Zusammenstell,  d.  Nachricht,  bei  tiüffer  90ff.  Hauck  (2.Aufl.)  2,  410. 

*  Die  Feststellung  dieser  Tatsache  ist  wichtig:  sie  zeigt,  daß  nicht  etwa  der 
um  die  Christianisierung  Ostfalens  verdiente  Missionar  mit  dem  Bistum  Chälons  be- 
lohnt,  sondern   daß  diese  Missionstätigkeit  erst  von  Chälons  aus   begonnen  wurde. 


I 


Forschungen  zu  Karolinger  Diplomen  IQQ 


jDie  Urkunde  Ludwigs  d.  Fr.  stellt  sich  nicht  als  erste  Verleihung, 
^ondern  als  Bestätigung  der  bereits  von  Karl  d.  Gr.  verliehenen 
(Immunität  dar,^  und  wir  haben  keinen  Anlaß,  dieser  Angabe  des 
Diploms  zu  mißtrauen.  Dadurch  aber  sind  die  Anfänge  dieses  Bis- 
tums und  ihre  Chronologie  in  Grundrissen  gesichert.  Diese  Anfänge 
fallen  erst  in  die  Kaiserzeit  Karls;  der  alte  Kaiser  hat  dem  ostfälischen 
Missionsbistum  noch  Immunität  verliehen,  die  Ludwig  d.  Fr.  am  2.  Sep- 
tember 814  erneuerte. 

Und  nun  sehen  wir,  in  welcher  Gestalt  uns  die  Urkunde  Karls  d.  Gr. 

Ider  Halberstädter  Oberlieferung  entgegentritt. 
An  der  Spitze  der  Nachrichten,  die  teils  zu  der  Urkunde  in  Be- 
hung  treten,  teils  ihren  Inhalt  mit  ausdrücklichem  Hinweis  wieder- 
3en,  steht  eine  Stelle  des  vielleicht  mit  dem  Korveyer  Mönch  Agius 
jidentischen  Poeta  Saxo,  der  bald  nach  887  unter  unermüdlicher  Plünde- 
jrung  schriftlicher  Vorlagen,  als  welche  Einhard  und  die  jüngere  Fassung 
der  Reichsannalen  sicher  und  von  801  an  Halberstädter  Aufzeichnungen 
'wahrscheinlich  sind,  sein  Leben  Karls  d.  Gr.  in  Verse  brachte: 

Hüc  (sc.  ad  Salz)  omni  Saxonum  nobilitate 
Collecta,  simul  has  pacis  leges  iniemnt, 
üt  toto  penitus  cultu  rltuque  relicto 
Gentili,  quem  daemonica  prius  arte  colebant 
Decepti  post  haec  fidei  se  subdere  vellent 
Catholicae  Christoque  deo  servire  per  aevum. 
At  vero  censum  Francorum  regibus  ullum 
Solvere  ne  penitus  deberent  atque  tributum, 
Cunctorum  pariter  statuit  sententia  Concors: 
Sed  tantum  decimas  divina  lege  statutas 
Offerrent  ac  presulibus  parere  studerent 
Ipsorumque  simul  clero,  qui  dogmata  sacra 
Quique  fidem  domino  placitam  vitamque  doceret 

Der  nächsten  Schichtung  dieser  Überlieferung  begegnen  wir  in  den 

Quedlinburger  Annalen,  die  in  den  ersten  Jahren  Kaiser  Heinrichs  IL 

I  entstanden  und  dann  bis  1025  fortgesetzt  wurden.^    Uns  interessieren 

zwei  Stellen:   ad  a.  781.     Eodem  anno  Carolus  de  Roma  reversus  in 


^  detulit  nobis  emunitates  (so  der  Text,  wohl  verderbt  aus  auctoritatem  emuni- 
tatis)  ...  genitoris  nostri  ..,  in  quibus  continebatur,  quomodo  ipsam  sedem  sub 
plenissima  defensione  et  emunitatis  tuitione  semper  habuisset.  Pro  firmitatis  namque 
studio  petiit  nos  idem  prefatus  episcopus,  ut  ei  denuo  similia   pro  mercedis  nostre 

*  augmento  concedere  et  confirmare  deberemus. 

I  ^  Wattenbach,   GO-,   7.  Aufl.,   1,377.     Die  beiden   hier  abgedruckten  Stellen 

'  MG.  SS.  3,  38  und  40. 


I 


200  M.  Tangl 

Franciam  terram  Saxonum  inter  episcopos  divisit  et  terminos  episcopis 
constitüit  et  sancto  Stephano  protomartyri  in  loco  qui  dicitur  Seligan- 
stedi  monasteriüm  construKit,  quod  postea  in  locuni  translatum  est,  qm 
dicitur  Halverstede,  ubi  nunc  est  sedes  episcopalis.  Idque  ad  corrigendum 
et  propagandum  Cathalaunensi  episcopo  fiildegrimo,  qui  frater  erat  beati 
Liadgeri  confessoris,  commendavit  huiusque  episcopii  terminos  constitüit 
flüvios  Albiam,  Salam,  Unstradam,  fossam  iuxta  Gronighe,  altitudinem 
sylvae  quae  vocatur  fiaertz,  Ovaccram,  Schuntram,  Dasanek,  Drichterbiki,^ 
Aeleram,  Isunnam,  paludem  quae  dividit  Bardangaos  et  fiuutangaos,^ 
Aram,  Millam,  Bimani  et  Precekinam  et  iterum  Albiam. 

ad  a.  803.  Carolus  conventu  habito  in  palatio  Salz  Saxones  antiqaa 
übertäte  donavit  eosque  pro  conservanda  fide  catholica  ab  omni  solvit 
tributo,  excepto  quod  illos  omnes,  divites  ac  pauperes,  totius  suae  cul- 
turae  ac  nutriturae  decimas  Christo  et  sacerdotibus  eins  fideliter  reddere 
iussit 

Die  dritte  Gruppe  führt  uns  nach  Halberstadt  selbst,  dessen  alte 
Bistumschronik  nicht  mehr  in  ursprünglicher  Gestalt  erhalten,  sondern 
nur  in  Bruchstücken  und  Ableitungen  überliefert  ist.  Die  verlorene« 
Chronik  war  unter  Bischof  fiildiward  (968—996)  angelegt  und  dann 
bis  über  die  Mitte  des  11.  Jahrhunderts  fortgesetzt.^  ihre  Nachrichten 
gingen  zunächst  über  in  die  jüngere  Bistumschronik,  die  „Gesta  episco- 
porum  flalberstadensium"  aus  dem  13.  Jahrhundert;^  außerdem  besitzen) 
wir  noch  ein  kurzes  Fragment  in  einer  Handschrift  der  Trierer  Stadt- 
bibliothek (T)*  und  ein  anderes  Bruchstück  in  einem  kurzen  Nachtrag, 
zur  Wibaldinischen  Briefsammlung  (W).^ 

Ich  gebe  im  folgenden  den  Text  der  beiden  Fragmente  und  merket 
das  Verhältnis  der  Gesta  episcoporum  Halberstadensium  zu  ihm  an: 

Anno  domini  DCCLXXX  postquam  magnis  laboribus  et  preliis^ 
Karolus  Magnus  Saxones  devicit  atque  inter  Are  et  Albee  confluenciam 
morantes  fecit  homines  baptizari,  eorum  metuens  recidivum  in  loco  qm 
dicitur  Saligenstede  nunc  autem  Osterwik  ecclesiam  in  honore  omni- 
potentis  dei  et  prothomartiris  beati  Stephani  edificavit  et  ei  sanctum 
fiildegrimum  Catalaunensem  episcopum  sanctis  parentibus  Thiatgrimo 
patre  Liaßurga  matre  editum  fratrem  quoque  sancti  Liudgeri  primi 
Mimigardevordensis  episcopi  papa  Adriano  iubente  prefecit.  Sanctus 
autem  Hildegrimus   DCCLXXXI  episcopatum  fialberstat   transmutavit 

^  Verderbt  aus  Huuitangaos,  die  anderen  Überlieferungen  Witingaos. 

*  Nachweis  von  Scheffer-Boichorst,  Forsch,  z.  deutsch.  Gesch.  11,  498 ff. 
'  ed.  Weiland,  MG.  SS.  23,  78ff. 

*  ed.  Holder-Egger,  MG.  SS.  30,  19—20;  dessen  Nachweis,  daß  das  Fragment 
aus  der  verlorenen  Halberstädter  Bistumschronik  stammt,  NA.  17,  169. 

*  Als  Notae  Halberstadenses  hrsg.  bei  Jaffe,  Bibl.  rr.  Germ.  1,  602,  Nr.  471. 


I  Forschungen  zu  Karolinger  Diplomen  201 

m  sunt  autem  huius  ecdesie  termini:  fluvius  Albea,  Sala,  ünstrada, 
^'ossa  iüxta  Gruone,  altitudo  silve  que  vocatur  Hart,  Ovacra,  Dasanek, 
Onihchtesbeke,  Elera,  Isunna,  Ära,  Milla,  Precekina  et  itemm  Albea. 

Imperator  Karolus  parrochiam  fialberstadensem  certis  mdique  cir- 
:umscripsit  terminis  smque  augustali  imperio  et  inprevaricabili  privi- 
'egio  firmavit  804,  Idus  Mali,  indictione  10,  sui  autem  regni  34,  imperii 
'ero  tercio,  ordinationis  Hildegrimi  episcopi  23  in  palatio  Sarh  (!)  nomi- 
lato.  Eodem  etiam  tempore  habito  conventu  in  palatio  eodem  Imperator 
wines  Saxones  antiqua  übertäte  donavit  eosque  pro  conservanda  fide 
:atholica  ab  omni  solvit  tributo,  excepto  quod  omnes,  divites  scilicet  ac 
muperes,  totius  suae  agriculturae  ac  nutriturae  decimas  Christo  ac  sacer- 
lotibüs  eins  fideliter  reddere  iussit} 

Die  letzte  Stufe  in  dieser  Überlieferung  stellen  in  den  fünfziger 
and  sechziger  Jahren  des  12.  Jahrhunderts  der  Annalista  Saxo  und  der 
in  dieser  Partie  ganz  von  ihm  abhängige  sächsische  Chronograph  dar, 
[dessen  Weltchronik  unter  der  ganz  irreführenden  Bezeichnung  „Annales 
i'Vlagdeburgenses"  läuft:  ^ 


Die  Gesta  ep.  Halberst.  in  breiterer  Ausmalung,  aber  im  wesentlichen  wört- 
icher  Übereinstimmung:  Postquam  igitur  (sc.  Karolus)  immensis  laboribus  et  diversis 
breliis  variisque  victoriis  triumphando  Saxones  tandem  vicit  suoque  illos  immo 
Christi  subegit  imperio,  inter  Ore  et  Albie  confluentia,  ubi  Christi  nomen  nondum 
luditum  erat,  semen  divini  verbi  diffundere  non  cessavit  et  catezizatos  tandem  sacro 
baptismate  regenerari  fecit.  Sed  .  .  ne  .  .  iterum  .  .  seducti  ad  vomitum  pristine 
perditionis  redirent,  in  terra  eorum  ecciesias  instituit  et  qui  ipsis  preessent  episcopos 
ideliter  procuravit,  inter  quos  terram  sagaciter  distribuit  ac  divisit.  Anno  igitur 
1  i.  781,  indict.  4  .  .  .  primum  in  loco  Seligenstat  nuncupato  nunc  autem  a  vulgo 
psterwik  dicto  .  .  monasterium  construxit  atque  in  honorem  dei  omnipotentis  et 
'sancti  prothomartiris  Stephani  dedicavit.  Qui  cum  aliquamdiu  longe  lateque  fidelem 
ac  prudentem  dispensatorem  quereret,  quem  constitueret  super  familiam  dei,  ut  illi 
n  tempore  cibum  daret,  sanctum  Hildegrimum  Katolanensem  a  sanctis  parentibus 
Datre  scilicet  Thiatgrimo  matre  vero  Liafburga  editum,  fratrem  quoque  sancti  Liudgeri 
orimi  Mimigardevordensis  episcopi,  Adriano  papa  Romano  iubente,  in  hoc  opus  epis- 
:opum  destinavit.  Sanctus  vero  Hildegrimus  statim  eodem  anno  divina  gratia  dis- 
ponente  sedem  episcopalem  de  Selegenstat  in  oppidum  quod  Halberstat  dicitur 
transmutavit. 

Anno  vero  dominice  incarnationis  804,  Idus  Mali,  indictione  10,  sui  autem 
regni  34,  imperii  vero  3,  ordinationis  tiildegrimi  episcopi  23,  Karolus  Imperator  in 
palacio  Salz  nominato  parrochiam  hanc  certis  undique  terminis  circumscripsit  suoque 
imperio  augustali  et  inprevaricabili  privilegio  confirmavit.  Hi  autem  sunt  termini 
'Halberstadensis  dyocesis.  (Angabe  der  Grenzen  in  allen  wesentlichen  Punkten  gleich 
der  in  den  Quedlinburger  Annalen.)  Circumscriptis  igitur  terminis  Halberstadensis 
dyocesis  Karolus  Imperator  habito  conventu  in  palacio  supradicto  omnes  Saxones 
libertate  antiqua  donavit  eosque  pro  fide  catholica  conservanda  ab  omni  solvit  tri- 
buto, excepto  quod  eos  omnes,  divites  scilicet  ac  pauperes,  totius  sue  agriculture 
ac  nutriture  decimas  Christo  ac  sacerdotibus  eius  fideliter  reddere  iussit. 

'  Die  betreffenden  Stellen  MG.  SS.  6,  560  und  16,  135.     Ich  gebe  hier  nur 


202  M-  Tangl 

Ad  a.  781.  Eo  anno  in  Saxoniam  rex  Karolus  veniens  divisit  ear, 
in  8  episcopatus:  Bremensem,  Haiberstadensem,  fiHdinisheimensen 
Verdensem,  Paderbrunnensem,  Mindensem,  Monasteriensem,  Asenbruggen 
sem,  et  terminos  eisdem  episcopiis  constituit,  sanctoque  Stephano  martii 
in  loco  qui  vocatur^  Saligenstide  etc. 

Ad  a.  803.  In  eodem  palatio  imperator  Karolus  sancto  Hildegrim 
Halberstadensi  primo  episcopo  suam  parrochiam  certis  undiqae  circum 
scripsit  terminis  suoque  augustali  imperio  et  imprevaricabili  privilegi 
firmavit  anno  imperii  sui  III,  ordinationis  autem  Hildegrimi  episcopi  2i 
indictione  12,  Idus  Mail.  Hi  sunt  autem  termini  etc.  Eodem  quoqu 
tempore  in  eodem  loco  et  in  eodem  palatio  imperator  omnes  Saxone 
antiqua  übertäte  donavit  etc. 

Es  ist  sicher,  daß  diese  so  eng  verschlungenen  Überlieferungei 
und  Ableitungen  auf  zwei  grundlegende  Nachrichten  zurückgeher 
deren  eine  zum  Jahre  803  von  einem  Abkommen  Karls  d.  Gr.  mit  dei 
Sachsen  zu  Salz  meldete,  während  die  andere  zum  Jahre  780  ode 
781  die  Gründung  und  Umgrenzung  des  Bistums  Halberstadt  betral 
Und  wir  vermögen  weiter  auch  den  Ausbau  der  späteren  Tradition  zi 
verfolgen.  Der  Poeta  Saxo  kennt  nur  die  erste  Nachricht,  die  von 
Frieden  zu  Salz  und  den  Zehnten;  über  Bistumsgründung  und  Zirkum 
skription  weiß  er  nichts  zu  singen  noch  zu  sagen.  In  der  Über 
lieferung,  die  uns  in  der  Ableitung  durch  die  Quedlinburger  Annalet 
vorliegt,  begegnen  wir  bereits  beiden  Nachrichten,  aber  noch  in  rein 
lieber  Scheidung.  In  der  durch  die  späteren  Halberstädter  Queller 
sich  darstellenden  Überlieferung  sind  die  beiden  ursprünglich  gan; 
verschiedenartigen  und  unabhängigen  Nachrichten  in  Beziehung  zu 
einander  gesetzt,  so  zwar,  daß  zu  780—781  die  Vornahme  des  Bis 
tumsgründung  und  Zirkumskription,  zu  803  (802,  804)  ihre  feierlicht 
Verbrief ung  gemeldet  wird.  Der  Annalista  Saxo  endlich  und  di( 
Annales  Magdeburgenses  nennen  hier  ausdrücklich  die  sämtlicher 
späteren  acht  sächsischen  Bistümer. 

Als  Inhalt  oder  mehr  oder  minder  wörtlicher  Auszug  einer  Ur- 
kunde tritt  uns  die  eine  Nachricht  entgegen,  und  zu  gleichem  Er- 
gebnis führt  uns  die  Heranziehung  der  in  vollem  Wortlaut  über- 
lieferten und  dabei,  wie  schon  Simson  und  Sickel  richtig  erkannl 
hatten,  von  der  Halberstädter  ganz  und  gar  abhängigen  Bremer  Fäl- 
schung auf  den  Namen  Karls  d.  Gr.^  Es  genügt,  die  vielfach  wörtlich 
an  unsere  Halberstädter  Zeugnisse  anklingenden  Worte  herauszugreifen; 

mehr  den  Text  des  Annalista  Saxo,    da  auf  die  geringfügigen  Abweiciiungen  der 
Ann.  Magdeburg,  nichts  ankommt.    Auch  den  Text  des  sächsischen  Annalisten  deute 
ich  dort,  wo  er  nur  bereits  Bekanntes  wiederholt,  nur  mehr  an. 
^  Jetzt  MG.  DD.  Karol.  1,  345.    DK.  245. 


Forschungen  zu  Karolinger  Diplomen  203 

•füod  Saxones  .  . .  et  bellis  vicimus  et  ad  baptismi  gratiam  deo  annuente 
herdüximüs ,  pristine  libertati  donatos  et  omni  nobis  debito  censu  solu- 
os  . .  .  vidi  iam  deo  gratias  et  armis  et  fide  doniino  ac  saluatori  Jesu 
Qhristo  et  sacerdotibus  eins  omnium  suorum  iumentomm  et  fmctuuni 
'ociüsque  culture  decimas  ac  nutriture,  divites  ac  pauperes,  legaliter 
:onstricti  persolvant.  Folgt  die  Darlegung  über  Gründung,  Dotierung 
jnd  Umgrenzung  der  Bremer  Kirche,  darunter  die  Wendung  „adhuc 
ztiam  summi  pontificis  et  universalis  pape  Adriani  precepto"  —  man 
/ergleiche  Gesta  episcoporum  Halberstadensium  Adriano  papa  iubentel 

Die  Verschmelzung  der  beiden  Nachrichten  ist,  wie  wir  daraus  er- 
sehen, auch  in  den  gefälschten  Urkunden  schon  vorhanden,  es  fehlt 
lur  die  Ortsangabe  Salz,  die  aber  nach  Simson  und  Hüffer  in  der  ur- 
sprünglichen Datierung  gestanden  haben  sollte. 

Es  erhebt  sich  jetzt  die  Frage,  zu  welchem  Punkt  der  ganzen  Ent- 
A^icklung  die  Urkundenfälschung  einzureihen  ist,  ob  und  in  welchem 
Ausmaß  sie  durch  die  bereits  vorhandene  Tradition  beeinflußt  wurde 
Dder  ob  sie  nicht  umgekehrt  selbst  den  ersten  Anstoß  zur  ganzen 
Sagenbildung  gab.  Dieser  letzteren  Ansicht  ist  Simson,  der  in  der 
gefälschten  Urkunde  bereits  die  Vorlage  für  den  Poeta  Saxo  sieht.^ 
[Vlühlbacher  hat  sich  in  den  Regesten  über  die  Zeit  der  Fälschung  der 
Karl-Ürkunde  Nr.394  und  der  Verunechtung  der  Immunität  Ludwigs  d. Fr. 
für  tialberstadt  Nr.  535  nicht  geäußert;  in  seiner  Sonderuntersuchung 
aber  ist  er  nicht  abgeneigt,  einen  möglichst  späten  Ansatz  anzunehmen 
'und  die  Fälschung  erst  in  die  zweite  Hälfte  des  12.  Jahrhunderts  zu 
setzen.^  Notwendige  Folge  der  Richtigkeit  dieses  Ansatzes  wäre,  daß 
nicht  die  Halberstädter  Fälschung  der  Bremer,  sondern  umgekehrt  diese 
jener  als  Vorlage  hätte  dienen  müssen. 

Die  Grundlage  zu  einem  eigenen  urteil  in  dieser  Frage  schaffe  ich 
mir  zunächst  durch  eine  Untersuchung  des  Formulars.  Mühlbacher 
hat  den  schlagenden  Nachweis  erbracht,  daß  das  Formular  des  Diploms 
Ludwigs  d.  Fr.  für  Halberstadt  durch  die  so  gut  wie  wörtliche  Über- 


^  Forsch,  z.  deutsch.  Gesch.  1,  313.  „Hier  in  tialberstadt  verwahrte  man  offenbar 
leine  Urkunde  mit  dem  betreffenden  Datum  (Salz  803),  welche  gleich  jenen  nord- 
isächsischen  die  Grenzen  des  Sprengeis  und  in  der  Einleitung  den  bewußten  Satz 
ivon  den  Zehnten  enthielt." 

^  NA.  18,  290.  „Vielleicht  hängen  aber  diese  Angaben  mit  der  Grenzregulierung 
izusammen,  die  Friedrich  I.  um  1174  zwischen  den  Bistümern  Halberstadt  und  Verden 
vornahm,  deren  Einzelheiten  uns  nicht  überliefert  sind.  Auf  diese  späte  Zeit  der 
Interpolation  scheint  auch  noch  ein  anderer  umstand  zu  weisen.  Durch  eine  sach- 
lich belanglose  Verunechtung  ist  die  gewöhnliche  Formel  „domni  et  genitoris  nostri 
;Karoli  piissimi  augusti"  zu  „sancti  genitoris  nostri  pie  semper  memorandi"  um- 
I gestaltet,  wohl  erst  in  der  Zeit  nach  der  Heiligsprechung  Karls  d.  Gr.  nach  dem 
Jahre  1165". 


I 


204  M.  Tangl 

einstimmung  mit  der  nur  um  einen  Tag  jüngeren  Wormser  Urkunde 
M.  536  gedeckt  ist  Einzelne  kleine  Verderbungen  fallen  auf  Kosten 
der  Überlieferung  in  der  Halberstädter  Chronik  des  13.  Jahrhunderts. 
Die  meisten  dieser  Entstellungen  hat  Mühlbacher  in  seinem  Text^  be- 
reits durch  Emendation  beseitigt;  in  einem  Falle  muß  ich  dies  noch. 
nachtragen.  Der  Schluß  der  Arenga  „ad  beate  retributionis  mercedem 
talia  nobis  facta  credimus  profutura"  ist  bei  gleichem  Incipit  nicht 
zu  belegen,  dagegen  in  der  veränderten  Fassung  „profutura  con- 
fidimus"  im  Wormser  Diplom  und  anderen  Königsurkunden  bezeugt. 
Ich  trage  daher  kein  Bedenken,  diese  kleine,  durch  den  Diktatvergleich 
ganz  gesicherte  Verbesserung  in  den  Text  einzusetzen.  Das  Karl- 
Diplom  für  Halberstadt  ist  uns,  wie  schon  erwähnt,  in  voller  urkund- 
licher Fassung  nicht  überliefert,  sondern  nur  auszugsweise  und  mit 
Übergehung  des  ganzen  Formelrahmens  erhalten.  Doch  führt  uns 
hier  der  Vergleich  mit  der  Karl-Urkunde  für  Bremen  MG.  DK.  245  zu 
weiteren  Schlüssen. 

Ich  machte  schon  bei  früherer  Gelegenheit^  darauf  aufmerksam, 
daß  die  Invokation  (und,  wie  ich  noch  beifügen  muß,  auch  die  De- 
votionsklausel im  Titel)  nicht  auf  ein  echtes  Diplom  Karls  d.  Gr.,  son- 
dern auf  ein  solches  Ludwigs  d.  Fr.  als  Vorlage  hinweisen.  Wenn  ich 
aber  damals  dieses  Vorbild  in  der  (später  selbst  in  mehrfachen  Ab- 
stufungen verfälschten)  Urkunde  Ludwigs  d.  Fr.  für  Ansgar,  den  ersten 
Erzbischof  von  Hamburg-Bremen,  vom  15.  Mai  834,  M.  928  zu  finden 
glaubte,  so  muß  ich  dies  Urteil  jetzt  ganz  zurücknehmen.  Diese  Ur- 
kunde trägt,  ihrem  Datum  entsprechend,  die  für  die  Zeit  nach  der 
Wiedereinsetzung  Ludwigs  d.  Fr.  ganz  charakteristische  Devotionsklausel 
„divina  repropitiante  dementia",  während  die  Karlfälschung,  wie  jetzt 
in  der  Vorbemerkung  zu  DK.  245  richtig  hervorgehoben  wird,  durch 
die  Worte  „divina  ordinante  Providentia"  bestimmt  einer  Vorlage  aus 
der  ersten  Zeit  Ludwigs  d.  Fr.  (814 — 833)  entnommen  ist.  Diese 
Vorlage  ist  aber  keine  andere  als  unser  Halberstädter  Diplom  Lud- 
wigs d.  Fr.  Aus  ihm  ist  die  Korroborationsformel  ganz  wörtlich  ab- 
geschrieben: 

DK.  245  für  Bremen:  Et  ut  (huius  donationis  ac  circumscriptionis) 
auctoritas  nostris  futurisque  temporibus  domino  protegente  valeat  in- 
convülsa  manere,  manu  propria  subscripsimus  et  anuli  nostri  inpressione 
signari  iussimus, 

M.  535  für  Halberstadt:  Et  üt  hec  auctoritas  nostris  futurisque 


*  NA.  18,  292. 

-  Mitteil.  d.  Instituts  f.  österr.  G.-F.  18,  66. 


Forschungen   zu  Karolinger  Diplomen  205 

temporibüs  domino  protegente  valeat  inconvulsa  manere,  manu  propria 
mbscripsimus  et  anuli  nostri  impressione  signari  iüssimus. 

Der  Inhalt  dieser  Formel  ist  ganz  feststehend,  die  Fassung  aber 
x\  den  einzelnen  Kanzleien  und  hier  wieder  nach  dem  Walten  ver- 
schiedener Diktatoren  vielfachem  Wandel  unterworfen.  Ich  stelle  hier 
^or  allem  fest,  daß  sich  unter  allen  echten  Urkunden  Karls  d.  Gr., 
jie,  wie  ich  nicht  verhehle,  eine  genauere  Diktatuntersuchung  noch 
verlohnten,  nur  eine  einzige  findet,  die  in  Vorder-  und  Nachsatz  einiger- 
maßen genau  an  diese  Fassung  anklingt,  aber  diese  Ausnahme  festigt 
die  Regel  erst  recht:  es  ist  DK.  173  für  Aniane,  ein  verunechtetes 
and  unter  Benutzung  der  Urkunde  Ludwigs  d.  Fr.  M.  524  überarbeitetes 
Oiplom. 

Gestützt  auf  dieses  Ergebnis,  nehmen  wir  uns  auch  die  Arengen 
der  beiden  Urkunden  vor: 

DK.  245:  Si  domino  deo  exercitüum  succurente  in  bellis  victoria 
üotiti  in  illo  et  non  in  nobis  gloriamur,  et  in  hoc  seculo  pacem  et  pros- 
Deritatem  et  infuturo  perpetue  mercedis  retributionem  nos  promereri 
confidimus. 

M.  535:  8i  sacerdotum  ac  servomm  dei  petitiones,  quas  nobis  de 
necessitatibus  innotuerint,  ad  effectum  perduciniüs,  non  solum  imperialem 
exercemus  consuetudinem,  verum  etiam  ad  beate  retributionis  mer- 
cedem  talia  nobis  facta  profutura  confidimus. 

Groß  ist  die  Übereinstimmung  ja  nicht;  sie  macht  ungefähr  den 
Eindruck  eines  Orchesters,  dessen  Musiker  gleichzeitig  mit  dem  Takt- 
ischlag des  Dirigenten  einsetzen  und  schließlich  bei  einer  großen  Fer- 
imate  unter  Paukenwirbel  auch  noch  gleichzeitig  fertig  werden,  da- 
zwischen aber  in  fürchterlichem  Durcheinander  ihren  Zuhörern  eine 
Ohren-  und  Seelenpein  bereiten.  Hier  hatte  in  der  Bremer  Urkunde 
jdie  Phantasie  des  Fälschers  sich  eben  sofort  geltend  gemacht.  Den- 
noch ist  selbst  an  den  geringen  Überresten  die  Anlehnung  an  ein  echtes 
jFormular  noch  ausreichend  erkennbar.  Darauf  hatte  auch  bereits  Hüffer 
jverdienstvoll  aufmerksam  gemacht.^  In  den  Schlüssen  muß  ich  mich 
allerdings  sogleich  von  ihm  scheiden;  denn  der  Vergleich  beweist 
erstens  nicht  wie  echt,  sondern  im  Gegenteil,  wie  unecht  die  Bremer 
jürkunde  ist,  und  er  zeigt  weiter  an  einer  ganz  charakteristischen  Einzel- 
heit, daß  auch  hier  nicht  eine  Urkunde  Karls  d.  Gr.,  sondern  Lud- 
wigs d.  Fr.  vorlag.  Die  Arenga  „Si  petitionibus  sacerdotum  —  con- 
fidimus" ist  in  den  Diplomen  Karls  d.  Gr.  ziemlich  häufig  und  an  keine 
ibestimmte  Urkundenart  geknüpft;   sie  findet  sich  in  Immunitäten  wie 


^  a.  a.  0.  S.  95  Anm.  3. 


I 


206  M-  Tangl 

in  Besitzbestätigungen,  Wahlprivileg  und  Zollfreiheit ;^  aber  nicht  in 
einem  dieser  Beispiele  begegnet  die  Wortverbindung  „retributionis 
merces  (retributio  mercedis)"  wie  in  dem  Diplom  Ludwigs  d.  Fr.  für 
Halberstadt  und  in  der  Bremer  Fälschung.  Nehmen  wir  noch  hinzu, 
daß  die  volle  wörtliche  Übereinstimmung  von  Arenga  und  Korrobo- 
ration  auch  in  den  Diplomen  Ludwigs  d.  Fr.  zu  den  größten  Selten- 
heiten gehört  und  sich  in  der  ganzen  früheren  Zeit  dieser  Regierung 
außer  in  der  Halberstädter  Immunität  nur  noch  in  den  beiden,  einen 
Tag  später  ausgestellten  Wormser  Urkunden  und  der  Immunität  für 
Visbeck  findet,^  dann  wird  die  Feststellung  dieser  Formeln  in  der 
Bremer  Fälschung  zum  ganz  schlagenden  Beweis  ihrer  Abhängigkeit 
von  dem  Halberstädter  Vorbild.  Dieses  unmittelbare  Vorbild  war 
aber  nicht  die  Immunität  Ludwigs  d.  Fr.,  sondern  die  nach  ihrem 
Muster  zurechtgemachte  angebliche  Gründungsurkunde  Karls  d.  Gr. 

Hier  scheint  nun  eines  höchst  auffällig.  Wir  haben,  wie  ich 
wiederholen  muß,  keinen  Grund,  der  Angabe  der  Ludwig-Urkunde,  daß 
sie  nur  die  von  Karl  d.  Gr.  bereits  verliehene  Immunität  erneuere, 
zu  mißtrauen.  Besaß  man  also  in  Halberstadt  ein  echtes  Diplom 
Karls  d.  Gr.,  wie  kam  es,  daß  man  nicht  dessen  Protokoll  der  Fälschung 
zugrunde  legte?  War  gerade  diese  Urkunde  bereits  verloren  gegangen? 
Der  Fall  muß  immerhin  als  möglich  erwogen  werden;  denn  fast  jede 
wichtigere  Urkundengruppe  bietet  uns  Belege  für  verschiedenartige 
Überlieferungsgeschichte  einzelner  Urkunden.  Selbst  die  weitaus  beste 
und  gleichmäßig  überlieferte  Gruppe  der  St.  Galler  Urkunden  hat  ein- 
zelne Acta  deperdita  aufzuweisen,^  und  bei  Salzburg  besitzen  wir,  um 
nur  ein  Beispiel  zu  erwähnen,  noch  heute  das,  wenn  auch  beschädigte. 
Original  der  Immunitätsbestätigung  durch  Ludwig  d.  Fr.,  M.  606,  wäh- 
rend die  Vorurkunde  Karls  d.  Gr.  schon  im  13.  Jahrhundert  verloren 
war.  Es  gibt  aber  noch  eine  andere  und  wahrscheinlichere  Erklärung. 
Die  Zerstörung  echter  Urkunden  war  — •  ich  erinnere  an  die  Lindauer, 
Reichenauer,  Ebersheimer,  und,  wie  wir  bald  sehen  werden,  unsere 
Osnabrücker  Fälschungen  —  oft  der  erste  vorbereitende  Schritt  zur  Fäl- 
schung, die  nun  über  den  durch  Rasur  mehr  oder  minder  vollständig 

^  Ich  stelle  hier  die  Beispiele  aus  den  echten  DD.  Karls  d.  Gr.  zusammen: 
DK.  62,  96,  114,  126,  150,  152,  165,  169,  170,  171,  174,  183,  198,  202. 

*  In  M.  550  für  Mäcon  begegnet  statt  „beatae  retributionis  mercedem"  bereits 
die  Variante  „beatitudinem  eternae  retributionis  mercedem"  und  in  M.  572  für  Prüm 
„beatitudinem  eternae  retributionis"  ohne  „mercedem".  Gleiche  Korroboration  zeigen 
noch  M.  524,  543,  549,  570,  571;  in  M.  545  fehlen  bei  sonst  gleicher  Fassung  die 
Worte  „domino  protegente". 

Vgl.  die  nach  Hunderten  zählende  Zusammenstellung  der  verlorenen  Königs- 
urkunden aus  Karolinger  Zeit  durch  J.  Lechner  im  Anhang  der  2.  Aufl.  von  Mühl- 
bachers Regesten. 


Forschungen   zu  Karolinger  Diplomen  207 

getilgten  Text  geschrieben  wurde.    Wenn  man  in  Halberstadt  aus  der 
[rsten  Zeit  des  Bistums  zwei  Immunitäten  besaß,   dann  lag  es  nahe, 
l^efade  die  ältere  zu  opfern,   um  sich  über  ihren  Trümmern  die  ge- 
ivünschte  Gründungs-  und  Zirkumskriptionsurkunde  zu  schreiben.    So 
Ijam  es,   daß  die  Urkunde  Ludwigs  d.  Fr.  als  für  das  Protokoll  allein 
loch  benutzbare  Vorlage  übrig  blieb.    Diese  Erkenntnis  beeinflußt  aber 
liuch  sehr  wesentlich  unser  urteil  über  die  Datierung  der  Karl-Urkunde, 
Jie  selbst  Simson  als  wenigstens  teilweise  zuverlässig  anzuerkennen 
)ereit  war.   Daß  die  Ortsangabe  „Salz"  und  die  Tagesangabe  „15.  Mai" 
ür  803,   das  Jahr  des  nie  geschlossenen  Salzer  Friedens,   nicht  zu- 
reffen,  hat  Simson  erst  jüngst  wieder  überzeugend  nachgewiesen.  Die 
\ngaben  sind  aber  in  dieser  Zusammenstimmung  überhaupt  für  kein 
Jahr  aus   der   Kaiserzeit   Karls   d.  Gr.   brauchbar.    Von   den   Jahres- 
mgaben   kommen   im   besten  Falle   nur  die  Regierungsjahre  und  die 
ndiktion  in  Betracht,  das  Inkarnationsjahr  müßte  wie  in  der  Ludwig- 
Urkunde  nachgetragen  sein,  vom  Ordinationsjahr  des  Bischofs  Hildigrim 
gar  nicht  zu   sprechen.     Das   annus  regni  34   stimmte   zu   802   (bis 
jOktober),  das  Kaiserjahr  3  zu  803,  die  Indiktion  10  der  Halberstädter 
Überlieferung  zu  802,   die  Indiktion  12  des  Annalista  Saxo  zu  804;^ 
also    auch    hier  Zwiespalt   von   vornherein.     Für  jedes   der  3  Jahre 
B02— 804  ist  aber  Hildigrim  von  Chälons,  der  erst  in  einem  späteren 
Jahre  der  Kaiserzeit  Karls  d.  Gr.  nach  Ostsachsen  gekommen  sein  und 
die  Immunität    für    das   Halberstädter  Missionsgebiet    erwirkt    haben 
kann,   als   Empfänger   der   Urkunde   unmöglich.     Tatsächlich   ist   aus 
jdieser  Datierung  für  eine  echte  Urkunde  Karls  d.  Gr.  nicht  mehr  zu 
retten  wie  aus  dem  übrigen  Formular.    Und  nicht  besser  sieht  es  aus, 
jwenn   wir  uns   nun   dem   Inhalt  zuwenden.    Ausgangspunkt  für   die 
ispätere   Deutung   und  Entstellung  wurden   zwei   chronikalische  Nach- 
Irichten:   die   der  fränkischen  Reichsannalen,   daß  Karl  d.  Gr.  780  auf 
jostfälischem  Boden  über  die  Ocker  und  Ohre  bis  an  die  Elbe  vordrang, 
und   viele  Bewohner  jener  Gebiete   sich   taufen   ließen^   und   die   der 


^  Die  gefälschte  Urkunde  dürfte  ziemlich  sicher  die  Indiktion  12  getragen  haben; 
denn  diese  wurde  in  der  Bremer  Fälschung,  die  doch  sonst  ganz  andere  Jahres- 
merkmale aufwies,  beibehalten,  und  auch  der  Verdener  Fälscher,  der  wieder  die 
^Zahlen  der  Bremer  Urkunde  um  ein  paar  Einheiten  herabgesetzt  hatte,  —  jedes  dieser 
iBistümer  wollte  ja  das  älteste  sein!  —  setzte  schließlich,  nachdem  er  eine  andere 
|Zahl  durch  Rasur  getilgt  hatte,  für  die  Indiktion  die  überlieferte  12  ein,  die  dadurch 
geradezu  zur  Fabrikmarke  für  die  ganze  Gruppe  wird. 

^  Man  vgl.  mit  den  Texten,  die  ich  oben  gab,  den  Bericht  der  Ann.  regni  Franc, 
ad  a.  780  ed.  Kurze  SS.  rr.  Germ.  S.  56:  Inde  iter  peragens  partibus  Albiae  fluvii 
'et  in  ipso  itinere  omnes  Bardongavenses  et  multi  de  Nordleudi  baptizati  sunt  in  locö 
qui  dicitur  Orhaim  ultra  Obacro  fluvio.  Et  pervenit  usque  ad  supradictum  fluvium 
ubi  Ora  confluit  in  Albia  (vgl.  „inter  Are  et  Albee  confluenciam"   der  Halberstädter 


I 


208  M.  Tangl 

Annales  Laureshamenses,  daß  Karl  in  diesem  Jahre  Sachsen  untei 
Bischöfe  zur  Missionierung  aufteilte.^  Diese  Maßregel,  die  nichts  an- 
deres bezweckte  als  die  Zuteilung  Sachsens  zur  Missionierung  an  di( 
bereits  vorhandenen  fränkischen  Bischöfe  und  Abte,^  deutete  mar 
zur  Begründung  selbständiger,  neuer  Bistümer  in  Sachsen  um  unc 
brachte  damit  bereits  das  Wirken  Hildigrims  in  Beziehung,  desser 
Lebenszeit  dieser  willkürlich  ersonnenen  Chronologie  um  Jahrzehnte 
widerstreitet. 

Schwieriger  ist  es,  die  Nachricht  zum  Jahre  803  auf  ihren  Ur- 
sprung hin  bestimmter  zu  fassen,  die  der  Poeta  Saxo  allein  kenn 
und  die  auch  noch  in  der  Überlieferung  der  Quedlinburger  Annaler 
vollkommen  unabhängig  von  Bistumsgründung  und  Zirkumskriptior 
erscheint.  Die  eine  und  Hauptquelle  des  sächsischen  Poeten  war,  wit 
Simson  längst  festgestellt  hat,  Einhards  Vita  Karoli. 

Es  läßt  sich  gar  nicht  leugnen,  daß  die  Fassung,  in  die  Einharc 
den  Schlußsatz  seines  7.  Kapitels  kleidete,^  der  späteren  Annahmt 
eines  förmlichen  Friedensschlusses  mit  den  Sachsen  ebenso  Vorschut 
leisten  mußte,  wie  die  Nachricht  von  der  „divisio  inter  episcopos' 
der  einer  verfrühten   und   einheitlichen    Begründung   der   sächsischer 


Chronik),  ibique  omnia  disponens  tarn  Saxoniam  quam   et  Sclavos  et  reversus  es 
supradictus  präeclarus  rex  in  Francia. 

^  Eberhard  Katz,  Ann.  Laureshamensium  editio  emendata,  St.  Paul  in  Kärnten 
18ÖÖ  S.  32:  divisitque  ipsam  patriam  inter  episcopos  et  presbiteros  seu  et  abbates 
ut  in  ea  baptizarent  et  predicarent,  nee  non  et  Winidorum  seu  et  Fresonum  pagano- 
rum  magna  multitudo  credidit  (vgl.  die  Ann.  Quedlinburg.  Eodem  anno  Carolus  .  . 
terram  Saxonum  inter  episcopos  divisit).  Die  gemeinsame  Benutzung  dieser  beider 
Vorlagen,  der  Reichsannalen  und  der  Lorscher  Klosterannalen,  in  späteren  Ableitungen 
steht,  soviel  ich  weiß,  ganz  vereinzelt  da.  Um  so  beachtenswerter  ist  es,  daß  das 
gleiche  Quellenverhältnis  und  für  dieselbe  Zeit  in  den  späteren  Ableitungen  der  alter 
Hersfelder  Annalen  wiederkehrt.  Der  Bericht  über  die  Verschwörung  Pippins  des 
Buckligen  zum  Jahre  792  findet  sich  bei  Lampert  von  Hersfeld  und  den  Weißen- 
burger Annalen  in  einer  Gestalt,  die  Holder  Egger  (Lamperti  Hersfeldensis  opera  1^ 
Anm.  3)  mit  den  Worten  kennzeichnete:  „Haec  ex  Ann.  Einhardi  et  Lauresham.  (v 
Chron.  Lauriss.)  composita  videntur". 

'  Diese  heute  wohl  allgemein  durchgedrungene  Erkenntnis  ist  noch  gegen  Ende 
des  9.  Jahrhunderts  in  der  Translatio  S.  Liborii,  SS.  4,  150  deutlichst  ausgesprochen; 
ünamquamque  pontificalium  sedium  cum  sua  diocesi  singulis  aliarum  regni  sui 
aecclesiarum  praesulibus  commendavit,  qui  et  ipsi  ad  instruendam  plebem 
eo  pergerent  et  ex  clero  suo  personas  probabiles  ibidem  mansuros  iugiter  destina- 
rent,  et  hoc  tamdiu,  donec  illic  fidei  doctrina  convalesceret,  ut  proprii 
quoque  in  singulis  parrochiis  possent  manere  pontifices. 

Vita  Karoli,  SS.  rr.  Germ.  Ed.  quinta  S.  9:  Eaque  conditione  a  rege  proposita 
et  ab  illis  suscepta  tractum  per  tot  annos  bellum  constat  esse  finitum,  ut  abiecto 
daemonum  cultu  et  relictis  patriis  caerimoniis  Christianae  fidei  atque  religionis  sacra- 
menta  susciperent  et  Francis  adunati  unus  cum  eis  populus  efficerentur. 


Forschungen   zu  Karolinger  Diplomen  209 

|3istiimer.  Auch  darin  stimme  ich  Simson  und  Hüffer  bei,  daß  der 
Poet  daneben  noch  eine  andere  Quelle  vor  sich  hatte.  Nur  stelle  ich 
liegen  Simson  bestimmt  in  Abrede,  daß  dies  bereits  die  gefälschte 
iialberstädter  Urkunde  gewesen  sei.  Es  wäre  dann  ausgeschlossen, 
■laß  der  Poet,  sonst  ein  eifriger  Plünderer  seiner  Vorlagen,  aus  der 
Urkunde  nebensächliches  Beiwerk  herausgegriffen,  die  Hauptsache  aber, 
iie  Nachricht  von  der  Gründung  und  Umgrenzung  des  Bistums,  sich 
lätte  entgehen  lassen.  Versuchen  wir  festzustellen,  was  der  Poet 
A/esentlich  über  Einhard  Hinausgehendes  meldet,  so  ist  es  die  Zugabe 
Ion  Zeit  und  Ort  (803,  Salz)  und  eine  Bestimmung  wegen  Leistung 
jjer  Zehnten.  Genau  das  steht  aber,  noch  ohne  jede  Beziehung  zur 
brkunde,  zum  Jahre  803  in  den  Quedlinburger  Annalen;  und  in  der 
lier  wohl  in  reinster  Überlieferung  gebotenen  Nachricht  liegt  die  ge- 
,Tieinsame  Quelle  für  den  Poeten,  die  Urkundenfälschung  und  die 
i^pätere  Annalistik.  Zur  Erkenntnis  der  Art  dieser  Quelle  wies  Hüffer 
^uf  die  richtige  Spur,^  ohne  daß  ich  den  weiteren  Schlüssen,  die  er 
|daran  knüpft,  zustimmen  könnte.  Die  Fassung  läßt  ein  wahrscheinlich 
durch  spätere  Zutaten  entstelltes  Kapitulare  als  Grundlage  erkennen. 
ch  mache  darauf  aufmerksam,  daß  einzelne  Handschriften  der  soge- 
nannten Capitula  ecclesiastica  die  Überschrift  „in  anno  quarto  ad  Salz" 
jagen, ^  und  daß  Bestimmungen,  welche  die  Entrichtung  der  Zehnten 
iurch  jeden  Mann  und  von  jeglichem  Besitz  und  Erwerb  ein- 
ischärfen,  auch  in  erhaltenen  Kapitularien  und  Synodalbestimmungen 
'sich  finden.^ 

Doch  auch  die  Quedlinburger  Annalen  enthalten,   ohne  ausdrück- 
iche  Berufung  auf  eine  Urkunde^  und  ohne  die  Nachrichten  von  781 


'  S.  77  t. 

^  MG.  Capit.  ed.  ßoretius  1,  119. 

^  Eine  gute  Zusammenstellung  der  Belege  gibt  Ernst  Pereis,  Die  kirchlichen 
lehnten  im  Karolingischen  Reiche  S.  24ff.  Capit.  1,  106  c.  6  decimas  totius  facul- 
i;atis,  Capitulatio  de  partibus  Saxoniae,  Capit.  1,  69  c.  17  —  ut  omnes  decimam 
Dartem  substantiae  et  laboris  suis  ecclesiis  et  sacerdotibus  donent,  tam  no- 
bles quam  ingenui  et  liti,  Frankfurter  Synode  vom  Jahre  794  MG.  Concil.  2, 
168  c.  25  et  omnis  homo  ex  sua  proprietate  legitimam  decimam  ad  ecclesiam 
;onferat.  Konzil  von  Arles  vom  Jahre  813  MG.  Concil.  2,  251  c.  9  ut  unusquisque 
ie  propriis  laboribus  decimas  et  primitias  deo  offerat.  Die  Worte  „omnes,  di- 
'»^ites  et  pauperes,  totius  suae  culturae  ac  nutriturae  decimas  reddere  iussit"  der 
^uedlinburger  Annalen,  der  tialberstädter  Chronik  und  der  Fälschungen  sind  nur 
leue  Ausdrücke  alter  Bestimmungen.  Für  die  Feststellung  des  Filiationsverhältnisses 
st  es  vielleicht  nicht  ganz  gleichgültig,  daß  sich  die  Lesart  ^,culturae"  in  den 
^uedlinburger  Annalen  und  den  Fälschungen  für  Bremen  und  Verden  und  „agri- 
:ulturae"  in  der  Halberstädter  Chronik  und  dem  Annalista  Saxo  gegenüberstehen. 

"  Wie  dies   in  der  tialberstädter  Chronik  und  beim  Annalista  Saxo  geschieht: 
,suoque  imperio  augustali  et  imprevaricabili  privilegio  confirmavit". 
AfU    II  14 


210  ^-  Tangl 

und  803  zueinander  in  Beziehung  zu  setzen  in  einem  wesentlicher 
Punkte  doch  mehr,  als  wir  an  der  Hand  der  bisherigen  Quellen  nach-: 
zuweisen  vermochten  —  die  Bistumsumgrenzung.  Die  Vorlage  hierfSii 
kann  nach  Hüffer  nur  urkundlich  und  sie  muß  gleichzeitig  und  zuver- 
lässig gewesen  sein.  „Urkunden  müssen  bereits  an  der  Wiege  del 
sächsischen  Kirchen  gestanden  haben",  behauptet  er  (S.  132);  und  zwan 
nicht  Urkunden,  die  Vergabung  bestimmter  Güter  oder  Verleihung  vor' 
Immunität  enthielten,  wie  wir  sie  selbstverständlich  zugeben,  sonden^ 
eigentliche  Gründungs-  und  Zirkumskriptionsurkunden.  Dieser  kate^ 
gorische  Imperativ  nimmt  sich  doch  etwas  sonderbar  aus  gegenübei 
der  Tatsache,  daß  uns  bis  gegen  die  Mitte  des  10.  Jahrhunderts  Ur- 
kunden solcher  Art  nirgends  erhalten  sind.  Die  Überlieferung  de» 
älteren  Urkunden  der  sächsischen  Bistümer  ist  im  allgemeinen  dürftig 
und  schlecht;  bei  Paderborn  aber  ist  sie  gut  und  von  Fälschung  gan2 
frei:  Wir  besitzen  noch  fünf  Königsurkunden  aus  Karolingerzeit,  dar- 
unter vier  in  schönen  Originalen,^  ohne  daß  wir  verlorene  Diplome 
ausdrücklich  nachweisen  könnten.  Wie  kommt  es,  daß  die  Bischöfe 
von  Paderborn  die  von  Ludwig  d.  Fr.  verliehene  Immunität  sich  von 
Ludwig  d.  Deutschen,  Ludwig  d.  Jüngeren  und  Arnulf  bestätigen  ließen^ 
aber  nicht  die  so  ungleich  wichtigere  Gründungs-  und  Zirkumskriptions-^ 
Urkunde  Karls  d.  Gr.,  die  sie  doch  auch  haben  „mußten",  so  gut  wie 
Halberstadt,  Bremen  und  Verden? 

Schwieriger  liegt  die  Frage  bei  Hildesheim. ^  Hier  ist  uns  im 
Hildesheimer  Urkundenverzeichnis  aus  dem  Anfang  des  11.  Jahrhunderts^ 
die  erste  bekannte  Urkunde  für  dieses  Bistum  folgendermaßen  be- 
schrieben: Primum  preceptum  semritatis  et  libertatis,  qmd  dominuh' 
Guntharius  primus  fiildeneshey'mensis  ecdesie  episcopus  de  termina- 
tione  et  circumscripcione  notissimomm  finium  episcopatus  sui  ei 
de  canonica  institutione  lihera  ah  omni  impressione  excepto  regte  servi- 
tütis  debito  ab  Lodowico  imperatore  filio  Karoli  Magni  acquisivit.    Ni\\ 


^  M.  753,  1439,  1571,  1758,  sämtlich  Immunitäten,  dazu  M.  1714  in  Kopie  saec 
XV  über  freie  Bischofswahl. 

^  Ich  war  in  meiner  früheren  Arbeit  auf  diese  Frage  nur  ganz  kurz  eingegangen, 
weil  ich  sie  durch  das  urteil  Bresslaus  in  der  Vorbemerkung  zu  DH.  II.  256  erledigt 
hielt:  ,,Die  Hildesheimer  Kirche  hat  sicherlich  nie  ein  karolingisches  Diplom  solchen 
Inhalts  besessen,  weil  sie  niemals  gegenüber  den  Mainzern  davon  Gebrauch  gemacht 
hat."  Aus  freundlicher  Mitteilung  Bresslaus  erfahre  ich  aber,  daß  er  dieses  ürtei! 
nicht  auf  die  Zirkumskriptionsfrage  im  allgemeinen,  sondern  nur  auf  die  bestimmte 
Art  der  Abgrenzung  gegen  Mainz  an  der  strittigen  Gandersheimer  Ecke  bezogen  hat. 
Ich  habe  daraufhin  diese  Frage  von  neuem  vorgenommen,  und  eingehender  noch  hat 
sich  mit  ihr  mein  Mitarbeiter  Dr.  Ernst  Müller  befaßt,  der  seine  Ergebnisse,  die  hier 
nur  kurz  verwertet  sind,  selbständig  vortragen  wird. 

'  Ja  nicke,  ÜB.  des  Hochstiftes  Hildesheim  1,  52  Nr.  60. 


Forschungen   zu  Karolinger  Diplomen  211 

er  tiildesheimer  ürkundenüberlieferung  ist  es  recht  übel  bestellt,  da 
in  großer  Brand  im  Jahre  1013  die  Urkunden  vernichtete.  Es  ist  uns 
jiaher  weder  eine  Karolinger  Urkunde,  noch  eine  solche  Heinrichs  I., 
jDttos  I.  und  Ottos  II.  für  Hildesheim  erhalten,  und  die  Diplome  Ottos  III. 
pO.  III.  390  und  409  für  Bischof  Bernward  verdanken  wir  wohl  nur 
idem  Zufall,  daß  sie  zur  Zeit  des  Brandes  nicht  im  Domarchiv  verwahrt 
vvaren.  Auch  die  wichtige  Entscheidung,  durch  die  Heinrich  II.  im 
Jahre  1007  den  berühmten  Gandersheimer  Streit  beilegte,  wurde  damals 
ein  Raub  der  Flammen.  Mit  ihrer  Erneuerung  (DH.II.  255)  setzt  der 
in  größerem  Umfange  unternommene  Versuch  Bischof  Bernwards  ein, 
^on  älteren  Rechten  und  Ansprüchen  seiner  Kirche  so  viel  wie  mög- 
lich urkundlich  festzulegen.  Das  geschah  auch  in  der  Erneuerung  der 
'  Immunität  durch  Heinrich  II.  (DH.II.  256),  die  in  zwei  sehr  merkwürdigen 
Ausfertigungen  vorliegt,^  die  beide  von  dem  durch  Bernward  in  die 
Kanzlei  gebrachten  Schreiber  GB.  herrühren,  einem  frei  stilisierten  Ent- 
jwurf,  der  auch  eine  Grenzumschreibung  enthielt,  dem  aber  Billigung 
und  Vollziehung  durch  die  Kanzlei  versagt  wurde,  und  einer  voll- 
jzogenen  und  besiegelten  Urkunde,  deren  Fassung  aber  viel  weniger  frei, 
Isondern,  wie  längst  erkannt,^  in  ihrem  ersten  Teil  einem  Karolingischen 
[Vorbild  entnommen  ist.  Diese  Vorlage  aber  war  nicht  von  anders 
woher  erborgt,  sondern  die  echte  Immunität  Ludwigs  d.  Fr.  für  Hildes- 
heim, die  sich  in  einer  wohl  ebenfalls  mit  der  Person  des  GB.  zusam- 
menhängenden Überlieferung  auch  nach  dem  Brand  erhalten  haben 
pußte.  Sie  aber  enthielt  nichts  als  eine  mit  der  Gruppe  Worms- 
iHalberstadt- Visbeck  eng  verwandte  Immunität  ohne  Grenzweisung. 
Der  Verfasser  des  ürkundenverzeichnisses  hat  hier  das  übrige  wohl 
aus  seiner  Phantasie  zugegeben,  und  diese  wieder  hing  mit  der  ab- 
igelehnten Grenzweisung  von  DH.II.  256a  eng  zusammen,  die  unmittel- 
;bar  zuvor  unter  Bischof  Bernward  in  einem  Weistum  zum  erstenmal 
Igesondert  aufgezeichnet  worden  war.^  Hierzu  stimmt  aufs  beste,  daß 
jnoch  zu  Ausgang  des  10.  Jahrhunderts  unter  Otto  lll.  die  Grenze 
(Zwischen  Minden  und  Hildesheim  durch  Inquisitionsverfahren  fest- 
igestellt  werden  mußte,  ohne  daß  von  der  einen  oder  anderen  Seite 
eine  Zirkumskriptionsurkunde  vorgewiesen  werden  konnte.^ 

^  Erschöpfender  Nachweis  von  Br esslau  in  der  ausfühdichen  Vorbemerkung 
zu  DH.  II.  256. 

^  Außer  Bresslau  vgl.  Stengel,  Die  Immunitätsurkunden  der  deutschen  Könige 
vom  10.— 12.  Jahrhundert.  Berliner  Dissertation.  1902.  S.  17;  vgl.  auch  dessen 
Habilitationsschrift,  Die  Verfasser  der  deutschen  Immunitätsprivilegien  des  10.  und 
|ll.  Jahrhunderts.  S.  96.  Weitere  Forschungen  Stengels  im  Zusammenhang  einer 
kritischen  Prüfung  aller  Immunitätsurkunden  stehen  in  naher  Aussicht. 

'  Vgl.  Bresslau,  MG.  DD.  3,  297. 

''  Jan  icke,  ÜB.  des  tlochstiftes  tiildesheim  1,  24  Nr.  35. 

14* 


I 


212  M.  Tangl 

Wir  besitzen  einzelne  bestimmte  Zeugnisse,  daß  im  Streitfall  teils 
auf  der  Synode,  teils  ausdrücklich  durch  Königsurkunden  über  strittige 
Bistumsgrenzen  entschieden  wurde.  Das  geschah  aber  stets  durch 
Demarkation  an  der  strittigen  Stelle,  nicht  durch  allgemeine  Zir- 
kumskription.  Durch  die  Reimser  Synode  vom  Jahre  814  wurde 
der  Grenzstreit  zwischen  den  Bistümern  Noyon  und  Soissons  dahin 
geschlichtet,  daß  die  Oise  fortan  diese  Grenze  bilden  und  der  Gau  von 
Noyon  zwischen  beiden  Diözesen  aufgeteilt  werden  sollte.^  Im  Jahre 
811  wiederholte  Karl  d.  Gr.  eine  Entscheidung,  die  er  bereits  803  im 
Streite  zwischen  Salzburg  und  Aquileja  dahin  getroffen  hatte,  daß 
fortan  die  Drau  die  Grenze  der  beiden  Sprengel  bilden  sollte.^  Es  ist 
dies  aber  auch  neben  der  Wiederholung  dieser  Entscheidung  durch 
Ludwig  d.  Fr.  die  einzige  echte  Königsurkunde  dieser  Art,  denn  die 
Urkunde  Ludwigs  des  Deutschen  (M.  1341),  die  eine  Abgrenzung 
ähnlicher  Art  zwischen  Salzburg  und  Passau  vornimmt,  ist  auf  Grund 
dieser  Abgrenzungsurkunde  zwischen  Salzburg  und  Aquileja  gefälscht. 

Und  nun  sehen  wir  uns  die  erhaltenen  Grenzweisungen  auch 
noch  ein  wenig  auf  ihre  Zuverlässigkeit  hin  an.  Die  Verdener  enthält 
überhaupt  nur  einen  Wunschzettel;  das  beanspruchte  Gebiet  umfaßt 
die  Sprengel  Verden  +  Ratzeburg  +  Mecklenburg.^  Aber  auch  die 
Abgrenzung  zwischen  Bremen  und  Verden  selbst,  wie  sie  in  beiden 
Fälschungen  angegeben  wird,  entspricht  erst  den  durch  die  Gründung 
des  Hamburger  Erzbistums  veränderten  Verhältnissen  seit  der  Mitte 
des  9.  Jahrhunderts.*  Karl  d.  Gr.  kann  die  Grenzscheidung  so  nicht 
vorgenommen  haben,  und  die  Halberstädter  Umgrenzung  soll  er  803 
oder  gar  schon  780/81  so  gezogen  haben,  während  im  Südwesten  der 
späteren  Diözese  noch  Hersfeld  seine  Missionstätigkeit  ausübte  und 
Hildesheim,  gegen  das  die  Scheidewand  so  sorgsam  aufgerichtet  wurde, 
noch  gar  nicht  bestand? 

Dabei  soll  natürlich  nicht  geleugnet  werden  und  ist  auch  von  der 
Forschung  nie  bestritten  worden,  daß  bestimmte  Abgrenzungen  schon  bei 
der  Zuweisung  der  Missionsgebiete  vorgenommen  worden  sind.   Welcher 

^  Flodoard,  Historia  Remensis  eccl.  SS.  13,  466.  Die  Frankfurter  Synode  vom 
Jahre  794  befaßte  sich  bei  Erörterung  der  Ausdehnung  der  Kirchenprovinzen  von 
Arles,  Vienne,  Tarantaise  und  Embrun  nicht  mit  Fragen  der  Diözesan-Zirkumskription, 
sondern  mit  der  kirchenrechtlichen  Frage  der  Zuweisung  der  einzelnen  Suffragan- 
bischöfe  an  die  genannten  Metropoliten.  Daraus  erklärt  sich  auch,  daß  zur  Ent- 
scheidung dieser  Frage  in  erster  Linie  der  Papst  als  zuständig  anerkannt  wurde. 
MG.  Concil.  2,  167  c.  8. 

MG.  DK.  2ll;   vgl.  meine  Bemerkungen   zu  diesem  Diplom,  Nachträge  S.  266 
bis  267. 

^  Vgl.  meine  Ausführungen  Mitteil.  d.  Instituts  f.  österr.  G.-F.  18,  62—63. 

*  Schlagender  Nachweis  von  Hauck,  Kirchengesch.  2,  389  Anm.  1. 


Forschungen   zu  Karolinger  Diplomen  213 

Art  sie  waren,  darüber  belehren  uns  zuverlässig  einzelne  Angaben  über 
das  Walten  der  Missionare.  So  werden  dem  h.  Liudger  fünf  Gaue, 
iem  h.  Willehad  sechs  Gaue,  vier  friesische  und  zwei  sächsische,  zu- 
i^ewiesen.^  Näherer  Abgrenzungen  bedurfte  es  gar  nicht,  am  wenigsten 
l^olcher  durch  Königsurkunden.  Von  diesen  Anfängen  bis  zur  endgiltigen 
Ausgestaltung  der  kirchlichen  Hierarchie  im  Sachsenlande  war  noch 
>in  weiter  Weg,  dessen  einzelne  Stadien,  die  durch  das  allmähliche 
Entstehen  und  Erstarken  der  Bistümer  selbst  und  daneben  durch  das 
Ausscheiden  der  klösterlichen  Missionsgebiete  (Fulda,  Hersfeld,  Meppen, 
^isbeck)  gegeben  sind,  sich  auf  mehr  als  ein  halbes  Jahrhundert  ver- 
;eilen.  Die  angeblichen  Zirkumskriptionsurkunden  Karls  d.  Gr.  für 
flalberstadt,  Bremen  und  Verden  sind  als  Ganzes  wie  in  ihren  Teilen 
/Anachronismen,  von  denen  schlechterdings  nichts  als  ursprünglicher 
i  md  zuverlässiger  Bestand  zu  retten  ist. 

Bei  Verden  lag  in  der  Art  der  Grenzumschreibung  der  Kernpunkt 
I  jnd  das  eigentliche  praktische  Ziel  der  Fälschung,  die  dem  Bischof 
•  [lermann  von  Verden  als  Beleg  für  seine  „Querimonia"  bei  Heinrich 
dem  Löwen  dienen  sollte.  Kam  ähnlich  auch  die  Kirche  von  Halber- 
stadt in  die  Lage,  nicht  nur  weitergehenden  Wünschen  hinsichtlich  der 
Ausdehnung  ihrer  Diözese  entsagen  zu  müssen,  sondern  sich  in  den 
alten  Grenzen  selbst  beeinträchtigt  zu  sehen?  Gewiß!  Es  ist  die  Zeit, 
ia  Halberstadt  durch  die  Gründung  des  Erzbistums  Magdeburg,  in 
dessen  Stellung  einzurücken  es  vorübergehend  selbst  hoffen  durfte,  in 
bedeutendem  Maße  von  der  Elbelinie  abgedrängt  wurde  und  auch  an 
der  Saale  und  ünstrut  altes  Diözesangebiet  an  das  neue  Bistum  Merse- 
burg abgeben  mußte. 

Durch  Jahre  hatte  sich  Bischof  Bernhard  von  Halberstadt,  ebenso 
.vie  aus  anderen  Gründen  Erzbischof  Wilhelm  von  Mainz,  gegen  die 
drohende  und  sehr  empfindliche  Beeinträchtigung  seines  Sprengeis 
gewehrt.  Otto  L  konnte  hier  erst  ans  Ziel  gelangen,  indem  er  das 
pemlich  gleichzeitige  Ableben  Bernhards  von  Halberstadt  (9.  Februar 
968)  und  Wilhelms  von  Mainz  (2.  März  968)  dazu  ausnützte,  daß 
ir  ihre  beiden  Nachfolger,  Hildiward  und  Hatto,  von  vornherein  auf 
hre  Zustimmung  zu  seinen  Neugründungen  hin  investierte.  Dieser 
Verzicht   erfolgte   erst   im   Oktober   968.     Der  Mainzer    stimmte    der 

^  So  ist  auch  die  Stelle  der  Translatio  S.  Liborii,  als  dessen  Verfasser  Hüffer, 
Dhne  zu  überzeugen,  ebenfalls  Agius  vermutet,  SS.  4,  150  „parrochias  diligenti  ratione 
suis  quasque  terminis  servandas  designans"  lediglich  als  Umschreibung  der  Mit- 
teilung der  Ann.  Laureshamenses  „divisitque  ipsam  patriam  inter  episcopos"  zu  ver- 
stehen; denn  unmittelbar  daran  schließt  sich  in  der  Translatio  der  Bericht  über  das 
^ur  Begründung  selbständiger  Bistümer  erst  allmählich  überleitende  Walten  der  Mis- 
sionare, dessen  ich  bereits  oben  S.  208  Anm.  2  gedachte. 


I 


214  ^'  Tangl 

Erhebung  des  neuen  Metropoliten  zu  und  entließ  seine,  selbst  erst  neu 
gewonnenen,  Suffragane  von  Brandenburg  und  Havelberg  aus  seinem 
Metropolitanverband,  der  Halberstädter  wich  an  der  Elbe  zugunsten  von 
Magdeburg  und  im  Winkel  zwischen  Saale,  ünstrut  und  Helme  zu- 
gunsten von  Merseburg  zurück.^ 

Wenn  der  Halberstädter  Fälschung  je  praktische  Bedeutung  zukam, 
dann  war  es  in  der  Zeit  des  zähen  Widerstandes  Bischof  Bernhards, 
in  den  sechziger  Jahren  des  10.  Jahrhunderts.  Und  da  Fälschungen 
in  der  erdrückenden  Zahl  von  Fällen  nicht  als  Rüstzeug  für  die  Zukunft 
sondern  für  den  augenblicklichen  Bedarf  verfertigt  zu  werden  pflegen, 
so  haben  wir  damit  wohl  auch  die  Entstehungszeit  dieser  Fälschung 
gefunden.  Ihre  hauptsächliche  Tendenz  lag  in  den  drei  ersten  Worten 
der  ümgrenzungslinie:  Albiam,  Salam,  Unstradam,  Damit  verteidigte 
sie  die  alte,  ungeschmälerte  Ost-  und  Südgrenze,  gegen  deren  Beein- 
trächtigung sie  durch  das  „unverbrüchliche  Privileg"  des  Großen  Karl 
Einspruch  erhob.  ^  Wahrscheinlich  gingen  hier  zwei  Stadien  der 
Fälschung  nebeneinander  her,  die  Einschiebung  der  Umgrenzung  in 
die  Chronik,  wie  sie  jetzt  in  der  Ableitung  der  Quedlinburger  Annalen 
vorliegt,  und  die  Anfertigung  der  Karlsfälschung  selbst,  auf  deren  Vor- 
handensein die  jüngere  Fassung  der  Halberstädter  Chronik  dann  aus- 
drücklich Bezug  nimmt.  In  die  Immunität  Ludwigs  d.  Fr.  wurde  statt 
der  ümgrenzungslinie  eine  Aufzählung  der  Bistumgaue  eingeschoben, 
aber  sie  deckt  sich  der  Tendenz  nach  genau  mit  jener;  ümgrenzungs- 
linie dort  und  Flächenangabe  hier  stimmen  ganz  überein.  Es  ist  daher 
auch  für  die  Entstellung  der  Ludwig-Urkunde  kein  anderer  Zeitpunkt 
zu  suchen,  wenn  auch  der  Grad  der  Verfälschung  ein  sehr  verschiedener 
ist:  hier  zwei  leicht  zu  erkennende  Einschübe,  bei  der  Karlsfälschung 
vom  Anfang  bis  zum  Ende  freie  Erfindung. 

Die  ümgrenzungsfrage  blieb  fortan  durch  ein  halbes  Jahrhundert 
fortgesetzt  in  Fluß.  Sie  spielt  mit  eine  Rolle,  als  König  Otto  11.  das 
Bistum  Merseburg  vorübergehend  aufhob  und  Halberstadt  seine  Ab- 
tretungen zwischen  Saale,  ünstrut  und  Helme  wieder  zurückerhielt. 
Papst  Benedikt  Vll.  erkannte  981  diese  Veränderungen  an  und  ordnete 
zugleich  die  Grenzfrage  zwischen  Magdeburg  und  Halberstadt,  wobei 
er    sich    ausdrücklich    auf    eine   Beschwerdeschrift   des   Halberstädter 


*  Im  allgemeinen  vgl.  ühlirz,  Gesch.  des  Erzbistums  Magdeburg  unter  den 
Kaisern  aus  Sächsischem  Hause,  besonders  Exkurs  V,  S.  133ff.  und  P.  Kehr,  ÜB. 
des  tiochstifts  Merseburg,  1,  7  Nr.  5;  an  beiden  Stellen  auch  die  Deutung  der  neuen 
Grenzlinie;  ferner  Hauck  3,  113-125. 

^  Vgl.  Gesta  epis'c.  tialberstad.  SS.  23,  78  „parrochiam  hanc  certis  undique 
terminis  circumscripsit  suoque  imperio  augustali  et  inprevaricabili  privilegio 
confirmavit". 


Forschungen  zu  Karolinger  Diplomen  215 

Mschofs  berief,  die  von  fortgesetzten  schweren  Irrungen  und  Streitig- 
keiten sprach.^  Als  das  Bistum  Merseburg  vom  König  Heinrich  II.  im 
Jahre  1004  wieder  hergestellt  wurde,  blieb  seine  Ausstattung  auf  dem 
inken  Saaleufer  weit  hinter  der  bei  der  ersten  Gründung  zurück;  es 
nußte  sich  jetzt  mit  einem  ganz  kleinen  Gebiet  im  Umkreis  von  Merse- 
burg begnügen,^  und  Halberstadt  behielt  endgihig  die  Unstrut  als  Süd- 
Frenze,  während  es  968  das  ganze  Gebiet  südlich  vom  Wilderbach, 
jem  Salzsee,  dem  Einfluß  der  Salza  in  die  Saale  bis  zur  Unstrut  und 
Ä^estlich  bis  zur  Helme  hatte  abtreten  müssen.  Die  Zähigkeit  des  von 
Urkundenfälschung  begleiteten  Widerstandes  endete  also  hier  mit  einem 
Ä^enigstens  teilweisen  Erfolg.  Wenige  Jahre  später  ließ  sich  Bischof 
Arnulf  von  Halberstadt  durch  Papst  Benedikt  VIII.  die  Bistumsgrenzen 
bestätigen.  In  dieser  Urkunde,  die  wir  leider  nur  als  kurzes,  undatiertes 
Regest  in  der  Halberstädter  Chronik  besitzen,  dessen  Zuverlässigkeit 
anzuzweifeln  wir  aber  keinen  Anlaß  haben,  wird  die  durch  die  Gau- 
lnamen verunechtete  Urkunde  Ludwigs  d.  Fr.  zum  erstenmal  erwähnt.^ 
Durch  eine  eigene,  genaue  Grenzweisung^  brachte  dann  Bischof  Arnulf 
diese  Frage  zum  Abschluß. 

Die  Bistumsgründungen  Ottos  I.  bedeuten  den  zweiten  großen 
Vorstoß  in  der  Ausbreitung  der  kirchlichen  Hierarchie  nach  dem  Norden 
und  Osten.  Er  gleicht  dem  unter  Karl  d.  Gr.  wie  in  anderer  Hinsicht 
so  auch  darin,  daß  diese  Neugründungen  wesentlich  in  zwei  großen 
Absätzen  erfolgten,  die  etwa  20  Jahre  auseinander  liegen.  Äußere 
Schwierigkeiten  hatte  Otto  I.  hierbei  nicht  in  dem  Maße  zu  überwinden 
wie  sein  großer  Vorgänger.  Der  Boden  war  viel  besser  vorbereitet, 
dazu  eine  feste  Tradition  längst  geschaffen.    Aber  nach  anderer  Rich- 


'  JL.  4043,  MG.  SS.  23,  91,  Schmidt,  ÜB.  des  Hochstifts  tialberstadt  1,  33 
Nr.  47:  „recitata  est  etiam  epistola  ab  Hildewardo  episcopo  Halberstatensis  ecclesi? 
jdelata,  humiliter  expetens  limites  su^  diocesis  et  Magdeburgensis  confusos,  ne  dis- 
icordiis  locus  pateat,  nostra  diffinitione  discerni,  unde  inter  confratrem  et  coepis- 
icopum  nostrum  Adalbertum  archipresulem  et  Hildewardum  lites  immensas  exortas 
pene  usque  ad  homicidia  didicimus  profecisse." 

'  P.  Kehr,  Merseburger  ÜB.  1,  30  Nr.  29,   32,  Nr.  31. 

^  SS.  23,  91,  Schmidt,  ÜB.  von  Halberstadt  1,  50.  Die  Namen  der  fünf  Gaue 
sind  die  gleichen  wie  im  Diplom  Ludwigs  d.  Fr.,  doch  ist  der  Abtretung  an  Magde- 
burg ausdrücklich  gedacht  (excepta  tamen  determinatione  intra  viam  quam  dicunt 
Frederikeswech  ac  tres  fluvios  Albiam,  Bodam  et  Oram  determinata);  der  Auszug 
schließt:  „et  omnia  que  Lodewicus  Imperator  Halberstadensi  ecclesie  concessit,  auc- 
toritate  apostolici  privilegii  obtinuit  confirmari".  Die  Annahme  Mühlbachers,  daß 
umgekehrt  der  Fälscher  erst  die  fünf  Gaunamen  dieser  Papsturkunde  entlehnte,  halte 
ich  für  verfehlt. 

^  SS.  23,  91  und  Schmidt,  ÜB.  1,50  in  unmittelbarem  Anschluß  an  den  Aus- 
zug aus  dem  Papstprivileg. 


I 


216  M.  Tangl 


1 

1  aon  ™ 


tung   hatte   Otto  I.   viel   weniger  freie  Hand.    Seine   Neuschöpfungen' 
griffen,  zum  Teil  wenigstens,  in  bereits  erworbene  Rechte  ein,  und  die 
dadurch  Betroffenen  vermochten  ihren  Einspruch  mit  Nachdruck  geltend 
zu  machen.    Denn  in  den  nahe  200  Jahren,  die  seit  der  Christiani- 
sierung des  Sachsenlandes  vergangen  waren,  hatte  sich  die  Stellunj 
des   Episkopats   ganz   gewaltig   gehoben.     Bernhard   von   tialberstadti 
konnte  sich  bis  an  sein  Lebensende  den  Plänen  Otto  I.  hemmend  ent- 
gegenstellen; ein  Bischof  oder  Erzbischof  von  Mainz,  Köln  oder  Würz- 
burg, der  ähnliches  Karl  d.  Gr.   gegenüber   gewagt  hätte,  wäre  kurzer; 
Hand  entfernt  worden  und  hätte  in  Klosterhaft  in  Jumieges  oder  Corbto 
Gelegenheit  gehabt,  über  das  Vergebliche  seines  Widerstandes  nachzu-^ 
denken.    Die  mehrfachen  Hemmnisse,  die  sich  der  Gründung  und  dem 
Ausbau  der  Magdeburger  Kirchenprovinz  entgegenstellten,  sind  bekannti 
und  oben  bereits  berührt;  aber  auch  bei  den  Bistumsgründungen  den 
vierziger  Jahre  scheint  es  an  Widerstand,  dem  der  König  Rechnungi 
tragen  mußte,  nicht  gefehlt  zu  haben. ^    Ein  anderer  Faktor  noch  sprach 
jetzt  entscheidend  mit,  dessen  Macht  sich  im  Laufe  des  9.  Jahrhunderts 
gewaltig  gehoben  hatte  und  der  seine  Ansprüche  trotz  der  verrotteten 
römischen  Verhältnisse  während  des  10.  Jahrhunderts  aufrecht  erhielt, 
—  das  Papsttum.    Diese  veränderte  Lage  kommt  nun  in  den  Urkunden, 
welche  die  Bistumsgründungen   Ottos  I.  begleiten,   deutlich  zum  Aus- 
druck.   In  den  Gründungsurkunden  für  Brandenburg  und  Havelberg^l 
wird  die  Mitwirkung  und  Zustimmung  des  päpstlichen   Legaten,   der' 
Erzbischöfe  von  Mainz  und  Hamburg  und  des  Markgrafen  Gero  aus- 
drücklich erwähnt.    Die  einzelnen  Schritte  vollends,  die  zur  Gründung 
der  Magdeburger  Kirchenprovinz  und   der  neuen  Bistümer  Merseburg, 
Meißen   und   Zeitz  führten,   wurden   in   Zustimmungs-   und  Verzicht- 
urkunden, Synodalprotokollen  und  päpstlichen  Bestätigungsprivilegien  \ 
festgelegt.    Dafür  zeigen  die  Königsurkunden  in  dieser  Angelegenheit ! 
eine  ganz   andere  Art  und  Fassung  als  die  Gründungsurkunden  für 
Brandenburg    und    Havelberg.      Als    eigentliche    Bestätigungsurkunde 
wurde  gemeinsam   für  Magdeburg   und  seine   drei  neuen  Suffragane  | 
nicht  ein  Diplom,   sondern   ein   undatiertes,   aber   durch   vollzogenes ' 


^  Fr.  Curschmann,  Die  Diözese  Brandenburg,  S.  20,  hat  die  ansprechende 
Vermutung  aufgestellt,  daß  damals  die  Reihe  der  Neugründungen  mit  Brandenburg 
nur  deshalb  abbrach,  weil  Friedrich  von  Mainz  das  Missionsgebiet  zwischen  Saale 
und  Elbe  erfolgreich  für  sich  selbst  beanspruchte. 

^  DO.  I.  105  und  76.  Das  Brandenburger  Diplom  ist  noch  im  Original  erhalten, 
das  tiavelberger  nur  in  jüngerer  Abschrift  und  an  bestimmter  Stelle  verunechtet 
(vgl.  hierüber  Curschmann,  NA.  28,  393 ff.,  während  Sickel  in  der  Diplomata- 
Ausgabe  noch  volle  Zuverlässigkeit  angenommen  hatte);  im  Aufbau  aber  und  den 
Teilen,  auf  die  es  mir  hier  ankommt,  stimmen  die  beiden  Diplome  überein. 


Forschungen   zu  Karolinger  Diplomen  217 

jWonogramm  und  Siegel  beglaubigtes  Mandat  ausgestellt  (DO.  I.  366), 
leben  dem  noch  einzelne  Bewidmungsurkunden  einherliefen. ^ 

In  ganz  ähnlichen  urkundlichen  Formen  vollzog  sich  dann  unter 
ieinrich  II.  1007  die  Gründung  des  Bistums  Bamberg.  Der  eigent- 
jche  Gründungsakt  wurde  im  Protokoll  über  die  Frankfurter  Synode 
liedergelegt  (DH.  II.  143);  daran  schloß  sich  die  lange  Reihe  der  Aus- 
jtattungsurkunden,  die  sämtlich,  gleich  der  Synodalurkunde,  das  Datum 
''om  1.  November  1007  tragen  (DH.  II.  144—170).'  Eine  Bistums- 
:irkumskription  ist  weder  in  die  Königsurkunden  der  Magde- 
burger Gruppe,  noch  in  die  für  Bamberg  aufgenommen.  Sie 
'>teht  in  denen  für  Brandenburg  und  Havelberg  ganz  allein. 

Hüffers  kategorischer  Imperativ,  daß  Karl  d.  Gr.  für  die  acht  säch- 
pischen  Bistümer  solche  Gründungs-  und  ümgrenzungsurkunden  aus- 
gestellt haben  müsse,  erscheint  dadurch  in  noch  zweifelhafterem  Lichte, 
venn  wir  sehen,  daß  die  Reichskanzlei  unter  Otto  I.  hierin  weder  eine 
este  Tradition  in  der  Vergangenheit  vorfand,  noch  für  die  Zukunft 
line  solche  schuf. 

Die  gefälschte  Gründungsurkunde  Karls  d.  Gr.  für  das  Halber- 
itädter  Bistum  entstand,  wie  wir  aus  den  bisherigen  Darlegungen  er- 
phen,  in  den  sechziger  Jahren  des  10.  Jahrhunderts,  nach  ihrem  Auf- 
bau in  starker  Anlehnung  an  die  Gründungsurkunden  Ottos  I.  für 
Brandenburg  und  Havelberg,^  die  einzigen  aus  der  Reichskanzlei  hervor- 

'  Für  Magdeburg  DO.  I.  361,  362,  363,  565  u.  a.;  für  Meißen  DO.  I.  406,  für 
'eitz  DO.  II.  139.  Ob  daher  eine  eigentliche  Gründungsurkunde  für  Merseburg  aus- 
gestellt wurde,  wie  dies  P.  Kehr,  Merseburger  ÜB.  1,  7  Nr.  6  als  sicher  voraussetzt, 
nöchte  ich  bezweifeln;  ich  glaube,  daß  es  sich  bei  der  verlorenen  Urkunde,  über 
jlie  die  Merseburger  Bischofschronik  nur  ganz  knappe  Andeutungen  gibt,  um  eine 
ichenkung  handelt,  ähnlich  wie  bei  Magdeburg,  Meißen  und  Zeitz.  Die  übrigen  Ur- 
kunden, die  der  königlichen  Bestätigung  vorangingen  und  sie  begleiteten,  sind  in 
ien  ürkundenbüchern  von  Schmidt  und  Kehr  verzeichnet  und  von  ühlirz  in 
einer  Geschichte  des  Erzbistums  Magdeburg  gewürdigt. 

"  Zur  Gründung  Bambergs  war  ein  Teil  des  Würzburger  Bistums  abgetreten 
ind  diese  Abtretung  auch  genau  umschrieben  worden.  Dies  geschah  in  einer  Notitia 
les  Bischofs  Heinrich  von  Würzburg,  die  später  in  das  Privileg  Leos  IX.  für  Bam- 
)erg,  JL.  4283  eingerückt  wurde.  Daß  sie  als  Grundlage  auch  für  eine  königliche 
Jmgrenzungsurkunde  gedient  habe,  ist  uns  nicht  bekannt,  und  die  Nachricht  der 
iildesheimer  Annalen  zu  1014,  auf  die  mich  Bresslau  freundlichst  aufmerksam  macht, 
laß  damals  unter  dem  Zusammenwirken  Heinrichs  II.  und  Benedikts  VIII.  eine  feier- 
iche  Verbriefung  für  das  junge  Bistum  stattfand,  lautet  viel  zu  unbestimmt,  um  für 
liese  verlorene  Urkunde  einen  Inhalt  gerade  dieser  Art  anzunehmen.  (Ann.  Hildes- 
leimenses,  ed.  Waitz  SS.  rr.  Germ.  31:  Pentecosten  Babenberhg  festive  peregit;  quo 
unc  privilegia  eiusdem  loci  res  continentia  iussit  inscribere,  firmata  sigillo  sue  auc- 
oritatis  et  roborata  apostolico  iure  Romani  pontificis,  ut  essent  illorum  banno  firmata. 

^  Für  die  Einzelheiten  verweise  ich  hier  auf  meine  Arbeit  in  den  Beiträgen  z. 
)randenb.  u.  preuß.  Gesch.  S.  v398ff. 


I 


218  M-  Tangl 

gegangenen  Zirkumskriptionsurkunden,  die  man  bis  dahin  kannte.  Für 
die  Entstehungszeit  der  von  ihr  ganz  und  gar  abhängigen  Bremer  Fäl- 
schung, die  zum  erstenmal  in  dem  unmittelbar  nach  1072  ver- 
faßten Geschichtswerk  Adams  von  Bremen  benutzt  ist,  ergibt  sich  als; 
Spielraum  etwa  das  Jahrhundert  von  970—1070.  Ich  war  früher  ge-; 
neigt, ^  ihre  Entstehung  schon  im  10.  Jahrhundert  zu  suchen,  stehe 
aber  nicht  an  zu  erklären,  daß  ich  jetzt  der  Annahme  von  Simson' 
den  Vorzug  gebe,  der  auf  die  engen  Beziehungen  hinweist,  die  irr 
11.  Jahrhundert  zwischen  Halberstadt  und  Hamburg-Bremen  herrschten 
Zwei  fiamburger  Erzbischöfe,  Hermann  (1032—1035)  und  Adalber 
(1045 — 1072),  waren  zuvor  Dompröpste  von  Halberstadt  gewesen 
Aldabert  hatte  hier  seine  Erziehung  erhalten.^ 

Wir  werden  bei  Besprechung  der  Osnabrücker  Urkunde  Lud- 
wigs d.  Fr.  sehen,  daß  auch  hier  Beziehungen  zur  Gruppe  Halberstadt- 
Bremen-Verden  bestehen,  und  wir  werden  uns,  da  die  Verdener  Fäl-; 
schung  als  jüngstes  Glied  der  gesamten  Reihe  außer  Betracht  bleibt' 
zu  entscheiden  haben,  ob  dieser  Einfluß  durch  das  Halberstädter  ür 
bild  oder  durch  die  Bremer  Nachahmung,  und  hier  wieder  direkt  ode 
durch  Adams  Gesta  Hammaburgensis  ecclesiae  pontificum  vermittelt  ist 

Aber  in  unseren  bisherigen  Ausführungen  klafft  noch  eine  be 
deutende  Lücke.  Die  zweite  Osnabrücker  Fälschung  auf  den  Namer 
Karls  d.  Gr.  gibt  sich  als  Verleihung  eines  Wildbanns.  Dieser  so! 
aber  nach  Jostes  ursprünglich  gar  kein  richtiger  Wildbann,  sondern  da^ 
ursprüngliche  Missionsgebiet  des  Osnabrücker  Sprengeis  sein;  diesen 
gelte  auch  in  erster  Linie  die  beigegebene  Umgrenzung,  die  sich  durcl 
das  Alter  einzelner  Namensformen  als  karolingisch  verbürge.  Als( 
allem  unserem  Sträuben  zum  Trotz  doch  eine  karolingische  Zirkumskrip- 
tionsurkunde! 

Beides  führt  uns  zu  unseren  Osnabrücker  Urkunden  zurück. 


3.   Der  Zehntstreit 

Die  Reihe  der  echten  Zeugnisse,  die  uns  aus  dem  Osnabrückei 
Lager  zur  Verfügung  stehen,  eröffnet  die  Querimonia  Egilmari,  dit 
Klageschrift,  die  Bischof  Egilmar  von  Osnabrück  i.  J.890— 891  an  Papsi 
Stephan  V.  wegen  der  widerrechtlichen  Entziehung  eines  großen  Teilei 


'  Mitteil.  d.  Instituts  f.  österr.  G.-F.  18,  66. 

'  NA.  32,  45. 

^  Die  jüngst  erschienene  Arbeit  von  Curschmann,  Die  älteren  Papsturkundei 
des  Erzbistums  Hamburg,  Hamburg  u.  Leipzig  1909,  unterläßt  es  leider,  sich  aucl 
mit  den  gefälschten  Königsurkunden  zu  befassen. 


Forschungen   zu  Karolinger  Diplomen  219 

ier  Zehnten  seines  Bistums  richtete.^  Ihre  Darlegungen  beginnen  mit 
ikr  Erklärung,  daß  die  Einkünfte  Osnabrücks  wie  der  anderen  säch- 
;ischen  Bistümer  zur  Zeit  ihrer  Gründung  durch  Karl  d.  Gr.  wesentlich 
pur  in  den  Kirchenzehnten  bestanden,  da  es  andere  Einnahmequellen 
l;ür  sie  damals  nicht  gab.^  Diese  Nachricht  enthält  eine  in  guter 
Tradition  festgehaltene  Wahrheit.  In  der  Tat  fehlten  diesen  neuen 
Kirchen  des  Ostens  —  das  hatte  auch  schon  Bonifatius  bei  seinen 
iSeugründungen  erfahren  müssen  —  zunächst  ganz  und  gar  die  wirt- 
schaftlichen Grundlagen,  deren  sich  die  älteren  fränkischen  Bistümer 
poch  von  ausgehender  Römerzeit  her  erfreuten.  Diese  Grundlagen 
konnten,  da  freiwillige  Landzuweisungen  erst  von  einer  viel  späteren 
l^eit  zu  erwarten  waren,  zunächst  nur  durch  Güterkonfiskationen ^  und 
[verschärfte  Eintreibung  der  Kirchenzehnten  gewonnen  werden.  In  der 
peschichte  dieser  Zehnten  war  aber  gerade  damals  eine  entscheidende 
^Vendung  dadurch  eingetreten,  daß  sich  jetzt  das  fränkische  Königtum 
für  diese  alte  Forderung  der  Kirche  und  der  Synoden  einsetzte  und 
durch  die  erzwingbare  Vollstreckung,  die  es  gewährleistete,  die  alte, 
in  ihrem  Ertrag  wohl  kaum  sehr  bedeutende  Liebesgabe  zu  einer  wirk- 
samen Kirchensteuer  umgestaltete.  Ob  nun  Karl  d.  Gr.  schöpferisch 
hierin  vorging  oder  ob  er,  wie  jetzt  wahrscheinlicher  geworden  ist,  nur 
mit  noch  größerem  Eifer  eine  Richtung  fortsetzte,  die  als  erster  schon 
sein  Vater  Pippin  eingeschlagen  hatte,  jedenfalls  ist  den  eigenartigen 
jVerhältnissen  des  der  Kirche  neu  erschlossenen  Ostens  eine  sehr 
Wesentliche  Einwirkung  in  der  Sache  zuzuschreiben;  denn  hier  wurden 
die  Zehnten,  was  sie  für  die  Kirchen  des  Westens  nirgends  zu  sein 
brauchten,  die  eigentliche  Existenzgrundlage  für  die  Zeit  der  Kirchen- 
gründung und  auch  noch  wesentlich  darüber  hinaus.^ 


^  Überliefert  in  Abschrift  des  13.  Jahrhunderts  im  Kapitelarchiv  zu  Osnabrück; 
bester  Druck  bei  Philippi,  Osnabrücker  ÜB.  1,  53  Nr.  60.  Die  Einreihung  des  un- 
daüerten  Schriftstücks  hat  schon  Wilmans  festgestellt. 

^  Cum  .  .  .  princeps  Karolus  .  .  .  singulos  eiusdem  provincie  episcopatus  ex 
decimarum  stipendiis  constituisset,  quia  aliis  ibi  pastores  et  episcopi 
donariis  carebant. 

^  Dieser  Weg  ist  tatsächlich  versucht  worden,  aber  er  war  in  hohem  Maße  be- 
denklich, weil  am  wenigsten  geeignet,  dem  Christentum  Freunde  unter  dem  Sachsen- 
volk zu  werben.  So  hat  sich  hier  selbst  die  durch  ihre  Härte  berüchtigte  Capitu- 
latio  de  partibus  Saxoniae  mit  maßvollen  Bestimmungen  begnügt:  MG.  Capit.  1,  69 
§  15  Ad  unamquamque  ecclesiam  curte  et  duos  mansos  terrae  pagenses  ad  ecclesiam 
recurrentes  condonant  et  inter  centum  viginti  homines,  nobiles  et  ingenuis  similiter 
et  litos,  servum  et  ancillam  eidem  ecclesiae  tribuant. 

*  Vgl.  Ernst  Pereis,  Die  kirchlichen  Zehnten  im  Karol.  Reiche,  Berl.  Diss.  1904, 
und  jetzt  Stutz,  Das  karolingische  Zehntgebot.  Zeitschr.  d.  Savigny-Stiftung  für 
Rechtsgesch.,  Germ.  Abt.,  29.  Bd.,  der  in  Pippin  den  Urheber  und  in  dem  staatlichen 


I 


220  M-  Tangl 

In  diesen  Dingen  trat  nun  nach  dem  Zeugnis  unserer  Quelle  seit 
den  dreißiger  Jahren  des  9.  Jahrhunderts  eine  für  Osnabrück  höchst 
ungünstige  Wendung  ein. 

Bischof  Gefwin  von  Osnabrück  habe  833  an  der  Empörung  der 
Söhne  Ludwigs  d.  Fr.  wider  den  Vater  übereifrigen  Anteil  genommen 
und  in  der  Kirche  von  St.  Medard  in  Soissons  dem  alten  Kaiser  das 
Wehrgehäng  vom  Leibe  gerissen.  Vor  dem  Zorn  des  bald  wieder  er- 
hobenen Kaisers  habe  er  aus  seinem  Bistum  weichen  und  sich  in  das 
Kloster  Fulda  flüchten  müssen.  Jetzt  seien  die  Zehnten  zu  einem 
guten  Teil  an  die  Klöster  Korvey  und  Herford  gegeben  worden,  und 
der  neue  Bischof  Gauzbert  habe  dies  ohne  Widerrede  geschehen  lassen, 
froh,  nach  dem  Scheitern  seiner  Missionstätigkeit  bei  den  Schweden, 
der  er  bis  dahin  obgelegen  hatte,  überhaupt  eine,  wenn  auch  be- 
scheidene und  in  ihren  Einkünften  geschmälerte,  Versorgung  gefunden 
zu  haben. 

Diese  Erzählung  ist  von  Justus  Moser  gläubig  übernommen,  von 
Wilmans  wiederholt  und  zuletzt  noch  von  Philippi  verteidigt;  nach  ihm 
„liegt  nicht  der  mindeste  Grund  vor,  -gegen  die  Glaubwürdigkeit  der 
Nachricht  in  der  Querimonia  Egilmari  Zweifel  zu  erheben".^ 

Die  Nachprüfung  gestaltet  sich  nicht  allzu  schwierig.  Wir  sind 
über  die  Vorgänge,  die  sich  anläßlich  der  Vorbereitung  und  Aus- 
führung der  Kirchenbuße  Ludwigs  d.  Fr.  zu  Compiegne  und  Soissons 
im  Oktober  833  abspielten,  recht  gut  unterrichtet.  Das  Protokoll  der 
Bischöfe  über  diesen  Akt  gedenkt  auch  der  Ablegung  des  Wehr- 
gehänges und  stellt  sie  als  eine,  wenigstens  äußerlich  freiwillige,  vom 
Kaiser  selbst  vorgenommene  Handlung  dar.^  Tatsächlich  aber  stand  der 
Kaiser  damals  unter  schwerstem  Drucke.  Das  melden  die  Reichs- 
annalen  und  die  beiden  Biographen  Ludwigs  und  weisen  dabei  zürnend 
auf  den  Erzbischof  Ebo  von  Reims  als  den  Leiter  aller  feind- 
seligen Schritte  wider  den  Kaiser.^     Weiter  gehen  dann  zwei  um  etwa 


Zehntgebot  eine  halbe  Sühne   für  die  divisio  des   Kirchengutes  durch   Karl  Martel! 
sieht.     Doch  geht  Stutz  meines  Erachtens  zu  weit,  wenn   er  den  Verhältnissen  in 
Sachsen  nur  eine  ganz  abgeschwächte  Bedeutung  in  der  Frage  zuerkennen  will. 
'  Osnabrücker  ÜB.  1,  12  Nr.  16.  *         — 

^  MG.  Capit.  2,  55  ac  deinde  cingulam  militiae  deposuit  et  super  altare  collo- 
cavit.  Noch  deutlicher  die  Gegenausfertigung  Agobards  von  Lyon  zu  diesem  Proto- 
koll: a.  a.  0.  2,  57  deposita  arma  manu  propria  et  ad  crepidinem  altaris  proiecta. 
^  Ann.  Bertiniani,  SS.  rr.  German.  p.  7:  In  quo  conventu  multa  in  domnum  impe- 
ratorem  crimina  confixerunt.  Inter  quos  Ebo  Remorum  episcopus  falsarum  obiectionum 
incentor  extiterat.  Et  tamdiu  illum  vexaverunt,  quousque  arma  deponere  habi- 
tumquemutarecogentes  liminibus  ecclesiae  pepulerunt.  Thegan  Vita  Hludouuici  c.  44 
SS.  2,  599  Elegerunt  tunc  unum  impudicum  et  crudelissimum  qui  dicebatur 
Ebo    Remensis  episcopus Abstulerunt  ei  gladium  e  femore  suo. 


Forschungen   zu  Karolinger  Diplomen  221 

30  Jahre  jüngere,  in  engstem  Zusammenhang  stehende  Zeugnisse:  das 
Schreiben  der  Synode  von  Troyes  an  Papst  Nikolaus  I.  vom  Jahre  867 
jnd  ein  in  Flodoards  Geschichte  der  Reimser  Kirche  überliefertes 
Schreiben  aus  gleicher  Zeit.  Sie  lassen  den  wieder  zur  Macht  ge- 
langten Kaiser  gegen  Ebo  die  Anklage  erheben,  daß  er  ihm  das  Wehr- 
^ehäng  vom  Leibe  gerissen  habe.^  Ebo  büßte  seine  Führerschaft  bei 
den  Vorgängen  von  833  durch  Klosterhaft  in  Fulda,  also  merkwürdiger- 
weise an  gleicher  Stätte  wie  der  vorwitzige  Bischof  Gefwin  von  Osna- 
brück. Dies  hat  schon  Bernhard  von  Simson  veranlaßt,  die  Erzählung 
der  Querimonia  Egilmari  abzulehnen  und  die  Vermutung  auszusprechen: 
„Vielleicht  verbirgt  sich  dahinter  sogar  eine  Verwechslung  mit  dem 
Erzbischof  Ebo  von  Reims." ^  Doch  die  Vertreter  der  Osnabrücker 
Tradition  haben  ja  noch  einen  Beleg  zur  Verfügung.  Erhard  bringt 
in  seinen  Regesta  Westfaliae  341  aus  dem  handschriftlichen  Nachlaß 
Henselers  die  Nachricht,  daß  Gefwin  auf  der  Synode  von  Diedenhofen 
vom  Februar  835  abgesetzt  worden  sei.^  Aber  dieser  zu  Diedenhofen 
Abgesetzte  und  zugleich  der  einzige,  den  der  Spruch  der  Synode  traf, 
ist  wieder  —  Ebo  von  Reims !^    Das  dürfte  genügen! 

Tatsächlich  läßt  sich  der  stufenweise  Ausbau  der  Tradition  selten 
klar  verfolgen:  Erst  die  gleichzeitigen  Quellen,  die  von  den  tatsäch- 
lichen Vorgängen  und  von  Ebo  als  ihrem  Veranstalter  berichten. 
Hier  setzte  die  Sagenbildung  ein;  nach  ihr  mußte  die  Führerrolle 
Ebos  in  einer  bestimmten,  den  Kaiser  entehrenden  Handlung  zum  Aus- 
druck gelangen,  das  war  die  gewalttätige  Entwaffnung.  Und  wieder 
30  Jahre  später  ist  die  Geschichte  Ebos  von  Reims  zur  Wander- 
geschichte geworden  und  wird  von  Gefwin  von  Osnabrück  weiter- 
erzählt. 

Wir  werden  uns  daher  von  dem  Glauben  an  die  geräuschvolle 
Rolle,  die  Gefwin  von  Osnabrück  für  einen  Augenblick  in  der  Politik 


^  Beide  im  entscheidenden  Satz  fast  wörtlich  übereinstimmende  Zeugnisse  sind 
jetzt  neu  abgedruckt  von  Werminghoff  MG.  Concilia  2,  697,  699.  Die  Fassung 
bei  Flodoard  lautet:  Ebo  vero  in  eadem  sinodo  presens  ab  imperatore  presente  ac- 
cusatus  est,  quod  eum  falso  fuerat  criminatus  et  .  .  .  a  regno  deiecerat  armisque 
ab  eo  ablatis  nee  confessum  nee  convictum  ...  ab  ecclesiae  aditu  ac  Christianorum 
societate  eliminaverat. 

^  JB.  Ludwigs  d.  Fr.  2,  73  und  136  A.  2;  Ablehnend  auch  Mühlbacher  Reg.  926\ 
widerspruchsvoll  Dümmler,  Ostfränk.  Reich,  2.  Aufl.,  der  1,  87  die  Nachricht  über 
Goswin  als  „wenig  glaubwürdig"  bezeichnet,  S.  108  aber  üoswin  „schuldbeladen" 
sich  nach  Fulda  zurückziehen  läßt;  vgl.  auch  S.  185  und  280. 

'  Vgl.  auch  Wilmans,  Kü.  Westfalens  1,  320  und  Philippi,  Osnabrücker  ÜB. 
1,  13  Nr.  18,  dieser  allerdings  als  unverbürgte  und  der  Querimonia  Egilmari  wider- 
sprechende Nachricht. 

'  Werminghoff,  MG.  Concilia  2,  696ff. 


I 


222  M-  Tangl 

Spielte  und  für  die  er  und  sein  Bistum  angeblich  büßten,  wohl  los- 
sagen müssen,  um  so  eher,  als  wir  uns  dadurch  zugleich  das  Kopf- 
zerbrechen über  zwei  weitere  Fragen  sparen,  wieso  es  kam,  daß  Lud 
wig  d.  Deutsche,  der  doch  den  im  Westreiche  obdachlos  gewordener 
Ebo  bei  sich  aufnahm  und  mit  dem  jungen  Bistum  tiildesheim  ver-, 
sorgte,  in  der  Verfolgung  Gefwins  und  der  Beeinträchtigung  seinem 
Bistums  erst  recht  fortfuhr,  und  weshalb  die  für  diese  Jahre  so  reich- 
haltigen und  zuverlässigen  Annales  necrologici  Fuldenses  von  den 
vieljährigen  Gast  ihres  Klosters  durchaus  nichts  wissen. 

Die  wirklichen  Gründe  für  die  ungünstige  Weitergestaltung  dei 
Zehntfrage  lagen  weitab  von  den  Pfaden  der  hohen  Politik  und  sine 
nicht  in  der  Feindseligkeit  gegen  eine  bestimmte  Person  oder  ein  Bis- 
tum, sondern  in  der  unter  außergewöhnlicher  Bevorrechtung  erfolgter 
Gründung  und  in  gleichem  Sinne  dauernd  fortgesetzten  Begünstigung 
des  Klosters  Korvey  zu  suchen. 

So  wird,  wie  längst  und  allgemein  erkannt,  die  stattliche  Reiht 
der  Korveyer  (und  Herforder)  Urkunden  zur  wichtigen  Erkenntnis- 
quelle. Die  Überlieferung  ist  auch  hier  nicht  durchweg  glatt  und 
sauber,  aber  doch  ungleich  zuverlässiger  als  bei  Osnabrück.  Eine 
Reihe  der  ältesten  und  wichtigsten  Urkunden  liegt  noch  in  einwand- 
freien Originalen  vor,  andere  sind  im  guten  alten  Chartular  des 
10.  Jahrhunderts  erhalten.  Daneben  laufen  allerdings  auch  Fälschunger 
mit  unter,  die  aber  den  Blick  über  die  gesicherte  Entwicklung  nichi 
ernstlich  zu  trüben  vermögen. 

.  Wenige  Jahrzehnte  erst  waren  seit  der  Begründung  der  ersten 
christlichen  Kirchen  im  Sachsenlande  vergangen,  aber  die  Verhältnisse 
hatten  sich  bereits  wesentlich  geändert.  Korvey  bekam  bei  seiner 
Gründung  (822)  von  den  Schwierigkeiten  jener  ersten  Versuche  wenig 
mehr  zu  spüren.  Für  seine  wirtschaftliche  Grundlage  war  durch  die 
Zuwendung  ausreichenden,  wenn  auch  im  Verhältnis  zu  älteren  Klöstern 
noch  immer  bescheidenen  Grundbesitzes  gesorgt.^  Außerdem  erhielt 
es  sofort  Immunität^  und,  in  weitgehender  und  ungewöhnlicher  Be-, 
vorrechtung,  Befreiung  von  der  Heerbannpflicht.^  Das  Münzprivileg 
für  Korvey  stellt  vollends  das  erste  und  für  die  ganze  frühere  Karo- 
lingerzeit einzige  Zeugnis  dieser  Art  dar.*  Es  war  zugleich  die  Zeit, 
zu  der  die  neuen  Diözesen  im  Sachsenlande  zu  endgiltigem  Abschluß 
gelangten,   indem  andere  kirchliche  Faktoren,   besonders  Klöster,   die 


*  Über  die  Gründung  Korvey s  vgl.  v.  Simson,  Ludwig  d.  Fr.  2,  266 ff. 

*  M.  780. 

^  Das  Präzept  seligst  ist  nicht  erhalten,  wohl  aber  das  als  Ausführungsbestim- 
mung geltende  Original-Mandat  /Y\.  924. 

*  M.  922  vgl.  Soetbeer,  Forsch,  z.  deutsch.  Gesch.  6,  25ff. 


Forschungen  zu  Karolinger  Diplomen  223 

jfrüher  noch  an  der  Mission  beteiligt  gewesen  waren,  sich  zurück- 
izogen  und  kleinere  selbständige  Missionszellen,  die  bis  dahin  noch 
bestanden  hatten,  eingingen.  Gerade  solche  Missions-  und  Taufkirchen 
iwurden  nun  aber  der  Reihe  nach  an  Korvey  und  Herford  geschenkt: 
ijdie  Schenkung  von  Eresburg  durch  Ludwig  d.  Fr.  machte  826  den  An- 
fang; es  folgte  834  die  wichtige  Missionszelle  Meppen,  838  die  Kirche 
von  Rheine  als  Schenkung  an  das  mit  Korvey  eng  verbundene  Frauen- 
ikloster  Herford  und  855  durch  Ludwig  d.  Deutschen  die  der  Missions- 
'zelle  Visbeck.^  Diese  Maßnahmen  richteten  sich  keineswegs  gegen 
Osnabrück  allein;  Eresburg  lag,  wie  das  Kloster  Korvey  selbst,  in  der 
Paderborner  Diözese,  Rheine  in  der  von  Münster,  eine  verlorene  Lud- 
jwig-ürkunde  über  eine  Schenkung  ähnlicher  Art  in  der  Bremer  Diözese 
KZehnten  im  Gau  Ammeri)  ist  uns  durch  ein  Originaldiplom  Ottos  IL 
j(DO.  II.  309)  bezeugt.  Die  ganze,  mit  diesen  Inkorporierungen  be- 
iginnende und  in  Erneuerungen  und  Bestätigungen  durch  Jahrhunderte 
Ifestgehaltene  Klosterpolitik  wird  in  einem  Originaldiplom  Heinrichs  IL 
i(DH.  IL  12)  in  dem  Satz  zusammengefaßt:  Insuper  etiam  decimas  vel 
decimales  ecclesias  in  quibuscunque  episcopiis  ita  teneant  atque 
disponant,  sicut  sab  anticessoribus  nostris  regibus  videlicet  et  impera- 
pribüs  teuere  per  praecepta  visi  sunt  atque  disponere.  Episcopis  vero, 
quibus  servitium  et  mansionatica  debent  tempore  circuitüs  sui,  secundum 
scripta  sua  singulis  annis  persolvant. 

Osnabrück  war  aber  von  vornherein  am  härtesten  betroffen.  Die 
wichtigen  nordfriesischen  Missionsgebiete  Meppen  und  Visbeck,  auf 
deren  endgiltigen  Anfall  an  das  junge  Bistum  man  sich  sichere  Hoff- 
nung gemacht  haben  mochte,  waren  jetzt  zur  Pastoration  an  Korvey 
gegeben  worden,  an  dieses  und  an  die  von  ihm  bestellten  Personen, 
inicht  an  den  Bischof  und  seine  Pfarrer,  wurde  dementsprechend  auch 
die  Gegenleistung  für  die  Pastoration,  der  Kirchenzehnt,  abgeliefert, 
iöazu  kam.,  daß  Korvey  auf  der  einmal  gewonnenen  Grundlage  durch 
;das  Trugmittel  der  Urkundenfälschung  in  doppelter  Richtung  weiter- 
baute: durch  Ausweitung  und  Abschließung  der  Gebiete,  in  denen  es 
das  Recht  der  Zehnterhebung  für  sich  beanspruchte,  und  durch  das 
von  Erfolg  gekrönte  Streben,  für  die  eigenen  Herrenhöfe  Freiheit  von 
der  Zehntleistung  zu  gewinnen.^ 

Korvey  hatte  so  eine  Ausnahmestellung  errungen,  die  sonst  unter 


'  M.  830,  935,  977,  1412. 

^  Diese  Zehntfälschungen  sind  die  beiden  Urkunden  Ludwigs  d,  Deutschen  vom 
Jahre  852  und  873,  M.  1406  und  1498  und  die  Arnolfs  vom  Jahre  887,  M.  176a 
Den  unterschied  in  den  beiden  Hauptrichtungen  der  Zehntfrage  hat  Brandi,  West- 
deutsche Zeitschr.  19,  147 ff.  so  scharf  und  treffend  herausgearbeitet,  daß  ich  hier 
einfach  auf  seine  Darstellung  verweise. 


I 


224  M-  Tangl 

den  ersten  Karolingern  nur  Fulda  und  Hersfeld  einnahmen,  jenes  mehr 
auf  dem  Gebiete  der  Zehntfreiheit,  dieses  vorwiegend  auf  dem  des  Be- 
zugsrechtes, das  es  von  seiner  Missionierung  im  Hessengau  und 
Friesenfeld  herleitete.^ 

Nach  der  Querimonia  Egilmari  soll  bereits  Bischof  Egbert  (868, 
bis  885)  wiederholten  Einspruch  versucht  haben.  Sein  Nachfolger 
Egilmar  (885 — 918)  führte  dann  gleich  in  den  ersten  Jahren  seiner 
Regierung  den  ersten  scharfen  Zehntstreit,  aber  ganz  ohne  Erfolg. 
König  Arnolf  hatte  sich  von  vornherein  für  die  Aufrechthaltung  der 
bevorrechteten  Stellung  von  Korvey  festgelegt,  und  auch  auf  der 
Synode,  die  unter  dem  Vorsitz  des  Königs  und  in  Anwesenheit  des 
Erzbischofs  von  Köln  und  mehrerer  Bischöfe  tagte,  war  das  kollegiale 
Interesse  der  niedersächsischen  Bischöfe  nicht  stark  genug,  die  Ent- 
scheidung anders  zu  gestalten,  als  es  die  von  oben  ausgegebene 
Parole  vorschrieb.  Egilmar  ward  gänzlich  abgewiesen;  er  wandte  sich 
jetzt  an  den  Papst  und  legte  diesem  in  seiner  berühmten  Denkschrift 
das  offene  Eingeständnis  seiner  Niederlage  ab,  das  für  die  Forschung 
längst  zum  sichersten  Beweismittel  gegen  die  Echtheit  der  vier  gerade 
entgegengesetzt  lautenden  Arnolf-Ürkunden  für  Osnabrück  geworden 
ist.  Die  Antwort  Stephans  V.  ist  uns  nicht  vollständig  erhalten;  aber 
wahrscheinlich  brachte  ihr  Schluß  ebenfalls  nichts  als  leere  Worte  wie< 
ihr  im  Anschluß  an  die  Querimonia  überlieferter  Beginn.  I 

Für  das  ganze  10.  Jahrhundert  ist  uns  ein  einwandfreies  Zeugnis' 
dafür,  daß  der  Zehntstreit  damals  wieder  aufgenommen  wurde,  nicht 
erhalten.^  Die  gesicherten  Zeugnisse  weisen  erst  wieder  ins  11.  Jahr- 
hundert, und  hier  wird  es  sich  darum  handeln,  zunächst  die  Anfangs- 
zeit des  erneuerten  Kampfes  möglichst  zuverlässig  festzustellen.  Nach 
Scheffer-Boichorst  war  er  von  ungewöhnlich  langer  Dauer:  „Der  Osna- 
brücker Zehntenstreit  begann  unter  Konrad  IL,  er  zog  sich  durch  die 
Regierung  Heinrichs  III.  und  wurde  von  Heinrich  IV.  1079  entschieden."^ 
Scheffer-Boichorst  schloß  dies  aus  der  Einleitung  der  Urkunde  Hein- 
richs IV.,  Jostes  XXI.  Hier  erhebt  Benno  II.  vor  König  Heinrich  IV. 
Klage,   daß  sein  Bistum  zu  Zeiten  der  beiden  Vorgänger  des  Königs 


*  Vgl.  E.  Per  eis,  Die  kirchl.  Zehnten  71  ff.,  Ein  Versuch  des  Klosters  Tegern- 
see,  in  ähnlich  bevorzugte  Stellung  gegenüber  dem  Bischof  von  Freising  zu  gelangen, 
war  auf  der  Synode  von  804  glatt  abgelehnt  worden.     Pereis  S.  89ff. 

^  Dies  muß  ich  gegenüber  Philip pi  hervorheben,  der  aus  den  Osnabrücker 
Fälschungen  auf  eine  Wiederaufnahme  des  Streites  schließt  und  diese  Vermutung 
zum  Ausgangspunkt  nimmt,  um  einen  Teil  der  Fälschungen  in  der  Zeit  des  Bischofs 
Ludolf  (969—978)  unterzubringen. 

^  Zwei  Untersuchungen  zur  Geschichte  der  päpstl.  Territorial-  und  Finanzpolitik. 
Mitteil.  d.  Instituts  f.  österr.  G.-F.,  4.  Erg.-Bd.,  S.  82. 


Forschungen   zu  Karolinger  Diplomen  225 

rroßes  Unrecht  in  der  Entziehung  der  Zehnten  durch  die  Klöster 
Kqrvey  und  Herford  geschehen  sei.^  Aber  schon  Brandi  hat  die 
Sicherheit  dieses  Schlusses  mit  Recht  bezweifelt;^  denn  die  Haltung 
jer  beiden  ersten  Salier  wird  in  derselben  Urkunde  mit  den  Worten 
entschuldigt:  „forsitan  in  hac  causa  ignoranter  delinquentium".  Zur 
3ildung  eines  bestimmteren  Urteiles  genügt  es,  die  Urkunden  der 
jeiden  Könige,  durch  die  sie  tatsächlich  die  Rechte  und  Ansprüche 
<orveys  und  Herfords  in  vollem  Umfange  bestätigten,  nach  Zeit 
and  Ausstellungsort  vorzunehmen:  Konrad  II.  Korvey  1025  Januar  10, 
Soslar  1025  Januar  22,  Heinrich  III.  Goslar  1039  September  3,  Her- 
ord  1040  Dezember  22.  Die  Urkunden  sind  in  den  ersten  Monaten 
and  Jahren  der  beiden  Regierungen  und  zum  Teil  bei  zufälligem 
Aufenthalt  in  den  betreffenden  Klöstern  ausgestellt.  Kein  Wort  in 
lihnen  deutet  darauf,  daß  sie  auf  Grund  eines  Prozesses  erlassen 
sind,  den  wir  auch  zeitlich  gar  nicht  unterzubringen  vermöchten. 
Sie  gehören  zur  langen  Reihe  einfacher  Bestätigungen,  in  denen  seit 
Konrad  I.  (DK.  1.14)  allerdings  auch  wesentliche  Bestimmungen  der  zu 
Siegreicher  Anerkennung  gebrachten  Korveyer  Fälschungen  mit  unter- 
liefen, landläufiger  Erneuerungen  vorgelegter  Vorurkunden,  bei  denen 
weder  durch  den  König  noch  durch  die  Reichskanzlei  irgend  eine  ernste 
Machprüfung  der  neubestätigten  Rechte  und  Vergünstigungen  erfolgte. 

Von  einer  halbhundertjährigen  Dauer  des  Zehntstreites  kann  daher 
q:ar  keine  Rede  sein.  Tatsächlich  war  es  erst  Bischof  Benno  IL,  der 
sich,  als  erster  seit  Egilmar,  die  Einleitung  und  Durchführung  des 
Prozesses  erbat,  ja  ertrotzte  und  erzwang. 

So  berichtet  die  Vita  Bennonis,  deren  echter,  erst  seit  wenigen 
Jahren  bekannter  Fassung  wir  ganz  neue  Aufschlüsse  über  diese  Frage 
verdanken.  Der  Zeitpunkt  war  günstig  gewählt.  In  den  Tagen  fast 
allgemeinen  Abfalles  zählte  Benno  von  Osnabrück  zu  den  wenigen  Ge- 
treuen und  vertrauten  Ratgebern  des  Königs.  Er  durfte  ebenso  be- 
stimmt auf  die  Erkenntlichkeit  des  Königs  hoffen,  wie  sich  sein 
Gegner,  der  zu  den  Anhängern  Rudolfs  von  Schwaben  zählende  Abt 
von  Korvey,  jede  Rücksichtnahme  verscherzt  hatte.  Andererseits  schien 
auch  eine  synodale  Behandlung  der  Angelegenheit  viel  aussichtsreicher 
als  zu  Egilmars  Zeiten;  denn  es  ging  damals  ein  starker  Zug  durch 
den  Episkopat,  die  bevorrechtete  Stellung  einzelner  Klöster  in  der 
Zehntfrage  zu  brechen.  Seit  der  Mitte  des  11.  Jahrhunderts  kämpften 
Halberstadt  und  Mainz  gegen  die  Zehntrechte  von  Hersfeld  und  Fulda, 


^  Vgl.  weiter  unten  den  Wortlaut  dieser  Urkunde. 

^  Westdeutsche  Zeitschr.  19,  149  Anm.  74  „daß  sich  ein  offener  Streit  seit 
Konrad  II.  hingezogen  hätte,  kann  ich  aus  diesem  Satze  nicht  mit  Scheffer- 
Boichorst  folgern. 

Afü    II  15 


k 


226  ^-  Tangi 

und  1073  entschied  die  Erfurter  Synode,  zu  deren  wenigen  Teilnehmern 
gerade  Benno  zählte,  den  Thüringer  Zehntstreit  in  einer  Weise,  welche 
die  Vorrechte  der  Klöster  zwar  nicht  völlig  beseitigte,  aber  doch  we-' 
sentlich  einschränkte.  Es  ist  kein  Zufall,  daß  wir  aus  dem  unmittel- 
bar folgenden  Jahre  dem  ersten  Zeugnis  über  die  Aufrollung  des 
Osnabrücker  Zehntstreites  begegnen.  Am  18.  November  1074  beauf- 
tragte Papst  Gregor  VII.  den  Erzbischof  Anno  von  Köln,  die  Streitsache 
zu  untersuchen  und  zu  entscheiden  oder  die  Parteien  zur  nächsten 
Fastensynode  nach  Rom  zu  laden. ^  Denn  Benno,  der  kluge  Mann, 
führte  seinen  Streit  gleichzeitig  an  den  beiden  maßgebenden  Stellen: 
in  Rom,  obwohl  er  auch  hier  von  Anfang  an  der  Angreifer  war, 
wesentlich  zur  Deckung,  um  Schachzügen  des  Gegners  zuvorzukommen, 
am  Königshofe  zur  eigentlichen  Entscheidung.  Und  diese  Entscheidung; 
sollte  dem  Ehrgeizigen  noch  Höheres  eintragen,  als  nur  die  unge- 
schmälerten Zehnten  seiner  Diözese.  Als  erster  trug  er  sich  mit  dem 
kühnen  Plan,  die  Befreiung  von  dem  drückenden  Regalien-  und  Spolien- 
recht zu  erreichen.  Aber  die  Festigkeit  Heinrichs  IV.  zwang  ihn,  diesemi 
Traum  zu  entsagen  und  sich  mit  dem  Erreichbaren  zu  begnügen. 
Hier  hat  er  sein  Ziel  in  der  Tat  erreicht.  Während  der  Kurialprozeß 
sich  jahrelang  hinschleppte  —  noch  1081  erließ  Gregor  VII.  ein  neues 
üntersuchungsmandat  an  Bischof  Altmann  von  Passau  (Philippi  1,  165 
Nr.  192)  — ,^  fällte  Heinrich  IV.  1077  in  der  Tat  die  gewünschte  Ent- 
scheidung und  wiederholte  sie  1079  in  feierlicher  Weise. 

Und  daß  Heinrich  IV.  die  Zehnten  damals  Osnabrück  zusprach, 
ist  uns  ganz  unabhängig  von  den  darüber  ausgefertigten  drei  Urkunden  > 
sicher  bezeugt.  Aus  den  achtziger  Jahren  des  11.  Jahrhunderts  be- 
sitzen wir  noch  ein  Originalmandat,   das  sich  als  Ausführungsbestim- 


*  Philippi,  Osnabrücker  ÜB.  1,  147  Nr.  172.  Anno  von  Köln  war  für  Benno, 
der  durch  einige  Zeit  als  Coadjutor  Annos  gewirkt  hatte  (Vita  Bennonis.  c.  10  „totius 
episcopatus  vicedominum  fecit"),  kein  unwillkommener  Richter. 

^  Vgl.  darüber  Tangl,  Die  Vita  Bennonis  und  das  Regalien-  und  Spolienrecht, 
NA.  33,  75 — 94.  Auf  Zweifel  an  der  Richtigkeit  meiner  Deutung,  die  von  Bruno 
Krusch  geäußert  wurden,  gehe  ich  unten  in  einem  Exkurs  näher  ein. 

*  Wohl  behaupten  die  Vita  Bennonis  vorsichtig  und  die  von  ihr  abhängigen 
Iburger  Annalen  ausdrücklich,  daß  auch  Gregor  VII.  die  Entscheidung  zugunsten 
Osnabrücks  urkundlich  bestätigt  habe  (V.  B.  p.  22  accepta  a  rege  licentia  Romam 
profectus  papam  illum  adiit  et  quicquid  super  decimationis  illius  recognitione  statue- 
rat, apostolici  illius  assensus  et  auctoritas  Romana  firmabat.  Ann.  Iburg.  Osna- 
brücker GQ.  1,  183:  Ipse  vero  episcopus  Benno  prudenti  oculo  se  undique  circum- 
spiciens,  etiam  auctoritatem  pape  Hildebrandi  super  hoc  expetiit,  quique  illi  litteras 
sigillo  suo  signatas  cum  benedictione  apostolica  dedit),  doch  vermag  ich  diesen 
Nachrichten,  gleich  Löffler,  tiistor.  Jahrb.  24,  302—307,  mangels  eines  ander- 
weitigen festen  Anhaltspunktes  ein  entscheidendes  Gewicht  nicht  beizulegen. 


Forschungen   zu  Karolinger  Diplomen  •  227 

imung  zu  der  gefällten  Entscheidung  darstellt^  Das  Siegel  ist  ab- 
igefallen, die  Schrift  aber  läßt  sich  als  sichere  Kanzleihand  feststellen.^ 
[Nicht  minder  beweiskräftig  sind  die  von  der  Forschung  auch  längst 
[herangezogenen  Zeugnisse  aus  dem  gegnerischen  Lager.  Zu  Anfang 
|.des  12.  Jahrhunderts  (1103—1106)  klagt  ein  Korveyer  Mönch  von  be- 
istimmten Zehnteinkünften,  daß  sie  seinem  Kloster  durch  Gewalt  und 
Trug  entzogen  seien.^  Um  die  Mitte  des  12.  Jahrhunderts  ging  Abt 
Wibald  von  Korvey  daran,  das  Verlorene  zurückzuerobern.  Daß  er 
seine  starke  persönliche  Stellung  zum  eigenen  und  zum  Vorteil  seines 
Klosters  kräftig  auszunutzen  verstand,  davon  hatte  er  schon  mehr  als 
eine  Probe  abgelegt.  Jetzt  focht  er  auch  die  ungünstige  Entscheidung 
in  der  Zehntfrage  an  und  befand  sich  dabei  an  beiden  Höfen  in  aus- 
sichtsreicher Stellung.  Sowohl  Papst  Hadrian  IV.  wie  Kaiser  Friedrich  I. 
schienen  sehr  geneigt,  dem  Wunsche  Wibalds  zu  willfahren.  Aus  der 
Korrespondenz,  die  darüber  in  der  Wibaldinischen  Briefsammlung  über- 
liefert ist,  interessiert  uns  wesentlich  zweierlei:  erstens  das  offene  Zu- 
geständnis, daß  diese  Zehnten  seit  etwa  60  Jahren  Osnabrück  zuge- 
sprochen seien,  und  dann  die  genaue  Umschreibung  des  Streitobjektes: 
|Es  handelte  sich  um  die  nordländisghen  Taufkirchen  zu  Freren,  Meppen, 
j  Aschendorf,  Löningen  und  Visbeck,*  also  um  große  zusammenhängende 
!  Gebiete,  wenn  auch  die  Klage  Egilmars,  daß  sich  etwa  drei  Viertel  der 
Zehnten  seines  Bistums  in  den  Händen  der  Klöster  befänden,  übertrieben 
iwar.^  Mit  der  Untersuchung  der  Angelegenheit  hatte  der  Kaiser  den 
Erzbischof  Wichmann  von  Magdeburg  betraut.  Mit  Mühe  gelang  es 
dem  Bischof  von  Osnabrück,  eine  rasche  Entscheidung,  der  Wibald 
zudrängte,  zu  verhindern.    Tatsächlich  war  mit  dem  kleinen  Aufschub 


^  Philip pi  1,  .172  Nr.  200  und  Lichtdruckfaksimile  im  Anhang.  Die  Einreihung 
I  des  undatierten  Stückes  ergibt  sich  aus  dem  Kaisertitel  Heinrichs  IV.  und  dem  Aus- 
i  gang  Bennos  auf  die  Jahre  1084 — 1088. 

^  Von  der  Zuverlässigkeit  der  Schriftbestimmung,  die  Philippi  vornahm,  kann 
sich  jedermann  durch  eigene  Nachprüfung  überzeugen.  Das  Mandat  rührt  in  der 
Tat  von  gleicher  Hand  her  wie  das  von  Adalbero  C  geschriebene  Diplom  Stumpf 
2784,  Kaiserurk.  in  Abbild.  II,  24.  Adalbero  C  war  in  den  Jahren  1071—1084  einer 
der  tätigsten  Schreiber  in  der  Kanzlei  Heinrichs  IV.  Vgl.  über  ihn  und  die  bedeutende 
Zahl  der  von  seiner  Hand  herrührenden  Originale  Bresslau,  KüiA.  Text  S.  35. 

^  Wilmans  1,  336.    Cum  decimationem  Hosenbrungensem  haberemus.    His  ergo 
Omnibus  hinc  vi  aut  fraude  ablatis,   quae  nunc  ad  monasterium  Corbeiensium  per- 
1  tinent,  posteris  scire  volentibus  innotescere  studuimus. 

*  Wilmans  1,  381.  Ich  verweise  im  übrigen  ganz  auf  diese  und  ältere  Dar- 
stellungen und  beschränke  mich  bei  Verfolgung  dieser  letzten  Phase  des  Streites  auf 
das  Allernotwendigste. 

^  Querimonia  Egilmari  S.  53:  ut  decimarum,  quibus  tantummodo  episcopatus 
in  Saxonia  sunt  constituti,  non  nisi  quarta  pars  ad  Osnaburgensem  ecclesiam 
in  honore  sancti  Petri  principis  apostolorum  consecratam  inserviat. 

15* 


I 


228  M.  Tangl 

alles  gewonnen.  Wibald  unternahm  eine  Gesandtschaftsreise  nach 
Konstantinopel,  von  der  er  nicht  mehr  zurückkehrte.  Die  Stürme  aber, 
die  bald  darauf  über  Reich  und  Kirche  hereinbrachen,  ließen  den  Os- 
nabrücker Zehntstreit  erst  in  den  Hintergrund  treten  und  bald  über- 
haupt in  Vergessenheit  geraten.  Dem  kühnen  Vorstoß  Bennos  war, 
damit  der  dauernde  Erfolg  gesichert. 

Den  wesentli<:hen  Rechtsinhalt  der  Urkunden  Heinrichs  IV.  ver- 
bürgt uns,  wie  gesagt,  das  Zugeständnis  aus  gegnerischem  Lager. 
über  die  letzte  und  feierlichste  Ausfertigung  in  Goldschrift,  wenn  auch 
nicht  auf  Purpurpergament,  Jostes  XXIII.,  ist  das  Zeugnis  der  Vita 
Bennonis  längst  bekannt.-^  über  die  erste  Urkunde  XXI  bringt  uns 
die  echte  Fassung  der  Vita  eine  neue  willkommene  Angabe,  die  Da- 
tierung: Actum  est  hoc  apud  Radisponam  Bavariae  urbem  anno  donii- 
nicae  incarnationis  MLXXV,  Das  Jahr  ist  falsch,  aber  auch  im  Original 
steht,  deutlich  erkennbar,  nur  diese  Zahl.  Durch  einen  Einriß  im 
Pergament  sind  die  beiden  Einer  zwar  nicht  ganz  verschwunden,  aber 
erst  durch  Aufbiegen  der  Ränder  der  Rißstelle  zu  erkennen.  Es  ist 
kaum  zweifelhaft,  daß  die  Urkunde  schon  unter  Benno  diese  kleine 
Verletzung  erlitten  hat,  so  daß  uns  gerade  das  daraus  entsprungene 
Versehen  Norberts  von  Iburg  zu  einem  Leumundszeugnis  für  Alter  und 
ürsprünglichkeit  dieser  Ausfertigung  wird.^ 

Damit  werden  wir  an  die  Kritik  der  drei  Urkunden  selbst  heran- 
geführt. XXI  ist  eine  wahre  Mosaikarbeit,  die  in  ihrem  Aufbau,  wie 
wir  gleich  sehen  werden,  im  engsten  Zusammenhang  mit  den  vor- 
gelegten ~  gefälschten  —  Urkunden  steht.  Es  ist  daher  ein  von  dem 
bisher  entwickelten  grundverschiedenes  Bild,  das  uns  hier  über  den 
Verlauf  des  Zehntstreites  vorgetragen  wird.  Danach  bekam  Osnabrück  seit 
zwei  Jahrhunderten  eigentlich  schon  immer  Recht,  gelangte  aber  merk- 
würdigerweise niemals  in  den  Besitz  der  Zehnten.  XXII  wiederholt  die 
Entscheidung  unter  freierer,  von  den  Vorurkunden  nur  wenig  beeinflußter 
Darlegung  des  Streites  in  alter  und  neuer  Zeit  und  unter  Anfügung 
gewisser  von  der  Osnabrücker  Kirche  zu  leistender  Gegendienste;  und 
XXIII,  die  Prunkausfertigung,  ist  eine  Zusammenfassung  beider  früheren 
Ausfertigungen,  so  daß  in  der  Hauptsache  XXI  benutzt  und  im  zweiten 


*  ed.  Bresslau  in  SS.  rr.  Germ.  p.  21:  rex  huius  rei  seriem  continentem 
aureis  litteris  —  ipse  tarnen  manu  propria  Signum  infigens  —  chartulam  iussit  con- 
scribi  regio  insignitam  sigillo.  .  .  .  Quod  chirographum  in  Osnabrugensi  ecclesia 
cura  tanto  diligentiore  servatur,  quantum  contra  omnes  irruptiones  et  tentationes 
inconvulsus  semper  et  firmissimae  munitionis  murus  habetur. 

*  Die  Beobachtung  hat  schon  Bresslau,  MA.  28,  120  Anm.  1,  gemacht  und 
richtig  verwertet.  Daß  der  Biograph  auch  die  Einleitung  der  Urkunde  gekannt  hat 
und  auf  sie  anspielt,  habe  ich  an  anderer  Stelle,  NA.  33,  79,  nachgewiesen. 


Forschungen   zu  Karolinger  Diplomen  229 

Teil  die  Bestimmung  aus  XXII  über  die  Gegenleistung  Osnabrücks  ein- 
gefügt ist. 

Hinsichtlich  der  Schrift  haben  das  Bekanntwerden  der  Originale 
und  ihre  Veröffentlichung  in  Lichtdrucken  nicht  die  sichere  Entschei- 
,dung  gebracht,  auf  die  man  wohl  hätte  hoffen  können.  Jede  der  drei 
Urkunden  XXI— XXIII  ist  von  anderer  Hand  geschrieben;  es  gelang  mir 
aber  nicht,  auch  nur  eine  von  ihnen  mit  Hilfe  anderer,  allerdings  nicht 
zahlreicher,  Faksimiles  von  Urkunden  Heinrichs  IV.  bestimmt  festzu- 
legen. Dem  Gesamtcharakter  und  auch  einzelnen  Merkmalen  zeitgenös- 
sischer Diplomschrift  entspricht  unter  den  dreien  XXI  am  besten. 
Obwohl  gerade  hier  Fassung  und  Inhalt  mit  Sicherheit  einen  Empfänger- 
entwurf annehmen  lassen,  wäre  man  versucht,  für  die  Reinschrift  eine 
Kanzleihand  zu  vermuten.  Die  Prunkausfertigung  XXIII  nähert  sich, 
wie  ähnliche  Erzeugnisse  dieser  Art,  auf  halbem  Wege  der  Buchschrift; 
die  Schriftvergleichung  ist  hier  schon  dadurch  beeinträchtigt;  an  dem 
streng  zeitgemäßen  Charakter  der  Schrift  kann  ich  aber  nicht  zweifeln. 
Am  wenigsten  Vertrauen  erweckt,  wie  ich  nicht  verschweigen  will,  die 
mittlere  Urkunde  XXII.  Der  erste  Eindruck  ist  hier  der,  daß  man  nicht 
eine  Schrift  aus  der  zweiten  Hälfte  des  11.,  sondern  aus  der  ersten 
Hälfte  des  12.  Jahrhunderts  vor  sich  zu  haben  meint.  Am  auffälligsten 
ist  das  Chrismon,  das  in  dieser  Art  als  reines,  nur  durch  Wellenlinien 
gefülltes  C,  ohne  Ansatzlinien  oben  und  unten,  überhaupt  auf  keinem 
i  Faksimile  eines  Salierdiploms  zu  belegen,  für  die  Stauferzeit  aber 
■  geradezu  charakteristisch  ist.  Ein  Ausweg  bliebe  immer  noch  durch  die 
Annahme  offen,  daß  die  Urkunde,  deren  Fassung,  wie  wir  noch  sehen 
werden,  bestimmt  auf  Kanzleikonzept  weist,  zur  Reinschrift  einem  der 
Kanzlei  vielleicht  ganz  fernstehenden  Schreiber  zugewiesen  wurde,  dessen 
Hand  durch  ihre  fortgeschrittenere  Schriftentwicklung  einen  jüngeren 
Eindruck  hervorruft.  Das  letzte  Wort  werden  hier  erst  auf  Grund 
des  gesamten  Vergleichsmaterials  die  Kollegen  von  der  Abteilung  der 
Salierdiplome  zu  sprechen  haben.  Ich  halte  eine  Lösung  für  nicht  aus- 
geschlossen, die  dieser  Urkunde  die  Originalität  abspricht  und  ihrer 
Überlieferungsart  nur  die  einer  Nachzeichnung  in  Diplomform  zuerkennt, 
ohne  deshalb  ihre  Echtheit  zu  bestreiten.  Das,  wie  wir  gleich  sehen 
werden,  sicher  echte  Siegel  müßte  dann  vom  Original  gelöst  und  auf 
der  Nachzeichnung  neu  befestigt  sein.  Solche  Eingriffe  sind  beim 
aufgedrückten  Wachssiegel  auch  bei  sorgsamster  Nachprüfung  nur  in 
Ausnahmefällen  sicher  zu  erkennen,  wofür  unter  den  Osnabrücker  Ur- 
kunden die  Fälschungen  IV  und  VII  geradezu  klassische  Zeugen  abgeben. 
Auf  ungleich  besser  gesichertem  Boden  fußt  hier  die  Kritik  gegen- 
über dem  Hängesiegel  wie  bei  der  Goldbulle  von  XXIII.  Hier  war  es 
unvergleichlich  schwieriger,  nachträgliche  Eingriffe  vor  dem  scharf  zu- 


I 


230  M.  Tangl 

sehenden  Auge  zu  verbergen.  Selbst  ein  kaum  erreichter  Meister- 
fälscher wie  der  des  österreichischen  Privilegium  majus  hat  sich  hier, 
wie  ich  nebenbei  bemerke,  entlarvt.  Bei  dem  Versuche  der  Ablösung 
der  Goldbulle  vom  echten  Minus  brach  ein  Stück  des  Seitenrandes 
aus  und  mußte  durch  Anlöten  eines  Goldplättchens  ersetzt  werden., 
Bei  XXIII  aber  vermag  auch  schärfste  Nachprüfung  einen  solchen 
Eingriff  nicht  zu  erkennen,  und  die  Befestigung  dieser  Goldbulle  kann 
daher  mit  viel  höherer  Zuversicht  als  bei  den  aufgedrückten  Wachs- 
siegeln von  XXI  und  XXII  als  ursprünglich  verbürgt  werden. 

Es  bleibt  noch  die  Untersuchung  der  Siegel  selbst. 

Das  Siegel  in  XXI  ist  nur  teilweise,  das  in  XXII  vollständig  und 
vorzüglich  erhalten;  und  es  läßt  sich  mit  Sicherheit  feststellen,  daß 
das  Siegel  auf  beiden  Diplomen  dasselbe  und  mit  dem  vierten  in  den 
Jahren  1071—1081  gebrauchten  Stempel  des  Königssiegels  Heinrichs  IV. 
identisch  ist.^  Nicht  überflüssig  ist  ferner  die  Beobachtung,  daß  nach 
den  Raumverhältnissen  in  XXI  die  Besiegelung  bestimmt  den  letzten 
Akt  der  Beurkundung  gebildet  hat,  die  Hinausgabe  eines  besiegelten 
Blanketts,  an  die  man  bei  XXI  an  sich  wohl  denken  könnte,  daher  ganz 
ausgeschlossen  ist.  Nicht  ebenso  einfach  gestaltet  sich  die  Prüfung  der 
schön  erhaltenen  Goldbulle  von  XXIII.  Wir  kannten  das  Vorkommen 
einer  Königs-Goldbulle  Heinrichs  IV.  bisher  nur  an  zwei  Diplomen  für 
Adalbert  von  Bremen  vom  6.  September  und  19.  Oktober  1065;  als 
drittes  Beispiel  tritt  jetzt  die  Osnabrücker  Urkunde  hinzu,  aber  ihre 
Bulle  stimmt  nicht  mit  der  an  den  beiden  Adalbert-Diplomen.  Der 
Gesamtcharakter  von  Avers-  und  Reversseite  ist  derselbe,  aber  die 
Maße  und  Einzelheiten  der  Darstellung  weichen  ab.^  Der  Durchmesser 
von  XXIII  ist  fast  um  3  mm  größer.  Aber  auch  andere  Verschieden- 
heiten lassen  sich  besonders  auf  dem  Revers,  der  Aurea  Roma,  fest- 
stellen. Die  beiden  Seitentürme  sind  in  XXIII  höher  und  stärker.  Da- 
gegen ist  das  unterste  Geschoß  viel  niedriger.  Verschieden  ist  auch 
die  Stellung  der  Buchstaben  im  zweiten  Teil  der  Legende.  Während 
das  V  von  CAPVT  in  der  Bremer  Bulle  genau  in  der  Mitte  unten 
steht,  ist  es  in  XXIII  bereits  etwas  nach  (heraldisch)  rechts  gerückt,  ^~ 
und  diese  Verschiebung  teilt  sich  allen  folgenden  Buchstaben  mit;  so 
steht  M  in  der  Bremer  genau  an  der  Ecke  der  Mauerbasis  rechts,  in 


^  Vgl.  jetzt  Posse,  Die  Siegel  der  deutschen  Kaiser  und  Könige,  I,  Taf.  16 
Nr.  4.  Zur  Vergleichung  muß  die  Sonderreproduktion  des  Siegel  von  XXII  bei  Jostes 
Taf.  XXIV  benutzt  werden,  da  die  Reproduktion  von  XXII  und  XXIII  etwas  ver- 
kleinert ist. 

^  Vgl.  die  Abbildungen  bei  Jostes  XXIV- und  die  der  Bremer  Goldbulle  bei 
Posse  Taf.  16  Nr.  5— 6.  Auf  Taf.  17  Nr.  1—2  hat  Posse  die  Osnabrücker  Gold- 
bulle aufgenommen,  auf  deren  Neuheit  ich  ihn  aufmerksam  gemacht  hatte. 


Forschungen  zu  Karolinger  Diplomen  231 

der  Osnabrücker  deutlich  schon  über  die  Ecke  hinaus,  das  D  von 
ImvNDI  dort  genau  in  gleicher  Höhe  mit  der  Turmkuppel,  hier  höher 
als  sie.  Die  Verschiedenheit  der  Osnabrücker  Goldbulle  von  der  bisher 
allein  bekannten  steht  daher  außer  Frage.  Fälschung  wird  in  solchem 
Falle  nicht  gerade  wahrscheinlich.  Sie  müßte,  wie  die  Übereinstimmung 
in  allen  Grundzügen  und  die  Schärfe  und  Feinheit  der  Ausführung 
ilehren,  mit  großer  Sorgfalt  und  Sachkenntnis  an  der  Hand  einer  echten 
'guten  Vorlage  hergestellt  worden  sein.  Wie  erklärt  sich  bei  einem 
solchen  Nachahmungskünstler  dann  aber  der  auffällige  Unterschied  in 
der  Größe?  Vergessen  wir  nicht,  daß  gerade  beim  Königssiegel  Hein- 
richs IV.  eigentümliche  Verhältnisse  obwalten.  Der  König  war  sechs- 
jährig zur  Regierung  gekommen;  das  brachte  man,  höchst  naiv,  dadurch 
iäußerlich  zum  Ausdruck,  daß  man  auf  ihn  zunächst  einen  ganz  kleinen 
Siegelstempel  schneiden  ließ  und  diesen  in  den  folgenden  Jahren 
lunter  mehrfacher  Änderung  stets  vergrößerte,  um  das  Wachstum  des 
jungen  Königs  anzudeuten.  So  brachte  es  Heinrich  IV.  während  seiner 
Königszeit  auf  4  Siegelstempel,  die  sich  ihrem  Gebrauche  nach  in  den 
Jahren  1060,  1066  und  1071  ablösten.^  Zwischen  der  Verwendung 
der  ersten  und  zweiten  Goldbulle  liegen  fast  14  Jahre;  innerhalb  dieser 
Zeit  hatte  der  Stempel  für  das  Wachssiegel  schon  zweimal  gewechselt. 
Ist  es  da  irgend  auffällig  und  nicht  im  Gegenteil  sehr  erklärlich,  daß 
man  sich  1079  auch  für  die  Goldbulle  eines  neuen  Stempels  bediente, 
dessen  wesentlichste  Verschiedenheit  in  seiner  bedeutenderen  Größe 
bestand?  So  wird  gerade  die  Bulle  zum  vielleicht  zuverlässigsten 
Merkmal  für  die  Echtheit  der  Prunkausfertigung  XXIII. 

Auch  gegen  Rekognition  und  Datierung  der  drei  Urkunden  erheben 
sich  Schwierigkeiten.  Die  Rekognition  lautet  in  XXI  und  XXII  Gebe- 
hardus  cancellarius  vice  Sigefridi  archiepiscopi  recognovit;  in  XXIII  ist 
das  archiepiscopi  durch  archicancellarii  ersetzt.  Siegfried  von  Mainz 
hatte  gerade  im  Laufe  des  Jahres  1076  seinen  Abfall  von  Heinrich  IV. 
vollzogen  und  wurde  daraufhin  seines  Erzkanzleramtes  zwar  nicht 
ausdrücklich  entsetzt,  dieses  daher  auch  nicht  an  einen  neuen  Inhaber 
weiterverliehen,  wohl  aber  stillschweigend  für  verlustig  erklärt  und 
daher  von  da  ab  nicht  mehr  als  Erzkanzler  geführt.  In  sicher  be- 
glaubigten Urkunden  reicht  die  Rekognition  vice  Sigefridi  archicancel- 
larii nur  noch  bis  zum  13.  August  1077,  während  von  da  ab  der 
Kanzler  Gebhard  (IL),  der  erst  im  Juni  1077  sein  Amt  angetreten  hatte, 


^  Auf  die  ganz  merkwürdige  Art  dieser  Siegel  und  ihres  höchst  naiven  Aus- 
drucksmittels der  Porträtierung  hat  zuerst  Bresslau,  NA.  6,  570 f.  in  seiner  Mono- 
graphie über  die  Siegel  der  Salischen  Kaiser  hingewiesen.  Posse  vermag  jetzt 
nicht  nur  drei,  sondern  vier  verschiedene  Typen  festzustellen;  vgl.  die  sehr  lehr- 
reiche Nebeneinanderstellung  auf  Taf.  16  Nr.  1 — 4. 


v; 

I 


232  M.  Tangl 

selbständig  ohne  Nennung  eines  obersten  Kanzleiinhabers  rekognoszierte 
Gundlach  suchte  sich  hier  so  zu  helfen,  daß  er  XXI  als  gefälscht  er- 
klärte, XXII  allerdings  als  echte  Kanzleiausfertigung  gelten  ließ,  aber 
annahm,  daß  sie  bis  einschließlich  zur  Rekognition  schon  zur  Zeit 
der  Verhandlungen  des  Wormser  tioftages  (Ende  Oktober  bis  Anfang 
November  1077)  fertiggestellt  worden  sei.  Bis  zu  diesem  Zeitpunkte 
glaubt  er  nämlich  die  Nennung  Siegfrieds  noch  decken  zu  können.  Der 
Zwiespalt  sei  dann  erst  durch  die  später  beigefügte  Datierung  in  die 
Urkunde  gebracht  worden.  Wäre  die  Originalität  von  XXII  sicher, 
dann  würde  die  Widerlegung  dieser  Annahme  durch  den  Hinweis  er- 
ledigt sein,  daß  sich  die  ganze  Urkunde  als  aus  einem  Guß  geschrieben 
darstellt.  Bei  den  Bedenken,  die  sich  gegen  die  Originalität  der  Urkunde 
erheben,  bleibt  hier  tatsächlich  noch  immer  der  Ausweg,  daß  das,  was 
jetzt  einheitlich  scheint,  in  der  Vorlage  nicht  ebenso  einheitlich  war. 
Aber  wir  bedürfen  dieser  ganzen  Grübeleien  über  die  wirkliche  oder 
mögliche  Beschaffenheit  der  Urschrift  von  XXII  gar  nicht.  Der  Text 
selbst  erbringt  den  von  Gundlach  übersehenen  klaren  Beweis,  daß  von 
seiner  Fertigstellung  im  Herbst  1077  gar  nicht  die  Rede  sein  kann, 
da  die  am  14.  Dezember  1077  in  Rom  verstorbene  Kaiserin  Agnes 
schon  zu  den  Toten  gezählt  wird.^  Ihr  Hinscheiden  kann  am  Hofe 
frühestens  um  Mitte  Januar  1078  bekannt  geworden  sein. 

Aber  auch  wenn  der  Weg  hier  nicht  von  vornherein  veriegt  wäre, 
hätte  uns  Gundlachs  Annahme  nicht  aus  den  Schwierigkeiten  helfen 
können.  Die  Rekognition  hätte  dann  so  lauten  müssen,  wie  man  sie  in 
der  Reichskanzlei  seit  langem  allein  kannte:  vice  Sigefridi  archicancel- 
larii.  Der  Ausnahmezustand  tritt  in  dem  Titel  archiepiscopi  von  XXI 
und  XXII  deutlich  hervor.  Es  ist  ein  Kompromiß,  das  hier  versucht 
ist,  den  Mainzer  zwar  noch  zu  nennen,  aber  nur  mit  seiner  kirchlichen 
Würde,  den  aus  dem  Hofamte  hergeleiteten  Titel  aber  zu  unterdrücken. 
Dieser  vermittelnde  Lösungsversuch  erklärt  sich  aus  der  Empfänger- 
ausfertigung XXI,  der  Persönlichkeit  Bennos^  und  dem  Schwanken  der 
Verhältnisse  in  dem  Jahre  nach  dem  Abfall  des  Mainzers  sehr  gut. 
In  XXII  ist  die  Rekognition  einfach  von  XXI  übernommen.  Viel  auf- 
fälliger ist  dann  die  Wiederkehr  des  alten  Erzkanzlertitels  in  der  Prunk- 
ausfertigung.   Die  Erklärung  liegt  wohl   darin,  daß  der  Chrysograph, 


^  Bresslau,  ÜL  323,  350. 

^  Animabus  parentum  nostrorum,  id  est  avi  avie  matrisque  nostr^  imperatricis 
A(gnetis)  et  cari  patris  riostri  H(einrici)  imperatoris  augusti  fiat  remissio. 

Benno  wird  sich  der  Zustimmung  Siegfrieds  von  Mainz,  dem  er  selbst  in 
dessen  eigenem  Zehntstreit  beigestanden  hatte,  frühzeitig  versichert  haben  und 
mochte  nun  Wert  darauf  legen,  den  Namen  dieses  Mannes,  der  mittlerweile  auch 
beim  Papst  wieder  zu  Ehren  gekommen  war,  in  der  Urkunde  festzuhalten. 


Pf  Forschungen  zu  Karolinger  Diplomen  233 

;tatt  seine  Vorlage  an  dieser  Stelle  genau  abzuschreiben,   den   alten 
ijewohnheitsmäßigen  Amtstitel  einsetzte. 

Auch  die  Datierung  der  Urkunden  bereitet  Schwierigkeiten.  Die 
m  Kontext  der  Urkunden  erwähnte  Handlung  fand  auf  einem  Hoftag 
;u  Worms  statt,  und  zwar  nicht  auf  der  durch  ihre  Beschlüsse  wider 
jregor  VII.  berühmten  Wormser  Synode  vom  Jahre  1076,  an  die  zu 
lenken  man  durch  die  große  Zahl  der  anwesenden  Bischöfe  versucht 
;ein  könnte,^  sondern  auf  einem  tioftag,  der  Ende  Oktober  und  Anfang 
November  1077  zu  Worms  stattfand  und  den  Achtspruch  gegen  den 
;V\arkgrafen  Ekbert  II.  von  Meißen  fällte.^  Die  Ausfertigung  der  ersten 
Munde  fand,  wohl  infolge  der  unruhigen  Zeitverhältnisse,  erst  etwa 
:wei  Monate  später  statt;  sie  trägt  die  Datierung:  Data  III.  kl.  Jan. 
'ndict.  I.  anno  dominice  incarnationis  millesimo  LXXVII;  anno  autem 
-egni  domni  regis  Heinrici  quarti  XXI;  actum  Radispone;  in  [dei 
wmine]  feliciter  amen.  Das  Regierungsjahr  und  das  Inkarnations- 
ahr  bei  Annahme  seiner  Umsetzung  nach  Weihnachtsepoche  würden 
mm  30.  Dezember  1076  zusammenstimmen,  und  man  müßte  dann 
2rst  recht  an  die  bekannte  Wormser  Synode  und  nahe  um  Jahres- 
frist verzögerte  Beurkundung  denken.  Dem  widerspricht  aber  die 
erst  vom  Herbst  1077  an  mögliche  Indiktion  I  und  mehr  noch  das 
tinerar  des  Königs.  Um  die  Weihnachtszeit  1076  befand  sich  Hein- 
rich IV.  in  den  Bergen  von  Hochburgund ,  auf  dem  Wege  nach 
Canossa.  Es  bleibt  also  nur  unter  Annahme  von  Neujahrsepoche  und 
unterlassener  Umsetzung  des  Regierungsjahres  die  Einreihung  zum 
30.  Dezember  1077.  Heinrich  IV.  war  den  Rest  des  Jahres  1077  und 
die  ersten  Monate  1078  mit  Kämpfen  im  östlichen  Baiern  beschäftigt, 
die  er  nach  dem  Zeugnis  Bertholds  nur  durch  einen  ganz  kurzen 
Weihnachtsaufenthalt  in  Regensburg  unterbrach.  Dazu  würde  die 
Datierung  unserer  Urkunde  vorzüglich  stimmen,  wenn  dieser  Aufenthalt 
nach  Berthold  nicht  ein  zu  kurzer,  kaum  zwei  Tage  dauernder  gewesen 
wäre.^  Würde  unsere  Urkunde  irgend  einen  Anhaltspunkt  für  Nach- 
tragung des  Tagesdatums  bieten,  so  läge  die  Erklärung  einfach.  Das 
ist  aber  nicht  der  Fall.  So  bleibt  wohl  nur  der  Ausweg,  sich  gerade 
mit  Rücksicht   auf   unsere   Urkunde   vom   Glauben   an   die   wörtliche 


*  XXI:  Ibi  vero  XX  episcopis  X  abbatibus  ceterisque  quam  plurimis  clericis  ac 
laicis  presentibus;  in  XXII  sogar:  aderant  XX  aut  plures  episcopi.  Das  Dekret  der 
Wormser  Synode  vom  24.  Januar  1076  ist  von  26  Metropoliten  und  Bischöfen  unter- 
schrieben. Wie  bei  den  stürmischen  Verhältnissen  des  Jahres  1077  in  der  Eile 
20  Bischöfe  bei  Hof  aufgebracht  werden  konnten,  ist  mir  allerdings  zweifelhaft. 

^  Meyer  von  Kronau,  Jahrb.  Heinrichs  IV.  3,  68—69. 

^  SS.  5,  306:  Rex  autem  Heinricus  Ratisponae  biduo  tantum  vix  commorans 
iterum  ad  obsidionem  castelli  redibat. 


I 


234  M.  Tangl 

Richtigkeit  von  Bertholds  Meldung  loszusagen.^  Mit  einem  kurze 
Weihnachtsaufenthalt  Heinrichs  IV.  in  Regensburg  von  wenigen  —  nu 
nicht  wörtlich  von  zwei  —  Tagen  ist  die  Datierung  unserer  ürkund 
wohl  vereinbar,  und  das  spricht  sehr  zu  ihren  Gunsten.  Daß  übrigen 
zur  Behebung  von  Datierungsschwierigkeiten  die  Annahme  von  Fäl 
schung  den  letzten  befriedigenden  Ausweg  darstellt,  ist  seit  Ficker 
Beiträgen  zur  ürkundenlehre  allbekannt. 

Auch  die  Datierung  von  XXII  liegt  nicht  ganz  glatt:    Data  VI.  k. 
Febr.  indict.  II,  anno  dominice  incarnationis  millesimo  LXXVIII,  anm 
autem  regni  domni  Heinrici  regis  quarti  XXIII;  actum  Mogoncie;  feil 
citer  amen}    Auch  hier  herrscht  zunächst  ein  Zwiespalt  in  den  Jahres 
angaben,  da  Indiktion  und  Regierungsjahr  gegenüber  dem  Inkarnations 
jähr  übereinstimmend  auf  1079  weisen.    Nachdem  sich  schon  Wilmans 
—  dieser  allerdings  unter  der  unhaltbaren  Annahme  der  Jahresrechnun^ 
nach   Annunziationsstil   —   und    Gundlach*    für   1079   ausgesprocher 
hatten,   kehrten  Philippi   im   Osnabrücker   ürkundenbuch   und   Joste^ 
wieder  zur  Einreihung  zu  1078  zurück.     Und  doch  ist  sie  ganz  un 
möglich   und  unhaltbar.     Denn   am  27.  Januar  1078  befand  sich  de 
König  nicht  am  Rhein,  sondern  im  östlichen  Baiern,  Bischof  Bennc 
aber  als  Gesandter  seines  Königs  in  Italien.     Er  war  w^ahrscheinlicF 
unmittelbar  nach  der  Weihnachtsfeier  in  Regensburg   zusammen   mii 
Bischof  Theoderich  von  Verdun  nach  Rom  aufgebrochen,  um  die  Sache 
seines  Herrn  auf  der  Synode  zu  vertreten,  die  Gregor  VII.  für  Ende 
Februar  1078  anberaumt  hatte.    Auch  dies  spricht  für  die  Urkunde  XXI 
denn  es  mußte  Benno  alles  daran  liegen,  die  urkundliche  Beglaubigung 
der  Entscheidung  in  der  Zehntfrage  vor  dem  Antritt  seiner  Legation 
in  einer  ersten  Ausfertigung  erledigt  zu  sehen.     Das  Wirken  der  Ge- 
sandten in  Rom  war  wenigstens  teilweise  von  Erfolg  begleitet;  denn 
in  der  Erklärung,  mit  der  Gregor  VII.  am  3.  März  1078  die  Synode 
schloß,  unterblieb  ein  offenes  Eintreten  für  Rudolf  von  Schwaben  und 
eine  ausdrückliche  Verwerfung  Heinrichs.    Erst  nach  Bennos  Rückkehr 
konnte  seine  Angelegenheit  wieder  in  Fluß  kommen.    Die  Verbriefung 
erfolgte  diesmal  in  der  Kanzleiausfertigung  XXII,  die  nur  zum  27.  Ja-' 
nuar  1079   eingereiht   werden   kann   und   sich   hier   ins  Itinerar   aufs 

^  Zu  dieser  Lösung  gelangt   jetzt  auch  Meyer  von   Knonau,  Jahrb.  tlein- 
richs  IV.  4,  556ff.     Während  er  im  3.  Band  noch   die  Ergebnisse  Gund lach s  an- 
genommen hatte,  ließ  er  sie  nach  dem  Bekanntwerden  der  Originale  als  fortan  un-f 
haltbar  fallen.     Wertlos  ist  für  unsere  Frage  die  Monographie  Kilians  über  dasf 
Itinerar  Heinrichs  IV.,  weil  sie  einfach  auf  Gund  lach  verweist.  .  j 

*  XXII  actum  Mogoncie  durch  den  Siegelrand  gedeckt,  aber  nach  Hebung  des-| 
selben  zu  lesen. 

^  KU.  Westfalens  1,  354—355.  j 

*  a.  a.  0.  128  Anm.  2.  I 


Forschungen   zu  Karolinger  Diplomen 


235 


|este  einfügt.  Heinrich  IV.  hatte  Weihnachten  1078  in  Mainz  gefeiert, 
!/ar  dann  nach  Trier  gegangen,  wo  er  am  6.  Januar  1079  den  neuen 
rzbischof  Egilbert  investierte,  hielt  sich  dann  aber  nach  dem  Zeugnis 
lertholds  bis  in  die  Mitte  der  Fastenzeit  in  den  Rheingegenden  auf. 
■in  Aufenthalt  in  Mainz  am  27.  Januar  1079  ist  hier  also  zwanglos 
interzubringen.  Der  Fehler  im  Inkarnationsjahr  erklärt  sich  aus  dem 
0  häufigen  Versehen  in  der  Weglassung  einer  Einheit. 

Die  Datierung  der  Prunkausfertigung  XXIII:  Data  IIL  kl.  April, 
ndict  II,  anno  dominice  incarnationis  millesimo  LXXVIIII,  anno  autem 
egni  domni  regis  Heinrici  quarti  XXIII;  actum  Ratispone;  in  dei  nomine 
eliciter  amen  ist  in  Ordnung;  ihre  Angaben  stimmen  überein  zum 
lO.  März  1079,  und  damit  deckt  sich  ein  Aufenthalt  des  Königs  zu 
(egensburg,  wo  er  nach  Bertholds  Zeugnis  Ostern  (24.  März)  feierte. 

Nach  Erledigung  dieser  formalen  Fragen  gilt  es  jetzt,  den  Text 
^on  XXI  uns  vorzunehmen,  seinen  mosaikartigen  Aufbau  zu  verfolgen 
md  über  die  Frage  schlüssig  zu  werden,  was  er  an  gefälschten  Vor- 
irkunden  bereits  voraussetzt  oder  erst  später  selbst  wieder  beeinflußt 
lat.  Ich  gebe  daher  zunächst  in  Spaltendruck  links  den  Text  von  XXI 
md  rechts  die  in  Beziehung  zu  ihm  stehenden  Stellen  anderer  ür- 
lunden. 


f. 


(C.)  X  In  nomine  sanct^  et  individu^ 
binitatis.  Heinrims  divina  favente  cle- 
nentia  rex.  Si  querimonias  sacerdotum, 
]uas  nobis  de  necessitatibus  ^cdesiarum 
nbi  commissarum  obtulerint,  devote  ad- 
'enderimus  et  iusticiam  x  misericorditer 
llis  impetidendo  ad  finem  perduxerimus, 
oresentis  scUicet  et  ^tern^  felicitatis  pre- 
nia  exinde  mercari  liquido  confidimus. 

Idcirco  notum  esse  volumus  omnibus 
^anci^  dei  ^cclesi^  nostrisque  fidelibus 
oresentibus  scilicet  et  futuris ,  qualiter 
fidelis  noster  Osnebruggensis  episcopus 
secundüs  Benno  in  nostro  servitio  longo 
tempore  devotissimus  serenitatis  nostr^ 
clementiam  adiit  apostoli  preceptum  se- 
quens,  [ar]güend[o]  increpando  obsecrando 
et  iuventutem  nostram  non  pamm  incu- 
\sando,  querimoniam  faciens  se  suosque 
antecessores  nostrorum  antecessorum  sci- 
licet avi  nostri  Kuonradi  et  cari  patris 
nostri  bon^  memoria  Heinrici  imperatorum 
forsitan  in  hac  causa  ignoranter  delin- 
quentium  temporibus  multas  iniurias  et 
varias   oppressiones    de    potentibus    illius 


III.  Si  petitiones  sacerdotum,  quas 
nostris  auribus  pie  infuderint  de  necessita- 
tibus aecclesiarum  sibi  commissarum,  devoto 
animo  ad  effectum  perducimus,  hoc  nobis 
procul  dubio  tam  ad  salutem  presentis  vitae 
quam  et  ad  aeternae  beatitudinis  capacita- 
tem  profuturum  esse  confidimus.    Idcirco 

IV.  omnibus  fidelibus  sanctae  dei  ec- 
clesiae  nostrique  praesentibus  scilicet  et 
futuris  notum  sit,  qualiter  vir  venerabilis 
Osnebruggensis  ecclesiae  episcopus  nomine 
Egibertus 

serenitatis  nostrae   clementiam  apostoli 
preceptum  sequens  arguendo  increpando  ob- 
secrando et  iuventutem  nostram  non  purum 
incusando  adiit  querimoniam  faciens 
VII  se  suosque 


multa  mala   et   varias  oppressiones  de 
iudicibus  illius  regionis  maxime  autem  a 


236 


M.  Tangl 


regionis,  maxime  autem  a  Corbeiense  ab- 
täte et  Herifurdense  abbatissa  illorumque 
fautoribüs  in  decimamm  direptione  ad 
suam  ^cclesiam  debite  pertinentium  iam 
diu  miserabiliter  sustinuisse. 

Cuius  proclamationi  quamvis  sepius 
iterat^  diutius  quam  felicius  assentire  re- 
nuentes  ^tatis  teneritate  ac  quorundam 
consitiariomm  nosiromm  tunc  temporis 
iuventuti  nostr^  providentium  dissuasione 
ad  [hec]  de  terminanda  variis  occasionibus 
prefixis  nos  excusavimus.  Sed  tandem  eins 
crebris  et  infinitis  etiam  pro  christianitatis 
miserabili  defectu  querimoniis  et  multorum 
dericomm  et  laicorum  ins  suam  agnoscen- 
tium  rogatü  et  consilio  devicti,  Wormaciam 
eidem  episcopo  suisque  adversariis,  ubi 
principibus  nostris  pro  ceteris  regni  ne- 
gotiis  convenire  statutum  est,  ut  et  ipsi 
venirent,  precepimus. 

Ibi  vero  XX  episcopis  X  abbatibus 
ceterisque  quam  plurimis  dericis  ac  laids 
presentibus  utriusque  partis  scripta  episcopus 
et  sui  adversarii  in  medium  proferebant. 

Episcopi  vero  scriptis  lectis  et  intel- 
lectis  Osnebruggensem  ecdesiam  Adfriani 
pajp^  consilio  et  consensu  a  magno  [et] 
illustri  viro  Karolo  primitus  in  provintia 
Westfala  fundatam  et  a  venerabili  Egil- 
frido  Leodicensi  episcopo  consecratam  et, 
quia  sibi  tunc  temporis  predia  vel  alia  in 
Uta  regione  [non  ejrant  donaria,  unde  epi- 
scopus vel  derlei  ibi  deo  militantes  susten- 
tarentur,  declmls  cunctorum  infra  terminos 
elusdem  eplscopatus  degentium  et  noviter 
ad  chrlstianitatem  conversorum  consecra- 
tionis  eins  die  dotatam  et  postea  a  quatuor 
apostollcorum  vlrorum  prlvlleglls,  scilicet 
Leonis,  Paschalis,  Eugenii  et  Gregorii  sta- 
billtam  esse  et  omnem"")  homtnem  elsdem 
prlvllegiis  ante  nos  reledis,  qui  hfc  sanccita 
allquo  modo  Irrltaverlt,  anathematizatum 
constare  absque  ulla  ambiguitate  dldlclmus. 

Ex  abbatis  autem  scripto,  quod  ad- 
tullt,  nulla  regali  auctoritate  confirmato 
iuniorem  Ludevvicum  quandam  cellam  Cor- 
beiensi  ecclesl^  nomine  Meppiam,  fiere- 
furdensl  autem  ecdesiam  nomine  Bunede 
cum    declmls    slbl   pertlnentlbus    in    epi- 


fiuxlliense  abbate  et  Herlfordense  abbatlss 
suisque  fautoribüs  declmarum  depredc 
tlone  ad  suam  aecdeslam  debite  pertlnei , 
tlum  Iam  diu  patl  et  tolerare. 

Culus   redamatlonl   quamvis   sepin 
iteratae  assentire  renuentes 


nos  excusavimus.    Sed  tandem 


")  omem  ohne  Kürzungszeichen. 


eldem  episcopo  suisque  adversariis 

IV.  Francofurt,  ubl  principibus  nostn 
convenire  statutum  est,  ut  et  Ipsl  venlrem 
precepimus. 

Ibi  In  nostra  ceterorumque  fldeüm 
nostrorum  presentla  prefatus  eplscojm 
lltteras  magnl  et  admlrabllls  Karoll  av 
nostrl  Imperatorls  augustl  Ipslus  slgilU 
asslgnatas  In  palam  proferebat. 

VII.  (=  IV)  Hls  In  nostra  praesentk 
ceterorum  consldentlum  recltatls  Osna 
bruggensem  aecdeslam  Adrlanl  papae  con 
slllo  et  consensu  (consultu  IV)  ab  eodem 
magno  et  Illustri  vlro  Karolo  primitus  It 
provintia  UUestfala  fundatam  et  a  venera 
bin  Egllfrltho  Leodicensi  episcopo  conse- 
cratam et  elsdem  declmls,  qula  alla  Ib 
tunc  temporis  non  erant  donaria  \: 

III.  declmas  cunctorum  Infra  termlnot 
elusdem  eplscopatus  degentium  .  .  . 
consecratlonls  elus  die 

VII.  dotatam  et  postea  a  quattuor 
apostollcorum  vlrorum  prlvlleglls  sclllcei\ 
Leonis,  Paschalls,  Eugenll  et  Gregorii  sta- 
bllltam  esse  et  omnem  hominem  elsdem 
prlvlleglls  ante  nos  reledis,  qul  haec  sanc- 
cita allquo  modo  Irrltaverlt,  anathematl-\ 
zatum  constare  absque  ulla  amblgultatei 
dldlclmus.  I 


Forschungen   zu  Karolinger  Diplomen 


237 


opatu  Osnebruggensi   concessisse   intel- 
\ximüs. 

'   -  Ad  hqc  infringenda   et  adnihilanda 

'usdem  iunioris  Ludevvici  cartam  ipsius 

fopria   manu   roboratam   et   sigillo  eins 

\§signatam  episcopus  in  palam  proferebat, 

i  qua  idem  Ludevvicus  am  patrisque  sui 

latuta  super  eisdeni  decimis  prefat^  Osne- 

mggensi  ecclesif  stabilivit  et  in  earundem 

—jj^narum   traditionibus   quicquam  dero- 

l^w^  ut  abbatis  scripta  referunt,  dene- 

mf^t.    Abbate  autem  et  abbatissa  preter 

oc  solum,  quod  ibi  videbatur  ficticium, 

liquid,  quo  inniti  possent,  non  habentibus, 

piscopus  plurimorum  antecessoruni  nostro- 

am  regum  et  imperatorum  scilicet  Arnolfi 

iliique  eius  Ludevvici,  fieinrici  primi,  trium 

Htonum  cartas  ipsorum  manibus  roboratas 

t  sigillis  assignatas  ^cclesiq  su^  easdem 

^ecimas  stabilientes  presentavit  legendas. 

Ibi  vero  utrorumque  sententiis  auditis 

i  subtiliter  diiud[icati] s  archiepiscopi  epi- 

copi  cum  omni  clero,   duces   et   comites 

tiani  ipsis  prius  faventes  petitionibus  epi- 

copi   consentire   debere   iusticia   exigente 

manimi  concordia  omnes  afßrmabant. 

Quapropter  ob  amorem  domini  nostri 
fesu  Christi  et  beati  Petri  principis  aposto- 
\orum  et  preciosissimorum  martirum  Cris- 
nni  et  Crispiniani  necnon  pro  veneratione 
Karoli  imperatoris  augusti  magni  et  paci- 
(ici  et  eiusdem  ^cclesi^  fundatoris  devotis- 
ümi  et  ceterorum  antecessorum  nostrorum 
i  \andem  ecclesiam  suis  scriptis  et  preceptis 
^oborantium  necnon  avi  patrisque  nostri 
itque  nostra  ceterorumque  videlicet  regum, 
jui  in  eandem  ecclesiam  iusticiam  sibi 
ienegando  peccaverunt,  animarum  remedio 
'/  liberatione  et  eiusdem  episcopi  sedula 
't  diuturna  proclamatione  nostr^  immuni- 
■atis  et  libertatis  preceptum  super  eisdem 
decimis  episcopo  su^que  ^cclesi^  stabilien- 
{Uis  ffieri  dejcrevimus.  Precipientes  ergo 
\\übemus,  ut  sicut  reliqu^  in  regno  nostro 
t  l^anct^  dei  ecclesi^  ab  antecessorum  nostro- 
rum regum  et  imperatorum  preceptis  et 
sfcriptis  stabilite  consistunt,  ita  et  h^c] 
Osnebruggensis  ecclesia  per  hoc  nostrum 
oreceptum  domino  opitulante  sftabilita  con-  \ 
sijstat.  Concedimus  etiam  eidem  episcopo  I 
et  licentiam  damus  immo  precipimus  secun-  \ 


VII  (=  IV)  ipsius   sigillo  assignatas 
in  palam  proferebat. 


VIII.  Ibi  vero  utrorumque  sententiis 
iteratis  ac  diiudicatis  archiepiscopi  episcopi 
cum  omni  clero  duces  et  comites  etiam  ipsis 
priusfaventes  episcopi  petitionibus  consentire 
debere  iusticia  exigente  cum  cetera  multitu- 
dine  unanimi  concordia  omnes  affirmabant. 

Quapropter 

VIII  fan  früherer  Stelle)  ob  amorem 
domini  nostri  Jesu  Christi  et  beati  Petri 
principis  apostolorum  et  sanctorum  marti- 
rum Crispini  et  Crispiniani  necnon  pro  ve- 
neratione Karoli  imperatoris  augusti  magni 
et  pacifici  et  eiusdem  aecclesiae  fundatoris 
devotissimi  filiique  eius  bonae  memoriae 
Ludevvici  necnon  Karlomanni  cari  patris 
nostri  animae  remedio  atque  pro  nostra 
ceterorumque  antecessorum  nostrorum  vide- 
licet regum,  qui  in  eandem  aecclesiam  pec- 
caverimus,  liberatione  ac  eiusdem  episcopi 
sanctissima  apud  deum  pro  nobis  inter- 
cessione 

VII  nostrae  libertatis  et  immunitatis 
praeceptum  fieri  decrevimus.  Praecipientes 
ergo  iubemus,  ut  sicut  reliquae  sanctae  dei 
aecclesiae,  quae  per  totam  Franciam  etSaxo- 
niam  ab  antecessoribus  nostris  regibus  vi- 
delicet et  imperatoribus  consistunt,  ita  et 
haec  praefati  praesulis  sancta  sedes  per 
hoc  nostrum  praeceptum  domino  opitulante 
consistat.  Concedimus  etiam  eidem  epi- 
scopo pro  eius  sanctissima  apud  deum  pro 


238 


M.  Tangl 


nobis  intercessione  decimas  iam  diu  inte 
monachos  Huxilienses  et  puellas  Heriuot 
denses  iurgioso  et  iniusto  antecessorar, 
npstroram  conspiramine  divisas 

IV .  .  .  secundum  Karoli  institutioneri 
.  .  .  decimas  infra  terminum  sui  episcopi 
(III  decimas  cunctorum  infra  terminos  eim\ 
dem  episcopatüs  degentium) 

VII  in  suam  episcopalem  potestaten 
recipere  nemine  contradicente.  Sed  licea 
praefato  venerabili  episcopo  easdem  decima 
ceterasque  res  suae  aecclesiae  cum  omnibüs^ 
quae  possidet  vel  deinceps  adquisierii 
quieto  ordine  possidere  suasque  aecclesiaä 
sicuti  ceterorum  ius  est  episcoporum,  iust^ 
corrigere  et  earum  causas  absque  ulla  con 
trarietate  ordinäre  atque  disponere. 


dum  Karoli  institutionem  decimas  cuncto- 
rum infra  sui  episcopii  terminos  hafbitjan- 
tium,  quibus  iam  diu  iniuste  caruit,  in 
suam  episcopalem  potestatem  recipere  [ne- 
mine cojntradicente.  Sed  liceat  prefato 
episcopo  easdem  decimas  ceterasque  res 
su^  ^cclesi^,  quas  modo  possidet  vel  dein- 
ceps acquisierit,  quieto  ordine  possidere 
suasque  ^ccflesiasj,  sicuti  ceterorum  ius 
est  episcoporum,  corrigere  et  earum  causas 
[absque  ulla  contradictione  di[sponere.  Sic- 
que  firmiter  stabilitum  est,  ut  cuncti  eins 
successores  h^c  eadem  a  nobis  sanccita 
pari  modo  sorciantur. 

Et  ut  h^c  auctoritas  nostra  firmiorem 
in  dei  nomine  habeat  stabilitatem ,  manu 
nostra  propria,  ut  subtus  videt[ur,  hanc 
carta[m  roborantes  sigillo  nostro  iussimus 
assignari. 

Das  Verhältnis  soll  hier  nach  Brandi  so  liegen,  daß  XXI  mitten  ir 
die  Reihe  der  Fälschungen  hineinfällt.    Nur  die  hauptsächlich  benutzt« 
Arnolf-Fälschung  V^II  und  die  beiden  anderen  Arnolf-Urkunden  V  unc 
VI,  die  sie  notwendig  voraussetzt,  sollen  vor  XXI  schon  vorhanden  ge 
wesen,  die  Fälschungen  III,  IV  und  VIII  aber  selbst  erst  mit  Benutzung 
von  XXI  zurechtgemacht  worden  sein.  Diese  Annahme  ist  nach  meiner 
Überzeugung  verfehlt  und  unhaltbar.     Die  Beziehung  zu  III  tritt  schon 
in  der  Arenga  deutlich  hervor;   und  daß  hier  das  Verhältnis  nicht  sd 
liegen  kann,  daß  III  diese  Arenga  aus  XXI  schöpfte,  ergibt  sich  darausi 
daß  die  Abweichungen  von  III  gegenüber  XXI  durchaus  einem  echter  < 
Formular  aus  der  Zeit  Ludwigs  d.  Fr.  entsprechen.     Das  Ableitungs- 
verhältnis ist  also  ganz  klar  folgendes:  Echte  Urkunde  Ludwigs  d.  Fr. 
deren  Arenga  mit  ganz  geringfügigen  Verderbungen,   auf  die  ich  bei 
Besprechung  dieser  Urkunde  noch  näher  eingehe,  zunächst  für  die  Fäl- 
schung III  benutzt  und  dann  in  freierer  Weise  für  XXI  verwertet  ist' 
Daher  sind  auch  an  späterer  Stelle  die  Worte  decimas  cunctorum  infra 
terminos  eiusdem  episcopatüs  degentium  und  consecrationis  eins  die  aus^^ 
III  in  XXI  übergegangen  und  nicht  umgekehrt.  -       j 

Bei   IV   macht   Brandi   (S.  130)   eine    auf    den   ersten    Blick    be-j 
sonders  bestechende  Einwendung  geltend:  Die  Worte  der  Narratio  eV' 
iuventutem  nostram  non  parum  incusando  sind  begreiflich  mit  Rücksicht 
auf   die  Jugend  Heinrichs  IV.,   aber  sinnlos  in  ihrer  Anwendung  auf 


^  Dem  besonderen' Zweck  von  XXI  entspricht  es,  wenn  petitiones  zu  querimoniasi 
umgeändert  und  die  Wendung  iustitiam  misericorditer  Ulis  impendendo  eingeschoben^' 
wird. 


Forschungen  zu  Karolinger  Diplomen  239 


^udwig  d.  Deutschen,  der  zu  der  Zeit,  auf  welche  die  Datierung  von  IV 
Uist,  den  Vierziger  erreicht  oder  sogar  schon  überschritten  hatte.   Ich 
weifle  sehr,  ob  man  beim  Osnabrücker  Fälscher  eine  so  genaue  Kenntnis 
Jer  Altersverhältnisse  Ludwigs  d.  Deutschen  voraussetzen  darf.    Besaß 
»r  sie,   dann  ist  die  Verwendung  der  ganz  unpassenden  Worte  auf 
.udwig  d.  Deutschen    fast    so    auffällig    wie   ihre   Erfindung.      Wir 
Lommen   aber   dem   wahren  Abhängigkeitsverhältnis  auf  ganz  andere 
>Je\se   bei.      Die   Bedeutung   der  Zehnten   begründet   die   Querimonia 
:gilmari   mit  den  Worten  quia  aliis  ibi  pastores  et  episcopi  donariis 
-arebant;  das  wiederholen  die  Fälschungen  IV  und  VII  in  der  Fassung 
juia  alia  ihi  tunc  teniporis  non  erant  donaria,   diese  endlich  ist  be- 
lutzt,   aber  wieder  teilweise  verändert  in  XXI  quia  sibi  tunc  temporis 
nedia  vel  alia  in  Uta  regione  non  erant  donaria.    Man  kann  den  Um- 
)au  dieses  Satzes  mit  aller  Sicherheit  verfolgen.   Das  non  erant  donaria 
latte  dazu  verlockt,  das  ibi  zum  sibi  umzugestalten;  dadurch  war  man 
iber  der  Ortsangabe  verlustig  gegangen  und  fügte  diese  jetzt  mit  den 
Aborten  in  illa  regione  neu  ein.    Anfang,  Mittelglied  und  Ende  dieser 
Jmgestaltung  liegen  völlig  klar.     Das  wird  auch  Brandi  ohne  weiteres 
zugeben,  aber  darin  eine  Widerlegung  seiner  Ansicht  nicht  anerkennen, 
^uch  er  läßt  ja  VII  als  Mittelglied  zwischen   der  Querimonia  und  XXI 
selten,  aber  nicht  IV;  in  diese  Urkunde  ist  der  Satz  nach  seiner  An- 
lahme  nachträglich  durch  Benutzung  von  VII  hineingeraten.    Ich  werde 
jnten  bei  Zergliederung  der  einzelnen  Urkunden  den  Nachweis  führen, 
jdaß  IV  von  VII  notwendig  vorausgesetzt  wird  und  VII  aus  der  Ver- 
arbeitung von  IV  und  VI  entstanden   und  nur   so   zu  verstehen   ist. 
Hier  genügt   es,   auf   einen  Anhaltspunkt  der  Textkritik  hinzuweisen. 
Der  betreffende  Absatz  wird  in  IV  durch  die  Worte  eingeleitet  his  in 
fiostra  caeterorumque  considentium  presentia  recitatis;  die  gleiche  Stelle 
lautet  in  VII  his  in  nostra  praesentia  ceteroram  considentium  recitatis. 
Nach  vielfacher  Erfahrung  wird  in  solchem  Falle  stets  in  der  korrekten 
Fassung  die  Vorlage,  in  der  verderbten  die  Ableitung  zu  erblicken  sein. 
Bei  mehreren  der  Osnabrücker  Fälschungen  können  wir  fast  bis 
auf  die  einzelnen  Worte  genau  den  ursprünglichen  echten  Bestand  von 
den  späteren  Zutaten  scheiden.    Das  ist  gerade  bei  IV  der  Fall.    Die 
echte  Urkunde  Ludwigs  d.  Deutschen  enthielt  die  Verleihung  von  Immu- 
nität; ihr  Formular  ist  aber  erst  von  der  Dispositio  ab  erhalten,  während 
Arenga  und  Narratio  entfernt  und  vom  Fälscher  ganz  aus  Eigenem  er- 
setzt wurden.   Und  das  soll  zu  keinem  anderen  Zweck  geschehen  sein, 
als  um  hier  einen  Satz  anzubringen,  der  auf  Ludwig  d.  Deutschen  nicht 
paßte  und  der  überdies   durch    die   bereits   erfolgte  Verwendung  auf 
Heinrich  IV.  seine  Pointe  verloren  hatte?    Der  Fälscher  hätte  hier  also 
nichts  beabsichtigt  und  erreicht  als  eine  Verunstaltung  der  Urkunde? 


I 


240  M.  Tangl 

So  hat  in  manchen  Fällen  ein  pathologisch  veranlagter  Mann  wie 
Eberhard  von  Fulda  gearbeitet,  nicht  aber  ein  ernst  zu  nehmendei 
Fälscher;  und  der  Osnabrücker  zählte  —  das  sei  zu  seiner  Ehre  hiei 
gleich  gesagt  —  innerhalb  dieser  Gilde  zu  den  hellsten  Köpfen. 

Die  wahre  Bedeutung  der  Stelle  arguendo  increpando  obsecrandt 
et  iüventutem  nostram  non  parum  incusando  hat  schon  Wilmans  ^  richtig 
erkannt.  Mit  diesem  offenen  Vorwurf  durfte  Heinrich  dem  IV.  selbst 
ein  Günstling  wie  Benno  von  Osnabrück  nicht  kommen.  Als  wörtliche 
Übernahme  aus  einer  als  Beweismittel  vorgelegten  und  anerkannten 
Vorurkunde  auf  dem  Wege  einer  Empfängerausfertigung  in  die  Ent- 
scheidung Heinrichs  IV.  eingeschmuggelt,  nahm  sich  die  Sache  harm- 
loser aus.  Der  Vorwurf  war  von  vornherein  mit  Absicht  auf  einen 
anderen  König  ersonnen,  um  als  Mahnung  an  den  gegenwärtigen  ver-» 
wendet  zu  werden.  Mit  vollem  Recht  suchen  wir  bei  Urkunden- 
fälschungen nach  Anhaltspunkten  für  ein  bestimmtes  Zeitkolorit.  Hier 
ist  ein  solches  mit  aller  Deutlichkeit  gegeben.  Anders  urteilte  aller- 
dings Gundlach:^  „Es  ist  meines  Erachtens  weit  angemessener,  von 
der  Benutzung  der  uns  erhaltenen  Urkunden  als  Vorlagen  abzusehen 
und  dafür  die  verlorenen  echten  Diplome  in  Anspruch  zu  nehmen.** 
Da  ist  nur  eines  merkwürdig,  daß  unter  allen  Vorlagen  für  XXI  keine 
so  ausgiebig  benutzt  ist  als  die  Erzfälschung  VII.  Aus  dieser  un- 
echtesten aller  Osnabrücker  Urkunden,  einem  konzentrierten  Gebräu 
aus  den  Fälschungen  IV,  V  und  VI,  stammt,  wie  schon  Brandi  über- 
zeugend nachwies,  etwa  fast  die  Hälfte  des  Textes  von  XXI. 

Aber  Gundlach  fährt  fort:  „Benno  durfte  ohne  Anstand  auch  die? 
echten,  ohne  Frage  für  ihn  minder  günstigen  Urkunden  vorzeigen,  weil 
ja  die  Bischöfe,  welche  das  Urteil  zu  finden  hatten,  gewissermaßen  in 
eigener  Angelegenheit  gegen  die  Klöster  richteten  und  der  König, 
wenn  er  einmal  die  Sache  in  die  Hand  zu  nehmen  entschlossen  war, 
nicht  zweifelhaft  sein  konnte,  nach  welcher  Seite  er  sich  entscheiden 
sollte."  Ja,  weshalb  wurde  dann  überhaupt  gefälscht?  Hatte  die 
Fälschung  nach  gewonnenem  Prozeß  vielleicht  besseren  Sinn?  Gund- 
lach verkannte  aber  überhaupt  die  ganze  Sachlage.  Der  König  konnte 
Benno  soweit  begünstigen,  daß  er  die  Einleitung  des  Prozesses  über- 
haupt zuließ,  in  eine  wohlwollende  Prüfung  der  Angelegenheit  ein- 
zutreten versprach,  den  versammelten  Bischöfen  zu  erkennen  gab,  daß 
ihm  eine  dem  Osnabrücker  günstige  Entscheidung  des  Streitfalles  er- 
wünscht sei,  und  sich  und  seine  Kanzlei  nicht  allzu  lebhaft  für  die 
Beschaffenheit  der  Beweismittel  seines  Schützlings  interessierte.    Aber 


^  Kü.  Westfalens  1,  348.  f 

'  Ein  Diktator  aus  der  Kanzlei  Kaiser  Heinrichs  IV.  S.  144—145. 


Forschungen  zu  Karolinger  Diplomen  241 

orhanden    mußten   diese   Beweismittel   sein.     Die   Klage   mußte   ord- 
;  ungsmäßig  erhoben,  der  Beweis,  daß  dem  Bistum  wider  seine  besseren 
Rechtsansprüche  durch  Jahrhunderte  unrecht  geschehen  sei,  angetreten 
/erden  können.    Korvey  und  Herford  waren  aber  von  vornherein  be- 
orzugt  worden  und  hatten  ihre  ohnedies  günstigere  Stellung   schon 
i'rn  9.  Jahrhundert    durch   Urkundenfälschung    noch   verstärkt.     Ihren 
llrkundenreihen    gegenüber    befand    sich   Osnabrück    in    verzweifelter 
[age.    Ein  Prozeß,   in  dem  nichts  vorgewiesen  werden  konnte  als  die 
)uerimonia  Egilmari  mit  ihrem  offenen  Zugeständnis,  daß  Ludwig  d.  Fr. 
md  Ludwig  d.  Deutsche   tatsächlich    die  Beeinträchtigung  Osnabrücks 
[ugunsten  der  Klöster  verfügt  und  daß  Arnolf  unter  Zustimmung  der 
iynode  diese  Verfügung  bestätigt  hatte,  ohne  daß  auch  nur  eine  der 
päteren   echten   Urkunden   diese   Rechtslage   besserte,    war    für    den 
r)ischof  auch  vor  dem  wohlwollendsten  Forum  so  gut  wie  aussichtslos. 
)arin  liegt  die  Erklärung  und  die  Entschuldigung  für  die  Osnabrücker 
"älschungen.    Diese  mußten  entweder  schon  vorhanden  sein  oder  eigens 
:u  unmittelbarem  Gebrauch  angefertigt  werden.    Auf   den  Korpsgeist 
1er  Bischöfe  allein  war  kein  sicherer  Verlaß.    Unter  Arnolf  hatte   er 
■lach    dem   Zeugnis    der   Querimonia    Egilmari    glatt    versagt.      Unter 
rieinrich  IV.  war  er,  wie  der  Verlauf  des  Thüringischen  Zehntstreites 
eigte,  lebhafter  erwacht  und  wirksamer;  aber  selbst  unter  Friedrich  I., 
[u  einer  Zeit,  da  der  Kampf  in  der  Zehntfrage  zwischen  Klöstern  und 
upiskopat  auf  ganzer  Linie  entbrannt  war,^  erwies  er  sich  nur  gerade 
ils  stark  genug,  um  eine  unmittelbare  Entscheidung  zuungunsten  von 
)snabrück  zu  verhüten;   bei   längerem  Leben   und   einem  neuen  An- 
letzen  Wibalds  von  Korvey  würde  er  den  bischöflichen  Kollegen  vor 
iner  Umwerfung  der  Entscheidung  Heinrichs  IV.  nicht  geschützt  haben. 
Die  Beweisführung   mit  Hilfe   der   gefälschten  Urkunden   bewegte 
.ich   nach   zwei   Richtungen.    Es   sollte   bestritten   werden,   daß  Lud- 
jvig  d.  Deutsche  seine  Gunst  einseitig  den  Klöstern  zugewendet,  vor 
Ulem  daß  er  ihnen  geschlossene  Missionsgebiete   mit  ihren  Zehnten 
Überlassen  habe,  und  es  sollte  bewiesen  werden,  daß  gegen  Übergriffe, 
iiie  sich  die  Klöster  wider  das  bessere  Recht  des  Bistums  erlaubten, 
|)tets  Einspruch  erhoben,   und  daß  der  Streit  unter  Arnolf  wie  später 
m  10.  Jahrhundert,  wenigstens  theoretisch,  stets  zugunsten  des  Bischofs 
imtschieden  worden  sei.  Die  Vorlegung  der  Urkunde  Ludwigs  d.  Deutschen 
oildete  daher  für  Benno  bei  den  Verhandlungen  zu  Worms  geradezu 
iinen  Kernpunkt  der  Beweisführung.    Es  genügt  hierbei,  an  den  ent- 
scheidenden Satz  in  XXI  zu  erinnern:  Ad  hec  (die  Ansprüche  Korveys 


^  Das  wird  eingehend  die  Arbeit  von  Georg  Schreiber,  Kurie  und  Kloster  im 
-2.  Jahrhundert,  Kirchenrechtl.  Abhandlungen,  herausg.  von  Stutz,  1909,  zeigen. 

AfU     11  16 


242  M-  Tangl 

und  Herfords)  infringenda  et  annihilanda  eiusdem  senioris  Ludevvul 

cartam  ipsius  propria  manu  roboratam  et  sigillo  eins  assignatam  epü 

scopus  in  palam  proferebat,  in  qua  idem  Ludevvicus  avi  patrisque  si\ 

statuta  super  eisdem  decimis  prefate  Osnabruggensi  ecclesie  stabilivt 

et  in  earundem  decimarum  traditionibus  quicquam  derogasse,  ut  abbatä 

scripta  referunt,   denegavit.     Daß   demnach   eine  Urkunde  Ludwigs  q 

Deutschen   vorgelegt  wurde   und   daß  eine  Urkunde   solchen  Inhalt 

nicht  echt   sein   konnte,   steht  außer  Frage.     Dies   ist  auch   Bran^ 

Meinung;  nur  nimmt  er  (S.  131  und  141)  an,  daß  die  Urkunde,  die 

Herbst  1077  auf  dem  Wormser  Hoftag  als  Beweismittel  im  Zehntsti 

vorlag,  eine  von  der  uns  erhaltenen  Urkunde  IV  verschiedene  war;  den! 

von  jener  wird  ausdrücklich  gesagt,   daß  sie  „in  Sachen  der  Zehntel 

nicht   die  geringste   Einschränkung    der  Osnabrücker   Rechte    verfüg 

habe'',  während  in  IV  ausdrücklich  eine  solche  einschränkende  Klause 

stehe:  exceptis  decimis  dominicalium  monachis  et  sanctimonialibus  pertv 

nentium,  quod  nos  foravuerch  vocamus,  quas  pater  noster  filudouuicüS 

de  eodem  episcopatu  per  cambiatum  adquisivit.    Gesetzt,  diese  Annahm! : 

wäre  zutreffend,   dann   wäre  mit  ihr  die  Priorität  der  erhaltenen  ür 

künde  IV  vor  XXI   erst   recht  erwiesen;   denn   die  Entwicklung  hätti 

dann   notwendig    folgende    sein    müssen:    1.   echtes   Diplom;    2.   Fäl 

schung  IV   (Zuerkennung   der  Zehnten   an   Osnabrück,   aber   mit  gei 

wissem   Vorbehalt);    3.   Fälschung    (uneingeschränkte  Zuweisung    de; 

Zehnten,  verlorene  Vorurkunde  von   XXI);   4.   Urkunde  Heinrichs  IV 

(XXI),  die  sich  auf  Vorlage  einer  Urkunde  Ludwigs  d.  Deutschen  aus 

drücklich  beruft.    Denn  umgekehrt,  daß  der  Fälscher  zuerst  ein  Mach 

werk  weitergehenden  Inhaltes  herstellte,   dann  aber,  von  Reue  erfaßt 

eine  Einschränkung   an  ihm  vornahm,   kann  ich   mir   das  Verhältni 

unmöglich   denken.    Aber  die  Lösung  liegt  überhaupt  viel   einfacher 

die    Annahme    eines    Zwischengliedes    kann ,    da    sie    nur    unnötig 

Schwierigkeiten    schafft,   ganz   fallen   gelassen   werden.    Aus   der   ür 

künde  Heinrichs  IV.  erfahren  wir  genau,  welcher  Art  die  Zehntansprüch- 

der  Klöster  waren.     Sie  gingen  auf  den  Zehntbezug  von  den  Tauf 

kirchen  des  friesischen  Nordlands.    Diese  auf  Pastoration  und  Zehnter 

innerhalb  großer,  geschlossener  Gebiete  sich  erstreckenden  Ansprüche 

werden  aber  in  IV  in  der  Tat  vollständig  durch  die  Gegenbestimmuni 

zurückgewiesen,  daß  der  Bischof  infra  terminum  episcopii  sui  Herr  de 

Zehnten  sein  solle.     Das  Zugeständnis  gewisser  Zehntrechte  Korvey: 

auf   einzelnen  Eigengütern  bedeutet  nach  dieser  Richtung  keine  Ein 

schränkung.    Bezeichnenderweise  wird  in  VIII  dem  Bischof  das  Zehnt 

recht  innerhalb  seines  Bistums  ex  integro  zugesprochen,  und  doch  folg 

unmittelbar  darauf,  wie  in  IV,  nur  in 'viel  ausführlicherer  Darieguni 

und  Begründung,  die  Klausel  exceptis  decimis  dominicalium  monachl 


Forschungen   zu  Karolinger  Diplomen  243 

)ertinentium.  Über  die  Scheidung  beider  Fragen  hat  niemand  klarer 
ind  besser  gehandelt  als  Brandi  (S.  147):  „Es  muß  an  dieser  Stelle 
)etont  werden  —  weil  es  vielfach  übersehen  worden  ist  — ,  daß  es 
ich  bei  der  Zehntenfrage  um  zwei  ganz  verschiedene  Dinge  handelt, 
^uf  der  einen  Seite  stehen  die  vorhin  besprochenen  Zehnten  weiter 
Kirchspiele,  zu  deren  Empfang  sich  die  Mönche  berechtigt  glaubten 
md  in  deren  Besitz  sie  im  11.  Jahrhundert  offenbar  vielfach  waren. 
)iesem  gegenüber  stehen  die  Zehnten,  deren  Leistung  die  Klöster 
'on  ihren  eigenen  selbstbewirtschafteten  Gütern  nicht  zugestehen 
sollten."  Daß  Korvey  hier  bedeutende  Rechte  erhalten  und  ersessen 
latte,  war  so  offenkundig,  daß  ein  völliges  Ableugnen  auf  allen  Ge- 
)ieten  kaum  zum  Ziele  geführt  haben  würde.  Die  Taktik  des  Fälschers 
^^ar  dieser  Lage  gegenüber  sehr  klug.  Er  suchte  die  Rechte  des 
^ischofs  in  der  Hauptfrage  grundsätzlich  zu  wahren  (—  und  nur  von 
|W,  den  Zehnten  ganzer  Kirchspiele,  ist  in  XXI  die  Rede  — )  und 
'nachte  dafür  auf  dem  anderen,  minder  wichtigen  Gebiete  gewisse  Zu- 
i^eständnisse. 

Aus  diesen  Erwägungen  wird  an  der  Benutzung  von  IV  als  Vor- 
jirkunde  von  XXI  nicht  länger  Anstoß  zu  nehmen  sein. 
I  Es  wird  sich,  ehe  wir  in  der  ganzen  Frage  schlüssig  werden, 
Empfehlen,  uns  die  äußeren  Lebensumstände  Bennos  IL  in  jenen  Jahren 
ins  Gedächtnis  zu  rufen.  Auch  hierüber  sind  wir  jetzt  durch  die  echte 
\j\idi  Bennonis  und  die  Osnabrücker  Urkunden  besser  als  früher  unter- 
Hchtet,  und  Bresslau  gebührt  das  Verdienst,  die  Zusammenstellung  und 
Kritik  der  betreffenden  Zeugnisse  in  abschließender  Weise  erledigt  zu 
liaben.^  Benno  war  gleich  in  die  ersten  Kämpfe  Heinrichs  IV.  in 
Sachsen  mit  verwickelt  worden.  Er  zählte  1073  zu  den  wenigen  Be- 
gleitern des  Königs  bei  der  Flucht  aus  der  Harzburg,  konnte  dann 
aber  in  sein  Bistum  zurückkehren  und  sich  noch  durch  drei  Jahre 
seines  Besitzes  erfreuen.^  Erst  1076  mußte  er  dem  Umsichgreifen  des 
Abfalles  von  der  Sache  des  Königs  weichen.  Er  begab  sich  zunächst 
bn  den  Hof  Heinrichs  IV.,  mußte  diesen  zwar  im  Herbste  dieses  Jahres 
auf  kurze  Zeit  verlassen,  stieß  aber  zu  Anfang  1077  wieder  zum  König, 
!den  er  auf  dem  Gang  nach  Canossa  begleitete.    Im  März  1077  waltete 


^Bresslau,  Die  echte  und  die  interpolierte  Vita  Bennonis  secundi,  NA.  28, 
;120— 127.  Der  wesentliche  Gewinn  gegenüber  der  früheren  Meinung  besteht  darin, 
daß  nur  ein  einmaliges  Exil  des  Bischofs  (1076—1080)  an  Stelle  der  früher  angenom- 
menen zweimaligen  Vertreibung  aus  dem  Bistum  (1073—1076,  1077—1080)  erwiesen 
ist.  Ein  angeblicher  Aufenthalt  Bennos  in  Osnabrück  während  des  Jahres  1077 
ifällt  —  für  unsere  Frage  sehr  wichtig  —  hinweg. 

I  ^  Erkenntnisgrund  hierfür  ist  die  gegenüber  den  späteren  Jahren  recht  seltene 

'Anwesenheit  Bennos  bei  Hof,  außerdem  eine  Urkunde  Bennos. 

16* 


I 


244  ^'  Tangl 

er  als  Richter  und  Königsbote  in  Verona,  von  April  bis  Oktober  107 
erscheint  er  als  Intervenient  in  fünf  Urkunden  Heinrichs  IV.,  zu  Anfan, 
des  Jahres  1078  und  dann  wieder  im  Frühjahr  1079  ging  er  als  Ge 
sandter  des  Königs  nach  Rom,   im  März  1080  weilte  er,   und  zwa, 
wohl  als  Begleiter  des  Königs,  in  Köln,  im  Juni  1080  nahm  er  an  de 
Brixener  Synode  teil,  und  erst  nach  dem  Tode  des  Gegenkönigs  Rudof 
(1080  Oktober  15)  winkte  ihm  die  Möglichkeit  der  Heimkehr  in  seil 
Bistum.      Vom   23.  September  1074   datiert    das   letzte   ausdrücklich 
Zeugnis  für  das  Walten  Bennos  in  seinem  Bistum;  am  18.  November  107'| 
erließ  Gregor  VII.  das  erste  bekannte  Mandat  in  der  Zehntfrage.    Da 
mals  hatte  also  Benno,  wie  wir  oben  sahen,  seinen  Streit  bereits  an 
hängig  gemacht.    Als  ihn  daher  die  Verhältnisse  zum  Verlassen  seine 
Bischofsitzes  zwangen,  wußte  er,  was  er  wollte,  und  was  er  zu  seinei 
Zwecken  brauchte.    Er  muß  damals  alle  wesentlichen  Beweisstücke,  dl 
sein  Archiv   ihm   bot,  gekannt  und   an   sich   genommen   haben.    Zi. 
späteren  Nachforschungen  und   Ergänzungen  bot  sich  ihm,   zumal  iij 
der  Zeit  zwischen  den  beiden  Entscheidungen  Heinrichs  IV.  von  107'( 
und  1079,   keine  Möglichkeit.    Das  wußte  man  auch  bei  Hof  und  ii; 
der  königlichen  Kanzlei.    Als  tatsächlich  dem  Osnabrücker  Archiv  ent 
nommen  konnte  er  nur  die  Urkunden  verfechten,  die  er  spätesten 
auf  dem  Wormser  Hoftag  von  Allerheiligen  1077  zur  Vorlage  bracht^; 
Angebliche  Beweisstücke,  die  er  nach  diesem  Zeitpunkt  entdeckt  ode 
durch  einen  getreuen  Boten  nachträglich  erhalten  haben  wollte,  hättei 
sich  allzu  großen  Zutrauens  wohl  kaum  zu  erfreuen  gehabt.    Es  hätt« 
dies  eher  ein  Mittel  sein  können,   die  schon  gewonnene  Sache  nod 
im  letzten  Augenblick  zu  gefährden.    Daß  Benno   sich  zur  Erlangung 
der  zweiten  Urkunde   Heinrichs  IV.  (XXII)   auf   neue   Königsurkunden 
speziell   die   Fälschungen  VIII   und   XIII,    berufen    habe,    die   bei   de 
Wormser  Verhandlung  noch  nicht  vorgelegen  hatten,  stelle  ich  dahe 
rundweg   in   Abrede.      Aber    diese    zweite   Gruppe    soll   nach   Brand 
(S.  154  und  157)   hauptsächlich   auch  dazu  gedient  haben,   anläßlicl 
der   Gesandtschaftsreise   Bennos   1079    auf   Gregor  VII.    Eindruck    zi 
machen;  daher  in  VIII  und  XIII  die  starke  Hervorhebung  der  Auctoritai: 
apostolica.    Ich  kann  durchaus  nicht  finden,  daß  diese  in  VIII  stärke 
betont  ist  als  in  der  sicher  schon  1077  vorhandenen  Fälschung  VII 
In  jener  beruft  sich  der  Fälscher  auf  die  Entscheidung  zweier  Päpste 
Formosus  und  Stephan,  in  VII  pocht  er  auf  ihrer  viere:  Leo,  Paschal 
Eugen  und  Gregor. 

Aber  Benno  ging  doch  schon  im  Januar  1078,  unmittelbar  nact' 
der  ersten  und  maßgebenden  Entscheidung  seines  Prozesses,  als  Ge- 
sandter nach  Rom.  Die  Verhältnisse  lagen  noch  nicht  allzu  un- 
günstig; die  Verständigung,  die  zwischen  König  und  Papst  zu  Canossc 


Forschungen  zu  Karolinger  Diplomen  245 

rreicht  worden  war,  hielt  zur  Not  noch  an.  Aber  gerade  ein  so  feiner 
md  in  den  Stand  der  Verhandlungen  so  eingeweihter  Politiker  wie 
ienno  II.  mußte  sich  sagen,  daß  jeder  Augenblick  den  neuen  voll- 
tändigen  Bruch  herbeiführen  und  dadurch  auch  seine  eigenen  Pläne 
mpfindlich  stören  konnte.  Mußte  ihm  daher  nicht  damals  sogleich 
lies  daran  liegen,  auch  dort  eine  ihm  günstige  Entscheidung,  wenn 
ine  solche  überhaupt  zu  erhalten  war,  hervorzurufen  und  zu  diesem 
;;weck  sein  gesamtes  Rüstzeug  mit  sich  zu  nehmen?  Und  konnte  er 
iamals  schon  wissen,  ob  dies  nicht  auf  lange  Zeit  hinaus  seine  letzte 
leise  nach  Rom  sein,  konnte  er  ahnen,  daß  er  schon  über  Jahresfrist 
/iederkommen  würde?  Gerade  dies  spricht  dafür,  daß  er  1077  so- 
gleich ganze  Arbeit  machte. 

Meine  Überzeugung  ist  daher,  und  ich  werde  sie  später  bei  der 
:ergliederung  der  Urkunden  noch  näher  begründen,  daß  im  fierbst  1077 
|lie  Fälschungen  III— VIII,  XI  und  XIII  (—  für  I  und  II  besitzen  wir 
jus  den  Verhandlungen  von  1077—1079  keine  Zeugnisse  — )  schon 
n  geschlossener  Reihe  vorlagen. 

Der  Text  von  XXI  stellt  sich  als  eine  schier  wunderliche  Leistung 
jlar,  die  so  in  der  königlichen  Kanzlei  nicht  entstanden  sein  konnte. 
im  der  Empfänger  selbst  konnte  es  fertig  bringen,  seinen  ganzen 
^Wunschzettel  in  diese  Fassung  der  königlichen  Entscheidung  hinein- 
uverarbeiten,  als  genauer  Kenner  seiner  Urkunden  und  ihres  Wort- 
gutes alle  Schlager  aus  den  Fälschungen  herauszufinden  und  der 
leihe  nach  an  richtiger  Stelle  zu  verwenden. 

Es  war  vielleicht  nicht  die  geringste  Kraftprobe  für  Bennos  ein- 
lußreiche  Stellung  bei  Hof,  daß  es  ihm  gelang,  seinem  so  gearteten 
■ntwurf  Billigung  und  Beglaubigung  zu  verschaffen.  Diese  wurde  ihm 
inmittelbar  vor  Antritt  seiner  römischen  Legation  und  wohl  als  Preis 
ür  sie  zuteil,  doch  behielt  sich  die  Kanzlei  vor,  in  selbständiger  Dar- 
teilung nochmals  auf  den  Fall  zurückzukommen.  Diese  liegt  in 
CXII  vor. 

Wir  sahen,  daß  die  äußeren  Merkmale  dieser  Urkunde  allzu  hohes 
/ertrauen  nicht  erwecken.  Anders  steht  es  um  Fassung  und  Inhalt, 
her  hat  Gundlach  (a.  a.  0.  129—131)  von  der  Arenga  an  bis  zum 
lachgestellten  Demonstrativum  (kartam  hanc,  vgl.  dazu  auch  im  Kon- 
,ext  causam  hanc)  und  dem  ut  est  consuetiido  regum  et  imperatomm 
jn  der  Korroboration  aus  anderen  Diplomen  Heinrichs  IV.  an  einzelnen 
iätzen,  Worten  und  Wendungen  in  der  Tat  ein  wertvolles  und  be- 
chtenswertes  Vergleichsmaterial  zusammengetragen,  das  sicher  aus- 
eicht, die  Fassung  als  durchaus  kanzleigemäß  zu  verbürgen,  und  sie 
ielleicht  auch  bei  endgiltiger  Nachprüfung  als  das  Werk  des  unter 
leinrich  IV.   meist  beschäftigten,   von   Gundlach   mit  Gottschalk  von 


I 


246 


M.  Tangl 


Aachen  identifizierten  Diktators  anzuerkennen,  wofür  sie  Gundlach  an- 
spricht. Aber  es  verlohnt  auch,  Aufbau  und  Inhalt  der  Urkunde  zu 
verfolgen.  Die  verfängliche  Arenga  von  XXI  ist  durch  eine  neue  und 
kanzleimäßige  ersetzt;  ein  Hauptgedanke  ist  aber  immerhin  an  zwei 
Stellen  übernommen,  in  der  Arenga  emendemus  in  melius,  quod  per 
negligentiam  aut  malitiose  peccavimus  und  am  Schluß  des  Kontextes 
et  nostram  deleri  negligentiam  et  antecessorum  delicta  redimi,  qui  hat 
in  causa  negligenter  et  maliciose  egere.  Daß  das  Lob  Bennos  in  XXli 
viel  stärker  aufgetragen  ist,  erklärt  sich  aus  ihrem  Charakter  als 
Kanzleiausfertigung  aufs  beste;  in  XXI  hatte  sich  Benno  als  Eigenlob 
mit  den  Prädikaten  fidelis  und  in  nostro  servitio  longo  tempore  devo-^ 
tissimus  begnügt.^  Bei  dem  Wortlaut  der  Fälschungen  machte  der 
Diktator  von  XXII  keine  Anleihe;  viel  eingehender  aber,  als  es  in  XXI 
und  auch  in  irgend  einer  der  Fälschungen  geschehen  war,  verbreitet  er 
sich  über  die  Frage,  wie  Osnabrück  seiner  Zehntrechte  verlustig  ging. 
Nach  der  Bemerkung,  daß  dies  unter  Ludwig  d.  Deutschen  und  den 
Kriegswirren  jener  Zeit  durch  den  Grafen  Cobo^  geschehen  sei,  kommt 
er  nochmals  mit  einer  Ausführlichkeit  auf  diese  Frage  zurück,  die  wir 
nur  in  einer  Osnabrücker  Quelle  finden,  der  Querimonia  Egilmari. 


XXII: 

Equidem  prefatus  Coppo  primus  Usur- 
pator earundem  decimarum,  cum  totum  oc- 
casione  beUorum  iniusta  dominatione  suos 
in  usus  raperet,  partem  Warino  fratri  suo 
germano  Corbeiensi  abbati,  partem  abba- 
tiss^  Adel^  Herefurdensi  german§  suf  con- 
cessit. 


Querimonia  Egilmari: 

Qüidam  eius  fidelis  comes  ditissimus) 
Cobbo  nuncupatus  de  predicto  episcopatu 
quicquid  voluit  agere  adeptus,  germano 
eius  nomine  Werin  in  monasterio  ffuxiliensi 
tunc  temporis  abbate  et  sorore  eius  in 
puellarum  cenobio  fiervordensi  abbatissa 
degentibus  quantum  voluit  de  decimis,  que 
ad  eundem  episcopatum  pertinebant,  tradi 
fecit  ad  eadem  monasteria. 

Eines  ist  sicher,  daß  die  Kanzlei  Heinrichs  IV.  für  ihre  Darstel- 
lung eine  Grundlage  erhalten  haben  mußte,  und  daß  die  Fälschungen 
und  die  auf  ihnen  weiterbauende  Urkunde  XXI  diese  Grundlage  nicht 
abgaben.  Liegt  hier  also  etwa  direkte  Benutzung  der  Querimonia, 
Egümari  vor,  und  hat  Benno  auch  dieses  Zeugnis  damals  neben  seinen 
Urkunden  vorgewiesen?  Ich  halte  dies  für  ganz  ausgeschlossen,  da  er 
dadurch  der  Kanzlei,  der  Synode,  den  Gegnern  eine  einfach  vernich- 
tende Waffe  gegen  seine  Arnolf-Urkunden  in  die  Hand  gegeben  hatte. 
Man  denke  nur  an  Egilmars  Eingeständnis  seines  vollständigen  Miß- 


^  XXII:  Idem  vero  cum  per  omnem  vitam  suam  a  nobis  optime  meruisset,  tarn 
ea  de  causa  dignior  erat  audiri,  quod  in  omnibus  necessitatibus  nostris  fideiiter 
nobis  et  inremotus  comes  adhesit. 

'  Der  Name  dieses  Mannes  ist  sonst  nur  in  der  Fälschung  IV  genannt. 


Forschungen  zu  Karolinger  Diplomen  247 

jHgens  vor  der  Synode,  und  zwar  unter  dem  Drucke  des  Königs: 
ft  Uli  scientes  voluntatem  principis  et  quorundam  comitum  et,  ne  eum 
ffenderent,  renitentes  nil  de  causa  prolata  respondere  presumpserunt, 
\ed  penitüs  mm  responsione  canonica  in  amore  dei  petita  iusticia 
\fichi  denegata  est,  sicque  adulando  principi  iussus  sum  ab  eo,  si  eins 
\ratiam  velleni  habere  propitiam  eiusque  potestati  non  contraire,  ut  hec 
t  in  deciniis  et  reliquis  huiuscemodi  negociis  querulosis  omnia  per- 
uttereni  fore  sicut  inveni,  meaque  compulsa  interpellatio  cassata  est. 
\ed  ne  hoc  quideni  impetrare  quivi,  ut  accusatores  in  presentia  ex- 
iberentur  et  causa  recte  examinaretur,  und  halte  dazu  die  Fälschungen 
1^— VIII,  die  in  allen  diesen  Dingen  das  gerade  Gegenteil  aussagen! 

Wohl  aber  halte  ich  es  für  sehr  wahrscheinlich,  daß  Benno  selbst 
ine  historische  Darstellung  der  Zehntfrage  ausarbeitete,  für  deren 
»eginn  er  die  Querimonia  benutzte,  um  zur  rechten  Zeit  an  der  kriti- 
jchen  Ecke  von  ihr  abzuschwenken,  und  daß  diese  Denkschrift  in 
'.XII  verwertet  ist.  Aber  XXII  enthält  von  tatsächlichen  Angaben  noch 
iine  mehr  als  die  Querimonia  oder  die  aus  ihr  schöpfende  unmittel- 
bare Vorlage,  den  Namen  der  Äbtissin  von  Herford.  Der  konnte  in 
|er  Kanzlei  Heinrichs  IV.  weder  ohne  weiteres  bekannt  sein,  noch  ist 
[S  wahrscheinlich,  daß  man  ihn  erst  durch  umständliche  Nachfor- 
Ichungen  feststellte,  sondern  er  mußte  in  einer  die  Zehntfrage  be- 
jührenden  Quelle  vorliegen.  Unsere  Überlieferung  der  Querimonia  ist 
[eine  allzu  gute;  die  einzige  erhaltene  Handschrift  stammt  erst  aus 
lern  13.  Jahrhundert  und  zeichnet  sich  nicht  durch  sonderliche  Kor- 
ektheit  aus.  Die  Möglichkeit  ist  also  gegeben,  daß  die  bessere  und 
iltere  Überlieferung,  aus  der  man  zur  Zeit  des  Zehntstreites  schöpfte, 
mch  den  Namen  enthielt.  Aber  noch  ein  anderer  Ausweg  bietet  sich. 
|)er  Name  der  Äbtissin  Addila  stand  in  der  Korvey-Herforder  Fälschung 
luf  den  Namen  Ludwigs  d.  Deutschen,  welche  die  Überweisung  der 
pufkirchen  Meppen  und  Bünde  an  die  Klöster  enthielt.  Diese  Urkunde 
ivurde  bei  den  Verhandlungen  des  Wormser  Hoftages  von  1077  zwar 
liicht  selbst  vorgelegt,  wohl  aber  eine  Denkschrift  des  Korveyer  Abtes, 
iie  sich  auf  sie  berief.^  Zu  ihrer  Widerlegung  führte  ja  Benno  die 
"älschung  IV  ins  Treffen,  die  umgekehrt  vonseite  der  Vertretung  der 
(löster  gescholten  wurde.^  Da  ist  es  nun  von  hohem  Interesse,  daß 
CXII  im  Gegensatz  zu  XXI   die  Berufung   auf  diese  Urkunde  einfach 

'  ^  XXI:  Ex  abbatis  autem  scripto,  quod  attulit,  nulla  regali  auctoritate  confir- 
nato^  iuniorem  Ludevvicum  quandam  cellam  Corbeiensi  ecclesie  nomine  Meppiam, 
lerefurdensi  autem  ecclesiam  nomine  Bunede  cum  decimis  sibi  pertinentibus  in 
piscopatu  Osnebruggensi  concessisse  intelleximus. 

^  XXI:  Abbate  autem  et  abbatissa  preter  hoc  solum,  quod  ibi  videbatur  ficticium, 
iliquid,  quo  inniti  possent,  non  habentibus. 


248  M.  Tangl 

unterdrückt  und  die  Reihe  der  zu  Osnabrücks  Gunsten  sprechender 
urkundlichen  Zeugnisse  erst  von  der  Zeit  König  Arnolfs  an  eröffnet. 
Es  geschieht  dies  in  dem  kurzen  zusammenfassenden  Bericht,  der  vor 
allen  Forschern,  die  sich  mit  unserer  Frage  bisher  beschäftigten,  leb- 
haft erörtert  worden  ist:  Ventilata  est  res  in  conciliis  IUI:  primo  Rortu, 
süb  papa  Stephano,  secundo  Triburie  sab  Arnulfo  imperatore,  tertic 
Banne,  quarto  Ingelinheim. 

Drei  von  diesen  Berufungen  sind  glatt  festzustellen.    Die  erste  isi 
einem  Satz  aus   der  Fälschung  VIII   entnommen:   ut  Stephanus  papa 
diffinivit  et  litem  inter  eos  iterata  institutione  diremit.    Die  zweite  be- 
zieht sich   auf  den  Hauptinhalt  der   gleichen  Fälschung:   quoniam  in 
proximo  Triburie  constituta  erat  sinodus  ibi  fieri.   Die  hier  versammelten 
Bischöfe  sollen  ja  angeblich  das  bessere  Recht  schon  anerkannt,  König 
Arnolf  ihren  Spruch   bestätigt  haben.     Das  vierte  Zitat  geht  auf  die 
Fälschung  XIII:  synodum  Inglinheim  congregandam  proximo  autumnali 
tempore  .  .  .  condiximus.    In  diesem  Falle  werden  auch  die  Namen  dei; 
TeÜnehmer  aufgezählt  und  in  so  großer  Zahl,  daß  die  Versicherung  inj 
XXII  presentibüs  fere  omnibus  Teutonicarum  partium  episcopis  als  keinei 
allzu   arge  Übertreibung   erscheint  und   nur   die  Beigabe  mediantibu&\ 
legatis  Romanis  abgelehnt   werden   muß;   die  Vorurkunde   hatte  nui- 
davon  gesprochen,  daß  der  Papst  selbst  den  Rat  gegeben  habe,  zuii 
Verhandlung  der  Angelegenheit  die  Synode  zu  berufen.  Dagegen  stimml; 
wieder  genau  mit  XIII  die  Stipulierung  einer  Strafsumme  von  30  Pfund 
Gold.^ 

Schwierigkeiten  schafft  dagegen  das  dritte  Zitat  einer  Synode  zu  Bonn. 
Wilmans  (a.  a.  0. 1,  364f.)  dachte  hier  an  die  Fälschung  XI,  obwohl  er 
wußte,  daß  im  Kontext  dieser  Urkunde  im  Unterschied  zu  VIII  und  XIII  ein 
Ort  nicht  genannt  ist,  und  daß  die  Ortsangabe  in  der  Datierung  auf  Dort- 
mund weist.  Außer  der  Urkunde  müßte  hier  also  noch  eine  andere  Quelle 
anzunehmen  sein,  und  diese  glaubte  Wilmans  in  dem  Bericht  der  Con- 
tinuatio  Reginonis  oder  der  Hildesheimer  Annalen  gefunden  zu  haben, 
daß  942  (bzw.  943)  eine  Synode  zu  Bonn  abgehalten  worden  sei.  Von 
diesem  Zeitpunkte  liegt  die  aus  dem  Jahre  960  datierte  Urkunde  aller- 
dings weit  ab,  aber  Wilmans  glaubte  doch  die  Annahme  einer  Ver- 


^  Unter  allen,  sonst  mit  großem  Geschick  gearbeiteten  Osnabrücker  Fälschungen 
ist  IV  die  einzige,  der  man  die  Rasur  des  ganzen  Pergaments  auf  den  ersten  Blick 
anmerkt.  Sollte  das  Zusammentreffen  dieser  Tatsache  mit  der  Schelte  dieser  Urkunde 
und  dem  kühlen  tiinweggleiten  der  Kanzleiausfertigung  XXII  über  sie  rein  zufällig 
sein?  Man  halte  dazu  das  Zeugnis  der  Vita  Bennonis  c.  16:  Cum  adessent  etiam 
quam  plurimi,  qui  pro  abbate  loquerentur. 

^  XIII:  et  triginta  libras  auri  pro  iniusticia  illata  .  .  .  persolvendas  promiserunt. 
XXII:  cum  XXX  librarum  auri  compositione. 


Forschungen   zu  Karolinger  Diplomen  249 

arbeitung  dieser  beiden  Zeugnisse  der  einer  Berufung  auf  eine  verlorene 
jürkunde  vorziehen  zu  sollen.  Durch  sie  würde  man  nur  eine  Schwierig- 
|keit  los,  um  sich  eine  neue  und  vielleicht  noch  größere  aufzuhalsen; 
denn  dann  stimmt  die  Zahl  der  Synoden  nicht,  deren  wir  5  statt  4 
erhielten:  1.  Rom  (VIII),  2.  Tribur  (VIII),  3.  Bonn  (Urkunde  verloren), 
4.  Synode  v.  J.  960  unbekannten  Orts  (XI),  5.  Ingelheim  (XIII).  So 
steht  die  Sache  aber  doch  nicht;  zwischen  dem  Kontext  von  VIII  und 
XIII  einerseits  und  XI  andererseits  besteht  hier  ein  beachtenswerter 
Unterschied;  während  jene  ausdrücklich  von  Berufung  einer  Synode 
sprechen,  ist  in  XI  nur  von  Verhandlung  auf  einem  Hoftag  die  Rede. 
Es  besteht  daher  kein  zwingender  Grund,  XI  in  die  Berufung  ventilata 
est  res  in  conciliis  IUI  e'mzüheziehen.  Ich  schließe  mich  daher  dem  zuletzt 
von  Brandi  (a.  a.  0. 153)  vertretenen  Urteil  anderer  Forscher  an,  daß  hier 
ein  sicherer  Anhaltspunkt  der  Beziehung  auf  eine  verlorene,  an  Echtheit 
den  Schwestern  VIII,  XI,  XIII  zweifellos  ebenbürtige  Urkunde  vorliegt. 

Der  Rechtsinhalt  von  XXII  entspricht  im  wesentlichen  dem  von 
XXI:  Vorladung  beider  Parteien  mit  ihren  Beweismitteln  (cum  manu- 
scriptis)  auf  einen  Hoftag,  Anwesenheit  von  20  oder  noch  mehr 
Bischöfen,  Verlesung  der  Zeugnisse,  Urteil  zugunsten  von  Osnabrück, 
dem  die  Zehnten  seiner  Diözese  zugesprochen  werden.  Neu  ist  gegen- 
jüber  XXI  die  Einfügung  einer  Gegenleistung.  Der  Bischof  und  sein 
jKapitel  übernehmen  die  Verpflichtung,  dafür  zu  sorgen,  daß  für  das 
jSeelgedächtnis  des  im  Sachsenkrieg  gefallenen  Getreuen  Siegfrid  täglich 
leine  Sondermesse  und  Dienstags  die  Kapitelmesse  gelesen  werde. 
[Ebenso  wird  ihnen  aufgetragen,  für  das  zeitliche  und  ewige  Heil  und 
ispäter  einst  für  das  Gedächtnis  des  Königs  wöchentlich  30  Messen 
'ZU  lesen  und  ebenso  viele  Psalter  zu  singen.^ 

Bischof  Benno  hatte  seine  Zehnten  hiermit  zum  zweitenmal  zuge- 
sprochen erhalten;  ob  ihm  aber  die  Form  besonders  zusagte,  möchte 
jich  sehr  bezweifeln.  Die  Kraftsätze  aus  den  schönen  Fälschungen 
waren  alle  verschwunden,  an  ihre  Stelle  ein  nüchterner  Bericht  getreten. 
Der  Vielgewandte  wußte  sich  auch  hier  Rats.    Er  erbat  sich  noch  die 


^  Schon  Gundlach  hat  darauf  hingewiesen,  daß  eine  ganz  ähnliche  Bestimmung 
einer  aus  der  Kaiserzeit  Heinrichs  IV.  stammenden    und  im  Codex   üdalrici  über- 

[lieferten  Schenkung  für  eine  Peterskirche  beigefügt  ist.    Jaffe,  Bibliotheca  rr.  Germ. 

'5,  238  Nr.  127;  aber  ich  glaube  nicht,  daß  die  Gleichheit  des  Schutzheiligen  ausreicht, 
um  auch  diese  Schenkung,  wie  Gundlach  später  annimmt,  auf  Osnabrück  zu  deuten. 
Eine  Berufung  auf  eine  ähnliche,  aber  verlorene  Urkunde  Heinrichs  IV.  liegt  vor  in 
dem  Diplom  Konrads  III.  für  Burtscheid,  Stumpf  3369,  KüiA.  X,  1:  specialiter  pro 
anima  ^igefridi  comitis  sociorumque  eius  pro  fidelitate  regni  in  Saxonie  interfectorum. 
Im  Memorienbuch  der  Osnabrücker  Kirche  war  die  Stiftung  Heinrichs  IV.  nicht  ver- 
zeichnet, und  nach  der  Annahme  von  Jostes  (Zeitschrift  f.  vaterl.  Gesch.  62,  116) 
ist  keine  der  vielen  Messen  gelesen   worden. 


I 


250  M-  Tangl 

Vergünstigung,  sich  das,  was  ihm  nun  schon  in  zwiefacher  Weise  ver- 
brieft worden  war,  in  einer  beide  Urkunden  zusammenfassenden  und 
so  die  ganze  Angelegenheit  endgiltig  abschließenden  Prunkausfertigung 
bestätigen  zu  lassen.  Seinem  Ansuchen  wurde  (—  unmittelbar  vor 
seiner  zweiten  Gesandtschaftsreise  nach  Rom  — )  entsprochen.  So 
entstand  die  Prunkurkunde  XXIII,  für  deren  Abfassung  Benno  selbst 
wieder  vollkommen  freie  Hand  erhalten  haben  mußte;  denn  die  Mischung 
zwischen  XXI  und  XXII  fiel  ganz  nach  seinem  Geschmack  aus.  Aus 
XXI  wurde  wörtlich  alles  übernommen,  aus  XXII  —  die  Messen  und 
Psalter.  Die  durch  die  Goldbulle  beglaubigte  Urkunde  galt  fortan  als 
die  eigentlich  entscheidende  Verbriefung.  Als  solche  wird  sie  von 
Abt  Norbert  von  Iburg  in  seiner  Vita  Bennonis  gefeiert. 

Im  Herbst  1077  waren  die  gefälschten  Urkunden  schon  vorhanden. 
Die  Frage  kann  nur  sein,  ob  sie  damals  als  schon  ältere  Bestände 
dem  Osnabrücker  Archiv  entnommen  werden  konnten  oder  ob  sie  erst 
als  Rüstzeug  für  den  seit  kurzem  ausgebrochenen  Kampf  frisch  an- 
gefertigt wurden.  Sollte  die  Vermutung  über  die  zur  Anwendung  auf 
Heinrich  IV.  ersonnene  Arenga  der  Fälschung  IV  zutreffen,  dann  könnten 
Herstellung  und  Verwertung  dieser  Urkunden  unmöglich  weit  vonein- 
ander liegen.  Die  Entscheidung  in  dieser  Frage  müssen  die  Fälschungen 
selbst  bringen,  deren  näherer  Betrachtung  wir  uns  jetzt  zuwenden. 

4.   Die  gefälschten  Urkunden 

Die  Urkundenkritik  ist  von  der  Gunst  oder  Ungunst  der  Über- 
lieferung in  entscheidender  Weise  abhängig.  Sie  kann  an  der  Hand 
der  Originalurkunde  zur  gesicherten  Beobachtung  über  eine  Reihe  von 
kritischen  Fragen  vordringen,  deren  Lösung  ihr  bei  der  Abschrift  oder 
dem  Druck  versagt  oder  nur  in  beschränktem  Maße  möglich  ist.  Dies 
trifft  für  die  Urschriften  von  Fälschungen  noch  stärker  zu.  Die  För- 
derung, welche  die  Kritik  der  Gurker  Fälschungen  erfuhr,  als  neben 
dem  lange  allein  bekannten  Kopialbuch  die  Urschriften  dieser  Fälschungen 
auftauchten,  wird  in  der  Geschichte  der  Kritik  einer  großen  zusammen- 
hängenden Gruppe  immer  eines  der  schönsten  und  lehrreichsten  Bei- 
spiele bleiben.^  Daher  auch  bei  der  Osnabrücker  Gruppe  das  lange, 
eifrige  Fahnden  nach  den  Urschriften  und  die  Freude,  als  der  Hehl- 
mantel fiel,  der  um  sie  gelegt  war.  Darf  die  Freude  auch  eine  voll- 
kommene sein?  Haben  sich  die  hochgespannten  Erwartungen  auch 
ganz  erfüllt?  Offen  gesagt,  nicht  in  dem  Maße  wie  in  ähnlichen  Fällen 
bei  anderen  Gruppen.  Bei  den  Passauer  Fälschungen  bedarf  es  wirk- 
lich nur  eines  Blickes,  um  zu  erkennen,   daß  sie  alle  von  derselben 


^  A.  V.  Jaksch,  Monumenta  historica  ducatus  Carinthiae,  I.  Bd.  Einleitung. 


Forschungen   zu  Karolinger  Diplomen  251 

Hand  herrühren  und  daß  diese  Hand  mit  der  des  Kanzleischreibers 
jWilligis-C  unter  Otto  II.  identisch  ist.^  Ebenso  wird  man  dem  Urteil, 
^alß  die  angeblichen  Urkunden  Karls  d.  Gr.  für  Kempten  DK.  223,  224, 
Idie  in  der  diplomatischen  Literatur  berühmte  Lindauer  Fälschung  auf 
Öen  Namen  Ludwigs  d.  Fr.,  das  angebliche  Diplom  Ludwigs  d.  Deutschen 
ifür  Rheinau,  Mühlbacher  1402,  und  die  gefälschte  Urkunde  Karls  III.  für 
JReichenau,  Mühlbacher  1610  von  gleicher  Hand  herrühren,^  nach  kurzer 
Prüfung  beitreten.  Bei  Osnabrück  liegt  die  Sache  nicht  ganz  so  ein- 
fach. Zwar  sind  Brandi,  Ottenthai  und  ich  gleichzeitig  und  ganz  unab- 
hängig voneinander  zu  demselben  Ergebnis  gelangt,  daß  die  Fälschungen 
als  das  Werk  einer  einzigen  Hand  anzusprechen  sein  dürften;^  wer  aber 
daraufhin  etwa  die  Faksimiles  von  I  und  VII  gegeneinander  hält  und 
zu  der  bloßen  Behauptung  ohne  näheren  Beweis  den  Kopf  schüttelt 
oder  sie  rundweg  ablehnt,  dem  kann  ich  sein  Zweifeln  nicht  verargen. 
Trotzdem  kann  von  Enttäuschung  nicht  die  Rede  sein.  Die  Auf- 
jgabe  ist  bei  dieser  Gruppe  nur  schwieriger,  aber  gerade  darum  reiz- 
Ivoller  geworden.  Ehe  ich  weiter  gehe,  sei  mir  eine  allgemeine  Bemer- 
Ikung  gestattet.  Gelingt  es  bei  der  Untersuchung  solcher  Gruppen,  die 
JGleichheit  der  Schrift  völlig  klar  und  sicher  zu  erweisen,  dann  steht 
jdadurch  mit  einem  Schlage  auch  die  Einheitlichkeit  der  Fälschung 
Ifest;  im  gegenteiligen  Falle  aber  ist  sie,  wie  wir  an  einem  berühmten 
Beispiel  sehen,  darum  noch  keineswegs  widerlegt.  An  der  Einheitlichkeit 
der  Fälschung  der  großen  österreichischen  Privilegien  wird  aus  inneren 
Gründen  von  keiner  Seite  ein  Zweifel  erhoben;  und  doch  rühren  die 
(drei  führenden  Urkunden,  die  Heinrichs  IV.,  das  Privilegium  Maius 
Friedrichs  I.  und  die  Bestätigung  des  Maius  durch  Friedrich  II.  von 
ganz  verschiedenen  Händen  her,  oder  die  Verstellungskunst  hat  hier 
eine  kaum  mehr  für  möglich  zu  haltende  Höhe  erreicht.  Für  unsere 
Gruppe  bedürfen  wir  aber  keiner  solchen  Rückzugsdeckung;  denn 
ich  hoffe  aus  den  äußeren  und  inneren  Merkmalen  den  Beweis  ein- 


^  Vgl.  ühlirz,  Die  Urkundenfälschung  zu  Passau  im  10.  Jahrhundert.  Mitteil. 
d.  Instituts  f.  österr,  G.-F.  3,  181  ff.,  ferner  die  Faksimiles  in  Kaiserurk.  in  Abbild. 
VII,  25  und  in  meinen  Schrifttafeln  Arndt-Tangl  III,  78. 

^  Lechner,  Schwäbische  Urkundenfälschungen  des  10.  und  12.  Jahrhunderts, 
Mitteil.  d.  .Instituts  f.  österr.  G.-F.  21,  28 ff. 

^  Brandi  a.a.O.  S.  151  in  vorsichtiger  Formulierung:  „Demgegenüber  lehrt 
nun  die  Untersuchung  der  jetzt  vorliegenden  Urschriften  —  wenn  ich  mich  nicht 
sehr  täusche  —  durchaus  die  Einheitlichkeit  der  Fälschungen.  Nicht  nur  die  Technik 
der  Herstellung  unter  Benutzung  echter  Pergamente  und  Siegel  ist  durchweg  die- 
selbe; auch  die  Schriftzüge  scheinen  mir  auf  dieselbe  Hand  zu  weisen;  ein  über- 
zeugender Beweis  ist  durch  die  Schriftvergleichung  freilich  nicht  zu  liefern,  wie 
jeder  weiß,  der  Schriftzüge  verglichen  hat,  die  Vorlagen  verschiedenen  Alters  nach- 
ahmen sollen." 


I 


252  ^'  Tangl 

heitlicher  Entstehung  und  Herstellung  mit  Sicherheit  zu  erbringen. 
Beobachtungen  an  der  ganzen  Reihe  sollen  ihn  eröffnen,  die  Prüfung 
der  einzelnen  Urkunden  ihn  abschließen. 

Ich  knüpfe  zunächst  an  die  Feststellung  Brandis  an:  gleiche  Technik 
der  Herstellung  unter  Benutzung  echter  Pergamente  und  Siegel.  Die_ 
meisten,  vielleicht  alle  Fälschungen  stehen  über  Rasur,  der  die  Texte  echter 
Vorlagen  zum  Opfer  fielen.  Das  würde  noch  nicht  allzuviel  besagen; 
denn  dieser  Vorgang  war  im  Mittelalter  allbekannt.  Aber  diese  Ra- 
suren sind  mit  wahrer  Meisterschaft  ausgeführt.  Während  sonst  bei 
Handschriften  und  Urkunden  über  Vorhandensein  und  Ausmaß  solcher 
Rasuren  bei  einigermaßen  sorgfältigem  Zusehen  kaum  ein  Zweifel  be- 
steht, bedarf  es  hier  wiederholter  sorgfältiger  Prüfung  und  schärfsten 
Zusehens,  um  gerade  die  Gesamtrasuren  der  Pergamentfläche  mit  Sicher- 
heit zu  erkennen.  Vollkommen  deutlich  und  auf  den  ersten  Blick  tritt 
dies  nur  bei  IV  hervor,  wo  die  dunkle  Färbung  des  Pergaments  und 
die  stark  hervortretenden  Poren  der  inneren  Schicht  zu  Verrätern 
werden.  Am  nächsten  stehen  hierin  VIII  und  XI.  Bei  den  übrigen 
aber  läßt  sich  Gesamtrasur  nur  mit  größter  Schwierigkeit  erkennen; 
denn  auf  den  Pergamenten  ist  jede  Spur,  die  zur  Verräterin  werden 
könnte,  aufs  sorgfältigste  beseitigt,  sind  besonders  die  Grenzen  zwischen 
Einzel-  und  Gesamtrasur  mit  vollendeter  Täuschung  verwischt,  und 
nur  der  Vergleich  mit  den  zweifellosen  Originaldiplomen  der  Ottonen- 
und  Salierzeit  läßt  die  Weiße  und  Glätte  der  unversehrten,  gut  kalzi- 
nierten Oberschichte  des  Pergaments  bei  allen  vermissen.  Näheres 
bitte  ich  unten  bei  der  Beschreibung  der  einzelnen  Urkunden  nachzu- 
lesen. Man  halte  dagegen  etwa  die  beiden  Fälschungen  für  Kempten 
DK.  222,  223  oder  die  für  Lindau,  Mühlbacher  992,  bei  denen 
infolge  der  ungleich  roheren  Arbeit  das  Vorhandensein  von  Gesamt- 
rasur auch  dem  ungeübten  Auge  sofort  klar  werden  muß.  In  IV  und  - 
VII  sind  mit  gleicher  Kunstfertigkeit,  ohne  irgend  sichtbare  Spuren  des 
Eingriffes  zu  hinterlassen,  die  echten  Siegel  von  den  Urkunden,  zu 
denen  sie  ursprünglich  gehörten,  abgelöst  und  an  den  Fälschungen 
neu  befestigt.^  I  und  III  gleichen  sich  darin,  daß  in  beiden  nur  für 
die  Rekognition,  in  III  sogar  nur  für  das  Rekognitionszeichen  eine 
andere  Urkunde  als  Vorbild  herangezogen  wurde,  und  zwar  in  I  sicher, 
in  III  wahrscheinlich  eine  solche  für  einen  italischen  Empfänger.  Auf 
solche  Arbeitsweise  verfallen  nicht  unabhängig  voneinander  zwei  ver- 
schiedene Fälscher;  das  ist  einheitliche  Mache.  Dazu  kommt  die  Nach- 
ahmung der  Schriftvorlagen.    In  I,  II  und  III  hält  sie  sich  infolge  der 


*  Ein  Belassen  der  Siegel   an  den  ursprünglichen,   aber  radierten  Pergamenten 
ist  in  beiden  Fällen  ausgeschlossen. 


Forschungen   zu  Karolinger  Diplomen  253 

.Fremdartigkeit  der  Schrift  der  echten  Vorlage  noch  in  sehr  beschei- 
denen Grenzen,  so  daß  man  gerade  noch  feststellen  kann,  daß  die 
echte  Urkunde  Karls  d.  Gr.  von  der  Hand  Amalberts  und  die  Lud- 
wigs d.  Fr.  von  dem  unter  Durandus  meistbeschäftigten  Schreiber 
herrührten.  In  IV  aber  lieferte  der  Fälscher  sein  erstes  Meisterstück, 
indem  er  die  Kontextschrift  des  Comeatus  schon  gut,  die  Signumzeile, 
Rekognition  und  Datierung  aber  so  glänzend  nachzeichnete,  daß  hier 
selbst  Brandi  der  Täuschung  zum  Opfer  fiel  und  (S.  129)  annahm,  daß 
die  Rasuren  vor  der  Signumzeile  Halt  machten  und  „das  gesamte 
Eschatokoll  mit  seiner  spatiösen  Anordnung  und  den  unverkennbaren 
Schriftzügen  des  Comeatus  wohlerhalten"  sei.  Ebenso  vortrefflich  ist 
in  V  die  Schrift  des  noch  mit  voller  Sicherheit  feststellbaren  Schreibers 
jaus  der  Kanzlei  König  Arnolfs  und  in  XIII  die  Hand  des  Schreibers 
iWB.  nachgeahmt,^  und  XI  gibt  sich  mit  solchem  Erfolg  den  Anschein 
[einer  echten  Urkunde,  daß  W.  Diekamp  noch  nach  dem  Erscheinen  des 
1.  Bandes  der  Diplomata-Ausgabe  für  die  Originalität  dieser  lange  allein 
in  Urschrift  bekannten  Osnabrücker  Fälschung  eine  Lanze  gebrochen  hat. 
Doch  wir  müssen  nun  der  Frage  näher  treten,  ob  sich  über  alle 
jdiese  Anhaltspunkte  hinaus  Kennzeichen  gleicher  Schrift  innerhalb  der 
einzelnen  Stücke  feststellen  lassen.  Einzusetzen  ist  hier  bei  der  jüngeren 
Gruppe  der  Arnolf-  und  Otto-Urkunden  (V-VIII,  XI,  XIII).  Ihre  Vor- 
jlagen  boten  dem  Fälscher  eine  Schriftart,  mit  der  er  selbst  noch  aus- 
reichend vertraut  war.  Hier  schrieb  er  sicher  und  ohne  Verzerrungen 
iund  bot  bei  allen  gelungenen  Anpassungsversuchen  so  charakteristische 
Kennzeichen  der  eigenen  Hand,  daß  hier  auch  Ottenthai  gleich  mir  die 
Schriftgleichheit  dieser  Urkunden  für  sicher  erwiesen  hält.^  Innerhalb 
dieser  Gruppe  lassen  sich  wieder  Abstufungen  machen;  VI,  VII,  VIII 
und  XI  zeigen  das  einheitlichste  Bild;  hier  kann  über  die  Gleichheit 
der  Hand  gar  nicht  gestritten  werden.  Man  vergleiche  nur  den  all- 
gemeinen Duktus,  die  regelmäßig  nach  links  sich  umbiegenden  Unter- 
Schäfte,  die  eigentümlichen  d,  die  zur  Oberlänge  auch  noch  eine  nach 
'links  hin  verlaufende  Unterlänge  erhalten  haben.^  Selbständigerhalten 
sich  in  der  Schrift  V  und  besonders  XIII,  weil  in  beiden  mehr  Sorgfalt 
auf  die  Nachahmung  der  echten  Vorlage  verwendet  ist.  Engster  Zu- 
sammenhang zeigt  sich  dann  wieder  in  den  Rekognitionszeichen.    Die 


^  Ottenthai,  Mitteil.  Erg.-Bd.  6,  31. 

^  Mitteil.  d.  Instituts  f.  österr.  G.-F.,  Erg.-Bd.  6,  33:  „Alle  diese  vier  Arnulfischen 
Urkunden  für  Osnabrück  aber  sind,  wenn  auch  nicht  nach  dem  gleichen  Schrift- 
muster, so  doch  sicher  von  einer  und  derselben  Hand  geschrieben,  und  zwar  von 
der  gleichen,  welche  auch  0.  212  und  421  (XI  und  XIII)  schrieb." 

^  Der  Fälscher  hatte  diese  Gebilde  der  echten  Vorlage  von  V  abgeschaut  und 
nun  beibehalten  und  weitergestaltet. 


I 


254  M-  Tangl 

dem  Notar  Engilpero  nachgezeichneten  pseudotironischen  Noten  von  V 
müssen  auch  dazu  herhalten,  die  Rekognitionszeichen  von  VI,  VII  und 
XI  zu  schmücken.  Hier  ergibt  sich  auch,  wie  schon  Ottenthai  (S.  33) 
scharf  erkannte,  die  erste  enge  Beziehung  zu  den  Fälschungen  der 
älteren  Gruppe.  Das  Rekognitionszeichen  von  VIII,  in  der  Grundform 
dem  von  XI  nahestehend,  aber  ohne  Notengebilde,  zeigt  selbst  wieder 
enge  Verwandtschaft  mit  den  Rekognitionszeichen  von  I  und  II. 

Bei  den  älteren  Urkunden  hatte  es  der  Fälscher  mit  Vorlagen  zu 
tun,  deren  Schrift  ihm  nicht  vertraut  war;  der  Kursive  älterer  Karo- 
linger-Urkunden stand  er  viel  fremder  gegenüber  als  der  Urkunden- 
Minuskel  der  späteren  Zeit.  Bei  I— III  mißlang  der  Versuch,  die  Vor- 
bilder auch  nur  mit  einigem  Geschick  nachzuahmen.^  Die  Hand  des 
Fälschers  ist  hier  unsicher;  er  versucht  es,  durch  eigene  phantastische 
Zutaten,  wie  etwa  die  Gestaltung  der  Oberschäfte  in  III,  den  Eindruck 
alter,  von  bekannter  Art  abweichender  Schrift  hervorzurufen.  Das  Ge- 
lingen stellt  sich  bezeichnender  Weise  zum  erstenmal  bei  IV  ein,  da 
die  regelmäßige,  der  Minuskel  sich  stark  nähernde  Schrift  des  Come- 
atus  dem  Fälscher  schon  besser  vertraut  war.  Wir  machen  die  gleiche 
Erfahrung  bei  den  älteren  Fälschungen  für  St.  Maximin  bei  Trier.  Daß 
die  Urschriften  der  angeblichen  Urkunden  Pippins,  Karls  d.  Gr.  und 
Ludwigs  d.  Fr.  von  gleicher  Hand  herrühren,  war  denen,  die  sich  mit 
ihnen  näher  befaßten,  niemals  zweifelhaft;  gestritten  wurde  nur  über 
das  Alter  der  Hand.^  Und  doch  zeigt  die  Schrift  der  Pippin-  und 
Karl-Urkunde  geradezu  wunderliche  und  krause  Formen,  die  erst  bei 
der  Ludwig-Urkunde  größerer  Regelmäßigkeit  weichen.  Trotzdem  fehlt 
es  bei  unserer  Gruppe  nicht  an  festeren  Anhaltspunkten.  Die  Neigung 
der  Unterlängen  nach  links,  die  für  die  späteren  Stücke  so  charakte- 
ristisch ist,  findet  sich  durchweg  auch  in  der  Reihe  I — V.  Vor  allem 
aber  gilt  es,  zwei  charakteristische  Buchstaben  näher  zu  verfolgen.  Der 
eine  ist  das  t.  Die  Überdachung  des  Hauptschaftes  richtet  sich  zu- 
nächst stark  nach  aufwärts,  senkt  sich  dann  nach  unten,  um  schließ- 
lich in  ebenso  scharfer  Biegung  wieder  nach  rechts  oben  zu  verlaufen. 
Diese  scharf  ausgeprägte  Wellenlinie  des  t  fehlt  nur  in  V  und  XIII,  da- 
in  diesen  Urkunden  die  besonders  getreu  nachgebildeten  Schriftvorlagen 


^  Wenn  wir  vom  Rekognitionszeichen  in  III  absehen! 

^  Ins  10.  Jahrhundert  setzt  sie  Br esslau,  Über  die  älteren  Königs-  und  Papst- 
urkunden für  das  Kloster  St.  Maximin  bei  Trier,  Westdeutsche  Zeitschr.  5,  20 ff.,  in 
die  erste  Hälfte  des  12.  Jahrhunderts  Dop  seh,  Die  falschen  Karolinger-Urkunden 
für  St.  Maximin,  Mitteil.  d.  Instituts  f.  österr.  G.-F.  17,  Iff.  In  einer  späteren  Arbeit 
(Trierer  Urkundenfälschungen,  NA.  25,  345ff.  ging  Dopsch  mit  seinem  Ansatz  ins 
11.  Jahrhundert  zurück.  Ich  selbst  stellte  mich  nach  eigener  Prüfung  dieser  Urkunden 
auf  Bresslaus  Seite  (vgl.  MG.  Dipl.  Karol.  1,  562,  Nachtrag  zu  DK.  39). 


Forschungen  zu  Karolinger  Diplomen  255 

geradlinige  Überdachung  des  t  aufwiesen.^  Noch  charakteristischer  ist 
aber  der  Buchstabe  g.  Wenn  wir  hier  zunächst  die  Urkunden  VII  bis 
XHI  vornehmen,  sehen  wir  diesen  Buchstaben  ganz  ausnahmslos  so 
gebildet,  daß  der  Schreiber  zunächst  ein  o  schrieb,  um  dann  in  neuem 
Ansatz  und  zwar  unten  an  der  Mitte  des  Bauches  die  offene,  aber 
mit  einem  Schnörkel  versehene  Unterlänge  anzufügen.^  Man  vergleiche 
etwa  VII  Z.  2  regionis,  Z.  4  magni,  1.  6  Gregorii\  VIII  Z.  2  Egilmams, 
Z.  6  Ende  magis,  Z.  9  ex  integro\  XI  L  8  exigenda-,  XIII  Z.  6  Regi- 
noldüs  und  Osnabmggense.  Dies  sind  nur  Beispiele,  an  denen  sich 
jdie  Schreibweise  dieses  Buchstaben  besonders  deutlich  verfolgen  läßt; 
denn  sie  ist  in  diesen  Urkunden  überhaupt  ganz  konsequent  durch- 
geführt, aber  auch  nur  in  ihnen.  Schon  VI  zeigt  eine  etwas  andere 
Art:  das  g  in  Z.  3  regionis  entspricht  zwar  in  der  Hauptsache  denen 
in  VII— XIII,  aber  die  Unterlänge  setzt  sich  statt  mit  feiner  Spitze  mit 
starker  Verdickung  an  die  Rundung  an;  Formen  wie  Z.  11  Osnabrug- 
\gensi  nähern  sich  überhaupt  dem  Normal-g.  Und  nun  nehmen  wir 
uns  V  vor.  In  einem  einzigen  Wort  Z.  12  regali  erscheint  das  g  in 
der  bisher  besprochenen  Art;  in  allen  anderen  Fällen  begegnet  das 
Normal-g  oder  das  der  älteren  Kursive  und  Minuskel  entsprechende 
offene  g;  so  deutlichst  im  ersten  Wort  von  Z.  7  Osnebruggensi.  Also 
gerade  hier  eine  Ungleichheit  in  den  Urkunden  V— VII,  die,  wie  schon 
Brandi  erkannte,  inhaltlich  aufs  engste  zusammenhängen,  eine  aus  der 
anderen  erwachsen  sind,  und  an  deren  Gleichhändigkeit  nach  dem 
Gesamtbilde  der  Schrift  und  allen  sonstigen  Einzelheiten  gar  nicht  ge- 
zweifelt werden  kann.  Der  Fälscher  hat  hier  in  seiner  Schrift  eine  Ent- 
wicklung durchgemacht,  die  uns  besonders  klar  entgegentritt,  wenn 
wir  die  Datierungen  der  3  Urkunden  gegeneinander  halten:  in  V  das 
offene  g  in  regni,  das  normale  in  regis  und  regia;  in  VI,  dessen  Da- 
tierung wörtlich  aus  V  abgeschrieben  ist,  das  besonders  geartete  g  in 
regni  und  regia  neben  dem  normalen  oder  dem  offenen  sich  nähernden 
in  regis  und  die  einheitlich  nach  der  früher  geschilderten  Art  gestalteten 
g  derselben  Worte  in  VII.  Entweder  ist  der  Fälscher  auf  die  neue 
Form,  die  er  fortan  konsequent  anwendet,  erst  im  Laufe  der  Arbeit 
gekommen  oder  er  hat,  was  mir  wahrscheinlicher  ist,  die  Zugeständ- 
nisse und  Annäherungsversuche,  die  er  besonders  den  älteren  Schrift- 


^  Man  vergleiche  für  XIII  die  Faksimiles,  auf  die  schon  Ottenthai  verwiesen 
hatte:  KüiA.  III.  28,  IX.  3  und  Sickel,  Beiträge  zur  Diplomatik  VI.  Wiener  S.-B. 
85.  Bd.  Taf.  IV. 

^  Diese  Eigentümlichkeit  ist  schon  Otten-thal  a.a.O.  S.  31  aufgefallen  und 
er  hat  bereits  zutreffend  bemerkt,  daß  es  sich  hier  nicht  um  Nachahmung  eines 
Vorbildes  (das  sich  in  dieser  Weise  gar  nicht  belegen  läßt),  sondern  um  eine  Eigen- 
tümlichkeit des  Fälschers  handelt. 


I 


256  M-  Tangl 

vorlagen  früher  machte,  im  Laufe  der  Arbeit  zugunsten  der  ihm  ge- 
läufigen Sondergestaltung  aufgegeben.  Die  Urkunden  I— IV  decken 
sich  nun  mit  dem  Schriftbilde  von  V.  Die  charakteristischen  g  der 
späteren  Gruppe  lassen  sich  in  vereinzelten  Beispielen  durchgehend 
verfolgen:  I  Z.  7  gegen  Ende  aggravare  beide  Formen  nebeneinander; 

II  Z.  2  Ende  augmentum,  Z.  4  Bergashouid,  Z.  5  integritate,  1.  6  Osningl 

III  Z.  3  Osnabruggensis,  deutlichst  beide  Formen  nebeneinander,  IV  Z.  2 
Gozberto,  Z.  11  peregrinomm.  Das  letzte  Beispiel  ist  besonders  wichtig; 
es  läßt  erkennen,  daß  zunächst  das  e,  die  o-gleiche  Rundung  des  g 
und  das  r  in  einem  Zuge  geschrieben  und  dann  erst  die  Unterlänge 
des  g  angesetzt  wurde.  Genau  so  aber  ist  in  VII  Z.  5  die  Verbindung 
e-g-i  in  Egilfritho  geschrieben. 

Alles  zusammen  spricht  für  Einheit  und  Gleichheit  der  Fland.  Die 
Einheit  der  Tendenz  der  Gesamtgruppe,  die  wir  schon  kennen,  und  die 
Einheit  im  Aufbau  der  Einzelurkunden,  die  wir  noch  verfolgen  werden, 
erhalten  durch  den  Schriftbestand  eine  weitere  und  kräftige  Stütze. 
Aber  noch  nach  anderer  Richtung  ist  das  Ergebnis  wichtig.  Brandi 
hatte  versucht,  die  der  Zeit  nach  ältesten  Urkunden  an  das  Ende  der 
ganzen  Fälschungenreihe  zu  rücken.  Nach  den  Feststellungen,  die  ich 
soeben  zu  geben  versuchte,  gehören  sie  zusammen  mit  V  und  nicht 
getrennt  von  diesem  ebenso  bestimmt  an  den  Anfang,  oder  die  ganze 
Schriftentwicklung,  die  sich  innerhalb  der  Gruppe  kund  gibt,  ist  nicht 
zu  verstehen. 

Wir  müssen  aber  noch  einer  Handhabe  unsere  Aufmerksamkeit 
schenken,  die  uns  die  Urschriften  bieten:  ihren  Dorsualvermerken.  Auch 
diese  hat  Jostes  in  höchst  verständnisvoller  Weise  auf  Tafel  XXIV 
seiner  Publikation  zusammengestellt,  und  auf  Grund  der  Einsicht  der 
Urkunden  selbst  bin  ich  in  der  Lage,  weitere  Erläuterungen  hierzu  zu 
bieten. 

Alle  Originalurkunden  von  IX— XVI,  mit  alleiniger  Ausnahme  von 
XV,  haben  von  der  gleichen,  sehr  charakteristischen  Hand  kurze  regest- 
artige  Vermerke  auf  der  Rückseite  erhalten.  Von  einer  anderen  Hand 
sind  dann  in  regelmäßigerer,  kleinerer  Schrift  die  Originale  XVII,  XVIII 
und  XX  mit  ähnlichen  Vermerken  versehen.  Wahrscheinlich  bedeuten 
die  Datierungen  von  XVI  und  XVII,  also  die  Jahre  1002  und  1023,  die 
zeitlichen  Grenzen  der  ersten  einheitlichen  Signierung,  und  diesem 
Ansatz  entspricht  auch  der  Schriftcharakter.  Alle  jüngeren  Vermerke, 
von  dem  des  12.  Jahrhunderts  in  XIX  an,  bleiben  als  für  die  kritische 
Frage  belanglos  außer  Betracht.  Da  ist  es  nun  lehrreich  zu  sehen, 
daß  die  Fälschungen  in  der  Mehrzahl  alte  Vermerke  überhaupt  nicht 
tragen,  oder  daß  diese  später  teilweisen  Veränderungen  unterworfen 
wurden.    I  entbehrt  jedes  Vermerk,  II,  das  auf  Leinwand  aufgezogen 


Forschungen   zu  Karolinger  Diplomen  257 

st,  trägt  nur  einen  jüngeren,  nach  meiner  Schätzung  dem  13.  Jahr- 
lundert  zugehörigen  Vermerk  Privilegium  Karoli  magni}  III  trägt  den 
v^ermerk  Confirniado  Hludouuici  imp.  in  einer  an  und  für  sich  schwer 
jatierbaren  Kapitalschrift;  dieselbe  Hand  kehrt  aber  in  VIII  und  XVII 
vieder,  hier  als  jüngeres,  das-  frühere  in  einer  Kleinigkeit  änderndes 
'<egest.^  Nun  sahen  wir,  daß  die  ältere  Dorsualnotiz  von  XVII  von 
bleicher  Hand  auch  noch  in  XX  vom  Jahre  1057  wiederkehrt.  Da  es 
licht  wahrscheinlich  ist,  daß  ein  und  derselbe  Mann  durch  mindestens 
]A  Jahre  von  Fall  zu  Fall  Rückaufschriften  auf  die  Urkunden  setzte,  ist 
lies  vermutlich  1057  oder  bald  danach  in  einem  Zuge  geschehen. 
Jünger  noch  sind  die  Vermerke  in  Kapitalschrift,  d.  h.  sie  fallen 
rühestens  etwa  in  Bennos  Zeit.  IV  und  VI  entbehren  alter  Vermerke. 
5s  bleibt  aber  noch  die  für  diese  Frage  wichtigste  Gruppe  V,  VII,  XI, 
*CIII.  Der  Vermerk  in  V  lautet  jetzt  Preceptum  Arnulfi  regis  datum 
^gilmaro  episcopo  d  [. . .  starke  Rasur]  de  servitio  [dies  und  alles 
■olgende  über  Rasur,  sichtbar  noch  ein  ursprüngliches  st]  regio  et 
?xpeditio  [Rasur]  non  exigenda.  Schon  die  Rasuren  lassen  ahnen,  daß 
lier  etwas  nicht  in  Ordnung  ist.  Nur  der  erste  Teil  des  Vermerkes 
ührt  von  gleicher  Hand  her  wie  die  auf  den  Originalen  IX — XVI;  alles 
A^as  ursprünglich  nach  episcopo  folgte,  wurde  durch  Rasur  getilgt,  der 
lur  der  Anfangsbuchstabe  des  ursprünglichen  de  entgangen  ist.  Der 
zweite  Teil  des  jetzigen  Regestes  de  servitio  —  exigenda  rührt  von 
mderer  Hand  her,  die  der  ersten  aber  ähnlich  ist,  oder  wohl  richtiger, 
ile  sich  bemühte,  ihr  ähnlich  zu  sein.  Daß  man  aber  diesen  Eingriff 
n  das  Regest  der  Rückseite  der  Urkunde  für  nötig  fand,  hatte  seinen 
jrund  darin,  daß  mittlerweile  auch  die  Vorderseite  Veränderungen 
erfahren  hatte;  der  alte  Text  war  durch  Rasur  vollkommen  getilgt  und 
iurch  einen  neuen  ersetzt  worden.  Der  Mann  aber,  der  zu  Anfang 
ies  11.  Jahrhunderts  den  ersten  Rückvermerk  anbrachte,  hat 
loch  den  ursprünglichen  Text  vor  Augen  gehabt.  Das  ist 
iie  wichtige  Stütze,  die  wir  aus  den  Dorsualvermerken  ge- 
vinnen. 

Von  der  zweiten  Hand,  welche  das  der  Fälschung  entsprechende 
legest  in  V  fortsetzte,  rührt  der  Vermerk  in  VII  her  Preceptum  Arnulfi 
-egis  Engilmaro  episcopo  datum. 

In  XI  waltet  ein  ähnliches  Verhältnis  wie  bei  V.  Der  Vermerk 
/on  der  Hand  des  alten  Registrators  lautet  Preceptum  Ottonis  Magni 
iatum;  der  Rest  der  Zeile  ist  durch  Rasur  vollständig  getilgt;  die  Ein- 


^  Bei  Jostes  nicht  aufgenommen,  da   eine  Reproduktion  nicht  möglich  war. 
^  Statt  de  servis  et  liberis  et  de  porcis  silvaticis  et  de  foresto  setzte  sie  de 
|jcrvis  et  liberis,  de  foresto  et  de  liddonibus. 

Afü    II  17 


258  M.  Tang] 

tragung  von  alter  Hand  fährt  fort  de  liberis  et  servis  et  lidonibus 
aber  auch  diese  Worte  sind  zu  tilgen  versucht  und  nur  in  ausreichen- 
den Resten  noch  lesbar.  Die  ganze  Urkunde  steht  auf  Rasur.  Dei 
Fälscher  unterließ  es  aber,  den  Rückvermerk  nach  datum  dem  ge- 
fälschten Text  entsprechend  neu  zu  gestalten. 

Der  Vermerk  in  XIII  lautet,  soweit  er  von  alter  Hand  herrührt 
Preceptum  Ottonis  magni  datum  Liudolfo  episcopo\  die  Fortsetzuni 
super  decimis  sue  diocesis,  qua[rum]  quasdam  abbas  Corbeiensis  e 
abbatissa  Heruordensis  minus  iuste  sibi  usurpaverant  stammt  erst  vor 
einer  Hand  des  13.  Jahrhunderts.     Die  Urkunde  steht  auf  Rasur. 

Die  Lehre,  die  wir  aus  den  Vermerken  ziehen,  ist  folgende:  Zl 
Anfang  des  11.  Jahrhunderts  waren  die  gefälschten  Urkunden  nocl 
nicht  vorhanden,  denn  der  alte  Registrator  kannte  keine  von  ihner 
oder  jedenfalls  nicht  in  Inhalt  und  Fassung,  wie  sie  uns  heute  vor- 
liegen. Ob  bei  einzelnen  der  älteren  Urkunden  alte  Vermerke  nich 
noch  gründlicher  getilgt  worden  sind,  muß  ich  bei  der  Meisterschaft 
mit  welcher  der  Fälscher  gerade  Gesamtrasuren  zu  verwischen  wußte 
dahingestellt  sein  lassen. 

Ein  Versuch,  die  Entstehung  der  Fälschungen  als  Ganzes  oder  ir 
einzelnen  Stücken  im  10.  Jahrhundert  zu  suchen,  ist  durch  diese  Beob- 
achtungen aussichtslos  geworden.    Die  Fälschung  kann  nicht  vor  dem! 
11.  Jahrhundert  vorgenommen  sein. 

Nun  zu  den  einzelnen  Urkunden.  | 

Karl  d.  Gr.  I,  II.    Das  Pergament  beider  Urkunden  weist  mehrfach] 
Rauheiten  und  Unebenheiten  auf  und  ist  stellenweise  durchscheinend  dünn 
in  II  überdies  brüchig  und  mehrfach  durch  Risse  und  Löcher  beschädigt 
Rasur  ist  besonders  in  I  mehrfach  festzustellen.  So  ragen  gleich  über  unc 
unter  dem  /  von  in  nomine  Spuren  früherer  Schrift  hervor;  sicher  au:  : 
Rasur  stehen  die  3  letzten  Worte  der  T.Zeile,  ebenso  ist  über  der  jetziger  i 
Datierung  eine  ganze  Schriftzeile  getilgt,  die,  nach  der  über  kl.  im  i 
noch  sichtbaren  Zahl  XI  zu  schließen,  ebenfalls  eine  Datierung  geweserii 
war.    Nach  nochmaliger  Prüfung  halte  ich  in  I  Gesamtrasur  der  ganzer,  i 
Urkunde  für  ziemlich  sicher,  in  II  wenigstens  für  sehr  wahrscheinlich.  > 
Das  Pergament  von  II  weist  eine  Menge  kurvenartiger,  zum  Teil  paral-  j 
leler   Linien   auf,   die   auch   auf   dem   Faksimile,   besonders   zwischer  ! 
Z.  2  und  3,  5  und  6,  7  und  9  und  dann  im  ganzen  unteren  Teil  de;; 
Urkunde,  deutlich  zu  sehen  sind.  Gleiche  kurvenartige  Linien  in  schrägei  \ 
Richtung  gegen  die  Schrift  kehren,  wie  ich  gleich  hier  bemerke,  noch- 


^  Dies  stelle  ich '  gegenüber  dem  abweichenden  urteil  in  den  Vorbemerkungei 
zur  Ausgabe  beider  Urkunden  in  den  Diplomata  der  MG.  DK.  271,  273  richtig  unc 
trete  damit  wesentlich  dem  urteil  Philippis  bei. 


Forschungen   zu  Karolinger  Diplomen  259 

lals  in  V  wieder  und  sind  ebenfalls  auf  dem  Faksimile  deutlich  zu 
lerfolgen.  Aber  ich  halte  es  für  ausgeschlossen,  daß  sie,  wie  Philippi 
leint,  vom  Schabeisen  herrühren.^  Ich  kann  mir  nicht  denken,  daß 
lie  außerordentlich  feine  und  täuschende  Wirkung  dieser  Rasuren 
;erade  mit  dem  Instrument  erzielt  sein  sollte,  das  Lederer  und  Gerber 
iur  zur  Entfernung  der  gröbsten  Unebenheiten  der  Felle  verwenden, 
pieses  handfeste  Instrument  hätte,  auf  die  zu  tilgenden  Texte  angelegt 
ind  mit  einigem  Nachdruck  in  Bewegung  gesetzt,  wohl  sicher  nach 
|ler  Rückseite  durchgewirkt  und  die  Schriftfläche  viel  gründlicher  zer- 
Itört,  als  dem  Fälscher  lieb  gewesen  wäre.  Die  Rasuren  sind  viel- 
'nehr  —  ich  werde  dies  unten  bei  XI  sicher  nachweisen  können  — 
nit  aller  Vorsicht,  Feinheit  und  Sorgfalt  mittels  des  Bimssteines  aus- 
i^eführt.  Ich  sehe  in  den  Kurven  von  II  viel  eher  Runzeln,  die  durch 
las  vom  Weihbischof  Lüpke  vorgenommene  Aufziehen  der  Urkunden 
luf  sehr  starke  Leinwand^  und  damit  verbundene,  etwas  gewaltsame 
jlättungsversuche  entstanden  sein  mögen. 

I  Die  Schrift  beider  Urkunden  ist  ein  stark  mißglückter  Versuch,  die 
lern  Fälscher  ganz  fremdartige  Schrift  Amalberts  nachzuahmen,  der  in 
1er  Rekognitionzeile  von  II  genannt  ist  und  dessen  Hand  wir  aus 
:inem  Originaldiplom  Karls  d.  Gr.  DK.  189  kennen.  Leidlich  gelungen 
st  das  Chrismon  zu  Beginn  der  Urkunden,^  ganz  mißlungen  dagegen 
las  Rekognitionszeichen  und  am  elendsten  geraten  die  Schnörkel,  die 
Laum  mehr  eine  äußere  Ähnlichkeit  mit  Tironischen  Noten  wahren  und 
:ine  Deutung  auch  nur  auf  eine  solche  Note  nicht  einmal  mehr  ahnen 
assen.*  Bestimmte  Schlüsse  auf  das  Alter  der  Schrift,  besonders  dafür, 
laß  sie  dem  10.  und  nicht  dem  11.  Jahrhundert  angehören  müsse, 
assen  sich  in  keiner  Weise  ziehen.'^ 

Das  Siegel  in  II  ist  leidlich  gut  erhalten  und  läßt  mit  Sicherheit 


^  Philippi,  Bemerkungen  zu  den  unechten  Urkunden  Karlsd. Gr.  für  Osnabrück, 
^itteil.  d.  histor.  Vereins  f.  Osnabrück  27  (1903),  248. 

'^  Freundliche  Mitteilung  von  Prof.  Jostes. 

^  Bis  auf  die  der  Karolingerzeit  ganz  unbekannte  Füllung  des  Chrismon  durch 
ileine  Wellenlinien. 

^  Das  muß  ich  der  gegenteiligen  Behauptung  Philippis  (S.  251)  gegenüber 
nit  aller  Bestimmtheit  aussprechen;  zudem  gesteht  Philippi  gleich  auf  der  folgen- 
len  Seite  selbst  zu,  daß  „der  Schreiber  keine  Ahnung  mehr  von  der  Bedeutung  der 
"ironischen  Noten  hat". 

'"  Ohne  Bedeutung  ist  der  tiinweis  Philippis,  daß  in  I  Signum  und  Rekogni- 
ion  in  gleicher  Zeile  stehen,  was  älterem,  etwa  bis  in  die  70er  Jahre  des  10.  Jahr- 
lunderts  reichendem  Brauch  entspreche.  Hier  kam  es  doch  nur  darauf  an,  ob  sich 
ier  Fälscher  an  die  äußere  Anordnung  seiner  Vorlage  hielt.  Das  konnte  aber  auch 
oei  viel  jüngeren  Fälschungen  noch  der  Fall  sein,  wie  beispielsweise  bei  den  Hers- 
elder  Fälschungen  des  12.  Jahrhunderts;  vgl.  Kopp-Sickel,  Schrifttafeln  15,  19,  22. 

17* 


I 


260  M.  Tangl 

erkennen,  daß  wir  das  echte  Gemmensiegel  Karls  d.  Gr.  vor  uns  haben 
Aber  seine  Befestigung  ist  nicht  ursprünglich.  Indem  ich  die  Leinwand 
auf  der  die  Urkunde  aufgezogen  ist,  vorsichtig  hob,  konnte  ich  fest 
stellen,  daß  die  Rückseite  des  Siegels  von  anderem,  hellerem  und  meh 
blätterigem  Wachs  herrührt.  Bei  I  läßt  sich  aber  nur  das  eine  sagen 
daß  der  erhaltene  Siegelrest  der  Größe  nach  dem  echten  Karl-Siege' 
entsprechen  könnte,  daß  jedoch  die  spröde,  blätterige  Wachsmasst 
wenig  vertrauenerweckend  aussieht.  Wahrscheinlich  liegt  spätere  Nach- 
ahmung vor,  von  deren  Ausführung  aber  bei  dem  üblen  Erhaltungs- 
zustand schlechterdings  nichts  zu  erkennen  ist.-^ 

Es  gilt  nun,  durch  andere  Handhaben  zu  einem  sicheren  Schluß 
zu  gelangen,  ob  ein  oder  zwei  echte  Urkunden  Karls  als  Vorlage 
angenommen  werden  müssen.  Vollkommen  einig  sind  wir  hierin  bei 
der  Datierung.  Sie  ist  in  I  allein  echt  und  mit  dem  Itinerar  vereinbai 
überliefert,  ihre  Angaben  stimmen  zum  19.  Dezember  803,  während  füi 
II  durch  Beibehaltung  der  Tagesangabe,  aber  Erhöhung  aller  Jahres- 
angaben um  eine  Einheit  (bei  Fortlassung  der  Indiktion)  eine  neue 
Datierung  gewonnen  wurde,  deren  Ableitung  aus  I  durchsichtig  und 
deren  ebenfalls  aus  I  übernommene  Ortsangabe  Aachen  mit  dem  Itinerar 
des  Kaisers  unvereinbar  ist,  der  Weihnacht  804  in  Quiercy  feierte  und 
.zuvor  in  Reims  Papst  Leo  IIL  empfangen  hatte.  Auf  die  Kaiserzeit 
Karls  weisen  auch  Invokation  und  Titel  in  I,  während  die  Invokation 
von  II  erst  seit  Ludwig  d.  Deutschen  gebräuchlich  wurde,  und  der 
Titel  zunächst  eine  Verkürzung  und  zum  Schluß  durch  die  Beigabe 
nee  non  modo  dominator  et  Saxonum  eine  üble  Verballhornung  des 
korrekten  Kaisertitels  von  I  enthält. 

Die  Korroboration  ist  in  I  und  II  gleichlautend  und  trägt  eine  in 
den  Diplomen  Karls  d.  Gr.  häufig  wiederkehrende  Fassung,  die  in 
dieser  Art  durch  den  in  der  früheren  Regierungszeit  Karls  meistbe- 
schäftigten Rekognoszenten  Wigbald  aufgebracht  ist  und  später  von 
anderen  wiederholt  wird,  mit  Vorliebe  besonders  von  Erkanbald  und 
seinen  Leuten  (Genesius  und  dem  in  II  genannten  Amalbert).  Die 
Arenga  kehrt  in  gleichem  Inhalt  und  den  Grundzügen  der  Fassung 
gleichfalls  häufig  wieder,  aber  in  Einzelheiten  weichen  die  verschiedenen 
Diktate  doch  nicht  unbedeutend  ab.  In  engem,  fast  wörtlichem  An- 
schluß begegnen  wir  ihr  nur  in  dem  von  Erkanbald  rekognoszierten 
DK.  160  für  Farfa  und  in  dem  von  Amalbert  rekognoszierten  DK.  203 


^  Im  Ergebnis  stimme  ich  hier  mit  Philippi  überein,  nur  daß  er  die  Befestigung, 
in  II  für  ursprünglich  hält  und  daß  er  beim  Erkennen  von  Einzelheiten  der  Siegel- j 
fälschung  in  I  ein  wenig  die  Phantasie  zu  Hilfe  genommen  haben  dürfte.  1 


Forschungen  zu  Karolinger  Diplomen  261 

ür  Prüm.^  Ganz  vereinsamt  steht  I  neben  30  zuverlässigen  Urkunden 
lur  darin,  daß  es  nach  ob  amoreni  domini  nostri  Jesu  Christi  noch 
ie  Worte  beifügt  et  reverentiam  sanctomm.  Ich  stehe  nicht  an,  diese 
uch  sprachlich  unwahrscheinliche  Worthäufung,  da  unmittelbar  zuvor 
,on  locis  sanctomm  venerahilium  die  Rede  gewesen  war,  als  eine  mit 
er  später  noch  zu  behandelnden  Einschiebung  der  Heiligen  Krispin 
nd  Krispinian  in  Zusammenhang  stehende  Zutat  des  Fälschers  aus- 
uscheiden. 

So  läuft  alles,  was  wir  bisher  an  Formalien  feststellen  konnten, 
jlchriftbild,  Siegelbefund,  Datierung  und  Formular,  nur  auf  eine  echte 
iKorlage  hinaus.  In  vollem  Widerspruch  hierzu  stehen  aber  die  beiden 
jtekognitionen:  Jacob  ad  viceni  Radoni  in  I,  Amalbertus  ad  vicem 
nrcanbaldi  recognovi  in  II,  die  beide  in  echten  Diplomen  Karls  nach- 
•j/eisbar  sind,  jedoch  mit  unterschied.  Während  die  Amtstätigkeit 
^malberts  (799—807)  genau  in  die  Zeit  fällt,  auf  welche  die  der 
^aiserzeit  entsprechende  Invokation,  der  Kaisertitel  und  die  Datierung 
;om  Jahre  803  weisen,^  war  Jakob  nur  in  wenigen  Jahren  der  Königs- 
leit  Karls  (787 — 792)  tätig  und  ganz  ausschließlich  nur  in  Urkunden 
ür  italische  Empfänger.  Daß  Jakob  je  eine  Osnabrücker  Urkunde 
lekognosziert  hat,  wäre  daher  an  sich  schon  höchst  auffällig.  Wie 
'.am  dann  aber  der  Fälscher  zur  Kenntnis  dieser  Rekognition,  und  wie 
st  es  denkbar,  daß  er  nur  sie  allein,  nicht  auch  das  echte  Formular 
^nd  die  selbständige  Datierung,  die  ihm  dann  notwendig  auch  zur 
l/erfügung  gestanden  haben  mußten,  benutzt  hat?  Die  Antwort  auf 
fiese  Frage,  die  schon  wiederholt  aufgeworfen  und  zu  lösen  versucht 
Ist,  erleichtert  uns  die  Urkunde  III,  über  deren  höchst  merkwürdige 
•ekognition  ich  in  anderem  Zusammenhang  schon  oben  S.  171 — 172 
ehandelt  habe.  Auf  die  vollkommen  kanzleigemäße  Rekognition  Du- 
andus  diaconus  ad  viceni  Fridugisi  recognovi  folgt  ein  Rekognitions- 
eichen,  das  meisterhaft  und  unverkennbar  dem  des  Remigius,  des 
ührenden  Rekognoszenten  in  der  Kanzlei  Lothars  I.,  nachgezeichnet 
5t.  Die  Rekognitionszeile  steht  über  Rasur,  die  aber  mit  solchem 
jeschick  ausgeführt  und  in  ihren  Spuren  verwischt  ist,  daß  nur  auf 


^  DK.  160  hat  mit  I   die  Fassung  locis  sanctorum  venerahilium  (DK.  203  locis 
enerabilibus),  DK.  203  ad  mercedis  augmentum  (DK.  160  ad  mercedem)  gemein. 

^  Trotz  der  nicht  ganz  kurzen  Amtsdauer  ist  die  Zahl  noch  erhaltener  Urkunden, 
/eiche  die  Rekognition  Amalberts  tragen,  sehr  gering:  DK.  189  für  Lagrasse  vom 
ahre  799  und  DK.  203  und  205  für  Prüm  vom  Jahre  806  und  807.  Der  in  den  nach 
emeinsamem  Muster  gearbeiteten  Fälschungen  DK.  222  und  223  für  Kempten,  DK.  224 
;  ür  Straßburg  und  DK.  281  für  Reichenau  genannte  Amalbert  ist  ein  ganz  anderer 
Ind  einem  Diplom  Karls  III.  entnommen.  Das  seltene  Vorkommen  erklärt  sich  aus 
er  auffällig  geringen  Zahl  von  Urkunden  aus  der  Kaiserzeit  Karls. 


I 


262  M-  Tangl 

dem  leeren  Raum  zwischen  dem  Text  der  Rekognition  und  dem  Reko 
gnitionszeichen  schwache  Spuren  davon  kenntlich  blieben.    Ich  vermai 
daher  auch  nicht  zu  sagen,  ob  hier  die  Rekognition  irgend  einer  an 
deren  echten  Osnabrücker  Urkunde  oder  ob  etwa  der  dem  Rekognition? 
zeichen    entsprechende   Text  Remigius  ad  vicem   Agilniari  recogncn 
getilgt   ist.     Nur   eines   kann   ich   mit  Sicherheit  feststellen,   daß   da^ 
Rekognitionszeichen  nicht  etwa  ursprünglich,  und  als  Rest  einer  ver 
nichteten  Urkunde  stehen  geblieben  ist.     Gegen  eine  solche  Annahmt 
spricht  die  bei  aller  Meisterschaft,  die  sonst  auf  die  Nachahmung  ver 
wendet   ist,   fehlerhaft   und   verständnislos   nachgezeichnete   Note   fü: 
recognovit.    Es  steht,  also  fest,  daß  der  Fälscher  allein  für  diese  Reko- 
gnition zwei  verschiedene  Vorlagen  benutzt  hat.    Mit  solcher  Mosaik- 
arbeit steht  er  nicht  allein,  ja  der  tiersfelder  Fälscher  ist  ihm  hierir 
fast  noch  über.    In  der  angeblichen  Urkunde  Ludwigs  d.  Fr.  M.  52( 
leistete  sich  dieser  folgende  Rekognition  Durandns  diaconus  ad  vicen 
Diomari  archidiaconi  recognovi  et  subscripsi,  begleitet  von  einem  Rekog- 
nitionszeichen   mit   Noten,    die    sich    in   der   unvollkommenen    Nach- 
zeichnung doch  noch  folgendermaßen  lesen  lassen:  Comeatus  nota- 
rius  ad  vicem  Ratlei[ci]   recognovi  conscripsi  et  subscripsi 
Idem  domnus  rex  i[ta]  scribere  iussit.^    Hier  stammt,  wie  schor 
Kopp,  Sickel   und  Mühlbacher  feststellten,   der  Name   Durandus   aue 
einem  Diplom  Ludwigs  d.  Fr.,  der  Archidiakon  Diomarus  (verderbt  aue 
dem  Erzkaplan  Theotmar)   aus   einem   solchen  Arnolfs,    während   die 
Noten  auf  den  Notar  Comeatus  in  der  Kanzlei  Ludwigs  d.  Deutscher 
weisen.    Die  Mischung  ist  also  noch  bunter,  aber  die  Vorlagen  sine 
in  Hersfelder  Urkunden  noch  so  gut  wie  sicher  nachweisbar.    Geradt 
das   aber   ist  bei  Osnabrück   nicht   der  Fall;   denn   daß  diese  Kirche 
eine  Urkunde  Lothars  L  je  erhalten  hatte,  ist  fast  so  unwahrscheinlich/ 
wie  daß  sie  ein  Diplom  Karls  d.  Gr.  mit  der  Rekognition  Jakobs  be- 
sessen  hat.     Beide   Spuren   weisen,   einander  verstärkend,   nach   dei 
gleichen  Richtung,  auf  Benutzung  fremder  Vorbilder  und  zwar  solchet 
für   italische  Empfänger.    Das   hat   zuerst  Sickel   klar  ausgesprochen , 
und  indem  er  die  Urheberschaft  Bennos  durch  die  Forschungen  von 
Wilmanns  für  erwiesen  hielt,  nahm  er  an,  „daß  Benno  die  Fälschungen 
während  seines  Aufenthaltes  in  Italien  entworfen  hat".^    Es  fragt  sich 
nur,  welches  Aufenthaltes   in  Italien?     Die  Gesandtschaftreisen  1078 


^  Faksimile  der  jetzt  verlorenen  Urschrift  bei  Kopp,  Pal.  crit.  1,  letzte  Tafel 
=  Kopp-Sickel,  Schrifttafeln  22.  Über  „conscripsi"  in  Noten  des  Comeatus  vgl.' 
meine  Ausführungen  At-ch  f.  ÜF.  1,  154—155. 

*  Die  verschiedenen  Möglichkeiten  habe  ich  schon  oben  S.  172  erwogen. 

'  Acta  Karolinorum  2,  429. 


Forschungen   zu  Karolinger  Diplomen  263 

ind  1079  liegen  zu  spät;  denn  damals  waren  nach  meiner  Überzeu- 
|;ung  die  Fälschungen  in  ihrer  Gesamtheit  schon  vorhanden.    Gibt  es 
iber  nicht  noch  eine  andere  Erklärung?    Durch  die  örkundenforschung 
st  wiederholt  und  zuletzt  mit  bedeutendem  Erfolg  durch  Stengel  bei 
1er  Sichtung  der  Immunitätsformulare  der  Nachweis  erbracht,  daß  sich 
iie  Benutzung   scheinbar   ganz  entlegener  Vorbilder  aus  der  Vorlage 
,olcher  Urkunden  bei  Hof  und  in  der  Reichskanzlei  erklärt.    Für  das 
iritische   Jahr    vor   der   Entscheidung   des   Osnabrücker  Zehntstreites 
reffen  nun  beide  Voraussetzungen   zusammen.    Bischof  Benno  hatte 
;ich   im  Spätherbst   1076  vom  König   trennen    müssen;   er  hatte  auf 
gesondertem   Wege   Italien   betreten,    befand   sich   aber  während   der 
Tage  von  Canossa   im  Januar  1077  bei  Heinrich  IV.,  um  fortan  als 
;teter  Begleiter  dem  Hof  zu  folgen.    In  dieser  Zeit  schritt  der  Patriarch 
Siegehard   von  Aquileja,  wie  wir   annehmen   dürfen  unter  Vorlegung 
ilterer  Rechtstitel,   um  Erneuerung   der  Vorrechte   seiner  Kirche   und 
:rteilung   neuer  bedeutender  Vergünstigungen   ein.     Die   erste   dieser 
Jrkunden  ist  zu  Pavia  im  April  1077  ausgestellt,  zwei  weitere  folgten 
m  Nürnberg  am  11.  Juni  1077  (Stumpf  2800,  2802,  2803).    In  allen 
:irei  Urkunden  erscheint  Benno  von  Osnabrück  als  Intervenient.    Die 
mmunität  Karls  d.  Gr.  für  Aquileja,  DK.  175  zählt  aber  zu  den  wenigen 
Urkunden  mit  der  Rekognition  Jacob  ad  vicem  Radonis,  und  das  in 
der  heutigen  abschriftlichen  Überlieferung  der  Rekognition  entbehrende 
OK- 174  dürfte  sie  ebenfalls  getragen  haben.^  DK.  174  und  175  sprechen 
überdies  als  einzige  unter  den  erhaltenen  echten  Diplomen  Karls  d.  Gr. 
in  kurzer  Andeutung  von  der  Pflege  gelehrten  Unterrichts:  ut  in  divinis 
litteris  et  doctrinis  spiritualibus  ampliorem  certamen  mittere  promrenU 
schlagen  also  das  Thema  an,   das. im  zweiten  Teil  der  Osnabrücker 
Fälschung  II    so    eigenartig  weitergesponnen   ist.     Soll   dieses   merk- 
würdige Zusammentreffen   rein   nur  auf  Zufall  beruhen?    Hätten  wir 
rioch   eine   Urkunde   der  gleichen    Gruppe   mit    der   Rekognition    des 
Remigius,   dann   wäre   der  Beweis   geradezu   geschlossen.     Hier  aber 
versagt   die  Überlieferung.     Die   beiden  noch  erhaltenen  Diplome  Lo- 
thars I.  für  Aquileja  tragen  andere  Rekognitionen.^    Aber  wir  können 
wenigstens  ein  Actum  deperditum  desselben  Herrschers  wichtigen  In- 
halts  (Bestätigung   der  Patriarchal-   und   Metropolitanwürde  über   die 


*  Als  andere  Zeugnisse  für  diese  Rekognition  kennen  wir  sonst  nur  noch 
DK.  157  für  S.  Vincenzo  am  Volturno,  DK.  158  für  Montecasino,  DK.  164  für  S.  Am- 
brogio  in  Mailand,  DK.  234  für  Reggio  (Fälschung,  aber  auf  echter  Vorlage).  Die 
anderen  Zeugnisse  sind  Fälschungen  für  die  schon  genannten  Empfänger  S.  Vincenzo, 
DK.  227,  Montecasino  DK.  242,  243,  244,  255,  256  und  Aquileja,  DK.  270  und  schöpften 
aus  den  schon  genannten  Vorlagen. 

^  M.  1033  Liuthadus  ad  vicem  Ermenfredi  und  M.  1105  Daniel  ad  vicem  Agilmari. 


264  ^-  Tangl 

Bistümer  Istriens)  feststellen,  das  diese  Rekognition  getragen  haben 
könnte.-^ 

Das  Ergebnis  liegt  doch  so,  daß  für  Benno  II.  die  Erklärung  dieser 
merkwürdigen  Entlehnungen  vollkommen  befriedigend  zu  geben  ist, 
während  sie  für  Ludolf,  dem  Philippi  die  Fälschungen  zuschreiben 
möchte,  versagt.  In  der  Zeit,  da  er  am  Hofe  weilte  und  in  der  Kanzlei 
diente,  konnte  er  noch  gar  nicht  daran  denken.  Osnabrücker  Urkunden 
zu  fälschen,  für  die  Zeit  seines  Episkopats  aber  fehlen  uns  jegliche  An- 
haltspunkte zur  Annahme  von  Beziehungen,  wie  wir  sie  bei  Benno 
feststellen  konnten. 

Die  Frage,  von  der  wir  früher  ausgegangen  waren,  läßt  sich  jetzt 
wohl  mit  Bestimmtheit  dahin  beantworten,  daß  dem  Fälscher  aus  dem 
eigenen  Archiv  nur  eine  Urkunde  Karls  d.  Gr.  vorgelegen  hat.^  Und 
von  hier  aus  kommen  wir  noch  einen  sicheren  Schritt  weiter.  Diese 
echte  Urkunde  muß,  wie  Mühlbacher  längst  festgestellt  hat,  eine  Schen- 
kung gewesen  sein.  Da  die  30  mit  gleicher  oder  ähnlicher  Arenga 
eingeleiteten  Urkunden  ohne  Ausnahme  Schenkungen  betreffen,  darf  der 
Analogieschluß  mehr  beanspruchen  als  das  Zugeständnis,  eine  an- 
sprechende Vermutung  zu  sein,^  um  so  mehr,  als  das  entscheidende 
Schlagwort  donamus  in  der  Fälschung  noch  stehengeblieben  ist.  Das 
Schenkungsobjekt,  das  mit  ihm  verknüpft  wird,  omne  regale  vel  secu- 
lare  mdicium  ist  allerdings  so  ungeheuerlich  und  in  Urkunden  Karls 
d.  Gr.  so  unerhört  und  unmöglich,  daß  wir  hier  der  frei  schaltenden 
Phantasie  des  Fälschers  gegenüber  stehen.  Der  Phantasie  des  Fälschers 
wurde  auch  die  Nennung  zweier  neuer  Schutzheiligen  der  Osnabrücker 
Kirche,  Crispinus  und  Crispinianus,  zugeschrieben.  Man  hielt  Benno 
für  den  Urheber  dieser  Tradition  und  glaubte  hierdurch  einen  neuen 
Anhaltspunkt  gefunden  zu  haben,  ihm  die  Fälschungen  zuzuschreiben.* 
Wilmans  ging  noch  einen  Schritt  weiter  mit  der  Vermutung,  daß  erst 


^  Andere  erhaltene  Diplome  Lothars  I.  für  italische  Empfänger  mit  der  Reko- 
gnition des  Remigius  liegen  uns  noch  vor  in  M.  1084  für  Cremona,  M.  1108  für 
Arezzo,  M.  1121,  1122  für  Novalese  und  M.  1133  für  Hirmingard,  die  Gemahlin 
Lothars  I. 

^  Dies  ist  auch  die  Ansicht  Philip pis  S.  264. 

^  So  Philippi  S.  265.  Die  einzige  Ausnahme  festigt  gerade  hier  die  Regel. 
Es  ist  DK.  72  für  Lorsch  (Verleihung'  von  Königsschutz  und  freier  Abtwahl)  und 
gleiche  Arenga  wie  die  gleichzeitig  für  dasselbe  Kloster  ausgestellte  Schenkung 
(DK.  73).  Aber  hier  hat  das  Diktat  der  Schenkungsurkunde  auf  den  Mundbrief  ein- 
gewirkt, nicht  umgekehrt.  Überdies  stammt  die  Urkunde  aus  den  Anfängen  Karls 
(773).  Aus  den  gefestigten  Verhältnissen  der  späteren  Zeit  ist  ein  gleicher  Fall  nicht 
wieder  zu  belegen. 

*  So  noch  Mühl  bacher  in  der  Vorbemerkung  zu  DK.  271  MG.  Dipl.  Kar.-l,  401. 


Forschungen  zu  Karolinger  Diplomen  265 

enno  II.  Reliquien  dieser  Heiligen  erworben  habe.^  Aber  hier  muß 
h  doch  widersprechen.  Es  wurde  für  diese  Frage  bisher  die  Stelle 
I  ei'Thietmar  von  Merseburg  IV,  69  übersehen,  der  von  einer  Vision 
es  Bischofs  Günther  von  Osnabrück  berichtet.  Diesem  seien  nach 
ißm  Tode  Bischof  Dodos  (996)  die  Heiligen  Crispin  und  Crispinian  im 
räum  erschienen  und  haben  ihn  gefragt,  ob  er  die  Nachfolge  in  ihrem 
istum  übernehmen  wolle.^  Thietmar  war  demnach  zu  Anfang  des 
1.  Jahrhunderts  die  Tradition,  daß  die  Osnabrücker  Kirche  diese 
chutzheiligen  verehrte,  schon  wohlbekannt.  Das  erste  urkundliche 
eugnis  begegnet  ebenfalls  noch  vor  Benno  in  einer  Osnabrücker 
rivaturkunde  aus  der  Zeit  des  Bischofs  Alberich  (1037—1052)  ad 
Itare  piissimi  ac  principis  apostolomm  Petri  nee  non  beatissimorum 
lartimm  Crispini  et  Crispiniani.^  Richtig  aber  ist,  daß  Benno  IL  dem  Kult 
ieser  Heiligen  erhöhte  Aufmerksamkeit  zuwandte  und  Reliquien  von 
inen  auch  in  die  von  ihm  neugegründete  Klosterkirche  von  Iburg 
bertrug.^  Wenn  Benno  aber  wißbegierig  nach  der  Herkunft  dieses 
■ultes  und  der  Art  der  Erwerbung  und  Zeit  der  Übertragung  dieser 
iebeine  forschte,  sah  es  in  den  spärlichen  Zeugnissen  und  der  auch 
ier  wie  bei  Verden  erschreckend  dürftigen  Überlieferung  schlimm  aus. 
^on  den  echten  Königsurkunden  für  Osnabrück  nennt  vor  der  Zehnt- 
[rkunde  Heinrichs  IV.  (XXI)  überhaupt  keine  einen  Schutzheiligen  dieser 
jrche.  In  Privaturkunden  finden  wir  erst  aus  Bennos  Zeit  Osnabrück 
jls  Peterskirche  bezeichnet.^  Die  Fälschung  hat  hier  in  ihrer  Art  nach- 
leholfen,  nicht  indem  sie  die  Tradition  erst  schuf,  sondern  indem  sie 
ie  historische  Begründung  für  sie  nachholte.  In  dreien  der  gefälschten 
Jrkunden  (I,  VI,  VIII)  werden  diese  Schutzheiligen  genannt,  aus  VIII 
ichöpfte  dann  die  echte  Urkunde  XXI  ihre  Weisheit.  Unser  I  steuerte 
jber  auch  noch  die  Nachricht  über  den  Ursprung  des  Kultes  bei,  in- 


^  Kü.  d.  Prov.  Westfalen  1,  367:  „Indem  Benno  jene  Urkunde  (I)  fabrizierte, 
'ird  er  auch  dafür  Sorge  getragen  haben,  daß  solche  Reliquien  sich  in  Osnabrück 
nrklich  vorfanden. 

^  Thietmari  Chronicon  ed.  Kurze,  SS.  rr.  Germ.  p.  102:  si  suum  vellet  accipere 
Ipiscopatum.  Der  neue  Anwärter  auf  das  Bistum  erfährt  übrigens  durch  die  beiden 
leiiigen  eine  wenig  freundliche  Behandlung.  Auf  seine  sehr  verständige  Antwort 
si  deus  vult  et  vobis  placet"  „perfixus  est  ab  hiis  duabus  hastis  et  mox  evigilans 
ullatenus  per  semet  ipsum  potuit  exsurgere". 

'  Philippi,  Osnabrücker  ÜB.  1,  119  Nr.  138. 

"^  Philippi  a.  a.  0.  1,  141  Nr.  161  (1070  Nov.  23,  Original),  Aufzeichnung  über 
ie  Einweihung  der  Klemenskirche  zu  Iburg  und  die  im  Hochaltar  hinterlegten  Re- 
quien;  unter  diesen  „Crispini  et  Crispiniani". 

'  Philippi  a.a.  0.  1,  138  Nr.  157  (1068—1070,  Original)  und  1,  145  Nr.  170 
1074  Sept.  23,  Abschrift  Henselers  aus  dem  18.  Jahrhundert)  beide  „ad  Osna- 
•ruggensem  ecclesiam  sancto  Petro  apostolo". 


I 


266  M.  Tangl 

dem   es   Karl  d.  Gr.   versichern   ließ:   et  corpora  illomm   illuc  trans- 
tulinms. 

Doch  wir  kehren  zum  Rechtsinhalt  unserer  Urkunde  zurück.  Ei 
enthält  die  Verleihung  von  Immunität;  und  wir  müssen  versuchen,  ir 
dieser  Frage  zunächst  an  der  Hand  der  echten  Zeugnisse  oder  dei 
Reste  von  solchen  Klarheit  zu  gewinnen.  Die  erste  bestimmt  nach 
weisbare  Verleihung  von  Immunität  an  die  Osnabrücker  Kirche  stamm 
von  Ludwig  d.  Deutschen.  Es  ist,  wie  wir  noch  sehen  werden,  dei 
echte  Kern  der  Fälschung  IV.  Vom  echten  Formular  ist  allerdinge 
nicht  allzuviel  vorhanden  geblieben,  weil  die  Fälschung  überwucherte 
Viel  besser  sind  wir  über  die  Bestätigung  der  Immunität  (Fälschung  V 
unterrichtet.  Hier  sind  so  wesentliche  Teile  der  echten  Fassung  er- 
halten und  die  Einschübe  so  klar  auszuscheiden,  daß  wir  mit  Sicher- 
heit das  Urteil  abgeben  können:  die  Osnabrücker  Immunität  ging  ir 
ihren  sachlichen  Bestimmungen  bis  zum  Ausgang  der  Karolingerzeil 
über  das  nicht  hinaus,  was  die  erste  völlig  echte  Königsurkunde  füi 
Osnabrück  (IX)  enthält,  die  Bestätigung  der  Immunität  durch  Otto  I 
vom  Jahre  938,  die  auch  in  der  Fassung  die  Arnulfinische  Vorlage 
fast  wörtlich  wiederholte.  In  späteren  Jahren  Ottos  I.  kam  952  die 
Verleihung  von  Markt,  Münze  und  Zoll  (X)  und  965  die  eines  Wild- 
banns (Xlj)  hinzu.  Diese  Einzelverleihungen  wurden  unter  Heinrich  II 
1002  zu  einer  großen  Gesamtbestätigung  zusammengefaßt  (XVI),  die 
fortan  mehrfach  wörtlich  wiederholt  wurde,  1023  durch  Heinrich  II 
selbst  (XVII), 1  1028  durch  Konrad  II.  (XVIII)  und  1057  durch  Hein- 
rich IV.  (XX).  Von  Heinrich  III.  ist  keine  Bestätigung  gleicher  Art  über- 
liefert, wohl  aber  eine  interessante  Ergänzungsurkunde  zur  Immunität, 
die  in  Austragung  eines  Streites  zwischen  dem  Bischof  und  Grafen 
1051  die  freien  Kirchenleute,  die  Malmannen,  ausdrücklich  dem  Gerichts- 
stand des  Bischofs  unterstellte  (XIX). 

Von  diesen  Urkunden  hat  die  Gruppe  XVI— XVIII  und  XX,  aber 
auch  die  Urkunde  XIX  bedeutenden  Einfluß  auf  die  Fälschungen  I,  II,  V, 
VIII,  XI,  XIII  geübt.  Ob  als  direktes  Vorbild  das  älteste  oder  jüngste  Glied 
der  ersten  Reihe  vorlag,  läßt  sich  nicht  sogleich  entscheiden,  wohl  aber, 
daß  es  nicht  eine  ältere  verlorene  Vorurkunde  Ottos  II.  oder  III.  gewesen 
sein  konnte.  Hier  hat  Sickels  und  Bresslaus  Untersuchung  volle  Klarheit 
geschaffen,  die  das  Diktat  der  Korroborationsformel,  das  wörtlich  auch 
in  XI  wiederkehrt  (näheres  unten  bei  dieser  Urkunde)  als  Eigentümlich- 
keit und  Neuerung  des  Notars  EA.  aus  der  Kanzlei  Heinrichs  II.  nach- 
wiesen.^   Wir  sehen,  wie  sich  die  Kette  des  Beweises  schließt;  dieselbe 


^  Die  einzige  kleine  Veränderung  betraf  die  vollkommenere  Fassung  derPoenformei. 
'  MG.  Dipl.  1,  293,  3,  9  Vorbemerkung  zu  DO.I.  212  und  Dti.Ii.  8. 


Forschungen   zu  Karolinger  Diplomen  267 

rkunde  XVI,  deren  Dorsualvermerk  für  die  Kritik  der  ganzen  Gruppe 
,0  wichtig  ist  (o.  S.  256),  hat  auch  inhaltlich  ihren  Niederschlag  in  den 
pätschungen  gefunden.   Die  Entlehnungen  aus  ihr  (oder,  wie  ich  wieder- 
lole,  einer  ihrer  gleichlautenden  Nachurkunden)  sind  im  Abdruck  von 
in   der  Ausgabe  der  Karolinger  Diplome   durch  Petit-Druck  hervor- 
,^ehoben.     Aus   ihr   stammt  vor  allem  der  in  deutschen  Immunitäten 
1er  Karolingerzeit  nicht  zu  belegende  vicecomes.    Die  in  I  in  solcher 
Verbindung  überhaupt  allein  dastehenden  Worte  malman  et  mundman^ 
;ind  einerseits  dem  mahelman  in  XIX  entlehnt,  andererseits  aus  einer 
l^usammenfassung   des   Satzes   in  XVI  et  eos,   qui  censum  persolvere 
kebent,  quod  muntscat  vocatur  gewonnen.    In  XIX  erscheint  auch  der 
n  XVI  ff.  fehlende,  in  I  aber  wiederkehrende  dux}     über  diese  Ent- 
lehnungen  hinaus   enthält   aber  I   noch   eine   durch   omne  regale  vel 
^emlare  iudicium  stimmungsvoll  eingeleitete  Verfügung:  den  Inhabern 
}rdentlicher  und  außerordentlicher  Gerichtsgewalt  wird  untersagt,  die 
jauf  Osnabrücker  Immunitätsgebiet  siedelnden  Freien  und  Unfreien  aller 
Abstufungen  ad  sua  placita  bannire  vel  ad  mortem,  usque  terrarum, 
^dieser  Genitiv  von  usque,  nicht  von  mortem  abhängig)  diiudicare.    In 
jder  Fassung   bedeutet   diese   Bestimmung   ein    ünicum,   zu   dem   die 
kechtshistoriker  die  Köpfe  schütteln,  dem  Sinne  nach  besagt  sie  nichts 
'anderes  als  die  Übertragung  des  Blutbanns  auch  über  Freie  an  den 
Ummunitätsherrn,  für  Karolingerzeit  —  und  gar  Karl  d.  Gr.  —  ein  Unding! 
Wir  scheiden  von  I  mit  der  Überzeugung,  daß  im  Rechtsinhalt  dieser 
Fälschung  auch  nicht  ein  Wort  aus  einer  Urkunde  Karls  d.  Gr.  ge- 
rettet ist. 

Wir  wenden  uns  zur  Urkunde  II.  Sie  beginnt  mit  der  seit  Ludwig 
d.  Deutschen  auf  Jahrhunderte  hinaus  ständigen,  vor  dieser  Zeit  aber 
ganz  ungebräuchlichen  Invokation:  In  nomine  sanctae  et  individuae 
trinitatis.  Daran  reiht  sich  der  willkürlich  verkürzte  und  durch  die 
unmögliche  Beifügung  nee  non  modo  dominator  et  Saxonum  entstellte 
Titel.    Beides  zeigt,  daß  der  Fälscher  den  Schein  eines  von  I  verschie- 


^  I:  iudicium  super  suos  servos  et  liddones  et  liberos  malman  et  mundman. 
jXiX:  quod  liberos  homines  in  suo  episcopatu  habitantes  mahelmane  nominatos  ad 
suum  placitum  vi  et  iniusta  potestate  constringeret.  XVI:  liberos  sive  liddones  et 
caeteros  et  eos,  qui  censum  persolvere  debent,  quod  mundscat  vocatur.  Über  Mal- 
mann und  Mundmann  vgl.  Waitz,  VG.  5.  Bd.  2.  Aufl.  besorgt  von  Zeumer  S.  513f., 
278f.  Malmann  ist  eine  nur  in  Immunitäten  für  niedersächsische  Empfänger  nach- 
weisbare Bezeichnung.  Der  erste  Beleg  kommt  aus  der  Immunität  Ludwigs  III.  für 
Paderborn,  Mühlbacher  1571  (1529).  Dieses  Formular  hat,  wie  E.  Stengel,  Die 
Immunitätsurkunden  der  deutschen  Könige  und  Kaiser  vom  10. — 12.  Jahrhundert, 
Berliner  Diss.  1902  S.  22ff.  nachwies,  direkten  Einfluß  auf  die  Immunitäten  für  Minden 
und  Abdinghof  geübt. 

'  XIX:  dux  neque  comes  aut  vicecomes.     1:  dux  comes  vel  vicecomes. 


I 


268  ^-  Tangl 

denen  Formulars  hervorrufen  wollte,  ohne  hierfür  eine  echte  Vorlage  zu 
benutzen.  Ohne  Arenga  leitet  die  mit  I  gleichlautende  Publikation  so- 
gleich zum  Rechtsinhalt  über,  in  dessen  ersten  Worten  zunächst  eine 
weitere  Nachricht  über  die  Gründungsgeschichte  der  Osnabrücker  Kirche 
enthalten  ist  quam  nos  primam  oninüim  in  Saxonia  . . .  construxinms. 
Damit  war  Osnabrück  in  den  Wettstreit  mit  Bremen,  Verden  und  Halber- 
stadt um  den  Altersvorrang  eingetreten.  Von  der  zuverlässigen  Angabe 
der  Vita  Willehadi  über  die  Gründung  des  Bremer  Bistums  im  Jahre  787 
führte  die  Verdener  Fälschung  durch  Abstreichungen  an  der  Datierung 
der  Bremer  Urkunde  um  ein  Jahr  weiter  nach  aufwärts;  in  tialberstadt 
hatte  man  diesen  Rekord  längst  geschlagen,  indem  man  in  der  Bistums- 
chronik durch  ümdeutung  der  Quellenzeugnisse  diese  Gründung  zu 
780—81  verzeichnete.  Der  Osnabrücker  Fälscher  möge  daher  verzeihen, 
daß  wir  seiner  Behauptung  gerade  wegen  der  Gesellschaft,  in  die  er 
mit  ihr  geraten  ist,  nicht  ohne  weiteres  trauen  und  von  unserem 
Zweifel  zu  lassen  erst  recht  nicht  gewillt  sein  werden,  wenn  wir 
später  die  Fortentwicklung  kennen  lernen,  zu  der  seine  Weisheit  führte. 
Aber  noch  nach  anderer  Seite  verdient  die  Nachricht  Beachtung.  Es 
liegt  System  in  der  Mache  des  Fälschers,  und  die  Einheitlichkeit  seiner 
Arbeit  tritt  auch  darin  deutlich  hervor,  daß  er  sich  für  jede  Urkunde 
eine  neue  Einzelheit  über  Gründung  und  Geschichte  seines  Bistums 
aufspart.  Darin  steckt  ein  Nebenzweck  der  Fälschung,  der  sich  so 
sicher  verfolgen  läßt  wie  die  Zehntfrage,  die  in  den  beiden  Karl- 
fälschungen noch  nicht  angeschnitten  ist.  Denn  auch  die  Fälschung  II 
tritt  dieser  Frage  nicht  näher,  sondern  enthält  in  ihrem  ersten  Teil  die 
Verleihung  eines  Wildbannes.  Diese  Verleihung,  nicht  Bestätigung, 
bildet  aber  den  Rechtsinhalt  des  Originaldiplomes  XII.  Und  erst  bei 
der  Bestätigung  dieser  Verleihung  Ottos  I.  durch  Heinrich  II.  (XVI) 
wurde  eine  Pertinenzformel  zugefügt,  die  dann  gleichlautend  in  den 
Nachurkunden  XVII,  XVIII,  XX  wiederkehrt.^  Da  sie  aber  auch  in  II 
schon  steht,  war  die  Forschung  allgemein  zur  Erkenntnis  gekommen, 
daß  II  nicht  den  Anfang,  sondern  das  Ende  der  ganzen  Reihe  bildet. 
Mit  Sicherheit  geht  dies  daraus  hervor,  daß  in  II  eine  Stelle  durch 
Auslassung  eines  Wortes  in  sinnstörender  Weise  verderbt  ist:  quae 
Süb  banno  usuali  ad  forestum  deputatur  statt  usuali  niore.  Sachlich 
erweitert  ist  die  Pertinenzformel  in  II  durch  das  Verbot  des  Baum- 
schlages (vel  silvam  exstirpandi)  und  durch  den  unter  allen  Wildbann- 
urkunden  hier  ganz  vereinzelt  stehenden  Vergleich  ad  similitudinem 
foresti  nostri  Aquisgranum  pertinentis.    In  der  Fassung  der  Poenformel 


^  Cum    omni  integritate  in    porcis    videlicet    silvaticis   atque    cervis   omnique 
venatione,  quae  sub  banno  usuali  more  ad  forestum  deputatur. 


Forschungen  zu  Karolinger  Diplomen  269 

lält  II  die  Mitte  zwischen  XVI  und  seinen  Nachurkunden  XVII— XX. 
n  XII  und  XVI  ist  eine  bestimmte  Strafsumme  nicht  angedroht,  in  den 
>Iat:hurkunden  beträgt  die  Höhe  der  Poen  100  Pfund  Gold,  in  der 
-älschung  60  Schillinge.  Benutzung  der  späteren  Urkunden  durch 
llen  Fälscher  wird  dadurch  nicht  wahrscheinlich;^  denn  es  wäre  sehr 
'chwer  zu  erklären,  weshalb  dann  der  Fälscher  die  Strafsumme  verändert 
jind  zwar  verringert  hat  Das  Verhältnis  scheint  vielmehr  so  zu  liegen, 
'laß  aus  XVI  einerseits  die  Nachurkunden  und  andererseits  der  Fälscher 
;chöpften. 

Besondere  Erörterung  bedarf  aber  noch  eine  eigene  Zutat  des 
'älschers  collaudatione  illius  regionis  potentum.  Ihre  sachliche  Bedeu- 
ung  tritt  uns  jetzt  ungleich  schärfer  entgegen,  seit  wir  jüngst  durch 
rhimme  in  sehr  willkommener  Weise  über  die  geschichtliche  Ent- 
v^icklung  der  Forst-  und  Wildbannverleihungen  und  über  den  starken 
A^andel  unterrichtet  wurden,  den  der  Begriff  forestis  im  Laufe  der 
l^eit  erfahren  hat.^  In  älterer  Zeit  werden  solche  Forste  oder  Forst- 
bezirke stets  als  volles  Privateigentum  verliehen,  und  das  Jagdrecht, 
venu  es  überhaupt,  was  keineswegs  notwendig  ist,  besonders  hervor- 
gehoben wird,  bedeutet  nicht  mehr  als  jedes  andere  Recht,  das  dem 
:igentümer  an  seinem  Besitz  zusteht.  Erst  in  Ottonenzeit  werden 
»olche  Forste  zunächst  ausnahmsweise  auch  auf  fremden  Grundbesitz 
ausgedehnt,  seit  Heinrich  II.  geschieht  dies  immer  häufiger  und  in 
Salierzeit  fast  regelmäßig.  Damit  änderten  Begriff  und  Urkunden  ihren 
Charakter.  Aus  dem  innerhalb  bestimmter  Grenzen  liegenden  Besitz 
A/ird  ein  innerhalb  dieser  Grenzen  verliehenes  Recht  und  aus  der 
Schenkung  einer  forestis  die  Verleihung  eines  Wildbannes.  Solchen 
^ildbann  zu  verleihen,  war  und  blieb  Vorrecht  des  Königs.  Dem 
^annrechtv/erber  aber  kam  es  zu,  sich  zuvor,  wenn  nötig,  im  Wege 
arivatrechtlicher  Verhandlungen  mit  den  innerhalb  dieses  Gebietes 
besitz-  oder  Jagdberechtigten  die  Grundlage  zur  königlichen  Verleihung 
:u  schaffen.  Daher  sind  entsprechende  Willenserklärungen  beteiligter 
)ritter  zum  erstenmal  in  einer  Bannverleihung  Ottos  II.  (DO.II.  50)  aus- 
gesprochen und  in  den  Wildbannurkunden  des  11.  Jahrhunderts  häufig 
irwähnt.^    In  die  Wildbannverleihung  Ottos  I.  für  Osnabrück,  eine  der 

^  Dies  die  Annahme  Mühlbachers  in  der  Vorbemerkung  zu  DK.  273  A\G. 
)ipl.  Kar.  1,  404. 

^  Hermann  Thimme,  Forestis,  Arch.  f.  ÜF.  2,  101—154.  Für  das  10.  und 
11.  Jahrhundert  hatte  schon  Wilhelm  Sickel,  Zur  Geschichte  des  Bannes,  Mar- 
Durger  üniversitätsschrift  1886,  S.  41  ff.  der  königliche  Wildbann,  in  rechtsgeschicht- 
icher  Forschung  tüchtig  vorgearbeitet.  Das  Verdienst  dieser  Untersuchung  ist  bei 
rhimme  nicht  zur  Geltung  gebracht. 

^  Die  Belege  für  dieses  Zustimmungsrecht  sind  jetzt  von  Otto  II.  bis  Heinrich  IV. 
Jon  Thimme  S.  153 — 155  vollständiger  gesammelt  als   bei  Sickel;  übersehen   ist 


I 


270  M.  Tangl 

frühesten  der  jüngeren  Art/  war  eine  solche  Zustimmungsklausel  noch 
nicht  aufgenommen  und  auch  später  in  den  Erneuerungen  aus  derr 
11.  Jahrhundert  nicht  eingesetzt  worden.  Der  Fälscher  aber  hielt  es 
nach  dem  ständigen  und  ihm,  wie  wir  annehmen  dürfen,  wohlbekannter 
Brauch  seiner  Zeit  für  nötig,  zur  Abwehr  gegen  etwaige  Anfechtung 
diese  Zustimmungsformel  einzufügen.  Bestimmte  Beziehungen  zi 
Benno  II.  ergeben  sich  hier  aber  noch  aus  zwei  Beobachtungen.  Dk 
Hervorhebung  der  collaudatio  der  Partei  findet  sich  mehrfach  in  Osna- 
brücker Urkunden  seiner  Zeit.^  In  einer  Erweiterung  aber  zum  Osna- 
brücker Wildbanngebiet,  die  er  nach  glücklicher  Durchfechtung  des 
Zehntstreites  und  Heimkehr  in  sein  Bistum  (1080—1088)  in  Ver- 
handlungen mit  einer  Edelfrau  Gisla  erwarb,  —  zugleich  einem  Zeugnis 
für  das  Interesse,  das  er  dieser  Frage  entgegenbrachte  — ,  kehrt  neber 
der  Zustimmungsklausel  auch  die  Pertinenzformel  der  Karlfälschung  1 
wörtlich  wieder:  in  porcis  videlicet  silvaticis  cervis  . . .  piscibus  omniqm 
venatione  que  sab  banno  usuali  ad  forestum  deputatur.^  Auch  dei 
charakteristische  Fehler  sub  banno  usuali  statt  sub  banno  usuali  man 
ist  hier  wiederholt.    Damals  also  ist  II  bekannt  und  benutzt. 

Neue  Schwierigkeiten  erheben  sich  bei  der  Deutung  der  Um- 
grenzung und  ihrer  Namensformen.  In  dieser  Frage  aber  hat  die 
Forschung  der  letzten  Jahre  trotz  oder  gerade  infolge  der  teilweiser 
Irrgänge,  deren  sie  sich  nicht  zu  schämen  braucht,  erfreuliche  För- 
derung und  Klärung  gebracht.  In  den  Erörterungen,  mit  denen  Jostes 
seine  Faksimile-Ausgabe  begleitete,  hat  er  der  Feststellung  der  üm- 
grenzungslinie  dieses  Wildbannes  eingehende  Aufmerksamkeit  ge- 
schenkt. Er  bestätigte  und  ergänzte  hier  die  Angaben  älterer  Lokal- 
historiker, kam  aber  infolge  der  bedeutenden  Ausdehnung  (ca.  60  km 
von  Nord  nach  Süd,  ca.  50  km  von  Ost  nach  West)  zu  dem  Schluß. 
daß  ein  derartiges  Gebiet  zu  keiner  Zeit  ein  Wildbann  gewesen  sein 
könne.*  Indem  er  die  Spur  verfolgte,  die  er  in  den  Namensformen 
gefunden  zu  haben  glaubte,  gelangte  er  zu  dem  Ergebnis,  daß  in  der 
Grenzweisung  ein  zuverlässiges  Zeugnis  aus  der  Zeit  Karls  d.  Gr.,  und 


nur  das  von  Sickel  aufgeführte  Wildbann-Diplom  Heinrichs  III.  für  Chur,  Stumpf 
2387,  consensu  comprovincialium. 

^  um  an  Verleihung  auf  eigenem  Besitz  zu  denken,  ist  der  umfang  des  um-; 
schriebenen  Gebietes  viel  zu  groß.  j 

^  Philippi,  Osnabrücker  ÜB.  1,  140  Nr.  159  collaudatione  filiorum  suorum.j 
1,  143  Nr.  163  collaudatione  filii  sui.     1,  162  Nr.  188  collaudatione  legitimi  heredis.': 

^  Philippil,  164  Nr.  190.  cum  consensu  et  collaudatione  iuste  heredis  su^ 
Öderad^.  Die  Pertinenzformel  ist  nach  cervis  noch  erweitert  durch  capreolis  casto- 
ribus  leporibus. 

^  S.  5  der  Folio-  =  S.  16  der  Quartausgabe  des  Textes. 


Forschungen  zu  Karolinger  Diplomen  271 

war  das  für  die  Zirkumskription  des  ursprünglichen  Missionsbistums 
j)snabrück,  vorliege.    Brandi  stimmte  (S.  169)  dem  Zweifel  hinsichtlich 
er  möglichen  Größe  des  Banngebietes  zu;  da  er  aber  am  Forstbann 
isthielt,  suchte  er  umgekehrt  der  Grenzlinie  eine  viel  engere  Deutung 
u  geben.     Nach    beiden  Richtungen   bedeutet   die   neuerliche   ünter- 
juchung   der  Frage   durch  Jostes   einen  erfreulichen  Fortschritt.^    An 
er  Richtigkeit  seiner  Grenzerklärung  wird  man  kaum  mehr  zweifeln 
önnen;  andererseits  hat  Jostes  die  Haltlosigkeit  seiner  Bedenken,  in 
inem  so  weit  gedehnten  Gebiet  einen  Wildbann  zu  sehen,  selbst  er- 
Lannt   und   seine  gegenteilige  Behauptung,   so  bestimmt  er   sie  auch 
lusgesprochen  hatte,  ganz  zurückgezogen.   Heute  ist  unter  uns,  —  und 
:h  glaube  dies  auch  in  Brandis  Namen  aussprechen  zu  dürfen  — ,  jeder 
'weifel  behoben,  daß  die  Grenzen  durch  Jostes  richtig  bestimmt  sind, 
ind  daß  das  durch  diese  Grenzen  umschlossene  Gebiet  seit  den  Tagen 
Dttos  I.  ein  richtiger  Wildbann  und  nichts  anderes  war.^    Ich  gestehe 
jerne,  daß  ich  noch  vor  Jahresfrist,  zu  sehr  unter  dem  Eindruck  der  be- 
stimmten Verneinung  in  der  ersten  Arbeit  von  Jostes  stehend,  unnötig 
iel  schweres  Geschütz  aufgefahren  habe;^  denn  Jostes  selbst  hatte  mitt- 
jerweile  erkannt  und  zugegeben,  daß  Wildbanngebiete  von  gleicher  und 
Joch  größerer  Ausdehnung  als  das  Osnabrücker  im  10.  und  11.  Jahr- 
lundert  nicht  zu  den  Seltenheiten  gehörten.    Nur  in  einem  wesent- 
lichen Punkte   bleibt  Jostes   auch  jetzt  fest  bei  seiner  Ansicht.    Die 
i'Iamensformen  weisen  teilweise  bestimmt  auf  Karolingischen  Ursprung. 
)a  aber  unter  Karl  d.  Gr.  die  Verleihung  eines  Wildbannes  in  solcher 
rassung  und  Umgrenzung  ganz  ausgeschlossen  war,  muß  die  Grenz- 
linie damals  einen  ganz  anderen  Sinn  gehabt  haben,  oder  mit  anderen 
iVorten:  die  Wildbannumschreibung  unter  Otto  I.  muß  an  eine  historisch 
|estgelegte  Grenzlinie  ganz  anderer  Bedeutung  angeknüpft  haben,  so 
:war,  daß  der  Wildbann  seit  965  das  Gebiet  umschloß,  das  nahe  zwei 


^  Die  Münstersche  Kirche  vor  Liudger  und  die  Anfänge  des  Bistums  Osnabrück, 
^eitschr.  f.  vaterländ.  Gesch.  u.  Altertumsiiunde  (Westfalens)  62.  Bd.  (1904)  98—138, 
)esonders  S.  111  ff. 

^  Wenn  es  noch  eines  Beweises  bedürfte,  daß  Dumeri  in  II  (Diummeri  XII) 
•ichtig  auf  den  Dümmersee  gedeutet  ist,  so  ist  dieser  Beweis  durch  die  oben  S.  270 
erwähnte  Urkunde,  durch  die  Benno  eine  wesentliche  Erweiterung  seines  Wildbann- 
^ebietes  gelang,  erbracht;  denn  der  Forst  Triburebrok,  das  Drebber  Moor,  liegt  nörd- 
ich  vom  Dümmersee.  Man  vergleiche  für  diese  topographischen  Fragen  die  gute 
Karte,  die  Philipp i  dem  1.  Bande  seines  Osnabrücker  ürkundenbuches  beigab.  Auch 
die  gleichzeitig  geschenkte  Kirche  von  Molbergen  liegt,  weiter  westlich,  im  friesi- 
schen Moorland.  Man  sieht,  wie  Benno  II.  unmittelbar  nach  dem  Gelingen  seines 
Hauptangriffes  den  Machtbereich  seiner  Kirche  nach  Norden  vorschob. 

^  Beiträge  zur  Brandenburg,  u.  Preuß.  Gesch.  S.  391. 


I 


272  ^-  Tangl 

Jahrhunderte  früher   dem   hl.  Wiho   als   „doctoratus",   als  sein  erste: 
Missionsgebiet,  urkundlich  gewiesen  worden  war. 

Wir  müssen  uns  zur  Prüfung  dieser  Ansicht  die  Namensformen 
wie  dies  schon  Jostes  getan,  zusammenstellen: 

II.   Farnvuinkil,  Rutanstein,  Angeri,  Osning,  [Si]nithi,  Bergashouid 
Dreuenomeri,  Etanasfeld,  Dumeri. 
XII.   Farnuvinkil,  Hrutansten,  Angare,  Osning,  Sinithi,  Bergashaui[d] 
Dre[ua]nameri,  Etenesfeld,  Diummeri. 

XVI.  Farnuuuinkil,  Hrutansten,  Angare,  Osning,  Sinithi,  Bergashauid 
Dreuanamiri,  Eteresfeld,  Diumeri. 

XVII.  Farnuuuinkil,  Hrutansten,  Angare,  Osning,  Sinithi,  Bergashauid 
Dreuanamiri,  Eteresfeld,  Diumeri. 

XVIII.   Farnuuuinkil,  Hrutansten,  Angare,  Osning,  Sinithi,  Bergasthauid 

Dreuanamiri,  Eteresfeld,  Diumeri. 
XX,   Farnuwinkil,  Hrutansten,  Angare,  Osning,  Sinithi,  Beregasthauid 

Dreuanamiri,  Eteresfeld,  Diumeri. 
Wenn  wir  zunächst  die  Reihe  der  echten  Urkunden  verfolgen,  ge- 
wahren wir,  wie  sich  in  den  Nachurkunden  mit  der  Zeit  doch  Fehlei 
einschleichen.  In  Farnuuinkil  erscheint  seit  XVI  ein  überflüssiges  drittem 
u,  das  in  XX  zur  Auflösung  u  +  w  führt,  aus  Etenesfeld  wird  sei 
XVI  Eteresfeld,  Bergashauid  wird  in  XVIII  zu  Bergasthauid  und  in  X> 
zu  Beregasthauid.  Wie  fügt  sich  nun  die  Fälschung  in  die  Reihe: 
Sie  hält  sich  von  den  Verderbungen  fern,  die  sich  von  XVI  und  be- 
sonders von  XVIII  an  einschleichen,  setzt  aber  in  fünf  Fällen  Formen 
die  jünger  sind  als  die  ganze  andere  Reihe:  Rutanstein,  Angeri  (e  statt  a) 
Bergashovid  (o  statt  a),  Dreuenomeri  (e  und  o  statt  beidemale  a),  Du- 
meri (u  statt  iu).  In  grellem  Widerspruch  hierzu  steht  ihr  Etanasfeld. 
Brandi  und  Ottenthai  hatten  sich  hier  mit  der  Annahme  beholfen,  daß 
der  Fälscher  auf  gut  Glück  oder  nach  der  ihm  geläufigen  Kenntnis 
der  noch  fortlebenden  alten  und  richtigen  Bezeichnung  gebessert  habe.- 
Ich  hege  starke  Bedenken,  mich  dieser  Erklärung  anzuschließen,  und 
zweifle  doppelt,  daß  der  Schwabe  Benno  (wenn  er  wirklich  der  Fälscher 
war),  der  noch  kaum  Zeit  gefunden  hatte,  sich  in  die  Sprache  seines 
niederdeutschen  Bistums  einzuleben,  und  der  doch  den  übrigen  Namen 


^  Brandi  a.  a.  0.  S.  127  „Er  besserte  auf  gut  Glück  und  vielleicht  hier  (wo 
er  Gelegenheit  zum  Nachdenken  hatte)  mit  dem  Bestreben,  eine  recht  altertümliche; 
Form  herauszubringen;  daß  es  ihm  so  gut  geglückt  ist,  nimmt  ja  Wunder;  daß  es- 
ihm  aber  glücken  konnte,  liegt  durchaus  im  Bereich  der  Möglichkeit."  Ottenthai 
a.a.O.  S.  31  „Nach  Mitteilung  des  Herrn  Prof.  Seemüller  steht  übrigens  nichts 
im  Wege,  daß  auch  um  1080  noch  in  Osnabrück  eine  Schreibung  Etanasfeld  in 
lebendigem  Gebrauch  gewesen  sei  und  der  Fälscher  von  M.  408  (=  II)  also  diesen 
Namen  gleich  den  übrigen  in  einer  ihm  geläufigen  Form  niederschrieb." 


Forschungen  zu  Karolinger  Diplomen  273 

wenig  genug  Pietät  entgegenbrachte,  gerade  hier  von  der  Erkenntnis 
;der  richtigen  alten  Namensform  erleuchtet  worden  sein  soll,  und  kann 
jes'  daher  Jostes  nicht  verdenken,  wenn  er  auf  diese  Vermutungen  mit 
dem  Ausruf  antwortet  „Da  hoeret  ouch  geloube  zuo!"^  Mir  scheint 
per  Ausweg  ungleich  gangbarer,  den  auch  Ottenthai  als  möglich  er- 
logen hatte  und  den  Jostes  allein  sucht,  daß  die  alte  Namensform 
Etanasfeld  einer  alten  Urkunde  entnommen  ist.  Aber  wenn  mir  zu- 
gemutet würde,  mir  diese  Entlehnung  mit  Jostes  so  vorzustellen,  daß 
die  echte  Urkunde  Karls  d.  Gr.  in  der  bekannten  Deutung  alle  diese 
Namen  enthielt,  so  zwar,  daß  der  Fälscher  von  II  gleich  dem  Schreiber 
der  Ottonenurkunde  XII  unmittelbar  aus  dieser  ursprünglichen  Vorlage 
schöpfte  und  dabei  fast  alle  Namensformen  modernisierte  bis  auf  die 
2ine,  die  er  ungeschoren  ließ,  dann  müßte  ich  Jostes  mit  seinem 
|2igenen  Ausruf  antworten.  Meine  Annahme  ist  vielmehr,  daß  diese 
f^amensform  Etanasfeld  genau  so  vereinzelt  in  der  Vorlage  aufgefunden 
ivurde,  wie  sie  sich  in  II  gegen  die  übrigen  Namen  absondert.  Wir 
[vissen,  daß  die  Arenga  von  I  mit  Sicherheit  darauf  hinweist,  daß  die 
bnzige  echte  Urkunde  Karls  d.  Gr.,  die  der  Fälscher  im  eigenen  Archive 
vorfand,  eine  Schenkung  war.  Es  liegt  nichts  näher  als  in  dem  Objekt 
dieser  Schenkung  Besitz  bei  Etanasfeld  (Ettenfeld  bei  Fürstenau  RB. 
ILingen)  zu  vermuten.  Das  Benutzungsverhältnis  vereinfacht  sich  dabei 
tiberraschend.  Wir  sehen,  daß  nach  der  Wildbannformel  weder  XII, 
noch,  der  veränderten  Poenformel  wegen,  eine  der  späteren  Bestäti- 
gungen XVII— XX,  sondern  gerade  XVI  dem  Fälscher  vorgelegen  haben 
nußte.  Zu  diesem  Ergebnis  wollte  aber  die  in  XVI  schon  stark  ver- 
derbte Form  Eteresfeld  nicht  stimmen.  Dieser  Widerspruch  fällt  jetzt 
hinweg,  wenn  für  diesen  Namen  eine  andere  Vorlage  in  Betracht  kam, 
hie  echte  Schenkungsurkunde  Karls  d.  Gr.,  die  der  Fälscher  daneben 
loch  benutzte. 

Damit  erledigt  sich  aber  auch  die  Annahme  von  Jostes,  daß 
iiese  späteren  Wildbanngrenzen  einer  alten  Karolingischen  Zirkum- 
^kriptionsurkunde  entnommen  sein  müßten.  Wir  wissen  dank  der 
forschung  von  Wilhelm  Sickel  und  Thimme,  daß  es  sich  bei  der  Ab- 
Whließung  der  Wildbanngebiete  in  erster  Linie  um  Mein  und  Dein 
landelte,  um  die  Frage,  wieviel  Eigenbesitz  der  Wildbann-Werber  selbst 
oesaß  und  in  welchem  Ausmaße  er  auf  fremdem  Grund  und  Boden 
fechte  anderer  abgelöst  hatte.  Daß  man  bei  diesen  Abrundungsver- 
mchen  gern  an  bekannte  und  vorhandene  Grenzen  anknüpfte,  zeigt 
las  mehrfache  Zusammenfallen   der  Wildbanngebiete  mit  einem  oder 


'  Zeitschr.  f.  vaterländ.  Gesch.  62,  121. 
Afü    11  18 


I 


274  ^'  Tangl 

mehreren  Gauen.^  Aber  von  hier  bis  zur  Annahme,  daß  man  bein 
Ösnabrücker  Wildbann  gerade  an  die  Grenzen  des  alten  Missions- 
gebietes anknüpfte  und  vollends  daß  diese  Grenzen  in  einer  Urkunde 
Karls  d.  Gr.  verzeichnet  standen,  ist  ein  weiter  Weg,  zu  dem  die  Ver 
bindungen  durchaus  fehlen. 

Viel  glatter  erledigt  sich  der  zweite  Teil  unserer  Fälschung,  dei 
dem  Osnabrücker  Bischof  nur  eine  einzige  Leistung  aufbürdet:  nisi  forte 
contingat,  ut  Imperator  Romanorum  vel  rex  Grecorum  coniügalia  federt 
inter  filios  eorum  contrahere  disponant,  tunc  aecclesiae  illius  episcopm 
omni  sumptu  . . .  a  rege  vel  imperatore  adhibito  laborem  simul  et  hono 
rem  illius  legationis  assumat  Et  hoc  ea  de  causa  statuimus,  quia  ii 
eodem  loco  Grecas  et  Latinas  scolas  in  perpetuum  mauere  ordinavinim 
et  numquam  clericos  utriusque  linguae  gnaros  ibi  deesse  in  dei  miseri 
cordia  confidinms.  Auf  Grund  dieses  Zeugnisses  und  der,  wie  wi 
schon  sahen,  so  überaus  zuverlässigen  Datierung  feiert  zwar  in  rühren 
der  Pietät  das  Gymnasium  Carolinum  in  Osnabrück  gewissenhaft  seine 
Jubiläen,  aber  glücklicherweise  gibt  es  heute  keinen  Forscher  mehr 
der  zu  behaupten  wagte,  daß  auch  nur  ein  Wort  von  diesen  schöner 
Dingen  je  in  einer  echten  Urkunde  Karls  d.  Gr.  stand.  Alles  komm 
nur  noch  auf  die  Frage  an,  welcher  Vorgang  hier  dem  Fälscher  als 
Vorbild  vor  Augen  geschwebt  haben  kann,  und  da  läßt  sich  aller- 
dings nicht  leugnen,  daß  man  zunächst  an  die  berühmte  Werbung 
denkt,  die  Otto  I.  für  seinen  Sohn  Otto  II.  um  die  Hand  der  Theo 
phanu  in  Byzanz  anbringen  ließ,  und  daß  dadurch  die  Annahme  einei 
Fälschung  dieser  Urkunden  durch  Bischof  Ludolf  (968—978),  wenn  sie 
sich  nur  sonst  halten  ließe,  eine  starke  Stütze  fände.  Aber  auch  für 
die  Zeit  und  Persönlichkeit  Bennos  erklärt  sich  das  Interesse  für  diese 
Frage  nicht  minder  gut.  1027  unternahm  Bischof  Werner  I.  von  Straß- 
burg eine  Reise  nach  Konstantinopel,  um  dort  im  Auftrag  Kaisei 
Konrads  II.  für  den  jungen  Heinrich  III.  um  eine  der  Töchter  Kaiser 
Konstantins  IX.  zu  werben.  Er  starb,  ohne  die  Angelegenheit  zum 
Abschluß  zu  bringen,  in  Konstantinopel  am  28.  Oktober  1028.  Dieser 
Vorgang  fiel  entweder  selbst  in  die  Zeit,  als  Benno  als  Zögling  der 
Domschule  in  Straßburg  heranwuchs,  oder  war  damals  in  frischester 
Erinnerung.  Anfang  der  vierziger  Jahre  des  11.  Jahrhunderts  begleitete 
dann  Benno  den  Nachfolger  Werners,  Bischof  Wilhelm  von  Straßburg, 
auf  einer  Pilgerfahrt  nach  Jerusalem.^    Kenntnis  einer  solchen  Werbe- 

*  So  bei  Verden  der  Sturmgau. 

^  Beste  Zusammenstellung  dieser  Nachrichten  jetzt  bei  Wentzcke,  Regesten 
der  Bischöfe  von  Straßburg  Nr.  253— 258,  nachdem  schon  Bresslau,  Jahrb.  Kon-; 
rads  II.  1,  235—236  nachgewiesen  hatte,  daß  der  Bischof,  dessen  Pilgerfahrt  der  etwa' 
um  das  Jahr  1020  geborene  Benno  mitmachte,  nicht  Werner,   sondern  Wilhelm  ge- 


Forschungen  zu  Karolinger  Diplomen  275 

ahrt  und  aus  eigener  Anschauung  gewecktes  Interesse  für  Beziehungen 
pm  griechischen  Reiche  sind  daher  bei  Benno  in  vollem  Mabe  voraus- 
zusetzen. Und  wem  lag  die  Hervorhebung  der  Pflege  gelehrter  Schulen 
läher  als  Benno,  dem  gründlichen  und  vielseitigen  Gelehrten  und  er- 
l^lgreichen  Lehrer  zu  Speyer  und  Hildesheim  ?^  Daß  er  das  Stichwort  zu 
jjolcher  Hervorhebung  aus  dem  Diplom  Karls  d.  Gr.  für  Aquileja  auf- 
jyelesen  haben  konnte,  dem  er  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  auch  die 
Rekognition  Jacob  adviceni  Radoni  entnahm,  habe  ich  bereits  oben 
5.  263  erwähnt.^ 

I  Über  die  Urkunde  Ludwigs  d.  Fr.  III,  besonders  über  ihre  höchst 
Inerkwürdige  Rekognition,  habe  ich  schon  oben  S.  171  f.  und  261)  ge- 
landelt.  Daß  die  jetzige  Rekognition  über  Rasur  steht,  unterliegt  keinem 
Lweifel,  darüber  hinaus  aber  wird  Gesamtrasur  der  ganzen  Urkunde 
jius  zwei  Beobachtungen  in  hohem  Maße  wahrscheinlich,  ja  so  gut  wie 
ficher.  Das  Pergament  ist  dünn  und  an  mehreren  Stellen,  die  sich 
iber  den  ganzen  Kontext  verteilen,  durchscheinend  (so  besonders  Z.  1, 
3,  6),  und  das  ursprüngliche  Linienschema  ist  nur  sehr  unvoll- 
ommen  eingehalten;  die  alten  Linien  3,  4  und  7  laufen  mitten  zwischen 
en  späteren  Kontextzeilen.  Gleich  zu  Anfang  der  Urkunde  verblüfft 
bs  Chrismon,  das  mit  denen  in  echten  Urkunden  dieser  Zeit  auch 
iiicht  eine  leise  Ähnlichkeit  hat,  wohl  aber  eine,  wenn  auch  immer 
koch  sehr  phantastische  Nachbildung  des  Chrismons  in  den  Osnabrücker 
priginalen  Ottos  I.  IX  und  X  nahelegt.  Die  merkwürdige  Neigung  des 
Fälschers  zu  Mosaikarbeit  wird  hier  an  einer  neuen  Einzelheit  klar. 
)ei  dieser  ganz  gleichgiltigen  Zierform  springt  er  plötzlich  von  seiner 
/orlage  ab  und  macht  eine  vereinzelte  Anleihe  bei  einer  anderen  Ur- 
kunde. Daß  das  Formular  einem  echten  Diplom  Ludwigs  entstammt^ 
md  in  dem  zeitlich  nächststehenden  Diplom  für  Worms  M.  871  volle 
)eckung  findet,  hat  schon  Mühlbacher  klar  ausgesprochen,  und  Brandi 
lat  daraufhin  die  echten  Bestandteile  (S.  127)  fast  bis  aufs  Wort  genau 


;;esen  sein  muß.  Vgl.  auch  Thyen,  Benno  II.  Bischof  von  Osnabrück,  Mitteil.  d. 
jist.  Ver.  zu  Osnabrück  9,  1—243.  Bischof  Wilhelms  Pilgerfahrt  ist  in  den  Jahren 
p40— 1044  unterzubringen. 

*  Vita  Bennonis  c.  4— 5,  ed.  Bresslau,  SS.  rr.  Germ.  p.  5— 6. 

^  Ob  Benno  auch  die  Stelle  in  der  einen  Überlieferung  des  Widukind  von 
::orvey  III,  2  (ed.  K.  Kehr,  SS.  rr.  Germ.  89—90)  kannte,  nach  der  vor  K.  Konrad  I. 
iibt  Bovo  von  Korvey  mit  seiner  gründlichen  Kenntnis  des  Griechischen  glänzte? 
r  hätte  dann  in  dem  Wetteifer  gehandelt,  Korveys  Ruhm  auch  auf  diesem  Gebiete 
uszustechen. 

^  Zu  den  ganz  geringfügigen  Verderbungen  zählt  die  Auslassung  der  Worte 
et  salvatoris"  in  der  Invokation,  die  veränderte  Devotionsklausel  (divina  providente 
lementia  statt  ordinante  Providentia)  und  „ad  aeternae  beatitudinis  capacitatem' 
tatt  „ad  aeternae  beatitudinis  praemia  capessenda"  in  der  Arenga. 

18* 


I 


276  M-  Tangl 

herausgeschält.  Von  entscheidender  Wichtigkeit  ist,  daß  gerade  in 
dem  viel  wesentlicheren  Schlußteil  des  Kontextes  das  Wormser  Diplom 
fast  ganz  wörtlich  übereinstimmt.  Folgendes  kann  hier  daher  als  ganz 
gesichert  gelten:  Sed  pro  rei  firmitate  petiit  nos  prenominatus  Meingaz 
episcopüs,  ut  hüiüscemodi  heneficmm  erga  ipsam  aecclesiam  noviter^ 
fieri  iuberemus.  Cuius  petitionibus  propter  dei  amorem  et  anime  nostrae 
remedium  libenter  annuentes,  hanc  nostrae  praeceptionis  auctoritatem 
eidem  aecclesiae  fieri  decrevimus.  Propter  quod  iubemus  ac  praeci- 
pimus,  ut  sicut  a  memorato  principe  genitore  nostro  piae  nienioriae 
augusto  concessum  ac  traditum  est,  ita  deinceps  . .  .  ceteraque  sibi  per- 
tinentia  Meingaz  episcopüs  suique  successores  per  hanc  nostrani  auc- 
toritatem habeant  concessa  atque  indulta  ad  necessitates  aecclesiae 
Süblevandas.    Zweifelhaft  bleibt  der  Bischofsname;  doch  davon  später, 

Bestätigt  wird  nach  solchem  Formular  ein  vom  Vorgänger  ver- 
liehenes Recht  oder  ein  von  ihm  verliehener  Besitz.  Um  ein  Recht 
(den  Rheinzoll)  handelt  es  sich  bei  Worms.  Dem  gegenüber  ist  in 
unserer  Urkunde  das  in  der  Wormser  fehlende  Wort  traditum  von 
Wichtigkeit.  Es  weist  auf  die  Übergabe  von  Besitz  und  stimmt  da- 
durch genau  zu  dem,  was  wir  als  den  Inhalt  der  echten  Urkunde 
Karls  d.  Gr.  feststellen  konnten.  Den  Besitz  den  dieser  einst  an  Osna- 
brück geschenkt  hatte,  hat  Ludwig  d.  Fr.  bestätigt.  Auch  die  Zeit  dieser 
Bestätigung  läßt  sich  zuverlässig  feststellen.  In  der  überlieferten  Ge- 
stalt stimmen  Regierungsjahr  11  und  Indiktion  4  weder  zueinander 
noch  zum  Ausstellungsort  Worms.  Mühlbacher  hat  hier  schon  die 
naheliegende  Emendation  anno  XVI  {st.  XI)  imperii,  indictione  VII  (st.  III) 
vorgenommen,  nach  der  die  Urkunde  zum  bekannten  Aufenthalt  Lud- 
wigs d.  Fr.  in  Worms  September  829  einzureihen  ist. 

Ganz  anderer  Art  freilich  war  der  Inhalt  der  Karl-Urkunde,  die 
nach  unserer  Fälschung  Ludwig  d.  Fr.  vorgelegen  haben  und  von 
diesem  bestätigt  worden  sein  sollte:  qualiter  ipse  Adriani  papae  prae- 
cepto  et  hortatu  et  Lullonis  Mogontini  caeterorumque  plurimorum  tunc 
temporis  episcoporum  consilio  in  provintia  Uuestfala  loco  Osnabruggi 
vocato  aecclesiam  et  primam  omnium  in  Saxonia  ordinavit  cathedrani 
et  quomodo  ad  stipendia  episcopi  clericorumque  ibi  deo  militantium 
decimas  cunctorum  infra  terminos  eiusdem  episcopatus  degentium  eidem 
aecclesiae  ex  integro  retinendas  delegavit  et  eandem  aecclesiam  conse- 
crationis  eius  die,  Adriano  papa  ita  ordinante  et  iubente  et  ipsius  privi- 
legio  roborante,  eisdem  decimis  legaliter  ac  devote  dotavit  et  terminos 
eiusdem  episcopii  diligenti  notificatione  circumscribi  praecepit. 

Wieder  ist  die  Gründungsgeschichte  des  Bistums  durch  wichtige 
Angaben  bereichert:  die  Bewidmung  des  neuen  Bistums  —  selbst- 
verständlich, wie  schon  in  II,  des  ersten  im  Sachsenlande  —  mit  den 


Forschungen   zu  Karolinger  Diplomen  277 

i^ehnten  und  die  Umschreibung  seiner  Grenzen  durch  Karl  d.  Gr.,  und 
twar  am  Tag  der  Kirchweihe,  ferner  die  Mitwirkung  Papst  Hadrians  I., 
lier  eigentlich  die  schöpferische  Anregung  gab  und  die  Rechte  des 
neuen  Bistums  auch  durch  eigenes  Privileg  bestätigte,  und  Lulls  von 
Aainz.  In  den  Fälschungen  I  und  II  steht  von  diesen  schönen  Dingen 
ilchts,  wohl  aber  in  einer  anderen  uns  schon  bekannten  Urkunde,  der 
(arl-Fälschung  für  Bremen:  DK.  245  Adhuc  etiam  summi  pontificis  ei 
\iniversalis  pape  Adriani  precepto  nee  non  et  Mogonciacensis  episcopi 
Mllonis  omniumque  qui  affuere  pontificum  consilio  eandem  Bremensem 

mjmäesiam  . . .  Willehado  . . .  commisimus. 

■B  Die  zum  Teil  wörtliche  Übereinstimmung,  ferner  der  Hinweis  auf 
Sie  Zirkumskription,  die  in  der  Bremer  Fälschung  eine  so  bedeutende 
l^olle  spielt,  legt  hier  eine  enge  Beziehung  so  nahe,  daß  schon  Wil- 
Inans  (a.  a.  0.  1,  372)  Benutzung  der  Bremer  Urkunde  für  unsere 
-älschung  annahm.  So  ganz  bestimmt  kann  der  Schluß  ohne  weiteres 
iiicht  mehr  lauten,  da  wir  wissen,  daß  die  Bremer  Fälschung  selbst 
Nieder  zum  großen  Teil  dem  Halberstädter  Vorbild  entlehnt  ist,  und 
iieses  daher  auch  direkt  auf  III  hätte  einwirken  können.  Die  viel 
jiöhere  Wahrscheinlichkeit  spricht  aber  in  der  Tat  für  Benutzung  der 
Bremer  Urkunde  zu  Bennos  Zeit.  Unmittelbar  nach  dem  Tode  des 
:rzbischofs  Adalbert  (1072)  hat  Adam  von  Bremen  sein  Geschichts- 
Lverk,  in  das  er  die  gefälschte  Gründungsurkunde  aufnahm,  geschrieben 
jnd  vollendet  und  es  Adalberts  Nachfolger  Liemar  gewidmet.  Liemar 
;on  Bremen  und  Benno  von  Osnabrück  standen  aber  in  den  Jahren 
il076— 1077  als  Parteigenossen  und  unzertrennliche  Begleiter  Heinrichs  IV. 
n  engster  Beziehung. 

Alle  Forscher,  die  sich  bisher  mit  dieser  Urkundengruppe  be- 
jschäftigt  haben,  sind  darin  einig,  daß  die  Berufung  in  III  auf  den 
Inhalt  der  erhaltenen  Fälschungen  I  und  II  nicht  gehen  kann.  Wieder- 
holt wurde  daher  die  Annahme  laut,  daß  noch  eine  dritte  Urkunde 
auf  den  Namen  Karls  d.  Gr.  bestanden  habe,  daß  uns  aber  gerade 
diese  Hauptfälschung  verloren  sei.  Mit  dieser  Annahme  wird  in  der 
Tat  immer  gerechnet  werden  müssen,  und  sie  ist  auch  dadurch  noch 
nicht  hinreichend  widerlegt,  daß  bei  den  Verhandlungen  von  1077  laut 
dem  Zeugnis  von  XXI  wohl  (im  wörtlichen  Anschluß  an  IV)  von  der 
Gründung  der  Osnabrücker  Kirche  durch  Karl  d.  Gr.,  aber  nicht  aus- 
drücklich von  der  Vorlegung  einer  Gründungsurkunde  die  Rede  ist. 
Denn  auch  III  ist,  obwohl  in  XXI  benutzt,  nicht  erwähnt,  noch  weniger 
I  und  II,  die  ja  nur  Nebenzwecken  des  Fälschers  dienten.  Die  Be- 
rufung auf  Vorurkunden  setzte  damals  erst  mit  der  Eröffnung  des 
eigentlichen  Zehntstreites  ein.  Wohl  aber  wird  daneben  noch  eine 
andere^  bisher  nicht  erörterte  Möglichkeit  in  Erwägung  zu  ziehen  sein. 


I 


278  M-  Tangl 

Die  Bremer  Fälschung  gab  wohl  ein  willkommenes  Vorbild;  um  aus 
ihr  aber  eine  eigene  Gründungs-  und  Zirkumskriptionsurkunde  zu 
machen,  bedurfte  es  auch  selbständiger  eigener  Hilfsmittel.  Diese 
waren  in  Bremen  neben  gründlicher  Ausnutzung  der  Halberstädter  Vor- 
lage in  der  Vita  Willehadi  und  dem  feststellbaren  Zuge  der  eigenen; 
wenn  auch  erst  etwa  seit  der  Mitte  des  9.  Jahrhunderts  zutreffenden 
Bistumsgrenze  bereit,  und  selbst  die  spätere  Verdener  Fälschung  wußte 
zu  dem  Bremer  Grenzzug  nach  der  einen  Seite  einen  Wunschzettel 
nach  der  anderen  zuzugeben  und  ein  Papstprivileg  zu  weiterem  Auf- 
putz bereitzustellen.  Ob  hier  Bennos  Lage  in  der  Zeit  des  Exils  aus 
seinem  Bistum  nicht  schwieriger  war?  Wo  sollte  er,  der  selbst  land- 
fremde und  der  nötigen  Hilfsmittel  und  Hilfskräfte  entbehrende  Flücht- 
ling, die  Möglichkeit  zur  genauen  Feststellung  seiner  Bistumsgrenzen 
hernehmen?  Ich  halte  daher  diese  Erklärung  für  sehr  erwägenswert, 
daß  er  seine  Kenntnis  des  lockenden  Bremer  Vorbildes  wohl  dazu  ver- 
wertete, um  in  geschickter  Weise  in  III  auf  das  Vorhandensein  einer 
gleichartigen  Urkunde  für  Osnabrück  anzuspielen,  ohne  jedoch  infolge 
der  äußeren  Schwierigkeiten  selbst  eine  solche  herzustellen.  Ob  aber 
die  Erklärung  so  oder  so  fallen  mag,  der  historische  Wert  einer  solchen 
angeblichen  Gründungs-  und  Zirkumskriptionsurkunde  Karls  d.  Gr.  für 
Osnabrück  bleibt  in  beiden  Fällen  gleich  Null;  —  sie  ist  ein  aus 
zweiter  und  dritter  Hand  entlehntes  Trugbild. 

Indem  ich  die  Erörterung  der  Beziehungen  unserer  Urkunde  zum 
sogenannten  Pseudoliutprand  für  das  Schlußkapitel  aufspare,  gehe  ich 
gleich  zur  Fälschung  IV,  der  Urkunde  Ludwigs  d.  Deutschen,  über. 
Über  das  Äußere  dieser  Urkunde  habe  ich  schon  oben  S.  252  gehandelt. 
Es  ist  die  einzige,  bei  der  die  deutlichsten  Spuren  von  Rasur  des 
ganzen  ursprünglichen  Textes  über  das  ganze  Pergament  zu  verfolgen 
sind.  Ebenso  sicher  aber  ist,  daß  ein  echtes  Diplom  dieses  Königs 
von  der  Hand  des  Comeatus  dem  Fälscher  vorlag;  denn  schon  der 
Kontext  ist,  wie  sich  jedermann  durch  den  Vergleich  mit  dem  Faksimile 
Kaiserurkunden  in  Abbildungen  VII,  2  überzeugen  kann,  leidlich  gut,  das 
Eschatokoll  aber  geradezu  meisterhaft  nachgezeichnet;  nur  bei  dem 
Versuche,  auch  die  Tironischen  Noten  des  Rekognitionszeichens  wieder- 
zugeben, gab  sich  der  Fälscher  solche  Blößen,  daß  an  ein  Stehenbleiben 
der  ursprünglichen  Rekognition  gar  nicht  zu  denken  isL^  Das  Siegel 
ist  das  echte  Gemmensiegel  Ludwigs  d.  Deutschen  mit  dem  prächtigen 
Hadriankopf.  Das  Siegelbild  ist  gut  erhalten,  auch  der  Sprung,  den 
diese  Gemme  beim  Siegelgebrauch  bald  erhielt,  deutlich  kenntlich,  da- 


^  Vgl.  Tan  gl,   Die  Tironischen  Noten   in  den  Urkunden  der  Karolinger,  Arch. 
f.  ÜF.  1,  156.  ' 


Forschungen  zu  Karolinger  Diplomen  279 

jegen   ist   die  Legende  auffallend   undeutlich   ausgeprägt  oder  später 
erwischt.     Unter  den  Siegelrändern   erscheint   das  Pergament   etwas 
jieHer  und  glatter,  so  daß  man  wohl  versucht  wäre,  an  ursprüngliche 
Befestigung   des  Siegels   zu   denken.     Dies   ist  aber   durch   zwei   Er- 
wägungen  ganz  ausgeschlossen.    Erstens   müßten   sich   dann  Spuren 
jles  echten,  ursprünglichen  Rekognitionszeichens  noch  finden,  das  in 
karolingerurkunden   mit   seinen  Ausläufern  stets  noch  in  die  Siegel- 
5telle  sich  erstreckte.  Zweitens  aber  —  und  das  ist  das  Entscheidende  — 
lann   man   Urkunden   nicht  nachzeichnen,   deren   Schrift  man   zuvor 
iurch  Rasur  vollständig  getilgt  hat.   Unser  Fälscher  hatte,  als  er  dieses 
5tück  anfertigte,  das  echte  Diplom  mit  der  charakteristischen  Comeatus- 
Schrift  als  Schreibvorlage  noch  vor  sich  liegen.    Von  dem  Pergament 
jber,   auf  dem  er  seine  Künste  übte,   war  zuvor  eine  Urkunde  eines 
I  anderen  Ausstellers  verschwunden.    Diese  Beobachtung  gilt  auch  für 
i'ie  anderen  Osnabrücker  Urkunden.  Es  wäre  ganz  verkehrt  anzunehmen, 
daß  auf  jedem  dieser  Pergamente  unbedingt  gerade  die  entsprechende 
2chte   Urkunde    desselben   Herrschers    gestanden   haben   müßte.     Der 
Fälscher  hat  vielmehr  ganz  sicher  Schiebungen  vorgenommen.    Dies 
ist  bestimmt  der  Fall  bei  IV,  V,  XIII,  den  Urkunden,  die  mit  dem  größten 
Erfolg  ihren  Schriftvorlagen  nachgebildet  sind.    Umgekehrt  konnte,  wie 
schon  Ottenthai  (a.  a.  0.  S.  34)  richtig  hervorhob,  das  getilgte  Diplom 
Ottos  I.,  über  dem  jetzt  XI  steht,  weder  für  Inhalt  noch  Schrift  dieser 
iFälschung   als  Muster  in  Betracht  kommen.    Das  Siegel   muß   dann, 
wie  auch  bei  anderen  Urkunden,  von  dem  ursprünglichen  Pergament 
gelöst  und   auf  der  Fälschung  so  geschickt  wieder  befestigt  worden 
jsein,  daß  sich  keinerlei  Spuren  dieses  Eingriffes  erkennen  lassen. 
I        Um  die  Fälschung  zu  beurteilen,  ist  es  zunächst  nötig,  ihre  echten 
'Bestandteile  herauszuschälen.    Wir  beginnen  mit  den  Zeitangaben.    Die 
iDatierung  Data  IUI.  id.  novembr.  anno  Christo  propitio  XV  regni  domni 
plüdoüüici  gloriosissimi  regis  in  orientali  Francia,  indictione  XII;  actum 
iMogontia  civitate  stimmt  nach  dem  Itinerar  zu  einem  Aufenthalt  in 
JMainz  am  10.  November  848  unter  der  Annahme,  daß  wohl  die  In- 
'diktion,  nicht  aber  auch  das  Regierungsjahr  umgesetzt  wurde.    Dazu 
paßt  auch  die  Rekognition  Comeatus  (nachweisbar  843—858)  notarius 
ad  viceni  Radleici  (840 — 854)  recognovi,  nicht  aber  der  Empfänger  der 
i  Urkunde,  Bischof  Egilbert  von  Osnabrück,  dessen  erste  sichere  Erwähnung 
als  Bischof  in  das  Jahr  868  fällt  und  der  885  starb.^    Empfänger  der 


*  Vgl.  Philip pi,  Die  älteste  Osnabrücker  Bischofsreihe,  Mitteil.  d.  hist.  Vereins 
f.  Osnabrück  15,  217ff.  Hier  ist  Egilberts  Regierungszeit  mit  den  Jahren  874—885 
angegeben;  allein  mir  erscheint  die  Erwähnung  Egilberts  in  der  Gründungsurkunde 
für  Neuenheerse  vom  Jahre  868  beweiskräftiger  als  die  auch  sonst  anfechtbaren 
Ansätze  der  rekonstruierten  Osnabrücker  Annalen. 


li 


280  ^-  Tangl  - 

Urkunde   muß   vielmehr  Bischof   Gozbert,   der  vertriebene   Schweden- 
rpissionar,   gewesen   sein.     Das   aber  war  der  Mann,   der  nach  dem 
Zeugnis  der  Querimonia  Egilmari  zu  jeder  Beeinträchtigung,  die  seirt 
Bistum  erfuhr.  Ja  und  Amen  sagte,  und  deshalb  konnte  ihn  der  Fälscher 
für  die  gerade  auf  das  Gegenteil  gestimmte  Einleitung  seiner  Urkunde 
nicht  gebrauchen  und  setzte  schlankweg  den  Nachfolger  für  ihn  ein. 
Dieser  Einleitung,   wie   sie   dem  Fälscher  beliebte,   sind   Arenga   und 
Narratio   der   echten  Vorlage   ganz  zum  Opfer  gefallen.    Hier  stehen' 
nun,  mit  den  schon  erörterten  Worten  arguendo  increpando  obsecrando 
et  iüventüteni  nostrani  non  purum  incusando  beginnend,  in  starker  und 
zum  Teil   wörtlicher  Anlehnung  an  die  Querimonia  Egilmari   die  uns 
schon  bekannten  Dinge  vom  Bischof  Gefwin,  der  suae  infidelitatis  in 
patrem  nostrum  conscius  et  pro  periurio  ab  episcoporum  consortio  se- 
motus  (Ebo  von  Reims!)  aus  seinem  Bistum   geflohen   sei,  von   der 
Übertragung  des  Bistums  an   den  Schwedenbischof  Gozbert   und   der 
Wegnahme  der  Zehnten  durch  den  Grafen  Cobbo:  in  decimarum  direp- 
tione  sibi  debite  pertinentium  esse  decurtatuni  et  huc  usque  non  sine 
nostra  culpa  indecens  et  informe  quasi  pecus  mutilum  permansisse. 
Auch  im  folgenden  Satz:  Et  ut  inde  iusticiam  acciperet  et  se  suaque 
firmius  et  securius  habere  valuisset,  nostrae  immunitatis  et  libertatis 
praeceptum  conscribi  praeciperemus  postulavit  sind  mit  Sicherheit  nur 
die  letzten  Worte  von  immunitatis  an  echt,  alles  übrige  entstellt.    Im  fol- 
genden läßt  sich  die  Scheidung  dann  ganz  genau  durchführen:  Cuius 
reclamationi  assensum  nostro  solo    consilio   prebere   non    censentes, 
praefato    episcopo  suisque    adversariis  Franconofort,    ubi  principibus 
nostris  convenire  statutum  est,  ut  et  ipsi  venirent  praecepimus.    Ibi  in 
nostra  ceterorumque  fidelium  nostrorum  praesentia  praefatus  episcopus 
litteras  magni  et  admirabilis  Karoli  avi  nostri  imperatoris  augusti  ipsius 
sigillo  assignatas  in  palam  proferebat.    ffis  in  nostra  caeterorumque  \ 
considentium  praesentia  recitatis  Osnebruggensem  aecclesiam  Adriani ' 
papae  consilio  et  consultu  ab  eodem  magno  et  illustri  viro  Karolo  pri^ 
mitus  in  provintia  Vvestfala  fundatam  et  a  venerabili  Egilfritho  Leodi- 
censi  episcopo  consecratam  et  eisdem  decimis,  quia  alia  ibi  tunc  tem- 
poris  non  erant  donaria,  dotatam  et  privilegiis  paparum  ante  nos  relectis 
omnem  hominem,  qui  haec  sanccita  aliquo  modo  irritaverit,  anathemati- 
zatum  constare  absque  ulla  ambiguitate  didicimus.    Qua  de  causa  ob 
amorem  domini  nostri  Jesu  Christi  et  sancti  Petri  principis  apostolorum 
et  preciosissimorum  martirum  Crispini  et  Crispiniani,  quorum  corpora 
illuc  translata  sunt,  assensum  libenti  animo  praebentes  ita  fieri  decre- 
vimus  et  hoc  praeceptum  inde  conscribi  iussimus.    Machen  wir  hier 
einmal  Halt.    Es  gehört  zu  den  sichersten  Kennzeichen  von  Einschüben 
in  Fälschungen,  wenn  ein  aus  echten  Urkunden  geläufiges  Schlagwort 


Forschungen  zu  Karolinger  Diplomen  281 

veimal  wiederkehrt.  Es  zeigt  dies,  daß  es  das  erste  Mal  zur  Ein- 
jigung  einer  Zutat  des  Fälschers  mißbraucht  wurde,  um  dann  bei 
bner  Wiederaufnahme  in  die  echte  Spur  zurückzuleiten.  Dieses  Schlag- 
!ort  ist  hier  das  doppelte  assensum.  Mit  Hilfe  der  Nachurkunden  V 
^d  IX,  der  wenigstens  teilweise  echten  Immunitätsbestätigung  Arnolfs 
d  der  als  verläßliches  Originaldiplom  überlieferten  Erneuerung  durch 
tto  I.,  ferner  unter  Heranziehung  der  Immunität  Ludwigs  d.  Deutschen 
r  Paderborn,  M.  1439,  Wilmans  1,  150,  sind  wir  in  der  Lage,  den 
sprünglichen  Text  unter  Streichung  des  ganzen  Einschubes  fast  aufs 
ort  genau  herzustellen:  Cuius  petitioni  (so  statt  des  dem  Fälscher 
enehmen  redamationi)  ob  amorem  domini  nostri  Jesu  Christi  assen- 
im  libenti  animo  praebentes  ita  fieri  decrevimus  et  hoc  praeceptuni 
ide  conscribi  iussimus}  Vielleicht  trifft  aber  doch  Brandis  hartes 
irteil  zu,  daß  unsere  Urkunde  keinen  Satz  enthalte,  der  nicht  fast 
örtlich  in  einer  der  übrigen  Fälschungen  oder  in  den  für  die  Fäl- 
phungen  auch  sonst  benutzten  echten  Urkunden  vorkäme,  und  daß 
kbei  unsere  Urkunde  durchweg  nicht  die  Quelle,  sondern  die  Ableitung 
erstelle  (S.  130)?  Wir  brauchen  uns  zur  Beantwortung  dieser  Frage 
ur  den  Satz  vorzunehmen,  der,  an  den  oben  rekonstruierten  Teil 
ch  anschließend,  zum  Immunitätsformular  überleitet. 

IV:  praecipientes  ut  sicut  reliquae  sandae  dei  aecdesiae,  quae  in 
igno  nostro  immunitatis  tuitione  antecessomm  nostromm  videlicet  re- 
um  audoritate  confirmantur,  ita  iani  dida  aecdesia  perpetuo  per  hoc 
ostrum  praeceptuni  domino  opitulante  stabilita  consistat. 

Daran  reihen  wir  zunächst  die  erste  echte  Bestätigung  der  Immu- 
ität  durch  Otto  I.  in  IX:  praecipientes  ut  sicut  reliquae  sandae  eccle- 
\ae  dei,  quae  per  totam  Franciani  et  Saxoniani  et  immunitatis  tuitione 
'-  antecessorum  nostrorum  regum  videlicet  et  imperatorum  audoritate 
mfirmantur,  ita  praefati  praesulis  sedes  sanda  perpetuo  per  hoc  no- 
trum  praeceptum  domino  opitulante  stabilita  consistat.  Von  der  Er- 
itzung  des  in  regno  nostro  durch  per  totam  Franciani  et  Saxoniam, 
ovon  die  eine  Wendung  so  kanzleigemäß  ist  wie  die  andere,^  abgesehen, 
ind  die  Änderungen  geringfügig,  aber  doch  nicht  zu  übersehen.  Die 
/endung  regum  videlicet  et  imperatorum  in  IX  ist  ganz  formelmäßig 
nd  läßt  die  Auslassung  von  et  imperatorum  in  IV  als  wahrscheinlich 
ermuten;  dagegen  ist  der  Text  des  Originales  IX  in  einem  Fall  doch 
erderbt.    Die  Verbindung  von  immunitatis  tuitione  mit  antecessorum 


^  Gestützt  auf  die  zum  Vergleich  herangezogenen  Urkunden  halte  ich  schon 
-e  Worte  „et  sancti  Petri  principis  apostolorum"  für  durch  den  Fälscher  eingeschoben, 
id  bestimmt  ist  dies  bei  der  nun  folgenden  Erwähnung  der  Heiligen  Crispinus  und 
rispinianus  der  Fall. 

'  Wenige,  aber  gesicherte  Fälle;  vgl.  Sickel,  Wiener  S.-B.  59,  313 f. 


I 


282  ^'  Tangl 

auctoritate  durch  doppeltes  et  ist  eine  Entstellung  des  richtigen  Sinnen 
„Die  Kirchen,  die  durch  Verleihung  unserer  Vorfahren  mit  Immuniti 
ausgestattet  sind."  Ganz  geringfügige  Änderungen  traten  bei  der  Be 
stätigung  durch  Heinrich  II.  in  XVI  ein;  aus  dem  praecipientes  wurd 
per  qmd  firmiter  praecipimus,  in  dem  folgenden  Satze  ist  das  Rele 
tivum  quae  ausgelassen;  rechtfertigen  läßt  sich  schließlich  die  ein 
wie  die  andere  Konstruktion,  aber  die  in  IV  und  IX  ist  besser  un 
ursprünglicher.^  Diese  Fassung  ist  dann  in  den  Erneuerungen  durc 
Heinrich  IL,  Konrad  II.  und  Heinrich  IV.  (XVII,  XVIII,  XX)  wörtlic 
wiederholt. 

Daran  reihen  wir  nun  die  Fälschungen:  V.  praecipientes  ergo  in 
bemus,  ut  sicut  reliquae  sanctae  dei  aecclesiae,  quae  per  totam  Fron 
ciam  et  Saxoniam  emunitatis  tuitione  ab  antecessoribus  nostris  regibü 
videlicet  et  imperatoribus  consistant,  ita  praefati  praesalis  sancta  sede 
perpetüo  per  hoc  nostrum  praeceptum  domino  opitulante  consista 
Diese  Fassung,  die  in  VI,  VII  und  XI  mit  der  kleinen  Anderun, 
wiederkehrt,  daß  das  consistant  in  consistant  verändert  ist,  steht  paralk 
zu  der  in  IX.  Beide  sind  Ableitungen  der  echten  Arnolf-Immunitä' 
IX  als  Nachurkunde,  V  als  darauf  weiterbauende  Fälschung.  Charakte 
ristisch  für  diese  Fälschungsgruppe  sind  zwei  Verderbungen;  aus  den 
confirmantur  in  IV,  IX  und  den  echten  Nachurkunden  wurde  in  Vor 
wegnähme  des  Verbums  des  zweiten  Satzes  consistant  {consistant),  un< 
vor  dem  zweiten  consistat  blieb  das  durch  den  Sinn  notwendig  erfor 
derte  stabilita  fort. 

Die  zusammenfassende  Bestätigungsurkunde  Heinrichs  IV.  XX 
machte  daraus  in  freierer  Fassung:  Precipientes  ergo  iabemas,  at  sicu 
reliqae  in  regno  nostro  sancte  dei  ecclesie  ab  antecessorani  nostrorath 
regam  et  imperatoram  preceptis  et  scriptis  stabilite  consistant,  ita  e 
hec  Osnebraggensis  ecclesia  per  hoc  nostrani  preceptam  domino  opitu 
lante  stabilita  consistat.  Wie  die  Eingangsworte  und  die  zweimalig« 
Vervv^endung  von  consistere  zeigen,  ist  hier  das  Formular  der  Arnolf 
Fälschungen  zugrunde  gelegt,  und  zwar  mit  Benutzung  der  für  dei 
weiteren  Text  am  meisten  ausgeschriebenen  Fälschung  VII,  aus  IV 
aber  sind  die  Worte  in  regno  nostro  und  stabilita  entnommen.  IV  abe: 
gehört,  das  ergibt  sich  aus  der  Entwicklung  ganz  klar,  an  den  Anfang 
nicht  an  das  Ende  der  Reihe;  es  steht  dem  echten  Diplom  IX  vie 
näher  als  den  Urkunden  VII  und  XXI,  die  es  nach  Brandi  erst  benutzi 


^  „Die  betreffende  bischöfliche  Kirche  soll  so  gut  gefestigt  sein  wie  die  übriger 
Reichskirchen,  die  durch  Verleihung  unserer  Vorfahren  mit  Immunität  ausgestattel 
sind",  gibt  den  entschieden  besseren  Sinn  als  „die  betreffende  bischöfliche  Kirche 
soll  so  gefestigt  sein,  wie  die  übrigen  Reichskirchen  durch  Verleihung  unserer  Vor- 
fahren mit  Immunität  ausgestattet  sind". 


Forschungen  zu  Karolinger  Diplomen  283 

aben  soll,  und  es  hält  die  Fassung  von  einer  kleineren  Verderbung 

och  frei,  die  sich  in  IX  einschlich  und  in  allen  echten  Nachurkunden 

;ehen  blieb.    Es  kann  daher  keinem  Zweifel  unterliegen,  daß  für  diesen 

eil  die  echte  Immunität  Ludwigs  d.  Deutschen  benutzt  ist.    Alles  auf 

en  umständlich  erörterten  Satz  Folgende  ist  dann  allerdings  durch  den 

älscher  wieder  aufs  ärgste  entstellt.   Die  offenkundigen  Zusätze  mache 

:h  durch  gebrochene  Klammern  kenntlich;  aber  auch  was  außerhalb 

,tehen  blieb,  ist  im  einzelnen  wohl  überarbeitet:  ita  ut  nullus  iudex 

Heus  (dux  vel  eomes)  neque  aliqua  alia  iudieiaria  potestas  (jiisi  illius 

episeopus  et  suus  advocatus)  aliquid  in  rebus  sibi  pertinentibus 

\estateni  habeat  agendi^  (yel  homines  illius  diiudicandi  quod  eorum 

igua  obarzala  dicitur);  sed  idem  episeopus^  suique  successores  (de- 

as    infra   terniinum  sui  episcopii  caeterasque^res  suae  aecclesiae, 

s  modo  possidet  vel  deinceps  adquisierit,  quieto  ordine  optineat  et 

lernet,  (exceptis  decimis  dominicalium  monachis  et  sanctimonialibus 

ertinentium,   quod  nos  foravuerch   vocamus,   quas  pater  noster  filu- 

buuicus  de  eodem  episcopatu  per  cambiatum  adquisivit  et  ad  pauperum 

stentationem  et  peregrinorum  receptionem  iamdictis  monasteriis  tra- 

'idit.    Servi  auteni  ipsorum  et  liberi  et  cuiuscunque  conditionis  coloni 

kcimas,   ut   caeterorum   in  Saxonia  ius  est  episcoporum,  secundum 

(aroli  institutionem  episcopo  pleniter  offerant.y 

Hier  kommt  vor  allem  die  Stelle  mit  dem  auf  Jahrhunderte  ganz 
vereinzelt  stehenden  Worte  obarzala  in  Betracht.^  Für  zuverlässige 
:ntlehnung  dieses  Wortes  und  damit  der  ganzen  Stelle  aus  dem 
fchten  Diplom  Ludwigs  d.  Deutschen  hat  sich  Jostes  warm  eingesetzt* 
)ie  wohl  so  gut  wie  ausschließlich  aus  oberdeutschen  Beamten  be- 
stehende Kanzlei  Ludwigs  d.  Deutschen  gibt  ihm  allein  eine  befrie- 
digende Erklärung  für  die  scharf  geprägte  Eigenart  dieser  Wortform, 
leren  volle  a-Laute  auf  hohes  Alter  und  deren  z  auf  oberdeutsche  Form 


^  Von  „aliquid"  an  sicher  überarbeitet;  derText  lautete  aller  Wahrscheinlichkeit 
lach  so,  wie  er  an  der  Hand  der  Nachurkunden  V  und  IX  festzustellen  ist:  aut 
:omites  vel  missi  dominici  per  tempora  discurrentes  in  locis  illius  episcopatus  placita 
labenda  vel  freda  exigenda  aut  paratas  faciendas  vel  fideiussores  tollendos  aut  servos 
li  liddones  tollendos  et  ceteros  aut  eos  qui  censum  persolvere  debent,  quod  munt- 
jcat  vocatur,  a  nemine  praesumatur  constringere. 

^  Richtig  wohl:  sed  liceat  eidem  episcopo. 

^  Vgl.  Waitz,  VG.  8,  5  Anm.  1.  Am  besten  hat  darüber  unter  Zusammen- 
stellung der  Zeugnisse  Frensdorf  gehandelt,  Recht  und  Rede,  Histor.  Aufsätze  z. 
'Andenken  an  Georg  Waitz  S.  461  ff.  Das  Verbum  „fartellian,  overtellen,  verzellen,, 
ist  vom  Heliand  an  in  literarischen  Denkmälern  wiederholt  gebraucht,  in  Rechts- 
aufzeichnungen seit  dem  13.  Jahrhundert  in  der  Bedeutung  ,,proscribere*'.  Weit 
kleiner  ist  das  Geltungsgebiet  des  Substantivums:  nur  im  Niederdeutschen  und  auch 
hier  nicht  vor  dem   14.  Jahrhundert.  i!» 

*  tiistor.  Jahrbuch  15,  112  f. 


284  ^'  Tangl 

weisen.  Das  Gewicht  dieser  Gründe  verlienne  ich  keineswegs  und  geb 
zu,  daß  sie  das  Wort  in  erster  Linie  in  Karolingerzeit  suchen  lasser 
Ebenso  bestimmt  aber  muß  ich  dem  entgegenhalten,  daß  ihm  de 
Begriff,  in  dem  es  gebraucht  ist,  das  tieimatsrecht  in  einer  Karolinger 
Urkunde  ganz  und  gar  verschließt.  Zur  Feststellung  dieses  Begriffe 
ist  nicht  nur  IV  allein,  sondern  auch  die  verwandte  Stelle  in  I  heran 
zuziehen;  denn  der  Fälscher  liebt  es  auch  sonst,  Satze,  die  er  schoi 
einmal  gebracht  hat,  mit  anderen  Worten  erläuternd  zu  wiederholer 
In  unserem  Fall  ergibt  sich  die  Gleichung  homines  illius  diiudicand 
quod  eomm  lingua  obarzala  dicitur  in  IV  =  ööf  mortem  usque  terraruh 
diiiidicare  in  I.  Das  bedeutet,  wie  ich  schon  oben  S.  267  ausführtt 
unzweideutig  die  Hochgerichtsbarkeit,  den  Blutbann,  also  gerade  da^ 
was  später  als  neues  Recht  zur  Immunität  hinzutrat,  bis  zum  Ausgan: 
der  Karolingerzeit  aber  niemals  mit  der  Immunität  verliehen  wurd( 
Der  Fälscher  hat  wieder  die  spätere  Entwicklung,  die  er  kannte,  un( 
die  Bestimmung,  die  er  ihr  entsprechend  wünschte,  in  die  Urkunde; 
hineingetragen.  Von  dieser  Erkenntnis  aus  ist  auch  die  Entscheidung 
über  die  Namensform  zu  treffen.  Das  Wort  overtale  ist  nur  auf  nieder 
deutschem  Boden  und  selbst  hier  sonst  nicht  vor  dem  14.  Jahrhunden 
nachweisbar.  Doch  muß  es  hier  schon  seit  langer  Zeit  bodenständi: 
gewesen  sein.  Hier  hat  es  der  Fälscher  aufgelesen  und  teilweise  nacl 
seiner  oberdeutschen  Sprachgewöhnung  umgeändert.^  Das  würde  au 
Bischof  Benno,  den  in  Niedersachsen  wirkenden  Schwaben,  sehr  wob 
zutreffen,  und  auch  der  Zeit  nach  ist  das  Festhalten  an  den  vollein 
a-Lauten  wenigstens  noch  möglich.^  | 

Ganz  auszuscheiden  aus  der  echten  Ludwig-Immunität  ist  die  mi 
exceptis  decimis  dominicalium  beginnende  Fortsetzung,  in  deren  Mitt 
sich  das  zweite  altdeutsche  Wort  foravuerch  findet.  Daß  von  diesei 
Zehntklauseln  nichts  in  der  echten  Vorlage  gestanden  haben  kanr 
wird  nicht  nur  daraus  klar,  daß  die  echten  Erneuerungen  dieser  Immu 
nität  von  Otto  I.  an  von  diesen  Dingen  nichts  enthalten,  sondern  aucl 
dadurch,  daß  die  Immunität  und  andererseits  die  foravuerch-Si^W^  au 
zwei  verschiedene  Arnolf-Fälschungen  V  und  VIII  verteilt  sind.  Wi' 
kennen  wohl  zahlreiche  Fälle,  daß  Einzelverleihungen  später  zu  Sammel 
Privilegien  vereinigt  wurden,   —  XVI   mit  seinen   Nachurkunden   al: 

*  Frensdorf  bemerkt  a.  a.  0.  S.  462  sehr  richtig,  daß  die  Form  obarzala  nu 
in  ihrem  zweiten  Teil  oberdeutsch,  im  ganzen  aber  eine  Mischform  ist,  einem  rieh 
tigen  niederdeutschen  ovartala  müßte  rein  oberdeutsch  ein  ubarzala  gegenüberstehen 

^  Nach  freundlicher  Mitteilung  G.  Roethes.  Darin,  daß  diese  V/ortform  siel 
für  das  9.  oder  10.  Jahrhundert  besser  erklären  ließe,  bin  ich  mit  dem  Kollegen  voi 
der  Germanistik  ganz  einig.  Bei  den  zwingenden  sachlichen  Gründen,  die  gegei 
eine  solche  Unterbringung  sprechen,  genügt  es  mir  aber,  daß  die  Form  für  da 
11.  Jahrhundert  noch  Deckung  findet. 


Forschungen  zu  Karolinger  Diplomen  285 

jammdstelle  für  die  Sonderurkunden  IX,  X  und  XII  ist  dafür  ein  treff- 
iches  Beispiel  — ,  aber  eine  spätere  Auflösung  einer  älteren  Urkunde 
n  Einzelbestätigungen  ist  mir  nicht  gegenwärtig.  Wenn  es  aber  noch 
:ines  weiteren  Beweises  bedürfte,  so  hat  ihn  der  Fälscher  schlagend 
ladurch  erbracht,  daß  er  sich  durch  Benutzung  einer  zweiten  Vorlage 
luf  neuen  Abwegen  ertappen  läßt.  Schon  Sickel  hat  mit  seinem 
kharfblick  in  einer  seiner  frühesten  diplomatischen  Untersuchungen 
erkannt,  daß  die  Korroboration  von  IV  dem  Kanzleibrauch  unter  Ludwig 
1.  Deutschen  nicht  entspricht.^  Wir  können  diese  Beobachtung  nach 
ier  positiven  Seite  hin  weiter  verfolgen.  Es  ist  die  Korroboration,  die 
vörtlich  in  VIII  wiederkehrt  und  für  Arnolfs  Zeit  in  gleicher  oder  ähn- 
icher  Fassung  an  einer  Reihe  von  Originalen  zu  belegen  ist.^  Diese 
\rnolf-Urkunde  aber  betraf  eine  Schenkung,  in  ihr  könnte  günstigsten 
-alls  das  foravmrch  gestanden  haben;  auf  beide  Fragen  werden  wir 
iaher  unten  bei  Zergliederung  von  VIII  zurückzukommen  haben. 

Außer  den  Erörterungen  über  die  Zehntfrage,  die  in  formaler  An- 
ehnung,  aber  sachlichem  Gegensatz  zur  Querimonia  Egilmari  den  König 
licht  die  Angriffe  auf  Osnabrück  unterstützen,  sondern  umgekehrt  seine 
alteren  Vorrechte  anerkennen  und  verteidigen  lassen,  erfahren  wir  in  dem 
ganz  vom  Fälscher  herrührenden  ersten  Teil  von  IV  auch  wieder  schöne 
Dinge  über  die  Gründungsgeschichte.  In  Anlehnung  an  III  läßt  der 
Fälscher  auch  hier  die  Gründung  Osnabrücks  auf  Rat  und  Geheiß 
Hadrians  I.  erfolgen,  aus  dem  einen  Privileg  dieses  Papstes  sind  jetzt 
5chon  solche  mehrerer,  wenn  auch  noch  nicht  bestimmt  genannter, 
Päpste  geworden.  Ganz  neu  ist  die  Angabe,  daß  Bischof  Agilfried  von 
Lüttich  (765—787)  die  Weihe  der  Osnabrücker  Kirche  vorgenommen 
habe.  Es  ist  dies  zugleich  die  einzige  festere  Zeitgrenze,  die  der 
Fälscher  für  seine  Aufstellungen  über  das  Alter  des  Bistums  gibt.  Wir 
iverden  im  Schlußkapitel  noch  zu  untersuchen  haben,  ob  der  Fälscher 
hier  frei  seine  Phantasie  walten  ließ  oder  ob  er  aus  alter  und  brauch- 
barer Tradition  schöpfte. 

^  Sickel,  Beiträge  z.  Diplomatik  I,  S.-B.  der  Wiener  Akad.  36,  384.  Die  Formel 
lautet:  Et  ut  haec  auctoritas  nostra  firmiorem  in  dei  nomine  obtineat  stabilitatem, 
manu  nostra  subtus  eam  roborantes  anulo  nostro  iussimus  sigillari.  Den  Ausdruck 
„stabilitas"  kann  ich  in  der  Korroboration  unter  Ludwig  d.  Deutschen  überhaupt  nicht 
belegen,  die  Partizipialformen  „roborantes"  und  „corroborantes"  finden  sich  nur  in  den 
Fälschungen  für  Herford  M.  1406  und  Fulda  M.  1504. 

'  M.  1799,  1824,  1854,  1857,  1874,  1882,  1907,  1925,  1944,  1952.  Noch  zahl- 
reicher sind  die  Beispiele  für  den  Gebrauch  von  „stabilitatem"  allein  im  Vordersatz 
(M.  1790,  1801,  1809,  1818—1821,  1839,  1881,  1905,  1921,  1940)  oder  der  Partizipial 
form  „roborantes"  allein  im  Nachsatz  (M.  1792,  1861,  1872,  1888,  1908,  1919,  1934, 
1938,  1946).  In  den  meisten  dieser  Diplome  ist  auch  die  von  Sickel  noch  be- 
anstandete Form  „subtus"  zu  belegen,,  die  ganze  Korroboration  also  als  für  die  Zeit 
Arnolfs  vollkommen  kanzleigemäß  erwiesen. 


11 


286  M-  Tangl 

Die  Arnolf-Fälschungen  (V — VIII).  Auch  hier  wird  es  siel 
empfehlen,  zunächst  im  Zusammenhang  festzustellen,  auf  wie  viel 
echte  Vorlagen  die  sicher  erkennbaren  Spuren  weisen.  Die  Rekognitioi 
hat  die  Vielgestaltigkeit  früherer  Zeit  eingebüßt;  sie  nennt  jetzt,  voi 
Ausnahmefällen  abgesehen,  Kanzler  und  Erzkaplan.  In  unserer  Gruppe 
sind  die  beiden  Hauptformen  vertreten,  die  sich  zeitlich  ablösen 
Aspertüs  (—  Ende  892)  cancellarius  ad  vicem  Theotmari  archicapellan 
(V— VII)  und  Uvichinch  cancellarius  (893—899)  ad  vicem  Deotmar 
archicapellani.  Daraus  läßt  sich  zunächst  nur  feststellen,  daß  den 
Fälscher  mindestens  je  eine  echte  Vorlage  aus  der  früheren  und  spä 
teren  Zeit  Arnolfs  zur  Verfügung  stand.  Enger  ziehen  sich  die  Grenzer 
durch  Prüfung  der  Siegel  und  Datierungen.  Bei  VI  und  VIII  sind  di( 
Siegel  längst  abgefallen,  das  an  VII  ist  das  schöne,  Kopf  und  Büsti 
einer  Bacchantin  darstellende  Gemmensiegel  Arnolfs,  das  nur  in  de 
ersten  Zeit  Arnolfs  zur  Verwendung  kam.^  Das  Siegel  an  V  ist  ein( 
Fälschung;  es  stimmt  mit  keiner  der  bekannten  Typen.  Die  Legendi 
ARNOLFVS  PIVS  REX  würde  auf  das  vierte  Arnolf-Siegel  weisen,^  abe 
die  Stellung  der  Legende  zum  Siegelbilde  ist  eine  ganz  andere,  und  da^ 
Siegelbild  selbst  von  dem  echten  ganz  verschieden;  es  zeigt  den  Könii 
ohne  Waffen  und  ohne  Stirnkranz.  Auch  die  Maße  stimmen  nicht 
das  Siegel  an  V  ist  fast  rund  (44  x  45  mm),  das  echte  Vorbild  deut- 
lich oval  (47  X  42  mm).  Dagegen  findet  sich  noch  ein  abgefallenem 
Arnolf-Siegel,  das  zwar  stark  beschädigt  ist,  aber  die  Identität  mit  den^ 
zweiten,  meistverwendeten  Stempel  noch  mit  Sicherheit  erkennen  läßt; 
Also  zwei  echte  Siegel  und  eine  Fälschung,  die  aber  als  Vorlage  eir 
von  den  beiden  anderen  verschiedenes  echtes  Vorbild  (Stempel  4)  er- 
kennen läßt.  Das  echte  Siegel  war  wohl  bei  dem  Versuch,  es  vor 
seiner  Urkunde  abzulösen,  in  die  Brüche  gegangen  und  durch  die 
wenig  geglückte  Nachahmung  ersetzt  worden. 

Ein  ganz  gleichartiges  Bild  liefern  uns  die  Datierungen.  Die  in  V 
stimmt  nach  Zeitangaben  und  Itinerar  zu  einem  Aufenthalt  Arnolfs  in 
Frankfurt  889  Oktober  13,  und  auch  die  sonst  ungewöhnliche  Fassung 
///  idüum  Octobriütn  die,  indictionum  VII  ist  durchaus  kanzleigemäß. 
VI  hat  die  Datumzeile  wörtlich  von  V  entnommen.  Die  Datierung  von 
VIII  Data  XVH.  kl.  Aug.  anno  incarnationis  domini  DCCCXCV,  indiction. 
XIII,  anno  auteni  VIII  regni  Arnolfi  piissinii  regis;  actum  Triburie;  in 
dei  nomine  amen  stimmt  in  den  Zeitangaben,  aber  nicht  zum  Itinerar; 

^  Mühlbacher,  Arnolf  1;  Regesten  S.  XCV.  Posse,  Taf.  4,  7  hat  wie  Jostes 
das  Osnabrücker  Siegel  abgebildet.  Vollständig  erhalten  noch  an  M.  1766  (887  Nov.  27, 
Or.  Chur)  und  als  Fragment,  aber  sehr  scharf  ausgeprägt  an  M.  1769  (888  Jan.  1). 

'  Mühlbacher  S.  XCVI,  Posse  5,  1,  nachweisbar  889—895. 

'  Mühlbacher  S.  XCV,  Posse  4,  8:  nachweisbar  887—893.   Jostes  XXIV  Nr.  VI.. 


Forschungen   zu  Karolinger  Diplomen  287 

enn  die  bekannte  Synode  und  Reichsversammlung  zu  Tribur  fand  im 
t\ai  795  statt  (M.  1905b);  der  Fälscher  müßte  also  hier  willkürlich  die 
[agesangabe  geändert  oder  nicht  einheitliche  Datierung  mit  einem  Actum 
ribur,  aber  um  zwei  Monate  verspäteter  Beurkundung  schon  in  seiner 
[orlage  vorgefunden  haben.  Noch  verwickelter  ist  die  Datierung  in 
'II;  die  Jahresangaben  stimmen  wörtlich  mit  V  und  VI,  dazu  aber 
itt  eine  mit  ihnen  unvereinbare  Tages-  und  Ortsangabe  //.  Id.  Decembr. 
ctiim  Foracheim.  Diese  aber  weist  für  sich  doch  wieder  auf  eine 
chte  Spur.  Zu  Forchheim  ist  König  Arnolf  tatsächlich  gegen  Mitte 
)ezember  887  nachweisbar.^ 

Wir  erhalten  also,  wenn  wir  vom  Itinerar  ausgehen,  drei  brauch- 
are  Ansätze:  Forchheim,  887  Dezember,  Frankfurt,  889  Oktober,  Tri- 
iir,  895  (Mai),  die  der  Fälscher  so  zutreffend  nicht  gut  erfunden  haben 
onnte;  und  dazu  passen  merkwürdig  gut  die  drei  erhaltenen  Siegel: 
üe  Gemme  an  VII,  deren  Vorkommen  auf  die  Zeit  vom  November  887 
»is  1.  Januar  888  beschränkt  ist,  zum  Aufenthalt  in  Forchheim,  das 
2tzt  abgefallene,  aber  echte  Siegel  (887—893)  zu  einer  Urkunde  vom 
iahre  889  und  das  echte,  889—895  nachweisbare  Vorbild  des  ge- 
älschten  Siegels  an  V  zur  Urkunde  vom  Jahre  895. 

Eine  neue  Stütze  erfahren  diese  Beobachtungen  aus  der  ünter- 
uchung  der  Schrift  und  des  Formulars.  V  gehört  zu  jenen  Urkunden 
inserer  Gruppe,  bei  denen  sich  die  Nachahmung  einer  echten  Vorlage 
im  sichersten  verfolgen  läßt.  Die  Schrift  dieser  Vorlage  von  V  läßt 
ich  am  besten  und  in  verblüffender  Ähnlichkeit  wiedererkennen  in 
lem  St.  Galler  Original  M.  1799,  aber  auch  in  einer  Gruppe  anderer 
)iplome,  in  denen  auch  die,  bei  der  Nachzeichnung  allerdings  wenig 
gelungenen,  kümmerlichen  Tironischen  Noten  Engilpero  notarius  scripsi 
't  sübscripsi  stehen,  aber  in  etwas  abweichender  Art,  als  sie  Sickel 
)ei  der  Gruppe  der  von  dem  Notar  Engilpero  ganz  eigenhändig  ge- 
Khriebenen  Diplome  feststellte.^  Besonders  gut  ist  dem  Fälscher  mit 
i  j\usnahme  der  Noten  ganz  so  wie  in  IV  das  Eschatokoll  geglückt.  Im 
Stattlichen  Monogramm  fällt  das  Fehlen  des  Vollziehungsstriches  auf, 
jine  Eigentümlichkeit,  die  wohl  ebenso  getreu  dem  Original  nachge- 
)ildet  ist  wie  die  Genitive  Iduum  und  indictionum  in  der  Datierung. 
Sicht  belegen  kann  ich  an  der  Hand  des  gesamten  Vergleichsmaterials 
ias  Unterlassen  der  Füllung  in  der  C-Form  des  Chrismons.  Für  VI  ent- 
wehrte der  Fälscher  jeder  selbständigen  Schriftvorlage,  sondern  zeichnete 


^  *  Hinweis  auf  diese  Lösung  bereits  bei  Mühlbacher  1841;  mit  der  Datierung 
'orchheim,  887  Dez.  11  besitzen  wir  ein  Originaldiplom  für  Fulda  (M.  1767)  und  die 
verfälschte,  aber  im  Protokoll  und  wesentlichen  Teilen  des  Textes  echte  Urkunde 
ür  Korvey  (M.  1768). 

'  KüiA.  VII.  21—22;  vgl.  ebenda  den  Text  S.  193. 


288  M-  Tangl 

V  mit  allen  seinen  Eigentümlichkeiten  nochmals  nach,  wobei  aber,  c 
die  echte  Vorlage  nicht  mehr  unmittelbar  einwirkte,  die  Eigentümlicl 
keiten  der  eigenen  Hand  des  Fälschers  viel  stärker  hervortraten.   Nac 
neuem  Vorbild  ist  dann  VIII  gearbeitet,  wie  in  erster  Linie  wieder  de 
Eschatokoll  mit  dem  allerdings  ganz  mißglückten  Rekognitionszeiche 
das  in  Ausführung  und  Größenverhältnissen  stark  veränderte  iY\on( 
gramm   und   das   neue  Chrismon  beweisen.    Aber  auch  für  VII  mi] 
eine  besondere  echte  Vorlage  angenommen   werden.    Dafür  spreche 
wieder  Chrismon  und  Rekognitionszeichen,  die  von  V  und  VIII  gleic 
stark  abweichen,  dabei  aber  doch  kanzleigemäße  Formen  zeigen,  de 
Monogramm,  das  dem  in  V  nahe  steht,  aber  den  Vollziehungsstric 
trägt,  und  wohl  auch  das  nur  in  dieser  Urkunde  vom  Fälscher  vei 
wendete  Kürzungszeichen,  das  die  Gestalt  einer  8  mit  langem  Anstrlc 
und  Auslauf  hat;  sonst  zeigt  die  Kontextschrift  wie  in  VI  wenig  fremd 
Einwirkung,   sondern   vielmehr  die  Eigenart  des  Fälschers.     Zu  gar 
gleichen  Ergebnissen  führt   die  Beachtung  des  Formulars.    Die  echt 
Vorlage  von  V  enthielt,  wie  wir  gleich  sehen  werden,  eine  Bestätigun 
der  Immunität,   die  von  VIII  eine  Schenkung  oder  Besitzbestätiguns 
wie  aus  den  Schlußsätzen  der  Fälschung  noch  mit  ausreichender  Sicher 
heit  zu  erkennen  ist,^  während  in  Einleitung  und  Hauptteil  der  Urkund 
die  überwuchernde  Fälschung  kaum  ein  Wort  von  der  echten  Vorlag 
übrig  ließ.    VI  ist  im  Formular  so  unoriginell  wie  in  der  Schrift.    I 
VII  ist  der  Kontext  ganz  vom  Fälscher  mit  Beschlag  belegt,  Titel  un 
Korroboration  stimmen  mit  V  und  VI,  und  die  geringfügigen  Abwei 
chungen  einzelner  Worte  und  Epitheta  im  EschatokolP  würden  für  siel 
allein   nicht  ausreichen,   die  Annahme   einer  eigenen  Vorurkunde  zi 
rechtfertigen,  wenn  nicht  Siegel,  Datierung  und  Schriftbefund  vereinig 
in   demselben  Sinne   sprächen.     Vom  Rechtsinhalt  dieser  dritten  Ur 
künde  ist  aber  nichts  stehen  geblieben;  denn  auch  die  Schenkung  voi 
fünf  rheinischen  Kirchen,  die  man  sonst  noch  am  ehesten  dafür  an 
sprechen  könnte,  läßt  sich,  wie  wir  sehen  werden,  als  echter  Bestand 
teil  nicht  verfechten.    Es  gilt  noch,  die  widerspruchsvolle  Datierung  ii 
VII  zu  erklären.    Die  Annahme  von  nichteinheitlicher  Datierung  schoi 
in  der  Vorlage  ist  hier  ausgeschlossen,  weil  das  Siegel  für  die  Aus 
fertigung   der  Urkunde   noch   zu  Ende   des   Jahres   887   spricht.     Ei 
bleibt  dann  wohl  nur  die  Erklärung,  daß  der  Fälscher,  wie  er  es  ir 
III  bei  der  Rekognition  liebte,  mitten  in  der  Datumzeile  von  der  Be- 
nutzung der  einen  Vorlage  zur  anderen  übersprang. 

^  Vgl.  oben  Seite  285  meine  Ausführungen  über  die  Korroborationsformel.        | 

*  Es  sind:   „invictissimi"   in  der  Signumzeile  statt   „piissimi"   in  V,   VI,   VIIlj 

„Serenissimi  regis"   in   der  Datierung  statt  einfach   „regis"   in  V,  VI   und   „piissim' 

regis"  in  VIII:  endlich  „in  Christi  nomine"  statt  „in  dei  nomine"  in  der  Apprekation- 


Forschungen   zu  Karolinger  Diplomen  289 

Auch  die  vierte  Arnolf-Urkunde  zeigt  Spuren  eines  einst  vorhan- 
enen,  jetzt  aber  abgefallenen  und  verlorenen  Siegels.  Auf  diese  Beob- 
:htung  allein,  ohne  weitere  Anhaltspunkte,  etwa  den  Bestand  einer 
ierten  echten  Vorlage  anzunehmen,  ginge  viel  zu  weit.  Der  Fälscher 
figie  an  dem  Siegel  von  V,  daß  er  dem  Bedarf  an  diesem  Beglaubi- 
ungsmittel  auch  aus  eigenem  abzuhelfen  wußte.  Es  bleibt  also  bei 
rei  echten  Vorlagen. 

Der  Text  von  V  steht  über  den  Trümmern  eines  echten  Arnolf- 
'iploms;  das  beweisen  die  teilweisen  Änderungen,  die  hier  später  an 
em  Dorsualvermerk  vorgenommen  wurden,  wobei  aber  die  Worte  Pre- 
:ptum  Arnulfi  regis  datum  Egilmaro  episcopo  stehen  blieben.^  Im 
Jnklang  damit  steht,  daß  die  Vorderseite  des  Pergaments  sichere 
.puren  von  Rasur  zeigt.  Das  Pergament  ist  bräunlich  und  an  mehreren 
.teilen  durchscheinend  dünn,  vor  der  ersten  Zeile  und  zwischen  den 
Porten  trinitatis  und  Arnolfus  derselben  Zeile  sind  —  man  werfe  nur 
inen  Blick  auf  das  Faksimile  —  deutliche  Schriftreste  sichtbar,  bei 
ler  Stelle  favenie  gratia  Serenissimus  floß  infolge  der  Rauheit  des 
'ergaments  die  Tinte.  Verblüffend  gut  sieht  dagegen  das  Eschatokoll 
US,  obwohl  von  einem  Stehenbleiben  der  ursprünglichen  Schrift  auch 
lier  nicht  die  Rede  ist. 

Während  wir  bei  der  Prüfung  der  bisherigen  Urkunden  fortgesetzt 
estzustellen  hatten,  ob  in  ihnen  überhaupt  noch  echte  Reste  verblieben 
pder  alles  durch  den  Fälscher  erfunden  und  entstellt  ist,  während  wir 
'liesem  trüben  Bild  überwuchernder  Fälschung  später  gleich  wieder 
)egegnen,  bedeutet  der  Inhalt  von  V  einen  Lichtblick;  denn  er  ist 
iberwiegend  oder  doch  gut  zur  Hälfte  echt  und,  was  für  uns  fast  noch 
vichtiger  ist,  in  geschlossenen  Teilen  echt.  Die  Urkunde  rechtfertigt 
laher  wenigstens  teilweise  den  guten  Leumund,  dessen  sie  sich  bei 
vVilmans  erfreute,  der  sie  überhaupt  für  echt  hielt,  und  ebenso  bei 
Sickel,  der  ihr  in  den  Vorbemerkungen  zu  DO.L  20  noch  mehr  traute, 
als  sie  es  verdiente.^  Ich  muß  den  Text,  der  uns  für  die  Sicherung 
ier  Kritik  nach  vorne  und  rückwärts  ganz  unentbehrlich  ist,  zunächst 
in  seinem  ersten  Teile  hier  einrücken:'^ 


'  Vgl  das  Nähere  oben  S.  257. 
!         ^  Philippi,   im  Zutrauen  zu  V  etwas  von  Wilmans  und  Sickel  abrückend, 
Iversah    doch    im   Osnabrücker  ÜB.  1,  42  Nr.  54    die  Bezeichnung   „Fälschung"    mit 
einem  Fragezeichen. 

^  Die  richtige  Scheidung  der  echten  Bestandteile  bei  Mühlbacher,  und  zwar 
schon  in  der  ersten  Auflage  der  Regesten  (1780  =  M829).  Vgl.  ferner  Ottenthai 
a.a.O.  S.  37ff.,  hier  das  Verhältnis  zu  den  Nachurkunden  richtig  festgestellt  und 
mit  Einzelbelegen,  auf  die  ich  hier  nicht  mehr  näher  eingehe,  nachgewiesen,  daß  V 
aus  der  echten  Arnolf-Immunität  und  dem  Diplom  XVI  entstanden  ist,  nicht  aber 
AfU    II  19 


290  M-  Tangl 

(Ol  In  nomine  sanctae  et  individue  trinitatis.  Arnolfus  divin 
favente  gratia  Serenissimus  rex.  8i  liberalitads  nostrae  munere  Iol 
deo  dicata  mstw  relevemus  iuvamine  atque  tuemur,  id  nobis  ad  tert 
poralem  vitam  feliciter  deducendam  et  aeternae  \  praemia  capessenda  pn 
futurum  esse  liquido  credimus.  Quapropter  omnium  fidelium  nostrorw. 
praesentium  scilicet  et  futurorum  cognoscet  industria,  qualiter  vir  vene 
rabilis  episcopus  atque  fidelis  noster  nomine  Egilmarus  Osnebruggensi 
aecclesiae  praesul  nostram  adiit  serenitatem,  postulans  ut  eidem  aeccli 
siae  nostraeque  ^  libertatis  et  inmunitatis  praeceptum  fieri  decrevisseniu. 
per  quod  res  et  potestates,  quas  ^  suo  episcopio  iure  debentur,  firmiii 
ac  plenius  per  nostram  auctoritatem  habere  valuisset.  Cuius  petitionem 
ob  amorem  domini  nostri  Jesu  Christi  assensum  libenti  animo  prat 
bentes  ita  fieri  decrevimus.  Praecipientes  ergo  iubemus,  ut  sicut  reliqii 
sanctae  dei  aecclesiae,  quae  per  totam  Franciam  et  Saxoniam  emmunitati 
tuitione  ab  antecessoribus  nostris  regibus  videlicet  et  imperatoribus  con 
sistant,  ita  praefati  praesulis  sancta  sedes  perpetuo  per  hoc  nostrun 
praeceptum  domino  opitulante  consistat,  ita  ut  nullus  iudex  publica 
neque  alia  iudiciaria  potestas  aut  comites  vel  missi  dominici  per  tem 
pora  discurrentes  in  locis  illius  episcopatus  placita  habenda^  vel  fredi 
exigenda  vel  parafreda  aut  paratas  faciendas  vel  fideiussores  tollenda 
aut  servos  et  liddones  et  eos,  qui  censum  persolvere  debent  (nee  pon 
tum  restaurare,  et  ut  liceret  in  eodem  loco  Osnepruggensi  marcatun 
habere  et  monetum  publicum  instituere  et  toloneum  inde  accipere  omn 
tempore  nemini  contradicente},  sed  liceat  praefato  venerabili  episcopi 
suisque  successoribus  (et  suo  vocatö)  res  praedictae  ecclesiae  cum  om 
nibus,  quae  possidet  vel  deinceps  adquisierit,  quieto  ordine  possiden 
suasque  ecclesias  iuste  corrigere  et  eorum  causas  absque  ulla  contra 
rietate  ordinäre  atque  disponere. 

Abgesehen  von  ganz  geringfügigen  Verderbungen,  die  ich  an  de 
Hand  der  ersten  originalen  Nachurkunde  IX  anmerkte,  und  von  dei 
Veränderungen,  die  ich  an  dem  einen  zu  den  Immunitätsbestimmunger 
überleitenden  Satz  bereits  oben  bei  IV  verfolgte,  liegt  uns  hier  dit 
echte  und  vollständige  Immunitätsbestätigung  durch  König  Arnolf  vor 
denn  der  Fälscher  hat  gegen  den  Schluß  wohl  wieder  aus  Eigenen 
zugegeben,  aber,  bis  auf  wenige  Worte,  auf  die  ich  noch  zurückkomme 


in  seiner  heutigen,  verfälschten  Gestalt  dem  Diplom  XVI  schon  als  Vorlage  gedien 
hat.  Bündige  Zusammenfassung  der  Ergebnisse  durch  Stengel,  Die  Immunitäts 
Urkunden  der  deutschen  Könige  vom  10.— 12.  Jahrhundert,  Berl.  Diss.  1902,  S.  43—44 

^  suae  nostraeque  IX. 

'  quae  IX.  ' 

^  petitioni  IX. 

*  So  auch  IX  statt  ad  placita  habenda. 


Forschungen   zu  Karolinger  Diplomen  291 

lichts  aus  seiner  Vorlage  weggelassen.  Bedeutendes  Interesse  bean- 
brucht  schon  die  Arenga.  Ich  kann  sie  in  keinem  der  Arnolf-Diplome 
achweisen,  wohl  aber  mit  kleinen  Änderungen  an  mehreren  Ludwigs 
.  Deutschen,  und  daß  es  sich  hier  um  ein  Formular  aus  früherer 
eit  handelt,  erhellt  auch  daraus,  daß  die  letzte  Immunität  der  For- 
lulae  imperiales  eine  ganz  ähnliche  Arenga  aufweist.^  Die  Ottonische 
nmunität  und  alle  weiteren  Nachurkunden  entbehren  der  Arenga,  sie 
eginnen  sogleich  mit  der  Publicatio.  Zwingend  drängt  sich  daher  der 
chluß  auf,  daß  die  Arnolf-Immunität  die  Arenga  der  Immunitätsver- 
nhung  Ludwigs  d.  Deutschen  wiederholte,  und  daß  uns  daher  in  V 
rhalten'  ist,  was  der  Fälscher  in  IV  zugunsten  seiner  eigenen  Kunst- 
tücke unterdrückte.  Der  Beweis,  daß  der  Fälschung  IV  trotz  aller 
'erzerrung  doch  eine  echte  Immunität  Ludwigs  d.  Deutschen  zugrunde 
iig,  ist  damit  wohl  abgeschlossen.  Zum  Schluß  übte  der  Fälscher 
jllerdings  auch  in  V  seine  Künste.  Er  griff  wie  bei  I  und  11  —  auch 
iier  die  Einheitlichkeit  der  Mache  verratend  —  zu  der  Urkunde,  die 
lun  einmal  zu  seinem  Lieblingshandwerkzeug  gehörte,  zu  XVL  Er 
ückte  aus  dieser  Sammelbestätigung  die  Verleihung  von  Markt  und 
Aünze  ein,  die  als  Sondervergünstigung  erst  in  X  hinzugekommen  war, 
ind  fügte  die  in  XVI  erstmalig  zugestandene  Befreiung  vom  Brücken- 
)au  bei.  Daß  es  bei  diesem  Einschub  in  V  mit  rechten  Dingen  nicht 
:uging,  ergibt  sich  nicht  nur  daraus,  daß  die  Nachurkunde  IX  davon 
loch  nichts  weiß,  sondern  mehr  noch  aus  der  vollständigen  Entgleisung 
m  Satzgefüge  und  den  gehäuften  Fehlern,  von  denen  der  Einschub 
legleitet  war.''^  Zum  Opfer  gefallen  sind  diesem  Eingriff  nach  et  eos 
jui  censiim  persolvere  debent  die  Worte,  die  sich  aus  IX  und  XVI  als 
sicherer  Besitz  feststellen  lassen  quod  muntscat  vocatur. 

Nach  diesen  Bestimmungen  der  Immunität  ist  ihre  Bestätigung  in 
X  zu  Ende,  nicht  so  der  Fälscher.  Er  führt  in  V  seinen  Text  mit 
(nsuper  weiter,  —  einem  bösen  Fälscherwort,  einem  fast  sicheren  An- 
zeichen, daß  der  Fälscher  Neues  und  übles  im  Schilde  führt.  Unserem 
falscher  war  der  Gedanke  gekommen,  sich,  von  seinen  Vorlagen  ganz 
abirrend,  wieder  seinem  Lieblingsthema,  der  Zehntfrage,  zuzuwenden, 
und  er  fuhr  nun  also  fort:  Insuper  etiam  ad  nostrae  celsitudinis  auc- 
toritatem  isdem  praefatus  episcopus  se  reclamavit  magnam  sibi  destitu- 
tionem  habere  de  decimis,  quae  ad  Osnepruggensem  ecclesiam  in  honore 


^  MG.  Formulae  ed.  Zeumer  p.  306  Nr.  28.  Diese  Erkenntnis  bereits  verwertet 
in  der  zweiten  Auflage  von  Mühlbachers  Regesten  unter  Nr.  1829. 

^  Man  beachte  nur  oben  im  Text  von  V  das  fürchterliche  Anakolut  nach  „qui 
censum  persolvere  debent"  und  unmittelbar  danach  die  Formen  „pontum,  marcatum, 
monetum  publicum,  toloneum",  dagegen  die  korrekte  Fügung  in  XVI  „ad  pontem 
restaurandum   aut  corrigendum   unquam  tempore  constringendos   ingredi   audeant". 

19^= 


292  ^'  Tangl 

sancti  Petri  principis  apostolorum  consecratam  servire  debuissent,  ma 
xima  scilicet  ex  quantitate  et  numero  partes  ad  eandem  sedem  ex  de 
bito  pertinentes  inter  monachos  Hmilienses  et  inter  puellas  fferiuor 
denses  nostrorum  antecessorum  conspiramine  divisas  esse,^  ob  hocqiu 
maxime  se  nulluni  iter  exercitale  extra  eiusdem  episcopatus  confink 
posse  perficere.  Ideoque  pro  hac  causa  eins  reclamationi  consensun 
dedinius,  ita  ut,  nisi  Dani  ad  delendani  Christianitatem  sui  episcopi 
naves  ascenderent,  nulluni  se  suosque  ad  aliuni  exercitale  iter  debiu 
conscensuros  nee  aliquod  de  regali  servitio  secum  haberi,  sed  eius  so 
luniniodo  pastoralitati  Christianitatis  animadversio  valida  persistat,  a 
etiam  nos  nostrosque  predecessores  divinae  pietati  eius  cotidiana  com 
mendet  intercessio;  sicque  firma  ratione  stabilitum  est,  ut  cuncti  ein 
Süccessores  haec  eadem  nobis  sanccita  pari  modo  sortiti  fuerint 

Von  diesen  Bestimmungen  könnte,  wie  Brandi  (S.  133)  richtii 
herausfühlte,  nur  eine  vielleicht  echt  sein,  die  Einschränkung  der  Heer 
bannpflicht;  die  Klausel  unbedingten  Aufgebots  zur  Abwehr  der  Nor 
mannennot  scheint  sogar  der  Zeit  Arnolfs  aufs  beste  zu  entsprechen 
Auch  darin,  daß  die  späteren  Privilegien  des  10.  und  11.  Jahrhundert: 
diese  Bestimmung  nicht  enthalten,  ist  hier  eine  ausreichende  Wider 
legung  nicht  zu  finden.  Zu  den  ganz  wenigen  Kirchen,  die  diese; 
Vorrecht  seit  Ludwig  d.  Fr.  ausdrücklich  genossen,  gehörte  Osnabrück; 
Gegner,  das  Kloster  Korvey;  aber  auch  ihm  ist  dieses  Vorrecht  sei 
dem  10.  Jahrhundert  weder  in  Einzelurkunden  noch  in  Sammelprivi 
legien  wieder  verbrieft  worden.^  Bei  näherem  Zusehen  ergeben  siel 
aber  doch  die  schwersten  Bedenken.  Aus  der  Karolingerzeit  kennet 
wir  Fälle,  daß  Klöstern  entweder,  wie  in  dem  bekannten  Kapitulan 
Ludwigs  d.  Fr.,^  nach  ganzen  Gruppen  oder  in  —  höchst  seltenen  - 
Sonderverleihungen  ^  einzeln  eine  solche  Befreiung  oder  Einschränkung 
zugestanden  wurde,  aber  die  Ausnahmefälle  für  die  Bistümer  Wormr 
und  Hildesheim  tragen  doch  etwas  anderen  Charakter;  hier  wird  zwa 


^  Dieser  Satz,  wie  schon  Brandi  S.  133  nachwies,  in  starkem,  teilweise  wört 
lichem  Anschluß  an  die  Querimonia  Egilmari. 

^  Einschränkung  der  Heerbannpflicht  war  Korvey  durch  Einzelverleihun^ 
Ludwigs  d.  Fr.  zugestanden  worden  (Die  Urkunde  selbst  nicht  erhalten,  wohl  aber  ali 
Ausführungsbestimmung  das  Originalmandat  M.  924).  Als  Einzelverleihung  unte 
weiterer  Einschränkung  erneuert  unter  Karl  III.  M.  1749,  als  Anhang  zur  Immunitä 
zum  erstenmal  unter  Arnolf  M.  1768  (ich  halte  hier  Erben s  Auffassung,  Mitteil,  d 
Instituts  f.  österr.  G.-F.  12,  50  gegen  Mühlbacher  für  zutreffend),  bestätigt  durcl 
Ludwig  d.  Kind,  M.  1990  (vgl.  auch  das  Originalmandat  Arnolfs  M.  1932,  KüiA.  I.  7") 

'  MG.  Capitul.  1,  350—351. 

*  Ludwig  d.  Fr.  M'.  929  für  Kempten  (Or.)  Arnolf  für  Werden,  M.  18Ö1,  Fälschung 
Zuverlässigkeit  dieses  Satzes  zweifelhaft,  aber  nicht  ausgeschlossen;  außerden 
Ludwig  d.  Fr.  M.  843  für  St.  Maixent  bei  Poitiers  und  M.  943  für  Aniane. 


Forschungen  zu  Karolinger  Diplomen  293 

jen  Grafen  das  Heerbannrecht  über  die  Hintersassen  des  bischöflichen 
'nmunitätsgebietes  genommen,  dafür  aber  dem  Bischof  die  Pflicht 
Liferlegt,  auf  den  Ruf  des  Königs  selbst  seine  Mannen  zu  führen.^ 
azu  gesellen  sich  formale  Bedenken  schwerster  Art.  Die  Fassung 
,^r  wenigen  Heerbann -Befreiungen  ist  in  der  Hauptsache  ziemlich 
liststehend,  einfach  und  klar,  in  hostem  ire  oder  in  expeditionem  ire 
ind  sie  ständig  wiederkehrende  Schlagworte.  Ihnen  gegenüber  ist 
er  Wortschwall  in  V  nulluni  se  suosque  ad  alium  exercitale  iter 
kbite  conscensuros  unerhört  und  steht  auf  gleicher  Tiefe  mit  der  in 
iner  Königsurkunde  höchst  wunderlichen  Behauptung  nostromm  ante- 
essorum  conspiramine  und  dem  an  Geschraubtheit  und  Unklarheit 
aum  zu  überbietenden  Nachsatz  sed  et  eius  solummodo  pastoralitati 
^hristianitatis  animadversio  valida  persistat}  Wir  müßten  also  an- 
ehmen,  daß  uns  hier  aus  der  ganzen  Karolingerzeit  die  einzige,  dabei 
her  doch  zuverlässige  Heerbannbefreiung  für  einen  Bischof  erhalten  sei, 
her  in  so  entstellter  Fassung,  daß  wir  uns  vom  Standpunkt  formaler 
md  sachlicher  Kritik  gerade  noch  für  zwei  Worte,  iter  und  Dani,  ein- 
letzen könnten.  Da  drängt  sich  doch  die  andere  Entscheidung  fast 
vvingend  auf,  daß  die  ganze  Stelle  vom  Fälscher  erfunden  und  die 
iormannenklausel  auf  Grund  seiner  historischen  Kenntnis,  die  er  auch 
onst  zeigt,  eingefügt  ist  und  mit  einem  Geschick,  von  dem  er  noch 
)essere  Proben  lieferte.  Ausschlaggebend  ist  wohl  auch  die  üble  Ver- 
[uickung  mit  der  Zehntfrage. 

Wir  müssen  uns  hier  nochmals  die  tatsächlichen  Vorgänge  ver- 
gegenwärtigen, wie  sie  uns  in  der  Querimonia  Egilmari  geschildert 
i^erden.  Bischof  Egilmar  gedachte  sein  kanonisches  Visitationsrecht 
:u  nützen,  um  die  Grundlage  anzufechten,  aus  der  Korveys  Zehnt- 
)ezüge  im  friesischen  Nordland  flössen,  die  Pastoration,  in  der  sich 
lach  seiner  Aussage  das  Kloster  und  die  von  diesem  bestellten  Pfarrer 
schwerster  Verfehlungen  schuldig  gemacht  haben  sollten.^  Doch  damit 
lam   er  übel  an.     Die  Mönche,   mächtiger  Fürsprache  und  durch  sie 

'  Pippin  DK.  20  =  Ludwig  d.  Fr.  M.  536  für  Worms,  DH.II.  256B  (nach  karolin- 
;ischer  Vorlage)  für  Hildesheim,  dazu  käme  M.  928  für  tiamburg;  aber  diese  Urkunde 
st  eine  grobe  Fälschung,  und  selbst  sie  erkennt  die  Befreiung  von  der  Heerbann- 
)flicht  nicht  dem  Bistum  als  solchem,  sondern  nur  einem  der  Hamburger  Kirche 
geschenkten  Kloster  zu. 

^  In  VI  lautet  die  entsprechende  Stelle:  sed  omnia  eidem  aecclesiae  pertinentia 
MUS  solummodo  pastoralitati  integre  utenda  permaneant, 

^  Philippi,  Osnabr.  ÜB.  1,55:  cum...  inter  varias  negligentias,  quas  perlongum 
ist  enucleare,  plures  ecclesias  inconsecratas,  aliquantas  eciam  homicidiis  perpetratis 
nfectas  variisque  spurcitiis  et  flagitiis  minime  purgatas  reperissem,  in  quibus  predic- 
:orum  monasteriorum  subiugati  de  plaga  occidentali  advenientes  presbiteri  ignoti, 
ie  quorum  consecratione  ambigimus,  officia  celebrant,  ne  ibi  divina  misteria  ab  ipsis 
:elebrarentur,  inhibendo  interdixi. 


294  ^'  Tangl 

der  Stellungnahme  des  Königs  sicher,  ziehen  ihn  des  Bruches  alte 
königlicher  Privilegien  und  damit  der  infidelitas  regis.  Nicht  als  Kläger 
sondern  selbst  als  Beklagter  erschien  er  vor  der  Synode,  die  unte 
dem  Vorsitz  des  Erzbischofs  Willibert  von  Köln  und  in  Anwesenhei 
von  9  Bischöfen  zusammentrat.  Unter  dem  Hochdruck  seiner  Gegner 
wurde  ein  Eingehen  auf  seine  eigenen  Beschwerden  rundweg  abgelehnt 
und  ihm  bei  königlicher  Ungnade  aufgetragen,  in  der  Zehntfrage  um 
allen  anderen  Dingen  alles  so  zu  lassen,  wie  er  es  vorgefunden  habe. 

Und  nun  nehmen  wir  uns  im  Zusammenhang  die  Fälschungen 
V— VIII  vor.  Brandi  fand  (S.  131),  daß  sie  sich  vielfach  widersprecher 
Tatsächlich  decken  sich  ihre  Aussagen  keineswegs,  aber  der  Unter 
schied  gipfelt  nicht  im  Widerspruch,  sondern  in  der  Steigerung: 

V:  Die  üble  Lage  Osnabrücks  in  der  Zehntfrage  wird  anerkannt 
ohne  daran  etwas  zu  ändern  oder  eine  Änderung  für  die  Zukunft  ii 
Aussicht  zu  stellen;  in  Anbetracht  der  Notlage  des  Bistums  wird  abe 
Einschränkung  der  Heerbannpflicht  gewährt. 

VI:  Der  König  bekennt  (am  gleichen  Tage!)  sein  durch  Rechts 
Verweigerung  bisher  begangenes  Unrecht  und  verspricht  Abhilfe  fü 
die  Zukunft.^  Auch  hier  wird  Befreiung  von  der  Heerbannpflicht  um 
jeglichem  Königsdienst  gewährt,  es  sei  denn,  daß  der  Bischof  wiede 
in  den  Besitz  seiner  Zehnten  gelangte.^ 

VII:  (zwei  Monate  später)  der  König,  der  bis  dahin  der  wieder 
holten  Klage  Egilmars  durch  den  Hinweis  ausgewichen  war,  daß  er  ii 
der  Sache  nicht  ohne  päpstliche  Entscheidung  vorgehen  könne,  bring 
sie  endlich  auf  einem  Hoftag  zur  Verhandlung.  Die  Entscheidung  fäl 
zugunsten  Osnabrücks,  dem  nunmehr  die  früher  an  Korvey  und  Herforc 
vergabten  Zehnten  zugesprochen  werden.^ 


^  At  illi  scientes  voluntatem  principis  et  quorundam  comitum. 

^  lusticia  michi  denegata  est.  Sed  ne  hoc  quidem  impetrare  quivi,  ut  accusa 
tores  in  presentia  exhiberentur  et  causa  recte  examinaretur. 

^  lussus  sum  ab  eo,  si  eius  gratiam  vellem  habere  propitiam  eiusque  potestat 
non  contraire,  ut  hec  et  in  decimis  et  reliquis  huiuscemodi  negociis  querulosis  omnij 
permitterem  fore  sicut  inveni. 

*  Peccatis  nostris  exigentibus  iustitiam  a  nobis  hucusque  sibi  denegatam  con-; 
fitentes  nullam  posthac  super  hac  re  contrarietatem  sibi  inferre  vel  alicui  con- 
sentire  ut  faciat  promittimus;  und  an  späterer  Stelle:  qui  in  eandem  aecclesian-j 
peccaverimus.  1 

^  Nisi  decimas  aecclesiae  suae  recipiat.  | 

®  Concedimus  etiam  eidem  episcopo  pro  eius  sanctissima  apud  deum  pro  nobii 
intercessione  decimas  iam  diu  inter  monachos  Huxilienses  et  puellas  tierluordensej 
iurgioso  et  iniusto  antecessorum  nostrorum  conspiramine  (diese  Verstärkung  dei 
ohnedies  hinreichend  kräftigen  Worte  von  V  durch  die  Beifügung  von  „iurgioso  el 
iniusto"  war  schon  in  VI  eingetreten)  divisas  in  suam  episcopalem  potestatem  re 
cipere  nemine  contradicente. 


Forschungen  zu  Karolinger  Diplomen  295 

VIII:  (6  Jahre  später)  Anknüpfung  an  die  Entscheidung  von  VII. 
>a  die  Gegner  über  Vergewaltigung  klagen,  während  der  König  noch- 
lals  erklärt,  nur  zu  lange  dem  wahren  Rechte  widerstrebt  zu  haben, 
ird  die  Angelegenheit  auf  der  Synode  von  Tribur  neuerdings  ver- 
indelt  und  durch  den  Spruch  der  Bischöfe  und  Fürsten  endgiltig  zu- 
unsten  Osnabrücks  entschieden.  In  gleichem  Sinne  waren  früher 
chon  die  Päpste  Formosus  und  Stephan  eingeschritten.^ 

In  dieser  Aufeinanderfolge  liegt  weniger  Widerspruch  als  das  ein- 
leitliche  System  einer,  wie  man  nicht  leugnen  kann,  wirksam  durch- 
:eführten  Steigerung. 

Diese  Karolinger,  Ludwig  d.  Deutsche-  und  Arnolf,  machen  einen 
.äuterungsprozeß  durch,  der  sie  von  anfänglicher  Gleichgiltigkeit,  ja 
\irteinahme  gegen  Osnabrück  Schritt  für  Schritt  erst  einer  Anhörung 
;einer  Klagen  und  Erwägung  seiner  Ansprüche  und  endlich  einer  An- 
erkennung seines  guten  Rechtes  zudrängt,  so  daß  sie  mit  dieser 
.äuterung  leuchtende  Vorbilder  für  die  Gewinnung  Heinrichs  IV.  ab- 
leben  müssen.  Die  Heerbannklausel  aber  bringt  sich  um  den  letzten 
^est  von  Glaubwürdigkeit,  wenn  wir  sie  als  Tauschware  verwendet 
sehen.  Sie  wird  von  Arnolf  erst  bedingungslos  zugestanden,  dann  bis 
>M  einer  etwaigen  Wendung  in  der  Zehntenfrage  aufrecht  erhalten  und, 
als  diese  Wendung  —  nach  den  Fälschungen  -—  eintrat,  fallen  gelassen. 
per  Fälscher  behielt  damit  die  Waffe  in  der  Hand,  im  Falle  starken 
Widerstandes  in  der  Hauptfrage  auf  ein  Wiederaufleben  dieser  Ver- 
günstigung zu  dringen  und  damit  neuen  Druck  auf  die  Entschließung 
des  Königs  auszuüben. 

Es  erübrigt  nur  noch,  den  Aufbau  und  sonstigen  Inhalt  der  Ur- 
kunden VI — VIII  näher  zu  verfolgen.  Gesamtrasur  ist  in  VI  nicht 
sicher  zu  erkennen.  Was  in  Zeile  6  und  13  wie  Spuren  früherer 
Schrift  aussieht,  sind  Schriftabdrücke,  die  beim  Zusammenfalten  des 
Pergaments  entstanden.  Das  bezeugen  die  nach  umgekehrter  Richtung 
verlaufenden  Oberschäfte;  im  Spiegel  gesehen,  lassen  sich  einzelne 
Buchstaben  noch  deutlich  erkennen.  Aber  das  Pergament  ist  doch 
rauh  und  an  vielen  Stellen  durchscheinend  dünn,  und  über  derSignum- 
und  Rekognitionszeile  ist  sicher  eine  Schriftzeile  getilgt.  Die  Tinte  ist, 
so  nahe  VI  in  Schrift  und  Inhalt  mit  V  zusammenhängt,  nicht  dieselbe 
wie  in  dieser  Fälschung,  sondern  etwas  heller.    Hierin  herrscht  über- 


[  ^  Die  Reiiienfolge  falsch;  gemeint  kann  wohl   nur  Stephan  V.  sein  (885—891), 

(derselbe  an  den  Egilmars  Querimonia  gerichtet  war.    Sein  Schreiben,  soweit  erhalten 
(Philippi,  Osnabrücker  ÜB.  1,  56),  ausweichend  und  nichtssagend;  von  seinem  Nach- 
folger Formosus  (891—896)  eine  Entscheidung  so  wenig  bekannt,  wie  von  anderen 
Päpsten,  von  deren  Privilegien  der  Fälscher  spricht. 
'  Nach  Fälschung  IV. 


I 


296  M-  Tangl 


haupt  ständiger  Wechsel;  am  hellsten  ist  die  Tinte  in  I  und  II,  faj 
schwarzbraun  dagegen  in  III;  die  Arnolf-Urkunden  zeichnen  sich  bij 
auf  kleine  Schwankungen  durch  gleichmäßige,  schöne  sepiabraune  Tint] 
aus;  die  in  IV  ist  dagegen  wieder  etwas  heller.  Der  Fälscher  hat  di| 
Mischung  wohl  absichtlich  des  öfteren  gewechselt.  Für  Protokoll  unl 
Eschatokoll  und  ebenso  für  die  erweiterte  und  entstellte  Immunität  isl 
V  fast  wörtlich  ausgeschrieben,  nur  gegen  den  Schluß  ist  Einzelne] 
unter  Zurückgehen  auf  XVI  vollständiger  als  in  V;^  wieder  bezeichnen«^ 
für  den  Fälscher,  der  sich  bei  keiner  seiner  Urkunden  auf  eine  Vor] 
läge  ganz  festlegt,  sondern  sprungweise  und  oft  nur  für  wenige  Wort 
andere  Behelfe  heranzieht.  Vor  der  Immunitätsformel  findet  sich  eii] 
Einschub,  der  mit  der  Narratio  in  IV  manches  gemein  hat,  darunte 
die  Nachricht  von  der  Weihe  der  Osnabrücker  Kirche  durch  den  Bischoj 
Agilfried  von  Lüttich.  Eingeleitet  sind  beide  Sätze  durch  das  Schlag, 
wort  querimoniam  faciens,  das  hier  wie  dort  aus  XIX  entlehnt  ist. 
Wie  in  I  und  II  werden  als  Schutzheilige  auch  Crispinus  und  Crispinl- 
anus  genannt.  Neu  sind  in  VI  außer  der  schon  erwähnten,  über  \ 
teilweise  hinausgehenden  Entscheidung  in  der  Zehntfrage  nur  noch  dh 
Worte  et  interventum  amantissimae  nostrae  prolis  Hludouuiä.  Nu) 
schade,  daß  dieser  Intervenient,  Ludwig  d.  Kind,  erst  4  Jahre  nacl- 
dem  Datum  der  Urkunde  geboren  wurde.  Die  Fassung  dieser  unmögi 
liehen  Intervention  ist,  wie  Brandi  erkannte,  wörtlich  der  Immunitäts- 
bestätigung Konrads  IL  vom  Jahre  1028  entnommen;  XVIII:  ob  inter- 
ventum .  . .  amantissimae  nostrae  prolis  Heinrici,  zu  den  vielen  anderer 
ein  neuer  Beweis  dafür,  daß  die  Fälschungen  nicht  im  10.  Jahrhunden 
entstanden  sein  können. 

Bei  VII  lassen  sich  bestimmte  Spuren  von  Rasur  nicht  nachweisen; 
außer  daß  auch  hier  das  an  manchen  Stellen  durchscheinende  Perga- 
ment die  Glätte  und  Weiße  der  Originaldiplome  des  10.  und  11.  Jahr^ 
hunderts  vermissen  läßt.  Inhaltlich  ist  diese  Urkunde  eine  Verarbeitung 
von  VI  und  IV.  Die  Priorität  von  IV  ergibt  sich  dabei  außer  formalen 
Anhaltspunkten,  deren  ich  schon  gedachte,  aus  Abweichungen  in  der: 
Narratio.    Nach  IV   erklärt   der  König  sich  nicht  für  berechtigt,   den' 


*  Schon  von  Brandi  S,  133  bemerkt  und  kurz  erklärt.  V:  aut  servos  et  lid- 
dones  et  eos,  qui  censum  persolvere  debent.  VI:  aut  servos  et  liddones  et  ceteros 
et  eos  qui  censum  persolvere  debent,  quod  muntscat  vocant.  XVI:  aut  servos  vel 
liberos  sive  liddones  et  caeteros  et  eos  qui  censum  persolvere  debent,  quod  munt- 
scat vocatur.  V:  nee  pontum  restaurare.  VI:  nee  pontem  restaurare  aut  corrigere.l 
XVI:  ad  pontem  restaurandum  aut  corrigendum.  \ 

^  XIX:  querimoniam  faciens  de  Bernhardo  comite.  IV:  querimoniam  faciens 
episcopium  suum  a  Cobbone  comite  etc.  VI:  querimoniam  faciens  se  suosque  multa^ 
mala  et  varias  oppressiones  de  iudicibus  illius  regionis  pati  et  tolerare;  in  IV  durch; 
Nennung  des  Grafen  die  nähere  Beziehung  zu  XIX. 


Forschungen   zu  Karolinger  Diplomen  297 

:ehntstreit  allein  zu  entscheiden,  sondern  legt  die  Frage  einem  Hoftag 
u  Frankfurt  vor,  zu  dem  vor  allem  auch  die  streitenden  Parteien  zur 
/oTbringung  ihrer  Beweise  geladen  werden.^  Nach  VII  hält  sich  der 
(önig  ohne  päpstliche  Entscheidung  in  der  Frage  nicht  für  zuständig, 
)eruft  aber  dann  Parteien  und  Fürsten  zum  Hoftag.^  Es  ist  klar,  daß 
1er  einheitliche  und  logisch  richtige  Gedankengang  hier  in  IV  vorliegt, 
v'ährend  er  in  VII  durch  das  Hereinziehen  des  Papstes  geradezu  durch- 
)rochen  wird.  Der  Fälscher,  der  seine  Sache  ja  auch  von  dem  päpst- 
ichen  Forum  führte,  hatte  hier  eben  einen  neuen  Anknüpfungspunkt 
i^ntdeckt.  Die  Angaben  über  die  Gründung  Osnabrücks  werden  wieder 
iius  IV  übernommen  aber  durch  die  Berufung  auf  Privilegien  der  Päpste 
.cos  III.,  Paschais  I.,  Eugens  IL  und  Gregors  IV.  bereichert.  Nachdem 
vir  die  Gepflogenheit  unseres  Fälschers,  in  der  nachfolgenden  Urkunde 
mmer  etwas  mehr  und  etwas  Neues  gegenüber  den  vorhergehenden 
'u  sagen,  an  einer  ganzen  Reihe  von  Beispielen  verfolgt  haben,  werden 
mr  nicht  zweifeln,  daß  auch  hier  das  Fortschreiten  so  liegt:  III:  Pri- 
l/ileg  Hadrians  I.,  IV:  Privilegien  von  Päpsten,  VII:  Privilegien  von  vier 
genannten  Päpsten,^  und  nicht  mit  Brandi  (S.  130)  in  IV  eine  Ver- 
kürzung und  Verallgemeinerung  von  VII  sehen.  Als  vollkommenes 
5igengut  von  VII  erscheint  gegen  Schluß  der  Urkunde  die  Schenkung 
i^on  fünf  rheinischen  Kirchen:  Boppart  a.  Rh.,  Müffendorf  a.  Rh.  ober- 
ihalb  Bonn,  Düren,  Kirchberg  bei  Jülich  und  Froitzheim  zwischen  Düren 
|Lind  Zülpich.^  Das  Mißtrauen,  das  dieser  Schenkung  längst  entgegen- 
V  gebracht  wurde,  hat  Forst  in  den  letzten  Jahren  noch  verstärkt.^    Bis 


;  j  ^  IV:  Cuius  reclamationi  assensum  nostro  solo  consilio  prebere   non  censentes 

i  iprefato    episcopo    suisque    adversariis    Franconofort,    ubi    principibus    nostris    con- 
I  ivenire  statutum  est,  ut  et  ipsi  venirent,  precepimus. 

I  ''  Cuius  reclamationi  quamvis   sepius  iteratae  assentire  renuentes,  talia   posse 

sabsque  apostolicae  sedis  auctoritate  diiudicare  vel  determinare  nos  excusavimus. 
jSed  tandem  ante  nos  veniendi  eidem  episcopo  suisque  adversariis  diem  et  locum 
ijstatuimus  et  muttos  illuc  nostri  regni  principes  (Reichsfürsten!  über  die  ünmöglich- 
;  jkeit  dieses  Ausdruckes  für  das  Q.Jahrhundert  vgl.  Ficker,  Vom  Reichsfürstenstand, 
i  S.  43)  scilicet  archiepiscopos  episcopos  duces  comites  ceterosque  deum  timentes 
!  -clericos  et  laicos  convenire  fecimus. 

^  III:    Adriano    papa    ita  ordinante  et  iubente  et  ipsius   privilegio   roborante. 
;IV:  et  privilegiis  paparum  ante  nos  relectis.     VII:  et  postea  a  quattuör  apostolicorum 
t -virorum  privilegiis  scilicet  Leonis,  Paschalis,   Eugenii  et  Gregorii   stabilitam  esse  et 
jomnem  hominem  eisdem  privilegiis  ante  nos  relectis  etc.  =  IV. 

*  Insuper  (wieder  das  Fälscherschlagwort!)  etiam  istas  V  aecclesias  pro  re- 
medio  animae  nostrae  ad  suam  aecclesiam  donamus  et  tradimus  cum  omnibus  per- 
tinentiis  earum:  unam  in  Botbarton,  aliam  in  Moffendorp,  tertiam  in  Duron,  quartam 
in  Chirihberge,  quintam  in  Froratesheim.  Nachweis  der  Topographie  durch  Meyer, 
Mitteil.  d.  histor.  Vereins  v.  Osnabrück  2,  112. 

"^  Forst,  Die  angebliche  Schenkung  rheinischer  Kirchen  an  das  Bistum  Osna- 
brück durch  König  Arnulf,  Westdeutsche  Zeitschr.  19  (ISOO).  174ff. 


298  M.  Tangl 

zum  Ausgang  des  10.  Jahrhunderts  sind  über  den  Besitz  dieser  Kirchen 
verschiedene  Verfügungen  vorhanden,  aber  keine  zugunsten  Osnabrücl^s. 
Diese  Schenkung  gehört  daher  wohl  mit  zu  den  frommen  Wünschen 
des  Fälschers. 

Wilmans  glaubte  den  tatsächlichen  Vorgang  feststellen  zu  können,, 
welcher  der  in  VII  erwähnten  tioftags-  und  Synodalverhandlung  zu- 
grunde lag.^  Ein  Tag  zu  Forchheim  fand  tatsächlich  im  Mai  890  statt, 
und  die  geistlichen  Teilnehmer,  unter  ihnen  der  Bischof  von  Osna- 
brück und  der  Abt  von  Korvey,  sind  uns  in  der  Urkunde  der  Erz- 
bischöfe Sunderold  von  Mainz  und  Hermann  von  Köln  für  das  Kloster 
Neuenheerse  überliefert.^  Diese  Erklärung  muß  jetzt  seit  dem  Bekannt- 
werden der  Urschrift  von  VII  anders  lauten.  Die  Ortsangabe  Forch- 
heim verdankte  der  Fälscher  nicht  seiner  Kenntnis  von  einer  dort  ab- 
gehaltenen Synode,  sondern  er  entnahm  sie,  wie  ich  schon  oben  S.  287 
ausführte,  samt  der  zur  Synode  von  890  gar  nicht  stimmenden  Tages- 
angabe (12.  Dezember)  einem  echten  Diplom  Arnolfs,  das,  nach  dem 
hier  verwandten  Siegel  zu  schließen,  nur  während  des  Forchheimer 
Aufenthaltes  im  Dezember  887  ausgestellt  sein  konnte.^ 

Bei  der  Urkunde  VIII  ist  Gesamtrasur  deutlich  erkennbar;  das 
rauhe  und  braune  Pergament  erinnert  an  das  in  IV;  an  der  Stelle  des 
abgefallenen  Siegels  sind  über  den  Schlußworten  der  Datierung  in  dei 
nomine  noch  Reste  von  Buchstaben  oder  von  Ausläufern  eines  getilgten 
Rekognitionszeichens  sichtbar.  Zu  beachten  ist  auch,  daß  das  am 
Rande  vorgestochene  ursprüngliche  Linienschema  nicht  eingehalten 
ist  und  daß  von  den  Linien  selbst  nur  noch  wenige  Spuren  vorhanden 
sind,  bei  Annahme  von  starker  Radierung  dadurch  erklärlich,  daß  die 
ganze  obere  Pergamentschichte  und  mit  ihr  auch  die  Eindrücke  der 
blinden  Linien  verschwanden. 

In  der  Fassung  ist  VIII  selbständiger  als  VI  und  VII,  aber  darum 
nicht  echter.  Gleich  die  Arenga  Qüoniam  regum  et  imperatorum  esse 
constat  officium  kann  ich   in  Karolinger  Urkunden  nicht   nachweisen, 


^  Kaiserurkunden  der  Provinz  Westfalen  1,  350. 

'  Wilmans  a.a.O.  1,  528,  Mühlbacher  1846^ 

^  Auch  an  eine  Identifizierung  der  Forchheimer  Synode  mit  der,  über  deren 
feindselige  Beschlüsse  in  der  Querimonia  Egilmari  Klage  geführt  wird,  ist  ernstlich- 
nicht  zu  denken,  obwohl  die  Namen  von  sieben  Teilnehmern  (den  Bischöfen  von 
Würzburg,  Utrecht,  Minden,  Speyer,  Hildesheim,  Verden,  Halberstadt  und  Paderborn) 
übereinstimmen.  In  der  Querimonia  ist  außerdem  nur  noch  der  Bischof  von  Utrecht 
genannt,  in  der  Urkunde  von  Neuenheerse  aber  auch  der  Erzbischof  von  Mainz  und 
die  Bischöfe  von  Eichstädt,  Hamburg,  Verdun,  Passau  und  Münster.  Entscheidend 
aber  ist,  daß  die  in  der  Querimonia  genannte  Synode  noch  der  Erzbischof  Willibert 
von  Köln  (f  889  Sept.  11)  leitete,  während  in  der  Forchheimer  bereits  sein  Nach- 
folger Hermann  genannt  ist. 


Forschungen   zu  Karolinger  Diplomen  299 

and  die  Art,  wie  sie  hier  angewendet  ist,  die  Arenga  in  einem  Vorder- 
!5atz  zusammenzudrängen,  als  dessen  Nachsatz  gleich  die  Publicatio 
^ich  anschließt,  ist  dem  Kanzleibrauch  sonst  ganz  fremd.  Die  eigene 
Erfindung  des  Fälschers  setzte  hier  wohl  gleich  bei  den  ersten  Worten 
^in.  Den  einen  wesentlichen  Teil  des  Rechtsinhaltes  habe  ich  schon 
besprochen.  Er  betrifft  die  Erneuerung  der  zugunsten  Osnabrücks 
gefallenen  Entscheidung  in  der  Zehntenfrage  auf  Grund  neuer  und 
sorgsamer  Verhandlung  auf  einer  Synode  zu  Tribun  Die  Synode,  die 
hier  im  Mai  895  abgehalten  wurde,  war  die  bekannteste  und  wichtigste 
{im  ausgehenden  9.  Jahrhundert.^  Es  wäre  daher  sehr  wohl  denkbar, 
'daß  der  Fälscher  noch  im  11.  Jahrhundert  von  ihr  Kenntnis  hatte. 
Wahrscheinlicher  aber  ist  die  Erklärung,  daß  er  die  Ort-  und  Zeit- 
angaben seiner  echten  Vorlage  (o.  S.  286 — 287),  die  nicht  ein  Synodal- 
protokoll, sondern,  wie  wir  gleich  sehen  werden,  eine  Schenkungs- 
jurkunde  war,  entlehnte,  und  daß  die  im  Interesse  der  Osnabrücker 
Zehnten  sich  abmühende  Synode  seine  Erfindung  ist. 

Dem  übrigen  Inhalt  der  Urkunde  kommen  wir  am  besten  bei, 
wenn  wir  zunächst  ihre  echte  Vorlage  feststellen.  Schon  oben  S.  285 
bemerkte  ich,  daß  die  in  IV  und  VIII  gleichlautend  verwendete  Korro- 
boration  gerade  für  Arnolfs  Zeit  kanzleimäßig  ist.  Aber  auch  ein  gut 
Stück  dessen,  was  ihr  unmittelbar  vorangeht,  läßt  sich  bis  auf  gering- 
fügige Veränderungen  und  bis  auf  einen  offenkundigen  Einschub,  den 
ich  durch  gebrochene  Klammern  ausscheide,  als  Bestandteil  einer  echten 
'Arnolf-Ürkunde  erkennen:  totum  ex  integro  in  ius  et  dominadonem 
principalis  ecclesiae  eiusdeni  episcopiP  in  honore  sancti  Petri  dedicatae 
tradidimus  atque  contülimus  cum  famulis  et  mancipiis  terris  cultis  et 
incültis  agris  pascuis  silvis  aquis  aquarumque  decursibus  et  omnibus 
rebus  ad  easdem  res  rite  pertinentibus  et  ipsi  episcopo  suisque  succes- 


^  Mühlbacher  1905^  die  umfangreichen  Canones  der  Triburer  Synode  MG. 
Capitui.  2,  196 ff.;  als  letzter  in  der  Reihe  der  22  anwesenden  Bischöfe  auch  Egilmar 
von  Osnabrück  (a.  a.  0.  S.  246). 

^  Die  Stelle    ist  wahrscheinlich   überarbeitet,    statt    der    einfacheren   Wendung 
dominationem   eiusdem   ecclesiae    in  honore  etc.;    aber    so    sicher  abzulehnen,    wie 
Wilmans  1,  358  meinte,   der   „principalis   ecclesia"  =  Domkirche  für  das  9.  Jahr- 
hundert als  unzulässig  erklärte,   ist  sie  keineswegs.     Die  Stelle  in  DH.  II.  256 B  für 
Hildesheim,   in   der  sich  die  Worte   „de  iure  principalis  aecclesiae"   finden,   stammt 
wohl    mit  Sicherheit    nicht    aus    der   sonst   als  Vorlage    benutzten   Immunität   Lud- 
wigs d.  Fr.,   sondern   ist  eigene  Zugabe  des   Schreibers   GB.   (vgl.   Bresslau,   Vor- 
bemerkung  MG.  DD.  3,  297 — 298);    aber    dann    bleibt    immer    noch    die  Immunität 
j  Ludwigs  d.  Kindes  für  Halberstadt,   M.  2000,  Or.  Faks.  KüiA.  I,  13   „ubi  principalis 
I  episcopii  sui   sedes  est",  um  wenigstens  für  den  Ausgang  der  Karolingerzeit  dem 
I  Worte  volle  Deckung  zu  geben,  um  so  mehr  als  eine  vielleicht  schon  gleichlautende 
'  Vorurkunde  verloren  sein  dürfte. 


300  ^-  Tangl 

soribüs  cum  omni  utilitate  sui  arbitrio  et  disposidone  aetemaliter  fru 
endum  decrevimus.    lussimus  quoque  hoc  praesens  nostrae  largitiom 
exinde  conscribi  et  renovari  praeceptum,  per  quod  volumus  firmiterqu 
iübemus,  ut  iamdictus  episcopus  suique  successores  (decimas  sui  epk 
copii  ceterasquey  res  suae  aecclesiae  per  omnia  labentis  mundi  tempon 
quiete  utendas  possideant.     Die  Pertinenzformel,  die  in  solcher  Weis 
nur  bei  Übertragung  von  Besitz  verwendet  wird,  und  die  Schlagwort 
tradidiniüs  atque  contulimus,  largitionis  praeceptum  sprechen  überein 
stimmend  mit  voller  Sicherheit  dafür,  daß  der  Rechtsinhalt  dieser  ür 
künde   eine   Schenkung    oder   die   Bestätigung   einer   solchen   betraf 
Darüber  hinaus  aber  noch  einen  sicheren  Schritt  zu  wagen,  das  Rechts 
Objekt  dieser  Schenkung  und   ihre  besonderen  Bestimmungen  festzu 
stellen,  ist  uns  bei  der  üblen  Verfassung,  in  der  sich  der  ganze  Haupt 
teil  der  Urkunde  durch  die  Schuld  des  Fälschers  befindet,  leider  ver 
sagt.    Aus  dem  oben  mitgeteilten  Schluß  der  Urkunde  ist  die  Herein 
Ziehung  der  Zehnten  wohl  auszuscheiden;  doch  weise  ich  unten  nach 
daß  eine  Verfügung  über  die  Frohnhofzehnten,  vielleicht  in  besondere 
Urkunde,  bestanden  haben  muß.    Nur  mit  Vorsicht  wird  dann  noch  zi 
erörtern  sein,  ob  bestimmte  Worte  aus  der  Vorlage  entnommen  sein  unc 
in  welchem  Zusammenhang  sie  dort  gestanden  haben  könnten.    Zu 
nächst   die  Namen   der  beiden  Grafen  Allo  und  Hermann.    Bekannte 
Persönlichkeiten  waren  es  nicht;  Allo  vermag  ich  sonst  überhaupt  nich 
nachzuweisen,  und  bei  Hermann  bleibt  es  zweifelhaft,  ob  er  identisc 
ist   mit   dem  Grafen  Hermann,   der  18  Jahre   später  in  DK.I.  16  al 
Intervenient  für   das   Kloster  Meschede   erscheint.     Ich   möchte   doc 
annehmen,  daß  der  Fälscher  die  beiden  Namen  in  der  echten  Urkunde 
vorgefunden  hat;  nur  können  sie  dort  unmöglich  in  dem  sachlicher 
Zusammenhang  gestanden  haben,  in  den  er  sie  in  seinem  MachwerW 
brachte:  beide  zunächst  als  Begünstiger  der  Klöster  und  Widersacher 
Osnabrücks,^  während  dann  im  zweiten  Teil  der  Urkunde  der  durch 
den  Spruch  der  Triburer  Synode   rasch  und  gründlich  bekehrte  Alle 
selbst  seine  Zustimmung  gibt,  daß  „seine  Grafschaften  und  Lehen"  (!); 
an  Osnabrück  geschenkt  werden.^    Da  ihre  Nennung  als  Intervenienten' 
im  Arnolf-Diplom  sehr  unwahrscheinlich  ist,  bleibt  eigentlich  nur  die 


^  Vgl.  conscribi  et  renovari  praeceptum. 

^  VIII:  namque  abbas  et  abbatissa  et  sui  H[er]mannus  et  Allo  comites  i[psis] 
faventes  et  nondum  ab  errore  eessantes  nos,  quod  inde  (durch  die  Entscheidung 
in  VII)  actum  est,  potestate  magis  quam  iusticia  aegisse  .  .  .  non  veraces  incusabant. 

^  VIII:  Insuper  etiam  ad  eundem  episcopatum  comitatus  ceteraque  beneficia; 
iamdicti  AlIon[is  ipsius]  collaudatione  .  .  .  tradidimus.  Die  Ergänzung  der  Lücke  inj 
VIII  ist  durch  die  Raumverhältnisse  und  durch  die  noch  vorhandenen  Reste  der; 
Unterlängen  ganz  gesichert.  i 


Forschungen   zu  Karolinger  Diplomen  301 

mnahme,  daß  die  Einzelobjekte  der  Schenkung  als  in  comitatu  fier- 
'lanni  (Allonis)  comitis  gelegen  bezeichnet  waren.  Für  den  Fälscher 
her  lag  der  Mißbrauch  der  Namen  zu  seinen  Zwecken  nahe.  In  der 
}ueriinonia  Egilmari  spielte  der  Graf  Cobbo  als  fiauptbedränger  des 
jistums  eine  große  Rolle  und  am  Ende  der  ürkundenreihe  erschien 
n  dem  vom  Fälscher  wiederholt  benutzten  Diplom  XIX  der  Graf  Bern- 
lard  als  Widersacher  des  Bischofs  in  der  Frage  des  Gerichtstandes 
1er  freien  Kirchenleute.  Das  lockte  den  Fälscher,  auch  für  die  Zwischen- 
eit  die  bösen  Grafen  als  die  Sündenböcke  hinzustellen,  welche  die 
)urchführung  der  für  Osnabrück  längst  günstigen  Entscheidung  in  der 
'ehntfrage  durch  ihren  hartnäckigen  Widerstand   verhinderten. 

Ähnlich   wie  bei  den  Namen  der  Grafen  mag  es  mit  dem  Worte 

vravuerch  stehen.     Die  rein  oberdeutsche  Form   erklärt  sich  bei  den 

•orwiegend  bayerischen  Kanzleibeamten  Arnolfs  wie  bei  dem  Schwaben 

3enno  gleich  gut;  das  volle  a  weist  —  hierin  hat  Jostes  sicher  Recht  — 

n  erster  Linie  in  Karolingische  Zeit;  ein  Festhalten  an  der  alten  Form 

äßt  sich  auch  für  Bennos  Zeit  zur  Not  noch  annehmen.    Ich  wies  oben 

B.  284f.   nach,   daß  der  Fälscher,  als  er  in  IV  zum  erstenmal  dieses 

Wort   gebrauchte,   seine  erste  Vorlage,    die  echte  Immunität  Ludwigs 

d.  Deutschen,   bereits  verlassen  hatte  und  sich  an  eine  neue  Quelle, 

iie  in  VIII  benutzte  und  entstellte  Arnolf-Ürkunde,  hielt.     Die  gemein- 

pame  Verwertung   in   beiden  Fälschungen    legt   die  Vermutung   nahe, 

,|daß  auch  hier  das  Schlagwort  schon  durch  die  echte  Vorlage  gegeben 

|(a^ar.    Am  schwierigsten  wohl  ist  die  Frage,  was  von  der  Umgebung 

und  dem  Zusammenhang,  in  dem  es  steht,  als  verbürgt  anzuerkennen 

ist.     All   zu   vertrauenswürdig   ist   die   Fassung   nicht;    und   was    der 

Bischer  in  VIII  über  den  oben  S.  283  mitgeteilten  W^ortlaut  von  IV 

jnoch   bringt,   die  Berufung   auf  eine  nie  ergangene  Verfügung  Papst 

Stephans  V.  und  einen  ebenso  wenig  zu  belegenden  Eintausch  dieser 

jFrohnhofzehnten   für   die  Klöster  gegen   den  Reichshof  Dissen  durch 

(Ludwig  d.  Frommen,  macht  die  Sache  nicht  besser.^    Und  doch  muß 

(gerade  hier  unbedingt  ein  echter  Kern  stecken.    Denn  die  ganz  ähn- 

jliche   Bestimmung   steht   in   der   Urkunde   Ludwigs   d.  Deutschen   für 

IjKorvey,  M.  1498:  et  per  hanc  conscriptionis  nostrae  cartam  specialiter 

\ei  concessiim  sciatur,   ut  de  dominicatis  mansis  vel  nunc  habitis  vel 

ipost  adquirendis  a  reddendis  decimis  plenam  hoc  monasterium  habeat 


'  ^  VIII:  ut  Stephanus  papa  diffinivit  et  litem  inter  eos  iterata  institutione  diremit, 

ita  ut  monachi  et  sanctimoniales  de  singularibus  dominicalibus  ipsorum,  quas  [antea 
quiete  p]ossidebant  decimas  absque  contradictione  episcoporum  omnino  retineant. 
Nam  ipse  bonae  memoriae  Ludevvicus  easdem  decimas,  ut  ipsi  ante  nos  certis 
testificati  sunt  scrip[tis,  ipsis  cum  propjria  curte  sua  Tissene  nominata  de  eodem 
episcopatu  per  cambiatum  acquisivit  etc.  =  IV. 


302  M-  Tangl 

inimunitatem,  nisi  sicut  hactenus  fuit,  ut  dentur  ad  portam  monaster 
in  susceptionem  hospitum  et  peregrinorum.  Zwar  ist  auch  diese  ü 
künde  wie  ihre  Bestätigung  durch  Arnolf,  M.  1768,  in  der  überlieferte 
Gestalt  unecht.  Aber  die  Zuverlässigkeit  des  Vorrechtes,  daß  Korve 
Zehntfreiheit  von  seinen  Frohnhöfen  genoß,  ist  durch  das  wenig  spätei 
Originaldiplom  Konrads  I.  DK.I-  14  gedeckt.  Überhaupt  kann  ich  nid 
umhin,  mich  gegenüber  dem  zu  weit  gehenden  Mißtrauen  Mühlbachei 
gegen  diese  Korveyer  Urkunden  dem  günstigeren  urteil  Erbens  anzi 
schließen.^  Der  beste  Beweis  ist  aber  wohl  die  Wiederkehr  der  gar 
gleichartigen  Bestimmung  in  den  Osnabrücker  Fälschungen.  D( 
Fälscher  muß  sie  in  seiner  Vorlage  bereits  vorgefunden  haben,  uni 
er  richtete,  wie  ich  schon  oben  S.  242  ausführte,  seine  Haltung  s 
ein,  sie  auch  in  seine  Machwerke  zu  übernehmen,  um  unter  Zugestänc 
nissen  in  diesem  Punkte  seinen  Angriff  ganz  auf  die  Hauptfrage,  di 
Pastorationszehnten  in  großen  geschlossenen  Gebieten,  zu  konzentrieret 
Es  erübrigt  noch,  auf  ein  paar  Fragen  des.Abhängigkeitsverhäll 
nisses  einzugehen,  die  Brandi  S.  135  zur  Sprache  brachte.  Er  sieh 
in  VIII  eine  der  jüngsten  Fälschungen,  in  der  ein  Satz  aus  XIX  ers 
auf  dem  Umweg  über  die  Fälschung  XIII  benutzt  ist.  Und  er  he 
darin  recht,  daß  die  aus  XIX  entlehnten  Worte  ut  amplius  inter  ipso 
eorumque  successores  huiusmodi  contentio  non  oriatur  in  XIII  wörtlic. 
wiederkehren,  während  in  VIII  eine  kleine  Änderung  {eos  statt  ipsot 
und  Umstellung  (des  Wortes  amplius)  vorgenommen  ist:  ut  huiusmoa 
contentio  inter  eos  eorumque  successores  amplius  non  oriatur.  Abe 
das  beweist  mit  Sicherheit  nur  das  eine,  daß  XIII  hier  nicht  aus  VII 
schöpft,  sondern  direkt  auf  XIX  zurückgeht.  Es  schließt  dagegen  nich 
aus,  daß  hier  der  Text  beider  Fälschungen  direkt  durch  XIX  beeinfluß 
ist,  bei  XIII  in  wörtlicher,  bei  VIII  in  etwas  freierer  Wiedergabe.  Um 
diese  Erklärung  liegt  dadurch  nahe,  daß  der  unmittelbar  anschließend» 
Satz  in  VIII  und  XIII  wohl  den  gleichen,  dem  Fälscher  geläufigen  Ge^ 
danken  ausdrückt,  über  Ableitung  des  einen  Textes  aus  dem  anderer 


^  Erben,  Die  älteren  Immunitäten  für  Werden  und  Korvey,  Mitteil.  d.  Institut! 
f.  österr.  G.-F.  12,  46 — 54.  Zweifellos  bleibt  dabei  noch  immer,  daß  man  in  Korvey 
durch  das  Trugmittel  der  Fälschung  weiterbaute,  aber  auf  der  sicheren  Grundlage 
die  durch  tatsächliche  Zuwendung  solcher  Zehnten  gegeben  war. .  Verweisen  wil 
ich  nur  darauf,  daß  sich  die  Begründung  mit  der  „susceptio  hospitum"  auch  in  den 
Zehntprivileg  Karls  d.  Gr.  für  Fulda,  DK.  279,  findet.  Flinter  dieser  unechten  und  ir 
der  Form  unmöglichen  Verleihung  für  Abt  Ratgar,  birgt  sich  eine  echte  Zehnturkund( 
Karls  d.  Gr.  für  Abt  Baugulf.  Dieser  Nachweis,  den  ich  Mitteil.  d.  Instituts  f.  österr 
G.-F.  20,  244ff.  angetreten  hatte,  ist  durch  die  Untersuchung  von  Pereis,  Die  kirch- 
lichen Zehnten  im  Karolingischen  Reiche  S.  80ff.  bestätigt  worden,  während  Mühl- 
bacher in  der  Vorbemerkung  zu  DK.  279  auch  die  sachlichen  Angaben  der  Urkunde 
verwarf. 


1 

Forschungen   zu  Karolinger  Diplomen  303 

r  nichts  entscheidet.  VIII:  sed  liceat  prefato  venerabili  episcopo 
mas  süi  episcopii  ex  integro  recipere  et  quiete  possidere  nemine 
tradicente.  XIII:  sed  liceat  eidem  episcopo  suisque  successoribus 
\em  decimas  ceteraque  sibi  pertinentia  quieto  ordine  possidere  et 
sas  Süi  episcopii  corrigere  ordinäre  atque  disponere  nemine  contra- 
'ente.  Für  Feststellung  eines  Prioritätsverhältnisses  ergibt  sich  hier 
rhaupt  kein  fester  Anhalt.  Doch  lege  ich  auf  diesen  Punkt  wenig 
rt.  Ich  würde  keine  Durchbrechung  meiner  Beweisführung  darin 
en,  wenn  sich  herausstellte,  daß  der  Fälscher  erst  dann  auf  den 
anken  kam,  eine  vierte  Urkunde  auf  K.  Arnolf  zu  fälschen,  nach- 
er  die  zweite  auf  Otto  I.  bereits  fertig  hatte;  nicht  gleichgiltig 
r  ist  mir  Brandis  Versuch  auch  XXI  als  die  Vorurkunde  von  VIII 
erweisen.  Er  unternimmt,  ihn  an  der  Hand  zweier  Stellen,  deren 
e  bereits  oben  S.  237  in  Spaltendruck  gegenübergestellt  ist:  Ibi 
ütrorumque  sententiis  auditis  etc.  Jedermann  kann  sich  an  ihr 
rzeugen,  daß  sie  auch  nicht  die  Spur  eines  Beweises  für  die  Pri- 
ät  von  XXI  liefert.  Auch  Brandi  gesteht  S.  136  selbst  zu,  daß  das 
Abhängigkeitsverhältnis  hier  noch  „problematisch  bleibt".  Den  eigent- 
chen  Beweis  soll  die  folgende  Stelle  bringen,  die  ebenfalls  oben 
:.ijl.  237,  unmittelbar  an  die  frühere  anschließend,  in  Spaltendruck  zu 
2sen  ist.  Hier  soll  nach  Brandi  in  VIII  „durch  die  Erweiterung  das 
\  Moxi  ceterorumque  sehr  ungeschickt  geworden"  sein.'  Da  muß  ich 
och  bitten,  mir  zur  Erläuterung  dieser  Stelle  zu  folgen.  Die  Ver- 
eihung  an  Osnabrück  erfolgt  aus  Liebe  zu  Gott  und  den  Schutzheiligen 
lieser  Kirche  (Petrus,  Crispinus,  Crispinianus),  aus  Verehrung  {venera- 
ione)  für  Karl  d.  Gr.,  den  Gründer  des  Bistums,  zum  Seelenheil  (animae 
•em^üf/o)  Ludwigs  d.  Fr.  und  Karlmanns,  des  Vaters  Arnolfs,  und  zur 
Jündenlösung  Arnolfs  selbst  und  seiner  übrigen  Vorgänger,  die  sich 
leider  diese  Kirche  vergangen  haben  (pro  nostra  ceterorumque  ante- 
'.essorum  nostrorum  videlicet  regum,  qui  in  eandem  aecclesiam  pecca- 
'crimus,  liberatione).  Ganz  scharf  sind  hier  die  Karolinger  in  drei 
(ategorien  geschieden,  entsprechend  ihrer  verschiedenen  Haltung  in 
Jer  Entwicklungsgeschichte  des  Bistums,  wie  sie  der  Fälscher  sich  und 
»einen  Lesern  zurecht  legte.  Erst  der  fromme  Stifter,  dann  Ludwig 
1.  Fr.,  der  sich  der  Kirche  gütig  erwies,  und  Karlmann  von  Bayern, 
3er  wenigstens  keine  Gelegenheit  hatte,  das  Gegenteil  davon  zu  tun, 
la  er  nicht  über  Sachsen  gebot,  und  drittens  alle  Schuldbeladenen, 
arnolf  selbst  und  Ludwig  d.  Deutsche,  weil  sie  sich  solange  sträubten, 
iem  Bistum  zu  seinem  Recht  zu  verhelfen  (Adresse:  Heinrich  IV.),  und 
udwig  IIL  und  Karl  IIL,  weil  sie  sich  um  die  Klagen  Osnabrücks 
immer  im  Sinne  des  Fälschers  gedacht)  überhaupt  nicht  kümmerten 
Adresse:  Konrad  IL  und  Heinrich  IIL).    Wo  sind  da,  frage  ich,  ünge- 


304  M-  Tan  gl 

schick,  Unordnung  oder  Verwirrung?  Viel  eher  läßt  die  Fassung  von 
XXI  mit  ihrer  Zweiteilung  die  Schärfe  der  ursprünglichen  Scheidung 
vermissen.^  Der  Versuch,  aus  dieser  Stelle  einen  Beweis  dafür  zii' 
gewinnen,  daß  VIII  erst  aus  XXI  zurecht  gemacht  wurde,  ist  daher 
abzulehnen. 

Über  die  beiden  Fälschungen  auf  Otto  I.  (XI  und  XIII)  kann  ich 
mich  ganz  kurz  fassen.  Bei  XI  interessieren  wesentlich  nur  Schrift 
und  Pergament.  Es  ist  die  einzige,  im  Osnabrücker  Staatsarchiv  ver- 
wahrte und  seit  langem  bekannte  Urschrift  aus  der  ganzen  Gruppe; 
Sickel  hatte  sie  in  der  Vorbemerkung  zu  DO.I.  212  als  eine  Nach- 
zeichnung eines  von  der  Hand  des  Schreibers  Willigis-B  herrührender 
Originals  erklärt.  Entgegen  diesem  Urteil  versuchte  Wilhelm  Diekamp  in 
Supplement  zum  westfälischen  ürkundenbuch  Nr. 437  die  Originalität  der" 
Urkunde  zu  verfechten,  und  auch  Philippi  schloß  sich  im  Osnabrücker 
ÜB.  1,  79,  ohne  an  die  Originalität  zu  glauben,  doch  soweit  dem  Urteil 
Diekamps  an,  daß  „der  Charakter  der  Schrift  ein  so  gleichmäßiger  und 
fester  ist,  daß  von  einer  Nachzeichnung  nicht  wohl  die  Rede  sein 
kann''.  Er  hielt  die  Urkunde  für  die  Arbeit  einer  Kanzleihand  des 
10.  Jahrhunderts  und  dachte  dabei  an  den  ehemaligen  Notar  und 
Kanzler  Ottos  I.  und  späteren  Bischof  von  Osnabrück  Ludolf.  Otten- 
thal  konnte  demgegenüber  nach  dem  Erscheinen  der  Publikation  von 
Jostes  mit  berechtigtem  Stolz  darauf  hinweisen,  wie  scharf  und  zu- 
treffend Sickel  und  seine  Mitarbeiter  beobachtet  hatten.  Heute  kann 
kein  Zweifel  mehr  darüber  bestehen,  daß  die  Schrift  des  WB.  in  XIII 
geradezu  verblüffend  gut  und  genau,  in  XI  freier  und  unter  stärkerem 
Vorwalten  der  eigenen  Eigentümlichkeiten  der  Fälscherhand  nach- 
gezeichnet ist.-  Bezeichnend  aber  ist,  daß  bei  der  Bearbeitung  dieser 
Urkunde  für  die  Diplomata  wie  später  durch  Diekamp  eines  übersehen 
werden  konnte,  worauf  erst  Philippi  a.  a.  0.  79  aufmerksam  machte: 
die,  wie  er  sich  ausdrückte,  „vielen  Rasuren".  Auch  seine  weitere 
Erläuterung  verdient  hier  wörtlich  eingerückt  zu  werden.  „Ein  so 
großer  Teil  der  Schriftseite  ist  radiert,  daß  man  fast  annehmen  möchte,; 
es  sei  überhaupt  reskribiert.    Die  Rasuren  sind  aber  derart  energisch; 


^  Pro  remedio  et  liberatione  gilt  hier  gleichmäßig  für  die  antecessores  eandemj 
ecclesiam  suis  scriptis  et  preceptis  roborantes  wie  für  die  reges,  qui  in  eandem 
ecclesiam  iusticiam  sibi  denegando  peccaverunt.  Auf  eine  Kleinigkeit,  so  gering- 
fügig sie  ist,  möchte  ich  doch  noch  aufmerksam  machen.  Als  Epitheton  für  Crispinus 
und  Crispinianus  hat  VIII  gemeinsam  mit  VI,  dessen  Priorität  vor  XXI  auch  Brandi 
vorsieht,  „sanctorum",  während  in  XXI  dafür  „preciosissimorum  eingetreten  ist. 

^  Für  alle  Einzelheiten  verweise  ich  hier  auf  die  sorgfältigen  Ausführungen 
Ottenthals,  Mitteil.  d.  Instituts  f.  österr.  G.-F.  Erg. -Bd.  6,  31ff.  Wiederholung 
des  tiinweises  auf  die  heranzuziehenden  Faksimiles  auch  oben  S.  255  Anm.  1. 


Forschungen  zu  Karolinger  Diplomen  305 

lurchgeführt,  daß  selbst  nach  sorgfältiger  Reinigung  keine  Spur  der 
jrsprünglichen  Schrift  sich  hat  entdecken  lassen.  Es  ist  daher  auf 
jriind  dieses  Befundes  unmöglich  zu  entscheiden,  wie  viel  und  ob 
iberhaupt  etwas  von  dem  ursprünglich  auf  dem  Pergamente  Geschrie- 
)enen  übrig  geblieben  ist."  Ich  erbat  mir,  nachdem  ich  die  eben  auf- 
getauchten Osnabrücker  Urkunden  schon  gesehen  hatte,  die  Zusendung 
lieses  Stückes  nach  Berlin  und  konnte  bei  neuer  und  durch  die 
(enntnis  der  Eigentümlichkeiten  der  ganzen  Gruppe  erleichterter  Unter- 
;uchung  bald  feststellen,  daß  von  dem  ursprünglichen  Schriftbestand 
iberhaupt  nichts  übrig  geblieben  ist.  Die  ganze  Urkunde  steht  auf 
^asur,  daher  die  rauhe  Oberfläche  und  braune  Farbe  des  Pergaments. 
)ie  ursprüngliche  weiße  und  glatte  Oberfläche  tritt  nur  an  wenigen 
Stellen  des  äußeren  Randes  noch  hervor,  hier  aber  so,  daß  sich  die 
prenzlinie  zwischen  ursprünglicher  und  radierter  Fläche  fast  überall 
(loch  erkennen  läßt.  Das  ursprüngliche  Linienschema  war  ein  anderes, 
st  aber  durch  das  Radieren  gründlich  beseitigt  und  nur  an  den  Seiten- 
'ändern  noch  teilweise  wahrzunehmen.  Diese  Geschichte  der  allmäh- 
lichen Erkenntnis  der  Rasur,  die  ich  bei  anderen  Stücken  der  gleichen 
Gruppe  am  eigenen  Ich  so  erlebte,  wie  sie  sich  hier  auf  vier  Personen 
i^erteilte,  ist  das  glänzendste  Zeugnis  für  die  Meisterschaft,  mit  der 
diese  Tilgungen  vorgenommen  wurden  und  ein  ebenso  sicheres  für 
ile  Einheit  der  Fälscherarbeit. 

Dem  Inhalt  nach  bietet  XI  wenig  Interesse.  Es  ist  zum  größten 
Feil  eine  Wiederholung  von  VI  und  VII,  eine  durch  Zehntfrage  und 
jZehntklage  unterbrochene  und  durch  die  bekannten  Einschübe  be- 
reicherte Immunität.  Dies  war,  wohl  in  einer  an  XII  anknüpfenden 
Fassung,  wie  schon  Sickel  feststellte,  der  Inhalt  der  getilgten  echten 
Urkunde,  auf  den  auch  die  Reste  des  teilweise  radierten  Dorsualver- 
merks  weisen.^  Das  Eschatokoll  mit  der  Rekognition  Liutolfus  can- 
\:ellariüs  ad  vicem  Brunonis  archicapellani  und  die  Einzelangaben  der 
Datierung  stimmen  zu  einem  aus  Dortmund  960  duni  13  datierten 
biplom.  Damit  verträgt  sich  aber  das  festgestellte  Schriftmuster  nicht; 
(denn  der  Schreiber  WB.  trat  erst  968  in  die  Kanzlei  Ottos  I.^  Die  Er- 
klärung des  Zwiespalts  hat  schon  Ottenthai  überzeugend  gegeben. 
Urkunden,  deren  Schrift  man  durch  Rasur  vernichtet  hat,  kann  man 
inicht  nachzeichnen;  daher  mußte  sich  der  Fälscher  hier  nach  einer 
anderen,  späteren  Schriftvorlage,  der  von  XIII,  umsehen.    Wichtig  und 


'  Vgl.  oben  S.  257-258. 

'  Vgl.  MG.  DD.  1,  85  und  Mitteil.  d.  Instituts  f.  österr.  G.-F.,  Erg.-Bd.  2,  88; 
er  war  dann  der  meistbeschäftigte  Mann  in  den  ersten  Jahren  Ottos  II.  und  schied 
575  aus  dem  Kanzleidienst  aus. 

Afu    II  20 


306  M-  Tan  gl 

von  der  Kritik  schon  bemerkt  ist  noch  eine  Einzelheit.  Der  Fälsche 
hatte  den  ganzen  zweiten  Teil  von  XI  von  Quapropter  praecipiente 
iübemus,  ut  sicut  reliquae  sanctae  dei  aecclesiae  etc.  an  fast  gan 
wörtlich  aus  VI  abgeschrieben.  Er  war  schon  am  Ende  angelangt  um 
hatte  aus  VI  auch  den  Vordersatz  der  Korroboration  wiederholt,  al 
er  —  an  ganz  gleichgiltiger  Stelle  —  plötzlich  einen  Seitensprung 
machte  und  aus  XVI  nur  die  wenigen  Worte  hoc  regiae  immunitati 
insigne  einrückte,  um  dann  wieder  genau  nach  VI  und  abweichen( 
von  XVI  fortzufahren  subter  confirmavinms  atque  sigillo  nostro  assig 
nari  iiissimus.  Wieder  tritt  hier  die  Arbeitsweise  des  Fälschers,  di' 
wir  nun  schon  wiederholt  verfolgen  konnten,  scharf  hervor,  dies^ 
Neigung,  ohne  jeden  erkennbaren  ernsten  Grund  von  der  Vorlage  ab 
zuspringen  und  für  ein  Zeichen,  eine  Wendung  oder  ein  paar  Wort 
einer  anderen  zu  folgen.  Wichtiger  noch  ist,  daß  hier  die  Zufluch 
zur  Annahme  verlorener  Zwischenurkunden  versagt,  daß  diese  für  dit 
vier  Worte  gesondert  benutzte  Vorlage  tatsächlich  keine  ältere  als  XV 
sein  kann;  denn  es  tritt  uns  gerade  in  ihnen  eine  Diktat-Eigentüm- 
lichkeit entgegen,  die  erst  durch  einen  während  der  Jahre  1000—100- 
in  der  Reichskanzlei  tätigen  Mann  aufgebracht  ist.^ 

Das  neue  und  zutreffende  Protokoll  von  XIII  mit  der  Datierung 
Ingelheim,  972  September  17  entspricht  einer  echten  Vorlage,  und  mi 
ihr  steht  auch  das  Walten  des  Schreibers  WB.  zeitlich  in  bestem  Ein- 
klang. Vom  Rechtsinhalt  dieser  Vorlage  ist  allerdings  so  gut  wi( 
nichts  übrig  geblieben;  nur  ganz  vermutungsweise  riet  Sickel  in  dei 
Vorbemerkung  zu  DO.I.  421  auf  Erneuerung  der  Immunität  für  der 
neuen  Bischof  Ludolf.  Was  jetzt  den  wesentlichen  Inhalt  der  Fälschung 
ausmacht,  erneute  Untersuchung  der  Zehntfrage  auf  der  nach  päpst- 
licher Mahnung  berufenen  Synode  von  Ingelheim  und  abermalige  Zu 
erkennung  des  uneingeschränkten  Zehntrechtes  an  den  Bischof,  is 
ganz  des  Fälschers  Werk.  Von  bedeutendem  Interesse  aber  ist,  da£ 
ihm  hierbei  eine  weitere  Quelle  vorlag,  wie  Sickel  vermutete,  die  heutt 
und  längst  verlorenen  Akten  der  Ingelheimer  Synode.  Wir  wissen  aus 
dürftigem  Quellenzeugnis  nur,  daß  damals  nach  Ottos  Rückkehr  au^ 
Italien  im  Herbste  eine  stattlich  besuchte  Synode  zu  Ingelheim  statt- 
fand,^ aber  wir  kennen  ihre  Verhandlungen  und  Beschlüsse  nicht  unc 
würden  auch  über  ihre  Teilnehmer  nichts  wissen,  wenn  uns  nicht  ir 
XIII  ihre  reichhaltige  Liste  überliefert  wäre.  Wir  haben  keinen  Grunc 
ihr  zu  mißtrauen  und  begrüßen  in  ihr  eine  durch  Fälscherfleiß  gerettete 


'  Vgl.  die  Vorbemerkung  Sickels   zu  DO.  I.  212  und  Bresslaus  zu  DH.  II.  8. 
^  Vgl.  hierüber  Dumm  1er  JB.  Ottos  I.  S.  491. 


Forschungen  zu  Karolinger  Diplomen  307 

■rkenntnisquelle.  Daß  die  Akten  dieser  Synode  dem  Bischof  Benno 
on  Osnabrück  zur  Verfügung  standen,  darf  nicht  Wunder  nehmen; 
\jenn  er  sie  im  Archiv  seiner  eigenen  Kirche  nicht  fand,  wird  er  bei 
iof  Gelegenheit  gehabt  haben,  von  ihnen  Kenntnis  zu  nehmen.  Die 
;tattHche  Teilnehmerliste,  in  der  wir  die  Metropoliten  von  Mainz,  Köln, 
frier,  Salzburg,  Hamburg  und  Magdeburg  mit  vielen  ihrer  Suffragane 
.esen,^  scheint  auch  auf  die  Schilderung  der  Teilnehmerzahl  am  Wormser 
iioftag  von  1077  in  XXI  abgefärbt  zu  haben;  denn  es  ist  mir  zweifel- 
laft,  wo  dort  die  Mehrzahl  der  archiepiscopi  hergekommen  sein  soll; 
mßer  Liemar  von  Bremen  wüßte  ich  einen  sicher  anwesenden  Erz- 
jischof  nicht  zu  nennen. 

Damit  habe  ich  die  Einzeluntersuchung  der  8  erhaltenen  Fälschungen 
beendigt.  Es  erhebt  sich  nur  noch  die  Frage,  ob  die  Tätigkeit  des 
fälschers  nicht  weiter  reichte  und  Wesentliches  verloren  ist.  Die 
einstige  Existenz  einer  angeblichen  Gründungs-  und  Zirkumskriptions- 
Lirkunde  Karls  d.  Gr.  habe  ich  oben  S.  277f.  bestritten  und  werde  in 
meinem  Zweifel  noch  dadurch  bestärkt,  daß  auch  von  den  verschie- 
denen Papstprivilegien,  mit  deren  Vorweisung  und  Verlesung  vor  Ludwig 
d.  Deutschen,  Arnolf,  Otto  I.  der  Fälscher  flunkert,  keines  je  wirklich 
vorhanden  war.  Hier  mußten  Zitate  genügen,  um  die  Lücken  füllen 
m  helfen,  welche  die  wirklich  angefertigten  Fälschungen  noch  offen 
ließen.  Der  kluge  Fälscher  wird  sich  wohl  gehütet  haben,  etwa  zur 
^Vorlegung  bei  Gregor  VIL  Machwerke  anzufertigen,  die  mangels  ent- 
sprechender Vorlagen  viel  schlimmer  hätten  geraten  müssen  als  seine 
Königsurkunden.  Andererseits  habe  ich  mich  oben  S.  249  für  Annahme 
einer  verlorenen  Fälschung  auf  den  Namen  Ottos  L  ausgesprochen,  die 
sich  auf  Verhandlung  der  Zehntfrage  auf  einer  Synode  zu  Bonn  vom 
Jahre  942  (oder  943)  bezog.  Viel  weiter  aber  gehen  die  Berufungen  in 
XXI  (oben  S.  237):  episcopus  plurimomm  antecessorum  nostromm  regum 
et  imperatomm  scilicet  Arnolfi  filUque  eius  Lvdevvici,  fieinrici  prinii, 
triam  Ottonuni  cartas  ipsorum  manibus  roboratas  et  sigillis  assignatas 
ecclesie  sue  easdem  decimas  stabilientes  presentavit  legendas.  Das 
gäbe  vier  weitere  Deperdita:  Ludwig  d.  Kind,  Heinrich  I.,  Otto  IL,  Otto  III; 
und  da  alle  über  die  Rückgabe  der  Osnabrücker  Zehnten  gehandelt 
haben  sollen,  müßten  sie  Fälschungen  gewesen  sein  gleich  den  acht 


I  ^  Verderbt  und   selten  ist   die  Bezeichnung   „Rabulocensis"   für  Eichstädt;  sie 

I findet  sich   aber  als   „Rubilocensis"   bei   Otloh   Vita  S.  Wolfkangi,    SS.  4,  527,   bei 

1  Gerhard  Vita  S.   Oudalrici,  SS.  4,  400  und  als  „Rubilonensis"   in   den  Ann.  Magde- 
burg. SS.  16,  150;   ein   Otgerus   Rubilacensis    episcopus    erscheint    in    der    Urkunde 
,  Liutberts    von    Mainz   für   Neuenheerse    vom    Jahre  868,    Diekamp,  Westfäl.   ÜB., 
j  Suppl.-Bd.  S.  38  Nr.  275. 
I  20* 


308  M-  Tangl 

erhaltenen.    Als  Erster  muß  ich  ganz  offen  starke  Bedenken  außen 
diese  Aufzählung  für  bare  Münze  zu  nehmen.     Ich  finde  in  der  über 
lieferungsgeschichte   der  Osnabrücker  Urkunden   keinen  Anhaltspunki 
derartige  Verluste  anzunehmen,   die  sich,   wenn  wir  noch  die  angeb 
liehe  Gründungsurkunde  Karls  d.  Gr.  und  die  Urkunde  Ottos  I.  übe 
die  Bonner  Synode  hinzurechnen,  fast  auf  die  Hälfte  der  1077  vor 
gelegten  Urkunden  hätten  erstrecken  müssen.    Das  Osnabrücker  Char 
tuiar  aus  dem  Ende  des  13.  Jahrhunderts  bringt,  wie  ich  oben  S.  18< 
bis   190   ausführte,   lange   nicht   alle   Urkunden,   die   wir   heute   nocl 
kennen,  aber  auch  nicht  eine  einzige  aus  älterer  Zeit,  die  uns  heuti 
verloren  wäre.    Wichtiger  noch  ist  das  von  Jostes  im  Anhang  seine 
Publikation  veröffentlichte  Inventar  des  Domarchivs  vom  Jahre  1415 
Hier  finden  wir  alle  echten  Urkunden  verzeichnet  bis  auf  XXI  und  XXI 
und  alle  Fälschungen   bis  auf  IV,^   aber  wieder  nicht  ein  uns  heut( 
fehlendes  Diplom.    Die  Verluste  müßten  sich  also  auf  diese  bestimmt( 
Urkundengruppe   und   auf  ganz   kurze  Zeit  zusammendrängen.     Unc 
auch  aus  dem  Zusammenhang  der  Fälschungen  selbst  ergibt  sich  keir 
Anhaltspunkt.    Wir  nehmen  keine  Lücke  wahr,  wie  sie  etwa  das  Aus- 
fallen von  IV,  V  oder  VII  unbedingt  reißen  würde;  XI  knüpft  unmittelbai 
an  VI  und  VII  an,  die  Texte  der  verlorenen   Urkunden  Ludwigs  de^ 
Kindes  und  Heinrichs  I.  müßten  daher  merkwürdig  unoriginell  geweser 
sein  und  die  Sache  des  Fälschers  gar  nicht  gefördert  haben;  doch  da^ 
ist   schließlich   auch   bei  XI  der  Fall;   wenn   die  gesuchten  Urkunder 
dieser   und   nicht    den    früheren   des   9.  Jahrhunderts   glichen,    danr 
konnten  auch  noch  mehrere  ausfallen,  ohne  im  Zusammenhang  ver- 
mißt zu  werden.    Der  Text  von  XXI  geht  an  der  Hand  der  erhaltenen 
Fälschungen  restlos  auf,  aber  wir  wissen,  daß  in  ihn  auch  XI  und  XIl! 
nicht   mehr   verarbeitet  wurden.     Viel  wichtiger  aber  ist  eine  andere 
Erwägung.    Ich  kann  nicht  vergessen,  daß  der  Verfasser  der  Empfänger- 
ausfertigung XXI   derselbe   ist,   dem   wir   auch   die   Fälschungen   ver- 
danken;  und  sowenig  ich  seine  Gründungsurkunde  Karls  d.  Gr.  und 
seine  Papstprivilegien  von  Hadrian  I.  bis  Formosus  ernst  nehme,  so- 
wenig  glaube   ich   an   die  buchstäbliche  Wahrheit  seiner  Zitatenreihe 
in  XXL 

Ich   bin   damit  am  Schlüsse   dieser  Erörterungen  angelangt.    An 


*  Jostes,  Die  Kaiser-  und  Königsurkunden  des  Osnabrücker  Landes,  Folio- 
ausgabe S.  18—19  und  Sonderausgabe  der  Texte  S.  65—66.  Die  Identifizierung  ist 
ganz  gesichert,  da  für  das  Inventar  meist  wörtlich  die  Dorsual vermerke,  ältere  und 
jüngere,  abgeschrieben'  wurden.  Das  Fehlen  von  XXI  und  XXII  braucht  nicht  auf- 
zufallen. Sie  lagen  wohl  bei  der  Goldbulle  XXIII,  die  als  endgiltige  und  eigentliche 
Ausfertigung  galt,  die  auch  der  Kompilator  des  Chartulars  allein  aufnahm. 


1 


Forschungen  zu  Karolinger  Diplomen  309 


jler  Einheitlichkeit  der  Fälschungen  in  Technik,  Schrift  und  Aufbau 
lann  ein  Zweifel  nicht  mehr  bestehen.  Als  Entstehungszeit  kommt 
las  11.  Jahrhundert  ganz  allein  in  Betracht,  und  auch  hier  engen 
ich  die  Grenzen  sofort  auf  zwei  Jahrzehnte  ein.  Die  Urkunde  Hein- 
ichs  III.  vom  Jahre  1051,  XIX,  die  als  Quelle  für  mehrere  der  Fäl- 
chungen  benutzt  ist,  gibt  für  alle  die  äußerste  Grenze  nach  oben, 
077  aber  waren  sie  alle  vorhanden.  Da  über  Benno  II.  kein  Zeugnis 
ines  schon  früher  einsetzenden  Zehntstreites  hinaufführt,  kommt  die 
;eit  seit  seinem  Pontifikatsantritt  (1068)  allein  in  Betracht.  Als  die 
};igentlich  kritische  Zeit  darf  aber  wohl  das  Jahr  1076—1077  gelten. 
)ie  Fälschungen  sind  mit  hoher  Wahrscheinlichkeit  in  der  Zeit  der 
/ertreibung  Bennos  aus  Osnabrück  und  seines  längeren  Aufenthaltes 
)ei  Hof  entstanden,  unter  Ausnutzung  der  Beziehungen  zur  Reichs- 
lanzlei,  die  sich  hier  dem  Bischof  boten.^ 

Auch  bei  seiner  Persönlichkeit  müssen  wir  noch  ein  wenig  ver- 
veilen.  Norbert  von  Iburg  hat  uns  in  seiner  Vita  Bennonis,  einer  der 
luenigen  mittelalterlichen  Biographien,  die  es  verstanden,  ein  anschau- 
'iches  Bild  vom  ganzen  Manne  zu  entwerfen,  treffliches  Material 
lierzu  geliefert.  Hochbegabt  und  gründlich  und  vielseitig  gebildet, 
lochstrebend  und  rastlos  tätig,  hatte  Benno  von  bescheidenen  Anfängen 
asch  seinen  Weg  nach  oben  gefunden.  Überzeugter  Anhänger  Hein- 
ichs IV.  und  in  dieser  Gesinnung  niemals  lässig  und  schwankend, 
prachte  er  doch,  und  zwar  ohne  im  eigenen  Lager  in  den  Verdacht 
'ler  Zweideutigkeit  zu  geraten,  das  Kunststück  fertig,  zu  gleicher  Zeit 
nit  Papst  und  Gegenpapst  auf  gutem  Fuß  zu  stehen^  und  in  Gregor  VII. 
loch  bis  zum  Jahre  1081  die  Hoffnung  seines  möglichen  Anschlusses 
v^achzuhalten.^  So  geartet,  war  Benno  II.  von  Osnabrück  Heinrichs  IV. 
)ester  Diplomat.  Der  bedeutende  Erfolg  des  Königs  in  den  Verhand- 
ungen der  Jahre  1078  und  1079  ist  ganz  wesentlich  den  beiden  Ge- 
andtschaftsreisen  Bennos  nach  Rom  zuzuschreiben.^    Daß  dem  viel- 


^  Für  Benno  als  alleinigen  Urheber  der  Fälschungen  spricht  sich  jetzt  auch 
ostes,  Zeitschr.  f.  vaterl.  Gesch.  u.  Altertumskunde  62,  134  aus;  doch  scheint  mir 
ein  Verdacht,  in  Bennos  Freund  Heinrich  IV.  den  stillen  Mitwisser  zu  sehen,  ganz 
nbegründet. 

^  Vita  Bennonis  c.  18  ed.  Bresslau,  SS.  rr.  Germ.  p.  25:  Exinde  igitur  prae- 
lara  felicique  prosperitate  vel  animi  prudentia  utriusque  papae,  quod  profecto  per- 
laucis  ea  tempestate  possibile  fuit,  amicitia  usus,  regiam  quoque  nusquam  incurrebat 
'ffensam. 

^  Gregor  VII.  an  Altmann  v.  Passau,  1081  April,  JL  5217;  Philipp i,  Osna- 
»rücker  ÜB.  1,  165  Nr.  192:  et  maxime  Osnanbrugensem  episcopum,  quem  nobis 
eile  fideliter  adherere  audivimus,  fideliter  suscipiatis. 

*  Diesen  Erfolg  hat  jüngst  Hampe,  Deutsche  Kaisergeschichte  in  der  Zeit  der 
ialier  und  Staufer  S.  56  mit  folgenden  Worten  geschildert:  ,, Geradezu  glänzend  aber 


310  ^'  Tangl 

seitigen  Manne  auch  der  Schalk  nicht  ferne  lag,  zeigt  Bennos  Verhaltet 
bei  der  Brixener  Synode  vom  Jahre  1080,  das  uns  Norbert  c.l8  ii 
köstlicher  Weise  schildert.  Er  kann  sich  der  Teilnahme  nicht  entziehen 
möchte  aber  an  den  Verhandlungen,  deren  Radikalismus  nicht  nacl 
seinem  Geschmack  war,  nicht  mittun.  Da  entdeckt  er  eine  Höhlun« 
hinter  dem  Altar,  in  die  das  kleine  Männlein  rasch  und  unbemerkt  ver 
schwindet.  Hier  hört  er,  von  allen  vermißt,  den  Verhandlungen  ah 
untätiger  Zeuge  zu,  um  zum  Schlüsse,  von  allen  angestaunt,  plötzlicl 
wieder  zum  Vorschein  zu  kommen.  Das  Bild  wäre  nicht  vollständig 
wenn  wir  nicht  noch  seines  hochentwickelten  Erwerbsinnes  gedächten 
Schon  als  Lehrer  in  Speyer  gelingt  es  ihm,  zu  bedeutendem  Wohlstan( 
zu  gelangen,  —  bei  einem  Schulmeister  seit  Jahrtausenden  eine  schweri 
und  seltene  Kunst.^  Auch  in  Goslar  weiß  er  sich  sicher  zu  betten; 
und  bei  der  Eintreibung  säumiger  Leistungen  gab  es  keinen  ünerbitt 
lieberen.^ 

Das  ist  der  Mann,  den  wir  suchen:  begabt  mit  dem  Spürsinn 
vergessenen  Rechten  nachzugehen,  zäh  und  rastlos  die  aufgefunden! 
Spur  verfolgend,  durch  Hemmnisse  nicht  abzuschrecken,  um  Ausweg» 
nicht  verlegen  und  in  der  Wahl  der  Mittel  nicht  ängstlich,  die  Durch 
führung  durch  Geist  und  ausgebreitetes  Wissen  fördernd.  Er  un( 
kein  anderer  hat  das  Meisterwerk  geschaffen,  das  uns  in  den  Osna 
brücker  Urkundenfälschungen  vorliegt. 


5.   Die  Anfänge  des  Bistums  Osnabrüc4i 

Man  erwarte  von  den  folgenden  Zeilen  nicht  mehr  als  ein  Ab 
suchen  des  Trümmerfeldes  nach  brauchbaren  Bausteinen,  einen  Ver 
such,  aus  den  Fälschungen  die  für  die  Gründungs-  und  Entwicklungs 
geschichte  Osnabrücks  verwertbaren  Zeugnisse  zu  sammeln  und  mi 
ihnen  die  übrigen  spärlichen  Quellen  zu  vergleichen.* 


waren  seine  diplomatischen  Erfolge.  Man  kann  es  kaum  anders  bezeichnen:  währen 
dreier  Jahre  ist  es  ihm  durch  eine  unvergleichliche  Kunst,  die  offen  mit  allen  Mittel: 
der  Hinhaltung,  Verstellung  und  Bestechung  arbeitete,  gelungen,  einen  Gegner  wi 
Gregor  VII.  regelrecht  an  der  Nase  herumzuführen." 

^  Vita  Bennonis  c.  4  p.  5:  Cumque  in  eodem  loco  aliquanto  tempore  manen 
non  solum  litteris  sed  et  per  eas  acquisitis  divitiis  abundare  coepisset. 

^  1.  c.  c.  5  p.  5.  Satis  autem  abundeque  provisa  sibi  necessariorum  copia. 

'1.0.  c.  8  p.  8:  Porro  in  solutione  reddituum,  quos  annua  exposcit  exactic 
manifestum  est  illum  fuisse  acerrimum,  ita  ut  plerumque  verberibus  affectos  debitur 
suum  rusticas  persolvere  compulisset. 

Vgl.   für   das   Folgende  Philippi,    Zur  Osnabrücker  Verfassungsgeschichtt 
Mitteil.  d.  hist.  Vereins  f.  Osnabrück  22,  25 ff.;    desselben    Verf.    Rekonstruktion? 


Forschungen  zu  Karolinger  Diplomen  311 

Die  echte  Urkunde  Karls  d.  Gr.  vom  19.  Dezember  803,  die  der 
älscher  verarbeitete,  hat  er  tatsächUch  dem  Archiv  seiner  Kirche  ent- 
lommen,  und  für  zuverlässig  halte  ich  auch  nach  Ausscheidung  leicht 
rkennbarer  und   schon  besprochener  Einschöbe  die  Bezeichnung  der 
(irche  und  die  Nennung  des  Bischofs:  qualiter  donamus  ad  basilicam 
lancti  Petri  principis  apostolorum  (et  sandomni  martimm  Crispini  et 
yispiniani)  quae  est  constructa^  in  loco  Osnabnigki  (et  corpora  illorum 
\lluc  transtülimus) ,  ubi  praeest  vir  venerabilis  Vuiho  episcopus.   Daraus 
■Hibt  sich,  daß  die  Gründung  des   Bistums  sicher  in  die  Zeit  Karls 
IHjr.  zurückreicht,^  und   daß  Ende  803  noch  Wiho  als  erster  Bischof 
IHser  Kirche  vorstand.^    Karl  d.  Gr.  verbriefte  damals  eine  Schenkung, 
vielleicht  von  Besitz   bei  Ettenfeld,   an  das  junge  Bistum.^     Nach  III 
.entschloß  sich  Karl  d.  Gr.  zur  Gründung  dieses  Bistums  Adriani  papae 
orecepto  et  hortatii.     Die  Nachricht  ist  uns  nicht  neu;  wir  wissen,  daß 
sie  über  Halberstadt  und  Bremen    nach  Osnabrück   gelangte.     Es  er- 
übrigt nur,  ihre  Zuverlässigkeit  ein  wenig  zu  würdigen.    Zustimmung, 
!Rat,  Auftrag,  oder  wenigstens   Gegenwart  des  Papstes  werden  in  ür- 
jkunden  Karls  d.  Gr.  in  der  Tat  wiederholt  erwähnt,  aber  ausschließlich 
in   Fälschungen,    und    zwar   meist   in    solchen,    die    innerhalb   dieser 
Gruppe  selbst  wieder  zu  den  plumpsten  und  törichtesten  zählen.    Der 
erste  Band  der  Karolinger  Diplome  der  Monumenta  Germaniae  ermög- 
licht jetzt   einen    raschen    Überblick:   DK.  34   für   Figeac:    Weihe   des 
Klosters  presente  Stephano  papa.    DK.  38  für  Clairac:  rogatu  doniini 
papae.    Die  Urkunde  empfiehlt  sich  auch  durch  ihre  prächtige  Datierung 
in  conventü  nobiliani  Franciae  Aqaitaniae  et  Gasconiae,  Italiae  et  Neu- 


versucii  der  Osnabrücl<er  Annalen,  Osnabrüclter  Gesch.-Quellen  l.Bd.;  tiüffer,  Kor- 
veier  Studien;  Brandia.  a.  0.  S.  157—165;  Jostes,  Zeitschr.  f.  vaterl.  Gesch.  u. 
Altertumskunde  62,  98—138;  Hauck,  KG.  Deutschlands,  2.  Aufl.  2,  675. 

'  Die  Urkunde  „quam  nos  construximus";  ich  halte  diese  Fassung  für  nicht 
völlig  ausgeschlossen,  aber  doch  wahrscheinlich  mit  Rücksicht  auf  das  sicher  nach- 
träglich eingeschobene  „et  corpora  —  transtülimus"  überarbeitet  und  ziehe  es  daher 
vor,  in  den  Rekonstruktionsversuch  die  formelmäßige  Fassung  einzusetzen. 

"  Ich  stimme  mit  Jostes  überein,  daß  diese  Tradition  auch  durch  die  Queri- 
monia  Egilmari  volle  Deckung  findet. 

^  Auch  an  der  Zuverlässigkeit  seines  Titels  zweifle  ich  nicht.  Ich  halte  es 
nicht  für  richtig,  die  Frage  der  Begründung  eigentlicher  Bistümer,  nicht  bloßer 
Missionssprengel,  mit  der  ihrer  endgiltigen  Abgrenzung  zueinander  zu  verquicken. 
Hierin  machten  die  meisten  der  sächsischen  Bistümer,  nachdem  sie  längst  bestanden, 
einen  Übergangszustand  durch. 

*  Dagegen  glaubt  Philippi  a.a.O.  S.  33  zu  erkennen,  daß  die  Osnabrücker 
Kirche  „schon  10 — 20  Jahre  nach  ihrer  Gründung  mit  Immunität  begabt  worden  ist". 
Der  Ansatz  ist,  wie  wir  schon  gesehen  haben,  wesentlich  verfrüht. 


312  M-  Tangl 

Striae.    DK.  222  für  Kempten:  ob  interventum  sanctissimi  patris  nosti 
Adriani  papae.    DK.  231  für  Reichenau:  Erwähnung  des  Papstes  in  de 
Korroboration,  in  der  wir  an  Stelle  der  erwartenden  Ankündigung  de; 
fiandmahls  und  Siegels  höchst  überraschend  folgendes  als  Karls  d.  Gr 
Entschließung  erfahren:   volumus,  iit  a  nostro  spiritali  patre  Ädriam 
papa,  ad  quem  ituri  sumus,  anathematis  vinculo  et  scripta  privilegi( 
confirmetur.    DK.  225  für  Novalese  consilio  donini  apostolici;  diese  ür 
künde  ist  ausgezeichnet  durch  den  Titel  Ego  Karlo  Magnus  und  di( 
Rekognjtion   Ego   Maldanarius    (mal    danaro!)    Karoli  Magni  notarim 
cognovi  et  scripsi.    Ego  Eurardus  Magni  Karoli  cancellarius  cognov 
et  sübscripsi.     DK.  244  für  Montecassino:  in  presentia  pape  Adriani 
DK.  248   für   Leberau :   Ego  Leo  apostolicae  sedis  pontifex  laudans  e 
confirnians  sübscripsi.   DK.  270  für  Aquileja:  papae  ceterorumque  astan 
tinni  episcoporum  accepto  consilio.    DK.  274  für  S.  Anastasio  delle  ixi 
Fontane:  als  gemeinsame  Aussteller  der  Urkunde  Leo  episcopus  servm 
servorum  dei  et  Carolas  magna s  et  pius  rex;  in  der  gleichen  Urkunde 
der  Papst   auch  als  Subskribent.    DK.  278  für.  St.  Valery:  Leo  111.  ir 
der  Datierung  genannt;  die  Rekognition  lautet:  Ego  Paulus  diaconm 
et  secretarius  recognovi  et  sübscripsi.   Leider  hat  es  der  Fälscher  unter- 
lassen zu  Paulus  Diaconus  noch  beizufügen  et  scriptor  historiae  gentit 
Langobardorum!   DK.  282  für  St.  Denis:  rogatu  iussu  et  concessu  ipsiin 
donini  Leonis  papae.    Im  Kontext  dieser  schönen  Urkunde  nennt  Kar 
d.  Gr.  seinen  Sohn  bereits  Ludowicus  Pius  (!),  und  die  unter  Karl  d.  Gr 
bekanntlich  auch  sehr  kanzleigemäßen  Zeugenunterschriften  zieren  fol- 
gende Namen:  Papst  Leo  III.  (seit  795),  Abt  Fulrad  von  St.  Denis  (t784) 
Erzbischof  Philipp  von  Köln  (1167—1191)  und  Erzbischof  Sergius  vor 
Mainz,   den   es   nie  gab!     So  sieht  es  mit  der  Zuverlässigkeit  diesei 
Angabe  in  den  ältesten  Urkunden  unserer  sächsischen  Bistümer  aus 
Eine  hat  sie  aus  der  anderen  entlehnt  und  die  ursprüngliche  Erfindunc 
floß   aus   echtem  Fälschergeist.    Es   gibt  kaum  ein  Erkennungsmittel 
das  zuverlässiger  für  die  Unechtheit  einer  Urkunde  Karls  d.  Gr.  spricht 
als  die  Berufung  auf  päpstliche  Einmischung.     Für  die  Fälscher  aller- 
dings ist  der  Einschub  bezeichnend.     Sie  alle  huldigen  der  zu  ihrei 
Zeit  bereits  zur  Herrschaft  gelangten  Weltmacht   und   glauben   durch 
Nennung  des  Papstes  ihren  Urkunden  erst  volle  Geltung  zu  sicliern.' 
Karl  d.  Gr.  aber  hat  weder   in  seinen  Regierungshandlungen  noch  in 
seinen  Urkunden  dem  Papsttum  die  Stellung  eingeräumt,  wie  sie  die 
Trugwerke  dieser  Fälscher  uns  vorspiegeln.    Die  Frage  der  Begründung 
der  sächsischen   Bistümer    hat    weder    in   der   diplomatischen   Korre- 
spondenz Hadrians.L  mit  Karl  d.  Gr.,  die  wir  im  Codex  Carolinus  bis 
791  besitzen  ( —  und  damals  waren  die  Bistümer  an  der  Weserlinie 
doch   schon   gegründet  — ),   noch   in   den  Synodalverhandlungen  der 


Forschungen  zu  Karolinger  Diplomen  313 

'eit  irgend  welchen  Niederschlag  hinterlassen.^  Die  Unterwerfung  der 
!;achsen  war  Karls  d.  Gr.  schöpferischer  Gedanke,  und  alle  Anord- 
lungen  in  der  Ausbreitung  der  christlichen  Hierarchie  über  das  noch 
:aum  bezwungene  Land  waren  sein  Werk.  Der  auf  die  gefälschten 
Gründungsurkunden  sich  stützende  Versuch  Georg  Hüffers,  die  Führer- 
teilung dem  Papste  Hadrian  I.  zuzuweisen  und  den  Frankenkönig  zu 
einem  gelehrigen  und  gehorsamen  Schüler  herabzudrücken,  sinkt  mit 
lem  Zeugniswert  dieser  Trugwerke  in  das  Nichts  zurück  und  mit 
hm  auch  das  Bemühen,  die  an  gleicher  Stelle  angereihten  Ratschläge 
Lulls  von  Mainz  für  bare  Münze  zu  nehmen  und  den  umstand, 
'laß  Lull  hier  noch  als  Bischof,  nicht  als  Erzbischof  (seit  782)  er- 
;cheint,^  als  Rechenexempel  für  das  Alter  des  Osnabrücker  Bistums 
:ii  verwerten. 

Viel  ernsterer  Erwägung  scheint  mir  die  Angabe  in  IV  und  VI 
vert,  daß  Bischof  Agilfried  von  Lüttich  die  Weihe  der  Osnabrücker 
Virche  vorgenommen  habe.^  Auch  hier  nicht  in  wörtlicher  Deutung, 
30  wie  sie  geboten  ist;  ich  halte  es  für  aussichtslos,  nachzurechnen, 
[vann  etwa  im  Laufe  der  Sachsenkämpfe  Karl  d.  Gr.  auf  Jahr  und 
Tag  genau  Osnabrücker  Boden  betreten  und  der  Lütticher  Bischof  zur 
Vornahme  der  Weihe  sich  in  seiner  Begleitung  befunden  haben  könnte, 
^ber  es  scheint  mir  kaum  möglich,  daß  Benno,  der  hier  aus  fremden 
3uellen  nicht  schöpfen  konnte,  ohne  jeden  festen  Anhalt  gerade  auf 
diese  Nachricht  und  diesen  Namen  geraten  sein  sollte.  Eine  gewisse 
Tradition  mußte  hier  vorliegen;  und  ich  bringe  sie  in  Zusammenhang 
mit  der  schon  oben  S.  207 — 208  gewürdigten  Nachricht  der  Lorscher 
(\nnalen,  daß  Karl  d.  Gr.  780  Sachsen  inter  episcopos  et  presbiteros 
3eü  et  abbates  zur  Missionierung  aufgeteilt  habe.  Wir  wissen,  daß 
diese  Maßregel  nicht  die  Gründung  neuer  Bistümer  bedeutete,  sondern 
die  Heranziehung  bereits  bestehender  kirchlicher  Institute  zum  Missions- 
^verk.  Es  waren  zunächst  die  Bischöfe  von  Mainz,  Köln  und  Würz- 
burg, die  Äbte  von  Fulda  (in  der  Gegend  von  Paderborn,  hier  in  der 
Mission  später  von  W^ürzburg  abgelöst),  Hersfeld  (im  Hessengau  und 
Friesenfeld)  und  Amorbach  (im  Gebiet  von  Verden).  Utrecht  hatte 
wohl  im  eigenen  Gebiet  noch  zu  viel  zu  schaffen,  um  nennenswerte 
Kräfte  nach  dem  Osten  abgeben  zu  können;  aber  ein  gänzliches  Fern- 


^  Nicht  hierher  zählen  allgemeine  Mitteilungen  Karls  an  den  Papst,  daß  Sachsen 
unterworfen  und  seine  Christianisierung  gesichert  sei,  und  die  Äußerungen  der  Freude 
tiadrians  hierüber,  sowie  die  Anordnung  eines  dreitägigen  Dankfestes.  MG.  Epp.  3, 
607  Cod.  Carol.  epla  76. 

^  III:  et  LuUonis  Mogontini  caeterorumque  plurimorum  tunc  temporis  episco- 
porum  consilio. 

^  IV:  et  a  venerabili  Egilfritho  Leodicensi  episcopo  consecratam. 


314  ^-  Tangl 

bleiben  von  Lüttich  an  dem  Missionswerke  wäre  sogar  auffällig  ge 
wesen,  besonders  da  wir  auf  ostsächsischem  Boden  später  westlicher 
Nachbarn  von  Lüttich,  Reims  und  Chälons-sur-Marne,  tätig  sehen.  AI 
echter  Kern  der  Nachricht  in  IV  dürfte  daher  die  fortlebende  Traditio 
festzustellen  sein,  daß  die  Mission  im  Osnabrücker  Land  zunächst  vo 
Lüttich  aus  geleitet  wurde,  wozu  auch  die  Bischofszeit  Agilfrieds  (765 
bis  787)  aufs  beste  stimmt.  Gerade  aus  diesen  Anfängen,  die  noc! 
keine  feste  Richtlinie  für  die  spätere  Entwicklung  gaben,  erklärt  siel 
das  gleichzeitige  Einsetzen  der  Mission  auch  von  anderen  Stützpunkte! 
aus,  Meppen  und  Visbeck.^ 

Über  die  nähere  Zeit  der  Gründung  Osnabrücks  brauchen  wi 
scheinbar  gar  nicht  erst  lange  vorsichtig  in  der  Irre  herumzutapper 
sondern  werden  von  anderer  Seite  mit  geradezu  verblüffend  genauei 
Nachrichten  bedient.  Hierzu  gehört  zunächst  der  sogenannte  Pseudo 
liutprand,  als  „Luitprandi  Ticinensis  diaconi  opusculum  de  vitis  Roma 
norum  pontificum"  im  Jahre  1602  zu  Mainz  von  Busaeus  herausgegebei 
aus  einer  Handschrift,  deren  Untergang,  wie  so  oft  in  ähnlichen  Fällen 
die  Editio  princeps  wurde.  Da  eine  andere  Handschrift  bisher  nich 
bekannt  geworden  ist,  sind  wir  ganz  auf  diese  Ausgabe  und  ihrer 
Nachdruck  bei  Migne  129,  Sp.  1151ff.  angewiesen.  Es  wird  sich  emp- 
fehlen, zunächst  dieser  Papstgeschichte  selbst  etwas  mehr  Aufmerk- 
samkeit zuzuwenden,  als  ihr  bisher  geschenkt  worden  ist,  und  dam 
erst  über  die  Einschübe  zu  sprechen.  Wirklich  zuverlässige  Angaber 
wären  auch  hier  erst  auf  Grund  eines  umfassenden  Überblickes  übei 
die    handschriftliche   Überlieferung   des   Liber   pontificalis   und   seinei 


^  Dostes  geht  nach  meinem  urteil  zu  weit,  wenn  er  für  diese  und  andere 
Missionszellen  die  Bezeichnung  abbatia  und  für  ihre  Leiter  die  von  abbates  als  be- 
stimmte technische  Begriffe  nachzuweisen  sucht;  und  seine  Ansicht,  daß  die  Leitet 
dieser  Missionsgebiete  Weltpriester,  nicht  Mönche  gewesen  sein  müßten,  läßt  sich 
sehr  einfach  dadurch  widerlegen,  daß  dem  hl.  Bonifatius,  über  dessen  Mönchtum  ein 
Zweifel  nicht  besteht,  in  der  Zeit  vor  722,  da  er  als  einfacher  presbiter,  aber  bereits 
offiziell  bestallter  Missionar  in  Hessen  und  Thüringen  wirkte,  die  Bezeichnung  „abbas" 
beigelegt  ist,  aber  niemals  offiziell,  sondern  als  bloße  Ehrung  =  pater.  (Schreiben 
der  Nonne  Egburg  an  ihn,  MG.  Epp.  3,  259).  Die  Missionstätigkeit  war  bis  dahin 
so  vorwiegend,  ja  fast  ausschließlich  von  Mönchen  ausgegangen^  daß  sich  gerade 
hieraus  die  weitgehende  Heranziehung  von  Klöstern  neben  den  Bistümern  durch 
Karl  d.  Gr.  erklärt.  Auf  diese  „abbates"  geht  klar  und  verständlich  die  Nachricht 
der  Lorscher  Annalen,  nicht  auf  die  Leiter  der  verschiedenen  Missionszellen,  die 
damals  noch  gar  nicht  vorhanden,  waren,  sondern  sich  erst  allmählich  infolge 
dieser  grundlegenden  Verfügung  Karls  d.  Gr.  herausgestalteten.  Ich  verweise  noch- 
mals auf  den  gar  nicht  mißzuverstehenden  Kommentar,  den  die  Nachricht  der 
Lorscher  Annalen  später  in  der  Translatio  S.  Liborii  fand  und  den  ich  oben  S.  208 
Anm.  2  abdruckte. 


Forschungen  zu  Karolinger  Diplomen  315 

Ibleitungen  zu  machen.    Bis  diese  in  vielleicht  naher  Zeit  von  beru- 

Iner  vSeite  vorliegen  werden,  mögen  die  folgenden  Mitteilungen  genügen. 

as  Werk  ist  die  Verarbeitung  eines  knappen  Auszuges  aus  dem  Liber 

ontificalis   in   der  Fassung  der  Epitome  Feliciana  et  Cononiana  mit 

en  gefälschten  Papstbriefen  Pseudoisidors  und  steht  mit  dieser  Eigen- 

imlichkeit  nicht  ganz  allein.-^    Es  reicht  aber  über  den  Abschluß  des 

Iten  Liber  Pontificalis  und  Pseudoisidors  hinaus,  benutzt,  wie  ich  im 

inzelnen  noch  nachweisen  werde,  für  das  9.  Jahrhundert  eine  Canones- 

•ammlung    und    schließt    mit   Papst   Formosus    unter   wörtlicher   Be- 

utzung  von  Liutprands   von   Cremona   Antapodosis  I.  28—31.     Dies 

at   dem  Werke   zu   der   längst   erkannten  falschen  Flagge  verholfen, 

inter  der  es  in  der  historischen  Literatur  segelt.     Schon  dadurch  ist 

ine  Entstehung  dieser  Kompilation  vor  der  zweiten  Hälfte  des  10.  Jahr- 

lunderts   ausgeschlossen.     Etwas   weiter   herab  führt  vielleicht  noch 

olgende  Beobachtung.    Während  sich  der  Kompilator  für  die  ganzen 

ruberen  Jahrhunderte  streng  an  die  beiden  genannten  Hauptquellen, 

\uszug  der  Papstleben  und  Pseudoisidor  hält,  weiß  er  S.  3  über  einen 

1er  frühesten  Päpste  Klemens  L  ein  paar  selbständige  Worte  zu  sagen: 

Y/c  quamvis  in  ordine  catalogi  post  beatum  Petrum  tertius  inveniatur, 

'cvera  tarnen,   sicut  ipse  in  epistola  scripsit  Jacobo  fiierosolymomm 

ipiscopo  post  beatum  Petrum  primus  nullo  interposito  Romanae  sedis 

jubernacu/a  procul  dubio   tenuit.     Linus  autem  et  Cletus  ideo   velut 

üiccessores  Petri  connumerantur,  quia  ipse  eos  in  vita  coadiutores  sibi 

^'ecit,  ut  tanto  melius  ipse  vacare  passet  orationL    Haue  veritatis  sen- 

"entiam   tertius  Joannes  papa  in  epistola,  quam  scripsit  episcopis  in 

jermaniae  et  Gallie  provinciis  constitutis,  manifeste  confirmat,  iia  inter 

zaetera  dicens;  folgt  eine  Stelle  aus  IK.  +  §  1042^  und  damit  ist  der 

^rste    wörtliche   Anschluß    an    Pseudoisidor,    zunächst  außerhalb   der 

:hronologischen   Reihe,   erreicht,  um  von   da  ab,   mit  den  gefälschten 

Klemensbriefen   beginnend,    der   Reihe   nach   fortzuschreiten.     Zweifel 


'  Vgl.  Waitz,  NA.  10,  460  über  Cod.  Vat.  lat.  629  saec.  XI:  „Vat.  hat  das 
Eigentümliche,  daß  die  Leben  der  Päpste  zu  Anfang  mit  der  Pseudoisidorischen 
Sammlung  so  verbunden  werden,  daß  die  einzelnen  den  Dekretalen  derselben  vor- 
gesetzt werden;  erst  von  Bonifaz  II.  an  hört  dies  auf."  Nach  gütiger  Mitteilung 
des  Herausgebers  des  Liber  Pontificalis  für  die  Monumenta  Germaniae,  Wilhelm 
Levison-Bonn,  ist  dies  zugleich  die  einzige  bekannte  Handschrift  dieser  Art; 
eine  kleine  Gruppe  anderer  Handschriften  enthält  Papstviten  und  Pseudoisidor  ge- 
trennt. 

^  Hinschius  Decretales  Pseudoisidorianae  715,  die  wörtlich  benutzte  Stelle 
S.  716.  Die  vorangehende  Stelle  aus  dem  Pseudoliutprand  teile  ich  hier  wörtlich 
mit,  weil  sie  vielleicht  doch  dazu  beitragen  kann,  dem  eigentümlichen  Werk  näher 
zu  kommen. 


316  M-  Tangl 

Über  die  Einordnung  Klemens  I.  sind  schon  im  3.  und  4.  Jahrhunder 
nachweisbar;  aber  in  den  älteren  mittelalterlichen  Weltchroniken  sin( 
mir  derartige  Erörterungen  über  die  Chronologie  der  Päpste  des  1.  Jahr 
hunderts   nicht   bekannt,    und   auch   Hermann   von   Reichenau   bring 
noch  nichts  dergleichen.    Mariannus  Scottus  aber  sieht  in  Klemens  1 
den  unmittelbaren  Nachfolger  des  hl  Petrus,^  und  Frutolf-Ekkehart  ha 
eine  umfangreiche  Ausführung  über  die  Chronologie  der  ersten  Päpste 
in  der  er  ebenfalls  der  Ansicht  zuneigt,  daß  Linus  und  Cletus  etwa  ir 
der  Stellung  von  Chorbischöfen   neben  Petrus   gewirkt   haben.     Aus- 
drücklich spricht  er  davon,  daß  diese  Bedenken  in  der  Literatur  scher 
mehrfach  vertreten  seien.^    Man  sieht  daraus,  daß  diese  Dinge  gerade 
in  der  zweiten  tiälfte  und  zu  Ausgang  des  11.  Jahrhunderts  lebhaf 
erörtert  wurden,  und  daß  man  daher  geneigt  sein  könnte,  aus  dieser 
Erwägungen  den  sogenannten  Pseudoliutprand  der  Zeit  zuzuweisen,  ir 
die  uns  auch  seine  Einschübe  führen,  denen  wir  uns  nun  zuwenden 
Der  erste  findet  sich  bei  tiadrian  I.:^  Qui  (Karl  d.  Gr.)  mm  quinto  annc 
regni  sui  illuc  venisset,  inter  caetera,  quae  ab  ipso  ibi  niagnifice  gesta 
sunt,  etiam  partem  aliquam  Saxoniae  in  provincia  Westfalia,  quam  aü\ 
fidem  Christianitatis  convertit,  ut  ipse  iam  praedictus  papa  praeceph 
et  docuit,  secunda  feria  paschae  in  basilica  sancti  Petri  apostoli  intet 
caetera,  quae  ad  manum  papae  offerebat,  deo  in  sacrificium  obtulit  eu 
in  loco  Osbrugge  vocato  episcopatum  constituere  et  deciniis  noviter  ad 
fidem  conversorum,  si  sanus  et  incolumis  remeasset,  papa  ita  dictante 
et  privilegiis  suis  confirmante  dotare  devovit.    Ihr  naht  euch  wieder, 
schwankende   Gestalten!     Alle   die   schönen   Dinge,   die   wir   mit   der 
Kritik  der  Fälschungen  schon  verabschiedet  glaubten,  von  der  Errich- 
tung eines  Bistums  zu  Osnabrück,  seiner  Ausstattung  mit  den  Zehnten 
und  der  entscheidenden  Mitwirkung  des  Papstes  werden  uns  hier  nun 
wieder  aufgetischt.   Der  Zusammenhang  mit  den  Osnabrücker  Urkunden 
ist  dabei  ein  so  enger,  daß  hier  Ableitung  der  einen  Quelle  aus  der 
anderen  vorliegen  muß.    Dotare  devovit  das  Gelöbnis  im  PsL,  devote 
dotavit  die  Ausführung  in  III!    Das  Entlehnungsverhältnis,  das  hierbei 
noch  zweifelhaft  bliebe,  klärt  sich  schon  bei  folgender  Beobachtung. 
Wenn  nach  III  Hadrian  L  sich  beeilte,  für  das  eben  gegründete  Bistum 
Osnabrück  ein  Privileg  zu  erteilen,*  so  ist  das,  wie  wir  sahen,  zwar 


^  MG.  SS.  5,  507. 

'  MG.  SS.  6,  99—100.  Vgl.  Jaffe,  Reg.  pont.  Ed.  2,  1  p.  2f.,  hier  bereits 
TertuUian  und  Hieronymus  de  viris  illustr.  c.  15  als  Vertreter  der  Ansicht  nach- 
gewiesen, das  Klemens  unmittelbar  auf  Petrus  folgte. 

^  Busaeus  S.  101,  Migne  129,  Sp.  1242. 

"*  III:  et  eandem  aecclesiam  consecrationis  eius  die  Adriano  papa  ita  ordinante 
et  iubente  et  ipsius  privilegio  roborante  eisdem  decimis  legaliter  ac  devote  dotavit. 


Forschungen   zu  Karolinger  Diplomen 


317 


licht  wahr,  aber  wenigstens  gut  erfunden.  Wenn  er  aber  nach  PsL 
jlas  Privileg  für  ein  noch  gar  nicht  bestehendes  Bistum  ausstellt,  dessen 
Gründung  erst  gelobt  ist,  dann  ist  der  leidlich  gute  Sinn,  der  in  111 
brhanden  war,  bei  Verwendung  in  anderem  Zusammenhang  verloren 
gegangen.  Ganz  entscheidend  aber  ist  die  Berührung  mit  XXI  in  den 
tVorten  decimis  noviter  ad  fidem  conversomm}  Schon  Wilmans  1, 
1^71  und  Brandi  S.  161  haben  diese  Beziehungen  des  PsL  nicht  nur 
:u  den  Fälschungen,  sondern  auch  zur  echten  Urkunde  Heinrichs  IV. 
erfaßt  und  PsL  als  das  letzte  Glied  dieser  Kette  bezeichnet.  Seit 
Vilmans  ist  ferner  erkannt,  daß  in  diese  Quellengruppe  auch  der  bei 
lern  Osnabrücker  Chronisten  Ertwin  Ertmann  aus  der  zweiten  Hälfte 
les  15.  Jahrhunderts  in  zwei  Fassungen  überlieferte  Brief  hereinspielt, 
len  angeblich  Bischof  Egilbert  von  Osnabrück  an  den  Erzbischof 
^Villibert  von  Köln  gerichtet  haben  soll.  Er  ist  für  unsere  Frage  so 
jVichtig,  daß  ich  ihn  hier  vollständig  einrücke^  und  in  Spaltendruck 
1-echts  die  Bezugstellen  aus  den  verwandten  Zeugnissen  setze. 

Iste  Eybertüs  querulose  scripsit  Willi- 
berto  archiepiscopo  Coloniensi,  quomodo 
\n  iuribus  sui  episcopii  gravaretur,  petens 
ms  consilium,  scribens  in  fine,  quomodo 
nagnus  et  admirabilis  princeps  Karolus, 
-jüi  gentem  Saxonicam  per  strenua  bellomm 
:ertamina  deo  adminiculante  ad  fidem 
:hristianitatis  convertit,  in  primo  eins  ad- 
>entu  Rome  secunda  feria  pasce  in  basilica 
leati  Petri  apostoli  inter  cetera,    que  ad 


mssam  pape  Adriano,  episcopatum  in  ho- 
■lore  principis  apostolorum  beati  Petri  se 
irdinaturum  devovit.  Hec  enim  vota,  que 
]uinto  regni  eius  anno  Rome  promisit,  cum 
^rimum  reversus  fuit,  adimplevit  et  decimis 
more  suo,  quia  alia  ibi  defuere  donaria, 
altare  Osnaburgense  ab  Egilfrido  Leodiensi 
^piscopo  primitus  consecratum  dotavit,  hor- 
^.ando  ut  sibi  consilio  et  ope  assisteret  dul- 


Querimonina  Egilmari :  magnus  et  ammi- 
rabilis  princeps  Karolus,  qui  gentem  Saxoni- 
cam per  strenua  bellorum  certamina  deo  ad- 
miniculante ad  fidem  christianitatis  convertit 

PsL:  secunda  feria  paschae  in  basilica 
sancti  Petri  apostoli  inter  caetera,  quae  ad 
manum  papae  offerebat,  in  loco  Osbrugge 
vocato  episcopatum  constituere  .  .  .  devovit. 

quinto  anno  regni  sui 

si  sanus  et  incolumis  remeasset 

IV.  primitus  . .  .  fundatam  et  a  venera- 

bili  Egilfritho  Leodicensi  episcopo  conse- 

cratam  et  eisdem  decimis,  quia  alia  ibi 

tunc  temporis  non  erant  donaria,  dotatam 


I         ^  XXI  oben  S.  236:  et  decimis  .  .  .  noviter  ad  christianitatem  conversorum. 

^  Ertwini  Ertmanni  Chronica  sive  catalogus  episcoporum  Osnabrugensium, 
herausgeg.  von  Forst,  Osnabrücker  GQ.  1.  Bd.  der  Brief  S.  35  und  Philippi,  Osna- 
brücker ÜB.  1,  30  Nr.  45;  hier  der  erste  Teil  nach  eigenhändigen  Auszügen  Ert- 
mann s,  die  später  fast  wörtlich  in  seine  Chronik  übergingen;  dieser  Druck  ist 
hier  benutzt. 

^  So  in  verderbter  Überlieferung  Ertmann;  schon  Scheffer-Boichorst, 
Mitteil.  d.  Instituts  f.  österr.  G.-F.,  Erg.-Bd.  4,  93,  hat  für  „ad  missam"  aus  PsL  „ad 
manum"  eingesetzt  und  das  fehlende  Verbum  „obtulit"  (besser  aber  wohl  =  PsL 
„offerebat»)  ergänzt.     Philippi  beließ  „ad  missam"  und  ergänzte  „promisit". 


I 


318 


M.  Tangl 


JV:  episcopium  simm  .  .  .  decurtatatun 
Querimonia  Egilmari:  fraude  iniquorw 
dilaniatam. 


citer  et  humiliter  sie  conclusit  epistolam: 
0  pater  venerande,  vestrum  est  preceptum 
vestrumque  consilium,  meum  est  vobis  pre- 
bere  obsequium.  Valete  et  semper  in  do- 
mino  gaudete.  Ac  ipse  reverentissimus 
archiepiscopus  rescripsit  Eygbertum  refor- 
tando,  inter  cetera  inserens  tali  modo: 
Tuum,  inquit,  f rater,  est  istiusmodi  laboris 
sarcinam,  qualiter  episcopium  tuum,  quod 
est  decurtatum  et  iniuste  dilaceratum,  ut 
iterum  redigatur  in  unam,  sublevare,  me 
vero  scias  consilium  non  solum  etadiutorium 
tibi  non  denegare,  sed  dorso  et  ambobus 
humeris  suppositis  toto  nisu,^  prout  vires 
suppetunt,  sustentando  adiuvare,  ut  im- 
pleatur  que  dicit  scriptura:  Alter  alterius 
onera  portate  et  cetera. 

Darin,  daß  ein  Brief  dieses  Inhaltes  und  solcher  Fassung  nlcl 
echt  sein  kann,  sind  alle  Forscher  mit  alleiniger  Ausnahme  Geor 
tiüffers  einig.  Aber  Wilmans  und  Philippi  gingen  viel  zu  weit,  wen 
sie  annahmen,  daß  der  Brief  nicht  einmal  als  ältere  Fälschung  be 
standen  habe,  sondern  erst  von  Ertmann  selbst  mit  Benutzung  de 
Osnabrücker  Quellen  zurecht  gemacht  worden  sei.^  Mit  vollem  Recl^ 
traten  ihnen  gegenüber  Diekamp,^  Scheffer-Boichorst^  und  Branc 
S.  160  dafür  ein,  daß  der  Brief  in  dieser  Gestalt  Ertmann  wirklic 
vorgelegen  habe,  und  erkannten  den  engen  Zusammenhang  mit  de 
Osnabrücker  Fälschungen  und  Pseudoliutprand.  Hierin  glaube  ich  i 
bestimmten  Schlüssen  allerdings  noch  über  sie  hinausführen  zu  könner 
Man  beachte  nur  einmal  dieselbe  mosaikartige  Mache,  die  wir  bei  dei 
meisten  der  Fälschungen  und  der  Urkunde  XXI  verfolgen  konnten,  ma: 
verfolge  den  Weiterbau  des  Systems:  in  III  und  IV  die  Nachricht  übe 
die  Gründung  Osnabrücks,  in  PsL  hinzugedichtet  der  bestimmte  Anla 
des  Gelöbnisses,  zugleich  unter  Gewinnung  eines  bestimmten  Datum; 
und  im  Egilbert- Brief  Verheißung  und  Erfüllung  zueinander  in  Be 
Ziehung  gesetzt.  Auf  die  Frage  der  Priorität  des  Briefes  oder  Pseudo 
liutprands  komme  ich  unten  noch  zurück.  Sicher  ist,  daß  die  Er 
Zählung  vom  Gelöbnis  notwendig  durch  die  Nachricht  des  Liber  Pon 
tificalis  über  den  Aufenthalt  Karls  in  Rom   zu  Ostern  774  vermitte; 


^  Philippi  leugnet  auch  die  Benutzung  Pseudoliutprands  und  nimmt  als  vei 
bindende  Quelle  die  niemals  vorhandene  Gründungsurkunde  Karls  d.  Gr.  an;  ähnlic 
auch  Scheffer-Boichorst. 

'  Westfäl.  ÜB.  Supplement  S.  36  Nr.  266. 

'  Zwei  Untersuchungen  zur  Gesch.  d.  päpstlichen  Territorial-  und  Finanzpolitil 
Mitteil.  d.  Instituts  f.  österr.  GF.  Erg.-Bd.  4,  77;  besonders  S.  82f.  und  S.  90ff.,  Ex 
kurs  über  PsL. 


Forschungen   zu  Karolinger  Diplomen  31.9 

^t  und  daß  diese  Vermittlung  durch  die  verkürzte  Verarbeitung  dieser 
)uelle   in    PsL   erfolgte.     Vorerst   aber   bitte   ich    noch   eines   zu   he- 
chten.    Bischöfe   (Anno    von    Köln,    Altmann    von    Passau)    wurden 
/iederholt  von  Gregor  VII.  mit  der  Untersuchung  der  Zehntklage  be- 
Liftragt,  vor  Bischöfen  hatte  Benno  seine  Sache  auf  der  Synode  zu 
ertreten.     Und  nun  am   Schlüsse  der  angeblichen  Antwort  Williberts 
on  Köln  dieser  warme  Apell  an  den  Corpsgeist,  Schulter  an  Schulter 
iner  für  den  andern  einzustehen!    Diesen  Corpsgeist  hatte  Benno  als 
)eisitzer   der  Erfurter  Synode    im  Mainzer   Zehntstreit   bewiesen,   ihn 
rwartet  er  auch  in  eigener  Sache  von  seinen  Kollegen.    Schon  drängt 
ich  uns  der  Name  des  Fälschers  des  Egilbert-Briefes  auf  die  Lippen; 
iber  zuvor  gilt  es  noch,  einer  Schwierigkeit  Herr  zu  werden,  die  sich 
;inem  zu  raschen  Abschluß  entgegenstellt.    Sie  liegt  in  dem  zweiten 
;elbständigen   Zusatz,    der   sich    in    PsL    zum    Pontifikat   Hadrians  II. 
indet:^  Huius  temporibus  Ludewicus  dedit  ecdesiae  Corbeiensi  et  ff  er  i- 
ordensi  quasdam  decimales  ecclesias  cum  ipsis  deciniis  in  parrochia 
Isbrugensi  consentiente  episcopo  et  omni  clero.    Karolus  Ronianoruni 
mperator  et  patritius  dedit  honorificatae  ecdesiae  et  honorificandae  a 
leo  ffersueldensi  quasdam  dedmas  in  Frisonevelt  et  ffassega  ffalbersta- 
iensi  adiacentes  dioecesi,  quas  Stephanus  papa  in  basilica  beati  Petri 
ÜB  sando  paschae  sua  audoritate  et  imperatoris  subscriptione  et  ffis- 
iegino  ffalberstadensi  episcopo  praesente  confirmavit.    Karolus  quippe 
imnes  decimas  in  Saxonia  constituerat  ad  regale  servitium  et  eas  rex 
lare  potuit  quo  voluit. 

Allgemein  ist  erkannt,  daß  in  diesen  Stellen,  der  früheren  und 
iiesen,  der  Schlüssel  zur  Feststellung  des  Verfassers  oder  Verarbeiters 
des  PsL  liegt,  zum  mindestens  der,  ihn  zu  einem  bestimmten  Ort  zu- 
aiweisen.  Nach  Waitz  war  der  Verfasser  „offenbar  ein  Sachse,  viel- 
eicht ein  Osnabrücker."  ^  Nach  Scheffer-Boichorst  hatte  er  Beziehungen 
iv\  tiersfeld  und  Osnabrück,  verwertete  Urkunden  aus  diesen  Archiven: 
.,Hersfeld  und  Osnabrück  dürfen  danach  doch  als  zwei  ihm  vertrautere 
Stätten  gelten.  Vielleicht  ist  er  von  dem  einen  zum  anderen  Orte 
übergegangen."  Wilmans  vermutete  überdies  Benutzung  des  Korveyer 
Archivs.  Ist  es  aber  überhaupt  möglich,  diese  Eintragungen  einheit- 
lich einem  bestimmten  Verfasser  zuzuweisen,  stehen  sich  die  beiden 
Nachrichten  nicht  in  der  Tendenz  schroff  gegenüber,  bistumfreundlich 
die  erste,  klosterfreundlich  die  zweite?  Dem  Pochen  der  Bischöfe  auf 
die  Bestimmungen   des   allgemeinen  Kirchenrechts  ^    scheint   hier  der 

'  Busaeus  S.  116  =  Migne  129  Sp.  1254. 
1         -  VG.  2.  Aufl.  3.  163. 

i         ''  Querimonia   Egilmari:   Decimis  contra    ius  canonicum    et    fas  ecclesiasticum 
»iniusto  ordine  a  nobis  per  vim  ablatis. 


320  M-  Tangl 

Satz   entgegengestellt,   daß   der  König  von  Anfang  an  Herr  über  di 
Zehnten  in  Sachsen  war  und  daher  auch  nach  Gutdünken   über  si 
weiter  verfügen,  das  heißt  sie  den  Bischöfen  nehmen  und  den  Klösten 
geben  konnte.    Aber  wir  werden  gleich  noch  schärfer  in  die  Frage  ein 
dringen,  wenn  wir  nochmals  zur  Fassung  des  ersten  Zusatzes  zurück 
kehren.    Mir  fiel  hier  längst  das  in  auffälliger  Weise  und  rasch  nach 
einander  sich  wiederholende  Jnter  caetera'  auf.^    Es  liegt  hier  siehe 
ein  Einschub  vor,  und  wir  versuchen  ähnlich  wie  oben  Seite  280  aus 
zuscheiden :  Qui  mm  quinto  anno  regni  sui  illuc  venisset  (inter  caetera 
quae  ab  ipso  ibi  magnifice  gesta  sunt,  etiam  partem  aliquam  Saxonia 
in  provincia  Westfalia,  quam  ad  fideni  chrisdanitatis  convertit,  ut  ips> 
iani  praedictus  papapraecepit  et  docuit),  secundaferia  paschae  in  basilia 
sancti  Petri  apostoli  inter  caetera,  quae  ad  manuni  papae  offerebai 
(deo  in  sacrificiuni  obtulit  et}  in   loco  Osbmgge   vocato  episcopatwi 
constituere . . .  devovit.  So  lautet  die  ursprüngliche  Fassung,  so  ist  sie  aucl 
—  die  sicherste  Probe  auf  ihre  Richtigkeit  —  im  Egilbert-Brief  erhalten 
Die  Spur  dieses  Einschubes  könnte  nach  Korvey  weisen,   auf  di( 
berüchtigte  Fälschung,  in  der  Leo  III.  Karl  d.  Gr.  daran  mahnt,  daß  ej 
hunc  montem  Eresburg,  quem  expugnatum  cum  tota  Saxonia  deo  ob- 
tülisti  et  per  nos  beato  Petro  consecrasti.     Allein   man   braucht  ga 
nicht  zur  scharfsinnigen,  aber  gezwungenen  und  nicht  beweiskräftigei 
Deutung  Scheffer-Boichorsts  zu  greifen,^   um  aus  ihr  nicht  mehr  her 
auszulesen  als:  Du  hast  die  bezwungene  Feste  Eresburg  zugleich  mi 
ganz  Sachsen  Gott  gewidmet  (d.  h.  dem  Christentum  gewonnen)  wmS 
sie  mit  unserem  Zutun  dem  hl.  Petrus  geweiht  (durch  die  Peterskirche 
die    hier    begründet    wurde).     So    oder   so   gedeutet,    läßt   sich   eint. 
Schenkung   von   ganz  Sachsen   an   den  hl.  Petrus   (in  weiterer  Nutz- 
anwendung:  an   die   römische  Kirche)   aus   dieser  Urkunde   nicht   er- 
schließen.   Auf  die  wirkliche  Quelle  hat  schon  Scheffer- Boichorst  hin- 
gewiesen:  es  war  die  Bremer  Fälschung  auf  den  Namen  Karls  d.  Gr| 
DK.  245:  septentrionalem  illius  (sc.  Saxoniae)  partem  (partem  aliquan 

^  Dies  war  wohl  auch  für  Scheffer-Boichorst  und  Brandi  der  Grund,  in 
Egilbert-Brief  mit  dem  einmaligen  „inter  caetera"  die  Quelle  und  in  PsL  mit  de; 
durch  einen  beträchtlichen  Einschub  bereicherten  Wiederkehr  dieser  Worte  die  Ab 
leitung  zu  sehen. 

^  Er  deutet:  du  hast  die  Feste  Eresburg,  als  du  sie  zugleich  mit  ganz  Sachser 
bezwungen  hattest,  Gott  gewidmet  und  dem  hl.  Petrus  geweiht.  Aber  ein  folgende.' 
„cum"  nach  „tradere,  donare,  offerre"  leitet  nach  feststehendem  ürkundenstil  inimei 
das  ein,  was  in  die  Schenkung  inbegriffen  ist  oder  ihr  als  Zugehör  folgt.  Korveyei 
Überlieferung  und  Ursprung  hat  für  diese  Fälschung  schon  Wilmans  nachgewiesen 
Scheffer-Boichorst.  hat  sie  dann  in  seiner  feinsinnigen  Art  behandelt;  ich  habt 
aber  die  Empfindung,  daß  er  mit  der  Annahme  der  Entstehungszeit  im  10.  Jahr- 
hundert vielleicht  zu  früh  gegriffen  haben  dürfte. 


Forschungen   zu  Karolinger  Diplomen  321 

sL)  pio  Christo  et  apostolorum  suorum  principi  Petro  pro  gratiarum 
ctione  devote  obtulimus.  Das  lautet  viel  bestimmter:  ein  Dankopfer 
nd  Weihgeschenk  an  den  hl.  Petrus!  Damit  geraten  wir  aber  wieder 
1  bekanntes  Fahrwasser:  Es  ist  dieselbe  Urkunde,  die  Benno  von 
'snabrück  für  seine  Fälschung  III  benutzte.  Die  Einschaltung  gegen- 
ber  dem  Egilbert-Brief  weist  also  nicht  nach  außen  hin,  sondern 
neder  nach  Osnabrück  zurück;^  ein  und  dieselbe  Urkunde  ist  gleich- 
läßig  für  die  Fälschung  III  wie  für  PsL  als  Quelle  benutzt.  Heuer- 
lings müssen  wir  zur  Beziehung  des  Egilbert-Briefes  zu  PsL  zurück- 
kehren. Das  Datum  von  Karls  d.  Gr.  Anwesenheit  in  Rom  Ostern  774 
at  der  Brief  aus  der  Papstbiographie  geschöpft;  in  der  Fassung  der 
inen  Stelle  enthält  aber  der  Brief  den  ursprünglichen  Text,  PsL  den 
iinschub.  Das  Abhängigkeitsverhältnis  kreuzt  sich  also.  Das  ist  nur 
nter  der  Annahme  gleichzeitiger  Entstehung  und  paralleler  Ver- 
rbeitung  der  beiden  Aufzeichnungen  erklärlich.  Beide  aber  hängen 
a  Arbeitsweise  und  Quellenbenutzung  so  enge  mit  den  Osnabrücker 
'älschungen  zusammen,  daß  ich  an  der  Einheit  des  Verfassers  nicht 
^nger  zweifeln  kann.  Der  Beweis  hierfür  läßt  sich  zudem  noch  be- 
leutend  verstärken.  Im  Jahre  1081  machte  Gregor  VII.  von  seiner 
(enntnis  der  Widmung  Sachsens  an  den  hl.  Petrus  Gebrauch:^  Idem 
'ero  magnus  Imperator  Saxoniani  obtulit  beato  Petro,  cuius  eam  devicit 
idiütorio,  et  posuit  Signum  devotionis  et  libertatis,  sicut  ipsi  Saxones 
labent  scriptum  et  prudentes  illorum  satis  sciunt. 

Wir  besitzen  keinen  Anhaltspunkt  dafür,  daß  der  Abt  von  Korvey 
itwa  damals  in  Rom  die  Leo-Fälschung  vorgewiesen  hätte,  und 
jregors  Berufung  auf  seine  Quelle  wäre  dann,  wenn  es  sich  um  die 
Jrkunde  eines  Vorgängers  gehandelt  hätte,  wohl  ganz  anders  aus- 
gefallen. Aber  Benno  war  1078  und  1079  in  Rom  gewesen,  und  auf 
5ein  Werk  und  seine  Person  paßt  die  merkwürdige  Berufung  vor- 
züglich. Vergessen  wir  ferner  nicht,  daß  Gregor  in  demselben  Jahre 
L081  ein  neues,  Benno  wohlwollendes  Mandat  in  der  Frage  des  Osna- 
3rücker  Zehntstreites,  erließ  (oben  S.  226  u.  309),  das  im  Register  in 
laher  Nachbarschaft  mit  dem  berühmten  Sachsen-Brief  eingetragen  ist. 
Den  Zwecken  des  Zehntstreites  diente  ferner  offenkundig  das  eifrige 
Studium  einer  Canones-Sammlung  des  9.  Jahrhunderts,  von  der  mehr- 
fache Lesefrüchte  in  PsL  verarbeitet  sind.  Die  für  den  Standpunkt, 
den  Benno  verfocht,  sehr  förderliche  Zehntbestimmung  Johanns  VIII.  in 


^  Daß  von  einem  größeren  zeitlichen  Abstand  dieser  Einschaltung  kaum  die 
Rede  sein  kann,  geht  auch  daraus  hervor,  daß  der  Annalista  Saxo,  dessen  Be- 
nutzung des  PsL  schon  Waitz  nachgewiesen  hat,  gerade  die  Stelle  mit  dem  doppelten 
„inter  caetera"  übernahm;  MG.  SS.  6,  558. 

^  Reg.  Greg.  VIII  23  ed.  Jaffe  Bibl.  2,  468.  Näheres  bei  Scheffer-Boichorst. 
AfU    II  21 


322  ^-  Tangl 

PsL    stammt    aus   c.  18   der   Synode  von   Ravenna   vom   Jahre   871 
Decimas  unumquenique  fidelem  Uli  sacerdoti  dare  censuimus,  in  cuiu 
parochia  eum  procul  dubio  constat  sab  episcopi  proprii  ditione,   qui 
ad  hoc  recipiendum  ab  episcopo  suo  est  constitutus  manere,   et  ide 
nulluni  alteriüs  dioeceseos  sacerdoteni  aut  levitani  alteri  iure  canonw. 
debita  huiusniodi  andere  inipudenter  vel  teniere  quaerere  aut  acciper 
donationeni}    Bei  einem  ebenfalls  in  PsL  zitierten  Zehnt-Kanon  Leos  IV 
vermag  ich  den  Ursprung  noch  gar  nicht  nachzuweisen.^    Benno  vo; 
Osnabrück  muß  also  zur  Kenntnis  einer  Handschrift  von  der  Art  de 
Vaticanus  629   gelangt   sein,   die   gekürzte  Papstviten    in  Verbindun: 
mit  Pseudoisidor  enthielt    In  diese  hat  er  seine  Osnabrücker  Wünsch^ 
und   seine   kanonistischen  Forschungen   verarbeitet  und  sie  dann  zu 
Förderung  seiner  Zwecke  verwertet.    Bennos  Persönlichkeit  stellt  aucl 
die  Einheit  innerhalb  der  Eintragungen  lokalen  Charakters  her:  er  ha 
den  Osnabrücker  Zehntstreit  gegen  Korvey  geführt  und  dem  Hersfelde 
unmittelbar  zuvor  beigewohnt     Dieser  Streit  wurde  zwar  damals  zu 
nächst  gegen  Mainz   ausgefochten,   aber   es   lag  durchaus  nahe,   dal 
Hersfeld  bei  dieser  Gelegenheit  auch  seine  Ansprüche  gegenüber  Halber 
Stadt  begründete,  mit  dem  es  schon  früher  in  Zwist  geraten  war.  Was  ir 
PsL  mitgeteilt  wird,  trägt  fast  den  Charakter  einer  bestimmt  formulierter 
Hersfelder  Erklärung,  die  Benno  als  damals  schon  sehr  interessierter  Bei- 
sitzer der  Erfurter  Synode  aufgezeichnet  haben  könnte.    Als  einzige  be- 
deutende Unstimmigkeit  bleibt,  wie  ich  offen  gestehe,  die  Eintragung  übei 
Korvey  übrig.    Sie  steht  auf  dem  kleinlauten  Standpunkt  der  Querimonit 
Egilmari  (übrigens   einer   der  wichtigsten  Quellen  Bennos),   nicht  aui 
dem  der  Osnabrücker  Fälschungen.    Deshalb  aber  etwa  für  sie  einer 
anderen  Verfasser  anzunehmen,  sehe  ich  keinen  ausreichenden  Grund- 
Die  unmögliche  Nachricht  der  rekonstruierten  Osnabrücker  Annalen 
daß  Karl  d.  Gr.  im  Jahre  772  Ostern  zu  Osnabrück  gefeiert  und    be, 
diesem  Anlaß  Wiho  zum  Bischof  bestellt  habe,  läßt  sich  kurz  abtun.'] 
Philippi  und  Brandi  haben  längst  erkannt,  daß  es  sich  um  die  Ver- 
bindung des  Osterdatums  einer  Ostertafel  mit  einer  kurzen  annalistischen 


^  Mansi  17,  340,  in  PsL  durch  die  Schuld  der  Überlieferung  verderbt.  In  der 
Benutzung  der  vorhergehenden  Canones  derselben  Synode  hat  Benno  wieder  gründ- 
lich den  Schalk  hervorgekehrt;  er  stellte  sie  zu  tionorius  I.  (625—638)! 

^  Die  vorhergehenden,  ausführlich  wiedergegebenen  Canones  stammen  aus  den 
Akten  einer  Synode  Eugens  II.  mit  Zusätzen  Leos  IV.  Mansi  14,  1002—1009, 
1015—1016.  Die  Zitate  bei  Nikolaus  I.  gehen  nach  freundlicher  Feststellung  von 
Dr.  Ernst  Pereis  auf  folgende  Papstbriefe:  JE.  2749,  2886,  2846,  +2709,  +2869,2849. 

^Philippi,  Die  Osnabrücker  Annalen,  Osnabrücker  GQ.  \,  1:  Anno  domini 
septingentesimo  septuagesimo  secundo  III.  Kls.  Aprilis  Karolus  Imperator  Romanorum 
in  Saxoniam  perrexit  et  pasca  Osnabrucg  .  .  regia  curte  celebrato  Wihonem  eius- 
dem  loci  primum  episcopum  designavit. 


Forschungen  zu  Karolinger  Diplomen  '323 

otiz,  etwa  Karolus  perrexit  in  Saxoniam  handelt  und  daß  auf  dieser  zu 
em  Bistum  Osnabrück  in  keiner  Beziehung  stehenden  echten  Grundlage 
eAveitere,  mit  allen  bekannten  Tatsachen  gänzlich  unvereinbare  Kom- 
nation  aufgebaut  wurde.  Brandi  hat  S.  163  auch  die  Phantastik  Hüffers 
irückgewiesen,  der  diese  Stelle  durch  die  Annahme  zu  retten  gesucht 
'jtte,  daß  sie  auf  die  bekannte,  auch  durch  die  Reichsannalen  gedeckte 
isterfeier  zu  Eresburg  vom  Jahre  785  gehe,  und  nun  des  weiteren  aus- 
'ichnete,  daß  Karl  d.  Gr.  sich  von  dort  nach  der  Gegend  von  Osnabrück  he- 
rben und  hier  am  20.  Juni,  dem  späteren  Gedenktag  der  Heiligen  Crispinus 
1^  Crispinianus,  der  Weihe  der  Osnabrücker  Kirche  beigewohnt  habe. 
■  Daß  wir  der  Nachricht  des  Pseudoliutprand  von  dem  Gelöbnis  der 
pumsgründung,  das  Karl  d.  Gr.  am  zweiten  Ostertag  774  in  die 
and  Hadrians  I.  abgelegt  haben  soll,  jeden  Glauben  entziehen,  braucht 
ach  den  Ausführungen  über  Eigenart  und  Entstehung  dieser  Quelle 
icht  mehr  umständlich  begründet  zu  werden.  Zeit  und  Ort  der 
andlung  sind  dem  Liber  Pontificalis  entnommen,  der  auszugsweise 
i  den  Hauptinhalt  des  PsL  ausmacht,  der  Stoff  den  Osnabrücker  Fal- 
chungen,  und  die  Verarbeitung  besorgte  der  Kompilator  in  der  Art, 
ie  wir  an  ihm  genügend  kennen.^ 

Die  in  I  überlieferte,  der  echten  Vorlage  zuverlässig  entnommene 
'atierung  vom  19.  Dezember  803  bleibt  daher  das  erste  bestimmte 
eugnis  für  das  Bestehen  dieses  Bistums.  Die  Nachrichten,  die  mit 
iiren  eingehenden  und  dadurch  zunächst  verblüffenden  Angaben  in 
iiel  frühere  Zeit  zurückführen,  erweisen  sich  nicht  nur  als  unhaltbar, 
ondern,  soweit  Osnabrück  dabei  in  Frage  kommt,  jeder  echten  Grund- 
ige entbehrend.  Bei  dem  Versuche,  die  Zeit  der  Gründung  dieses 
Bistums  festzustellen,  ist  daher  über  Vermutungen  und  die  Abwägung 
on  Möglichkeiten  nicht  hinauszukommen.  Festen  Anhaltspunkt  ge- 
währt auch  hier  allein  die  Vita  Willehadi  mit  der  Nachricht,  daß  der 
1.  Willehad  787  zum  Bischof  von  Bremen  geweiht  wurde.  Ganz  oder 
ahezu  gleichzeitig  dürfte  die  Gründung  der  Bistümer  Verden  und 
linden  vorgenommen  und  so  die  Deckung  der  Weserlinie  einheitlich 
rfolgt  sein,  unter  der  Voraussetzung,  daß  diese  Gründungen  stetig 
om  Westen  nach  dem  Osten  vorrückten,  müßte  man  annehmen,  daß 
Aünster,  Osnabrück  und  Paderborn  als  Bischofssitze  damals  schon 
estanden.  Aber  diese  Voraussetzung  trifft  nicht  zu.  Neben  den  be- 
ümmten  Zeugnissen  für  Paderborn  und  Münster  ist  hier  vor   allem 

ff  ^  Anders  urteilt  freilich  Georg  Hüffer,  Korveier  Studien  115.  Nach  ihm 
;ann  an  der  „Echtheit  und  vorzüglichen  Verwendbarkeit  des  Egilbert-Briefes  „gar 
lein  Zweifel  sein.  Die  Angabe  ist  klar,  bestimmt  und  in  sich  glaubwürdig".  Gewiß! 
ienau  so  glaubwürdig,  wie  die  Zuverlässigkeit  der  historischen  Grundlagen  für  die 
ubiläen  des  Gymnasium  Carolinum  in  Osnabrück! 

21* 


324  ^-  Tangl 

auch   die   Lehre   zu   beachten,    die  wir   aus   den   Bistumsgründungei 
Ottos  I.   erhalten.    Brandenburg   und  Havelberg   sind   volle   20  Jahr 
früher  gegründet  als  Magdeburg,  nicht  weil  man  damals,  als  man  fü  - 
Aufrichtung  der  christlichen  Hierarchie  an  der  Havel  sorgte,  noch  nich 
daran  dachte,  an  der  Elbe  ein  Gleiches  zu  tun,  sondern  weil  man  übe 
die  Art  der  Ausführung,  ob  Vorrückung   des  Halberstädter  Sprengel 
oder  Gründung  eines  neuen  Bistums,  noch  nicht  schlüssig  war.     ün( 
ähnlich  werden  sich  die  Dinge  wohl  auch  in  Sachsen  abgespielt  haber 
Während  es  außer  Frage  stand,  daß  für  das  Wesergebiet  durch  selbst 
ständige  Bistümer  gesorgt  werden  müsse,  konnten  noch  Zweifel  be 
stehen,  ob  man  die  Gebiete  etwa  in  der  Mittellinie  zwischen  Rhein  um 
Weser  zwischen  die  schon  länger  bestehenden  Bistümer  des  Westen 
und  die  neugeschaffenen  des  Ostens  aufteilen  oder  besser  zu  eigenei 
Diözesen  vereinigen  solle.     Den  Anfang  der  Lösung  in  diesem  Sinm 
möchte  ich  etwa  in  die  Zeit  der  Erhebung  Hildebalds  von  Köln  zun 
Erzbischof  (795)  setzen;  und  es  ist  wohl  möglich,  daß  hier  Osnabrücl 
seiner  Lage  wegen  Münster  voraus  war,  also  noch  in  den  90er  Jahrei; 
des  8.  Jahrhunderts  Bistum  wurde.  Den  Abschluß  bildete  dann  die  Grün  1 
düng  der  Bistümer  im  östlichen  Sachsen,  Halberstadt  und  Hildesheim. 
Zum  31.  März  804  berichten   die  Osnabrücker  Annalen  den  To( 
des  ersten  Bischofs  Wiho.     Nach  dem  späteren  Osnabrücker  Kaiende 
galt   als   Gedächtnistag  der  20.  April,   und   die  ünzuverlässigkeit  de 
Tagesangabe  ist  durch  Philippi  hier  wie  zu  772  längst  erwiesen.    Au; 
der  Ostertafel,  die  diesen  Annalen  zugrunde  lag,  wurden  irrtümlich  di( 
Osterdaten  zu  Tagen  der  betreffenden  Geschehnisse  umgedeutet.    S( 
bedeutete  der  29.  März  nicht  den  Tag  des  Einbruchs  Karls  d.  Gr.  ir 
Sachsen,  sondern  den  Ostersonntag  772  und  der  31.  März  ebenso  fü 
804.    Die  Richtigkeit  der  Jahresangabe  können  wir  nicht  nachprüfen; 
aber   bei   der  ünzuverlässigkeit   der  folgenden   Angaben   verdient   si( 
wenig  Vertrauen.    Zu  833  wird  der  Tod  des  zweiten  Bischofs  Meinga; 
und  die  Nachfolge  Gefwins  gemeldet.    Aber  in  der  nur  in  dürftigen 
jedoch,  wie  wir  annehmen  dürfen  und  wenigstens  an  einem  Beispiel 

bestimmt  beweisen  können,^  zuverlässigen  Auszügen  erhaltenen  Fuldaei' 

I 

'  Die' eigenhändig  auf  Rasur  nachgetragene  Stelle  Thietmars  von  Merseburjl 
VIII,  75,  ed.  Kurze  SS.  rr.  Germ.  248,  „Anno  dominicae  incarn.  DCCC . .  .  predictui 
cesar  ad  suae  virtutis  et  bonae  operacionis  deauracionem  in  una  die  VIII  episcopatu^ 
in  Saxonia  Christo  subdita  dispositis  singularibus  parrochiis  constituit*',  auf  di( 
Hüffer  S.  218  so  großen  Wert  legt,  ist  für  die  Gründung  dieser  Bistümer  wie  füi 
den  angeblichen  Frieden  von  Salz  von  gleich  geringer  Bedeutung  und  beweist  nur 
daß  sie  am  Ende  der  Reihe  steht,  die  mit  den  Lorscher  Annalen  und  der  alten  Halber 
Städter  Bistumschronik'  einsetzt. 

^  Vgl.  Ernst  Pereis,  Ein  erhaltener  Brief  aus  der  verschollenen  Fuldaer  Brief- 
sammlung, NA.  30,  145—147. 


Forschungen  zu  Karolinger  Diplomen  325 

iefsammlung  des  9.  Jahrhunderts  wird  unter  den  Teilnehmern  der 

,ainzer  Synode  vom  Juni  829  ein  Geboinus  episcopus  aufgezählt,  an 

essen  Identität  mit  unserem  Gefwin  von  Osnabrück  kaum  gezweifelt 

erden  kann.^    Ich  stehe  nicht  an,  dem  Brief  mit  aller  Entschiedenheit 

2n  Vorzug  vor  den  Annalen  zu  geben,^  und  es  macht  auf  mich  auch 

:ir  keinen  Eindruck,  wenn  eingewendet  wird,  daß  der  Brief  des  Abtes 

atto  von  Fulda  an  den  Erzbischof  Otgar  von  Mainz  doch  erst  eine 

eihe  von  Jahren  nach  der  Synode  geschrieben  ist  und  daß  daher  ein 

rtum  im  Bischofnamen  untergelaufen  sein   könnte.     Eine  Liste  von 

,9  Bischöfen,  Chorbischöfen  und  Äbten,   die  hier  gegeben  wird  und 

Ihne  nachweisbaren  Irrtum  fast  auf  das  Jahr  genau  stimmt,^  hat  man 

ntweder  in  guter,  gleichzeitiger  Aufzeichnung  vor  sich  oder  man  ist 

berhaupt  nicht  imstande,  sie  zu  geben;   es  wäre  geradezu  verwun- 

erlich,  daß  beim  Namen  des  Osnabrückers  allein  ein  Versehen  vor- 

egen  sollte.    Angesichts  dieses  bestimmten  Zeugnisses  ist  es  unbe- 

schtigter  Eigensinn,   an  der  Angabe  der  Osnabrücker  Annalen  noch 

inger  festzuhalten.    Dann  fordert  aber  auch  die  Urkunde  III  zu  noch- 

laliger    ernster   Erörterung    heraus;    denn   mit   ihrer   Datierung  vom 

.  September  829,  wenn  sie  richtig  aufgelöst  ist,  verträgt  sich  Bischof 

leingaz  als  Empfänger  ebenso  wenig,  wenn  im  Juni  dieses  Jahres 

chon   sein   Nachfolger    an   der   Synode   teilnahm.     Wir   sahen   oben 

).  276,  daß  dieses  Datum  nur  durch  Emendation  der,  so  wie  sie  über- 

efert   sind,    unvereinbaren   Jahresangaben   gewonnen   ist.     Aber   die 

Irkunde  läßt  sich  beim  Festhalten  an  dem  Actum  Worms  zu  keinem 

iler  früheren  Jahre  unterbringen,    und  wollte  man  eine  Änderung  der 

jMsangabe   durch   den  Fälscher  annehmen   und   auf  eine  Einreihung 

Iler  Urkunde   nach  dem  Itinerar  verzichten,   dann   wäre  dieses  Opfer 

janz  vergeblich  gebracht;  denn  wir  würden  durch  die  Übereinstimmung 

les  Formulars  mit  der  Urkunde  für  Worms,  ausgestellt  aus  Worms 

)29  September  11,  Mühlbacher  871,  erst  recht  genötigt,  die  Urkunde 

jvieder  hier  einzureihen.     Die   beiden   bilden   ein  so  eng  zusammen- 

^jehöriges   Urkundenpaar    wie    die  Immunitäten    für  Halberstadt    und 

A^orms,  von  denen  wir  oben  S.  198  ausgingen.     Es  bleibt  also  wohl 


^  Druck  des  Auszugs  MG.  Epp.  5,  529  =  Concilia  2,  604.  Die  Identifizierung 
nit  dem  Osnabrücker  Bischof,  die  Hau ck  und  die  Herausgeber  in  den  MG.  Dümmler 
ind  Werminghoff  nur  vorsichtig  annahmen,  ist  viel  bestimmter  von  Jostes 
1.  a.  0.  S.  136  ausgesprochen;  dieser  wies  auch  mit  vollem  Recht  darauf  hin,  daß 
,Geboinus**  die  regelrechte  Latinisierung  von  ,,Gefuinus"  ist. 

^  Dies  auch  Haucks  Meinung,  wenn  die  Identifizierung  zutrifft. 

^  Hadubald  von  Besan^on  811—829,  David  von  Lausanne  827—850:  auch  bei 
anderen  Bischöfen  reichen  die  feststellbaren  Daten  hart  an  829  heran;  für  Friedrich 
von  Utrecht  und  Erbeo  von  Sähen  weisen  die  ersten  zweifelhaften  Daten  erst  auf  828. 


I» 


326  M-  Tangl,   Forschungen   zu  Karolinger  Diplomen 

nur  der  eine  Ausweg,  daß  der  Fälscher  in  III  ganz  ebenso  den  Namei 
des  Bischofs  geändert  hat,  wie  ich  dies  oben  S.  279—280  bei  IV  mi 
Sicherheit  nachweisen  konnte,  nur  daß  der  Widerspruch  bei  diese 
Urkunde,  deren  direkte  und  indirekte  Zeitangaben  gleich  auf  zwe 
Jahrzehnte  nicht  stimmen,  viel  früher  und  allgemein  beachtet  wurde 
Empfänger  der  echten  Urkunde  Ludwigs  d.  Fr.  vom  September  82< 
muß  Bischof  Gefwin  gewesen  sein.  Der  Grund  aber,  weshalb  de 
Fälscher  seinen  Namen  entfernte,  war  wohl  derselbe,  der  ihn  in  1\ 
zur  Ersetzung  Gozberts  durch  Egilbert  veranlaßte.  Die  Namen  Gefwii 
und  Gozbert  bedeuteten  nach  der  Osnabrücker  Tradition  die  Krisis  ir 
der  Zehntfrage.  Gefwin  hat  ihr  zufolge  als  enfant  terrible  von  83:; 
den  Angriff  auf  das  Bistum  verschuldet,  Gozbert  durch  seine  hilflos( 
Duldung  gefördert.  Im  Beweisgang  des  Fälschers,  der  entgegen  dei 
verschüchterten  Klage  Egilmars  eine  neue  Tradition  ganz  anderer 
Geistes  und  Inhalts  aufbaute,  waren  die  Namen  der  beiden  Unglücks- 
raben nicht  zu  gebrauchen;  daher  wurden  sie  durch  die  des  Vor- 
gängers und  Nachfolgers  ersetzt.  Wenn  wir  die  Osnabrücker  Annaler 
auch  in  der  Angabe  über  den  Pontifikatsantritt  Egilberts  um  Jahre 
irren  sehen,  der  868  schon  als  Bischof  nachweisbar  ist,  während  dit 
Annalen  den  Tod  des  Vorgängers  und  seine  Erhebung  erst  zu  87^ 
melden,  dann  erscheint  das  Gesamtbild  dieser  mageren  und  dabe 
noch  so  unzuverlässigen  Quelle  recht  trübe  und  die  Mühe,  die  Philippi 
mit  liebevollem  Scharfsinn  auf  ihre  Rettung  verwandte,  vergeblich. 

Als  Karl  d.  Gr.  das  Lütticher  Missionsgebiet  zum  Bistum  Osnabrück 
erhob,  war  es  —  hierin  bin  ich  ganz  einer  Ansicht  mit  Jostes  — 
sein  Wille,  daß  die  selbständigen  Tauf-  und  Zehntkirchen  des  frie- 
sischen Nordens  aus  der  Frühzeit  der  Sachsen-Mission  allmählich  in 
ihm  aufgehen  sollten.  Wie  in  so  manchen  Dingen  hat  Ludwig  d.  Fr. 
auch  hier  störend  in  das  Werk  seines  Vaters  eingegriffen;  und  zwar 
geschah  dies  zunächst  819  durch  die  Verleihung  der  Immunität  an 
Visbeck.  Diese  Missionszelle  erhielt  dadurch,  weit  entfernt  zur  Osna- 
brücker Pfarre  herabzusinken,  gesicherten  und  bevorrechteten  Bestand. 
Die  Gründung  und  ungewöhnliche  Bervorrechtung  Korveys  entschied 
dann  für  die  Zukunft.  Sie  schuf  die  feste  Tradition,  die  seine  Nach- 
folger durch  die  großen  Inkorporierungen  fortsetzten.  So  stand  wie 
bei  Hersfeld-Halberstadt  das  mit  Pastorationsrechten  und  Zehnten  aus- 
gestattete mächtige  Kloster  gegen  das  beeinträchtigte  Bistum.  Das 
Ende  waren  die  Zehntkämpfe  des  11.  Jahrhunderts. 


Nachtrag:   Der  oben  S.  226  Anm.  2  angekündigte  Exkurs  ist  zu  gesonderter 
Bearbeitung  ausgeschieden. 


I 


Forst  und  Zehnte* 

von 

F.  Philippi 


Oben  S.  :101  bis  S.  154  dieser  Zeitschrift  hat  sich  H.  Thimme  in 
tankenswerter  Weise  mit  dem  „Bannforst",  der  Forestis,  eingehend  be- 
chäftigt  und  bemüht  sich  dabei,  vor  allem  die  rechtliche  Seite  dieses 
Begriffes,  welche  die  heutzutage  fast  allein  mit  dem  Worte  „Forst" 
erbundene  „botanische  Seite"  bei  weitem  überragt,  ja  für  die  ür- 
:undenforschung  allein  in  Frage  kommt,  klar  herauszustellen. 

Vielleicht  würde  er  in  seiner  verdienstlichen  Arbeit  zu  noch  schär- 
eren  Ergebnissen  gekommen  sein,  wenn  er  den  Fingerzeig  der  Baseler 
Jrkunden,^  in  welchen  das  deutsche  forestis  mit  dem  lateinischen 
pltus  wiedergegeben  wird,  genauer  verfolgt  hätte.  Denn  diese  Tat- 
;ache  ist  wohl  kaum  als  eine  gelehrte  Rückübersetzung  aufzufassen, 
;ondern  als  eine  klare  Bezeichnung  des  Rechtsbegriffes  in  klassischem 
luristenlatein;  hatten  sich  doch  gerade  in  Rätien  römische  Verhältnisse 
md  damit  auch  deren  lateinische  Bezeichnungen  mit  am  besten  und 
im  längsten  erhalten. 


*  Die  Abhandlung  von  H.  Thimme  hat  in  besonderem  Maße  die  wissenschaft- 
iche  Erörterung  angeregt.  Wir  zählen  dahin  auch  die  etymologischen  Ausführungen 
.on  K.  ühlirz  in  seiner  zweiten  Besprechung  unseres  Archivs  (D.  Lit.-Ztg.  1909/13), 
iuf  die  wir  im  übrigen  keine  Veranlassung  haben  zurückzukommen.  Auf  dem  Gebiet 
jrkundlicher  Forschung  wird  Dr.  Thimme  seine  Ergebnisse  selbst  vertreten.  Zu  dem 
^roblem  der  Begriffsgeschichte  aber  wird,  wie  wir  zu  unserer  Freu<Je  hören,  auch 
Edward  Schröder  noch  kritisch  Stellung  nehmen,  der  Thimmes  Zurückhaltung  in 
allem  Etymologischen  ausdrücklich  gebilligt  und  empfohlen  hat. 

Was  aber  die  obigen  kurzen  Ausführungen  betrifft,  so  haben  wir  ihnen  um  so 
sveniger  die  Aufnahme  versagen  wollen,  als  sie  auch  in  der  Osnabrücker  Zehntenfrage 
einen  sowohl  von  den  früheren  Erörterungen  Brandis  (Westdeutsche  Zeitschrift  1900), 
als  von  den  jetzigen  Untersuchungen  Tangls  durchaus  abweichenden  Standpunkt 
vertreten.  Die  Herausgeber. 

'  Vgl.  S.  137  D.  Heinrich  II.  80  und  S.  140  St.  2174.  ^ 


328  F-  Philippi 

Wie  der  „saltus'V  der  Urwald,  rechtlich  ein  saltus  bleibt,  aucl 
wenn  sein  Boden  zum  größten  Teile  von  Siedlungen  (villae,  castra)  be 
deckt  ist,  so  bleibt  die  forestis  rechtlich  ein  Forst,^  wenn  sie  auch  bi 
auf  wenige  silvae  gerodet  ist.  Auf  Analogiebildung  beruht  dann  dii 
rückläufige  Bewegung  im  10.— 12.  Jahrhundert,  durch  welche  aucl 
schon  stark  besiedelte  Landstrecken  eingeforstet,  zum  Forste  erklär 
wurden.  Es  ist  ohne  weiteres  klar,  daß  durch  eine  derartige  Maß 
nähme  dem  Erwerber  der  Forstgerechtigkeit  nicht  alle  die  Rechte 
welche  sie  ursprünglich  in  sich  schloß,  verliehen  werden  konnten.  Dii 
Gerechtigkeit  ist  vielmehr  selbstverständlich  verkürzt  um  die  aner 
kannten  Rechte  (jura  quaesita)  der  schon  in  dem  eingeforsteten  Bezirk( 
Angesessenen  —  und  bedarf  deshalb  ihrer  Zustimmung. 

Aus  diesen  Umständen  erklärt  es  sich  leicht,  daß  in  den  Zubehör 
aufzählungen  der  Verleihungen  je  länger,  je  mehr  die  durch  den  Forst 
bann  verliehenen  Rechte  zusammenschwinden  und  unter  ihnen  di( 
Jagdgerechtigkeit,  welche  auch  auf  gerodetem  Boden  ausgeübt  werder 
konnte,  immer  mehr  in  den  Vordergrund  tritt.  Diesem  Gange  dei 
Entwicklung  folgend,  hat  denn  auch  Herr  Thimme  gerade  der  Be- 
sprechung dieses  Teiles  der  Forstrechte  einen  besonders  breiten  Raun 
gewidmet,  wozu  er  noch  um  so  mehr  veranlaßt  war,  als  auch  dit 
Forstmänner,  welche  vorher  das  Thema  behandelt  haben,  sich  ihrei 
Stellung  nach  gerade  mit  der  Jagd  am  meisten  beschäftigt  haben. 

Es  ist  das  ja  auch  insofern  durchaus  gerechtfertigt,  als  diese 
Nutzung  eine  erhebliche  Bedeutung  besitzt  und  in  früheren  Zeiten  eine 
noch  viel  erheblichere  Bedeutung  besaß,  weil  die  Jagd  damals  in  dei 
Wirtschaft  eine  viel  größere  Rolle  spielte,  als  heutzutage.  Denn  ein 
großer  Teil  der  Fleischnahrung  wurde  durch  sie  beschafft,  Leder  und 
Pelzwerk,  welche  für  die  Kleidung  ehemals  viel  mehr  in  Betracht  kamen 
wie  jetzt,  wurden  durch  sie  gewonnen.  Aber  die  politische  Entwick- 
lung ist  doch  durch  eine  andere  Seite  der  Forstrechte  in  erheblich 
größerem  Maße  beeinflußt. 

Ich  meine  weniger  die  immerhin  bedeutenden  und  auch  die  Ver-; 
fassungsentwicklung  beeinflussenden  Holz-  und  Weidenutzungen,  umi 
so  weniger,  als  sie  zweifellos  häufig  durch  alte,  auf  Volksrecht  beruhende! 


^  Zur  leichteren  Orientierung  über  diese  Verhältnisse  eignet  sich  jetzt  am  besten 
die  Arbeit  von  Fleischmann,  Altgermanische  und  altrömische  Agrarverhältnisse, 
besonders  S.  89ff.  Es  würde  sich  wohl  lohnen,  einmal  selbständig  zu  untersuchen, 
ob  nicht  die  „fränkische"  forestis  eine  unmittelbare  Nachahmung  des  saltus  ist,  wie 
wir  ja  auch  allmählich  gelernt  haben,  daß  die  villa  Karls  d.  Gr.  eine  kaum  modi- 
fizierte Nachahmung  der  altrömischen  villa  ist. 

^  Dies  zugegeben,  kann  der  ursprüngliche  Wortsinn  des  alten  Wortes  forestis 
ganz  wohl  unserem  jetzigen  Forst  entsprochen  haben. 


'1} 


Forst  und  Zehnte  329 

nsprüche  —  modern  als  Servitute  (Dienstbarkeiten)  bezeichnet  —  ein- 
eengt  werden,  sondern  das  in  den  Zubehöraufzählungen  nicht  immer, 
\  verhältnismäßig  selten  erwähnte  Rodungsrecht. 

Es  war  deshalb  so  sehr  viel  bedeutender,  weil  auf  seiner  Grund- 
3ge  neue  Wirtschaften  im  einzelnen  und  neue  Ansiedlungen  im  ganzen 
'eschaffen  werden  konnten,  Neuschöpfungen,  an  welche  der  Forst- 
nhaber  nicht  nur  finanzielle,  sondern  auch  oberherrliche  —  sicher 
;rundherrliche  —  Ansprüche  geltend  zu  machen  berechtigt  war. 

Thimme  erwähnte  zwar  dieses  Rodungsrecht  —  richtiger  Recht 
es  Rodungsverbotes  —  an  verschiedenen  Stellen,^  aber  er  verzichtet 
arauf,  der  Bedeutung  dieses  Rechtes  genauer  nachzugehen,  obwohl 
r  die  Forstordnungen  Karls  d.  Gr.  sehr  wohl  kannte,  der  doch  in 
rster  Linie  seine  Beamten  anweist,  für  die  Gewinnung  von  Ansiedlern 
ür  die  Forsten  Sorge  zu  tragen.^ 

Diese  Ansiedlungen,  welche  also  zweifellos  die  ergiebigste  Art  der 
brstnutzung  darstellen,  konnten  nun  in  den  verschiedensten  Formen 
jmsgeführt  werden.  Entweder  konnten  ganze  villae  ausgelegt  oder  Ein- 
elhöfe mit  Pertinenzien  gegründet  oder  schließlich  kleinen  Leuten  ge- 
ringere Bodenstrecken  zugestanden  werden.  Dabei  konnte  den  Sied- 
ern der  Grund  und  Boden  entweder  zu  echtem  Eigen  übergeben  oder 
n  irgend  einer  Leiheform  ausgetan  werden. 

Beispiele  für  diese  verschiedenen  Arten  des  Vorgehens  lassen  sich 
eicht  beibringen;  es  lohnt  sich  daher  nicht  hier  darauf  einzugehen; 
IUI  eine  Art  der  Bodenüberweisung,  die  zuletzt  erwähnte  Art  der  Leihe 
m  einzelne  kleine  Leute  möchte  ich  etwas  näher  beleuchten.  Bei  ihr 
st  gewöhnlich  die  Bodennutzung  gegen  Entrichtung  des  Zehntens^  — 
meist  verbunden  mit  persönlichen  Verpflichtungen  (Diensten)  —  über- 
ragen. Diese  Zehnten  sind  nicht  immer  unmittelbar  als  solche  be- 
zeichnet, sondern  sie  scheinen  auch  noch  mit  anderen  Ausdrücken  wie 
V\edem,*  Stouffa^  auch  wohl  census  regius^  benannt  zu  sein. 


Es  ist  das  ja  nun  eine  bekannte  Sache;  ihre  eminente  Bedeutung 
jaber  für  die  Wirtschafts-,  politische  und  Verfassungsgeschichte  wird 
trotzdem  deshalb  meistens  unterschätzt,  weil  man  bei  der  Erwähnung 


^  z.  B.  S.  118  Anm.  3;  S.  135  Anm.  4  decimationes  novalium  de  duabus  forestis. 
—  Ludwig  d.  Fr.  für  Castus  (819)  decima  de  silva  Ammeri  et  Ponteburg.  Mühlbacher 
Reg.  imp."  Nr.  702. 

'  Oben  S.  108,  109. 

^  S.  oben  Anm.  1  —  auch  der  Siebente  kommt  vor,  s.  unten  Anm.  4. 

*  S.  146  bezeichnete  in  den  Trierschen  Forsten  allerdings  den  Siebenten. 

^  Zu  vgl.  Rubel,  „Die  Franken",  S.  262— 272. 

'Schröder,  Rechtsgeschichte  5.  Auflage,  S.  168,  202,  533.  Anm.  7. 


330  ^  F.  Philippi 

von  Zehnten  in  Urkunden  nur  in  den  seltensten  Fällen  ohne  weitere; 
sagen  kann,  ob  es  sich  um  diesen  „Rottzehnten"  oder  um  den  Kirchen 
zehnten  handelt.  Da  im  allgemeinen  noch  die  Ansicht  vorherrscht , 
daß  der  Kirchenzehnt  in  ganz  Deutschland  zur  Einführung  gelangt  sei 
und  wir  außerdem  über  Kirchenzehnten  quellenmäßig  viel  besser  unter 
richtet  sind,  als  über  den  Rottzehnten,  so  wird  in  Zweifelsfällen  stet; 
zunächst  an  den  Kirchenzehnten  gedacht.-^ 

Das  hat  in  vielen  Fällen  zu  ganz  irrigen  Auffassungen  geführt 
um  so  mehr,  als  schon  in  den  späteren  Jahrhunderten  des  Mittelalters 
diese  Verwechslung  besonders  dann  eintrat,  wenn  geistliche  Personer 
oder  Korporationen  im  Besitze  von  Rottzehnten  waren.  Und  diese  Ver- 
kennung des  rechtlichen  Grundes  der  Abgabe  hat  in  vielen  Fällen  dae 
Verständnis  der  Sachlage  vollkommen  abgeschnitten  und  damals  so- 
wohl wie  heutzutage,  damals  in  den  Rechtsverhältnissen,  heute  in  dei 
Wissenschaft  die  tollste  Verwirrung  angerichtet.  Ein  Beispiel  dafür  ist 
der  Osnabrück-Corveyer  Zehntenstreit,  welcher  an  dieser  Stelle  beson- 
ders interessiert,  weil  er  mit  einer  Forstverleihung  in  engster  Beziehung! 
zu  stehen   scheint.  | 

Nach  der  allgemeinen,  auch  von  mir  früher  durchaus  geteilten* 
Auffassung  handelt  es  sich  in  diesem  Streit  um  den  kirchlichen,  den 
Sachsen  und  zwar  den  nobiles,  ingenui  und  liti  auferlegten  Zehnten. 
Gegen  diese  Auffassung  hätte  nun  schon  die  Tatsache  bedenklich 
machen  sollen,  daß  nach  den  Quellen,  auch  den  in  Osnabrück  ge- 
fälschten, Karl  d.  Gr.  das  Bistum  mit  den  streitigen  Zehnten  dotiert 
hatte.  Diese  Tatsache  hätte  einer  besonderen  Beurkundung  für  das 
eine  Bistum  Osnabrück  nicht  bedurft,  wenn  damit  die  allgemeine  Ober- 
weisung der  kirchlichen  Zehnten,  welche  nach  Kirchenrecht  und  Kapi- 
tularienbestimmungen  allen  Sachsen  auferlegt  waren,  gemeint  gewesen i 
wäre,  weil  diese  Zehnten  ja  allen  Bistümern  Sachsens  ohne  weiteres 
zustanden;  es  muß  sich  also  um  eine  besondere  Verleihung  gehandelt 
haben. 

Ferner  erscheint  es  bemerkenswert,  daß  über  die  betreffenden- 
Zehnten  weltliche  Herren:  die  Könige  Karl  und  Ludwig,  sowie  der 
Graf  Cobbo  frei  verfügen,  indem  sie  erst  die  Zehnten  schenken,  dann 
wegnehmen  und  auf  die  Klöster  Corvey  und  Herford  übertragen.  Hätte 
es  sich  um  die  bekannten  kirchlichen  Zehnten  gehandelt,  so  hätte  von 
vornherein  mit  Hinweis  auf  das  Kirchenrecht  dagegen  erfolgreichster 


^  Sagte  doch  Wai.tz  in  der  ersten  Auflage  seiner  Verfassungsgeschichte  Bd.  IV 
S.  105:  „Ein  Zehnte,  den  der  König  als  solcher  vom  Land  erhoben,  kommt  über- 
haupt nicht  vor." 


Forst  und  Zehnte  331 

inspruch   erhoben   werden  können.     Das  ist  aber  offenbar  zunächst 
icht  geschehen. 

^  Es  ist  ja  freilich  bei  dem  Stande  der  Überlieferung  sehr  schwer, 
ch  von  den  einzelnen  Stadien  des  Streites  ein  einwandfreies  Bild  zu 
lachen,  und  in  der  bis  jetzt  nicht  beanstandeten  Klageschrift  des 
Ischofs  Egilmars  (ca.  890)  findet  sich  schon  eine  Berufung  auf  das 
irchenrecht;  es  ist  jedoch  demgegenüber  zu  beachten,  daß  die  päpst- 
che  Antwort  darauf  nicht  eingeht,  vielmehr  eine  Untersuchung  in  Ans- 
icht stellt.^  Wäre  der  Papst  von  der  Zulässigkeit  dieser  Berufung 
jberzeugt  gewesen,  so  würde  er  sie  doch,  wenigstens  in  thesi,  aner- 
lannt  und  .die  Verfügung  weltlicher  Großen  über  kirchliche  Einkünfte 
Is  ungerecht  bezeichnet  haben.  Das  ist  aber  nicht  der  Fall.  Ferner 
/erden  in  der  bis  jetzt  ebenfalls  noch  nicht  in  ihrer  Echtheit  bean- 
itandeten  und  auch  kaum  zu  beanstandenden  Synodalentscheidung 
on  888  den  Klöstern  die  Zehnten  bestätigt.^  Der  Vorsitzende  der 
jynode  und  Aussteller  der  Entscheidung  war  Erzbischof  Liutbert  von 
i\ainz,  der  mit  den  Klöstern  Hersfeld  und  Fulda  in  ganz  entsprechende 
treitigkeiten  verwickelt  war.^  Ist  es  da  denkbar,  daß  er  und  die  an- 
eren  auf  der  Versammlung  anwesenden  Bischöfe  so  rückhaltlos  die 
fechte  der  Klöster  auf  die  Zehnten  anerkannt  haben  würden,  wenn  es 
ich  dabei  um  einen  groben  Eingriff  in  die  unbezweifelbaren  kirch- 
ichen  Rechte  eines  Mitbischofs  gehandelt  hätte?  Ferner  berichtet 
■gilmar  selbst,  daß  er  mit  seinen  auf  kanonisches  Recht  begründeten 
Forderungen  an  die  Zehnten  von  einer  anderen  Synode  abgewiesen 
worden  sei.^  Soll  man  wirklich  annehmen,  daß  die  Bischöfe  zwei  even- 
uell  ihren  eigenen  Rechten  so  präjudizierliche  Entscheide  gefällt  haben 
:önnen?  Oder  weisen  diese  unbestreitbaren  Tatsachen  nicht  vielmehr 
larauf  hin^  daß  die  Forderungen  des  Osnabrücker  Bischofs  mit  kano- 


^  Quapropter  necessarium  esse  duximus,  ut  remotis  tergiversationibus  veritatis 
lucubratione  adminiculum  tibi  a  nobis  inpendatur  atque  ab  apostolica  sede  suf- 
iragetur,  ne  in  tocius  ecclesie  perturbationem  hec  inpudens  procedat  intentio  et  ea 
lue  a  sanctis  predecessoribus  nostris  dudum  prohibita  fuerant,  denuo  reviviscant. 
xider  fehlt  die  Antwort  an  den  Abt  von  Corvey,  welche  wahrscheinlich  einen  klareren 
:inblick  in  die  Beurteilung  des  Falles  durch  den  Papst  gewährt  hätte.     Os.  ÜB.  I,  60. 

^  Os.  ÜB.  I,  53:  maneant  omnia  in  potestate  eis  pr^latorum  ut  —  vel  in  agris 
el  in  familiis  vel  in  decimis  eis  constant  esse  collata. 

^  Ausfeld,  Lambert  v.  Hersfeld  und  der  Zehntstreit  zwischen  Mainz,  Hersfeld 
md  Thüringen  (Diss.  Marburg  1879)  S.  22,  31.  —  Auch  dieser  Streit  scheint  durch 
ibsichtliche  oder  unwissentliche  Verwechselung  von  Kirchen-  und  Rottzehnten  ver- 
virrt  zu  sein;  vgl.  ebenda  S.  34, 

*  Os.  ÜB.  I,  60:  hoc  miro  et  detestabili  modo,  qualiter  a  Magonciacense  alterius 
Jyocesis  presule  fore  queat  irritum,  ignoramus. 


332  F.  Philippi 

nischem  Rechte  nicht  zu  begründen  waren,  mit  anderen  Worten,  dal 
es  sich  gar  nicht  um  kirchliche  Zehnten  gehandelt  hat. 

Die  Dotierung  der  bischöflichen  Kirchen  im  Sachsenlande  is 
offenbar  den  Verhältnissen  entsprechend  auf  verschiedenen  Grundlage! 
erfolgt.^  Während  Münster  wohl  durch  die  erfolgreichen  Bemühunget 
seines  ersten  Bischofs  Liutger  mit  einer  großen  Zahl  von  Oberhöfen  — 
gewöhnlich  nimmt  man  12  an^  —  ausgestattet  worden  ist,  scheiner 
ähnlich  umfangreiche  Schenkungen  für  Osnabrück  nicht  zur  Verfüguns 
gestanden  zu  haben.  Ein  größerer  Komplex^  von  Reichsgut  an  de 
Hase  war  zu  Lehn  ausgetan,  und  das  Widukintsche  Geschlecht  hat  seit 
Erbgut  im  Osnabrücker  Sprengel  teils  zunächst  in  der  Hand  behalten, 
teils  zur  Begabung  der  Familienstiftung  Wildeshausen ^  verwendet.  Ol 
auf  diese  Entwicklung  die  besonderen  Verhältnisse  der  Engern,  welch( 
offenbar  dem  Christentume  nicht  so  zugänglich  waren,  wie  die  frühe 
schon  vielfach  von  Missionaren  besuchten  Westfalen,  von  maßgeben- 
dem Einflüsse  gewesen  sind,  wäre  noch  näher  zu  untersuchen,  ist  abei 
sehr  wahrscheinlich.  Auch  wird  das  waldreiche  Bergland  in  der  um 
gebung  der  Bischofsstadt  damals  noch  schwächer  besiedelt  geweser 
sein  und  so  den  Kolonisationsbestrebungen  der  Franken  ein  sehr  ge- 
eignetes Feld  geboten  haben. 


Folgt  man  diesem  Gedankengange  weiter,  so  tritt  die  Frage  ent- 
gegen, wie  man  sich  im  einzelnen  diese  Kolonisation  des  Landes  unc 
die  Überweisung  ihrer  Erträgnisse  an  die  Osnabrücker  Kirche  vorsteller 
kann:  es  scheint,  daß  dies  durch  Einforstung  großer  Landstrecken  zu- 
gunsten der  Osnabrücker  Bischöfe  ins  Werk  gesetzt  worden  ist. 

Zwar  ist  als  älteste  echte  Urkunde  über  den  großen  Forst  dei 
Osnabrücker  Kirche  erst  die  Urkunde  Ottos  L  von  965  (D.  Otto  I  302;i 
auf  uns  gekommen.  Sie  erscheint  als  Neuverleihung.  Wer  jedoch  das 
ürkundenwesen  des  Mittelalters  kennt,  wird  aus  ihrem  Wortlaute  nichl: 
zwingend  folgern  wollen,  daß  sie  wirklich  die  erste  Verleihung  dar- 
stellt. Es  kann  vielmehr  sehr  wohl  eine  Forstverleihung  durch  einen' 
früheren  Herrscher  vorausgegangen  sein,  ja  es  ist  höchst  wahrscheinlich,; 


^  Die  Angabe  in  der  Klageschrift  Egilmars:  ut  decimarum  quibus  tantummodOj 
episcopatus  in  Saxonia  sunt  constituti  ist  daher,  wie  so  vieles  in  dieser  Parteischrift, 
unrichtig. 

'  Tibus,  Gründungsgeschichte  S.  141  ff. 

*  Osn.  ÜB.  I,  111,  138,  139. 

*  Es  kam  später  an  die  Familienstiftung  Enger.  Osn.  ÜB.  II,  93.  Vgl.  auch 
427,  III,  152.  • 

^  Osn.  ÜB.  I,  38  u.  46. 


Forst  und  Zehnte  333 

aß   dies  der  Fall  war.    Man  kann  recht  gut  eine  Verleihung  durch 
arl  d.  Gr.  annehmen,  und  zwar  kann  sie  auf  dem  echten  Pergament 
lit  dem  echten  Siegel^  neben  der  darauf  vermuteten  Immunität  ge- 
;anden  haben,  ohne  daß  man  gerade  den  Wortlaut  der  jetzt  darauf 
;ehenden  Fälschung  auch  als  Wortlaut  der   alten  Bewilligung   anzu- 
'ihen   brauchte.     Jedenfalls   aber   hat   die  jetzt  vorliegende   Fassung 
nen  sehr  bezeichnenden,  sie  von  den  späteren  Verleihungen  scharf 
nterscheidenden  Zusatz,  nämlich  das  ausdrückliche  Rodungsverbot  in 
•er  Fassung  der  Strafandrohung,   si  quisquam  hoc  idem  nemus  .  .  . 
ine  praedictae  sedis  episcopi  licentia  studio  venandi  vel  silvam  ex- 
tirpandi  .  .  .  intrare  praesumpserit,  welcher  allen  späteren  echten  und 
inechten  Wiederholungen  fehlt.    Nun  scheint  der  Konsens  zur  Rodung 
ir  den  Osnabrücker  Forst  in  den  späteren  Jahrhunderten,  aus  denen 
/jr  genauere  Nachrichten  haben,  vom  Bischöfe  weder  eingeholt  noch 
rteilt  worden  zu  sein:  jedenfalls  wird  im  15.  Jahrhundert  der  Wild- 
ann, als  man  auf  ihn  zurückkam,  nur  auf  die  Jagd  bezogen  ^  und  ich 
nde  im  Osnabrücker  ürkundenbuche  kein  Stück,   welches  auf  diese 
Verhältnisse  bezogen  werden  könnte,  als  etwa  die  Urkunde^  Bischofs 
idolf  von  1219,  in  welcher  er  dem  Kloster  Iburg  die  Zehnten  von  den 
brukelant"  genannten  agri  novales,  soweit  sie  zwischen  den  dem  Kloster 
bgabepflichtigen  Ländereien  liegen,  überweist.    Es  liegt  jedoch  näher, 
abei  an  den  ja  auch  auf  Rodungen  gelegten  kirchlichen  Zehnten,  als 
n  einen  eigentlichen  „Rottzehnten"  zu  denken. 

und  zwar  ist  das  um  so  wahrscheinlicher,  als  man  deutlich 
wahrnehmen  kann,  wie  die  Kenntnis  vom  Rottzehnten  sich  auch  im 
allgemeinen  mit  der  Zeit  immer  mehr  verliert.  Während  aus  den 
Quellen  des  9.  Jahrhunderts  noch  das  Bewußtsein  hervorleuchtet,  daß 
jlie  streitigen  Zehnten  den  Osnabrücker  Bischöfen  nicht  ohne  weiteres 
luf  Grund  ihrer  kirchlichen  Stellung  gebühren,  sondern  auf  einer  be- 
onderen  Verleihung  des  großen  Karl  beruhen,  pochen  doch  schon 
Sgilmar  und  noch  mehrere  seiner  Nachfolger,  besonders  Benno  II.  auf 
hr  durch  kirchliche  Gesetze  begründetes  Recht.  Diese  taktische  Wen- 
lung  ist  nur  zu  erklärlich,  wenn  man  sich  vergegenwärtigt,  daß  das 
kanonische  Recht  einen  zuverlässigeren  Rechtstitel  bot,  als  eine  ein- 
nalige  königliche  Schenkung,  die  ihrer  Natur  nach  widerrufen  werden 
sonnte,  und  deren  Widerruf  das  Benehmen  Bischofs  Gebwin  voll- 
ständig erklärt  und  gerechtfertigt  haben  würde. 


^  Vgl.  meine  Untersuchungen  in  Osnabr.  Mitteil.  XXVII  247  ff.  zusammen  mit 
den  Bemerkungen  in  D.  Caroli  I  21*'. 

"  Mitteil.  d.  Hist.  Vereins  VI,  S.  326:  Aussage  über  die  Grenzen  der  Osnabrücker 
Jagd  von  1464. 

'  Osn.  ÜB.  II  Nr.  110. 


334  F-  Philippi,  Forst  und  Zehnte 

Bei  einer  solchen  Betrachtung  erklärt  es  sich  schließlich  einwands 
frei,  daß  man  die  Forstbannprivilegien  als  solche  im  Zehntenstreit  nich 
angezogen  findet.  Da  aus  ihnen  das  Recht  der  Osnabrücker  auf  dl 
Zehnten  erst  durch  eine  umständliche  Auseinandersetzung  hätte  ent 
wickelt  werden  müssen,  waren  sie  als  Beweismaterial  nicht  sehr  ge 
eignet.  Zudem  waren  es,  wie  oben  angedeutet,  Gnadenbeweise,  derei 
Widerruf  selbstverständlich  dem  Könige  theoretisch  freistand. 

Im  Zusammenhange  mit  diesen  Erwägungen  möchte  die  Tatsache 
daß  nur  die  älteste  Fälschung  das  Rodungsverbot  bringt,  dahin  zi 
deuten  sein,  daß  dieser  Teil  des  Wortlautes  sehr  alt  ist.  Die  späterei 
Nachkommen  haben  auf  diese  Seite  der  Forstnutzung  offenbar  keinei 
Wert  mehr  gelegt:  sie  hätten  also  auch  keine  Veranlassung  gehabt 
den  betreffenden  Passus  ihrerseits  in  eine  Fälschung  selbständig  ein 
zuschwärzen.  Sie  werden  ihn  eben  vorgefunden  haben.  Dagegei 
haben  die  Verfasser  der  sächsischen  und  salischen  Königsurkundei 
ein  modernes  Formular  genommen,  welches  der  Rodungen  nicht  meh 
Erwähnung  tat. 


Kanzleiordnungen  Maximilians  I.,  Karls  V. 
und  Ferdinands  L* 


von 

Andreas  Walther 


Einleitung 

Die  unten  mitgeteilten  Dokumente,  die  den  Anlaß  zu  der  vorliegen- 
en  Untersuchung  gaben,  beziehen  sich  auf  die  Kanzleiorganisation  am 
lofe  Karls  V.  Darüber  war  bisher  nichts  bekannt,  denn  Seeliger^ 
nd  Kretschmayr^  verfolgen  vielmehr  die  in  Deutschland  fortgehende 
ntwicklungsreihe.  Das  1519/20  verfaßte  Memoire  des  Großkanzlers 
iattinara  über  Titel,  Unterschrift,  Wappen,  Siegel  und  Münzen,  die  der 
rwählte  römische  Kaiser  in  seinen  Reichen  zu  gebrauchen  habe,  bietet 
inen  Querschnitt,  der  anschaulich  macht,  wie  sich  die  Verwaltungs- 
rganisation  vom  Hof  Karls  V.  ungeheuer  breit  ausspannt  über  das 
\^eltreich  hin.  In  dem  zweiten  Dokument  haben  wir  ein  Beispiel  für 
en  Typus  der  Kanzleiorganisation  in  den  spanischen  und  italischen 
(eichen  des  Kaisers.  Die  so  gewonnene  Übersicht  gibt  erst  das  richtige 
Augenmaß  für  Einreihung  der  beiden  letzten  Dokumente,  einer  Kanzlei- 
)rdnung  Gattinaras  von  1522  und  eines  umfangreichen  Memoires  des 
/iglius  aus  dem  Jahre  1550.  Beide  zusammengenommen  bieten  einen 
-ängsschnitt  durch  die  Geschichte  der  deutschen  (und  am  Anfang  auch 


*  Auch  an  dieser  Stelle  möchte  ich  der  Verwaltung  der  Johann  Peter  Averhoff- 
»tiftung  in  Hamburg,  durch  deren  Beihilfe  mir  eine  ausgedehnte  Archivreise  ermög- 
icht  wird,  meinen  herzlichen  Dank  aussprechen. 

^  G.  Seeliger,  Erzkanzler  und  Reichskanzleien.  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  des 
leutschen  Reiches,  Innsbruck  1889. 

'■^  H.  Kretschmayr,  Das  deutsche  Reichsvizekanzleramt.  Archiv  für  Österreich. 
3eschichte,  Bd.  84,  Wien  1898,  S.  381—502. 


336  Andreas  Walther 

der  österreichischen)  Hofkanzlei,  einsetzend  unmittelbar  nach  den  Ver 
handlungen  zwischen  Erzkanzler  und  Hofkanzler  1521,  mit  denen  unsen 
bisherige  Kenntnis  abbricht,  abschließend  ein  Menschenalter  später  un 
mittelbar  vor  dem  Zeitpunkte,  mit  dem  unsere  Nachrichten  wieder  ein 
setzen,  dem  Ordo  Consilii  von  1550,  den  Winter  veröffentlicht  hat, 
und  der  großen  Neuorganisation  des  Jahres  1559. 

Meine  Absicht,  diese  Dokumente  im  Zusammenhang  mit  einer  Ge 
schichte  der  Ressortbildungen  am  Hof  Karls  V.  zu  publizieren,^  erwie: 
sich  als  unmöglich,  als  ich  jetzt  auch  im  Brüsseler  Staatsarchiv  nicht: 
Wesentliches  für  eine  solche  Darstellung  fand,  so  daß  sie  vermutlicl 
nur  aus  einzelnen  Notizen  rekonstruiert  werden  kann,  die  aus  de 
ganzen  Breite  der  Quellen  und  einer  Reihe  von  Archiven  zusammen 
getragen  werden  müssen.  So  möchte  ich  diese  Dokumente  hier  nocl 
nicht  als  Zeugnisse  für  bestimmte  Organisationen  verwerten;  aucl 
nicht  als  Material  für  eine  kritische  Beurteilung  der  Kanzleiprodukte 
sondern  in  erster  Linie  als  Gegenstand  der  Erkenntnis  selbst. 

Damit  wird  der  Rahmen,  in  dem  sich  die  Erörterungen  zu  be 
wegen  haben,  ein  anderer.  Zunächst  müssen  alle  habsburgischen  Be 
Sitzungen  jener  Zeit  hineingezogen  werden.  Denn  es  kann  z.  B.  di, 
Ordnung  Gattinaras  von  1522  nicht  verstanden  werden  ohne  Berück 
sichtigung  der  von  Gattinara  im  Jahre  1516  für  Margarete  von  Öster 
reich  verfaßten  Rats-  und  Kanzleiordnung  sowie  die  burgundischei 
Ordonnanzen  überhaupt;  und  der  Entwurf  von  1550  weist  unter  anderen' 
ausdrücklich  auf  eine  österreichische  Ordnung  zurück.  Zeitlich  abe 
sind  die  Endpunkte  bestimmt  einerseits  durch  die  erste  erhaltem 
deutsche  Kanzleiordnung,  die  des  Berthold  von  Mainz  vom  Jahre  149^ 
die  ebenfalls  dem  Entwurf  von  1550  als  Vorlage  dient,  andererseit; 
durch  die  Neuorganisation  des  Jahres  1559,  die  den  Abschluß  de 
ganzen  Entwicklungsperiode  bezeichnet.  Es  ist  ein  Umkreis,  der  zu 
fällig  genau  mit  den  Regierungen  Maximilians  I.,  Karls  V.  und  Ferdi 
nands  I.  zusammenfällt.  Alles  Gewicht  aber  soll  ruhen  auf  den  di 
deutsche  Geschichte  interessierenden  Ordnungen.  Wenn  nach  Possi 
„eine  kritische  Sammlung  und  Bearbeitung  der  Kanzleiordnungen  eim; 
der  ersten  und  hervorragendsten  Aufgaben  für  die  Diplomatik  de 
letzten  Jahrhunderte  des  Mittelalters"  ist,^  so  soll  hier  für  die  mi^  dei 
Höfen  jener  drei  Kaiser  zusammenhängenden  Kanzleien  die  kritischi 


^  G.  Winter,  Der  Ordo  Consilii  von  1550.  Archiv  für  Österreich.  Geschichte 
Bd.  79,  Wien  1893,  S.  101  ff. 

^  A.  Walther,  Pie  burgundischen  Zentralbehörden  unter  Maximilian  I.  um 
Karl  V.    Leipzig  1909,    S.  165. 

^  0.  Posse,  Die  Lehre  von  den  Privaturkunden.     Leipzig  1887,  S.  125. 


I 


Kanzleiordnungen  Maximilians  I.,  Karls  V.  und  Ferdinands  I.     337 

Sammlung  gegeben,  einer  Bearbeitung  des  spröden  Materials  aber  der 
^oden  bereitet  werden. 

Wollen  wir  jedoch  auch  in  diesem  Zusammenhang  nicht  eigent- 
ich  die  Geschichte  der  Ordnungen,  am  wenigsten  etwa  die  noch  nicht 
spruchreife  Frage  nach  den  internationalen  Abhängigkeiten  behandeln, 
Vielmehr  die  „Kanzleiordnungen"  nach  ihrem  Wesen,  als  eine  besondere 
jruppe  von  Quellen,  ins  Auge  fassen,  so  werden  wir  abermals  in 
?inen  andern  historischen  Zusammenhang  geführt,  der  nun  nicht  nur 
^nlaß  und  nicht  nur  Rahmen  der  Untersuchung  ist,  sondern  ihr  den 
nhalt  zu  geben  hat. 

Eine  Kanzlei  nämlich  ist  nichts  Abgelöstes  für  sich,  sondern  sie 
st  das  Schreibbureau  einer  Behörde  oder  eines  Amtes  mit  Behörden- 
:harakter.  Das  Wesen  einer  Kanzlei  also  und  einer  Kanzleiordnung 
i^ann  nur  aus  dem  Wesen  der  Behörde,  zu  der  sie  gehört,  verstanden 
.Verden.  Nun  ist  die  Entwicklung  seit  dem  Ende  des  Mittelalters  die, 
Jaß  der  ursprünglich  einheitliche  Rat  sich  vielfach  differenziert,  und 
lamit  auch  die  ursprünglich  einheitliche  Kanzlei  zerreißt.  Zwar  bleibt 
Jer  Ausdruck  „Kanzlei"  in  speziellem  Sinn  Terminus  technicus  für  ein 
^anz  bestimmtes  Schreibbureau.  Aber  wer  noch  seit  dem  15.  Jahr- 
lundert  einseitig  die  Geschichte  nur  dieses  einen  Bureaus  verfolgen 
vvollte,  dem  würde  überall  die  wesentlichste  Entwicklung  entgehen. 
Darum  möchte  ich  im  folgenden  die  Aufmerksamkeit  lenken  auf  das 
System  der  verschiedenen  Kanzleien,  das  sich  ableitet  aus  dem  System 
ier  Behörden,  zu  denen  sie  gehören.  Insbesondere  soll  auf  das  Ver- 
lältnis  der  einzelnen  Schreibbureaus  zu  der  „Kanzlei"  im  speziellen 
Sinne  hingewiesen  werden.  Daraus  muß  sich  ergeben  ein  Einblick  in 
das  Wesen  der  Kanzleiordnungen,  besonders  des  uns  vorliegenden 
doppelten  Typus,  eine  Erkenntnis  der  notwendigen  Einseitigkeit  und 
JnvoUständigkeit  dieser  Reglements,  vor  allem  auch  eine  Übersicht 
jber  die  zur  Ergänzung  heranzuziehenden  Instruktionen,  deren  Summe 
nit  den  uns  vorliegenden  „Kanzleiordnungen"  zusammen  die  ideelle 
/ollständige  „Kanzleiordnung"  ausmachen  würde.  Eine  Zusammen- 
stellung des  bisher  erreichbaren  und  erschließbaren  Materials  im  ein- 
'.elnen  wird  Recht  und  Nutzen  der  systematischen  Erörterung  erweisen. 

Die  dem  Ganzen  zugrunde  liegende  Anschauung  von  dem  System 
1er  sich  bildenden  Behörden  habe  ich  in  meinen  „burgundischen  Zen- 
ralbehörden"  genauer  begründet,  worauf  ich  im  folgenden  mehrfach 
/erweisen  muß.  Es  dürfte  sich  ergeben,  daß  alles  Wesentliche  in  der 
deutschen  Behördengeschichte  Bestätigung  findet. 


Afu    II  22 


338  Andreas  Walther 

I.  Der  Begriff  „Kanzleiordnung"  aus  dem  System  der 
Behörden  entwickelt 

1.  Kanzleiordnung  und  Hof  Ordnung 

Die  ganze,  seit  dem  Ende  des  15.  Jahrhunderts  schnell  immer 
breiter  anwachsende  Reihe  von  Behörden  ist  anzusehen  als  ein  System 
von  Emanationen  aus  der  alten  Curia,  dem  tiof.  Blieb  dieser  Zusammen- 
hang mit  dem  Ursprung  noch  lange  lebendig  empfunden,  so  muß  in  irgend 
einer  Weise  in  den  tiofordnungen  eine  Kanzleiordnung  enthalten  sein 

In  der  Tat  sind  die  Hofstaatsverzeichnisse  als  ergänzende  Quellen  für 
die  Kanzleiorganisation  heranzuziehen.  Daß  sie  eine  Kanzleiordnung 
in  gewissem  Sinne  zu  ersetzen  vermögen,  zeigen  z.  B.  die  unten  publi- 
zierten aragonischen  Hofstaatsverzeichnisse  (vgl.  unten  S.  366).  Fernei 
ist  die  eigentliche  Kanzleiordnung  meist  viel  zu  spezialisiert  und  in 
traditionellen  Formen  erstarrt,  als  daß  aus  ihr  noch  die  wesentlichen 
Grundzüge  der  Organisation,  insbesondere  die  für  die  Verwaltungs- 
geschichte der  Neuzeit  grundlegend  wichtigen  Ressortbildungen  inner- 
halb der  Kanzlei,  deutlich  zu  ersehen  wären.  Nimmt  man  die  gleich- 
zeitigen Hofstaatsverzeichnisse  hinzu,  so  wird  man  nicht  in  den 
Einzelheiten  und  Kleinlichkeiten  ermüden  und  stecken  bleiben.  Ja  es 
bleibt  ein  Durchsehen  der  Hofstaatsverzeichnisse  immer  noch  das  beste 
Mittel  für  den,  der  sich  schnell  quellenmäßig  über  die  Gesamtheit  det 
Kanzleiorganisation  orientieren  möchte.  Freilich  eine  Liste  wie  das 
nach  dem  Tode  Maximilians  I.  aufgestellte  Inventar  der  am  Hofe  befind- 
lichen Beamten  mit  ihren  Pferden  wird  nur  die  Namen  der  „Hofräte' 
und  der  „Sekretäre  und  Kanzleischreiber"  aufführen.^  Die  eigentlichen 
Hofstaatsverzeichnisse  aber,  besonders  die  neuerdings  für  Österreich  von 
Fellner-Kretschmayr  in  einiger  Vollständigkeit  von  der  Zeit  Ferdinands  h 
bis  ins  18.  Jahrhundert  hinein  zusammengestellten  Listen,^  bieten  in 
ihrer  spezialisierten  Rubrizierung  wichtige  Nachrichten.  Von  den  bur- 
gundischen  Hofstaatsverzeichnissen  unter  Maximilian  I.   und  während 


*  Fellner-Kretschmayr,  Die  österreichische  Zentralverwaltung  II.  Veröffent- 
lichungen der  Kommission  für  neuere  Geschichte  Österreichs  VI,  Wien  1907,  S.  142. 

^  Nämlich  die  Verzeichnisse  vom  1.  Januar  1527  (Fellner-Kretschmayr  VI. 
147 f.,  zur  Datierung  siehe  unten),  vom  1.  Januar  1537  (ib.  155,  zur  Datierung  siehe 
unten),  von  1539/41  (ib.  156—159),  von  1544/45  (ib.  161—164),  von  1545/50  (ib. 
164—167),  von  1550/51  (ib.  167—171),  von  1553/54  (ib.  172—175),  von  1557/58  (ib 
176—179),  von  1559  (ib.  180—182),  von  1563/64  (ib.  183—186);  für  die  spätere  Zeil 
S.  187—237;  ein  Nachtrag  Bd.  VII.  530.  Von  den  bei  Kern  (Deutsche  Hofordnunger 
des  16.  und  17.  Jahrh.)  publizierten  Ordnungen  schließen  nur  die  brandenburgischc 
Joachims  II.  (1. 1—34)  und  die  pommersche  von  1575  (I.  106—155)  noch  Bestimmunger 
über  Rat  und  Kanzlei  ein;  vgl.  das  hessische  Verzeichnis  von  1513  (II.  84—87). 


T^ 


Kanzleiordnungen  Maximilians  I.,  KarlsV.  und  Ferdinands  1.     339 

er  Zeit,  als  der  Hof  Karls  V.  noch  mit  dem  burgundischen  zusammenfiel, 
'^Hhabe  ich  an  anderer  Stelle  gehandelt.^  Von  ganz  besonderem  Interesse 
wären  solche  Verzeichnisse  für  die  reiche  Organisation  am  Hofe  des  Kaisers 
in  der  späteren  Zeit,  weil  uns  da  die  Übersicht  noch  vollkommen  fehlt. 
Die  Zusammenstellungen  des  Mameranus  sind  kein  vollgültiger  Ersatz, 
k  Da  die  Hofstaatslisten  in  erster  Linie  der  Finanzverwaltung  und 
-kontrolle  dienen,  liegt  ihr  eigentlicher  Zweck  in  dem  Verzeichnis  der 
von  den  einzelnen  Beamten  bezogenen  Gagen.  Es  ist  aber  die  Fest- 
stellung der  Einnahmen  der  Sekretäre  gerade  in  der  uns  interessieren- 
den Zeit,  in  der  sie  überall  in  die  leitenden  Stellungen  vorzudringen 
)eginnen,  von  besonderem  Interesse,  da  daraus  auf  ihre  soziale  Stellung 
geschlossen  werden  kann. 

In  Burgund  bestanden,  wie  in  Frankreich,  die  Einnahmen  eines 
[Sekretärs  nur  zum  Teil  aus  den  Gagen,  die  allein  in  den  Hofstaats- 
verzeichnissen  angeführt  werden.  Ungefähr  auf  die  gleiche  Summe 
mag  sich  belaufen,  was  die  Sekretäre  dazu  aus  der  Gebührenkasse 
(beziehen.  So  rechnet  Morel  in  seinem  grundlegenden  Buch  über  die 
ranzösische  Kanzlei  des  14.  Jahrhunderts;^  und  für  die  Niederlande 
jder  Zeit  Karls  V.  finde  ich  dasselbe  Resultat.  Es  betrugen  nämlich  in 
den  Niederlanden  die  täglichen  Gagen  eines  Sekretärs  15  sous  (=pa- 
iards)  zu  je  2  gros  flandrischen  Geldes.^  Nun  wird  dem  am  30.  Juni 
1555  zum  „Secretaire  supernumeraire''  des  niederländischen  Conseil 
prive,  „signamment  en  la  langue  thioise  et  baz  allemande"  ernannten 
3aptiste  Berti  bis  zu  seiner  Ernennung  zum  Secretaire  ordinaire  außer 
den  Gagen  von  15  sous  gewährt  ein  jährliches  Traitement  von  200florins 
carolus  zu  je  20  patards  (dieser  florin  carolus  ist  also  identisch  mit 
dem  livre  zu  40  gros),  und  zwar,  wie  es  heißt,  wegen  seiner  Ausgaben 
3ei  Ausübung  des  Amtes  (das  ist  nur  Formel),  sowie  „au  Heu  de  la 
Darticipation  en  la  bourse  desdits  secretaires  ordinaires".^  Da  ir 
solchen  Fällen  das  Jahr  zu  360  Tagen  gerechnet  wird,^  so  belaufen 
sich  seine  Gagen  jährlich  auf  5400  patards,  d.  h.  270  florins  carolus, 
licht  viel  mehr  also  als  die  Summe,  auf  die  der  Ertrag  der  Gebühren- 


'  Burgund.  Zentralbeh.,  Anhang  2,  S.  134—140. 

^  0.  Morel,  La  grande  chancellerie  royale  et  l'expedition  des  lettres  royaux 
1328—1400.  Memoires  et  documents  publies  par  la  Societe  de  l'ecole  des  chartes  III, 
Paris  1900,  S.  402. 

^  Siehe  in  der  Vorstellung  der  Sekretäre  des  Conseil  prive  an  Philipp  II.,  daß 
sie  in  den  teuren  Zeiten  mit  ihren  Einnahmen  nicht  mehr  auskommen  könnten,  den 
3.  Artikel  (Burgund.  Zentralbeh.  209).  Die  dem  Hof  des  Kaisers  folgenden  Sekretäre 
srhielten  24  sous  (vgl.  die  Rubrik  „Conseil"  in  den  Hoflisten  von  1517  und  1522/27, 
ib.  213f.). 

*  Brüsseler  Staatsarchiv,  Pap.  d'Etat  et  de  l'Audience,  Nr.  788,  fol.  62  f. 

^  Vgl.  unten   die  Umrechnungen   in   den   aragonischen  Hofstaatsverzeichnissen. 

22* 


340  Andreas  Walther 

kasse  geschätzt  wird;  besonders  wenn  vermutet  werden  darf,  daß  die 
Entschädigung  nicht  ganz  die  Summe  erreichte,  für  deren  Ausfall  sie 
gewährt  wurde. 

Die  unten  mitgeteilten  aragonischen  Hofstaatsverzeichnisse  geber 
die  Gagen  im  allgemeinen  an  nach  barcelonensischen  sueldos  zu  je 
12  dineros,  eine  Rechnung,  die  der  französisch-burgundischen  nach 
sous  zu  je  12  deniers  analog  ist.^  Die  Auszahlung  erfolgte  in  vier- 
monatlichen Terminen,  so  daß,  wer  jährlich  10000  sueldos  bezog,  ar 
einem  Termin  3333  sueldos  4  dineros  erhielt.^  Stimmt  einmal  diese 
Rechnung  nach  Terminen  nicht,  wie  bei  Johan  Aleman  (Jean  Lalle- 
mand),  der  als  Vorgänger  Granvelles  auch  für  die  deutsche  Geschichte 
von  Interesse  ist,  so  kann  durch  Umrechnung  des  Überschusses  ir 
Tagesrationen  auf  die  Zeit  des  Amtsantritts  geschlossen  werden. 

Auch  diese  aragonischen  Verzeichnisse  aber  wenden  zugleich  di( 
spezifisch  kastilianische  und  am  Hof  gebräuchliche  Rechnung  nacl 
ducados  und  maravedis  an.  Die  in  maravedis  angegebenen  Summer 
werden  dann  am  linken  Rande  ausgerückt,  nicht  am  rechten  unter  der 
sueldos.  Aber  häufig  wird  auch  eine  in  ducados  angegebene  Summ( 
einfach  in  sueldos  umgerechnet,  so  bei  dem  Namen  des  bekannter 
Luis  Carroz  eine  Summe  von  300  ducados  in  7200  sueldos,  wonacl 
also  auf  den  Dukaten  24  sueldos  kommen.  Das  Verhältnis  von  mara 
vedis  und  sueldos  ferner  ergibt  sich  aus  einer  anderen  Umrechnung 
nach  der  3000  maravedis  +  IV2  sueldos  täglicher  Gagen  gleich  sine 
der  Summe  von  II438V2  maravedis  (in  der  zweiten  Liste,  fol.  77) 
Führt  man  die  Rechnung  aus,  so  ergibt  sich,  daß  einem  sueldo  ent 
sprechen  15,63  maravedis.  Vergleichen  wir  auf  Grund  dieser  Resultat« 
die  ducados  und  maravedis,  so  erhalten  wir  das  durch  das  Edikt  vor 
Medina  del  Campo  1497  festgesetzte  offizielle  Wertverhältnis  von  1 :  375 

Ich  kann  hier  natürlich  nur  anführen,  was  zum  Verständnis  de 
unten  gegebenen  Beilagen  unentbehrlich  ist.  Eine  kurze  und  klan 
Einführung  in  diese  Verhältnisse,  ohne  deren  Kenntnis  ein  so  große 
Teil  des  durch  unsere  Quellen,  wie  gerade  auch  die  Hofstaatsver 
zeichnisse.,  gebotenen  Materials  vor  allem  zur  Geschichte  Karls  V 
totes  Gut  bleibt,  hat  neuerdings  Lonchay  gegeben.^ 

Da  die  Hofordonnanzen  außer  dem  Bedürfnis  der  Finanzverwaltum 
auch  dem  der  Ordnung  dienen  wollen,  so  werden  die  Beamtenverzeich 


^  Bekanntlich  ist  in  England  die  Rechnung  nach  Pfund  zu  je  20  s.  zu  je  12  c 
erhalten  geblieben. 

^  Siehe  z.  B.  gleich  die  Eintragung  zu  dem  ersten  Namen. 

^  H.  Lonchay,  Recherches  sur  Torigine  et  la  valeur  des  ducats  et  des  ecu 
espagnols,  Les  monnaies  reelles  et  les  monnaies  de  compte;  Bulletins  de  l'Academi 
royale  de  Belgique,  Classe  des  lettres  etc.,  1906,  S.  517—614;   auch  Sonderabdrucl 


I 


Kanzleiordnungen  Maxim  ilians  I.,   Karls  V.  und  Ferdinandsl.     341 


lisse  vielfach,  besonders  in  Burgund,  mit  Instruktionen  durchsetzt.^ 
|/on  hier  aus  gesehen  ist  die  Kanzleiordnung  also  ein  Bruchstück  der 
iofordnung.  Eine  detaillierte  Kanzleiordnung  freilich  muß  den  Rahmen 
ier  Hofordnung  sprengen.  Dann  finden  wir  etwa,  daß  in  der  burgun- 
lischen  Ordonnanz  von  1497  zu  der  Rubrik  „Grand  Conseil",  in  der 
mch  das  Kanzleipersonal  aufgezählt  wird,  verwiesen  wird  auf  eine 
^om  Kanzler  und  den  Mitgliedern  des  Rates  zu  erlassende  Instruktion 
ür  die  einzelnen  Beamtengruppen.^  Die  Artikel  dieser  Instruktion 
iber  Sekretäre  und  Greffiers  sind  erhalten.^  Für  eine  andere  Art 
der  Scheidung  bieten  die  unten  zu  besprechenden  österreichischen 
brdonnanzenpaare  vom  1.  Januar  1527  und  1.  Januar  1537  besonders 
^ute  Beispiele.  Hier  haben  wir  voneinander  getrennt  den  „stat", 
1.  h.  das  Beamtenverzeichnis  mit  Angabe  der  Gagen,  und  eine  Samm- 
ung von  Instruktionen,  die  durch  ausdrückliche  Hinweise  auf  den 
,stat"  noch  die  Parallelität  anzeigen.  Sprengt  nun  natürlich  eine 
detaillierte  Kanzleiordnung  doch  wieder  den  Rahmen  einer  solchen 
Sammlung  von  Instruktionen,  so  wird  z.  B.  aus  der  Sammlung  vom 
1.  Januar  1537  ausdrücklich  die  Kanzleiinstruktion  herausgelöst  und 
verselbständigt.  Häufiger  aber  spaltet  sich  die  Kanzleiordnung  selbst 
einerseits  in  eine  summarische  Ordnung,  die  dann  entweder  durchaus 
als  Teil  der  Hofordnung  auftritt,  wie  in  jener  Sammlung  vom  1.  Januar 
1527,  oder  wenn  auch  ihrerseits  verselbständigt,  doch  noch  gern  aus- 
drücklich als  „Hofordnung"  oder  Teil  einer  solchen  sich  bezeichnet, 
wie  in  dem  Entwurf  Maximilians  I.  vom  13.  Dezember  1497  (unten 
S.  359),  —  andererseits  eine  selbständige  detaillierte  Instruktion,  deren 
andersartiger  Charakter  besonders  deutlich  heraustritt  bei  dem  letzt- 
erwähnten Dokument,  wo  sie  in  jene  summarische  Ordnung  nach- 
träglich hineingeflickt  worden  ist. 

Noch  von  einer  anderen  Seite  her  werden  wir  auf  diese  grund- 
legende Tatsache  eines  doppelten,  nebeneinander  bestehenden  Typus 
von  Kanzleiordnungen  geführt  werden. 

2.  Kanzlei  und  Sekretariat 

Aus  der  Curia  geht  der  Rat  hervor,*  der  seinerseits  für  die  Er- 
ledigung der  geschäftlichen  Angelegenheiten  eine  Reihe  von  Behörden 
aus  sich  entläßt,  unter  ihnen  die  am  Rat  der  Juristen  haften  bleibende 


^  Burgund.  Zentralbeh.  135. 

^  Compte  rendu  de  la  commission  royale  d'historie  ou  recueil  de  ses  bulletins. 
Brüssel,  Ser.  1,  Bd.  XI,  S.  708. 

'  Gedruckt:  Burgund.  Zentralbeh.  198 f. 

'^  Genauer  wäre  zu  sagen,  daß  die  Curia  sich  differenziert  in.  Hotel  und  Conseil 


342  Andreas  Walther 

„Kanzlei"  im  eigentlichen  Sinne  (siehe  unten).  Der  dabei  im  Zentrum 
zurückbleibende  Rat  scheidet  die  unfruchtbar  werdenden  und  hemmen- 
den feudalen  Elemente  ab.  Was  zurückbleibt,  nennen  wir  Kabinett 
das  Schreibbureau  des  Kabinetts  nennen  wir  Sekretariat. 

Der  Gedanke  ist  nun  der,  daß  die  Kanzlei,  die  durch  ihre  Ab- 
lösung gleichsam  der  Person  des  Fürsten  zu  fern  gerückt  ist,  wieder 
aus  sich  einen  Kabinettssekretär  deputiert.  Am  deutlichsten  wird  das 
da  hervortreten,  wo  das  Kabinett  am  wenigsten  Kraft  und  Einheitlich- 
keit erlangt  hatte.  Das  war  in  den  Niederlanden  der  Fall,  denn  hier 
war  jenes  Ausscheiden  der  feudalen  Elemente  nicht  gelungen,  und 
übrigens  nicht  beabsichtigt,  da  die  Adligen  des  Landes  einem  even- 
tuellen Selbständigkeitsstreben  der  Regentinnen  die  Wage  halten  sollten. 
Hier  also  ist  das  Kabinett  vertreten  nur  zu  einem  Teil  durch  das 
Kabinett  der  Regentin,  zum  andern  durch  das  Conseil  d'Etat.  Und 
diesem  wird  zugeordnet  ein  „Secretaire  du  conseil  prive  (d.  h.  des  ge- 
lehrten Rates  und  der  an  ihm  hängenden  offiziellen  Kanzlei)  servant 
en  notre  Conseil  d'Etat".^  Auch  in  Österreich  gilt  der  für  die  „eigenen 
Sachen"  des  Fürsten  bestellte  Sekretär  als  Deputierter  der  Kanzlei.^ 

Ferner  müssen  nach  wie  vor  alle  im  Kabinett  beschlossenen 
Sachen,  die  einer  juristisch  gültigen  Ausfertigung  bedürfen,  in  der 
Kanzlei  ihre  formelle  Erledigung  finden.  Freilich  kommt  hier  nicht 
die  Bemerkung  in  der  Instruktion  für  den  österreichischen  Hofkanzlei' 
vom  12.  Februar  1528  in  Betracht,  nach  der  alles,  was  im  geheimen 
oder  dem  Hofrat  beschlossen  wird,  in  der  Kanzlei  ausgefertigt  werden 
soll,^  denn  das  Kabinett  ist  nicht  identisch  mit  dem  geheimen  Rat.^ 
Aber  in  der  Instruktion  für  den  Hofkanzler  von  Ende  1498  werden 
Bestimmungen  über  „der  kgl.  Majestät  eigenen  Sachen"  getroffen,  die 
der  Kanzler  zu  unterschreiben  und  zu  siegeln  hat.^ 

In  der  traditionellen  Anschauung  und  rechtlich  war  also  im  Ver- 
hältnis von  Kanzlei  und  Sekretariat  das  Übergewicht  durchaus  bei  der 

(Burgund.  Zentralbeh.  140),  oder  vielleicht  noch  besser,  daß  erst  der  aus  der  Curia 
hervorgegangene  Rat  durch  sein  Schwergewicht  die  Zusammenfassung  des  feudal  und 
zeremoniell  Bestimmten  in  einem  Gegenpol  hervorruft. 

'  Z.  B.  1550  (Brüsseler  Staatsarchiv,  Audience  788  fol.  52f.,  vgl.  789  fol.  122 f, 
160f.).  Einzelheiten,  wie  das  Verhältnis  zum  Amt  des  Secretaire  d'Etat,  können  hier 
nicht  besprochen  werden. 

^  In  der  Instruktion  für  den  tiofkanzler  Ende  1498,  Fellner-Kretschmayr  VI, 
54  Z.  9;  erwähnt  1500,  ib.  18  Anm.  1;  vgl.  das  Innsbrucker  Libell  1518,  ib.  88  Z.  14. 

'  ib.  240,  Art.  6. 

*  Siehe  in  der  Hofordnung  vom  I.Januar  1527  die  Formeln:  „Im  Rate,  es  sei 
bei  kgl.  Majestät,  im  geheimen  Rat  oder  im  Hofrat",  „es  sei  bei  kgl.  Majestät  oder 
in  den  Räten",  und  die  für  diese  Abgrenzungen  besonders  interessante  ,, Ordnung 
der  Rathaltung"  in  derselben  Hofordnung  (ib.  102f.,  Art.  1;  107 f.). 

'  ib.  54  Z.  9. 


Kanzleiordnungen  Maximilians!.,  KarlsV.  und  Ferdinands  I.     343 

,(anzlei.  Aber  nicht  nur  deuten  schon  Konflikte  sich  an,  wie  wenn 
|in  der  leztgenannten  Stelle  ausdrücklich  vorgesehen  wird,  daß  der  für 
lue  eigenen  Sachen  des  Königs  bestellte  Sekretär  „ohne  Willen  und 
\Vissen  des  Kanzlers  nicht  gen  Hof  gehen"  soll.  In  Wirklichkeit  war 
jas  Übergewicht  beim  Sekretariat.  Es  ist  so  wenig  eine  Deputation 
ier  Kanzlei,  daß  vielmehr  aus  den  Bureaus  der  Kabinetts-  (und 
.Finanz-)  Sekretäre  die  neuen  Regierungsressorts  herauswachsen,  die 
die  Kanzlei  aufsaugen  oder  mindestens  zerreißen.  Die  Weigerung 
Gattinaras,  den  Friedensvertrag  von  Madrid  1526  gegenzuzeichnen, 
gab  nur  den  letzten  entscheidenden  Anlaß  dazu,  daß  nach  seinem 
'Tode  1530  das  Amt  des  Großkanzlers  nicht  wieder  besetzt  wurde, 
sondern  der  Kabinettssekretär  als  „Garde  des  seaulx"  an  seine  Stelle 
jtrat.  Und  wie  der  Sekretär  den  Kanzler,  so  verdrängen  all  die  neuen 
freien  Formen  der  Beurkundung  das  Pergament  und  die  feierliche  Be- 
siegelung.  Z.  B.  wendet  Viglius  in  dem  Entwurf  von  1550,  Art.  33, 
isich  gegen  die  Bestimmung  in  der  Kanzleiordnung  Albrechts  II.  von 
jMainz  vom  Jahre  1545,  nur  die  mit  hängendem  Siegel  versehenen 
Urkunden  zu  registrieren.  Denn  es  sei  ja  klar,  sagt  er,  daß  was  auf 
jPapier  und  mit  eingedrücktem  Siegel  ausgefertigt  wird,  meist  von  weit 
jgrößerer  Bedeutung  sei.  Gewiß  war  „lange  die  Kanzlei  der  Mittel- 
Ipunkt  des  geschäftlichen  Lebens  am  Königshof,  die  wichtigste  Behörde 
des  Reiches,  in  der  alle  bedeutenderen  Regierungshandlungen  voll- 
jzogen  wurden  und  in  deren  Organisation  Natur  und  Wesen  der  ge- 
jbietenden  Zentralgewalt  selbst  zum  Ausdruck  kam".^  In  der  Zeit  aber, 
[die  uns  hier  beschäftigt,  wurden  nicht  mehr  durch  die  Kanzleiurkunden, 
die  Privilegien  und  Legitimationen  und  Geleitbriefe  und  all  die  an- 
deren, auch  etwa  die  formelle  Ausfertigung  eines  Staats  Vertrages,  „alle 
bedeutenderen  Regierungshandlungen"  repräsentiert.  Vielmehr  ruhte 
alles  Gewicht  in  der  täglich  fortgehenden,  ganz  Europa  umspannenden 
politischen  Bewegung.  Wer  nach  Dokumenten  für  jene  Zeit  sucht, 
greift  in  erster  Linie  nach  den  Korrespondenzen,  und  findet  in  der 
iRegel  ein  Dokument  um  so  wertvoller,  je  ferner  es  der  offiziellen 
Kanzlei,  je  näher  dem  geheimsten  Sekretariat  steht. 

An  fast  all  den  grundlegenden  Fragen,  die  sich  hier  anschließen, 
ist  die  Diplomatik,  die  eben  erst  die  Früchte  ihrer  mittelalterlichen 
Arbeit  zusammenfaßt,  bisher  vorübergegangen.  NurGiry,^  der  wenigstens 
in  flüchtiger  Übersicht  auch  die  Neuzeit  in  seine  Betrachtung  hinein- 
zieht, gibt  S.  780—785  eine  kurze  Aufzählung  der  Gattungen  von 
„actes  emanes  directement  de  ce  qu'on  pourrait  appeler  le  secretariat 


^  Seeliger,  Erzkanzler  S.  2. 

^  Giry,  Manuel  de  diplomatique.    Paris  1894. 


I 


344  Andreas  Walther 

ou  le  cabinet  du  roi"  (S.  783).  Aber  auf  viel  dringendere  Fragen  als 
die  nach  solcher  Klassifizierung  hauptsächlich  auf  Grund  äußerlicher 
Merkmale  finden  wir  nirgends  eine  Antwort.  So  ist  denn  eine  Be- 
zeichnung wie  „Korrespondenz  Karls  V."  noch  ein  unklarer  und 
schwebender  vorläufiger  Sammelname.  Daß  die  zahllosen  Briefe,  die 
sich  als  an  den  Kaiser  oder  von  ihm  geschrieben  geben,  außerordent- 
lich ungleichwertig  sind,  weiß  jedermann,  aber  es  fehlt  noch  die 
methodische  Sicherheit  im  unterscheiden  und  Abwägen.  Für  eine 
Edition  und  eine  ausschöpfende  Benutzung  aber  ist  es  grundlegend  zu 
wissen,  was  einfach  von  einer  der  geschäftlich  arbeitenden  Ratssektionen 
ausgeht,  was  im  offiziellen  Staatsrat  beschlossen  worden  ist,  was  im 
Kabinett,  was  als  ein  Schreiben  eines  Ministers  angesehen  werden 
muß,  was  einer  Anregung  des  Kaisers  entstammt,  was  seine  persönliche 
Äußerung  ist.  Für  das  letzte  ist  nicht  einmal  der  Maßstab  der  Eigen- 
händigkeit entscheidend.  Finden  wir  doch,  daß  z.  B.  Margarete  von 
Österreich  eigenhändig  ein  Konzept  zu  einem  Brief  an  ihren  Vater 
Maximilian  I.  aufsetzt  und  es  dann  von  ihrem  Sekretär  umformen  und 
abschreiben  läßt,^  oder  daß  umgekehrt  Maximilian  I.  einen  eigen- 
händigen Brief  nach  einem  Konzept  Gattinaras  verfertigt.^  Wieweit 
das  Ausnahmen  sind,  wieweit  dem  ein  System  zugrunde  liegt,  das  ist 
noch  alles  unbekannt. 

Es  bietet  erhebliche  Schwierigkeiten,  diesen  wichtigen  Fragen  bei- 
zukommen. Ordnungen  für  das  Sekretariat,  das  eben  rechtlich  noch 
keine  besondere  Behörde  war,  gibt  es  nicht.  Nur  gelegentlich  einmal 
sind  Einzelnachrichten  über  seine  Organisation  erhalten.^  Auch  in  den 
Kanzleiordnungen  wird  nur  nebenher  das  Kabinett  einmal  erwähnt/ 
Es  liegt  aber  in  der  Natur  der  Sache,  daß  nur  eine  Statistik  auf  Grund 
eines  reichen  Materials  hier  einige  Sicherheit  der  Erkenntnis  geben 
kann.    In  einer  Übersicht  über  die  Gesamtbestände  der  Registraturen 

^  Le  Glay,  Correspondance  de  Tempereur  Maximilien  I^«"  et  de  Marguerite  d'Au-" 
triebe.  Paris  1839,  II,  S.  33.  Datierung  des  Briefes  in  den  Gott.  gel.  Anz.  1908, 
S.  278;  dort  ist  auch  S.  266  ein  anderer  eigenhändiger  Brief  Margaretes  mitgeteilt, 
der  von  ihrem  Sekretär  gründlich  umgearbeitet  wurde. 

^  Gott.  gel.  Anz.  1908,  S.  261  Anm.  1. 

^  Vgl.  0.  tiintze,  Die  Entstehung  der  modernen  Staatsministerien,  tiistor. 
Zeitschr.  Bd.  100,  1908,  S.  70f.  ' 

*  In  dem  Entwurf  einer  Kanzleiordnung  vom  13.  Dezember  1497  (Fellner- 
Kretschmayr  VI,  8f.,  13;  Art.  1,  8;  6  der  Ratssekretärordnung),  in  der  Instruktion 
für  den  Hofkanzler  von  Ende  1498  (ib.  S.  51,  Z.  9,  11;  S.  54,  Z.  9),  vgl.  die  Hof- 
kammerordnung vom  13.  Februar  1498  (ib.  20,  Art.  8),  ferner  in  der  der  Hofordnung 
vom  1.  Januar  1527  eingefügten  Kanzleiordnung  (ib.  102  f.,  Art.  1).  In  der  Kanzlei- 
ordnung der  Margarete  von  Österreich  vom  17.  Dezember  1516  werden  ausdrücklich 
erwähnt  „quelques  aultres  matieres  que  madite  dame  vuille  depescher  plus  secrete- 
ment".     (Burgund.  Zentralbeh.  202,  Art.  17). 


Kanzleiordnungen  Maximilians  I.,  Karls  V.  und  Ferdinands  I.     345 

;t  die  Lösung  jener  Fragen  zu  suchen.  Wenn  für  den  herumreisenden 
lof  des  Kaisers  auch  nur  einige  Vollständigkeit  des  erhaltenen  Mate- 
ials  nicht  zu  erwarten  ist,  so  wird  man  mit  einer  solchen  ünter- 
uchung  am  besten  an  der  neben  dem  tiof  wichtigsten  Stelle,  nämlich 
1  den  Niederlanden,  einsetzen.  Es  bieten  sich  dafür  in  Brüssel  und 
a  Wien^  die  recht  bedeutenden  Reste  der  Papiere  der  Maria  von 
Ingarn,  vor  allem  auch  in  Lille  die  in  ungewöhnlicher  Vollständigkeit 
Irhaltene  Registratur  der  Margarete  von  Österreich.^ 

3.  Kanzlei  und  Bureau  der  Finanzen 

Alle  reguläre  beamtenmäßige  Arbeit  scheidet  sich,  so  war  die  Auf- 
assung  in  jener  Zeit,  nach  den  Gebieten  des  Rechtes  und  der  Finanzen.^ 
Vuch  jene  aus  dem  zentralen  Rat  sich  lösenden  Behörden  für  Er- 
edigung  der  geschäftlichen  Angelegenheiten  verteilen  sich  auf  diese 
)eiden  großen  Ressorts  der  Regierung.  Die  eigentliche  „Kanzlei"  bleibt 
in  den  Behörden  für  das  Gebiet  des  Rechts  haften  (siehe  unten);  aber 
!in  mannigfaches  Verwachsensein  des  Finanzbureaus  mit  der  Kanzlei 
:eigt  noch  die  alte  Einheit  an. 

Werfen  wir  zunächst  einen  Blick  auf  die  burgundische  Organi- 
;ation,  die  nicht  wie  die  österreichische  durch  unruhiges  Eingreifen 
kr  Herrscher  verwirrt  ist  und  also  zum  Verständnis  jener  die  Grund- 
age  bieten  kann. 

Nach  wie  vor  geht  in  Burgund  auch  was  in  Finanzsachen  einer 
uristisch  gültigen  Ausfertigung  bedarf,  von  der  offiziellen  Kanzlei  aus. 
:ine  Urkunde  wird  aber  erst  dann  perfekt,  wenn  die  leitenden  Finanz- 
)eamten  durch  einen  auf  ihrem  Bureau  auszufertigenden  Nachtrag  ihre 
Zustimmung  zu  Protokoll  gegeben  haben.  So  findet  sich  auf  den 
neisten  die  Finanzsachen  betreffenden  Urkunden  (die  Gründe  der  Aus- 
lahmen  sind  noch  zu  untersuchen)  diese  Formel:  „Les  Chiefs,  tresorier 
^eneral  et  commis  des  finances  consentent  .  .  .  Fait  au  bureau  des 
inances  .  .  ." 

Was  dagegen  den  laufenden  Geschäften  der  Finanzverwaltung 
iient,  Korrespondenz  mit  den  Einnehmern  im  Lande,  Quittungen  usw., 
^eht  vom  Finanzbureau  aus.  Hier  aber  ist  es  das  Bedürfnis  der 
Kontrolle,  das  gleichwohl  ein  vielfaches  Zusammenarbeiten  der  ver- 
schiedenen Instanzen,   Sekretariat  und  Kanzlei  und  Finanzbureau,   be- 


^  Abteilung  Belgica,  A,  B  und  C. 

"'  Vgl.  meinen  Bericht  in  den  Gott.  gel.  Anz.  1908,  S.  253ff. 
^  Burgund.  Zentralbeh.  39  ff.      Für    Österreich    die    Parallele   von   Hof  rat   und 
Hofkammer  (siehe  unten). 


346  Andreas  Walther 

wirkt.  Damit  eine  nicht  unter  den  ordentlichen  Ausgaben  im  Budge 
vorgesehene  größere  Summe  bezahlt  werden  kann,  muß  ein  ent 
sprechender  vom  Sekretariat  ausgehender  Befehl  des  Fürsten  erst  in  de 
Kanzlei  in  eine  feierliche  Urkunde  gefaßt  werden,  ehe  die  weiter 
Erledigung  im  Finanzbureau  vor  sich  gehen  kann.^ 

In  Österreich  ist  die  Organisation  sehr  wechselnd.  Die  großei 
Ordonnanzen  vom  13.  Februar  1498  und  1.  September  1537, ^  die  bis 
her,  nicht  zum  Nutzen  einer  tiefgehenden  Erkenntnis  der  faktischei 
Organisation,  die  Erörterungen  einseitig  beherrscht  haben,  zeigen  um 
eine  streng  als  Gegenstück  zum  Hofrat  gedachte  Hofkammer.  Wie  de 
Hofrat,  so  hat  auch  die  Hofkammer  ihre  eigene  selbständige  Kanzle 
mit  besonderem  Personal.^  Auch  in  Burgund  versuchte  Maximiliai 
diese  Organisation  einzuführen,  indem  er  dem  Grand  Conseil  148' 
(und  1511)  ein  „Conseil  des  finances"  mit  besonderer  Kanzlei  zu 
Seite  stellte.^ 

Von  der  Kanzlei  der  österreichischen  Hofkammer  gehen  mit  de 
Formel  „in  consilio  camere''  richtige  Urkunden  aus.^  Es  ist  abe 
charakteristisch  für  die  Unsicherheit  im  Verhältnis  der  beiden  Behördei 
und  Kanzleien,  wenn  dem  Kanzler  in  der  Instruktion  vom  12.  Februa 
1528  in  schonender  Weise  nahegelegt  wird,  mit  den  Kammersachei 
sich  nicht  mehr  zu  befassen,*^  sondern  nur  die  des  großen  Siegels  be 
dürfenden  Briefe  zu  besiegeln  ohne  Pflicht  (und  Recht)  der  Verant 
wortlichkeit,'  während  die  Hofkammerordnung  von  1537  ihm  für  di( 
Pergamentbriefe  mit  dem  großen  hängenden  Siegel  eine  Prüfung  de 
Gesetzmäßigkeit  der  Sache  und  des  beobachteten  Verfahrens  zuspricht. 
Ferner  hat  in  Österreich  das  „Geschäft",  der  Zahlungsbefehl  an  der 
obersten  Schatzmeister,  nicht  erst  (Sekretariat  und)  Kanzlei  zu  passieren 
sondern   geht  gleich  von  der  Hofkammerkanzlei  aus.^    Drittens  wir( 

'  Burgund.  Zentralbeh.  75 f. 

^  Gedruckt  bei  FeUner-Kretschmayr  VI;  die  Hofliammerordnung  von  149( 
S.  17 — 26,  die  gleichzeitige  Ordnung  der  Innsbrucker  Schatzkammer  S.  27 — 46,  dl' 
Hofkammerordnung  von  1537  S.  246—271. 

^  In  der  tiofkammerordnung  von  1498  Art.  3  (S.  18),  20f.  (S.  24f.);  in  de 
Schatzkammerordnung  von  1498  besonders  die  Artikel  40—51  (S.  40—43),  die  zun 
Teil  fast  wörtlich  aus  der  Kanzleiordnung  herübergenommen  sind;  in  der  Hofkajnmer 
Ordnung  von  1537  Art.  1  (S.  248  f.),  58,  61  f.  (S.  269—271). 

*  Die  Ordonnanz  vom  26.  Dezember  1487  gedruckt  in  den  Burgund.  Zentralbeh 
S.  193—195,  besprochen  S.  53—57,  vgl.  S.  63 ff. 

"  Vgl.  Fellner-Kretschmayr  VI,  S.  47. 

•*  ibid.  S.  246,  Art.  27. 

'   ibid.  S.  245,  Art.  23. 

'  ibid.  S.  270,  Art.  61. 

^  In  dem  Intimat  an  die  Beamten  vom  13.  Februar  1498  (ibid.  S.  5),  in  dei 
gleichzeitigen  Hofkammerordnung  Art.  6  (S.  18),  7  (S.  19,  auch  Anm.  1),  14  (S.  21) 


Kanzleiordnungen   Maximilians  I.,  Karls  V.  und  Ferdinands  I.     347 

ie  in  dieser  Weise  selbständige  Kammerkanzlei  mit  den  für  ihre 
Itrbeit  nötigen  Archivalien  versehen.  Die  Schatzkammerordnung  von 
498  bestimmt,  daß  die  auf  die  Finanzen  bezüglichen  Urkunden 
!,Pfandschaften,  auch  Kauf  auf  Wiederkäuf,  Vertrag  und  andere  der- 
leichen  Sachen";  die  Aufzählungen  sind  verschieden),  die  sich  regi- 
triert  finden  in  der  „Kanzlei  zu  Innsbruck",  d.  h.  dem  Archiv  der 
riroler  Zentralbehörde  und  des  Regiments,  in  der  Kammer  kopiert  und 
uch  dort  aufbewahrt  werden  sollen.^  Und  wir  hören  etwa,  daß  am 
7.  August  1500  der  Verwalter  und  die  Sekretäre  der  Hofkanzlei  in 
lie  Hofkammer  erfordert  werden,  wo  ihnen  eingeschärft  wird,  alle  von 
linen  ausgefertigten  Sachen,  die  die  Kammer  interessieren  können, 
lort  mitzuteilen.^ 

Mit  dem  Einschlafen  der  Hofkammer  aber  löst  sich  dies  alles  auf. 
Vie  vor  ihrer  Errichtung  auch  „Schuldbriefe,  Quittungen,  oder  was 
jeld  und  Finanzen  antrifft",  von  der  Kanzlei  ausgingen,^  und  die 
iGeschäftbriefe"  dort  registriert  wurden,*  so  verschwindet  auch  bald 
lachher  wieder  die  eigene  Kammerkanzlei.  Was  den  Zahlungsbefehl 
)etrifft,  so  wurde  die  Ausschaltung  der  offiziellen  Kanzlei  beibehalten, 
iber  anstatt  des  von  der  Hofkammer  ausgehenden  Geschäfts  begnügte 
nan  sich  jetzt  mit  einem  einfachen  Befehl  aus  dem  Sekretariat.  So 
vird  es  1503  für  die  Verwaltung  der  außerordentlichen  und  wohl  auch 
iler  ordentlichen  Einkünfte  befohlen.^  unter  der  von  der  kollegialen 
L^erwaltung  so  weit  wie  nur  denkbar  abweichenden  Organisation  der 
iJahre  1512—1515  scheint  es  Regel  gewesen  zu  sein;^  während  etwa 
Mn  Schuldbrief  des  Kaisers,  der  ein  Rechtsverhältnis  zwischen  ihm 
md  dem  Schatzmeister  begründet,  noch  die  offizielle  Kanzlei  zu  pas- 
sieren hat.'^  Schließlich  hören  wir  auch,  daß  die  Papiere  der  zentralen 
^inanzverwaltung  wieder  dem  Kanzler  zur  Aufbewahrung  übergeben 
Verden.^ 


^0  (S.  25),  in  der  gleichzeitigen  Schatzkammerordnung  Art.  6  (S.  29),  9  (S.  31),  19 
S.  34 f.),  31  (S.  38),  in  der  Hofkammerordnung  von  1537  Art.  50,  51  (S.  266  f.). 

^  Fellner-Kretschmayr  VI,  S.  39f.,  Art.  34— 37;  vgl.  in  der  Hofkammer- 
)rdnung  von  1537  Art.  47  (S.  265). 

'  ibid.  S.  26  Anm. 

^  In  der  Ordnung  Bertholds  von  1494  bei  Posse  S.  207,  Art.  21  (siehe  folgende 
^nm.),  freilich  auch  hier  Finanzbehörde  und  Kabinett  erwähnt. 

*  In  dem  Entwurf  vom  13.  Dezember  1497,  Fellner-Kretschmayr  S.  13f., 
^rt.  6  und  8  der  ,, Ordnung  des  Registratoramts".  Vgl.  auch  Art.  18  der  Ordnung 
3ertholds  von  Ende  1498,  Posse  S.  203;  es  ist  aber  zu  beachten,  daß  wir  es  hier, 
»vie  1494  (siehe  vorige  Anm.)  mit  Reichskanzleiordnungen  zu  tun  haben. 

'"  Fellner-Kretschmayr  VI,  S.  23  Anm.,   27  Anm. 

*  ibid.  S.  56,  Z.  15;  S.  67,  Z.  34. 
^  ibid.  S.  62,  Art.  3. 
'  ibid.  S.  71,  Z.  28. 


348  Andreas  Walther 

Nur  als  Beispiele   dafür,   wo   nach   meiner  Meinung   die  Haupt- 
fragen liegen,  sollen  diese  Einzelheiten  dienen.    Es  kann  mir  natürlich 
nicht  einfallen,   hier  eine  Geschichte  dieser  äußerst  verwickelten  Ver- 
hältnisse geben  zu  wollen.  Eine  eingehende  Untersuchung  mag  manches ' 
in  ein  anderes  Licht  rücken.  I 

Wo  wir  keine  selbständige  Kammerkanzlei  haben,  ist  wie  beim' 
Verhältnis  der  Kanzlei  zum  Sekretariat  der  Gedanke  der,  daß  die 
Kanzlei  einen  besonderen  Sekretär,  oder  wie  in  Frankreich  mehrere 
für  die  ihr  fremd  gewordenen  Finanzangelegenheiten  deputiert.  Mit  den^ 
Recht,  allein  in  Finanzsachen  zu  signieren,  erhält  dieser  Sekretär  eine 
ähnlich  privilegierte  Stellung  wie  der  Kabinettssekretär.^  Dazu  kommi 
dann  die  Tendenz  einer  Verschmelzung  der  Ämter  des  Kabinetts- 
sekretärs und  Finanzsekretärs, ^  wie  denn  die  Finanzen  immer  in  be- 
sonderer Weise  mit  dem  vertrauten  Rat  zusammenhingen;  im  Mittel- 
alter, weil  sie  noch  als  Privatangelegenheit  des  Fürsten  galten,  in  dei 
werdenden  Neuzeit,  weil  die  Finanzfrage  das  Grundproblem  der  neuer 
Kabinettspolitik  wurde.  Aus  jener  Verschmelzung,  die  am  frühester 
und  entschiedensten  in  Burgund  erfolgte,  ist  das  Staatssekretariat  her- 
vorgegangen. ^ 

Es  ergibt  sich  aus  dem  allen,  daß  die  Finanzordonnanzen  eint 
wichtige  ergänzende  Quelle  für  die  Geschichte  der  Kanzlei  bilden.  Sc 
finden  wir  auch  mehrfach  in  den  Kanzleiordnungen  ausdrückliche  Hin- 
weise auf  jene  Reglements,  die  auch  für  das  Kanzleipersonal  verbind- 
lich seien.*  Überhaupt  wird  man  die  reich  differenzierten  Formen  dei 
Finanzverwaltung  viel  heranziehen,  denn  die  Finanzverwaltung  ist  untei 
dem  Drängen  des  praktischen  Bedürfnisses  fast  überall  den  anderer 
Verwaltungszweigen  vorausgeeilt  und  hat  auf  vielen  Gebieten  die 
Muster  geschaffen. 

4.  Die  verschiedenen  Kanzleien  auf  dem  Gebiete  des  Rechts 

Noch  früher  und  noch  häufiger  als  auf  dem  Gebiet  der  Finanzen 
lösen  sich  auf  dem  des  Rechts  Sektionen  und  Behörden  für  die  Er- 


^  Burgund.  Zentralbeh.  154f. 

*  In  Österreich  besonders  Matth.  Lang  (über  ihn  Legers,  Salzburg  1906). 
^  Burgund.  Zentralbeh.  152ff.,  162ff. 

*  Besonders  häufig  in  der  Instruktion  für  den  österreichischen  Hofkanzler  vor 
Ende  1498  (Fellner-Kretschmayr  VI,  51—54,  vgl.  die  Schatzkammerordnung, 
ibid.  S.  43,  Art.  53),  dann  in  der  parallel  gehenden  Ordnung  des  Erzkanzlers  (Posse 
203,  Art.  18),  besonders  auch  in  der  Instruktion  für  die  Kanzleibeamten  vom  6.  März 
1526  (Fellner-Kretschmayr  VI,  96,  Art.  22)  und  der  Instruktion  für  den  oberster 
Kanzler  vom  12.  Februar  1528  (ibid.  S.  246,  Art.  27). 


Kanzleiordnungen  Maximilians  I.,  Karls  V,  und  Ferdinands!.     349 

edigung  der  geschäftlichen  Angelegenheiten  von  dem  zentralen  Rat. 
jmmer  an  der  am  Hof  noch  zurückbleibenden  juristischen  Sektion  bleibt 
lie^  „Kanzlei"  im  eigentlichen  Sinne  haften. 

in  der  älteren  Zeit  ist  aber  genauer  die  Sache  die,  daß  die  Kanzlei 
ijs  die  Stelle,  wo  die  geschäftliche  Arbeit  getan  wird,  sich  zuerst  als 
Behörde  konsolidiert,  und  daß  erst  um  diesen  Kern  geschäftlicher 
!\rbeit  herum  der  Rat  der  Juristen  sich  bildet,  der  dann  freilich  das 
Schwergewicht  an  sich  zieht.  Die  Folge  jenes  Ursprunges  ist  aber 
mter  anderem,  daß  vielfach  der  Name  „Kanzlei"  auch  für  diese  Be- 
lörde  gebraucht  wird.  Verselbständigt  sie  sich  dann  (in  einer  hier 
licht  zu  erörternden  Entwicklung)  als  Gerichtshof  und  wird  bei  dem 
^rozeß  der  Verschmelzung  verschiedener  Gebietsteile,  durch  den  am 
läufigsten  die  neuen  Staaten  entstanden  sind,  aus  einer  Zentralbehörde 
:u  einer  Provinzialbehörde,  so  haben  wir  die  „Kanzleien"  als  Provin- 
dalgerichtshöfe,  wie  z.  B.  in  Kastilien  und  in  Brabant.^  Wenn  nun 
uich  der  Idee  nach  selbst  solche  Provinzialbehörden  mit  dem  Rat  am 
:iof  eine  Einheit  bilden  und  als  seine  Delegationen  erscheinen,^  so 
Iwnmn  sie  doch  im  folgenden  außer  Betracht  bleiben. 

Fassen  wir  den  Hofrat  der  Fürsten  zu  Ausgang  des  Mittelalters 
;ins  Auge,  so  haben  wir  überall  dasselbe  Bild.  Als  eine  Sektion  des 
kates  für  die  Angelegenheiten  des  Rechts  (im  weiten  Sinne)  ist  ein 
belehrter  Rat,  ein  Rat  der  Juristen,  erkennbar,  aus  diesem  aber,  damit 
zugleich  aus  dem  Gesamtrat,  löst  sich  eine  Behörde  für  Erledigung 
Ider  eigentlichen  Gerichtsbarkeit,  indem  eben  wieder  das  Geschäftlichste 
zuerst  die  zur  Behördenbildung  nötige  Konsolidierung  schafft.  Die 
offizielle  Verselbständigung  dieser  neuen  Sektion  erfolgt  in  den  uns 
interessierenden  Staatswesen  merkwürdig  gleichzeitig.  In  Deutschland 
wird  das  Reichskammergericht  1495  konstituiert,  das  Grand  Conseil  in 
Frankreich  1497,  in  Burgund  1504.^  Es  handelt  sich  überall  nur  um 
den  Abschluß  einer  schon  seit  Jahrzehnten  in  der  Entwicklung  be- 
griffenen Bewegung,  die  man  gelegentlich  in  ihren  einzelnen  Stadien 
verfolgen  kann.^  Davon  sehe  ich  hier  ab,  um  das  Anschauungsbild 
nicht  unnötig  zu  komplizieren. 

Nur  bis  1495/1497/1504  also  haben  wir  eine  einheitliche  Kanzlei 
als  Schreibbureau  für  den  Hofrat  überhaupt,  einschließlich  seiner 
gerichtlichen  Sektion.  Aber  auch  die  nach  jenen  Daten  bestehen- 
den zwei  Kanzleien  werden  noch  lange  als  im  Grunde  einheit- 
liches  Kollegium    gedacht.     In   Burgund    betont    die   Ordonnanz   des 

*  Burgund.  Zentralbeh.  103. 
'  ibid.  24  Anm.  1. 

'  ibid.  9f.,  21f. 

*  ibid.  11—27. 


350  Andreas  Walther 

Jahres  1504  ausdrücklich:  „Et  sera  tout  ung  colliege".^  und  auch  ii 
Deutschland  ist  die  Lösung  beider  Kanzleien  voneinander  nur  eim 
sehr  allmähliche  und  unvollkommene,^  so  daß  etwa  der  Erzkanzle 
noch  ohne  weiteres  als  Chef  beider  gilt.  Suchen  wir  das  Verhältni« 
näher  zu  bestimmen,  so  finden  wir  in  Deutschland  und  in  Burgunc 
charakteristische  Unterschiede.  In  Burgund  ist  die  deutlich  erkennbare 
Anschauung  die,  daß  das  1504  verselbständigte  Grand  Conseil,  das  bi« 
dahin  der  Hofrat  gewesen  war,  in  dem  also  das  ganze  Schwergewich 
ruhte,  einen  Teil  seiner  nun  gleichsam  außerordentlichen  Glieder  den 
neuen  Hofrat  für  die  Erledigung  der  geschäftlichen  Angelegenheiter 
zurückläßt.^  In  Deutschland  sind  all  diese  Entwicklungen  gestört 
weil  sie  von  zwei  ganz  verschiedenen  Zentren  ausgehen,  vom  Hof  hei 
und  vom  Reich  her.  Darum  hat  das  Kammergericht  immer  eine  iso- 
liertere Stellung  gehabt  und  ist  1495  mehr  durch  einen  gesetz- 
geberischen Akt,  der  von  außen  her  die  Anregung  erhielt,  als  durch 
das  Ausreifen  einer  organischen  Entwicklung  verselbständigt  worden 
und  seine  Kanzlei  hat  weniger  ein  Verhältnis  zum  königlichen  Hoi 
als  vielmehr  zu  der  Reichskanzlei.  Der  Vertrag  mit  dem  Erzkanzlei 
vom  12.  September  1498,  der  von  der  Autorität  Bertholds  sowohl  ir 
der  Reichskanzlei  als  auch  in  der  Kammergerichtskanzlei  handelt, 
trägt  die  Überschrift:  ,,Ordnung  des  römischen  Reichs  Kanzlei",  worin 
sich  schon  zeigt,  daß  die  Kammergerichtskanzlei  als  ein  Teil,  sagen 
wir  wieder  eine  Deputation,  der  Reichskanzlei  betrachtet  wird. 

In  Deutschland  kompliziert  sich  die  Entwicklung  weiter.  Indem 
nämlich  die  Reichskanzlei  bei  ihrer  traditionellen  Selbständigkeit  und 
ihrem  Zusammenhang  mit  dem  Erzkanzler  dem  ins  Ausland  reisenden 
Kaiser  nicht  folgt,  deputiert  sie,  wie  auf  der  einen  Seite  zu  dauernder 
Residenz  die  Kammergerichtskanzlei,  so  auf  der  anderen  zu  ihrer  vor- 
übergehenden Stellvertretung  an  den  Hof  des  Kaisers  eine  deutsche 
Hofkanzlei.  So  ist  rechtlich  durchaus  die  Anschauung,  speziell  in  den 
Ansprüchen  des  Erzbischofs  von  Mainz  (vgl.  unten  S.  367 f.).  Faktisch 
freilich  ist  das  Verhältnis  im  ganzen  ein  umgekehrtes;  die  deutsche 
Hofkanzlei  als  das  lebendigere  Glied  ist  im  allgemeinen  das  domi- 
nierende. Besonders  in  den  Klagen  der  Stände  1532  über  das  Regiment 
der  Fremden  in  der  deutschen  Kanzlei  kommt  das  zur  Geltung.  ^^ 


^  Burgund.  Zentralbeh.  24 

^  Siehe  Seeliger,  Erzkanzler  134-153,  und  derselbe,  Kanzleistudien  I.  Die 
kurmainzische  Verwaltung  der  Reichskanzlei  in  den  Jahren  1471—1475.  Mitteil.  d. 
Inst.  f.  österr.  Gesch.  VIII  (1887)  S.  19—23. 

^  Burgund.  Zentralbeh.  23. 

*  Fellner-Kretschmayr  VI,  S.  48— 50,  Einleitung  und  Art.  9,  11,  14. 

^  Seeliger,  Erzkanzler  99f. 


V 


Kanzleiordnungen  Maximilians  I.,  Karls  V.  und  Ferdinands  1.     351 


Etwas   ganz   anderes   noch  ist  natürlich  die  österreichische  Hof- 
anzlei.    Der  Kaiser  hat  eben  neben  seiner  Eigenschaft  als  deutscher 
>lser  und   prinzipiell   davon   getrennt   auch   die   eines  Herzogs  von 
Isterreich  usw.     Faktisch  freilich  hat  sich  diese  österreichische  Hof- 
janzlei  vielfach  mit  den  Reichsbehörden  verschmolzen,   bis  1495  mit 
l^er  meist  vereinigten  Reichs-  und  Kammergerichtskanzlei,   nach  1495 
lit    der    Reichskanzlei    sowie    der    deutschen   Hofkanzlei.     Die   Ver- 
iChmelzung   mit   der   Reichskanzlei    erscheint   schon   in  dem  Entwurf 
Maximilians  vom  13.  Dezember  1497,   der  dann  rückgängig  gemacht 
/ird   durch   den   eben   erwähnten  Kontrakt  mit  dem  Erzkanzler  vom 
2.  September  1498  (unten  S.  360).     Diese  Frage   spielt   in   der  Folge 
auernd  eine  große  Rolle.    Die  Verschmelzung  mit  der  deutschen  Hof- 
anzlei  sehen  wir  deutlich  in  der  Kanzleiordnung  Gattinaras  von  1522, 
lie  bestimmt  ist  für  die  „cancellaria  imperialis  et  provinciarum  Austriae", 
tarn    ratione   imperii    Romani    quam    ratione   provinciarum    Austriae". 
beit   aber    Ferdinand  I.   in  Österreich   regiert,    ist   natürlich    auch   an 
•einem   Hof   die   österreichische   Hofkanzlei   zu   suchen.     So   bemerkt 
/iglius   in   dem  Entwurf  von  1550   zu   einem  Artikel  jener  Ordnung 
jjattinaras,  er  bedürfe  einer  Berichtigung,  da  „hodie  negocia  patrimo- 
lialia   apud   hanc   cancellariam   non  tractentur"  (Art.  39).    Diese  Ver- 
schmelzungen   haben    nicht   wie   die   anderen    in   einem   allgemeinen 
jesetz    der    Behördenbildung    ihren    Grund,    sondern    sind    lediglich 
)raktische  Zufälligkeiten.     Wie   aber  Rechtsansprüche   aus   der  Praxis 
lerauswachsen,  haben  wir  hier  nicht  zu  erörtern. 
11       Diese  österreichische  Hofkanzlei  wird  in  einer  interessanten  Ent- 
wicklung   aus    einem   Schreibbureau    zu    einer    beratenden    und    be- 
schließenden  Behörde.    Indem   nämlich   der   königliche  Hofrat   immer 
nehr   zu   einem   Reichshofrat   wird,    erweitert  die   bereits   arbeitende 
i)sterreichische   Hofkanzlei    allmählich    ihre   Befugnisse    immer   weiter 
iurch  die  Patrimonialsachen,  die  jener  Hofrat  abgibt.     So  haben  wir 
lier  eine  späte  Wiederholung  der  Uranfänge  der  Entwicklung,  die  einst 
iie  „Kanzleien"  als  Provinzialgerichtshöfe  geschaffen  hatte. ^ 

5.  Kanzlei  und  gelehrter  Rat  am  Hofe 

Im  weiteren  soll  nur  von  der  eigentlichen  „Kanzlei"  die  Rede 
l5ein,  von  der  ganz  bestimmten  Behörde,  die  man  meint,  wenn  man 
von  der  „Kanzlei"  schlechthin  spricht.  Wir  lassen  also  auf  sich  be- 
ruhen sowohl  jene  besonderen  Bildungen  am  Anfang  und  am  Ende 
der  Entwicklung,   die  „Kanzleien"   als  Provinzialgerichtshöfe   und   die 


^  Burgund.  Zentralbeh.  104f. 


352  Andreas  Walther 

österreichische  fiofkanzlei  als  beratende  und  beschließende  Behördi 
als  auch  die  Kanzleien  der  dem  tlof  gegenüber  verselbständigte 
Zentralgerichtshöfe.  Auch  die  deutsche  Reichskanzlei  aber  nimn 
offenbar  gerade  in  der  uns  beschäftigenden  Zeit  eine  Ausnahme 
Stellung  ein,  ihre  Geschichte  ist  in  dieser  Periode  auffallend  sprung 
haft  und  kümmerlich,  wie  nicht  vorher  und  nicht  nachher.  Der  Grün 
ist  der,  daß  sie  in  unserer  Zeit  nicht,  wie  vorher  und  nachher,  organisc 
mit  der  Behörde  verbunden  war,  in  der  die  Beratung  und  Beschluß 
fassung  über  die  von  ihr  auszufertigenden  Angelegenheiten  lag.  Ein 
Kanzlei  als  isoliertes  Schreibbureau  für  sich  ist  eben  ein  Unding.  Ih 
Leben  hat  sie  von  der  Behörde,  der  sie  dient,  mit  der  sie  verwachse 
ist.  So  muß  eine  nähere  Bestimmung  der  Ratssektion,  an  der  di 
Kanzlei  haftet,  versucht  werden. 

Es  ist  der  gelehrte  Rat,  der  nach  Ablösung  jenes  Gerichtshofe 
1495/1497/1504  am  Hof  zurückgeblieben  ist,  in  Frankreich  das  Conse 
prive  oder  Conseil  des  parties,  in  Burgund  das  Conseil  prive,  i; 
Deutschland  der  „Hofrat".  Nicht  der  Gesamtrat  am  Hofe  selbst  ist  ee 
sondern  eine  Sektion  desselben.  Diese  Sektion  steht  ihrem  Charakte 
nach  in  der  Mitte  einerseits  zwischen  der  Gerichtsbehörde,  in  Frank 
reich  und  Burgund  dem  Grand  Conseil,  in  Deutschland  dem  Reichs 
kammergericht,  überall  freilich  mit  der  Neigung,  einen  Teil  der  Ge 
richtsbarkeit  wieder  an  sich  zu  ziehen,^  —  andererseits  sowohl  den 
feudalen,  offiziellen  Hofrat,  der  sich  eigentlich  nur  in  dem  nieder 
ländischen  Conseil  d'Etat  noch  weit  in  die  Neuzeit  hinübergerettet  hai 
als  auch  dem  Kabinett,  das  in  Frankreich  als  Conseil  des  affaires  be 
zeichnet  wird,  während  wir  in  dem  deutschen  „geheimen  Rat"  ein^ 
Art  Verschmelzung  und  Versöhnung  zwischen  Kabinett  und  offiziellen 
Staatsrat  haben.  So  scharf  sich  nun  trotz  aller  Kompetenzkonflikt( 
und  Übergriffe  die  Scheidung  nach  der  einen  Seite,  zu  dem  vom  Ho 


^  Daß  dies  im  deutschen  „Hofrat"  wieder  ganz  überwiegend  wird,  stellt  nebei 
der  oben  erwähnten  Tatsache,  daß  die  Entwicklung  in  Deutschland  von  zwei  ver 
schiedenen  Zentren  ausgeht,  und  übrigens  zum  größten  Teil  aus  diesen  Verhältnisse! 
einfach  folgend,  den  zweiten  grundlegenden  unterschied  von  der  gleichzeitigen  franzö 
sischen  und  burgundischen  Entwicklung  dar.  Auf  das  Ganze  der  Entwicklung  ge 
sehen,  haben  wir  aber  doch  ganz  analoge  Vorgänge,  indem  Reichskammergerich 
und  Reichshofrat  dem  französischen  Parlament  und  Grand  Conseil  entsprechen.  Dal 
all  diese  Entwicklungen  nur  scheinbar  so  kompliziert  sind,  erkennt  man,  sobald  mai 
sich  gewöhnt,  von  den  sich  fortwährend  verschiebenden  Namen  der  Behörden  ab 
zusehen  und  nur  die  gesetzmäßige  Bewegung  der  Behördenentfaltungen  selbst  zi 
betrachten.  Ein  flüchtiger  Blick  schon  auf  den  ursprünglichen  Sinn  all  dieser  Namen 
Kammergericht,  Hofrat,  Geheimer  Rat,  Grand  Conseil,  Conseil  prive,  zeigt,  daß  sii 
sämtlich  ihre  Bedeutung  von  Grund  aus,  und  zwar  alle  in  analoger  Weise,  ver 
ändert  haben. 


1 


Kanzleiordnungen  Maximilians  I.,  Karls  V.  und  Ferdinands  I.      353 


bgelösten  Gerichtsrat,  ziehen  läßt,  so  schwierig  ist  das  Verhältnis  des 
elehrten  Rates  zu  jenen  anderen  Bestandteilen  des  Gesamtrates.  Denn 
er  Gesamtrat  wird  noch  durchaus  als  eine  Einheit  angesehen,  was 
ich  bekanntlich  rechtlich,  freilich  keineswegs  faktisch,  in  dem  eng- 
schen  Privy  Council  bis  heute  erhalten  hat. 

Ich   habe  in  meinen  „Burgundischen  Zentralbehörden"  S.  84—89 

ersucht,  die  verschlungenen  Fäden  auseinanderzulegen.    Auf  das  dort 

lusgeführte  komme  ich  nicht  zurück.     Da  es  aber  für  die  so  vielfach 

iirch   fremdartige  Einwirkungen   komplizierte   und  verwirrte  deutsche 

ntwicklung  besonders  nützlich  sein  dürfte,  eine  geradlinige  organische 

Entwicklung  wie   die   französische   und   noch  mehr  die  burgundische 

um  Vergleich  heranzuziehen  (denn  die  Grundfragen  und  Grundgesetze 

ind  in  allen  Staaten  durchaus  die  gleichen),   so  möchte  ich  hier  aus 

er    burgundischen   Geschichte   ein   Zeugnis   anführen,    das   uns   das 

•chema  erkennen  läßt,  in  dem  man  um  die  Mitte  des  16.  Jahrhunderts 

ie  Vorgänge  der  Behördenbildung  ansah.    In  der  Urkunde,  durch  die 

•hilipp  II.   die  niederländischen  Ratskollegien  bestätigte,^   heißt  es  in 

er  Einleitung,  wenn  ich  das  Wesentliche  heraushebe,  folgendermaßen. 

'hllipp  der  Schöne  und  Karl  V.   haben  zur  besseren  Verwaltung  der 

affaires  de  la  chancellerie  de  leur  court  ä  l'endroit  de  l'administration 

!e  justice  et  police  ensamble  des  affaires  d'Estat"  die  am  Hofe  zu  er- 

edigenden  Geschäfte  verteilt  (repartir).     Für  die  eigentliche  Gerichts- 

)arkeit  haben  sie  eingesetzt  das  Grand  Conseil  und  mehrere  Provinzial- 

jerichtshöfe.    Für  die  dem  Fürsten  reservierten  Angelegenheiten  aber,^ 

comme   de  matieres  de  gräces,   ottroyz,   Privileges  et  aucuns  autres 

equerans  le  sceu,  autorite  et  consultation  du  prince  propre",  und  für 

lie  Erledigung  der  diese  betreffenden  Bittschriften  haben  sie  bestellt 

;inen  Präsidenten  mit  einer  Anzahl  von  Maitres  des  requetes  „establiz 

:n  leur  conseil  prive".    In  diesem  „en"  drückt  sich  die  ganze  Eigenart 

les  Verhältnisses  aus.    Diese  Beamtengruppe  besteht  nicht  neben  dem 

iofrat,   auch  nicht  eigentlich  als  eine  Sektion,   ein  abgetrennter  Teil 

lesselben,  sondern  sie  ist  von  ihm  eingeschlossen.     Das   bedingt  ein 

mges  Verwachsensein  mit  dem  Gesamtrat  (an  der  obigen  Stelle  be- 

leutet  auch  Conseil  prive  den  Gesamtrat),  aber  es  muß  doch  versucht 

.Verden,    den   besonderen   Charakter  zu   bestimmen,   durch   den  jene 

Sektion  sich  trotzdem  als  Einheit  heraushebt  und  zusammenschließt. 

£s   wurde   schon   bemerkt,   daß   immer  das   Geschäftlichste   und   am 

meisten  in  bureaukratischer  Form  zu  Erledigende  behördenbildend  ist, 


^  Brüsseler  Staatsarchiv,   Papiers   d'Etat  et  de  l'Audience,  Nr.  789,  fol.  1— 13, 
undatiertes  Konzept. 

'  Vgl.  Burgund.  Zentralbeh.  S.  10. 
Afü    II  23 

I 


354  Andreas  Walther 

weil  es  zuerst  die  für  die  Behördenbildung  nötige  Kontinuität  un< 
Konsolidierung  schafft.  So  sehr  nun  jene  Gruppe  der  Juristen  ar 
Hof  noch  beschäftigt  ist  mit  Beratungen  und  Gutachten  in  Rechts 
fragen  (und  in  allen  Geschäften  äußerer  und  innerer  Politik  spielte 
die  Rechtsfragen  eine  große  Rolle),  mit  Verwaltungssachen,  auc 
mit  Prozessen,  so  lag  doch  ihre  regelmäßigste,  geschäftlichste  un 
ganz  überwiegende  Tätigkeit  in  der  Bearbeitung  der  großen  Grupp 
von  Angelegenheiten,  die  damals  den  Weg  der  Petition  zu  nehme; 
hatten.  Darum  befassen  sich  auch  die  Ratsordnungen  fast  ausschließ 
lieh  mit  der  Erledigung  der  supplicationes,  der  requetes;  so  der  unte: 
zu  analysierende  Ordo  Consilii  von  1550,  die  Hofratsordnung  vor 
1.  Januar  1541,^  die  vielfach  auf  ihr  ruhende  Reichshofratsordnun, 
vom  3.  April  1559,^  auch  was  sich  in  den  Kanzleiordnungen  und  In 
struktionen  für  den  Kanzler  auf  den  Rat  bezieht,  besonders  in  den 
Entwurf  des  Viglius  von  1550  die  Ausführungen  „De  Consiliariis 
(Art.  4—13).  Freilich  betonen  die  Ratsordnungen  gleichsam  übertrieber' 
diesen  Charakter  des  gelehrten  Rates,  weil  sie  auch  ihrerseits  wiede' 
das  Geschäftlichste,  das  am  frühesten  bestimmte  Formen  annahm  umi 
am  nötigsten  fester  Regeln  bedurfte,  einseitig  herausheben.  So  be* 
fiehlt  jene  Ratsordnung  vom  1.  Januar  1541  in  einem  Nachtragsartike 
den  Hof  raten,  daß  sie  „nach  oder  neben  Verrichtung  der  gemeinei 
Justici-  und  Parteiensachen"  täglich  beraten  sollen  über  alle  hohen 
schweren  und  geheimen  Sachen  und  Fährlichkeiten,  wie  Verhandlungei 
mit  fremden  Potentaten  und  anderes,  worüber  ihnen  aber  ein  beson 
derer  Befehl  nicht  gegeben  werden  solle,  da  „die  Anzahl  causarun 
Status  unergründlich"  sei,  usw.^  Diese  Unsicherheit  löst  sich  in  ver 
schiedenartigen  neuen  Scheidungen,  auf  die  hier  nicht  eingegangei 
werden  kann.  Das  Wesentliche  für  uns  ist:  einerseits,  daß  immer  eini 
Sektion  da  ist,  die  sich  ganz  überwiegend  mit  den  Petitionssachen  be 
schäftigt,  und  die  dann  auch  einfach  bezeichnet  wird  als  Conseil  de: 
parties,  wie  häufig  in  Frankreich,  oder  Parteihofrat,  Parteienrat,  wi( 
gelegentlich  in  Österreich,^  —  andererseits  daß  immer  an  dieser  be 
stimmten  Sektion  die  eigentliche  Kanzlei  haften  bleibt. 


'  Feller-Kretschmayr  VI.  272—275. 

'  ibid.  281—288. 

^  Dieser  Artikel  ist  herübergenommen  aus  der  Instruktionensammlung  zur  tief 
Ordnung  (S.  107f.,  125),  so  daß  wir  auch  für  die  Ratsordnung  jenen  doppelten  Typu; 
finden,  einerseits  eine  die  Hauptsachen  heraushebende  Ordnung  als  Teil  der  tief 
Ordnung,  andererseits  eine  besondere  Instruktion  für  das  Geschäftliche  (vgl.  obei 
S.  341).  Übrigens  gibt  sich  auch  die  Hofkammerordnung  von  1537  als  Ausführung 
einer  Hofordnung  (S.  248). 

*'1526  und  1528  (Fellner-Kretschmayr  VI.  94;  242—244,  Art.  15—18). 


Kanzleiordnungen  Maximilians  I.,  Karls  V.  und  Ferdinands  I.      355 

Zwar  ist  die  Kanzlei  ebenso  wie  jene  Ratssektion  mit  dem  Ge- 
lamtrat  verwachsen;  wir  sahen,  daß  sie  auch  dem  Kabinett  und  der 
inanzbehörde  dient.  Aber  nicht  nur  gehörte  die  Kanzlei  als  die 
teile,  wo  die  juristisch  gültigen  Urkunden  ausgefertigt  wurden,  von 
atur  mit  dem  Rat  der  Juristen  zusammen,  wie  denn  auch  beide  von 
emselben  Beamten,  dem  Kanzler,  geleitet  werden.  Nicht  nur  ferner 
lüssen  beide  für  ihre  Arbeit  dieselben  Akten  und  Register  benutzen, 
as  auch  örtlich  die  Ratsstube  und  die  Schreibstube  verbindet  oder 
ar  in  einen  Raum  zusammenlegt.  Es  sind  auch  dieselben  Parteien- 
ichen,  die  sowohl  jenem  Rat  wie  der  Kanzlei  durchaus  die  Haupt- 
lasse  des  Stoffes  für  ihre  Arbeit  liefern.  Und  vor  allen  Dingen  ist 
ei  der  Erledigung  von  Petitionen  Beratung  und  Beschlußfassung  nicht 
30  der  Schreibarbeit  isoliert,  etwa  so,  daß  eins  auf  das  andere  folgte, 
andern  die  Schreibarbeit  geht  schon  vorbereitend  der  Beratung  vor- 
js,  sie  begleitet  Beratung  und  Beschlußfassung  durch  Apostillen, 
rotokolle,  Konzepte  und  folgt  ihr  als  Ausfertigung.^  So  bilden  jener 
at  und  die  Kanzlei  in  ihren  wesentlichen  Tätigkeiten  geradezu  eine 
ptrennbare  Einheit.  Beide  zusammen  stellen  den  Kern  der  juristisch 
|nd  praktisch  geschäftlichen  Arbeit  des  Hofrates  dar. 

Da  nun  überdies  im  Bewußtsein  jener  Zeit  alle  geschäftliche  be- 
ntenmäßige  Organisation  dem  rings  herumliegenden  Unorganisierten 
^genüber  schon  an  sich  stark  einheitlich  zusammengeschlossen  er- 
:heinen  mußte,  so  ist  es  nur  natürlich,  daß  sehr  häufig  Bestimmungen 
öer  den  Rat  und  über  die  Kanzlei  in  eine  einzige  Ordonnanz  gefaßt 
'erden.^ 

Und  zwar  ist  in  der  Regel  die  Kanzleiordnung  ein  Teil  der  Rats- 
rdnung,  denn  die  nächstliegende  Anschauung  war  die,  daß  die  Kanzlei 
2m  Rat  dient,  daß  in  der  Beratung  und  Beschlußfassung  das  Schwer- 
2wicht  jener  Summe  geschäftlicher  Tätigkeit  liegt.  So  sind  alle  bur- 
indischen  Ordnungen  für  den  gelehrten  Rat,  wie  übrigens  auch  für 
e  Gerichtsräte,  zugleich  Kanzleiordnungen.  Auch  die  österreichische 
ofratsordnung  vom  1.  Januar  1541  sowie  die  Reichshofratsordnung 
om  3.  April  1559  ziehen  Kanzleigebräuche  in  ihre  Bestimmungen 
inein,^  und  wir  werden  sehen,  daß  einige  der  sogenannten  „Kanzlei- 
'dnungen"  eigentlich  in  erster  Linie  Ratsordnungen  sind. 

Lag  im  Rat  die  größere  Bedeutung  der  Sache,  so  in  der  Kanzlei 
e  größere  Stabilität  und  Kontinuität  organisierter  Arbeit.  Es  ist  eine 
ärallele  zu  den  oben  erwähnten  Beispielen  des  tierauswachsens  einer 


^  Vgl.  Burgund.  Zentralbeh.  108—111. 

*  Weiteres  darüber  Burgund.  Zentralbeh.  102ff.  • 

'  Fellner-Kretschmayr  VI.  274f.,  Art.  9— 11;  S.  285-287,  Art.  17,  20-22. 

23* 


356  Andreas  Walther 

Behörde  aus  der  Schreibstube,  wenn  gelegentlich  die  Kanzleiordnunj 
auch  Bestimmungen  über  den  Rat  aufnimmt.  Die  Ordnung  Gattinara: 
vom  1.  Januar  1522  erwähnt  die  den  „Consiliarii  Germanici"  zu  machen 
den  Relationen  (Art.  8);  besonders  aber  ist  auf  die  verklausulierte! 
Wendungen  zu  verweisen,  in  denen  Viglius  in  dem  Entwurf  voi 
1550  seine  ausführlichen  Erwägungen  unter  dem  Titel  „De  Consiliariis 
einführt  und  entschuldigt:  Obwohl  man  jetzt  mit  der  Organisation  de 
Kanzlei  zu  tun  habe,  so  erscheine  doch  die  Ordnung  des  Rates  S( 
nötig  und  gewissermaßen  mit  der  Ordnung  der  Kanzlei  verbunder 
daß  wenigstens  einige  Artikel  unbedingt  besprochen  werden  müßtei 
(Art.  4). 

6.  Die  Typen  von  Kanzleiordnungen 

Wir  lassen  nun  beiseite,  was  sich  aus  allem  Gesagten  ergibt  fü 
eine  ideelle  vollständige  „Kanzleiordnung",  d.  h.  die  Summe  der  In 
struktionen,  die  herangezogen  werden  müßten,  wenn  eine  vollständig 
Geschichte  der  Kanzlei  versucht  werden  sollte.  Ziehen  wir  vielmeh 
jetzt  aus  dem  Ganzen  die  Resultate  für  die  ausdrücklich  gleichzeiti 
oder  in  den  Darstellungen  und  Publikationen  als  „Kanzleiordnungen 
bezeichneten  Dokumente,  so  ergibt  sich  ein  doppelter  Typus  vo 
Ordnungen. 

Der  eine  Typus  stellt  eine  summarische  Ordnung  dar,  die  a; 
einem  über  die  geschäftliche  Tätigkeit  der  Kanzlei  hinausgehende 
Zusammenhang  orientiert  ist.  Hier  sind  drei  Formen  zu  unterscheider 
Es  wirkt  nach  entweder  das  ursprüngliche  Beschlossensein  in  der  tief 
Ordnung,  oder  das  neuere  in  der  Ordnung  des  gelehrten  Rates,  wäh 
rend  es  sich  in  Deutschland  handelt  um  eine  staatsrechtlich  interes 
sierte  Feststellung  der  Grundzüge  der  Kanzleiorganisation.  Ger 
faßt  sich  diese  Ordnung  nach  Analogie  des  auch  anderswo  gebrauch 
liehen  Typus  einer  Instruktion  für  einen  Einzelbeamten  in  die  Fori 
einer  Instruktion  für  den  Kanzleivorstand. 

Neben  diesen  summarischen  Ordnungen  aber  und  sehr  häufi 
paarweise  mit  ihnen  auftretend,  haben  wir  dann,  meist  in  der  auc 
anderswo  gebräuchlichen  Form  eines  Ämterbuches,  aber  auch  in  d( 
einer  Instruktion  an  den  Kanzler,  genaue  Reglements  für  die  einzelne 
Beamten  und  Beamtengruppen,  wodurch  jene  an  weiteren  Zusammer 
hängen  orientierten  Ordnungen  zu  sehr  belastet  worden  wären.  Mit 
ist  das  Interesse  auf  die  geschäftliche  Arbeit  in  der  Kanzlei  eingeeng 

Häufig  und  fast  in  der  Regel  wird  jene  summarische  Ordnun 
vom  Fürsten,  die  genaue  Instruktion  vom  Kanzleivorstand  eriassen. 

Je  mehr  natüriich  das  Gefühl  für  die  historischen  Ursprünge  vei 


^ 


Kanzleiordnungen  Maximalians  I.,  Karls  V.  und  Ferdinands!.      357 


)ren  geht,  desto  mehr  beginnen  die  Typen  sich  zu  verwischen.  Dabei 
ird  naturgemäß  die  Anordnung  nach  Beamtengruppen  der  vulgäre 
ypus,  weil  er  der  einfachste  und  bequemste  ist.  Alle  konstruktiven 
i^öpfe  unter  den  Organisatoren  aber  werden  die  Neigung  haben,  viel- 
hehr in  einer  einheitlichen  sachlich  bestimmten  Anordnung  die  beiden 
;ypen  zu  verschmelzen. 

Bei  dem  Versuch  einer  Übersicht,  wie  er  hier  gegeben  wurde, 
c^ird  man  sich  immer  der  Gefahr  des  Irrtums  im  einzelnen  aussetzen. 
)ie  Übersicht  schien  mir  aber  erst  einmal  das  dringendste  Bedürfnis. 
n  dem  nunmehr  im  einzelnen  zu  besprechenden  reichen  und  viel- 
gestaltigen Material  glaubte  ich  die  entwickelten  Grundgesetze  vielfach 
)estätigt  zu  finden,  und  auch  in  den  Ausnahmen  schien  mir  noch 
Sinn  und  System  erkennbar  zu  sein. 


II.  Die  einzelnen  Ordnungen 

1.  Unter  iWaximilian  I. 

Den  13.  Band  der  Archivalischen  Zeitschrift  vom  Jahre  1888  er- 
öffnete Seeliger  mit  der  Publikation  der  „ältesten  Ordnung  der  deutschen 
Reichskanzlei",  erlassen  vom  Erzbischof  Berthold  von  Mainz  in  Mecheln 
am  3.  Oktober  1494.  Gleichzeitig  veröffentlichte  Posse  im  Anhang 
seiner  „Privaturkunden"  dasselbe  Dokument^  und  ließ  ihm  eine  andere 
Ordnung  vorausgehen,  die  er  glaubte  in  die  Zeit  des  Erzbischofs 
Albrecht  I.  von  Mainz  1482 — 1484  setzen  zu  dürfen.  Da  jedoch  diese 
patierung  unrichtig  ist,  so  bleibt  Seeligers  Bezeichnung  der  Ordnung 
von  1494  als  der  ältesten  zu  Recht  bestehen.  Viel  spricht  dafür,  daß 
sie  nicht  nur  die  älteste  uns  erhaltene,  sondern  die  erste  ausführlicher 
formulierte  Ordnung  überhaupt  ist.  In  jener  Zeit  war  es  noch  ganz 
gebräuchlich,  daß  man  jahrzehntelang,  ja  wohl  ein  Jahrhundert  lang, 
wie  ich  es  für  burgundische  Chambres  des  Comptes  finde,  ohne  In- 
struktion, nur  nach  dem  praktischen  Brauch  und  Herkommen,  arbeitete. 
Unsere  Ordnung  scheint  aber  schon  durch  ihre  verunglückte  Disposition 
I  (siehe  unten)  sich  als  einen  ersten  Versuch  zu  charakterisieren.  Dazu 
(kommt  ihre  auffallend  große  Bedeutung  in  der  Überlieferung,  während 
einer  früheren  Ordnung  nirgends  Erwähnung  geschieht.  In  den  drei 
ij  hauptsächlich  in  Betracht  kommenden  Archiven,  Wien,  Würzburg  und 

i!  '  0.  Posse,  Die  Lehre  von  den  Privaturkunden.   Leipzig  1887,  S.  205—209. 


358  Andreas  Walther 

Brüssel,^  sind  Kopien  erhalten,  und  sie  bildete  noch  die  hauptsächlichst! 
oder  wenigstens  eine  der  hauptsächlichsten  Vorlagen  für  das  Memoire  de: 
Viglius  von  1550,  in  dem  sie  38 mal  erwähnt  wird,  und  die  Reichshof 
kanzleiordnung  vom  1.  Juni  1559.^    Auch  in  der  neueren  Literatur  is 
sie  unverhältnismäßig  vor  allen  anderen  Kanzleiordnungen  bevorzug 
worden,     ßresslau   vergleicht   ihre  Bestimmungen   mehrfach   mit   der 
früheren  Gebräuchen.^    Im  Mittelpunkt   des  Interesses   aber   steht  sit 
vielfach   in   den  beiden  einander  ergänzenden  Arbeiten  über  das  Re- 
gisterwesen am  deutschen  Königshof  von  Seeliger ^  und  Bauer.^  Seeligei 
geht  von  ihr  aus  nach  rückwärts  und  kommt  zu  dem  wichtigen  Resultat 
daß   die   betreffenden   Bestimmungen    der   Ordnung   „im   großen   unc 
ganzen  schon  während  des  14.  und  15.  Jahrhunderts  Geltung  besaßen" 
so   daß   die  Ordonnanz   also   im  wesentlichen  als   Kodifikation   eines 
alten  Brauches  wird  angesehen  werden  dürfen.^    Bauer  geht  umgekehn 
von  der  Ordnung  aus  nach  vorwärts  und  verfolgt,  ob  und  wieweit  sie 
bis  1502,  d.  h.  bis  zum  Ende  der  Wirksamkeit  des  Erzkanzlers  in  dei 
Kanzlei,   praktisch  in  Geltung  gewesen  ist.    Da  freilich  mitten  hinein 
in  die  von  ihm  behandelte  Zeit  der  Erlaß  jener  von  Posse  publizierten 
und   irrig   datierten   Ordnung  fällt   (siehe   unten),   so   sind   seine  Er- 
wägungen an  einigen  Stellen  zu  modifizieren. 

Ist  das  besondere  Interesse,  das  sich  dieser  Ordnung  zugewandt 
hat,  berechtigt,  so  stellt  doch  diese  detaillierte  Instruktion  für  das 
Kanzleipersonal  in  der  Form  des  Ämterbuches  nicht  den  entscheiden- 
den Anfang  einer  Entwicklung  in  der  Kanzleigeschichte  dar.  Als  ihre 
Schwesterordonnanz  im  Sinne  der  obigen  Ausführungen  kann  an- 
gesehen werden  die  Bestimmung  des  Diploms  Maximilians  vom 
2.  Mai  1486,   die   dem  Erzbischof  Berthold   die  Leitung   der   Reichs- 

^  Papiers  d'Etat  et  de  l'Audience  Nr.  789,  fol.  560—566,  undatierte  Kopie.  Eine 
Aufschrift  des  Viglius  setzt  das  Dokument  richtig  in  die  Zeit  Bertholds.  Eine  offen- 
bar frühere  Aufschrift  von  anderer  Hand  lautet:  Haec  ordinatio,  reperta  interi 
scripturas  cancellariae  quo  tempore  facta  aut  concepta  sit  non  satis  constat.  Saltem 
tempore  huius  principii  non  fuit  in  observantia,  nisi  forte  in  primis  comitiis 
Worniatiensibus  anni  1521  sub  Cardinali  Moguntino.  Alioqui  videtur  facta  tempore' 
Berchtoldi  Archiepiscopi  Moguntini,  qui  aliquandiu  habuit  administrationem  can- 
cellariae. tiabet  autem  aliquot  capita  utilia  et  commoda  ad  ordinationem  can- 
cellariae. 

^  Seeliger,  Erzkanzler  115. 

^H.  Bresslau,  Handbuch  der  ürkundenlehre  für  Deutschland  und  Italien  1., 
Leipzig  1889,  S.  405  Anm.  4,  406,  413  Anm.  1,  414  Anm.  3,  417  Anm.  2. 

*  Seeliger,  Die  Registerführung  am  deutschen  Königshof  bis  1493,  Mitteil.  d. 
Inst,  für  österr.  Gesch.,  Erg.-Bd.  3,  1892,  S.  223—364. 

^  W.  Bauer,  Das  Register-  und  Konzeptwesen  in  der  Reichskanzlei  Maximilians  I. 
bis  1502,  Mitteil.  d.  Inst,  für  österr.  Gesch.  26,  1905,  S.  247—279. 

*  Seeliger,  Registerführung  314,  335. 


1 


Kanzleiordnungen  Maximilians!.,  Karls  V.  und  Ferdinands!.     359 


anzlei  zugestand.  Damit  war  gegenüber  dem  Brauch  in  den  letzten 
ahrzelinten  der  Regierung  Friedrichs  III.  eine  „durchaus  neue  rechtliche 
jirundlage"  für  die  Ansprüche  des  Erzkanzlers  geschaffen  worden.^ 
reilich  praktisch  wirksam  wurde  das  Versprechen  Maximilians  erst 
ach  dem  Tode  Friedrichs  III.;  und  als  dann  Berthold  im  Sommer  1494 
,n  den  Hof  gekommen  und  mit  den  Kanzleiverhältnissen  vertraut  ge- 
worden war,  erließ  er  seinerseits  am  3.  Oktober  jene  spezialisierte 
istruktion. 

Die   Neuorganisationen   der  Jahre   1497/98   haben   auch   für   die 
Kanzlei  mehrere  Ordnungen  und  Entwürfe  zutage  gefördert. 

Als  Typus  ist  besonders  interessant  der  Entwurf  von  Ende  1497, 
er  von  Seeliger ^  und  Fellner-Kretschmayr^  veröffentlicht  worden  ist. 
:r  liegt  uns  in  drei  Redaktionen  vor.^  Die  erste  ist  eine  richtige  ür- 
unde  vom  13.  Dezember  1497  und  stellt  den  summarisch  gehaltenen 
ypus  der  Ordnungen  dar.  Sie  gibt  sich  als  „Hofordnung"  ^  (oder 
^eil  einer  solchen)  und  ist  in  Wirklichkeit  vielmehr  eine  Ratsordnung, 
lie  zugleich  über  die  mit  der  Beschlußfassung  zusammenhängende 
Schreibarbeit  Bestimmungen  erläßt.  Die  zweite  Redaktion  ist  nur  eine 
verbesserte  Abschrift.  In  der  dritten  aber,  noch  1497  datiert,  ist  eine 
letaillierte  Instruktion  für  das  KanzleipersonaJ  vor  der  Schlußformel 
lineingeflickt  worden.  Eine  Art  Verbindung  zwischen  beiden  Teilen 
vird  dadurch  hergestellt,  daß  der  zweite  zuerst  den  zwei  „Ratssekretären" 
nstruktionen  gibt;  dann  aber  folgen  in  den  Artikeln  über  das  Regi- 
itratoramt  und  die  Schreiber  rein  geschäftliche  Kanzleibestimmungen, 
iie  sich  mit  dem  Charakter  des  ersten  Teils  durchaus  nicht  mehr  ver- 
ragen.  Einen  gemeinsamen  Namen  kann  man  dem  Ganzen  nicht  mehr 
^eben.  Seeliger  und  Fellner-Kretschmayr  sagen  „Hofordnung",  Winter 
sagt  einmal  „Hof-  (und  Hofrats-)ordnung",  aber  dem  umfang  der 
Materien  nach  ist  es  vielmehr  überwiegend  Kanzleiordnung. 

Daß  dieser  Entwurf  gleich  den  Ordnungen  der  andern  Zentral- 
)ehörden  am  13.  Februar  1498  ausgefertigt  worden  sei,  wie  Seeliger 
md  Fellner-Kretschmayr  als  sehr  wahrscheinlich  annehmen,  dafür  ist 
■reilich  die  Erwähnung  in  einem  Intimat  Maximilians  an  die  Beamten 
und  Untertanen  der  Länder  von  demselben  Datum,  daß  er  „hof,  hof- 
!ret  und  canzlei"  usw.  reformiert  habe,^  keine  genügende  Stütze;  wir 
jhaben  ja   oben   das   unsichere   und   vielfach   einander   einschließende 


^  Seeliger,  Erzkanzler  69—71. 

'  ibid.  S.  193—208. 

'  Bd.  V!.  S.  6-16. 

*  Seeliger,  Erzkanzler  192f. 

^  Seeliger  194,  Fellner-Kretschmayr  V!.  7. 

®  Fellner-Kretschmayr  V!.  4. 


360  Andreas  Walther 

Verhältnis  dieser  Begriffe  zueinander  gesehen.  Immerhin  spricht  noc 
dafür,  daß  in  jenem  Intimat  betont  wird,  der  tiofrat,  also  wohl  auc 
die  zu  ihm  gehörende  Kanzlei,  sei  für  das  Reich  und  die  Erbland  , 
gemeinsam  bestellt  worden.  Denn  das  ist  auch  der  wesentliche  Inhal 
unseres  Entwurfs,  daß  die  Tätigkeit  des  Erzkanzlers  und  einer  beson 
deren  Reichskanzlei  ganz  ausgeschaltet  wird.^ 

Man  wird  nicht  fehlgehen  mit  der  Annahme,  daß  der  Erzkanzle 
energisch  protestiert  hat,  und  so  wird  es  auf  seine  Vorstellungen  hii 
geschehen  sein,  wenn  Maximilian  am  12.  September  1498  zu  Mömpel 
gard  eine  Verordnung  erließ,  die  wieder  die  Trennung  der  drei  Kanz 
leien,  Reichskanzlei  und  Kammergerichtskanzlei  und  österreichische 
Hofkanzlei,  ausspricht  und  die  Autorität  des  Erzkapzlers  in  der  Reichs 
kanzlei  und  Kammergerichtskanzlei  präzisiert.^  Es  ist  nicht  eigentlicl 
eine  Kanzleiordnung,  obwohl  sie  auch  sich  selbst  so  nennt,  vielmeh 
„im  Grunde  ein  Abkommen  des  Königs  mit  dem  Erzbischof".^ 

Wie  nun  der  Erzbischof,   als  er  auf  Grund  des  Abkommens  vor 
1486  die  Kanzleigeschäfte  übernommen  hatte,  seinerseits  eine  detaillierti 
Instruktion  erließ,  so  folgt  auf  das  Abkommen  vom  12.  September  149^. 
ein    ähnliches   Reglement.     Es    ist    die    schon    erwähnte    bei    Poss^- 
S.  200—205  gedruckte  Ordnung.  \ 

über  der  Datierung  dieser  Ordnung  hat  ein  Unstern  gewaltet- 
Gegen  die  Ansetzung  Posses  zu  1482—84  wandte  sich  Seeliger  au!^ 
Grund  seiner  genauen  Kenntnis  der  Organisation  unter  Friedrich  IIL; 
die  eine  Einmischung  des  Erzkanzlers  in  die  Kanzlei  ausschloß.] 
Seeliger  identifizierte  sie  vielmehr  mit  einer  Ordnung,  die,  wie  mehr- 
fach bezeugt  ist,  Erzbischof  Albrecht  II.  von  Mainz  im  Jahre  1545 
verfaßt  hatte.^  Die  „Bemerkungen  von  zwei  verschiedenen  Händen' 
aber,  auf  die  er  sich  stützt,^  an  sich  ein  unsicheres  Zeugnis,  wenn  die 
Hände  und  das  Datum  der  Niederschrift  nicht  bekannt  sind,^  kommen 
nicht  in  Betracht  der  Tatsache  gegenüber,  daß  die  Ordnung  dauernd 
von  „kun.  mt."  redet.^  Wenn  das  in  solchen  Wendungen  geschieht, 
daß  etwa  vom  Erzbischof  von  Mainz  „als  seiner  königlichen  Majestät 


^  Seeliger,  Erzkanzler  79f. 

^  Gedruckt  bei  Posse  209f.,  Seeliger  208—211,  Fellner-Kretschmayi 
VI.  48—50. 

'  Erben,  ürkundenlehre  I,  1907,  S.  111. 

*  Seeliger,  Erzkanzler  228  f.  (Nachtrag),  69 f. 

^  ibid.  228 f.,  vgl.  103 f. 

^  ibid.  103  Anm.  2. 

'  Siehe  oben  S.  358  Anm.  1  die  Bemerkung  zu  der  Ordnung  von  1494  auf  dei 
Kopie  des  Brüsseler  Staatsarchivs. 

^  Artikel  1—4,  6,  9,  15  f.,  18,  25. 


Kanzleiordnungen  Maximilians  I.,  Karls  V.  und  Ferdinands  I.     361 

rzkanzler"  geredet  wird  (Art.  1),  so  werden  wir  unbedingt  in  die 
ste  Hälfte  der  Regierung  Maximilians  I.  gewiesen,  über  die  andere 
lainzische  Ordnung  von  1545,  die  dem  Viglius  1550  vorlag  und  zum 
eil  in  seinem  Entwurf  enthalten  ist,  wird  unten  zu  reden  sein. 

Jene  von  Posse  publizierte  Ordnung  steht  der  von  1494  sehr  nahe, 
eide  handeln  lediglich  von  der  geschäftlichen  Kanzleitätigkeit.  Es 
ind  die  engsten  Kanzleiordnungen,  die  für  die  uns  beschäftigenden 
usammenhänge  erhalten  sind.  Für  die  wörtlichen  Berührungen  ist 
twa  der  letzte  Artikel  beider  Ordnungen  ein  gutes  Beispiel.  Es  ist 
un  ausgeschlossen,  unsere  Instruktion  noch  vor  der  von  1494  an- 
usetzen,  sie  etwa  als  einen  Entwurf  für  jene  anzusehen.  Vielmehr 
rweist  die  Anordnung  des  Stoffes  in  beiden  Dokumenten  die  Priorität 
er  Ordnung  von  1494.  In  der  letzten  nämlich  haben  wir  die  Rubriken: 
lekretäre,  Registrator,  Schreiber,  Sekretäre  und  Schreiber,  Taxator, 
;;anzleiknecht;  und  während  alle  übrigen  Rubriken  etwa  gleichen  Urn- 
ing haben,  sind  in  die  Verlegenheitsrubrik  „Sekretäre  und  Schreiber" 
^on  den  47  Artikeln  der  Ordnung  nicht  weniger  als  27  hineingesteckt 
v^orden,  und  mehrfach  beziehen  sich  die  Bestimmungen  auch  auf 
^ndere  Kanzleibeamte  als  „Sekretäre  und  Schreiber".  Dies  offenbare 
Ungeschick  hat  Berthold  dann  korrigiert,  als  er  ohnehin  wieder  eine 
)rdnung  als  Zeichen  und  Symbol  seiner  neuen  Besitznahme  von  der 
(anzleiverwaltung  erließ.  Nun  schickt  er  15  „gemain  artikel"  voraus 
ind  führt  dann  in  den  übrigen  24  Artikeln  das  auf,  was  außerdem 
nsonderheit  für  Sekretäre,  Registrator,  Taxator,  Schreiber  und  Kanzlei- 
mecht  Geltung  haben  soll.  Man  konnte  nicht  mehr  in  jenes  Un- 
geschick zurückfallen,  nachdem  diese  in  ihrer  Art  vorzügliche  Anordnung 
befunden  war,  die  einen  Grundtypus  der  deutschen  und  österreichischen 
xanzleiordnungen  für  Jahrhunderte  gebildet  hat.^ 

Als  Endtermin  für  die  Datierung  ist  der  21.  März  1502  anzusetzen, 
m  welchem  Tage  Maximilian  dem  Reichsregiment  und  der  selbständigen 
römischen  Kanzlei  ein  Ende  machte.^  Aber  auch  etwa  an  die  Ein- 
setzung des  Reichsregiments  im  Jahre  1500  zu  denken,  verbietet  der 
ganze  Ton  unserer  Ordnung,  besonders  das  Verhältnis  zum  König, 
das  in  ihr  vorausgesetzt  wird. 

So  dürfte  die  Datierung  zu  Ende  1498  gesichert  sein.  Es  ist  die 
von  dem  „gnädigsten  Herrn  von  Mainz  gesetzte"  Ordnung  der  „römischen 
königlichen  Kanzleiverwandten",  die  nach  der  „durch  König  Maxi- 
milian vorgenommenen  Ordnung  des  römischen  Reiches  Kanzlei"  als 
Ergänzung  folgte. 

^  Siehe  bei  Fellner-Kretschmayr  VI  und  VII  die  Ordnungen  von  1559,  1564, 
1570,  1628,  1669,  1683. 


^  Seeliger,  Erzkanzler  85f. 


I 


362  Andreas  Walther 

Wir  haben  nur  die  Ordnung  der  Reichskanzlei  nach  jenem  Kontrak 
mit  dem  Erzkanzler  vom  12.  September  1498,   der  die  Trennung  de 
beiden  Reichskanzleien  von  der  österreichischen  Hofkanzlei  aussprach 
verfolgt.     Dem    Kontrakt    mit    dem    Erzkanzler    entspricht    nun    eiiK 
Instruktion  für  den  österreichischen  Hofkanzler.    Es  ist  das  Dokumenl: 
das  zuerst  von  Adler  ^  und  neuerdings  von  Fellner-Kretschmayr^  her. 
ausgegeben  worden  ist.  Adler  hatte  es  in  Zusammenhang  mit  der  großei;: 
Behördenorganisation  vom  Anfang  des  Jahres  1498   gebracht.     Nacl^ 
Seeligers  Bestreitung  dieser  Annahme^  wird  die  Instruktion  von  Fellner 
Kretschmayr  auf  den  Tag  jenes  Kontraktes,  den  12.  September  1498 
gesetzt.    Dafür  liegt  ein  ausreichender  Grund  nicht  vor;  jenes  Datun 
ist  vielmehr  der  terminus  a  quo.    Weit  dürfen  wir  uns  aber  auch  nich 
von  ihm  entfernen,   da  die  im  Februar  1498  neu  errichteten  Zentral- 
behörden in  der  Instruktion  so  häufig  und  eindringlich  erwähnt  werden 
Adler   hatte   das  Dokument  mit  Recht   als  „Instruktion   für   den  Hof- 
kanzler" bezeichnet,  denn  alles,  auch  was  über  Hofmarschall,  Sekretärt 
und  Schreiber  gesagt   wird,   bezieht  sich  doch  auf  den  Kanzler.    Es! 
soll  die  neue  Stellung  des  Hofkanzlers  als  des  Hauptes  des  gelehrter; 
Rates   und   der  Kanzlei  formuliert  werden.    Darum  ist  es  keine  Ver- 
besserung,   wenn   die   Ordnung   bei   Fellner-Kretschmayr  wieder   eine; 
„Instruktion  für   die  Hofkanzlei"   genannt  wird.     Auch   die   dort  ge-l 
gebene   Bezeichnung    als   „Fragment"   kann   ich   nicht  für   notwendig 
halten.    Es  war  nicht  die  Absicht,  „des  Hauses  Österreich  Gewohnheit 
und  der  Kanzleien  Herkommen",  das  gelegentlich  erwähnt  wird,^  voll-i 
ständig  zu  kodifizieren.    Hier,   wo  die  Kontinuität  nicht  wie  bei  der 
Reichskanzlei  gestört  war,  mag  man  noch  auf  eine  detaillierte  Ordnung 
verzichtet  haben,  so  daß  wir  diese  als  durch  das  Herkommen  vertreten 
zu  denken  hätten,    übrigens  wird  einmal,  wo  von  der  Registerführung 
die  Rede  ist,  gesagt,  der  Hofkanzler  solle  „Ordnung  vornehmen,  darob 
sein    und   verfügen",^    daß   alles   ordentlich   und   regelmäßig  erledigt 
werde.    Man  mag  hier  an  formlosere,  etwa  nur  mündliche  Instruktionen 
für  die  Einzelbeamten  denken,   obwohl  jener  Ausdruck  etwas  Formel- 
haftes hat.^ 

Die  zweite  Hälfte  der  Regierung  Maximilians  ist  für  unseren  Gegen- 
stand fast  leer.     Von  1502  an  hat,   wenn  von  den  besonderen  Ver- 


^  S.Adler,  Die  Organisation  der  Zentral  Verwaltung  unter  Kaiser  Maximilian  I. 
Leipzig  1886,  S.  511—515.      ' 
'  Bd.  VI.  S.  50—54. 

'  Seeliger,  Erzkanzler  80  Anm.  2,  193. 
*  Fellner-Kretschmayr  VI.  53,  Z.  25. 
^  ibid.  53,  Z.  17.    ' 
®  Auch  in  der  Schatzkammerordnung  findet  er  sich;  ibid.  38,  Art.  32. 


^ 


Kanzleiordnungen  Maximilians  I.,  Karls  V.  und  Ferdinands  I.     363 


ältnissen  während  der  Reichsversammlungen  abgesehen  wird,  die 
iofkanzlei  zugleich  die  Geschäfte  der  Reichskanzlei  besorgt.^  Von 
tanzleiordnungen  in  dieser  Zeit  hören  wir  nichts.  Es  war  eben  der 
türmische  Anlauf  zu  großen  Organisationen  vollständig  erlahmt. 

Anmerkungsweise  möchte   ich   erwähnen   den   1506   auftretenden 

jerkwürdigen  Plan,  den  Erzbischof  Jakob  von  Trier  mit  der  Verwaltung 

er  römischen  Kanzlei  am  Hofe  zu  beauftragen.   So  wie  es  bei  Seeliger 

ufgefaßt  wird,^   ist  es  doch  staatsrechtlich  äußerst  unwahrscheinlich. 

s  wird  sich  vielmehr  um  die  Verwaltung  der  römischen  Kanzlei  für 

i»urgund,  „per  Galliam"^  handeln.    Philipp  der  Schöne  von  Burgund 

efand  sich  in  Spanien,   und  Maximilian  fühlte  sich  als  den  eigent- 

chen  Regenten  der  verwaisten  Lande  seines  Sohnes.    Als  dann  im 

Herbst  des  Jahres  1506  Philipp  der  Schöne  in  Spanien  gestorben  war, 

ind   1507/08   lange   Verhandlungen    mit    dem   Erzbischof    von   Trier 

:pegen  Übernahme  der  Leitung  der  Kanzlei  und  des  gelehrten  Rates  in 

en  Niederlanden  gepflogen  worden.^ 

Auf  die  sachlich  sehr  interessanten  Bestimmungen  des  Innsbrucker 
ibells  vom  24.  Mai  1518  über  die  Kanzleiverhältnisse  ^  mag  noch  be- 
onders  verwiesen  werden. 


2.  Am  Hofe  Karls  V. 

Für  die  Kanzleiorganisation  am  Hofe  Karls  V.  sind  wir  bisher 
2diglich  auf  die  unten  mitgeteilten  Dokumente  angewiesen.  Daß  sie 
;eeignet  sind,  eine  in  den  allgemeinen  Grundzügen  lückenlose  Über- 
icht  zu  geben  sowohl  in  der  Breite  über  das  Nebeneinander  der 
)rganisationen  für  die  verschiedenen  Reiche,  als  insbesondere  in  der 
änge  über  die  Geschichte  der  deutschen  (und  am  Anfang  auch  der 
sterreichischen)  Hofkanzlei,  wurde  oben  erwähnt.  Hier  sollen  die 
inzelnen  Stücke  besprochen  werden. 

Das  erste  Dokument,  ein  Gutachten  Gattinaras  vom  Dezember  1519 
der  Januar  1520  über  Titel,  Signatur,  Wappen,  Siegel  und  Münzen 
es  kürzlich  erwählten  römischen  Königs,  findet  sich  (ebenso  wie  das 
ritte  und  vierte)  im  Brüsseler  Staatsarchiv,  Fonds  der  Papiers  d'Etat 


^  Seeliger,  Erzkanzler  86—88;  Kretschmayr,  Vizekanzleramt  390. 

^  Seeliger  87. 

^  Vgl.  unten  die  Ausführungen  Gattinaras  in  dem  Gutachten  von  1519/20  über 
lie  verschiedenen  Siegel  des  Reiches.  Dem  Mainzer  steht  nur  die  Verwaltung  der 
cancellaria  sacri  Romani  imperii  per  Germaniam"  zu  (Karls  Brief  an  den  Erzkanzler 
'om  12.  März  1519,  bei  Gudenus,  Codex  diplomaticus  IV.  608). 

*  Burgund.  Zentralbeh.  91  f. 

^  Fellner-Kretschmayr  VI.  87f. 


364  Andreas  Walther 

et  de  l'Audience,   fol.  328—331  des  Registerbandes  789,   einer  altei 
Sammlung  mit  der  Aufschrift  aus  dem  17.,   vielleicht  noch  Ende  de 
16.  Jahrhunderts:  „Touchant  le  prive  conseil,  tauxes  du  seau,  secretairee 
huyssiers   ordinaires   du   grand  conseil,   et  semblables".     Es  ist  ein 
Kopie  von   Schreiberhand,   die  von   Viglius  van  Zwichem,   dem  be| 
kannten  Chef   der   niederländischen  Ratskollegien   in   der   letzten  Zei; 
Karls  V.  und  dann  unter  Philipp  IL,  revidiert  worden  ist;  vermutlich  al 
Vorarbeit  für   seinen   Entwurf  von  1550,   obwohl   sich   im   Brüssele 
Staatsarchiv  viele  auch  auf  die  Finanzsachen  bezügliche  Ordonnanzei 
und   Entwürfe    finden,    die    in    ähnlicher  Weise   von   ihm   bearbeite, 
worden  sind. 

Die  Datierung  ergibt  sich  aus  den  Angaben  in  den  Urkunden 
formein,  nach  denen  man  sich  befindet  im  ersten  Jahre  seit  Erwählun; 
Karls  zum  Kaiser,  d.  h.  in  der  Zeit  vom  28.  Juni  1519  bis  28.  Juni  152C 
ferner  im  vierten  Jahre  seit  dem  Tode  Ferdinands  von  Aragon,  d.  h.  von 
23.  Januar  1519  bis  23.  Januar  1520,  und  im  16.  Jahre  nach  den 
Tode  der  Isabella  von  Kastilien,  d.  h.  vom  26.  November  1519  bis  zun 
26.  November  1520.  Die  beiden  Termini  für  die  Datierung  sind  als(| 
der  26.  November  1519  und  der  23.  Januar  1520.  \ 

Daß  Mercurino  di  Gattinara,  Großkanzler  Karls  V.  während  de' 
Jahre  1518—1530,  der  Verfasser  ist,  wie  die  ebenfalls  von  Vigliu:: 
hinzugefügte  Überschrift  angibt,  ist  zweifellos.  Es  sind  Reste  seine' 
eigenartigen  Interpunktion  stehen  geblieben,^  so  wenige  freilich,  dal 
im  Druck  die  ganze  Interpunktion  modernisiert  werden  mußte.  Vo 
allem  aber  gab  es  in  jener  Zeit  am  Hofe  keinen  anderen  Mann,  de 
ein  so  bedeutendes  Memoire  zu  verfassen  imstande  gewesen  wäre 
Dabei  ist  es  flüchtig  hingeworfen;  der  Verfasser  springt  gelegentlicl 
von  dem  Französischen  über  in  das  Lateinische  und  Spanische  de 
Formeln,  von  denen  er  handelt.  Das  Ganze  gibt  sich  als  eine  Antwor 
auf  fünf  vom  Kaiser  gestellte  Fragen.  Das  ist  vielleicht  nur  eine  Ein 
kleidung,  wie  Gattinara  sie  liebte.  Er  bedurfte  solcher  Mittel  als  Gegen 
gewicht  gegen  die  der  Lebendigkeit  seines  Geistes  nicht  angemessener 
Geschäfte,  die  seine  Zeit  ganz  ausfüllten.  Es  ist  dasselbe,  wie  went 
er  in  einem  anderen  Memoire  die  Gründe  für  und  wider  die  An 
nähme  einer  Waffenruhe  als  die  7  Todsünden  und  die  10  Gebote  auf 
treten  läßt." 

Dies  Bedürfnis  nach  Anschaulichkeit  durchzieht  das  ganze  Memoire 
Bedeutender  aber  noch  ist  die  großzügige  und  ganz  durchsichtigt 
überschau   mit   ihrer  juristischen   und   praktischen   Sicherheit   in   de 

^  Alleinige  Anwendung  des  Doppelpunktes,  vgl.  Burgund.  Zentralbeh.  202,  Anm.  1 
*  Baumgarten,  Geschichte  Karls  V.,  II.  12ff. 


Kanzleiordnungen  Maximilians!.,  Karls  V.  und  Ferdinands!.     365 

enntnis  der  verschiedenartigen  Gebräuche  und  der  ihnen  zugrunde 
iegenden  staatsrechtüchen  Verhältnisse.  Vor  allem  tritt  immer  wieder 
pharf  heraus  die  Stimmung  der  stolzen  spanischen  Nation,  die  nicht 
ulden  will,  daß  der  Kaisername  höher  geachtet  werde  als  der  eines 
önigs  von  Spanien.  Aber  auch  das  Formalste,  die  Erörterungen  über 
le  ürkundenformeln  und  die  verschiedenartigen  Siegel,  wird  nicht  nur 
em  Spezialisten  in  Diplomatik  und  Sphragistik  von  Interesse  sein, 
a  uns  hier  die  kaum  anderswo  zu  gewinnende  Anschaulichkeit  der 
'ollständigkeit  und  der  Vergleichung  gegeben  wird. 

Es  folgt  die  Mitteilung  der  Rubriken  für  Rat  und  Kanzlei  in  zwei 

ragonischen   iiofstaatsverzeichnissen   aus   den   zwanziger  Jahren   des 

6.  Jahrhunderts.     Das  erste  Verzeichnis  ist  in  Brüssel,  Papiers  d'Etat 

t  de  l'Audience  Nr.  30,   in  der  originalen  Form  erhalten.    Es  ist  ein 

dünner   in   Pergament   gebundener  Band   mit   der  gleichzeitigen  Auf- 

!;chrift:   „Registro   de   los   officiales   de  la  casa   real  d'Aragon".     Das 

Händchen  besteht  aus  drei  Lagen  von  im  ganzen  70  Blatt,  von  denen 

aber  nur  38  beschrieben  und  in  neuerer  Zeit  mit  Nummern  versehen 

sind.    Die  verschiedenen  Materien  sind  auf  die  drei  Lagen  verteilt,  die 

:iber  doch  ursprünglich  zusammengehören,  denn  von  der  ersten  Seite 

jer  zweiten  hat   die  Tinte   auf   das   letzte  Blatt  der  ersten  abgefärbt, 

und  von  der  ersten  wird  auf  eine  Eintragung  verwiesen,  die  sich  auf 

der    dritten    findet.     Vermutlich    später    angefügt    sind    die  jetzt  als 

ifol.  39 — 43  gezählten  Blätter,  die  Dokumente  zur  aragonischen  Finanz- 

'verwaltung   enthalten.     In   der  Mitte   des   Rückens   ist  ein   I4V2  cm 

langes  Aufhängsei  stark  befestigt.     Wurde   das  Register   so   hängend 

aufbewahrt,  so  konnte  es  leicht  eingesehen  und  die  Vermerke  über  er- 

ifolgte  Bezahlungen  (die  ich  in  kleinerem  Druck  mitteile)  dem  zu  diesem 

Zweck    sehr   spatiös   angelegten   Verzeichnis   der  Namen   hinzugefügt 

werden.     Nach    den    mit  verschiedener  Tinte  und   zu   verschiedenen 

|Zeiten,   aber  von  derselben  Hand  geschriebenen  Eintragungen  ist  die 

i  Liste  1520—1522  in  Gebrauch  gewesen. 

Das  zweite  Verzeichnis,  wohl  Ende  der  zwanziger  Jahre  anzu- 
,  setzen,  denn  die  Namen  der  Sekretäre  sind  noch  dieselben,  aber  Lalle- 
i  mand,  der  1527  aus  dem  Amt  entfernt  wurde,  fehlt,  —  findet  sich  im 
:  Registerbande  23  der  Papiers  d'Etat  et  de  l'Audience,  emer  modernen 
(Sammlung  verschiedener  Dokumente  („Maison  des  souverains  et  des 
jgouverneurs  generaux  IL"),  auf  fol.  71—77.  Es  trägt  die  Überschrift: 
!  „Todas  las  personas  que  stan  asentadas  en  carta  de  racion  de  su 
Magestad  y  libros  de  su  escrivania  de  racion  son  los  siguentes". 
I  Auf  der  Rückseite  liest  man:  „Libro  del  escrivano  de  ration",  aber 
I  nichts  weist  darauf  hin,  daß  es  wirklich  fortlaufend  in  Gebrauch  ge- 
wesen ist.     Ist  es  somit  der  Form  nach  weit  weniger  interessant  als 


366  Andreas  Walther 

das  Verzeichnis   von  1520/22,   so   bietet   es   doch  für  unsere  Zwect 
erst  die  notwendige  Ergänzung  zu  jenem. 

Dort  nämlich  hatten  wir  nur  die  beiden  Rubriken  „Rigentes  de  1 
cancellaria  y  de!  consejo"  und  „Secretarios",  voneinander  getrenr 
durch  eine  Reihe  von  anderen  Rubriken.  Hier  dagegen  haben  w 
außerdem,  gleichfalls  durch  andere  Rubriken  von  der  der  Sekretär 
getrennt  die  Rubrik  „Cancelleria",  auf  die  in  der  ersten  Liste  nur  di 
zwei  nachgetragenen  Zahlungsaufträge  (albaranes)  durch  die  Erwähnun 
von  „Scrivanos  de  mandamiento  de  la  chancilleria  de  Aragon"  hin 
weisen.  Und  zwar  fehlt  diese  Rubrik  in  der  ersten  nur  dem  Zahlungs 
bureau  dienenden  Liste  deswegen,  weil  die  Beamten  dieser  „Cancelleria 
vielmehr,  wie  es  in  dem  zweiten  Verzeichnis  heißt,  von  dem  Protonota 
aus  dem  Ertrag  der  Siegelrechte  bezahlt  werden. 

Die  uns  hier  entgegentretende  Kanzleiorganisation  weicht  von  de 
deutschen   und   österreichischen  offenbar  erheblich  ab,   und  illustrier 
doch  nur  die  gleichen  Grundgesetze.    Es  scheint  die  Kanzlei  in  dre 
vollständig  voneinander   isolierte  Stücke   zerrissen   zu   sein.    Nur  die 
Bezeichnung  „Kanzlei"  verbindet  noch  die  erste  und  die  dritte  Rubrik 
In  der  ersten  haben  wir  aber  vielmehr  mit  dem  Rat  zu  tun,  nur  daß 
die  enge  Verbindung  dieses  gelehrten  Rates  mit  der  Kanzlei  noch  in 
dem  Doppelnamen   hervortritt.     Die   dritte  Rubrik   dagegen   zeigt  uns, 
wie   sich  besonders  eng  die  rein  geschäftliche  Bureauarbeit  zu  einer' 
„Kanzlei"  in  speziellem  Sinne  zusammengeschlossen  hat.    Der  Proto-i 
notar  ist  Leiter  dieses  Bureaus  in  einer  Ausschließlichkeit,  wie  sie  sonst' 
nur  die  besprochenen  Ordnungen  Erzbischof  Bertholds  von  1494  und  1498 
zeigen.    War  dort  der  Grund  die  staatsrechtlich  bestimmte  Isolierung  der 
Reichskanzlei,  so  ist  es  in  der  aragonischen  und  höchstwahrscheinlich 
geradeso  in  der  kastilianischen  Hofkanzlei  die  besondere  Stellung  der 
Sekretäre,  die  sich  als  ein  Kollegium  von  Ressortchefs  aus  der  Kanzlei 
herausgehoben  haben.    Ähnliches  finden  wir  in  Österreich  angedeutet 
in  den  drei  „Sekretarienverwaltern"  des  Innsbrucker  Libells  von  1518, 
einer  bestimmt  für  die  reichischen,  einer  für  die  niederösterreichischen, 
einer  für  die  oberösterreichischen  Sachen.^    Die  unten  zu  besprechende 
Instruktion  für  die  Sekretäre  von*  1526  aber  zeigt  einige  diesen  arago- 
nischen Verzeichnissen  auffallend  ähnliche  Züge.    Es  werden  nach  dieser 
Instruktion  vier  Stuben  für  die  Kanzlei  bestimmt,  eine  für  den  Kanzler, 
je  eine  für  die  beiden  „vordristen  Sekretari",  nämlich  Rabenhaupt  als 
Sekretär   für    die    niederösterreichischen   Sachen,    Fernberger  für   die 


^  Fellner-Kretschmayr  VI.  87.    Sie  werden  auch  genannt   „Sekretarien  und 
Verwalter",  „Sekretarien  als  Verwalter". 


Kanzleiordnungen  Maximilians  I.,  Karls  V.  und  Ferdinands  I.     367 

ichischen  sowie  ober-  und  vorderösterreichischen, ^  beide  ihrerseits 
orgesetzte  Sekretäre"  für  die  ihnen  „zugeordneten"  Kopisten  und 
gfossisten.^  Die  vierte  Stube  aber  ist  bestimmt  „für  die  Kanzlei, 
arin  Wisinger  (der  Seiiretär  für  die  Parteisachen  !^),  die  Registratoren, 
2r  lateinische  Sekretär  und  die  Ingrossisten  alle  beieinander  sein 
)llen".^  Wenn  jenen  beiden  Sekretären  ein  besonderes  Zimmer  nicht 
pgewiesen  werden  kann,  „so  sollen  sie  Geduld  tragen  in  der  Kanzlei 
j  sein".^  Die  Weiterentwicklung  jener  Ressortbildungen  läßt  sich  am 
equemsten  nach  den  österreichischen  tiofstaatsverzeichnissen  ver- 
)lgen.  Die  Frage,  ob  hier  die  jahrelange  Herrschaft  des  Spaniers 
jalamanca  in  der  Kanzlei  Ferdinands  I.  nachwirkt,^  ist  mit  zur  Dis- 
iussion  zu  stellen,  wenn  die  Vorarbeiten  einmal  weit  genug  gediehen 
ind,  daß  man  mit  Rezeptionstheorien  über  Möglichkeiten  und  Wahr- 
cheinlichkeiten  hinauszukommen  hoffen  darf. 

Ich  wende  mich  der  Kanzleiordnung  Gattinaras  für  die  deutschen 
nd  österreichischen  Lande  vom  1.  Januar  1522  zu.  Die  unten  zu- 
grunde gelegte  Kopie  findet  sich  fol.  556 — 559  desselben  Register- 
Eandes  789  der  Papiers  d'Etat  et  de  l'Audience,  wie  die  des  Gut- 
achtens Gattinaras  von  1519/20.  Sie  ist  wie  jene  von  Viglius  revidiert 
|ind  mit  Überschrift  und  Bemerkungen  versehen  worden.  Es  ist  offen- 
;)ar  das  Exemplar,  das  er  für  den  Entwurf  von  1550  benutzt  hat.  Die 
Zahlreichen  Randbemerkungen  sollen  meist  nur  der  Übersicht  über  die 
)hne  Absätze  geschriebene  Kopie  dienen.  Ich  teile  unten  anmerkungs- 
veise  mit,  was  irgend  von  Interesse  sein  kann. 

Die  Vorgeschichte  der  Ordnung  ist  uns  gut  bekannt.  Vor  der 
<alserwahl  hatte  Karl  V.  dem  Mainzer  Erzbischof  nicht  nur  das  Recht 
oersönlicher  Verwaltung  der  Reichskanzlei  bestätigt,  sondern  ihm  auch 
l^ugestanden,  sie  durch  einen  Stellvertreter  verwalten  zu  lassen,  womit 
dann  das  Vizekanzellariat  in  die  deutsche  Geschichte  eintritt.'  Als 
Karl  V.  nach  Deutschland  kam,  mußte  das  Verhältnis  des  Mainzers  zu 
dem  Hofkanzler  Gattinara,  der  nach  burgundischer  Tradition  sich  Groß- 
kanzler titulierte,  geregelt  werden.  Am  25.  Januar  1521  einigten  sich 
Erzkanzler  und  Großkanzler  zu  dem  „gemeinsamen  Erlaß  einer  Kanzlei- 
ordnung, deren  wesentlichster  Inhalt  bestimmt  war,  der  Wirksamkeit 


^  Fellner-Kretschmayr  VI.  S.  95,  Art.  12f. 

'  ibid.  S.  92f.,  Art.  6f. 

'  ibid.  Art.  8;  vgl.  oben  S.  354f. 

'  ibid.  Art.  2. 

"  ibid.  Art.  3. 

'  Vgl.  Burgund.  Zentralbeh.  189,  152,  164f. 

^  Seeliger,  Erzkanzler  91f.,  Kretschmayr,  Vizekanzleramt  391f. 


368  Andreas  Walther 

der  beiden   obersten   Häupter   der  Kanzlei   Maß   und  Begrenzung  zi 
setzen".^ 

Diese  Ordnung,  die  Karl  V.  durch  Diplom  vom  30.  Januar  152: 
bestätigte,^  setzte  unter  anderem  fest,  daß  bei  Abwesenheit  des  Erz 
kanzlers  vom  Hofe  die  Ausübung  der  Kanzlerrechte  auf  Gattinara  über 
gehen  sollte,  was  in  einem  neuen  Diplom  Karls  V.  vom  22.  Februar  1521 
und  einem  Privileg  für  Gattinara^  noch  einmal  betont  wurde.  Ah 
dann  der  Kaiser  den  deutschen  Boden  wieder  verlassen  hatte,  nahn 
Gattinara  von  der  Kanzleiverwaltung  Besitz,  indem  er  in  Gent  an 
1.  Januar  1522  unsere  Ordnung  erließ. 

Mit  Recht  bezeichnet  Viglius  sie  als  „Status  et  ordinationes"  de; 
Kanzlei.     Es   ist   ein   „Status",    da   zugleich   die   Kanzleibeamten   mi 
Namen  aufgezählt  werden.    Auch  fühlt  man  sich  versucht,  den  Plura 
„ordinationes"  zu  pressen,  denn  dieses  Reglement  ist  seiner  Dispositior 
nach  wohl   das   ungeordnetste   von  allen,   die  wir  überhaupt  zu  be- 
sprechen haben.    Das  ist  eine  überraschende  Erscheinung,  wenn  mar 
dagegen   hält   die  Durchsichtigkeit   und  Einfachheit  der  Anordnung  in 
jenem  Entwurf  von  1519/20,   oder  gar  in  der  von  ihm  für  Margarete 
von  Österreich  verfaßten  Ordnung  vom  17.  Dezember  1516,  in  der  er  sich] 
von  dem  doppelten  burgundischen  Typus,  einerseits  der  summarischen; 
Kanzleiordnung  als  Teil  der  Ratsordnung,  andererseits  der  detaillierteni 
Instruktion   in   der  Form  des  Ämterbuches,   gänzlich  freigemacht  und 
eine  einheitliche  Ordnung  für  die  geschäftliche  Tätigkeit  von  Rat  und 
Kanzlei  geschaffen  hatte,  deren  Anschaulichkeit  und  Klarheit  der  Dis- 
position durch  keine  der  Ordnungen,  von  denen  wir  hier  handeln,  er- 
reicht wird.^    Nur  durch  eine  Vermischung  der  Typen,  durch  das  Nach- 
wirken des  Schemas  jener  Ordnung  von  1516,   kann  ich  mir  die  An- 
ordnung unserer  Instruktion  erklären. 

Die  Ordnung  Margaretes  beginnt,  ähnlich  wie  die  burgundischen 
Ratsordnungen,  mit  der  Aufzählung  der  zum  Conseil  prive  (und  zur 
Kanzlei)  gehörigen  Personen.  So  führt  auch  unsere  Instruktion,  nach- 
dem einleitend  von  dem  Orte  der  Kanzlei  gehandelt  worden  ist  (Art.  1), 


^  Seeliger  93f.,  dort  in  den  Anmerkungen  die  wichtigsten  Bestimmungen  mit- 
geteilt. —  Über  die  weiteren  Abgrenzungen  der  Befugnisse  von  Reichskanzlei, 
deutscher  Hofkanzlei  und  österreichischer  Hofkanzlei,  des  Erzkanzlers,  Großkanzlers 
und  Vizekanzlers  während  der  Wormser  Tagung  sind  wir  durch  Seeliger  (S.  92—96) 
und  Kretschmayr  (S.  391— 395)  gut  unterrichtet. 

^  Das  (im  wesentlichen  formelhafte)  Diplom  bei  Seeliger,  Erzkanzler  213f. 

^  Gudenus,  Codex  diplomaticus  IV.  616—618. 

*  Erwähnt  bei  Guden  S.  617. 

^  Veröffentlicht  in  den  Burgund.  Zentralbeh.  199—203,  besprochen  dort  102  f., 
105-109,  112—114. 


I 


Kanzleiordnungen  Maximilians  I.,  Karls  V.  und  Ferdinands  I.     369 


uerst  die  Vizekanzler,  Sekretäre  und  Schreiber  auf  (Art.  2).  Dann  ist 
jjjötzlich  von  den  Registern  die  Rede  (Art.  3);  in  Wirklichkeit  aber 
iient  das  nur  der  Einführung  des  Registrators,  Taxators,  Kontrarelators 
md  Rezeptors  (Art.  4),  worauf  von  der  Verteilung  der  Emolumente  an 
ämtliche  Kanzleibeamte,  den  Kanzler  eingeschlossen,  gehandelt  wird 
jArt.  5).  Nachdem  so  die  Artikel  über  das  Personal  abgeschlossen  sind, 
md  von  der  Visitation,  Signierung  (Art.  6)  und  Besiegelung  (Art.  7) 
1er  Urkunden  und  Briefe  geredet,  und  als  Nachtrag  eine  Bestimmung 
iber  die  Relation  der  Geschäfte  im  Rat  und  vor  dem  Kanzler  angefügt 
Art.  8).  Das  entspricht  der  allgemeinen  Anordnung  in  der  Instruktion 
V\argaretes.  Aber  dort  bildete  den  eigentlichen  Faden,  weil  zugleich 
^om  Rat  die  Rede  war,  die  Erledigung  der  Requetes  von  der  Ein- 
eichung  durch  die  Parteien  an  bis  zur  Besiegelung  der  Urkunde.  Das 
vird  nun  in  unserem  Reglement  gleichsam  nachträglich  aufgenommen, 
ndem  Art.  9  eine  ausführliche  Instruktion  über  die  Expedition  der 
^reces  regales  bringt,  worauf  in  Art.  10  noch  einmal  Bestimmungen 
iber  die  Verwaltung  der  Emolumente  folgen,  wie  in  Art.  5,  nur  dort 
m  Zusammenhang  mit  der  Aufzählung  des  Personals,  hier  in  bezug 
iuf  die  Preces  regales,  die  freilich  auch  in  Art.  5  schon  erwähnt 
;A/aren.  Zum  Schluß  wird  über  den  Amtseid  des  Kanzleipersonals  ge- 
bändelt (Art.  11). 

1  Die  Bedeutung  dieser  Ordnung  liegt  darin,  daß  während  des 
'nächsten  Menschenalters  am  Hofe  Karls  V.  eine  andere  Kanzleiordnung 
nicht  erlassen  sein  dürfte.  Wäre  dies  der  Fall,  so  würde  doch  wohl 
l^iglius  sie  sich  für  seinen  Entwurf  verschafft  oder  sie  wenigstens  er- 
wähnt haben.  Er  hat  ja  seinen  Entwurf  unter  den  Augen  Granvelles 
verfaßt,  und  es  könnte  sich  nur  um  eine  unter  der  Autorität  Gran- 
velles, der  1530  seinem  Lehrer  Gattinara  in  der  leitenden  Stellung 
folgte,  erlassene  Ordnung  handeln.  Es  ist  aber  auch  im  allgemeinen 
unwahrscheinlich,  daß  unter  Granvelle  eine  solche  Ordnung  ausgegangen 
sein  sollte.  Die  ganze  Kraft  seiner  Stellung  dem  Kaiser  wie  allen 
Neidern  gegenüber  ruhte  darauf,  daß  alles  in  den  gewohnten  Geleisen 
weiterging.  Seine  Autorität  irgendwie  rechtlich  festlegen  zu  wollen, 
wäre  wohl  die  größte  Gefahr  für  ihn  gewesen.  Hier  war  also  kaum 
Raum  für  den  Erlaß  von  Kanzleiordnungen,  besonders  da  bei  allem 
Herumreisen  des  Kaisers  doch  die  Kontinuität  in  der  zentralen  Ver- 
waltung am  Hofe  nie  aufgehoben  wurde.  Erst  als  Granvelle  die  Zügel 
aus  der  Hand  legt,  treten  die  neuen  Organisationen  auf.  Zehn  Tage 
vor  seinem  Tode  ist  der  Ordo  Consilii,  zu  dem  der  nunmehr  zu  be- 
sprechende Entwurf  des  Viglius  den  Anlaß  gegeben  hat,  im  Rate 
publiziert  worden. 

Dieser   umfangreiche  Entwurf,  den  ich,  dem   unten  zu  führenden 

Afü    II  24 


370  Andreas  Walther 

Beweis  vorgreifend,  dem  Viglius  zugesprochen  habe,  findet  sich  au 
den  Blättern  568—584  des  öfter  genannten  Registerbandes  789  dei 
Papiers  d'Etat  et  de  I'Audience,  von  zwei  Ingrossistenhänden  ge- 
schrieben und  wie  jene  beiden  anderen  Dokumente  von  Viglius  revi- 
diert. Der  Anordnung  liegt  die  des  Ämterbuches  zugrunde.  Der  Ver- 
fasser handelt  der  Reihe  nach  von  Kaiserlicher  Majestät,  dem  obersten 
Kanzler,  dem  Vizekanzler,  den  Räten,  dem  Sekretär,^  dem  Registratur 
Taxator  und  anderen  Beamten,  den  Kanzleischreibern,  und  fügt  schließ- 
lich einige  allgemeine  Bestimmungen  an.  Dem  Charakter  nach  ist  es 
eine  Zusammenstellung  einer  Reihe  von  Artikeln  meist  aus  früheren  Ord- 
nungen, die  für  eine  geplante  Neuorganisation  der  deutschen  Hofkanzlei 
in  Betracht  kommen  könnten,  und  eine  Beleuchtung  der  Brauchbarkeit 
dieser  Artikel  unter  den  neuen  Verhältnissen.  Natürlich  ist  ein  solches 
Dokument  für  eine  Erkenntnis,  die  vor  allen  Dingen  das  Lebendige  aus 
dem  Wust  der  Bureaukratie  lösen  möchte,  weit  ergiebiger  und  erfreu- 
licher als  eine  schon  in  starre  Formen  gegossene  Ordonnanz.  Eine 
Reihe  von  Umständen  erhöhen  noch  sein  Interesse. 

Zunächst  ist  von  dem  Verhältnis  zu  den  Vorlagen  zu  reden.  Es 
werden  ihrer  fünf  genannt,  eine  des  „Archicancellarius",^  in  der  wir 
die  älteste  deutsche  Kanzleiordnung  vom  3.  Oktober  1494  (siehe  oben 
S.  357f.)  wiedererkennen;  eine  des  „Mercurinus",^  nämlich  jene  Ordnung 
Gattinaras  vom  1.  Januar  1522;  ferner  eine  „Austriaca",^  gelegentlich 
auch  im  Plural  als  „ordinationes  Austrlacae"  bezeichnet,  woraus  aber 
der  Schluß  auf  mehrere  Ordnungen  nicht  gezogen  werden  darf,  da  die 
Bezeichnung  einer  einzigen  Ordnung  als  „ordinationes"  gebräuchlich 
war;  ^  —  dann  eine  „Moguntina";  ^  schließlich  ein  offenbar  kurz  vor 
unserem  Gutachten  verfaßtes  Memoire  Obernburgers.^  Das  letzte  wird 
am  wenigsten  erwähnt,  aber  der  aus  ihm  aufbewahrte  Art.  1  über 
Kaiserliche  Majestät  ist  von  besonderem  Interesse.  Im  übrigen  trifft 
es   sich   ausgezeichnet,   daß  einerseits  für  die  beiden  uns  bekannten 


^  In  der  Ordnung  Gattinaras  von  1522  haben  wir  noch  drei  Sekretäre  für  die 
deutsche  und  österreichische  Kanzlei  ohne  Abgrenzung  der  Befugnisse  (Art.  2).  Hier 
aber  hat  sich  das  Ressort  für  die  deutschen  Angelegenheiten  schon  bureaumäßig 
zugespitzt. 

*  Art.  16,  18-20,  25,  27,  32,  38,  42f.,  45,  48-51,  53,  55f.,  58f.,  61,  71—74, 
80—83,  89—91,  93—97,  99.  —  Die  entsprechenden  Stellen  der  Ordnung  von  1494 
werden  unten  überall  angemerkt. 

'  Art.  15,  21,  31—33,  38—40,  43,  52,  54f.,  57,  59—61,  71,  85,  100.  —  Die 
entsprechenden  Stellen  werden  unten  angemerkt. 

'  Art.  17,  27,  30,  37,  44,  48 f.,  52,  55,  62-66,  75,  78. 

^  Siehe  die  Überschriften   des  Viglius   zu  diesem  und  dem  vorigen  Dokument. 

'  Art.  18,  22,  25-28,  32  f.,  36,  71  f.,  74,  79-83,  89  f.,  94,  96,  98. 

'  Art.  1,  46,  601,  85,  87. 


1 


Kanzleiordnungen  Maximilians  I.,  Karls  V.  und  Ferdinands  I.      371 


Ordnungen,  die  das  Gutachten  benutzt,  das  ganze  Interesse  auf  ihrem 
ortleben  ruht,  andererseits  aber  zwei  verlorene  Ordnungen  zum  Teil 
n  ihm  enthalten  sind  und  um  so  sicherer  rekonstruiert  werden  können, 
la  wir  die  Art,  wie  der  Verfasser  seine  Vorlagen  benutzt,  aus  einem 
ergleich  mit  den  beiden  bekannten  Ordnungen  ersehen. 

Das  Fortleben  der  Ordnung  von  1494  interessiert  uns  nicht  nur 
US  dem  zufälligen  Grunde,  weil  sie  als  die  einzige  in  der  neueren 
|jteratur  behandelt  und  gründlich  durchgearbeitet  worden  ist  (siehe 
ben  S.  358),  sondern  vor  allen  Dingen,  weil  sie  den  Anfang  der  in 
)eutschland  fortgehenden  Entwicklungsreihe  bezeichnet,  die  1559,  also 
n  der  Zeitsphäre  unseres  Memoires,  durch  die  große  Ordnung  Fer- 
linands  I.  zum  Abschluß  kam,  um  in  wesentlich  gleicher  Form  noch 
ahrhundertelang  nachzuwirken.  Ebenso  interessiert  uns  das  Fortleben 
ier  Ordnung  Gattinaras  nicht  nur  aus  dem  zufälligen  Grunde,  weil  sie  hier 
!)ubliziert  wird,  sondern  vor  allem,  weil  sie,  wie  oben  ausgeführt  wurde, 
lie  ganze  Entwicklungsreihe  am  Hof  Karls  V.  beherrscht  haben  dürfte. 

Die  „Moguntina"  ist  ziemlich  zweifellos  die  Ordnung,  die  Erzbischof 
\lbrecht  II.  von  Mainz  im  Jahre  1545  im  Hinblick  auf  den  bevor- 
;tehenden  Reichstag  verfaßte,  und  die  Seeliger  irrtümlich  mit  der  von 
Posse  publizierten,  Ende  1498  zu  datierenden  Ordnung  identifizierte 
loben  S.  360 f.).  Unser  Entwurf  hätte  diese  nicht  lange  vorher  verfaßte 
ind  natürlich  am  Hof  des  Kaisers,  der  sich  während  der  Zwischenzeit 
n  Deutschland  oder  den  Niederlanden  aufhielt,  bekannte  Ordnung  nicht 
gnorieren  können,  selbst  wenn  man  nicht  gerade  wieder  in  Vor- 
bereitungen zu  einem  Reichstag  sich  befunden  hätte.  Nach  Seeliger 
S.  115)  ist  die  Mainzer  Instruktion  von  1545  der  großen  Ordnung  von 
1559  mit  zugrunde  gelegt  worden;  aber  es  ist  aus  der  Bemerkung 
licht  zu  ersehen,  ob  sie  mit  der  irrigen  Ansetzung  jener  anderen  Ord- 
lung  zusammenhängt.  In  der  „Austriaca"  haben  wir  eine  detaillierte 
nstruktion  für  die  österreichische  Hofkanzlei  (unten  S.  371),  doch  wohl 
diejenige,  die  1550  in  Geltung  war,  sehr  wahrscheinlich  die  um  den 
L  Januar  1537  verfaßte  Instruktion.  Bei  der  guten  Durcharbeitung  des 
"Vlaterials  gerade  für  die  mainzischen  (Seeliger)  und  österreichischen 
;Fellner-Kretschmayr)  Kanzleiordnungen  ist  kaum  anzunehmen,  weder 
daß  etwaige  andere  Ordnungen,  die  unser  Entwurf  mit  der  „Moguntina" 
und  „Austriaca"  meinen  könnte,  nicht  irgendwie  einmal  erwähnt 
bürden,  noch  daß  eine  dieser  Vorlagen  unseres  Entwurfes  wieder  wird 
aufgefunden  werden  können. 

Noch  wichtiger  aber  ist  unser  Gutachten  durch  sein  Verhältnis  zu 
dem  vier  Monate  nachher,  am  18.  August  1550,  im  Rate  publizierten  ' 

'  Winter  (siehe  oben  S.  336  Anm.  1)  S.  114. 

24* 


372  Andreas  Walther 

Ordo  Consilii.  Die  Artikel,  die  unser  Conceptum  unter  der  Überschrif 
„De  Consiliariis"  bringt,  sind  der  erste  Entwurf  und  der  Anlaß  (vgi 
Art.  4)  zu  dem  Ordo.  Wenn  Winter  zur  Vorgeschichte  der  Ratsordnun; 
„die  Akten  ohne  Erfolg  durchforscht"  hat  (S.  114),  so  läßt  sich  au 
einem  Vergleich  mit  unserem  Entwurf  ziemlich  die  ganze  Vorgeschicht 
rekonstruieren.  Wer  sich  mit  den  Dokumenten  beschäftigt,  bis  ihn 
die  Struktur  beider  vertraut  ist,  der  meint  zu  hören,  wie  ein  Artike 
unseres  Entwurfs  nach  dem  anderen  in  den  Rat  gebracht  wird,  wii 
die  Debatte  entbrennt  und  die  „superiores"  ihre  Stimme  dazugeben 
bis  schließlich  der  Ordo  herauskommt.  Ich  glaube,  obwohl  es  siel 
nicht  um  die  Kanzlei  handelt,  doch  an  dem  Vergleich  nicht  ganz  vor 
übergehen  zu  sollen. 

Der  Ordo  folgt  der  Anordnung  des  Conceptum,  nur  daß  er  dii 
Disposition  straffer  faßt.  Er  verfolgt  die  Erledigung  der  Suppliken  voi 
der  Einreichung  durch  die  Parteien  an  bis  zum  Verhalten  der  Räte  zi 
den  Parteien  nach  der  Ausfertigung.  Das  Ganze  ist  sehr  sorgfältig 
offenbar  in  längeren  Verhandlungen  durchgearbeitet.  Es  ist  schrift 
stellerisch,  wenn  man  das  Wort  hier  anwenden  darf,  die  beste  Rats 
Ordnung  in  dem  Kreis,  von  dem  wir  handeln.  Sie  wäre  noch  übe: 
jene  Rats-  und  Kanzleiordnung  Gattinaras  für  Margarete  von  Österreicl 
von  1516  zu  stellen,  wenn  nicht  dort  der  Rahmen  und  damit  die 
Schwierigkeiten  weit  größer  wären,  und  das  Werk  eines  Einzelnen 
dem  nur  primitive  Versuche  von  Formulierungen  vorlagen,  nicht  höhei 
zu  werten  wäre  als  der  Ertrag  gemeinsamer  Arbeit  vieler  in  einer  Zeit 
die  allmählich  gelernt  hatte,  mit  diesen  Stoffen  fertig  zu  werden. 

Das  Conceptum  beginnt  Art.  5  mit  der  Forderung,  es  müsse  be- 
stimmt werden,  wer  im  Rate  die  supplicationes  in  Empfang  zu  nehmer 
habe,  sowohl  die  von  den  Parteien  bisher  den  einzelnen  Räten  über- 
reichten, womit  die  ünzuträglichkeit  verbunden  sei,  daß  die  Parteier 
den  Referenten  kennten,  als  auch  die  von  dem  (Kaiser,  dem)  „obersten 
Kanzler  oder  seinem  Stellvertreter"  (so  hält  das  Conceptum  die  Ver- 
bindung mit  der  rechtlichen  Tradition  aufrecht,  während  der  Ordo 
einfach  von  dem  Bischof  von  Arras  redet)  in  den  Rat  überwiesenen 
Dabei  wird  angedeutet,  es  sei  zu  wünschen,  daß  die  Parteiert  sich 
immer  nur  an  den  Rat  wenden,  um  den  Bischof  von  Arras  und 
andere  nicht  täglich  zu  belästigen;  das  hat  der  Ordo  fallen  lassen. 
da  sich  offenbar  das  Kabinett  nicht  so  hat  binden  wollen.  Dem 
Artikel  des  Conceptum  entsprechen  Art.  1—5  des  Ordo:  Weil  vor 
allen  Dingen  die  Parteien  den  Referenten  ihrer  Sache  nicht  wissen 
sollen,  sind  die  supplicationes  nicht  den  einzelnen  Räten,  sondern 
dem  Präsidenten  und  dem  Rat  zu  übergeben  (Art.  1).  Die  dadurch: 
bedingte   Verzögerung  der  Geschäfte   soll   durch   häufigere   Sitzungen 


Kanzleiordnungen  Maximilians  I.,  Karls  V.  und  Ferdinands  I.     373 

geglichen    werden    (Art.  2).      Der   Bischof   von    Arras   soll   gebeten 

den,  die  ihm  oder  dem  Kaiser  vorgebrachten  Bittschriften  dem  Rat 

-überweisen,  damit  das  Geheimnis  bewahrt,  und  er  von  Belästigung 

efreit  werde  (Art.  3).     Wünscht  seine  Herrlichkeit  doch  ein  Geschäft 

inem  bestimmten  Rat  zuzuteilen,  so  möge  er  seinen  Dienern  Geheim- 

|faltung  befehlen  (Art.  4).    In  gewissen  Ausnahmefällen  soll  den  Räten 

as   Recht,   auf   eigne   Hand    eine   Sache   im    Rat   vorzubringen,    un- 

enommen  sein  (Art.  5). 

Das  Conceptum  wendet  sich  in  Art.  6  zur  Verteilung  der  Referate 
n  die  einzelnen  Räte.  Der  Ordo  präzisiert  dies  dahin,  daß,  wenn  nur 
l/enige  oder  kurze  Petitionen  vorlägen,  sie  ganz  im  Rat  zu  verlesen 
eien  (Art.  6);  sonst  habe  der  Präsident  die  Verteilung  zu  bestimmen, 
der  in  seiner  Abwesenheit  die  Räte  sich  gütlich  zu  einigen  (Art.  7), 
0  aber,  daß  dem  Ratsmitglied,  das  eine  Sache  übernommen  habe, 
uch  die  später  noch  zu  derselben  Sache  einlaufenden  Akten  zu  über- 
eben seien  (Art.  8). 

Dann  nimmt  der  Ordo  in  Art.  9  wörtlich  den  Art.  7  des  Conceptum 
lerüber,  daß  die  so  verteilten  Supplikationen  mit  dem  Datum  zu  ver- 
ehen  seien,  und  fügt  als  Art.  10  ebenso  gleichlautend  den  11.  Artikel 
es  Conceptum  ein,  der  bestimmt,  daß  über  die  Verteilung  usw.  ein  Pro- 
lokoll  zu  führen  sei;  er  gehört  in  der  Tat  besser  an  diese  Stelle. 

Im  11,  Artikel  handelt  der  Ordo  von  der  beim  Referieren  zu  be- 
obachtenden Ordnung,  hier  den  im  Conceptum  ebenfalls  nicht  glücklich 
ingereihten   10.  Artikel   aufnehmend   und  erweiternd,   unter   anderem 
ine   Definition    der   dort    erwähnten    „negotia   Caesareae   Majestatis" 
ebend. 

Darauf  nimmt  der  Ordo  in  Art.  12—15  die  beiden  übergangenen 
^rtikel  8  und  9  des  Conceptum  auf,  die  von  dem  Sammeln  der  Vota 
gehandelt  hatten.  Die  Anregungen  des  Conceptum  werden  ausgebaut, 
ndem  Bestimmungen  gegeben  werden  über  die  Reihenfolge  der  ein- 
:uholenden  Vota  (Art.  12),  über  die  in  formulierter  Rede  vorzutragenden 
^Schlüsse,  welches  Geschäft  denjenigen  der  Räte,  die  der  Sprache  am 
)esten  mächtig  sind,  zugeteilt  werden  soll  (Art.  13),  dann  darüber,  daß 
)ei  Abwesenheit  des  Präsidenten  Stimmenmehrheit  gelte,  und  wenn 
Tian  sich  nicht  einigen  könne,  ihm  zu  berichten  sei  (Art.  14),  endlich 
Bestimmungen  über  die  dem  Kaiser  und  seinen  obersten  Ratgebern 
/orzubringenden  Angelegenheiten  (Art.  15). 

!  Es  folgt,  indem  jene  beiden  bereits  aufgenommenen  Artikel  10 
ind  11  des  Conceptum  übersprungen  werden,  der  12.  Artikel  des 
Conceptum  wörtlich  als  16.  des  Ordo,  daß  nämlich  der  Rat  nicht  mit 
Sachen,  für  die  niemand  sollizitiert,  behelligt  werden  soll. 

Der  13.  Artikel  des  Conceptum  endlich  mit  Bestimmungen  über  die 


374  Andreas  Walther 

Mitteilung  von  Schriftstücken  an  die  Parteien  legt  sich  im  Ordo  in  dii 
Artikel  17  bis  23  auseinander,  die  ausführliche  Festsetzungen  darübe: 
geben,  wie  weit  die  Räte  während  und  nach  der  Verhandlung  mit  der 
Parteien  verkehren  und  ihnen  raten  dürfen. 

/V\it  diesen  Beziehungen  nach  rückwärts  und  vorwärts  ist  dae 
Interesse  an  unserem  Entwurf  nicht  erschöpft.  Man  wird  in  den  Ar 
tikeln  10,  11,  23,  26,  86  die  Verweise  auf  den  gleichzeitigen  Brauet 
des  Reichskammergerichts  beachten. 

Vor  allem  aber  legt  der  Verfasser  seinen  Erörterungen  den  damah 
am  Hof  Karls  V.  in  der  deutschen  Kanzlei  üblichen  Brauch  zugrunde 
Bei  allem  Respekt  vor  guten  Reglements,  die  er  besonders  in  dei 
Ordnung  Gattinaras  findet  (Art.  32,  33,  38),  ist  ihm  doch  die  „certc 
et  determinata  consuetudo"  (Art.  100)  seiner  Zeit  immer  ausschlag- 
gebend. Er  ist  kein  blinder  Bureaukrat,  sondern  möchte,  wo  siel: 
keine  Mißstände  zeigen  (und  wir  sehen,  daß  im  allgemeinen  die  ge- 
schäftliche Tätigkeit  in  der  Kanzlei,  ganz  anders  im  Rat,  sich  stetig 
und  ruhig  abwickelt),  in  erster  Linie  den  guten  Brauch  kodifizieren 
wie  es  in  Art.  59  heißt:  „Consuetudo  praesentis  temporis  in  hoc  dabil 
legem."  So  ist  das  Gutachten  vor  allen  Dingen  eine  Quelle  für  die 
Kanzleiorganisation  am  tiofe  Karls  V.;  durch  die  in  vernünftigem 
praktischen  Sinn  gemachten  Erwägungen  auf  Grund  eines  reichen 
Materials  so  erfreulich  für  die  Lektüre,  wie  es  nur  der  Gegenstand  zuläßt 

Was  den  Verfasser  betrifft,  so  ist  es  nicht  Granvelle  oder  sein 
Sohn,  der  Bischof  von  Arras  (Art.  2,  3),  überhaupt  keiner  der  „supremi 
consiliarii"  (Art.  87  und  sonst),  auch  nicht  der  erste  Sekretär  Obern- 
burger  oder  ein  anderer  Sekretär  des  Hofes,  denn  ein  solcher  hätte 
zweifellos  gewußt  z.  B.  ob  das  Amt  des  Taxators  damals  mit  dem  des 
Sekretärs  verbunden  war  oder  nicht  (Art.  47).  Überhaupt  ist  der  Ver- 
fasser unter  den  Juristen  zu  suchen.  Das  ist  mit  Sicherheit  zu  schließen 
aus  dem  bei  allem  gesunden  praktischen  Blick  doch  geringen  Interesse 
an  den  „minutiora"  (Art.  66),  dem,  leicht  akademischen  Ton  in  der 
Behandlung  der  Vorlagen,  überhaupt  dem  Behagen  am  Operieren  mit 
einem  großen  Aktenmaterial,  den  Hinweisen  auf  das  Reichskammer- 
gericht, vor  allem  aber  dem  eben  besprochenen  eingeschobenen  Ab- 
schnitt „De  Consiliariis",  deren  Artikel  der  Verfasser  auf  eigene  Hand 
aufstellt  und  empfiehlt,  ganz  anders  als  in  den  sonstigen  Abschnitten. 
Der  Ton  aber,  in  dem  von  den  Consiliarii  geredet  wird,  schließt  auch 
aus,  daß  er  selbst  zu  ihnen  gehöre  (vgl.  Art.  6,  11).  Er  spricht  von 
ihnen,  wie  auch  von  dem  Sekretär  Obernburger  (Art.  14),  in  dem  wohl- 
wollenden Ton,  nicht  eines  Vorgesetzten,  aber  eines  Mannes,  dessen 
Wort  ihnen  gegenüber  Gewicht  hat.  Damit  ist  auch  Johann  Sigismund  i 
Seid  ausgeschlossen,  der  erst  im  Jahre  darauf  zum  Vizekanzler  ernannt 


ll 


Kanzleiordnungen  Maximilians!.,  Karls  V.  und  Ferdinands  I.     375 


urde  und  zur  Zeit  der  Publikation  des  Ordo  Consiiii  noch  nicht  ein- 
mal an  erster  Stelle  unter  den  Räten  steht.  ^ 

Es  bleibt  als  Verfasser  nur  Viglius  van  Zwichem,  Chef  des  nieder- 
andischen  Conseil  prive  und  Conseil  d'Etat,  der  nach  dem  Tode  des 
lean  Naves  1547  das  deutsche  Vizekanzleramt  abgelehnt  hatte,  dem 
ler  Hof  des  Kaisers  so  vertraut  ^  und  doch  wieder  so  fremd  war,  wie 
las  Memoire  an  vielen  Stellen  durchscheinen  läßt.  Der  Kaiser  befand 
ich  damals  in  Brüssel  (bzw.  in  der  nächsten  Umgebung)  und  hatte 
^ich  seit  über  IV2  Jahren  ununterbrochen  in  den  Niederlanden  auf- 
IHhalten. 

IH    Nun  erklärt  sich  auch  das  rätselhafte  „revisum"  ^  in  der  Aufschrift 
Iv  ^^^  Hand  des  Viglius.    /V\an   wird   sich  den  Hergang  folgender- 
IHßen  zu  denken  haben:   Viglius  hat  sein  Memoire  zunächst  einem 
iSmderen  (man  mag  hier  etwa  an  Seid  denken)  zur  Begutachtung  vor- 
gelegt, von  dem  die  Randbemerkungen  zu  den  Artikeln  1,  13,  16,  18, 
^5,   31,   48   herrühren.     Vielleicht   sind   es    auch   im   Rate   gemachte 
Apostillen,  wenn  der  Plural  „nobis"  buchstäblich  zu  nehmen  ist.   Dann 
st  der  Entwurf  mit  den  Randbemerkungen  kopiert  worden,  wohl  um 
;  iiner  höheren  Instanz  vorgelegt   zu   werden.     Diese  Kopie  wird  aber 
jrst  noch  einmal  von  Viglius  durchgesehen;   Fehler  werden  korrigiert 

K'^-t.  30),  zu  einem  unklaren  Passus  in  einer  der  Vorlagen  wird  eine 
ge  hinzugesetzt  (Art.  40),  an  anderer  Stelle  ein  für  den  Gegenstand, 
den  es  sich  handelt,  in  erster  Linie  wichtiger  Artikel  an  den  An- 
fang gerückt  (vgl.  Art.  47,  53).  Auf  diese  so  durchgesehene  Kopie, 
das  uns  vorliegende  Exemplar,  schrieb  dann  Viglius:  „revisum 
9.  Aprilis  1550". 

3.   Unter  Ferdinand  I. 

Die  österreichischen  Kanzleiordnungen  sind,  soweit  sie  bekannt 
(und  vermutlich  soweit  sie  erhalten  sind,  bei  Fellner-Kretschmayr,  Bd.  VI 
i(und  VII)  der  Veröffentlichungen  der  Kommission  für  neuere  Geschichte 
(Österreichs,  publiziert  worden.  Nach  dem  Tode  Maximilians  war  die 
iKontinuität  erst  einmal  abgerissen.  In  der  Zeit,  als  Ferdinands  all- 
mächtiger Minister,  der  Spanier  Salamanca,  das  Regiment  führte,  ist 
so  wenig  wie  unter  Granvelle,  und  aus  denselben  Gründen  wie  dort, 
eine  Kanzleiordnung   zu   erwarten.     Wie   aber  die  Organisationen  be- 

^  Verzeichnis  der  Räte  bei  Winter  S.  114. 

^  Vgl.  Viglius  van  Zwichem,  Tagebuch  des  Schmalkaldischen  Donaukriegs, 
herausgegeben  von  A.  v.  Druffel,  München  1877. 

^  Als  ich  vor  zwei  Jahren  meine  ersten  Versuche  archivalischer  Arbeit  mit  dem 
Kopieren  dieses  Dokuments  begann,  habe  ich  falsch  „conclusum"  gelesen  (so 
Burgund.  Zentralbeh.  104,  Anm.  3). 


■ 


376  Andreas  Walther 

ginnen,  als  Granvelle  die  Zügel  aus  der  Hand  gibt,  so  haben  wir  aud 
in  Österreich,  wo  unter  Ferdinand  I.  bis  1526  kein  einziges  Dokumen 
aufgefunden  worden  ist,  das  bei  Fellner-Kretschmayr  hätte  veröffentlich 
werden  können,  plötzlich  eine  ganze  Reihe  von  Ordnungen;  nämlicl 
eine  Hofkanzleiordnung  vom  6.  März  1526  (S.  91—96),  eine  Hofstaats- 
ordnung vom  1.  Januar  1527  (S.  100—116),  ein  Hofstaatenverzeichnij 
wohl  von  demselben  Datum  (S.  147 — 154)  und  eine  Instruktion  füi 
den  obersten  Kanzler  vom  2.  Februar  1528  (S.  238—246),  —  worau! 
dann  bis  1537  wieder  eine  vollständige  Lücke  klafft. 

Die  vier  Ordnungen  aus  den  Jahren  1526 — 1528  müssen  sämtlicfe 
hier  besprochen  werden.  Die  „Kanzleiordnung  am  Hof",  wie  sie  sich 
selbst  nennt,  vom  6.  März  1526  ist  veranlaßt  worden  durch  „etliche^ 
Beschwerung  in  Schrift  vorgebracht"  von  den  „Sekretären  und  Kanzlei- 
schreibern" (S.  91).  So  ist  sie  bestimmt  durch  dies  Memoire  des 
Kanzleipersonals  und  trägt  einen  Ausnahmecharakter.  Ihr  wesentlicher 
Zweck  ist,  die  Befugnisse  der  einzelnen  mit  Namen  genannten  Sekretäre 
und  anderen  Kanzleibeamten  möglichst  genau  gegeneinander  ab- 
zugrenzen. Es  ist  keine  Kanzleiordnung  und  kein  Reglement  für  das 
Kanzleipersonal,  sondern  eine  Instruktion  für  Rabenhaupt,  Wisinger 
und  wie  sie  alle  heißen;  von  höchstem  Interesse  übrigens  für  die  Ge- 
schichte der  Ressortbildungen  in  der  Kanzlei  (oben  S.  366  f.). 

Die  Hofstaatsordnung  vom  1.  Januar  1527  ist  zu  ergänzen  durchl 
das  Hofstaatenverzeichnis   von  „1527/28'^   dem   man   wohl  auch  das 
Datum  des   1.  Januar  1527   geben    darf.    Denn  die  Hofstaatsordnung 
trägt  die  Überschrift:   „Vermerkt  kgl.  Majestät  ....  deutschen  Hofstat 
durch   ihre   kgl.  Majestät  ....  aufgerichtet"   (S.  100),   das  Hofstaaten- 
verzeichnis aber:   „Vermerkt  die  Ämter  und  Personen,   so  Inhalt  kgl. 
Majestät  neuen   teutschen   Hofstats    an    ihrer  Majestät  Hof    gehalten 
werden   sollen"   (S.  147).    Von   dem   allgemeinen  Charakter  und  dem 
Verhältnis  dieser  beiden  Dokumente  zueinander  war  oben  (S.  341)  die 
Rede.    Die  Hofstaatsordnung   ist  eigentlich   eine   Sammlung   von   In- 
struktionen, in  der  wir  neben  einem  Reglement  für  Schatzmeister  und 
Hofkammer,  einer  Ordnung  der  Rathaltung,  einer  Stallmeisterordnung,! 
einer  Kapellordnung  und  anderen  auch  eine  „Ordnung  der  Kanzlei"^; 
haben,  die  den  summarisch  gehaltenen  Typus  der  Kanzleiordnung  als 
Teil  der  Hofordnung  darstellt. 

Die  ausführliche  Schwesterordonnanz  zu  dieser  summarischen  Ord- 
nung ist  die  „Ordnung  und  Instruktion,  nach  welcher  unsre  Hofkanzlei 

durch unsern  obristen  Kanzler  regiert  und  verwaltet  werden  soll" 

(S.  239)  vom  12.  Februar  1528.    Diese  Ordnung  ist  wie  die  Gattinaras 


^  Fellner-Kretschmayr  VI.  102-104,  gesondert  publiziert  auch  bei  Posse  210f. 


Kanzleiordnungen  Maximilians  I.,  KarlsV.  und  Ferdinands  I.     377 

[Margarete  von  Österreich  von  1516  sowohl  Ratsordnung  wie  Kanz- 
•dnung  und  Instruktion  für  das  Personal.  Und  was  dort  durch- 
ihrt  ist,  Systematik  und  Anschaulichkeit  zugleich,  dazu  wird  hier 
enigstens  ein  kräftiger  Anlauf  gemacht,  der  dann  freilich  doch  in 
2m  verschiedenartigen  Stoff  sich  verliert,  so  daß  das  zu  kühne 
ihternehmen  wie  bei  der  Ordnung  Gattinaras  von  1522  schließlich  in 
niger  Verwirrung  endet.  Immerhin  ist  die  Ordnung  besonderer  Be- 
ttung zu  empfehlen. 

Wie  vom  1.  Januar  1527,  so  haben  wir  auch  vom  1.  Januar  1537 
n  Paar  von  Ordnungen,  nämlich  eine  Hofstaatsordnung,  die  sich  be- 
2ichnet  als  „Ordnung  und  Instruktionen  unsrer  hohen  und  niedern 
ofämter"  (S.  116—126),  und  ein  Hofstaatsverzeichnis,  das  sich  nennt: 
Römischer  kgl.  Majestät  .  . .  ordinari  Hofstaat  von  hohen  und  niedern 
;mtern  und  Personen"  usw.  (S.  154—156).  Von  Fellner-Kretschmayr 
nrd  das  letztere  Dokument  datiert  „zwischen  1528  und  1536";  es  darf 
her  vielleicht  auch  auf  den  1.  Januar  1537  gesetzt  werden,  da  ab- 
esehen  von  der  analog  formulierten  Überschrift  die  Hofordnung  aus- 
rücklich  auf  einen  ihr  parallel  gehenden  „stat"  verweist  (S.  125).  ^  In 
er  Hofstaatsordnung  nun,  die  wie  die  vom  1.  Januar  1527  eine 
Sammlung  von  Instruktionen  darstellt,  wird  in  der  ersten  Rubrik,  deren 
iberschrift  noch  breit  ankündigt  eine  „Instruktion  und  Ordnung  unsres 
bristen  Hofkanzlers"  (S.  117),  nur  kurz  erwähnt,  daß  solche  dem 
vanzler  übergeben  worden  sei,  nach  derselben  zu  handeln. 

Diese  so  aus  der  Hofordnung  herausgelöste  Kanzleiordnung  (oben 
).  341),  die  man  vielleicht  auch  auf  den  1.  Januar  1537  datieren  darf, 
st  nicht  erhalten.  Es  dürfte  dieselbe  sein,  die  erwähnt  wird  in 
1er  Taxordnung  Ferdinands  I.  vom  17.  September  1545  als  „(Hof-) 
(anzleiinstruktion",  die  „verrukter  jarn"  erlassen  worden  sei.^ 

Der  Charakter  dieser  Ordnung  läßt  sich  aber,  vorausgesetzt,  daß 
ne  ebenfalls  identisch  ist  mit  der  „Austriaca"  in  dem  Entwurf  des  Viglius, 
vie  ich  glaubte  annehmen  zu  dürfen,  genauer  bestimmen.  Viglius 
olgt    nämlich    seinen   Vorlagen    gern    auch    in    der   Reihenfolge   der 

^  Man  hat  auf  den  Widerspruch  in  den  Angaben  beider  Dokumente  über  die 
Eiofräte  (S.  125  u.  155)  verwiesen  (Fellner-Kretschmayr  nach  Rosenthal,  Die 
äehördenorganisation  Kaiser  Ferdinands  I.,  Archiv  für  österr.  Gesch.  69,  1887,  S.  67, 
•^nm.  1).  Ich  glaube  kaum,  daß  das  zwingend  ist,  da  es  sich  einmal  um  die  Räte 
handelt,  die  sich  täglich  zu  Beratungen  versammeln  sollen,  das  andere  Mal  um  die, 
die  im  Hofstaatsverzeichnis  genannt  werden,  weil  sie  Gagen  erhalten.  Übrigens  bleibt 
die  Tatsache,  daß  wir  es  1527  und  1537  mit  je  zwei  zusammengehörigen  Ordnungen 
lü  tun  haben,  bestehen,  auch  wenn  die  gerade  erhaltenen  Hofstaatsverzeichnisse 
,anders  datiert  werden  müßten,  als  ich  angenommen  habe. 

j  ^  Fellner-Kretschmayr  VI.  97.    Jedenfalls  wird  damit  nicht  auf  die  Ord- 

nung von  1526  zurückgewiesen  (vgl.  ibid.  S.  95,  Anm.  1). 


378  Andreas  Walther 

Artikel;  so  entsprechen  die  Artikel  2—4  der  Ordnung  von  1494  de 
Artikeln  16,  18,  19,  20  des  Entwurfs,  ebenso  die  Artikel  27—30  de 
ersteren  den  Artikeln  94—96  des  letzteren,  oder  die  Artikel  37—3 
der  ersteren  den  Artikeln  48,  49,  50,  51,  53  des  letzteren.  Es  werde 
also  auch  die  zusammenhängenden  Artikel  62—66  des  Entwurfs,  di, 
alle  nur  die  „Austriaca"  als  Quelle  nennen,  einer  zusammenhängende 
Reihe  von  geschäftlichen  Instruktionen  für  den  Taxator  entspreche! 
Die  „Austriaca"  also  hat  den  Typus  der  Instruktion  in  der  Form  de 
Ämterbuches  vertreten,  der  sonst  für  Österreich  von  1497  bis  155 
nicht  bekannt  ist.  Darf  jene  Ordnung  mit  der  „Austriaca"  identifiziei 
werden,  so  wird  es  um  so  begreiflicher,  daß  die  Hofordnung  sie  ab 
stoßen  mußte. 

Da  aber  ferner  mit  einer  Kanzleiordnung  jenes  Typus  auch  dl 
Ratsordnung  nicht  mehr  verschmolzen  sein  konnte,  wie  wir  es  bishe 
für  Österreich  als  das  Regelmäßige  gesehen  haben,  so  wird  es  kaur 
Zufall  sein,  daß  wir  nun  am  1.  Januar  1541  zum  erstenmal  eine  gan 
selbständige  „Ordnung  und  Instruktion,  nach  welcher  unser  königliche 
Hof  rat  gehalten  werden  soll"  (S.  272—275)  finden.  Bald  folgt  dam 
ebenso  selbständig  der  Ordo  Consilii  von  1550,  der  als  erster  Entwui 
noch  mit  der  Kanzleiordnung  zusammengehangen  hatte,  und  die  Reichs 
hofratsordnung  vom  3.  April  1559  (S.  281 — 288),  vielfach  ruhend  au 
der  österreichischen  Ordnung  vom  1.  Januar  1541,  ohne  Verbindung 
aber  mit  dem  Ordo  Consilii. 

Man  wird  sagen  dürfen,  daß  erst  mit  dieser  Verselbständiguni 
der, Ratsordnung,  der  jene  Scheidungen  in  der  Hofordnung  voraus» 
gegangen  waren,  die  Kanzleiordnung  ihre  Einheit  finden  konnte, 
sich  geschlossene  Kanzleiordnungen  sind  uns  ja  bisher  nur  begegne 
in  den  isolierten  Instruktionen  für  die  geschäftlichste  Bureauarbeit. 

Die  Reichshofkanzleiordnung  vom  1.  Juni  1559  (S.  288—307),  di( 
dann  durchaus  das  Muster  gebildet  hat  für  die  Ordnungen  Maxi 
milians  II.  vom  20.  April  1566  (S.  313—318)  und  vom  12.  November  157( 
(S.  357 — 360),  sowie  für  die  späteren  von  1628,  1669,  1683,  zeigt  un: 
nun  all  die  einzelnen  Elemente,  die  wir  bisher  in  unsicherer  Entwick; 
lung  sich  widerstreitend  gefunden  haben,  in  erfreulicher  Versöhnung 
verbunden.  Diese  „Instruktion  und  Ordnung,  nach  welcher  hinfürc 
unsere  kaiserliche  Hofkanzlei  regiert  und  verwaltet  soll  werden",  be- 
ginnt mit  einem  uns  als  Typus  wohlbekannten  allgemeinen  Teil,  dei 
insbesondere  das  Verhältnis  der  Reichshofkanzlei  zum  Erzkanzler  unc 
zum  Reichshofrat  beleuchtet  (S.  290—292).  Dann  kommt  deutlich  er- 
kennbar die  Naht  in  folgendem  Satz:  Und  damit  auch  aller  Kanzlei- 
verwandten Schuldigkeit  im  allgemeinen  wie  eines  jeden  insonderheii 
mehr   spezifiziert   sei,   so   wollen   wir,   daß  nachfolgende  Artikel  unc 


a1 


Kanzleiordnungen  Maximilians  I.,  Karls  V.  und  Ferdinands  I.     379 

Linkte  insonderheit  festiglich  gehalten  werden  (S.  292).  Darauf  das 
chema  der  Instruktion  in  der  Form  des  Ämterbuches,  wie  es  in  der 
vveiten  Ordnung  Erzbischofs  Bertholds  von  1498  gefunden  war  (oben 
.  361),  nämlich  zuerst  „gemain  articul"  für  alle  Reichshofkanzleiver- 
'andten,  dann  „sonderliche  articul"  für  die  Reichssekretäre,  den  Taxator, 

^'ften  Registrator  und  den  Kanzleidiener  (S.  292 — 303).  Dann  was  auch 
n  Ämterbuch  sich  nicht  unterbringen  ließ,  nämlich  „Wo  unsere  kaiser- 
che  Reichskanzlei  gehalten  werden  soll"  (S.  3031)  und  die  Eides- 
armeln  für  die  einzelnen  Beamten.  Es  ist  nicht  ausgeschlossen,  daß 
ier  der  Entwurf  des  Viglius  eingewirkt  hat,  denn  da  handeln  in 
er  letzten  Rubrik:  „Communia  de  universa  cancellaria"  die  beiden 
rsten  Artikel  (85  und  86)  über  den  Ort  der  Kanzlei  und  über  die 
:ide,  die  nach  der  Empfehlung  des  Viglius  für  die  einzelnen  Ämter 
Lonzipiert  werden  sollen,   was  freilich  nach  der  Anmerkung  auch  im 

^^^  <eichskammergericht  und  bei  den  hauptsächlichsten  deutschen  Fürsten 
jebrauch  war. 


III.   Dokumente 

Consultation   du  grand  chanceliier  iWercurinus  sur  le  tiltre, 
ii^|signature,  armes,  seaulx  et  monnoyes/  Dez.  1519  oder  Jan.  1520 

La  p®  question 

Du  tiltre.  Selon  la  plus  commune  opinion  semble  que  Sa  Majeste 
doibt  user  du  tiltre  de  «  Roy  des  Rommains  eslu  Empereur  toutjours 
auguste»,  et  apres  mectre  par  ordre  les  autres  tiltres  accoustumez.  Mais 
pour  en  user  en  Espaigne,  soit  es  royaulmes  de  la  coronne  de  Castille 
QU  de  la  couronne  d'Arragon,  semble  estre  expedient  pour  le  contente- 
ment  des  subiectz  faire  lettres  declaratoires,   que  Sadite  Majeste  par 


^  Besprochen  oben  S.  363—365.  Diese  Aufschrift  von  der  tiand  des  Viglius. 
Was  ich  als  Überschriften  gebe,  steht  im  Dokument  selbst  am  Rande.  —  Recht  im 
Stil  Gattinaras  und  des  Weltreiches  Karls  V.  ist  die  seltsame  Sprachmischung  in  dem 
Memoire.  Freilich  die  italienische  Färbung  des  Französischen  Gattinaras  (vgl.  Gott. 
gel.  Anz.  1908,  S.  261  Anm.  1)  ist  ziemlich  verwischt,  was  auf  Rechnung  des  Kopisten 
kommen  mag,  der  auch  den  Hauptanteil  an  der  Verderbung  des  Spanischen  haben 
dürfte.  Trotzdem  läßt  der  Text  der  Kopie  die  erstaunliche  Leichtigkeit  des  Über- 
springens  in  eine  andre  Sprache  noch  charakteristisch  genug  erkennen,  um  buchstäb- 
liche Wiedergabe  zu  verdienen  (während  ich  in  den  übrigen  Dokumenten  einige  zweifel- 
lose Schreibfehler  ohne  weiteres  korrigiert  habe).  Der  sprachgewandte  Kanzler  war 
bei  seinem  Amtsantritt  von  den  fremden  Gesandten  mit  lebhafter  Freude  begrüßt 
worden;  nur  die  Kenntnis  der  deutschen  Sprache  schien  noch  entbehrlich  zu  sein 
sogar  für  den  Leiter  der  deutschen  Hofkanzlei  (vgl-  Gattinaras  Kanzleiordnung  von 
Art.  6,  unten  S.  389). 


330  Andreas  Walther 


1 


l'assumption  dutiltre  de  «Roy  des  Rommains  eteslu  Empereur>>  n'entem! 
aulcunement  prejudicier  aux  droictz  et  preeminences  desdits  royaulmej 
d'Espaigne,  ains  les  conserver  et  entretenir  en  leurs  libertez  et  franchises 
Sans  les  rendre  aulcunement  plus  subiectz  de  ce  qu'ilz  ont  este  di 
passe  et  du  temps  de  ses  predecesseurs.  Aussi  fault  estre  conjoincte- 
ment  nomme  la  royne  apres  le  tiltre  imperial  ainsi  que  s'ensuyt  pai' 
ordre  et  selon  le  stil  de  chacun  pays: 

Pour  les  royaumes  et  seigneuries  de  la  couronne  d'Arragor 

Carolus  divina  favente  dementia  Romanorum  rex  electusque  Im- 
perator semper  augustus,  et  Johanna  mater  ac  idem  Carolus  eins  filiui 
primogenitus,  eadem  gratia  reges  etc.,  perficiendo  titulos  in  quovis 
regno  iuxta  morem  solitum. 

Pro  privilegiis 

In  fine  expeditionum  post  datam  poterit  poni:  Regni  nostri  Roma- 
norum ac  electionis  imperii  anno  primo,  reginae  Castellae,  Legionis, 
Granatae  etc.  anno  XVP,  Navarrae  quinto,  Arragonum  ac  Valentiae  et 
utriTisque  Siciliae,  Sardiniae  et  Maioricarum  anno  quatro,  regis  vero 
omnium  quarto.     Secretarius:  De  mandato  domini  regis. 

Pour  les  royaumes  de  la  couronne  de  Castille 

Don  Carlos  pour  la  gracie  de   dios   rey   de  Romanos  futuro   em- 

perador  siempre  augusto,  doiia  Johanna  su  madre  y  el  mismo  Don! 

Carlos,  par  la  misma  gratia  reys  de  Castilla  etc.,  ponendo  todos  los 

otros  titulos  juntos  en  la  manera  accostumbrada. 

Pour  les  Privileges 

En  la  fin:  Et  de  nostro  regno  de  Romanos  y  election  del  sacro 
imperio  anno  primiero,  y  de  noz  la  reyna  de  Castilla  anno  XVI^,  y  de 
Navarra  cinco,  y  de  Aragon  y  otros  quatro,  y  de  nos  el  rey  de  todos 
quatro.     AI  fin:  Por  mandado  del  su  magestad,  il  secretario  signera. 

Pour  Allemaigne  et  autres  pays  de  l'empereur 
Carolus  divina  favente  dementia  Romanorum  rex  futurus  Imperator 
semper  augustus,  rex  Hispaniarum,  utriusque  Sicilie,  Jherusalem,  in- 
sularum  Balearium,  insularum  Canarie  et  Indiarum  ac  terre  ferme  maris 
oceani,  archidux  Austrie,  dux  Burgundiae,  Brabantie,  Stirie,  Carinthie, 
Carmolae,  Luxemburgie,  Limburgie,  Athenarum  et  Neopatrie  etc.,  comes 
Habspurgi,  Flandrie,  Tirolis,  Burgundiae  palatinus,  Hannonie,  Ferreti, 
Rossilionis  etc.,  lantgravius  Alsatie,  princeps  Sueviae,  dominus  in  Asia  j 
et  Aphrica  etc.,  regnorum  nostrorum  Romanorum  ac  electionis  imperii 


Kanzleiordnungen  Maximilians  1.,  Karls  V.  und  Ferdinands  I.     381 

rimo,  et  aliorum  omnium  quarto.    Secretarius:  Ad  mandatum  Caesa- 
iae  Majestatis  proprium. 

Pour  Bourgoingne,  Flandres  et  tous  les  pays  de  Gallia 

Charles  par  la  clemence  de  dieu  roy  des  Rommains  eslu  empereur 
»utjours  auguste,  roy  des  Espaignes,  des  deuxSecilles,  deHierusalem,  de 
lardeine,  de  Mallorque,  de  Corsique,  des  ysles  de  Canarie,  des  Yndes 
t  terre  ferme  de  la  mer  oceane,  archiduc  d'Austriche,  duc  de  Bour- 
oingne,  de  Lothier,  de  Brabant,  de  Lembourg,  de  Luxembourg,  d'Athenes, 
ie  Neopatrie  et  de  Gheldres,  conte  de  Flandres,  de  Tirol,  d'Artois,  de 
iourgoingne  palatin,  de  Haynnault,  de  Hollande,  de  Zeelande,  de  Fer- 
ette,  de  Namur,  de  Rossillion  etc.,  seigneur  en  Asie  et  en  Affricque,  de 
Tise,  de  Salins  et  de  Malines  etc.,  et  de  noz  regnes  assavoir  des 
(ommains  le  premier,  et  de  noz  autres  regnes  le  IUI. 

Pour  abbrevier  tous  les  tiltres 

Carolus  divina  favente  dementia  Romanorum  rex  futurus  Imperator 
icmper  augustus,  rex  Hispaniarum  utriusque  Sicilie  etc.,  archidux  Austrie, 
lux  Burgundiae  etc.,  comes  Flandrie,  Tirolis  etc. 

La  Ile  question 

De  la  Signatüre  semble  selon  la  plus  commune  et  plus  schüre 
opinion,  que  Sa  Majeste  doit  signer  de  son  propre  nom:  «Charles» 
en  tous  les  pays  tant  Espaigne  que  ailleurs,  sans  nommer  «  yo  el  Rey  » 
ne  «  yo  el  Imperador »,  car  Tun  seroit  detractif  de  la  dignite  imperiale 
et  Tautre  ne  seroit  agreable  aux  subiectz. 

La  III^  question 

Des  armes  semble,  que  non  y  ayant  ä  present  aultre  empereur 
iregnant,  il  doibt  prendre  les  armes  de  l'empire,  asgavoir  l'egle  ä  deux 
testes,  ainsi  que  fu  faict,  quant  le  feu  empereur  commenga  user  du 
'tiltre  d'esleu  empereur.  Et  peult  porter  ses  premieres  armes  ou  en  la 
poictrine  de  l'aigle  imperiale  ou  en  ung  escu  party  ou  en  deux  escus 
soubz  une  mesme  couronne.    Car  c'est  au  choix  de  Sa  Majeste. 

La   IVe  question 

Des  seaulx  semble  qu'ilz  doibvent  estre  tous  differentz.  Et  quant 
ä  celluy  de  l'empire,  il  en  fauldra  avoir  pluisieurs,  l'ung  quant  aux  de- 
pesches  ordinaires  d'Allemaigne,  que  demeurra  es  mains  de  l'arche- 
vesque  ou  cardinal  de  Mayance,  l'autre  des  choses  d'ltalie  es  mains  de 


382  Andreas  Walther 

l'archevesque  de  Couloigne,  et  l'autre  des  affaires  de  Gallie  es  main 
de  l'archevesque  de  Treves,  qui  sont  trois  chancelliers  de  l'empire  natif 
Et  ces  trois  seaulx  pourroient  estre  d'une  mesme  forme,  telz  qu'il  n' 
eust  autre  difference  que  aux  lettres  disant  « Sig*"  Carolj  V.  E.  R( 
Imper.  per  Germaniam  »  et  en  celluy  de  Couloingne  «  per  Italiam  »  et  e 
celluy  de  Treves  <'  per  Galliam  >v.  Et  si  lesdits  archevesques  ne  su\ 
vent  Sa  Ma*^  pourra  bailler  la  garde  au  chanceliier  ou  lieutenant  qi 
le  suyvra.  Et  en  ces  trois  ne  seroit  mestier  sinon  y  mectre  les  deu 
escus  joinctz  soubz  la  mesme  couronne  imperiale. 

Mais  quant  au  seau  de  l'empire  universel,  qui  doibt  toutjours  estr 
aupres  de  Sa  Ma*^,  pour  seeller  toutes  choses  principales  et  secrete: 
comme  traictiez,  confederacions,  Privileges,  investitures  et  aultres  chose 
perpetuelles,  semble  qu'il  doibt  estre  plus  grand  que  les  aultres.  E 
que  l'on  y  debvroit  mectre  l'empereur  en  maieste  avec  le  septre  e 
monde  en  main,  et  ä  la  main  droicte  l'escu  de  l'empire  sans  mixtun 
et  ä  la  main  sinistre  l'escu  des  armes  royales,  telles  que  l'on  les  port 
ä  present,  et  ä  l'entour  les  lettres  disant  «  Sig*"  mag*"  Imperii  Caro 
V.  E.  Imp.  Hisp.  utrius.  Sicil.  ac  Hierus.  etc.  Regis  Archid.  Aust.  eto 
Et  ce  seau  doibt  estre  es  mains  de  Sa  Ma*^  ou  de  celluy  ä  cui  plaisr 
en  bailler  la  garde. 

Au^  regard  des  seaux  des  aultres  royaumes  et  seigneuries  tant  d 
Castille,  Aragon,  Secile  et  Naples  semble  que  pour  oster  les  difficulte 
des  tiltres  seroit  bon  y  mectre  deux  escus  joinctz,  l'ung  de  l'empir 
soubz  la  coronne  imperiale,  l'autre  des  royaumes  assavoir  en  parti 
culier  du  royaume,  oü  le  seau  serviroit,  comme  en  celluy  de  Castil! 
[les  armes  de  Castille],^  Leon  et  Granate  [seulement],^  en  celluy  d'Aragoi 
les  armes  d'Aragon,  Valence  etc.,  en  celluy  de  Secilie  les  armes  pure: 
de  Secilie,  en  celluy  de  Naples  les  armes  de  Secilie  et  Hierusalem 
ainsi  que  l'on  les  a  accoustume  porter.  Et  ä  l'entour  les  lettres  ^<  Sig' 
Johanne  et  Carolj  conregnantium  in  regnis  Castelle  etc.  »  Et  «  In  Regni: 
Arag.  etc.  »  Et  «  In  Regnis  Sicilie  ultra  Farum  »  Et  «  In  regn( 
Neapolit.  et  Sicilie  citra  Farum  ac  Hierusalem  etc.  >> 

Quant  ä  Flandres  et  Bourgogne,  aussy  des  pays  d'Austriche  e 
Tyrole,  semble  que  l'on  les  peult  aussy  faire  avec  l'empereur  en  majeste 
comme  ä  celluy  de  l'empire,  en  mectant  neantmoings  l'escu  des  armei 
de  l'empereur  au  dessus,  et  les  armes  du  royaume  ou  pays,  oü  U 
seau  servira,  au  pied  de  l'empereur.  Et  ä  l'entour  se  peult  escripr( 
le  tiltre   conforme   aux   armes   du   royaume,   assavoir   pour   Flandren 

Hier    hat    der    Kopierende    versehentlich    an    den    Rand    geschrieben :    «  Lc 
V^  question  »  (vgl.  unten). 

"''  tlinzugefügt   von  Viglius. 

^  Verbessert  von  Viglius  anstatt  des  Wortes:   «  Secil  ». 


i 


Kanzleiordnungen  Maximilians!.,  Karls  V.  und  Ferdinands  1.     383 


Sig"".  Carolj.  E.  Imp.  Ro.  pro  provinciis  Flandriae  et  inferioris  Ger- 
aniae  ».  Et  in  Burgundia  post  titulum  dicetur  ^<  pro  provinciis  Bur- 
jndiae ».  Et  in  australibus  patriis  ponetur  in  uno  sigillo  «  pro  pro- 
inciis  Austriae  superioris »  et  in  altero  « pro  provinciis  Austriae 
iferioris  »,     Et  in  altero  «  pro  Alsatia  superiori  et  inferior! ». 

Et  ubi  minora  sigilla  sint  fienda  pro  ceteris  locis  particularibus 
jcundum  diversitates  tribunalium,  sufficeret  ponere  scutum  armorum 
iperialium  cum  armis  illius  loci  in  pectore  aquile,  et  literas  confor- 
iiter  ut  in  proxime  precedenti  mutandis  mutandis.  Pour  les  cachez 
;s  secretaires  et  aussi  pour  le  contreseau  de  Flandres  et  Bourgoingne 
;mble  qu'il  suffiroit  la  croix  de  sainct  Andrieu  avec  le  fusil  et  le  feng 
nsemble  la  devise  «  Plus  oultre  »,  ou  y  mectre  avec  ladite  devise  les 
olonnes  de  Hercules. 

La  V®  questioti^ 

Des  monnoyes  semble  que  es  royaulmes  procedantz  de  par  la  royne 

on  pourroit  mectre  d'ung  couste  la  teste  de  l'empereur  selon  la  vraye 

ourtraicture  avec  la  coronne  imperiale   en  teste,   et  en  sa  poictrine 

escu  des  armes  de  l'empire,  et  en  la  poictrine  de  l'aigle  l'escu  des 

rmes  du  royaume  oü  Ton  fourgera.     Et  de  l'aultre  coste  la  teste  de  la 

oyne  avec  l'escu  des  armes  des   royaumes  ä  eile   appertenantz.     Et 

insi   ne   se   congnoistra   la   precedence   du   tiltre.     Et   ce   quant   aux 

ucatz  et  doubles  ducatz.    Des  monnoyes,  Ton  les  peult  faire  ä  plaisir 

lar  divises  ou  armes,  mectant  es  lettres  «  Moneta  argentea  Castellae  » 

Ijel  <<Arragonie»  vel  «Valentie>>  vel  alterius  regni  et  dominii  etc. 

J      Au   regard   des   monnoyes   d'Allemaigne,   Flandres   et  Bourgogne 

^jauldra    adviser,  si   Sa  Majeste   veult  changer   le  pied    en   ducatz   ou 

Joubles    ducatz   comme  en  Espaigne,   et  aussy   des  monnoyes,  pour 

''onformer,  qu'elles  puissent  avoir  cours  en  tous  les  royaumes  et  pays, 

t  en  ce  cas  fauldra  adviser  de  la  forme,  ou   aultrement   fauldroit  au 

ieu  des  Philippus  faire  des  Carolus. 


2.   Die  Rubriken  für  Rat  und  Kanzlei  aus  aragonischen  tiof- 
staatsverzeichnissen 

a)    Aus  einem  Verzeichnis  von  1520 — 1522^ 

Rigentes  de  la  cancilleria  y  del  consejo 

Micer  Yimen  Perez  Figuerola,  en  cada   un   afio  diez  mill 
meldos  barceloneses X"" 

^  Von  Viglius  hinzugefügt,   vgl.  oben  S.  382  Anm.  1. 
■^  Besprochen  oben  S.  365 f. 


I 


384  Andreas  Walther 

Micer  Felipe  de  Ferrera,  otro  tanto X""  s 

El  vyno  a  corte  en  Flandres  y  a  levado  su  albaran  senalado  por  mi  del  ter 

mino   d'agosto  mil  V  y  XX  anos,  que  monta  —  Iir  CCCXXXIII  s.  IUI  d.    Idem  de 

termino  de  deziembre  siguiente,   y  mas  del  termino  d'abril  y  agosto,  non  obstanb 

que  parte  dellos  fue  absente. 

Micer  Fedrique  de  Gualbes,  idem X*"  s 

Idem  y  a  llevado  su  albaran  del  termino  d'agosto,   mas  a  llevado  su  albarai 

del  termino  de  deziembre  siguiente,   mas  su  albaran  del  termino  de  abril  siguient- 

1521,  y  mas  del  termino  d'agosto. 

Don  Luis  Carroz,  por  del  consejo  trezientos  ducados 
al  ano     . VII^CCs 

El  es  ambassador  en  corte  de  Roma,  y  despues  llego  a  la  corte  en  el  me; 
d'octobre  XVXX  por  mandado  de  Su  Magestad. 

Micer  Johan  Jacobo  de  Bolona,  diez  mill  sueldos  al  ano    X""  s. 

Idem  el  a  llevado  su  albaran  del  termino  d'agosto  1520,  mas  su  albaran  de 
termino  de  deziembre  siguiente,  mas  su  albaran  del  termino  d'abril  siguiente  1521 
y  mas  del  termino  d'agosto.  ' 

[Micer  Garcia  Garces  de  Jannas,  otro  tanto X'^s.]; 

Su  place  es  vaca,  porque  el  tienne  privillegio  de  IP  ducados  de  pension  er 
lugar  de  su  dicta  placa,  y  commenca  su  pension  desd'el  primer  dia  de  mayo  152(i 
como  Consta  en  el  libro  de  notamientos  de  las  mercedes  etc.  en  la  thesoreri 
general  fol.  1.  | 

Micer  Johan  Miguel  May,  otro  tanto X™  s. 

Idem  el  a  llevado  su  albaran  del  termino  d'agosto  1520,  porqu'el  fue  presentt 
y  XII  dias  adelante,  qu'el  llego  a  la  corte  a  tomar  possession  del  dicho  officio  -' 
Iir  DCLXVI  s.  IUI  d.  Mas  su  albaran  del  termino  de  deziembre  siguiente  - 
Iiriir  XXXIII  s.  Illld.  Mas  su  albaran  del  termino  de  abril  siguiente  1521,  y  ma 
del  termino  d'agosto. 

Folgen  fol  2—4  die  Rubriken:  Porteros  de  la  cancilleria  y  de  ca 
dena,  Capitan  de  la  guarda  Espafiola  y  halabarderos  de  pie,  Camar 
lengos,  Maestre  racional  y  los  de  su  officio,  Scrivano  de  racion  y  lo 
de  SU  officio;  dann  fol.  5: 

Secretarios 

Gaspar  Sanchez  de  Orihuela,  seys  sueldos  el  dia,  son  el  aiio  11°"  CLX  5 
Don  ügo  de  Lirries,  seys  sueldos  el  dia,  el  ano  .  .  .  IPCLXi 
El  mesmo  por  el  derecho  de  su  sello,  otro  tanto    .    .     lI^'CLXi 

El  servyo  personalmente  en  la  corte,  y  a  levado  su  albaran  del  termin 
d'agosto  1520,  de  su  quitacion  —  Vir  XX  s.,  mas  su  albaran  del  termino  de  d» 
ziembre  siguiente,  mas  su  albaran  del  termino  d'abril  1521  y  del  termino  d'agost( 
y  albaran  de  su  sello  secreto  del  ario  1521. 


^  Diese  Zeile  ist  gestrichen. 


Kanzleiordnungen  Maximilians  I.,  Karls  V.  und  Ferdinands!.     385 

Mossen  Johan  Roiz  de  Calrena,   seys  sueldos  el  dia, 

,'1  ano IPCLXs. 

El  mesmo  por  el  derecho  de  su  sello,  otro  tanto     .    .  II^'CLXs. 

Loys  de  Licerasso,  seys  sueldos  el  dia,  el  ano    .    .    .  IPCLXs. 

Idem  servyo  personalmente,  y  a  levado  su  albaran  del  termino  d'agosto  1520  — 
/'irXXs.  Mas  su  albaran  del  termino  de  deziembre  siguiente,  y  mas  del  termino 
i'abril  siguiente,  y  mas  del  termino  d'agosto  siguiente. 

Mossen  Johan  Gonzalez  de  Villasimpliz,  seys  sueldos 

[dia,  el  ano .     IPCLXs. 

El  mesmo  de  ayuda  de  costa  veynte   mill  maravedis. 

El  a  levado  su  albaran  del  termino  d'agosto  1520,  de  su  quitacion  —  Vir  XX  s. 
de  su  adjuda  de  costa  del  dicho  termino.    Mas  su  albaran  del  termino  de  de- 
ibre  y  abril  siguiente. 

Mossen  Petro  Quintana,  seis  sueldos  el  dia,  el  ano     .    IPCLXs. 

El  es  absente,   pero  por  expres  manament  de  Su  Magestad   li   fue  despachado 
'albaran  del  termino  d'agosto  y  deziembre  siguiente,  y  termino  d'abril  siguiente. 

Johan  Aleman,  notador  y  contrarelator  general  de  los 
^nos  y  Corona  d'Aragon,  seys  sueldos  el  dia  sobre  lo 
lo  secreto 11°^  CLXs. 

Es  despachado  un  albaran  del  termino  d'agosto  152[0]  de  VHP  XL  s.,  otro  del 
lino  de  deziembre,  y  otro  del  termino  d'abril  1521,  cada  uno  de  VIP  XX  s. 

Folgen  fol.  öv^'—lö  die  Rubriken:  Fisicos,  Montero  mayor  y  mon- 
teros,  Cagador  mayor  y  cagadores,  Aposentadores,  Reyes  d'armas, 
Capellanes  Predicadores  y  mogos  de  capilla,  Maestro  mayor  de  las 
jobras  de  edificios,  Continos,  Aguaziles,  üxeres  d'armas,  Pages,  Officiales 
de  casa;  fol.  18—35  Gentileshombres  de  Castilla,  de  Aragon,  de  Na- 
varra,  de  Valencia  y  Mallorcas,  Gentileshombres  Catalanes,  de  Napoles 
Sicilia  y  otras  partes. 

Ferner  fol.  16 — 17  und  fol.  36—38  Verzeichnisse  von  «  Albaranes 
extraordinarios  »  (so  fol.  6  genannt).  Für  die  Kcinzleiorganisation  kom- 
men in  Betracht  zwei  Ernennungen  von  «  Scrivanos  de  mandamiento 
de  la  chancilleria  de  Aragon  ^>  auf  fol.  36  v°. 

b)  Aus  einem  Verzeichnis  vom  Ende  der  20  er  Jahre  ^ 

Regentes  en  la  cancelleria  y  del  consejo 

Micer  Juan   Ram,  diez  mill  sueldos  barceloneses  en  cada 

un   ano X'^s. 

Micer  Luys  Bonciani,  ydem X^'s. 

^  Besprochen  oben  S.  365f. 
Afü    II  25 


386  Andreas  Walther 

Micer  Juan  Bartolome  de  Gatinara  sobrino  del  chanciller, 
ydem ^""s. 

Folgen  fol.  71—71v^  die  Rubriken:  Maestre  racional  y  los  de  su 
oficio,  Camariengos,   dann: 

Secretarios 

Don  Hugo  de  ürrias,  seis  sueldos  al  dia,  que  son  al 
aiio  dos  mill  ciento  y  sesenta  sueldos II'^CLXs. 

El  mismo  por  el  derecho  de  su  sello  otro  tanto  .    .    .    II""  CLX  s. 

Caspar  Sanchez  de  fioriguela,  seis  sueldos  usw.      .    .    lI'^CLXs. 

Luys  de  Licerago,  seis  sueldos  usw II"  CLX  s. 

Mossen  Juan  Gonzales  de  Villasimpliz,  ydem      .    .    .    IPCLXs. 

El  mismo  por  ayuda  de  costa  veynte  mill  maravedis.  ^ 

El  comendador  mossen  Pedro  de  Quintana,  seis  sm\- 
dos  usw IPCLXs, 

Pero  Joan  natural  de  Barcelona,  ydem Il^'CLXs 

Juan  Garcia  natural  de  (^aragoga,  sin  salario,  cabsa 
honoris. 

Jayme  Romeo,  seis  sueldos  usw II^'CLXs 

Folgen  fol.  72 — 73  die  Rubriken:  Thesoreria,  Escrivania  de  racion 
Cagador  mayor  y  ca^adores,  Montero  mayor  y  monteros,  dann: 

Cancelleria 

Protonotario,  ocho  sueldos  al  dia,  que  son  usw.    II""  DCCCLXXX  s 

A  SU  lugarteniente  seis  sueldos  al  dia,  que  son 
usw I^CLXs. 

Ytem  a  doze  escrivanos  de  mandamiento  hordi- 
narios  a  quatro  sueldos  al  dia  a  cada  uno,  que 
montan  todos  cada  un  ano  diez  y  siete  mill  dozientos 
y  ochenta  sueldos  .    . XVII'"  CCLXXX  s 

Ytem  a  ocho  escrivanos  de  registro  a  dos 
sueldos  cada  uno  al  dia,  montan  al  aiio  ginco  mil 
setecientos  ochenta  sueldos V""  DCCLXXX  s 

Ytem  a  dos  selladores  y  dos  peticioneros  hor- 
dinarios  a  quatro  sueldos  a  cada  uno  cada  dia,  que 


^  Die  Summe  ist,  wie  alle  in  Maravedis  angegebenen  Posten,  am  linken  Rande 
ausgerückt,  nicht  am  rechten  unter  den  Sueldos. 


Kanzleiordnungen  Maximilians  I.,  Karls  V.  und  Ferdinands  I.     387 

on  al  afio  todos  quatro:  cinco  mill  setecientos  y  se- 

enta  sueldos V^DCCLXs. 

A  un  solicitador  a  quatro  sueldos  el  dia,   que 

on  U.S.W I-CCCCXXXXs. 

A  un  escalfador  de  cera  a  dos  sueldos  el  dia  usw.  DCCXX  s. 

A  un  Cursor  a  un  sueldo  al  dia  usw CCCLXs. 

A  un  verguer  a  un  sueldo  y  medio  cada  dia  usw.  DXXXXs. 


Todos  los  quales  dichos  oficiales  los  paga  el  protonotario  y  lugar- 
liente  de  los  derechos  del  sello  de  la  dicha  cancelleria. 


1, „,.,_...  _..,..„.„ 

IHrmas,  Alguaziles,  Aposentadores,  Maestre  mayor  de  las  obras,  Reyes 
IHrmas,  Pajes,  Fisicos,  Oficiales  de  casa,  Porteros  de  la  cancelleria  y 
^Hcadena. 


« 


3.  Status  et  ordinationes  cancellariae  imperialis, 
1.  Januaris  1522' 

Carolus  divina  favente  dementia  electus  Roma- 
norum Imperator  semper  augustus,  ac  Germaniae, 
tiyspaniarum,  utriusque  Siciliae,  tiierusalem,  Hungariae, 
Dalmatiae,  Croatiae  etc.  rex,  archidux  Austriae,  dux 
Burgundiae,  Brabantiae  etc.,  comes  Habspurgi,  Flan- 
driae  etc.  Notum  facimus  et  recognoscimus  tenore 
presentium,  quod  cum  spectabilis  noster  et  sacri  im- 
perii  fidelis  dilectus  Mercurinus  de  Gattinaria,  ex  nobi- 
libus  domus  Arborij,  baro  Ozani  et  Terriculae,  supre- 
mus  cancellarius  noster,  ut  res  cancellariae  nostrae 
imperialis  et  provinciarum  Austriae  debito  ordine  diri- 
gerentur,  pro  debito  officij  sui  fecerit  et  constituerit 
certas  ordinationes  praefatae  cancellariae,  quarum 
tenor  talis  est  et  de  verbo  ad  verbum  sequitur: 

Articuli  ordinationum  cancellariae  imperialis  Caesareae  Catholicae 
Majestatis  Domini  nostri  clementissimi,  cum  officialium  ac  personarum 
aliarumque  rerum  specificatione  et  declaratione,  facti  per  magnificum 
et  excellentem  equitem  dominum  Mercurinum  de  Gattinaria,  ex  nobi- 
libus  domus  Arborii,  baronem  Ozani  et  Terriculae  necnon  praefatae 
Caesareae  Majestatis  supremum  cancellarium,  ad  quem  huius  cancellariae 


Besprochen  oben  S.  367 — 369.     Diese  Überschrift  von  der  tiand  des  Viglius. 

25* 


388  Andreas  Walther 

ordinatio    pertinet    sub    ipsius   Caesareae  Majestatis   approbatione  ei 
beneplacito. 

In  primis  D""  sua  pro  debito  officii  et  magistratus  sui  et  prae- 
seriim  pro  bono  ordine  observando  in  expeditione  litterarum  quae  in 
posterum  sub  nomine  Suae  Majestatis  tarn  ratione  imperii  Romani 
quam  ratione  provinciarum  Austriae  expediri  continget,  necnon  exone- 
ratione  conscientiae  Caesareae  Majestatis  et  ipsius  domini  suprem 
cancellarii,  sequentia  ordinavit. 

[1].  Et  in  primis  ut  semper  in  hospitio  sive  domo  residentiae 
D"'^  suae  aut  domini  vicecancellarii  debeat  ordinari  locus;  vel  si 
ibi  commode  fieri  non  poterit,  deputetur  aliqua  domus  propinqua 
hospicio  D"'"  suae.  In  qua  sint  semper  in  arcis  ad  hoc  deputatis  re- 
gistra,  formuiaria,  capsae  et  omnes  aliae  res  ad  cancellariam  pertinentes 
et  ibidem  scribantur,  registrentur  et  expediantur  omhes  litterae,  sicul 
solitum  est  fieri  in  cancellariis  imperatorum  Romanorum. 

[2].  Et  D°  sua,  ut  negotia  magis  Ordinate  procedant,  ordinavit 
vicecancellarium  imperii  dominum  Nicolaum  Ziegler,  et  vicecancellarium 
in  negociis  provinciarum  Austriae  dominum  Joannem  Hannart.  Verum 
si  horum  alter  absens  foret  vel  impeditus,  is  qui  praesens  fuerit,  vices 
alterius  absentis  vel  impediti  supplebit  et  pro  utroque  huiusmodi  offi- 
cium vicecancellarii  exercebit  absque  iuris  alterius  praeiudicio.  Et 
ultra  ipsos  dominos  vicecancellarios  ordinavit  et  deputavit  secretarios 
ordinarios  huius  cancellariae  magistrum  loannem  Alemanum,  Maximi- 
lianum  Transsylvanum  et  Philippum  de  Nicolis.  Item  ordinavit  in  hac 
cancellaria  scribas  ordinarios  VII,  Andream  Cristan,  Beatum  Arnoldum, 
Joannem  Rosenberger,  Gregorium  Beler,  Sebaldum  Haller,  Alonsum 
Valdes  et  Martinum  Transsylvanum.  Et  huiusmodi  scribae  debent 
parere  iussis  et  mandatis  dictorum  vicecancellariorum  et  secretariorum, 
quemadmodum  ipsi  vicecancellarii  et  secretarii  mandatis  domini  su- 
premi  cancellarii. 

[3].  Item  ordinavit  praeterea  idem  dominus  supremus  cancellarius, 
ut  in  hac  cancellaria  sint  quinque  registra,  videlicet  unum  germani- 
cum  et  latinum,  in  quo  registrabuntur  omnes  res  tangentes  suam  Cae- 
saream  Majestatem,  hoc  est  negocia  Status,  alterum  germanicum  rerum 
imperialium,  tertium  latinum  rerum  imperialium  et  praesertim  earum 
quae  sunt  Italiae,  quartum  rerum  Australium  et  quintum  precum  rega- 
lium,  in  quibus  registrentur  omnia  quae  per  hanc  cancellariam  fuerint 
expedita  et  a  praefato  domino  supremo  cancellario  admissa  et  sigillata. 
Debebunt  autem  eiusmodi  litterae  per  supradictos  scribas  aut  alios, 
quos  dominatio  sua  pro  tempore  deputandos  duxerit,  fideliter  absque 
omni  fraude  inscribi  registris,  iuxta  iuramentum  quod  de  eo  D"'  suae 


Kanzleiordnungen  Maximilians  I.,  Karls  V.  und  Ferdinands  I.     389 


>raestabunt.  Si  autem  eiusmodi  litterae  fuerint  palatinatus,  nobilitatio, 
iegitimatio  et  armorum  concessio  in  forma  communi,  non  opus  erit 
ntegre  tales  litteras  registrari,  sed  satis  sit,  earum  summarium  una 
um  data  et  taxa  ac  armorum  descriptione  registris  inscribi.  Si  vero 
n  dictis  litteris  fuerit  aliquid  positum  preter  formam  communem,  tunc 
iebent  integre  registrari,  et  postea  debet  per  unum  ex  secretariis  manu 
;ua  scripta  eiusmodi  registratis  litteris  inscribi  „registrata"  addendo 
lomen  suum. 

[4].  Et  ut  huiusmodi  registra  debito  ordine  dirigantur,  ordinavit 
)ro  nunc  registratorem  magistrum  Alexandrum  Swais,  et  donec  aliter 
lisposuerit,  sit  huius  cancellariae  taxator  Maximilianus  Transsilvanus, 
li  contrarelator  dominus  doctor  Prantner,  qui  iuxta  juramentum  quod 
1e  eo  domino  cancellario  praestare  tenebuntur,  omnes  et  quascunque 
itteras,  quae  in  hac  cancelleria  expedientur  aut  a  domino  cancellario 
>igillabuntur,  fideliter  et  absque  omni  dolo  et  fraude  secundum  com- 
nunem  usum  cancellariae  taxare  tenebuntur  et  huiusmodi  taxam,  una 
:um  litteris  videlicet,  ad  sinistrum  latus  sive  marginem  exteriorem  in- 
icribent,  ita  quod  omni  tempore  huius  taxae  ratio  haberi  possit. 
Item  D""  sua  ordinavit  et  receptorem  huius  cancellariae  Hieronymum 
de  Ranzo,  qui  taxam  omnium  litterarum,  quae  per  D"^*"  suam  sigilla- 
ountur,  accipiet  et  de  eo  bonum  computum  tenebit,  supplendo  ex  his 
3mnes  necessarias  impensas  cancellarie. 

[5].  Item  quia  digni  sunt  mercenarii  mercede  sua^  ordinavit  D°  sua, 
quod  tam  de  precibus  regalibus,  quam  de  aliis  litteris  et  expeditioni- 
bus  quibuscumque  in  ipsa  cancellaria  expediendis  et  taxandis  secun- 
dum ipsius  taxam,  quae  deductis  impensis  et  oneribus  cancellariae 
obvenerit,  valorem  et  quantitatem  [!],  fiat  divisio  in  tres  partes,  quarum 
tertia  ipsi  supremo  cancellario,  alia  tertia  pars  dominis  vicecancellariis, 
reliqua  vero  portio  secretariis  praedictis  applicetur  una  cum  taxatore, 
registratore  et  contrarelatore  ac  receptore,  pro  rata  temporis  dum- 
taxat,  quo  horum  quilibet  personaliter  in  ipsa  cancellaria  inserviet  et 
iuxta  qualitatem  oneris  cuilibet  ipsorum  iniuncti. 

[6].  Item  omnes  litterae,  quae  in  hac  cancellaria  expedientur,  visi- 
tabuntur  a  domino  cancellario  et  signabuntur  solito  charactere  D"'"  suae 
vel  ab  alio  quem  D""  sua  ad  hoc  deputandum  duxerit.^  Si  vero  ger- 
manice  fuerint,  commisit  D°  sua,  ut  visitentur  et  signentur  vice  D"'^ 
suae  a  domino  doctore  Lamparter  vel  ab  alio  quem  D*^  sua  ad  hoc 
deputandum  duxerit 

[7].  Item  ordinavit  etiam  D°  sua,  ut  omnes  litterae  quae  in  hac 
cancellaria  aut  ab  aliis  secretariis  expedientur,   sive  sint  cum  sigillo 


^  Der  Passus:  „vel  .  .  .  duxerit^'  von  Viglius  unterstrichen. 


39Q  Andreas  Walther 

pendente,  sive  cum  impressione  a  tergo,  sive  in  pargameno  sive  pa- 
pyro,  dummodo  sint  patentes,  quod  nullus  debeat  eiusmodi  literas 
sigillare  nisi  D°  sua,  quae  eiusmodi  literas  iuxta  earum  exigentiair 
debitis  sigillis  sigillari  et  expediri  faciet.  Pro  literis  autem  clausie 
apponetur  parvum  sigillum  secretum  quod  vicecancellarii  seu  secretari 
huius  cancellariae  habere  debebunt  sub  clave  et  custodia  unius  secre- 
tariorum.  Et  si  secus  fiat,  irritum  sit;  contrafaciens  vero  offici( 
privetur. 

[8].  Item*  D°  sua  ordinavit  praeterea  quod  doctor  Lamparter  ve 
doctor  Prantner  iussu  D"'^  suae  proponerent  dominis  consiliariis  Ger 
manicis  negocia  germanica,  et  alter  eorum  de  rebus  importantiae  sua( 
jV^ggtiae  relationem  faceret. 

[9].  Item  ordinavit  etiam  D°  sua,  ut  in  hac  cancellaria  sua  expe 
diantur  omnes  preces  regales,  et  quod  extra  eam  nullae  prorsus  litera( 
primariarum  precum  scribi  possint  aut  debeant,  ne  ordo  debitus  con 
fundatur,  etiamsi  partes  vellent  scrlpturam  et  omnia  alia  iura  can 
cellariae  persolvere.  Debent  autem  expediri  hoc  modo:  Inprimis  cun 
Majestas  Caesarea  signavit  certos  rotulos,  quibus  inscriptae  sunt  gratiai 
primariarum  precum  et  nomina  quibus  ea  contulit,  exhibebit  idem  de 
minus  supremus  cancellarius,  retento  penes  se  rotulorum  originali 
exemplum  subscriptum  manu  D"''  suae  in  hanc  suam  cancellariam,  e 
secretarii  illius  debebunt  inprimis  dominis  principibus  electoribus 
deinde  iuxta  illorum  continentiam  cuilibet  petenti  facere  scribi  prece; 
suas,  et  postea  registrari,  hoc  est  in  registro  precum  inscribi  facere 
ad  quem  collatorem  seu  collatores  eiusmodi  preces  diriguntur  et  pn 
quo  et  ad  cuius  petitionem  concessae  fuerint,  praeterea  quem  Caesare; 
Majestas  earum  executorem  constituit,  addendo  etiam  datam  litterarun 
una  cum  ipsarum  relatione  more  hispanico.  Deinde  subscribantu 
primo  per  registratorem,  postea  deferantur  ad  dominum  supremun 
cancellarium,  qui  signet  eas  solito  charactere,  exinde  per  illum  qu 
eas  ex  rotulo  exscripserat,  inscribatur  in  margine  rotuli  expedltionen 
factam.  Postremo  deferantur  ad  Caesarem  et  integre  expediantui 
Etsi  huiusmodi  preces  fuerint  expeditae  pro  Caesareae  Majestatis  fa 
miliaribus  ordinariis  vel  eorundem  familiarum  familiaribus  aut  pn 
electoribus  seu  eorüm  familiaribus  ordinariis  vel  supradictorum  con 
sanguineis,  [tamen]^  D"*  sua   ratione   taxae   servabit  in   his  omnibu 


^  Randbemerkung  des  Viglius:  „Propositores  seu  relatores  negociorum". 

^  Das  „tarnen"  steht  in  der  Kopie  vor  dem  letzten  „vel".  Hätten  wir  es  mi 
einem  flüchtigen  Entwurf  anstatt  mit  einer  ausgefertigten  Urkunde  zu  tun,  so  war 
denkbar,  daß  Gattinara,  nachdem  er  das  „tarnen"  geschrieben,  mit  „vel"  noch  eine 
Nachtrag  zum  Vorigen  hinzufügte. 


Kanzleiordnungen  Maximilians  1.,  Karls  V.  und  Ferdinands  I.     391 

onsuetudinem  apud  imperialem  cancellariam  hactenus  servari  soütam. 

item   dominatio  sua  ordinavit,   quod  quando  aliquae  preces  sine  taxa 

gratis  expedientur,   tunc  taxator  debet  hoc  scribere  manu  sua  in  loco 

^ibi  taxa  scribi  solet  cum  expressione  gratiae  factae,  et  quod  nihil  pro 

•  )|is .  accipietur  nisi  sigillum  hoc  est  florenus.^  Item  dominatio  sua  ordi- 

lavit  quod  si  quis  in  posterum  petierit  aliquas  preces  nondum  alicui 

— goncessas,  aut  etiam  concessas  sed  quae  aliquo  modo  re  integra  vaca- 

^ftrint,  talis  petens  habebit  obtinere  cedulam  manu  dominationis  suae 

■Äbscriptam  et  ad  hanc  suam  cancellariam  directam,  qua  tales  preces 

iKribi  atque  expediri  mandentur;   alias  nullo  modo  possint  scribi  nee 

JBcpediri. 

T       [10].  Item  D°  sua   ordinavit,   quod   receptor  debet  in  hac  cancel- 

iaria  coram  taxatore,   registratore,   contrarelatore  et  secretariis  et  alio 

adhuc  a  dominatione   sua   deputando   dare  computum  de  receptis  et 

expositis  singulis  mensibus,   et  deductis  impensis  ipsius  cancellariae 

unicuique  ratam  taxae  sibi  pertinentem  realiter  consignare. 

[11].  lurabunt  praeterea  secretarii,  taxator,  registrator,  contrarelator 
jet  scribae  in  manibus  dominationis  suae  se  suae  Mag*'^^  ac  domino 
vicecancellario  fideliter  obedire  ac  praesentem  ordinationem  firmiter 
observare  velle  et  quod  nihil  accipient  praeter  illa  communia  bibalia 
quae  dantur  in  Germania,  quae  etiam  non^  solvantur  nisi  uni  scribae 
ad  hoc  specialiter  deputato  et  omnium  nomine  accipienti. 

In  quorum  fidem  idem  supremus  dominus  cancellarius  subscripsit 
haec  manu  sua  propria.  Actum  in  oppido  Gandano  die  prima  mensis 
Januarii  A"*  D.  iV\DXXII°.    Signatum  ita  Mercurinus  de  Gatinaria. 

Nobis  vero  considerantibus  huiusmodi  ordinationes 
esse  iustas  ac  aequas  et  pro  debita  constitutione  can- 
cellariae nostrae  imperialis  et  provinciarum  nostrarum 
Austriae  necessarias,  easdem  animo  deliberato  maturo 
consilio  in  omnibus  suis  capitulis,  articulis,  punctis, 
sententiis  et  clausulis,  prout  praeinsertae  sunt,  rati- 
ficavimus,  laudavimus  et  approbavimus,  sicut  tenore 
praesentium  ratificamus,  laudamus  et  approbamus; 
mandantes  et  hoc  nostro  Caesareo  edicto  decernentes, 
quod  a  praefatis  vicecancellariis,  secretariis,  scribis  et 
aliis  omnibus,  ad  quos  attinet  et  in  posterum  quomo- 
dolibet  pertinere  poterit,  dictae  ordinationes  firmiter 
observari   nee   illis  ulla  in  parte  directe  aut  indirecte 


*  Der  Passus:  „et  quod  .  .  .  florenus"  von  Viglius  unterstrichen. 
^  Der  Passus:  „et  quod  .  . .  non"  von  Viglius  unterstrichen. 


392  Andreas  Walther 

contraveniri  debeat  sub  pena  gravis  indignationis 
nostrae  et  aliis  in  praeinsertis  ordinationibus  con- 
tentis.  Harum  testimonio  literarum  manu  nostra  sub- 
scriptarum  et  sigilli  nostri  appensione  munitarum 
datum  in  oppido  nostro  Gandano  die  prima  mensis 
Januarii  A°  D.  iV\DXXII°,  regnorum  nostrorum  Romano 
tertio,  aliorum  omnium  sexto.^ 

Subscriptum  Ad  mandatum  Cesareae  et 

Carolus.  catholicae  Majestatis  proprium. 

iWaximilianus  Transsylvanus. 


4.   Conceptutn  ordinationum  cancellariae  imperialis  revisum 

9.  Aprilis  1550  2 

De  Caes.  Maiestate 

[1].  Quod  persuadeatur  Suae  M*',  ut  patiatur  ea  quae 
statum  aut  fiscum  non  concernunt,  qualia  sunt  rescripta  in 
causis  iustitiae,salviconductus,salvaguardiae,iegitimationes, 
armorum  literae  communes  absque  nobilitatione  et  galea 
tornearia  vel  Corona,  preces  quoque,  nominationes  et  alia 
eius  farinae,  absque  subsriptione  Suae  M*'"  more  praede- 
cessorum  principum  saltem  sub  cacheto  suo  expediri. 
Dn.  Obernburg. 

Quamquam  in  hoc  M*'  Suae  tanquam  domino  ördo  praescribi  non 
possit  nee  debeat,  tamen  iste  articulus  sub  beneplacito  Suae  iW*'^  videtur 
certe  habendus  in  aliqua  consideratione,  non  solum  propter  celeriorem 
negotiorum  expeditionem,  verum  etiam  et  maxime  propter  munus 
registrandi,  quod  in  cancellaria  omnium  opinione  summopere  est 
necessarium.  Quia  cum  ante  subscriptionem  Suae  M*'"  vel  cachetationem 
aliquid  commode  registrari  nequeat,  W^^  autem  Sua  vix  post  trimestre 
subscribat,^  certe  (prout  diligenter  perpendit  Dn.  Obernburgerus)  maxima 
difficultas  in  eo  oritur,  quod  vel  uno  et  eodem  momento  tam  ingens 
acervus  litterarum  registrandus  est,  vel  negotia  cum  magno  tum 
Suae  M^'^  tum  partium  detrimento  tantisper,  donec  registratio  fiat,  diffe- 


^  So  weit  die  Kopie.  Das  übrige  hat  Viglius  hinzugefügt,  wohl  nach  dem  Original. 

'  Besprochen  oben  S.  369  ff.  Diese  Aufschrift  von  der  Hand  des  Viglius.  Die 
in   der  Kopie   durch  größere  Schrift  hervorgehobenen  Sätze  sind  gesperrt  gedruckt. 

^  Am  Rande  von  derselben  Schreiberhand:  Haec  coaduniantur  ea  ratione,  ut 
Caes^  Mt^s  tanto  minus  superfluis  laboribus  oneretur. 


^ 


Kanzleiordnungen  Maximilians  I.,  Karls  V.  und  Ferdinands  I.     393 


inda.    Nisi  forte  W^^  Sua  malit  sepius  subscribere,  quod  tarnen  (nisi 
iillor)  difficilius  Suae  M^'  persuadebitur. 

De  supremo  Cancellario 

[2].  De  officio  huius  licet  paucissima  in  antiquis  ordinationibus 
osita  sunt,  utputa  de  subscriptione  et  sigillatione  litterarum,  de  rela- 
onibus  ad  Caes^"'  M^^""  faciendis,  de  visitatione  cancellariae  etc.  Sed 
uoniam  hoc  officium  nunc  maiori  ex  parte  per  R""  D*"  Atrebatensem, 
ui  in  eo  111'"  D*"  genitorem  R""^^  D"'^  suae  representat,  administratur, 
^li  quidem  ordine,  ut  nihil  in  R*"^  D"^  sua  desiderari  possit,  frustra- 
eum  videtur  antiquas  ordinationes  in  hoc  refricare.  Ideo  istud  totum 
rbitrio  Suae  R"^^^  D"'^  remittitur. 

De  Vicecancellariis 

[3].   De  horum  officio  similiter  aliqua  in  antiquis  ordinationibus 
eperiuntur.  Quae  pari  ratione  hoc  tempore  nulla  discussione  indigent. 
jäjped  rursus  remittuntur  discretioni  R*"'  D"'  Atrebatensis. 

De  Consiliariis 

[4].  Quamvis  nunc  simus  in  ordinationibus  cancellariae,  et  de 
,]fconsiliariis  in  antiquis  ordinationibus  cancellariae  nihil  vel  parum 
iiabeatur,  tamen  ordo  consilii  adeo  apparet  esse  necessarius,  et  quodam- 
tnodo  cum  ordinatione  cancellariae  coniunctus,  ut  plane  omitti  vel 
praeteriri  sine  maximo  incommodo,  praecipue  in  quibusdam  articulis, 
non  possit. 

Articuli  autem  qui  in  considerationem  venire  possunt,  tales  hoc 
tempore  occurrunt: 

[5].  üt  detur  ordo,  quisnam  in  consilio  supplicationes 
vel  a  partibus  oblatas  vel  a  Caes^  M^^  aut  supremo  cancel- 
lario vel  eins  personam  representante  in  consilium  trans- 
missas  recipere  debeat. 

Iste  articulus  ideo  necessarius  est,  ne  supplicationes  indifferenter 

(prout  hactenus  fieri  consuevit)  ipsismet  consiliariis  offerantur.    Ex  quo 

"  jinter  cetera  plura  incommoda  istud  vel  maximum  secutum  est,  quod 

(partes   inde   sciunt,   quisnam   negotii   referens  sit,   quod  certe  multis 

inominibus   non   potest   non   esse   et  absurdum  et  periculosum.    fiuc 

iadde  quod  melius  omnino  convenit  partes  in  sollicitandis  negotiis  ad 

•i  consilium  recurrere,   quam  vel  R""  D*"  Atrebatensem  vel  singulos  do- 

'Iminos   consiliarios   vel  cancellariam  denique  in  dies   molestare   et  in 

'aliis  negotiis  impedire. 


394  Andreas  Walther 

[6].  üt  per  supremum  cancellarium  vel  eum  cui  ho 
munus  demandaverit,  supplicationes  et  acta  dominis  con 
siliariis  videnda  et  referenda  distribuantur. 

Istud  ideo  est  necessarium,  quia  nullus  consiliariorum  (ut  eg 
arbitror)  ita  affectus  est,  ut  vel  semet  alicui  negotio  temere  ingeren 
vel  etiam  alios  collegas  suos  propria  authoritate  onerare  velit.  Deind 
opus  est,  ut  in  huiusmodi  distributione  scripturarum  pro  qualitate  tur 
negotiorum  tum  consiliariorum  aliquis  habeatur  delectus. 

[7].  üt  omnes  supplicationes,  missivae,  producta  et  alia 
quaecunque  scripturae  consilio  oblatae,  per  eum  cui  munu 
recipiendi  incumbit  de  die  et  anno  signentur. 

Istud  conducit  non  solum  ad  habendam  certitudinem  temporii 
verum  et  etiam  ut  in  eadem  causa  pluribus  scriptis  cumulatis  habeatt 
notitia  quaenam  fuerit  prior  vel  posterior,  et  sie  confusio  quae  hac 
tenus  invaluit  evitetur. 

[8].  üt  in  absentia  praesidis  aliquis  adsit  qui  vota  colli 
gat  et  concludat. 

Istud  non  solum  per  se  conveniens,  verum  etiam  aliquotiens  dis 
cordantibus  votis  consiliariorum  necessarium  est. 

[9].  üt  is  cui  in  absentia  praesidis  munus  vota  colligend 
incumbet,  iniungat  pro  modo  et  qualitate  negotiorum  nun' 
uni  nunc  alteri  ex  consiliariis  ut  si  quid  nomine  consilii  or 
decernendum  vel  pronunciandum  fuerit,  id  ita  exequatur. 

Nullus  enim  consiliariorum  alteri  libenter  vel  honorem  praeripi 
vel  onus  iniungit. 

[10].   üt  in  referendo  observetur  aliquis  ordo. 

Istud  valde  necessarium  est,  ad  hoc  ut  negotia  Caes^^  M*'%  vel  e; 
quae  alias  sunt  maioris  momenti,  vel  quae  moram  non  patiuntur,  ve 
in  quibus  de  assignatione  termini  agitur,  prae  aliis  expediantur.  Caeteri 
autem  paribus  quilibet  ex  dominis  consiliariis  audiatur  in  sua  ordi 
natione,  quemadmodum  etiam  in  iuditio  camerae  fit. 

[11].  üt  conficiatur  brevis  catalogus,  quae  acta  vel  scrip 
turae,  quibus  consiliariis,  quo  die  vel  distributae  vel  e: 
cancellaria  communicatae  sint. 

Istud  conducit  ad  diligentem  scripturarum  asservationem,  item  ac 
hoc  ut  domini  conciliarii  tanto  magis  negotiis  expediendis  intenti  sint 
cum  videant  alios  animadvertere,  quanto  tempore  scripturae  penes  illoj 
deliteant.    Hoc  similiter  observatur  in  juditio  camerae. 

[12].  Ne  quis  ex  dominis  consiliariis  oneret  consilium  it 
relatione  negotiorum,  pro  quibus  expediendis  nemo  solli- 
citat. 


Kanzleiordnungen  Maximilians  I.,  Karls  V.  und  Ferdinands  I.     395 

Istud  servit  ad  evitandum  laborem  frustraneum.  Et  poterunt 
uiusmodi  scripturae  neglectae  post  aliquod  tempus  vel  lacerari  vel 
n  aliquem  angulum  separatum  conjici,  ne  cancellaria  multitudine 
.cripturarum  inanium  oneretur. 

[13].  Ne  qua  scriptura  consilio  oblata  in  posterum  ad- 
^ersae  parti  communlcetur,  sed  eius  vel  ex  cancellaria  detur 
opia,  vel  si  cancellariae  non  vacaverit,  iniungalur  parti,  ut 
icripturam  duplicatam  offerat.  ^ 

Re  ipsa  compertum   est,   quod  hactenus  ex  tali  communicatione 

)artibus   facta   scripturae    saepius    amissae,    forte    et   jam    aliquando 

nalinose  suppressae  sunt.    Ex  quo  deinceps  in  relatione  negotiorum 

tnira  turbatio  et  perplexitas  insecuta.    Adde  quod  per  huiusmodi  com- 

^|municationem  pravis  hominibus  falsificandi  occasio  aperiatur. 

De  Secretario 

[14].  De  hoc  officio,  considerando  praesentem  statum  cancellariae, 
similiter  nihil  opus  esset  dicere,  cum  procul  dubio  omnium  opinione 
huic  officio  in  persona  domini  Obernburgeri  optime  provisum  sit. 
Verum  si  ordinacio  cancellariae  pro  nunc  tanquam  perpetua  consultari 
debet,  possunt  aliqui  articuli  ex  antiquis  ordinationibus  huic  officio 
inservientes  enumerari,  ut  ii  qui  in  posterius  aliquando  secretarii 
erunt,  eorum  tanto  melius  possint  meminisse. 

Articuli  autem  hi  sunt: 

[15].  üt  secretarius  pareat  mandatis  supremi  cancellarii 
et  vicecancellariorum. 

Hie  articulus  desumptus  est  ex  ordinatione  domini  Mercurini,  in 

Iduobus  locis.    In  1^  fit  mentio  de  solo  supremo   cancellario,   in   2^ 
etiam  de  vicecancellariis.^   Ego  arbitror  rem  utrovis  modo  non  habere 
magnam  difficultatem. 
'  [16].    üt   ea   quae    concipienda    sunt   concipiat   cum    dili- 
gentia.   Archicancel.^ 

üt  concepta,  antequam  ea  det  ad  ingrossandum,  prae- 
legat  supremo  cancellario  vel  vicecancellario  et  faciat  per 
eos  subscribi. 

Iste  articulus  ita  fuit  positus  in  ordinatione  archicancellarii,^  eo 
tempore  quo  ipsaemet  literae  ingrossatae  non  subscribebantur  nee  a 


^  Am  Rande  von  derselben  Schreiberhand:  Nobis  videtur  magis  expeditum,  ut 
simpliciter  partes  astringantur  ad  offerenda  duplicata. 

^  Ordnung  von  1522,  Art.  2  u.  11,  oben  S.  388  u.  391. 

^  Ordnung  von  1494  (Posse  S.  205—209,  siehe  oben  S.  357 f.,  361,  370 f.),  Art.  2. 

*  1494.  Art.  2. 


396  Andreas  Walther 

cancellariis  nee  a  principe.  Hodie  vero  cum  ipsae  literae  videantur  i 
cancellariis  vel  vicecancellariis  et  ab  eisdem  ac  etiam  a  principe  sub' 
scribantur,  talis  articulus  non  erit  necessarius.  ^ 

[17].  Ut  concepta  distribuat  amanuensibus  ad  ingros- 
sandum. 

Quamvis  ordinatio  Austriaca  ponat,  quod  ipsimet  amanuenses  de 
beant  accipere  unusquisque  suam  portionem,  tarnen  commodius  dis-' 
tributio  videtur  fieri  per  secretarium,   iuxta  qualitatem  uniuscuiusque 

[18].  üt  ingrossata  ab  amanuensibus  conferat  cum  con- 
cepto,  ubi  opus  fuerit  corrigat,  et  subscribat,  antequam  ac 
sigillum  ferantur.    Archicanc.^  Mogunt. 

Idem,  ut  puto,  hodie  observatur,  quamvis  secretarius  demum  posi 
subsignationem  principis  et  cancellarii  subscribat.^ 

[19].  üt  facta  collatione,  concepta  tradat  registratori  ac 
registrandum.    Archican.* 

Hodie  fortassis  aliud  statuetur,  de  quo  infra  in  officio  registratoris 

[20].  üt  ea  concepta  quae  registrari  non  est  opus  asservet 
Archicancel.^ 

[21].  üt  custodiat  parvum  sigillum  secretum  et  apponal 
illud  clausis  litteris  dumtaxat.  Si  secus  fiat,  irritum  sit 
[contra]faciens  officio  privetur.    Mercur.^ 

Idem,  putamus,  hodie  observatur. 

[22].    üt    ea    quae    communia    et   levioris   momenti   sunt 
amanuensibus    saltem   qui   bene   se    accommodare   videntur 
concipienda  committat,  eosque  ita  instruat,  ut  aliquando  ad; 
maiora  promoveri  possint.    Mogunt. 

Meo  juditio  bonus  est  articulus,  non  solum  ut  secretarius  sub- 
levamen  laboris  habeat,  verum  etiam  ut  industria  eorum  qui  libenter 
se  in  maioribus  exercent,  promoveatur. 

[23].  üt  exerceat  munus  prothocollandi  in  concilio. 

Quamvis  secretarii  laboribus,  praesertim  ubi  unicus  tantum  adest, 
quantum  fieri  potest,  parcendum  sit,  tamen  istud  officium  proprie  videtur 

^  Am  Rande  von  derselben  Schreiberhand:  Consideratur  quod  in  causis  alicuius 
momenti  adhuc  bonum  sit,  ut  per  supremos  cancellarios  vel  vicecancellarios  vide- 
antur non  solum  litterae  ingrossatae,  verum  etiam  ante  ingrossationem  ipsa  concepta 
secretariorum,  ne,  ubi  aliquid  mutandum  fuerit,   cancellaria  dupHci  labore  oneretur. 

'  1494,  Art.  3. 

^  Am  Rande,  von  derselben  Schreiberhand:  Melius  forte  esset,  ut  secretarius 
conferret  et  corrigeret,  antequam  supremo  cancellario  vel  vicecancellariis  subsignanda 
ferantur. 

*  1494,  Art.  3. 

^  ibid.  Art.  4. 

®  Art.  7,  oben  S.  389 f.;  die  Kopie  hat:  atque  faciens. 


i 


Kanzleiordnungen  Maximilians  I.,  Karls  V.  und  Ferdinands  I.     397 


d  secretarium  spectare,  quemadmodum  et  in  iuditio  camerae  ad  pro- 
lonotarios.  Ceterum  si  secretarius  aliquem  peritum  ex  reliqua  socie- 
ite  cancellariae  sibi  vellet  adiungi,  non  arbiträrer  esse  repugnandum. 

[24].  Ut  ex  protocollo  compleat  acta,  quae  ad  referendum 
andasunt 

Iste  articulus  dependet  quodammodo  a  praecedenti.  Sed  in  hoc 
ecretarius  proculdubio  poterit  alterius  opera  uti  et  ipse  tantummodo 
itendere,  ut  istud  debito  ordine  fiat. 

[25].  üt  curam  habeat  conficiendi  calendarii,  in  quo  in- 
cribantur  termini  iudiciales,  item  indultorum  ad  feuda  acci- 
ienda  et  similes.  In  hoc  poterit  deputare  aliquem  ex  amanu- 
nsibus,  qui  moneat  consilium  de  terminis  praedictis,  scrip- 
urasque  ad  negotium  pertinentes  colligat  et  in  consilium 
erat.    Archican.^    Mogunt. 

Quamvis  hoc  hodie  non  sit  in  usu,  tamen  propter  multitudinem 
tium,  quae  quotitie  oriuntur,  forte  non  esset  absurdum  istud  in  consue- 
udinem  revocare.^ 

[26].  üt  curam  gerat  colligendi,  reponendi,  et  rursus  pro- 
nendi  omnia  scripta  quae  in  consilium  vel  cancellariam 
erentur. 

Quamvis  ordinatio  Moguntina  hoc  attribuat  registratori,  quemad- 
nodum  etiam  in  judicio  camerae  istud  munus  incumbit  non  proto- 
lotariis  sed  lectoribus,  tamen  quoniam  apud  nos  solus  secretarius  in 
•oncilio  est,  nemo  ipso  melius  hoc  poterit  exequi,  nisi  et  ipse  in  hoc 
/elit  habere  sublevantem. 

[27].  üt  in  hoc  operam  det,  quo  informationes  missae  a 
3artibus  vel  aliis,  item  instructiones  quae  aliquando  dantur 
)ratoribus  et  legatis,  et  siqua  huiusmodi  sunt  maioris  mo- 
nenti,  diligentius  prae  caeteris  asserventur.    Archican.^    Aust. 

Et  praecipue  ut  custodiantur  litterae  obligatoriae  aliunde 
ad  Caes^«"  M^^'"  vel  consilium  missae.    Archican.^    Mogunt. 

Nescio  an  custodia  huiusmodi  litterarum  apud  nos  ad  cancellariam 
^el  ad  alium  quempiam  pertineat. 

[28].  üt  diligentem  conficiat  catalogum  omnium  eorum, 
quae  apud  cancellariam  asservantur,  ut  ubi  opus  fuerit, 
tanto  expeditius  reperiri  possint.    Mogunt. 


'  1494,  Art.  20  (?). 

^  Am  Rande  von  derselben  Schreiberhand:  Forsan  futuris  temporibus,  ubi  lites 
jin  curia  cessabunt,  necessitas  hoc  non  exiget. 
'  1494,  Art.  17,  24,  25. 
'  1494,  Art.  21. 


398  Andreas  Walther 

[29].  üt  specialiter  annotet,  quaenam  acta  vel  scripturae 
et  quo  die  vel  consiliariis  vel  partibus  communicatae  sint. 

De  hoc  superius  quoque  sub  titulo  de  consiliariis  dictum.  Et  ho 
poterit  is  cui  custodia  scripturarum  incumbit,  etiam  per  substitutun 
agere. 

[30].  üt  ex  iis  quae  omnino  expedita  sunt,  quodlibet  ii 
(saccum)^  suum  reponat.    Aust. 

De  Registratore.^ 

[31].  üt  pareat  supremo  Cancellario,  et  vicecancellariis. 
Dn.  Mercurin.* 

[32].  üt  ea  quae  registranda  sunt,  registret  per  se  ve 
per  alium,  suis  tarnen  expensis. 

Ita  habet  ordinatio  Archicancellarii.^  Ordinatio  vero  Moguntin 
nullum  constituit  specialem  registratorem,  sed  vult  quod  ea  qu 
registranda  sunt,  registrentur  per  scribas  cancellariae.  Sed  ex  ordi 
natione  dom.  Mercur.  colligitur  quod  eo  tempore  fuerit  quidam  registrato 
specialis,  sed  quod  inscriptio  in  registris  fuerit  facta  etiam  per  scriba 
cancellariae.^  Quae  ratio  mihi  non  solum  videtur  commoda,  verun' 
etiam  propemodum  necessaria.  In  tanta  enim  multitudine  expeditionurr 
quae  apud  hanc  cancellariam  sunt,  non  est  possibile,  quod  illae  omne 
per  unum  hominem  in  registrum  possint  scribi,  sed  videtur  aliorun 
manus  auxiliares  necessario  debere  accedere.  Itaque  constitui  possei 
ut  unus  quidem  officium  et  curam  registrandi  susciperet,  iuvaretu 
vero  ab  aliis  nudo  scribendi  ministerio,  casu  quo  ipse  omnia  inscriber. 
non  posset.  ] 

[33].  üt  registret  omnia  que  per  hanc  cancellarium  fuerin 
expedita  et  a  domino  supremo  cancellario  admissa  et  sigil 
lata.    Mercur.^ 

Ordinatio  quidem  Moguntina  statuit,  ut  ea  tantum  registrentur, 
que  habent  sigillum  appensum.  Sed  res  ipsa  indicat,  alia  que  ii, 
papiro  expediuntur,  et  que  habent  subimpressum  sigillum,  plerumqui 

^  Von  Viglius  hinzugefügt.  ] 

*  Die  folgenden  beiden  Abschnitte  über  Registrator  und  Taxator  sind  von  einer 
anderen  Kopisten  geschrieben,  was  auch  in  der  Orthographie  (que  anstatt  quae  usw. 
zur  Erscheinung  kommt.  \ 

^  Von  derselben  Hand  hier  am  Rande:  Nota,  nobis  videtur,  quod  etiam  posse, 
statui,  ut  pareret  supremo  secretario.  [ 

*  Art.  11,  oben  S.  391. 
'  1494,  Art.  5. 

*  Art.  4  u.  3,  oben  S.  388 f. 
'  Art.  3,  oben  S.  3S8. 


Kanzleiordnungen  Maximilians  I.,  Karls  V.  und  Ferdinands  I.      399 


>nge  maioris  esse  momenti,  et  sie  non  minus  esse  registranda  quam 
la.    Ideo  preferrem  in  hoc  ordinationem  domini  Mercurini. 

[34].   Hoc  loco  posset  etiam  considerari  quid  de  literis  clausis. 
[35].   Idem  quid  de  instructionibus  legatorum  et  eorundem  rela- 
onibus. 

[36].  Et  quamvis  ordinatio  iV\oguntina  velit,  quod  etiam  obligationes 
t  reversales  aliorum  in  cancellariam  venientes  registrari  debeant,  tamen 
asu  quo  officium  expediendi  et  custodiendi  illas  non  pertineat  ad  hanc 
ancellariam,  iste  articulus  nuUum  habeat  effectum. 

[37].  üt  registratio  fiat  in  ipsa  cancellaria  non  extra.  Aust. 
Puto   hoc    esse   provisum   propter    diligentiorem    custodiam    tum 
2gistrorum  tum  eorum,  ex  quibus  fit  registratio. 

[38].  üt  registratio  fiat  ex  literis  iam  admissis  et  sigil- 
atis.    Mercur.^ 

Secundum    ordinationem    archicancellarii  ^    fiebat    tunc    temporis 

egistratio  ex  conceptis  secretariorum,  postquam  illa  a  supremo  can- 

ellario  vel  vicecancellariis  essent  subscripta.    Sed  tum  ipse  Ütere  nee 

principe    nee    a    cancellariis    subscribebantur,    hodie    vero,    cum 

psemet    literae    subscribebantur    non    solum    a    supremo    cancellario 

'el    vicecancellariis,    verum    etiam    ab    imperatore,    ita    quod    literae 

um   demum   expediende   et  sigillo   digne  dicuntur,    quando   ipsemet 

mperator   manum   iam   admovuit,    arbitror  certe   registrationem   ante 

d  tempus   et  ex  alio  exemplari  quam  quod  ab  ipso  principe  appro- 

)atum  est,  fieri  nee  posse  nee  debere.   Absurdum  enim  esset  id  regis- 

rare,   quod  postea  vel  corrigi  vel  mutari  vel  differri  vel  reici  contin- 

jeret.    Itaque  et  in  hoc  magis  probo  ordinationem.  domini  Mercurini. 

[39].  üt  quinque  sint  registra,  unum  germanicum  et  lati- 

lum,   in   quo   registrentur   omnes   res   tangentes   Caes.  M*^'", 

IOC   est  negotia    Status,    alterum    germanicum    rerum   impe- 

ialium,    tertium   latinum    rerum    imperialium   et   praesertim 

iarum  que  sunt  Italiae,  quartum  rerum  Australium,  quintum 

precum  regalium. 

Ista  ordinatio  est  domini  Mercurini,  ^  cui  tamen  addenda  est 
quedam  correctio.  Cum  enim  hodie  negocia  patrimonalia  apud  hanc 
cancellariam  non  tractentur  nee  expediantur,  supervacaneum  est  id 
quod  de  registro  rerum  Australium  dicitur.  Deinde  videtur  commodius, 
ut  secundum  registrum  consistat  ex  rebus  imperialibus  Germaniae,  sive 
germanica  sive  latina  lingua  expedite  sint,  ita  ut  tertium  registrum 
solis  italicis,  quartum  vero  precibus  et  nominationibus  relinquatur. 

'  Art.  3  u.  9,  oben  S.  388  f.,  390. 

'  1494,  Art.  5. 

'  Art.  3,  oben  S.  388  f.  - 


400  Andreas  Walther 

[40].  Quod  litteras  palatinatus,  nobilitationis,  legitima 
tionis  et  armorum  concessionis  in  forma  communi  non  opu 
Sit  integre  registrari,  sed  satis  sit  earum  summarium  un 
cum  data  et  taxa  et  armorum  descriptione  registris  inscrib 
Si  vero  in  dictis  litteris  fuerit  aliquid  positum  preter  formar 
communem,  tunc^  integre  registretur.    Mercur.^ 

Iste  articulus  satis  est  commodus,  et  quamvis  nonnumquam  litter 
in  narratione  meritorum  vel  ex  alia  causa  varient  a  forma  commun 
tamen  ista  variatio  similiter  poterit  summarie  exprimi. 

[41].  Et  in  hoc  loco  cogitandum  esset  quid  de  citationibus,  ir 
hibitionibus,  vel  mandatis  simplicibus. 

[42],  üt  registrata  diligentur  conferat  cum  exemplari  e 
quo  registrata  sunt,  nequid  perperam  in  registro  scriptur 
in  venia  tun    Archican.^ 

[43].  Ut  registratis  literis  inscribat  „registrata",  addend 
nomen  suum.    Archican.*  Mercur.^ 

[44].  üt  luvet  scribas,  ubi  per  otium  poterit,  in  scribend 
officio.    Aust. 

Istud  meo  iudicio  debet  determinari  secundum  qualitatem  per 
sone  ipsius  registratoris.  Si  enim  registrator  tam  esset  idoneus,  u 
etiam  secretarium  in  aliquibus  posset  relevare,  arbiträrer  illud  non  in 
commode  posse  statui.  Quemadmodum  et  rursus  ipse  registrato 
iuvari  debet  per  scribas  cancellariae,  ita  ut  semper  alter  alteri  manun 
porrigat. 

[45].  In  ordinatione  archicancellarii^  erat  etiam  positus  alius  arti 
culus,  quod  registrator  deberet  specialiter  annotare  catalogum  omniun 
consiliariorum,  servitorum  et  provisionariorum  Caes^^  Ma*'%  sed  pn 
ratione  horum  temporum  et  conditione  aule  nostre  puto  quod  istu( 
hodie  non  sit  practicabile. 

[46].  Que  ad  salarium  registratoris,  licet  illud  aliquando  constitutun 
fuerit  ex  quadam  taxa  special!  huic  officio  deputata,  sed  quoniatr 
nunc  circa  illam  taxam  multe  difficultates  occurrunt,  partim  per  domi 
num  Obernburgerum  consideratae,  partim  adhuc  considerande,  ide( 
domini  supremi  cancellarii  determinabunt  in  hoc  id  quod  optimun^ 
Visum  fuerit. 


*  Hier  von  Viglius  übergeschrieben:  Hoc  quod  additur? 
'  Art.  3,  oben  S.  388  f. 

'  1494,  Art.  5. 

*  1494,  Art.  6.      , 

^  Art.  3,  oben  S.  389. 

«  1494,  Art.  18  (?). 


i 


Kanzleiordnungen  Maximilians  I.,  KarlsV.  und  Ferdinands!.     401 

De  Taxatore 

[47].^  Nescio  iitrum  hoc  officium  nunc  sit  coniunctum  cum  officio 
ecretarii  an  non.  Casu  quo  non  esset,  ego  reperio,  quod  in  antiquis 
rdinationibus  nonnulli  articuli  de  hoc  officio  positi  sunt,  qui  possent 
dhuc  hodierno  tempore  observari. 

[48].  üt  taxator  pareat  supremo  cancellario  et  vicecancel- 
ariis.^    Archican.^  Aust. 

[49].  üt  recipiat  literas  expeditas,  et  curet  eas  quam  pri- 
11  um  sigillari.    Archican.^  Aust. 

[50].  üt  literas  sigillatas  diligenter  reponat,  ne  omnium 
»culis  sint  exposite.    Archican.^ 

[51].  üt  literas  taxandas  fideliter  taxet  absque  omni  dolo 
t  fraude,  secundum  communem  usum  cancellariae,  non  mi- 
lori  vel  maiori  precio  quam  decet  et  ipse  in  mandatis  habet, 
pec  in  eo  propriam  utilitatem  querat.    Archican.^ 

[52].  Alique  ordinationes  ut  domini  Mercurini,'  Austriaca  statuunt, 
[uod  taxatio  debeat  fieri,  maxime  in  iis  que  maioris  momenti  sunt, 
ma  cum  contrarelatore,  vel  saltem  eo  presente  et  sciente;  sed  quoniam 
luiusmodi  officium  contrarelatoris  iam  ab  aula  recessit,  nihil  est  opus 
Be  eo  ordinäre. 

[53].  üt  casu  quo  de  taxa  dubius  sit,  taxet  iuxta  consilium 
;t  voluntatem  supremi  cancellarii.    Archican.^ 

[54].  üt  taxam  inscribat  ad  sinistrum  latus  sive  marginem 
jxteriorem  literarum.    Mercur.^ 

[55].  üt  literas  taxatas  tradat  in  cancellaria  partibus,  ita 
:amen  ut  antea  et  summam  taxatam  ab  eis  recipiat  et  eandem 
'Cgistro  taxe  inscribat.    Archican.^^  Aust. 

Hodie  (ut  puto)  constitutus  est  specialis  receptor,  qui  taxam  recipit, 
quemadmodum  et  in  ordinatione  domini  Mercurini  constitutum  fuit.^^ 

[56].  Ne  cui  taxam  sine  iussu  vel  scientia  supremi  cancel- 
arii  donet.    Archican.^^ 

[57].  Si  contingat  aliquas  literas  sine  taxa  gratis  expediri, 
taxator  hoc  scribat  manu  sua  in  loco  ubi  taxa  scribi  solet 
cum  expressione  gratiae  factae.  Et  nihil  pro  eis  accipiatur 
tiisi  precium  sigilli.    Mercur.^^ 

^  Am  Rande  von  der  Hand  des  Viglius:  Constituatur  inprimis  certa  taxa,  et 
in  incertis  taxet  cancellarius. 

*  Am  Rande  von  derselben  Schreiberhand :  Nota  idem  quod  supra  in  registratore. 
'  1494,  Art.  37  u.  8.  '  ibid.,  Art.  38.  '  ibid.,  Art.  38. 

'  ibid.,  Art.  39.  '  Art.  4,  oben  S.  389.         '  1494,  Art.  39. 

'  Art.  4,  oben  S.  389.         '"  1494,  Art.  25  u.  41.        ''  Art.  4  u.  10,  oben  S.  389, 
'^  1494,  Art.  39.  '^  Art.  9,  oben  S.  390f.  391. 

Afü    II  26 


402  Andreas  Walther 

In  hoc  ultimo  si  consuetudo  nunc  aliter  se  habet,  illa  erit  servanda 

[58].  Ne  pro  sua  persona  moretur  partes,  sed  quanto  citiuj 
fieri  poterit  eas  expediat.    Archican.^ 

[59].  üt  expendat  salaria  et  ea  que  pro  impensis  cancel 
lariae  erunt  necessaria,  atque  hoc  modo  expensa  subnotet 
Archican.^ 

üt  de  eo  quod  supererit,  unicuique  consignet  ratam  tax( 
sibi  pertinentem. 

Hos  duos  articulos  ordinatio  domini  Mercurini^  similiter  remitti 
ad  officium  receptoris,  sed  de  his  ut  opinor  nihil  est  consultandum 
nam  consuetudo  praesentis  temporis  in  hoc  dabit  legem,  que  erit  ob 
servanda,  nisi  superioribus  aliud  videatur. 

[60].  üt  singulis  mensibus  reddat  rationem  accepti  e 
expensi. 

Ita  canetur  quidem  in  ordinatione  domini  iWercurini,  simul  e 
enumerantur  persone  in  quorum  presentia  rationes  reddi  debeant*  Se( 
in  hoc  quantum  ad  tempus  attinet,  dominus  Obernburgerus  considera 
trimestre  potius  esse  statuendum,  et  ex  rationibus  per  eum  adducti: 
placet  illa  sententia.  Quantum  vero  ad  personas  attinet,  observetur  i( 
quod  hactenus  observatum  fuit. 

[61].  üt  constituatur  certa  taxa  sigillo  et  amanuensibus 
ita  ut  nee  partes  nimium  graventur  nee  prefecti,  vel  operai 
suo  labore  defraudentur. 

Est  consideratio  domini  Obernburgeri  meo  iuditio  satis  accom 
moda.  Ex  ordinatione  partim  archicancellarii,  partim  domini  Merc 
colligitur,  quod  olim  taxa  sigilli  fuerit  florenus,^  item  quod  amanuen 
sibus  solita  fuerint  dari  quedam  bibalia,  ut  vocantur,^  que  recipere 
annotare  et  inter  eos  singulis  trimestribus,  iuxta  mandatum  suprem 
cancellarii  et  qualitatem  ac  meritum  uniuscuiusque  distribuere  offi 
cium  taxatoris  fuerit.  Sed  si  hec  postmodum  tempore  mutata  sunt 
praesentis  temporis  ratio  erit  inspicienda. 

[62].  üt  taxator  publicet  in  cancellaria  partibus  ea  de 
creta,  que  extra  consilium  publicanda  erunt.     Aust. 

Equissimus  est  iste  articulus,  ut  is  qui  in  honorabilibus  expedi 
partes,  expediat  etiam  in  odiosis. 

[63].  üt  assiduus  sit  in  cancellaria  ipse  vel  saltem  contra 
relator  eins,  quo  partes  tanto  citius  possint  expediri,  n( 
frustra  sollicitando  et  ipse  fatigentur  et  alios  molestent.  Aust 


'  1494,  Art.  40.    ,  '  ibid.,  Art.  43.  '  Art.  4  u.  10,  oben  S.  389,  391 

*  Art.  10,  oben  S.  391.       '  ibid.,  Art.  9,  oben  S.  391;  1494  nicht  erwähnt. 
'  1494,  Art.  44;  1522,  Art.  11,  oben  S.  391. 


Kanzleiordnungen  Maximilians  I.,  Karls  V.  und  Ferdinands  I.     403 

[64].  Siquod  impedimentum  ei  in  exercitio  suo  obiectum 
fuerit,  recurratadsupremum  cancellarium,utei  provideat.  Aust. 

[65].  übi  per  ocium  poterit,  iuvet  secretarios  in  conci- 
piendo.    Aust. 

In  hoc  videtur  idem  esse  faciendum,  quod  supra  de  registratore 
dictum  est. 

[66].  In  ordinationibus  Austriacis  canetur,  quemadmodum  taxator 
debeat  providere  cancellariae  de  papyro,  membrana,  atramento,  pennis, 
cera,  custodibus,  pressulis,  suffitu  et  similibus.  Sed  ista  sunt  minu- 
tiora  quam  quod  huiusmodi  ordinationibus  ea  inseri  conveniat. 

[67].  Deinde  canetur,  ut  taxator  recipiat  supplicationes  decretas 
et  distribuat  secretariis  et  amanuensibus,  ut  literae  desuper  confician- 
tur.  Sed  quoniam  apud  nos  non  est  iste  mos  signandi  supplicationes, 
sed  omnia  fere  in  consilio  decreta  per  secretarium  protocollantur,  ideo 
satis   erit  provisum   per  ea  que  supra  in  officio  secretarii  dicta  sunt. 

De  Contrarelatore^ 

[68].  De  Contrarelatore,  item  de  Receptore  habentur  aliqua 
in  antiquis  ordinationibus,  prout  supra  in  officio  taxatoris  nonnihil 
tactum  est.    Ad  quod  nos  remittimus. 

[69].  De  Magistro  Tabellariorum  similiter  aliqua  dicuntur  in 
nonnullis  ordinationibus.  Sed  Caes^  M*^^  habet  suos  magistros  posta- 
rum,  qui  sciunt  quid  sit  illorum  officium,  adeo  quod  de  illis  aliquid 
consultare  non  est  opus. 

[70].  De  Ministro  Cancellariae  pariter  loquuntur  antiquae  ordi- 
nationes.  Forte  et  illud  officium  hodie  cessat.  Et  si  quid  de  eo  di- 
cendum  esset  facilis  esset  resolutio,  tanquam  in  re  modicam  difficul- 
tatem  habente. 

De  Scribis  Cancellariae 

[71].  üt  pareant  supremo  cancellario,  vicecancellariis  et 
secretariis.    Archican.^  Merc.^  Mog. 

[72].  üt  concepta,  quae  ab  ipsis  ingrossanda  erunt,  prius 
videant  et  perlegant,  quo  tanto  melius  ea  intelHgant.  Archi- 
can.^  Mog. 

üt  ea  quae  scribenda  erunt  scribant  diligenter,  fideliter 
et  prompte,  nihil  mutantes  nee  transportantes.    Archican.^ 


^  Von  hier  an  bis  zum  Schluß  wieder  von  der  ersten  Hand  geschrieben. 

'  1494,  Art.  8  u.  9.  '  Art.  2  u.  11,  oben  S.  388  u.  391.  *  1494,  Art.  15. 

^  ibid.,  Art.  8  usw. 

26* 


404  Andreas  Walther 

[73].  üt  ea  quae  iam  per  eos  ingrossata  fuerint,  diligenter 
conferant  cum  conceptis,  antequam  illa  secretariis  offerant. 
Archican.^ 

[74].  Ne  quid  radant  in  locis  suspectis,  ut  in  re,  nomine, 
summa  vel  data.  Et  ubi  in  aliis  locis  rasura  opus  fuerit, 
illam  non  faciant  nisi  scientibus  vicecancellariis  vel  secre-, 
tariis,  locusque  rasus  scribatur  rursus  manu  eiusdem  qui 
literas  scripsit.    Archican.^  Mog. 

[75].  Ne  quid  scribant  vel  expediant  extra  cancellariam 
nisi  iussu  vicecancellariorum  vel  secretariorum,  ut  in  casu 
multitudinis  negotiorum;  tunc  enim  concedatur  eis,  ut  domi 
aliqua  scribere  possint,  sed  ita  uttam  concepta  quam  scripta 
statim  in  cancellariam  reportent.    Aust. 

[76].  üt  assuescant  ea  quae  levioris  momenti  vel  commu- 
nia  sunt,  ex  iussu  secretariorum  concipere. 

De  hoc  supra  quoque  in  officio  secretarii  dictum. 

[77].  üt  inscribendo  registris  juvent  registratorem. 

De  hoc  in  officio  registratoris. 

[78].  üt  assuescant  prothocollare  ea  quae  nonnunquam 
extra  ordinarium  consilium  tractantur,  ita  ut  reddant  se  ha- 
biles  ad  prothocollandi  officium.    Aust. 

[79].  Ne  quis  alterius  exercitio  temere  sese  ingerat,  vel 
curiosus  Sit  in  expiscandis  his,  quae  alter  prae  manibus 
habet,  sed  quilibet  suo  officio  sit  intentus.    Mog. 

Ne  quis  se  immisceat  officio  taxatoris.    Mog. 

[80].  Ne  quis  ea  quae  in  cancellariam  veniunt,  aliis  videnda, 
legenda  vel  exscribenda  exhibeat  nisi  iussu  superiorum. 
Archican.^  Mog. 

Ne  quis  in  cancellariam  inducat  vel  intromittat  eos,  qui 
ad  consilium  vel  cancellariam  non  pertinent.    Archican.^  Mog. 

[81].  Ne  quis  propria  auctoritate  se  intrudat  consilio,  nisi 
deputatus  vel  vocatus.    Archican.^  Mog. 

[82].  üt  hora  certa  omnes  in  cancellaria  adsint.  Archic.^  Mog. 

Quamvis  in  praedictis  ordinationibus  hora  expressa  sit,  tamen  pro 
qualitate  aulae  nostrae  poterit  aliqua  hora  constitui,  quae  maxime  vi- 
debitur  idonea. 

[83].  Ne  quis  intra  statutas  horas  ex  cancellaria  discedat 
nisi  scientibus  aliis,  quibus  etiam  indicet  locum  ubi  reperiri 
possit,   casu   quo   eius  opera  requireretur.    Et  hoc  rursus  ita 


*  1494,  Art.  9.  *  ibid.,  Art.  16.  '  ibid.,  Art.  11  u.  12. 

*  ibid.  ^  ibid.,  Art.  23.  '  ibid.,  Art.  31. 


I 


Kanzleiordnungen  Maximilians  I.,  Karls  V.  und  Ferdinands  I.     405 

restringatur,  ut  semper  saltem  dimidia  scribarum  pars  apud 
cancellariam  remaneat.    Archican.^  Mog. 

[84].  Alia  quaedam  quae  in  antiquis  ordinationibus  de  officio  scri- 
barum posita  sunt.  Puta  quomodo  debeant  inservire  mensae.^  Item 
quod  ingrossata  tradant  servitori  cancellariae,  ut  ea  secretariis  offerat. 
Item  ut  scribenda  inter  semet  ipsos  partiantur.  Item  ut  aliqua  levioris 
momenti  per  se  ipsos  revideant  sine  secretario,  et  corrigant.  Haec 
omnia  non  quadrant  ad  consuetudinem  huius  cancellariae.  Quapropter 
frustra  de  Ulis  disputaretur. 

Communia  de  universa  Cancellaria 

[85]  üt  locus  cancellariae  certus  sit  saltem  prope  hospi- 
tium  domini  supremi  cancellarii.    Mercur.^  Obernbur. 

Bonus  est  articulus  meo  iuditio.  Et  quanto  viciniora  sunt  loca 
tum  consilii,  tum  cancellariae,  item  hospitia  eorum  qui  ad  consilium 
vel  cancellariam  pertinent,  tanto  citius  poterunt  expediri  negotia. 

[86].  De  juramentis. 

aliqua  tanguntur  in  antiquis  ordinationibus/  sed  non  plene  et 
satis  confuse.  Si  apud  hanc  cancellariam  non  est  certa  ratio  jura- 
mentorum  (quod  ego  sane  nescio)  bonum  esset  quod  singulis  officiis 
sua  juramenta  conciperentur  et  specialiter  in  libro  ad  hoc  deputato 
annotarentur,  quemadmodum  et  in  iuditio  camerae  et  apud  praecipuos 
principes  Germaniae  fit,  ut  saltem  hi  qui  in  posterum  servire  incipient 
habeant  certam  juramenti  formam. 

[87].  De  salariis 

non  est  nostrae  consultationis,  sed  ad  Caes^*"  M*^""  vel  ipsius  su- 
premos  consiliarios  pertinet.  Qui  ubi  de  hoc  volent  aliquid  statuere, 
poterunt  videre  ea  quae  Dn.  Obernburgerus  hoc  loco  diligenter  in  me- 
dium affert. 

[88].  De  pluribus  personis  ad  idem  officium  deputandis. 

Istud  similiter  consistit  in  Caes^«  W'^  et  supremorum  consiliari- 
orum  arbitrio. 

[89].  Ne  personae  ad  cancellariam  pertinentes  cuiquam 
alteri  domino  servitio  vel  juramento  sint  obstiicti  absque 
supremi  cancellarii  permissu.    Archican.^  Mog. 

[90].  Ne  quis  aliis  patefaciat  secreta  vel  consilii  vel 
cancellariae.    Archican.^  Mog. 


'   1494,  Art.  32.        '  ibid.,  Art.  36.        '  Art.  1,  oben  S.  388. 
*   1494,  Art.  1  u.  8;  1522,  Art.  11,  oben  S.  391.   '  1494,  Art.  10. 
'  ibid.,  Art.  11  u.  12. 


406         Andreas  Walther,  Kanzleiordnungen  Maximilians  I.  usw. 

[91].  Ne  quis  a  residentia  curiae  se  abseiltet  sine  permissu 
^upremi  cancellarii.    Archican.^ 

[92].  De  munerum  acceptatione 

pauca  habentur  in  antiquis  ordinationibus.  Sane  si  Caes^  iW^^'  in 
hoc  modum  praescriberet,  esset  res  tanto  principe  dignissima. 

[93].  üt  cito  expediantur  negotia,  maxime  quae  ipsam 
Caes^""  M^^«"  tangunt.    Archican.^ 

[94].  üt  stilus  cancellariae  ubique  diligenter  observetur. 
Archican.^  Mog. 

[95]. -Si  quid  occurrat  aiicui  quod  cancellariae  futurum 
Sit  expediens,  de  eo  libere  admoneat.    Archican.* 

[96].  üt  omnes  et  singuli  studeant  pacificam  inter  se  con- 
versationem,  abstineant  ab  iniurijs,  differentias  eorum  supe- 
rioribus  decidendas  relinquant,  honestam  vivendi  rationem 
observent.  Contrafacientes  puniantur  et  priventur  officio. 
ArcKican.^  Mog. 

[97].  üt  Caes^^  M*'  iter  facienti  praesto  sint.    Archican.^ 

[98].  Ne  quis  alteri  obtrudat  id  quod  ipsi  expediendum 
incumbit.    Mog. 

[99].  In  ordinatione  Archicancellarii  habetur  etiam,  quomodo  per- 
sonae  ad  cancellariam  pertinentes  Imperatori  procedenti  in  publicum 
adesse  debeant  et  ministerium  illud  aulicum,  ut  vocant,  obire."^  Sed 
cum  Imperator  noster  modernus  Dei  benignitate  tarn  potens  sit,  ut 
ministrantes  etiam  ex  illustribus  personis  ei  abunde  suppetant,  non 
puto  quod  huiusmodi  ministerium  a  praedictis  personis  magnopere 
requiratur. 

[100].  Ordinatio  domini  Mercurini  plura  etiam  continet  de  expeditione 
precum  et  nominationum  regalium.®  Sed  illa  omnia  hoc  tempore  vel 
non  sunt  necessaria,  vel  suam  certam  et  determinatam  habent  con- 
suetudinem. 


'  1494,  Art.  35.  '  ibid.,  Art.  13  u.  14.  '  ibid.,  Art.  27. 

*  ibid.,  Art.  28.  ^  ibid.,  Art.  29  u.  30.  '  ibid.,  Art.  34. 

^  ibid.,  Art.  33.  »  Art.  9,  oben  S.  390  f. 


Stadtschreiber  und  Stadtbücher 
n  Mühlhausen  i.  Th.  vom  14.  16.  Jahrhundert 

nebst  einer  Übersicht 
über  die  Editionen  mittelalterlicher  Stadtbücher 

von 

Erich  Kleeberg 


Rat  und  Ratsbehörden  in  Mtihlhausen"^) 

Mühlhausen  in  Thüringen^  war  in  der  ersten  Hälfte  des  13.  Jahr- 
hunderts eine  königliche  Stadt.  Des  Königs  Vogt  hatte  seinen  Sitz 
auf  dem  in  unmittelbarer  Nähe  sich  erhebenden  Castrum.  Bei  ihm 
lag  die  Verwaltung  der  königlichen  Regalien  und  des  Gerichts  über 
die  Einwohner,  das  er  durch  einen  von  ihm  bestellten  Schultheißen  mit 
aus  der  Bürgerschaft  hervorgegangenen  Schöffen  ausüben  ließ.  Unter 
seinen  Augen  entwickelte  sich  in  der  ersten  Hälfte  des  13.  Jahrhunderts 
ein  Ausschuß  der  Bürger  zu  Verwaltungszwecken,  der  sich  in  den 
Jahren  1230—50  zu  einer  festen  Ratsbehörde  konsolidierte.  Indem  es 
diesem  Rate  gelang,  die  königlichen  Hoheitsrechte  an  sich  zu  ziehen, 
führte  die  Entwicklung  noch  bis  zur  Mitte  des  Jahrhunderts  zur 
kommunalen  Selbständigkeit  der  Stadt.  1255  residierte  kein 
Vogt  mehr  auf  der  königlichen  Burg,  und  es  bedeutet  nur  noch  einen 
formalen  Abschluß,  wenn  es  den  Bürgern  1256  gelang,  die  Burg,  deren 
streitlustige  Ritterschaft  eine  ständige  Gefahr  für  den  Stadtfrieden 
bildete,  zu  zerstören  und  ihre  Mauern  zu  schleifen.  In  den  Zeiten  des 
Interregnums  verstand  es  die  Bürgerschaft,  ihre  unabhängige  Stellung 


*  Einleitung  und  erstes  Kapitel  auch  als  Göttinger  Dissertation. 

*  Über  die  ältere  Geschichte  der  Stadt  liegen  vor  die  Abhandlungen  Lamberts 
(Die  Ratsgesetzgebung  der  freien  Reichsstadt  Mühlhausen  i.  Th.  im  14.  Jahrhundert, 
Halle  1870,  Einleit.  S.  1-32)  und  Fr.  Stephans  (Verfassungsgeschichte  der  Reichs- 
stadt Mühlhausen  i.  Th.,  Sondershausen  1886),  die  sich  beide  nur  beschäftigen  mit 
dem  inneren  Zustande  der  Stadt  bis  etwa  1350,  und  die,  da  sie  nur  beschränktes 
Material  verwenden,  auch  für  diese  Zeit  kein  umfassendes  Bild  geben.  Ich  sehe  mich 
deshalb  genötigt,  meiner  Darstellung  eine  kurze  Übersicht  über  die  Ratsbehörden 
vorauszuschicken,  um  des  Stadtschreibers  Stellung  im  Rahmen  der  städtischen  Ver- 
fassung aufzeigen  zu  können. 


408  Erich  Kleeberg 

ZU  festigen.  Die  Beziehungen  zum  Reichsoberhaupte  wurden  bis  aul 
eine  geringe,  wohl  nicht  einmal  regelmäßig  bezahlte  Geldsteuer  gelöst 
und  die  späteren  Könige  mußten  um  die  Wende  des  13.  Jahrhunderts 
der  Macht  der  Wirklichkeit  nachgebend,  den  gewordenen  Zustand  an- 
erkennen. 

Inwieweit  an  dieser  Entwicklung  die  sozial  verschiedenen  Kreise 
der  Bürgerschaft  gleichmäßig  beteiligt  waren,  läßt  sich  nicht  mehi 
entscheiden.  Im  ältesten  Stadtrecht,  in  dem  zwischen  1240  und  125r 
das  bestehende  Gewohnheitsrecht  fixiert  wurde,  spricht  sich  wohl  iir 
allgemeinen  ein  kräftiges  Selbstbewußtsein  der  Bürger  aus,  ohne  dat 
ein  höher  gewertetes  Patriziat  besonders  hervorträte.  Dagegen  zeigen 
die  ältesten  in  den  Urkunden  überlieferten  Ratslisten,  daß  sich  gegei 
Ende  des  Jahrhunderts  der  Rat,  der  oberste  Verwaltungsausschuß  und 
Repräsentant  der  Bürgerschaft,  vollständig  in  den  Händen  der  Ge- 
schlechter befand,  in  denen  eingewanderte  Ministerialenfamilien  einen 
breiten  Raum  einnahmen. 

Der  Rat  bestand  aus  einem  jährlich  wechselnden  Kollegium  von 
14  Mitgliedern,  die  aus  einem  beschränkten  Kreis  von  Geschlechtern 
hervorgingen.  Eine  Entwicklung  der  Ratsverfassung,  die  im 
wesentlichen  noch  im  14.  Jahrhundert  ihren  Abschluß  fand,  läßt  sich 
in  zwei  Richtungen  verfolgen.  Dem  Streben  einzelner  Familien,  den 
Rat  durch  Besetzung  mehrerer  Stellen  mit  Angehörigen  desselben  Ge- 
schlechts in  größere  Abhängigkeit  von  sich  zu  bringen,  setzten  sich 
die  Forderungen  des  natürlich  breiter  werdenden  Patriziats  entgegen, 
und  es  wurde  durch  Statut  bestimmt  (Willkür  A),^  daß  jedes  Geschlecht 
zu  dem  alljährlich  sitzenden  Rate  nur  ein  Mitglied  stellen  dürfe,  und 
daß  ein  jeder  Ratsherr  erst  drei  Jahre  nach  Niederlegung  seines  Amtes 
wieder  wählbar  sei.  Durch  diese  Statuten  wurde  dem  Patriziat  ein 
gleichmäßiger  Einfluß  auf  die  Ratsregierung  gesichert  und  seine  Stellung 
innerhalb  der  Bürgerschaft  befestigt. 

Doch  das  Jahr  1311  brachte  eine  weitere  Änderung  der  Rats- 
verfassung, die  dem  Bestreben  des  Patriziats  entgegengerichtet  war. 
Den  Zünften   war  es   gelungen,   sich  Eingang   in   den  Rat  zu   ver- 

*  Ich  bezeichne  die  Statuten  von  1311;  ci  1350;  1401;  1566;  Druck  von  1692 
(cf.  Anhang  A,  la)  als  Willkür  A,  B,  C,  D,  E.  Die  Statuten  des  14.  Jahrhunderts  sind 
gedruckt  Lambert:  Ratsgesetzgebung  der  freien  Reichsstadt  Mühlhausen.  Die 
Statuten  von  1401  nach  einer  späteren  Abschrift  Bern  mann:  Mühlhäuser  Geschichts- 
blätter 9,  1908. 

Lambert  S.  86:....  quorum  XIIII  ex  progeniebus ,  ita  quod  ex  qualibet  pro- 
genie  unus  colligatur,  quos  electores  super  suum  pro  necessitate  ciuitatis  eligere  de- 
bent  prouide  iuramentum  .... 

Lambert  S.  90:  Nullus  recedens  ex  spirato  anno  suo  a  consilio  debet  resumi  in 
consulem  nisi  tribus  annis  transactis  post  annum  quo  fuit  in  consilio  exspiratum. 


Stadtschreiber  und  Stadtbücher  in  Mühlhausen  i.  Th.  409 

chaffen.  Die  Statuten  der  Willkür  A^  sagen  ihnen  neben  den  bis- 
lerigen  14  Ratsstellen  die  Besetzung  weiterer  10  zu.  Und  wenn  auch 
iiese  zehn  zünftigen  Ratsherren  bis  zur  Mitte  des  Jahrhunderts  keine 
roße  Bedeutung  hatten  —  werden  sie  doch  in  den  erhaltenen  ür- 
unden  nur  einmal  genannt^  — ,  so  bezeichnet  dieser  Erfolg  gleich- 
/ohl  einen  Anfang.  Schon  1351  mußte  sich  das  Patriziat  gelegentlich 
ines  Vergleichs^  nach  einer  gewaltsamen  Erhebung  der  Zünfte  ge- 
allen lassen,  daß  fortan  alljährlich  16  Mann  aus  der  Gemeinde  dem 
itzenden  Rate  bei  Uneinigkeit  im  Kollegium,  besonders  bei  Streitig- 
:eiten  um  die  Neuwahl,  als  entscheidende  Instanz  beigeordnet  wurden 
,als  dicke  das  nod  ist  vnd  auch  als  dicke  alz  is  kein  man  des  seibin 
iates  begerd''.  Diesen,  den  sogenannten  Eldisten,  dy  der  Rat  czu  sich 
'orbotit,^  wurde  im  Jahre  1396  die  Einsicht  in  des  Rates  Finanz- 
Verwaltung  zugebilligt^ 

Im  Rate  hatte  das  Patriziat  noch  die  überhand,  und  als  wenige 
^ahre  später  eine  Vermehrung  der  Ratsstellen  von  24  auf  28  be- 
;chlossen  wurde ,^  waren  die  Geschlechter  und  Zünfte  je  mit  zwei 
i'Vann  beteiligt.  Das  Patriziat  wird  diese  ihm  ungünstige  Verschiebung 
les  Verhältnisses  der  Stände  im  Rate  zugegeben  haben  aus  der  Er- 
wägung heraus,  daß  mit  der  Vergrößerung  des  Ratsstandes  auch  seine 
Stellung  innerhalb  der  Bürgerschaft  wachsen  mußte.  Und  in  natürlicher 
^Wechselwirkung  ging  im  Gegensatz  zu  den  steigenden  Ansprüchen 
1er  Gemeinde  sein  Streben  auf  einen  Zusammenschluß  der  Rats- 
mgehörigen  mit  fester  Abgrenzung  gegen  die  übrige  Bürgerschaft. 
\us  dem  alten  Streit  von  Geschlechter  und  Zünften  wurde  der  Gegen- 
satz zwischen  Ratsstand  und  Gemeinde. 

Am  St.  Martinstage  wurde  der  neue  Rat  gewählt  von  dem  ab- 
behenden Kollegium.'^  Zum  passiven  Wahlrecht  war  in  der  Willkür  A 
lur  gefordert^  eine  eheliche  Geburt  und  von  den  unverheirateten  ein 


^Lambert  S.  86:  ....  reliqui  vero  X  ex  artistis  mechanicis,  uti  expedibit, 
iissumentur. 

'  cf.  Stephan  S.  90. 

^  Gedruckt  bei  Lambert,  Einleit.  S.  30. 

*  Lambert  S.  67  (Zusatzstatut  zu  B). 

^  Lambert  S.  160  (Zusatzstatuten  von  1396,  d  u.  c):  Die  Kämmerer  und  alle 
städtischen  Beamten,  die  der  Stadt  Geld  einnehmen,  müssen  alljährlich  nach  der 
Aufstellung  des  Stadthaushaltes  ihre  Einnahmen  und  Ausgaben  vor  den  Ältesten  vor- 
rechnen. Die  Ratsmeister  müssen  alle  Vierteljahre  vor  den  Ältesten  Rechnung  ab- 
legen, wo  vnd  weme  vnd  wann  daz  sie  der  stat  wyne  vorschenket  haben  vnd  der  herrin 
vnd  der  stete  boten  tranggelt  gegeben  haben. 

^  Lambert  S.  89  (Zusatzstatut  zu  B). 

'  Lambert  S.  89. 

^  Lambert  S.  88. 


410  Erich  Kleeberg 

Mindestalter  von  40  Jahren.  Der  abgegangene  Rat  blieb  auch  im  fol- 
genden Jahre  in  einem  Kollegium  unter  seinen  beiden  Bürgermeistern 
vereinigt  und  konnte  vom  regierenden  Rate  zu  bedeutenden  Verhand- 
lungen hinzugezogen  werden.  Mit  der  Zeit  bildete  sich  ein  geregelter 
Geschäftsgang,  der  schwierigere  Fälle  vor  das  Forum  der  beiden  Räte 
verwies.^  Die  Statuten  B  zeigen  bei  bedeutenden  Anlässen  schon  dre 
Ratsjahrgänge  tätig,  und  seit  1371  ist  die  Rede  von  einer  vierjähriger 
Ratsordnung, ^  so  daß  der  Ratsherr,  der  im  vierten  Jahre,  an  den 
frühest  möglichen  Termin,  wiedergewählt  wurde,  nie  vollständig  vor 
den  Ratsgeschäften  zurücktrat.  Hierdurch  und  noch  mehr  durch  die 
Bestimmung,  daß  omnis  causa  per  consules  semel  sab  debito  iurament. 
iudicata  seu  terminata  nulli  consules  illam  retractare  debent,^  wurdt 
eine  gewisse  Stetigkeit  in  der  Ratsverwaltung  gesichert.  So  wuchser 
die  vier  Ratsjahrgänge  aneinander,  und  es  mußte  allmählich  zur  fester 
Gewohnheit  werden,  daß  der  abgehende  Rat  das  gesamte  Kollegium 
das  drei  Jahre  vor  ihm  regiert  hatte,  wieder  wählte;  bot  doch  alleir 
diese  Praxis  ihm  die  sichere  Garantie  für  seine  spätere  Wiederwahl 
Diese  Tendenz  fand  ihre  endgültige  Formulierung  in  einem  Zusatz 
Statut  zu  C*  vom  Jahre  1406,  in  dem  man  demnach  die  Schließung 
des  großen  Rates  erblicken  kann:  Ouch  wer  an  den  rattht  hynne 
fort  gekornn  adir  gesaitzst  werdt  (an  welch  ende  des  raths  das  ist)  uf, 
die  alden  ader  uff  die  nuwenstadt,  do  sal  er  blibe  sitzenn,  dieweil  e, 
lebet  und  änderst  nicht. 

Damit  war  ein  fester  Ratsstand  über  der  übrigen  Bürgerschaf 
anerkannt.  Seine  Position  stärkte  er,  indem  er  in  demselben  die  An 
zahl  der  den  sitzenden  Rat  bildenden  Herren  auf  32  erhöhte;*  und  ej 
reiht  sich  ein  in  die  ganze  Entwicklung,  wenn  jetzt  auch  das  zünftige 
Element  dem  Patriziat  innerhalb  des  Rates  gleichgestellt  wurde,  inden 
beide  Gruppen  je  16  Ratsherren,  darunter  einen  Ratsmeister  stellten 
Zum  Ratsstande  gehörten  128  Herren,  deren  Regierung  in  einem  vier- 
jährigen Turnus  wechselte,  eine  stattliche  Partei,  die,  im  eigenen  Lage 
einig,  wohl  imstande  war,  die  Bürgerschaft  in  straffem  Regiment  zi 
halten.  Die  Exklusivität  des  Ratsstandes  wurde  noch  gesteigert  da-, 
durch,  daß  der  seit  ca.  1350  geforderte  Mindestbesitz  eines  Ratsherrr 
von  10  Mühlhäuser  Mark^  im  Jahre  1406  auf  20^  erhöht  wurde.   Di( 

Lambert  S.  128  (Zusatz  zu  A):  NuUi  consules  ammodo  pro  vno  anno  con 
stituti  aliquem  debent  quinque  annis  de  cwitate  amouere  uel  ultra  quinque.  Sed  dw 
paria  consulum  simul  debent  illum  amouere  ... 

^  Lambert  S.  155. 

'  Lambert  S.  128  (Zusatz  zu  A). 

^  GeschichtsbK  9,  S.  27. 

^  Lambert  S.  89. 

•^  GeschichtsbL  9.  S.  27. 


Stadtschreiber  und  Stadtbücher  in  Mühlhausen  i.  Th.  411 


euwahlen  aus  der  Gemeinde  sind  fortan  nur  noch  als  Ergänzungs- 
:jahlen   aufzufassen,   wenn   eine  durch  Tod,   Verzug  oder  gewaltsame 
^Int^etzung  leer  gewordene  Stelle  zu  besetzen  war. 
fl      Es  paßt  zu  dieser  Entwicklung,  wenn  der  Gemeindeausschuß  der 
lo  Ältesten   im  15.  Jahrhundert  wieder  beseitigt  wurde.     Unter  dem- 
dben  Namen  bildete  sich  um  die  Mitte  des  Jahrhunderts  aus  Mit- 
liedern  der  vier  Räte   ein    ständiges  Kollegium  (Senioren rat  oder 
^natüs  intimus).    Bei  ihm  lag  die  Aufsicht  über  die  Ratsverwaltung 
nd  die  Vorberatung  wichtiger  inner-  und  außerpolitischer  Fragen,  doch 
atte   er   keine   beschließenden   und   ausführenden,    sondern   nur   be- 
jtende  Funktionen,  wie  es  sich  für  das  16.  Jahrhundert  erkennen  läßt, 
s  hatten  in  ihm  Sitz  die  Bürgermeister,  je  zwei  aus  vier  Ratsjahr- 
ängen,   und   noch   andere  Vertrauenspersonen,   im  ganzen  etwa  der 
ierte  Teil  der  Ratsherren  überhaupt. 

Eine  Änderung  der  Ratsverfassung  brachten  erst  die  Bürger- 
nruhen der  Jahre  1523—25,  die  in  der  Stadt  zur  offenen  Erhebung^ 
ührten  und  mit  der  Besetzung  der  Stadt  durch  die  sächsischen  und 
lessischen  Fürsten  ihren  Abschluß  fanden.  Nachdem  der  alte  Rat 
inem  neuen  demokratischen  hatte  weichen  müssen,  wurde  zwar  der 
Ite  Stand  zwei  Monate  später  wiederhergestellt,  doch  blieb  der  von 
en  Fürsten  restituierte  sitzende  Rat  beschränkt  auf  24  Mitglieder  in 
tinem  dreijährigen  Wahlturnus. 

In  diesem  politisch  und  gesellschaftlich  über  der  Gemeinde  stehen- 
ien  Ratsstande  konzentrierte  sich  die  Summe  der  obrigkeitlichen  Ge- 
Ivalt.  Er  war  der  politische  Repräsentant  der  Bürgerschaft,  ihm  stand 
iie  Verwaltung  der  Stadt  zu,  und  er  besaß  die  Gerichtshoheit  über 
hre  Einwohner.  Das  Gesamtkollegium  der  vier  Räte  verhandelte 
iber  gemeinsame  Angelegenheiten  des  Ratsstandes,  sie  stellten  die 
egislative  Gewalt  dar^  und  berieten  über  wichtige  Fragen  der  städtischen 
Politik,  wie  Krieg  und  Frieden,  Bündnisse  usw.  Die  Verhandlung  in 
der  großen  Körperschaft  ging  auf  die  Weise  vor  sich,  daß  die  Rats- 
tneister  der  einzelnen  Jahrgänge  als  Wortführer  die  Meinung  und 
Einzelabstimmung  ihres  Rates  verkündigten.^  Bei  Stimmengleichheit 
entschied  persönliche  Abstimmung*  unter  den  128  Herren. 


^  cf.  Kap.  II,  §  2. 

-  Geschichtsbl.  9,  S.  26:  Wanne  manne  etteswas  inschreibe  ader  ußtelge  wel  uß 
diesseme  buche,  das  do  ist  und  heißet  die  welkoere,  das  sal  man  mit  den  retthen 
thun  .  .  . 

^  Der  Geschäftsgang  läßt  sich  wenigstens  seit  1525  erkennen,  seit  welchem  Jahre 
die  Protokollbücher  senatus  triplicis  vorhanden  sind. 

*  Geschichtsbl.  9,  S.  23:  Vier  rethe  sein  eins  worden,  wan  zwene  rethe  ein  wort 
haben  und  die  andern  zwene  rethe  auch  ein  wort  haben,  ßo  soll  man  in  den  vier 


412  Erich  Kleeberg 

Die  laufenden  Geschäfte  besorgte  der  jährlich  wechselnde  sitzend 
Rat.  Er  besetzte  mit  seinen  Mitgliedern  die  verschiedenen  Poste 
der  städtischen  Verwaltung  und  ernannte  die  jährlich  wechselnde 
Beamten  und  Diener,  deren  vornehmste  der  Schultheiß  und  Zöllne 
waren.  ^ 

Der  Besitz  des  Reichsgerichts  im  städtischen  Gebiet  verbürgte  vo 
allem  dem  Rat  seine  selbständige  obrigkeitliche  Stellung.  Er  bestimmt 
nicht  nur  alljährlich  den  Schultheißen  als  Vorsitzenden  des  öffentliche 
Gerichts,  sondern  setzte  ihm  auch  zwei  Beisitzer  aus  seiner  Mitte 
Mit  diesem  ordentlichen  Schultheißengericht  konkurrierte  scho 
frühzeitig  erfolgreich  die  obrigkeitliche  Aufsicht  des  Rates  über  di 
Aufrechterhaltung  der  Ordnung  in  der  Stadt.  Diese  polizeilichen  Funk 
tionen  hatten  sich  entwickelt  aus  den  Rechten  und  Pflichten,  die  ihr 
die  Aufsicht  über  den  städtischen  Handel  und  Wandel,  Ordnung  un^ 
Frieden  innerhalb  der  Mauern  brachte.  Schon  die  Willkür  A^  bezeichne 
Rat  und  Schultheiß  in  gleicher  Weise  fähig,  den  Frieden  zu  gebieter 
In  den  Statuten  hat  der  Rat  seine  Verordnungen  fixiert,  und  Zuwider 
handlungen  wurden  nach  den  hier  festgesetzten  Strafen  mit  Geldbußei 
und  Verbannung  verurteilt.  Doch  nicht  nur  auf  die  hier  verzeichnete! 
Fälle  blieb  seine  Gerichtsbarkeit  beschränkt,  sondern  auch  nicht  vor 
gesehene  Vergehen  wurden  ihm  unterbreitet.  Wanne  man  alle  ding  nich 
beschribin  enmag,  so  sal  eyn  (dich  erretom  und  crieg  von  dem  Rat 
gerichtet  vnd  geczuchtiget  werde,  da  nach  als  ir  eyd  lert} 

Noch  bis  zur  Mitte  des  14.  Jahrhunderts  hat  es  den  Bürgern  um 
Einwohnern  frei  gestanden,  sich  Recht  zu  holen  im  öffentlichen  Schult 
heißengericht  oder  sich  der  schiedsrichterlichen  Entscheiduni 
des  Rates  zu  beugen.^  Erst  nach  1350  bestimmte  ein  Zusatz  zu  den 
oben  zitierten  Statut,^  daß  ein  ider  burger  und  einwoner,  der  den  anderi 
umb  schulde  odder  umb  ander  noch  antzusp rechen,  der  soll  denßelbigei 
zuvom  vor  einem  erbarn  sitzenden  ratthe  beclagenn,  unnd  wo  ein  rattl 
die  nicht  voreinigen  mögen,  also  dan  sollen  sie  mit  irer  sache  an  da. 


reihen  in  der  dorntzen  umb  frage,  und  was  denne  die  mere  mennige  will,  das  soi 
gehe,  unnd  wann  der  rathismeister  alßo  umbgefragett ,  ßo  soll  jeder  man  schweyg 
bey  eime  Schillinge. 

^  Lambert  (Statut  B)  S.  89. 

'  Geschichtsbl.  9,  S.  26  (Statut  von  1400). 

^  Lambert  S.  54. 

*  Lambert  S.  73. 

^  Lambert  S.  122/23  (Statut  A  und  B):  Quicumque  uel  quecumque  hie  mo ran. 
noluerit  aliquem  seu  aliquam  trahere  in  causam,  sine  acter  uel  actrix  sit  vidua  ue 
bekina :  illum  uel  illam,  coram  nostre  ciuitatis  iusticiario  uel  consulibus  in  causan 
trahet .... 

®  GeschichtsbL  9,  S.  18. 


Stadtschreiber  und  Stadtbücher  in  Mühlhausen  i.  Th.  413 

cht  geweist  werden.  Noch  ein  Rezeß  von  1679^  bestimmt,  daß  die 
vilsachen  erst,  wenn  alle  in  der  Ratssitzung  versuchte  „Güte"  frucht- 
;s  ist,  an  das  Stadtgericht  gewiesen  werden  sollen.  Von  dem 
:hultheißengericht  war  die  Appellation  an  den  Rat  gestattet;^  außer- 
3lb  der  Stadt  durfte  ein  Bürger  oder  Mitwohner  sein  Recht  nur  im 
ille  der  Rechtsverweigerung^  suchen. 

Der  Geschäftskreis  des  Rates  erweiterte  sich,  als  die  allgemeine 
echtsentwicklung  dahin  führte,  Änderungen  im  Besitzstande  an  liegen- 
2m  Gut  vor  einer  zuständigen  Behörde  vorzunehmen.  Der  Rat  wurde 
amit  das  Forum  für  die  Handlungen,  die  man  mit  einem  modernen 
egriff  als  Akte  der  freiwilligen  Gerichtsbarkeit  zusammenfassen 
ann.  Die  Tradition  von  liegendem  Gut  wurde  nur  nach  Auflassung, 
ie  Pfandsatzung  nur  nach  dem  Bekenntnis  des  Vertrages  vor  dem 
at  rechtskräftig,  so  bestimmte  die  Willkür  A.* 

Lag  ursprünglich  die  Ausübung  der  gerichtlichen  Tätigkeit  bei 
|em  gesamten  sitzenden  Rate  und  in  besonderen  Fällen  bei  dem 
ollegium  der  vereinigten  Räte,  so  hat  der  Geschäftsgang  schon  bald 
tne  Vereinfachung  erfahren,  indem  häufig  wiederkehrende,  einfache 
achen  an  bestimmte  Ratskommissionen  verwiesen  wurden.  Nach 
em  oben  erwähnten  Statut  in  A^  sollte  die  Pfandsatzung  coram  con- 
filibus  ad  hoc  constitutis  vorgenommen  werden;  das  entsprechende 
tatut  in  B  setzt  ihre  Zahl  auf  zwei  Ratsherren  fest  (vor  den  zwen  von 
em  .  .  .  Rate,  die  unsir  herren  dar  czu  gesatzt  habin).  Leichtere  Ver- 
al-  oder  Realinjurien  wurden  seit  1396  einem  Kollegium  von  vier 
cheltherren  auf  der  Scheltlaube  „zur  gütlichen  Weisung"  übergeben.^ 
ind  —  allerdings  erst  aus  späterer  Zeit,   aus   dem  17.  Jahrhundert,^ 


^  Gedruckte  Ratsrezesse. 

"  Lambert  S.  96/97  (Statut  A  und  B):  Qui  de  iüdicio  ad  consules  apellauerit 
bnuictus  solidum  statim  dabit. 

^  Lambert  S.  122/23  (Statut  A  und  B):  ...  qui  uero  alias  coram  regibus  uel 
rincipibus  seu  ubicumque  alibi  quemquam  conuenerit,  unde  ciuitati  dampna  et  graua- 
lina  ualeant  euenire,  hie  daturus  V  marcas  amouebitur  quinque  annis.  Saluo  tarnen 
uod  si  iusticia  cuiquam  denegaretur  per  consules  aut  scultetum,  ille  appellacione 
icta  manifeste  potest  alibi  suum  ius  persequL 

^  Lambert  f.  80:  Item  de  uendicione  bonorum  quorumlibet  immobilium  propri- 
rum  unusquisque  tam  venditor  quam  emptor  de  marca  qualibet  debet  unam  denarium 
nfra  octo  dies  elapsa  empcione  coram  consulibus  resignantes  illa  bona  et  suscipientes 
b  eisdem;  qui  neglexerit  pena  erit  marca  et  mensis. 

Bona  eciam  hereditaria  coram  consulibus  resignanda  sunt  et  suscipienda. 

Item  bona  immobilia  propria  qui  alteri  pro  debitis  obligare  uoluerit,  ea  coram 
'msulibus  ad  hoc  constitutis  obligabit,  aliter  obligacio  efficaciam  non  habebit. 

'"  Lambert  S.  161  z:  Ouch  sal  man  vier  manne  kyse  vz  den  Reihen,  der  sal  eyn 
ie  eyn  hantwerkes  man,  die  viere  sollen  gerichte  halde  vff  der  scheltlouben. 

^  Gedruckte  Ratsrezesse  S.  35;  Rezeß  von  1679,  §  5. 


414  Erich  Kleeberg 

liegen  genauere  Angaben  darüber  vor  —  „die  peinlichen  Fälle  wit 
auch  alle  fiskalischen  Sachen,  die  harten  und  groben  Injurien  unc' 
mancherlei  Frevel"  wurden  vor  dem  Semneramt/  einer  Art  Polizei 
behörde,  verhandelt,  deren  Mitglieder  auch  dem  sitzenden  Rate  an- 
gehörten. Von  dem  Semneramte  war  ebenfalls  eine  Appellation  ar 
den  Gesamtrat  möglich. 

War  die  Ausübung  der  Gerichts-  und  Polizeihoheit  geeignet,  den 
Rate  seine  beherrschende  Stellung  innerhalb  der  Bürgerschaft  zi 
sichern,  und  war  es  schon  deshalb  sein  Streben,  das  Schultheißen^ 
gericht  zu  einer  bloßen  tiilfsinstanz  herabzudrücken,  so  brachte  de' 
Besitz  des  Gerichts  der  Kämmereikasse  auch  nicht  unbedeutende  Ein 
nahmen  in  Form  von  Gefällen  und  Strafgeldern. 

Die  anderen  Zweige  der  städtischen  Verwaltung  erscheinen  ebenfall 
zum  Teil  schon  früh  differenziert  und  wurden  durch  Kommissionei 
des  sitzenden  Rates  versehen.  Als  Flurrichter  wurden  zwei  dem  Rat 
angehörende  Heimburgen  erwählt;  zur  Verwaltung  des  städtischei 
Markbesitzes  wurden  Holz-,  Fisch-  und  Jagdherren  bestellt.  Die  Er 
richtung  der  städtischen  Bauten  und  die  Aufsicht  über  die  privat' 
Bautätigkeit  war  einer  besonderen  Behörde  von  Bauherren  überwieser 
Größere  politische  Bedeutung  sollte  das  Amt  der  Kriegsmeister  ge 
winnen.  1396  bestimmte  der  Rat  zwei  seiner  Mitglieder,  die  di 
Kriegsrüstung  der  Stadt  überwachen  sollten  und  alle  daz,  daz  czu  de 
were  gehöret,  beslyße  und  dez  macht  haben  von  büchzen,  arniborstei 
kochim  vnd  görteln?  Welche  Bedeutung  man  diesem  Amte  beimal 
zeigt  sich  darin,  daß  allein  diese  Herren  ihr  Amt  zwei  Jahre  bekleidetet 
und  zwar  in  der  Weise,  daß  von  den  beiden  alljährlich  bloß  einer  au 
dem  neuen  Rate  ersetzt  wurde.^  In  späterer  Zeit  wurde  ihre  Zahl  vei 
mehrt,  und  diese  Kriegsmeister  wurden  oft  als  diplomatische  Vertrete 
ausgeschickt.  In  der  Kämmereirechnung  des  16.  Jahrhunderts  werde 
die  Ausgaben  für  Gesandtschaftsreisen  und  ähnliches,  die  man  früh( 
unter  der  Rubrik  ad  placitandum  buchte,  geradezu  unter  dem  Name 
„Kriegsmeisteramt"  geführt. 

Einer  besonderen  Ausbildung  erfreuten  sich  die  Ämter,  denen  di 
Verwaltung  des  städtischen  Finanzwesens  oblag.    Am  Tage  des  Rats 


'  Der  Ursprung  des  Amtes  ist  nicht  klar.  Seinen  Namen  hatte  der  Semn( 
von  der  Art  seiner  Tätigkeit;  er  hatte  bestimmte  Abgaben  einzusammeln.  In  dt 
Willküren  A  und  B  wird  als  der  Hochzeitssemner  derjenige  bezeichnet,  der  vo 
Bräutigam  dazu  bestimmt  ist,  den  Hochzeitsschilling  einzusammeln.  1396  werdt 
die  sechs  phenninge  semmener  als  Beamte  des  Rates  genannt.  Lambert  S.  161  o. 
Nach  der  Willkür  von  1566  (I.  Art.  17)  bilden  sie  die  Sicherheitspolizei. 

^  Lambert  S.  161c. 


Stadtschreiber  und  Stadtbücher  in  Mühlhausen  i.  Th.  415 

yechsels  bestimmte  der  neue  Rat  vier  Kämmerer;^  diese  hatten  acht 
j'age  nach  Ablauf  ihres  Amtsjahres  ihre  Rechnung  dem  Rate  und  den 
liltesten  vorzulegen.-  In  den  ersten  Jahren  des  15.  Jahrhunderts  wurde 
iine  Neuordnung  der  Geschoßerhebung  durchgeführt.  Vielleicht  neben 
len  Kämmerern  wurde  eine  Zwölferkommission  aus  acht  Ratsherren 
'on  den  Geschlechtern  und  vier  von  den  Zünften  gebildet^  und  ihnen 
iie  Einnahme  der  direkten  Steuer  von  jeder  Art  Vermögen  an  dem 
ifühjahrs-  und  Herbsttermin  zugewiesen.  Das  Geschoß  wurde  seit  dem 
etzten  Viertel  des  14.  Jahrhunderts  in  erster  Linie  zur  Auszahlung  der 
i<athausrenten  verwandt,  die  schon  eine  ganz  moderne  Art  der  Anleihe, 
undiert  auf  der  Steuerkraft  der  Bürger,  darstellen,  wenn  sie  auch,  in 
ier  Form  den  Rentenkäufen  angepaßt,  vom  Rathause,  de  pretorio,  ver- 
lauft wurden.  Die  Ausstellung  dieser  Zinsverschreibungen  wurde  vor 
iem  Viererrate  vorgenommen.* 

Spätestens  1412  ist  diese  Geschoßkommission  mit  den  Kämmerern 
identisch,  und  in  dem  Kollegium  der  zwölf  Kämmerer  ging  seitdem 
iie  gesamte  Verrechnung  der  städtischen  Finanzen  vor  sich.  Ihr 
Stand  hob  sich,  sie  erwählten  alljährlich  aus  ihrer  Mitte  zwei  Vor- 
steher, die  Oberkämmerer,  die  im  Range  nur  den  beiden  Ratsmeistern 
hachstanden.  Aus  der  Kämmerei  wurden  die  gesamten  Ausgaben  der 
Städtischen  Verwaltung  und  Politik  bestritten,  und  hierhin  flössen  die 
Einnahmen  zusammen:  die  festen  Einnahmen  und  gelegentlichen  Ge- 
fälle der  Verwaltungsdepartements,  die  direkte  Steuer  auf  unbeweglichen 
[und   beweglichen  Besitz  und  die  verschiedenen  Arten  von  indirekten 

f. Steuern  (ungelt),  die  Handel  und  Gewerbe  belasteten,  wie  Zoll,  Ge- 
werbesteuern, Abgaben  von  Wage,  Münze  und  Kaufbuden,  Korn-  und 
Bierzins. 

I  Auch  die  Einnahmen  der  Zinsmeisterei  flössen  an  den  Rech- 
Inungsterminen  in  die  Kasse  der  Kämmerer.  Die  Verwaltung  der  Ein- 
nahmen, die  beruhten  auf  den  ursprünglich  grundherrlichen  Beziehungen 
der  Stadt,  wurde  noch  im  14.  Jahrhundert  von  den  beiden  Marstall- 
meistern^  besorgt  und  erst  im  15.  Jahrhundert  einem  besonderen  Rats- 
kollegium, den  vier,  später  sechs  Zinsherren  übertragen.  Ihr  Geschäfts- 
kreis erweiterte  sich,  als  der  Pachtbesitz  der  Stadt  1461  durch  einige 
Güter,  die  dem  Kloster  Lippoldsberg  gehörten,  und  im  16.  Jahrhundert 
durch  Übernahme  der  Deutsch-Ordensgüter  vermehrt  wurde. 


'  Lambert  S.  90/91. 

-  Lambert  S.  160d. 

'  GeschichtsbL  9,  S.  26- 

*  GeschichtsbL  9,  S.  24. 

'  GeschichtsbL  9,  S.  13;  Lambert  f.  162. 


416  Erich  Kleeberg 

Erstes  Kapitel 

Die  Anfänge  des  Stadtschreiberamtes  und  die  Entwick- 
lung der  Kanzlei  bis  zur  Mitte  des  15.  Jahrhunderts 

In  der  Summe  der  durch  die  Ratsregierung  veranlaßten  offizieller 
Schriftstücke  haben  wir  vor  uns  das  Werk  der  städtischen  Schreiber 
mögen  diese  Männer  in  fester  amtlicher  Beziehung  zum  Rate  gestander, 
haben  oder  nur  zu  gelegentlichen  Dienstleistungen  herangezogen  sein 
In  dem  Maße,  wie  sich  der  Rat  schriftlicher  Aufzeichnungen  bediente 
erhalten  wir  also  durch  die  Tätigkeit  der  Schreiber  ein  getreues  Abbikj 
dieser  Regierung.  In  gleichem  Grade  mußte  aber  auch  für  jene  Zeiter 
selbst  die  Wertschätzung  der  Schreiber  steigen,  zumal  da  die  tland- 
habung  der  Feder  und  des  Kanzleistils  noch  als  Kunst  galt,  und  di(: 
Geschäftsführung  in  den  Städten  sich  noch  nicht  in  alten  traditioneller 
Formen  bewegte,  sondern  zum  Teil  erst  neu  zu  gestalten  war.  D; 
also  ein  gewisses  Maß  von  Bildung  und  Erfahrung  zur  Erfüllung  de: 
städtischen  Schreibdienstes  gehörte,  und  da  auch  der  Schreiber  eim 
Vertrauensstellung  einnahm,  so  ist  es  natürlich,  daß  der  Rat  sich  bak 
nur  bestimmter  Personen  zu  diesem  Zwecke  bediente  und  das  Am 
eines  offiziellen  Stadtschreibers  schuf.  Mit  den  Formen  und  dem  In 
halt  der  Ratsregierung  vertraut,  gewannen  die  Beamten  Einfluß  auf  di( 
formale  Ausgestaltung  des  Geschäftsganges,  und  es  konnte  auch  nich 
ausbleiben,  daß  Männer  ihrer  Bildung  und  ihres  Standes  an  der  Re 
gierung  selbst  Anteil  nahmen. 

Im  ersten  Kapitel  soll  dieser  Prozeß,  der  sich  in  Mühlhauser 
etwa  um  die  Mitte  des  15.  Jahrhunderts  vollzogen  hat,  nachgewieser 
werden.  Das  zweite  Kapitel  wird  dann  darzustellen  haben,  wie  siel 
der  oberste  Schreiber  vom  täglichen  Kanzleidienst  frei  machte,  um  ii 
des  Rates  Politik  und  Verwaltung  eine  führende  Rolle  als  Stadtsyndiku; 
zu  spielen,  während  sich  das  Schreiberpersonal  den  steigenden  For 
derungen  entsprechend  vermehrte. 

§  1.    Die  städtischen  Schreiber  1314— 1460 

Zu  Beginn  des  14.  Jahrhunderts  findet  sich  in  Mühlhausen  di( 
erste  Spur  eines  festangestellten  Stadtschreibers.^  Bis  zu  dieser  Zei 
wird  die  Tätigkeit  eines  solchen  Beamten  keine  umfangreiche  gewesei 


^  Nachrichten  über  Stadtschreiber  finden  sich  in  den  meisten  Stadtbucheditionen 
ich   verweise    hier  nur  auf   die    ausführlicheren  Arbeiten    von   W.  Stein,   Deutsch 


Stadtschreiber  und  Stadtbücher  in  Mühlhausen  i.  Th.  417 

ein  und  sich  im  wesentlichen  auf  die  Ausstellung  von  Urkunden  be- 
chränkt  haben.  Der  Rat  dürfte  zu  dem  Zwecke  die  gelegentlichen 
Menste  eines  in  der  Stadt  ansässigen  Geistlichen  benutzt  haben.  Doch 
a  in  den  Urkunden,  auf  deren  Material  ich  allein  angewiesen  bin,  die 
lennung  eines  Schreibers  bei  dem  Zurücktreten  der  Persönlichkeit  dem 
ufall  überlassen  blieb,  so  kann  auch  vor  unserem  ersten  Zeugnis  ganz 
7ohl  ein  Geistlicher  den  Titel  Stadtschreiber  geführt  haben.^  Schon 
.tephan  hat  hingewiesen  auf  eine  Urkunde  vom  Jahre  1303,^  in  der 
in  fienricüs  scriptor  de  Molenhusen  unter  den  Zeugen  genannt 
/ird.  Doch  erscheint  es  mir  wahrscheinlich,  daß  mit  dem  scriptor 
in  Familienname  gemeint  ist,  zumal  der  Stadtschreiber  später  nie  als 
criptor  de  Molenhusen,  sondern  soweit  lateinisch  als  scriptor  civi- 
atis  und  in  Ratsurkunden  als  scriptor  (notarius)  noster  be- 
elchnet  wird.  Die  erste  sichere  Nachricht  über  einen  Stadtschreiber 
laben  wir  zu  sehen  in  einer  am  18.  III.  1314  vom  Rate  ausgestellten  Ur- 
;unde,^  in  der  sich  ein  Gotfrid  von  Schonrstete  (Schönstedt)  als 
mse  schriber  findet.  Der  Rat  vergleicht  sich  mit  den  Deutsch-Herren 
iber  die  Kosten  der  neuerbauten  St.  Nikolauskapelle,  und  es  wird  be- 
timmt,  daß  die  pherrere  in  der  Aldenstad  (eine  Komturei  des  Deutsch- 
irden s)  di  capellen  sente  Niclaus  haben  sal  alle  zit  also,  wi  se  und 
mse  schriber  Gotfrid  von  Schonrstete  gehat  haben.  Als  Priester  nennt 
hn  noch  einmal  eine  Urkunde  vom  Jahre  1324*  unter  den  Zeugen 
)ei  einem  Schiedssprüche  der  Mainzer  Delegierten  zwischen  dem 
)eutsch-Orden  und  dem  Rate.  Unter  anderem  handelt  es  sich  um  die 
wischen  den  Parteien  strittige  Unterhaltung  eines  Priesters  für  die 
»bengenannte  Kapelle,  und  in  dieser  Sache  mag  Gotfrid  sacerdos,  der 
rubere  Inhaber  der  Pfarre,  vom  Rate  als  Zeuge  angerufen  sein.    Noch 


itadtschreiber  im  Mittelalter,  Mevissen-Festschrift,  Köln  1895;  W.  Stein,  Akten 
ur  Geschichte  der  Verfassung  und  Verwaltung  Kölns;  Publik,  d.  Ges.  f.  rhein. 
jeschichtsk.  17;  Bonn  1893/95:  1.  CXVIII— CLXXIX;  ti.  Ermisch,  Die  sächsischen 
itadtbücher  des  Mittelalters;  Neues  Arch.  f.  sächs.  Gesch.  X,  1889. 

^  Ermisch  a.  a.  0.  S.  88  ff.  beginnt  die  Reihe  der  Stadtschreiber  in  den  jetzt 
:gl.  sächsischen  Städten  mit  dem  Jahre  1300.  W.  Stein  a.  a.  0.  S.  33  weist  zwar 
n  bedeutenderen  Städten  mitunter  schon  im  13.  Jahrh.  das  Amt  eines  Stadtschreibers 
lach  (Köln  1228;  Braunschweig  1231;  Straßburg  1233;  Hildesheim  1266  usw.),  doch 
vird  auch  nach  seinen  Ausführungen  in  den  meisten  Städten  ein  Stadtschreiber  erst 
.eit  dem  14.  Jahrh.  erwähnt,  z.  B.  in  Magdeburg  seit  1301. 

^  ürkundenb.  542  (die  Urkunden  bis  zum  Jahre  1350  zitiere  ich  nach  der 
Kummer  in  tierquets  ürkundenbuch  (ti.  Ü.-B.)  von  Mühlhausen  (Geschichtsquellen 
ier  Provinz  Sachsen  III  1874);  von  1350  ab  nach  der  laufenden  Nummer  im  chrono- 
ogischen  Verzeichnis  des  ürkundenregisters  (ü.-N.). 

'  H.  Ü.-B.  659. 

'  H.  Ü.-B.  795. 
Afu    II  27 


418  Erich  Kleeberg 

ein  Kalendarium^  der  Minoriten-Brüdergemeinde  aus  dem  Ende  des 
Jahrhunderts  führt  einen  Gotfrid  de  Schonrer  quondam  scriptor  civi- 
tatis auf,  ein  sicheres  Zeugnis,  daß  seine  Tätigkeit  im  Dienste  der  Stadt 
keine  vorübergehende  war.  Seinem  Namen  nach  gehörte  er  einem  an-^ 
gesehenen  Ministerialengeschlechte  an,  das  schon  in  den  Ratslisten  * 
von  1299,  1314  und  1325  ^  genannt  wird. 

Der  Deutsch-Orden  übte  über  die  beiden  Hauptkirchen  der  Stadt 
und  über  die  meisten  Nebenkirchen  das  Patronat  aus.  Im  14.  Jahr- 
hundert erhob  er  auch  Ansprüche  an  die  Kapelle  des  St.  Antonius- 
hospitals, ganz  unberechtigterweise,  denn  1302  hatte  der  Mainzer  Erz- 
bischof Gerhard  dem  Rate  das  Recht  verliehen,  cum  quoddam  hospitale 
aedificaverit  et  donaverit,  einen  Prister  an  ihm  zu  präsentieren.^  So 
stand  das  Hospital  in  naher  Beziehung  und  die  dort  angestellten  Geist- 
lichen in  einem  gewissen  Abhängigkeitsverhältnisse  zum  Rate.  Dies 
muß  berücksichtigt  werden,  wenn  der  nächste  uns  bekannte  Stadt- 
schreiber Rektor  dieses  Hospitals  ist.  Schon  1336  wird  ein  Dytmarus 
Noter  in  dieser  Stellung  genannt,*  und  1339  wird  derselbe  Dietmar  in 
einer  Ratsurkunde  ^  als  noster  notarius  et  rector  hospitalis  bezeichnet. 
Wenn  1340  ein  Dietmar  die  Pfarre  an  der  städtischen  Patronatskirche 
in  Höngeda  (bei  Mühlhausen)  inne  hat,^  so  bleibt  die  Möglichkeit,  daß 
auch  dieser  Pfarrer  mit  dem  Stadtschreiber  identisch  ist.  Wichtiger  ist 
eine  Nachricht  in  einer  Urkunde  von  1344,'  die  zeigt,  daß  Dietmar 
noch  im  Stadtschreiberamt  ist,  und  daß  während  seiner  Amtszeit  eine 
wichtige  Änderung  in  der  Schreibstube  stattgefunden  hat.  Er  wird 
unter  den  Zeugen  bei  einer  Zehntenübertragung  vom  Abt  zu  Fulda  an 
den  Rat  als  prothonotarius  bezeichnet.  Dem  Stadtschreiber  ist  zur 
Bewältigung  der  ausgedehnteren  Geschäfte  ein  Hilfsschreiber  zugeteilt 
worden.  In  eben  der  Weise,  wie  ihm  1339  als  Rektor  des  Hospitals 
2  Mark  jährlicher  Einkünfte  überwiesen  wurden  zur  Unterhaltung  eines 
Scholaren  als  Hilfsschreiber  sibi  ad  serviendum  et  ad  computacionem 
hospitalis  memorati  conscribendum,  so  werden  wir  uns  auch  die  An- 
stellung und  Unterhaltung  des  städtischen  Subnotars^  vorstellen  müssen; 
vielleicht  verwandte  Dietmar  dieselbe  Person  auf  beiden  Posten. 


'  Heydenreich,  Geschichtsbl.  6. 
'  H.  Ü.-B.  491,  667,  798. 
■  '  fi.  Ü.-B.  528. 

*  H.  Ü.-B.  884. 
■^  ti.  Ü.-B.  917. 

*  Bader,  Gescliichte  der  Ephorie  Mühlhausen;  Mühlhausen  1890,  S.  6. 
'  W.  Ü.-B.  965. 

^  Zum  Vergleiche,  sei  verwiesen  auf  die  Kanzleiverhältnisse  in  Bruchsal  und 
Straßburg  etwa  zur  selben  Zeit:  Gestalt  und  Gelegenheit  des  Stadtschreiberamtes  zu 
Bruchsall;  Stadtrecht  von  Bruchsal  S.  907 ff.  (Oberrhein.  Stadtrechte,  herausg.  von  der 


Stadtschreiber  und  Stadtbücher  in  Mühlhausen  i.  Th.  419 


Erst  20  Jahre  später  läßt  sich  aus  den  Urkunden  ein  neuer  Proto- 
notar  namentlich  feststellen.  1364  wird  der  Protonotar  Heinrich  von 
ürbach  als  neu  gewählter  Pfarrer  vor  der  Gemeinde  in  Sambach 
proklamiert,^  doch  schon  im  nächsten  Jahre  verzichtet  er  freiwillig  auf 
die  Pfarre.^  Seinen  städtischen  Dienst  kann  er  nicht  mehr  lange  ver- 
richtet haben,  denn  schon  1369  nennt  ihn  eine  Urkunde^  unter  ihren 
Zeugen  als  Erfurter  Bürger.  Auch  er  entstammte  einem  angesehenen 
Ministerialengeschlechte,  das  schon  1262  Sitz  im  Rate*  hatte. 

Diese  drei  Stadtschreiber,  über  die  ein  dürftiges  Material  Kunde 
gibt,  repräsentieren  den  ältesten  Zustand  des  Stadtschreiberamtes.  Sie 
sind  aus  dem  Stande  der  Weltgeistlichen  hervorgegangen  und  haben 
die  Priesterweihe  empfangen.  Ihr  städtisches  Amt  nimmt  sie  nicht 
ausschließlich  in  Anspruch,  sie  können  vielmehr  ihren  sonstigen  Beruf 
weiter  ausüben,  wie  das  Beispiel  Dietmars  erkennen  läßt.  Seit  dem 
Jahre  1374  ist  der  schriftliche  Niederschlag  der  Verwaltungstätigkeit 
in  den  städtischen  Büchern,  wenn  zunächst  auch  noch  sehr  lücken- 
haft, erhalten.  Damit  wird  ein  reicheres  Material  für  eine  Geschichte 
des  Stadtschreiberamtes  gewonnen.  Nachdem  schon  im  Jahre  1375 
ein  Schreiberwechsel  ^  stattgefunden  hat  —  der  Nachfolger  Heinrichs 
von  ürbach  wird  seinen  Dienst  aufgegeben  haben  — ,  erscheint  zuerst 
1381  die  Hand  Gerhards  von  Göttingen. ^  Der  alte  Stadtschreiber 
muß  zwar  seinem  Amte  noch  nahe  gestanden  haben,  denn  noch 
stammen  einzelne  Einträge  aus  seiner  Feder.  Doch  lassen  sich  aus 
dieser  Tatsache  keine  weiteren  Schlüsse  ziehen,  da  über  seine  Persön- 
lichkeit nichts  bekannt  ist.  Gerhard  hat  seinen  Dienst  als  Protonotar^ 
etwa  20  Jahre  lang  versehen."^  Er  war  Weltgeistlicher  und  wird  in 
einem  Schreiben^  des  Rates  als  Priester  bezeichnet,  aber  von  einer 
Tätigkeit  in  seinem  geistlichen  Amte  ist  in  der  ganzen  Zeit  keine  Rede. 

badisch-historischen  Kommission:  1.  Abt.  7.  Heft;  Heidelb.  1906).  In  Straßburg  wurde 
das  Kanzleipersonal  schon  1322  durch  4  Schreiber  gebildet:  1  Oberschreiber,  sein 
Sohn  und  2  ünterschreiber  (Straßburger  ürkundenbuch,  Straßb.  1898,  IV  2,  6.  Stadt- 
recht Artikel  447  und  509). 

'  Ü.-N.  569. 

"'  Ü.-N.  572;  in  dem  Zettelkatalog  ist  aus  dem  Jahre  1364  ein  Protest  wegen 
Präsentation  des  Pfarrers  zu  Sambach  verzeichnet,  doch  leider  nach  der  angegebenen 
Registraturnummer  nicht  mehr  aufzufinden. 

'  Ü.-N.  586. 

*  H.  Ü.-B.  165. 

'  Stadtpfandbuch  E  8  b  1. 

^  Ü.-N.  710  (9.  VIII.  1400)  prothonotarius  Gerhard  v.  G.  unter  den  Zeugen. 

^  Im  Kopienbuch  von  Zinsverschreibungen  Xla,  das  1402  abbricht,  findet  sich 
seine  Hand  noch.  Dagegen  ist  schon  das  älteste  Kataster,  das  kurze  Zeit  darauf 
angelegt  sein  muß  (cf.  S.  30  [430],  Anm.  4)    von  seinem  Nachfolger  geschrieben. 

'  Kopialbuch  W2,  S.  280  (1397). 

27* 


420  Erich  Kleeberg 

Sein  Nachfolger,  ein  gewisser  Heinrich,^  erledigte  mit  seinem 
ünterschreiber  bis  zum  Jahre  1414  regelmäßig  die  Kanzleigeschäfte. 
Wenn  er  im  Jahre  1407  vor  das  geistliche  Gericht  geladen  wurde  zur 
Verantwortung  über  ein  ihm  testamentarisch  anbefohlenes  Seelgerät,^ 
so  spricht  das  für  seinen  geistlichen  Stand.  Schon  1414  trat  in  der 
Kanzlei  an  seine  Stelle  Günther  Pucker,  wenn  auch  Heinrich  noch  im 
selben  Jahre  zwei  Katasterbücher  anlegte.  Noch  eine  Notiz  in  der 
Kämmereirechnung,^  die  im  Frühjahre  1417  begonnen  wurde,  erwähnt 
ihn:  pro  antiquo  notario  in  pretio  suo  24  uln  panni  de  mechidi  et  pro 
Omnibus  45  flor,  quas  ipse  personaliter  recepit.  Doch  wird  es  sich 
hierbei  um  Auszahlung  von  rückständigem  Sold  gehandelt  haben,  das 
beweist  die  unverhältnismäßige  Höhe  der  Summe.  Jedenfalls  bleibt 
auch  in  diesem  Falle  der  alte  Schreiber  nach  der  Neubesetzung  des 
Amtes  in  einem  Verhältnis  zur  Kanzlei. 

Günther  Pucker  ist  der  erste  Laie  im  Oberschreiberamte,  zu- 
gleich auch  der  einzige  während  dieses  Jahrhunderts.  Er  war  wohl 
einer  der  vielen  im  Lande  umherziehenden  Scholaren  und  erwarb  sich 
erst  durch  seinen  Dienst  Heimatsrecht  in  der  Stadt.  Im  Januar  1425 
wird  er  Bürger.*  1427  verschaffte  ihm  der  Rat  in  besonderer  Aner- 
kennung 'seiner  Tätigkeit  Aufnahme  in  die  Kaufmannsgilde, ^  und  als 
er  zu  Beginn  der  dreißiger  Jahre  seinen  Dienst  aufgab,  hatte  er  sich 
einen  so  festen  Stand  in  der  Bürgerschaft  gesichert,  daß  er  in  den 
Ratsstand  gewählt  wurde,  in  dem  er  1441^  als  Zinsmeister  und  1444' 
als  Kämmerer  bezeugt  ist.^ 

Nicht  genau  läßt  es  sich  erkennen,  wann  er  von  seinem  Amte 
zurücktrat.  1417/18  erscheint  zum  ersten  Male  ein  ünterschreiber  in 
einer  selbständigen  Tätigkeit.  Er  führte  eine  Verhandlung  beim  Göt- 
tinger Rate;^  sein  Name  ist  nicht  überliefert.    Vielleicht  ist  er  identisch 


*  Kopialbuch  W3,  S.  118;  125b  (1407). 
'  Kopialbuch  W3,  S.  125b  (1407). 

^  Kämmereirechn.  1417  Exaudi,  unter  pro  notario. 

^  Bürgerliste  H  26,  2  a  (1424/25)  Gunthems  Packer  civitatis  prothonotarius 
effectus  est  civis. 

^  Bürgerliste  ti  26,  2a  (1427)  Günther  Pucker  habet  ansam  mercatorum  ex  dono 
consulatus  causa  servicii  sui.  1428:  G.  prothonotarius  habet  ansam  mercatorum. 
{ansam  mercatorum  comparare  [Willkür  A]  wird  in  der  Willkür  B  wiedergegeben: 
eynes  koufmannes  innunge  kouffen;  Lambert  S.  124/125). 

*  Einbandpergament  der  Kriegsliste  Kl,  la  2.  Seite. 

^  Kämmereirechn.  1444;  noch  1445  und  1453  erwähnt  ihn  das  Ratsbuch  als 
Ratsherrn  X5b,  S.  23  und  X5a,  S.  51. 

'  Das  Geschoßregister,  das  1413  angelegt  wurde  (auf  N.  11  2),  verzeichnet  zum 
Jahre  1433  Günthers  Besitz,  der  demnach  ein  ganz  ansehnlicher  war.  Seine  Tochter 
trat  später  in  das  Brückenkloster  ein. 

®  Kopialbuch  W4,  S.  34b. 


,  Stadtschreiber  und  Stadtbücher  in  Mühlhausen  i.  Th.  421 

'mit  dem  Unterschreiber  Johann  Molsdorf,  ebenfalls  einem  zuge- 
wanderten Laien,  dessen  tiand  in  den  Kanzleibüchern  etwa  seit  1422 
vorkommt.  Seit  1428  verschwindet  Günthers  tiand  allmählich  aus  dem 
Stadtbuche,  und  ungefähr  seit  1431  hat  Molsdorf  immer  noch  unter 
dem  Titel  Unterschreiber  ^  das  Amt  allein  verwaltet.^  Nach  1438  suchte 
er  einen  neuen  Dienst  und  bekleidete  bis  1444  das  Stadtschreiberamt 
im  benachbarten  Langensalza.^  In  diesem  Jahre  kehrte  er  nach  Mühl- 
hausen zurück  und  erwarb  hier  mm  suis  heredibus  das  Bürgerrecht."* 
Er  war  nicht  unbegütert,  denn  schon  1435  hatte  er  vom  Rate  eine 
Leibrente^  für  120  flor.  gekauft.  1444  erwarb  er  sich  einen  Platz  in 
der  Kaufmannsgilde^  und  1458  gehörte  er  wohl  dem  Ratsstande  an, 
da  ihn  die  Geschoßregister  einen  Er  nennen. 

Molsdorfs  Nachfolger  im  Unterschreiberamte  war  der  Bürgerssohn  "^ 
tiermann  Kappus.  Das  Amt  des  Oberschreibers  scheint  erst  1441 
wieder  neu  besetzt  zu  sein  mit  Johann  Eisenhart,  baccalaureus  des 
geistlichen  Rechts  und  Domherr  zu  Naumburg.  Seine  tiand  kommt  in 
den  Büchern  seit  1441  vor,  wenn  er  auch  erst  1442  als  Oberschreiber 
bezeugt  ist.^  Vielleicht  gehörte  er  einer  Mühlhäuser  Familie  an,  der 
Name  ist  schon  damals  in  der  Stadt  häufig.  Als  erster  Kleriker  mit 
Universitätsbildung  auf  dem  städtischen  Posten,  wahrscheinlich  in  der 
Stadt  überhaupt,  ist  er  in  diesem  Zusammenhange  von  besonderer  Be- 
deutung. Beziehungen  zum  Rate  hatte  er  schon  früher  gehabt.  Als 
Zeuge  wohnte  er  1433  einer  Ratsbesprechung  über  einen  Prokurator 
der  Stadt  bei.^  Um  Pfingsten  1436  sandte  ihn  der  Rat  als  unsirn 
kapplan  mit  einem  Beglaubigungsschreiben  nach  Einbeck  ^^  und  wenig 
später  wegen  der  tiussitensteuer  an  den  Pfarrer  zu  Borgstemmen.^^  So 
hatte  der  Rat  Gelegenheit  gehabt,  seine  Fähigkeiten  kennen  zu  lernen. 
In  dem  neuen  Amte,  in  dem  er  einen  tüchtigen  Unterschreiber  vor- 
fand, entfaltete  er  gleich  eine  ausgebreitete  Tätigkeit.    1451  wurde  der 


^  Kopienbuch  von  Zinsverschreibungen  F  1—4/118. 

^  Günther  wird  zum  letzten  Male  als  Protonotar  erwähnt  im  Sommer  1430 
(Kämmereirechn.).  1432  und  1433  wird  der  Protonotar  zwar  noch  aufgezählt  unter 
den  ministri  civitatis,  die  ein  Weinpräsent  erhalten  (Kopialbuch  W5,  S.  73b;  74b), 
doch   ist  seine  Tätigkeit  seit  1431  nirgends  bezeugt,     cf.  S.  44  [444l  Chr.  Herold. 

'  Kopialbuch  W5,  S.  246  (1441/42);  S.  292  (1443/44). 

'  Bürgerliste  H  26,  2  a  (1444). 

''  cf.  Anm.  1. 

^  cf.  Anm.  4. 

'  Stadtbuch  X  7,  S.  19  b. 

'  Ü.-N.  879  (16.  XI.  1442). 

'  Kopialbuch  W5,  S.  92  (1433/34). 
''  Kopialbuch  W5,  S.  124  (1436). 
''  Kopialbuch  W5,  S.  124b  (1436). 


422  Erich  Kleeberg 

Domherr  zum  Dekan  in  Naumburg  gewählt  und  verließ  im  Frühjahr  1452 
Mühlhausen.'^  Doch  widmete  er  auch  noch  in  späteren  Jahren  seine 
Dienste  der  Stadt.  Als  diese  z.  B.  im  Sommer  1459  in  einen  Prozeß 
mit  dem  Siegeler  des  Grafen  von  Nassau  Dr.  Heyse  über  ein  Lehen 
auf  dem  Rathause  verwickelt  war,  erbat  der  damalige  Oberschreiber 
von  dem  Naumburger  Domherrn  seinen  bewährten  Rat.^  Gestorben 
ist  er  zwischen  1475  und  84;  das  Geschoßregister  von  1475  nennt 
ihn  noch,  während  die  Kämmereirechnung  von  84  statt  seines  Namens 
die  Relicia  domini  Isenhart  einfügt. 

Das  Amt  des  Protonotars  wurde  wieder  an  einen  Mühlhäuser 
Geistlichen  vergeben,  an  Magister  Johann  Wolfhagen,  in  decretis 
licentiatus.  1459  starb  er^  und  hinterließ  die  Kanzlei  in  ziemlicher 
Unordnung.  Für  die  Entwicklung  des  Amtes  war  er  kaum  von  Be- 
deutung. Von  weit  größerem  Einfluß  war  die  Tätigkeit  des  Subnotars 
Hermann  Kappus,  der  —  wie  schon  gesagt  —  seit  1438  das  Amt  inne 
hatte.  Er  war  ein  reicher  Bürger*  und  gehörte  wie  sein  Vorgänger 
dem  weltlichen  Stande  an.  1455  nennt  ihn  die  Kämmereirechnung 
zum  letzten  Male  als  ünterschreiber;  nur  aushilfsweise  arbeitete  er 
1459  noch  einmal  in  der  städtischen  Kanzlei  nach  dem  Tode  des 
Protonotars.^  Sonst  zeigen  ihn  die  Quellen  in  anderen  Zweigen  der 
städtischen  Verwaltung  tätig.  1458  und  59  ist  er  vom  Rate  dem 
Antoniushospital  als  Provisor^  bestellt,  1462  und  64  dem  Frauenkloster.' 
Spätestens  seit  1466  gehörte  er  dem  Ratsstande ^  an  und  ist  zwischen 
1478  und  80  gestorben.^  Auch  wird  er  1472  als  Mitglied  der  Bruder- 
schaft des  heiligen  wahren  Leichnams  unseres  Herrn  Jesu  Christi  in 
St.  Blasii  in  der  Altstadt  bezeugt. ^^ 

§  2.  Entwicklung  des  Amtes 

Als  Ergebnis  dieser  Untersuchung^^  möchte  ich  folgendes  betonen. 
Wenn  der  Rat  in  früherer  Zeit  einen  Weltgeistlichen  zum  Stadtschreiber 

*  Brief  des  Herzogs  von  Sachsen  an  die  Stadt,  G  11  (1451). 
'  Kopialbuch  W  6,  S.  160  (1458/59). 

^  Kämmereirechnung:  pro  prothonotario. 

*  Er  zahlte  nach  dem  Geschoßregister  208  Geschoßmarken. 
"  Kämmereirechnung,  pro  protonotario. 

*  Stadtbuch  X7,  S.  98;  Ü.-N.  1045. 

'  Stadtbuch  X  7,  S.  140b;  Ü.-N.  1076. 
'  Ü.-N.  1092. 

'  Stadtbuch  X7,  S.  237b. 

'°  Kopien  aus  den  Deutsch-Ordensakten  J  2/3,  1,  S.  71. 

"  Zum  Vergleich  ist  das  Verhältnis  in  Augsburg  heranzuziehen,  in  welcher  Stadt 
ein  interessantes  Statut  von  1362  über  den  Stadtschreiber  berichtet.  (Meyer,  Stadt- 
buch von  Augsburg,  Augsb.  1872.)     cf.  auch  W.  Stein  a.  a.  0. 


Stadtschreiber  und  Stadtbücher  in  Mühlhausen  i.  Th.  423 

latte,  der  daneben  sein  geistliches  Amt  verwalten  konnte,  so  erforderte 
etzt  der  Stadtschreiberposten  die  ganze  Arbeitskraft  eines  Mannes. 
)er  geistliche  Stand  war  wohl  nicht  notwendig  gefordert,  aber  doch 
jie  Regel,  vollends  als  man  sich  seit  1441  nach  solchen  Bewerbern 
imsah,  die  mindestens  den  ersten  akademischen  Grad  sich  erworben 
latten.  Dieses  wird  auch  der  Grund  dafür  gewesen  sein,  daß  die  er- 
probten ünterschreiber,  die  als  Laien  im  praktischen  Dienst  empor- 
stiegen, nie  das  Oberschreiberamt  bekleideten,  obgleich  auch  ihre 
Stellung  eine  angesehene  gewesen  sein  muß,  wie  ihr  Sitz  im  Rate 
nach  ihrem  Dienstaustritt  beweist.  Öffentliche  Notariatsrechte  von 
kaiserlicher  oder  päpstlicher  Gewalt  besaß  noch  keiner  dieser  Schreiber; 
in  der  Autorität  des  Rates  lag  der  Rechtswert  ihrer  Handlungen. 

Die  Anstellung  des  Stadtnotars  war  eine  Angelegenheit  der  ver- 
einigten Ratskollegien,  da  der  Dienstvertrag  sich  über  eine  Reihe  von 
Jahren  ausdehnte;  unter  den  vom  sitzenden  Rate  erwählten  Beamten 
wird  er  nicht  genannt.  Sein  Kontrakt  lautete  auf  eine  feste  Anzahl 
von  Jahren,  ohne  daß  —  wie  es  scheint  —  der  Rat  feste  Versprechen 
über  Altersversorgung  und  lebenslängliche  Beschäftigung  gab.  Doch 
hat  er  derartige  ideelle  Verpflichtungen  nicht  vernachlässigt.  Pucker, 
Molsdorf  und  Kappus,  die  Laienbeamten,  wurden  in  den  Rat  gewählt 
und  erhielten  so  Anteil  an  manchen  Präsenten  und  Zuwendungen. 
Auch  wurden  die  städtischen  Schreiber,  besonders  soweit  sie  dem 
geistlichen  Stande  angehörten,  mit  kirchlichen  Pfründen  und  ähnlichen 
verfügbaren  Einkünften  versorgt.  Gerhard  wurde  noch  in  den  acht- 
ziger Jahren  des  14.  Jahrhunderts  mit  einem  Zins  am  Marienaltar  der 
Antoniuskapelle  belehnt;^  Günther  Pucker  erhielt  Einkünfte  von  einem 
Vikariat  zu  Wolkramshausen,^  ebenso  der  ünterschreiber  Kappus  von 
einem  Vikariat  in  der  Johanniskapelle.^  Besondere  Garantien  für  Un- 
glücksfälle in  städtischen  Diensten  scheint  ihnen  der  Rat  nur  bei  ein- 
zelnen Gelegenheiten  geleistet  zu  haben.  So  verspricht  er  seinem 
Stadtschreiber  Eisenhart  bei  einer  Gesandtschaft  an  die  geistlichen 
Richter  in  Erfurt  1446:  kome  si  ouch  des  zcu  schade,  deß  wallen  wir 
si  gentzliche  benemen  vnd  wir  gereden  si  des  gutlichen  schadelos  zca 
halden  ane  alle  geuerde} 

An  den  Schreibgefällen  in  der  Kanzlei  hatten  sie  wohl  keinen 
Anteil;   das  läßt  sich  schließen  aus  dem  Statut^  der  Willkür  B,   nach 


I 


'  Kopialbuch  Wl,  S.  208,  232b;  W2,  S.  37,  40,  61b. 

'  Kopialbuch  W3,  S.  15  (1418). 

'  Kopialbuch  W6,  S.  91b  (1447/48). 

'  Ratsbuch  X6b,  S.  25. 

'  Lambert  S.  139. 


424  Erich  Kleeberg 

dem  die  pfennynge  von  uffen  briefen  {littera  recognicionis)  an  der  stau 
nutz  genaue  snllen.  Sie  scheinen  dagegen  schon  früh  einen  fester 
Jahressold  bezogen  zu  haben.  Zwar  gibt  die  Willkür  B  darüber, 
keinen  bestimmten  Aufschluß;  das  betreffende  Statut^  bricht  gerade 
im  entscheidenden  Satze  ab:  und  des  schribers  Ion  sal  also  sin  .  . .  ~ 
vielleicht  hatten  die  Verfasser  Interesse  daran,  in  diesem  Buche  „mit 
ewiger  Dauer"  den  Lohnsatz  nicht  zu  fixieren  — ,  aber  seit  dem  Jahre 
1417,  in  dem  zum  ersten  Male  umfangreichere  Ausgaberegister  der 
Kämmerei  vorliegen,  berichten  diese  von  einer  Besoldung  mit  Geld  und 
einer  Tuchspende.^  Günther  bezog  einen  jährlichen  Gehalt  von  etwa 
20  Gulden  und  12  Ellen  Sommertuch.  Bei  seinem  Nachfolger  Eisen- 
hart ist  die  Tuchlieferung  abgelöst  durch  eine  Geldzahlung  von 
12  Schock.^  Außerdem  wurde  ihm  sein  Geschoß  vergütet,  er  erhielt 
ein  freies  Braulos  und  wie  die  Bürger  der  Stadt  eine  bestimmte  Holz- 
lieferung.  Der  Gehalt  des  ünterschreibers  Molsdorf  belief  sich  auf  6, 
der  seines  Nachfolgers  Kappus  auf  12  Gulden.  Von  gelegentlichen 
Geldgeschenken  berichten  die  Rechnungen  der  Kämmerei  unter  propina 
consulatusy  doch  scheinen  sie  noch  nicht  an  bestimmte  Tage  gebunden 
zu  sein.  Nicht  unbedeutende  Nebeneinnahmen  konnten  sie  sich  im 
Dienste  Privater  verschaffen.  Das  Schreibmaterial  für  den  städtischen 
Verbrauch  bezahlte  der  Rat;  in  der  Rechnung  sind  halbjährlich  unter 
der  Rubrik  ad  notariam  die  Ausgaben  für  Tinte,  Wachs,  Papier,  Perga- 
ment usw.  gebucht. 

Ein  in  die  Willkür  B,  wohl  auf  Betreiben  der  Zünfte  aufgenommenes 
Statut^  —  „Keynen  gefruntheman  von  gesiechten  sal  man  vortmer  czu 
der  stad  schriber  neme"  —  zeigt,  daß  man  schon  um  1350  für  die 
Unparteilichkeit  dieser  Beamten  fürchtete,  ihnen  also  ein  gewisses  Maß 
von  Selbständigkeit  ließ.  Ängstlich  suchte  man  sie,  die  schon  in 
ihrer  Schreibertätigkeit  von  manchen  geheimen  Maßregeln  der  Rats- 
regierung Kenntnis  nehmen  mußten,  von  den  eigentlichen  Ratssitzungen 
fernzuhalten.  In  der  Willkür  B*  wurde  das  für  alle  Einwohner  ver- 
bindliche Statut  von  1311^  für  den  Stadtschreiber  besonders  wiederholt: 


'  Lambert  S.  139.    . 

^  Kämmereirechnungen;  pro  notario  seit  1417.  Da  es  sich  nicht  immer  mit 
Bestimmtheit  feststellen  läßt,  ob  die  in  verschiedenen  Zwischenräumen  gebuchten 
und  mit  Abgaben  des  Schreibers  z.T.  verrechneten  Soldzahlungen  auf  den  Gehalt 
des  laufenden  Jahres  zu  beziehen  sind,  so  beruhen  die  folgenden  Angaben  auf  un- 
gefähren Durchschnittsrechnungen. 

^  1447/48  hat  1  rhein.  Gulden  in  Mühlhausen  den  Kurswert  von  1  Schock 
5V2  Groschen  Mühlh.  Geldes.     Kopialbuch  W6,  S.  87. 

*  Lambert  S.  139. 

'"  Lambert  S.  102/103:  Nemo  ad  placita  siue  ad  interlocutorias  seu  ad  consilia, 
quando  tractatus  fiunt  per  consules  cum  principibus,  comitibus,  aduocatis  uel  quibus- 


Stadtschreiber  und  Stadtbücher  in  Mühlhausen  i.  Th.  425 

ind  derselbe  schriber,  der  gekorn  ist,  ensal  bie  dem  .  .  .  Rate  nach  bie 
Ken  .  .  .  Retten  nicht  sitzen  noch  ingehen  czu  in,  her  enwerde  danne 
iar  in  geladen.  Ratsprotokolle  wurden  zwar  erst  seit  1525^  geführt, 
iber  die  baldige  Ausgestaltung  der  Stadtbücher  wird  seine  Teilnahme 
in  den  Sitzungen  schon  in  den  ersten  Jahren  des  15.  Jahrhunderts 
gebräuchlich  gemacht  haben.  Herzog  Wilhelm  von  Sachsen,  der  seit 
L446  mit  Mühlhausen  im  Bunde  war,  bemühte  sich  1451,  als  die  Ent- 
assung  Eisenbarts  bevorstand,  einem  seiner  Getreuen,  dem  Bakka- 
aureus  Konrad  Bornschien  den  städtischen  Posten  zu  verschaffen. 
Trotz  seiner  erst  zusagenden  Antwort, ^  berücksichtigte  der  Rat  dessen 
Bewerbung  nicht,  da  er  wohl  mit  Recht  den  sächsischen  Einfluß  auf 
iines  der  wichtigsten  Stadtämter  fürchtete. 

§  3.    Tätigkeit  der  Stadtschreiber 

Wenn  in  Mühlhausen  das  Stadtschreiberamt  sich  aus  dem  Be- 
lürfnis  der  Ratsverwaltung  nach  einem  ständigen  Schreiber  entwickelt 
[lat,  so  wird  ursprünglich  seine  Tätigkeit  bestanden  haben  in  der  An- 
ertigung  der  vom  Rate  ausgehenden  öffentlichen  Schriftstücke,  der 
Urkunden,  in  der  Sprache  der  Zeit  „der  offenen  Briefe."  War 
iieses  nur  eine  formale  Tätigkeit,  die  die  Kunst  des  Pergament- 
schreibens, Beherrschung  der  lateinischen  Sprache  und  des  ürkunden- 
Jtils  voraussetzte,  so  bekam  er  bald  auch  Anteil  an  der  Erledigung 
kr  einfachen  Briefe,  wobei  ihm  größere  Selbständigkeit  gelassen 
A^urde.  Der  Stadtschreiber  Gerhard  hat  in  manchen  Fällen  die  Korre- 
spondenz ohne  Beaufsichtigung  durch  den  Rat  besorgt.  Dies  zeigen 
fcwei  Briefe,^  in  denen  sich  der  Rat  benachbarten  Rittern  gegenüber 
entschuldigt,  daß  sie  der  Protonotar  in  dem  Ratsbriefe  irrtümlicherweise 
m  einem  falschen  Termin  geladen  hat.  Ein  anderes  Schreiben^  be- 
sveist,  daß  sich  der  Empfänger  in  einer  städtischen  Angelegenheit 
direkt  an  den  Protonotar  gewandt  hat.  Es  handelte  sich  hierin  um 
einen  Streit  des  Rates  mit  der  Deutsch-Ordensgeistlichkeit  in  Mühl- 
hausen, in  dem  Gerhard  die  weiteren  Verhandlungen  am  Hofe  des 
(önigs  und  des  Mainzer  Erzbischofs  mit  glücklichem  Erfolge  führte. 

Urkunden  des  Mühlhäuser  Rates  sind  erhalten  seit  dem  Jahre 
1262;  die  älteste  im  Mühlhäuser  Archiv  aufbewahrte  gehört  allerdings 


cumque  aut  cuiuscumque  conditionis  hominibus  non  vocatus  presumat  accedere.    Qui 
fecerit,  soluturus  vnam  marcam  per  mensem  domui  inponetur. 

'  cf.  S.  475. 

^  Herzogl.  sächs.  Briefe  an  Mühlhausen,  G  11. 

'  Kopialbuch  Wl,  S.  122b  (1386);  Kopialbuch  W2,  S.  110b  (1391). 

*  Kopialbuch  W2,  S.  216b. 


426  Erich  Kleeberg 

erst  in  das  Jahr  1294.  Sie  enthalten  teils  administrative  Verordnungen 
oder  Verträge,  in  denen  der  Rat  selbst  als  Partei  auftritt,  teils  Aner- 
kennung und  Bekenntnisse  über  einen  Vertrag  anderer  {Jitterae  recog- 
'nicionis''),  in  denen  nicht  nur  Bürger  und  Einwohner  der  Stadt,  sondern, 
auch  Geistliche  und  Stadtfremde,  benachbarte  Ritter  usw.  sein  Zeugnis 
ansprechen.  Für  einen  solchen  Rekognicionsbrief  mit  dem  großer 
Siegel  der  Stadt  waren  zwei  Schillinge  an  Gebühren  zu  bezahlen,  mc 
die  pfennynge  sullen  genaue  an  der  stad  nutz} 

Das  Streben  nach  möglichster  Vereinfachung  des  formalen  Teih 
tritt  in  den  lateinischen  Urkunden  zutage.  In  unserem  Zusammenhang( 
ist  die  Entwicklung  der  Rekognicionsurkunde,  der  Notitia,  von  Wich- 
tigkeit. Seit  dem  Jahre  1268  sind  einige  Stücke  erhalten,  in  dener 
der  Rat  auf  Forderung  der  Parteien  einen  Privatvertrag  meist  übe 
liegendes  Gut  anerkennt.  Die  ältesten  sind  für  kirchliche  Gemein 
Schäften  ausgestellt,  die  am  frühesten  auf  ein  schriftliches  Zeugni: 
Wert  legten;  seit  1296  wurden  auch  Verträge  unter  Bürgern  vom  Rat( 
beurkundet.  Nur  wenige  Beispiele  sind  erhalten,  doch  möchte  man  ii 
ihnen  eine  Entwicklung  von  einer  gelegentlichen  Beglaubigung  zu  meh 
geschäftlicher  Form  erkennen.  Die  ältesten  Urkunden  zeigen  noch  der 
weitläufigen  Stü  in  Text  und  Formeln,  z.  B.  eine  breitere  Arenga:-  Cun 
res  gesta  litteris  commendatur,  universe  calumpnie  materia  pervenitu 
nee  prestatur  litis  occasio  successori;  seit  ca.  1280  sind  sie  in  de 
knappen  Form  verfaßt:  Mos  (2)  niagistri  consulum  una  cum  (oder  et 
folgt  eine  Anzahl  Ratsherren  namentlich,  ac  aliis  nostris  sociis  con 
Sülibüs  Mülhüsensibüs  recognoscimus  in  his  scriptis  ad  universorun 
noticiam  . .  .  (profitemur . . .)  quod  constituti  in  nostra  presencia  {coran 
nobis)  probaverunt  modo  testificationis  folgt  eine  kurze  Angabe  de: 
Rechtssache  . . .  huius  testificationis  testes  sumus  (in  testimonium  huiiis 
dantes  super  ea  hanc  litteram  nostre  civitatis  sigillo  consignatam; 
Datum  (Jahr-  und  Monatsdatum).  Seltener  wird  die  Urkunde  mit  eine 
verbalen  Invokation  und  ebenso  selten  mit  einer  Verfügung  für  ewig 
Zeiten  begonnen  {in  nomine  domini,  amen;  ad  perpetuam  rei  geste  nie 
moriam). 

Zur  Beglaubigung  wurde  an  die  umfangreichen  Pergamentbogei 
das  große  Stadtsiegel  befestigt.  Es  ist  ein  meist  grauer  Wachs 
abdruck,  mit  einem  Pergamentstreifen  befestigt,  und  zeigt  das  Bild  de 
Königs  in  der  Umschrift  „Sigillum  Mulenhusensis  civitatis  Inperiü'   Sei 

Lambert  S.  139;  S.  140:  Item  nulli  consules  de  cetero  dare  debent  literas  n 
cognicionis  super  aliqua  pecunia   seu   debito  aliquali  sab  sigillo  ciuitatis,    nisi  i 
causis  vniversitatem  ciuitatis  tangentibus ,  saluo  tarnen  quod  litere  alle  super  uend 
cionibus  et  empcionibus  ac  aliis  causis  hactenus  consuetis  bene  dari  possunt. 
'  H.  Ü.-B.  196  (1269). 


1 


Stadtschreiber  und  Stadtbücher  in  Mühlhausen  i.  Th.  427 


,em  16.  Jahrhundert  wurde  ein  neues  großes  Siegel  mit  dem  Bilde 
'es  Reichsadlers  gebraucht.  Das  große  Siegel  war  den  Ratsmeistern 
nd  Kämmerern  zugänglich,  doch  durfte  die  Siegelung  nur  vorgenommen 
/erden,  nachdem  die  Urkunde  vor  den  4  Räten  verlesen  war,  und 
ie  beiden  Ratsmeister  mit  Zustimmung  der  Räte  dem  Stadtschreiber 
en  Befehl  dazu  gegeben  hatten:  Ouch  ensollen  die  ratißmeistere,  noch 
lie  kemmerere  der  Stadt  grosse  ingesigell  an  keynen  brieff  hengenn 
\bir  zcinsse,  noch  vor  gelt,  noch  nyniande  vor  keyne  stucke;  man  habe 

*  \anne  den  brieff  gelessin  in  vier  retthen,  und  das  es  die  ratißmeistere 
\eissen  von  der  retthe  wegenn;  .  .  .  und  were  is  das  sie  dyet  nicht 
nhylden,  so  solde  es  an  den  andern  drehen  retthen  (gegen  den  sitzenden 
(at)  stehen,  was  sie  on  der  umb  teylenn  wollenn  uff  ore  eyde} 

ll      Ein  leichter  handliches  Geschäftssiegel   war   das   auf   städtischen 

'i^riefen  und  nicht  feierlichen  Bekenntnisschreiben  verwendete  Sekret- 
,iegel.  Sein  Abdruck  auf  meistenteils  rotem  Siegelwachs  diente  zur 
jkglaubigung  oder  als  Verschluß.  Es  ist  das  kleinere  Vorbild  für  das 
ifepätere  große  Reichsadlersiegel:  um  den  Reichsadler,  unter  dessen 
beiden  Fittichen  das  Zeichen  der  Stadt,  je  eine  Mühlhaue,  etwas  zur 
Seite  geneigt,  steht,  findet  sich  die  Umschrift:  Sigillum  Civitatis  Mulhu- 
\ensis  imperii.     Die  Kämmereirechnung  1419  (p.  Mart.)  berichtet  von 

i  einer  Ausgabe  von  9  gr.  pro  reparatore  secreti  et  cathenae.  Das  er- 
leuerte  Siegel  zeigt  dieselbe  Form,  nur  ist  der  Adler  feiner  gearbeitet, 
and  in  der  Umschrift  sind  die  beiden  Worte  Civitatis  und  Mulhusensis 
initeinander  vertauscht.  In  späterer  Zeit  wurde  es  Brauch,  den  Wachs- 
ibdruck  zu  schützen  durch  eine  meist  viereckige  Papieroblate,  auf 
iinen  Pergamentstreifen  geklebt,  der  das  Wachs  überspannte  und  durch 
zwei  Schlitze  mit  dem  darunter  liegenden  Bogen  verbunden  war.  Im 
16.  Jahrhundert  hatten  die  Oberschreiber  das  Sekret  in  Verwahrung, 
doch  durften  nur  die  Bürgermeister  die  Besiegelung  vornehmen.'^ 

In  der  Korrespondenz  fand  das  Pergament  in  verschiedenem 
Format  noch  bis  tief  in  das  16.  Jahrhundert  hinein  häufige  Verwen- 
dung. Solche  Blätter  sind  seit  den  80  er  Jahren  des  14.  Jahrhunderts 
meist  in  deutscher  Sprache  erhalten,^  im  Mühlhäuser  Archiv  natürlich 
nur  sehr  wenige.     Die  Schreiben .  werden  eröffnet  durch  eine  knappe 

^  Geschichtsbl.  9  S.  25:  Das  Statut  ist  vielleicht  1406  erlassen  worden,  veranlaßt 
durch  Siegelmißbrauch  eines  Ratsherrn.  Im  16.  Jahrhundert  wurde  in  dem  Rezeß 
von  1523  (Einungsvertrag  zwischen  Rat  und  Bürgerschaft)  bestimmt:  Zum  großen 
Stadtsiegel  hat  der  sitzende  Rat  einen  Schlüssel,  doch  darf  die  Besiegelung  nur  vor 
dem  großen  Rate  vorgenommen  werden.  (Jordan,  Chronik  I,  S.  172). 

'  Schreiberbestallungen  ti. 6,  la  (1539);  Syndikatsbestellungen  H.6.  2,  1—4,  S.20. 

^  Ich  habe  im  Göttinger  Archive  aus  den  bezeichneten  Jahren  einige  Briefe 
gesehen. 


I 


428  Erich  Kleeberg 

Grußformel:  ünsern  gmß  (dinst)  zuvorn.  Es  folgt  in  gedrängtem  S 
der  sachliche  Inhalt.  Eine  Datierung  auf  den  Wochentag  ist  die  Regi 
während  die  Angabe  des  Jahres  oft  in  unbedeutenden  Mitteilungc 
fehlt.  Die  Unterschrift  ist  bis  etwa  1400  lateinisch  gehalten  {Consui 
Mulhusenses)  und  lautet  seit  dem  15.  Jahrhundert:  Der  Rad  a 
Molhusen;  der  Brief,  die  Unterschrift  und  die  auf  der  Rückseite  g 
schriebene  Adresse  sind  von  einer  fiand,  von  der  Hand  des  Obe 
oder  ünterschreibers  gewöhnlich. 

Mit  welcher  Sorgfalt  die  Schreiber  die  Korrespondenz  zu  fühn 
hatten,  erhellt  aus  der  Tatsache,  daß  die  in  Ratsangelegenheite 
ausgehenden  Briefe  und  Urkunden^  in  die  hierzu  angelegten  Kopiai 
buch  er  abgeschrieben  werden  mußten.  Diesen  Sinn  für  Ordnung  ur 
eine  zweckmäßige  Registratur  bekundete  der  Rat  auch  in  anderer  Weij 
schon  früh.  Ein  Statut^  in  der  Willkür  A  fordert:  Omnes  litterae 
cognicionis  et  privilegiomm  erunt  ammodo  registrandae.  Diese  B 
Stimmung  ist  in  B  nicht  wiederholt,  man  hat  später  auf  eine  syst 
matische  Aufbewahrung  der  Originale  weniger  Wert  gelegt  als  auf  ih 
Abschriften,  die  in  den  Ratsbüchern  ^  eine  bequeme  Übersicht  gewährte 
Die  Originale  wurden  ohne  Ordnung  im  Archive  niedergelegt,  wer 
auch  gelegentlich  einmal  von  einer  Durchsicht  und  von  einer  Erneuerui 
eines  beschädigten  Siegels  die  Rede  ist.* 

Die  städtischen  Kanzleibücher  und  Register  wurden  verwahrt  vo 
Oberschreiber  und  von  ihm  und  dem  Unterschreiber  regelmäßig  g 
führt,  wenigstens  findet  sich  die  Hand  des  Subnotars  in  ihnen  S€ 
etwa  1422  in  gleichem  Umfange  wie  die  seines  Vorgesetzten.  Nur  i 
Ausnahmefällen  hat  man  sich  anderer  Schreiber  bedient.  Im  Winte 
halbjahre  1417/18  verzeichnet  die  Kämmereirechnung  unter  Pro  notar^ 
die  Ausgabe  von  einigen  Groschen  an  zwei  Bürger  ad  copiandas  quasda, 
impedciones  et  responsiones  in  registro.  Solche  aushilfsweise  Beschä 
tigung^  läßt  sich  nach  der  Handschrift  auch  in  anderen  Jahren  nacl 

*  Über  Kopien  von  „Stadt-"  u.  „Gerichtsbriefen"  cf.  §§  4u.  5,  S.  38  [438];  42  [442 
^  Lambert  S.  128. 

'  Über  Ratsbücher  cf.  §  4  S.  36  [436]  ff. 

*  Kopialbuch  W5,  S.56  (1430/31).  Von  der  Registratur  handle  ich  im  Zusamme 
hange  Kap.  II,  §5,  S.  476f. 

■'  Lehrreich  ist  ein  Vergleich  mit  dem  Zustand  in  Straßburg,  dessen  Stadtrec 
von  1322  (Straßburger  ürkundenb.  IV  2,  6,  Stadtrecht  Art.  447  §  2)  bestimmt:  de 
SU  (die  Stadtschreiber)  das  alles,  was  die  statt  angot,  selbs  schriben  sollent;  .  . 
wers  aber  das  es  sich  fugen  wurde,  das  man  vil  geschrifft  zu  eim  stutze  habt 
muste  und  der  stett  ober-  oder  die  ander  schriber  semliche  geschriffte  nit  in  zyt  g 
schriben  kundent  oder  möchtent,  erkennen  dan  die  rete  oder  die  dritzehen,  die  ubn 
der  statt  kriege  gesetzt  sint,  oder  der  mererteil  under  in,  das  man  soliche  geschrif 
usser  der  cantzelige  zu  schriben  geben  sol,  so  mag  es  her  Jeger  (Oberstadtschreibe 


Stadtschreiber  und  Stadtbücher  in  /V\ühlhausen  i.  Th.  429 

eisen.  Im  allgemeinen  pflegte  man  mit  großer  Ängstlichkeit  den 
ihalt  der  Bücher  geheim  zu  halten.  Verlangte  ein  Fremder  einen  in 
inen  verzeichneten  Fall  kennen  zu  lernen,  so  wurde  ihm  entweder 
ne  durch  Siegel  beglaubigte  Abschrift  zugestellt,  oder  er  konnte  sich 
ert  Eintrag  vor  versammeltem  Rate  vom  Stadtschreiber  lesen  lassen. 

IDie  Verrechnung  der  städtischen  Einnahmen  und  Ausgaben  war 
i  weitem  Umfange  der  Kämmerei  ^  übergeben.  Den  ausgedehnten 
:hriftlichen  Apparat,  den  die  Finanzverwaltung  nötig  machte,  besorgte 
ZV  Oberschreiber  allein.  Die  Zentralisation  der  Finanzverwaltung  wurde 
m  die  Wende  des  14.  Jahrhunderts  durchgeführt,  und  erst  seit  dieser 
isit  liegt  schriftliches  Material  aus  der  Kämmerei  vor,  das  seine  Tätig- 
sit  beurteilen  läßt. 

Er  führte  allein  ohne  fremde  Unterstützung  die  Kämmereirech- 
ung.2  Jeder  Band  war  für  die  Einträge  eines  Halbjahres  bestimmt 
nd  mit  Überschriften  für  die  einzelnen,  im  allgemeinen  festen  Ru- 
riken  versehen.  Für  die  Genauigkeit  der  Buchführung  spricht,  daß 
ei  Auszahlungen  auch  die  Überbringer  des  Geldes  verzeichnet  wurden, 
enn  nicht  der  Empfänger  persönlich  in  der  Kämmerei  erschien, 
amen  in  des  Protonotars  Abwesenheit  Geschäfte  vor,  so  wurden  sie 
uf  Zetteln  vermerkt  und  von  ihm  nachgetragen.  Daß  die  Bücher  nicht 
rst  vor  Kassenabschluß  in  einem  Zuge  zusammengeschrieben  wurden, 
weist  die  detaillierte  Anlage  und  besonders  das  Beispiel  des  Halb- 
ihres  1459  auf  60.  In  diesem  Winter  war  der  Protonotar  Wolfhagen 
estorben,  und  erst  im  folgenden  Frühjahr  trat  sein  Nachfolger  ins 
mt  ein.  Die  Rechnung  zeigt  deutlich  in  vielen  Rubriken  den  Wechsel 
er  Schreiberhand  —  der  Protonotar  hatte  bis  zu  seinem  Tode  die 
inträge  mit  den  Geschäften  gleichzeitig  besorgt. 

Bei  der  Führung  dieser  Bücher  muß  dem  Stadtschreiber  große 
elbständigkeit  gewährt  worden  sein,  denn  eine  genaue  Kontrolle  war 
icht  vorhanden.  Die  Nachrechnung  scheint  sich  auf  die  Summierung 
er  Hauptposten   beschränkt  zu  haben,   denn  häufig  enthalten  die  bei 

Ien  Rubriken  oder  am  Schluß  jeder  Seite  angegebenen  Summen,  die 
1  der  Gesamtsumme  verrechnet  wurden,  Fehler  und  stimmen  nicht 
lit  den  Einzelbelegen  zusammen.  Hätte  sich  die  Prüfung  bis  auf  die 
inzelposten  erstreckt,  so  müßte  man  die  Irrtümer  bemerkt  und  ver- 
essert  haben.  Bei  der  Art  der  mittelalterlichen  Rechnungsführung, 
lie  vielfach  konsequenter  kaufmännischer  Buchführung  entbehrte,  läßt 

H'o/  tun;  doch  was  solich  schriben  costet,  do  sol  her  Jeger  den  halben  lone  douon 
f  [eben  ze  schriben  und  die  andern  drige  schriber  das  ander  halp,  und  sol  die  statt 
\  es  keinen  costen  haben. 

'  cf.  S.  5  [405]. 

^  cf.  Anhang  B.  I  b— d. 


430  Erich  Kleeberg 

sich  der  Zustand  erklären,  ohne  daß  man  betrügerische  Absichten  ar 
nimmt. -^  Die  Tatsache  jedoch  beweist,  daß  der  Protonotar  bei  dei 
Eintrag  der  Einzelposten  und  bei  ihrer  Summierung  selbständig  verfuh 

Bei  den  eigentlichen  Kassengeschäften  wurde  er  mitunter  de 
Kämmerern  gleichgestellt.  Das  zeigt  ein  Rentenbrief ^  des  Rates, 
dem  der  Stifter  eines  Jahreszinses  dem  Stadtschreiber  und  den  Kän 
merern  zu  gleichen  Teilen  ein  Legat  aussetzte,  um  die  pünktlich 
Zinszahlung  an  die  Stiftung  zu  unterstützen.  Die  halbjährlichen  Rente 
wurden  nach  einer  festen  Ordnung  der  Empfänger  eingetragen:  Geisi 
liehe  und  Laien  in  der  Stadt,  Bewohner  der  Städte  und  Dörfer,  ßj 
der  Auszahlung  ist  der  Stadtschreiber  in  dieser  Zeit  oft  noch  in  Ar 
Spruch  genommen,  indem  er  eine  bestimmte  Gruppe  von  Zinsen,  b(i 
sonders  nach  Erfurt,  selber  zu  überbringen  pflegte.  Günther  ist  häufi 
auch  beim  Rückkauf  wiederkäuflicher  Zinsen  beschäftigt. 

Die  Summe  des  Geschosses,  der  direkten  Steuern  von  allet 
Hab  und  Gut  in  dem  Stadtgebiete,  ist  zwar  in  dem  Einnahmeregistei 
verzeichnet,  doch  erforderte  ihre  Erhebung  eigene  Bücher.  Sie  wurd 
vorgenommen  nach  der  Selbsteinschätzung  der  Bürger;  jeder  Pflichtig 
hatte  in  der  Kämmerei  zu  erscheinen  und  den  umfang  seines  Steuer 
baren  Vermögens  anzugeben.  Der  Stadtschreiber  trägt  die  Anzahl  de 
als  Geschoß  zu  zahlenden  Marken  in  das  Register^  hinter  de. 
Namen  der  schon  vorher  nach  Straßen  aufgenommenen  Bürger  eir 
An  den  beiden  Steuerterminen  des  Jahres  wurde  in  das  gleiche  Buc, 
der  Vermerk  über  Zahlung  oder  Nichtzahlung  gemacht.  Rückständige 
Geschoß  wurde  in  dem  Kämmerei-Einnahmeregister  als  retardata  bom 
aufgeführt. 

um  die  Steuerzahlung  der  Bürger  kontrollieren  zu  können,  stelltJ 
der  Stadtschreiber  von  Zeit  zu  Zeit  mit  Hilfe  der  Kämmerer  und  am 
derer  Vertrauensleute  Katasterverzeichnisse,  libri  hereditarii^  (Erb 

Der  ältere  Stephan  (Registrator),  dem  wir  einen  handschriftlichen  Auszug  ^ 
den  Rechnungen  bis  1525  verdanken,  schließt  auf  Betrug  des  Protonotars.  Derartig 
Fehler  kommen  so  häufig  vor,  daß  dann  alle  Stadtschreiber  betrogen  haben  müßten^ 
Ein  Beispiel  möge  genügen:  1445  Mart.  Rubrik  Notariat  und  Schreiber:  Gesamtsumme 
26  Schock  47  gr.  korrigiert  aus  36  Schock  47  gr.,  es  sind  aber  wirklich  40  Schoc 
-ausgegeben,  der  Protonotar  erhielt  allein  24  Schock. 

'  Rentenbuch  E  8c  3,  S.  6. 

^  cf.  Anhang  B  II,  b. 
cf.  Anhang  B  II,  b.  Das  älteste  Kataster  wurde  angelegt  kurz  nach  der 
Jahre  1402.  Es  ist  schon  von  Heinrich  geschrieben  und  trägt  die  Überschrift:  da. 
ist  das  eldiste.  Die  Überschrift  auf  dem  Pergamentumschlag  mag  geschrieben  s(kt 
als  das  zweite  uns  erhaltene  Register  von  1407  von  derselben  Hand,  jedenfalls  vo 
1413  mit  der  Aufschrift:  daz  ist  das  nuweste  versehen  wurde.  Eine  Aufnahme  de 
Bürger  und  Vorstädter  nach  Straßen,  der  Bauern  nach  ihren  Dörfern  füllt  gewöhn 
lieh  drei,  später  auch  vier  Bände  aus. 


I 


Stadtschreiber  und  Stadtbücher  in  Mühlhausen  i.  Th,  431 


licher)  genannt,  auf  über  den  steuerbaren  Besitz  der  Bürger  und 
'\itwohner  an  Grund  und  Boden  in-  und  außerlialb  der  Stadtmauern, 
n  barem  Gelde,  Zinsbriefen  und  steuerpflichtigen  Rechten.  Dem  Stadt- 
chreiber  wurde  wie  den  übrigen  Schoßeinnehmern  bei  Strafe  der  Amts- 
ntsetzung  strengste  Verschwiegenheit  über  die  Höhe  der  Steuern  zur 
•flicht  gemacht;^  aus  dem  Schoßbuche  durfte  Privaten  keine  Auskunft 
rteilt  werden.  Als  1432  ein  Untertan  des  Grafen  von  Hohenstein  den 
'at  nach  dem  Besitz  eines  Bürgers  fragte,  wurde  dem  Vierräte-Kolle- 
jum  die  Frage  vorgelegt,  ob  es  dem  Fremden  in  diesem  besonderen 
"alle  erlaubt  sein  solle,  das  Schoßregister  einzusehen. - 

Der  Oberschreiber  erledigte  die  ganze  Schreibarbeit  der  Kämmerei 
illein.  Das  Präsent,  das  der  Rat  in  sinnreicher  Anerkennung  dieser 
Aühe  und  Arbeit  Sonnabend  nach  der  Rechnung  in  Gestalt  von 
;  Stobich  win  in  die  Schreibkammer  schickte,^  war  demnach  wohl  ver- 
lient.  Daß  der  Stadtschreiber  durch  seinen  Dienst  in  der  Kämmerei 
/ährend  der  Hauptarbeitszeit  vollständig  in  Anspruch  genommen  war, 
)eweist  ein  Brief  des  Rates  vom  Frühjahr  1407.  Der  Stadtschreiber 
ieinrich  war  vor  das  geistliche  Gericht  in  Heiligenstadt  geladen, 
jioch  bat  der  Rat  für  ihn  um  einen  anderen  Termin,  da  er  in  der  ;Zeit 
|er  Schoßerhebung  unentbehrlich  wäre."*  Ohne  Bedeutung  ist  es,  daß 
lie  Hand  des  ünterschreibers  auf  zwei  Rechnungsblättern  des  14.  Jahr- 
hunderts vorkommt,  da  die  ältesten  Einnahmeregister  nur  kurze  Rein- 
'chriften  der  Hauptposten  auf  Pergamentkarten  ^  sind. 

Alljährlich  hatten  die  Zinsmeister  ihre  Einnahmen  der  Kämmerei 
u  übergeben.  Auf  einem  Pergamentblatt,  das  wenige  Jahre  später  als 
:inband  für  ein  Verzeichnis  der  Kriegspflichtigen  aus  Stadt  und 
Dörfern ^  verwandt  wurde,  sind  uns  noch  kurze  Abrechnungen  aus  den 
ahren  1439 — 42  erhalten  in  der  Form:  Magistri  censuum  N.  N.  pun- 
avemnt  camerariis  ...  An  größeren  Verzeichnissen  liegt  aus  unserer 
!eit  nur  ein  1456  begonnenes  Register'  der  dem  Rate  zustehenden 
Winsen  und  Naturalabgaben  vor,  in  dem  ich  die  Hand  des  ünter- 
chreibers  der  Jahre  1464—70  erkennen  möchte.  Es  ist  leicht  möglich, 
laß  sich  die  Zinsherren  bei  dieser  Aufstellung  eines  Schreibers  be- 
lienten,   der  sich  bewährte  und  deshalb  später  im  Unterschreiberamt 


'  Willkür  C,  Geschichtsbl.  9,  S.  26. 
'  Kopialbuch  W  5,  S.  60. 

^  Rechnung  vom   Sommer  1419:    unter   propina  consulatus   und    die  weiteren 
ropinaspenden  des  Rates;  später  wurde  die  des  Kämmerers  in  Geld  abgelöst. 
*  Kopialbuch  W3  S.  125  b  (1407). 
•'  cf.  Anhang  B  I  a. 
•^  K  1,  1  a,  cf.  Anhang  A  V  4. 
'  cf.  Anhang  B  III  1. 


432  Erich  Kleeberg 

Anstellung  fand.  Das  Verzeichnis  ist  noch  bis  ins  16.  Jahrhundert 
fortgeführt  worden.  Nachträge  vbji  der  Hand  des  Subnotars  im  aus- 
gehenden 15.  Jahrhundert  beweisen,  daß  die  städtischen  Schreiber  auch 
mit  der  Zinsmeisterei  Fühlung  hatten. 

Wieweit  die  einzelnen  Schreiber  an  der  Entwicklung  des  Bücher- 
wesens beteiligt  gewesen  sind,  läßt  sich  nicht  immer  sagen,  denn 
öfters  zeigen  die  ältesten  erhaltenen  Bücher  eine  so  entwickelte  Form 
daß  man  sie  nicht  als  den  Anfang  einer  Reihe  betrachten  möchte. 
Auf  Gerhard  mögen  die  Kopialbücher  und  das  Kopienbuch  der  Renten- 
briefe zurückgehen.  Heinrich  hat  das  erste  Erbebuch  angelegt;  Günther 
hat  die  Kämmereirechnungen  ausführlicher  gestaltet,  das  Zinsregister 
von  1414^  und  die  Geschoßbücher  ins  Leben  gerufen.  Unter  Eisenhart 
zeigt  das  Bücherwesen  im  15.  Jahrhundert  die  vollkommenste  Form.^ 

Schon  dadurch,  daß  sich  die  Stadtschreiber  die  Formen  ihrer  Be- 
tätigung selber  schaffen  mußten,  erhoben  sie  sich  über  den  subalternen 
Schreiberstand  und  erwarben  sich  um  die  Organisation  der  Verwaltung 
ein  bleibendes  Verdienst.  Ihre  höhere  Bildung  —  waren  sie  doch  seit 
Eisenhart  wahrscheinlich  die  einzigen  Vertreter  des  akademischen 
Standes  unter  den  Bürgern  — ,  ihre  Geschäftserfahrung  und  Geschäfts- 
kenntnis machten  sie  dem  alljährlich  wechselnden  Rate  zu  einem 
einflußreichen  Berater.  Das  beweist  ihre  steigende  Wertschätzung:  In 
wichtigen  Ratsurkunden  werden  sie  als  Zeugen  genannt;  auf  ihre  Aus- 
sage hin  werden  Verträge  anderer  in  das  Stadtbuch  aufgenommen; 
seit  der  Amtszeit  Kappus  werden  auch  ünterschreiber  vom  Rate  be- 
auftragt, Entscheidungen  über  bürgerliche  Streitsachen  vorzunehmen.^ 
Und  daß  die  Stadtschreiber  zuweilen  selbständig  die  Interessen  des 
Rates  und  der  städtischen  Politik  vertreten  mußten,  zeigt  ihre  Ver- 
wendung auf  Gesandtschaften. 

Der  Verkehr  des  Rates  mit  auswärtigen  Personen  wurde,  soweit 
er  sich  brieflich  abspielte,  besorgt  durch  nuntii,  der  stad  gesworne  boten, 
die  keine  Privatmeldungen  besorgen  durften:  Ouch  sollen  der  stad  ge- 
sworne boten  deheyne  brieffe  tragen  denn  der  stad  brieffe,  ez  enhyeßen 
sie  denn  die  orlogismeystere.^  Zur  Überbringung  geheimer  Botschaften, 
die  aus  irgendwelchem  Grunde  dem  Papiere  nicht  anvertraut  werden 
konnten,  oder  die  mündliche  Verhandlungen  nötig  machten,  wurden 
Vertreter  des  Ratsstandes  oder  andere  Vertrauensleute  gesandt.  Be- 
sonders oft  wurden  in  früherer  Zeit  niedere  Geistliche,  die  zum  Rate 
irgendwelche  Beziehungen    hatten,   in  solchen  Diensten  verwandt;   sie 

Die    Kanzleibücher    im    engeren   Sinne   werden    im    §  4    im   Zusammenhange 
behandelt. 

'  Stadtbuch  X.  7,  S.  41  (1454). 

'  Willkür  B;  Statut  von  1396:  Lambert  S.  162. 


Stadtschreiber  und  Stadtbücher  in  /VVühlhausen  i.  Th.  433 

reisten  billiger  und  weniger  gefährdet^  als  die  Ratsherren.  So  findet 
sich  wiederholt  die  Nachricht,  daß  der  Rat  oder  die  Räte  unsirer  stad 
kaplan  mit  Vollmacht  ausschicken  an  die  Gemeinden  und  Herren  der 
Umgegend,  an  ein  geistliches  und  weltliches  Gericht;  1389  wurde  der 
kyndemeister  der  schule  der  Nuwestad  Härtung  an  das  geistliche  Ge- 
richt gesandt,  um  dort  einige  vorgeladene  Bürger  zu  vertreten.^  1436 
haben  wir  schon  den  späteren  Stadtschreiber,  den  damaligen  Kaplan 
Meister  Eisenhart  auf  solchen  Missionen  gefunden.^ 

Mit  der  wachsenden  Bedeutung  des  Stadtschreibers  wurde  dieser 
für  die  Verhandlungen  über  mancherlei  Fragen  die  geeignetste  Person. 
Gerhard  hielt  sich  1398  längere  Zeit  am  königlichen  und  kurfürstlich- 
mainzischen  Hofe  auf,  um  die  Unterstützung  der  weltlichen  und  geist- 
lichen Obrigkeit  in  einem  Prozeß,  den  ein  Teil  der  Geistlichen  gegen 
die  Stadt  angestrengt  und  bereits  an  die  Kurie  gebracht  hatte,  an- 
zurufen.* Die  Kämmereirechnungen  berichten  unter  der  Rubrik  ad 
placita  oft  von  Ausgaben  des  Stadtschreibers  auf  Gesandtschaften. 
Von  seinen  Reisen  in  Zinsgeschäften  war  schon  die  Rede.  Im  Früh- 
jahr 1430  nahm  Günther  Pucker  an  einer  Gesandtschaft  nach  Naum- 
burg zur  Besprechung  über  die  Verteidigung  der  Thüringer  Lande 
gegen  die  drohenden  Hussiteneinfälle  teil.  Sein  Nachfolger  Magister 
Eisenhart  vertrat  den  Rat  als  Sindicus  und  Procurator  in  einem  Prozeß, 
der  ihm  am  kaiserlichen  Gericht  über  seine  unbefugte  Judenbesteuerung 
anhängig  gemacht  war,  und  wohnte  in  Erfurt  Verhandlungen  in  dieser 
Sache  mit  dem  kaiserlichen  Rate  Kappil  und  Bevollmächtigten  des 
Thüringer  Landgrafen  bei.^  1446  erwirkte  er  von  den  geistlichen 
Richtern  in.  Erfurt  das  Recht  für  den  Rat,  einen  Ersatzpriester  und 
Pfarrverweser  an  der  Blasiikirche  vorschlagen^  zu  dürfen,  da  der 
Deutsch-Ordenskonvent  an  dieser  Kirche  mit  dem  Banne  belegt  war, 
und  seine  Geistlichen  ihren  seelsorgerischen  Pflichten  nicht  nachkommen 
konnten.  1448  finden  wir  ihn  in  derselben  Angelegenheit  als  einen 
Ratsbevollmächtigten  beim  Mainzer  Erzbischof.^  Als  Gesandter  an  den 
Abt  von  Fulda  stellte  er  1443  den  umfang  eines  Fuldaischen  Lehens 
fest  und  empfing  in  den  Jahren  1448  und  50  über  diesen  Lehnsbesitz 
des  Rates  den  Lehnsbrief.® 


'  Kopialbuch  W  3,  S.  400  b  (1414/15). 

'  Kopialbuch  W  2,  S.  20. 

'  cf.  S.  21  [421].  ~    . 

*  Kopialbuch  W  3,  S.  298;  302. 

'  Ü.-N.  879  (16.  XI.  1442). 

'  Kopialbuch  W  6,  S.  8b;  Stadtbuch  X  6b,  S.  23. 

'  Kopialbuch  W  6,  S.  76:  88  b. 

^  Kopialbuch  W  5,  S.  259;  Kämmereirechn.  MOP:  1442  Mart.    Kopialbuch  W  6, 

S.  90.  Ü.-N.  925  (31.  111.  1450). 


434  Erich  Kleeberg 

§  4.    Entwicklung  der  Kanzleibüeher 

Die  Bereclitigung,  die  in  diesem  Kapitel  behandelte  Periode  als 
eine  einheitliche  Epoche  in  der  Geschichte  des  Stadtschreiberamtes 
aufzufassen,  zeigt  sich  auch  darin,  daß  in  diesen  Jahren  die  Entwick- 
lung des  städtischen  Bücherwesens  sich  vollzogen  hat.  Etwa  mit  dem 
Jahre  1456  hat  die  Kanzlei  für  die  zweite  Hälfte  des  Jahrhunderts 
ihre  feste  Form  gewonnen,  unmittelbar  nachdem  ihr  Eisenhart  für  das 
Mittelalter  ihre  reichste  Ausgestaltung  gegeben  hatte.  Die  einge- 
schlagenen Richtungen  werden  weitergeführt,  aber  in  allen  Zweigen 
zeigt  sich  Nachlässigkeit  und  Verwirrung,  trotzdem  sich  das  Kanzlei- 
personal erweiterte. 

Wenn  ich  im  folgenden  den  Versuch  mache,  ein  Bild  zu  geben 
von  der  Entwicklung  der  Kanzleibücher  im  engeren  Sinne,^  so  er- 
wachsen die  tiauptschwierigkeiten  aus  der  schlechten  Überlieferung  der 
älteren  Zeit.  1367  wurden  die  Bestände  der  Kanzlei  durch  eine  Feuers- 
brunst  vernichtet;^  erhalten  haben  sich  nur  Urkunden,  das  älteste 
Ratsgesetz  von  ca.  1250  und  die  schon  mehrfach  zitierten  Kodifikationen 
der  Willkür.  Diese  für  die  rechtliche  Stellung  des  Rates  und  der  Stadt 
wichtigen  Stücke  mögen  gesondert  von  den  im  täglichen  Geschäfts- 
verkehr gebrauchten  Kanzleiregistern  aufbewahrt  worden  sein.  Auch 
aus  der  späteren  Zeit  fehlen  noch  manche  Bücher,  deren  Spuren  mit 
Sicherheit  erschlossen  werden  können. 

Fehden  und  Zänkereien  mit  benachbarten  Herren  abzuwehren  durch 
Verhandlungen  und  auch  mit  gewappneter  Hand,  das  waren  noch  im 
14.  Jahrhundert  Ereignisse,  die  die  Bewohner  des  kleinen  Territoriums 
oft  in  Aufregung  versetzten  und  dem  Rat  mannigfache  Geschäfte  auf- 
erlegten. Unter  diesem  Gesichtspunkt  muß  das  Statut  in  A  verstanden 
werden,  das  um  1330^  erlassen  wurde  und  vielleicht  unter  dem  ersten 
oder  zweiten  Nachfolger  des  Stadtschreibers  Gottfried  von  Schönstedt 
die  ersten  Aufzeichnungen  in  Kanzleibücher  anordnete:  Item  omnes 
consüles  pro  tempore  constituti  duos  debent  constituere  ex  eis  ad  ordi- 


^  Die  Büciier  der  Kämmerei  und  des  Schultheißengerichts  sind  behandelt 
S.  29  [429]  ff.  und  S.  42  [442]. 

^  Kanzleinotiz  des  17.  Jahrhunderts:  Bei  einem  Brande  in  vigilia  Andreae  1367 
ist  ein  großer  Teil  der  alten  Kanzleibücher  und  was  dahin  gehörig  umgekommen. 
Zum  Beweise  wird  auf  eine  Notiz  auf  der  ersten  Seite  eines  leider  nicht  mehr  auf- 
findbaren über  antiquus  civitatis,  civium,  consulum  et  ansarum  verwiesen  (cf.  f.  41 
[441]\  Die  Nachricht  wird  bestätigt  durch  eine  Nachricht  der  ältesten  Mühlhäuser 
Chronik  (ediert  von  Jordan  Bd.  I  und  II  der  Mühlhäuser  Chronik)  in  demselben  Jahre. 

'  Lambert  S.  124/125;  genauer  läßt  sich  das  Statut  nicht  datieren;  es  stammt 
von  einer  Hand,  ^ie  der  tierausgeber  als  dritte  Zusatzhand  bezeichnet. 


Stadtschreiber  und  Stadtbücher  in  Mühlhausen  i.  Th.  435 

nandum,  quod  conscribantur  dampna  ciuitati  et  ciüibus  aut  incolis 
qüibuscumque  irrogata  per  quoscunque.  Ordinatur  similiter,  quod 
qualiter  et  quomodo  a  placitis  super  dampnis  quorumcunque  receditur, 
conscribatur.  Nach  der  Übersetzung  in  B  soll  beschrieben  werden, 
waz  schaden  .  .  .  Burgern  odir  niitenwonern  wyderferet  vnd  von  wenie 
und  wu  vnd  welche  wys  man  von  den  tagen  scheyde,  die  man  heldet 
vmb  schaden,  die  der  stad  odir  im  bürgeren  widerfaren  ist.  Die 
Forderung,  die  in  dem  ersten  Teile  ausgesprochen  wird,  deckt  sich 
mit  dem  Inhalte  einer  Göttinger  über  dampnorum  civibus  illatorum, 
in  dem  nach  der  Beschreibung  Wagners^  „die  Schäden  verzeichnet 
stehen,  die  den  Bürgern  in  den  Jahren  1331—41  von  Fürsten  und 
Adeligen  zugefügt  wurden;  es  handelt  sich  dabei  um  weggetriebenes 
Vieh,  besonders  Schafe,  um  mit  Beschlag  belegte  Tücher  usw.;  auch 
eine  Liste  der  vom  Rate  ausgewiesenen  Personen  fehlt  nicht."  Ähnlich 
werden  wir  uns  den  Inhalt  des  Mühlhäuser  Dampnahuches  vorzustellen 
haben,  nur  sollten  daneben  auch  die  Sühnen  und  Bußen,  die  der  Rat 
auf  den  „Tagen"  mit  den  gewalttätigen  benachbarten  Herren  forderte, 
verzeichnet  werden.  Bei  den  vielseitigen  Beziehungen  zwischen  den 
beiden  Städten  bleibt  die  Vermutung,  daß  die  Anlegung  der  Bücher 
auf  gegenseitige  Beeinflussung  zurückzuführen  ist.  Welcher  Teil  den 
Anstoß  dazu  gegeben  hat,  läßt  sich  nicht  sagen,  denn  das  Mühlhäuser 
Statut  ist  nicht  genau  zu  datieren,  und  das  Buch  nicht  mehr  erhalten. 
Wahrscheinlich  wurde  es  durch  den  Kanzleibrand  zerstört;  anzunehmen, 
daß  man  der  Verordnung  nicht  Folge  geleistet  hat,  liegt  kein  Grund 
vor,  zumal  die  Willkür  B  in  derselben  Form  das  Statut  wieder  auf- 
nimmt, das  bestimmte:  alle  iar  sal  der  .  .  .  rad  czwene  uz  en  setzen, 
die  schicke  sullin,  das  beschriben  werde  ...  Die  Einträge  wird  der 
Stadtschreiber  besorgt  haben  auf  Anordnung  {ad  ordinandum)  der  beiden 
Ratsherren. 

Der  Rat,  eine  autonome  Behörde,  hatte  im  14.  Jahrhundert  seine 
Herrschaft^  über  die  Stadt  befestigt;  er  beanspruchte  die  volle  Gerichts- 
hoheit über  die  Bürger  und  Einwohner.  Seine  vornehmste  Aufgabe 
bestand  darin,  Frieden  und  Ordnung  in  seinem  Gebiet  zu  wahren. 
Seit  dem  Anfang  des  15.  Jahrhunderts  nahm  er  für  sich  das  Recht 
in  Anspruch,  bei  sämtlichen  Klagesachen  eine  gütliche  Scheidung  zu 
versuchen,  ehe  sie  dem  Schultheißengerichte  zum  rechtlichen  Austrag 
übergeben  wurden.  Seine  administrative  Selbständigkeit  zeigt  sich, 
wenn  die  Akte  der  freiwilligen  Gerichtsbarkeit:  Eigentums-  und  Besitz- 


^  Wagner,  Aus  dem  Stadtarchiv  zu  Göttingen  (Verein  f.  d.  Gesch.  Göttingens 
III.  W.  4,  S.  88). 

''  cf.  Einleitung,  S.  12  [412]  ff. 

28* 


436  Erich  Kleeberg 

änderungen  an  liegendem  Gut  nur  vor  seinem  Forum  vorgenommer 
werden  durften. 

Es  ist  anzunehmen,  daß  der  weitere  Ausbau  der  Kanzlei  schor 
vor  dem  verhängnisvollen  Jahre  1367  begonnen  hat,  verfolgen  läßt  ei 
sich  an  dem  erhaltenen  Material  erst  von  1371  an,  und  zwar  nach 
den  beiden  Richtungen  als  Bücher,  die  Akte  der  Ratsverwaltung  ent- 
halten, und  Bücher  privatrechtlichen  Inhalts;  sie  seien  hier  kurz  als 
„Rats-"  und  „Stadtbücher"  ^  unterschieden. 

Die  einfachste  Form,  die  für  die  Ratsregierung  wichtigen  Akter, 
in  leicht  zugänglicher  Weise  zu  ordnen,  bestand  darin,  daß  die  aus- 
gestellten und  empfangenen  Briefe  und  Bekenntnisse  in  einem  Buche 
abschriftlich  vereinigt  wurden.  Das  älteste  Fragment  eines  solchen 
Ratsbuches^  ist  im  Mühlhäuser  Archiv  vom  Jahre  1371/72  erhalten. 
Rentenverschreibungen  des  Rates,  Bündnisse  mit  benachbarten  tierren 
und  Städten,  Schutzbriefe,  Urfehden-  und  Sühneverträge  bilden  seinen 
Inhalt.  Das  Buch  diente  vor  allem  dazu,  die  Einsicht  in  die  Originale 
zu  ersparen. 

Im  15.  Jahrhundert  wird  der  Inhalt  des  Ratsbuches ^  vielseitiger. 
Jetzt  werden  hier  auch  verzeichnet  die  verschiedenen  Fälle  aus  der 
inneren  Verwaltung,  deren  Kenntnis  notwendig  wurde  für  die  Folgezeit. 
Neben  der  Kopie  von  Originalbriefen  wird  eine  kurze  protokollarische 
Form  häufiger.  Es  ist  eine  bunte  Folge  von  Materien,  die  nur 
zusammengehalten  werden  durch  die  eine  Regierungstätigkeit  des 
Rates.  Geburts-,  Geleits-,  Bürgerbriefe  finden  sich  neben  Eintragungen 
über  Zahlung  des  Geschosses  und  Judengedinges;  Bestellungen  der 
Stadtdiener  neben  Pachtverträgen,  Abrechnungen  über  Zinsen  und 
Gefälle.  Kopien  von  Privilegienbriefen  und  anderen  wichtigen  Doku- 
menten wurden  hier  eingezeichnet,  auch  verirrten  sich  hinein  neben 
Entscheidungen  des  Rates  Verordnungen  von  mehr  statutarischem  Cha- 
rakter, die  gewöhnlich  in  der  Willkür  ihren  Platz  fanden.  Seit  Günther 
Puckers  Tätigkeit  ist  der  Inhalt  des  Ratsbuches  so  vielseitig  geworden, 
daß  es  den  Vorläufer  der  erst  100  Jahre  später  aufgekommenen  Rats- 
protokolle* bildet.  Eisenhart  schuf  1441  eine  wichtige  Neuerung,  indem 
er  die  angeschwollene  Masse  der  Einträge  auf  drei  nebeneinander 
laufende  Bücher  verteilte.  In  dem  einen  ^  vereinigte  er  die  Kopien 
wichtiger  Briefe  an  den  Rat,  in  einen  zweiten  Band^  wurden  die  ür- 


*  cf.  Anhang  S.  479. 

'  X  1  b,  cf.  Anhang  A  IV.  a. 

'  X  Ic;  X  Id;  X  le;  X  2;  X  4;  X  5. 

*  cf.  Kap.  11,  §  5,  S.  475. 
'  X  6  I,  1.  Teil. 

*  Gegen  T  1  (1441— 1502). 


Stadtschreiber  und  Stadtbücher  in  Mühlhausen  i.  Jh.  437 

fehdeverträge  verzeichnet,  und  in  dem  dritten  Buche/  dem  er  den 
Titel  stipendiarii  gab,  nehmen  zunächst  die  Verträge  mit  den  städti- 
schen Dienern  einen  breiten  Raum  ein,  doch  bekam  es  bald  wieder 
dienselben  Mischcharakter  wie  das  alte  Ratsbuch. 

Mit  dem  Jahre  1456  wird  die  Führung  dieser  Ratsbücher  sehr 
nachlässig,  ihr  Inhalt  dürftig;  und  1459  hören  sie  vollständig  auf.  Da 
in  diesen  Jahren  auch  die  übrigen  Reihen  von  Kanzleibüchern  manche 
Unregelmäßigkeiten  zeigen,  so  kann  man  wohl  die  mangelhafte  Buch- 
führung dem  Stadtschreiber  Wolfshagen  zur  Last  schieben,  der  Ende 
1459  gestorben  ist.  Die  Ratsbücher  wurden  nach  1460,  abgesehen 
von  dem  ürfehdebuch  nicht  in  der  alten  Form  fortgesetzt;  in  mancher 
Hinsicht  kann  man  das  Gesindebuch  ^  als  seinen  Nachfolger  betrachten. 

Einen  wichtigen  Bestandteil  des  Ratsbuches  von  1371—1372  hatten 
die  Zinsverschreibungen  des  Rates  in  Form  von  Leibrenten,  ewigen 
und  wiederkäuflichen  Zinsbriefen  ausgemacht.  Diese  Kopien,  die  all- 
jährlich zweimal  bei  Auszahlung  der  Zinsen  aus  den  Büchern  zusammen- 
gesucht werden  mußten,  vereinigte  der  Stadtschreiber  später  in  einem 
besonderen  Bande.  In  diesen  wurden  neben  einigen  Verträgen  aus 
früherer  Zeit  die  neuausgegebenen  Rentenbriefe  in  chronologischer 
Folge  kopiert.  Änderungen  oder  Lösungen  von  Verträgen  wurden  durch 
Überschreiben  oder  Streichen  im  Text  angedeutet;  einzelne  dieser  Be- 
merkungen stammen  noch  von  Günthers  Hand.  Der  Stadtschreiber 
Heinrich  hat  diese  Kopien  unregelmäßig  besorgt.  Sie  sind  seit  dem 
Jahre  1408  von  Günther  nachgeholt  und  dann  wieder  regelmäßig  fort- 
geführt. Eisenhart  und  Kappus  begnügten  sich  bisweilen  mit  kurzen 
Aufzeichnungen  in  Regestenform.  Ein  gleich  zu  erwähnendes  Schuld- 
ibuch  läßt  die  ursprüngliche  Anzahl  dieser  Rentenbücher  erschließen; 
les  verweist  nämlich  durch  Randnotizen  und  Angabe  von  Buch-  und 
Seitenzahl  verschiedentlich  auf  die  Kopien  in  diesen  Büchern.  Der  Band, ^ 
der  die  Jahre  1392—1402  umspannt,  wird  dabei  als  liber  secundus 
bezeichnet;  ihm  muß  also  noch  ein  liber  primus  vorangegangen  sein, 
der  in  den  80  er  Jahren  angelegt  sein  mag.  Das  wiederum  erhaltene 
Buch  für  die  Jahre  1407—1459*  ist  der  liber  quartus,  ihm  schließt 
sich   an    und   reicht   bis   in    das  16.  Jahrhundert   der  liber  quintus.^ 


m,        '  X  6  I,  2.  Teil. 

n*      ^  Das  Gesindebuch  ist  zwar  erst  seit  dem  Jahre  1502  erhalten,   doch  darf  ich 

Ifthl  mit  Sicherheit  ein  verloren  gegangenes  Buch  in  ähnlicher  Form  schon  für  die 

^pire  1460 — 1502  ansetzen,  das  also  den  Anschluß  an  den  stipendiariihand  erreichte. 

^ei  dem  Zustande  der  Verwaltung  in  den  Jahren  können  die  dahin  gehörigen  Bücher 

nicht  völlig  gefehlt  haben.     Die  einzigen  erhaltenen  Kanzleibücher  aus  den  Jahren 

(X  7  und  E  8  V2  D  tragen  den  Charakter  der  Stadtbücher  (S.  38  [438]). 

'  E  8c  1.        ■*  E  8c  2.        '  E  8c  3. 


438  Erich  Kleeberg 

Merkwürdigerweise  wird  nun  auch  noch  der  jetzt  verlorene  Band,  dei 
die  Jahre  1402—1407  umfaßt  hat,  als  über  quintus  aufgeführt,  ir 
einem  noch  hierher  gehörigen  über  tertius  scheint  keine  chronologische 
Ordnung  beobachtet  gewesen  zu  sein.  Welches  Einteilungsprinzip  hiei 
zugrunde  gelegen  hat,  ist  unbekannt. 

Die  Auszahlung  der  Zinsen  nach  den  in  chronologischer  Reihen- 
folge aufgezeichneten  Kopien  führte  beim  Anwachsen  der  Bücher  zi 
Unbequemlichkeiten.  Deshalb  legte  Günther  1414  daneben  ein  Ver- 
zeichnis^ an,  ein  Schuldbuch  der  Stadt,  in  dem  die  Verträge  ir 
Regestenform  übersichtlich  zusammengestellt  wurden.  In  einem  Per- 
gamentbande ordnete  er  die  Renten  nach  der  in  den  Kämmereirech- 
nungen schon  kennen  gelernten  Reihenfolge  der  Empfänger;  nach 
diesem  Register  zahlten  die  Kämmerer  den  Zins  aus.  Dieses  Ver- 
zeichnis wurde  von  Günther  und  seinen  Nachfolgern  bis  in  das  letzte 
Viertel  des  Jahrhunderts  fortgeführt.  Die  erledigten  Verträge  wurden 
in  primitiver  Weise  wie  in  den  gleichzeitigen  Kopienbüchern  durch- 
gestrichen. 

Die  sich  allmählich  ändernde  Anschauung  über  den  Rechtswert 
schriftlicher  Aufzeichnungen^  führte  dahin,  daß  der  Mühlhäuser  Rat 
etwa  seit  der  Mitte  des  14.  Jahrhunderts  den  Personen,  die  nach 
Stadtrecht  vor  seinem  Forum  Erklärungen  über  Akte  freiwilliger  Ge- 
richtsbarkeit ablegten,  durch  Einträge  in  die  „Stadtbücher"  ein  amt- 
lich beglaubigtes  Zeugnis  verschaffte.  In  das  älteste  überlieferte  Buch 
sind  in  protokollarischer  Form  verschiedene  Fälle  der  Pfandsetzung 
eingetragen,  denn  diese  gab  am  leichtesten  Veranlassung  zu  Streitig- 
keiten, da  eine  Partei  oft  nur  aus  Not  den  Vertrag  einging.  Die  ein- 
zelnen Jahrgänge  sind  mit  den  Namen  der  beiden  Ratsmeister  oder 
der  beiden  Ratsherren,  vor  denen  das  Rechtsgeschäft  bekannt  wurde, 
überschrieben.  Das  uns  erhaltene  erste  Buch^  wurde  1371  begonnen, 
doch  ist  die  erste  Pergamentlage  von  acht  Blättern  verloren,  so  daß 
die  Jahrgänge  1371 — 1373  fehlen.  Es  hat  auch  vor  1371  mindestens 
einen  Vorgänger  gehabt,  auf  den  S.  21b  verwiesen  wird:  prout  est  in 
antiqm  libro  scriptum.  —  Der  Inhalt  des  späteren  Stadtpfandbuches^ 
wird  vielseitiger:  außer  Erklärungen  über  Pfandsatzung  trug  der  Stadt- 
schreiber auch  Rentenkäufe  und  familienrechtliche  Abmachungen  ein, 


^  E  8  c.  4:  Z)e  censibus  de  pretorio  dandis. 

*  cf.  Anhang  S.  479. 
'  E  8  bl:  1371(4)— 91. 

*  X  3  I;  reicht  von  1416 — 41;  in  den  gleichzeitigen  Quellen  wird  es  „Stadt- 
pfandbuch" genannt:  Kopialbuch  W  3,  f.  371;  W  5,  f.  IIb;  f.  18.  Verloren  gegangene 
tiefte  mögen  den  Anschluß  an  E  8  b  1(— 1391)  hergestellt  haben.  Bezeugt  ist  ein 
solches  Buch  aus,  dem  Jahre  1412/13;  Kopialbuch  W  3,  S.  371. 


Stadtschreiber  und  Stadtbücher  in  Mühlhausen  i.Th.  439 

SO  daß  in  ihm  das  ganze  Gebiet  der  freiwilligen  Gerichtsbarkeit  über 
Immobilien  umschrieben  wurde,  mit  Ausnahme  der  einfachen  Übergabe, 
des  Verkaufes. 

über  diesen  bestimmte  ein  Statut^  aus  dem  Anfange  des  15.  Jahr- 
hunderts: Oiich  Süllen  unser  herrnn  der  radt  eyn  buch  machen  lasse, 
do  man  fortmer  yn  schreiben  sal  alle  gute,  die  man  vor  dem  ratthe 
uff  lessit,  und  der  radt  liet  (es  sie  erbegut  eygin  adir  lengut).  Der 
sitzende  Rat  ließ  ein  besonderes  „Kauf buch"  ^  anlegen,  das  der  Stadt- 
schreiber etwa  seit  1410  führte;  erhalten  ist  uns  nur  ein  Rest  der 
Jahre  1415 — 1417,  doch  wird  es  im  Kopialbuche  1420  und  1430  noch 
erwähnt.^  Die  Scheidung  zwischen  den  beiden  Verzeichnissen  ist 
nicht  streng  durchgeführt,  es  kommen  auch  Verkäufe  im  Stadtpfand- 
buche vor. 

Im  Kaufbuche  wurde  das  Hauptgewicht  nicht  auf  die  Auflassung, 
sondern  auf  den  Akt  der  Übergabe  gelegt.  Im  Stadtpfandbuche  wurden 
entweder  die  Parteien,  die  einen  Vertrag  bekennen,  oder  die  Ratsherren, 
denen  eine  Einigung*  gelungen  ist,  als  vor  dem  Rat  eine  Erklärung 
abgebend  aufgeführt.  Beide  Bücher  hatten  vollen  juristischen  Wert, 
und  man  berief  sich  noch  nach  Jahren  auf  ihren  Inhalt.  Selbst  wenn 
die  Verträge  nur  auf  eingelegten  Zetteln  standen,  so  tat  dieses  der 
Gültigkeit  keinen  Abbruch.  Die  Sprache  wechselt  in  den  Büchern  bis 
ca.  1441  zwischen  deutsch  und  lateinisch. 

Eisenhart  wies  1441  den  Stadtbüchern  einen  weiteren  Inhalt  zu, 
indem  er  zwei  parallel  laufende  Bände  anlegte.  In  dem  einen,  im  Re- 
gistrum Contractuum  (Handelbuch)  ^  vereinigte  er  die  Einträge  über 
Fälle  der  freiwilligen  Gerichtsbarkeit  an  Immobilien,  also  gewisser- 
maßen den  Inhalt  des  Stadtpfandbuches  und  Kaufbuches.  Daneben 
führte  er  ein  Registrum  recognicionum  et  diversarum  concordiarum^ 
für  andere  auf  Forderung  der  Einwohner  vor  dem  Rat  verhandelten 
und  von  ihm  anerkannten  Geschäfte:  Verträge  der  Bürger  über 
Schuld,  schiedsrichterliche  Entscheidungen  des  Rates  über 
Verbal-  und  Realinjurien  der  Bürger.    Indem  Kopien  von  Ge- 


'  Willkür  C:  Geschichtsbl.  9,  S.  28. 

'  Kaufbuch  1415-17:  X  3  II. 

'  W4,  S.  217;  W5,  S.  6. 

*  Es  genügte  vollständig,  wenn  einzelne  Herren  vom  Rate  die  Erklärung  ab- 
gaben. Derselbe  Brauch  herrschte  auch  in  Görlitz.  Cf.  Görlitzer  Willkür  von  1433; 
§6  (Gengier,  Stadtrechte  157):  Wird  eine  Verpflichtung  von  einem  Schöffen  über- 
nommen und  von  entphelunge  der  schepfen  in  der  stat  buch  geschriben,  das  hat  solche 
crafft  .  ...  als  ob  es  in  gehegter  bang  vor  den  schepfen  oder  vor  dem  sitzenden  rate 
gemeinlich  geschee.     Cf.  S.  13  [413]  Anm.  4. 

'  E  8V2  1:  1442—1501. 

'  X  6  II;  1441—49;  X  7:  1450—1500. 


I 


440  Erich  Kleeberg 

burts-,  Geleits-  und  Bürgerbriefen,  Zunft-  und  Innungsan- 
gelegenheiten in  wachsender  Anzahl  hier  aufgenommen  wurden,  ent- 
lastete man  das  Ratsbuch,  das  dadurch  seit  1457  in  diesen  Materien 
fortgesetzt  wurde.^  In  diesen  beiden  Reihen  wurden  die  Stadtbücher 
bis  1500  geführt.  Sicher  lag  diese  Idee  ihrer  Scheidung  zugrunde;  in 
der  Praxis  freilich  ist  sie  nicht  so  streng  durchgeführt,  wozu  der  Um- 
stand beigetragen  haben  mag,  daß  alle  Einträge  vor  einer  und  der- 
selben Behörde  geschahen. 

Die  Kanzleibücher  waren  ursprünglich  Pergamentbände,  geschützt 
durch  Holzdeckel  und  Lederüberzug.  In  dieser  Form  sind  noch  die 
ältesten  Geschäftsbücher  (Pfandbuch  und  Kopialbuch  der  Stadtrenten) 
erhalten.  Das  Fragment  des  Ratsbuches  von  1371/72  besteht  eben- 
falls aus  Pergamentblättern.  Doch  schon  gegen  Ende  des  14.  Jahr- 
hunderts begann  man  sich  des  billigeren  Papieres  zu  bedienen.  Die 
„Kopialbücher,"  die  in  den  80  er  Jahren  bereits  die  umfangreichsten 
unter  den  Kanzleibüchern  waren,  sind  nur  als  Papierbände  erhalten. 
Um  das  Jahr  1600  sind  diese  wie  alle  übrigen  Rats-  und  Stadtbücher, 
soweit  sie  aus  Papier  bestehen  und  in  der  Kanzlei  aufbewahrt  worden 
waren,  gleichmäßig  in  gelbe,  grüne  oder  rote,  mit  goldenem  Stadtwappen 
geschmückte  Pappdeckel  gebunden.  Ihre  frühere  Gestalt  läßt  sich  er- 
kennen aus  den  wenigen  erst  kürzlich  aufgefundenen  Ratsbüchern  der 
Jahre  1398,  1405  und  1408,  Hefte  in  Pergamentumschlag,  für  die  Ein- 
träge eines  Geschäftsjahres  bestimmt.  Die  gleiche  Gestalt  zeigen  noch 
heute  die  Bücher  der  Kämmerei  im  15.  Jahrhundert:  Rechnungen  und 
Geschoßregister.  Erst  seit  ungefähr  1420  brechen  die  Hefte  nicht  mehr 
mit  Jahresabschluß  (das  Geschäftsjahr  wird  immer  von  Martini  zu 
Martini  gerechnet)  ab;  es  fanden  wohl  mehrere  Jahrgänge  in  einem 
größeren  Bande  Platz.  Dadurch  daß  Einzelhefte  leicht  verloren  gehen 
konnten,  erklärt  sich  z.  T.  die  schlechte  Überlieferung  aus  den  Jahren 
1370-1420. 

Wohl  in  der  Kanzlei  geschrieben,  aber  nicht  zu  den  eigentlichen 
Geschäftsbüchern  sind  einige  Pergamentkodices  zu  rechnen.  In  den 
Jahren  1311,  ca.  1350  und  1401^  wurden  Kodifikationen  der  Sta- 
tuten und  Ordnungen  vorgenommen  und  diese  in  prunkvolle  Perga- 
menthandschriften eingezeichnet.  Sie  waren  sehr  weitläufig  angelegt 
und  boten  so  Raum  für  gelegentliche  Nachträge,  die  sich  etwa  je  über 
ein  halbes  Jahrhundert  ausdehnten.  In  diese  das  stadtbuch  oder  die 
welkoere  genannten  Bücher  wurden  neben  Einträgen  über  Stadtrecht 
und  Ratsverfassung  auch  Aufzeichnungen   über  besondere  Fälle   von 


t^ 


.'  cf.  S.  37  [437]. 
^  cf.  S.  8  [408]  Anm.l. 


H  Stadtschreiber  und  Stadtbücher  in  Mühlhausen  i.Th.  441 

j^  "riedensbrüchen  und  ihre  Bestrafung  gemacht,  die  dazu  bestimmt  waren, 

:;  nit  den  Hauptpunkten   des  Rechts  alljährlich  am  Tage  der  Ratswahl 

vorgelesen  und  den  Bürgern  in  die  Erinnerung  gerufen  zu  werden. 

Eine  Kanzleinotiz  des  17.  Jahrhunderts  berichtet  von  einem  aber 
mtiqims  consulum,  avium  et  ansarum,  auf  dessen  erster  Seite  die 
Nachricht  über  den  Kanzleibrand  von  1367  gestanden  habe.  Ein  Frag- 
nent,  das  in  seinem  Inhalte  dem  ersten  Teile  des  Titels  entspricht, 
Verden  wir  zu  sehen  haben  in  sieben  Pergamentblättern,'  die  im  letzten 
Jahre  aufgefunden  sind  und  Bürgerlisten,  Verzeichnisse  der  neuen 
Bürger,  von  1414—1491,  enthalten.  Innerhalb  des  Fragments  mögen 
loch  fünf  Blätter  fehlen,  mit  denen  beträchtliche  Lücken  in  der  Liste 
iusgefüllt  würden.  Ein  Verzeichnis  der  Ratsmeister  von  1477—1524 
st  von  einer  Hand  des  16.  Jahrhunderts  auf  dem  letzten  Blatte  un- 
mittelbar an  die  Bürgerliste  des  Jahres  1491  angeschlossen  und  wird 
[vohl  angeregt  worden  sein  durch  ähnliche  Verzeichnisse  in  dem  ver- 
orenen  Teile  des  Buches.  Notizen  über  Aufnahme  der  Bürger  in  Gilden 
lind  Zünfte  finden  sich  an  verschiedenen  Stellen.  Der  Inhalt  des  über  anti- 
7«W5  bestand  demnach  vor  allem  aus  Namenlisten  der  neuaufgenommenen 
Bürger,  der  Ratsherren  und  der  Verbände,  daneben  vielleicht  auch  aus 
3esetzen  und  Briefen  der  Innungen,  zu  denen  der  Rat  ein  nahes  Ver- 
lältnis  hatte.  Wie  die  Nachricht  von  1367,  so  mag  der  Stadtschreiber 
juch  noch  manche  andere  ihm  bedeutungsvoll  erscheinende  Ereignisse 
ius  der  Stadtgeschichte  aufgenommen  haben.  Regelmäßig  ist  das 
Buch  nicht  beschrieben  worden:  die  Handschriften  in  dem  erhaltenen 
Feile  beweisen,  daß  mehrere  Jahrgänge  in  einem  Zuge  eingetragen 
»wurden,  auch  kommt  es  zweimal  vor,  daß  ein  Stadtschreiber  mehrere 
Jahrgänge  nachholt  aus  Zeiten,  in  denen  er  noch  nicht  im  Amte  war. 
Eisenhart  von  1435—1441,  Raven  von  1450—1460). 

Nach  diesen  Darlegungen  ist  es  wahrscheinlich,  daß,  wenn  auch 
[einzelne  Bücher  und  Bände  des  Archivs  verloren  sind,  der  einstige 
Bestand  der  seit  1370  in  der  Kanzlei  gefertigten  Stücke  sich  deutlich 
übersehen  läßt,  und  man  muß  zugeben,  daß  in  den  Jahren  1370  bis 
1460  die  Bücher  in  Kanzlei  und  Kämmerei  für  mittelalterliche  Ver- 
hältnisse recht  mannigfaltig  und  reichhaltig  geworden  sind. 

§5.     Die  offiziellen  Schreiber  in  der  Stadt  neben  dem  Stadt- 
schreiber: Gerichtsschreiber  und  öffentliche  Notare 

Außer  den  Stadtschreibern  gab  es  in  der  Stadt  noch  einige  Schreiber, 
die  mit  dem  Rat  dienstlich  verbunden,  z.  T.  auch  aushilfsweise  in  der 
Kanzlei  tätig  waren.    Obgleich  das  Schultheißengericht  schon  früh  in 

^  H.  26,  2a. 


442  Erich  Kleeberg 

die   Gewalt   des   Rates   gekommen   war,^   scheint   der   Protonotar  an  '^^ 
ordentlichen  Gerichte  nie  beschäftigt  gewesen  zu  sein.    Ein  besondere  ^' 
Gerichtsschreiber  vielmehr,   der   in   den   Statuten   A^   zum   erstei  ^^ 
Male  genannt  wird   —   also   ungefähr   in  der  Zeit,   aus  welcher  di 
ersten    Nachrichten    über   den   Stadtschreiber  vorliegen    —   war   not 
wendig  zur  Ausstellung  gelegentlicher  urkundlicher  Gerichtszeugnissc 
der   Gerichtsbriefe.     Die   Abhängigkeit  des   Gerichtes   vom   Rate,   de 
Umstand,  daß  dieser  das  Gebiet  der  freiwilligen  Gerichtsbarkeit  übe 
Immobilien  sich  vorbehielt,^  schränkten  auch   die  Bedeutung  des  Ge 
richtsschreibers  ein.    Aus  diesen  Verhältnissen  heraus  ist  es  zu  ver 
stehen,   daß   man  erst  spät  zu  regelmäßig  geführten  Registern  ge- Jr 
kommen  ist.    Auch  in  anderen  Städten  sind  diese  Bücher  Verhältnis' 
mäßig  jüngeren  Ursprungs,  denn  die  vor  öffentlichem  Gericht,  mit  de 
Bezahlung  einer  Buße  meist  erledigten  Fälle  schienen  lange  Zeit  kein( 
Aufzeichnungen   zu   erfordern.     Das   erste   ist   im  Mühlhäuser  Archi\ 
erhalten  aus  dem  Jahre  1432,^  doch  hat  es  noch  Vorgänger  gehabt 
z.  B.  im  Jahre  1422.^    Es  enthält  protokollarische  Aufzeichnungen  übei 
Klagen  und  Bußen,  die  Sprüche  des  Schultheißengerichts  in  der  Ober 
und  Unterstadt  und  in  den  Dörfern  des  Territoriums.    Der  Schrei  bei 
machte  am  Rande  nach  einiger  Zeit  mitunter  den  Vermerk  über  Be 
Zahlung  des  Strafgeldes.    Auch  die  Verhandlungen  des  Rates  oder  dei 
Räte  über  Urteilsschelte  des  ordentlichen  Gerichtes  und  ihre  selbstän- 
digen Entscheidungen  wurden  hier  eingetragen.     Die  einzelnen  Bände 
sind  überschrieben  mit  dem  Namen  des  in  diesem  Jahre  gewählten 
Schultheißen  und  enthalten  die  Fälle  eines  Geschäftsjahres.    Der  Ge- 
richtsschreiber   hatte    sie    in   Verwahrung;    nur    auf  Anordnung    des 
Schultheißen   oder   des  Rates   durfte   er  aus  ihnen  den  Parteien  den 
Rechtsentscheid  in  einem  Gerichtsbriefe  ausstellen^  oder  in  öffentlicher 
Sitzung  das  betreffende  Urteil  vorlesen.'    Von   seiner  Zuverlässigkeit 
hing  die  Sicherheit  der  Parteien  ab,  und  so  mußte  er  schwören,  seine 
schriftlichen   Zeugnisse   und   Einträge   ins   Gerichtsbuch   gewissenhaft 
und  ohne  heimliche  Änderung  zu  verfassen.^    Persönlich  treten  diese 

'  cf.  S.  7  [407]. 

^  Lambert  f.  144:  Item  scultetus  debet  referre  consulibus  sab  iuramento,  si 
scriptor  suus  et  bodelli  in  iudicio  iniuste  fecerint. 
^  cf.  S.  13  [413] . 

*  unter  „Gerichtsregister".  RAl;  cf.  Anhang  CIL 

*  In  RAl:  unter  de  iure  consulum  S.  16  b  wird  verwiesen  auf  das  alte  Register 
von  1422. 

^  z.  B.  Kopialbuch  W5,  S.  150;  156;  159. 
'  z.  B.  Kopialbuch  W  5,  S.  145  b. 

*  Geschichtsblätter  9,  S.  33:    Item  so  sal  der  Schreiber  die  sache,  so  sie  an 
deme  gerichte  geschreben  werdet,  nich  andern,  lengern  addere  kortzenn  hinder  deme 


Stadtschreiber  und  Stadtbücher  in  Mühlhausen  i.  Th.  443 

khreiber  kaum  hervor.  1436/37  ist  einmal  der  Name  eines  solchen 
iberliefert:  Günther  Bliderstete,  des  weltlichen  Gerichts  Schreiber  in 
v\ühlhausen.^  Er  scheint  nicht  dem  Bürgerstande  angehört  zu  haben 
jnd  war  wohl  ein  zugewanderter  Laie. 

Ob  der  Gerichtsschreiber  vom  Rate  einen  regelmäßigen  Gehalt 
:)ezog,  ist  ungewiß.  Nach  den  Kämmereirechnungen  von  1417  (/V\ar- 
ini)  und  1419  (Exaudi)  möchte  es  so  scheinen,  als  ob  der  Schultheiß 
meinem  Schreiber  halbjährlich  einen  Sold  von  30  Schilling  auszahlte, 
feu  dem  die  Kämmerei  einen  Beitrag  von  2V2  Schock  21  Groschen 
ieferte.^  Nach  dem  Statut  in  C^  vom  Jahre  1440  hatte  er  Anteil 
an  den  Gerichtsgefällen.  Ein  jeder,  der  am  gerichte  zustendeligk 
ivird,  zahlte  dem  Schreiber  1  Pfennig,  ebenso  der,  welcher  sich 
seine  Sache  vor  Gericht  lesen  ließ.  Auch  bei  der  Ausstellung  von 
Urkunden  und  Gerichtsbriefen  bezog  er  von  den  Parteien  Gebühren: 
von  einer  Acht  oder  Rekognicion  1  Groschen,  von  einem  Geleitsbrief 
6  Thüringer  Pfennige. 

Bis  zum  Jahre  1460  war  kein  Stadtschreiber  öffentlicher  Schreiber, 
übliciis  notariüs  von  kaiserlicher  oder  päpstlicher  Gewalt.^  Be- 
urfte  der  Rat  eines  Notariatszeugnisses,  so  mußte  er  sich  an  eine 
ndere  Persönlichkeit  wenden.  Noch  um  die  Mitte  des  14.  Jahrhunderts 
bediente  er  sich  zur  Transsumption  oder  Vidimierung  wichtiger  Ur- 
kunden und  Privilegien  der  Erklärung  und  Abschrift  einer  unabhängigen 
Person  von  Bedeutung,  sehr  oft  des  Propstes  vom  Brückenkloster  in 
der  Stadt.^  Nach  der  Zeit  werden  die  Fälle  häufig,  in  denen  er  zur 
Ausstellung  eines  Notariatsinstrumentes  publici  notarii  heranzog.  Als 
Ort  der  Anfertigung  ist  in  den  meisten  Fällen  das  Rathaus  genannt, 
doch  kam  es  auch  vor,  daß  sich  Ratsherren  mit  und  ohne  Stadt- 
schreiber zu  dem  Zwecke  in  die  Wohnung  des  Notars  begaben. 

Mit  einzelnen  Notaren  trat  der  Rat  in  engere  Verbindung,  so  mit 
dem  Stadtkaplan  Hermann  Kappel,  einem  Verwandten  des  kaiserlichen 
Rates  Dr.  Härtung  Kappel.  Erst  Kaplan,  dann  Kantor  an  der  Stifts- 
kirche St.  Peter  und  Paul  in  Oberdorla,  wurde  dieser  oft  vom  Rate  mit 
geheimen  Missionen  betraut.    Schon  1420  hatte  ihm  der  Rat,   als  er 


ratthe  adder  dem  schulteissen.  Dieses  haben  schreibere  geschwornn  zcu  halden  one 
geuerde  (a.  1440). 

'  Kopialbuch  W  5,  S.  156. 

^  pro  notario  sculteti  in  pretio  ex  parte  sculteti  30  solidos  =  1  talentum  pro 
quibus  dedi  2V,  Seh.  21  gr. 

'  Geschichtsbl.  9,  S.  33. 

''  W.  Stein  a.a.O.  S.  35ff.  weist  die  Verbindung  von  Stadtschreiberamt  und 
Notariat  in  Köln  schon  1328  nach;  dort  auch  Belege  für  den  Brauch  in  anderen  Städten. 

'  H.  Ü.-B.  1004;  1019;  1020;  1022. 


444  Erich  Kleeberg 

ihn  zu  einem  Zinskauf  nach  Frankfurt  sandte,  das  Zeugnis  ausgestellt 
wan  wir  dy  mit  nymande  anders  als  wole  als  mit  ach  truwen  uß  za 
richten;^  1429  verhandelte  er  über  die  Verlängerung  eines  Vertrages 
am  hessischen  Hofe.^  Und  noch  1455  erbat  sich  der  Rat  vom  geist- 
lichen Gericht  in  Erfurt  ihn  als  Exekutor  in  einer  Streitsache  zwischer 
dem  Antoniushospital  und  dem  Rat  von  Duderstadt.^  Solche  Dienste 
wurden  anerkannt  durch  die  Verleihung  eines  städtischen  Lehens.* 

Die  beiden  öffentlichen  Notare  Christian  Herold  und  Johann  von 
Hasela  scheinen  mit  dem  Rate  in  einem  Dienstvertrag  gestanden  ZU| 
haben.  Der  erstere  wenigstens  wurde  in  den  Jahren  1432—34  mit 
unter  die  ministri  der  Stadt  gezählt.^  Der  Rat  bezeichnete  beide  in 
einem  Briefe^  als  nicht  „pflichtig  und  gefügig"  hinter  seinem  Rücken 
Notariatsinstrumente  auszustellen.  Es  muß  demnach  vorgekommen 
sein,  daß  diese  Notare  im  Interesse  des  Rates  Privatpersonen  ihr  offi- 
cium verweigerten."^  Ein  anderes  Mal  wurden  einige  Ratsherren  und 
Herold  mit  der  Untersuchung  beauftragt,  ob  es  den  städtischen  Ge- 
wohnheiten entspräche,  eine  Nachricht  über  den  Besitz  eines  Bürgers 
einem  Fremden  aus  dem  Schoßbuche  mitzuteilen.^  So  mag  Christian 
Herold  in  manchen  Fällen  den  in  den  Jahren  fehlenden  Oberschreiber 
ersetzt  haben.^  Weshalb  er  nicht  diesen  Posten  bekleidete,  darüber 
bleiben  nur  Vermutungen.  Von  Fremden  wurde  er  in  seiner  Stellung 
mit  einem  Stadtschreiber  verwechselt:  der  Rat  mußte  auf  einen  Brief 
Hermanns  von  Heilingen  erklären,  er  habe  keinen  Stadtschreiber /T^r.s/ö/z.^*' 

Nach  ihm  scheint  der  Notar  Bartholomäus  Schwertfeger  (Gladiator) 
eine  ähnliche  Stellung  eingenommen  zu  haben.  Ein  förmlicher  Dienst- 
vertrag ^^  mit  ihm  liegt  aus  dem  Jahre  1458  vor.  Er  gelobte  der  Stadt 
als  ein  procurator  zu  dienen  in  allen  Geschäften,  zu  denen  sie  ihn 
ausschicken  würde.  Reiste  er  in  Ratsangelegenheiten,  so  erhielt  er 
freie  Zehrung,  in  Aufträgen  der  Bürger  für  jede  Sache  5  Groschen. 
Aushilfsweise  war  er  während  des  Schreiberwechsels  1459/60  nach 
dem  Tode  Wolfhagens  in  der  Kanzlei  tätig.^^  —  Seitdem  vom  Jahre 
1460  ab  das  öffentliche  Notariat  mit  dem  Stadtschreiberamte  verbunden 
war,  lockerte  sich  der  Zusammenhang  zwischen  dem  Rat  und  den 
außerhalb  der  Kanzlei  stehenden  Notaren. 


'  Kopialbuch  W4,  S.  141;  144;  144  b.         '  Kopialbuch  W  4,  S.395b.  | 

'  Kopialbuch  W5,  S.207b.     *  Kopialbuch  W4,  S.381.     '  Kopialbuch  W5,S.73b.   j 
^  Kopialbuch  W  5  S.  35  (1431).  -         I 

^  F.  Oesterley,  Das  deutsche  Notariat,  1842  Hannover:  I,  S..445. 
**  cf.  S.  31  [431];  Kopialbuch  W5,  S.  60. 

'  cf.  S.  21  [421]  Anm.  2.     ''  Kopialbuch  W5,  S.  32.      ''  Ratsbuch  X  6a  S.  131. 
'^  Kämmereirechnungen  MOP  1459  (Martini):  unter  Pro  subnotario- 


Stadtschreiber  und  Stadtbücher  in  Mühlhausen  i.  Th.  445 

Zweites  Kapitel 

Entwicklung  des  Stadtschreiberamtes  zum  Syndikat, 

1460—1575 

Für  die  Periode  nach  1460  wird  sich  unsere  Betrachtung  in  zwei 
Dichtungen  bewegen:  Im  ersten  Abschnitte  verfolge  ich  die  schnell  sich 
vollziehende  Entwicklung  des  Stadtschreibers  zum  Syndikus,  dem  obersten 
liplomatischen  Vertreter  und  juristischen  Berater,  im  zweiten  Teile  den 
Zustand  der  Kanzlei  und  der  städtischen  Schreibstuben  im  16.  Jahr- 
lundert. 

Die  Abwehr  gegen  die  vorrückende  Macht  der  Wettiner  bildete  die 
iauptaufgabe  der  städtischen  Politik.  In  Verhandlungen  an  diesen 
ürstenhöfen  oder  in  der  Anknüpfung  neuer  Beziehungen  gegen  ihre 
Jedränger  bot  sich  dem  Stadtschreiber  ein  breites  Feld  seiner  Betäti- 
gung. Jetzt  besuchten  Mühlhäuser  Vertreter  zuerst  Reichstage  oder 
[lahmen  engere  Fühlung  mit  den  übrigen  Reichsstädten.  Diese  Periode 
kr  Stadtgeschichte  fand  aber  ihren  jähen  Abschluß  mit  den  Vorgängen, 
n  denen  die  Stadt  zum  ersten  Male  in  der  allgemeineren  Zeitgeschichte 
feine  größere  Rolle  spielte,  in  den  verhängnisvollen  Jahren  1523—1525, 
Jem  sogenannten  Bauernkrieg.  In  diesen  Jahren  kam  eine  starke 
kwegung  gegen  das  Ratsregiment  zum  Durchbruch,  die  mit  der 
Absetzung  des  alten  Rates  endigte.  Im  weiteren  Verlaufe  wurde 
i\e  Stadt  in  den  Thüringer  Bauernkrieg  verwickelt  und  wurde,  nach- 
dem dieser  in  der  Schlacht  bei  Frankenhausen  sein  Ende  gefunden 
latte,  das  Opfer  des  Krieges.  An  die  kapitalkräftige  Stadt  hielten  sich 
die  geschädigten  Herren  und  Ritter,  und  die  auf  dem  Schlachtfelde  mit 
eichter  Mühe  Sieger  gewordenen  sächsischen  und  hessischen  Fürsten 
'Inutzten  die  erwünschte  Gelegenheit  aus,  ihren  Einfluß  auf  die  Stadt 
auszudehnen.  Ein  Glück  war  es  noch,  daß  sich  drei  Parteien  um  den 
Schatz  bewarben  und  ihn  sich  gegenseitig  streitig  machten.  So  lief 
das  Ganze  hinaus  auf  einen  Schutzvertrag  mit  den  drei  Fürsten,  von 
denen  jeder  ein  Jahr  lang  die  Oberregierung  zu  führen  hatte.  Die 
Schutzherren  beanspruchten  Oberaufsicht  über  die  Ratsregierung,  Be- 
stätigung des  jährlich  zu  erwählenden  Rates,  Bestellung  des  Schultheißen 
und  verpflichteten  die  Stadt  außer  dem  Schutzgelde  zur  Zahlung  einer 
Strafsumme  von  80000  Gulden.  Etwa  25  Jahre  waren  ausgefüllt  mit 
dem  Kampfe  um  die  alte  Reichsunmittelbarkeit.  Erst  durch  geschickte 
Benutzung  der  augenblicklichen  politischen  Kombinationen  verstanden 
es  ihre  Führer,  der  Bürgermeister  Rodemann  und  der  Sekretär  Lukas 
Otto,  1547/48  die  Restitution  der  Reichsunmittelbarkeit  zu  erlangen 
und  sie  vier  Jahre  später  gegen  die  Ansprüche  des  Kurfürsten  Moritz 


446  •  Erich  Kleeberg 

von  Sachsen  erfolgreich  zu  verteidigen.  —  Mit  den  politischen  Kämpfet 
gingen  Hand  in  Hand  geistige  Auseinandersetzungen.  Um  die  Mitti 
des  Jahrhunderts  machte  die  Stadt  eine  zweimalige  Reformation  durch 
Mit  dem  Jahre  1560  etwa  beginnt  dann  wieder  eine  Periode  der  Ruh« 
und  vor  allem  des  geistigen  Aufschwungs,  angeregt  durch  die  voraus 
gegangene  Erregung  und  Anspannung  aller  Kräfte.  —  An  dieser  ganzer 
Entwicklung  ist  der  Stadtschreiber  zum  Teil  in  führender  Rolh 
beteiligt. 


§  1.    Der  geistliche  Stadtschreiber  macht  sich  frei  vom 
niederen  Kanzleidienst 

Mit  ganz  anderer  Vorbildung  als  sein  Vorgänger  trat  im  Frühjahi 
1460  der  Magister  der  freien  Künste  Heinrich  Raven  publicus  notarm 
imperiali  auctoritate  sein  Amt  an.  Er  begegnet  zum  ersten  Male  ir 
einem  notariellen  Vidimus  einer  Urkunde^  von  1455;  als  Offizial  des 
Propstes  zu  Jechaburg  in  oppido  Molhusen  presidens  rekognoszierte  ei 
den  Konsens  der  Deutsch-Ordensherren  zur  Errichtung  eines  Vikariats 
bei  der  Rathauskapelle.  Aber  auch  dem  Rate  leistete  er  um  dieselbe 
Zeit  schon  seine  Dienste.  Als  Notar  fertigte  er  im  nächsten  Jahre  in 
pretorio  für  ihn  ein  Instrument'-^  aus  über  den  Verzicht  der  Judenschaft 
auf  alle  ferneren  Rechtsbeschwerden  wegen  erlittener  Gewalttätigkeit 
seitens  der  Stadt.  Und  1457  vertrat  er,  mit  des  Rates  Vollmacht  ver- 
sehen, die  Stadt  in  einem  Prozesse  am  Gericht  in  Göttingen  gegen 
den  Vikar  der  Witwe  von  Haustein.^  Am  14.  Mai  1460  stellte  ihm 
der  Graf  von  Schwarzburg  und  Sondershausen,  bei  seinem  Scheiden 
aus  dem  Dienste  seines  Sohnes,  des  Propstes  zu  Jechaburg,  ein  gutes 
Führungszeugnis  aus,^  nachdem  sich  Raven  schon  am  22.  Februar  in: 
einem  Reversbrief e ^  dem  Rate  als  Stadtschreiber  verpflichtet  hatte.] 
Dieses  Schriftstück  beansprucht  insofern  besonderes  Interesse,  als  er 
in  ihm  nicht  nur  Mühlhausen,  sondern  auch  den  beiden  Städten  Nord- 
hausen und  Erfurt  Treue  gelobt  —  er  will  in  aller  Zwietracht  treulich  bei 
den  drei  Städten  aushalten  — ,  bezeichnend  nicht  allein  für  die  enge 
Verbindung  der  Städte,  sondern  auch  für  die  Tatsache,  daß  der  Stadt- 
schreiber in  den  politischen  Beziehungen  eine  gewisse  Rolle  zu  spielen 
berufen  war. 


'  Ü.-Nr.  1266  (1455  25.  VH.). 

'  Ü.-Nr.  1003  (1456  14.  V.). 

^  Kopialbuch  W  7,  S.  66  b;  Ü.-Nr.  1014  (1457  3.  X.). 

*  Briefe  des  Grafen  an  Mühlhausen  G.  11. 

*  Syndikatsbestallungen  H.  6,  2,  1  —  4. 


Stadtschreiber  und  Stadtbücher  in  Mühlhausen  i.  Th.  447 

Seine  materielle  Lage  gestaltete  sich  günstig.  Er  wurde  in  den 
lächsten  Jahren  Kantor  an  der  reichen  Stiftskirche  in  Oberdorla/  ein 
Nachfolger  Hermann  Kappeis;  diese  Stelle  war  sicher  mit  manchen 
inkünften  verbunden.  Sein  Anfangsgehalt  war  noch  derselbe  wie 
1er  seiner  Vorgänger,  doch  stieg  er  schon  in  den  nächsten  Jahren 
ron  22  auf  50,  seit  1472  auf  58  Schock.  1481  legte  er  200  rheinische 
ulden  in  einer  Leibrente  zu  10%  beim  Rate  an.^ 

Seine  Anfangstätigkeit  unterschied  sich  nicht  wesentlich  von  der 
»einer  Vorgänger.  In  der  Führung  der  Kanzleibücher  trat  er  allmählich 
linter  dem  ünterschreiber  zurück.  Nur  die  Schreibgeschäfte  in  der 
(ämmerei  besorgte  er  noch  immer  allein  bis  1473.  Die  Handschrift 
iieser  Rechnung  läßt  zum  ersten  Male  erkennen,  daß  der  Protonotar 
n  diesen  Geschäften  einen  Helfer  bekam.  Es  ist  derselbe  Schreiber, 
ien  die  nächste  erhaltene  Rechnung  von  1483  als  scriptor  camerariae 
)ezeichnet,  der  Priester  und  publicus  notarius  Johann  Hufeland.  Leider 
legen  aus  dem  Jahrzehnt  1473—1483  weder  Rechnungen  noch  Ge- 
jchoßregister  vor,  sonst  würde  sich  die  Entstehung  des  Kammer- 
jchreiberpostens  vielleicht  deutlicher  verfolgen  lassen. 

Schon  1479  berichten  die  Quellen  von  einem  zweiten  Proto- 
lotar  neben  Raven,  dem  Priester  Jakob  Engelbert  von  Grevenstein,^ 
nothonotariüs  Molhusensis,  einem  Schreiber  mit  öffentlichen  Notariats- 
echten.^  Er  wird  etwa  1476  in  städtischen  Dienst  eingetreten  sein; 
ioweit  reicht  seine  Hand  im  Kopial-  und  Stadtbuche  zurück.  Bald 
darauf  verließ  er  die  Stadt,  war  1482  als  erzbischöflich-mainzischer 
Kommissar  in  Heiligenstadt  tätigt  und  gehörte  1489  zu  den  Prälaten 
3es  Stiftes  St.  Martin^  in  derselben  Stadt.  Seinen  Posten  hatte  der 
rrotonotar  Magister  Heinrich  Rone'  eingenommen,  der  noch  am  29.  No- 
vember 1481  eine  erfolglose  Gesandtschaft  nach  Nürnberg  und  Regens- 
burg unternahm,  um  eine  vom  kaiserlichen  Hofgericht  gefordete  Geld- 
buße von  hier  aus  nach  Wien  zu  senden.^  Als  seinen  Nachfolger 
werden  wir  Hufeland  zu  betrachten  haben,  der  zwei  Tage  vorher  vom 


'  U.-Nr.  1088  (1465). 

'^  Kopienbuch  von  Zinsverschreibungen  E.  8  c  3,  S.  19  b. 

1^  Ü.-Nr.  1138  (1479  7.  I.). 
*  Ü.-Nr.  1142  (1480  11.  II.). 
'  Kopialbuch  W  8,  S.  236  b  (1481/82). 
^  Ü.-Nr.  1200  (1489  24.  V.). 
^  Es  liegt  vielleicht  nahe  bei  dem  Namen  Rone,  der  noch  dazu  nur  einmal  in 
er  späteren  handschriftlichen  Aufzeichnung  (cf.  Anm.  8)  als  Protonotar  überliefert 
isi,   an   eine  Verwechslung  mit  Rave  zu  denken,   doch   kommt  der  Name  Rone  in 
Mühlhausen  häufiger  vor,  auch  ist  die  Stelle  eines  zweiten  Protonotars  durch  seine 
Vorgänger  und  Nachfolger  genügend  gesichert. 
^  Jordan,  Chronik  I,  S.  145f. 


I 


448  Erich  Kleeberg 

Rat  aufs  neue  berufen  war.  Aus  dem  Bestallungsbrief  ^  geht  hervor 
daß  er  auch  in  der  unmittelbar  vorangegangenen  Zeit  In  dienstlichei 
Beziehung  zum  Rate  gestanden  und  vielleicht  als  tiilfsschreiber  in  dei 
Kämmerei  sechs  Fuder  Holz  erhalten  hatte.  Jetzt  wurde  er  ange- 
stellt als  Kämmereischreiber  und  „soll  in  der  Kämmerei  der  stai . 
schult  helffen  zu  ermanen  und  der  stat  Schatz-Register  zurecht  zu 
bringen''.  Außerdem  „soll  er  auch  in  den  Rath,  Rethe  und  Schriberigt 
gehen  und  in  allen  Sachen  helffen  beraten  zu  sein,  auch  reiten,  so  mar. 
daß  von  ime  verlangt".  So  nahm  er  die  Stellung  ein,  die  Raven  ir 
den  60  er  Jahren  als  Kanzlei-,  Ratsnotar  und  Kammerschreiber  bekleide! 
hatte.  An  Präsenten  war  er  dem  Stadtschreiber  gleichgestellt,  er  bezog 
Naturalgeschenke  und  hatte  Anteil  an  den  Schreibgefällen:  „Die  Ge- 
rechtigkeit in  der  Kämmerei  und  die  Hälfte  aller  Gerechtigkeit  in  dei 
Schreiberei  beider  Siegel.''^  Drei  städtische  Schreiber  standen  jetzt  im 
Dienste  des  Rates;  zwei  Geistliche  mit  öffentlichen  Notariatsrechten:  der 
overste  stadschreiber  und  der  Kammerschreiber,  sowie  Nikolaus  Breitung, 
ein  weltlicher  ünterschreiber  in  der  Kanzlei,  dem  nach  der  Kämmerei- 
rechnung von  1497  (Martini)  noch  ein  puer  als  Hilfsschreiber  zu- 
geteilt war. 

Als  ünterschreiber  war  von  1480 — 1501  der  Bürger  Nikolaus 
Breitung  tätig,  der  auch  als  Privatmann  öfters  um  sein  Siegel  an- 
gesprochen wurde.^  Er  bezog  einen  Gehalt  in  barem  Geld  aus  der 
Kämmerei,  der  bis  auf  ungefähr  20  Schock  im  Jahre  stieg;  dazu 
erhielt  er  jedes  Halbjahr  ein  Geschenk  von  12  Groschen.  Nach  Ablauf 
seiner  Dienstzeit  wurde  er  wie  die  meisten  seiner  Vorgänger  in  den^ 
Rat  gewählt  und  arbeitete  auch  als  Ratsherr  noch  gelegentlich  in  der 
Kanzlei.* 

Die  Besetzung   des  Schreiberamtes   in   der  Kämmerei   mit  einem 
eigenen   städtischen   Beamten    war  ein   Bedürfnis   geworden,    seitdem 
sich  dem  Oberschreiber  dank  seiner  akademischen  Bildung  und  seinen 
Erfahrungen  als  gewesener  Offizial  ein  weiterer  Wirkungskreis  bot.    In  | 
sein  bisheriges  Arbeitsgebiet  teilten  sich  der  Unter-  und  der  Kammer- 1 
Schreiber,   indem  jener   die   laufenden    Geschäfte   in   der  Kanzlei   be- ; 
arbeitete,    dieser    die    anderen   Dienste    des   Protonators   erfüllte,   diej 
Kanzleitätigkeit  in  der  häufigen  Abwesenheit  des  Oberschreibers  kon- ; 
trollierte   und   dem  Rat   in   anderen  Geschäften  zur  Hand  ging.    Der 


^  Sclireiberbestallungen,  H.  6,  la. 

^  anno  1484  erhält  3.  tiufeland  Geschoßfreiheit  vmb  der  muwe  und  arbeit  willen, 
die  er  J.  Hufeland  unser  Schreiber  mit  der  Stat  erbbuche  (=  Kataster)  gehat  hat  vnd 
iczt  hat  daß  vorhalten  erbe  zcu  rechte  zcu  brengen.    (Kataster  ca.  1470  angelegt). 

'  Ü.-Nr.  1145;  1149;  1202. 

*  Stadtbuch  X  8  1504/05  zeigt  seine  Schriftzüge. 


Stadtschreiber  und  Stadtbücher  in  Mühlhausen  i.  Th.  449 

oberste  Schreiber"^  behielt  nach  wie  vor  die  Oberaufsicht  über  die 
beiden  Schreibstuben,  war  aber  im  übrigen  zu  einem  Berater  der 
Bürgerschaft  und  des  Rates  geworden.  Er  übernahm  die  Vertretung 
der  Stadt  in  politischen  Angelegenheiten  wie  vor  geistlichen  und  welt- 
lichen Gerichten.  So  war  er  z.  B.  in  den  Jahren  1481 — 1486  wieder- 
holt tätig  am  kursächsischen,  hessischen  und  kurmainzischen  Hofe 
wegen  des  Dorlaer  Mahlgeldes;^  und  als  1486  dem  Prozeß  mit  den 
Müllern  vor  dem  geistlichen  Gerichte  in  Erfurt  stattgegeben  wurde, 
war  er  vom  Rate  zur  Übernahme  des  gerichtlichen  Mandats  bevoll- 
mächtigt.^ In  ähnlicher  Weise  vertrat  er  die  Stadt  in  einem  Rechts- 
handel mit  dem  Deutsch-Orden  und  leitete  von  Mühlhausen  aus  die 
Verhandlungen  des  Rates  vor  dem  kaiserlichen  Hofgericht  1482/83 
während  des  üngarnkrieges.* 

Seine  politische  Erfahrung  vor  allem  machte  ihn  dem  Rate  unent- 
behrlich. Zwischen  1471 — 1481  hatte  Mühlhausen  auf  den  Reichs- 
und Städtetagen  dreimal  eigene  Vertreter,  und  jedesmal  war  Raven 
Mitglied  der  Gesandtschaft.  Zum  Reichstag  in  Regensburg  1471  einigten 
sich  die  drei  Städte  Mühlhausen,  Nordhausen  und  Goslar  aus  Spar- 
samkeitsrücksichten zur  Entsendung  nur  eines  Vertreters,  des  Mühl- 
häuser Protonotars.^  Dafür  übernahm  Nordhausen  die  Vertretung  auf 
dem  Städtetage  in  Eßlingen  und  dem  Reichstage  in  Augsburg  1473.® 
Raven  besuchte  dann  wieder  die  Speyerer  Städtetage  von  1473  und 
1481.^  Von  weit  größerer  Bedeutung  waren  für  die  Stadt  die  Bezie- 
hungen zu  den  Schutzherren  und  anderen  benachbarten  Fürsten;  und 
an  dem  hessischen  und  den  sächsischen  Höfen  ist  Raven  öfters  ver- 
treten. An  feierlichen  Gesandtschaften  nahm  er  teÜ:  1484  und  1486 
finden  wir  ihn  bei  den  beiden  Trauerfeiern  für  die  sächsische  Kur- 
fürstin und  ihren  Gemahl,  den  Kurfürsten  Ernst.® 

Trotz  dieser  Stellung  führte  er  in  der  Stadt  nur  den  Titel  eines 
Protonotars   und   obersten  Schreibers,   wenn   er  auch   gelegentlich  in 


'  Über  diesen  Titel  cf.  W.  Stein  a.  a.  0.  S.  45—47. 

'  Kopialbuch  W  8,  S.  227;  235;  247;  253b;  270b.  Das  Vogteier  Gericht  be- 
saßen zu  drei  Teilen  Sachsen,  Hessen  und  Kurmainz.  Mühlhausen  hatte  den  main- 
zischen Anteil  am  Gericht  1360  gepachtet;  jetzt  verweigerten  die  dortigen  Müller 
das  der  Stadt  zustehende  Mahlgeld  in  der  alten  Höhe. 

'  Ü.-Nr.  1177  (1486  27.  II.). 

'  D  5  a  b,  2. 

'  Kopialbuch  W  7,  S.  118  b;  120. 

'  Kopialbuch  W  7,  S.  153;  154b. 

^  Kopialbuch  W7,  S.  167;  Briefe  Nordhausens  an  Mühlhausen;  Reichstagsakten. 

^  Kämmereirechnungen;  ad  placitanduih;  1483  (Mart.);  1484  (Mart.);  1484 
(Exaudi) ;  Chronik  I,  S.  148  (1485). 

Afü    II  29 


450  Erich  Kleeberg 

Briefen  von  Auswärtigen^  als  Syndikus  angeredet  wurde.  In  Wirk- 
lichkeit entsprach  seine  Stellung  der  eines  Syndikus,  nur  war  der 
Titel  für  den  geistlichen  Stadtschreiber  noch  nicht  geprägt.^  In  den 
nächsten  15  Jahren  fehlte  der  Posten  eines  obersten  Schreibers  wieder. 
Seine  Ausnahmestellung  verdankte  Raven  allein  seiner  persönlichen 
Tüchtigkeit.  Gegen  Ende  der  80  er  Jahre  muß  er  aus  dem  städtischen 
Dienste  ausgeschieden  sein,  spätestens  seit  1494  wohnte  er  in  Naum- 
burg, wo  er  eine  Leibrente  vom  Mühlhäuser  Rate  empfing.^  um  1500 
ist  er  gestorben,  seine  testamentarii  erhalten  nach  der  Kämmerei- 
rechnung 1500  (Exaudi)  statt  seiner  den  Zins. 

1486  wurde  Raven  zum  letzten  Male  als  Protonotar  genannt; 
1289/90  trat  ein  Martin  Keiner  in  gleicher  Eigenschaft  verschiedent- 
lich bei  Ratshandlungen*  auf,  ohne  daß  sich  über  seine  Person  näheres 
feststellen  läßt.^  Erst  1491  wurden  die  Ämter  des  obersten  Schreibers 
und  Kammerschreibers  wieder  vereinigt  in  der  Person  des  Magisters 
Heinrich  Konemund,^  eines  geborenen  Mühlhäusers.^  Studiert  hatte 
er  schon  vor  1478  in  Mainz  und  dort  die  Würde  eines  Magisters  der 
freien  Künste  erlangt."^  Weit  stand  er  an  persönlicher  Tüchtigkeit  hinter 
Raven  zurück.  In  der  Stadt  nahm  er  als  Protonotar  eine  ganz  geachtete 
Stellung  ein,  z.  B.  war  er  an  Präsenten  einem  Ratsherrn  gleichgestellt.^ 
Er  scheint  in  den  Geschäften  der  engeren  Verwaltung  untergegangen 
zu  sein,  trotzdem  er  einen  so  erfahrenen  ünterschreiber  wie  Breitung 
vorfand.  In  der  Kämmerei  leistete  ihm  der  frühere  Kammerschreiber 
Hufeland  noch  gelegentlich  Unterstützung,^  der  als  Vikar  an  der  Jo- 
hanniskirche,  seit  1501  als  Pfarrer  in  Saalfeld  ^^  sein  Leben  vollendete. 

1498  folgte  im  Oberschreiberamte  wieder  ein  Mühlhäuser  Bürger- 
sohn, Johannes  Schade,  der  1463  die  Erfurter  Universität  besucht 
hatte.^^    Unter  ihm  wurde  das  Schreiberpersonal  wieder  durch  die  An- 


'  Syndikatsbestallungen  H  6,  2,  1—4  (1482). 
'  cf.  S.  452. 

^  Schreiberbestallungen  H  6,  la  ca.  1494;  Kämmereirechn.  Zinszahlungen  nach 
Naumburg. 

*  Stadtbuch  X  7,  S.  287;  288;  290;  291. 

Leider  fehlen  die  Kopialbücher  und  Kämmereirechnungen  aus  diesen  Jahren. 

*  Chronik  I,  S.  151  (1491). 

^  Kopialbuch  W  8,  S.  158  (1478). 
®  cf.  Anm.  6. 

®  Kämmereirechnungen  1497  Exaudi;  1498  Exaudi:  pro  Domino  J.  Hufeland 
lOflor.  super  labores  ipsius  a  senioribus  commissus  de  iustificando  errores  librorum 
et  registrorum  corrigendo  et  super  novo  libro  hereditario  faciendo  insuber  orbis  civi- 
tatis.    Kämmereirechnung,  1499  Martini. 

''  Ü.-Nr.  1238  (1499  24.  XII.);  Stadtbuch  X  8,  S.  1. 

''  Erfurter  Matrikel.    Auszug  von  Jordan,  Geschichtsbl.  5,  S.  54 ff. 


Stadtschreiber  und  Stadtbücher  in  Mühlhausen  i.  Th.  451 

Stellung  eines  eigenen  Kammerschreibers  vermehrt.^  Von  größerer 
Bedeutung  für  die  Geschichte  der  Stadt  wurde  erst  sein  Nachfolger, 
der  Priester  und  Kanonikus  zu  Eichenberg  Johann  Amberg, ^  der 
von  1508—1523  und  nach  1525  in  städtischen  Diensten  war.  Auch  er 
hatte  wie  Raven  seine  Erfahrungen  im  Verwaltungs-  und  Gerichtswesen 
als  OffiziaP  in  Mühlhausen  gesammelt.  Der  Kammerschreiberposten 
wurde  in  demselben  Jahre  1508  neu  besetzt  mit  Johannes  Bausei,* 
mit  dem  dieses  Amt  zum  ersten  Male,  und  damit  für  immer  in  die 
Hand  eines  Laien  kam.  Mit  dem  Zeitpunkt  der  Übergabe  des  Amtes 
in  Laienhände  begannen  seine  Träger  die  einstige  Bedeutung  einzu- 
büßen, ihre  Stellung  wird  jetzt  mehr  die  eines  subalternen  Beamten. 
Bausei  gehörte  einer  Mühlhäuser  Familie  an,  die  in  der  Stadt  eine 
ziemliche  Rolle  gespielt  hat.  Er  gewann  selber  noch  einmal  größeren 
Einfluß  dadurch,  daß  ihn  der  Rat  in  dem  unruhigen  Jahre  1525  be- 
stimmte, das  Oberschreiberamt  mit  dem  Amte  des  Kammerschreibers 
von  1525—1540  zu  vereinigen.  Für  seine  Tüchtigkeit  und  üneigen- 
nützigkeit  spricht  am  besten  die  langjährige  ununterbrochene  Ausübung 
des  Amtes  bis  1551.  In  der  Politik  des  Rates  mag  er  kaum  hervor- 
getreten sein,  wenn  er  die  großen  Katastrophen  der  Jahre  1523—1525 
mit  ihrem  zweimaligen  Verfassungswechsel  unbeschadet  als  Ratsbeamter 
überdauerte. 

Amberg  konnte  sich  wie  Raven  wieder  mehr  den  Geschäften  eines 
Konsiliars  widmen.  An  der  Stadtverwaltung  nahm  er  regen  Anteil, 
schlichtete  verschiedentlich  bürgerliche  Streitigkeiten  und  vertrat  die 
Stadt  und  einzelne  Bürger  vor  fremden  Gerichten;  die  politischen  Be- 
ziehungen zu  Mühlhausens  Schutzherren  pflegte  er  eifrig.  Im  September 
1523  erhielt  er  einen  Geleitsbrief  ^  auf  zwei  Monate  in  der  Stadt  Gebiet 
in  eigenen  Geschäften  zu  reiten,  und  damit  schied  er  bis  1525  aus 
dem  städtischen  Dienste  aus.  Von  besonderer  Bedeutung  ist  er  als 
letzter  Geistlicher  auf  dem  Protonotarposten.  Mit  einer  einzigen  Aus- 
nahme im  ersten  Viertel  des  15.  Jahrhunderts  ist  das  Oberschreiberamt 
bis  1523  von  Geistlichen  bekleidet  gewesen.  Im  Verhältnis  zu  den 
Gewohnheiten  anderer  Städte^  hatte  sich  demnach  der  Laienstand  erst 


^  Das  zeigt  die  tiandschrift  der  Rechnungen. 

'  Gesindebuch  Y  4,  1,  S.  12  (1508  29.  VI.) 

'  Ü.-Nr.  1253  (1502);  Stadtbuch  X  8,  S.  65b  (1505). 

*  Seine  tiandschrift  seit  1508  in-  der  Kämmereirechnung;  1510  Gesindebuch 
(,  1,  S.  16b  wird  sein  Dienstvertrag  erneuert.  Sein  Name  wird  auch  Paußel,  Pewßel 
^er  Poißel  geschrieben. 

'  Kopialbuch  W  10,  S.  43. 

^  W.  Stein  a.a.O.  S.  67  — 70;  Ermisch  a.a.O.  S.  91;  von  Below,  Die 
Idtische  Verwaltung  des  Mittelalters  als  Vorbild  der  späteren  Territorialverwaltung 

29* 


452  Erich  Kleeberg 

sehr  spät  Zutritt  zu  diesem  wichtigen  städtischen  Amte  erworben.  Daß 
das  alte  Verhältnis  als  Mißstand  von  der  Bürgerschaft  empfunden 
wurde,  zeigt  sich  in  folgendem:  Als  1523  nach  dem  ersten  Auflauf 
der  Einwohner  der  Rat  sich  mit  der  Bürgerschaft  in  etlichen  Artikeln 
vertrug,  wurde  in  den  Rezeß  auch  die  Forderung  der  Bürger  als 
Artikel  37^  aufgenommen:  „Hinfort  soll  man  keinen  Priester  zum  Stadt- 
schreiber haben." 

§2.    Erster  Stadtsyndikus  und  weltlicher  Oberschreiber 

Wie  weit  die  in  dem  Rezeß  von  1523  aufgestellte  Forderung  von 
der  Bürgerschaft  gerichtet  war  gegen  die  Person  des  Priesters  Amberg 
im  Interesse  seines  Nachfolgers  Dr.  von  Ottera,^  läßt  sich  bei  der 
immer  noch  über  der  Persönlichkeit  dieses  Mannes  schwebenden 
Dunkelheit  nicht  entscheiden.  Dr.  Johann  von  Ottera,  der  erste  aka- 
demisch gebildete  Laie  in  der  Stadt,  war  kein  geborener  Mühlhäuser, 
sondern  ist  erst  seit  1508  in  der  Stadt  nachweisbar.^  Seit  1512  be- 
gegnet er  in  städtischen  Diensten,  nahm  z.  B.  1513  an  einer  Gesandt- 
schaft zum  Hochzeitsfeste  des  nachmaligen  Kurfürsten  Johann  des 
Beständigen  teil.^  Seit  1515  stand  er  zum  Rat  in  engerem  Dienst- 
verhältnis; er  bezog  einen  Jahrgehalt  von  40  Gulden,  der  hinter  dem 
des  Protonotars  noch  um  etwa  10  Gulden  zurückblieb.  In  den  Rats- 
büchern wird  er  1522  zum  ersten  Male  als  Syndikus  bezeichnet.^  Der 
Titel  Syndikus  kommt  auch  schon  früher  vor,  doch  war  damit  nur 
ein  einmaliger  juristischer  Sachwalter  gemeint,  dem  für  ein  bestimmtes 
Verfahren  „Syndikat  und  Vollmacht"  erteilt  war;  dieser  Brauch  wurde 
auch  später  noch  beibehalten.  Der  Sache  nach  nahm  Ottera  dieselbe 
Stellung  ein  wie  im  vorhergehenden  Jahrhundert  der  oberste  Schreiber 
Raven.    War  dieser  aber  aus  der  Protonotarstellung  hervorgegangen, 


(Historische  Zeitschr.  75):  „Als  durchschnittlicher  Termin  läßt  sich  etwa  bestimmen, 
daß  die  weltlichen  Stadtschreiber  die  geistlichen  um  die  Mitte,  die  weltlichen  Kanzler 
der  Landesherren  die  geistlichen  gegen  Ende  des  15.  Jahrhunderts  ablösen." 

^  Jordan,  Chronik  I,  S.  171. 

^  cf.  zu  Dr.  Ottera:  Jordan(-Stephan),  Zur  Geschichte  der  Stadt  Mühl- 
hausen I.  S.  39— 42;  Jordan,  Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Thür.  Geschichte  u.  Altertums- 
kunde, N.  F.  13,  S.  145ff.;  cf.  zu  Mühlhausens  Geschichte  von  1523-75:  Nebel- 
sieck,  Reformation  in  Mühlhausen,  Magdeburg  1905,  (Sonderabdruck  aus  d.  Zeitschr. 
des  Vereins  f.  Kirchengeschichte  in  der  Provinz  Sachsen);  Knieb,  Mühlhausen  zur 
Zeit  der  Reformation  und  Gegenreformation  in  Ludw.  Pastors  Erläuterungen  und 
Ergänzungen  zu  Janssens  Gesch.  d.  deutschen  Volkes,  V.  Bd.,  tieft  5. 

*  Kämmereirechnung  1508  (Martini):  Zinszahlung;  1509  (Exaudi). 

*  Kämmereirechnung  1513  (Exaudi):  ad  placitandum  (Kriegsmeisteramt). 
^  Kopialbuch  W  10,  S.  21b. 


Stadtschreiber  und  Stadtbücher  in  Mühlhausen  i.  Th.  453 

SO  hatte  Dr.  Ottera  zunächst  mit  dem  Stadtschreiberamte  nichts  zu 
tun.  Mit  ihm  schaffte  der  Rat  zum  ersten  Male  die  Stellung  eines 
offiziellen  Stadtjuristen,  der  mehr  und  mehr  zu  einem  Ratskonsiliar 
wurde.  Wir  finden  ihn  als  Leiter  der  Verhandlungen  mit  dem  Schutz- 
fürsten; 1517  vertrat  er  die  Stadt  auf  dem  Mainzer  Reichstage/  1518 
sandten  ihn  die  drei  Städte  Mühlhausen,  Nordhausen  und  Goslar  nach 
Augsburg  zum  Reichstage,^  und  1522  wohnte  er  vom  Oktober  bis 
Dezember  in  Eßlingen  den  Tagungen  der  Reichsstädte^  bei.  Er  wurde 
1523  der  Nachfolger  Ambergs;  und  die  Kämmereirechnung  des  nächsten 
Jahres  nennt  ihn  der  Stadt  prothonotar  und  sindicus.  Nach  seiner 
Mühlhäuser  Tätigkeit  wurde  er  Fuldaischer  Kanzler.* 

Ottera  war  entschieden  ein  begabter  Kopf,  aber  ein  gefährlicher 
Charakter,  dessen  führende  Stellung  der  Stadt  zum  Unheil  ausschlug. 
Ob  er  sich  innerlich  zu  der  Bewegung  und  den  neuen  Lehren,  die  in 
diesen  Jahren  die  Köpfe  beherrschten,  gestellt  hat,  weiß  man  nicht; 
Tatsache  ist,  daß  er  durch  die  Umwälzungen  von  1525  und  die  damit 
verbundene  Unruhen  die  einflußreichste  Stellung  gewann.  Wenn  dieser 
sein  Gewinn  aus  den  demokratischen  Unruhen  von  vornherein  beab- 
sichtigt war,  so  ist  sein  Bemühen  auch  schon  vor  1523  darauf  ge- 
richtet gewesen,  sich  innerhalb  der  Gemeinde  Anhänger  zu  werben 
und  die  Stimmung  der  unzufriedenen  Elemente  der  Einwohnschaft  in 
seinem  persönlichen  Interesse  zu  verwenden.  Dann  würde  vielleicht 
der  obenerwähnte  Artikel  aus  dem  Pakt  des  Rates  mit  der  Bürgerschaft: 
„Hinfort  soll  man  keinen  Priester  zum  Stadtschreiber  haben"  auf  eine 
Beseitigung  Ambergs  zugunsten  Otteras  von  Seiten  der  Bürgerschaft 
gemünzt  gewesen  sein.  —  1523  hatten  die  Bürger  erreicht,  daß  eine 
Kommission  von  8  Mann  aus  der  Gemeinde  „in  schweren  Sachen  beim 
Rat  sitzen  und  dieselben  vor  die  Gemeinde  bringen  dürfen,"  von  diesen 
8  Mann  hatten  zwei  Zutritt  zur  Kämmerei,  einer  zur  Zinsmeisterei.^  In 
einer  nach  Wiederherstellung  des  alten  Rates  von  diesem  zusammen- 
gestellten Anklageschrift^  gegen  Ottera,  wirft  ihm  der  Rat  vor,  er  habe 
als  Ratsgesandter  auf  dem  Nürnberger  Reichstage  1524  von  den  „acht 
Männern"  geheime  Aufträge  gehabt  wider  den  Rat,  auch  habe  er  dort, 
statt  die  Hilfe  des  Reichs  anzurufen,  berichtet,  die  streitenden  Parteien 
hätten  sich  vertragen.    Weiter  soll  er  bei  der  namentlichen  Abstimmung 


'  Kämmereirechnung  1517  (Exaudi)  Kriegsmeisteramt. 

'^  Kämmereirechnung  1518  (Martini)  Kriegsmeisteramt;  Reichstagsakten  B 1/8, 1. 

'  Kopialbuch  W  10,  S.  21b. 

'  z.  B.  Kopialbuch  W  14,  S.  479  (1537). 

'  Chronili  I,  S.  172f. 

^  Jordan,  Zur  Geschichte  der  Stadt  Mühlhausen,  tieft  1» 


454  Erich  Kleeberg 

der  Bürger  über  die  Absetzung  des  alten  Rates  einer  der  vier  Schreiber 
gewesen  sein,  die  die  Stimmen  aufzeichneten,  und  dabei  wissent- 
lich gefälscht  haben,  indem  er  Namen  von  Bürgern  mit  eintrug,  die 
später  eidlich  versicherten,  für  den  alten  Rat  gestimmt  zu  haben.  Wie 
weit  diese  Anklagepunkte  berechtigt  waren,  steht  nicht  fest;  jedenfalls 
stimmen  die  Behauptungen  zu  der  Tatsache,  daß  Ottera  unter  dem 
neuen,  dem  sogenannten  „ewigen  Rate"  erster  Stadtbeamter  blieb  und 
natürlich  in  der  Zeit  der  Umwälzung  bei  seiner  Bildung  und  Erfahrung 
den  größten  Einfluß  ausübte. 

Mit  der  Schlacht  bei  Frankenhausen,  15.  Mai  1525,  war  auch  für 
den  ewigen  Rat  die  Entscheidung  gefallen,  und  wieder  trat  Ottera  in 
den  Vordergrund.  Am  19.  Mai  erklärten  die  Fürsten  der  Stadt  den 
Krieg,  am  23.  war  Ottera  zu  Verhandlungen  im  fürstlichen  Lager  bei 
Schlotheim.  In  der  nächsten  Nacht  verließ  ein  Teil  der  Aufrührer  die 
Stadt,  und  am  24.  morgens,  am  Tage  vor  der  Übergabe,  verkündigte 
Ottera  auf  dem  Barfüßer  Kirchhofe  ^  dem  versammelten  Volke,  die  Ein- 
wohner würden  Gnade  finden,  wenn  die  Empörer  und  Unruhestifter 
die  Stadt  verlassen  hätten;  diesen  sollte  ein  Tor  zur  Flucht  geöffnet 
werden.  Das  geschah,  aber  die  Flüchtlinge  gerieten  auf  dem  Wege 
nach  Eisenach  im  Hainichwalde  in  einen  Hinterhalt  der  fürstlichen 
Truppen  und  wurden  zum  großen  Teile  gefangen  genommen.  Die  Stadt 
ergab  sich  noch  am  selben  Tage  auf  Gnade  und  Ungnade.  Die  säch- 
sischen Fürsten  und  der  hessische  Landgraf  straften  die  wenigen 
Schuldigen  mit  den  Unschuldigen  und  legten  der  Stadt  harte  Strafen 
auf.  Sie  bemächtigten  sich  des  Schultheißengerichts  und  setzten  als 
ersten  Schultheißen  ein  den  Syndikus  und  Protonotar  des  alten  und 
des  ewigen  Rates  Dr.  Johann  von  Ottera. 

Manche  unerklärliche  Punkte  finden  sich  in  diesem  Berichte. 
Jordan  hat  sie  in  den  zitierten  Abhandlungen  zu  lösen  versucht  durch 
eine  Annahme,  die  mir  glaubwürdig  erscheint  und  zum  Charakter 
Otteras  paßt;  seine  Hypothese  stimmt  auch  zusammen  mit  der  Volks- 
meinung, wenn  ihn  die  Bauern  in  einem  bald  darauf  auftretenden 
Spottgedicht^  als  Verräter  bezeichnen.  Er  nimmt  an,  daß  dieser  Mann^ 
als  er  die  Dinge  ihrer  Katastrophe  zueilen  und  damit  auch  seine 
eigene  Stellung  erschüttert  sah,  noch  einmal  Partei  wechselte,  und  wie 
er  früher  den  alten  Rat  verraten  hatte,  jetzt  die  Stadt  und  seine  bis- 
herigen Anhänger  den  Fürsten  zu  seinem  persönlichen  Vorteile  ver- 
kaufte. Bei  seinem  Aufenthalt  im  fürstlichen  Lager  am  23.  Mai  wurde 
der  Handel  abgeschlossen.    Hier  wurde  abgemacht,  daß  die  Aufrührer 


'  Chronik  I,  S.  194. 
'  Chronik  I,  S.  224. 


Stadtschreiber  und  Stadtbücher  in  Mühlhausen  i.  Th.  455 

an  dem  bestimmten  Tage  entfliehen  und  damit  ihrem  Unglück  ent- 
gegeneilen sollten,  und  daß  darauf  die  Stadt,  irrtümlich  vertrauend 
auf  Gnade,  sich  unter  Führung  der  Unschuldigen  der  feindlichen  Ge- 
walt auslieferte.  —  Denn  wie  wäre  es  sonst  erklärlich,  daß  die  Fürsten 
so  zeitig  Nachricht  erhielten  von  der  unmittelbar  vorher  verabredeten 
Flucht,  so  daß  ihre  Truppen,  die  östlich  von  der  Stadt  standen,  die  Flücht- 
linge auf  ihrem  Wege  nach  Südwesten,  in  der  offenen  Landschaft  nach 
links  ausbiegend,  überholen  konnten.  Weiter  ist  es  eigentümlich,  daß 
sich  die  befestigte  Stadt,  ohne  durch  Verhandlungen  feste  Bedingungen 
zu  erwirken,  am  ersten  Tage  ohne  Schwertstreich  ergab.  Und  auch 
nur  durch  diese  Annahme  kann  erklärt  werden,  daß  der  höchst  ver- 
dächtige Ottera  so  schnell  in  der  Gunst  der  Fürsten  stieg,  die  ihn 
auch  später  nicht  fallen  ließen,  als  ihnen  der  Rat  wiederholt  von  seinem 
uftreten  auf  dem  Barfüßer  Kirchhofe  Mitteilung  machte.^ 

Für  den  Zusammenhang  dieser  Darstellung  bleibt  es  bemerkens- 
ert,  welche  leitende  Stellung  der  Stadtschreiber  im  Rahmen  eines 
hlaff  gewordenen  Ratsregimentes  einnehmen  konnte,  und  Ottera  be- 
utet in  der  Geschichte  des  Stadtschreiberamtes  einen  neuen  Höhe- 
nkt,  so  anrüchig  seine  Persönlichkeit  auch  sein  mag.  Das  Unheil, 
s  er  der  Stadt  verursachte,  sollte  ein  späterer  Oberschreiber,  Lukas 
to,  wieder  gut  machen. 

Die  städtischen  Schreibstuben  haben  formell  in  diesen  Verwirrungen 

chts  verloren,  wenn  auch  naturgemäß  die  Kanzlei  wie  alle  Verwaltungs- 

eige   unregelmäßig   arbeitete.    In  den  städtischen  Büchern  herrscht 

anche  chronologische  Unordnung  (z.  B.  Kopialbuch)  und  empfindliche 

cken  greifen  Platz  (Gesindebuch,  Kopialbuch,  Stadtbuch,  Rechnungen). 

er  als  sich  der,  wenn  auch  nur  in  beschränktem  Maße  wieder  in 

ine  Rechte   eingesetzte  Rat  einer   beständigen  Kontrolle  ausgesetzt 

h,  und  als  an  die  Stadt  größere  finanzielle  Ansprüche  traten,  steigerte 

ch  die  Ordnung  und  Sorgfalt  in  der  Verwaltung,  und  damit  auch  in 

n  Schreibstuben.    Vom  Jahre  1525  ab  sind  regelmäßige  Protokolle^ 

er  die  Sitzungen  des  dreifachen  Ratskollegiums  erhalten,  und  zum 

sten  Male  finden  sich  Anzeichen  einer  genaueren  Registratur,  eines 

ordneten  Archivwesens.^ 

Der  Unterschreiber  und  Kammerschreiber  haben  die  verhängnis- 
vollen Jahre  überdauert*  Johann  Bauseis  Tätigkeit  hatte  sich  schon 
unter  dem  ewigen  Rat  über  die  Kanzlei*  ausgebreitet,  jetzt  wurde  er 


^ 


^  Erst  1529  erreichte  der  Rat  seine  Absetzung. 

■^  Protokolle  des  senatus  triplex  T  1—4,  1  cf.  S.  475. 

"  cf.  S.  476  f. 

*  Das  lehren  die  Handschriften. 


456  Erich  Kleeberg 

vom  restituierten  Rat  in  einem  neuen  Kontrakt^  als  Obersclireiber 
und  Kammerschreiber  angenommen.  Er  bezog  einen  Gehalt  von 
50  Gulden,  hatte  aber  davon  den  ünterschreiber,  seinen  Substituten, 
zu  unterhalten.^  Bausei  hatte  das  Amt  bis  1540  inne,  seitdem  ist  er 
wieder  als  Kammerschreiber  bis  1551  bezeugt. 

Außerdem  befand  sich  der  frühere  Stadtschreiber  Johann  Amberg 
wieder  im  städtischen  Dienst  als  Syndikus,^  oder,  wie  er  öfters  mit 
einem  jetzt  neu  geprägtem  Titel  genannt  wurde,  als  Sekretär  und 
geheimer  Schreiber.  Es  mag  die  Meinung  gewesen  sein,  daß  der  Titel 
Syndikus  nur  den  studierten  Laien,  den  eigentlichen  Stadtjuristen  be- 
zeichne.* Der  Rat  bedurfte  dringend  eines  geschäftserfahrenen  und 
treubewährten  Dieners,  dem  auch  schwierigere  Missionen  aufgetragen 
werden  konnten.  Seine  Politik  ging  in  den  nächsten  Jahren  darauf 
aus,  die  Fesseln  des  fürstlichen  Regiments  und  Schultheißengerichts 
abzuwerfen,  die  hohen  Ansprüche  der  benachbarten  Herren  und  Ritter 
auf  Entschädigung  glimpflich  zu  befriedigen  und  die  schwerdrückenden 
Forderungen  der  Fürsten  einzuschränken.  Er  verfolgte  den  Plan,  daß 
er  gegen  das  fürstliche  Gericht  das  Reichskammergericht  und  die  An- 
sprüche der  drei  Fürsten  untereinander  ausspielte.  Der  Sekretär  war, 
um  Befreiung  von  der  Türkensteuer  zu  erlangen,  im  August  1526  auf 
dem  Reichstage  zu  Speyer^  und  stand  im  Oktober  vor  dem  Reichs- 
kammergericht.® Auf  dem  Reichstage  hatte  er  zugleich  erwirkt,  daß 
das  Gericht  über  die  1525  flüchtigen  Bürger  dem  Reichskammergericht 
vorbehalten  bleiben  sollte.'  Ebenso  vertrat  er  die  Stadt  wegen  der 
Türkensteuer  vor  dem  Reichsregiment  1527^  und  auf  dem  Speyerer 
Reichstage  1529.^  Zu  Verhandlungen  an  die  Höfe  in  Dresden  und 
KasseP^  wurde  er  oft  mit  des  Rates  Vollmacht  allein  oder  in  größeren 
Gesandtschaften  ausgeschickt.  Im  Frühjahr  1528  suchte  er  in  Frank- 
furt um  weitere  Stundung  der  Zinsen  nach,^^  die  die  Stadt  in  ihrer 
Mittellosigkeit    zu   bezahlen   nicht   imstande   war.   —   1529   zog   sich 


'  Gesindebuch  Y  4,  1,  S.  34  (1525). 

^  Seit  1538  bezieht  der  ünterschreiber  einen  Gehalt  von  10  Gulden  und  zwei 
Kleider;  dazu  hat  er  Anteil  am  Schreibgefälle  (Gesindebuch  Y  4,  1,  S.  124b  [1538]). 

^  Kämmereirechnung  1526  (Juni):  Dom.  3.  Amberg  Sindico;  er  erhält  an  Gehalt 
etwa  50  Gulden  (=  70  Schock). 

*  cf.  S.  453. 

*  Kämmereirechnung. 

^  Kopialbuch  W  11,  S.  145. 

'  Kopialbuch  W  11,  S.  240b  (1527);  241. 

^  Kopialbuch  W  11,  S.  180  (1527). 

"  Kämmereirechnung  1528;  Kopialbuch  W  12,  S.  62  b  (1529). 
'"  Kopialbuch  W  11,  S.  240  b;   267  (1527);  W  12,   S.  297  (1528);   S.  88  b  (1529). 
"  Kopialbuch  W  11,  S.  299. 


I 


Stadtschreiber  und  Stadtbücher  in  Mühlhausen  i.  Th.  457 


Amberg  zurück.  Wenn  auch  mit  ihm  noch  einmal  ein  Geistlicher  in 
Beziehung  zum  Stadtschreiberamte  trat,  so  ist  das  durch  die  Umstände 
bedingt;  im  Prinzip  ist  die  1523  aufgestellte  Forderung  eines  welt- 
lichen Stadtschreibers  nicht  umgestoßen  worden. 

Obgleich  der  oberste  Schreiber  ein  städtischer  Beamter  war,  hin- 
derte ihn  der  Rat  nicht  daran  die  Rechte  eines  publicus  notarius  im 
Dienste  Privater  auszuüben,  solange  eine  solche  Tätigkeit  nicht  mit 
seinen  Amtspflichten  in  Konflikt  kam=  In  der  bisherigen  Entwicklung 
ist  mir  kein  Fall  bekannt  geworden,  daß  das  Amt  unter  dieser  Doppel- 
stellung des  Beamten  gelitten  hätte. 

Erst  1535  berief  der  Rat  einen  neuen  Sekretär,  den  Weißenfelser 
Bürger  Wolf  Töpfer.^  Doch  schon  im  Juni  1537  nahm  dieser  seinen 
Abschied^  und  begab  sich  wieder  in  seine  Heimatstadt  Weißenfels 
unter  dem  Vorgeben,^  daß  er  gewohnt  sei  „innerhalb  und  außerhalb 
rechtens,  als  vor  einenn  advocatenn  und  promrator  inn  der  leutte 
sachenn  auff  tagen  ader  gerichtssachen  sich  brauchen  zu  lassen,"  und 
beschwerte  sich,  „daß  unser  dinst  ihn  daran  vorhindert."  Der  Rat  be- 
mühte sich  vergebens  um  einen  geeigneten  Ersatz/  und  sah  sich  in 
der  Zwischenzeit  genötigt,  damit  die  Kanzlei  nicht  litte,  aus  dem  Rate 
zwei  Herren  zur  Unterstützung  des  Unterschreibers  zu  bestimmen.^ 
Schließlich  fiel  seine  Wahl  doch  wieder  auf  Töpfer,  dem  er  bei  seiner 
Neubestellung  im  Juli  1538^  verhängnisvolle  Sonderbedingungen  zu- 
gestehen mußte.  Nicht  nur,  daß  sein  Jahrgehalt  von  50  auf  80  Gulden 
erhöht  wurde,  so  daß  er  an  Spesen,  Naturalien  und  Sold  beinahe 
200  Gulden^  jährlich  einnahm,  sondern  der  Rat  versprach  auch,  ihn 
jederzeit  zu  seinen  Privatgeschäften  zu  beurlauben,  ihm  dazu  ein  Pferd 
aus  seinem  Marstall  zur  Verfügung  zu  stellen.  In  städtischen  Geschäften 
soll  er  außerhalb  der  Stadt  höchstens  4—5  Tagereisen  weit  geschickt 
werden,  auch  soll  er  jedes  Mal  zum  Reisen  nicht  gezwungen  werden. 
„Wir  wollen  Inen  außerhalb  der  Stadt  in  keynen  sachen  gebrauchen, 
die  wir  vormutlich  selbst  nicht  gern  thetten,  doch  in  wichtigen, 
tapferen  sachen  sali  man  van  Raths  wegen  desto  statlicher  ausschicken." 
Geschieht  ihm   in   städtischem    Dienste   Schaden,   so    leistet   der   Rat 


^  Schreiberbestallungen  H  6,  1  1535. 

^  Kämmereirechnung  1536  (Johanni  1537). 

^  Schreiberbestallungen  H  6,  1  (1537)  (Konzept  noch  ohne  Namen,  doch  deut- 
lich auf  W.  Töpfer  gemünzt;  es  ist  sein  neuer  Bestallungsbrief,  29.  IX.  1538). 

*  Syndikatsbestallungen  H  6,  2,  1  (1537):  Bewerbung  eines  L.  Hödische  aus 
Leipzig. 

^  Protokolle  des  senatus  triplex  T  1—4,  2  (1537,  5.  IX.). 

®  cf.  Anm.  3. 

'  Kopialbuch  W  15,  S.  304  (1539). 


458  Erich  Kleeberg 

vollen  Ersatz.  Als  seine  Bestallung  im  nächsten  Jahre  auf  3  Jahre 
erneuert  wurde,  behielt  er  sich  vor,  „jederzeit  auszutreten,  wenr 
erhebliche  Ursachen  vorfallen."^  Aus  diesen  Bedingungen  mußten  sich 
Kollisionen  ergeben.  1539  war  Töpfer  als  Anwalt  Privater  in  einen 
Handel  am  Gericht  des  Grafen  zu  Stolberg-Wernigerode  verwickelt' 
Der  Rat  bat  den  Grafen  für  ihn  um  Verschiebung  des  Termins,  da  dei 
Sekretär  beim  Ratswechsel  unentbehrlich  sei.^  Die  Sache  muß  füi 
Töpfer  eine  unerfreuliche  Wendung  genommen  haben;  am  15.  August 
1539  entfernte  er  sich  plötzlich  ohne  Urlaub  aus  der  Stadt^  und  brachte 
seine  Herren  damit  in  Verlegenheit.  Erst  auf  Vermittlung  des  säch- 
sischen Kurfürsten  vertrugen  sich  beide;  der  Rat  zahlte  Töpfers  Be-' 
vollmächtigten  den  rückständigen  Sold  aus  und  ließ  ihm  seine  fahr- 
bare Habe  nach  Weißenfels  schaffen.^  —  Aus  diesen  Vorgängen  zog 
der  Rat  eine  Lehre  und  verpflichtete  ausdrücklich  einen  späteren  Syn- 
dikus bei  seiner  Neubestallung,  sich  des  procurierens  in  streitigen 
Sachen  der  Bürger,  außer  in  seiner  Verwandtschaft,  Vormundschaft 
oder  für  sich  selbst  zu  enthalten.® 


§3.     Lukas  Otto  und  Nikolaus  Fritzlar 

Um  die  Mitte  des  Jahrhunderts  wurde  auf  Drängen  der  protestan- 
tischen Schutzfürsten  zweimal  die  Reformation  in  der  Stadt  eingeführt 
1542  und  ca.  1556.  Daß  die  konfessionellen  Gegensätze  im  Rate  nicht 
zu  schärferen  Konflikten  führten,  ist  durch  die  politischen  Verhältnisse 
zu  erklären.  Die  Gemüter  fanden  sich  zusammen  in  dem  Streben 
nach  der  Restitution  der  Stadt,  nach  der  Wiederherstellung  der  alten 
städtischen  Freiheit,  die  ihnen  durch  die  Führer  der  protestantischen 
Partei  in  Deutschland,  die  Häupter  des  Schmalkaldischen  Bundes  be- 
schränkt war.  Bei  deren  Gegner,  beim  Oberhaupte  des  Reiches,  suchte 
man  Unterstützung,  die  nur  beim  Festhalten  an  der  alten  Religion  zu 
erwarten  war.  Erst  nach  dem  Siege  des  Kurfürsten  Moritz  über  Karl  V. 
erlangte  die  protestantische  Partei  in  wenig  Jahren  die  Herrschaft. 
Restitution  und  Reformation  bestimmten  bis  ca.  1562  die  Politik  des 
Rates.    Die   anschließende  Periode  war   eine  Zeit   der  Ruhe  und  des 


'  Kopialbuch  W  15,  S.  304  (1539). 

'  Kopialbnch  W  15,  S.  266  (1539,  14.  V.). 

'  Kopialbuch  W  15,  S.  279  (1539  Juni). 

'  Schreiberbestallungen  H6,  1;  Kopialbuch  W  15,  S.  304  (1539). 

'  Kämmereirechnung  1529,  21.  Sept.;  Kopialbuch  W  12,  S.  309b. 

*  Bestallungsurkunde  des  Lukas  Otto  1561.     Ü.-Nr.  1448b. 


Stadtschreiber  und  Stadtbücher  in  Mühlhausen  i.  Th.  459 

^ufatmens  und  bedeutete  für  die  Entwicklung  der  Stadt  eine  Blüte  des 
geistigen  Lebens. 

Das  Amt  des  Oberstadtschreibers  und  Syndikus  bekleideten  Ma- 
gister Lukas  Otto  und  Magister  Nikolaus  Fritzlar,  zwei  bedeutende 
Persönlichkeiten,  fähig  an  der  Entwicklung  der  Dinge  leitenden  Anteil 
zu  nehmen.  In  den  Kämpfen  haben  sie  sich  eine  beherrschende 
Stellung  erworben  und  so  das  Amt  des  Syndikus  zu  seiner  Voll- 
endung geführt.  Mit  der  Betrachtung  dieser  Periode  kann  ich  meine 
Darstellung  des  Stadtschreiberamtes  beendigen. 

In  ihnen  fand  der  Rat  für  die  Zeit  des  Kampfes  und  der  Ruhe 
die  geeigneten  Männer.  Otto  besaß  vor  allem  Tatkraft  und  üner- 
schrockenheit,  er  war  einer  der  sympathischen  Vertreter  der  damaligen 
gelehrten  Diplomatie  und  fähig,  die  politischen  Kämpfe  zum  Ab- 
schluß zu  bringen;  in  religiöser  Beziehung  erkannte  er  die  Reform- 
bedürftigkeit der  alten  Kirche  an:  bereit,  manche  Formen  seiner  Kirche 
preiszugeben,  ließ  er  die  Reformation  geschehen,  wenn  er  auch  selbst 
im  katholischen  Lager  verblieb.  Fritzlar  dagegen  war  mehr  der  Mann 
der  Form,  der  feinsinnige  Gelehrte,  ein  Erbe  der  humanistischen  Welt- 
anschauung. Durch  seine  amtliche  Tätigkeit  gewann  die  Form  der 
Kanzlei,  des  Archivs.  Er  nahm  an  der  neu  aufblühenden  geistigen 
Kultur  innerhalb  der  protestantischen  Bürgerschaft  teil  und  beeinflußte 
fruchtbringend  die  historischen  Bestrebungen  in  der  Stadt.  Der  Gegen- 
satz auf  religiösem  Gebiet  wurde  von  ihm  wohl  empfunden.  Denn 
wenn  auch  die  unter  ihm^  entstandene  Chronik  Ottos  politische  Wirk- 
samkeit anerkennen  muß,  so  kann  sie  sich  trotz  der  ihm  gezollten 
Verehrung  einiger  Seitenhiebe  gegen  seine  konfessionelle  Stellung  nicht 
enthalten.  So  fließt  z.  B.  bei  der  Nachricht  über  seine  Wahl  zum 
Bürgermeister  die  bezeichnende  Bemerkung^  ein:  „aber  die  Praticken 
gingen  dem  Papisten  nicht,  den  er  wardt  halt  krank,"  bei  Betrachtung 
der  kirchlichen  Verhältnisse  in  der  Stadt:  „Rodemann  und  Lukas  Otto 
konnten  vil  praticken,  gott  vertzeihe  es  ihnen."  ^ 

Lukas  Otto,  der  freien  Künste  Magister,  beider  Rechte  Baccalaureus, 
aus  Leipzig  gebürtig,  war  auf  Empfehlung  des  Erfurter  Syndikus  Plick^ 
am  22.  November  1540  mit  einem  festen  Jahresgehalt  von  130  Gulden, 
freier  Wohnung  und  den  üblichen  Präsenten  auf  zwei  Jahre  als  Ober- 
schreiber und  Sekretär  der  Stadt  angestellt^  worden.     Nachdem  er  im 


^  Über  Fritzlars  Anteil  an  der  Chronik  cf.  Jordan,  Einleit.  zum  1.  u.  2.  Bd. 
'  Chronik  II,  S.  106/07. 


'  Chronik  II,  S.  99  (1558,  21.  I.). 
*  Kopialbuch  W  16,  S.  19  (1540). 
'  Syndikatsbestallungen  H  6,  2,  1,  S.  24;  Gesindebuch  Y  4,  1,  S.  148. 


450  Erich  Kleeberg 

eigenen  Interesse  das  Amt  1542  niedergelegt^  und  1543  einen  Nach- 
folger in  Hartmann  Spetter  gefunden  hatte,  trat  er  1546  nach  Abgang 
dieses  tüchtigen  Beamten^  in  gleicher  Eigenschaft  wieder  in  städtischer 
Dienst,  in  dem  er  von  jetzt  ab  auch  Syndikus  genannt  wurde.  1561 
machte  ihn  die  Universität  Erfurt  zu  ihrem  Ehrendoktor;^  im  gleicher 
Jahre  wählte  man  ihn  zum  Bürgermeister,  aber  schon  nach  einen- 
halben  Jahre  starb  er  am  10.  Mai  1562.^ 

Schon  aus  seinem  Antrittsrevers*  geht  hervor,  daß  er  wohl  noch 
die  Oberaufsicht  in  der  Kanzlei  führen,  aber  hauptsächlich  dem  Rate 
und  den  Bürgern  als  ein  Berater  und  Prokurator  dienen  sollte.  —  Er 
verpflichtete  sich,  „in  allen  Sachen  gemeyner  Stadt,  Iren  burgern  vnd 
vnderthanen,  es  sey  uff  landtstagen  ader  in  peynlichen  Sachen  innen 
und  außerhalb  landes  gegen  menniglich  mit  radt,  reden,  schreyben, 
reyten,  lesen,  zu  concipirn,  vnd  die  Originalia  zu  richten  zum  besten." 
Seine  vornehmsten  Aufgaben  erfüllte  er  auf  repräsentativen  und  ge- 
heimen Gesandtschaften,  er  war  der  Vertreter  der  Stadt  bei  den 
Tagungen  des  Reiches,  der  Städte  und  des  niedersächsischen  Kreises. 

Nach  vielfachen  Bemühungen  während  der  vergangenen  Reichstage 
und  vor  dem  Reichskammergericht  wurde  der  Rat  wie  der  Kurfürst 
von  Sachsen  und  der  Landgraf  von  Hessen  zum  14.  Januar  1542  auf 
einen  Kommissionstag  unter  Vorsitz  des  Pfalzgrafen  bei  Rhein  und 
des  Mainzer  Erzbischofs  zur  Verhandlung  über  der  Stadt  Forderung 
auf  Restitution  und  über  die  Ansprüche  dieser  beiden  Schutzherren 
zitiert.^  Lukas  Otto  und  drei  Ratsherren  bildeten  die  Gesandtschaft. 
Der  ganze  Plan  und  die  schönsten  Hoffnungen  der  Stadt  scheiterten 
daran,  daß  trotz  mehrmaliger  Vorladung  die  sächsischen  und  hessischen 
Vertreter  zum  Termin  nicht  erschienen.  Sich  in  der  kritischen  Zeit 
wegen  der  Reichsstadt  Mühlhausen  mit  den  Führern  des  Protestantismus 
ernstlichen  Konflikten  auszusetzen,  dazu  hatten  die  kaiserlichen  Ver- 
treter weder  Neigung  noch  Vollmacht.  Und  die  Mühlhäuser  mußten 
sich  damit  begnügen,  eine  von  ihnen  aufgesetzte  Supplikation  „Mühl- 
hausen nicht  vom  Reiche  zu  trennen"  mit  Hilfe  der  Reichsstände  ein- 
zureichen mit  dem  Erfolge,  daß  alle  Stände  die  Bittschrift  dem  Kaiser 
übergaben.^     Hoffnungsfreudig   kehrte  die  Gesandtschaft  zurück   und 


'  Notulbuch  X  9,  S.  81  b  (1542,  25.  IX.). 

'  Notulbuch  X9,  S.  142b  (1546,  11.  VI.);  Kämmereirechnung  1545. 

'  Chronik  II,  S.  106/07. 

*  Syndikatsbestallungen  ti  6,  2,  1,  S.  24. 

'  Chronik  II,  S.  16;   Kopialbuch  W  16  S.  147  b;  148  (1542);   cf.  zu   den   allge- 
meinen Vorgängen  Nebelsieck  und  Knieb. 

*  Kopialbuch  W  16,  S.  165  (1542). 


Stadtschreiber  und  Stadtbücher  in  Mühlhausen  i.Th.  461 

'erkündete:  „die  Restitution  werde  bald  kommen."^  Auf  dem  Regens- 
)urger  Reichstage  wurde  sie  ausgesprochen  und  die  Stadt  des  Ver- 
rages  von  1525  entbunden.^  Doch  half  ihr  dieses  wenig,  denn  das 
/erhältnis  zu  den  Schutzherren  verschlechterte  sich  nur  noch  dadurch, 
ind  die  Folge  war  die  zwangsweise  Einführung  der  ersten  Reformation. 
.ukas  Otto  stand,  wie  erwähnt,  während  der  Zeit  nicht  im  städtischen 
)ienste. 

Der  Schmalkaldische  Krieg  erst  brachte  die  Entscheidung,  ün- 
Tiittelbar  nach  dem  24.  April  1547,  dem  Tage  der  Schlacht  bei  Mühl- 
)erg,  schickte  der  Rat  am  29.  April  seinen  Syndikus  Otto  und  einen 
<riegsmeister  ürbach  in  das  kaiserliche  Feldlager  bei  Biesen  vor 
vVittenberg,  wo  sie  den  Huldigungseid  für  die  Stadt  ablegten.^  Von 
lier  aus  bereisten  sie  die  Tage  zu  Ulm  und  Augsburg  1547/48,  und 
_rotz  der  wiederholten  Einsprache  des  Kurfürsten  Moritz  brachten  sie 
ier  Stadt  die  Erneuerung  der  Restitution  von  1542  und  das  Interim 
mit*  So  hatte  die  Stadt  ihre  Reichsfreiheit  vorläufig  wiedererlangt, 
wenn  auch  die  Freude  bei  den  Anhängern  der  neuen  Lehre  durch  die 
Niederlage  der  protestantischen  Sache  getrübt  wurde.  Die  Herrschaft 
des  Kaisers  mußte  einer  selbständigen  Entwicklung  der  Stadt  vorteil- 
lafter  sein  als  die  scharfe  Bevormundung  der  angrenzenden  „Schutz- 
ierren." 

Da  Lukas  Otto  an  der  Lösung  der  kirchlichen  Frage  nicht  stark 
beteiligt  war,  konnte  er  mit  seinem  bisherigen  Erfolge  wohl  zufrieden 
sein.  Weniger  glücklich  war  er  in  den  folgenden  Jahren;  wenn  sich 
der  Erfolg  nicht  in  gleicher  Weise  einstellte,  so  fehlte  es  ihm  nicht  an 
politischer  Gewandtheit,  sondern  die  äußeren  umstände  waren  stärker 
als  der  Vertreter  der  Reichsstadt  Mühlhausen. 

Mit  der  Opposition  der  Fürsten  gegen  das  Reichsoberhaupt  unter 
Führung  des  Kurfürsten  Moritz  war  auch  die  Machtstellung  des 
sächsischen  Kurfürstentums  zum  Schaden  Mühlhausens  wiederhergestellt. 
Noch  im  Jahre  1547  auf  dem  Augsburger  Reichstage  hatte  Moritz 
seine  Rechte  auf  die  Stadt  nach  dem  Vertrage  von  1525  geltend  ge- 
macht.^ Nach  der  Aufgabe  der  Magdeburger  Belagerung  besetzte  er 
im  Herbste  1551  die  Stadt  Mühlhausen  und  ihre  Dörfer.  Von  dieser 
schweren  Last  konnte  sich  der  Rat  nur  auf  dem  Wege  der  Verhand- 
lung befreien.  Ende  November  zog  er  noch  einmal  seinen  früheren 
Oberschreiber  H.  Spetter,  jetzt  Bürger  in  Eisenach  heran,  da  „Lukas 


'  Chronik  II,  S.  16. 

'  Nebelsieck  a.  a.  0.  S.  142ff. 

'  Chronik  II,  S.  29;  Kopialbuch  W  18,  S.  221b  (1547). 

*  Chronik  II,  S.  3t. 

'  Nebelsieck  S.  191. 


452  Erich   Klceberg 

Otto  wegen  Gebrechen  des  Leibes  für  legationen  usw.  unfähig  war." 
Aber  seit  dem  Dezember  des  Jahres  stand  Otto  im  Vordergründe.^  Zu- 
nächst erlangte  er  Befreiung  der  Stadt  von  der  Einquartierung.  An 
17.  Dezember  und  6.  c7anuar  nahm  er  an  zwei  erfolglosen  Gesandt- 
schaften nach  Dresden  teil.  Als  am  14.  Januar  kurfürstliche  Räte  ir 
Mühlhausen  erschienen  und  sich  durch  Vermittlung  des  Syndikus  ar 
die  versammelten  Räte  wandten,  verlas  Otto  als  Antwort  fünf  von  ihn: 
aufgesetzte,  scharf  abwehrende  Artikel.  In  einer  neuen  Versammlung 
forderten  die  kurfürstlichen  Räte  die  Auslieferung  des  Syndikus  und 
des  Bürgermeisters  Rodemann,  die  sie  auf  „Anstiften  unruhiger  Leute"' 
beschuldigten,  sich  hinsichtlich  der  Religion  unbeständig  gezeigt  und 
dadurch  die  Unruhen  und  den  Abfall  der  Stadt  verursacht  zu  haben, 
Beide  verteidigten  sich  vor  dem  Rat,  der  sich  für  sie  in  einer  Bitt- 
schrift nach  Dresden  wandte.  Am  25.  Januar  fand  das  öffentliche 
Verhör  der  beiden  Angeschuldigten  statt.  Während  Rodemann,  d^r 
sich  schuldiger  fühlen  mochte,  sich  schweigend  auf  die  Unterstützung 
des  Rates  verließ,  führte  der  Syndikus  zu  seiner  Verteidigung  an,  daß 
er  stets  dem  alten  Glauben  treu  geblieben  sei,  im  übrigen  nur  nach 
den  Instruktionen  seiner  Herren  gehandelt  habe.  Schließlich  verzich- 
teten die  Räte  doch  auf  die  Auslieferung  der  beiden  Führer,  zumal  die 
Verhandlungen  jetzt  zu  einem  annehmbaren  Ergebnis  führten.  Der 
Streit  fand  sein  Ende  damit,  daß  die  Stadt  sich  eine  Schutzherrschaft 
von  vorläufig  20  jähriger  Dauer  gegen  jährHche  Zahlung  von  600  Gulden 
gefallen  lassen  mußte,  wofür  aber  ihre  anderen  Rechte  nicht  angetastet 
wurden.  Unter  dem  starken  sächsischen  Einfluß,  der  fortan  nicht  mehr 
zu  beseitigen  war,  erfolgte  die  zweite,  endgültige  Reformation  der  Stadt. 
Sahen  wir  Lukas  Otto  mit  Entschiedenheit  für  die  Restitution  ein- 
treten und  sich  der  Ungnade  des  Kurfürsten  mit  Hintansetzung  seiner 
eigenen  Persönlichkeit  aussetzen,  so  machte  er  den  Kampf  gegen  die 
Reformation  nur  mit  halbem  Herzen  mit.  Die  politische  Stellung  der 
Stadt  und  die  Einigung  der  Bürger  erschien  ihm  persönlich  von  größerer 
Wichtigkeit  als  der  Streit  der  Konfessionen.  Entschieden  war  er  neben 
Rodemann  die  bedeutendste  Persönlichkeit  seiner  Zeit  in  der  Stadt. 

Magister  Nikolaus  Fritzlar  war  eines  vermögenden  Mühlhäuser 
Bürgers  Sohn.    1540  finden  wir  ihn  als  Studenten  der  Erfurter  Uni- 


'  Kopialbuch  W  20,  S.  233b  (1551). 
Ich  kann  hier  im  wesentlichen  verweisen  auf  eine  edierte  Quelle:  den  Rechen- 
schaftsbericht L.  Ottos  über  die  Vorgänge,   der  in   die  Chronik  aufgenommen   und 
so  erhalten  worden   ist  (Hactenus  M.  Lucae  Otten  descriptio;  Chronik  II    S.  44—63). 
Das  wichtigste  Aktenmaterial  flicht  er  in  seine  Darstellung  ein. 

'  Kopialbuch  W  21,  S.  335  b  (1554). 


Stadtschreiber  und  Stadtbücher  in  Mühlhausen  i.  Th.  463 

^ersität/  die  er  1550  als  Magister  der  freien  Künste  verließ.^  Nachdem 
;r  schon  1556/57  dem  Rate  gelegentliche  Dienste^  geleistet  hatte,  über- 
lahm  er  1561  das  Amt  des  Oberschreibers,  des  Archigrammateus,  wie 
r  sich  selber  gern  nannte.  1574  trat  er  von  dem  Posten  zurück, 
)lieb  aber  noch  wie  sein  Vorgänger  Syndikus  und  wurde  zum  Bürger- 
neister  des  Jahres  erwählt.  Wo  er  politisch  hervortrat,  fühlte  er  sich 
ils  Wortführer  der  Protestanten.^  1575  bekleidete  er  das  Ratsamt  eines 
)berkämmerers,  spielte  überhaupt  im  Rate  noch  verschiedentlich  eine 
ührende  Rolle ;^  Pfingsten  1601  ist  er  gestorben.^ 

Er  gehörte  als  der  Jurist  der  Stadt  und  höchster  Ratsdiener  mit  zu 
len  Führern  des  neuen  geistigen  Lebens  innerhalb  der  protestantischen 
Bürgerschaft.  Zu  den  bedeutendsten  Köpfen  in  der  Stadt,  zu  den 
/ertretern  der  Gelehrsamkeit  unterhielt  er  Beziehungen,  so  zum  Resti- 
ütor  ecclesiae,  dem  Superintendenten  Tilesius,  dem  Dichter  und  Super- 
ntendenten  Helmbold  und  dem  Musiker  Joachim  Müller  ä  Burgk, 
iamals  Aktuar  und  Organisten.  An  der  Einweihung  der  neuen  latei- 
lischen  Schule  nahm  er  als  Vertreter  des  Rates  teil;'  er  schritt  dem 
eierlichen  Zuge  mit  dem  Rektor  und  Superintendenten  voran  und  hielt 
leben  diesen  eine  lateinische  Eröffnungsrede.  Im  nächsten  Jahre 
^^ohnte  er  als  Ratsvertreter  dem  ersten  Examen  und  der  Vorstellung 
lines  neuen  Lehrers  an  der  Lateinschule  bei."^ 

Mindestens  stark  von  ihm  beeinflußt  entstand  in  den  70  er  Jahren 
lie  älteste  überlieferte  offizielle  Stadtchronik, ^  die  ganz  sicher  ältere 
/orlagen  überarbeitete  und  synchronistisch  fortsetzte.  Ihre  Nachrichten 
nthalten  viel  Material  zur  Stadtgeschichte  und  sind  im  allgemeinen 
[laubwürdig.  Mit  manchen  Irrtümern  und  oft  merkwürdiger  Verwechse- 
lingen in  der  Datierung,  die  wohl  auf  die  gebrauchten  Vorlagen  zu- 
ückzuführen  sind,  ist  natürlich  immer  zu  rechnen.  Von  Fritzlars  Hand, 
nit  nur  wenigen  eingehefteten  Berichten  in  anderen  Schriftzügen, 
tammt  ein  Memoriale,  das  die  Jahre  1562—1573,  also  fast  die  ganze 
^eit  seines  Stadtschreiberamtes  überspannt.  Außer  Nachrichten  über 
igene  Handlungen  hat  er  auch  wichtige  und  bedeutungsvolle  Gescheh- 


^  Weißenborn,  Akten  der  Universität  Erfurt  II,  353;  Auszug  von  Jordan, 
jchichtsbl.  5. 

'  Kopialbuch  W  19,  S.  179  b  (1550). 

'  z.  B.  1556  Chronik  II,  S.  96;  1557  Kopialbuch  W  21,  S.  307. 

^  cf.  Knieb  S.  100;  112;  113. 

^  Protokolle  des  Senatus  tripicis  und  des  regierenden  Rates. 

^  Chronik  II,  S.  152. 

^  Jordan,  Beiträge  zur  Geschichte  des  städt.  Gymnasiums  III,  S.  13 ff. 

^  cf.  Jordan,  Einleit.  zum  1.  u.  2.  Bande  seiner  Mühlhäuser  Chronik;  in  diesen 
iden  ist  die  Chronik  ediert. 


464  Erich   Kleeberg 

nisse  aus  der  Stadtgeschichte  aufgezeichnet  und  damit  eine  offiziöse 
und  zeitgenössische  Chronik  geschaffen.  Das  Memoriale  ist  vielleicht 
begonnen  als  Rechenschaftsbericht  über  seine  Amtsführung,  ähnlich 
wie  Lukas  Otto  die  Vorgänge  der  Jahre  1551 — 1553  in  einer  umfang- 
reichen Darstellung^  zusammengefaßt  hat.  Es  sind  das  die  einzigen 
Fälle,  in  denen  wir  den  Mühlhäuser  Stadtschreiber  als  Stadthistorio- 
graphen  nachweisen  können,  eine  Tätigkeit,  in  der  der  Stadtschreiber 
in  vielen  anderen  Städten  sich  großen  Ruhm  errungen  hat.^ 

Wie  weit  Fritzlar  an  der  Revision  und  Neuausgabe  der  Statuten  D 
von  1567  beteiligt  war,  weiß  ich  im  einzelnen  nicht.  Als  Syndikus 
wird  er  in  der  1562  zur  Vorbereitung  der  Aufgabe  eingesetzten  Kom- 
mission von  8 — 9  Mann  gewesen  sein.^  Notwendig  war  eine  gründ- 
liche Neuredaktion  schon  lange;  entsinnen  wir  uns,  daß  die  letzte 
Kodifikation  im  Jahre  1401  vorgenommen  wurde.  Schon  aus  den 
Jahren  1439—1442  findet  sich  eine  Abschrift^  der  noch  gültigen  Sta- 
tuten aus  der  Willkür  C  und  ihren  Zusätzen,  in  der  auch  A  und  B 
verarbeitet  waren.  Nachdem  die  Kommission  die  Vorarbeiten  erledigt 
hatte,  wurden  die  nach  und  nach  fertiggestellten  fünf  Bücher  einzeln 
im  Rate  der  Ältesten,  zu  dem  auch  der  Syndikus  Zutritt  hatte;  be- 
sprochen unter  Hinzuziehung  eines  „Konsiliars,"  des  Schwarzburg- 
Sondershausenschen  Kanzlers  ApoUonius  Wigand,  der  vom  Rate  seit 
1564  einen  Gehalt  von  50  Gulden  bezog.^  Seine  Aufgabe  bestand 
darin,  die  ..Statuta  den  kayserlichen  und  landüblichen  Rechten,  auch 
ihren  vernünfftigen  Gewohnheiten  gemäß,  zu  erklären,  zu  emendirn  und 
in  richtige  Ordnung  zubringen."^  Nachdem  am  22.  Juli  1565  die  erste 
Lesung  vor  dem  großen  Rate  stattgefunden  hatte,^  wurden  sie  wieder 
an  den  ältesten  Rat  zurückgegeben  mit  der  Weisung,  „einige  Artikel 
besser  zu  bedenken."  Mai  und  Juni  1566  fand  die  zweite  Lesung  vor 
dem  senatus  triplex  statt,^  und  da  auch  jetzt  noch  Anderungsvorschläge 
gemacht  wurden,  konnte  die  neue  Willkür  erst  am  25.  August  1567^ 

'  cf.  S.  462  Anm.  2. 

'  W.  Stein  a.a.O.  S.  29ff. 

^  Protokolle  des  Senatus  triplicis  T  1—4,  4  (1562). 

*  Abschrift  ediert  von  Bemmann,  Mühlh.  Geschichtsbl.  9;  Handschrift  de5 
ünterschreibers  Helmbold,  der  von  1539—42  im  Amte  war. 

^  Kämmereirechnungen  der  Jahre  1564 — 66. 

*  Jordan,  Zur  Geschichte  der  Stadt  Mühlhausen  II,  S.S. 
^  Fritzlar,  Memoriale,  S.  76. 

'  Protokolle  des  Senatus  triplicis  T  1—4,  4  (1566). 

®  Chronik  II,  S.  122.  Schon  am  22.  März  1561  (Gesindebuch  S.  282)  war  dei 
ünterschreiber  Leonhard  Hübner  (cf.  Familiengesch.  von  Otto  Hübner,  Geschichts- 
blätter VIll,  S.  131  ff.)  dazu  bestimmt  worden:  „wenn  der  Rat  die  Willkür  zu  rekti- 
fizieren vornehmen  lassen  werden,  daß  ich  zum  schönsten  und  fleißigsten  Iren  a. 
W.  zu  eheren  uffs  pergament  impressieren,  schreiben  und  verfertigen  sol  und  wil. 


Stadtschreiber  und  Stadtbücher  in  Mühlhausen  i.  Th.  465 

durch  den  Stadtschreiber  Fritzlar  im  Beisein  der  drei  Räte  publiziert 
und  vor  der  Bürgerschaft  öffentlich  verlesen  werden. 

Jedenfalls  auch  unter  der  Aufsicht  des  Ratsherrn  und  Syndikus 
Fritzlar  fand  um  das  Jahr  1576  eine  Neuordnung  des  Urkunden- 
bestandes  und  die  Anlegung  mehrerer  Urkundenregister  statt.  Auf 
diese  Arbeiten  werde  ich  bei  der  zusammenhängenden  Besprechung 
der  Registratur  noch  einmal  zurückkommen.^ 

Fritzlar,  wie  sein  Vorgänger  Otto,  hatten  als  Oberschreiber  An- 
stellung gefunden  und  erst  im  Verlaufe  ihrer  Dienstzeit  den  Titel 
Syndikus^  erhalten.  Beide  behielten  nach  Niederlegung  ihres  Schreib- 
amtes und  nach  ihrer  Wahl  zum  Bürgermeister  den  Titel  und  die 
Stellung  eines  Syndikus  bei,  womit  sie  zu  politischen  Vertretungen, 
gerichtlichen  Prokurationen  in-  und  außerhalb  der  Stadt  und  zur  Auf- 
sicht über  die  Schreibstube  verpflichtet  blieben.^  Erst  1581  wurde 
mit  Dr.  Salomon  Plathner  ein  ständiger,  über  dem  Protonotar  stehender 
Syndikus  geschaffen,  der  wohl  zum  Stadtschreiberamte  in  naher  Be- 
ziehung stand,  aber  nicht  aus  diesem  hervorzugehen  brauchte.  Seine 
Stellung  hat  man  nicht  unrichtig  als  die  eines  Kanzlers  der  Stadt 
bezeichnet,  und  als  solcher  wird  er  auch  mitunter  in  Briefen  von 
Fremden  angeredet.  —  1613  wurde  das  Personal  vermehrt,*  indem 
ein  dem  Oberschreiber  an  Gehalt  und  Ansehen  gleichgestellter  Sekretär 
angenommen  wurde.  Mit  diesem  Jahre  erst  gewann  der  Titel  Sekre- 
tariüs  einen  spezifischen  Inhalt.  Er  war  im  Gegensatze  zu  dem  in 
der  Kanzlei  sitzenden  Stadtschreiber  der  Ratsschreiber,  der  in  den 
Sitzungen  die  Proposition  vorlas  und  das  Protokoll  führte.  Der  Syndikus 
war  der  oberste  Beamte  des  Rates,  der  Oberschreiber  und  Sekretär 
blieben  an  Bedeutung  hinter  ihm  zurück.  Und  als  in  der  weiteren 
JEntwicklung  diese  Schreibämter  einen  subalternen  Charakter  erhielten, 
lebte  in  ihm  die  Stellung  des  Stadtschreibers  fort,  bis  das  Amt  1802^ 

Doch  ist  er  dazu  nicht  gekommen,  die  Chronili  (S.  116)  meldet  vom  6.  Juli  1565, 
!daß  L  tiübner  seiner  untreu  halber  im  Schreiben  inkarzeriret  und  endlich  nach  Ver- 
ibüßung  wieder  losgestellt  wurde".  1602  und  1679  wurden  noch  einmal  Neuredaktionen 
'in  Angriff  genommen.  Die  fertigen  Statuten  erschienen  1692  im  Drucke.  Soweit  in 
den  Statuten  von  1692  sich  gegen  1567  nichts  geändert  hat,  zitiere  ich  die  Willkür 
von  1567  nach  dem  Druck. 

^  cf.  S.  477. 

^  Nicht  in  allen  Städten  steht  der  Syndikus  in  so  naher  Beziehung  zum  Stadt- 
schreiberamte. K.  Koppmann  z.B.  berichtet  (Beiträge  zur  Gesch.  von  Rostock, 
Bd.  3,  1903,  S.  78),  daß  in  Rostock  1533  der  Syndikus  vom  Stadtschreiber  ganz  ge- 
trennt gewesen  sei,  daß  er  keine  näheren  Beziehungen  zur  Kanzlei  gehabt  hat. 

'  cf.  S.  471f. 

*  Protokolle  des  regierenden  Rates,  D  2—4,  6  (1613). 

^  Der  letzte  Syndikus  von  alter  Bedeutung  war  der  kaiserliche  Rat  Adolf 
tiübner  (Geschichtsbl.  8,  S.  146ff.). 

Afü    II  30 


\ 


456  Erich   Kleeberg 

bei  Eingliederung  der  Stadt  in  den  preußischen  Staatsorganismus  in  der 
alten  Form  überflüssig  wurde. 

Die  übrigen  Verwaltungszweige  wie  Kämmerei,  Zinsmeisterei,  Stadt- 
gericht, seit  ca.  1580  auch  das  Konsistorium^  haben  in  selbständiger 
Fortentwicklung  auch  ihr  eigenes  Schreiberpersonal  gehabt.  Wenn  ich 
von  Kopisten  und  untergeordneten  Beamten  wie  dem  Zollschreiber 
absehe,  so  bestanden  im  16.  Jahrhundert  die  Ämter  des  Syndikus, 
Ober-,  ünterschreibers,  Kammer-,  Zinsschreibers,  Gerichtsaktuars  und 
wenigstens  seit  1580  des  Konsistoriumschreibers.  —  Ihre  Stellung  inner- 
halb der  Bürgerschaft  und  ihre  Tätigkeit  mögen  jetzt  betrachtet  werden. 

§4.  Stellung  der  Schreibbeamten  innerhalb  der  Bürgerschaft 
und  ihr  Dienstverhältnis 

Da  selbst  die  meisten  der  unteren  Schreiber  noch  dem  aka- 
demischen Stande  angehörten  und  öffentliche  Notariatsrechte  besaßen, 
so  betätigten  sie  sich  nicht  nur  im  Dienste  Privater  als  Prokuratoren 
und  Advokaten,  sondern  auch  der  Rat  verwandte  sie  vor  dem  städti- 
schen und  an  fremden  Gerichten  in  solchen  Geschäften. 

Der  Kammerschreiber  nahm  unter  den  niederen  Schreibbeamten 
den  ersten  Rang  ein  und  war  auch  unter  ihnen  am  besten  gestellt. 
Das  mag  seinen  Grund  vor  allem  in  der  Entwicklung  des  Amtes  haben ; 
waren  doch  1540  noch  einmal  die  Ämter  des  Ober-  und  Kammer- 
schreibers in  einer  Person  vereinigt.  Da  täglich  größere  Summen  durch 
ihre  fiand  gingen,  bekleideten  sie  eine  Vertrauensstellung:  bewährte 
Subnotare  wurden  oft  auf  diesen  Posten  befördert.  Der  unterschreiben 
kam  im  Gehalt  dem  Gerichtsaktuar  gleich.  Ein  Übergang  von  dem 
einen  in  das  andere  Amt  kam  wiederholt  vor.  Daß  ein  ünterschreiber 
zum  Protonotar  vorrückte,  habe  ich  nie  beobachtet,  trotzdem  es  nicht 
verboten  und  für  L.  tiübner  sogar  vorgesehen^  war.  Den  untersten 
Rang  nahm  der  Zinsschreiber  ein;  er  überschaute  nur  einen,  verhältnis- 
mäßig kleinen  Teil  der  städtischen  Verwaltung,  und  er  war  von  seinen 
Herren,  den  Zinsmeistern  sehr  abhängig. 

Außer  den  Zinsschreibern  wurden  die  meisten  dieser  Beamten 
nach  Beendigung  ihres  Dienstes,  soweit  sie  nicht  aus  irgend  welchem 
Grunde  die  Stadt  verließen,  in  den  Rat  gewählt,  wo  sie  auf  der  „Lite- 
ratenbank" Platz  nahmen.    Man  scheute  sich,  Angehörige  des  Rates 


Das  Konsistorium   vor  1573  eingesetzt,   bestand   aus   dem  Superintendenten 
und   drei   Ratsmitgliedern;    ihm  unterstanden   die    kirchlichen  Angelegenheiten,    be- 
sonders die  Ehesachen  (Nebelsieck  a.  a.  C  S.  247). 
*  Kopialbuch  W  23,  S.  226  (1559). 


Stadtschreiber  und  Stadtbücher  in  Mühlhausen  i.Th.  467 

uf   Schreiberposten    zu    berufen,   wenn    es   auch   seit   der   Mitte   des 
6.  Jahrhunderts  zuweilen  vorkam.    Der  ünterschreiber  Liborius  Schröter 
j,;urde  nach  Niederlegung  seines  Amtes  1550  als  Marktmeister  in  den 
»itzenden   Rat   gewählt.^    Er   blieb   auch    im   Ratsstande,   trotzdem   er 
ald    darauf   zum  Kammerschreiber  berufen  wurde.     Aber  noch  1558 
/ar  es  Gewohnheit,  bei  der  Wahl  in  den  Rat  andere  städtische  Ämter 
Lifzugeben.^    Erst   als   im    17.  Jahrhundert   größere    Unregelmäßigkeit 
ingetreten   war,   und   der  Schreiberdienst   seine  Bedeutung   eingebüßt 
atte,   bestimmte   der  Rat   in    einem  Rezeß   von   1642:^   „Es   ist   des 
vatsherrn  unwürdig,  sich   mit  Skribentenstellen  in  der  Kanzlei  zu  be- 
assen.    Zu  Kammer-  und  Zinsschreibern  sollen  keine  Ratsherren  ge- 
zählt werden;  treten  aber  solche  Schreiber  in  den  Rat  ein,  so  können 
ie  bleiben,  bis  sie  an  den  sitzenden  Rat  kommen,  dann  sollen  sie 
lY  Schreiberamt  aufgeben." 

Außer  den  genannten  städtischen  Beamten  berief  der  Rat  auch 
ndere  öffentliche  Notare  in  städtischen  Dienst.  Spätestens  seit 
580  bestellte*  er  zwei  vereidigte  Prokuratoren  und  Advokaten,  die 
er  dem  Rat  und  dem  Stadtgericht  auf  Forderung  der  Parteien  die 
firistische  Vertretung  übernehmen  sollten.  Sie  waren  gehalten  in 
urzer  Form  mündlich  oder  schriftlich  die  Sachen  einzubringen  und 
n  Sinne  der  städtischen  Statuten  „in  bescheidenheit,  ohne  schmehen" 
ie  Verteidigung  zu  übernehmen.  Andere,  auch  auswärtige  tüchtige 
fachwalter  waren  damit  keineswegs  ausgeschlossen.^ 

Seit  den  30  er  Jahren  des  16.  Jahrhunderts  wurde  es  notwendig, 
inen  der  Prokuratoren  am  Reichskammergericht  mit  der  ständigen 
Vertretung  der  Stadt  zu  betrauen.  Er  konnte  sich,  wenn  nötig,  „auch 
inen  oder  zwei  Afteranwälte  im  Dienste  der  Stadt  substituieren."^ 
>eit  1595  bezog  Dr.  Ludwig  Ziegler  advocatus  einen  Gehalt  von 
2  Talern,'  der  bis  1551  auf  27  Taler  gestiegen  war.  Nach  seinem 
ode  bekleideten  in  den  Jahren  1553—1575  diesen  Posten  Dr.  Joh. 
>eschler,^  Dr.  Leop.  Dick,  Dr.  Melchior  Schwarzenberg,^  Dr.  Georg ' 
»erlein'^  und  Dr.  Malachin  Ramminger.^^ 


'  Notulbuch  X9,  S.  223b;  226  (1550). 

*  cf.  Geschichtsbl.  9,   S.  129f.:    Brief  Joachims  ä   Burgk,    der   sich  1588  ver- 
;ns  um  den  Gerichtsschreiberposten  bewirbt. 

^  Gedruckte  Ratsrezesse,  §  35. 

*  Gesindebuch  Y  4,  2  b,  S.  27  b  (1580). 
'  Rezeß  von  1679,  §  27. 

^  z.  B.  Notulbuch  X  IIa  S.  176  (1572). 
'  Kämmereirechnung  1535;  Kopialbuch  W  20,  S.  102  (1549). 
^  Kopialbuch  W  21,  S.  123b  (1553). 
'  Notulbuch  X  10,  S.  231  (1563). 
'"  Notulbuch  X  IIa,  S.  178  (1572). 

30* 


468  Erich   Kleeberg 

Die  Notariatsgeschäfte  konnten  von  den  städtischen  Schreibern  al 
ein  Recht,  aber  auch  als  drückende  Pflicht  empfunden  werden,  j 
nachdem  ob  sie  dem  Rate  unentgeltlich  ihre  Dienste  leisten  mußten 
oder  ob  sie  von  Privaten  Sondereinnahmen  bezogen.  Es  sind  offenba 
besondere  Vergünstigungen,  wenn  den  beiden  Sekretären  Töpfer  um 
Otto  bei  Erneuerung  ihrer  Kontrakte  gestattet  wurde,  dem  einen  1537, 
daß  er  nicht  in  Sachen  gebraucht  werden  soll,  die  die  Ratsherrei 
„vormutlich  selber  nicht  gernn  thetten",  dem  andern  1555,^  „daß  er  ii 
peinlichen  handeln  redens,  prokurierens,  Schreibens  wie  billich  verschone 
bleiben  soll."  Der  1579  zum  Oberschreiber  bestellte  Magister  Gerbe 
verpflichtete  sich  wieder  zum  Dienst  in  allen  vorfallenden  Sachei 
bürgeriich  und  peinlich,  in-  und  außerhalb  der  Stadt.^  In  diesem  Sinn, 
ist  es  auch  zu  verstehen,  wenn  sich  zu  Ottos  Zeit  die  Frage  erhebei 
konnte,  ist  der  Stadtschreiber  als  publicus  notarius  schuldig  „äff  vor 
geend  requisition  einem  jeden,  der  vor  dem  Rat  etwan  zu  handeli 
hatte.  Instrumenta  publica  zu  machen  oder  nit?"*  Der  um  sein  Gut 
achten  angegangene  kurpfälzische  Rat  Dr.  Drechsel  äußerte  sich  dahin: 
„Sovil  ich  in  der  Eyl  erwägen  kann,  so  achte  ich,  diweyl  gemeinücl 
den  Notarys  disses  officium  injungirt  wurdet,  uff  Requisition  ihr  Amp 
niemant  zu  verweigern,  so  wird  es  auch  mit  Eurem  Stadttschreibe 
sein.  Disse  Frage  ist  meer  auß  dem  Bugstaben  seiner  Creation  al 
aus  dem  Rechten  zu  eriedigen."  Prinzipiell  wurde  die  Frage  nicht  ent^, 
schieden,  und  auch  die  mir  vorliegenden  Dienstverträge  aus  spätere-' 
Zeit  lösen  sie  nicht.  Tatsächlich  wird  der  vielbeschäftigte  Oberschreibe 
und  Syndikus  mit  diesen  Geschäften  verschont  geblieben  sein;  de 
Rat  bediente  sich  dazu  seiner  niederen  Schreibbeamten,  vor  allen 
des  Subnotars  und  des  Aktuars,  oder  er  wandte  sich  an  einen  de 
öffentlichen  Notare  in  der  Stadt.^ 

Wurden  andererseits  Stadtschreiber  als  Anwälte  Privater  zu  sehr  ii 
,  Anspruch  genommen,  so  konnte  ihnen  dieses,  wie  das  Beispiel  Töpfers 
beweist,  bei  der  Erfüllung  ihrer  Amtspflichten  hinderiich  werden.  Abe 
nur  in  einzelnen  Fällen,  wie  bei  der  Syndikatsbestallung  Lukas  Ottoj 
im  Jahre  1561^  verbot  der  Rat  dem  Beamten  das  Prokurieren  in 
Dienste  Privater. 

Die  Bedingungen,  unter  denen  die  Beamten  angestellt  wurden 


*  Schreiberbestallungen,  Konzept  H  6,  1  (1537,  29.  IX.). 
'  Syndikatsbestallungen  ti  6,  2,  1,  S.  20. 

^  Gesindebuch  Y  4,  2  b,  S.  7  (1579). 

*  Schreiberbestallungen  H  6,  3  (Brief  des  Dr.  Drechsel  an  den  Rat). 
'  z.  B.  Ü.-Nr.  1458  (4.  X.  1562). 

*  cf.  S.  458. 


Stadtschreiber  und  Stadtbücher  in  Mühlhausen  i.  Th.  469 

uind   nicht  prinzipiell  festgelegt;   in   den   Statuten   geben  darüber  nur 
fiinige  recht  allgemein  gehaltene  Amtseide  Auskunft.    Das  Verhältnis 
/Lirde  bestimmt  durch  einen  vom  Rate  von  Fall  zu  Fall  aufgesetzten 
Kontrakt,  der  meistens  in  das  Gesindebuch  eingetragen  wurde.  Immerhin 
assen   sich  einige  allgemeine  Gesichtspunkte  aus  ihnen  herausheben. 
I      Der  Vertrag  lautete  stets  auf  eine  bestimmte  Anzahl  von  Jahren, 
unächst  auf  ein  oder  wenige  Jahre;  hatte  sich  der  Beamte  bewährt, 
0  wurde  der  Kontrakt  auf  einen  größeren  Zeitraum  ausgedehnt.    Wer 
\d  munüs  personale  tantum  obeundum  erwählt  wurde,  dem  mußte  eine 
kppellation  und  gebührliche  Frist  zu  seiner  Entscheidung  zugestanden 
/erden.    Wurde   einer  dagegen  berufen  ad  honores  et  munera,  quae 
\riüs  sepissime  gessit,  itemm  administranda,  so  mußte  er  der  Voka- 
on  Folge  leisten,  wenn  nicht  der  Rat  seine  triftigen  Gründe  billigte. 
pnter  solchen  Gründen  wurden  vor  allem  verstanden,  wenn  man  sich, 
seiner  bürgerlichen  Hantierung,  Gewerbe,  Nahrung  wegen"  nach  aus- 
wärts begeben  wollte,^  auch  die  Erwählung  in  den  Ratsstand  schloß, 
i^ie  wir  sahen,  gewöhnlich  die  Fortführung  des  Amtes  aus.    Tüchtige 
)berschreiber  und  Syndici  für  den  Mühlhäuser  Dienst  zu  finden,  war 
licht   immer   leicht,   obgleich   Bewerbungen,    nach   dem   vorhandenen 
»Material   zu   schließen,    immer   eingelaufen   sind.     Der   Rat   sah   sich 
leshalb  bei  Anstellung   seines   obersten  Beamten   oft   zu   besonderen 
/ergünstigungen   genötigt.    Wolf  Töpfer  z.  B.   erhielt   die   Erlaubnis,^ 
ederzeit  auch  während  der  Dauer  des  Vertrages  abgehen  zu  können, 
^^enn  erhebliche  Sachen  vorfielen.    Lukas  Otto  vereinbarte  1540  und 
555,^  daß  es  ihm  wie  dem  Rate  freistehen  sollte,  Abschied  zu  nehmen 
)der  zu  geben  nach  Ablauf  des  Vertrages  mit  Einhaltung  einer  viertel- 
ährlichen  Kündigungsfrist.    Mühlhäuser  Bürgerssöhne  scheinen  im  all- 
gemeinen bevorzugt  gewesen  zu  sein;  der  Rat  setzte  für  die  in  Erfurt 
lecht  und  Theologie  studierenden  Mühlhäuser  Stipendien  aus,  wenn 
iie  sich  verpflichteten,  ihrer  Vaterstadt  ihre  Dienste  zu  leisten. 

Die  strengste  Amtsverschwiegenheit  wurde  ihnen  zur  Pflicht  ge- 
nacht,  gewöhnlich  in  der  Form,  daß  sie  schwuren,  die  ihnen  zu- 
jänglichen  Bücher  und  Akten  „heimlich  zu  halten"  und  keinem  ün- 
)erufenen  zu  zeigen  oder  ohne  Wissen  des  Rates  Abschriften  zu- 
lommen  zu  lassen.  Auch  durften  sie  weder  Fremde  auf  Grund  ihrer 
\ktenkenntnisse  warnen  und  sonstigen  unerlaubten  Rat  geben,  noch 
iie  im  Amt  oder  durch  Zufall  gehörten  Äußerungen  während  und  nach 
hrer   Dienstzeit  zum   Schaden   des   Rates   im   eigenen.  Interesse  ver- 

^  Kopialbuch  W  23,  S.  226  (1559):  tiübner,  der  seinen  Abschied  nehmen  wollte, 
vird  an  diese  Verhältnisse  erinnert. 
'  cf.  S.  458. 
'  Syndikatsbestallungen  H  6,  2,  1,  S.  20;  24ff. 


470  Erich   Kleeberg 

wenden.^  Oberschreiber  und  Syndikus  mußten  sich  noch  obendrein 
verpflichten,  Streitpunkte  mit  dem  Rat,  mit  Bürgern  und  Einwohnern, 
nie  anderswo  als  vor  dem  Rat  oder  dem  städtischen  Gericht  zum 
gerichtlichen  Austrag  zu  bringen,  bei  der  Stellung  des  Beamten  eine 
dem  Rat  offenbar  sehr  wertvolle  Bedingung.^ 

Dem  Oberschreiber  und  Syndikus,  die  ihr  Dienst  oft  über  Land, 
führte  und  sie  Gefahren  an  Gut  und  Leben  aussetzte,  versprach  deri 
Rat  Schadenersatz  zu  leisten,  gewöhnlich  aber  nicht  über  die  Summe 
ihres  jährlichen  Einkommens  an  festem  Gehalt  und  Präsenten  hinaus, 
in  einigen  Fällen,  wie  in  dem  schon  wiederholt  genannten  Kontrakt 
mit  W.  Töpfer  1537  Ersatz  in  voller  Höhe  des  Verlustes.  Ganz  all- 
gemein waren  die  Beamten  gehalten,  bei  Tag  und  Nacht  ?um  Dienste 
bereit  zu  sein,  von  dem  sie  „nur  Krankheit  und  Leibesschwachheit"i 
entbinden  konnte.  Der  Oberschreiber  durfte  ohne  Wissen  der  Bürger- 
meister das  Weichbild  der  Stadt  nicht  verlassen,  nicht  einmal  die 
Weinberge  oder  das  Feld  besuchen.^ 

Ihre  Besoldung  bestand  in  einem  festen  Geldsatz,  in  Natural- 
lieferungen  und  gewissen  Präsenten,  die  damals  durch  Geld  meistens 
abgelöst  waren.  Bei  den  niederen  Beamten  stieg  der  Gehalt  im  Laufe 
des  Jahrhunderts  langsam  und  stätig,  beim  Oberschreiber  wechselte 
er  von  Vertrag  zu  Vertrag  und  war  sehr  abhängig  von  seiner  Bildung 
und  Tüchtigkeit.  So  kam  es,  daß  des  Sekretärs  Gehalt  1535  noch 
50  Gulden  betrug,  während  Otto  1540  schon  130  Gulden  erhielt.  Dazu 
kamen  noch  Lieferungen  an  Getreide,  Holz,  Tuch,  ein  oder  zwei  freie 
Brautage  und  oft  noch  freie  Wohnung.  Der  Kammerschreiber"  bezog 
etwa  einen  Gehalt  von  28  Schock  (1  Schock  um  diese  Zeit  =  %  Gulden), 
der  Zinsschreiber ^  von  14  Schock.    Bis  zum  Jahre  1535  wurde  der 


*  Über  diese  Fragen  sind  besonders  lehrreich  die  folgenden  Stücke:  Syndikats- 
bestallungen H  6,  2,  1,  S.  20,  24,  30;  Bestallungsurkunde  Ottos:  1448b,  1561;  Schreiber- 
bestallungen ti  6,  1  (1535)  des  ünterschreibers  Chr.  Ritter;  Gesindebuch  Y  4,  1, 
S.  214:  1550  Revers  des  Gerichtsschreibers  L  tiübner. 

'  Gesindebuch  Y  4,  2  b,  S.  7  (1579). 

^  In  der  Schreibstube  der  Kämmerei  hatte  sich  seit  dem  15.  Jahrhundert  nichts 
Wesentliches  geändert.  Die  Rechnungen  werden  jetzt  ausführlicher,  so  daß  es  nötig 
wurde,  einen  Auszug  der  tiauptposten  anzulegen,  der  den  Räten  vorgelegt  wurde. 
Seit  1527  fanden  die  Abrechnungen  alljährlich  bloß  einmal  im  Juli  statt.  —  Die 
Briefe  wurden  wie  auch  in  der  Kanzlei  jetzt  sorgfältiger  registriert  (cf.  S.  477). 

*  Einen  Zinsschreiber  gab  es  spätestens  seit  1503:  „Er  soll  sitzen  und  schreiben, 
so  oft  die  Herren  Zinsmeister  beieinander  sitzen  und  in  den  Scheunen  und  Mühlen 
ausmessen  und  aufheben."  1541  stellte  man  ihm  ein  Pferd  zur  Verfügung,  da  er 
auch  das  Bestellen  der  Äcker  und  das  Einfahren  der  Früchte  zu  überwachen  hatte. 
Alle  vier  Wochen  soll  er  das  Korn,  das  er  eingenommen  hat,  stürzen  und  das  Geld 
abliefern.  Der  20.  Malter  der  Einnahmen  gehörte  ihm.  Statuten  1567,  Art.  46;  Ge- 
sindebuch 1537,  S.  118b;  1539,  S.  137b;  1541,  S.  149b. 


Stadtschreiber  und  Stadtbücher  in  Mühlhausen  i.  Th.  471 

ünterschreiber  vom  Oberschreiber  oder  Sekretär  verpflegt,  wofür  dieser 
das  Schreibgefälle  in  der  Kanzlei  verwenden  durfte.  Seit  der  Zeit 
jbezog  der  ünterschreiber  aus  der  Kämmereikasse  einen  Gehalt  von 
26  Schock,  der  ebenfalls  von  den  nun  in  die  Kämmerei  fließenden 
Schreibgebühren  bestritten  wurde.  Erst  seit  1554  ^  kam  ihm  der  ganze 
Ertrag  der  Kanzlei  zugute,  die  einkommenden  Summen  brauchte  er 
nicht  mehr  vor  der  Kämmerei  anzugeben,  doch  wurde  es  ihm  zur 
Pflicht  gemacht,  die  Gebühren  nach  den  Taxen  ^  zu  bemessen  und  nie- 
manden zu  übervorteilen.  Die  Schreiber  am  städtischen  Gericht^  und 
in  der  Vogtei  waren  außer  kleineren  Naturallieferungen  ebenfalls  nur 
auf  das  Schreibgefälle  angewiesen,  das  wie  in  der  Kanzlei  nach  be- 
stimmten Taxen  ^  erhoben  wurde. 

An  den  Präsenten,  an  den  Geschenken,  die  am  Tage  der  Fron- 
leichnamsprozession  und  der  Statutenverlesung  unter  die  Ratsherren 
verteilt  wurden,  nahmen  die  städtischen  Schreiber  teil,  und  zwar  in 
dem  Maße,  daß  die  Oberschreiber  den  Ratsherren  gleichgestellt  waren, 
und  daß  die  Gaben  der  übrigen  in  der  üblichen  Reihenfolge  vom 
Kammerschreiber  auf  den  Zinsschreiber  abnahmen. 


§5.    Die  amtliche  Tätigkeit,  der  Kanzleischreiber;  Stadtbücher 

im  16.  Jahrhundert 

Im  16.  Jahrhundert  entwickelten  sich  die  einzelnen  Schreibstuben 
ganz  selbständig  voneinander.  Der  Syndikus  allein  führte  über  ihr 
Personal  eine  gewisse  Oberaufsicht,  da  er  mit  den  verschiedenen 
Zweigen  der  Ratsregierung  vertraut  sein  mußte.    Besonders  nahe  stand 


"■  Gesindebuch  Y  4,  1,  S.  238  b  (1554). 

^  Von  solchen  Taxen  des  16.  Jahrhunderts  sind  noch  einige  erhalten:  Kanzlei- 
taxen: Kopialbuch  W  14,  S.  136b  (1534);  Kopialbuch  W.  16  (1540);  1556,  T8c  Nr.  10. 
Gerichtstaxen:  1556,  TSc  Nr.  10.  1578,  Gerichtsordnung  in  einem  Nachtrag  zu  den 
Statuten  von  1567. 

^  Die  Gerichtsaktuare  waren  im  16.  Jahrhundert  fast  alle  akademisch  gebildet. 
Noch  1556  wurde  die  Vertretung  der  Stadt  auf  dem  Reichstage  einem  Gerichts- 
schreiber anvertraut.  Beim  städtischen  Schultheißengericht  bestand  seine  Tätigkeit 
im  Schreiben  und  Vorlesen  aus  den  Gerichtsakten  und  -büchern.  Er  besorgte  die 
Vorladungen,  fixierte  die  vorbereitenden  Handlungen,  wie  Aufnahme  des  Tatortes 
und  des  Tatbestandes,  Zeugenverhör,  Vereidigung  —  und  schrieb  die  fiändel,  Ur- 
teile und  Kontrakte  in  das  Gerichtsbuch.  Bevor  in  die  rechtliche  Verfolgung  einer 
Anklage  eingetreten  wurde,  versuchte  er  mit  dem  Schultheißen  die  „gütliche  Einigung" 
(Statuten  D  1567  Art.  37).  Auf  Verlangen  stellte  er  den  Parteien  Instrumente  und 
Gerichtsbriefe  aus;  und  durch  ihn  wurden  die  Akten,  falls  Rechtsspruch  auswärtiger 
Schöffen  oder  das  Gutachten  auswärtiger  Rechtsautoritäten  verlangt  wurde,  „inrotu- 
liert  und  verschickt".  (Gerichtsordnung  von  1578;  Gesindebuch  Y  4,  2,  S.  214  b;  S.  2.) 


» 


472  Erich   Kleeberg 

er  auch  weiterhin  der  Kanzlei  und  den  Geschäften  des  Stadtschreiber- 
amtes, aus  dem  er  hervorgegangen  war.^  „Was  er  dem  städtischen 
Schreiber  befiehlt  in-  und  außerhalb  der  Kanzlei  in  Rats-  und  Stadt- 
sachen aufzusuchen,  umzuschreiben  oder  zu  verfertigen,  das  soll  er 
verrichten,  wie  vom  Bürgermeister  befohlen."  Ihm  waren  alle  wich- 
tigeren Briefe,  die  mit  dem  Stadtsekret  zu  versiegeln  waren,  vorzulegen, 
bevor  sie  den  regierenden  Bürgermeistern  übergeben  wurden,^  und  von 
ihm  hatte  sich  der  Stadtschreiber  in  allen  Zweifelsfällen  Rat  zu  holen. 
Seine  Hauptwirksamkeit  entfaltete  er  als  juristischer  Sachverständiger, 
als  Prokurator  und  politischer  Vertreter  der  Stadt.  In  diesen  Eigen- 
schaften ist  er  im  Verlaufe  der  Darstellung  schon  genügend  hervor- 
getreten. Lukas  Otto  wurde  1561^  als  Syndikus  ausdrücklich  ver- 
pflichtet, „sich  brauchen  zu  lassen  auf  Kreis-,  Reichstagen  und  anderen 
Legationen".  Seine  Vollmacht  durfte  er  nur  im  Interesse  des  Rates 
verwenden  und  unmittelbar  nach  seiner  Rückkehr  hatte  er  vor  dem 
Rate  Bericht  zu  erstatten  und  Rechenschaft  abzulegen.  Als  Rechts- 
kundiger war  er  ganz  allgemein  gehalten,^  „im  rathe  umb  Berichtswillen 
ezlicher  vurfallender  Sachen  —  dorumb  ihm  vor  anderen  bewußt  — 
erfordertt,  Bericht  zu  tun  mit  Consilio,  Rat,  Urteil".  Im  senatus  intimus 
oder  seniorum,  wohin  die  Räte  „die  hohen  und  wichtigen  sachen,  welche 
nit  gemeine  Rathshendel  betreffen,  noch  einem  Stadtschreiber  zustendigk 
sind,  sondern  doran  gemeiner  Stadt  gelegen,  und  die  Rethe  auß  solchem 
Bewegnus  dieselben  in  der  Hern  Eldisten  engen  Rath  zu  berathschlagen 
dohin  zu  remittiren  und  zuweisen  pflegen",  ist  er  verpflichtet,  „jeder- 
zeith  uf  erfordern  zu  dienen  mit  rathen,  reden,  lesen,  conzipiren".  Sind 
solche  Fälle,  die  wegen  ihrer  Wichtigkeit  nicht  zum  Geschäftskreis 
des  Stadtschreibers  gehören,  nach  der  Beratung  im  Ältestenrate  auch 
dem  Kollegium  der  übrigen  Räte  vorzulegen,  so  ist  er  auch  hier  zu 
ihrer  Vorbereitung  bestimmt.  So  war  des  Syndikus  Tätigkeit,  ob- 
wohl er  nicht  dem  Ratsstande  anzugehören  brauchte,  bei  Besprechung 
wichtiger  allgemeiner  Interessen  nicht  darauf  beschränkt,  auf  Befragen, 
Rat  und  Antwort  zu  erteilen,  sondern  dadurch,  daß  er  die  vorliegende 
Sache  „einzubringen  und  vorzutragen  hatte",  war  ihm  schon  durch  die 
Fassung  des  Antrages  ein  gewisser  Einfluß  gesichert. 

Als  Stadtjurist  nahm  der  Syndikus  eine  leitende  Stellung  ein  bei 


*  Ich  lege  meiner  Darstellung  einen  Zustand  zugrunde,  in  dem  das  Syndikat 
und  Oberschreiberamt  nicht  durch  eine  Person  verwaltet  wurde.  Lehrreich  sind  für 
dieses  Verhältnis  die  schon  wiederholt  zitierten  Briefe:  Syndikatsbestallung  L  Ottos 
1561  und  Revers  des  Oberschreibers  Gerber  1579. 

^  Gesindebuch  Y4,  2  b,  S.  7. 

'  Ü.-Nr.  1448  b. 


Stadtschreiber  und  Stadtbücher  in  iWühlhausen  i.Th.  473 

ier  Ratsrechtsprechung.^  Das  Semneramt,  die  eigentliche  Behörde  der 
Kriminalgerichtsbarkeit,  vor  dessen  Forum  alle  peinlichen  und  fis- 
kalischen Fälle  gehörten,  mochten  sie  Jnquisitorie  oder  per  modum 
iccüsationis  geführt  werden,  zog  ihn  als  Aktuar  zw?  Aus  dieser  zu- 
nächst untergeordneten  Stellung  entwickelte  sich  das  Direktorium  der 
Kriminalgerichtsbarkeit.  Das  Appellationsgericht  von  sämtlichen  städ- 
ischen  Gerichten  wurde  ihm  übertragen,^  soweit  er  bei  den  Verhand- 
lungen in  erster  Instanz  nicht  beteiligt  gewesen  war;  dazu  wurden 
ihm  aus  den  Räten  drei  Herren  als  Kommissare  beigeordnet. 

Des  Oberschreibers  Wirkungskreis  wurde  durch  diebeherrschende 
Stellung  des  Syndikus  ein  engerer.  In  allen  wichtigen  Fragen  von  ihm 
abhängig,  büßte  er  seine  Selbständigkeit  mehr  und  mehr  ein.  In  den 
Sitzungen  des  regierenden  Rates  oder  des  drei  Rätekollegiums  führte 
er  die  Protokolle;^  er  hatte  „die  Nota  oder  daß  Einbringen  der  er- 
baren Rethe  zu  kolligiren  und  auffzunehmen'V  soweit  ihn  nicht, 
wenigstens  schon  im  Senatus  triplex  der  ünterschreiber  vertreten 
konnte.  Standen  „gemeine  Stadtsachen"  zur  Verhandlung,  so  wurde 
der  vorstehende  Handel  durch  den  regierenden  Bürgermeister  selber 
oder  durch  den  Stadtschreiber  mit  kurzen  und  klaren  Worten  propo- 
niert,  worauf  Umfrage  zu  halten  war  nach  Ordnung  und  Session.^ 
Seine  Amtserfahrung  und  Kenntnis  der  laufenden  Geschäfte  machten 
ihn  auch  hier  fähig,  manchen  Rat  zu  geben.  Dem  alljährlich  wechselnden 
Rate  gegenüber  war  er  der  Träger  der  Tradition  und  brachte  die  un- 
erledigten Geschäfte  vom  alten  auf  den  neuen  Rat.  „Damit  nun  der 
neue  aufgegangene  Rath  von  solchen  Sachen  Wissenschaft  erlangen 
möge, ....  soll  auch  der  alte  Rath  bey  dessen  Abgang,  dem  Syndico, 
Secretario  oder  Stadt-Schreiber  selbige  dem  neuen  Rathe  zu  vermelden 
anbefehlen,  bevorab  wenn  solche  frembde  Leute,  so  hier  nicht  wohnhaft 
seyn,  betreffen."''  —  In  mancher  Beziehung  war  sein  Geschäftskreis 
nicht  streng  geschieden  von  dem  des  Syndikus,  und  wie  dieser  bei 
den  Beratungen  über  wichtige,  die  Allgemeinheit  betreffende  Fragen 
an  des  Stadtschreibers  Stelle  treten  konnte,  so  mag  auch  zuweilen  .der 
Protonotar   seine  Vertretung   übernommen   haben.    Die  Dienstverträge 


'  Im  folgenden  lege  ich  zum  Teil  die  Statuten  von  1692  zugrunde,  die  von 
1567  enthalten  über  die  Beziehungen  des  Syndikus  zum  Semneramte  noch  nichts. 

2  Statuten  1692,  S.  42f. 

'  Statuten  1692,  S.  81f. 

*  Protokolle  des  Senatus  triplicis  seit  1525,  Tl— 4;  Protokolle  des  Senatus  or- 
dinarii  seit  1570,  D  2—4. 

'  1561  Ü.-Nr.  1448  b. 

'  Statuten  1567,  Art.  66. 

'  Statuten  1567,  Art.  75. 


474  Erich  Kleeberg 

drücken  die  Verpflichtung  ganz  allgemein  aus  und  fordern  seinen  ; 
Dienst  „in  allen  vorfallenden  Sachen,  bürgerlich  oder  peinlich,  in-  und  j 
außerhalb  der  Stadt  mit  Reden,  Rat,  Schreiben,  Lesen,  Reiten."^ 

Seine  Hauptwirksamkeit  war  in  die  Kanzlei  verwiesen,   in  der  er 
die   Aufsicht    führte,    die    rechte   Ausführung   der   Ratskorrespondenz  ^ 
überwachte  und  die  städtischen  Bücher  verwahrte,  so  daß  er  jederzeit  { 
für  ihren  Inhalt  einstehen  konnte.    Hier  ging  ihm  der  ünterschreiber,,! 
sein  Substitut,  zur  Hand,  doch  blieb  die  Bearbeitung  der  Schriftstücke  ! 
von  größerer  Wichtigkeit  dem  Oberschreiber  vorbehalten.    Gerber  ver- 
stand^  unter   den    „furnempsten  Conzepf ,   deren  Verfertigung   inner- 
halb und  außerhalb  der  Versammlung  der  Räte,  des  Rats,  der  Ältesten 
ihm  besonders  gebührte:  „Missionen,  furschriften,  urpheden,  abschiede, 
kundtschaften,   geburttsbriefe,    der    erbarn   Rath    und   Rethe   Decreta,, 
Spruche,  Entscheidungen,  Intimationes  der  geboth  unde  Verbot,  Orde-' 
nunge",   also  die  Abfassung  der  Konzepte  über  alle  wichtigen  Rats- 
handlungen.   Bei  ihrer  Ausfertigung  und  ihren  Kopien  in  die  Stadt- 
bücher konnte  ihn  der  Unterschreiber  ersetzen.    Seit  L  Hübner  führte 
auch  der  ünterschreiber  oft  die  Protokolle  im  Senatus  triplex.    In  den 
Büchern   der  Kanzlei  herrschen  die  Hände  der  ünterschreiber  vor,  nur 
die  Einträge  in  das  Gesindebuch  gehörten  nach  wie  vor  zu  den  aus-, 
schließlichen  Pflichten  des  Protonotars.  j 

In  der  Form  der  städtischen  Bücher  hatten  sich  im  16.  Jahr-! 
hundert  manche  Änderungen  vollzogen.    Die  Gruppe  der  Stadtbücher^  ^ 
kam  dem  früheren  Brauch  noch  am  nächsten.    Das  Registrum  recogni- 
cionum  et  diversamm  concordiamm  und  das  Registrum  contractuum,^  ^ 
die  schon  am  Ende  des  15.  Jahrhunderts  manche  Verwirrungen  und 
Übergänge  gezeigt  hatten,  wurden  im  ersten  Viertel  des  16.  Jahrhun- 
derts wieder  in  einem  Stadtbuche,   dem  Notulbuche,*  nach  ihrem 
Inhalte   vereinigt.    Vom  Jahre   1527   wurden   die  Abmachungen   über 
Verpfändung   von  Immobilien  und  Rentenkauf  Privater  untereinander 
in  ein  besonderes  „Schuldbuch"^  eingetragen,  das  in  seinem  Inhalte 
an  das  älteste  Stadtpfandbuch  des  14.  Jahrhunderts  erinnert.    Die  ein- 
zelnen Einzeichnungen  aber  sind   ausführlicher  geworden  und  nähern 
sich  mitunter  der  Form  von  Stadtbriefen.    Rechtsgeschichtlich  haben 


^  Gesindebuch  Y  4,  2  b,  S.  7. 

^  cf.  Anhang  C  I. 

'  cf.  S.  439  f. 

*  Den  Namen  „Notulbuch"  trägt  eine  ganze  Anzahl  der  Rats-  und  Stadtbücher 
nach  der  heutigen  Registratur;  ich  habe  die  unbestimmte  Bezeichnung  in  meiner 
Darstellung  meist  durch  präzisere  Titel  ersetzt,  möchte  aber  für  die  eine  Reihe  von 
Stadtbüchern  des  16.  Jahrhunderts  den  Namen  beibehalten. 

'  E8b  2. 


Stadtschreiber  und  Stadtbücher  in  Mühlhausen  i.  Th.  475 

sich  Rentenkauf  und  Verpfändung  an  liegend  Gut  zu  einem  Realkredit- 
geschäft entwickelt;  im  Jahre  1561  wird  zum  ersten  Male  ein  solcher 
Vertrag  als  Hypothek  bezeichnet. 

Seit  1541  verzweigte  sich  das  Stadtbuch  (Notulbuch)  weiter  in 
ähnlicher  Weise  wie  im  Jahre  1441.  Ein  über  contractuum^  nahm  die 
Fälle  der  freiwilligen  Gerichtsbarkeit  über  Geld  und  Gut,  Waren-  und 
Kreditverkehr  auf;  das  alte  Notulbuch^  behielt  nur  noch  familienrecht- 
liche Abmachungen  und  Erklärungen  des  Rates,  die  sich  auf  persön- 
liche Verhältnisse  bezogen:  Zeugnisse  über  Einwohner,  Bürgerbriefe, 
Innungsbriefe.  Auch  Verträge  und  Vollmachten  für  städtische  Diener 
wurden  hier  eingezeichnet,  so  daß  das  Notulbuch  sich  wieder  mit  dem 
Gesindebuch,  der  Fortsetzung  des  alten  Ratsbuches,  berührt.  Privat- 
verträge wurden  nur  auf  Forderung  der  Parteien  eingetragen,  was  mit 
besonderen  Kosten  verbunden  war;  dafür  erhielten  sie  auch  wieder 
erhöhte  Sicherheit. 

Das  ältere  Ratsbuch,  das  Buch  der  Ratsverwaltung,  hatte  sich, 
wie  schon  festgestellt  wurde,  ca.  1458  aufgelöst.  Sein  Inhalt  war  zum 
Teil  vom  Gesindebuch  ^  übernommen  worden.  In  ihm  ist  aufgezeichnet, 
was  sich  auf  das  Personal  der  Stadtverwaltung  bezog.  Die  Namen 
der  Ratsherren  und  ihre  Ämter  wurden  seit  1525  in  das  Album  Sena- 
torum^  eingetragen.  Die  Verordnungen  des  Rates  sind  seit  1527  in 
einem  besonderen  Bande,  dem  Ediktbuche,^  zusammengefaßt.  Die  aus- 
gehenden Briefe  wurden  wie  bisher  in  die  Kopialbücher^  eingetragen, 
nur  mit  dem  unterschiede,  daß  man  sich  seit  den  70  er  Jahren  des 
15.  Jahrhunderts  auf  die  wichtigeren  Kopien  beschränkte,  deren  Ab- 
schrift besonders  vom  Rate  angeordnet  wurde.  Um  eine  bequemere 
Übersicht  der  Materien  zu  gestatten,  wurden  ihnen  mitunter  auch  Ab- 
schriften einlaufender  Briefe  zugefügt. 

Später  als  die  Resultate  der  Beratung  ging  man  daran,  den  Gang 
der  Beratung  zu  fixieren.  Seit  1525  wurde  im  Senatus  trlpiex  Proto- 
koll geführt.  Die  Führung  von  Protokollbüchern'  ist  veranlaßt  worden 
durch  die  im  restituierten  Rate  neu  belebte  Verwaltungstätigkeit,  die 
der  fürstlichen  Oberregierung  gegenüber  für  alle  Fälle  Beweismittel 
haben  wollte.  Die  Protokollbücher  des  sitzenden  Rates  sind  erst  seit 
1570,  die  des  ältesten  Rates  seit  1605  erhalten. 


'  tiandelbuch  E8a  2.  • 

'  X  1,  9. 

^  Y4,  1,  cf.  Anhang  A  IV  b, 

*  H  1,  la,  cf.  Anhang  A  V.     Bürgerbücher  sind  seit  1540  erhalten, 

'  Yl/2,  1  cf.  Anhang  A  Ib. 

^  W  9,  cf.  Anhang  A  VI. 

'  cf.  Anhang  A  III. 


476  Erich   Kleeberg 

Die  Urfehdebücher/  die  sich  1441  vom  allgemeinen  Ratsbuche 
abgelöst  hatten,  sind  auch  im  16.  Jahrhundert  in  der  alten  Weise 
geschrieben  worden;  sonst  hatten  die  Akte  der  Kriminalgerichtsbarkeit 
des  Rates  in  der  vorigen  Periode  noch  keine  regelmäßigen  Aufzeich- 
nungen in  Ratsbüchern  beansprucht.  Erst  seit  1460  führten  die 
städtischen  Schreiber,  meist  der  Subnotar,  ein  über  excessuum,  das 
Buch  der  Brüche,^  in  das  die  Vergehungen  gegen  die  Ratsstatuten 
eingezeichnet  wurden.  Es  handelte  sich  hier  nicht  darum,  die  Bußen 
zu  fixieren,  sondern  vielmehr  die  Namen  des  Schuldigen  und  seinen 
Frevel  festzustellen,  um  im  Wiederholungsfalle  strengere  Maßregeln 
treffen  zu  können.  Die  leichteren  Verbal-  oder  Realinjurien  der 
Bürger  untereinander,  die  nicht  vom  Rate  nach  den  Statuten  verfolgt 
wurden,  sondern  die  meistens  die  Scheltherren  auf  der  Scheltlaube 
schlichteten,  sind  seit  1543  in  ein  besonderes  „Scheltbuch  und  Friede- 
gebotregister" ^  eingezeichnet,  nachdem  sie  bis  zu  diesem  Jahre  im 
Notulbuche  mitunter  Platz  gefunden  hatten.  Schon  seit  1527  hatte 
man  auch  in  den  ürgichtbüchern*  die  Aussagen  in  peinlichen  Fällen 
niedergeschrieben. 

So  hatte  das  alte  Ratsbuch  in  den  zahlreichen  Verwaltungs-  und 
Polizeibüchern  einen  Ersatz  gefunden  bis  auf  die  Kopien  wichtiger 
einlaufender  Briefe  und  Dokumente;  aber  diese  Abschriften  wurden  über- 
flüssig, seitdem  man  ein  größeres  Gewicht  auf  eine  systematische 
Registratur  der  Originale  legte. 

Die  Registratur  in  früheren  Jahrhunderten  haben  wir  uns  sehr 
primitiv  vorzustellen,  da  aus  früheren  Zeiten  nur  selten  Vermerke  einer 
registrierenden  Hand  über  Inhalt,  Datierung  und  weitere  Behandlung 
auf  den  einlaufenden  Schriftstücken  angebracht  sind.  Die  Originale, 
soweit  man  sie  überhaupt  des  Aufhebens  für  wert  hielt,  wurden  ohne 
besondere  Ordnung  im  einzelnen  Truhen  aufbewahrt.  Als  im  Jahre 
1526  tierzog  Georg  von  Sachsen  die  städtischen  Privilegien  zur  Ein- 
sicht (!)  einforderte,  konnte  der  Rat  ihre  Versendung  mit  der  Begrün- 
dung^ verweigern,  daß  „der  Kasten,  wo  die  Privilegien  und  andere 
Briefe  und  Händel  aufbewahrt  werden,  sehr  lang  und  fast  unverschlossen 
sei".  Beim  Transport  würden  die  Briefe  hin-  und  hergeschüttelt,  und 
die  Siegel  verletzt  werden.  Diese  Kasten  werden  an  anderer  Stelle^ 
als   die  „langen  Truhen"   oder   die   „langen   Kisten"   bezeichnet.     Die 

^  cf.  Anhang  A  11  4. 

'  Auf  J,  cf.  Anhang  A  II  1. 

'  ti  8,  1  cf.  Anhang  A  II  3. 

*  Auf  J,  cf.  Anhang  A  II  2. 

'  Kopialbuch  W  11,  S.  94  (1526). 

®  Syndikatsbestallungen  1542:  Brief  des  Adolarius  von  Ottera. 


Stadtschreiber  und  Stadtbücher  in  Mühlhausen  i.  Th.  477 

Kämmereiregistratur  befand  sich  in  des  Rates  Silberl^ammer,^  von  ein- 
zelnen Quittungen  ist  bemerl^t,  daß  sie  in  der  Kämmerei  Goldiaden^ 
oder  im  Guldenkästlein  ^  niedergelegt  worden  seien. 

Seit  dem  Jahre  1525,  seit  Bauseis  Tätigkeit  in  der  Kanzlei,  sind 
dje  einlaufenden  Briefe  regelmäßiger  mit  Bemerkungen  über  Inhalt  und 
Empfangsdatum  versehen.  Um  die  Mitte  des  Jahrhunderts  sind  dann 
einzelne  wichtige  Materien,  z.B.  die  Kaiserurkunden,  durchlaufend  nume- 
riert worden.  Es  mag  das  in  derselben  Zeit  ungefähr  geschehen  sein,  in 
der  die  Stadtschreiber  die  noch  vorhandenen  Privilegienurkunden  in 
drei  Bänden*  zusammengeschrieben,  in  den  40er  Jahren.  1576  wurde 
eine  neue  systematische  Registratur  der  Urkunden  vorgenommen.  Es 
wurde  ein  Repertorium^  angelegt,  das  nach  Buchstaben  geordnet  das 
urkundliche  Material  verzeichnet.  Es  umfaßt  bloß  die  Buchstaben  A— P; 
da  aber  von  derselben  Hand  auf  der  Rückseite  der  Urkunden  sich  auch 
die  Buchstaben  Q— BB  finden,  muß  ein  zweiter  Band  des  Registers 
verloren  gegangen  sein.  Das  Repertorium  wurde  1576  oder  kurz  vorher 
angelegt,  denn  bis  1576  sind  die  Stücke  von  einer  Hand  registriert 
und  häufen  sich  gerade  in  diesem  Jahre. 

Der  gesamte  Inhalt  ist  nach  Materien  in  Gruppen  eingeteilt,  deren 
jede  mit  einem  großen  Buchstaben  überschrieben  ist,  innerhalb  dieser 
Rubriken  sind  dann  die  Stücke  chronologisch  aufgezählt.  Das  Ein- 
teilungsprinzip der  ersten  Gruppen  läßt  sich  noch  ungefähr  übersehen. 
A  und  B  umfassen  die  Kaiserurkunden:  Privilegien  und  Konfirmationen; 
CDE -Verträge  mit  benachbarten  Fürsten  und  Herren,  Schutzbriefe  usw.; 
F  Lehnssachen;  G  Quittungen  in  Reichsangelegenheiten;  H  Quittungen 
in  anderen  Sachen,  auch  sind  hier  manche  Kleinigkeiten  untergebracht; 
K  Dienstbestallungen  usw.  War  in  dem  Register  der  für  Nachträge 
einer  Gruppe  freigelassene  Raum  ausgefüllt,  so  beschrieb  man  die 
letzten  freien  Blätter  des  Bandes  in  buntem  Durcheinander.  Das  Reper- 
torium wurde  1602  in  der  alten  Art  erneuert;  1617  trat  eine  völlige 
Neuordnung  des  Archivs  ein.  —  Der  Handschriftenvergleich  lehrt,  daß 
auch  ungefähr  in  den  70  er  Jahren  eine  Ordnung  der  Briefe  vor- 
genommen wurde.  Diese  wurden  nach  Absendern  geordnet,  in  ge- 
wöhnlicher Weise  gefaltet,  aufbewahrt. 


'  z.  B.  Gesindebuch  Y  4,  2,  S.  124b;  148;  161;  241. 
-  Kämmereirechnung  1647;  Lukas  Otto. 

^  Kämmereirechnungen  1561;  1563,  unter  Ausgaben  für  die  Schreiber. 
*  D5ab  3,  1—3  drei  Bände;  die  Haupthandschrift  ist  die  des  Lib.  Schröter, 
des  ünterschreibers  der  Jahre  1543—50. 
'EEl. 


478  Erich  Kleeberg 

Fassen  wir  unsere  Ergebnisse  kurz  zusammen,  so  erfolgte  die  Aus- 
gestaltung des  Stadtschreiberamtes  in  Mühlhausen,  obschon  durch  die 
Gewohnheiten  anderer  Städte  vielfach  beeinflußt,  doch  aus  den  beson- 
deren lokalen  Bedingungen;  sie  ließ  sich  nur  im  Zusammenhange  mit 
der  allgemeinen  Geschichte  der  städtischen  Verwaltung  und  Politik 
verstehen.  Drei  Hauptpunkte  sind  in  der  Entwicklung  festzuhalten: 
Die  Einrichtung  einer  Schreibstube  durch  Zuteilung  des  ersten  Hilfs- 
schreibers und  die  dadurch  nötige  Regelung  der  Arbeitsweise  ca.  1340, 
die  Vereinigung  des  Stadtschreiberamtes  mit  dem  öffentlichen  Notariat 
1460  und  die  Anstellung  des  ersten  juristisch  gebildeten  Laien,  des 
Syndikus,  1523.  Diese  drei  Entwicklungsstufen  waren  durch  den 
wachsenden  Umfang  der  Geschäfte  bedingt. 

Wenn  die  bisherigen  Untersuchungen  über  das  Stadtschreiberamt 
mit  Ausnahme  der  schon  mehrfach  genannten  Arbeit  Steins  vor  allem 
als  Hilfsmittel  für  eine  kritische  Quellenedition  angelegt  sind,  so  hoffe 
ich  gezeigt  zu  haben,  daß  auch  die  Betrachtung  des  Amtes  an  und  für 
sich  eine  Sonderdarstellung  wert  ist.  Wurde  doch  der  Protonotar 
unter  der  Regierung  des  Mühlhäuser  Rates,  der  die  meisten  Ver- 
waltungszweige mit  seinen  Ratsmitgliedern  besetzte,  aus  einem  gewöhn- 
lichen ürkundenschreiber  bald  der  höchste  städtische  Beamte,  der 
Lenker  des  Stadtwesens.  Als  Syndikus  und  Stadtjurist  trat  er  auch 
mit  der  Bürgerschaft  in  nahe  Berührung,  und  manche  interessante 
Persönlichkeit  mag  sich  hier  im  engen  Kreise  gebildet  haben.  Es  ist 
nur  zu  bedauern,  daß  die  Überlieferung  zu  dürftig  ist,  um  uns  Männer 
wie  Eisenhart  und  Raven  persönlich  nahe  zu  bringen.  Lukas  Otto 
und  Nikolaus  Fritzlar  stehen  schon  deutlicher  vor  unseren  Augen,  und 
wir  können  erkennen,  daß  sie  auch  unter  ihren  Zeitgenossen  eine 
geachtete  Stellung  einnahmen.  Waren  die  Schreiber  auch  nur  Beamte 
und  Diener  des  Rates,  so  konnten  sich  doch  ihre  vornehmsten  Ver- 
treter dem  bevorrechteten  Ratsstande  gegenüber  gleichwertig  fühlen. 
Als  der  bekannte  Organist  Joachim  a  Burck  sich  als  Ratsherr  1588 
um  den  Dienst  eines  Gerichtsaktuars  bewarb,  schrieb  er  mit  Selbst- 
bewußtsein, daß  ihm  ein  solcher  Dienst  „zu  unheill  und  nachteill  gar 
mitt  nichten  gelangen  mögen,  sintemall  aller  menschen  lebenn  vom 
höchsten  biß  zum  niederigsten  —  salva  tarnen  et  observata  graduum, 
dignitatum,  ordinum,  statuum,  et  officiomm  quoque  discretione  —  eine 
stett  werende  dienstbarkeitt  sine  omni  exceptione  ist  unnd  bleibett,  darzu 
die  Schreibfeder  unbescholtener  diener  in  allen  regimenten,  gerichten 
und  handlungen  daß  nötigste  unndt  nutzlichste  mittellist". 


Stadtschreiber  und  Stadtbücher  in  miihlhausen  i.  Th.  479 


4 


Anhang 


Beschreibung   der   Mühlhäuser   Stadtbücher   des   13.— 16.  Jahr- 
.Ifiunderts,  mit  einem  Verzeichnis  wichtiger  Editionen  mittelalter- 
licher Stadtbücher 

ältere  Werke,  soweit  sie  aufgenommen  sind  in  W.  Th.  Kraut:  Grundriß  zu  Vor- 
lesungen über  das  Deutsche  Privatrecht,  6.  Aufl.  von  F.  Frensdorff,  Berlin  und 
Leipzig  1886  —  bleiben  unberücksichtigt. 

unter  mittelalterlichen  Stadtbüchern  sind  zu  verstehen  alle  Bücher, 
bie  der  Verwaltungstätigkeit  des  Rates  oder  einer  anderen  städtischen 
Behörde  entstammen  und  von  öffentlichen  Schreibbeamten  geführt 
«wurden.  Der  Zweck  ihrer  Anlage  war  ein  doppelter.  Sie  dienten  zu- 
nächst Aufzeichnungen  über  das  öffentliche  Recht  der  Stadt  und  über 
die  Verwaltungstätigkeit  der  regierenden  Behörde:  sie  wurden  not- 
wendig mit  der  Ausdehnung  einer  komplizierteren  Verwaltung  und 
mit  dem  spätestens  im  14.  Jahrhundert  sich  allgemein  geltend  machen- 
den Bedürfnis  nach  schriftlicher  Fixierung.  Ich  fasse  diese  städtischen 
Bücher  unter  der  Bezeichnung  „Ratsbücher"  zusammen,  wobei  ich 
aus  Zweckmäßigkeitsgründen  die  Bücher,  die  der  Finanzverwaltung 
dienen,  als  eine  Sondergruppe  behandele. 

Auf  eine  andere  Wurzel  gehen  die  Reihen  von  Büchern  zurück, 
die  ich  „Stadtbücher"  im  engeren  Sinne  nennen  wül;  sie  enthalten 
Verträge  der  Bürger  und  anderer  Personen  über  Übergabe  und  Be- 
lastung von  Eigentum,  zunächst  nur  Fälle,  die  das  Recht  an  Immo- 
bilien betreffen;  Register  über  Akte  der  freiwilligen  Gerichtsbarkeit  an 
Mobilien  sind  im  allgemeinen  später  begonnen  worden. 

Die  Heimat  der  Stadtbücher  liegt  im  Gebiete  des  sächsischen 
Rechts,  in  dem  diese  Aufzeichnungen  in  amtlich  beglaubigten  Registern 
den  Wert  eines  urkundlichen  Zeugnisses  mit  gerichtlicher  Beweiskraft 
bekamen.  Sie  ersetzten  in  diesen  Gebieten  die  urkundliche  Zeugnis- 
ausstellung in  Stadt-  und  Gerichtsbriefen,  die  neben  der  Eintragung 
in  Stadtbücher  auch  weiterhin  je  nach  den  städtischen  Gewohnheiten 
mehr  oder  weniger  Platz  hatte.  Die  Anfänge  dieser  Stadtbücher  lassen 
sich  in  einigen  Städten  bis  in  das  13.  Jahrhundert  zurückverfolgen 
(Magdeburg  seit  1215,  aber  verloren);  —  Köln  hat  mit  seiner  Schreins- 
kartenpraxis seit  1135  eine  eigene  Entwicklung.  —  Doch  wird  in  solchen 
frühen  Fällen  der  Eintrag  noch  keine  gerichtliche  Beweiskraft  gehabt 
haben;  er  diente  nur  zur  Unterstützung  der  mündlichen  Zeugenaussagen. 
Als  man,  eigentlich  erst  seit  dem  Ende  des  14.  Jahrhunderts  dazu 
schritt,  Verhandlungen  und  Urteile  in  streitigen  Sachen  schriftlich  fest- 


480  Erich   Kleeberg 

zuhalten,  wurden  solche  Fälle  zum  Teil  auch  in  die  Stadtbüchei 
aufgenommen,  oder  sie  wurden  in  eigenen  Büchern  geführt,  dit 
ich  in  den  meisten  Fällen  unter  der  Kategorie  der  Stadtbücher  mit  zu- 
sammenfassen kann.  Ein  Übergang  in  die  Gruppe  der  Ratsbüchei 
findet  vor  allem  unter  dem  Gesichtspunkt  statt,  daß  man  urteile,  die 
man  als  Präzedenzfälle  ansah,  unter  die  Rubrik  der  Stadtrechte,  dei 
Willküren,  aufnahm,  ja  ganze  Sammlungen  in  sogenannten  ürteilsbücherr 
anlegte,  wie  sie  uns  in  den  Schöppenstuhl-  und  Oberhofakten  vorliegen 
Gerichtsbücher  (oft  vor  Schöffenkollegien  oder  ähnlich  geführte 
Register)  und  Stadtbücher  können  in  diesem  Zusammenhange  nach 
Ihrem  Inhalt  unter  demselben  Gesichtspunkte  betrachtet  werden.  Das 
Unterscheidende  an  ihnen  ist  die  Verschiedenheit  der  Behörden,  vor 
denen  die  Verhandlungen  geführt  wurden;  das  Verhältnis  des  Rates 
zu  einem  besonderen  Stadtgericht  ist  in  den  einzelnen  Städten  nach 
ihrer  verfassungsrechtlichen  Entwicklung   außerordentlich  verschieden. 

um  die  mittelalterlichen  Stadtbücher,  die  den  verschiedensten  Wissenszweigen 
ein  reiches  Quellenmaterial  bieten,  in  zweckentsprechender  Weise  der  Wissenschaft 
nutzbar  zu  machen,  wäre  es  längst  nötig,  das  überlieferte  Quellenmaterial  übersicht- 
lich zusammenzustellen.  Denn  nur  aus  einem  Vergleich  der  Archivalien  möglichst 
vieler  Städte  nach  Alter  und  Inhalt  kann  man  den  richtigen  Maßstab  für  den  Quellen- 
wert der  einzelnen  Stücke  und  für  eine  fruchtbringende  Edition  gewinnen.  Von  den 
Werken,  die  in  diesem  Sinne  Beschreibungen  mittelalterlicher  Stadtbücher  bieten, 
seien  hier  die  wichtigsten  genannt: 

tiomeyer:  Über  die  Stadtbücher  des  Mittelalters,  insbesondere  das  Stadt- 
buch von  Quedlinburg  (Abhdlg.  d.  Berliner  Akad,  d.  Wiss.  1860).  Laban d:  Die 
schlesischen  Stadtbücher  (Zeitschr.  f.  Gesch.  Schlesiens  4,  1862).  Hansische  Ge- 
schichtsblätter: Reiseberichte  in  den  Nachrichten  des  Hansischen  Geschichtsvereins. 
Koppmann:  Rundschau  über  die  Literatur  der  hansischen  Geschichte  (Hansische 
Geschichtsbl.  I.  2,  1872).  Proschaska:  Über  die  Entstehung  und  Entwicklung 
der  ältesten  Stadtbücher  in  Böhmen  (Mitteil.  d.  Ver.  f.  Gesch.  d.  Deutschen  in  Böhmen, 
22.  Jahrg.  1884).  Ermisch:  Die  sächsischen  Stadtbücher  des  Mittelalters  ( Neues | 
Archiv  für  sächs.  Geschichte  u.  Altertumskunde  10,  Dresden  1889)  dazu  20,  1899.  | 
Aubert-Doublier:  Beiträge  zur  Geschichte  der  deutschen  Grundbücher  (Zeitschr. | 
d.  Savignystiftung  f.  Rechtsgeschichte  14,  1893).  Fabricius-Manke-Wehrmann: 
Die  erhaltenen  Stadtbücher  Pommerns  bis  1500  (Baltische  Studien  46,  1896).  War- 
schauer: Die  ma.  Stadtbücher  der  Provinz  Posen  (Zeitschr.  d.  histor.  Gesellsch.  f. 
Posen  11;  12,  1896/97).  Derselbe:  Die  städtischen  Archive  in  d.  Provinz  Posen 
(Mitteil.  d.  kgl.  preuß.  Archivverwaltung  H.  5,  1901).  Die  Inventare  der  nicht- 
staatlichen Archive  Schlesiens  I.  Die  Kreise  Grünberg  und  Freystadt,  hrsg.  Wutke 
1909.  Mitteilungen  aus  dem  Kölner  Stadtarchiv.  Eine  umfassende  Zusammenstellung 
des  handschriftlichen  und  gedruckten  Materials  plant  Prof.  K.  Beyerle,  womit  dann 
ein  vorläufiger  Abschluß  dieser  Arbeiten  erreicht  sein  wird.  In  meiner  Zusammen- 
stellung beschränke  ich  mich  darauf,  zu  den  Gruppen  der  Mühlhäuser  Stadtbücher 
die  entsprechenden  Editionen  aus  anderen  Archiven  zu  verzeichnen,  wobei  ich  das 
Verzeichnis  in  dem  schon  genannten  Werke  Kraut-Frensdorff  S.  24— 33;  S.  58 
bis  60  voraussetze,  ohne  aber  den  Anspruch  auf  Vollständigkeit  erheben  zu  wollen. 


Stadtschreiber  und  Stadtbücher  in  Mühlhausen  i.  Th.  481 

Die  reichen  Schätze  des  Mühlhäuser  Archivs  sind  einer  breiteren 
Öffentlichkeit  noch  wenig  bekannt  geworden.  Einen  kurzen  Überblick 
über  den  handschriftlichen  Bestand  an  Akten  und  Büchern  bietet  an 
der  Hand  des  dreibändigen  Archivregisters  Mitzschke:  Wegweiser 
durch  die  historischen  Archive  Thüringens,  Gotha  1900.  Einen  Ein- 
blick in  das  Urkundenmaterial,  das  2000  Nummern  übersteigt,  gewährt 
Heydenreich:  Das  Archiv  der  Stadt  Mühlhausen  in  Thüringen  (Ge- 
schichtsbl.  2). 


A.   Ratsbücher 
I.  Stadtrechte,  Statuten  und  Ordnungen 

a)  Stadtrecht  und  Willküren  cf.  S.  440 

1.  Stadtrecht  von  ca.  1250,  das  als  ältestes  mitteldeutsches  Stadt- 
recht in  deutscher  Sprache  besonderes  Interesse  verdient.  Es  ist  wie 
die  gleich  zu  erwähnenden  Statutenkodifikationen  (Welkoeren)  des 
14.  Jahrhunderts  gedruckt  und  beschrieben  bei  Lambert:  Die  Rats- 
gesetzgebung der  freien  Reichsstadt  Mühlhausen  i.  Th.  im  14.  Jahr- 
hundert, Halle  1870.  Einen  verbesserten  Druck  dieses  ältesten  Stadt- 
rechts bietet:  Herquet:  Mühlhäuser  ürkundenbuch  (Geschichtsqu.  d. 
Provinz  Sachsen  III.   1874). 

2.  Der  Stadt  Willküren  von  13111       ,      ,,         ,       ,■ 

ca  13501  S^^^"^*^*  vö"  Lambert  s.  oben. 

3.  Der  Stadt  Willküren  von  1401,  erhalten  nur  in  einer  späteren  Ab- 
:hrift,  gedruckt  von  Bemmann:  Mühlhäuser  Geschichtsblätter  9, 1908. 

Ratsbücher.     I.  Stadtrechte,  Statuten  und  Ordnungen 

1.  Bruchstücke  einer  alten  Stadtordnung  von  Besigheim;    Breining  (Zeitschr. 

d.  Gesch.  d.  Oberrheins,  N.  F.  18,  Heidelb.  1903).  2.  Stadtbuch  von  Brüx  bis 
i26;  Schlesinger  (Beiträge   zur   Gesch.    Böhmens    Abt.  IV.  Bd.  1,   Prag   1876). 

Aus  dem  Ratsarchiv  der  Stadt  Crimmitschau;  Ermisch  (Neues  Arch.  f.  sächs. 
jech.  22,  1901).  4.  Eine  Danziger  Willkür  aus  der  Ordenszeit;  Günther  (Zeitschr.  d. 
'^estpreußischen  Geschichtsvereins  H.  48,  Danzig  1905).  5.  Eine  Sammlung  des 
inbecker  Stadtrechts;  Feise  (Zeitschr.  d.  hist.  Ver.  f.  Niedersachs.  1899).  6.  Ge- 
leindestatut  der  Stadt  Feldberg]  Längle  (Jahresber.  des  Vorarlberger  Museums- 
jreins  38).  7.  Freiberger  Stadtrecht;  Ermisch:  Ürkunden-Buch  d.  Stadt  Freiberg 
^od.  dipl.  Sax.  reg.  14,  Leipzig  1891).    8.  Die  Stadtrechte  von  Freiburg  und  Arconciel- 

?ns  i.  üechtland;  Zehntbauer,  Innsbruck  1906.  9.  Göttinger  Statuten,  2  T.  auf 
^achstafeln;  v.  d.  Ropp  (Qu.  u.  Darst.  z.  Gesch.  Nieders.  25).  10.  Ältestes  Greifs- 
lider Stadthuch ;  Kosegarten  (Pommersche  Geschichtsdenkm.  I.  1834).   11.  Das  alte 

itutenbuch  der  Stadt  fiagenau  ;  Hanauer,  Kiele,  tiagenau  1900.  12.  Mitteilungen 
IS  dem  alten  Stadtbuche  und  dem  alten  Bürgerbuche  der  Stadt  Hannover;  Fi  edel  er 
Zeitschr.  des  histor.  Ver.  f.  Niedersachsen  1876).    13.  Das  Stiftungsbuch  von  Husum; 

Afü    II  31 


482  Erich   Kleeberg 

4.  Der  Stadt  Willküren  von  1567,  erhalten  in  mehreren  gleich- 
zeitigen Handschriften  T8c  6;  6a;  6b. 

5.  Ratsrezesse:  alter  Druck  der  Rezesse  von  1642  ab. 

6.  Willkür  von  1692;  alter  Druck. 

b)  Ediktbücher 

Y  1/2  umspannen  in  12  Bänden  die  Jahre  1527—1802.  Es  sind 
Papierbände  in  dem  im  Mühlhäuser  Archiv  üblichen  Format  32x22, 
eingebunden  in  rote,  grüne  oder  gelbe  Pappdeckel  mit  goldenem  Stadt- 
wappen. In  meiner  weiteren  Beschreibung  gebe  ich  nur  noch  Ab- 
weichungen von  dieser  Form  besonders  an. 

c)  Kleinere  Ordnungen 

1.  Zollordnung  ti  16,  1  (1):  2  Pergamentblätter  20x15  aus  dem 
Anfang  des  15.  Jahrhunderts,  enthaltend  ein  Verzeichnis  des  Zolls  und 
der  Wage.  H  16,  1  (2):  6  Pergamentblätter  26x20  vom  Jahre  1531 
mit  gleichem  Inhalt. 

2.  Heimburgenordnungen  H  13,  1  u.  2a:  drei  Ordnungen  aus  dem 
Jahren  1544,  66,  82  verschiedenen  ümfanges. 

3.  Punkte  Salariorum  H  1  3a  1565. 

4.  Gerichtsordnung  T  8  c.  10  S.  201—10. 

5.  Holzordnung  T8  c.  10  S.  220b— 23,  1565. 

6.  Marktordnung  ti  22,  la,  1568. 

7.  Wasseramtsregister  H  23,  1;   2  Bde.  1534—1614. 

8.  Feuerordnung  H  29,  1.  1574—1708. 

9.  Brau-,  Bäcker-,  Fleischhauerordnung  H  28,  la,  1518 — 60.  Brauordnung 
H  28,  lg:  ein  Pergamentblatt  aus  dem  15.  Jahrhundert. 

10.  Verzeichnis  des  Landwehrgeldes  der  Dörfer  a.  1381,  drei  Perga- 
mentblätter 20x15. 

Henningsen,  Husum  1904.  14.  Das  Kieler  Denkelbok;  Gundlach  (Mitteil.  d.  Ges. 
f.  Kieler  Stadtgesch.  XXIV.  1909).  15.  Akten  und  Urkunden  zur  Geschichte  der  Ver- 
fassung und  Verwaltung  der  Stadt  Koblenz  bis  zum  Jahre  1500;  Bär  (Publik,  d. 
Ges.  f.  rhein.  Geschichtsk.  17,  Bonn  1898).  16.  Akten  zur  Geschichte  der  Ver- 
fassung und  Verwaltung  der  Stadt  Köln,  14.  u.  15.  Jahrh;  Stein  (Publik,  d.  Ges. 
f.  rhein.  Geschichtsk.  10,  Bonn  1893/95).  17.  Urkunden  und  Aktenstücke  zur  Geschichte 
des  Leipziger  Rates,  seit  1469;  Wustmann  (Qu.  z.  Gesch.  Leipzigs  II,  1865). 
18.  Lubliner  ältestes  Stadtbuch;  ülanowski  {Scriptores  rerum  Polonicarum  9,  Krakau 
1886).  19.  Die  älteste  Lübecker  Zollrolle  ca.  1227;  Hasse  (Hans.  Geschichtsbl.  1893). 
20.  Statuten  der  Stadt  Münden,  1467;  Doebner  (Zeitschr.  d.  histor.  Ver.  f.  Nieders. 
1899).  21.  Das  älteste  Stadtbuch  von  Olmütz,  1343;  Bischoff  (Ber.  d.  kais.  Akad. 
zu  Wien,  philos.-histor.  Klasse  85,  1877).  22.  Stadtbuch  von  Posen;  Warschauer 
(Sonderveröffentlichungen  der  bist.  Ges.  für  d.  Provinz  Posen  I).  23.  Küren  der 
Stadt  Ratingen  aus  dem  14.  Jahrb.;  Eschbach  (Beitr.  z.  Gesch.  d.  Niederrheins  14). 
24.  Die  älteste  Gerichtsordnung  Rostocks  {miit  des  15.  Jahrb.);  Koppmann  (Beitr. 
z.  Gesch.  V.  Rostock  III,  4,  1900).  25.  Das  ältere  Recht  der  Reichsstadt  Rottweil; 
Greiner,  Stuttg.   1900.     26.    Straßbürger  ürkundenbuch,  I.Abt.  Bd.  I;  Wiegand. 


Stadtschreiber  und  Stadtbücher  in  Mühlhausen  i.  Th.  483 

IL  Polizeibücher 

1.  Bruchbuch  (über  excessuum)  auf  J.  In  den  Jahren  1460—1654 
7  Bücher.  Die  beiden  ersten  Bücher  1460—1500;  1517—48  in  dem 
Format  22x16. 

2.  ürgichtbücher,  auf  J.  In  den  Jahren  1526—1613  8  Bücher,  die 
beiden  ersten  1526—33;  1534—48  in  dem  Format  22x16. 

3.  Scheltbuch  und  Friedegebotregister  H  8,  1  1543—1614,  1  Bd. 

4.  Urfehdebücher,  gegen  T.     In  den  Jahren  1441—1675  19  Bücher. 

III.  Ratsprotokolle 

1.  Des  Senatus  triplicis,  Tl-4.  In  den  Jahren  1525  —  1757 
34  Bücher. 

2.  Des  Senatus  ordinarii  D  2—4.  In  den  Jahren  1570  —  1801 
78  Bücher. 

3.  Des  Senatus  intimi.  T5/6.    In  den  Jahren  1604-1757  20  Bücher. 

Bd.  IV  2;  Schulte  und  Wolfram.  27.  Das  älteste  Trierer  Stadtrecht;  Kentenich 
(Trierisches  Archiv  ti.  7,  Trier  1904).  28.  Das  rote  Buch  der  Stadt  Ulm,  1376—1445; 
Mo  11  wo  (Württemberger  Geschichtsqu.  Stutt.  1905).  29.  Weidas  Stadtrechte  von 
1377  und  1483;  Franke  (Jahresber.  des  Vogtländer  Altertumsforschenden  Ver. 
tiohenleuben  H.  75,  1905).  30.  Die  Bürgersprachen  der  Stadt  Wismar;  Te sehen 
(Hansische  Geschichtsqu.  N.  F.  3,  1906).  31.  Stadtrecht  von  Znaim  1314;  Rößler 
(Deutsche  Rechtsdenkm.  aus  Böhmen  und  Mähren  II.  Prag  1852).  32.  Stadtrechte  im 
Herzogtum  Gotha;  von  Strenge  (Mitteil.  d.  Vereinigung  f.  Gothaische  Gesch.  u. 
Altertumsforschung,  Friedrichroda  1903). 

Neue  systematische  Publikationen  auf  diesem  Gebiete  sind  begonnen  durch 
die  Veröffentlichungen  der  historischen  Kommission  für  Westfalen  (Münster)  seit 
1901  für  die  Westfälischen  Städte,  der  Badischen  historischen  Kommission  seit  1895 
für  die  Oberrheinischen  Städte  (fränkische,  alemannische,  elsässische  Stadtrechte)  und 
des  Schweizer  Juristenvereins  (Aarau)  seit  1898:  Sammlung  Schweizer  Rechtsquellen. 
Einen  Überblick  über  diese  Arbeiten  geben  Beyerle  (Deutsche  Geschichtsbl.  V,  1904) 
und  Köhne  (Correspondenzblatt  des  Gesamtvereins  53,  1904).  Eine  Übersicht  über 
das  Quellenmaterial  für  die  Edition  der  Badischen  und  Esässischen  Stadtrechte  haben 
Schröder  und  Köhne  (Zeitschr.  f.  d.  Gesch.  d.  Oberrheins  10;  13)  geboten. 

Als  städtische  Rechtsbücher  sind  auch  die  Sammlungen  von  Schöffensprüchen 
in  den  städtischen  Oberhöfen  zu  betrachten:  1.  urkundliches  Material  aus  den 
Brandenburger  Sch'6p\i^nsi\lh\?i\ii^n;  Stölzel,  Berlin  1901).  2.  Magdeburger  ^c\[6\^Qr\- 
sprüche;  Friese  und  Liesegang  I.  1 — 4  Berlin   1901. 

II.   Polizeibücher 

1.  Jauersche  Wachstafeln;  Lindner  (Archiv.  Mitteil,  in  Zeitschr.  d.  Ver.  f.  schles. 
Gesch.  9,  1868).  2.  A'raÄawer  Proskriptionsbuch  1362 — 1400;  Piekosinski,  Szujski 
(Mon.  medii  aevi  historica  res  gestas  Poloniae  illustrantia  ,  Tom.  4,  Krakau  1878). 
3.  Das  älteste  Leipziger  ürfehdebuch,  1390—1480;  Wustmann  (Qu.  z.  Gesch.  Leipzigs 
II,  1895).  4.  Das  Freiberger  Verzählbuch  (15.  Jahrh.);  Er  misch  Freiberger  Urkunden- 
buch  (Cod.  dipl.  Sax.  reg.  14).  5.  Das  Achtbuch  des  Egerer  Schöffengerichts  1310 
bis  1668;  Siegl,  Prag  1903  (auch  in  Mitteil.  d.  Ver.  f.  Gesch.  d.  Deutschen  in 
Böhmen  39;  41). 

31* 


484  Erich   Kleeberg 

IV.  Ratsbücher  im  engeren  Sinne 

a)  Ratsbücher  vermischten  Inhalts  cf.  S.  436f. 

1.  X.  Ib  1371/72.     Fragment  eines  Ratsbuches  bestehend  aus 
neun  Pergamentblättern  im  Format  24x16. 

2.  Xlc  1398,  Papierheft  in  Pergamentumschlag,  11  Blätter. 

3.  X  Id  1405/06  10  Blätter  wie  in  Xlc. 

4.  X  le  1408/09  16  Blätter  wie  in  X  Ic. 

5.  X  2  1415—26  57  Blätter  in  neuerem  Einband. 

6.  X  4  1427—31  36  Blätter  wie  X  2. 

7.  X  5  1432  32  Blätter  wie  X  2. 

8.  X  6  1.  Teil  1441—56.    Kopien  einlaufender  Briefe  79  Blätter. 

2.  Teil  1441—58.    Stipendiarii  61  Blätter. 

b)  Gesindebücher  Y  4, 1.    In  den  Jahren  1502—1655  6  Bücher. 

c)  Geleitsregister  D  5cd  9,  schmales  Papierheft  im  Format  32x12, 
begonnen  im  Jahre  1525. 

d)  Privilegienbücher  D  5ab  3. 

1.  über  primus  92  Blätter.    Mitte  des  16.  Jahrhunderts  angelegt. 

[2.  ist  noch  nicht  wiedergefunden]. 

3.  26  Blätter  Ende  des  16.  Jahrhunderts  begonnen. 

V.  Namenlisten 

1.  Bürgerlisten  H  26,  2a.  Ein  Fragment  bestehend  aus  sieben 
Pergamentbl.  32x22,  das  die  Jahre  1414— 91  mit  einigen  Lücken  enthält, 
cf.  S.  441. 

2.  Bürgerregister  ti  26,  2.  Der  1.  Bd.  enthält  die  Jahre  1540—1612, 
weitere  Bücher  bis  1802. 

3.  Album  Senatomm  H  1,  1.  Aus  den  Jahren  1525—1802  sieben 
Bücher.  Das  erste  Buch,  das  von  1525—1602  reicht,  hat  ca.  250  Blätter 
im  Format  32x12. 

4.  Verzeichnis  der  Kriegspflichtigen  aus  Stadt  und  Dörfern,  a)  K 1,  la. 
42  Papierblätter  (30x12)  der  Jahre  ca.  1450—80.  ß)  K  1,  Ib  Kriegs- 
listen aus  dem  16.  Jahrhundert,  jetzt  in  7  Bänden  vereinigt. 

5.  Verzeichnisse  der  Brau-  und  Holzberechtigten  seit  dem  16.  Jahrhundert. 
H  28, 11  und  tl  19. 

IV.  Ratsbücher  im  engeren  Sinne 

1.  Stadtbuch  von  Leipzig  vom  Jahre  1539;  Gersdorf  (iWitteil.  d.  deutschen 
Ges.  in  Leipzig,  Leipz.  1856).  2.  Freiberger  Stadtbücher;  Ermisch:  Freiberger 
Urkundenb.  siehe  oben.  3.  Züricher  Stadtbücher;  Zeller-Werdmüller,  Leipz.  1899 
bis  1906.  Bd.  3  von  Na b holz,  Leipzig  1906.     " 

V.  Namenlisten 

1.  Braunsberger  Bürgerbuch  1344-59;  Cod.  dipl.  Warm.  IL  Nr.  305.  2.  Danziger 
Kürbuch;  tiirsch  (Scriptor.  rer.  Pruss.  4,  S.  315—34).    3.  Freiberger  Stadtbücher 


Stadtschreiber  und  Stadtbücher  in  Mühihausen  i.  Th.  485 

I  VI.  Briefbücher  cf.  S.  428 

Kopialbücher  (Kopien  der  auslaufenden  Briefe)  W.  In  den  Jahren 
1382-1805  76  Bücher;  um  1400  füllt  ein  Jahrgang  etwa  50  Blätter, 
um  1800  etwa  20  Blätter.  Größere  Lücken  nur  in  den  Jahren:  1399 
bis  1403;  1488—1503;  1518-20. 

B.   Bücher  der  Finanzverwaltung 

I.  Kämmereirechnungen  MPO  cf.  S.  429ff. 
a)  MPOla:  sechs  Pergamentkarten  aus  den  Jahren  1380;  1388; 
1390/91;  1391/92;  1394/95;  1405.  Sie  enthalten  Recepta  venerabilis 
civitatis  Molhusen.  Die  älteste  Rechnung  ist  etwa  halb  so  umfangreich 
wie  die  zweite,  die  Rechnungen  der  90er  Jahre  nehmen  noch  etwas 
an  Umfang  zu.  Die  Länge  des  größten  Pergaments  beträgt  70  cm. 
Die  sechs  Blätter  sind  beschrieben  und  abgedruckt  von  K.  von  Kauf- 
fungen: Geschichtsbl.  6.  Dazu  kommt  noch  unter  derselben  Ziffer  ein 
undatiertes  Rechnungskonzept  auf  Pergamentblatt. 

(seit  1404  eine  Reihe  von  Rats-  und  Bügermatrikeln);  Ermisch:  Freiberger  ürkunden- 
buch,  Bd.  III,  siehe  oben.  4.  Ao/zs/a/zz^r  Ratslisten  des  Mittelalters;  Beyerle,  Heidel- 
berg 1908  (herausgegeben  von  der  Bad.  histor.  Kommission).  5.  Von  den  ältesten 
Lübeckischen  Ratslinien;  Dencke,  Lübeck  1842.  6.  Ratslinie  von  Wismar  seit  1344; 
Crull  (Hansische  Geschichtsqu.  II,  1875). 

VI.  Briefbücher 

1.  Die  stadtkölnischen  Kopienbücher  in  Regesten  mitgeteilt  seit  1367  (Mitteil. 
aus  d.  Stadtarchiv  von  Köln  in  verschiedenen  Heften).  2.  Die  7?ei/a/er  Missivbücher, 
seit  1385;  Schiemann  (Archiv.  Zeitschr.  XI,  1886:  Revaler  Stadtbücher). 

B.  Bücher  der  Finanzverwaltung.    I.  Stadt-  oder  Kämmereirechnungen 

1.  Aachener  Stadtrechnungen  des  14.  Jahrh.  (bis  1373  Pergamentrollen,  seit- 
dem Pergamenthefte);  Laurent,  Aachen  1866.  2.  Die  ältesten  Bernischen  Stadt- 
rechnungen 1375—77;  Welti  (Arch.  d.  hist.  Ver.  in  Bern  14,  1896).  Berner  Stadt- 
rechnungen 1375  —  84;  Welti,  Bern  1896.  Berner  Stadtrechnungen  1482-1500; 
Fetscherin  (Abhandig.  des  histor.  Vereins  des  Kanton  Bern.  2.  Jahrg.  H.  1,  1851). 
3.  5re<s/a«er  Stadtrechnungen;  fienricus  pauper  1299—1358;  Grünhagen  (Cod.  dipl. 
Sax.  reg.  III.  Breslau  1860).  4.  Die  ältesten  Görlitzer  Ratsrechnungen  ca.  1380  bis 
1419;  Jecht  (Cod.  dipl.  Lusatiae  superioris  III).  5.  Kämmereirechnungen  von  Hamburg 
1350  —  1552;  Kopp  mann,  Hamburg  1869—94.  6.  ffildesheimer  Stadtrechnungen 
und  Geschoßregister  1379—1450;  Doebner  (Urkundenbuch  d.  Stadt  Hildesheim  5; 
6,  Hildesh.  1893/96).  7.  Die  ältesten  Stadtrechnungen  der  Stadt  Kalbe  a.  S.  zwischen 
1374  und  82;  Hertel  (Magdeb.  Geschichtsbl.  37,  1902).  8.  De  Kammeraars  en  renfc- 
meesters  rekeningen  der  stad  Kampen;  üitterdyk  Nanninga,  1875.  9.  Kasseler 
Stadtrechnungen  1468—1553;  Stölzel  (Zeitschr.  d.  Ver.  f.  hess.  Gesch.  u.  Landes- 
liunde,  N.  F.  Suppl.  3,  Kassel  1871).  10.  Die  Kölner  Stadtrechnungen  des  Mittel- 
alters;   Knipping  (Publik,  d.  Ges.  für  rhein.  Geschichtskunde   15,   Bonn  1897  98). 

11.  Krakauer  Stadtrechnungen;  Piekosinski,  Szujski  (Mon.  Pol.  s.  oben,  Tom.  4). 

12.  Leipziger  Wachstafelbücher  (15.  Jahrh.);  Frey  tag  (Neues  Arch.  f.  sächs.  Gesch. 
20,  1899).    13.  Die  3  ältesten  Lüneburger  Kämmereirechnungen  (1321;  1328;  1330); 


486  Erich   Kleeberg 

b)  /V\PO  1  ältestes  Rechnungsbuch,  enthält  auf  27  Papierblättern 
in  Pergamentumschlag  die  Einnahmen  der  Stadt  während  des  Jahres 
1407/08;  ediert  K.  von  Kauffungen:  Geschichtsbl.  5. 
>  c)  MPO  2  enthält  auf  30  Blättern  die  Ausgaben  des  Jahres  1409/10. 
d)  Vom  Jahre  1417  ab  sind  die  Rechnungsbücher  in  die  drei  Ab- 
teilungen: Recepta  —  Distributa  —  Census  eingeteilt  und  umfassen  in 
ungefähr  270  Büchern  die  Zeit  bis  1802,  bis  zum  Ende  der  alten  Reichs- 
unmittelbarkeit.  Die  äußere  Form  ist  bei  allen  dieselbe:  Papierbände 
im  Pergamentumschlag  im  Format  32x22.  Die  Einträge  eines  Halb- 
jahres bedecken  im  15.  Jahrhundert  etwa  30—40  Blätter.  Seit  1527 
werden  es  Jahresrechnungen,  deren  einzelne  Bände  bis  zum  Ende  des 
16.  Jahrhunderts  auf  etwa  250  Blätter  angeschwollen  sind.  Es  fehlen 
die  Jahrgänge:  1420-27;  1431—41;  1474—82;  1487—91;  1518—23. 
—  Daneben  ist  seit  den  30er  Jahren  des  16.  Jahrhunderts  oft  noch 
eine  Computacio  coram  toto  ordine  senatomm  auf  ca.  15  Blättern  erhalten. 

II.  Aufnahmebücher  über   steuerbaren   Besitz;    Geschoßregister 

a)  Kataster,  auf  N.  cf.  S.  430f. 
1.  der  Bürger 

Ein  Band  ca.  1403. 
Zwei  Bände  1407. 
Zwei  Bände  1413/14. 

Rei necke  (Lüneburger  Museumsbl.  H.  6.  Lüneb.  1909).  14.  Stadtrechnungen  von 
Osnabrück  des  13.  und  14.  Jahrb.;  Stüve  (Mitteil.  d.  hist.  Ver.  z.  Osnabrück  14; 
15.  1889  15./90).  Znere/- Stadtrechnungen  des  Mittelalters.  I.  Rechn.  d.  14.  Jahrb.; 
Kentenich  (Trierisches  Archiv,  Trier  1908).  16.  Rechnungen  der  Stadt  Wien 
1368—85;  Chmel  (Notizenblatt  d.  Wiener  Akad.  d.  Wissensch.  1855).  17.  Kämmerei- 
register der  Stadt  Wismar  1326-36;  (Jahrbücher  d.  Ver.  f.  Mecklenburger  Gesch. 
u.  Altertumskunde  29;  1864). 

Anmerkung:  Rechnungen  über  einzelne  Materien. 

1.  Der  Bremer  Rathausbau;  Ehmk  und  Schumacher  (Bremer  Jahrbücher  II. 
1886).  2.  Das  Rostocker  Weinbuch;  Dragendorff  und  Krause,  Rostock  1908. 
3.  Der  Koblenzer  Mauerbau,  Rechnungen  von  1276—89;  Bär  (Publ.  d.  Ges.  f.  rhein. 
Geschichtsk.  V,  1888). 

IL   Steuerlisten  und  Abrechnungen  über  Geschoß 

1.  Teilbücher  der  Stadt  Bern;  Welti  (Archiv  d.  histor.  Ver.  in  Bern  14,  1896). 
2.  Das  älteste  C/zürer  Steuerbuch  1481;  Jecklin,  Chur  1908.  3.  Hildesheimer  Stadt- 
rechnungen  und  Geschoßregister  1379—1450;  Do  ebner  (ürkundenbuch  der  Stadt 
tlildesheim  5;  6.  tiildesh.  1893/96).  4.  Steuerlisten  des  Kirchspiels  St.  Kolumba 
in  Köln  vom  13.— 16.  Jahrb.;  Greving  (Mitteil,  aus  d.  Stadtarchiv  v.  Köln,  H.  30). 
5.  Zins-  und  Geschoßregister  der  Stadt  Leisnig;  Hingst  (Mitteil.  d.  Geschichts-  u. 
Altertumsvereins  zu  Leisnig  III,  11).  6.  Abrechnung  der  Stadt  Rostock  über  die  von 
ihren  Bürgern  erhaltenen  Darlehen  und  deren  Abtragung  bei  der  Schoßerhebung 
ca.  1260;  Dragendorff  (Beitr.  zur  Gesch.  von  Rostock  III,  1,  1900).  7.  Trierer 
Stadtrechnungen  des  Mittelalters  (Volleiste  des  Jahres  1363  64);  Kentenich 
(Trierisches  Archiv,  Trier  1908). 


Stadtschreiber  und  Stadtbücher  iu  Mühlhausen  i.  Th.  487 

Jeder  Band  umfaßt  ca.  250  Papierblätter  und  ist  eingebunden  in 
einen  Pergamentumschlag. 

Ein  Band  ca.  1470  ca.  505  Blatt,  in  Holzdeckel  mit  Lederüberzug. 
Ein  Band  ca.  1540,  Pergament,  Einband  aus  gepreßtem  Leder. 
Zwei  Bände  1551,  Papier,  Einband  aus  gepreßtem  Leder. 
Zwei  Bände  1566.  Papier,  Einband  aus  gepreßtem  Leder. 

2.  Kataster  der  Dörfer  und  Vorstädte. 

Ein  Band  1407,  Papier  in  Pergamentumschlag. 

Ein  Band  ca.  1540,  Papier  in  Pergamentumschlag. 

Ein  Band  1567,  Papier,  Einband  aus  gepreßtem  Leder. 

Ein  Band  1567,  Papier  in  Pergamentumschlag  enthält  Einträge 
über  Bürger  und  Vorstädte. 

Aus  den  Jahren  1626—1802  noch  17  Bände  Kataster  der  Bürger, 
Dörfer  und  Vorstädte. 

3.  Buch  der  Flurmessungen;  auf  N,  II  4  ca.  1456. 

4.  Zwei  Bände  in  Pergamentumschlag:  Inkomen  der  Dorffer  so  umb 
Molhusen  gelegenn  vnd  ytzundt  Churfursten  vnd  Fürsten  zcu  Sachssen 
vnnd  Hessenn  zcustenn.    ca.  1530/40,  je  ca.  280  Blätter  stark. 

5.  Beschreibung  und  Verzeichnis  aller  Güter  und  liegenden  Gründe, 
auch  Erb-  und  wiederkäuflichen  Zinsen,  so  den  gemeinen  f.  f.  Rats 
Vorstädten  auch  Dorfschaften,  und  denen  Kirchen  daselbst  zuständig, 
davon  jährlich  Rechnung  zu  tun:  1574 — 1638. 

Ein  Band  ca.  350  Blätter  in  gepreßtem  Ledereinband. 

b)   Geschoßregister,  auf  N.  cf.  S.  430. 

Aus  den  Jahren  1418 — 1640  30  Bücher,  Papierblätter  im  Format 
45x17  in  Pergamentumschlag.  Aus  dem  15.  Jahrhundert  sind  er- 
halten die  Jahrgänge  1418;  1446—47;  1457-60;  1471—75;  1475/76; 
1485/86.  Nach  1500  sind  größere  Lücken  nur  noch  in  den  Jahren 
1530—39;  1548—51;  1553—62.  Sie  enthalten  die  Namen  der  schoß- 
pflichtigen Bürger  nach  Straßen,  der  Bauern  nach  Dörfern  geordnet 
mit  der  Anzahl  der  Geschoßmarken  und  einem  Vermerk  über  Zahlung 
odfer  Nichtzahlung  der  Summen. 

III.   Zinsbücher,  auf  N.  cf.  S.  431 
1.   Ein  Band  ca.  150  Pergamentblätter  in  einem  Einband  aus  ge- 
preßtem Leder,  1456  angefangen.     Inhalt:  Verzeichnis  der  Reichszinsen, 
gemeinen  Zinsen,  des  Spendekorns  und  der  Dorfzinsen. 

III.  Verzeichnis  der  städtischen  Einkünfte  aus  Grundbesitz  und  Zinsgut 

1.  Libri redituum  der  Stadt  Riga;  Napiersky;  Leipzig  1881.  2.  Verzeichnis  der 
Renten  der  Stadt  Osnabrück  1347;  Stüve  (Mitteil,  des  historischen  Vereins  zu  Osna- 
brück 16,  1891). 


488  Erich  Kleeberg 

2.  Ein  Band  Papierblätter  in  Pergamentumschlag  umfaßt  die  Jahre 
1586-90. 

3.  Ein  Band  Papierblätter  in  einem  Einband  aus  gepreßtem  Leder, 
1591  angelegt. 

IV.   Rentenbücher  (Zinsverschreibungen  des  Rates)  cf.  S.437 

1.  E  8  c  1,  Kopienbuch  der  Verschreibungen  von  1392  —  1402; 
70  Pergamentblätter  in  Holzdeckel  mit  Lederüberzug. 

2.  E8  c2,  Kopienbuch  der  Verschreibungen  von  1408—59;  92 
Papierblätter  in  Pergamentumschlag.  Die  zwei  ersten  Blätter  fehlen. 
In  späteren  Jahren  auch  Verträge  in  Regestenform. 

3.  E  8  c  3,  Kopienbuch  der  Verschreibungen  von  1459  bis  in  das 
16.  Jahrhundert  hinein;  162  Blätter  in  Pergamentumschlag.  Im  16.  Jahr- 
hundert geschehen  die  Einträge  sehr  unregelmäßig. 

4.  E  8  c  4,  Registrum  venerabilis  civitatis  Imperii  Molhusen  de 
1410 ff.  De  censibüs  de  pretorio  dandis.  cf.  S.  438.  Ein  Register  für 
die  ebengenannten  Kopienbücher,  enthält  Verträge  von  1380—1480. 
68  Pergamentblätter  23x19. 

C.   Stadtbücher 

I.  Bücher,  enthaltend  Einträge  über  Akte  der  freiwilligen  Gerichts- 
barkeit, die  vor  dem  Rat  vorgenommen  wurden,    cf.  S.  438 ff,  474  f. 

a)  Stadtpfandbuch. 

1.  E  8  b  1:  40  Pergamentblätter  eingebunden  in  Holzdeckel  mit 
Lederüberzug.    Es  erstreckt  sich  über  die  Jahre  1374 — 91. 

2.  X  1,  3  (Teil  1)  112  Blätter  in  neuerem  Einband:  1416—41. 

b)  Kaufbuch. 

XI,  3  (Teil  2):   ca.  20  Blätter  in  neuerem  Einband:  1415—17. 

C.    Stadtbücher.     I.  Die  von  dem  Rat  geführten  Stadtbücher 

verzeichne  ich  in  drei  Gruppen,  die  sich  in  dem  Mühlhäuser  Material  nicht  scharf 
unterscheiden  lassen: 

a)  der  Inhalt  bezieht  sich  auf  Übergabe  von  Erb-  und  Eigengut; 

b)  auf  Belastung  von  Erb  und  Eigen  durch  Rente  und  Pfand; 

c)  auf  Schuldverschreibungen  und  Rentenverkehr. 

a)  1.  Kieler  Erbebuch  1411—1604;  Reuter,  Kiel  1897  (im  Auftrage  d.  Ges.  f. 
Kieler  Stadtgeschichte).  2.  Das  ZööecÄe/-  Oberstadtbuch;  Rehme,  Hannover  1895. 
3.  Das  Zweitälteste  Erbebuch  der  Stadt  Reval  1360—83;  von  Nottbeck  (Archiv  f. 


Stadtschreiber  und  Stadtbücher  in  Mühlhausen  i.  Th.  489 

Seit  1441  Stehen  die  Grundbuchsachen  meistens  im  Kontrakt- 
buche, andere  Materien  der  freiwilligen  Gerichtsbarkeit  sind  verzeichnet 
im  Registrum  recogniciomm. 

a)  Registrum  Contractuum. 

1.  E8,  1—2, 1  ca.  200  Blätter  in  neuerem  Einband:  1441—1501. 

Ib)  Registrum  recognicionum  et  diversarum  concordiarum. 
1.   XI,  6  (Teils)  ca.  65  Blätter  in  neuerem  Einband:  1441—1450. 
2.   XI,  7  357  Blätter  in  neuerem  Einband:  1450—1500. 
Seit  1501  gibt  es  zunächst   nur   ein  Stadtbuch,   von   dem  sich 
mehrere  andere  Bücher  abzweigen. 

a)  Notulbuch  X  1,  8,  bis  zum  Jahre  1802  noch  weitere  27  Bücher, 
"davon  zweigt  sich  ab: 

b)  1.  Schuldbuch  (Hypothekenbuch) 

E  8  b  2,  bis  zum  Jahre  1618  noch  weitere  drei  Bücher. 

2.  Handelbuch. 
E  8  a  2,  bis  zum  Jahre  1623  noch  weitere  acht  Bücher. 


fesch.  Liv-,  Est-  und  Kurlands  III,  2,  1890).  4  Das  drittälteste  Erbebuch  der  Stadt 
Uval;  (wie  oben  III,  3,  1892).  5.  Die  Erbebücher  der  Stadt  Riga;  Napiersky, 
liga  1888.  6.  Die  ältesten  Kaufbücher  der  Stadt  Wien,  1368—88;  Staub  (Mayer: 
Quellen  zur  Geschichte  d.  Stadt  Wien,  herausg.  vom  Wiener  Altertumsverein  III,  1). 
1.  Das  älteste  Kieler  Rentebuch;  Reuter,  Kiel  1893.  2.  Das  zweite  Stralsunder 
tadtbuch,  1310—42;  Reuter,  Lietz,  Wehner;  Stralsund  1896.  Der  3.  Teil  mit  Über- 
rbeitung  der  ersten  beiden  Teile  von  Ebeling,  Stralsund  1903.  c)  Krakauer  Stadt- 
Icher;  Piekosiriski,  Szujski  (Mon.  med.  aevi  bist,  res  gestas  Poloniae  illustr., 
[om  4,  Krakau  1878).  —  Die  drei  Gruppen  sind  vereinigt:  Das  älteste  Wittschopbuch 
5r  Stadt  Reval,  1312—60;  Arbusow  (Arch.  f.  Gesch,  Liv-,  Est-  und  Kurlands  III,  2, 
0.  Die  ersten  beiden  Gruppen  finden  sich  vereinigt:  Das  zweite  Stader  Stadt- 
ich, 1322—39;  herausg.  vom  Ver.  f.  Gesch.  u.  Altertümer  zu  Stade,  1890. 

Ganz  eigene  Anfänge  zeigt  Köln  mit  seiner  Schreinskartenpraxis  seit  1135.  Die 
Verträge  Privater  über  Besitzrechte  an  Immobilien  wurden  vor  dem  Schreinsbeamten 
einer  der  Sondergemeinden  der  Stadt  vorgenommen  und  auf  einer  Schreinskarte,  die 
im  jeweiligen  Schrein  niedergelegt  wurde,  verzeichnet.  Seit  1229  etwa  beginnt  man 
mit  der  Anlage  von  Schreins  bü ehern:  1.  /Tö/n^/' Schreinsurkunden  des  12.  Jahrh.  II.; 
Höniger  (Publik,  d.  Ges.  f.  rhein.  Geschichtsk.  I.,  Bonn  1893/94).  2.  Die  ältesten 
Faszikel  der  Schreinsnotierungen  1170—1200,  ca.  1350;  Höniger:  Urkunden  und 
Akten  aus  dem  Amtleute-Archiv  des  Kolumba-Kirchspiels  zu  Köln  (Ann.  d.  bist.  Ver. 
f.  d.  Niederrhein  48,  1887).  3.  Das  Judenschreinsbuch  der  Laurenzpfarre  zu  /TöY/z, 
14.  und  15.  Jahrb.;  Höniger  (Quellen  z.  Gesch.  d.  Juden  in  Deutschland  I,  Berlin 
1888).  Das  Grundbuchwesen  in  Metz  ist  unter  Kölns  Einfluß  entstanden :  die  Amanns- 
praxis.  Etwas  eigenes  hatte  Metz  in  seinen  Bannrollen,  zusammengenähten  Pergament- 
blättern, in  welchen  die  unter  dem  Banne  der  Mayer  stattgefundenen  Güterauflas- 
sungen verzeichnet  wurden:  Die  ßletzer  hanmoWen  des  13.  Jahrh.  seit  1220;  Wich- 
mann (Quellen  z.  Gesch.  Lothringens  V,  Metz  1908). 


I 


490     Erich  Kleeberg,  Stadt  seh  reiber  u.  Stadtbücher  i.  Mü  hl  hausen  i.  Th. 

II.   Bücher  des  Schultheißengerichts  cf.  S.  442 

RA  —  uu 

RAi      1431/32 

RA2      1437/38 

RA3      1442/43 

RBi       1446/47 
und  noch  57  Bücher  bis  zum  Jahre  1678.     Es  sind  Papierbände  in 
Pergamentumschlag  in  dem  gewöhnlichen  Stadtbuchformat  32x22. 


II.  Schöffenbücher 

Die  Register  der  Schöffenbücher  zeigen  je  nach  den  Kompetenzen  der  Behörde 
in  den  verschiedenen  Städten  einen  mehr  oder  weniger  reichen  Inhalt.  1.  Akener 
Schöffenbücher,  1265—1555;  Neubauer  (Magdeburger  Geschichtsbl.  30;  31;  32). 
2.  Freiberger  Gerichtsbücher,  seit  1464;  Ermisch  (Freiberger  Ürk.-B.  III.  Cod.  dipl. 
Sax.  reg.  14).  3.  Das  älteste  Schöffenbuch  von  Freienwalde  i.  Pommern,  1320—1567; 
Lemcke  (Baltische  Studien  32,  1882).  4.  Die  Hallischen  Schöffenbücher,  1266—1460; 
Hertel  (Geschichtsqu.  der  Provinz  Sachsen  14,  1882/87).  5.  Das  Wetebuch  der 
Schöffen  zu  Kalbe  a.  S.;  Hertel  (Magdeburg.  Geschichtsbl.  20;  21,  1885/86).  6.  Das 
Kieler  Varbuch;  Luppe  (Mitteil,  der  Ges.  für  Kieler  Stadtgesch.  H.  17,  Kiel  1899). 
7.  Krakauer  älteste  Stadtbücher,  1300—75  liber  actorum,  obligacionum  et  resignatio- 
num ;Piekosinski,Szujski  {Mon.  med.  aevi  histor.  res  gestas  Poloniae  illustr.  Tom  4, 
Krakau  1878).  8.  Lemberger  Schöffenbuch;  Czotowski,  Lemberg  1892.  9.  Das 
älteste  Stadtbuch  der  Stadt  Neuhaldensleben;  tiülße  (Magdeburg.  Geschichtsbl.  14, 
1879).  10.  Das  Schöppenbuch  von  Seehausen  (Kreis  Wanzleben),  1496—1581;  Setze- 
pfandt  (Magdeburg.  Geschichtsbl.  40,  1905.  41,  1906).  11.  Das  älteste  Schöffenbuch 
der  Stadt  Zer65/,  1323—60;  Neubauer  (Mitteil.  d.  Ver.  f.  Anhaltin.  Gesch.  u.  Alter- 
tumsk.  7 ff.). 

D.  Unentwickelte  Formen 

finden  sich  in  einigen  Städten,  die  es  gar  nicht,  oder  erst  später  zu  einem  ge- 
ordneten Kanzleiwesen  gebracht  haben.  Alle  vor  dem  Rat  verhandelte  Materien 
werden  in  ein  Stadtbuch  verzeichnet:  1.  Das  älteste  Stadtbuch  der  Stadt  Garz 
(Rügen),  1377—1571;  von  Rosen,  Stettin  1885  (Quellen  zur  Pommerschen  Gesch.). 
2.  Lüneburgs  ältestes  Stadtbuch;  Rein  ecke  (Quellen  u.  Darst.  z.  Gesch.  Nieders. 
VIII,  1903).  3.  Stadtbuch  von  Oschersleben ,  1428-1562;  Setzepfandt  (Magdeb. 
Geschichtsbl.  32,  1897).  4.  Rostocker  Stadtbuchblatt;  Dragendorff  (Beiträge  zur 
Gesch.  Rostocks  III  1,  1900).  5.  Die  ältesten  Stadtbuchfragmente  Rostocks,  1258-62; 
Dragendorff  (Beitrag  zur  Gesch.  Rostocks  II  2,  1897).  6.  Das  älteste  S/aofe^r  Stadt- 
buch, von  1286  ab;  herausg.  vom  Verein  f.  Geschichte  u.  Altertümer  zu  Stade,  tl.  1, 
Stade  1882). 


llDas  Königsurkunden-Verzeichnis  des  Bistums 
Hildesheim  und  das  Gründungsjahr  des  Klosters 

Steterburg 


Ernst  Müller 


In  der  Nacht  des  21.  Januar  1013  brannte  der  tiildesheimer  Dom 
aus,  und  Bibliothek  und  Archiv  des  Bistums  wurden  ein  Raub  der 
Flammen.^  Nur  geringe  Reste  der  urkundlichen  Überlieferung  blieben 
erhalten,  so  eine  noch  heute  vorhandene  Originalurkunde  Kaiser  Ottos  111. 
vom  23.  Januar  1001  (DO.  III.  390);  welcher  Zufall  sie,  die  von  Anfang 
an  dem  Domarchive  angehört  haben  muß,  vor  dem  Feuer  bewahrte, 
wissen  wir  nicht.-    So  sind  wir,  zumal  auch  die  erzählenden  Quellen 


^  Ann.  Hildeslieim.  1013:  Postea  12.  Kai.  Februarii  peccatis  agentibus  prin- 
cipale  templum  Hildineshemensis  ecclesiae  diabolo  insidiante  per  noctem  igne  suc- 
censum,  sed  solo  divinae  miserationis  subsidio  velociter,  deo  gratias,  est  exstinctum. 
Sed  hoc,  ah  ah,  nobis  restat  lugendum,  quia  in  eodem  incendio  cum  preciossissimo 
missali  ornamento  inexplicabilis  et  inrecuperabilis  copia  periit  librorum.  —  DH.  II. 
256a:  Bernwardus  Hildeneshemensis  aecclesiae  venerabilis  presul  ...  miserabilem 
conquestus  querimoniam,  eo  quod  peccatis  id  merentibus  in  loco  superius 
memorato  ab  antecessoribus  suis  collecta,  suo  quoque  ingenio  maxime  et  decenter 
elaborata  cunctorum  ibidem  voluminum  scripta  vorax  ignis  absorbuit,  in  cinerem 
namque  cuncta  redegit.  —  Die  schon  von  V.  Bayer,  Forsch,  zur  Deutschen  Gesch. 
XVI  (1876)  184  N.  2,  beobachtete  Übereinstimmung  der  hier  durch  Sperrdruck  her- 
vorgehobenen Stellen  scheint  eine  weitere  Beziehung  des  Notars  GB.  zum  Verfasser 
der  tiildesheimer  Annalen,  der  zum  Jahre  1014  über  ein  dem  Bistume  Bamberg  er- 
teiltes, nicht  erhaltenes  Privileg  Heinrichs  II.  berichtet,  zu  ergeben,  vgl.  ti.  Bresslau, 

;  Einl.  zur  Ausg.  der  Urk.  tieinr.  II.  S.  XXII,  und  eben  S.  217  Anm.  2. 

^  Auch  DO.  III.  409,    Bestätigung   eines  Tausches    zwischen   Bischof  Bernward 

I  und  dem  Grafen  Bardo  vom  11.  September  desselben  Jahres,  scheint  in  der  für  den 
Bischof  bestimmten  Ausfertigung  vorzuliegen.  Bernwards  Testament  zugunsten  der 
heil.  Kreuzkapelle,  tlochstift.  ÜB.  I  Nr.  38,  in  deren  Gründungsjahr  996  zu  versetzen, 
sehe  ich  keinen  zwingenden  Anlaß. 


492  Ernst  Müller 

spät  und  spärlich  fließen,  über  die  Anfänge  der  Hildesheimer  Kirche 
und  ihre  Geschichte  in  den  ersten  zwei  Jahrhunderten  ihres  Bestehens 
nur  dürftig  unterrichtet.^  Die  48  Stücke,  die  das  hochstiftische  ür- 
kundenbuch^  für  die  Zeit  vor  1013  beibringt,  enthalten  Erwähnunger 
der  Anwesenheit  der  Hildesheimer  Bischöfe  auf  Synoden  und  be: 
politischen  Verhandlungen,  ihrer  Fürbitte  oder  Zeugenschaft  in  Ur- 
kunden, oder  sind  Diplome  für  andere  Empfänger,  darunter  Schen- 
kungen an  Laien,  deren  Objekte  später  mit  den  Urkunden  selbst  in 
den  Besitz  der  Domkirche  übergingen.  Um  so  wertvoller  ist  ein  in 
dem  großen  tiildesheimer  Kopialbuch  des  15.  Jahrhunderts  erhaltenes 
Verzeichnis  der  älteren  Königsurkunden  des  Bistums.^  Es  ist  in  den 
Vorbemerkungen  zu  den  im  Folgenden  zu  besprechenden  Diplomen 
Heinrichs  II.  von  den  Herausgebern  regelmäßig  herangezogen  worden,' 
bedarf  jedoch  noch  ergänzender  Betrachtung  und  einheitlicher  Wertung. 
Das  Verzeichnis  führt .  in  zwei  besonders  durchgezählten  Teilen 
erst  die  den  zwölf  ersten  Bischöfen  von  Ludwig  dem  Frommen  bis 
auf  Otto  III.  verlieherben  Privilegien,  sodann  die  durch  Bischof  Bernward 
von  diesem  Kaiser  sowie  seinem  Nachfolger  Heinrich  II.  erwirkten 
Diplome  auf.  Der  erste  Teil  umfaßt  elf  Nummern;  der  zweite  dreizehn, 
doch  ist  in  diesem  Nr.  9  ausgefallen.  II,  13  betrifft  die  Beilegung  des 
Gandersheimer  Grenzstreites  zwischen  Bernward  und  Erzbischof  Willigis 
von  Mainz,  die  im  Januar  1007  erfolgte  und  nach  H.  Bresslaus  über- 
zeugender Vermutung  schon  damals  beurkundet  wurde.^    Ergibt  sich  so 


^  Ganz  im  Dunkel  liegt  die  Gründungsgeschichte.  Gleichzeitige  Berichte  sind 
nicht  vorhanden.  Die  spätere  Überlieferung  schreibt  die  Gründung  übereinstimmend 
Kaiser  Ludwig  dem  Frommen  zu;  die  Jahresansätze  schwanken  zwischen  814  und 
822.  Eine  wichtige  Quelle  ist  in  der  „Fundatio  ecclesie  tlildensemensis"  neu  er- 
schlossen worden;  vgl.  A.  Bertram,  Hildesheims  Domgruft  und  die  Fund.  eccl. 
tiild.,  1897,  und  im  übrigen  A.  Hauck,  Kirchengesch.  Deutschlands  11^  075  N.  5; 
F.  W.  Rettberg,  Kirchengesch.  Deutschi.  II  (1848)  466ff.;  A.  Bertram,  Gesch.  des 
Bist,  tiild.  I  (1899)  30;  E.  Du  mm  1er,  Gesch.  des  Ostfränk.  Reiches  I^  259  N.  3; 
B.  V.  Simson,  Jahrb.  Ludwig  des  Fr.  II,  284 ff.  Erst  mit  dem  vierten  Bischöfe, 
Altfrid  (851—874),  gewinnt  die  Bistumsgeschichte  feste  Gestalt,  vgl.  Bertram  S.  36, 
Simson  S.  286. 

'  1.  Teil  herausgegeben  von.K.  Jan  icke  1896. 

'  ÜB.  Nr.  60,  Neudruck  in  der  Anlage. 

^  tierausgegeben  sind  die  Urkunden  Heinrichs  IL  in  den  MG.  DD.  III  von 
H.  Bresslau  und  H.  Bloch  unter  Mitwirkung  von  M.  Meyer  und  R.  Holtzmann. 
Der  Kürze  halber  führe  ich  im  Folgenden  nur  den  Namen  des  Leiters  der  Ausgabe  an. 

^  Eine  solche  bietet  auch  J.  Lechner  in  Böhmer-Mühlbacher,  Reg.  imp.  I  l^ 
S.  852  (unter  „Verlorene  Urkunden"  Nr.  206—211)  nicht. 

^  Vorbemerkung  zu  DH.  II.  255.  Das  Vorhandensein  eines  älteren,  wohl  der 
Weihe  der  Gandersheimer  Kirche  gleichzeitigen  Diploms  wird  gerade  durch  das  Ur- 
kunden Verzeichnis  sicher  erwiesen,   denn  unter  dem  Regestil,  13  kann  DH.  IL  255 


Hildesheim  —  Steterburg  493 

Is  Frühgrenze  für  die  Entstehung  des  Verzeichnisses  der  Anfang  des 
fahres  1007,  so  muß  es  anderseits  vor  dem  Aufenthalte  des  Königs 
1  Werla  Ende  Februar  und  März  1013  verfaßt  sein,  da  es  die  während 
lesselben  für  das  Bistum  ausgestellten  Erneuerungsurkunden  nicht  be- 
ücksichtigt.  Es  fragt  sich  nun,  ob  es  vor  dem  Brande  des  Januar  1013 
»der  nachher  aufgestellt  wurde.  Während  R.  Janicke  sich  darauf 
)eschränkte,  das  Stück,  dessen  Überschrift  für  seine  Datierung 
lichts  austrägt,  der  Zeit  nach  1013  zuzuweisen,  was  mindestens 
ingenau  ist,  betrachtet  es  Bresslau^  als  eine  kurze  Zeit  nach  dem 
)rande  zusammengestellte  Verlustliste.  Man  müßte  dann  also  an- 
lehmen,-  Heinrich  II.  habe  seit  dem  Januar  1007  bis  Anfang  des 
lahres  1013  für  Hildesheim  ebensowenig  geurkundet  wie  nach  dem 
/erzeichnisse,  das  ihm  nur  Nr.  II  13,  Nr.  II  1—12  aber  seinem  Vor- 
gänger zuschreibt,  in  der  Zeit  von  1002—1006,^  d.  h.  er  habe  außer 
ier  Gandersheimer  Entscheidung  in  den  ersten  zehn  Jahren  seiner 
Regierung  dem  Bistume  keinen  urkundlichen  Gunstbeweis  erteilt.  Auch 
st  wohl  nicht  recht  einzusehen,  welchen  Zweck  in  einem  Verlust- 
/erzeichnisse  die  Teilung  der  Urkunden  in  zwei  Gruppen  und  die 
doppelte  Zählung  haben  sollte.  Schwerer  noch  wiegt  die  Überlegung, 
iaß  ein  so  umfassendes  Verzeichnis  mit  so  genauen  und  teilweise 
ausführlichen  Angaben^  unmöglich  nach  dem  Gedächtnis  aufgestellt 
5ein  kann,  was  der  Fall  sein  müßte,  wenn  es  nach  der  Vernichtung 
der  Urkunden  entstanden  wäre.  Es  dürfte  daher  eher  als  ein  Bestands- 
verzeichnis zu  betrachten  sein,  angelegt  kurze  Zeit  nach  Beendigung 
jes  Gandersheimer  Streites,  auf  Veranlassung  Bernwards,  der  zu  prak- 
tischen Zwecken  seine  eigenen  Privilegien  von  denen  seiner  Vorgänger 
getrennt  übersehen  wollte,  um  so  wertvollere  Dienste  wird  es  dann 
nach  dem  Brande  dem  Bischöfe  bei  seinen  Bemühungen  um  den  Er- 
satz der  Rechtstitel  seiner  Kirche  geleistet  haben. 

Während  des  erwähnten  Aufenthaltes  Heinrichs  II.  in  Werla  ließ 
Bernward  sich  nämlich  anscheinend  alle  ihm  selbst  verliehenen  und 
verbrannten  Diplome  neu  ausstellen.  Von  den  zwölf  Nummern  des 
zweiten  Teiles  des  ürkundenverzeichnisses  sind  uns  noch  für  sieben 
die   Erneuerungsurkunden   erhalten.     Betrachten   wir   sie   genauer,   so 


nicht  verstanden  werden,  da  es  erst  gleichzeitig  mit  den  im  Verzeichnis  noch  nicht 
berücksichtigten  Erneuerungsurkunden  aus  dem  Aufenthalte  Heinrichs  11.  zu  Werla  im 
März  1013,  DD.  256 ff.,  ausgestellt  wurde,  vgl.  unten  S.  502  mit  Anm.  1. 

'  Vorbemerkungen  DH.  II.  126.  255. 

^  Vgl.  dazu  unten  S.  506. 

^  Vgl.  I  3.  5,  II  1 ;  hier  werden  geradezu  Sätze  der  Urkunden  mehr  oder  weniger 
wörtlich  ausgezogen. 


I 


494  Ernst  Müller 

werden  wir  erkennen,  daß  der  ältere  ürkundenbestand  doch  nicht  ganz 
restlos  zugrunde  gegangen  sein  kann. 

An  erster  Stelle  nennt  das  Verzeichnis  (I  1)  eine  Urkunde  Kaiser 
Ludwigs  des  Frommen  über  die  Grenzumschreibung  der  Diözese,  die 
Begründung  des  Domstiftes  und  die  Verleihung  der  Immunität  unbe- 
schadet der  Verpflichtung  zum  Königsdienste.  Da,  wie  wir  jetzt  sicher 
wissen,^  bei  der  Gründung  der  sächsischen  Bistümer  deren  Grenzen 
nicht  umschrieben  und  urkundlich  festgelegt  worden  sind,  muß  in 
dieser  ersten  Hildesheimer  Immunität  die  Umgrenzung  nachträglich 
eingefügt  gewesen  sein.  Diese  Einschiebung  könnte  in  Zusammenhang 
mit  den  durch  den  Gandersheimer  Streit  veranlaßten  Feststellungen 
Bischof  Bernwards  über  die  alten  Grenzen  seiner  Diözese  gestanden 
haben ,  von  denen  Thangmar  zum  Jahre  1006/7 ,  also  derselben 
Zeit,  der  wir  die  Entstehung  des  Urkundenverzeichnisses  zuschreiben 
möchten,  berichtet,^  und  deren  Ergebnis  wohl  in  der  den  Namens- 
formen zufolge  dem  angehenden  11.  Jahrhundert  angehörenden  Grenz- 
beschreibung (G)  vorliegt.^  Die  darin  verwertete  Grenzlinie  zwischen 
dem  ostfälischen  Bistum  tiildesheim  und  dem  engernschen  Minden 
war  bereits  unter  Otto  III.,  spätestens  Anfang  des  Jahres  993,  also 
wohl  erst  nach  Beginn  des  Gandersheimer  Streites  (987)  und  im  Zu- 
sammenhange mit  ihm  und  möglicherweise  auch  erst  auf  Anregung 
Bernwards  hin,  durch  ein  Inquisitionsverfahren  festgestellt  worden; 
diese  Aufzeichnung  ist  im  Archive  des  Domstiftes,  freilich  erst  in 
Schrift  des  11.  Jahrhunderts,  erhalten  geblieben.^  Es  liegt  nun  die 
Annahme  nahe,  daß  die  Grenzumschreibung,  durch  welche  die  Urkunde 
Ludwigs  des  Frommen  verfälscht  wurde,  keine  andere  ist  als  jene 
Grenzangabe,  die  man  im  März  1013  in  das  DH.  II.  256,  das  jene 
älteste  Immunität  mit  ersetzen  sollte,  einzuschmuggeln  vergeblich  ver- 
suchte und  die  einen  Auszug  aus  der  Grenzbeschreibung  G  darstellt. 
Daß  aber  die  Immunität  Ludwigs  wirklich  keine  Grenzumschreibung 
enthielt,  ergibt  die  weiter  unten  folgende  Nachweisung  ihrer  echten 
Gestalt. 

Seine  Immunitätsurkunde  erneuerte  Ludwig  der  Fromme  dem 
zweiten  Bischöfe  (I  2).  Sein  Sohn  Ludwig  der  Deutsche  legte  die 
Bistumsgrenze  nach  Ostfalen  hin^  am  Ufer  der  Innerste  fest,  verfügte 

*  Vgl.  M.  Tangl  oben  S.  210—218. 
'  SS.  IV  776  c.  41. 

'  ÜB.  S.  30,  Nr.  40,  vgl.  Vorbemerkung  DH.  11.  256. 

*  ÜB.  S.  24,  Nr.  35  mit  Anm. 

"  „Super  Astfalas"  ist  schwer  zu  erklären.  Der  Gau  Astfala,  der  Kern  des 
Sprengeis,  in  dem  die  Bischofsstadt  selbst  liegt,  kann  kaum  gemeint  sein.  Die 
Innerste  bildet  zwar  in  ihrem  Laufe  von  Südosten  nach  Nordwesten  die  Grenze  der 


Hildesheim  —  Steterburg»  495 

Über  alles  innerhalb  der  Grenzen  des  engeren  bischöflichen  Pfarr- 
sprengels^  gelegene  Königsgut  zugunsten  der  Domherren  und  befreite 
die  bischöflichen  Vasallen  und  Hintersassen  für  den  Fall  der  Heerfahrt, 
ies  Hof-  und  Gerichtsdienstes  und  jedes  anderen  Königsdienstes  von 
3er  Zwangsgewalt  der  königlichen  Beamten.  So  das  Regest  1  3,  dessen 
Angaben  wir  wohl  Vertrauen  schenken  dürfen.  Denn  wenn  die 
Sprengel  der  sächsischen  Bistümer  auch  nirgends  in  Königsurkunden 
allgemein  umschrieben  worden  sind,  so  liegen  doch  einzelne  bestimmte 
Zeugnisse  vor,  daß  in  Streitfällen  auf  Synoden  oder  ausdrücklich  durch 
Diplome  über  Bistumsgrenzen  vermittels  Demarkation  an  der  strittigen 
iStelle  entschieden  wurde. ^  Es  kann  somit  nicht  ohne  weiteres  ins 
jReich  der  Fabel  verwiesen  werden ,  wenn  das  ürkundenverzeichnis 
anzugeben  scheint,  Ludwig  der  Deutsche  habe  die  Hildesheimer  Süd- 
ostgrenze gegen  die  Diözese  Halberstadt ^  an  einer  bestimmten  Stelle  ge- 
regelt. Die  Unterstellung  der  Immunitätsleute  bei  Ausübung  ihrer  öffent- 
lichen Pflichten^  unter  den  Immunitätsherrn  und  seine  Beamten  ist  eine 
natürliche  Folge  der  Immunität  überhaupt.  Merkwürdigerweise  ist  sie 
selten   durch  Königsurkunden   verbrieft  worden.^    Die  Zuverlässigkeit 

Gaue  Ostfalen  einerseits  und  Flenithi,  Valedungo  (hier  liegt  Hildesheim  selbst  an 
ihr)  und  Scotelingo  anderseits,  vgl.  das  Kartenblatt:  Ostfalen  und  Nordthtiringen 
mit  Diözesan-,  Gau-  und  dynastischer  Einteilung  bis  ins  14.  Saec,  von  J.  V.  Kut- 
sch ei  t,  Verlag  von  Simon  Schropp  &  Co.,  Berlin  1842;  da  die  letztgenannten  drei 
Gaue  jedoch  zum  Sprengel  gehören,  kann  hier  keine  Bistumsgrenze  bestanden  haben. 
Man  wird  also  unter  Ostfalen  hier  einen  weiteren  Begriff,  das  Stammesland  verstehen 
müssen  (ähnlich  wie  es  in  DH.  II.  256a  als  „pagus  sive  provincia  Astfalo**  vor- 
kommt) und  an  eine  Abgrenzung  des  im  Westen  an  das  engernsche  Bistum  Minden 
sich  anschließenden  Hildesheimer  Sprengeis  nach  der  ostfälischen  Seite  hin,  d.h. 
gegen  das  östlich  und  südöstlich  angrenzende  andere  ostfälische  Bistum  Halberstadt 
denken  können.  Hier  kann  die  Innerste  in  ihrem  Oberlaufe  stellenweise  die  Grenze 
gebildet  haben.  Nach  der  Grenzbeschreibung  G  verlief  die  Bistumsgrenze  von 
Ahrendsberg  zum  Vorbach,  einem  Nebenflusse  der  Innerste,  von  dort  über  zwei  un- 
bestimmbare Orte  an  diese  selbst,  überschritt  sie  und  wandte  sich  über  zwei  un- 
bekannte Orte  nach  Münchehof.  A.  Bertram  gibt  a.a.O.  S.  25  die  Linie  so  an: 
die  Rohmke  aufwärts  bis  zu  ihrer  südlichen  Quelle  am  Fuße  des  großen  Ahrens- 
berges,  weiter- zum  Vorbach,  zum  großen  Kellerhalsteich,  unterhalb  Wildemann  über 
die  Innerste,  im  Süden  von  Münchehof  (Kemnade)  vorbei. 

^  Von  den  Kapellen  des  Domes  war  später  die  Antoni-Kapelli  Pfarrkirche,  vgl. 
Bertram  a.  a.  0.  S.  27. 

2  Vgl.  M.  Tangl  oben  S.  212. 

^  Über  deren  ümgrenzungsfrage  vgl.  oben  S.  198—215. 

*  Von  denen  die  Hildesheimer,  wie  wir  sahen  (I,  1),  nicht  befreit  waren. 

^  Eine  solche  auf  die  Heerfahrt  bezügliche  Privilegierung  findet  sich  in  Karo- 
lingerzeit sonst  nur  in  der  Urkunde  Pippins  DK.  20  für  das  Bistum  Worms  und, 
daraus  übernommen,  in  der  Bestätigung  Ludwigs  des  Frommen  M.'^  536.  Weiteren 
Aufschluß  über  die  Frage  darf  man  von  E.  Stengels  Untersuchungen  über  die  Im- 
munitätsurkunden der  deutschen  Könige  erwarten.    Vgl.  auch  M.  Tangl  oben  S.  292 f. 


496 


Ernst  Müller 


gerade  dieser  Angabe  des  Regestes  wird  vollends  dadurch  über  jeden 
Zweifel  erhoben,  daß  in  der  Erneuerungsurkunde  Heinrichs  II.  D.  256, 
deren  beide  Fassungen,  wie  wir  noch  genauer  sehen  werden,  teilweise 
auf  karolingischem  Formular  beruhen,  sich  ein  Abschnitt  findet,  der 
ihr  durchaus  entspricht,^  und  den  wir  somit  durch  die  Bestätigung 
Arnolfs  (I  4)  hindurch  auf  die  verbrannte  Urkunde  Ludwigs  des  Deutschen 
zurückführen  dürfen. 

Die  weiteren  Nummern  des  ersten  Teiles  des  Verzeichnisses  (I  5—11) 
betreffen  Überweisungen  von  Gütern  und  Klöstern  und  deren  Bestäti- 
gungen durch  die  Könige  Arnolf  bis  Otto  III.  Da  diese  Urkunden 
spurlos  verschwunden  sind,  brauchen  wir  auf  sie  hier  nicht  weiter 
einzugehen. 

Die  Hildesheimer  Kirche  nahm  einen  neuen  Aufschwung,  als 
Bernward  die  Leitung  des  Bistums  übernahm.  Der  vielseitig  tätige 
Bischof  war  eifrig  bemüht,  den  Umfang  seines  Sprengeis  und  die 
Rechte  seiner  Kirche  zu  sichern.  Er  fand  bei  diesen  Bestrebungen 
geneigtes  Entgegenkommen  bei  Otto  IIL,  dessen  Erzieher  er  gewesen 
war.  Nicht  weniger  als  zwölf  Diplome  nennt  das  Verzeichnis,  die  er 
von  diesem  Herrscher  erhielt. 

Die  erste  Urkunde,  die  ihm  zuteil  wurde,  war  ein  großes  Privileg, 
das  eine  allgemeine  Besitzbestätigung  und  Bestimmungen  über  Im- 
munität und  Vogtwahl  sowie  über  die  patristischen  Studien  der  Dom- 


^  Das  lehrt  eine  Gegenüberstellung: 

Regest  I  3: 

ut  nulla  maior  vel  minor  persona  au- 
deret  stringere  homines  suos,  nobiles  aut 
liberos,  colonos  vel  servos,  quamdiu  in  ex- 
pedicione  aut  ad  placitum  vel  in  ullo  re- 
gali  servicio  essent.  —  Allgemein  gehalten, 
aber  teilweise  damit  übereinstimmend  ist 
Regest  II  1: 

ut  null  US  comes  potestatem  haberet 
stringere  homines  suos,  nobiles  li- 
beros colonos  litones  aut  servos,  in 
qualicunque  territorio  habitarent,  excepta 
illa  persona  quam  illius  loci  episcopus 
regio  consensu  eligeret. 


Die  Wormser  Immunitäten    (vgl.  die 
ganz  anders. 


DH.  II.  256  b: 

Proinde  quotiens  in  expeditionem 
seu  ad  palatium  (!)  vel  in  aliud  quod- 
libet  nostrum  ser Vitium  ire  debeat,  quo- 
rumlibet  ho  min  um  suorum  ad  hoc  iter 
potestatem  habeat  nee  eo  tempore  quisquam 
aliquos  eins  homines  distringere  vel 
ad  aliam  profectionem  cogere  presumat  — 
Damit  nahe  verwandt:   DH^  II.  256a: 

Cum  vero  in  expeditionem  aut  in 
palatium  vel  in  aliud  servicium 
nostrum  iter  arripuerit,  quorumlibet 
hominum  suorum  cuiuscumquevideantur 
persone  potestatem  habeat  nee  in 
aliam  profectionem  quis  eos  cogere 
presumat,  nullusque  iudex  publicus  seu 
iudiciaria  qualiscumque  persona  in  hoc 
sibi  contradicere  vel  se  molestare  audeat. 
vorhergehende    Anm.)    fassen    die   Sache 


Hildesheim  —  Steterburg  497 

schule^  enthielt  (II  1).  Ihm  entspricht  wenigstens  teilweise  die  Er- 
neuerungsurkunde DH.  II.  256,  die  sich  Bischof  Bernward  nach  dem 
Brande  von  Heinrich  II.  über  die  Grundrechte  seiner  Kirche  ausstellen 
ieß.  Dieses  Diplom  ist  in  zwei  verschiedenen  Fassungen  überliefert. 
)ie  eine,  DH.  II.  256a,  die  nicht  vom  Könige  vollzogen  und  nicht  mit 
Siegel  und  Tagesangabe  versehen  wurde,  also  ein  vom  Empfänger 
eingereichter  und  ihm  zurückgegebener  Entwurf  ohne  Rechtskraft  blieb, 
ist  inhaltlich  durch  die  bereits  erwähnte  Grenzangabe  des  Bistums- 
sprengeis, einen  Auszug  aus  der  Grenzbeschreibung  G,  erweitert,  für 
die  sie  sich  auf  Bestätigungen  Arnolfs  und  Ludwigs  beruft,  die,  wenn 
überhaupt  je  vorhanden,  sicher  nicht  echt  gewesen  sein  können.  Nach 
3resslaus  Vermutung  sollte  diese  Grenzangabe  wohl  zugleich  den 
Ansprüchen  Bernwards  im  Gandersheimer  Grenzstreite,  dessen  Ent- 
scheidung gleichzeitig  erneuert  wurde,  eine  neue  allgemeinere  Grund- 
age  verschaffen.  Da  dieser  Empfängerentwurf  jedoch  bei  Hofe 
nicht  durchging,  fügte  man,  nach  Bresslaus  Annahme  gleichfalls 
mit  Rücksicht  auf  die  früheren  Mainzer  Ansprüche,  in  der  neuen, 
von  Bernward  vorgelegten  und  vom  König  anerkannten  Fassung, 
)H.  II.  256  b,  eine  in  D.  256a  fehlende  Stelle  über  Besitz  und 
Zehnten  ein. 

Beide  Fassungen  des  D.  256  rühren  von  dem  Notar  G(unther)  B. 
her,  der  nach  Bresslaus  sehr  einleuchtender  Vermutung  erst  kurze 
Zeit  vorher  aus  dem  Dienste  Bernwards  in  den  der  königlichen  Kanzlei 
übergetreten  war  und  alle  Hildesheimer  Urkunden  Heinrichs  II.  verfaßt 
hat.^  Während  er  das  Diktat  von  D.  256a  großenteils  selbständig 
gestaltete,^  lehnte  er  sich  in  D.  256b  weitgehend  an  eine  karolingische 
Vorlage  an.  Entspncht  die  Fassung  D.  256  a  durch  ihre  Grenzangabe 
gewissermaßen  der  Fälschung,  von  der  das  ürkundenverzeichnis  an 
erster  Stelle  (I  1)  berichtet,  so  ist  uns  in  D.  256b  die  echte  Gestalt 
der  ersten  Hildesheimer  Immunität  erhalten  geblieben.  Dachten 
bereits  Bresslau   und  Stengel   an    eine  Vorurkunde  Ludwigs  des 


^  Vgl,  über  diese  Bertram  a.  a.  0.  S.  54ff. 

^  Vgl.  über  ihn  Bresslau,  NA.  XXH  (1897)  158f.  und  Einleitung  zur  Ausgabe 
S.  XXII,  und  Stengel  in  seinem  demnächst  erscheinenden  Buche  S.  225ff.  (in  dem 
unter  dem  Titel  „Die  Verfasser  der  deutschen  Immunitätsprivilegien  des  10.  und 
11.  Jahrhunderts"  als  Marburger  tiabilitationsschrift,  Marburg  i.  ti.  1907,  vorliegen- 
den Teile  S.  96ff.),  ferner  unten  S.  509  Anm.  2. 

'  Auf  karolingische  Vorlage  führt  Bresslau  die  Abschnitte  über  bischöf- 
liche Leute  (vgl.  oben  S.  495  Anm.  5,  S.  496  Anm.  1)  und  Bischofswahl,  deren  Fas- 
sung der  in  D.  256b  nahe  verwandt  ist,  ferner  die  den  Assensus  ausdrückende 
Wendung  und  die  Worte  „pro  animae  nostr?  remedio,  regni  quoque  tocius  nobis 
divinitus  coUati  stabilitate  et  pro  coniugis  prolisque  regalis  incolumitate"  zu- 
rück. —  Ich  verweise  hier  ein  für  allemal  auf  die  Vorbemerkung  zu  D.  256. 

AfU     II  32 


498 


Ernst  Müller 


Frommen,^  so  läßt  sich  diese  Erkenntnis  durch  eine  Vergleichung 
mit  den  Immunitätsurkunden  dieses  Herrschers  zu  voller  Gewißheit 
erheben  und  die  Vorlage  zeitlich  genau  festlegen.^  Der  Text  von 
Dr256b  stimmt,  soweit  in  ihm  Königsschutz  und  Immunität 
verbrieft  werden,  fast  wörtlich  mit  der  Urkunde  Ludwigs  des  Frommen 
für  das  französische  Bistum  Viviers,  M.  585  (565),  überein,  wie  die 
folgende  Gegenüberstellung  zeigt. 


IA\585: 
Si  sacerdotum  ac  servomm  dei  iustis 
petitionibüs  acquiescimus ,  hoc  nobis  sane 
ad  aeternam  beatitudinem  provenire  con- 
fidimus. 


Idcirco    comperiat   omnium   fidelium 
nostromm  praesentium  scilicet  etfuturomm 


D.  256  b: 

Si  sacerdotum  et  servorum  dei 
petitiones  pro  suis  necessitatibus  quas 
nobis  innotuerint  ad  effectum  perducimus, 
non  solum  regiam  consuetudinem  exerce- 
mus,  verum  etiam  ad  aeternae  beati- 
tudinis  premia  capessenda  talia  nobis 
facta  profutura  liquido  credimus.^ 

Quapropter^  omnium  fidelium 
nostrorum    presentium    scilicet    et 


^  Während  Br esslau  im  NA.  XXII  (1897)  158 f.  von  teilweiser,  mittelbarer 
oder  unmittelbarer  Benutzung  eines  verlorenen  Immunitätsprivilegs  Ludwigs  des 
Frommen  für  tiildesheim  in  DDH.  II.  126,  256a  und  b  sprach,  drückte  er  sich 
später  in  der  Einleitung  zur  Ausgabe  S.  XXII  und  in  den  Vorbemerkungen  zu  D.  126. 
256  (vgl.  auch  S.  307 ,  N.  v.  der  Ausgabe)  allgemeiner  und  zurückhaltender  aus. 
Stengel  spricht  von  einer  „an  Diplome  Ludwigs  des  Frommen  erinnernden  Fas- 
sung", vgl.  „Die  Immunitätsurkunden  der  deutschen  Könige  vom  10. — 12.  «Jahrhundert, 
Berliner  Dissert.  1902,  S.  17,  von  „der  im  DH.  II.  256b  ausgeschriebenen  ludowici- 
schen  Urkunde",  Hab.-Schrift  S.  94  (Buch  S.  223)  Anm.  8,  von  einer  „ludowici- 
schen  Formel",  ebenda  S.  97  bzw.  226. 

^  Als  diese  Abhandlung  im  ersten  Entwürfe  fertig  war,  teilte  mir  Herr  Privat- 
dozent Dr.  E.  Stengel  in  Marburg  mit,  er  habe  für  sein  Werk  über  die  Immunitäts- 
urkunden der  deutschen  Könige  die  Hildesheimer  Überlieferung  bereits  vor  Jahren 
untersucht,  das  Deperditum  Ludwigs  des  Frommen  rekonstruiert  und  zeitlich  ziem- 
lich genau  bestimmt  sowie  den  Anteil  der  verlorenen  Nachurkunden  an  der  Fassung 
des  Dti.  II.  256b  festgelegt.  So  sehr  ich  bedauere,  Stengel  von  seinen  in  einen 
größeren  Zusammenhang  gerückten  Einzelergebnissen  etwas  vorwegzunehmen,  so 
wenig  konnte  ich  im  Rahmen  meiner  Untersuchung,  die  mit  den  mir  übertragenen 
Vorarbeiten  für  die  Ausgabe  der  Urkunden  Ludwigs  des  Frommen  in  den  Mon.  Germ, 
bist,  in  engster  Verbindung  steht,  auf  den  genauen  Nachweis  und  die  Zeitbestimmung 
des  Deperditums  Ludwigs  verzichten.  Ich  habe  mir  indessen  hierbei  möglichste  Zu- 
rückhaltung auferlegt  und  verweise  auf  Stengels  Arbeit  als  auf  eine  Ergänzung 
meiner  eigenen,  behalte  mir  jedoch  vor,  auf  die  Geschichte  der  Hildesheimer  Bistums- 
gründung an  anderem  Orte  zurückzukommen. 

^  Ähnliche  Arengen  finden  sich  in  folgenden  Urkunden  (Immunitäten)  Ludwigs 
des  Frommen:  M.'  531  =  550;  in  der  Gruppe  535  (Halberstadt),  536  =  537  (Worms), 
570  und  884  (Vienne)  und  702  (Visbeck);  572,  598  (vom  3.  Dezember  815). 

*  „Quapr."  in  M.^  535,  536.  Wo  ich  wie  hier  auf  ein  Glied  der  Gruppe  535 
(Halberstadt),  536  (Worms),  570  (Vienne)  und  702  (Visbeck)  verweisen  kann,  ver- 
zichte ich  auf  weitere  Belege. 


Hildesheim  —  Steterburg 


499 


industria,  quia  vir  venerabilis  Thomas 
episcopus  Albensium  seu  Vivariensium 
veniens  ad  nos  deprecatus  est  celsitudinem 
nostram,  ut  pro  nostrae  mercedis  augmento 
oraedictam  sedem  cum  fratribus  ibidem 
domino  servientibus  sab  nostra  defensione 
el  immunitate  reciperemus.  Cuius  petitioni 
assensum  praebentes  per  hoc  nostrae 
auctoritatis  praeceptum  confirmare  studu- 
imus.  Praecipientes  ergo  iiibemus,  ut  nullus 
iudex  publicus  neque  quislibet  ex  iudiciaria 
potestate  seu  aliquis  ex  fidelibus  sanctae 
dei  ecclesiae  ac  nostris  in  ecclesias  aut 
loca  vel  agros  seu  reliquas  possessiones, 
quas  moderno  tempore  iuste  et  rationabi- 
liter  possidere  videtur  in  quibustibet  pagis 
et  territoriis  vel  quidquid  etiam  deinceps 
propter  divinum  amorem  ibidem  collatum 
fuerit,  ad  causas  audiendas  vel  freda 
exigenda  aut  mansiones  aut  paratas  fa- 
ciendas  aut  fideiussores  tollendos  aut  ho- 
mines  ipsius  ecclesiae  tam  ingenuos  quam 
servos  iniuste  distringendos  sive  alias 
redibitiones  vel  illicitas  occasiones  requi- 
rendas  ullo  unquam  tempore  ingredi  au- 
deat  vel  ea  quae  supra  memorata  sunt 
exactare  praesumat  Sed  liceat  servis 
domini  ibidem  consistentibus  sub  nostra 
defensione  et  immunitatis  tuitione  perpetuo 
tempore  quiete  residere  et  pro  nobis  ac 
coniuge  proleque  nostra  seu  pro  stabilitate 
totius  imperii  nostri  a  domino  nobis  collati 
et  eius  clementissima  miseratione  iugiter 
conservandi  domini  misericordiam  exorare. 


futurorum  cognoscat^  industria,  qua- 
liter  vir  venerabilis  Bernwardus  epi- 
scopus ex  oppido  qui  vocatur^  Hildeneshem 
qui^  est  in  pago  Astfala  in  honore  sanctae 
Mariae  super  fluvium  Indistha^  veniens 
ad  nos  deprecatus  est  celsitudinem 
nostram,  ut  prefatam  aecclesiam  cum 
fratribus  ibidem  deo  famulantibus* 
pro  nostrae  mercedis  incremento^  sub 
nostra  defensione  et  immunitatis 
tuitione'^  reciperemus.  Cuius  peti- 
cionem  quia^  iustam  fore  cognovimus'' , 
assensum  prebere  non  negavimus  et, 
sicut  petivit,^  per  hoc  nostrae  aucto- 
ritatis preceptum  confirmare  stu- 
duimus.  Precipientes  ergo  iube- 
mus,  ut  nullus  iudex  publicus  ne- 
que quislibet  ex  iudiciaria  potestate 
seu  aliquis  ex  fidelibus  sanctae  dei 
aecclesiae  ac  nostris  in  aecclesias 
loca  vel  agros  seu  reliquas  pos- 
sessiones, quas  moderno  tempore 
iuste  et  rationabiliter  possidere 
videtur  in  quibus{!)  pagis  vel  terri- 
toriis vel  quicquid  deinceps  propter 
divinum  ettiam  (!)  amorem  ibidem 
collatum  fuerit,  ad  causas  audien- 
das vel  freda  exigenda  seu  mansio- 
nes faciendas  aut  fideiussores  tol- 
lendos aut  homines  ipsius  aeccle- 
siae tam  ingenuos  iniuste  quam 
et  servos  distringendos  vel  ullas 
redibitiones  aut  illicitas  occasiones 
requirendas  ullo  umquam  tempore 
ingredi  audeat  vel  ea  quae  supe- 
rius^  memorata  sunt  exactare  pre- 
sumat.      Sed    liceat    Uli    suisque    ibi 


'  „cognoscat"    nicht    nachzuweisen,    vielleicht    aus  „comperiat«,   vgl.  M.*  556 
(unecht,  doch  echte  Vorlage)  mit  „Quapr.  comperiat  .  .  .  quia". 

2  „q.  voc."  auch  in  M.^  702. 

^  Vgl.  iV\.^535:  „que  est  constructa  in  hon sup.  fluv in  pago  .  .  ." 

*  „deo  famul."  in  M.^  535  an  anderer  Stelle  zweimal. 

^  „increm."  in  M.^  536  in  demselben  Zusammenhang  an  anderer  Stelle. 

^  „immun,  tuit."  in  M.^  585  selbst  an  anderer  Stelle,  in  535  an  derselben  Stelle. 

'  iV\.-654;   quia   iustam   ac  deo  amabilem   esse  cognov.;    M.*  535:  quia   iuste 
.  .  .  petiit. 

^  M.'  536:  et  ...  sicut  petiit. 

'  „superius"  in  M.'  666. 

32* 


500 


Ernst  Müller 


Et  ut  haec  auctoritas  verius  certiusque 
credatur,  manu  propria  subscripsimus  et 
anuli  nostri  impressione  signari  iussimus. 


Sübiectis^  deo  servientibus  dericis^  sab 
nostra  defensione  et  immunitatis 
tüitione  quieto  tramite^  ibidem  resi- 
dere  et  pro  nobis  et  coniuge  prole- 
que  nostra  seu  pro  stabilitate 
tociüs  imperii  nostri  a  deo^  nobis 
concessi^  et  eius  clementissima  mi- 
seratione  perpetuo*'  conservandi  iu- 
giter  domini  misericordiam  exorare. 


Et  ut  haec  nostra  auctoritas  fir- 
mior  habeatur  et  per  futura  tempora 
diligentius  observetur,  manu  propria 
nostra  subter  eam  confirmavimus  sigil- 
loque  nostrae  impressionis(!)  insig- 
I  niri  precepimus.^ 

Die   wenigen    abweichenden   Wendungen   gehören   gleichfalls   der 
Kanzleisprache  Ludwigs  des  Frommen  an  und  sind  in  seinen  Immunitäten 
größtenteils  nachzuweisen;^   dasselbe  gilt   von   der  Arenga,   der   Pro-  1 
mulgation   und  Korroboration ,   die  sich   mit   kleineren   Abweichungen  i 
vielfach  belegen  lassen.'    Damit  ist  der  exakte  Beweis  geliefert,  daß  i 
für  den  tiauptteil  des  D.  256  b  von  der  Arenga  an  bis  zum  Schlüsse  | 
der   Immunitätsformel,   also    mit   Ausschluß    der   Bestimmungen    über 
Besitz  und  Zehnten,  bischöfliche  Leute  und  BischofswahP,  und  dann 
wieder  für    die  Korroboration   eine   Urkunde   Ludwigs    des   Frommen 
die  fast  wörtlich  ausgeschriebene  mittelbare  oder  unmittelbare  Vorlage 
gebildet   hat.     An  eine  Abhängigkeit  des  D.  256  b   von  der   Immuni- 
tät für  Viviers   ist   schon   wegen   der  kanzleimäßigen   Abweichungen 
nicht  zu  denken,   ganz  abgesehen  von   der  sonstigen  Unmöglichkeit. 
Aber  auch  eine  Urkunde  irgendeines  anderen  Empfängers  ist  als  Vor- 

*  Vgl.  M.^  629  (Form.  imp.  29)  =  649:  „clericorum  in  eodem  loco  domino  de- 
servientium"  (auch  in  M.^  655)  und  „cum  .  .  .  sibi  subiectis  .  .  .  hominibus;  A\.'634, 
652,  745,  Form.  imp.  12,  28:  „una  cum  clero  et  populo  sibi  subiecto"  (ohne  „et  po- 
pulo"  auch  in  M.^820);  vgl.  auch  oben  in  M.^  585:  cum  fratr.  ibidem  domino  ser- 
vientibus. 

*  „quieto  tramite"  in  JA?  521  zweimal,  in  M.^  531. 
^  „a  deo  nobis  concessi"  in  M.^  535. 

*  In  M.'  573,  629  (Form.  imp.  29)  =  649. 

^  Ähnliche  Korroborationen  in  M.'  529,  572,  577,  598,  619  =  655  =  777,  716,  786 
(davon  sind  529,  577,  619  und  777  keine  Immunitäten). 

®  Vgl.  oben  S.  499  Anm.  1  bis  S.  500  Anm.  4. 

'  Vgl.  oben  S.  498  Anm.  3,  4  und  S.  500  Anm.  5. 

®  Über  die  tieerfahrtprivilegierung  vgl.  oben  S.  495  mit  Anm.  5,  S.  496  mit 
Anm.  1;  auch  für  die  auf  das  Recht  der  Bischofswahl  bezüglichen  Sätze  nimmt 
Bresslau  Übernahme  aus  älteren,  karolingischen  Urkunden  an,  vgl.  oben  S.  497 
Anm.  3,  Stengel  wird  über  die  Zeit  seiner  Verleihung  Genaueres  feststellen,  vgl. 
schon  seine  Dissert.  S.  17. 


tiildesheim  —  Steterburg  501 

läge  nicht  in  Betracht  zu  ziehen.  Denn  Kenntnis  und  Verwertung 
von  Beständen  eines  anderen  Empfängerarchives  durch  einen  könig- 
lichen oder  bischöflichen  Kanzleibeamten  ist  von  vornherein  un- 
wahrscheinlich; vielmehr  wird  die  Vorlage  zunächst  immer  bei  dem 
Empfänger  der  Nachurkunde  zu  suchen  sein.  Müssen  wir  also  an- 
nehmen, daß  die  Vorlage  des  Notars  GB.  für  die  Hildesheimer  Kirche 
ausgestellt  war,  so  ist  uns  in  D.  256  b  der  bis  auf  den  Bischofsnamen 
und  das  Protokoll  vollständige,  unverfälschte  Text  dieser  Immunitäts- 
verleihung Ludwigs  des  Frommen  erhalten  geblieben  \  Berücksichtigen 
wir  weiter  die  bei  der  Abfassung  der  Diplome  dieses  Herrschers, 
insbesondere  seiner  Immunitäten  obwaltenden  (hier  nicht  näher  zu 
erörternden)  Verhältnisse,  so  können  wir  eine  so  weitgehende  Über- 
einstimmung zweier  Urkunden  für  verschiedene  Empfänger,  wie  sie 
zwischen  D.  256b  und  M.^  585  besteht,  nicht  anders  erklären,  als 
durch  Herstellung  durch  denselben  Kanzleibeamten,  und  da  der 
stilistische  Zusammenhang  mit  keiner  anderen  Immunität  ähnlich  eng 
ist,  so  können  wir  mit  großer  Sicherheit  das  wiedergefundene  De- 
perditum  Ludwigs  in  die  Zeit  der  Abfassung  von  M.^  585,  d.  h.  in 
den  Sommer  des  Jahres  815  versetzen,  eine  Datierung,  die  dadurch  be- 
stätigt wird,  daß  die  wenigen  abweichenden  Wendungen  sowie  die  ähn- 
lichen Arengen,  Promulgationen  und  Korroborationen  überwiegend  in 
dieser  ersten  Regierungszeit  Ludwigs  vorkommen.  Wir  besitzen  also 
in  D.  256b  eine  Immunitätsurkunde  Ludwigs  des  Frommen 
für  Hildesheim  aus  dem  Sommer  des  Jahres  815.  Das  aber 
ist  ein  für  die  Gründungsgeschichte  des  Bistums  sehr  wichtiges  Er- 
gebnis, es  bedeutet  nicht  weniger  als  die  bisher  vollständig  fehlende 
urkundliche  Festlegung  seines  Gründungsdatums. 
Am  15.  Juni  ist  in  Aachen  die  Urkunde  für  Viviers  M.^  585  ausgestellt 
worden,  die  eine  so  enge  Verwandtschaft  mit  der  Hildesheimer  Im- 
munität aufweist,  daß  wir  annähernde  Gleichzeitigkeit  für  diese  an- 
nehmen müssen;  noch  am  18.  ist  der  Kaiser  dort  nachweisbar,^  bald 
darauf  begab  er  sich  nach  Sachsen^  und  hielt  am  I.Juli  in  Paderborn 
Reichstag,  um  sich  jetzt  zum  ersten  Male  seit  seiner  Thronbesteigung 
mit  den  Angelegenheiten  dieses  Landes  zu  beschäftigen.    Hier  erhielt 


^  Doch  sind  einige  Umstellungen  vorzunehmen  (vgl.  schon  Stengel,  Dissert. 
S.  18  Anm.  1):  quas  nobis  pro  suis  necessitatibus  innotuerint;  etiam  deinceps 
propter  divinum  amorem;  quam  et  servos  iniuste  distringendos;  „in  quibus  pagis" 
ist  in  „quibuslibet"  oder  „quibusque"  zu  verbessern  (vgl.  schon  S.  299  N.  e  der 
Ausgabe),  der  Schluß  der  Korroboration  wohl  in  „sigillique  (?)  nostri  impressione; 
vgl.  ferner  unten  S.  505  Anm.  1. 

^  M.'  586. 

^  Vgl.  für  das  Folgende  die  Nachweise  bei  M.*  587  a.  b. 


502  Ernst  Müller 

der  jüngere  Adalhard  die  Erlaubnis,  in  Korvey  ein  Kloster  zu 
gründen,  und  der  Kaiser  erließ  ihm  alle  Dienstleistungen,  damit  er 
freier  das  heilige  Werk  erfüllen  könne.  Die  Zeit,  der  wir  auf  Grund 
der  diplomatischen  Untersuchung  die  Ausstellung  der  Hildesheimer 
Immunität  zuschreiben  müssen,  ist  also  nachweislich  durch  Bemühungen 
des  Kaisers  um  Kirchengründung  im  Sachsenlande  ausgefüllt.  Durch 
ein  solches  Zusammentreffen  gewinnt  unser  Datierungsversuch  die 
sicherste  Stütze,  und  wir  dürfen  ohne  Bedenken  auf  den  Paderborner 
Reichstag  des  Juli  815  auch  die  Anfänge  der  Hildesheimer  Kirche 
verlegen.  Doch  so  verlockend  es  ist,  diesen  Gedankengang  hier  weiter 
zu  verfolgen  und  genauer  zu  begründen,  —  es  würde  uns  das  von 
unserem  eigentlichen  Gegenstande  zu  weit  entfernen;  wir  müssen  es 
uns  daher  für  eine  andere  Gelegenheit  aufsparen. 

Daß  der  Notar  GB.  noch  nach  dem  Archivbrande  in  D.  256  b 
eine  karolingische  Vorurkunde  verwerten  konnte,  braucht  nicht  in  Ver- 
wunderung zu  versetzen,  wenn  die  weitere  Betrachtung  der  Erneuerungs- 
urkunden auf  noch  andere  Spuren  des  älteren  Archivbestandes  führt. 
Die  Gandersheimer  Entscheidung  vom  Januar  1007  (II  13)  erneuerte 
König  Heinrich  durch  das  Diplom  Nr.  255-  Da  seine  Unterschriften 
zum  Jahre  1013  nicht  mehr  passen,  sondern  zu  1007  gehören,  muß 
sich  ein  Entwurf  oder  eine  Abschrift  der  älteren  Urkunde,  mindestens  ein 
ihre  Zeugenliste  enthaltender  Auszug,^  trotz  dem  Brande  erhalten  haben. 

Der  Nr.  II  4  des  ürkundenverzeichnisses  entspricht  DH.  II.  257. 
Diese  Urkunde  bestätigt  eine  Schenkung  Kaiser  Ottos  III.  an  die  Ka- 
pelle des  heil.  Kreuzes  zu  Hildesheim,  deren  Text  Bischof  Bernward  dem 
Könige  in  einem  mitgebrachten  „libellus"  vorlegte.^  Bresslau  lehnt  die 
Deutung  dieses  Ausdruckes  als  „Urkunde"  wohl  mit  Recht  ab  und  ver- 
steht darunter  ein  Kopialbuch.  Nun  waren  Kartulare  um  das  Jahr  1000 
auf  deutschem  Boden  noch  sehr  selten.  Erst  im  11.  und  mehr  noch  im 
12.  Jahrhundert  schritten  zahlreiche  Bistümer  und  Klöster  zur  Anlage 
von  Abschriftensammlungen  ihrer  Urkunden  in  Buchform.  Aus  früherer 
Zeit  kennen  wir,  abgesehen  von  den  bayrisch-österreichischen  Traditions- 

^  Bresslau  nimmt,  Vorbem.  D.  255,  für  die  ganze  Fassung  Wiederholung  der 
älteren  Urkunde  an,  während  Stengel  S.  225  (Hab.-Schrift  S.  96)  Anm.2  die  Fassung 
erst  dem  Jahre  1013  zuschreiben  will.  Eine  zweite  Ausfertigung  für  Mainz  ist  kaum 
in  Betracht  zu  ziehen,  da  Erzbischof  Willigis  durchaus  nur  der  nachgebende  und 
Verzicht  leistende  Teil  war,  vgl.  schon  V.  Bayer,  Forsch,  zur  Deutschen  Gesch^,  XVI 
(1876)  185  Anm.  4,  auf  dessen  Erklärung  durch  Vorhandensein  eines  Entwurfes  oder 
einer  Abschrift  der  ersten  Ausfertigung  im  „königlichen  Archive"  man  indessen 
besser  verzichtet. 

Bernwardus  .  .  .  portans  secum  libellum,  in  quo  continebatur,  quod  dominus 
piae  memoriae  Otto  tercius  Imperator  .  .  .  predium  ...  ad  cappellam  ...  in  proprium 
ius  contradidit  ea  namque  lege  ut  etc. 


Hildesheim  —  Steterburg  503 

büchern,  die  ganz  anderen  Charakter  tragen,  Kopialbücher  von  Königs- 
(und  Papst-)ürkunden  nur  aus  den  Klöstern  Prüm  und  Korvey,  beide  dem 
10.  Jahrhundert  entstammend.  V  Glaubt  man  trotzdem  für  das  Jahr  1013 
das  Vorhandensein  eines  Kartulars  in  Hildesheim  voraussetzen  zu  dürfen, 
so  kann  der  „libellus"  doch  kaum  ein  domstiftisches  Kopiar  gewesen 
sein;  sonst  müßte  unbedingt  mehr  als  diese  eine  nicht  sehr  wichtige 
Urkunde  und  etwa  noch  die  dürftigen  Reste  des  übrigen  ürkunden- 
vorrates,  die  festzustellen  der  Zweck  dieser  Abhandlung  ist,  darin  ab- 
schriftlich erhalten  geblieben  sein.  Eher  könnte  es  ein  neu  angelegtes 
Kartular  der  im  Jahre  996  eingeweihten  und  später  mit  dem  St.  Micha- 
eliskloster vereinigten  Kreuzkapelle  gewesen  sein  oder,  da  die  kaiser- 
liche Schenkung  „pro  remedio  animae  suae  suorumque  cunctorum 
memoria"  erfolgte,  vielleicht  ein  Memorienbuch  derselben;  seine  Er- 
haltung in  der  außerhalb  der  Stadt  gelegenen  Kapelle  wäre  dann  ohne 
weiteres  erklärlich.  Vielleicht  aber  hat  „libellus"  hier  überhaupt  einen 
ganz  anderen  Sinn.  Das  Wort  kommt  im  klassischen  und  dann  auch 
im  mittelalterlichen  Latein^  in  der  besonderen  Bedeutung  „Streitschrift, 
Prozeßschrift,  von  selten  der  einen  Partei  in  einem  Rechtsstreit  ein- 
gereichter Schriftsatz"  vor.  Nun  interessierte  sich,  wie  wir  sahen, 
Bischof  Bernward  lebhaft  für  den  Umfang  seines  Sprengeis  und  die 
Rechte  seiner  Kirche  und  bemühte  sich  um  die  urkundliche  Sicherung 
beider.  Seinem  Streben,  klare  und  sichere  Rechtsverhältnisse  zu 
schaffen,  verdankte  vielleicht  schon  die  Festlegung  der  Bistumsgrenze 
gegen  Minden,  wohl  sicher  die  allgemeine  Grenzumschreibung  (G)  der 
Diözese  und  ebenso  die  Grenzangabe  in  D.  256  a  ihre  Entstehung,  aus 
ihm  glauben  wir  die  Aufstellung  des  Königsurkunden-Verzeichnisses, 
das  seinen  ältesten  Diplomen  Umgrenzungen  zuschreibt,  erklären 
zu  können.  Eine  von  Bernward  zum  Nachweise  bestimmter  Rechts- 
ansprüche veranlaßte  Schrift,  ähnlich  etwa,  wie  sie  weit  früher  im 
Osnabrücker  Zehntstreit  in  der  bekannten  Querimonia  Egilmari  ab- 
gefaßt wurde,  ^  könnte  nun  jener  „libellus"  gewesen  sein,  der,  nach  Art 
der  Deduktionsschriften  einer  späteren  Zeit,  den  Text  der  Schenkung 
Ottos  III.  eingerückt  enthielt  und  ebenso  wie  das  Urkundenverzeichnis 
den  Brand  überdauerte.    Daß  das  Hildesheim  Bernwards  für  die  Ent- 


^  Vgl.  Bresslau,  ürkundenlehre  S.  85f.  Das  Korveyer  ist  auch  noch  kein 
reines  Kartular,  sondern  enthält  in  seinen  ersten  beiden  Teilen  einen  Text  der  Lex 
Saxonum  und  verschiedene  Kapitulare  und  Dekretalen,  erst  in  seinem  dritten  Teile 
die  Abschriften  der  Kaiserurkunden  des  Klosters.  Reine  Sammlungen  von  Privat- 
urkunden waren  schon  die  Weifienburger  und  Fuldaer  Traditionen  des  9.  Jahrhunderts 

'  Vgl.  Du  Gange,  Glossarium  V  (1885)  88 f. 

^  Vgl.  M.  Tangl,  oben  S.  218ff.;  auch  im  Jahre  1077  hat  der  Korveyer  Abt 
sicher  und  Bischof  Benno  wahrscheinlich  eine  ähnliche  Satzschrift  vorgelegt,  oben  S.  247. 


504  Ernst  Müller 

Stehung  einer  solchen  Schrift  einen  geeigneten  Boden  abgab,  zeigt 
auch  der  Charakter  von  Thangmars  Werk.  Es  ist  teilweise  so  stark 
Parteischrift  für  die  tiildesheimer  Ansprüche  auf  Gandersheim,  daß 
ein  neuerer  Kritiker^  ihm  die  einheitliche  Abfassung  abgesprochen  hat 
und  es  geradezu  aus  einer  im  Jahre  1007  herausgegebenen  Ganders- 
heimer  Streitschrift  und  einer  um  1015  abgefaßten  Lebensbeschreibung 
Bernwards  nach  dessen  Tode  zusammengearbeitet  sein  läßt.  Wie  dem 
auch  sein  mag,  für  D.  257  ergibt  sich  die  Tatsache  der  Erhahung  der 
Vorurkunde  nicht  nur  aus  ihrer  Benutzung  im  Texte,  sondern  wird  im 
Texte  selbst  unmittelbar  ausgesprochen. 

Über  die  Erneuerungsurkunde  DH.  II.  258  ist  nur  zu  bemerken, 
daß  ihr  Objekt  (Gut  zu  Duisburg)  der  Nr.  II  3  des  ürkundenverzeich- 
nisses  nur  teilweise  entspricht. 

Für  DH.  II.  259,  das  Nr.  II  8  des  Verzeichnisses  ersetzt,  scheint 
Bresslau  Benutzung  der  die  Verleihung  der  Grafschaft  Mundburg 
verfügenden  Vorurkunde  Ottos  III.  durch  den  Notar  GB.,  der  also  über 
eine  Abschrift  derselben  verfügt  haben  müßte,  anzunehmen.  Die  Be- 
stätigung erfolgte  unter  Berufung  lediglich  auf  den  mündlichen  Bericht 
des  Bittstellers.^ 

Die  Immunitätsurkunde  für  das  Nonnenkloster  Heiningen  DH.  IL  261, 
die  Nr.  II 11  des  Verzeichnisses  ersetzen  sollte,  schließt  sich,  gleich- 
falls von  GB.  verfaßt,  nach  Bresslaus  Angabe  in  ihrer  Dispositio 
im  wesentlichen  an  D.  256  b  an,  also  an  die  Hildesheimer  Vorurkunde 
Ludwigs  des  Frommen.  Eng  mit  ihr  verwandt  war  die  echte  Vorlage 
von  DH.  II.  260,  einer  Fälschung  des  Michaelisklosters  aus  dem 
12.  Jahrhundert;  die  echte  Immunität  stimmte  teilweise  auch  mit 
D.  256  a  überein  und  war  ebenfalls  von  GB.  abgefaßt.  Während  nun 
Bresslau  dahingestellt  sein  ließ,  ob  die  Benutzung  von  D.  256b 
durch  D.  261  eine  unmittelbare  oder  durch  die  gleichfalls  auf  D.  256  b 
zurückgehende  echte  Gestalt  von  D.  260  vermittelt  war,  suchte  StengeP 
wahrscheinlich  zu  machen,  daß  die  Diplome  256a,  256  b,  260  und  261 
insgesamt,  voneinander  unabhängig  und  selbständig,  aus  der  „gemein- 
samen Hildesheimer  Vorurkunde  karolingischer  Formulierung"  abgeleitet 
seien.  Dadurch,  daß  diese  unbekannte  Größe  jetzt  in  D.  256b  selbst 
ermittelt  ist,  wird  die  Fragestellung  erheblich  verschoben.  Anderseits 
ist  es  weder  nötig  noch  wohl  auch  möglich,  auf  sie  allein  alle  karo- 
lingischen    Bestandteile     dieser    Urkunden     des    Notars   GB.    zurück- 


'  J.  R.  Dieterich,  NA.  XXV  (1900)  425ff. 

^  Bernwardus  . . .  nostram  regiam  clementiam  adiit  dicens  sibi  ab  antecessore 
nostro  pi^  memoriae  tertio  Ottone  imperatore  ius  speciale  castellum  edificandi  .  .  . 
permissum  fuisse. 

'  Dissert.  S.  17ff.,  vgl.  jedoch  auch  schon  Bresslau,  Ausg.  S.  297  Z.  32. 


Hildesheim  —  Steterburg  505 

zuführen.^  Läßt  sich  auch  kein  anderes  Deperdituni  so  sicher  uhd 
vollständig  wiederherstellen,  wie  das  Ludwigs  des  Frommen,  so  finden 
sich  doch  in  diesen  Diplomen,  besonders  in  D.  256a"  und  den  nicht 
auf  die  Vorurkunde  Ludwigs  des  Frommen  zurückzuführenden  Be- 
stimmungen von  D.  256b^  ferner  in  DH.  II.  126^  deutliche  Spuren 
formeller  und  inhaltlicher  Art  von  den  übrigen  verlorenen  Hildesheimer 
Karolingerurkunden  (I,  2—6  des  Verzeichnisses),  für  deren  Erklärung 
die  (an  sich  richtige)  Annahme,  GB.  habe  an  der  Hand  des  alten 
Hildesheimer  Archivs  sich  eine  eingehende  Vertrautheit  mit  dem  karo- 
lingischen  Urkundenwesen  erworben,  kaum  ausreicht.  Mit  dieser  all- 
gemeinen Feststellung  können  wir  uns  begnügen  und  brauchen  die 
gegenseitigen  Abhängigkeitsverhältnisse  der  von  demselben  Notar  GB. 
gleichzeitig  verfaßten  DD.  261,  260,  256a  untereinander  und  zu  D.  256b 
hier  nicht  weiter  zu  verfolgen.  Eine  Benutzung  der  Vorurkunde  Ottos  III. 
in  D.  261,  mit  deren  Möglichkeit  Bresslau  rechnet,  ist  zweifelhaft;  es 
müßte  dann  eine  Abschrift  derselben  erhalten  geblieben  sein. 

Da  keine  den  Nrn.  II,  2.  5 — 7.  10  entsprechenden  Erneuerungs- 
urkunden vorliegen,  haben  wir  nur  noch  eine  Angabe  des  Verzeich- 
nisses, II,  12,  zu  besprechen.  Hier  liegt  die  Sache  ganz  anders  als  bei 
allen  bisher  behandelten  Nummern.  Denn  ihr  entspricht  keine  Er- 
neuerungsurkunde, vielmehr  ist  ein  am  24.  Januar  1007,  also  vor  dem 
Brande,  ausgestelltes  Diplom  desselben  Inhaltes  abschriftlich  erhalten 
geblieben:  DH.  IL  126.    Es  heißt  in  ihm: 

Vor  dem  König  erscheint  Bischof  Bernward  in  Begleitung  der 
Grafentochter  Frederunda  und  bittet  ihn,  diese  Matrone  samt  dem 
Teile  ihres  Eigengutes,  den  sie  dem  Hauptaltare  der  Hildesheimer 
Kirche  geschenkt  habe,  in  seinen  Schutz  zu  nehmen.  Die  Besitzüber- 
tragung sei  zu  dem  Zwecke  erfolgt,  daß  von  den  Einkünften  des  Gutes 
in  der  Stadt  (opido)  Steterburg  ein  Jungfrauenkonvent  unterhalten 
werde.  Heinrich  nimmt,  der  Bitte  entsprechend,  die  neue  Gründung 
in  seinen  Schutz  und  verleiht  ihr  das  Recht  der  Äbtissin-  und  Vogt- 
wahl; doch  soll  bei  ersterer  der  jeweilige  Bischof  von  Hildesheim  mit 
Rat  und  Tat  mitwirken,   dessen  Befehlsgewalt  überhaupt  das  Kloster 


'  Das  von  Stengel  in  D.  256b  mit  Recht  vermißte  „vel  paratas"  wird  übrigens 
wohl  in  der  Vorurkunde  Ludwigs  gestanden  haben,  wie  es  in  M.^  585  steht,  und 
nur  bei  der  Übernahme  des  Textes,  bei  der  ja  auch  mehrere  andere  Versehen  vor- 
fielen (vgl.  oben  S.  501  Anm.  1)  irrtümlich  ausgelassen  sein.  Den  Beweisgrund  (S.  18 
Anm.  2),  „monasterium"  sei  eine  für  die  Hildesheimer  Kirche  nicht  zutreffende  Be- 
zeichnung, hält  Stengel,  wie  er  mir  mitteilt,  nicht  mehr  aufrecht. 

'  Vgl.  oben  S.  497  Anm.  3. 

'  Vgl    oben  S.  500  mit  Anm.  8. 

'  Vgl.  unten  S.  509. 


506  Ernst  Müller 

unterstellt,  dessen  Prüfung  alle  seine  inneren  und  äußeren  Angelegen- 
heiten unterworfen  werden. 

Jeder  unbefangene  Leser  dieses  Diploms  wird  den  Eindruck  ge- 
winnen, hier  die  eigentliche  Stiftungsurkunde  des  Klosters  vor  sich  zu 
haben.  Die  Gründung  ist  vorbereitet,  die  Verhandlungen  zwischen 
Stifterin  und  Bischof  sind  zum  Abschlüsse  geführt,  die  Landschenkung 
ist  erfolgt,  „ea  namque  racione,  ut  .  .  .  ab  illo  predio  catervula  puella- 
rum,  quantulacumque  congregari  posset,  aleretur,  que  .  . .  cottidiana 
instancia  divinam  misericordiam  deprecaretur";  sobald  die  königliche 
Anerkennung  vorliegt,  kann  das  klösterliche  Leben  seinen  Anfang 
nehmen.  Wenn  irgendwo,  sollte  man  annehmen,  besitzen  wir  für  das 
Kloster  Steterburg  eine  klare  und  genaue  urkundliche  Beglaubigung 
seines  Gründungsdatums. 

Zum  Inhalte  dieses  Diploms  paßt  nun  die  Angabe  des  ürkunden- 
verzeichnisses  II,  12:  „de  tradicione,  commendacione,  tuicione  pauper- 
rime^  abbaciuncule  Stederiburg"  vortrefflich.^  Tradicio  und  commen- 
dacio  bezeichnen  die  Schenkung  und  Übertragung  an  das  Bistum  durch 
Frederunda,  tuicio  die  Verleihung  des  Königsschutzes;  genauer  ließ 
sich  der  Inhalt  bei  dieser  Kürze  gär  nicht  angeben.  Aber  das  Ver- 
zeichnis schreibt  die  Urkunde  nicht  Heinrich  IL,  sondern  Otto  III.  zu! 
Erst  in  der  letzten  Nummer  II,  13^  wird  Heinrich  als  Aussteller  ge- 
nannt; da  diese  auf  die  erste  Urkunde  über  den  Gandersheimer  Streit 
vom  Januar  1007  zu  beziehen  ist,  müßte  man  also  annehmen,  Hein- 
rich habe  in  den  vorhergehenden  fünf  Jahren  seiner  Herrschaft  nicht 
für  Hildesheim  geurkundet,  was  allerdings  in  Bernwards  Eintreten  für 
die  Thronbewerbung  des  Markgrafen  Ekkehard  von  Meißen  seine  Er- 
klärung finden  könnte.^  Nun  ist  jedoch  das  Verzeichnis  an  einer 
Stelle  lückenhaft:  II,  9  ist  ausgefallen.  Möchte  man  vermuten,  in  dieser 
Nummer  sei  bereits  Heinrich  als  Aussteller  genannt  gewesen  und  der 
unachtsame  späte  Abschreiber,  der  in  II,  10  gar  keine  Ausstellerangabe 
fand,  also  das  „ab  eodem"  in  II,  11  und  12  noch  auf  den  in  seiner 
Abschrift  zuletzt  vorkommenden  Otto  IIL  beziehen  mußte,  habe  sich  in 
II,  13  erinnert,  daß  der  Gandersheimer  Streit  nicht  durch  diesen  Kaiser, 
sondern  erst  durch  seinen  Nachfolger  entschieden  wurde,  und  das  „ab 
Henrico  stemmate  (!)  regum"  selber  erst  eingefügt,  so  würde  diese  für 
die  Erklärung  von  11, 12   sehr  brauchbare  Vermutung,   während   sich 


^  Eine  bei  einer  Ausstattung  mit  211  Hufen  auffallende  Bezerchnung,  die  eher 
für  die  Zustände  des  Stiftes  in  der  ersten  Hälfte  des  12.  Jahrhunderts  passen  würde. 

^  Das  hat  schon  Stengel,  Dissert.  S.  20  Anm.  3,  ausgeführt. 

^  Vgl.  über  sie  schon  oben  S.  502. 

*  Vgl.  S.  Hirsch,  Jahrb.  Heinrichs  II.,  I  S.  202  Anm.  2  und  R.  üsinger, 
ebenda  S.  441. 


tiildesheim  —  Steterburg  507 

Über  II,  10  nichts  weiter  sagen  läßt,  die  Deutung  von  II,  11  erschweren; 
denn  aus  DH.  II.  261  geht  ganz  zweifellos  hervor,  daß  das  Kloster 
Heiningen  bereits  unter  Otto  III.  gegründet  worden  ist.  Man  müßte 
dann  also  weiter  voraussetzen,  II,  11  sei  an  eine  falsche  Stelle  geraten 
und  habe  ursprünglich  vor  dem  ausgefallenen  II,  9  gestanden.  Wie 
dem  auch  sein  mag,  diese  späte  und  lückenhafte  Überlieferung  er- 
scheint nicht  geeignet,  ein  so  klares  ürkundenzeugnis,  wie  es  in 
Dti.  II.  126  vorliegt,  umzustoßen;  vielmehr  scheint  gerade  die  Stellung 
von  II,  12  unmittelbar  vor  der  ersten  Gandersheimer  Urkunde  vom 
Januar  1007  (II,  13)  auf  Heinrich  II.  und  die  Ausstellungszeit  von 
DH.  II.  126:   24.  Januar  1007  zu  weisen. 

Nun  will  auch  Bresslau  in  der  Vorbemerkung  zu  DH.  II.  126  die 
Nr.  II,  12  nicht  auf  dieses  Diplom,  sondern  auf  eine  verlorene  Urkunde 
Ottos  III.  beziehen,  freilich  aus  einem  anderen  Grunde.  Er  meint,  das 
Original  von  D.  126  habe  sich  in  Steterburg  erhalten  müssen,  und 
kann  sich  deshalb  das  Vorkommen  dieser  Urkunde  in  dem  Hildes- 
heimer  Verzeichnisse,  das  er  ja  als  Verlustliste  betrachtet,  nicht  er- 
klären. Genau  dasselbe  würde  doch  aber  für  das  vermeintliche  Diplom 
Ottos  III.  gelten  müssen,  denn  ebensogut  wie  die  Urkunde  Heinrichs 
würde  das  Kloster  das  Diplom  Ottos  ausgehändigt  bekommen  haben. 
Mir  scheint  aber  überhaupt  diese  Voraussetzung  nicht  zwingend  zu 
sein.^  Die  Beurkundung  erfolgte  auf  Bitten  Bernwards,  dessen  Kirche 
das  Ausstattungsgut  des  Klosters  geschenkt  erhalten  hatte;  seine  Ober- 
hoheit, seine  Rechte  über  Steterburg  werden  in  dem  Diplome  stark 
betont.  Wie  an  seiner  Ausstellung,  so  hatte  er  auch  an  seiner  Ver- 
wahrung das  größte  eigene  Interesse;  und  es  ist  keineswegs  ein 
seltener  Fall,  vielmehr  ganz  natürlich,  daß  die  Gründungsurkunden 
solcher  unbedeutenderen,  in  vollkommener  Abhängigkeit  vom  Bistum 
entstandenen  Klöster  nicht  der  neuen  Gründung  ausgehändigt,  sondern 
im  bischöflichen  Archive  verwahrt  wurden.  Auch  die  Schutzurkunde 
Ottos  III.  für  Kloster  Heiningen  gehörte  ja  demselben  an  (II,  11)!  Daß 
die  Steterburger  Gründungsurkunde  zur  Zeit  der  Aufstellung  des  ür- 
kundenverzeichnisses  im  Hildesheimer  Domarchive  verwahrt  wurde, 
"ergibt  sich  jedenfalls  aus  dem  Regest  II,  12  mit  unbedingter  Sicher- 
heit. Man  braucht  deshalb  nicht  notwendig  anzunehmen,  daß  das 
Original  von  D.  126  im  Jahre  1013  dort  mit  verbrannt  sei.'    Dagegen 

'  So  auch  Stengel,  Dissert.  S.  20  Anm.  3. 

^  Bresslau  rechnet  mit  seiner  Erhaltung  noch  im  14.  Jahrhundert,  S.  152,  N.  a 
der  Ausgabe;  vielleicht  ging  es  in  dem  Brande  des  Jahres  1332  zugrunde,  über  den 
der  Konvent  am  10.  Februar  an  die  tierzöge  von  Lüneburg  berichtete:  „quod  proch 
dolor  nostrum  monasterium  predictum  casu  insperato  per  incendium  una  cum  ecclesia 
dormitorio  refectorio  ac  aliis  mansionibus  vestibus  libris  et  rebus  universis  misera- 


508  Ernst  Müller 

Spricht  vielmehr  die  abschriftliche  Erhaltung  der  Urkunde  und  das 
Fehlen  einer  Erneuerung  aus  dem  Jahre  1013.  Will  man  also  an- 
nehmen, daß  das  Diplom  durch  einen  Zufall  gerettet  worden  sei,  dann 
kann  freilich  das  ürkundenverzeichnis  keine  Verlustliste,  sondern  muß 
ein  vor  dem  Brande  aufgestelltes  Bestandsverzeichnis  sein.  ^  Für  diese 
Auffassung  aber  haben  wir  uns  schon  oben  ausgesprochen.^ 

Bresslau  beruft  sich  für  seine  Annahme  eines  verlorenen  Diploms 
Ottos  III.  weiter  auf  die  Steterburger  Geschichtschreibung,  die  das 
Jahr  1000  als  Gründungsjahr  des  Klosters  bezeichne;  wir  müssen  also 
auch  diesen  Einwand  zu  entkräften  suchen.  In  den  gegen  Ende  des 
12.  Jahrhunderts  von  dem  Propste  Gerhard  verfaßten  Steterburger  An- 
nalen  beginnt  die  Gründungsgeschichte  mit  der  klaren  Angabe,  die 
Kirche  sei  unter  Heinrich  II.  gestiftet  worden.^  Die  Vorgeschichte 
der  Stiftung,  der  Bericht  über  die  sie  veranlassende  Vision  und  die 
Umwandlung  der  Burg  in  ein  Klostergebäude,  wird  allerdings  eingeleitet 
durch  die  runde  Jahreszahl  1000,^  beschlossen  jedoch  wieder  durch 
die  Angabe,  damals  habe  der  bambergische  Heinrich  regiert  und  die 
Schenkung  und  Stiftung  habe  im  siebenten  Jahre  vor  der  Begründung 
der  Bamberger  Kirche  ihren  Anfang  genommen.^  Die  ganze  weitere 
Erzählung  ist  eine  Umschreibung  des  Inhaltes  des  dahinter  eingerückten 
DH.  II.  126,  dessen  Jahresangabe  für  das  Erscheinen  der  Stifterin  bei 
Hofe  übernommen  ist,  und  das  überhaupt  neben  der  Gründungslegende 
die  einzige  schriftliche  Quelle  des  späten  Verfassers  gebildet  zu  haben 
scheint.  Dieser  wußte  das  Gründungsjahr  des  Bistums  Bamberg  eben- 
sowenig wie  Heinrichs  II.  Regierungsantritt.^  Überdies  verlegt  er  nur 
den  Beginn  der  Vorgeschichte  ins  Jahr  1000,  die  förmliche  Kloster- 
gründung dagegen  ins  Jahr  1007,  alles  jedoch  in  die  Regierungszeit 
Heinrichs  II.  Von  einer  Beteiligung  Ottos  III.  weiß  er  nicht  das 
Geringste.     Das   aber    ist   das   Entscheidende.     Denn   der   Name   des 


biliter  est  destructum ',  H.  Sudendorf,  ÜB.  zur  Gesch.  der  Herz,  von  Braunschw. 
und  Lüneb.  I  275  n.  533;  heute  ist  das  Diplom  nur  in  den  Steterburger  Annalen 
überliefert. 

^  Das  ursprünglich  im  Hildesheimer  Dome  verwahrte  Original  könnte  einige 
Zeit  nach  seiner  Ausstellung  und  nach  der  Aufstellung  des  Verzeichnisses,  jedoch 
noch  vor  dem  Brande  dem  Kloster  selbst  ausgehändigt  worden  sein. 

'  Oben  S.  493. 

^  SS.  XVI,  199:  Fundata  est  ecclesia  .  .  .  sub  Heinrico  imperatore  secundo^ 

*  SS.  XVI,  200. 
Eo  tempore  .  .  .  Heinricus  Bavembergensis  totius  imperii  monarchiam  feliciter 
tenebat  et  septimo  anno  ante  institutionem  ecclesiae  Bavembergensis  .  .  .  huius  do- 
nationis  et  felicis  institutionis  coepit  initium. 

^  Während  er  die  Bistumsgründung  ins  Jahr  1006  verlegt,  berichtet  er  über  Hein- 
richs Sieg  über  Böhmen  und  Slaven  zum  Jahre  1001,  über  Brunos  Empörung  zu  1002. 


Hildesheim  —  Steterburg  ^qq 

Herrschers,   der  das  neu  gestiftete  Kloster  bestätigt  hatte,   mußte   in 
dessen  mündlicher  Überlieferung  sicherer  fortleben  als  Jahreszahlen. 

Aus  der  Annahme  einer  verlorenen  Urkunde  Ottos  III.  erwächst 
für  Bresslau  die  Notwendigkeit  einer  Erklärung,  weshalb  diese  Vor- 
urkunde in  D.  126  nicht  benutzt  wurde.  Denn  dieses  Diplom  ist,  ab- 
gesehen von  der  Korroboration ,  von  dem  Notar  GB.  im  Anschluß  an 
ein  karolingisches  Immunitätsprivileg  verfaßt  worden.  Ob  diese  Vor- 
lage übrigens  mit  der  in  D.  256b  erhaltenen  Immunität  Ludwigs  des 
Frommen  zusammenfällt,  halte  ich  bei  dem  mehrfach,  z.  B.  in  der 
Arenga,  abweichenden  Wortlaute  für  zweifelhaft;  es  könnte  auch  eine 
von  ihren  Bestätigungen  gewesen  sein.^  Dann  läge  in  diesem  Diktate 
des  Notars  GB.,  der  im  Jahre  1007  noch  in  Bernwards  Dienste  stand,- 
ein  weiterer  Rest  des  damals  noch  vorhandenen  alten  Hildesheimer 
ürkundenbestandes  vor.  Daß  die  vermeintliche  Gründungsurkunde 
Ottos  III.  im  Jahre  1007  noch  vorhanden  gewesen  sein  müßte,  gibt 
Bresslau  selbst  zu.  Daß  sie  nicht  benutzt  wurde,  sucht  er  damit 
zu  erklären,  daß  Steterburg  1007  nicht  bloß  Königsschutz,  wie  an- 
geblich von  Otto  III.,  sondern  auch  Immunität  erhalten  sollte.  Lassen 
wir  dahingestellt,  ob  diese  Erklärung  genügt;  jedenfalls  bleibt  die  Tat- 
sache bestehen,  daß  eine  frühere  Gründung  in  D.  126  mit  keinem 
Worte  berührt  wird,  so  daß  die  angebliche  Privilegierung  Kaiser 
Ottos  III.,  die  ganze  sechsjährige  Klostergeschichte  einfach  totgeschwiegen 
sein  müßte.^     Man  vergleiche  damit  nur,  wie  derselbe  Notar  GB.  in 

^  Das  war  auch  Bresslaus  frühere  Ansicht,  NA.  XXII  158  Anm.  2,  während 
er  sich  später  zugunsten  der  Identität  aussprach,  Vorbem.  Dtl.  II.  126.  256;  ähnlich 
auch  Stengel,  Dissert.  S.  20;  vgl.  dazu  schon  oben  S.  504f. 

'  Ich  folge  hier  durchaus  Bresslaus  Auffassung  und  kann  mir  von  Stengels 
angekündigtem  Nachweise  (a.  a.  0.  S.  225,  Hab.-Schrift  S.  96,  Anm.  2),  daß  die  Fassung 
des  DH.  II.  126  wahrscheinlich  erst  1013  entstanden  sei,  nicht  viel  versprechen.  Die 
Tatsache,  daß  GB.  in  den  Fassungen  der  nach  dem  Brande  ausgestellten  Erneuerungs- 
diplome, wie  wir  sahen,  so  vielfach  und  weitgehend  auf  die  vernichteten  Vor- 
urkunden seines  Bistums  zurückgreifen  konnte,  erfährt  ja  eine  willkommene  Er- 
klärung gerade  durch  jene  Annahme,  die  dadurch  ihrerseits  neu  gestützt  wird,  daß 
er  nämlich  bereits  zu  einer  Zeit,  als  das  Hildesheimer  Archiv  noch  voll  erhalten 
war,  gelegentlich  zu  Kanzleigeschäften  herangezogen  wurde.  Wahrscheinlich  gab 
ihm  eben  seine  Beteiligung  an  der  Gandersheimer  und  Steterburger  Beurkundung 
den  Anstoß,  sich  mit  den  älteren  Diplomen  seines  Bistums  eingehend  zu  beschäf- 
tigen. Ihm  dürfen  wir,  wenn  wir  überhaupt  nach  einem  Verfasser  des 
Königsurkunden-Verzeichnisses  suchen  wollen,  dasselbe  am  ehesten 
zuschreiben.  Seine  Kenntnis  dieser  Überlieferung  empfahl  ihn  wie  keinen  anderen, 
als  nach  dem  Ausscheiden  seines  Vorgängers  GA.  an  die  Kanzlei  als  nächste 
schwierige  Aufgabe  die  Erneuerung  der  Rechtstitel  der  Hildesheimer  Kirche  heran- 
trat, und  auf  seiner  vorzüglichen  Bewährung  bei  dieser  Gelegenheit  wird  seine  weitere 
Laufbahn  beruht  haben. 

^  Das  wäre  höchstens  denkbar  bei  wörtlichem  Ausschreiben   der  Vorurkunde, 


510  Ernst  Müller 

dem  ganz  ähnlich  liegenden  Falle  der  Heininger  Bestätigung,  D.  261, 
verfuhr.  Hier  werden  ganz  deutlich  die  beiden  Besuche  Bischof  Bern- 
wards  und  der  Stifterinnen  bei  Otto  III.  einerseits,  bei  Heinrich  II. 
anderseits  unterschieden,  und  der  früheren  Verleihung  wird  eingehend 
gedacht.^  Eine  Nichtbenutzung  der  Vorurkunde ^  wäre  hier  sehr  er- 
klärlich: ihr  Original  war  eben  im  Januar  1013  mit  verbrannt.  Eine 
Steterburger  Gründungsurkunde  Ottos  III.  vom  Jahre  1000  hätte  aber 
im  Januar  1007  noch  vorhanden  sein  müssen;  oder,  wenn  sie  durch 
irgendeinen  Zufall  abhanden  gekommen  war,  hätte  in  D.  126  der 
früheren  Stiftung  und  der  Bemühungen  Kaiser  Ottos  um  sie  Er- 
wähnung geschehen  müssen.  Da  dies  nicht  der  Fall  ist,  vielmehr  im 
Wortlaute  des  Diploms,  wie  wir  sahen,  die  Gründung  als  durchaus 
erst  im  Entstehen  begriffen  erscheint,  stehen  wir  nicht  an,  seine  Da- 
tierung, 24.  Januar  1007,  als  für  die  Gründungszeit  des  Klosters 
Steterburg  maßgebend  zu  betrachten. 

Fassen  wir  neben  diesem  Sonderergebnis  zum  Schlüsse  das  all- 
gemeine zusammen.  Das  von  uns  als  vor  dem  Brande  angelegte 
Bestandsliste  betrachtete  Königsurkunden -Verzeichnis  bildet  das  dürf- 
tige, aber  wertvolle  Gerippe  der  urkundlichen  Geschichte  des  Bis- 
tums Hildesheim  in  den  ersten  zwei  Jahrhunderten  seines  Bestehens 
und  leistete  wichtige  Dienste  bei  dem  Ersätze  der  Bernwardschen 
Privilegien.  In  diesen  Erneuerungsurkunden  König  Heinrichs  II.  sind 
uns  Reste  des  verbrannten  älteren  ürkundenbestandes  erhalten  ge- 
blieben, vor  allem  der  Wortlaut  der  ersten  Immunitätsverleihung  Lud- 
wigs des  Frommen  für  das  neugegründete  ostfälische  Bistum.  Träger 
dieser  Überlieferung  war  der  hildesheimische,  später  königliche  Notar 
GB.,  der  bei  der  Abfassung  der  neuen  Diplome  Abschriften  oder  Aus- 
züge der  älteren  Urkunden  benutzte.  So  bildet  diese  überlieferungs- 
geschichtliche Studie  zugleich  einen  kleinen  Beitrag  zur  Erkenntnis 
der  Tätigkeit  des  leitenden  Notars  der  Kanzlei  Heinrichs  II. 


vgl.  z.  B.  M.  Tangl  in  DD.  Karol.  I.  S.  567  zu  Nr.  211.  Ausdrückliche  Erwähnung  der 
Vorurkunden  findet  durch  GB.  nicht  statt,  vgl.  Stengel  a.  a.  0.  S.  226  (Habilitations- 
schrift S.  97). 

^  ünde  venerabilis  sanctae  •Hildenesheimensis  ecclesi^  episcopus  Bernwardus 
cum  dominabus  duabus  prescriptis  ad  antecessorem  nostrum  felicis  et  bonae  memoriae 

tercium  Ottonem  cesarem  veniens  humillime  precabatur,  ut futurum  iamque 

monasterium sub  tuitionem   et  mundiburdium   regale  illa   ratione  reciperet, 

quo  sanctimoniales  femine liberam   haberent  facultatem   electiones   inter  sc 

facere Advocationes  pariter  et  similia   queque  eis   necessäria impe- 

trantes  optinebant.    Nunc  ergo . .  ad  nostram  celsitudinem  recurrentes,  cenobium 

illud  eiusque  dotes  seu  quascumque  facultates  ut  sub  nostri  tuicionem  et  immuni- 
tatem  iuxta  ordinem  premissum  recipiamus,  flagrantes  inhiant. 

'  Vgl.  oben  S.  505. 


Hildesheim  —  Steterburg  5^-^ 

Anlage 

Verzeichnis  der  der  fiildesheimer  Kirche  bis  zum  Jahre  1007 
erteilten  Königsurkunden  ^ 

Primum  preceptum  securitatis  et  libertatis,  quod  dominus  Gun- 
tharius  primus  sancte  Hildenesheymensis  ecciesie  episcopus^  de 
terminacione  et  circumscripcione  notissimorum  finium  episcopatus  sui, 
de  canonica  institucione,  ab  omni  impressione  excepto  regie  servitutis 
debito  ab  Lodowico  imperatore  filio  Karoli  Magni  acquisivit. 

Secundum  quod  dominus  Reinbertus  secundus  episcopus^  de 
eadem  re. 

Tercium  quod  dominus  Altfridus^  de  eadem  terminacione  super 
Astfalas  in  ripa  Enderste,  et  de  omni  fisco  qui  tunc  temporis  ad 
regias  manus  pertinebat  infra  terminos  brevis  parrochie  in  usus 
fratrum,  et  ut  nulla  maior  vel  minor  persona  änderet  stringere  homines 
suos,  nobiles  aut  liberos,  colonos  vel  servos,  quamdiu  in  expedicione 
aut  ad  placitum  vel  in  ullo  regali  servicio  essent,^  ab  Lotwicho  piis- 
simo  imperatore  (!)  filio  Lotwici  recepit. 

Quartum  quod  dominus  Wihbertus  sextus  episcopus^  de  eadem 
confirmacione  ab  Arnolfo  imperatore  elaboravit. 

Quintum  quod  idem  episcopus  de  predio  quod  dicitur  Verthigeros- 
torp'  et  Cuspia^  et  Burg'  in  ripa  Musalle '^  et  de  abbatiis  que  tunc 
pertinebant  ad  manus  eins,  hoc  est  Seliganstad^^  et  Asnithi^'  et  Gan- 
dersheym,  sine  avulsione  omnium  mortalium  ad  potestatem  succes- 
sorum  suorum  perpetuo  subsisterent,  ab  eodem  Arnulfo  desudavit. 

Sextum  Walbergthus  septimus  episcopus^^  de  eadem  re  ab 
Lotwico  iuniore.^* 

Septimum  Sehardus  episcopus ^^  de  eadem  re  ab  Henrico  rege 
Saxonico. 

Octavum  Thethardus  episcopus^^  de  eadem  reab  eodem  Henrico. 

Nonum  Otwinus  episcopus ^^  de  eadem  re  et  de  vinea  in  villa 
que  dicitur  Bohcbardon^^  ab  Ottone  primo  imperatore. 

^  Im  Kopiar  VI  11  des  König!.  Staatsarchivs  zu  Hannover  steht  auf  S.  726  unter 
Nr.  1437  die  gemeinsame  Überschrift:  De  finibus  et  limitibus  ecciesie  Milden- 
(semensis)  et  multis  aliis  privilegiis  recapitulacio,  dann  folgt  die  Grenz- 
umschreibung G,  ÜB.  Nr.  40,  und  das  ürkundenverzeichnis,  auf  S.  727  als  Nr.  1438 
Bischof  Godehards  Urkunde  über  den  Gandersheimer  Streit  von  1027,  ÜB.  Nr.  73. 
So  findet  die  Annahme  eines  Zusammenhangs  zwischen  Grenzumschreibung,  ür- 
kundenverzeichnis und  Gandersheimer  Streit  in  der  Überlieferung  selbst  eine  Stütze. 
815—834.  '834 ff.  *  851— 874.  %,esset"  Kop.  '880—903.  '  Wiersdorf  Kr.  Bit- 
burg? ^  Kues  Kr.  Bernkastei?  '  Burg  a.  d.  Mosel  Kr.  Zell?  '"Mosel.  "Nach 
Bertram  a.  a.  0.  38 f.  (39  Anm.  1)  Stiftung  Bischofs  Altfrid,  vermutlich  in  Osterwieck, 
wo  die  den  Vorläufer  des  Bistums  Halberstadt  bildende  Kirche  begründet  sein  soll,  vgl. 
o.  S.  200/1.  '"  Essen,  Stiftung  Bischofs  Altfrid,  vgl.  ÜB.  I  10  Nr.  15.  ''  903—919. 
Ludwig  IV.  (das  Kind).      ''  919—928.       '^  928—954.       '"  954—984.      '^  Boppard. 


512  Ernst  Müller,  tiildesheim  —  Steterburg 

Decimum  Osdagus  episcopus  ^  de  eadem  re  ab  Ottone 
tercio  rege. 

ündecimum  Gerdagus  episcopus^  de  eadem  re  ab  eodem  rege. 

Primum  preceptum  de  confirmacione  prescriptarum  rerum  et 
Studiorum  priorum  patrum,  ut  nullus  comes  potestatem  haberet  strin- 
gere  homines  suos,  nobiles  liberos  colonos  litones  aut  servos,  in 
qualicunque  territorio  habitarent,  excepta  illa  persona,  quam  illius  loci 
episcopus  regio  consensu  eligeret,  quod  Bernwardus  tercius  decimus 
episcopus^  ab  Ottone  tercio  divo  imperatore  primum  acquisivit. 

Secundum  idem  episcopus  ab  eodem  imperatore  de  predio  quod 
situm  est  in  silva  que  pendet  ad  Bochbardon,  hoc  est  quinque  regales 
mansus. 

Tercio  idem  ab  eodem  de  predio  iuxta  Renum  quod  dicitur 
Withec  VII  mansus  et  in  Duisburg  I  mansum  cum  tribus  areis. 

Quartum  idem  ab  eodem  imperatore  de  predio  in  villa  que 
dicitur  Thrate*  sex  mansus  serviles. 

Qu  in  tum  idem  ab  eodem  de  foresto  infra  Laginam  ^  et  Inderistan^ 
per  Silvas  circumiacentes. 

Sextum  idem  ab  eodem  de  foresto  qui  circumiacet  loco  qui 
dicitur  Marfhaum  certis  signis  determinatus. 

Septimum  idem  ab  eodem  de  foresto  quod  iacet  inter  Weseram 
et  Scadam  fluvium. 

Octavum  idem  ab  eodem  de  comitatu  quod  pendet  ad  castellum 
Mundburg  dictum,  quod  laboriose  opposuit  inimicis  crucis  Christi 
prescriptus  episcopus  l 


Decimum  idem  episcopus  de  scultacio  quod  pendet  ad' castellum 
Wyrinholt  dictum. 

ündecimum  idem  ab  eodem  de  mundiburdio  et  tuicione  ab- 
baciuncule  tieniggi.^ 

Duodecimum  idem  ab  eodem  de  tradicione  commendacione 
tuicione  pauperrime  abbaciuncule  Stederiburg.^ 

Tercium  decimum  idem  episcopus  ab  Henrico  stemmate  (!) 
regum  de  diffinicione^obiurgacionis  episcoporum  Willegisi  et  Bernwardi 
per  terminos  Gandershemensis  opidi. 

'  985—989.  '  990—992.  '  „Bernwardus  XIII"«  episcopus"  am  Rande  von 
derselben  Hand  wiederholt.  993—1022.  ^  Wüstung  bei  Koldfngen  Kr.  Hannover. 
^  Leine.  *  Innerste.  ^  Vgl.  DH.  II.  259:  ad  munimen  et  tuitionem  contra  per- 
fidorum  incursionem  et  vastatlonem  Sclavorum  ...  ad  defensionem  totius  regionis 
nostrae.        ®  Heiningen  Kr.  Goslar.        ^  Steterburg  Kr.  Wolfenbüttel. 


Die  Umhüllung  eines  päpstlichen  Breves 

von  1453 

von 

L.  Schmitz -Kallenberg 

Hierzu  Tafel  I 


Aus  P.  M.  Baumgartens  Buch:  Aus  Kanzlei  und  Kammer,  Frei- 
burg 1907,  S.  221  ff.  erfahren  wir,  daß  im  14.  und  15.  Jahrhundert 
päpstliche  Bullen,  die  an  auswärtige  Empfänger  geschickt  werden 
sollten,  von  den  Beamten  der  Bullarie  „zur  tunlichsten  Schonung  und 
zum  Schutze  gegen  alle  Witterungseinflüsse  in  Wachstuch  eingepackt 
und  verschnürt"  den  Boten  zur  Bestellung  übergeben  wurden.  Daß 
man  zu  diesem  Zwecke  Wachstuch  nahm,  war  in  Anbetracht  des 
manchmal  ziemlich  umfangreichen  Formates  der  zusammengefalteten 
Bullen  durchaus  praktisch.  Viel  kleiner  war  in  der  Regel  das  Format 
des  besiegelten,  zur  Aushändigung  fertigen  Breves.  Dazu  kam,  daß 
das  leicht  zerbrechliche  Wachssiegel  der  Breven  eine  widerstands- 
fähigere Umhüllung,  wie  sie  das  Wachstuch  nicht  abgeben  konnte 
erforderlich  machte:  während  ein  Druck  auf  das  harte  Bleisiegel  der 
Bullen  dieses  nicht  oder  doch  nicht  bedeutend  beschädigte,  lag  bei 
den  Breven  immer  die  Gefahr  vor,  daß  jeder  Druck  und  Stoß  das 
Wachssiegel  verletzte  oder  auch  ganz  zerstörte.  In  welcher  Weise 
man  nun  dieser  Möglichkeit  vorbeugte,  überhaupt  gegen  etwaige  Be- 
schädigungen die  Breven  auf  ihrer  Reise  von  der  Kurie  zu  den 
Adressaten  zu  schützen  suchte,  zeigt  ein  im  Staatsarchiv  Hannover 
aufbewahrtes  Originalbreve  mit  der  Verpackung,  in  der  es  aus  Rom 
an  den  Adressaten  abgesandt  worden  ist.^  Gleichsam  als  Kuvert  für 
das  —  sonst  in  ganz  regelmäßiger  Weise  gefaltete,  besiegelte  und 
adressierte  —  Breve  hat  man  zwei  tiolztäfelchen  benutzt,  die  genau 
dem  Format  des  gefalteten  Pergamentes  entsprechen;  während  aber 
das  eine  Täfelchen  sehr  dünn  ist  und  keine  weitere  Bearbeitung  auf- 
weist, ist  das  andere  einige  Millimeter  dicker  und  mit  einer  Aus- 
höhlung versehen,  die  dazu  bestimmt  ist,  das  auf  der  Rückseite  des 

^  Celle  Orig.  Arch.  Des.  9  Seh.  VII  Caps.  16  Nr.  9:  Papst  Nicolaus  V.  ersucht 
den  Herzog  Friedrich  von  Braunschweig-Lüneburg,  dem  Nicolaus  Grawerock,  der 
von  Nicolaus  Orden  in  dem  Besitz  des  Archidiakonats  Bevensen  (bei  Lüneburg)  ge- 
stört und  an  dem  Genuß  der  Archidiakonatseinkünfte  gehindert  wird,  gegen  seinen 
Widersacher  beizustehen ;  Rom  3.  Dez.  1453.  —  Herrn  Archivrat  Dr.  Merx  in  Münster  i.  W. 
verdanke  ich  die  Kenntnis  dieses  Stückes. 

Afü    II  -        33 


514     L-  Schmitz-Kallenberg,  Die  Umhüllung  eines  päpstlichen  Breves 

Pergamentes   befindliche  Wachssiegel   zu  umschließen.     Zwischen   die 

beiden  Holzplättchen  wurde  nun  das  Breve  gelegt  und  das  Ganze  mit 

einem  dünnen,   aber  doch  starken  Bindfaden  verschnürt.^     Nach  der 

Verschnürung   ist   dann  schließlich  auf   das   eine,   dünnere  Täfelchen 

(und  zwar  dasjenige,   welches   die  Adresse  des  Breves  bedeckte)  die 

Adresse   geschrieben,    in   der  Weise,   daß    die  Aufschrift    den   Fäden 

auswich:  -^  *, 

pntet^ 


Bruns 


dno 
wicen 


Frederico 
in 


Duci 
Tzelle 


Ob  diese  Verpackung  nun  in  der  Sekretarie  der  Breven  oder  aber 
erst  nachträglich  von  dem  Prokurator,  der  das  Breve  ausgewirkt  hat,- 
also  ohne  jegliches  Zutun  der  Sekretarie  gemacht  ist,  wird  sich  einst- 
weilen wohl  nicht  mit  Sicherheit  entscheiden  lassen.  Ich  möchte  mich 
allerdings  für  letzteres  aussprechen,  und  zwar  hauptsächlich  aus  zwei 
Gründen:  einmal  weil  —  auch  abgesehen  von  der  Verschiedenheit  in 
dem  Schriftcharakter  der  beiden  Adressen  —  die  Adresse  auf  dem 
Holztäfelchen  nicht  den  Fehler  in  der  Adresse  des  Breves  (Bennsswicen 
statt  Brunswicen,  siehe  Tafel)  wiederholt;  sodann  weil  die  Holz- 
täfelchen ziemlich  roh  zurechtgeschnitten  sind,  vor  allem  auch  die  Aus- 
höhlung für  das  Fischerringsiegel  nicht  gerade  sehr  geschickt  gemacht 
ist;  würde  die  Verpackung  gleich  in  der  Sekretarie  besorgt  sein,  so 
wären  diese  Hölzchen  doch  wahrscheinlich  auf  Vorrat  in  größeren 
Mengen  und  deshalb  auch  wohl  entsprechend  sorgfältiger  hergestellt  sein. 

Zweifelhaft  bleibt  es  auch,  ob  diese  Art  der  Verpackung,  sei  sie 
nun  offiziell  oder  nicht,  längere  Zeit  hindurch  gebräuchlich  gewesen 
ist  oder  ob  wir  es  hier  nur  mit  einer  Ausnahme  zu  tun  haben.  So- 
weit mir  bekannt,  ist  das  Hannoversche  Breve  das  einzige,  bei  dem 
sich  derartige  Holztäfelchen  erhalten  haben.  Freilich  wie  man  heutiges- 
tags  in  der  Regel  nach  Öffnung  eines  Briefes  das  Kuvert  in  den 
Papierkorb  zu  werfen  pflegt,  so  mag  man  früher  ebenso  die  Holz- 
täfelchen fortgeworfen  haben,  und  deshalb  läßt  sich  meines  Erachtens 
ihr  Fehlen  bei  anderen  Breven  weder  für  noch  gegen  die  Annahme 
einer  häufigeren  Verpackung  dieser  Art  verwenden. 

*  Der  Annahme,  daß  der  noch  vorhandene  Bindfaden  der  ursprüngliche  ist, 
steht  wohl  nichts  entgegen.  Herr  Archivrat  Merx  versichert  mir,  daß  vor  mehreren 
Jahren  auch  noch  eine  kleine  Plombe,  mit  der  jedenfalls  die  Schnurenden  zusammen- 
gehalten worden  sind,  vorhanden  gewesen  sei. 

*  Da  Nie.  Grawerock  in  dem  Breve  familiaris  eines  Kardinals  genannt  wird, 
hat  er  vielleicht  auch  persönlich  die  Ausstellung  des  Breves  veranlaßt,  in  welchem 
Falle  die  Verpackung  und  Weitersendung  des  Breves  nach  Celle  auf  ihn  zurückgehen 
könnte.  Indes  selbst  wenn  er  auch  in  Rom  anwesend  war,  ist  ja  die  Vermittelung 
eines  Prokurators  nicht  ausgeschlossen. 


Archiv  für  ürkundenforschung  II 


Taf.  1 


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4 


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9 
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Bd.  2 


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