HANDBOUND
AT THE
UNIVERSITY OF
TORONTO PRESS
a90
Archiv
für
ürkundenforschung
Herausgegeben
von
Dr. Karl Brandi
0. Professor an der Universität Göttingen
Dr. fiarry Bresslau
0. Professor an der Universität Straßburg
Dr. Michael Tangl
o, Professor an der Universität Berlin
Zweiter Band
Mit einer Tafel
Leipzig
Verlag von Veit 5f Comp.
1909
919490
Druck von Metzger & Wittig in Leipzig.
Inhalt
Seite
Wilhelm Lüders, Capella. Die Hofkapelle der Karolinger bis zur Mitte des
neunten Jahrhunderts. Capellae auf Königs- und Privatgut 1
I. Der Kultus der capella s. Martini. in merowingisbher Zeit .... 2
§ 1. Der Einfluß der Martinslegende ....,"■. 2
§ 2. Der Kultus der capella s. Martini am merowingischen Hofe . 8
§ 3. Die capella s, Martini in den Händen der karolihgischen Haus-
meier . . . . , 14
§4. Der Übergang von der capella s. Martini zur karolingischen
Hofkapelle. Das erste Auftreten der capellani 17
II. Die Entwicklung der Hofkapell^ uijiter Pippin, Karlmann und Karl
dem Großen '^. '^.?' h *.- ^ 23
§ 1. Die Mitglieder der Hofkapelle 24
1. Der oberste capellanus 24
A. Die theoretischen Erörterungen des 9. Jahrhunderts . 24
B. Die Persönlichkeiten der obersten capellani bis zum
Tode Karls des Großen 25
C. Die Stellung des obersten capellanus am Ende der Re-
gierung Karls des Großen 34
2. Die übrigen capellani 38
A. Die niederen capellani des Königs 38
B. Die capellani der übrigen Mitglieder der karolingischen
Familie . 43
§ 2. Der Ursprung und die Entwicklung der königlichen Pfalzkapellen 45
§ 3. Die karolingische Hofkapelle in ihrer Gesamtheit ..... 49
1. Kapellane und Pfalzkapellen als Bestandteile der Hofkapelle 49
2. Die Hofkapelle ohne festen Sitz 50
3. Die Marienkirche zu Aachen als Sitz der Hofkapelle . . 52
III. Die Hofkapelle unter Ludwig dem Frommen und seinen Söhnen bis
zur endgültigen Vereinigung der Ämter des archicapellanus und des
obersten cancellarius im Ostfrankenreiche 55
§ 1. Die Mitglieder der Hofkapelle unter Ludwig dem Frommen . 55
1. Die Erzkapellane 55
2. Die Stellung der Erzkapellane unter Ludwig dem Frommen 59
IV Inhalt
Seite
3. Die Kapellane. Reaktion der Hierarchie gegen die Hof-
geistlichkeit unter Ludwig dem Frommen 60
S 2. Die Erzkapellane der Söhne Ludwigs des Frommen .... 64
1. Lothar I 64
2. Pippin L von Aquitanien 66
3. Karl der Kahle 66
4. Ludwig der Deutsche 66
§ 3. Die großen Pfalzkapellen des neunten Jahrhunderts .... 70
1. Die Neugründungen nach dem Vorbilde der Aachener Marien-
kirche 70
2. Die Pfalzkapellen des neunten Jahrhunderts als selbständige
Stifter 72
IV. Capella als Eigenkirche ohne Verbindung mit Residenz und Hof-
geistlichkeit 78
§ 1. Capellae auf Königsgut 78
1. Die Entstehung der gewöhnlichen Pfalzkapellen neben den
großen Residenzkapellen 78
2. Die Stellung der gewöhnlichen capellae unter den Heilig-
tümern des Königs 79
3. Die königlichen capellae in der Eigenkirchenfrage ... 83
§ 2. Capellae auf nichtköniglichem Boden • . 87
1. Privatkapellen auf ursprünglich königlichem Boden ... 88
2. Auf nichtköniglichem Boden gegründete capellae .... 90
3. Die capellae auf Privatboden in der Eigenkirchenfrage . . 92
Exkurs. Hat der oberste capellanus den Titel apocrisiarius geführt? . 93
Hermann Thimme, Forestis. Königsgut und Königsrecht nach den Forst-
urkunden vom 6. bis 12. Jahrhundert 101
I. Forestis bis zum Ende der Karolingerzeit 102
1. Forestis und silva 102
a) „Silva nostra", „silva regalis" 103
b) Forestis als Eigenname 104
c) Silva de (ex) foreste 105
d) Siedlungen und Kulturland in Forsten 107
2. Forstregal . * 109
3. Forst- und Grundeigentum 111
4. Jus forestis 114
5. Forestarii 120
6. Ergebnisse 123
IL Forestis vom Ende der Karolinger- bis zum Ende der Salierzeit . . 126
1. Betonung der Jagd 127
2. Forst- und Grundeigentum 129
3. Die Bezeichnungen der Forst- und Wildbanngebiete .... 141
4. Schluß 145
Exkurse 147
L Forestis Arbonensis 147
IL Entwicklung des ürkundenformulars für die Forstverleihungen vom 6.
bis zum Anfang des 12. Jahrhunderts 149
Inhalt V
Seite
K. Brandi, ürkundenforschung 155
/V\. Tangl, Forschungen zu Karolinger Diplomen 167
I. Tironiana und Konzeptfrage 167
II. Die Osnabrücker Fälschungen 186
1. Die Überlieferung 186
2. Die Gründungsurkunden für die sächsischen Bistümer .... 193
3. Der Zehntstreit 218
4. Die gefälschten Urkunden 250
5. Die Anfänge des Bistums Osnabrück 310
F. Philipp i, Forst und Zehnte 327
Andreas Walther, Kanzleiordnungen Maximilians I., Karls V. u. Ferdinands I. 335
Einleitung 335
I. Der Begriff „Kanzleiordnung" aus dem System der Behörden entwickelt 338
1. Kanzleiordnung und Hofordnung 338
2. Kanzlei und Sekretariat 341
3. Kanzlei und Bureau der Finanzen 345
4. Die verschiedenen Kanzleien auf dem Gebiete des Rechts . . 348
5. Kanzlei und gelehrter Rat am Hofe 351
6. Die Typen von Kanzleiordnungen 356
II. Die einzelnen Ordnungen 357
1. Unter Maximilian 1 357
2. Am Hofe Karls V 363
3. Unter Ferdinand I 375
III. Dokumente 379
1. Consultation du grand chanceliier Mercurinus sur le tiltre, signa-
ture, armes, seaulx et monnoyes, Dez. 1519 oder Jan. 1520 . . 379
2. Die Rubriken für Rat und Kanzlei aus aragonischen Hofstaats-
verzeichnissen 383
a) Aus einem Verzeichnis von 1520—1522 383
b) Aus einem Verzeichnis vom Ende der 20er Jahre . . . 385
3. Status et ordinationes cancellariae imperialis, 1. Januaris 1522,
verfaßt von Gattinara 387
4. Conceptum ordinationum cancellariae imperialis revisum 9.Aprilis
1550, verfaßt von Viglius van Zwichem 392
Erich Kleeberg, Stadtschreiber und Stadtbücher in Mühlhausen i. Th. vom
14. — 16. Jahrhundert, nebst einer Übersicht über die Editionen mittelalter-
licher Stadtbücher 407
Rat und Ratsbehörden in Mühlhausen 407
Erstes Kapitel: Die Anfänge des Stadtschreiberamtes und die Entwick-
lung der Kanzlei bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts 416
§ 1. Die städtischen Schreiber 1314—1460 -416
§ 2. Entwicklung des Amtes 422
§ 3. Tätigkeit der Stadtschreiber .425
§ 4. Entwicklung der Kanzleibücher 434
§ 5. Die offiziellen Schreiber in der Stadt neben dem Stadt-
schreiber: Gerichtsschreiber und öffentliche Notare . . . 441
VI Inhalt
Seite
Zweites Kapitel: Entwicklung des Stadtschreiberamtes zum Syndikat,
1460—1575 445
§ 1. Der geistliche Stadtschreiber macht sich frei vom niederen
Kanzleidienst 446
§ 2. Erster Stadtsyndikus und weltlicher Oberschreiber . . . 452
§ 3. Lukas Otto und Nikolaus Fritzlar 458
§ 4. Stellung der Schreibbeamten innerhalb der Bürgerschaft und
ihr Dienstverhältnis 466
§ 5. Die amtliche Tätigkeit der Kanzleischreiber; Stadtbücher im
16. Jahrhundert 471
Anhang: Beschreibung der Mühlhäuser Stadtbücher des 13.— 16. Jahr-
hunderts, mit einem Verzeichnis wichtiger Editionen mittelalterlicher
Stadtbücher 479
Ernst Müller, Das Königsurkunden-Verzeichnis des Bistums flildesheim und
das Gründungsjahr des Klosters Steterburg 491
L. Schmitz-Kallenberg, Die Umhüllung eines päpstlichen Breves von 1453.
(Hierzu Tafel I) . . 513
Capella
Die tiofkapelle der Karolinger bis zur Mitte des neunten
Jahrhunderts
Capellae auf Königs- und Privatgut
von
Wilhelm Lüders
Die Geschichte der karolingischen Hofkapelle ist bereits von vielen
Gelehrten, teils in gelegentlicher Erwähnung, teils in ausführlicher Dar-
stellung behandelt worden. Die eingehendste Untersuchung hat ihr
Waitz in seiner Verfassungsgeschichte gewidmet. Über die von ihm
gewonnenen Ergebnisse führen auch die neueren seitdem erschienenen
Werke nicht hinaus.^
Den Ursprung der Hofkapelle sieht man, namentlich seit Waitz'
Darlegungen, fast allgemein in der capella sancti Martini, dem Gewände
des Heiligen, das am merowingischen Hofe die höchste Verehrung ge-
nossen haben soll. Diese Ansicht findet allerdings ihre Stütze in den
ausdrücklichen Zeugnissen des Walahfrid Strabo und des Monachus
Sangallensis.^ Aber beide Gewährsmänner gehören doch erst dem
9. Jahrhundert an, also einer Zeit, die dem Übergange von der Martins-
reliquie zur Hofkapelle bereits sehr fern lag. Diesen Übergang durch
^ Ducange ed. Favre s. v. capa, capella, capellanus. Giesebrecht, Gesch.
d. deutschen Kaiserzeit I^ 139. 323 Anm. Waitz, VG. IIP, 516ff. Pustel de Cou-
langes, tiist. des institutions politiques de l'ancienne France. Bd. III, La monarchie
franque (1888) p. 149 ff. Bd. VII, Les transformations de la royaute pendant l'epoque
carolingienne (1892) p. 331 ff. Bresslau, Handbuch der ürkundenlehre I, 295 f.
Wetzer u. Weites Kirchenlexikon s. v. „Kapelle" und „Kaplan". Mühlbacher,
Deutsche Gesch. unter den Karolingern S. 253. Glasson, tiist. du droit et des in-
stitutions de la France II, 431 f. Flach, Les origines de Tancienne France III (1904),
p. 458 ff. Werminghoff, Gesch. der Kirchenverfassung Deutschlands im Mittelalter I
(1905), S. 51.
' Vgl. die Zitate unten S. 12, A. 1 und 2.
Afü II »1
2 Wilhelm Lüders
mehr gleichzeitige Quellen oder durch innere Gründe glaubhaft zu
machen und Zeit und Verlauf des Vorganges, auf dem sich ein für
die deutsche Geschichte so wichtiges Institut wie die karolingische
tiofkapelle aufbaut, näher darzulegen, hat Waitz leider unterlassen.
So hat es denn auch nicht an Widerspruch gefehlt, und noch
heute wird, wenn auch nur vereinzelt, die Ansicht vertreten, daß capella
von capsa, Reliquienkapsel, herzuleiten sei.^
Ebenso wie der Ursprung der Hof kapeile, ist auch ihre Weiter-
entwicklung in vieler Beziehung noch nicht genügend aufgeklärt. Die
folgende Arbeit will daher, ausgehend von dem Kultus der capella
sancti Martini, auf Grund möglichst gleichzeitiger Quellen die Frage
nach dem Ursprünge der Hofkapelle einer eingehenden Nachprüfung
unterziehen und weiterhin ihre Entwicklung und die von ihr sich ab-
zweigenden Gebilde bis zur Mitte des 9. Jahrhunderts verfolgen.
I. Der Kultus der capella s. Martini in merowingischer Zeit
§1. Der Einfluß der Martin.slegende
Über kaum einen zweiten Heiligen der an Wundergeschichten und
Legenden wahrlich nicht armen vormerowingischen und merowingischen
Zeit besitzen wir eine solche Fülle von Nachrichten wie über den heiligen
Martin von Tours.
Schon sein Schüler Sulpicius Severus hat in zwei Werken, der
Vita s. Martini und den Dialogi, seinen Meister verherrlicht. An ihn
schließen sich dann Paulinus von Perigueux und Venantius Fortunatus
an. Auch Gregor von Tours hat, wo sich nur Gelegenheit bot, sowohl
in der Historia Francorum wie in einem besonderen Werke, den Virtutes
s. Martini, das Lob seines Vorgängers auf dem Bischofsstuhle von Tours
verkündet.
Allerdings bestehen die uns überlieferten Nachrichten meist nur
in Erzählungen von Wundern des Heiligen. Aber gerade diese völlig
unhistorischen Wundergeschichten rufen die Anschauungen hervor, die
über einen Heiligen im Volke herrschend werden. Einzelne Wunder
finden besonderen Anklang bei der Menge und begründen die Popu-
larität des heiligen Mannes. Sie geben der Verehrung, die ihm bald
^ Richter-Dove-Kahl, Lehrbuch des kath. und evangel. Kirchenrechts (S.A.
1886), S. 463, A. 3.
Capeila 3
allgemein gezollt wird, eine ganz bestimmte Richtung. Es bildet sich auf
Grund eines Wunders oft geradezu ein typisches Bild des Heiligen heraus.^
So können wir auch die allmähliche Entstehung des Kapellakultes,
den wir in der spätmerowingischen Zeit ausgebildet vorfinden, an der
Hand der Martinslegende verfolgen.
Während bei der Verehrung anderer Heiligen oft die mündliche
Legende eine grundlegende Rolle spielt, scheidet diese bei Martin von
vornherein aus, da die älteste schriftliche Überlieferung bereits auf
seinen Schüler Sulpicius Severus zurückgeht. Bei diesem ist auch
augenscheinlich schon der Grund zu der späteren Verehrung der
capella gelegt. Allerdings sind es zwei Wunder, die man als Aus-
gangspunkt ansehen kann, und man kann zweifeln, für welches man
sich entscheiden soll. Das eine^ berichtet, wie Martin, als er noch
römischer Kriegsmann war, mitten im Winter Christus, der ihm vor
dem Tore von Amiens in Gestalt eines frierenden Bettlers erschienen
sei, mit der Hälfte seines Mantels beschenkt habe. Das andere^ da-
gegen erzählt, daß Martin seine tunica einem Armen geschenkt und
dann, nur bekleidet mit einer bigerrica vestis brevis atque hispida den
Gottesdienst verrichtet habe; zum Lohne für diese Barmherzigkeit und
Demut habe Gott ihn, als er gerade vor dem Ahare stand, in himm-
lischem Glänze erstrahlen lassen.
Dieses zweite Wunder sieht Ducange* als den Ausgangspunkt der
späteren Kapellaverehrung an, indem er vermutet, daß jene bigerrica
vestis zum Andenken an das Wunder aufbewahrt sei und sich später
die Bezeichnung capella dafür eingebürgert habe.
Die Hypothese Ducanges, die auch von Flach ^ vertreten wird,
dürfte sich jedoch schweriich ohne weiteres erweisen lassen. Es wäre
ebensowohl möglich, daß der Kultus der capella sich von dem Wunder
von Amiens herschriebe ^ und diese der Legende nach der zerteilte
Mantel Martins sein sollte.
^ Sehr richtig handelt über die Entstehung eines Heiligenkultes Bernoulli,
Die Heiligen der Merowinger, Vorrede VIIL
' Vita Mart. cap. 3 (Migne, Patrol. lat. 20, 162 = Auct antiq. IV 1, p. 297).
' Dial. li cap. 1 (Migne, Patrol. lat. 20, 201f. = Auct. antiq. IV 1, p. 330f.).
* Ducange ed. Favre ,11 116, 1.
^ Flach, Les origines de l'ancienne France III, 459. — Nicht ganz klar drückt
sich Pardessus (Diplomata I, Prolegomena p. 260) aus: sancti Martini capella huius
sancti fuit capa brevior . . ., quae . . . habebatur pro „mantello" quo sanctus pau-
perem vestivit; doch meint er wohl, wie aus den letzten Worten hervorgeht, das
Wunder von Amiens.
'^ Daß in Amiens sich ein Oratorium zum Andenken an die Episode von dem
geteilten Mantel befand, erwähnt Gregor, Virtutes s. Mart. I c. 17 (SS. rer. Merov. I,
598; auch Bernoulli a. a. 0. S. 229).
1*
4 Wilhelm Lüders
Eine sichere Entscheidung läßt sich von vornherein nicht treffen.
Es ist daher angemessen, die Geschichte beider Wunder zu untersuchen.
Das Hauptaugenmerk wird dabei auf die Bezeichnungen der Kleidungs-
stücke zu richten sein, um die es sich in jenen Wundern handelt. Die
Frage nach dem Ursprünge des Kapellakultes würde sofort ihre Lösung
gefunden haben, sobald sich für eines von ihnen die Bezeichnung
capella fände.
Vita Mart. cap. 3 gebraucht Sulpicius Severus von dem zerteilten
Mantel den Ausdruck chlamys (daneben das allgemeine vestis).^ Ebenso-
wenig verwendet er die Bezeichnung capella Dial. II 1, wo er von der
verschenkten tunica und dem sich daran anschließenden Wunder spricht.
Das Kleidungsstück, mit dem Martin seine Blöße deckt, nennt er bi-
gerrica vestis brevis atque hispida; außerdem kommt nur noch vestis
zweimal allein vor.
Paulinus von Perigueux, der die Zerteilung des Mantels im 1. Buche
seiner Vita Martini^ erwähnt, nennt ihn ebenfalls chlamys (zweimal;
daneben nur die allgemeinen Ausdrücke amictus und tegmina), in
Buch IV auch allgemein vestis.^ Das Sulpicius Dial. II 1 entsprechende
Wunder erzählt er Vita Martini B. IV :^ sowohl für das an den Armen
verschenkte Kleidungsstück, wie für das, mit welchem Martin sich
nachher selbst bekleidet, hat er die Bezeichnung vestis; für das letztere
findet sich auch der allgemeine Ausdruck tegmen.
Auch Venantius Fortunatus berichtet über diese Wunder. Außer
in seiner Vita Martini nimmt er auch in seinen übrigen Werken häufig
darauf Bezug.
Allerdings ist seine Vita Martini, ebenso wie die des Paulinus, nur
eine Übertragung der Vita und der Dialogi des Sulpicius in Hexa-
meter; stofflich hat er nichts hinzugetan. Demgemäß findet sich dann
auch das Wunder von Amiens in genauem Anschluß an Sulpicius
wiedererzählt; wie dieser, redet auch Fortunatus nur von der chlamys
und vestis Martins.^ Genau entsprechend Dial. II 1 läßt er ferner Vita
^ Der Ausdruck vestis findet sich auch bei Ennodius, der im Hymnus s.
Martini V.,17ff. (Auct. antiq. VII, 255) auf die Teilung des Mantels anspielt:
„Qua veste nudum texerat,
Hac rex nitebat aetheris.
Sordente panno adquiritur,
Quo fulget astrorum globus."
' Migne, Patrol. lat. 61, lOllff. — Über Paulinus von Perigueux vgl. Pott-
hast' 897, 1459.
^ Migne a. a. 0. p. 1038: „vel cum divisae remaneret portio vestis."
* Migne a.a.O. p. 1037 ff.
' Vita Mart. I V. 50ff. (Auct. antiq. IV 1, 297).
Capella 5
Martini III 24ff. den h. Martin einem Armen seine tunica schenken;^
für das Kleidungsstück, mit dem der Heilige dann seine Blöße deckt,
hat er jedoch andere Bezeichnungen als Sulpicius.^
Vergebens suchen wir den Ausdruck capella. Auch in den Car-
mina, in denen er naturgemäß selbständiger ist, gebraucht er ihn nicht,
obwohl er mehrfach auf die erwähnten Taten Martins anspielt. So oft
er von der Teilung des Mantels spricht, verwendet er fast durchgehends
chlamys.^ Das Gewand, das der Heilige nach dem anderen Wunder
verschenkt, bezeichnet er stets als tunica.* Auch das Kleidungsstück,
das Martin dann selbst anlegt, erscheint hier als tunica;^ daneben
kommen die allgemeinen Ausdrücke tegmen und vestis vor.^
Welche Schlüsse darf man aus dem Obigen ziehen? Welche der
beiden Episoden ist als Ausgangspunkt der Kapellaverehrung zu be-
trachten?
Nirgends begegnet der Ausdruck capella, der die Frage sofort zu-
gunsten eines der beiden Wunder beantworten würde. Gleichwohl
müssen wir uns für die Episode von Amiens entscheiden und somit
die Hypothese von Ducange und Flach ablehnen.
Dafür sprechen allein schon die oben zusammengestellten Bezeich-
nungen der in Betracht kommenden Kleidungsstücke. Denn der Aus-
druck capella bezeichnet immer nur ein Obergewand, einen Mantel mit
Kapuze; niemals aber ist er gleichbedeutend mit tunica gebraucht. ' Er
kann somit nur an die Stelle von chlamys getreten sein. Allerdings
begegnen in der Vita Martini des Fortunatus auch für das Gewand,
womit der Heilige in dem anderen Wunder seine Blöße deckt. Aus-
drücke, wie palla, tegmen abollae, die auf eine Art Obergewand hin-
zuweisen scheinen. Aber die herrschende Ansicht ist doch geworden,
daß es sich hier um ein Untergewand handele. So gebraucht Fortu-
natus an anderer Stelle die richtige Bezeichnung tunica, und noch der
' Vita Mart. III V. 34, 61 (Auct. antiq. IV 1, 330f.).
^ Nämlich „hirsuta bigerrica palla" V. 49, „tegmen abollae" V. 45, „tegimen
vile" V. 47, „vestes" V. 46, „vestis" V. 48, „amictus" V. 51.
^ Carmina VIII 20, 5. X 6, 26 f. (hier auch der allgemeine Ausdruck „palla"
V. 30) und 103. X 7, 57. X 10, 16. Vita tiilarii c. 9 (Auct. antiq. IV 2, 5). —
Daneben „vestis" Carm. X 6, 104; „amictus" X 6, 105.
* Carminal 5, 7 (mit der Überschrift: In cellulam s. Martini ubi pauperem
vestivit. rogante Gregorio episcopo. — Daß die Überschriften vom Dichter selbst
herrühren, erweist Leo, Vorrede S. XVII). X 6, 3. 109. X 10, 17.
'" So „vili tunica" Carm. I 5, 9 (vgl. 18, 20); „pars tunicae parva" X 6, 110.
® „Inopi tegmine", Carm. I 5, 10; „vestis" X 6, 7.
^ So schließen sich z. B. tunica und cappella aus in Vita Walarici abb. Leuco-
naensis c. 26 (SS. rer. Merov. IV, 171): „tunica cum cappella tantum utens."
5 Wilhelm Lüders
Monachus Sangallensis spricht gelegentlich von demselben Kleidungs-
stücke als dem roccus des Heiligen. ^
Aber nicht nur diese formalen, sondern auch noch andere Gründe
weisen uns auf das Wunder von Amiens hin.
Bei Fortunatus hat es den Anschein, als ob beide Taten damals
noch in gleicher Weise gefeiert und populär gewesen wären. Er nennt
sie an mehreren Stellen seiner Carmina unmittelbar zusammen.^ Als
Gregor in der nach einem Brande renovierten Martinskirche zu Tours
von einheimischen Künstlern Szenen aus Martins Leben malen ließ,^
dichtete sein Freund Fortunatus zu den einzelnen Bildern kurze Epi-
gramme.* Unter ihnen befindet sich auch eines mit der Überschrift
„chlamys divisa", sowie ein anderes mit dem Titel „tunicam dedit"; es
waren also beide Szenen in der Kirche dargestellt. Aber gleichwohl
scheint schon damals die Episode von der geteilten chlamys das Über-
gewicht erlangt und jenes typische, dem ganzen Mittelalter bekannte
Bild des Heiligen geschaffen zu haben, das ihn als den mildtätigen
Krieger darstellt. Es ist vielleicht nur Zufall, daß Gregor in seinen
Virtutes sancti Martini nur auf dieses,^ nicht auch auf das andere
Wunder von der verschenkten tunica zu sprechen kommt. Dagegen
ist um so bezeichnender ein Zug, der sich gleichfalls in den Virtutes
sancti Martini findet: als hier der Teufel, um einen Gläubiger zu irren,
die Gestalt Martins annimmt, erscheint er eben in der Gestalt eines
Kriegers.^ Endlich scheint man auch bei dem späteren Gebrauche, die
capella des Heiligen mit in die Schlacht zu nehmen,"^ mehr an den
streitbaren Reiter, der die Hälfte seines Mantels einem Armen schenkt,
^ II c. 17 (SS. II, 760): „Carolus habebat pellicium berbieinum, non multum
amplioris praecii, quam erat roccus ille s. Martini, quo pectus ambitus nudis brachiis
Deo sacrificium obtulisse . . . comprobatur." — Belege, daß roccus gleich tunica ge-
braucht wird, bei Graff, Althochdeutscher Sprachschatz II, 430.
« Carm. X 6, Iff. und 25ff. X 7, 47f. und 57f. X 10, 16ff. — Auch Pauli-
nus kommt, als er von der an den Armen verschenkten vestis redet (Migne a.a.O.
p. 1038), wieder auf das bereits im 1. Buche erzählte Wunder von der Teilung
der chlamys zu sprechen.
" Gregor erwähnt dies kurz Hist. Franc. X c. 31. Vgl. Bernoulli a. a. 0. S. 225.
^ Carm. X 6. — Zur Charakteristik dieser Epigramme vgl. W. Meyer, Der
Gelegenheitsdichter Venantius Fortunatus (Abh. der k. Ges. d. Wiss. zu Göttingen,
phil.-hist. Kl., N. F. Bd. IV no. 5) S. 68.
* I cap. 17 (SS. rer. Merov. I, 598).
® II cap. 18 (SS. rer. Merov. I, 615): „Conponens autem (seil, inimicus) se in
speciem veterani venit ad eum dicens: ,Ego sum Martinus*. . ." — Hierzu bemerkt
Ruinart (vgl. SS. rer. Merov. I, 615 A. 2): „Militis scilicet, quod iam forte tunc
temporis beatus vir, ut nunc fit, in militis chlamydem suam cum paupere dividentis
speciem depingeretur ob praeclari facinoris celebritatem."
' Vgl. unten S. 12.
Capeila 7
als an den friedfertigen Bischof, der zum Gottesdienste geht, gedacht
zu haben. Kurz, alles führt uns auf das Wunder von Amiens als den
Ursprung des Kapellakultes hin.^
So waren etwa um 600, in der letzten Zeit des Venantius Fortu-
natus, alle Vorbedingungen für die Kapellaverehrung gegeben. Das
Wunder, das als ihr Ausgangspunkt anzusehen ist, war damals be-
sonders populär und beim Volke beliebt; immer wieder kommt Fortu-
natus darauf zu sprechen.
Dürfen wir aber annehmen, daß bereits damals eine Verehrung
des Martinsgewandes, sei es nun unter der Bezeichnung capella oder
unter einer anderen, sich herausgebildet hatte?
Ein Kultus des Martinsgewandes unter der Bezeichnung capella
ist ohne weiteres abzulehnen. Denn nirgends begegnet dieser Ausdruck.
Aber auch eine Verehrung des Martinsgewandes unter einer anderen
Benennung ist für jene Zeit sehr unwahrscheinlich. Allerdings läßt sich
nur ein argumentum ex silentio anführen, doch ist dieses bei der Fülle
von Nachrichten, die wir sonst über den Martinskult besitzen, sehr ge-
wichtig.
Weder Venantius Fortunatus noch Gregor erwähnen etwas von
der Verehrung des Martinsgewandes. Ein Kultus des Martinsgewandes
zu Tours, das als Hauptsitz der Verehrung des Heiligen am ehesten
in Frage kommen könnte, erscheint dadurch für jene Zeit so gut wie
gänzlich ausgeschlossen.^ Denn namentlich durch die Schriften Gregors
sind wir so genau über den dortigen Martinskult unterrichtet, daß auch
die Verehrung des Gewandes, falls sie wirklich vorhanden war, ohne
Zweifel uns bekannt geworden wäre.
Auch der Kultus des Gewandes als Reichsreliquie in der Pfalz
eines der merowingischen Könige ist für die Zeit bis etwa 600 so gut
wie ausgeschlossen. Denn eine solche Ehrung, die einer Reliquie seines
Vorgängers auf dem Bischofsstuhle von Tours gezollt wäre, hätte Gregor,
der keine Gelegenheit vorübergehen läßt, wo er das Lob des Heiligen
seiner Stadt verkünden kann, sicherlich nicht unerwähnt gelassen. Auch
den Einwand kann man nicht machen, daß Gregor eine Verehrung des
Martinsgewandes am Königshofe etwa unbekannt geblieben wäre. Dies
^ Wenn noch Alcuin, Vita s. Mart. c. 2 (Migne, Patrol. lat. 101, 659), als er
auf das Wunder von Amiens zu sprechen kommt, von der chlamys redet, anstatt
den zu seiner Zeit gebräuchlichen Ausdruck capella für die berühmte Martinsreliquie
zu verwenden, so dürfte dies lediglich auf die literarische Abhängigkeit von Sulpi-
cius zurückzuführen sein. — Die Erzählung von der verschenkten tunica urjd dem
sich daran anschließenden Wunder kommt bei ihm nicht vor.
^ Von der Kappaprozession, die BernouIIi S. 209 erwähnt, habe ich für diese
Zeit keinerlei Belege gefunden.
8 Wilhelm Lüders
ist bei ilim, der als einer der höchsten Würdenträger des Reiches eine
große politische Rolle spielte und häufig an den Höfen der Franken-
könige weilte, ausgeschlossen. Auch für den Geschichtschreiber Gregor,
der sehr oft gerade das Nebensächliche, sobald es für ihn Interesse
hat, eingehend behandelt, wäre eine Nichterwähnung des Kultes sehr
auffallend.
So waren zwar in der Wertschätzung und Beachtung, die das
Wunder vom geteilten Mantel zu der Zeit des Gregor und Fortunatus
genoß, bereits die Keime der späteren Kapellaverehrung enthalten ; aber
um das Jahr 600 hat diese augenscheinlich noch nicht bestanden.
§2. Der Kultus der capella s. Martini am merowingischen
Hofe
1. Die Eidesleistung über der capella.
Die ersten Nachrichten von einem Kultus der capella s. Martini
am merowingischen Hofe erhalten wir in einer Urkunde Theuderichs III.
vom Jahre 679^ und in einer Formel der Sammlung Markulfs. ^ Beide
Stücke weisen in den formelhaften Partien so große Übereinstimmung
auf, daß man eine, wenn nicht unmittelbare, so doch sicherlich mittel-
bare Abhängigkeit des einen Stückes von dem anderen annehmen muß.^
Wie tritt uns nun die capella s. Martini in den beiden Dokumenten
entgegen?
Beides sind Placita; sie enthalten Aufzeichnungen über prozessuale
Vorgänge, die sich in der Pfalz des Königs abgespielt haben.
In der Formel klagt ein Mann einen anderen beim Pfalzgerichte
des Königs an, daß er seinen flüchtigen Sklaven aufgenommen habe
^ Pardessus II p. 185 no. 394= Pertz, p. 45 no. 49. — Der erstere setzt die
Urkunde zu 680, der letztere zu 679. Das Richtige ist 679; denn die Urkunde ist
datiert „sub die segundo kalend. Julias, annum VII rigni nostri, Lusareca, in Dei
nomene feliciter"; Theuderich III. aber trat die Regierung zwischen dem 11. März
und Mitte April 673 an (Levison, Kleine Beiträge zu Quellen der fränk. Gesch. II.
Zur Chronologie der späteren Merowinger, NA. XXVII, 365).
- I, 38 (MG. Form. p. 67).
^ Welches der beiden Dokumente älter ist, dürfte sich kaum mit Sicherheit
entscheiden lassen. Während man früher die Sammlung Markulfs mit Sicherheit
etwa 650—660 ansetzen zu können glaubte, ist sie nach der neueren Ansicht erst
gegen Ende des 7. Jahrhunderts zusammengestellt (Zeumer, Formulae p. 34; Brun-
ner, RG. I, 406). Dies beweist jedoch noch nicht, daß die Formel jünger als die
Urkunde Theuderichs ist. Denn sie kann auf Formeln oder Urkunden zurückgehen,
die älter als die Urkunde von 679 sind. Eine sichere Entscheidung dürfte sich
schwerlich treffen lassen, ist auch für unsere Zwecke durchaus nicht nötig, da die
beiden Stücke, außer in allen formelhaften Elementen, so vor allem auch in der Art,
wie die capella s. Martini erscheint, durchgehends übereinstimmen.
Capeila 9
und seine Auslieferung verweigere. Der andere will dagegen von dem
Sklaven nichts wissen und wird daher von den Großen (proceres), die
unter diem Vorsitze des Pfalzgrafen das Gericht bilden, dazu verurteilt,
daß er nach einer bestimmten Frist mit sechs Eideshelfern wiederum
in der Pfalz erscheinen und sich mit ihnen durch einen Eid von dem
Verdachte reinigen soll. Der Eid, so heißt es, soll stattfinden, „in
palatio nostro super capella domni Martini, ubi reliqua sacramenta
percurrunt."
Ganz ähnlich ist der Vorgang in der Urkunde Theuderichs III.
Hier klagt eine Frau, Namens Achildis, gegen einen gewissen Amal-
garius, daß er ihr einen Teil der Villa Les Batignolles, der ihr durch
Erbschaft zukäme, widerrechtlich vorenthalte. Als Amalgarius dem-
gegenüber behauptet, daß das strittige Besitztum bereits seit 31 Jahren
in seinem und seines Vaters Besitze gewesen sei, wird, gerade wie in
der Formel, auch hier von den proceres das Urteil gefällt, daß Amal-
garius nach einer bestimmten Frist wiederkommen und, von sechs
Eideshelfern unterstützt, durch einen Eid, wiederum super capella
domni Martini, sein Besitzrecht an dem umstrittenen Gute erhärten
soll. Während aber die Formel von der Eidesleistung selbst nichts
enthält,^ berichtet die Urkunde genau darüber: Amalgarius erscheint
zur festgesetzten Zeit wiederum in der Pfalz und leistet, in quantum
inluster vir Dructoaldus, comes palatii noster, testimoniavit,^ den vor-
geschriebenen Eid.
K. Die beiden Stücke lassen deutlich die damaligen Funktionen der
capella Martini und ihre Verehrung als Reliquie erkennen.
Nach der Formel wird sie im Palatium des Königs aufbewahrt.
Noch genauer wird ihr Aufbewahrungsort in der Urkunde angegeben:
sie hat ihren Platz im Oratorium, dem Heiligtume, das sich, wie über-
haupt auf jeder Villa, so auch bei jedem Palatium des Königs befand.^
^ Sie ist, wie die Überschrift sagt, eine „carta paricla", also eine Urkunde, die
den Parteien ausgestellt zu werden pflegte, nachdem das urteil bereits gefällt, der
Prozeß selbst aber noch nicht durch den im urteil anbefohlenen Eid beendet war.
^ Über diese in sämtlichen merowingischen Placita, welche vollständig über-
liefert sind, wiederkehrende Formel vgl. Brunner, Festgaben für Heffter (1873)
S. 166ff., über die Urkunde Theuderichs III. speziell S. 170, A. 1.
^ Mabillon, De re dipl. p. 470 (Notatio zu dem Placitum Theuderichs) nimmt
an, daß das hier genannte Oratorium ein „o. portatile" sei (oratorium hoc regium
'fuisse ac portatile puto) und faßt es also, entsprechend den „sancta" desMonachus
Sangall. I c. 4 (MG. SS. II, 732), auf die er sich beruft, als Reliquiensammlung auf,
welche die merowingischen Könige beständig mit sich zu führen pflegten und in
welcher die capella Martins den hervorragendsten Platz einnahm. Der klare Wort-
laut der Urkunde setzt jedoch außer Zweifel, daß oratorium in rein örtlichem" Sinne
zu fassen ist; denn es heißt, daß der Eid stattfinden soll „m oraturio nostro". —
Vgl. auch die Urkunde Childeberts von 710 (unten S. 14): Jn oraturio suo."
10 Wilhelm Lüders
Daß die capella stets bei dem königlichen Hofhalte war und mit
ihm von einer Pfalz zur anderen zog, wo sie dann zweifellos jedesmal
eben in dem Oratorium der betreffenden Pfalz ihren Platz fanrd, geht
aus der Urkunde Theuderichs hervor. Denn als Achildis und Amal-
garius zum ersten Male vor dem Pfalzgerichte erscheinen, hält sich
der König gerade zu Compiegne auf. Hier wird auch das Urteil ge-
fällt. Als dann aber Amalgarius zur Eidesleistung wiederkommt, be-
findet sich die capella zu Luzarches. Hier findet der Schwur statt;
hier ist auch das Placitum ausgefertigt. Man muß annehmen, daß in-
zwischen der Hof seinen Sitz von Compiegne nach Luzarches verlegt
und die capella Martins dorthin mitgenommen hat.
Daß die capella als Reliquie damals in hohem Ansehen stand,
kann man eben aus der Tatsache schließen, daß ein Eid bei ihr so
hohe Geltung hatte und sie mit Vorliebe gerade bei den Verhandlungen
des Pfalzgerichtes Verwendung fand. Denn daß dieser Gebrauch
häufiger war als man nach den wenigen überlieferten Zeugnissen an-
nehmen sollte, dafür bürgt schon der Umstand, daß der Eid über der
capella gerade auch in einer Formel überliefert ist.
2. Zeit und Ort des Ursprunges der Kapellaverehrung
dürften sich schwerlich genauer bestimmen lassen.
Nur soviel kann man sagen, daß sie etwa zwischen dem Jahre 600,
wo sie nach dem oben gewonnenen Ergebnisse noch nicht vorhanden
war, und dem Jahre 679, in dem die capella zuerst unzweifelhaft in
den Quellen begegnet, entstanden sein muß. Einen Zeitpunkt inner-
halb dieser Periode festzulegen, ist unmöglich, bei dem Mangel an
allen Belegen kann man nur Vermutungen aussprechen. Einerseits ist
es nicht wahrscheinlich, daß die Entwicklung sofort nach Gregor und
Venantius Fortunatus, die noch keine Spur des Kapellakultes zeigen,
eingesetzt habe. Andererseits tritt in der Urkunde Theuderichs der
Schwur über der capella bereits als etwas ganz Selbstverständliches
auf, so daß die Verehrung des Martinsgewandes in der königlichen
Pfalz immerhin schon eine gewisse Zeit bestanden haben muß. Es
mag dahingestellt bleiben, ob man hierfür die Formel Markulfs an-
führen kann, die ja vielleicht auf ein Vorbild, das älter als die Urkunde
Theuderichs ist, zurückgeht. Das Wahrscheinlichste ist demnach, daß
die Verehrung der capella in der Königspfalz sich etwa um die Mitte
des 7. Jahrhunderts ausgebildet hat.^
^ Eine andere Frage ist die, wann die Verwendung der capella bei gerichtlichen
Eiden entstanden sein könnte. Hierfür würde man einen gewissen Anhalt an den
übrigen Placita, die aus jener Zeit überliefert sind, haben, wenn man etwa nach-
weisen könnte, daß vor 679 Eidesleistungen bei anderen Gegenständen oder Reliquien
Capeila ^^
Für die Bestimmung des Entstehungsortes des Kapellakultes ist
es bedeutsam, daß die Urkunde Theuderichs aus der Zeit vor der
Schlacht bei Testri herrührt, also aus einer Zeit, wo Neustrien noch
im Besitze seiner Selbständigkeit war. Hier in Neustrien ist auch die
Formelsammlung Markulfs entstanden.^ Aber nicht nur die Spuren
der Überlieferung weisen nach der westlichen Reichshälfte; auch sonst
waren in Neustrien alle Vorbedingungen für einen derartigen Martins-
kult in weit höherem Maße gegeben als in Austrasien. Namentlich
war man dort dem Ausgangspunkte aller Martinsverehrung, der Bischofs-
stadt Tours näher, wo noch immer das Grab des Heiligen der Mittel-
punkt eines ausgedehnten Kultes war.^ Es ist nicht unmöglich, daß
gerade von hier die uns in der Königspfalz entgegentretende Sitte des
Eides über der capella ausgegangen ist. Denn daß auch über dem
Grabe Martins Eidesleistungen stattfanden, teilt Gregor an mehreren
Stellen mit.^ Auch die Schriften des Gregor und Fortunatus werden
mitgewirkt haben. So ist es ohne Zweifel, daß sich in Neustrien die
Verehrung der capella Martins entwickelt hat.*
in der Pfalz gebräuchlich gewesen wären. Doch habe ich unter den bei Pertz ent-
haltenen Placita sonst keines gefunden, in dem überhaupt ein gerichtlicher Eid
stattfände.
^ Zeumer, MG. Form. p. 34, 17: Markulf sei höchstwahrscheinlich Mönch in
dem monasterium Resbacense (= Rebais, dep. Seine-et-Marne) gewesen; vgl. NA. XXX,
716ff., wo Zeumer an dieser Ansicht gegenüber Caro festhält.
^ Charakteristische Beispiele hierfür liefert namentlich Gregor allenthalben in
seiner Hist. Franc, und den Virtut. s. Mart. — Vgl. Bernoulli S. 212ff., der das
Grab Martins geradezu ein „Reichsheiligtum'* nennt. Ein charakteristisches Zeugnis
aus karolingischer Zeit bietet Alcuin, Vita s. Martini cap. 16 (Migne, Patrol. lat.
101, 664): „In qua (d. h. in der von Perpetuus über dem Martinsgrab erbauten
Kirche) etiam usque hodie multa miraculorum signa, plurimae sanitatum virtutes,
consolationes moerentium et pietates laetantium, praestante Domino Jesu Christo,
fieri solent." Über die große Bedeutung von Martins Grab vgl. auch M. l'abbe
C. Chevalier, Origines de l'eglise de Tours (Mem. de la soc. archeol. de Touraine,
T. XXI 1, Tours 1871).
^ Hist. Fr. V c. 48: „iurans saepius super sepulchrum sancti antistitis"; V c. 49:
„sacramentum super sepulchrum sancti Martini dederat"; vgl. auch V c. 48: „Sed
post inlata damna iterat iterum sacramenta pallamque sepulchri beati Martini fide-
iussorem donat, se nobis numquam adversaturum."
* Übrigens scheint — wenn man einer Notiz bei Joh. H. Kessel (Geschichtl.
Mitt. über die Heiligt, der Stiftsk. zu Aachen S. 141) trauen darf — das Gewand
des h. Martin nicht die einzige Reliquie gewesen zu sein, die am fränkischen Hofe
unter der Bezeichnung capella verehrt wurde. Nach Kessel befindet sich nämlich
noch heute unter den Reliquien der Aachener Stiftskirche „ein ziemlich umfang-
reicher grober Leinenstoff**, der durch zwei Inschriften näher bezeichnet wird.
Die eine, „in merowingischer Schrift geschrieben" und „aus dem 6. höchstens aus
dem 7. Jahrhundert" stammend, lautet: ,, Hie sunt Reliquias sei Martialis epci," wäh-
rend eine zweite, ,, vielleicht um ein Jahrhundert jüngere** Inschrift das Gewand ge-
12 Wilhelm Lüders
3. Die capella in der Schlacht.
Die Quellen aus merowingischer Zeit lassen nur die Verwendung
der capella bei gerichtlichen Eiden erkennen. Dagegen ist in späteren
Quellen, bei Walahfrid Strebo^ und dem Monachus Sangallensis^ über-
liefert, daß die fränkischen Könige die cappa oder capella Martins auch
in den Krieg mitzunehmen pflegten, in dem Glauben, daß sie durch
die Kraft der Reliquie selbst vor Unfall oder Niederlage bewahrt würden
und mit ihrer Hilfe um so leichter den Sieg errängen.
Wenn gleichzeitige Nachrichten über einen derartigen Gebrauch
auch gänzlich fehlen, so dürfte doch den späteren Nachrichten Glauben
zu schenken sein.^ Gerade eine Reliquie Martins, der, wie schon oben
gezeigt ist, vornehmlich in der Gestalt eines Kriegers im ganzen
Frankenreiche gefeiert war, verdiente es, vor den Reliquien aller übrigen
Heiligen mit in den Krieg genommen zu werden. Daß Martin schon
sehr früh von den Frankenkönigen als Verleiher des Sieges angesehen
wurde, läßt deutlich eine Stelle der Historia Francorum (II c. 37) Gregors
erkennen: als Chlodovech durch das Gebiet von Tours gegen die West-
goten zieht, verbietet er, um die Hilfe Martins zu erlangen, jede
Plünderung; als sich trotzdem ein Krieger gegen sein Gebot vergeht,
tötet er ihn mit den Worten: „ubi erit spes victuriae, si beato Martino
offendimus?" Ferner sendet er Boten mit reichen Geschenken nach
Tours; als diese in der Basilika Martins ein günstiges Vorzeichen er-
halten, zieht er getrost in den Krieg. Reiche Schenkungen an die
Kirche des Heiligen sind nach gewonnenem Siege des Königs Dank
für die geleistete Hilfe. Als Schützer der Person des Königs tritt
nauer definiert: „Hie est cappella sei Martialis epci." uns interessiert besonders
die zweite Inschrift. Nach der Datierung, die ihr Kessel gibt, muß die Möglichkeit
in Betracht gezogen werden, daß der Kultus der capella s. Martialis älter sei
als die Verehrung der capella s. Martini. Aber für die Priorität des Kultus der
Martinsreliquie spricht schon allein der Umstand, daß in den uns überlieferten
Miracula Martials (Acta SS. Boll. Juni 30 VII, 507 ff.), soviel ich sehe, nirgends ein
Kleiderwunder erscheint, an das sich jene Verehrung hätte anschließen können. Man
wird daher, was ja auch Kessel zugibt, jene zweite Inschrift frühestens in das
8. Jahrhundert datieren dürfen.
^ De oxordiis et incrementis rer. eccl. cap. 32 (Capitularia reg. Fr. II, 515):
„Dicti sunt autem primitus cappellani a cappa beati Martini, quam reges Francorum
ob adiutorium victoriae in proeliis solebant secum habere, quam ferentes et custo-
dientes cum ceteris sanctorum reliquiis derlei cappellani coeperunt vocari."
^ Vita Caroli Magni I c. 4 (MG. SS. II, 732): „Quo nomine (sc. cappella) Fran-
corum reges propter cappam sancti Martini, quam secum ob sui tuitionem et
hostium oppressionem iugiter ad bella portabant, sancta sua appellare solebant."
^ Auch BernouUi S. 225 nimmt die Nachricht, daß die merowingischen Könige
sich Martins Mantel in die Schlacht nachtragen ließen, als richtig an. Ebenso
Waitz, VG. III, 516; Flach, Les origines de l'ancienne France III, 549.
Capeila 13
Martin bei Gregor, Hist. Franc. V c. 25 auf: „Guntchramnus vero, cum
super se mortem cerneret inmineri, invocato nomen Domini et virtutem
magnam beati Martini, elevatoque contu, Dracolenum artat in faucibus."
Mögen diese Erzählungen auch nicht sicher verbürgt sein, so geben
sie doch zum mindesten die zur Zeit Gregors herrschenden Anschau-
ungen wieder. Wir haben deshalb keinen Grund, an den Angaben
Walahfrids und des Monachus Sangallensis zu zweifeln, zumal durch
gleichzeitige Zeugnisse ein Kultus der capella in der merowingischen
Pfalz nachgewiesen ist. Nur kann der Brauch, das Martinsgewand
auch in die Schlacht mitzuführen, nicht eher entstanden sein als der
Kultus der capella in der Pfalz überhaupt, also keinesfalls vor dem
Jahre 600, sondern erst im Laufe des 7. Jahrhunderts.^
4. Der „Abt" am merowingischen Hofe.
Ob schon damals besondere Geistliche für die Bewachung und
Bedienung der capella bestellt waren, erfahren wir aus den Quellen
jener Zeit nicht.
^ Ducange (ed. Favre II, 112, 3) scheint geneigt, diesen Brauch auf byzanti-
nischen Einfluß zurückzuführen, indem er folgende Stelle des aus dem 6. Jahrhundert
stammenden ^^iQaTtjyLxöv des Maurikios (Krumbacher, Gesch. der byz. Lit. S. 635)
zitiert: T'cvo^svcov de avccjp sv tcT ii]g naguTä^scog lönco lavaTat 6 ng^cov^ xnl fisi" avibv
6 ßavöofpöqog., 6ni(r&6P ds aviov 6 xrjv xünnav ßacriaCcov, xal fiev avibv 6 ttjv rovßav
(ed. Scheffer, üpsala 1664, lib. XII, c. 8, 11, p. 315; vgl. auch IIb. III, c. 1, p. 78,
aber nicht lib. VII, wie Scheffer p. 429 und Ducange zitieren). Aber was heißt hier
xttTTTra? Weder die völlig unsinnige Erklärung Scheffers (p. 429), der an die icct-nna
des Feldherrn denkt, noch die Ducanges, der das Wort allgemein als „sacrae reli-
quiae" interpretiert, schaffen eine befriedigende Lösung. Denn wenn auch Ducanges
Interpretation anfangs eine gewisse Stütze in dem Monachus Sangall. (s. o. S. 12 A. 2)
zu finden scheint, so geht doch gerade aus diesem hervor, daß sich die Bezeichnung
capella für sancta (s. u. II § 2) erst aus der cappa s. Martini verallgemeinert
hat. Es läßt sich also Lianna, an jener Stelle schwerlich erklären. Dagegen hat
Ducange richtig herausgefühlt, daß es sich hier zweifellos um Reliquien handele, und
er selbst führt (a. a. 0.) mehrere Belege an, daß auch die Byzantiner dem Gebrauche,
solche mit in die Schlacht zu nehmen, gehuldigt haben. Mir scheinen sich daher
alle Schwierigkeiten zu lösen, sobald man die einfache Emendation zu xaTiaa, xä-tpa =
Reliquienbehälter, vornimmt. Allerdings habe ich nicht ermitteln können, wie dazu
die handschriftliche Überlieferung steht; doch scheinen mir die tiss. mehr oder
weniger verwandt zu sein (vgl. K. K. Müller, Festschr. für L. ürlichs, Würzb. 1880,
S. 106 ff.). Auch paläographische Gesichtspunkte sprechen nicht gegen die Emendation,
zumal auch in lat. tiandschriften die Verwechslung von cappa und capsa und von
ihren Ableitungen nicht selten vorkommt (vgl. z. B. Thes. ling. lat. III, 354 s. v. cappa).
[Mit dieser Emendation fällt aber vollends jede Möglichkeit des Zusammenhanges
jmit dem fränkischen Kapellakultus in sich zusammen. — Die vorstehende Stelle
Ides Maurikios ist benutzt in Leonis imp. Tactica VII, 54 (Joa. Meursi Opp. ex- rec.
iJoa. Lami, Flor. 1745, tom. VI, p. 605; vgl. Krumbacher S. 636); doch findet sich
jhier gerade der Passus mit KÖLnnot. (oder Ki'tipa) nicht. Hat vielleicht der Verfasser
Jdiesen bereits nicht mehr verstanden?
14 Wilhelm Lüders
Nähere Kunde erhalten wir nur von dem obersten der mero-
winglschen tiofgeistlichen, der den Titel „abbas" führte. Er hatte wohl
ohne Zweifel auch die Oberaufsicht über die am Hofe befindlichen
Reliquien und damit auch über die besonders hoch im Ansehen
stehende capella sancti Martini.^
§3. Die capella s. Martini in den Händen der karolingischen
Hausmeier
Die nächste Nachricht von der capella s. Martini erhalten wir in
einer Urkunde Childeberts III. aus dem Jahre 710.^ Hier ist die
Situation bereits eine wesentlich andere als in der Formel und der
Urkunde Theuderichs.
^ Allerdings sind die Zeugnisse, die uns von dem Amte des „Abtes" am mero-
wingischen Hofe berichten, meist erst aus nachmerowingischer Zeit. Aus dem
T.Jahrhundert (vgl. Wattenbach \\ 127) stammt allein die Vita s. Bathildis,
wo es cap. 4 der Fassung A (SS. rer. Merov. II, 486) heißt: „Cui (seil. Bathildi) ipse
rex (seil. Chlodoveus II.) pius consulens iuxta fidem et devotionem eins, dedit ei in
adiutorium suum fidelem famulum abbatem Genesium" etc.; von ihm heißt es gleich
darauf: „Tunc enim in palatio Francorum erat assiduus"; ähnlich lautet die Fassung B.
Dagegen ist die bei Migne 80 (die übrigen Druckorte siehe beit Potthast II, 1586
und SS. rer. Merov. IV, 370f.) gedruckte Vita s. Sulpitii ep. Bituricensis, wo es S. 577
heißt: „Illico ab episcopo poscit, ut pro salute sua ac exercitus sui licentia daretur,
ut vir beatus in suis castris abbatis officio potiretur," eine jüngere, erst aus dem
9. Jahrhundert (SS. rer. Merov. IV, 370) stammende Fassung; die älteste von Krusch
edierte Vita (SS. rer. Merov. IV) erwähnt nichts von einem solchen Amte des Sul-
pitius. Auch die Vita Desiderii Cadurcae urbis episcopi, die cap. 1 (SS. rer. Merov. IV,
563) von der „abbatia regalis basilicae" und cap. 2 (a. a. 0. p. 564) von der „abbatia
palatini oratorii" redet, stammt frühestens aus dem Ende des 8. Jahrhunderts (SS.
rer. Merov. IV, 556; Wattenbach T, 126) Ob man daher, wie Waitz (VG. III, 517;
vgl. auch Fustel de Coulanges, La monarchie franque, Paris 1888, p. 150), von
dem „Vorsteher oder Abt des königlichen Oratoriums" oder gar dem „Abt der könig-
lichen Capelle" (VG. II, 2. 102) sprechen darf, ist doch sehr fraglich. Ist der Titel
„Abt des Oratoriums" wenigstens sachlich möglich, so wird andererseits die Be-
zeichnung „Abt der königlichen Capelle" als leicht irreführend besser vermieden.
Denn wenn Waitz, VG. II, 2, 102, A. 3, argumentiert: „Von der Capelle sagt der
König Dipl. 49 S. 45: in oraturio nostro", so vermag das für die Stellung eines Abtes
der königlichen „Capelle" nichts zu beweisen; an jener Stelle ist capella nichts
anderes als das Gewand des h. Martin. — Auch Tardif, Etudes sur les institutions
politiques et administratives de la France I, 39 beruft sich allein auf die Vita
Desiderii. Glas so n, tiist. du droit et des institutions de la France II, 309 nimmt
ohne jeden Grund den Titel „abbas palatinus" an.
^ In den Drucken der Urkunden finden sich zwei verschiedene Lesarten.
Mabillon (De re dipl. p. 483 no. 29), Ducange ed. Favre II 115, 3, Bouquet IV,
p. 685 no. 97, P a r d e s s u s II, p. 286 no. 478 lesen : „ut ... in oraturio suo, seu cappella
sancti Marcthyni, memorate homenis hoc debirent coniurare." Tardif p.38 no.45 und
Pertz p. 69 no. 78 dagegen lesen: „in oraturio suo super cappella sancti Marcthyni.*
Nach der ersten Lesart müßte man annehmen, daß die Bezeichnung cappella sich
Capeila 15
Agentes des Klosters Saint-Denis erscheinen vor dem Pfalzgerichte
Childeberts, der sich gerade in seinem Palatium zu Maumacques^ auf-
hält, und führen Klage gegen die ebenfalls erschienenen agentes des
iiausmeiers Grimoald, daß dieser eine innerhalb seiner Besitzung Ver-
num^ gelegenen Mühle, die in Wahrheit zu der dem Kloster schon seit
langem gehörigen Villa Latiniacum^ gehöre, als sein Eigentum ansehe.
bereits von der Reliquie auf ihren Aufbewahrungsort übertragen, daß also cappella
bereits die Bedeutung von Oratorium angenommen hätte, und so scheint es in der
Tat auch Kraus, Realencykl. der christl. Altert, (s. v. capella) aufzufassen. Nach der
zweiten Lesart hätte man es jedoch noch mit der Reliquie zu tun, über (super!) der,
wie in der Formel und der Urkunde Theuderichs, so auch hier ein Eid geleistet
wird. Die Frage ist also von prinzipieller Bedeutung. Für die zweite Lesart sprechen
folgende Gründe:
1. Die Urkunde Childeberts ist, wie die folgende Zusammenstellung und auch
sonst mancherlei Übereinstimmungen zeigen, in ihrer Form abhängig von der Formel
und dem Placitum Theuderichs, wenn nicht unmittelbar, so doch sicherlich durch
Vermittlung eines oder mehrerer Zwischenglieder:
Formel: Urkunde Theuderichs: Urkunde Childeberts:
ut . . . in palatio nostro,
super capella domni Mar-
tini, ubi . . . percurrunt,
debeat coniurare.
ut . . . in oraturio nostro,
super cappella domni Mar-
tini, ubi . . . percurribant,
hoc dibiret coniurare.
ut . . . in oraturio suo, su-
per (seu) cappella sancti
Marcthyni, memorate home-
nis hoc debirent coniurare.
2. wenn man seu als richtig annimmt, so ist kein Gegenstand vorhanden, bei
oder über dem der Eid geleistet werden soll. Soweit ich aber dem Gebrauche nach-
gegangen bin, wird fast immer, sowohl in merowingischer wie in späterer Zeit, bei
Eidesleistungen ein solcher Gegenstand genannt. Namentlich die Präposition super
ist ungemein häufig (vgl. z. B. die zahlreichen Beispiele in MG. Formulae). Darum
ist auch hier zweifellos super capella zu schreiben.
^ Oder Montmacq = Mamaccas Urkunde, am linken Ufer der Oise zwischen
Noyon und Compiegne (Tardif p. 688; Bonnell, Die Anfänge des karolingischen
Hauses S. 125).
^ „farinario illo in loco noncopante Cadolaico, infra termeno Verninse." Der
locus Cadolaicus ist Chailly (in pago Meldensi; Pertz, Index p. 221); der termenus
Verninsis — gleich nachher Verno in der Urkunde — ist heute Vern (in pago Sues-
sionensi Pertz, Index p. 234).
^ Es ist Lagny-sur-Marne (dep. Seine-et-Marne, arr. Meaux), von Theuderich III.
an Saint-Denis geschenkt, nachdem es vorher schon im Besitze der Hausmeier
Ebroinus, Waratto und Ghislemarus gewesen war (Pertz p. 51 no. 57); daß es sich
Vorher im Besitze des Ebroinus befand, erwähnt auch unsere Urkunde. Pertz (In-
dex p. 226) nennt fälschlich Lagny-le-Sec (dep. Oise); doch vgl. SS. rer. Merov. II,
415, Anm. 10. Lagny-le-Sec wird bereits von Nanthechildis, der Gemahlin Dago-
berts I., an Saint-Denis geschenkt, nach Gesta Dagoberti I. regis Franc, c. 49 (SS. rer.
Merov. II, 423): „Testamentum autem de villis, quibus eam rex Dagobertus et filius
,J ipsius Hludowius ditaverant, eodem tempore ad loca oportuna sanctorum fieri ordi-
navit, in quo etiam Latiniacum villam, quae sita est in Brieio, ad basilicam domni
Dyonisii tradens, inserere iussit"; vgl. dazu SS. rer. Merov. II, 423, A. 1.
16 Wilhelm Lüders
Doch die Angelegenheit kon>mt in der Königspfalz nicht zum Aus-
trag. Grimoald zieht vielmehr selbst den Prozeß an sich und läßt,
nachdem die Inquisition offenbar ein für Saint- Denis günstiges Er-
gebnis geliefert hat, noch sechs zuverlässige Leute aus Vernum und
die gleiche Anzahl aus Latiniacum „in oraturio suo, super cappella
sancti Marcthyni" schwören, daß die umstrittene Mühle von jeher zu
Latiniacum gehört habe und somit Besitz des Klosters Saint-Denis sei.
Der Eidesleistung wohnt Sigofridus, der auditur Grimöalds, bei;
er verrichtet also ganz dieselbe Funktion, die in der Formel und der
Urkunde Theuderichs dem Pfalzgrafen zufiel.^ Wie dort auf das Zeugnis
des Pfalzgrafen hin eine Königsurkunde, so wird hier auf das Zeugnis
des Siegfried hin von Grimoald den agentes des Klosters Saint-Denis
eine Urkunde ausgestellt, daß die betreffende Mühle diesem zugehöre.
Dann erst wird eine Königsurkunde über den Fall ausgefertigt, nach-
dem der Pfalzgraf Bero auf Grund des Zeugnisses des Siegfried aus-
gesagt hat, daß die Angelegenheit vor dem Richterstuhle des Grimoald
erledigt sei.
Der Prozeß liegt also völlig in den Händen Grimöalds; er ent-
scheidet ihn fern und unabhängig von dem königlichen Pfalzgerichte.
Am beachtenswertesten ist jedoch, daß auch die Eidesleistung über
der capella nicht mehr in der königlichen Pfalz, sondern in dem Ora-
torium des Grimoald stattfindet. Dieses Oratorium ist, obwohl es nicht
näher bezeichnet wird, wohl das der Villa Vernum, wo sich Grimoald
damals befunden zu haben scheint, und welches ja auch für die Eid-
leistenden sowohl aus Vernum, wie aus Latiniacum am bequemsten zu
erreichen war.
Doch wie kommt Grimoald in den Besitz der capella Martins?
Man darf schwerlich annehmen, daß er sie nur für diesen einzelnen
Fall der Eidesleistung aus der königlichen Pfalz gewissermaßen ent-
liehen habe. Denn ebenso, wie in der Formel Markulfs und in dem
Placitum Theuderichs, hätte auch in diesem Falle der Eid über der
capella in dem Oratorium des königlichen Palatiums geleistet werden
können. Auch sonst ist kein Grund zu ersehen, aus dem die capella
dem Hausmeier Grimoald nur zeitweilig überlassen sein könnte. Viel
wahrscheinlicher ist es, daß sie dauernd in seinen Besitz übergegangen
sei. Denn wie Grimoald in seiner unbeschränkten Machtfülle als Haus-
^ Es findet sich ganz derselbe Ausdruck dafür. Formel: „in quantum inlustris
vir ille, comes palati nostri, testimoniavit" (findet sich hier allerdings schon bei
dem urteil, nicht bei der Vollziehung der späteren Eidesleistung, die in der Formel
fehlt); Urkunde Theuderichs: „in quantum inluster vir Dructoaldus, comes palatii
noster, testimoniavit"; Urkunde Childeberts: „in quantum inluster vir Sigofridus
auditur ipsius viro Grimoaldo testemoniavit."
Capeila 17
meier hier ohne weiteres einen Prozeß» von dem Pfalzgerichte des Königs
weg vor sein eigenes Gericht zieht, so wird er auch im Besitze der
capella, bei der gerichtliche Eide geleistet zu werden pflegten, gewesen
sein; und wie er nunmehr anstatt der schwächlichen Frankenkönige
die Kriege führte, so wird er auch die Reliquien, die jene in den
Krieg mitzunehmen pflegten, und vor allem auch die capella Martins
mit sich geführt haben/
Die Urkunde von 710 gibt also einen wichtigen Fingerzeig: die
capella ist zu jener Zeit bereits in den dauernden Besitz des Haus-
meiers Grimoald und, so darf man jedenfalls weiter folgern, damit
auch in die Hände des karolingischen Geschlechtes überhaupt über-
gegangen. Dieses aber hat, wie schon Waitz^ nachdrücklich hervor-
hebt und wie auch weiter unten zu zeigen sein wird, zuerst die capella
als Hofinstitut und die Stellung der mit ihr in Zusammenhang stehen-
den capellani bewußt entwickelt und ausgebaut. Wenn also die spätere
karolingische Hofkapelle ihren Ursprung wirklich in der capella Martins
hat, so haben wir in der Urkunde Childeberts III. von 710 das erste
Dokument jener Entwicklung zu sehen.
Es erübrigt nur, den Zusammenhang zwischen der Reliquie und
der späteren Hofkapelle überzeugend nachzuweisen.
§4. Der Übergang von der capella s. Martini zur karolingi-
schen Hofkapelle. Das erste Auftreten der capellani
Die Frage, ob ein Zusammenhang zwischen der capella s. Martini
und der karolingischen Hofkapelle besteht, ist von den meisten
Forschern in bejahendem Sinne beantwortet. Sie ist jedoch bisher
ebensowenig eingehend und überzeugend erörtert wie die Frage, in
welcher Weise sich jener Übergang vollzogen habe.
Waitz und andere Forscher^ legen meiner Ansicht nach zu großes
Gewicht auf die Übertragung der Bezeichnung capella von der Martins-
reliquie auf die Oratorien der königlichen Pfalzen. Diese Übertragung
^ Allerdings ist für diese Zeit noch nicht nachzuweisen, daß die Hausmeier
Reliquien in die Schlacht mitzuführen pflegten. Doch ist es anzunehmen, zumal
da in dem Kapitulare Karlmanns vom Jahre 742 c. 2 (Capit. I p. 25 no. 10: sancto-
rum patrocinia portanda) davon als von etwas ganz Selbstverständlichem die
Rede ist.
' VG. III^ 517.
^ VG. III-, 516. — Ferner Giesebrecht, Gesch. der deutschen Kaiserzeit I,
323 Anm. Fustel de Coulanges, Les transformations de la royaute pendant
l'epoque carolingienne (Paris 1892) p. 331. Br esslau, Handbuch der ürkunden-
lehre I p. 295f. Flach, Les origines de l'ancienne France III, 458ff.
AfU II «2
18 Wilhelm Lüders
hat allerdings, wie sich aus den Quellen der Folgezeit erschließen läßt
und wie noch weiter unten nachzuweisen sein wird, später zweifellos
stattgefunden. In den Quellen der ausgehenden Merowingerzeit findet
sie jedoch keinerlei Bestätigung.^
Wir müssen daher auf einem anderen Wege den Zusammenhang
zwischen der capella s. Martini und der Hof kapeile zu erweisen suchen;
dieser Weg bietet sich in der Entwicklung der capellani.
Eine spätere Nachricht des Walahfrid Strabo^ behauptet den Zu-
sammenhang zwischen der Martinsreliquie und den capellani ohne
weiteres. Doch lassen wir dieses Zeugnis zunächst außer acht und
sehen uns nach früheren Belegen um.
Das erste unzweifelhafte Zeugnis für das Vorhandensein der capel-
lani findet sich, soweit ich sehe, in einer Schenkungsurkunde Karl
Martels für Saint-Denis aus dem Jahre 741.^ Hier wird unter den
Zeugen auch ein Audoenus cappellanus genannt.
Aus dem folgenden Jahre ist dann jenes wichtige Kapitular Karl-
manns erhalten, das, auf die Anregung des Bonifatius zurückgehend,
sich mit der Neuordnung der kirchlichen Verhältnisse im Frankenreiche
befaßt.* Cap. 2 verbietet, entsprechend den Bestimmungen früherer
^ Trotzdem hat man sich durch spätere Zeugnisse zu der Annahme verleiten
lassen, daß schon in merowingischer Zeit die Oratorien der königlichen Pfalzen als
capella bezeichnet seien (so namentlich Giesebrecht a. a. 0.). Wir sahen jedoch,
daß sich die Verehrung des Martinsgewandes unter dem Namen capella überhaupt
erst sehr spät, erst im Laufe des 7. Jahrhunderts, in der Königspfalz der Mero-
winger entwickelt hat. Noch in der Urkunde von 679 heißt es ausdrücklich, daß
der Schwur stattfinden soll in oraturio nostro super capella domni Martini. Ganz
ähnlich lautet die Formel auch in der Urkunde von 710. Selbst in Jahre 710 hatte
also die Übertragung der Bezeichnung capella von der Martinsreliquie auf das Pfalz-
oratorium noch nicht stattgefunden.
^ Siehe das Zitat oben S. 12 A. 1.
^ BM. 43 (Pertz p. 101 no. 14 = Pardessus II p. 380 no. 563): „Audoenus cap-
pellanus subscripsit." Das Original, welches noch Mabillon (De re dipl. p. 189)
sah, ist jetzt verloren (BM. a. a. 0.). Die sonstigen angeblich der Merowingerzeit
angehörigen Zeugnisse, in denen capellani oder archicapellani genannt werden,
stammen sämtlich erst aus. späterer Zeit: Pertz p. 146 no. 29 (Pard. no. 260). Pertz
p. 152 no. 33 (Pard. no. 253). Pardessus no. 311, no. 325. Pertz p. 210 no. 2 (Pard.
no. 419). Pertz p. 211 no. 4 (Pard. no. 433). — In der Vita Betharii ep. Carnoteni
c. 5 (SS. rer. Merov. III, 615; von Tardif, Etudes sur les instit. polit. et administr.
de la France I, 39 A. 4 mit unrecht als vollgültiges Zeugnis verwertet) wird Betha-
rius, in der Vita Dagoberti III. reg. Franc, c. 10 (SS. rer. Merov. II, 517) Bonifatius
fälschlich archicapellanus genannt.
* MG. Capit. I p. 25 no. 10. — Diese Bestimmungen finden sich auch: S. Boni-
fatii epistulae (EE. III, 310, 22 ff.); Concilium Germanicum 742 c. 2 (Conc. II, 3);
Caroli Magni capitulare primum vom Jahre 769 oder später (Capit. I, 44, 23ff.),
hier mit mechanischer Wiederholung des Titels princeps, der damals, wo die Karo-
linger schon längst im Besitze des Königstitels waren, keinen Sinn mehr hat.
Capeila 19
Synodalbeschlüsse/ den Geistlichen, Waffen zutragen und mit in den
Krieg zu zielien. Ausgenommen liiervon sollen nur die sein, „qui
propter divinum ministerium, missarum scilicet solemnia adinplenda
et sanctorum patrocinia portanda ad hoc electi sunt". Das Kapitular
fährt dann erklärend fort: „Id est unum vel duos episcopos^ cum
capellanis presbiteris princeps secum habeat, et unusquisque prae-
fectus unum presbiterum, qui hominibus peccata confitentibus iudicare
et indicare poenitentiam possint."
Vergleichen wir nun damit die spätere Nachricht Walahfrids, so
können wir den Charakter und die Obliegenheiten der capellani in
dieser Zeit mit ziemlicher Deutlichkeit erkennen. Walahfrid sagt:^
„Dicti sunt autem primitus cappellani a cappa beati Martini, quam reges
Francorum ob adiutorium victoriae in proeliis solebant secum habere,
quam ferentes et custodientes cum ceteris sanctorum reliquiis derlei
cappellani coeperunt vocari."
Aus dem Kapitular Karlmanns ersehen wir, daß die capellani
durchaus nur zu der Umgebung des Hausmeiers gehörten. Denn nur
dieser ist unter dem hier genannten princeps zu verstehen, wie die an
der Spitze des Kapitulars stehende Intitulation „Ego Karlmannus dux
et princeps Francorum" beweist. Bei dem Presbyter dagegen, den jeder
praefectus haben soll, fehlt bezeichnenderweise der Zusatz capellanus.*
Die Pflichten der capellani sind augenscheinlich vor allem durch
das voraufgehende sanctorum patrocinia portanda gekennzeichnet. Sie
haben also noch dieselben Obliegenheiten, die ihnen Walahfrid als
ihre ursprüngliche Tätigkeit zuschreibt: Die Fürsorge für die in den
Krieg mitgeführten Reliquien.^ Ob sie darüber hinaus auch noch
^ Vgl. Conc. Matisconense (583) cap. 5 (Concil. I, 156, 23 ff.); Conc. Burde-
galense (663—675) cap. 1 (Concil. I, 215, 18 ff.); Conc. Latunense (673—675) cap. 2
(Concil. I, 218, Iff.).
^ Ducanges Zitat (ed. Favre II 119, 1) ist irreführend; die Stelle „id est
unum etc." ist von dem Vorhergehenden zu trennen und mit dem Folgenden zu
verbinden. Außerdem muß es statt „unum vel duos Presbyteros" (Ducange)
vielmehr „unum vel duos episcopos" heißen.
^ Siehe das Zitat oben S. 12 A. 1.
'* Fälschlich nimmt Hü ff er, Korveier Studien p. 169 f. an, daß es sich um
capellani presbyteri der Bischöfe handele. Auch Wattenbach F, 156 scheint
diese Stelle im Auge zu haben, wenn er sagt: „der Hof . . ., an dessen Bewegungen
und Heerfahrten auch die Bischöfe mit ihren Kaplänen fortwährend sich beteiligen
mußten." Auch er zieht also die capellani fälschlich zu den episcopi.
^ Denn so ist patrocinia zweifellos zu interpretieren. Die Sitte, Reliquien mit
in die Schlacht zu nehmen, begegnet auch sonst in karol. Zeit; vgl. z. B. Miracula
s. Dionysii I c. 21, wo es von Karl dem Großen, als er gegen die Sachsen zu Felde
zieht, heißt: ,,Hic pignora beatorum martyrum secum ferri fecerat, et custodes
clericos, qui secum proficiscebantur, delegaverat, uti eis vicissim sibi succedentibus
debita exhiberetur religio." (Zitat nach Ducange ed. Favre. II 119, 1).
2*
20 Wilhelm Lüders
andere geistliche Funktionen zu erfüllen hatten, wie sie das Kapitular
noch nennt, läßt sich nicht ohne weiteres entscheiden. Wahrscheinlich
ist es; denn soweit die capellani die Priesterweihe hatten, besaßen sie
zweifellos auch das Recht, die Messe zu zelebrieren und Beichte zu hören.
Die Nachricht Walahfrids erfährt also bis zu einem gewissen Grade
ihre Bestätigung durch das Kapitular Karlmanns. Wenn in diesem auch
die capella iY\artins nicht ausdrücklich genannt wird, so erscheinen die
capellani doch wenigstens als die Hüter der Reliquien, die in den Krieg
mitgeführt wurden. 4
Wir haben daher keinen Grund, an Walahfrids Angabe, daß die"
capellani geradezu von der capella Martins ihren Namen erhalten hätten,
zu zweifeln, zumal oben nachgewiesen ist, daß diese in der mero-
wingischen Pfalz eine sehr geachtete Stellung einnahm und auch in
den Krieg mitgenommen zu werden pflegte. Daß ein solches Reichs-
heiligtum eigene Hüter erhielt und diese dann allmählich auch davon
den Namen bekamen, ist ein Vorgang, der alle Wahrscheinlichkeit für
sich hat.
Damit ist die am Anfang aufgeworfene Frage gelöst. Der Zu-
sammenhang zwischen der Martinsreliquie und der späteren karo-
lingischen Hofkapelle ist hergestellt; die Entwicklung liegt klar vor
unseren Augen.
Dieser Zusammenhang ergibt sich aber auch noch durch eine
andere Betrachtungsweise, lediglich aus den Zeugnissen der aus-
gehenden Merowingerzeit, selbst wenn man die Nachricht Walahfrids
ganz außer acht lassen will.
Die capella Martins erscheint, wie wir oben sahen, in der Urkunde
Childeberts vom Jahre 710 im Besitze der Karolinger. Da ist es nun
gewiß kein Zufall, daß auch die beiden Dokumente der ausgehenden
Merowingerzeit, welche die capellani erwähnen, von den Karolingern
ausgehen. So werden wir auch auf diesem Wege auf den Zusammen-
hang zwischen Martinsreiiquie und Hofkapelle geführt.
Aber auch noch einen zweiten nicht minder wichtigen Schluß
können wir daraus ziehen, nämlich in bezug auf die Frage, in welcher '
Weise sich der Übergang von der capella s. Martini zu der Hofkapelle
vollzogen hat.
Die Karolinger sind es gewesen, die den entscheidenden Einfluß
auf die Entwicklung von der Reliquie zur Hofkapelle ausgeübt haben.
Das eigentliche für die Folgezeit fruchtbare Moment in dieser Ent- .
Wicklung ist nicht in der Übertragung der Bezeichnung capella von ]
dem Martinsgewande auf die Pfalzoratorien zu suchen, sondern viel-
mehr in der bewußten Ausbildung, die das karolingische Geschlecht
den capellani gab.
Capeila 21
Die Urkunde Childeberts von 710 nebst den beiden vorhergehenden
Dokumenten, der Urkunde Theuderichs III. und der Formel Markulfs,
und auf der anderen Seite die beiden Zeugnisse von 741 und 742
sind gewissermaßen zwei Phasen, von denen wir auf die dazwischen
liegende Entwicklung der capellani schließen müssen. Dabei ist es
schließlich ohne große Bedeutung, ob die Hüter der capella bereits am
Hofe der letzten selbständigen Merowinger oder erst unter den karo-
lingischen Hausmeiern die Bezeichnung capellani erhalten haben. Wenn
sie wirklich schon unter diesem Namen zu der Zeit der drei Urkunden,
die uns die capella Martins als hochgeehrte Reliquie überliefern, vor-
handen waren, so kann doch ihre Stellung nicht bedeutend gewesen
sein; dieser geringen Bedeutung ist es jedenfalls zuzuschreiben, wenn
sie niemals in den Quellen erwähnt werden.
Der für die ganze fernere Entwicklung der Institution entscheidende
Umschwung trat jedenfalls erst ein, als die Martinsreliquie und damit
auch die sie bedienenden capellani am Ende des 7. oder am Anfange
des 8. Jahrhunderts in die Hand der Karolinger kamen. Diese haben
die Befugnisse der capellani allmählich mehr und mehr erweitert und
sie ganz bewußt zu einem Pfalzklerus, zu ihren Hof- und Feldgeist-
lichen ausgebildet. So wird es verständlich, daß ein capellanus für
würdig gehalten wird, eine Urkunde Karl Martels zu bezeugen, und
daß in dem Kapitular Karlmanns die Aufgaben der capellani näher
umgrenzt werden.
Beachtenswert ist der Zusatz presbyteris, der sich in dem Kapitular
zu capellanis findet. Es bestanden demnach die capellani nicht bloß
aus niederen Klerikern, sondern sie hatten, entsprechend ihrem ge-
steigerten Einfluß, zum Teil auch die priesterliche Würde inne. Aber
ihre Bedeutung ist noch nicht mit der späteren zu vergleichen. Gerade
in dem Kapitular ist der Zusammenhang mit ihren früheren Aufgaben
noch unverkennbar. Noch ist alles im Werden begriffen; von einem
in sich festgeschlossenen Hofinstitute ist noch keine Rede.
Nur auf einen Umstand muß noch hingewiesen werden. Es ist
auffallend, daß nach der Urkunde Childeberts vom Jahre 710 die
capella Martins niemals mehr am karolingischen Hofe erwähnt und
die capellani, abgesehen von der späteren Nachricht Walahfrids, an
keiner Stelle mehr in Verbindung mit ihr genannt werden. Nachdem
sie von jener Reliquie kaum ihren Namen und ihre Stellung erhalten
haben, erscheinen sie kurz darauf bereits völlig von ihr losgelöst. So
sind sie in dem Kapitular Karlmanns nicht mehr Hüter und Bewahrer
der capella Martins, sondern der patrocinia sanctorum überhaupt. Ein
Zusammenhang zwischen ihnen und dem Martinsgewande ist nicht
mehr ohne weiteres aus den Quellen zu erkennen, , sondern muß erst
22 Wilhelm Lüders
durch Kombination aus ihnen heraus bewiesen werden. Diese überaus
schnelle Entwicklung, die sich innerhalb eines Zeitraumes von etwa
dreißig Jahren von der engsten Verbindung bis zur fast völligen Außer-
achtlassung dieser Zusammengehörigkeit vollzogen hat, muß im höchsten
Grade auffallen. Doch dürfte die Lösung dieser Schwierigkeit in der
kirchlichen Richtung der ersten Karolinger zu suchen sein.
Die Hausmeier übernahmen den Kultus desjenigen Heiligen, der
während der merowingischen Herrschaft die Hauptrolle im Franken-
reiche gespielt hatte, den des heiligen Martin, indem sie die Verehrung
seines Gewandes fortsetzten. Auf diese Weise befriedigten sie sowohl
die öffentliche Meinung wie ihr eigenes religiöses Bedürfnis. Die
Übernahme des Kapellakultes ist nur eine Seite der klerikalen Richtung,
die sie einschlugen, so selbständig sie auch sonst in Fragen der Macht
und des Besitzes der Kirche gegenübertreten mochten.
Doch im weiteren Verlaufe bildeten sie die übernommene Institution
insofern weiter aus, als es sich um den darin enthaltenen prak-
tischen Kern, die Ansätze, welche die Ausbildung eines eigenen Pfalz-
klerus ermöglichten, handelte. Die Verehrung des altmerowingischen
Heiligen selbst aber, von dem diese ganze Institution ausging, trat
mehr und mehr in den Hintergrund. Zwar blieb Martin noch immer
ein hervorragender Heiliger der fränkischen Kirche. Er wurde auch
noch immer zu den besonderen Schützern des karolingischen Ge-
schlechtes gezählt,^ wie denn auch das Kloster St. Martin in Tours
noch lange eines der bedeutendsten Klöster im ganzen Frankenreiche
blieb. Aber gerade in der für unsere Erörterung entscheidenden
Zwischenzeit, unter der Regierung Karl Martels, hat Martin anscheinend
eine gewisse Einbuße seiner Machtstellung erlitten. Der Heilige, der
ihn in seinem Einflüsse zurückdrängte, war der h. Dionysius. Welch
ausschließliches Ansehen dieser bei Karl Martel genossen hat, beweist
noch eine Urkunde Ludwigs des Frommen aus dem Jahre 835: Karl
Martel glaubte nur durch die Fürbitte des h. Dionysius seine Herrscher-
stellung erlangt zu haben. ^
^ Vgl. z. B. die Urkunde Karls des Großen für St. Martin in Tours vom April 782
(BM. 250 = DK. 141): „Itherius, abbas de basilica peculiaris patroni nostri sancti
Martini." Danach die Urkunde aus den Jahren 796 — 800 (BM. no. 358 = MG. DK.
no. 195): „Alcuinus, abbas de basilica peculiaris patroni nostri sancti Martini." —
Ebenso BM. 629, 630, 631, 632, 909, 910, 967 etc. Auch Urkunden Karls des Kahlen
(Bouquet VIII p. 451, 452, 453, 482, 500, 502, 572, 574, 576). — Noch kurz vor seinem
Tode besucht Pippin das Kloster St Martins in Tours und bittet ihn, Fürsprecher
seiner Sünden vor Gott zu sein (Cont. Fredeg. SS. rer. Merov. II, 192, 21 ff.)
* BM. 951 (Migne 104, 1326); zuerst ist von der Verehrung der praedecessores,
der merowingischen Könige, für den h. Dionysius die Rede; dann heißt es weiter:
„Progenitores (d. h. die karolingischen tiausmeier und Könige) quoque nostri melli-
Capeila 23
Infolgedessen mußte unter Karl Martel das ausschließliche Ansehen
Martins als Patron des Reiches notwendigerweise eine Einbuße erleiden.
Das übte aber naturgemäß auch auf den Kultus der capella seinen Ein-
fluß aus: man hört in der Folgezeit nichts mehr von ihrer Verehrung
am karolingischen Hofe; Walahfrid spricht davon wie von etwas längst
Vergangenem.
So ist es gekommen, daß die capella s. Martini mit der Zeit völlig
in den Hintergrund trat, und daß die sich bald selbständig weiter-
entwickelnde Hofkapelle gänzlich von ihr losgelöst wurde. Der alte
Zusammenhang zwischen ihr und der Martinsreliquie wurde bald fast
gar nicht mehr beachtet, sondern nur durch eine dünne Tradition not-
dürftig bekannt erhalten.
IL Die Entwicklung der Hofkapelle unter Pippin,
Karlmann und Karl dem Großen
Die Hofkapelle gegen Ende der Regierung Karls des Großen be-
steht, wie aus den Quellen ohne weiteres hervorgeht, aus zwei ver-
schiedenen Elementen. Einmal aus einem persönlichen: die capellani
bilden unter der Leitung des obersten capellanus ein festgeschlossenes
Kollegium, einen von der übrigen Geistlichkeit des Reiches streng ab-
geschlossenen und ein eigenartiges Sonderleben führenden Pfalzklerus,
der auch selbst unter dem Namen capella zusammengefaßt wird. Da-
neben tritt jedoch auch ein räumliches Element in den Quellen deut-
lich erkennbar zutage: die capella ist auch der geheiligte Raum bei
oder in dem Palatium des Königs.
Die folgende Untersuchung wird sich vor allem damit zu be-
schäftigen haben, das Verhältnis klarzulegen, in dem diese Bestand-
teile der karolingischen Hofkapelle zueinander stehen. Doch lasse ich
zunächst die Entwicklung der beiden Elemente für sich folgen.
fluum nomen domini Dionysii (sie enim verbis ac scriptis suis eum appellare con-
suevere) non incongrue pia dilectione et dilectissima pietate amplexi sunt. Quia
proavus noster Carolas princeps Francorum inclytus per orationes ipsius excellentis-
simi martyris indeptum se fuisse gratulatus est apicem principatus, eidemque decurso
mortalitatis tempore, quod charius potuit habere depositum, corpus scilicet proprium,
in magni die iudicii suscitandum et animam Domino praesentandam fideliter cdmmen-
davit, ac per hoc maxime devotionem atque fiduciam cordis sui erga peculiarem
patronum patenter ostendit."
24 Wilhelm Lüders
§1. Die Mitglieder der Hofkapelle |
1. Der oberste capellanus
A. Die theoretischen Erörterungen des 9. Jahrhunderts
Das Amt des obersten capellanus hat bereits bei den Zeitgenossen
lebhaftes Interesse erregt. Bereits im 9. Jahrhundert findet es in
mehreren theoretischen Abhandlungen Erwähnung.
Die für uns wertvollste Darstellung, die des 826 verstorbenen
Adalhard von Corbie, ist leider verloren, und diesen Verlust vermag
auch der Auszug nicht zu ersetzen, den Hinkmar davon in sein 882
verfaßtes Werk „De ordine palatii" aufgenommen hat.^ Dann kommt
Walahfrid Strabo, wenn auch nur mit einigen Worten, in seinem
Werke „De exordiis et incrementis rerum ecclesiasticarum", auf den
obersten capellanus zu sprechen.^ Ausführlicher ist dagegen wieder
die Darstellung Hinkmars von Reims. ^
Alle diese Erörterungen sind für uns insofern sehr interessant,
als wir aus ihnen ersehen, welche Beachtung damals das Amt des !
obersten capellanus fand. Aber andererseits wird man sie doch nur
mit Vorsicht benutzen können, wenn es sich darum handelt, die Ent- |
Wicklung des obersten capellanus genauer zu untersuchen. Gerade
tiinkmar, der die ausführlichsten Angaben bietet, ist doch zeitlich be-
reits zu weit von den Anfängen der Hofkapelle unter Pippin und Karl
dem Großen entfernt; sein Blick mußte dadurch, daß er eine bereits
abgeschlossene Entwicklung vor sich sah, unwillkürlich getrübt werden.
Aber auch sonst tut man gut, seinen Angaben von vornherein mit ]
einigem Mißtrauen zu begegnen; denn auch anderweitig hat er Proben
genug davon abgelegt, daß es ihm, wo seine Interessen im Spiele
waren, auf eine Unwahrheit oder Fälschung nicht ankam.*
Es ist daher angebracht, die Entwicklung des obersten capellanus
zunächst an der Hand der gleichzeitigen Quellen zu untersuchen.
^ Wattenbach T, 303.
2 Cap. 32 (Capit. II, 515).
' De ordine palatii cap. 13, 14, 15, 16, 19, 20, 32 (Capit. II, 522ff.). — Das
Werk richtet sich an die „Ersten des Reiches, welche ihn zu dieser schriftstelleri-
schen Arbeit aufgefordert haben" (v. Noorden, Hinkmar von Reims p. 385), an die
boni et sapientes viri, ad institutionem . . . regis (Karlmann) et ad reerectionem
honoris et pacis ecclesiae ac regni (Capit. II, 518).
* Vgl. das urteil Wattenbachs a. a. 0. p. 303. — Ich meine hier vor allem
den Titel apocrisiarius, den Hinkmar für den obersten capellanus gebraucht. Vgl.
hierüber den Exkurs.
Capeila 25
B. Die Persönlichkeiten der obersten capellani bis zum Tode Karls des Großen
a) Fulrad von Saint-Denis.
Der erste, der die Würde des obersten capellanus^ bekleidete, war
Abt Fulrad von Saint-Denis; er erhielt sein Amt von Pippin.
Diese Maßnahme Pippins wurde von ausschlaggebender Bedeutung
für die gesamte Weiterentwicklung der Hofkapelle; ^ und zwar mußte
sie einen doppelten Einfluß ausüben. Einmal nach innen, insofern als
erst jetzt eine straffe, feste Organisation unter einem Oberhaupte ge-
schaffen wurde und als sich erst jetzt der Pfalzklerus zu einem in sich
abgeschlossenen Kollegium ausbildete; fernerhin aber auch nach außen,
denn eine Institution, an deren Spitze ein so angesehener Geistlicher
wie Fulrad trat, mußte notwendigerweise an Ansehen und Geltung ge-
winnen.
Fulrad führte seitdem den Titel „capellanus",^ aber durchaus nicht
etwa ausschließlich. Im Gegenteil, in den Quellen erscheint er meist
als „abbas", „abbas s. Dionysii'' oder dergleichen. Daneben wird er auch
„presbyter"* oder mit besonders auszeichnendem Titel, der zweifellos
^ Über das Amt des obersten capellanus ist bereits an vielen Stellen vereinzelt
gehandelt. So von Waitz, VG. III, 517ff. und in den Jahrbüchern der deut-
schen Geschichte (die betreffenden Stellen werde ich besonders zitieren); vgl.
namentlich auch Sickel, Wiener SB. 39, 149 und Acta regum et imperatorum Karo-
linorum I, 70 A. 12. — Die Aufzählung, die Hinkmar, De ord. pal. c. 15 (Capit II,
523) von den obersten capellani gibt, ist zuverlässig: . . . ,, tempore Pippini et Caroli
hoc ministerium consensu episcoporum per Fulradum presbyterum, tempore etiam
Caroli per Engelramnum et Hildiboldum episcopos, tempore denique tiludowici per
tiilduinum presbyterum et post eum per Fulconem item presbyterum, deinde per
Drogonem episcopum extitit hoc ministerium executum." — Ich gebrauche im fol-
genden den. Titel „oberster capellanus", um den Leiter der Kapelle von den übrigen
capellani zu unterscheiden; in den Quellen dieser Zeit findet sich noch keine be-
sondere Bezeichnung für dieses sonst deutlich erkennbare Amt.
^ Schon Waitz hat die Tragweite dieser Maßnahme richtig hervorgehoben
(VG. III, 517). Vgl. ferner über Fulrad: Ölsner, Jahrbücher des fränk. Reiches unter
König Pippin p. 13, 38, 421 f., Abel, Karl d. Gr. I. 395; Simson, Karl d. Gr. II (1883)
p. 540ff. Dubruel, Fulrad abbe de Saint-Denis, Colmar 1902, der jedoch p. 26 f. zu
der seltsamen Annahme neigt, daß Fulrad nicht der einzige „Erzkapellan** gewesen
sei, sondern neben sich vielleicht noch mehrere andere, wenn auch weniger be-
deutende „Erzkapellane" gehabt habe. — Waitz (VG. III, 517) sieht den obersten
capellanus als Nachfolger des merowingischen „Vorstehers oder Abts des königlichen
Oratoriums" an; das ist in mancher Hinsicht richtig, aber Waitz treibt doch die
Suche nach Analogien zu weit (vgl. darüber oben S. 14 A. 1); in der Hauptsache
sind Name und Wesen des obersten capellanus rein karolingisch, eher im Gegensatze
zu dem merowingischen Abte denn als dessen Fortsetzung geschaffen.
' Vgl. Waitz, VG. III, 517 A. 3; Simson, Karl d. Gr. II, 540 A. 2-4. '
* Eine Zusammenstellung von Quellen, wo Fulrad diesen Titel führt, bei Simson
a. a. 0. p. 541 A. 1.
26 Wilhelm Lüders
ebenfalls auf seine hohe Stellung als Vorstand der capellani hinweist,^
„archipresbyter" oder gar „Franclae archipresbyter" genannt.
Wann Fulrad die Leitung der capellani erhalten hat, dürfte sich
schwerlich genau bestimmen lassen. Selbst aus den Urkunden, in
denen er erwähnt wird, wird man keinen durchaus sicheren Schluß
ziehen können.
Wir haben im ganzen dreizehn Urkunden Pippins, in denen Fulrad
genannt wird, und zwar aus den Jahren 750 — 768.^ Aus der Haus-
meierzeit stammen nur die drei ersten; die übrigen rühren von Pippin
als König her. In ihnen allen führt Fulrad nur den Titel abbas, abbas
s. Dionysii oder dergleichen. Nur in der Urkunde BM. 109 = DK. 27,
vom 23. Sept. 768, erscheint er als capellanus.^
Die sonstigen Zeugnisse, die ihn als capellanus Pippins erwähnen,
beweisen nichts; so z. B. die Ann. Lauriss. maiores 749* und die Ann.
Einhardi 749 und 755;^ denn da der erste Teil selbst der Annales
Laurissenses keine gleichzeitige Aufzeichnung, sondern jedenfalls erst um
* Das dürfte hervorgehen aus DK. 27, wo capellanus und archypresbiter eng
verbunden und gewissermaßen als dieselbe Bezeichnung erscheinen (s. unten A. 3).
Zusammenstellung bei Waitz, VG. III, 517 A. 3; Simson a.a.O. p. 541 A. 2. —
Dazu kommt noch die zuerst von Kr u seh SS. rer. Merov. I, 465 herausgegebene
Notiz über Pippins Salbung durch Papst Stephan zu Saint-Denis am 28. Juli 754;
bei ihr ist auch „vir venerabilis Folradus archipresbiter et abbas" zugegen. Die
Notiz hat fast urkundlichen Wert, da sie nicht viel später, im Jahre 767, nieder-
geschrieben ist. — Ob Fulrad den Titel „Franclae archipresbiter" den ihm Papst
Hadrian I. beilegt, auch offiziell geführt hat, läßt sich nicht sagen, da er sich
sonst nirgends mehr findet (Simson a. a. 0. p. 541 A. 2).
^ Fulrad wird in folgenden Urkunden Pippins erwähnt:
750 Aug. 17
751 Juni 30
750-751
752 März 1
753 Juli 8
754 Jan.-Juli
755 Juli 29
In DK. 6 steht außerdem in tironischen Noten der Vermerk „Eius rogante Fulrado"
(Tan gl, Archiv für ürkundenforschung I, 90 ff.).
^ DK. 27: „viro venerabili Fulrado capellano nostro sive archypresbitero";
„vir venerabilis Fulradus capellanus noster"; „praedictus Fulradus capellanus noster
sive archypresbiter".
* MG. SS. I, 136 (ed. Kurze p. 8) : „Burghardus Wirzeburgensis episcopus et
Folradus capellanus missi fuerunt ad Zachariam papam." Ähnlich die Ann. Einh. 749
(MG. SS. I, 137 = Kurze p. 9).
° MG. SS. I, 141 (ed. Kurze p. 13): „et Stephanum papam cum Folrado pres-
bytero capellano et non minima Francorum manu Romam remisit." Die Ann. Lauriss.
zu diesem Jahre (MG. SS. I, 138 = Kurze p. 12) nennen Fulrad ohne jeden Titel.
m
. 58
»
59
»
60
»
65 =
DK.
1
„
73 =
»
6
»
76 =
»
7
78 =
»
8
BM. 89 = DK. 12
759 Okt. 30
„ 104= „ 23
766 Juli
,. 107 = „ 25
768 Sept. 23
„ 108 = „ 26
768 Sept. 23
„ 109 = „ 27
768 Sept. 23
„ 110 = „ 28
768 Sept.
I
Capella 27
das Jahr 788 entstanden ist,^ so kann er für unseren Zweck auch
keinerlei Wert beanspruchen. Durchaus ohne Belang ist die Nachricht
der Ann. Enhardi Fuldensis zum Jahre 738, die den Fulrad als „abbatem '^
sancti Dionisii et summum capellanum regis Pippini" bezeichnet;^ denn
ihre fast wörtliche Vorlage ist die Epistola synodi Carisiacensis ad
tiludowicum regem Germaniae directa vom Jahre 858,^ ganz abgesehen
davon, daß die Bezeichnung summus capellanus einer viel späteren
Zeit angehört*
Wir haben also für die Zeit Pippins nur ein sicheres Zeugnis,
welches Fulrad als capellanus bezeichnet, und gerade dieses eine Zeug-
nis befindet sich bemerkenswerterweise unter den allerletzten Urkunden
Pippins, einen Tag vor seinem Tode in Saint-Denis ausgefertigt.^ Dar-
aus wird man nun allerdings nicht schließen dürfen, daß Fulrad den
Titel capellanus und damit die Oberleitung über die anderen capellani
erst zu jener Zeit erhalten habe. Denn auch in den Urkunden BM. 107
(DK. 25) und 108 (DK. 26), die ebenfalls am 23. Sept. 768 ausgefertigt
sind, sowie BM. 110 (DK. 28), die wenigstens sicher aus dem Sept. 768
stammt, führt Fulrad den Titel capellanus nicht. ^ Aber immerhin ist
es doch auffallend, wenn bei einer solchen Anzahl von Urkunden, die
sich noch dazu auf einen Zeitraum von 18 Jahren verteilen, die Be-
zeichnung des Fulrad als capellanus erst so spät hervortritt. Auch /7./) ^
von den übriger! Titeln, die ihn als Leiter der Hofkapelle kennzeichnen, '•
führt keiner über das Jahr 751 hinaus. Zum mindesten wird man
daraus den Schluß ziehen dürfen, daß Fulrad die Oberleitung der
capellani nicht sogleich nach 750, dem Jahre, in dem er zuerst urkund-
lich erwähnt wird, erhalten habe. Mit anderen Worten: es ist als sehr
wahrscheinlich anzusehen, daß Fulrad erst, nachdem Pippin im Jahre 751
das Königtum erlangt hatte, zum obersten capellanus ernannt worden
' Wattenbach \\ 215.
' MG. SS. I, 345.
^ MG. Capit. II, 433, 5ff.: „Fulradum abbatem monasterii sancti Dyonisii et
summum capellanum regis Pippini ad se vocavit." Vgl. SS. I, 345 A. 4; ferner
Ann. Fuld. ed. Kurze p. 4.
^ Ebensowenig kommt natürlich Benedicti Chronicon c.l8 (SS. III, 704) in Betracht.
^ Pippin starb zu Saint-Denis am 24. Sept. 768.
^ Der unterschied in der Titulierung Fulrads in diesen zeitlich so naheliegenden
Urkunden dürfte sich daraus erklären, daß BM. 109 (= DK 27), wo Fulrad als capel-
lanus sive archypresbiter erscheint, eine Urkunde für ihn persönlich ist (Pippin be-
stätigt ihm Güter im Elsaß und Ortenau), BM. 107, 108 und 110 sich dagegen auf
Schenkungen an das Kloster Saint-Denis beziehen. Im ersten Falle kommt daher
das persönliche Verhältnis, in dem Fulrad zu Pippin steht, durch den Titel capellanus
zum Ausdruck; im zweiten Falle ist Fulrad hingegen der offizielle Vertreter des
Klosters, dem die Schenkung gemacht wird; daher der Titel abbas.
h
V
28 Wilhelm Lüders
ist. Ganz unzweifelhaft läßt sich allerdings diese Annahme nicht er-
weisen; doch hat sie, nach den allerdings spärlichen Quellen zu urteilen,
immerhin größere Wahrscheinlichkeit für sich als die entgegengesetzte,
daß Fulrad bereits in der Hausmeierzeit Pippins dessen oberster capel-
lanus geworden sei.-^ Außerdem paßt die ganze Stellung, die Fulrad
als Leiter der capella einnahm, weit eher zu Pippins Königsherrschaft
als zu seinem Hausmeiertume. Denn solange die Karolinger noch Haus-
meier waren, nahmen die capellani die Stellung ein, die wir oben
kennen gelernt haben; sie waren Hof- und Feldgeistliche, mit der
Aufsicht über die Reliquien und der Vornahme der gottesdienstlichen
Handlungen bei Hofe und im Felde betraut, aber noch ohne ein Ober-
haupt, noch nicht unter diesem zu einer festgeschlossenen Gemein-
schaft vereinigt. Erst nachdem Pippin die Königswürde erlangt hatte,
steigerte er auch die Macht seines Pfalzklerus dadurch, daß er ihm in
einem so angesehenen Geistlichen der fränkischen Kirche, wie es Fulrad
war, ein Oberhaupt gab und so dem Institute neue Bahnen wies. Der
erste Schritt zur Bildung eines stolzen und von der bischöflichen Ge-
walt unabhängigen Pfalzklerus war getan. Daß Pippin wohl fähig
war, die ganze Tragweite eines solchen Schrittes zu ermessen und
ihn. mit bewußter Absicht zu tun, beweist die Umsicht und Tatkraft,
mit der er auch sonst seine Kirchenpolitik führte.^
Ob Pippin bei der Bestellung Fulrads zum Leiter der Hofkapelle
die ausdrückliche Eriaubnis der Bischöfe eingeholt hat, ist nicht sicher
verbürgt. Wir besitzen dafür nur das zweifelhafte Zeugnis Hinkmars.^
Schwerer fällt ins Gewicht, daß später Karl der Große bei Fulrads Nach-
folger Hildebald um die Bewilligung der Bischöfe nachgesucht hat.
Aber damals handelte es sich in erster Linie um Entbindung von der
bischöflichen Residenzpflicht; bei Fulrad jedoch, der nur Abt war,
brauchte Pippin eine solche Rücksicht nicht zu üben. Es zwingt uns also
nichts, eine besondere Erlaubnis von selten der Bischöfe anzunehmen.
Fulrad war dann auch der Kaplan Karlmanns, des Bruders Karls
des Großen, wie eine Urkunde vom Jahre 769 für Saint-Denis beweist.^
* So tiahn, Jahrbücher des fränk. Reiches 741 — 752 p. 4, indem er sich auf
die Ann. Lauriss. maiores 749 und die Ann. Einh. 749, ja sogar auf die Notiz der
Einh. Fuld. Ann. 738, auf deren Bedeutungslosigkeit oben hingewiesen ist, beruft.
Ferner M. Tangl, NA. XXXII, 169. Dubruel, Fulrad abbe de Saint-Denis (Colmar
1902) p. 26.
^ Vgl. Hauck, Kirchengesch. Deutschlands II^ Iff.
^ Hinkmar sagt allerdings ausdrücklich „consensu episcoporum" (vgl. oben
S. 25 A. 1), doch ist das bei ihm, der immer ein Verfechter der bischöflichen Autorität
war, ganz abgesehen von der zeitlichen Entfernung, nicht ohne weiteres beweisend.
* BM. 116 (DK. 43): „Fulradus abba seu cappellanus noster."
i
Capella 29
In zwei weiteren Urkunden Karlmanns vom Januar und iV\ärz 769 wird
er nur als abbas bezeichnet.^
Ob Karl während der Regierungszeit seines Bruders einen eigenen
obersten capellanus gehabt hat, ist nicht zu ermitteln; es wird kein
Name genannt. Daß während dieser Zeit etwa Fulrad auch der oberste
capellanus Karls gewesen sei, ist ausgeschlossen. Die Urkunde Karls
für Saint- Denis vom Januar 769, die Fulrad einfach abbas et custos
von Saint-Denis nennt, ^ ist allerdings kein durchschlagender Beweis;
wohl aber die Notiz der Ann. Lauriss. maiores vom Jahre 771; sie läßt
deutlich erkennen, daß Fulrad nur Kaplan Karlmanns war: er wird aus-
drücklich zu dessen Großen gerechnet.^
Erst nach der Abdankung Karlmanns ist Fulrad Karls Kaplan ge-
worden. So nennt er sich selbst in der eigenhändigen Unterfertigung
seines Testamentes aus dem Anfange des Jahres 777 „capalanus".^ In
der Urkunde Karls vom 6. Dezember 777 findet sich dann zum ersten
Male die ausführlichere Bezeichnung „cappellanus palacii nostri",^ die
nun für längere Zeit der offizielle Titel wurde.
Nicht minder bemerkenswert und bezeichnend für die Obliegen-
heiten, die dem obersten capellanus als berufenem Hüter der könig-
lichen Reliquien zufielen, ist die Anrede als „custos capellae", die Alkuin
in Fulrads Epitaph,^ das er wohl bald nach dessen am 16. Juli 784
erfolgten Tode verfertigte, gebraucht.
' B/V\. 117 (DK. 44) und 119 (DK. 46).
' BM. 131 (DK 55).
^ MG. SS. I, 148 (= Kurze p. 32, auch zitiert von Simson, Karl d. Gr. II,
540 A. 4.) : „Domnus rex Carolus venit ad Corbonacum villam, ibique venientes
Wilcharius archiepiscopus et Folradus capellanus cum aliis episcopis et sacerdotibus,
Warinus et Adalhardus comites cum aliis primatibus, qui fuerunt Carlomanni!'
^ M. Tan gl, Das Testament Fulrads von Saint-Denis, NA. XXXII, 210 u. 212;
vgl. ferner a. a. 0. 214. — Das Verhältnis der vier Ausfertigungen, die uns von dem
Testamente Fulrads vorliegen, ist nunmehr durch Tangl a.a.O. 167ff. klargestellt.
Danach ist A am Hofe Karls des Gr. zu Herstal 777 (Jan.-März) ausgefertigt; B, das
früher unter dem Namen des „kleineren Testamentes" ging (so Wirtemb. ÜB. I, 19),
eine „Neuredaktion von A zum Zwecke einer besseren und zutreffenderen topographi-
schen Anordnung des aufgezählten Einzelbesitzes" (Tangl a. a. 0. 189); C ein gleich-
zeitige, auf Befehl Fulrads durch einen Mönch von Saint-Denis niedergeschriebene
Fassung (Tangl a. a. 0. 194, 196); D eine Fälschung vom Ende des 9. oder Anfang
des 10. Jahrhunderts (Tangl a.a.O. 206, 215). A und B sind von Fulrad eigen-
händig unterfertigt (vgl. die von Tangl beigegebenen Faksimiles).
^ B/n. 213 (DK. 118). — Sonst erscheint Fulrad im Texte der Urkunden Karls,
ebenso in den tironischen Noten von DK. 104, 131, 136, 139, 140, 150 (Tangl, Arch.
f. ürkundenforsch. I, 95, 98, 99, 101, 162) stets ohne den Titel capellanus.
^ Alcuini Carm. 92, 2 (Poetae lat. aevi Carol. I, 319):
„Corpore Fulradus tumulo requiescit in isto,
Notus in orbe procul, noster in orbe pater.
30 Wilhelm Lüders
b) Angilram von Metz.
Fulrads Nachfolger als Vorstand der capellanl wurde Bischof
Angilram von Metz.^
Wie eine wenig spätere Mitteilung besagt, gewährte Papst tiadrian I.
Karl dem Großen ausdrücklich das Recht, Angilram zur Erledigung
der Geschäfte, die ihm als oberstem capellanus zufielen, dauernd an
seinem Hofe zu behalten,^ obwohl er nach kanonischem Rechte eigent-
lich an seinen Sprengel gebunden war. Daß Karl für ihn auch noch
die besondere Genehmigung der Bischöfe eingeholt habe, wird nicht
berichtet; es ist jedoch anzunehmen, da diese Maßnahme Karls wenige
Jahre darauf bei Angilrams Nachfolger Hildebald ausdrücklich bezeugt
wird.^
über den Zeitpunkt, an dem Angilram zum obersten capellanus
ernannt wurde, liegen keine genaueren Nachrichten vor. Die früheste
Erwähnung seiner neuen Würde stammt, obwohl sein Vorgänger bereits
am 16. Juli 784 gestorben war, erst vom 11. Juni 788.* Es bleibt
also ein Spielraum von vier Jahren. Ölsner^ nimmt daher an, daß
Angilram erst 787 oder kurz vorher die Leitung der Hofkapelle be-
kommen habe. Doch werden die Verhandlungen mit dem Papste um
die notwendige Entbindung von der Residenzpflicht schon früher im
Gange gewesen sein. Rettberg und Abel^ haben mit Recht darauf
Inclytus iste sacrae fuerat custosque capellae, \
Hie decus ecclesiae, promptus in omne bonum." !
Ob allerdings hierunter ein offizieller Titel zu verstehen ist, bleibt zweifelhaft. In
der Urkunde Karls vom 13. Jan. 769 (BM. 131 = DK. 55) bezieht sich die Stelle „ubi
F. abbas et custos praeesse dinoscitur" auf Saint-Denis, nicht auf die Pfalzkapelle.
Der Titel custos ist sonst erst bei Hildebald nachzuweisen. — Über den Todestag
Fulrads vgl. Simson, Karl d. Gr. II. 541 nebst A. 3.
^ Über Angilram vgl. Rettberg, Kirchengeschichte Deutschlands I, 501f. (hier
jedoch fälschlich Archicapellan genannt); Waitz, VG. III, 518; Abel, Karl d. Gr. I,
395; Simson II, 541; Ölsner, Art. Angilram in der Allg. deutschen Biogr. I, 460.
^ Synod. Francof. c. 55 (Conc. II, 171 = Capit. I, 78) vom Jahre 794: „Dixit
etiam domnus rex in eadem synodum, ut a sede apostolica, id est ab Adriano ponti-
fici, licentiam habuisse, ut Angilramnum archiepiscopum in suo palatio assidue
haberet propter utilitates ecclesiasticas" . . .
' Synod. Francof. 794 c. 55. Siehe unten S. 32 A. 3.
* Allerdings hat es Tangl (Archiv f. ürkundenforsch. I, 106) sehr wahrschein-
lich gemacht, daß wir in den tironischen Noten von BM. 276 = DK. 154 (786 Nov. 5)
lesen müssen: „Ordinante domno rege per Angil[rara]num." Das würde unmittelbar den
Beweis liefern, daß Angilram bereits 786 oberster capellanus war (s. unten Abschn. C),
doch lassen wir dieses immerhin nicht ganz gesicherte Zeugnis hier außer acht.
^ Allg. d. Biogr. I, 460. — Ölsner nennt nämlich fälschlich 787 anstatt 788
als das Jahr, in dem A. zuerst erwähnt wird.
^ Rettberg, KG. I, 502; Abel, Karl d. Gr. I, 395.
Capella 31
hingewiesen, daß Angilram den erzbischöflichen Titel, in dessen Be-
sitze er auch bereits bei jener ersten Erwähnung im Jahre 788 er-
scheint, von Hadrian gerade mit Rücksicht auf seine neue hohe Würde
bei Hofe und gewissermaßen als Höflichkeitsbezeugung gegen Karl er-
halten haben werde. ^ Es ist also anzunehmen, daß Karl bald nach
784 den Angilram bereits zum Leiter der Hofkapelle ausersehen hatte,
und daß dieser bei seinem Aufenthalte zu Rom, höchstwahrscheinlich
im Jahre 785,^ sich sowohl den Dispens von der bischöflichen Residenz-
pflicht wie auch das erzbischöfliche Pallium holte.
Folgende Titel bezeichnen das Amt des Angilram.
In einer Urkunde vom 11. Juni 788 nennt Karl ihn „Mettensis
ecclesie archiepiscopus atque capellanus palacii nostri",^ also mit dem-
selben Titel, den auch Fulrad in der oben zitierten Urkunde Karls vom
6. Dezember 777 führt. In einer anderen Urkunde Karls vom 25. Ok-
tober 788 findet sich eine eigenartige Umschreibung des Titels: „Engil-
rammus archiepiscopus . . ., qui et sanctam capellam palacii nostri
gubernare videtur".^ Ebenso neu ist die Bezeichnung, die Alkuin in
einem Briefe an den Abt Usuald von Monte Amiata, der in die Jahre
794—796, also in die Zeit kurz nach dem Tode Angilrams fällt, ge-
braucht: „Angilramnum archiepiscopum etsanctae capellae primicerium".^
c) Hildebald von Köln.
Nachdem Angilram auf dem Feldzuge gegen die Avaren am 26. Ok-
^ Gerade so erhalten auch die beiden anderen Bischöfe, die später als oberste
capellani erscheinen, Hildebald von Köln und Drogo von Metz, den Titel Erzbischof.
Es ist also sehr interessant zu beobachten, wie der Papst auf diese durchaus fränkische,
ganz außerhalb der hergebrachten kirchlichen Hierarchie stehende Institution Rück-
sicht nimmt und bemüht ist, ihr durch Erteilung des Palliums auch seinerseits eine
höhere Weihe zu geben. Auch Fulrad wurde ja schon vom Papste archipresbyter
Franciae genannt.
^ Diesen Aufenthalt Angilrams erwähnt Alkuin (EE. IV, 134); allerdings steht
das Jahr nicht ganz sicher fest (Hauck IP, 206 A. 3); doch halte ich die Vermutung
Jaffes, der, auf einer Stelle der Capitula Angilramni fußend, zuerst auf 785 hin-
gewiesen hat (EE. IV, 134 A. 4), diesem ganzen Zusammenhange nach für sehr wahr-
scheinlich.
' BM. 294 (DK. 161). — Ebenso Catalogus episc. Mett. (SS. XIII, 306): „Anghil-
rammus archiepiscopus [et palatii capellanus]"; vgl. auch SS. II, 269.
* BM. 298 (DK. 162).
^ EE. IV, 134. — Über den Ursprung des Titels primicerius vgl. Brunn er,
RG. II, 122. — Die übrigen Zeugnisse kommen, teils, weil sie gefälscht, teils, weil
sie erst späteren Datums sind, nicht in Betracht; so z. B. wenn Angilram in der ge-
fälschten Urkunde Ludwigs d. Fr. (BM. 962, angeblich vom 15. Mai 836) „archicapel-
lanus palatii", oder wenn es in den Epistulae ad divortium Lotharii II. regis per-
tinentes no. 9 (EE. VI, 223) heißt: „Engilramnus . . . summus capellanus eius et
apocrisiarius apostolicae sedis in istis regionibus" (vgl. hierüber den Exkurs).
32 Wilhelm Lüders
tober 791 gestorben war,^ wurde Bischof Hildebald von Köln^ mit der
Leitung der Hofkapelle betraut.
Auch bei ihm zogen sich die Verhandlungen mit dem päpstlichen
Stuhle um die Entbindung von der Residenzpflicht anscheinend in die
Länge. Erst auf der Frankfurter Synode von 794 erhielt Karl dann
auch von den Bischöfen die Genehmigung, Hildebald dauernd an seinem
Hofe behalten zu können.^
Gerade wie sein Vorgänger Angilram, bekam auch Hildebald,
zweifellos eben als Leiter der Hofkapelle, vom Papste das erzbischöf-
liche Pallium. In seinem Besitze erscheint er zuerst 795,^ während er
vorher^ und noch auf der Frankfurter Synode von 794^ ausdrücklich
nur als episcopus bezeichnet wird. Er wird also 794 oder spätestens
795 zum Erzbischof ernannt sein.^
Für Hildebald ist die Anzahl der Zeugnisse, die ihn als Leiter der
Hof kapeile bezeichnen, weit größer als für seine Vorgänger. Aus den
Königsurkunden läßt sich die Würde Hildebalds allerdings nicht er-
kennen;^ dagegen wird er sehr oft in den Traditionsurkunden des
^ Ann. Laureshamenses 791 (SS. I, 34). — Simson, Karl d. Gr. 11, 542.
^ Vgl. Waitz, VG. III, 518 A. 2; Simson, Karl d. Gr. II, 542 nebst A. 2.
^ Synod. Francof. c. 55 (Capit. I, 78 = Conc. II. 171): „Deprecatus est et eadem
synodum, ut eo modo, sicut Angilramnum habuerat, ita etiam Hildeboldum episcopum
habere debuisset, quia et de eodem, sicut et de Angilramnum, apostolicam licentiam
habebat. Omnis synodus consensit, et placuit eis eum in palatium esse debere
propter utilitates ecclesiasticas."
* Trad. S. Cass. et Flor. no. 32. — Dieses Traditionsbuch zuerst veröffentlicht
von Perlbach, NA. XIII, 145—170 (vgl. Hauck II, 206 A. 4).
^ Trad. S. Cass. et Flor. no. 14 (787 Okt. 9 bis 788 Okt. 9).
^ S. oben A. 3.
^ Auch die Erhebung Hildebalds zum archiepiscopus war, wie die Angilrams,
in erster Linie zweifellos eine persönliche Auszeichnung, die Karl beim Papste für
den Leiter seiner tiofkapelle erwirkte. Man kann also deshalb nicht ohne weiteres
das Jahr 794 oder 795, wie schon Rettberg, Kirchengesch. Deutschlands I, 540
(R. schwankt allerdings, da er die Trad. S. Cass. et Flor, noch nicht kannte, zwischen
794 und 799) richtig bemerkt, als Entstehungsjahr der Kölner Erzdiözese ansehen.
Diese bildete sich allerdings nach der Frankfurter Synode von 794, auf der die Ein-
richtung von festgeschlossenen Metropolitansprengeln beschlossen wurde, allmählich
aus. Karl wandte jedoch dieser Angelegenheit nur geringes Interesse zu. Man wird
daher den Titel archiepiscopus vor allem als persönliche Auszeichnung für Hildebald
betrachten müssen (vgl. Hauck II, 206 A. 4. 208). — Daß Hildebald auch nach 795
gelegentlich noch episcopus genannt wird, woran Rettberg Anstoß nimmt, kommt
auch sonst bei Erzbischöfen (so z. B. auch gerade bei dem Titularerzbischof Drogo
von Metz) vor und ist ohne Belang.
^ Nur in den tironischen Noten BM. 429 (DK. 206, 807 Aug. 7) heißt es: „Hilde-
baldus episcopus ita firmavit." BM. 295 (DK. 245) mit der Rekognition „Hildibaldus
archiepiscopus Coloniensis et sacri palatii capellanus recognovi" ist Fälschung; der
Capeila 33
Klosters Mondsee und des Stiftes St. Cassius und Florentius in Bonn,
die er von Karl als Dotation erhalten hatte, genannt, so daß wir für
seine Stellung als oberster capellanus zahlreiche Belege besitzen.
In den Traditionen für St. Cassius und Florentius wird er als
Leiter der Hofkapelle zuerst 799 (no. 26) erwähnt, und zwar als „archi-
episcopus et palacii capellanus", ebenso 801 (no. 30) als „episcopus
atque palatii capellanus". Dagegen findet sich in einer Urkunde vom
5. April 804 (no. 12) der Titel „episcopus et sacri pallatii capellanus".
Wir dürfen daraus schließen, daß Hildebald zunächst noch den-
selben Titel wie seine Vorgänger Fulrad und Angilram geführt hat.
iDann aber hat sich, nach der Krönung Karls zum römischen Kaiser
und augenscheinlich unter dem Einflüsse des griechischen Zeremoniells,
das nun auch am fränkischen Hofe mehr und mehr Eingang fand, die
feierlichere Bezeichnung „sacri palatii capellanus" festgesetzt; sie führt
Hildebald in der Folgezeit fsfSt ausschließlich, und man darf sie daher
wohl als offiziellen Titel auffassen.^
Diese Annahme wird durch die Mondseer Traditionen bestätigt.
Auch hier wird er meist, im ganzen siebzehnmal, „sacri palatii capellanus"
genannt, und zwar in Urkunden, die den Zeitraum von 803 — 814 um-
fassen.^ In zwei Urkunden bezeichnet ersieh sogar selbst mit diesem
Titel. ^
Sehr interessant ist auch die Bezeichnung Hildebalds als „archi-
episcopus et sacri palacii inperialis custus",^ die sich, wie der Titel
„archiepiscopus custus capellanus",^ zweifellos ebenfalls auf das Ver-
hältnis zur Hofkapelle bezieht und noch deutlich das Wächteramt über
die königlichen Reliquien, das wir schon bei Fulrad kennen gelernt
haben, erraten läßt. Aber zugleich deutet jener Titel auch an, daß der
Einfluß des obersten capellanus nicht bloß auf rein geistliche Angelegen-
heiten beschränkt war, sondern sich über den ganzen Hof erstreckte.
Versuch tiüffers, Korveier Stud. S. 99 A. 5, sie zu retten, ist keineswegs über-
zeugend. Vgl. Simson, Der Poeta Saxo und der angebliche Friedensschluß zu
Salz (NA. XXXII, 44).
^ Bloß archiepiscopus und capellanus nennt ihn die Vita Leonis III. (Muratori,
SS. rer. Ital. III 1, 198).
^ Traditiones Lunaelacenses (ÜB. des Landes ob der Enns, Bd. 1) no. 11, 14,
21, 30, 36, 48, 51, 58, 72, 86, 95, 101, 102, 103, 107, 110^ 110^ 118.
^ Trad. Lunael. 36: „Hildepaldus divina clemencia archiep. atque sacri palacii
capellanus Lantperhto salutem." Trad. Lunael. 102: „e^o H. archiep. et sacri palacii
capellanus."
* Tr. Lunael. no. 84.
^ Tr. Lunael. no. 68. — Dagegen bezieht sich rector (Tr. Lunael. 14 und 51)
nur auf die Leitung des Klosters, wie Tr. Lunael. no. 59 (Maninseo, ubi H. episcopus
rector esse videtur) klar beweist.
AfU II 3
34 Wilhelm Lüders
Dieser beherrschende Einfluß kommt auch in der Schilderung, die
Angilbert von der Tätigkeit Hildebalds entwirft, klar zum Ausdruck:
„Cur te non memorem, magnae primicerius aulae,
Aaron quippe prius magnus sub Mose sacerdos
In te nunc nostra subito reviviscit in aula.
Tu portas Effoth, sacrumque altaribus ignem,
Ore poli clavem portas manibusque capellae,
Tu populum precibus defendis semper ab hoste." ^
Es kann daher nicht verwundern, wenn Hildebald gelegentlich
geradezu als „sacri palatii archiepiscopus" bezeichnet wird.^
C. Die Stellung des obersten capellanus am Ende der Regierung
Karls des Großen
Das Amt des obersten capellanus wuchs seit seiner Gründung
durch Pippin bis in die letzte Zeit Karls des Großen zu immer mehr
überragender Machtfülle empor. Beim Tode des großen Kaisers hatte
es den Höhepunkt seiner Entwicklung erreicht.
Das läßt sich schon aus den Titeln jener Zeit erkennen. Während
Fulrad anfangs noch den einfachen Titel „capellanus" führt, prägt sich
Hildebalds machtvolle Stellung in den mannigfaltigsten Bezeichnungen
aus; heißt jener bloß „custos capellae", so führt dieser den anspruchs-
vollen Titel „sacri palacii inperialis custus".
Demgemäß waren denn auch die Befugnisse des obersten capellanus
am Ende von Karls Regierung sehr ausgedehnt und bedeutend.^
^ Carm. 2 V. 56—61 (MG. Poetae Carol. aevi I, 361 f.).
^ Concil. Mogunt. 813 praef. (Mansi XIV, 64 = Coric. II, 259). — Co n ring hat
mit unrecht an dieser Bezeichnung Hildebalds Anstoß genommen; er vermutet^ daß
statt archiepiscopus zu setzen sei archicapellanus, oder vielleicht auch archiepiscopus
sacri palatii archicapellanus. Dem hat mit Recht schon Mabillon, De re dipl.
p. 116 widersprochen. Der Ersatz archicapellanus ist unmöglich, da dieser Titel 813
noch nicht vorkommt. Die richtige Erklärung hat jedenfalls Hauck II, 211 A. 1
getroffen, indem er darauf hinweist, daß auch damals noch die erzbischöfliche Würde
in erster Linie als eine „persönliche Auszeichnung" angesehen wurde; man konnte
sie sich also auch damals noch nicht nur in Verbindung mit einem Erzbistum,
sondern auch lediglich in Verbindung mit dem Amte des obersten capellanus, dem
ja Hildebald ursprünglich das erzbischöfliche Pallium zu verdanken hatte, denken
(vgl. oben S. 32 A. 7). Am passendsten dürfte der Titel sich daher mit „Erzbischof
beim Palatium" übersetzen lassen.
^ Vgl. Waitz, VG. III, 522; Bresslau, Handbuch der ürkundenlehre I, S. 295f.
— Auch hier werde ich mich vor allem auf gleichzeitige Zeugnisse stützen ; lediglich
zur Unterstützung werde ich daneben Hinkmars Werk heranziehen.
Capella 35
Das Amt war zunächst noch immer ein rein geistliches. Wie es
seinen Ursprung in der Verehrung einer Reliquie, der capella s. Martini,
hatte, so gehörte auch jetzt noch die Pflege und Bewahrung der könig-
lichen Reliquien zu den vornehmsten Aufgaben des obersten capella-
nus/ Dieser hatte ferner die Oberaufsicht über die gesamte tiofgeist-
lichkeit;^ er war ihr alleiniger Vorgesetzter und Berater. Mit ihrer
tlilfe sorgte er für die Vollziehung der gottesdienstlichen Handlungen
am tiofe,^ wozu auch die Segnung der Speisen vor jeder Mahlzeit ge-
hörte.*
Kann man so sein Amt mit dem eines modernen Oberhofpredigers ^
vergleichen, ging doch andererseits sein Einfluß weit über die rein
geistlichen Angelegenheiten des Hofes hinaus. Auch in Fragen, die
die gesamte fränkische Kirche betrafen, hatte er eine entscheidende
Stimme.
Häufig fand er Verwendung in wichtigen diplomatischen Missionen.
So hatte schon Fulrad großen Anteil an den Verhandlungen, die Pippin
vor und nach seiner Thronbesteigung mit dem päpstlichen Stuhle führte.^
Sein Nachfolger Hildebald war unter den Abgesandten Karls, die den
vertriebenen Papst Leo III. nach Rom zurückführen und die gegen ihn
erhobenen Beschuldigungen untersuchen sollten.'^
Eine noch wichtigere Rolle spielte der oberste capellanus in der
inneren Kirchenpolitik.
Namentlich bei Personalfragen, wie bei der Besetzung von Bis-
tümern und Abteien, übte er einen entscheidenden Einfluß aus; denn
da jene schon zu Karls Zeit häufig mit Mitgliedern der Hofkapelle be-
setzt wurden und er also die in Betracht kommenden Persönlichkeiten
genau kennen mußte, so wird sein Vorschlag vor allen anderen Be-
achtung gefunden haben.
Der oberste capellanus war ferner der Vermittler zwischen der
übrigen Geistlichkeit und der Person des Königs, die offizielle Instanz,
an die zunächst alle kirchlichen Angelegenheiten des Reiches berichtet
^ Vgl. die Titel „custos capellae", „sacri palacii inperialis custus", „archiepis-
copus custus capellanus". — Der Titel „palatii custos" findet sich auch bei Hinkmar
c. 16, 19, 32.
''' Walahfrid, De exordiis et incrementis rer. eccl. c. 32 (Capit. II, 515). Hink-
mar c. 16. unten S. 38 A. 5.
^ Vgl. die Schilderung, die Angilbert von der Tätigkeit Hildebalds entwirft,
oben S. 34.
' Vgl. Waitz, VG. III, 522 A. 1.
^ Der Vergleich bei Bresslau a. a. 0.
® Ann. Lauriss. maiores und Ann. Einhardi 749 (MG. SS. I, 136f.) und 755
(MG. SS. I, 138, 141).
^ Mühlbacher, Deutsche Gesch. unter den Karolingern, S, 199.
3*
36 Wilhelm Lüders
wurden.^ Auf den Synoden hatte er augenscheinlich den Standpunkt
des Königs gegenüber den Bischöfen zu vertreten.^
Infolge dieser weitreichenden und umfassenden Befugnisse des
obersten capellanus hat man begreiflicherweise von jeher die Frage
aufgeworfen, ob er vielleicht auch zu der anderen Zentralbehörde am
karolingischen Hofe, der Kanzlei, in einem amtlichen Verhältnis ge-
standen habe. Diese Frage lag um so näher, als man annehmen
durfte, daß der oberste capellanus, nachdem er dem Könige über
irgendeine kirchliche Angelegenheit oder Schenkung Vortrag gehalten
hatte, nun auch bei der Abfassung der hierüber ausgestellten Urkunden
seinen Einfluß geltend zu machen suchte. Aus dem Texte der Königs-
urkunden dieser Zeit ließ sich allerdings eine solche Stellung des
obersten capellanus zur Kanzlei nicht erweisen, und sie ist daher,
nach dem Vorgange Th. Sickels, noch bis in die jüngste Zeit immer
wieder aufs entschiedenste geleugnet.^ Erst aus den von ihm richtig
entzifferten tironischen Noten glaubt nunmehr Tangl den Vorstand der
Kapelle auch als obersten Leiter der Kanzlei erweisen zu können.^
Am häufigsten sind die Vermerke, die Fulrads Anteil am ürkunden-
wesen erkennen lassen: er erteilt im Namen des Königs an die Kanzlei
Befehle auf Ausfertigung von Urkunden.^ Für Angilram besitzen wir
kein sicher beglaubigtes Zeugnis; doch hat es Tangl sehr wahrschein-
lich gemacht, daß wir ein solches in BM. 276 (= DK. 154) zu erblicken
und hier zu lesen haben: „Ordinante domno rege per Angilramnum".^
Auf Hildebalds Anteil am ürkundenwesen weist hin der sehr be-
zeichnende Vermerk zu BM. 429 (= DK. 206): „Hildebaldus episcopus
ita firmavit";' Hildebald hat also hier unmittelbar an der Vollziehung
der Urkunde teilgenommen. Aus alledem geht, wie Tangl meint, hervor,
daß bereits zur Zeit der ersten Karolinger der oberste capellanus eine
ähnliche Stellung gegenüber der Kanzlei eingenommen hat, wie man
^ Sowohl Walahfrid c. 32 wie Hinkmar c. 19 vergleichen ihn daher sehr
treffend mit dem comes palatii; vgl. auch Hinkmar c. 20.
^ Es ist dafür sehr bezeichnend, wenn Hildebald auf der Mainzer Synode 813
geradezu als „sacri palatii archiepiscopus" bezeichnet wird.
^ Weniger schroff als Sickel ist Bresslau a. a. 0. 296.
^ Archiv für ürkundenforschung I (1907), 87ff., besonders 162ff.
^ Es begegnen dafür ordinäre DK. 104, 139, 140; ambasciare DK. 136; rogare
DK. 6. Ob DK. 150 (wie DK. 131: Folradus abba et Rado) „Fulradus abba' oder
„F. ambasciavif zu lesen ist, läßt Tangl a. a. 0. S. 101 zweifelhaft. — „Ambasciare"
erklärt Bresslau (Der Ambasciatorenvermerk in den Urkunden der Karolinger, Arch.
f. ürkundenf. I, 168ff.) nunmehr als „nuntiare", „referre", d. h. den königlichen Be-
urkundungsbefehl der Kanzlei melden und übermitteln (S. 177).
^ Arch. f. ürkundenf. I, 106. Mühlbacher liest DK. 154: „ordinante domno
rege per . . . virtum".
' Arch. f. ürkundenf. I, 103.
I
Capella 37
sie sonst erst seit Ludwig dem Deutschen für ihn annehmen zu müssen
glaubte.^
Wie dem auch sei, ob wir dem obersten capellanus nicht nur die
m
' Doch vgl. Seeliger, Hist. Vierteljahrsschr. 1908, I, 76 ff. — Gleichwohl wird
an auch jetzt noch — nach den Ausführungen Tangls — , entgegen Sickel (Acta
1, 9, 101; Beitr. z. Dipl. II, Wiener S.-B. 39, 149), Waitz (VG. III, 523f.) und Mühl-
bacher (Deutsche Geschichte unter den Karolingern S. 182), daran festhalten müssen,
daß Archiv und Kapelle nicht identisch waren. Allerdings heißt es Synod. Francof.
C.3 vom Jahre 794 (Capit. I, 74 = Conc. II, 166), daß eine Abschrift der Urkunde,
die Tassilo erhält, „in sacri palatii capella" (vgl. unten II, § 3, 2) niedergelegt
werden soll. Bresslau, ürkundenlehre I, 132 A. 5 hat mit Recht darauf aufmerksam
gemacht, daß nicht das in die Kapelle gebrachte, sondern das in der Pfalz zurück-
behaltene das Archivexemplar war; im übrigen vermag aber auch er diesen nur
vereinzelt überlieferten Fall nicht zu erklären, denn seine Ansicht, daß lediglich
wegen ihrer besonderen Bedeutsamkeit eine Abschrift jener Urkunde in der Kapelle
deponiert sei, befriedigt doch nicht durchaus. Dagegen scheint mir eine Erklärung in
der bekannten Stelle der Vita Hadriani zu liegen, in der Kari d. Gr. das Schenkungs-
versprechen seines Vaters wiederholt: sowohl der König wie der Papst erhalten be-
sondere Ausfertigungen, dagegen entspricht das Exemplar, das Kari selbst am Grabe
des h. Petrus deponiert, genau der in der Pfalzkapelle niedergelegten Urkunde (Vita
Hadriani ed. Duchesne c. 43, auch bei Mirbt, Quellen zur Gesch. des Papsttums*
no. 160; zu dem Gebrauche, Urkunden bei der Confessio s. Petri zu deponieren, vgl,
die Noriz NA. XXXI, 260 no. 65). Es scheint mir daher nicht ausgeschlossen, daß
die uns zum Jahr 794 überiieferte Maßnahme mit der Urkunde Tassilos nichts
anderes als eine bloße Nachahmung des in Rom üblichen Brauches ist. — Ganz
verkehrter Weise gibt Eberl, Stud. zur Gesch. der Karol. in Bayern (Progr. Straubing
1891) S. 38 sacri palatii capella wieder durch „Bibliothek der königlichen Kanzlei".
— Auf die zuerst von Monod (Etudes critiques sur les sources de l'hist. carolin-
gienne I; 1898) ausgesprochene, von Bloch (Gott. gel. Anzeigen 1901; S. 878 ff.) da-
gegen zurückgewiesene Ansicht, daß die einzelnen Erzkapellane von Angilram an
persönlich einen bestimmenden Anteil an der Abfassung der Reichsannalen gehabt
hätten, gehe ich hier nicht näher ein. Nur in einem Punkte möchte ich M. bestimmt
widersprechen und die Ausführungen Blochs unterstützen, um den seiner Ansicht
nach unbestreitbaren, mit dem Jahre 801 einsetzenden Stilwechsel zu erklären,
nimmt M. an, daß Angilbert bis zu diesem Jahre sich mit Hildebald in der Leitung
der Kapelle geteilt und auf die Abfassung der Annalen bestimmend eingewirkt habe.
Schon Bloch hat aus stilistischen Gründen die Unmöglichkeit, bei diesem Jahre einen
Einschnitt zu machen, betont. Aber auch die Hypothese, die M. zur Erklärung
seiner Ansicht anführt, entbehrt jeder Grundlage. Angilbert kann höchstens in den
Jahren 791 bis 794 größeren Einfluß in der Hofkapelle gehabt haben; aber nicht
einmal in dieser Zeit war er ihr offizieller Leiter (s. unten S. 40f.); nichts berechtigt
uns vollends, ihn nach 794 Hildebald als gleichberechtigten Kollegen an die Seite
zu stellen. Monods Versuch, die Reichsannalen auf die Persönlichkeiten der Erz-
kapellane zu verteilen und ihnen einen bestimmenden, vielleicht sogar unmittelbaren
Anteil an ihrer Abfassung zuzuschreiben, ist daher als mißlungen zu betrachten. Nur
soviel wird man sagen können, daß die Reichsannalen in den Kreisen der Hofgeist-
lichkeit entstanden seien. Die Einschränkung, die Bloch (S. 882) macht, wenn er
sagt „in der Hofgeistlichkeit der kaiseriichen Kapelle", halte ich nach dem, was ich
unten S. 39 A. 1 ausgeführt habe, nicht für nötig.
38 Wilhelm Lüders
Funktionen eines „Ministers der geistlichen Angelegenheiten",^ sondern
im besonderen auch die eines „obersten Kanzleichefs" zuschreiben
dürfen: er war vor allem ein Symbol für die kirchliche Politik Karls
des Großen, der sich in dem obersten capellanus ein Gegengewicht
gegen die in der Verbindung mit Rom und in der bischöflichen Macht
schlummernden zentralisierenden Tendenzen geschaffen hatte, ein Amt,
das so gar nicht in den regelmäßigen Bau der kirchlichen Hierarchie
hineinpaßte und das trotzdem auf die kirchlichen Verhältnisse des
weiten Reiches den größten Einfluß ausübte.
2. Die übrigen capellani
A. Die niederen capellani des Königs
Die niederen capellani — capellani minores nennt sie Walahfrid^ —
treten neben dem obersten capellanus naturgemäß mehr in den Hinter-
grund. Sie finden daher auch in den Quellen weniger Beachtung.
Jedenfalls muß man sich das Kollegium der capellani weit größer vor-
stellen, als es den Quellen nach den Anschein hat.
Waren die wenig zahlreichen capellani Karlmanns, nach dessen
Kapitular aus dem Jahre 742 zu urteilen, wohl vorwiegend Presbyter,
so finden sich in der späteren Kapelle alle kirchlichen Grade vertreten.^
In rechtlicher Beziehung waren die capellani von der bischöflichen
Gewalt völlig unabhängig; sie standen lediglich unter dem obersten
capellanus.*
Zu den capellani gehörten zunächst zweifellos alle Kleriker, die
unter der Leitung des obersten capellanus die Reliquien des Königs
zu behüten und die gottesdienstlichen Handlungen in der Pfalz zu ver-
richten hatten. Aber auch darüber hinaus werden zu ihnen überhaupt
alle Geistlichen gerechnet sein, die sich dauernd am Hofe des Königs
aufhielten; zum mindesten unterstanden sie, da sie sonst keinem kirch-
lichen Oberen unterworfen waren, der geistlichen Aufsicht des obersten
capellanus.^
^ So Bresslau, ürkundenl. I, 296; Mühlbacher, Deutsche Gesch. unter den
Karolingern, S. 74.
^ De exordiis et incrementis rer. eccl. c. 32.
' Waitz, VG. III, 526.
^ Das geht vor allem aus der scharfen Polemik hervor, die zur Zeit Ludwigs
des Frommen Wala gegen den Stand der capellani führte, und auf die ich unten
(III, §1, 3) noch zu sprechen kommen werde. — Vgl. Stutz, Gesch. des kirchl.
Benefizialwesens I, 234 A. 90.
^ Hinkmar, De ordine palatii c. 16: „omnem clerum palatii sub cura et dis-
positione sua regebat."
Capeila 39
Ein doppeltes Verhältnis verband daher, falls die oben erläuterte
tiypothese Tangls zutrifft, die Kleriker der Kanzlei mit dem Leiter der
Hofkapelle. Einmal waren sie seine Untergebenen als Geistliche und
andererseits als Beamte der Kanzlei. Aber auch ganz abgesehen davon
kann es nicht verwundern, wenn der Kanzler Karlmanns, /Y\aginarius,
und der Karls, Hitherius, gelegentlich geradezu auch als capellani be-
zeichnet werden.^
Auch der Stand der unteren capellani erforderte bedeutende Männer.
Das läßt sich schon daraus schließen, daß Mitglieder der tiofkapelle
oft bei wichtigen diplomatischen Verhandlungen Verwendung fanden
und vielfach auch zu hohen kirchlichen Würden gelangten.^
Ich stelle im folgenden einige capellani zusammen, die sich in
den Quellen mit Namen belegen lassen, ohne dabei auf Vollständigkeit
irgendwie Anspruch erheben zu wollen. Die Notizen sollen nur den
Zweck haben, eine Vorstellung von der Ausdehnung der Hofkapelle
unter Pippin und Karl dem Großen zu geben und die Funktionen, in
denen ihre Mitglieder erscheinen, zu zeigen.^
Papst Paul I. erwähnt in einem Briefe an König Pippin aus den
^ Zu Maginarius s. unten S. 40. — Beiden Männern hat man den Titel capcl-
lanus absprechen wollen. Die Frage, ob der capellanus Maginarius mit dem
gleichnamigen Kanzler Karlmanns identisch sei, ist von Sickel (Acta Karol. I, 77
A. 1) verneint, von Simson (Karl d. Gr. I, 487, II, 543 A. 2) und Mühlbacher
(MG. DK- I, 61) offen gelassen, nunmehr jedoch, nach dem Vorgange von Waitz
(VG. III, 515 A. 5), durch Tangl (NA. XXXII, 185) auf dem Wege der Schrift-
vergleichung in bejahendem Sinne entschieden. — Damit erledigt sich auch
eigentlich die von Sickel I, 78, 101 und Simson (Karl d. Gr. II, 542 A.5) ver-
neinte, von Waitz (VG. III, 512 A. 2 und 515 A.5) und Bresslau (ürkundenl. I,
276 A. 3) dagegen bejahte Frage, ob der Kanzler Karls, Hitherius, den Titel
capellanus, den ihm die Vita Hadriani (ed. Duchesne c. 42, auch bei Mirbt,
Quellen zur Geschichte des Papsttums^ no. 160) beilegt, zu Recht führe. Nur
den Einwand könnte man erheben, daß Maginarius erst längere Jahre, nachdem er
Karlmanns Kanzler gewesen, als capellanus erscheine und also inzwischen vielleicht
seine Stellung gewechselt habe, Hitherius dagegen, nach der Vita Hadriani, im
Besitze beider Funktionen zu gleicher Zeit erscheine und daher unmöglich capellanus
sein könne. Aber auch dieses Bedenken ist meiner Ansicht nach hinfällig, sobald
man capellanus in dem allgemeinen Sinne als Mitglied der Hofgeistlichkeit faßt; ob-
gleich ich es nicht für ausgeschlossen halte, daß ein Kleriker der Kanzlei gelegent-
lich auch zu den capellani im engeren Sinne, die speziell die Kulthandlungen am
Hofe verrichteten, gehört habe. Vielleicht durch ein gemeinsames Oberhaupt ver-
bunden, werden Kapelle und Kanzlei, unbeschadet ihrer sonstigen Selbständigkeit,
jedenfalls hinsichtlich der in ihnen dienenden Persönlichkeiten nicht immer streng
geschieden gewesen sein. Die jeweilige Verwendung eines Geistlichen in einer der
beiden Behörden wird, wie Tangl (Arch. f. ürkundenf. I, 164) richtig bemerkt, von
dem Belieben des obersten capellanus abhängig gewesen sein.
^ Vgl. die im Text gegebenen Beispiele.
^ Vgl. hierzu namentlich Simson, Karl d. Gr. II, 543—545.
40 Wilhelm Lüders
Jahren 764—766 einen Flaginus eapellanus, der von Pippin als Ge-
sandter an ihn abgeschickt war.^ Ende 781 oder Anfang 782 wird in
einem Briefe tiadrians I. an Karl den Großen der Abgesandte Karls
an den Papst, Maginarius , als religiosus eapellanus bezeichnet;^ auch
sonst wird Maginarius noch öfters genannt,^ allerdings nicht mehr als
eapellanus; nach dem Tode Fulrads im Jahre 784 wurde er dessen
Nachfolger als Abt von Saint-Denis.^ Die Gesta abbatum Fontanellen-
sium erwähnen einen Witboldus, gloriosissimi regis Karoli tum tem-
poris eapellanus;^ er wurde um 786 als Gesandter in der tieirats-
angelegenheit der Prinzessin Rotrud nach Byzanz geschickt; nach seiner
Rückkehr erhielt er das Kloster des h. Sergius bei Angers. Ende 787
oder Anfang 788 bezeichnet tiadrian I. in einem Briefe an Karl den
Großen den auch sonst aus den Verhandlungen zwischen Karl und
Hadrian bekannten Roro als eapellanus,^ sonst kommt dieser Titel bei
Roro nicht mehr vor.
Zu vielen Irrtümern und falschen Auffassungen hat die Stellung
Angilberts in Karls Hofkapelle Anlaß gegeben.' Es muß im Auge be-
halten werden, daß nur in einem Briefe Hadrians an Karl den Großen,
aus dem Frühjahr des Jahres 791, das Verhältnis Angilberts zur könig-
lichen Kapelle unzweifelhaft zum Ausdruck kommt: Hadrian nennt ihn
hier „minister capellae".^ Nur die spätere, von Anscher verfaßte Vita be-
^ Codex Carolinus no. 36 (EE. III, 544). — Dagegen ist der Zusatz zu Ann.
Lauriss. 769 (SS. I, 148): „simulque Launum episcopum eiusdem civitatis, qui fuerat
eapellanus domni Pippini regis patris sui, quem ipse rex Pippinus episcopum fecerat
de ipsa civitate", ohne Wert und zu verwerfen; vgl. Ölsner, Pippin S. 403 A. 3;
Sickel, Acta Karol. I, 70 A. 12.
' Cod. Carol. no. 71 (EE. III, 601).
' Vgl. EE. III. 599, 603, 609, 615, 618, 656.
* Alkuins Epitaph auf ihn Poetae lat. aevi Carol. I, 319.
" SS. II, 291; ed. Loewenfeld (1886) p. 46. Vgl. Simson, Karl d. Gr. II, 543.
' Cod. Carol. no. 80 (EE. III, 612). Vgl. Simson a. a. 0. II, 543 A. 4.
' Vgl. Waitz, VG. III, 518 u. 519 A.l; Abel, Karl d. Gr. I, 320f. Simson,
Karl d. Gr. I, 388. unten S. 44 A. 3.
^ EE. V, 7 (die Datierung nach fiampe, NA, XXI, 100): „Directus a vestra
clementissima praecelsa regalis potentia fidelem familiärem vestrum Angilbertum
abbatem et ministmm capellae, qui pene ab ipsis infantiae rudimentis in palatio
vestro enutritus est et in omnibus consiliis vestris receptus, et ideo, sicut a vobis
in omni familiaritate recipitur, ideoque et a nobis reciperetur et condecenter hono-
raretur." — Die Bezeichnung abbas bezieht sich nicht auf die capella, sondern seit
etwa 790 war Angilbert bereits Abt von Saint-Riquier (EE. V, 7 A. 3). — Der Titel
minister capellae bekundet durchaus nicht eine beherrschende Stellung innerhalb der
Hofkapelle, sondern er ist ähnlich aufzufassen wie Alcuini carm. 26 (Poetae lat. aevi
Carol. I, 245):
„Tu dignos equidem misisti sorte ministros,
Ordinibus sacris iam per loca nota capellae.''
Capeila 41
zeichnet ihn außerdem als „primatem capeilanorum'V doch kommt sie,
da sie erst im 12. Jahrhundert verfaßt ist, nicht in Betracht. Trotz-
dem hat man über Angilberts Würde in der Kapelle die verschiedensten
Vermutungen geäußert. Man hat ihn sogar die Stellung des späteren
Erzkapellans einnehmen lassen; so Mabillon, der glaubt, Angilbert sei
„archicapellanus honorarius" gewesen, und Monod, der ihn für die
Jahre 794—801 dem Erzkapellan Hildebald als gleichberechtigt an die
Seite setzt. ^ Alle diese Mutmaßungen hat bereits Waitz mit Recht
zurückgewiesen.^ In Wirklichkeit wird zwar Angilbert infolge seines
nahen persönlichen Verhältnisses zu Karl,* namentlich als in den
I Jahren 791—794 ihre Leitung vakant war,^ eine sehr einflußreiche
Stellung in der tiofkapelle eingenommen haben, aber offiziell kann sie
nicht über die der übrigen capellani hinausgegangen sein.
Auffallend häufig begegnen capellani in dem erst 788 von Karl
neu gewonnenen Teile des Reiches, in Bayern.
Bereits die letzten Agilolfinger, Odilo und Tassilo, hatten, ohne
Zweifel nach dem Vorbilde des fränkischen Nachbarreiches, ihren Hof-
geistlichen die Bezeichnung capellani gegeben.^ Nach der Einverleibung
werden aber auch Kapellane des fränkischen Königs ziemlich oft in
Bayern erwähnt.
So begegnet uns in einer Passauer Urkunde von 799 ein sonst
nicht weiter bekannter Kapellan Karls namens Rodland.' Er hatte die
Martinskirche in Linz zu Lehen. Da er die Kirche frühestens 788 be-
' SS. XV, 1, 180. — Wattenbach l\ 193.
^ Siehe hierzu oben S. 37 A. 1.
' VG. III, 519 A. 1. — Vgl. Hauck II, 174 f.
^ Karl nennt ihn selbst seinen auricolarius (EE. IV, 135 und 137, beide von 796).
'" Gerade in diese Zeit, 22. Febr. 794, fällt auch der tironische Vermerk zu
BM. 321 ( = DK. 176): „Ercanbaldus advicem Radonis recognovi et subscripsi ipso
iubentae et Angilberto abbate ambassiante."
^ Einen capellanus Odilos, namens ürsus, erwähnen die allerdings erst späteren
Notizen Indic. Arn. VIII 6 (ed. Keinz p. 26): „Tunc quoque ürso capellanus Otilonis
petiit, ut ei ipsas res ex integro daret in beneficium; et ita Otilo fecit et tulit hoc
per vim de monasterio Salzburch," und Brev. Not. Salzb. Villi (ed. Keinz p. 33):
„In peregrinatione Otilonis ducis fuit cum eo quidam presbyter capellanus eins ürsus
nomine." Wenn freilich Stutz, Gesch. des kirchl. Benefizialwesens S. 197 A. 2 daraus
folgert, daß Odilo bereits eine völlig ausgebildete Hofkapelle, in dem Sinne der
späteren karolingischen, gehabt habe, so geht er darin, meiner Ansicht nach, zu
weit; selbst wenn er noch mehr capellani an seinem Hofe gehabt haben sollte, werden
doch deren Funktionen nicht über die der capellani Karlmanns hinausgegangen sein.
— Ein capellanus Tassilos, namens Fater, wird urkundlich (Bitterauf, Die Tradi-
tionen des tiochstifts Freising, Bd. I no. 37, 769 — 777 Aug. 1) erwähnt; er wurde 777
Abt des von Tassilo gegründeten Klosters Kremsmünster.
^ Mon. Boica XXVIlP p. 36: „Rodland capellanus domini nostri regis."
42 Wilhelm Lüders
kommen haben kann und diese andererseits sich 799 schon im Be-
sitze der Passauer Kirche befindet, so ergeben sich ungefähr die
Jahre 788—799, zwischen denen er als capellanus Karls angesehen
werden kann.
Bei den Verhandlungen, die 804 (16. Juni) auf einer Synode zu
Tegernsee über den Zehntstreit zwischen dem Bistum Freising und
dem Kloster Tegernsee geführt wurden, war unter den zahlreichen
Geistlichen auch ein „Perhtratus, presbiter et capellanus domni impera-
toris", zugegen;^ er rangiert in der Urkunde hinter den Bischöfen und
Äbten und dem Archipresbyter Ellanodo, aber vor den übrigen Pres-
bytern, ein Beweis, daß er eben kraft seiner Stellung in der Hofkapelle
höheres Ansehen als diese genoß.
Ist in diesen Fällen die Zugehörigkeit zur fränkischen tiofkapelle
ohne weiteres klar, so kann man in anderen Fällen, in denen sich der
bloße Zusatz capellanus findet, über den Charakter dieser Kapellane
anfangs zweifelhaft sein.^ Aber auch sie können nichts anderes sein
' Bitterauf no. 197 (Mei.chelbeck, tiist. Fris. T no. 121 = Conc. II, 231);
vgl. Pereis, Die kirchlichen Zehnten im karolingischen Reiche (Berl. Diss. 1904)
S. 89 ff.
^ So waren auf einer Synode zu St. Emmeram in Regensburg unter anderen
auch ein „Reginperht cappellanus presbiter" und ein „Wolfheri cappellanus presbiter"
anwesend (Bitterauf no. 197 = Meichelbeck I'' no. 121). In einer zwischen 806
und 810 ausgestellten Urkunde aus Freising (Bitterauf no. 242 = Meichelbeck I**
no. 239) steht unter anderen Zeugen ein „Egino cappellanus", in einer 808 aus-
gestellten (Bitterauf no.284 = Meichelbeck I^ no.241) ein „tiieremias cappellanus".
Ein „capellanus Ascrih" schenkt am 25. Aug. 830 seinen Besitz zu Oberreith der Freisinger
Kirche (Bitterauf no. 600 = Meichelbeck I*" no. 557). — Daß es sich in einzelnen
dieser Fälle um capellani des entthronten fierzoggeschlechtes handelte, ist von vorn-
herein ausgeschlossen; es würde dann sicherlich eine nähere Bezeichnung nicht fehlen.
Es bliebe aber die Frage, ob wir es bereits mit bischöflichen capellani zu tun hätten.
Diese Annahme liegt besonders nahe bei Wago, der in den Jahren 806 bis 830 in
Freisinger Urkunden häufig genannt wird. Er ist zweifellos geborener Bayer; schon
seine Eltern, sein Bruder und sein Oheim haben der Freisinger Kirche Schenkungen
gemacht, er selbst bestätigt und vermehrt sie (Bitterauf no. 465, 523^ 333^ und ^;
nach Bitterauf no. 465 wäre er auch mit dem Wago identisch, der bereits am
12. Aug. 776 (no. 72*^) seinen Besitz an Freising schenkt); er erscheint häufig als
Zeuge (Bitterauf no. 226, 315, 338, 462, 492, 499^ 547^ 572, 591, 594); als Stell-
vertreter der Freisinger Kirche nimmt er einmal die Investitur mit der Kirche ge-
schenktem Besitz entgegen (Bitterauf no. 558); er wird auch zu der familia der
h. Maria in Freising mit hinzugerechnet (Bitterauf no. 315, 462): kurz, er steht
zu den Freisinger Bischöfen im engsten Verhältnis. Gleichwohl kann er nichts
anderes als königlicher Kapellan gewesen sein. Denn wir dürfen für Karls d. Gr.
und Ludwigs d. Fr. Zeit noch keine bischöflichen capellani annehmen; ganz ab-
gesehen davon, daß sich der capellanus eines Bischofs in den Königsurkunden erst
BM. 1542 (879 Mai 10) nachweisen läßt, ist das wichtigste Argument gegen das
Vorhandensein bischöflicher capellani bereits zu dieser Zeit die überaus scharfe
I
Capeila 43
als fränkische capellani, die diesen Titel bei ihrem Aufenthalte am
karolingischen Hofe erhalten haben müssen.^ Andere capellani hat es
zu jener Zeit noch nicht gegeben.
Auch dürfte sich das verhältnismäßig zahlreiche Vorkommen von
Kapellanen in Bayern auf eine sehr einfache Weise erklären. Wie es
sich für den Kapellan Rodland ganz bestimmt nachweisen läßt, so ist
anzunehmen, daß Karl der Große auch sonst das neugewonnene Ge-
biet, in dem ihm viel herrenloses Land zur Verfügung stand, dazu be-
nutzte, um vor allem Mitglieder seiner tiofkapelle mit irgendeinem
[Heiligtum oder Landbesitz auszustatten.^
B. Die capellani der übrigen Mitglieder der karolingischen Familie
Der Gebrauch, daß auch andere Mitglieder der königlichen Familie
außer dem Könige einen oder mehrere Kapellane für sich erhielten,
scheint sich überraschend früh entwickelt zu haben.
Nach einer allerdings nicht sicher verbürgten Nachncht der Gesta
abbatum Fontanellensium^ hätte sogar schon Bertrada, die Gemahlin
Pippins, einen eigenen Kapellan gehabt, nämlich den Gervoldus, den
späteren Abt von Saint-Wandrille.
Als Karls Söhne Pippin und Ludwig im Jahre 781 die Herrschaft
über ein Teilkönigreich bekamen, erhielten sie auch ihre besondern
capellani.
Der Leiter von Ludwigs Kapelle in Aquitanien war Reginpert,
Bischof von Limoges.^
Nach dem Capitulare Papiense Pippins vom Oktober 787 soll der
eine der königfichen Missi, welche die Klöster des italienischen Reiches
Polemik gegen die kaiserlichen Kapellane unter Ludwig d. Fr., deren Hauptträger
gerade die Bischöfe sind; von ihr wird weiter unten noch zu handeln sein.
VSo liegt die Sache offenbar auch bei den drei capellani Adhelricus levita,
Adalbertus Magus und Guntarius, die Alcuin in einem Briefe an Arn von Salzburg
grüßen läßt (EE. IV, 422; die Namen EE. IV, 418).
^ Nach Bitterauf no. 369^ (= Meichelbeck I** no. 340, vom 20. Dez. 816)
stattete Karl d. Gr. auch einen aus Sachsen stammenden Priester mit einem Lehen
in Bayern aus: . . . „ego Sigifrid presbiter de genere Saxorum, . . ., ut domnus
Imperator Karolus beneficium in sua elymosina mihi concessit in Baioaria in eodem
loco supradicto ad Seun" ... — Auch die obersten capellani Angilram und Hilde-
bald erhalten von Karl Dotationen in Bayern, jener Chiemsee (Hauck II, 202 A. 3),
dieser Mondsee (s. oben S. 33).
' Cap. 16 (SS. II, 291. Ed. Loewenfeld p. 45). VgL Waitz, VG. III, 525.
Das Werk ist erst zwischen 834 und 845 verfaßt (Watten bach V, 241).
^ BM. 516 (794 Aug. 3): „In Dei nomine Reginpertus seu indignus vöcatus
episcopus sive cappalanus Ludovico regis Aquitaniorum subs." (Migne 104, 979).
VgL Simson, Ludwig d. Fr. II, 251.
44 Wilhelm Lüders
inspizieren, ein Mönch, der andere bemerkenswerterweise jedoch ein
capellanus sein.^ Bei den Verhandlungen, durch die im Jahre 804 zu
Aibling die königlichen Missi, darunter Arn von Salzburg, einen Streit
zwischen Bischof Atto von Freising und Abt Liutfrid von Chiemsee
entschieden, war auch ein Hludiperht cappellanus Pippini zugegen.^
In den achtziger Jahren war Angilbert der Leiter von Pippins Hof-
kapelle in Italien.^
' Cap. 11 (MG. Capit. I, 199).
' Meichelbeck P no. 120.
^ Diese Annahme ist allerdings sehr umstritten. Sie stützt sich auf die In-
skription eines Briefes Alkuins an Angilbert (EE. IV, 37): „Fideli amico et venerabili
Angilberto primicerio humilis levita Albinus salutem", und auf die ausdrückliche
Überschrift: „Ad Angelbertum primicerium palatii Pipini regis", die sich außerdem
in einigen Handschriften findet. Namentlich Simson, Karl d. Gr. II, 435 A. 6 (schon
vorher weniger schroff Abel, Karl d. Gr. I, 320) hat sich sehr scharf gegen diese
Ansicht ausgesprochen, indem er nachzuweisen sucht, daß die Überschrift, die nur
in zwei Handschriften vorkomme, von denen die eine noch dazu die Kopie der
anderen sei, aus der Inskription (Fideli amico et venerabili Angilberto primicerio)
und dem Inhalte des Briefes, in dem Alkuin den Angilbert bittet, einen nach Rom
reisenden Pilger dem König Pippin zu empfehlen, kombiniert sei. Dagegen hält eine
ganze Anzahl neuerer Forscher an dem entgegengesetzten Standpunkte fest, so nament-
lich Waitz, VG. III, 519 A. 1 und Watten b ach (Allg. D. Biogr. I, 459; Geschichts-
quellen r, 192 A. 1, wo allerdings die Unsicherheit zugegeben wird; eine weitere
Aufzählung von Vertretern dieser Ansicht gibt Simson II, 435 A. 6). AuchHauck
II, 175 A. 5 findet „die von Simson verworfene Ansicht sehr wahrscheinlich", und
seine Gründe sind in der Tat sehr einleuchtend: erhebt hervor, daß jene Handschrift
von Troyes bereits dem 9. Jahrhundert angehöre; ferner hat Angilbert den Titel
primicerius nur in Italien geführt, später in Deutschland jedoch nicht mehr. — Auch
ich muß mich dieser Ansicht anschließen und zwar aus folgendeii Gründen. Selbst
für den Fall, daß die Überlieferung, welche Angilbert als „primicerius palatii Pipini
regis" bezeichnet, unzuverlässig sei, bleibt doch der Titel primicerius bestehen.
Diesen haben wir aber bereits oben als unzweifelhaften Titel des obersten capellanus
kennen gelernt: in dem einen Falle (oben S. 31) gebraucht ihn ebenfalls Alkuin von
Angilram, in dem anderen (oben S. 34) sogar Angilbert selbst von Hildebald. Wenn
die Bezeichnung primicerius für den Leiter der Hofkapelle vielleicht auch keine offi-
zielle war^ so muß sie doch zum mindesten in den Kreisen des Hofes, zu denen
Alkuin und Angilbert gehörten, gebräuchlich gewesen sein. Da nun Angilbert diese
Stellung unmöglich am Hofe Karls bekleidet haben kann, so kann man nicht anders
als jenen Titel auf Italien beziehen: Angilbert muß also in der Tat Pippins Kapelle
zeitweilig geleitet haben. — Die Frage, wann Angilbert die Leitung der Kapelle
Pippins innegehabt habe, läßt sich nicht mit Sicherheit beantworten. Die neue Aus-
gabe der Briefe Alkuins (MG. EE. IV) setzt den Bnef, der Angilbert als primicerius
bezeichnet, allerdings mit einem Fragezeichen, in das Jahr 792; Jaffe (Bibl. rer.
Germanicarum VI, 149) dagegen setzt ihn, wenn auch nicht mit Sicherheit, so
doch zweifellos mit mehr Recht, in die achtziger Jahre (783—785). Denn nach 790,
wo Angilbert außerdem die Abtei Saint-Riquier erhielt, war er nicht mehr dauernd
in Italien, sondern nur zu verschiedenen Malen vorübergehend als Gesandter Karls
am päpstlichen Hofe (über diese Gesandtschaften vgl. Hampe, NA. XXI, 95 ff.). Er
C a p e 1 1 a 45
§2. Der Ursprung und die Entwicklung der königlichen
Pfalzkapellen
Das zweite Element, das neben den capellani das Wesen der karo-
Ingischen Hofkapelle ausmacht, sind die königlichen Pfalzkapellen. Sie
erscheinen in den Quellen weit später als die capellani.
Einen sicheren urkundlichen Belegt für eine Pfalzkapelle vermag
eh zuerst in der Gerichtsurkunde Karls des Großen vom 28. Juli 775
lachzuweisen.^
Es handelt sich um einen Streit zwischen Bischof Herchenrad von
aris und Abt Fulrad von Saint-Denis über den Besitz des Klosters
laisir. Die Entscheidung wird herbeigeführt durch das Gottesurteil
1er Kreuzprobe in der Pfalzkapelle zu Düren. Es heißt in der ür-
lunde: „. . . iobemus emanare iudicium, ut, dum per ipsis strumentis
ie utrasque partis certamen non declaratur, ut recto trhamite ad dei
udicium ad crucem eorum homenis his nominibus: Adelramno de
)arte sancti Dionisii vel Folrato abbate et Corello de parte sancti
Aarie vel sancti Stephani et sancti Germani vel Herchenrado episcopo
ixiere adque stare deberint. Quod ita et in capella nostra recensenda
ehörte damals wieder zu Karls Kapelle, wie die Anrede als minister capellae in dem
>riefe Hadrians aus dem Frühjahr 791 beweist (vgl. oben S. 40 A. 8). Es bleiben
Iso nur die achtziger Jahre für seinen längeren Aufenthalt in Italien übrig (Watten-
ach, Allg. D. Biogr. Art. Angilbert); genauer wird sich jedoch die Zeit nicht be-
timmen lassen. — Die Nachricht, die einen gewissen Ra toi das als „principem
acerdotem" von Pippins Palatium bezeichnet (Ztschr. f. Gesch. d. Oberrh. XXIV, 12),
lalte ich mit Waitz (VG. III, 519 A. 1) für sehr zweifelhaft.
^ Die Urkunden der merowingischen Zeit, welche capellae im Sinne von Oratorium,
lern geheiligten Gebäude oder Raum der merowingischen Pfalzen, anführen, sind
ämtlich gefälscht. Es sind Pertz p. 114 no. 2 (Pard. no. 65), Pertz p. 129 no. 13
Pard. no. 143), Pertz p. 158 no. 40 (Pard. no 276) , Pertz p. 162 no. 44 (Pard.
10. 283), Pertz p. 169 (Pard. no. 378 mit anderem Text), Pertz p. 184 no. 68 (Pard.
10. 362, von Ducange fälschlich als echt zitiert), Pertz p. 192 no. 76 (Pard. no. 395),
•ertz p. 196 no. 82 (Pard. no. 462); Pardessus no. 369.
' BM. 191 (DK. 102, Original im Nationalarchiv zu Paris). — Die Anordnung
er Kreuzprobe findet sich auch in der Fälschung, die Grandidier (Hist. de Stras-
ourg IP, 118 no. 69, daraus u. a. auch bei Migne 97, 954 no. 33) nach der 775
►ez. jedenfalls in Schlettstadt ausgefertigten Gerichtsurkunde Karls (BM. 200 = DK. 110)
urch eine Erweiterung und Übernahme echter örkundenteile aus B/V\. 191 (DK. 102)
ornahm; doch findet sich in der Fälschung die Stelle „in capella nostra" nicht. —
Iber die Kreuzprobe vgl. ferner: Kapitulare Karls vom März 779, cap. 10 (Capit. I,
9); Kapitulare über die Reichsteilung von 806, cap. 14 (Capit. I, 129); Kapitulare
ippins von Italien (Capit. I, 208); auch Capit. I, 268,12; 269,32. Verbot der Kreuz-
robe Capit. I, 279 (cap. 27); vgl. Simson, Ludwig d. Fr. I, 98. Außer an der oben
itierten Stelle ist nirgends mehr ausdrücklich davon die Rede, daß die Kreuzprobe
1 der capella stattfinden solle.
46 Wilhelm Lüders
missa Harnaldo presbitero visi fuerunt stetisse et ea hora protegente
devina dextera dei deus omnipotens suum iustum iudicium decla-
ravit . . ."
Die Bezeichnung capella erscheint also hier bereits an Stelle des
früheren Oratorium, dem wir in merowingischer Zeit begegneten.
Noch etwas weiter zurück, in das Jahr 765, führt vielleicht eine
Nachricht der Vita s. Sturmi des Eigil. Nach ihr soll Sturm, als er
von Pippin aus der Verbannung zurückberufen war, über sein Schicksal
noch im Ungewissen, sich zunächst mehrere Tage in der Kapelle des
Königs aufgehalten haben: „Qui cum adductus ad palatium concite
fuisset, et ibi in capella regis per plures esset dies, Deum orans, ex-
pectans, quid ei rex imperasset, contigit quadam die, ut in venationem
rex pergeret, ac ut solitus erat, ad orationem primo diluculo veniret.
et ceteri servi Dei post vigilias matutinas quiescerent; solus Sturmi
vigilabat, et ingressum regis observans, ianuas ei ecclesiae aperuit, e1
cum claro lumine ad orationem ante eum ibat".^
Was hier unter capella zu verstehen ist, besagt deutlich der gleich
darauffolgende Ausdruck ecciesia: es ist wiederum das Pfalzheiligtum
das als capella bezeichnet wird. Wir dürfen also wohl schließen, dal;
bereits 765 in einzelnen Pfalzen die Heiligtümer den Namen capelk
geführt haben.
Die weiteren Belege für Kapellen in königlichen Pfalzen sind in
8. Jahrhundert äußerst spärlich. Doch aus gewissen Anzeichen geh
hervor, daß ihre Anzahl weit größer war, als man den Quellen nach
erwarten sollte.
Bereits in einer Urkunde aus dem Jahre 783 schenkt Bischo
Awarnus von Cahors an das Kloster Moissac unter anderem auch eir
vom königlichen Fiskus erworbenes Gut im Gau von Toulouse, au
' MG. SS. II, 374,36ff. Vgl. Ölsner, König Pippin S. 390; Hauck II, 6ff
Eigil schreibt allerdings erst beträchtlich später (Wattenbach V, 254), und gerad'
bei der Entwicklung der capellae ist jede zeitliche Differenz deshalb aufs genauestt
zu beachten, weil jene gerade seit der Mitte des 8. Jahrhunderts überaus schnell un
sich gegriffen haben. Aber wie bei seinen sonstigen Nachrichten dürfte Eigil aucl
hier zuverlässig sein. Infolgedessen wird man auch den Ausdruck capella unbedenk
lieh übernehmen können. Stände dieses Zeugnis von einer königlichen Pfalzkapell
für jene Zeit allein da, so müßte man es allerdings mit größter Vorsicht aufnehmen
So aber, wo es durch die oben zitierte Urkunde Karls von 775 bestätigt wird, ver
dient es durchaus die Glaubwürdigkeit, die man ihm auch sonst immer, allerding
ohne jene wertvolle Stütze zu beachten, geschenkt hat. — Zu weitgehend ist jedocl
die Schlußfolgerung von Waitz, VG. III, 525 A. 3, daß Sturm in den Dienst de
Kapelle eingetreten sei; denn das ist in der Stelle Eigils nicht enthalten. Aucl
Ölsner a. a. 0 S. 390 A. 4 hält die Schlußfolgerung von Waitz für verkehrt.
Capeila 47
dem sich eine Peterskapelle befindet.^ Am 3. Januar 791 bestätigt
ferner Karl der Große dem Kloster Kremsmünster im Traungau den
v^on Tassilo geschenkten Besitz, darunter eine Martinskapelle zu Al-
burg im heutigen bayrischen Bezirksamt Straubing.^ Im Jahre 799 ist
die Passauer Kirche im Besitze der Martinskapelle zu Linz, die bereits
frühei ein Kapellan Karls, namens Rodland, zu Lehen gehabt hatte.^
In Italien werden cappellae in einem Kapitular Pippins, das zwischen
301 und 810 erlassen sein muß, genannt.^
Wir finden also die Bezeichnung capella schon früh in weit ent-
legenen Teilen des Reiches, ja sogar auf fremdem Boden, auf den sie
erst durch Übertragung aus den Stammlanden des Frankenreiches ge-
langt sein kann.^ Dies war aber natürlich nur dann möglich, wenn
die Bezeichnung, die man auf fremdes Gebiet übertrug, bereits in der
Heimat weit, verbreitet war. Wir dürfen also, trotzdem die Quellen
nur wenige ausdrückliche Angaben bieten, den Schluß ziehen, daß in
den sechziger, siebziger und achtziger Jahren des 8. Jahrhunderts die
Bezeichnung capella für die Pfalzheiligtümer bereits eine ziemliche Ver-
breitung gefunden hatte.
Sie wird sich allerdings nicht sofort für jedes Pfalzheiligtum fest-
gesetzt haben; man darf auch nicht erwarten, daß nun capella wie ein
Fester technischer Ausdruck unter Ausschluß aller übrigen Benennungen
erscheine. Im Gegenteil, es hat höchstwahrscheinlich in der Bezeich-
nung noch großes Schwanken geherrscht. Aber die Heiligtümer
wenigstens der wichtigeren Königspfalzen werden zeitig neben den alten
Bezeichnungen wohl auch die Benennung capella gehabt haben.
:ti(
^ Vaissette, Hist. de Languedoc (nouv. ed. par Dulaurier) 11,1 p. 50 no. 7
äl (vgl. Stutz, Gesch. d. kirchl. Benefizialwesens S. 335f.): • . . „et alio loco, in ipso
pago Tolosano aliud praedium meum, quod de fisco regali competenti servitio ad-
quisivi, . . . cum capella Sancti Petri sibi coniuncta.'
^ BM. 311 (DK. 169): . . . „et ad Alburc illam capellam in honore sancti Martini
rallconstructam".
Mon. Boica XXVIII \ 36 (der Druck hat einmal fälschlich „quendam capella-
tium" statt „quandam capellam").
* MG. Capit. I, 209 (cap. 7).
^ Das beweist z. B. die oben zitierte Urkunde BM. 311 (DK. 169) für Krems-
oilmünster. Die Urkunde Tassilos vom Jahre 777 (ÜB. des Landes ob der Enns II, 2),
welche durch sie bestätigt wird, nennt die capella ad Alburc noch nicht; es heißt
statt dessen nur: „ad Alpurc ecclesiastica pecuniam, que ibidem adesse videtur, ad
Ipsum predictum monasterium . . . concessi." — Allerdings hätte nach dem Brevia-
jo rium ürolfi (Mon. Boica XI, 14) bereits sogar Odilo dem Kloster Niederaltaich, drei
capellae, nämlich zu Pasuhhinga, Walhinesdorf und Elirespach, geschenkt. Doch
;^ii rührt die Bezeichnung als capella zweifellos erst aus der Zeit ürolfs (799—806) her,
da für die Zeit Odilos selbst im Frankenreiche sich noch keine capellae belegen lassen.
I
48 Wilhelm Lüders
I
Woher stammt nun diese Bezeichnung capella für die Pfalzheili;
tümer?
Eine spätere Nachricht des Walahfrid Strabo läßt, ebenso wie die
capellani, auch die Pfalzkapellen von der cappa oder capella s. Martini
ihren Namen erhalten/ und sie trifft zweifellos das Richtige. Selbst
wenn wir sie ganz außer acht lassen wollen, läßt sich, nachdem
oben auf Grund von gleichzeitigen Zeugnissen ein Zusammenhang
zwischen den capellani und der capella s. Martini nachgewiesen ist,
auch der Zusammenhang zwischen den Pfalzkapellen und der Martins-
reliquie nicht mehr von der Hand weisen. Die Entwicklung von dem
Martinsgewande zu den Pfalzkapellen muß sich, auch wenn die gleich-
zeitigen Quellen ganz darüber schweigen, auf dem Wege vollzogen
haben, den auch Waitz^ und andere neuere Forscher annehmen.
Die capella bezeichnete zunächst nur das Gewand des h. Martin
von Tours, so noch zuletzt in der Urkunde Childeberts III. vom
Jahre 710. Dann aber muß sich die Bezeichnung capella auf die
Reliquiensammlung der karolingischen Hausmeier, in deren Besitz ja
das Martinsgewand übergegangen war, übertragen haben. Noch der
Monachus Sangallensis definiert das Wort capella folgendermaßen:
„Quo nomine Francorum reges propter cappam sancti Martini, quam
secum ob sui tuitionem et hostium oppressionem iugiter ad bella
portabant, sancta sua appellare solebant." ^
Von da war es nicht mehr weit zu einer anderen Verwendung
des Ausdruckes capella. Dieser übertrug sich nicht nur auf die Re-
liquiensammlung, sondern auch auf den zu gottesdienstlichen Hand-
lungen notwendigen Apparat an heiligen Gefäßen, Büchern, Gewändern
und anderen Kostbarkeiten.^
Schließlich wurde der heilige Raum der königlichen Pfalzen selbst
capella genannt. Denn in ihm pflegten die Karolinger ihren Reliquien
schätz, den sie, ebenso wie früher die merowingischen Könige, beständi|
^ Carm. 65, 1 V. 11 (Poetae lat. aevi Carol. II, 407): „quodque domus medio
quae cappae ex nomine dicta est." unter domus ist hier, wie der Zusammenhang,
ergibt, das Gebäude, eben die Pfalzkapelle zu verstehen.
' VG. III, 516. Vgl. oben S. 17 A. 3.
^ SS. II, 732.
^ Karl d. Gr. bestimmt in seinem Testamente (Einhard, Vita Karoli M., SS. II
462): „Capellaniy id est aecclesiasticum ministerium, tam id quod ipse fecit atqui
congregavit, quam quod ad eum ex paterna hereditate pervenit, ut integrum esset
neque uUa divisione scinderetur, ordinavit. Si qua autem invenirentur aut vasa
aut libri, aut alia ornamenta, quae liquido constaret eidem capellae ab eo collat«
non fuisse, haec qui habere vellet, dato iustae aestimationis praetio, emeret et haberet.*
— Diese Bedeutung von capella hat sich das ganze Mittelalter hindurch erhaltet
(zahlreiche Belege bei Ducange).
C a p e 1 1 a 49
mit sich führten/ bei ihrem jeweiligen Aufenthalte in der betreffenden
Pfalz aufzubewahren.
Allerdings kann sich diese Entwicklung nicht zu der Zeit vollzogen
haben, die man bisher gewöhnlich annahm. Giesebrecht spricht ge-
radezu von der Kapelle als dem „geweihten Raum in der Pfalz der
Merowinger",^ und auch Waitz^ scheint dieser Ansicht zuzuneigen
Jene Entwicklung hat aber nicht mehr in der merowingischen Zeit
und am merowingischen Hofe, sondern erst beträchtlich später, unter
den karolingischen tiausmeiern und Königen, stattgefunden. Auf be-
stimmte Jahre wird sie sich allerdings nicht festlegen lassen; als
sichere Grenze nach unten haben wir nur die Urkunde Childeberts III.
vom Jahre 710, in der capella noch nichts anderes als die Reliquie des
h. Martin bedeutet. Aber wenn wir den Charakter der Quellen in Betracht
ziehen, so ist es doch am wahrscheinlichsten, daß die Bezeichnung
capella für die Pfalzoratorien nicht lange Zeit, bevor sie in den Quellen
erscheint, also wohl unter der Regierung Pippins aufgekommen ist.
Vielleicht läßt sich sogar die Gegend, in der diese Übertragung
zuerst stattfand, näher bestimmen. Wenn sich die Karolinger nicht
gerade auf Kriegszügen befanden, hielten sie sich vorzugsweise in den
großen Pfalzen ihres Stammlandes, in der Gegend der mittleren Maas
und dem nördlichen Frankreich auf. Da ist es nun auffallend, daß
auch die beiden zuerst erwähnten Pfalzkapellen, die zu Düren und die
nicht näher bezeichnete der Vita s. Sturmi,^ in diesen Gegenden liegen.
Man darf daraus den Schluß ziehen, daß dort sich auch die Über-
tragung der Bezeichnung capella auf das bisherige Pfalzoratorium am
frühsten vollzogen habe. Hierfür spricht auch schon die einfache Er-
wägung, daß jene Übertragung dort am ehesten und leichtesten vor
sich gehen konnte, wo die Karolinger am häufigsten mit ihren Reliquien zu
verweilen pflegten, und diese Bedingung war gerade in den großen Pfalzen
an der mittleren Maas und im heutigen nördlichen Frankreich gegeben.
§3. Die karolingische Hofkapelle in ihrer Gesamtheit
1. Kapellane und Pfalzkapellen als Bestandteile der üofkapelle
Die Hofkapelle in ihrer Gesamtheit umschließt so gut das persön-
liche Element der capellani wie das räumliche der Pfalzkapellen.
' Vgl. oben S. 19 A. 5.
^ Giesebrecht, Gesch. d. deutschen Kaiserzeit I^, 323 Anm.
' Vgl. Waitz, VG. II 2 ^ 102 (oben S. 14 A. 1).
* Denn auch diese muß in jenen Gegenden gelegen haben, da Sturm aus dem
Kloster Jumieges bei Rouen herbeigeholt wird. Auch nach dem bei BM. für 765 ge-
tf! gebenen Itinerar hat sich Pippin in jenem Jahre in den dortigen Gebieten aufgehalten;
! einen auswärtigen Kriegszug hat er nicht unternommen.
Afü II 4
50 Wilhelm Lüders
Beide Elemente haben ihren Namen von der capella s. Martini
erhalten. Gleichwohl kann man ihre Entwicklung nicht eigentlich eine
gemeinsame nennen; sie bildeten sich vielmehr parallel und unabhängig
voneinander aus. Während die Kapellane vielleicht noch in die mero-
wingische Zeit, sicher aber in die ersten Jahrzehnte des 8. Jahrhunderts
zurückreichen, kam die Bezeichnung capella für die Pfalzoratorien erst
geraume Zeit später auf.
Beide Elemente sind also sehr wohl für sich allein denkbar. Wenn
sie trotzdem in der fiofkapelle eng verbunden erscheinen, so hat diese
Vereinigung fast etwas Zufälliges an sich.
An und für sich steht nichts der Annahme im Wege, daß das ge-
samte Hofinstitut der capella sich allein auf dem rein persönlichen
Elemente der capellani aufbaute. Wir würden dann eine ganz durch-
sichtige und geradlinige Entwicklung vor uns haben und capella sehr
einfach als die „Gesamtheit der fiofgeistlichkeit" ^ definieren können.
Aber diese Definition ist doch entschieden zu einseitig. Wenn
auch in dem persönlichen Elemente der capellani zweifellos das ent-
scheidende, für die Entwicklung der Hofkapelle eigentlich grundlegende
Moment zu suchen ist und die Übertragung der Bezeichnung capella
auf die Pfalzheiligtümer daneben nur eine untergeordnete Rolle spielt,
ohne an und für sich neue rechtliche Verhältnisse zu schaffen, so ist
doch zweifellos auch das räumliche Element, die Pfalzkapelle, ein Teil
der karolingischen Hofkapelle.
Diesen Anteil festzustellen, ist der Gegenstand der folgenden
Untersuchung. Damit hängt eng eine andere Frage zusammen, die
meines Wissens ebenfalls noch nicht gelöst ist, obwohl bereits Ölsner^
sie aufgeworfen hatte: War das Institut der Hofkapelle von vornherein
an eine einzige hervorragende Pfalzkapelle gebunden, oder aber stand
die Vielheit der Pfalzkapellen mit ihm in Verbindung?
2. Die fiofkapelle ohne festen Sitz
Bevor Karl der Große in den neunziger Jahren des 8. Jahrhunderts;
Aachen zu seiner dauernden Residenz machte, war ohne Zweifel ein
fester Sitz für das Institut der Hofkapelle nicht vorhanden; diese war
an kein einzelnes Pfalzheiligtum gebunden.
Hierauf scheinen allerdings Titel wie „custos sacrae capellae" (aus
* Vgl. Giesebrecht, Gesch. d. deutschen Kaiserzeit I^ 323 Anm.; Bresslau,
tiandbuch der ürkundenl. I, S. 295.
' König Pippin S. 390 A. 4.
Capeila 51
dem Jahre 784 oder etwas später),^ „minister capellae" (791),^ „sanctae
capellae primicerius" (794-796),^ oder die Umschreibung „Engilrammus...,
qui et sanctam capellam palacii nostri gubernare videtur" (25. Okt. 788)*
hinzuweisen. Aber man wird sie in derselben Weise interpretieren
müssen, wie z. B. den Titel comes palatii. Gleichwie auch hier auf
die Mehrheit der Pfalzen keinerlei Rücksicht genommen wird, so be-
ziehen sich auch jene nicht auf eine einzige bestimmte Pfalzkapelle,
sondern in ihnen kommt nur die Idee der königlichen fiofkapelle als
eines einheitlichen, in sich festgeschlossenen flof Institutes zum Aus-
druck. Aber diese Einheitlichkeit verkörperte sich, ehe Karl die
Aachener Pfalzkapelle erbaute, nicht in einem bestimmten Pfalzheilig-
tum, sondern in dem Kollegium der capellani unter der Leitung des
obersten capellanus.
Auch schon aus rein sachlichen Erwägungen verbietet sich die
Annahme nur einer Pfalzkapelle als des Sitzes der Hofkapelle während
[der Regierung Pippins und der ersten Periode Karls des Großen. Denn
'eine solche mußte ihren Zweck völlig verfehlen, wenn der König be-
ständig durch lange Kriegszüge ferngehalten wurde oder von Pfalz zu
Pfalz zog, ohne in einer von ihnen dauernd Aufenthalt zu nehmen.
Dagegen war schon damals für jedes Pfalzheiligtum im Prinzip
die Möglichkeit gegeben , wenigstens zeitweilig den capellani als
Wirkungskreis zu dienen. So oft der König eine Villa bezog, fanden
die Geistlichen seiner Umgebung mit ihren Reliquien eben in dem
. Heiligtum der betreffenden Pfalz den Sitz ihrer Tätigkeit. Mochte nun
j dieses Heiligtum die Bezeichnung capella bereits seit früherer Zeit
führen oder sie auch noch nicht bekommen haben: solange die den
, König begleitenden capellani nebst ihren Reliquien in ihm sich auf-
hielten, war es die „capella", die „sacri palatii capella" oder dergleichen;
in ihm verkörperte sich während dieser Zeit das räumliche Element
der Hofkapelle.
In dieser Weise wird man zwei Stellen der Frankfurter Synodal-
beschlüsse von 794 erklären müssen.
An der ersten Stelle ist die Rede von den „clerici qui in capella
regis habitant".^ 794 hielt sich Karl einen großen Teil des Jahres in
' Poetae lat. aevi Carol. I, 319. Vgl. oben S. 29 A. 6.
' EE. V, 7. Vgl. oben S. 40 A. 8.
' EE. IV, 134. Vgl. oben S. 31.
* BM. 298 (DK. 162). Vgl. oben S. 31.
^ Cap. 38 (Capit. I, 77 = Conc. II, 170): „De presbyteris qui contumaces fuerint
contra episcopos suos: nequaquam communicentur cum clericis qui in capella regis
habitant, nisi reconciliati fuerint ab episcopo suo, ne forte canonica excommunicatio
super eos exinde veniat."
4*
52 Wilhelm Lüders
Frankfurt auf; er ist zuerst am 22. Februar, zuletzt am 10. August dort
nachweisbar.^ Mit ihm waren auch die capellani nach Frankfurt ge-
kommen; für die Dauer ihres Aufenthaltes war das dortige Pfalzheilig- '.
tum der Sitz ihrer Tätigkeit und bekam so die Bezeichnung „capella <■
regis".
In demselben Sinne ist auch die zweite Stelle zu interpretieren, i
nach der ein ürkundenexemplar in der „capella sacri palatii" nieder-
gelegt werden soll.^ Auch hier kann nichts anderes als das Frank-
furter Pfalzheiligtum gemeint sein. Die Urkunde blieb hier unter den
übrigen Kostbarkeiten und Reliquien, welche die capellani zu hüten
hatten, so lange verwahrt, bis Karl seinen Sitz nach einer anderen
Pfalz verlegte und die Hofkapelle ihm dorthin folgte.
3. Die Marienkirche zu Aachen als Sitz der Hofkapelle
Einen festen Mittelpunkt ihrer Tätigkeit erhielten die capellani erst,
als Karl der Große Ende der neunziger Jahre in seiner neuen Residenz
zu Aachen mit großer Pracht die Marienkirche erbaute.^
Allerdings ist die Bezeichnung capella, gerade wie für die übrigen
Pfalzkapellen, auch für sie nicht durchgehend. Einhard nennt sie
z. B. in der Vita Karoli nur basilica;* auch der Name ecclesia kommt
vor.^ Aber in ihrem Verhältnis zur Hofkapelle war sie fortan gewisser-
maßen die capella xar h^o^riv. Wenn die Quellen dieser Zeit von der
capella ohne nähere Bezeichnung reden, so verstehen sie darunter aus-
schließlich die Aachener Marienkirche.*'
^ Vgl. BM., Regesten zu 794.
^ Cap. 3 (a.a.O. S. 74): „ünde tres breves ex hoc capitulo uno tenore con-
scriptos fieri praecepit: unum in palatio retinendum, alium praefato Tasiloni, ut
secum haberet in monasterio dandum, tertium vero in sacri palatii capella recon-
dendum fieri iussit." Vgl. oben S. 37 A. 1.
^ Ihren Bau erwähnt das Chronicon Moissiacense zum Jahre 796 (SS. I, 303):
„Ibi firmaverat sedem suam atque ibi fabricavit ecclesiam mirae magnitudinis . . .
et cum magna diligentia et honore ... in ceteris ornamentis ipsam basilicam com-
posuit." — Weitere Stellen siehe bei Simson, Karl d. Gr. II, 557—559, der II, 318
A. 5 die z. B. auch von Kessel (Geschichtl. Mitt. über die Heiligtümer der Stiftskirche
zu Aachen, 1874) S. 4 für wahr gehaltene Legende, daß Papst Leo 804 die Marien-
kirche geweiht habe, zurückweist. Vgl. Rettberg I, 549.
^ So c. 17, 26, 31, 32.
^ Thegani Vita filudowici imperat. c. 6 (SS. II, 591), c. 7. Vita Hludowici des
Astrologus c. 28 (SS. II, 621).
® Vgl. die Stelle des Briefes der Brüderschaft vom Kloster auf dem Ölberge an
Papst Leo III. (809), die sich auf die Anwesenheit eines Mönches des Klosters am
Hofe Karls d. Gr. im Jahre 799 bezieht (EE. V, 65f.): „dum essem ego Leo servus
vester ad sancta vestigia vestra et ad pia vestigia domni Karoli piissimi imperatoris
Capeila 53
So tritt uns am Ende der Regierung Karls des Großen das Wesen
der Hofkapelle vollkommen klar entgegen. In der Aachener Pfalz-
kapelle vereinigten sich sowohl das persönliche wie das räumliche
Element zu dem Hofinstitute der königlichen Kapelle. Seitdem Karl
in seinen späteren Regierungsjahren beständig in Aachen residierte und
hier den Bau der Pfalzkapelle vollendet hatte, war Aachen auch der
ständige Sitz der capellani; hier liefen die Fäden der gesamten In-
stitution zusammen. Die Marienkirche war das Heiligtum, um welches
sich die gesamte Hofgeistlichkeit gruppierte, der Wirkungskreis der
capellani unter der Leitung des obersten capellanus. Hier fanden der
große Schatz an Reliquien,^ den die Karolinger allmählich gesammelt
hatten, und sicherlich auch noch mancher andere kostbare und wich-
tige Gegenstand unter der Obhut der capellani ihren Platz.
Am Ende der Regierung Karls ist die Hofkapelle fertig ausgebildet
in allen ihren Teilen. Als eine starke Sonderinstitution ist sie inmitten
filiique vestri, audivimus in capella eins diel in symbolo fidei" . . ., und weiter unten:
„et niandare digneris domno Karolo imperatori filio vestro, quod nos istum ser-
monem in eius capella audivimus ..." (zu der ganzen Angelegenheit vgl. Hauck II,
331 — 337). — Auch in dem bekannten Gedichte, in dem Angilbert den Hof Karls zu
Aachen schildert, kommt er zweimal auf die capella zu sprechen; so in der (schon
oben S. 34 zitierten) Schilderung des obersten capellanus Hildebald (Poetae lat. I, 361):
„Tu portas Effoth sacrumque altaribus ignem,
Ore poli clavem portas manibusque capellae,"'
und ferner V. 82, wo er dem poetischen Brieflein (cartula V. 72) zuruft :
„Et sie ad sacram citius tunc curre capellam."'
Die Entstehungszeit dieses Werkes ist allerdings nicht ganz sicher. Du mm 1er (Poetae
lat. aevi Carol. I, 357 A. 1) nimmt etwa 795, Wattenbach \\ 195 A. 4 dagegen
800 oder die Zeit bald darauf an. Ich möchte mich Wattenbachs Annahme an-
schließen; denn es handelt sich hier doch ohne Zweifel um die Aachener Pfalz-
kapelle, die 795 noch nicht vollendet war. — Die überragende Stellung der Aachener
Pfalzkapelle läßt auch noch eine Nachricht der Ann. Einhardi 829 (SS. I, 218, ed.
Kurze p. 177) deutlich erkennen; hier wird die „sanctae Dei genitricis basilica"
durch den bezeichnenden Zusatz „quam capellam vocant" näher erklärt.
^ Daß die Kapelle zu Aachen vornehmlich auch zur Aufbewahrung der Reliquien
erbaut war, läßt sich deutlich aus der Urkunde Ludwigs d. Fr. für Korvey ersehen
(BM. 779; 823 Juli 27): „et ad idem coenobium dedicandum ex sacro palatio a capella
nostra misimus venerabiles ac sacrosanctas reliquias beati Stephan! protomartyris";
ferner aus der Urkunde Karls des Kahlen vom Jahre 877 für das von ihm begründete
Marienstift zu Compiegne (Bouquet VIII, 659): „quia divae recordationis Imperator
avus scilicet noster Karolus . . in palatio Aquensi capellam in honore beatae Dei
genitricis et virginis Mariae construxisse, ac clericos inibi Domino ob suae animae
remedium atque peccaminum absolutionem, pariterque ob dignitatem apicis imperialis
deservire constituisse, ac congerie quamplurima reliquiarum eumdem locum sacrasse
... dinoscitur." — Vgl. J. H. Kessel, Geschichtl. Mitt. über die Heiligtümer der
Stiftskirche zu Aachen, Köln u. Neuß 1874, S. 5ff.
54 Wilhelm Lüders
der fränkischen Kirche emporgewachsen, und zwar vor allem auf
Kosten der bischöflichen Macht. Man kann die Stellung der capellani
in gewissem Sinne unter demselben Gesichtspunkte wie die der Geist-
lichen an den Eigenkirchen betrachten. Sie haben, im Grunde ge-
nommen, denselben Ursprung wie diese, nur mit dem bemerkens-
werten unterschiede, daß ihr Wirkungskreis nicht an den Heiligtümern
von Privaten, sondern an denen des Königs war. Auch der Unter-
schied besteht zwischen den capellani und den gewöhnlichen Eigen-
kirchenpriestern, daß jene nicht an eine bestimmte Kirche gebunden
waren, sondern unter ihrem obersten capellanus dem Könige von Pfalz
zu Pfalz folgten, bis sie endlich in der Marienkirche zu Aachen ihr
Hauptheiligtum erhielten. Aber im übrigen sind die capellani doch
eine dem Eigenkirchenwesen sehr verwandte Erscheinung. Ebenso wie
die an den Privatkirchen angestellten Priester bildeten auch sie eine
von der Macht der Bischöfe unabhängige Geistlichkeit;^ sie standen
daher zu dem Episkopate des Reiches in demselben Gegensatze wie
jene. Auch die capellani befanden sich zu ihrem Herrn, dem König,
in einer Art von persönlichem Abhängigkeits- und Treueverhältnis;
Walahfrid vergleicht sie daher nicht unpassend mit den weltlichen
Vasallen des Königs.^
Als dann Karl der Große die Verhältnisse der fränkischen Eigen-
kirchen und der an ihnen angestellten Geistlichen regelte und ihre
Macht wesentlich verringerte,^ ließ er die Sonderstellung seiner Hof-
kapelle unangetastet. Er war nicht gewillt sich dieses Institutes, das
für das Leben seines Hofes, ja seines gesamten Reiches so außer-
ordentlich wichtig geworden war, zu berauben. Im Gegenteil, er
steigerte noch beständig den Einfluß sowohl des obersten Kapellans
wie auch der niederen Kapellane. Wohl mag sich daher bei manchen
Bischöfen schon unter seiner Regierung eine starke Mißstimmung ge-
regt haben; aber zu einem offenen Ausbruche des Gegensatzes kam
es unter ihm noch nicht.^ Es kennzeichnet Karls kluge und scharfe
^ Stutz, Geschichte des kirchlichen Benefizialwesens S. 234 A. 90. — Vgl.
oben S. 38 A. 4.
^ De exord. et increm. rer. eccl. c. 32 (Capit. II, 515): „Cappellani minores ita
sunt, sicut hi, quos vassos dominicos Gallica consuetudine nominamus." — Ob aller-
dings in dieser Zeit sich schon ein förmliches Vasallitätsverhältnis zwischen den
capellani und dem Könige herausgebildet hat, ist wohl fraglich. Später muß es
jedoch häufig vorgekommen sein (so Libellus proclamat, Caroli Calvi reg. adv.
Wenilonem archiep. Senonensem cap. 1, Capit. II, 451). Vgl. Brunner, RG. II, 56.
' Stutz S. 223ff.
^ Maaßen, Glossen des kanonischen Rechts aus dem karolingischen Zeitalter,
Wiener S.-B. 84 (1876), 246. Stutz S. 234 A. 90.
Capeila 55
Konflikte vermeidende Art, daß er bei der Ernennung des obersten
Kapellans auch den Bischöfen eine gewisse Mitwirkung einräumte; so
bedeutungslos diese in Wirklichkeit auch gewesen sein wird, so blieb
doch immer ein gewisser Schein von Einfluß den Bischöfen in dieser
Frage gewahrt. Zum offenen Kampfe der übrigen Geistlichkeit gegen
die capellani sollte es erst unter Karls schwachem Nachfolger Ludwig
dem Frommen kommen.
III. Die Hofkapelle unter Ludwig dem Frommen
und seinen Söhnen bis zur endgültigen Vereinigung der
Ämter des archicapellanus und des obersten cancellarius
im Ostfrankenreiche
§ 1. Die Mitglieder der Hofkapelle unter Ludwig dem Frommen
1. Die Erzkapellane
A. Hilduin von Saint-Denis.
In den ersten Jahren Ludwigs des Frommen^ wurde die Hof-
kapelle noch von Hildebald geleitet. Er führte dem Anscheine nach
bis zu seinem Tode den Titel „sacri palatii capellanus", den er bereits
unter Karl innegehabt hatte.^
Als Hildebald am 3. September, wahrscheinlich des Jahres 818.
gestorben war,^ folgte ihm als Leiter der Hofkapelle der Abt Hilduin
^ Vgl. namentlich Simson, Ludwig d. Fr. II, 232ff.; Sickel, Acta regum et
imperatorum Karolinorum I, 70 A. 12. — Die Aufzählung der obersten capellani bei
tiinkmar, De ordine palatii c. 15 s. oben S. 25 A. 1. — Über die Fabel, welche
Einhard als tiofkapellan Karls d. Gr. und Ludwigs d. Fr. nennt, vgl. Simson a. a. 0.
1, 348 A. 9.
* Trad. Lunaelacenses 110^ (ÜB. des Landes ob der Enns, Bd. l) v. Jahre 814.
— Daß auch Hildebald bereits den Titel „archicapellanus sacri palatii", den ihm die
Vita Hludowici imp. c. 26 (SS. II, 620) zum Jahre 816 zuschreibt, geführt habe, ist
ausgeschlossen; denn Hilduin führt diesen Titel, wie die Urkunden zeigen, erst seit
825, vorher jedoch nur den Titel ,,summus capellanus".
^ Vgl. Simson a.a.O. S. 232, der die Annahme Sickels I, 70 A. 12, daß
Hildebald erst im Sept. 819 gestorben und sein Amt, in dem schon am 1. Mai 819
Hilduin erscheint, noch vor seinem Tode niedergelegt habe, zurückzuweisen sucht.
Allerdings weichen die Quellen in der Angabe des Todesjahres voneinander ab, doch
scheint auch mir, wie Simson, die Nachricht der Ann. S. Petri Coloniensis den' Vor-
zug zu verdienen. Für 819 auch Hauck II, 789. Wattenbach T, 315 läßt es
zweifelhaft.
k
56 ■ Wilhelm Lüders
von Saint- Denis. Unter ihm prägte sich die beständig zunehmende
Macht des obersten capellanus durch zwei neue Titel aus. Gleich in
der ersten Urkunde, in der er nach seinem Amtsantritt zu belegen ist,
heißt er „summus sacri palatii capellanus", wozu dann bald der Titel
„sacri palatii archicapellanus" oder bloß „archicapellanus" tritt. Dieser
plötzliche Übergang ist schwerlich nur aus einem Wechsel im Ge-
brauche zu erklären; die beiden neuen, so unvermittelt auftretenden
Titel müssen von vornherein einen offiziellen Charakter getragen haben;
vielleicht beruhen sie sogar auf einer direkten Verleihung des Kaisers.
Kurze Zeit hindurch gehen beide Benennungen nebeneinander her,
aber in der letzten Hälfte von Hilduins Amtszeit findet sich ausschlief
lieh der Titel „sacri palatii (nostri) archicapellanus'', wie sich deutlicn
aus den Kaiserurkunden ersehen läßt.^
Auf die zahlreichen Stellen in anderen Quellen, die Hilduii
Stellung als Leiter der Hofkapelle erkennen lassen, einzugehen, ist
überflüssig.'^ Er wird, wie in den Kaiserurkunden der letzten Zeit
seiner Amtsführung, meist als „archicapellanus" bezeichnet.^ Wenn ihn
Agobard von Lyon in einem Briefe aus dem Jahre 826 „sacri palatii
antistes" nennt,* so ist dies natürlich nur als feierliche Anrede, nicht
^ Als sacri palat
n summus ca}
S. 233 A.l):
BM. 691
819 Mai 1.
„ 727
820 Sept. 27
„ 729
820 Okt. 22
„ 746
821 Nov. 6
„ 747
821
BM. 782
823 Aug. 29
„ 796
825 Juni 3
„ 803
819—825
„ 804
823-825
Als archicapellanus erscheint Hilduin:
BM. 794 825 Jan. 3.
Dann aber findet sich in den letzten Amtsjahren nur noch die Bezeichnung
sacri palatii (nostri) archicapellanus:
BM. 844
827 Nov. 10
BM. 848
828
„ 846
828 Febr. 26
„ 857
829 Jan. 13.
„ 847
828
Obwohl Sickel L. 260 auch die Urkunde BM. 857 verzeichnet, gibt er dochj
1, 71 A. 12 die Urkunde L 255 = BM. 846 irrig als die letzte an, in welcher Hilduin ;i
als Erzkapellan genannt wird. — BM. 683 (angeblich 819 Febr. 13) und 842 (angeb-
lich 827 Aug. 4) sind gefälscht.
^ Vgl. Simson, Ludwig d. Fr. II, 233 A.l.
^ So bei Walahfrid, De imagine Tetrici (vom Jahre 829, Poetae lat. aevi
Carol. II, 376); ebenso in einem Briefe Hrabans an Hilduin aus dem Jahre 829 (EE
V, 402): Hildvino abbati et sacri palatii archicapellano; vgl. auch Thegan, Vita
Hludowici imp. c. 36 (SS. II, 597) zum Jahre 830.
* EE. V, 179.
Capella 57
aber als offizieller Titel zu verstehen; ebenso die gelegentlich für ihn
vorkommende Bezeichnung „magister ecclesiasticorum".^
Hilduins Einfluß bei Hofe und auf die Person des schwachen
Kaisers war außerordentlich groß.
Aber trotz des engen Verhältnisses, in dem er zu Ludwig stand,
wurde auch er, gleich manchen anderen hervorragenden Geistlichen
des Reiches, durch die Bestrebungen der Kaiserin Judith allmählich in
die Opposition gedrängt; er nahm im Jahre 830 an der Empörung
gegen seinen Herrn teil. Infolgedessen verlor er auf dem Reichstage
zu Nymwegen 830 sein Amt als Erzkapellan und erhielt es auch nicht
zurück, als sich seine Beziehungen zu Ludwig sehr bald wieder besserten.^
B. Fulko.
Hilduins Nachfolger als Erzkapellan wurde Fulko.
über seine Persönlichkeit sind wir sehr mangelhaft unterrichtet.
Hinkmar^ nennt ihn presbyter. Er war zweifellos Abt; aber ob er mit
einem der Äbte dieses Namens, denen von St. Wandrille, St. Hilaire,
Jumieges, St. Remi, identisch gewesen ist, oder ob es sich vielleicht gar
in allen Fällen um dieselbe Person handelt, läßt sich nicht entscheiden.^
^ Lupi abbatis Ferrariensis epistolae no. 110 vom Jahre 853 (EE. VI, 94); vgl.
Waitz, VG. III, 519 A. 2. — Daß Hilduin auch den Titel abbas sacri palatii geführt
habe, wie Waitz und andere (vgl. Pustel de Coulanges, Les transformations de la
royaute pendant l'epoque carolingienne, p. 332 A. 1; vgl. auch SS. rer. Merov. IV,
563 A. 4) annehmen, halte ich nicht für zutreffend. Sämtliche von Waitz, VG. III,
519 A. 2 angeführten Beispiele sind meiner Ansicht nach in der Weise zu erklären,
daß sich die Bezeichnung abbas nicht auf den Palast, sondern auf die Klöster, die
tiilduin von Ludwig d. Fr. übertragen waren, besonders auf Saint-Denis bezieht. In
der Urkunde bei Mansi XIV, 634 (Mabillon, De re dipl., p. 518): abbatem sacrique
palatii conspicuum archicappellanum, gehört sacri palatii nur zu archicapellanum, in
der Lücke vor abbatem muß jedoch das Kloster, zu dem dieser Titel gehört, aus-
oefallen sein, das noch erkennbare . . . erii dürfte zu Eleutherii oder monasterii (vgl.
BA\. 905) zu ergänzen sein; Sickel, Acta I, 71 A. 12 bezieht übrigens diese Stelle
fälschlich auf Fulko. Ebenso erkläre ich die Stelle aus Hinkmar, epist. de s. Dionysio
(Mabillon, Analecta, ed. 2, p. 212): Hilduini abbatis sacri palatii clericorum summi,
indem ich abbatis für sich nehme und, wie es kaum anders möglich ist, sacri palatii
clericorum summi miteinander verbinde; vielleicht ist das et, welches Ducange nach
palatii einschieben will, nach abbatis zu setzen oder es ist zu lesen abbatis sacrique
palatii clericorum summi, wie z. B. BM. 782 ganz ähnlich lautet: Hildoinus abbas
sacrique palatii nostri summus capellanus (Migne 104, 1022), vgl. BM. 796 (abbas
et sacri palatii summus capellanus), 848; auch Flach, Les origines de l'ancienne
France III, 460 scheint die Stelle ähnlich zu erklären, wenigstens spricht er von dem
summus clericorum palatii.
' Vgl. Hauck II, 495ff.; Simson, Ludwig d. Fr. I, 335, 351, 361; II, 3,. 9.
^ De ordine palatii c. 15.
* Vgl. Hampe, Zur Lebensgesch. Einhards, NA. XXI (1896), 617 A. 4. — Sickel,
Acta I, 71 A. 12 und Funck, Ludwig d. Fr. S. 150, 267f. halten ihn, nach der ge-
58 Wilhelm Lüders
Auch in den beiden Kaiserurkunden, die Fulko nennen, führt
keinerlei Titel/ Wir würden also daraus nicht einmal ohne weiten
sein Amt als Erzkapellan folgern dürfen. Doch nennt ihn Hinkm;
auf das bestimmteste in der Reihe der anderen Erzkapellane.
Mit der Gefangennahme Ludwigs auf dem Rotfelde am 30. Juni 8c
und der hierauffolgenden Auflösung des kaiserlichen Hofhaltes hat
auch das Amt des Fulko sein Ende erreicht. Möglich, daß er, w
SickeP annimmt, formell erst zurücktrat, als sich der Kaiser mit di
bischöflichen Partei wieder aussöhnte.
C. Drogo von Metz.
Als Ludwig am 1. März 834 zu Saint-Denis feierlich in seine alte
Stellung wieder eingesetzt war, wählte er den Bischof von Metz, seinen
Halbbruder Drogo, der in allen Gefahren treu zu ihm gestanden hatte,
zu seinem Erzkapellan.
Urkundlich ist Drogo erst seit dem 8. Januar 836 in seiner neuen
Stellung nachzuweisen.^ Es läßt sich daher nicht mit Bestimmtheit ent-
scheiden, ob seine Einsetzung zum Leiter der Hofkapelle bereits 834^
oder erst 835^ erfolgt ist; das wahrscheinlichere ist wohl 835.
wohnlichen Ansicht, für den Abt von Jumieges. Doch vgl. Simson, Ludwig d. Fr.
I, 361 A.2; II, 305. — Den Abt Fulko von St. Hilaire in Poitiers (vgl. Cham pol lio n-
Figeac, Documents historiques inedits III, 417: Fulco venerabilis ex sancti Hilarii
coenobio abbas, Urkunde Pippins I. vom Jahre 827) hält man, zufolge einer Nach-
richt der Transl. s. Juniani zum Jahre 830 (Mabillon, AA. SS. ord. s. Benedict!
IV, 1, 433), auch für den Erzkapellan Pippins I. von Aquitanien (vgl. Simson I,
361 A. 2; II, 192 A. 7); vielleicht nicht mit unrecht, denn der im Jahre 834 als Abt
desselben Klosters erscheinende Bischof Fridebert von Poitiers (s. unten III § 2, 2) wird
gleichzeitig als Leiter von Pippins Kapelle bezeugt. Da demnach Fulko damals nicht
mehr Abt in Poitiers war, so steht wenigstens zeitlich nichts der Annahme im Wege,
daß wir in ihm auch den Erzkapellan Ludwigs d. Fr. und den späteren Abt von
St. Remi zu erblicken haben. — Mühlbacher Reg. (1889) p. LXXXVI spricht übrigens
fälschlich von dem „Erzbischof" Fulko von Reims; der Abt Fulko von St. Remi ver-
waltete allerdings nach Ebos Absetzung 835 das Erzbistum Reims, ohne jedoch die
bischöfliche Weihe erhalten zu haben (vgl. Werminghoff, NA. XXV, 372); auch
Chorbischof war er nicht (vgl. Schrörs, Hinkmar von Reims, S. 36 A. 42).
^ BM. 921 (833 April 4) und 925 (833 Juni 10). In den tironischen Noten der-
selben Urkunden erscheint er ebenfalls ohne Titel, mit impetravit bzw. impetraverunt
(Tangl, Archiv f. ürkundenf. I, 124, 126; Bresslau, ebenda S. 181 ff.).
^ Acta I, 71 A. 12; schon vorher Funck, Ludwig d. Fr., S. 150, der S. 265 no. 2
den Fulko mit dem Phasur identifiziert, welchen Paschasius Radbertus V. Walae
c. 16 (SS. II, 562) 833 als Hauptanhänger des Kaisers und Gegner des Papstes und
der Söhne Ludwigs nennt.
' In das Jahr 835 gehört vielleicht ein von den Magdeburger Centuriatoren
erhaltenes Exzerpt eines Briefes Hrabans von Fulda, in dem Drogo als summus
capellanus bezeichnet wird (EE. V, 520); doch läßt es sich nicht genauer bestimmen.
* So Funck, Ludwig d. Fr., S. 150; Sickel, Acta I, 70 A. 12, 97.
' So Simson, Ludwig d. Fr. II, 233.
Capeila 59
Drogo erscheint in den Kaiserurkunden zweimal mit dem Titel
,sacri palatii archicapellanus'V einmal findet sich daneben die Bezeich-
nung „sacri palatii summus capellanus".^ Auch in anderen Quellen wird
r gewöhnlich „archicapellanus", seltener „summus capellanus" genannt.^
Gleichwie die beiden Bischöfe, die schon vor ihm die Hofkapelle
geleitet hatten, Angilram und Hildebald, erhielt auch Drogo das erz-
bischöfliche Pallium als persönliche Auszeichnung, wie es scheint, zu-
gleich mit der Ernennung zum obersten capellanus.* Er blieb Ludwigs
Erzkapellan bis zu dessen Tode am 20. Juni 840.
2. Die Stellung der Erzkapellane unter Ludwig dem Frommen
Die Funktionen des Erzkapellans blieben unter Ludwig im wesent-
ichen dieselben wie zur Zeit Karls des Großen. Daß seine tatsäch-
iche Macht hingegen zunächst noch beständig zunahm und er die
einflußreichste Persönlichkeit des kaiserlichen Hofes wurde, lag allein
m dem schwachen Charakter Ludwigs, der den Rückhalt einer festen
Persönlichkeit nicht entbehren konnte. Unter Hilduin war die Be-
deutung des Amtes am größten, größer als es die Herrschernatur Karls
les Großen jemals einem seiner Hofkapellane gestattet hatte. Auch
ier Titel wurde, entsprechend dem ganzen Zeremoniell am Hofe Lud-
mgs, feierlicher: der „capellanus sacri palatii" verwandelte sich gleich
n den ersten Jahren nach Karls Tode in den „summus capellanus"
ind bald in den „archicapellanus sacri palatii".
Nur in dem Verhältnis des obersten capellanus zur Kanzlei bahnte
>ich, falls die oben angeführte Hypothese Tangls zutrifft, bereits unter
iilduin eine Schmälerung seines Einflusses durch das immer mehr
mporstrebende Amt des Kanzlers an.^ Allerdings wird gerade Hilduin
iberaus häufig in den tironischen Noten der Kaiserdiplome als ambasciator
^ BM. 952 (836 Jan. 8) und 971 (837 Dez. 20). — Mit dem Titel archiepiscopus
n den tironischen Noten von BM. 952, ohne Titel in denen von BM. 954 und 971
Tangl a. a. 0. 127f.)
' BM. 990 (839 April 18). — BM. 980 (angeblich 838) und 981 (angeblich 838
>ept. 7) sind gefälscht; ebenso BM. 928 (angeblich 834 Mai 15), wo die Bezeichnung
Is „Mettensis et summae sanctae palatinae dignitatis praesul" aus Vita Anskarii c. 12
SS. II, 698) entnommen ist.
' Z. B. Ruodolfi Fuld. Ann. 840 (SS. I, 362), Nithard I c. 8, Vita tiludowici imp.
63 (SS. II, 647) zum Jahre 840. — Catalogus episc. Mett. (SS. II, 269).
^ Brief Karls des Kahlen vom Jahre 864 (EE. VI, 223): „ut una cum praedicto
jninisterio et imperatoris et apostolicae sedis, etiam usu pallii potiretur." S. unten
jlen Exkurs.
1 ^ Tangl, Arch. f. ürkundenf. I, 165. S. oben S. 36 f.
60 Wilhelm Lüders
genannt.^ Aber das war zu jener Zeit nicht mehr eine Amtsbefugnis |
lediglich des obersten capellanus; vielmehr erscheinen neben ihm auch^
andere hervorragende Personen des Hofes ganz in derselben Weise als
ambasciatores.^ Noch weniger vermag Hilduins häufiges Vorkommen in
dem Texte der Urkunden etwas in dieser Hinsicht zu beweisen; denn!
das Amt des Vortrages, das er noch dazu meist in eigener Angelegenheit-
ausübt,^ erscheint ebensowenig als sein alleiniges Vorrecht* wie das
des Ambasciators. Kein Zweifel, wenn die Erzkapellane jemals vorher!
auch die Leitung der Kanzlei in Händen gehabt haben, so bahnte sich
seit Hilduin eine Entwicklung an, die mit Erfolg bestrebt war, die
Kanzlei der Oberaufsicht des Erzkapellans zu entziehen und ihm als
gleichberechtigten Beamten den Kanzler zur Seite zu stellen.
Dem Kaiser kann, nachdem bei dem Abfall Hilduins das Amt des
obersten capellanus so völlig versagt hatte, eine gewisse Schmälerung
seines Einflusses nicht einmal unerwünscht gewesen sein. Wohl aus
demselben Grunde hat er daher später eine so wenig bedeutende Per-
sönlichkeit wie Fulko oder einen ihm so treu ergebenen Bischof wie
seinen Halbbruder Drogo zum Leiter der Hofkapelle eingesetzt.
3. Die Kapellane. Reaktion der Hierarchie gegen die iiof-
geistlichkeit unter Ludwig dem Frommen
Auch in dem Kollegium der unteren capellani machten sich währenc
der Regierung Ludwigs, namentlich in den zwanziger Jahren unter Hil-
duins Leitung, erhebliche Mißstände bemerkbar.^ In demselben Maße
wie die Macht des Erzkapellans, war auch der Einfluß der niederer
capellani beständig gestiegen, und die mancherlei ünzuträglichkeiten
' BM. 727, 729, 735, 746, 796, 803, 833, 844, 846, 847 (Tan gl a.a.O. S. 111-119)
2 Tangl a.a.O. S. 164f.
' BM. 691, 727, 729, 746, 747, 803, 844, 846, 847, 848, 857. In fremder An
gelegenheit nur BM. 782, 789, 79^, 796. — Fast durchgehends begegnet dafür dr
Bezeichnung „innotescere"; nur BM. 794 heißt es: „quia vir illuster Leibulfus comei
per Hilduinum archicapellanum nostrum nobis subiecit^
* So erscheint bei Tauschverträgen Hilduins auch die andere Partei vor den
Könige, und die Angelegenheit wird, wie der Plural innotuerunt beweist, von beidei
Parteien dem Könige vorgetragen (BM. 727, 729, 746, 747, 803, 804, 844).
'" Ich verzichte darauf, eine Übersicht über die zahlreichen in den Quellen er
scheinenden capellani am Hofe Ludwigs zu geben; vgl, Simson, Ludwig d. Fr. II
251 ff. — Daß es auch einen besonderen capellanus der Kaiserin (es ist wohl Juditl
gemeint) gegeben hat, geht hervor aus Einharti ep. no. 69 (EE. V, 143); Dümmle
(NA. VII, 402) hat die Vermutung ausgesprochen, daß es Walahfrid Strabo gewesa
sei; ebenso Wattenbach V, 279. — Der Titel „sacri palatii archidiaconus", den Hrabai
dem Gerold beilegt (Simson, Ludwig d. Fr. II, 251 A. 7), wird auf dieselbe Weis
zu erklären sein wie oben S.34 A.2 der Titel „sacri palatii archiepiscopus" für Hildebalc
Capella 61
lie daraus erwuchsen, riefen den Unwillen und die lauten Klagen der
librigen Geistlichkeit hervor. Allgemein wandte man sich gegen die
)evorzugte Stellung der Hofgeistlichkeit.
Schon unter Karl dem Großen wurden Mitglieder der Hofkapelle
ielfach anderen Geistlichen vorgezogen. Das Capitulare de villis^ be-
;timmte ausdrücklich, daß nur Kleriker, die der königlichen Familie oder
Kapelle angehörten, die Kirchen der königlichen Güter erhalten sollten.
'Sehr bezeichnend ist auch der in den Formulae Salzburgenses^ über-
ieferte Brief eines Bischofs an einen capellanus: der Absender bittet
len Adressaten, seinem Neffen bei der Erlangung eines Benefiziums
im Kaiserhofe behilflich zu sein. Es kam auch unter Karl, ja sogar
5chon unter Pippin, vor, daß Mitglieder der Hofkapelle zu hohen geist-
ichen Würden, und selbst zu Bischofssitzen gelangten.^ Doch wagten
sich unter dem großen Kaiser noch keine Klagen über dieses Ver-
ahren hervor.
Dieser Gebrauch setzte sich unter Ludwig fort. So erhielt um
521 Bernald das Bistum Straßburg,* Otgar wurde 825 Erzbischof von
>\ainz.^ Beide waren vorher capellani des Kaisers gewesen.
Aber zugleich machten sich unter Ludwig auch wirkliche Miß-
stände in der Hofkapelle breit, und es erhoben sich daher bald von
3llen Seiten die heftigsten Klagen und Angriffe. Namentlich ihr
Trachten nach irdischem Gewinn warf man den capellani vor. So wandte
sich bereits Ardo in seiner 822 verfaßten Lebensbeschreibung des
^bts Benedikt von Aniane^ sehr unzweideutig gegen die Hofgeistlich-
rieit, die clerici, welche mit unrechtmäßigen Mitteln nach der Herrschaft
über die Klöster der Mönche strebten. Auch Walahfrid Strabo ereiferte
sich gegen sie in der Visio Wettini. ^
' Cap. 6 (Capit. I, 83). ' MG. Formulae p. 455.
' Vgl. Waitz, VG. III, 525. "" Wattenbach \\ 277.
^ Ann. Xantenses 825 (SS. II, 225): „tiaistulfus archiepiscopus Magontiae civi-
tatis obiit, et successit in locum eius Otgerus capellanus dominicus.'* — Vgl. Sim-
son, Ludwig d. Fr. II, 84: Dumm 1er, Gesch. des ostfr. Reiches I, 93.
^ Cap. 39 (SS. XV 1, 217): „Cernens quoque, nonnullos totis nisibus anelare in
adquirenda monachorum coenobia, eaque non tantum precibus, ut obtineant, verum
etiam decertare muneribus, suisque usibus stipendia monachorum expendi, ac per
hoc diruta nonnulla, alia vero, fugatis monachis, a secularibus obtineri clericis, adiit
hac de causa piissimum imperatorem precibusque pulsat, ut ab huiuscemodi con-
tentionibus clericos, monachos vero ab hoc redderet periculo extorres." — Über die
Abfassungszeit, ein Jahr nach Benedikts Tode (t821), siehe Wattenbach \\ 231.
' Poetae lat. aevi Carolini II, 314 (V. 327ff.):
„Magna sacerdotum numero pars, angelus inquit,
Lucra petunt terrena quibusque inhiantur adhaerent,
Atque palatinis pereuntia praemia quaerunt
Obsequiis" . . .
62 Wilhelm Lüders
Die Zeit war eine andere geworden. Alles in der Kirche drängte
nach Reform. Abt Benedikt von Aniane,^ der sich der Gunst und der
Unterstützung des Kaisers erfreute, suchte eine durchgreifende Reform
des Klosterlebens durchzuführen. Wurden einerseits die Klöster wieder
zu der strengen Regel Benedikts von Nursia zurückgeführt, so soüte
auch jeder andere Verband von Geistlichen nach einer, wenn auch
leichteren Regel, ein gemeinsames Leben, die vita canonica, führen.
In diesem Sinne waren die Beschlüsse des Aachener Konzils im
Jahre 816 abgefaßt."
Ludwigs Haltung inmitten dieser Bewegung war schwankend, tr
konnte sich anscheinend nicht entschließen, auch für seine flofkapelle
die vita canonica einzuführen. Um so heftiger waren die Angriffe, die
auf die Hofkapelle gemacht wurden.
Der erste offene Angriff erfolgte von selten Walas auf der Ver-
sammlung zu Aachen im Dezember 828, auf welcher der Kaiser mit
den Großen über die Abhilfe der allgemeinen Mißstände im Reiche
beriet.^ Nach dem Berichte des Paschasius Radbertus* ging Wala
gegen die militia clericorum im Palaste, die man gemeinhin capellani
nenne — man beachte die Verachtung, die sich hier einem Titel
gegenüber kundgibt, den die bedeutendsten Geistlichen des fränkischen
Reiches bereits hundert Jahre mit Ehren geführt hatten — , aufs aller-
schärfste vor. Die capellani seien nur auf kirchliche Ehren und weli
liehen Gewinn bedacht; man könne in ihnen überhaupt keinen geisi
liehen Stand sehen, da sie weder nach der Mönchsregel noch als
Kanoniker unter einem Bischöfe lebten. So sehr waren bereits die
Ideen Benedikts zum Durchbruch gekommen, daß Wala wagen durfte
zu behaupten, neben jenen beiden Formen geistlichen Lebens sei eine
dritte überhaupt nicht möglich.
Ähnliche Angriffe erfolgten dann auch auf der Synode zu Paris
im Jahre 829. Aus den Akten des Pariser Konzils ist der Passus, der
^ Vgl. Puckert, Aniane und Gellone, 1899.
^ Vgl. Werminghoff, Die Beschlüsse des Aachener Konzils im Jahre 816
(NA. XXVII, 605ff.). '
* Vgl. Simson, Ludwig d. Fr. I, 303, 318; Dümmler, Gesch. des ostfränk.
Reiches I, 46—49.
* Vita Walae II c. 5 (SS. II, 550): „Praesertim et militiam clericorum in palatio,
quos capellanos vulgo vocant, quia nullus est ordo ecclesiasticus, denotabat plurimum,
qui non ob aliud serviunt, nisi ob honores ecclesiarum et quaestus saeculi, ac lucri
gratiam sine probatione magisterii, atque ambitiones mundi; quorum itaque vita
neque sub regula est monachorum, neque sub episcopo militat canonice, praesertim
cum nulla alia sunt tirocinia ecclesiarum, quam sub his duobus ordinibus. Aiebat
namque idem, quod aut canonicus quisque esse deberet, aut laicus, aut monachus;
quod si neutrum, iam sub nullo monstratur ordine, quia videntur esse sine capite."
Capeila 63
sich gegen die tiofkapelle wendet, wörtlich in die Beschlüsse der
Bischöfe übergegangen, die im August 829 auf dem Reichstage zu
^orms aus den Akten der vier Synoden des Jahres 829 (Paris, Mainz,
Lyon, Toulouse) vereinbart und dem Kaiser zur Bestätigung vorgelegt
cvurden. Die Bischöfe verlangten, wie vorher schon Wala, geradezu
jie Aufhebung der gesamten Hofkapelle.^
Noch schroffer als in diesen offiziellen Aktenstücken kommt der
3egensatz zur Hofkapelle und ihren Kapellanen in einer sehr inter-
essanten Glossensammlung zu der tiadriana zum Ausdruck.^ Die hier
n Betracht kommenden Stücke sind zweifellos zu derselben Zeit, als
die kirchliche Reaktion gegen Ludwig den Frommen einsetzte, und
mar bemerkenswerterweise im Westen des Reiches, wo die Opposition
im stärksten war, verfaßt. In tendenziöser Weise werden die Be-
stimmungen früherer Konzilien interpretiert, um aus ihnen das Verbot
kaiserlicher Kapellen und Kapellane herzuleiten.
So wird das cap. 6 des concilium Gangrense, das sich ganz all-
gemein gegen kirchliche Konventikel richtet, folgendermaßen glossiert:^
,Hic damnantur capellae cum capellanis, qui sine metu episcopi dio-
:eseos in contemptu ecclesiasticae dispensiationis et regulae canonicae
^eculari potentatu abusis disciplinis spiritualibus in domibus regum,
d est demoniorum, mollibus libidinibus vestiuntur."
Ebenso tendenziös ist die Interpretation des cap. 11 des concilium
^ntiochenum. Während hier nur ganz allgemein von der Unsitte vieler
jeistlichen, den Kaiser fortwährend mit Anliegen zu belästigen, die
^ede ist, benutzt der Verfasser der Glossen diese Gelegenheit zu einem
i" —
I ^ Conc. Paris. VI, Hb. III, c. 19 (Mansi XIV, 601): „De presbiteris et capellis
Jpalatinis contra canonicam auctoritatem et aecclesiasticam honestatem inconsulte
"" labitis vestram monemus sollertiam, ut a vestra potestate inhibeantur." Vgl. Pertz,
V\G. LL. fol. I, 340; Capit. II, 39. — Die willkürliche, auch von Waitz (VG. III, 517
V 1) gutgeheißene Änderung von Pertz in „de presbiteris et capellanis palatinis"
statt capellis der tis.) ist meiner Ansicht nach falsch. Die Lesart capellis gibt einen
iehr guten Sinn, sobald man das palatinis mit auf presbiteris bezieht; die presbiteri
)alatini sind nichts anderes als die capellani; es wäre also auffällig, wenn die capel-
ani nochmals besonders daneben Erwähnung fänden. Dagegen gibt capellis einen
lehr guten Sinn; das Vorgehen gegen diese fällt zusammen mit Conc. Paris. VI^
ib. III, c. 6 (Mansi XIV, 597): „Admonemus, ut posthabitis aediculis, quas usus
nolitus capellas appellat" . . .; hier wie dort sind die capellae für den Besuch der
V\esse hinderlich. — Vgl. Simson, Ludwig d. Fr. I, 318; Dümmler, Gesch. d. ostfr.
Reiches I, 49.
^ Veröffentlicht .von Maaßen, Glossen des kanonischen Rechts aus dem karo-
ingischen Zeitalter. Wiener S.-B. 84 (1876), 235 ff. — Zur Hadriana vgl. tiauck II,
514 A. 2.
' Maaßen a. a. 0. S. 247.
64 Wilhelm Lüders
neuen Angriffe gegen die Hofgeistlichen:^ „tiic damnantur palatini clerici,
qui sine consensu aeclesiae et episcoporum parvipendentes unitatem
ecclesiasticae professionis ad publica et comitatus praesidia se con-
ferunt."
Wie so viele Wünsche der Reform synoden des Jahres 829, blieb
auch das Verlangen der Bischöfe nach Aufhebung der Hofkapelle un-
berücksichtigt. Ludwig setzte hier den Bischöfen entschiedenen Wider-
stand entgegen. Selbst als sich die Institution beim Abfalle Hilduins
nicht bewählte, setzte er doch bald einen neuen Erzkapellan ein. Nur
sorgte er dafür, daß dieses Amt jetzt so treuen Anhängern, wie Fulko
und Drogo es waren, anvertraut wurde. Die Mißstände unter den
capellani haben sich aber augenscheinlich unter diesen Männern nicht
gebessert. Denn in einem Briefe des Abtes Odo von Ferrieres aus
dem Jahre 840 tönt wieder die alte Klage, daß die clerici palatii nach
der Herrschaft über mehrere Klöster strebten.^
Aber so ganz ohne Nachwirkung bUeb die Bewegung gegen die
capellani doch nicht. Wenn sie auch nicht eine Aufhebung der ge-
samten Einrichtung erreichte, so war doch die Folge, daß mehr und
mehr eine Erstarrung der überlieferten Formen eintrat. Die Zeiten, wc
die Hofkapelle in der politischen und kulturellen Entwicklung dee
Reiches noch eine große Rolle spielte, waren vorbei. Im 9. Jahr-
hundert fand sich kein Herrscher mehr, der sich die Kräfte, die ir
der Hofkapelle schlummerten, wie einst Karl der Große dienstbar ge-
macht hätte.
§2. Die Erzkapellane der Söhne Ludwigs des Frommen
1. Lothar I.
Wie die Söhne Karls des Großen, so erhielten auch die Söhnt
Ludwigs des Frommen mit der Herrschaft über selbständige Teilreich(
ihre eigene Hofkapelle.
Schon im Jahre 814 setzte Ludwig seinen ältesten Sohn Lotha
zum Könige von Bayern ein;^ doch war dessen Wirksamkeit hier nu;
von kurzer Dauer. Es ist daher fraglich, ob er während seiner Re
gierungszeit in Bayern überhaupt einen eigenen Hofkapellan gehab
hat. Man will ihn allerdings, fußend auf einer Mitteilung der Magde
^ Maaßen a. a. 0. S. 247.
^ EE. VI, 32: „Ceterum fama versatur inter nos cleri9ps palatii diversorun
coenobiorum sibi dominium optare atque poscere, quibus nulla sit alia cura, nisi u
suae avaritiae oppressione servorum Dei satisfaciant."
^ Simson, Ludwig d. Fr. I, 28; Dümmler, Gesch. des ostfr. Reiches I, 19i
C a p e 1 1 a 65
burger Centuriatoren, in dem Bischof Baturich von Regensburg sehen.^
Doch ist dies unmöglich; denn da Baturich erst 817 Bischof von Regens-
burg wurde, so ist schwerlich anzunehmen, daß er dann noch von
Lothar, der bereits 817 von seinem Vater zum Mitkaiser ernannt wurde,
zum Erzkapellan in Bayern eingesetzt sei. Ich nehme daher mit
Dümmler^ an, daß in der Mitteilung der Centuriatoren Lothario fälsch-
lich für Ludovico stehe.
Eine eigene Hof kapeile wird wohl Lothar erst erhalten haben, als
er 822 mit der Regierung Italiens betraut wurde. Als Leiter der Hof-
kapelle wird in einer Urkunde vom 7. März 835 Ruktald genannt, und
zwar noch mit dem alten Titel „sacri palatii capellanus".^ Genaueres
über sein Leben und die Dauer seines Amtes ist nicht bekannt.
Später hat Drogo das Amt des Erzkapellans, das er schon unter
Ludwig dem Frommen innegehabt hatte, auch unter Lothar geführt.
Wann ihm diese Würde übertragen ist, läßt sich nicht genau sagen;
erst eine Urkunde vom Jahre 852 läßt sie unzweideutig erkennen.*
hl den ersten Regierungsjahren Lothars, während des Bruderkrieges,
scheint er sie jedenfalls noch nicht erhalten zu haben. Zwei Zeugnisse
des Jahres 840, eine Urkunde Lothars für St. Arnulf in Metz^ und das
Restitutionsedikt für Ebo von Reims,^ nennen ihn bloß archiepiscopus
bzw. episcopus. Drogo wird also erst, nachdem er sich nach seinem
vorübergehenden Anschlüsse an Karl den Kahlen 842 wiederum Lothar
zugewandt hatte,^ zum Erzkapellan ernannt sein. Wir dürfen wohl an-
nehmen, daß er im Jahre 844, wo Lothar für ihn die Ernennung zum
päpstlichen Vikar beim Papste Sergius IL durchsetzte, bereits archi-
capellanus war und nicht zum mindesten mit Rücksicht auf diese
Würde den Vikariat für das fränkische Reich erhielt.®
^ EE. V, 517: „Baturicus, monachus Fuldensis, a Ludovico surrogatus est Adel-
vino: ac postea a Lothario archicapellanus constitutus est." — Vgl. EE. V, 517 A. 7.
2 Gesell, des ostfränk. Reiches II, 433 A. 2.
^ BM. 1049. — Vgl Simson, Ludwig d. Fr. II, 119.
■* BM. 1156: „dilectissimus patruus noster Drogo venerabilis archiepiscopus
nostrique palatii capellanus."
^ BM. 1071: „Drogo venerabilis archiepiscopus avunculus noster."
® BM. 1072: „Drogo episcopus assensi."
' Dümmler, Gesch. d. ostfr. Reiches I, 253; Simson, Allg. D. Biogr. V, 413.
•* Hauck II, 515. — Nach dem Texte des Apologetium Ebonis, den Werming-
hoff, NA. XXV, 361ff. veröffentlicht hat, wäre Drogo sogar schon 842 Lothars Erz-
kapellan gewesen. Hier findet sich nämlich S. 371 in dem Restitutionsedikt für Ebo
(BM. 1072, s. oben A. 6) zu dem Namen Drogo eine längere Interpolation, in der er
als „filius Karoli gloriosi Augusti, frater tiludowici, excellentissimorum augustorum
totiusque sanctae ecclesiae istorum palatinus archipraesul" erscheint. Werminghoff
' sieht in Ebo selbst den Verfasser der Schrift und setzt die Abfassung in das Jahr
^j842; er muß jedoch, um jene Interpolation, in der Drogo bereits als Inhaber des
i Afu II 5
*
i
56 Wilhelm Lüders
Gestorben ist Drogo bald nach Lothar (f 29. September) am 5. De-
zember 855.
2. Pippin I. von Aquitanien
Über die Kapelle Pippins I. von Aquitanien ist sehr wenig bekannt.
In einer Urkunde aus dem Jahre 834 nennt er den Bischof Fride-
bert von Poitiers, der zugleich Abt des dortigen Klosters St. Hilaire
war, als seinen archicapellanus.^
Ob vorher der Abt Fulko von St. Hilaire in Poitiers sein Erz-
kapellan gewesen ist, ist zwar nicht unwahrscheinlich, läßt sich aber
nicht mit Sicherheit entscheiden.^
3. Karl der Kahle
Erzkapellan Karls des Kahlen in der ersten Zeit seiner Regierung
war der Bischof Ebroin von Poitiers. Er führt als solcher gewöhnlich
den Titel „archicapellanus (palatii nostri)" oder „archicapellanus sacri
palatii".^ Daneben kommt aber auch der auffällige gräzisierende Titel
„sacri palatii protocapellanus" vor.*
4. Ludwig der Deutsche
Ludwig der Deutsche trat die Regierung Bayerns, das ihm durch
die Reichsteilung von 817 zugefallen war, im Jahre 826 an.^
um diese Zeit wird er auch seine eigene Kapelle eingerichtet
haben. Allerdings sind wir nur sehr dürftig hierüber unterrichtet.
Eine einzige Urkunde vom 6. Oktober 830 nennt zwar den Abt
päpstlichen Vikariates erscheint, zu erklären, zu der ihm selbst etwas gewaltsamen
Annahme greifen, daß 842 zwar Drogo den Titel eines Vikars noch nicht besessen,
daß man ihn jedoch bereits in der Umgebung Lothars zu dieser Würde ausersehen
habe (S. 374f.). — Nicht richtig Prou, Ausg. von üinkmars De ord. pal. S. 40 A. 10.
^ Bouquet VI, 672: Fridebestus (lies Fridebertus) episcopus, archicapellanus
noster seu et abbas ex monasterio S. Hilarii, quod est situm in suburbano Picta-
vensi." — Vgl. Simson, Ludwig d. Fr. II, 192.
' Vgl Simson, Ludwig d. Fr. I, 361 A. 2; II, 192 A. 7. - S. oben S. 57 A. 4.
^ Bouquet VIII, 480 no. 58; 481 no. 59; 514 no. 101. — „Summus cappellanus
Karoli regis" heißt er in einer Randbemerkung des codex Laudunensis zu der Über-.
Schrift „Canones concilii in Verno palatio habiti, ubi praesedit Ebroinus Pictavorum
episcopus" des conc. Vernense im Dez. 844 (Capit. II, 382).
* Bouquet VIII, 490 no. 70. — Im Jahre 862 scheint Ebroin bereits tot zu
sein; denn auf der Synode zu Soissons (Tardif no. 187 u. 188) ist Ingenaldus als
Bischof von Poitiers anwesend; nach Gams, Series episc. I, 601 ist er 858 gestorben.
Ebroins Nachfolger bedürfen einer neuen Untersuchung; eine ungenügende Dar-
stellung gibt Prou a. a. 0.
'" Dümmler, Gesch. d. ostfränk. Reiches I, 24.
Ca pell a 67
^iGozbald von Altaich als seinen obersten Pfalzkapellan ;^ aber dessen
sonstige Funktionen entsprechen ganz denen des obersten Kanzlers;
30 werden Urkunden an seiner Statt rekognosziert.^ Da wir für diese
lelt, wie am Hofe Ludwigs des Frommen, so auch an dem seines
Sohnes eine Vereinigung der Ämter des obersten cancellarius und
Dbersten capellanus nicht annehmen dürfen und außerdem der Titel
ür Gozbald völlig vereinzelt dasteht, so bleibt nur der Ausweg, den
schon Sickel gefunden hat, daß nämlich summus capellanus ein Fehler
les Abschreibers — die Urkunde ist nur in zwei Kopien saec. XII und
bidll überliefert — für summus cancellarius sei.^
I Der erste Erzkapellan Ludwigs war demnach Baturich, der seit
317 bereits auf dem Bischofsstuhle von R.egensburg saß. Er ist aller-
dings erst in einer Urkunde vom 4. April 844 als Leiter von Ludwigs
<apelle nachzuweisen.^ Das Jahr, in dem er seine Würde erhalten
lat, läßt sich daher nicht mit Gewißheit bestimmen. Daß dies bereits
^26, also gleich beim Regierungsantritte Ludwigs, geschehen sei,^ ist
BA\. 1340: „vir venerabilis Cozbaldus sacri palatii nostri summus capellanus
;t abba monasterii quod dicitur Altaha.*
^ BM. 1340 (830 Okt. 6.), 1342, 1343. 1344, 1345, 1346, 1347, 1348, 1350, 1351,
L352 (833 Mai 17). BM. 1341 ist Fälschung.
^ Sickel, Beitr. z. Dipl. II, 151 A. 1 (Wiener S.-B. 39). — Diese Emendation
r(| lahm allerdings Sickel vor in der festen Überzeugung, daß vor Ludwig d. D. niemals
;ine Vereinigung der Ämter des obersten capellanus und cancellarius bestanden habe;
her auch nachdem Tangl diese ältere Ansicht nunmehr erschüttert hat, besteht jene
/erbesserung durchaus zu Recht. Wir müssen auch am Hofe Ludwigs d. D. für
liese Zeit die Entwicklung zu jenem Dualismus annehmen, der sich am Hofe seines
™ /aters durch das Emporsteigen des obersten Kanzlers angebahnt hatte. Jedenfalls
ind wir nicht berechtigt, auf Grund eines einzigen, noch dazu schlecht überlieferten
Zeugnisses, die Vereinigung der beiden Ämter, die vielleicht unter Karl d. Gr. bestanden
latte und später durch Ludwig d. D. selbst wiederhergestellt wurde, auch für diese Zeit
bJmzunehmen, zumal die sich ergebende Emendation durch andere Beispiele gestützt
.11 «rd. Denn der Titel „summus cancellarius" ist bei Gozbalds Nachfolger Grimald
Ol JM. 1357 (835 Sept. 30) nachzuweisen, ferner für Radleic in den tironischen Noten
ctf^on B/V\. 1366 (840 Dez. 10). Den Titel „sacri palatii nostri summus cancellarius", der
lieh nach Sickels Änderung in BM. 1340 für Gozbald ergibt, führt bereits Fridugis
n einer Urkunde Ludwigs d. Fr. vom 18. Sept. 820 (BM. 726, allerdings cop. saec.
(III). — Derselben Ansicht wie Sickel ist Dumm 1er, Gesch. d. ostfränk. Reiches II,
128 A. 1. unklar und nicht richtig sind dagegen die Ausführungen Dümmlers 1,26
und 178), wo er Gozbald als Erzkaplan des heiligen Palastes und zugleich als Vor-
iteher der Kanzlei bezeichnet, also die Vermengung zwischen den beiden Ämtern
'ornimmt, vor der er selbst II, 428 A. 1 warnt. In denselben Fehler verfällt Eberl,
5tud. zur Gesch. des fränk. Königreiches Bayern (Progr. Passau 1895) S. 10.
^ BM. 1376 : „Baturico venerabili episcopo summoque capellano nostro." —
)ümmler II, 433 ff.
^ So Dümmler II, 433. — Auch die Angabe der Magdeburger Centuriatoren
EE. V, 517; s. oben S. 65) ist zu unbestimmt.
5*
»
68 Wilhelm Lüders
nicht zu erweisen. Doch möchte ich wenigstens annehmen, daß Batu-
rich vor 831 die Leitung der tiofkapelle bel^onimen habe; denn der in
einer Urkunde aus diesem Jahre ^ erscheinende Erchanfridus diaconus
et capellanus setzt doch wohl auch einen archicapellanus voraus, und
das kann eben kein anderer als Baturich gewesen sein.
Nachdem Baturich im Jahre 847 gestorben war, folgte ihm Grimald
als Erzkapellan Ludwigs des Deutschen. In den zwanziger Jahren war
er bereits Kapellan am Hofe Ludwigs des Frommen gewesen; als solchen
nennt ihn die Widmung von WalahfridsVisio Wettini ^ aus dem Jahre 824.
Im Jahre 833 wurde er oberster Kanzler* Ludwigs des Deutschen und
blieb es, bis 837 sein Name plötzlich aus den Urkunden verschwindet;
möglich, daß er sich, wie Dümmler^ annimmt, nicht mehr mit Ludwigs
Politik gegen seinen Vater einverstanden fühlte und deshalb von seinem
Amte zurücktrat. Doch war jedenfalls die Entfremdung nicht dauernd.
Schon 841 übertrug Ludwig ihm die Leitung des Klosters St. Gallen,
und auch Weißenburg, dessen Abt er schon vorher gewesen war, er-
hielt er bald zurück.
Wann er zum Erzkapellan ernannt wurde, läßt sich nicht mit
Sicherheit bestimmen. Obwohl sein Vorgänger bereits 847 gestorben
war, erscheint er doch erst in zwei Urkunden vom 22. Juli 854 als
archicapellanus.^ Es ist aber wohl anzunehmen, daß er diese Würde
entweder noch im Jahre 847 oder wenigstens bald darauf erhalten hat'
Unter Grimald fand dann die endgültige Vereinigung der Amtei
des Erzkapellans und des Kanzleivorstandes statt, welche im deutschen
Reiche auch in den folgenden Zeiten geblieben ist. Auch dieses Er-
^ BM. 1345 (831 Aug. 18). — Dazu paßt auch sehr gut der tironische Vermerl»
zu BM. 1353 (833 Okt. 19), in dem Baturich, ebenso wie in dem zu BM. 1376 ah
ambasciator erscheint (Tangl, Arch. f. ürkundenf. I, 150, 152); der bloße Titel epis-
copus, den Baturich BM. 1345 und in dem tironischen Vermerke zu BM. 1353 führt
beweist keineswegs, daß er damals etwa noch nicht oberster capellanus gewesen sei
denn auch in den tironischen Noten zu BM. 1376 und im Texte von BM. 1378 (84^
Juli 28) heißt er bloß episcopus bzw. episcopus rector ipsius monasterii (seil, sanct
tiemmerammi).
'Vgl. über Grimald namentlich Dum ml er I, 92 A. 6; II, 430f., 434ff
Hauck II, 616.
^ Poetae lat. aevi Carol. II, 301 und 334. — Den Zweifel Sickels, Acta I, 10:
A. 7, halte ich für nicht berechtigt.
* Zuerst nachweisbar BM. 1353 (833 Okt. 19).
^ Gesch. des ostfränk. Reiches II, 431.
« BM. 1409 und 1410.
^ Dümmler, Gesch. des ostfränk. Reiches II, 434. — Hauck II, 616 A.
dagegen meint, daß er erst 854 „oder kurz vorher" Erzkapellan geworden sei. Zt
einem sicheren Ergebnis führen auch die bei Zeuss, Traditiones Wizenburgense*
abgedruckten Urkunden nicht (vgl. no. 156, 158, 165, 166, 167, 200, 204 = 254, 272!
Capeila 69
eignis müssen wir nunmehr, wenn Tangls auf genauer Lesung der
tironischen Noten beruhende Hypothese zutrifft/ unter einem ganz
anderen Gesichtspunkte betrachten. Sah man früher jene Vereinigung
von Kapelle und Kanzlei in der Person ihres obersten Leiters als
eine Neuerung an, die erst Ludwig der Deutsche eingeführt habe, so
hätte nach Tangl diese Verbindung bereits unter Pippin und Karl
dem Großen bestanden und wäre nur durch das Emporsteigen des
Kanzlers unter Ludwig dem Frommen zerstört. Die Maßnahme Lud-
wigs des Deutschen war demnach keine Neuerung, sondern nur eine
Rückkehr zu dem alten Brauche; und doch wurde gleichzeitig etwas
Neues geschaffen, das für die Reichsverfassung des Mittelalters von
großer Bedeutung sein sollte.
Ludwig selbst scheint sich weder der Anknüpfung an das Alte
noch der Tragweite, die seine Änderung haben mußte, recht bewußt
gewesen zu sein.^ Ihn scheinen in erster Linie rein persönliche Be-
weggründe bestimmt zu haben :^ Grimald hatte sich schon früher als
Vorstand seiner Kanzlei bewährt, und daher wählte er ihn, als jetzt
kurz nacheinander zwei seiner Kanzler starben, auch zum Leiter jener
Behörde, obwohl er bereits die Würde des Erzkapellans inne hatte.
Der König selbst hat, dem Anscheine nach, diese Maßnahme an-
fangs nur als provisorisch angesehen. Denn nur so wird man das
Schwanken erklären können, das nach 854 in den Rekognitionen der
Urkunden herrscht, und das uns verbietet, Grimalds Erzkanzleramt von
2inem bestimmten Termine an zu rechnen.^ Nachdem der Kanzler
Radleic am 14. Juni, wahrscheinlich des Jahres 854,^ gestorben war,
A^erden zwei Urkunden vom 22. Juli 854 an Grimalds Statt rekognos-
^ Tangl, Arch. f. ürkundenf. I, 87 ff. — Die älteren Darstellungen sind nament-
ich: Waitz, VG. III, 523; Br esslau, Handbuch der ürkundenlehre I, 296; Mühl-
)acher, Reg. (1889) p. LXXXVIIf., XCVIIIf.; neuerdings Erben, ürkundenlehre S.51f.
in der Sammlung von Below und Meinecke).
' Das hebt Erben a. a. 0. mit Recht hervor.
^ So Sickel, Acta I, 101, Bresslau, Erben a.a.O. — Dagegen möchte ich
licht, wie Waitz, VG. III, 523 f., einen Grund für die Vereinigung beider Ämter darin
erblicken, „daß in der Kapelle auch wichtige Urkunden aufbewahrt zu werden pflegten".
)ie irrige Ansicht, daß in der Kapelle das Archiv zu suchen ist, ist bereits oben
>. 37 A. 1 zurückgewiesen worden.
* Sickel, Dümmler (Gesch. d. ostfränk. Reiches II, 433), Bresslau nehmen 854,
\\ühlbacher, Reg. a. a. 0. dagegen 856 an. Das Material reicht allerdings zu einer
jnzweideutigen Beantwortung der Frage nicht aus; doch neigt man heute mehr und
nehr der zuerst von Seeliger (Erzkanzler und Reichskanzleien S. 225, Waitz,
^G. VI-, 347) vorgetragenen Ansicht zu, daß zunächst ein gewisses Schwanken, der
v^erhältnisse anzunehmen sei. Über die Frage orientieren jetzt am besten Erben,
Jrkundenlehre S. 52 A. 1 und Seeliger, Hist. Vierteljahrsschr. 1908, I, 83ff.
^ Das Todesjahr ist nicht überliefert (Mühlbacher, Reg. a. a. 0.).
I
70 Wilhelm Lüders
ziert. -^ Dann scheint Ludwig nochmals in Baldrich einen selbständigen
Leiter der Kanzlei gefunden zu haben. Als jedoch auch dieser bereits
am 6. Februar 856 starb,^ wurde der Erzkapellan Grimald wiederum zu-
gleich Vorstand der Kanzlei, eine Neuerung, die nach einer abermaligen
Unterbrechung während der Zeit von 858—860, wo Witgar in den Re-
kognitionen als Kanzler erscheint, sich in den nächsten Jahren im Ost-
frankenreiche allmählich Geltung verschaffte, bis schließlich die Würde
sowohl des Erzkapellans wie des Erzkanzlers eine erbliche Zubehör der
Mainzer Erzbischöfe wurde.
§3. Die großen Pfalzkapellen des neunten Jahrhunderts
1. Die Neugründungen nach dem Vorbilde der Aachener
Marienkirche
Wie in der letzten Zeit Karls des Großen, blieb auch unter Lud-
wig dem Frommen die Marienkirche zu Aachen der eigentliche Sit2
des Institutes der Hofkapelle. Sie war, inmitten der sich stetig ver-
mehrenden Anzahl der übrigen capellae gewissermaßen noch immei
die capella xar h^oxnv^ die alle anderen an Bedeutung weit überragte.'
Entsprechend dem bedeutenden Ansehen, das die Aachener Pfalz-
kapelle im ganzen Frankenreiche genoß, wurden nach ihrem Vorbilde
auch anderwärts Kirchen und Kapellen erbaut, vor allem die großer
Pfalzkapellen der späteren KaroÜnger, aber auch minder bedeutende
Bauwerke.
So heißt es von der unter Ludwig dem Frommen begonnener
und im Jahre 939 allerdings noch nicht vollendeten Pfalzkapelle zi
Diedenhofen ausdrücklich, daß sie nach dem Vorbilde der Aachene:
gebaut sei.* Auch in der Pfalz Gondreville war eine gewiß nicht un
^ BM. 1409 und 1410, beide für sein Kloster St. Gallen. — Auch der tironisch»
Vermerk zu BM. 1409 (domnus Ludouicus rex fieri iussit et Grimaldus abba scriben
precepit; Tangl, Arch. f. ürkundenf. I, 153) weist darauf hin, daß Grimald hie
tatsächlich die Funktionen des Kanzlers ausübt.
' Mühlbacher, Reg. a. a. 0.
' Vgl. Ann. Einhardi 829 (SS. I, 218 = Kurze p. 177); s. oben S. 52 A. 6.
* Continuator Reginonis 939 (SS. I, 618): „Omnibus tamen Lothariensibus sub
actis (von Otto I.) aliquamdiu resistere conatus est episcopus Mettensis, unde Theodoni
Villa capellam domni Ludovici pii imperatoris, instar Aquensis inceptum, ne perficeretu
aut pro munimine haberetur, destruxit." Vgl. Simson, Ludwig d. Fr. II, 263. -
Waitz, VG. III, 517 A. 2 nennt irrtümlich Ingelheim, indem er sich auf obige Stell
beruft. Natürlich hat auch hier, wie in allen karolingischen Pfalzen, eine capell;
existiert; wenigstens war die Möglichkeit gegeben, das dort befindliche Heiligtun
mit diesem Namen zu bezeichnen.
Capella 71
igi bedeutende Kapelle; denn Ludwig beauftragte den Bischof Frotharius
faJIvon Toul, sie durch ein Bauwerk, das jedenfalls nach dem Muster des
ortikus bei der Aachener Marienkirche errichtet werden sollte, mit dem
^falzgebäude zu verbinden.^ Vielleicht war auch die Kirche, welche
Bischof Theodulf von Orleans zu Germigny errichtete, eine Nachbildung
Oilder Aachener Marienkirche.^
Durch den Vertrag zu Verdun kam die Aachener Pfalzkapelle in die
land Lothars und seiner Nachfolger. Es war daher ganz natürlich,
daß die übrigen Karolinger, deren Reiche kein so hervorragendes Pfalz-
heiligtum aufzuweisen hatten, sich durch Neugründungen Ersatz zu
Ischaffen suchten.
^So errichtete Ludwig der Deutsche^ die Marienkapelle zu Frank-
•t, der Pfalz, in der er häufig residierte; das Heiligtum wurde am
September 852 durch Erzbischof Hraban von Mainz geweiht.^ Eine
zweite große Kapelle, ebenfalls der heiligen Maria geweiht, erbaute
Ludwig zu Regensburg, ^ wo er schon als junger König von Bayern
|mit Vorliebe seinen Aufenthalt genommen hatte.
Selbst als durch den Vertrag von Mersen 870 die Aachener Pfalz-
Ikapelle an das Ostreich gekommen war, stifteten die Nachfolger Lud-
wigs des Deutschen besondere königliche Kapellen, so Karlmann zu
lÖtting, Arnulf zu Roding und Ranshofen.^
Karl der Kahle errichtete für sein Reich das Stift zu Compiegne,
das im Jahre 877 vollendet wurde.' Daß er diese Gründung nicht
früher vornahm, erklärt sich daraus, das er immer noch auf die Er-
werbung der Aachener Pfalzkapelle selbst gehofft hatte. Diese Hoff-
nung war jedoch durch den Vertrag von Mersen zuschanden geworden,®
und so wollte er wenigstens durch die Gründung eines großen Stiftes
zu Compiegne Ersatz schaffen.
-"
^ Brief des Frotharius an Hilduin vom Jahre 828 (EE. V, 282); vgl. Simson,
Ludwig d. Fr. II, 262.
^ Simson, Karl d. Gr. II, 559. — Mühlbacher, Deutsche Gesch. unter den
Karolingern S. 233 nennt auch Otmarsheim im Elsaß.
^ Monachus Sangall. II c. 11 (SS. II, 754): „Oratoria nova ad Franconovurt et
Reganesburg admirabili opere construxit."
* Dümmler, Gesch. des ostfränk. Reiches I, 359 f., II, 422.
^ Dümmler, a. a. 0. I, 359f., II, 385, 482.
' Dümmler, a. a. 0. III, 139, 477.
' Dümmler, a. a. 0. II, 422; III, 41.
^ Im Anfange der uns erhaltenen Stiftungsurkunde (Bouquet VIII, 659) nimmt
Karl ausdrücklich darauf Bezug: „cum pars illa regni nobis sorte divisionis nondum
contigerit."
72 Wilhelm Lüders
2. Die Pfalzkapellen des neunten Jahrhunderts als selbständige
Stifter
Die großen Pfalzheiligtümer des 9. Jahrhunderts führen meist noch
die alte Bezeichnung capella, oder die Herrscher geben ihr besonderes
Interesse für sie durch die Bezeichnung als capella regalis ^ oder capelh;
nostra^ zu erkennen. Daneben finden sich aber auch neue Benennungen.
So wird die Aachener Marienkirche 870 im Vertrage zu Mersen als
abbatia de Aquis bezeichnet.^ Karl der Kahle nennt das von ihm be-
gründete Marienstift zu Compiegne monasterium,* ebenso Karlmann die
von ihm zu Ötting erbaute Kirche,^ während sie von seinen Nachfolgern
wiederum nur als capella bezeichnet wird.
Schon diese neuen Bezeichnungen lassen den Umschwung er-
kennen, der sich im Laufe des 9. Jahrhunderts mit den großen Pfalz-
kapellen vollzog: diese lösten sich von dem obersten capellanus und
den capellani allmählich völlig los und bildeten schließlich selbständige
große Stifter, in denen unter der Leitung eigener Abte Kanoniker
ihren Sitz hatten.
' BM. 1920 (896 Aug. 2).
^ BM. 1502, 1509, 1652, 1690, 1710, 1955. — capellam suam BM. 1570, 1645.
' MG. Leg. I fol., 516 f.
"• Bouquet VIII, 659.
' BM. 1521.
® Daß die königlichen Kapellen dieser Zeit durchweg Kanonikate und nicht
Mönchsklöster gewesen sind, ist zweifellos, obwohl Haagen, Gesch. Aachens I, 19
behauptet, daß im Aachener Marienstifte Benediktiner gelebt hätten (vgl. Qu ix, fiist.
Beschr. der Münsterkirche in Aachen, Aachen 1825, S. 63; J. H. Kessel, Geschieht!.
Mitt. über die Heiligt, der Stiftskirche zu Aachen, 1874, S. 3). Allerdings sind die
Zeugnisse, die unzweifelhaft den Charakter der Kapellen als Kanonikate dartun, in
unserem Material nur spärlich: erst 901 (BM. 1995) ist ausdrücklich von den „fratres
. . . canonice degentes" zu Ötting und um dieselbe Zeit (900—911, BM. 2069) von
den „canonici in capella Radisponensis civitatis . . . famulantes" die Rede. Aber auch
die Bezeichnungen abbas, monasterium, fratres, abbatia (de Aquis) beziehen sich
nicht notwendig auf ein Mönchskloster. Denn nach Werminghoff, Die Beschlüsse
des Aachener Konzils im Jahre 816 (NA. XXVII, 625) werden die Vorsteher der Stifter
nicht selten abbates canonici genannt; der gebräuchlichste Titel der Leiterin eines
Kanonissenstiftes ist sogar das bloße abbatissa (nur einmal weiß Werminghoff
praelata und abbatissa canonica zu belegen, a. a. 0. S. 632), was also genau unserem
abbas entsprechen würde. Ebenso ist das bloße monasterium (a. a. 0. S. 631) eine
häufige Bezeichnung eines Kanonissenstiftes, also auch, so dürfen wir folgern, für
ein Kanonikerstift möglich. Kommen demnach Ausdrücke, die unzweifelhaft auf
Mönchsklöster hinweisen, nirgends vor, so ist andererseits gerade die Bezeichnung
clerici in dieser Zeit ein häufiger Ausdruck für Kanoniker (vgl. Puckert, Aniane
und Gellone S. 19 A. 12f.). VgL auch H. Schäfer, Pfarrkirche und Stift im
deutschen Mittelalter (Stutz' kirchenrechtl. Abhandlungen 3. Heft 1903) S. 125 f.
Capella 73
Der Grund zu dieser Entwicklung ist ohne weiteres klar. Hatte
unter Karl dem Großen und Ludwig dem Frommen der oberste Kapellan
noch selbst die Pfalzkapelle mit den darin dienenden capellani unter
isich gehabt, so mußte ihn unter den folgenden Karolingern seine zu-
nehmende Machtstellung und sein sich stetig erweiternder Geschäfts-
kreis, namentlich seitdem er unter Ludwig dem Deutschen noch die
'Oberaufsicht über die Kanzleigeschäfte erhalten hatte, bald an der Aus-
übung jener Pflichten hindern. Andererseits wurde durch mancherlei
Schenkungen auch der Besitz der Pfalzkapellen so bedeutend, daß sie
2iner selbständigen Leitung bedurften.
Man wird nicht fehlgehen, in dieser Entwicklung eine, wenn auch
späte Nachwirkung der Reformen Benedikts von Aniane zu sehen.
Schon in den zwanziger Jahren hatte die kirchliche Reformpartei die
Hofgeistlichkeit scharf angegriffen, weil sie weder zu den Mönchen
noch zu den Kanonikern zu zählen sei.^ Ludwig der Fromme hatte
damals diesen Angriffen kein Gehör gegeben: er hatte weder die
Hofkapelle aufgehoben , noch sie zur Annahme der vita canonica
igezwungen. Nun aber drang die vita canonica doch noch in die
Hofgeistlichkeit ein, allerdings nicht in der Weise, daß diese in ihrer
Gesamtheit sie annahm, sondern vielmehr in der Weise, daß sich
an den einzelnen großen Pfalzkapellen besondere Kanonikate heraus-
bildeten.
Bei welcher der großen Pfalzkapellen die Entwicklung zu einem
selbständigen Stifte zuerst eingesetzt hat, läßt sich nicht mit Bestimmtheit
entscheiden; doch ist es am wahrscheinlichsten, daß sie am frühesten
bei der Aachener Pfalzkapelle stattgefunden hat. Denn wenn die erste
Urkunde, die uns darüber Aufschluß gibt, auch erst aus dem Jahre 887,
oder will man die Stelle „abbatiam de Aquis" des Mersener Teilungs-
vertrages mitrechnen, aus dem Jahre 870 stammt, so muß jene Ent-
wicklung doch weit früher eingesetzt haben, da die großen nach dem
Vorbilde der Aachener Marienkirche gegründeten Pfalzkapellen, zuerst
die 852 geweihte Pfalzkapelle zu Frankfurt, bereits von vornherein den
Charakter von Stiftern tragen.
Nach der Urkunde Karls des Kahlen für Compiegne aus dem
Jahre 877 hätte sogar schon Karl der Große der Aachener Kapelle die
Verfassung eines Stiftes gegeben, indem er dort clerici eingesetzt
hätte. ^ Aber Karl der Große war kein Freund klösterlicher Neu-
^ Siehe oben S. 62.
^ Bouquet VIII, 659: „imperator avus . . . noster Karolus ... in pälatio
Aquensi capellam in honore beatae Dei genitricis et virginis Mariae construxisse ac
clericos inibi Domino ob suae animae remedium atque peccaminum absolutionem
74 Wilhelm Lüders
gründungen;^ diese clerici sind zweifellos nichts anderes als die „cleric
qui in capella regis habitant", welche bereits 794 auf der Frankfurte
Synode erwähnt werden, oder die „clerici de capella nostra", von dener
Karl im Capitulare de villis spricht; also nichts anderes als eben di(
capellani, welche unter der Leitung des obersten capellanus den Diens
in der Kapelle verrichteten. Immerhin waren doch Ansätze zu de
späteren Entwicklung gegeben.
Auch unter Ludwig dem Frommen verlautet noch nichts davon, dat
die Pfalzkapelle zu Aachen den Charakter eines Stiftes gehabt habe.
Wenn nun die königliche Kapelle zu Frankfurt, welche 852 ge
weiht ist, gleich von Anfang an einen solchen gehabt hat, so wird dii
Aachener Marienkirche jedenfalls unter Lothar I. Stift geworden sein
Daß diese Entwicklung schwerlich früher eingesetzt hat, läßt sich schoi
daraus schließen, daß keine der uns erhaltenen Schenkungsurkundei
für die Aachener Kapelle über die Regierung Lothars IL zurückweist;^ fall:
sie sich eher zu einem selbständigen Stifte entwickelt hätte, so würdei
sich wohl auch Schenkungsurkunden aus früherer Zeit erhalten haben
Diese Schenkungsurkunden sind es eben, welche das Wesen de
großen Pfalzkapellen während dieser Zeit erkennen lassen. Obwoh
diese Entwicklung mit der früheren Kapelle, wie sie am Hofe Karl:
des Großen und Ludwigs des Frommen bestand, eigentlich nichts meh
zu tun hat, sei sie doch im folgenden kurz skizziert.
Die erste Urkunde zugunsten der Aachener Marienkirche, von de
wir hören, eine Schenkung König Lothars IL, ist verloren; doch laß
sich ihr Inhalt aus der Urkunde Arnulfs vom 13. Juni 888 rekon
struieren.^ Die Kapelle erhielt den Neunten von 43 königlichen Villen,
pariterque ob dignitatem apicis imperialis deservire constituisse." — Auf Grun(
dieser Nachricht nimmt Simson, Karl d. Gr. II, 560 auch wirklich an, daß Kar
an der Marienkirche ein „Stift von Klerikern" begründet habe.
' Hauck II, 565.
^ Die verlorene Urkunde Lothars IL, erwähnt BM. 1796, ist die älteste erkenn
bare Schenkung für die Aachener Marienkapelle. — Daß vielleicht Lothar IL über
haupt erst die Umwandlung der Aachener Marienkirche in ein Stift vorgenommer
hätte und demnach Ludwigs des Deutschen Gründung zu Frankfurt (852) als dii
erste königliche Kapelle mit Stiftsverfassung anzusehen wäre, ist deshalb nicht an
zunehmen, weil Karl d. K. 877 bereits Karl d. Gr. die Gründung des Aachener Stift;
— wenn auch zweifellos mit unrecht — zuschreibt. Hätte Lothar IL (855—869
jene Umwandlung vorgenommen, so hätte dies Karl d. K. im Jahre 877 noch wisser
müssen.
' BM. 1796. — BM. 1170, angeblich eine Urkunde Lothars I. vom 16. Jan. 855
ist gefälscht. Die hier tradierte Peterskapelle in Sinzig ist, nach Mühlbacher, ur
kundlich erst Ende des 12. Jahrhunderts im Besitze der Aachener Marienkirche
nachzuweisen.
* Darunter sind Aachen, Mersen, Elsloo, Heristal, Jupille, Ambl^ve, Düren.
Capella 75
ilso eine außerordentlich bedeutende Zuwendung. Augenscheinlich war
lie Pfalzkapelle noch nicht lange selbständiges Stift, und es handelte
;ich darum, durch reiche Schenkungen ihren Bestand zu sichern. Nicht
ninder wichtig ist dann die Urkunde, durch die Karl III. im Jahre 887
ier Marienkirche die Villa Bastogne im Ardennengau nebst ihrem
v\arkte schenkte; denn hier wird zum ersten Male der Abt, welcher
zweifellos seit Umwandlung der Kapelle in ein Stift an der Spitze der
3rüder stand, urkundlich erwähnt.^ Das Privileg vom 13. Juni 888, in
iem Arnulf die Schenkungen Lothars IL und Karls IIL bestätigt, nennt
hn „rector atque provisor capellae".^
Auch Ludwig stattete seine Gründung zu Frankfurt reichlich aus,
ndem er ihr eine große Anzahl von Kapellen und Kirchen nebst den
iazugehörigen Zehnten schenkte.^ Außer den Priestern der einzelnen
<irchen sollten zwölf clerici an der Pfalzkapelle ihren Unterhalt haben.
3er Abt, der auch hier der Pfalzkapelle vorstand, sollte für immer von
ier Heerfahrt befreit sein.^ Als solcher erscheint in den Urkunden
Ludwigs IIL und Karls IIL, welche die Anordnungen ihres Vaters be-
stätigten, Williheri, zugleich Abt von St. Maximin in Trier; er hatte
edenfalls auch schon unter Ludwig dem Deutschen die Leitung der
Pfalzkapelle in Händen gehabt. ^^
Ganz dieselbe Verfassung hatte die Regensburger Kapelle. Auch
liier stand, wie in Frankfurt, ein abbas,^ der gelegentlich auch „rector
ecclesiae" genannt wird,' an der Spitze des Stiftes und seiner Kanoniker.^
ne
^ BM. 1739: „nullusque eiusdem ecclesiae a66a5 benefaciendi habeat licentiam.
Mühlbacher hat in dem Regest den Zusatz „kein Abt, jetzt Propst geheißen",
doch habe ich in den von mir benutzten Drucken (Quix, Cod. dipl. Aqu. 4,
La com biet I no. 74) keinen derartigen Zusatz gefunden. Erst Lacomblet I
nilno. 107 (vom Jahre 996) heißt es abbas, qui modo prepositus dicitur; vgl. Schäfer,
1(1 Pfarrkirche und Stift im deutschen Mittelalter, S. 128 A. 6.
' BM. 1796.
^ Alle diese Maßnahmen Ludwigs sind ersichtlich aus den Bestätigungsurkunden
Ludwigs III. (BM. 1570, 880 Nov. 17) und Karls IIL (BM. 1645, 882 Dez. 2). Auch
3b(| Schenkungen von Privatleuten an die Kapelle kamen vor; so bestätigt 873 (BM. 1502)
Ludwig d. D. die Schenkung einer Frau Rotlind.
* BM. 1570 (und 1645): „ab illo abbate, cui ipsa cappella commissa fuerit,
nulla umquam hostilis expeditio exigatur."
^ Die Bemerkung im Codex dipl. Moenofrancofurtensis ed. 2, I, 3, daß Williheri
in den Libri confraternit. s. Galli I, 76, 14 als Williheri abbas Francofurt. cappellanus
erscheine, ist irreführend; im Texte steht nur Williheri, das übrige ist Erläuterung
des Herausgebers in der zugehörigen Anmerkung.
^ BM. 1652, 1710.
' BM. 1652 (883 März 23).
' Diese heißen BM. 1509 (875 Mai 18) nur fratres, BM. 2069 (900—911) jedoch
ausdrücklich „canonici in capella Radisponensis civitatis in honore sanctae Dei
genitricis constructa Domino salvatori famulantes".
76 Wilhelm Lüders
Unter Karl III. hatte Engilmar die Abtswürde inne.^ Von den letzter
Karolingern wurde die Regensburger Kapelle aufs reichste mit Schen-
kungen bedacht.^ Später geriet sie in Verfall, bis sie durch Heinrich II
neu begründet wurde.^
Ein sehr großes Stift war die von Karl dem Kahlen gegründete
Marienkirche in der alten Merowingerpfalz zu Compiegne. Die hervor-
ragende Stellung, die sie im gesamten Westfrankenreiche einnehmen
sollte, wird durch die Bezeichnung als monasterium regium gekenn-
zeichnet* Sie sollte mit dem Kloster Prüm und dem Frauenstifte der
heiligen Maria zu Laon auf einer Stufe stehen. Die stattliche Anzahl
von hundert clerici erhielt dort ihren Unterhalt, um für den Bestand
der Kirche und des Reiches sowie für Karls Person und Familie die
Gnade Gottes anzuflehen. Eine große Menge von Villen und Kapellen
wurde von Karl zum Unterhalte des Stiftes und seiner Kanoniker ge-
schenkt.
Die Pfalzkapelle zu Ötting, die Karlmann zu Ehren der h. Maria
und des Apostels Philipp erbaute und sich zu seiner letzten Ruhestätte
ausersah, wurde von ihm selbst mit der Abtei Mattsee und einer Kapelle
zu Ötting nebst einem Hofe zu Buch beschenkt.^ Auch von Karl III.,
Arnulf und Ludwig dem Kinde erhielt sie reiche Zuwendungen.^ Als
Abt der bei ihr lebenden Kanoniker wird 901 Burkhard genannt.'^
Die von Arnulf zu Ehren des Apostels Jakob, des heiligen Pankraz
und der von Rom in die Heimat mitgebrachten Heiligen erbaute könig-
liche Kapelle zu Roding beschenkte der Gründer selbst am 2. August 896.^
Ein Abt wird nicht erwähnt, es ist bloß von den dort Gott dienenden
Brüdern die Rede.^
Die letzte derartige Gründung der karolingischen Zeit scheint die
von Arnulf erbaute Kapelle zu Ranshofen gewesen zu sein. Sie wird
^ BM. 1652, 1710.
2 BM. 1509, 1652, 1690, 2069.
» Vgl. BM. 2069. — MG. DD. III, 29 Urkunde Heinrichs II. vom 16. Nov. 1002.
* Bouquet VIII, 659: „infra tarnen potestatis nostrae ditionem, in palatio
videlicet Compendio . . . monasterium, cui regium vocabulum dedimus, fundotenus
extruximus."
^ BM. 1521 (877 Febr. 24).
« BM. 1711, 1955, 1995.
^ BM. 1995. — In derselben Urkunde ist auch ausdrücklich von den „fratres
ibidem canonice degentes" die Rede.
^ BM. 1920: „qualiter nos aecclesiam et regalem capellam nostram, quam ad
Rotagin a fundamentis construere iussimus et dedicare fecimus in honore et vene-
ratione sancti Jacobi apostoli fratris domini et sancti Pancratii sanctarumque quas
a Roma nobiscum in istam patriam deferimus, istis infra titulatis casis dotavimus . . ."
® BM. 1920: . . . „ad memoratam cappellam nostram Rotagin ad opus fratrum
ibidem Deo die noctuque famulantium . . . donamus et tradimus . . ."
Capella 77
ftj erst ganz am Ende seiner Regierung, am 17. Oktober 898 und am
. Februar 899,^ erwähnt. Auch konnte sie sich nicht mehr zu großer
edeutung, vielleicht nicht einmal zu einem regelrechten Stifte ent-
j^^ickeln, obwohl von den „servi Dei ibidem divina persolventes officia"
jie Rede ist.^ Denn Arnulf verfügte, daß sie nach dem Ableben ihres
Inhabers, des Priesters Ellimpreht, an die Kapelle zu Ötting fallen und
so ihre Selbständigkeit einbüßen sollte.^
Auf der Entwicklungsstufe, die die Hofkapelle in der zweiten Hälfte
des 9. Jahrhunderts erreicht hatte, blieb sie im wesentlichen auch
d während der folgenden Jahrhunderte im Deutschen Reiche stehen.
Eine strenge Konzentration und trotzdem eine klare Scheidung
des persönlichen und des räumlichen Elementes bestand nur unter
Karl dem Großen und auch noch unter Ludwig dem Frommen. Aber
der auf diese Weise kaum geklärte Begriff der Hofkapelle war nicht
von langer Dauer. Bald schieden sich wieder die einzelnen Elemente
voneinander. Etwa seit der Mitte des 9. Jahrhunderts stand in
Deutschland wieder auf der einen Seite die Hofgeistlichkeit unter
^ dem archicapellanus, der nun außerdem noch die Leitung der Kanzlei
erhielt, und auf der anderen Seite das räumliche Element, das sich
jetzt in selbständigen großen Residenzkapellen unter der Leitung eigener
Äbte verkörperte.
Diese Trennung blieb auch in der Folgezeit bestehen. Das Erz-
kapellansamt wurde bald eine erbliche Zubehör ausschließlich der
Mainzer Erzbischöfe. Andererseits fuhren Kaiser und Könige fort, an
den jeweilig von ihnen bevorzugten Pfalzen große Stifter zu gründen
und sie mit umfassenden Vorrechten auszustatten.^ Auch für sie be-
gegnet noch nach Jahrhunderten die alte Bezeichnung capella.^
Aber mit dieser Abspaltung des Begriffes capella von der ursprüng-
lichen Hofkapelle war es noch nicht genug. Capella wurde im Laufe
^ des 9. Jahrhunderts auch ein gebräuchlicher Ausdruck für jede andere
' BM. 1946 und 1951.
' BM. 1951.
« BM. 1946.
* Vgl. Ficker, Reichsftirstenstand, S.363ff.; ferner G. N öl deke, Verfassungsg.
des kaiserlichen Exemtstiftes SS. Simonis et Judae zu Goslar von seiner Gründung
bis zum Ende des Mittelalters, Gott. Diss. 1904.
'" So heißt es z.B. in der bei N öl deke a.a.O. S. 3 A. 1 zitierten Urkunde
vom Jahre 1295 (Goslarer Urkundenbuch II, 479): „nos . . . eidem monasterio (näm-
lich SS. Simonis et Judae zu Goslar) tamquam speciali nostre capelle gracias fruc-
tuosas regni nostri temporibus intendimus impertiri ..."
78 Wilhelm Lüders
Art von Heiligtümern, mochten sie nun in Händen des Königs, in
denen von Bischöfen, Klöstern oder Laien sein. Wie sich diese Ab-
spaltung vollzogen hat, wird der folgende Abschnitt untersuchen.
IV. Capeila als Eigenkirche ohne Verbindung mit
Residenz und Hofgeistlichkeit
§ 1. Capellae auf Königsgut
1. Die Entstehung der gewöhnlichen Pfalzkapellen neben den
großen Residenzkapellen
Wir sahen oben, daß im Prinzip für jedes Heiligtum einer könig-
lichen Villa die Möglichkeit gegeben war, dadurch, daß der Hof mit
seinen Reliquien und ihren Hütern, den capellani, in der betreffenden
Pfalz seinen Aufenthalt nahm, mit der Hofkapelle in Verbindung zu
treten und so die Bezeichnung capella zu erhalten.
Dann trat jedoch eine für die Folgezeit entscheidende Neuerung
ein: Karl der Große machte die von ihm erbaute Marienkirche zu
Aachen zum ständigen Sitz der Hofkapelle, und auch unter seinen
Nachfolgern kamen zu diesem Reichsheiligtum nur noch wenige aus-
erlesene Pfalzkapellen hinzu.
Diese Maßnahme mußte für die Weiterentwicklung der Kapellen
von entscheidender Bedeutung werden. Durch sie wurde die gesamte
Masse der capellae in zwei große Gruppen geschieden. Auf der einen
Seite standen nunmehr die großen privilegierten Residenzkapellen, auf
der anderen jedoch die gewöhnlichen Pfalzkapellen, die mit dem Hof-
institute in keiner Verbindung mehr standen. Diese hatten also eigent-
lich die Berechtigung, den Namen capella noch weiter zu führen, ver-
loren. Aber diese Bezeichnung war schon zu weit verbreitet. Schon
vor der Gründung der Aachener Kapelle führten königliche Pfalzheilig-
tümer in ganz entgegengesetzten Teilen des Reiches diesen Namen; ^
ja, vielleicht hatten schon damals manche von ihnen niemals mit dem
Hofinstitute in Verbindung gestanden und nur in Analogie zu anderen
Pfalzheiligtümern die Bezeichnung capella erhalten.
So kam es, daß die Bewegung nicht ins Stocken geriet, sondern
im Gegenteil immer weiter um sich griff. Das läßt sich schon aus
^ Siehe oben S. 46 f.
Capella 79
jem stetigen Häufigerwerden des Ausdruckes capella in den Königs-
jrkunden erschließen. Die Quellen des 8. Jahrhunderts nennen nur
A^enige capellae. Naturgemäß wird ihre Anzahl in dieser Zeit auch
loch verhältnismäßig gering gewesen sein. Doch muß man anderer-
seits auch mit der lückenhaften Überlieferung rechnen; jedenfalls ist
3s eine sehr beachtenswerte Tatsache, daß capellae sich schon früh in
A/eit entlegenen, ja sogar in eben erst eroberten Gebieten des Reiches,
A^ie Bayern und Italien, finden. Seit dem Anfange des 9. Jahrhunderts
A^erden sie immer häufiger erwähnt.
Während die eine Schicht der capellae durch die Karolinger zu
^roßer Macht und hohem Ansehen erhoben wurde, blieb die andere in
ier niederen Stellung, die sie schon vorher innegehabt hatte. Gleich-
vohl hat auch sie ihre Geschichte.
1. Die Stellung der gewöhnlichen capellae unter den Heilig-
tümern des Königs
Die karolingischen Heiligtümer waren, als die Bezeichnung capella
ufkam, sämtlich dem germanischen Eigenkirchenrechte unterworfen,
fVelches sich im letzten Jahrhundert der Merowingerherrschaft zum
• l'ölligen Siege im Frankenreiche durchgerungen hatte. ^
In ihrer rechtlichen Stellung unterschieden sie sich in keiner Weise
/on den übrigen grundherrlichen Kirchen.^ Sie waren zum Teil Pfarr-
■ jnd Taufkirchen, in der Mehrzahl jedoch, gerade wie auch die meisten
ihrigen, nichtköniglichen Eigenkirchen, bloß kleinere Heiligtümer, die,
)hne das Taufrecht und die sonstigen Rechte der größeren Kirchen zu
)esitzen,^ lediglich zur Befriedigung der täglichen kirchlichen Bedürf-
lisse der umwohnenden Bevölkerung dienten. Die Bezeichnung der
jrsteren Gattung war in der merowingischen Zeit meist ecclesia oder
)arrochia, die letzteren wurden gewöhnlich Oratorium, sehener basilica
)der martyrium genannt.^
l
^ Stutz, Gesch. des liirchlichen Benefizialwesens, S. 137.
^ Stutz S. 153.
^ Über die Sonderrechte der Pfarr- und Taufkirchen vgl. Loening, Gesch. des
leutschen Kirchenrechts II, 347 ff.
* Vgl. Loening II, 354. — So setzt z. B. Alcimus Ecdicius Avitus, Bischof
/on Vienne, in einem Briefe aus dem Jahre 517 oratoria sive basilicae im Gegen-
>atz zu ecclesiae (Auct. antiq. V 2, 35). Bei Venantius Fortunatus bezeichnet basilica
nit einem Genitiv, z. B. basilica s. Martini, die gewöhnlichen Kirchen, ecclesia, ebenso
mt bei Gregor von Tours, die Bischofskathedralen (W. Meyer, Der Gelegenh'eits-
iichter Venantius Fortunatus, Abh. d. königl. Ges. d. Wiss. zu Göttingen, phil.-hist.
Klasse, N. F., Bd. IV, Nr. 5, S. 81): die oratoria sind auch hier die einfachen Bet-
80 Wilhelm Lüders
Zu Beginn der karolingischen Zeit hatten sich diese Bedeutungen
insofern ausgeglichen, als zwar ecclesia speziell noch immer die
große Pfarr- und Taufkirche bezeichnete, aber zugleich, wie zahl-
reiche Beispiele beweisen, auch identisch mit Oratorium und basilica
gebraucht wurde. Andererseits wurde basilica auch in der Bedeutung
von Pfarr- und Taufkirche, ja sogar in der von Bischofskirche ver-
wendet.-^
Die neu aufkommende Bezeichnung capella setzte sich in erstei
Linie natürlich für den Ausdruck Oratorium fest, der bis dahin der arr,
häufigsten vorkommende Name für die Heiligtümer der königlicher
Pfalzen gewesen war.^
Wie der Sprachgebrauch für basilica und Oratorium schon frühei
nicht völlig fest war, so wechselt jetzt ferner capella mit basilica. Dit
Annales Laureshamenses berichten zum Jahre 785 den Bau einer ba-
silica auf der Eresburg;^ sie wird am 20. Juni 826 von Ludwig den
Frommen und Lothar an Korvey verschenkt, doch nennt sie die Ur-
kunde nunmehr capella.^ Eine Urkunde Ludwigs des Frommen be-
stätigt am 19. Dezember 822 dem Bischof Vulgär von Würzburg untei
anderen Kirchen auch den Besitz einer basilica der h. Maria zu Würz-
burg; ^ derselbe Wortlaut findet sich wieder in der Bestätigung Lud
wigs des Deutschen vom 5. Juli 845;^ dagegen ist statt dessen in de
Bestätigung Arnulfs vom 21. November 889 von der capella zu Würz
bürg die Rede;^ dies ist um so auffallender, als sonst die Urkunde dit
beiden Vorurkunden fast wörtlich wiedergibt, ein Beweis, daß sich fiii
das Heiligtum zu Würzburg inzwischen der Ausdruck capella fest
gesetzt haben muß. Auch das ist bemerkenswert, daß die Urkundei
Ludwigs des Frommen und Ludwigs des Deutschen die geschenkter
Häuser, die jeder Private bauen konnte (W. Meyer a. a. 0. S. 103). In den Capitulc
episcoporum Papiae edita (855—860, Capit. II, 81) werden die basilicae, welch»
Privatleute iuxta domos suas habent, in Gegensatz zu den maiores ecclesiae gesetzt
^ So z. B. in Freisinger Urkunden (Bitterauf, Die Traditionen des tiochstift;
Freising; Meichelbeck, Hist. Fris. D.
^ Vgl. Capit. II, 186 (Conc. Mogunt. 852 c. 3). — Der Monachus Sangall. II c. 11
(SS. II, 754) nennt sogar die großen königlichen Kapellen zu Frankfurt und Regens
bürg oratoria.
' SS. I, 32.
* BM 830; allerdings frühestens nur in einem Cartular saec. X. überliefert, docl
sehe ich keinen Grund, an der Mitteilung der Urkunde zu zweifeln. — Dagegen is
die angebliche Urkunde Ludwigs d. Deutschen (BM. 1406, angebl.'vom 22. Mai 853)
welche die ecclesia Eresburg erwähnt, gefälscht.
' BM. 768 (Or.).
^ BM. 1382 (Or.).
' BM. 1835 (Or.).
Capella 81
i)asilicae und ecclesiae als cellulae^ vel basilicae zusammenfassen, die
iJrkunde Arnulfs dagegen die bestätigten Heiligtümer einfach mit dem
Samen capellae bezeichnet. Auch die Urkunde Arnulfs vom 15. Ok-
tober 889 nennt die capella im Königshofe zu Aufhausen zugleich
; i)asilica.^
Il Ebenso häufig ist die synonyme Verwendung von capella mit
^tcclesia zu belegen. So bezeichnet schon die Passauer Urkunde von
if99 die capella zu Linz zugleich als ecclesia.^ Eigil nennt die könig-
iche capella, in der sich Sturm nach seiner Rückkehr aus der Ver-
)annung aufhält, auch ecclesia.* Die capella, die Arnulf am 28. Ja-
luar 888 dem Priester Ruodpert bestätigt,^ ist mit der am 9. Mai 881
Jon Karl III. verschenkten ecclesia^ identisch.
Die angeführten Beispiele, die sich ohne Mühe noch vermehren
ießen, zeigen, daß die neue Bezeichnung capella an sich keinerlei
echtliche Sonderstellung gegenüber den anderen Heiligtümern des
vönigsgutes schuf, sondern, nur ein anderer Ausdruck, in buntem
A/echsel mit den übrigen Bezeichnungen gebraucht wurde.
Daraus werden wir auch ohne weiteres auf den rechtlichen Charakter
ler capellae schließen können. Wir dürfen annehmen, daß der Aus-
Iruck capella sich sowohl für die kleinen Bethäuser wie auch für die
*farr- und Taufkirchen des Königsgutes festsetzte. Allerdings kam der
ßtztere Fall schon deshalb seltener vor, weil die Kirchen mit Pfarr-
echt naturgemäß auch auf Königsgut bei weitem nicht so häufig wie
lie gewöhnlichen Heiligtümer waren. Es kann daher nicht verwundern,
es i^enn die capellae gelegentlich, in den Akten des Pariser Konzils vom
lahre 829, als aedicula, kleine Heiligtümer ohne die Vorrechte der
;rößeren Kirchen, bezeichnet werden.^ Doch ist es zweifellos, daß,
benso wie sich für die großen Residenzkirchen der Karolinger die
Bezeichnung capella einbürgerte, so auch gelegentlich eine Pfarr- und
aufkirche auf Königsgut capella genannt wurde.®
Wenn die Bezeichnung capella für ein Heiligtum nun auch an sich
^lleine rechtliche Sonderstellung schuf, so war doch die Vorstellung,
^ Denn es wird auch das Marienkloster zu Karleburg am Main unter den
Schenkungen aufgeführt.
' BM. 1831 (Or.).
' Siehe oben S. 47.
* Siehe oben S. 46.
^ ' BM. 1776 (Or.).
j; ' BM. 1619 (Or.).
^ Lib. III c. 6 (Mansi XIV, 597): „Admonemus, ut posthabitis aediculis, quas
sus inolitus capellas appellat, basilicae deo dicatae ad missarum celebrationem
udiendam . . . adeantur." Vgl. lib. III c. 19 (Mansi XIV, 601; Capit. II, 39).
' Vgl. Stutz S. 258 A. 72.
Afü II 6
82 Wilhelm Lüders
daß sie ursprünglich auf königlichem Boden entstanden sei und
deshalb auch in erster Linie den Heiligtümern des Königs zu-
komme, noch lange lebendig. Ja, man kann sagen, daß in den
ersten Jahrzehnten des 9. Jahrhunderts capella wenn nicht der aus-
schließliche, so doch der gebräuchlichste Ausdruck für die königliche
Fiskalkirche war; es haftete ihm gewissermaßen eine technische Be-
deutung an.
In diesem Sinne wird die Bezeichnung capella gerade in solcher
Zeugnissen gebraucht, die eine typische Geltung haben, wie z. B. ii
Formeln. In Form. Senonens. rec. no. 3 findet ein gerichtlicher Eic
statt „super altario sancti illius in illa capella que est in curte fisci, uh
reliqua sacramenta soluta sunt".^ Die Brevium exempla ad describenda^
res ecclesiasticas et fiscales führen auf einem Fiskus unter andere
auch eine „capella ex lapide bene constructa" an.^
Ein geradezu schlagendes Beispiel bietet jedoch eine Freising-
Urkunde vom 3. April 822. Auf einem Gerichtstage zu Ergolding ver
künden die kaiserlichen Sendboten Nidhart und Frecholf, sie hättei
vom Kaiser den Auftrag erhalten, zu untersuchen, ob die ecclesia zi
Oberföhring bischöfliches Eigentum, oder ob sie eine capella sei un(
als solche zum Königsgute gehöre.^ Die hier gebrauchte Terminologii
läßt keinen Zweifel übrig: es ist in der ganzen Urkunde, sowohl al:
die Besitzfrage noch streitig, wie auch als sie zugunsten des Bischof:
entschieden ist, nur von der ecclesia zu Feringa die Rede; nur an de
einen Stelle, als es sich um die Frage handelt, ob das betreffend!
Heiligtum vielleicht königlicher Besitz sei, wird es ausdrücklich capel
genannt. Dies ist um so auffallender, als während des ganzen 9. Jahr
hunderts in der großen Menge der Freisinger Urkunden dieser Aus
druck sonst nicht weiter zu belegen ist; die große Anzahl der hier ge
nannten Privatkirchen wird stets als Oratorium, ecclesia oder basilic;
bezeichnet. Wir haben daher hier einen vollen Beweis, daß zu jene
Zeit der Ausdruck capella noch in erster Linie als Bezeichnung für di(
königlichen Fiskalkirchen gefühlt und verstanden wurde.
^ Anfang des 9. Jahrhunderts. — MG. Formulae p. 212.
^ Etwa 810. Capit. I, 255: „Invenimus in illo fisco domlnico casam regaler
. . . capellam ex lapide bene constructam."
^ Bitterauf, Die Traditionen des tiochstifts Freising no. 463 (= Meichel
beck I^ 229f. no. 434): „a domno imperatore eis iniunctum fuisse pro ipsam ec
clesiam investigare, utrum ad episcopatum pertinere aut specialiter cappella ad opu
dominicum fieri deberet, eo quod Gregorius domno imperatore referebat, Hittoneti
episcopum ipsam praefatam ecclesiam iniuste praeripuisse." — Der Ausdruck ecclesi
begegnet, abgesehen von obigen beiden Fällen, noch dreimal in der Urkunde.
C a p e 1 1 a 83
3. Die königlichen capellae in der Eigenkirchenfrage
Eine vorläufige Regelung der Eigenkirchenfrage hatte unter Karl
lern Großen stattgefunden.^ So hören wir denn auch während seiner
Regierung nichts von Klagen gegen die königlichen capellae. Ebenso-
wenig wie die allmähliche Machtsteigerung der Hofkapelle und der in
hr dienenden Geistlichen, wird auch das Zunehmen der capellae bei
er übrigen Geistlichkeit auf Widerstand gestoßen sein; ungehindert
tonnten sie sich immer weiter verbreiten.
Auch auf die capellae fanden alle Änderungen im Eigenkirchen-
echte und in der Zehntfrage, die unter Karl vorgenommen wurden,
Anwendung. Gleichwie alle Fiskalkirchen besaßen sie den schon seit
angem für die Bevölkerung der Krongüter bestehenden Fiskalzehnten.^
)urch das Capitulare de villis erhielten sie dann auch den kirchlichen
lehnten, den die Pfarrkirchen unter ihnen schon immer besessen
latten, in ihrer Gesamtheit von den Insassen der königlichen fisci
uerteilt, soweit dadurch nicht die Rechte anderer Kirchen beeinträchtigt
l/urden.^
Auch im übrigen genossen die capellae ganz dieselbe Stellung wie
>de andere Eigenkirche des Königs oder eines Privaten, nur daß sie
der Mehrzahl ohne die Funktionen der Pfarr- und Taufkirchen ge-
wesen sein werden. Sie mußten stets mit einem gewissen Existenz-
linimum ausgestattet sein. Die an ihnen den Gottesdienst verrichtenden
^ Durch eine Anzahil von Kapitularien, namentlich aber auf der Frankfurter
ynode 794; Stutz S. 223 ff.
^ Nur um Fiskalzehnten kann es sich Form. imp. no. 39 (MG. Form. p. 316),
uf einer Urkunde Ludwigs vom 1. Okt. 814 beruhend (Form. p. 285), handeln: Ludwig
stätigt dem Kloster Malmedy die ihm bereits von seinen Vorfahren geschenkten
cimae et capellae in einer Reihe von fisci (darunter Düren, Klotten, Bonn, Sinzig,
ndernach etc., BM. 545); den kirchlichen Zehnten erhielten die königlichen Heilig-
mer aber allgemein erst durch das capit. de villis (s. die folgende Anm.); man
hüßte sonst schon annehmen, daß es sich bei den erwähnten capellae durchweg um
Ite Pfarrkirchen handele. — Vgl. Stutz S. 164; Pereis, Die kirchlichen Zehnten
h karolingischen Reiche (Berl. Diss. 1904) S. 71.
^ Cap. 6 (Capit. I, 83): „Volumus, ut iudices nostri decimam ex omni con-
iboratu pleniter donent ad ecclesias quae sunt in nostris fiscis, et ad alterius ec-
lesiam nostra decima data non fiat, nisi ubi antiquitus institutum fuit." — Zweifel-
'S sind unter den hier genannten ecclesiae auch die capellae mit zu verstehen,
)weit sie nicht das Pfarrecht besaßen. Darin liegt eben das Eigenartige jener Be-
;immung, daß sich die Zehntleistung der Insassen der königlichen fisci nicht nur
jf die Pfarr- und Taufkirchen — denn die Entrichtung der Zehnten an diese war
ilbstverständlich — , sondern auch auf die kleineren tieiligtümer erstrecken sollte;
ie königlichen Eigenkirchen hatten also durch diese Bestimmung ein Recht vor den
brigen Privatheiligtümern voraus. Vgl. Stutz S. 154 A. 6, 244f.; Pereis S. 22, 42.
I-
84 Wilhelm Lüders
Geistlichen, die sehr oft aus der Hofkapelle hervorgingen/ wurden vom
Könige bestellt; ob dem immer die gesetzliche Präsentation und Appro-
bation durch den Bischof der betreffenden Diözese vorangegangen ist,
darf man wohl bezweifeln. Der König war, wie es schon seit alten
Zeiten gehandhabt und auch durch die Bestimmungen Karls von neuem
festgesetzt wurde, unbedingter Herr über die Verwendung seiner Kirchen,
wenn auch dem Bischof die Aufsicht darüber vorbehalten war. Hieraus
erklären sich die zahlreichen Traditionen von Kapellen sowohl an Geist-
liche wie an Laien, die sich in den Urkunden namentlich der späteren
Zeit finden, sei es nun zu Lehen oder zu lebenslänglichem oder gar
dauernd freiem Eigentume.^
Schien so die Frage der Eigenkirchen unter Karl befriedigend
wenn auch überwiegend zugunsten des Königs und der übrigen Grund-
herren gelöst, so wurde sie von neuem bereits unter Ludwig dem
Frommen brennend. Sowohl die Bischöfe wie die Grundherren ver-
langten eine Erweiterung ihres Einflusses auf die Eigenkirchen.
Unter Leitung des Kaisers, der an dieser Frage wiederum selbst
aufs stärkste interessiert war, fand ein neuer Kompromiß statt, desser
Bestimmungen uns in dem Aachener Kirchenkapitular aus den Jahrer
818/819 erhalten sind.^ Doch der beabsichtigte Zweck wurde nicb
erreicht. Namentlich auf selten der Hierarchie dauerte die Unzufriedei
heit fort.
Als die stetig wachsende Zerfahrenheit der kirchlichen Verhältnis
unter Ludwig dem Frommen zu den großen Konzilien des Jahres 8.
führte, entbrannte der Streit sofort von neuem. Seit dieser Zeit spiel
der Ausdruck capella, der, wie wir sahen, seit Anfang des 9. Jahi
hunderts die eigentlich technische Bezeichnung für die königlicher
Eigenkirchen geworden war, in der Bewegung eine große Rolle; ei
wurde gewissermaßen das Schlagwort, um das sich der ganze Kamp
drehte.
Gleich unter den Punkten, die Ludwig zu Beginn des Jahres 82^
für die Beratung auf den Synoden aufstellte, findet sich als erster
„Über die Zehnten, die an die königlichen Kapellen entrichtet werden
* Das Capitulare de villis c. 6 sagt von den Fiskalkirchen : „Et non alii cleric
habeant ipsas ecclesias nisi nostri aut de familia aut de capella nostra." Vgl. dii
folgende Anm.
^ Ein sehr gutes Beispiel für die Verleihung einer capella aus der Zei
Karls d. Gr. ist Mon. B. XXVIir, 36 no. 39 (vom Jahre 799): Die Martinskapelle zu Lin:
hatte zuerst ein Kapellan Karls, namens Rodland, von dem Könige zu Lehen er
halten, später Bischof Waldrich von Passau zu freiem Eigen (quandam capellan
ipsius ex cessione regis), der sie seinerseits dem Grafen Keroldus zu Lehen gibt.
' MG. Capit. I, 275ff. Vgl. Stutz S. 235ff.
Capeila 85
und die Leute, die sie inne haben und zu ihrem Nutzen verwenden."^
Es handelte sich um die Frage der seit dem Capitulare de vilHs von
den Bewohnern der kirchUchen Güter an die Kapellen entrichteten
l^ehnten, deren Verleihung namentlich an Laien zu argen Mißbräuchen
'geführt hatte.
Noch schlimmer wurden die Angriffe der Bischöfe auf den Synoden
Jieses Jahres selbst. Die uns erhaltenen Verhandlungen der Pariser
Synode lassen deutlich erkennen, mit welcher Schärfe man nicht nur
^egen etwaige Mißbräuche, welche das Wesen der königlichen capellae
lach sich gezogen hatte, sondern, gerade so wie gegen die Stellung
ier tiofkapellane, gegen sie überhaupt vorging. Nicht einmal den Aus-
iruck capellae wollte man gelten lassen: an einer Stelle sprachen die
Mschöfe die Ermahnung aus, daß man, unter Hintansetzung der kleinen
leiligtümer, die ein allgemein gewordener Gebrauch capellae nenne,
iie Pfarrkirchen fleißig und in aller Demut aufsuche, um die Messe
:u hören und Leib und Blut Christi zu genießen.^ Werden hier die
apellae des Königs nicht geradezu genannt, so wendet sich ein anderer
*assus gegen sie mit nicht mißzuverstehender Schärfe und Deutlich-
jieit: der Kaiser wird aufgefordert, die Pfalzkapellen, die gegen die
kanonischen Bestimmungen und die Ehre der Kirche verstießen, zu
leseitigen; denn sie seien schuld daran, daß die Umgebung des Kaisers
n den Festtagen den Besuch der Pfarrkirchen verabsäume.^ Dieser
2tzte Passus ist auch in die Relation übernommen, welche die Bischöfe
loch in demselben Jahre dem Kaiser zu Worms vorlegten;^ aber irgend-
/elche Änderungen in dem Wesen und dem Bestände der Kapellen hat
^ MG. Capit. II, 6: „Haec capitula ab episcopis tractanda sunt. 1. De decimis,
uae ad capellas dominicas dantur, et hominibus, qui eas habent et in suos usus
onvertunt.*' Vgl. Stutz S. 264.
^ Mansi XIV, 597 (lib. III c. 6): „Admonemus, ut posthabitis aediculis, quas
süs inolitüs capellas appellat, basilicae Deo dicatae ad missarum celebrationem
udiendam et corporis et sanguinis dominici perceptionem sumendam assidue de-
oteque adeantur."
^ Mansi XIV, 601 (lib. III c. 19 = Capit. II, 39): „De presbiteris et capellis
alatinis contra canonicam auctoritatem et aecclesiasticam honestatem inconsulte
abitis vestram monemus soUertiam, ut a vestra potestate inhibeantur ; quoniam
ropter hoc et honor ecclesiasticus vilior efficitur, et vestri proceres et palatini
linistri in diebus sollemnibus, sicut decet, vobiscum ad missarum celebrationes non
rocedunt. Nam et obnixe deprecamur, ut in observatione diei dominici, sicuti iam
udum deprecati sumus, debitam adhibeatis curam, quatinus, nisi magna conpellente
ecessitate, in ipsa die a curis et sollicitudinibus mundanis, quantum potestis, vos
xuatis et, quod tantae diei venerationi competit, et vos faciatis et vestros sapro
estro exemplo et doceatis et agere conpellatis." — Daß capellis und nicht capellanis,
ie Pertz und Waitz wollen, zu lesen ist, ist bereits oben S. 63 A. 1 hervorgehoben.
' MG. Capit. II, 39.
i
85 Wilhelm Lüders
auch sie, wie überhaupt die ganze kirchliche Bewegung des Jahres 829,
nicht hervorgerufen. Selbst Benedictus Levita (Leg. fol. I 2, 66) verbot
sie nicht gänzlich, sondern machte ihre Gründung nur von der bischöf-
lichen Genehmigung abhängig. Immerhin erfolgten noch mancherlei
Anfeindungen.
Auf der Synode zu Meaux im Jahre 845 führte die westfränkische
Geistlichkeit bereits von neuem heftige Klagen über die Mißbräuche,
welche die Vergabung der königlichen Kapellen an Laien nach sich ge-
zogen habe. Die Sprache der Bischöfe ist äußerst selbstbewußt:^ Der
König habe nicht recht daran getan, die Kapellen seiner Villen an
Laien zu vergeben;^ denn jene hätten die Fiskal- wie die Kirchen-
zehnten nur dazu verwendet, ihre Hunde und Dirnen zu unterhalten;
statt dessen müsse der König — für den Fall der Weigerung wird ihm
sogar mit dem Bannfluche gedroht — die Kapellen an Priester oder
andere Geistliche verleihen, damit diese die Zehnten, wie es sich ge-
bühre, zur Instandhaltung der Kirchengebäude und zur Beschaffung
der Lichter, sowie zur Pflege der Fremden und Armen verwenden
könnten.
Diese Forderungen wurden von Karl dem Kahlen auch tatsächlich
auf dem Reichstage zu Epernay im folgenden Jahre bestätigt.^ Doch
hat er in seinen späteren Jahren sich augenscheinlich wieder von
diesen Bestimmungen losgemacht. Wenigstens finden sich auch aus
den letzten Jahren seiner Regierung mehrere Urkunden, in denen
capellae an getreue Laien vergabt werden.* Zweifellos hängt diese
Schwenkung mit der Stellung Karls zur Eigenkirchenfrage zusammen,
die er nach der erfolgreichen Verteidigung des Eigenkirchensystems
durch fiinkmar von Reims ^ gegenüber Prudentius von Troyes einnahm.
Im Ostfrankenreiche fand unter den Nachfolgern Ludwigs des
Frommen kein starker Angriff gegen das Eigenkirchenwesen mehr
statt. Infolgedessen konnten sich hier auch die königlichen capellae
ungehindert weiterentwickeln. Die Synode zu Mainz im Jahre 852 be-
gnügte sich damit, von neuem einzuschärfen, daß in den Kapellen,
' MG. Capit. II, 419. Vgl. Stut^ S. 267; Pereis S. 48.
^ Daß dies tatsächlich geschehen war, beweisen z. B. Bouquet VIII, 435 (843),
440 no. 7 (843).
' Stutz S. 267.
* So Bouquet VIII, 636 no. 241 (871), 674 (877).
^ In der Schrift „Collectio de ecclesiis et capellis" (gedruckt in Briegers Zeitschr.
für Kirchengesch. 1889 X, 92—145; ferner Bibliotheca iurid. medii aevi II, Iff.,
Bononiae 1892). Zur Datierung vgl. Stutz S. 285 A. 20, der sie in die Jahre 858
bis 860 verlegt. Eine eingehende Würdigung des Inhalts und der Bedeutung dieses
erst wieder seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts bekannten Werkes
bei Stutz S. 285—295.
I
C a p e 1 1 a 87
nochten sie nun noch in der Hand des Königs oder zu Lehen oder
onstwie vergabt sein, die Bischöfe, wenn sie der kirchlichen tiand-
Lingen wegen dorthin kämen, mit der g;ebührenden Ehre aufgenommen
bürden; im übrigen sollten die seit altersher bestehenden Kirchen
lurch neuerbaute Heiligtümer weder an den Zehnten noch am sonstigen
)esitze benachteiligt werden.^
So entwickelten sich auch hier, gerade wie im Westfrankenreiche,
lie königlichen capellae immer weiter. Der König wahrte sich volles
/erfügungsrecht; mit der zunehmenden Anzahl der capellae wurden
luch ihre Vergabungen, sowohl an Laien wie an Geistliche, an Klöster,
(irchen oder andere Kapellen immer häufiger.
In Italien entwickelten sich die Verhältnisse im wesentlichen
larallel denen des Ost- und Westfrankenreiches. Daß auch hier schon
)ald nach der fränkischen Eroberung der Ausdruck capella aufkam,
)eweist ein Kapitular Pippins, das zwischen 801 (vielleicht auch 806)
md 810 anzusetzen ist.^ In ihm empfiehlt der König den Bischöfen
ingelegentlich die Fürsorge für die in ihrer Diözese liegenden Kirchen
|md Kapellen: sie sollen dafür sorgen, daß immer die genügenden
iAittel vorhanden seien, damit die nötigen Lichter beschafft werden
:önnten und Priester in ihnen ihr hinreichendes Auskommen hätten.
Wie sich aus späteren Königsurkunden ergibt, besaßen auch hier
lie Könige eine große Anzahl von Kapellen, die sie, gerade so wie es
n Deutschland und Frankreich geschah, nach Belieben vergeben
konnten.
§2. Capellae auf nichtköniglichem Boden
Da die Bezeichnung capella zuerst für die Heiligtümer der könig-
ichen Güter aufkam , so können die capellae auf nichtköniglichem
5oden erst die Frucht einer sekundären Entwicklung sein. Diese muß
iber auch bereits sehr früh eingetreten sein.
Ihrer Entstehung nach zerfallen die capellae auf Privatboden in
:wei große Gruppen. Die erste dieser Gruppen ist auf königlichem
besitz von den Königen errichtet und erst nachträglich durch Ver-
gabung oder anderweitige Übertragung an Privatleute auf nichtkönig-
* Cap. 3 (MG. Capit. II, 186): „Statuimus, ut per aecclesias monachorum vel
aicorum et per cappellas dominicas seu beneficiatas, ubi decime dantur, episcopi
digno honore suscipiantur, ut ecclesiasticum officium ibi persolvere possint. Ecclesiae
imtiquitus constitute propter nova oratoria nee decimis nee possessionibus aliis
3riventur nee ullam omnino iniuriam paeiantur" (der Passus ecelesiae . . . priventur
ist fast wörtlich aus Cone. Mogunt. 813 und 847 übernommen).
' Cap. 7 (Capit. I, 210).
88 Wilhelm Lüders
liehen Boden gekommen. Die zweite Gruppe wird dargestellt durch
solche Heiligtümer, die, durch Privatleute auf eigenem Grund und
Boden errichtet, von Anfang an die Bezeichnung capella geführt haben.
1. Privatkapellen auf ursprünglich königlichem Boden
Die erste Gruppe, die Privatkapellen, die, auf ursprünglichem Königs-
gut begründet, erst nachträglich in die Hände von Privatleuten gelangt
sind, ist naturgemäß die ältere; sie ist auch für längere Zeit die einzige
geblieben.
Im ganzen 8. Jahrhundert, ja selbst in den ersten Jahrzehnten de^
9. Jahrhunderts vermag ich in dem von mir benutzten Material noch
kein Heiligtum nachzuweisen, das, von Privatleuten gegründet, von An
fang an die Bezeichnung capella geführt hätte. Vielmehr lassen alli
während dieser Zeit auf Privatbesitz vorkommenden capellae noch un-
mittelbar ihre ursprüngliche Entstehung auf Königsgut erkennen.
So sagt der Bischof Awarnus von Cahors, der bereits 783 dem
Kloster Moissac ein Gut im Gau von Toulouse mit einer darauf be-
findlichen Peterskapelle schenkt, ausdrücklich, daß er es von den
königlichen Fiskus erworben habe.^ Die Martinskapelle zu Linz, weicht
799 Bischof Waldrich von Passau an den Grafen Gerold zu Lehen gibt,
war schon vorher von Karl dem Großen einem seiner Kapellane, namen^
Rodland, zu Lehen gegeben; dann hatte er sie der Kirche von Passau
geschenkt.^
Etwas anders scheint auf den ersten Blick die Sache mit der
capella ad Alburc zu liegen, die Karl am 3. Januar 791 auf Grund
einer Urkunde Tassilos vom Jahre 777 dem Kloster Kremsmünster
schenkt.^ Diese Kapelle hatte streng genommen niemals auf frän
kischem Königsboden gelegen. Gleichwohl sind auch hier die Ver-
hältnisse ganz analog. Denn durch die Eroberung Bayerns war der
fränkische König Herr des früher dem Herzoge gehörigen Landes ge-
worden; auch das bereits von Tassilo dem Kloster Kremsmünster ge-
schenkte Land konnte er, solange es noch nicht von ihm bestätigt
war, als sein Eigentum ansehen.* Die Kapelle lag also, wenigstens in
^ Vaissette, Hist. de Languedoc (nouv. ed. par Dulaurier) III, p. 50 no. 7:
„in ipso pago Tolosano aliud praedium meum, quod de fisco regali competenti ser-
vitio adquisivi . . . cum capella S. Petri sibi coniuncta." Vgl. oben S. 47 A. 1.
^ M. Boica XXVIlP, 36: „ego Keroldus comes . . . deprecatus sum W. episcopo
quandam capellam ipsius ex cessione regis . . !' Vgl. oben S. 47.
^ BM. 311 (DK. 169). Die Urkunde Tassilos ÜB. des Landes ob der Enns II, 2.
* Karl sagt das selbst unzweideutig in der Urkunde: „quia iam per dicti Tassi-
loni traditionem hoc firmiter et stabile minime permanere poterat, idcirco petiit (seil.
Capeila 89
ier Fiktion, eine gewisse Zeit lang auf fränkischem Königsboden,
'außerdem ist zu beachten, daß sich der Ausdruck capella erst in der
Jrkunde Karls findet, während es in der Schenkung Tassilos nur heißt:
,ad Alpurc ecclesiastica pecuniam, que ibidem adesse videtur". Es ist
ilso anzunehmen, daß auch hier die Bezeichnung capella erst nach der
fränkischen Eroberung aufgekommen ist.^
In vielen Fällen werden Heiligtümer, die schon zu einer Zeit, als
Hie Bezeichnung capella noch wenig oder gar nicht gebräuchlich war,
/on königlichem in privaten Besitz übergegangen waren, noch nach-
Täglich jene Bezeichnung erhalten haben. So bestätigt Ludwig der
-romme am 1. Oktober 814 dem Kloster Malmedy die schon von
seinen Vorfahren geschenkten Kapellen nebst den Fiskalzehnten auf
den königlichen Gütern Düren, Klotten, Bonn, Sinzig, Andernach, Bodo-
3rio, Wasitico, Awanno, Staneux, Thommen, Glains, Cherain, Theux und
^iria.^ Die Pfalzkapelle zu Düren ist allerdings schon 775 bezeugt;^
aber im übrigen darf man annehmen, daß in den uns verlorenen
Fraditionsurkunden, in denen dem Kloster Malmedy jene Verleihungen
gemacht wurden, der Ausdruck capella noch nicht auf alle hier ge-
nannten Heiligtümer angewandt sein wird.^
"ater abbas) serenitati nostre, ut denuo in nostra ^lymosina per nostram auctoritatem
Dlenius hoc circa ipsum sanctum locum cedere at confirmare deberemus, sicuti et
fecimus" (DK. 169). Vgl. Eberl, Studien zur Geschichte der Karolinger in Bayern
:Progr. Straubing 1891) S. 2. Vgl. oben S. 47 A. 5.
* Infolge der Entwicklung, die sich aus den oben und den schon früher S. 45 ff.
ingeführten Beispielen für den Begriff „capella" ergibt, möchte ich den von Jostes
^Die münstersche Kirche vor Liudger und die Anfänge des Bistums Osnabrück,
Zeitschr. f. vaterländ. Gesch. und Altertumsk. Bd. 62, S. 98ff., Münster 1904) an-
genommenen Ausdruck capellania, der für seine Rekonstruktion der ältesten Ver-
hältnisse in den Bistümern Münster und Osnabrück eine große Rolle spielt, für das
Ende des 8. Jahrhunderts doch sehr in Frage ziehen. Eine solche Weiterbildung
aus dem selbst erst kurz vorher entwickelten Begriffe capella wäre im höchsten
Grade auffallend. Auf die Theorie selbst, die Jostes von der Entstehung der beiden
Bistümer vorträgt, gehe ich nicht weiter ein. Nur möchte ich noch bemerken, daß
die späteren capellaniae, falls sie wirklich in Verhältnissen der zweiten tlälfte des
S.Jahrhunderts wurzeln sollten, sich weit leichter aus ursprünglich auf Königs-
boden gelegenen capellae, die ja auch das Pfarrecht besitzen konnten (siehe oben
5.81), erklären lassen würden. Doch wird man wohl über Vermutungen nicht
hinauskommen.
' BM. 545 (MG. Form. p. 316). Oben S. 83 A. 2.
^ Siehe oben S. 45.
* Ähnlich verhält es sich auch mit den drei im Breviarium ürolfi (M. Boica
I, 14) genannten capellae, welche Odilo von Bayern (737 — 748) an Niederaltaich
schenkte. Die Bezeichnung capella haben sie zweifellos erst in dem unter Abt
ürolf (799—806, vgl. Stutz S. 196 A. 3) angelegten Breviar erhalten. Vgl. oben
S. 47 A. 5.
I
90 Wilhelm Lüders
2. Auf nichtköniglichem Boden gegründete capellae
Die Entwicklung, daß auch die Heiligtümer, welche Privatleute auf
ihrem Grund und Boden erbauten, von vornherein die Bezeichnung
capella führten, vollzog sich in der ersten Hälfte oder gegen die Mitte
des 9. Jahrhunderts.
Dieser Übergang tritt natürlich in den Quellen nicht so deutlich
zutage. Denn wenn auch selbst in den Königsurkunden des 9. Jahr-
hunderts capellae auf Privatbesitz immer häufiger genannt werden,^ so
kann man doch diese Fälle hier nicht als Beweis anführen, da sich
nicht mit Bestimmtheit entscheiden läßt, ob die Kapellen auch wirklich
auf Privatgut gegründet und nicht vielleicht erst durch königliche
Schenkung in den Besitz von Privatleuten gelangt sind. Auch die
Privaturkunden dieser Zeit bieten keinerlei schlagende Beispiele.^
Gleichwohl muß die Gründung von Kapellen auf Privatboden,
nachdem sich einmal die Bezeichnung capella für die königliche Fiskal-
kirchen durchgesetzt hatte und viele ursprünglich königliche capellae in
den Besitz von Privateigentümern übergegangen waren, im Laufe des
9. Jahrhunderts immer häufiger geworden sein. Diese Übertragung der
Bezeichnung capella war unvermeidlich, zumal der rechtliche unter-
schied zwischen königlichen und privaten Heiligtümern nur gering
' Vgl. z. B. BM. no. 857 (829 Jan. 13), 906 (832 Aug. 26), 1157 (852), 1487 (871
Juni 13), 1699 (885 Mai 20), 1727 (886 Okt. 27), 2039 (906 Okt. 20), 1409 (854 Juli 22).
^ Der Indiculus Arnonis, die Breves notitiae Salzburgenses (ed. Keinz, München
1869), die Mondseer Urkunden (ÜB. des Landes ob der Enns I, 1—101), der Codex
Laureshamensis diplomaticus (Bd. 1 — 3 Mannhemii 1768 — 70), die große Anzahl der
Freisinger (ed. Bitterauf, Die Traditionen des Hochstifts Freising, 1. Bd., München
1905; vgl. Meichelbeck, Hist. Fris. I'') und Weißenburger Urkunden (ed. Zeuss,
Traditiones Wizenburgenses, Spirae 1844) während des 8. und 9. Jahrhunderts: sie
alle haben den Ausdruck capella nicht. Die Weißenburger und Lorscher Urkunden,
die namentlich für die Zeit Karls d. Gr. sehr zahlreich sind, gebrauchen statt dessen
die Ausdrücke basilica und ecclesia; ebenso die Freisinger Urkunden, doch läßt sich
in ihnen auch die Bezeichnung Oratorium, die in den Königsurkunden dieser Zeit
ziemlich selten ist, bis in die zwanziger Jahre des 9. Jahrhunderts belegen. Das
Polyptychon Irminonis (ed. Guerard und Longnon) nennt neben 35 Kirchen die
verschwindend kleine Anzahl von zwei capellae (in Bitry 11, p. 155 und Saint-
Germain-de-Secqueval II, p..297). Ebenso vereinzelt sind die capellae in den
Privaturkunden des mittelrheinischen und niederrheinischen ürkundenbuches, in den
St. Galler (Wartmann, ÜB. der Abtei St. Gallen), Passauer (M. Boica XXVIII") und
Fuldaer Traditionen (Dronke, Codex diplomaticus Fuldensis); wo wirklich capellae
in dieser Zeit in ihnen vorkommen, läßt es sich nirgends mit Sicherheit entscheiden,
ob es sich um capellae auf ursprünglichem Königsgut oder um solche, die mit dieser
Bezeichnung von vornherein auf Privatgut gegründet sind, handelt; vgl. z. B. Dronke,
Codex diplomaticus Fuldensis no. 225, 417, 492; Mittelrh. ÜB. no. 134.
Capella 91
\^ar. Auch bieten die Quellen dieser Zeit wenigstens einige Anhalts-
punkte.^
Auf Klostergut wird eine capella nach Form. Paris, no. 2 errichtet.^
in Pariser Bischof gestattet dem Abte und der Brüderschaft eines
Klosters, eine Kapelle zu erbauen, damit das kirchliche Leben der
jläubigen durch die weite Entfernung von der Mutterkirche hinfort
licht mehr beeinträchtigt werde; sie soll indessen immer von der
Vlutterkirche abhängig bleiben und weder den Zehnten noch das Tauf-
pder Begräbnisrecht erhalten.
Nicht ganz so evident sind die Zeugnisse für die Gründung einer
Kapelle auf Laiengut. Doch wird man hierher wohl den in die Jahre 820
)is 838 fallenden Brief des Bischofs Albrich von Langres an Frotharius
/on TouP ziehen dürfen. Der Bischof von Langres beklagt sich, daß
iie alte Kirche in dem Orte Bosonis monasterium durch die neuen
/on jenem geweihten Kapellen des Teudericus geschädigt würde; wenn
rotharius diesem Übelstande nicht abhelfe, werde er vor einer Ver-
sammlung von Bischöfen Klage erheben. Die Situation wird hier die
sein, daß ein Laie, namens Teudericus, mehrere Kapellen gegründet
pnd ordnungsgemäß von dem Bischof seines Sprengeis hatte weihen
assen. Es ist einerlei, ob es sich hier um Pfarrkirchen oder, was
edenfalls wahrscheinlicher ist, nur um kleinere Heiligtümer handelt;
denn auch diese besaßen ja seit dem Aachener Kapitular von 818/819
den kirchlichen Zehnten. Um diesen gerade ist hier der Streit ent-
standen. Eine benachbarte ältere Kirche, die gleichfalls in dem Sprengel
von Toul gelegen ist, aber dem Bistum von Langres gehört, ist durch
die neuen Kapellen in ihrem Zehntrecht geschädigt worden.
Auch in der Urkunde Ludwigs des Frommen und Lothars L vom
110. Juli 826, in der diese von dem Grafen Boso durch Tausch eine
^ BM. 1089 (841 Okt. 17) wäre, nach dem Wortlaut des Regestes zu urteilen,
ein vortreffliches Beispiel für die Gründung einer Kapelle auf Bistumsgut. Doch
teilte mir Herr Prof. Tangl gütigst mit, daß das Regest ungenau sei und im Original
nicht capella, sondern cellula und cella ständen.
^ MG. Form. p. 264. Die capella wird auch aecclesia genannt.
^ EE. V, 293 f.: „De cetero innotescimus vestrae dilectioni, quia quendam vicum
■ habemus in vestra parrochia, qui dicitur Bosonis monasterium; sed nunc et nomen
pariter cum privilegio ac censu perdit, propter Teuderici scilicet a vobis dedicatas
\ novas capellas. ünde tuam fraternam depraecor dilectionem, ut secundum sinceri-
tatem episcopalem ac ecclaesiasticam sanctionem agatis, ne propter novellas capellas
antiquissima quod per tot annos tenuit perdat ecclaesia, et mihi non sit necesse
pro hoc episcopalem pulsare conventum, quia vos non absque culpa et ego reus
esse potero, si per nos amittit, quod semper tenuit." — Der Ort Bosonis monasterium
ist noch nicht erklärt; man hat Bouzancourt (canton de Doulevant) vermutet; vgl.
EE. V, 293 A. 4.
92 Wilhelm Lüders
Kapelle in der Villa Beek bei Nymwegen erwerben, wird es sich wohl
um ein altes Privatheiligtum Bosos handeln; denn es wird ausdrück-
lich gesagt, daß die Kapelle auf dem Eigengute Bosos liege.^ Ähnlich
wird der Fall liegen bei der Peterskapelle, die Kaiser Ludwig 11. am
5. April 868 von dem Römer Petrus durch Kauf erwirbt.^
Selbst wenn diese Beispiele nicht überzeugend wirken sollten, ii
der Sache selbst kann nach allem, was vorher ausgeführt ist, keii
Zweifel bestehen: seit den ersten Jahrzehnten des 9. Jahrhundert
konnte auch ein Laie das von ihm begründete Heiligtum capel!
nennen.
3. Die capellae auf Privatboden in der Eigenkirchenfrage
Gerade so wie die capellae auf Fiskalgut, nahmen auch die capellae
in Privatbesitz denselben Anteil an der Eigenkirchenbewegung wie alle
übrigen Heiligtümer.
Waren sie durch königliche Tradition in die Hände von Privat
leuten übergegangen, so behielten sie selbstverständlich den Besit
und die Rechte, mit denen sie tradiert waren. Es konnten also capella
in Privatbesitz schon sehr früh den Fiskal- und Kirchenzehnten be-
sitzen. Im übrigen besaßen sie das Zehntrecht in älterer Zeit nur in-
sofern, als sie Pfarr- und Taufkirchen waren, und das werden auf
Privatboden noch weniger capellae als auf Königsgut gewesen sein.'
In ihrer Gesamtheit erhielten sie den kirchlichen Zehnten erst durch
das Aachener Kirchenkapitular von 818/819; jedes neu errichtete Heilig-
tum erhielt jetzt das Zehntrecht, wenn an ihm ein eigener Priester be-
stand und die Rechte älterer Kirchen nicht verletzt wurden.^
Bei den Angriffen, welche das Eigenkirchensystem in den fol-
genden Jahren noch zu bestehen hatte, werden auch die capellae auf
Privatboden öfters genannt.
So wandten sich schon auf dem Pariser Konzil von 829 die
Bischöfe gegen die „aedicula, quas usus inolitus capellas appellat".^ Am
schärfsten kommt jedoch der Gegensatz wiederum in den Glossen zur
Hadriana zum Ausdruck.^ Vor allem sind es natürlich die Laien-
kapellen, gegen die sich der Haß des geistlichen Verfassers richtet.
So findet sich zu c. 2 des concilium Antiochenum, welcher verbietet,
mit Exkommunizierten in den Häusern zu beten, der Zusatz: „Hie de-
' BM. 831.
' BM. 1239 k (Muratori SS. II\ 931).
' Vgl. oben S. 81.
* Stutz S. 258.
^ Vgl. oben S. 81 A. 7 und 85 A. 2.
* Veröffentlicht von Ma aßen, Wiener S.-B. 84 (1876), 235ff.; vgl. oben S. 63f.
Capeila 93
estantur capellae domorum'V und ähnlich zu c. 58 des concilium Lao-
license: „Hie prohibentur capellae laicorum".^ C. 7 des concilium Gan-
ijrense wird benutzt, um die Verwerflichkeit des an Laienkapellen und
•lie an ihnen funktionierenden Kleriker entrichteten Zehnten nachzu-
v/eisen: „Decimae capellae secularis anathematizantur, quas laici suis
:lericis secularibus anathematizandis ad officia terreni usus dare con-
;ue[ve]runt".^
So schroff wie hier tritt in den Konzilien und Erlassen der Folge-
:eit der Gegensatz der Hierarchie gegen die Privatkapellen nicht mehr
'.utage. Immerhin war die Lage der Kapellen, wie der Eigenkirchen
iberhaupt, je nach den Verhältnissen und dem Gange der Politik sehr
/erschieden und schwankend. Aber zu einem ausdrücklichen Verbote
iam es nicht mehr.^ Selbst das Vorgehen der westfränkischen Geist-
ichkeit, an deren Spitze der Bischof Prudentius von Troyes stand,
liegen das Eigenkirchenwesen mißlang; Karl der Kahle behauptete mit
iilfe Hinkmars, der zur Verteidigung seine Schrift „Collectio de ecclesiis
li capellis" schrieb,^ das Feld.
Das Endergebnis, das sich im Laufe des 9. Jahrhunderts heraus-
)ildete, war, daß sich capellae schließlich sowohl in den Händen des
<önigs wie in denen von Laien, im Besitze von Bischöfen wie in dem
jon Klöstern befanden.
Exkurs
Hat der oberste capellanus den Titel apocrisiarius
geführt ?
In mehreren Werken"* wird demobersten capellanus auch der Titel
apocrisiarius beigelegt und meist damit die Anschauung verbunden, daß
jener kraft seines Amtes der ständige Vertreter des Papstes im ge-
' Maaßen a. a. 0. S. 249.
^ Das Konzil von Meaux c. 77 (Capit. II, 419) vom Jahre 845 begnügt sich
damit, den an den Kapellen vornehmer Laien angestellten Priestern einzuschärfen,
auf Anstand und Sitte unter den ihrer Obhut anvertrauten Personen zu achten.
' Vgl. oben S. 86 A. 5.
* Öls n er, König Pippin S. 13, 38. Gi es eb recht, Gesch. d. deutschen Kaiser-
zeit P, 139. Glasson, Hist. du droit et des institutions de la France II, 431.
Pustel de Coulanges, Les transformations de la royaute pendant l'epoque caro-
lingienne (Paris 1892), p. 332. Mühlbacher, Deutsche Geschichte unter den Karo-
lingern S. 74. Dubruel, Fulrad abbe de Saint-Denis (Colmar 1902), gebraucht zwar
S. 24ff, u. ö. den Titel apocrisiarius, leugnet jedoch eine Ernennung durch den Papst
k^
94 Wilhelm Lüders .
samten Frankenreiche gewesen sei; sogar Fulrad, der erste Kapellai
Pippins, wird bereits mit diesem Titel bezeichnet.
In den Quellen läßt sich diese Bezeichnung jedoch erst sehr spät
belegen.^ Erst ein Brief vom Jahre 864, in dem Karl der Kahle Papst
Nikolaus I. um Gnade für den in den Ehehandel Lothars IL verstrickten
Bischof Adventius von Metz bittet, hat für die Bischöfe Angilram und
Drogo von Metz den Titel „summus capellanus et apocrisiarius aposto-
licae sedis in istis regionibus".^
Ausführlicher handelt dann Hinkmar in seinem 882 verfaßten
Werke „De ordine palatii"^ von dem apocrisiarius, den er ebenfalls mit
dem obersten capellanus identifiziert, wie die Zusätze „quem nostrates
capellanum vel palatii custodem appellant" (c. 16), „qui vocatur apud nos
capellanus vel palatii custos'' (c. 19), „id est capellanus vel palatii custos"
(c. 32), beweisen. Er nennt ihn als ersten in der Reihe der hohen Be-
amten des Hofes. Seinen Ursprung führt er,- indem er sich auf die be-
kannte Fälschung der konstantinischen Schenkung beruft, in die Zeit
Kaiser Konstantins zurück. Damals, als dieser Kaiser dem Papste Sil-
vester die Stadt Rom geschenkt und seine Residenz selbst nach Byzanz
verlegt habe, sei jenes Amt zuerst in Wirksamkeit getreten.^ unter
anderen habe auch Papst Gregor zeitweilig die Vertretung des aposto-
lischen Stuhles in Byzanz innegehabt.^
oder eine Stellvertretung des apostolischen Stuhles aufs entschiedenste, indem er
den Titel lediglich als eine andere Bezeichnung des fränkischen archicapellanus auf-
faßt (S. 33).
^ Die Bedeutungslosigkeit der anderen Stellen hat bereits P r o u , Ausg. von
Hinkmars De ord. pal. Bibl. de l'Ecoie des hautes etudes Bd. 58, S. 34 A. 2 erwiesen.
^ EE. VI, 223: „. . . ut Engilramnus, praedecessor istius (sc. Adventii), summus
capellanus eius (sc. Karoli imperatoris) et apocrisiarius apostolicae sedis in istis re-
gionibus aliquandiu fieret, et postea deprecatione sanctae recordationis pii augusti
domni et genitoris nostri excellenti genio a sede apostolica in praefato patruo nostro
Drogone venerando episcopo fuerat honorata, ut una cum praedicto ministerio et
imperatoris et apostolicae sedis etiam usu pallii potiretur." — Das ministerium im-
peratoris bezieht sich auf das obige summus capellanus, das ministerium apostolicae
sedis auf apocrisiarius apostolicae sedis in istis regionibus.
* Capitularia II, 517 ff. — Über die Tendenz des Werkes siehe oben S. 24 A. 3.
* Cap. 13: ... „cuius (sc. apocrisiarii) ministerium ex eo tempore sumpsit ex-
ordium, quando Constantinus magnus Imperator christianus effectus propter amorem
et honorem sanctorum apostolorum Petri et Pauli, quorum doctrina ac ministerio
ad Christi gratiam baptismatis sacramenti pervenit, locum et sedem suam, urbem
scilicet Romanam, papae Silvestro edicto privilegii tradidit et sedem suam in civitate
sua, quae antea Byzantium vocabatur, nominis sui civitatem ampliando aedificavit;
et sie responsales tam Romanae sedis, quam et aliarum praecipuarum sedium in
palatio pro ecclesiasticis negotiis excubabant."
^ Cap. 14: „Aliquando per episcopos, aliquando vero per diaconos apostolica sedes
hoc officio fungebatur. Quo officio beatus Gregorius in diaconi ordine functus fuit."
Capella 95
Als dann mit der Taufe Chlodevechs das Frankenreich zur Blüte
gelangt sei, hätten einzelne Bischöfe der gallischen Kirche die Ver-
retung des Papstes in den Ländern diesseits der Alpen geführt.^
Auf diese Weise wird es Hinkmar nicht schwer, die Verbindung
mit der Reihe der Männer, die seit König Pippin das Amt des obersten
:apellanus geführt haben, herzustellen. Sie alle — er nennt sie von
-ulrad bis Drogo ausdrücklich mit Namen ^ — haben nach seiner
Darstellung den Titel apocrisiarius und damit die Stellvertretung des
apostolischen Stuhles in den Ländern diesseits der Alpen in Händen
gehabt.
Dürfen wir nun den Angaben dieser beiden späten Quellen, wie
es viele neuere Forscher getan haben, Glauben schenken?
Schon von anderer Seite ist lebhafter Widerspruch dagegen laut
geworden. Waitz ist der Ansicht, daß „in der ganzen Ausführung"
des Werkes „De ordine palatii" über den apocrisiarius „offenbar vieles
nur Hinkmars Ansicht sei".^
Ist schon die Berufung auf die sogenannte konstantinische Schen-
Jiung nicht geeignet, großes Vertrauen für Hinkmars Angaben zu er-
wecken,^ so können wir doch seinen Versuch, das Amt des obersten
capellanus an spätrömische Verhältnisse anzuknüpfen, hier ganz außer
acht lassen. Denn wir sahen, daß das Amt des obersten capellanus,
wie die gesamte Hofkapelle überhaupt, in rein fränkischen Verhält-
nissen seine Wurzel hatte. Für uns kommt es allein darauf an, zu
Juntersuchen, ob wirklich die obersten capellani seit der Zeit Fulrads
'den Titel apocrisiarius und die damit verbundenen Befugnisse eines
Stellvertreters des apostolischen Stuhles gehabt haben.
Zwei Momente scheinen den Ausführungen Hinkmars eine Stütze
zu verschaffen. Einmal der schon oben angeführte Brief Karls des
Kahlen vom Jahre 864 und zweitens der Umstand, daß gerade der
Teil von Hinkmars Werk, der die Ausführungen über den apocrisiarius
^ Cap. 14: „Et in iiis cisalpinis regionibus, postquam Hludowicus praedicatione
beati Remigii ad Christum conversus et ab ipso cum tribus millibus Francorum in
vigilia sanctae paschae baptizatus extitit, per successiones regum sancti episcopi ex
suis sedibus et tempore competenti palatium visitantes vicissim hanc administrationem
disposuerunt."
' Siehe oben S. 25 A. 1.
' VG. III, 520f. — Ferner Abel, Karl d. Gr. I, 395 A. 5. Brunner, RG. II,
116 A. 18.
* Natürlich hat Hinkmar an der Echtheit der konstantinischen Schenkung nie
gezweifelt. Hat er doch nicht einmal daran gedacht, die ünechtheit der pseudo-
isidorischen Dekretalen, deren Fälschung zu seinen Lebzeiten geschah, zu entlarven,
soviel Unbequemlichkeiten sie ihm auch verursachten (vgl. Noorden, Hinkmar von
Rheims S. 282; Schrörs, Hinkmar von Reims S. 400).
96 Wilhelm Lüders
enthält, auf das uns verlorene Werk des 826 verstorbenen Abtes Adal-
hard von Corbie zurückgeht.^
Gehen wir zunächst auf Adalhards Schrift ein. Wenn sich nach-
weisen ließe, daß die Ausführungen Hinkmars über den apocrisiarius
in der Tat bereits in ihr enthalten waren, so würden wir ihnen aller
dings vollen Glauben schenken müssen. Aber gerade dieser Nachweis
wird sich nicht führen lassen. Im Gegenteil, es sprechen gewichtige
Gründe dafür, daß in Adalhards Werk der Titel apocrisiarius für den
obersten capellanus unmöglich sich gefunden haben kann. Denn sonst
wäre uns doch sicherlich unter den verhältnismäßig zahlreichen Titeln
jener Zeit auch die Bezeichnung apocrisiarius überliefert; andererseits
paßt aber das Amt des apocrisiarius und die mit ihm verbundene
Idee eines apostolischen Stellvertreters in die kirchenpolitischen Ver-
hältnisse der Zeit, in der Adalhard schrieb, nicht hinein. Unter Pippin
wurde die Verbindung mit dem Papste allerdings dauernd hergestellt.
Aber sowohl er wie seine beiden Nachfolger wahrten in inneren kirch-
lichen Fragen sich volle Selbständigkeit; eine dauernde Vertretung des
Papstes hatte an ihrem Hofe und in ihrem Reiche keinen Platz. Am
wenigsten aber war diese Idee vereinbar mit dem Amte des obersten
capellanus, das aus rein fränkischen Verhältnissen erwachsen und nur
dazu berufen war, in der Kirche die Interessen des Königs, nicht aber
die des Papstes zu vertreten.
War so die Zeit, wo der Kaiser noch über ein einheitliches Reich
gebot und auch unbeschränkter Herr der Kirche war, nicht geeignet,
die Idee des apocrisiarius aufkommen zu lassen, so war die Zeit bald
darauf einem solchen Gedanken um so günstiger.
Es ist unverkennbar: die Befugnisse, wie sie Hinkmar dem apo-
crisiarius zuschreibt, berühren sich eng mit denen des apostolischen
Vikars.^ Die Geschichte des apostolischen Vikariats enthält zugleich
auch die Lösung unserer Frage, wann die Idee, daß der oberste capel-
lanus den Titel apocrisiarius und damit die Stellvertretung des Papstes
innehabe, aufgekommen ist.
^ Hauck, Kirchengesch. Deutschlands 11, 174 A. 1. v. Noorden, Hinkmar von
Rheims S. 385.
^ Soviel ich sehe, hat bisher bloß Prou (Bibl. de l'Ecole des hautes etudes.
Bd. 58, Ausg. von Hinkmars Werk De ordine palatii, 1884, p. 34 A. 2) die Vermutung
ausgesprochen, daß Drogos Vikariat Hinkmar veranlaßt habe, für den obersten
capellanus die Bezeichnung apocrisiarius einzuführen. Allerdings hat er den Briei
Karls des Kahlen an Nikolaus I. übersehen, doch hat er in der Sache selbst recht
denn gerade Hinkmars Darstellung liefert den Beweis, daß die Begriffe apocrisiarius
und vicarius sich in vieler Beziehung decken. Auch die episcopi, die Hinkmar c. 1^
(oben S. 95 A. 1) nennt, sind nichts anderes als die Bischöfe von Ades, von derer
Vikariat gleich im folgenden die Rede sein wird.
i\
Capeila 97
Der Gedanke des apostolischen Vikariats ist sehr alt. Schon in
1er gallischen und später in der fränkischen Kirche unter den mero-
.vingischen Königen hatten die Bischöfe von Arles diese Würde inne.^
bann bekam Bonifatius die Stellvertretung des apostolischen Stuhles
liesseits der Alpen. ^ Nach seinem Tode wurde das Amt zunächst nicht
A^ieder vergeben. Der erste, der es wieder erhielt, war Bischof Drogo
von Metz, der Erzkapellan Kaiser Lothars I.^ Lothar selbst hatte beim
^apste Sergius II. im Jahre 844 die Ernennung Drogos zum Vikar
durchgesetzt, und es war eine durchaus praktische Politik, die ihn
jazu bewogen hatte. Er hoffte, nachdem durch den Vertrag zu Verdun
jie politische Einheit des Karolingerreiches endgültig vernichtet war,
.v^enigstens auf kirchlichem Gebiete durch die Stellung des ihm treu
ergebenen Vikars, seines Erzkapellans, auf die Reiche seiner Brüder
^inen gewissen Einfluß auszuüben.^ Aber er hatte nicht mit dem
vViderstande der auf ihre Selbständigkeit bedachten westfränkischen
Geistlichkeit gerechnet. Ihr Bescheid auf der Synode von Verneuil im
Jahre 844 kam einer Ablehnung gleich.^ Drogo ist nie dazu ge-
iiommen, den Vikariat praktisch auszuüben.
Gleichwohl ließ Lothar nicht von seinem Plane ab. Wenige Jahre
später,^ als es ihm darauf ankam, sich mit seinem Bruder Karl aus-
zusöhnen und zu diesem Zwecke den Beistand des damals auf der
Höhe seines Einflusses stehenden Erzbischofs tiinkmar von Reims zu
gewinnen, ließ er Drogo fallen und suchte bei Leo IV. für Hinkmar die
Ernennung zum päpstlichen Vikar durchzusetzen; allerdings mit wenig
Erfolg, denn Leo erklärte, den Wunsch des Kaisers nicht erfüllen zu
können, da der Vikariat bereits an Drogo vergeben sei.'
Trotzdem scheint das Bestreben , einem ergebenen Bischof die
Rechte des päpstlichen Stellvertreters zu verschaffen, auch in der
Folgezeit eine Tradition der kaiserlichen Politik geblieben zu sein.
Allerdings haben wir für derartige Absichten Kaiser Ludwigs IL kein
ausdrückliches Zeugnis erhalten. Aber einmal ist es schon an sich
' Gundlach, Arles und Vienne (NA. XV, 235 ff.).
^ Gundlach a. a. 0. S. 252.
^ Dümmler, Gesch. des ostfränk. Reiches I, 252. Hinkmar redet ausführlich
in seinem Werke De iure metropolitanorum davon; hier sagt er selbst, daß Drogo
nach Bonifatius wieder der erste apostolische Vikar war (Schrörs, tiinkmar von
Reims S. 369; Noorden S. 326).
* Schrörs a. a. 0. S. 50f.'
' Noorden S. 16f.; Schrörs S. 51.
^ Das Jahr steht nicht fest. Schrörs S. 57 nimmt 849 oder 850, Gundlach
(NA. XV, 255) 851 an; neuerdings E. Lesne, Revue des questions historiques, Nouv.
Serie XXXIV, 5—58 (angezeigt NA. XXXI, 278 no. 138), sogar 847.
' tiauck II, 519 A. 5. Schrörs a. a. 0.
Afü II 7
98 Wilhelm Lüders
nicht wahrscheinlich, daß dieser energische Herrscher die Forderung,
die bereits sein Vater erhoben hatte und die auch bei Karl dem
Kahlen, sobald er nur die Kaiserkrone erlangt hatte, sofort wieder
hervortrat, ganz außer acht gelassen hätte. Und auf der anderen Seite
erscheint sein Erzkapellan Bischof Joseph von Ivrea bezeichnender-
weise, wenn auch nur in einem Falle, als „archicapellanus totius ec-
clesiae in qua haec constituta sunt capitula'V dieser Titel kann aber
nicht anders gedeutet werden, als daß jener in der Tat Ansprüche auf
einen gewissen Vorrang unter den übrigen Bischöfen des Reiches und
eine Art Stellvertretung des Papstes erhob.
Man sieht, es bahnte sich eine Entwicklung an, die bestrebt war,
dem obersten capellanus des jeweiligen Kaisers die Stellung eines
päpstlichen Stellvertreters zuzuschreiben. Es steckt also sowohl in
dem Briefe Karls des Kahlen an Papst Nikolaus wie auch in den Aus-
führungen Hinkmars ein Kern von Wahrheit. Das Falsche liegt darin,
daß jener nicht nur Drogo, sondern auch Angilram als apocrisiarius
bezeichnet, und daß dieser apocrisiarius und obersten capellanus ohne
weiteres identifiziert.
Wie sind nun diese falschen Angaben zu erklären? Sind es
bloße Irrtümer, oder sind es bewußte Fälschungen? Und wenn das
letztere, welchen Zweck verfolgten sie?
Bleiben wir zunächst bei dem Briefe Karls des Kahlen. Der Wider
stand, den Karl der Ernennung Drogos zum päpstlichen Vikar entgegen
setzte, ist bekannt.^ Wenn er auch Drogo und Lothar I. gegenüber Er-
folg hatte, so erhob doch, wie wir sahen, Ludwig IL dieselben An
Sprüche. Da ist nun die Betonung des Titels apocrisiarius für de
obersten capellanus in zwei Zeugnissen, die beide aus dem West-
frankenreiche stammen, höchst auffallend. Wir kommen nicht um dk
Annahme weg, daß, gewissermaßen als Gegengewicht gegen die kaiser-
lichen Ansprüche, zu der Zeit, in der der Brief an Nikolaus abgefaßi
wurde, im Reiche Karls des Kahlen die Theorie aufgekommen war, dal^
der Erzkapellan, auch der des Westfrankenreiches, schon kraft seinem
^ Capit. II, 117 (Synode zu Pavia 850). Gerade der Zusatz „totius ecclesiae" isi
für ein derartiges Bestreben Ludwigs bezeichnend. Denn in der Interpolation, di(
sich in der von Werminghoff (NA. XXV, 371) mitgeteilten Fassung von Eboe
Restitutionsedikt findet, heißt es gleichfalls: „Drogo filius Karoli gloriosi August!
f rater Hludowici, excellentissimorum augüstorum totiusque sanctae ecclesiae istorii:
palatinus archipraesul." Diese Interpolation, die auch Werminghoff als einen Hinwe;
auf Drogos Vikariat ansieht, stammt aber vielleicht von Ebo selbst aus dem Jahn
842, zum mindesten also ebenfalls aus Kreisen, die der kaiserlichen Politik dei
vierziger Jahre nahestanden. Man wird daher mit Recht auch den Zusatz „totius
ecclesiae" in dem Titel Josephs ähnlich deuten. S. oben S. 65 A. 8.
^ Noorden S. 16f.,- Schrörs S. 51.
Capella 99
Amtes und als eine uralte Kompetenz desselben die Stellvertretung des
apostolischen Stuhles ohne weiteres inne habe. Es war ein Versuch,
sich durch diese Theorie von der in Anspruch genommenen kaiser-
llichen Oberherrschaft in kirchlichen Dingen zu befreien, und diesem
Versuche kam der Umstand zustatten, daß sowohl Drogo wie Joseph
nicht nur Vikare, sondern auch Erzkapellane waren. Man konnte jene
Theorie also sogar mit einem Scheine des Rechtes vorbringen. Nur
wagte man es nicht, den Titel vicarius selbst in Anspruch zu nehmen,
sondern wählte lieber die weniger anspruchsvolle Bezeichnung apo-
crisiarius.
Lange Zeit hat diese Theorie auch dem Anscheine nach am Hofe
Karls selbst nicht bestanden. Daran wird es liegen, wenn wir keine
ausführlicheren Nachrichten darüber besitzen, sondern gewissermaßen
nur einen Niederschlag jener Anschauung in dem Briefe an Nikolaus
erhalten. Karl selbst machte sich sofort von ihr frei, sobald er die
Kaiserkrone errungen hatte. Hatte er vorher den Grundsatz verfochten,
daß auch die westfränkischen Erzkapellane Stellvertreter des Papstes
seien, so setzte er, kaum zum Kaiser gekrönt, bei Johann VIII. die Er-
nennung des Erzbischofs Ansegis von Sens zum päpstlichen Vikar
durch. Aber er hatte nicht mehr Erfolg als Lothar I. mit Drogos
Vikariat. Auch der Vikariat des Ansegis von Sens trat nicht in Wirk-
samkeit; er scheiterte an dem Widerstände des westfränkischen Epi-
skopats, als dessen Vorkämpfer Hinkmar auftrat.^
Damit dürften wir zugleich den Schlüssel zu der Darstellung, die
Hinkmar in seiner Schrift „De ordine palatii" von dem apocrisiarius gibt,
gefunden haben.
Es ist völlig ausgeschlossen, daß Hinkmar den späten Ursprung
■der Theorie, die er von dem apocrisiarius vortrug, nicht gekannt hätte.
iSeine Jugend und selbst sein Mannesalter reichten noch in Zeiten
zurück, denen jene Anschauung völlig fremd war.
Es wäre ja nun denkbar, daß er ohne irgendwelche Nebenabsichten
nur die Theorie mitteilte, wie sie tatsächlich eine Zeitlang am west-
'fränkischen Hofe bestanden hatte. Aber dazu ist doch seine ganze
Darstellung zu tendenziös; immer wieder und wieder begegnet an
nachdrücklich hervorgehobener Stelle der Titel apocrisiarius.^ Es ist
nicht anders möglich, er muß mit seinen Ausführungen über den apo-
crisiarius ganz bestimmte Absichten verfolgt haben. Sie werden ohne
weiteres klar, wenn wir seinen Gegensatz zu der Idee des päpstlichen
Vikariats ins Auge fassen. Denn noch lebte im Jahre 882, als Hink-
' Noorden S. 318ff.; Schrörs S. 360ff.; Gundlach, NÄ. XV, 256.
' Vgl. cap. 13, 16, 19, 20, 32; außerdem cap. 14, 15.
7*
k
100 Wilhelm Lüders, Capella
mar sein Werk verfaßte, Ansegis von Sens/ wenn er auch längst un-
schädlich war, und ein neuer Vikar war sogar noch obendrein im
Reiche Bosos in Rostaing von Arles erstanden.^
Die Theorie des apocrisiarius, wie sie Hinkmar vorfand, schloß
einen päpstlichen Vikariat völlig aus; neben dem apocrisiarius war für
den vicarius kein Platz mehr. Zugleich war aber der apocrisiarius der
Freiheit der gallischen Kirche und vor allem den Metropoliten weit
weniger gefährlich als dieser. Die Stellvertretung des apostolischen
Stuhles, die ihm Hinkmar zugesteht, ist weiter nichts als ein Ehren-
vorrecht. Hinkmar erwähnt nichts davon, daß der apocrisiarius Synoden
berufen oder sonst irgendwie Rechte ausüben konnte, welche die Selb-
ständigkeit der Metropoliten gefährdet hätten.^
Hinkmar starb, bald nach Vollendung seines Werkes „De ordine
palatii", am 21. Dezember 882. Praktische Folgen hat seine Lehre von
der Stellung des apocrisiarius ebensowenig wie vorher die vom Hofe
Karls des Kahlen ausgehende Theorie gehabt. Weder unter Karl dem
Kahlen noch in der Folgezeit hat ein Erzkapellan den Titel apocrisiarius
geführt, geschweige denn die Stellvertretung des apostolischen Stuhles
innegehabt. I
■ I
' Er starb am' 25. Nov. 882 (Schrörs S. 372).
' Im Jahre 878, vgl. Noorden S. 358; Gundlach, NA. XV, 257. :
^ Vgl. die Ausführungen Hinkmars über die Befugnisse des apocrisiarius cap.20.l
]
Forestis
Königsgut und Königsrecht nach den Forsturkunden vom
6. bis 12. Jahrhundert
von
Hermann Thimme
Forestis, ein Wort, das im 6. Jahrhundert zum ersten Male auf-
taucht, entspricht sprachlich unserem „Forst". Sachlich sind beide
Begriffe durchaus verschieden.
Die vorliegende Abhandlung versucht, wesentlich aus den Urkunden
die Grundbedeutung von forestis festzustellen, und die Bedeutungs-
^ntwicklung dieses Wortes bis zum Anfang des 12. Jahrhunderts zu
/erfolgen. Es wird sich zeigen, daß forestis schon im 11. Jahrhundert
iine ganz andere Färbung hat, als etwa im achten. Was Wunder,
*venn man in den heutigen „Forsten" die forestes der Merowinger- und
Karolingerzeit nicht wiedererkennen kann!
Es wird sich zeigen, daß die forestes in der Wirtschafts- und
V^erfassungsgeschichte des früheren Mittelalters eine bemerkenswerte
Rolle spielen, daß sie hier einen hervorragenderen Platz verdienen, als
ir ihnen bisher zuteil geworden ist. Für Probleme wie Entstehung des
Privateigentums, Art und Schicksale des Königsgutes und der gemeinen
'Vlark, ist die Erkenntnis von dem Wesen der forestes gewiß nicht
Dhne Wert.
In Forst- und Rechtsgeschichten hat forestis eine zum Teil ein-
gehende Behandlung erfahren. Manche Punkte, die dabei zu kurz
gekommen sind, sollen in der vorliegenden Arbeit ergänzt, in anderen
Punkten soll eine von der herrschenden Meinung abweichende Ansicht
begründet werden.
102 Hermann Thimme
I. Forestis bis zum Ende der Karolingerzeit
1. Forestis und silva
So weit auch in anderen Punkten bei der Beurteilung von foresti
die Anschauungen auseinandergehen, darin, daß forestis auch ur
sprünglich wie das heutige „Forst" eine Bezeichnung für den Wal
gewesen sei, ist man sich ziemlich einig. Schwappachs Definition:
„Foresta ist ursprünglich eine Bezeichnung des königlichen Walde
zum Unterschied von den übrigen Waldungen" gibt die übliche Aul
fassung wieder.
Die Etymologie, das ist vorweg zu bemerken, ist bei dieser Ar
schauung unbeteiligt, oder sollte es wenigstens sein. Meist wir'
forestis mit foris in Zusammenhang gebracht, eine Ableitung, d
sprachlich so gut wie jede andere hypothetisch bleibt. ^ Die Quelle
haben allein die Entscheidung.
Zum ersten Male ist von forestis in den Urkunden der Merowing
die Rede. Die einzige Bezeichnung für Wald ist in allen übrige
Quellen dieser Zeit silva, saltus. Weder in den Volksrechten noch in d(
„SS. rer. Merow." begegnet man dem Ausdruck forestis. Eine Tatsach
die mehr Beachtung verdient, als ihr bisher zuteil geworden. ^ Forest
ist also offenbar kein allgemein gebräuchliches Wort für den Wald ;
solchen gewesen. Auch nicht für den Wald des Königs. Wäre
nicht befremdlich, wenn man, bloß um das Eigentum des Königs a
Walde zu bezeichnen, das Wort Wald (silva) durch einen neuen Ausdru
ersetzt hätte? Das Charakteristische am Wald als solchen, woran c;
Namengebung anknüpft, ist doch schwerlich, daß er Eigentum irgel
eines Besitzers ist. Aus silva regis, silva, regalis kann unmöglich oh?
weiteres forestis werden.
Mit besonderer Aufmerksamkeit wird man die Stelle ins Aui
fassen, wo unser Wort zum ersten Male auftaucht, wo zum ersten M
in der Geschichte von einem Forst die Rede ist. Im Jahre 556 schei t
^ Hdb. d. Forst- und Jagdgeschichte, Bd. 1, S. 56. Noch etwas schärfer End
im tidwörtb. d. Staatswiss. III ^ S. 1127: „Diese ursprünglich nur aus Wald besteh;-
den Jagdbezirke nannte man Forste." Ähnlich definieren: Stieglitz, Geschicl.
Darstellung der Eigentumsverhältnisse an Wald und Jagd, S. 47f,; Roth, Gesch 1.
Forst- und Jagdwesens, S. 83; v. Inama Sternegg, D. W. G. I, S. 127 u. 4i;
Waitz, VG. II, S. 316; Brunner, D. RG. II, S. 38; Schröder, D. RG.*, S. 38 u/.
Vgl. dagegen die Bemerkung bei Jostes, Ztschr. f. Westf. 1904, S. 119: „Foresin
hat ja an sich mit Wald überhaupt nichts zu tun", die freilich nicht näher
gründet wird.
* Vgl. Schwappach a. a. 0., S. 58 A. 8.
' Vgl. Hdwörtb. d. Staatswiss., Bd. 3, S. 1127.
Forestis 103
hildebert I. an St. Vinzenz in Paris ^ den Fiskus „Isciacus". Bei der
'erleihung handelt es sicli hauptsächlich um Fischereien: „tias omnes
iscationes, quae sunt et fieri possunt in utraque parte fluminis sicut
;os tenemus et nostra forestis est, ^ tradimus ad ipsum locum." Das
ligentum des Königs an Fischereien innerhalb eines abgegrenzten Ge-
ietes wird hier entweder schlechthin als forestis selbst, oder doch
enigstens als Bestandteil eines Forstes hingestellt. Eines steht fest:
orestis bedeutet hier durchaus nicht Wald. Der erste „Forst", von dem
ie Geschichte berichtet, ist kein Forst im heutigen Sinne des Wortes.
Es ist interessant, daß drei Jahrhunderte später in den Urkunden
arls des Kahlen forestis an drei Stellen in derselben Bedeutung ver-
andt wird, wie in der Urkunde Childeberts. Es handelt sich um zwei
chenkungen für St. Denis und um eine dritte für das Kloster des
1. Benignus in Dijon. St. Denis erhält:^ „forestem piscationis atque
enationis tam infra quam extra Votuo ad ipsam potestatem legaliter
c juste pertinentem." Ferner a. 870:^ „villam R. necnon forestem
(juaticam a fluvio Saure usque Cambreias cum ripaticis . . . atque
idulgemus omnes exactiones regias in aqua cuicunque potestati sunt
3 |ipatici." Endlich heißt es in der Urkunde für S. B. de Dijon a. 869:"^
iSunt enim haec, quae in eodem pago ipsi loco concessimus . . . terram
ominicatam . . . silvam ubi possunt saginari porci DC, forestem pis-
ium in aqua a ponte Divionis castri usque ad Rouratum farinarios
ex." ^ — Hier hat man also Stellen, bei denen Identifizierung von forestis
nd Silva von vornherein ausgeschlossen ist. Wir werden sehen, daß
uch sonst in der ganzen Merowinger- und Karolingerzeit, einerseits
ilva und forestis wesensverschiedene Begriffe sind, andererseits die
•erste keineswegs lediglich aus Waldungen bestanden haben. Ver-
chiedene Umstände zeigen dies.
a) „Silva nostra", „silva regalis"
Daß diese Ausdrücke in den Quellen unserer Periode relativ häufig
orkommen, verdient besonders hervorgehoben zu werden. Wenn silva
egalis und forestis identisch wären, warum die doppelte Ausdrucksweise?
i
\i
i * MG. DD.I. ed. Pertz, S. 7. Kopie d. 9. Jahrhunderts.
{ ^ Bouquet, Rec. IV. S. 622 hat „nostrae forestis est". Waitz, VG. II, S. 317
i rklärt gerade diese Stelle für interpoliert, gibt aber keinen Grund dafür an.
<\ ' Bouquet, Rec. VIII, S. 558.
' Bouquet, Rec. VIII, S. 629.
' Bouquet, Rec. VIII, S. 618.
^ Darauf, daß es noch a. 1251 heißt: „Conquerebantur, quod comitissa volebat
acere forestem in aqua de N" . . . weist du Gange, Glossar unter „forestis" hin.
104 Hermann Thimme
Bei Gregor v. Tours ^ heißt es ... . „dum ipse Gunthchrammus
rex per Vosagum silvam venationem exerceret, vestigia occisi buvali
depraehendit. Cumque custodem silvae artius distringeret, quis haec
in regale silva praesumpsisset, Cliundonem cubicularium regis prodidit".
Sigibert II. schenkt einem neugegründeten Kloster: ^ „leuvas tres de
Silva nostra üriacinse" und „ex alia silva dominica alias tres leuvas".
„Foresta nostra Roverito"^ liegt in demselben Gau an demselben
Fluß wie „Silva nostra Carmoletus". * Bevor Childebert III. letzteren Wald
vergabt, gehört er zum königlichen Fiskus und den „forestarii" ist seine
Pflege anvertraut, wenn man „vel forestarii nostri usque nunc defen-
sarunt" so übersetzen darf. Da hier silva nostra steht, ist um so auf-
fallender, daß forestarii mit dem Wald zu tun haben. Auf ihre Stellun:.
werden wir zurückkommen. Jedenfalls gehört zu einem forestarius ein
forestis. „Silva nostra Carmoletus" muß also ein Teil eines Forstes ge-
wesen sein, von dem die forestarii ihren Namen bekommen haben. ^
Dasselbe möchte man annehmen von der „silva Chrisciacensis",
weil innerhalb dieses königlichen ^ Waldes eine „cella" gegründet wird,
welche den Namen Forestis erhält. '
b) Forestis als Eigenname
Hiernach scheint bereits in der Merowingerzeit forestis auch als
Eigenname verwandt zu sein. Dagegen sind die beiden Urkunden,
welche eine „habitatio Foreste" ^ und eine „silva Foresteila" ^ nennen,
Fälschungen. Immerhin ist die Tatsache, daß eine solche Namengebung
überhaupt und jedenfalls noch in sehr früher Zeit stattgefunden hat,
ein beachtenswertes Moment. Die „habitatio Foreste" finden wir wieder
in einer Urkunde Karls des Großen ^^ und bei Karl dem Kahlen in den
' L. 10, Kap. 10.
' MG. DD.I. S. 21.
' DD.I. S. 77.
* DD.I. S. 63.
^ Auch auf DD. Karlmann no. 55, Pippin no. 15, Karl d. Gr. no. 103 (MG. D.
Karol.), Ludwig d. Fr., BM. 522, 712, 881 sei hingewiesen: Urkunden, in welchen
ebenfalls von Schenkungen königlicher Wälder berichtet wird, ohne daß von ,, forestis"
die Rede ist.
^ Siehe Vita Richarii (MG. SS. Merow. IV, S. 396): „Cui G . . . et Maurontus no-
bilis quidam vir et terrarum vel silvarum ad regem pertinentium servator praebuerant
locum manendi in silva Chrisciacinse, qui et ipse M. postea saeculari habito deposito
monachus factus est in eodem loco."
^ SS. Merow. a. a. 0. (vgl. die Anmerkung des Herausgebers).
' DD.I. S. 182.
' DD.I. S. 210.
'" D. Karol. I, no. 182.
k
Forestis 105
ahren 844 und 855. ^ Analoga zu „silva Foresteila" sind „silva, quae
ocatur Forestis" ^ und „silva Forst". ^ Forestis(e) als Name für eine
iedlung gestattet wohl jede Deutung von forestis. Etwas anderes ist
s aber, wenn ein Wald (silva) Forestis bzw. Forestella heißt. Sehr
ft hören wir von Forsten mit bestimmten Namen — ein forestis, der
Forestis" hieße, wäre ein Unding. Und so ergibt sich ferner aus der
trt und Weise, wie silva und forestis in denselben Urkunden neben-
inander verwandt und gewissermaßen gegeneinander kontrastiert
'erden, die Verschiedenheit beider Begriffe.
c) Silva de (ex) foreste
Chlotar schenkt dem Kloster Corbie:^ „immoque et villam, quae
ocatur Templum Martis, sitam in pago Ambianense ad integrum cum
lagena de silva de foreste nostro Windegonia." Silva ist hier nicht
lur quantitativ sondern auch qualitativ von forestis verschieden.
V^arum — die Schenkung eines Waldes ist beabsichtigt — hieße es
onst nicht einfach: „cum pagena de foreste nostra Windegonia?"
Es gibt nur eine Erklärung: Forestis bedeutet hier Bezirk schlecht-
lin und nicht Wald. Dem Namen Windegonia begegnen wir später,
.0 viel ich sehe, nur noch einmal. Und zwar wird in den Annal.
/edastini^ „silva Vitconia" erwähnt. Es handelt sich hier um eine
irscheinung, die uns noch öfters entgegentritt: Wie neben forestis
kVindegonia silva Vitconia, so steht neben forestis Ardinna „silva
i^rdinna'' und „saltus Ardenensis", ^ neben forestis Vosagus „silva Vo-
.aga" und „saltus Vosagus"^ neben „in foresto Dervo" „in saltu Dervensi".®
Hieraus darf man natürlich nicht auf Identität von silva und
orestis schließen. Ebensowenig wie man etwa aus dem Nebeneinander
''on Silva Ardinna und pagus Ardenensis folgern darf: silva = pagus.
iVahrscheinlich hat in den meisten dieser Fälle der Forst von dem
IVald seinen Namen empfangen. Der umgekehrte Vorgang ist freilich
jiuch möglich, aber nicht so naheliegend, weil forestis schon nach den
iDisherigen Feststellungen als ein sekundärer Begriff erscheint. Außer-
dem muß man im Auge behalten, daß zu „silva Vosaga", „Ardinna",
',Chrisciacensis" ebensogut Kulturland und Siedlungen gehört haben
' Bouquet, Rec. VIII, S. 468 u. 538.
' D. Karol. I, no. 182.
^ MG. Nekrol. I, S. 230.
' DD.I. S. 37.
' MG. SS. II, S. 520.
•^ DD.I. S. 22 und sonst sehr häufig.
' BM. 545 usw.
' DD.I. S. 30 und MG. D. Karol. S. 72.
j^06 Hermann Thimme
können wie zum heutigen Schwarzwald, Böhmer- oder Thüringerwald
Der Eigenname gibt dem Gattungsnamen immer eine ganz besondere
Färbung. Ein Forst, der innerhalb (oder in der Nähe) einer silva N
gelegen ist, braucht noch lange nicht bloß aus Waldungen bestander
zu haben.
Den Merowingerurkunden treten analoge Karolingerurkunden zui
Seite. Karl der Große schenkt der durch Abt Folrad von St. Deni«
erbauten Zelle Fulradovillare: ^ „aliqua loca silvestria in pago Alisacense
ex marca fisco nostro Quuningishaim . . . hoc est silva ex forest
nostra superius nominata^ . . ."; folgt Grenzbeschrieb. Gemeint is
der Wasgauforst, wie die Bestätigung Lothars I. zeigt. ^
Kloster Münster im Gregoriental erhält von Ludwig dem Fr.
„partem quandam de foreste nostra contigua ipso monasterio, quae ac
fiscum nostrum nomine Columbariam ^ aspicere vel pertinere videtur . .
et de praefata foreste nostra partem quandam per loca denominata . .
quantumcunque vero de prenominata foreste nostra infra denominat.
et determinata loca esse videtur, totum . . . concedimus . . . prenomi-
natam partem silvae de praescripta foreste nostra". Für beide Ur-
kunden gilt dasselbe, was bereits vom Forst Windegonia gesagt ist
In einem Diplom Arnulfs für die Kirche von Eichstädt^ — er sehen!
den Ort „Sezzi cum quadam parte silvae vel foresti" — spricht, zuma
bei dem bekannten mittelalterlichen Gebrauch von vel und et, da^
Nebeneinander von silva und forestis fast noch deutlicher für die Ver
schiedenheit beider Begriffe.
Interessant ist, was wir vom „forestis Aequalina" in einer Urkunde
Pippins für St. Denis ' erfahren: „Donamus . . . foreste nostra cogno-
minante Aequalina cum omni merito et soliditate sua, quicquid ad ipsc
Silva aspicere vel pertinere videtur, sicut usque nunc a nobis fui:
possessa."
Mit „ipsa Silva" ist schwerlich der ganze Forst, sondern nur etwe
der Kern desselben gemeint. Das geht aus dem Folgenden deutlicl-
hervor: „Propterea . . ..specialius jubemus atque perpetualiter statutun
esse volumus, ut jam dicta silva Aequalina cum omni integritate sua
quicquid de intus seu a foris ibidem aspicit, id est tam mansis, terri^
' D. Karol. I, no. 84.
^ Das „superius nominata" gehört wohl zu silva, und beides bezieht sich au
„aliqua loca silvestria".
' BM. 1167.
* BM. 772.
^ Vgl. BM. 881. Ludwig d. Fr. restituiert der Zelle Barisis „quandam silvam
quae conjungitur ad silvam nostram, quae dicitur Columbarias".
' BM. 1840.
' D. Karol. I. no. 28.
oc
li
Forestis 107
omibus, aedificiis, accolabus, mancipiis, silvis, vineis, campis, pratis,
iscuis, a quis aquarumve decursibus . . ., peculiis utriusque sexus,
egis cum pastoribus nee non et diversa feraminum genera seu et
restarios . . in ipsa foreste vel per diversa loca commanentes"; es
Igt die Aufzählung von zwölf Orten. Nicht durch den Wald Aequa-
la allein wird der Forst gleichen Namens gebildet; die lange Auf-
ihlung der Pertinenzformel muß dazu kommen. Der Wald mit seiner
mgebung, deren weite Ausdehnung aus der großen Zahl der mit
amen genannten Siedlungen ersichtlich ist, macht den Forstbezirk
is. Bezeichnend ist, daß in der Pertinenzformel ^ noch einmal silvae
^nannt werden. Silvae sind eben für einen Forst nicht charakte-
stischer als vineae, terrae, campi, prati, pascui etc.
Hiermit sind wir zum letzten Punkt unserer Beweisführung ge-
ommen.
d) Siedlungen und Kulturland in Forsten
Die Forsten sind vielfach besiedelt; Wald und Feld, Ödland und
ulturland sind in ihnen gleicherweise vertreten. Außer der letztge-
annten Urkunde sind hierfür eine ganze Reihe von Belegen aus
nserer Periode anzuführen. Stablo und Malmedy sind, wie wir aus
pner Urkunde König Sigiberts III. ^ erfahren, gegründet „in foreste
ostra nuncupante Ardinna, in quibus caterva bestiarum germinat."
ichon Rubel ^ weist darauf hin, daß „im Forste eine gänzlich unbewohnte
Ide" nicht gewesen ist. Man sieht dies am deutlichsten aus der Be-
tätigungsurkunde Childerichs IL, der a. 667 dem durch Sigiberts Privileg
eschaffenen Provisorium die endgültige Regelung folgen läßt:* „Ea
lamen conditione sie petierunt ipsi servi dei, ut versus curtes nostras,
i est Amblavam, Charuncho, Lethernacho, de ipsis mensuris duodecim
Jnillibus dextrorum saltibus sex millia subtrahere deberemus."
Denn man darf doch wohl annehmen, daß die drei curtes inner-
kalb des Forstes gelegen haben. Dort werden vermutlieh die forestarii
^ Den Pertinenzformeln gegenüber muß man natürlich slieptisch sein, immerhin
k'ird man doch nicht umhin können, ihnen einige Bedeutung beizumessen. So sagt
'. B. Mühlbacher von der Pertinenzformel in den Urkunden Karls III., Wiener S.B.
'j2, S. 425: „So stereotyp diese zu sein scheint, so entbehrt sie doch nicht der Indi-
vidualität . . . vineae und silvae sind bald gebraucht, bald nicht." Dasselbe dürfte
|5ich vermutlich überall nachweisen lassen. Zutage tritt es z. B. in den Urkunden
ier sächsischen Kaiser; es kann doch wohl kaum Zufall genannt werden, daß „silvae"
n 56 Pertinenzen fehlt, während es in allen übrigen Fällen mit aufgezählt wird!
' DD.I. S. 22.
^ Rubel, Die Franken, S. 61.
* DD.I. S. 28 f. Sigibert hatte dem Kloster 12 Meilen „gyrum gyrando" zu-
gewiesen. Childerich schenkt ihm die tiälfte davon völlig zu eigen.
108 Hermann Thimme
gewohnt haben, vor deren „impugnatio" Childerich den Mönche
Schutz verspricht. l
Auch im forestis Dervo befinden sich Niederlassungen. Gebeter
„ut concederemus eo quendam locum in foreste Dervo, in quo sit
liceret Monasterium construere", schenkt Childerich II. dem Abt Bur
charius:^ „ultra Ligerim in Herla scilicet et Saturiaco vel Damnofront
cum appendiciis suis et Disco cum appendiciis suis."
Bei einem Tausch zwischen Grimoald von St. Gallen und Gra
Chuonrad, welchen Ludwig der Deutsche bestätigt, ^ erhält Grimoal'
„ac de terra culta LX. jugera in foreste jacentia nee non et unu
novale jacentem in marca A." Ludwig das Kind verbietet zugunst*.
des Bischofs Erchambald von Eichstädt^ allen die Nutzungsrechte: „i
illa propria marca predicti monasterii et in locis — (sechs werden auf
gezählt) — parte illius foresti erga Sezzin et Affintal nominatis . . . i
silvis maioribus vel minoribus.'' Diese Stellen bedürfen keiner weitere;
Erläuterung. Auf das bereits erwähnte Diplom Karls des Großen fü
St. Denis* müssen wir zurückkommen. Vor allem ist hier nämlic
darauf hinzuweisen, daß außer dem Walde, dem Objekt der Schenkung
noch weitere Ländereien zu dem Forst gehören, die zwar nicht mi
verschenkt werden, die aber als „pastura" von den Empfängern benutz
werden dürfen: „et jubemus, ut per tota illa foreste nostra foras ipso
finis denominatas pastura ad eorum pecunia ex nostra indulgenti
concessum habeat." ^
Besonders eingehend handeln von den Forsten die Kapitularii
Karls des Großen. Auf sie legen auch die meisten üntersuchungei
über die Forsten das größte Gewicht, ohne jedoch, wie mir scheint, au:
ihnen die Folgerungen zu ziehen, die gezogen werden müssen. Kla
und deutlich tritt auch in den Kapitularien zutage, daß bei dei
Forsten von einer einheitlichen geographisch-botanischen Beschaffenhei
nicht die Rede sein kann.
Zunächst das Capitulare Aquisgranense:^ „üt vilicus bonus . . eli
gatur, qui sciat etc. in. forestis mansum regale et ibi vivaria cum pisces
et homines ibi maneant et plantent vineas, faciant pomaria et ubi
cumque inveniunt utiles homines, detur illis silva ad stirpandum."
Vivaria — vinea — pomaria — silva!
' MG. DD.I. s. 30.
^ ß/V\. 1445.
. ' BM. 2049.
* D. Karol. I, no. 84.
^ In einer Urkunde Herzog Tassilos: (ÜB. d. Landes ob der Enns 11, S. 3 f.) „dt
pascuis vero illorum, quos vulgo nominat forst" werden Weideländereien ausdrück
lieh als Forst bezeichnet.
' MG. LL. II, Cap. I, S. 172, c. 18 und 19.
Forestis 109
Dann das Cap. de villis:^ „üt silvae vel forestes nostrae bene
snt CListoditae, et ubi locus fuerit ad stirpandum, stirpare faciant et
(mpos de Silva increscere non permittant; et ubi silvae debent esse
Mn eas permittant nimis capulare etc. . . Et judices si eorum porcos
saginandum in silvam nostram ^ miserint, vel maiores nostri aut
iHnines eorum, ipsi primi illam decimam donent." xAuch hier treten
iis die Forsten als Bezirke entgegen, wo Wald und Ackerland neben-
(nander liegen und gleichmäßig geschützt werden sollen.
Nur einmal in der bisher betrachteten Periode wird forestis schein-
ocjfr mit silva nostra identifiziert, nämlich in einer Schenkung Karls
s Großen für das Kloster Bobbio. ^ Dabei ist jedoch beachtenswert,
bß „forestem" hinter einem verwischten Wort steht. Möglicherweise
t in der Kopie des 12. Jahrhunderts „forestem" für ein „silvam" des
riginals eingesetzt-
Wie dem auch sei. Wenn auch schon in der Karolingerzeit eine
jwisse Annäherung der Begriffe silva und forestis stattgefunden haben
ag, * unter allen Umständen muß es scharf betont werden, daß ur-
)rünglich Forst und Wald ebensowenig miteinander zu tun haben
ie etwa Gau, Grafschaft, Hundertschaft und Wald. Wenn silva und
restis als Bezeichnungen für ein und dasselbe Gebiet verwandt
pi erden, dann ist mit silva der Waldbestand, mit forestis etwas all-
imeineres bezeichnet. Aber ebensogut wie es möglich ist, daß ein
)rst ganz oder im wesentlichen nur aus bewaldetem Gebiet bestanden
it, ist es denkbar, daß zu einem Forst gar kein Wald gehört hat.
leoretisch wenigstens. Wenn es in Wirklichkeit vielleicht nie der
all gewesen ist, so liegt das einfach an der großen Ausdehnung der
Wälder im frühen Mittelalter. Und noch an einem anderen Grunde,
jf welchen ich später eingehen werde.
2. Forstregal
Forestis ist kein botanischer Begriff. Durch ihre geographische
eschaffenheit wird das Wesen der Forste nicht erschöpft. Ganz andere
aktoren müssen hier eine Rolle spielen. Die Forste sind nicht von
jornherein da, so wenig wie Königreiche, Grafschaften, Diözesen. Sie
büssen erst geschaffen werden. Es kann geradezu gesagt werden:
' MG. ib. I, S. 86, c. 36.
^ Es macht den Eindruck, als ob zunächst von „forestis" die Rede sei, und
ann mit dem Satz: „et judices" ... zu den „silvae nostrae" übergegangen würde.
' D. Karol. 1, no. 80.
' Vgl. z.B. D. Karol. no. 28 (s. oben S. 106f.). Nach Graff, Ahd. Sprach-
:hatz III, S. 699 gibt in ahd. Glossen forst fünfmal nemus, einmal saltus wieder.
110 Hermann Thimme
„De foreste, quam Autharius comes habere vult, ubi ea prius no
fuisse dicitur."^ So wird auch der Akt, dessen es zum Zustande
kommen eines Forstbezirkes bedarf, in unseren Quellen wiederholentlic
— klar genug — durch construere, constituere, instituere bezeichne
Schon a. 681 heißt es in einem Diplom Theuderichs III., ^ worin diese
eine Schenkung Sigiberts IL bestätigt, „de foreste fiscibus nostris supe
fluvium Amblava constructa". Karl der Große verleiht dem Kloste
St. Bertin das Jagdrecht in dessen eigenen Waldungen unter der Be
dingung: „salvas forestes nostras, quas ad opus nostrum constituta
habemus", ^ und Ludwig der Fromme bestimmt in seinen Kapitularier
„De forestibus noviter institutis: ut quicumque illas habet, dimittat . .
nisi forte indicio veraci ostendere possit, quod per jussionem domi|
Karoli genitoris nostri eas instituisset/'^ Oder: „De forestibus nostri;
ut ubicunque fuerint, diligentissime inquirant, quomodo salvae sint (
defensae et ut comitibus denuntient, ne ullam forestem noviter inst
tuant, et ubi noviter institutas sine nostra jussione invenerint, dimitter I
praecipiant." ^ Dem „instituere" wird hier sogar ein „dimittere" g^g^
übergestellt. i
Hier erfahren wir auch, wem die Forsten ihre Existenz verdankei '
dem Könige. Ein Mißbrauch ihrer Gewalt ist es, wenn die Grafen a
eigene Faust Forstgebiete herstellen, sie maßen sich damit eine Befugni i
an, die allein dem Könige zusteht. Unter Karl dem Großen war es sc '
Ludwig der Fromme beansprucht für sich dasselbe Recht; bis tief in
Mittelalter hinein haben die deutschen Könige und Kaiser es gehandhab
Man darf annehmen, daß es von Anfang an so gewesen ist. D'
Tatsache, daß im 6. und 7. Jahrhundert nur in den Königsurkundi
forestes erwähnt werden, in allen übrigen Quellen, besonders in de i
Volksrechten aber nicht, beweist das zur Genüge. Die „forestes" sin '
eine Institution der fränkischen^ Könige. Noch mehr: die ersten Forstei
' MG. LL II. Cap. 1, S. 314.
' DD.I. S. 47f.
* D. Karol. I, no. 191.
* MG. LL II. Cap. 1, S. 288.
' MG. LL.II. Cap. 1, S. 291, c. 22.
® Forestis ist ein spezifisch fränkisches Wort. In fränkischen Urkunden taucl;
es zum erstenmal auf. Nach England ist es erst von den Normannen gebrach
Vgl. Liebermann, Pseudo-Cnuts Const. de foresta. Halle 1894. In Kemble, Coc
dipl. Anglo-Sax. I — VI, findet sich forestis kein einziges Mal. Wenn es in Bayer
schon im 8. Jahrhundert vorkommt (ürk. Tassilos im ÜB. des Landes ob der Enns I
S. 3f.), so erklärt sich das leicht aus der engen Berührung der Franken und Bayerr
— Noch gegen Ende des 10. Jahrhunderts wird forestis als altfränkische Bezeich
nung empfunden. Vgl. BM. 1968 (Fälschung auf den Namen Zwentebolds) : „t
quandam silvam in bannum mitteremus et ex ea, sicut Franci dicunt, forestem h
ceremus."
Forestis 111
ie es überhaupt gegeben hat, müssen Königsforsten gewesen sein,
enn eine Kräftigung ihrer eigenen Macht, eine Sicherung ihres eigenen
2sitzes werden die Könige, welche das Forstrecht schufen, im Auge
3habt haben.
Daneben muß freilich betont werden: Schon die Merowinger ver-
denken Forsten oder Teile von Forsten an ihre Untergebenen. Also,
3n dem ersten Augenblick an, wo man in der Geschichte von Forsten
3rt, gibt es nicht nur Königsforsten, sondern auch Privatforsten. Das
arf man nicht aus dem Auge verlieren, wenn man die Forsten als ur-
jrünglich königlichen Besitz bezeichnet.^
Aber: Kein Forst kommt ohne Mitwirkung des Königs zustande.
Alle Forsten stehen dadurch in Beziehung zum König, fast alle (von
enen die Urkunden berichten) sind einmal im Besitz des Königs ge-
esen, sind Königsgut, wenn anders forestis überhaupt eine Bezeich-
ung für Grundbesitz als solchen ist.
»3. Forst- und Grundeigentum
Ob dies der Fall ist, oder ob forestis nur ein gewisses Recht,
omit gewisse Bezirke ausgestattet werden, zum Ausdruck bringt —
lit anderen Worten, ob der König und die von ihm Privilegierten sich
ei Forestierungen auf eigenen Grund und Boden beschränken müssen,
der ob sie berechtigt sind, fremdes Besitztum mit hineinzuziehen —
as ist eine Frage von erheblicher Bedeutung. Von der Beantwortung
erselben hängt es ab, ob man die Forstvedeihungen des Königs nur
Is Vedeihungen von Forstrechten, oder zugleich als Vergabungen von
irund und Boden auffassen soll. Dafür, daß unter Umständen hieraus
onsequenzen von großer Tragweite gezogen werden müssen, ist ein
eispiel der „forestis Arbonensis", über den im Exkurs ausführlicher
ehandelt werden soll.
Und gerade über diesen Punkt sind sich die Gelehrten keineswegs
mig. Schröder ^ bringt seine Auffassung im Gegensatz zu der Brunners
' blgendermaßen zum Ausdruck: „Kraft des Bodenregals hatten die
^^önige das unbeschränkte Recht, überall im Reiche für sich oder ein-
zelne Begünstigte Wildbänne (Bannwälder, forestes venationis, und
ianngewässer, forestes piscationis) abzugrenzen, die dadurch bei Strafe
^ Vgl. Scliwappach a. a. 0. D^m entspricht, wenn es in den Merowinger-
jrkunden heißt: ,,nostra forestis", „foreste nostra Ardinna", „foreste nostra Winde-
jonia" usw. Beispiele, die sich aus der Karolingerzeit noch sehr vermehren ließen.
|»as „nostra" charakterisiert eine Zeit, wo es auch Forsten gab, die sich nicht in
öniglichem Besitz befanden.
' D.RG.^ S. 195f.
112
Hermann Thimme
des Königsbannes dem Rechte des freien Tierfanges und der Verfügung
des Grundbesitzers gleichmäßig entzogen (daher forestare, von foris}
und dem besonderen Jagd- oder Fischereirecht des Königs oder des
von ihm Privilegierten vorbehalten wurden." Und ^ „Brunner beschränkl
das Wildbannrecht des Königs, abgesehen von den fiskalischen Be-
sitzungen, auf solche Waldungen, jn denen der König sich das An
eignungsrecht beilegte, die Quellen stellen aber außer Zweifel, daß e
auch auf Privatgüter ausgedehnt werden konnte, wenn auch tatsächlic
der König den Grundherren die größte Schonung bewiesen habe
dürfte."
Eine mittlere Ansicht vertreten Heusler, ^ Endres, ^ Roth * u. a.
Ursprünglich hätten sich die Könige auf die königlichen Waldungen ('
beschränkt, dann aber doch (und zwar noch in fränkischer Zeit!) „zu
Abrundung und auch zur Erweiterung ihrer Jagdreviere fremdes Eigen-
tum in deren Bezirk" gezogen.
Die ganze Untersuchung ist, wie mir scheint, dadurch in ein falsches
Licht gerückt, daß man Jagdrecht, Wildbannrecht und Forstrecht mehi
oder weniger einander gleichgestellt hat. Daß dies für die fränkische
Zeit unstatthaft ist, soll noch nachgewiesen werden. Aber selbst, wa
das königliche Jagdrecht anbetrifft, so würde man wünschen, daß di
Quellen angeführt wären, die es „außer Zweifel stellen" sollen, daß da^
selbe auch auf Privatgüter ausgedehnt werden konnte oder ausgedehn
ist.^ Daß die Grafen durch ihre mit Erlaubnis Karls des Großen er
richteten Forsten das Jagdrecht der Grundeigentümer aufgehoben haben,
ist nur eine tiypothese. Gegen die Beeinträchtigung bestehender Rechte
wenden sich ja jene Bestimmungen Ludwigs des Frommen. "^ Ir
späteren Zeiten sind freilich in fast allen Punkten andere Zustände ein-
getreten. Es ist m. E. ein Grundfehler der bisherigen Forschung, daf;
sie die verschiedenen Epochen auf diesem Gebiete nicht sorgfältig genu^
auseinandergehalten hat.
Der Befund der merowingischen und karolingischen Quellen is
aber folgender.
Bei einem erheblichen Prozentsatz von Forstverleihungen liegt es au
der Hand, daß es sich um Verleihungen von Grund und Boden handelt
(
* D. RG.*, S. 210.
' Institutionen I, S. 370ff.
^ Hdwörtb. d. Staatswiss. 3. Bd., S. 1127.
* a.a.O. S. 81f.
' Vgl. Schröder a. a. 0.
* Vgl. Roth a.a.O.
' Sie können z. B. sehr gut den Schutz des königlicher Verfügung unterstehen
den herrenlosen Landes bezweckt haben.
Forestis 113
lämlich überall da, wo Pertinenzen oder sonst Zubehör von Forsten
enannt werden/ wo Teile von Forsten zur Vergabung gelangen.^
;isweilen muß man sogar mit der Möglichkeit rechnen, daß die bisher
lit dem Grundbesitz verbundenen Forstrechte gar nicht mit verliehen
/erden. Solche Forstverleihungen würden dann vor gewöhnlichen Land-
bertragungen gar nichts voraus haben. Ein charakteristisches Beispiel
ierfür ist eine Urkunde Arnulfs für die Kirche von Sehen -Brixen.^
Zugleich zeigt sie schlagend, daß forestis eine Bezeichnung für Grund-
besitz, nicht etwa schlechthin für Wildbannrecht ist.
Auf Bitte des Bischofs Zacharias: „ut venationem, quae infra cuius-
lam foresti ad episcopatum suum pertinentes term.inos reperitur hac-
lenus inde prorsus exstitit alienata pariter cum eodem foresto dona-
ilonis nostrae tenore ad ecclesiam suam concederemus" . . . erfolgt
lie Schenkung: „decrevimus ita fieri, dedimusque praefatae ecclesiae
andem venationem, sicuti per subscriptorum ejusdem foresti locorum
imites distinguitur . . ., ea videlicet ratione, ut nullus comes neque ullius
irdinis potestas ullo umquam tempore deinceps infra praescriptos crebro
licti foresti terminos . . ., ullam omnino venationem exercere praesumat."
)er Forst als Grundbesitz war der Kirche offenbar schon länger verliehen.
letzt erhält sie nachträglich auch das Jagdrecht, welches zuerst wohl
ür den König vorbehalten war.
Mit aller wünschenswerten Deutlichkeit werden die Forsten im Capi-
ulare de villis und im Cap. Aquisgranense als königlicher Grundbesitz
geschildert.^ In allen anderen Fällen wird nichts über diesen Punkt
jtusgesagt. Wenn also viel dafür und nichts dagegen spricht, wird
ban nicht umhin können zu folgern: So weit die Quellen reichen,
assen sie uns keinen Zweifel darüber, daß bei den Forsten Eigentums-
echt des Forstinhabers auf Grund und Boden des Forstbezirkes ein
anbedingtes Erfordernis ist. ^
Auch darauf, daß die Forsten öfters als Immunitätsgebiete gekenn-
:eichnet werden, muß in diesem Zusammenhang hingewiesen werden.
ZYsi vom 10. Jahrhundert an beginnen die Immunitätsbezirke sich über
pen Grundbesitz der Immunitätsherrn hinaus auch auf fremden Grund
and Boden auszudehnen, während sie bis dahin an den Grundbesitz
' Vgl. Kap. 1.
^ z. B. D. Karol. I, no. 84: „cum pagena de silva ex foreste nostra" usw.
' BM. 1887.
* Vgl. oben S. 108 f.
^ Infolgedessen wird Heusler, der den Zusammenhang des Forstbannes" mit
dem Bodenregal bestreitet (Inst. S. 210) gegen Schröder (D.RG.* S. 208 u. Anm.)
recht behalten.
Afü II 8
m
-[j^4 Hermann Thimme
gebunden waren. ^ Den beiden von Schwappach angeführten Urkunden-
tritt das Privileg Childeberts für Stablo und Malmedy an die Seite.
worin es heißt: „üt hoc totum — nämlich einen Teil des Ardennen-
forstes — et ad integrum cum Dei gratia et nostra teneant atque
possideant cum emunitate nomenis, ut absque ullius impugnatione
forestariorum vel cuiuslibet personae liceat ipsam familiam Dei quietc
ordine residere."
Am lehrreichsten ist doch wohl jene St. Galler Formel:^ „Noticia di-
visionis possessionum regalium vel popularium, episcopalium vel monas-
terialium," wo es heißt: „deliberaverunt, ut immunitas regis a villa ac
villam . . . singula per se — sine ullius communione esse deberet
nisi forte precario cuilibet ibi et Servitute pro merito eius necessaric
concederentur. Si autem quis sine permissione praefecti vel procura-
toris regis aut venationem ibi exercere vel ligna aut materiem ceden
convictus fuerit, juxta decretum senatorum provinciae componai" Denr
der hier mit „immunitas regis" bezeichnete Bezirk ist nichts anderem
als ein forestis. Die Aufzählung der Nutzungsrechte, deren Ausübung
den „pagienses" bei Strafe untersagt wird, charakterisiert ihn als solchen
Wichtige Punkte des Forstrechts sind hier schon genannt. Sehet
wir genauer zu, worin es besteht.
4. Jus forestis*
Es ist nicht identisch mit Wildbannrecht, d. h. dem Ausschlul
Fremder von der Jagd des Forstgebietes.
Nicht einmal, daß die Jagd unter den Forstnutzungsrechten ai
erster Stelle gestanden hat, wird man nachweisen können. In de
ganzen Merowingerzeit ist von der Jagd als Forstnutzung kein einzige
Mal die Rede. Wenn die Forsten nicht mehr gewesen wären als könig
liehe Jagdbezirke, würde dies außerordentlich auffällig sein. Erst ii
der Karolingerzeit wird in einzelnen Urkunden das Jagdverbot schärfe
hervorgehoben. ^ Energisch betont wird dagegen das Jagdrecht um
^ Vgl. Seeliger, Grundherrschaft, S. 122. S. Ulf. hebt Seeliger die enge Be
Ziehung zwischen Bann- und Immunitätsbezirken hervor, ohne freilich die „Bann
forsten" zu erwähnen.
^ D. Karol. I, Pippin no. 28, Karl d. Gr. no. 87.
^ MG. Form. S. 403. Vgl. auch unten S. 117.
* Chilperich II. schenkt St. Denis „foreste nostra Roverito cum omnem Jure vi
termine suo ad integrum" (DD.I. S. 77).
^ Besonders Pippin no. 28 und die Bestätigung Karls d. Gr. no. 87. Wenn hie
und an anderen Stellen — etwa 70% aller für unsere Periode überlieferten Forsi
Verleihungen kommen den Klöstern zugute — Klöstern das Jagdrecht verliehen wir(
so scheinen damit jene karolingischen Bestimmungen, die den Klerikern die Jag
Forestis j^j^5
der Wildschutz, wo es sich um königliche Forste handelt. Besonders
kharf geht das Capitulare miss. generale ^ vor:
„üt in forestes nostras feramina nostra nemine furare audeat, quod
|am multis vicibus fieri contradiximus, et nunc iterum banniamus fir-
iTiiter, ut nemo amplius hoc faciet, sicut fidelitatem nobis promissa unus-
quisque conservare cupiat, ita sibi caveat. Siquis autem comis vel
:entenarius aut bassus noster aut aliquis de ministerialibus nostris
:'eramina nostra furaverit, omnino ad nostra praesentia perducantur
id rationem. Caeteris autem vulgis, qui ipsum furtum de feraminibus
"ecerit, omnino quod justum est conponat, nullatenusque eis relaxetur.
5i quis autem hoc sciente alicui perpetratum, in ea fidelitate conservatam,
quam nobis promiserunt et nunc promittere habent, nullus hoc celare
äudeat." Ähnliche Maßregeln werden im Cap. de villis angeordnet:
,unusquisque judex per singulos annos, quid de feraminibus in forestis
nostris sine nostro permisso captis . . . nobis notum faciant, ut scire
i^aleamus, quid vel quantum de singulis rebus habeamus." ^
Auf das Cap. Aquisgranense ^ und das Capitulare Italicum * sei an
dieser Stelle nur kurz hingewiesen.
Da das Jagdverbot bei den Forstbestimmungen der Kapitularien
2inen so breiten Raum einnimmt, ist es verständlich, daß man zu der
'Ansicht gekommen ist, in dem Jagdrecht das Wesen der Forsten zu
sehen. Man muß sich aber klar machen, daß tatsächlicher Zustand
Lind hervorgehobene Bedingungen keineswegs proportional zu sein
brauchen. Das Verbot wird dann besonders scharf betont, wenn die
Gefahr einer Übertretung nahe liegt, oder wenn gar wiederholt Über-
tretungen stattgefunden haben. Das Jagdverbot steht deshalb an erster
streng untersagen, im Widerspruch zu stehen. Schon Schwappach hat sie zu-
sammengestellt (a. a. 0. S. 61). Es wären etwa noch hinzuzufügen eine Verordnung
von Papst Eugen II. (MG. LL II. Cap. 1 S. 373): „üt sacerdotes ... fenore aliquo
aut venatione . . . non occupentur" und von Bischof Hatto von Basel (S. 364): „nee
canes ad venandum nee accipitres nee falcones nee sparavarios . . . licentiam habeant."
Die Klöster werden jedoch in der Regel ihre venatores gehabt haben. In einem Diplom
Karls d. Gr. für St. Bertin (no. 191) heißt es ausdrücklich: „ut ex nostra indulgentia
in eorum proprias Silvas licentiam haberent eorum homines venationes exercere, unde
fratres consolationem habere possint tam ad volumina librorum tegenda, quamque et
municias et ad zonas faciendas"; nicht die „fratres" sondern die „homines", Laien-
angehörige des Klosters, sind hier die Jäger. Vgl. Karl d. Gr. no. 87: „necnon ex
supradicta venatione infirmorum fratrum corpora ad tempus reficienda, reparanda
let corroboranda." Das wichtigste aber ist bei Forstverleihungen an die Klöster
'natürlich die Vermehrung ihres Grundbesitzes.
' MG. LL. IL Cap. 1, S. 98.
' a. a. 0. S. 88, c. 62.
' a. a. 0. S. 172, c. 18.
* a. a. 0. S. 211, c. 17.
• 8*
^1ß tiermann Thimme
Stelle, weil Wilddiebereien offenbar an der Tagesordnung gewesen sind,
„ünusquisque judex per singulos annos!" (S. 115). Solche Stellen lassen
ahnen, wie schwer es den alten Deutschen geworden ist, sich darein zu
finden, daß die Jagd mehr und mehr an das Grundeigentum gebunden
wurde, von dem sie doch ursprünglich unabhängig war. ^
Daß sie es wird, ist ein Prozeß, der vermutlich mit der Gründung
des ersten Forstes eingesetzt und mit dem Anwachsen der Forstgebiete
gleichen Schritt gehalten hat.
Trotzdem sind die Forsten doch weit mehr als bloße Jagdbezirke
Gerade aus den Kapitularien geht dies mit aller wünschenswerter
Klarheit hervor.
Die betreffenden Stellen sind bereits zitiert.^ Um Jagd allein is
es jedenfalls dem Könige nicht zu tun, sondern ebensosehr um möglichs
weitgehende Kultivierung dieses seines Grundbesitzes, um Rodung
darauf befindlicher Waldungen usw. So heißt es auch in der Urkunde
für St. Bertin: „salvas forestes nostras, quas ad opus nostrum con-
stitutas habemus." „Ad opus nostrum" heißt ganz allgemein: „zi
unserem Nutzen." Neben der Jagd stehen eine Reihe anderer Nutzungen
welche in den Forsten Sonderrechte der Forstbesitzer werden.
In engem Zusammenhang mit der Jagd steht der Fischfang.^ Be
einzelnen Forsten spielt er eine ganz besondere Rolle. Ausdrücke wi(
„forestem aquaticum", „forestem piscium" haben vielleicht, „forestem pis
cationis atque venationis" sicher nicht mehr zu bedeuten: Pars pro toto
Vor allem aber sind Holzschlag, Schweinemast und Viehweide fü
^ Ich möchte mich hier Schröder anschließen, wenn er sagt (D. RG. S. 536)
„Das Jagdrecht hat seinen Ausgang in Deutschland nicht von der Jagdberechtigung
der Grundbesitzer, sondern von dem Recht des freien Tierfanges genommen. Aucl
die Grundbesitzer bedurften eines königlichen Wildbannprivilegs, um eine ausschließ
liehe Jagdberechtigung auf ihrem Grund und Boden zu erlangen. Außerhalb de
königlichen Bannforsten galt das Recht des freien Tierfangs, dem der Grundbesit:
als solcher nur tatsächliche aber nicht rechtliche Schranken zu setzen vermochte.'
Vgl. hierzu die Urkunde Karls d. Gr. für St. Bertin (a.a.O.): „ut ex nostra indul
gentia in eorum proprias Silvas licentiam haberent eorum homines venationen
exercere." In späterer Zeit werden wir ähnlichen Belegen begegnen. Freilich heiß;
es schon in der Lex Sal. XXXIII: „Si quis de diversis venationibus furtum fecerit ef
celaverit praeter capitale et dilaturam 1800 den. qui faciunt sol. 45 culpabilis judi
cetur. Quia lex de venationibus et piscationibus conservare convenit.** (Ahnlicl
L. Rib. XLII, 1. Vgl. Schwappach a. a. 0. S. 54.) Aber das zeigt nur, daß es zu
Zeit der Lex Sal. schon Sonderjagden gegeben hat; durchaus nicht, daß die Jag(
„ein Zubehör und Ausfluß des Grundeigentums" gewesen ist.
2 S. oben S. 108 f.
^ S. oben S. 103f. Außerdem verleiht Zwentebold den Mönchen von St. Evre fü
Mittwoch und Freitag „piscationem scilicet in foreste nostra super fluvium Mosellae.'
BM. 1972.
n
Forestis 117
jie Forstbesitzer wichtige Sonderrechte. Mehrfach werden sie gegen
\bgabe eines Zehnten oder auch sonst innerhalb von Forsten verliehen.
Sigibert IL bestimmt zugunsten der Kirche von Speyer: ^ „Sic et
lomines fisci faciant decimas porcorum, qui in forestis insaginantur,
mt omne genus pecorum, quantum in ipso pago Spirensi ad fiscos
lostros pertinetur." Karl der Große schenkt Abt Folrad:^ „silva ex
oreste nostra ... et jubemus, ut per tota illa foresta, foras ipsos fines
jenominatas pastura ad eorum pecunia ex nostra indulgentia concessum
labeat." Arnulf schenkt der Kapelle von Ranshofen:^ „et in foresto
idjacenti videlicet in Wilhart succisionem lignorum tarn ad aedificia
:onstruenda, quamque ad focum nutriendum prout ipsi loco sufficere
^idetur . . . Idemque in altero foresto Hohenhart et mutuoque sagina-
;ionem porcorum absque ulla districtione provisorum" und der Kirche
v^on Eichstädt: * „locum Sezzi cum quadam parte silvae et foresti de
:urte Wizenburch." Bei Strafe des Bannes ist hier jedermann verboten,
3hne Erlaubnis des Bischofs: „ligna cedere vel fenum secare, seu aliquo
pastu perfrui." Ebenso werden wohl in einer Urkunde Ludwigs des
Deutschen/ wodurch dieser einen Tausch zwischen Grimuald von
St. Gallen und Graf Chuonrad bestätigt, und der Graf dem Kloster
verleiht: „Insuper etiam ... ad prefatum monasterium convenimus,
ut ipsa familia in ipsa cellula manens potestatem habeant materia et
;ligna cedendi et pasturam animalibus" . . . Forstnutzungen gemeint
isein, da in derselben Urkunde bereits ein Forst erwähnt ist.
Ganz besonders deutlich ist eine Urkunde Ludwigs des Kindes für
iBischof Erchambald von Eichstädt:^ „Insuper etiam volumus atque
omnino jubemus, ut nulla persona audeat in illa propria marca pre-
dicti monasterii et in locis ... (6 werden genannt) . . . parte illius foresti
erga Sezzin et Affintal nominatis sine consensu et voluntate Ercham-
baldi ... in silvis majoribus vel minoribus porcos saginare, feras
silvaticas venare, arbores abscindere, aut ullam injuriam facere."
Man wird jetzt verstehen, warum ich das in der St. Galler Formel
als immunitas regis bezeichnete Gebiet als forestis hingestellt habe. "^
Und noch eine zweite Formel ähnlichen Inhalts ist anzuführen, bei der
es durch einen anderen Umstand außer Frage gestellt wird, daß man
es mit einem Forst zu tun hat:^
' DD.I. S. 24f.
' D. Karol. I, no. 84.
' BM. 1951.
' BM. 1840.
' BM. 1445.
^ BM. 2049.
' S. oben S. 114.
' MG. Form. LL V. S. 383f.
j^j^g Hermann Thimme
„Notum Sit Omnibus, quod ad distinendam diutissimorum litem,
factus est conventus procerum vel mediocrum inter locum sancto illo
et illo sacratum ... et reliquos eorundem locorum pagenses pro qua-
dam Silva vel potius saltu latissimo longissimoque, utrum et ceteri cives
et eorum lignorum materiarumque caesuram, pastumque saginam ani-
malium habere per suam auctoritatem an ex eiusdem loci dominis pre-
cario deberent. Tunc jussu missorum imperatoris A (wahrscheinlich
fälschlich für K, Anm. d. Herausg.) diviserunt eundem saltum hoc modo,
ut de fluviolo, qui dicitur N. sursum ... ad cellam sancti illius proprle
pertinere deberent, et nullus in eisdem locis aliquem usum habeat,
nisi ex permissione rectorum eiusdem sancti loci. Deorsum versus
autem supradictorum fluviolorum omnes illi pagenses similiter sicut
familia sancti illius usum habeant caedendi ligna et materies, sagi-
namque porcorum vel pastum peccorum, eo tarnen pacto, ut forestarius
sancti ipsius eos admoneat, ne nimo derote ruendo arbores glandiferas
et sibi nocüi et sancto loco inveniantur infesti." Das Auftreten des-
forestarius läßt keinen Zweifel darüber, daß der dem Kloster zugewiesene
Teil des saltus nicht nur dem Rechte nach, sondern auch dem Namen'
nach ein forestis gewesen sein soll.
Alle Sonderrechte der Forsten wird man sich etwa zusammen-
gefaßt denken dürfen in jenem Diplom Arnulfs,^ in dem der Hof'
Velden verschenkt wird: „cum omni utilitate in foresto", und wenn
Karl der Dicke „fideli suo Theodoni" schenkt: ^ „communia de foreste
nuncupante Hulsinas." Gerade der Ausdruck „communia" ist sehr
charakteristisch. Alle Rechte und Nutzungen, welche sonst „com-
munia" d. h. Allmende sind, — bei den forestes werden sie zu
Sonderrechten.
Sondergut sind also die Forsten, hinsichtlich sämtlicher Nutzungs-
rechte: Jagd, Fischerei, Schweinemast, Viehweide, Holzhieb, Siedelung,^
für Draußenstehende geschlossen.^
und zwar bei Strafe geschlossen. Das muß noch besonders her-
vorgehoben werden. Denn gerade durch die Vorkehrungen, die zu
ihrem Schutz getroffen sind, erhalten die Forsten ein ganz besonderes
Gepräge. Die auf Verletzung eines Forstes gesetzte Strafe kann in!
der Tat nicht ganz unbeträchtlich gewesen sein. Jene beiden armem
Wilddiebe, für die sich Einhard in seinem Brief an Graf Poppo ini
^ BM. 1955.
2 BM. 1713.
^ Vgl. Urkunde Sigiberts DD.I., S. 22: „ut nullius umquam tempore vitae suac
quaelibet persona ipsum forestem audeat irrumpere, aut mansiones aut domos aedi-
ficare, nisi tantum modo illi servi Dei."
* Vgl. Inama Sternegg, D. WG. I, S. 416.
Forestis 119
ührender Weise verwendet, ^ haben dies zu ihrem Schaden erfahren
nüssen.
Man ist gewohnt von Bannforsten zu reden. Auffällig ist es
mmerhin, daß erst am Schluß der Karolingerzeit vereinzelt von „bannus"
)ei Forsten die Rede ist,^ während in späteren Jahrhunderten der
Cönigsbann fast regelmäßig bei Forstverleihungen als übliche Strafe
ür Forstverletzungen und zwar speziell für Jagdfrevel angeführt wird,
m Cap. Ital. ^ wird zwar auf das Legen von Fußangeln „in foreste
lominica" der „bannus dominicus" gesetzt, doch ist das hier, wie der
Zusatz: „nee in quolibet loco" zeigt, die Strafe für die Tat als solche
licht für die Verletzung des Forstes. Mit Schwappach * am Ende des
3. Jahrhunderts einen Einschnitt zu machen und auf der einen Seite
n den Forsten königlichen Wald schlechthin, auf der andern Seite aber
3annforsten sehen zu wollen, liegt also keine Veranlassung vor.
Wenn man zur Untersuchung von forestis nur die merowingischen
jnd karolingischen Quellen hätte, würde man schwerlich auf den Aus-
druck „Bannforsten" gekommen sein. Banngebiete sind insbesondere
die königlichen Forsten natürlich von Anfang an gewesen. Ob die
spätere Betonung der Bannstrafe eine bloß formelle Zutat ist, oder ob
etwa in bezug auf die Strafen erst in späterer Zeit eine Regelung er-
folgt ist, ^ mag dahingestellt bleiben.
Zweimal hören wir in spätkarolingischer Zeit von Wäldern, die
unter königlichem Bann gestanden haben. So heißt es in einer von
Waitz^ angeführten Stelle: „nemoribus, quae in regio banno sunt" und
jin einer Urkunde Karls des Dicken:^ „bannum etiam nostrum pro
'silva, quod exactores nostri requirebant." Leider erfährt man nichts
^ MG. Ep. V, S. 133: „Duo pauperes homines confugerunt ad limina beatorum
Christi martyrum . . . fatentes se culpabiles esse, qui in praesentia vestra convicti
fuerunt de quodam furtu, quod cotfimiserunt furando feramina in dominica foreste
cuius partem compositionis jam solverunt, et adhuc solvere debent. Sed ut asserunt,
non habent unde solvere propter paupertatem suam. Proinde precamur . . ut eis . .
parcere dignemini.
^ Vgl. die bereits mehrfach genannte Schenkung Arnulfs für die Kirche von
Eichstädt: „ut eodem banno sicut antea fuit ad memoratum ecclesiam secure per-
tineant" und eine Urkunde Karls d. Einfältigen für Bischof Stephan von Lüttich a. 915
„Delegavimus namque ipsatn forestem ... in proprium tenendam . . . Si quis ita
temerario ausu in ea venari praesumpserit, sie regium bannum inde componat,
quomodo antea componebatur, dum regum in manibus steterat."
' MG. LL. II. Cap. 1, S. 211.
* a.a.O. S. 56f.
° Ausdrücke wie „perducantur ad rationem" und „quod justum est componat*
(Cap. missor. gener. a. a. 0.) könnte man so auffassen.
' VG. IV, S. 128, Trad. Sangall. S. 281.
' BM. 1707.
■
120 Hermann Thimme
Näheres von diesen Bannwäldern, und ob sie mit Forsten etwas za
tun haben. ^
5. Forestarii^
Als Banngebiete haben die Forsten ebenso wie die Immunitäts-
bezirke ihre eigenen Beamten. Das Forstrecht zu wahren, die Verletzung
der Forstgebiete durch Unbefugte zu verhindern oder zu ahnden, das
ist die Aufgabe der forestarii.
Sie gehören zu den Forstbewohnern. Vom Forst Aequalina heißt^
es:^ „seu et forestarios cum ipsorum mansibus in ipsa foreste vel per
diversa loca conmanentes." ^ Hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Lage^
werden sie mit den Meiern und den übrigen Beamten in der Villen-
verfassung Karls des Großen auf eine Stufe gestellt: „üt maiores nostri
et forestarii, poledrarii, cellerarii, decani, telonarii vel ceteri ministeriales
rega faciant et sogales donent de mansis eorum." ^ Ihre bäuerliche^
Tätigkeit tritt hier zutage.^
Was ihre soziale Stellung anbetrifft, so werden wohl alle Klassen^
der damaligen Bauernbevölkerung auch bei den forestarii vertreten ge-
wesen sein. Die „liberi forestarii" in den Vogesen befreit Ludwig der
Fromme^ von Bann, Heerbann, Lieferungen und Spanndiensten, nur
die „stoffa" wird ihnen nicht erlassen. Die „servi forestarii" müssen^
von ihren Mausen Fronarbeit nebst Zins und schuldigen Diensten
leisten, ganz entsprechend dem allgemeinen Los unserer Bauern da-
maliger Zeit.
Auf den ersten Blick könnte befremden, daß unter den forestarii,
für die Ludwig der Fromme seine Urkunde ausgestellt hat, sich auch
Kirchenleute befinden: „servi forestani tam ecclesiastici, 'quam fiscalini.*
Dagegen muß man bedenken, daß der Vogesenforst sicherlich nicht'
* Vielleicht ist auf sie ein Wort von Waitz (a.a.O.) anzuwenden: „bannus
kommt aber auch als Abgabe für den König für die Benutzung einer silva vor."
* Vgl. Bernhardt, Gesch. des Waldeigentums I, S. 48. Roth a. a. 0. S. 87 f. u.
323f. Waitz, VG. IV, 145 f.
^ D.Karol. I, Pippin no. 28.
* Schon hier sei auf eine Urkunde Konrads II. für Salzburg hingewiesen. (9t. 1957.)
Zur Pertinenz des „forestum Heit" gehören „forestenses mansi". Prümer Güter-
verzeichnis Beyer I, S. 169: „Warinus forestarius habet mansum dimidium "
^ Cap. de villis a. a. 0. S. 84.
" Ludwig das Kind schenkt den Lorscher Mönchen, was der Schmied Helmerich
und der forestarius Engibrecht von Krongut in Sandhofen und Schaarhof im Lobden-
gau besaßen.
^ BM. 764. MG. Form. S. 326. Aus dem Satz: „forestarios nostros . . . immunes
constituimus" ganz allgemein zu folgern: „den Forstbeamten stand Immunität zu"
(vgL Bernhardt a. a. 0.) ist nicht statthaft.
^
Forestis j^21
nehr in seiner ursprünglichen Ausdehnung königlicher Besitz war.
feile desselben werden ebensogut zur Vergabung gelangt sein, wie dies
Ton Teilen des Ardennenforstes bezeugt ist. So liegt z. B. „foreste
)ervo" mit dem Kloster gleichen Namens „in fine Wasciacinse." ^ Und
;bensogut können Teile von Forsten als Benefizien oder in irgend einer
)eliebigen Leihform an Kirchen, Klöster usw. ausgetan gewesen sein.
)er Annahme, daß die „forestarii ecclesiastici" etwa auf solchen Forst-
)enefizien gesessen haben, steht nichts im Wege. In ihr Dienst-
/erhältnis macht unsere Urkunde ja auch gar keinen Eingriff. Aus-
Irücklich wird betont: die servi forestarii sollen von ihren Mausen
^ins und schuldige Dienste leisten. Nur die Verordnungen, welche
jlie amtliche Stellung der forestarii angehen, sollen für alle, für die
Jiberi forestarii quam servi ecclesiastici aut fiscalini" gelten.
Als Beamte bilden die forestarii eine Korporation, an deren Spitze
,magistri", „ministri", „principes" stehen: „sed quicquid . . . possessione
jiut in occupatione egerint aut cuilibet tulerint clamorem, coram minis-
!;ris forestariorum illorum justiciam faciant et si justiciam facere de-
raxerint, hoc ad nostram justiciam deportetur." ^ Arnulf schenkt dem
Kloster Kremsmünster ^ den Hof Neuhofen „cum omnibus ad eam per-
bnentibus, cum . . . forestis omnibusque forestariis et venatoribus,
:iuorum princeps Fuondimuh vocatur."
Für die Tätigkeit der forestarii wird schon in der Merowingerzeit
Jas Wort defensare verwandt. ^ In einer Urkunde Childeberts III. ^ heißt
35 von „Silva nostra Carmoletus": . . . „vel forestarii usque nunc defen-
isarunt" und dementsprechend im Cap. Aquisgr.: ^ „De forestis, ut fores-
tarii bene illas defendant, simul et custodiant bestias et pisces."
Der forestarius in der S. 118 zitierten St. Galler Formel hatte die
Aufgabe auch über den Forst des Klosters hinaus in der Allmende,
an welcher seine Herrschaft mitberechtigt war, den Holzhieb der „pa-
jgenses" zu kontrollieren. Überhaupt sieht man an verschiedenen
Stellen, daß die forestarii sehr geneigt waren, ihre Befugnisse möglichst
;weit auszudehnen. Den Mönchen von Stablo und Malmedy wird für
jdas ihnen geschenkte Forstgebiet zugesichert, daß sie von den fores-
tarii nicht behelligt werden sollen: „ut absque ullius impugnatione
forestariorum . . . liceat ipsam familiam Dei quieto ordine residere."
' D. Childerich II. S. 30.
' BM. 764.
' BM. 1772.
* In der Urkunde Ludwigs d. Fr. „providere". „Quia forestarios nostros, . . .
qui forestem in Vosago provident . . ."
' DD.I. S. 63.
' a. a. 0. S. 172.
j^22 Hermann Thimme
Falls sie zu weit gegangen sind, was durch die Ausdrücke „quicquid
possessione aut in occupatione egerint aut cuilibet tulerint clamorem'
bezeichnet wird, sollen die forestarii in den Vogesen vor dem „ministei
forestariorum" Rechenschaft ablegen. Ein besonders drastisches Bei-
spiel für das Temperament, mit dem gerade in den Vogesen forestari
die Sache ihres kaiserlichen Herrn vertreten haben, bringt gleichsarr
als Illustration zu dem letztgenannten Satz aus der Urkunde Ludwige
Hincmars vita Remigii,: ^ „forestarii ejus invaserunt partem de silva
quam in saltu Vosage, ut supra ostendimus sc. Remigius in vitc
sua pretio comparaverat, intra fines eins dicentes, quod plus per-
tineret ipsa silva ad fiscum imperatoris, quam ad partem sc. Remigii
Contradicentibus antem hominibus de potestate Remensis ecclesiae, unu!
eorum altercando venit ad porcos suos, quos in eandem silvam ac
pastionem miserat . . . Frater vero concite pergens in partem alteran
pervenit ad quandam petram et dixit: Omnibus notum sit, quin usqm
hanc petram est silva imperatoris."
Die ganze Geschichte mit dem wunderbaren Gottesurteil (der eim
rennt sich den Schädel ein, der andere verliert durch ein Felsstück
das er mit seiner Axt losschlägt, beide Augen), trägt zwar einen starl
legendenhaften Anstrich, gibt aber doch von den Aufgaben und voi
der Tätigkeit der forestarii ein anschauliches Bild. Man beachte: „veni
ad porcos suos." Auch diese forestarii nehmen an dem Wirtschafts
betrieb im Wasgauforst selbsttätigen Anteil.
An einigen Stellen treten uns unter anderer Benennung docl
offenbar forestarii entgegen. So ist kaum daran zu zweifeln, daß ii
der Urkunde Arnulfs ^ mit dem Satz: „Idemque in altero foresto Hohen
hart . . . saginacionem porcorum absque ulla districtione provisorum"
mit den „provisores" forestarii gemeint sind. Zu den „ministeriales" de:
Cap. Missor. Gen.,^ denen die Wilddieberei verboten wird, werden aucl
die forestarii gehört haben. Speziell für die forestarii gilt der Satz in
Cap. Aquisgr.: ^ „Et si rex alicui intus foreste feramen unum aut magi
dederit, amplius ne prendat, quam illi datum sit." Daß die forestari
nicht mit den ebenfalls mehrfach erwähnten „venatores" zu verwechseli
sind, haben bereits Bernhardt und Roth hervorgehoben.
Technische Beamte der Markensetzung sind die forestarii niemal
gewesen.^ Es geht weder aus der betreffenden Urkunde Ludwigs de
^ MG. SS. Merow. III, S. 323.
* BM. 1951.
^ Vgl. „absque ullius impugnatione forestariorum".
* a. a. 0. S. 98.
' a. a. 0. S. 172.
« Rubel, a. a. 0. S. 308ff. Vgl. Brandi, GGA. 1908. Nr. I.
«
Forestis 123
Tommen, noch aus irgend einer anderen Urkunde hervor. Nur ein
einziges Mal erscheinen sie bei einer Grenzabsetzung als mittätig. In
euer Urkunde für Stablo-Malmedy.^ Daraus so weitgehende Schlüsse
:u ziehen, wie Rubel es tut, ist zum mindesten sehr gewagt. Fast so
*ewagt wie eine andere Behauptung auf S. 287, wo der erstaunte Leser
lört, daß zur Schaffung des Thüringer Rennstieges ein „Beamtenapparat
/on Hunderten von forestarii" nötig gewesen sein soll. Bei Childerichs
Jrkunde ist zu beachten, daß die forestarii keineswegs die Grenzen
ies Forstes selbst absetzen — dieser existierte ja schon länger — ;
jine Grenzlinie innerhalb des Forstes herzustellen, dazu konnten sie
latürlich als Bewohner desselben ganz gut behilflich sein.
Zu einem forestarius gehört unbedingt ein forestis. Wo ein Forst-
Bezirk vorhanden ist, wo ein neuer eingerichtet wird, da sind, da
A^erden die Bewohner forestarii. Das „mensurare et designare" be-
zeichnet höchstens einen einmaligen vorübergehenden Akt, die fores-
arii aber sind seßhafte Forstbewohner und ziehen nicht von einem
- >t zum andern.
jA Ob nun in der Regel alle Bewohner eines Forstes forestarii ge-
r iiannt sind, und nur einzelne von ihnen jene geschilderte amtliche
3efugnis besaßen, oder ob nur die von den Bewohnern, denen dies
^mt zuteil ward, den Namen forestarii empfingen, muß dahingestellt
bleiben.
Eins ergibt sich aus dem Gesagten mit Sicherheit. Ebensowenig
me sich forestis mit Forst im heutigen Sinne des Wortes deckt, eben-
sowenig haben die forestarii mit den heutigen „Förstern" gemeinsam.
Forestis und forestarii sind eben zwei Begriffe, für die es in der
Gegenwart kein Analogon gibt.
6. Ergebnisse
Wir haben forestis in seiner ursprünglichen Bedeutung kennen
'gelernt als Königsgut, für welches ein bestimmtes „jus forestis" gilt.
Welche Stellung nimmt forestis innerhalb des gesamten Königsgutes
ein? Wie hat man sich die Entstehung der Forste vorzustellen?
In erster Linie, so wird man sagen dürfen, sind die Forste das
Ergebnis der durch den König erfolgten Okkupation des herrenlosen
Landes.^ Bei dem alten, bereits in Kultur genommenen, königlichen
Erbgut, wird ein „jus forestis" bereits sowieso auch ohne besonders
erfolgte rechtliche Formulierung bestanden haben, hier waren die „com-
' S. oben S. 107 f.
' Vgl. Inama Sternegg, a. a. 0. S. 282 u. 111.
j^24 Hermann Thimme
pagienses" wenn nicht durch rechtliche, so doch durch tatsächliche
Schranken von den Nutzungen ausgeschlossen.^ — Das zur Erklärung,*;
daß nicht das sämtliche Königsgut forestis heißt.
Innerhalb dieser Forsten, des aus herrenlosem Gut entstandenen
königlichen Sondereigentums, wird dann zum Teil eifrig Kulturarbeit
getrieben. So kommt es einerseits, daß manche stark besiedelte Forst-
gebiete begegnen, andererseits, daß forestis und silva sich so oft be-
rühren, was ja nicht zu leugnen ist, wenn auch silva und forestis
an und für sich nichts miteinander zu tun haben. ^
Durch die Entstehung von königlichen forestes werden ferner
den Allmenderechten der Markgenossenschaften mehr oder weniger
feste Schranken gesetzt: wir sahen, daß das „jus forestis" alle die
einzelnen Nutzungsrechte in sich schloß, die sonst den Mark-
genossen an der Allmende zustehen. In jenen beiden St. Galler
Formeln waren die Gebiete, die den Markgenossen entzogen wurden,
forestes.
Die Entstehung von „Forsten" kennzeichnet die Ausdehnung des
Privateigentums auf Kosten der gemeinen Mark, kennzeichnet im
Grunde den Abschluß in der Entwicklung der Idee des Privateigen-
tums an Grund und Boden überhaupt.
Das Wort forestis ist von einer Zeit geprägt, der das Vorhanden-
sein von Privateigentum zum ersten Male klar und deutlich zum Be-
wußtsein kommt, einer Zeit, die dieses Wortes bedurfte, um den Gegen-
satz gegen den vorhandenen Begriff der gemeinen Mark^ herzustellen.
Der Gegensatz zu forestis ist nicht etwa Königsgut, welches nicht
als forestis bezeichnet wird — fiscus schlechthin — , sondern die ge-
meine Mark. Forestis ist Sondergut, welches außerhalb der gemeinen
Mark liegt. Forestarii sind die Wächter dieses ersten offiziellen
Privateigentums. Forestis und foris gehören zusammen. Man wird in
der Tat diese Etymologie für gesichert halten dürfen.^ Forst ist kein
' Vgl. Schröder, a. a. 0. S. 536. S. oben S. 115.
- ' S. oben S. 109.
^ Forestis bürgt daher von seinem ersten Auftauchen an für die Existenz eines;
solchen Gemeinbegriffes, Rübeis Behauptung, „daß die Markgenossenschaft ir;
Deutschland eine späte zwangsstaatliche Einrichtung ist", ist also geradezu umzukehren.
* Wenn bei J. Grimm, D. RA. II^ S. 412f. für eine spätere Zeit eine Reihe von
Stellen angeführt werden, wo forestis die Bedeutung gefreiter Bezirk im Sinne von
Gerichtsstätte hat, so wird das ebenfalls der durch die Ableitung von foris charakte-
risierten uralten Grundbedeutung von forestis entsprechen. Anno 1109 stiftete Konrad
von Merlenheim dem Kloster Hirsau Güter „in pago Spirensi in comitatu Liutrammes-
forst". Württemb. ÜB. I, S. 338. Nach Acta Theod. Pal. III, S. 255 (Mannheim 1773)
befand sich in Liutrammesforst die öffentliche Gerichtsstätte („mallum publicum")
und davon habe der ganze comitatus seinen Namen erhalten. (Vgl. DH.IV. St. 2874:
1-
Forestis 125
ort germanischen Ursprungs. Es ist auch ins Deutsche übertragen:
pann heißt es „Sunder".
Für das Vorkommen dieses Wortes bietet RübeP zahlreiche Belege,
mf die im einzelnen hier nicht eingegangen werden soll. Am frühsten
begegnet es danach in der Zusammensetzung „pagus Kuningessuntra"
3. 819 in einer Urkunde Ludwigs des Frommen, ^ aber erst etwa seit
:nde des 11. Jahrhunderts scheint es weitere Verbreitung gefunden
L\i haben und kommt für sich alleinstehend vor.^ Die Interpretation
/on „pagus Kuningessuntra" als ein „ursprünglich der Alleinverfügung
jes Königs unterworfenes Territorium" wird das Richtige treffen. Wo-
jei freilich mit der Möglichkeit gerechnet werden muß, daß das eigent-
liche Königssundern nur etwa den Kern des „pagus" gebildet hat. Etwas
Ähnliches mag beim „pagus Sundergeuue" der Fall sein, welcher mehr-
fach in Ottonischen Urkunden erwähnt wird.* Sundergau ins Latei-
nische übertragen würde heißen: pagus forestensis. Ein solcher „pagus
forestensis" ist in einer Urkunde Ottos I.^ für die bischöfliche Kirche
^on Utrecht belegt: „ut nullus comitum aliorumve hominum in pago
forestensi . . . cervos venare absque presulis permissu presumat." Man
{Wird kaum fehl gehen, wenn man annimmt, daß königliche forestes
'wie beim pagus forestensis so auch beim pagus Kuningessuntra und
Sundergeuue den Kern gebildet haben.
Besonders interessant ist eine Stelle aus Norbert, vita Bennonis.^
H. schenkt dem Bistum Speyer „duos comitatus unum in Liutramesforste situm in
pago Sprichgave.") und wenn es noch im 13. Jahrhundert in den Annal. Januens.
heißt: (MG. SS. XVIII, p. 442) a. a. 1260 „restituit in integrum omnes forefactos
rlanue et districtus ab omnibus forestationibus et bannis, dum tamen si aliquis esset
forestatus pro offensa, quam alicui fecisset . . ; und a. a. 1264: (p. 249) „ipsum G.
potestas bannivit et forestavit, de quo banno et forestatione exire non posset, nisi
communi Janue non solveret libras 10000 Januinorum", so kommt hier das in forestis
liegende foris zu ganz besonders prägnantem Ausdruck. Über die „forenses" und
„forastici", die „terra forastica" im Reimser Polyptychum und im Polyptichum
Irminos vgl. Seeliger, Hist. Vjs. 1907, tieft 3, S. 315.
' a. a. 0. S. 254ff.
' a. a. 0. S. 426ff.
^ Noch heute finden sich an verschiedenen Stellen „Sunder" genannte Waldungen.
1848 forderten die unruhigen Loccumer Einwohner von der Klosterverwaltung: „De
Sundern schal deelt warden."
* z. B. DO.I. no. 29: St. Emmeran erhält: „locum, qui vocatur ti. cum foresto
et forestariis atque venatione nee non et nostro regio banno, insuper . . N. in
pago Sundergeuue . . . cum omnibus, quae ad eadem loca et forestum jure legittime-
que pertinentibus." Daß hier ein forestum genannt wird, der im Sundergau liegt,
braucht kein Zufall zu sein!
' DO.I. no. 62.
^ ed. Bresslau, S. 17.
j^26 Hermann Thimme
Die „commarchiones" haben ihre Herden in einen dem Bischof
gehörenden Wald getrieben: „rem episcopi propriam communi usui
nuncupare coeperunt." Den zwischen ihnen und dem bischöflichen
„praefectus" ausbrechenden Streit entscheidet der „prudens episcopus"
an dem dazu bestimmten Tage auf folgende Weise: „Itaque super hac
re die constituta advocatum nominatum Meginbaldum, qui adhuc in
extrema senectute apud Disnam est advocatus, homo probus et nobilis
secum adduxit, qui illico equo ascenso, secumque quibusdam loci huius
peritis assumptis, maxima populi multitudine cum episcopo congregata
praesente, ipse praecedens montem circumivit totum spatium, quod hoc
ambitu designaverat, ispse propria jurans manu episcopo suisque suc-
cessoribus aeterna possessione firmavit, et quod hie vulgo Sunder ap-
pellatur, eo quod seorsum privato alicuius usui separatum a communi
hominum utilitate secernit vocari et esse constituit."
Es bedarf hier keiner weiteren Erläuterung. Man vergleiche etwa
eine Urkunde Konrads 11.^ für die Kirche von Würzburg: „quandam
silvam hactenus communi compagiensium usui habitam ... ab hinc
sub forestis nomine comprehensimus." Das ist genau derselbe Vor-
gang, und der vollkommene Parallelismus von forestis und Sunder
liegt auf der Hand.^
Mit den letzten Zitaten haben wir bereits auf eine spätere Periode vor-
gegriffen. Großen Änderungen und Umwandlungen ist in ihr der Begriff
forestis unterworfen. Es geht ein gut Stück weiter auf dem Wege, der
zur Bedeutung unseres heutigen Wortes Forst hinführt. Wir wollen ihn
bis zum Ende des 11. Jahrhunderts verfolgen. Wir werden dann freilich
nicht einen Wendepunkt erreicht haben von ähnlich einschneidender
Bedeutung wie der, bei welchem wir uns jetzt befinden, wohl aber
einen Höhepunkt, welcher zu einem Rückblick auf das durchmessene
Stück Weges und zu einem Ausblick nach vorwärts geeignet erscheint
IL Forestis vom Ende der Karolinger- bis zum Ende
der Salierzeit
Man kann die Zeit der Sachsenkaiser in bezug auf die Entwick-
lung des Forstwesens eine Übergangszeit nennen. Deutlich ist hier
das Festhalten eines alten Begriffes, das Aufkommen eines neuen, das
Ineinandergleiten und die Verschmelzung beider zu beobachten.
' St. 2024.
' Charakteristisch ist der Ausdruck „forestum Sunderenhart" in einer Urkunde
tieinrichs IV. St. 2582.
Forestis \21
Unter Heinrich IL hat sich forestis schon ziemlich weit von seiner
irsprünglichen Bedeutung entfernt und am Schluß der Salierzeit be-
gegnen nur noch vereinzelt Forsten merowingisch-karolingischer Art,
pärliche Überbleibsel einer längst vergangenen Periode.
1. Betonung der Jagd
Während ursprünglich forestis ein hinsichtlich aller Nutzungsrechte
geschlossenes Gebiet bezeichnet, kann man beobachten, wie sich seine
Weutung allmählich verengt und spezialisiert. Daß sich forestis mehr
ind mehr der Bedeutung„Wildbann" nähert, darin liegt, wie mir
icheint, die entscheidende Änderung gegen früher.
Es ist dies ein Prozeß, dessen Bedingungen unschwer zu erkennen
;ind, der sich im einzelnen freilich oft kompliziert, im großen und
ganzen doch mit einheitlicher Konsequenz entwickelt.
Seine Anfänge, welche bis in die Karolingerzeit zurückreichen,
laben wir bereits bei der Betrachtung dieser Periode beobachtet.^
Von allen Nutzungsrechten ist die Jagd am spätesten an das
Privateigentum gebunden.^
Forestis charakterisiert ursprünglich die Proklamierung von herren-
osem Grund und Boden zu absolutem Privateigentum. Je länger
-orstbezirke diesen Charakter des Privateigentums tragen, desto selbst-
/erständlicher wird der Ausschluß der „compagienses" von Nutzungen
^ie Rodung, Viehweide usw., destoweniger braucht er, wo Forstver-
^abungen stattfinden, betont zu werden. Das ist der Grund dafür, daß
/om 10. Jahrhundert ab die Jagdverbote und Jagdbestimmungen bei
ien Forstprivilegien einen solch breiten Raum einnehmen, während die
ihrigen Forstnutzungen mehr und mehr, schließlich ganz in den Hinter-
grund treten.
' Vgl. oben S. 112 ff.
^ Vgl. oben S. 116 Anm. 1. Dafür ist besonders nocii folgende Erscheinung
:harakteristisch. In den Königs- und Kaiserurkunden bis Otto I. werden venationes
jin den Pertinenzformeln nicht erwähnt. So viel ich sehe, nur mit der einzigen
i^usnahme BM. 1409. (Die umgekehrte Behauptung Roths a.a.O. S. 56: „Venationes
und piscationes sind in den Urkunden der karolingischen Zeit regelmäßig unter den
Zugehörungen großer Güter benannt", ist nicht richtig.) Dann aber kann man ein
stetig zunehmendes Eindringen des Terminus „venationibus" in die Pertinenzformel
wahrnehmen. Bei Otto I. kommt er noch recht selten vor. In den Urkunden
^Heinrichs II. finden wir ,,venationibus" schon über hundertmal vertreten. Darin
ikommt einerseits wohl zum Ausdruck, daß die Jagd mehr und mehr aufhört Gemein-
gut zu sein, andererseits vielleicht auch, daß man es in einer Zeit, wo das Jagd-
recht der freien Eigentümer oft beschränkt wird, für angebracht hält, besonders
hervorzuheben, wo dies nicht der Fall ist. Vgl. auch oben S. 116 f. A. 1.
I
j^28 Hermann Thimme
In jener Urkunde Arnulfs^ für die Kirche von Eichstädt hieß es
noch in bezug auf einen Forst: „ut ... sub eodem banno sicut antea fuit,'
ad memoratam ecclesiam secure pertineant ... Ea videlicet ratione, ut
nullius ordinis vel potestatis persona ullo umquam tempore infra pre-
scriptos terminos aut venationem exercere, seu aliquam infestationis
calumniam ingerere, aut ligna cedere vel fenum secare seu aliquo
pastu perfrui seu ullo usu omnino potiri ... presumat." Dagegen Jagd
und nichts weiter ist es, die von jetzt an ausdrücklich bei Forst-
verleihungen unter den Schutz des Königsbannes^ gestellt wird, und
man hat recht, wenn man bei den sogenannten Bannforsten^ in erster
Linie an Wildbannbezirke denkt.*
Unter diesen Umständen erscheint es nur als die letzte Stufe einer
sich konsequent in der bezeichneten Richtung bewegenden Bedeutungs-
entwicklung, wenn forestis in einer Urkunde Konrads II. für die Kirche
von Verden^ als Ausdruck für das Jagdrecht oder die Jagd schlechthin
begegnet: „forestum etiam cervorum, cervarumque per totum pagutr
Sturmi, . . . ea ratione, ut absque illius loci episcopi licentia nemo venari
aut huiusmodi feras capere audeat".
So kann es auch nicht befremden, wenn Wildbannbezirke, die sich
' BM. 1840 s. oben S. 117.
^ Eine auffällige Verschiedenheit, für welche ich keinen Grund anzugeben weiß
herrscht in den Angaben über die Empfänger der Bannstrafen. Sie sind übrigens
sehr oft nicht genannt (in den Urkunden der Salier am seltensten). In den meister
Fällen: DO.I., 110; (Fälschung des 10. Jahrhunderts) DO.IL, 66; DDO.III. 43, 93
358; DDH.II., 244, 493, erhalten die Forstbesitzer selbst die Banngelder. Einmal
DO.I., 302 (für Osnabrück: „nee non debitum pro delicto in regalem fiscum reddi
turum") der königliche Fiskus. Ein paarmal werden sie unter dem königlichen fiscui
und den Forstbesitzern geteilt. In DH.II., 496 und D. Konr. II. Stück 2024 halb un(
halb. Nach D.H. II. 235 sollen gegebenenfalls an den Fiskus „auri libras X" an der
Bischof von Toul „auri libras III" gezahlt werden.
' S. oben S. 119f.
* DH.II., 8 erweitert seine Vorlage DO.I., 302 durch den Satz : „cum omn
integritate in porcis videlicet silvaticis atque cervis omnique venatione qua sul
banno usuali more ad forestum deputatur." In einer Urkunde Heinrichs III. fü
Bischof Engilbert v. Passau (St. 2369) findet sich die Wendung: „tradimus et atqui
concessimus ius et potestatem legitimi banni super venatione et foresto . . ." Dii
Wendungen, mit welchen die Ausübung der Jagd in den Forsten untersagt wird
sind — formelhaft im ganzen — im einzelnen sehr mannigfaltig. Feierlich: „ut nem(
successorum nostrorum regum vel quaelibet alia persona bestia in ipsa capere qua
cunque venationis arte . . . praesumat, quod si quis fecerit bannum nostrum solvere . .
cogatur." DO.I., 110 (Fälschung des 10. Jahrhunderts). Mit detaillierter Aufzähluni
des jagdbaren Wildes : „Ius igitur forestense ei suisque successoribus nostrorun
regum quoque et imperatorum more per bannum nostrum imperiale firmavimus, it;
vero, ut nullus ibi cervum vel cervam, ursum vel ursam, aprum vel lefam, capreo;
vel capreas sine licentia . . . capiat" DH.II., 367 usw. usw.; vgl. Exkurs II.
' St. 1869.
I
Forestis 129
iber das Grundeigentum ihrer Besitzer hinaus auf fremden Grund und
l5oden ausdehnen, forestes genannt werden, obwohl derartige „Forste"
Init dem ursprünglichen forestis kaum noch etwas zu tun haben.
2. Forst- und Grundeigentum
Wenn man berechtigt war, in den Forstverleihungen aus Mero-
Vmger- und Karolingerzeit Vergabungen von Grund und Boden zu
ehen,^ so wird das jetzt anders.
Freilich begegnen immer noch viele Forstverleihungen merowingisch-
larolingischer Art, und Neueinforstungen, die sich auf den Grundbesitz
1er Privilegierten beschränken, aber — was früher selbstverständlich
var, wird jetzt gewissermaßen Zufall.
Die Ausdehnung der Forstbezirke auf fremden Grund und Boden
indet in den Urkunden ihren Ausdruck darin, daß die Zustimmung
1er Markgenossen — „consensus comprovincialium" usw. — bei Neu-
inforstungen hervorgehoben oder als Bedingung gestellt wird. Von
ler Regierung Heinrich II. ab häufiger, unter den Sachsenkaisern noch
ehr selten.^
Schröder^ findet für diese Tatsache in der allmählich sinkenden
)edeutung des Bodenregals eine Erklärung. Solange dasselbe noch
n voller Kraft gestanden habe, hätten die Könige, z. B. Otto I., aber
luch schon die Karolinger, ganz frei über Forst- und Wildbanngrenzen
erfügt. Erst nach Abschwächung des Bodenregals sei eine weitergehende
(ücksichtnahme auf die „compagienses" erforderlich geworden.
Wir ziehen den umgekehrten Schluß: die wenigen erst am Ende
les 10. Jahrhunderts auftretenden Fälle, wo von „consensus" berichtet
i/ird, beweisen, daß in der Sachsenzeit die Forste nur ausnahmsweise
luf fremden Grundbesitz ausgedehnt sind.
Die Urkunden sprechen teilweise dafür, teilweise nicht dagegen.
Jji Schröder beruft sich auf zwei Urkunden Ottos I. Otto bestimmt
Zugunsten der Utrechter Kirche:^ „ut nullus comitum, aliorumve homi-
lum in pago forestensi . . . cervos . . . venari . . . presumat. Volumus
luoque firmiterque regalis edicto munificentie precipientes jubemus, ut
n eodem pago ac in silva, quae nuncupatur Fulnaho ac universis
inibus eins ac prefati pagi actusque adjacentes ceteras regiones pre-
iicte Traiectensi ecclesie ius servetur forestense utpote nobis in nostris."
' S. oben S. 11 2 ff.
^ DDO.IIL, 43 u. 233. DO.IL, 50, wo freilich nicht von „forestis", sondern
iiir von „bannum super eas" (seil, bestias) die Rede ist.
' a. a. 0. S. 536f.
' no. 62.
AfU II * 9
j^30 tiermann Thimme
Unter „pagus forestensis" wird ein Gau zu verstehen sein, in dem
sich mehrere Forsten befunden und den größten Teil des Gaues aus*
gemacht haben. ^ Man ist etwa geneigt, an die vier Forsten zu denken,
welche Karl der Große der Kirche von Utrecht geschenkt hat.^ Wes-
halb durch diese Urkunde frühere Rechte fremder Grundbesitzer ge-
schädigt sein sollen, ist nicht ersichtlich. Warum kann die Kirche von
Utrecht nicht selbst Grundbesitzerin des in Frage kommenden Gebietes
gewesen sein?
Auffälliger ist allerdings die Urkunde für Kloster Fulda: ^ „quas-
dam res ad sc. Bonifacium traditas ab antecessoribus nostris regibus
augmentare decrevimus, id est, ut forestam, quae ad villam Achizuuila;
pertinet, in qua prius erat communis omnium civium venatio, nullusi
venandum audeat ingredi nisi licentia eiusdem abbatis Hadamari" . .
aber ein. freies Verfügungsrecht des Königs über Forst und Wildbann^
beweist sie durchaus nicht. Das Jagdverbot kann ebensogut die be-
treffenden „cives" von der Jagd auf fremden Grund und Boden aus^
schließen, als den Abt von Fulda zum einzigen Jagdberechtigten auf
fremdem Gebiete einsetzen wollen. Es kommt eben darauf an, wem
die Villa Achizuuila gehört hat. Die Bewohner dieser Villa werden mit
„cives" doch schwerlich gemeint sein. Auffällig ist die Bedeutung, in
welcher hier forestis verwandt wird. Ein Forst, in dem jedem di^
Jagd freisteht — das scheint in jedem Bezüge ein Widerspruch in
sich selbst.
Auf die verschiedenartige Verwendung von forestis in dieser Zeit
werden wir zurückkommen (S. 141).
Noch weniger als die beiden genannten geben die übrigen hierher;
gehörenden Urkunden Ottos Anhaltspunkte für die Vermutung, daß
eine Ausdehnung der Forsten über fremden Grundbesitz in irgend-
welcher Form stattgefunden habe. Von „consensus" ist keine Rede
Dem wird entsprechen, daß sich die Forstprivilegien auf den Grund
und Boden der Forstempfänger beschränkt haben. Was der Nachbai
mit seinem eigenen Besitz anfing, das ging den Gaugenossen gai
nichts an, oder dazu hatte er wenigstens nichts zu sagen.
Aus demselben Grunde ist es auch weiter nicht wunderbar, dal;
die von Schröder^ genannten Urkunden Ottos II. keiner Zustimmung
gedenken. Es handelt sich eben entweder um Schenkungen von mi
Forstbann ausgestattetem Grund und Baden, oder um Wildbannver-
leihungen für bereits vorhandenen Grundbesitz der Empfänger.
' S. oben S. 125.
'' D.Karol. 117.
' DO.I. no. 131.
Forestis \^^
Otto II. urkundet für Erzbischof Theoderich von Trier:^ „quicquid
in ambitu videretur habere ecclesie Treverensis atque Prumiensis . . .
iotum sibi in forestum . . . perpetuo tenendum concessimus . . . eo
Itenore, ut omnia hec jam dicta hoc terminorum ambitu circumclusa
sancto Petro eiusdemque sancte Treverensis ecclesie archipresuli in
jusum foresti deinceps cum omnibus eorum legalibus iustisque appen-
; diciis possidenda constent."
Ausdrücken wie „habere", „in usum foresti", „cum . . . appendiciis
possidenda" braucht weiter nichts hinzugefügt zu werden. Von Jagd
ist hier gar nicht die Rede. Daß nicht das ganze umschriebene Ge-
biet zum erzbischöfüchen Grundbesitz gehört hat, läßt schon die For-
mulierung: ,,quicquid in ambitu videretur habere" erkennen. So war
z. B. der Kylwald, welcher innerhalb der angegebenen Grenzen liegt, ein
Kampfobjekt zwischen den Edelen („principes") des Bydegaus und den
Trierer Erzbischöfen. Daß die Urkunde Otto II. deshalb von letzteren
als Rechtstitel auch für den Besitz des Kylwaldes verwandt wurde, ist
begreiflich, ist aber ein Mißbrauch dieses Privilegs. Zu einer Aus-
dehnung des Forstes über den eigenen Grundbesitz hinaus berechtigte
les die Erzbischöfe nicht. Das wird von Roth a. a. 0. p. 230 nicht
jbeachtet.
Interessant ist der schließlich erfolgte Vergleich von Erzbischof
Poppo mit den betreffenden ,,principes", auf den er sich wohl schwer-
lich eingelassen haben würde, wenn ihn die kaiserliche Urkunde zu
weitergehenden Ansprüchen berechtigt hätte: Beyer, Mittelrhein. ÜB. I.
S. 348: c. a. 1020: „predecessoribus meis . . . cum quibusdam sui epis-
copatus principibus de communi eorundem principum silva, quae voca-
tur Kilewalt per sepem certantibus et eandem silvam in suam potestatem
usurpantibus . . ., donec ex regis imperio, qui tunc temporis erat, bannum
acceperunt, et eandem silvam repugnantibus ac contrahentibus predictis
principibus, cum hoc sibi perhenni jure confirmaverunt. Ego . . . hanc
contentionem voluerim finire . . ., ut ex hoc, quod predecessores mei
contra voluntatem illorum regali banno tenueruht(!) quasdam partes
illis remitterem." ^
il Ganz eindeutig ist ferner die Schenkung für Kloster Fulda,^ wenn
*'auch hier wie in DO.I. 131 die Verwendung von forestis auffällt: „Qua-
liter fidelis noster Uuerinharius (Abt von Fulda)... nostram adivit
' DO.II. no. 39.
^ Beachtenswert ist auch die wechselnde Bezeichnung des Kylwaldes als
forestis und silva. Es folgen aufeinander: „de predicta silva" — „de predicta
foreste" — „de prenominata silva".
' DO.II. no. 221.
9*
132 tiermann Thimme
celsitudinem, dicens nobis, quomodo forastum quendam ad ecclesiam
cui praesidet pertinentem nostrae dominationis adiutorio in perpetuum
ecclesie jus vellet submittere, ita ut nullus in eo venationis aut alterius
commodi usum . . . possit habere, rogavitque . . . ut banno praeceptoque
nostro, ne quis hoc faceret firmiter interdiceremus."
Wenn schließlich Otto II. vom Bischof zu Merseburg gebeten wird:^
„donari forestum in eodem episcopatu . . . cum banno adpertinenti"
und nach Vollzug der Schenkung das Jagdverbot hinzufügt mit den
Worten: „Insuper statuimus", so zeigen das „a^pertinenti" und das
„insuper'' klar genug, daß wir es mit einer Grundbesitzverleihung zu
tun haben.
Was das angeblich freie Verfügungsrecht der Könige über die
Jagd auch auf fremden Grund und Boden ^ anbetrifft, so bestätigt Otto II.
der Kirche von Salzburg:^ „et forestum Susel cum banno sicut in potes-
tate illius et sua fuit, venationemque in Dulcibus vallibus, quam po-
pulus cum sacramentis in potestatem regiam affirmavit, id est ebdo-
madas tres ante aequinoctiam autumnale ac postea usque in natale
sc. Martini ad venandos ursos et apros."
Es kann mit der Verfügungsfreiheit der Könige über die Jagd
doch nicht allzuweit her gewesen sein, wenn „das Volk" wie hier zu
Worte kommt. Man darf die Aussagen einer einzelnen Urkunde nicht
verallgemeinern — hier aber handelt es sich nicht um einen Ausnahmefall.
Ottos Diplom für Salzburg befindet sich in Übereinstimmung einerseits
mit der Tatsache, daß bis gegen Ende des 10. Jahrhunderts Forst- und
Wildbannverleihungen auf fremden Grundbesitz nicht übergreifen. Ander-
seits damit, daß, nachdem hierin eine Änderung eingetreten ist, auch
die Zustimmung der Gaugenossen erforderlich wird. Es kennzeichnet
gewissermaßen den Übergang von einem zum andern: Dem Beispiel
des Königs, der sich zunächst selbst Jagdrecht auf fremdem Grund-
besitz schafft, folgen die Großgrundbesitzer. In jedem Falle wird auf
die früheren Jagdinhaber Rücksicht genommen.
Vom 11. Jahrhundert ab nehmen natürlicherweise in dem Maße,
in welchem die Forstverleihungen mit Einwilligung dritter — d.h. die Ver-
leihungen, die sich über fremdes Eigentum erstrecken — zunehmen,
die Forsten in älterem Sinne des Wortes eine weniger hervorragende
Stellung ein. Immerhin sind sie doch mit einer ganzen Reihe von
Beispielen vertreten, auf die in folgendem im Interesse der Kontrast-
wirkung hingewiesen sei.
' DO.II. no. 90.
' S. oben S. 129.
' DO.II. no. 275 (vgl. BM. 1850).
Forestis j^33
Heinrich II. schenkt an Kloster Fulda ^ „quandam juris nostri regni
i|forestim (innerhalb des angegebenen Grenzbeschriebs liegt Fulda selbst)
. . . cum banno . . . ea scilicet ratione, ut predictus abbas Brantho suique
successores de predicta foresti et eins pertinentiis liberam dehinc po-
testatem habeant, quicquid sibi inde placuerit faciendi, ad usum tarnen
ecclesiae."
Für die Kirche von Paderborn: ^ „quandam nostrae proprietatis
forestim . . . cum omni utilitate, quae ab eadem ullatenus provenire
. jpossit . . . concedimus". Auch hier heißt doch wohl proprietas Eigen-
tum an Grund und Boden.
Privilegierung im Anschluß an alten Besitzstand liegt vor in den
Ifolgenden Fällen:
Bischof Balderich von Lüttich ^ und ein Graf gleichen Namens er-
jhalten: „bannum nostrum bestiarum . . . super eorum proprias Silvas."^
In einer Urkunde für Kloster Ellwangen ^ heißt es: „quandam silva
Virigunda dictam ad Elwacense cenobium pertinentem, per nostram
jimperialem potenciam legali banno forestem facimus cum omnibus
jterminis eiusdem silve . . . Super que omnia nostro imperiali banno
Iprecipimus, ut in eadem foresti a nobis constituta nulli venari aut
ipiscari aut quidlibet exercere liceat ... Sit haec silva cum omnibus
supradictis finibus prefate ecclesie nostro banno in legale foreste amo-
do firmata cum omnibus, que in foresti aut scribi aut nominari pos-
sunt utilitatibus."
I Ganz besonders charakteristisch in ihrer Formulierung sind einige
Forstschenkungen der Salier.
Heinrich III. hatte anno 1056 der Domkirche von Speyer geschenkt:^
curtem Bruoselle cum foresto ad eandem curtem pertinentem Luzhard
nominato . . . cum omnibus suis pertinentiis (folgt große Pertinenz).
Hierauf nimmt Heinrich IV.^ Bezug: „quoddam forestum Luizhard nuncu-
patum a predicto genitore Heinrico imperatore ad monasterium sc.
Marie in Spira quondam traditum et confirmatum, locis infra sub-
notatis terminos sitis adauximus ac melioravimus . . . Hec eiusdem
foresti augmenta cum banno etiam nostro . . . donavimus ... ea videlicet
Iratione, ut prefatus episcopus . . tali deinceps lege ac proprietate his
^ DH.II. no. 235; vgl. Landau, Gesch. d. Jagd. Kassel 1849.
' no. 418.
^ no. 186. Die Ausführungen von S. 127ff. zeigen, weshalb die Urkunde, obwohl
in ihr der Ausdruck forestis nicht vorkommt, doch in diesen Zusammenhang gehört.
^ Vgl. für diese und die folgende Urkunde oben S. 116 A. 1.
' no. 505.
' St. 2497.
' St. 2619.
II
j^34 Hermann Thimme
additamentis nostris utantur, quali idem episcopus illo antiquo foresto
Luizhard hactenus est usus."
„Illo antiquo foresto!" Ein uralter Forst. Eigenster Grund und
Boden des Besitzers, nach jeder Richtung hin seiner unbeschränkten
Verfügung unterstehend, durch Königsbann gegen Eingriffe Unbefugter
irgend welcher Art sichergestellt.
Eine ähnliche Vergrößerung eines bereits von Konrad II. ver-
schenkten Forstes berichtet eine Urkunde Heinrichs IV.^ für Erzbischof
Adalbert von Bremen. Ausdrücke wie „perpetuo proprietatis jure possi-
dendum" und „in proprium condonantes tradimus" zeigen, daß sowohl
die alten Bestandteile des Forstes wie die neu hinzugefügten Gebiete
zum Grundbesitz der Hamburger Kirche gehören. In derselben Ur-
kunde wird von der Schenkung eines zweiten Forstes berichtet mit
den Worten: „Addimus autem eidem ecclesiae nostrae proprietatis
forestum in pago Ameri situm . . . perpetuae possessionis jure reti-
nendum."
Zu den Forsten „forestum Heit" und „forestum Helesinesstuda"
gehören große Pertinenzen. Beide schenkt Konrad 11.^ an die Kirche
von Salzburg. Letzteren „ea videlicet ratione, ut Th . . . suique suc-
cessores liberam dehinc habeant potestatem de supradicto foresto
tenendi, vendendi, tradendi, commutandi, vel quicquid sibi placuerit
faciendi" . . .
Dieselbe Wendung kehrt wieder in einer Schenkung Heinrichs IV.
für die Verdener Kirche: „quoddam forestum, quod pater noster durn
vixit proprium retinuit et ad nos hereditario iure transmisit positum
in Magetheida . . . cum banno cervorum cervarumque, suum, capreo-
lorum atque cum omni utilitate, que ullo modo inde provenire potesi
in proprium dedimus ac tradimus ea videlicet ratione, ut predictus
episcopus ceterique sui successores de prefato foresto liberam dehinc
potestatem habeant tenendi, commutandi, precariandi vel quicquid eis
pro usu sue ecclesie placuerit inde faciendi et ut nulli sine consensi
. . . Verdensis episcopi in prenominato foresto venari aut quidlibet jus
exercere liceat."
Es ist als ob ein karolingischer Forst beschrieben würde. ^
Ein Diplom Heinrichs IV. für Bischof Heinrich von Augsburg^ möge
diese Reihe schließen: Ein Wildbann, dessen weitere Ausdehung vor
einem Anwachsen der Besitzungen des Empfängers abhängig gemach
* St. 2634. „forestum in Ertenebrok atque in caeteris circumjacentibus sylvis.'
* St. 1957 u. 1958.
* St. 2586.
* Vgl. aucli tl.IV., St. 2668 u. 2686.
* St. 2568.
Forestis 135
wird: „quoddam forestum uuiltpannum . . . atque super tale praedium
, quäle ipse ab aliis suis comprovincialibus ullo modo acquirere posset."
Wenn die Überlieferung durch die vorgeführte Reihe von Urkunden
jerschöpft wäre, dann würde keine Veranlassung vorliegen, am Schluß
jder Karolingerzeit einen Einschnitt zu machen. Dann würde man etwa
Iganz allgemein von einem quantitativen Anwachsen der Forstgebiete
sprechen können, dagegen nichts wesentlich Neues gegen früher kon-
statieren.
Auch daß Jagd und Jagdverbot zuweilen schärfer betont werden,
würde nicht weiter auffallen, denn abgesehen davon, daß dieser um-
stand in den S. 116 und S. 128f. erörterten Verhältnissen eine aus-
reichende Erklärung finden würde, begegnen doch eine Anzahl Ur-
kunden, in denen überhaupt nicht von Jagd sondern ganz allgemein
von „Nutzungen" die Rede ist.^ Und wieder andere, bei denen das
Jagdverbot durch eine andere Nutzungsrechte andeutende Wendung
ergänzt wird. ^ Bei einer Forstverleihung Heinrichs 11. ^ für Bischof
: iBerthold von Toul wird das Rodungsrecht ausdrücklich hervorgehoben.
' Was schließlich, um auch das nicht unerwähnt zu lassen, die geo-
graphisch-botanische Beschaffenheit dieser Art Forsten anbelangt, so
würde auch auf sie die S. 109 für die Merowinger- und Karolingerzeit
gegebene Charakteristik durchaus anwendbar sein.^
W/f Und trotzdem muß man sagen, daß im Laufe des 10. und 11. Jahr-
Mhünderts tiefgreifende Veränderungen im Wesen der Forsten statt-
gefunden haben: Die bisher betrachteten Quellen repräsentieren das
' So DO.II., 39; DDH.IL, 253 u. 418; DH.III., St. 2497; D. Konr. IL, St. 1958;
DDH.IV., St. 2619 u. 2668.
' DH.IL, 505 (vgl. S. 133). DH. IV., St. 2586: „ut nulli ... in prenominato
foresto venari aut quidlibet jus exercere liceat."
^ DH.II., 235: „concessimus, ut nulla deinceps nobilis aut ignobilis persona . .^.
in ea foreste potestatem habeat stirpandi aut venandi seu aliquid operis exercendi."
* Außer auf die Forsten „Heit" und „tielesinestuda", zu denen, wie schon er-
wähnt (s. oben S. 134) große Pertinenzen gehören, sei noch auf eine Urkunde des
Erzbischofs Sigwin von Köln hingewiesen (Lacomblet, ÜB. I, S. 150). Er schenkt
der Kirche von Deutz: „decimationes novalium de duabus forestibus supradictis,
quicquid agrorum vel vinearum ad praesens innovatum est vel deinceps innovatum
fuerit . . ." Ähnlich wie in den königlichen Forsten des Capitulare de villis wird
hier noch am Ende des 11. Jahrhunderts Land für Acker und Weinbau gewonnen.
Derartige Beispiele ließen sich leicht noch mehr beibringen. Vgl. auch das Neben-
einander von Silva und forestis in DO.IIL, 73 (für Minden): „in proprium dedimus
forestos nostros Huculinhago et Stioringowald . . . dedimus silvam Suntel . . . ea
videlicet ratione, ut nulla dehinc persona ... in predictis forestis aut silva super
jam nominata venari . . . presumat . . . sed predicti foresti et suprascripta silva sub
perpetuo iure viventis episcopi . . . consistat.
j^36 Hermann Thimme
Vermächtnis der Merowinger- und Karolingerzeit. Ihnen gegenüber
müssen die Urkunden, welche das spezifisch Neue zur Darstellung,
bringen, ins Auge gefaßt werden.
Von diesem „Neuen" ist die Ausdehnung der Forstbezirke über
fremdes Gebiet verfassungsgeschichtlich bei weitem am wichtigsten
Denn sehr deutlich wird durch sie die auf Kosten der gemeinen Mark
steigende Macht des Großgrundbesitzes gekennzeichnet, und es liegt
in ihr ein bemerkenswerter Ansatz zur Territorialität.^
Die hierher gehörenden Urkunden lassen sich in zwei Klassen
einteilen, welche zwei scheinbar verschiedene Entwicklungsstufen in
dem Ausdehnungsprozeß der Forsten über den Privatgrundbesitz hinaus
zur Anschauung bringen.
Die erste Klasse gewährt Einblicke in die Schicksale der Mark-
genossenschaft. Erst für diese Periode kann mit vollem Recht behauptet
werden, daß die Forsten viel dazu beigetragen haben, den Bestand der
alten markgenossenschaftlichen Verfassung^ zu zerstören. Ehe die
Forstprivilegien fremden Privatgrundbesitz angreifen — das wäre die
zweite Klasse — kommen die Markgenossenschaftsallmenden an die
Reihe. Man kann dies mit ziemlicher Sicherheit aus den ver-
schiedenen Wendungen und Formeln der Urkunden erschließen.
So mögen diese auch in folgendem dementsprechend angeordnet
werden. Freilich darf man sich darüber nicht täuschen, daß zwischen
beiden hier äußerlich voneinander getrennten Prozessen gewiß niemals
scharfe Grenzen bestanden haben. Daß sie im Gegenteil sehr oft ineinander
übergegangen sein werden, liegt in der Natur der Sache begründet. .
Otto III. urkundet für die Kirche von Worms: ^ „concessimus re-
gium bannum in silvis . . . quas ille cum nostra licentia et auctoritate
^ Nicht einmal, daß die „Zustimmung" der iV\arl<genossen, die freilicli meistens
erwähnt wird, auch wirl<lich eingeholt, oder wirklich immer freiwillig erteilt ist, wie
in einzelnen Fällen (DDtl.llI., St. 2347 u. 2436: „voluntario consensu collaudantibus")
wohl betont wird, wird man behaupten dürfen. Eine Urkunde wie DH.II., 326, wo
zugunsten der Kirche von Würzburg einfach diktatorisch verfügt wird: ,,in feris
prescripto ambitu forestandis hanc pacem et securitatem de caeteris conterminalibus
et circumsidentibus . . . obtineat, qua haec eadem caeteraeque aecclesiae hactenus usi
sunt", ist wohl geeignet, den Verdacht eines gewaltsamen Vorgehens zu erwecken.
'^ Vgl. Schwappach S. 212f. Vom Jadgrecht her wird häufig auf das Grund-
eigentum selbst Anspruch erhoben. Heusler a.a.O. S. 371 ff.
^ Vgl. Inama Sternegg a. a. 0. I, S. 329. v. Inama verlegt denselben Prozeß
schon in die Karolingerzeit. Die Belege gehören aber erst einer späteren Zeit an,
in welcher überhaupt der Zersetzungsprozeß der Markgenossenschaften durch die
Grundherrschaften schon weiter vorgeschritten war.
* DO.III. no. 43.
Forestis 137
c voluntate et assensu bonorum militum in circuitu habitantium no-
riter inforestat." Heinrich II. für die Kirche von /V\etz:^ „quandam silvam
■onsensu vicinorum banno nostro imperiali constringere et, ut rustice
iicunt, forastare concedimus". Die boni milites, die vicini sind offenbar
licht Grundeigentümer sondern nur Nutzungsberechtigte der betreffen-
'len Waldungen. In einigen Urkunden wird dieser Charakter der Zu-
timmenden sogar besonders hervorgehoben. So heißt es in einem
)iplom Heinrichs II. für Bischof Adalbero von Basel: ^ „saltum occidentem
. . assenciente omni populo eiusdem saltus actenus usum habente in
iroprium . . . condonavimus" (es folgt Jagdverleihung mit Königsbann).
Heinrich III. schenkt Erzbischof Baltwin von Salzburg:^ „forestum
nfra terminos . . . folgt Grenzbeschrieb und eine Reihe von Namen . . .
aeterisque omnibus ibidem praedia circumquaque id ipsum forestum
ttigentia sive aliquid communionis in eo habentium voluntario con-
ensu collaudantibus."
Besonders charakteristisch heißt es in der bereits S. 126 genannten
Jrkunde Konrads II. für die Kirche von Würzburg: ^ „quandam silvam
lactenus communi compagiensium usui habitam . . . consensu et
ollaudatione prenominati abbatis R. suique advocati R. necnon 0.
omitis caeterorumque in eadem silva communionem habentium ab
linc sub forestis nomine comprehensimus."
Wenn hier nicht näher gesagt wird, auf welche Waldnutzungen
lie „compagienses" usw. zugunsten der Privilegierten verzichten,^ in
;wei weiteren Urkunden Konrads II. wird auch an dieser Stelle aus-
Irücklich die Jagd genannt. Für Bischof Meginhard von Würzburg: ^
quandam silvam . . . consensu et collaudatione provincialium — es
werden 12 aufgezählt — penitusque omnium antea in eadem silva
:ommunionem venationis habentium' . . . donamus ab hinc sub forestis
lomine." Für Bischof Sigibert von Minden:^ „quandam silvam . . .
fum consensu et collaudatione prefati ducis B. et sui fratris D. cete-
orumque civium in eadem silva usque modo communionem venandi
labentium . . . forestari concessimus."
' DH.II. no. 379.
' no. 80.
' St. 2436.
* St. 2024.
^ Daß allerdings auch hier wenigstens in erster Linie an die Jagd gedacht sein
nuß, zeigt die Verleihung des Wildbannes am Schluß der Urkunden.
' St. 1960.
^ Daß die nähere Charakteristik der Zustimmenden auch für die zuerst ge-
lannten Herren gelten soll, wird man bei dieser Urkunde und bei allen übrigen,- wo
lie gleiche Anordnung vorliegt, voraussetzen dürfen.
' St. 1988.
j[38 Hermann Thimme
Ausdehnung von Forsten auch über fremden Privatgrundbesity
stellen folgende Urkunden außer Frage:
Ein Diplom Heinrichs II. für einen Grafen Adalbero^ macht den
Anfang. Besonders lehrreich, weil hier die Zusammensetzung der Wild-
bannbezirke aus verschiedenen Herrschaftsgebieten sich genau erkennen
läßt: „bannum super, agrestes feras . . . tam super propriam ipsiu;
terram, quam super domorum pontificalium vel monasteriorum in ab-
baciis, que ibi nobis pertinent terras, sive omnium illorum hominum
terras, qui in presenti vel in futuro huiusmodi rem cum eo collauda-
bunt." Eigenes Land, Reichskirchengut, fremder Grundbesitz!
Der Kirche von Basel verleiht Heinrich 11.^ „bannum nostrum besti-
arum super illas Silvas his terminis ac finibus succinctas . . . secundun
coUaudationem comprovincialium inibi praedia habentium." Das Jnib,
praedia habentium" — ebenso in einer Urkunde Heinrichs II. für dae
Bistum Lüttich ^ — kontrastiert mit dem „omnibus ibidem praedic
circümquaque id ipsum forestum attigentia".* Unsicher bleibt die Inter-
pretation von „ex consensu et voluntate Erchanbaldi Moguntininensie
archiepiscopi ... et omnium circa habitancium, qui ibi juxta praedic
habere noscuntur" in einer Wildbannverleihung Heinrichs II. für Fulda.
Von Heinrich IV. gehören vier Urkunden in diese Reihe.
Für Kloster Fulda: ^ „wiltbannum super quoddam forestum . .
Consenserunt autem huic nostrae träditioni Adalbero Wirzeburgensij
episcopus . . . quicunque aliquod praedium aut beneficium sive advo
cationem in his prescriptis terminis possederunt."
Für die Kirche von Würzburg: '^ „wiltbannum per quoddam forestum . .
Sigefrido Moguntino archiepiscopo , Witrado Fuldense abbate ceteris-
que omnibus, qui in praescriptis terminis aliquod proprii possederun
^ DH.II. no. 54.
' no. 188.
^ no. 184: „quondam regni nostri forestim . . . cum banno nostro ceterisque eiu:
pertinentiis seu cum omnibus, que quolibet modo dici vel scribi possunt utilitatibu;
secundum . . ."; wie oben. Bei der ganzen Formulierung der Urkunde (vgl. ober
S. 135) ist auffällig, daß überhaupt von „collaudatio" die Rede ist. Wenn ein Fors
bloß von einer Hand in die andere übergeht, dann hat, so sollte man denken, dl'
Zustimmung der Forstanwohner keinen rechten Sinn mehr. Daß hier ein innere,
Widerspruch vorliegt, hat auch schon Roth a.a.O. S. 233f. empfunden. Er sieh
sich deshalb veranlaßt, eine Neueinforstung anzunehmen. So oder so — eine Ge
dankenlosigkeit der Kanzlei scheint auf jeden Fall vorzuliegen. Vgl. auch DH.II.,
und dazu Roth a. a. 0. S. 259f. (Das Bistum Worms erhält: „regium bannum ii
foresto Forehahi." In diesem Bezirk liegt Kloster Lorsch und Lorscher Besitztum.
* Vgl. S. 137 DH.IIL, St. 2436.
* DH.II. no. 327.
•^ St. 2582.
' St. 2588.
Forestis 139
ollaudantibus". Für die Kirche von tiildesheim:^ „cum consensu —
ünf hohe Würdenträger werden genannt— caeterisque omnibus, quorum
raedia et possessiones sitae erant intra eos terminos, quos scribi ju-
»emus, quoddam forestum et bannum."
Schließlich für Bischof Hezilo von Hildesheim r „bannum super
luoddam forestum . . . collaudantibus Duce Ottone, Ekkiberto comite,
item Godescalco comite ceterisque, qui infra praedictos terminos prae-
lium possident."^
Interessant zu beobachten, wie die einzelnen Momente eines Ent-
i'icklungsprozesses sich gegenseitig beeinflussen und bedingen. Wer
reilich den Versuch macht, sie in kausaler Reihenfolge anzuordnen,
\nfangs- und Schlußglied der Kette genau zu bezeichnen, wird sich
n den meisten Fällen der Gefahr einer mehr oder weniger willkürlichen
(onstruktion aussetzen. Denn oft wird als Bedingung mitgewirkt haben,
vas als Ergebnis erscheint, und umgekehrt.
In diesem Sinne will auch das Folgende, wo auf einen neuen Zu-
sammenhang aufmerksam gemacht werden soll, verstanden sein.
Zu der Spezialisierung des „jus forestis" zu einem jus venationis,
^u der in weitgehendem Maße stattfindenden Ausdehnung der Forsten
liber den Grund und Boden ihrer Besitzer hinaus, tritt ein Drittes,
dessen Ansätze freilich weit zurück liegen.
Schon mehrmals ist darauf hingewiesen, daß von Anfang an eine
Annäherung an den Begriff „Silva" eine gewissermaßen immanente
irendenz des Wortes „forestis" ist. ^ Notwendigerweise verschärft wird
'sie durch die Betonung der Jagd. Aber erst durch das neue Verhältnis
jvon Forst und Grundeigentum scheinen die Bedingungen geschaffen,
welche die schließlich völlige Identität von Forst und Wald besiegeln.
Denn, wenn früher innerhalb der Forsten eifrig Kulturarbeit getrieben
kvurde, so haben da, wo sich die Forsten über fremden Grundbesitz
ausdehnen, ihre Inhaber zunächst kein Recht auf Rodung und Bewirt-
ischaftung.
! Hier bleibt für forestis die Bedeutung „Wald". Von hier aus wird
' St. 2604.
' St. 2673.
^ unbestimmt gehalten sind die betreffenden Wendungen in DO. 11. no. 50 (hier
wird Einwilligung Dritter bei der Einrichtung eines Wildbannes überhaupt zum ersten-
mal erwähnt): „cum populi consensu"; in DO.III., 233 für die Kirche von Mainz:
„forestum et bannum . . . cum consensu Conradi ducis ceterorumque quam plurimorum
fidelium nostrorum." DO.I., 302 wird durch D. Karol. 273 (Fälschung um 1077)
erweitert durch den Satz: „collaudatione illius regionis potentum." Vgl. Brand i,
Westdeutsche Ztschr. 1900, S. 126.
* S. oben S. 109 u. 124.
140 Hermann Thimme
ohne Frage diese ganze Bedeutungsentvvicklung erheblich unterstützt,
und beschleunigt.
Bei den meisten Neueinforstungen, von denen uns berichtet wird^
handelt es sich um „silvae". Schon in einer Urkunde Ottos III. für
Würzburg ^ heißt es in der Pertinenzformel: „cum . . . silvis forestatis,
venationibus" etc., und für die Kirche von Worms ^ „regium bannum
in silvis circa Wippinam civitatem, quas ille . . . noviter inforestavit."
Unter Heinrich II. häufen sich die Belege: Für Bischof Berthold von
Toul:^ „forestem videlicet et bannum venationis ex silvis infra nominan-
dis." Für die Kirche von Würzburg: ^ „in feris forestandis hanc pacem .
obtineat, qua haec eadem ceteraeque ecclesiae usi sunt, quae ... de
huiusmodi forestandis silvis vel silvulis praecepta susceperunt." Füt
die Kirche von Metz: ^ „quandam silvam . . . banno nostro imperial!
constringere, et ut rustice dicunt, forastare concedimus." Für die Kirche
von Trier: ^ „silvam his finibus . . . forestare concedimus." Für Klostet
Ellwangen:' „quandam silvam Virigunda dictam ad Elwacence ceno-
bium pertinentem . . . legali banno forestem facimus cum omnibus
terminis eiusdem silve."
Konrad II. für Bischof Kadelhoho von Naumburg : ^ „licentiam
faciendi foresti in fageto, quod proximum adjacet eidem civitati", füt
die Kirche von Würzburg: ^ „quandum silvam abhinc sub forestii
nomine comprehensimus." fieinrich III. für die Kirche von Basel :^"
,,saltum forestavimus."
Auch jene Fälschung auf den Namen Zwentebolds,^^ die etwa Ende
des 10. Jahrhunderts entstanden ist, wäre hier einzureihen: „ut quani
dam silvam in bannum mitteremus et ex ea, sicut Franci dicunt, forestem
faceremus."
Nun darf freilich nicht behauptet werden, daß in allen diesen Fällen
Kulturland irgendwelcher Art schlechterdings ausgeschlossen sei. So
schenkt z. B. Heinrich IV. seinem Getreuen Otnand ^^ den Teil eines
Waldes mit einer Pertinenz, in der „cum aedificiis, terris cultis, agris^
campis, molendinis" usw. nicht fehlt. Oder: In den Grenzen des Forstes^
den Abt Bernhard von Hersfeld mit Erlaubnis Heinrichs II. „de silva^
quae dicitur Eherineuirst" herstellt, ^^ liegt das Kloster Hersfeld selbst
und gewiß noch manche andere Niederlassung. Man beachte auch
folgende Stelle einer Urkunde Konrads II. für Bischof Sigibert vom
Minden: ^^ „quandam silvam ... in silvis campis et paludibus . . . fores-,
' DH.II. no. 235. * no. 326.
' no. 505. ' St. 1996.
" BM. 1968; vgl. D. Karol. S. 392.
^' St. 1988.
' DO.III. no. 361.
' no. 43.
' Dti.II. no. 379.
" no. 493.
' St. 2024.
'" St. 2174.
'' St. 2591.
'^ no. 51.
Forestis j^4j^
m concessimus." Mehr und mehr gilt aber offenbar bei den Forsten
es 10— 12. Jahrhunderts für das Charakteristische das bewaldete Gebiet
Ti Gegensatz zum gerodeten Land. Das bedeutet in den angeführten
Irkunden die sich so oft wiederholende Verbindung: „silvam f^-estare."
Jnd das ist das Entscheidende. In früheren Zeiten war es nicht so.
3. Die Bezeichnungen der Forst- und Wildbanngebiete
Um sich von den kompHzierten Verhältnissen, die bei den Forsten
p jeder Beziehung an Stelle einheitlicher Zustände getreten sind, eine
bbhafte Vorstellung zu verschaffen, braucht man nur die Verschieden-
eit der Bedeutungen, welche bei der Verwendung des Wortes forestis
elbst entgegentritt, ins Auge zu fassen. Weil sich hier Altes und
leues in bunter Mannigfaltigkeit spiegelt, erscheint dies zur Ergänzung
nd Vervollständigung des bisher von forestis gewonnenen Bildes
eeignet.
Wenn man etwa ganz allgemein definieren wollte: forestis ist die
ezeichnung eines mit einem bestimmten Forstrecht ausgestatteten Ge-
ietes, so würde diese Definition zwar sowohl auf die Forsten mero-
/ingisch-karolingischer Art, wie auf die Wildbannbezirke des 11. Jahr-
underts anwendbar sein, auch der Frage nach dem Grundbesitz nicht
orgreifen, aber doch der Geschichte dieses in seltener Weise biegsamen
Begriffes nicht gerecht werden.
Denn darüber hinaus scheint sich die Bedeutung von forestis nach
wei entgegengesetzten Richtungen entwickelt zu , haben, deren jede
ugleich ein wichtiges Moment in der Forstentwicklung überhaupt zum
bsdruck bringt. Nur daß jedesmal das eine auf Kosten des anderen
•Clont wird.
1. Um da, wo wir abbrachen, wieder anzuknüpfen: Schon ver-
ältnismäßig früh führt die gekennzeichnete Annäherung der Begriffe
ilva und forestis dazu, daß vereinzelt forestis als Bezeichnung für
|Vald schlechthin vorkommt. Man kann wenigstens mit einiger Sicher-
ieit darauf schließen. Denn: an einigen Stellen werden Gebiete, forestis
genannt, ohne scheinbar mit irgend einem spezifischen Forstrecht aus-
gestattet gewesen zu sein. Und wenn es rechtliche Qualitäten nicht
gewesen sind, müssen wohl oder übel geographische Qualitäten den
^nlaß zu dieser Benennung gegeben haben.
Auf die auffällige Verwendung von forestis in Ottos I. Urkunde
ür Fulda a. 951 ist schon aufmerksam gemacht. ^ Man wird kaum
ehl gehen, wenn man annimmt, daß hier zum ersten Male forestis rnit
' S. oben S. 130.
k
j[42 Hermann Thimme
„Forst" im heutigen Sinne des Wortes wiedergegeben werden darf.
Noch deutlicher tritt dasselbe zutage in einer ebenfalls bereits zitierten
Urkunde Ottos IL für Fulda. ^ Unbeschränkte Verfügung über Jagd und
anderweitige Nutzungen werden für ein dem Kloster gehörendes Gebiet
verliehen, das offenbar schon vor diesem Verleihungsakt „for^stum"
genannt ist. ^ Es wird ein Wald gewesen sein.
Flierher gehört auch die sehr charakteristische Wendung: „forestum
forestare." In einer Wildbannverleihung Heinrichs II. für Fulda heißt
es:^ „in feris infra praefatos fines forestandis hac nostra imperiali tra-
dicione talem pacem et securitatem ... de ceteris comprovincialibus
et circumsedentibus obtineant, qualem hec eadem cetereque ecclesie
hactenus habere vise sunt, quae nostra sive predecessorum nostrorum
. . . de huiusmodi forestibus forestandis precepta susceperunt." Hiei
stoßen zwei verschiedene Bedeutungen von forestis aufeinander. Es isi
naheliegend, daß die eine forestis = silva ist. *
2. Auf der anderen Seite: Wir haben gesehen, wie der Wildbanr
bei den Forsten immer mehr in den Vordergrund trat — dem entsprich
es, wenn forestis als Bezeichnung für das Jagdrecht schlechthin ver-
wandt wird. Jene oben zitierte Urkunde Konrads II. für die Kirche
von Verden: ^ „forestum cervorum cervarumque per totumpagum Sturmi'
wird besonders dadurch charakteristisch, daß es in der Vorurkund(
Ottos III. heißt: ^ „venacionem cervorum cervarumque per totum paguir
' S. oben S. IvSlf.
^ In diesem Falle darf man wegen der Formulierung der Urkunde („fidelis noste
V... nostram adivit celsitudinem, dicens nobis, quomodo forestum" etc.) schwer
lieh annehmen, daß der betreffende Forst überhaupt etwa erst durch das königlich^
Diplom zustande gekommen sei, während er vor demselben als forestum nicht existier
habe. Schon eher wäre bei DO. III., 243 „bannum nostrum supra forestos sex" ein'
derartige Vermutung berechtigt. Auch ein paar Urkunden Heinrichs IV. sind ander
kaum verständlich. So wird ein äußerst umfangreicher Wildbannbezirk, der freilicl
mehrere ältere Forsten in sich schließt (vgl. Landau a.a.O. S. 45f.), dem Kloste
Fulda geschenkt mit den Worten: „wiltbannum super quoddam forestum", St. 2582
Ebenso St. 2588 für die Kirche von Würzburg: „wiltbannum per quoddam forestum"
St. 2673: für Bischof Flezilo von Hildesheim: ,, bannum super quoddam forestum.
Hier liegt fremder Grundbesitz ,,praedia", „proprium" innerhalb der Wildbannbezirkc
so daß die Deutung forestis = Wald wegfällt.
' DH.II. no. 327.
* Wenn es in Konrads II. Urkunde für Bischof Sigibert von Minden (St. 2042) heißt
„supplicans, quatenus nos quoddam forestum sui scilicet juris per imperiale nostt
praeceptum forestari faceremus", so erhält hier allerdings das „forestum forestari'
durch den Zusatz ,,sui scilicet juris" eine besondere Modifizierung, so daß man e
auch interpretieren kann: Ein Gebiet, in dem Bischof Sigibert sich auf eigene Faus
Forstrechte zu verschaffen gesucht hatte, zum öffentlich rechtlich anerkannten Bann
forst machen.
' S. oben S. 128. ' DO.III. no. 23.
I
Forestis 143
,;turmi . . . ut absque eiusdem loci episcopi . . . nemo venari au-
leat/'
In den zitierten Urkunden fand sich wiederholt der Ausdruck
,,forestari(e)". Es ist ein Wort, das in der Karolingerzeit noch keinmal
'orkommt, also erst nach den großen Veränderungen, denen das alte
orestis unterworfen war, geprägt ist. Als Faktitivum zu forestis heißt
;s „zum Forst machen" und ist identisch mit „ex Silva forestem facere",
;inem ebenfalls öfter gebrauchten Ausdruck. ^ So entspricht auch in
;inem Diplom Ottos III. für den Erzbischof von Worms '^ dem „quas
lle . . . noviter inforestavit" ein „praedicta silvarum spatia concedimus
lostra regia potestate ... in forestum redigi".
Immerhin fällt durch eine Urkunde Heinrichs II. für die Kirche von
Y\etz^ auf die Bedeutung von forestare ein ganz besonderes Licht:
,quandam silvam . . . consensu vicinorum banno nostro imperiali con-
itririgere et, ut rustice dicunt, forastare concedimus ... ut . . . epis-
:opus suique successuri liberam dehinc habeant potestatem eandem sil-
vam forestandi omnium hominum regni nostri contradictione remota."
„Ut rustice dicunt": Klingt das nicht gewissermaßen wie eine Ent-
chuldigung dafür, daß hier dieser eigentlich inkorrekte Ausdruck ge-
braucht wird? Und weshalb man daran Anstoß genommen hat? Etwa
deshalb, weil forestare an dieser Stelle dieselbe Bedeutung hat, in der
es uns in Verbindung mit „ferae" oft genug begegnet: „in feris fores-
landis" — „feras forestatas" usw.?
Man vergleiche eine Urkunde Heinrichs II. für Würzburg:* „bannum
jnostrum super feras diversi generis in silvis et subscripto ambitu, in
iquo etiam Hugo ejusdem sedis episcopus ... in eodem bivangio feras
torestatas habuit ... in feris prescripto ambitu forestandis hanc pacem
. . . obtineat, qua haec eadem ceteraeque ecclesiae hactenus usi sunt,
quae ... de huiusmodi forestandis silvis vel silvulis praecepta sus-
ceperunt."
Feras forestare — und silvam forestare wird dasselbe bedeuten —
heißt: Das jagdbare Wild unter denselben Schutz stellen, den es in
den Forsten genoß. Durch den Akt des forestare werden Wildbann-
jbezirke geschaffen, keine Forsten in älterem Sinne des Wortes. Damit
gelangen wir wieder in einen größeren Zusammenhang. Wie die Wild-
^ Zwentebold (BM. 1968) „ut quandam silvam in bannum mitteremus et ex ea,
sicut Franci dicunt, forestem faceremus." DH.II. 51: „abbas B. liberam habeat po-
testatem . . . dominicale forestum faciendi ... de Silva, que dicitur Eherinevirst" und
Dti.II. 505: „quandam silvam . . . legali banno forestem facimus."
' DO.III. no. 43.
' DH.II. no. 379.
' DH.II. no. 326.
j^44 Hermann Thimme
banne sich aus den Forsten entwickelt haben, und wie die Forsten
schließlich zu Wildbanndistrikten geworden sind, ist bereits zu zeigen
versucht. An dieser Stelle muß darauf aufmerksam gemacht werden,
daß sich aus der Terminologie der Urkunden ergibt, wie man sich
noch im 11. Jahrhundert ein Gefühl für die ursprüngliche Bedeutung
von forestis bewahrt hat. Das tritt nämlich nicht nur da hervor, wo
wirklich von alten Forsten die Rede ist,^ sondern bezeichnender Weise
auch da, wo Wildbanngebiete gekennzeichnet werden. An das „ut
rustice dicunt", welches so seine Erklärung finden wird, erinnert ein
zweimal in Urkunden Konrads II. belegter Ausdruck. In einer Schenkung
für Bischof Meginhart von Würzburg ^ heißt es: „quandam silvam . ..
consensu et collaudatione provincialium . . . penitusque omnium antea
in eadem silva communionem venationis habentium . . . donamus ab
hinc sub forestis nomine perpetualiter permanenda, banni nostri distric-
tione firmissima confirmamus" und ganz ähnlich wohl mit Benutzung
der vorigen Urkunde ebenfalls für die Kirche von Würzburg: ^ „quandam
silvam hactenus communi compagiensium usui habitam . . . cum con-
sensu ... ab hinc sub forestis nomine comprehensimus ac districtionis
nostrae bannum super eam . . . donavimus."
Klingt das „sub forestis nomine" nicht als ob gesagt werden
sollte: Dem Namen nach ein Forst — die eigentlichen Forsten sind
freilich doch noch etwas anderes?
3. Schließlich muß noch einer Reihe von Wildbannverleihungen ge-
dacht werden, bei denen Ausdrücke wie forestare, forestis überhaupl
nicht vorkommen. Man erinnert sich, daß schon in der Karolingerzeil
von Bannwäldern die Rede war:* „nemoribus, quae in regio banne
erant" usw. Dazu kommt unter den Ottonen: Otto I. für die Kirche vor
Salzburg: ^ in der Pertinenz: „silvis bannisque silvarum." Otto II. für
die erzbischöfliche Kirche von Köln:^ „bannum et potestatem bannique
super eas (seil, bestias) ad regiam pertinuit potestatem". Unter
Heinrich IL für Bischof Adalbero von Basel: ' „saltum ... in proprium
condonavimus . . . nostro banno interdicente" — Jagdverbot. Für
Bischof Balderich von Lüttich :^ „bannum nostrum bestiarum . . . super
eorum proprias Silvas." Für die Kirche von Basel :^ „bannum nostrumj
bestiarum super illas Silvas." Für den Grafen Adalbero: ^^ „bannum!
super agrestes feras concessimus." Wenn es in dieser letzten Urkunde
am Schlüsse heißt: „feras illas, quae in aliis dominicalibus forestis in
banno sunt positae . . . nullus audeat capere", so scheint auch hiei
' S. oben S. 133ff. ^ 3^^ ^gg^
' St. 2024. Vgl. DH.II. 64 „cum suo nominative foresto".
* S. oben S. 119. ' DO.I. no. 389. ' DO.II. no. 50. ' DH.II. no. 80
' no. 186. « no. 188. *« no. 54.
Forestis 145
in unterschied zwischen Wildbann und Forst zum Ausdruck zu
ommen. Dasselbe geschieht in besonders merl^würdiger Weise in
inem Diplom Heinrichs II. für die Kirche von Würzburg: ^ „bannum
ostrum super feras ... de nostro jure in legittimam forestim indisso-
ibiliter stabilimus." Denn gerade hier sieht man nicht, inwiefern
urch die Urkunde neue Verhältnisse geschaffen werden, zumal eine
^eihe von hohen Würdeträgern aufgezählt werden, die ihre Zustimmung
bgeben.
Solche Urkunden bleiben eben charakteristisch für eine Zeit, wo
leue Begriffe an Stelle von älteren treten, ohne diese doch ganz zu
'erdrängen.
Der Ausdruck Wildbann selbst kommt erst unter Heinrich IV. vor.
j)a aber auch ohne Verbindung mit forestis oder forestare in Urkunden
tir die Bischöfe von Bamberg, Brixen, Eichstädt, Freising und für Anno
|on Köln. 2
4. Schluß
Das Band, welches alle diese Forsten und Wildbänne in
In den verschiedenen Formen, in welchen sie auftreten, mit
en Forsten einer früheren Zeit verbindet, ist ihre Beziehung
ium König. Denn immer noch hat dieser allein offiziell das Recht,
'erartige Gebiete herzustellen. Freilich läßt sich nicht sagen, inwieweit
ieses „Forstregal" bloße Formensache geworden ist. Das ursprünglich
jur Aussonderung von Königsgut geschaffene Recht tritt ja immer
hehr in den Dienst des Großgrundbesitzes. Die steigende Macht der
Iroßgrundbesitzer berechtigt, ein eigenmächtiges Vorgehen derselben
uch in diesem Punkte vorauszusetzen. Eine Stelle wie: „sive omnium
ijorum terras, qui in presenti vel in futuro huiusmodi rem cum eo
ollaudabunt" in dem Wildbannprivileg für Graf Adalbero^ deutet das-
elbe an. Von der Auseinandersetzung des Grafen mit seinen Nach-
jarn wird hier eine beliebige Ausdehnung des Wildbanndistriktes ab-
iängig gemacht. Und wie der König hier ganz allgemein Einforstungs-
^cht verleiht, die Anwendung und Ausdehnung desselben ganz dem
rivilegierten überlassend, so werden andere vermutlich auch auf eigene
aust vorgegangen sein, den König gänzlich ignorierend, oder von ihm
ur Bestätigung eines selbständig geschaffenen Zustandes erbittend,
och deutlicher spncht hierfür ein Erlaß des Erzbischofs Engelbert von
' DH.II. no. 496.
' St. 2732, 2761, 2823, 2782, 2762.
' DH.II. 54 (oben S. 138); vgl. auch Dtl.IV. St. 2568.
Afü II ♦ 10
^46 Hermann Thimme
Trier zugunsten des Klosters Stlrmin oder Oeren.^ Er schenkt: „silvan
unam s. Marie quidem propriam, sed nostro forestario, ut dicebantui
juri obnoxiam," und verfügt: „Ab hac forestali lege deinceps liberan
facio et absolutam, ut nullus legatus publicus vel magister forestariu
eam invadere praesumat, sed quicquid commodi vel servitii vel utilitati
inde haberi potest sive medena sive quicunque usus inde proveniai
omnino in ecclesiae utilitate consistat." Diese in mehrfacher Hinsich
interessante Urkunde führt uns einen eigenmächtigen Übergriff der Erz
bischöfe von Trier vor Augen, der, wie er ohne Mitwirkung des König
begangen, so auch ohne dieselbe von Erzbischof E. wieder gut ge
macht wird. Ähnliche Fälle sind natürlich sehr viel häufiger vor
gekommen, als dies die Überlieferung erkennen läßt. Freilich war e
schon in der Karolingerzeit nicht anders — aber jetzt sieht sich kei
König mehr veranlaßt, unrechtmäßig entstandene Forstgebiete wiede
aufzuheben , wie es Ludwig der Fromme getan hatte.^ Bereits untc
den Saliern werden die königlichen Forstprivilegien seltener, und di
Zeit, wo sie ganz aufhören, ist nicht mehr fern.^
So ist schließlich im Laufe der Jahrhunderte die ursprünglich
Bedeutung von forestis mehr und mehr verloren gegangen.
Je selbstverständlicher der forestis-Charakter des Privateigentum
überhaupt wird, desto entbehrlicher wird die äußere Betonung dej'
selben. Von hier aus versteht man die zunächst befremdende Ta
Sache, daß forestis, geprägt als Bezeichnung für den entdeckten Begri
des Privateigentums, schließlich ein einzelnes Sonderrecht kennzeichne
das gerade mit dem Privateigentum nicht mehr in Zusammenhan
steht; versteht man die ganze dazwischenliegende Entwicklung, die ii
einzelnen widerspruchsvoll und kompliziert, im ganzen doch einheitlic
und folgerichtig verläuft. 1
Diese Entwicklung zu schildern, nicht eine Geschichte der eir
zelnen Forstgebiete zu geben,* war der Zweck der vorliegenden ünte
suchung.
Geographische Beschaffenheit, Jagd- und GrundbesitzverhältnisJ
der Forste stehen miteinander in engem Zusammenhang. Wenn ;
einem dieser Punkte eine Veränderung stattfindet, lassen sich in dt
andern entsprechende Umwandlungen konstatieren.
Di.e am tiefsten greifenden Veränderungen in der Geschichte d
Forsten finden um die Wende des 9., im Laufe des 10. Jahrhunder
^ Beyer, Mittelrhein. ÜB. I. 457; vgl. Schwappach a.a.O. S. 203.
^ S. oben S. 110.
' Vgl. Roth a.a.O. S. 267.
* Vgl. die Übersicht bei Roth a. a. 0., Kap. III, S. 229ff.
Forestis j[47
tatt. Um sie zu verstehen, mußten die Forstverhältnisse in der vor-
lergehenden und in der nachfolgenden Periode untersucht werden.
Daß im späten Mittelalter die Forstentwicklung nicht still gestan-
jlen hat, ist selbstverständlich. Es ist bekannt, zu welch unerträglichen
!:uständen sie gegen Ende des Mittelalters geführt hat. Aber alles das
^ird schon im 11. Jahrhundert angedeutet. Von den Forsten, den
Vildbannbezirken des 11. Jahrhunderts, die das Jagdrecht des gemeinen
Cannes beschränken, die sich in weitem Umfange über fremden Grund-
>esitz ausdehnen, bis zu einem Forst- und Jagdrecht, wie es nach
Ausbildung der Landeshoheit herrschte, ist es nur ein Schritt. Oder
loch nur ein paar Schritte. Daher ist auch der Schlußpunkt der vor-
legenden Arbeit nicht ganz willkürlich gewählt.
Exkurse
I. Forestis Arbonensis
Zwischen Beyerle ^ und Caro^ besteht eine Kontroverse über die
rünglichen Grundbesitzverhältnisse des Klosters St. Gallen. Beyerle
t im Gegensatz zu Caro an, daß St. Gallen, „auf Konstanzer Boden
ut, ursprünglich Eigenkloster des Bistums war".
Die Streitfrage würde aus dem Rahmen unserer Untersuchung
jierausfallen, wenn nicht bei der Argumentation Beyerles der „forestis
\rbonensis" einen Hauptplatz einnähme.
In der Urkunde Friedrich Barbarossas a. 1155 ^ wird dieser unter
liem Besitz der Konstanzer Kirche mit aufgeführt, ohne daß etwas
käheres über ihn ausgesagt wäre. Es heißt einfach: „Praeterea sunt
ermini forestis Arbonensis . . ." nebst dem Grenzbeschrieb.
Ausschlaggebend ist, wie auf den ersten Blick einleuchtet, die
präge, wann der „forestis Arbonensis" entstanden ist. Auf Grund der
Jntersuchung über die Grundbesitzverhältnisse bei den Forsten von
ier Entstehung der Forstgebiete an bis hinein ins 12. Jahrhundert
glaube ich hierüber folgendes sagen zu können: Wenn der Forst der
<irche von Konstanz während der Merowinger- oder Karolingerzeit
^ Schriften des Vereins für die Gesch. des Bodensees 31, 1903, S. 26ff. und
^tschr. für die Gesch. des Oberrheins Bd. 22, Heft 1, S. 106ff.
- Beitr. z. älter, dtsch. Wirtschafts- u. Verfassungsgesch. S. 106f.
' Wirttemb. ÜB. 11. S. 95ff.
10=^
148 Hermann Thimme
verliehen ist, so würde dies in der Tat ihre einstige Grundherrschaft
im Arbongau außer Frage stellen.
Wenn aber der Forst erst im 11. oder 12. Jahrhundert geschaffen
sein sollte, dann gestattet er keine Schlüsse auf die Grundbesitzver-
hältnisse des von ihm bezeichneten Territoriums, denn vom Ende des
10. Jahrhunderts ab sind Forst und Wildbannbezirke nicht mehr scharf '
zu trennen, und erfahren sehr häufig eine Ausdehnung über fremdes
Grundeigentum.
Was dafür zu sprechen scheint, daß der Forst und seine Grenz-
beschreibung dem frühen Mittelalter angehören, hat Beyerle bereits
zusammengetragen. Das wichtigste Argument scheint mir die archa- -
istische Namensform „Sydrona" zu sein. Daß im Gegensatz zu dem
in derselben Urkunde gleich darauf beschriebenen Forstgebiet beim
„forestis Arbonensis" von Jagd und Jagdrecht nichts erwähnt wird, ist
ebenfalls in der Tat beachtenswert und deutet auf frühe Entstehungszeit
hin. Daß innerhalb des durch die Grenzen des „forestis Arbonensis" t
bezeichneten Gebiets die Bannwälder liegen, von denen in der St. Galler 1
Urkunde a. 890 die Rede ist, besagt für das Alter des Forstes nichts. \
Denn es ist an und für sich gut möglich, daß der forestis aus diesen
Bannwäldern entstanden ist. „Nemora, quae in regio banno sunt",
brauchen durchaus nicht etwa einen forestis zur Voraussetzung zu !
haben. Weshalb der Satz in der Grenzbeschreibung: „ubi in vertice
rupis similitudo lune iussu Dagoberti regis ipso praesente sculpta
cernitur ad discernendos terminos Burgundie et Curiensis Rhetie" auf
ein Forstprivileg Dagoberts hinweisen soll, ist mir nicht ganz klar.
Trotzdem wird man, wenn man mit Beyerle den „forestis Arbonensis''
für ein uraltes Forstgebiet hält, seine Entstehung in die Merowinger-
zeit verlegen müssen. Denn in der Karolingerzeit kann er nicht ent-
standen sein. Karl der Große bestätigt a. 780 einen Vertrag zwischen
Bischof Sidonius von Konstanz und Abt Johannnes von St. Gallen, durch
welchen den Äbten des von Konstanz abhängigen Klosters gegen einen
Jahreszins freies Verfügungsrecht über das Klostereigentum eingeräumt
wird, und unter Ludwig dem Frommen ^ wird St. Gallen ein könig-
liches Kloster. Hiermit würde sich eine etwa durch Karl den Großen
erfolgte Schenkung des „forestis Arbonensis" an die Kirche von Konstanz
in unvereinbarem Widerspruch befinden.
Dafür, daß der Arboner Forst etwa im 12. Jahrhundert entstanden
sei, spricht an und für sich gar nichts. Wenn man es aber aus an-
deren Gründen für unmöglich hält, daß St. Gallen ursprünglich ein
bischöfliches Eigenkloster gewesen sei, so ist man gezwungen, die
' Vgl. Caro a. a. 0. S. 27.
Forestis 149
Entstehung des Forstes in eine Zeit zu verlegen, in der die Forsten auf
fremden Grundbesitz übergreifen. Dann muß man den „forestis Arbo-
nensis" als einen Wildbann auffassen, der sich weit über St. Galler
IGrundbesitz ausgedehnt hat. Dagegen, daß St. Gallen innerhalb eines
|der Konstanzer Kirche gehörenden Wildbannbezirkes gelegen haben
kann, ist an und für sich nichts einzuwenden. Es genügt auf den
analogen Fall von Worms und Lorsch hinzuweisen.^
Ob aber „andere Gründe" überzeugend genug sind, jene gewich-
tigen Argumente, die für ein hohes Alter des „forestis Arbonensis"
sprechen, aus dem Felde zu schlagen, muß hier unerörtert bleiben.
IL Entwicklung des ürkundenformulars für die Forst-
Iverleihungen vom 6. bis zum Anfang des 12. Jahrhunderts
Im folgenden soll eine Übersicht über die jeweils formelhaft ge-
[wordenen Wendungen der Forst- und Wildbannverleihungen in den
Königs- und Kaiserurkunden gegeben werden. Sie beleuchtet noch
einmal das von forestis gezeichnete Bild und mag dazu dienen, Ein-
ordnung und Zeitbestimmung zweifelhafter Forstverleihungen (vgl.
forestis Arbonensis) zu erleichtern.
Jedesmal wird die typische Form durch ein oder mehrere Beispiele
charakterisiert, und die Urkunden, welche ihr wenigstens in der Haupt-
sache folgen, werden namhaft gemacht. Alle einzelnen Abweichungen
brauchen um so weniger hervorgehoben zu werden , als auf die
Mannigfaltigkeit der Wendungen bereits an verschiedenen Stellen der
Arbeit unter Anführung erläuternder Beispiele aufmerksam gemacht
ist.^ Fälschungen werden nach ihrer mutmaßlichen Entstehungszeit
jiingereiht. Durch * werden Urkunden mit Grenzangaben von Forsten
kenntlich gemacht.
1. iWerowinger- und Karolingerzeit
a) Ein bestimmtes Forstrecht wird nicht genannt
D. Chilperich II. (MG. DD.I, S. 75) „totam ipsam forestem Gemmeti-
censem". Vgl. DK.d.Gr. 117; DDL. d. Fr. BiY\. 772* und 917; DDL.d.D.
S. oben S. 138 Anm. 3.
Vgl. besonders S. 141 ff. usw.
150 Hermann Thimme
BM. 1407 und 1434* (1434 mit dem Zusatz: „ad saginandos porcos du-
centos") D.Ludwig III. BM. 1567*.
D. Chilperich II. (a. a. 0. S. 77) „foreste nostra Roverito cum omnem
jure vel termene ... et nulla requisicione nee nullo impedimento ab
judicibus pubiicis ... ab hoc habire non pertimescat."
D. Sigibert IL (a.a.O. S.22) „ut nullius unquam tempore vitae suae
quelibet persona ipsam forestem audeat irrumpere aut mansiones aut
domos aedificare."
D. Childerich II. (a. a. 0. S.28*) „üt hoc totum et ad integrum cum
Dei gratia et nostra teneant atque possideant cum emunitate nomenis
et in eins temporibus, ut absque ullius impugnatione forestariorum vel
cuiuslibet personae liceat ipsam familiam Dei quieti ordine residere."
b) Betonung von Fischerei, Jagd, Immunität
D. Childebert L (a.a.O. S. 7) „Has omnes piscationes ... sicut nos
tenemus et nostra forestis est" (s. oben S. 103).
DK. d. K. (Bouquet VIII. S. 558) : „forestem piscationis atque vena-
tionis." VgL DDK.d.K. a.a.O. S. 618, 629 und oben S. 103.
D.Pippin (D.Karol. I.) 28*: „praecipimus, ut nulla praesumptio iudi-
ciariae potestatis pro quibusdam occasionibus aut aliquid exercitandum
venationibus absque permissum rectoris ipsius monasterii ullo umquam
tempore infra ipsos terminos ibidem ingredi paenitus non praesumat."
DK. d. Gr. 87*: „foreste Equalina . . . cum utriusque sexus genera
feraminum ... ita ut nullus comes nee vicecomes nee vicarius nee cen-
tenarius nee ullus exactor judiciariae potestatis aut teloneum aut freda
exigenda aut feramina sine licentia abbatis capienda, aut laqueos ten-
dere vel pedicas aut ullam consuetudinem . . . superaddere audeat."
c) Nutzungsrecht unter Königsbann ^m
D.Arnulf BiV\.1840* (s. oben S. 117, 128) „dedimusque illum prefat"
locum . . . cum quadam parte silvae et foresti . . . ut prelibatae res suh
eodem banno sicut antea fuit ad memoratam ecciesiam secure per-
tineant . . . Ea videlicet ratione, ut nullius ordinis vel potestatis persona
ullo umquam tempore infra prescriptos terminos aut venacionem exer-
cere, seu aliquam infestacionis calumniam ingerere, aut ligna cedere ve
fenum secare seu aliquo pastu perfrui seu ullo usu omnio potiri . .
presumat."
Forest! s 151
2. Sachsen- und Salierzeit
A. Forstverleihungen
a) Ohne Hervorhebung des Jagdrechts
a) Ohne Bann.
DO.I. 352*: „foresto de Tribleo . . . forestum pariter de Corezo."
Vgl. DO.II. 165*: (forestem a termino . . . usque . . . ubi terminus forestis
Ratpotoni comitis se de isto disjungit), DO.III. 384", DDH.II. 17* und
210*, DH.IV St 2634.
DH.II. 418*: „quandam nostrae proprietatis forestim . . . cum omni
jutilitate, quae ab eodem provenire ullatenus possit . . . concedimus."
Konr. IL' St. 1957 (mit Pertinenz), desgl. 1958 mit Zusatz: „ea videlicet
ratione, ut . . . liberam dehinc habeant potestatem de supradicto foresto
^enendi, vendendi, tradendi, commutandi vel quicquid sibi placuerit
faciendi."
ß) Mit Bann.
DO.ll. 165: „forestum Susel cum panno." Vgl. D0.I1I. 9; DH.II. 253*
(mit ähnlichem Zusatz wie DKonr. 1958.); DH.IV. St. 2631: „forestum
letiam cum nostro banno regali per omnem comitatum, hiis tantum
venationibus exceptis."
DH.II. 184*: „cum banno nostro ceterisque eins pertinentiis seu
cum Omnibus que quolibet modo dici vel scribi possunt utilitatibus."
Vgl. DH.V. St. 2886*. DH.IV. 2619*: „Quoddam forestum Luizhard . . .
adauximus ac melioravimus. . . . Hec eiusdem foresti augmenta cum
banno etiam nostro . . donavimus, . . . ea videlicet ratione, ut prefatus
lepiscopus suique successores tali deinceps lege ac proprietate his ad-
ditamentis nostris utantur, quali idem episcopus illo antiquo foresto
Luizhard hactenus est usus."
b) Mit ausdrücklichem Jagdverbot
DO.I. 302*: „quoddam nemus vel forestum . . . donavimus, ea vi-
delicet ratione, ut nullus contumaciae deditus nemus prelibatum nostro
videlicet banno munitum sine praedictae sedis episcopi . . . licentia studio
venandi aut aliquod huiusmodi negocium peragendi presumat intrare."^
DH.II. 1*: „regium bannum in forestu Forehahi . . . Hunc prefatum
forestum cum tota integritate et universis utilitatibus ad se pertinen-
^ In Dti.II. 8 erweitert um: ,,cum omni integritate, in porcis videlicet silvaticis
atque cervis omnique venatione, quae sub banno usuali more ad forestum deputatur";
vgl. Brandi, Westd. Ztschr. 19, S. 125.
I
j^52 tiermann Thimme
tibus concedimus . . . ut nulla de eo forestu persona parva sive magna
aiiquam feram vel bestiam ibi venari . . . presumat ... et bannus ac
pax sicut aliis forestibus a regibus vel imperatoribus jam concessum
est., consistat." Vgl. DO.II. 90; DDO.lIl. 73, 164*, 233*, 252, 418;
DO.I. 110* (Fälschung gegen Ende des 10. Jahrhunderts, vgl. DK.d.Gr.
268); DDH.Il. 8*, 235*, 244*, 367*; DDH.III. St. 2344*, 2347*; DDH.IV. 2568*,
2586*, 2604*.
DKonr.II. St.l869:„forestum etiam cervorum cervarumque per totum
pagum Sturmi." ^
B. Neueinforstungen
DO.II. 39*: „quicquid in ambitu videretur habere . . . totum sibii
in forestum nostra imperiali potencia perpetuo tenendum concessimus...
eo tenore, ut omnia hec jam dicta hoc terminorum ambitu circumclusa..,
in usum foresti deinceps cum omnibus eorum legalibus justisque ap-
pendiciis possidenda constent." Vgl. DO.III. 93*.
DO.III. 43*: „concessimus regium bannum in silvis . . . quas ille
cum nostra licentia noviter inforestavit . . . ea videlicet ratione prae-
dicta Silvarum spatia concedimus ... in forestum redigi, ut . ." folgt
Jagdverbot. Vgl. D.Zwentebold BM.1968* (Fälschung Ende des 10. Jahr^
hunderts) DDH.IL 51*, 505*; DKonr.II. St. 1996*; DH.III. 2436*. '
DH.II. 496*: „bannum nostrum super feras ... in legittimam forestira
indissolabiliter stabilimus."
DKonr.II. St. i960*: „quandam silvam . . . donamus ab hinc sub
forestis nomine perpetualiter permanenda banni nostri districtione fir-
missima confirmamus." Vgl. DKonr. 2024*.
DO.II. 221*: „super forestum eundem Branvirst nominatum . . . bannum
nostrum facere jussimus . . . ita ut nemo preter licentiam predicti abbatis
... in eodem foresto . . . dehinc venari aut alium aliquem usum habere
presumat." Vgl. DO.III. 243*; DH.III. St. 2369; Dfi.IV. 2673*; DDH.IV.
2582 und 2588: „wiltbannum per quoddam forestum." Vgl. DH.IV.
2580. DKonr.II. 2042*: „forestum forestari."
DO.III. 358*: „statuimus, ut omnis silva . . . sicut nostri juris pub-
licum forestum . . . forestata habeatur . . . folgt Jagdverbot. Vgl. DDH.IL \
379*, 493*; DDKonr.IL St. 1983*, 1988*; DH.IIL 2174*.
DH.II. 726*: „bannum nostrum super feras ... in feris prescripto
ambitu forestandis hanc pacem et securitatem de caeteris contermina-
libus et circumsedentibus . . . obtineat, qua haec eadem ceteraeque ec-
Forestis 153
blesiae hactenus usi sunt, quae ... de huiusmodi fprestandis silvis vel
[ilvulis praecepta susceperunt." Vgl. DDti.II. 327*, 350*.
DO.II. 50*: „omnes bestias inter haec loca ... et bannum et potes-
latem bannique super eas ad regiam pertinuit potestatem." Vgl. DDti.II.
i')4*, 80*, 186*, 188*.
DH.IV. St. 2732*: „bannum unum, quod vulgo wiltban dicitur."
^gl. DDH.IV. 2761*, 2762*, 2823*.
C. Consensus ^
I
|V DO.III. 233: „cum consensu Conrad! ducis ceterorumque plurimorum
iidelium nostrorum."
DO.II. 50: „cum populi consensu."
DO.III. 43: „auctöritate ac voluntate et assensu bonorum militum
[ärcüitü habitantium."'
j DH.II. 54: „bannum super agrestes feras . . . tam super propriam
erram, quam . . . sive omnium illorum hominum terras, qui in presenti
kl in futuro rem cum eo collaudabunt."
DH.II. 80: „assenciente omni populo eiusdem saltus actenus usum
abente.
DH.II. 184: „secundum collaudationem comprovincialium inibi predia
labentium.'' Vgl. DDH.II. 188, 327.
DH.II. 379: „consensu vicinorum."
DH.II. 496: „consentientibus atque conlaudantibus Eberhardo epis-
topo cum suis militibus . . . ceterisque insuper eiusdem regionis com-
)rovincialibus maioribus et minoribus."
DKonr. II. St. 1960: „consensu et coUaudatione provincialium . . .
2 Namen . . . penitusque omnium antea in eadem silva communionem
enationis habentium" vgl. DDKonr. IL 1988, 2024.
DKonr. II. 1983: „cum consensu et laudatione ... 12 Namen ... et
aeterorum, qui amodo per eins voluntatem suorumque successorum id
psum collaudare- voluerunt."
DH.III. St. 2344: „bis omnibus, quos in presenti conscribimus lau-
lantibus atque voluntarie consentientibus . . . Qui antem hoc forestum
ieri laudaverunt hi sunt" ... 29 Namen genannt.
^ Bresslau, tidb. d. ürkundenlehre S. 696f.; s. oben S. 130f.
I
j[54 Hermann Thimme, Forestis
DH.III. 2347: „caeterisque omnibus ibidem praedia circumquaqut
id ipsum forestum attigentia sive aliquid communionis in eo haben-
tibus voluntario consensu conlaudantibus.'
DH.III. 2436: „collaudentibus provinciarum illarum optimatibus.'
(30 genannt.)
DH.IV. St. 2582: „Consenserunt ... quicunque aliquod praedium au
beneficium sive advocationem in bis prescriptis terminis possederunt'
Vgl. DDH.IV. 2585, 2604, 2673.
DK.d.Gr. (DKarol.I, 273 Fälschung von 1077):^ „collaudatione iiliue
regionis potentum" (Zusatz zur echten Vorlage).
^ Vgl. Brandi a. a. 0.
örkundenforschung
von
K. Brandi
Es ist gefährlich, die wissenschaftliche Terminologie zu beunruhigen
jund neue Ausdrücke und Bezeichnungen an die Stelle alteingebürgerter
'zu setzen, auch wenn deren ursprünglicher Sinn bis an die Grenze
der Fassungskraft gespannt ist. Manchmal tut das freie Fremdwort
den Dienst, sich immer neue Begriffserweiterungen gefallen zu lassen,
^eil es nicht im Widerstreite steht mit dem lebendigen Inhalt eines
iGebrauchswortes der eigenen Sprache.
Das Fremdwort ,Diplomatik' scheint eben deshalb bequem und
itauglich auch für den wechselnden Inhalt einer unablässig werdenden
und täglich bereicherten Wissenschaft. Allein gerade das Wort
, Diplom' hat in der diplomatischen Terminologie einen eigenen und
ganz besonders engen Sinn erhalten, dem zwar nach Inhalt und Ab-
sicht Mabillons Bücher De re diplomatica (IdSl) so gut wie Theodor
von Sickels „Beiträge zur Diplomatik" (1861ff.) einigermaßen ent-
sprachen, nicht aber die inzwischen, u. a. von Sickel selbst, vor-
genommene Ausweitung unserer Wissenschaft So glaube ich mich
auch in der Annahme nicht zu täuschen, daß der vulgäre wissenschaft-
jliche Sprachgebrauch mit dem Begriff ,Diplomatik' im ganzen die
lengste Vorstellung verbindet, daß man dabei in erster Linie nicht nur
;an die Methode, sondern auch an das vornehmste Material jener Be-
gründer unserer Wissenschaft denkt.
Nicht unwesentlich weiter sind stets gewesen die Begriffe , Urkunde'
und ,ürkundenlehre'. 1867 gab Sickel seine „Lehre von den Urkunden
der ersten Karolinger" heraus und 1877 J. Ficker seine „Beiträge zur Ur-
kundenlehre", die dem Material nach weiter ausgriffen als Sickels Bei-
träge zur Diplomatik. Entsprechend hat H. Bresslau 1889 sein „Hand-
buch der Urkundenlehre" betitelt, und diese Bezeichnung ist unter Führung
der Österreicher 0. Redlich und W. Erben soeben (1907) für die letzte
große systematische Zusammenfassung unseres Wissens wieder fest-
156 K. Brandi
gehalten worden. Man braucht nur in diesem Buche zu blättern oder
sich vorzustellen, was in des Mitherausgebers, L Schmitz-Kallen-
berg, „Lehre von den Papsturkunden" (nach seiner Skizze in Meisters
Grundriß) zu lesen sein wird, um sofort darüber klar zu sein, daß^
auch hier, wie bei Bresslau, die Welt der , Urkunde' im juristischen
Sinne weit überschritten wird. Nicht bloß die Entwürfe zu Urkunden'
und die Kopien von Urkunden — Konzepte und Register — sind
mit in den Kreis der Betrachtung gezogen, nicht bloß die Kanzleien,
die Urkunden schrieben und besiegelten, sondern auch die damit in
Zusammenhang stehenden Finanz- und Gerichtsbehörden und wieder
bei allen diesen Behörden nicht nur die formellen Ausfertigungen,
„welche bestimmt sind, als Zeugnisse über Vorgänge rechtlicher Natur
zu dienen", sondern der ganze Bereich ihrer Schriftsätze — der ,Akten'.
Alles das mit Recht, denn erstens sind diese Akten nach ihrer Ent-
stehung nicht zu trennen von den , Urkunden', zweitens sind sie (selbst
die juristische Distinktion zugestanden) ihrem Quellenwerte nach gleich-
artig als unmittelbare Reste und Zeugen vergangener Wirklichkeiten,
und drittens überwiegen sie an Masse und Ergiebigkeit (gerade als
absichtslose Zeugnisse, wie etwa kassierte Konzeptkorrekturen) weit die
eigentlichen Urkunden, sobald man einmal die frühen Zeiten eines ge-
bundenen und schwerfälligen Schrifttums und einer sehr wählerischen
Überlieferung verläßt.
Systematik und Unterricht werden freilich immer von der „Urkunde
im Rechtssinne" als dem strengsten Begriff ausgehen; allein ebenso
sicher ist, daß unsere Wissenschaft, wenn anders sie lebt, von hier
aus immer weitere Kreise in das Gebiet der Akten hineinziehen muß.
Urkunden, Briefe und Akten nennen wir „urkundliche Quellen" im
Gegensatz zu den „literarischen". Beide werden als zwei große
Gruppen zusammengehalten nach ihrer Entstehung und nach ihrer
Überlieferung. Die einen entstammen der freien Gestaltungskraft, nach
den nicht allzu harten Gesetzen der literarischen Tradition; sie bilden
die Bestände der Handschriftensammlungen und Bibliotheken. Die
anderen entstammen dem Rechts- und Staatsleben unmittelbar, stehen
im Zwang der Bräuche von Kanzleien und Schreibstuben, genießen den
Schutz der Registraturen und liegen abgeschichtet in den Archiven.
So faßt man längst Briefe, Urkunden und Akten auch in einheit-
lichen Publikationen zusammen, die man noch nicht einmal immer
nach der vorherrschenden Kategorie betitelt. Man ediert „Urkunden
und Aktenstücke zur Geschichte des Kurfürsten Friedrich Wilhelm",
„Briefe und Akten . zur Geschichte des 16. Jahrhunderts", einen „ür-
kundenband zur Geschichte Philipps des Großmüthigen" (obwohl darin
wesentlich Briefe), „Deutsche Reichstagsakten" (obwohl die im Mittelpunkte
1
ürkundenforschung 157
;tehenden Abschiede selbst Urkunden sind). Mittelalterliche ürkunden-
)ücher sind voll von Rechnungen und Briefen. Mit Recht nimmt
n'emand daran Anstoß. Nur wenn die Disharmonie zwischen Titel und
nhalt gar zu stark wird, wenn man etwa unter dem Titel eines „Brief-
ii^echsels" oder der „Korrespondenz" eines Fürsten ganz allgemein
^kten, Protokolle und Urkunden publiziert, — leidet nicht nur die
bequeme Übersicht, sondern auch die sachlich gebotene methodische
!)ehandlung, wie ich das gelegentlich an einem Einzelfall dargetan
labe (Gott. Gel. Anz. 1902, 113 und 1905, 901).
In allen diesen Fragen erfreue ich mich der vollkommenen Über-
instimmung mit den Ausführungen von H. Steinacker.^ Es ist auch
nzweifelhaft richtig, daß historisch, — entwicklungsgeschichtlich —
lle diese urkundlichen Quellen auf die „zwei Wurzeln: Brief und Ur-
unde", man kann auch sagen: auf die schriftliche Mitteilung und das
rotokoll der mündlichen Verhandlung, zurückgehen.
Gewiß ist der allgemeinste Begriff derjenige der ,Akten', der
,ngste Begriff der ,Brief. Dagegen wird , Urkunde* im engeren und
/eiteren Sinne gebraucht; auf der einen Seite hat das Wort nach
einem ursprünglichen Sinn den allgemeinen Inhalt von „Zeuge" und
Zeugnis" behalten; auf der anderen nach der Geschichte der Wissen-
chaft in Deutschland eine starke Assoziation des Begriffes der metho-
ischen Forschung gewonnen. Deshalb empfiehlt es sich in der Tat,
n diesem Wort für den ganzen Bereich urkundlicher Quellen und
rkundlicher Forschung festzuhalten, und wir haben auch für unsere
eitschrift die glückliche Prägung unseres Herrn Verlegers „Archiv für
rkundenforschung" gern akzeptiert.
Als wir dem ersten Heft ein Geleitwort auf den Weg gaben, schien
s uns im übrigen unnötig, so weit auszuholen oder gar zur Begrün-
jung unseres Vorhabens ein irgend erschöpfendes Bild von der Ge-
richte unserer Wissenschaft zu geben. Wir glaubten uns beschränken
a sollen auf den Ausdruck der Hoffnung, die wir an diese Sammlung
jrößerer Arbeiten zur Urkundenforschung knüpften, der Hoffnung auf
M^rlichen Austausch unter den jüngeren Forschern, der Hoffnung
iuf allgemeinere Anregungen und Ausweitung der Probleme, kurz der
Öffnung auf eine günstige Rückwirkung gleichgestimmter methodischer
orschung auf die gesamte Urkundenwissenschaft und ihre Pflege an
nseren Hochschulen. Zu unserer Freude befanden wir uns in wesent-
chen Punkten im Einklang mit denjenigen Fachgenossen, die damals
^ Theodor von Sickel, Festworte. Mit einem bibliographischen Anhang. Wien
W. S. 12, 13f.
I
158 K. Brandi
und seither zu solchen Fragen Stellung genommen haben.^ H. Stein-
acker urteilte in seiner Festrede auf Sickel, S. 15 f. ganz ähnlich über
die Aufgaben unserer Wissenschaft, und fand auch (Mist. Ztschr. 100,
365) die neue Zeitschrift „sehr begrüßenswert"; ähnlich urteilte, wenn
auch mit Vorbehalt, Redlich (Mitt. d. Inst, für österr. Gesch. 1907, 711)
und selbst K. Uhlirz erklärte in der „Deutschen Literaturzeitung 1908,'
Sp. 1351, die Begründung, daß „an unseren Universitäten und Archiven
kaum die alte Diplomatik recht eingebürgert" sei, gelte in der Tat „für
einen Teil der Universitäten des Deutschen Reiches noch heute, und'
rufe die Erinnerung an den hartnäckigen Widerstand hervor, der dort
durch Jahrzehnte dem Betriebe hilfswissenschaftlicher Studien, die an
den österreichischen Universitäten seit einem halben Jahrhundert eifrige
Pflege gefunden haben, entgegengesetzt wurde".
Umso befremdlicher, daß unsere verehrten österreichischen Kollegen
statt sich zu freuen über verspätete Einsicht, den größten Teil unserer
„Einführung" vollkommen mißverstanden haben und insbesondere
Uhlirz seiner Verstimmung über das ganze Archiv in unzweideutigei'
und zugleich unerfreulicher Weise Ausdruck gegeben hat. I
Es ist eine unzutreffende Berichterstattung, wenn Uhlirz den ent-i
scheidenden ersten Satz unserer Einführung über den Zweck des Archivs
den Lesern der „Deutschen Literaturzeitung" vorenthält, daß nämlich
„das Archiv eine Vereinigungsstelle sein solle für solche gelehrter
Untersuchungen, die den Umfang von Zeitschriftenaufsätzen über-
schreiten, insbesondere für alle allgemeinen und systematischen Ar-
beiten auf dem Gebiet der Urkundenwissenschaft in weiterem Sinne"
Denn danach hätte er uns nicht mehr (wie er es gleich im Eingang
tut) das alte Recht der „Mitteilungen des Instituts für österreichische
Geschichtsforschung" entgegenhalten dürfen. Aus demselben Grunde
war es verfehlt, die Gefahr einer weiteren Zersplitterung an die Wanc
^ Ich nenne vor allem G. Seeligers ausführliciie Anzeige in seiner Historischei
Vierteljahrsschrift 1908, I, 75 ff. — Auf briefliche Äußerungen dachte ich mich hie
nicht zu beziehen; nachdem mir aber H. Bresslau soeben die gewichtigste von allen
zugänglich gemacht hat, will ich wenigstens diese eine hierher setzen. Th. v. Sicke
beantwortete am 11. April 1907 eine Zusendung und knüpfte daran die Bemerkung
„Wenn vollends, trotz aller nach und nach erkannten Ausnahmen die Regel fest
gehalten und von neuem eingeschärft wird , bin ich gradezu dankbar für solch
Arbeit. In gleichem Sinne begrüße ich den mir gestern zugegangenen Prospekt de
Archivs für Urkundenforschung" — und, nach einigen Bemerkungen über Bresslau
Anwendung der diplomatischen Methode auf die Kassettenbriefe, — „Ihre trefflich
Abhandlung hat mich in solchem Versuch bestärkt und ich habe an diese oft ge
dacht, als ich später' meine Römischen Berichte vorbereitete. So findet die in
Prospekt angekündigte Ausdehnung der diplomatischen Forschung auf das neuer
Material meinen vollen Beifall."
ürkundenforschung • ^59
ZU malen, denn was sollen im „Neuen Archiv" und „in landes- und
iortsgeschichtlichen Zeitschriften" die „allgemeinen und systematischen
lArbeiten"? und in welchen Zeitschriften konnten bisher alle jene
spezialdiplomatischen Abhandlungen Unterkunft finden,^ die als Disser-
tationen heute auf den Bibliotheken vielfach nur als Teildrucke erhält-
lich sind?!
I Es ist ferner höchst überflüssig, daß sich ühlirz unsere Köpfe
darüber zerbricht, „ob der Stoff für eine selbständige Zeitschrift aus-
|reichen, ob es nicht notwendig sein wird minderwertige Arbeiten"
aufzunehmen. Uns sind alle tüchtigen Arbeiten willkommen, minder-
wertige haben wir bisher schon abgelehnt, und nachdrücklich müssen
wir dagegen Einspruch erheben, daß gegen unser Unternehmen so ins
Blaue hinein Stimmung gemacht wird.
I Ebenso erscheint uns gänzlich deplaciert Uhlirz' Befürchtung „daß
jden Hilfswissenschaften die selbständige, aus dem Zusammenhange
mit der geschichtlichen Forschung im allgemeinen gelöste Stellung
picht zum Guten ausschlagen werde", — „trotz" unserer „schönen
^Vorte". Wie äußerlich und wie unhöflich! Wir sind doch wahrhaftig
nach unserer ganzen Lebensarbeit die letzten, die einer Auslösung der
filfswissenschaften aus der allgemeinen Geschichte das Wort reden;
nd es ist mehr als komisch, daß der Herr Rezensent in meinem Auf-
satz über den byzantinischen Kaiserbrief und die fränkisch -byzanti-
bischen Beziehungen gerade das überflüssig findet, was diesen Zu-
sammenhang aufs lebendigste dokumentiert.
Wie Uhlirz die einzelnen Abhandlungen bewertet, die seinem
Verständnis zum Teil offenbar fernerliegen, mag auf sich beruhen; er
möge die Äußerungen von Seeliger und Steinacker und diejenige
feines Sachkenners in der Byzantinischen Zeitschrift XVII, 230f. nach-
lesen und sich sagen, daß man über sehr mühsame Untersuchungen
mit neuen Materialien in noch unerschlossenen Gebieten etwas zurück-
naltender urteilen sollte. Allein diese frostig abwehrende. Behandlung
pes einzelnen ist unverkennbar nur der Ausfluß eines mir wenigstens
Unbegreiflichen Ärgers über das Gesamtunternehmen und seine Be-
gründung. Denn eben diese ist von ihm teils völlig mißverstanden,
'eils ganz ungerecht gewürdigt worden.
In unserer Einführung ist kein anderer Name genannt, als der-
enige" Theodor von Sickels, und zwar nur im Zusammenhang eines
ausdrücklichen Bekenntnisses zu seiner Methode und zu seinen An-
^ Beispielsweise die Studien zur »Privaturkunde*, über die soeben Steinacker
n den Mitteilungen des Instituts für österr. Gesch. 1908, XXIX, 347 ff. berichtet.
vVie erwünscht wäre es, sie irgendwo beieinander zu haben.
I
160 ' K. Brandi
regungen.^ „Die grundlegende Methode der ürkundenkritik ist — durch
th. V. Sickel im Prinzip zum Abschluß gebracht", — und „indem wir
an die Arbeiten Sickels und seiner Generation überall anknüpfen",
wollen wir — natürlich in seinem Sinne — „vordringen zu einer
möglichst genauen Erkenntnis der Bedingtheiten und damit der histo-
rischen Verwendbarkeit unserer urkundlichen Quellen". Herr Uhlirz
wird doch nicht behaupten wollen, daß auch hier schon ein Abschluß
erfolgt sei?! Zu den Worten aber „und seiner Generation" macht er
ein Ausrufungszeichen; ich möchte wissen, was das soll? Gehört
Julius Ficker, dessen Schüler wir alle sind, auch diejenigen die nie
zu seinen Füßen gesessen haben, nicht zu Sickels Generation? Und
darf ich als Schüler von P. Scheffer-Boichorst und Victor Bayer mich
nicht in unmittelbarer Tradition jener Generation fühlen? Ist Stumpf-
Brentano so gar nichts gewesen, und darf man neben Sickel nicht
auch an Jaffe denken, der Bresslaus und Posses eigentlicher Lehrer
war? Oder sollen wir verpflichtet sein, nur an die Generation von
Sickelschülern anzuknüpfen, zu denen ühlirz gehört?
Die eigentliche Versündigung gegen das Andenken Sickels soll
aber darin liegen, daß Sickel als Vertreter einer „alten" Diplomatik hin-
gestellt werde, demgegenüber es nun zu einer „neuen" Diplomatik
kommen müsse. Sehr ausführlich sucht uns ühlirz zu belehren, daß
alles was wir von der Zukunft erwarteten, auch von Sickel schon —
gefordert sei, und mit Emphase schließt seine lange Auseinander-
setzung: „Neue wissenschaftliche Bahnen hat das Archiv für ürkunden-
forschung also nicht gewiesen."
Mit Verlaub — wo steht denn in unserer Einführung irgend etwas*
dergleichen ? . Wo steht irgend etwas von einer Gleichsetzung defi
Arbeiten Sickels mit „alter Diplomatik"? Ein unbefangener Leser wirdi
gar nicht auf die Idee solcher Charakteristik kommen, und selbsti
ühlirz muß gestehen (Sp. 1351), daß er sie „nur aus einem Satze, der^
sich wenige Zeilen vorher findet", geschlossen habe. Nun muß man
eine gewagte Interpretation, einen unsicheren „Schluß" nach allen
Regeln philologischer Kritik an ihren Konsequenzen prüfen, tiier*
wäre die Konsequenz des Schlusses von ühlirz, daß wir von Sickel
sagten: er sei „ausgegangen von forensischen Interessen — und von
forensischer Methode"! Einen solchen Unsinn wird uns doch selbst;
ühlirz nicht zutrauen.
Für ihn scheint es nichts zu geben als für oder gegen, vor oder
^ Wie auch Bresslaus Vorrede zum 3. Bande der Diplomata gipfelt in dem
Satze: „und wenn er niemals unser Lehrer gewesen ist, so bekennen wir uns darum
nicht minder als seine dankbaren Schüler" (MG. DD. III, XV). Für Tan gl darf ich
mich jetzt auf seinen Nachruf auf Sickel beziehen (NA. XXXIII, 773ff. 778).
ürkundenforschung 151
nach Sickel. Aber er möge anderen erlauben, auf die Wurzeln unserer
jWissenschaft gelegentlich zurückzugreifen und in einzelnen Zügen,
z.B. der unverhältnismäßigen Bevorzugung der ,ürkunden' im Rechts-
,sinn, die späten Nachtriebe der „alten forensischen Diplomatik" zu
bezeichnen.^ Denn daß dem so ist, wird doch nicht bestritten werden
'können : Ausgegangen ist die Kritik der Publizisten des XVI., XVII.
XVIII. Jahrhunderts von Rechtsstreitigkeiten , von den produzierten
Urkunden, und wie es seit dem Altertum den Begriff und das Delikt
der Urkundenfälschung und damit eine forensische Urkundenkritik,
mehr oder minder entwickelt oder unentwickelt, gegeben hat, so ist
die Diplomatik langehin nur die freie Umsetzung des Rechtsinteresses
in ein wissenschaftliches, und bis heute hat sie nicht mit Unrecht auf
die Echtheitskritik den Hauptnachdruck gelegt.^ Die von Uhlirz heran-
gezogene Stelle aus Sickels Lehre von den Urkunden der ersten Karo-
linger, S. 62: „...um dieser Aufgabe willen — hat man die Diplo-
'matik früher einfach definiert als ars diplomata vera et falsa discernendi;
. . . aber in Wirklichkeit leistet sie mehr" usw. — diese Stelle, weit
jentfernt gegen uns Zeugnis abzulegen, gibt vielmehr mit Sickels eigenen
Worten annähernd dasselbe, was wir „an die Arbeiten Sickels und
seiner Generation überall anknüpfend" aufs neue als Ziel einer um-
Ifassenden Urkundenwissenschaft hinstellen.
IH Nun ist dem Irrtum von Uhlirz auch H. Steinacker verfallen, ob
IH sich schon viel höflicher ausdrückt und viel ernstlicher auf Würdi-
^ng und Verständigung bedacht ist. Doch über die Art wie er sich
unsere scheinbare Meinungsverschiedenheit konstruiert und den Lesern
jder Historischen Zeitschrift (Bd. 100, S. 365ff.) vorführt, muß ich mich
ibeschweren. Er zitiert unsere Einführung wörtlich, stellt aber die
iSätze beliebig um und setzt beliebig eigene oder verstellte „Dagegen"
j„aber", „zwar", und „neu" ein; das ist nicht erlaubt. Nachdem er erst
lunsere Worte über Sickels Methode und die von ihm angeregten „er-
|sprießlichsten spezialdiplomatischen Untersuchungen" zitiert hat, fährt
jer (unter Aufnahme eines in Wahrheit vorhergehenden Satzes) fort:
,Dagegen soll nun die neue „umfassende und zugleich eindringende
Urkundenwissenschaft" zwar „an die Arbeiten Sickels usw. überall
[anknüpfen" aber— „vordringen zu einer möglichst genauen Kenntnis"
iusw.' Da er sich so einen Gegensatz künstlich konstruiert hat, der in
' Vgl. dazu P. Kehr, Gott. Gel. Anz. 1906, 595 (unten S. 165).
^ Da die forensische Kritik noch heute besteht und ihre eigenen technischen
Begriffe prägt, so kann auch heute die ürkundenlehre meines Erachtens nicht ganz
daran vorbeigehen, wie ich in der Besprechung von Redlichs ürkundenlehre
(Deutsche Lit.-Ztg. 1907, 2534) betont habe.
AfU II 11
I
162 K. Brandi
Wahrheit gar nicht vorhanden ist, rückt er mir vor, ich setze mich in ,
Widerspruch mit eigenen früheren Äußerungen. I
In der Tat habe ich (1898) den Aufsatz Müh! bachers über Kaiser-'
Urkunde und Papsturkunde (Mitt. des Inst. f. österr. Gesch. Erg.-Bd. IV)
einen köstlichen Anfang vergleichender Diplomatik genannt und „ein
ganzes Programm" darin gefunden (Hist. Ztschr. 83, 152); ich habe'
auch im Anschluß an Sickels „Römische Berichte" gerühmt, wie sehr
„vorbildlich (Sickel) die historischen Materialien nach ihren Entstehungs-
und Überlieferungsverhältnissen" betrachte; nicht minder (Hist. Ztschr.
96, 487) — übrigens auf Sickels briefliche Bitte — die Publikation
von Jos. Susta angezeigt und seine Bearbeitung der Tridentiner Kon-
zilsakten für musterhaft erklärt, und hinzugefügt: „es hat doch ein all-
gemeineres Interesse zu sehen, wie sehr sich die methodische Schulung
an der mittelalterlichen Diplomatik auch auf anderem Gebieten be-
währt". Und endlich habe ich (Deutsche Lit-Ztg. 1907, 2534) auch
Erben-Redlichs ürkundenlehre „einen Abschluß im Sinne der Sickel-
schen Lebensarbeit" genannt, von der in unserer Einführung gesagt
war, sie habe in erster Linie „die ersprießlichsten spezialdiplomatischen
Untersuchungen angeregt".
Alles das würde ich auch heute noch gerade so sagen, glaube
auch damit durchaus im Einklang zu sein mit den richtig verstandenen
Äußerungen unserer Einführung. Im übrigen will ich gar nicht urgieren,
daß ein „Programm" eben ein Programm ist, und daß die Arbeiten
über das Trienter Konzil der Gegenwart angehören in der wir noch
stehen. Wohl aber muß ich, wieder nach allen Regeln historischer
Kritik fordern, daß man sich von den Anschauungen eines Menschen
ein Bild mache, nicht nach einem selbstkonstruierten Widerspruch,
sondern nach seinem Verhalten und nach seinen unzweideutigen, in
diesem Fall sogar zahlreichen, und einem langen Zeitraum angehörigen
Äußerungen.^ Und was die Spezialdiplomatik angeht, so sagt (Sp. 1352)
doch auch ühlirz genau wie unsere Einführung, daß „die Richtung auf
die Spezialdiplomatik zunächst maßgebend werden mußte" und Stein-
acker meint am Eingang seiner Besprechung von Erben-Redlich nicht
minder, daß sie ihre „Aufgabe richtig gestellt" hätten, „daß die spezial-
diplomatische Behandlung dem Entwicklungsgange der modernen Diplo-
matik" entspreche.
Daß ich in der Sache, insbesondere bezüglich der Aufgaben für
die Zukunft, wenigstens mit Steinacker vollkommen übereinstimme,
will ich noch durch zwei Äußerungen illustrieren, die geradezu drastisch
^ Ich zitiere noch die prinzipiellen Bemerkungen in meiner Besprechung von
Küch, Politisches Archiv Philipps d. Gr. von Hessen (Gott. Gel. Anz. 1905, QOlff.).
ürkundenforschung 163
zeigen, wie sehr mit Unrecht unsere österreichischen Kollegen an
der Grundtendenz unseres Programms gemäkelt haben. Sie nehmen
Anstoß daran, — am meisten ühlirz, aber auch Redlich und Stein-
acker — daß wir nicht nur „der ürkundenwissenschaft die uns (den
Herausgebern) als die wichtigste neuere Errungenschaft auf dem Ge-
biete der historischen Methode erscheint", erhebliche Aufgaben zu-
messen im Gesamtbetriebe der historischen Wissenschaften, sondern
dazu bemerken: „für solche Dienste der Diplomatik sind die Voraus-
setzungen in weitem Umfange noch zu schaffen." Ferner daran, daß
jiach unserer Meinung „gewisse bisher stark vernachlässigte Gruppen
irkundlicher Quellen erst in die methodische Bearbeitung hineingezogen
— werden" müssen.
Nun schließt Steinacker selbst seine Festworte auf Sickel (S. 15):
,ünd so wie es heute keinen Historiker gibt, der nicht die methodische
Kritik erzählender Quellen verstünde, so wird wohl auch die Zeit
kommen, wo die von Sickel begründete Methode der Kritik nicht-
iterarischer Quellen zum eisernen Bestand der Fachbildung gehören
vird. Vorher^ aber muß sich diese Methode erst noch für
alle die aufgezählten Quellenarten, namentlich die neuzeit-
ichen allgemein durchsetzen, und in diesem Sinne ist der Name
Sickels auf lange Zeit hinaus ein Programm.
Wir^ sind gewiß noch weit von diesem Ziele."
Und in der Besprechung von Erben-Redlich sagt Steinacker (a. a. 0.
5. 368): „wir sind heute ganz klar über die ,idealen' Forderungen an
he diplomatische Bearbeitung des ganzen für die Geschichte einer
Nation vorhandenen Urkundenstoffes. Jüngst hat sie Brandi im Hin-
Mick auf das geplante Corpus aller griechischen Urkunden sehr klar
ormuliert (Byzant. Ztschr. XIll, 690ff.). Aber von der praktischen Durch-
ührung sind wir in Deutschland selbst noch weit entfernt. Für
lie Mehrheit der Historiker wäre die Privaturkunde das wichtigste
liplomatische Gebiet. Und gerade hier^ kann die Urkundenlehre
leute noch kaum mehr als die Probleme formulieren."
Wahrhaftig, wir sind noch weit vom Ziele! Ehe wir uns in selbst-
;ufriedener Behaglichkeit sagen: der Weg ist ja gewiesen, es bedarf
leiner neuen Aufklärung, — wollen wir schon lieber hundertmal aufs
leue nach den Wegen und nach den Zielen fragen.
Und haben wir nicht schon im ersten Bande neue Gebiete berührt
)der weiter aufgeschlossen? Freilich im Verein mit anderen, wie es
'n aller Wissenschaft zu sein pflegt. Was hat es denn bisher an
I
^ Von mir gesperrt.
11*
j^54 K. Brandi
Führung, ich will gar nicht sagen Untersuchungen, auf dem Gebiete
des byzantinischen Urkundenwesens gegeben, bevor C. Neu mann
Krumbacher, P. Marc und ich hier einsetzten? Was hat es denn
auf dem Gebiet des altrömischen Urkundenwesens an zusammenfassen-
den Arbeiten vor den Studien von Faaß gegeben? Wer hatte die
Anregungen von Bresslau und Steinacker über das römische Re-
gisterwesen aufgenommen in so umfassender Art wie jetzt R. v. Heckel
auf Veranlassung von Tangl.
Über alles das was von uns in der Einführung, S. 2 und 3 über
weitere Aufgaben unserer Wissenschaft gesagt worden ist,^ hat Herr
Uhlirz sich vollkommen ausgeschwiegen: er wird weder behaupten
können, daß sie bereits gelöst seien, noch bestreiten wollen, daß ihre
Lösung dringend wünschenswert ist. An dieser Stelle hätte seine
Kritik einzusetzen gehabt. Statt dessen begnügt er sich mit der höchst
überflüssigen und mißverständlichen Erklärung: „neue wissenschaftliche
Bahnen hat das Archiv für Urkundenforschung nicht gewiesen."
Wieder verhält sich Steinacker erheblich verständnisvoller. Nur
vermag ich sein freundliches Zugeständnis, die „neue Diplomatik" ver-
lege den Schwerpunkt des Interesses von der Wertung der Urkunden
auf die kulturgeschichtliche Verwendbarkeit ihrer formalen Elemente,
schon deshalb nicht anzunehmen, weil zumal in so enger Fassung von
einer neuen Diplomatik überhaupt nicht die Rede sein kann. Wohl
aber bin ich allerdings der Meinung — und darin befinde ich mich
im Einklang mit meinen verehrten Freunden und Meistern L Traube
und Wilhelm Meyer — , daß zu dem mittelalterlichen Quellenforscher
auch die Schrift mit ihrem vielgestaltigen Leben in Wahrheit sprechen
sollte. Denn auch sie „hat ihr eigenes Wesen, auch sie ist ein zartes
Abbild des Menschlichen". Daß „Schrift und Urkundenwesen nicht
Kulturgebiete selbständiger Art" seien, „wie Recht, Sprache, Kunst", kann
ich nicht zugeben. Wie Sprache und Kunst sind sie Formen der Mit-
teilung, gewiß untergeordnet für die meisten Menschen; aber einen
rechten mittelalterlichen Historiker kann ich mir nicht denken ohne'
Organ für alles das, was schon für sich Handschriften und. Urkunden
aussagen. Nimmt man sie zugleich als „Ausdruck für die weiteren
Zusammenhänge der Kultur," so können sich auch dabei bescheidene,
aber darum doch nicht verächtliche Ergebnisse erzielen lassen. ^
* Nach den verschiedensten Richtungen hin hätten diese Bemerkungen noch aus-
geführt werden liönnen, ich erinnere nur an das große Gebiet des englischen ürl<unden-
wesens, das ich berührt habe in der Anzeige der Facsimiles of royal and other
charters in the British, Museum (I, 1903) in den Gott. Gel. Anz. 1905, 954 u. a. m.
'^ Geradezu glänzend müssen die Ergebnisse genannt werden die L. Traube
in den Nomina sacra lediglich aus der Untersuchung der Abkürzungsformen ge-
wonnen hat. Vgl. jetzt auch L. Traube, Vorlesungen und Abhandlungen I, 132 ff ;
ürkundenforschung 165
Eben deshalb wird keinem Vernünftigen einfallen, derartige Dinge
in den Mittelpunkt der Wissenschaft rücken zu wollen. Aufgabe des
jürliundenforschers und gerade des ürkundenforschers ist nur, sich gar
nichts entgehen zu lassen, da nun einmal gerade die urkundlichen
Quellen als Stücke vergangener Wirklichkeiten überreich sind an ab-
sichtslosen und deshalb höchstwertigen Zeugnissen.
Allein die ,neuen* Probleme und Betrachtungsarten mögen einmal
auf sich beruhen, — so stehen wir doch auf keinem Gebiet der Wissen-
schaft, daß nicht auch die älteren Objekte der Forschung immer wieder
der Nachprüfung, die sichersten Methoden der Ergänzung bedürften.
Ja, es besteht überall die Gefahr, daß Traditionen abreißen, daß ge-
wisse Betrachtungsarten „abkommen". So hat jüngst P. Kehr in der
Selbstanzeige seiner Italia pontificia, Bd. I. (Gott. Gel. Anz. 1906, 595 f.)
sich ausgesprochen über „die eigentliche Richtung, welche die ürkun-
denlehre in den letzten dreißig Jahren genommen hat", und wie man
zweckmäßig auch an ältere Stufen wieder anknüpfen könne. „Sie
stand und steht noch heute unter der Aufgabe, die ihr einst die Mau-
riner gestellt hatten: Feststellung der Echtheit. Das ist, trotz aller
Evolutionen nach rechts und links, immer noch das Zentralproblem
der Diplomatik. Auch des Erneuerers der Diplomatik, Sickels, nächste
Ziele waren diese, und sie konnten für die Karolingerzeit auch nicht
andere sein. Das Neue, was Sickel hinzubrachte, war die neue Methode,
mit der er jene Aufgabe sicherer löste als seine Vorgänger, nämlich
die Schrift- und Diktatvergleichung, die er zu immer feinerer Ausbil-
dung brachte, bis sie im weiteren Verlauf zur Basis für neue und
bedeutungsvolle Studien wurde; ich meine die auf diesen Vergleichungs-
methoden sich aufbauenden Forschungen zur Kanzleigeschichte, die
besonders für die jüngeren Perioden bald wichtiger wurden als die
Fälschungsprobleme. Sie boten so viel Neues und Belehrendes, daß
sie das Interesse aller mit Urkunden sich beschäftigenden Forscher
mehr und mehr ergriffen und die überlieferungsgeschichtlichen
Fragen in den Hintergrund treten ließen, zumal an ihnen die strenge
Diplomatik eigentlich nur ein Interesse hat, soweit es sich um die
Auffindung neuer Originale handelt."
„Und doch," fährt Kehr fort, „finden sich schon bei Sickel und
zuerst in seinen Acta Karolinorum Ansätze zu einer Art von urkund-
licher Quellenkunde". Er hätte hinzufügen können, daß sie in
den „Römischen Berichten" in der bedeutendsten Weise aufgenommen
sind. Genug, eben solche erstrebt Kehr, — „indem er an die Arbeiten
Sickels anknüpft" — unter erneuter Kontrolle der Itinera diplomatica
I
j[56 K. Brandi, ürkundcnforschung
und der Archive selbst, und alle Welt weiß, daß dieses Streben nicht
vergeblich gewesen ist.
Was aber die Erhaltung der Tradition betrifft, so steht — um ein
naheliegendes Beispiel zu nehmen — bekanntlich auch die sichere
Beherrschung der tironischen Noten auf wenig Augen. Muß man nicht,
geradezu dringend wünschen, daß sich neue Organe, neue Kreise öffnen
für solche Dinge? Meine Mitherausgeber werden vermutlich noch
Stellung nehmen zu einzelnen Einwendungen, die man an ihre Studien
über die tironischen Noten geknüpft hat, — aber beide Untersuchungen
lehren doch, daß selbst in dem so lange bevorzugten Stammlande der
Diplomatik noch fruchtbare Arbeit zu tun ist. Und dasselbe lehrt,
hoffe ich, auch die in diesem Heft vorgelegte Arbeit über die „Capella",
die ausgehend von dem Interesse an der karolingischen Zentralver-
waltung, sich zu einem so wichtigen Beitrag zur Geschichte des Königs-
gutes und der Eigenkirche ausgewachsen hat, daß wir ihr die methodisch
verwandte Untersuchung über „Forestis" beigesellt haben, obwohl die Be-
ziehung zur Urkundenlehre hier nur in der systematischen Aufarbeitung
der bislang vielfach Schwierigkeiten machenden Forstprivilegien liegt.
Eben diese Arbeiten führen mich aber zum Schluß noch auf etwas
anderes. Unsere Einführung zum ersten Heft des Archivs klingt in
die Erklärung aus, daß wir „alle Arbeiten begrüßen über Wesen und
Bedingungen urkundlicher Quellen; nicht minder solche, die aus der
vollkommenen Beherrschung dieser besonderen Bedingungen auch der
materiell historischen Forschung dienen." Die Fühlung mit der all-
gemeinen Geschichte ist darin deutlich genug gewahrt. Denn auf
diese, nicht auf irgendeine Seite der geschichtlichen Interessen, muß
es bei einer glücklichen Entwicklung der Hilfswissenschaften ankommen.
Unsere urkundlichen Quellen im weitesten Umfange zu kennen, nach
ihrer besonderen Natur zu betrachten und zu beurteilen, und dadurch
ihre sichere Benutzung nach Möglichkeit zu erleichtern, das ist das Ziel.
Auf der einen Seite also eine Fülle von alten und neuen Aufgaben,
auf der anderen Seite der ernstliche Wille zu unserem Teil an ihrer
Lösung mitzuwirken. Verdient das angesichts der doch wahrlich an
unseren deutschen Universitäten nicht allzu lebhaften Tätigkeit auf
diesem Gebiete noch Tadel? Ist es wirklich so nutzlos oder gar
schädlich, wie Herr Uhlirz glauben machen will, daß wir versuchen,
Arbeiten dieses Geistes, die sonst in Monographien, Zeitschriften ver-
schiedenster Art und Akademieabhandlungen zerstreut sein würden, zu
einer Sammlung zu vereinigen?
Forschungen zu Karolinger Diplomen
von
M. Tangl
I. Tironiana und Konzeptfrage
Seit Ostern 1907, dem Zeitpunkt, da ich meine Arbeit über die
Tironischen Noten in den Urkunden der Karolinger als meinen Beitrag
zum Eröffnungsheft dieser Zeitschrift abschloß, hatte ich teils selbst
Gelegenheit, manche Beobachtung neu oder an besseren Überlieferungs-
formen zu machen, teils erschienen Arbeiten und Besprechungen, mit
denen mich auseinanderzusetzen ich für nötig halte.
1. Bei einer Reihe von Diplomen — meist italischen, daneben auch ein
paar französischen -- standen mir zunächst nur Handpausen und Nach-
zeichnungen zur Verfügung. Ich habe sie von vornherein nur als Notbehelfe
jbezeichnet und mich bei ihrer Verwertung meist vorsichtig gefaßt. Von
mehreren dieser Urkunden konnte ich mittlerweile die Originale selbst
'einsehen und dabei eine Beobachtung machen, die mich nicht allzusehr
jüberraschte.^ Auch nicht eine dieser tiandzeichnungen war völlig zu-
verlässig; alle gaben sie die Noten entweder nicht genau oder nicht
vollständig wieder, ohne daß ich daraus einen Vorwurf gegen die
Jänner ableiten möchte, die sich mit Eifer und Gewissenhaftigkeit an
ihrer schwierigen Aufgabe versuchten. Die ohnedies so häufig schlecht
erhaltenen Noten sind unter dem Pauspapier nicht mehr ausreichend
zu sehen. Vor allem aber ist es gar nicht möglich, diese Schrift-
zeichen, bei denen es auf jede Kleinigkeit entscheidend ankommt,
richtig wiederzugeben, ohne selbst ihrer kundig zu sein, und selbst
die Nachzeichnung des Kundigen unterliegt noch gewissen Bedenken.
Indem er sogleich zu einer Deutung vorzudringen strebt, ist er wohl
^ Für Karl d. Gr. und Ludwig d. Fr. halte ich jetzt diese Nachträge im wesent-
lichen für beendet. Von Lothar I. an werde ich aber eine Reihe von Diplomen noch
nachzuprüfen haben und ich muß daher weitere Nachträge auf diesem Gebiet mit
dem Fortschreiten der Diplomata-Ausgabe schon jetzt in Aussicht stellen.
168 ^- Tangl
versucht, zweifelhafte Zeichen im Sinne seiner Lesung festzulegen.
Ein Ecke statt der Rundung, eine gerade statt der Wellenlinie oder
umgekehrt, und der Sinn ist verändert, die Nachprüfung unmöglich.
Selbst von der Hand des mit der Notenschrift Vertrauten ist die Nach-
zeichnung daher nur als Notbehelf hinzunehmen,, wenn der üble Er-,
haltungszustand oder das die Noten halb verdeckende Siegel eine
andere Reproduktion ausschließen. Sonst aber dürfen als Grundlage
für Lesung und Kontrolle nur die Photographie und ihre technisch
möglichst vollendete Vervielfältigung dienen, und zwar eine Reproduk-
tion, welche die Noten im Rahmen des ganzen Rekognitionszeichens
wiedergibt. Es ist dies einer der wenigen Punkte, in denen ich mich
mit Jusselin nicht verstehe. Seine ausgezeichnete Arbeit über die
Tironischen Noten in den Urkunden der Merovinger ist erst durch die
prächtige Lichtdruckausgabe dieser Diplome durch Lauer und Samaran
voll benutzbar geworden; denn bei seinen eigenen Reproduktionen
dieser allerschwierigsten Noten hatte er den Benutzer von der Mit-
prüfung der Scheidung zwischen Noten und Schnörkeln von vorn-
herein ausgeschlossen.^
Ich werde im folgenden noch Veranlassung nehmen, auf diese
Reproduktionsfragen zurückzukommen. Jetzt wende ich mich zunächst
den Einzelheiten zu. Die Urkunden sind wieder kurz nach der zweiten
Auflage von Mühlbachers Regesten, die bis 814 nach den Nummern
der Neuausgabe in den Monumenta Germaniae zitiert.
M. 612 für Cambray, Or. Lille. Nach dem Kontext stehen die Noten
Hon-fri-dus scribere iussit. Es ist wohl der rhätische Graf Hun-
frid, der 823 als Königsbote erwähnt wird (vgl. Simson, Ludwig d. Fr.
1, 203). Die Art der Buchstabenverbindung läßt für die erste Silbe
die obenstehende, etwas abweichende Lesung gesichert erscheinen.
Für die an Vermerken arme erste Zeit Ludwigs d. Fr. ist dieser Zu-
wachs willkommen.
M.740 für Niederaltaich, Or. München. Die Lesung dieser Noten,
soweit sie über Sickels Entzifferung hinausging, hatte ich „nur ver-
mutungsweise und mit allem Vorbehalt" gegeben. Nach nochmaliger
Einsicht in das Original kann ich für die Worte „Prumia monasterio
actum" mit Bestimmtheit eintreten, und zu gleicher Deutung war un-
abhängig von mir F. Rueß in München gelangt, auf dessen Besprechung
^ Maurice Jusselin, Notes Tironiennes dans les diplomes, M^rovingiens. Bibl.
de l'ecole des chartes, 1907, 68,1—28. Ph. Lauer, Cli. Samaran, Les diplomes
originaux des Merovingiens, Fac-similes phototypiques avec notices et transcriptions,
Paris 1908. Vgl. meine Anzeige beider Arbeiten im Neuen Archiv 34, 310—313.
Auf einen wichtigen neuen Ertrag beider Werke komme ich bei Erörterung der
Konzeptfrage noch näher zurück.
Forschungen zu Karolinger Diplomen 169
meiner Arbeit ich unten näher eingehe. Das Ungewöhnliche des Ver-
merks (Datum und Actum) erklärt sich aus dem Auftreten eines sonst
nicht nachweisbaren Rekognoszenten und aus dem Schriftbestand des
Originals. Eine erste Hand schrieb den Kontext. Sigibert fügte die
I^ekognition bei und Hirminmar die Datierung, deren Jahres- und Orts-
angaben ihm in den Noten des Rekognitionszeichens vorgeschrieben
waren. Ohne Verstoß ging es dabei trotzdem nicht ab, denn der Kaiser-
name und das „octavo" des Regierungsjahres stehen auf starker Rasur.
M. 831 für den Grafen Boso, Or. Parma. Die Auflösung war nach
einer Nachzeichnung gegeben. Die Einsicht des Originals ergab als
kleine Bereicherung um das Wörtchen „ita". Der Vermerk lautet also
„magister ita dictavit et scribere atque firmare iussit".
M. 872 für Suniefredus, Or. Carcassonne. Zu diesem Diplom teilte
mir Jusselin eine in den letzten Worten stark abweichende Auflösung
mit, in der ich eine gute alte Bekannte wiederfand, meine erste eigene
Deutung, die ich schon vor Jahren als nach meiner Überzeugung nicht
haltbar aufgegeben hatte. Ich habe ihm die Gründe für meine Ent-
scheidung auseinandergesetzt und muß es jetzt ihm überlassen, ob er
trotzdem auf die Sache noch zurückkommen will. Ich werde dann,
da ich ihm jetzt nicht vorgreifen will, meine Ansicht verfechten.
M. 931 für die Kanoniker von Langres, Or. Chaumont. Hier hatte
ich mich, da mir nur eine Nachzeichnung zur Verfügung stand, von
vornherein vorsichtig ausgedrückt, und mein Mißtrauen war gerecht-
fertigt. Die Noten lauten nach Einsicht des Originals nicht „magister
impetravit et firmare iussit", sondern „magister ita fieri iussit".
M. 963 für Fulbert, Or. Dijon. Auch hier lag mir nur eine Nach-
zeichnung vor. Das Original ergibt für den letzten Satz der Noten-
schrift „magister Hugo fieri et firmare iussit" eine kleine Berichtigung.
Von der Note „magister" ist nichts zu sehen, und von „Hugo" steht nur
die erste Silbe mit der schwer zu erklärenden Endung „e" (verkürzt aus
Hugo ipse?) da. Der Name ist trotzdem wohl gesichert.
fl Die neue Beobachtung ist aber deshalb von Wichtigkeit, weil sie
auch einer neuen und viel befriedigenderen Lesung der Noten in M. 986
Bahn bricht. Hier war seit jeher die erste Note der letzten Reihe ein
Stein des Anstoßes, einen brauchbaren Sinn zu gewinnen (vgl. meine
Ausführung a. a. 0. S. 129). Kopps und Sickels Lesung „his" gab keinen
Sinn und mein „vel" keinen guten. Die Deutung der Note als die
Silbe „hu" entspricht aber nicht nur dem Schriftbestande am aller-
besten (Eckung des ersten Ansatzes, nicht Rundung wie bei „vel") und
gibt, auch hier als abgekürzte Schreibung für den Namen des Kanzlei-
vorstandes genommen, eine vollauf befriedigende Lösung: „Hugo ipse
sigillavit, magister ambasciavit".
I
170 M. Tangl
Die Vermerke aus der Kanzlei Ludwigs d. Fr. vermehren sich end
lieh noch durch eine erst im 12. Jahrhundert entstandene Rheinaue;
Fälschung auf den Namen Ludwigs d. Deutschen, M. 1402, die abe
über den Trümmern eines durch Rasur getilgten Diploms Ludwigs d. Fr
geschrieben ist. Die Rasur hatte damals vor dem Siegel Halt gemacht
das als Beglaubigung auch für das neue Machwerk dienen sollte
heute aber abgefallen ist und die Reste des echten Rekognitions-
Zeichens erkennen läßt. Diesen Sachverhalt hatte schon Sickel irr
Anzeiger für Schweizerische Geschichte N.F. 5, 1874, S. 40 festgestell
und dort auch die Lesung der Noten gegeben: „magister ita scri-
bere iussit". Eine nähere Einreihung der zerstörten Urkunde laß
sich daraus leider nicht gewinnen , da sich ähnliche Vermerke ir
früherer wie späterer Zeit finden.^
Einige nicht unwichtige Nachträge habe ich zu den Noten in der
Diplomen Lothars L zu bieten.
M. 1107 für Arezzo, Or. ebenda (Rodmundus notarius advicem Agil-
mari). Im fast ganz zerstörten Rekognitionszeichen sind noch die
Noten erhalten „ad vicem Agil[mari]" und .,Remigius magister"
Die beiden letzten Worte sind gegenüber dem Faksimile, das mir bisher
zu Gebote stand, neu, und sie reihen unser Diplom in die Gruppe der
Urkunden ein, die ich S. 140 f. meiner früheren Arbeit besprochen hatte.
M. 1127 für Suitgar, Or. Chaumont. Hier hatten die beiden Nach-
zeichnungen nicht genügt, eine zuverlässige Lesung zu verbürgen, und
ich muß daher das, was ich a. a. 0. S. 141 als gesichert oder doch
wahrscheinlich feststellen zu können glaubte, stark berichtigen. Die
Noten lauten „Rodmundus notarius ad vicem Hilduini Daniel
iu beute". Daniel, der in der letzten Zeit Ludwigs d. Fr. seit 836 als
Rekognoszent erscheint, ist dann vereinzelt auch noch unter Lothar 1.
tätig; die Diplome M. 1095, 1105, 1135, 1136 und 1139 sind von ihm
rekognosziert. Der Name ist genau so geschrieben wie in M. 994,
dessen Faksimile ich a. a. 0. S. 132 mitteilte, die Lesung kann daher
einem Zweifel nicht unterliegen. Leider ist der Erhaltungszustand des
Diploms an der Stelle des jetzt abgefallenen Siegels so wenig gut, daß
es mir weder bei Bearbeitung des Originals, noch an der Hand einer
Photographie, die ich durch die große Güte des Herrn Pierre Gauthier,
Archivars der Haute-Marne, erhielt, bisher möglich war, die wenigen
Noten zu entziffern, die rechts vom Rekognitionszeichen und Siegel-
^ Ich war auf diese Urkunde längst aufmerksam geworden und hatte sie mir
zur Bearbeitung für ein Tafelwerk über Urkundenfälschungen zurechtgelegt. Gerade
das aber hat verschuldet, daß ich sie bei meiner zusammenfassenden Arbeit über
die Tironischen Noten übersah.
Forschungen zu Karolinger Diplomen 171
schnitt stehen. Die letzte von ihnen dürfte wahrscheinlich sigillavit
jheißen. Es wäre dies bis jetzt die erste von Rodmundus rekognoszierte
|üfkunde, in der die Berufung auf den ihm übergeordneten Notar Re-
jmigius fehlte. Tatsächlich aber ist dieser Name auch hier vertreten,
iund zwar im Chrismon, das Rodmundus seiner Rekognition voran-
Istellte. Doch auf diese Frage der Noten in den Chrismen der Diplome
Lothars I. muß ich unten noch näher eingehen.
Für Diplome Lothars II. kann ich nur ganz geringfügige Nachträge
»ieten. In M. I3ll, Or. Parma, ist der Rekognition „Grimblandus re-
[iae dignitatis cancellarius recognovi" die Note „ego" vorangestellt;
in M. 1319, Or. Parma, endet die Datumzeile, wie ich schon an dem
'aksimile festgestellt hatte, in Notenschrift „actum Dodiniaco villa in
dei nomine feliciter amen. Von großem Interesse war mir dagegen
die Beobachtung, die ich in Chaumont am Originaldiplom Karls III.
Itür die Kirche von Langres, M. 1740, machen konnte. In vollstem
pegensatz zu dem, was ich über den Niedergang der Kenntnis der
'Notenschrift in der ostfränkischen Kanzlei seit den 50er Jahren des
). Jahrhunderts und ihr Aufhören unter den Nachfolgern Ludwigs des
Deutschen ausgeführt hatte, stehen hier im Rekognitionszeichen die
tadellos korrekt geschriebenen Noten „domnus Imperator fieri
lussit hoc preceptum", das Wort preceptum ganz genau nach der
Forschrift für preceptor CNT. 6, 28 geschrieben. Ich nahm daraufhin
iTiein Material für Karl III. und Arnulf nochmals vor und kann nur
'/ersichern, daß dies der einzige Ausnahmefall ist, den ich bisher nach-
mweisen vermag. Das Diplom stammt aus der kurzen Zeit, da Karl IIL
mch über Westfrancien gebot (es datiert aus Schlettstadt, 887 Januar 15),
ind die Erklärung dürfte wohl darin zu suchen sein, daß ein west-
ränkischer Schreiber die Urkunde mundierte und die Noten einfügte.^
2. Einen besonderen Nachtrag habe ich über Noten in Fälschungen
md Nachzeichnungen zu geben. Als ich S. 134 meiner Abhandlung
iie Osnabrücker Fälschung auf den Namen Ludwigs d. Frommen,
A. 870, besprach, urteilte ich, daß der Fälscher es über einen stümper-
laften Versuch, die Rekognition des Durandus nachzuahmen, nicht
linausbrachte. Und solange man die echte Rekognition des Durandus
ils Vorbild heranzieht, wird man kaum zu einem anderen urteil ge-
angen können. An welche andere Vorlage sollte man aber denken
')ei einer Rekognition, deren Fassung „Durandus diaconus ad vicem
Tidugisi" lautet? Als ich aber kurz darauf die Osnabrücker Urkunde
vieder zur Hand nahm, gingen mir über den wahren Sachverhalt ganz
^ Die vom gleichen Tag datierten und ebenfalls in Chaumont verwahrten
)riginaldiplome M. 1742 und M. 1743 tragen keine tachygraphischen Vermerke.
I
172 ^- Tangl
anders die Augen auf.^ Das Erkenntnismittel zum richtigen Vergleich
das Rekognitionszeichen des unter Lothar I. führend tätigen Remigius
hatte ich allerdings erst a. a. 0. 138, Fig. 25, veröffentlicht. Denn dieses
lag tatsächlich dem Fälscher vor, und dieses hat er nicht stümperhaft
sondern schier meisterhaft nachgebildet. Der Vergleich, den jedermanr
an dem genannten Faksimile meiner Abhandlung und dem Lichtdrucl^
bei Jostes, die Kaiser- und Königsurkunden des Osnabrücker Landes
Taf. III, selbst anstellen kann, wirkt einfach verblüffend.
Der Gewinn, der aus dieser Erkenntnis fließt, ist aber für die
Kritik dieser schwierigen Gruppe recht beachtenswert. Wir könner
zunächst an einem vollkommen zweifellosen Beispiel die Mosaikarbei
eines Fälschers verfolgen, was manche bis heute noch immer nicht zu-
geben wollen. Für die eine Zeile der Urkunde allein sind zwei ganz
getrennte Vorlagen benutzt, die echte Fassung der Rekognition eine«
Diploms Ludwigs d. Fr. und das echte Rekognitionszeichen einer Ur-
kunde Lothars I. Doch damit ist die Verwertbarbeit dieser Erkenntnis
noch nicht abgeschlossen. Wie gelangte der Fälscher überhaupt zui
Kenntnis eines Lothar-Diploms? Osnabrück lag gar nicht im Reichsteil
der Lothar L zugefallen war. Die Erlangung einer Urkunde dieses
Herrschers wäre trotzdem auf ganz normalem Wege möglich gewesen
denn wir kennen auch sonst aus dieser und der folgenden Zeit Fälle
daß sich Kirchen Besitz, den sie in anderen Teilreichen hatten, vor
den betreffenden Fürsten gewährleisten ließen. Ich erinnere nur an dk
Bestätigung ostfränkischen Besitzes an St.-Denis durch Ludwig d. Deut-
schen. Weniger harmlos gestaltet sich die Erklärung schon, wenn wii
an das Beispiel Fuldas denken. Hrabanus Maurus, damals Abt vor
Fulda, hatte sich nach dem Tode Ludwigs d. Frommen die Bestätigung
der Immunität nicht beim ostfränkischen König Ludwig d. Deutschen
sondern beim Kaiser geholt und mußte diesen Schritt mit seinei
Absetzung büßen. Könnte sich aus einem ähnlichen Verhältnis be
Osnabrück die offenkundig feindselige Haltung Ludwigs d. Deutscher
gegen dieses Bistum erklären? Es gibt aber noch eine dritte Deutung;
die ich den beiden anderen vorziehe. Die eine der Osnabrückei
Fälschungen auf den Namen Karls d. Gr., MG. DK. 271, weist durcl
die Rekognition „Jacob ad vicem Radoni", und durch sie ganz allein
auf Benutzung einer echten für einen italischen Empfänger aus-
gestellte Vorlage. Erklärt sich nicht aus gleicher Quelle am besten di(
Verwertung der Rekognition des Remigius, die am häufigsten ebenfalls
in Urkunden für italische Empfänger begegnet? Der Osnabrückei
* Ich habe darüber schon ganz kurz im Arch. f. Stenographie 1907, S. 31(
berichtet.
Forschungen zu Karolinger Diplomen 173
rälscher hatte, darüber kann ein Zweifel gar nicht bestehen, Kenntnis
l;on einer bestimmten ürkundengruppe für einen italischen Empfänger.
:r verwertete sie als Ergänzung und Aufputz zu den echten Vorlagen,
die ihm aus dem Archiv seiner eigenen Kirche zur Verfügung standen,
and es ist in hohem Maße wahrscheinlich, daß er davon nicht bloß
n dem einen Falle, bei der Karl-Fälschung, Gebrauch gemacht hat.
Abschriftliche Überlieferungen pflegen sonst, wenn sie nicht wie
Sachzeichnungen oder Fälschungen vorsätzlich darauf ausgehen, ihre
v^orlagen möglichst nachzuahmen, für die Kritik der äußeren Merkmale
jnd damit auch der Tironischen Noten nicht in Betracht zu kommen.
:ine Ausnahme macht hier unter den deutschen Gruppen das in der
ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts angelegte Chartular von Kempten,
Jessen Eigentümlichkeiten Sickel in den Acta Karolinorum 2, 307f. eine
ibenso anziehende wie sachkundige Ausführung gewidmet hat. Der
khreiber gibt Chrismen, Monogramme und Rekognitionszeichen so
>ut wieder, daß wir sie auf die Kanzleiherkunft der Vorlagen hin noch
eststellen, und Tironische Noten so leidlich, daß wir sie in einzelnen
-allen noch lesen können. Da ein guter Teil der älteren Diplome noch
n Originalen vorliegt, vermögen wir sein Verfahren auch nachzu-
)rüfen, und dabei erscheint er, wie Sickel schon nachwies, allerdings
ils wunderlicher Heiliger, unleugbare Gewandtheit und völliges Ver-
tagen, Gewissenhaftigkeit und freie Willkür stehen sich fast unvermittelt
gegenüber. Neben dem getreulich nachgebildeten Chrismon Hirminmars
nalt er in anderen Fällen phantastische Chrismen und schöne Mono-
gramme auch dann, wenn die Originale weder die eine noch die andere
^ier aufweisen. Ein sicheres allgemeines Urteil ist daher nicht zu ge-
winnen, und die Kritik muß bei jeder Urkunde von vorne einsetzen.
[3ei einem Diplom Ludwigs d. Fr., dem nur im Chartular überlieferten
V\. 978, hatte Sickel in sein Regest Acta Karol. 2, 196 L. 361 einen
\mbasciatorenvermerk (Adalardo ambasciante) aufgenommen und da-
lurch angedeutet, daß er ihn als ausreichend gesichert im Chartular
estgestellt zu haben meinte.^ Da zu der Zeit, da ich vor 15 Jahren
las Chartular zum erstenmal bearbeitete, die Tironischen Noten für
nich noch ein Buch mit 7 Siegeln waren, beschloß ich, das Chartular
lach dieser Richtung jetzt nachzuprüfen, was mir durch Übersendung
ies Chartulars und der Originale durch das Kgl. Bayr. Reichsarchiv in
V\ünchen ermöglicht wurde, wofür ich hier meinen ergebensten Dank
lusspreche. Ich berichte darüber hier zusammenfassend und kann
iber Sickels Ergebnisse doch hinausführen. Mit der Vergleichung der
^ Es ist ein Irrtum Mühlbachers, wenn er in seinem Regest zu 978 in dem
Adalardo ambasciante" die wörtliche Wiedergabe des Vermerkes sah.
I
174 M. Tangl
Originale müssen wir hierbei beginnen. In M. 883 sind die Notei
„Guntbaldus abba impetravit" wenigstens teilweise brauchbar nach
gebildet; in M. 921 wäre das „Fulco impetravit" auch im Chartula
allein noch zulesen; dagegen sind in M. 929 die Noten des Original:
„Hilduinus abba fieri iussit" im Chartular gar nicht nachzubilden ver,
sucht. In M. 1377 ist der Vermerk „domnus rex fieri iussit" mit seh
wechselndem Glück wiedergegeben; „rex" genau, „iussit" ohne tiilfs
zeichen, „fieri" im Grundzeichen, an dem nichts zu verderben wai
genau, während das Hilfszeichen durch ein Minuskel-n ersetzt ist un(
„domnus" ebenso durch ein d. Nun gehe ich zu den im Chartula
allein überlieferten Diplomen über.
M. 889, Rekognoszent Hirminmar, keine Noten.
M. 899, Rekognoszent Hirminmar, dessen Rekognitionszeichen nu
in diesem einen Fall wirklich gut nachgebildet ist, während sich de
Schreiber sonst damit kaum ernste Mühe gab. Rechts vom Rekognitions
zeichen stehen die Worte „Tatto impetravit", und zwar „Tatto'
( — es war der Abt von Kempten selbst — ) in Minuskel, „impetravit
darunter in tadelloser Note. Daß man in Kempten zu Anfang de;
12. Jahrhunderts noch in der Lage war, Noten zu entziffern, ist gan:
ausgeschlossen. Es ergibt sich daher, daß der Name des Abtes aucl
im Original in Minuskel geschrieben gewesen sein mußte — in der
Diplomen Ludwigs d. Fr. übrigens nicht der einzige Fall. ^ Links davor
stehen aber zwei Linien zu je 4 und 3 Noten, mit denen ich allerdings
nichts anzufangen weiß. Die erste und zweite wären, wenn korrek
geschrieben, als Grund- und Hilfszeichen für „idem" zu lesen; aber es
bedurfte gar nicht großer Entstellung, um ein ursprüngliches „fieri'
hierzu umzugestalten; diese Deutung wird nämlich dadurch wahrschein-
lich, weil die nächstfolgende Note das einfache und nicht gut zu ver-
derbende Zeichen für „ac" darstellt: also „fieri ac". Die letzte Not(
der ersten Reihe, die bereits unmittelbar an „Tatto" sich anschließt, ist
wie sie hier steht, ein c oder e; ein Punkt darüber würde die Lesung
„ego" ergeben. In der unteren Reihe steht zunächst ein „per" (ob abei
zuverlässig, ist eine große Frage) und nach ihm zwei so entartete Ge-
bilde, daß ihnen gegenüber jede Liebesmüh umsonst ist. Als er-
schwerender umstand kommt noch hinzu, daß der Schreiber, wie wii
an zwei Beispielen gleich sehen werden, lange nicht alle Noten, die ei
wirklich vorfand, wiedergab. Die Trümmer und Verderbungen lassen
— ganz vermutungsweise — etwa auf einen Vermerk schließen: „N
precepit (iussit) fieri ac ego ipse (— „per" wäre als Entstellung von
* In m. 735 ist „sigillari", in M. 849 „Judit" in Minuskel geschrieben.
I Forschungen zu Karolinger Diplomen 175
ipse" durch die Hand eines Unverständigen gar nicht so undenkbar — )
'Sigillavi?].
M. 978, Rekognoszent Bartholomaeus. Im Rekognitionszeichen ist
|ine erste Reihe von Noten bestimmt auf den Namen Bartolomeus zu
feuten; von der notwendigen Fortsetzung dieser ersten Eintragung ist
|W nichts zu sehen. Die Deutung der unteren Reihe hat schon
iickel vollkommen zutreffend erkannt; es steht „Ad-a-la-ardus ci-a'',
jlso „Ad-a-la-ardus [ambas]cia[vit]".
M. 990, Rekognoszent Hirminmar, keine Noten.
M. 998, Rekognoszent Hirminmar, im Rekognitionszeichen eine
'eihe von Noten, die bei aller Entstellung (— alle Noten sind hier
anz sinnlos mit Punkten versehen — ) doch auch als ursprünglichen
lestand wenigstens ahnen lassen „Adalaardus ambasci[avit]". Die
ttellung des Seneschall Adalhard, die wir schon bisher als einflußreich
lannten, gewinnt durch diese neu hinzutretenden Zeugnisse noch mehr
n Bedeutung.
M. 1364, Ludwig d. Deutsche. An den Schluß des Kontextes reihen
ich 3—4 Notengebilde, deren vorletztes ein sicheres und sogar nicht
jbel gelungenes „fieri" ist, und deren letztes sich auch in der Ver-
ierbung des Grundzeichens und dem Fehlen des Hilfszeichens noch
Is „iussit" erkennen läßt. Das Vorhergehende können wir allerdings
ur erraten, stehen hier aber bei der häufig wiederkehrenden und in
irer Fassung fast feststehenden Art dieser Vermerke auf ziemlich ge-
ichertem Boden. Der Vermerk muß gelautet haben: „ipse (dies im
rsten Zeichen vielleicht sogar noch kenntlich) domnus rex fieri
issit". Wie wir sehen, hat der Ertrag das Durcharbeiten dieses selt-
amen Chartulars doch noch sehr gelohnt.
3. M. Jusselin hat in seiner kleinen Studie „L'invocation mono-
rammatique dans quelques diplomes de Lothaire I^' et de Lothaire II,
loyen Age 1907, p. 318—322, die fast gleichzeitig mit meiner Arbeit
schien, und in seiner, oben schon genannten, größeren zusammen-
issenden Abhandlung über die Tironischen Noten in den Merovinger
iplomen der Entwicklung der monogrammatischen Invokation und
irer Ausstattung mit tachygraphischen Zeichen eingehende Aufmerk-
ämkeit gewidmet. Im ersten Punkt zwar geht er meines Erachtens
i weit, wenn er die Grundform des Chrismon aus der Note für
Christus" herleiten will. Den Ausgangspunkt für dieses Zeichen
ildete das einfache Kreuz, und auch in die Weitergestaltung ist ohne
nlehnung an bestimmte Notengebilde erfolgt. Wohl aber sind einzelne
hrismen in Merovinger Diplomen mit Noten ausgestattet, die in den
/orten „in nomine Christi" oder in ähnlichen Wendungen die sym-
Olische Invokation verstärken und so die Vorläufer der späteren
I
176 ^- '^^"g^
Verbalinvokation bilden. In Karolinger Diplomen wird dieser Braud
zunächst nicht übernommen, er lebte aber — dies hat Jusselin seh;
verdienstvoll nachgewiesen — nach mehr als hundertjähriger unter
brechung, und allerdings nur vorübergehend, durch einen bestimmter
Notar in der Kanzlei Lothars I. und IL wieder auf, durch denselber
Rodmundus, auf dessen Noten in der Rekognition ich S. 140L ein*
gegangen war. Nur schrieb er in seinen Chrismen jetzt Dinge, dii
uns für die Kenntnis der Kanzleiorganisation viel willkommener sind
Sowohl in den Lichtdruckfaksimiles von M. 1143 und 1175, KöiA. VII. ^
und 5, wie im Pariser Original iV\.1114 stellte Jusselin in den Chrismei
die beiden Namen „Remigius" und „Rodmundus" fest, und be
dem ersten noch den Vermerk „Signum habebat".^ Ähnliche Ver
merke kann ich jetzt noch von anderen Originalen beibringen.
M. 1108, Or. Arezzo, Rekognoszent Remigius, aber der Kontext voi
Rodmundus; im Chrismon vor dem Kontext „Remigius. Rodmundus'
M. 1107, Or. Arezzo, Rekognoszent Rodmundus; im Chrismon zwei
mal „Remigius".
M. 1127, Or. Chaumont, Rekognoszent Rodmundus; im Chrismo
„Remigius".
Die Zeugnisse dafür, daß Rodmundus in einem Abhängigkeits
Verhältnis zu Remigius stand (vgl. S. 141 — 142 meiner Arbeit) habe
sich durch Jusselins Beobachtung und meine Nachträge, deren eine,
ich schon oben S. 170 zu M. 1107 erwähnte, verdoppelt, ja die leitend
Stellung des Remigius wird durch die Worte „Signum habebat" sogg
bestimmter bezeichnet Nur kann ich hier der Deutung Jusselins allei
dings nicht folgen. Er sieht in dem Vorrecht, das dem Remigius hit
zugesprochen wird, das der Verwahrung des Siegels (das heißt als
für diese Zeit des Siegelringes, des anulus). Dieser Ansicht muß ic
aber doch entgegenhalten, daß „Signum" als Bezeichnung für das Sieg«
in den Diplomen Karls d. Gr. und Ludwigs d. Fr. auch nicht durch ei
sicheres Beispiel bezeugt ist und auch später noch zu den größte
Seltenheiten gehörte.^ Was „Signum" wirklich bedeutet, kann nach de
massenhaften Zeugnissen von Diplomen, Privaturkunden und Formula
Sammlungen kaum zweifelhaft sein, es ist die Unterschrift, oder de
Zeichen, das sie vertrat. Und diese Deutung trifft wohl auch hier zi
„Remigius hatte das Signierungsrecht". Es stimmt dies zu der Beol
* im Rekognitionszeichen bericlitigt Jusselin unabhängig von mir und mit m
übereinstimmend die Lesung Sickels „et magister" zu „Remigius magister".
' MG. DOII. 231 für Reggio „signo nominis sigillare". DOII. 257 für Parn
„nostro signo eam iussimus insigniri". DHU. 42 für Moellenbeck „nostrae imagin
signo iussimus insig'niri". DHU. 54 für den Grafen Adalbero „signo nostrae im
ginis imprimi iussimus".
1
Forschungen zu Karolinger Diplomen 177
ichtung, die ich schon an den Diplomen Ludwigs d. Fr. machen konnte,
lur die leitenden Notare, unter Ludwig Durandus und Hirminmar und
mter Lothar L später Remigius, haben das Recht, die Urkunden zu
lekognoszieren. Die unter ihnen tätigen Männer sind auf die Her-
Ltellung der Reinschriften des Kontextes beschränkt oder haben sich,
/enn sie ausnahmsweise als Rekognoszenten eintreten, stets auf die
löhere Weisung, die sie hierzu ermächtigte, zu berufen.
4. Meine Arbeit über die Tironischen Noten in den Urkunden der
Urolinger hatte sich bisher warmer Anerkennung und beifälliger Be-
prechung durch zwei Männer zu erfreuen, die ihrem Forschungsgebiet
lach in ganz verschiedenen Lagern stehen. Ferdinand Rueß zählt seit
angen Jahren zu den allerbesten Theoretikern auf dem Gebiet der
'ironischen Noten, ^ aber der Beschäftigung mit Urkunden steht er
Brner. Gerhard Seeliger gehört zu unseren ersten ürkundenforschern,
ber nicht eben nach dieser Seite der äußeren Merkmale hin.^ Beide
[lachten von dieser ihrer wissenschaftlichen Richtung aus aber auch
/orbehalte und Einwendungen, Rueß gegen einzelne Lesungen, Seeliger
;egen die Folgerungen, die ich im letzten Abschnitt hinsichtlich der
Unzleiorganisation gezogen hatte. Auf die Bedenken nach der einen
Ae nach der anderen Richtung will ich hier näher eingehen.
In DK. 6 will Rueß als letztes Wort noch ein „ordinamus" lesen.
:h verstehe sehr wohl, was er dafür hält (es ist das letzte Gebilde
echts unten auf der von mir S. 90 gebotenen Reproduktion), und will
iicht leugnen, daß die Deutung naheliegt. Aber ich muß doch bitten,
der der Erfahrung des ürkundenmenschen zu trauen. Aus der Ver-
[leichung mit anderen Rekognitionszeichen desselben Eins ergibt sich
liämlich mit voller Sicherheit, daß es sich lediglich um Schnörkel
landelt, deren Notenähnlichkeit ich allerdings nicht in Abrede stelle.
I^us den gleichen Gründen muß ich auch den Vorschlag ablehnen,
'n DK. 154 noch ein „consiliarius" zu lesen.
In M. 846 muß ich die Bedenken von Rueß gegen die Richtigkeit
Jer Lesung der letzten Note mit „domni nostri" als berechtigt an-
erkennen. Die CNT. 47, 66 sehen für diese Verbindung in der Tat
in etwas anders gestaltetes Zeichen vor, das auch in der von mir
üngst veröffentlichten „Messe in Tironischen Noten" wiederholt be-
>egnet.^ Aber die Verbindung ist nach meinem Urteil eine zwar selb-
* Seine Besprechung im Archiv f. Stenographie, 1908, S. 59 — 62. Ich bekenne
lankbar und gerne, daß ich seinen beiden Arbeiten über die Funktionen des Punktes
iind über die Endungen der Tironischen Noten viel verdanke.
' ^ Zur Geschichte der fränkischen Kanzlei im 9. Jahrhundert. Histor. Viertel-
ahrsschrift, 1908, S. 75—86. Besprechung des Eröffnungsheftes unserer Zeitschrift.
^ Arch. f. Stenographie, 1907, S. 336ff., mit Faksimile.
AfU II 12
I
178 M- Tangl
ständige, aber ganz korrekte; der Schriftbestand von d + n, der Note
für „domnus" ist belassen, aber das n in die Lage gebracht, die es
sonst in dem Zeichen für „noster" einnimmt, und ebenso die Stellung
des Hilfszeichens der bei „noster" entsprechend gestaltet.
Bei M. 883 ist der Einspruch, den Rueß, nicht gegen die Lesung
wohl aber gegen die Erklärung des tiilfszeichens erhebt, berechtigt,
Es bedarf in der Tat nicht der künstlichen Deutung die ich vorschlug
sondern wir haben es lediglich mit einem nicht ganz regelmäßig ge-
ratenen a zu tun.
In iV\.920 bezweifelt Rueß die Lesung „sigillare" und wäre geneigt
an ihrer statt „agnoscere" einzusetzen. Aber was er für das Grund-
zeichen „ad" ansieht, ist überhaupt keine Note, sondern Schnörkel:
die wirkliche Note für „sigillare" sitzt, der photographischen Repro-
duktion unzugänglich, unter dem Siegelrand verborgen.
In M. 971 sind die Bedenken gegen die Lesung des Namens Droge
hinfällig; in iV\.1343 ist die Lesung „pro me ambasciavit" statt „ad me
ambasciavit", die ich selbst mit in Erwägung gezogen hatte, nach dem
Schriftbestand wohl ausgeschlossen, ebenso wie in M. 1358 die vor-
geschlagene Ergänzung „domnus rex prae scripta ita fieri iussit"
Auf die Vorschläge, die Rueß zu den auch- von mir als zweifelhaft
und unfertig bezeichneten Lesungen der Noten in M. 977 und 1006
macht, komme ich noch zurück.
Seeliger bestreitet die Richtigkeit der Folgerungen, die ich aus
den Vermerken für die Organisation der Kanzlei gezogen hatte; ei
glaubt feststellen zu können , daß „ordinäre" und „ambasciare" in
wesentlich gleicher Bedeutung verwendet würden, nur zeitlich sich ab-
lösten, und daß daher meine Schlüsse aus dem „ordinäre" auf e\m
ständige amtliche Befehlsgewalt des Erzkaplans irrig sind. Mit dieser
Ansicht trennt er sich auch von Bresslau, der (Arch. f. Urkunden-
forschung 1, S. 179 Anm.) sein urteil dahin zusammenfaßte, daß dei
Ausdruck „ordinäre" wie „praecipere" und „fieri iubere" doch sicher-
lich auf eine amtliche Befehlsgewalt hinweist.
Bevor ich auf diese Einwendungen näher eingehe, muß ich übei
die Beobachtungen berichten, die ich im September 1908 an dem Original
von DK. 150 in Arezzo machen konnte. Gegenüber der dunklen Ab-
tönung des Lichtdruckfaksimües bei Pasqui, Documentidi Arezzo 1, 28,
der auch meine davon genommene Reproduktion entsprach, war ich
aufs angenehmste überrascht, ein selten schön erhaltenes Original-
diplom vor mir zu sehen, von dessen hellem Pergament sich die
Schriftzeichen vollkommen scharf abheben. Die Lesung, der ich schon
früher als der wahrscheinlichsten zuneigte, fand dabei ihre volle Be-
stätigung: es steht mit größter Deutlichkeit da „Fulradus abba"'
Forschungen zu Karolinger Diplomen 179
andererseits aber kann ich versichern, daß das „ambasciavit", das Erben
!n seiner gleich zu nennenden Arbeit aus einer Nachzeichnung noch
lerauslesen wollte, nicht dasteht, daß auf die Note „abba" nur noch
Schnörkel folgen. Der Photograph hatte sich hier seiner Aufgabe aus-
!,iahmsweise schlecht entledigt, der Faksimilator aber noch immer
A^eniger gut.
Und nun bitte ich, mir bei der Ordnung folgender Gruppen von
Vermerken zu folgen:
DK. 6 für St. Denis: ro gante Fulrado.
DK. 136 für St. Denis: Fulradus ambasciavit.
DK. 104 für Hersfeld: ordinante domno meo Karolo rege Fran-
corum et Fulrado abbate.
DK. 139 und 140 für Fulda: Folradus ordinavit.
DK. 150 für Arezzo: Fulradus abba.
DK. 131 für Nonantula: Folradus abba et Rado.
DK. 123 für St. Marcel bei Chalon: Rado precepit.
DK. 122 für St. Germain-des-Pres: advicem ipsius Radoni ordi-
nantis.
Die Ausdrücke „ordinäre, praecipere" oder die mit ihnen gleich-
wertige einfache Einsetzung des Namens bilden die Regel, ob nun
jpulrad allein, neben dem König, vor seinem ünterbeamten Rado oder
dieser allein, vom König oder von Fulrad ermächtigt, genannt ist. Die
Ausnahme mit dem „rogare" und dem hier zum erstenmal angewandten
„ambasciare" bilden zwei Urkunden für St. Denis, dessen Abt Fulrad
Iwar, an deren Zustandekommen er daher in erster Linie selbst als
Partei mitwirkte und bei denen daher eine ausdrückliche Berufung auf
peine amtliche Befehlsgewalt sehr verständig vermieden wurde.
Ich überlasse es ruhig dem ürteüe der Fachgenossen, ob diese
geschlossene Scheidung der beiden Gruppen zugunsten der Auseinander-
haltung der Begriffe, die Bresslau und ich vertreten, oder zugunsten
'der Einwendungen Seeligers spricht.^
Einen Kernpunkt bildet der Vermerk in DK. 206: „Hildebaldus
episcopus ita firmavit". Seeliger sucht ihn als zufälliges Eingreifen
des Erzkaplans hinwegzudeuten. Erben (Mitteil. d. Instituts f. österr.
;GF. 29, 158) bezweifelt zunächst die Sicherheit der Lesung; denn die
Note „firmavit" sei nach meinem eigenen Geständnis unregelmäßig ge-
schrieben. Gewiß! Worin besteht aber diese ganze Unregelmäßigkeit?
Darin, daß der Schreiber das Grundzeichen steiler als gewöhnlich stellte,
^ Außer Betracht bleiben DK. 94 für St. Denis: „ordinante domno" und DK. 116
für Fulda: „domno rege ordinante". Es war selbstverständlich, daß in jedem Fall
der König ohne jeden Mittelsmann als Auftraggeber eintreten konnte.
12*
I
180 M- Tangl
um die für dieses Verbum charakteristische Kreuzung des Grund
Zeichens mit der Endung „vit" leichter herstellen zu können, währenc
die in den Vermerken häufig begegnende Form „firmare" umgekehr
bei stärkerer Schrägstellung des Grundzeichens sich glatter schrieb
Weiter: die Note für „ita" bedeute auch „inter". Richtig! Soichi
doppeldeutige Noten begegnen in den Commentarii zu Dutzenden. Auf
gäbe des Bearbeiters ist es dann eben, sich für die durch den Zu
sammenhang des Satzes geforderte Deutung zu entscheiden. Wenr
aber jemand durchaus statt des sinngemäßen „ita firmavit" das sinn
lose „inter firmavit" lesen will, so kann ich ihn daran natürlich nich
hindern. Die Anzweifelung der Note „episcopus", bloß deshalb wei
der die Nominativform kennzeichnende Punkt sich schon mit de
folgenden Note berührt, ist ernster Widerlegung vollends nicht wert
Aber Erben hat noch ein anderes Eisen im Feuer: Der Erzkaplan Hilde
bald von Köln war ja seit 795 schon Erzbischof, er wird hier als(
wohl gar nicht gemeint sein (ohne daß Erben allerdings einen gleich-
zeitigen Bischof Hildebald nachzuweisen vermochte). Die Tatsache kennt
ich; ich trage sie seit 13 Jahren in der Verfassungsgeschichte dei
mittelalterlichen Kirche vor und kann daher die Belehrung entbehren
Ich weiß aber auch, daß in einem offiziellen Aktenstück wie den:
Testament Karls d. Gr. vom Jahre 811 Hildebald an der Spitze dei
fränkischen Metropoliten und gleich diesen als „episcopus" erscheint.
An der Zuverlässigkeit der Lesung und an der Richtigkeit der Be-
ziehung auf den Erzkaplan Hildebald von Köln kann daher ein Zweifel
nicht bestehen.
Seeligers Bedenken muß ich aber vor allem noch entgegenhalten,
daß ich meine Beweisführung doch nicht ausschließlich auf die tachy-
graphischen Vermerke in den Urkunden begründet, sondern auf das
Zusammenstimmen mit anderen Beobachtungen aufgebaut habe, die
teils längst bekannt waren, deren einzelne ich aber zuvor in meiner
Arbeit über das Testament Fulrads von St. Denis neu beigebracht
hatte. Dieses Beweismaterial verstärkt sich mir aber von Monat zu
Monat. Wenn Seeliger nur zugeben will, daß sich unter Ludwig d. Fr.
„die Ansätze zur Bildung eines Zwischenamts zwischen Kanzleichef
und Notaren finden lassen, so kann ich ihm jetzt, nachdem ich die
Untersuchung über Kanzlei und Schreiber unter Ludwig d. Fr. ab-
geschlossen habe, versichern, daß sich diese dreifache Abstufung
zwischen Kanzleivorstand], Rekognoszenten und Ingrossatoren ganz
' Einhardi Vita K'aroli iW. SS. rr. Germ. ed. quinta p. 35; ganz abgesehen von
anderen Belegen aus dem 8. und 9. Jahrhundert, daß Metropoliten auch sonst wieder-
holt einfach als episcopi aufgeführt werden.
Forschungen zu Karolinger Diplomen 181
'^ ;charf erkennen und durchführen läßt; und für Lothar I. haben allein
'^le Nachträge, die ich oben bieten konnte, das Material verdoppelt.
Veit entfernt daher, meine Ausführungen irgend einzuschränken oder
;twas von ihnen zurückzunehmen, sehe ich der letzten Entscheidung,
lie erst nach voller Aufarbeitung der Karolinger Urkunden möglich
lein wird, mit der festen Zuversicht entgegen, daß sie nicht gegen
nich, sondern gegen die alte Lehre fallen wird, für die Seeliger eine
^anze gebrochen hat.
5. Ein minder freundlicher Kritiker ist der Entzifferung der Tiro-
lischen Noten im ersten Band der Karolinger Diplome und später auch
neiner Monographie in W. Erben entstanden.^ Es ist für mich vor
^llem eine Ehrenpflicht, die ich dem Andenken Engelbert Mühlbachers
chuldig bin, den Vorwurf zurückzuweisen, daß er „den Tironischen
Hüten nicht die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt hat".^ Das
lat er im Gegenteil in vollem Maße getan. Nur hatte er in seinem
:ntwicklungsgange keine Möglichkeit gehabt, selbst sich in diese
"l ebenso schwierige wie abgelegene Materie einzuarbeiten , und dem
'ünfziger war neben wichtigeren und allgemeineren Aufgaben, die
hm als Abteilungsleiter oblagen, die Pflege dieses Sondergebietes
licht mehr zuzumuten. Es zählte aber zu seinen ersten Schritten,
^ laß er sich der Mitarbeiterschaft des überhaupt besten Tironianisten
"liVilhelm Schmitz' versicherte. Leider starb dieser in dem Augenblick,
ils die erste Sammlung photographischer Aufnahmen zur Absendung
m ihn bereit lag; und nun war innerhalb der Abteilung guter Rat
illerdings teuer. Da erbot ich mich unter freudiger Zustimmung
"•Vlühlbachers, der bei den damals geführten Beratungen eine Aus-
schaltung dieses immerhin grundlegend wichtigen Stoffes ausdrück-
ich als ganz ausgeschlossen erklärte, die Aufgabe auf mich zu nehmen,
ch erinnere mich noch lebhaft seiner hellen Freude über den ersten
)edeutenden Erfolg, die Entzifferung des Entwurfs einer unbekannten
Jrkunde Karls d. Gr. (jetzt DK. 115), die Erben für gut hielt, bei Zu-
sammenstellung der Ergebnisse der Bearbeitung der Tironiana einfach
otzuschweigen. Daß es dann infolge der räumlichen Trennung der
Arbeit ohne Irrungen nicht abging, daß von den Noten eines Diploms
nir keine Photographie geschickt, daß in einem anderen Falle meine
Entzifferung nicht abgewartet und in einem dritten (bei DK. 206) die
ergänzende Lesung, die ich einsandte, als die alleinige in den Text
angesetzt wurde, bedauere ich selbst lebhaft, habe diese Verstöße
|| ^ Erben, Zur Herausgabe der Karolingerurkunden. Histor. Zeitschr. 99, S. 531
'ois 547; Derselbe, Zu den Tironischen Noten der Karolinger Diplome, Mitteil. d.
nstituts f. österr. GF. 29, S. 153—162.
' Histor. Zeitschr. 99, S. 539.
I
182 ~ M- Tangl
auch in den Nachträgen zur Ausgabe offen einbekannt und dort unc
in meiner Monographie berichtigt. Aber alles das zusammengenommer
berechtigte Erben noch nicht entfernt zu dem schroffen Urteil, dal
Mühlbachers Edition „hinter den berechtigten Erwartungen der Paläo
graphen zurückgeblieben sei" (a. a. 0. S. 538). Von seinen eigener.
Ausstellungen muß ich die eine zu DK. 21 glatt zurückweisen. Wenr
er hier vor „Baddilo subscripsi" noch ein „ego" zu erblicken glaubte
so gelangte er dazu nur dadurch, daß er sich statt der Photographic
bei tierquet der Nachzeichnung bei Kopp bediente, während sich auj
der Photographie und schärfer noch aus dem Original ergibt, dal
Kopp einen bedeutungslosen Schnörkel irrig nachgezeichnet hatte
Zugeben muß ich dagegen, daß in DK. 218 das Wort „imperii" zu er-
gänzen ist; die Auslassung entsprang hier einem entschuldbaren Ver-
sehen.^
In seiner zweiten Arbeit hat Erben zu meiner Monographie in
allgemeinen nicht Stellung genommen, im einzelnen aber bei gani
wenigen Urkunden Abänderungsvorschläge gemacht, die ich mit einei
einzigen Ausnahme gänzlich ablehnen muß. Über zwei dieser Diplome
DK. 150 und 206, habe ich mich oben S. 178 — 179 schon ausgesprochen
Die Deutung der Noten in der Nachzeichnung von DK. 154 hab(
ich selbst nur als eine wenigstens mögliche Vermutung erklärt. Waj
Erben darüber hinaus S. 157 — 158 vorbringt, versteigt sich, wi(
schon sein erster Versuch (Histor. Zeitschr. S. 538 A. 2) in ein von der
wirklich vorliegenden Schriftzeichen sich so entfernendes wildes Raten
daß es sich nicht verlohnt, darauf auch nur mit einem Wort einzugehen
Wichtig und wertvoll sind nur seine Bemerkungen zu M. 977. Hiei
hat er an dem, was ich vorsichtig gelesen hatte,* nichts verbessert
wohl aber mit Erfolg und zweifellos auch mit Recht ergänzt. An^
unteren Rand der ausgebrochenen Siegelstelle steht in der Tat die nac^
ihrer unteren Partie einwandfrei feststellbare Note „archiepiscopus"
Die weitere Ergänzung des folgenden zu „et ar[chicapella]nus"^ ha
wenigstens eine nicht geringe Wahrscheinlichkeit für sich, obwohl icl
auch jetzt immer noch versichern muß, von dem möglichen Schrift-
* Lechner hatte in die Zettel unseres Apparates die in den „Kaiserurkunder
in Abbildungen" und sonst schon vorliegenden Lesungen eingetragen. Ich prüfte
meinerseits die Texte der Kaiserurkunden mit den Faksimiles und hielt mich bei
den Stücken, deren Lesung ich abschließend richtig fand, nicht länger auf. Lechnei
aber war das Unheil .begegnet, in der Übertragung auf unsere Zettel das Werl
„imperii" auszulassen, das ging als Fluch dieser bösen Tat in die Ausgabe über.
Rueß vermutet „archidiaconus", was aber dem Sinne nach hinter archiepis-
copus ausgeschlossen ist.
«
Forschungen zu Karolinger Diplomen 183
pestand dieses Wortes nur das sicher zu sehen, was ich als Lesung
|30t „ar . . . nus".
Allerdings hat Erben die Commentarii zu Hilfe gerufen und dort
:NT. 108, 77 die Note für „capella" entdeckt. Aber dabei ist ihm ein
deiner Unfall begegnet; „capella" steht allerdings im Register bei
Schmitz, in den Noten selbst aber folgen sich die Zeichen für „capra,
paprea, caprella, capriola!^ Ob Gaislein oder königHche Kapelle, die
Noten für beide müßten sich unter allen Umständen recht ähnlich
sehen; gerade das aber kann ich bei aller Mühe nicht finden. Ich
lü^/iederhole, die Vermutung Erbens hat hier trotzdem viel für sich.^ Es
'ist sogar möglich, daß Hirminmar bei dem Fehlen einer wirklichen
l^orschrift für die Noten von capella, capellanus, archicapellanus, und
(bei dem Bestreben, die fatale Verwechslung mit der caprella zu ver-
jmeiden, zu diesen in Gestalt und Anordnung merkwürdig unsicheren
[Noten gelangte. Die notwendige Folge der Lesung ist dann in der
'Tat, daß in der jetzt ausgebrochenen Stelle der Name Drogos von
[Yletz gestanden haben müßte.
Gegen Erbens letzten Ergänzungsvorschlag kann ich wieder nur
Widerspruch erheben. Es handelt sich um die Noten von M. 1006,
in denen ich das eine Wort vor „impetravit" nicht enträtseln zu können
erklärte. Erben fand hier folgendes: Der Empfänger der Urkunde hieß
„Helis", er war wohl zugleich derjenige, auf den sich das „impetravit"
des Vermerks bezog. Den Namen aber vermochte der Notar Meginarius
nicht so ohne weiteres zu schreiben und sah sich daher in den Com-
imentarii um Hilfe um. Dort entdeckte er, daß Elisaeus eigentlich recht
[ähnlich laute, und setzte daher die Note für den alten Propheten,
JCNT. 121, 72 in den Vermerk ein. Diese Erklärung „behebt" nach
JErbens Urteil „alle Zweifel".
Meginarius schrieb seinen eigenen Namen korrekt und gewandt
silbentachygraphisch und war, wie fast alle seine Kollegen, gewohnt,
auch andere Eigennamen so zu behandeln. Und dieser Mann soll auch
nur einen Augenblick ratlos vor der Schreibung zweier der alier-
einfachsten und bekanntesten Silben „he— lis" gestanden haben? Aber
gesetzt, es wäre der Fall gewesen, und er hätte sich aus den Com-
mentarii Rat erholt, wie kam er dazu, sich nicht die beiden in enger
^ Diese Fanggrube in den Commentarii ist mir längst bekannt, ich bin vor
Jahren selbst in sie hineingefallen.
^ Sein geringschätziges urteil über die Güte der von mir S. 128 gebotenen
Reproduktion dieser Noten muß ich aber sehr entschieden zurückweisen. Die Photo-
graphie dieses Rekognitionszeichens ist gerade sehr scharf, und die Vervielfältigung
blieb hinter ihr nicht zurück. In der Wiedergabe dessen, was das Original über-
haupt zu sehen gab, ist hier das irgend Mögliche geleistet.
I
184 ^' Tangl
Nachbarschaft CNT. 17, 23 und 17, 50 verzeichneten Silben nachzu-
schlagen, sondern auf den alten Propheten zu verfallen und sich dabei
gerade für die Note von „Eliseus" und nichtf ür die sprachlich ungleich
näherliegende und in den Commentarii in untrennbarer Nachbarschaft
mit ihr verbundene von Elias zu entscheiden? Und auch dies wieder
vorausgesetzt, wie konnte er dann die Note nur so fehlerhaft in seine
Urkunde malen? Denn das ist in der Tat der Fall: Die Note für Eliseus
ist über dem „e" als Grundzeichen, die in unserem Diplom aber über
dem „s" aufgebaut; das ist zwischen beiden der nicht nebensächliche,
sondern grundsätzliche Unterschied. Behoben ist hier jeder Zweifel nur
darüber, daß der von Erben vorgeschlagene Ausweg nicht gangbar ist.
Viel beachtenswerter hat hier Rueß eine andere Vermutung auf-
gestellt, indem er wieder an das „scriptum" anknüpfte, das schon
Sickel lesen zu können gemeint hatte, das auch ich erwogen, aber
wegen des darüberstehenden Punktes neben der Endung „tum" für
ausgeschlossen erklärt hatte. Rueß macht jetzt geltend, daß der Punkt
als weiteres Endungszeichen trotzdem seinen sehr guten Sinn habe
und zwar als bekannte Bezeichnung für die Partikel „que". Der Ver-
merk würde also nach dieser Lesung lauten: „Meginarius notarius
atque diaconus ad vicem Hugonis recognovi scriptumque impetravi et
ego sigillavi". Sprachlich fällt er ganz aus dem üblichen Rahmen, das
ist übrigens bei manchem anderen auch der Fall; auch die sachliche
Deutung ist mir noch recht zweifelhaft; aber dem Schriftbestande nach
ist es die bestgegründete Vermutung, die hier bisher ausgesprochen
wurde. j
6. Über die Konzeptfrage in Karolinger Diplomen mitzusprechen,'
glaube ich ein gewisses Anrecht dadurch erworben zu haben, daß ich
die zwei einzigen bisher überhaupt bekannten Konzepte auffand, einen
Parteientwurf und einen tatsächlich in der Reichskanzlei entstandenen
Vorakt.^ Jüngst ist es nun Jusselin in seiner oben schon genannten
Monographie über die Tironischen Noten der Merovinger Diplome ge-
lungen, auf der Rückseite eines Diploms Chlodowechs III. vom 1. No-
vember 691 Noten zu entziffern, die sich als vollkommenes Seitenstück
zu meinem Fund aus der Kanzlei Karls d. Gr. herausstellen.^ Auch
hier ist es nur ein bestimmter Satz, der dann wörtlich mitten in der
Disposition der Urkunde verwertet ist. Immerhin ist unser Bestand an
solchen Konzepten noch kläglich gering und bleibt weit hinter dem
^ Der Entwurf einer Königsurkunde aus Karolingerzeit, Neues Archiv 25, S. 345ff.
Der Entwurf einer unbeitannten Urkunde Karls d. Gr. in Tironischen Noten, Mitteil,
d. Instituts f. österr. GF. 21, S. 344ff.
' Lichtdruckfaksimile der Urkunde und des Vermerks jetzt bei Lauer und
Samaran Taf. 20 und Taf. 40. Nr. 9.
Forschungen zu Karolinger Diplomen 185
;urück, den wir von älteren Privaturkunden kennen. Wohl aber wird
;ich gerade aus der Spärlichkeit der Funde die Behauptung aufstellen
assen, daß diese Art der Anbringung von Konzepten oder Vorakten
luf der Rückseite der Diplome einen nur ganz vereinzelten Ausnahme-
all gebildet haben kann. Es müßten uns sonst bei der doch nicht
; geringen Zahl erhaltener Originaldiplome ungleich mehr solcher Bei-
spiele vorliegen. Diese Konzepte müssen, wenn ihre Anfertigung über-
laupt beliebt wurde, entweder unabhängig von dem Pergament des
)iploms auf Wachstafeln oder Einzelblätter geschrieben, oder sonst
mders als in dorso angebracht worden sein.
Aus dem reichen ürkundenbestand von St. Gallen sind uns
wenigstens ein paar Fälle noch überliefert, daß dieser Vorakt auf den
schadhaften Teil oder den Rand der Vorderseite des Urkunden-
oergaments geschrieben wurde. Ich habe darüber in meinen Schrift-
afein III, Erläuterung zu Taf. 71b berichtet und damals schon die Be-
Tierkung beigefügt, daß wir kaum einen Maßstab zur Beurteilung haben,
n welchem Umfange solche Randvermerke etwa sonst vorgenommen
A^urden, da sie, nachdem sie ihren Zweck erfüllt, durch Beschneiden
des Pergaments entfernt werden konnten. Ich hatte ebenfalls damals
schon darauf aufmerksam gemacht, daß die St. Galler Urkunde, die ich
auf Taf. 72b reproduzierte, einen solchen, die Oberschäfte der ersten
^eile köpfenden Schnittrand aufweist.
Diese Beobachtung konnte ich aber im Laufe der Jahre an älteren
Karolinger Diplomen in immer reichlicherem Maße machen. Wir kennen
i'me Reihe von Urkunden, die im Laufe der Jahrhunderte verstümmelt,
deren Ränder zugestutzt, deren Datierungen fortgeschnitten wurden,
und wir suchen die alleinige Erklärung hierfür selbstverständlich in
den Verwahrungsverhältnissen dieser Urkunden. Anders aber muß sich
unser Urteil gestalten, wenn wir wahrnehmen, daß sonst besterhaltene
Diplome und solche für verschiedenste Empfänger solche Beschneidung
gerade des oberen Randes zeigen, und wenn die fortgesetzte Beobachtung
hier geradezu zu dem Ergebnis führt, daß dies eine regelmäßige
Erscheinung bei fast allen Urkunden Karls d. Gr. und bei der
Mehrzahl jener Ludwigs d. Fr. ist.^
' ^ Ich verweise hier einfach zunächst auf die Faksimiles, an denen jedermann
die Beobachtung selbst nachprüfen kann. Pippin: Pal. Soc. 120, Herquet, Spec.
dipl. Fuld. T. 3. Karlmann: KüiA. III. 1, Dipl. imp. 1. Karl d. Gr.: KüiA. I. 2—5,
III. 2—3, VII. 1, Diplomi imp. e reali I. 2. Pal. Soc. 237, Album pal. 16, Musee des arch.
depart. 2, Herquet T. 4, 5. Ludwig d. Fr.: KüiA. I. 6, III. 5—7, Diplomi imp. e
reali 3 — 5. Eine systematische Beobachtung dieser Frage war bei der Bearbeitung
jder Karolinger Diplome von vornherein leider noch nicht angestellt worden, ich
versuchte aber, sie nach Möglichkeit nachzuholen, und kann für Ludwig d. Fr. allein
I
186 M- Tangl
Das kann natürlich nicht durch die verschiedenen Urkunden
empfänger, sondern das muß einheitüch in der Kanzlei selbst geschehe!
sein, und diese Maßregel, bei der z. B. in KöiA. III. 3 ganze Buchstaben
teile der ersten Zeile samt einem guten Stück des Chrismon dem Messe
oder der Schere zum Opfer fielen, muß einen bestimmten Zweck ge
habt haben.
Ausdrücklich auf fortgeschnittene Vorbemerkungen zu schließen
blieb trotzdem mißlich, weil uns aus anderen ürkundengruppei
kein Beweis vorlag, daß gerade an dieser Stelle ein Vorakt für di(
Ausfertigung der Urkunden angebracht wurde. Dieser Beweis ist abe
jetzt erbracht; er findet sich in der neuen prächtigen Lichtdruck
Publikation von Bonelli, Codice paleografico Lombardo, Mailand 1908
Die Urkunde vom 7. Januar 792 zeigt den ganzen oberen Rand ent-
lang eine Linie mit Tironischen Noten, die Chatelain entzifferte, unc
die sich als Vorakt zur unten folgenden Urkunde herausstellen.
Ich trage kein Bedenken, aus der Handhabe, die uns diese Ur-
kunde bietet, nunmehr bestimmtere Schlüsse aus der besprochener
Beschaffenheit der älteren Karolinger Diplome zu ziehen, und anzu-
nehmen, daß auch bei ihnen konzeptartige Aufzeichnungen den oberer,
Rand entlang geschrieben und nach Ausfertigung der Diplome durch
Wegschneiden des Randes entfernt worden sind. Bresslaus Vermutung,
daß Vollkonzepte für diese frühere Zeit nicht anzunehmen sind, würde
dadurch nur eine weitere Stütze erhalten.
IL Die Osnabrücker Fälschungen
1. Die Überlieferung
Das 17. und zum Teil auch noch das 18. Jahrhundert bedeuten
in der Urkundenliteratur Deutschlands die Zeit der sogenannten bella
diplomatica, in denen die Verbindlichkeit aus alter Zeit noch fort-
wirkender Rechtsverhältnisse durch Zurückgreifen auf die ihnen zu-
grundeliegenden Rechtstitel, eben die alten Urkunden, geprüft und je
nach dem Parteistandpunkt ebenso erbittert angefochten wie hartnäckig
verteidigt wurde. Die Deduktionsschriften, wie wir diese Erzeugnisse
prozessualer Urkundenkritik benennen, wurden nach zwei Richtungen
ausdrücklich noch folgende Originale namhaft machen: M. 552, 623, 740, 746, 747,
767, 803, 804, 833, 844, 846, 847, 883, 918, 921, 927, 929, 933, 971, 977, 986. In
M. 993 sind solche Spüren kaum wahrzunehmen und nur in M. 618, 740, 963 sind
die Oberschäfte sicher nicht durch Beschneiden gekürzt und ebenso nicht in den
Faksimiles KüiA. III. 4, Musee des arch.-dep. 3, Mon. graph. IX. 1.
Forschungen zu Karolinger Diplomen 187
lin wertvoll. Bei aller Unzulänglichkeit des eigenen Rüstzeuges, bei
bft kindischem Fehlgreifen im Urteil, wiesen sie doch der erwachenden
Jrliundenkritik mit der Zeit bessere Wege; andererseits gaben sie viel-
:ach die erste Kunde von Inhalt, Fundstätten und Überlieferungsformen
i^er ältesten Urkunden.
Ein solcher Urkundenkrieg war, obwohl nicht gerade vor gericht-
lichem Forum, seit dem Jahre 1717 auch über Osnabrück entbrannt.
Seinen Ausgangspunkt bildete die wunderliche Bestimmung einer an-
geblichen Urkunde Karls d. Gr., daß dem Bischof von Osnabrück, wenn
immer der deutsche Kaiser für seinen Sohn eine griechische Prinzessin
'zu freien gedächte. Mühen und Ehren der Werbefahrt zufallen, und daß
zu diesem Zweck in Osnabrück stets griechische und lateinische Schulen
blühen sollten. Von hier ausgehend, verbreitete sich der Streit über
Gründung und Ausstattung der Osnabrücker und auch der übrigen
Kirchen im Sachsenlande. Im Verlauf dieses Streites brachte im
jJahre 1721 der Jesuit Henseler die ältesten Königsurkunden für Osna-
'brück in für seine Zeit sehr sorgfältiger Weise zum Abdruck, und zwar
wenigstens einen Teil von ihnen nach den ihm vorliegenden Ur-
schriften. Seither waren die Urkunden verschollen, obwohl die Hoff-
nung, daß sie einst wieder auftauchen würden, niemals schwand und
'noch durch einen bestimmten Anhaltspunkt genährt wurde.
Der im Jahre 1855 verstorbene Osnabrücker Weihbischof Lüpke
ihatte in sein nach dem Jahre 1815 erworbenes Exemplar von Sandhoffs
'„Antistites Osnabrugenses" bei einzelnen und zwar gerade den ältesten
Urkunden Verbesserungen „nach dem vor Augen gehabten Originale"
eingetragen. Zwischen 1815 und 1855 waren also wenigstens einzelne
der ältesten Urkunden noch vorhanden gewesen; wo aber waren sie
hingeraten? Nicht ins Kgl. Staatsarchiv zu Osnabrück, wo sich aus der
ganzen ziemlich zahlreichen Gesellschaft nur eine Urkunde Ottos I.
(DO. I. 212) befindet, und nicht ins Archiv des Domkapitels, wo die
Reihe der Königsurkunden erst mit einem Originalmandat Fleinrichs IV.
beginnt, nicht in andere sorgsam durchsuchte deutsche Fundstätten.
Ein Gerücht wies auf persönliche Verwahrung in des Bischofs Hand.
An dieser Stelle wurde der Besitz dieser Urkunden niemals ausdrück-
lich abgeleugnet, aber noch weniger je offen zugestanden. So blieben
Henselers Dissertatio critico-historica und seine Urkundenabschriften,
zu denen nur noch Kopialbücher aus dem 15. und 16. Jahr-
hundert traten, die Grundlagen für Ausgabe und Textkritik der Osna-
brücker Urkunden, mit denen sich Sickel bei Bearbeitung dieser Gruppe
für den ersten und zweiten Band der Diplomata und Philippi bei seinem
Osnabrücker Urkundenbuch bescheiden mußten.
Anklagen zu erheben oder umständlich nach den Gründen dieser
I
188 ^' Tangl
in zäher, nahezu zweihundertjähriger Tradition festgehaltenen und fort-
gesetzten Urkunden verhehlung zu fragen, ist heute nicht mehr an-
Platze, seit der letzte Vertreter dieser Tradition, der im Herbst 1898
verstorbene Bischof Dr. Höting, dafür gesorgt hat, daß sie nach seinen
Tode in entscheidender Weise unterbrochen wurde. In seiner letzt-
willigen Verfügung bestimmte er, daß im Falle seines Todes die Ur-
kunden Herrn Professor Dr. Jostes (Münster) „und keinem anderen"
zur Bearbeitung angeboten werden sollten.^
Wir können es Jostes nicht genug Dank wissen, daß er die Be-
denken niederkämpfte, die ihn, den Germanisten, von dem Betreten
eines wenn auch benachbarten und durch eigene ernste Forschung,
vor allem durch seine Heimatkenntnis vielfach vertrauten, aber doch
teilweise fremden Gebietes abmahnten. Seine Ausgabe der „Kaiser-
und Königs- Urkunden des Osnabrücker Landes" in prächtigen, in
Originalgröße hergestellten Lichtdrucken, die während der Sedisvakanz
fertiggestellt wurde und dann als Widmung an den neuen Oberhirten
des Osnabrücker Sprengeis erschien, ist von uns allgemein als erlösende
Tat begrüßt worden und wird ihm stets zur Ehre angerechnet bleiben,
um so mehr als die Gabe viel reichhaltiger ausfiel, als wir zu hoffen
gewagt hatten. Nicht einzelne, sondern alle Königsurkunden, von
denen wir durch die Textüberlieferung überhaupt Kunde erlangt hatten,
sind noch in Urschriften erhalten: von Karl d. Gr. bis auf Heinrich IV.
ihrer 22. Daß Jostes überdies auch den einzigen bisher in Urschrift
bekannten Flüchtling aus dem Osnabrücker Staatsarchiv, die Urkunde
Ottos L vom 13. Juni 960 in sein Werk aufnahm, verdient nur volle
Zustimmung. In der Geschichte der Urkundenreproduktion gebührt
dem Werke das sehr beachtenswerte Sonderverdienst, daß es den
ersten Versuch darstellt, die Königsurkunden einer bestimmten Emp-
fängergruppe in geschlossener Reihe vorzuführen.
Nach dieser grundlegenden Publikation hat sich auch die Zitierung;
der Urkunden zu richten, die ich zunächst einzeln aufzähle; den-
Nummern nach Jostes sind die Zitate nach der Diplomata-Ausgabe der
Monumenta Germaniae, soweit diese reicht, ferner nach Philippis Osna-
brücker Urkundenbuch und die nach den Regestenwerken von Mühl-
bacher, Ottenthai und Stumpf angefügt.
* Vgl. die genaue Erklärung des Sachverhaltes durch den Osnabrücker General-
vlkariats-Sekretär Beckschäfer in der Wissenschaftl. Beilage zur Münchener All-
gemeinen Zeitung 1900 Nr. 86. Kurz zuvor hatte ebenda Nr. 70 Heinrich Finke die
Tatsache festgestellt, daß ihm der Bischof 1897 die beiden Urkunden Karls d. Gr. —
allerdings unter dem Siegel der Verschwiegenheit — zur Einsicht anvertraute. Für
die Vorbereitung des Bruches mit der bisherigen Tradition war auch dieser Schritt
— darin stimme ich Finke bei — schon von wesentlicher Bedeutung.
Forschungen zu Karolinger Diplomen 189
I. Karl d. Gr. 803 Dezember 19, DK. 271, Philipp! 1, 3 Nr. 3, Mühl-
bacher 406 (398).
II. Karl d. Gr. 804 Dezember 19, DK. 273, Philipp! 1, 5 Nr. 5, Mühl-
bacher 408 (401).
III. Ludwig d. Fr. 829 September 7, Philipp! 1, 10 Nr. 14, Mühlbacher
870 (841).
IV. Ludwig d. Deutsche 848 November 10, Philipp! 1, 17 Nr. 32, Mühl-
-^ bacher 1389 (1349).
Iw. Arnulf 889 Oktober 13, Philipp! 1, 42 Nr. 54, Mühlbacher 1829
H (1780).
Wmi Arnulf 889 Oktober 13, Philipp! 1, 44 Nr. 55, Mühlbacher 1830
ll (1781).
1 VIL Arnulf 889 Dezember 12, Philipp! 1, 45 Nr. 56, Mühlbacher 1841
' (1792).
VIII. Arnulf 895 Juli 16, Philipp! 1, 61 Nr. 75, Mühlbacher 1911 (1860).
IX. Otto I. 938 Mai 18, DO.L20, Philipp! 1, 68 Nr. 87, Ottenthai 76.
X. Otto I. 952 Juni 7, DO. 1. 150, Philipp! 1, 75 Nr. 95, Ottenthai 213.
XI. Otto I. 960 Juni 13, DO. L 212, Philipp! 1, 78 Nr. 98, Ottenthai 284.
I XII. Otto I. 965 Juli 15, DO. 1. 302, Philipp! 1, 81 Nr. 102, Ottenthal 404.
XIII. Otto I. 972 September 17, DO. L 421, Philipp! 1, 85 Nr. 107, Otten-
thal 554.
|XIV. Otto IL 975 April 25, DO. IL 100, Philipp! 1, 88 Nr. 109, Stumpf 648.
XV. Otto IL 977 Oktober 29, DO. IL 169, Philipp! 1, 90 Nr. 111, Stumpf
719.
KVL Heinrich IL 1002 Juli 28, DH.IL8, Philipp! 1, 105 Nr. 118, Stumpf
1314.
:V1L Heinrich IL 1023 Juli 27, DH. IL 491, Philipp! 1, 109 Nr. 128,
Stumpf 1807.
VIIL Konrad IL 1028 (Juni), DK. IL 123, Philipp! 1, 114 Nr. 133, Stumpf
1974.
klX. Heinrich III. 1051 Mai 25, Philipp! 1, 131 Nr. 147, Stumpf 2404.
|XX. Heinrich IV. 1057 Mai 26, Philipp! 1, 132 Nr. 149, Stumpf 2541.
XXL Heinrich IV. 1077 Dezember 30, Philipp! 1, 153 Nr. 182, Stumpf
2808.
:XIL Heinrich IV. 1079 Januar 27, Philipp! 1, 156 Nr. 183, Stumpf 2814.
XIIL Heinrich IV. 1079 März 30, Philipp! 1, 159 Nr. 185, Stumpf 2814a.
Gleichzeitig mit diesen wirklichen oder angeblichen Original-
'kunden tauchte aus dem Nachlaß des Bischofs Höting auch das
teste Chartular von Osnabrück aus dem Ende des 13. Jahrhunderts
if,^ das einen Teil unserer Urkunden enthält, nämlich I (f. 1), II (f. 2),
^ Die Eintragungen von erster Hand reichen bis 1289, die Nachträge setzen
89' mit 1298 ein.
I
190 M. Tangl
yil (f. 2 ), VIII (f. 50, IX (f. 8), X (f. 5), XII (f. 7'), XIV (f. 7), XVII (f. 4)
XXIII (f. 16). Von großer Wichtigkeit aber ist, daß das Chartular ar
Königsurkunden auch nicht um ein Stück mehr enthält, als wir au«
den noch vorhandenen Urschriften und den jüngeren ßberlieferunger
kennen. Wir gewinnen hier für den Ausgang des 13. Jahrhunderte
schon dieselbe Erkenntnis, wie aus dem Verzeichnis der Urkunden de«
Domarchives vom Jahre 1415, das Jostes im Anhang zum Text seine
Publikation abdruckte. Die Zeit für die Annahme größerer Verlusti
von Urkunden, die 1077 noch vorhanden waren, später aber ver
schwunden sein sollen, womit bisher bei der Kritik der Osnabrücke
Urkunden stark gearbeitet wurde, schränkt sich auf ziemlich genai
zwei Jahrhunderte ein und macht gegen vorschnelle Annahme größere
Verluste überhaupt vorsichtig.
Es gereicht mir endlich zur Freude, feststellen zu können, dal
der Wunsch, den ich unmittelbar nach dem Erscheinen der Publikatioi
von Jostes aussprach,^ in Erfüllung gegangen ist. Die Urkundei
werden heute im bischöflichen Generalvikariat in Osnabrück in vortreff
lieber Weise verwahrt und sind der Forschung ohne jede Schwierig
keit zugänglich. Ich selbst hatte mich, als mir im Herbst 1907 eim
Nachprüfung einzelner Beobachtungen an den Urschriften nötig schier
vollen Entgegenkommens und freundlicher Aufnahme durch den Hern
Bischof von Osnabrück, Dr. Hubert Voss, zu erfreuen, dem ich hierfü
meinen ergebensten Dank ausspreche.
Schon seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts standen sich in de
Kritik der Osnabrücker Königsurkunden Ankläger und Verteidiger gegen
über;^ und das allgemeine Urteil stellte sich seither insofern auf di
Seite der Anklage, als an völlige Rettung aller in Betracht kommendei
Urkunden heute wohl niemand mehr denkt. Auch über die Zahl de
gefälschten Urkunden hat sich eine herrschende Meinung heraus
gebildet: man rechnet zu ihnen sämtliche Karolinger Urkunden (I— Vlli
und noch zwei Urkunden Ottos I. (XI und XIII). Und dieses Urteil is
durch das Erscheinen der Publikation von Jostes nur gefestigt worden
während es früher über Einzelheiten noch schwankte. So erwog Philipp
für XXII und XXIII die Möglichkeit späterer Überarbeitung, währenc
^ Beilage zur Münchener Allgemeinen Zeitung 1899, Nr. 278: „Mögen die ür
künden aber auch fürderhin im Sonnenlicht der Forschung, jedem Berufenen frei un<
offen zugänglich, verbleiben! Dies unser ernster und dringender Wunsch."
^ Auf Einzelheiten für die frühere Zeit einzugehen, verlohnt nicht mehr; icl
verweise auf die Ausführungen von Jostes in der Einleitung zu seiner Ausgabe
der ich auch oben die wesentlichen Angaben über die Überlieferungsgeschicht
entnahm.
Forschungen zu Karolinger Diplomen 191
lundlach XXI verwarf.^ Und Diekamp brach noch gegen die Diplomata-
iUSgabe für die lange allein bekannte Urschrift von XI eine Lanze,^ ein
i'efsuch, dessen Haltlosigkeit er angesichts des neuen Vergleichsmate-
als als erster selbst zugegeben haben würde.
^ Einigkeit herrscht auch darüber, daß sich Fragen des Zehntstreites
lit Korvey und Herford wie ein roter Faden durch die Reihe der an-
efochtenen Urkunden ziehen, und daß hierin der, wenn auch nicht
inzige, so doch beherrschende Grund für die Entstehung der Fäl-
Ichungen zu suchen ist. Zweifel blieben nur hinsichtlich der Ent-
jtehungszeit. In diesem Punkte schloß Wilmans^ auf längere Zeit
inaus die Forschung mit der Annahme ab, daß die Fälschungen ein-
eitlich in den siebziger Jahren des 11. Jahrhunderts anläßlich des
ehntstreites entstanden, den damals Bischof Benno II. von Osnabrück
rfolgreich führte. Seiner Beweisführung schlössen sich im wesent-
Ichen auch Sickel bei Herausgabe der Ottonendiplome und Mühl-
acher bei Bearbeitung der ersten Auflage seiner Karolinger Re-
esten an.
Zu ganz anderen Ergebnissen gelangte Philippi bei Bearbeitung
es ersten Bandes seines Osnabrücker Urkundenbuches. Benno II. hat
;ach ihm durchaus in gutem Glauben gehandelt; denn die Arnulf-
ind Otto-Urkunden, die er im Zehntstreit vorlegte (V— VIII, XI, XIII),
|aben damals schon seit etwa einem Jahrhundert bestanden, ihre Her-
stellung oder Verunechtung falle dem Bischof Ludolf von Osnabrück
968—978), der früher als Notar und Kanzler in der Reichskanzlei gedient
atte, zur Last. Die gröberen, auf die früheren Karolinger lautenden
älschungen I— IV habe Benno noch gar nicht gekannt; sie gehören
Tst etwa der Mitte des 12. Jahrhunderts an.
Wenige Jahre später unternahm Georg Hüffer in seinen Korveyer
■tudien (1897) den eigenartigen Versuch, bei den Gründungsurkunden
er sächsischen Bistümer unter Preisgabe der überlieferten Form mög-
chst viel von ihrem Inhalt zu retten und als gute und zuverlässige
Tadition zu sichern. Ich komme auf den Gang seiner Beweisführung,
1 die er auch die ältesten Osnabrücker Urkunden einbezog, im nächsten
abschnitt näher zurück.
Zwei Jahre später erfolgte die entscheidendste Förderung, welche
ie Untersuchung der verwickelten Frage finden konnte, durch die
Veröffentlichung der Lichtdruckfaksimiles der Osnabrücker Urkunden.
^ Gundlach, Ein Diktator aus der Kanzlei Kaiser Heinrichs IV. Innsbruck
884. Exkurs S. 128 ff.
' Westfäl. ÜB. Supplement 68, Nr. 437.
^ Kaiserurkunden der Provinz Westfalen, 1. Bd., 1867; vgl. besonders die zu-
ammenhängende Darstellung S. 319—386.
I
192 M- Tangl
Jostes erklärte dabei, in die eigentliche Streitfrage, besonders ihre tech
nische Seite, nicht eingreifen zu wollen, aber mit seinem Herzen be
kannte er sich offen als warmen Anhänger der alten Osnabrücke
Tradition; und in der Wertung der Namensformen für die Urkunden
kritik sprach er, wie schon bei früherem Anlaß, so auch hier ge-
wichtig mit. Als neuen, sehr willkommenen und auch nach de
historischen Seite hin sehr vertieften Beitrag ließ er 1904 eine Unter
suchung über „die Münstersche Kirche vor Liudger und die Anfänge
des Bistums Osnabrück" folgen.^
Von selten der Historiker nahm zunächst Brandi zur neuen Er
kenntnisgrundlage Stellung in einer Anzeige der Publikation von Jostes
die sich zu einer umfangreichen und gehaltvollen Abhandlung aus
weitete, mit der ich mich im folgenden Schritt für Schritt auseinander
zusetzen habe.^ Sein Ergebnis ging dahin, daß der Ansatz von Wil
mans durch das Wiederauftauchen der Urkunden in der Hauptsache ein^
glänzende Rechtfertigung erfahren habe, daß die Fälschung im wesent
liehen einheitlich und unter Benno II. erfolgt sei, nur nicht ganz ii
einem Ruck, sondern in zwei oder drei durch eine Frist weniger Jahn
getrennten Absätzen, in die mitten hinein die Entscheidung Heinrichs IV
vom Jahre 1077 gefallen sei.
Auch Philippi nahm wieder das Wort zu „Bemerkungen zu der
unechten Urkunden Karls d. Gr. für Osnabrück",^ die er jetzt, wesent
lieh auf Grund der Kritik der äußeren Merkmale, von der späteren ir
die von ihm angenommene frühere Fälschungsperiode unter Bischo
Ludolf hinaufrückte.
Zu den Diplomen der sächsischen Kaiser aus der Osnabrückes
Gruppe veröffentlichte E. v. Ottenthai lehrreiche Beobachtungen.^ Bei
mehreren dieser Diplome, an deren Zuverlässigkeit wir auch bishei
nicht gezweifelt hatten, konnte er die Originalität durch die Fest^
Stellung der Schreiber nachweisen. Bei XII war in der Diplomata^
Ausgabe (DO. I. 302) auf Grund der Diktatuntersuchung ausgesprocher
worden, daß die Urkunde außerhalb der Kanzlei verfaßt worden sei
Diese Annahme erfuhr bei Prüfung des Originales durch die nicW
feststellbare Hand des Kontextes ihre volle Bestätigung. Ottenthai hat
aber auch die beiden Fälschungen XI und XIII in den Kreis seinei^
Untersuchung einbezogen und über sie ein Urteil gefällt, das sich
vollkommen mit Beobachtungen deckt, die ich unabhängig von ihm
^ Zeitschr. f. vaterländ. Gesch. u. Altertumskunde (Westfalens), 62. Bd.
* Die Osnabrücker Fälschungen, Westdeutsche Zeitschr. 19, 120—174.
* Mitteil. d. histor. Vereins z. Osnabrück 27, 245—265, 1903.
* Bemerkungen zu den Urkunden der sächsichen Kaiser für Osnabrück. Mitteil.
d. Instituts f. österr. G.-F., Erg.-Bd. 6, 25—40.
Forschungen zu Karolinger Diplomen 193
und noch vor Erscheinen seiner Abhandlung machen konnte. Ich
verde also hier sein Ergebnis, das ich wohl als unser gemeinsames
)ezeichnen darf, einfach zu übernehmen haben.
Der großen Freundlichkeit von Jostes verdanke ich es, daß ich
iie Urkunden zum Zwecke der Bearbeitung für die Ausgabe der Karo-
linger Diplome bei ihm im Juli 1899 einsehen konnte. Meine Arbeit
iber diese Gruppe war in einer ersten Fassung der Vollendung nahe,
ils mir Brandi zuvorkam. Ich mußte von vorne beginnen und stellte
iie Arbeit hinter andere drängende Aufgaben zunächst zurück. Indem
ch mich ihr von neuem zuwende, halte ich es, ehe ich an die Vor-
ührung und Kritik der einzelnen Urkunden herantrete, für notwendig,
amächst zwei Fragen zu erörtern, auf die später wiederholt Bezug ge-
lommen werden muß; die Kritik der Gründungsurkunden anderer säch-
i;ischer Bistümer und die Geschichte des Osnabrücker Zehntstreites
Im der Hand der zuverlässigen Zeugnisse.
Über die erste Frage habe ich, schon als Vorarbeit für mein
fhema, jüngst gesondert gehandelt.^ Da aber die Publikation, in der
;s geschah, engeren Fachgenössen nicht mit Sicherheit zugänglich sein
lürfte, schien es mir für das Verständnis des Zusammenhanges
jvünschenswert, das Wesentliche zu wiederholen. Bei Erörterung der
■^ehntfrage behandle ich dann, um einen gesicherten Ausgangspunkt
:u gewinnen, eingehend die Urkunden Heinrichs IV. XXI— XXIII und
iiier vor allem auch die Frage, was sie an Fälschungen als unbedingt
!/orhanden schon voraussetzen. Dann wende ich mich der Einzel-
Kritik dieser Fälschungen zu und fasse endlich in einem Schlußkapitel
iie Ergebnisse zusammen.
2. Die Gründungsurkunden für die sächsischen Bistümer
Die Urkunden, um die es sich hier handelt, sind folgende:
Halberstadt. Karl d. Gr. Salz 802 (803, 804) Mai 15, Mühlbacher
^94 (386b) nicht in vollem Wortlaut, sondern nur in zum Teil wört-
lichem Auszug erhalten in den verschiedenen Ableitungen der Halber-
kädter Bistumschronik. Inhalt der Urkunde war die Gründung, Be-
yidmung (besonders mit den Kirchenzehnten) und Zirkumskription des
leuen Bistums.
Ludwig d. Fr. Aachen 814 September 2, Mühlbacher 535 (516), im
vVortlaut überliefert in der jüngeren Halberstädter Bistumschronik des
^ Die Urkunden Ottos I. für Brandenburg und Havelberg die Vorbilder für die
gefälschten Gründungsurkunden der sächsischen Bistümer, Beiträge zur brandenburg.
i. preuß. Geschichte (Festschrift für Schmoller) 1908, S. 369—401.
Afu II 13
I
194 M. Tangl
13. Jahrhunderts. Inhalt: Bestätigung der von Karl d. Gr. verliehenen ,
Immunität unter Wiederholung der hier in anderer Form gegebenen
Umgrenzung und der Zuwendung der Zehnten.
Bremen. Karl d. Gr. Speier 788 Juli 14, MG. DK. 245, Mühlbacher
295 (286), überliefert bei Adam von Bremen Gesta Hammaburgensis,
ecclesiae pontificum I. 13.
Verden. Karl d. Gr. Mainz 786 Juni 29, MG. DK. 240, Mühlbacher
271 (263), überliefert als angebliches Original aus der Mitte des 12. Jahr-i
hunderts. Inhalt dieser beiden Urkunden wie bei Halberstadt, nur, da;
hier der volle Wortlaut vorliegt, viel ausführlichere Erzählung des Her-;
ganges der Bistumsgründung, Bewidmung mit Besitz und Zehnten,'.
Zirkumskription.
Diese Urkunden sind längst als berüchtigte Fälschungen bekannt, i
an denen die Forschung seit vielen Jahren wie an einem richtigen
Schulbeispiel die Lösung der Frage übt, in welchem Ausmaße auch
die Fälschung noch Erkenntnisquelle bleibt. Daß die Fälschung ganz
bedeutenden Quellenwert für die Zeit besitzt, zu der sie entstand, ist
heute allgemein anerkannt. Grundbedingung dieser Wertung aber ist,
daß diese Zeit und die Tendenz, aus der die Fälschung entsprang,;
auch zuverlässig festgestellt werden kann. Eine andere Fragte ist, wie
weit sie auch für die Zeit noch verwertbar ist, aus der zu kommen
sie vorgibt. Es wird dies davon abhängen, ob und in welchem Maße
ein echter Kern in ihr steckt, und ob der Fälscher seine Nachrichten
im eigenen Hause als feste historische Überlieferung fand oder vor
fremden Türen auflas. In dieser Hinsicht war weitgehendes Mißtrauen
gegenüber den Angaben dieser Urkundengruppe geradezu zur festen
Tradition geworden, die nach dem Vorgang der Einzelforschung in
den Werken von Rettberg und Hauck, in den Regesta imperii und den
Jahrbüchern der deutschen Geschichte ihren Niederschlag fand.
Völlig neue Bahnen schlug hier Georg Hüffer in seinen Korveyer
Studien, Münster i. W. 1898, ein. Die überlieferte Form der Urkunden
gab auch er preis, ihren Inhalt aber hielt er nicht nur für durchaus
ursprünglich und zuverlässig, sondern meinte, daß die üble Über-
lieferung uns hier noch weit besseres verhülle, daß es nur der rich-
tigen Methode bedürfe, aus ihr Bausteine zu noch viel weitergehender
Erkenntnis zu sammeln.
Ich will nicht leugnen, daß Hüffers Ausführungen, abgesehen von
der großen äußeren Gewandtheit, mit der sie vorgetragen werden, noch
durch etwas anderes zunächst für sich einnehmen: durch die sichere
Heimatkenntnis und durch die mächtig hervortretende Heimatliebe, die
ihn für seine Darstellung lebhafte Farben und warme Töne finden
lassen. Die Lebhaftigkeit dieser Gefühle hat aber bei Hüffer über die
Forschungen zu Karolinger Diplomen 195
Besonnenheit des Forschers Oberhand gewonnen und er hat dadurch
Iden Vorsprung, den ihm Orts- und Landeskenntnis gaben, wieder ein-
,geT)üßt.
Zum Ausgangspunkt für seine Forschungen, soweit sie uns hier
interessieren, nimmt Hüffer den Frieden von Salz vom Jahre 803, den
man bisher so gut wie allgemein für eine Erfindung des Poeta Saxo
|oder seiner in diesem Punkte bereits ebenso unzuverlässigen Quelle
Ihielt, den er aber als unumstößlich erwiesene Tatsache nimmt. Da-
|mals fand nach ihm zu Salz an der fränkischen Saale im Mai 803 die
große und endgiltige Aussprache zwischen Karl d. Gr. und den Sachsen
statt, gleichzeitig wurden die sächsischen Geiseln, aus der Haft ihrer
verschiedenen Hüter befreit, in die Heimat entlassen, die lex Saxonum
aufgezeichnet, die Bestallung der acht sächsischen Bistümer feierlich
H^erbrieft. Auf diesen Vorgang bezieht sich der einleitende und er-
■zählende Teil der erhaltenen Gründungsurkunden, aber auch nur er.
Per eigentliche Kern, Ausstattung und Zirkumskription ist früheren
brkunden von 786—787 entnommen, und auch sie bestätigen nur
dnen ersten Gründungsakt von 780. So gewinnt Hüffer aus jeder der
erhaltenen Fälschungen 2—3 verlorene echte Urkunden.
Die Frage des angeblichen Friedens zu Salz hat mittlerweile Bern-
(lard V. Simson, der schon vor mehr als 40 Jahren über sie gehandelt
^atte, aufs sorgfältigste neu untersucht^ und dabei Hüffer die Grund-
lage seines allzu kühnen Baues ganz und gar entzogen. Der Versuch,
'ias Tagesdatum der Halberstädter Urkunde Karls d. Gr. (15. Mai) als
mverlässige Überlieferung dieses Salzer Friedens zu retten, ist schlagend
zurückgewiesen; denn durch den glücklichen Fund der ursprünglichen
passung der Metzer Annalen^ ist diesem Ansatz die letzte schwache
Stütze geraubt. Wir wissen jetzt, daß Karl d. Gr. Aachen nicht „post
oascha", wie der Text der späteren Überarbeitung lautete, sondern erst
i,estatis tempore" verließ. Das steht in bestem Einklang mit dem tat-
pächlich für den August 803 bezeugten Aufenthalt des Kaisers zu Salz,
\vährend dessen aber ganz andere Fragen als der Sachsenfriede zur
Verhandlung kamen.^ Die Halberstädter Urkunde kann daher, wenn
hre Tagesangabe wirklich auf eine echte Vorlage zurückgehen sollte,
iuf diesem Hoftag zu Salz nicht erlassen sein. Der Reichstag zu
When, aus dessen Verhandlungen die lex Saxonum hervorging, fand
licht 803, sondern bereits im Oktober 802 statt. Der Prolog zu diesem
* Der Poeta Saxo und der angebliche Friedensschluß Karls d.Gr. mit den Sachsen,
SA. 32, 27—50; die erste Abhandlung 1862 im 1. Bd. der Forsch, z. deutsch. Gesch.
* Annales Mettenses priores, ed. Simson SS. rr. Germ. 1905.
^ Mühlbacher Reg. , 2. Aufl., Nr. 400—402. Die Nummern der Regesten sind
m folgenden stets nur nach der jetzt abgeschlossenen zweiten Auflage zitiert.
13*
I
196 M. Tangl
(jesetz aber, der nach Hüffer die Hauptquelle für den Bericht des Poeta
Saxo abgegeben haben sollte, ist weder erhalten, noch durch irgend-
welche Anhaltspunkte als einst vorhanden bezeugt. Den Indiculus
obsidum Saxonum, aus dem Hüffer die gleichzeitige Rückgabe der
sächsischen Geiseln geschlossen hatte, setzt Simson mit guten und,
überzeugenden Gründen in das Jahr 805—806. Kurz die Ereignisse,
aus deren Zusammentreffen Hüffer seine Schlüsse gewonnen hatte
fallen tatsächlich ganz auseinander, verteilen sich auf mehrere Jahre
Auf die Urkunden will ich jetzt selbst ein wenig näher eingehen
und nicht zum erstenmal, denn ich hatte bereits 1897 über die Ur-
kunden Karls d. Gr. für Bremen und Verden gehandelt.^ Ich brachte
damals die bis dahin noch immer nicht sicher gelöste Frage übei
Priorität und Abhängigkeitsverhältnis der beiden Fälschungen zur Ent-
scheidung, indem ich nachwies, daß die Verdener Urkunde erst in den
fünfziger Jahren des 12. Jahrhunderts entstand und in die Zeit dei
Gründung der Slavenbistümer durch Heinrich den Löwen und seines
Streites mit Hartwig von Bremen fällt. Bischof Hermann von Verden
erhob damals selbst Ansprüche auf die ostelbischen Gebiete und be-
gründete sie durch die Fälschung. Der Zweck mißlang; der Bischol
wurde 1158 mit seinen Ansprüchen zurückgewiesen und mußte sich
mit einer sehr bescheidenen Entschädigung begnügen.
Aber auch die Arbeitsweise des Fälschers konnte ich näher auf-
decken. Er entnahm den Text der Bremer Urkunde dem Geschichts-
werk Adams von Bremen, änderte willkürlich einiges an Namen und
Zahlen, gewann für Verden den Ruhm, das ältere Bistum zu sein,
durch künstliche, jedes zuverlässigen Beleges entbehrende Zurück-
datierung, und fügte aus einer Verdener Papsturkunde des 12. Jahr-
hunderts drei Sätze an. Diesen Nachweis hat selbst Hüffer nicht be-
stritten und Wichmann in seinen Untersuchungen zur älteren Geschichte
des Bistums Verden mit der kleinen Berichtigung bestätigt, daß als
Papsturkunde nicht das Privileg Eugens III. vom 6. Januar 1153, sondern
ein etwas früheres desselben Papstes vom 20. April 1147 benutzt ist.-
Entstehungszeit und Tendenz der Fälschung werden dadurch nicht be-
rührt, und der Quellenwert dieses Machwerkes beschränkt sich ganz
auf diese Vorgänge um die Mitte des 12. Jahrhunderts. Von eigenen
Urkunden aus Karolingerzeit findet sich hier nicht der geringste Rest,
sondern alles ist erborgt oder, soweit es über die Entlehnung hinaus-
* Mitteil. d. Instituts f. österr. G.-F. 18, 53—68.
^ Wichmann a.a.O. lOOf. Druck des Privilegs v. Pflugk-tiarttung, Act.
Pont. 1, 191. Die Fälschung schließt sich, wie Wich mann richtig bemerkt, an diese
Urkunde noch etwas näher an als an die jüngere.
Forschungen zu Karolinger Diplomen 197
igeht, erfunden. Trotzdem hat Hüffer selbst für diese Urkunde eine
lanze eingelegt. Er sieht in ihr (S. 154ff.) eine in allen wesentlichen
Teilen echte Urkunde Karls d. Gr. vom Jahre 786 und in ihrem angeb-
ilichen Empfänger Suitbert tatsächlich den ersten Bischof von Verden,
lobwohl längst erkannt war,^ daß es sich hier um den bereits 713 ge-
storbenen Friesenmissionar Suitbert, den Gründer des Klosters Kaisers-
werth (Werdensis ecclesia!) handelt. Die Verwechslung wurde neben
der großen Ähnlichkeit des Namens auch dadurch gefördert, daß später
die Bischöfe von Verden zugleich Äbte von Kaiserswerth waren, und
daß auch Hermann von Verden, unter dem die Fälschung entstand,
diese Doppelwürde bekleidete. Auch hier hat jetzt Wichmann eine
neue und schlagende Beobachtung ins Treffen geführt:^ Die beiden
Suitberte stehen in Nekrologien zum gleichen Todestag (1. März) ver-
jzeichnet! Es hat eben nie mehr als den einen historisch bekannten
jund gesicherten Missionar dieses Namens gegeben, der, 713 schon
verstorben, auch nicht Empfänger des Alkuin-Briefes sein kann, zu dem
ihn Hüffer zu machen wünschte. Die Erwähnung des „Alcquini insignis
Ipredicatoris" (!) in der Verdener Fälschung gehört eben zum charakte-
ristischen Trugwerk, das gerade in allerplumpsten Fälschungen, von
denen jetzt die Diplomata-Ausgabe mit ihren nahe 100 Fälschungen
auf den Namen Karls d. Gr. eine recht reichhaltige Zusammenstellung
bietet, noch manches hübsche Seitenstück findet.
Die erschreckende Dürftigkeit der Quellenzeugnisse für die Ge-
schichte dieses alten Bistums^ gelangt gerade durch diese hilflose Un-
wissenheit über die ganze erste und frühere Zeit der Bistumsentwick-
lung deutlich zum Ausdruck. Der wirkliche erste Missionsbischof
Von Verden war der Abt Patto (oder Spatto) von Amorbach. Damit
hängt wohl auch zusammen, daß Verden im Verbände der Mainzer
Kirchenprovinz blieb und nicht der für Niedersachsen viel näher-
liegenden, etwas jüngeren Kölner Kirchenprovinz angegliedert wurde,
ganz ähnlich wie die Würzburger Mission im Gebiete von Paderborn
in gleichem Sinne den Ausschlag gab.
Der Kritik dieser Verdener Fälschung galt damals wesentlich allein
meine Untersuchung; die Bremer Urkunde habe ich nur kurz gestreift,
eine Erörterung über die ganze Gruppe der Urkunden für die säch-
sischen Bistümer gar nicht beabsichtigt. Diese ist aber, wie Hüffer
^ Vgl. iiauck, Kirchengesch. Deutschlands, 3. u. 4. Aufl., 1,437.
^ a. a. 0. S. 101 Anm. Über die Verwechslung der beiden Suitberte vgl. auch
Simson, JB. Karlsd. Gr. 2, 591, der schon mit allem Nachdruck dafür eintrat, daß
es sich hierbei nur um die eine Person des bekannten Friesenmissionars handelt.
' Vgl. Wichmann S. 2ff.
I
198 ^- Tangl
und Simson ^ mit Recht betonen, gar nicht möglich ohne Hereinziehun^
der tialberstädter Überlieferung, die Hüffer mit dem Ausruf „ex Oriente
lux" begrüßt. Folgen wir ihm dorthin.
An der Immunität Ludwigs d. Fr. für Halberstadt vom 2. Sep-
tember 814, Mühlbacher 535, hat Mühlbacher eine ganz überzeugende
Rettung unternommen.^ Während man die Urkunde von alters hei
bis auf Simson einfach als Fälschung verworfen hatte, wies er nach
daß Datierung, Rechtsinhalt und Formeln in allen wesentlichen Teiler
zuverlässig und nur zwei Einschübe über die Zehnten und die Bistums-
grenzen als deutlich sich abhebende Interpolationen auszuscheiden sind
Ein dritter Satz, den Mühlbacher zunächst ebenfalls als interpoliert aus-
geschieden hatte, steht, worauf Hauck sehr zutreffend aufmerksam
machte, gleichlautend in der Immunität Ludwigs d. Fr. für die ost-
friesische Missionszelle Visbeck (Mühlbacher 702). Mühlbacher hat ir
diesem Punkte seine ursprüngliche Ansicht in der Neuauflage seinei
Regesten auch geändert; als „sachlich belanglos", wie er es jetzt tut
möchte ich den Satz aber nicht bezeichnen, sondern sehe in ihm viel-
mehr eine für solche Missionsgebiete recht charakteristische Ergänzung
der Immunitätsformel: Predictam vero parrochiam illius circumquaque
per diversos pagos sitam nemo fidelium nostrorum ei exinde aliquic
abstrahere aut prohibere presumat, quin ei liceat per hanc nostram
auctoritatem verbum predicationis domino auxiliante exercen
et ministerium säum plene peragere.
Hildigrim, der erste Missionsbischof von Halberstadt und Emp-
fänger dieser Immunität, wird in der Urkunde als „Catholanensis epis-
copus" bezeichnet. Mühlbacher hält dies für spätere Verderbung. Abei
auch hier muß ich den Einspruch Haucks als berechtigt anerkennen.
Über die Persönlichkeit Hildigrims sind wir durch die Lebensbeschreibung
seines Bruders, des heiligen Liudger, leidlich gut unterrichtet. Viel
jünger als sein Bruder, war er 797 noch Diakon, 809 beim Tode
seines Bruders aber bereits Bischof von Chälons-sur-Marne, doch
sicher erst seit kurzer Zeit.^ Fortan wirkte er als Missionsbischof im;
Gebiet von Halberstadt, dessen Kirche dem gleichen Schutzheiligen wie
die Mutterkirche zu Chälons, dem heiligen Stephanus, geweiht wurde.^
^ Gegen Simson (NA. 32, 44) muß ich aber doch bemerkten, daß ich schon
zwei Jahre vor Erscheinen seines Aufsatzes — allerdings an leicht zu übersehender
Stelle in den Nachrichten des NA. 30, 517—518 — mein urteil über die ganze Gruppe
ausgesprochen und kurz in die Leitsätze gefaßt hatte, die ich jetzt hier vertrete.
' NA. 18, 282—293.
' Vgl. die Zusammenstell, d. Nachricht, bei tiüffer 90ff. Hauck (2.Aufl.) 2, 410.
* Die Feststellung dieser Tatsache ist wichtig: sie zeigt, daß nicht etwa der
um die Christianisierung Ostfalens verdiente Missionar mit dem Bistum Chälons be-
lohnt, sondern daß diese Missionstätigkeit erst von Chälons aus begonnen wurde.
I
Forschungen zu Karolinger Diplomen IQQ
jDie Urkunde Ludwigs d. Fr. stellt sich nicht als erste Verleihung,
^ondern als Bestätigung der bereits von Karl d. Gr. verliehenen
(Immunität dar,^ und wir haben keinen Anlaß, dieser Angabe des
Diploms zu mißtrauen. Dadurch aber sind die Anfänge dieses Bis-
tums und ihre Chronologie in Grundrissen gesichert. Diese Anfänge
fallen erst in die Kaiserzeit Karls; der alte Kaiser hat dem ostfälischen
Missionsbistum noch Immunität verliehen, die Ludwig d. Fr. am 2. Sep-
tember 814 erneuerte.
Und nun sehen wir, in welcher Gestalt uns die Urkunde Karls d. Gr.
Ider Halberstädter Oberlieferung entgegentritt.
An der Spitze der Nachrichten, die teils zu der Urkunde in Be-
hung treten, teils ihren Inhalt mit ausdrücklichem Hinweis wieder-
3en, steht eine Stelle des vielleicht mit dem Korveyer Mönch Agius
jidentischen Poeta Saxo, der bald nach 887 unter unermüdlicher Plünde-
jrung schriftlicher Vorlagen, als welche Einhard und die jüngere Fassung
der Reichsannalen sicher und von 801 an Halberstädter Aufzeichnungen
'wahrscheinlich sind, sein Leben Karls d. Gr. in Verse brachte:
Hüc (sc. ad Salz) omni Saxonum nobilitate
Collecta, simul has pacis leges iniemnt,
üt toto penitus cultu rltuque relicto
Gentili, quem daemonica prius arte colebant
Decepti post haec fidei se subdere vellent
Catholicae Christoque deo servire per aevum.
At vero censum Francorum regibus ullum
Solvere ne penitus deberent atque tributum,
Cunctorum pariter statuit sententia Concors:
Sed tantum decimas divina lege statutas
Offerrent ac presulibus parere studerent
Ipsorumque simul clero, qui dogmata sacra
Quique fidem domino placitam vitamque doceret
Der nächsten Schichtung dieser Überlieferung begegnen wir in den
Quedlinburger Annalen, die in den ersten Jahren Kaiser Heinrichs IL
I entstanden und dann bis 1025 fortgesetzt wurden.^ Uns interessieren
zwei Stellen: ad a. 781. Eodem anno Carolus de Roma reversus in
^ detulit nobis emunitates (so der Text, wohl verderbt aus auctoritatem emuni-
tatis) ... genitoris nostri .., in quibus continebatur, quomodo ipsam sedem sub
plenissima defensione et emunitatis tuitione semper habuisset. Pro firmitatis namque
studio petiit nos idem prefatus episcopus, ut ei denuo similia pro mercedis nostre
* augmento concedere et confirmare deberemus.
I ^ Wattenbach, GO-, 7. Aufl., 1,377. Die beiden hier abgedruckten Stellen
' MG. SS. 3, 38 und 40.
I
200 M. Tangl
Franciam terram Saxonum inter episcopos divisit et terminos episcopis
constitüit et sancto Stephano protomartyri in loco qui dicitur Seligan-
stedi monasteriüm construKit, quod postea in locuni translatum est, qm
dicitur Halverstede, ubi nunc est sedes episcopalis. Idque ad corrigendum
et propagandum Cathalaunensi episcopo fiildegrimo, qui frater erat beati
Liadgeri confessoris, commendavit huiusque episcopii terminos constitüit
flüvios Albiam, Salam, Unstradam, fossam iuxta Gronighe, altitudinem
sylvae quae vocatur fiaertz, Ovaccram, Schuntram, Dasanek, Drichterbiki,^
Aeleram, Isunnam, paludem quae dividit Bardangaos et fiuutangaos,^
Aram, Millam, Bimani et Precekinam et iterum Albiam.
ad a. 803. Carolus conventu habito in palatio Salz Saxones antiqaa
übertäte donavit eosque pro conservanda fide catholica ab omni solvit
tributo, excepto quod illos omnes, divites ac pauperes, totius suae cul-
turae ac nutriturae decimas Christo et sacerdotibus eins fideliter reddere
iussit
Die dritte Gruppe führt uns nach Halberstadt selbst, dessen alte
Bistumschronik nicht mehr in ursprünglicher Gestalt erhalten, sondern
nur in Bruchstücken und Ableitungen überliefert ist. Die verlorene«
Chronik war unter Bischof fiildiward (968—996) angelegt und dann
bis über die Mitte des 11. Jahrhunderts fortgesetzt.^ ihre Nachrichten
gingen zunächst über in die jüngere Bistumschronik, die „Gesta episco-
porum flalberstadensium" aus dem 13. Jahrhundert;^ außerdem besitzen)
wir noch ein kurzes Fragment in einer Handschrift der Trierer Stadt-
bibliothek (T)* und ein anderes Bruchstück in einem kurzen Nachtrag,
zur Wibaldinischen Briefsammlung (W).^
Ich gebe im folgenden den Text der beiden Fragmente und merket
das Verhältnis der Gesta episcoporum Halberstadensium zu ihm an:
Anno domini DCCLXXX postquam magnis laboribus et preliis^
Karolus Magnus Saxones devicit atque inter Are et Albee confluenciam
morantes fecit homines baptizari, eorum metuens recidivum in loco qm
dicitur Saligenstede nunc autem Osterwik ecclesiam in honore omni-
potentis dei et prothomartiris beati Stephani edificavit et ei sanctum
fiildegrimum Catalaunensem episcopum sanctis parentibus Thiatgrimo
patre Liaßurga matre editum fratrem quoque sancti Liudgeri primi
Mimigardevordensis episcopi papa Adriano iubente prefecit. Sanctus
autem Hildegrimus DCCLXXXI episcopatum fialberstat transmutavit
^ Verderbt aus Huuitangaos, die anderen Überlieferungen Witingaos.
* Nachweis von Scheffer-Boichorst, Forsch, z. deutsch. Gesch. 11, 498 ff.
' ed. Weiland, MG. SS. 23, 78ff.
* ed. Holder-Egger, MG. SS. 30, 19—20; dessen Nachweis, daß das Fragment
aus der verlorenen Halberstädter Bistumschronik stammt, NA. 17, 169.
* Als Notae Halberstadenses hrsg. bei Jaffe, Bibl. rr. Germ. 1, 602, Nr. 471.
I Forschungen zu Karolinger Diplomen 201
m sunt autem huius ecdesie termini: fluvius Albea, Sala, ünstrada,
^'ossa iüxta Gruone, altitudo silve que vocatur Hart, Ovacra, Dasanek,
Onihchtesbeke, Elera, Isunna, Ära, Milla, Precekina et itemm Albea.
Imperator Karolus parrochiam fialberstadensem certis mdique cir-
:umscripsit terminis smque augustali imperio et inprevaricabili privi-
'egio firmavit 804, Idus Mali, indictione 10, sui autem regni 34, imperii
'ero tercio, ordinationis Hildegrimi episcopi 23 in palatio Sarh (!) nomi-
lato. Eodem etiam tempore habito conventu in palatio eodem Imperator
wines Saxones antiqua übertäte donavit eosque pro conservanda fide
:atholica ab omni solvit tributo, excepto quod omnes, divites scilicet ac
muperes, totius suae agriculturae ac nutriturae decimas Christo ac sacer-
lotibüs eins fideliter reddere iussit}
Die letzte Stufe in dieser Überlieferung stellen in den fünfziger
and sechziger Jahren des 12. Jahrhunderts der Annalista Saxo und der
in dieser Partie ganz von ihm abhängige sächsische Chronograph dar,
[dessen Weltchronik unter der ganz irreführenden Bezeichnung „Annales
i'Vlagdeburgenses" läuft: ^
Die Gesta ep. Halberst. in breiterer Ausmalung, aber im wesentlichen wört-
icher Übereinstimmung: Postquam igitur (sc. Karolus) immensis laboribus et diversis
breliis variisque victoriis triumphando Saxones tandem vicit suoque illos immo
Christi subegit imperio, inter Ore et Albie confluentia, ubi Christi nomen nondum
luditum erat, semen divini verbi diffundere non cessavit et catezizatos tandem sacro
baptismate regenerari fecit. Sed . . ne . . iterum . . seducti ad vomitum pristine
perditionis redirent, in terra eorum ecciesias instituit et qui ipsis preessent episcopos
ideliter procuravit, inter quos terram sagaciter distribuit ac divisit. Anno igitur
1 i. 781, indict. 4 . . . primum in loco Seligenstat nuncupato nunc autem a vulgo
psterwik dicto . . monasterium construxit atque in honorem dei omnipotentis et
'sancti prothomartiris Stephani dedicavit. Qui cum aliquamdiu longe lateque fidelem
ac prudentem dispensatorem quereret, quem constitueret super familiam dei, ut illi
n tempore cibum daret, sanctum Hildegrimum Katolanensem a sanctis parentibus
Datre scilicet Thiatgrimo matre vero Liafburga editum, fratrem quoque sancti Liudgeri
orimi Mimigardevordensis episcopi, Adriano papa Romano iubente, in hoc opus epis-
:opum destinavit. Sanctus vero Hildegrimus statim eodem anno divina gratia dis-
ponente sedem episcopalem de Selegenstat in oppidum quod Halberstat dicitur
transmutavit.
Anno vero dominice incarnationis 804, Idus Mali, indictione 10, sui autem
regni 34, imperii vero 3, ordinationis tiildegrimi episcopi 23, Karolus Imperator in
palacio Salz nominato parrochiam hanc certis undique terminis circumscripsit suoque
imperio augustali et inprevaricabili privilegio confirmavit. Hi autem sunt termini
'Halberstadensis dyocesis. (Angabe der Grenzen in allen wesentlichen Punkten gleich
der in den Quedlinburger Annalen.) Circumscriptis igitur terminis Halberstadensis
dyocesis Karolus Imperator habito conventu in palacio supradicto omnes Saxones
libertate antiqua donavit eosque pro fide catholica conservanda ab omni solvit tri-
buto, excepto quod eos omnes, divites scilicet ac pauperes, totius sue agriculture
ac nutriture decimas Christo ac sacerdotibus eius fideliter reddere iussit.
' Die betreffenden Stellen MG. SS. 6, 560 und 16, 135. Ich gebe hier nur
202 M- Tangl
Ad a. 781. Eo anno in Saxoniam rex Karolus veniens divisit ear,
in 8 episcopatus: Bremensem, Haiberstadensem, fiHdinisheimensen
Verdensem, Paderbrunnensem, Mindensem, Monasteriensem, Asenbruggen
sem, et terminos eisdem episcopiis constituit, sanctoque Stephano martii
in loco qui vocatur^ Saligenstide etc.
Ad a. 803. In eodem palatio imperator Karolus sancto Hildegrim
Halberstadensi primo episcopo suam parrochiam certis undiqae circum
scripsit terminis suoque augustali imperio et imprevaricabili privilegi
firmavit anno imperii sui III, ordinationis autem Hildegrimi episcopi 2i
indictione 12, Idus Mail. Hi sunt autem termini etc. Eodem quoqu
tempore in eodem loco et in eodem palatio imperator omnes Saxone
antiqua übertäte donavit etc.
Es ist sicher, daß diese so eng verschlungenen Überlieferungei
und Ableitungen auf zwei grundlegende Nachrichten zurückgeher
deren eine zum Jahre 803 von einem Abkommen Karls d. Gr. mit dei
Sachsen zu Salz meldete, während die andere zum Jahre 780 ode
781 die Gründung und Umgrenzung des Bistums Halberstadt betral
Und wir vermögen weiter auch den Ausbau der späteren Tradition zi
verfolgen. Der Poeta Saxo kennt nur die erste Nachricht, die von
Frieden zu Salz und den Zehnten; über Bistumsgründung und Zirkum
skription weiß er nichts zu singen noch zu sagen. In der Über
lieferung, die uns in der Ableitung durch die Quedlinburger Annalet
vorliegt, begegnen wir bereits beiden Nachrichten, aber noch in rein
lieber Scheidung. In der durch die späteren Halberstädter Queller
sich darstellenden Überlieferung sind die beiden ursprünglich gan;
verschiedenartigen und unabhängigen Nachrichten in Beziehung zu
einander gesetzt, so zwar, daß zu 780—781 die Vornahme des Bis
tumsgründung und Zirkumskription, zu 803 (802, 804) ihre feierlicht
Verbrief ung gemeldet wird. Der Annalista Saxo endlich und di(
Annales Magdeburgenses nennen hier ausdrücklich die sämtlicher
späteren acht sächsischen Bistümer.
Als Inhalt oder mehr oder minder wörtlicher Auszug einer Ur-
kunde tritt uns die eine Nachricht entgegen, und zu gleichem Er-
gebnis führt uns die Heranziehung der in vollem Wortlaut über-
lieferten und dabei, wie schon Simson und Sickel richtig erkannl
hatten, von der Halberstädter ganz und gar abhängigen Bremer Fäl-
schung auf den Namen Karls d. Gr.^ Es genügt, die vielfach wörtlich
an unsere Halberstädter Zeugnisse anklingenden Worte herauszugreifen;
mehr den Text des Annalista Saxo, da auf die geringfügigen Abweiciiungen der
Ann. Magdeburg, nichts ankommt. Auch den Text des sächsischen Annalisten deute
ich dort, wo er nur bereits Bekanntes wiederholt, nur mehr an.
^ Jetzt MG. DD. Karol. 1, 345. DK. 245.
Forschungen zu Karolinger Diplomen 203
•füod Saxones . . . et bellis vicimus et ad baptismi gratiam deo annuente
herdüximüs , pristine libertati donatos et omni nobis debito censu solu-
os . . . vidi iam deo gratias et armis et fide doniino ac saluatori Jesu
Qhristo et sacerdotibus eins omnium suorum iumentomm et fmctuuni
'ociüsque culture decimas ac nutriture, divites ac pauperes, legaliter
:onstricti persolvant. Folgt die Darlegung über Gründung, Dotierung
jnd Umgrenzung der Bremer Kirche, darunter die Wendung „adhuc
ztiam summi pontificis et universalis pape Adriani precepto" — man
/ergleiche Gesta episcoporum Halberstadensium Adriano papa iubentel
Die Verschmelzung der beiden Nachrichten ist, wie wir daraus er-
sehen, auch in den gefälschten Urkunden schon vorhanden, es fehlt
lur die Ortsangabe Salz, die aber nach Simson und Hüffer in der ur-
sprünglichen Datierung gestanden haben sollte.
Es erhebt sich jetzt die Frage, zu welchem Punkt der ganzen Ent-
A^icklung die Urkundenfälschung einzureihen ist, ob und in welchem
Ausmaß sie durch die bereits vorhandene Tradition beeinflußt wurde
Dder ob sie nicht umgekehrt selbst den ersten Anstoß zur ganzen
Sagenbildung gab. Dieser letzteren Ansicht ist Simson, der in der
gefälschten Urkunde bereits die Vorlage für den Poeta Saxo sieht.^
[Vlühlbacher hat sich in den Regesten über die Zeit der Fälschung der
Karl-Ürkunde Nr.394 und der Verunechtung der Immunität Ludwigs d. Fr.
für tialberstadt Nr. 535 nicht geäußert; in seiner Sonderuntersuchung
aber ist er nicht abgeneigt, einen möglichst späten Ansatz anzunehmen
'und die Fälschung erst in die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts zu
setzen.^ Notwendige Folge der Richtigkeit dieses Ansatzes wäre, daß
nicht die Halberstädter Fälschung der Bremer, sondern umgekehrt diese
jener als Vorlage hätte dienen müssen.
Die Grundlage zu einem eigenen urteil in dieser Frage schaffe ich
mir zunächst durch eine Untersuchung des Formulars. Mühlbacher
hat den schlagenden Nachweis erbracht, daß das Formular des Diploms
Ludwigs d. Fr. für Halberstadt durch die so gut wie wörtliche Über-
^ Forsch, z. deutsch. Gesch. 1, 313. „Hier in tialberstadt verwahrte man offenbar
leine Urkunde mit dem betreffenden Datum (Salz 803), welche gleich jenen nord-
isächsischen die Grenzen des Sprengeis und in der Einleitung den bewußten Satz
ivon den Zehnten enthielt."
^ NA. 18, 290. „Vielleicht hängen aber diese Angaben mit der Grenzregulierung
izusammen, die Friedrich I. um 1174 zwischen den Bistümern Halberstadt und Verden
vornahm, deren Einzelheiten uns nicht überliefert sind. Auf diese späte Zeit der
Interpolation scheint auch noch ein anderer umstand zu weisen. Durch eine sach-
lich belanglose Verunechtung ist die gewöhnliche Formel „domni et genitoris nostri
;Karoli piissimi augusti" zu „sancti genitoris nostri pie semper memorandi" um-
I gestaltet, wohl erst in der Zeit nach der Heiligsprechung Karls d. Gr. nach dem
Jahre 1165".
I
204 M. Tangl
einstimmung mit der nur um einen Tag jüngeren Wormser Urkunde
M. 536 gedeckt ist Einzelne kleine Verderbungen fallen auf Kosten
der Überlieferung in der Halberstädter Chronik des 13. Jahrhunderts.
Die meisten dieser Entstellungen hat Mühlbacher in seinem Text^ be-
reits durch Emendation beseitigt; in einem Falle muß ich dies noch.
nachtragen. Der Schluß der Arenga „ad beate retributionis mercedem
talia nobis facta credimus profutura" ist bei gleichem Incipit nicht
zu belegen, dagegen in der veränderten Fassung „profutura con-
fidimus" im Wormser Diplom und anderen Königsurkunden bezeugt.
Ich trage daher kein Bedenken, diese kleine, durch den Diktatvergleich
ganz gesicherte Verbesserung in den Text einzusetzen. Das Karl-
Diplom für Halberstadt ist uns, wie schon erwähnt, in voller urkund-
licher Fassung nicht überliefert, sondern nur auszugsweise und mit
Übergehung des ganzen Formelrahmens erhalten. Doch führt uns
hier der Vergleich mit der Karl-Urkunde für Bremen MG. DK. 245 zu
weiteren Schlüssen.
Ich machte schon bei früherer Gelegenheit^ darauf aufmerksam,
daß die Invokation (und, wie ich noch beifügen muß, auch die De-
votionsklausel im Titel) nicht auf ein echtes Diplom Karls d. Gr., son-
dern auf ein solches Ludwigs d. Fr. als Vorlage hinweisen. Wenn ich
aber damals dieses Vorbild in der (später selbst in mehrfachen Ab-
stufungen verfälschten) Urkunde Ludwigs d. Fr. für Ansgar, den ersten
Erzbischof von Hamburg-Bremen, vom 15. Mai 834, M. 928 zu finden
glaubte, so muß ich dies Urteil jetzt ganz zurücknehmen. Diese Ur-
kunde trägt, ihrem Datum entsprechend, die für die Zeit nach der
Wiedereinsetzung Ludwigs d. Fr. ganz charakteristische Devotionsklausel
„divina repropitiante dementia", während die Karlfälschung, wie jetzt
in der Vorbemerkung zu DK. 245 richtig hervorgehoben wird, durch
die Worte „divina ordinante Providentia" bestimmt einer Vorlage aus
der ersten Zeit Ludwigs d. Fr. (814 — 833) entnommen ist. Diese
Vorlage ist aber keine andere als unser Halberstädter Diplom Lud-
wigs d. Fr. Aus ihm ist die Korroborationsformel ganz wörtlich ab-
geschrieben:
DK. 245 für Bremen: Et ut (huius donationis ac circumscriptionis)
auctoritas nostris futurisque temporibus domino protegente valeat in-
convülsa manere, manu propria subscripsimus et anuli nostri inpressione
signari iussimus,
M. 535 für Halberstadt: Et üt hec auctoritas nostris futurisque
* NA. 18, 292.
- Mitteil. d. Instituts f. österr. G.-F. 18, 66.
Forschungen zu Karolinger Diplomen 205
temporibüs domino protegente valeat inconvulsa manere, manu propria
mbscripsimus et anuli nostri impressione signari iüssimus.
Der Inhalt dieser Formel ist ganz feststehend, die Fassung aber
x\ den einzelnen Kanzleien und hier wieder nach dem Walten ver-
schiedener Diktatoren vielfachem Wandel unterworfen. Ich stelle hier
^or allem fest, daß sich unter allen echten Urkunden Karls d. Gr.,
jie, wie ich nicht verhehle, eine genauere Diktatuntersuchung noch
verlohnten, nur eine einzige findet, die in Vorder- und Nachsatz einiger-
maßen genau an diese Fassung anklingt, aber diese Ausnahme festigt
die Regel erst recht: es ist DK. 173 für Aniane, ein verunechtetes
and unter Benutzung der Urkunde Ludwigs d. Fr. M. 524 überarbeitetes
Oiplom.
Gestützt auf dieses Ergebnis, nehmen wir uns auch die Arengen
der beiden Urkunden vor:
DK. 245: Si domino deo exercitüum succurente in bellis victoria
üotiti in illo et non in nobis gloriamur, et in hoc seculo pacem et pros-
Deritatem et infuturo perpetue mercedis retributionem nos promereri
confidimus.
M. 535: 8i sacerdotum ac servomm dei petitiones, quas nobis de
necessitatibus innotuerint, ad effectum perduciniüs, non solum imperialem
exercemus consuetudinem, verum etiam ad beate retributionis mer-
cedem talia nobis facta profutura confidimus.
Groß ist die Übereinstimmung ja nicht; sie macht ungefähr den
Eindruck eines Orchesters, dessen Musiker gleichzeitig mit dem Takt-
ischlag des Dirigenten einsetzen und schließlich bei einer großen Fer-
imate unter Paukenwirbel auch noch gleichzeitig fertig werden, da-
zwischen aber in fürchterlichem Durcheinander ihren Zuhörern eine
Ohren- und Seelenpein bereiten. Hier hatte in der Bremer Urkunde
jdie Phantasie des Fälschers sich eben sofort geltend gemacht. Den-
noch ist selbst an den geringen Überresten die Anlehnung an ein echtes
jFormular noch ausreichend erkennbar. Darauf hatte auch bereits Hüffer
jverdienstvoll aufmerksam gemacht.^ In den Schlüssen muß ich mich
allerdings sogleich von ihm scheiden; denn der Vergleich beweist
erstens nicht wie echt, sondern im Gegenteil, wie unecht die Bremer
jürkunde ist, und er zeigt weiter an einer ganz charakteristischen Einzel-
heit, daß auch hier nicht eine Urkunde Karls d. Gr., sondern Lud-
wigs d. Fr. vorlag. Die Arenga „Si petitionibus sacerdotum — con-
fidimus" ist in den Diplomen Karls d. Gr. ziemlich häufig und an keine
ibestimmte Urkundenart geknüpft; sie findet sich in Immunitäten wie
^ a. a. 0. S. 95 Anm. 3.
I
206 M- Tangl
in Besitzbestätigungen, Wahlprivileg und Zollfreiheit ;^ aber nicht in
einem dieser Beispiele begegnet die Wortverbindung „retributionis
merces (retributio mercedis)" wie in dem Diplom Ludwigs d. Fr. für
Halberstadt und in der Bremer Fälschung. Nehmen wir noch hinzu,
daß die volle wörtliche Übereinstimmung von Arenga und Korrobo-
ration auch in den Diplomen Ludwigs d. Fr. zu den größten Selten-
heiten gehört und sich in der ganzen früheren Zeit dieser Regierung
außer in der Halberstädter Immunität nur noch in den beiden, einen
Tag später ausgestellten Wormser Urkunden und der Immunität für
Visbeck findet,^ dann wird die Feststellung dieser Formeln in der
Bremer Fälschung zum ganz schlagenden Beweis ihrer Abhängigkeit
von dem Halberstädter Vorbild. Dieses unmittelbare Vorbild war
aber nicht die Immunität Ludwigs d. Fr., sondern die nach ihrem
Muster zurechtgemachte angebliche Gründungsurkunde Karls d. Gr.
Hier scheint nun eines höchst auffällig. Wir haben, wie ich
wiederholen muß, keinen Grund, der Angabe der Ludwig-Urkunde, daß
sie nur die von Karl d. Gr. bereits verliehene Immunität erneuere,
zu mißtrauen. Besaß man also in Halberstadt ein echtes Diplom
Karls d. Gr., wie kam es, daß man nicht dessen Protokoll der Fälschung
zugrunde legte? War gerade diese Urkunde bereits verloren gegangen?
Der Fall muß immerhin als möglich erwogen werden; denn fast jede
wichtigere Urkundengruppe bietet uns Belege für verschiedenartige
Überlieferungsgeschichte einzelner Urkunden. Selbst die weitaus beste
und gleichmäßig überlieferte Gruppe der St. Galler Urkunden hat ein-
zelne Acta deperdita aufzuweisen,^ und bei Salzburg besitzen wir, um
nur ein Beispiel zu erwähnen, noch heute das, wenn auch beschädigte.
Original der Immunitätsbestätigung durch Ludwig d. Fr., M. 606, wäh-
rend die Vorurkunde Karls d. Gr. schon im 13. Jahrhundert verloren
war. Es gibt aber noch eine andere und wahrscheinlichere Erklärung.
Die Zerstörung echter Urkunden war — • ich erinnere an die Lindauer,
Reichenauer, Ebersheimer, und, wie wir bald sehen werden, unsere
Osnabrücker Fälschungen — oft der erste vorbereitende Schritt zur Fäl-
schung, die nun über den durch Rasur mehr oder minder vollständig
^ Ich stelle hier die Beispiele aus den echten DD. Karls d. Gr. zusammen:
DK. 62, 96, 114, 126, 150, 152, 165, 169, 170, 171, 174, 183, 198, 202.
* In M. 550 für Mäcon begegnet statt „beatae retributionis mercedem" bereits
die Variante „beatitudinem eternae retributionis mercedem" und in M. 572 für Prüm
„beatitudinem eternae retributionis" ohne „mercedem". Gleiche Korroboration zeigen
noch M. 524, 543, 549, 570, 571; in M. 545 fehlen bei sonst gleicher Fassung die
Worte „domino protegente".
Vgl. die nach Hunderten zählende Zusammenstellung der verlorenen Königs-
urkunden aus Karolinger Zeit durch J. Lechner im Anhang der 2. Aufl. von Mühl-
bachers Regesten.
Forschungen zu Karolinger Diplomen 207
getilgten Text geschrieben wurde. Wenn man in Halberstadt aus der
[rsten Zeit des Bistums zwei Immunitäten besaß, dann lag es nahe,
l^efade die ältere zu opfern, um sich über ihren Trümmern die ge-
ivünschte Gründungs- und Zirkumskriptionsurkunde zu schreiben. So
Ijam es, daß die Urkunde Ludwigs d. Fr. als für das Protokoll allein
loch benutzbare Vorlage übrig blieb. Diese Erkenntnis beeinflußt aber
liuch sehr wesentlich unser urteil über die Datierung der Karl-Urkunde,
Jie selbst Simson als wenigstens teilweise zuverlässig anzuerkennen
)ereit war. Daß die Ortsangabe „Salz" und die Tagesangabe „15. Mai"
ür 803, das Jahr des nie geschlossenen Salzer Friedens, nicht zu-
reffen, hat Simson erst jüngst wieder überzeugend nachgewiesen. Die
\ngaben sind aber in dieser Zusammenstimmung überhaupt für kein
Jahr aus der Kaiserzeit Karls d. Gr. brauchbar. Von den Jahres-
mgaben kommen im besten Falle nur die Regierungsjahre und die
ndiktion in Betracht, das Inkarnationsjahr müßte wie in der Ludwig-
Urkunde nachgetragen sein, vom Ordinationsjahr des Bischofs Hildigrim
gar nicht zu sprechen. Das annus regni 34 stimmte zu 802 (bis
jOktober), das Kaiserjahr 3 zu 803, die Indiktion 10 der Halberstädter
Überlieferung zu 802, die Indiktion 12 des Annalista Saxo zu 804;^
also auch hier Zwiespalt von vornherein. Für jedes der 3 Jahre
B02— 804 ist aber Hildigrim von Chälons, der erst in einem späteren
Jahre der Kaiserzeit Karls d. Gr. nach Ostsachsen gekommen sein und
die Immunität für das Halberstädter Missionsgebiet erwirkt haben
kann, als Empfänger der Urkunde unmöglich. Tatsächlich ist aus
jdieser Datierung für eine echte Urkunde Karls d. Gr. nicht mehr zu
retten wie aus dem übrigen Formular. Und nicht besser sieht es aus,
jwenn wir uns nun dem Inhalt zuwenden. Ausgangspunkt für die
ispätere Deutung und Entstellung wurden zwei chronikalische Nach-
Irichten: die der fränkischen Reichsannalen, daß Karl d. Gr. 780 auf
jostfälischem Boden über die Ocker und Ohre bis an die Elbe vordrang,
und viele Bewohner jener Gebiete sich taufen ließen^ und die der
^ Die gefälschte Urkunde dürfte ziemlich sicher die Indiktion 12 getragen haben;
denn diese wurde in der Bremer Fälschung, die doch sonst ganz andere Jahres-
merkmale aufwies, beibehalten, und auch der Verdener Fälscher, der wieder die
^Zahlen der Bremer Urkunde um ein paar Einheiten herabgesetzt hatte, — jedes dieser
iBistümer wollte ja das älteste sein! — setzte schließlich, nachdem er eine andere
|Zahl durch Rasur getilgt hatte, für die Indiktion die überlieferte 12 ein, die dadurch
geradezu zur Fabrikmarke für die ganze Gruppe wird.
^ Man vgl. mit den Texten, die ich oben gab, den Bericht der Ann. regni Franc,
ad a. 780 ed. Kurze SS. rr. Germ. S. 56: Inde iter peragens partibus Albiae fluvii
'et in ipso itinere omnes Bardongavenses et multi de Nordleudi baptizati sunt in locö
qui dicitur Orhaim ultra Obacro fluvio. Et pervenit usque ad supradictum fluvium
ubi Ora confluit in Albia (vgl. „inter Are et Albee confluenciam" der Halberstädter
I
208 M. Tangl
Annales Laureshamenses, daß Karl in diesem Jahre Sachsen untei
Bischöfe zur Missionierung aufteilte.^ Diese Maßregel, die nichts an-
deres bezweckte als die Zuteilung Sachsens zur Missionierung an di(
bereits vorhandenen fränkischen Bischöfe und Abte,^ deutete mar
zur Begründung selbständiger, neuer Bistümer in Sachsen um unc
brachte damit bereits das Wirken Hildigrims in Beziehung, desser
Lebenszeit dieser willkürlich ersonnenen Chronologie um Jahrzehnte
widerstreitet.
Schwieriger ist es, die Nachricht zum Jahre 803 auf ihren Ur-
sprung hin bestimmter zu fassen, die der Poeta Saxo allein kenn
und die auch noch in der Überlieferung der Quedlinburger Annaler
vollkommen unabhängig von Bistumsgründung und Zirkumskriptior
erscheint. Die eine und Hauptquelle des sächsischen Poeten war, wit
Simson längst festgestellt hat, Einhards Vita Karoli.
Es läßt sich gar nicht leugnen, daß die Fassung, in die Einharc
den Schlußsatz seines 7. Kapitels kleidete,^ der späteren Annahmt
eines förmlichen Friedensschlusses mit den Sachsen ebenso Vorschut
leisten mußte, wie die Nachricht von der „divisio inter episcopos'
der einer verfrühten und einheitlichen Begründung der sächsischer
Chronik), ibique omnia disponens tarn Saxoniam quam et Sclavos et reversus es
supradictus präeclarus rex in Francia.
^ Eberhard Katz, Ann. Laureshamensium editio emendata, St. Paul in Kärnten
18ÖÖ S. 32: divisitque ipsam patriam inter episcopos et presbiteros seu et abbates
ut in ea baptizarent et predicarent, nee non et Winidorum seu et Fresonum pagano-
rum magna multitudo credidit (vgl. die Ann. Quedlinburg. Eodem anno Carolus . .
terram Saxonum inter episcopos divisit). Die gemeinsame Benutzung dieser beider
Vorlagen, der Reichsannalen und der Lorscher Klosterannalen, in späteren Ableitungen
steht, soviel ich weiß, ganz vereinzelt da. Um so beachtenswerter ist es, daß das
gleiche Quellenverhältnis und für dieselbe Zeit in den späteren Ableitungen der alter
Hersfelder Annalen wiederkehrt. Der Bericht über die Verschwörung Pippins des
Buckligen zum Jahre 792 findet sich bei Lampert von Hersfeld und den Weißen-
burger Annalen in einer Gestalt, die Holder Egger (Lamperti Hersfeldensis opera 1^
Anm. 3) mit den Worten kennzeichnete: „Haec ex Ann. Einhardi et Lauresham. (v
Chron. Lauriss.) composita videntur".
' Diese heute wohl allgemein durchgedrungene Erkenntnis ist noch gegen Ende
des 9. Jahrhunderts in der Translatio S. Liborii, SS. 4, 150 deutlichst ausgesprochen;
ünamquamque pontificalium sedium cum sua diocesi singulis aliarum regni sui
aecclesiarum praesulibus commendavit, qui et ipsi ad instruendam plebem
eo pergerent et ex clero suo personas probabiles ibidem mansuros iugiter destina-
rent, et hoc tamdiu, donec illic fidei doctrina convalesceret, ut proprii
quoque in singulis parrochiis possent manere pontifices.
Vita Karoli, SS. rr. Germ. Ed. quinta S. 9: Eaque conditione a rege proposita
et ab illis suscepta tractum per tot annos bellum constat esse finitum, ut abiecto
daemonum cultu et relictis patriis caerimoniis Christianae fidei atque religionis sacra-
menta susciperent et Francis adunati unus cum eis populus efficerentur.
Forschungen zu Karolinger Diplomen 209
|3istiimer. Auch darin stimme ich Simson und Hüffer bei, daß der
Poet daneben noch eine andere Quelle vor sich hatte. Nur stelle ich
liegen Simson bestimmt in Abrede, daß dies bereits die gefälschte
iialberstädter Urkunde gewesen sei. Es wäre dann ausgeschlossen,
■laß der Poet, sonst ein eifriger Plünderer seiner Vorlagen, aus der
Urkunde nebensächliches Beiwerk herausgegriffen, die Hauptsache aber,
iie Nachricht von der Gründung und Umgrenzung des Bistums, sich
lätte entgehen lassen. Versuchen wir festzustellen, was der Poet
A/esentlich über Einhard Hinausgehendes meldet, so ist es die Zugabe
Ion Zeit und Ort (803, Salz) und eine Bestimmung wegen Leistung
jjer Zehnten. Genau das steht aber, noch ohne jede Beziehung zur
brkunde, zum Jahre 803 in den Quedlinburger Annalen; und in der
lier wohl in reinster Überlieferung gebotenen Nachricht liegt die ge-
,Tieinsame Quelle für den Poeten, die Urkundenfälschung und die
i^pätere Annalistik. Zur Erkenntnis der Art dieser Quelle wies Hüffer
^uf die richtige Spur,^ ohne daß ich den weiteren Schlüssen, die er
|daran knüpft, zustimmen könnte. Die Fassung läßt ein wahrscheinlich
durch spätere Zutaten entstelltes Kapitulare als Grundlage erkennen.
ch mache darauf aufmerksam, daß einzelne Handschriften der soge-
nannten Capitula ecclesiastica die Überschrift „in anno quarto ad Salz"
jagen, ^ und daß Bestimmungen, welche die Entrichtung der Zehnten
iurch jeden Mann und von jeglichem Besitz und Erwerb ein-
ischärfen, auch in erhaltenen Kapitularien und Synodalbestimmungen
'sich finden.^
Doch auch die Quedlinburger Annalen enthalten, ohne ausdrück-
iche Berufung auf eine Urkunde^ und ohne die Nachrichten von 781
' S. 77 t.
^ MG. Capit. ed. ßoretius 1, 119.
^ Eine gute Zusammenstellung der Belege gibt Ernst Pereis, Die kirchlichen
lehnten im Karolingischen Reiche S. 24ff. Capit. 1, 106 c. 6 decimas totius facul-
i;atis, Capitulatio de partibus Saxoniae, Capit. 1, 69 c. 17 — ut omnes decimam
Dartem substantiae et laboris suis ecclesiis et sacerdotibus donent, tam no-
bles quam ingenui et liti, Frankfurter Synode vom Jahre 794 MG. Concil. 2,
168 c. 25 et omnis homo ex sua proprietate legitimam decimam ad ecclesiam
;onferat. Konzil von Arles vom Jahre 813 MG. Concil. 2, 251 c. 9 ut unusquisque
ie propriis laboribus decimas et primitias deo offerat. Die Worte „omnes, di-
'»^ites et pauperes, totius suae culturae ac nutriturae decimas reddere iussit" der
^uedlinburger Annalen, der tialberstädter Chronik und der Fälschungen sind nur
leue Ausdrücke alter Bestimmungen. Für die Feststellung des Filiationsverhältnisses
st es vielleicht nicht ganz gleichgültig, daß sich die Lesart ^,culturae" in den
^uedlinburger Annalen und den Fälschungen für Bremen und Verden und „agri-
:ulturae" in der Halberstädter Chronik und dem Annalista Saxo gegenüberstehen.
" Wie dies in der tialberstädter Chronik und beim Annalista Saxo geschieht:
,suoque imperio augustali et imprevaricabili privilegio confirmavit".
AfU II 14
210 ^- Tangl
und 803 zueinander in Beziehung zu setzen in einem wesentlicher
Punkte doch mehr, als wir an der Hand der bisherigen Quellen nach-:
zuweisen vermochten — die Bistumsumgrenzung. Die Vorlage hierfSii
kann nach Hüffer nur urkundlich und sie muß gleichzeitig und zuver-
lässig gewesen sein. „Urkunden müssen bereits an der Wiege del
sächsischen Kirchen gestanden haben", behauptet er (S. 132); und zwan
nicht Urkunden, die Vergabung bestimmter Güter oder Verleihung vor'
Immunität enthielten, wie wir sie selbstverständlich zugeben, sonden^
eigentliche Gründungs- und Zirkumskriptionsurkunden. Dieser kate^
gorische Imperativ nimmt sich doch etwas sonderbar aus gegenübei
der Tatsache, daß uns bis gegen die Mitte des 10. Jahrhunderts Ur-
kunden solcher Art nirgends erhalten sind. Die Überlieferung de»
älteren Urkunden der sächsischen Bistümer ist im allgemeinen dürftig
und schlecht; bei Paderborn aber ist sie gut und von Fälschung gan2
frei: Wir besitzen noch fünf Königsurkunden aus Karolingerzeit, dar-
unter vier in schönen Originalen,^ ohne daß wir verlorene Diplome
ausdrücklich nachweisen könnten. Wie kommt es, daß die Bischöfe
von Paderborn die von Ludwig d. Fr. verliehene Immunität sich von
Ludwig d. Deutschen, Ludwig d. Jüngeren und Arnulf bestätigen ließen^
aber nicht die so ungleich wichtigere Gründungs- und Zirkumskriptions-^
Urkunde Karls d. Gr., die sie doch auch haben „mußten", so gut wie
Halberstadt, Bremen und Verden?
Schwieriger liegt die Frage bei Hildesheim. ^ Hier ist uns im
Hildesheimer Urkundenverzeichnis aus dem Anfang des 11. Jahrhunderts^
die erste bekannte Urkunde für dieses Bistum folgendermaßen be-
schrieben: Primum preceptum semritatis et libertatis, qmd dominuh'
Guntharius primus fiildeneshey'mensis ecdesie episcopus de termina-
tione et circumscripcione notissimomm finium episcopatus sui ei
de canonica institutione lihera ah omni impressione excepto regte servi-
tütis debito ab Lodowico imperatore filio Karoli Magni acquisivit. Ni\\
^ M. 753, 1439, 1571, 1758, sämtlich Immunitäten, dazu M. 1714 in Kopie saec
XV über freie Bischofswahl.
^ Ich war in meiner früheren Arbeit auf diese Frage nur ganz kurz eingegangen,
weil ich sie durch das urteil Bresslaus in der Vorbemerkung zu DH. II. 256 erledigt
hielt: ,,Die Hildesheimer Kirche hat sicherlich nie ein karolingisches Diplom solchen
Inhalts besessen, weil sie niemals gegenüber den Mainzern davon Gebrauch gemacht
hat." Aus freundlicher Mitteilung Bresslaus erfahre ich aber, daß er dieses ürtei!
nicht auf die Zirkumskriptionsfrage im allgemeinen, sondern nur auf die bestimmte
Art der Abgrenzung gegen Mainz an der strittigen Gandersheimer Ecke bezogen hat.
Ich habe daraufhin diese Frage von neuem vorgenommen, und eingehender noch hat
sich mit ihr mein Mitarbeiter Dr. Ernst Müller befaßt, der seine Ergebnisse, die hier
nur kurz verwertet sind, selbständig vortragen wird.
' Ja nicke, ÜB. des Hochstiftes Hildesheim 1, 52 Nr. 60.
Forschungen zu Karolinger Diplomen 211
er tiildesheimer ürkundenüberlieferung ist es recht übel bestellt, da
in großer Brand im Jahre 1013 die Urkunden vernichtete. Es ist uns
jiaher weder eine Karolinger Urkunde, noch eine solche Heinrichs I.,
jDttos I. und Ottos II. für Hildesheim erhalten, und die Diplome Ottos III.
pO. III. 390 und 409 für Bischof Bernward verdanken wir wohl nur
idem Zufall, daß sie zur Zeit des Brandes nicht im Domarchiv verwahrt
vvaren. Auch die wichtige Entscheidung, durch die Heinrich II. im
Jahre 1007 den berühmten Gandersheimer Streit beilegte, wurde damals
ein Raub der Flammen. Mit ihrer Erneuerung (DH.II. 255) setzt der
in größerem Umfange unternommene Versuch Bischof Bernwards ein,
^on älteren Rechten und Ansprüchen seiner Kirche so viel wie mög-
lich urkundlich festzulegen. Das geschah auch in der Erneuerung der
' Immunität durch Heinrich II. (DH.II. 256), die in zwei sehr merkwürdigen
Ausfertigungen vorliegt,^ die beide von dem durch Bernward in die
Kanzlei gebrachten Schreiber GB. herrühren, einem frei stilisierten Ent-
jwurf, der auch eine Grenzumschreibung enthielt, dem aber Billigung
und Vollziehung durch die Kanzlei versagt wurde, und einer voll-
jzogenen und besiegelten Urkunde, deren Fassung aber viel weniger frei,
Isondern, wie längst erkannt,^ in ihrem ersten Teil einem Karolingischen
[Vorbild entnommen ist. Diese Vorlage aber war nicht von anders
woher erborgt, sondern die echte Immunität Ludwigs d. Fr. für Hildes-
heim, die sich in einer wohl ebenfalls mit der Person des GB. zusam-
menhängenden Überlieferung auch nach dem Brand erhalten haben
pußte. Sie aber enthielt nichts als eine mit der Gruppe Worms-
iHalberstadt- Visbeck eng verwandte Immunität ohne Grenzweisung.
Der Verfasser des ürkundenverzeichnisses hat hier das übrige wohl
aus seiner Phantasie zugegeben, und diese wieder hing mit der ab-
igelehnten Grenzweisung von DH.II. 256a eng zusammen, die unmittel-
;bar zuvor unter Bischof Bernward in einem Weistum zum erstenmal
Igesondert aufgezeichnet worden war.^ Hierzu stimmt aufs beste, daß
jnoch zu Ausgang des 10. Jahrhunderts unter Otto lll. die Grenze
(Zwischen Minden und Hildesheim durch Inquisitionsverfahren fest-
igestellt werden mußte, ohne daß von der einen oder anderen Seite
eine Zirkumskriptionsurkunde vorgewiesen werden konnte.^
^ Erschöpfender Nachweis von Br esslau in der ausfühdichen Vorbemerkung
zu DH. II. 256.
^ Außer Bresslau vgl. Stengel, Die Immunitätsurkunden der deutschen Könige
vom 10.— 12. Jahrhundert. Berliner Dissertation. 1902. S. 17; vgl. auch dessen
Habilitationsschrift, Die Verfasser der deutschen Immunitätsprivilegien des 10. und
|ll. Jahrhunderts. S. 96. Weitere Forschungen Stengels im Zusammenhang einer
kritischen Prüfung aller Immunitätsurkunden stehen in naher Aussicht.
' Vgl. Bresslau, MG. DD. 3, 297.
'' Jan icke, ÜB. des tlochstiftes tiildesheim 1, 24 Nr. 35.
14*
I
212 M. Tangl
Wir besitzen einzelne bestimmte Zeugnisse, daß im Streitfall teils
auf der Synode, teils ausdrücklich durch Königsurkunden über strittige
Bistumsgrenzen entschieden wurde. Das geschah aber stets durch
Demarkation an der strittigen Stelle, nicht durch allgemeine Zir-
kumskription. Durch die Reimser Synode vom Jahre 814 wurde
der Grenzstreit zwischen den Bistümern Noyon und Soissons dahin
geschlichtet, daß die Oise fortan diese Grenze bilden und der Gau von
Noyon zwischen beiden Diözesen aufgeteilt werden sollte.^ Im Jahre
811 wiederholte Karl d. Gr. eine Entscheidung, die er bereits 803 im
Streite zwischen Salzburg und Aquileja dahin getroffen hatte, daß
fortan die Drau die Grenze der beiden Sprengel bilden sollte.^ Es ist
dies aber auch neben der Wiederholung dieser Entscheidung durch
Ludwig d. Fr. die einzige echte Königsurkunde dieser Art, denn die
Urkunde Ludwigs des Deutschen (M. 1341), die eine Abgrenzung
ähnlicher Art zwischen Salzburg und Passau vornimmt, ist auf Grund
dieser Abgrenzungsurkunde zwischen Salzburg und Aquileja gefälscht.
Und nun sehen wir uns die erhaltenen Grenzweisungen auch
noch ein wenig auf ihre Zuverlässigkeit hin an. Die Verdener enthält
überhaupt nur einen Wunschzettel; das beanspruchte Gebiet umfaßt
die Sprengel Verden + Ratzeburg + Mecklenburg.^ Aber auch die
Abgrenzung zwischen Bremen und Verden selbst, wie sie in beiden
Fälschungen angegeben wird, entspricht erst den durch die Gründung
des Hamburger Erzbistums veränderten Verhältnissen seit der Mitte
des 9. Jahrhunderts.* Karl d. Gr. kann die Grenzscheidung so nicht
vorgenommen haben, und die Halberstädter Umgrenzung soll er 803
oder gar schon 780/81 so gezogen haben, während im Südwesten der
späteren Diözese noch Hersfeld seine Missionstätigkeit ausübte und
Hildesheim, gegen das die Scheidewand so sorgsam aufgerichtet wurde,
noch gar nicht bestand?
Dabei soll natürlich nicht geleugnet werden und ist auch von der
Forschung nie bestritten worden, daß bestimmte Abgrenzungen schon bei
der Zuweisung der Missionsgebiete vorgenommen worden sind. Welcher
^ Flodoard, Historia Remensis eccl. SS. 13, 466. Die Frankfurter Synode vom
Jahre 794 befaßte sich bei Erörterung der Ausdehnung der Kirchenprovinzen von
Arles, Vienne, Tarantaise und Embrun nicht mit Fragen der Diözesan-Zirkumskription,
sondern mit der kirchenrechtlichen Frage der Zuweisung der einzelnen Suffragan-
bischöfe an die genannten Metropoliten. Daraus erklärt sich auch, daß zur Ent-
scheidung dieser Frage in erster Linie der Papst als zuständig anerkannt wurde.
MG. Concil. 2, 167 c. 8.
MG. DK. 2ll; vgl. meine Bemerkungen zu diesem Diplom, Nachträge S. 266
bis 267.
^ Vgl. meine Ausführungen Mitteil. d. Instituts f. österr. G.-F. 18, 62—63.
* Schlagender Nachweis von Hauck, Kirchengesch. 2, 389 Anm. 1.
Forschungen zu Karolinger Diplomen 213
Art sie waren, darüber belehren uns zuverlässig einzelne Angaben über
das Walten der Missionare. So werden dem h. Liudger fünf Gaue,
iem h. Willehad sechs Gaue, vier friesische und zwei sächsische, zu-
i^ewiesen.^ Näherer Abgrenzungen bedurfte es gar nicht, am wenigsten
l^olcher durch Königsurkunden. Von diesen Anfängen bis zur endgiltigen
Ausgestaltung der kirchlichen Hierarchie im Sachsenlande war noch
>in weiter Weg, dessen einzelne Stadien, die durch das allmähliche
Entstehen und Erstarken der Bistümer selbst und daneben durch das
Ausscheiden der klösterlichen Missionsgebiete (Fulda, Hersfeld, Meppen,
^isbeck) gegeben sind, sich auf mehr als ein halbes Jahrhundert ver-
;eilen. Die angeblichen Zirkumskriptionsurkunden Karls d. Gr. für
flalberstadt, Bremen und Verden sind als Ganzes wie in ihren Teilen
/Anachronismen, von denen schlechterdings nichts als ursprünglicher
i md zuverlässiger Bestand zu retten ist.
Bei Verden lag in der Art der Grenzumschreibung der Kernpunkt
I jnd das eigentliche praktische Ziel der Fälschung, die dem Bischof
• [lermann von Verden als Beleg für seine „Querimonia" bei Heinrich
dem Löwen dienen sollte. Kam ähnlich auch die Kirche von Halber-
stadt in die Lage, nicht nur weitergehenden Wünschen hinsichtlich der
Ausdehnung ihrer Diözese entsagen zu müssen, sondern sich in den
alten Grenzen selbst beeinträchtigt zu sehen? Gewiß! Es ist die Zeit,
ia Halberstadt durch die Gründung des Erzbistums Magdeburg, in
dessen Stellung einzurücken es vorübergehend selbst hoffen durfte, in
bedeutendem Maße von der Elbelinie abgedrängt wurde und auch an
der Saale und ünstrut altes Diözesangebiet an das neue Bistum Merse-
burg abgeben mußte.
Durch Jahre hatte sich Bischof Bernhard von Halberstadt, ebenso
.vie aus anderen Gründen Erzbischof Wilhelm von Mainz, gegen die
drohende und sehr empfindliche Beeinträchtigung seines Sprengeis
gewehrt. Otto L konnte hier erst ans Ziel gelangen, indem er das
pemlich gleichzeitige Ableben Bernhards von Halberstadt (9. Februar
968) und Wilhelms von Mainz (2. März 968) dazu ausnützte, daß
ir ihre beiden Nachfolger, Hildiward und Hatto, von vornherein auf
hre Zustimmung zu seinen Neugründungen hin investierte. Dieser
Verzicht erfolgte erst im Oktober 968. Der Mainzer stimmte der
^ So ist auch die Stelle der Translatio S. Liborii, als dessen Verfasser Hüffer,
Dhne zu überzeugen, ebenfalls Agius vermutet, SS. 4, 150 „parrochias diligenti ratione
suis quasque terminis servandas designans" lediglich als Umschreibung der Mit-
teilung der Ann. Laureshamenses „divisitque ipsam patriam inter episcopos" zu ver-
stehen; denn unmittelbar daran schließt sich in der Translatio der Bericht über das
^ur Begründung selbständiger Bistümer erst allmählich überleitende Walten der Mis-
sionare, dessen ich bereits oben S. 208 Anm. 2 gedachte.
I
214 ^' Tangl
Erhebung des neuen Metropoliten zu und entließ seine, selbst erst neu
gewonnenen, Suffragane von Brandenburg und Havelberg aus seinem
Metropolitanverband, der Halberstädter wich an der Elbe zugunsten von
Magdeburg und im Winkel zwischen Saale, ünstrut und Helme zu-
gunsten von Merseburg zurück.^
Wenn der Halberstädter Fälschung je praktische Bedeutung zukam,
dann war es in der Zeit des zähen Widerstandes Bischof Bernhards,
in den sechziger Jahren des 10. Jahrhunderts. Und da Fälschungen
in der erdrückenden Zahl von Fällen nicht als Rüstzeug für die Zukunft
sondern für den augenblicklichen Bedarf verfertigt zu werden pflegen,
so haben wir damit wohl auch die Entstehungszeit dieser Fälschung
gefunden. Ihre hauptsächliche Tendenz lag in den drei ersten Worten
der ümgrenzungslinie: Albiam, Salam, Unstradam, Damit verteidigte
sie die alte, ungeschmälerte Ost- und Südgrenze, gegen deren Beein-
trächtigung sie durch das „unverbrüchliche Privileg" des Großen Karl
Einspruch erhob. ^ Wahrscheinlich gingen hier zwei Stadien der
Fälschung nebeneinander her, die Einschiebung der Umgrenzung in
die Chronik, wie sie jetzt in der Ableitung der Quedlinburger Annalen
vorliegt, und die Anfertigung der Karlsfälschung selbst, auf deren Vor-
handensein die jüngere Fassung der Halberstädter Chronik dann aus-
drücklich Bezug nimmt. In die Immunität Ludwigs d. Fr. wurde statt
der ümgrenzungslinie eine Aufzählung der Bistumgaue eingeschoben,
aber sie deckt sich der Tendenz nach genau mit jener; ümgrenzungs-
linie dort und Flächenangabe hier stimmen ganz überein. Es ist daher
auch für die Entstellung der Ludwig-Urkunde kein anderer Zeitpunkt
zu suchen, wenn auch der Grad der Verfälschung ein sehr verschiedener
ist: hier zwei leicht zu erkennende Einschübe, bei der Karlsfälschung
vom Anfang bis zum Ende freie Erfindung.
Die ümgrenzungsfrage blieb fortan durch ein halbes Jahrhundert
fortgesetzt in Fluß. Sie spielt mit eine Rolle, als König Otto 11. das
Bistum Merseburg vorübergehend aufhob und Halberstadt seine Ab-
tretungen zwischen Saale, ünstrut und Helme wieder zurückerhielt.
Papst Benedikt Vll. erkannte 981 diese Veränderungen an und ordnete
zugleich die Grenzfrage zwischen Magdeburg und Halberstadt, wobei
er sich ausdrücklich auf eine Beschwerdeschrift des Halberstädter
* Im allgemeinen vgl. ühlirz, Gesch. des Erzbistums Magdeburg unter den
Kaisern aus Sächsischem Hause, besonders Exkurs V, S. 133ff. und P. Kehr, ÜB.
des tiochstifts Merseburg, 1, 7 Nr. 5; an beiden Stellen auch die Deutung der neuen
Grenzlinie; ferner Hauck 3, 113-125.
^ Vgl. Gesta epis'c. tialberstad. SS. 23, 78 „parrochiam hanc certis undique
terminis circumscripsit suoque imperio augustali et inprevaricabili privilegio
confirmavit".
Forschungen zu Karolinger Diplomen 215
Mschofs berief, die von fortgesetzten schweren Irrungen und Streitig-
keiten sprach.^ Als das Bistum Merseburg vom König Heinrich II. im
Jahre 1004 wieder hergestellt wurde, blieb seine Ausstattung auf dem
inken Saaleufer weit hinter der bei der ersten Gründung zurück; es
nußte sich jetzt mit einem ganz kleinen Gebiet im Umkreis von Merse-
burg begnügen,^ und Halberstadt behielt endgihig die Unstrut als Süd-
Frenze, während es 968 das ganze Gebiet südlich vom Wilderbach,
jem Salzsee, dem Einfluß der Salza in die Saale bis zur Unstrut und
Ä^estlich bis zur Helme hatte abtreten müssen. Die Zähigkeit des von
Urkundenfälschung begleiteten Widerstandes endete also hier mit einem
Ä^enigstens teilweisen Erfolg. Wenige Jahre später ließ sich Bischof
Arnulf von Halberstadt durch Papst Benedikt VIII. die Bistumsgrenzen
bestätigen. In dieser Urkunde, die wir leider nur als kurzes, undatiertes
Regest in der Halberstädter Chronik besitzen, dessen Zuverlässigkeit
anzuzweifeln wir aber keinen Anlaß haben, wird die durch die Gau-
lnamen verunechtete Urkunde Ludwigs d. Fr. zum erstenmal erwähnt.^
Durch eine eigene, genaue Grenzweisung^ brachte dann Bischof Arnulf
diese Frage zum Abschluß.
Die Bistumsgründungen Ottos I. bedeuten den zweiten großen
Vorstoß in der Ausbreitung der kirchlichen Hierarchie nach dem Norden
und Osten. Er gleicht dem unter Karl d. Gr. wie in anderer Hinsicht
so auch darin, daß diese Neugründungen wesentlich in zwei großen
Absätzen erfolgten, die etwa 20 Jahre auseinander liegen. Äußere
Schwierigkeiten hatte Otto I. hierbei nicht in dem Maße zu überwinden
wie sein großer Vorgänger. Der Boden war viel besser vorbereitet,
dazu eine feste Tradition längst geschaffen. Aber nach anderer Rich-
' JL. 4043, MG. SS. 23, 91, Schmidt, ÜB. des Hochstifts tialberstadt 1, 33
Nr. 47: „recitata est etiam epistola ab Hildewardo episcopo Halberstatensis ecclesi?
jdelata, humiliter expetens limites su^ diocesis et Magdeburgensis confusos, ne dis-
icordiis locus pateat, nostra diffinitione discerni, unde inter confratrem et coepis-
icopum nostrum Adalbertum archipresulem et Hildewardum lites immensas exortas
pene usque ad homicidia didicimus profecisse."
' P. Kehr, Merseburger ÜB. 1, 30 Nr. 29, 32, Nr. 31.
^ SS. 23, 91, Schmidt, ÜB. von Halberstadt 1, 50. Die Namen der fünf Gaue
sind die gleichen wie im Diplom Ludwigs d. Fr., doch ist der Abtretung an Magde-
burg ausdrücklich gedacht (excepta tamen determinatione intra viam quam dicunt
Frederikeswech ac tres fluvios Albiam, Bodam et Oram determinata); der Auszug
schließt: „et omnia que Lodewicus Imperator Halberstadensi ecclesie concessit, auc-
toritate apostolici privilegii obtinuit confirmari". Die Annahme Mühlbachers, daß
umgekehrt der Fälscher erst die fünf Gaunamen dieser Papsturkunde entlehnte, halte
ich für verfehlt.
^ SS. 23, 91 und Schmidt, ÜB. 1,50 in unmittelbarem Anschluß an den Aus-
zug aus dem Papstprivileg.
I
216 M. Tangl
1
1 aon ™
tung hatte Otto I. viel weniger freie Hand. Seine Neuschöpfungen'
griffen, zum Teil wenigstens, in bereits erworbene Rechte ein, und die
dadurch Betroffenen vermochten ihren Einspruch mit Nachdruck geltend
zu machen. Denn in den nahe 200 Jahren, die seit der Christiani-
sierung des Sachsenlandes vergangen waren, hatte sich die Stellunj
des Episkopats ganz gewaltig gehoben. Bernhard von tialberstadti
konnte sich bis an sein Lebensende den Plänen Otto I. hemmend ent-
gegenstellen; ein Bischof oder Erzbischof von Mainz, Köln oder Würz-
burg, der ähnliches Karl d. Gr. gegenüber gewagt hätte, wäre kurzer;
Hand entfernt worden und hätte in Klosterhaft in Jumieges oder Corbto
Gelegenheit gehabt, über das Vergebliche seines Widerstandes nachzu-^
denken. Die mehrfachen Hemmnisse, die sich der Gründung und dem
Ausbau der Magdeburger Kirchenprovinz entgegenstellten, sind bekannti
und oben bereits berührt; aber auch bei den Bistumsgründungen den
vierziger Jahre scheint es an Widerstand, dem der König Rechnungi
tragen mußte, nicht gefehlt zu haben. ^ Ein anderer Faktor noch sprach
jetzt entscheidend mit, dessen Macht sich im Laufe des 9. Jahrhunderts
gewaltig gehoben hatte und der seine Ansprüche trotz der verrotteten
römischen Verhältnisse während des 10. Jahrhunderts aufrecht erhielt,
— das Papsttum. Diese veränderte Lage kommt nun in den Urkunden,
welche die Bistumsgründungen Ottos I. begleiten, deutlich zum Aus-
druck. In den Gründungsurkunden für Brandenburg und Havelberg^l
wird die Mitwirkung und Zustimmung des päpstlichen Legaten, der'
Erzbischöfe von Mainz und Hamburg und des Markgrafen Gero aus-
drücklich erwähnt. Die einzelnen Schritte vollends, die zur Gründung
der Magdeburger Kirchenprovinz und der neuen Bistümer Merseburg,
Meißen und Zeitz führten, wurden in Zustimmungs- und Verzicht-
urkunden, Synodalprotokollen und päpstlichen Bestätigungsprivilegien \
festgelegt. Dafür zeigen die Königsurkunden in dieser Angelegenheit !
eine ganz andere Art und Fassung als die Gründungsurkunden für
Brandenburg und Havelberg. Als eigentliche Bestätigungsurkunde
wurde gemeinsam für Magdeburg und seine drei neuen Suffragane |
nicht ein Diplom, sondern ein undatiertes, aber durch vollzogenes '
^ Fr. Curschmann, Die Diözese Brandenburg, S. 20, hat die ansprechende
Vermutung aufgestellt, daß damals die Reihe der Neugründungen mit Brandenburg
nur deshalb abbrach, weil Friedrich von Mainz das Missionsgebiet zwischen Saale
und Elbe erfolgreich für sich selbst beanspruchte.
^ DO. I. 105 und 76. Das Brandenburger Diplom ist noch im Original erhalten,
das tiavelberger nur in jüngerer Abschrift und an bestimmter Stelle verunechtet
(vgl. hierüber Curschmann, NA. 28, 393 ff., während Sickel in der Diplomata-
Ausgabe noch volle Zuverlässigkeit angenommen hatte); im Aufbau aber und den
Teilen, auf die es mir hier ankommt, stimmen die beiden Diplome überein.
Forschungen zu Karolinger Diplomen 217
jWonogramm und Siegel beglaubigtes Mandat ausgestellt (DO. I. 366),
leben dem noch einzelne Bewidmungsurkunden einherliefen. ^
In ganz ähnlichen urkundlichen Formen vollzog sich dann unter
ieinrich II. 1007 die Gründung des Bistums Bamberg. Der eigent-
jche Gründungsakt wurde im Protokoll über die Frankfurter Synode
liedergelegt (DH. II. 143); daran schloß sich die lange Reihe der Aus-
jtattungsurkunden, die sämtlich, gleich der Synodalurkunde, das Datum
''om 1. November 1007 tragen (DH. II. 144—170).' Eine Bistums-
:irkumskription ist weder in die Königsurkunden der Magde-
burger Gruppe, noch in die für Bamberg aufgenommen. Sie
'>teht in denen für Brandenburg und Havelberg ganz allein.
Hüffers kategorischer Imperativ, daß Karl d. Gr. für die acht säch-
pischen Bistümer solche Gründungs- und ümgrenzungsurkunden aus-
gestellt haben müsse, erscheint dadurch in noch zweifelhafterem Lichte,
venn wir sehen, daß die Reichskanzlei unter Otto I. hierin weder eine
este Tradition in der Vergangenheit vorfand, noch für die Zukunft
line solche schuf.
Die gefälschte Gründungsurkunde Karls d. Gr. für das Halber-
itädter Bistum entstand, wie wir aus den bisherigen Darlegungen er-
phen, in den sechziger Jahren des 10. Jahrhunderts, nach ihrem Auf-
bau in starker Anlehnung an die Gründungsurkunden Ottos I. für
Brandenburg und Havelberg,^ die einzigen aus der Reichskanzlei hervor-
' Für Magdeburg DO. I. 361, 362, 363, 565 u. a.; für Meißen DO. I. 406, für
'eitz DO. II. 139. Ob daher eine eigentliche Gründungsurkunde für Merseburg aus-
gestellt wurde, wie dies P. Kehr, Merseburger ÜB. 1, 7 Nr. 6 als sicher voraussetzt,
nöchte ich bezweifeln; ich glaube, daß es sich bei der verlorenen Urkunde, über
jlie die Merseburger Bischofschronik nur ganz knappe Andeutungen gibt, um eine
ichenkung handelt, ähnlich wie bei Magdeburg, Meißen und Zeitz. Die übrigen Ur-
kunden, die der königlichen Bestätigung vorangingen und sie begleiteten, sind in
ien ürkundenbüchern von Schmidt und Kehr verzeichnet und von ühlirz in
einer Geschichte des Erzbistums Magdeburg gewürdigt.
" Zur Gründung Bambergs war ein Teil des Würzburger Bistums abgetreten
ind diese Abtretung auch genau umschrieben worden. Dies geschah in einer Notitia
les Bischofs Heinrich von Würzburg, die später in das Privileg Leos IX. für Bam-
)erg, JL. 4283 eingerückt wurde. Daß sie als Grundlage auch für eine königliche
Jmgrenzungsurkunde gedient habe, ist uns nicht bekannt, und die Nachricht der
iildesheimer Annalen zu 1014, auf die mich Bresslau freundlichst aufmerksam macht,
laß damals unter dem Zusammenwirken Heinrichs II. und Benedikts VIII. eine feier-
iche Verbriefung für das junge Bistum stattfand, lautet viel zu unbestimmt, um für
liese verlorene Urkunde einen Inhalt gerade dieser Art anzunehmen. (Ann. Hildes-
leimenses, ed. Waitz SS. rr. Germ. 31: Pentecosten Babenberhg festive peregit; quo
unc privilegia eiusdem loci res continentia iussit inscribere, firmata sigillo sue auc-
oritatis et roborata apostolico iure Romani pontificis, ut essent illorum banno firmata.
^ Für die Einzelheiten verweise ich hier auf meine Arbeit in den Beiträgen z.
)randenb. u. preuß. Gesch. S. v398ff.
I
218 M- Tangl
gegangenen Zirkumskriptionsurkunden, die man bis dahin kannte. Für
die Entstehungszeit der von ihr ganz und gar abhängigen Bremer Fäl-
schung, die zum erstenmal in dem unmittelbar nach 1072 ver-
faßten Geschichtswerk Adams von Bremen benutzt ist, ergibt sich als;
Spielraum etwa das Jahrhundert von 970—1070. Ich war früher ge-;
neigt, ^ ihre Entstehung schon im 10. Jahrhundert zu suchen, stehe
aber nicht an zu erklären, daß ich jetzt der Annahme von Simson'
den Vorzug gebe, der auf die engen Beziehungen hinweist, die irr
11. Jahrhundert zwischen Halberstadt und Hamburg-Bremen herrschten
Zwei fiamburger Erzbischöfe, Hermann (1032—1035) und Adalber
(1045 — 1072), waren zuvor Dompröpste von Halberstadt gewesen
Aldabert hatte hier seine Erziehung erhalten.^
Wir werden bei Besprechung der Osnabrücker Urkunde Lud-
wigs d. Fr. sehen, daß auch hier Beziehungen zur Gruppe Halberstadt-
Bremen-Verden bestehen, und wir werden uns, da die Verdener Fäl-;
schung als jüngstes Glied der gesamten Reihe außer Betracht bleibt'
zu entscheiden haben, ob dieser Einfluß durch das Halberstädter ür
bild oder durch die Bremer Nachahmung, und hier wieder direkt ode
durch Adams Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum vermittelt ist
Aber in unseren bisherigen Ausführungen klafft noch eine be
deutende Lücke. Die zweite Osnabrücker Fälschung auf den Namer
Karls d. Gr. gibt sich als Verleihung eines Wildbanns. Dieser so!
aber nach Jostes ursprünglich gar kein richtiger Wildbann, sondern da^
ursprüngliche Missionsgebiet des Osnabrücker Sprengeis sein; diesen
gelte auch in erster Linie die beigegebene Umgrenzung, die sich durcl
das Alter einzelner Namensformen als karolingisch verbürge. Als(
allem unserem Sträuben zum Trotz doch eine karolingische Zirkumskrip-
tionsurkunde!
Beides führt uns zu unseren Osnabrücker Urkunden zurück.
3. Der Zehntstreit
Die Reihe der echten Zeugnisse, die uns aus dem Osnabrückei
Lager zur Verfügung stehen, eröffnet die Querimonia Egilmari, dit
Klageschrift, die Bischof Egilmar von Osnabrück i. J.890— 891 an Papsi
Stephan V. wegen der widerrechtlichen Entziehung eines großen Teilei
' Mitteil. d. Instituts f. österr. G.-F. 18, 66.
' NA. 32, 45.
^ Die jüngst erschienene Arbeit von Curschmann, Die älteren Papsturkundei
des Erzbistums Hamburg, Hamburg u. Leipzig 1909, unterläßt es leider, sich aucl
mit den gefälschten Königsurkunden zu befassen.
Forschungen zu Karolinger Diplomen 219
ier Zehnten seines Bistums richtete.^ Ihre Darlegungen beginnen mit
ikr Erklärung, daß die Einkünfte Osnabrücks wie der anderen säch-
;ischen Bistümer zur Zeit ihrer Gründung durch Karl d. Gr. wesentlich
pur in den Kirchenzehnten bestanden, da es andere Einnahmequellen
l;ür sie damals nicht gab.^ Diese Nachricht enthält eine in guter
Tradition festgehaltene Wahrheit. In der Tat fehlten diesen neuen
Kirchen des Ostens — das hatte auch schon Bonifatius bei seinen
iSeugründungen erfahren müssen — zunächst ganz und gar die wirt-
schaftlichen Grundlagen, deren sich die älteren fränkischen Bistümer
poch von ausgehender Römerzeit her erfreuten. Diese Grundlagen
konnten, da freiwillige Landzuweisungen erst von einer viel späteren
l^eit zu erwarten waren, zunächst nur durch Güterkonfiskationen ^ und
[verschärfte Eintreibung der Kirchenzehnten gewonnen werden. In der
peschichte dieser Zehnten war aber gerade damals eine entscheidende
^Vendung dadurch eingetreten, daß sich jetzt das fränkische Königtum
für diese alte Forderung der Kirche und der Synoden einsetzte und
durch die erzwingbare Vollstreckung, die es gewährleistete, die alte,
in ihrem Ertrag wohl kaum sehr bedeutende Liebesgabe zu einer wirk-
samen Kirchensteuer umgestaltete. Ob nun Karl d. Gr. schöpferisch
hierin vorging oder ob er, wie jetzt wahrscheinlicher geworden ist, nur
mit noch größerem Eifer eine Richtung fortsetzte, die als erster schon
sein Vater Pippin eingeschlagen hatte, jedenfalls ist den eigenartigen
jVerhältnissen des der Kirche neu erschlossenen Ostens eine sehr
Wesentliche Einwirkung in der Sache zuzuschreiben; denn hier wurden
die Zehnten, was sie für die Kirchen des Westens nirgends zu sein
brauchten, die eigentliche Existenzgrundlage für die Zeit der Kirchen-
gründung und auch noch wesentlich darüber hinaus.^
^ Überliefert in Abschrift des 13. Jahrhunderts im Kapitelarchiv zu Osnabrück;
bester Druck bei Philippi, Osnabrücker ÜB. 1, 53 Nr. 60. Die Einreihung des un-
daüerten Schriftstücks hat schon Wilmans festgestellt.
^ Cum . . . princeps Karolus . . . singulos eiusdem provincie episcopatus ex
decimarum stipendiis constituisset, quia aliis ibi pastores et episcopi
donariis carebant.
^ Dieser Weg ist tatsächlich versucht worden, aber er war in hohem Maße be-
denklich, weil am wenigsten geeignet, dem Christentum Freunde unter dem Sachsen-
volk zu werben. So hat sich hier selbst die durch ihre Härte berüchtigte Capitu-
latio de partibus Saxoniae mit maßvollen Bestimmungen begnügt: MG. Capit. 1, 69
§ 15 Ad unamquamque ecclesiam curte et duos mansos terrae pagenses ad ecclesiam
recurrentes condonant et inter centum viginti homines, nobiles et ingenuis similiter
et litos, servum et ancillam eidem ecclesiae tribuant.
* Vgl. Ernst Pereis, Die kirchlichen Zehnten im Karol. Reiche, Berl. Diss. 1904,
und jetzt Stutz, Das karolingische Zehntgebot. Zeitschr. d. Savigny-Stiftung für
Rechtsgesch., Germ. Abt., 29. Bd., der in Pippin den Urheber und in dem staatlichen
I
220 M- Tangl
In diesen Dingen trat nun nach dem Zeugnis unserer Quelle seit
den dreißiger Jahren des 9. Jahrhunderts eine für Osnabrück höchst
ungünstige Wendung ein.
Bischof Gefwin von Osnabrück habe 833 an der Empörung der
Söhne Ludwigs d. Fr. wider den Vater übereifrigen Anteil genommen
und in der Kirche von St. Medard in Soissons dem alten Kaiser das
Wehrgehäng vom Leibe gerissen. Vor dem Zorn des bald wieder er-
hobenen Kaisers habe er aus seinem Bistum weichen und sich in das
Kloster Fulda flüchten müssen. Jetzt seien die Zehnten zu einem
guten Teil an die Klöster Korvey und Herford gegeben worden, und
der neue Bischof Gauzbert habe dies ohne Widerrede geschehen lassen,
froh, nach dem Scheitern seiner Missionstätigkeit bei den Schweden,
der er bis dahin obgelegen hatte, überhaupt eine, wenn auch be-
scheidene und in ihren Einkünften geschmälerte, Versorgung gefunden
zu haben.
Diese Erzählung ist von Justus Moser gläubig übernommen, von
Wilmans wiederholt und zuletzt noch von Philippi verteidigt; nach ihm
„liegt nicht der mindeste Grund vor, -gegen die Glaubwürdigkeit der
Nachricht in der Querimonia Egilmari Zweifel zu erheben".^
Die Nachprüfung gestaltet sich nicht allzu schwierig. Wir sind
über die Vorgänge, die sich anläßlich der Vorbereitung und Aus-
führung der Kirchenbuße Ludwigs d. Fr. zu Compiegne und Soissons
im Oktober 833 abspielten, recht gut unterrichtet. Das Protokoll der
Bischöfe über diesen Akt gedenkt auch der Ablegung des Wehr-
gehänges und stellt sie als eine, wenigstens äußerlich freiwillige, vom
Kaiser selbst vorgenommene Handlung dar.^ Tatsächlich aber stand der
Kaiser damals unter schwerstem Drucke. Das melden die Reichs-
annalen und die beiden Biographen Ludwigs und weisen dabei zürnend
auf den Erzbischof Ebo von Reims als den Leiter aller feind-
seligen Schritte wider den Kaiser.^ Weiter gehen dann zwei um etwa
Zehntgebot eine halbe Sühne für die divisio des Kirchengutes durch Karl Martel!
sieht. Doch geht Stutz meines Erachtens zu weit, wenn er den Verhältnissen in
Sachsen nur eine ganz abgeschwächte Bedeutung in der Frage zuerkennen will.
' Osnabrücker ÜB. 1, 12 Nr. 16. * —
^ MG. Capit. 2, 55 ac deinde cingulam militiae deposuit et super altare collo-
cavit. Noch deutlicher die Gegenausfertigung Agobards von Lyon zu diesem Proto-
koll: a. a. 0. 2, 57 deposita arma manu propria et ad crepidinem altaris proiecta.
^ Ann. Bertiniani, SS. rr. German. p. 7: In quo conventu multa in domnum impe-
ratorem crimina confixerunt. Inter quos Ebo Remorum episcopus falsarum obiectionum
incentor extiterat. Et tamdiu illum vexaverunt, quousque arma deponere habi-
tumquemutarecogentes liminibus ecclesiae pepulerunt. Thegan Vita Hludouuici c. 44
SS. 2, 599 Elegerunt tunc unum impudicum et crudelissimum qui dicebatur
Ebo Remensis episcopus Abstulerunt ei gladium e femore suo.
Forschungen zu Karolinger Diplomen 221
30 Jahre jüngere, in engstem Zusammenhang stehende Zeugnisse: das
Schreiben der Synode von Troyes an Papst Nikolaus I. vom Jahre 867
jnd ein in Flodoards Geschichte der Reimser Kirche überliefertes
Schreiben aus gleicher Zeit. Sie lassen den wieder zur Macht ge-
langten Kaiser gegen Ebo die Anklage erheben, daß er ihm das Wehr-
^ehäng vom Leibe gerissen habe.^ Ebo büßte seine Führerschaft bei
den Vorgängen von 833 durch Klosterhaft in Fulda, also merkwürdiger-
weise an gleicher Stätte wie der vorwitzige Bischof Gefwin von Osna-
brück. Dies hat schon Bernhard von Simson veranlaßt, die Erzählung
der Querimonia Egilmari abzulehnen und die Vermutung auszusprechen:
„Vielleicht verbirgt sich dahinter sogar eine Verwechslung mit dem
Erzbischof Ebo von Reims." ^ Doch die Vertreter der Osnabrücker
Tradition haben ja noch einen Beleg zur Verfügung. Erhard bringt
in seinen Regesta Westfaliae 341 aus dem handschriftlichen Nachlaß
Henselers die Nachricht, daß Gefwin auf der Synode von Diedenhofen
vom Februar 835 abgesetzt worden sei.^ Aber dieser zu Diedenhofen
Abgesetzte und zugleich der einzige, den der Spruch der Synode traf,
ist wieder — Ebo von Reims !^ Das dürfte genügen!
Tatsächlich läßt sich der stufenweise Ausbau der Tradition selten
klar verfolgen: Erst die gleichzeitigen Quellen, die von den tatsäch-
lichen Vorgängen und von Ebo als ihrem Veranstalter berichten.
Hier setzte die Sagenbildung ein; nach ihr mußte die Führerrolle
Ebos in einer bestimmten, den Kaiser entehrenden Handlung zum Aus-
druck gelangen, das war die gewalttätige Entwaffnung. Und wieder
30 Jahre später ist die Geschichte Ebos von Reims zur Wander-
geschichte geworden und wird von Gefwin von Osnabrück weiter-
erzählt.
Wir werden uns daher von dem Glauben an die geräuschvolle
Rolle, die Gefwin von Osnabrück für einen Augenblick in der Politik
^ Beide im entscheidenden Satz fast wörtlich übereinstimmende Zeugnisse sind
jetzt neu abgedruckt von Werminghoff MG. Concilia 2, 697, 699. Die Fassung
bei Flodoard lautet: Ebo vero in eadem sinodo presens ab imperatore presente ac-
cusatus est, quod eum falso fuerat criminatus et . . . a regno deiecerat armisque
ab eo ablatis nee confessum nee convictum ... ab ecclesiae aditu ac Christianorum
societate eliminaverat.
^ JB. Ludwigs d. Fr. 2, 73 und 136 A. 2; Ablehnend auch Mühlbacher Reg. 926\
widerspruchsvoll Dümmler, Ostfränk. Reich, 2. Aufl., der 1, 87 die Nachricht über
Goswin als „wenig glaubwürdig" bezeichnet, S. 108 aber üoswin „schuldbeladen"
sich nach Fulda zurückziehen läßt; vgl. auch S. 185 und 280.
' Vgl. auch Wilmans, Kü. Westfalens 1, 320 und Philippi, Osnabrücker ÜB.
1, 13 Nr. 18, dieser allerdings als unverbürgte und der Querimonia Egilmari wider-
sprechende Nachricht.
' Werminghoff, MG. Concilia 2, 696ff.
I
222 M- Tangl
Spielte und für die er und sein Bistum angeblich büßten, wohl los-
sagen müssen, um so eher, als wir uns dadurch zugleich das Kopf-
zerbrechen über zwei weitere Fragen sparen, wieso es kam, daß Lud
wig d. Deutsche, der doch den im Westreiche obdachlos gewordener
Ebo bei sich aufnahm und mit dem jungen Bistum tiildesheim ver-,
sorgte, in der Verfolgung Gefwins und der Beeinträchtigung seinem
Bistums erst recht fortfuhr, und weshalb die für diese Jahre so reich-
haltigen und zuverlässigen Annales necrologici Fuldenses von den
vieljährigen Gast ihres Klosters durchaus nichts wissen.
Die wirklichen Gründe für die ungünstige Weitergestaltung dei
Zehntfrage lagen weitab von den Pfaden der hohen Politik und sine
nicht in der Feindseligkeit gegen eine bestimmte Person oder ein Bis-
tum, sondern in der unter außergewöhnlicher Bevorrechtung erfolgter
Gründung und in gleichem Sinne dauernd fortgesetzten Begünstigung
des Klosters Korvey zu suchen.
So wird, wie längst und allgemein erkannt, die stattliche Reiht
der Korveyer (und Herforder) Urkunden zur wichtigen Erkenntnis-
quelle. Die Überlieferung ist auch hier nicht durchweg glatt und
sauber, aber doch ungleich zuverlässiger als bei Osnabrück. Eine
Reihe der ältesten und wichtigsten Urkunden liegt noch in einwand-
freien Originalen vor, andere sind im guten alten Chartular des
10. Jahrhunderts erhalten. Daneben laufen allerdings auch Fälschunger
mit unter, die aber den Blick über die gesicherte Entwicklung nichi
ernstlich zu trüben vermögen.
. Wenige Jahrzehnte erst waren seit der Begründung der ersten
christlichen Kirchen im Sachsenlande vergangen, aber die Verhältnisse
hatten sich bereits wesentlich geändert. Korvey bekam bei seiner
Gründung (822) von den Schwierigkeiten jener ersten Versuche wenig
mehr zu spüren. Für seine wirtschaftliche Grundlage war durch die
Zuwendung ausreichenden, wenn auch im Verhältnis zu älteren Klöstern
noch immer bescheidenen Grundbesitzes gesorgt.^ Außerdem erhielt
es sofort Immunität^ und, in weitgehender und ungewöhnlicher Be-,
vorrechtung, Befreiung von der Heerbannpflicht.^ Das Münzprivileg
für Korvey stellt vollends das erste und für die ganze frühere Karo-
lingerzeit einzige Zeugnis dieser Art dar.* Es war zugleich die Zeit,
zu der die neuen Diözesen im Sachsenlande zu endgiltigem Abschluß
gelangten, indem andere kirchliche Faktoren, besonders Klöster, die
* Über die Gründung Korvey s vgl. v. Simson, Ludwig d. Fr. 2, 266 ff.
* M. 780.
^ Das Präzept seligst ist nicht erhalten, wohl aber das als Ausführungsbestim-
mung geltende Original-Mandat /Y\. 924.
* M. 922 vgl. Soetbeer, Forsch, z. deutsch. Gesch. 6, 25ff.
Forschungen zu Karolinger Diplomen 223
jfrüher noch an der Mission beteiligt gewesen waren, sich zurück-
izogen und kleinere selbständige Missionszellen, die bis dahin noch
bestanden hatten, eingingen. Gerade solche Missions- und Taufkirchen
iwurden nun aber der Reihe nach an Korvey und Herford geschenkt:
ijdie Schenkung von Eresburg durch Ludwig d. Fr. machte 826 den An-
fang; es folgte 834 die wichtige Missionszelle Meppen, 838 die Kirche
von Rheine als Schenkung an das mit Korvey eng verbundene Frauen-
ikloster Herford und 855 durch Ludwig d. Deutschen die der Missions-
'zelle Visbeck.^ Diese Maßnahmen richteten sich keineswegs gegen
Osnabrück allein; Eresburg lag, wie das Kloster Korvey selbst, in der
Paderborner Diözese, Rheine in der von Münster, eine verlorene Lud-
jwig-ürkunde über eine Schenkung ähnlicher Art in der Bremer Diözese
KZehnten im Gau Ammeri) ist uns durch ein Originaldiplom Ottos IL
j(DO. II. 309) bezeugt. Die ganze, mit diesen Inkorporierungen be-
iginnende und in Erneuerungen und Bestätigungen durch Jahrhunderte
Ifestgehaltene Klosterpolitik wird in einem Originaldiplom Heinrichs IL
i(DH. IL 12) in dem Satz zusammengefaßt: Insuper etiam decimas vel
decimales ecclesias in quibuscunque episcopiis ita teneant atque
disponant, sicut sab anticessoribus nostris regibus videlicet et impera-
pribüs teuere per praecepta visi sunt atque disponere. Episcopis vero,
quibus servitium et mansionatica debent tempore circuitüs sui, secundum
scripta sua singulis annis persolvant.
Osnabrück war aber von vornherein am härtesten betroffen. Die
wichtigen nordfriesischen Missionsgebiete Meppen und Visbeck, auf
deren endgiltigen Anfall an das junge Bistum man sich sichere Hoff-
nung gemacht haben mochte, waren jetzt zur Pastoration an Korvey
gegeben worden, an dieses und an die von ihm bestellten Personen,
inicht an den Bischof und seine Pfarrer, wurde dementsprechend auch
die Gegenleistung für die Pastoration, der Kirchenzehnt, abgeliefert,
iöazu kam., daß Korvey auf der einmal gewonnenen Grundlage durch
;das Trugmittel der Urkundenfälschung in doppelter Richtung weiter-
baute: durch Ausweitung und Abschließung der Gebiete, in denen es
das Recht der Zehnterhebung für sich beanspruchte, und durch das
von Erfolg gekrönte Streben, für die eigenen Herrenhöfe Freiheit von
der Zehntleistung zu gewinnen.^
Korvey hatte so eine Ausnahmestellung errungen, die sonst unter
' M. 830, 935, 977, 1412.
^ Diese Zehntfälschungen sind die beiden Urkunden Ludwigs d, Deutschen vom
Jahre 852 und 873, M. 1406 und 1498 und die Arnolfs vom Jahre 887, M. 176a
Den unterschied in den beiden Hauptrichtungen der Zehntfrage hat Brandi, West-
deutsche Zeitschr. 19, 147 ff. so scharf und treffend herausgearbeitet, daß ich hier
einfach auf seine Darstellung verweise.
I
224 M- Tangl
den ersten Karolingern nur Fulda und Hersfeld einnahmen, jenes mehr
auf dem Gebiete der Zehntfreiheit, dieses vorwiegend auf dem des Be-
zugsrechtes, das es von seiner Missionierung im Hessengau und
Friesenfeld herleitete.^
Nach der Querimonia Egilmari soll bereits Bischof Egbert (868,
bis 885) wiederholten Einspruch versucht haben. Sein Nachfolger
Egilmar (885 — 918) führte dann gleich in den ersten Jahren seiner
Regierung den ersten scharfen Zehntstreit, aber ganz ohne Erfolg.
König Arnolf hatte sich von vornherein für die Aufrechthaltung der
bevorrechteten Stellung von Korvey festgelegt, und auch auf der
Synode, die unter dem Vorsitz des Königs und in Anwesenheit des
Erzbischofs von Köln und mehrerer Bischöfe tagte, war das kollegiale
Interesse der niedersächsischen Bischöfe nicht stark genug, die Ent-
scheidung anders zu gestalten, als es die von oben ausgegebene
Parole vorschrieb. Egilmar ward gänzlich abgewiesen; er wandte sich
jetzt an den Papst und legte diesem in seiner berühmten Denkschrift
das offene Eingeständnis seiner Niederlage ab, das für die Forschung
längst zum sichersten Beweismittel gegen die Echtheit der vier gerade
entgegengesetzt lautenden Arnolf-Ürkunden für Osnabrück geworden
ist. Die Antwort Stephans V. ist uns nicht vollständig erhalten; aber
wahrscheinlich brachte ihr Schluß ebenfalls nichts als leere Worte wie<
ihr im Anschluß an die Querimonia überlieferter Beginn. I
Für das ganze 10. Jahrhundert ist uns ein einwandfreies Zeugnis'
dafür, daß der Zehntstreit damals wieder aufgenommen wurde, nicht
erhalten.^ Die gesicherten Zeugnisse weisen erst wieder ins 11. Jahr-
hundert, und hier wird es sich darum handeln, zunächst die Anfangs-
zeit des erneuerten Kampfes möglichst zuverlässig festzustellen. Nach
Scheffer-Boichorst war er von ungewöhnlich langer Dauer: „Der Osna-
brücker Zehntenstreit begann unter Konrad IL, er zog sich durch die
Regierung Heinrichs III. und wurde von Heinrich IV. 1079 entschieden."^
Scheffer-Boichorst schloß dies aus der Einleitung der Urkunde Hein-
richs IV., Jostes XXI. Hier erhebt Benno II. vor König Heinrich IV.
Klage, daß sein Bistum zu Zeiten der beiden Vorgänger des Königs
* Vgl. E. Per eis, Die kirchl. Zehnten 71 ff., Ein Versuch des Klosters Tegern-
see, in ähnlich bevorzugte Stellung gegenüber dem Bischof von Freising zu gelangen,
war auf der Synode von 804 glatt abgelehnt worden. Pereis S. 89ff.
^ Dies muß ich gegenüber Philip pi hervorheben, der aus den Osnabrücker
Fälschungen auf eine Wiederaufnahme des Streites schließt und diese Vermutung
zum Ausgangspunkt nimmt, um einen Teil der Fälschungen in der Zeit des Bischofs
Ludolf (969—978) unterzubringen.
^ Zwei Untersuchungen zur Geschichte der päpstl. Territorial- und Finanzpolitik.
Mitteil. d. Instituts f. österr. G.-F., 4. Erg.-Bd., S. 82.
Forschungen zu Karolinger Diplomen 225
rroßes Unrecht in der Entziehung der Zehnten durch die Klöster
Kqrvey und Herford geschehen sei.^ Aber schon Brandi hat die
Sicherheit dieses Schlusses mit Recht bezweifelt;^ denn die Haltung
jer beiden ersten Salier wird in derselben Urkunde mit den Worten
entschuldigt: „forsitan in hac causa ignoranter delinquentium". Zur
3ildung eines bestimmteren Urteiles genügt es, die Urkunden der
jeiden Könige, durch die sie tatsächlich die Rechte und Ansprüche
<orveys und Herfords in vollem Umfange bestätigten, nach Zeit
and Ausstellungsort vorzunehmen: Konrad II. Korvey 1025 Januar 10,
Soslar 1025 Januar 22, Heinrich III. Goslar 1039 September 3, Her-
ord 1040 Dezember 22. Die Urkunden sind in den ersten Monaten
and Jahren der beiden Regierungen und zum Teil bei zufälligem
Aufenthalt in den betreffenden Klöstern ausgestellt. Kein Wort in
lihnen deutet darauf, daß sie auf Grund eines Prozesses erlassen
sind, den wir auch zeitlich gar nicht unterzubringen vermöchten.
Sie gehören zur langen Reihe einfacher Bestätigungen, in denen seit
Konrad I. (DK. 1.14) allerdings auch wesentliche Bestimmungen der zu
Siegreicher Anerkennung gebrachten Korveyer Fälschungen mit unter-
liefen, landläufiger Erneuerungen vorgelegter Vorurkunden, bei denen
weder durch den König noch durch die Reichskanzlei irgend eine ernste
Machprüfung der neubestätigten Rechte und Vergünstigungen erfolgte.
Von einer halbhundertjährigen Dauer des Zehntstreites kann daher
q:ar keine Rede sein. Tatsächlich war es erst Bischof Benno IL, der
sich, als erster seit Egilmar, die Einleitung und Durchführung des
Prozesses erbat, ja ertrotzte und erzwang.
So berichtet die Vita Bennonis, deren echter, erst seit wenigen
Jahren bekannter Fassung wir ganz neue Aufschlüsse über diese Frage
verdanken. Der Zeitpunkt war günstig gewählt. In den Tagen fast
allgemeinen Abfalles zählte Benno von Osnabrück zu den wenigen Ge-
treuen und vertrauten Ratgebern des Königs. Er durfte ebenso be-
stimmt auf die Erkenntlichkeit des Königs hoffen, wie sich sein
Gegner, der zu den Anhängern Rudolfs von Schwaben zählende Abt
von Korvey, jede Rücksichtnahme verscherzt hatte. Andererseits schien
auch eine synodale Behandlung der Angelegenheit viel aussichtsreicher
als zu Egilmars Zeiten; denn es ging damals ein starker Zug durch
den Episkopat, die bevorrechtete Stellung einzelner Klöster in der
Zehntfrage zu brechen. Seit der Mitte des 11. Jahrhunderts kämpften
Halberstadt und Mainz gegen die Zehntrechte von Hersfeld und Fulda,
^ Vgl. weiter unten den Wortlaut dieser Urkunde.
^ Westdeutsche Zeitschr. 19, 149 Anm. 74 „daß sich ein offener Streit seit
Konrad II. hingezogen hätte, kann ich aus diesem Satze nicht mit Scheffer-
Boichorst folgern.
Afü II 15
k
226 ^- Tangi
und 1073 entschied die Erfurter Synode, zu deren wenigen Teilnehmern
gerade Benno zählte, den Thüringer Zehntstreit in einer Weise, welche
die Vorrechte der Klöster zwar nicht völlig beseitigte, aber doch we-'
sentlich einschränkte. Es ist kein Zufall, daß wir aus dem unmittel-
bar folgenden Jahre dem ersten Zeugnis über die Aufrollung des
Osnabrücker Zehntstreites begegnen. Am 18. November 1074 beauf-
tragte Papst Gregor VII. den Erzbischof Anno von Köln, die Streitsache
zu untersuchen und zu entscheiden oder die Parteien zur nächsten
Fastensynode nach Rom zu laden. ^ Denn Benno, der kluge Mann,
führte seinen Streit gleichzeitig an den beiden maßgebenden Stellen:
in Rom, obwohl er auch hier von Anfang an der Angreifer war,
wesentlich zur Deckung, um Schachzügen des Gegners zuvorzukommen,
am Königshofe zur eigentlichen Entscheidung. Und diese Entscheidung;
sollte dem Ehrgeizigen noch Höheres eintragen, als nur die unge-
schmälerten Zehnten seiner Diözese. Als erster trug er sich mit dem
kühnen Plan, die Befreiung von dem drückenden Regalien- und Spolien-
recht zu erreichen. Aber die Festigkeit Heinrichs IV. zwang ihn, diesemi
Traum zu entsagen und sich mit dem Erreichbaren zu begnügen.
Hier hat er sein Ziel in der Tat erreicht. Während der Kurialprozeß
sich jahrelang hinschleppte — noch 1081 erließ Gregor VII. ein neues
üntersuchungsmandat an Bischof Altmann von Passau (Philippi 1, 165
Nr. 192) — ,^ fällte Heinrich IV. 1077 in der Tat die gewünschte Ent-
scheidung und wiederholte sie 1079 in feierlicher Weise.
Und daß Heinrich IV. die Zehnten damals Osnabrück zusprach,
ist uns ganz unabhängig von den darüber ausgefertigten drei Urkunden >
sicher bezeugt. Aus den achtziger Jahren des 11. Jahrhunderts be-
sitzen wir noch ein Originalmandat, das sich als Ausführungsbestim-
* Philippi, Osnabrücker ÜB. 1, 147 Nr. 172. Anno von Köln war für Benno,
der durch einige Zeit als Coadjutor Annos gewirkt hatte (Vita Bennonis. c. 10 „totius
episcopatus vicedominum fecit"), kein unwillkommener Richter.
^ Vgl. darüber Tangl, Die Vita Bennonis und das Regalien- und Spolienrecht,
NA. 33, 75 — 94. Auf Zweifel an der Richtigkeit meiner Deutung, die von Bruno
Krusch geäußert wurden, gehe ich unten in einem Exkurs näher ein.
* Wohl behaupten die Vita Bennonis vorsichtig und die von ihr abhängigen
Iburger Annalen ausdrücklich, daß auch Gregor VII. die Entscheidung zugunsten
Osnabrücks urkundlich bestätigt habe (V. B. p. 22 accepta a rege licentia Romam
profectus papam illum adiit et quicquid super decimationis illius recognitione statue-
rat, apostolici illius assensus et auctoritas Romana firmabat. Ann. Iburg. Osna-
brücker GQ. 1, 183: Ipse vero episcopus Benno prudenti oculo se undique circum-
spiciens, etiam auctoritatem pape Hildebrandi super hoc expetiit, quique illi litteras
sigillo suo signatas cum benedictione apostolica dedit), doch vermag ich diesen
Nachrichten, gleich Löffler, tiistor. Jahrb. 24, 302—307, mangels eines ander-
weitigen festen Anhaltspunktes ein entscheidendes Gewicht nicht beizulegen.
Forschungen zu Karolinger Diplomen • 227
imung zu der gefällten Entscheidung darstellt^ Das Siegel ist ab-
igefallen, die Schrift aber läßt sich als sichere Kanzleihand feststellen.^
[Nicht minder beweiskräftig sind die von der Forschung auch längst
[herangezogenen Zeugnisse aus dem gegnerischen Lager. Zu Anfang
|.des 12. Jahrhunderts (1103—1106) klagt ein Korveyer Mönch von be-
istimmten Zehnteinkünften, daß sie seinem Kloster durch Gewalt und
Trug entzogen seien.^ Um die Mitte des 12. Jahrhunderts ging Abt
Wibald von Korvey daran, das Verlorene zurückzuerobern. Daß er
seine starke persönliche Stellung zum eigenen und zum Vorteil seines
Klosters kräftig auszunutzen verstand, davon hatte er schon mehr als
eine Probe abgelegt. Jetzt focht er auch die ungünstige Entscheidung
in der Zehntfrage an und befand sich dabei an beiden Höfen in aus-
sichtsreicher Stellung. Sowohl Papst Hadrian IV. wie Kaiser Friedrich I.
schienen sehr geneigt, dem Wunsche Wibalds zu willfahren. Aus der
Korrespondenz, die darüber in der Wibaldinischen Briefsammlung über-
liefert ist, interessiert uns wesentlich zweierlei: erstens das offene Zu-
geständnis, daß diese Zehnten seit etwa 60 Jahren Osnabrück zuge-
sprochen seien, und dann die genaue Umschreibung des Streitobjektes:
|Es handelte sich um die nordländisghen Taufkirchen zu Freren, Meppen,
j Aschendorf, Löningen und Visbeck,* also um große zusammenhängende
! Gebiete, wenn auch die Klage Egilmars, daß sich etwa drei Viertel der
Zehnten seines Bistums in den Händen der Klöster befänden, übertrieben
iwar.^ Mit der Untersuchung der Angelegenheit hatte der Kaiser den
Erzbischof Wichmann von Magdeburg betraut. Mit Mühe gelang es
dem Bischof von Osnabrück, eine rasche Entscheidung, der Wibald
zudrängte, zu verhindern. Tatsächlich war mit dem kleinen Aufschub
^ Philip pi 1, .172 Nr. 200 und Lichtdruckfaksimile im Anhang. Die Einreihung
I des undatierten Stückes ergibt sich aus dem Kaisertitel Heinrichs IV. und dem Aus-
i gang Bennos auf die Jahre 1084 — 1088.
^ Von der Zuverlässigkeit der Schriftbestimmung, die Philippi vornahm, kann
sich jedermann durch eigene Nachprüfung überzeugen. Das Mandat rührt in der
Tat von gleicher Hand her wie das von Adalbero C geschriebene Diplom Stumpf
2784, Kaiserurk. in Abbild. II, 24. Adalbero C war in den Jahren 1071—1084 einer
der tätigsten Schreiber in der Kanzlei Heinrichs IV. Vgl. über ihn und die bedeutende
Zahl der von seiner Hand herrührenden Originale Bresslau, KüiA. Text S. 35.
^ Wilmans 1, 336. Cum decimationem Hosenbrungensem haberemus. His ergo
Omnibus hinc vi aut fraude ablatis, quae nunc ad monasterium Corbeiensium per-
1 tinent, posteris scire volentibus innotescere studuimus.
* Wilmans 1, 381. Ich verweise im übrigen ganz auf diese und ältere Dar-
stellungen und beschränke mich bei Verfolgung dieser letzten Phase des Streites auf
das Allernotwendigste.
^ Querimonia Egilmari S. 53: ut decimarum, quibus tantummodo episcopatus
in Saxonia sunt constituti, non nisi quarta pars ad Osnaburgensem ecclesiam
in honore sancti Petri principis apostolorum consecratam inserviat.
15*
I
228 M. Tangl
alles gewonnen. Wibald unternahm eine Gesandtschaftsreise nach
Konstantinopel, von der er nicht mehr zurückkehrte. Die Stürme aber,
die bald darauf über Reich und Kirche hereinbrachen, ließen den Os-
nabrücker Zehntstreit erst in den Hintergrund treten und bald über-
haupt in Vergessenheit geraten. Dem kühnen Vorstoß Bennos war,
damit der dauernde Erfolg gesichert.
Den wesentli<:hen Rechtsinhalt der Urkunden Heinrichs IV. ver-
bürgt uns, wie gesagt, das Zugeständnis aus gegnerischem Lager.
über die letzte und feierlichste Ausfertigung in Goldschrift, wenn auch
nicht auf Purpurpergament, Jostes XXIII., ist das Zeugnis der Vita
Bennonis längst bekannt.-^ über die erste Urkunde XXI bringt uns
die echte Fassung der Vita eine neue willkommene Angabe, die Da-
tierung: Actum est hoc apud Radisponam Bavariae urbem anno donii-
nicae incarnationis MLXXV, Das Jahr ist falsch, aber auch im Original
steht, deutlich erkennbar, nur diese Zahl. Durch einen Einriß im
Pergament sind die beiden Einer zwar nicht ganz verschwunden, aber
erst durch Aufbiegen der Ränder der Rißstelle zu erkennen. Es ist
kaum zweifelhaft, daß die Urkunde schon unter Benno diese kleine
Verletzung erlitten hat, so daß uns gerade das daraus entsprungene
Versehen Norberts von Iburg zu einem Leumundszeugnis für Alter und
ürsprünglichkeit dieser Ausfertigung wird.^
Damit werden wir an die Kritik der drei Urkunden selbst heran-
geführt. XXI ist eine wahre Mosaikarbeit, die in ihrem Aufbau, wie
wir gleich sehen werden, im engsten Zusammenhang mit den vor-
gelegten ~ gefälschten — Urkunden steht. Es ist daher ein von dem
bisher entwickelten grundverschiedenes Bild, das uns hier über den
Verlauf des Zehntstreites vorgetragen wird. Danach bekam Osnabrück seit
zwei Jahrhunderten eigentlich schon immer Recht, gelangte aber merk-
würdigerweise niemals in den Besitz der Zehnten. XXII wiederholt die
Entscheidung unter freierer, von den Vorurkunden nur wenig beeinflußter
Darlegung des Streites in alter und neuer Zeit und unter Anfügung
gewisser von der Osnabrücker Kirche zu leistender Gegendienste; und
XXIII, die Prunkausfertigung, ist eine Zusammenfassung beider früheren
Ausfertigungen, so daß in der Hauptsache XXI benutzt und im zweiten
* ed. Bresslau in SS. rr. Germ. p. 21: rex huius rei seriem continentem
aureis litteris — ipse tarnen manu propria Signum infigens — chartulam iussit con-
scribi regio insignitam sigillo. . . . Quod chirographum in Osnabrugensi ecclesia
cura tanto diligentiore servatur, quantum contra omnes irruptiones et tentationes
inconvulsus semper et firmissimae munitionis murus habetur.
* Die Beobachtung hat schon Bresslau, MA. 28, 120 Anm. 1, gemacht und
richtig verwertet. Daß der Biograph auch die Einleitung der Urkunde gekannt hat
und auf sie anspielt, habe ich an anderer Stelle, NA. 33, 79, nachgewiesen.
Forschungen zu Karolinger Diplomen 229
Teil die Bestimmung aus XXII über die Gegenleistung Osnabrücks ein-
gefügt ist.
Hinsichtlich der Schrift haben das Bekanntwerden der Originale
und ihre Veröffentlichung in Lichtdrucken nicht die sichere Entschei-
,dung gebracht, auf die man wohl hätte hoffen können. Jede der drei
Urkunden XXI— XXIII ist von anderer Hand geschrieben; es gelang mir
aber nicht, auch nur eine von ihnen mit Hilfe anderer, allerdings nicht
zahlreicher, Faksimiles von Urkunden Heinrichs IV. bestimmt festzu-
legen. Dem Gesamtcharakter und auch einzelnen Merkmalen zeitgenös-
sischer Diplomschrift entspricht unter den dreien XXI am besten.
Obwohl gerade hier Fassung und Inhalt mit Sicherheit einen Empfänger-
entwurf annehmen lassen, wäre man versucht, für die Reinschrift eine
Kanzleihand zu vermuten. Die Prunkausfertigung XXIII nähert sich,
wie ähnliche Erzeugnisse dieser Art, auf halbem Wege der Buchschrift;
die Schriftvergleichung ist hier schon dadurch beeinträchtigt; an dem
streng zeitgemäßen Charakter der Schrift kann ich aber nicht zweifeln.
Am wenigsten Vertrauen erweckt, wie ich nicht verschweigen will, die
mittlere Urkunde XXII. Der erste Eindruck ist hier der, daß man nicht
eine Schrift aus der zweiten Hälfte des 11., sondern aus der ersten
Hälfte des 12. Jahrhunderts vor sich zu haben meint. Am auffälligsten
ist das Chrismon, das in dieser Art als reines, nur durch Wellenlinien
gefülltes C, ohne Ansatzlinien oben und unten, überhaupt auf keinem
i Faksimile eines Salierdiploms zu belegen, für die Stauferzeit aber
■ geradezu charakteristisch ist. Ein Ausweg bliebe immer noch durch die
Annahme offen, daß die Urkunde, deren Fassung, wie wir noch sehen
werden, bestimmt auf Kanzleikonzept weist, zur Reinschrift einem der
Kanzlei vielleicht ganz fernstehenden Schreiber zugewiesen wurde, dessen
Hand durch ihre fortgeschrittenere Schriftentwicklung einen jüngeren
Eindruck hervorruft. Das letzte Wort werden hier erst auf Grund
des gesamten Vergleichsmaterials die Kollegen von der Abteilung der
Salierdiplome zu sprechen haben. Ich halte eine Lösung für nicht aus-
geschlossen, die dieser Urkunde die Originalität abspricht und ihrer
Überlieferungsart nur die einer Nachzeichnung in Diplomform zuerkennt,
ohne deshalb ihre Echtheit zu bestreiten. Das, wie wir gleich sehen
werden, sicher echte Siegel müßte dann vom Original gelöst und auf
der Nachzeichnung neu befestigt sein. Solche Eingriffe sind beim
aufgedrückten Wachssiegel auch bei sorgsamster Nachprüfung nur in
Ausnahmefällen sicher zu erkennen, wofür unter den Osnabrücker Ur-
kunden die Fälschungen IV und VII geradezu klassische Zeugen abgeben.
Auf ungleich besser gesichertem Boden fußt hier die Kritik gegen-
über dem Hängesiegel wie bei der Goldbulle von XXIII. Hier war es
unvergleichlich schwieriger, nachträgliche Eingriffe vor dem scharf zu-
I
230 M. Tangl
sehenden Auge zu verbergen. Selbst ein kaum erreichter Meister-
fälscher wie der des österreichischen Privilegium majus hat sich hier,
wie ich nebenbei bemerke, entlarvt. Bei dem Versuche der Ablösung
der Goldbulle vom echten Minus brach ein Stück des Seitenrandes
aus und mußte durch Anlöten eines Goldplättchens ersetzt werden.,
Bei XXIII aber vermag auch schärfste Nachprüfung einen solchen
Eingriff nicht zu erkennen, und die Befestigung dieser Goldbulle kann
daher mit viel höherer Zuversicht als bei den aufgedrückten Wachs-
siegeln von XXI und XXII als ursprünglich verbürgt werden.
Es bleibt noch die Untersuchung der Siegel selbst.
Das Siegel in XXI ist nur teilweise, das in XXII vollständig und
vorzüglich erhalten; und es läßt sich mit Sicherheit feststellen, daß
das Siegel auf beiden Diplomen dasselbe und mit dem vierten in den
Jahren 1071—1081 gebrauchten Stempel des Königssiegels Heinrichs IV.
identisch ist.^ Nicht überflüssig ist ferner die Beobachtung, daß nach
den Raumverhältnissen in XXI die Besiegelung bestimmt den letzten
Akt der Beurkundung gebildet hat, die Hinausgabe eines besiegelten
Blanketts, an die man bei XXI an sich wohl denken könnte, daher ganz
ausgeschlossen ist. Nicht ebenso einfach gestaltet sich die Prüfung der
schön erhaltenen Goldbulle von XXIII. Wir kannten das Vorkommen
einer Königs-Goldbulle Heinrichs IV. bisher nur an zwei Diplomen für
Adalbert von Bremen vom 6. September und 19. Oktober 1065; als
drittes Beispiel tritt jetzt die Osnabrücker Urkunde hinzu, aber ihre
Bulle stimmt nicht mit der an den beiden Adalbert-Diplomen. Der
Gesamtcharakter von Avers- und Reversseite ist derselbe, aber die
Maße und Einzelheiten der Darstellung weichen ab.^ Der Durchmesser
von XXIII ist fast um 3 mm größer. Aber auch andere Verschieden-
heiten lassen sich besonders auf dem Revers, der Aurea Roma, fest-
stellen. Die beiden Seitentürme sind in XXIII höher und stärker. Da-
gegen ist das unterste Geschoß viel niedriger. Verschieden ist auch
die Stellung der Buchstaben im zweiten Teil der Legende. Während
das V von CAPVT in der Bremer Bulle genau in der Mitte unten
steht, ist es in XXIII bereits etwas nach (heraldisch) rechts gerückt, ^~
und diese Verschiebung teilt sich allen folgenden Buchstaben mit; so
steht M in der Bremer genau an der Ecke der Mauerbasis rechts, in
^ Vgl. jetzt Posse, Die Siegel der deutschen Kaiser und Könige, I, Taf. 16
Nr. 4. Zur Vergleichung muß die Sonderreproduktion des Siegel von XXII bei Jostes
Taf. XXIV benutzt werden, da die Reproduktion von XXII und XXIII etwas ver-
kleinert ist.
^ Vgl. die Abbildungen bei Jostes XXIV- und die der Bremer Goldbulle bei
Posse Taf. 16 Nr. 5— 6. Auf Taf. 17 Nr. 1—2 hat Posse die Osnabrücker Gold-
bulle aufgenommen, auf deren Neuheit ich ihn aufmerksam gemacht hatte.
Forschungen zu Karolinger Diplomen 231
der Osnabrücker deutlich schon über die Ecke hinaus, das D von
ImvNDI dort genau in gleicher Höhe mit der Turmkuppel, hier höher
als sie. Die Verschiedenheit der Osnabrücker Goldbulle von der bisher
allein bekannten steht daher außer Frage. Fälschung wird in solchem
Falle nicht gerade wahrscheinlich. Sie müßte, wie die Übereinstimmung
in allen Grundzügen und die Schärfe und Feinheit der Ausführung
ilehren, mit großer Sorgfalt und Sachkenntnis an der Hand einer echten
'guten Vorlage hergestellt worden sein. Wie erklärt sich bei einem
solchen Nachahmungskünstler dann aber der auffällige Unterschied in
der Größe? Vergessen wir nicht, daß gerade beim Königssiegel Hein-
richs IV. eigentümliche Verhältnisse obwalten. Der König war sechs-
jährig zur Regierung gekommen; das brachte man, höchst naiv, dadurch
iäußerlich zum Ausdruck, daß man auf ihn zunächst einen ganz kleinen
Siegelstempel schneiden ließ und diesen in den folgenden Jahren
lunter mehrfacher Änderung stets vergrößerte, um das Wachstum des
jungen Königs anzudeuten. So brachte es Heinrich IV. während seiner
Königszeit auf 4 Siegelstempel, die sich ihrem Gebrauche nach in den
Jahren 1060, 1066 und 1071 ablösten.^ Zwischen der Verwendung
der ersten und zweiten Goldbulle liegen fast 14 Jahre; innerhalb dieser
Zeit hatte der Stempel für das Wachssiegel schon zweimal gewechselt.
Ist es da irgend auffällig und nicht im Gegenteil sehr erklärlich, daß
man sich 1079 auch für die Goldbulle eines neuen Stempels bediente,
dessen wesentlichste Verschiedenheit in seiner bedeutenderen Größe
bestand? So wird gerade die Bulle zum vielleicht zuverlässigsten
Merkmal für die Echtheit der Prunkausfertigung XXIII.
Auch gegen Rekognition und Datierung der drei Urkunden erheben
sich Schwierigkeiten. Die Rekognition lautet in XXI und XXII Gebe-
hardus cancellarius vice Sigefridi archiepiscopi recognovit; in XXIII ist
das archiepiscopi durch archicancellarii ersetzt. Siegfried von Mainz
hatte gerade im Laufe des Jahres 1076 seinen Abfall von Heinrich IV.
vollzogen und wurde daraufhin seines Erzkanzleramtes zwar nicht
ausdrücklich entsetzt, dieses daher auch nicht an einen neuen Inhaber
weiterverliehen, wohl aber stillschweigend für verlustig erklärt und
daher von da ab nicht mehr als Erzkanzler geführt. In sicher be-
glaubigten Urkunden reicht die Rekognition vice Sigefridi archicancel-
larii nur noch bis zum 13. August 1077, während von da ab der
Kanzler Gebhard (IL), der erst im Juni 1077 sein Amt angetreten hatte,
^ Auf die ganz merkwürdige Art dieser Siegel und ihres höchst naiven Aus-
drucksmittels der Porträtierung hat zuerst Bresslau, NA. 6, 570 f. in seiner Mono-
graphie über die Siegel der Salischen Kaiser hingewiesen. Posse vermag jetzt
nicht nur drei, sondern vier verschiedene Typen festzustellen; vgl. die sehr lehr-
reiche Nebeneinanderstellung auf Taf. 16 Nr. 1 — 4.
v;
I
232 M. Tangl
selbständig ohne Nennung eines obersten Kanzleiinhabers rekognoszierte
Gundlach suchte sich hier so zu helfen, daß er XXI als gefälscht er-
klärte, XXII allerdings als echte Kanzleiausfertigung gelten ließ, aber
annahm, daß sie bis einschließlich zur Rekognition schon zur Zeit
der Verhandlungen des Wormser tioftages (Ende Oktober bis Anfang
November 1077) fertiggestellt worden sei. Bis zu diesem Zeitpunkte
glaubt er nämlich die Nennung Siegfrieds noch decken zu können. Der
Zwiespalt sei dann erst durch die später beigefügte Datierung in die
Urkunde gebracht worden. Wäre die Originalität von XXII sicher,
dann würde die Widerlegung dieser Annahme durch den Hinweis er-
ledigt sein, daß sich die ganze Urkunde als aus einem Guß geschrieben
darstellt. Bei den Bedenken, die sich gegen die Originalität der Urkunde
erheben, bleibt hier tatsächlich noch immer der Ausweg, daß das, was
jetzt einheitlich scheint, in der Vorlage nicht ebenso einheitlich war.
Aber wir bedürfen dieser ganzen Grübeleien über die wirkliche oder
mögliche Beschaffenheit der Urschrift von XXII gar nicht. Der Text
selbst erbringt den von Gundlach übersehenen klaren Beweis, daß von
seiner Fertigstellung im Herbst 1077 gar nicht die Rede sein kann,
da die am 14. Dezember 1077 in Rom verstorbene Kaiserin Agnes
schon zu den Toten gezählt wird.^ Ihr Hinscheiden kann am Hofe
frühestens um Mitte Januar 1078 bekannt geworden sein.
Aber auch wenn der Weg hier nicht von vornherein veriegt wäre,
hätte uns Gundlachs Annahme nicht aus den Schwierigkeiten helfen
können. Die Rekognition hätte dann so lauten müssen, wie man sie in
der Reichskanzlei seit langem allein kannte: vice Sigefridi archicancel-
larii. Der Ausnahmezustand tritt in dem Titel archiepiscopi von XXI
und XXII deutlich hervor. Es ist ein Kompromiß, das hier versucht
ist, den Mainzer zwar noch zu nennen, aber nur mit seiner kirchlichen
Würde, den aus dem Hofamte hergeleiteten Titel aber zu unterdrücken.
Dieser vermittelnde Lösungsversuch erklärt sich aus der Empfänger-
ausfertigung XXI, der Persönlichkeit Bennos^ und dem Schwanken der
Verhältnisse in dem Jahre nach dem Abfall des Mainzers sehr gut.
In XXII ist die Rekognition einfach von XXI übernommen. Viel auf-
fälliger ist dann die Wiederkehr des alten Erzkanzlertitels in der Prunk-
ausfertigung. Die Erklärung liegt wohl darin, daß der Chrysograph,
^ Bresslau, ÜL 323, 350.
^ Animabus parentum nostrorum, id est avi avie matrisque nostr^ imperatricis
A(gnetis) et cari patris riostri H(einrici) imperatoris augusti fiat remissio.
Benno wird sich der Zustimmung Siegfrieds von Mainz, dem er selbst in
dessen eigenem Zehntstreit beigestanden hatte, frühzeitig versichert haben und
mochte nun Wert darauf legen, den Namen dieses Mannes, der mittlerweile auch
beim Papst wieder zu Ehren gekommen war, in der Urkunde festzuhalten.
Pf Forschungen zu Karolinger Diplomen 233
;tatt seine Vorlage an dieser Stelle genau abzuschreiben, den alten
ijewohnheitsmäßigen Amtstitel einsetzte.
Auch die Datierung der Urkunden bereitet Schwierigkeiten. Die
m Kontext der Urkunden erwähnte Handlung fand auf einem Hoftag
;u Worms statt, und zwar nicht auf der durch ihre Beschlüsse wider
jregor VII. berühmten Wormser Synode vom Jahre 1076, an die zu
lenken man durch die große Zahl der anwesenden Bischöfe versucht
;ein könnte,^ sondern auf einem tioftag, der Ende Oktober und Anfang
November 1077 zu Worms stattfand und den Achtspruch gegen den
;V\arkgrafen Ekbert II. von Meißen fällte.^ Die Ausfertigung der ersten
Munde fand, wohl infolge der unruhigen Zeitverhältnisse, erst etwa
:wei Monate später statt; sie trägt die Datierung: Data III. kl. Jan.
'ndict. I. anno dominice incarnationis millesimo LXXVII; anno autem
-egni domni regis Heinrici quarti XXI; actum Radispone; in [dei
wmine] feliciter amen. Das Regierungsjahr und das Inkarnations-
ahr bei Annahme seiner Umsetzung nach Weihnachtsepoche würden
mm 30. Dezember 1076 zusammenstimmen, und man müßte dann
2rst recht an die bekannte Wormser Synode und nahe um Jahres-
frist verzögerte Beurkundung denken. Dem widerspricht aber die
erst vom Herbst 1077 an mögliche Indiktion I und mehr noch das
tinerar des Königs. Um die Weihnachtszeit 1076 befand sich Hein-
rich IV. in den Bergen von Hochburgund , auf dem Wege nach
Canossa. Es bleibt also nur unter Annahme von Neujahrsepoche und
unterlassener Umsetzung des Regierungsjahres die Einreihung zum
30. Dezember 1077. Heinrich IV. war den Rest des Jahres 1077 und
die ersten Monate 1078 mit Kämpfen im östlichen Baiern beschäftigt,
die er nach dem Zeugnis Bertholds nur durch einen ganz kurzen
Weihnachtsaufenthalt in Regensburg unterbrach. Dazu würde die
Datierung unserer Urkunde vorzüglich stimmen, wenn dieser Aufenthalt
nach Berthold nicht ein zu kurzer, kaum zwei Tage dauernder gewesen
wäre.^ Würde unsere Urkunde irgend einen Anhaltspunkt für Nach-
tragung des Tagesdatums bieten, so läge die Erklärung einfach. Das
ist aber nicht der Fall. So bleibt wohl nur der Ausweg, sich gerade
mit Rücksicht auf unsere Urkunde vom Glauben an die wörtliche
* XXI: Ibi vero XX episcopis X abbatibus ceterisque quam plurimis clericis ac
laicis presentibus; in XXII sogar: aderant XX aut plures episcopi. Das Dekret der
Wormser Synode vom 24. Januar 1076 ist von 26 Metropoliten und Bischöfen unter-
schrieben. Wie bei den stürmischen Verhältnissen des Jahres 1077 in der Eile
20 Bischöfe bei Hof aufgebracht werden konnten, ist mir allerdings zweifelhaft.
^ Meyer von Kronau, Jahrb. Heinrichs IV. 3, 68—69.
^ SS. 5, 306: Rex autem Heinricus Ratisponae biduo tantum vix commorans
iterum ad obsidionem castelli redibat.
I
234 M. Tangl
Richtigkeit von Bertholds Meldung loszusagen.^ Mit einem kurze
Weihnachtsaufenthalt Heinrichs IV. in Regensburg von wenigen — nu
nicht wörtlich von zwei — Tagen ist die Datierung unserer ürkund
wohl vereinbar, und das spricht sehr zu ihren Gunsten. Daß übrigen
zur Behebung von Datierungsschwierigkeiten die Annahme von Fäl
schung den letzten befriedigenden Ausweg darstellt, ist seit Ficker
Beiträgen zur ürkundenlehre allbekannt.
Auch die Datierung von XXII liegt nicht ganz glatt: Data VI. k.
Febr. indict. II, anno dominice incarnationis millesimo LXXVIII, anm
autem regni domni Heinrici regis quarti XXIII; actum Mogoncie; feil
citer amen} Auch hier herrscht zunächst ein Zwiespalt in den Jahres
angaben, da Indiktion und Regierungsjahr gegenüber dem Inkarnations
jähr übereinstimmend auf 1079 weisen. Nachdem sich schon Wilmans
— dieser allerdings unter der unhaltbaren Annahme der Jahresrechnun^
nach Annunziationsstil — und Gundlach* für 1079 ausgesprocher
hatten, kehrten Philippi im Osnabrücker ürkundenbuch und Joste^
wieder zur Einreihung zu 1078 zurück. Und doch ist sie ganz un
möglich und unhaltbar. Denn am 27. Januar 1078 befand sich de
König nicht am Rhein, sondern im östlichen Baiern, Bischof Bennc
aber als Gesandter seines Königs in Italien. Er war w^ahrscheinlicF
unmittelbar nach der Weihnachtsfeier in Regensburg zusammen mii
Bischof Theoderich von Verdun nach Rom aufgebrochen, um die Sache
seines Herrn auf der Synode zu vertreten, die Gregor VII. für Ende
Februar 1078 anberaumt hatte. Auch dies spricht für die Urkunde XXI
denn es mußte Benno alles daran liegen, die urkundliche Beglaubigung
der Entscheidung in der Zehntfrage vor dem Antritt seiner Legation
in einer ersten Ausfertigung erledigt zu sehen. Das Wirken der Ge-
sandten in Rom war wenigstens teilweise von Erfolg begleitet; denn
in der Erklärung, mit der Gregor VII. am 3. März 1078 die Synode
schloß, unterblieb ein offenes Eintreten für Rudolf von Schwaben und
eine ausdrückliche Verwerfung Heinrichs. Erst nach Bennos Rückkehr
konnte seine Angelegenheit wieder in Fluß kommen. Die Verbriefung
erfolgte diesmal in der Kanzleiausfertigung XXII, die nur zum 27. Ja-'
nuar 1079 eingereiht werden kann und sich hier ins Itinerar aufs
^ Zu dieser Lösung gelangt jetzt auch Meyer von Knonau, Jahrb. tlein-
richs IV. 4, 556ff. Während er im 3. Band noch die Ergebnisse Gund lach s an-
genommen hatte, ließ er sie nach dem Bekanntwerden der Originale als fortan un-f
haltbar fallen. Wertlos ist für unsere Frage die Monographie Kilians über dasf
Itinerar Heinrichs IV., weil sie einfach auf Gund lach verweist. . j
* XXII actum Mogoncie durch den Siegelrand gedeckt, aber nach Hebung des-|
selben zu lesen.
^ KU. Westfalens 1, 354—355. j
* a. a. 0. 128 Anm. 2. I
Forschungen zu Karolinger Diplomen
235
|este einfügt. Heinrich IV. hatte Weihnachten 1078 in Mainz gefeiert,
!/ar dann nach Trier gegangen, wo er am 6. Januar 1079 den neuen
rzbischof Egilbert investierte, hielt sich dann aber nach dem Zeugnis
lertholds bis in die Mitte der Fastenzeit in den Rheingegenden auf.
■in Aufenthalt in Mainz am 27. Januar 1079 ist hier also zwanglos
interzubringen. Der Fehler im Inkarnationsjahr erklärt sich aus dem
0 häufigen Versehen in der Weglassung einer Einheit.
Die Datierung der Prunkausfertigung XXIII: Data IIL kl. April,
ndict II, anno dominice incarnationis millesimo LXXVIIII, anno autem
egni domni regis Heinrici quarti XXIII; actum Ratispone; in dei nomine
eliciter amen ist in Ordnung; ihre Angaben stimmen überein zum
lO. März 1079, und damit deckt sich ein Aufenthalt des Königs zu
(egensburg, wo er nach Bertholds Zeugnis Ostern (24. März) feierte.
Nach Erledigung dieser formalen Fragen gilt es jetzt, den Text
^on XXI uns vorzunehmen, seinen mosaikartigen Aufbau zu verfolgen
md über die Frage schlüssig zu werden, was er an gefälschten Vor-
irkunden bereits voraussetzt oder erst später selbst wieder beeinflußt
lat. Ich gebe daher zunächst in Spaltendruck links den Text von XXI
md rechts die in Beziehung zu ihm stehenden Stellen anderer ür-
lunden.
f.
(C.) X In nomine sanct^ et individu^
binitatis. Heinrims divina favente cle-
nentia rex. Si querimonias sacerdotum,
]uas nobis de necessitatibus ^cdesiarum
nbi commissarum obtulerint, devote ad-
'enderimus et iusticiam x misericorditer
llis impetidendo ad finem perduxerimus,
oresentis scUicet et ^tern^ felicitatis pre-
nia exinde mercari liquido confidimus.
Idcirco notum esse volumus omnibus
^anci^ dei ^cclesi^ nostrisque fidelibus
oresentibus scilicet et futuris , qualiter
fidelis noster Osnebruggensis episcopus
secundüs Benno in nostro servitio longo
tempore devotissimus serenitatis nostr^
clementiam adiit apostoli preceptum se-
quens, [ar]güend[o] increpando obsecrando
et iuventutem nostram non pamm incu-
\sando, querimoniam faciens se suosque
antecessores nostrorum antecessorum sci-
licet avi nostri Kuonradi et cari patris
nostri bon^ memoria Heinrici imperatorum
forsitan in hac causa ignoranter delin-
quentium temporibus multas iniurias et
varias oppressiones de potentibus illius
III. Si petitiones sacerdotum, quas
nostris auribus pie infuderint de necessita-
tibus aecclesiarum sibi commissarum, devoto
animo ad effectum perducimus, hoc nobis
procul dubio tam ad salutem presentis vitae
quam et ad aeternae beatitudinis capacita-
tem profuturum esse confidimus. Idcirco
IV. omnibus fidelibus sanctae dei ec-
clesiae nostrique praesentibus scilicet et
futuris notum sit, qualiter vir venerabilis
Osnebruggensis ecclesiae episcopus nomine
Egibertus
serenitatis nostrae clementiam apostoli
preceptum sequens arguendo increpando ob-
secrando et iuventutem nostram non purum
incusando adiit querimoniam faciens
VII se suosque
multa mala et varias oppressiones de
iudicibus illius regionis maxime autem a
236
M. Tangl
regionis, maxime autem a Corbeiense ab-
täte et Herifurdense abbatissa illorumque
fautoribüs in decimamm direptione ad
suam ^cclesiam debite pertinentium iam
diu miserabiliter sustinuisse.
Cuius proclamationi quamvis sepius
iterat^ diutius quam felicius assentire re-
nuentes ^tatis teneritate ac quorundam
consitiariomm nosiromm tunc temporis
iuventuti nostr^ providentium dissuasione
ad [hec] de terminanda variis occasionibus
prefixis nos excusavimus. Sed tandem eins
crebris et infinitis etiam pro christianitatis
miserabili defectu querimoniis et multorum
dericomm et laicorum ins suam agnoscen-
tium rogatü et consilio devicti, Wormaciam
eidem episcopo suisque adversariis, ubi
principibus nostris pro ceteris regni ne-
gotiis convenire statutum est, ut et ipsi
venirent, precepimus.
Ibi vero XX episcopis X abbatibus
ceterisque quam plurimis dericis ac laids
presentibus utriusque partis scripta episcopus
et sui adversarii in medium proferebant.
Episcopi vero scriptis lectis et intel-
lectis Osnebruggensem ecdesiam Adfriani
pajp^ consilio et consensu a magno [et]
illustri viro Karolo primitus in provintia
Westfala fundatam et a venerabili Egil-
frido Leodicensi episcopo consecratam et,
quia sibi tunc temporis predia vel alia in
Uta regione [non ejrant donaria, unde epi-
scopus vel derlei ibi deo militantes susten-
tarentur, declmls cunctorum infra terminos
elusdem eplscopatus degentium et noviter
ad chrlstianitatem conversorum consecra-
tionis eins die dotatam et postea a quatuor
apostollcorum vlrorum prlvlleglls, scilicet
Leonis, Paschalis, Eugenii et Gregorii sta-
billtam esse et omnem"") homtnem elsdem
prlvllegiis ante nos reledis, qui hfc sanccita
allquo modo Irrltaverlt, anathematizatum
constare absque ulla ambiguitate dldlclmus.
Ex abbatis autem scripto, quod ad-
tullt, nulla regali auctoritate confirmato
iuniorem Ludevvicum quandam cellam Cor-
beiensi ecclesl^ nomine Meppiam, fiere-
furdensl autem ecdesiam nomine Bunede
cum declmls slbl pertlnentlbus in epi-
fiuxlliense abbate et Herlfordense abbatlss
suisque fautoribüs declmarum depredc
tlone ad suam aecdeslam debite pertlnei ,
tlum Iam diu patl et tolerare.
Culus redamatlonl quamvis sepin
iteratae assentire renuentes
nos excusavimus. Sed tandem
") omem ohne Kürzungszeichen.
eldem episcopo suisque adversariis
IV. Francofurt, ubl principibus nostn
convenire statutum est, ut et Ipsl venlrem
precepimus.
Ibi In nostra ceterorumque fldeüm
nostrorum presentla prefatus eplscojm
lltteras magnl et admlrabllls Karoll av
nostrl Imperatorls augustl Ipslus slgilU
asslgnatas In palam proferebat.
VII. (= IV) Hls In nostra praesentk
ceterorum consldentlum recltatls Osna
bruggensem aecdeslam Adrlanl papae con
slllo et consensu (consultu IV) ab eodem
magno et Illustri vlro Karolo primitus It
provintia UUestfala fundatam et a venera
bin Egllfrltho Leodicensi episcopo conse-
cratam et elsdem declmls, qula alla Ib
tunc temporis non erant donaria \:
III. declmas cunctorum Infra termlnot
elusdem eplscopatus degentium . . .
consecratlonls elus die
VII. dotatam et postea a quattuor
apostollcorum vlrorum prlvlleglls sclllcei\
Leonis, Paschalls, Eugenll et Gregorii sta-
bllltam esse et omnem hominem elsdem
prlvlleglls ante nos reledis, qul haec sanc-
cita allquo modo Irrltaverlt, anathematl-\
zatum constare absque ulla amblgultatei
dldlclmus. I
Forschungen zu Karolinger Diplomen
237
opatu Osnebruggensi concessisse intel-
\ximüs.
' - Ad hqc infringenda et adnihilanda
'usdem iunioris Ludevvici cartam ipsius
fopria manu roboratam et sigillo eins
\§signatam episcopus in palam proferebat,
i qua idem Ludevvicus am patrisque sui
latuta super eisdeni decimis prefat^ Osne-
mggensi ecclesif stabilivit et in earundem
—jj^narum traditionibus quicquam dero-
l^w^ ut abbatis scripta referunt, dene-
mf^t. Abbate autem et abbatissa preter
oc solum, quod ibi videbatur ficticium,
liquid, quo inniti possent, non habentibus,
piscopus plurimorum antecessoruni nostro-
am regum et imperatorum scilicet Arnolfi
iliique eius Ludevvici, fieinrici primi, trium
Htonum cartas ipsorum manibus roboratas
t sigillis assignatas ^cclesiq su^ easdem
^ecimas stabilientes presentavit legendas.
Ibi vero utrorumque sententiis auditis
i subtiliter diiud[icati] s archiepiscopi epi-
copi cum omni clero, duces et comites
tiani ipsis prius faventes petitionibus epi-
copi consentire debere iusticia exigente
manimi concordia omnes afßrmabant.
Quapropter ob amorem domini nostri
fesu Christi et beati Petri principis aposto-
\orum et preciosissimorum martirum Cris-
nni et Crispiniani necnon pro veneratione
Karoli imperatoris augusti magni et paci-
(ici et eiusdem ^cclesi^ fundatoris devotis-
ümi et ceterorum antecessorum nostrorum
i \andem ecclesiam suis scriptis et preceptis
^oborantium necnon avi patrisque nostri
itque nostra ceterorumque videlicet regum,
jui in eandem ecclesiam iusticiam sibi
ienegando peccaverunt, animarum remedio
'/ liberatione et eiusdem episcopi sedula
't diuturna proclamatione nostr^ immuni-
■atis et libertatis preceptum super eisdem
decimis episcopo su^que ^cclesi^ stabilien-
{Uis ffieri dejcrevimus. Precipientes ergo
\\übemus, ut sicut reliqu^ in regno nostro
t l^anct^ dei ecclesi^ ab antecessorum nostro-
rum regum et imperatorum preceptis et
sfcriptis stabilite consistunt, ita et h^c]
Osnebruggensis ecclesia per hoc nostrum
oreceptum domino opitulante sftabilita con- \
sijstat. Concedimus etiam eidem episcopo I
et licentiam damus immo precipimus secun- \
VII (= IV) ipsius sigillo assignatas
in palam proferebat.
VIII. Ibi vero utrorumque sententiis
iteratis ac diiudicatis archiepiscopi episcopi
cum omni clero duces et comites etiam ipsis
priusfaventes episcopi petitionibus consentire
debere iusticia exigente cum cetera multitu-
dine unanimi concordia omnes affirmabant.
Quapropter
VIII fan früherer Stelle) ob amorem
domini nostri Jesu Christi et beati Petri
principis apostolorum et sanctorum marti-
rum Crispini et Crispiniani necnon pro ve-
neratione Karoli imperatoris augusti magni
et pacifici et eiusdem aecclesiae fundatoris
devotissimi filiique eius bonae memoriae
Ludevvici necnon Karlomanni cari patris
nostri animae remedio atque pro nostra
ceterorumque antecessorum nostrorum vide-
licet regum, qui in eandem aecclesiam pec-
caverimus, liberatione ac eiusdem episcopi
sanctissima apud deum pro nobis inter-
cessione
VII nostrae libertatis et immunitatis
praeceptum fieri decrevimus. Praecipientes
ergo iubemus, ut sicut reliquae sanctae dei
aecclesiae, quae per totam Franciam etSaxo-
niam ab antecessoribus nostris regibus vi-
delicet et imperatoribus consistunt, ita et
haec praefati praesulis sancta sedes per
hoc nostrum praeceptum domino opitulante
consistat. Concedimus etiam eidem epi-
scopo pro eius sanctissima apud deum pro
238
M. Tangl
nobis intercessione decimas iam diu inte
monachos Huxilienses et puellas Heriuot
denses iurgioso et iniusto antecessorar,
npstroram conspiramine divisas
IV . . . secundum Karoli institutioneri
. . . decimas infra terminum sui episcopi
(III decimas cunctorum infra terminos eim\
dem episcopatüs degentium)
VII in suam episcopalem potestaten
recipere nemine contradicente. Sed licea
praefato venerabili episcopo easdem decima
ceterasque res suae aecclesiae cum omnibüs^
quae possidet vel deinceps adquisierii
quieto ordine possidere suasque aecclesiaä
sicuti ceterorum ius est episcoporum, iust^
corrigere et earum causas absque ulla con
trarietate ordinäre atque disponere.
dum Karoli institutionem decimas cuncto-
rum infra sui episcopii terminos hafbitjan-
tium, quibus iam diu iniuste caruit, in
suam episcopalem potestatem recipere [ne-
mine cojntradicente. Sed liceat prefato
episcopo easdem decimas ceterasque res
su^ ^cclesi^, quas modo possidet vel dein-
ceps acquisierit, quieto ordine possidere
suasque ^ccflesiasj, sicuti ceterorum ius
est episcoporum, corrigere et earum causas
[absque ulla contradictione di[sponere. Sic-
que firmiter stabilitum est, ut cuncti eins
successores h^c eadem a nobis sanccita
pari modo sorciantur.
Et ut h^c auctoritas nostra firmiorem
in dei nomine habeat stabilitatem , manu
nostra propria, ut subtus videt[ur, hanc
carta[m roborantes sigillo nostro iussimus
assignari.
Das Verhältnis soll hier nach Brandi so liegen, daß XXI mitten ir
die Reihe der Fälschungen hineinfällt. Nur die hauptsächlich benutzt«
Arnolf-Fälschung V^II und die beiden anderen Arnolf-Urkunden V unc
VI, die sie notwendig voraussetzt, sollen vor XXI schon vorhanden ge
wesen, die Fälschungen III, IV und VIII aber selbst erst mit Benutzung
von XXI zurechtgemacht worden sein. Diese Annahme ist nach meiner
Überzeugung verfehlt und unhaltbar. Die Beziehung zu III tritt schon
in der Arenga deutlich hervor; und daß hier das Verhältnis nicht sd
liegen kann, daß III diese Arenga aus XXI schöpfte, ergibt sich darausi
daß die Abweichungen von III gegenüber XXI durchaus einem echter <
Formular aus der Zeit Ludwigs d. Fr. entsprechen. Das Ableitungs-
verhältnis ist also ganz klar folgendes: Echte Urkunde Ludwigs d. Fr.
deren Arenga mit ganz geringfügigen Verderbungen, auf die ich bei
Besprechung dieser Urkunde noch näher eingehe, zunächst für die Fäl-
schung III benutzt und dann in freierer Weise für XXI verwertet ist'
Daher sind auch an späterer Stelle die Worte decimas cunctorum infra
terminos eiusdem episcopatüs degentium und consecrationis eins die aus^^
III in XXI übergegangen und nicht umgekehrt. - j
Bei IV macht Brandi (S. 130) eine auf den ersten Blick be-j
sonders bestechende Einwendung geltend: Die Worte der Narratio eV'
iuventutem nostram non parum incusando sind begreiflich mit Rücksicht
auf die Jugend Heinrichs IV., aber sinnlos in ihrer Anwendung auf
^ Dem besonderen' Zweck von XXI entspricht es, wenn petitiones zu querimoniasi
umgeändert und die Wendung iustitiam misericorditer Ulis impendendo eingeschoben^'
wird.
Forschungen zu Karolinger Diplomen 239
^udwig d. Deutschen, der zu der Zeit, auf welche die Datierung von IV
Uist, den Vierziger erreicht oder sogar schon überschritten hatte. Ich
weifle sehr, ob man beim Osnabrücker Fälscher eine so genaue Kenntnis
Jer Altersverhältnisse Ludwigs d. Deutschen voraussetzen darf. Besaß
»r sie, dann ist die Verwendung der ganz unpassenden Worte auf
.udwig d. Deutschen fast so auffällig wie ihre Erfindung. Wir
Lommen aber dem wahren Abhängigkeitsverhältnis auf ganz andere
>Je\se bei. Die Bedeutung der Zehnten begründet die Querimonia
:gilmari mit den Worten quia aliis ibi pastores et episcopi donariis
-arebant; das wiederholen die Fälschungen IV und VII in der Fassung
juia alia ihi tunc teniporis non erant donaria, diese endlich ist be-
lutzt, aber wieder teilweise verändert in XXI quia sibi tunc temporis
nedia vel alia in Uta regione non erant donaria. Man kann den Um-
)au dieses Satzes mit aller Sicherheit verfolgen. Das non erant donaria
latte dazu verlockt, das ibi zum sibi umzugestalten; dadurch war man
iber der Ortsangabe verlustig gegangen und fügte diese jetzt mit den
Aborten in illa regione neu ein. Anfang, Mittelglied und Ende dieser
Jmgestaltung liegen völlig klar. Das wird auch Brandi ohne weiteres
zugeben, aber darin eine Widerlegung seiner Ansicht nicht anerkennen,
^uch er läßt ja VII als Mittelglied zwischen der Querimonia und XXI
selten, aber nicht IV; in diese Urkunde ist der Satz nach seiner An-
lahme nachträglich durch Benutzung von VII hineingeraten. Ich werde
jnten bei Zergliederung der einzelnen Urkunden den Nachweis führen,
jdaß IV von VII notwendig vorausgesetzt wird und VII aus der Ver-
arbeitung von IV und VI entstanden und nur so zu verstehen ist.
Hier genügt es, auf einen Anhaltspunkt der Textkritik hinzuweisen.
Der betreffende Absatz wird in IV durch die Worte eingeleitet his in
fiostra caeterorumque considentium presentia recitatis; die gleiche Stelle
lautet in VII his in nostra praesentia ceteroram considentium recitatis.
Nach vielfacher Erfahrung wird in solchem Falle stets in der korrekten
Fassung die Vorlage, in der verderbten die Ableitung zu erblicken sein.
Bei mehreren der Osnabrücker Fälschungen können wir fast bis
auf die einzelnen Worte genau den ursprünglichen echten Bestand von
den späteren Zutaten scheiden. Das ist gerade bei IV der Fall. Die
echte Urkunde Ludwigs d. Deutschen enthielt die Verleihung von Immu-
nität; ihr Formular ist aber erst von der Dispositio ab erhalten, während
Arenga und Narratio entfernt und vom Fälscher ganz aus Eigenem er-
setzt wurden. Und das soll zu keinem anderen Zweck geschehen sein,
als um hier einen Satz anzubringen, der auf Ludwig d. Deutschen nicht
paßte und der überdies durch die bereits erfolgte Verwendung auf
Heinrich IV. seine Pointe verloren hatte? Der Fälscher hätte hier also
nichts beabsichtigt und erreicht als eine Verunstaltung der Urkunde?
I
240 M. Tangl
So hat in manchen Fällen ein pathologisch veranlagter Mann wie
Eberhard von Fulda gearbeitet, nicht aber ein ernst zu nehmendei
Fälscher; und der Osnabrücker zählte — das sei zu seiner Ehre hiei
gleich gesagt — innerhalb dieser Gilde zu den hellsten Köpfen.
Die wahre Bedeutung der Stelle arguendo increpando obsecrandt
et iüventutem nostram non parum incusando hat schon Wilmans ^ richtig
erkannt. Mit diesem offenen Vorwurf durfte Heinrich dem IV. selbst
ein Günstling wie Benno von Osnabrück nicht kommen. Als wörtliche
Übernahme aus einer als Beweismittel vorgelegten und anerkannten
Vorurkunde auf dem Wege einer Empfängerausfertigung in die Ent-
scheidung Heinrichs IV. eingeschmuggelt, nahm sich die Sache harm-
loser aus. Der Vorwurf war von vornherein mit Absicht auf einen
anderen König ersonnen, um als Mahnung an den gegenwärtigen ver-»
wendet zu werden. Mit vollem Recht suchen wir bei Urkunden-
fälschungen nach Anhaltspunkten für ein bestimmtes Zeitkolorit. Hier
ist ein solches mit aller Deutlichkeit gegeben. Anders urteilte aller-
dings Gundlach:^ „Es ist meines Erachtens weit angemessener, von
der Benutzung der uns erhaltenen Urkunden als Vorlagen abzusehen
und dafür die verlorenen echten Diplome in Anspruch zu nehmen.**
Da ist nur eines merkwürdig, daß unter allen Vorlagen für XXI keine
so ausgiebig benutzt ist als die Erzfälschung VII. Aus dieser un-
echtesten aller Osnabrücker Urkunden, einem konzentrierten Gebräu
aus den Fälschungen IV, V und VI, stammt, wie schon Brandi über-
zeugend nachwies, etwa fast die Hälfte des Textes von XXI.
Aber Gundlach fährt fort: „Benno durfte ohne Anstand auch die?
echten, ohne Frage für ihn minder günstigen Urkunden vorzeigen, weil
ja die Bischöfe, welche das Urteil zu finden hatten, gewissermaßen in
eigener Angelegenheit gegen die Klöster richteten und der König,
wenn er einmal die Sache in die Hand zu nehmen entschlossen war,
nicht zweifelhaft sein konnte, nach welcher Seite er sich entscheiden
sollte." Ja, weshalb wurde dann überhaupt gefälscht? Hatte die
Fälschung nach gewonnenem Prozeß vielleicht besseren Sinn? Gund-
lach verkannte aber überhaupt die ganze Sachlage. Der König konnte
Benno soweit begünstigen, daß er die Einleitung des Prozesses über-
haupt zuließ, in eine wohlwollende Prüfung der Angelegenheit ein-
zutreten versprach, den versammelten Bischöfen zu erkennen gab, daß
ihm eine dem Osnabrücker günstige Entscheidung des Streitfalles er-
wünscht sei, und sich und seine Kanzlei nicht allzu lebhaft für die
Beschaffenheit der Beweismittel seines Schützlings interessierte. Aber
^ Kü. Westfalens 1, 348. f
' Ein Diktator aus der Kanzlei Kaiser Heinrichs IV. S. 144—145.
Forschungen zu Karolinger Diplomen 241
orhanden mußten diese Beweismittel sein. Die Klage mußte ord-
; ungsmäßig erhoben, der Beweis, daß dem Bistum wider seine besseren
Rechtsansprüche durch Jahrhunderte unrecht geschehen sei, angetreten
/erden können. Korvey und Herford waren aber von vornherein be-
orzugt worden und hatten ihre ohnedies günstigere Stellung schon
i'rn 9. Jahrhundert durch Urkundenfälschung noch verstärkt. Ihren
llrkundenreihen gegenüber befand sich Osnabrück in verzweifelter
[age. Ein Prozeß, in dem nichts vorgewiesen werden konnte als die
)uerimonia Egilmari mit ihrem offenen Zugeständnis, daß Ludwig d. Fr.
md Ludwig d. Deutsche tatsächlich die Beeinträchtigung Osnabrücks
[ugunsten der Klöster verfügt und daß Arnolf unter Zustimmung der
iynode diese Verfügung bestätigt hatte, ohne daß auch nur eine der
päteren echten Urkunden diese Rechtslage besserte, war für den
r)ischof auch vor dem wohlwollendsten Forum so gut wie aussichtslos.
)arin liegt die Erklärung und die Entschuldigung für die Osnabrücker
"älschungen. Diese mußten entweder schon vorhanden sein oder eigens
:u unmittelbarem Gebrauch angefertigt werden. Auf den Korpsgeist
1er Bischöfe allein war kein sicherer Verlaß. Unter Arnolf hatte er
■lach dem Zeugnis der Querimonia Egilmari glatt versagt. Unter
rieinrich IV. war er, wie der Verlauf des Thüringischen Zehntstreites
eigte, lebhafter erwacht und wirksamer; aber selbst unter Friedrich I.,
[u einer Zeit, da der Kampf in der Zehntfrage zwischen Klöstern und
upiskopat auf ganzer Linie entbrannt war,^ erwies er sich nur gerade
ils stark genug, um eine unmittelbare Entscheidung zuungunsten von
)snabrück zu verhüten; bei längerem Leben und einem neuen An-
letzen Wibalds von Korvey würde er den bischöflichen Kollegen vor
iner Umwerfung der Entscheidung Heinrichs IV. nicht geschützt haben.
Die Beweisführung mit Hilfe der gefälschten Urkunden bewegte
.ich nach zwei Richtungen. Es sollte bestritten werden, daß Lud-
jvig d. Deutsche seine Gunst einseitig den Klöstern zugewendet, vor
Ulem daß er ihnen geschlossene Missionsgebiete mit ihren Zehnten
Überlassen habe, und es sollte bewiesen werden, daß gegen Übergriffe,
iiie sich die Klöster wider das bessere Recht des Bistums erlaubten,
|)tets Einspruch erhoben, und daß der Streit unter Arnolf wie später
m 10. Jahrhundert, wenigstens theoretisch, stets zugunsten des Bischofs
imtschieden worden sei. Die Vorlegung der Urkunde Ludwigs d. Deutschen
oildete daher für Benno bei den Verhandlungen zu Worms geradezu
iinen Kernpunkt der Beweisführung. Es genügt hierbei, an den ent-
scheidenden Satz in XXI zu erinnern: Ad hec (die Ansprüche Korveys
^ Das wird eingehend die Arbeit von Georg Schreiber, Kurie und Kloster im
-2. Jahrhundert, Kirchenrechtl. Abhandlungen, herausg. von Stutz, 1909, zeigen.
AfU 11 16
242 M- Tangl
und Herfords) infringenda et annihilanda eiusdem senioris Ludevvul
cartam ipsius propria manu roboratam et sigillo eins assignatam epü
scopus in palam proferebat, in qua idem Ludevvicus avi patrisque si\
statuta super eisdem decimis prefate Osnabruggensi ecclesie stabilivt
et in earundem decimarum traditionibus quicquam derogasse, ut abbatä
scripta referunt, denegavit. Daß demnach eine Urkunde Ludwigs q
Deutschen vorgelegt wurde und daß eine Urkunde solchen Inhalt
nicht echt sein konnte, steht außer Frage. Dies ist auch Bran^
Meinung; nur nimmt er (S. 131 und 141) an, daß die Urkunde, die
Herbst 1077 auf dem Wormser Hoftag als Beweismittel im Zehntsti
vorlag, eine von der uns erhaltenen Urkunde IV verschiedene war; den!
von jener wird ausdrücklich gesagt, daß sie „in Sachen der Zehntel
nicht die geringste Einschränkung der Osnabrücker Rechte verfüg
habe'', während in IV ausdrücklich eine solche einschränkende Klause
stehe: exceptis decimis dominicalium monachis et sanctimonialibus pertv
nentium, quod nos foravuerch vocamus, quas pater noster filudouuicüS
de eodem episcopatu per cambiatum adquisivit. Gesetzt, diese Annahm! :
wäre zutreffend, dann wäre mit ihr die Priorität der erhaltenen ür
künde IV vor XXI erst recht erwiesen; denn die Entwicklung hätti
dann notwendig folgende sein müssen: 1. echtes Diplom; 2. Fäl
schung IV (Zuerkennung der Zehnten an Osnabrück, aber mit gei
wissem Vorbehalt); 3. Fälschung (uneingeschränkte Zuweisung de;
Zehnten, verlorene Vorurkunde von XXI); 4. Urkunde Heinrichs IV
(XXI), die sich auf Vorlage einer Urkunde Ludwigs d. Deutschen aus
drücklich beruft. Denn umgekehrt, daß der Fälscher zuerst ein Mach
werk weitergehenden Inhaltes herstellte, dann aber, von Reue erfaßt
eine Einschränkung an ihm vornahm, kann ich mir das Verhältni
unmöglich denken. Aber die Lösung liegt überhaupt viel einfacher
die Annahme eines Zwischengliedes kann , da sie nur unnötig
Schwierigkeiten schafft, ganz fallen gelassen werden. Aus der ür
künde Heinrichs IV. erfahren wir genau, welcher Art die Zehntansprüch-
der Klöster waren. Sie gingen auf den Zehntbezug von den Tauf
kirchen des friesischen Nordlands. Diese auf Pastoration und Zehnter
innerhalb großer, geschlossener Gebiete sich erstreckenden Ansprüche
werden aber in IV in der Tat vollständig durch die Gegenbestimmuni
zurückgewiesen, daß der Bischof infra terminum episcopii sui Herr de
Zehnten sein solle. Das Zugeständnis gewisser Zehntrechte Korvey:
auf einzelnen Eigengütern bedeutet nach dieser Richtung keine Ein
schränkung. Bezeichnenderweise wird in VIII dem Bischof das Zehnt
recht innerhalb seines Bistums ex integro zugesprochen, und doch folg
unmittelbar darauf, wie in IV, nur in 'viel ausführlicherer Darieguni
und Begründung, die Klausel exceptis decimis dominicalium monachl
Forschungen zu Karolinger Diplomen 243
)ertinentium. Über die Scheidung beider Fragen hat niemand klarer
ind besser gehandelt als Brandi (S. 147): „Es muß an dieser Stelle
)etont werden — weil es vielfach übersehen worden ist — , daß es
ich bei der Zehntenfrage um zwei ganz verschiedene Dinge handelt,
^uf der einen Seite stehen die vorhin besprochenen Zehnten weiter
Kirchspiele, zu deren Empfang sich die Mönche berechtigt glaubten
md in deren Besitz sie im 11. Jahrhundert offenbar vielfach waren.
)iesem gegenüber stehen die Zehnten, deren Leistung die Klöster
'on ihren eigenen selbstbewirtschafteten Gütern nicht zugestehen
sollten." Daß Korvey hier bedeutende Rechte erhalten und ersessen
latte, war so offenkundig, daß ein völliges Ableugnen auf allen Ge-
)ieten kaum zum Ziele geführt haben würde. Die Taktik des Fälschers
^^ar dieser Lage gegenüber sehr klug. Er suchte die Rechte des
^ischofs in der Hauptfrage grundsätzlich zu wahren (— und nur von
|W, den Zehnten ganzer Kirchspiele, ist in XXI die Rede — ) und
'nachte dafür auf dem anderen, minder wichtigen Gebiete gewisse Zu-
i^eständnisse.
Aus diesen Erwägungen wird an der Benutzung von IV als Vor-
jirkunde von XXI nicht länger Anstoß zu nehmen sein.
I Es wird sich, ehe wir in der ganzen Frage schlüssig werden,
Empfehlen, uns die äußeren Lebensumstände Bennos IL in jenen Jahren
ins Gedächtnis zu rufen. Auch hierüber sind wir jetzt durch die echte
\j\idi Bennonis und die Osnabrücker Urkunden besser als früher unter-
Hchtet, und Bresslau gebührt das Verdienst, die Zusammenstellung und
Kritik der betreffenden Zeugnisse in abschließender Weise erledigt zu
liaben.^ Benno war gleich in die ersten Kämpfe Heinrichs IV. in
Sachsen mit verwickelt worden. Er zählte 1073 zu den wenigen Be-
gleitern des Königs bei der Flucht aus der Harzburg, konnte dann
aber in sein Bistum zurückkehren und sich noch durch drei Jahre
seines Besitzes erfreuen.^ Erst 1076 mußte er dem Umsichgreifen des
Abfalles von der Sache des Königs weichen. Er begab sich zunächst
bn den Hof Heinrichs IV., mußte diesen zwar im Herbste dieses Jahres
auf kurze Zeit verlassen, stieß aber zu Anfang 1077 wieder zum König,
!den er auf dem Gang nach Canossa begleitete. Im März 1077 waltete
^Bresslau, Die echte und die interpolierte Vita Bennonis secundi, NA. 28,
;120— 127. Der wesentliche Gewinn gegenüber der früheren Meinung besteht darin,
daß nur ein einmaliges Exil des Bischofs (1076—1080) an Stelle der früher angenom-
menen zweimaligen Vertreibung aus dem Bistum (1073—1076, 1077—1080) erwiesen
ist. Ein angeblicher Aufenthalt Bennos in Osnabrück während des Jahres 1077
ifällt — für unsere Frage sehr wichtig — hinweg.
I ^ Erkenntnisgrund hierfür ist die gegenüber den späteren Jahren recht seltene
'Anwesenheit Bennos bei Hof, außerdem eine Urkunde Bennos.
16*
I
244 ^' Tangl
er als Richter und Königsbote in Verona, von April bis Oktober 107
erscheint er als Intervenient in fünf Urkunden Heinrichs IV., zu Anfan,
des Jahres 1078 und dann wieder im Frühjahr 1079 ging er als Ge
sandter des Königs nach Rom, im März 1080 weilte er, und zwa,
wohl als Begleiter des Königs, in Köln, im Juni 1080 nahm er an de
Brixener Synode teil, und erst nach dem Tode des Gegenkönigs Rudof
(1080 Oktober 15) winkte ihm die Möglichkeit der Heimkehr in seil
Bistum. Vom 23. September 1074 datiert das letzte ausdrücklich
Zeugnis für das Walten Bennos in seinem Bistum; am 18. November 107'|
erließ Gregor VII. das erste bekannte Mandat in der Zehntfrage. Da
mals hatte also Benno, wie wir oben sahen, seinen Streit bereits an
hängig gemacht. Als ihn daher die Verhältnisse zum Verlassen seine
Bischofsitzes zwangen, wußte er, was er wollte, und was er zu seinei
Zwecken brauchte. Er muß damals alle wesentlichen Beweisstücke, dl
sein Archiv ihm bot, gekannt und an sich genommen haben. Zi.
späteren Nachforschungen und Ergänzungen bot sich ihm, zumal iij
der Zeit zwischen den beiden Entscheidungen Heinrichs IV. von 107'(
und 1079, keine Möglichkeit. Das wußte man auch bei Hof und ii;
der königlichen Kanzlei. Als tatsächlich dem Osnabrücker Archiv ent
nommen konnte er nur die Urkunden verfechten, die er spätesten
auf dem Wormser Hoftag von Allerheiligen 1077 zur Vorlage bracht^;
Angebliche Beweisstücke, die er nach diesem Zeitpunkt entdeckt ode
durch einen getreuen Boten nachträglich erhalten haben wollte, hättei
sich allzu großen Zutrauens wohl kaum zu erfreuen gehabt. Es hätt«
dies eher ein Mittel sein können, die schon gewonnene Sache nod
im letzten Augenblick zu gefährden. Daß Benno sich zur Erlangung
der zweiten Urkunde Heinrichs IV. (XXII) auf neue Königsurkunden
speziell die Fälschungen VIII und XIII, berufen habe, die bei de
Wormser Verhandlung noch nicht vorgelegen hatten, stelle ich dahe
rundweg in Abrede. Aber diese zweite Gruppe soll nach Brand
(S. 154 und 157) hauptsächlich auch dazu gedient haben, anläßlicl
der Gesandtschaftsreise Bennos 1079 auf Gregor VII. Eindruck zi
machen; daher in VIII und XIII die starke Hervorhebung der Auctoritai:
apostolica. Ich kann durchaus nicht finden, daß diese in VIII stärke
betont ist als in der sicher schon 1077 vorhandenen Fälschung VII
In jener beruft sich der Fälscher auf die Entscheidung zweier Päpste
Formosus und Stephan, in VII pocht er auf ihrer viere: Leo, Paschal
Eugen und Gregor.
Aber Benno ging doch schon im Januar 1078, unmittelbar nact'
der ersten und maßgebenden Entscheidung seines Prozesses, als Ge-
sandter nach Rom. Die Verhältnisse lagen noch nicht allzu un-
günstig; die Verständigung, die zwischen König und Papst zu Canossc
Forschungen zu Karolinger Diplomen 245
rreicht worden war, hielt zur Not noch an. Aber gerade ein so feiner
md in den Stand der Verhandlungen so eingeweihter Politiker wie
ienno II. mußte sich sagen, daß jeder Augenblick den neuen voll-
tändigen Bruch herbeiführen und dadurch auch seine eigenen Pläne
mpfindlich stören konnte. Mußte ihm daher nicht damals sogleich
lies daran liegen, auch dort eine ihm günstige Entscheidung, wenn
ine solche überhaupt zu erhalten war, hervorzurufen und zu diesem
;;weck sein gesamtes Rüstzeug mit sich zu nehmen? Und konnte er
iamals schon wissen, ob dies nicht auf lange Zeit hinaus seine letzte
leise nach Rom sein, konnte er ahnen, daß er schon über Jahresfrist
/iederkommen würde? Gerade dies spricht dafür, daß er 1077 so-
gleich ganze Arbeit machte.
Meine Überzeugung ist daher, und ich werde sie später bei der
:ergliederung der Urkunden noch näher begründen, daß im fierbst 1077
|lie Fälschungen III— VIII, XI und XIII (— für I und II besitzen wir
jus den Verhandlungen von 1077—1079 keine Zeugnisse — ) schon
n geschlossener Reihe vorlagen.
Der Text von XXI stellt sich als eine schier wunderliche Leistung
jlar, die so in der königlichen Kanzlei nicht entstanden sein konnte.
im der Empfänger selbst konnte es fertig bringen, seinen ganzen
^Wunschzettel in diese Fassung der königlichen Entscheidung hinein-
uverarbeiten, als genauer Kenner seiner Urkunden und ihres Wort-
gutes alle Schlager aus den Fälschungen herauszufinden und der
leihe nach an richtiger Stelle zu verwenden.
Es war vielleicht nicht die geringste Kraftprobe für Bennos ein-
lußreiche Stellung bei Hof, daß es ihm gelang, seinem so gearteten
■ntwurf Billigung und Beglaubigung zu verschaffen. Diese wurde ihm
inmittelbar vor Antritt seiner römischen Legation und wohl als Preis
ür sie zuteil, doch behielt sich die Kanzlei vor, in selbständiger Dar-
teilung nochmals auf den Fall zurückzukommen. Diese liegt in
CXII vor.
Wir sahen, daß die äußeren Merkmale dieser Urkunde allzu hohes
/ertrauen nicht erwecken. Anders steht es um Fassung und Inhalt,
her hat Gundlach (a. a. 0. 129—131) von der Arenga an bis zum
lachgestellten Demonstrativum (kartam hanc, vgl. dazu auch im Kon-
,ext causam hanc) und dem ut est consuetiido regum et imperatomm
jn der Korroboration aus anderen Diplomen Heinrichs IV. an einzelnen
iätzen, Worten und Wendungen in der Tat ein wertvolles und be-
chtenswertes Vergleichsmaterial zusammengetragen, das sicher aus-
eicht, die Fassung als durchaus kanzleigemäß zu verbürgen, und sie
ielleicht auch bei endgiltiger Nachprüfung als das Werk des unter
leinrich IV. meist beschäftigten, von Gundlach mit Gottschalk von
I
246
M. Tangl
Aachen identifizierten Diktators anzuerkennen, wofür sie Gundlach an-
spricht. Aber es verlohnt auch, Aufbau und Inhalt der Urkunde zu
verfolgen. Die verfängliche Arenga von XXI ist durch eine neue und
kanzleimäßige ersetzt; ein Hauptgedanke ist aber immerhin an zwei
Stellen übernommen, in der Arenga emendemus in melius, quod per
negligentiam aut malitiose peccavimus und am Schluß des Kontextes
et nostram deleri negligentiam et antecessorum delicta redimi, qui hat
in causa negligenter et maliciose egere. Daß das Lob Bennos in XXli
viel stärker aufgetragen ist, erklärt sich aus ihrem Charakter als
Kanzleiausfertigung aufs beste; in XXI hatte sich Benno als Eigenlob
mit den Prädikaten fidelis und in nostro servitio longo tempore devo-^
tissimus begnügt.^ Bei dem Wortlaut der Fälschungen machte der
Diktator von XXII keine Anleihe; viel eingehender aber, als es in XXI
und auch in irgend einer der Fälschungen geschehen war, verbreitet er
sich über die Frage, wie Osnabrück seiner Zehntrechte verlustig ging.
Nach der Bemerkung, daß dies unter Ludwig d. Deutschen und den
Kriegswirren jener Zeit durch den Grafen Cobo^ geschehen sei, kommt
er nochmals mit einer Ausführlichkeit auf diese Frage zurück, die wir
nur in einer Osnabrücker Quelle finden, der Querimonia Egilmari.
XXII:
Equidem prefatus Coppo primus Usur-
pator earundem decimarum, cum totum oc-
casione beUorum iniusta dominatione suos
in usus raperet, partem Warino fratri suo
germano Corbeiensi abbati, partem abba-
tiss^ Adel^ Herefurdensi german§ suf con-
cessit.
Querimonia Egilmari:
Qüidam eius fidelis comes ditissimus)
Cobbo nuncupatus de predicto episcopatu
quicquid voluit agere adeptus, germano
eius nomine Werin in monasterio ffuxiliensi
tunc temporis abbate et sorore eius in
puellarum cenobio fiervordensi abbatissa
degentibus quantum voluit de decimis, que
ad eundem episcopatum pertinebant, tradi
fecit ad eadem monasteria.
Eines ist sicher, daß die Kanzlei Heinrichs IV. für ihre Darstel-
lung eine Grundlage erhalten haben mußte, und daß die Fälschungen
und die auf ihnen weiterbauende Urkunde XXI diese Grundlage nicht
abgaben. Liegt hier also etwa direkte Benutzung der Querimonia,
Egümari vor, und hat Benno auch dieses Zeugnis damals neben seinen
Urkunden vorgewiesen? Ich halte dies für ganz ausgeschlossen, da er
dadurch der Kanzlei, der Synode, den Gegnern eine einfach vernich-
tende Waffe gegen seine Arnolf-Urkunden in die Hand gegeben hatte.
Man denke nur an Egilmars Eingeständnis seines vollständigen Miß-
^ XXII: Idem vero cum per omnem vitam suam a nobis optime meruisset, tarn
ea de causa dignior erat audiri, quod in omnibus necessitatibus nostris fideiiter
nobis et inremotus comes adhesit.
' Der Name dieses Mannes ist sonst nur in der Fälschung IV genannt.
Forschungen zu Karolinger Diplomen 247
jHgens vor der Synode, und zwar unter dem Drucke des Königs:
ft Uli scientes voluntatem principis et quorundam comitum et, ne eum
ffenderent, renitentes nil de causa prolata respondere presumpserunt,
\ed penitüs mm responsione canonica in amore dei petita iusticia
\fichi denegata est, sicque adulando principi iussus sum ab eo, si eins
\ratiam velleni habere propitiam eiusque potestati non contraire, ut hec
t in deciniis et reliquis huiuscemodi negociis querulosis omnia per-
uttereni fore sicut inveni, meaque compulsa interpellatio cassata est.
\ed ne hoc quideni impetrare quivi, ut accusatores in presentia ex-
iberentur et causa recte examinaretur, und halte dazu die Fälschungen
1^— VIII, die in allen diesen Dingen das gerade Gegenteil aussagen!
Wohl aber halte ich es für sehr wahrscheinlich, daß Benno selbst
ine historische Darstellung der Zehntfrage ausarbeitete, für deren
»eginn er die Querimonia benutzte, um zur rechten Zeit an der kriti-
jchen Ecke von ihr abzuschwenken, und daß diese Denkschrift in
'.XII verwertet ist. Aber XXII enthält von tatsächlichen Angaben noch
iine mehr als die Querimonia oder die aus ihr schöpfende unmittel-
bare Vorlage, den Namen der Äbtissin von Herford. Der konnte in
|er Kanzlei Heinrichs IV. weder ohne weiteres bekannt sein, noch ist
[S wahrscheinlich, daß man ihn erst durch umständliche Nachfor-
Ichungen feststellte, sondern er mußte in einer die Zehntfrage be-
jührenden Quelle vorliegen. Unsere Überlieferung der Querimonia ist
[eine allzu gute; die einzige erhaltene Handschrift stammt erst aus
lern 13. Jahrhundert und zeichnet sich nicht durch sonderliche Kor-
ektheit aus. Die Möglichkeit ist also gegeben, daß die bessere und
iltere Überlieferung, aus der man zur Zeit des Zehntstreites schöpfte,
mch den Namen enthielt. Aber noch ein anderer Ausweg bietet sich.
|)er Name der Äbtissin Addila stand in der Korvey-Herforder Fälschung
luf den Namen Ludwigs d. Deutschen, welche die Überweisung der
pufkirchen Meppen und Bünde an die Klöster enthielt. Diese Urkunde
ivurde bei den Verhandlungen des Wormser Hoftages von 1077 zwar
liicht selbst vorgelegt, wohl aber eine Denkschrift des Korveyer Abtes,
iie sich auf sie berief.^ Zu ihrer Widerlegung führte ja Benno die
"älschung IV ins Treffen, die umgekehrt vonseite der Vertretung der
(löster gescholten wurde.^ Da ist es nun von hohem Interesse, daß
CXII im Gegensatz zu XXI die Berufung auf diese Urkunde einfach
' ^ XXI: Ex abbatis autem scripto, quod attulit, nulla regali auctoritate confir-
nato^ iuniorem Ludevvicum quandam cellam Corbeiensi ecclesie nomine Meppiam,
lerefurdensi autem ecclesiam nomine Bunede cum decimis sibi pertinentibus in
piscopatu Osnebruggensi concessisse intelleximus.
^ XXI: Abbate autem et abbatissa preter hoc solum, quod ibi videbatur ficticium,
iliquid, quo inniti possent, non habentibus.
248 M. Tangl
unterdrückt und die Reihe der zu Osnabrücks Gunsten sprechender
urkundlichen Zeugnisse erst von der Zeit König Arnolfs an eröffnet.
Es geschieht dies in dem kurzen zusammenfassenden Bericht, der vor
allen Forschern, die sich mit unserer Frage bisher beschäftigten, leb-
haft erörtert worden ist: Ventilata est res in conciliis IUI: primo Rortu,
süb papa Stephano, secundo Triburie sab Arnulfo imperatore, tertic
Banne, quarto Ingelinheim.
Drei von diesen Berufungen sind glatt festzustellen. Die erste isi
einem Satz aus der Fälschung VIII entnommen: ut Stephanus papa
diffinivit et litem inter eos iterata institutione diremit. Die zweite be-
zieht sich auf den Hauptinhalt der gleichen Fälschung: quoniam in
proximo Triburie constituta erat sinodus ibi fieri. Die hier versammelten
Bischöfe sollen ja angeblich das bessere Recht schon anerkannt, König
Arnolf ihren Spruch bestätigt haben. Das vierte Zitat geht auf die
Fälschung XIII: synodum Inglinheim congregandam proximo autumnali
tempore . . . condiximus. In diesem Falle werden auch die Namen dei;
TeÜnehmer aufgezählt und in so großer Zahl, daß die Versicherung inj
XXII presentibüs fere omnibus Teutonicarum partium episcopis als keinei
allzu arge Übertreibung erscheint und nur die Beigabe mediantibu&\
legatis Romanis abgelehnt werden muß; die Vorurkunde hatte nui-
davon gesprochen, daß der Papst selbst den Rat gegeben habe, zuii
Verhandlung der Angelegenheit die Synode zu berufen. Dagegen stimml;
wieder genau mit XIII die Stipulierung einer Strafsumme von 30 Pfund
Gold.^
Schwierigkeiten schafft dagegen das dritte Zitat einer Synode zu Bonn.
Wilmans (a. a. 0. 1, 364f.) dachte hier an die Fälschung XI, obwohl er
wußte, daß im Kontext dieser Urkunde im Unterschied zu VIII und XIII ein
Ort nicht genannt ist, und daß die Ortsangabe in der Datierung auf Dort-
mund weist. Außer der Urkunde müßte hier also noch eine andere Quelle
anzunehmen sein, und diese glaubte Wilmans in dem Bericht der Con-
tinuatio Reginonis oder der Hildesheimer Annalen gefunden zu haben,
daß 942 (bzw. 943) eine Synode zu Bonn abgehalten worden sei. Von
diesem Zeitpunkte liegt die aus dem Jahre 960 datierte Urkunde aller-
dings weit ab, aber Wilmans glaubte doch die Annahme einer Ver-
^ Unter allen, sonst mit großem Geschick gearbeiteten Osnabrücker Fälschungen
ist IV die einzige, der man die Rasur des ganzen Pergaments auf den ersten Blick
anmerkt. Sollte das Zusammentreffen dieser Tatsache mit der Schelte dieser Urkunde
und dem kühlen tiinweggleiten der Kanzleiausfertigung XXII über sie rein zufällig
sein? Man halte dazu das Zeugnis der Vita Bennonis c. 16: Cum adessent etiam
quam plurimi, qui pro abbate loquerentur.
^ XIII: et triginta libras auri pro iniusticia illata . . . persolvendas promiserunt.
XXII: cum XXX librarum auri compositione.
Forschungen zu Karolinger Diplomen 249
arbeitung dieser beiden Zeugnisse der einer Berufung auf eine verlorene
jürkunde vorziehen zu sollen. Durch sie würde man nur eine Schwierig-
|keit los, um sich eine neue und vielleicht noch größere aufzuhalsen;
denn dann stimmt die Zahl der Synoden nicht, deren wir 5 statt 4
erhielten: 1. Rom (VIII), 2. Tribur (VIII), 3. Bonn (Urkunde verloren),
4. Synode v. J. 960 unbekannten Orts (XI), 5. Ingelheim (XIII). So
steht die Sache aber doch nicht; zwischen dem Kontext von VIII und
XIII einerseits und XI andererseits besteht hier ein beachtenswerter
Unterschied; während jene ausdrücklich von Berufung einer Synode
sprechen, ist in XI nur von Verhandlung auf einem Hoftag die Rede.
Es besteht daher kein zwingender Grund, XI in die Berufung ventilata
est res in conciliis IUI e'mzüheziehen. Ich schließe mich daher dem zuletzt
von Brandi (a. a. 0. 153) vertretenen Urteil anderer Forscher an, daß hier
ein sicherer Anhaltspunkt der Beziehung auf eine verlorene, an Echtheit
den Schwestern VIII, XI, XIII zweifellos ebenbürtige Urkunde vorliegt.
Der Rechtsinhalt von XXII entspricht im wesentlichen dem von
XXI: Vorladung beider Parteien mit ihren Beweismitteln (cum manu-
scriptis) auf einen Hoftag, Anwesenheit von 20 oder noch mehr
Bischöfen, Verlesung der Zeugnisse, Urteil zugunsten von Osnabrück,
dem die Zehnten seiner Diözese zugesprochen werden. Neu ist gegen-
jüber XXI die Einfügung einer Gegenleistung. Der Bischof und sein
jKapitel übernehmen die Verpflichtung, dafür zu sorgen, daß für das
jSeelgedächtnis des im Sachsenkrieg gefallenen Getreuen Siegfrid täglich
leine Sondermesse und Dienstags die Kapitelmesse gelesen werde.
[Ebenso wird ihnen aufgetragen, für das zeitliche und ewige Heil und
ispäter einst für das Gedächtnis des Königs wöchentlich 30 Messen
'ZU lesen und ebenso viele Psalter zu singen.^
Bischof Benno hatte seine Zehnten hiermit zum zweitenmal zuge-
sprochen erhalten; ob ihm aber die Form besonders zusagte, möchte
jich sehr bezweifeln. Die Kraftsätze aus den schönen Fälschungen
waren alle verschwunden, an ihre Stelle ein nüchterner Bericht getreten.
Der Vielgewandte wußte sich auch hier Rats. Er erbat sich noch die
^ Schon Gundlach hat darauf hingewiesen, daß eine ganz ähnliche Bestimmung
einer aus der Kaiserzeit Heinrichs IV. stammenden und im Codex üdalrici über-
[lieferten Schenkung für eine Peterskirche beigefügt ist. Jaffe, Bibliotheca rr. Germ.
'5, 238 Nr. 127; aber ich glaube nicht, daß die Gleichheit des Schutzheiligen ausreicht,
um auch diese Schenkung, wie Gundlach später annimmt, auf Osnabrück zu deuten.
Eine Berufung auf eine ähnliche, aber verlorene Urkunde Heinrichs IV. liegt vor in
dem Diplom Konrads III. für Burtscheid, Stumpf 3369, KüiA. X, 1: specialiter pro
anima ^igefridi comitis sociorumque eius pro fidelitate regni in Saxonie interfectorum.
Im Memorienbuch der Osnabrücker Kirche war die Stiftung Heinrichs IV. nicht ver-
zeichnet, und nach der Annahme von Jostes (Zeitschrift f. vaterl. Gesch. 62, 116)
ist keine der vielen Messen gelesen worden.
I
250 M- Tangl
Vergünstigung, sich das, was ihm nun schon in zwiefacher Weise ver-
brieft worden war, in einer beide Urkunden zusammenfassenden und
so die ganze Angelegenheit endgiltig abschließenden Prunkausfertigung
bestätigen zu lassen. Seinem Ansuchen wurde (— unmittelbar vor
seiner zweiten Gesandtschaftsreise nach Rom — ) entsprochen. So
entstand die Prunkurkunde XXIII, für deren Abfassung Benno selbst
wieder vollkommen freie Hand erhalten haben mußte; denn die Mischung
zwischen XXI und XXII fiel ganz nach seinem Geschmack aus. Aus
XXI wurde wörtlich alles übernommen, aus XXII — die Messen und
Psalter. Die durch die Goldbulle beglaubigte Urkunde galt fortan als
die eigentlich entscheidende Verbriefung. Als solche wird sie von
Abt Norbert von Iburg in seiner Vita Bennonis gefeiert.
Im Herbst 1077 waren die gefälschten Urkunden schon vorhanden.
Die Frage kann nur sein, ob sie damals als schon ältere Bestände
dem Osnabrücker Archiv entnommen werden konnten oder ob sie erst
als Rüstzeug für den seit kurzem ausgebrochenen Kampf frisch an-
gefertigt wurden. Sollte die Vermutung über die zur Anwendung auf
Heinrich IV. ersonnene Arenga der Fälschung IV zutreffen, dann könnten
Herstellung und Verwertung dieser Urkunden unmöglich weit vonein-
ander liegen. Die Entscheidung in dieser Frage müssen die Fälschungen
selbst bringen, deren näherer Betrachtung wir uns jetzt zuwenden.
4. Die gefälschten Urkunden
Die Urkundenkritik ist von der Gunst oder Ungunst der Über-
lieferung in entscheidender Weise abhängig. Sie kann an der Hand
der Originalurkunde zur gesicherten Beobachtung über eine Reihe von
kritischen Fragen vordringen, deren Lösung ihr bei der Abschrift oder
dem Druck versagt oder nur in beschränktem Maße möglich ist. Dies
trifft für die Urschriften von Fälschungen noch stärker zu. Die För-
derung, welche die Kritik der Gurker Fälschungen erfuhr, als neben
dem lange allein bekannten Kopialbuch die Urschriften dieser Fälschungen
auftauchten, wird in der Geschichte der Kritik einer großen zusammen-
hängenden Gruppe immer eines der schönsten und lehrreichsten Bei-
spiele bleiben.^ Daher auch bei der Osnabrücker Gruppe das lange,
eifrige Fahnden nach den Urschriften und die Freude, als der Hehl-
mantel fiel, der um sie gelegt war. Darf die Freude auch eine voll-
kommene sein? Haben sich die hochgespannten Erwartungen auch
ganz erfüllt? Offen gesagt, nicht in dem Maße wie in ähnlichen Fällen
bei anderen Gruppen. Bei den Passauer Fälschungen bedarf es wirk-
lich nur eines Blickes, um zu erkennen, daß sie alle von derselben
^ A. V. Jaksch, Monumenta historica ducatus Carinthiae, I. Bd. Einleitung.
Forschungen zu Karolinger Diplomen 251
Hand herrühren und daß diese Hand mit der des Kanzleischreibers
jWilligis-C unter Otto II. identisch ist.^ Ebenso wird man dem Urteil,
^alß die angeblichen Urkunden Karls d. Gr. für Kempten DK. 223, 224,
Idie in der diplomatischen Literatur berühmte Lindauer Fälschung auf
Öen Namen Ludwigs d. Fr., das angebliche Diplom Ludwigs d. Deutschen
ifür Rheinau, Mühlbacher 1402, und die gefälschte Urkunde Karls III. für
JReichenau, Mühlbacher 1610 von gleicher Hand herrühren,^ nach kurzer
Prüfung beitreten. Bei Osnabrück liegt die Sache nicht ganz so ein-
fach. Zwar sind Brandi, Ottenthai und ich gleichzeitig und ganz unab-
hängig voneinander zu demselben Ergebnis gelangt, daß die Fälschungen
als das Werk einer einzigen Hand anzusprechen sein dürften;^ wer aber
daraufhin etwa die Faksimiles von I und VII gegeneinander hält und
zu der bloßen Behauptung ohne näheren Beweis den Kopf schüttelt
oder sie rundweg ablehnt, dem kann ich sein Zweifeln nicht verargen.
Trotzdem kann von Enttäuschung nicht die Rede sein. Die Auf-
jgabe ist bei dieser Gruppe nur schwieriger, aber gerade darum reiz-
Ivoller geworden. Ehe ich weiter gehe, sei mir eine allgemeine Bemer-
Ikung gestattet. Gelingt es bei der Untersuchung solcher Gruppen, die
JGleichheit der Schrift völlig klar und sicher zu erweisen, dann steht
jdadurch mit einem Schlage auch die Einheitlichkeit der Fälschung
Ifest; im gegenteiligen Falle aber ist sie, wie wir an einem berühmten
Beispiel sehen, darum noch keineswegs widerlegt. An der Einheitlichkeit
der Fälschung der großen österreichischen Privilegien wird aus inneren
Gründen von keiner Seite ein Zweifel erhoben; und doch rühren die
(drei führenden Urkunden, die Heinrichs IV., das Privilegium Maius
Friedrichs I. und die Bestätigung des Maius durch Friedrich II. von
ganz verschiedenen Händen her, oder die Verstellungskunst hat hier
eine kaum mehr für möglich zu haltende Höhe erreicht. Für unsere
Gruppe bedürfen wir aber keiner solchen Rückzugsdeckung; denn
ich hoffe aus den äußeren und inneren Merkmalen den Beweis ein-
^ Vgl. ühlirz, Die Urkundenfälschung zu Passau im 10. Jahrhundert. Mitteil.
d. Instituts f. österr, G.-F. 3, 181 ff., ferner die Faksimiles in Kaiserurk. in Abbild.
VII, 25 und in meinen Schrifttafeln Arndt-Tangl III, 78.
^ Lechner, Schwäbische Urkundenfälschungen des 10. und 12. Jahrhunderts,
Mitteil. d. .Instituts f. österr. G.-F. 21, 28 ff.
^ Brandi a.a.O. S. 151 in vorsichtiger Formulierung: „Demgegenüber lehrt
nun die Untersuchung der jetzt vorliegenden Urschriften — wenn ich mich nicht
sehr täusche — durchaus die Einheitlichkeit der Fälschungen. Nicht nur die Technik
der Herstellung unter Benutzung echter Pergamente und Siegel ist durchweg die-
selbe; auch die Schriftzüge scheinen mir auf dieselbe Hand zu weisen; ein über-
zeugender Beweis ist durch die Schriftvergleichung freilich nicht zu liefern, wie
jeder weiß, der Schriftzüge verglichen hat, die Vorlagen verschiedenen Alters nach-
ahmen sollen."
I
252 ^' Tangl
heitlicher Entstehung und Herstellung mit Sicherheit zu erbringen.
Beobachtungen an der ganzen Reihe sollen ihn eröffnen, die Prüfung
der einzelnen Urkunden ihn abschließen.
Ich knüpfe zunächst an die Feststellung Brandis an: gleiche Technik
der Herstellung unter Benutzung echter Pergamente und Siegel. Die_
meisten, vielleicht alle Fälschungen stehen über Rasur, der die Texte echter
Vorlagen zum Opfer fielen. Das würde noch nicht allzuviel besagen;
denn dieser Vorgang war im Mittelalter allbekannt. Aber diese Ra-
suren sind mit wahrer Meisterschaft ausgeführt. Während sonst bei
Handschriften und Urkunden über Vorhandensein und Ausmaß solcher
Rasuren bei einigermaßen sorgfältigem Zusehen kaum ein Zweifel be-
steht, bedarf es hier wiederholter sorgfältiger Prüfung und schärfsten
Zusehens, um gerade die Gesamtrasuren der Pergamentfläche mit Sicher-
heit zu erkennen. Vollkommen deutlich und auf den ersten Blick tritt
dies nur bei IV hervor, wo die dunkle Färbung des Pergaments und
die stark hervortretenden Poren der inneren Schicht zu Verrätern
werden. Am nächsten stehen hierin VIII und XI. Bei den übrigen
aber läßt sich Gesamtrasur nur mit größter Schwierigkeit erkennen;
denn auf den Pergamenten ist jede Spur, die zur Verräterin werden
könnte, aufs sorgfältigste beseitigt, sind besonders die Grenzen zwischen
Einzel- und Gesamtrasur mit vollendeter Täuschung verwischt, und
nur der Vergleich mit den zweifellosen Originaldiplomen der Ottonen-
und Salierzeit läßt die Weiße und Glätte der unversehrten, gut kalzi-
nierten Oberschichte des Pergaments bei allen vermissen. Näheres
bitte ich unten bei der Beschreibung der einzelnen Urkunden nachzu-
lesen. Man halte dagegen etwa die beiden Fälschungen für Kempten
DK. 222, 223 oder die für Lindau, Mühlbacher 992, bei denen
infolge der ungleich roheren Arbeit das Vorhandensein von Gesamt-
rasur auch dem ungeübten Auge sofort klar werden muß. In IV und -
VII sind mit gleicher Kunstfertigkeit, ohne irgend sichtbare Spuren des
Eingriffes zu hinterlassen, die echten Siegel von den Urkunden, zu
denen sie ursprünglich gehörten, abgelöst und an den Fälschungen
neu befestigt.^ I und III gleichen sich darin, daß in beiden nur für
die Rekognition, in III sogar nur für das Rekognitionszeichen eine
andere Urkunde als Vorbild herangezogen wurde, und zwar in I sicher,
in III wahrscheinlich eine solche für einen italischen Empfänger. Auf
solche Arbeitsweise verfallen nicht unabhängig voneinander zwei ver-
schiedene Fälscher; das ist einheitliche Mache. Dazu kommt die Nach-
ahmung der Schriftvorlagen. In I, II und III hält sie sich infolge der
* Ein Belassen der Siegel an den ursprünglichen, aber radierten Pergamenten
ist in beiden Fällen ausgeschlossen.
Forschungen zu Karolinger Diplomen 253
.Fremdartigkeit der Schrift der echten Vorlage noch in sehr beschei-
denen Grenzen, so daß man gerade noch feststellen kann, daß die
echte Urkunde Karls d. Gr. von der Hand Amalberts und die Lud-
wigs d. Fr. von dem unter Durandus meistbeschäftigten Schreiber
herrührten. In IV aber lieferte der Fälscher sein erstes Meisterstück,
indem er die Kontextschrift des Comeatus schon gut, die Signumzeile,
Rekognition und Datierung aber so glänzend nachzeichnete, daß hier
selbst Brandi der Täuschung zum Opfer fiel und (S. 129) annahm, daß
die Rasuren vor der Signumzeile Halt machten und „das gesamte
Eschatokoll mit seiner spatiösen Anordnung und den unverkennbaren
Schriftzügen des Comeatus wohlerhalten" sei. Ebenso vortrefflich ist
in V die Schrift des noch mit voller Sicherheit feststellbaren Schreibers
jaus der Kanzlei König Arnolfs und in XIII die Hand des Schreibers
iWB. nachgeahmt,^ und XI gibt sich mit solchem Erfolg den Anschein
[einer echten Urkunde, daß W. Diekamp noch nach dem Erscheinen des
1. Bandes der Diplomata-Ausgabe für die Originalität dieser lange allein
in Urschrift bekannten Osnabrücker Fälschung eine Lanze gebrochen hat.
Doch wir müssen nun der Frage näher treten, ob sich über alle
jdiese Anhaltspunkte hinaus Kennzeichen gleicher Schrift innerhalb der
einzelnen Stücke feststellen lassen. Einzusetzen ist hier bei der jüngeren
Gruppe der Arnolf- und Otto-Urkunden (V-VIII, XI, XIII). Ihre Vor-
jlagen boten dem Fälscher eine Schriftart, mit der er selbst noch aus-
reichend vertraut war. Hier schrieb er sicher und ohne Verzerrungen
iund bot bei allen gelungenen Anpassungsversuchen so charakteristische
Kennzeichen der eigenen Hand, daß hier auch Ottenthai gleich mir die
Schriftgleichheit dieser Urkunden für sicher erwiesen hält.^ Innerhalb
dieser Gruppe lassen sich wieder Abstufungen machen; VI, VII, VIII
und XI zeigen das einheitlichste Bild; hier kann über die Gleichheit
der Hand gar nicht gestritten werden. Man vergleiche nur den all-
gemeinen Duktus, die regelmäßig nach links sich umbiegenden Unter-
Schäfte, die eigentümlichen d, die zur Oberlänge auch noch eine nach
'links hin verlaufende Unterlänge erhalten haben.^ Selbständigerhalten
sich in der Schrift V und besonders XIII, weil in beiden mehr Sorgfalt
auf die Nachahmung der echten Vorlage verwendet ist. Engster Zu-
sammenhang zeigt sich dann wieder in den Rekognitionszeichen. Die
^ Ottenthai, Mitteil. Erg.-Bd. 6, 31.
^ Mitteil. d. Instituts f. österr. G.-F., Erg.-Bd. 6, 33: „Alle diese vier Arnulfischen
Urkunden für Osnabrück aber sind, wenn auch nicht nach dem gleichen Schrift-
muster, so doch sicher von einer und derselben Hand geschrieben, und zwar von
der gleichen, welche auch 0. 212 und 421 (XI und XIII) schrieb."
^ Der Fälscher hatte diese Gebilde der echten Vorlage von V abgeschaut und
nun beibehalten und weitergestaltet.
I
254 M- Tangl
dem Notar Engilpero nachgezeichneten pseudotironischen Noten von V
müssen auch dazu herhalten, die Rekognitionszeichen von VI, VII und
XI zu schmücken. Hier ergibt sich auch, wie schon Ottenthai (S. 33)
scharf erkannte, die erste enge Beziehung zu den Fälschungen der
älteren Gruppe. Das Rekognitionszeichen von VIII, in der Grundform
dem von XI nahestehend, aber ohne Notengebilde, zeigt selbst wieder
enge Verwandtschaft mit den Rekognitionszeichen von I und II.
Bei den älteren Urkunden hatte es der Fälscher mit Vorlagen zu
tun, deren Schrift ihm nicht vertraut war; der Kursive älterer Karo-
linger-Urkunden stand er viel fremder gegenüber als der Urkunden-
Minuskel der späteren Zeit. Bei I— III mißlang der Versuch, die Vor-
bilder auch nur mit einigem Geschick nachzuahmen.^ Die Hand des
Fälschers ist hier unsicher; er versucht es, durch eigene phantastische
Zutaten, wie etwa die Gestaltung der Oberschäfte in III, den Eindruck
alter, von bekannter Art abweichender Schrift hervorzurufen. Das Ge-
lingen stellt sich bezeichnender Weise zum erstenmal bei IV ein, da
die regelmäßige, der Minuskel sich stark nähernde Schrift des Come-
atus dem Fälscher schon besser vertraut war. Wir machen die gleiche
Erfahrung bei den älteren Fälschungen für St. Maximin bei Trier. Daß
die Urschriften der angeblichen Urkunden Pippins, Karls d. Gr. und
Ludwigs d. Fr. von gleicher Hand herrühren, war denen, die sich mit
ihnen näher befaßten, niemals zweifelhaft; gestritten wurde nur über
das Alter der Hand.^ Und doch zeigt die Schrift der Pippin- und
Karl-Urkunde geradezu wunderliche und krause Formen, die erst bei
der Ludwig-Urkunde größerer Regelmäßigkeit weichen. Trotzdem fehlt
es bei unserer Gruppe nicht an festeren Anhaltspunkten. Die Neigung
der Unterlängen nach links, die für die späteren Stücke so charakte-
ristisch ist, findet sich durchweg auch in der Reihe I — V. Vor allem
aber gilt es, zwei charakteristische Buchstaben näher zu verfolgen. Der
eine ist das t. Die Überdachung des Hauptschaftes richtet sich zu-
nächst stark nach aufwärts, senkt sich dann nach unten, um schließ-
lich in ebenso scharfer Biegung wieder nach rechts oben zu verlaufen.
Diese scharf ausgeprägte Wellenlinie des t fehlt nur in V und XIII, da-
in diesen Urkunden die besonders getreu nachgebildeten Schriftvorlagen
^ Wenn wir vom Rekognitionszeichen in III absehen!
^ Ins 10. Jahrhundert setzt sie Br esslau, Über die älteren Königs- und Papst-
urkunden für das Kloster St. Maximin bei Trier, Westdeutsche Zeitschr. 5, 20 ff., in
die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts Dop seh, Die falschen Karolinger-Urkunden
für St. Maximin, Mitteil. d. Instituts f. österr. G.-F. 17, Iff. In einer späteren Arbeit
(Trierer Urkundenfälschungen, NA. 25, 345ff. ging Dopsch mit seinem Ansatz ins
11. Jahrhundert zurück. Ich selbst stellte mich nach eigener Prüfung dieser Urkunden
auf Bresslaus Seite (vgl. MG. Dipl. Karol. 1, 562, Nachtrag zu DK. 39).
Forschungen zu Karolinger Diplomen 255
geradlinige Überdachung des t aufwiesen.^ Noch charakteristischer ist
aber der Buchstabe g. Wenn wir hier zunächst die Urkunden VII bis
XHI vornehmen, sehen wir diesen Buchstaben ganz ausnahmslos so
gebildet, daß der Schreiber zunächst ein o schrieb, um dann in neuem
Ansatz und zwar unten an der Mitte des Bauches die offene, aber
mit einem Schnörkel versehene Unterlänge anzufügen.^ Man vergleiche
etwa VII Z. 2 regionis, Z. 4 magni, 1. 6 Gregorii\ VIII Z. 2 Egilmams,
Z. 6 Ende magis, Z. 9 ex integro\ XI L 8 exigenda-, XIII Z. 6 Regi-
noldüs und Osnabmggense. Dies sind nur Beispiele, an denen sich
jdie Schreibweise dieses Buchstaben besonders deutlich verfolgen läßt;
denn sie ist in diesen Urkunden überhaupt ganz konsequent durch-
geführt, aber auch nur in ihnen. Schon VI zeigt eine etwas andere
Art: das g in Z. 3 regionis entspricht zwar in der Hauptsache denen
in VII— XIII, aber die Unterlänge setzt sich statt mit feiner Spitze mit
starker Verdickung an die Rundung an; Formen wie Z. 11 Osnabrug-
\gensi nähern sich überhaupt dem Normal-g. Und nun nehmen wir
uns V vor. In einem einzigen Wort Z. 12 regali erscheint das g in
der bisher besprochenen Art; in allen anderen Fällen begegnet das
Normal-g oder das der älteren Kursive und Minuskel entsprechende
offene g; so deutlichst im ersten Wort von Z. 7 Osnebruggensi. Also
gerade hier eine Ungleichheit in den Urkunden V— VII, die, wie schon
Brandi erkannte, inhaltlich aufs engste zusammenhängen, eine aus der
anderen erwachsen sind, und an deren Gleichhändigkeit nach dem
Gesamtbilde der Schrift und allen sonstigen Einzelheiten gar nicht ge-
zweifelt werden kann. Der Fälscher hat hier in seiner Schrift eine Ent-
wicklung durchgemacht, die uns besonders klar entgegentritt, wenn
wir die Datierungen der 3 Urkunden gegeneinander halten: in V das
offene g in regni, das normale in regis und regia; in VI, dessen Da-
tierung wörtlich aus V abgeschrieben ist, das besonders geartete g in
regni und regia neben dem normalen oder dem offenen sich nähernden
in regis und die einheitlich nach der früher geschilderten Art gestalteten
g derselben Worte in VII. Entweder ist der Fälscher auf die neue
Form, die er fortan konsequent anwendet, erst im Laufe der Arbeit
gekommen oder er hat, was mir wahrscheinlicher ist, die Zugeständ-
nisse und Annäherungsversuche, die er besonders den älteren Schrift-
^ Man vergleiche für XIII die Faksimiles, auf die schon Ottenthai verwiesen
hatte: KüiA. III. 28, IX. 3 und Sickel, Beiträge zur Diplomatik VI. Wiener S.-B.
85. Bd. Taf. IV.
^ Diese Eigentümlichkeit ist schon Otten-thal a.a.O. S. 31 aufgefallen und
er hat bereits zutreffend bemerkt, daß es sich hier nicht um Nachahmung eines
Vorbildes (das sich in dieser Weise gar nicht belegen läßt), sondern um eine Eigen-
tümlichkeit des Fälschers handelt.
I
256 M- Tangl
vorlagen früher machte, im Laufe der Arbeit zugunsten der ihm ge-
läufigen Sondergestaltung aufgegeben. Die Urkunden I— IV decken
sich nun mit dem Schriftbilde von V. Die charakteristischen g der
späteren Gruppe lassen sich in vereinzelten Beispielen durchgehend
verfolgen: I Z. 7 gegen Ende aggravare beide Formen nebeneinander;
II Z. 2 Ende augmentum, Z. 4 Bergashouid, Z. 5 integritate, 1. 6 Osningl
III Z. 3 Osnabruggensis, deutlichst beide Formen nebeneinander, IV Z. 2
Gozberto, Z. 11 peregrinomm. Das letzte Beispiel ist besonders wichtig;
es läßt erkennen, daß zunächst das e, die o-gleiche Rundung des g
und das r in einem Zuge geschrieben und dann erst die Unterlänge
des g angesetzt wurde. Genau so aber ist in VII Z. 5 die Verbindung
e-g-i in Egilfritho geschrieben.
Alles zusammen spricht für Einheit und Gleichheit der Fland. Die
Einheit der Tendenz der Gesamtgruppe, die wir schon kennen, und die
Einheit im Aufbau der Einzelurkunden, die wir noch verfolgen werden,
erhalten durch den Schriftbestand eine weitere und kräftige Stütze.
Aber noch nach anderer Richtung ist das Ergebnis wichtig. Brandi
hatte versucht, die der Zeit nach ältesten Urkunden an das Ende der
ganzen Fälschungenreihe zu rücken. Nach den Feststellungen, die ich
soeben zu geben versuchte, gehören sie zusammen mit V und nicht
getrennt von diesem ebenso bestimmt an den Anfang, oder die ganze
Schriftentwicklung, die sich innerhalb der Gruppe kund gibt, ist nicht
zu verstehen.
Wir müssen aber noch einer Handhabe unsere Aufmerksamkeit
schenken, die uns die Urschriften bieten: ihren Dorsualvermerken. Auch
diese hat Jostes in höchst verständnisvoller Weise auf Tafel XXIV
seiner Publikation zusammengestellt, und auf Grund der Einsicht der
Urkunden selbst bin ich in der Lage, weitere Erläuterungen hierzu zu
bieten.
Alle Originalurkunden von IX— XVI, mit alleiniger Ausnahme von
XV, haben von der gleichen, sehr charakteristischen Hand kurze regest-
artige Vermerke auf der Rückseite erhalten. Von einer anderen Hand
sind dann in regelmäßigerer, kleinerer Schrift die Originale XVII, XVIII
und XX mit ähnlichen Vermerken versehen. Wahrscheinlich bedeuten
die Datierungen von XVI und XVII, also die Jahre 1002 und 1023, die
zeitlichen Grenzen der ersten einheitlichen Signierung, und diesem
Ansatz entspricht auch der Schriftcharakter. Alle jüngeren Vermerke,
von dem des 12. Jahrhunderts in XIX an, bleiben als für die kritische
Frage belanglos außer Betracht. Da ist es nun lehrreich zu sehen,
daß die Fälschungen in der Mehrzahl alte Vermerke überhaupt nicht
tragen, oder daß diese später teilweisen Veränderungen unterworfen
wurden. I entbehrt jedes Vermerk, II, das auf Leinwand aufgezogen
Forschungen zu Karolinger Diplomen 257
st, trägt nur einen jüngeren, nach meiner Schätzung dem 13. Jahr-
lundert zugehörigen Vermerk Privilegium Karoli magni} III trägt den
v^ermerk Confirniado Hludouuici imp. in einer an und für sich schwer
jatierbaren Kapitalschrift; dieselbe Hand kehrt aber in VIII und XVII
vieder, hier als jüngeres, das- frühere in einer Kleinigkeit änderndes
'<egest.^ Nun sahen wir, daß die ältere Dorsualnotiz von XVII von
bleicher Hand auch noch in XX vom Jahre 1057 wiederkehrt. Da es
licht wahrscheinlich ist, daß ein und derselbe Mann durch mindestens
]A Jahre von Fall zu Fall Rückaufschriften auf die Urkunden setzte, ist
lies vermutlich 1057 oder bald danach in einem Zuge geschehen.
Jünger noch sind die Vermerke in Kapitalschrift, d. h. sie fallen
rühestens etwa in Bennos Zeit. IV und VI entbehren alter Vermerke.
5s bleibt aber noch die für diese Frage wichtigste Gruppe V, VII, XI,
*CIII. Der Vermerk in V lautet jetzt Preceptum Arnulfi regis datum
^gilmaro episcopo d [. . . starke Rasur] de servitio [dies und alles
■olgende über Rasur, sichtbar noch ein ursprüngliches st] regio et
?xpeditio [Rasur] non exigenda. Schon die Rasuren lassen ahnen, daß
lier etwas nicht in Ordnung ist. Nur der erste Teil des Vermerkes
ührt von gleicher Hand her wie die auf den Originalen IX — XVI; alles
A^as ursprünglich nach episcopo folgte, wurde durch Rasur getilgt, der
lur der Anfangsbuchstabe des ursprünglichen de entgangen ist. Der
zweite Teil des jetzigen Regestes de servitio — exigenda rührt von
mderer Hand her, die der ersten aber ähnlich ist, oder wohl richtiger,
ile sich bemühte, ihr ähnlich zu sein. Daß man aber diesen Eingriff
n das Regest der Rückseite der Urkunde für nötig fand, hatte seinen
jrund darin, daß mittlerweile auch die Vorderseite Veränderungen
erfahren hatte; der alte Text war durch Rasur vollkommen getilgt und
iurch einen neuen ersetzt worden. Der Mann aber, der zu Anfang
ies 11. Jahrhunderts den ersten Rückvermerk anbrachte, hat
loch den ursprünglichen Text vor Augen gehabt. Das ist
iie wichtige Stütze, die wir aus den Dorsualvermerken ge-
vinnen.
Von der zweiten Hand, welche das der Fälschung entsprechende
legest in V fortsetzte, rührt der Vermerk in VII her Preceptum Arnulfi
-egis Engilmaro episcopo datum.
In XI waltet ein ähnliches Verhältnis wie bei V. Der Vermerk
/on der Hand des alten Registrators lautet Preceptum Ottonis Magni
iatum; der Rest der Zeile ist durch Rasur vollständig getilgt; die Ein-
^ Bei Jostes nicht aufgenommen, da eine Reproduktion nicht möglich war.
^ Statt de servis et liberis et de porcis silvaticis et de foresto setzte sie de
|jcrvis et liberis, de foresto et de liddonibus.
Afü II 17
258 M. Tang]
tragung von alter Hand fährt fort de liberis et servis et lidonibus
aber auch diese Worte sind zu tilgen versucht und nur in ausreichen-
den Resten noch lesbar. Die ganze Urkunde steht auf Rasur. Dei
Fälscher unterließ es aber, den Rückvermerk nach datum dem ge-
fälschten Text entsprechend neu zu gestalten.
Der Vermerk in XIII lautet, soweit er von alter Hand herrührt
Preceptum Ottonis magni datum Liudolfo episcopo\ die Fortsetzuni
super decimis sue diocesis, qua[rum] quasdam abbas Corbeiensis e
abbatissa Heruordensis minus iuste sibi usurpaverant stammt erst vor
einer Hand des 13. Jahrhunderts. Die Urkunde steht auf Rasur.
Die Lehre, die wir aus den Vermerken ziehen, ist folgende: Zl
Anfang des 11. Jahrhunderts waren die gefälschten Urkunden nocl
nicht vorhanden, denn der alte Registrator kannte keine von ihner
oder jedenfalls nicht in Inhalt und Fassung, wie sie uns heute vor-
liegen. Ob bei einzelnen der älteren Urkunden alte Vermerke nich
noch gründlicher getilgt worden sind, muß ich bei der Meisterschaft
mit welcher der Fälscher gerade Gesamtrasuren zu verwischen wußte
dahingestellt sein lassen.
Ein Versuch, die Entstehung der Fälschungen als Ganzes oder ir
einzelnen Stücken im 10. Jahrhundert zu suchen, ist durch diese Beob-
achtungen aussichtslos geworden. Die Fälschung kann nicht vor dem!
11. Jahrhundert vorgenommen sein.
Nun zu den einzelnen Urkunden. |
Karl d. Gr. I, II. Das Pergament beider Urkunden weist mehrfach]
Rauheiten und Unebenheiten auf und ist stellenweise durchscheinend dünn
in II überdies brüchig und mehrfach durch Risse und Löcher beschädigt
Rasur ist besonders in I mehrfach festzustellen. So ragen gleich über unc
unter dem / von in nomine Spuren früherer Schrift hervor; sicher au: :
Rasur stehen die 3 letzten Worte der T.Zeile, ebenso ist über der jetziger i
Datierung eine ganze Schriftzeile getilgt, die, nach der über kl. im i
noch sichtbaren Zahl XI zu schließen, ebenfalls eine Datierung geweserii
war. Nach nochmaliger Prüfung halte ich in I Gesamtrasur der ganzer, i
Urkunde für ziemlich sicher, in II wenigstens für sehr wahrscheinlich. >
Das Pergament von II weist eine Menge kurvenartiger, zum Teil paral- j
leler Linien auf, die auch auf dem Faksimile, besonders zwischer !
Z. 2 und 3, 5 und 6, 7 und 9 und dann im ganzen unteren Teil de;;
Urkunde, deutlich zu sehen sind. Gleiche kurvenartige Linien in schrägei \
Richtung gegen die Schrift kehren, wie ich gleich hier bemerke, noch-
^ Dies stelle ich ' gegenüber dem abweichenden urteil in den Vorbemerkungei
zur Ausgabe beider Urkunden in den Diplomata der MG. DK. 271, 273 richtig unc
trete damit wesentlich dem urteil Philippis bei.
Forschungen zu Karolinger Diplomen 259
lals in V wieder und sind ebenfalls auf dem Faksimile deutlich zu
lerfolgen. Aber ich halte es für ausgeschlossen, daß sie, wie Philippi
leint, vom Schabeisen herrühren.^ Ich kann mir nicht denken, daß
lie außerordentlich feine und täuschende Wirkung dieser Rasuren
;erade mit dem Instrument erzielt sein sollte, das Lederer und Gerber
iur zur Entfernung der gröbsten Unebenheiten der Felle verwenden,
pieses handfeste Instrument hätte, auf die zu tilgenden Texte angelegt
ind mit einigem Nachdruck in Bewegung gesetzt, wohl sicher nach
|ler Rückseite durchgewirkt und die Schriftfläche viel gründlicher zer-
Itört, als dem Fälscher lieb gewesen wäre. Die Rasuren sind viel-
'nehr — ich werde dies unten bei XI sicher nachweisen können —
nit aller Vorsicht, Feinheit und Sorgfalt mittels des Bimssteines aus-
i^eführt. Ich sehe in den Kurven von II viel eher Runzeln, die durch
las vom Weihbischof Lüpke vorgenommene Aufziehen der Urkunden
luf sehr starke Leinwand^ und damit verbundene, etwas gewaltsame
jlättungsversuche entstanden sein mögen.
I Die Schrift beider Urkunden ist ein stark mißglückter Versuch, die
lern Fälscher ganz fremdartige Schrift Amalberts nachzuahmen, der in
1er Rekognitionzeile von II genannt ist und dessen Hand wir aus
:inem Originaldiplom Karls d. Gr. DK. 189 kennen. Leidlich gelungen
st das Chrismon zu Beginn der Urkunden,^ ganz mißlungen dagegen
las Rekognitionszeichen und am elendsten geraten die Schnörkel, die
Laum mehr eine äußere Ähnlichkeit mit Tironischen Noten wahren und
:ine Deutung auch nur auf eine solche Note nicht einmal mehr ahnen
assen.* Bestimmte Schlüsse auf das Alter der Schrift, besonders dafür,
laß sie dem 10. und nicht dem 11. Jahrhundert angehören müsse,
assen sich in keiner Weise ziehen.'^
Das Siegel in II ist leidlich gut erhalten und läßt mit Sicherheit
^ Philippi, Bemerkungen zu den unechten Urkunden Karlsd. Gr. für Osnabrück,
^itteil. d. histor. Vereins f. Osnabrück 27 (1903), 248.
'^ Freundliche Mitteilung von Prof. Jostes.
^ Bis auf die der Karolingerzeit ganz unbekannte Füllung des Chrismon durch
ileine Wellenlinien.
^ Das muß ich der gegenteiligen Behauptung Philippis (S. 251) gegenüber
nit aller Bestimmtheit aussprechen; zudem gesteht Philippi gleich auf der folgen-
len Seite selbst zu, daß „der Schreiber keine Ahnung mehr von der Bedeutung der
"ironischen Noten hat".
'" Ohne Bedeutung ist der tiinweis Philippis, daß in I Signum und Rekogni-
ion in gleicher Zeile stehen, was älterem, etwa bis in die 70er Jahre des 10. Jahr-
lunderts reichendem Brauch entspreche. Hier kam es doch nur darauf an, ob sich
ier Fälscher an die äußere Anordnung seiner Vorlage hielt. Das konnte aber auch
oei viel jüngeren Fälschungen noch der Fall sein, wie beispielsweise bei den Hers-
elder Fälschungen des 12. Jahrhunderts; vgl. Kopp-Sickel, Schrifttafeln 15, 19, 22.
17*
I
260 M. Tangl
erkennen, daß wir das echte Gemmensiegel Karls d. Gr. vor uns haben
Aber seine Befestigung ist nicht ursprünglich. Indem ich die Leinwand
auf der die Urkunde aufgezogen ist, vorsichtig hob, konnte ich fest
stellen, daß die Rückseite des Siegels von anderem, hellerem und meh
blätterigem Wachs herrührt. Bei I läßt sich aber nur das eine sagen
daß der erhaltene Siegelrest der Größe nach dem echten Karl-Siege'
entsprechen könnte, daß jedoch die spröde, blätterige Wachsmasst
wenig vertrauenerweckend aussieht. Wahrscheinlich liegt spätere Nach-
ahmung vor, von deren Ausführung aber bei dem üblen Erhaltungs-
zustand schlechterdings nichts zu erkennen ist.-^
Es gilt nun, durch andere Handhaben zu einem sicheren Schluß
zu gelangen, ob ein oder zwei echte Urkunden Karls als Vorlage
angenommen werden müssen. Vollkommen einig sind wir hierin bei
der Datierung. Sie ist in I allein echt und mit dem Itinerar vereinbai
überliefert, ihre Angaben stimmen zum 19. Dezember 803, während füi
II durch Beibehaltung der Tagesangabe, aber Erhöhung aller Jahres-
angaben um eine Einheit (bei Fortlassung der Indiktion) eine neue
Datierung gewonnen wurde, deren Ableitung aus I durchsichtig und
deren ebenfalls aus I übernommene Ortsangabe Aachen mit dem Itinerar
des Kaisers unvereinbar ist, der Weihnacht 804 in Quiercy feierte und
.zuvor in Reims Papst Leo IIL empfangen hatte. Auf die Kaiserzeit
Karls weisen auch Invokation und Titel in I, während die Invokation
von II erst seit Ludwig d. Deutschen gebräuchlich wurde, und der
Titel zunächst eine Verkürzung und zum Schluß durch die Beigabe
nee non modo dominator et Saxonum eine üble Verballhornung des
korrekten Kaisertitels von I enthält.
Die Korroboration ist in I und II gleichlautend und trägt eine in
den Diplomen Karls d. Gr. häufig wiederkehrende Fassung, die in
dieser Art durch den in der früheren Regierungszeit Karls meistbe-
schäftigten Rekognoszenten Wigbald aufgebracht ist und später von
anderen wiederholt wird, mit Vorliebe besonders von Erkanbald und
seinen Leuten (Genesius und dem in II genannten Amalbert). Die
Arenga kehrt in gleichem Inhalt und den Grundzügen der Fassung
gleichfalls häufig wieder, aber in Einzelheiten weichen die verschiedenen
Diktate doch nicht unbedeutend ab. In engem, fast wörtlichem An-
schluß begegnen wir ihr nur in dem von Erkanbald rekognoszierten
DK. 160 für Farfa und in dem von Amalbert rekognoszierten DK. 203
^ Im Ergebnis stimme ich hier mit Philippi überein, nur daß er die Befestigung,
in II für ursprünglich hält und daß er beim Erkennen von Einzelheiten der Siegel- j
fälschung in I ein wenig die Phantasie zu Hilfe genommen haben dürfte. 1
Forschungen zu Karolinger Diplomen 261
ür Prüm.^ Ganz vereinsamt steht I neben 30 zuverlässigen Urkunden
lur darin, daß es nach ob amoreni domini nostri Jesu Christi noch
ie Worte beifügt et reverentiam sanctomm. Ich stehe nicht an, diese
uch sprachlich unwahrscheinliche Worthäufung, da unmittelbar zuvor
,on locis sanctomm venerahilium die Rede gewesen war, als eine mit
er später noch zu behandelnden Einschiebung der Heiligen Krispin
nd Krispinian in Zusammenhang stehende Zutat des Fälschers aus-
uscheiden.
So läuft alles, was wir bisher an Formalien feststellen konnten,
jlchriftbild, Siegelbefund, Datierung und Formular, nur auf eine echte
iKorlage hinaus. In vollem Widerspruch hierzu stehen aber die beiden
jtekognitionen: Jacob ad viceni Radoni in I, Amalbertus ad vicem
nrcanbaldi recognovi in II, die beide in echten Diplomen Karls nach-
•j/eisbar sind, jedoch mit unterschied. Während die Amtstätigkeit
^malberts (799—807) genau in die Zeit fällt, auf welche die der
^aiserzeit entsprechende Invokation, der Kaisertitel und die Datierung
;om Jahre 803 weisen,^ war Jakob nur in wenigen Jahren der Königs-
leit Karls (787 — 792) tätig und ganz ausschließlich nur in Urkunden
ür italische Empfänger. Daß Jakob je eine Osnabrücker Urkunde
lekognosziert hat, wäre daher an sich schon höchst auffällig. Wie
'.am dann aber der Fälscher zur Kenntnis dieser Rekognition, und wie
st es denkbar, daß er nur sie allein, nicht auch das echte Formular
^nd die selbständige Datierung, die ihm dann notwendig auch zur
l/erfügung gestanden haben mußten, benutzt hat? Die Antwort auf
fiese Frage, die schon wiederholt aufgeworfen und zu lösen versucht
Ist, erleichtert uns die Urkunde III, über deren höchst merkwürdige
•ekognition ich in anderem Zusammenhang schon oben S. 171 — 172
ehandelt habe. Auf die vollkommen kanzleigemäße Rekognition Du-
andus diaconus ad viceni Fridugisi recognovi folgt ein Rekognitions-
eichen, das meisterhaft und unverkennbar dem des Remigius, des
ührenden Rekognoszenten in der Kanzlei Lothars I., nachgezeichnet
5t. Die Rekognitionszeile steht über Rasur, die aber mit solchem
jeschick ausgeführt und in ihren Spuren verwischt ist, daß nur auf
^ DK. 160 hat mit I die Fassung locis sanctorum venerahilium (DK. 203 locis
enerabilibus), DK. 203 ad mercedis augmentum (DK. 160 ad mercedem) gemein.
^ Trotz der nicht ganz kurzen Amtsdauer ist die Zahl noch erhaltener Urkunden,
/eiche die Rekognition Amalberts tragen, sehr gering: DK. 189 für Lagrasse vom
ahre 799 und DK. 203 und 205 für Prüm vom Jahre 806 und 807. Der in den nach
emeinsamem Muster gearbeiteten Fälschungen DK. 222 und 223 für Kempten, DK. 224
; ür Straßburg und DK. 281 für Reichenau genannte Amalbert ist ein ganz anderer
Ind einem Diplom Karls III. entnommen. Das seltene Vorkommen erklärt sich aus
er auffällig geringen Zahl von Urkunden aus der Kaiserzeit Karls.
I
262 M- Tangl
dem leeren Raum zwischen dem Text der Rekognition und dem Reko
gnitionszeichen schwache Spuren davon kenntlich blieben. Ich vermai
daher auch nicht zu sagen, ob hier die Rekognition irgend einer an
deren echten Osnabrücker Urkunde oder ob etwa der dem Rekognition?
zeichen entsprechende Text Remigius ad vicem Agilniari recogncn
getilgt ist. Nur eines kann ich mit Sicherheit feststellen, daß da^
Rekognitionszeichen nicht etwa ursprünglich, und als Rest einer ver
nichteten Urkunde stehen geblieben ist. Gegen eine solche Annahmt
spricht die bei aller Meisterschaft, die sonst auf die Nachahmung ver
wendet ist, fehlerhaft und verständnislos nachgezeichnete Note fü:
recognovit. Es steht, also fest, daß der Fälscher allein für diese Reko-
gnition zwei verschiedene Vorlagen benutzt hat. Mit solcher Mosaik-
arbeit steht er nicht allein, ja der tiersfelder Fälscher ist ihm hierir
fast noch über. In der angeblichen Urkunde Ludwigs d. Fr. M. 52(
leistete sich dieser folgende Rekognition Durandns diaconus ad vicen
Diomari archidiaconi recognovi et subscripsi, begleitet von einem Rekog-
nitionszeichen mit Noten, die sich in der unvollkommenen Nach-
zeichnung doch noch folgendermaßen lesen lassen: Comeatus nota-
rius ad vicem Ratlei[ci] recognovi conscripsi et subscripsi
Idem domnus rex i[ta] scribere iussit.^ Hier stammt, wie schor
Kopp, Sickel und Mühlbacher feststellten, der Name Durandus aue
einem Diplom Ludwigs d. Fr., der Archidiakon Diomarus (verderbt aue
dem Erzkaplan Theotmar) aus einem solchen Arnolfs, während die
Noten auf den Notar Comeatus in der Kanzlei Ludwigs d. Deutscher
weisen. Die Mischung ist also noch bunter, aber die Vorlagen sine
in Hersfelder Urkunden noch so gut wie sicher nachweisbar. Geradt
das aber ist bei Osnabrück nicht der Fall; denn daß diese Kirche
eine Urkunde Lothars L je erhalten hatte, ist fast so unwahrscheinlich/
wie daß sie ein Diplom Karls d. Gr. mit der Rekognition Jakobs be-
sessen hat. Beide Spuren weisen, einander verstärkend, nach dei
gleichen Richtung, auf Benutzung fremder Vorbilder und zwar solchet
für italische Empfänger. Das hat zuerst Sickel klar ausgesprochen ,
und indem er die Urheberschaft Bennos durch die Forschungen von
Wilmanns für erwiesen hielt, nahm er an, „daß Benno die Fälschungen
während seines Aufenthaltes in Italien entworfen hat".^ Es fragt sich
nur, welches Aufenthaltes in Italien? Die Gesandtschaftreisen 1078
^ Faksimile der jetzt verlorenen Urschrift bei Kopp, Pal. crit. 1, letzte Tafel
= Kopp-Sickel, Schrifttafeln 22. Über „conscripsi" in Noten des Comeatus vgl.'
meine Ausführungen At-ch f. ÜF. 1, 154—155.
* Die verschiedenen Möglichkeiten habe ich schon oben S. 172 erwogen.
' Acta Karolinorum 2, 429.
Forschungen zu Karolinger Diplomen 263
ind 1079 liegen zu spät; denn damals waren nach meiner Überzeu-
|;ung die Fälschungen in ihrer Gesamtheit schon vorhanden. Gibt es
iber nicht noch eine andere Erklärung? Durch die örkundenforschung
st wiederholt und zuletzt mit bedeutendem Erfolg durch Stengel bei
1er Sichtung der Immunitätsformulare der Nachweis erbracht, daß sich
iie Benutzung scheinbar ganz entlegener Vorbilder aus der Vorlage
,olcher Urkunden bei Hof und in der Reichskanzlei erklärt. Für das
iritische Jahr vor der Entscheidung des Osnabrücker Zehntstreites
reffen nun beide Voraussetzungen zusammen. Bischof Benno hatte
;ich im Spätherbst 1076 vom König trennen müssen; er hatte auf
gesondertem Wege Italien betreten, befand sich aber während der
Tage von Canossa im Januar 1077 bei Heinrich IV., um fortan als
;teter Begleiter dem Hof zu folgen. In dieser Zeit schritt der Patriarch
Siegehard von Aquileja, wie wir annehmen dürfen unter Vorlegung
ilterer Rechtstitel, um Erneuerung der Vorrechte seiner Kirche und
:rteilung neuer bedeutender Vergünstigungen ein. Die erste dieser
Jrkunden ist zu Pavia im April 1077 ausgestellt, zwei weitere folgten
m Nürnberg am 11. Juni 1077 (Stumpf 2800, 2802, 2803). In allen
:irei Urkunden erscheint Benno von Osnabrück als Intervenient. Die
mmunität Karls d. Gr. für Aquileja, DK. 175 zählt aber zu den wenigen
Urkunden mit der Rekognition Jacob ad vicem Radonis, und das in
der heutigen abschriftlichen Überlieferung der Rekognition entbehrende
OK- 174 dürfte sie ebenfalls getragen haben.^ DK. 174 und 175 sprechen
überdies als einzige unter den erhaltenen echten Diplomen Karls d. Gr.
in kurzer Andeutung von der Pflege gelehrten Unterrichts: ut in divinis
litteris et doctrinis spiritualibus ampliorem certamen mittere promrenU
schlagen also das Thema an, das. im zweiten Teil der Osnabrücker
Fälschung II so eigenartig weitergesponnen ist. Soll dieses merk-
würdige Zusammentreffen rein nur auf Zufall beruhen? Hätten wir
rioch eine Urkunde der gleichen Gruppe mit der Rekognition des
Remigius, dann wäre der Beweis geradezu geschlossen. Hier aber
versagt die Überlieferung. Die beiden noch erhaltenen Diplome Lo-
thars I. für Aquileja tragen andere Rekognitionen.^ Aber wir können
wenigstens ein Actum deperditum desselben Herrschers wichtigen In-
halts (Bestätigung der Patriarchal- und Metropolitanwürde über die
* Als andere Zeugnisse für diese Rekognition kennen wir sonst nur noch
DK. 157 für S. Vincenzo am Volturno, DK. 158 für Montecasino, DK. 164 für S. Am-
brogio in Mailand, DK. 234 für Reggio (Fälschung, aber auf echter Vorlage). Die
anderen Zeugnisse sind Fälschungen für die schon genannten Empfänger S. Vincenzo,
DK. 227, Montecasino DK. 242, 243, 244, 255, 256 und Aquileja, DK. 270 und schöpften
aus den schon genannten Vorlagen.
^ M. 1033 Liuthadus ad vicem Ermenfredi und M. 1105 Daniel ad vicem Agilmari.
264 ^- Tangl
Bistümer Istriens) feststellen, das diese Rekognition getragen haben
könnte.-^
Das Ergebnis liegt doch so, daß für Benno II. die Erklärung dieser
merkwürdigen Entlehnungen vollkommen befriedigend zu geben ist,
während sie für Ludolf, dem Philippi die Fälschungen zuschreiben
möchte, versagt. In der Zeit, da er am Hofe weilte und in der Kanzlei
diente, konnte er noch gar nicht daran denken. Osnabrücker Urkunden
zu fälschen, für die Zeit seines Episkopats aber fehlen uns jegliche An-
haltspunkte zur Annahme von Beziehungen, wie wir sie bei Benno
feststellen konnten.
Die Frage, von der wir früher ausgegangen waren, läßt sich jetzt
wohl mit Bestimmtheit dahin beantworten, daß dem Fälscher aus dem
eigenen Archiv nur eine Urkunde Karls d. Gr. vorgelegen hat.^ Und
von hier aus kommen wir noch einen sicheren Schritt weiter. Diese
echte Urkunde muß, wie Mühlbacher längst festgestellt hat, eine Schen-
kung gewesen sein. Da die 30 mit gleicher oder ähnlicher Arenga
eingeleiteten Urkunden ohne Ausnahme Schenkungen betreffen, darf der
Analogieschluß mehr beanspruchen als das Zugeständnis, eine an-
sprechende Vermutung zu sein,^ um so mehr, als das entscheidende
Schlagwort donamus in der Fälschung noch stehengeblieben ist. Das
Schenkungsobjekt, das mit ihm verknüpft wird, omne regale vel secu-
lare mdicium ist allerdings so ungeheuerlich und in Urkunden Karls
d. Gr. so unerhört und unmöglich, daß wir hier der frei schaltenden
Phantasie des Fälschers gegenüber stehen. Der Phantasie des Fälschers
wurde auch die Nennung zweier neuer Schutzheiligen der Osnabrücker
Kirche, Crispinus und Crispinianus, zugeschrieben. Man hielt Benno
für den Urheber dieser Tradition und glaubte hierdurch einen neuen
Anhaltspunkt gefunden zu haben, ihm die Fälschungen zuzuschreiben.*
Wilmans ging noch einen Schritt weiter mit der Vermutung, daß erst
^ Andere erhaltene Diplome Lothars I. für italische Empfänger mit der Reko-
gnition des Remigius liegen uns noch vor in M. 1084 für Cremona, M. 1108 für
Arezzo, M. 1121, 1122 für Novalese und M. 1133 für Hirmingard, die Gemahlin
Lothars I.
^ Dies ist auch die Ansicht Philip pis S. 264.
^ So Philippi S. 265. Die einzige Ausnahme festigt gerade hier die Regel.
Es ist DK. 72 für Lorsch (Verleihung' von Königsschutz und freier Abtwahl) und
gleiche Arenga wie die gleichzeitig für dasselbe Kloster ausgestellte Schenkung
(DK. 73). Aber hier hat das Diktat der Schenkungsurkunde auf den Mundbrief ein-
gewirkt, nicht umgekehrt. Überdies stammt die Urkunde aus den Anfängen Karls
(773). Aus den gefestigten Verhältnissen der späteren Zeit ist ein gleicher Fall nicht
wieder zu belegen.
* So noch Mühl bacher in der Vorbemerkung zu DK. 271 MG. Dipl. Kar.-l, 401.
Forschungen zu Karolinger Diplomen 265
enno II. Reliquien dieser Heiligen erworben habe.^ Aber hier muß
h doch widersprechen. Es wurde für diese Frage bisher die Stelle
I ei'Thietmar von Merseburg IV, 69 übersehen, der von einer Vision
es Bischofs Günther von Osnabrück berichtet. Diesem seien nach
ißm Tode Bischof Dodos (996) die Heiligen Crispin und Crispinian im
räum erschienen und haben ihn gefragt, ob er die Nachfolge in ihrem
istum übernehmen wolle.^ Thietmar war demnach zu Anfang des
1. Jahrhunderts die Tradition, daß die Osnabrücker Kirche diese
chutzheiligen verehrte, schon wohlbekannt. Das erste urkundliche
eugnis begegnet ebenfalls noch vor Benno in einer Osnabrücker
rivaturkunde aus der Zeit des Bischofs Alberich (1037—1052) ad
Itare piissimi ac principis apostolomm Petri nee non beatissimorum
lartimm Crispini et Crispiniani.^ Richtig aber ist, daß Benno IL dem Kult
ieser Heiligen erhöhte Aufmerksamkeit zuwandte und Reliquien von
inen auch in die von ihm neugegründete Klosterkirche von Iburg
bertrug.^ Wenn Benno aber wißbegierig nach der Herkunft dieses
■ultes und der Art der Erwerbung und Zeit der Übertragung dieser
iebeine forschte, sah es in den spärlichen Zeugnissen und der auch
ier wie bei Verden erschreckend dürftigen Überlieferung schlimm aus.
^on den echten Königsurkunden für Osnabrück nennt vor der Zehnt-
[rkunde Heinrichs IV. (XXI) überhaupt keine einen Schutzheiligen dieser
jrche. In Privaturkunden finden wir erst aus Bennos Zeit Osnabrück
jls Peterskirche bezeichnet.^ Die Fälschung hat hier in ihrer Art nach-
leholfen, nicht indem sie die Tradition erst schuf, sondern indem sie
ie historische Begründung für sie nachholte. In dreien der gefälschten
Jrkunden (I, VI, VIII) werden diese Schutzheiligen genannt, aus VIII
ichöpfte dann die echte Urkunde XXI ihre Weisheit. Unser I steuerte
jber auch noch die Nachricht über den Ursprung des Kultes bei, in-
^ Kü. d. Prov. Westfalen 1, 367: „Indem Benno jene Urkunde (I) fabrizierte,
'ird er auch dafür Sorge getragen haben, daß solche Reliquien sich in Osnabrück
nrklich vorfanden.
^ Thietmari Chronicon ed. Kurze, SS. rr. Germ. p. 102: si suum vellet accipere
Ipiscopatum. Der neue Anwärter auf das Bistum erfährt übrigens durch die beiden
leiiigen eine wenig freundliche Behandlung. Auf seine sehr verständige Antwort
si deus vult et vobis placet" „perfixus est ab hiis duabus hastis et mox evigilans
ullatenus per semet ipsum potuit exsurgere".
' Philippi, Osnabrücker ÜB. 1, 119 Nr. 138.
"^ Philippi a. a. 0. 1, 141 Nr. 161 (1070 Nov. 23, Original), Aufzeichnung über
ie Einweihung der Klemenskirche zu Iburg und die im Hochaltar hinterlegten Re-
quien; unter diesen „Crispini et Crispiniani".
' Philippi a.a. 0. 1, 138 Nr. 157 (1068—1070, Original) und 1, 145 Nr. 170
1074 Sept. 23, Abschrift Henselers aus dem 18. Jahrhundert) beide „ad Osna-
•ruggensem ecclesiam sancto Petro apostolo".
I
266 M. Tangl
dem es Karl d. Gr. versichern ließ: et corpora illomm illuc trans-
tulinms.
Doch wir kehren zum Rechtsinhalt unserer Urkunde zurück. Ei
enthält die Verleihung von Immunität; und wir müssen versuchen, ir
dieser Frage zunächst an der Hand der echten Zeugnisse oder dei
Reste von solchen Klarheit zu gewinnen. Die erste bestimmt nach
weisbare Verleihung von Immunität an die Osnabrücker Kirche stamm
von Ludwig d. Deutschen. Es ist, wie wir noch sehen werden, dei
echte Kern der Fälschung IV. Vom echten Formular ist allerdinge
nicht allzuviel vorhanden geblieben, weil die Fälschung überwucherte
Viel besser sind wir über die Bestätigung der Immunität (Fälschung V
unterrichtet. Hier sind so wesentliche Teile der echten Fassung er-
halten und die Einschübe so klar auszuscheiden, daß wir mit Sicher-
heit das Urteil abgeben können: die Osnabrücker Immunität ging ir
ihren sachlichen Bestimmungen bis zum Ausgang der Karolingerzeil
über das nicht hinaus, was die erste völlig echte Königsurkunde füi
Osnabrück (IX) enthält, die Bestätigung der Immunität durch Otto I
vom Jahre 938, die auch in der Fassung die Arnulfinische Vorlage
fast wörtlich wiederholte. In späteren Jahren Ottos I. kam 952 die
Verleihung von Markt, Münze und Zoll (X) und 965 die eines Wild-
banns (Xlj) hinzu. Diese Einzelverleihungen wurden unter Heinrich II
1002 zu einer großen Gesamtbestätigung zusammengefaßt (XVI), die
fortan mehrfach wörtlich wiederholt wurde, 1023 durch Heinrich II
selbst (XVII), 1 1028 durch Konrad II. (XVIII) und 1057 durch Hein-
rich IV. (XX). Von Heinrich III. ist keine Bestätigung gleicher Art über-
liefert, wohl aber eine interessante Ergänzungsurkunde zur Immunität,
die in Austragung eines Streites zwischen dem Bischof und Grafen
1051 die freien Kirchenleute, die Malmannen, ausdrücklich dem Gerichts-
stand des Bischofs unterstellte (XIX).
Von diesen Urkunden hat die Gruppe XVI— XVIII und XX, aber
auch die Urkunde XIX bedeutenden Einfluß auf die Fälschungen I, II, V,
VIII, XI, XIII geübt. Ob als direktes Vorbild das älteste oder jüngste Glied
der ersten Reihe vorlag, läßt sich nicht sogleich entscheiden, wohl aber,
daß es nicht eine ältere verlorene Vorurkunde Ottos II. oder III. gewesen
sein konnte. Hier hat Sickels und Bresslaus Untersuchung volle Klarheit
geschaffen, die das Diktat der Korroborationsformel, das wörtlich auch
in XI wiederkehrt (näheres unten bei dieser Urkunde) als Eigentümlich-
keit und Neuerung des Notars EA. aus der Kanzlei Heinrichs II. nach-
wiesen.^ Wir sehen, wie sich die Kette des Beweises schließt; dieselbe
^ Die einzige kleine Veränderung betraf die vollkommenere Fassung derPoenformei.
' MG. Dipl. 1, 293, 3, 9 Vorbemerkung zu DO.I. 212 und Dti.Ii. 8.
Forschungen zu Karolinger Diplomen 267
rkunde XVI, deren Dorsualvermerk für die Kritik der ganzen Gruppe
,0 wichtig ist (o. S. 256), hat auch inhaltlich ihren Niederschlag in den
pätschungen gefunden. Die Entlehnungen aus ihr (oder, wie ich wieder-
lole, einer ihrer gleichlautenden Nachurkunden) sind im Abdruck von
in der Ausgabe der Karolinger Diplome durch Petit-Druck hervor-
,^ehoben. Aus ihr stammt vor allem der in deutschen Immunitäten
1er Karolingerzeit nicht zu belegende vicecomes. Die in I in solcher
Verbindung überhaupt allein dastehenden Worte malman et mundman^
;ind einerseits dem mahelman in XIX entlehnt, andererseits aus einer
l^usammenfassung des Satzes in XVI et eos, qui censum persolvere
kebent, quod muntscat vocatur gewonnen. In XIX erscheint auch der
n XVI ff. fehlende, in I aber wiederkehrende dux} über diese Ent-
lehnungen hinaus enthält aber I noch eine durch omne regale vel
^emlare iudicium stimmungsvoll eingeleitete Verfügung: den Inhabern
}rdentlicher und außerordentlicher Gerichtsgewalt wird untersagt, die
jauf Osnabrücker Immunitätsgebiet siedelnden Freien und Unfreien aller
Abstufungen ad sua placita bannire vel ad mortem, usque terrarum,
^dieser Genitiv von usque, nicht von mortem abhängig) diiudicare. In
jder Fassung bedeutet diese Bestimmung ein ünicum, zu dem die
kechtshistoriker die Köpfe schütteln, dem Sinne nach besagt sie nichts
'anderes als die Übertragung des Blutbanns auch über Freie an den
Ummunitätsherrn, für Karolingerzeit — und gar Karl d. Gr. — ein Unding!
Wir scheiden von I mit der Überzeugung, daß im Rechtsinhalt dieser
Fälschung auch nicht ein Wort aus einer Urkunde Karls d. Gr. ge-
rettet ist.
Wir wenden uns zur Urkunde II. Sie beginnt mit der seit Ludwig
d. Deutschen auf Jahrhunderte hinaus ständigen, vor dieser Zeit aber
ganz ungebräuchlichen Invokation: In nomine sanctae et individuae
trinitatis. Daran reiht sich der willkürlich verkürzte und durch die
unmögliche Beifügung nee non modo dominator et Saxonum entstellte
Titel. Beides zeigt, daß der Fälscher den Schein eines von I verschie-
^ I: iudicium super suos servos et liddones et liberos malman et mundman.
jXiX: quod liberos homines in suo episcopatu habitantes mahelmane nominatos ad
suum placitum vi et iniusta potestate constringeret. XVI: liberos sive liddones et
caeteros et eos, qui censum persolvere debent, quod mundscat vocatur. Über Mal-
mann und Mundmann vgl. Waitz, VG. 5. Bd. 2. Aufl. besorgt von Zeumer S. 513f.,
278f. Malmann ist eine nur in Immunitäten für niedersächsische Empfänger nach-
weisbare Bezeichnung. Der erste Beleg kommt aus der Immunität Ludwigs III. für
Paderborn, Mühlbacher 1571 (1529). Dieses Formular hat, wie E. Stengel, Die
Immunitätsurkunden der deutschen Könige und Kaiser vom 10. — 12. Jahrhundert,
Berliner Diss. 1902 S. 22ff. nachwies, direkten Einfluß auf die Immunitäten für Minden
und Abdinghof geübt.
' XIX: dux neque comes aut vicecomes. 1: dux comes vel vicecomes.
I
268 ^- Tangl
denen Formulars hervorrufen wollte, ohne hierfür eine echte Vorlage zu
benutzen. Ohne Arenga leitet die mit I gleichlautende Publikation so-
gleich zum Rechtsinhalt über, in dessen ersten Worten zunächst eine
weitere Nachricht über die Gründungsgeschichte der Osnabrücker Kirche
enthalten ist quam nos primam oninüim in Saxonia . . . construxinms.
Damit war Osnabrück in den Wettstreit mit Bremen, Verden und Halber-
stadt um den Altersvorrang eingetreten. Von der zuverlässigen Angabe
der Vita Willehadi über die Gründung des Bremer Bistums im Jahre 787
führte die Verdener Fälschung durch Abstreichungen an der Datierung
der Bremer Urkunde um ein Jahr weiter nach aufwärts; in tialberstadt
hatte man diesen Rekord längst geschlagen, indem man in der Bistums-
chronik durch ümdeutung der Quellenzeugnisse diese Gründung zu
780—81 verzeichnete. Der Osnabrücker Fälscher möge daher verzeihen,
daß wir seiner Behauptung gerade wegen der Gesellschaft, in die er
mit ihr geraten ist, nicht ohne weiteres trauen und von unserem
Zweifel zu lassen erst recht nicht gewillt sein werden, wenn wir
später die Fortentwicklung kennen lernen, zu der seine Weisheit führte.
Aber noch nach anderer Seite verdient die Nachricht Beachtung. Es
liegt System in der Mache des Fälschers, und die Einheitlichkeit seiner
Arbeit tritt auch darin deutlich hervor, daß er sich für jede Urkunde
eine neue Einzelheit über Gründung und Geschichte seines Bistums
aufspart. Darin steckt ein Nebenzweck der Fälschung, der sich so
sicher verfolgen läßt wie die Zehntfrage, die in den beiden Karl-
fälschungen noch nicht angeschnitten ist. Denn auch die Fälschung II
tritt dieser Frage nicht näher, sondern enthält in ihrem ersten Teil die
Verleihung eines Wildbannes. Diese Verleihung, nicht Bestätigung,
bildet aber den Rechtsinhalt des Originaldiplomes XII. Und erst bei
der Bestätigung dieser Verleihung Ottos I. durch Heinrich II. (XVI)
wurde eine Pertinenzformel zugefügt, die dann gleichlautend in den
Nachurkunden XVII, XVIII, XX wiederkehrt.^ Da sie aber auch in II
schon steht, war die Forschung allgemein zur Erkenntnis gekommen,
daß II nicht den Anfang, sondern das Ende der ganzen Reihe bildet.
Mit Sicherheit geht dies daraus hervor, daß in II eine Stelle durch
Auslassung eines Wortes in sinnstörender Weise verderbt ist: quae
Süb banno usuali ad forestum deputatur statt usuali niore. Sachlich
erweitert ist die Pertinenzformel in II durch das Verbot des Baum-
schlages (vel silvam exstirpandi) und durch den unter allen Wildbann-
urkunden hier ganz vereinzelt stehenden Vergleich ad similitudinem
foresti nostri Aquisgranum pertinentis. In der Fassung der Poenformel
^ Cum omni integritate in porcis videlicet silvaticis atque cervis omnique
venatione, quae sub banno usuali more ad forestum deputatur.
Forschungen zu Karolinger Diplomen 269
lält II die Mitte zwischen XVI und seinen Nachurkunden XVII— XX.
n XII und XVI ist eine bestimmte Strafsumme nicht angedroht, in den
>Iat:hurkunden beträgt die Höhe der Poen 100 Pfund Gold, in der
-älschung 60 Schillinge. Benutzung der späteren Urkunden durch
llen Fälscher wird dadurch nicht wahrscheinlich;^ denn es wäre sehr
'chwer zu erklären, weshalb dann der Fälscher die Strafsumme verändert
jind zwar verringert hat Das Verhältnis scheint vielmehr so zu liegen,
'laß aus XVI einerseits die Nachurkunden und andererseits der Fälscher
;chöpften.
Besondere Erörterung bedarf aber noch eine eigene Zutat des
'älschers collaudatione illius regionis potentum. Ihre sachliche Bedeu-
ung tritt uns jetzt ungleich schärfer entgegen, seit wir jüngst durch
rhimme in sehr willkommener Weise über die geschichtliche Ent-
v^icklung der Forst- und Wildbannverleihungen und über den starken
A^andel unterrichtet wurden, den der Begriff forestis im Laufe der
l^eit erfahren hat.^ In älterer Zeit werden solche Forste oder Forst-
bezirke stets als volles Privateigentum verliehen, und das Jagdrecht,
venu es überhaupt, was keineswegs notwendig ist, besonders hervor-
gehoben wird, bedeutet nicht mehr als jedes andere Recht, das dem
:igentümer an seinem Besitz zusteht. Erst in Ottonenzeit werden
»olche Forste zunächst ausnahmsweise auch auf fremden Grundbesitz
ausgedehnt, seit Heinrich II. geschieht dies immer häufiger und in
Salierzeit fast regelmäßig. Damit änderten Begriff und Urkunden ihren
Charakter. Aus dem innerhalb bestimmter Grenzen liegenden Besitz
A/ird ein innerhalb dieser Grenzen verliehenes Recht und aus der
Schenkung einer forestis die Verleihung eines Wildbannes. Solchen
^ildbann zu verleihen, war und blieb Vorrecht des Königs. Dem
^annrechtv/erber aber kam es zu, sich zuvor, wenn nötig, im Wege
arivatrechtlicher Verhandlungen mit den innerhalb dieses Gebietes
besitz- oder Jagdberechtigten die Grundlage zur königlichen Verleihung
:u schaffen. Daher sind entsprechende Willenserklärungen beteiligter
)ritter zum erstenmal in einer Bannverleihung Ottos II. (DO.II. 50) aus-
gesprochen und in den Wildbannurkunden des 11. Jahrhunderts häufig
irwähnt.^ In die Wildbannverleihung Ottos I. für Osnabrück, eine der
^ Dies die Annahme Mühlbachers in der Vorbemerkung zu DK. 273 A\G.
)ipl. Kar. 1, 404.
^ Hermann Thimme, Forestis, Arch. f. ÜF. 2, 101—154. Für das 10. und
11. Jahrhundert hatte schon Wilhelm Sickel, Zur Geschichte des Bannes, Mar-
Durger üniversitätsschrift 1886, S. 41 ff. der königliche Wildbann, in rechtsgeschicht-
icher Forschung tüchtig vorgearbeitet. Das Verdienst dieser Untersuchung ist bei
rhimme nicht zur Geltung gebracht.
^ Die Belege für dieses Zustimmungsrecht sind jetzt von Otto II. bis Heinrich IV.
Jon Thimme S. 153 — 155 vollständiger gesammelt als bei Sickel; übersehen ist
I
270 M. Tangl
frühesten der jüngeren Art/ war eine solche Zustimmungsklausel noch
nicht aufgenommen und auch später in den Erneuerungen aus derr
11. Jahrhundert nicht eingesetzt worden. Der Fälscher aber hielt es
nach dem ständigen und ihm, wie wir annehmen dürfen, wohlbekannter
Brauch seiner Zeit für nötig, zur Abwehr gegen etwaige Anfechtung
diese Zustimmungsformel einzufügen. Bestimmte Beziehungen zi
Benno II. ergeben sich hier aber noch aus zwei Beobachtungen. Dk
Hervorhebung der collaudatio der Partei findet sich mehrfach in Osna-
brücker Urkunden seiner Zeit.^ In einer Erweiterung aber zum Osna-
brücker Wildbanngebiet, die er nach glücklicher Durchfechtung des
Zehntstreites und Heimkehr in sein Bistum (1080—1088) in Ver-
handlungen mit einer Edelfrau Gisla erwarb, — zugleich einem Zeugnis
für das Interesse, das er dieser Frage entgegenbrachte — , kehrt neber
der Zustimmungsklausel auch die Pertinenzformel der Karlfälschung 1
wörtlich wieder: in porcis videlicet silvaticis cervis . . . piscibus omniqm
venatione que sab banno usuali ad forestum deputatur.^ Auch dei
charakteristische Fehler sub banno usuali statt sub banno usuali man
ist hier wiederholt. Damals also ist II bekannt und benutzt.
Neue Schwierigkeiten erheben sich bei der Deutung der Um-
grenzung und ihrer Namensformen. In dieser Frage aber hat die
Forschung der letzten Jahre trotz oder gerade infolge der teilweiser
Irrgänge, deren sie sich nicht zu schämen braucht, erfreuliche För-
derung und Klärung gebracht. In den Erörterungen, mit denen Jostes
seine Faksimile-Ausgabe begleitete, hat er der Feststellung der üm-
grenzungslinie dieses Wildbannes eingehende Aufmerksamkeit ge-
schenkt. Er bestätigte und ergänzte hier die Angaben älterer Lokal-
historiker, kam aber infolge der bedeutenden Ausdehnung (ca. 60 km
von Nord nach Süd, ca. 50 km von Ost nach West) zu dem Schluß.
daß ein derartiges Gebiet zu keiner Zeit ein Wildbann gewesen sein
könne.* Indem er die Spur verfolgte, die er in den Namensformen
gefunden zu haben glaubte, gelangte er zu dem Ergebnis, daß in der
Grenzweisung ein zuverlässiges Zeugnis aus der Zeit Karls d. Gr., und
nur das von Sickel aufgeführte Wildbann-Diplom Heinrichs III. für Chur, Stumpf
2387, consensu comprovincialium.
^ um an Verleihung auf eigenem Besitz zu denken, ist der umfang des um-;
schriebenen Gebietes viel zu groß. j
^ Philippi, Osnabrücker ÜB. 1, 140 Nr. 159 collaudatione filiorum suorum.j
1, 143 Nr. 163 collaudatione filii sui. 1, 162 Nr. 188 collaudatione legitimi heredis.':
^ Philippil, 164 Nr. 190. cum consensu et collaudatione iuste heredis su^
Öderad^. Die Pertinenzformel ist nach cervis noch erweitert durch capreolis casto-
ribus leporibus.
^ S. 5 der Folio- = S. 16 der Quartausgabe des Textes.
Forschungen zu Karolinger Diplomen 271
war das für die Zirkumskription des ursprünglichen Missionsbistums
j)snabrück, vorliege. Brandi stimmte (S. 169) dem Zweifel hinsichtlich
er möglichen Größe des Banngebietes zu; da er aber am Forstbann
isthielt, suchte er umgekehrt der Grenzlinie eine viel engere Deutung
u geben. Nach beiden Richtungen bedeutet die neuerliche ünter-
juchung der Frage durch Jostes einen erfreulichen Fortschritt.^ An
er Richtigkeit seiner Grenzerklärung wird man kaum mehr zweifeln
önnen; andererseits hat Jostes die Haltlosigkeit seiner Bedenken, in
inem so weit gedehnten Gebiet einen Wildbann zu sehen, selbst er-
Lannt und seine gegenteilige Behauptung, so bestimmt er sie auch
lusgesprochen hatte, ganz zurückgezogen. Heute ist unter uns, — und
:h glaube dies auch in Brandis Namen aussprechen zu dürfen — , jeder
'weifel behoben, daß die Grenzen durch Jostes richtig bestimmt sind,
ind daß das durch diese Grenzen umschlossene Gebiet seit den Tagen
Dttos I. ein richtiger Wildbann und nichts anderes war.^ Ich gestehe
jerne, daß ich noch vor Jahresfrist, zu sehr unter dem Eindruck der be-
stimmten Verneinung in der ersten Arbeit von Jostes stehend, unnötig
iel schweres Geschütz aufgefahren habe;^ denn Jostes selbst hatte mitt-
jerweile erkannt und zugegeben, daß Wildbanngebiete von gleicher und
Joch größerer Ausdehnung als das Osnabrücker im 10. und 11. Jahr-
lundert nicht zu den Seltenheiten gehörten. Nur in einem wesent-
lichen Punkte bleibt Jostes auch jetzt fest bei seiner Ansicht. Die
i'Iamensformen weisen teilweise bestimmt auf Karolingischen Ursprung.
)a aber unter Karl d. Gr. die Verleihung eines Wildbannes in solcher
rassung und Umgrenzung ganz ausgeschlossen war, muß die Grenz-
linie damals einen ganz anderen Sinn gehabt haben, oder mit anderen
iVorten: die Wildbannumschreibung unter Otto I. muß an eine historisch
|estgelegte Grenzlinie ganz anderer Bedeutung angeknüpft haben, so
:war, daß der Wildbann seit 965 das Gebiet umschloß, das nahe zwei
^ Die Münstersche Kirche vor Liudger und die Anfänge des Bistums Osnabrück,
^eitschr. f. vaterländ. Gesch. u. Altertumsiiunde (Westfalens) 62. Bd. (1904) 98—138,
)esonders S. 111 ff.
^ Wenn es noch eines Beweises bedürfte, daß Dumeri in II (Diummeri XII)
•ichtig auf den Dümmersee gedeutet ist, so ist dieser Beweis durch die oben S. 270
erwähnte Urkunde, durch die Benno eine wesentliche Erweiterung seines Wildbann-
^ebietes gelang, erbracht; denn der Forst Triburebrok, das Drebber Moor, liegt nörd-
ich vom Dümmersee. Man vergleiche für diese topographischen Fragen die gute
Karte, die Philipp i dem 1. Bande seines Osnabrücker ürkundenbuches beigab. Auch
die gleichzeitig geschenkte Kirche von Molbergen liegt, weiter westlich, im friesi-
schen Moorland. Man sieht, wie Benno II. unmittelbar nach dem Gelingen seines
Hauptangriffes den Machtbereich seiner Kirche nach Norden vorschob.
^ Beiträge zur Brandenburg, u. Preuß. Gesch. S. 391.
I
272 ^- Tangl
Jahrhunderte früher dem hl. Wiho als „doctoratus", als sein erste:
Missionsgebiet, urkundlich gewiesen worden war.
Wir müssen uns zur Prüfung dieser Ansicht die Namensformen
wie dies schon Jostes getan, zusammenstellen:
II. Farnvuinkil, Rutanstein, Angeri, Osning, [Si]nithi, Bergashouid
Dreuenomeri, Etanasfeld, Dumeri.
XII. Farnuvinkil, Hrutansten, Angare, Osning, Sinithi, Bergashaui[d]
Dre[ua]nameri, Etenesfeld, Diummeri.
XVI. Farnuuuinkil, Hrutansten, Angare, Osning, Sinithi, Bergashauid
Dreuanamiri, Eteresfeld, Diumeri.
XVII. Farnuuuinkil, Hrutansten, Angare, Osning, Sinithi, Bergashauid
Dreuanamiri, Eteresfeld, Diumeri.
XVIII. Farnuuuinkil, Hrutansten, Angare, Osning, Sinithi, Bergasthauid
Dreuanamiri, Eteresfeld, Diumeri.
XX, Farnuwinkil, Hrutansten, Angare, Osning, Sinithi, Beregasthauid
Dreuanamiri, Eteresfeld, Diumeri.
Wenn wir zunächst die Reihe der echten Urkunden verfolgen, ge-
wahren wir, wie sich in den Nachurkunden mit der Zeit doch Fehlei
einschleichen. In Farnuuinkil erscheint seit XVI ein überflüssiges drittem
u, das in XX zur Auflösung u + w führt, aus Etenesfeld wird sei
XVI Eteresfeld, Bergashauid wird in XVIII zu Bergasthauid und in X>
zu Beregasthauid. Wie fügt sich nun die Fälschung in die Reihe:
Sie hält sich von den Verderbungen fern, die sich von XVI und be-
sonders von XVIII an einschleichen, setzt aber in fünf Fällen Formen
die jünger sind als die ganze andere Reihe: Rutanstein, Angeri (e statt a)
Bergashovid (o statt a), Dreuenomeri (e und o statt beidemale a), Du-
meri (u statt iu). In grellem Widerspruch hierzu steht ihr Etanasfeld.
Brandi und Ottenthai hatten sich hier mit der Annahme beholfen, daß
der Fälscher auf gut Glück oder nach der ihm geläufigen Kenntnis
der noch fortlebenden alten und richtigen Bezeichnung gebessert habe.-
Ich hege starke Bedenken, mich dieser Erklärung anzuschließen, und
zweifle doppelt, daß der Schwabe Benno (wenn er wirklich der Fälscher
war), der noch kaum Zeit gefunden hatte, sich in die Sprache seines
niederdeutschen Bistums einzuleben, und der doch den übrigen Namen
^ Brandi a. a. 0. S. 127 „Er besserte auf gut Glück und vielleicht hier (wo
er Gelegenheit zum Nachdenken hatte) mit dem Bestreben, eine recht altertümliche;
Form herauszubringen; daß es ihm so gut geglückt ist, nimmt ja Wunder; daß es-
ihm aber glücken konnte, liegt durchaus im Bereich der Möglichkeit." Ottenthai
a.a.O. S. 31 „Nach Mitteilung des Herrn Prof. Seemüller steht übrigens nichts
im Wege, daß auch um 1080 noch in Osnabrück eine Schreibung Etanasfeld in
lebendigem Gebrauch gewesen sei und der Fälscher von M. 408 (= II) also diesen
Namen gleich den übrigen in einer ihm geläufigen Form niederschrieb."
Forschungen zu Karolinger Diplomen 273
wenig genug Pietät entgegenbrachte, gerade hier von der Erkenntnis
;der richtigen alten Namensform erleuchtet worden sein soll, und kann
jes' daher Jostes nicht verdenken, wenn er auf diese Vermutungen mit
dem Ausruf antwortet „Da hoeret ouch geloube zuo!"^ Mir scheint
per Ausweg ungleich gangbarer, den auch Ottenthai als möglich er-
logen hatte und den Jostes allein sucht, daß die alte Namensform
Etanasfeld einer alten Urkunde entnommen ist. Aber wenn mir zu-
gemutet würde, mir diese Entlehnung mit Jostes so vorzustellen, daß
die echte Urkunde Karls d. Gr. in der bekannten Deutung alle diese
Namen enthielt, so zwar, daß der Fälscher von II gleich dem Schreiber
der Ottonenurkunde XII unmittelbar aus dieser ursprünglichen Vorlage
schöpfte und dabei fast alle Namensformen modernisierte bis auf die
2ine, die er ungeschoren ließ, dann müßte ich Jostes mit seinem
|2igenen Ausruf antworten. Meine Annahme ist vielmehr, daß diese
f^amensform Etanasfeld genau so vereinzelt in der Vorlage aufgefunden
ivurde, wie sie sich in II gegen die übrigen Namen absondert. Wir
[vissen, daß die Arenga von I mit Sicherheit darauf hinweist, daß die
bnzige echte Urkunde Karls d. Gr., die der Fälscher im eigenen Archive
vorfand, eine Schenkung war. Es liegt nichts näher als in dem Objekt
dieser Schenkung Besitz bei Etanasfeld (Ettenfeld bei Fürstenau RB.
ILingen) zu vermuten. Das Benutzungsverhältnis vereinfacht sich dabei
tiberraschend. Wir sehen, daß nach der Wildbannformel weder XII,
noch, der veränderten Poenformel wegen, eine der späteren Bestäti-
gungen XVII— XX, sondern gerade XVI dem Fälscher vorgelegen haben
nußte. Zu diesem Ergebnis wollte aber die in XVI schon stark ver-
derbte Form Eteresfeld nicht stimmen. Dieser Widerspruch fällt jetzt
hinweg, wenn für diesen Namen eine andere Vorlage in Betracht kam,
hie echte Schenkungsurkunde Karls d. Gr., die der Fälscher daneben
loch benutzte.
Damit erledigt sich aber auch die Annahme von Jostes, daß
iiese späteren Wildbanngrenzen einer alten Karolingischen Zirkum-
^kriptionsurkunde entnommen sein müßten. Wir wissen dank der
forschung von Wilhelm Sickel und Thimme, daß es sich bei der Ab-
Whließung der Wildbanngebiete in erster Linie um Mein und Dein
landelte, um die Frage, wieviel Eigenbesitz der Wildbann-Werber selbst
oesaß und in welchem Ausmaße er auf fremdem Grund und Boden
fechte anderer abgelöst hatte. Daß man bei diesen Abrundungsver-
mchen gern an bekannte und vorhandene Grenzen anknüpfte, zeigt
las mehrfache Zusammenfallen der Wildbanngebiete mit einem oder
' Zeitschr. f. vaterländ. Gesch. 62, 121.
Afü 11 18
I
274 ^' Tangl
mehreren Gauen.^ Aber von hier bis zur Annahme, daß man bein
Ösnabrücker Wildbann gerade an die Grenzen des alten Missions-
gebietes anknüpfte und vollends daß diese Grenzen in einer Urkunde
Karls d. Gr. verzeichnet standen, ist ein weiter Weg, zu dem die Ver
bindungen durchaus fehlen.
Viel glatter erledigt sich der zweite Teil unserer Fälschung, dei
dem Osnabrücker Bischof nur eine einzige Leistung aufbürdet: nisi forte
contingat, ut Imperator Romanorum vel rex Grecorum coniügalia federt
inter filios eorum contrahere disponant, tunc aecclesiae illius episcopm
omni sumptu . . . a rege vel imperatore adhibito laborem simul et hono
rem illius legationis assumat Et hoc ea de causa statuimus, quia ii
eodem loco Grecas et Latinas scolas in perpetuum mauere ordinavinim
et numquam clericos utriusque linguae gnaros ibi deesse in dei miseri
cordia confidinms. Auf Grund dieses Zeugnisses und der, wie wi
schon sahen, so überaus zuverlässigen Datierung feiert zwar in rühren
der Pietät das Gymnasium Carolinum in Osnabrück gewissenhaft seine
Jubiläen, aber glücklicherweise gibt es heute keinen Forscher mehr
der zu behaupten wagte, daß auch nur ein Wort von diesen schöner
Dingen je in einer echten Urkunde Karls d. Gr. stand. Alles komm
nur noch auf die Frage an, welcher Vorgang hier dem Fälscher als
Vorbild vor Augen geschwebt haben kann, und da läßt sich aller-
dings nicht leugnen, daß man zunächst an die berühmte Werbung
denkt, die Otto I. für seinen Sohn Otto II. um die Hand der Theo
phanu in Byzanz anbringen ließ, und daß dadurch die Annahme einei
Fälschung dieser Urkunden durch Bischof Ludolf (968—978), wenn sie
sich nur sonst halten ließe, eine starke Stütze fände. Aber auch für
die Zeit und Persönlichkeit Bennos erklärt sich das Interesse für diese
Frage nicht minder gut. 1027 unternahm Bischof Werner I. von Straß-
burg eine Reise nach Konstantinopel, um dort im Auftrag Kaisei
Konrads II. für den jungen Heinrich III. um eine der Töchter Kaiser
Konstantins IX. zu werben. Er starb, ohne die Angelegenheit zum
Abschluß zu bringen, in Konstantinopel am 28. Oktober 1028. Dieser
Vorgang fiel entweder selbst in die Zeit, als Benno als Zögling der
Domschule in Straßburg heranwuchs, oder war damals in frischester
Erinnerung. Anfang der vierziger Jahre des 11. Jahrhunderts begleitete
dann Benno den Nachfolger Werners, Bischof Wilhelm von Straßburg,
auf einer Pilgerfahrt nach Jerusalem.^ Kenntnis einer solchen Werbe-
* So bei Verden der Sturmgau.
^ Beste Zusammenstellung dieser Nachrichten jetzt bei Wentzcke, Regesten
der Bischöfe von Straßburg Nr. 253— 258, nachdem schon Bresslau, Jahrb. Kon-;
rads II. 1, 235—236 nachgewiesen hatte, daß der Bischof, dessen Pilgerfahrt der etwa'
um das Jahr 1020 geborene Benno mitmachte, nicht Werner, sondern Wilhelm ge-
Forschungen zu Karolinger Diplomen 275
ahrt und aus eigener Anschauung gewecktes Interesse für Beziehungen
pm griechischen Reiche sind daher bei Benno in vollem Mabe voraus-
zusetzen. Und wem lag die Hervorhebung der Pflege gelehrter Schulen
läher als Benno, dem gründlichen und vielseitigen Gelehrten und er-
l^lgreichen Lehrer zu Speyer und Hildesheim ?^ Daß er das Stichwort zu
jjolcher Hervorhebung aus dem Diplom Karls d. Gr. für Aquileja auf-
jyelesen haben konnte, dem er aller Wahrscheinlichkeit nach auch die
Rekognition Jacob adviceni Radoni entnahm, habe ich bereits oben
5. 263 erwähnt.^
I Über die Urkunde Ludwigs d. Fr. III, besonders über ihre höchst
Inerkwürdige Rekognition, habe ich schon oben S. 171 f. und 261) ge-
landelt. Daß die jetzige Rekognition über Rasur steht, unterliegt keinem
Lweifel, darüber hinaus aber wird Gesamtrasur der ganzen Urkunde
jius zwei Beobachtungen in hohem Maße wahrscheinlich, ja so gut wie
ficher. Das Pergament ist dünn und an mehreren Stellen, die sich
iber den ganzen Kontext verteilen, durchscheinend (so besonders Z. 1,
3, 6), und das ursprüngliche Linienschema ist nur sehr unvoll-
ommen eingehalten; die alten Linien 3, 4 und 7 laufen mitten zwischen
en späteren Kontextzeilen. Gleich zu Anfang der Urkunde verblüfft
bs Chrismon, das mit denen in echten Urkunden dieser Zeit auch
iiicht eine leise Ähnlichkeit hat, wohl aber eine, wenn auch immer
koch sehr phantastische Nachbildung des Chrismons in den Osnabrücker
priginalen Ottos I. IX und X nahelegt. Die merkwürdige Neigung des
Fälschers zu Mosaikarbeit wird hier an einer neuen Einzelheit klar.
)ei dieser ganz gleichgiltigen Zierform springt er plötzlich von seiner
/orlage ab und macht eine vereinzelte Anleihe bei einer anderen Ur-
kunde. Daß das Formular einem echten Diplom Ludwigs entstammt^
md in dem zeitlich nächststehenden Diplom für Worms M. 871 volle
)eckung findet, hat schon Mühlbacher klar ausgesprochen, und Brandi
lat daraufhin die echten Bestandteile (S. 127) fast bis aufs Wort genau
;;esen sein muß. Vgl. auch Thyen, Benno II. Bischof von Osnabrück, Mitteil. d.
jist. Ver. zu Osnabrück 9, 1—243. Bischof Wilhelms Pilgerfahrt ist in den Jahren
p40— 1044 unterzubringen.
* Vita Bennonis c. 4— 5, ed. Bresslau, SS. rr. Germ. p. 5— 6.
^ Ob Benno auch die Stelle in der einen Überlieferung des Widukind von
::orvey III, 2 (ed. K. Kehr, SS. rr. Germ. 89—90) kannte, nach der vor K. Konrad I.
iibt Bovo von Korvey mit seiner gründlichen Kenntnis des Griechischen glänzte?
r hätte dann in dem Wetteifer gehandelt, Korveys Ruhm auch auf diesem Gebiete
uszustechen.
^ Zu den ganz geringfügigen Verderbungen zählt die Auslassung der Worte
et salvatoris" in der Invokation, die veränderte Devotionsklausel (divina providente
lementia statt ordinante Providentia) und „ad aeternae beatitudinis capacitatem'
tatt „ad aeternae beatitudinis praemia capessenda" in der Arenga.
18*
I
276 M- Tangl
herausgeschält. Von entscheidender Wichtigkeit ist, daß gerade in
dem viel wesentlicheren Schlußteil des Kontextes das Wormser Diplom
fast ganz wörtlich übereinstimmt. Folgendes kann hier daher als ganz
gesichert gelten: Sed pro rei firmitate petiit nos prenominatus Meingaz
episcopüs, ut hüiüscemodi heneficmm erga ipsam aecclesiam noviter^
fieri iuberemus. Cuius petitionibus propter dei amorem et anime nostrae
remedium libenter annuentes, hanc nostrae praeceptionis auctoritatem
eidem aecclesiae fieri decrevimus. Propter quod iubemus ac praeci-
pimus, ut sicut a memorato principe genitore nostro piae nienioriae
augusto concessum ac traditum est, ita deinceps . . . ceteraque sibi per-
tinentia Meingaz episcopüs suique successores per hanc nostrani auc-
toritatem habeant concessa atque indulta ad necessitates aecclesiae
Süblevandas. Zweifelhaft bleibt der Bischofsname; doch davon später,
Bestätigt wird nach solchem Formular ein vom Vorgänger ver-
liehenes Recht oder ein von ihm verliehener Besitz. Um ein Recht
(den Rheinzoll) handelt es sich bei Worms. Dem gegenüber ist in
unserer Urkunde das in der Wormser fehlende Wort traditum von
Wichtigkeit. Es weist auf die Übergabe von Besitz und stimmt da-
durch genau zu dem, was wir als den Inhalt der echten Urkunde
Karls d. Gr. feststellen konnten. Den Besitz den dieser einst an Osna-
brück geschenkt hatte, hat Ludwig d. Fr. bestätigt. Auch die Zeit dieser
Bestätigung läßt sich zuverlässig feststellen. In der überlieferten Ge-
stalt stimmen Regierungsjahr 11 und Indiktion 4 weder zueinander
noch zum Ausstellungsort Worms. Mühlbacher hat hier schon die
naheliegende Emendation anno XVI {st. XI) imperii, indictione VII (st. III)
vorgenommen, nach der die Urkunde zum bekannten Aufenthalt Lud-
wigs d. Fr. in Worms September 829 einzureihen ist.
Ganz anderer Art freilich war der Inhalt der Karl-Urkunde, die
nach unserer Fälschung Ludwig d. Fr. vorgelegen haben und von
diesem bestätigt worden sein sollte: qualiter ipse Adriani papae prae-
cepto et hortatu et Lullonis Mogontini caeterorumque plurimorum tunc
temporis episcoporum consilio in provintia Uuestfala loco Osnabruggi
vocato aecclesiam et primam omnium in Saxonia ordinavit cathedrani
et quomodo ad stipendia episcopi clericorumque ibi deo militantium
decimas cunctorum infra terminos eiusdem episcopatus degentium eidem
aecclesiae ex integro retinendas delegavit et eandem aecclesiam conse-
crationis eius die, Adriano papa ita ordinante et iubente et ipsius privi-
legio roborante, eisdem decimis legaliter ac devote dotavit et terminos
eiusdem episcopii diligenti notificatione circumscribi praecepit.
Wieder ist die Gründungsgeschichte des Bistums durch wichtige
Angaben bereichert: die Bewidmung des neuen Bistums — selbst-
verständlich, wie schon in II, des ersten im Sachsenlande — mit den
Forschungen zu Karolinger Diplomen 277
i^ehnten und die Umschreibung seiner Grenzen durch Karl d. Gr., und
twar am Tag der Kirchweihe, ferner die Mitwirkung Papst Hadrians I.,
lier eigentlich die schöpferische Anregung gab und die Rechte des
neuen Bistums auch durch eigenes Privileg bestätigte, und Lulls von
Aainz. In den Fälschungen I und II steht von diesen schönen Dingen
ilchts, wohl aber in einer anderen uns schon bekannten Urkunde, der
(arl-Fälschung für Bremen: DK. 245 Adhuc etiam summi pontificis ei
\iniversalis pape Adriani precepto nee non et Mogonciacensis episcopi
Mllonis omniumque qui affuere pontificum consilio eandem Bremensem
mjmäesiam . . . Willehado . . . commisimus.
■B Die zum Teil wörtliche Übereinstimmung, ferner der Hinweis auf
Sie Zirkumskription, die in der Bremer Fälschung eine so bedeutende
l^olle spielt, legt hier eine enge Beziehung so nahe, daß schon Wil-
Inans (a. a. 0. 1, 372) Benutzung der Bremer Urkunde für unsere
-älschung annahm. So ganz bestimmt kann der Schluß ohne weiteres
iiicht mehr lauten, da wir wissen, daß die Bremer Fälschung selbst
Nieder zum großen Teil dem Halberstädter Vorbild entlehnt ist, und
iieses daher auch direkt auf III hätte einwirken können. Die viel
jiöhere Wahrscheinlichkeit spricht aber in der Tat für Benutzung der
Bremer Urkunde zu Bennos Zeit. Unmittelbar nach dem Tode des
:rzbischofs Adalbert (1072) hat Adam von Bremen sein Geschichts-
Lverk, in das er die gefälschte Gründungsurkunde aufnahm, geschrieben
jnd vollendet und es Adalberts Nachfolger Liemar gewidmet. Liemar
;on Bremen und Benno von Osnabrück standen aber in den Jahren
il076— 1077 als Parteigenossen und unzertrennliche Begleiter Heinrichs IV.
n engster Beziehung.
Alle Forscher, die sich bisher mit dieser Urkundengruppe be-
jschäftigt haben, sind darin einig, daß die Berufung in III auf den
Inhalt der erhaltenen Fälschungen I und II nicht gehen kann. Wieder-
holt wurde daher die Annahme laut, daß noch eine dritte Urkunde
auf den Namen Karls d. Gr. bestanden habe, daß uns aber gerade
diese Hauptfälschung verloren sei. Mit dieser Annahme wird in der
Tat immer gerechnet werden müssen, und sie ist auch dadurch noch
nicht hinreichend widerlegt, daß bei den Verhandlungen von 1077 laut
dem Zeugnis von XXI wohl (im wörtlichen Anschluß an IV) von der
Gründung der Osnabrücker Kirche durch Karl d. Gr., aber nicht aus-
drücklich von der Vorlegung einer Gründungsurkunde die Rede ist.
Denn auch III ist, obwohl in XXI benutzt, nicht erwähnt, noch weniger
I und II, die ja nur Nebenzwecken des Fälschers dienten. Die Be-
rufung auf Vorurkunden setzte damals erst mit der Eröffnung des
eigentlichen Zehntstreites ein. Wohl aber wird daneben noch eine
andere^ bisher nicht erörterte Möglichkeit in Erwägung zu ziehen sein.
I
278 M- Tangl
Die Bremer Fälschung gab wohl ein willkommenes Vorbild; um aus
ihr aber eine eigene Gründungs- und Zirkumskriptionsurkunde zu
machen, bedurfte es auch selbständiger eigener Hilfsmittel. Diese
waren in Bremen neben gründlicher Ausnutzung der Halberstädter Vor-
lage in der Vita Willehadi und dem feststellbaren Zuge der eigenen;
wenn auch erst etwa seit der Mitte des 9. Jahrhunderts zutreffenden
Bistumsgrenze bereit, und selbst die spätere Verdener Fälschung wußte
zu dem Bremer Grenzzug nach der einen Seite einen Wunschzettel
nach der anderen zuzugeben und ein Papstprivileg zu weiterem Auf-
putz bereitzustellen. Ob hier Bennos Lage in der Zeit des Exils aus
seinem Bistum nicht schwieriger war? Wo sollte er, der selbst land-
fremde und der nötigen Hilfsmittel und Hilfskräfte entbehrende Flücht-
ling, die Möglichkeit zur genauen Feststellung seiner Bistumsgrenzen
hernehmen? Ich halte daher diese Erklärung für sehr erwägenswert,
daß er seine Kenntnis des lockenden Bremer Vorbildes wohl dazu ver-
wertete, um in geschickter Weise in III auf das Vorhandensein einer
gleichartigen Urkunde für Osnabrück anzuspielen, ohne jedoch infolge
der äußeren Schwierigkeiten selbst eine solche herzustellen. Ob aber
die Erklärung so oder so fallen mag, der historische Wert einer solchen
angeblichen Gründungs- und Zirkumskriptionsurkunde Karls d. Gr. für
Osnabrück bleibt in beiden Fällen gleich Null; — sie ist ein aus
zweiter und dritter Hand entlehntes Trugbild.
Indem ich die Erörterung der Beziehungen unserer Urkunde zum
sogenannten Pseudoliutprand für das Schlußkapitel aufspare, gehe ich
gleich zur Fälschung IV, der Urkunde Ludwigs d. Deutschen, über.
Über das Äußere dieser Urkunde habe ich schon oben S. 252 gehandelt.
Es ist die einzige, bei der die deutlichsten Spuren von Rasur des
ganzen ursprünglichen Textes über das ganze Pergament zu verfolgen
sind. Ebenso sicher aber ist, daß ein echtes Diplom dieses Königs
von der Hand des Comeatus dem Fälscher vorlag; denn schon der
Kontext ist, wie sich jedermann durch den Vergleich mit dem Faksimile
Kaiserurkunden in Abbildungen VII, 2 überzeugen kann, leidlich gut, das
Eschatokoll aber geradezu meisterhaft nachgezeichnet; nur bei dem
Versuche, auch die Tironischen Noten des Rekognitionszeichens wieder-
zugeben, gab sich der Fälscher solche Blößen, daß an ein Stehenbleiben
der ursprünglichen Rekognition gar nicht zu denken isL^ Das Siegel
ist das echte Gemmensiegel Ludwigs d. Deutschen mit dem prächtigen
Hadriankopf. Das Siegelbild ist gut erhalten, auch der Sprung, den
diese Gemme beim Siegelgebrauch bald erhielt, deutlich kenntlich, da-
^ Vgl. Tan gl, Die Tironischen Noten in den Urkunden der Karolinger, Arch.
f. ÜF. 1, 156. '
Forschungen zu Karolinger Diplomen 279
jegen ist die Legende auffallend undeutlich ausgeprägt oder später
erwischt. Unter den Siegelrändern erscheint das Pergament etwas
jieHer und glatter, so daß man wohl versucht wäre, an ursprüngliche
Befestigung des Siegels zu denken. Dies ist aber durch zwei Er-
wägungen ganz ausgeschlossen. Erstens müßten sich dann Spuren
jles echten, ursprünglichen Rekognitionszeichens noch finden, das in
karolingerurkunden mit seinen Ausläufern stets noch in die Siegel-
5telle sich erstreckte. Zweitens aber — und das ist das Entscheidende —
lann man Urkunden nicht nachzeichnen, deren Schrift man zuvor
iurch Rasur vollständig getilgt hat. Unser Fälscher hatte, als er dieses
5tück anfertigte, das echte Diplom mit der charakteristischen Comeatus-
Schrift als Schreibvorlage noch vor sich liegen. Von dem Pergament
jber, auf dem er seine Künste übte, war zuvor eine Urkunde eines
I anderen Ausstellers verschwunden. Diese Beobachtung gilt auch für
i'ie anderen Osnabrücker Urkunden. Es wäre ganz verkehrt anzunehmen,
daß auf jedem dieser Pergamente unbedingt gerade die entsprechende
2chte Urkunde desselben Herrschers gestanden haben müßte. Der
Fälscher hat vielmehr ganz sicher Schiebungen vorgenommen. Dies
ist bestimmt der Fall bei IV, V, XIII, den Urkunden, die mit dem größten
Erfolg ihren Schriftvorlagen nachgebildet sind. Umgekehrt konnte, wie
schon Ottenthai (a. a. 0. S. 34) richtig hervorhob, das getilgte Diplom
Ottos I., über dem jetzt XI steht, weder für Inhalt noch Schrift dieser
iFälschung als Muster in Betracht kommen. Das Siegel muß dann,
wie auch bei anderen Urkunden, von dem ursprünglichen Pergament
gelöst und auf der Fälschung so geschickt wieder befestigt worden
jsein, daß sich keinerlei Spuren dieses Eingriffes erkennen lassen.
I Um die Fälschung zu beurteilen, ist es zunächst nötig, ihre echten
'Bestandteile herauszuschälen. Wir beginnen mit den Zeitangaben. Die
iDatierung Data IUI. id. novembr. anno Christo propitio XV regni domni
plüdoüüici gloriosissimi regis in orientali Francia, indictione XII; actum
iMogontia civitate stimmt nach dem Itinerar zu einem Aufenthalt in
JMainz am 10. November 848 unter der Annahme, daß wohl die In-
'diktion, nicht aber auch das Regierungsjahr umgesetzt wurde. Dazu
paßt auch die Rekognition Comeatus (nachweisbar 843—858) notarius
ad viceni Radleici (840 — 854) recognovi, nicht aber der Empfänger der
i Urkunde, Bischof Egilbert von Osnabrück, dessen erste sichere Erwähnung
als Bischof in das Jahr 868 fällt und der 885 starb.^ Empfänger der
* Vgl. Philip pi, Die älteste Osnabrücker Bischofsreihe, Mitteil. d. hist. Vereins
f. Osnabrück 15, 217ff. Hier ist Egilberts Regierungszeit mit den Jahren 874—885
angegeben; allein mir erscheint die Erwähnung Egilberts in der Gründungsurkunde
für Neuenheerse vom Jahre 868 beweiskräftiger als die auch sonst anfechtbaren
Ansätze der rekonstruierten Osnabrücker Annalen.
li
280 ^- Tangl -
Urkunde muß vielmehr Bischof Gozbert, der vertriebene Schweden-
rpissionar, gewesen sein. Das aber war der Mann, der nach dem
Zeugnis der Querimonia Egilmari zu jeder Beeinträchtigung, die seirt
Bistum erfuhr. Ja und Amen sagte, und deshalb konnte ihn der Fälscher
für die gerade auf das Gegenteil gestimmte Einleitung seiner Urkunde
nicht gebrauchen und setzte schlankweg den Nachfolger für ihn ein.
Dieser Einleitung, wie sie dem Fälscher beliebte, sind Arenga und
Narratio der echten Vorlage ganz zum Opfer gefallen. Hier stehen'
nun, mit den schon erörterten Worten arguendo increpando obsecrando
et iüventüteni nostrani non purum incusando beginnend, in starker und
zum Teil wörtlicher Anlehnung an die Querimonia Egilmari die uns
schon bekannten Dinge vom Bischof Gefwin, der suae infidelitatis in
patrem nostrum conscius et pro periurio ab episcoporum consortio se-
motus (Ebo von Reims!) aus seinem Bistum geflohen sei, von der
Übertragung des Bistums an den Schwedenbischof Gozbert und der
Wegnahme der Zehnten durch den Grafen Cobbo: in decimarum direp-
tione sibi debite pertinentium esse decurtatuni et huc usque non sine
nostra culpa indecens et informe quasi pecus mutilum permansisse.
Auch im folgenden Satz: Et ut inde iusticiam acciperet et se suaque
firmius et securius habere valuisset, nostrae immunitatis et libertatis
praeceptum conscribi praeciperemus postulavit sind mit Sicherheit nur
die letzten Worte von immunitatis an echt, alles übrige entstellt. Im fol-
genden läßt sich die Scheidung dann ganz genau durchführen: Cuius
reclamationi assensum nostro solo consilio prebere non censentes,
praefato episcopo suisque adversariis Franconofort, ubi principibus
nostris convenire statutum est, ut et ipsi venirent praecepimus. Ibi in
nostra ceterorumque fidelium nostrorum praesentia praefatus episcopus
litteras magni et admirabilis Karoli avi nostri imperatoris augusti ipsius
sigillo assignatas in palam proferebat. ffis in nostra caeterorumque \
considentium praesentia recitatis Osnebruggensem aecclesiam Adriani '
papae consilio et consultu ab eodem magno et illustri viro Karolo pri^
mitus in provintia Vvestfala fundatam et a venerabili Egilfritho Leodi-
censi episcopo consecratam et eisdem decimis, quia alia ibi tunc tem-
poris non erant donaria, dotatam et privilegiis paparum ante nos relectis
omnem hominem, qui haec sanccita aliquo modo irritaverit, anathemati-
zatum constare absque ulla ambiguitate didicimus. Qua de causa ob
amorem domini nostri Jesu Christi et sancti Petri principis apostolorum
et preciosissimorum martirum Crispini et Crispiniani, quorum corpora
illuc translata sunt, assensum libenti animo praebentes ita fieri decre-
vimus et hoc praeceptum inde conscribi iussimus. Machen wir hier
einmal Halt. Es gehört zu den sichersten Kennzeichen von Einschüben
in Fälschungen, wenn ein aus echten Urkunden geläufiges Schlagwort
Forschungen zu Karolinger Diplomen 281
veimal wiederkehrt. Es zeigt dies, daß es das erste Mal zur Ein-
jigung einer Zutat des Fälschers mißbraucht wurde, um dann bei
bner Wiederaufnahme in die echte Spur zurückzuleiten. Dieses Schlag-
!ort ist hier das doppelte assensum. Mit Hilfe der Nachurkunden V
^d IX, der wenigstens teilweise echten Immunitätsbestätigung Arnolfs
d der als verläßliches Originaldiplom überlieferten Erneuerung durch
tto I., ferner unter Heranziehung der Immunität Ludwigs d. Deutschen
r Paderborn, M. 1439, Wilmans 1, 150, sind wir in der Lage, den
sprünglichen Text unter Streichung des ganzen Einschubes fast aufs
ort genau herzustellen: Cuius petitioni (so statt des dem Fälscher
enehmen redamationi) ob amorem domini nostri Jesu Christi assen-
im libenti animo praebentes ita fieri decrevimus et hoc praeceptuni
ide conscribi iussimus} Vielleicht trifft aber doch Brandis hartes
irteil zu, daß unsere Urkunde keinen Satz enthalte, der nicht fast
örtlich in einer der übrigen Fälschungen oder in den für die Fäl-
phungen auch sonst benutzten echten Urkunden vorkäme, und daß
kbei unsere Urkunde durchweg nicht die Quelle, sondern die Ableitung
erstelle (S. 130)? Wir brauchen uns zur Beantwortung dieser Frage
ur den Satz vorzunehmen, der, an den oben rekonstruierten Teil
ch anschließend, zum Immunitätsformular überleitet.
IV: praecipientes ut sicut reliquae sandae dei aecdesiae, quae in
igno nostro immunitatis tuitione antecessomm nostromm videlicet re-
um audoritate confirmantur, ita iani dida aecdesia perpetuo per hoc
ostrum praeceptuni domino opitulante stabilita consistat.
Daran reihen wir zunächst die erste echte Bestätigung der Immu-
ität durch Otto I. in IX: praecipientes ut sicut reliquae sandae eccle-
\ae dei, quae per totam Franciani et Saxoniani et immunitatis tuitione
'- antecessorum nostrorum regum videlicet et imperatorum audoritate
mfirmantur, ita praefati praesulis sedes sanda perpetuo per hoc no-
trum praeceptum domino opitulante stabilita consistat. Von der Er-
itzung des in regno nostro durch per totam Franciani et Saxoniam,
ovon die eine Wendung so kanzleigemäß ist wie die andere,^ abgesehen,
ind die Änderungen geringfügig, aber doch nicht zu übersehen. Die
/endung regum videlicet et imperatorum in IX ist ganz formelmäßig
nd läßt die Auslassung von et imperatorum in IV als wahrscheinlich
ermuten; dagegen ist der Text des Originales IX in einem Fall doch
erderbt. Die Verbindung von immunitatis tuitione mit antecessorum
^ Gestützt auf die zum Vergleich herangezogenen Urkunden halte ich schon
-e Worte „et sancti Petri principis apostolorum" für durch den Fälscher eingeschoben,
id bestimmt ist dies bei der nun folgenden Erwähnung der Heiligen Crispinus und
rispinianus der Fall.
' Wenige, aber gesicherte Fälle; vgl. Sickel, Wiener S.-B. 59, 313 f.
I
282 ^' Tangl
auctoritate durch doppeltes et ist eine Entstellung des richtigen Sinnen
„Die Kirchen, die durch Verleihung unserer Vorfahren mit Immuniti
ausgestattet sind." Ganz geringfügige Änderungen traten bei der Be
stätigung durch Heinrich II. in XVI ein; aus dem praecipientes wurd
per qmd firmiter praecipimus, in dem folgenden Satze ist das Rele
tivum quae ausgelassen; rechtfertigen läßt sich schließlich die ein
wie die andere Konstruktion, aber die in IV und IX ist besser un
ursprünglicher.^ Diese Fassung ist dann in den Erneuerungen durc
Heinrich IL, Konrad II. und Heinrich IV. (XVII, XVIII, XX) wörtlic
wiederholt.
Daran reihen wir nun die Fälschungen: V. praecipientes ergo in
bemus, ut sicut reliquae sanctae dei aecclesiae, quae per totam Fron
ciam et Saxoniam emunitatis tuitione ab antecessoribus nostris regibü
videlicet et imperatoribus consistant, ita praefati praesalis sancta sede
perpetüo per hoc nostrum praeceptum domino opitulante consista
Diese Fassung, die in VI, VII und XI mit der kleinen Anderun,
wiederkehrt, daß das consistant in consistant verändert ist, steht paralk
zu der in IX. Beide sind Ableitungen der echten Arnolf-Immunitä'
IX als Nachurkunde, V als darauf weiterbauende Fälschung. Charakte
ristisch für diese Fälschungsgruppe sind zwei Verderbungen; aus den
confirmantur in IV, IX und den echten Nachurkunden wurde in Vor
wegnähme des Verbums des zweiten Satzes consistant {consistant), un<
vor dem zweiten consistat blieb das durch den Sinn notwendig erfor
derte stabilita fort.
Die zusammenfassende Bestätigungsurkunde Heinrichs IV. XX
machte daraus in freierer Fassung: Precipientes ergo iabemas, at sicu
reliqae in regno nostro sancte dei ecclesie ab antecessorani nostrorath
regam et imperatoram preceptis et scriptis stabilite consistant, ita e
hec Osnebraggensis ecclesia per hoc nostrani preceptam domino opitu
lante stabilita consistat. Wie die Eingangsworte und die zweimalig«
Vervv^endung von consistere zeigen, ist hier das Formular der Arnolf
Fälschungen zugrunde gelegt, und zwar mit Benutzung der für dei
weiteren Text am meisten ausgeschriebenen Fälschung VII, aus IV
aber sind die Worte in regno nostro und stabilita entnommen. IV abe:
gehört, das ergibt sich aus der Entwicklung ganz klar, an den Anfang
nicht an das Ende der Reihe; es steht dem echten Diplom IX vie
näher als den Urkunden VII und XXI, die es nach Brandi erst benutzi
^ „Die betreffende bischöfliche Kirche soll so gut gefestigt sein wie die übriger
Reichskirchen, die durch Verleihung unserer Vorfahren mit Immunität ausgestattel
sind", gibt den entschieden besseren Sinn als „die betreffende bischöfliche Kirche
soll so gefestigt sein, wie die übrigen Reichskirchen durch Verleihung unserer Vor-
fahren mit Immunität ausgestattet sind".
Forschungen zu Karolinger Diplomen 283
aben soll, und es hält die Fassung von einer kleineren Verderbung
och frei, die sich in IX einschlich und in allen echten Nachurkunden
;ehen blieb. Es kann daher keinem Zweifel unterliegen, daß für diesen
eil die echte Immunität Ludwigs d. Deutschen benutzt ist. Alles auf
en umständlich erörterten Satz Folgende ist dann allerdings durch den
älscher wieder aufs ärgste entstellt. Die offenkundigen Zusätze mache
:h durch gebrochene Klammern kenntlich; aber auch was außerhalb
,tehen blieb, ist im einzelnen wohl überarbeitet: ita ut nullus iudex
Heus (dux vel eomes) neque aliqua alia iudieiaria potestas (jiisi illius
episeopus et suus advocatus) aliquid in rebus sibi pertinentibus
\estateni habeat agendi^ (yel homines illius diiudicandi quod eorum
igua obarzala dicitur); sed idem episeopus^ suique successores (de-
as infra terniinum sui episcopii caeterasque^res suae aecclesiae,
s modo possidet vel deinceps adquisierit, quieto ordine optineat et
lernet, (exceptis decimis dominicalium monachis et sanctimonialibus
ertinentium, quod nos foravuerch vocamus, quas pater noster filu-
buuicus de eodem episcopatu per cambiatum adquisivit et ad pauperum
stentationem et peregrinorum receptionem iamdictis monasteriis tra-
'idit. Servi auteni ipsorum et liberi et cuiuscunque conditionis coloni
kcimas, ut caeterorum in Saxonia ius est episcoporum, secundum
(aroli institutionem episcopo pleniter offerant.y
Hier kommt vor allem die Stelle mit dem auf Jahrhunderte ganz
vereinzelt stehenden Worte obarzala in Betracht.^ Für zuverlässige
:ntlehnung dieses Wortes und damit der ganzen Stelle aus dem
fchten Diplom Ludwigs d. Deutschen hat sich Jostes warm eingesetzt*
)ie wohl so gut wie ausschließlich aus oberdeutschen Beamten be-
stehende Kanzlei Ludwigs d. Deutschen gibt ihm allein eine befrie-
digende Erklärung für die scharf geprägte Eigenart dieser Wortform,
leren volle a-Laute auf hohes Alter und deren z auf oberdeutsche Form
^ Von „aliquid" an sicher überarbeitet; derText lautete aller Wahrscheinlichkeit
lach so, wie er an der Hand der Nachurkunden V und IX festzustellen ist: aut
:omites vel missi dominici per tempora discurrentes in locis illius episcopatus placita
labenda vel freda exigenda aut paratas faciendas vel fideiussores tollendos aut servos
li liddones tollendos et ceteros aut eos qui censum persolvere debent, quod munt-
jcat vocatur, a nemine praesumatur constringere.
^ Richtig wohl: sed liceat eidem episcopo.
^ Vgl. Waitz, VG. 8, 5 Anm. 1. Am besten hat darüber unter Zusammen-
stellung der Zeugnisse Frensdorf gehandelt, Recht und Rede, Histor. Aufsätze z.
'Andenken an Georg Waitz S. 461 ff. Das Verbum „fartellian, overtellen, verzellen,,
ist vom Heliand an in literarischen Denkmälern wiederholt gebraucht, in Rechts-
aufzeichnungen seit dem 13. Jahrhundert in der Bedeutung ,,proscribere*'. Weit
kleiner ist das Geltungsgebiet des Substantivums: nur im Niederdeutschen und auch
hier nicht vor dem 14. Jahrhundert. i!»
* tiistor. Jahrbuch 15, 112 f.
284 ^' Tangl
weisen. Das Gewicht dieser Gründe verlienne ich keineswegs und geb
zu, daß sie das Wort in erster Linie in Karolingerzeit suchen lasser
Ebenso bestimmt aber muß ich dem entgegenhalten, daß ihm de
Begriff, in dem es gebraucht ist, das tieimatsrecht in einer Karolinger
Urkunde ganz und gar verschließt. Zur Feststellung dieses Begriffe
ist nicht nur IV allein, sondern auch die verwandte Stelle in I heran
zuziehen; denn der Fälscher liebt es auch sonst, Satze, die er schoi
einmal gebracht hat, mit anderen Worten erläuternd zu wiederholer
In unserem Fall ergibt sich die Gleichung homines illius diiudicand
quod eomm lingua obarzala dicitur in IV = ööf mortem usque terraruh
diiiidicare in I. Das bedeutet, wie ich schon oben S. 267 ausführtt
unzweideutig die Hochgerichtsbarkeit, den Blutbann, also gerade da^
was später als neues Recht zur Immunität hinzutrat, bis zum Ausgan:
der Karolingerzeit aber niemals mit der Immunität verliehen wurd(
Der Fälscher hat wieder die spätere Entwicklung, die er kannte, un(
die Bestimmung, die er ihr entsprechend wünschte, in die Urkunde;
hineingetragen. Von dieser Erkenntnis aus ist auch die Entscheidung
über die Namensform zu treffen. Das Wort overtale ist nur auf nieder
deutschem Boden und selbst hier sonst nicht vor dem 14. Jahrhunden
nachweisbar. Doch muß es hier schon seit langer Zeit bodenständi:
gewesen sein. Hier hat es der Fälscher aufgelesen und teilweise nacl
seiner oberdeutschen Sprachgewöhnung umgeändert.^ Das würde au
Bischof Benno, den in Niedersachsen wirkenden Schwaben, sehr wob
zutreffen, und auch der Zeit nach ist das Festhalten an den vollein
a-Lauten wenigstens noch möglich.^ |
Ganz auszuscheiden aus der echten Ludwig-Immunität ist die mi
exceptis decimis dominicalium beginnende Fortsetzung, in deren Mitt
sich das zweite altdeutsche Wort foravuerch findet. Daß von diesei
Zehntklauseln nichts in der echten Vorlage gestanden haben kanr
wird nicht nur daraus klar, daß die echten Erneuerungen dieser Immu
nität von Otto I. an von diesen Dingen nichts enthalten, sondern aucl
dadurch, daß die Immunität und andererseits die foravuerch-Si^W^ au
zwei verschiedene Arnolf-Fälschungen V und VIII verteilt sind. Wi'
kennen wohl zahlreiche Fälle, daß Einzelverleihungen später zu Sammel
Privilegien vereinigt wurden, — XVI mit seinen Nachurkunden al:
* Frensdorf bemerkt a. a. 0. S. 462 sehr richtig, daß die Form obarzala nu
in ihrem zweiten Teil oberdeutsch, im ganzen aber eine Mischform ist, einem rieh
tigen niederdeutschen ovartala müßte rein oberdeutsch ein ubarzala gegenüberstehen
^ Nach freundlicher Mitteilung G. Roethes. Darin, daß diese V/ortform siel
für das 9. oder 10. Jahrhundert besser erklären ließe, bin ich mit dem Kollegen voi
der Germanistik ganz einig. Bei den zwingenden sachlichen Gründen, die gegei
eine solche Unterbringung sprechen, genügt es mir aber, daß die Form für da
11. Jahrhundert noch Deckung findet.
Forschungen zu Karolinger Diplomen 285
jammdstelle für die Sonderurkunden IX, X und XII ist dafür ein treff-
iches Beispiel — , aber eine spätere Auflösung einer älteren Urkunde
n Einzelbestätigungen ist mir nicht gegenwärtig. Wenn es aber noch
:ines weiteren Beweises bedürfte, so hat ihn der Fälscher schlagend
ladurch erbracht, daß er sich durch Benutzung einer zweiten Vorlage
luf neuen Abwegen ertappen läßt. Schon Sickel hat mit seinem
kharfblick in einer seiner frühesten diplomatischen Untersuchungen
erkannt, daß die Korroboration von IV dem Kanzleibrauch unter Ludwig
1. Deutschen nicht entspricht.^ Wir können diese Beobachtung nach
ier positiven Seite hin weiter verfolgen. Es ist die Korroboration, die
vörtlich in VIII wiederkehrt und für Arnolfs Zeit in gleicher oder ähn-
icher Fassung an einer Reihe von Originalen zu belegen ist.^ Diese
\rnolf-Urkunde aber betraf eine Schenkung, in ihr könnte günstigsten
-alls das foravmrch gestanden haben; auf beide Fragen werden wir
iaher unten bei Zergliederung von VIII zurückzukommen haben.
Außer den Erörterungen über die Zehntfrage, die in formaler An-
ehnung, aber sachlichem Gegensatz zur Querimonia Egilmari den König
licht die Angriffe auf Osnabrück unterstützen, sondern umgekehrt seine
alteren Vorrechte anerkennen und verteidigen lassen, erfahren wir in dem
ganz vom Fälscher herrührenden ersten Teil von IV auch wieder schöne
Dinge über die Gründungsgeschichte. In Anlehnung an III läßt der
Fälscher auch hier die Gründung Osnabrücks auf Rat und Geheiß
Hadrians I. erfolgen, aus dem einen Privileg dieses Papstes sind jetzt
5chon solche mehrerer, wenn auch noch nicht bestimmt genannter,
Päpste geworden. Ganz neu ist die Angabe, daß Bischof Agilfried von
Lüttich (765—787) die Weihe der Osnabrücker Kirche vorgenommen
habe. Es ist dies zugleich die einzige festere Zeitgrenze, die der
Fälscher für seine Aufstellungen über das Alter des Bistums gibt. Wir
iverden im Schlußkapitel noch zu untersuchen haben, ob der Fälscher
hier frei seine Phantasie walten ließ oder ob er aus alter und brauch-
barer Tradition schöpfte.
^ Sickel, Beiträge z. Diplomatik I, S.-B. der Wiener Akad. 36, 384. Die Formel
lautet: Et ut haec auctoritas nostra firmiorem in dei nomine obtineat stabilitatem,
manu nostra subtus eam roborantes anulo nostro iussimus sigillari. Den Ausdruck
„stabilitas" kann ich in der Korroboration unter Ludwig d. Deutschen überhaupt nicht
belegen, die Partizipialformen „roborantes" und „corroborantes" finden sich nur in den
Fälschungen für Herford M. 1406 und Fulda M. 1504.
' M. 1799, 1824, 1854, 1857, 1874, 1882, 1907, 1925, 1944, 1952. Noch zahl-
reicher sind die Beispiele für den Gebrauch von „stabilitatem" allein im Vordersatz
(M. 1790, 1801, 1809, 1818—1821, 1839, 1881, 1905, 1921, 1940) oder der Partizipial
form „roborantes" allein im Nachsatz (M. 1792, 1861, 1872, 1888, 1908, 1919, 1934,
1938, 1946). In den meisten dieser Diplome ist auch die von Sickel noch be-
anstandete Form „subtus" zu belegen,, die ganze Korroboration also als für die Zeit
Arnolfs vollkommen kanzleigemäß erwiesen.
11
286 M- Tangl
Die Arnolf-Fälschungen (V — VIII). Auch hier wird es siel
empfehlen, zunächst im Zusammenhang festzustellen, auf wie viel
echte Vorlagen die sicher erkennbaren Spuren weisen. Die Rekognitioi
hat die Vielgestaltigkeit früherer Zeit eingebüßt; sie nennt jetzt, voi
Ausnahmefällen abgesehen, Kanzler und Erzkaplan. In unserer Gruppe
sind die beiden Hauptformen vertreten, die sich zeitlich ablösen
Aspertüs (— Ende 892) cancellarius ad vicem Theotmari archicapellan
(V— VII) und Uvichinch cancellarius (893—899) ad vicem Deotmar
archicapellani. Daraus läßt sich zunächst nur feststellen, daß den
Fälscher mindestens je eine echte Vorlage aus der früheren und spä
teren Zeit Arnolfs zur Verfügung stand. Enger ziehen sich die Grenzer
durch Prüfung der Siegel und Datierungen. Bei VI und VIII sind di(
Siegel längst abgefallen, das an VII ist das schöne, Kopf und Büsti
einer Bacchantin darstellende Gemmensiegel Arnolfs, das nur in de
ersten Zeit Arnolfs zur Verwendung kam.^ Das Siegel an V ist ein(
Fälschung; es stimmt mit keiner der bekannten Typen. Die Legendi
ARNOLFVS PIVS REX würde auf das vierte Arnolf-Siegel weisen,^ abe
die Stellung der Legende zum Siegelbilde ist eine ganz andere, und da^
Siegelbild selbst von dem echten ganz verschieden; es zeigt den Könii
ohne Waffen und ohne Stirnkranz. Auch die Maße stimmen nicht
das Siegel an V ist fast rund (44 x 45 mm), das echte Vorbild deut-
lich oval (47 X 42 mm). Dagegen findet sich noch ein abgefallenem
Arnolf-Siegel, das zwar stark beschädigt ist, aber die Identität mit den^
zweiten, meistverwendeten Stempel noch mit Sicherheit erkennen läßt;
Also zwei echte Siegel und eine Fälschung, die aber als Vorlage eir
von den beiden anderen verschiedenes echtes Vorbild (Stempel 4) er-
kennen läßt. Das echte Siegel war wohl bei dem Versuch, es vor
seiner Urkunde abzulösen, in die Brüche gegangen und durch die
wenig geglückte Nachahmung ersetzt worden.
Ein ganz gleichartiges Bild liefern uns die Datierungen. Die in V
stimmt nach Zeitangaben und Itinerar zu einem Aufenthalt Arnolfs in
Frankfurt 889 Oktober 13, und auch die sonst ungewöhnliche Fassung
/// idüum Octobriütn die, indictionum VII ist durchaus kanzleigemäß.
VI hat die Datumzeile wörtlich von V entnommen. Die Datierung von
VIII Data XVH. kl. Aug. anno incarnationis domini DCCCXCV, indiction.
XIII, anno auteni VIII regni Arnolfi piissinii regis; actum Triburie; in
dei nomine amen stimmt in den Zeitangaben, aber nicht zum Itinerar;
^ Mühlbacher, Arnolf 1; Regesten S. XCV. Posse, Taf. 4, 7 hat wie Jostes
das Osnabrücker Siegel abgebildet. Vollständig erhalten noch an M. 1766 (887 Nov. 27,
Or. Chur) und als Fragment, aber sehr scharf ausgeprägt an M. 1769 (888 Jan. 1).
' Mühlbacher S. XCVI, Posse 5, 1, nachweisbar 889—895.
' Mühlbacher S. XCV, Posse 4, 8: nachweisbar 887—893. Jostes XXIV Nr. VI..
Forschungen zu Karolinger Diplomen 287
enn die bekannte Synode und Reichsversammlung zu Tribur fand im
t\ai 795 statt (M. 1905b); der Fälscher müßte also hier willkürlich die
[agesangabe geändert oder nicht einheitliche Datierung mit einem Actum
ribur, aber um zwei Monate verspäteter Beurkundung schon in seiner
[orlage vorgefunden haben. Noch verwickelter ist die Datierung in
'II; die Jahresangaben stimmen wörtlich mit V und VI, dazu aber
itt eine mit ihnen unvereinbare Tages- und Ortsangabe //. Id. Decembr.
ctiim Foracheim. Diese aber weist für sich doch wieder auf eine
chte Spur. Zu Forchheim ist König Arnolf tatsächlich gegen Mitte
)ezember 887 nachweisbar.^
Wir erhalten also, wenn wir vom Itinerar ausgehen, drei brauch-
are Ansätze: Forchheim, 887 Dezember, Frankfurt, 889 Oktober, Tri-
iir, 895 (Mai), die der Fälscher so zutreffend nicht gut erfunden haben
onnte; und dazu passen merkwürdig gut die drei erhaltenen Siegel:
üe Gemme an VII, deren Vorkommen auf die Zeit vom November 887
»is 1. Januar 888 beschränkt ist, zum Aufenthalt in Forchheim, das
2tzt abgefallene, aber echte Siegel (887—893) zu einer Urkunde vom
iahre 889 und das echte, 889—895 nachweisbare Vorbild des ge-
älschten Siegels an V zur Urkunde vom Jahre 895.
Eine neue Stütze erfahren diese Beobachtungen aus der ünter-
uchung der Schrift und des Formulars. V gehört zu jenen Urkunden
inserer Gruppe, bei denen sich die Nachahmung einer echten Vorlage
im sichersten verfolgen läßt. Die Schrift dieser Vorlage von V läßt
ich am besten und in verblüffender Ähnlichkeit wiedererkennen in
lem St. Galler Original M. 1799, aber auch in einer Gruppe anderer
)iplome, in denen auch die, bei der Nachzeichnung allerdings wenig
gelungenen, kümmerlichen Tironischen Noten Engilpero notarius scripsi
't sübscripsi stehen, aber in etwas abweichender Art, als sie Sickel
)ei der Gruppe der von dem Notar Engilpero ganz eigenhändig ge-
Khriebenen Diplome feststellte.^ Besonders gut ist dem Fälscher mit
i j\usnahme der Noten ganz so wie in IV das Eschatokoll geglückt. Im
Stattlichen Monogramm fällt das Fehlen des Vollziehungsstriches auf,
jine Eigentümlichkeit, die wohl ebenso getreu dem Original nachge-
)ildet ist wie die Genitive Iduum und indictionum in der Datierung.
Sicht belegen kann ich an der Hand des gesamten Vergleichsmaterials
ias Unterlassen der Füllung in der C-Form des Chrismons. Für VI ent-
wehrte der Fälscher jeder selbständigen Schriftvorlage, sondern zeichnete
^ * Hinweis auf diese Lösung bereits bei Mühlbacher 1841; mit der Datierung
'orchheim, 887 Dez. 11 besitzen wir ein Originaldiplom für Fulda (M. 1767) und die
verfälschte, aber im Protokoll und wesentlichen Teilen des Textes echte Urkunde
ür Korvey (M. 1768).
' KüiA. VII. 21—22; vgl. ebenda den Text S. 193.
288 M- Tangl
V mit allen seinen Eigentümlichkeiten nochmals nach, wobei aber, c
die echte Vorlage nicht mehr unmittelbar einwirkte, die Eigentümlicl
keiten der eigenen Hand des Fälschers viel stärker hervortraten. Nac
neuem Vorbild ist dann VIII gearbeitet, wie in erster Linie wieder de
Eschatokoll mit dem allerdings ganz mißglückten Rekognitionszeiche
das in Ausführung und Größenverhältnissen stark veränderte iY\on(
gramm und das neue Chrismon beweisen. Aber auch für VII mi]
eine besondere echte Vorlage angenommen werden. Dafür spreche
wieder Chrismon und Rekognitionszeichen, die von V und VIII gleic
stark abweichen, dabei aber doch kanzleigemäße Formen zeigen, de
Monogramm, das dem in V nahe steht, aber den Vollziehungsstric
trägt, und wohl auch das nur in dieser Urkunde vom Fälscher vei
wendete Kürzungszeichen, das die Gestalt einer 8 mit langem Anstrlc
und Auslauf hat; sonst zeigt die Kontextschrift wie in VI wenig fremd
Einwirkung, sondern vielmehr die Eigenart des Fälschers. Zu gar
gleichen Ergebnissen führt die Beachtung des Formulars. Die echt
Vorlage von V enthielt, wie wir gleich sehen werden, eine Bestätigun
der Immunität, die von VIII eine Schenkung oder Besitzbestätiguns
wie aus den Schlußsätzen der Fälschung noch mit ausreichender Sicher
heit zu erkennen ist,^ während in Einleitung und Hauptteil der Urkund
die überwuchernde Fälschung kaum ein Wort von der echten Vorlag
übrig ließ. VI ist im Formular so unoriginell wie in der Schrift. I
VII ist der Kontext ganz vom Fälscher mit Beschlag belegt, Titel un
Korroboration stimmen mit V und VI, und die geringfügigen Abwei
chungen einzelner Worte und Epitheta im EschatokolP würden für siel
allein nicht ausreichen, die Annahme einer eigenen Vorurkunde zi
rechtfertigen, wenn nicht Siegel, Datierung und Schriftbefund vereinig
in demselben Sinne sprächen. Vom Rechtsinhalt dieser dritten Ur
künde ist aber nichts stehen geblieben; denn auch die Schenkung voi
fünf rheinischen Kirchen, die man sonst noch am ehesten dafür an
sprechen könnte, läßt sich, wie wir sehen werden, als echter Bestand
teil nicht verfechten. Es gilt noch, die widerspruchsvolle Datierung ii
VII zu erklären. Die Annahme von nichteinheitlicher Datierung schoi
in der Vorlage ist hier ausgeschlossen, weil das Siegel für die Aus
fertigung der Urkunde noch zu Ende des Jahres 887 spricht. Ei
bleibt dann wohl nur die Erklärung, daß der Fälscher, wie er es ir
III bei der Rekognition liebte, mitten in der Datumzeile von der Be-
nutzung der einen Vorlage zur anderen übersprang.
^ Vgl. oben Seite 285 meine Ausführungen über die Korroborationsformel. |
* Es sind: „invictissimi" in der Signumzeile statt „piissimi" in V, VI, VIIlj
„Serenissimi regis" in der Datierung statt einfach „regis" in V, VI und „piissim'
regis" in VIII: endlich „in Christi nomine" statt „in dei nomine" in der Apprekation-
Forschungen zu Karolinger Diplomen 289
Auch die vierte Arnolf-Urkunde zeigt Spuren eines einst vorhan-
enen, jetzt aber abgefallenen und verlorenen Siegels. Auf diese Beob-
:htung allein, ohne weitere Anhaltspunkte, etwa den Bestand einer
ierten echten Vorlage anzunehmen, ginge viel zu weit. Der Fälscher
figie an dem Siegel von V, daß er dem Bedarf an diesem Beglaubi-
ungsmittel auch aus eigenem abzuhelfen wußte. Es bleibt also bei
rei echten Vorlagen.
Der Text von V steht über den Trümmern eines echten Arnolf-
'iploms; das beweisen die teilweisen Änderungen, die hier später an
em Dorsualvermerk vorgenommen wurden, wobei aber die Worte Pre-
:ptum Arnulfi regis datum Egilmaro episcopo stehen blieben.^ Im
Jnklang damit steht, daß die Vorderseite des Pergaments sichere
.puren von Rasur zeigt. Das Pergament ist bräunlich und an mehreren
.teilen durchscheinend dünn, vor der ersten Zeile und zwischen den
Porten trinitatis und Arnolfus derselben Zeile sind — man werfe nur
inen Blick auf das Faksimile — deutliche Schriftreste sichtbar, bei
ler Stelle favenie gratia Serenissimus floß infolge der Rauheit des
'ergaments die Tinte. Verblüffend gut sieht dagegen das Eschatokoll
US, obwohl von einem Stehenbleiben der ursprünglichen Schrift auch
lier nicht die Rede ist.
Während wir bei der Prüfung der bisherigen Urkunden fortgesetzt
estzustellen hatten, ob in ihnen überhaupt noch echte Reste verblieben
pder alles durch den Fälscher erfunden und entstellt ist, während wir
'liesem trüben Bild überwuchernder Fälschung später gleich wieder
)egegnen, bedeutet der Inhalt von V einen Lichtblick; denn er ist
iberwiegend oder doch gut zur Hälfte echt und, was für uns fast noch
vichtiger ist, in geschlossenen Teilen echt. Die Urkunde rechtfertigt
laher wenigstens teilweise den guten Leumund, dessen sie sich bei
vVilmans erfreute, der sie überhaupt für echt hielt, und ebenso bei
Sickel, der ihr in den Vorbemerkungen zu DO.L 20 noch mehr traute,
als sie es verdiente.^ Ich muß den Text, der uns für die Sicherung
ier Kritik nach vorne und rückwärts ganz unentbehrlich ist, zunächst
in seinem ersten Teile hier einrücken:'^
' Vgl das Nähere oben S. 257.
! ^ Philippi, im Zutrauen zu V etwas von Wilmans und Sickel abrückend,
Iversah doch im Osnabrücker ÜB. 1, 42 Nr. 54 die Bezeichnung „Fälschung" mit
einem Fragezeichen.
^ Die richtige Scheidung der echten Bestandteile bei Mühlbacher, und zwar
schon in der ersten Auflage der Regesten (1780 = M829). Vgl. ferner Ottenthai
a.a.O. S. 37ff., hier das Verhältnis zu den Nachurkunden richtig festgestellt und
mit Einzelbelegen, auf die ich hier nicht mehr näher eingehe, nachgewiesen, daß V
aus der echten Arnolf-Immunität und dem Diplom XVI entstanden ist, nicht aber
AfU II 19
290 M- Tangl
(Ol In nomine sanctae et individue trinitatis. Arnolfus divin
favente gratia Serenissimus rex. 8i liberalitads nostrae munere Iol
deo dicata mstw relevemus iuvamine atque tuemur, id nobis ad tert
poralem vitam feliciter deducendam et aeternae \ praemia capessenda pn
futurum esse liquido credimus. Quapropter omnium fidelium nostrorw.
praesentium scilicet et futurorum cognoscet industria, qualiter vir vene
rabilis episcopus atque fidelis noster nomine Egilmarus Osnebruggensi
aecclesiae praesul nostram adiit serenitatem, postulans ut eidem aeccli
siae nostraeque ^ libertatis et inmunitatis praeceptum fieri decrevisseniu.
per quod res et potestates, quas ^ suo episcopio iure debentur, firmiii
ac plenius per nostram auctoritatem habere valuisset. Cuius petitionem
ob amorem domini nostri Jesu Christi assensum libenti animo prat
bentes ita fieri decrevimus. Praecipientes ergo iubemus, ut sicut reliqii
sanctae dei aecclesiae, quae per totam Franciam et Saxoniam emmunitati
tuitione ab antecessoribus nostris regibus videlicet et imperatoribus con
sistant, ita praefati praesulis sancta sedes perpetuo per hoc nostrun
praeceptum domino opitulante consistat, ita ut nullus iudex publica
neque alia iudiciaria potestas aut comites vel missi dominici per tem
pora discurrentes in locis illius episcopatus placita habenda^ vel fredi
exigenda vel parafreda aut paratas faciendas vel fideiussores tollenda
aut servos et liddones et eos, qui censum persolvere debent (nee pon
tum restaurare, et ut liceret in eodem loco Osnepruggensi marcatun
habere et monetum publicum instituere et toloneum inde accipere omn
tempore nemini contradicente}, sed liceat praefato venerabili episcopi
suisque successoribus (et suo vocatö) res praedictae ecclesiae cum om
nibus, quae possidet vel deinceps adquisierit, quieto ordine possiden
suasque ecclesias iuste corrigere et eorum causas absque ulla contra
rietate ordinäre atque disponere.
Abgesehen von ganz geringfügigen Verderbungen, die ich an de
Hand der ersten originalen Nachurkunde IX anmerkte, und von dei
Veränderungen, die ich an dem einen zu den Immunitätsbestimmunger
überleitenden Satz bereits oben bei IV verfolgte, liegt uns hier dit
echte und vollständige Immunitätsbestätigung durch König Arnolf vor
denn der Fälscher hat gegen den Schluß wohl wieder aus Eigenen
zugegeben, aber, bis auf wenige Worte, auf die ich noch zurückkomme
in seiner heutigen, verfälschten Gestalt dem Diplom XVI schon als Vorlage gedien
hat. Bündige Zusammenfassung der Ergebnisse durch Stengel, Die Immunitäts
Urkunden der deutschen Könige vom 10.— 12. Jahrhundert, Berl. Diss. 1902, S. 43—44
^ suae nostraeque IX.
' quae IX. '
^ petitioni IX.
* So auch IX statt ad placita habenda.
Forschungen zu Karolinger Diplomen 291
lichts aus seiner Vorlage weggelassen. Bedeutendes Interesse bean-
brucht schon die Arenga. Ich kann sie in keinem der Arnolf-Diplome
achweisen, wohl aber mit kleinen Änderungen an mehreren Ludwigs
. Deutschen, und daß es sich hier um ein Formular aus früherer
eit handelt, erhellt auch daraus, daß die letzte Immunität der For-
lulae imperiales eine ganz ähnliche Arenga aufweist.^ Die Ottonische
nmunität und alle weiteren Nachurkunden entbehren der Arenga, sie
eginnen sogleich mit der Publicatio. Zwingend drängt sich daher der
chluß auf, daß die Arnolf-Immunität die Arenga der Immunitätsver-
nhung Ludwigs d. Deutschen wiederholte, und daß uns daher in V
rhalten' ist, was der Fälscher in IV zugunsten seiner eigenen Kunst-
tücke unterdrückte. Der Beweis, daß der Fälschung IV trotz aller
'erzerrung doch eine echte Immunität Ludwigs d. Deutschen zugrunde
iig, ist damit wohl abgeschlossen. Zum Schluß übte der Fälscher
jllerdings auch in V seine Künste. Er griff wie bei I und 11 — auch
iier die Einheitlichkeit der Mache verratend — zu der Urkunde, die
lun einmal zu seinem Lieblingshandwerkzeug gehörte, zu XVL Er
ückte aus dieser Sammelbestätigung die Verleihung von Markt und
Aünze ein, die als Sondervergünstigung erst in X hinzugekommen war,
ind fügte die in XVI erstmalig zugestandene Befreiung vom Brücken-
)au bei. Daß es bei diesem Einschub in V mit rechten Dingen nicht
:uging, ergibt sich nicht nur daraus, daß die Nachurkunde IX davon
loch nichts weiß, sondern mehr noch aus der vollständigen Entgleisung
m Satzgefüge und den gehäuften Fehlern, von denen der Einschub
legleitet war.''^ Zum Opfer gefallen sind diesem Eingriff nach et eos
jui censiim persolvere debent die Worte, die sich aus IX und XVI als
sicherer Besitz feststellen lassen quod muntscat vocatur.
Nach diesen Bestimmungen der Immunität ist ihre Bestätigung in
X zu Ende, nicht so der Fälscher. Er führt in V seinen Text mit
(nsuper weiter, — einem bösen Fälscherwort, einem fast sicheren An-
zeichen, daß der Fälscher Neues und übles im Schilde führt. Unserem
falscher war der Gedanke gekommen, sich, von seinen Vorlagen ganz
abirrend, wieder seinem Lieblingsthema, der Zehntfrage, zuzuwenden,
und er fuhr nun also fort: Insuper etiam ad nostrae celsitudinis auc-
toritatem isdem praefatus episcopus se reclamavit magnam sibi destitu-
tionem habere de decimis, quae ad Osnepruggensem ecclesiam in honore
^ MG. Formulae ed. Zeumer p. 306 Nr. 28. Diese Erkenntnis bereits verwertet
in der zweiten Auflage von Mühlbachers Regesten unter Nr. 1829.
^ Man beachte nur oben im Text von V das fürchterliche Anakolut nach „qui
censum persolvere debent" und unmittelbar danach die Formen „pontum, marcatum,
monetum publicum, toloneum", dagegen die korrekte Fügung in XVI „ad pontem
restaurandum aut corrigendum unquam tempore constringendos ingredi audeant".
19^=
292 ^' Tangl
sancti Petri principis apostolorum consecratam servire debuissent, ma
xima scilicet ex quantitate et numero partes ad eandem sedem ex de
bito pertinentes inter monachos Hmilienses et inter puellas fferiuor
denses nostrorum antecessorum conspiramine divisas esse,^ ob hocqiu
maxime se nulluni iter exercitale extra eiusdem episcopatus confink
posse perficere. Ideoque pro hac causa eins reclamationi consensun
dedinius, ita ut, nisi Dani ad delendani Christianitatem sui episcopi
naves ascenderent, nulluni se suosque ad aliuni exercitale iter debiu
conscensuros nee aliquod de regali servitio secum haberi, sed eius so
luniniodo pastoralitati Christianitatis animadversio valida persistat, a
etiam nos nostrosque predecessores divinae pietati eius cotidiana com
mendet intercessio; sicque firma ratione stabilitum est, ut cuncti ein
Süccessores haec eadem nobis sanccita pari modo sortiti fuerint
Von diesen Bestimmungen könnte, wie Brandi (S. 133) richtii
herausfühlte, nur eine vielleicht echt sein, die Einschränkung der Heer
bannpflicht; die Klausel unbedingten Aufgebots zur Abwehr der Nor
mannennot scheint sogar der Zeit Arnolfs aufs beste zu entsprechen
Auch darin, daß die späteren Privilegien des 10. und 11. Jahrhundert:
diese Bestimmung nicht enthalten, ist hier eine ausreichende Wider
legung nicht zu finden. Zu den ganz wenigen Kirchen, die diese;
Vorrecht seit Ludwig d. Fr. ausdrücklich genossen, gehörte Osnabrück;
Gegner, das Kloster Korvey; aber auch ihm ist dieses Vorrecht sei
dem 10. Jahrhundert weder in Einzelurkunden noch in Sammelprivi
legien wieder verbrieft worden.^ Bei näherem Zusehen ergeben siel
aber doch die schwersten Bedenken. Aus der Karolingerzeit kennet
wir Fälle, daß Klöstern entweder, wie in dem bekannten Kapitulan
Ludwigs d. Fr.,^ nach ganzen Gruppen oder in — höchst seltenen -
Sonderverleihungen ^ einzeln eine solche Befreiung oder Einschränkung
zugestanden wurde, aber die Ausnahmefälle für die Bistümer Wormr
und Hildesheim tragen doch etwas anderen Charakter; hier wird zwa
^ Dieser Satz, wie schon Brandi S. 133 nachwies, in starkem, teilweise wört
lichem Anschluß an die Querimonia Egilmari.
^ Einschränkung der Heerbannpflicht war Korvey durch Einzelverleihun^
Ludwigs d. Fr. zugestanden worden (Die Urkunde selbst nicht erhalten, wohl aber ali
Ausführungsbestimmung das Originalmandat M. 924). Als Einzelverleihung unte
weiterer Einschränkung erneuert unter Karl III. M. 1749, als Anhang zur Immunitä
zum erstenmal unter Arnolf M. 1768 (ich halte hier Erben s Auffassung, Mitteil, d
Instituts f. österr. G.-F. 12, 50 gegen Mühlbacher für zutreffend), bestätigt durcl
Ludwig d. Kind, M. 1990 (vgl. auch das Originalmandat Arnolfs M. 1932, KüiA. I. 7")
' MG. Capitul. 1, 350—351.
* Ludwig d. Fr. M'. 929 für Kempten (Or.) Arnolf für Werden, M. 18Ö1, Fälschung
Zuverlässigkeit dieses Satzes zweifelhaft, aber nicht ausgeschlossen; außerden
Ludwig d. Fr. M. 843 für St. Maixent bei Poitiers und M. 943 für Aniane.
Forschungen zu Karolinger Diplomen 293
jen Grafen das Heerbannrecht über die Hintersassen des bischöflichen
'nmunitätsgebietes genommen, dafür aber dem Bischof die Pflicht
Liferlegt, auf den Ruf des Königs selbst seine Mannen zu führen.^
azu gesellen sich formale Bedenken schwerster Art. Die Fassung
,^r wenigen Heerbann -Befreiungen ist in der Hauptsache ziemlich
liststehend, einfach und klar, in hostem ire oder in expeditionem ire
ind sie ständig wiederkehrende Schlagworte. Ihnen gegenüber ist
er Wortschwall in V nulluni se suosque ad alium exercitale iter
kbite conscensuros unerhört und steht auf gleicher Tiefe mit der in
iner Königsurkunde höchst wunderlichen Behauptung nostromm ante-
essorum conspiramine und dem an Geschraubtheit und Unklarheit
aum zu überbietenden Nachsatz sed et eius solummodo pastoralitati
^hristianitatis animadversio valida persistat} Wir müßten also an-
ehmen, daß uns hier aus der ganzen Karolingerzeit die einzige, dabei
her doch zuverlässige Heerbannbefreiung für einen Bischof erhalten sei,
her in so entstellter Fassung, daß wir uns vom Standpunkt formaler
md sachlicher Kritik gerade noch für zwei Worte, iter und Dani, ein-
letzen könnten. Da drängt sich doch die andere Entscheidung fast
vvingend auf, daß die ganze Stelle vom Fälscher erfunden und die
iormannenklausel auf Grund seiner historischen Kenntnis, die er auch
onst zeigt, eingefügt ist und mit einem Geschick, von dem er noch
)essere Proben lieferte. Ausschlaggebend ist wohl auch die üble Ver-
[uickung mit der Zehntfrage.
Wir müssen uns hier nochmals die tatsächlichen Vorgänge ver-
gegenwärtigen, wie sie uns in der Querimonia Egilmari geschildert
i^erden. Bischof Egilmar gedachte sein kanonisches Visitationsrecht
:u nützen, um die Grundlage anzufechten, aus der Korveys Zehnt-
)ezüge im friesischen Nordland flössen, die Pastoration, in der sich
lach seiner Aussage das Kloster und die von diesem bestellten Pfarrer
schwerster Verfehlungen schuldig gemacht haben sollten.^ Doch damit
lam er übel an. Die Mönche, mächtiger Fürsprache und durch sie
' Pippin DK. 20 = Ludwig d. Fr. M. 536 für Worms, DH.II. 256B (nach karolin-
;ischer Vorlage) für Hildesheim, dazu käme M. 928 für tiamburg; aber diese Urkunde
st eine grobe Fälschung, und selbst sie erkennt die Befreiung von der Heerbann-
)flicht nicht dem Bistum als solchem, sondern nur einem der Hamburger Kirche
geschenkten Kloster zu.
^ In VI lautet die entsprechende Stelle: sed omnia eidem aecclesiae pertinentia
MUS solummodo pastoralitati integre utenda permaneant,
^ Philippi, Osnabr. ÜB. 1,55: cum... inter varias negligentias, quas perlongum
ist enucleare, plures ecclesias inconsecratas, aliquantas eciam homicidiis perpetratis
nfectas variisque spurcitiis et flagitiis minime purgatas reperissem, in quibus predic-
:orum monasteriorum subiugati de plaga occidentali advenientes presbiteri ignoti,
ie quorum consecratione ambigimus, officia celebrant, ne ibi divina misteria ab ipsis
:elebrarentur, inhibendo interdixi.
294 ^' Tangl
der Stellungnahme des Königs sicher, ziehen ihn des Bruches alte
königlicher Privilegien und damit der infidelitas regis. Nicht als Kläger
sondern selbst als Beklagter erschien er vor der Synode, die unte
dem Vorsitz des Erzbischofs Willibert von Köln und in Anwesenhei
von 9 Bischöfen zusammentrat. Unter dem Hochdruck seiner Gegner
wurde ein Eingehen auf seine eigenen Beschwerden rundweg abgelehnt
und ihm bei königlicher Ungnade aufgetragen, in der Zehntfrage um
allen anderen Dingen alles so zu lassen, wie er es vorgefunden habe.
Und nun nehmen wir uns im Zusammenhang die Fälschungen
V— VIII vor. Brandi fand (S. 131), daß sie sich vielfach widersprecher
Tatsächlich decken sich ihre Aussagen keineswegs, aber der Unter
schied gipfelt nicht im Widerspruch, sondern in der Steigerung:
V: Die üble Lage Osnabrücks in der Zehntfrage wird anerkannt
ohne daran etwas zu ändern oder eine Änderung für die Zukunft ii
Aussicht zu stellen; in Anbetracht der Notlage des Bistums wird abe
Einschränkung der Heerbannpflicht gewährt.
VI: Der König bekennt (am gleichen Tage!) sein durch Rechts
Verweigerung bisher begangenes Unrecht und verspricht Abhilfe fü
die Zukunft.^ Auch hier wird Befreiung von der Heerbannpflicht um
jeglichem Königsdienst gewährt, es sei denn, daß der Bischof wiede
in den Besitz seiner Zehnten gelangte.^
VII: (zwei Monate später) der König, der bis dahin der wieder
holten Klage Egilmars durch den Hinweis ausgewichen war, daß er ii
der Sache nicht ohne päpstliche Entscheidung vorgehen könne, bring
sie endlich auf einem Hoftag zur Verhandlung. Die Entscheidung fäl
zugunsten Osnabrücks, dem nunmehr die früher an Korvey und Herforc
vergabten Zehnten zugesprochen werden.^
^ At illi scientes voluntatem principis et quorundam comitum.
^ lusticia michi denegata est. Sed ne hoc quidem impetrare quivi, ut accusa
tores in presentia exhiberentur et causa recte examinaretur.
^ lussus sum ab eo, si eius gratiam vellem habere propitiam eiusque potestat
non contraire, ut hec et in decimis et reliquis huiuscemodi negociis querulosis omnij
permitterem fore sicut inveni.
* Peccatis nostris exigentibus iustitiam a nobis hucusque sibi denegatam con-;
fitentes nullam posthac super hac re contrarietatem sibi inferre vel alicui con-
sentire ut faciat promittimus; und an späterer Stelle: qui in eandem aecclesian-j
peccaverimus. 1
^ Nisi decimas aecclesiae suae recipiat. |
® Concedimus etiam eidem episcopo pro eius sanctissima apud deum pro nobii
intercessione decimas iam diu inter monachos Huxilienses et puellas tierluordensej
iurgioso et iniusto antecessorum nostrorum conspiramine (diese Verstärkung dei
ohnedies hinreichend kräftigen Worte von V durch die Beifügung von „iurgioso el
iniusto" war schon in VI eingetreten) divisas in suam episcopalem potestatem re
cipere nemine contradicente.
Forschungen zu Karolinger Diplomen 295
VIII: (6 Jahre später) Anknüpfung an die Entscheidung von VII.
>a die Gegner über Vergewaltigung klagen, während der König noch-
lals erklärt, nur zu lange dem wahren Rechte widerstrebt zu haben,
ird die Angelegenheit auf der Synode von Tribur neuerdings ver-
indelt und durch den Spruch der Bischöfe und Fürsten endgiltig zu-
unsten Osnabrücks entschieden. In gleichem Sinne waren früher
chon die Päpste Formosus und Stephan eingeschritten.^
In dieser Aufeinanderfolge liegt weniger Widerspruch als das ein-
leitliche System einer, wie man nicht leugnen kann, wirksam durch-
:eführten Steigerung.
Diese Karolinger, Ludwig d. Deutsche- und Arnolf, machen einen
.äuterungsprozeß durch, der sie von anfänglicher Gleichgiltigkeit, ja
\irteinahme gegen Osnabrück Schritt für Schritt erst einer Anhörung
;einer Klagen und Erwägung seiner Ansprüche und endlich einer An-
erkennung seines guten Rechtes zudrängt, so daß sie mit dieser
.äuterung leuchtende Vorbilder für die Gewinnung Heinrichs IV. ab-
leben müssen. Die Heerbannklausel aber bringt sich um den letzten
^est von Glaubwürdigkeit, wenn wir sie als Tauschware verwendet
sehen. Sie wird von Arnolf erst bedingungslos zugestanden, dann bis
>M einer etwaigen Wendung in der Zehntenfrage aufrecht erhalten und,
als diese Wendung — nach den Fälschungen -— eintrat, fallen gelassen.
per Fälscher behielt damit die Waffe in der Hand, im Falle starken
Widerstandes in der Hauptfrage auf ein Wiederaufleben dieser Ver-
günstigung zu dringen und damit neuen Druck auf die Entschließung
des Königs auszuüben.
Es erübrigt nur noch, den Aufbau und sonstigen Inhalt der Ur-
kunden VI — VIII näher zu verfolgen. Gesamtrasur ist in VI nicht
sicher zu erkennen. Was in Zeile 6 und 13 wie Spuren früherer
Schrift aussieht, sind Schriftabdrücke, die beim Zusammenfalten des
Pergaments entstanden. Das bezeugen die nach umgekehrter Richtung
verlaufenden Oberschäfte; im Spiegel gesehen, lassen sich einzelne
Buchstaben noch deutlich erkennen. Aber das Pergament ist doch
rauh und an vielen Stellen durchscheinend dünn, und über derSignum-
und Rekognitionszeile ist sicher eine Schriftzeile getilgt. Die Tinte ist,
so nahe VI in Schrift und Inhalt mit V zusammenhängt, nicht dieselbe
wie in dieser Fälschung, sondern etwas heller. Hierin herrscht über-
[ ^ Die Reiiienfolge falsch; gemeint kann wohl nur Stephan V. sein (885—891),
(derselbe an den Egilmars Querimonia gerichtet war. Sein Schreiben, soweit erhalten
(Philippi, Osnabrücker ÜB. 1, 56), ausweichend und nichtssagend; von seinem Nach-
folger Formosus (891—896) eine Entscheidung so wenig bekannt, wie von anderen
Päpsten, von deren Privilegien der Fälscher spricht.
' Nach Fälschung IV.
I
296 M- Tangl
haupt ständiger Wechsel; am hellsten ist die Tinte in I und II, faj
schwarzbraun dagegen in III; die Arnolf-Urkunden zeichnen sich bij
auf kleine Schwankungen durch gleichmäßige, schöne sepiabraune Tint]
aus; die in IV ist dagegen wieder etwas heller. Der Fälscher hat di|
Mischung wohl absichtlich des öfteren gewechselt. Für Protokoll unl
Eschatokoll und ebenso für die erweiterte und entstellte Immunität isl
V fast wörtlich ausgeschrieben, nur gegen den Schluß ist Einzelne]
unter Zurückgehen auf XVI vollständiger als in V;^ wieder bezeichnen«^
für den Fälscher, der sich bei keiner seiner Urkunden auf eine Vor]
läge ganz festlegt, sondern sprungweise und oft nur für wenige Wort
andere Behelfe heranzieht. Vor der Immunitätsformel findet sich eii]
Einschub, der mit der Narratio in IV manches gemein hat, darunte
die Nachricht von der Weihe der Osnabrücker Kirche durch den Bischoj
Agilfried von Lüttich. Eingeleitet sind beide Sätze durch das Schlag,
wort querimoniam faciens, das hier wie dort aus XIX entlehnt ist.
Wie in I und II werden als Schutzheilige auch Crispinus und Crispinl-
anus genannt. Neu sind in VI außer der schon erwähnten, über \
teilweise hinausgehenden Entscheidung in der Zehntfrage nur noch dh
Worte et interventum amantissimae nostrae prolis Hludouuiä. Nu)
schade, daß dieser Intervenient, Ludwig d. Kind, erst 4 Jahre nacl-
dem Datum der Urkunde geboren wurde. Die Fassung dieser unmögi
liehen Intervention ist, wie Brandi erkannte, wörtlich der Immunitäts-
bestätigung Konrads IL vom Jahre 1028 entnommen; XVIII: ob inter-
ventum . . . amantissimae nostrae prolis Heinrici, zu den vielen anderer
ein neuer Beweis dafür, daß die Fälschungen nicht im 10. Jahrhunden
entstanden sein können.
Bei VII lassen sich bestimmte Spuren von Rasur nicht nachweisen;
außer daß auch hier das an manchen Stellen durchscheinende Perga-
ment die Glätte und Weiße der Originaldiplome des 10. und 11. Jahr^
hunderts vermissen läßt. Inhaltlich ist diese Urkunde eine Verarbeitung
von VI und IV. Die Priorität von IV ergibt sich dabei außer formalen
Anhaltspunkten, deren ich schon gedachte, aus Abweichungen in der:
Narratio. Nach IV erklärt der König sich nicht für berechtigt, den'
* Schon von Brandi S, 133 bemerkt und kurz erklärt. V: aut servos et lid-
dones et eos, qui censum persolvere debent. VI: aut servos et liddones et ceteros
et eos qui censum persolvere debent, quod muntscat vocant. XVI: aut servos vel
liberos sive liddones et caeteros et eos qui censum persolvere debent, quod munt-
scat vocatur. V: nee pontum restaurare. VI: nee pontem restaurare aut corrigere.l
XVI: ad pontem restaurandum aut corrigendum. \
^ XIX: querimoniam faciens de Bernhardo comite. IV: querimoniam faciens
episcopium suum a Cobbone comite etc. VI: querimoniam faciens se suosque multa^
mala et varias oppressiones de iudicibus illius regionis pati et tolerare; in IV durch;
Nennung des Grafen die nähere Beziehung zu XIX.
Forschungen zu Karolinger Diplomen 297
:ehntstreit allein zu entscheiden, sondern legt die Frage einem Hoftag
u Frankfurt vor, zu dem vor allem auch die streitenden Parteien zur
/oTbringung ihrer Beweise geladen werden.^ Nach VII hält sich der
(önig ohne päpstliche Entscheidung in der Frage nicht für zuständig,
)eruft aber dann Parteien und Fürsten zum Hoftag.^ Es ist klar, daß
1er einheitliche und logisch richtige Gedankengang hier in IV vorliegt,
v'ährend er in VII durch das Hereinziehen des Papstes geradezu durch-
)rochen wird. Der Fälscher, der seine Sache ja auch von dem päpst-
ichen Forum führte, hatte hier eben einen neuen Anknüpfungspunkt
i^ntdeckt. Die Angaben über die Gründung Osnabrücks werden wieder
iius IV übernommen aber durch die Berufung auf Privilegien der Päpste
.cos III., Paschais I., Eugens IL und Gregors IV. bereichert. Nachdem
vir die Gepflogenheit unseres Fälschers, in der nachfolgenden Urkunde
mmer etwas mehr und etwas Neues gegenüber den vorhergehenden
'u sagen, an einer ganzen Reihe von Beispielen verfolgt haben, werden
mr nicht zweifeln, daß auch hier das Fortschreiten so liegt: III: Pri-
l/ileg Hadrians I., IV: Privilegien von Päpsten, VII: Privilegien von vier
genannten Päpsten,^ und nicht mit Brandi (S. 130) in IV eine Ver-
kürzung und Verallgemeinerung von VII sehen. Als vollkommenes
5igengut von VII erscheint gegen Schluß der Urkunde die Schenkung
i^on fünf rheinischen Kirchen: Boppart a. Rh., Müffendorf a. Rh. ober-
ihalb Bonn, Düren, Kirchberg bei Jülich und Froitzheim zwischen Düren
|Lind Zülpich.^ Das Mißtrauen, das dieser Schenkung längst entgegen-
V gebracht wurde, hat Forst in den letzten Jahren noch verstärkt.^ Bis
; j ^ IV: Cuius reclamationi assensum nostro solo consilio prebere non censentes
i iprefato episcopo suisque adversariis Franconofort, ubi principibus nostris con-
I ivenire statutum est, ut et ipsi venirent, precepimus.
I '' Cuius reclamationi quamvis sepius iteratae assentire renuentes, talia posse
sabsque apostolicae sedis auctoritate diiudicare vel determinare nos excusavimus.
jSed tandem ante nos veniendi eidem episcopo suisque adversariis diem et locum
ijstatuimus et muttos illuc nostri regni principes (Reichsfürsten! über die ünmöglich-
; jkeit dieses Ausdruckes für das Q.Jahrhundert vgl. Ficker, Vom Reichsfürstenstand,
i S. 43) scilicet archiepiscopos episcopos duces comites ceterosque deum timentes
! -clericos et laicos convenire fecimus.
^ III: Adriano papa ita ordinante et iubente et ipsius privilegio roborante.
;IV: et privilegiis paparum ante nos relectis. VII: et postea a quattuör apostolicorum
t -virorum privilegiis scilicet Leonis, Paschalis, Eugenii et Gregorii stabilitam esse et
jomnem hominem eisdem privilegiis ante nos relectis etc. = IV.
* Insuper (wieder das Fälscherschlagwort!) etiam istas V aecclesias pro re-
medio animae nostrae ad suam aecclesiam donamus et tradimus cum omnibus per-
tinentiis earum: unam in Botbarton, aliam in Moffendorp, tertiam in Duron, quartam
in Chirihberge, quintam in Froratesheim. Nachweis der Topographie durch Meyer,
Mitteil. d. histor. Vereins v. Osnabrück 2, 112.
"^ Forst, Die angebliche Schenkung rheinischer Kirchen an das Bistum Osna-
brück durch König Arnulf, Westdeutsche Zeitschr. 19 (ISOO). 174ff.
298 M. Tangl
zum Ausgang des 10. Jahrhunderts sind über den Besitz dieser Kirchen
verschiedene Verfügungen vorhanden, aber keine zugunsten Osnabrücl^s.
Diese Schenkung gehört daher wohl mit zu den frommen Wünschen
des Fälschers.
Wilmans glaubte den tatsächlichen Vorgang feststellen zu können,,
welcher der in VII erwähnten tioftags- und Synodalverhandlung zu-
grunde lag.^ Ein Tag zu Forchheim fand tatsächlich im Mai 890 statt,
und die geistlichen Teilnehmer, unter ihnen der Bischof von Osna-
brück und der Abt von Korvey, sind uns in der Urkunde der Erz-
bischöfe Sunderold von Mainz und Hermann von Köln für das Kloster
Neuenheerse überliefert.^ Diese Erklärung muß jetzt seit dem Bekannt-
werden der Urschrift von VII anders lauten. Die Ortsangabe Forch-
heim verdankte der Fälscher nicht seiner Kenntnis von einer dort ab-
gehaltenen Synode, sondern er entnahm sie, wie ich schon oben S. 287
ausführte, samt der zur Synode von 890 gar nicht stimmenden Tages-
angabe (12. Dezember) einem echten Diplom Arnolfs, das, nach dem
hier verwandten Siegel zu schließen, nur während des Forchheimer
Aufenthaltes im Dezember 887 ausgestellt sein konnte.^
Bei der Urkunde VIII ist Gesamtrasur deutlich erkennbar; das
rauhe und braune Pergament erinnert an das in IV; an der Stelle des
abgefallenen Siegels sind über den Schlußworten der Datierung in dei
nomine noch Reste von Buchstaben oder von Ausläufern eines getilgten
Rekognitionszeichens sichtbar. Zu beachten ist auch, daß das am
Rande vorgestochene ursprüngliche Linienschema nicht eingehalten
ist und daß von den Linien selbst nur noch wenige Spuren vorhanden
sind, bei Annahme von starker Radierung dadurch erklärlich, daß die
ganze obere Pergamentschichte und mit ihr auch die Eindrücke der
blinden Linien verschwanden.
In der Fassung ist VIII selbständiger als VI und VII, aber darum
nicht echter. Gleich die Arenga Qüoniam regum et imperatorum esse
constat officium kann ich in Karolinger Urkunden nicht nachweisen,
^ Kaiserurkunden der Provinz Westfalen 1, 350.
' Wilmans a.a.O. 1, 528, Mühlbacher 1846^
^ Auch an eine Identifizierung der Forchheimer Synode mit der, über deren
feindselige Beschlüsse in der Querimonia Egilmari Klage geführt wird, ist ernstlich-
nicht zu denken, obwohl die Namen von sieben Teilnehmern (den Bischöfen von
Würzburg, Utrecht, Minden, Speyer, Hildesheim, Verden, Halberstadt und Paderborn)
übereinstimmen. In der Querimonia ist außerdem nur noch der Bischof von Utrecht
genannt, in der Urkunde von Neuenheerse aber auch der Erzbischof von Mainz und
die Bischöfe von Eichstädt, Hamburg, Verdun, Passau und Münster. Entscheidend
aber ist, daß die in der Querimonia genannte Synode noch der Erzbischof Willibert
von Köln (f 889 Sept. 11) leitete, während in der Forchheimer bereits sein Nach-
folger Hermann genannt ist.
Forschungen zu Karolinger Diplomen 299
and die Art, wie sie hier angewendet ist, die Arenga in einem Vorder-
!5atz zusammenzudrängen, als dessen Nachsatz gleich die Publicatio
^ich anschließt, ist dem Kanzleibrauch sonst ganz fremd. Die eigene
Erfindung des Fälschers setzte hier wohl gleich bei den ersten Worten
^in. Den einen wesentlichen Teil des Rechtsinhaltes habe ich schon
besprochen. Er betrifft die Erneuerung der zugunsten Osnabrücks
gefallenen Entscheidung in der Zehntenfrage auf Grund neuer und
sorgsamer Verhandlung auf einer Synode zu Tribun Die Synode, die
hier im Mai 895 abgehalten wurde, war die bekannteste und wichtigste
{im ausgehenden 9. Jahrhundert.^ Es wäre daher sehr wohl denkbar,
'daß der Fälscher noch im 11. Jahrhundert von ihr Kenntnis hatte.
Wahrscheinlicher aber ist die Erklärung, daß er die Ort- und Zeit-
angaben seiner echten Vorlage (o. S. 286 — 287), die nicht ein Synodal-
protokoll, sondern, wie wir gleich sehen werden, eine Schenkungs-
jurkunde war, entlehnte, und daß die im Interesse der Osnabrücker
Zehnten sich abmühende Synode seine Erfindung ist.
Dem übrigen Inhalt der Urkunde kommen wir am besten bei,
wenn wir zunächst ihre echte Vorlage feststellen. Schon oben S. 285
bemerkte ich, daß die in IV und VIII gleichlautend verwendete Korro-
boration gerade für Arnolfs Zeit kanzleimäßig ist. Aber auch ein gut
Stück dessen, was ihr unmittelbar vorangeht, läßt sich bis auf gering-
fügige Veränderungen und bis auf einen offenkundigen Einschub, den
ich durch gebrochene Klammern ausscheide, als Bestandteil einer echten
'Arnolf-Ürkunde erkennen: totum ex integro in ius et dominadonem
principalis ecclesiae eiusdeni episcopiP in honore sancti Petri dedicatae
tradidimus atque contülimus cum famulis et mancipiis terris cultis et
incültis agris pascuis silvis aquis aquarumque decursibus et omnibus
rebus ad easdem res rite pertinentibus et ipsi episcopo suisque succes-
^ Mühlbacher 1905^ die umfangreichen Canones der Triburer Synode MG.
Capitui. 2, 196 ff.; als letzter in der Reihe der 22 anwesenden Bischöfe auch Egilmar
von Osnabrück (a. a. 0. S. 246).
^ Die Stelle ist wahrscheinlich überarbeitet, statt der einfacheren Wendung
dominationem eiusdem ecclesiae in honore etc.; aber so sicher abzulehnen, wie
Wilmans 1, 358 meinte, der „principalis ecclesia" = Domkirche für das 9. Jahr-
hundert als unzulässig erklärte, ist sie keineswegs. Die Stelle in DH. II. 256 B für
Hildesheim, in der sich die Worte „de iure principalis aecclesiae" finden, stammt
wohl mit Sicherheit nicht aus der sonst als Vorlage benutzten Immunität Lud-
wigs d. Fr., sondern ist eigene Zugabe des Schreibers GB. (vgl. Bresslau, Vor-
bemerkung MG. DD. 3, 297 — 298); aber dann bleibt immer noch die Immunität
j Ludwigs d. Kindes für Halberstadt, M. 2000, Or. Faks. KüiA. I, 13 „ubi principalis
I episcopii sui sedes est", um wenigstens für den Ausgang der Karolingerzeit dem
I Worte volle Deckung zu geben, um so mehr als eine vielleicht schon gleichlautende
' Vorurkunde verloren sein dürfte.
300 ^- Tangl
soribüs cum omni utilitate sui arbitrio et disposidone aetemaliter fru
endum decrevimus. lussimus quoque hoc praesens nostrae largitiom
exinde conscribi et renovari praeceptum, per quod volumus firmiterqu
iübemus, ut iamdictus episcopus suique successores (decimas sui epk
copii ceterasquey res suae aecclesiae per omnia labentis mundi tempon
quiete utendas possideant. Die Pertinenzformel, die in solcher Weis
nur bei Übertragung von Besitz verwendet wird, und die Schlagwort
tradidiniüs atque contulimus, largitionis praeceptum sprechen überein
stimmend mit voller Sicherheit dafür, daß der Rechtsinhalt dieser ür
künde eine Schenkung oder die Bestätigung einer solchen betraf
Darüber hinaus aber noch einen sicheren Schritt zu wagen, das Rechts
Objekt dieser Schenkung und ihre besonderen Bestimmungen festzu
stellen, ist uns bei der üblen Verfassung, in der sich der ganze Haupt
teil der Urkunde durch die Schuld des Fälschers befindet, leider ver
sagt. Aus dem oben mitgeteilten Schluß der Urkunde ist die Herein
Ziehung der Zehnten wohl auszuscheiden; doch weise ich unten nach
daß eine Verfügung über die Frohnhofzehnten, vielleicht in besondere
Urkunde, bestanden haben muß. Nur mit Vorsicht wird dann noch zi
erörtern sein, ob bestimmte Worte aus der Vorlage entnommen sein unc
in welchem Zusammenhang sie dort gestanden haben könnten. Zu
nächst die Namen der beiden Grafen Allo und Hermann. Bekannte
Persönlichkeiten waren es nicht; Allo vermag ich sonst überhaupt nich
nachzuweisen, und bei Hermann bleibt es zweifelhaft, ob er identisc
ist mit dem Grafen Hermann, der 18 Jahre später in DK.I. 16 al
Intervenient für das Kloster Meschede erscheint. Ich möchte doc
annehmen, daß der Fälscher die beiden Namen in der echten Urkunde
vorgefunden hat; nur können sie dort unmöglich in dem sachlicher
Zusammenhang gestanden haben, in den er sie in seinem MachwerW
brachte: beide zunächst als Begünstiger der Klöster und Widersacher
Osnabrücks,^ während dann im zweiten Teil der Urkunde der durch
den Spruch der Triburer Synode rasch und gründlich bekehrte Alle
selbst seine Zustimmung gibt, daß „seine Grafschaften und Lehen" (!);
an Osnabrück geschenkt werden.^ Da ihre Nennung als Intervenienten'
im Arnolf-Diplom sehr unwahrscheinlich ist, bleibt eigentlich nur die
^ Vgl. conscribi et renovari praeceptum.
^ VIII: namque abbas et abbatissa et sui H[er]mannus et Allo comites i[psis]
faventes et nondum ab errore eessantes nos, quod inde (durch die Entscheidung
in VII) actum est, potestate magis quam iusticia aegisse . . . non veraces incusabant.
^ VIII: Insuper etiam ad eundem episcopatum comitatus ceteraque beneficia;
iamdicti AlIon[is ipsius] collaudatione . . . tradidimus. Die Ergänzung der Lücke inj
VIII ist durch die Raumverhältnisse und durch die noch vorhandenen Reste der;
Unterlängen ganz gesichert. i
Forschungen zu Karolinger Diplomen 301
mnahme, daß die Einzelobjekte der Schenkung als in comitatu fier-
'lanni (Allonis) comitis gelegen bezeichnet waren. Für den Fälscher
her lag der Mißbrauch der Namen zu seinen Zwecken nahe. In der
}ueriinonia Egilmari spielte der Graf Cobbo als fiauptbedränger des
jistums eine große Rolle und am Ende der ürkundenreihe erschien
n dem vom Fälscher wiederholt benutzten Diplom XIX der Graf Bern-
lard als Widersacher des Bischofs in der Frage des Gerichtstandes
1er freien Kirchenleute. Das lockte den Fälscher, auch für die Zwischen-
eit die bösen Grafen als die Sündenböcke hinzustellen, welche die
)urchführung der für Osnabrück längst günstigen Entscheidung in der
'ehntfrage durch ihren hartnäckigen Widerstand verhinderten.
Ähnlich wie bei den Namen der Grafen mag es mit dem Worte
vravuerch stehen. Die rein oberdeutsche Form erklärt sich bei den
•orwiegend bayerischen Kanzleibeamten Arnolfs wie bei dem Schwaben
3enno gleich gut; das volle a weist — hierin hat Jostes sicher Recht —
n erster Linie in Karolingische Zeit; ein Festhalten an der alten Form
äßt sich auch für Bennos Zeit zur Not noch annehmen. Ich wies oben
B. 284f. nach, daß der Fälscher, als er in IV zum erstenmal dieses
Wort gebrauchte, seine erste Vorlage, die echte Immunität Ludwigs
d. Deutschen, bereits verlassen hatte und sich an eine neue Quelle,
iie in VIII benutzte und entstellte Arnolf-Ürkunde, hielt. Die gemein-
pame Verwertung in beiden Fälschungen legt die Vermutung nahe,
,|daß auch hier das Schlagwort schon durch die echte Vorlage gegeben
|(a^ar. Am schwierigsten wohl ist die Frage, was von der Umgebung
und dem Zusammenhang, in dem es steht, als verbürgt anzuerkennen
ist. All zu vertrauenswürdig ist die Fassung nicht; und was der
Bischer in VIII über den oben S. 283 mitgeteilten W^ortlaut von IV
jnoch bringt, die Berufung auf eine nie ergangene Verfügung Papst
Stephans V. und einen ebenso wenig zu belegenden Eintausch dieser
jFrohnhofzehnten für die Klöster gegen den Reichshof Dissen durch
(Ludwig d. Frommen, macht die Sache nicht besser.^ Und doch muß
(gerade hier unbedingt ein echter Kern stecken. Denn die ganz ähn-
jliche Bestimmung steht in der Urkunde Ludwigs d. Deutschen für
IjKorvey, M. 1498: et per hanc conscriptionis nostrae cartam specialiter
\ei concessiim sciatur, ut de dominicatis mansis vel nunc habitis vel
ipost adquirendis a reddendis decimis plenam hoc monasterium habeat
' ^ VIII: ut Stephanus papa diffinivit et litem inter eos iterata institutione diremit,
ita ut monachi et sanctimoniales de singularibus dominicalibus ipsorum, quas [antea
quiete p]ossidebant decimas absque contradictione episcoporum omnino retineant.
Nam ipse bonae memoriae Ludevvicus easdem decimas, ut ipsi ante nos certis
testificati sunt scrip[tis, ipsis cum propjria curte sua Tissene nominata de eodem
episcopatu per cambiatum acquisivit etc. = IV.
302 M- Tangl
inimunitatem, nisi sicut hactenus fuit, ut dentur ad portam monaster
in susceptionem hospitum et peregrinorum. Zwar ist auch diese ü
künde wie ihre Bestätigung durch Arnolf, M. 1768, in der überlieferte
Gestalt unecht. Aber die Zuverlässigkeit des Vorrechtes, daß Korve
Zehntfreiheit von seinen Frohnhöfen genoß, ist durch das wenig spätei
Originaldiplom Konrads I. DK.I- 14 gedeckt. Überhaupt kann ich nid
umhin, mich gegenüber dem zu weit gehenden Mißtrauen Mühlbachei
gegen diese Korveyer Urkunden dem günstigeren urteil Erbens anzi
schließen.^ Der beste Beweis ist aber wohl die Wiederkehr der gar
gleichartigen Bestimmung in den Osnabrücker Fälschungen. D(
Fälscher muß sie in seiner Vorlage bereits vorgefunden haben, uni
er richtete, wie ich schon oben S. 242 ausführte, seine Haltung s
ein, sie auch in seine Machwerke zu übernehmen, um unter Zugestänc
nissen in diesem Punkte seinen Angriff ganz auf die Hauptfrage, di
Pastorationszehnten in großen geschlossenen Gebieten, zu konzentrieret
Es erübrigt noch, auf ein paar Fragen des.Abhängigkeitsverhäll
nisses einzugehen, die Brandi S. 135 zur Sprache brachte. Er sieh
in VIII eine der jüngsten Fälschungen, in der ein Satz aus XIX ers
auf dem Umweg über die Fälschung XIII benutzt ist. Und er he
darin recht, daß die aus XIX entlehnten Worte ut amplius inter ipso
eorumque successores huiusmodi contentio non oriatur in XIII wörtlic.
wiederkehren, während in VIII eine kleine Änderung {eos statt ipsot
und Umstellung (des Wortes amplius) vorgenommen ist: ut huiusmoa
contentio inter eos eorumque successores amplius non oriatur. Abe
das beweist mit Sicherheit nur das eine, daß XIII hier nicht aus VII
schöpft, sondern direkt auf XIX zurückgeht. Es schließt dagegen nich
aus, daß hier der Text beider Fälschungen direkt durch XIX beeinfluß
ist, bei XIII in wörtlicher, bei VIII in etwas freierer Wiedergabe. Um
diese Erklärung liegt dadurch nahe, daß der unmittelbar anschließend»
Satz in VIII und XIII wohl den gleichen, dem Fälscher geläufigen Ge^
danken ausdrückt, über Ableitung des einen Textes aus dem anderer
^ Erben, Die älteren Immunitäten für Werden und Korvey, Mitteil. d. Institut!
f. österr. G.-F. 12, 46 — 54. Zweifellos bleibt dabei noch immer, daß man in Korvey
durch das Trugmittel der Fälschung weiterbaute, aber auf der sicheren Grundlage
die durch tatsächliche Zuwendung solcher Zehnten gegeben war. . Verweisen wil
ich nur darauf, daß sich die Begründung mit der „susceptio hospitum" auch in den
Zehntprivileg Karls d. Gr. für Fulda, DK. 279, findet. Flinter dieser unechten und ir
der Form unmöglichen Verleihung für Abt Ratgar, birgt sich eine echte Zehnturkund(
Karls d. Gr. für Abt Baugulf. Dieser Nachweis, den ich Mitteil. d. Instituts f. österr
G.-F. 20, 244ff. angetreten hatte, ist durch die Untersuchung von Pereis, Die kirch-
lichen Zehnten im Karolingischen Reiche S. 80ff. bestätigt worden, während Mühl-
bacher in der Vorbemerkung zu DK. 279 auch die sachlichen Angaben der Urkunde
verwarf.
1
Forschungen zu Karolinger Diplomen 303
r nichts entscheidet. VIII: sed liceat prefato venerabili episcopo
mas süi episcopii ex integro recipere et quiete possidere nemine
tradicente. XIII: sed liceat eidem episcopo suisque successoribus
\em decimas ceteraque sibi pertinentia quieto ordine possidere et
sas Süi episcopii corrigere ordinäre atque disponere nemine contra-
'ente. Für Feststellung eines Prioritätsverhältnisses ergibt sich hier
rhaupt kein fester Anhalt. Doch lege ich auf diesen Punkt wenig
rt. Ich würde keine Durchbrechung meiner Beweisführung darin
en, wenn sich herausstellte, daß der Fälscher erst dann auf den
anken kam, eine vierte Urkunde auf K. Arnolf zu fälschen, nach-
er die zweite auf Otto I. bereits fertig hatte; nicht gleichgiltig
r ist mir Brandis Versuch auch XXI als die Vorurkunde von VIII
erweisen. Er unternimmt, ihn an der Hand zweier Stellen, deren
e bereits oben S. 237 in Spaltendruck gegenübergestellt ist: Ibi
ütrorumque sententiis auditis etc. Jedermann kann sich an ihr
rzeugen, daß sie auch nicht die Spur eines Beweises für die Pri-
ät von XXI liefert. Auch Brandi gesteht S. 136 selbst zu, daß das
Abhängigkeitsverhältnis hier noch „problematisch bleibt". Den eigent-
chen Beweis soll die folgende Stelle bringen, die ebenfalls oben
:.ijl. 237, unmittelbar an die frühere anschließend, in Spaltendruck zu
2sen ist. Hier soll nach Brandi in VIII „durch die Erweiterung das
\ Moxi ceterorumque sehr ungeschickt geworden" sein.' Da muß ich
och bitten, mir zur Erläuterung dieser Stelle zu folgen. Die Ver-
eihung an Osnabrück erfolgt aus Liebe zu Gott und den Schutzheiligen
lieser Kirche (Petrus, Crispinus, Crispinianus), aus Verehrung {venera-
ione) für Karl d. Gr., den Gründer des Bistums, zum Seelenheil (animae
•em^üf/o) Ludwigs d. Fr. und Karlmanns, des Vaters Arnolfs, und zur
Jündenlösung Arnolfs selbst und seiner übrigen Vorgänger, die sich
leider diese Kirche vergangen haben (pro nostra ceterorumque ante-
'.essorum nostrorum videlicet regum, qui in eandem aecclesiam pecca-
'crimus, liberatione). Ganz scharf sind hier die Karolinger in drei
(ategorien geschieden, entsprechend ihrer verschiedenen Haltung in
Jer Entwicklungsgeschichte des Bistums, wie sie der Fälscher sich und
»einen Lesern zurecht legte. Erst der fromme Stifter, dann Ludwig
1. Fr., der sich der Kirche gütig erwies, und Karlmann von Bayern,
3er wenigstens keine Gelegenheit hatte, das Gegenteil davon zu tun,
la er nicht über Sachsen gebot, und drittens alle Schuldbeladenen,
arnolf selbst und Ludwig d. Deutsche, weil sie sich solange sträubten,
iem Bistum zu seinem Recht zu verhelfen (Adresse: Heinrich IV.), und
udwig IIL und Karl IIL, weil sie sich um die Klagen Osnabrücks
immer im Sinne des Fälschers gedacht) überhaupt nicht kümmerten
Adresse: Konrad IL und Heinrich IIL). Wo sind da, frage ich, ünge-
304 M- Tan gl
schick, Unordnung oder Verwirrung? Viel eher läßt die Fassung von
XXI mit ihrer Zweiteilung die Schärfe der ursprünglichen Scheidung
vermissen.^ Der Versuch, aus dieser Stelle einen Beweis dafür zii'
gewinnen, daß VIII erst aus XXI zurecht gemacht wurde, ist daher
abzulehnen.
Über die beiden Fälschungen auf Otto I. (XI und XIII) kann ich
mich ganz kurz fassen. Bei XI interessieren wesentlich nur Schrift
und Pergament. Es ist die einzige, im Osnabrücker Staatsarchiv ver-
wahrte und seit langem bekannte Urschrift aus der ganzen Gruppe;
Sickel hatte sie in der Vorbemerkung zu DO.I. 212 als eine Nach-
zeichnung eines von der Hand des Schreibers Willigis-B herrührender
Originals erklärt. Entgegen diesem Urteil versuchte Wilhelm Diekamp in
Supplement zum westfälischen ürkundenbuch Nr. 437 die Originalität der"
Urkunde zu verfechten, und auch Philippi schloß sich im Osnabrücker
ÜB. 1, 79, ohne an die Originalität zu glauben, doch soweit dem Urteil
Diekamps an, daß „der Charakter der Schrift ein so gleichmäßiger und
fester ist, daß von einer Nachzeichnung nicht wohl die Rede sein
kann''. Er hielt die Urkunde für die Arbeit einer Kanzleihand des
10. Jahrhunderts und dachte dabei an den ehemaligen Notar und
Kanzler Ottos I. und späteren Bischof von Osnabrück Ludolf. Otten-
thal konnte demgegenüber nach dem Erscheinen der Publikation von
Jostes mit berechtigtem Stolz darauf hinweisen, wie scharf und zu-
treffend Sickel und seine Mitarbeiter beobachtet hatten. Heute kann
kein Zweifel mehr darüber bestehen, daß die Schrift des WB. in XIII
geradezu verblüffend gut und genau, in XI freier und unter stärkerem
Vorwalten der eigenen Eigentümlichkeiten der Fälscherhand nach-
gezeichnet ist.- Bezeichnend aber ist, daß bei der Bearbeitung dieser
Urkunde für die Diplomata wie später durch Diekamp eines übersehen
werden konnte, worauf erst Philippi a. a. 0. 79 aufmerksam machte:
die, wie er sich ausdrückte, „vielen Rasuren". Auch seine weitere
Erläuterung verdient hier wörtlich eingerückt zu werden. „Ein so
großer Teil der Schriftseite ist radiert, daß man fast annehmen möchte,;
es sei überhaupt reskribiert. Die Rasuren sind aber derart energisch;
^ Pro remedio et liberatione gilt hier gleichmäßig für die antecessores eandemj
ecclesiam suis scriptis et preceptis roborantes wie für die reges, qui in eandem
ecclesiam iusticiam sibi denegando peccaverunt. Auf eine Kleinigkeit, so gering-
fügig sie ist, möchte ich doch noch aufmerksam machen. Als Epitheton für Crispinus
und Crispinianus hat VIII gemeinsam mit VI, dessen Priorität vor XXI auch Brandi
vorsieht, „sanctorum", während in XXI dafür „preciosissimorum eingetreten ist.
^ Für alle Einzelheiten verweise ich hier auf die sorgfältigen Ausführungen
Ottenthals, Mitteil. d. Instituts f. österr. G.-F. Erg. -Bd. 6, 31ff. Wiederholung
des tiinweises auf die heranzuziehenden Faksimiles auch oben S. 255 Anm. 1.
Forschungen zu Karolinger Diplomen 305
lurchgeführt, daß selbst nach sorgfältiger Reinigung keine Spur der
jrsprünglichen Schrift sich hat entdecken lassen. Es ist daher auf
jriind dieses Befundes unmöglich zu entscheiden, wie viel und ob
iberhaupt etwas von dem ursprünglich auf dem Pergamente Geschrie-
)enen übrig geblieben ist." Ich erbat mir, nachdem ich die eben auf-
getauchten Osnabrücker Urkunden schon gesehen hatte, die Zusendung
lieses Stückes nach Berlin und konnte bei neuer und durch die
(enntnis der Eigentümlichkeiten der ganzen Gruppe erleichterter Unter-
;uchung bald feststellen, daß von dem ursprünglichen Schriftbestand
iberhaupt nichts übrig geblieben ist. Die ganze Urkunde steht auf
^asur, daher die rauhe Oberfläche und braune Farbe des Pergaments.
)ie ursprüngliche weiße und glatte Oberfläche tritt nur an wenigen
Stellen des äußeren Randes noch hervor, hier aber so, daß sich die
prenzlinie zwischen ursprünglicher und radierter Fläche fast überall
(loch erkennen läßt. Das ursprüngliche Linienschema war ein anderes,
st aber durch das Radieren gründlich beseitigt und nur an den Seiten-
'ändern noch teilweise wahrzunehmen. Diese Geschichte der allmäh-
lichen Erkenntnis der Rasur, die ich bei anderen Stücken der gleichen
Gruppe am eigenen Ich so erlebte, wie sie sich hier auf vier Personen
i^erteilte, ist das glänzendste Zeugnis für die Meisterschaft, mit der
diese Tilgungen vorgenommen wurden und ein ebenso sicheres für
ile Einheit der Fälscherarbeit.
Dem Inhalt nach bietet XI wenig Interesse. Es ist zum größten
Feil eine Wiederholung von VI und VII, eine durch Zehntfrage und
jZehntklage unterbrochene und durch die bekannten Einschübe be-
reicherte Immunität. Dies war, wohl in einer an XII anknüpfenden
Fassung, wie schon Sickel feststellte, der Inhalt der getilgten echten
Urkunde, auf den auch die Reste des teilweise radierten Dorsualver-
merks weisen.^ Das Eschatokoll mit der Rekognition Liutolfus can-
\:ellariüs ad vicem Brunonis archicapellani und die Einzelangaben der
Datierung stimmen zu einem aus Dortmund 960 duni 13 datierten
biplom. Damit verträgt sich aber das festgestellte Schriftmuster nicht;
(denn der Schreiber WB. trat erst 968 in die Kanzlei Ottos I.^ Die Er-
klärung des Zwiespalts hat schon Ottenthai überzeugend gegeben.
Urkunden, deren Schrift man durch Rasur vernichtet hat, kann man
inicht nachzeichnen; daher mußte sich der Fälscher hier nach einer
anderen, späteren Schriftvorlage, der von XIII, umsehen. Wichtig und
' Vgl. oben S. 257-258.
' Vgl. MG. DD. 1, 85 und Mitteil. d. Instituts f. österr. G.-F., Erg.-Bd. 2, 88;
er war dann der meistbeschäftigte Mann in den ersten Jahren Ottos II. und schied
575 aus dem Kanzleidienst aus.
Afu II 20
306 M- Tan gl
von der Kritik schon bemerkt ist noch eine Einzelheit. Der Fälsche
hatte den ganzen zweiten Teil von XI von Quapropter praecipiente
iübemus, ut sicut reliquae sanctae dei aecclesiae etc. an fast gan
wörtlich aus VI abgeschrieben. Er war schon am Ende angelangt um
hatte aus VI auch den Vordersatz der Korroboration wiederholt, al
er — an ganz gleichgiltiger Stelle — plötzlich einen Seitensprung
machte und aus XVI nur die wenigen Worte hoc regiae immunitati
insigne einrückte, um dann wieder genau nach VI und abweichen(
von XVI fortzufahren subter confirmavinms atque sigillo nostro assig
nari iiissimus. Wieder tritt hier die Arbeitsweise des Fälschers, di'
wir nun schon wiederholt verfolgen konnten, scharf hervor, dies^
Neigung, ohne jeden erkennbaren ernsten Grund von der Vorlage ab
zuspringen und für ein Zeichen, eine Wendung oder ein paar Wort
einer anderen zu folgen. Wichtiger noch ist, daß hier die Zufluch
zur Annahme verlorener Zwischenurkunden versagt, daß diese für dit
vier Worte gesondert benutzte Vorlage tatsächlich keine ältere als XV
sein kann; denn es tritt uns gerade in ihnen eine Diktat-Eigentüm-
lichkeit entgegen, die erst durch einen während der Jahre 1000—100-
in der Reichskanzlei tätigen Mann aufgebracht ist.^
Das neue und zutreffende Protokoll von XIII mit der Datierung
Ingelheim, 972 September 17 entspricht einer echten Vorlage, und mi
ihr steht auch das Walten des Schreibers WB. zeitlich in bestem Ein-
klang. Vom Rechtsinhalt dieser Vorlage ist allerdings so gut wi(
nichts übrig geblieben; nur ganz vermutungsweise riet Sickel in dei
Vorbemerkung zu DO.I. 421 auf Erneuerung der Immunität für der
neuen Bischof Ludolf. Was jetzt den wesentlichen Inhalt der Fälschung
ausmacht, erneute Untersuchung der Zehntfrage auf der nach päpst-
licher Mahnung berufenen Synode von Ingelheim und abermalige Zu
erkennung des uneingeschränkten Zehntrechtes an den Bischof, is
ganz des Fälschers Werk. Von bedeutendem Interesse aber ist, da£
ihm hierbei eine weitere Quelle vorlag, wie Sickel vermutete, die heutt
und längst verlorenen Akten der Ingelheimer Synode. Wir wissen aus
dürftigem Quellenzeugnis nur, daß damals nach Ottos Rückkehr au^
Italien im Herbste eine stattlich besuchte Synode zu Ingelheim statt-
fand,^ aber wir kennen ihre Verhandlungen und Beschlüsse nicht unc
würden auch über ihre Teilnehmer nichts wissen, wenn uns nicht ir
XIII ihre reichhaltige Liste überliefert wäre. Wir haben keinen Grunc
ihr zu mißtrauen und begrüßen in ihr eine durch Fälscherfleiß gerettete
' Vgl. die Vorbemerkung Sickels zu DO. I. 212 und Bresslaus zu DH. II. 8.
^ Vgl. hierüber Dumm 1er JB. Ottos I. S. 491.
Forschungen zu Karolinger Diplomen 307
■rkenntnisquelle. Daß die Akten dieser Synode dem Bischof Benno
on Osnabrück zur Verfügung standen, darf nicht Wunder nehmen;
\jenn er sie im Archiv seiner eigenen Kirche nicht fand, wird er bei
iof Gelegenheit gehabt haben, von ihnen Kenntnis zu nehmen. Die
;tattHche Teilnehmerliste, in der wir die Metropoliten von Mainz, Köln,
frier, Salzburg, Hamburg und Magdeburg mit vielen ihrer Suffragane
.esen,^ scheint auch auf die Schilderung der Teilnehmerzahl am Wormser
iioftag von 1077 in XXI abgefärbt zu haben; denn es ist mir zweifel-
laft, wo dort die Mehrzahl der archiepiscopi hergekommen sein soll;
mßer Liemar von Bremen wüßte ich einen sicher anwesenden Erz-
jischof nicht zu nennen.
Damit habe ich die Einzeluntersuchung der 8 erhaltenen Fälschungen
beendigt. Es erhebt sich nur noch die Frage, ob die Tätigkeit des
fälschers nicht weiter reichte und Wesentliches verloren ist. Die
einstige Existenz einer angeblichen Gründungs- und Zirkumskriptions-
Lirkunde Karls d. Gr. habe ich oben S. 277f. bestritten und werde in
meinem Zweifel noch dadurch bestärkt, daß auch von den verschie-
denen Papstprivilegien, mit deren Vorweisung und Verlesung vor Ludwig
d. Deutschen, Arnolf, Otto I. der Fälscher flunkert, keines je wirklich
vorhanden war. Hier mußten Zitate genügen, um die Lücken füllen
m helfen, welche die wirklich angefertigten Fälschungen noch offen
ließen. Der kluge Fälscher wird sich wohl gehütet haben, etwa zur
^Vorlegung bei Gregor VIL Machwerke anzufertigen, die mangels ent-
sprechender Vorlagen viel schlimmer hätten geraten müssen als seine
Königsurkunden. Andererseits habe ich mich oben S. 249 für Annahme
einer verlorenen Fälschung auf den Namen Ottos L ausgesprochen, die
sich auf Verhandlung der Zehntfrage auf einer Synode zu Bonn vom
Jahre 942 (oder 943) bezog. Viel weiter aber gehen die Berufungen in
XXI (oben S. 237): episcopus plurimomm antecessorum nostromm regum
et imperatomm scilicet Arnolfi filUque eius Lvdevvici, fieinrici prinii,
triam Ottonuni cartas ipsorum manibus roboratas et sigillis assignatas
ecclesie sue easdem decimas stabilientes presentavit legendas. Das
gäbe vier weitere Deperdita: Ludwig d. Kind, Heinrich I., Otto IL, Otto III;
und da alle über die Rückgabe der Osnabrücker Zehnten gehandelt
haben sollen, müßten sie Fälschungen gewesen sein gleich den acht
I ^ Verderbt und selten ist die Bezeichnung „Rabulocensis" für Eichstädt; sie
I findet sich aber als „Rubilocensis" bei Otloh Vita S. Wolfkangi, SS. 4, 527, bei
1 Gerhard Vita S. Oudalrici, SS. 4, 400 und als „Rubilonensis" in den Ann. Magde-
burg. SS. 16, 150; ein Otgerus Rubilacensis episcopus erscheint in der Urkunde
, Liutberts von Mainz für Neuenheerse vom Jahre 868, Diekamp, Westfäl. ÜB.,
j Suppl.-Bd. S. 38 Nr. 275.
I 20*
308 M- Tangl
erhaltenen. Als Erster muß ich ganz offen starke Bedenken außen
diese Aufzählung für bare Münze zu nehmen. Ich finde in der über
lieferungsgeschichte der Osnabrücker Urkunden keinen Anhaltspunki
derartige Verluste anzunehmen, die sich, wenn wir noch die angeb
liehe Gründungsurkunde Karls d. Gr. und die Urkunde Ottos I. übe
die Bonner Synode hinzurechnen, fast auf die Hälfte der 1077 vor
gelegten Urkunden hätten erstrecken müssen. Das Osnabrücker Char
tuiar aus dem Ende des 13. Jahrhunderts bringt, wie ich oben S. 18<
bis 190 ausführte, lange nicht alle Urkunden, die wir heute nocl
kennen, aber auch nicht eine einzige aus älterer Zeit, die uns heuti
verloren wäre. Wichtiger noch ist das von Jostes im Anhang seine
Publikation veröffentlichte Inventar des Domarchivs vom Jahre 1415
Hier finden wir alle echten Urkunden verzeichnet bis auf XXI und XXI
und alle Fälschungen bis auf IV,^ aber wieder nicht ein uns heut(
fehlendes Diplom. Die Verluste müßten sich also auf diese bestimmt(
Urkundengruppe und auf ganz kurze Zeit zusammendrängen. Unc
auch aus dem Zusammenhang der Fälschungen selbst ergibt sich keir
Anhaltspunkt. Wir nehmen keine Lücke wahr, wie sie etwa das Aus-
fallen von IV, V oder VII unbedingt reißen würde; XI knüpft unmittelbai
an VI und VII an, die Texte der verlorenen Urkunden Ludwigs de^
Kindes und Heinrichs I. müßten daher merkwürdig unoriginell geweser
sein und die Sache des Fälschers gar nicht gefördert haben; doch da^
ist schließlich auch bei XI der Fall; wenn die gesuchten Urkunder
dieser und nicht den früheren des 9. Jahrhunderts glichen, danr
konnten auch noch mehrere ausfallen, ohne im Zusammenhang ver-
mißt zu werden. Der Text von XXI geht an der Hand der erhaltenen
Fälschungen restlos auf, aber wir wissen, daß in ihn auch XI und XIl!
nicht mehr verarbeitet wurden. Viel wichtiger aber ist eine andere
Erwägung. Ich kann nicht vergessen, daß der Verfasser der Empfänger-
ausfertigung XXI derselbe ist, dem wir auch die Fälschungen ver-
danken; und sowenig ich seine Gründungsurkunde Karls d. Gr. und
seine Papstprivilegien von Hadrian I. bis Formosus ernst nehme, so-
wenig glaube ich an die buchstäbliche Wahrheit seiner Zitatenreihe
in XXL
Ich bin damit am Schlüsse dieser Erörterungen angelangt. An
* Jostes, Die Kaiser- und Königsurkunden des Osnabrücker Landes, Folio-
ausgabe S. 18—19 und Sonderausgabe der Texte S. 65—66. Die Identifizierung ist
ganz gesichert, da für das Inventar meist wörtlich die Dorsual vermerke, ältere und
jüngere, abgeschrieben' wurden. Das Fehlen von XXI und XXII braucht nicht auf-
zufallen. Sie lagen wohl bei der Goldbulle XXIII, die als endgiltige und eigentliche
Ausfertigung galt, die auch der Kompilator des Chartulars allein aufnahm.
1
Forschungen zu Karolinger Diplomen 309
jler Einheitlichkeit der Fälschungen in Technik, Schrift und Aufbau
lann ein Zweifel nicht mehr bestehen. Als Entstehungszeit kommt
las 11. Jahrhundert ganz allein in Betracht, und auch hier engen
ich die Grenzen sofort auf zwei Jahrzehnte ein. Die Urkunde Hein-
ichs III. vom Jahre 1051, XIX, die als Quelle für mehrere der Fäl-
chungen benutzt ist, gibt für alle die äußerste Grenze nach oben,
077 aber waren sie alle vorhanden. Da über Benno II. kein Zeugnis
ines schon früher einsetzenden Zehntstreites hinaufführt, kommt die
;eit seit seinem Pontifikatsantritt (1068) allein in Betracht. Als die
};igentlich kritische Zeit darf aber wohl das Jahr 1076—1077 gelten.
)ie Fälschungen sind mit hoher Wahrscheinlichkeit in der Zeit der
/ertreibung Bennos aus Osnabrück und seines längeren Aufenthaltes
)ei Hof entstanden, unter Ausnutzung der Beziehungen zur Reichs-
lanzlei, die sich hier dem Bischof boten.^
Auch bei seiner Persönlichkeit müssen wir noch ein wenig ver-
veilen. Norbert von Iburg hat uns in seiner Vita Bennonis, einer der
luenigen mittelalterlichen Biographien, die es verstanden, ein anschau-
'iches Bild vom ganzen Manne zu entwerfen, treffliches Material
lierzu geliefert. Hochbegabt und gründlich und vielseitig gebildet,
lochstrebend und rastlos tätig, hatte Benno von bescheidenen Anfängen
asch seinen Weg nach oben gefunden. Überzeugter Anhänger Hein-
ichs IV. und in dieser Gesinnung niemals lässig und schwankend,
prachte er doch, und zwar ohne im eigenen Lager in den Verdacht
'ler Zweideutigkeit zu geraten, das Kunststück fertig, zu gleicher Zeit
nit Papst und Gegenpapst auf gutem Fuß zu stehen^ und in Gregor VII.
loch bis zum Jahre 1081 die Hoffnung seines möglichen Anschlusses
v^achzuhalten.^ So geartet, war Benno II. von Osnabrück Heinrichs IV.
)ester Diplomat. Der bedeutende Erfolg des Königs in den Verhand-
ungen der Jahre 1078 und 1079 ist ganz wesentlich den beiden Ge-
andtschaftsreisen Bennos nach Rom zuzuschreiben.^ Daß dem viel-
^ Für Benno als alleinigen Urheber der Fälschungen spricht sich jetzt auch
ostes, Zeitschr. f. vaterl. Gesch. u. Altertumskunde 62, 134 aus; doch scheint mir
ein Verdacht, in Bennos Freund Heinrich IV. den stillen Mitwisser zu sehen, ganz
nbegründet.
^ Vita Bennonis c. 18 ed. Bresslau, SS. rr. Germ. p. 25: Exinde igitur prae-
lara felicique prosperitate vel animi prudentia utriusque papae, quod profecto per-
laucis ea tempestate possibile fuit, amicitia usus, regiam quoque nusquam incurrebat
'ffensam.
^ Gregor VII. an Altmann v. Passau, 1081 April, JL 5217; Philipp i, Osna-
»rücker ÜB. 1, 165 Nr. 192: et maxime Osnanbrugensem episcopum, quem nobis
eile fideliter adherere audivimus, fideliter suscipiatis.
* Diesen Erfolg hat jüngst Hampe, Deutsche Kaisergeschichte in der Zeit der
ialier und Staufer S. 56 mit folgenden Worten geschildert: ,, Geradezu glänzend aber
310 ^' Tangl
seitigen Manne auch der Schalk nicht ferne lag, zeigt Bennos Verhaltet
bei der Brixener Synode vom Jahre 1080, das uns Norbert c.l8 ii
köstlicher Weise schildert. Er kann sich der Teilnahme nicht entziehen
möchte aber an den Verhandlungen, deren Radikalismus nicht nacl
seinem Geschmack war, nicht mittun. Da entdeckt er eine Höhlun«
hinter dem Altar, in die das kleine Männlein rasch und unbemerkt ver
schwindet. Hier hört er, von allen vermißt, den Verhandlungen ah
untätiger Zeuge zu, um zum Schlüsse, von allen angestaunt, plötzlicl
wieder zum Vorschein zu kommen. Das Bild wäre nicht vollständig
wenn wir nicht noch seines hochentwickelten Erwerbsinnes gedächten
Schon als Lehrer in Speyer gelingt es ihm, zu bedeutendem Wohlstan(
zu gelangen, — bei einem Schulmeister seit Jahrtausenden eine schweri
und seltene Kunst.^ Auch in Goslar weiß er sich sicher zu betten;
und bei der Eintreibung säumiger Leistungen gab es keinen ünerbitt
lieberen.^
Das ist der Mann, den wir suchen: begabt mit dem Spürsinn
vergessenen Rechten nachzugehen, zäh und rastlos die aufgefunden!
Spur verfolgend, durch Hemmnisse nicht abzuschrecken, um Ausweg»
nicht verlegen und in der Wahl der Mittel nicht ängstlich, die Durch
führung durch Geist und ausgebreitetes Wissen fördernd. Er un(
kein anderer hat das Meisterwerk geschaffen, das uns in den Osna
brücker Urkundenfälschungen vorliegt.
5. Die Anfänge des Bistums Osnabrüc4i
Man erwarte von den folgenden Zeilen nicht mehr als ein Ab
suchen des Trümmerfeldes nach brauchbaren Bausteinen, einen Ver
such, aus den Fälschungen die für die Gründungs- und Entwicklungs
geschichte Osnabrücks verwertbaren Zeugnisse zu sammeln und mi
ihnen die übrigen spärlichen Quellen zu vergleichen.*
waren seine diplomatischen Erfolge. Man kann es kaum anders bezeichnen: währen
dreier Jahre ist es ihm durch eine unvergleichliche Kunst, die offen mit allen Mittel:
der Hinhaltung, Verstellung und Bestechung arbeitete, gelungen, einen Gegner wi
Gregor VII. regelrecht an der Nase herumzuführen."
^ Vita Bennonis c. 4 p. 5: Cumque in eodem loco aliquanto tempore manen
non solum litteris sed et per eas acquisitis divitiis abundare coepisset.
^ 1. c. c. 5 p. 5. Satis autem abundeque provisa sibi necessariorum copia.
'1.0. c. 8 p. 8: Porro in solutione reddituum, quos annua exposcit exactic
manifestum est illum fuisse acerrimum, ita ut plerumque verberibus affectos debitur
suum rusticas persolvere compulisset.
Vgl. für das Folgende Philippi, Zur Osnabrücker Verfassungsgeschichtt
Mitteil. d. hist. Vereins f. Osnabrück 22, 25 ff.; desselben Verf. Rekonstruktion?
Forschungen zu Karolinger Diplomen 311
Die echte Urkunde Karls d. Gr. vom 19. Dezember 803, die der
älscher verarbeitete, hat er tatsächUch dem Archiv seiner Kirche ent-
lommen, und für zuverlässig halte ich auch nach Ausscheidung leicht
rkennbarer und schon besprochener Einschöbe die Bezeichnung der
(irche und die Nennung des Bischofs: qualiter donamus ad basilicam
lancti Petri principis apostolorum (et sandomni martimm Crispini et
yispiniani) quae est constructa^ in loco Osnabnigki (et corpora illorum
\lluc transtülimus) , ubi praeest vir venerabilis Vuiho episcopus. Daraus
■Hibt sich, daß die Gründung des Bistums sicher in die Zeit Karls
IHjr. zurückreicht,^ und daß Ende 803 noch Wiho als erster Bischof
IHser Kirche vorstand.^ Karl d. Gr. verbriefte damals eine Schenkung,
vielleicht von Besitz bei Ettenfeld, an das junge Bistum.^ Nach III
.entschloß sich Karl d. Gr. zur Gründung dieses Bistums Adriani papae
orecepto et hortatii. Die Nachricht ist uns nicht neu; wir wissen, daß
sie über Halberstadt und Bremen nach Osnabrück gelangte. Es er-
übrigt nur, ihre Zuverlässigkeit ein wenig zu würdigen. Zustimmung,
!Rat, Auftrag, oder wenigstens Gegenwart des Papstes werden in ür-
jkunden Karls d. Gr. in der Tat wiederholt erwähnt, aber ausschließlich
in Fälschungen, und zwar meist in solchen, die innerhalb dieser
Gruppe selbst wieder zu den plumpsten und törichtesten zählen. Der
erste Band der Karolinger Diplome der Monumenta Germaniae ermög-
licht jetzt einen raschen Überblick: DK. 34 für Figeac: Weihe des
Klosters presente Stephano papa. DK. 38 für Clairac: rogatu doniini
papae. Die Urkunde empfiehlt sich auch durch ihre prächtige Datierung
in conventü nobiliani Franciae Aqaitaniae et Gasconiae, Italiae et Neu-
versucii der Osnabrücl<er Annalen, Osnabrüclter Gesch.-Quellen l.Bd.; tiüffer, Kor-
veier Studien; Brandia. a. 0. S. 157—165; Jostes, Zeitschr. f. vaterl. Gesch. u.
Altertumskunde 62, 98—138; Hauck, KG. Deutschlands, 2. Aufl. 2, 675.
' Die Urkunde „quam nos construximus"; ich halte diese Fassung für nicht
völlig ausgeschlossen, aber doch wahrscheinlich mit Rücksicht auf das sicher nach-
träglich eingeschobene „et corpora — transtülimus" überarbeitet und ziehe es daher
vor, in den Rekonstruktionsversuch die formelmäßige Fassung einzusetzen.
" Ich stimme mit Jostes überein, daß diese Tradition auch durch die Queri-
monia Egilmari volle Deckung findet.
^ Auch an der Zuverlässigkeit seines Titels zweifle ich nicht. Ich halte es
nicht für richtig, die Frage der Begründung eigentlicher Bistümer, nicht bloßer
Missionssprengel, mit der ihrer endgiltigen Abgrenzung zueinander zu verquicken.
Hierin machten die meisten der sächsischen Bistümer, nachdem sie längst bestanden,
einen Übergangszustand durch.
* Dagegen glaubt Philippi a.a.O. S. 33 zu erkennen, daß die Osnabrücker
Kirche „schon 10 — 20 Jahre nach ihrer Gründung mit Immunität begabt worden ist".
Der Ansatz ist, wie wir schon gesehen haben, wesentlich verfrüht.
312 M- Tangl
Striae. DK. 222 für Kempten: ob interventum sanctissimi patris nosti
Adriani papae. DK. 231 für Reichenau: Erwähnung des Papstes in de
Korroboration, in der wir an Stelle der erwartenden Ankündigung de;
fiandmahls und Siegels höchst überraschend folgendes als Karls d. Gr
Entschließung erfahren: volumus, iit a nostro spiritali patre Ädriam
papa, ad quem ituri sumus, anathematis vinculo et scripta privilegi(
confirmetur. DK. 225 für Novalese consilio donini apostolici; diese ür
künde ist ausgezeichnet durch den Titel Ego Karlo Magnus und di(
Rekognjtion Ego Maldanarius (mal danaro!) Karoli Magni notarim
cognovi et scripsi. Ego Eurardus Magni Karoli cancellarius cognov
et sübscripsi. DK. 244 für Montecassino: in presentia pape Adriani
DK. 248 für Leberau : Ego Leo apostolicae sedis pontifex laudans e
confirnians sübscripsi. DK. 270 für Aquileja: papae ceterorumque astan
tinni episcoporum accepto consilio. DK. 274 für S. Anastasio delle ixi
Fontane: als gemeinsame Aussteller der Urkunde Leo episcopus servm
servorum dei et Carolas magna s et pius rex; in der gleichen Urkunde
der Papst auch als Subskribent. DK. 278 für. St. Valery: Leo 111. ir
der Datierung genannt; die Rekognition lautet: Ego Paulus diaconm
et secretarius recognovi et sübscripsi. Leider hat es der Fälscher unter-
lassen zu Paulus Diaconus noch beizufügen et scriptor historiae gentit
Langobardorum! DK. 282 für St. Denis: rogatu iussu et concessu ipsiin
donini Leonis papae. Im Kontext dieser schönen Urkunde nennt Kar
d. Gr. seinen Sohn bereits Ludowicus Pius (!), und die unter Karl d. Gr
bekanntlich auch sehr kanzleigemäßen Zeugenunterschriften zieren fol-
gende Namen: Papst Leo III. (seit 795), Abt Fulrad von St. Denis (t784)
Erzbischof Philipp von Köln (1167—1191) und Erzbischof Sergius vor
Mainz, den es nie gab! So sieht es mit der Zuverlässigkeit diesei
Angabe in den ältesten Urkunden unserer sächsischen Bistümer aus
Eine hat sie aus der anderen entlehnt und die ursprüngliche Erfindunc
floß aus echtem Fälschergeist. Es gibt kaum ein Erkennungsmittel
das zuverlässiger für die Unechtheit einer Urkunde Karls d. Gr. spricht
als die Berufung auf päpstliche Einmischung. Für die Fälscher aller-
dings ist der Einschub bezeichnend. Sie alle huldigen der zu ihrei
Zeit bereits zur Herrschaft gelangten Weltmacht und glauben durch
Nennung des Papstes ihren Urkunden erst volle Geltung zu sicliern.'
Karl d. Gr. aber hat weder in seinen Regierungshandlungen noch in
seinen Urkunden dem Papsttum die Stellung eingeräumt, wie sie die
Trugwerke dieser Fälscher uns vorspiegeln. Die Frage der Begründung
der sächsischen Bistümer hat weder in der diplomatischen Korre-
spondenz Hadrians.L mit Karl d. Gr., die wir im Codex Carolinus bis
791 besitzen ( — und damals waren die Bistümer an der Weserlinie
doch schon gegründet — ), noch in den Synodalverhandlungen der
Forschungen zu Karolinger Diplomen 313
'eit irgend welchen Niederschlag hinterlassen.^ Die Unterwerfung der
!;achsen war Karls d. Gr. schöpferischer Gedanke, und alle Anord-
lungen in der Ausbreitung der christlichen Hierarchie über das noch
:aum bezwungene Land waren sein Werk. Der auf die gefälschten
Gründungsurkunden sich stützende Versuch Georg Hüffers, die Führer-
teilung dem Papste Hadrian I. zuzuweisen und den Frankenkönig zu
einem gelehrigen und gehorsamen Schüler herabzudrücken, sinkt mit
lem Zeugniswert dieser Trugwerke in das Nichts zurück und mit
hm auch das Bemühen, die an gleicher Stelle angereihten Ratschläge
Lulls von Mainz für bare Münze zu nehmen und den umstand,
'laß Lull hier noch als Bischof, nicht als Erzbischof (seit 782) er-
;cheint,^ als Rechenexempel für das Alter des Osnabrücker Bistums
:ii verwerten.
Viel ernsterer Erwägung scheint mir die Angabe in IV und VI
vert, daß Bischof Agilfried von Lüttich die Weihe der Osnabrücker
Virche vorgenommen habe.^ Auch hier nicht in wörtlicher Deutung,
30 wie sie geboten ist; ich halte es für aussichtslos, nachzurechnen,
[vann etwa im Laufe der Sachsenkämpfe Karl d. Gr. auf Jahr und
Tag genau Osnabrücker Boden betreten und der Lütticher Bischof zur
Vornahme der Weihe sich in seiner Begleitung befunden haben könnte,
^ber es scheint mir kaum möglich, daß Benno, der hier aus fremden
3uellen nicht schöpfen konnte, ohne jeden festen Anhalt gerade auf
diese Nachricht und diesen Namen geraten sein sollte. Eine gewisse
Tradition mußte hier vorliegen; und ich bringe sie in Zusammenhang
mit der schon oben S. 207 — 208 gewürdigten Nachricht der Lorscher
(\nnalen, daß Karl d. Gr. 780 Sachsen inter episcopos et presbiteros
3eü et abbates zur Missionierung aufgeteilt habe. Wir wissen, daß
diese Maßregel nicht die Gründung neuer Bistümer bedeutete, sondern
die Heranziehung bereits bestehender kirchlicher Institute zum Missions-
^verk. Es waren zunächst die Bischöfe von Mainz, Köln und Würz-
burg, die Äbte von Fulda (in der Gegend von Paderborn, hier in der
Mission später von W^ürzburg abgelöst), Hersfeld (im Hessengau und
Friesenfeld) und Amorbach (im Gebiet von Verden). Utrecht hatte
wohl im eigenen Gebiet noch zu viel zu schaffen, um nennenswerte
Kräfte nach dem Osten abgeben zu können; aber ein gänzliches Fern-
^ Nicht hierher zählen allgemeine Mitteilungen Karls an den Papst, daß Sachsen
unterworfen und seine Christianisierung gesichert sei, und die Äußerungen der Freude
tiadrians hierüber, sowie die Anordnung eines dreitägigen Dankfestes. MG. Epp. 3,
607 Cod. Carol. epla 76.
^ III: et LuUonis Mogontini caeterorumque plurimorum tunc temporis episco-
porum consilio.
^ IV: et a venerabili Egilfritho Leodicensi episcopo consecratam.
314 ^- Tangl
bleiben von Lüttich an dem Missionswerke wäre sogar auffällig ge
wesen, besonders da wir auf ostsächsischem Boden später westlicher
Nachbarn von Lüttich, Reims und Chälons-sur-Marne, tätig sehen. AI
echter Kern der Nachricht in IV dürfte daher die fortlebende Traditio
festzustellen sein, daß die Mission im Osnabrücker Land zunächst vo
Lüttich aus geleitet wurde, wozu auch die Bischofszeit Agilfrieds (765
bis 787) aufs beste stimmt. Gerade aus diesen Anfängen, die noc!
keine feste Richtlinie für die spätere Entwicklung gaben, erklärt siel
das gleichzeitige Einsetzen der Mission auch von anderen Stützpunkte!
aus, Meppen und Visbeck.^
Über die nähere Zeit der Gründung Osnabrücks brauchen wi
scheinbar gar nicht erst lange vorsichtig in der Irre herumzutapper
sondern werden von anderer Seite mit geradezu verblüffend genauei
Nachrichten bedient. Hierzu gehört zunächst der sogenannte Pseudo
liutprand, als „Luitprandi Ticinensis diaconi opusculum de vitis Roma
norum pontificum" im Jahre 1602 zu Mainz von Busaeus herausgegebei
aus einer Handschrift, deren Untergang, wie so oft in ähnlichen Fällen
die Editio princeps wurde. Da eine andere Handschrift bisher nich
bekannt geworden ist, sind wir ganz auf diese Ausgabe und ihrer
Nachdruck bei Migne 129, Sp. 1151ff. angewiesen. Es wird sich emp-
fehlen, zunächst dieser Papstgeschichte selbst etwas mehr Aufmerk-
samkeit zuzuwenden, als ihr bisher geschenkt worden ist, und dam
erst über die Einschübe zu sprechen. Wirklich zuverlässige Angaber
wären auch hier erst auf Grund eines umfassenden Überblickes übei
die handschriftliche Überlieferung des Liber pontificalis und seinei
^ Dostes geht nach meinem urteil zu weit, wenn er für diese und andere
Missionszellen die Bezeichnung abbatia und für ihre Leiter die von abbates als be-
stimmte technische Begriffe nachzuweisen sucht; und seine Ansicht, daß die Leitet
dieser Missionsgebiete Weltpriester, nicht Mönche gewesen sein müßten, läßt sich
sehr einfach dadurch widerlegen, daß dem hl. Bonifatius, über dessen Mönchtum ein
Zweifel nicht besteht, in der Zeit vor 722, da er als einfacher presbiter, aber bereits
offiziell bestallter Missionar in Hessen und Thüringen wirkte, die Bezeichnung „abbas"
beigelegt ist, aber niemals offiziell, sondern als bloße Ehrung = pater. (Schreiben
der Nonne Egburg an ihn, MG. Epp. 3, 259). Die Missionstätigkeit war bis dahin
so vorwiegend, ja fast ausschließlich von Mönchen ausgegangen^ daß sich gerade
hieraus die weitgehende Heranziehung von Klöstern neben den Bistümern durch
Karl d. Gr. erklärt. Auf diese „abbates" geht klar und verständlich die Nachricht
der Lorscher Annalen, nicht auf die Leiter der verschiedenen Missionszellen, die
damals noch gar nicht vorhanden, waren, sondern sich erst allmählich infolge
dieser grundlegenden Verfügung Karls d. Gr. herausgestalteten. Ich verweise noch-
mals auf den gar nicht mißzuverstehenden Kommentar, den die Nachricht der
Lorscher Annalen später in der Translatio S. Liborii fand und den ich oben S. 208
Anm. 2 abdruckte.
Forschungen zu Karolinger Diplomen 315
Ibleitungen zu machen. Bis diese in vielleicht naher Zeit von beru-
Iner vSeite vorliegen werden, mögen die folgenden Mitteilungen genügen.
as Werk ist die Verarbeitung eines knappen Auszuges aus dem Liber
ontificalis in der Fassung der Epitome Feliciana et Cononiana mit
en gefälschten Papstbriefen Pseudoisidors und steht mit dieser Eigen-
imlichkeit nicht ganz allein.-^ Es reicht aber über den Abschluß des
Iten Liber Pontificalis und Pseudoisidors hinaus, benutzt, wie ich im
inzelnen noch nachweisen werde, für das 9. Jahrhundert eine Canones-
•ammlung und schließt mit Papst Formosus unter wörtlicher Be-
utzung von Liutprands von Cremona Antapodosis I. 28—31. Dies
at dem Werke zu der längst erkannten falschen Flagge verholfen,
inter der es in der historischen Literatur segelt. Schon dadurch ist
ine Entstehung dieser Kompilation vor der zweiten Hälfte des 10. Jahr-
lunderts ausgeschlossen. Etwas weiter herab führt vielleicht noch
olgende Beobachtung. Während sich der Kompilator für die ganzen
ruberen Jahrhunderte streng an die beiden genannten Hauptquellen,
\uszug der Papstleben und Pseudoisidor hält, weiß er S. 3 über einen
1er frühesten Päpste Klemens L ein paar selbständige Worte zu sagen:
Y/c quamvis in ordine catalogi post beatum Petrum tertius inveniatur,
'cvera tarnen, sicut ipse in epistola scripsit Jacobo fiierosolymomm
ipiscopo post beatum Petrum primus nullo interposito Romanae sedis
jubernacu/a procul dubio tenuit. Linus autem et Cletus ideo velut
üiccessores Petri connumerantur, quia ipse eos in vita coadiutores sibi
^'ecit, ut tanto melius ipse vacare passet orationL Haue veritatis sen-
"entiam tertius Joannes papa in epistola, quam scripsit episcopis in
jermaniae et Gallie provinciis constitutis, manifeste confirmat, iia inter
zaetera dicens; folgt eine Stelle aus IK. + § 1042^ und damit ist der
^rste wörtliche Anschluß an Pseudoisidor, zunächst außerhalb der
:hronologischen Reihe, erreicht, um von da ab, mit den gefälschten
Klemensbriefen beginnend, der Reihe nach fortzuschreiten. Zweifel
' Vgl. Waitz, NA. 10, 460 über Cod. Vat. lat. 629 saec. XI: „Vat. hat das
Eigentümliche, daß die Leben der Päpste zu Anfang mit der Pseudoisidorischen
Sammlung so verbunden werden, daß die einzelnen den Dekretalen derselben vor-
gesetzt werden; erst von Bonifaz II. an hört dies auf." Nach gütiger Mitteilung
des Herausgebers des Liber Pontificalis für die Monumenta Germaniae, Wilhelm
Levison-Bonn, ist dies zugleich die einzige bekannte Handschrift dieser Art;
eine kleine Gruppe anderer Handschriften enthält Papstviten und Pseudoisidor ge-
trennt.
^ Hinschius Decretales Pseudoisidorianae 715, die wörtlich benutzte Stelle
S. 716. Die vorangehende Stelle aus dem Pseudoliutprand teile ich hier wörtlich
mit, weil sie vielleicht doch dazu beitragen kann, dem eigentümlichen Werk näher
zu kommen.
316 M- Tangl
Über die Einordnung Klemens I. sind schon im 3. und 4. Jahrhunder
nachweisbar; aber in den älteren mittelalterlichen Weltchroniken sin(
mir derartige Erörterungen über die Chronologie der Päpste des 1. Jahr
hunderts nicht bekannt, und auch Hermann von Reichenau bring
noch nichts dergleichen. Mariannus Scottus aber sieht in Klemens 1
den unmittelbaren Nachfolger des hl Petrus,^ und Frutolf-Ekkehart ha
eine umfangreiche Ausführung über die Chronologie der ersten Päpste
in der er ebenfalls der Ansicht zuneigt, daß Linus und Cletus etwa ir
der Stellung von Chorbischöfen neben Petrus gewirkt haben. Aus-
drücklich spricht er davon, daß diese Bedenken in der Literatur scher
mehrfach vertreten seien.^ Man sieht daraus, daß diese Dinge gerade
in der zweiten tiälfte und zu Ausgang des 11. Jahrhunderts lebhaf
erörtert wurden, und daß man daher geneigt sein könnte, aus dieser
Erwägungen den sogenannten Pseudoliutprand der Zeit zuzuweisen, ir
die uns auch seine Einschübe führen, denen wir uns nun zuwenden
Der erste findet sich bei tiadrian I.:^ Qui (Karl d. Gr.) mm quinto annc
regni sui illuc venisset, inter caetera, quae ab ipso ibi niagnifice gesta
sunt, etiam partem aliquam Saxoniae in provincia Westfalia, quam aü\
fidem Christianitatis convertit, ut ipse iam praedictus papa praeceph
et docuit, secunda feria paschae in basilica sancti Petri apostoli intet
caetera, quae ad manum papae offerebat, deo in sacrificium obtulit eu
in loco Osbrugge vocato episcopatum constituere et deciniis noviter ad
fidem conversorum, si sanus et incolumis remeasset, papa ita dictante
et privilegiis suis confirmante dotare devovit. Ihr naht euch wieder,
schwankende Gestalten! Alle die schönen Dinge, die wir mit der
Kritik der Fälschungen schon verabschiedet glaubten, von der Errich-
tung eines Bistums zu Osnabrück, seiner Ausstattung mit den Zehnten
und der entscheidenden Mitwirkung des Papstes werden uns hier nun
wieder aufgetischt. Der Zusammenhang mit den Osnabrücker Urkunden
ist dabei ein so enger, daß hier Ableitung der einen Quelle aus der
anderen vorliegen muß. Dotare devovit das Gelöbnis im PsL, devote
dotavit die Ausführung in III! Das Entlehnungsverhältnis, das hierbei
noch zweifelhaft bliebe, klärt sich schon bei folgender Beobachtung.
Wenn nach III Hadrian L sich beeilte, für das eben gegründete Bistum
Osnabrück ein Privileg zu erteilen,* so ist das, wie wir sahen, zwar
^ MG. SS. 5, 507.
' MG. SS. 6, 99—100. Vgl. Jaffe, Reg. pont. Ed. 2, 1 p. 2f., hier bereits
TertuUian und Hieronymus de viris illustr. c. 15 als Vertreter der Ansicht nach-
gewiesen, das Klemens unmittelbar auf Petrus folgte.
^ Busaeus S. 101, Migne 129, Sp. 1242.
"* III: et eandem aecclesiam consecrationis eius die Adriano papa ita ordinante
et iubente et ipsius privilegio roborante eisdem decimis legaliter ac devote dotavit.
Forschungen zu Karolinger Diplomen
317
licht wahr, aber wenigstens gut erfunden. Wenn er aber nach PsL
jlas Privileg für ein noch gar nicht bestehendes Bistum ausstellt, dessen
Gründung erst gelobt ist, dann ist der leidlich gute Sinn, der in 111
brhanden war, bei Verwendung in anderem Zusammenhang verloren
gegangen. Ganz entscheidend aber ist die Berührung mit XXI in den
tVorten decimis noviter ad fidem conversomm} Schon Wilmans 1,
1^71 und Brandi S. 161 haben diese Beziehungen des PsL nicht nur
:u den Fälschungen, sondern auch zur echten Urkunde Heinrichs IV.
erfaßt und PsL als das letzte Glied dieser Kette bezeichnet. Seit
Vilmans ist ferner erkannt, daß in diese Quellengruppe auch der bei
lern Osnabrücker Chronisten Ertwin Ertmann aus der zweiten Hälfte
les 15. Jahrhunderts in zwei Fassungen überlieferte Brief hereinspielt,
len angeblich Bischof Egilbert von Osnabrück an den Erzbischof
^Villibert von Köln gerichtet haben soll. Er ist für unsere Frage so
jVichtig, daß ich ihn hier vollständig einrücke^ und in Spaltendruck
1-echts die Bezugstellen aus den verwandten Zeugnissen setze.
Iste Eybertüs querulose scripsit Willi-
berto archiepiscopo Coloniensi, quomodo
\n iuribus sui episcopii gravaretur, petens
ms consilium, scribens in fine, quomodo
nagnus et admirabilis princeps Karolus,
-jüi gentem Saxonicam per strenua bellomm
:ertamina deo adminiculante ad fidem
:hristianitatis convertit, in primo eins ad-
>entu Rome secunda feria pasce in basilica
leati Petri apostoli inter cetera, que ad
mssam pape Adriano, episcopatum in ho-
■lore principis apostolorum beati Petri se
irdinaturum devovit. Hec enim vota, que
]uinto regni eius anno Rome promisit, cum
^rimum reversus fuit, adimplevit et decimis
more suo, quia alia ibi defuere donaria,
altare Osnaburgense ab Egilfrido Leodiensi
^piscopo primitus consecratum dotavit, hor-
^.ando ut sibi consilio et ope assisteret dul-
Querimonina Egilmari : magnus et ammi-
rabilis princeps Karolus, qui gentem Saxoni-
cam per strenua bellorum certamina deo ad-
miniculante ad fidem christianitatis convertit
PsL: secunda feria paschae in basilica
sancti Petri apostoli inter caetera, quae ad
manum papae offerebat, in loco Osbrugge
vocato episcopatum constituere . . . devovit.
quinto anno regni sui
si sanus et incolumis remeasset
IV. primitus . . . fundatam et a venera-
bili Egilfritho Leodicensi episcopo conse-
cratam et eisdem decimis, quia alia ibi
tunc temporis non erant donaria, dotatam
I ^ XXI oben S. 236: et decimis . . . noviter ad christianitatem conversorum.
^ Ertwini Ertmanni Chronica sive catalogus episcoporum Osnabrugensium,
herausgeg. von Forst, Osnabrücker GQ. 1. Bd. der Brief S. 35 und Philippi, Osna-
brücker ÜB. 1, 30 Nr. 45; hier der erste Teil nach eigenhändigen Auszügen Ert-
mann s, die später fast wörtlich in seine Chronik übergingen; dieser Druck ist
hier benutzt.
^ So in verderbter Überlieferung Ertmann; schon Scheffer-Boichorst,
Mitteil. d. Instituts f. österr. G.-F., Erg.-Bd. 4, 93, hat für „ad missam" aus PsL „ad
manum" eingesetzt und das fehlende Verbum „obtulit" (besser aber wohl = PsL
„offerebat») ergänzt. Philippi beließ „ad missam" und ergänzte „promisit".
I
318
M. Tangl
JV: episcopium simm . . . decurtatatun
Querimonia Egilmari: fraude iniquorw
dilaniatam.
citer et humiliter sie conclusit epistolam:
0 pater venerande, vestrum est preceptum
vestrumque consilium, meum est vobis pre-
bere obsequium. Valete et semper in do-
mino gaudete. Ac ipse reverentissimus
archiepiscopus rescripsit Eygbertum refor-
tando, inter cetera inserens tali modo:
Tuum, inquit, f rater, est istiusmodi laboris
sarcinam, qualiter episcopium tuum, quod
est decurtatum et iniuste dilaceratum, ut
iterum redigatur in unam, sublevare, me
vero scias consilium non solum etadiutorium
tibi non denegare, sed dorso et ambobus
humeris suppositis toto nisu,^ prout vires
suppetunt, sustentando adiuvare, ut im-
pleatur que dicit scriptura: Alter alterius
onera portate et cetera.
Darin, daß ein Brief dieses Inhaltes und solcher Fassung nlcl
echt sein kann, sind alle Forscher mit alleiniger Ausnahme Geor
tiüffers einig. Aber Wilmans und Philippi gingen viel zu weit, wen
sie annahmen, daß der Brief nicht einmal als ältere Fälschung be
standen habe, sondern erst von Ertmann selbst mit Benutzung de
Osnabrücker Quellen zurecht gemacht worden sei.^ Mit vollem Recl^
traten ihnen gegenüber Diekamp,^ Scheffer-Boichorst^ und Branc
S. 160 dafür ein, daß der Brief in dieser Gestalt Ertmann wirklic
vorgelegen habe, und erkannten den engen Zusammenhang mit de
Osnabrücker Fälschungen und Pseudoliutprand. Hierin glaube ich i
bestimmten Schlüssen allerdings noch über sie hinausführen zu könner
Man beachte nur einmal dieselbe mosaikartige Mache, die wir bei dei
meisten der Fälschungen und der Urkunde XXI verfolgen konnten, ma:
verfolge den Weiterbau des Systems: in III und IV die Nachricht übe
die Gründung Osnabrücks, in PsL hinzugedichtet der bestimmte Anla
des Gelöbnisses, zugleich unter Gewinnung eines bestimmten Datum;
und im Egilbert- Brief Verheißung und Erfüllung zueinander in Be
Ziehung gesetzt. Auf die Frage der Priorität des Briefes oder Pseudo
liutprands komme ich unten noch zurück. Sicher ist, daß die Er
Zählung vom Gelöbnis notwendig durch die Nachricht des Liber Pon
tificalis über den Aufenthalt Karls in Rom zu Ostern 774 vermitte;
^ Philippi leugnet auch die Benutzung Pseudoliutprands und nimmt als vei
bindende Quelle die niemals vorhandene Gründungsurkunde Karls d. Gr. an; ähnlic
auch Scheffer-Boichorst.
' Westfäl. ÜB. Supplement S. 36 Nr. 266.
' Zwei Untersuchungen zur Gesch. d. päpstlichen Territorial- und Finanzpolitil
Mitteil. d. Instituts f. österr. GF. Erg.-Bd. 4, 77; besonders S. 82f. und S. 90ff., Ex
kurs über PsL.
Forschungen zu Karolinger Diplomen 31.9
^t und daß diese Vermittlung durch die verkürzte Verarbeitung dieser
)uelle in PsL erfolgte. Vorerst aber bitte ich noch eines zu he-
chten. Bischöfe (Anno von Köln, Altmann von Passau) wurden
/iederholt von Gregor VII. mit der Untersuchung der Zehntklage be-
Liftragt, vor Bischöfen hatte Benno seine Sache auf der Synode zu
ertreten. Und nun am Schlüsse der angeblichen Antwort Williberts
on Köln dieser warme Apell an den Corpsgeist, Schulter an Schulter
iner für den andern einzustehen! Diesen Corpsgeist hatte Benno als
)eisitzer der Erfurter Synode im Mainzer Zehntstreit bewiesen, ihn
rwartet er auch in eigener Sache von seinen Kollegen. Schon drängt
ich uns der Name des Fälschers des Egilbert-Briefes auf die Lippen;
iber zuvor gilt es noch, einer Schwierigkeit Herr zu werden, die sich
;inem zu raschen Abschluß entgegenstellt. Sie liegt in dem zweiten
;elbständigen Zusatz, der sich in PsL zum Pontifikat Hadrians II.
indet:^ Huius temporibus Ludewicus dedit ecdesiae Corbeiensi et ff er i-
ordensi quasdam decimales ecclesias cum ipsis deciniis in parrochia
Isbrugensi consentiente episcopo et omni clero. Karolus Ronianoruni
mperator et patritius dedit honorificatae ecdesiae et honorificandae a
leo ffersueldensi quasdam dedmas in Frisonevelt et ffassega ffalbersta-
iensi adiacentes dioecesi, quas Stephanus papa in basilica beati Petri
ÜB sando paschae sua audoritate et imperatoris subscriptione et ffis-
iegino ffalberstadensi episcopo praesente confirmavit. Karolus quippe
imnes decimas in Saxonia constituerat ad regale servitium et eas rex
lare potuit quo voluit.
Allgemein ist erkannt, daß in diesen Stellen, der früheren und
iiesen, der Schlüssel zur Feststellung des Verfassers oder Verarbeiters
des PsL liegt, zum mindestens der, ihn zu einem bestimmten Ort zu-
aiweisen. Nach Waitz war der Verfasser „offenbar ein Sachse, viel-
eicht ein Osnabrücker." ^ Nach Scheffer-Boichorst hatte er Beziehungen
iv\ tiersfeld und Osnabrück, verwertete Urkunden aus diesen Archiven:
.,Hersfeld und Osnabrück dürfen danach doch als zwei ihm vertrautere
Stätten gelten. Vielleicht ist er von dem einen zum anderen Orte
übergegangen." Wilmans vermutete überdies Benutzung des Korveyer
Archivs. Ist es aber überhaupt möglich, diese Eintragungen einheit-
lich einem bestimmten Verfasser zuzuweisen, stehen sich die beiden
Nachrichten nicht in der Tendenz schroff gegenüber, bistumfreundlich
die erste, klosterfreundlich die zweite? Dem Pochen der Bischöfe auf
die Bestimmungen des allgemeinen Kirchenrechts ^ scheint hier der
' Busaeus S. 116 = Migne 129 Sp. 1254.
1 - VG. 2. Aufl. 3. 163.
i '' Querimonia Egilmari: Decimis contra ius canonicum et fas ecclesiasticum
»iniusto ordine a nobis per vim ablatis.
320 M- Tangl
Satz entgegengestellt, daß der König von Anfang an Herr über di
Zehnten in Sachsen war und daher auch nach Gutdünken über si
weiter verfügen, das heißt sie den Bischöfen nehmen und den Klösten
geben konnte. Aber wir werden gleich noch schärfer in die Frage ein
dringen, wenn wir nochmals zur Fassung des ersten Zusatzes zurück
kehren. Mir fiel hier längst das in auffälliger Weise und rasch nach
einander sich wiederholende Jnter caetera' auf.^ Es liegt hier siehe
ein Einschub vor, und wir versuchen ähnlich wie oben Seite 280 aus
zuscheiden : Qui mm quinto anno regni sui illuc venisset (inter caetera
quae ab ipso ibi magnifice gesta sunt, etiam partem aliquam Saxonia
in provincia Westfalia, quam ad fideni chrisdanitatis convertit, ut ips>
iani praedictus papapraecepit et docuit), secundaferia paschae in basilia
sancti Petri apostoli inter caetera, quae ad manuni papae offerebai
(deo in sacrificiuni obtulit et} in loco Osbmgge vocato episcopatwi
constituere . . . devovit. So lautet die ursprüngliche Fassung, so ist sie aucl
— die sicherste Probe auf ihre Richtigkeit — im Egilbert-Brief erhalten
Die Spur dieses Einschubes könnte nach Korvey weisen, auf di(
berüchtigte Fälschung, in der Leo III. Karl d. Gr. daran mahnt, daß ej
hunc montem Eresburg, quem expugnatum cum tota Saxonia deo ob-
tülisti et per nos beato Petro consecrasti. Allein man braucht ga
nicht zur scharfsinnigen, aber gezwungenen und nicht beweiskräftigei
Deutung Scheffer-Boichorsts zu greifen,^ um aus ihr nicht mehr her
auszulesen als: Du hast die bezwungene Feste Eresburg zugleich mi
ganz Sachsen Gott gewidmet (d. h. dem Christentum gewonnen) wmS
sie mit unserem Zutun dem hl. Petrus geweiht (durch die Peterskirche
die hier begründet wurde). So oder so gedeutet, läßt sich eint.
Schenkung von ganz Sachsen an den hl. Petrus (in weiterer Nutz-
anwendung: an die römische Kirche) aus dieser Urkunde nicht er-
schließen. Auf die wirkliche Quelle hat schon Scheffer- Boichorst hin-
gewiesen: es war die Bremer Fälschung auf den Namen Karls d. Gr|
DK. 245: septentrionalem illius (sc. Saxoniae) partem (partem aliquan
^ Dies war wohl auch für Scheffer-Boichorst und Brandi der Grund, in
Egilbert-Brief mit dem einmaligen „inter caetera" die Quelle und in PsL mit de;
durch einen beträchtlichen Einschub bereicherten Wiederkehr dieser Worte die Ab
leitung zu sehen.
^ Er deutet: du hast die Feste Eresburg, als du sie zugleich mit ganz Sachser
bezwungen hattest, Gott gewidmet und dem hl. Petrus geweiht. Aber ein folgende.'
„cum" nach „tradere, donare, offerre" leitet nach feststehendem ürkundenstil inimei
das ein, was in die Schenkung inbegriffen ist oder ihr als Zugehör folgt. Korveyei
Überlieferung und Ursprung hat für diese Fälschung schon Wilmans nachgewiesen
Scheffer-Boichorst. hat sie dann in seiner feinsinnigen Art behandelt; ich habt
aber die Empfindung, daß er mit der Annahme der Entstehungszeit im 10. Jahr-
hundert vielleicht zu früh gegriffen haben dürfte.
Forschungen zu Karolinger Diplomen 321
sL) pio Christo et apostolorum suorum principi Petro pro gratiarum
ctione devote obtulimus. Das lautet viel bestimmter: ein Dankopfer
nd Weihgeschenk an den hl. Petrus! Damit geraten wir aber wieder
1 bekanntes Fahrwasser: Es ist dieselbe Urkunde, die Benno von
'snabrück für seine Fälschung III benutzte. Die Einschaltung gegen-
ber dem Egilbert-Brief weist also nicht nach außen hin, sondern
neder nach Osnabrück zurück;^ ein und dieselbe Urkunde ist gleich-
läßig für die Fälschung III wie für PsL als Quelle benutzt. Heuer-
lings müssen wir zur Beziehung des Egilbert-Briefes zu PsL zurück-
kehren. Das Datum von Karls d. Gr. Anwesenheit in Rom Ostern 774
at der Brief aus der Papstbiographie geschöpft; in der Fassung der
inen Stelle enthält aber der Brief den ursprünglichen Text, PsL den
iinschub. Das Abhängigkeitsverhältnis kreuzt sich also. Das ist nur
nter der Annahme gleichzeitiger Entstehung und paralleler Ver-
rbeitung der beiden Aufzeichnungen erklärlich. Beide aber hängen
a Arbeitsweise und Quellenbenutzung so enge mit den Osnabrücker
'älschungen zusammen, daß ich an der Einheit des Verfassers nicht
^nger zweifeln kann. Der Beweis hierfür läßt sich zudem noch be-
leutend verstärken. Im Jahre 1081 machte Gregor VII. von seiner
(enntnis der Widmung Sachsens an den hl. Petrus Gebrauch:^ Idem
'ero magnus Imperator Saxoniani obtulit beato Petro, cuius eam devicit
idiütorio, et posuit Signum devotionis et libertatis, sicut ipsi Saxones
labent scriptum et prudentes illorum satis sciunt.
Wir besitzen keinen Anhaltspunkt dafür, daß der Abt von Korvey
itwa damals in Rom die Leo-Fälschung vorgewiesen hätte, und
jregors Berufung auf seine Quelle wäre dann, wenn es sich um die
Jrkunde eines Vorgängers gehandelt hätte, wohl ganz anders aus-
gefallen. Aber Benno war 1078 und 1079 in Rom gewesen, und auf
5ein Werk und seine Person paßt die merkwürdige Berufung vor-
züglich. Vergessen wir ferner nicht, daß Gregor in demselben Jahre
L081 ein neues, Benno wohlwollendes Mandat in der Frage des Osna-
3rücker Zehntstreites, erließ (oben S. 226 u. 309), das im Register in
laher Nachbarschaft mit dem berühmten Sachsen-Brief eingetragen ist.
Den Zwecken des Zehntstreites diente ferner offenkundig das eifrige
Studium einer Canones-Sammlung des 9. Jahrhunderts, von der mehr-
fache Lesefrüchte in PsL verarbeitet sind. Die für den Standpunkt,
den Benno verfocht, sehr förderliche Zehntbestimmung Johanns VIII. in
^ Daß von einem größeren zeitlichen Abstand dieser Einschaltung kaum die
Rede sein kann, geht auch daraus hervor, daß der Annalista Saxo, dessen Be-
nutzung des PsL schon Waitz nachgewiesen hat, gerade die Stelle mit dem doppelten
„inter caetera" übernahm; MG. SS. 6, 558.
^ Reg. Greg. VIII 23 ed. Jaffe Bibl. 2, 468. Näheres bei Scheffer-Boichorst.
AfU II 21
322 ^- Tangl
PsL stammt aus c. 18 der Synode von Ravenna vom Jahre 871
Decimas unumquenique fidelem Uli sacerdoti dare censuimus, in cuiu
parochia eum procul dubio constat sab episcopi proprii ditione, qui
ad hoc recipiendum ab episcopo suo est constitutus manere, et ide
nulluni alteriüs dioeceseos sacerdoteni aut levitani alteri iure canonw.
debita huiusniodi andere inipudenter vel teniere quaerere aut acciper
donationeni} Bei einem ebenfalls in PsL zitierten Zehnt-Kanon Leos IV
vermag ich den Ursprung noch gar nicht nachzuweisen.^ Benno vo;
Osnabrück muß also zur Kenntnis einer Handschrift von der Art de
Vaticanus 629 gelangt sein, die gekürzte Papstviten in Verbindun:
mit Pseudoisidor enthielt In diese hat er seine Osnabrücker Wünsch^
und seine kanonistischen Forschungen verarbeitet und sie dann zu
Förderung seiner Zwecke verwertet. Bennos Persönlichkeit stellt aucl
die Einheit innerhalb der Eintragungen lokalen Charakters her: er ha
den Osnabrücker Zehntstreit gegen Korvey geführt und dem Hersfelde
unmittelbar zuvor beigewohnt Dieser Streit wurde zwar damals zu
nächst gegen Mainz ausgefochten, aber es lag durchaus nahe, dal
Hersfeld bei dieser Gelegenheit auch seine Ansprüche gegenüber Halber
Stadt begründete, mit dem es schon früher in Zwist geraten war. Was ir
PsL mitgeteilt wird, trägt fast den Charakter einer bestimmt formulierter
Hersfelder Erklärung, die Benno als damals schon sehr interessierter Bei-
sitzer der Erfurter Synode aufgezeichnet haben könnte. Als einzige be-
deutende Unstimmigkeit bleibt, wie ich offen gestehe, die Eintragung übei
Korvey übrig. Sie steht auf dem kleinlauten Standpunkt der Querimonit
Egilmari (übrigens einer der wichtigsten Quellen Bennos), nicht aui
dem der Osnabrücker Fälschungen. Deshalb aber etwa für sie einer
anderen Verfasser anzunehmen, sehe ich keinen ausreichenden Grund-
Die unmögliche Nachricht der rekonstruierten Osnabrücker Annalen
daß Karl d. Gr. im Jahre 772 Ostern zu Osnabrück gefeiert und be,
diesem Anlaß Wiho zum Bischof bestellt habe, läßt sich kurz abtun.']
Philippi und Brandi haben längst erkannt, daß es sich um die Ver-
bindung des Osterdatums einer Ostertafel mit einer kurzen annalistischen
^ Mansi 17, 340, in PsL durch die Schuld der Überlieferung verderbt. In der
Benutzung der vorhergehenden Canones derselben Synode hat Benno wieder gründ-
lich den Schalk hervorgekehrt; er stellte sie zu tionorius I. (625—638)!
^ Die vorhergehenden, ausführlich wiedergegebenen Canones stammen aus den
Akten einer Synode Eugens II. mit Zusätzen Leos IV. Mansi 14, 1002—1009,
1015—1016. Die Zitate bei Nikolaus I. gehen nach freundlicher Feststellung von
Dr. Ernst Pereis auf folgende Papstbriefe: JE. 2749, 2886, 2846, +2709, +2869,2849.
^Philippi, Die Osnabrücker Annalen, Osnabrücker GQ. \, 1: Anno domini
septingentesimo septuagesimo secundo III. Kls. Aprilis Karolus Imperator Romanorum
in Saxoniam perrexit et pasca Osnabrucg . . regia curte celebrato Wihonem eius-
dem loci primum episcopum designavit.
Forschungen zu Karolinger Diplomen '323
otiz, etwa Karolus perrexit in Saxoniam handelt und daß auf dieser zu
em Bistum Osnabrück in keiner Beziehung stehenden echten Grundlage
eAveitere, mit allen bekannten Tatsachen gänzlich unvereinbare Kom-
nation aufgebaut wurde. Brandi hat S. 163 auch die Phantastik Hüffers
irückgewiesen, der diese Stelle durch die Annahme zu retten gesucht
'jtte, daß sie auf die bekannte, auch durch die Reichsannalen gedeckte
isterfeier zu Eresburg vom Jahre 785 gehe, und nun des weiteren aus-
'ichnete, daß Karl d. Gr. sich von dort nach der Gegend von Osnabrück he-
rben und hier am 20. Juni, dem späteren Gedenktag der Heiligen Crispinus
1^ Crispinianus, der Weihe der Osnabrücker Kirche beigewohnt habe.
■ Daß wir der Nachricht des Pseudoliutprand von dem Gelöbnis der
pumsgründung, das Karl d. Gr. am zweiten Ostertag 774 in die
and Hadrians I. abgelegt haben soll, jeden Glauben entziehen, braucht
ach den Ausführungen über Eigenart und Entstehung dieser Quelle
icht mehr umständlich begründet zu werden. Zeit und Ort der
andlung sind dem Liber Pontificalis entnommen, der auszugsweise
i den Hauptinhalt des PsL ausmacht, der Stoff den Osnabrücker Fal-
chungen, und die Verarbeitung besorgte der Kompilator in der Art,
ie wir an ihm genügend kennen.^
Die in I überlieferte, der echten Vorlage zuverlässig entnommene
'atierung vom 19. Dezember 803 bleibt daher das erste bestimmte
eugnis für das Bestehen dieses Bistums. Die Nachrichten, die mit
iiren eingehenden und dadurch zunächst verblüffenden Angaben in
iiel frühere Zeit zurückführen, erweisen sich nicht nur als unhaltbar,
ondern, soweit Osnabrück dabei in Frage kommt, jeder echten Grund-
ige entbehrend. Bei dem Versuche, die Zeit der Gründung dieses
Bistums festzustellen, ist daher über Vermutungen und die Abwägung
on Möglichkeiten nicht hinauszukommen. Festen Anhaltspunkt ge-
währt auch hier allein die Vita Willehadi mit der Nachricht, daß der
1. Willehad 787 zum Bischof von Bremen geweiht wurde. Ganz oder
ahezu gleichzeitig dürfte die Gründung der Bistümer Verden und
linden vorgenommen und so die Deckung der Weserlinie einheitlich
rfolgt sein, unter der Voraussetzung, daß diese Gründungen stetig
om Westen nach dem Osten vorrückten, müßte man annehmen, daß
Aünster, Osnabrück und Paderborn als Bischofssitze damals schon
estanden. Aber diese Voraussetzung trifft nicht zu. Neben den be-
ümmten Zeugnissen für Paderborn und Münster ist hier vor allem
ff ^ Anders urteilt freilich Georg Hüffer, Korveier Studien 115. Nach ihm
;ann an der „Echtheit und vorzüglichen Verwendbarkeit des Egilbert-Briefes „gar
lein Zweifel sein. Die Angabe ist klar, bestimmt und in sich glaubwürdig". Gewiß!
ienau so glaubwürdig, wie die Zuverlässigkeit der historischen Grundlagen für die
ubiläen des Gymnasium Carolinum in Osnabrück!
21*
324 ^- Tangl
auch die Lehre zu beachten, die wir aus den Bistumsgründungei
Ottos I. erhalten. Brandenburg und Havelberg sind volle 20 Jahr
früher gegründet als Magdeburg, nicht weil man damals, als man fü -
Aufrichtung der christlichen Hierarchie an der Havel sorgte, noch nich
daran dachte, an der Elbe ein Gleiches zu tun, sondern weil man übe
die Art der Ausführung, ob Vorrückung des Halberstädter Sprengel
oder Gründung eines neuen Bistums, noch nicht schlüssig war. ün(
ähnlich werden sich die Dinge wohl auch in Sachsen abgespielt haber
Während es außer Frage stand, daß für das Wesergebiet durch selbst
ständige Bistümer gesorgt werden müsse, konnten noch Zweifel be
stehen, ob man die Gebiete etwa in der Mittellinie zwischen Rhein um
Weser zwischen die schon länger bestehenden Bistümer des Westen
und die neugeschaffenen des Ostens aufteilen oder besser zu eigenei
Diözesen vereinigen solle. Den Anfang der Lösung in diesem Sinm
möchte ich etwa in die Zeit der Erhebung Hildebalds von Köln zun
Erzbischof (795) setzen; und es ist wohl möglich, daß hier Osnabrücl
seiner Lage wegen Münster voraus war, also noch in den 90er Jahrei;
des 8. Jahrhunderts Bistum wurde. Den Abschluß bildete dann die Grün 1
düng der Bistümer im östlichen Sachsen, Halberstadt und Hildesheim.
Zum 31. März 804 berichten die Osnabrücker Annalen den To(
des ersten Bischofs Wiho. Nach dem späteren Osnabrücker Kaiende
galt als Gedächtnistag der 20. April, und die ünzuverlässigkeit de
Tagesangabe ist durch Philippi hier wie zu 772 längst erwiesen. Au;
der Ostertafel, die diesen Annalen zugrunde lag, wurden irrtümlich di(
Osterdaten zu Tagen der betreffenden Geschehnisse umgedeutet. S(
bedeutete der 29. März nicht den Tag des Einbruchs Karls d. Gr. ir
Sachsen, sondern den Ostersonntag 772 und der 31. März ebenso fü
804. Die Richtigkeit der Jahresangabe können wir nicht nachprüfen;
aber bei der ünzuverlässigkeit der folgenden Angaben verdient si(
wenig Vertrauen. Zu 833 wird der Tod des zweiten Bischofs Meinga;
und die Nachfolge Gefwins gemeldet. Aber in der nur in dürftigen
jedoch, wie wir annehmen dürfen und wenigstens an einem Beispiel
bestimmt beweisen können,^ zuverlässigen Auszügen erhaltenen Fuldaei'
I
' Die' eigenhändig auf Rasur nachgetragene Stelle Thietmars von Merseburjl
VIII, 75, ed. Kurze SS. rr. Germ. 248, „Anno dominicae incarn. DCCC . . . predictui
cesar ad suae virtutis et bonae operacionis deauracionem in una die VIII episcopatu^
in Saxonia Christo subdita dispositis singularibus parrochiis constituit*', auf di(
Hüffer S. 218 so großen Wert legt, ist für die Gründung dieser Bistümer wie füi
den angeblichen Frieden von Salz von gleich geringer Bedeutung und beweist nur
daß sie am Ende der Reihe steht, die mit den Lorscher Annalen und der alten Halber
Städter Bistumschronik' einsetzt.
^ Vgl. Ernst Pereis, Ein erhaltener Brief aus der verschollenen Fuldaer Brief-
sammlung, NA. 30, 145—147.
Forschungen zu Karolinger Diplomen 325
iefsammlung des 9. Jahrhunderts wird unter den Teilnehmern der
,ainzer Synode vom Juni 829 ein Geboinus episcopus aufgezählt, an
essen Identität mit unserem Gefwin von Osnabrück kaum gezweifelt
erden kann.^ Ich stehe nicht an, dem Brief mit aller Entschiedenheit
2n Vorzug vor den Annalen zu geben,^ und es macht auf mich auch
:ir keinen Eindruck, wenn eingewendet wird, daß der Brief des Abtes
atto von Fulda an den Erzbischof Otgar von Mainz doch erst eine
eihe von Jahren nach der Synode geschrieben ist und daß daher ein
rtum im Bischofnamen untergelaufen sein könnte. Eine Liste von
,9 Bischöfen, Chorbischöfen und Äbten, die hier gegeben wird und
Ihne nachweisbaren Irrtum fast auf das Jahr genau stimmt,^ hat man
ntweder in guter, gleichzeitiger Aufzeichnung vor sich oder man ist
berhaupt nicht imstande, sie zu geben; es wäre geradezu verwun-
erlich, daß beim Namen des Osnabrückers allein ein Versehen vor-
egen sollte. Angesichts dieses bestimmten Zeugnisses ist es unbe-
schtigter Eigensinn, an der Angabe der Osnabrücker Annalen noch
inger festzuhalten. Dann fordert aber auch die Urkunde III zu noch-
laliger ernster Erörterung heraus; denn mit ihrer Datierung vom
. September 829, wenn sie richtig aufgelöst ist, verträgt sich Bischof
leingaz als Empfänger ebenso wenig, wenn im Juni dieses Jahres
chon sein Nachfolger an der Synode teilnahm. Wir sahen oben
). 276, daß dieses Datum nur durch Emendation der, so wie sie über-
efert sind, unvereinbaren Jahresangaben gewonnen ist. Aber die
Irkunde läßt sich beim Festhalten an dem Actum Worms zu keinem
iler früheren Jahre unterbringen, und wollte man eine Änderung der
jMsangabe durch den Fälscher annehmen und auf eine Einreihung
Iler Urkunde nach dem Itinerar verzichten, dann wäre dieses Opfer
janz vergeblich gebracht; denn wir würden durch die Übereinstimmung
les Formulars mit der Urkunde für Worms, ausgestellt aus Worms
)29 September 11, Mühlbacher 871, erst recht genötigt, die Urkunde
jvieder hier einzureihen. Die beiden bilden ein so eng zusammen-
^jehöriges Urkundenpaar wie die Immunitäten für Halberstadt und
A^orms, von denen wir oben S. 198 ausgingen. Es bleibt also wohl
^ Druck des Auszugs MG. Epp. 5, 529 = Concilia 2, 604. Die Identifizierung
nit dem Osnabrücker Bischof, die Hau ck und die Herausgeber in den MG. Dümmler
ind Werminghoff nur vorsichtig annahmen, ist viel bestimmter von Jostes
1. a. 0. S. 136 ausgesprochen; dieser wies auch mit vollem Recht darauf hin, daß
,Geboinus** die regelrechte Latinisierung von ,,Gefuinus" ist.
^ Dies auch Haucks Meinung, wenn die Identifizierung zutrifft.
^ Hadubald von Besan^on 811—829, David von Lausanne 827—850: auch bei
anderen Bischöfen reichen die feststellbaren Daten hart an 829 heran; für Friedrich
von Utrecht und Erbeo von Sähen weisen die ersten zweifelhaften Daten erst auf 828.
I»
326 M- Tangl, Forschungen zu Karolinger Diplomen
nur der eine Ausweg, daß der Fälscher in III ganz ebenso den Namei
des Bischofs geändert hat, wie ich dies oben S. 279—280 bei IV mi
Sicherheit nachweisen konnte, nur daß der Widerspruch bei diese
Urkunde, deren direkte und indirekte Zeitangaben gleich auf zwe
Jahrzehnte nicht stimmen, viel früher und allgemein beachtet wurde
Empfänger der echten Urkunde Ludwigs d. Fr. vom September 82<
muß Bischof Gefwin gewesen sein. Der Grund aber, weshalb de
Fälscher seinen Namen entfernte, war wohl derselbe, der ihn in 1\
zur Ersetzung Gozberts durch Egilbert veranlaßte. Die Namen Gefwii
und Gozbert bedeuteten nach der Osnabrücker Tradition die Krisis ir
der Zehntfrage. Gefwin hat ihr zufolge als enfant terrible von 83:;
den Angriff auf das Bistum verschuldet, Gozbert durch seine hilflos(
Duldung gefördert. Im Beweisgang des Fälschers, der entgegen dei
verschüchterten Klage Egilmars eine neue Tradition ganz anderer
Geistes und Inhalts aufbaute, waren die Namen der beiden Unglücks-
raben nicht zu gebrauchen; daher wurden sie durch die des Vor-
gängers und Nachfolgers ersetzt. Wenn wir die Osnabrücker Annaler
auch in der Angabe über den Pontifikatsantritt Egilberts um Jahre
irren sehen, der 868 schon als Bischof nachweisbar ist, während dit
Annalen den Tod des Vorgängers und seine Erhebung erst zu 87^
melden, dann erscheint das Gesamtbild dieser mageren und dabe
noch so unzuverlässigen Quelle recht trübe und die Mühe, die Philippi
mit liebevollem Scharfsinn auf ihre Rettung verwandte, vergeblich.
Als Karl d. Gr. das Lütticher Missionsgebiet zum Bistum Osnabrück
erhob, war es — hierin bin ich ganz einer Ansicht mit Jostes —
sein Wille, daß die selbständigen Tauf- und Zehntkirchen des frie-
sischen Nordens aus der Frühzeit der Sachsen-Mission allmählich in
ihm aufgehen sollten. Wie in so manchen Dingen hat Ludwig d. Fr.
auch hier störend in das Werk seines Vaters eingegriffen; und zwar
geschah dies zunächst 819 durch die Verleihung der Immunität an
Visbeck. Diese Missionszelle erhielt dadurch, weit entfernt zur Osna-
brücker Pfarre herabzusinken, gesicherten und bevorrechteten Bestand.
Die Gründung und ungewöhnliche Bervorrechtung Korveys entschied
dann für die Zukunft. Sie schuf die feste Tradition, die seine Nach-
folger durch die großen Inkorporierungen fortsetzten. So stand wie
bei Hersfeld-Halberstadt das mit Pastorationsrechten und Zehnten aus-
gestattete mächtige Kloster gegen das beeinträchtigte Bistum. Das
Ende waren die Zehntkämpfe des 11. Jahrhunderts.
Nachtrag: Der oben S. 226 Anm. 2 angekündigte Exkurs ist zu gesonderter
Bearbeitung ausgeschieden.
I
Forst und Zehnte*
von
F. Philippi
Oben S. :101 bis S. 154 dieser Zeitschrift hat sich H. Thimme in
tankenswerter Weise mit dem „Bannforst", der Forestis, eingehend be-
chäftigt und bemüht sich dabei, vor allem die rechtliche Seite dieses
Begriffes, welche die heutzutage fast allein mit dem Worte „Forst"
erbundene „botanische Seite" bei weitem überragt, ja für die ür-
:undenforschung allein in Frage kommt, klar herauszustellen.
Vielleicht würde er in seiner verdienstlichen Arbeit zu noch schär-
eren Ergebnissen gekommen sein, wenn er den Fingerzeig der Baseler
Jrkunden,^ in welchen das deutsche forestis mit dem lateinischen
pltus wiedergegeben wird, genauer verfolgt hätte. Denn diese Tat-
;ache ist wohl kaum als eine gelehrte Rückübersetzung aufzufassen,
;ondern als eine klare Bezeichnung des Rechtsbegriffes in klassischem
luristenlatein; hatten sich doch gerade in Rätien römische Verhältnisse
md damit auch deren lateinische Bezeichnungen mit am besten und
im längsten erhalten.
* Die Abhandlung von H. Thimme hat in besonderem Maße die wissenschaft-
iche Erörterung angeregt. Wir zählen dahin auch die etymologischen Ausführungen
.on K. ühlirz in seiner zweiten Besprechung unseres Archivs (D. Lit.-Ztg. 1909/13),
iuf die wir im übrigen keine Veranlassung haben zurückzukommen. Auf dem Gebiet
jrkundlicher Forschung wird Dr. Thimme seine Ergebnisse selbst vertreten. Zu dem
^roblem der Begriffsgeschichte aber wird, wie wir zu unserer Freu<Je hören, auch
Edward Schröder noch kritisch Stellung nehmen, der Thimmes Zurückhaltung in
allem Etymologischen ausdrücklich gebilligt und empfohlen hat.
Was aber die obigen kurzen Ausführungen betrifft, so haben wir ihnen um so
sveniger die Aufnahme versagen wollen, als sie auch in der Osnabrücker Zehntenfrage
einen sowohl von den früheren Erörterungen Brandis (Westdeutsche Zeitschrift 1900),
als von den jetzigen Untersuchungen Tangls durchaus abweichenden Standpunkt
vertreten. Die Herausgeber.
' Vgl. S. 137 D. Heinrich II. 80 und S. 140 St. 2174. ^
328 F- Philippi
Wie der „saltus'V der Urwald, rechtlich ein saltus bleibt, aucl
wenn sein Boden zum größten Teile von Siedlungen (villae, castra) be
deckt ist, so bleibt die forestis rechtlich ein Forst,^ wenn sie auch bi
auf wenige silvae gerodet ist. Auf Analogiebildung beruht dann dii
rückläufige Bewegung im 10.— 12. Jahrhundert, durch welche aucl
schon stark besiedelte Landstrecken eingeforstet, zum Forste erklär
wurden. Es ist ohne weiteres klar, daß durch eine derartige Maß
nähme dem Erwerber der Forstgerechtigkeit nicht alle die Rechte
welche sie ursprünglich in sich schloß, verliehen werden konnten. Dii
Gerechtigkeit ist vielmehr selbstverständlich verkürzt um die aner
kannten Rechte (jura quaesita) der schon in dem eingeforsteten Bezirk(
Angesessenen — und bedarf deshalb ihrer Zustimmung.
Aus diesen Umständen erklärt es sich leicht, daß in den Zubehör
aufzählungen der Verleihungen je länger, je mehr die durch den Forst
bann verliehenen Rechte zusammenschwinden und unter ihnen di(
Jagdgerechtigkeit, welche auch auf gerodetem Boden ausgeübt werder
konnte, immer mehr in den Vordergrund tritt. Diesem Gange dei
Entwicklung folgend, hat denn auch Herr Thimme gerade der Be-
sprechung dieses Teiles der Forstrechte einen besonders breiten Raun
gewidmet, wozu er noch um so mehr veranlaßt war, als auch dit
Forstmänner, welche vorher das Thema behandelt haben, sich ihrei
Stellung nach gerade mit der Jagd am meisten beschäftigt haben.
Es ist das ja auch insofern durchaus gerechtfertigt, als diese
Nutzung eine erhebliche Bedeutung besitzt und in früheren Zeiten eine
noch viel erheblichere Bedeutung besaß, weil die Jagd damals in dei
Wirtschaft eine viel größere Rolle spielte, als heutzutage. Denn ein
großer Teil der Fleischnahrung wurde durch sie beschafft, Leder und
Pelzwerk, welche für die Kleidung ehemals viel mehr in Betracht kamen
wie jetzt, wurden durch sie gewonnen. Aber die politische Entwick-
lung ist doch durch eine andere Seite der Forstrechte in erheblich
größerem Maße beeinflußt.
Ich meine weniger die immerhin bedeutenden und auch die Ver-;
fassungsentwicklung beeinflussenden Holz- und Weidenutzungen, umi
so weniger, als sie zweifellos häufig durch alte, auf Volksrecht beruhende!
^ Zur leichteren Orientierung über diese Verhältnisse eignet sich jetzt am besten
die Arbeit von Fleischmann, Altgermanische und altrömische Agrarverhältnisse,
besonders S. 89ff. Es würde sich wohl lohnen, einmal selbständig zu untersuchen,
ob nicht die „fränkische" forestis eine unmittelbare Nachahmung des saltus ist, wie
wir ja auch allmählich gelernt haben, daß die villa Karls d. Gr. eine kaum modi-
fizierte Nachahmung der altrömischen villa ist.
^ Dies zugegeben, kann der ursprüngliche Wortsinn des alten Wortes forestis
ganz wohl unserem jetzigen Forst entsprochen haben.
'1}
Forst und Zehnte 329
nsprüche — modern als Servitute (Dienstbarkeiten) bezeichnet — ein-
eengt werden, sondern das in den Zubehöraufzählungen nicht immer,
\ verhältnismäßig selten erwähnte Rodungsrecht.
Es war deshalb so sehr viel bedeutender, weil auf seiner Grund-
3ge neue Wirtschaften im einzelnen und neue Ansiedlungen im ganzen
'eschaffen werden konnten, Neuschöpfungen, an welche der Forst-
nhaber nicht nur finanzielle, sondern auch oberherrliche — sicher
;rundherrliche — Ansprüche geltend zu machen berechtigt war.
Thimme erwähnte zwar dieses Rodungsrecht — richtiger Recht
es Rodungsverbotes — an verschiedenen Stellen,^ aber er verzichtet
arauf, der Bedeutung dieses Rechtes genauer nachzugehen, obwohl
r die Forstordnungen Karls d. Gr. sehr wohl kannte, der doch in
rster Linie seine Beamten anweist, für die Gewinnung von Ansiedlern
ür die Forsten Sorge zu tragen.^
Diese Ansiedlungen, welche also zweifellos die ergiebigste Art der
brstnutzung darstellen, konnten nun in den verschiedensten Formen
jmsgeführt werden. Entweder konnten ganze villae ausgelegt oder Ein-
elhöfe mit Pertinenzien gegründet oder schließlich kleinen Leuten ge-
ringere Bodenstrecken zugestanden werden. Dabei konnte den Sied-
ern der Grund und Boden entweder zu echtem Eigen übergeben oder
n irgend einer Leiheform ausgetan werden.
Beispiele für diese verschiedenen Arten des Vorgehens lassen sich
eicht beibringen; es lohnt sich daher nicht hier darauf einzugehen;
IUI eine Art der Bodenüberweisung, die zuletzt erwähnte Art der Leihe
m einzelne kleine Leute möchte ich etwas näher beleuchten. Bei ihr
st gewöhnlich die Bodennutzung gegen Entrichtung des Zehntens^ —
meist verbunden mit persönlichen Verpflichtungen (Diensten) — über-
ragen. Diese Zehnten sind nicht immer unmittelbar als solche be-
zeichnet, sondern sie scheinen auch noch mit anderen Ausdrücken wie
V\edem,* Stouffa^ auch wohl census regius^ benannt zu sein.
Es ist das ja nun eine bekannte Sache; ihre eminente Bedeutung
jaber für die Wirtschafts-, politische und Verfassungsgeschichte wird
trotzdem deshalb meistens unterschätzt, weil man bei der Erwähnung
^ z. B. S. 118 Anm. 3; S. 135 Anm. 4 decimationes novalium de duabus forestis.
— Ludwig d. Fr. für Castus (819) decima de silva Ammeri et Ponteburg. Mühlbacher
Reg. imp." Nr. 702.
' Oben S. 108, 109.
^ S. oben Anm. 1 — auch der Siebente kommt vor, s. unten Anm. 4.
* S. 146 bezeichnete in den Trierschen Forsten allerdings den Siebenten.
^ Zu vgl. Rubel, „Die Franken", S. 262— 272.
'Schröder, Rechtsgeschichte 5. Auflage, S. 168, 202, 533. Anm. 7.
330 ^ F. Philippi
von Zehnten in Urkunden nur in den seltensten Fällen ohne weitere;
sagen kann, ob es sich um diesen „Rottzehnten" oder um den Kirchen
zehnten handelt. Da im allgemeinen noch die Ansicht vorherrscht ,
daß der Kirchenzehnt in ganz Deutschland zur Einführung gelangt sei
und wir außerdem über Kirchenzehnten quellenmäßig viel besser unter
richtet sind, als über den Rottzehnten, so wird in Zweifelsfällen stet;
zunächst an den Kirchenzehnten gedacht.-^
Das hat in vielen Fällen zu ganz irrigen Auffassungen geführt
um so mehr, als schon in den späteren Jahrhunderten des Mittelalters
diese Verwechslung besonders dann eintrat, wenn geistliche Personer
oder Korporationen im Besitze von Rottzehnten waren. Und diese Ver-
kennung des rechtlichen Grundes der Abgabe hat in vielen Fällen dae
Verständnis der Sachlage vollkommen abgeschnitten und damals so-
wohl wie heutzutage, damals in den Rechtsverhältnissen, heute in dei
Wissenschaft die tollste Verwirrung angerichtet. Ein Beispiel dafür ist
der Osnabrück-Corveyer Zehntenstreit, welcher an dieser Stelle beson-
ders interessiert, weil er mit einer Forstverleihung in engster Beziehung!
zu stehen scheint. |
Nach der allgemeinen, auch von mir früher durchaus geteilten*
Auffassung handelt es sich in diesem Streit um den kirchlichen, den
Sachsen und zwar den nobiles, ingenui und liti auferlegten Zehnten.
Gegen diese Auffassung hätte nun schon die Tatsache bedenklich
machen sollen, daß nach den Quellen, auch den in Osnabrück ge-
fälschten, Karl d. Gr. das Bistum mit den streitigen Zehnten dotiert
hatte. Diese Tatsache hätte einer besonderen Beurkundung für das
eine Bistum Osnabrück nicht bedurft, wenn damit die allgemeine Ober-
weisung der kirchlichen Zehnten, welche nach Kirchenrecht und Kapi-
tularienbestimmungen allen Sachsen auferlegt waren, gemeint gewesen i
wäre, weil diese Zehnten ja allen Bistümern Sachsens ohne weiteres
zustanden; es muß sich also um eine besondere Verleihung gehandelt
haben.
Ferner erscheint es bemerkenswert, daß über die betreffenden-
Zehnten weltliche Herren: die Könige Karl und Ludwig, sowie der
Graf Cobbo frei verfügen, indem sie erst die Zehnten schenken, dann
wegnehmen und auf die Klöster Corvey und Herford übertragen. Hätte
es sich um die bekannten kirchlichen Zehnten gehandelt, so hätte von
vornherein mit Hinweis auf das Kirchenrecht dagegen erfolgreichster
^ Sagte doch Wai.tz in der ersten Auflage seiner Verfassungsgeschichte Bd. IV
S. 105: „Ein Zehnte, den der König als solcher vom Land erhoben, kommt über-
haupt nicht vor."
Forst und Zehnte 331
inspruch erhoben werden können. Das ist aber offenbar zunächst
icht geschehen.
^ Es ist ja freilich bei dem Stande der Überlieferung sehr schwer,
ch von den einzelnen Stadien des Streites ein einwandfreies Bild zu
lachen, und in der bis jetzt nicht beanstandeten Klageschrift des
Ischofs Egilmars (ca. 890) findet sich schon eine Berufung auf das
irchenrecht; es ist jedoch demgegenüber zu beachten, daß die päpst-
che Antwort darauf nicht eingeht, vielmehr eine Untersuchung in Ans-
icht stellt.^ Wäre der Papst von der Zulässigkeit dieser Berufung
jberzeugt gewesen, so würde er sie doch, wenigstens in thesi, aner-
lannt und .die Verfügung weltlicher Großen über kirchliche Einkünfte
Is ungerecht bezeichnet haben. Das ist aber nicht der Fall. Ferner
/erden in der bis jetzt ebenfalls noch nicht in ihrer Echtheit bean-
itandeten und auch kaum zu beanstandenden Synodalentscheidung
on 888 den Klöstern die Zehnten bestätigt.^ Der Vorsitzende der
jynode und Aussteller der Entscheidung war Erzbischof Liutbert von
i\ainz, der mit den Klöstern Hersfeld und Fulda in ganz entsprechende
treitigkeiten verwickelt war.^ Ist es da denkbar, daß er und die an-
eren auf der Versammlung anwesenden Bischöfe so rückhaltlos die
fechte der Klöster auf die Zehnten anerkannt haben würden, wenn es
ich dabei um einen groben Eingriff in die unbezweifelbaren kirch-
ichen Rechte eines Mitbischofs gehandelt hätte? Ferner berichtet
■gilmar selbst, daß er mit seinen auf kanonisches Recht begründeten
Forderungen an die Zehnten von einer anderen Synode abgewiesen
worden sei.^ Soll man wirklich annehmen, daß die Bischöfe zwei even-
uell ihren eigenen Rechten so präjudizierliche Entscheide gefällt haben
:önnen? Oder weisen diese unbestreitbaren Tatsachen nicht vielmehr
larauf hin^ daß die Forderungen des Osnabrücker Bischofs mit kano-
^ Quapropter necessarium esse duximus, ut remotis tergiversationibus veritatis
lucubratione adminiculum tibi a nobis inpendatur atque ab apostolica sede suf-
iragetur, ne in tocius ecclesie perturbationem hec inpudens procedat intentio et ea
lue a sanctis predecessoribus nostris dudum prohibita fuerant, denuo reviviscant.
xider fehlt die Antwort an den Abt von Corvey, welche wahrscheinlich einen klareren
:inblick in die Beurteilung des Falles durch den Papst gewährt hätte. Os. ÜB. I, 60.
^ Os. ÜB. I, 53: maneant omnia in potestate eis pr^latorum ut — vel in agris
el in familiis vel in decimis eis constant esse collata.
^ Ausfeld, Lambert v. Hersfeld und der Zehntstreit zwischen Mainz, Hersfeld
md Thüringen (Diss. Marburg 1879) S. 22, 31. — Auch dieser Streit scheint durch
ibsichtliche oder unwissentliche Verwechselung von Kirchen- und Rottzehnten ver-
virrt zu sein; vgl. ebenda S. 34,
* Os. ÜB. I, 60: hoc miro et detestabili modo, qualiter a Magonciacense alterius
Jyocesis presule fore queat irritum, ignoramus.
332 F. Philippi
nischem Rechte nicht zu begründen waren, mit anderen Worten, dal
es sich gar nicht um kirchliche Zehnten gehandelt hat.
Die Dotierung der bischöflichen Kirchen im Sachsenlande is
offenbar den Verhältnissen entsprechend auf verschiedenen Grundlage!
erfolgt.^ Während Münster wohl durch die erfolgreichen Bemühunget
seines ersten Bischofs Liutger mit einer großen Zahl von Oberhöfen —
gewöhnlich nimmt man 12 an^ — ausgestattet worden ist, scheiner
ähnlich umfangreiche Schenkungen für Osnabrück nicht zur Verfüguns
gestanden zu haben. Ein größerer Komplex^ von Reichsgut an de
Hase war zu Lehn ausgetan, und das Widukintsche Geschlecht hat seit
Erbgut im Osnabrücker Sprengel teils zunächst in der Hand behalten,
teils zur Begabung der Familienstiftung Wildeshausen ^ verwendet. Ol
auf diese Entwicklung die besonderen Verhältnisse der Engern, welch(
offenbar dem Christentume nicht so zugänglich waren, wie die frühe
schon vielfach von Missionaren besuchten Westfalen, von maßgeben-
dem Einflüsse gewesen sind, wäre noch näher zu untersuchen, ist abei
sehr wahrscheinlich. Auch wird das waldreiche Bergland in der um
gebung der Bischofsstadt damals noch schwächer besiedelt geweser
sein und so den Kolonisationsbestrebungen der Franken ein sehr ge-
eignetes Feld geboten haben.
Folgt man diesem Gedankengange weiter, so tritt die Frage ent-
gegen, wie man sich im einzelnen diese Kolonisation des Landes unc
die Überweisung ihrer Erträgnisse an die Osnabrücker Kirche vorsteller
kann: es scheint, daß dies durch Einforstung großer Landstrecken zu-
gunsten der Osnabrücker Bischöfe ins Werk gesetzt worden ist.
Zwar ist als älteste echte Urkunde über den großen Forst dei
Osnabrücker Kirche erst die Urkunde Ottos L von 965 (D. Otto I 302;i
auf uns gekommen. Sie erscheint als Neuverleihung. Wer jedoch das
ürkundenwesen des Mittelalters kennt, wird aus ihrem Wortlaute nichl:
zwingend folgern wollen, daß sie wirklich die erste Verleihung dar-
stellt. Es kann vielmehr sehr wohl eine Forstverleihung durch einen'
früheren Herrscher vorausgegangen sein, ja es ist höchst wahrscheinlich,;
^ Die Angabe in der Klageschrift Egilmars: ut decimarum quibus tantummodOj
episcopatus in Saxonia sunt constituti ist daher, wie so vieles in dieser Parteischrift,
unrichtig.
' Tibus, Gründungsgeschichte S. 141 ff.
* Osn. ÜB. I, 111, 138, 139.
* Es kam später an die Familienstiftung Enger. Osn. ÜB. II, 93. Vgl. auch
427, III, 152. •
^ Osn. ÜB. I, 38 u. 46.
Forst und Zehnte 333
aß dies der Fall war. Man kann recht gut eine Verleihung durch
arl d. Gr. annehmen, und zwar kann sie auf dem echten Pergament
lit dem echten Siegel^ neben der darauf vermuteten Immunität ge-
;anden haben, ohne daß man gerade den Wortlaut der jetzt darauf
;ehenden Fälschung auch als Wortlaut der alten Bewilligung anzu-
'ihen brauchte. Jedenfalls aber hat die jetzt vorliegende Fassung
nen sehr bezeichnenden, sie von den späteren Verleihungen scharf
nterscheidenden Zusatz, nämlich das ausdrückliche Rodungsverbot in
•er Fassung der Strafandrohung, si quisquam hoc idem nemus . . .
ine praedictae sedis episcopi licentia studio venandi vel silvam ex-
tirpandi . . . intrare praesumpserit, welcher allen späteren echten und
inechten Wiederholungen fehlt. Nun scheint der Konsens zur Rodung
ir den Osnabrücker Forst in den späteren Jahrhunderten, aus denen
/jr genauere Nachrichten haben, vom Bischöfe weder eingeholt noch
rteilt worden zu sein: jedenfalls wird im 15. Jahrhundert der Wild-
ann, als man auf ihn zurückkam, nur auf die Jagd bezogen ^ und ich
nde im Osnabrücker ürkundenbuche kein Stück, welches auf diese
Verhältnisse bezogen werden könnte, als etwa die Urkunde^ Bischofs
idolf von 1219, in welcher er dem Kloster Iburg die Zehnten von den
brukelant" genannten agri novales, soweit sie zwischen den dem Kloster
bgabepflichtigen Ländereien liegen, überweist. Es liegt jedoch näher,
abei an den ja auch auf Rodungen gelegten kirchlichen Zehnten, als
n einen eigentlichen „Rottzehnten" zu denken.
und zwar ist das um so wahrscheinlicher, als man deutlich
wahrnehmen kann, wie die Kenntnis vom Rottzehnten sich auch im
allgemeinen mit der Zeit immer mehr verliert. Während aus den
Quellen des 9. Jahrhunderts noch das Bewußtsein hervorleuchtet, daß
jlie streitigen Zehnten den Osnabrücker Bischöfen nicht ohne weiteres
luf Grund ihrer kirchlichen Stellung gebühren, sondern auf einer be-
onderen Verleihung des großen Karl beruhen, pochen doch schon
Sgilmar und noch mehrere seiner Nachfolger, besonders Benno II. auf
hr durch kirchliche Gesetze begründetes Recht. Diese taktische Wen-
lung ist nur zu erklärlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß das
kanonische Recht einen zuverlässigeren Rechtstitel bot, als eine ein-
nalige königliche Schenkung, die ihrer Natur nach widerrufen werden
sonnte, und deren Widerruf das Benehmen Bischofs Gebwin voll-
ständig erklärt und gerechtfertigt haben würde.
^ Vgl. meine Untersuchungen in Osnabr. Mitteil. XXVII 247 ff. zusammen mit
den Bemerkungen in D. Caroli I 21*'.
" Mitteil. d. Hist. Vereins VI, S. 326: Aussage über die Grenzen der Osnabrücker
Jagd von 1464.
' Osn. ÜB. II Nr. 110.
334 F- Philippi, Forst und Zehnte
Bei einer solchen Betrachtung erklärt es sich schließlich einwands
frei, daß man die Forstbannprivilegien als solche im Zehntenstreit nich
angezogen findet. Da aus ihnen das Recht der Osnabrücker auf dl
Zehnten erst durch eine umständliche Auseinandersetzung hätte ent
wickelt werden müssen, waren sie als Beweismaterial nicht sehr ge
eignet. Zudem waren es, wie oben angedeutet, Gnadenbeweise, derei
Widerruf selbstverständlich dem Könige theoretisch freistand.
Im Zusammenhange mit diesen Erwägungen möchte die Tatsache
daß nur die älteste Fälschung das Rodungsverbot bringt, dahin zi
deuten sein, daß dieser Teil des Wortlautes sehr alt ist. Die späterei
Nachkommen haben auf diese Seite der Forstnutzung offenbar keinei
Wert mehr gelegt: sie hätten also auch keine Veranlassung gehabt
den betreffenden Passus ihrerseits in eine Fälschung selbständig ein
zuschwärzen. Sie werden ihn eben vorgefunden haben. Dagegei
haben die Verfasser der sächsischen und salischen Königsurkundei
ein modernes Formular genommen, welches der Rodungen nicht meh
Erwähnung tat.
Kanzleiordnungen Maximilians I., Karls V.
und Ferdinands L*
von
Andreas Walther
Einleitung
Die unten mitgeteilten Dokumente, die den Anlaß zu der vorliegen-
en Untersuchung gaben, beziehen sich auf die Kanzleiorganisation am
lofe Karls V. Darüber war bisher nichts bekannt, denn Seeliger^
nd Kretschmayr^ verfolgen vielmehr die in Deutschland fortgehende
ntwicklungsreihe. Das 1519/20 verfaßte Memoire des Großkanzlers
iattinara über Titel, Unterschrift, Wappen, Siegel und Münzen, die der
rwählte römische Kaiser in seinen Reichen zu gebrauchen habe, bietet
inen Querschnitt, der anschaulich macht, wie sich die Verwaltungs-
rganisation vom Hof Karls V. ungeheuer breit ausspannt über das
\^eltreich hin. In dem zweiten Dokument haben wir ein Beispiel für
en Typus der Kanzleiorganisation in den spanischen und italischen
(eichen des Kaisers. Die so gewonnene Übersicht gibt erst das richtige
Augenmaß für Einreihung der beiden letzten Dokumente, einer Kanzlei-
)rdnung Gattinaras von 1522 und eines umfangreichen Memoires des
/iglius aus dem Jahre 1550. Beide zusammengenommen bieten einen
-ängsschnitt durch die Geschichte der deutschen (und am Anfang auch
* Auch an dieser Stelle möchte ich der Verwaltung der Johann Peter Averhoff-
»tiftung in Hamburg, durch deren Beihilfe mir eine ausgedehnte Archivreise ermög-
icht wird, meinen herzlichen Dank aussprechen.
^ G. Seeliger, Erzkanzler und Reichskanzleien. Ein Beitrag zur Geschichte des
leutschen Reiches, Innsbruck 1889.
'■^ H. Kretschmayr, Das deutsche Reichsvizekanzleramt. Archiv für Österreich.
3eschichte, Bd. 84, Wien 1898, S. 381—502.
336 Andreas Walther
der österreichischen) Hofkanzlei, einsetzend unmittelbar nach den Ver
handlungen zwischen Erzkanzler und Hofkanzler 1521, mit denen unsen
bisherige Kenntnis abbricht, abschließend ein Menschenalter später un
mittelbar vor dem Zeitpunkte, mit dem unsere Nachrichten wieder ein
setzen, dem Ordo Consilii von 1550, den Winter veröffentlicht hat,
und der großen Neuorganisation des Jahres 1559.
Meine Absicht, diese Dokumente im Zusammenhang mit einer Ge
schichte der Ressortbildungen am Hof Karls V. zu publizieren,^ erwie:
sich als unmöglich, als ich jetzt auch im Brüsseler Staatsarchiv nicht:
Wesentliches für eine solche Darstellung fand, so daß sie vermutlicl
nur aus einzelnen Notizen rekonstruiert werden kann, die aus de
ganzen Breite der Quellen und einer Reihe von Archiven zusammen
getragen werden müssen. So möchte ich diese Dokumente hier nocl
nicht als Zeugnisse für bestimmte Organisationen verwerten; aucl
nicht als Material für eine kritische Beurteilung der Kanzleiprodukte
sondern in erster Linie als Gegenstand der Erkenntnis selbst.
Damit wird der Rahmen, in dem sich die Erörterungen zu be
wegen haben, ein anderer. Zunächst müssen alle habsburgischen Be
Sitzungen jener Zeit hineingezogen werden. Denn es kann z. B. di,
Ordnung Gattinaras von 1522 nicht verstanden werden ohne Berück
sichtigung der von Gattinara im Jahre 1516 für Margarete von Öster
reich verfaßten Rats- und Kanzleiordnung sowie die burgundischei
Ordonnanzen überhaupt; und der Entwurf von 1550 weist unter anderen'
ausdrücklich auf eine österreichische Ordnung zurück. Zeitlich abe
sind die Endpunkte bestimmt einerseits durch die erste erhaltem
deutsche Kanzleiordnung, die des Berthold von Mainz vom Jahre 149^
die ebenfalls dem Entwurf von 1550 als Vorlage dient, andererseit;
durch die Neuorganisation des Jahres 1559, die den Abschluß de
ganzen Entwicklungsperiode bezeichnet. Es ist ein Umkreis, der zu
fällig genau mit den Regierungen Maximilians I., Karls V. und Ferdi
nands I. zusammenfällt. Alles Gewicht aber soll ruhen auf den di
deutsche Geschichte interessierenden Ordnungen. Wenn nach Possi
„eine kritische Sammlung und Bearbeitung der Kanzleiordnungen eim;
der ersten und hervorragendsten Aufgaben für die Diplomatik de
letzten Jahrhunderte des Mittelalters" ist,^ so soll hier für die mi^ dei
Höfen jener drei Kaiser zusammenhängenden Kanzleien die kritischi
^ G. Winter, Der Ordo Consilii von 1550. Archiv für Österreich. Geschichte
Bd. 79, Wien 1893, S. 101 ff.
^ A. Walther, Pie burgundischen Zentralbehörden unter Maximilian I. um
Karl V. Leipzig 1909, S. 165.
^ 0. Posse, Die Lehre von den Privaturkunden. Leipzig 1887, S. 125.
I
Kanzleiordnungen Maximilians I., Karls V. und Ferdinands I. 337
Sammlung gegeben, einer Bearbeitung des spröden Materials aber der
^oden bereitet werden.
Wollen wir jedoch auch in diesem Zusammenhang nicht eigent-
ich die Geschichte der Ordnungen, am wenigsten etwa die noch nicht
spruchreife Frage nach den internationalen Abhängigkeiten behandeln,
Vielmehr die „Kanzleiordnungen" nach ihrem Wesen, als eine besondere
jruppe von Quellen, ins Auge fassen, so werden wir abermals in
?inen andern historischen Zusammenhang geführt, der nun nicht nur
^nlaß und nicht nur Rahmen der Untersuchung ist, sondern ihr den
nhalt zu geben hat.
Eine Kanzlei nämlich ist nichts Abgelöstes für sich, sondern sie
st das Schreibbureau einer Behörde oder eines Amtes mit Behörden-
:harakter. Das Wesen einer Kanzlei also und einer Kanzleiordnung
i^ann nur aus dem Wesen der Behörde, zu der sie gehört, verstanden
.Verden. Nun ist die Entwicklung seit dem Ende des Mittelalters die,
Jaß der ursprünglich einheitliche Rat sich vielfach differenziert, und
lamit auch die ursprünglich einheitliche Kanzlei zerreißt. Zwar bleibt
Jer Ausdruck „Kanzlei" in speziellem Sinn Terminus technicus für ein
^anz bestimmtes Schreibbureau. Aber wer noch seit dem 15. Jahr-
lundert einseitig die Geschichte nur dieses einen Bureaus verfolgen
vvollte, dem würde überall die wesentlichste Entwicklung entgehen.
Darum möchte ich im folgenden die Aufmerksamkeit lenken auf das
System der verschiedenen Kanzleien, das sich ableitet aus dem System
ier Behörden, zu denen sie gehören. Insbesondere soll auf das Ver-
lältnis der einzelnen Schreibbureaus zu der „Kanzlei" im speziellen
Sinne hingewiesen werden. Daraus muß sich ergeben ein Einblick in
das Wesen der Kanzleiordnungen, besonders des uns vorliegenden
doppelten Typus, eine Erkenntnis der notwendigen Einseitigkeit und
JnvoUständigkeit dieser Reglements, vor allem auch eine Übersicht
jber die zur Ergänzung heranzuziehenden Instruktionen, deren Summe
nit den uns vorliegenden „Kanzleiordnungen" zusammen die ideelle
/ollständige „Kanzleiordnung" ausmachen würde. Eine Zusammen-
stellung des bisher erreichbaren und erschließbaren Materials im ein-
'.elnen wird Recht und Nutzen der systematischen Erörterung erweisen.
Die dem Ganzen zugrunde liegende Anschauung von dem System
1er sich bildenden Behörden habe ich in meinen „burgundischen Zen-
ralbehörden" genauer begründet, worauf ich im folgenden mehrfach
/erweisen muß. Es dürfte sich ergeben, daß alles Wesentliche in der
deutschen Behördengeschichte Bestätigung findet.
Afu II 22
338 Andreas Walther
I. Der Begriff „Kanzleiordnung" aus dem System der
Behörden entwickelt
1. Kanzleiordnung und Hof Ordnung
Die ganze, seit dem Ende des 15. Jahrhunderts schnell immer
breiter anwachsende Reihe von Behörden ist anzusehen als ein System
von Emanationen aus der alten Curia, dem tiof. Blieb dieser Zusammen-
hang mit dem Ursprung noch lange lebendig empfunden, so muß in irgend
einer Weise in den tiofordnungen eine Kanzleiordnung enthalten sein
In der Tat sind die Hofstaatsverzeichnisse als ergänzende Quellen für
die Kanzleiorganisation heranzuziehen. Daß sie eine Kanzleiordnung
in gewissem Sinne zu ersetzen vermögen, zeigen z. B. die unten publi-
zierten aragonischen Hofstaatsverzeichnisse (vgl. unten S. 366). Fernei
ist die eigentliche Kanzleiordnung meist viel zu spezialisiert und in
traditionellen Formen erstarrt, als daß aus ihr noch die wesentlichen
Grundzüge der Organisation, insbesondere die für die Verwaltungs-
geschichte der Neuzeit grundlegend wichtigen Ressortbildungen inner-
halb der Kanzlei, deutlich zu ersehen wären. Nimmt man die gleich-
zeitigen Hofstaatsverzeichnisse hinzu, so wird man nicht in den
Einzelheiten und Kleinlichkeiten ermüden und stecken bleiben. Ja es
bleibt ein Durchsehen der Hofstaatsverzeichnisse immer noch das beste
Mittel für den, der sich schnell quellenmäßig über die Gesamtheit det
Kanzleiorganisation orientieren möchte. Freilich eine Liste wie das
nach dem Tode Maximilians I. aufgestellte Inventar der am Hofe befind-
lichen Beamten mit ihren Pferden wird nur die Namen der „Hofräte'
und der „Sekretäre und Kanzleischreiber" aufführen.^ Die eigentlichen
Hofstaatsverzeichnisse aber, besonders die neuerdings für Österreich von
Fellner-Kretschmayr in einiger Vollständigkeit von der Zeit Ferdinands h
bis ins 18. Jahrhundert hinein zusammengestellten Listen,^ bieten in
ihrer spezialisierten Rubrizierung wichtige Nachrichten. Von den bur-
gundischen Hofstaatsverzeichnissen unter Maximilian I. und während
* Fellner-Kretschmayr, Die österreichische Zentralverwaltung II. Veröffent-
lichungen der Kommission für neuere Geschichte Österreichs VI, Wien 1907, S. 142.
^ Nämlich die Verzeichnisse vom 1. Januar 1527 (Fellner-Kretschmayr VI.
147 f., zur Datierung siehe unten), vom 1. Januar 1537 (ib. 155, zur Datierung siehe
unten), von 1539/41 (ib. 156—159), von 1544/45 (ib. 161—164), von 1545/50 (ib.
164—167), von 1550/51 (ib. 167—171), von 1553/54 (ib. 172—175), von 1557/58 (ib
176—179), von 1559 (ib. 180—182), von 1563/64 (ib. 183—186); für die spätere Zeil
S. 187—237; ein Nachtrag Bd. VII. 530. Von den bei Kern (Deutsche Hofordnunger
des 16. und 17. Jahrh.) publizierten Ordnungen schließen nur die brandenburgischc
Joachims II. (1. 1—34) und die pommersche von 1575 (I. 106—155) noch Bestimmunger
über Rat und Kanzlei ein; vgl. das hessische Verzeichnis von 1513 (II. 84—87).
T^
Kanzleiordnungen Maximilians I., KarlsV. und Ferdinands 1. 339
er Zeit, als der Hof Karls V. noch mit dem burgundischen zusammenfiel,
'^Hhabe ich an anderer Stelle gehandelt.^ Von ganz besonderem Interesse
wären solche Verzeichnisse für die reiche Organisation am Hofe des Kaisers
in der späteren Zeit, weil uns da die Übersicht noch vollkommen fehlt.
Die Zusammenstellungen des Mameranus sind kein vollgültiger Ersatz,
k Da die Hofstaatslisten in erster Linie der Finanzverwaltung und
-kontrolle dienen, liegt ihr eigentlicher Zweck in dem Verzeichnis der
von den einzelnen Beamten bezogenen Gagen. Es ist aber die Fest-
stellung der Einnahmen der Sekretäre gerade in der uns interessieren-
den Zeit, in der sie überall in die leitenden Stellungen vorzudringen
)eginnen, von besonderem Interesse, da daraus auf ihre soziale Stellung
geschlossen werden kann.
In Burgund bestanden, wie in Frankreich, die Einnahmen eines
[Sekretärs nur zum Teil aus den Gagen, die allein in den Hofstaats-
verzeichnissen angeführt werden. Ungefähr auf die gleiche Summe
mag sich belaufen, was die Sekretäre dazu aus der Gebührenkasse
(beziehen. So rechnet Morel in seinem grundlegenden Buch über die
ranzösische Kanzlei des 14. Jahrhunderts;^ und für die Niederlande
jder Zeit Karls V. finde ich dasselbe Resultat. Es betrugen nämlich in
den Niederlanden die täglichen Gagen eines Sekretärs 15 sous (=pa-
iards) zu je 2 gros flandrischen Geldes.^ Nun wird dem am 30. Juni
1555 zum „Secretaire supernumeraire'' des niederländischen Conseil
prive, „signamment en la langue thioise et baz allemande" ernannten
3aptiste Berti bis zu seiner Ernennung zum Secretaire ordinaire außer
den Gagen von 15 sous gewährt ein jährliches Traitement von 200florins
carolus zu je 20 patards (dieser florin carolus ist also identisch mit
dem livre zu 40 gros), und zwar, wie es heißt, wegen seiner Ausgaben
3ei Ausübung des Amtes (das ist nur Formel), sowie „au Heu de la
Darticipation en la bourse desdits secretaires ordinaires".^ Da ir
solchen Fällen das Jahr zu 360 Tagen gerechnet wird,^ so belaufen
sich seine Gagen jährlich auf 5400 patards, d. h. 270 florins carolus,
licht viel mehr also als die Summe, auf die der Ertrag der Gebühren-
' Burgund. Zentralbeh., Anhang 2, S. 134—140.
^ 0. Morel, La grande chancellerie royale et l'expedition des lettres royaux
1328—1400. Memoires et documents publies par la Societe de l'ecole des chartes III,
Paris 1900, S. 402.
^ Siehe in der Vorstellung der Sekretäre des Conseil prive an Philipp II., daß
sie in den teuren Zeiten mit ihren Einnahmen nicht mehr auskommen könnten, den
3. Artikel (Burgund. Zentralbeh. 209). Die dem Hof des Kaisers folgenden Sekretäre
srhielten 24 sous (vgl. die Rubrik „Conseil" in den Hoflisten von 1517 und 1522/27,
ib. 213f.).
* Brüsseler Staatsarchiv, Pap. d'Etat et de l'Audience, Nr. 788, fol. 62 f.
^ Vgl. unten die Umrechnungen in den aragonischen Hofstaatsverzeichnissen.
22*
340 Andreas Walther
kasse geschätzt wird; besonders wenn vermutet werden darf, daß die
Entschädigung nicht ganz die Summe erreichte, für deren Ausfall sie
gewährt wurde.
Die unten mitgeteilten aragonischen Hofstaatsverzeichnisse geber
die Gagen im allgemeinen an nach barcelonensischen sueldos zu je
12 dineros, eine Rechnung, die der französisch-burgundischen nach
sous zu je 12 deniers analog ist.^ Die Auszahlung erfolgte in vier-
monatlichen Terminen, so daß, wer jährlich 10000 sueldos bezog, ar
einem Termin 3333 sueldos 4 dineros erhielt.^ Stimmt einmal diese
Rechnung nach Terminen nicht, wie bei Johan Aleman (Jean Lalle-
mand), der als Vorgänger Granvelles auch für die deutsche Geschichte
von Interesse ist, so kann durch Umrechnung des Überschusses ir
Tagesrationen auf die Zeit des Amtsantritts geschlossen werden.
Auch diese aragonischen Verzeichnisse aber wenden zugleich di(
spezifisch kastilianische und am Hof gebräuchliche Rechnung nacl
ducados und maravedis an. Die in maravedis angegebenen Summer
werden dann am linken Rande ausgerückt, nicht am rechten unter der
sueldos. Aber häufig wird auch eine in ducados angegebene Summ(
einfach in sueldos umgerechnet, so bei dem Namen des bekannter
Luis Carroz eine Summe von 300 ducados in 7200 sueldos, wonacl
also auf den Dukaten 24 sueldos kommen. Das Verhältnis von mara
vedis und sueldos ferner ergibt sich aus einer anderen Umrechnung
nach der 3000 maravedis + IV2 sueldos täglicher Gagen gleich sine
der Summe von II438V2 maravedis (in der zweiten Liste, fol. 77)
Führt man die Rechnung aus, so ergibt sich, daß einem sueldo ent
sprechen 15,63 maravedis. Vergleichen wir auf Grund dieser Resultat«
die ducados und maravedis, so erhalten wir das durch das Edikt vor
Medina del Campo 1497 festgesetzte offizielle Wertverhältnis von 1 : 375
Ich kann hier natürlich nur anführen, was zum Verständnis de
unten gegebenen Beilagen unentbehrlich ist. Eine kurze und klan
Einführung in diese Verhältnisse, ohne deren Kenntnis ein so große
Teil des durch unsere Quellen, wie gerade auch die Hofstaatsver
zeichnisse., gebotenen Materials vor allem zur Geschichte Karls V
totes Gut bleibt, hat neuerdings Lonchay gegeben.^
Da die Hofordonnanzen außer dem Bedürfnis der Finanzverwaltum
auch dem der Ordnung dienen wollen, so werden die Beamtenverzeich
^ Bekanntlich ist in England die Rechnung nach Pfund zu je 20 s. zu je 12 c
erhalten geblieben.
^ Siehe z. B. gleich die Eintragung zu dem ersten Namen.
^ H. Lonchay, Recherches sur Torigine et la valeur des ducats et des ecu
espagnols, Les monnaies reelles et les monnaies de compte; Bulletins de l'Academi
royale de Belgique, Classe des lettres etc., 1906, S. 517—614; auch Sonderabdrucl
I
Kanzleiordnungen Maxim ilians I., Karls V. und Ferdinandsl. 341
lisse vielfach, besonders in Burgund, mit Instruktionen durchsetzt.^
|/on hier aus gesehen ist die Kanzleiordnung also ein Bruchstück der
iofordnung. Eine detaillierte Kanzleiordnung freilich muß den Rahmen
ier Hofordnung sprengen. Dann finden wir etwa, daß in der burgun-
lischen Ordonnanz von 1497 zu der Rubrik „Grand Conseil", in der
mch das Kanzleipersonal aufgezählt wird, verwiesen wird auf eine
^om Kanzler und den Mitgliedern des Rates zu erlassende Instruktion
ür die einzelnen Beamtengruppen.^ Die Artikel dieser Instruktion
iber Sekretäre und Greffiers sind erhalten.^ Für eine andere Art
der Scheidung bieten die unten zu besprechenden österreichischen
brdonnanzenpaare vom 1. Januar 1527 und 1. Januar 1537 besonders
^ute Beispiele. Hier haben wir voneinander getrennt den „stat",
1. h. das Beamtenverzeichnis mit Angabe der Gagen, und eine Samm-
ung von Instruktionen, die durch ausdrückliche Hinweise auf den
,stat" noch die Parallelität anzeigen. Sprengt nun natürlich eine
detaillierte Kanzleiordnung doch wieder den Rahmen einer solchen
Sammlung von Instruktionen, so wird z. B. aus der Sammlung vom
1. Januar 1537 ausdrücklich die Kanzleiinstruktion herausgelöst und
verselbständigt. Häufiger aber spaltet sich die Kanzleiordnung selbst
einerseits in eine summarische Ordnung, die dann entweder durchaus
als Teil der Hofordnung auftritt, wie in jener Sammlung vom 1. Januar
1527, oder wenn auch ihrerseits verselbständigt, doch noch gern aus-
drücklich als „Hofordnung" oder Teil einer solchen sich bezeichnet,
wie in dem Entwurf Maximilians I. vom 13. Dezember 1497 (unten
S. 359), — andererseits eine selbständige detaillierte Instruktion, deren
andersartiger Charakter besonders deutlich heraustritt bei dem letzt-
erwähnten Dokument, wo sie in jene summarische Ordnung nach-
träglich hineingeflickt worden ist.
Noch von einer anderen Seite her werden wir auf diese grund-
legende Tatsache eines doppelten, nebeneinander bestehenden Typus
von Kanzleiordnungen geführt werden.
2. Kanzlei und Sekretariat
Aus der Curia geht der Rat hervor,* der seinerseits für die Er-
ledigung der geschäftlichen Angelegenheiten eine Reihe von Behörden
aus sich entläßt, unter ihnen die am Rat der Juristen haften bleibende
^ Burgund. Zentralbeh. 135.
^ Compte rendu de la commission royale d'historie ou recueil de ses bulletins.
Brüssel, Ser. 1, Bd. XI, S. 708.
' Gedruckt: Burgund. Zentralbeh. 198 f.
'^ Genauer wäre zu sagen, daß die Curia sich differenziert in. Hotel und Conseil
342 Andreas Walther
„Kanzlei" im eigentlichen Sinne (siehe unten). Der dabei im Zentrum
zurückbleibende Rat scheidet die unfruchtbar werdenden und hemmen-
den feudalen Elemente ab. Was zurückbleibt, nennen wir Kabinett
das Schreibbureau des Kabinetts nennen wir Sekretariat.
Der Gedanke ist nun der, daß die Kanzlei, die durch ihre Ab-
lösung gleichsam der Person des Fürsten zu fern gerückt ist, wieder
aus sich einen Kabinettssekretär deputiert. Am deutlichsten wird das
da hervortreten, wo das Kabinett am wenigsten Kraft und Einheitlich-
keit erlangt hatte. Das war in den Niederlanden der Fall, denn hier
war jenes Ausscheiden der feudalen Elemente nicht gelungen, und
übrigens nicht beabsichtigt, da die Adligen des Landes einem even-
tuellen Selbständigkeitsstreben der Regentinnen die Wage halten sollten.
Hier also ist das Kabinett vertreten nur zu einem Teil durch das
Kabinett der Regentin, zum andern durch das Conseil d'Etat. Und
diesem wird zugeordnet ein „Secretaire du conseil prive (d. h. des ge-
lehrten Rates und der an ihm hängenden offiziellen Kanzlei) servant
en notre Conseil d'Etat".^ Auch in Österreich gilt der für die „eigenen
Sachen" des Fürsten bestellte Sekretär als Deputierter der Kanzlei.^
Ferner müssen nach wie vor alle im Kabinett beschlossenen
Sachen, die einer juristisch gültigen Ausfertigung bedürfen, in der
Kanzlei ihre formelle Erledigung finden. Freilich kommt hier nicht
die Bemerkung in der Instruktion für den österreichischen Hofkanzlei'
vom 12. Februar 1528 in Betracht, nach der alles, was im geheimen
oder dem Hofrat beschlossen wird, in der Kanzlei ausgefertigt werden
soll,^ denn das Kabinett ist nicht identisch mit dem geheimen Rat.^
Aber in der Instruktion für den Hofkanzler von Ende 1498 werden
Bestimmungen über „der kgl. Majestät eigenen Sachen" getroffen, die
der Kanzler zu unterschreiben und zu siegeln hat.^
In der traditionellen Anschauung und rechtlich war also im Ver-
hältnis von Kanzlei und Sekretariat das Übergewicht durchaus bei der
(Burgund. Zentralbeh. 140), oder vielleicht noch besser, daß erst der aus der Curia
hervorgegangene Rat durch sein Schwergewicht die Zusammenfassung des feudal und
zeremoniell Bestimmten in einem Gegenpol hervorruft.
' Z. B. 1550 (Brüsseler Staatsarchiv, Audience 788 fol. 52f., vgl. 789 fol. 122 f,
160f.). Einzelheiten, wie das Verhältnis zum Amt des Secretaire d'Etat, können hier
nicht besprochen werden.
^ In der Instruktion für den tiofkanzler Ende 1498, Fellner-Kretschmayr VI,
54 Z. 9; erwähnt 1500, ib. 18 Anm. 1; vgl. das Innsbrucker Libell 1518, ib. 88 Z. 14.
' ib. 240, Art. 6.
* Siehe in der Hofordnung vom I.Januar 1527 die Formeln: „Im Rate, es sei
bei kgl. Majestät, im geheimen Rat oder im Hofrat", „es sei bei kgl. Majestät oder
in den Räten", und die für diese Abgrenzungen besonders interessante ,, Ordnung
der Rathaltung" in derselben Hofordnung (ib. 102f., Art. 1; 107 f.).
' ib. 54 Z. 9.
Kanzleiordnungen Maximilians!., KarlsV. und Ferdinands I. 343
,(anzlei. Aber nicht nur deuten schon Konflikte sich an, wie wenn
|in der leztgenannten Stelle ausdrücklich vorgesehen wird, daß der für
lue eigenen Sachen des Königs bestellte Sekretär „ohne Willen und
\Vissen des Kanzlers nicht gen Hof gehen" soll. In Wirklichkeit war
jas Übergewicht beim Sekretariat. Es ist so wenig eine Deputation
ier Kanzlei, daß vielmehr aus den Bureaus der Kabinetts- (und
.Finanz-) Sekretäre die neuen Regierungsressorts herauswachsen, die
die Kanzlei aufsaugen oder mindestens zerreißen. Die Weigerung
Gattinaras, den Friedensvertrag von Madrid 1526 gegenzuzeichnen,
gab nur den letzten entscheidenden Anlaß dazu, daß nach seinem
'Tode 1530 das Amt des Großkanzlers nicht wieder besetzt wurde,
sondern der Kabinettssekretär als „Garde des seaulx" an seine Stelle
jtrat. Und wie der Sekretär den Kanzler, so verdrängen all die neuen
freien Formen der Beurkundung das Pergament und die feierliche Be-
siegelung. Z. B. wendet Viglius in dem Entwurf von 1550, Art. 33,
isich gegen die Bestimmung in der Kanzleiordnung Albrechts II. von
jMainz vom Jahre 1545, nur die mit hängendem Siegel versehenen
Urkunden zu registrieren. Denn es sei ja klar, sagt er, daß was auf
jPapier und mit eingedrücktem Siegel ausgefertigt wird, meist von weit
jgrößerer Bedeutung sei. Gewiß war „lange die Kanzlei der Mittel-
Ipunkt des geschäftlichen Lebens am Königshof, die wichtigste Behörde
des Reiches, in der alle bedeutenderen Regierungshandlungen voll-
jzogen wurden und in deren Organisation Natur und Wesen der ge-
jbietenden Zentralgewalt selbst zum Ausdruck kam".^ In der Zeit aber,
[die uns hier beschäftigt, wurden nicht mehr durch die Kanzleiurkunden,
die Privilegien und Legitimationen und Geleitbriefe und all die an-
deren, auch etwa die formelle Ausfertigung eines Staats Vertrages, „alle
bedeutenderen Regierungshandlungen" repräsentiert. Vielmehr ruhte
alles Gewicht in der täglich fortgehenden, ganz Europa umspannenden
politischen Bewegung. Wer nach Dokumenten für jene Zeit sucht,
greift in erster Linie nach den Korrespondenzen, und findet in der
iRegel ein Dokument um so wertvoller, je ferner es der offiziellen
Kanzlei, je näher dem geheimsten Sekretariat steht.
An fast all den grundlegenden Fragen, die sich hier anschließen,
ist die Diplomatik, die eben erst die Früchte ihrer mittelalterlichen
Arbeit zusammenfaßt, bisher vorübergegangen. NurGiry,^ der wenigstens
in flüchtiger Übersicht auch die Neuzeit in seine Betrachtung hinein-
zieht, gibt S. 780—785 eine kurze Aufzählung der Gattungen von
„actes emanes directement de ce qu'on pourrait appeler le secretariat
^ Seeliger, Erzkanzler S. 2.
^ Giry, Manuel de diplomatique. Paris 1894.
I
344 Andreas Walther
ou le cabinet du roi" (S. 783). Aber auf viel dringendere Fragen als
die nach solcher Klassifizierung hauptsächlich auf Grund äußerlicher
Merkmale finden wir nirgends eine Antwort. So ist denn eine Be-
zeichnung wie „Korrespondenz Karls V." noch ein unklarer und
schwebender vorläufiger Sammelname. Daß die zahllosen Briefe, die
sich als an den Kaiser oder von ihm geschrieben geben, außerordent-
lich ungleichwertig sind, weiß jedermann, aber es fehlt noch die
methodische Sicherheit im unterscheiden und Abwägen. Für eine
Edition und eine ausschöpfende Benutzung aber ist es grundlegend zu
wissen, was einfach von einer der geschäftlich arbeitenden Ratssektionen
ausgeht, was im offiziellen Staatsrat beschlossen worden ist, was im
Kabinett, was als ein Schreiben eines Ministers angesehen werden
muß, was einer Anregung des Kaisers entstammt, was seine persönliche
Äußerung ist. Für das letzte ist nicht einmal der Maßstab der Eigen-
händigkeit entscheidend. Finden wir doch, daß z. B. Margarete von
Österreich eigenhändig ein Konzept zu einem Brief an ihren Vater
Maximilian I. aufsetzt und es dann von ihrem Sekretär umformen und
abschreiben läßt,^ oder daß umgekehrt Maximilian I. einen eigen-
händigen Brief nach einem Konzept Gattinaras verfertigt.^ Wieweit
das Ausnahmen sind, wieweit dem ein System zugrunde liegt, das ist
noch alles unbekannt.
Es bietet erhebliche Schwierigkeiten, diesen wichtigen Fragen bei-
zukommen. Ordnungen für das Sekretariat, das eben rechtlich noch
keine besondere Behörde war, gibt es nicht. Nur gelegentlich einmal
sind Einzelnachrichten über seine Organisation erhalten.^ Auch in den
Kanzleiordnungen wird nur nebenher das Kabinett einmal erwähnt/
Es liegt aber in der Natur der Sache, daß nur eine Statistik auf Grund
eines reichen Materials hier einige Sicherheit der Erkenntnis geben
kann. In einer Übersicht über die Gesamtbestände der Registraturen
^ Le Glay, Correspondance de Tempereur Maximilien I^«" et de Marguerite d'Au-"
triebe. Paris 1839, II, S. 33. Datierung des Briefes in den Gott. gel. Anz. 1908,
S. 278; dort ist auch S. 266 ein anderer eigenhändiger Brief Margaretes mitgeteilt,
der von ihrem Sekretär gründlich umgearbeitet wurde.
^ Gott. gel. Anz. 1908, S. 261 Anm. 1.
^ Vgl. 0. tiintze, Die Entstehung der modernen Staatsministerien, tiistor.
Zeitschr. Bd. 100, 1908, S. 70f. '
* In dem Entwurf einer Kanzleiordnung vom 13. Dezember 1497 (Fellner-
Kretschmayr VI, 8f., 13; Art. 1, 8; 6 der Ratssekretärordnung), in der Instruktion
für den Hofkanzler von Ende 1498 (ib. S. 51, Z. 9, 11; S. 54, Z. 9), vgl. die Hof-
kammerordnung vom 13. Februar 1498 (ib. 20, Art. 8), ferner in der der Hofordnung
vom 1. Januar 1527 eingefügten Kanzleiordnung (ib. 102 f., Art. 1). In der Kanzlei-
ordnung der Margarete von Österreich vom 17. Dezember 1516 werden ausdrücklich
erwähnt „quelques aultres matieres que madite dame vuille depescher plus secrete-
ment". (Burgund. Zentralbeh. 202, Art. 17).
Kanzleiordnungen Maximilians I., Karls V. und Ferdinands I. 345
;t die Lösung jener Fragen zu suchen. Wenn für den herumreisenden
lof des Kaisers auch nur einige Vollständigkeit des erhaltenen Mate-
ials nicht zu erwarten ist, so wird man mit einer solchen ünter-
uchung am besten an der neben dem tiof wichtigsten Stelle, nämlich
1 den Niederlanden, einsetzen. Es bieten sich dafür in Brüssel und
a Wien^ die recht bedeutenden Reste der Papiere der Maria von
Ingarn, vor allem auch in Lille die in ungewöhnlicher Vollständigkeit
Irhaltene Registratur der Margarete von Österreich.^
3. Kanzlei und Bureau der Finanzen
Alle reguläre beamtenmäßige Arbeit scheidet sich, so war die Auf-
assung in jener Zeit, nach den Gebieten des Rechtes und der Finanzen.^
Vuch jene aus dem zentralen Rat sich lösenden Behörden für Er-
edigung der geschäftlichen Angelegenheiten verteilen sich auf diese
)eiden großen Ressorts der Regierung. Die eigentliche „Kanzlei" bleibt
in den Behörden für das Gebiet des Rechts haften (siehe unten); aber
!in mannigfaches Verwachsensein des Finanzbureaus mit der Kanzlei
:eigt noch die alte Einheit an.
Werfen wir zunächst einen Blick auf die burgundische Organi-
;ation, die nicht wie die österreichische durch unruhiges Eingreifen
kr Herrscher verwirrt ist und also zum Verständnis jener die Grund-
age bieten kann.
Nach wie vor geht in Burgund auch was in Finanzsachen einer
uristisch gültigen Ausfertigung bedarf, von der offiziellen Kanzlei aus.
:ine Urkunde wird aber erst dann perfekt, wenn die leitenden Finanz-
)eamten durch einen auf ihrem Bureau auszufertigenden Nachtrag ihre
Zustimmung zu Protokoll gegeben haben. So findet sich auf den
neisten die Finanzsachen betreffenden Urkunden (die Gründe der Aus-
lahmen sind noch zu untersuchen) diese Formel: „Les Chiefs, tresorier
^eneral et commis des finances consentent . . . Fait au bureau des
inances . . ."
Was dagegen den laufenden Geschäften der Finanzverwaltung
iient, Korrespondenz mit den Einnehmern im Lande, Quittungen usw.,
^eht vom Finanzbureau aus. Hier aber ist es das Bedürfnis der
Kontrolle, das gleichwohl ein vielfaches Zusammenarbeiten der ver-
schiedenen Instanzen, Sekretariat und Kanzlei und Finanzbureau, be-
^ Abteilung Belgica, A, B und C.
"' Vgl. meinen Bericht in den Gott. gel. Anz. 1908, S. 253ff.
^ Burgund. Zentralbeh. 39 ff. Für Österreich die Parallele von Hof rat und
Hofkammer (siehe unten).
346 Andreas Walther
wirkt. Damit eine nicht unter den ordentlichen Ausgaben im Budge
vorgesehene größere Summe bezahlt werden kann, muß ein ent
sprechender vom Sekretariat ausgehender Befehl des Fürsten erst in de
Kanzlei in eine feierliche Urkunde gefaßt werden, ehe die weiter
Erledigung im Finanzbureau vor sich gehen kann.^
In Österreich ist die Organisation sehr wechselnd. Die großei
Ordonnanzen vom 13. Februar 1498 und 1. September 1537, ^ die bis
her, nicht zum Nutzen einer tiefgehenden Erkenntnis der faktischei
Organisation, die Erörterungen einseitig beherrscht haben, zeigen um
eine streng als Gegenstück zum Hofrat gedachte Hofkammer. Wie de
Hofrat, so hat auch die Hofkammer ihre eigene selbständige Kanzle
mit besonderem Personal.^ Auch in Burgund versuchte Maximiliai
diese Organisation einzuführen, indem er dem Grand Conseil 148'
(und 1511) ein „Conseil des finances" mit besonderer Kanzlei zu
Seite stellte.^
Von der Kanzlei der österreichischen Hofkammer gehen mit de
Formel „in consilio camere'' richtige Urkunden aus.^ Es ist abe
charakteristisch für die Unsicherheit im Verhältnis der beiden Behördei
und Kanzleien, wenn dem Kanzler in der Instruktion vom 12. Februa
1528 in schonender Weise nahegelegt wird, mit den Kammersachei
sich nicht mehr zu befassen,*^ sondern nur die des großen Siegels be
dürfenden Briefe zu besiegeln ohne Pflicht (und Recht) der Verant
wortlichkeit,' während die Hofkammerordnung von 1537 ihm für di(
Pergamentbriefe mit dem großen hängenden Siegel eine Prüfung de
Gesetzmäßigkeit der Sache und des beobachteten Verfahrens zuspricht.
Ferner hat in Österreich das „Geschäft", der Zahlungsbefehl an der
obersten Schatzmeister, nicht erst (Sekretariat und) Kanzlei zu passieren
sondern geht gleich von der Hofkammerkanzlei aus.^ Drittens wir(
' Burgund. Zentralbeh. 75 f.
^ Gedruckt bei FeUner-Kretschmayr VI; die Hofliammerordnung von 149(
S. 17 — 26, die gleichzeitige Ordnung der Innsbrucker Schatzkammer S. 27 — 46, dl'
Hofkammerordnung von 1537 S. 246—271.
^ In der tiofkammerordnung von 1498 Art. 3 (S. 18), 20f. (S. 24f.); in de
Schatzkammerordnung von 1498 besonders die Artikel 40—51 (S. 40—43), die zun
Teil fast wörtlich aus der Kanzleiordnung herübergenommen sind; in der Hofkajnmer
Ordnung von 1537 Art. 1 (S. 248 f.), 58, 61 f. (S. 269—271).
* Die Ordonnanz vom 26. Dezember 1487 gedruckt in den Burgund. Zentralbeh
S. 193—195, besprochen S. 53—57, vgl. S. 63 ff.
" Vgl. Fellner-Kretschmayr VI, S. 47.
•* ibid. S. 246, Art. 27.
' ibid. S. 245, Art. 23.
' ibid. S. 270, Art. 61.
^ In dem Intimat an die Beamten vom 13. Februar 1498 (ibid. S. 5), in dei
gleichzeitigen Hofkammerordnung Art. 6 (S. 18), 7 (S. 19, auch Anm. 1), 14 (S. 21)
Kanzleiordnungen Maximilians I., Karls V. und Ferdinands I. 347
ie in dieser Weise selbständige Kammerkanzlei mit den für ihre
Itrbeit nötigen Archivalien versehen. Die Schatzkammerordnung von
498 bestimmt, daß die auf die Finanzen bezüglichen Urkunden
!,Pfandschaften, auch Kauf auf Wiederkäuf, Vertrag und andere der-
leichen Sachen"; die Aufzählungen sind verschieden), die sich regi-
triert finden in der „Kanzlei zu Innsbruck", d. h. dem Archiv der
riroler Zentralbehörde und des Regiments, in der Kammer kopiert und
uch dort aufbewahrt werden sollen.^ Und wir hören etwa, daß am
7. August 1500 der Verwalter und die Sekretäre der Hofkanzlei in
lie Hofkammer erfordert werden, wo ihnen eingeschärft wird, alle von
linen ausgefertigten Sachen, die die Kammer interessieren können,
lort mitzuteilen.^
Mit dem Einschlafen der Hofkammer aber löst sich dies alles auf.
Vie vor ihrer Errichtung auch „Schuldbriefe, Quittungen, oder was
jeld und Finanzen antrifft", von der Kanzlei ausgingen,^ und die
iGeschäftbriefe" dort registriert wurden,* so verschwindet auch bald
lachher wieder die eigene Kammerkanzlei. Was den Zahlungsbefehl
)etrifft, so wurde die Ausschaltung der offiziellen Kanzlei beibehalten,
iber anstatt des von der Hofkammer ausgehenden Geschäfts begnügte
nan sich jetzt mit einem einfachen Befehl aus dem Sekretariat. So
vird es 1503 für die Verwaltung der außerordentlichen und wohl auch
iler ordentlichen Einkünfte befohlen.^ unter der von der kollegialen
L^erwaltung so weit wie nur denkbar abweichenden Organisation der
iJahre 1512—1515 scheint es Regel gewesen zu sein;^ während etwa
Mn Schuldbrief des Kaisers, der ein Rechtsverhältnis zwischen ihm
md dem Schatzmeister begründet, noch die offizielle Kanzlei zu pas-
sieren hat.'^ Schließlich hören wir auch, daß die Papiere der zentralen
^inanzverwaltung wieder dem Kanzler zur Aufbewahrung übergeben
Verden.^
^0 (S. 25), in der gleichzeitigen Schatzkammerordnung Art. 6 (S. 29), 9 (S. 31), 19
S. 34 f.), 31 (S. 38), in der Hofkammerordnung von 1537 Art. 50, 51 (S. 266 f.).
^ Fellner-Kretschmayr VI, S. 39f., Art. 34— 37; vgl. in der Hofkammer-
)rdnung von 1537 Art. 47 (S. 265).
' ibid. S. 26 Anm.
^ In der Ordnung Bertholds von 1494 bei Posse S. 207, Art. 21 (siehe folgende
^nm.), freilich auch hier Finanzbehörde und Kabinett erwähnt.
* In dem Entwurf vom 13. Dezember 1497, Fellner-Kretschmayr S. 13f.,
^rt. 6 und 8 der ,, Ordnung des Registratoramts". Vgl. auch Art. 18 der Ordnung
3ertholds von Ende 1498, Posse S. 203; es ist aber zu beachten, daß wir es hier,
»vie 1494 (siehe vorige Anm.) mit Reichskanzleiordnungen zu tun haben.
'" Fellner-Kretschmayr VI, S. 23 Anm., 27 Anm.
* ibid. S. 56, Z. 15; S. 67, Z. 34.
^ ibid. S. 62, Art. 3.
' ibid. S. 71, Z. 28.
348 Andreas Walther
Nur als Beispiele dafür, wo nach meiner Meinung die Haupt-
fragen liegen, sollen diese Einzelheiten dienen. Es kann mir natürlich
nicht einfallen, hier eine Geschichte dieser äußerst verwickelten Ver-
hältnisse geben zu wollen. Eine eingehende Untersuchung mag manches '
in ein anderes Licht rücken. I
Wo wir keine selbständige Kammerkanzlei haben, ist wie beim'
Verhältnis der Kanzlei zum Sekretariat der Gedanke der, daß die
Kanzlei einen besonderen Sekretär, oder wie in Frankreich mehrere
für die ihr fremd gewordenen Finanzangelegenheiten deputiert. Mit den^
Recht, allein in Finanzsachen zu signieren, erhält dieser Sekretär eine
ähnlich privilegierte Stellung wie der Kabinettssekretär.^ Dazu kommi
dann die Tendenz einer Verschmelzung der Ämter des Kabinetts-
sekretärs und Finanzsekretärs, ^ wie denn die Finanzen immer in be-
sonderer Weise mit dem vertrauten Rat zusammenhingen; im Mittel-
alter, weil sie noch als Privatangelegenheit des Fürsten galten, in dei
werdenden Neuzeit, weil die Finanzfrage das Grundproblem der neuer
Kabinettspolitik wurde. Aus jener Verschmelzung, die am frühester
und entschiedensten in Burgund erfolgte, ist das Staatssekretariat her-
vorgegangen. ^
Es ergibt sich aus dem allen, daß die Finanzordonnanzen eint
wichtige ergänzende Quelle für die Geschichte der Kanzlei bilden. Sc
finden wir auch mehrfach in den Kanzleiordnungen ausdrückliche Hin-
weise auf jene Reglements, die auch für das Kanzleipersonal verbind-
lich seien.* Überhaupt wird man die reich differenzierten Formen dei
Finanzverwaltung viel heranziehen, denn die Finanzverwaltung ist untei
dem Drängen des praktischen Bedürfnisses fast überall den anderer
Verwaltungszweigen vorausgeeilt und hat auf vielen Gebieten die
Muster geschaffen.
4. Die verschiedenen Kanzleien auf dem Gebiete des Rechts
Noch früher und noch häufiger als auf dem Gebiet der Finanzen
lösen sich auf dem des Rechts Sektionen und Behörden für die Er-
^ Burgund. Zentralbeh. 154f.
* In Österreich besonders Matth. Lang (über ihn Legers, Salzburg 1906).
^ Burgund. Zentralbeh. 152ff., 162ff.
* Besonders häufig in der Instruktion für den österreichischen Hofkanzler vor
Ende 1498 (Fellner-Kretschmayr VI, 51—54, vgl. die Schatzkammerordnung,
ibid. S. 43, Art. 53), dann in der parallel gehenden Ordnung des Erzkanzlers (Posse
203, Art. 18), besonders auch in der Instruktion für die Kanzleibeamten vom 6. März
1526 (Fellner-Kretschmayr VI, 96, Art. 22) und der Instruktion für den oberster
Kanzler vom 12. Februar 1528 (ibid. S. 246, Art. 27).
Kanzleiordnungen Maximilians I., Karls V, und Ferdinands!. 349
edigung der geschäftlichen Angelegenheiten von dem zentralen Rat.
jmmer an der am Hof noch zurückbleibenden juristischen Sektion bleibt
lie^ „Kanzlei" im eigentlichen Sinne haften.
in der älteren Zeit ist aber genauer die Sache die, daß die Kanzlei
ijs die Stelle, wo die geschäftliche Arbeit getan wird, sich zuerst als
Behörde konsolidiert, und daß erst um diesen Kern geschäftlicher
!\rbeit herum der Rat der Juristen sich bildet, der dann freilich das
Schwergewicht an sich zieht. Die Folge jenes Ursprunges ist aber
mter anderem, daß vielfach der Name „Kanzlei" auch für diese Be-
lörde gebraucht wird. Verselbständigt sie sich dann (in einer hier
licht zu erörternden Entwicklung) als Gerichtshof und wird bei dem
^rozeß der Verschmelzung verschiedener Gebietsteile, durch den am
läufigsten die neuen Staaten entstanden sind, aus einer Zentralbehörde
:u einer Provinzialbehörde, so haben wir die „Kanzleien" als Provin-
dalgerichtshöfe, wie z. B. in Kastilien und in Brabant.^ Wenn nun
uich der Idee nach selbst solche Provinzialbehörden mit dem Rat am
:iof eine Einheit bilden und als seine Delegationen erscheinen,^ so
Iwnmn sie doch im folgenden außer Betracht bleiben.
Fassen wir den Hofrat der Fürsten zu Ausgang des Mittelalters
;ins Auge, so haben wir überall dasselbe Bild. Als eine Sektion des
kates für die Angelegenheiten des Rechts (im weiten Sinne) ist ein
belehrter Rat, ein Rat der Juristen, erkennbar, aus diesem aber, damit
zugleich aus dem Gesamtrat, löst sich eine Behörde für Erledigung
Ider eigentlichen Gerichtsbarkeit, indem eben wieder das Geschäftlichste
zuerst die zur Behördenbildung nötige Konsolidierung schafft. Die
offizielle Verselbständigung dieser neuen Sektion erfolgt in den uns
interessierenden Staatswesen merkwürdig gleichzeitig. In Deutschland
wird das Reichskammergericht 1495 konstituiert, das Grand Conseil in
Frankreich 1497, in Burgund 1504.^ Es handelt sich überall nur um
den Abschluß einer schon seit Jahrzehnten in der Entwicklung be-
griffenen Bewegung, die man gelegentlich in ihren einzelnen Stadien
verfolgen kann.^ Davon sehe ich hier ab, um das Anschauungsbild
nicht unnötig zu komplizieren.
Nur bis 1495/1497/1504 also haben wir eine einheitliche Kanzlei
als Schreibbureau für den Hofrat überhaupt, einschließlich seiner
gerichtlichen Sektion. Aber auch die nach jenen Daten bestehen-
den zwei Kanzleien werden noch lange als im Grunde einheit-
liches Kollegium gedacht. In Burgund betont die Ordonnanz des
* Burgund. Zentralbeh. 103.
' ibid. 24 Anm. 1.
' ibid. 9f., 21f.
* ibid. 11—27.
350 Andreas Walther
Jahres 1504 ausdrücklich: „Et sera tout ung colliege".^ und auch ii
Deutschland ist die Lösung beider Kanzleien voneinander nur eim
sehr allmähliche und unvollkommene,^ so daß etwa der Erzkanzle
noch ohne weiteres als Chef beider gilt. Suchen wir das Verhältni«
näher zu bestimmen, so finden wir in Deutschland und in Burgunc
charakteristische Unterschiede. In Burgund ist die deutlich erkennbare
Anschauung die, daß das 1504 verselbständigte Grand Conseil, das bi«
dahin der Hofrat gewesen war, in dem also das ganze Schwergewich
ruhte, einen Teil seiner nun gleichsam außerordentlichen Glieder den
neuen Hofrat für die Erledigung der geschäftlichen Angelegenheiter
zurückläßt.^ In Deutschland sind all diese Entwicklungen gestört
weil sie von zwei ganz verschiedenen Zentren ausgehen, vom Hof hei
und vom Reich her. Darum hat das Kammergericht immer eine iso-
liertere Stellung gehabt und ist 1495 mehr durch einen gesetz-
geberischen Akt, der von außen her die Anregung erhielt, als durch
das Ausreifen einer organischen Entwicklung verselbständigt worden
und seine Kanzlei hat weniger ein Verhältnis zum königlichen Hoi
als vielmehr zu der Reichskanzlei. Der Vertrag mit dem Erzkanzlei
vom 12. September 1498, der von der Autorität Bertholds sowohl ir
der Reichskanzlei als auch in der Kammergerichtskanzlei handelt,
trägt die Überschrift: ,,Ordnung des römischen Reichs Kanzlei", worin
sich schon zeigt, daß die Kammergerichtskanzlei als ein Teil, sagen
wir wieder eine Deputation, der Reichskanzlei betrachtet wird.
In Deutschland kompliziert sich die Entwicklung weiter. Indem
nämlich die Reichskanzlei bei ihrer traditionellen Selbständigkeit und
ihrem Zusammenhang mit dem Erzkanzler dem ins Ausland reisenden
Kaiser nicht folgt, deputiert sie, wie auf der einen Seite zu dauernder
Residenz die Kammergerichtskanzlei, so auf der anderen zu ihrer vor-
übergehenden Stellvertretung an den Hof des Kaisers eine deutsche
Hofkanzlei. So ist rechtlich durchaus die Anschauung, speziell in den
Ansprüchen des Erzbischofs von Mainz (vgl. unten S. 367 f.). Faktisch
freilich ist das Verhältnis im ganzen ein umgekehrtes; die deutsche
Hofkanzlei als das lebendigere Glied ist im allgemeinen das domi-
nierende. Besonders in den Klagen der Stände 1532 über das Regiment
der Fremden in der deutschen Kanzlei kommt das zur Geltung. ^^
^ Burgund. Zentralbeh. 24
^ Siehe Seeliger, Erzkanzler 134-153, und derselbe, Kanzleistudien I. Die
kurmainzische Verwaltung der Reichskanzlei in den Jahren 1471—1475. Mitteil. d.
Inst. f. österr. Gesch. VIII (1887) S. 19—23.
^ Burgund. Zentralbeh. 23.
* Fellner-Kretschmayr VI, S. 48— 50, Einleitung und Art. 9, 11, 14.
^ Seeliger, Erzkanzler 99f.
V
Kanzleiordnungen Maximilians I., Karls V. und Ferdinands 1. 351
Etwas ganz anderes noch ist natürlich die österreichische Hof-
anzlei. Der Kaiser hat eben neben seiner Eigenschaft als deutscher
>lser und prinzipiell davon getrennt auch die eines Herzogs von
Isterreich usw. Faktisch freilich hat sich diese österreichische Hof-
janzlei vielfach mit den Reichsbehörden verschmolzen, bis 1495 mit
l^er meist vereinigten Reichs- und Kammergerichtskanzlei, nach 1495
lit der Reichskanzlei sowie der deutschen Hofkanzlei. Die Ver-
iChmelzung mit der Reichskanzlei erscheint schon in dem Entwurf
Maximilians vom 13. Dezember 1497, der dann rückgängig gemacht
/ird durch den eben erwähnten Kontrakt mit dem Erzkanzler vom
2. September 1498 (unten S. 360). Diese Frage spielt in der Folge
auernd eine große Rolle. Die Verschmelzung mit der deutschen Hof-
anzlei sehen wir deutlich in der Kanzleiordnung Gattinaras von 1522,
lie bestimmt ist für die „cancellaria imperialis et provinciarum Austriae",
tarn ratione imperii Romani quam ratione provinciarum Austriae".
beit aber Ferdinand I. in Österreich regiert, ist natürlich auch an
•einem Hof die österreichische Hofkanzlei zu suchen. So bemerkt
/iglius in dem Entwurf von 1550 zu einem Artikel jener Ordnung
jjattinaras, er bedürfe einer Berichtigung, da „hodie negocia patrimo-
lialia apud hanc cancellariam non tractentur" (Art. 39). Diese Ver-
schmelzungen haben nicht wie die anderen in einem allgemeinen
jesetz der Behördenbildung ihren Grund, sondern sind lediglich
)raktische Zufälligkeiten. Wie aber Rechtsansprüche aus der Praxis
lerauswachsen, haben wir hier nicht zu erörtern.
11 Diese österreichische Hofkanzlei wird in einer interessanten Ent-
wicklung aus einem Schreibbureau zu einer beratenden und be-
schließenden Behörde. Indem nämlich der königliche Hofrat immer
nehr zu einem Reichshofrat wird, erweitert die bereits arbeitende
i)sterreichische Hofkanzlei allmählich ihre Befugnisse immer weiter
iurch die Patrimonialsachen, die jener Hofrat abgibt. So haben wir
lier eine späte Wiederholung der Uranfänge der Entwicklung, die einst
iie „Kanzleien" als Provinzialgerichtshöfe geschaffen hatte. ^
5. Kanzlei und gelehrter Rat am Hofe
Im weiteren soll nur von der eigentlichen „Kanzlei" die Rede
l5ein, von der ganz bestimmten Behörde, die man meint, wenn man
von der „Kanzlei" schlechthin spricht. Wir lassen also auf sich be-
ruhen sowohl jene besonderen Bildungen am Anfang und am Ende
der Entwicklung, die „Kanzleien" als Provinzialgerichtshöfe und die
^ Burgund. Zentralbeh. 104f.
352 Andreas Walther
österreichische fiofkanzlei als beratende und beschließende Behördi
als auch die Kanzleien der dem tlof gegenüber verselbständigte
Zentralgerichtshöfe. Auch die deutsche Reichskanzlei aber nimn
offenbar gerade in der uns beschäftigenden Zeit eine Ausnahme
Stellung ein, ihre Geschichte ist in dieser Periode auffallend sprung
haft und kümmerlich, wie nicht vorher und nicht nachher. Der Grün
ist der, daß sie in unserer Zeit nicht, wie vorher und nachher, organisc
mit der Behörde verbunden war, in der die Beratung und Beschluß
fassung über die von ihr auszufertigenden Angelegenheiten lag. Ein
Kanzlei als isoliertes Schreibbureau für sich ist eben ein Unding. Ih
Leben hat sie von der Behörde, der sie dient, mit der sie verwachse
ist. So muß eine nähere Bestimmung der Ratssektion, an der di
Kanzlei haftet, versucht werden.
Es ist der gelehrte Rat, der nach Ablösung jenes Gerichtshofe
1495/1497/1504 am Hof zurückgeblieben ist, in Frankreich das Conse
prive oder Conseil des parties, in Burgund das Conseil prive, i;
Deutschland der „Hofrat". Nicht der Gesamtrat am Hofe selbst ist ee
sondern eine Sektion desselben. Diese Sektion steht ihrem Charakte
nach in der Mitte einerseits zwischen der Gerichtsbehörde, in Frank
reich und Burgund dem Grand Conseil, in Deutschland dem Reichs
kammergericht, überall freilich mit der Neigung, einen Teil der Ge
richtsbarkeit wieder an sich zu ziehen,^ — andererseits sowohl den
feudalen, offiziellen Hofrat, der sich eigentlich nur in dem nieder
ländischen Conseil d'Etat noch weit in die Neuzeit hinübergerettet hai
als auch dem Kabinett, das in Frankreich als Conseil des affaires be
zeichnet wird, während wir in dem deutschen „geheimen Rat" ein^
Art Verschmelzung und Versöhnung zwischen Kabinett und offiziellen
Staatsrat haben. So scharf sich nun trotz aller Kompetenzkonflikt(
und Übergriffe die Scheidung nach der einen Seite, zu dem vom Ho
^ Daß dies im deutschen „Hofrat" wieder ganz überwiegend wird, stellt nebei
der oben erwähnten Tatsache, daß die Entwicklung in Deutschland von zwei ver
schiedenen Zentren ausgeht, und übrigens zum größten Teil aus diesen Verhältnisse!
einfach folgend, den zweiten grundlegenden unterschied von der gleichzeitigen franzö
sischen und burgundischen Entwicklung dar. Auf das Ganze der Entwicklung ge
sehen, haben wir aber doch ganz analoge Vorgänge, indem Reichskammergerich
und Reichshofrat dem französischen Parlament und Grand Conseil entsprechen. Dal
all diese Entwicklungen nur scheinbar so kompliziert sind, erkennt man, sobald mai
sich gewöhnt, von den sich fortwährend verschiebenden Namen der Behörden ab
zusehen und nur die gesetzmäßige Bewegung der Behördenentfaltungen selbst zi
betrachten. Ein flüchtiger Blick schon auf den ursprünglichen Sinn all dieser Namen
Kammergericht, Hofrat, Geheimer Rat, Grand Conseil, Conseil prive, zeigt, daß sii
sämtlich ihre Bedeutung von Grund aus, und zwar alle in analoger Weise, ver
ändert haben.
1
Kanzleiordnungen Maximilians I., Karls V. und Ferdinands I. 353
bgelösten Gerichtsrat, ziehen läßt, so schwierig ist das Verhältnis des
elehrten Rates zu jenen anderen Bestandteilen des Gesamtrates. Denn
er Gesamtrat wird noch durchaus als eine Einheit angesehen, was
ich bekanntlich rechtlich, freilich keineswegs faktisch, in dem eng-
schen Privy Council bis heute erhalten hat.
Ich habe in meinen „Burgundischen Zentralbehörden" S. 84—89
ersucht, die verschlungenen Fäden auseinanderzulegen. Auf das dort
lusgeführte komme ich nicht zurück. Da es aber für die so vielfach
iirch fremdartige Einwirkungen komplizierte und verwirrte deutsche
ntwicklung besonders nützlich sein dürfte, eine geradlinige organische
Entwicklung wie die französische und noch mehr die burgundische
um Vergleich heranzuziehen (denn die Grundfragen und Grundgesetze
ind in allen Staaten durchaus die gleichen), so möchte ich hier aus
er burgundischen Geschichte ein Zeugnis anführen, das uns das
•chema erkennen läßt, in dem man um die Mitte des 16. Jahrhunderts
ie Vorgänge der Behördenbildung ansah. In der Urkunde, durch die
•hilipp II. die niederländischen Ratskollegien bestätigte,^ heißt es in
er Einleitung, wenn ich das Wesentliche heraushebe, folgendermaßen.
'hllipp der Schöne und Karl V. haben zur besseren Verwaltung der
affaires de la chancellerie de leur court ä l'endroit de l'administration
!e justice et police ensamble des affaires d'Estat" die am Hofe zu er-
edigenden Geschäfte verteilt (repartir). Für die eigentliche Gerichts-
)arkeit haben sie eingesetzt das Grand Conseil und mehrere Provinzial-
jerichtshöfe. Für die dem Fürsten reservierten Angelegenheiten aber,^
comme de matieres de gräces, ottroyz, Privileges et aucuns autres
equerans le sceu, autorite et consultation du prince propre", und für
lie Erledigung der diese betreffenden Bittschriften haben sie bestellt
;inen Präsidenten mit einer Anzahl von Maitres des requetes „establiz
:n leur conseil prive". In diesem „en" drückt sich die ganze Eigenart
les Verhältnisses aus. Diese Beamtengruppe besteht nicht neben dem
iofrat, auch nicht eigentlich als eine Sektion, ein abgetrennter Teil
lesselben, sondern sie ist von ihm eingeschlossen. Das bedingt ein
mges Verwachsensein mit dem Gesamtrat (an der obigen Stelle be-
leutet auch Conseil prive den Gesamtrat), aber es muß doch versucht
.Verden, den besonderen Charakter zu bestimmen, durch den jene
Sektion sich trotzdem als Einheit heraushebt und zusammenschließt.
£s wurde schon bemerkt, daß immer das Geschäftlichste und am
meisten in bureaukratischer Form zu Erledigende behördenbildend ist,
^ Brüsseler Staatsarchiv, Papiers d'Etat et de l'Audience, Nr. 789, fol. 1— 13,
undatiertes Konzept.
' Vgl. Burgund. Zentralbeh. S. 10.
Afü II 23
I
354 Andreas Walther
weil es zuerst die für die Behördenbildung nötige Kontinuität un<
Konsolidierung schafft. So sehr nun jene Gruppe der Juristen ar
Hof noch beschäftigt ist mit Beratungen und Gutachten in Rechts
fragen (und in allen Geschäften äußerer und innerer Politik spielte
die Rechtsfragen eine große Rolle), mit Verwaltungssachen, auc
mit Prozessen, so lag doch ihre regelmäßigste, geschäftlichste un
ganz überwiegende Tätigkeit in der Bearbeitung der großen Grupp
von Angelegenheiten, die damals den Weg der Petition zu nehme;
hatten. Darum befassen sich auch die Ratsordnungen fast ausschließ
lieh mit der Erledigung der supplicationes, der requetes; so der unte:
zu analysierende Ordo Consilii von 1550, die Hofratsordnung vor
1. Januar 1541,^ die vielfach auf ihr ruhende Reichshofratsordnun,
vom 3. April 1559,^ auch was sich in den Kanzleiordnungen und In
struktionen für den Kanzler auf den Rat bezieht, besonders in den
Entwurf des Viglius von 1550 die Ausführungen „De Consiliariis
(Art. 4—13). Freilich betonen die Ratsordnungen gleichsam übertrieber'
diesen Charakter des gelehrten Rates, weil sie auch ihrerseits wiede'
das Geschäftlichste, das am frühesten bestimmte Formen annahm umi
am nötigsten fester Regeln bedurfte, einseitig herausheben. So be*
fiehlt jene Ratsordnung vom 1. Januar 1541 in einem Nachtragsartike
den Hof raten, daß sie „nach oder neben Verrichtung der gemeinei
Justici- und Parteiensachen" täglich beraten sollen über alle hohen
schweren und geheimen Sachen und Fährlichkeiten, wie Verhandlungei
mit fremden Potentaten und anderes, worüber ihnen aber ein beson
derer Befehl nicht gegeben werden solle, da „die Anzahl causarun
Status unergründlich" sei, usw.^ Diese Unsicherheit löst sich in ver
schiedenartigen neuen Scheidungen, auf die hier nicht eingegangei
werden kann. Das Wesentliche für uns ist: einerseits, daß immer eini
Sektion da ist, die sich ganz überwiegend mit den Petitionssachen be
schäftigt, und die dann auch einfach bezeichnet wird als Conseil de:
parties, wie häufig in Frankreich, oder Parteihofrat, Parteienrat, wi(
gelegentlich in Österreich,^ — andererseits daß immer an dieser be
stimmten Sektion die eigentliche Kanzlei haften bleibt.
' Feller-Kretschmayr VI. 272—275.
' ibid. 281—288.
^ Dieser Artikel ist herübergenommen aus der Instruktionensammlung zur tief
Ordnung (S. 107f., 125), so daß wir auch für die Ratsordnung jenen doppelten Typu;
finden, einerseits eine die Hauptsachen heraushebende Ordnung als Teil der tief
Ordnung, andererseits eine besondere Instruktion für das Geschäftliche (vgl. obei
S. 341). Übrigens gibt sich auch die Hofkammerordnung von 1537 als Ausführung
einer Hofordnung (S. 248).
*'1526 und 1528 (Fellner-Kretschmayr VI. 94; 242—244, Art. 15—18).
Kanzleiordnungen Maximilians I., Karls V. und Ferdinands I. 355
Zwar ist die Kanzlei ebenso wie jene Ratssektion mit dem Ge-
lamtrat verwachsen; wir sahen, daß sie auch dem Kabinett und der
inanzbehörde dient. Aber nicht nur gehörte die Kanzlei als die
teile, wo die juristisch gültigen Urkunden ausgefertigt wurden, von
atur mit dem Rat der Juristen zusammen, wie denn auch beide von
emselben Beamten, dem Kanzler, geleitet werden. Nicht nur ferner
lüssen beide für ihre Arbeit dieselben Akten und Register benutzen,
as auch örtlich die Ratsstube und die Schreibstube verbindet oder
ar in einen Raum zusammenlegt. Es sind auch dieselben Parteien-
ichen, die sowohl jenem Rat wie der Kanzlei durchaus die Haupt-
lasse des Stoffes für ihre Arbeit liefern. Und vor allen Dingen ist
ei der Erledigung von Petitionen Beratung und Beschlußfassung nicht
30 der Schreibarbeit isoliert, etwa so, daß eins auf das andere folgte,
andern die Schreibarbeit geht schon vorbereitend der Beratung vor-
js, sie begleitet Beratung und Beschlußfassung durch Apostillen,
rotokolle, Konzepte und folgt ihr als Ausfertigung.^ So bilden jener
at und die Kanzlei in ihren wesentlichen Tätigkeiten geradezu eine
ptrennbare Einheit. Beide zusammen stellen den Kern der juristisch
|nd praktisch geschäftlichen Arbeit des Hofrates dar.
Da nun überdies im Bewußtsein jener Zeit alle geschäftliche be-
ntenmäßige Organisation dem rings herumliegenden Unorganisierten
^genüber schon an sich stark einheitlich zusammengeschlossen er-
:heinen mußte, so ist es nur natürlich, daß sehr häufig Bestimmungen
öer den Rat und über die Kanzlei in eine einzige Ordonnanz gefaßt
'erden.^
Und zwar ist in der Regel die Kanzleiordnung ein Teil der Rats-
rdnung, denn die nächstliegende Anschauung war die, daß die Kanzlei
2m Rat dient, daß in der Beratung und Beschlußfassung das Schwer-
2wicht jener Summe geschäftlicher Tätigkeit liegt. So sind alle bur-
indischen Ordnungen für den gelehrten Rat, wie übrigens auch für
e Gerichtsräte, zugleich Kanzleiordnungen. Auch die österreichische
ofratsordnung vom 1. Januar 1541 sowie die Reichshofratsordnung
om 3. April 1559 ziehen Kanzleigebräuche in ihre Bestimmungen
inein,^ und wir werden sehen, daß einige der sogenannten „Kanzlei-
'dnungen" eigentlich in erster Linie Ratsordnungen sind.
Lag im Rat die größere Bedeutung der Sache, so in der Kanzlei
e größere Stabilität und Kontinuität organisierter Arbeit. Es ist eine
ärallele zu den oben erwähnten Beispielen des tierauswachsens einer
^ Vgl. Burgund. Zentralbeh. 108—111.
* Weiteres darüber Burgund. Zentralbeh. 102ff. •
' Fellner-Kretschmayr VI. 274f., Art. 9— 11; S. 285-287, Art. 17, 20-22.
23*
356 Andreas Walther
Behörde aus der Schreibstube, wenn gelegentlich die Kanzleiordnunj
auch Bestimmungen über den Rat aufnimmt. Die Ordnung Gattinara:
vom 1. Januar 1522 erwähnt die den „Consiliarii Germanici" zu machen
den Relationen (Art. 8); besonders aber ist auf die verklausulierte!
Wendungen zu verweisen, in denen Viglius in dem Entwurf voi
1550 seine ausführlichen Erwägungen unter dem Titel „De Consiliariis
einführt und entschuldigt: Obwohl man jetzt mit der Organisation de
Kanzlei zu tun habe, so erscheine doch die Ordnung des Rates S(
nötig und gewissermaßen mit der Ordnung der Kanzlei verbunder
daß wenigstens einige Artikel unbedingt besprochen werden müßtei
(Art. 4).
6. Die Typen von Kanzleiordnungen
Wir lassen nun beiseite, was sich aus allem Gesagten ergibt fü
eine ideelle vollständige „Kanzleiordnung", d. h. die Summe der In
struktionen, die herangezogen werden müßten, wenn eine vollständig
Geschichte der Kanzlei versucht werden sollte. Ziehen wir vielmeh
jetzt aus dem Ganzen die Resultate für die ausdrücklich gleichzeiti
oder in den Darstellungen und Publikationen als „Kanzleiordnungen
bezeichneten Dokumente, so ergibt sich ein doppelter Typus vo
Ordnungen.
Der eine Typus stellt eine summarische Ordnung dar, die a;
einem über die geschäftliche Tätigkeit der Kanzlei hinausgehende
Zusammenhang orientiert ist. Hier sind drei Formen zu unterscheider
Es wirkt nach entweder das ursprüngliche Beschlossensein in der tief
Ordnung, oder das neuere in der Ordnung des gelehrten Rates, wäh
rend es sich in Deutschland handelt um eine staatsrechtlich interes
sierte Feststellung der Grundzüge der Kanzleiorganisation. Ger
faßt sich diese Ordnung nach Analogie des auch anderswo gebrauch
liehen Typus einer Instruktion für einen Einzelbeamten in die Fori
einer Instruktion für den Kanzleivorstand.
Neben diesen summarischen Ordnungen aber und sehr häufi
paarweise mit ihnen auftretend, haben wir dann, meist in der auc
anderswo gebräuchlichen Form eines Ämterbuches, aber auch in d(
einer Instruktion an den Kanzler, genaue Reglements für die einzelne
Beamten und Beamtengruppen, wodurch jene an weiteren Zusammer
hängen orientierten Ordnungen zu sehr belastet worden wären. Mit
ist das Interesse auf die geschäftliche Arbeit in der Kanzlei eingeeng
Häufig und fast in der Regel wird jene summarische Ordnun
vom Fürsten, die genaue Instruktion vom Kanzleivorstand eriassen.
Je mehr natüriich das Gefühl für die historischen Ursprünge vei
^
Kanzleiordnungen Maximalians I., Karls V. und Ferdinands!. 357
)ren geht, desto mehr beginnen die Typen sich zu verwischen. Dabei
ird naturgemäß die Anordnung nach Beamtengruppen der vulgäre
ypus, weil er der einfachste und bequemste ist. Alle konstruktiven
i^öpfe unter den Organisatoren aber werden die Neigung haben, viel-
hehr in einer einheitlichen sachlich bestimmten Anordnung die beiden
;ypen zu verschmelzen.
Bei dem Versuch einer Übersicht, wie er hier gegeben wurde,
c^ird man sich immer der Gefahr des Irrtums im einzelnen aussetzen.
)ie Übersicht schien mir aber erst einmal das dringendste Bedürfnis.
n dem nunmehr im einzelnen zu besprechenden reichen und viel-
gestaltigen Material glaubte ich die entwickelten Grundgesetze vielfach
)estätigt zu finden, und auch in den Ausnahmen schien mir noch
Sinn und System erkennbar zu sein.
II. Die einzelnen Ordnungen
1. Unter iWaximilian I.
Den 13. Band der Archivalischen Zeitschrift vom Jahre 1888 er-
öffnete Seeliger mit der Publikation der „ältesten Ordnung der deutschen
Reichskanzlei", erlassen vom Erzbischof Berthold von Mainz in Mecheln
am 3. Oktober 1494. Gleichzeitig veröffentlichte Posse im Anhang
seiner „Privaturkunden" dasselbe Dokument^ und ließ ihm eine andere
Ordnung vorausgehen, die er glaubte in die Zeit des Erzbischofs
Albrecht I. von Mainz 1482 — 1484 setzen zu dürfen. Da jedoch diese
patierung unrichtig ist, so bleibt Seeligers Bezeichnung der Ordnung
von 1494 als der ältesten zu Recht bestehen. Viel spricht dafür, daß
sie nicht nur die älteste uns erhaltene, sondern die erste ausführlicher
formulierte Ordnung überhaupt ist. In jener Zeit war es noch ganz
gebräuchlich, daß man jahrzehntelang, ja wohl ein Jahrhundert lang,
wie ich es für burgundische Chambres des Comptes finde, ohne In-
struktion, nur nach dem praktischen Brauch und Herkommen, arbeitete.
Unsere Ordnung scheint aber schon durch ihre verunglückte Disposition
I (siehe unten) sich als einen ersten Versuch zu charakterisieren. Dazu
(kommt ihre auffallend große Bedeutung in der Überlieferung, während
einer früheren Ordnung nirgends Erwähnung geschieht. In den drei
ij hauptsächlich in Betracht kommenden Archiven, Wien, Würzburg und
i! ' 0. Posse, Die Lehre von den Privaturkunden. Leipzig 1887, S. 205—209.
358 Andreas Walther
Brüssel,^ sind Kopien erhalten, und sie bildete noch die hauptsächlichst!
oder wenigstens eine der hauptsächlichsten Vorlagen für das Memoire de:
Viglius von 1550, in dem sie 38 mal erwähnt wird, und die Reichshof
kanzleiordnung vom 1. Juni 1559.^ Auch in der neueren Literatur is
sie unverhältnismäßig vor allen anderen Kanzleiordnungen bevorzug
worden, ßresslau vergleicht ihre Bestimmungen mehrfach mit der
früheren Gebräuchen.^ Im Mittelpunkt des Interesses aber steht sit
vielfach in den beiden einander ergänzenden Arbeiten über das Re-
gisterwesen am deutschen Königshof von Seeliger ^ und Bauer.^ Seeligei
geht von ihr aus nach rückwärts und kommt zu dem wichtigen Resultat
daß die betreffenden Bestimmungen der Ordnung „im großen unc
ganzen schon während des 14. und 15. Jahrhunderts Geltung besaßen"
so daß die Ordonnanz also im wesentlichen als Kodifikation eines
alten Brauches wird angesehen werden dürfen.^ Bauer geht umgekehn
von der Ordnung aus nach vorwärts und verfolgt, ob und wieweit sie
bis 1502, d. h. bis zum Ende der Wirksamkeit des Erzkanzlers in dei
Kanzlei, praktisch in Geltung gewesen ist. Da freilich mitten hinein
in die von ihm behandelte Zeit der Erlaß jener von Posse publizierten
und irrig datierten Ordnung fällt (siehe unten), so sind seine Er-
wägungen an einigen Stellen zu modifizieren.
Ist das besondere Interesse, das sich dieser Ordnung zugewandt
hat, berechtigt, so stellt doch diese detaillierte Instruktion für das
Kanzleipersonal in der Form des Ämterbuches nicht den entscheiden-
den Anfang einer Entwicklung in der Kanzleigeschichte dar. Als ihre
Schwesterordonnanz im Sinne der obigen Ausführungen kann an-
gesehen werden die Bestimmung des Diploms Maximilians vom
2. Mai 1486, die dem Erzbischof Berthold die Leitung der Reichs-
^ Papiers d'Etat et de l'Audience Nr. 789, fol. 560—566, undatierte Kopie. Eine
Aufschrift des Viglius setzt das Dokument richtig in die Zeit Bertholds. Eine offen-
bar frühere Aufschrift von anderer Hand lautet: Haec ordinatio, reperta interi
scripturas cancellariae quo tempore facta aut concepta sit non satis constat. Saltem
tempore huius principii non fuit in observantia, nisi forte in primis comitiis
Worniatiensibus anni 1521 sub Cardinali Moguntino. Alioqui videtur facta tempore'
Berchtoldi Archiepiscopi Moguntini, qui aliquandiu habuit administrationem can-
cellariae. tiabet autem aliquot capita utilia et commoda ad ordinationem can-
cellariae.
^ Seeliger, Erzkanzler 115.
^H. Bresslau, Handbuch der ürkundenlehre für Deutschland und Italien 1.,
Leipzig 1889, S. 405 Anm. 4, 406, 413 Anm. 1, 414 Anm. 3, 417 Anm. 2.
* Seeliger, Die Registerführung am deutschen Königshof bis 1493, Mitteil. d.
Inst, für österr. Gesch., Erg.-Bd. 3, 1892, S. 223—364.
^ W. Bauer, Das Register- und Konzeptwesen in der Reichskanzlei Maximilians I.
bis 1502, Mitteil. d. Inst, für österr. Gesch. 26, 1905, S. 247—279.
* Seeliger, Registerführung 314, 335.
1
Kanzleiordnungen Maximilians!., Karls V. und Ferdinands!. 359
anzlei zugestand. Damit war gegenüber dem Brauch in den letzten
ahrzelinten der Regierung Friedrichs III. eine „durchaus neue rechtliche
jirundlage" für die Ansprüche des Erzkanzlers geschaffen worden.^
reilich praktisch wirksam wurde das Versprechen Maximilians erst
ach dem Tode Friedrichs III.; und als dann Berthold im Sommer 1494
,n den Hof gekommen und mit den Kanzleiverhältnissen vertraut ge-
worden war, erließ er seinerseits am 3. Oktober jene spezialisierte
istruktion.
Die Neuorganisationen der Jahre 1497/98 haben auch für die
Kanzlei mehrere Ordnungen und Entwürfe zutage gefördert.
Als Typus ist besonders interessant der Entwurf von Ende 1497,
er von Seeliger ^ und Fellner-Kretschmayr^ veröffentlicht worden ist.
:r liegt uns in drei Redaktionen vor.^ Die erste ist eine richtige ür-
unde vom 13. Dezember 1497 und stellt den summarisch gehaltenen
ypus der Ordnungen dar. Sie gibt sich als „Hofordnung" ^ (oder
^eil einer solchen) und ist in Wirklichkeit vielmehr eine Ratsordnung,
lie zugleich über die mit der Beschlußfassung zusammenhängende
Schreibarbeit Bestimmungen erläßt. Die zweite Redaktion ist nur eine
verbesserte Abschrift. In der dritten aber, noch 1497 datiert, ist eine
letaillierte Instruktion für das KanzleipersonaJ vor der Schlußformel
lineingeflickt worden. Eine Art Verbindung zwischen beiden Teilen
vird dadurch hergestellt, daß der zweite zuerst den zwei „Ratssekretären"
nstruktionen gibt; dann aber folgen in den Artikeln über das Regi-
itratoramt und die Schreiber rein geschäftliche Kanzleibestimmungen,
iie sich mit dem Charakter des ersten Teils durchaus nicht mehr ver-
ragen. Einen gemeinsamen Namen kann man dem Ganzen nicht mehr
^eben. Seeliger und Fellner-Kretschmayr sagen „Hofordnung", Winter
sagt einmal „Hof- (und Hofrats-)ordnung", aber dem umfang der
Materien nach ist es vielmehr überwiegend Kanzleiordnung.
Daß dieser Entwurf gleich den Ordnungen der andern Zentral-
)ehörden am 13. Februar 1498 ausgefertigt worden sei, wie Seeliger
md Fellner-Kretschmayr als sehr wahrscheinlich annehmen, dafür ist
■reilich die Erwähnung in einem Intimat Maximilians an die Beamten
und Untertanen der Länder von demselben Datum, daß er „hof, hof-
!ret und canzlei" usw. reformiert habe,^ keine genügende Stütze; wir
jhaben ja oben das unsichere und vielfach einander einschließende
^ Seeliger, Erzkanzler 69—71.
' ibid. S. 193—208.
' Bd. V!. S. 6-16.
* Seeliger, Erzkanzler 192f.
^ Seeliger 194, Fellner-Kretschmayr V!. 7.
® Fellner-Kretschmayr V!. 4.
360 Andreas Walther
Verhältnis dieser Begriffe zueinander gesehen. Immerhin spricht noc
dafür, daß in jenem Intimat betont wird, der tiofrat, also wohl auc
die zu ihm gehörende Kanzlei, sei für das Reich und die Erbland ,
gemeinsam bestellt worden. Denn das ist auch der wesentliche Inhal
unseres Entwurfs, daß die Tätigkeit des Erzkanzlers und einer beson
deren Reichskanzlei ganz ausgeschaltet wird.^
Man wird nicht fehlgehen mit der Annahme, daß der Erzkanzle
energisch protestiert hat, und so wird es auf seine Vorstellungen hii
geschehen sein, wenn Maximilian am 12. September 1498 zu Mömpel
gard eine Verordnung erließ, die wieder die Trennung der drei Kanz
leien, Reichskanzlei und Kammergerichtskanzlei und österreichische
Hofkanzlei, ausspricht und die Autorität des Erzkapzlers in der Reichs
kanzlei und Kammergerichtskanzlei präzisiert.^ Es ist nicht eigentlicl
eine Kanzleiordnung, obwohl sie auch sich selbst so nennt, vielmeh
„im Grunde ein Abkommen des Königs mit dem Erzbischof".^
Wie nun der Erzbischof, als er auf Grund des Abkommens vor
1486 die Kanzleigeschäfte übernommen hatte, seinerseits eine detaillierti
Instruktion erließ, so folgt auf das Abkommen vom 12. September 149^.
ein ähnliches Reglement. Es ist die schon erwähnte bei Poss^-
S. 200—205 gedruckte Ordnung. \
über der Datierung dieser Ordnung hat ein Unstern gewaltet-
Gegen die Ansetzung Posses zu 1482—84 wandte sich Seeliger au!^
Grund seiner genauen Kenntnis der Organisation unter Friedrich IIL;
die eine Einmischung des Erzkanzlers in die Kanzlei ausschloß.]
Seeliger identifizierte sie vielmehr mit einer Ordnung, die, wie mehr-
fach bezeugt ist, Erzbischof Albrecht II. von Mainz im Jahre 1545
verfaßt hatte.^ Die „Bemerkungen von zwei verschiedenen Händen'
aber, auf die er sich stützt,^ an sich ein unsicheres Zeugnis, wenn die
Hände und das Datum der Niederschrift nicht bekannt sind,^ kommen
nicht in Betracht der Tatsache gegenüber, daß die Ordnung dauernd
von „kun. mt." redet.^ Wenn das in solchen Wendungen geschieht,
daß etwa vom Erzbischof von Mainz „als seiner königlichen Majestät
^ Seeliger, Erzkanzler 79f.
^ Gedruckt bei Posse 209f., Seeliger 208—211, Fellner-Kretschmayi
VI. 48—50.
' Erben, ürkundenlehre I, 1907, S. 111.
* Seeliger, Erzkanzler 228 f. (Nachtrag), 69 f.
^ ibid. 228 f., vgl. 103 f.
^ ibid. 103 Anm. 2.
' Siehe oben S. 358 Anm. 1 die Bemerkung zu der Ordnung von 1494 auf dei
Kopie des Brüsseler Staatsarchivs.
^ Artikel 1—4, 6, 9, 15 f., 18, 25.
Kanzleiordnungen Maximilians I., Karls V. und Ferdinands I. 361
rzkanzler" geredet wird (Art. 1), so werden wir unbedingt in die
ste Hälfte der Regierung Maximilians I. gewiesen, über die andere
lainzische Ordnung von 1545, die dem Viglius 1550 vorlag und zum
eil in seinem Entwurf enthalten ist, wird unten zu reden sein.
Jene von Posse publizierte Ordnung steht der von 1494 sehr nahe,
eide handeln lediglich von der geschäftlichen Kanzleitätigkeit. Es
ind die engsten Kanzleiordnungen, die für die uns beschäftigenden
usammenhänge erhalten sind. Für die wörtlichen Berührungen ist
twa der letzte Artikel beider Ordnungen ein gutes Beispiel. Es ist
un ausgeschlossen, unsere Instruktion noch vor der von 1494 an-
usetzen, sie etwa als einen Entwurf für jene anzusehen. Vielmehr
rweist die Anordnung des Stoffes in beiden Dokumenten die Priorität
er Ordnung von 1494. In der letzten nämlich haben wir die Rubriken:
lekretäre, Registrator, Schreiber, Sekretäre und Schreiber, Taxator,
;;anzleiknecht; und während alle übrigen Rubriken etwa gleichen Urn-
ing haben, sind in die Verlegenheitsrubrik „Sekretäre und Schreiber"
^on den 47 Artikeln der Ordnung nicht weniger als 27 hineingesteckt
v^orden, und mehrfach beziehen sich die Bestimmungen auch auf
^ndere Kanzleibeamte als „Sekretäre und Schreiber". Dies offenbare
Ungeschick hat Berthold dann korrigiert, als er ohnehin wieder eine
)rdnung als Zeichen und Symbol seiner neuen Besitznahme von der
(anzleiverwaltung erließ. Nun schickt er 15 „gemain artikel" voraus
ind führt dann in den übrigen 24 Artikeln das auf, was außerdem
nsonderheit für Sekretäre, Registrator, Taxator, Schreiber und Kanzlei-
mecht Geltung haben soll. Man konnte nicht mehr in jenes Un-
geschick zurückfallen, nachdem diese in ihrer Art vorzügliche Anordnung
befunden war, die einen Grundtypus der deutschen und österreichischen
xanzleiordnungen für Jahrhunderte gebildet hat.^
Als Endtermin für die Datierung ist der 21. März 1502 anzusetzen,
m welchem Tage Maximilian dem Reichsregiment und der selbständigen
römischen Kanzlei ein Ende machte.^ Aber auch etwa an die Ein-
setzung des Reichsregiments im Jahre 1500 zu denken, verbietet der
ganze Ton unserer Ordnung, besonders das Verhältnis zum König,
das in ihr vorausgesetzt wird.
So dürfte die Datierung zu Ende 1498 gesichert sein. Es ist die
von dem „gnädigsten Herrn von Mainz gesetzte" Ordnung der „römischen
königlichen Kanzleiverwandten", die nach der „durch König Maxi-
milian vorgenommenen Ordnung des römischen Reiches Kanzlei" als
Ergänzung folgte.
^ Siehe bei Fellner-Kretschmayr VI und VII die Ordnungen von 1559, 1564,
1570, 1628, 1669, 1683.
^ Seeliger, Erzkanzler 85f.
I
362 Andreas Walther
Wir haben nur die Ordnung der Reichskanzlei nach jenem Kontrak
mit dem Erzkanzler vom 12. September 1498, der die Trennung de
beiden Reichskanzleien von der österreichischen Hofkanzlei aussprach
verfolgt. Dem Kontrakt mit dem Erzkanzler entspricht nun eiiK
Instruktion für den österreichischen Hofkanzler. Es ist das Dokumenl:
das zuerst von Adler ^ und neuerdings von Fellner-Kretschmayr^ her.
ausgegeben worden ist. Adler hatte es in Zusammenhang mit der großei;:
Behördenorganisation vom Anfang des Jahres 1498 gebracht. Nacl^
Seeligers Bestreitung dieser Annahme^ wird die Instruktion von Fellner
Kretschmayr auf den Tag jenes Kontraktes, den 12. September 1498
gesetzt. Dafür liegt ein ausreichender Grund nicht vor; jenes Datun
ist vielmehr der terminus a quo. Weit dürfen wir uns aber auch nich
von ihm entfernen, da die im Februar 1498 neu errichteten Zentral-
behörden in der Instruktion so häufig und eindringlich erwähnt werden
Adler hatte das Dokument mit Recht als „Instruktion für den Hof-
kanzler" bezeichnet, denn alles, auch was über Hofmarschall, Sekretärt
und Schreiber gesagt wird, bezieht sich doch auf den Kanzler. Es!
soll die neue Stellung des Hofkanzlers als des Hauptes des gelehrter;
Rates und der Kanzlei formuliert werden. Darum ist es keine Ver-
besserung, wenn die Ordnung bei Fellner-Kretschmayr wieder eine;
„Instruktion für die Hofkanzlei" genannt wird. Auch die dort ge-l
gebene Bezeichnung als „Fragment" kann ich nicht für notwendig
halten. Es war nicht die Absicht, „des Hauses Österreich Gewohnheit
und der Kanzleien Herkommen", das gelegentlich erwähnt wird,^ voll-i
ständig zu kodifizieren. Hier, wo die Kontinuität nicht wie bei der
Reichskanzlei gestört war, mag man noch auf eine detaillierte Ordnung
verzichtet haben, so daß wir diese als durch das Herkommen vertreten
zu denken hätten, übrigens wird einmal, wo von der Registerführung
die Rede ist, gesagt, der Hofkanzler solle „Ordnung vornehmen, darob
sein und verfügen",^ daß alles ordentlich und regelmäßig erledigt
werde. Man mag hier an formlosere, etwa nur mündliche Instruktionen
für die Einzelbeamten denken, obwohl jener Ausdruck etwas Formel-
haftes hat.^
Die zweite Hälfte der Regierung Maximilians ist für unseren Gegen-
stand fast leer. Von 1502 an hat, wenn von den besonderen Ver-
^ S.Adler, Die Organisation der Zentral Verwaltung unter Kaiser Maximilian I.
Leipzig 1886, S. 511—515. '
' Bd. VI. S. 50—54.
' Seeliger, Erzkanzler 80 Anm. 2, 193.
* Fellner-Kretschmayr VI. 53, Z. 25.
^ ibid. 53, Z. 17. '
® Auch in der Schatzkammerordnung findet er sich; ibid. 38, Art. 32.
^
Kanzleiordnungen Maximilians I., Karls V. und Ferdinands I. 363
ältnissen während der Reichsversammlungen abgesehen wird, die
iofkanzlei zugleich die Geschäfte der Reichskanzlei besorgt.^ Von
tanzleiordnungen in dieser Zeit hören wir nichts. Es war eben der
türmische Anlauf zu großen Organisationen vollständig erlahmt.
Anmerkungsweise möchte ich erwähnen den 1506 auftretenden
jerkwürdigen Plan, den Erzbischof Jakob von Trier mit der Verwaltung
er römischen Kanzlei am Hofe zu beauftragen. So wie es bei Seeliger
ufgefaßt wird,^ ist es doch staatsrechtlich äußerst unwahrscheinlich.
s wird sich vielmehr um die Verwaltung der römischen Kanzlei für
i»urgund, „per Galliam"^ handeln. Philipp der Schöne von Burgund
efand sich in Spanien, und Maximilian fühlte sich als den eigent-
chen Regenten der verwaisten Lande seines Sohnes. Als dann im
Herbst des Jahres 1506 Philipp der Schöne in Spanien gestorben war,
ind 1507/08 lange Verhandlungen mit dem Erzbischof von Trier
:pegen Übernahme der Leitung der Kanzlei und des gelehrten Rates in
en Niederlanden gepflogen worden.^
Auf die sachlich sehr interessanten Bestimmungen des Innsbrucker
ibells vom 24. Mai 1518 über die Kanzleiverhältnisse ^ mag noch be-
onders verwiesen werden.
2. Am Hofe Karls V.
Für die Kanzleiorganisation am Hofe Karls V. sind wir bisher
2diglich auf die unten mitgeteilten Dokumente angewiesen. Daß sie
;eeignet sind, eine in den allgemeinen Grundzügen lückenlose Über-
icht zu geben sowohl in der Breite über das Nebeneinander der
)rganisationen für die verschiedenen Reiche, als insbesondere in der
änge über die Geschichte der deutschen (und am Anfang auch der
sterreichischen) Hofkanzlei, wurde oben erwähnt. Hier sollen die
inzelnen Stücke besprochen werden.
Das erste Dokument, ein Gutachten Gattinaras vom Dezember 1519
der Januar 1520 über Titel, Signatur, Wappen, Siegel und Münzen
es kürzlich erwählten römischen Königs, findet sich (ebenso wie das
ritte und vierte) im Brüsseler Staatsarchiv, Fonds der Papiers d'Etat
^ Seeliger, Erzkanzler 86—88; Kretschmayr, Vizekanzleramt 390.
^ Seeliger 87.
^ Vgl. unten die Ausführungen Gattinaras in dem Gutachten von 1519/20 über
lie verschiedenen Siegel des Reiches. Dem Mainzer steht nur die Verwaltung der
cancellaria sacri Romani imperii per Germaniam" zu (Karls Brief an den Erzkanzler
'om 12. März 1519, bei Gudenus, Codex diplomaticus IV. 608).
* Burgund. Zentralbeh. 91 f.
^ Fellner-Kretschmayr VI. 87f.
364 Andreas Walther
et de l'Audience, fol. 328—331 des Registerbandes 789, einer altei
Sammlung mit der Aufschrift aus dem 17., vielleicht noch Ende de
16. Jahrhunderts: „Touchant le prive conseil, tauxes du seau, secretairee
huyssiers ordinaires du grand conseil, et semblables". Es ist ein
Kopie von Schreiberhand, die von Viglius van Zwichem, dem be|
kannten Chef der niederländischen Ratskollegien in der letzten Zei;
Karls V. und dann unter Philipp IL, revidiert worden ist; vermutlich al
Vorarbeit für seinen Entwurf von 1550, obwohl sich im Brüssele
Staatsarchiv viele auch auf die Finanzsachen bezügliche Ordonnanzei
und Entwürfe finden, die in ähnlicher Weise von ihm bearbeite,
worden sind.
Die Datierung ergibt sich aus den Angaben in den Urkunden
formein, nach denen man sich befindet im ersten Jahre seit Erwählun;
Karls zum Kaiser, d. h. in der Zeit vom 28. Juni 1519 bis 28. Juni 152C
ferner im vierten Jahre seit dem Tode Ferdinands von Aragon, d. h. von
23. Januar 1519 bis 23. Januar 1520, und im 16. Jahre nach den
Tode der Isabella von Kastilien, d. h. vom 26. November 1519 bis zun
26. November 1520. Die beiden Termini für die Datierung sind als(|
der 26. November 1519 und der 23. Januar 1520. \
Daß Mercurino di Gattinara, Großkanzler Karls V. während de'
Jahre 1518—1530, der Verfasser ist, wie die ebenfalls von Vigliu::
hinzugefügte Überschrift angibt, ist zweifellos. Es sind Reste seine'
eigenartigen Interpunktion stehen geblieben,^ so wenige freilich, dal
im Druck die ganze Interpunktion modernisiert werden mußte. Vo
allem aber gab es in jener Zeit am Hofe keinen anderen Mann, de
ein so bedeutendes Memoire zu verfassen imstande gewesen wäre
Dabei ist es flüchtig hingeworfen; der Verfasser springt gelegentlicl
von dem Französischen über in das Lateinische und Spanische de
Formeln, von denen er handelt. Das Ganze gibt sich als eine Antwor
auf fünf vom Kaiser gestellte Fragen. Das ist vielleicht nur eine Ein
kleidung, wie Gattinara sie liebte. Er bedurfte solcher Mittel als Gegen
gewicht gegen die der Lebendigkeit seines Geistes nicht angemessener
Geschäfte, die seine Zeit ganz ausfüllten. Es ist dasselbe, wie went
er in einem anderen Memoire die Gründe für und wider die An
nähme einer Waffenruhe als die 7 Todsünden und die 10 Gebote auf
treten läßt."
Dies Bedürfnis nach Anschaulichkeit durchzieht das ganze Memoire
Bedeutender aber noch ist die großzügige und ganz durchsichtigt
überschau mit ihrer juristischen und praktischen Sicherheit in de
^ Alleinige Anwendung des Doppelpunktes, vgl. Burgund. Zentralbeh. 202, Anm. 1
* Baumgarten, Geschichte Karls V., II. 12ff.
Kanzleiordnungen Maximilians!., Karls V. und Ferdinands!. 365
enntnis der verschiedenartigen Gebräuche und der ihnen zugrunde
iegenden staatsrechtüchen Verhältnisse. Vor allem tritt immer wieder
pharf heraus die Stimmung der stolzen spanischen Nation, die nicht
ulden will, daß der Kaisername höher geachtet werde als der eines
önigs von Spanien. Aber auch das Formalste, die Erörterungen über
le ürkundenformeln und die verschiedenartigen Siegel, wird nicht nur
em Spezialisten in Diplomatik und Sphragistik von Interesse sein,
a uns hier die kaum anderswo zu gewinnende Anschaulichkeit der
'ollständigkeit und der Vergleichung gegeben wird.
Es folgt die Mitteilung der Rubriken für Rat und Kanzlei in zwei
ragonischen iiofstaatsverzeichnissen aus den zwanziger Jahren des
6. Jahrhunderts. Das erste Verzeichnis ist in Brüssel, Papiers d'Etat
t de l'Audience Nr. 30, in der originalen Form erhalten. Es ist ein
dünner in Pergament gebundener Band mit der gleichzeitigen Auf-
!;chrift: „Registro de los officiales de la casa real d'Aragon". Das
Händchen besteht aus drei Lagen von im ganzen 70 Blatt, von denen
aber nur 38 beschrieben und in neuerer Zeit mit Nummern versehen
sind. Die verschiedenen Materien sind auf die drei Lagen verteilt, die
:iber doch ursprünglich zusammengehören, denn von der ersten Seite
jer zweiten hat die Tinte auf das letzte Blatt der ersten abgefärbt,
und von der ersten wird auf eine Eintragung verwiesen, die sich auf
der dritten findet. Vermutlich später angefügt sind die jetzt als
ifol. 39 — 43 gezählten Blätter, die Dokumente zur aragonischen Finanz-
'verwaltung enthalten. In der Mitte des Rückens ist ein I4V2 cm
langes Aufhängsei stark befestigt. Wurde das Register so hängend
aufbewahrt, so konnte es leicht eingesehen und die Vermerke über er-
ifolgte Bezahlungen (die ich in kleinerem Druck mitteile) dem zu diesem
Zweck sehr spatiös angelegten Verzeichnis der Namen hinzugefügt
werden. Nach den mit verschiedener Tinte und zu verschiedenen
|Zeiten, aber von derselben Hand geschriebenen Eintragungen ist die
i Liste 1520—1522 in Gebrauch gewesen.
Das zweite Verzeichnis, wohl Ende der zwanziger Jahre anzu-
, setzen, denn die Namen der Sekretäre sind noch dieselben, aber Lalle-
i mand, der 1527 aus dem Amt entfernt wurde, fehlt, — findet sich im
: Registerbande 23 der Papiers d'Etat et de l'Audience, emer modernen
(Sammlung verschiedener Dokumente („Maison des souverains et des
jgouverneurs generaux IL"), auf fol. 71—77. Es trägt die Überschrift:
! „Todas las personas que stan asentadas en carta de racion de su
Magestad y libros de su escrivania de racion son los siguentes".
I Auf der Rückseite liest man: „Libro del escrivano de ration", aber
I nichts weist darauf hin, daß es wirklich fortlaufend in Gebrauch ge-
wesen ist. Ist es somit der Form nach weit weniger interessant als
366 Andreas Walther
das Verzeichnis von 1520/22, so bietet es doch für unsere Zwect
erst die notwendige Ergänzung zu jenem.
Dort nämlich hatten wir nur die beiden Rubriken „Rigentes de 1
cancellaria y de! consejo" und „Secretarios", voneinander getrenr
durch eine Reihe von anderen Rubriken. Hier dagegen haben w
außerdem, gleichfalls durch andere Rubriken von der der Sekretär
getrennt die Rubrik „Cancelleria", auf die in der ersten Liste nur di
zwei nachgetragenen Zahlungsaufträge (albaranes) durch die Erwähnun
von „Scrivanos de mandamiento de la chancilleria de Aragon" hin
weisen. Und zwar fehlt diese Rubrik in der ersten nur dem Zahlungs
bureau dienenden Liste deswegen, weil die Beamten dieser „Cancelleria
vielmehr, wie es in dem zweiten Verzeichnis heißt, von dem Protonota
aus dem Ertrag der Siegelrechte bezahlt werden.
Die uns hier entgegentretende Kanzleiorganisation weicht von de
deutschen und österreichischen offenbar erheblich ab, und illustrier
doch nur die gleichen Grundgesetze. Es scheint die Kanzlei in dre
vollständig voneinander isolierte Stücke zerrissen zu sein. Nur die
Bezeichnung „Kanzlei" verbindet noch die erste und die dritte Rubrik
In der ersten haben wir aber vielmehr mit dem Rat zu tun, nur daß
die enge Verbindung dieses gelehrten Rates mit der Kanzlei noch in
dem Doppelnamen hervortritt. Die dritte Rubrik dagegen zeigt uns,
wie sich besonders eng die rein geschäftliche Bureauarbeit zu einer'
„Kanzlei" in speziellem Sinne zusammengeschlossen hat. Der Proto-i
notar ist Leiter dieses Bureaus in einer Ausschließlichkeit, wie sie sonst'
nur die besprochenen Ordnungen Erzbischof Bertholds von 1494 und 1498
zeigen. War dort der Grund die staatsrechtlich bestimmte Isolierung der
Reichskanzlei, so ist es in der aragonischen und höchstwahrscheinlich
geradeso in der kastilianischen Hofkanzlei die besondere Stellung der
Sekretäre, die sich als ein Kollegium von Ressortchefs aus der Kanzlei
herausgehoben haben. Ähnliches finden wir in Österreich angedeutet
in den drei „Sekretarienverwaltern" des Innsbrucker Libells von 1518,
einer bestimmt für die reichischen, einer für die niederösterreichischen,
einer für die oberösterreichischen Sachen.^ Die unten zu besprechende
Instruktion für die Sekretäre von* 1526 aber zeigt einige diesen arago-
nischen Verzeichnissen auffallend ähnliche Züge. Es werden nach dieser
Instruktion vier Stuben für die Kanzlei bestimmt, eine für den Kanzler,
je eine für die beiden „vordristen Sekretari", nämlich Rabenhaupt als
Sekretär für die niederösterreichischen Sachen, Fernberger für die
^ Fellner-Kretschmayr VI. 87. Sie werden auch genannt „Sekretarien und
Verwalter", „Sekretarien als Verwalter".
Kanzleiordnungen Maximilians I., Karls V. und Ferdinands I. 367
ichischen sowie ober- und vorderösterreichischen, ^ beide ihrerseits
orgesetzte Sekretäre" für die ihnen „zugeordneten" Kopisten und
gfossisten.^ Die vierte Stube aber ist bestimmt „für die Kanzlei,
arin Wisinger (der Seiiretär für die Parteisachen !^), die Registratoren,
2r lateinische Sekretär und die Ingrossisten alle beieinander sein
)llen".^ Wenn jenen beiden Sekretären ein besonderes Zimmer nicht
pgewiesen werden kann, „so sollen sie Geduld tragen in der Kanzlei
j sein".^ Die Weiterentwicklung jener Ressortbildungen läßt sich am
equemsten nach den österreichischen tiofstaatsverzeichnissen ver-
)lgen. Die Frage, ob hier die jahrelange Herrschaft des Spaniers
jalamanca in der Kanzlei Ferdinands I. nachwirkt,^ ist mit zur Dis-
iussion zu stellen, wenn die Vorarbeiten einmal weit genug gediehen
ind, daß man mit Rezeptionstheorien über Möglichkeiten und Wahr-
cheinlichkeiten hinauszukommen hoffen darf.
Ich wende mich der Kanzleiordnung Gattinaras für die deutschen
nd österreichischen Lande vom 1. Januar 1522 zu. Die unten zu-
grunde gelegte Kopie findet sich fol. 556 — 559 desselben Register-
Eandes 789 der Papiers d'Etat et de l'Audience, wie die des Gut-
achtens Gattinaras von 1519/20. Sie ist wie jene von Viglius revidiert
|ind mit Überschrift und Bemerkungen versehen worden. Es ist offen-
;)ar das Exemplar, das er für den Entwurf von 1550 benutzt hat. Die
Zahlreichen Randbemerkungen sollen meist nur der Übersicht über die
)hne Absätze geschriebene Kopie dienen. Ich teile unten anmerkungs-
veise mit, was irgend von Interesse sein kann.
Die Vorgeschichte der Ordnung ist uns gut bekannt. Vor der
<alserwahl hatte Karl V. dem Mainzer Erzbischof nicht nur das Recht
oersönlicher Verwaltung der Reichskanzlei bestätigt, sondern ihm auch
l^ugestanden, sie durch einen Stellvertreter verwalten zu lassen, womit
dann das Vizekanzellariat in die deutsche Geschichte eintritt.' Als
Karl V. nach Deutschland kam, mußte das Verhältnis des Mainzers zu
dem Hofkanzler Gattinara, der nach burgundischer Tradition sich Groß-
kanzler titulierte, geregelt werden. Am 25. Januar 1521 einigten sich
Erzkanzler und Großkanzler zu dem „gemeinsamen Erlaß einer Kanzlei-
ordnung, deren wesentlichster Inhalt bestimmt war, der Wirksamkeit
^ Fellner-Kretschmayr VI. S. 95, Art. 12f.
' ibid. S. 92f., Art. 6f.
' ibid. Art. 8; vgl. oben S. 354f.
' ibid. Art. 2.
" ibid. Art. 3.
' Vgl. Burgund. Zentralbeh. 189, 152, 164f.
^ Seeliger, Erzkanzler 91f., Kretschmayr, Vizekanzleramt 391f.
368 Andreas Walther
der beiden obersten Häupter der Kanzlei Maß und Begrenzung zi
setzen".^
Diese Ordnung, die Karl V. durch Diplom vom 30. Januar 152:
bestätigte,^ setzte unter anderem fest, daß bei Abwesenheit des Erz
kanzlers vom Hofe die Ausübung der Kanzlerrechte auf Gattinara über
gehen sollte, was in einem neuen Diplom Karls V. vom 22. Februar 1521
und einem Privileg für Gattinara^ noch einmal betont wurde. Ah
dann der Kaiser den deutschen Boden wieder verlassen hatte, nahn
Gattinara von der Kanzleiverwaltung Besitz, indem er in Gent an
1. Januar 1522 unsere Ordnung erließ.
Mit Recht bezeichnet Viglius sie als „Status et ordinationes" de;
Kanzlei. Es ist ein „Status", da zugleich die Kanzleibeamten mi
Namen aufgezählt werden. Auch fühlt man sich versucht, den Plura
„ordinationes" zu pressen, denn dieses Reglement ist seiner Dispositior
nach wohl das ungeordnetste von allen, die wir überhaupt zu be-
sprechen haben. Das ist eine überraschende Erscheinung, wenn mar
dagegen hält die Durchsichtigkeit und Einfachheit der Anordnung in
jenem Entwurf von 1519/20, oder gar in der von ihm für Margarete
von Österreich verfaßten Ordnung vom 17. Dezember 1516, in der er sich]
von dem doppelten burgundischen Typus, einerseits der summarischen;
Kanzleiordnung als Teil der Ratsordnung, andererseits der detaillierteni
Instruktion in der Form des Ämterbuches, gänzlich freigemacht und
eine einheitliche Ordnung für die geschäftliche Tätigkeit von Rat und
Kanzlei geschaffen hatte, deren Anschaulichkeit und Klarheit der Dis-
position durch keine der Ordnungen, von denen wir hier handeln, er-
reicht wird.^ Nur durch eine Vermischung der Typen, durch das Nach-
wirken des Schemas jener Ordnung von 1516, kann ich mir die An-
ordnung unserer Instruktion erklären.
Die Ordnung Margaretes beginnt, ähnlich wie die burgundischen
Ratsordnungen, mit der Aufzählung der zum Conseil prive (und zur
Kanzlei) gehörigen Personen. So führt auch unsere Instruktion, nach-
dem einleitend von dem Orte der Kanzlei gehandelt worden ist (Art. 1),
^ Seeliger 93f., dort in den Anmerkungen die wichtigsten Bestimmungen mit-
geteilt. — Über die weiteren Abgrenzungen der Befugnisse von Reichskanzlei,
deutscher Hofkanzlei und österreichischer Hofkanzlei, des Erzkanzlers, Großkanzlers
und Vizekanzlers während der Wormser Tagung sind wir durch Seeliger (S. 92—96)
und Kretschmayr (S. 391— 395) gut unterrichtet.
^ Das (im wesentlichen formelhafte) Diplom bei Seeliger, Erzkanzler 213f.
^ Gudenus, Codex diplomaticus IV. 616—618.
* Erwähnt bei Guden S. 617.
^ Veröffentlicht in den Burgund. Zentralbeh. 199—203, besprochen dort 102 f.,
105-109, 112—114.
I
Kanzleiordnungen Maximilians I., Karls V. und Ferdinands I. 369
uerst die Vizekanzler, Sekretäre und Schreiber auf (Art. 2). Dann ist
jjjötzlich von den Registern die Rede (Art. 3); in Wirklichkeit aber
iient das nur der Einführung des Registrators, Taxators, Kontrarelators
md Rezeptors (Art. 4), worauf von der Verteilung der Emolumente an
ämtliche Kanzleibeamte, den Kanzler eingeschlossen, gehandelt wird
jArt. 5). Nachdem so die Artikel über das Personal abgeschlossen sind,
md von der Visitation, Signierung (Art. 6) und Besiegelung (Art. 7)
1er Urkunden und Briefe geredet, und als Nachtrag eine Bestimmung
iber die Relation der Geschäfte im Rat und vor dem Kanzler angefügt
Art. 8). Das entspricht der allgemeinen Anordnung in der Instruktion
V\argaretes. Aber dort bildete den eigentlichen Faden, weil zugleich
^om Rat die Rede war, die Erledigung der Requetes von der Ein-
eichung durch die Parteien an bis zur Besiegelung der Urkunde. Das
vird nun in unserem Reglement gleichsam nachträglich aufgenommen,
ndem Art. 9 eine ausführliche Instruktion über die Expedition der
^reces regales bringt, worauf in Art. 10 noch einmal Bestimmungen
iber die Verwaltung der Emolumente folgen, wie in Art. 5, nur dort
m Zusammenhang mit der Aufzählung des Personals, hier in bezug
iuf die Preces regales, die freilich auch in Art. 5 schon erwähnt
;A/aren. Zum Schluß wird über den Amtseid des Kanzleipersonals ge-
bändelt (Art. 11).
1 Die Bedeutung dieser Ordnung liegt darin, daß während des
'nächsten Menschenalters am Hofe Karls V. eine andere Kanzleiordnung
nicht erlassen sein dürfte. Wäre dies der Fall, so würde doch wohl
l^iglius sie sich für seinen Entwurf verschafft oder sie wenigstens er-
wähnt haben. Er hat ja seinen Entwurf unter den Augen Granvelles
verfaßt, und es könnte sich nur um eine unter der Autorität Gran-
velles, der 1530 seinem Lehrer Gattinara in der leitenden Stellung
folgte, erlassene Ordnung handeln. Es ist aber auch im allgemeinen
unwahrscheinlich, daß unter Granvelle eine solche Ordnung ausgegangen
sein sollte. Die ganze Kraft seiner Stellung dem Kaiser wie allen
Neidern gegenüber ruhte darauf, daß alles in den gewohnten Geleisen
weiterging. Seine Autorität irgendwie rechtlich festlegen zu wollen,
wäre wohl die größte Gefahr für ihn gewesen. Hier war also kaum
Raum für den Erlaß von Kanzleiordnungen, besonders da bei allem
Herumreisen des Kaisers doch die Kontinuität in der zentralen Ver-
waltung am Hofe nie aufgehoben wurde. Erst als Granvelle die Zügel
aus der Hand legt, treten die neuen Organisationen auf. Zehn Tage
vor seinem Tode ist der Ordo Consilii, zu dem der nunmehr zu be-
sprechende Entwurf des Viglius den Anlaß gegeben hat, im Rate
publiziert worden.
Dieser umfangreiche Entwurf, den ich, dem unten zu führenden
Afü II 24
370 Andreas Walther
Beweis vorgreifend, dem Viglius zugesprochen habe, findet sich au
den Blättern 568—584 des öfter genannten Registerbandes 789 dei
Papiers d'Etat et de I'Audience, von zwei Ingrossistenhänden ge-
schrieben und wie jene beiden anderen Dokumente von Viglius revi-
diert. Der Anordnung liegt die des Ämterbuches zugrunde. Der Ver-
fasser handelt der Reihe nach von Kaiserlicher Majestät, dem obersten
Kanzler, dem Vizekanzler, den Räten, dem Sekretär,^ dem Registratur
Taxator und anderen Beamten, den Kanzleischreibern, und fügt schließ-
lich einige allgemeine Bestimmungen an. Dem Charakter nach ist es
eine Zusammenstellung einer Reihe von Artikeln meist aus früheren Ord-
nungen, die für eine geplante Neuorganisation der deutschen Hofkanzlei
in Betracht kommen könnten, und eine Beleuchtung der Brauchbarkeit
dieser Artikel unter den neuen Verhältnissen. Natürlich ist ein solches
Dokument für eine Erkenntnis, die vor allen Dingen das Lebendige aus
dem Wust der Bureaukratie lösen möchte, weit ergiebiger und erfreu-
licher als eine schon in starre Formen gegossene Ordonnanz. Eine
Reihe von Umständen erhöhen noch sein Interesse.
Zunächst ist von dem Verhältnis zu den Vorlagen zu reden. Es
werden ihrer fünf genannt, eine des „Archicancellarius",^ in der wir
die älteste deutsche Kanzleiordnung vom 3. Oktober 1494 (siehe oben
S. 357f.) wiedererkennen; eine des „Mercurinus",^ nämlich jene Ordnung
Gattinaras vom 1. Januar 1522; ferner eine „Austriaca",^ gelegentlich
auch im Plural als „ordinationes Austrlacae" bezeichnet, woraus aber
der Schluß auf mehrere Ordnungen nicht gezogen werden darf, da die
Bezeichnung einer einzigen Ordnung als „ordinationes" gebräuchlich
war; ^ — dann eine „Moguntina"; ^ schließlich ein offenbar kurz vor
unserem Gutachten verfaßtes Memoire Obernburgers.^ Das letzte wird
am wenigsten erwähnt, aber der aus ihm aufbewahrte Art. 1 über
Kaiserliche Majestät ist von besonderem Interesse. Im übrigen trifft
es sich ausgezeichnet, daß einerseits für die beiden uns bekannten
^ In der Ordnung Gattinaras von 1522 haben wir noch drei Sekretäre für die
deutsche und österreichische Kanzlei ohne Abgrenzung der Befugnisse (Art. 2). Hier
aber hat sich das Ressort für die deutschen Angelegenheiten schon bureaumäßig
zugespitzt.
* Art. 16, 18-20, 25, 27, 32, 38, 42f., 45, 48-51, 53, 55f., 58f., 61, 71—74,
80—83, 89—91, 93—97, 99. — Die entsprechenden Stellen der Ordnung von 1494
werden unten überall angemerkt.
' Art. 15, 21, 31—33, 38—40, 43, 52, 54f., 57, 59—61, 71, 85, 100. — Die
entsprechenden Stellen werden unten angemerkt.
' Art. 17, 27, 30, 37, 44, 48 f., 52, 55, 62-66, 75, 78.
^ Siehe die Überschriften des Viglius zu diesem und dem vorigen Dokument.
' Art. 18, 22, 25-28, 32 f., 36, 71 f., 74, 79-83, 89 f., 94, 96, 98.
' Art. 1, 46, 601, 85, 87.
1
Kanzleiordnungen Maximilians I., Karls V. und Ferdinands I. 371
Ordnungen, die das Gutachten benutzt, das ganze Interesse auf ihrem
ortleben ruht, andererseits aber zwei verlorene Ordnungen zum Teil
n ihm enthalten sind und um so sicherer rekonstruiert werden können,
la wir die Art, wie der Verfasser seine Vorlagen benutzt, aus einem
ergleich mit den beiden bekannten Ordnungen ersehen.
Das Fortleben der Ordnung von 1494 interessiert uns nicht nur
US dem zufälligen Grunde, weil sie als die einzige in der neueren
|jteratur behandelt und gründlich durchgearbeitet worden ist (siehe
ben S. 358), sondern vor allen Dingen, weil sie den Anfang der in
)eutschland fortgehenden Entwicklungsreihe bezeichnet, die 1559, also
n der Zeitsphäre unseres Memoires, durch die große Ordnung Fer-
linands I. zum Abschluß kam, um in wesentlich gleicher Form noch
ahrhundertelang nachzuwirken. Ebenso interessiert uns das Fortleben
ier Ordnung Gattinaras nicht nur aus dem zufälligen Grunde, weil sie hier
!)ubliziert wird, sondern vor allem, weil sie, wie oben ausgeführt wurde,
lie ganze Entwicklungsreihe am Hof Karls V. beherrscht haben dürfte.
Die „Moguntina" ist ziemlich zweifellos die Ordnung, die Erzbischof
\lbrecht II. von Mainz im Jahre 1545 im Hinblick auf den bevor-
;tehenden Reichstag verfaßte, und die Seeliger irrtümlich mit der von
Posse publizierten, Ende 1498 zu datierenden Ordnung identifizierte
loben S. 360 f.). Unser Entwurf hätte diese nicht lange vorher verfaßte
ind natürlich am Hof des Kaisers, der sich während der Zwischenzeit
n Deutschland oder den Niederlanden aufhielt, bekannte Ordnung nicht
gnorieren können, selbst wenn man nicht gerade wieder in Vor-
bereitungen zu einem Reichstag sich befunden hätte. Nach Seeliger
S. 115) ist die Mainzer Instruktion von 1545 der großen Ordnung von
1559 mit zugrunde gelegt worden; aber es ist aus der Bemerkung
licht zu ersehen, ob sie mit der irrigen Ansetzung jener anderen Ord-
lung zusammenhängt. In der „Austriaca" haben wir eine detaillierte
nstruktion für die österreichische Hofkanzlei (unten S. 371), doch wohl
diejenige, die 1550 in Geltung war, sehr wahrscheinlich die um den
L Januar 1537 verfaßte Instruktion. Bei der guten Durcharbeitung des
"Vlaterials gerade für die mainzischen (Seeliger) und österreichischen
;Fellner-Kretschmayr) Kanzleiordnungen ist kaum anzunehmen, weder
daß etwaige andere Ordnungen, die unser Entwurf mit der „Moguntina"
und „Austriaca" meinen könnte, nicht irgendwie einmal erwähnt
bürden, noch daß eine dieser Vorlagen unseres Entwurfes wieder wird
aufgefunden werden können.
Noch wichtiger aber ist unser Gutachten durch sein Verhältnis zu
dem vier Monate nachher, am 18. August 1550, im Rate publizierten '
' Winter (siehe oben S. 336 Anm. 1) S. 114.
24*
372 Andreas Walther
Ordo Consilii. Die Artikel, die unser Conceptum unter der Überschrif
„De Consiliariis" bringt, sind der erste Entwurf und der Anlaß (vgi
Art. 4) zu dem Ordo. Wenn Winter zur Vorgeschichte der Ratsordnun;
„die Akten ohne Erfolg durchforscht" hat (S. 114), so läßt sich au
einem Vergleich mit unserem Entwurf ziemlich die ganze Vorgeschicht
rekonstruieren. Wer sich mit den Dokumenten beschäftigt, bis ihn
die Struktur beider vertraut ist, der meint zu hören, wie ein Artike
unseres Entwurfs nach dem anderen in den Rat gebracht wird, wii
die Debatte entbrennt und die „superiores" ihre Stimme dazugeben
bis schließlich der Ordo herauskommt. Ich glaube, obwohl es siel
nicht um die Kanzlei handelt, doch an dem Vergleich nicht ganz vor
übergehen zu sollen.
Der Ordo folgt der Anordnung des Conceptum, nur daß er dii
Disposition straffer faßt. Er verfolgt die Erledigung der Suppliken voi
der Einreichung durch die Parteien an bis zum Verhalten der Räte zi
den Parteien nach der Ausfertigung. Das Ganze ist sehr sorgfältig
offenbar in längeren Verhandlungen durchgearbeitet. Es ist schrift
stellerisch, wenn man das Wort hier anwenden darf, die beste Rats
Ordnung in dem Kreis, von dem wir handeln. Sie wäre noch übe:
jene Rats- und Kanzleiordnung Gattinaras für Margarete von Österreicl
von 1516 zu stellen, wenn nicht dort der Rahmen und damit die
Schwierigkeiten weit größer wären, und das Werk eines Einzelnen
dem nur primitive Versuche von Formulierungen vorlagen, nicht höhei
zu werten wäre als der Ertrag gemeinsamer Arbeit vieler in einer Zeit
die allmählich gelernt hatte, mit diesen Stoffen fertig zu werden.
Das Conceptum beginnt Art. 5 mit der Forderung, es müsse be-
stimmt werden, wer im Rate die supplicationes in Empfang zu nehmer
habe, sowohl die von den Parteien bisher den einzelnen Räten über-
reichten, womit die ünzuträglichkeit verbunden sei, daß die Parteier
den Referenten kennten, als auch die von dem (Kaiser, dem) „obersten
Kanzler oder seinem Stellvertreter" (so hält das Conceptum die Ver-
bindung mit der rechtlichen Tradition aufrecht, während der Ordo
einfach von dem Bischof von Arras redet) in den Rat überwiesenen
Dabei wird angedeutet, es sei zu wünschen, daß die Parteiert sich
immer nur an den Rat wenden, um den Bischof von Arras und
andere nicht täglich zu belästigen; das hat der Ordo fallen lassen.
da sich offenbar das Kabinett nicht so hat binden wollen. Dem
Artikel des Conceptum entsprechen Art. 1—5 des Ordo: Weil vor
allen Dingen die Parteien den Referenten ihrer Sache nicht wissen
sollen, sind die supplicationes nicht den einzelnen Räten, sondern
dem Präsidenten und dem Rat zu übergeben (Art. 1). Die dadurch:
bedingte Verzögerung der Geschäfte soll durch häufigere Sitzungen
Kanzleiordnungen Maximilians I., Karls V. und Ferdinands I. 373
geglichen werden (Art. 2). Der Bischof von Arras soll gebeten
den, die ihm oder dem Kaiser vorgebrachten Bittschriften dem Rat
-überweisen, damit das Geheimnis bewahrt, und er von Belästigung
efreit werde (Art. 3). Wünscht seine Herrlichkeit doch ein Geschäft
inem bestimmten Rat zuzuteilen, so möge er seinen Dienern Geheim-
|faltung befehlen (Art. 4). In gewissen Ausnahmefällen soll den Räten
as Recht, auf eigne Hand eine Sache im Rat vorzubringen, un-
enommen sein (Art. 5).
Das Conceptum wendet sich in Art. 6 zur Verteilung der Referate
n die einzelnen Räte. Der Ordo präzisiert dies dahin, daß, wenn nur
l/enige oder kurze Petitionen vorlägen, sie ganz im Rat zu verlesen
eien (Art. 6); sonst habe der Präsident die Verteilung zu bestimmen,
der in seiner Abwesenheit die Räte sich gütlich zu einigen (Art. 7),
0 aber, daß dem Ratsmitglied, das eine Sache übernommen habe,
uch die später noch zu derselben Sache einlaufenden Akten zu über-
eben seien (Art. 8).
Dann nimmt der Ordo in Art. 9 wörtlich den Art. 7 des Conceptum
lerüber, daß die so verteilten Supplikationen mit dem Datum zu ver-
ehen seien, und fügt als Art. 10 ebenso gleichlautend den 11. Artikel
es Conceptum ein, der bestimmt, daß über die Verteilung usw. ein Pro-
lokoll zu führen sei; er gehört in der Tat besser an diese Stelle.
Im 11, Artikel handelt der Ordo von der beim Referieren zu be-
obachtenden Ordnung, hier den im Conceptum ebenfalls nicht glücklich
ingereihten 10. Artikel aufnehmend und erweiternd, unter anderem
ine Definition der dort erwähnten „negotia Caesareae Majestatis"
ebend.
Darauf nimmt der Ordo in Art. 12—15 die beiden übergangenen
^rtikel 8 und 9 des Conceptum auf, die von dem Sammeln der Vota
gehandelt hatten. Die Anregungen des Conceptum werden ausgebaut,
ndem Bestimmungen gegeben werden über die Reihenfolge der ein-
:uholenden Vota (Art. 12), über die in formulierter Rede vorzutragenden
^Schlüsse, welches Geschäft denjenigen der Räte, die der Sprache am
)esten mächtig sind, zugeteilt werden soll (Art. 13), dann darüber, daß
)ei Abwesenheit des Präsidenten Stimmenmehrheit gelte, und wenn
Tian sich nicht einigen könne, ihm zu berichten sei (Art. 14), endlich
Bestimmungen über die dem Kaiser und seinen obersten Ratgebern
/orzubringenden Angelegenheiten (Art. 15).
! Es folgt, indem jene beiden bereits aufgenommenen Artikel 10
ind 11 des Conceptum übersprungen werden, der 12. Artikel des
Conceptum wörtlich als 16. des Ordo, daß nämlich der Rat nicht mit
Sachen, für die niemand sollizitiert, behelligt werden soll.
Der 13. Artikel des Conceptum endlich mit Bestimmungen über die
374 Andreas Walther
Mitteilung von Schriftstücken an die Parteien legt sich im Ordo in dii
Artikel 17 bis 23 auseinander, die ausführliche Festsetzungen darübe:
geben, wie weit die Räte während und nach der Verhandlung mit der
Parteien verkehren und ihnen raten dürfen.
/V\it diesen Beziehungen nach rückwärts und vorwärts ist dae
Interesse an unserem Entwurf nicht erschöpft. Man wird in den Ar
tikeln 10, 11, 23, 26, 86 die Verweise auf den gleichzeitigen Brauet
des Reichskammergerichts beachten.
Vor allem aber legt der Verfasser seinen Erörterungen den damah
am Hof Karls V. in der deutschen Kanzlei üblichen Brauch zugrunde
Bei allem Respekt vor guten Reglements, die er besonders in dei
Ordnung Gattinaras findet (Art. 32, 33, 38), ist ihm doch die „certc
et determinata consuetudo" (Art. 100) seiner Zeit immer ausschlag-
gebend. Er ist kein blinder Bureaukrat, sondern möchte, wo siel:
keine Mißstände zeigen (und wir sehen, daß im allgemeinen die ge-
schäftliche Tätigkeit in der Kanzlei, ganz anders im Rat, sich stetig
und ruhig abwickelt), in erster Linie den guten Brauch kodifizieren
wie es in Art. 59 heißt: „Consuetudo praesentis temporis in hoc dabil
legem." So ist das Gutachten vor allen Dingen eine Quelle für die
Kanzleiorganisation am tiofe Karls V.; durch die in vernünftigem
praktischen Sinn gemachten Erwägungen auf Grund eines reichen
Materials so erfreulich für die Lektüre, wie es nur der Gegenstand zuläßt
Was den Verfasser betrifft, so ist es nicht Granvelle oder sein
Sohn, der Bischof von Arras (Art. 2, 3), überhaupt keiner der „supremi
consiliarii" (Art. 87 und sonst), auch nicht der erste Sekretär Obern-
burger oder ein anderer Sekretär des Hofes, denn ein solcher hätte
zweifellos gewußt z. B. ob das Amt des Taxators damals mit dem des
Sekretärs verbunden war oder nicht (Art. 47). Überhaupt ist der Ver-
fasser unter den Juristen zu suchen. Das ist mit Sicherheit zu schließen
aus dem bei allem gesunden praktischen Blick doch geringen Interesse
an den „minutiora" (Art. 66), dem, leicht akademischen Ton in der
Behandlung der Vorlagen, überhaupt dem Behagen am Operieren mit
einem großen Aktenmaterial, den Hinweisen auf das Reichskammer-
gericht, vor allem aber dem eben besprochenen eingeschobenen Ab-
schnitt „De Consiliariis", deren Artikel der Verfasser auf eigene Hand
aufstellt und empfiehlt, ganz anders als in den sonstigen Abschnitten.
Der Ton aber, in dem von den Consiliarii geredet wird, schließt auch
aus, daß er selbst zu ihnen gehöre (vgl. Art. 6, 11). Er spricht von
ihnen, wie auch von dem Sekretär Obernburger (Art. 14), in dem wohl-
wollenden Ton, nicht eines Vorgesetzten, aber eines Mannes, dessen
Wort ihnen gegenüber Gewicht hat. Damit ist auch Johann Sigismund i
Seid ausgeschlossen, der erst im Jahre darauf zum Vizekanzler ernannt
ll
Kanzleiordnungen Maximilians!., Karls V. und Ferdinands I. 375
urde und zur Zeit der Publikation des Ordo Consiiii noch nicht ein-
mal an erster Stelle unter den Räten steht. ^
Es bleibt als Verfasser nur Viglius van Zwichem, Chef des nieder-
andischen Conseil prive und Conseil d'Etat, der nach dem Tode des
lean Naves 1547 das deutsche Vizekanzleramt abgelehnt hatte, dem
ler Hof des Kaisers so vertraut ^ und doch wieder so fremd war, wie
las Memoire an vielen Stellen durchscheinen läßt. Der Kaiser befand
ich damals in Brüssel (bzw. in der nächsten Umgebung) und hatte
^ich seit über IV2 Jahren ununterbrochen in den Niederlanden auf-
IHhalten.
IH Nun erklärt sich auch das rätselhafte „revisum" ^ in der Aufschrift
Iv ^^^ Hand des Viglius. /V\an wird sich den Hergang folgender-
IHßen zu denken haben: Viglius hat sein Memoire zunächst einem
iSmderen (man mag hier etwa an Seid denken) zur Begutachtung vor-
gelegt, von dem die Randbemerkungen zu den Artikeln 1, 13, 16, 18,
^5, 31, 48 herrühren. Vielleicht sind es auch im Rate gemachte
Apostillen, wenn der Plural „nobis" buchstäblich zu nehmen ist. Dann
st der Entwurf mit den Randbemerkungen kopiert worden, wohl um
; iiner höheren Instanz vorgelegt zu werden. Diese Kopie wird aber
jrst noch einmal von Viglius durchgesehen; Fehler werden korrigiert
K'^-t. 30), zu einem unklaren Passus in einer der Vorlagen wird eine
ge hinzugesetzt (Art. 40), an anderer Stelle ein für den Gegenstand,
den es sich handelt, in erster Linie wichtiger Artikel an den An-
fang gerückt (vgl. Art. 47, 53). Auf diese so durchgesehene Kopie,
das uns vorliegende Exemplar, schrieb dann Viglius: „revisum
9. Aprilis 1550".
3. Unter Ferdinand I.
Die österreichischen Kanzleiordnungen sind, soweit sie bekannt
(und vermutlich soweit sie erhalten sind, bei Fellner-Kretschmayr, Bd. VI
i(und VII) der Veröffentlichungen der Kommission für neuere Geschichte
(Österreichs, publiziert worden. Nach dem Tode Maximilians war die
iKontinuität erst einmal abgerissen. In der Zeit, als Ferdinands all-
mächtiger Minister, der Spanier Salamanca, das Regiment führte, ist
so wenig wie unter Granvelle, und aus denselben Gründen wie dort,
eine Kanzleiordnung zu erwarten. Wie aber die Organisationen be-
^ Verzeichnis der Räte bei Winter S. 114.
^ Vgl. Viglius van Zwichem, Tagebuch des Schmalkaldischen Donaukriegs,
herausgegeben von A. v. Druffel, München 1877.
^ Als ich vor zwei Jahren meine ersten Versuche archivalischer Arbeit mit dem
Kopieren dieses Dokuments begann, habe ich falsch „conclusum" gelesen (so
Burgund. Zentralbeh. 104, Anm. 3).
■
376 Andreas Walther
ginnen, als Granvelle die Zügel aus der Hand gibt, so haben wir aud
in Österreich, wo unter Ferdinand I. bis 1526 kein einziges Dokumen
aufgefunden worden ist, das bei Fellner-Kretschmayr hätte veröffentlich
werden können, plötzlich eine ganze Reihe von Ordnungen; nämlicl
eine Hofkanzleiordnung vom 6. März 1526 (S. 91—96), eine Hofstaats-
ordnung vom 1. Januar 1527 (S. 100—116), ein Hofstaatenverzeichnij
wohl von demselben Datum (S. 147 — 154) und eine Instruktion füi
den obersten Kanzler vom 2. Februar 1528 (S. 238—246), — worau!
dann bis 1537 wieder eine vollständige Lücke klafft.
Die vier Ordnungen aus den Jahren 1526 — 1528 müssen sämtlicfe
hier besprochen werden. Die „Kanzleiordnung am Hof", wie sie sich
selbst nennt, vom 6. März 1526 ist veranlaßt worden durch „etliche^
Beschwerung in Schrift vorgebracht" von den „Sekretären und Kanzlei-
schreibern" (S. 91). So ist sie bestimmt durch dies Memoire des
Kanzleipersonals und trägt einen Ausnahmecharakter. Ihr wesentlicher
Zweck ist, die Befugnisse der einzelnen mit Namen genannten Sekretäre
und anderen Kanzleibeamten möglichst genau gegeneinander ab-
zugrenzen. Es ist keine Kanzleiordnung und kein Reglement für das
Kanzleipersonal, sondern eine Instruktion für Rabenhaupt, Wisinger
und wie sie alle heißen; von höchstem Interesse übrigens für die Ge-
schichte der Ressortbildungen in der Kanzlei (oben S. 366 f.).
Die Hofstaatsordnung vom 1. Januar 1527 ist zu ergänzen durchl
das Hofstaatenverzeichnis von „1527/28'^ dem man wohl auch das
Datum des 1. Januar 1527 geben darf. Denn die Hofstaatsordnung
trägt die Überschrift: „Vermerkt kgl. Majestät .... deutschen Hofstat
durch ihre kgl. Majestät .... aufgerichtet" (S. 100), das Hofstaaten-
verzeichnis aber: „Vermerkt die Ämter und Personen, so Inhalt kgl.
Majestät neuen teutschen Hofstats an ihrer Majestät Hof gehalten
werden sollen" (S. 147). Von dem allgemeinen Charakter und dem
Verhältnis dieser beiden Dokumente zueinander war oben (S. 341) die
Rede. Die Hofstaatsordnung ist eigentlich eine Sammlung von In-
struktionen, in der wir neben einem Reglement für Schatzmeister und
Hofkammer, einer Ordnung der Rathaltung, einer Stallmeisterordnung,!
einer Kapellordnung und anderen auch eine „Ordnung der Kanzlei"^;
haben, die den summarisch gehaltenen Typus der Kanzleiordnung als
Teil der Hofordnung darstellt.
Die ausführliche Schwesterordonnanz zu dieser summarischen Ord-
nung ist die „Ordnung und Instruktion, nach welcher unsre Hofkanzlei
durch unsern obristen Kanzler regiert und verwaltet werden soll"
(S. 239) vom 12. Februar 1528. Diese Ordnung ist wie die Gattinaras
^ Fellner-Kretschmayr VI. 102-104, gesondert publiziert auch bei Posse 210f.
Kanzleiordnungen Maximilians I., KarlsV. und Ferdinands I. 377
[Margarete von Österreich von 1516 sowohl Ratsordnung wie Kanz-
•dnung und Instruktion für das Personal. Und was dort durch-
ihrt ist, Systematik und Anschaulichkeit zugleich, dazu wird hier
enigstens ein kräftiger Anlauf gemacht, der dann freilich doch in
2m verschiedenartigen Stoff sich verliert, so daß das zu kühne
ihternehmen wie bei der Ordnung Gattinaras von 1522 schließlich in
niger Verwirrung endet. Immerhin ist die Ordnung besonderer Be-
ttung zu empfehlen.
Wie vom 1. Januar 1527, so haben wir auch vom 1. Januar 1537
n Paar von Ordnungen, nämlich eine Hofstaatsordnung, die sich be-
2ichnet als „Ordnung und Instruktionen unsrer hohen und niedern
ofämter" (S. 116—126), und ein Hofstaatsverzeichnis, das sich nennt:
Römischer kgl. Majestät . . . ordinari Hofstaat von hohen und niedern
;mtern und Personen" usw. (S. 154—156). Von Fellner-Kretschmayr
nrd das letztere Dokument datiert „zwischen 1528 und 1536"; es darf
her vielleicht auch auf den 1. Januar 1537 gesetzt werden, da ab-
esehen von der analog formulierten Überschrift die Hofordnung aus-
rücklich auf einen ihr parallel gehenden „stat" verweist (S. 125). ^ In
er Hofstaatsordnung nun, die wie die vom 1. Januar 1527 eine
Sammlung von Instruktionen darstellt, wird in der ersten Rubrik, deren
iberschrift noch breit ankündigt eine „Instruktion und Ordnung unsres
bristen Hofkanzlers" (S. 117), nur kurz erwähnt, daß solche dem
vanzler übergeben worden sei, nach derselben zu handeln.
Diese so aus der Hofordnung herausgelöste Kanzleiordnung (oben
). 341), die man vielleicht auch auf den 1. Januar 1537 datieren darf,
st nicht erhalten. Es dürfte dieselbe sein, die erwähnt wird in
1er Taxordnung Ferdinands I. vom 17. September 1545 als „(Hof-)
(anzleiinstruktion", die „verrukter jarn" erlassen worden sei.^
Der Charakter dieser Ordnung läßt sich aber, vorausgesetzt, daß
ne ebenfalls identisch ist mit der „Austriaca" in dem Entwurf des Viglius,
vie ich glaubte annehmen zu dürfen, genauer bestimmen. Viglius
olgt nämlich seinen Vorlagen gern auch in der Reihenfolge der
^ Man hat auf den Widerspruch in den Angaben beider Dokumente über die
Eiofräte (S. 125 u. 155) verwiesen (Fellner-Kretschmayr nach Rosenthal, Die
äehördenorganisation Kaiser Ferdinands I., Archiv für österr. Gesch. 69, 1887, S. 67,
•^nm. 1). Ich glaube kaum, daß das zwingend ist, da es sich einmal um die Räte
handelt, die sich täglich zu Beratungen versammeln sollen, das andere Mal um die,
die im Hofstaatsverzeichnis genannt werden, weil sie Gagen erhalten. Übrigens bleibt
die Tatsache, daß wir es 1527 und 1537 mit je zwei zusammengehörigen Ordnungen
lü tun haben, bestehen, auch wenn die gerade erhaltenen Hofstaatsverzeichnisse
,anders datiert werden müßten, als ich angenommen habe.
j ^ Fellner-Kretschmayr VI. 97. Jedenfalls wird damit nicht auf die Ord-
nung von 1526 zurückgewiesen (vgl. ibid. S. 95, Anm. 1).
378 Andreas Walther
Artikel; so entsprechen die Artikel 2—4 der Ordnung von 1494 de
Artikeln 16, 18, 19, 20 des Entwurfs, ebenso die Artikel 27—30 de
ersteren den Artikeln 94—96 des letzteren, oder die Artikel 37—3
der ersteren den Artikeln 48, 49, 50, 51, 53 des letzteren. Es werde
also auch die zusammenhängenden Artikel 62—66 des Entwurfs, di,
alle nur die „Austriaca" als Quelle nennen, einer zusammenhängende
Reihe von geschäftlichen Instruktionen für den Taxator entspreche!
Die „Austriaca" also hat den Typus der Instruktion in der Form de
Ämterbuches vertreten, der sonst für Österreich von 1497 bis 155
nicht bekannt ist. Darf jene Ordnung mit der „Austriaca" identifiziei
werden, so wird es um so begreiflicher, daß die Hofordnung sie ab
stoßen mußte.
Da aber ferner mit einer Kanzleiordnung jenes Typus auch dl
Ratsordnung nicht mehr verschmolzen sein konnte, wie wir es bishe
für Österreich als das Regelmäßige gesehen haben, so wird es kaur
Zufall sein, daß wir nun am 1. Januar 1541 zum erstenmal eine gan
selbständige „Ordnung und Instruktion, nach welcher unser königliche
Hof rat gehalten werden soll" (S. 272—275) finden. Bald folgt dam
ebenso selbständig der Ordo Consilii von 1550, der als erster Entwui
noch mit der Kanzleiordnung zusammengehangen hatte, und die Reichs
hofratsordnung vom 3. April 1559 (S. 281 — 288), vielfach ruhend au
der österreichischen Ordnung vom 1. Januar 1541, ohne Verbindung
aber mit dem Ordo Consilii.
Man wird sagen dürfen, daß erst mit dieser Verselbständiguni
der, Ratsordnung, der jene Scheidungen in der Hofordnung voraus»
gegangen waren, die Kanzleiordnung ihre Einheit finden konnte,
sich geschlossene Kanzleiordnungen sind uns ja bisher nur begegne
in den isolierten Instruktionen für die geschäftlichste Bureauarbeit.
Die Reichshofkanzleiordnung vom 1. Juni 1559 (S. 288—307), di(
dann durchaus das Muster gebildet hat für die Ordnungen Maxi
milians II. vom 20. April 1566 (S. 313—318) und vom 12. November 157(
(S. 357 — 360), sowie für die späteren von 1628, 1669, 1683, zeigt un:
nun all die einzelnen Elemente, die wir bisher in unsicherer Entwick;
lung sich widerstreitend gefunden haben, in erfreulicher Versöhnung
verbunden. Diese „Instruktion und Ordnung, nach welcher hinfürc
unsere kaiserliche Hofkanzlei regiert und verwaltet soll werden", be-
ginnt mit einem uns als Typus wohlbekannten allgemeinen Teil, dei
insbesondere das Verhältnis der Reichshofkanzlei zum Erzkanzler unc
zum Reichshofrat beleuchtet (S. 290—292). Dann kommt deutlich er-
kennbar die Naht in folgendem Satz: Und damit auch aller Kanzlei-
verwandten Schuldigkeit im allgemeinen wie eines jeden insonderheii
mehr spezifiziert sei, so wollen wir, daß nachfolgende Artikel unc
a1
Kanzleiordnungen Maximilians I., Karls V. und Ferdinands I. 379
Linkte insonderheit festiglich gehalten werden (S. 292). Darauf das
chema der Instruktion in der Form des Ämterbuches, wie es in der
vveiten Ordnung Erzbischofs Bertholds von 1498 gefunden war (oben
. 361), nämlich zuerst „gemain articul" für alle Reichshofkanzleiver-
'andten, dann „sonderliche articul" für die Reichssekretäre, den Taxator,
^'ften Registrator und den Kanzleidiener (S. 292 — 303). Dann was auch
n Ämterbuch sich nicht unterbringen ließ, nämlich „Wo unsere kaiser-
che Reichskanzlei gehalten werden soll" (S. 3031) und die Eides-
armeln für die einzelnen Beamten. Es ist nicht ausgeschlossen, daß
ier der Entwurf des Viglius eingewirkt hat, denn da handeln in
er letzten Rubrik: „Communia de universa cancellaria" die beiden
rsten Artikel (85 und 86) über den Ort der Kanzlei und über die
:ide, die nach der Empfehlung des Viglius für die einzelnen Ämter
Lonzipiert werden sollen, was freilich nach der Anmerkung auch im
^^^ <eichskammergericht und bei den hauptsächlichsten deutschen Fürsten
jebrauch war.
III. Dokumente
Consultation du grand chanceliier iWercurinus sur le tiltre,
ii^|signature, armes, seaulx et monnoyes/ Dez. 1519 oder Jan. 1520
La p® question
Du tiltre. Selon la plus commune opinion semble que Sa Majeste
doibt user du tiltre de « Roy des Rommains eslu Empereur toutjours
auguste», et apres mectre par ordre les autres tiltres accoustumez. Mais
pour en user en Espaigne, soit es royaulmes de la coronne de Castille
QU de la couronne d'Arragon, semble estre expedient pour le contente-
ment des subiectz faire lettres declaratoires, que Sadite Majeste par
^ Besprochen oben S. 363—365. Diese Aufschrift von der tiand des Viglius.
Was ich als Überschriften gebe, steht im Dokument selbst am Rande. — Recht im
Stil Gattinaras und des Weltreiches Karls V. ist die seltsame Sprachmischung in dem
Memoire. Freilich die italienische Färbung des Französischen Gattinaras (vgl. Gott.
gel. Anz. 1908, S. 261 Anm. 1) ist ziemlich verwischt, was auf Rechnung des Kopisten
kommen mag, der auch den Hauptanteil an der Verderbung des Spanischen haben
dürfte. Trotzdem läßt der Text der Kopie die erstaunliche Leichtigkeit des Über-
springens in eine andre Sprache noch charakteristisch genug erkennen, um buchstäb-
liche Wiedergabe zu verdienen (während ich in den übrigen Dokumenten einige zweifel-
lose Schreibfehler ohne weiteres korrigiert habe). Der sprachgewandte Kanzler war
bei seinem Amtsantritt von den fremden Gesandten mit lebhafter Freude begrüßt
worden; nur die Kenntnis der deutschen Sprache schien noch entbehrlich zu sein
sogar für den Leiter der deutschen Hofkanzlei (vgl- Gattinaras Kanzleiordnung von
Art. 6, unten S. 389).
330 Andreas Walther
1
l'assumption dutiltre de «Roy des Rommains eteslu Empereur>> n'entem!
aulcunement prejudicier aux droictz et preeminences desdits royaulmej
d'Espaigne, ains les conserver et entretenir en leurs libertez et franchises
Sans les rendre aulcunement plus subiectz de ce qu'ilz ont este di
passe et du temps de ses predecesseurs. Aussi fault estre conjoincte-
ment nomme la royne apres le tiltre imperial ainsi que s'ensuyt pai'
ordre et selon le stil de chacun pays:
Pour les royaumes et seigneuries de la couronne d'Arragor
Carolus divina favente dementia Romanorum rex electusque Im-
perator semper augustus, et Johanna mater ac idem Carolus eins filiui
primogenitus, eadem gratia reges etc., perficiendo titulos in quovis
regno iuxta morem solitum.
Pro privilegiis
In fine expeditionum post datam poterit poni: Regni nostri Roma-
norum ac electionis imperii anno primo, reginae Castellae, Legionis,
Granatae etc. anno XVP, Navarrae quinto, Arragonum ac Valentiae et
utriTisque Siciliae, Sardiniae et Maioricarum anno quatro, regis vero
omnium quarto. Secretarius: De mandato domini regis.
Pour les royaumes de la couronne de Castille
Don Carlos pour la gracie de dios rey de Romanos futuro em-
perador siempre augusto, doiia Johanna su madre y el mismo Don!
Carlos, par la misma gratia reys de Castilla etc., ponendo todos los
otros titulos juntos en la manera accostumbrada.
Pour les Privileges
En la fin: Et de nostro regno de Romanos y election del sacro
imperio anno primiero, y de noz la reyna de Castilla anno XVI^, y de
Navarra cinco, y de Aragon y otros quatro, y de nos el rey de todos
quatro. AI fin: Por mandado del su magestad, il secretario signera.
Pour Allemaigne et autres pays de l'empereur
Carolus divina favente dementia Romanorum rex futurus Imperator
semper augustus, rex Hispaniarum, utriusque Sicilie, Jherusalem, in-
sularum Balearium, insularum Canarie et Indiarum ac terre ferme maris
oceani, archidux Austrie, dux Burgundiae, Brabantie, Stirie, Carinthie,
Carmolae, Luxemburgie, Limburgie, Athenarum et Neopatrie etc., comes
Habspurgi, Flandrie, Tirolis, Burgundiae palatinus, Hannonie, Ferreti,
Rossilionis etc., lantgravius Alsatie, princeps Sueviae, dominus in Asia j
et Aphrica etc., regnorum nostrorum Romanorum ac electionis imperii
Kanzleiordnungen Maximilians 1., Karls V. und Ferdinands I. 381
rimo, et aliorum omnium quarto. Secretarius: Ad mandatum Caesa-
iae Majestatis proprium.
Pour Bourgoingne, Flandres et tous les pays de Gallia
Charles par la clemence de dieu roy des Rommains eslu empereur
»utjours auguste, roy des Espaignes, des deuxSecilles, deHierusalem, de
lardeine, de Mallorque, de Corsique, des ysles de Canarie, des Yndes
t terre ferme de la mer oceane, archiduc d'Austriche, duc de Bour-
oingne, de Lothier, de Brabant, de Lembourg, de Luxembourg, d'Athenes,
ie Neopatrie et de Gheldres, conte de Flandres, de Tirol, d'Artois, de
iourgoingne palatin, de Haynnault, de Hollande, de Zeelande, de Fer-
ette, de Namur, de Rossillion etc., seigneur en Asie et en Affricque, de
Tise, de Salins et de Malines etc., et de noz regnes assavoir des
(ommains le premier, et de noz autres regnes le IUI.
Pour abbrevier tous les tiltres
Carolus divina favente dementia Romanorum rex futurus Imperator
icmper augustus, rex Hispaniarum utriusque Sicilie etc., archidux Austrie,
lux Burgundiae etc., comes Flandrie, Tirolis etc.
La Ile question
De la Signatüre semble selon la plus commune et plus schüre
opinion, que Sa Majeste doit signer de son propre nom: «Charles»
en tous les pays tant Espaigne que ailleurs, sans nommer « yo el Rey »
ne « yo el Imperador », car Tun seroit detractif de la dignite imperiale
et Tautre ne seroit agreable aux subiectz.
La III^ question
Des armes semble, que non y ayant ä present aultre empereur
iregnant, il doibt prendre les armes de l'empire, asgavoir l'egle ä deux
testes, ainsi que fu faict, quant le feu empereur commenga user du
'tiltre d'esleu empereur. Et peult porter ses premieres armes ou en la
poictrine de l'aigle imperiale ou en ung escu party ou en deux escus
soubz une mesme couronne. Car c'est au choix de Sa Majeste.
La IVe question
Des seaulx semble qu'ilz doibvent estre tous differentz. Et quant
ä celluy de l'empire, il en fauldra avoir pluisieurs, l'ung quant aux de-
pesches ordinaires d'Allemaigne, que demeurra es mains de l'arche-
vesque ou cardinal de Mayance, l'autre des choses d'ltalie es mains de
382 Andreas Walther
l'archevesque de Couloigne, et l'autre des affaires de Gallie es main
de l'archevesque de Treves, qui sont trois chancelliers de l'empire natif
Et ces trois seaulx pourroient estre d'une mesme forme, telz qu'il n'
eust autre difference que aux lettres disant « Sig*" Carolj V. E. R(
Imper. per Germaniam » et en celluy de Couloingne « per Italiam » et e
celluy de Treves <' per Galliam >v. Et si lesdits archevesques ne su\
vent Sa Ma*^ pourra bailler la garde au chanceliier ou lieutenant qi
le suyvra. Et en ces trois ne seroit mestier sinon y mectre les deu
escus joinctz soubz la mesme couronne imperiale.
Mais quant au seau de l'empire universel, qui doibt toutjours estr
aupres de Sa Ma*^, pour seeller toutes choses principales et secrete:
comme traictiez, confederacions, Privileges, investitures et aultres chose
perpetuelles, semble qu'il doibt estre plus grand que les aultres. E
que l'on y debvroit mectre l'empereur en maieste avec le septre e
monde en main, et ä la main droicte l'escu de l'empire sans mixtun
et ä la main sinistre l'escu des armes royales, telles que l'on les port
ä present, et ä l'entour les lettres disant « Sig*" mag*" Imperii Caro
V. E. Imp. Hisp. utrius. Sicil. ac Hierus. etc. Regis Archid. Aust. eto
Et ce seau doibt estre es mains de Sa Ma*^ ou de celluy ä cui plaisr
en bailler la garde.
Au^ regard des seaux des aultres royaumes et seigneuries tant d
Castille, Aragon, Secile et Naples semble que pour oster les difficulte
des tiltres seroit bon y mectre deux escus joinctz, l'ung de l'empir
soubz la coronne imperiale, l'autre des royaumes assavoir en parti
culier du royaume, oü le seau serviroit, comme en celluy de Castil!
[les armes de Castille],^ Leon et Granate [seulement],^ en celluy d'Aragoi
les armes d'Aragon, Valence etc., en celluy de Secilie les armes pure:
de Secilie, en celluy de Naples les armes de Secilie et Hierusalem
ainsi que l'on les a accoustume porter. Et ä l'entour les lettres ^< Sig'
Johanne et Carolj conregnantium in regnis Castelle etc. » Et « In Regni:
Arag. etc. » Et « In Regnis Sicilie ultra Farum » Et « In regn(
Neapolit. et Sicilie citra Farum ac Hierusalem etc. >>
Quant ä Flandres et Bourgogne, aussy des pays d'Austriche e
Tyrole, semble que l'on les peult aussy faire avec l'empereur en majeste
comme ä celluy de l'empire, en mectant neantmoings l'escu des armei
de l'empereur au dessus, et les armes du royaume ou pays, oü U
seau servira, au pied de l'empereur. Et ä l'entour se peult escripr(
le tiltre conforme aux armes du royaume, assavoir pour Flandren
Hier hat der Kopierende versehentlich an den Rand geschrieben : « Lc
V^ question » (vgl. unten).
"'' tlinzugefügt von Viglius.
^ Verbessert von Viglius anstatt des Wortes: « Secil ».
i
Kanzleiordnungen Maximilians!., Karls V. und Ferdinands 1. 383
Sig"". Carolj. E. Imp. Ro. pro provinciis Flandriae et inferioris Ger-
aniae ». Et in Burgundia post titulum dicetur ^< pro provinciis Bur-
jndiae ». Et in australibus patriis ponetur in uno sigillo « pro pro-
inciis Austriae superioris » et in altero « pro provinciis Austriae
iferioris », Et in altero « pro Alsatia superiori et inferior! ».
Et ubi minora sigilla sint fienda pro ceteris locis particularibus
jcundum diversitates tribunalium, sufficeret ponere scutum armorum
iperialium cum armis illius loci in pectore aquile, et literas confor-
iiter ut in proxime precedenti mutandis mutandis. Pour les cachez
;s secretaires et aussi pour le contreseau de Flandres et Bourgoingne
;mble qu'il suffiroit la croix de sainct Andrieu avec le fusil et le feng
nsemble la devise « Plus oultre », ou y mectre avec ladite devise les
olonnes de Hercules.
La V® questioti^
Des monnoyes semble que es royaulmes procedantz de par la royne
on pourroit mectre d'ung couste la teste de l'empereur selon la vraye
ourtraicture avec la coronne imperiale en teste, et en sa poictrine
escu des armes de l'empire, et en la poictrine de l'aigle l'escu des
rmes du royaume oü Ton fourgera. Et de l'aultre coste la teste de la
oyne avec l'escu des armes des royaumes ä eile appertenantz. Et
insi ne se congnoistra la precedence du tiltre. Et ce quant aux
ucatz et doubles ducatz. Des monnoyes, Ton les peult faire ä plaisir
lar divises ou armes, mectant es lettres « Moneta argentea Castellae »
Ijel <<Arragonie» vel «Valentie>> vel alterius regni et dominii etc.
J Au regard des monnoyes d'Allemaigne, Flandres et Bourgogne
^jauldra adviser, si Sa Majeste veult changer le pied en ducatz ou
Joubles ducatz comme en Espaigne, et aussy des monnoyes, pour
''onformer, qu'elles puissent avoir cours en tous les royaumes et pays,
t en ce cas fauldra adviser de la forme, ou aultrement fauldroit au
ieu des Philippus faire des Carolus.
2. Die Rubriken für Rat und Kanzlei aus aragonischen tiof-
staatsverzeichnissen
a) Aus einem Verzeichnis von 1520 — 1522^
Rigentes de la cancilleria y del consejo
Micer Yimen Perez Figuerola, en cada un afio diez mill
meldos barceloneses X""
^ Von Viglius hinzugefügt, vgl. oben S. 382 Anm. 1.
■^ Besprochen oben S. 365 f.
I
384 Andreas Walther
Micer Felipe de Ferrera, otro tanto X"" s
El vyno a corte en Flandres y a levado su albaran senalado por mi del ter
mino d'agosto mil V y XX anos, que monta — Iir CCCXXXIII s. IUI d. Idem de
termino de deziembre siguiente, y mas del termino d'abril y agosto, non obstanb
que parte dellos fue absente.
Micer Fedrique de Gualbes, idem X*" s
Idem y a llevado su albaran del termino d'agosto, mas a llevado su albarai
del termino de deziembre siguiente, mas su albaran del termino de abril siguient-
1521, y mas del termino d'agosto.
Don Luis Carroz, por del consejo trezientos ducados
al ano . VII^CCs
El es ambassador en corte de Roma, y despues llego a la corte en el me;
d'octobre XVXX por mandado de Su Magestad.
Micer Johan Jacobo de Bolona, diez mill sueldos al ano X"" s.
Idem el a llevado su albaran del termino d'agosto 1520, mas su albaran de
termino de deziembre siguiente, mas su albaran del termino d'abril siguiente 1521
y mas del termino d'agosto. '
[Micer Garcia Garces de Jannas, otro tanto X'^s.];
Su place es vaca, porque el tienne privillegio de IP ducados de pension er
lugar de su dicta placa, y commenca su pension desd'el primer dia de mayo 152(i
como Consta en el libro de notamientos de las mercedes etc. en la thesoreri
general fol. 1. |
Micer Johan Miguel May, otro tanto X™ s.
Idem el a llevado su albaran del termino d'agosto 1520, porqu'el fue presentt
y XII dias adelante, qu'el llego a la corte a tomar possession del dicho officio -'
Iir DCLXVI s. IUI d. Mas su albaran del termino de deziembre siguiente -
Iiriir XXXIII s. Illld. Mas su albaran del termino de abril siguiente 1521, y ma
del termino d'agosto.
Folgen fol 2—4 die Rubriken: Porteros de la cancilleria y de ca
dena, Capitan de la guarda Espafiola y halabarderos de pie, Camar
lengos, Maestre racional y los de su officio, Scrivano de racion y lo
de SU officio; dann fol. 5:
Secretarios
Gaspar Sanchez de Orihuela, seys sueldos el dia, son el aiio 11°" CLX 5
Don ügo de Lirries, seys sueldos el dia, el ano . . . IPCLXi
El mesmo por el derecho de su sello, otro tanto . . lI^'CLXi
El servyo personalmente en la corte, y a levado su albaran del termin
d'agosto 1520, de su quitacion — Vir XX s., mas su albaran del termino de d»
ziembre siguiente, mas su albaran del termino d'abril 1521 y del termino d'agost(
y albaran de su sello secreto del ario 1521.
^ Diese Zeile ist gestrichen.
Kanzleiordnungen Maximilians I., Karls V. und Ferdinands!. 385
Mossen Johan Roiz de Calrena, seys sueldos el dia,
,'1 ano IPCLXs.
El mesmo por el derecho de su sello, otro tanto . . II^'CLXs.
Loys de Licerasso, seys sueldos el dia, el ano . . . IPCLXs.
Idem servyo personalmente, y a levado su albaran del termino d'agosto 1520 —
/'irXXs. Mas su albaran del termino de deziembre siguiente, y mas del termino
i'abril siguiente, y mas del termino d'agosto siguiente.
Mossen Johan Gonzalez de Villasimpliz, seys sueldos
[dia, el ano . IPCLXs.
El mesmo de ayuda de costa veynte mill maravedis.
El a levado su albaran del termino d'agosto 1520, de su quitacion — Vir XX s.
de su adjuda de costa del dicho termino. Mas su albaran del termino de de-
ibre y abril siguiente.
Mossen Petro Quintana, seis sueldos el dia, el ano . IPCLXs.
El es absente, pero por expres manament de Su Magestad li fue despachado
'albaran del termino d'agosto y deziembre siguiente, y termino d'abril siguiente.
Johan Aleman, notador y contrarelator general de los
^nos y Corona d'Aragon, seys sueldos el dia sobre lo
lo secreto 11°^ CLXs.
Es despachado un albaran del termino d'agosto 152[0] de VHP XL s., otro del
lino de deziembre, y otro del termino d'abril 1521, cada uno de VIP XX s.
Folgen fol. öv^'—lö die Rubriken: Fisicos, Montero mayor y mon-
teros, Cagador mayor y cagadores, Aposentadores, Reyes d'armas,
Capellanes Predicadores y mogos de capilla, Maestro mayor de las
jobras de edificios, Continos, Aguaziles, üxeres d'armas, Pages, Officiales
de casa; fol. 18—35 Gentileshombres de Castilla, de Aragon, de Na-
varra, de Valencia y Mallorcas, Gentileshombres Catalanes, de Napoles
Sicilia y otras partes.
Ferner fol. 16 — 17 und fol. 36—38 Verzeichnisse von « Albaranes
extraordinarios » (so fol. 6 genannt). Für die Kcinzleiorganisation kom-
men in Betracht zwei Ernennungen von « Scrivanos de mandamiento
de la chancilleria de Aragon ^> auf fol. 36 v°.
b) Aus einem Verzeichnis vom Ende der 20 er Jahre ^
Regentes en la cancelleria y del consejo
Micer Juan Ram, diez mill sueldos barceloneses en cada
un ano X'^s.
Micer Luys Bonciani, ydem X^'s.
^ Besprochen oben S. 365f.
Afü II 25
386 Andreas Walther
Micer Juan Bartolome de Gatinara sobrino del chanciller,
ydem ^""s.
Folgen fol. 71—71v^ die Rubriken: Maestre racional y los de su
oficio, Camariengos, dann:
Secretarios
Don Hugo de ürrias, seis sueldos al dia, que son al
aiio dos mill ciento y sesenta sueldos II'^CLXs.
El mismo por el derecho de su sello otro tanto . . . II"" CLX s.
Caspar Sanchez de fioriguela, seis sueldos usw. . . lI'^CLXs.
Luys de Licerago, seis sueldos usw II" CLX s.
Mossen Juan Gonzales de Villasimpliz, ydem . . . IPCLXs.
El mismo por ayuda de costa veynte mill maravedis. ^
El comendador mossen Pedro de Quintana, seis sm\-
dos usw IPCLXs,
Pero Joan natural de Barcelona, ydem Il^'CLXs
Juan Garcia natural de (^aragoga, sin salario, cabsa
honoris.
Jayme Romeo, seis sueldos usw II^'CLXs
Folgen fol. 72 — 73 die Rubriken: Thesoreria, Escrivania de racion
Cagador mayor y ca^adores, Montero mayor y monteros, dann:
Cancelleria
Protonotario, ocho sueldos al dia, que son usw. II"" DCCCLXXX s
A SU lugarteniente seis sueldos al dia, que son
usw I^CLXs.
Ytem a doze escrivanos de mandamiento hordi-
narios a quatro sueldos al dia a cada uno, que
montan todos cada un ano diez y siete mill dozientos
y ochenta sueldos . . XVII'" CCLXXX s
Ytem a ocho escrivanos de registro a dos
sueldos cada uno al dia, montan al aiio ginco mil
setecientos ochenta sueldos V"" DCCLXXX s
Ytem a dos selladores y dos peticioneros hor-
dinarios a quatro sueldos a cada uno cada dia, que
^ Die Summe ist, wie alle in Maravedis angegebenen Posten, am linken Rande
ausgerückt, nicht am rechten unter den Sueldos.
Kanzleiordnungen Maximilians I., Karls V. und Ferdinands I. 387
on al afio todos quatro: cinco mill setecientos y se-
enta sueldos V^DCCLXs.
A un solicitador a quatro sueldos el dia, que
on U.S.W I-CCCCXXXXs.
A un escalfador de cera a dos sueldos el dia usw. DCCXX s.
A un Cursor a un sueldo al dia usw CCCLXs.
A un verguer a un sueldo y medio cada dia usw. DXXXXs.
Todos los quales dichos oficiales los paga el protonotario y lugar-
liente de los derechos del sello de la dicha cancelleria.
1, „,.,_... _..,..„.„
IHrmas, Alguaziles, Aposentadores, Maestre mayor de las obras, Reyes
IHrmas, Pajes, Fisicos, Oficiales de casa, Porteros de la cancelleria y
^Hcadena.
«
3. Status et ordinationes cancellariae imperialis,
1. Januaris 1522'
Carolus divina favente dementia electus Roma-
norum Imperator semper augustus, ac Germaniae,
tiyspaniarum, utriusque Siciliae, tiierusalem, Hungariae,
Dalmatiae, Croatiae etc. rex, archidux Austriae, dux
Burgundiae, Brabantiae etc., comes Habspurgi, Flan-
driae etc. Notum facimus et recognoscimus tenore
presentium, quod cum spectabilis noster et sacri im-
perii fidelis dilectus Mercurinus de Gattinaria, ex nobi-
libus domus Arborij, baro Ozani et Terriculae, supre-
mus cancellarius noster, ut res cancellariae nostrae
imperialis et provinciarum Austriae debito ordine diri-
gerentur, pro debito officij sui fecerit et constituerit
certas ordinationes praefatae cancellariae, quarum
tenor talis est et de verbo ad verbum sequitur:
Articuli ordinationum cancellariae imperialis Caesareae Catholicae
Majestatis Domini nostri clementissimi, cum officialium ac personarum
aliarumque rerum specificatione et declaratione, facti per magnificum
et excellentem equitem dominum Mercurinum de Gattinaria, ex nobi-
libus domus Arborii, baronem Ozani et Terriculae necnon praefatae
Caesareae Majestatis supremum cancellarium, ad quem huius cancellariae
Besprochen oben S. 367 — 369. Diese Überschrift von der tiand des Viglius.
25*
388 Andreas Walther
ordinatio pertinet sub ipsius Caesareae Majestatis approbatione ei
beneplacito.
In primis D"" sua pro debito officii et magistratus sui et prae-
seriim pro bono ordine observando in expeditione litterarum quae in
posterum sub nomine Suae Majestatis tarn ratione imperii Romani
quam ratione provinciarum Austriae expediri continget, necnon exone-
ratione conscientiae Caesareae Majestatis et ipsius domini suprem
cancellarii, sequentia ordinavit.
[1]. Et in primis ut semper in hospitio sive domo residentiae
D"'^ suae aut domini vicecancellarii debeat ordinari locus; vel si
ibi commode fieri non poterit, deputetur aliqua domus propinqua
hospicio D"'" suae. In qua sint semper in arcis ad hoc deputatis re-
gistra, formuiaria, capsae et omnes aliae res ad cancellariam pertinentes
et ibidem scribantur, registrentur et expediantur omhes litterae, sicul
solitum est fieri in cancellariis imperatorum Romanorum.
[2]. Et D° sua, ut negotia magis Ordinate procedant, ordinavit
vicecancellarium imperii dominum Nicolaum Ziegler, et vicecancellarium
in negociis provinciarum Austriae dominum Joannem Hannart. Verum
si horum alter absens foret vel impeditus, is qui praesens fuerit, vices
alterius absentis vel impediti supplebit et pro utroque huiusmodi offi-
cium vicecancellarii exercebit absque iuris alterius praeiudicio. Et
ultra ipsos dominos vicecancellarios ordinavit et deputavit secretarios
ordinarios huius cancellariae magistrum loannem Alemanum, Maximi-
lianum Transsylvanum et Philippum de Nicolis. Item ordinavit in hac
cancellaria scribas ordinarios VII, Andream Cristan, Beatum Arnoldum,
Joannem Rosenberger, Gregorium Beler, Sebaldum Haller, Alonsum
Valdes et Martinum Transsylvanum. Et huiusmodi scribae debent
parere iussis et mandatis dictorum vicecancellariorum et secretariorum,
quemadmodum ipsi vicecancellarii et secretarii mandatis domini su-
premi cancellarii.
[3]. Item ordinavit praeterea idem dominus supremus cancellarius,
ut in hac cancellaria sint quinque registra, videlicet unum germani-
cum et latinum, in quo registrabuntur omnes res tangentes suam Cae-
saream Majestatem, hoc est negocia Status, alterum germanicum rerum
imperialium, tertium latinum rerum imperialium et praesertim earum
quae sunt Italiae, quartum rerum Australium et quintum precum rega-
lium, in quibus registrentur omnia quae per hanc cancellariam fuerint
expedita et a praefato domino supremo cancellario admissa et sigillata.
Debebunt autem eiusmodi litterae per supradictos scribas aut alios,
quos dominatio sua pro tempore deputandos duxerit, fideliter absque
omni fraude inscribi registris, iuxta iuramentum quod de eo D"' suae
Kanzleiordnungen Maximilians I., Karls V. und Ferdinands I. 389
>raestabunt. Si autem eiusmodi litterae fuerint palatinatus, nobilitatio,
iegitimatio et armorum concessio in forma communi, non opus erit
ntegre tales litteras registrari, sed satis sit, earum summarium una
um data et taxa ac armorum descriptione registris inscribi. Si vero
n dictis litteris fuerit aliquid positum preter formam communem, tunc
iebent integre registrari, et postea debet per unum ex secretariis manu
;ua scripta eiusmodi registratis litteris inscribi „registrata" addendo
lomen suum.
[4]. Et ut huiusmodi registra debito ordine dirigantur, ordinavit
)ro nunc registratorem magistrum Alexandrum Swais, et donec aliter
lisposuerit, sit huius cancellariae taxator Maximilianus Transsilvanus,
li contrarelator dominus doctor Prantner, qui iuxta juramentum quod
1e eo domino cancellario praestare tenebuntur, omnes et quascunque
itteras, quae in hac cancelleria expedientur aut a domino cancellario
>igillabuntur, fideliter et absque omni dolo et fraude secundum com-
nunem usum cancellariae taxare tenebuntur et huiusmodi taxam, una
:um litteris videlicet, ad sinistrum latus sive marginem exteriorem in-
icribent, ita quod omni tempore huius taxae ratio haberi possit.
Item D"" sua ordinavit et receptorem huius cancellariae Hieronymum
de Ranzo, qui taxam omnium litterarum, quae per D"^*" suam sigilla-
ountur, accipiet et de eo bonum computum tenebit, supplendo ex his
3mnes necessarias impensas cancellarie.
[5]. Item quia digni sunt mercenarii mercede sua^ ordinavit D° sua,
quod tam de precibus regalibus, quam de aliis litteris et expeditioni-
bus quibuscumque in ipsa cancellaria expediendis et taxandis secun-
dum ipsius taxam, quae deductis impensis et oneribus cancellariae
obvenerit, valorem et quantitatem [!], fiat divisio in tres partes, quarum
tertia ipsi supremo cancellario, alia tertia pars dominis vicecancellariis,
reliqua vero portio secretariis praedictis applicetur una cum taxatore,
registratore et contrarelatore ac receptore, pro rata temporis dum-
taxat, quo horum quilibet personaliter in ipsa cancellaria inserviet et
iuxta qualitatem oneris cuilibet ipsorum iniuncti.
[6]. Item omnes litterae, quae in hac cancellaria expedientur, visi-
tabuntur a domino cancellario et signabuntur solito charactere D"'" suae
vel ab alio quem D"" sua ad hoc deputandum duxerit.^ Si vero ger-
manice fuerint, commisit D° sua, ut visitentur et signentur vice D"'^
suae a domino doctore Lamparter vel ab alio quem D*^ sua ad hoc
deputandum duxerit
[7]. Item ordinavit etiam D° sua, ut omnes litterae quae in hac
cancellaria aut ab aliis secretariis expedientur, sive sint cum sigillo
^ Der Passus: „vel . . . duxerit^' von Viglius unterstrichen.
39Q Andreas Walther
pendente, sive cum impressione a tergo, sive in pargameno sive pa-
pyro, dummodo sint patentes, quod nullus debeat eiusmodi literas
sigillare nisi D° sua, quae eiusmodi literas iuxta earum exigentiair
debitis sigillis sigillari et expediri faciet. Pro literis autem clausie
apponetur parvum sigillum secretum quod vicecancellarii seu secretari
huius cancellariae habere debebunt sub clave et custodia unius secre-
tariorum. Et si secus fiat, irritum sit; contrafaciens vero offici(
privetur.
[8]. Item* D° sua ordinavit praeterea quod doctor Lamparter ve
doctor Prantner iussu D"'^ suae proponerent dominis consiliariis Ger
manicis negocia germanica, et alter eorum de rebus importantiae sua(
jV^ggtiae relationem faceret.
[9]. Item ordinavit etiam D° sua, ut in hac cancellaria sua expe
diantur omnes preces regales, et quod extra eam nullae prorsus litera(
primariarum precum scribi possint aut debeant, ne ordo debitus con
fundatur, etiamsi partes vellent scrlpturam et omnia alia iura can
cellariae persolvere. Debent autem expediri hoc modo: Inprimis cun
Majestas Caesarea signavit certos rotulos, quibus inscriptae sunt gratiai
primariarum precum et nomina quibus ea contulit, exhibebit idem de
minus supremus cancellarius, retento penes se rotulorum originali
exemplum subscriptum manu D"'' suae in hanc suam cancellariam, e
secretarii illius debebunt inprimis dominis principibus electoribus
deinde iuxta illorum continentiam cuilibet petenti facere scribi prece;
suas, et postea registrari, hoc est in registro precum inscribi facere
ad quem collatorem seu collatores eiusmodi preces diriguntur et pn
quo et ad cuius petitionem concessae fuerint, praeterea quem Caesare;
Majestas earum executorem constituit, addendo etiam datam litterarun
una cum ipsarum relatione more hispanico. Deinde subscribantu
primo per registratorem, postea deferantur ad dominum supremun
cancellarium, qui signet eas solito charactere, exinde per illum qu
eas ex rotulo exscripserat, inscribatur in margine rotuli expedltionen
factam. Postremo deferantur ad Caesarem et integre expediantui
Etsi huiusmodi preces fuerint expeditae pro Caesareae Majestatis fa
miliaribus ordinariis vel eorundem familiarum familiaribus aut pn
electoribus seu eorüm familiaribus ordinariis vel supradictorum con
sanguineis, [tamen]^ D"* sua ratione taxae servabit in his omnibu
^ Randbemerkung des Viglius: „Propositores seu relatores negociorum".
^ Das „tarnen" steht in der Kopie vor dem letzten „vel". Hätten wir es mi
einem flüchtigen Entwurf anstatt mit einer ausgefertigten Urkunde zu tun, so war
denkbar, daß Gattinara, nachdem er das „tarnen" geschrieben, mit „vel" noch eine
Nachtrag zum Vorigen hinzufügte.
Kanzleiordnungen Maximilians 1., Karls V. und Ferdinands I. 391
onsuetudinem apud imperialem cancellariam hactenus servari soütam.
item dominatio sua ordinavit, quod quando aliquae preces sine taxa
gratis expedientur, tunc taxator debet hoc scribere manu sua in loco
^ibi taxa scribi solet cum expressione gratiae factae, et quod nihil pro
• )|is . accipietur nisi sigillum hoc est florenus.^ Item dominatio sua ordi-
lavit quod si quis in posterum petierit aliquas preces nondum alicui
— goncessas, aut etiam concessas sed quae aliquo modo re integra vaca-
^ftrint, talis petens habebit obtinere cedulam manu dominationis suae
■Äbscriptam et ad hanc suam cancellariam directam, qua tales preces
iKribi atque expediri mandentur; alias nullo modo possint scribi nee
JBcpediri.
T [10]. Item D° sua ordinavit, quod receptor debet in hac cancel-
iaria coram taxatore, registratore, contrarelatore et secretariis et alio
adhuc a dominatione sua deputando dare computum de receptis et
expositis singulis mensibus, et deductis impensis ipsius cancellariae
unicuique ratam taxae sibi pertinentem realiter consignare.
[11]. lurabunt praeterea secretarii, taxator, registrator, contrarelator
jet scribae in manibus dominationis suae se suae Mag*'^^ ac domino
vicecancellario fideliter obedire ac praesentem ordinationem firmiter
observare velle et quod nihil accipient praeter illa communia bibalia
quae dantur in Germania, quae etiam non^ solvantur nisi uni scribae
ad hoc specialiter deputato et omnium nomine accipienti.
In quorum fidem idem supremus dominus cancellarius subscripsit
haec manu sua propria. Actum in oppido Gandano die prima mensis
Januarii A"* D. iV\DXXII°. Signatum ita Mercurinus de Gatinaria.
Nobis vero considerantibus huiusmodi ordinationes
esse iustas ac aequas et pro debita constitutione can-
cellariae nostrae imperialis et provinciarum nostrarum
Austriae necessarias, easdem animo deliberato maturo
consilio in omnibus suis capitulis, articulis, punctis,
sententiis et clausulis, prout praeinsertae sunt, rati-
ficavimus, laudavimus et approbavimus, sicut tenore
praesentium ratificamus, laudamus et approbamus;
mandantes et hoc nostro Caesareo edicto decernentes,
quod a praefatis vicecancellariis, secretariis, scribis et
aliis omnibus, ad quos attinet et in posterum quomo-
dolibet pertinere poterit, dictae ordinationes firmiter
observari nee illis ulla in parte directe aut indirecte
* Der Passus: „et quod . . . florenus" von Viglius unterstrichen.
^ Der Passus: „et quod . . . non" von Viglius unterstrichen.
392 Andreas Walther
contraveniri debeat sub pena gravis indignationis
nostrae et aliis in praeinsertis ordinationibus con-
tentis. Harum testimonio literarum manu nostra sub-
scriptarum et sigilli nostri appensione munitarum
datum in oppido nostro Gandano die prima mensis
Januarii A° D. iV\DXXII°, regnorum nostrorum Romano
tertio, aliorum omnium sexto.^
Subscriptum Ad mandatum Cesareae et
Carolus. catholicae Majestatis proprium.
iWaximilianus Transsylvanus.
4. Conceptutn ordinationum cancellariae imperialis revisum
9. Aprilis 1550 2
De Caes. Maiestate
[1]. Quod persuadeatur Suae M*', ut patiatur ea quae
statum aut fiscum non concernunt, qualia sunt rescripta in
causis iustitiae,salviconductus,salvaguardiae,iegitimationes,
armorum literae communes absque nobilitatione et galea
tornearia vel Corona, preces quoque, nominationes et alia
eius farinae, absque subsriptione Suae M*'" more praede-
cessorum principum saltem sub cacheto suo expediri.
Dn. Obernburg.
Quamquam in hoc M*' Suae tanquam domino ördo praescribi non
possit nee debeat, tamen iste articulus sub beneplacito Suae iW*'^ videtur
certe habendus in aliqua consideratione, non solum propter celeriorem
negotiorum expeditionem, verum etiam et maxime propter munus
registrandi, quod in cancellaria omnium opinione summopere est
necessarium. Quia cum ante subscriptionem Suae M*'" vel cachetationem
aliquid commode registrari nequeat, W^^ autem Sua vix post trimestre
subscribat,^ certe (prout diligenter perpendit Dn. Obernburgerus) maxima
difficultas in eo oritur, quod vel uno et eodem momento tam ingens
acervus litterarum registrandus est, vel negotia cum magno tum
Suae M^'^ tum partium detrimento tantisper, donec registratio fiat, diffe-
^ So weit die Kopie. Das übrige hat Viglius hinzugefügt, wohl nach dem Original.
' Besprochen oben S. 369 ff. Diese Aufschrift von der Hand des Viglius. Die
in der Kopie durch größere Schrift hervorgehobenen Sätze sind gesperrt gedruckt.
^ Am Rande von derselben Schreiberhand: Haec coaduniantur ea ratione, ut
Caes^ Mt^s tanto minus superfluis laboribus oneretur.
^
Kanzleiordnungen Maximilians I., Karls V. und Ferdinands I. 393
inda. Nisi forte W^^ Sua malit sepius subscribere, quod tarnen (nisi
iillor) difficilius Suae M^' persuadebitur.
De supremo Cancellario
[2]. De officio huius licet paucissima in antiquis ordinationibus
osita sunt, utputa de subscriptione et sigillatione litterarum, de rela-
onibus ad Caes^"' M^^"" faciendis, de visitatione cancellariae etc. Sed
uoniam hoc officium nunc maiori ex parte per R"" D*" Atrebatensem,
ui in eo 111'" D*" genitorem R""^^ D"'^ suae representat, administratur,
^li quidem ordine, ut nihil in R*"^ D"^ sua desiderari possit, frustra-
eum videtur antiquas ordinationes in hoc refricare. Ideo istud totum
rbitrio Suae R"^^^ D"'^ remittitur.
De Vicecancellariis
[3]. De horum officio similiter aliqua in antiquis ordinationibus
eperiuntur. Quae pari ratione hoc tempore nulla discussione indigent.
jäjped rursus remittuntur discretioni R*"' D"' Atrebatensis.
De Consiliariis
[4]. Quamvis nunc simus in ordinationibus cancellariae, et de
,]fconsiliariis in antiquis ordinationibus cancellariae nihil vel parum
iiabeatur, tamen ordo consilii adeo apparet esse necessarius, et quodam-
tnodo cum ordinatione cancellariae coniunctus, ut plane omitti vel
praeteriri sine maximo incommodo, praecipue in quibusdam articulis,
non possit.
Articuli autem qui in considerationem venire possunt, tales hoc
tempore occurrunt:
[5]. üt detur ordo, quisnam in consilio supplicationes
vel a partibus oblatas vel a Caes^ M^^ aut supremo cancel-
lario vel eins personam representante in consilium trans-
missas recipere debeat.
Iste articulus ideo necessarius est, ne supplicationes indifferenter
(prout hactenus fieri consuevit) ipsismet consiliariis offerantur. Ex quo
" jinter cetera plura incommoda istud vel maximum secutum est, quod
(partes inde sciunt, quisnam negotii referens sit, quod certe multis
inominibus non potest non esse et absurdum et periculosum. fiuc
iadde quod melius omnino convenit partes in sollicitandis negotiis ad
•i consilium recurrere, quam vel R"" D*" Atrebatensem vel singulos do-
'Iminos consiliarios vel cancellariam denique in dies molestare et in
'aliis negotiis impedire.
394 Andreas Walther
[6]. üt per supremum cancellarium vel eum cui ho
munus demandaverit, supplicationes et acta dominis con
siliariis videnda et referenda distribuantur.
Istud ideo est necessarium, quia nullus consiliariorum (ut eg
arbitror) ita affectus est, ut vel semet alicui negotio temere ingeren
vel etiam alios collegas suos propria authoritate onerare velit. Deind
opus est, ut in huiusmodi distributione scripturarum pro qualitate tur
negotiorum tum consiliariorum aliquis habeatur delectus.
[7]. üt omnes supplicationes, missivae, producta et alia
quaecunque scripturae consilio oblatae, per eum cui munu
recipiendi incumbit de die et anno signentur.
Istud conducit non solum ad habendam certitudinem temporii
verum et etiam ut in eadem causa pluribus scriptis cumulatis habeatt
notitia quaenam fuerit prior vel posterior, et sie confusio quae hac
tenus invaluit evitetur.
[8]. üt in absentia praesidis aliquis adsit qui vota colli
gat et concludat.
Istud non solum per se conveniens, verum etiam aliquotiens dis
cordantibus votis consiliariorum necessarium est.
[9]. üt is cui in absentia praesidis munus vota colligend
incumbet, iniungat pro modo et qualitate negotiorum nun'
uni nunc alteri ex consiliariis ut si quid nomine consilii or
decernendum vel pronunciandum fuerit, id ita exequatur.
Nullus enim consiliariorum alteri libenter vel honorem praeripi
vel onus iniungit.
[10]. üt in referendo observetur aliquis ordo.
Istud valde necessarium est, ad hoc ut negotia Caes^^ M*'% vel e;
quae alias sunt maioris momenti, vel quae moram non patiuntur, ve
in quibus de assignatione termini agitur, prae aliis expediantur. Caeteri
autem paribus quilibet ex dominis consiliariis audiatur in sua ordi
natione, quemadmodum etiam in iuditio camerae fit.
[11]. üt conficiatur brevis catalogus, quae acta vel scrip
turae, quibus consiliariis, quo die vel distributae vel e:
cancellaria communicatae sint.
Istud conducit ad diligentem scripturarum asservationem, item ac
hoc ut domini conciliarii tanto magis negotiis expediendis intenti sint
cum videant alios animadvertere, quanto tempore scripturae penes illoj
deliteant. Hoc similiter observatur in juditio camerae.
[12]. Ne quis ex dominis consiliariis oneret consilium it
relatione negotiorum, pro quibus expediendis nemo solli-
citat.
Kanzleiordnungen Maximilians I., Karls V. und Ferdinands I. 395
Istud servit ad evitandum laborem frustraneum. Et poterunt
uiusmodi scripturae neglectae post aliquod tempus vel lacerari vel
n aliquem angulum separatum conjici, ne cancellaria multitudine
.cripturarum inanium oneretur.
[13]. Ne qua scriptura consilio oblata in posterum ad-
^ersae parti communlcetur, sed eius vel ex cancellaria detur
opia, vel si cancellariae non vacaverit, iniungalur parti, ut
icripturam duplicatam offerat. ^
Re ipsa compertum est, quod hactenus ex tali communicatione
)artibus facta scripturae saepius amissae, forte et jam aliquando
nalinose suppressae sunt. Ex quo deinceps in relatione negotiorum
tnira turbatio et perplexitas insecuta. Adde quod per huiusmodi com-
^|municationem pravis hominibus falsificandi occasio aperiatur.
De Secretario
[14]. De hoc officio, considerando praesentem statum cancellariae,
similiter nihil opus esset dicere, cum procul dubio omnium opinione
huic officio in persona domini Obernburgeri optime provisum sit.
Verum si ordinacio cancellariae pro nunc tanquam perpetua consultari
debet, possunt aliqui articuli ex antiquis ordinationibus huic officio
inservientes enumerari, ut ii qui in posterius aliquando secretarii
erunt, eorum tanto melius possint meminisse.
Articuli autem hi sunt:
[15]. üt secretarius pareat mandatis supremi cancellarii
et vicecancellariorum.
Hie articulus desumptus est ex ordinatione domini Mercurini, in
Iduobus locis. In 1^ fit mentio de solo supremo cancellario, in 2^
etiam de vicecancellariis.^ Ego arbitror rem utrovis modo non habere
magnam difficultatem.
' [16]. üt ea quae concipienda sunt concipiat cum dili-
gentia. Archicancel.^
üt concepta, antequam ea det ad ingrossandum, prae-
legat supremo cancellario vel vicecancellario et faciat per
eos subscribi.
Iste articulus ita fuit positus in ordinatione archicancellarii,^ eo
tempore quo ipsaemet literae ingrossatae non subscribebantur nee a
^ Am Rande von derselben Schreiberhand: Nobis videtur magis expeditum, ut
simpliciter partes astringantur ad offerenda duplicata.
^ Ordnung von 1522, Art. 2 u. 11, oben S. 388 u. 391.
^ Ordnung von 1494 (Posse S. 205—209, siehe oben S. 357 f., 361, 370 f.), Art. 2.
* 1494. Art. 2.
396 Andreas Walther
cancellariis nee a principe. Hodie vero cum ipsae literae videantur i
cancellariis vel vicecancellariis et ab eisdem ac etiam a principe sub'
scribantur, talis articulus non erit necessarius. ^
[17]. Ut concepta distribuat amanuensibus ad ingros-
sandum.
Quamvis ordinatio Austriaca ponat, quod ipsimet amanuenses de
beant accipere unusquisque suam portionem, tarnen commodius dis-'
tributio videtur fieri per secretarium, iuxta qualitatem uniuscuiusque
[18]. üt ingrossata ab amanuensibus conferat cum con-
cepto, ubi opus fuerit corrigat, et subscribat, antequam ac
sigillum ferantur. Archicanc.^ Mogunt.
Idem, ut puto, hodie observatur, quamvis secretarius demum posi
subsignationem principis et cancellarii subscribat.^
[19]. üt facta collatione, concepta tradat registratori ac
registrandum. Archican.*
Hodie fortassis aliud statuetur, de quo infra in officio registratoris
[20]. üt ea concepta quae registrari non est opus asservet
Archicancel.^
[21]. üt custodiat parvum sigillum secretum et apponal
illud clausis litteris dumtaxat. Si secus fiat, irritum sit
[contra]faciens officio privetur. Mercur.^
Idem, putamus, hodie observatur.
[22]. üt ea quae communia et levioris momenti sunt
amanuensibus saltem qui bene se accommodare videntur
concipienda committat, eosque ita instruat, ut aliquando ad;
maiora promoveri possint. Mogunt.
Meo juditio bonus est articulus, non solum ut secretarius sub-
levamen laboris habeat, verum etiam ut industria eorum qui libenter
se in maioribus exercent, promoveatur.
[23]. üt exerceat munus prothocollandi in concilio.
Quamvis secretarii laboribus, praesertim ubi unicus tantum adest,
quantum fieri potest, parcendum sit, tamen istud officium proprie videtur
^ Am Rande von derselben Schreiberhand: Consideratur quod in causis alicuius
momenti adhuc bonum sit, ut per supremos cancellarios vel vicecancellarios vide-
antur non solum litterae ingrossatae, verum etiam ante ingrossationem ipsa concepta
secretariorum, ne, ubi aliquid mutandum fuerit, cancellaria dupHci labore oneretur.
' 1494, Art. 3.
^ Am Rande, von derselben Schreiberhand: Melius forte esset, ut secretarius
conferret et corrigeret, antequam supremo cancellario vel vicecancellariis subsignanda
ferantur.
* 1494, Art. 3.
^ ibid. Art. 4.
® Art. 7, oben S. 389 f.; die Kopie hat: atque faciens.
i
Kanzleiordnungen Maximilians I., Karls V. und Ferdinands I. 397
d secretarium spectare, quemadmodum et in iuditio camerae ad pro-
lonotarios. Ceterum si secretarius aliquem peritum ex reliqua socie-
ite cancellariae sibi vellet adiungi, non arbiträrer esse repugnandum.
[24]. Ut ex protocollo compleat acta, quae ad referendum
andasunt
Iste articulus dependet quodammodo a praecedenti. Sed in hoc
ecretarius proculdubio poterit alterius opera uti et ipse tantummodo
itendere, ut istud debito ordine fiat.
[25]. üt curam habeat conficiendi calendarii, in quo in-
cribantur termini iudiciales, item indultorum ad feuda acci-
ienda et similes. In hoc poterit deputare aliquem ex amanu-
nsibus, qui moneat consilium de terminis praedictis, scrip-
urasque ad negotium pertinentes colligat et in consilium
erat. Archican.^ Mogunt.
Quamvis hoc hodie non sit in usu, tamen propter multitudinem
tium, quae quotitie oriuntur, forte non esset absurdum istud in consue-
udinem revocare.^
[26]. üt curam gerat colligendi, reponendi, et rursus pro-
nendi omnia scripta quae in consilium vel cancellariam
erentur.
Quamvis ordinatio Moguntina hoc attribuat registratori, quemad-
nodum etiam in judicio camerae istud munus incumbit non proto-
lotariis sed lectoribus, tamen quoniam apud nos solus secretarius in
•oncilio est, nemo ipso melius hoc poterit exequi, nisi et ipse in hoc
/elit habere sublevantem.
[27]. üt in hoc operam det, quo informationes missae a
3artibus vel aliis, item instructiones quae aliquando dantur
)ratoribus et legatis, et siqua huiusmodi sunt maioris mo-
nenti, diligentius prae caeteris asserventur. Archican.^ Aust.
Et praecipue ut custodiantur litterae obligatoriae aliunde
ad Caes^«" M^^'" vel consilium missae. Archican.^ Mogunt.
Nescio an custodia huiusmodi litterarum apud nos ad cancellariam
^el ad alium quempiam pertineat.
[28]. üt diligentem conficiat catalogum omnium eorum,
quae apud cancellariam asservantur, ut ubi opus fuerit,
tanto expeditius reperiri possint. Mogunt.
' 1494, Art. 20 (?).
^ Am Rande von derselben Schreiberhand: Forsan futuris temporibus, ubi lites
jin curia cessabunt, necessitas hoc non exiget.
' 1494, Art. 17, 24, 25.
' 1494, Art. 21.
398 Andreas Walther
[29]. üt specialiter annotet, quaenam acta vel scripturae
et quo die vel consiliariis vel partibus communicatae sint.
De hoc superius quoque sub titulo de consiliariis dictum. Et ho
poterit is cui custodia scripturarum incumbit, etiam per substitutun
agere.
[30]. üt ex iis quae omnino expedita sunt, quodlibet ii
(saccum)^ suum reponat. Aust.
De Registratore.^
[31]. üt pareat supremo Cancellario, et vicecancellariis.
Dn. Mercurin.*
[32]. üt ea quae registranda sunt, registret per se ve
per alium, suis tarnen expensis.
Ita habet ordinatio Archicancellarii.^ Ordinatio vero Moguntin
nullum constituit specialem registratorem, sed vult quod ea qu
registranda sunt, registrentur per scribas cancellariae. Sed ex ordi
natione dom. Mercur. colligitur quod eo tempore fuerit quidam registrato
specialis, sed quod inscriptio in registris fuerit facta etiam per scriba
cancellariae.^ Quae ratio mihi non solum videtur commoda, verun'
etiam propemodum necessaria. In tanta enim multitudine expeditionurr
quae apud hanc cancellariam sunt, non est possibile, quod illae omne
per unum hominem in registrum possint scribi, sed videtur aliorun
manus auxiliares necessario debere accedere. Itaque constitui possei
ut unus quidem officium et curam registrandi susciperet, iuvaretu
vero ab aliis nudo scribendi ministerio, casu quo ipse omnia inscriber.
non posset. ]
[33]. üt registret omnia que per hanc cancellarium fuerin
expedita et a domino supremo cancellario admissa et sigil
lata. Mercur.^
Ordinatio quidem Moguntina statuit, ut ea tantum registrentur,
que habent sigillum appensum. Sed res ipsa indicat, alia que ii,
papiro expediuntur, et que habent subimpressum sigillum, plerumqui
^ Von Viglius hinzugefügt. ]
* Die folgenden beiden Abschnitte über Registrator und Taxator sind von einer
anderen Kopisten geschrieben, was auch in der Orthographie (que anstatt quae usw.
zur Erscheinung kommt. \
^ Von derselben Hand hier am Rande: Nota, nobis videtur, quod etiam posse,
statui, ut pareret supremo secretario. [
* Art. 11, oben S. 391.
' 1494, Art. 5.
* Art. 4 u. 3, oben S. 388 f.
' Art. 3, oben S. 3S8.
Kanzleiordnungen Maximilians I., Karls V. und Ferdinands I. 399
>nge maioris esse momenti, et sie non minus esse registranda quam
la. Ideo preferrem in hoc ordinationem domini Mercurini.
[34]. Hoc loco posset etiam considerari quid de literis clausis.
[35]. Idem quid de instructionibus legatorum et eorundem rela-
onibus.
[36]. Et quamvis ordinatio iV\oguntina velit, quod etiam obligationes
t reversales aliorum in cancellariam venientes registrari debeant, tamen
asu quo officium expediendi et custodiendi illas non pertineat ad hanc
ancellariam, iste articulus nuUum habeat effectum.
[37]. üt registratio fiat in ipsa cancellaria non extra. Aust.
Puto hoc esse provisum propter diligentiorem custodiam tum
2gistrorum tum eorum, ex quibus fit registratio.
[38]. üt registratio fiat ex literis iam admissis et sigil-
atis. Mercur.^
Secundum ordinationem archicancellarii ^ fiebat tunc temporis
egistratio ex conceptis secretariorum, postquam illa a supremo can-
ellario vel vicecancellariis essent subscripta. Sed tum ipse Ütere nee
principe nee a cancellariis subscribebantur, hodie vero, cum
psemet literae subscribebantur non solum a supremo cancellario
'el vicecancellariis, verum etiam ab imperatore, ita quod literae
um demum expediende et sigillo digne dicuntur, quando ipsemet
mperator manum iam admovuit, arbitror certe registrationem ante
d tempus et ex alio exemplari quam quod ab ipso principe appro-
)atum est, fieri nee posse nee debere. Absurdum enim esset id regis-
rare, quod postea vel corrigi vel mutari vel differri vel reici contin-
jeret. Itaque et in hoc magis probo ordinationem. domini Mercurini.
[39]. üt quinque sint registra, unum germanicum et lati-
lum, in quo registrentur omnes res tangentes Caes. M*^'",
IOC est negotia Status, alterum germanicum rerum impe-
ialium, tertium latinum rerum imperialium et praesertim
iarum que sunt Italiae, quartum rerum Australium, quintum
precum regalium.
Ista ordinatio est domini Mercurini, ^ cui tamen addenda est
quedam correctio. Cum enim hodie negocia patrimonalia apud hanc
cancellariam non tractentur nee expediantur, supervacaneum est id
quod de registro rerum Australium dicitur. Deinde videtur commodius,
ut secundum registrum consistat ex rebus imperialibus Germaniae, sive
germanica sive latina lingua expedite sint, ita ut tertium registrum
solis italicis, quartum vero precibus et nominationibus relinquatur.
' Art. 3 u. 9, oben S. 388 f., 390.
' 1494, Art. 5.
' Art. 3, oben S. 388 f. -
400 Andreas Walther
[40]. Quod litteras palatinatus, nobilitationis, legitima
tionis et armorum concessionis in forma communi non opu
Sit integre registrari, sed satis sit earum summarium un
cum data et taxa et armorum descriptione registris inscrib
Si vero in dictis litteris fuerit aliquid positum preter formar
communem, tunc^ integre registretur. Mercur.^
Iste articulus satis est commodus, et quamvis nonnumquam litter
in narratione meritorum vel ex alia causa varient a forma commun
tamen ista variatio similiter poterit summarie exprimi.
[41]. Et in hoc loco cogitandum esset quid de citationibus, ir
hibitionibus, vel mandatis simplicibus.
[42], üt registrata diligentur conferat cum exemplari e
quo registrata sunt, nequid perperam in registro scriptur
in venia tun Archican.^
[43]. Ut registratis literis inscribat „registrata", addend
nomen suum. Archican.* Mercur.^
[44]. üt luvet scribas, ubi per otium poterit, in scribend
officio. Aust.
Istud meo iudicio debet determinari secundum qualitatem per
sone ipsius registratoris. Si enim registrator tam esset idoneus, u
etiam secretarium in aliquibus posset relevare, arbiträrer illud non in
commode posse statui. Quemadmodum et rursus ipse registrato
iuvari debet per scribas cancellariae, ita ut semper alter alteri manun
porrigat.
[45]. In ordinatione archicancellarii^ erat etiam positus alius arti
culus, quod registrator deberet specialiter annotare catalogum omniun
consiliariorum, servitorum et provisionariorum Caes^^ Ma*'% sed pn
ratione horum temporum et conditione aule nostre puto quod istu(
hodie non sit practicabile.
[46]. Que ad salarium registratoris, licet illud aliquando constitutun
fuerit ex quadam taxa special! huic officio deputata, sed quoniatr
nunc circa illam taxam multe difficultates occurrunt, partim per domi
num Obernburgerum consideratae, partim adhuc considerande, ide(
domini supremi cancellarii determinabunt in hoc id quod optimun^
Visum fuerit.
* Hier von Viglius übergeschrieben: Hoc quod additur?
' Art. 3, oben S. 388 f.
' 1494, Art. 5.
* 1494, Art. 6. ,
^ Art. 3, oben S. 389.
« 1494, Art. 18 (?).
i
Kanzleiordnungen Maximilians I., KarlsV. und Ferdinands!. 401
De Taxatore
[47].^ Nescio iitrum hoc officium nunc sit coniunctum cum officio
ecretarii an non. Casu quo non esset, ego reperio, quod in antiquis
rdinationibus nonnulli articuli de hoc officio positi sunt, qui possent
dhuc hodierno tempore observari.
[48]. üt taxator pareat supremo cancellario et vicecancel-
ariis.^ Archican.^ Aust.
[49]. üt recipiat literas expeditas, et curet eas quam pri-
11 um sigillari. Archican.^ Aust.
[50]. üt literas sigillatas diligenter reponat, ne omnium
»culis sint exposite. Archican.^
[51]. üt literas taxandas fideliter taxet absque omni dolo
t fraude, secundum communem usum cancellariae, non mi-
lori vel maiori precio quam decet et ipse in mandatis habet,
pec in eo propriam utilitatem querat. Archican.^
[52]. Alique ordinationes ut domini Mercurini,' Austriaca statuunt,
[uod taxatio debeat fieri, maxime in iis que maioris momenti sunt,
ma cum contrarelatore, vel saltem eo presente et sciente; sed quoniam
luiusmodi officium contrarelatoris iam ab aula recessit, nihil est opus
Be eo ordinäre.
[53]. üt casu quo de taxa dubius sit, taxet iuxta consilium
;t voluntatem supremi cancellarii. Archican.^
[54]. üt taxam inscribat ad sinistrum latus sive marginem
jxteriorem literarum. Mercur.^
[55]. üt literas taxatas tradat in cancellaria partibus, ita
:amen ut antea et summam taxatam ab eis recipiat et eandem
'Cgistro taxe inscribat. Archican.^^ Aust.
Hodie (ut puto) constitutus est specialis receptor, qui taxam recipit,
quemadmodum et in ordinatione domini Mercurini constitutum fuit.^^
[56]. Ne cui taxam sine iussu vel scientia supremi cancel-
arii donet. Archican.^^
[57]. Si contingat aliquas literas sine taxa gratis expediri,
taxator hoc scribat manu sua in loco ubi taxa scribi solet
cum expressione gratiae factae. Et nihil pro eis accipiatur
tiisi precium sigilli. Mercur.^^
^ Am Rande von der Hand des Viglius: Constituatur inprimis certa taxa, et
in incertis taxet cancellarius.
* Am Rande von derselben Schreiberhand : Nota idem quod supra in registratore.
' 1494, Art. 37 u. 8. ' ibid., Art. 38. ' ibid., Art. 38.
' ibid., Art. 39. ' Art. 4, oben S. 389. ' 1494, Art. 39.
' Art. 4, oben S. 389. '" 1494, Art. 25 u. 41. '' Art. 4 u. 10, oben S. 389,
'^ 1494, Art. 39. '^ Art. 9, oben S. 390f. 391.
Afü II 26
402 Andreas Walther
In hoc ultimo si consuetudo nunc aliter se habet, illa erit servanda
[58]. Ne pro sua persona moretur partes, sed quanto citiuj
fieri poterit eas expediat. Archican.^
[59]. üt expendat salaria et ea que pro impensis cancel
lariae erunt necessaria, atque hoc modo expensa subnotet
Archican.^
üt de eo quod supererit, unicuique consignet ratam tax(
sibi pertinentem.
Hos duos articulos ordinatio domini Mercurini^ similiter remitti
ad officium receptoris, sed de his ut opinor nihil est consultandum
nam consuetudo praesentis temporis in hoc dabit legem, que erit ob
servanda, nisi superioribus aliud videatur.
[60]. üt singulis mensibus reddat rationem accepti e
expensi.
Ita canetur quidem in ordinatione domini iWercurini, simul e
enumerantur persone in quorum presentia rationes reddi debeant* Se(
in hoc quantum ad tempus attinet, dominus Obernburgerus considera
trimestre potius esse statuendum, et ex rationibus per eum adducti:
placet illa sententia. Quantum vero ad personas attinet, observetur i(
quod hactenus observatum fuit.
[61]. üt constituatur certa taxa sigillo et amanuensibus
ita ut nee partes nimium graventur nee prefecti, vel operai
suo labore defraudentur.
Est consideratio domini Obernburgeri meo iuditio satis accom
moda. Ex ordinatione partim archicancellarii, partim domini Merc
colligitur, quod olim taxa sigilli fuerit florenus,^ item quod amanuen
sibus solita fuerint dari quedam bibalia, ut vocantur,^ que recipere
annotare et inter eos singulis trimestribus, iuxta mandatum suprem
cancellarii et qualitatem ac meritum uniuscuiusque distribuere offi
cium taxatoris fuerit. Sed si hec postmodum tempore mutata sunt
praesentis temporis ratio erit inspicienda.
[62]. üt taxator publicet in cancellaria partibus ea de
creta, que extra consilium publicanda erunt. Aust.
Equissimus est iste articulus, ut is qui in honorabilibus expedi
partes, expediat etiam in odiosis.
[63]. üt assiduus sit in cancellaria ipse vel saltem contra
relator eins, quo partes tanto citius possint expediri, n(
frustra sollicitando et ipse fatigentur et alios molestent. Aust
' 1494, Art. 40. , ' ibid., Art. 43. ' Art. 4 u. 10, oben S. 389, 391
* Art. 10, oben S. 391. ' ibid., Art. 9, oben S. 391; 1494 nicht erwähnt.
' 1494, Art. 44; 1522, Art. 11, oben S. 391.
Kanzleiordnungen Maximilians I., Karls V. und Ferdinands I. 403
[64]. Siquod impedimentum ei in exercitio suo obiectum
fuerit, recurratadsupremum cancellarium,utei provideat. Aust.
[65]. übi per ocium poterit, iuvet secretarios in conci-
piendo. Aust.
In hoc videtur idem esse faciendum, quod supra de registratore
dictum est.
[66]. In ordinationibus Austriacis canetur, quemadmodum taxator
debeat providere cancellariae de papyro, membrana, atramento, pennis,
cera, custodibus, pressulis, suffitu et similibus. Sed ista sunt minu-
tiora quam quod huiusmodi ordinationibus ea inseri conveniat.
[67]. Deinde canetur, ut taxator recipiat supplicationes decretas
et distribuat secretariis et amanuensibus, ut literae desuper confician-
tur. Sed quoniam apud nos non est iste mos signandi supplicationes,
sed omnia fere in consilio decreta per secretarium protocollantur, ideo
satis erit provisum per ea que supra in officio secretarii dicta sunt.
De Contrarelatore^
[68]. De Contrarelatore, item de Receptore habentur aliqua
in antiquis ordinationibus, prout supra in officio taxatoris nonnihil
tactum est. Ad quod nos remittimus.
[69]. De Magistro Tabellariorum similiter aliqua dicuntur in
nonnullis ordinationibus. Sed Caes^ M*^^ habet suos magistros posta-
rum, qui sciunt quid sit illorum officium, adeo quod de illis aliquid
consultare non est opus.
[70]. De Ministro Cancellariae pariter loquuntur antiquae ordi-
nationes. Forte et illud officium hodie cessat. Et si quid de eo di-
cendum esset facilis esset resolutio, tanquam in re modicam difficul-
tatem habente.
De Scribis Cancellariae
[71]. üt pareant supremo cancellario, vicecancellariis et
secretariis. Archican.^ Merc.^ Mog.
[72]. üt concepta, quae ab ipsis ingrossanda erunt, prius
videant et perlegant, quo tanto melius ea intelHgant. Archi-
can.^ Mog.
üt ea quae scribenda erunt scribant diligenter, fideliter
et prompte, nihil mutantes nee transportantes. Archican.^
^ Von hier an bis zum Schluß wieder von der ersten Hand geschrieben.
' 1494, Art. 8 u. 9. ' Art. 2 u. 11, oben S. 388 u. 391. * 1494, Art. 15.
^ ibid., Art. 8 usw.
26*
404 Andreas Walther
[73]. üt ea quae iam per eos ingrossata fuerint, diligenter
conferant cum conceptis, antequam illa secretariis offerant.
Archican.^
[74]. Ne quid radant in locis suspectis, ut in re, nomine,
summa vel data. Et ubi in aliis locis rasura opus fuerit,
illam non faciant nisi scientibus vicecancellariis vel secre-,
tariis, locusque rasus scribatur rursus manu eiusdem qui
literas scripsit. Archican.^ Mog.
[75]. Ne quid scribant vel expediant extra cancellariam
nisi iussu vicecancellariorum vel secretariorum, ut in casu
multitudinis negotiorum; tunc enim concedatur eis, ut domi
aliqua scribere possint, sed ita uttam concepta quam scripta
statim in cancellariam reportent. Aust.
[76]. üt assuescant ea quae levioris momenti vel commu-
nia sunt, ex iussu secretariorum concipere.
De hoc supra quoque in officio secretarii dictum.
[77]. üt inscribendo registris juvent registratorem.
De hoc in officio registratoris.
[78]. üt assuescant prothocollare ea quae nonnunquam
extra ordinarium consilium tractantur, ita ut reddant se ha-
biles ad prothocollandi officium. Aust.
[79]. Ne quis alterius exercitio temere sese ingerat, vel
curiosus Sit in expiscandis his, quae alter prae manibus
habet, sed quilibet suo officio sit intentus. Mog.
Ne quis se immisceat officio taxatoris. Mog.
[80]. Ne quis ea quae in cancellariam veniunt, aliis videnda,
legenda vel exscribenda exhibeat nisi iussu superiorum.
Archican.^ Mog.
Ne quis in cancellariam inducat vel intromittat eos, qui
ad consilium vel cancellariam non pertinent. Archican.^ Mog.
[81]. Ne quis propria auctoritate se intrudat consilio, nisi
deputatus vel vocatus. Archican.^ Mog.
[82]. üt hora certa omnes in cancellaria adsint. Archic.^ Mog.
Quamvis in praedictis ordinationibus hora expressa sit, tamen pro
qualitate aulae nostrae poterit aliqua hora constitui, quae maxime vi-
debitur idonea.
[83]. Ne quis intra statutas horas ex cancellaria discedat
nisi scientibus aliis, quibus etiam indicet locum ubi reperiri
possit, casu quo eius opera requireretur. Et hoc rursus ita
* 1494, Art. 9. * ibid., Art. 16. ' ibid., Art. 11 u. 12.
* ibid. ^ ibid., Art. 23. ' ibid., Art. 31.
I
Kanzleiordnungen Maximilians I., Karls V. und Ferdinands I. 405
restringatur, ut semper saltem dimidia scribarum pars apud
cancellariam remaneat. Archican.^ Mog.
[84]. Alia quaedam quae in antiquis ordinationibus de officio scri-
barum posita sunt. Puta quomodo debeant inservire mensae.^ Item
quod ingrossata tradant servitori cancellariae, ut ea secretariis offerat.
Item ut scribenda inter semet ipsos partiantur. Item ut aliqua levioris
momenti per se ipsos revideant sine secretario, et corrigant. Haec
omnia non quadrant ad consuetudinem huius cancellariae. Quapropter
frustra de Ulis disputaretur.
Communia de universa Cancellaria
[85] üt locus cancellariae certus sit saltem prope hospi-
tium domini supremi cancellarii. Mercur.^ Obernbur.
Bonus est articulus meo iuditio. Et quanto viciniora sunt loca
tum consilii, tum cancellariae, item hospitia eorum qui ad consilium
vel cancellariam pertinent, tanto citius poterunt expediri negotia.
[86]. De juramentis.
aliqua tanguntur in antiquis ordinationibus/ sed non plene et
satis confuse. Si apud hanc cancellariam non est certa ratio jura-
mentorum (quod ego sane nescio) bonum esset quod singulis officiis
sua juramenta conciperentur et specialiter in libro ad hoc deputato
annotarentur, quemadmodum et in iuditio camerae et apud praecipuos
principes Germaniae fit, ut saltem hi qui in posterum servire incipient
habeant certam juramenti formam.
[87]. De salariis
non est nostrae consultationis, sed ad Caes^*" M*^"" vel ipsius su-
premos consiliarios pertinet. Qui ubi de hoc volent aliquid statuere,
poterunt videre ea quae Dn. Obernburgerus hoc loco diligenter in me-
dium affert.
[88]. De pluribus personis ad idem officium deputandis.
Istud similiter consistit in Caes^« W'^ et supremorum consiliari-
orum arbitrio.
[89]. Ne personae ad cancellariam pertinentes cuiquam
alteri domino servitio vel juramento sint obstiicti absque
supremi cancellarii permissu. Archican.^ Mog.
[90]. Ne quis aliis patefaciat secreta vel consilii vel
cancellariae. Archican.^ Mog.
' 1494, Art. 32. ' ibid., Art. 36. ' Art. 1, oben S. 388.
* 1494, Art. 1 u. 8; 1522, Art. 11, oben S. 391. ' 1494, Art. 10.
' ibid., Art. 11 u. 12.
406 Andreas Walther, Kanzleiordnungen Maximilians I. usw.
[91]. Ne quis a residentia curiae se abseiltet sine permissu
^upremi cancellarii. Archican.^
[92]. De munerum acceptatione
pauca habentur in antiquis ordinationibus. Sane si Caes^ iW^^' in
hoc modum praescriberet, esset res tanto principe dignissima.
[93]. üt cito expediantur negotia, maxime quae ipsam
Caes^"" M^^«" tangunt. Archican.^
[94]. üt stilus cancellariae ubique diligenter observetur.
Archican.^ Mog.
[95]. -Si quid occurrat aiicui quod cancellariae futurum
Sit expediens, de eo libere admoneat. Archican.*
[96]. üt omnes et singuli studeant pacificam inter se con-
versationem, abstineant ab iniurijs, differentias eorum supe-
rioribus decidendas relinquant, honestam vivendi rationem
observent. Contrafacientes puniantur et priventur officio.
ArcKican.^ Mog.
[97]. üt Caes^^ M*' iter facienti praesto sint. Archican.^
[98]. Ne quis alteri obtrudat id quod ipsi expediendum
incumbit. Mog.
[99]. In ordinatione Archicancellarii habetur etiam, quomodo per-
sonae ad cancellariam pertinentes Imperatori procedenti in publicum
adesse debeant et ministerium illud aulicum, ut vocant, obire."^ Sed
cum Imperator noster modernus Dei benignitate tarn potens sit, ut
ministrantes etiam ex illustribus personis ei abunde suppetant, non
puto quod huiusmodi ministerium a praedictis personis magnopere
requiratur.
[100]. Ordinatio domini Mercurini plura etiam continet de expeditione
precum et nominationum regalium.® Sed illa omnia hoc tempore vel
non sunt necessaria, vel suam certam et determinatam habent con-
suetudinem.
' 1494, Art. 35. ' ibid., Art. 13 u. 14. ' ibid., Art. 27.
* ibid., Art. 28. ^ ibid., Art. 29 u. 30. ' ibid., Art. 34.
^ ibid., Art. 33. » Art. 9, oben S. 390 f.
Stadtschreiber und Stadtbücher
n Mühlhausen i. Th. vom 14. 16. Jahrhundert
nebst einer Übersicht
über die Editionen mittelalterlicher Stadtbücher
von
Erich Kleeberg
Rat und Ratsbehörden in Mtihlhausen"^)
Mühlhausen in Thüringen^ war in der ersten Hälfte des 13. Jahr-
hunderts eine königliche Stadt. Des Königs Vogt hatte seinen Sitz
auf dem in unmittelbarer Nähe sich erhebenden Castrum. Bei ihm
lag die Verwaltung der königlichen Regalien und des Gerichts über
die Einwohner, das er durch einen von ihm bestellten Schultheißen mit
aus der Bürgerschaft hervorgegangenen Schöffen ausüben ließ. Unter
seinen Augen entwickelte sich in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts
ein Ausschuß der Bürger zu Verwaltungszwecken, der sich in den
Jahren 1230—50 zu einer festen Ratsbehörde konsolidierte. Indem es
diesem Rate gelang, die königlichen Hoheitsrechte an sich zu ziehen,
führte die Entwicklung noch bis zur Mitte des Jahrhunderts zur
kommunalen Selbständigkeit der Stadt. 1255 residierte kein
Vogt mehr auf der königlichen Burg, und es bedeutet nur noch einen
formalen Abschluß, wenn es den Bürgern 1256 gelang, die Burg, deren
streitlustige Ritterschaft eine ständige Gefahr für den Stadtfrieden
bildete, zu zerstören und ihre Mauern zu schleifen. In den Zeiten des
Interregnums verstand es die Bürgerschaft, ihre unabhängige Stellung
* Einleitung und erstes Kapitel auch als Göttinger Dissertation.
* Über die ältere Geschichte der Stadt liegen vor die Abhandlungen Lamberts
(Die Ratsgesetzgebung der freien Reichsstadt Mühlhausen i. Th. im 14. Jahrhundert,
Halle 1870, Einleit. S. 1-32) und Fr. Stephans (Verfassungsgeschichte der Reichs-
stadt Mühlhausen i. Th., Sondershausen 1886), die sich beide nur beschäftigen mit
dem inneren Zustande der Stadt bis etwa 1350, und die, da sie nur beschränktes
Material verwenden, auch für diese Zeit kein umfassendes Bild geben. Ich sehe mich
deshalb genötigt, meiner Darstellung eine kurze Übersicht über die Ratsbehörden
vorauszuschicken, um des Stadtschreibers Stellung im Rahmen der städtischen Ver-
fassung aufzeigen zu können.
408 Erich Kleeberg
ZU festigen. Die Beziehungen zum Reichsoberhaupte wurden bis aul
eine geringe, wohl nicht einmal regelmäßig bezahlte Geldsteuer gelöst
und die späteren Könige mußten um die Wende des 13. Jahrhunderts
der Macht der Wirklichkeit nachgebend, den gewordenen Zustand an-
erkennen.
Inwieweit an dieser Entwicklung die sozial verschiedenen Kreise
der Bürgerschaft gleichmäßig beteiligt waren, läßt sich nicht mehi
entscheiden. Im ältesten Stadtrecht, in dem zwischen 1240 und 125r
das bestehende Gewohnheitsrecht fixiert wurde, spricht sich wohl iir
allgemeinen ein kräftiges Selbstbewußtsein der Bürger aus, ohne dat
ein höher gewertetes Patriziat besonders hervorträte. Dagegen zeigen
die ältesten in den Urkunden überlieferten Ratslisten, daß sich gegei
Ende des Jahrhunderts der Rat, der oberste Verwaltungsausschuß und
Repräsentant der Bürgerschaft, vollständig in den Händen der Ge-
schlechter befand, in denen eingewanderte Ministerialenfamilien einen
breiten Raum einnahmen.
Der Rat bestand aus einem jährlich wechselnden Kollegium von
14 Mitgliedern, die aus einem beschränkten Kreis von Geschlechtern
hervorgingen. Eine Entwicklung der Ratsverfassung, die im
wesentlichen noch im 14. Jahrhundert ihren Abschluß fand, läßt sich
in zwei Richtungen verfolgen. Dem Streben einzelner Familien, den
Rat durch Besetzung mehrerer Stellen mit Angehörigen desselben Ge-
schlechts in größere Abhängigkeit von sich zu bringen, setzten sich
die Forderungen des natürlich breiter werdenden Patriziats entgegen,
und es wurde durch Statut bestimmt (Willkür A),^ daß jedes Geschlecht
zu dem alljährlich sitzenden Rate nur ein Mitglied stellen dürfe, und
daß ein jeder Ratsherr erst drei Jahre nach Niederlegung seines Amtes
wieder wählbar sei. Durch diese Statuten wurde dem Patriziat ein
gleichmäßiger Einfluß auf die Ratsregierung gesichert und seine Stellung
innerhalb der Bürgerschaft befestigt.
Doch das Jahr 1311 brachte eine weitere Änderung der Rats-
verfassung, die dem Bestreben des Patriziats entgegengerichtet war.
Den Zünften war es gelungen, sich Eingang in den Rat zu ver-
* Ich bezeichne die Statuten von 1311; ci 1350; 1401; 1566; Druck von 1692
(cf. Anhang A, la) als Willkür A, B, C, D, E. Die Statuten des 14. Jahrhunderts sind
gedruckt Lambert: Ratsgesetzgebung der freien Reichsstadt Mühlhausen. Die
Statuten von 1401 nach einer späteren Abschrift Bern mann: Mühlhäuser Geschichts-
blätter 9, 1908.
Lambert S. 86:.... quorum XIIII ex progeniebus , ita quod ex qualibet pro-
genie unus colligatur, quos electores super suum pro necessitate ciuitatis eligere de-
bent prouide iuramentum ....
Lambert S. 90: Nullus recedens ex spirato anno suo a consilio debet resumi in
consulem nisi tribus annis transactis post annum quo fuit in consilio exspiratum.
Stadtschreiber und Stadtbücher in Mühlhausen i. Th. 409
chaffen. Die Statuten der Willkür A^ sagen ihnen neben den bis-
lerigen 14 Ratsstellen die Besetzung weiterer 10 zu. Und wenn auch
iiese zehn zünftigen Ratsherren bis zur Mitte des Jahrhunderts keine
roße Bedeutung hatten — werden sie doch in den erhaltenen ür-
unden nur einmal genannt^ — , so bezeichnet dieser Erfolg gleich-
/ohl einen Anfang. Schon 1351 mußte sich das Patriziat gelegentlich
ines Vergleichs^ nach einer gewaltsamen Erhebung der Zünfte ge-
allen lassen, daß fortan alljährlich 16 Mann aus der Gemeinde dem
itzenden Rate bei Uneinigkeit im Kollegium, besonders bei Streitig-
:eiten um die Neuwahl, als entscheidende Instanz beigeordnet wurden
,als dicke das nod ist vnd auch als dicke alz is kein man des seibin
iates begerd''. Diesen, den sogenannten Eldisten, dy der Rat czu sich
'orbotit,^ wurde im Jahre 1396 die Einsicht in des Rates Finanz-
Verwaltung zugebilligt^
Im Rate hatte das Patriziat noch die überhand, und als wenige
^ahre später eine Vermehrung der Ratsstellen von 24 auf 28 be-
;chlossen wurde ,^ waren die Geschlechter und Zünfte je mit zwei
i'Vann beteiligt. Das Patriziat wird diese ihm ungünstige Verschiebung
les Verhältnisses der Stände im Rate zugegeben haben aus der Er-
wägung heraus, daß mit der Vergrößerung des Ratsstandes auch seine
Stellung innerhalb der Bürgerschaft wachsen mußte. Und in natürlicher
^Wechselwirkung ging im Gegensatz zu den steigenden Ansprüchen
1er Gemeinde sein Streben auf einen Zusammenschluß der Rats-
mgehörigen mit fester Abgrenzung gegen die übrige Bürgerschaft.
\us dem alten Streit von Geschlechter und Zünften wurde der Gegen-
satz zwischen Ratsstand und Gemeinde.
Am St. Martinstage wurde der neue Rat gewählt von dem ab-
behenden Kollegium.'^ Zum passiven Wahlrecht war in der Willkür A
lur gefordert^ eine eheliche Geburt und von den unverheirateten ein
^Lambert S. 86: .... reliqui vero X ex artistis mechanicis, uti expedibit,
iissumentur.
' cf. Stephan S. 90.
^ Gedruckt bei Lambert, Einleit. S. 30.
* Lambert S. 67 (Zusatzstatut zu B).
^ Lambert S. 160 (Zusatzstatuten von 1396, d u. c): Die Kämmerer und alle
städtischen Beamten, die der Stadt Geld einnehmen, müssen alljährlich nach der
Aufstellung des Stadthaushaltes ihre Einnahmen und Ausgaben vor den Ältesten vor-
rechnen. Die Ratsmeister müssen alle Vierteljahre vor den Ältesten Rechnung ab-
legen, wo vnd weme vnd wann daz sie der stat wyne vorschenket haben vnd der herrin
vnd der stete boten tranggelt gegeben haben.
^ Lambert S. 89 (Zusatzstatut zu B).
' Lambert S. 89.
^ Lambert S. 88.
410 Erich Kleeberg
Mindestalter von 40 Jahren. Der abgegangene Rat blieb auch im fol-
genden Jahre in einem Kollegium unter seinen beiden Bürgermeistern
vereinigt und konnte vom regierenden Rate zu bedeutenden Verhand-
lungen hinzugezogen werden. Mit der Zeit bildete sich ein geregelter
Geschäftsgang, der schwierigere Fälle vor das Forum der beiden Räte
verwies.^ Die Statuten B zeigen bei bedeutenden Anlässen schon dre
Ratsjahrgänge tätig, und seit 1371 ist die Rede von einer vierjähriger
Ratsordnung, ^ so daß der Ratsherr, der im vierten Jahre, an den
frühest möglichen Termin, wiedergewählt wurde, nie vollständig vor
den Ratsgeschäften zurücktrat. Hierdurch und noch mehr durch die
Bestimmung, daß omnis causa per consules semel sab debito iurament.
iudicata seu terminata nulli consules illam retractare debent,^ wurdt
eine gewisse Stetigkeit in der Ratsverwaltung gesichert. So wuchser
die vier Ratsjahrgänge aneinander, und es mußte allmählich zur fester
Gewohnheit werden, daß der abgehende Rat das gesamte Kollegium
das drei Jahre vor ihm regiert hatte, wieder wählte; bot doch alleir
diese Praxis ihm die sichere Garantie für seine spätere Wiederwahl
Diese Tendenz fand ihre endgültige Formulierung in einem Zusatz
Statut zu C* vom Jahre 1406, in dem man demnach die Schließung
des großen Rates erblicken kann: Ouch wer an den rattht hynne
fort gekornn adir gesaitzst werdt (an welch ende des raths das ist) uf,
die alden ader uff die nuwenstadt, do sal er blibe sitzenn, dieweil e,
lebet und änderst nicht.
Damit war ein fester Ratsstand über der übrigen Bürgerschaf
anerkannt. Seine Position stärkte er, indem er in demselben die An
zahl der den sitzenden Rat bildenden Herren auf 32 erhöhte;* und ej
reiht sich ein in die ganze Entwicklung, wenn jetzt auch das zünftige
Element dem Patriziat innerhalb des Rates gleichgestellt wurde, inden
beide Gruppen je 16 Ratsherren, darunter einen Ratsmeister stellten
Zum Ratsstande gehörten 128 Herren, deren Regierung in einem vier-
jährigen Turnus wechselte, eine stattliche Partei, die, im eigenen Lage
einig, wohl imstande war, die Bürgerschaft in straffem Regiment zi
halten. Die Exklusivität des Ratsstandes wurde noch gesteigert da-,
durch, daß der seit ca. 1350 geforderte Mindestbesitz eines Ratsherrr
von 10 Mühlhäuser Mark^ im Jahre 1406 auf 20^ erhöht wurde. Di(
Lambert S. 128 (Zusatz zu A): NuUi consules ammodo pro vno anno con
stituti aliquem debent quinque annis de cwitate amouere uel ultra quinque. Sed dw
paria consulum simul debent illum amouere ...
^ Lambert S. 155.
' Lambert S. 128 (Zusatz zu A).
^ GeschichtsbK 9, S. 27.
^ Lambert S. 89.
•^ GeschichtsbL 9. S. 27.
Stadtschreiber und Stadtbücher in Mühlhausen i. Th. 411
euwahlen aus der Gemeinde sind fortan nur noch als Ergänzungs-
:jahlen aufzufassen, wenn eine durch Tod, Verzug oder gewaltsame
^Int^etzung leer gewordene Stelle zu besetzen war.
fl Es paßt zu dieser Entwicklung, wenn der Gemeindeausschuß der
lo Ältesten im 15. Jahrhundert wieder beseitigt wurde. Unter dem-
dben Namen bildete sich um die Mitte des Jahrhunderts aus Mit-
liedern der vier Räte ein ständiges Kollegium (Senioren rat oder
^natüs intimus). Bei ihm lag die Aufsicht über die Ratsverwaltung
nd die Vorberatung wichtiger inner- und außerpolitischer Fragen, doch
atte er keine beschließenden und ausführenden, sondern nur be-
jtende Funktionen, wie es sich für das 16. Jahrhundert erkennen läßt,
s hatten in ihm Sitz die Bürgermeister, je zwei aus vier Ratsjahr-
ängen, und noch andere Vertrauenspersonen, im ganzen etwa der
ierte Teil der Ratsherren überhaupt.
Eine Änderung der Ratsverfassung brachten erst die Bürger-
nruhen der Jahre 1523—25, die in der Stadt zur offenen Erhebung^
ührten und mit der Besetzung der Stadt durch die sächsischen und
lessischen Fürsten ihren Abschluß fanden. Nachdem der alte Rat
inem neuen demokratischen hatte weichen müssen, wurde zwar der
Ite Stand zwei Monate später wiederhergestellt, doch blieb der von
en Fürsten restituierte sitzende Rat beschränkt auf 24 Mitglieder in
tinem dreijährigen Wahlturnus.
In diesem politisch und gesellschaftlich über der Gemeinde stehen-
ien Ratsstande konzentrierte sich die Summe der obrigkeitlichen Ge-
Ivalt. Er war der politische Repräsentant der Bürgerschaft, ihm stand
iie Verwaltung der Stadt zu, und er besaß die Gerichtshoheit über
hre Einwohner. Das Gesamtkollegium der vier Räte verhandelte
iber gemeinsame Angelegenheiten des Ratsstandes, sie stellten die
egislative Gewalt dar^ und berieten über wichtige Fragen der städtischen
Politik, wie Krieg und Frieden, Bündnisse usw. Die Verhandlung in
der großen Körperschaft ging auf die Weise vor sich, daß die Rats-
tneister der einzelnen Jahrgänge als Wortführer die Meinung und
Einzelabstimmung ihres Rates verkündigten.^ Bei Stimmengleichheit
entschied persönliche Abstimmung* unter den 128 Herren.
^ cf. Kap. II, § 2.
- Geschichtsbl. 9, S. 26: Wanne manne etteswas inschreibe ader ußtelge wel uß
diesseme buche, das do ist und heißet die welkoere, das sal man mit den retthen
thun . . .
^ Der Geschäftsgang läßt sich wenigstens seit 1525 erkennen, seit welchem Jahre
die Protokollbücher senatus triplicis vorhanden sind.
* Geschichtsbl. 9, S. 23: Vier rethe sein eins worden, wan zwene rethe ein wort
haben und die andern zwene rethe auch ein wort haben, ßo soll man in den vier
412 Erich Kleeberg
Die laufenden Geschäfte besorgte der jährlich wechselnde sitzend
Rat. Er besetzte mit seinen Mitgliedern die verschiedenen Poste
der städtischen Verwaltung und ernannte die jährlich wechselnde
Beamten und Diener, deren vornehmste der Schultheiß und Zöllne
waren. ^
Der Besitz des Reichsgerichts im städtischen Gebiet verbürgte vo
allem dem Rat seine selbständige obrigkeitliche Stellung. Er bestimmt
nicht nur alljährlich den Schultheißen als Vorsitzenden des öffentliche
Gerichts, sondern setzte ihm auch zwei Beisitzer aus seiner Mitte
Mit diesem ordentlichen Schultheißengericht konkurrierte scho
frühzeitig erfolgreich die obrigkeitliche Aufsicht des Rates über di
Aufrechterhaltung der Ordnung in der Stadt. Diese polizeilichen Funk
tionen hatten sich entwickelt aus den Rechten und Pflichten, die ihr
die Aufsicht über den städtischen Handel und Wandel, Ordnung un^
Frieden innerhalb der Mauern brachte. Schon die Willkür A^ bezeichne
Rat und Schultheiß in gleicher Weise fähig, den Frieden zu gebieter
In den Statuten hat der Rat seine Verordnungen fixiert, und Zuwider
handlungen wurden nach den hier festgesetzten Strafen mit Geldbußei
und Verbannung verurteilt. Doch nicht nur auf die hier verzeichnete!
Fälle blieb seine Gerichtsbarkeit beschränkt, sondern auch nicht vor
gesehene Vergehen wurden ihm unterbreitet. Wanne man alle ding nich
beschribin enmag, so sal eyn (dich erretom und crieg von dem Rat
gerichtet vnd geczuchtiget werde, da nach als ir eyd lert}
Noch bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts hat es den Bürgern um
Einwohnern frei gestanden, sich Recht zu holen im öffentlichen Schult
heißengericht oder sich der schiedsrichterlichen Entscheiduni
des Rates zu beugen.^ Erst nach 1350 bestimmte ein Zusatz zu den
oben zitierten Statut,^ daß ein ider burger und einwoner, der den anderi
umb schulde odder umb ander noch antzusp rechen, der soll denßelbigei
zuvom vor einem erbarn sitzenden ratthe beclagenn, unnd wo ein rattl
die nicht voreinigen mögen, also dan sollen sie mit irer sache an da.
reihen in der dorntzen umb frage, und was denne die mere mennige will, das soi
gehe, unnd wann der rathismeister alßo umbgefragett , ßo soll jeder man schweyg
bey eime Schillinge.
^ Lambert (Statut B) S. 89.
' Geschichtsbl. 9, S. 26 (Statut von 1400).
^ Lambert S. 54.
* Lambert S. 73.
^ Lambert S. 122/23 (Statut A und B): Quicumque uel quecumque hie mo ran.
noluerit aliquem seu aliquam trahere in causam, sine acter uel actrix sit vidua ue
bekina : illum uel illam, coram nostre ciuitatis iusticiario uel consulibus in causan
trahet ....
® GeschichtsbL 9, S. 18.
Stadtschreiber und Stadtbücher in Mühlhausen i. Th. 413
cht geweist werden. Noch ein Rezeß von 1679^ bestimmt, daß die
vilsachen erst, wenn alle in der Ratssitzung versuchte „Güte" frucht-
;s ist, an das Stadtgericht gewiesen werden sollen. Von dem
:hultheißengericht war die Appellation an den Rat gestattet;^ außer-
3lb der Stadt durfte ein Bürger oder Mitwohner sein Recht nur im
ille der Rechtsverweigerung^ suchen.
Der Geschäftskreis des Rates erweiterte sich, als die allgemeine
echtsentwicklung dahin führte, Änderungen im Besitzstande an liegen-
2m Gut vor einer zuständigen Behörde vorzunehmen. Der Rat wurde
amit das Forum für die Handlungen, die man mit einem modernen
egriff als Akte der freiwilligen Gerichtsbarkeit zusammenfassen
ann. Die Tradition von liegendem Gut wurde nur nach Auflassung,
ie Pfandsatzung nur nach dem Bekenntnis des Vertrages vor dem
at rechtskräftig, so bestimmte die Willkür A.*
Lag ursprünglich die Ausübung der gerichtlichen Tätigkeit bei
|em gesamten sitzenden Rate und in besonderen Fällen bei dem
ollegium der vereinigten Räte, so hat der Geschäftsgang schon bald
tne Vereinfachung erfahren, indem häufig wiederkehrende, einfache
achen an bestimmte Ratskommissionen verwiesen wurden. Nach
em oben erwähnten Statut in A^ sollte die Pfandsatzung coram con-
filibus ad hoc constitutis vorgenommen werden; das entsprechende
tatut in B setzt ihre Zahl auf zwei Ratsherren fest (vor den zwen von
em . . . Rate, die unsir herren dar czu gesatzt habin). Leichtere Ver-
al- oder Realinjurien wurden seit 1396 einem Kollegium von vier
cheltherren auf der Scheltlaube „zur gütlichen Weisung" übergeben.^
ind — allerdings erst aus späterer Zeit, aus dem 17. Jahrhundert,^
^ Gedruckte Ratsrezesse.
" Lambert S. 96/97 (Statut A und B): Qui de iüdicio ad consules apellauerit
bnuictus solidum statim dabit.
^ Lambert S. 122/23 (Statut A und B): ... qui uero alias coram regibus uel
rincipibus seu ubicumque alibi quemquam conuenerit, unde ciuitati dampna et graua-
lina ualeant euenire, hie daturus V marcas amouebitur quinque annis. Saluo tarnen
uod si iusticia cuiquam denegaretur per consules aut scultetum, ille appellacione
icta manifeste potest alibi suum ius persequL
^ Lambert f. 80: Item de uendicione bonorum quorumlibet immobilium propri-
rum unusquisque tam venditor quam emptor de marca qualibet debet unam denarium
nfra octo dies elapsa empcione coram consulibus resignantes illa bona et suscipientes
b eisdem; qui neglexerit pena erit marca et mensis.
Bona eciam hereditaria coram consulibus resignanda sunt et suscipienda.
Item bona immobilia propria qui alteri pro debitis obligare uoluerit, ea coram
'msulibus ad hoc constitutis obligabit, aliter obligacio efficaciam non habebit.
'" Lambert S. 161 z: Ouch sal man vier manne kyse vz den Reihen, der sal eyn
ie eyn hantwerkes man, die viere sollen gerichte halde vff der scheltlouben.
^ Gedruckte Ratsrezesse S. 35; Rezeß von 1679, § 5.
414 Erich Kleeberg
liegen genauere Angaben darüber vor — „die peinlichen Fälle wit
auch alle fiskalischen Sachen, die harten und groben Injurien unc'
mancherlei Frevel" wurden vor dem Semneramt/ einer Art Polizei
behörde, verhandelt, deren Mitglieder auch dem sitzenden Rate an-
gehörten. Von dem Semneramte war ebenfalls eine Appellation ar
den Gesamtrat möglich.
War die Ausübung der Gerichts- und Polizeihoheit geeignet, den
Rate seine beherrschende Stellung innerhalb der Bürgerschaft zi
sichern, und war es schon deshalb sein Streben, das Schultheißen^
gericht zu einer bloßen tiilfsinstanz herabzudrücken, so brachte de'
Besitz des Gerichts der Kämmereikasse auch nicht unbedeutende Ein
nahmen in Form von Gefällen und Strafgeldern.
Die anderen Zweige der städtischen Verwaltung erscheinen ebenfall
zum Teil schon früh differenziert und wurden durch Kommissionei
des sitzenden Rates versehen. Als Flurrichter wurden zwei dem Rat
angehörende Heimburgen erwählt; zur Verwaltung des städtischei
Markbesitzes wurden Holz-, Fisch- und Jagdherren bestellt. Die Er
richtung der städtischen Bauten und die Aufsicht über die privat'
Bautätigkeit war einer besonderen Behörde von Bauherren überwieser
Größere politische Bedeutung sollte das Amt der Kriegsmeister ge
winnen. 1396 bestimmte der Rat zwei seiner Mitglieder, die di
Kriegsrüstung der Stadt überwachen sollten und alle daz, daz czu de
were gehöret, beslyße und dez macht haben von büchzen, arniborstei
kochim vnd görteln? Welche Bedeutung man diesem Amte beimal
zeigt sich darin, daß allein diese Herren ihr Amt zwei Jahre bekleidetet
und zwar in der Weise, daß von den beiden alljährlich bloß einer au
dem neuen Rate ersetzt wurde.^ In späterer Zeit wurde ihre Zahl vei
mehrt, und diese Kriegsmeister wurden oft als diplomatische Vertrete
ausgeschickt. In der Kämmereirechnung des 16. Jahrhunderts werde
die Ausgaben für Gesandtschaftsreisen und ähnliches, die man früh(
unter der Rubrik ad placitandum buchte, geradezu unter dem Name
„Kriegsmeisteramt" geführt.
Einer besonderen Ausbildung erfreuten sich die Ämter, denen di
Verwaltung des städtischen Finanzwesens oblag. Am Tage des Rats
' Der Ursprung des Amtes ist nicht klar. Seinen Namen hatte der Semn(
von der Art seiner Tätigkeit; er hatte bestimmte Abgaben einzusammeln. In dt
Willküren A und B wird als der Hochzeitssemner derjenige bezeichnet, der vo
Bräutigam dazu bestimmt ist, den Hochzeitsschilling einzusammeln. 1396 werdt
die sechs phenninge semmener als Beamte des Rates genannt. Lambert S. 161 o.
Nach der Willkür von 1566 (I. Art. 17) bilden sie die Sicherheitspolizei.
^ Lambert S. 161c.
Stadtschreiber und Stadtbücher in Mühlhausen i. Th. 415
yechsels bestimmte der neue Rat vier Kämmerer;^ diese hatten acht
j'age nach Ablauf ihres Amtsjahres ihre Rechnung dem Rate und den
liltesten vorzulegen.- In den ersten Jahren des 15. Jahrhunderts wurde
iine Neuordnung der Geschoßerhebung durchgeführt. Vielleicht neben
len Kämmerern wurde eine Zwölferkommission aus acht Ratsherren
'on den Geschlechtern und vier von den Zünften gebildet^ und ihnen
iie Einnahme der direkten Steuer von jeder Art Vermögen an dem
ifühjahrs- und Herbsttermin zugewiesen. Das Geschoß wurde seit dem
etzten Viertel des 14. Jahrhunderts in erster Linie zur Auszahlung der
i<athausrenten verwandt, die schon eine ganz moderne Art der Anleihe,
undiert auf der Steuerkraft der Bürger, darstellen, wenn sie auch, in
ier Form den Rentenkäufen angepaßt, vom Rathause, de pretorio, ver-
lauft wurden. Die Ausstellung dieser Zinsverschreibungen wurde vor
iem Viererrate vorgenommen.*
Spätestens 1412 ist diese Geschoßkommission mit den Kämmerern
identisch, und in dem Kollegium der zwölf Kämmerer ging seitdem
iie gesamte Verrechnung der städtischen Finanzen vor sich. Ihr
Stand hob sich, sie erwählten alljährlich aus ihrer Mitte zwei Vor-
steher, die Oberkämmerer, die im Range nur den beiden Ratsmeistern
hachstanden. Aus der Kämmerei wurden die gesamten Ausgaben der
Städtischen Verwaltung und Politik bestritten, und hierhin flössen die
Einnahmen zusammen: die festen Einnahmen und gelegentlichen Ge-
fälle der Verwaltungsdepartements, die direkte Steuer auf unbeweglichen
[und beweglichen Besitz und die verschiedenen Arten von indirekten
f. Steuern (ungelt), die Handel und Gewerbe belasteten, wie Zoll, Ge-
werbesteuern, Abgaben von Wage, Münze und Kaufbuden, Korn- und
Bierzins.
I Auch die Einnahmen der Zinsmeisterei flössen an den Rech-
Inungsterminen in die Kasse der Kämmerer. Die Verwaltung der Ein-
nahmen, die beruhten auf den ursprünglich grundherrlichen Beziehungen
der Stadt, wurde noch im 14. Jahrhundert von den beiden Marstall-
meistern^ besorgt und erst im 15. Jahrhundert einem besonderen Rats-
kollegium, den vier, später sechs Zinsherren übertragen. Ihr Geschäfts-
kreis erweiterte sich, als der Pachtbesitz der Stadt 1461 durch einige
Güter, die dem Kloster Lippoldsberg gehörten, und im 16. Jahrhundert
durch Übernahme der Deutsch-Ordensgüter vermehrt wurde.
' Lambert S. 90/91.
- Lambert S. 160d.
' GeschichtsbL 9, S. 26-
* GeschichtsbL 9, S. 24.
' GeschichtsbL 9, S. 13; Lambert f. 162.
416 Erich Kleeberg
Erstes Kapitel
Die Anfänge des Stadtschreiberamtes und die Entwick-
lung der Kanzlei bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts
In der Summe der durch die Ratsregierung veranlaßten offizieller
Schriftstücke haben wir vor uns das Werk der städtischen Schreiber
mögen diese Männer in fester amtlicher Beziehung zum Rate gestander,
haben oder nur zu gelegentlichen Dienstleistungen herangezogen sein
In dem Maße, wie sich der Rat schriftlicher Aufzeichnungen bediente
erhalten wir also durch die Tätigkeit der Schreiber ein getreues Abbikj
dieser Regierung. In gleichem Grade mußte aber auch für jene Zeiter
selbst die Wertschätzung der Schreiber steigen, zumal da die tland-
habung der Feder und des Kanzleistils noch als Kunst galt, und di(:
Geschäftsführung in den Städten sich noch nicht in alten traditioneller
Formen bewegte, sondern zum Teil erst neu zu gestalten war. D;
also ein gewisses Maß von Bildung und Erfahrung zur Erfüllung de:
städtischen Schreibdienstes gehörte, und da auch der Schreiber eim
Vertrauensstellung einnahm, so ist es natürlich, daß der Rat sich bak
nur bestimmter Personen zu diesem Zwecke bediente und das Am
eines offiziellen Stadtschreibers schuf. Mit den Formen und dem In
halt der Ratsregierung vertraut, gewannen die Beamten Einfluß auf di(
formale Ausgestaltung des Geschäftsganges, und es konnte auch nich
ausbleiben, daß Männer ihrer Bildung und ihres Standes an der Re
gierung selbst Anteil nahmen.
Im ersten Kapitel soll dieser Prozeß, der sich in Mühlhauser
etwa um die Mitte des 15. Jahrhunderts vollzogen hat, nachgewieser
werden. Das zweite Kapitel wird dann darzustellen haben, wie siel
der oberste Schreiber vom täglichen Kanzleidienst frei machte, um ii
des Rates Politik und Verwaltung eine führende Rolle als Stadtsyndiku;
zu spielen, während sich das Schreiberpersonal den steigenden For
derungen entsprechend vermehrte.
§ 1. Die städtischen Schreiber 1314— 1460
Zu Beginn des 14. Jahrhunderts findet sich in Mühlhausen di(
erste Spur eines festangestellten Stadtschreibers.^ Bis zu dieser Zei
wird die Tätigkeit eines solchen Beamten keine umfangreiche gewesei
^ Nachrichten über Stadtschreiber finden sich in den meisten Stadtbucheditionen
ich verweise hier nur auf die ausführlicheren Arbeiten von W. Stein, Deutsch
Stadtschreiber und Stadtbücher in Mühlhausen i. Th. 417
ein und sich im wesentlichen auf die Ausstellung von Urkunden be-
chränkt haben. Der Rat dürfte zu dem Zwecke die gelegentlichen
Menste eines in der Stadt ansässigen Geistlichen benutzt haben. Doch
a in den Urkunden, auf deren Material ich allein angewiesen bin, die
lennung eines Schreibers bei dem Zurücktreten der Persönlichkeit dem
ufall überlassen blieb, so kann auch vor unserem ersten Zeugnis ganz
7ohl ein Geistlicher den Titel Stadtschreiber geführt haben.^ Schon
.tephan hat hingewiesen auf eine Urkunde vom Jahre 1303,^ in der
in fienricüs scriptor de Molenhusen unter den Zeugen genannt
/ird. Doch erscheint es mir wahrscheinlich, daß mit dem scriptor
in Familienname gemeint ist, zumal der Stadtschreiber später nie als
criptor de Molenhusen, sondern soweit lateinisch als scriptor civi-
atis und in Ratsurkunden als scriptor (notarius) noster be-
elchnet wird. Die erste sichere Nachricht über einen Stadtschreiber
laben wir zu sehen in einer am 18. III. 1314 vom Rate ausgestellten Ur-
;unde,^ in der sich ein Gotfrid von Schonrstete (Schönstedt) als
mse schriber findet. Der Rat vergleicht sich mit den Deutsch-Herren
iber die Kosten der neuerbauten St. Nikolauskapelle, und es wird be-
timmt, daß die pherrere in der Aldenstad (eine Komturei des Deutsch-
irden s) di capellen sente Niclaus haben sal alle zit also, wi se und
mse schriber Gotfrid von Schonrstete gehat haben. Als Priester nennt
hn noch einmal eine Urkunde vom Jahre 1324* unter den Zeugen
)ei einem Schiedssprüche der Mainzer Delegierten zwischen dem
)eutsch-Orden und dem Rate. Unter anderem handelt es sich um die
wischen den Parteien strittige Unterhaltung eines Priesters für die
»bengenannte Kapelle, und in dieser Sache mag Gotfrid sacerdos, der
rubere Inhaber der Pfarre, vom Rate als Zeuge angerufen sein. Noch
itadtschreiber im Mittelalter, Mevissen-Festschrift, Köln 1895; W. Stein, Akten
ur Geschichte der Verfassung und Verwaltung Kölns; Publik, d. Ges. f. rhein.
jeschichtsk. 17; Bonn 1893/95: 1. CXVIII— CLXXIX; ti. Ermisch, Die sächsischen
itadtbücher des Mittelalters; Neues Arch. f. sächs. Gesch. X, 1889.
^ Ermisch a. a. 0. S. 88 ff. beginnt die Reihe der Stadtschreiber in den jetzt
:gl. sächsischen Städten mit dem Jahre 1300. W. Stein a. a. 0. S. 33 weist zwar
n bedeutenderen Städten mitunter schon im 13. Jahrh. das Amt eines Stadtschreibers
lach (Köln 1228; Braunschweig 1231; Straßburg 1233; Hildesheim 1266 usw.), doch
vird auch nach seinen Ausführungen in den meisten Städten ein Stadtschreiber erst
.eit dem 14. Jahrh. erwähnt, z. B. in Magdeburg seit 1301.
^ ürkundenb. 542 (die Urkunden bis zum Jahre 1350 zitiere ich nach der
Kummer in tierquets ürkundenbuch (ti. Ü.-B.) von Mühlhausen (Geschichtsquellen
ier Provinz Sachsen III 1874); von 1350 ab nach der laufenden Nummer im chrono-
ogischen Verzeichnis des ürkundenregisters (ü.-N.).
' H. Ü.-B. 659.
' H. Ü.-B. 795.
Afu II 27
418 Erich Kleeberg
ein Kalendarium^ der Minoriten-Brüdergemeinde aus dem Ende des
Jahrhunderts führt einen Gotfrid de Schonrer quondam scriptor civi-
tatis auf, ein sicheres Zeugnis, daß seine Tätigkeit im Dienste der Stadt
keine vorübergehende war. Seinem Namen nach gehörte er einem an-^
gesehenen Ministerialengeschlechte an, das schon in den Ratslisten *
von 1299, 1314 und 1325 ^ genannt wird.
Der Deutsch-Orden übte über die beiden Hauptkirchen der Stadt
und über die meisten Nebenkirchen das Patronat aus. Im 14. Jahr-
hundert erhob er auch Ansprüche an die Kapelle des St. Antonius-
hospitals, ganz unberechtigterweise, denn 1302 hatte der Mainzer Erz-
bischof Gerhard dem Rate das Recht verliehen, cum quoddam hospitale
aedificaverit et donaverit, einen Prister an ihm zu präsentieren.^ So
stand das Hospital in naher Beziehung und die dort angestellten Geist-
lichen in einem gewissen Abhängigkeitsverhältnisse zum Rate. Dies
muß berücksichtigt werden, wenn der nächste uns bekannte Stadt-
schreiber Rektor dieses Hospitals ist. Schon 1336 wird ein Dytmarus
Noter in dieser Stellung genannt,* und 1339 wird derselbe Dietmar in
einer Ratsurkunde ^ als noster notarius et rector hospitalis bezeichnet.
Wenn 1340 ein Dietmar die Pfarre an der städtischen Patronatskirche
in Höngeda (bei Mühlhausen) inne hat,^ so bleibt die Möglichkeit, daß
auch dieser Pfarrer mit dem Stadtschreiber identisch ist. Wichtiger ist
eine Nachricht in einer Urkunde von 1344,' die zeigt, daß Dietmar
noch im Stadtschreiberamt ist, und daß während seiner Amtszeit eine
wichtige Änderung in der Schreibstube stattgefunden hat. Er wird
unter den Zeugen bei einer Zehntenübertragung vom Abt zu Fulda an
den Rat als prothonotarius bezeichnet. Dem Stadtschreiber ist zur
Bewältigung der ausgedehnteren Geschäfte ein Hilfsschreiber zugeteilt
worden. In eben der Weise, wie ihm 1339 als Rektor des Hospitals
2 Mark jährlicher Einkünfte überwiesen wurden zur Unterhaltung eines
Scholaren als Hilfsschreiber sibi ad serviendum et ad computacionem
hospitalis memorati conscribendum, so werden wir uns auch die An-
stellung und Unterhaltung des städtischen Subnotars^ vorstellen müssen;
vielleicht verwandte Dietmar dieselbe Person auf beiden Posten.
' Heydenreich, Geschichtsbl. 6.
' H. Ü.-B. 491, 667, 798.
■ ' fi. Ü.-B. 528.
* H. Ü.-B. 884.
■^ ti. Ü.-B. 917.
* Bader, Gescliichte der Ephorie Mühlhausen; Mühlhausen 1890, S. 6.
' W. Ü.-B. 965.
^ Zum Vergleiche, sei verwiesen auf die Kanzleiverhältnisse in Bruchsal und
Straßburg etwa zur selben Zeit: Gestalt und Gelegenheit des Stadtschreiberamtes zu
Bruchsall; Stadtrecht von Bruchsal S. 907 ff. (Oberrhein. Stadtrechte, herausg. von der
Stadtschreiber und Stadtbücher in Mühlhausen i. Th. 419
Erst 20 Jahre später läßt sich aus den Urkunden ein neuer Proto-
notar namentlich feststellen. 1364 wird der Protonotar Heinrich von
ürbach als neu gewählter Pfarrer vor der Gemeinde in Sambach
proklamiert,^ doch schon im nächsten Jahre verzichtet er freiwillig auf
die Pfarre.^ Seinen städtischen Dienst kann er nicht mehr lange ver-
richtet haben, denn schon 1369 nennt ihn eine Urkunde^ unter ihren
Zeugen als Erfurter Bürger. Auch er entstammte einem angesehenen
Ministerialengeschlechte, das schon 1262 Sitz im Rate* hatte.
Diese drei Stadtschreiber, über die ein dürftiges Material Kunde
gibt, repräsentieren den ältesten Zustand des Stadtschreiberamtes. Sie
sind aus dem Stande der Weltgeistlichen hervorgegangen und haben
die Priesterweihe empfangen. Ihr städtisches Amt nimmt sie nicht
ausschließlich in Anspruch, sie können vielmehr ihren sonstigen Beruf
weiter ausüben, wie das Beispiel Dietmars erkennen läßt. Seit dem
Jahre 1374 ist der schriftliche Niederschlag der Verwaltungstätigkeit
in den städtischen Büchern, wenn zunächst auch noch sehr lücken-
haft, erhalten. Damit wird ein reicheres Material für eine Geschichte
des Stadtschreiberamtes gewonnen. Nachdem schon im Jahre 1375
ein Schreiberwechsel ^ stattgefunden hat — der Nachfolger Heinrichs
von ürbach wird seinen Dienst aufgegeben haben — , erscheint zuerst
1381 die Hand Gerhards von Göttingen. ^ Der alte Stadtschreiber
muß zwar seinem Amte noch nahe gestanden haben, denn noch
stammen einzelne Einträge aus seiner Feder. Doch lassen sich aus
dieser Tatsache keine weiteren Schlüsse ziehen, da über seine Persön-
lichkeit nichts bekannt ist. Gerhard hat seinen Dienst als Protonotar^
etwa 20 Jahre lang versehen."^ Er war Weltgeistlicher und wird in
einem Schreiben^ des Rates als Priester bezeichnet, aber von einer
Tätigkeit in seinem geistlichen Amte ist in der ganzen Zeit keine Rede.
badisch-historischen Kommission: 1. Abt. 7. Heft; Heidelb. 1906). In Straßburg wurde
das Kanzleipersonal schon 1322 durch 4 Schreiber gebildet: 1 Oberschreiber, sein
Sohn und 2 ünterschreiber (Straßburger ürkundenbuch, Straßb. 1898, IV 2, 6. Stadt-
recht Artikel 447 und 509).
' Ü.-N. 569.
"' Ü.-N. 572; in dem Zettelkatalog ist aus dem Jahre 1364 ein Protest wegen
Präsentation des Pfarrers zu Sambach verzeichnet, doch leider nach der angegebenen
Registraturnummer nicht mehr aufzufinden.
' Ü.-N. 586.
* H. Ü.-B. 165.
' Stadtpfandbuch E 8 b 1.
^ Ü.-N. 710 (9. VIII. 1400) prothonotarius Gerhard v. G. unter den Zeugen.
^ Im Kopienbuch von Zinsverschreibungen Xla, das 1402 abbricht, findet sich
seine Hand noch. Dagegen ist schon das älteste Kataster, das kurze Zeit darauf
angelegt sein muß (cf. S. 30 [430], Anm. 4) von seinem Nachfolger geschrieben.
' Kopialbuch W2, S. 280 (1397).
27*
420 Erich Kleeberg
Sein Nachfolger, ein gewisser Heinrich,^ erledigte mit seinem
ünterschreiber bis zum Jahre 1414 regelmäßig die Kanzleigeschäfte.
Wenn er im Jahre 1407 vor das geistliche Gericht geladen wurde zur
Verantwortung über ein ihm testamentarisch anbefohlenes Seelgerät,^
so spricht das für seinen geistlichen Stand. Schon 1414 trat in der
Kanzlei an seine Stelle Günther Pucker, wenn auch Heinrich noch im
selben Jahre zwei Katasterbücher anlegte. Noch eine Notiz in der
Kämmereirechnung,^ die im Frühjahre 1417 begonnen wurde, erwähnt
ihn: pro antiquo notario in pretio suo 24 uln panni de mechidi et pro
Omnibus 45 flor, quas ipse personaliter recepit. Doch wird es sich
hierbei um Auszahlung von rückständigem Sold gehandelt haben, das
beweist die unverhältnismäßige Höhe der Summe. Jedenfalls bleibt
auch in diesem Falle der alte Schreiber nach der Neubesetzung des
Amtes in einem Verhältnis zur Kanzlei.
Günther Pucker ist der erste Laie im Oberschreiberamte, zu-
gleich auch der einzige während dieses Jahrhunderts. Er war wohl
einer der vielen im Lande umherziehenden Scholaren und erwarb sich
erst durch seinen Dienst Heimatsrecht in der Stadt. Im Januar 1425
wird er Bürger.* 1427 verschaffte ihm der Rat in besonderer Aner-
kennung 'seiner Tätigkeit Aufnahme in die Kaufmannsgilde, ^ und als
er zu Beginn der dreißiger Jahre seinen Dienst aufgab, hatte er sich
einen so festen Stand in der Bürgerschaft gesichert, daß er in den
Ratsstand gewählt wurde, in dem er 1441^ als Zinsmeister und 1444'
als Kämmerer bezeugt ist.^
Nicht genau läßt es sich erkennen, wann er von seinem Amte
zurücktrat. 1417/18 erscheint zum ersten Male ein ünterschreiber in
einer selbständigen Tätigkeit. Er führte eine Verhandlung beim Göt-
tinger Rate;^ sein Name ist nicht überliefert. Vielleicht ist er identisch
* Kopialbuch W3, S. 118; 125b (1407).
' Kopialbuch W3, S. 125b (1407).
^ Kämmereirechn. 1417 Exaudi, unter pro notario.
^ Bürgerliste H 26, 2 a (1424/25) Gunthems Packer civitatis prothonotarius
effectus est civis.
^ Bürgerliste ti 26, 2a (1427) Günther Pucker habet ansam mercatorum ex dono
consulatus causa servicii sui. 1428: G. prothonotarius habet ansam mercatorum.
{ansam mercatorum comparare [Willkür A] wird in der Willkür B wiedergegeben:
eynes koufmannes innunge kouffen; Lambert S. 124/125).
* Einbandpergament der Kriegsliste Kl, la 2. Seite.
^ Kämmereirechn. 1444; noch 1445 und 1453 erwähnt ihn das Ratsbuch als
Ratsherrn X5b, S. 23 und X5a, S. 51.
' Das Geschoßregister, das 1413 angelegt wurde (auf N. 11 2), verzeichnet zum
Jahre 1433 Günthers Besitz, der demnach ein ganz ansehnlicher war. Seine Tochter
trat später in das Brückenkloster ein.
® Kopialbuch W4, S. 34b.
, Stadtschreiber und Stadtbücher in Mühlhausen i. Th. 421
'mit dem Unterschreiber Johann Molsdorf, ebenfalls einem zuge-
wanderten Laien, dessen tiand in den Kanzleibüchern etwa seit 1422
vorkommt. Seit 1428 verschwindet Günthers tiand allmählich aus dem
Stadtbuche, und ungefähr seit 1431 hat Molsdorf immer noch unter
dem Titel Unterschreiber ^ das Amt allein verwaltet.^ Nach 1438 suchte
er einen neuen Dienst und bekleidete bis 1444 das Stadtschreiberamt
im benachbarten Langensalza.^ In diesem Jahre kehrte er nach Mühl-
hausen zurück und erwarb hier mm suis heredibus das Bürgerrecht."*
Er war nicht unbegütert, denn schon 1435 hatte er vom Rate eine
Leibrente^ für 120 flor. gekauft. 1444 erwarb er sich einen Platz in
der Kaufmannsgilde^ und 1458 gehörte er wohl dem Ratsstande an,
da ihn die Geschoßregister einen Er nennen.
Molsdorfs Nachfolger im Unterschreiberamte war der Bürgerssohn "^
tiermann Kappus. Das Amt des Oberschreibers scheint erst 1441
wieder neu besetzt zu sein mit Johann Eisenhart, baccalaureus des
geistlichen Rechts und Domherr zu Naumburg. Seine tiand kommt in
den Büchern seit 1441 vor, wenn er auch erst 1442 als Oberschreiber
bezeugt ist.^ Vielleicht gehörte er einer Mühlhäuser Familie an, der
Name ist schon damals in der Stadt häufig. Als erster Kleriker mit
Universitätsbildung auf dem städtischen Posten, wahrscheinlich in der
Stadt überhaupt, ist er in diesem Zusammenhange von besonderer Be-
deutung. Beziehungen zum Rate hatte er schon früher gehabt. Als
Zeuge wohnte er 1433 einer Ratsbesprechung über einen Prokurator
der Stadt bei.^ Um Pfingsten 1436 sandte ihn der Rat als unsirn
kapplan mit einem Beglaubigungsschreiben nach Einbeck ^^ und wenig
später wegen der tiussitensteuer an den Pfarrer zu Borgstemmen.^^ So
hatte der Rat Gelegenheit gehabt, seine Fähigkeiten kennen zu lernen.
In dem neuen Amte, in dem er einen tüchtigen Unterschreiber vor-
fand, entfaltete er gleich eine ausgebreitete Tätigkeit. 1451 wurde der
^ Kopienbuch von Zinsverschreibungen F 1—4/118.
^ Günther wird zum letzten Male als Protonotar erwähnt im Sommer 1430
(Kämmereirechn.). 1432 und 1433 wird der Protonotar zwar noch aufgezählt unter
den ministri civitatis, die ein Weinpräsent erhalten (Kopialbuch W5, S. 73b; 74b),
doch ist seine Tätigkeit seit 1431 nirgends bezeugt, cf. S. 44 [444l Chr. Herold.
' Kopialbuch W5, S. 246 (1441/42); S. 292 (1443/44).
' Bürgerliste H 26, 2 a (1444).
'' cf. Anm. 1.
^ cf. Anm. 4.
' Stadtbuch X 7, S. 19 b.
' Ü.-N. 879 (16. XI. 1442).
' Kopialbuch W5, S. 92 (1433/34).
'' Kopialbuch W5, S. 124 (1436).
'' Kopialbuch W5, S. 124b (1436).
422 Erich Kleeberg
Domherr zum Dekan in Naumburg gewählt und verließ im Frühjahr 1452
Mühlhausen.'^ Doch widmete er auch noch in späteren Jahren seine
Dienste der Stadt. Als diese z. B. im Sommer 1459 in einen Prozeß
mit dem Siegeler des Grafen von Nassau Dr. Heyse über ein Lehen
auf dem Rathause verwickelt war, erbat der damalige Oberschreiber
von dem Naumburger Domherrn seinen bewährten Rat.^ Gestorben
ist er zwischen 1475 und 84; das Geschoßregister von 1475 nennt
ihn noch, während die Kämmereirechnung von 84 statt seines Namens
die Relicia domini Isenhart einfügt.
Das Amt des Protonotars wurde wieder an einen Mühlhäuser
Geistlichen vergeben, an Magister Johann Wolfhagen, in decretis
licentiatus. 1459 starb er^ und hinterließ die Kanzlei in ziemlicher
Unordnung. Für die Entwicklung des Amtes war er kaum von Be-
deutung. Von weit größerem Einfluß war die Tätigkeit des Subnotars
Hermann Kappus, der — wie schon gesagt — seit 1438 das Amt inne
hatte. Er war ein reicher Bürger* und gehörte wie sein Vorgänger
dem weltlichen Stande an. 1455 nennt ihn die Kämmereirechnung
zum letzten Male als ünterschreiber; nur aushilfsweise arbeitete er
1459 noch einmal in der städtischen Kanzlei nach dem Tode des
Protonotars.^ Sonst zeigen ihn die Quellen in anderen Zweigen der
städtischen Verwaltung tätig. 1458 und 59 ist er vom Rate dem
Antoniushospital als Provisor^ bestellt, 1462 und 64 dem Frauenkloster.'
Spätestens seit 1466 gehörte er dem Ratsstande ^ an und ist zwischen
1478 und 80 gestorben.^ Auch wird er 1472 als Mitglied der Bruder-
schaft des heiligen wahren Leichnams unseres Herrn Jesu Christi in
St. Blasii in der Altstadt bezeugt. ^^
§ 2. Entwicklung des Amtes
Als Ergebnis dieser Untersuchung^^ möchte ich folgendes betonen.
Wenn der Rat in früherer Zeit einen Weltgeistlichen zum Stadtschreiber
* Brief des Herzogs von Sachsen an die Stadt, G 11 (1451).
' Kopialbuch W 6, S. 160 (1458/59).
^ Kämmereirechnung: pro prothonotario.
* Er zahlte nach dem Geschoßregister 208 Geschoßmarken.
" Kämmereirechnung, pro protonotario.
* Stadtbuch X7, S. 98; Ü.-N. 1045.
' Stadtbuch X 7, S. 140b; Ü.-N. 1076.
' Ü.-N. 1092.
' Stadtbuch X7, S. 237b.
'° Kopien aus den Deutsch-Ordensakten J 2/3, 1, S. 71.
" Zum Vergleich ist das Verhältnis in Augsburg heranzuziehen, in welcher Stadt
ein interessantes Statut von 1362 über den Stadtschreiber berichtet. (Meyer, Stadt-
buch von Augsburg, Augsb. 1872.) cf. auch W. Stein a. a. 0.
Stadtschreiber und Stadtbücher in Mühlhausen i. Th. 423
latte, der daneben sein geistliches Amt verwalten konnte, so erforderte
etzt der Stadtschreiberposten die ganze Arbeitskraft eines Mannes.
)er geistliche Stand war wohl nicht notwendig gefordert, aber doch
jie Regel, vollends als man sich seit 1441 nach solchen Bewerbern
imsah, die mindestens den ersten akademischen Grad sich erworben
latten. Dieses wird auch der Grund dafür gewesen sein, daß die er-
probten ünterschreiber, die als Laien im praktischen Dienst empor-
stiegen, nie das Oberschreiberamt bekleideten, obgleich auch ihre
Stellung eine angesehene gewesen sein muß, wie ihr Sitz im Rate
nach ihrem Dienstaustritt beweist. Öffentliche Notariatsrechte von
kaiserlicher oder päpstlicher Gewalt besaß noch keiner dieser Schreiber;
in der Autorität des Rates lag der Rechtswert ihrer Handlungen.
Die Anstellung des Stadtnotars war eine Angelegenheit der ver-
einigten Ratskollegien, da der Dienstvertrag sich über eine Reihe von
Jahren ausdehnte; unter den vom sitzenden Rate erwählten Beamten
wird er nicht genannt. Sein Kontrakt lautete auf eine feste Anzahl
von Jahren, ohne daß — wie es scheint — der Rat feste Versprechen
über Altersversorgung und lebenslängliche Beschäftigung gab. Doch
hat er derartige ideelle Verpflichtungen nicht vernachlässigt. Pucker,
Molsdorf und Kappus, die Laienbeamten, wurden in den Rat gewählt
und erhielten so Anteil an manchen Präsenten und Zuwendungen.
Auch wurden die städtischen Schreiber, besonders soweit sie dem
geistlichen Stande angehörten, mit kirchlichen Pfründen und ähnlichen
verfügbaren Einkünften versorgt. Gerhard wurde noch in den acht-
ziger Jahren des 14. Jahrhunderts mit einem Zins am Marienaltar der
Antoniuskapelle belehnt;^ Günther Pucker erhielt Einkünfte von einem
Vikariat zu Wolkramshausen,^ ebenso der ünterschreiber Kappus von
einem Vikariat in der Johanniskapelle.^ Besondere Garantien für Un-
glücksfälle in städtischen Diensten scheint ihnen der Rat nur bei ein-
zelnen Gelegenheiten geleistet zu haben. So verspricht er seinem
Stadtschreiber Eisenhart bei einer Gesandtschaft an die geistlichen
Richter in Erfurt 1446: kome si ouch des zcu schade, deß wallen wir
si gentzliche benemen vnd wir gereden si des gutlichen schadelos zca
halden ane alle geuerde}
An den Schreibgefällen in der Kanzlei hatten sie wohl keinen
Anteil; das läßt sich schließen aus dem Statut^ der Willkür B, nach
I
' Kopialbuch Wl, S. 208, 232b; W2, S. 37, 40, 61b.
' Kopialbuch W3, S. 15 (1418).
' Kopialbuch W6, S. 91b (1447/48).
' Ratsbuch X6b, S. 25.
' Lambert S. 139.
424 Erich Kleeberg
dem die pfennynge von uffen briefen {littera recognicionis) an der stau
nutz genaue snllen. Sie scheinen dagegen schon früh einen fester
Jahressold bezogen zu haben. Zwar gibt die Willkür B darüber,
keinen bestimmten Aufschluß; das betreffende Statut^ bricht gerade
im entscheidenden Satze ab: und des schribers Ion sal also sin . . . ~
vielleicht hatten die Verfasser Interesse daran, in diesem Buche „mit
ewiger Dauer" den Lohnsatz nicht zu fixieren — , aber seit dem Jahre
1417, in dem zum ersten Male umfangreichere Ausgaberegister der
Kämmerei vorliegen, berichten diese von einer Besoldung mit Geld und
einer Tuchspende.^ Günther bezog einen jährlichen Gehalt von etwa
20 Gulden und 12 Ellen Sommertuch. Bei seinem Nachfolger Eisen-
hart ist die Tuchlieferung abgelöst durch eine Geldzahlung von
12 Schock.^ Außerdem wurde ihm sein Geschoß vergütet, er erhielt
ein freies Braulos und wie die Bürger der Stadt eine bestimmte Holz-
lieferung. Der Gehalt des ünterschreibers Molsdorf belief sich auf 6,
der seines Nachfolgers Kappus auf 12 Gulden. Von gelegentlichen
Geldgeschenken berichten die Rechnungen der Kämmerei unter propina
consulatusy doch scheinen sie noch nicht an bestimmte Tage gebunden
zu sein. Nicht unbedeutende Nebeneinnahmen konnten sie sich im
Dienste Privater verschaffen. Das Schreibmaterial für den städtischen
Verbrauch bezahlte der Rat; in der Rechnung sind halbjährlich unter
der Rubrik ad notariam die Ausgaben für Tinte, Wachs, Papier, Perga-
ment usw. gebucht.
Ein in die Willkür B, wohl auf Betreiben der Zünfte aufgenommenes
Statut^ — „Keynen gefruntheman von gesiechten sal man vortmer czu
der stad schriber neme" — zeigt, daß man schon um 1350 für die
Unparteilichkeit dieser Beamten fürchtete, ihnen also ein gewisses Maß
von Selbständigkeit ließ. Ängstlich suchte man sie, die schon in
ihrer Schreibertätigkeit von manchen geheimen Maßregeln der Rats-
regierung Kenntnis nehmen mußten, von den eigentlichen Ratssitzungen
fernzuhalten. In der Willkür B* wurde das für alle Einwohner ver-
bindliche Statut von 1311^ für den Stadtschreiber besonders wiederholt:
' Lambert S. 139. .
^ Kämmereirechnungen; pro notario seit 1417. Da es sich nicht immer mit
Bestimmtheit feststellen läßt, ob die in verschiedenen Zwischenräumen gebuchten
und mit Abgaben des Schreibers z.T. verrechneten Soldzahlungen auf den Gehalt
des laufenden Jahres zu beziehen sind, so beruhen die folgenden Angaben auf un-
gefähren Durchschnittsrechnungen.
^ 1447/48 hat 1 rhein. Gulden in Mühlhausen den Kurswert von 1 Schock
5V2 Groschen Mühlh. Geldes. Kopialbuch W6, S. 87.
* Lambert S. 139.
'" Lambert S. 102/103: Nemo ad placita siue ad interlocutorias seu ad consilia,
quando tractatus fiunt per consules cum principibus, comitibus, aduocatis uel quibus-
Stadtschreiber und Stadtbücher in Mühlhausen i. Th. 425
ind derselbe schriber, der gekorn ist, ensal bie dem . . . Rate nach bie
Ken . . . Retten nicht sitzen noch ingehen czu in, her enwerde danne
iar in geladen. Ratsprotokolle wurden zwar erst seit 1525^ geführt,
iber die baldige Ausgestaltung der Stadtbücher wird seine Teilnahme
in den Sitzungen schon in den ersten Jahren des 15. Jahrhunderts
gebräuchlich gemacht haben. Herzog Wilhelm von Sachsen, der seit
L446 mit Mühlhausen im Bunde war, bemühte sich 1451, als die Ent-
assung Eisenbarts bevorstand, einem seiner Getreuen, dem Bakka-
aureus Konrad Bornschien den städtischen Posten zu verschaffen.
Trotz seiner erst zusagenden Antwort, ^ berücksichtigte der Rat dessen
Bewerbung nicht, da er wohl mit Recht den sächsischen Einfluß auf
iines der wichtigsten Stadtämter fürchtete.
§ 3. Tätigkeit der Stadtschreiber
Wenn in Mühlhausen das Stadtschreiberamt sich aus dem Be-
lürfnis der Ratsverwaltung nach einem ständigen Schreiber entwickelt
[lat, so wird ursprünglich seine Tätigkeit bestanden haben in der An-
ertigung der vom Rate ausgehenden öffentlichen Schriftstücke, der
Urkunden, in der Sprache der Zeit „der offenen Briefe." War
iieses nur eine formale Tätigkeit, die die Kunst des Pergament-
schreibens, Beherrschung der lateinischen Sprache und des ürkunden-
Jtils voraussetzte, so bekam er bald auch Anteil an der Erledigung
kr einfachen Briefe, wobei ihm größere Selbständigkeit gelassen
A^urde. Der Stadtschreiber Gerhard hat in manchen Fällen die Korre-
spondenz ohne Beaufsichtigung durch den Rat besorgt. Dies zeigen
fcwei Briefe,^ in denen sich der Rat benachbarten Rittern gegenüber
entschuldigt, daß sie der Protonotar in dem Ratsbriefe irrtümlicherweise
m einem falschen Termin geladen hat. Ein anderes Schreiben^ be-
sveist, daß sich der Empfänger in einer städtischen Angelegenheit
direkt an den Protonotar gewandt hat. Es handelte sich hierin um
einen Streit des Rates mit der Deutsch-Ordensgeistlichkeit in Mühl-
hausen, in dem Gerhard die weiteren Verhandlungen am Hofe des
(önigs und des Mainzer Erzbischofs mit glücklichem Erfolge führte.
Urkunden des Mühlhäuser Rates sind erhalten seit dem Jahre
1262; die älteste im Mühlhäuser Archiv aufbewahrte gehört allerdings
cumque aut cuiuscumque conditionis hominibus non vocatus presumat accedere. Qui
fecerit, soluturus vnam marcam per mensem domui inponetur.
' cf. S. 475.
^ Herzogl. sächs. Briefe an Mühlhausen, G 11.
' Kopialbuch Wl, S. 122b (1386); Kopialbuch W2, S. 110b (1391).
* Kopialbuch W2, S. 216b.
426 Erich Kleeberg
erst in das Jahr 1294. Sie enthalten teils administrative Verordnungen
oder Verträge, in denen der Rat selbst als Partei auftritt, teils Aner-
kennung und Bekenntnisse über einen Vertrag anderer {Jitterae recog-
'nicionis''), in denen nicht nur Bürger und Einwohner der Stadt, sondern,
auch Geistliche und Stadtfremde, benachbarte Ritter usw. sein Zeugnis
ansprechen. Für einen solchen Rekognicionsbrief mit dem großer
Siegel der Stadt waren zwei Schillinge an Gebühren zu bezahlen, mc
die pfennynge sullen genaue an der stad nutz}
Das Streben nach möglichster Vereinfachung des formalen Teih
tritt in den lateinischen Urkunden zutage. In unserem Zusammenhang(
ist die Entwicklung der Rekognicionsurkunde, der Notitia, von Wich-
tigkeit. Seit dem Jahre 1268 sind einige Stücke erhalten, in dener
der Rat auf Forderung der Parteien einen Privatvertrag meist übe
liegendes Gut anerkennt. Die ältesten sind für kirchliche Gemein
Schäften ausgestellt, die am frühesten auf ein schriftliches Zeugni:
Wert legten; seit 1296 wurden auch Verträge unter Bürgern vom Rat(
beurkundet. Nur wenige Beispiele sind erhalten, doch möchte man ii
ihnen eine Entwicklung von einer gelegentlichen Beglaubigung zu meh
geschäftlicher Form erkennen. Die ältesten Urkunden zeigen noch der
weitläufigen Stü in Text und Formeln, z. B. eine breitere Arenga:- Cun
res gesta litteris commendatur, universe calumpnie materia pervenitu
nee prestatur litis occasio successori; seit ca. 1280 sind sie in de
knappen Form verfaßt: Mos (2) niagistri consulum una cum (oder et
folgt eine Anzahl Ratsherren namentlich, ac aliis nostris sociis con
Sülibüs Mülhüsensibüs recognoscimus in his scriptis ad universorun
noticiam . . . (profitemur . . .) quod constituti in nostra presencia {coran
nobis) probaverunt modo testificationis folgt eine kurze Angabe de:
Rechtssache . . . huius testificationis testes sumus (in testimonium huiiis
dantes super ea hanc litteram nostre civitatis sigillo consignatam;
Datum (Jahr- und Monatsdatum). Seltener wird die Urkunde mit eine
verbalen Invokation und ebenso selten mit einer Verfügung für ewig
Zeiten begonnen {in nomine domini, amen; ad perpetuam rei geste nie
moriam).
Zur Beglaubigung wurde an die umfangreichen Pergamentbogei
das große Stadtsiegel befestigt. Es ist ein meist grauer Wachs
abdruck, mit einem Pergamentstreifen befestigt, und zeigt das Bild de
Königs in der Umschrift „Sigillum Mulenhusensis civitatis Inperiü' Sei
Lambert S. 139; S. 140: Item nulli consules de cetero dare debent literas n
cognicionis super aliqua pecunia seu debito aliquali sab sigillo ciuitatis, nisi i
causis vniversitatem ciuitatis tangentibus , saluo tarnen quod litere alle super uend
cionibus et empcionibus ac aliis causis hactenus consuetis bene dari possunt.
' H. Ü.-B. 196 (1269).
1
Stadtschreiber und Stadtbücher in Mühlhausen i. Th. 427
,em 16. Jahrhundert wurde ein neues großes Siegel mit dem Bilde
'es Reichsadlers gebraucht. Das große Siegel war den Ratsmeistern
nd Kämmerern zugänglich, doch durfte die Siegelung nur vorgenommen
/erden, nachdem die Urkunde vor den 4 Räten verlesen war, und
ie beiden Ratsmeister mit Zustimmung der Räte dem Stadtschreiber
en Befehl dazu gegeben hatten: Ouch ensollen die ratißmeistere, noch
lie kemmerere der Stadt grosse ingesigell an keynen brieff hengenn
\bir zcinsse, noch vor gelt, noch nyniande vor keyne stucke; man habe
* \anne den brieff gelessin in vier retthen, und das es die ratißmeistere
\eissen von der retthe wegenn; . . . und were is das sie dyet nicht
nhylden, so solde es an den andern drehen retthen (gegen den sitzenden
(at) stehen, was sie on der umb teylenn wollenn uff ore eyde}
ll Ein leichter handliches Geschäftssiegel war das auf städtischen
'i^riefen und nicht feierlichen Bekenntnisschreiben verwendete Sekret-
,iegel. Sein Abdruck auf meistenteils rotem Siegelwachs diente zur
jkglaubigung oder als Verschluß. Es ist das kleinere Vorbild für das
ifepätere große Reichsadlersiegel: um den Reichsadler, unter dessen
beiden Fittichen das Zeichen der Stadt, je eine Mühlhaue, etwas zur
Seite geneigt, steht, findet sich die Umschrift: Sigillum Civitatis Mulhu-
\ensis imperii. Die Kämmereirechnung 1419 (p. Mart.) berichtet von
i einer Ausgabe von 9 gr. pro reparatore secreti et cathenae. Das er-
leuerte Siegel zeigt dieselbe Form, nur ist der Adler feiner gearbeitet,
and in der Umschrift sind die beiden Worte Civitatis und Mulhusensis
initeinander vertauscht. In späterer Zeit wurde es Brauch, den Wachs-
ibdruck zu schützen durch eine meist viereckige Papieroblate, auf
iinen Pergamentstreifen geklebt, der das Wachs überspannte und durch
zwei Schlitze mit dem darunter liegenden Bogen verbunden war. Im
16. Jahrhundert hatten die Oberschreiber das Sekret in Verwahrung,
doch durften nur die Bürgermeister die Besiegelung vornehmen.'^
In der Korrespondenz fand das Pergament in verschiedenem
Format noch bis tief in das 16. Jahrhundert hinein häufige Verwen-
dung. Solche Blätter sind seit den 80 er Jahren des 14. Jahrhunderts
meist in deutscher Sprache erhalten,^ im Mühlhäuser Archiv natürlich
nur sehr wenige. Die Schreiben . werden eröffnet durch eine knappe
^ Geschichtsbl. 9 S. 25: Das Statut ist vielleicht 1406 erlassen worden, veranlaßt
durch Siegelmißbrauch eines Ratsherrn. Im 16. Jahrhundert wurde in dem Rezeß
von 1523 (Einungsvertrag zwischen Rat und Bürgerschaft) bestimmt: Zum großen
Stadtsiegel hat der sitzende Rat einen Schlüssel, doch darf die Besiegelung nur vor
dem großen Rate vorgenommen werden. (Jordan, Chronik I, S. 172).
' Schreiberbestallungen ti. 6, la (1539); Syndikatsbestellungen H.6. 2, 1—4, S.20.
^ Ich habe im Göttinger Archive aus den bezeichneten Jahren einige Briefe
gesehen.
I
428 Erich Kleeberg
Grußformel: ünsern gmß (dinst) zuvorn. Es folgt in gedrängtem S
der sachliche Inhalt. Eine Datierung auf den Wochentag ist die Regi
während die Angabe des Jahres oft in unbedeutenden Mitteilungc
fehlt. Die Unterschrift ist bis etwa 1400 lateinisch gehalten {Consui
Mulhusenses) und lautet seit dem 15. Jahrhundert: Der Rad a
Molhusen; der Brief, die Unterschrift und die auf der Rückseite g
schriebene Adresse sind von einer fiand, von der Hand des Obe
oder ünterschreibers gewöhnlich.
Mit welcher Sorgfalt die Schreiber die Korrespondenz zu fühn
hatten, erhellt aus der Tatsache, daß die in Ratsangelegenheite
ausgehenden Briefe und Urkunden^ in die hierzu angelegten Kopiai
buch er abgeschrieben werden mußten. Diesen Sinn für Ordnung ur
eine zweckmäßige Registratur bekundete der Rat auch in anderer Weij
schon früh. Ein Statut^ in der Willkür A fordert: Omnes litterae
cognicionis et privilegiomm erunt ammodo registrandae. Diese B
Stimmung ist in B nicht wiederholt, man hat später auf eine syst
matische Aufbewahrung der Originale weniger Wert gelegt als auf ih
Abschriften, die in den Ratsbüchern ^ eine bequeme Übersicht gewährte
Die Originale wurden ohne Ordnung im Archive niedergelegt, wer
auch gelegentlich einmal von einer Durchsicht und von einer Erneuerui
eines beschädigten Siegels die Rede ist.*
Die städtischen Kanzleibücher und Register wurden verwahrt vo
Oberschreiber und von ihm und dem Unterschreiber regelmäßig g
führt, wenigstens findet sich die Hand des Subnotars in ihnen S€
etwa 1422 in gleichem Umfange wie die seines Vorgesetzten. Nur i
Ausnahmefällen hat man sich anderer Schreiber bedient. Im Winte
halbjahre 1417/18 verzeichnet die Kämmereirechnung unter Pro notar^
die Ausgabe von einigen Groschen an zwei Bürger ad copiandas quasda,
impedciones et responsiones in registro. Solche aushilfsweise Beschä
tigung^ läßt sich nach der Handschrift auch in anderen Jahren nacl
* Über Kopien von „Stadt-" u. „Gerichtsbriefen" cf. §§ 4u. 5, S. 38 [438]; 42 [442
^ Lambert S. 128.
' Über Ratsbücher cf. § 4 S. 36 [436] ff.
* Kopialbuch W5, S.56 (1430/31). Von der Registratur handle ich im Zusamme
hange Kap. II, §5, S. 476f.
■' Lehrreich ist ein Vergleich mit dem Zustand in Straßburg, dessen Stadtrec
von 1322 (Straßburger ürkundenb. IV 2, 6, Stadtrecht Art. 447 § 2) bestimmt: de
SU (die Stadtschreiber) das alles, was die statt angot, selbs schriben sollent; . .
wers aber das es sich fugen wurde, das man vil geschrifft zu eim stutze habt
muste und der stett ober- oder die ander schriber semliche geschriffte nit in zyt g
schriben kundent oder möchtent, erkennen dan die rete oder die dritzehen, die ubn
der statt kriege gesetzt sint, oder der mererteil under in, das man soliche geschrif
usser der cantzelige zu schriben geben sol, so mag es her Jeger (Oberstadtschreibe
Stadtschreiber und Stadtbücher in /V\ühlhausen i. Th. 429
eisen. Im allgemeinen pflegte man mit großer Ängstlichkeit den
ihalt der Bücher geheim zu halten. Verlangte ein Fremder einen in
inen verzeichneten Fall kennen zu lernen, so wurde ihm entweder
ne durch Siegel beglaubigte Abschrift zugestellt, oder er konnte sich
ert Eintrag vor versammeltem Rate vom Stadtschreiber lesen lassen.
IDie Verrechnung der städtischen Einnahmen und Ausgaben war
i weitem Umfange der Kämmerei ^ übergeben. Den ausgedehnten
:hriftlichen Apparat, den die Finanzverwaltung nötig machte, besorgte
ZV Oberschreiber allein. Die Zentralisation der Finanzverwaltung wurde
m die Wende des 14. Jahrhunderts durchgeführt, und erst seit dieser
isit liegt schriftliches Material aus der Kämmerei vor, das seine Tätig-
sit beurteilen läßt.
Er führte allein ohne fremde Unterstützung die Kämmereirech-
ung.2 Jeder Band war für die Einträge eines Halbjahres bestimmt
nd mit Überschriften für die einzelnen, im allgemeinen festen Ru-
riken versehen. Für die Genauigkeit der Buchführung spricht, daß
ei Auszahlungen auch die Überbringer des Geldes verzeichnet wurden,
enn nicht der Empfänger persönlich in der Kämmerei erschien,
amen in des Protonotars Abwesenheit Geschäfte vor, so wurden sie
uf Zetteln vermerkt und von ihm nachgetragen. Daß die Bücher nicht
rst vor Kassenabschluß in einem Zuge zusammengeschrieben wurden,
weist die detaillierte Anlage und besonders das Beispiel des Halb-
ihres 1459 auf 60. In diesem Winter war der Protonotar Wolfhagen
estorben, und erst im folgenden Frühjahr trat sein Nachfolger ins
mt ein. Die Rechnung zeigt deutlich in vielen Rubriken den Wechsel
er Schreiberhand — der Protonotar hatte bis zu seinem Tode die
inträge mit den Geschäften gleichzeitig besorgt.
Bei der Führung dieser Bücher muß dem Stadtschreiber große
elbständigkeit gewährt worden sein, denn eine genaue Kontrolle war
icht vorhanden. Die Nachrechnung scheint sich auf die Summierung
er Hauptposten beschränkt zu haben, denn häufig enthalten die bei
Ien Rubriken oder am Schluß jeder Seite angegebenen Summen, die
1 der Gesamtsumme verrechnet wurden, Fehler und stimmen nicht
lit den Einzelbelegen zusammen. Hätte sich die Prüfung bis auf die
inzelposten erstreckt, so müßte man die Irrtümer bemerkt und ver-
essert haben. Bei der Art der mittelalterlichen Rechnungsführung,
lie vielfach konsequenter kaufmännischer Buchführung entbehrte, läßt
H'o/ tun; doch was solich schriben costet, do sol her Jeger den halben lone douon
f [eben ze schriben und die andern drige schriber das ander halp, und sol die statt
\ es keinen costen haben.
' cf. S. 5 [405].
^ cf. Anhang B. I b— d.
430 Erich Kleeberg
sich der Zustand erklären, ohne daß man betrügerische Absichten ar
nimmt. -^ Die Tatsache jedoch beweist, daß der Protonotar bei dei
Eintrag der Einzelposten und bei ihrer Summierung selbständig verfuh
Bei den eigentlichen Kassengeschäften wurde er mitunter de
Kämmerern gleichgestellt. Das zeigt ein Rentenbrief ^ des Rates,
dem der Stifter eines Jahreszinses dem Stadtschreiber und den Kän
merern zu gleichen Teilen ein Legat aussetzte, um die pünktlich
Zinszahlung an die Stiftung zu unterstützen. Die halbjährlichen Rente
wurden nach einer festen Ordnung der Empfänger eingetragen: Geisi
liehe und Laien in der Stadt, Bewohner der Städte und Dörfer, ßj
der Auszahlung ist der Stadtschreiber in dieser Zeit oft noch in Ar
Spruch genommen, indem er eine bestimmte Gruppe von Zinsen, b(i
sonders nach Erfurt, selber zu überbringen pflegte. Günther ist häufi
auch beim Rückkauf wiederkäuflicher Zinsen beschäftigt.
Die Summe des Geschosses, der direkten Steuern von allet
Hab und Gut in dem Stadtgebiete, ist zwar in dem Einnahmeregistei
verzeichnet, doch erforderte ihre Erhebung eigene Bücher. Sie wurd
vorgenommen nach der Selbsteinschätzung der Bürger; jeder Pflichtig
hatte in der Kämmerei zu erscheinen und den umfang seines Steuer
baren Vermögens anzugeben. Der Stadtschreiber trägt die Anzahl de
als Geschoß zu zahlenden Marken in das Register^ hinter de.
Namen der schon vorher nach Straßen aufgenommenen Bürger eir
An den beiden Steuerterminen des Jahres wurde in das gleiche Buc,
der Vermerk über Zahlung oder Nichtzahlung gemacht. Rückständige
Geschoß wurde in dem Kämmerei-Einnahmeregister als retardata bom
aufgeführt.
um die Steuerzahlung der Bürger kontrollieren zu können, stelltJ
der Stadtschreiber von Zeit zu Zeit mit Hilfe der Kämmerer und am
derer Vertrauensleute Katasterverzeichnisse, libri hereditarii^ (Erb
Der ältere Stephan (Registrator), dem wir einen handschriftlichen Auszug ^
den Rechnungen bis 1525 verdanken, schließt auf Betrug des Protonotars. Derartig
Fehler kommen so häufig vor, daß dann alle Stadtschreiber betrogen haben müßten^
Ein Beispiel möge genügen: 1445 Mart. Rubrik Notariat und Schreiber: Gesamtsumme
26 Schock 47 gr. korrigiert aus 36 Schock 47 gr., es sind aber wirklich 40 Schoc
-ausgegeben, der Protonotar erhielt allein 24 Schock.
' Rentenbuch E 8c 3, S. 6.
^ cf. Anhang B II, b.
cf. Anhang B II, b. Das älteste Kataster wurde angelegt kurz nach der
Jahre 1402. Es ist schon von Heinrich geschrieben und trägt die Überschrift: da.
ist das eldiste. Die Überschrift auf dem Pergamentumschlag mag geschrieben s(kt
als das zweite uns erhaltene Register von 1407 von derselben Hand, jedenfalls vo
1413 mit der Aufschrift: daz ist das nuweste versehen wurde. Eine Aufnahme de
Bürger und Vorstädter nach Straßen, der Bauern nach ihren Dörfern füllt gewöhn
lieh drei, später auch vier Bände aus.
I
Stadtschreiber und Stadtbücher in Mühlhausen i. Th, 431
licher) genannt, auf über den steuerbaren Besitz der Bürger und
'\itwohner an Grund und Boden in- und außerlialb der Stadtmauern,
n barem Gelde, Zinsbriefen und steuerpflichtigen Rechten. Dem Stadt-
chreiber wurde wie den übrigen Schoßeinnehmern bei Strafe der Amts-
ntsetzung strengste Verschwiegenheit über die Höhe der Steuern zur
•flicht gemacht;^ aus dem Schoßbuche durfte Privaten keine Auskunft
rteilt werden. Als 1432 ein Untertan des Grafen von Hohenstein den
'at nach dem Besitz eines Bürgers fragte, wurde dem Vierräte-Kolle-
jum die Frage vorgelegt, ob es dem Fremden in diesem besonderen
"alle erlaubt sein solle, das Schoßregister einzusehen. -
Der Oberschreiber erledigte die ganze Schreibarbeit der Kämmerei
illein. Das Präsent, das der Rat in sinnreicher Anerkennung dieser
Aühe und Arbeit Sonnabend nach der Rechnung in Gestalt von
; Stobich win in die Schreibkammer schickte,^ war demnach wohl ver-
lient. Daß der Stadtschreiber durch seinen Dienst in der Kämmerei
/ährend der Hauptarbeitszeit vollständig in Anspruch genommen war,
)eweist ein Brief des Rates vom Frühjahr 1407. Der Stadtschreiber
ieinrich war vor das geistliche Gericht in Heiligenstadt geladen,
jioch bat der Rat für ihn um einen anderen Termin, da er in der ;Zeit
|er Schoßerhebung unentbehrlich wäre."* Ohne Bedeutung ist es, daß
lie Hand des ünterschreibers auf zwei Rechnungsblättern des 14. Jahr-
hunderts vorkommt, da die ältesten Einnahmeregister nur kurze Rein-
'chriften der Hauptposten auf Pergamentkarten ^ sind.
Alljährlich hatten die Zinsmeister ihre Einnahmen der Kämmerei
u übergeben. Auf einem Pergamentblatt, das wenige Jahre später als
:inband für ein Verzeichnis der Kriegspflichtigen aus Stadt und
Dörfern ^ verwandt wurde, sind uns noch kurze Abrechnungen aus den
ahren 1439 — 42 erhalten in der Form: Magistri censuum N. N. pun-
avemnt camerariis ... An größeren Verzeichnissen liegt aus unserer
!eit nur ein 1456 begonnenes Register' der dem Rate zustehenden
Winsen und Naturalabgaben vor, in dem ich die Hand des ünter-
chreibers der Jahre 1464—70 erkennen möchte. Es ist leicht möglich,
laß sich die Zinsherren bei dieser Aufstellung eines Schreibers be-
lienten, der sich bewährte und deshalb später im Unterschreiberamt
' Willkür C, Geschichtsbl. 9, S. 26.
' Kopialbuch W 5, S. 60.
^ Rechnung vom Sommer 1419: unter propina consulatus und die weiteren
ropinaspenden des Rates; später wurde die des Kämmerers in Geld abgelöst.
* Kopialbuch W3 S. 125 b (1407).
•' cf. Anhang B I a.
•^ K 1, 1 a, cf. Anhang A V 4.
' cf. Anhang B III 1.
432 Erich Kleeberg
Anstellung fand. Das Verzeichnis ist noch bis ins 16. Jahrhundert
fortgeführt worden. Nachträge vbji der Hand des Subnotars im aus-
gehenden 15. Jahrhundert beweisen, daß die städtischen Schreiber auch
mit der Zinsmeisterei Fühlung hatten.
Wieweit die einzelnen Schreiber an der Entwicklung des Bücher-
wesens beteiligt gewesen sind, läßt sich nicht immer sagen, denn
öfters zeigen die ältesten erhaltenen Bücher eine so entwickelte Form
daß man sie nicht als den Anfang einer Reihe betrachten möchte.
Auf Gerhard mögen die Kopialbücher und das Kopienbuch der Renten-
briefe zurückgehen. Heinrich hat das erste Erbebuch angelegt; Günther
hat die Kämmereirechnungen ausführlicher gestaltet, das Zinsregister
von 1414^ und die Geschoßbücher ins Leben gerufen. Unter Eisenhart
zeigt das Bücherwesen im 15. Jahrhundert die vollkommenste Form.^
Schon dadurch, daß sich die Stadtschreiber die Formen ihrer Be-
tätigung selber schaffen mußten, erhoben sie sich über den subalternen
Schreiberstand und erwarben sich um die Organisation der Verwaltung
ein bleibendes Verdienst. Ihre höhere Bildung — waren sie doch seit
Eisenhart wahrscheinlich die einzigen Vertreter des akademischen
Standes unter den Bürgern — , ihre Geschäftserfahrung und Geschäfts-
kenntnis machten sie dem alljährlich wechselnden Rate zu einem
einflußreichen Berater. Das beweist ihre steigende Wertschätzung: In
wichtigen Ratsurkunden werden sie als Zeugen genannt; auf ihre Aus-
sage hin werden Verträge anderer in das Stadtbuch aufgenommen;
seit der Amtszeit Kappus werden auch ünterschreiber vom Rate be-
auftragt, Entscheidungen über bürgerliche Streitsachen vorzunehmen.^
Und daß die Stadtschreiber zuweilen selbständig die Interessen des
Rates und der städtischen Politik vertreten mußten, zeigt ihre Ver-
wendung auf Gesandtschaften.
Der Verkehr des Rates mit auswärtigen Personen wurde, soweit
er sich brieflich abspielte, besorgt durch nuntii, der stad gesworne boten,
die keine Privatmeldungen besorgen durften: Ouch sollen der stad ge-
sworne boten deheyne brieffe tragen denn der stad brieffe, ez enhyeßen
sie denn die orlogismeystere.^ Zur Überbringung geheimer Botschaften,
die aus irgendwelchem Grunde dem Papiere nicht anvertraut werden
konnten, oder die mündliche Verhandlungen nötig machten, wurden
Vertreter des Ratsstandes oder andere Vertrauensleute gesandt. Be-
sonders oft wurden in früherer Zeit niedere Geistliche, die zum Rate
irgendwelche Beziehungen hatten, in solchen Diensten verwandt; sie
Die Kanzleibücher im engeren Sinne werden im § 4 im Zusammenhange
behandelt.
' Stadtbuch X. 7, S. 41 (1454).
' Willkür B; Statut von 1396: Lambert S. 162.
Stadtschreiber und Stadtbücher in /VVühlhausen i. Th. 433
reisten billiger und weniger gefährdet^ als die Ratsherren. So findet
sich wiederholt die Nachricht, daß der Rat oder die Räte unsirer stad
kaplan mit Vollmacht ausschicken an die Gemeinden und Herren der
Umgegend, an ein geistliches und weltliches Gericht; 1389 wurde der
kyndemeister der schule der Nuwestad Härtung an das geistliche Ge-
richt gesandt, um dort einige vorgeladene Bürger zu vertreten.^ 1436
haben wir schon den späteren Stadtschreiber, den damaligen Kaplan
Meister Eisenhart auf solchen Missionen gefunden.^
Mit der wachsenden Bedeutung des Stadtschreibers wurde dieser
für die Verhandlungen über mancherlei Fragen die geeignetste Person.
Gerhard hielt sich 1398 längere Zeit am königlichen und kurfürstlich-
mainzischen Hofe auf, um die Unterstützung der weltlichen und geist-
lichen Obrigkeit in einem Prozeß, den ein Teil der Geistlichen gegen
die Stadt angestrengt und bereits an die Kurie gebracht hatte, an-
zurufen.* Die Kämmereirechnungen berichten unter der Rubrik ad
placita oft von Ausgaben des Stadtschreibers auf Gesandtschaften.
Von seinen Reisen in Zinsgeschäften war schon die Rede. Im Früh-
jahr 1430 nahm Günther Pucker an einer Gesandtschaft nach Naum-
burg zur Besprechung über die Verteidigung der Thüringer Lande
gegen die drohenden Hussiteneinfälle teil. Sein Nachfolger Magister
Eisenhart vertrat den Rat als Sindicus und Procurator in einem Prozeß,
der ihm am kaiserlichen Gericht über seine unbefugte Judenbesteuerung
anhängig gemacht war, und wohnte in Erfurt Verhandlungen in dieser
Sache mit dem kaiserlichen Rate Kappil und Bevollmächtigten des
Thüringer Landgrafen bei.^ 1446 erwirkte er von den geistlichen
Richtern in. Erfurt das Recht für den Rat, einen Ersatzpriester und
Pfarrverweser an der Blasiikirche vorschlagen^ zu dürfen, da der
Deutsch-Ordenskonvent an dieser Kirche mit dem Banne belegt war,
und seine Geistlichen ihren seelsorgerischen Pflichten nicht nachkommen
konnten. 1448 finden wir ihn in derselben Angelegenheit als einen
Ratsbevollmächtigten beim Mainzer Erzbischof.^ Als Gesandter an den
Abt von Fulda stellte er 1443 den umfang eines Fuldaischen Lehens
fest und empfing in den Jahren 1448 und 50 über diesen Lehnsbesitz
des Rates den Lehnsbrief.®
' Kopialbuch W 3, S. 400 b (1414/15).
' Kopialbuch W 2, S. 20.
' cf. S. 21 [421]. ~ .
* Kopialbuch W 3, S. 298; 302.
' Ü.-N. 879 (16. XI. 1442).
' Kopialbuch W 6, S. 8b; Stadtbuch X 6b, S. 23.
' Kopialbuch W 6, S. 76: 88 b.
^ Kopialbuch W 5, S. 259; Kämmereirechn. MOP: 1442 Mart. Kopialbuch W 6,
S. 90. Ü.-N. 925 (31. 111. 1450).
434 Erich Kleeberg
§ 4. Entwicklung der Kanzleibüeher
Die Bereclitigung, die in diesem Kapitel behandelte Periode als
eine einheitliche Epoche in der Geschichte des Stadtschreiberamtes
aufzufassen, zeigt sich auch darin, daß in diesen Jahren die Entwick-
lung des städtischen Bücherwesens sich vollzogen hat. Etwa mit dem
Jahre 1456 hat die Kanzlei für die zweite Hälfte des Jahrhunderts
ihre feste Form gewonnen, unmittelbar nachdem ihr Eisenhart für das
Mittelalter ihre reichste Ausgestaltung gegeben hatte. Die einge-
schlagenen Richtungen werden weitergeführt, aber in allen Zweigen
zeigt sich Nachlässigkeit und Verwirrung, trotzdem sich das Kanzlei-
personal erweiterte.
Wenn ich im folgenden den Versuch mache, ein Bild zu geben
von der Entwicklung der Kanzleibücher im engeren Sinne,^ so er-
wachsen die tiauptschwierigkeiten aus der schlechten Überlieferung der
älteren Zeit. 1367 wurden die Bestände der Kanzlei durch eine Feuers-
brunst vernichtet;^ erhalten haben sich nur Urkunden, das älteste
Ratsgesetz von ca. 1250 und die schon mehrfach zitierten Kodifikationen
der Willkür. Diese für die rechtliche Stellung des Rates und der Stadt
wichtigen Stücke mögen gesondert von den im täglichen Geschäfts-
verkehr gebrauchten Kanzleiregistern aufbewahrt worden sein. Auch
aus der späteren Zeit fehlen noch manche Bücher, deren Spuren mit
Sicherheit erschlossen werden können.
Fehden und Zänkereien mit benachbarten Herren abzuwehren durch
Verhandlungen und auch mit gewappneter Hand, das waren noch im
14. Jahrhundert Ereignisse, die die Bewohner des kleinen Territoriums
oft in Aufregung versetzten und dem Rat mannigfache Geschäfte auf-
erlegten. Unter diesem Gesichtspunkt muß das Statut in A verstanden
werden, das um 1330^ erlassen wurde und vielleicht unter dem ersten
oder zweiten Nachfolger des Stadtschreibers Gottfried von Schönstedt
die ersten Aufzeichnungen in Kanzleibücher anordnete: Item omnes
consüles pro tempore constituti duos debent constituere ex eis ad ordi-
^ Die Büciier der Kämmerei und des Schultheißengerichts sind behandelt
S. 29 [429] ff. und S. 42 [442].
^ Kanzleinotiz des 17. Jahrhunderts: Bei einem Brande in vigilia Andreae 1367
ist ein großer Teil der alten Kanzleibücher und was dahin gehörig umgekommen.
Zum Beweise wird auf eine Notiz auf der ersten Seite eines leider nicht mehr auf-
findbaren über antiquus civitatis, civium, consulum et ansarum verwiesen (cf. f. 41
[441]\ Die Nachricht wird bestätigt durch eine Nachricht der ältesten Mühlhäuser
Chronik (ediert von Jordan Bd. I und II der Mühlhäuser Chronik) in demselben Jahre.
' Lambert S. 124/125; genauer läßt sich das Statut nicht datieren; es stammt
von einer Hand, ^ie der tierausgeber als dritte Zusatzhand bezeichnet.
Stadtschreiber und Stadtbücher in Mühlhausen i. Th. 435
nandum, quod conscribantur dampna ciuitati et ciüibus aut incolis
qüibuscumque irrogata per quoscunque. Ordinatur similiter, quod
qualiter et quomodo a placitis super dampnis quorumcunque receditur,
conscribatur. Nach der Übersetzung in B soll beschrieben werden,
waz schaden . . . Burgern odir niitenwonern wyderferet vnd von wenie
und wu vnd welche wys man von den tagen scheyde, die man heldet
vmb schaden, die der stad odir im bürgeren widerfaren ist. Die
Forderung, die in dem ersten Teile ausgesprochen wird, deckt sich
mit dem Inhalte einer Göttinger über dampnorum civibus illatorum,
in dem nach der Beschreibung Wagners^ „die Schäden verzeichnet
stehen, die den Bürgern in den Jahren 1331—41 von Fürsten und
Adeligen zugefügt wurden; es handelt sich dabei um weggetriebenes
Vieh, besonders Schafe, um mit Beschlag belegte Tücher usw.; auch
eine Liste der vom Rate ausgewiesenen Personen fehlt nicht." Ähnlich
werden wir uns den Inhalt des Mühlhäuser Dampnahuches vorzustellen
haben, nur sollten daneben auch die Sühnen und Bußen, die der Rat
auf den „Tagen" mit den gewalttätigen benachbarten Herren forderte,
verzeichnet werden. Bei den vielseitigen Beziehungen zwischen den
beiden Städten bleibt die Vermutung, daß die Anlegung der Bücher
auf gegenseitige Beeinflussung zurückzuführen ist. Welcher Teil den
Anstoß dazu gegeben hat, läßt sich nicht sagen, denn das Mühlhäuser
Statut ist nicht genau zu datieren, und das Buch nicht mehr erhalten.
Wahrscheinlich wurde es durch den Kanzleibrand zerstört; anzunehmen,
daß man der Verordnung nicht Folge geleistet hat, liegt kein Grund
vor, zumal die Willkür B in derselben Form das Statut wieder auf-
nimmt, das bestimmte: alle iar sal der . . . rad czwene uz en setzen,
die schicke sullin, das beschriben werde ... Die Einträge wird der
Stadtschreiber besorgt haben auf Anordnung {ad ordinandum) der beiden
Ratsherren.
Der Rat, eine autonome Behörde, hatte im 14. Jahrhundert seine
Herrschaft^ über die Stadt befestigt; er beanspruchte die volle Gerichts-
hoheit über die Bürger und Einwohner. Seine vornehmste Aufgabe
bestand darin, Frieden und Ordnung in seinem Gebiet zu wahren.
Seit dem Anfang des 15. Jahrhunderts nahm er für sich das Recht
in Anspruch, bei sämtlichen Klagesachen eine gütliche Scheidung zu
versuchen, ehe sie dem Schultheißengerichte zum rechtlichen Austrag
übergeben wurden. Seine administrative Selbständigkeit zeigt sich,
wenn die Akte der freiwilligen Gerichtsbarkeit: Eigentums- und Besitz-
^ Wagner, Aus dem Stadtarchiv zu Göttingen (Verein f. d. Gesch. Göttingens
III. W. 4, S. 88).
'' cf. Einleitung, S. 12 [412] ff.
28*
436 Erich Kleeberg
änderungen an liegendem Gut nur vor seinem Forum vorgenommer
werden durften.
Es ist anzunehmen, daß der weitere Ausbau der Kanzlei schor
vor dem verhängnisvollen Jahre 1367 begonnen hat, verfolgen läßt ei
sich an dem erhaltenen Material erst von 1371 an, und zwar nach
den beiden Richtungen als Bücher, die Akte der Ratsverwaltung ent-
halten, und Bücher privatrechtlichen Inhalts; sie seien hier kurz als
„Rats-" und „Stadtbücher" ^ unterschieden.
Die einfachste Form, die für die Ratsregierung wichtigen Akter,
in leicht zugänglicher Weise zu ordnen, bestand darin, daß die aus-
gestellten und empfangenen Briefe und Bekenntnisse in einem Buche
abschriftlich vereinigt wurden. Das älteste Fragment eines solchen
Ratsbuches^ ist im Mühlhäuser Archiv vom Jahre 1371/72 erhalten.
Rentenverschreibungen des Rates, Bündnisse mit benachbarten tierren
und Städten, Schutzbriefe, Urfehden- und Sühneverträge bilden seinen
Inhalt. Das Buch diente vor allem dazu, die Einsicht in die Originale
zu ersparen.
Im 15. Jahrhundert wird der Inhalt des Ratsbuches ^ vielseitiger.
Jetzt werden hier auch verzeichnet die verschiedenen Fälle aus der
inneren Verwaltung, deren Kenntnis notwendig wurde für die Folgezeit.
Neben der Kopie von Originalbriefen wird eine kurze protokollarische
Form häufiger. Es ist eine bunte Folge von Materien, die nur
zusammengehalten werden durch die eine Regierungstätigkeit des
Rates. Geburts-, Geleits-, Bürgerbriefe finden sich neben Eintragungen
über Zahlung des Geschosses und Judengedinges; Bestellungen der
Stadtdiener neben Pachtverträgen, Abrechnungen über Zinsen und
Gefälle. Kopien von Privilegienbriefen und anderen wichtigen Doku-
menten wurden hier eingezeichnet, auch verirrten sich hinein neben
Entscheidungen des Rates Verordnungen von mehr statutarischem Cha-
rakter, die gewöhnlich in der Willkür ihren Platz fanden. Seit Günther
Puckers Tätigkeit ist der Inhalt des Ratsbuches so vielseitig geworden,
daß es den Vorläufer der erst 100 Jahre später aufgekommenen Rats-
protokolle* bildet. Eisenhart schuf 1441 eine wichtige Neuerung, indem
er die angeschwollene Masse der Einträge auf drei nebeneinander
laufende Bücher verteilte. In dem einen ^ vereinigte er die Kopien
wichtiger Briefe an den Rat, in einen zweiten Band^ wurden die ür-
* cf. Anhang S. 479.
' X 1 b, cf. Anhang A IV. a.
' X Ic; X Id; X le; X 2; X 4; X 5.
* cf. Kap. 11, § 5, S. 475.
' X 6 I, 1. Teil.
* Gegen T 1 (1441— 1502).
Stadtschreiber und Stadtbücher in Mühlhausen i. Jh. 437
fehdeverträge verzeichnet, und in dem dritten Buche/ dem er den
Titel stipendiarii gab, nehmen zunächst die Verträge mit den städti-
schen Dienern einen breiten Raum ein, doch bekam es bald wieder
dienselben Mischcharakter wie das alte Ratsbuch.
Mit dem Jahre 1456 wird die Führung dieser Ratsbücher sehr
nachlässig, ihr Inhalt dürftig; und 1459 hören sie vollständig auf. Da
in diesen Jahren auch die übrigen Reihen von Kanzleibüchern manche
Unregelmäßigkeiten zeigen, so kann man wohl die mangelhafte Buch-
führung dem Stadtschreiber Wolfshagen zur Last schieben, der Ende
1459 gestorben ist. Die Ratsbücher wurden nach 1460, abgesehen
von dem ürfehdebuch nicht in der alten Form fortgesetzt; in mancher
Hinsicht kann man das Gesindebuch ^ als seinen Nachfolger betrachten.
Einen wichtigen Bestandteil des Ratsbuches von 1371—1372 hatten
die Zinsverschreibungen des Rates in Form von Leibrenten, ewigen
und wiederkäuflichen Zinsbriefen ausgemacht. Diese Kopien, die all-
jährlich zweimal bei Auszahlung der Zinsen aus den Büchern zusammen-
gesucht werden mußten, vereinigte der Stadtschreiber später in einem
besonderen Bande. In diesen wurden neben einigen Verträgen aus
früherer Zeit die neuausgegebenen Rentenbriefe in chronologischer
Folge kopiert. Änderungen oder Lösungen von Verträgen wurden durch
Überschreiben oder Streichen im Text angedeutet; einzelne dieser Be-
merkungen stammen noch von Günthers Hand. Der Stadtschreiber
Heinrich hat diese Kopien unregelmäßig besorgt. Sie sind seit dem
Jahre 1408 von Günther nachgeholt und dann wieder regelmäßig fort-
geführt. Eisenhart und Kappus begnügten sich bisweilen mit kurzen
Aufzeichnungen in Regestenform. Ein gleich zu erwähnendes Schuld-
ibuch läßt die ursprüngliche Anzahl dieser Rentenbücher erschließen;
les verweist nämlich durch Randnotizen und Angabe von Buch- und
Seitenzahl verschiedentlich auf die Kopien in diesen Büchern. Der Band, ^
der die Jahre 1392—1402 umspannt, wird dabei als liber secundus
bezeichnet; ihm muß also noch ein liber primus vorangegangen sein,
der in den 80 er Jahren angelegt sein mag. Das wiederum erhaltene
Buch für die Jahre 1407—1459* ist der liber quartus, ihm schließt
sich an und reicht bis in das 16. Jahrhundert der liber quintus.^
m, ' X 6 I, 2. Teil.
n* ^ Das Gesindebuch ist zwar erst seit dem Jahre 1502 erhalten, doch darf ich
Ifthl mit Sicherheit ein verloren gegangenes Buch in ähnlicher Form schon für die
^pire 1460 — 1502 ansetzen, das also den Anschluß an den stipendiariihand erreichte.
^ei dem Zustande der Verwaltung in den Jahren können die dahin gehörigen Bücher
nicht völlig gefehlt haben. Die einzigen erhaltenen Kanzleibücher aus den Jahren
(X 7 und E 8 V2 D tragen den Charakter der Stadtbücher (S. 38 [438]).
' E 8c 1. ■* E 8c 2. ' E 8c 3.
438 Erich Kleeberg
Merkwürdigerweise wird nun auch noch der jetzt verlorene Band, dei
die Jahre 1402—1407 umfaßt hat, als über quintus aufgeführt, ir
einem noch hierher gehörigen über tertius scheint keine chronologische
Ordnung beobachtet gewesen zu sein. Welches Einteilungsprinzip hiei
zugrunde gelegen hat, ist unbekannt.
Die Auszahlung der Zinsen nach den in chronologischer Reihen-
folge aufgezeichneten Kopien führte beim Anwachsen der Bücher zi
Unbequemlichkeiten. Deshalb legte Günther 1414 daneben ein Ver-
zeichnis^ an, ein Schuldbuch der Stadt, in dem die Verträge ir
Regestenform übersichtlich zusammengestellt wurden. In einem Per-
gamentbande ordnete er die Renten nach der in den Kämmereirech-
nungen schon kennen gelernten Reihenfolge der Empfänger; nach
diesem Register zahlten die Kämmerer den Zins aus. Dieses Ver-
zeichnis wurde von Günther und seinen Nachfolgern bis in das letzte
Viertel des Jahrhunderts fortgeführt. Die erledigten Verträge wurden
in primitiver Weise wie in den gleichzeitigen Kopienbüchern durch-
gestrichen.
Die sich allmählich ändernde Anschauung über den Rechtswert
schriftlicher Aufzeichnungen^ führte dahin, daß der Mühlhäuser Rat
etwa seit der Mitte des 14. Jahrhunderts den Personen, die nach
Stadtrecht vor seinem Forum Erklärungen über Akte freiwilliger Ge-
richtsbarkeit ablegten, durch Einträge in die „Stadtbücher" ein amt-
lich beglaubigtes Zeugnis verschaffte. In das älteste überlieferte Buch
sind in protokollarischer Form verschiedene Fälle der Pfandsetzung
eingetragen, denn diese gab am leichtesten Veranlassung zu Streitig-
keiten, da eine Partei oft nur aus Not den Vertrag einging. Die ein-
zelnen Jahrgänge sind mit den Namen der beiden Ratsmeister oder
der beiden Ratsherren, vor denen das Rechtsgeschäft bekannt wurde,
überschrieben. Das uns erhaltene erste Buch^ wurde 1371 begonnen,
doch ist die erste Pergamentlage von acht Blättern verloren, so daß
die Jahrgänge 1371 — 1373 fehlen. Es hat auch vor 1371 mindestens
einen Vorgänger gehabt, auf den S. 21b verwiesen wird: prout est in
antiqm libro scriptum. — Der Inhalt des späteren Stadtpfandbuches^
wird vielseitiger: außer Erklärungen über Pfandsatzung trug der Stadt-
schreiber auch Rentenkäufe und familienrechtliche Abmachungen ein,
^ E 8 c. 4: Z)e censibus de pretorio dandis.
* cf. Anhang S. 479.
' E 8 bl: 1371(4)— 91.
* X 3 I; reicht von 1416 — 41; in den gleichzeitigen Quellen wird es „Stadt-
pfandbuch" genannt: Kopialbuch W 3, f. 371; W 5, f. IIb; f. 18. Verloren gegangene
tiefte mögen den Anschluß an E 8 b 1(— 1391) hergestellt haben. Bezeugt ist ein
solches Buch aus, dem Jahre 1412/13; Kopialbuch W 3, S. 371.
Stadtschreiber und Stadtbücher in Mühlhausen i.Th. 439
SO daß in ihm das ganze Gebiet der freiwilligen Gerichtsbarkeit über
Immobilien umschrieben wurde, mit Ausnahme der einfachen Übergabe,
des Verkaufes.
über diesen bestimmte ein Statut^ aus dem Anfange des 15. Jahr-
hunderts: Oiich Süllen unser herrnn der radt eyn buch machen lasse,
do man fortmer yn schreiben sal alle gute, die man vor dem ratthe
uff lessit, und der radt liet (es sie erbegut eygin adir lengut). Der
sitzende Rat ließ ein besonderes „Kauf buch" ^ anlegen, das der Stadt-
schreiber etwa seit 1410 führte; erhalten ist uns nur ein Rest der
Jahre 1415 — 1417, doch wird es im Kopialbuche 1420 und 1430 noch
erwähnt.^ Die Scheidung zwischen den beiden Verzeichnissen ist
nicht streng durchgeführt, es kommen auch Verkäufe im Stadtpfand-
buche vor.
Im Kaufbuche wurde das Hauptgewicht nicht auf die Auflassung,
sondern auf den Akt der Übergabe gelegt. Im Stadtpfandbuche wurden
entweder die Parteien, die einen Vertrag bekennen, oder die Ratsherren,
denen eine Einigung* gelungen ist, als vor dem Rat eine Erklärung
abgebend aufgeführt. Beide Bücher hatten vollen juristischen Wert,
und man berief sich noch nach Jahren auf ihren Inhalt. Selbst wenn
die Verträge nur auf eingelegten Zetteln standen, so tat dieses der
Gültigkeit keinen Abbruch. Die Sprache wechselt in den Büchern bis
ca. 1441 zwischen deutsch und lateinisch.
Eisenhart wies 1441 den Stadtbüchern einen weiteren Inhalt zu,
indem er zwei parallel laufende Bände anlegte. In dem einen, im Re-
gistrum Contractuum (Handelbuch) ^ vereinigte er die Einträge über
Fälle der freiwilligen Gerichtsbarkeit an Immobilien, also gewisser-
maßen den Inhalt des Stadtpfandbuches und Kaufbuches. Daneben
führte er ein Registrum recognicionum et diversarum concordiarum^
für andere auf Forderung der Einwohner vor dem Rat verhandelten
und von ihm anerkannten Geschäfte: Verträge der Bürger über
Schuld, schiedsrichterliche Entscheidungen des Rates über
Verbal- und Realinjurien der Bürger. Indem Kopien von Ge-
' Willkür C: Geschichtsbl. 9, S. 28.
' Kaufbuch 1415-17: X 3 II.
' W4, S. 217; W5, S. 6.
* Es genügte vollständig, wenn einzelne Herren vom Rate die Erklärung ab-
gaben. Derselbe Brauch herrschte auch in Görlitz. Cf. Görlitzer Willkür von 1433;
§6 (Gengier, Stadtrechte 157): Wird eine Verpflichtung von einem Schöffen über-
nommen und von entphelunge der schepfen in der stat buch geschriben, das hat solche
crafft . ... als ob es in gehegter bang vor den schepfen oder vor dem sitzenden rate
gemeinlich geschee. Cf. S. 13 [413] Anm. 4.
' E 8V2 1: 1442—1501.
' X 6 II; 1441—49; X 7: 1450—1500.
I
440 Erich Kleeberg
burts-, Geleits- und Bürgerbriefen, Zunft- und Innungsan-
gelegenheiten in wachsender Anzahl hier aufgenommen wurden, ent-
lastete man das Ratsbuch, das dadurch seit 1457 in diesen Materien
fortgesetzt wurde.^ In diesen beiden Reihen wurden die Stadtbücher
bis 1500 geführt. Sicher lag diese Idee ihrer Scheidung zugrunde; in
der Praxis freilich ist sie nicht so streng durchgeführt, wozu der Um-
stand beigetragen haben mag, daß alle Einträge vor einer und der-
selben Behörde geschahen.
Die Kanzleibücher waren ursprünglich Pergamentbände, geschützt
durch Holzdeckel und Lederüberzug. In dieser Form sind noch die
ältesten Geschäftsbücher (Pfandbuch und Kopialbuch der Stadtrenten)
erhalten. Das Fragment des Ratsbuches von 1371/72 besteht eben-
falls aus Pergamentblättern. Doch schon gegen Ende des 14. Jahr-
hunderts begann man sich des billigeren Papieres zu bedienen. Die
„Kopialbücher," die in den 80 er Jahren bereits die umfangreichsten
unter den Kanzleibüchern waren, sind nur als Papierbände erhalten.
Um das Jahr 1600 sind diese wie alle übrigen Rats- und Stadtbücher,
soweit sie aus Papier bestehen und in der Kanzlei aufbewahrt worden
waren, gleichmäßig in gelbe, grüne oder rote, mit goldenem Stadtwappen
geschmückte Pappdeckel gebunden. Ihre frühere Gestalt läßt sich er-
kennen aus den wenigen erst kürzlich aufgefundenen Ratsbüchern der
Jahre 1398, 1405 und 1408, Hefte in Pergamentumschlag, für die Ein-
träge eines Geschäftsjahres bestimmt. Die gleiche Gestalt zeigen noch
heute die Bücher der Kämmerei im 15. Jahrhundert: Rechnungen und
Geschoßregister. Erst seit ungefähr 1420 brechen die Hefte nicht mehr
mit Jahresabschluß (das Geschäftsjahr wird immer von Martini zu
Martini gerechnet) ab; es fanden wohl mehrere Jahrgänge in einem
größeren Bande Platz. Dadurch daß Einzelhefte leicht verloren gehen
konnten, erklärt sich z. T. die schlechte Überlieferung aus den Jahren
1370-1420.
Wohl in der Kanzlei geschrieben, aber nicht zu den eigentlichen
Geschäftsbüchern sind einige Pergamentkodices zu rechnen. In den
Jahren 1311, ca. 1350 und 1401^ wurden Kodifikationen der Sta-
tuten und Ordnungen vorgenommen und diese in prunkvolle Perga-
menthandschriften eingezeichnet. Sie waren sehr weitläufig angelegt
und boten so Raum für gelegentliche Nachträge, die sich etwa je über
ein halbes Jahrhundert ausdehnten. In diese das stadtbuch oder die
welkoere genannten Bücher wurden neben Einträgen über Stadtrecht
und Ratsverfassung auch Aufzeichnungen über besondere Fälle von
t^
.' cf. S. 37 [437].
^ cf. S. 8 [408] Anm.l.
H Stadtschreiber und Stadtbücher in Mühlhausen i.Th. 441
j^ "riedensbrüchen und ihre Bestrafung gemacht, die dazu bestimmt waren,
:; nit den Hauptpunkten des Rechts alljährlich am Tage der Ratswahl
vorgelesen und den Bürgern in die Erinnerung gerufen zu werden.
Eine Kanzleinotiz des 17. Jahrhunderts berichtet von einem aber
mtiqims consulum, avium et ansarum, auf dessen erster Seite die
Nachricht über den Kanzleibrand von 1367 gestanden habe. Ein Frag-
nent, das in seinem Inhalte dem ersten Teile des Titels entspricht,
Verden wir zu sehen haben in sieben Pergamentblättern,' die im letzten
Jahre aufgefunden sind und Bürgerlisten, Verzeichnisse der neuen
Bürger, von 1414—1491, enthalten. Innerhalb des Fragments mögen
loch fünf Blätter fehlen, mit denen beträchtliche Lücken in der Liste
iusgefüllt würden. Ein Verzeichnis der Ratsmeister von 1477—1524
st von einer Hand des 16. Jahrhunderts auf dem letzten Blatte un-
mittelbar an die Bürgerliste des Jahres 1491 angeschlossen und wird
[vohl angeregt worden sein durch ähnliche Verzeichnisse in dem ver-
orenen Teile des Buches. Notizen über Aufnahme der Bürger in Gilden
lind Zünfte finden sich an verschiedenen Stellen. Der Inhalt des über anti-
7«W5 bestand demnach vor allem aus Namenlisten der neuaufgenommenen
Bürger, der Ratsherren und der Verbände, daneben vielleicht auch aus
3esetzen und Briefen der Innungen, zu denen der Rat ein nahes Ver-
lältnis hatte. Wie die Nachricht von 1367, so mag der Stadtschreiber
juch noch manche andere ihm bedeutungsvoll erscheinende Ereignisse
ius der Stadtgeschichte aufgenommen haben. Regelmäßig ist das
Buch nicht beschrieben worden: die Handschriften in dem erhaltenen
Feile beweisen, daß mehrere Jahrgänge in einem Zuge eingetragen
»wurden, auch kommt es zweimal vor, daß ein Stadtschreiber mehrere
Jahrgänge nachholt aus Zeiten, in denen er noch nicht im Amte war.
Eisenhart von 1435—1441, Raven von 1450—1460).
Nach diesen Darlegungen ist es wahrscheinlich, daß, wenn auch
[einzelne Bücher und Bände des Archivs verloren sind, der einstige
Bestand der seit 1370 in der Kanzlei gefertigten Stücke sich deutlich
übersehen läßt, und man muß zugeben, daß in den Jahren 1370 bis
1460 die Bücher in Kanzlei und Kämmerei für mittelalterliche Ver-
hältnisse recht mannigfaltig und reichhaltig geworden sind.
§5. Die offiziellen Schreiber in der Stadt neben dem Stadt-
schreiber: Gerichtsschreiber und öffentliche Notare
Außer den Stadtschreibern gab es in der Stadt noch einige Schreiber,
die mit dem Rat dienstlich verbunden, z. T. auch aushilfsweise in der
Kanzlei tätig waren. Obgleich das Schultheißengericht schon früh in
^ H. 26, 2a.
442 Erich Kleeberg
die Gewalt des Rates gekommen war,^ scheint der Protonotar an '^^
ordentlichen Gerichte nie beschäftigt gewesen zu sein. Ein besondere ^'
Gerichtsschreiber vielmehr, der in den Statuten A^ zum erstei ^^
Male genannt wird — also ungefähr in der Zeit, aus welcher di
ersten Nachrichten über den Stadtschreiber vorliegen — war not
wendig zur Ausstellung gelegentlicher urkundlicher Gerichtszeugnissc
der Gerichtsbriefe. Die Abhängigkeit des Gerichtes vom Rate, de
Umstand, daß dieser das Gebiet der freiwilligen Gerichtsbarkeit übe
Immobilien sich vorbehielt,^ schränkten auch die Bedeutung des Ge
richtsschreibers ein. Aus diesen Verhältnissen heraus ist es zu ver
stehen, daß man erst spät zu regelmäßig geführten Registern ge- Jr
kommen ist. Auch in anderen Städten sind diese Bücher Verhältnis'
mäßig jüngeren Ursprungs, denn die vor öffentlichem Gericht, mit de
Bezahlung einer Buße meist erledigten Fälle schienen lange Zeit kein(
Aufzeichnungen zu erfordern. Das erste ist im Mühlhäuser Archi\
erhalten aus dem Jahre 1432,^ doch hat es noch Vorgänger gehabt
z. B. im Jahre 1422.^ Es enthält protokollarische Aufzeichnungen übei
Klagen und Bußen, die Sprüche des Schultheißengerichts in der Ober
und Unterstadt und in den Dörfern des Territoriums. Der Schrei bei
machte am Rande nach einiger Zeit mitunter den Vermerk über Be
Zahlung des Strafgeldes. Auch die Verhandlungen des Rates oder dei
Räte über Urteilsschelte des ordentlichen Gerichtes und ihre selbstän-
digen Entscheidungen wurden hier eingetragen. Die einzelnen Bände
sind überschrieben mit dem Namen des in diesem Jahre gewählten
Schultheißen und enthalten die Fälle eines Geschäftsjahres. Der Ge-
richtsschreiber hatte sie in Verwahrung; nur auf Anordnung des
Schultheißen oder des Rates durfte er aus ihnen den Parteien den
Rechtsentscheid in einem Gerichtsbriefe ausstellen^ oder in öffentlicher
Sitzung das betreffende Urteil vorlesen.' Von seiner Zuverlässigkeit
hing die Sicherheit der Parteien ab, und so mußte er schwören, seine
schriftlichen Zeugnisse und Einträge ins Gerichtsbuch gewissenhaft
und ohne heimliche Änderung zu verfassen.^ Persönlich treten diese
' cf. S. 7 [407].
^ Lambert f. 144: Item scultetus debet referre consulibus sab iuramento, si
scriptor suus et bodelli in iudicio iniuste fecerint.
^ cf. S. 13 [413] .
* unter „Gerichtsregister". RAl; cf. Anhang CIL
* In RAl: unter de iure consulum S. 16 b wird verwiesen auf das alte Register
von 1422.
^ z. B. Kopialbuch W5, S. 150; 156; 159.
' z. B. Kopialbuch W 5, S. 145 b.
* Geschichtsblätter 9, S. 33: Item so sal der Schreiber die sache, so sie an
deme gerichte geschreben werdet, nich andern, lengern addere kortzenn hinder deme
Stadtschreiber und Stadtbücher in Mühlhausen i. Th. 443
khreiber kaum hervor. 1436/37 ist einmal der Name eines solchen
iberliefert: Günther Bliderstete, des weltlichen Gerichts Schreiber in
v\ühlhausen.^ Er scheint nicht dem Bürgerstande angehört zu haben
jnd war wohl ein zugewanderter Laie.
Ob der Gerichtsschreiber vom Rate einen regelmäßigen Gehalt
:)ezog, ist ungewiß. Nach den Kämmereirechnungen von 1417 (/V\ar-
ini) und 1419 (Exaudi) möchte es so scheinen, als ob der Schultheiß
meinem Schreiber halbjährlich einen Sold von 30 Schilling auszahlte,
feu dem die Kämmerei einen Beitrag von 2V2 Schock 21 Groschen
ieferte.^ Nach dem Statut in C^ vom Jahre 1440 hatte er Anteil
an den Gerichtsgefällen. Ein jeder, der am gerichte zustendeligk
ivird, zahlte dem Schreiber 1 Pfennig, ebenso der, welcher sich
seine Sache vor Gericht lesen ließ. Auch bei der Ausstellung von
Urkunden und Gerichtsbriefen bezog er von den Parteien Gebühren:
von einer Acht oder Rekognicion 1 Groschen, von einem Geleitsbrief
6 Thüringer Pfennige.
Bis zum Jahre 1460 war kein Stadtschreiber öffentlicher Schreiber,
übliciis notariüs von kaiserlicher oder päpstlicher Gewalt.^ Be-
urfte der Rat eines Notariatszeugnisses, so mußte er sich an eine
ndere Persönlichkeit wenden. Noch um die Mitte des 14. Jahrhunderts
bediente er sich zur Transsumption oder Vidimierung wichtiger Ur-
kunden und Privilegien der Erklärung und Abschrift einer unabhängigen
Person von Bedeutung, sehr oft des Propstes vom Brückenkloster in
der Stadt.^ Nach der Zeit werden die Fälle häufig, in denen er zur
Ausstellung eines Notariatsinstrumentes publici notarii heranzog. Als
Ort der Anfertigung ist in den meisten Fällen das Rathaus genannt,
doch kam es auch vor, daß sich Ratsherren mit und ohne Stadt-
schreiber zu dem Zwecke in die Wohnung des Notars begaben.
Mit einzelnen Notaren trat der Rat in engere Verbindung, so mit
dem Stadtkaplan Hermann Kappel, einem Verwandten des kaiserlichen
Rates Dr. Härtung Kappel. Erst Kaplan, dann Kantor an der Stifts-
kirche St. Peter und Paul in Oberdorla, wurde dieser oft vom Rate mit
geheimen Missionen betraut. Schon 1420 hatte ihm der Rat, als er
ratthe adder dem schulteissen. Dieses haben schreibere geschwornn zcu halden one
geuerde (a. 1440).
' Kopialbuch W 5, S. 156.
^ pro notario sculteti in pretio ex parte sculteti 30 solidos = 1 talentum pro
quibus dedi 2V, Seh. 21 gr.
' Geschichtsbl. 9, S. 33.
'' W. Stein a.a.O. S. 35ff. weist die Verbindung von Stadtschreiberamt und
Notariat in Köln schon 1328 nach; dort auch Belege für den Brauch in anderen Städten.
' H. Ü.-B. 1004; 1019; 1020; 1022.
444 Erich Kleeberg
ihn zu einem Zinskauf nach Frankfurt sandte, das Zeugnis ausgestellt
wan wir dy mit nymande anders als wole als mit ach truwen uß za
richten;^ 1429 verhandelte er über die Verlängerung eines Vertrages
am hessischen Hofe.^ Und noch 1455 erbat sich der Rat vom geist-
lichen Gericht in Erfurt ihn als Exekutor in einer Streitsache zwischer
dem Antoniushospital und dem Rat von Duderstadt.^ Solche Dienste
wurden anerkannt durch die Verleihung eines städtischen Lehens.*
Die beiden öffentlichen Notare Christian Herold und Johann von
Hasela scheinen mit dem Rate in einem Dienstvertrag gestanden ZU|
haben. Der erstere wenigstens wurde in den Jahren 1432—34 mit
unter die ministri der Stadt gezählt.^ Der Rat bezeichnete beide in
einem Briefe^ als nicht „pflichtig und gefügig" hinter seinem Rücken
Notariatsinstrumente auszustellen. Es muß demnach vorgekommen
sein, daß diese Notare im Interesse des Rates Privatpersonen ihr offi-
cium verweigerten."^ Ein anderes Mal wurden einige Ratsherren und
Herold mit der Untersuchung beauftragt, ob es den städtischen Ge-
wohnheiten entspräche, eine Nachricht über den Besitz eines Bürgers
einem Fremden aus dem Schoßbuche mitzuteilen.^ So mag Christian
Herold in manchen Fällen den in den Jahren fehlenden Oberschreiber
ersetzt haben.^ Weshalb er nicht diesen Posten bekleidete, darüber
bleiben nur Vermutungen. Von Fremden wurde er in seiner Stellung
mit einem Stadtschreiber verwechselt: der Rat mußte auf einen Brief
Hermanns von Heilingen erklären, er habe keinen Stadtschreiber /T^r.s/ö/z.^*'
Nach ihm scheint der Notar Bartholomäus Schwertfeger (Gladiator)
eine ähnliche Stellung eingenommen zu haben. Ein förmlicher Dienst-
vertrag ^^ mit ihm liegt aus dem Jahre 1458 vor. Er gelobte der Stadt
als ein procurator zu dienen in allen Geschäften, zu denen sie ihn
ausschicken würde. Reiste er in Ratsangelegenheiten, so erhielt er
freie Zehrung, in Aufträgen der Bürger für jede Sache 5 Groschen.
Aushilfsweise war er während des Schreiberwechsels 1459/60 nach
dem Tode Wolfhagens in der Kanzlei tätig.^^ — Seitdem vom Jahre
1460 ab das öffentliche Notariat mit dem Stadtschreiberamte verbunden
war, lockerte sich der Zusammenhang zwischen dem Rat und den
außerhalb der Kanzlei stehenden Notaren.
' Kopialbuch W4, S. 141; 144; 144 b. ' Kopialbuch W 4, S.395b. |
' Kopialbuch W5, S.207b. * Kopialbuch W4, S.381. ' Kopialbuch W5,S.73b. j
^ Kopialbuch W 5 S. 35 (1431). - I
^ F. Oesterley, Das deutsche Notariat, 1842 Hannover: I, S..445.
** cf. S. 31 [431]; Kopialbuch W5, S. 60.
' cf. S. 21 [421] Anm. 2. '' Kopialbuch W5, S. 32. '' Ratsbuch X 6a S. 131.
'^ Kämmereirechnungen MOP 1459 (Martini): unter Pro subnotario-
Stadtschreiber und Stadtbücher in Mühlhausen i. Th. 445
Zweites Kapitel
Entwicklung des Stadtschreiberamtes zum Syndikat,
1460—1575
Für die Periode nach 1460 wird sich unsere Betrachtung in zwei
Dichtungen bewegen: Im ersten Abschnitte verfolge ich die schnell sich
vollziehende Entwicklung des Stadtschreibers zum Syndikus, dem obersten
liplomatischen Vertreter und juristischen Berater, im zweiten Teile den
Zustand der Kanzlei und der städtischen Schreibstuben im 16. Jahr-
lundert.
Die Abwehr gegen die vorrückende Macht der Wettiner bildete die
iauptaufgabe der städtischen Politik. In Verhandlungen an diesen
ürstenhöfen oder in der Anknüpfung neuer Beziehungen gegen ihre
Jedränger bot sich dem Stadtschreiber ein breites Feld seiner Betäti-
gung. Jetzt besuchten Mühlhäuser Vertreter zuerst Reichstage oder
[lahmen engere Fühlung mit den übrigen Reichsstädten. Diese Periode
kr Stadtgeschichte fand aber ihren jähen Abschluß mit den Vorgängen,
n denen die Stadt zum ersten Male in der allgemeineren Zeitgeschichte
feine größere Rolle spielte, in den verhängnisvollen Jahren 1523—1525,
Jem sogenannten Bauernkrieg. In diesen Jahren kam eine starke
kwegung gegen das Ratsregiment zum Durchbruch, die mit der
Absetzung des alten Rates endigte. Im weiteren Verlaufe wurde
i\e Stadt in den Thüringer Bauernkrieg verwickelt und wurde, nach-
dem dieser in der Schlacht bei Frankenhausen sein Ende gefunden
latte, das Opfer des Krieges. An die kapitalkräftige Stadt hielten sich
die geschädigten Herren und Ritter, und die auf dem Schlachtfelde mit
eichter Mühe Sieger gewordenen sächsischen und hessischen Fürsten
'Inutzten die erwünschte Gelegenheit aus, ihren Einfluß auf die Stadt
auszudehnen. Ein Glück war es noch, daß sich drei Parteien um den
Schatz bewarben und ihn sich gegenseitig streitig machten. So lief
das Ganze hinaus auf einen Schutzvertrag mit den drei Fürsten, von
denen jeder ein Jahr lang die Oberregierung zu führen hatte. Die
Schutzherren beanspruchten Oberaufsicht über die Ratsregierung, Be-
stätigung des jährlich zu erwählenden Rates, Bestellung des Schultheißen
und verpflichteten die Stadt außer dem Schutzgelde zur Zahlung einer
Strafsumme von 80000 Gulden. Etwa 25 Jahre waren ausgefüllt mit
dem Kampfe um die alte Reichsunmittelbarkeit. Erst durch geschickte
Benutzung der augenblicklichen politischen Kombinationen verstanden
es ihre Führer, der Bürgermeister Rodemann und der Sekretär Lukas
Otto, 1547/48 die Restitution der Reichsunmittelbarkeit zu erlangen
und sie vier Jahre später gegen die Ansprüche des Kurfürsten Moritz
446 • Erich Kleeberg
von Sachsen erfolgreich zu verteidigen. — Mit den politischen Kämpfet
gingen Hand in Hand geistige Auseinandersetzungen. Um die Mitti
des Jahrhunderts machte die Stadt eine zweimalige Reformation durch
Mit dem Jahre 1560 etwa beginnt dann wieder eine Periode der Ruh«
und vor allem des geistigen Aufschwungs, angeregt durch die voraus
gegangene Erregung und Anspannung aller Kräfte. — An dieser ganzer
Entwicklung ist der Stadtschreiber zum Teil in führender Rolh
beteiligt.
§ 1. Der geistliche Stadtschreiber macht sich frei vom
niederen Kanzleidienst
Mit ganz anderer Vorbildung als sein Vorgänger trat im Frühjahi
1460 der Magister der freien Künste Heinrich Raven publicus notarm
imperiali auctoritate sein Amt an. Er begegnet zum ersten Male ir
einem notariellen Vidimus einer Urkunde^ von 1455; als Offizial des
Propstes zu Jechaburg in oppido Molhusen presidens rekognoszierte ei
den Konsens der Deutsch-Ordensherren zur Errichtung eines Vikariats
bei der Rathauskapelle. Aber auch dem Rate leistete er um dieselbe
Zeit schon seine Dienste. Als Notar fertigte er im nächsten Jahre in
pretorio für ihn ein Instrument'-^ aus über den Verzicht der Judenschaft
auf alle ferneren Rechtsbeschwerden wegen erlittener Gewalttätigkeit
seitens der Stadt. Und 1457 vertrat er, mit des Rates Vollmacht ver-
sehen, die Stadt in einem Prozesse am Gericht in Göttingen gegen
den Vikar der Witwe von Haustein.^ Am 14. Mai 1460 stellte ihm
der Graf von Schwarzburg und Sondershausen, bei seinem Scheiden
aus dem Dienste seines Sohnes, des Propstes zu Jechaburg, ein gutes
Führungszeugnis aus,^ nachdem sich Raven schon am 22. Februar in:
einem Reversbrief e ^ dem Rate als Stadtschreiber verpflichtet hatte.]
Dieses Schriftstück beansprucht insofern besonderes Interesse, als er
in ihm nicht nur Mühlhausen, sondern auch den beiden Städten Nord-
hausen und Erfurt Treue gelobt — er will in aller Zwietracht treulich bei
den drei Städten aushalten — , bezeichnend nicht allein für die enge
Verbindung der Städte, sondern auch für die Tatsache, daß der Stadt-
schreiber in den politischen Beziehungen eine gewisse Rolle zu spielen
berufen war.
' Ü.-Nr. 1266 (1455 25. VH.).
' Ü.-Nr. 1003 (1456 14. V.).
^ Kopialbuch W 7, S. 66 b; Ü.-Nr. 1014 (1457 3. X.).
* Briefe des Grafen an Mühlhausen G. 11.
* Syndikatsbestallungen H. 6, 2, 1 — 4.
Stadtschreiber und Stadtbücher in Mühlhausen i. Th. 447
Seine materielle Lage gestaltete sich günstig. Er wurde in den
lächsten Jahren Kantor an der reichen Stiftskirche in Oberdorla/ ein
Nachfolger Hermann Kappeis; diese Stelle war sicher mit manchen
inkünften verbunden. Sein Anfangsgehalt war noch derselbe wie
1er seiner Vorgänger, doch stieg er schon in den nächsten Jahren
ron 22 auf 50, seit 1472 auf 58 Schock. 1481 legte er 200 rheinische
ulden in einer Leibrente zu 10% beim Rate an.^
Seine Anfangstätigkeit unterschied sich nicht wesentlich von der
»einer Vorgänger. In der Führung der Kanzleibücher trat er allmählich
linter dem ünterschreiber zurück. Nur die Schreibgeschäfte in der
(ämmerei besorgte er noch immer allein bis 1473. Die Handschrift
iieser Rechnung läßt zum ersten Male erkennen, daß der Protonotar
n diesen Geschäften einen Helfer bekam. Es ist derselbe Schreiber,
ien die nächste erhaltene Rechnung von 1483 als scriptor camerariae
)ezeichnet, der Priester und publicus notarius Johann Hufeland. Leider
legen aus dem Jahrzehnt 1473—1483 weder Rechnungen noch Ge-
jchoßregister vor, sonst würde sich die Entstehung des Kammer-
jchreiberpostens vielleicht deutlicher verfolgen lassen.
Schon 1479 berichten die Quellen von einem zweiten Proto-
lotar neben Raven, dem Priester Jakob Engelbert von Grevenstein,^
nothonotariüs Molhusensis, einem Schreiber mit öffentlichen Notariats-
echten.^ Er wird etwa 1476 in städtischen Dienst eingetreten sein;
ioweit reicht seine Hand im Kopial- und Stadtbuche zurück. Bald
darauf verließ er die Stadt, war 1482 als erzbischöflich-mainzischer
Kommissar in Heiligenstadt tätigt und gehörte 1489 zu den Prälaten
3es Stiftes St. Martin^ in derselben Stadt. Seinen Posten hatte der
rrotonotar Magister Heinrich Rone' eingenommen, der noch am 29. No-
vember 1481 eine erfolglose Gesandtschaft nach Nürnberg und Regens-
burg unternahm, um eine vom kaiserlichen Hofgericht gefordete Geld-
buße von hier aus nach Wien zu senden.^ Als seinen Nachfolger
werden wir Hufeland zu betrachten haben, der zwei Tage vorher vom
' U.-Nr. 1088 (1465).
'^ Kopienbuch von Zinsverschreibungen E. 8 c 3, S. 19 b.
1^ Ü.-Nr. 1138 (1479 7. I.).
* Ü.-Nr. 1142 (1480 11. II.).
' Kopialbuch W 8, S. 236 b (1481/82).
^ Ü.-Nr. 1200 (1489 24. V.).
^ Es liegt vielleicht nahe bei dem Namen Rone, der noch dazu nur einmal in
er späteren handschriftlichen Aufzeichnung (cf. Anm. 8) als Protonotar überliefert
isi, an eine Verwechslung mit Rave zu denken, doch kommt der Name Rone in
Mühlhausen häufiger vor, auch ist die Stelle eines zweiten Protonotars durch seine
Vorgänger und Nachfolger genügend gesichert.
^ Jordan, Chronik I, S. 145f.
I
448 Erich Kleeberg
Rat aufs neue berufen war. Aus dem Bestallungsbrief ^ geht hervor
daß er auch in der unmittelbar vorangegangenen Zeit In dienstlichei
Beziehung zum Rate gestanden und vielleicht als tiilfsschreiber in dei
Kämmerei sechs Fuder Holz erhalten hatte. Jetzt wurde er ange-
stellt als Kämmereischreiber und „soll in der Kämmerei der stai .
schult helffen zu ermanen und der stat Schatz-Register zurecht zu
bringen''. Außerdem „soll er auch in den Rath, Rethe und Schriberigt
gehen und in allen Sachen helffen beraten zu sein, auch reiten, so mar.
daß von ime verlangt". So nahm er die Stellung ein, die Raven ir
den 60 er Jahren als Kanzlei-, Ratsnotar und Kammerschreiber bekleide!
hatte. An Präsenten war er dem Stadtschreiber gleichgestellt, er bezog
Naturalgeschenke und hatte Anteil an den Schreibgefällen: „Die Ge-
rechtigkeit in der Kämmerei und die Hälfte aller Gerechtigkeit in dei
Schreiberei beider Siegel.''^ Drei städtische Schreiber standen jetzt im
Dienste des Rates; zwei Geistliche mit öffentlichen Notariatsrechten: der
overste stadschreiber und der Kammerschreiber, sowie Nikolaus Breitung,
ein weltlicher ünterschreiber in der Kanzlei, dem nach der Kämmerei-
rechnung von 1497 (Martini) noch ein puer als Hilfsschreiber zu-
geteilt war.
Als ünterschreiber war von 1480 — 1501 der Bürger Nikolaus
Breitung tätig, der auch als Privatmann öfters um sein Siegel an-
gesprochen wurde.^ Er bezog einen Gehalt in barem Geld aus der
Kämmerei, der bis auf ungefähr 20 Schock im Jahre stieg; dazu
erhielt er jedes Halbjahr ein Geschenk von 12 Groschen. Nach Ablauf
seiner Dienstzeit wurde er wie die meisten seiner Vorgänger in den^
Rat gewählt und arbeitete auch als Ratsherr noch gelegentlich in der
Kanzlei.*
Die Besetzung des Schreiberamtes in der Kämmerei mit einem
eigenen städtischen Beamten war ein Bedürfnis geworden, seitdem
sich dem Oberschreiber dank seiner akademischen Bildung und seinen
Erfahrungen als gewesener Offizial ein weiterer Wirkungskreis bot. In |
sein bisheriges Arbeitsgebiet teilten sich der Unter- und der Kammer- 1
Schreiber, indem jener die laufenden Geschäfte in der Kanzlei be- ;
arbeitete, dieser die anderen Dienste des Protonators erfüllte, diej
Kanzleitätigkeit in der häufigen Abwesenheit des Oberschreibers kon- ;
trollierte und dem Rat in anderen Geschäften zur Hand ging. Der
^ Sclireiberbestallungen, H. 6, la.
^ anno 1484 erhält 3. tiufeland Geschoßfreiheit vmb der muwe und arbeit willen,
die er J. Hufeland unser Schreiber mit der Stat erbbuche (= Kataster) gehat hat vnd
iczt hat daß vorhalten erbe zcu rechte zcu brengen. (Kataster ca. 1470 angelegt).
' Ü.-Nr. 1145; 1149; 1202.
* Stadtbuch X 8 1504/05 zeigt seine Schriftzüge.
Stadtschreiber und Stadtbücher in Mühlhausen i. Th. 449
oberste Schreiber"^ behielt nach wie vor die Oberaufsicht über die
beiden Schreibstuben, war aber im übrigen zu einem Berater der
Bürgerschaft und des Rates geworden. Er übernahm die Vertretung
der Stadt in politischen Angelegenheiten wie vor geistlichen und welt-
lichen Gerichten. So war er z. B. in den Jahren 1481 — 1486 wieder-
holt tätig am kursächsischen, hessischen und kurmainzischen Hofe
wegen des Dorlaer Mahlgeldes;^ und als 1486 dem Prozeß mit den
Müllern vor dem geistlichen Gerichte in Erfurt stattgegeben wurde,
war er vom Rate zur Übernahme des gerichtlichen Mandats bevoll-
mächtigt.^ In ähnlicher Weise vertrat er die Stadt in einem Rechts-
handel mit dem Deutsch-Orden und leitete von Mühlhausen aus die
Verhandlungen des Rates vor dem kaiserlichen Hofgericht 1482/83
während des üngarnkrieges.*
Seine politische Erfahrung vor allem machte ihn dem Rate unent-
behrlich. Zwischen 1471 — 1481 hatte Mühlhausen auf den Reichs-
und Städtetagen dreimal eigene Vertreter, und jedesmal war Raven
Mitglied der Gesandtschaft. Zum Reichstag in Regensburg 1471 einigten
sich die drei Städte Mühlhausen, Nordhausen und Goslar aus Spar-
samkeitsrücksichten zur Entsendung nur eines Vertreters, des Mühl-
häuser Protonotars.^ Dafür übernahm Nordhausen die Vertretung auf
dem Städtetage in Eßlingen und dem Reichstage in Augsburg 1473.®
Raven besuchte dann wieder die Speyerer Städtetage von 1473 und
1481.^ Von weit größerer Bedeutung waren für die Stadt die Bezie-
hungen zu den Schutzherren und anderen benachbarten Fürsten; und
an dem hessischen und den sächsischen Höfen ist Raven öfters ver-
treten. An feierlichen Gesandtschaften nahm er teÜ: 1484 und 1486
finden wir ihn bei den beiden Trauerfeiern für die sächsische Kur-
fürstin und ihren Gemahl, den Kurfürsten Ernst.®
Trotz dieser Stellung führte er in der Stadt nur den Titel eines
Protonotars und obersten Schreibers, wenn er auch gelegentlich in
' Über diesen Titel cf. W. Stein a. a. 0. S. 45—47.
' Kopialbuch W 8, S. 227; 235; 247; 253b; 270b. Das Vogteier Gericht be-
saßen zu drei Teilen Sachsen, Hessen und Kurmainz. Mühlhausen hatte den main-
zischen Anteil am Gericht 1360 gepachtet; jetzt verweigerten die dortigen Müller
das der Stadt zustehende Mahlgeld in der alten Höhe.
' Ü.-Nr. 1177 (1486 27. II.).
' D 5 a b, 2.
' Kopialbuch W 7, S. 118 b; 120.
' Kopialbuch W 7, S. 153; 154b.
^ Kopialbuch W7, S. 167; Briefe Nordhausens an Mühlhausen; Reichstagsakten.
^ Kämmereirechnungen; ad placitanduih; 1483 (Mart.); 1484 (Mart.); 1484
(Exaudi) ; Chronik I, S. 148 (1485).
Afü II 29
450 Erich Kleeberg
Briefen von Auswärtigen^ als Syndikus angeredet wurde. In Wirk-
lichkeit entsprach seine Stellung der eines Syndikus, nur war der
Titel für den geistlichen Stadtschreiber noch nicht geprägt.^ In den
nächsten 15 Jahren fehlte der Posten eines obersten Schreibers wieder.
Seine Ausnahmestellung verdankte Raven allein seiner persönlichen
Tüchtigkeit. Gegen Ende der 80 er Jahre muß er aus dem städtischen
Dienste ausgeschieden sein, spätestens seit 1494 wohnte er in Naum-
burg, wo er eine Leibrente vom Mühlhäuser Rate empfing.^ um 1500
ist er gestorben, seine testamentarii erhalten nach der Kämmerei-
rechnung 1500 (Exaudi) statt seiner den Zins.
1486 wurde Raven zum letzten Male als Protonotar genannt;
1289/90 trat ein Martin Keiner in gleicher Eigenschaft verschiedent-
lich bei Ratshandlungen* auf, ohne daß sich über seine Person näheres
feststellen läßt.^ Erst 1491 wurden die Ämter des obersten Schreibers
und Kammerschreibers wieder vereinigt in der Person des Magisters
Heinrich Konemund,^ eines geborenen Mühlhäusers.^ Studiert hatte
er schon vor 1478 in Mainz und dort die Würde eines Magisters der
freien Künste erlangt."^ Weit stand er an persönlicher Tüchtigkeit hinter
Raven zurück. In der Stadt nahm er als Protonotar eine ganz geachtete
Stellung ein, z. B. war er an Präsenten einem Ratsherrn gleichgestellt.^
Er scheint in den Geschäften der engeren Verwaltung untergegangen
zu sein, trotzdem er einen so erfahrenen ünterschreiber wie Breitung
vorfand. In der Kämmerei leistete ihm der frühere Kammerschreiber
Hufeland noch gelegentlich Unterstützung,^ der als Vikar an der Jo-
hanniskirche, seit 1501 als Pfarrer in Saalfeld ^^ sein Leben vollendete.
1498 folgte im Oberschreiberamte wieder ein Mühlhäuser Bürger-
sohn, Johannes Schade, der 1463 die Erfurter Universität besucht
hatte.^^ Unter ihm wurde das Schreiberpersonal wieder durch die An-
' Syndikatsbestallungen H 6, 2, 1—4 (1482).
' cf. S. 452.
^ Schreiberbestallungen H 6, la ca. 1494; Kämmereirechn. Zinszahlungen nach
Naumburg.
* Stadtbuch X 7, S. 287; 288; 290; 291.
Leider fehlen die Kopialbücher und Kämmereirechnungen aus diesen Jahren.
* Chronik I, S. 151 (1491).
^ Kopialbuch W 8, S. 158 (1478).
® cf. Anm. 6.
® Kämmereirechnungen 1497 Exaudi; 1498 Exaudi: pro Domino J. Hufeland
lOflor. super labores ipsius a senioribus commissus de iustificando errores librorum
et registrorum corrigendo et super novo libro hereditario faciendo insuber orbis civi-
tatis. Kämmereirechnung, 1499 Martini.
'' Ü.-Nr. 1238 (1499 24. XII.); Stadtbuch X 8, S. 1.
'' Erfurter Matrikel. Auszug von Jordan, Geschichtsbl. 5, S. 54 ff.
Stadtschreiber und Stadtbücher in Mühlhausen i. Th. 451
Stellung eines eigenen Kammerschreibers vermehrt.^ Von größerer
Bedeutung für die Geschichte der Stadt wurde erst sein Nachfolger,
der Priester und Kanonikus zu Eichenberg Johann Amberg, ^ der
von 1508—1523 und nach 1525 in städtischen Diensten war. Auch er
hatte wie Raven seine Erfahrungen im Verwaltungs- und Gerichtswesen
als OffiziaP in Mühlhausen gesammelt. Der Kammerschreiberposten
wurde in demselben Jahre 1508 neu besetzt mit Johannes Bausei,*
mit dem dieses Amt zum ersten Male, und damit für immer in die
Hand eines Laien kam. Mit dem Zeitpunkt der Übergabe des Amtes
in Laienhände begannen seine Träger die einstige Bedeutung einzu-
büßen, ihre Stellung wird jetzt mehr die eines subalternen Beamten.
Bausei gehörte einer Mühlhäuser Familie an, die in der Stadt eine
ziemliche Rolle gespielt hat. Er gewann selber noch einmal größeren
Einfluß dadurch, daß ihn der Rat in dem unruhigen Jahre 1525 be-
stimmte, das Oberschreiberamt mit dem Amte des Kammerschreibers
von 1525—1540 zu vereinigen. Für seine Tüchtigkeit und üneigen-
nützigkeit spricht am besten die langjährige ununterbrochene Ausübung
des Amtes bis 1551. In der Politik des Rates mag er kaum hervor-
getreten sein, wenn er die großen Katastrophen der Jahre 1523—1525
mit ihrem zweimaligen Verfassungswechsel unbeschadet als Ratsbeamter
überdauerte.
Amberg konnte sich wie Raven wieder mehr den Geschäften eines
Konsiliars widmen. An der Stadtverwaltung nahm er regen Anteil,
schlichtete verschiedentlich bürgerliche Streitigkeiten und vertrat die
Stadt und einzelne Bürger vor fremden Gerichten; die politischen Be-
ziehungen zu Mühlhausens Schutzherren pflegte er eifrig. Im September
1523 erhielt er einen Geleitsbrief ^ auf zwei Monate in der Stadt Gebiet
in eigenen Geschäften zu reiten, und damit schied er bis 1525 aus
dem städtischen Dienste aus. Von besonderer Bedeutung ist er als
letzter Geistlicher auf dem Protonotarposten. Mit einer einzigen Aus-
nahme im ersten Viertel des 15. Jahrhunderts ist das Oberschreiberamt
bis 1523 von Geistlichen bekleidet gewesen. Im Verhältnis zu den
Gewohnheiten anderer Städte^ hatte sich demnach der Laienstand erst
^ Das zeigt die tiandschrift der Rechnungen.
' Gesindebuch Y 4, 1, S. 12 (1508 29. VI.)
' Ü.-Nr. 1253 (1502); Stadtbuch X 8, S. 65b (1505).
* Seine tiandschrift seit 1508 in- der Kämmereirechnung; 1510 Gesindebuch
(, 1, S. 16b wird sein Dienstvertrag erneuert. Sein Name wird auch Paußel, Pewßel
^er Poißel geschrieben.
' Kopialbuch W 10, S. 43.
^ W. Stein a.a.O. S. 67 — 70; Ermisch a.a.O. S. 91; von Below, Die
Idtische Verwaltung des Mittelalters als Vorbild der späteren Territorialverwaltung
29*
452 Erich Kleeberg
sehr spät Zutritt zu diesem wichtigen städtischen Amte erworben. Daß
das alte Verhältnis als Mißstand von der Bürgerschaft empfunden
wurde, zeigt sich in folgendem: Als 1523 nach dem ersten Auflauf
der Einwohner der Rat sich mit der Bürgerschaft in etlichen Artikeln
vertrug, wurde in den Rezeß auch die Forderung der Bürger als
Artikel 37^ aufgenommen: „Hinfort soll man keinen Priester zum Stadt-
schreiber haben."
§2. Erster Stadtsyndikus und weltlicher Oberschreiber
Wie weit die in dem Rezeß von 1523 aufgestellte Forderung von
der Bürgerschaft gerichtet war gegen die Person des Priesters Amberg
im Interesse seines Nachfolgers Dr. von Ottera,^ läßt sich bei der
immer noch über der Persönlichkeit dieses Mannes schwebenden
Dunkelheit nicht entscheiden. Dr. Johann von Ottera, der erste aka-
demisch gebildete Laie in der Stadt, war kein geborener Mühlhäuser,
sondern ist erst seit 1508 in der Stadt nachweisbar.^ Seit 1512 be-
gegnet er in städtischen Diensten, nahm z. B. 1513 an einer Gesandt-
schaft zum Hochzeitsfeste des nachmaligen Kurfürsten Johann des
Beständigen teil.^ Seit 1515 stand er zum Rat in engerem Dienst-
verhältnis; er bezog einen Jahrgehalt von 40 Gulden, der hinter dem
des Protonotars noch um etwa 10 Gulden zurückblieb. In den Rats-
büchern wird er 1522 zum ersten Male als Syndikus bezeichnet.^ Der
Titel Syndikus kommt auch schon früher vor, doch war damit nur
ein einmaliger juristischer Sachwalter gemeint, dem für ein bestimmtes
Verfahren „Syndikat und Vollmacht" erteilt war; dieser Brauch wurde
auch später noch beibehalten. Der Sache nach nahm Ottera dieselbe
Stellung ein wie im vorhergehenden Jahrhundert der oberste Schreiber
Raven. War dieser aber aus der Protonotarstellung hervorgegangen,
(Historische Zeitschr. 75): „Als durchschnittlicher Termin läßt sich etwa bestimmen,
daß die weltlichen Stadtschreiber die geistlichen um die Mitte, die weltlichen Kanzler
der Landesherren die geistlichen gegen Ende des 15. Jahrhunderts ablösen."
^ Jordan, Chronik I, S. 171.
^ cf. zu Dr. Ottera: Jordan(-Stephan), Zur Geschichte der Stadt Mühl-
hausen I. S. 39— 42; Jordan, Zeitschr. d. Vereins f. Thür. Geschichte u. Altertums-
kunde, N. F. 13, S. 145ff.; cf. zu Mühlhausens Geschichte von 1523-75: Nebel-
sieck, Reformation in Mühlhausen, Magdeburg 1905, (Sonderabdruck aus d. Zeitschr.
des Vereins f. Kirchengeschichte in der Provinz Sachsen); Knieb, Mühlhausen zur
Zeit der Reformation und Gegenreformation in Ludw. Pastors Erläuterungen und
Ergänzungen zu Janssens Gesch. d. deutschen Volkes, V. Bd., tieft 5.
* Kämmereirechnung 1508 (Martini): Zinszahlung; 1509 (Exaudi).
* Kämmereirechnung 1513 (Exaudi): ad placitandum (Kriegsmeisteramt).
^ Kopialbuch W 10, S. 21b.
Stadtschreiber und Stadtbücher in Mühlhausen i. Th. 453
SO hatte Dr. Ottera zunächst mit dem Stadtschreiberamte nichts zu
tun. Mit ihm schaffte der Rat zum ersten Male die Stellung eines
offiziellen Stadtjuristen, der mehr und mehr zu einem Ratskonsiliar
wurde. Wir finden ihn als Leiter der Verhandlungen mit dem Schutz-
fürsten; 1517 vertrat er die Stadt auf dem Mainzer Reichstage/ 1518
sandten ihn die drei Städte Mühlhausen, Nordhausen und Goslar nach
Augsburg zum Reichstage,^ und 1522 wohnte er vom Oktober bis
Dezember in Eßlingen den Tagungen der Reichsstädte^ bei. Er wurde
1523 der Nachfolger Ambergs; und die Kämmereirechnung des nächsten
Jahres nennt ihn der Stadt prothonotar und sindicus. Nach seiner
Mühlhäuser Tätigkeit wurde er Fuldaischer Kanzler.*
Ottera war entschieden ein begabter Kopf, aber ein gefährlicher
Charakter, dessen führende Stellung der Stadt zum Unheil ausschlug.
Ob er sich innerlich zu der Bewegung und den neuen Lehren, die in
diesen Jahren die Köpfe beherrschten, gestellt hat, weiß man nicht;
Tatsache ist, daß er durch die Umwälzungen von 1525 und die damit
verbundene Unruhen die einflußreichste Stellung gewann. Wenn dieser
sein Gewinn aus den demokratischen Unruhen von vornherein beab-
sichtigt war, so ist sein Bemühen auch schon vor 1523 darauf ge-
richtet gewesen, sich innerhalb der Gemeinde Anhänger zu werben
und die Stimmung der unzufriedenen Elemente der Einwohnschaft in
seinem persönlichen Interesse zu verwenden. Dann würde vielleicht
der obenerwähnte Artikel aus dem Pakt des Rates mit der Bürgerschaft:
„Hinfort soll man keinen Priester zum Stadtschreiber haben" auf eine
Beseitigung Ambergs zugunsten Otteras von Seiten der Bürgerschaft
gemünzt gewesen sein. — 1523 hatten die Bürger erreicht, daß eine
Kommission von 8 Mann aus der Gemeinde „in schweren Sachen beim
Rat sitzen und dieselben vor die Gemeinde bringen dürfen," von diesen
8 Mann hatten zwei Zutritt zur Kämmerei, einer zur Zinsmeisterei.^ In
einer nach Wiederherstellung des alten Rates von diesem zusammen-
gestellten Anklageschrift^ gegen Ottera, wirft ihm der Rat vor, er habe
als Ratsgesandter auf dem Nürnberger Reichstage 1524 von den „acht
Männern" geheime Aufträge gehabt wider den Rat, auch habe er dort,
statt die Hilfe des Reichs anzurufen, berichtet, die streitenden Parteien
hätten sich vertragen. Weiter soll er bei der namentlichen Abstimmung
' Kämmereirechnung 1517 (Exaudi) Kriegsmeisteramt.
'^ Kämmereirechnung 1518 (Martini) Kriegsmeisteramt; Reichstagsakten B 1/8, 1.
' Kopialbuch W 10, S. 21b.
' z. B. Kopialbuch W 14, S. 479 (1537).
' Chronili I, S. 172f.
^ Jordan, Zur Geschichte der Stadt Mühlhausen, tieft 1»
454 Erich Kleeberg
der Bürger über die Absetzung des alten Rates einer der vier Schreiber
gewesen sein, die die Stimmen aufzeichneten, und dabei wissent-
lich gefälscht haben, indem er Namen von Bürgern mit eintrug, die
später eidlich versicherten, für den alten Rat gestimmt zu haben. Wie
weit diese Anklagepunkte berechtigt waren, steht nicht fest; jedenfalls
stimmen die Behauptungen zu der Tatsache, daß Ottera unter dem
neuen, dem sogenannten „ewigen Rate" erster Stadtbeamter blieb und
natürlich in der Zeit der Umwälzung bei seiner Bildung und Erfahrung
den größten Einfluß ausübte.
Mit der Schlacht bei Frankenhausen, 15. Mai 1525, war auch für
den ewigen Rat die Entscheidung gefallen, und wieder trat Ottera in
den Vordergrund. Am 19. Mai erklärten die Fürsten der Stadt den
Krieg, am 23. war Ottera zu Verhandlungen im fürstlichen Lager bei
Schlotheim. In der nächsten Nacht verließ ein Teil der Aufrührer die
Stadt, und am 24. morgens, am Tage vor der Übergabe, verkündigte
Ottera auf dem Barfüßer Kirchhofe ^ dem versammelten Volke, die Ein-
wohner würden Gnade finden, wenn die Empörer und Unruhestifter
die Stadt verlassen hätten; diesen sollte ein Tor zur Flucht geöffnet
werden. Das geschah, aber die Flüchtlinge gerieten auf dem Wege
nach Eisenach im Hainichwalde in einen Hinterhalt der fürstlichen
Truppen und wurden zum großen Teile gefangen genommen. Die Stadt
ergab sich noch am selben Tage auf Gnade und Ungnade. Die säch-
sischen Fürsten und der hessische Landgraf straften die wenigen
Schuldigen mit den Unschuldigen und legten der Stadt harte Strafen
auf. Sie bemächtigten sich des Schultheißengerichts und setzten als
ersten Schultheißen ein den Syndikus und Protonotar des alten und
des ewigen Rates Dr. Johann von Ottera.
Manche unerklärliche Punkte finden sich in diesem Berichte.
Jordan hat sie in den zitierten Abhandlungen zu lösen versucht durch
eine Annahme, die mir glaubwürdig erscheint und zum Charakter
Otteras paßt; seine Hypothese stimmt auch zusammen mit der Volks-
meinung, wenn ihn die Bauern in einem bald darauf auftretenden
Spottgedicht^ als Verräter bezeichnen. Er nimmt an, daß dieser Mann^
als er die Dinge ihrer Katastrophe zueilen und damit auch seine
eigene Stellung erschüttert sah, noch einmal Partei wechselte, und wie
er früher den alten Rat verraten hatte, jetzt die Stadt und seine bis-
herigen Anhänger den Fürsten zu seinem persönlichen Vorteile ver-
kaufte. Bei seinem Aufenthalt im fürstlichen Lager am 23. Mai wurde
der Handel abgeschlossen. Hier wurde abgemacht, daß die Aufrührer
' Chronik I, S. 194.
' Chronik I, S. 224.
Stadtschreiber und Stadtbücher in Mühlhausen i. Th. 455
an dem bestimmten Tage entfliehen und damit ihrem Unglück ent-
gegeneilen sollten, und daß darauf die Stadt, irrtümlich vertrauend
auf Gnade, sich unter Führung der Unschuldigen der feindlichen Ge-
walt auslieferte. — Denn wie wäre es sonst erklärlich, daß die Fürsten
so zeitig Nachricht erhielten von der unmittelbar vorher verabredeten
Flucht, so daß ihre Truppen, die östlich von der Stadt standen, die Flücht-
linge auf ihrem Wege nach Südwesten, in der offenen Landschaft nach
links ausbiegend, überholen konnten. Weiter ist es eigentümlich, daß
sich die befestigte Stadt, ohne durch Verhandlungen feste Bedingungen
zu erwirken, am ersten Tage ohne Schwertstreich ergab. Und auch
nur durch diese Annahme kann erklärt werden, daß der höchst ver-
dächtige Ottera so schnell in der Gunst der Fürsten stieg, die ihn
auch später nicht fallen ließen, als ihnen der Rat wiederholt von seinem
uftreten auf dem Barfüßer Kirchhofe Mitteilung machte.^
Für den Zusammenhang dieser Darstellung bleibt es bemerkens-
ert, welche leitende Stellung der Stadtschreiber im Rahmen eines
hlaff gewordenen Ratsregimentes einnehmen konnte, und Ottera be-
utet in der Geschichte des Stadtschreiberamtes einen neuen Höhe-
nkt, so anrüchig seine Persönlichkeit auch sein mag. Das Unheil,
s er der Stadt verursachte, sollte ein späterer Oberschreiber, Lukas
to, wieder gut machen.
Die städtischen Schreibstuben haben formell in diesen Verwirrungen
chts verloren, wenn auch naturgemäß die Kanzlei wie alle Verwaltungs-
eige unregelmäßig arbeitete. In den städtischen Büchern herrscht
anche chronologische Unordnung (z. B. Kopialbuch) und empfindliche
cken greifen Platz (Gesindebuch, Kopialbuch, Stadtbuch, Rechnungen).
er als sich der, wenn auch nur in beschränktem Maße wieder in
ine Rechte eingesetzte Rat einer beständigen Kontrolle ausgesetzt
h, und als an die Stadt größere finanzielle Ansprüche traten, steigerte
ch die Ordnung und Sorgfalt in der Verwaltung, und damit auch in
n Schreibstuben. Vom Jahre 1525 ab sind regelmäßige Protokolle^
er die Sitzungen des dreifachen Ratskollegiums erhalten, und zum
sten Male finden sich Anzeichen einer genaueren Registratur, eines
ordneten Archivwesens.^
Der Unterschreiber und Kammerschreiber haben die verhängnis-
vollen Jahre überdauert* Johann Bauseis Tätigkeit hatte sich schon
unter dem ewigen Rat über die Kanzlei* ausgebreitet, jetzt wurde er
^
^ Erst 1529 erreichte der Rat seine Absetzung.
■^ Protokolle des senatus triplex T 1—4, 1 cf. S. 475.
" cf. S. 476 f.
* Das lehren die Handschriften.
456 Erich Kleeberg
vom restituierten Rat in einem neuen Kontrakt^ als Obersclireiber
und Kammerschreiber angenommen. Er bezog einen Gehalt von
50 Gulden, hatte aber davon den ünterschreiber, seinen Substituten,
zu unterhalten.^ Bausei hatte das Amt bis 1540 inne, seitdem ist er
wieder als Kammerschreiber bis 1551 bezeugt.
Außerdem befand sich der frühere Stadtschreiber Johann Amberg
wieder im städtischen Dienst als Syndikus,^ oder, wie er öfters mit
einem jetzt neu geprägtem Titel genannt wurde, als Sekretär und
geheimer Schreiber. Es mag die Meinung gewesen sein, daß der Titel
Syndikus nur den studierten Laien, den eigentlichen Stadtjuristen be-
zeichne.* Der Rat bedurfte dringend eines geschäftserfahrenen und
treubewährten Dieners, dem auch schwierigere Missionen aufgetragen
werden konnten. Seine Politik ging in den nächsten Jahren darauf
aus, die Fesseln des fürstlichen Regiments und Schultheißengerichts
abzuwerfen, die hohen Ansprüche der benachbarten Herren und Ritter
auf Entschädigung glimpflich zu befriedigen und die schwerdrückenden
Forderungen der Fürsten einzuschränken. Er verfolgte den Plan, daß
er gegen das fürstliche Gericht das Reichskammergericht und die An-
sprüche der drei Fürsten untereinander ausspielte. Der Sekretär war,
um Befreiung von der Türkensteuer zu erlangen, im August 1526 auf
dem Reichstage zu Speyer^ und stand im Oktober vor dem Reichs-
kammergericht.® Auf dem Reichstage hatte er zugleich erwirkt, daß
das Gericht über die 1525 flüchtigen Bürger dem Reichskammergericht
vorbehalten bleiben sollte.' Ebenso vertrat er die Stadt wegen der
Türkensteuer vor dem Reichsregiment 1527^ und auf dem Speyerer
Reichstage 1529.^ Zu Verhandlungen an die Höfe in Dresden und
KasseP^ wurde er oft mit des Rates Vollmacht allein oder in größeren
Gesandtschaften ausgeschickt. Im Frühjahr 1528 suchte er in Frank-
furt um weitere Stundung der Zinsen nach,^^ die die Stadt in ihrer
Mittellosigkeit zu bezahlen nicht imstande war. — 1529 zog sich
' Gesindebuch Y 4, 1, S. 34 (1525).
^ Seit 1538 bezieht der ünterschreiber einen Gehalt von 10 Gulden und zwei
Kleider; dazu hat er Anteil am Schreibgefälle (Gesindebuch Y 4, 1, S. 124b [1538]).
^ Kämmereirechnung 1526 (Juni): Dom. 3. Amberg Sindico; er erhält an Gehalt
etwa 50 Gulden (= 70 Schock).
* cf. S. 453.
* Kämmereirechnung.
^ Kopialbuch W 11, S. 145.
' Kopialbuch W 11, S. 240b (1527); 241.
^ Kopialbuch W 11, S. 180 (1527).
" Kämmereirechnung 1528; Kopialbuch W 12, S. 62 b (1529).
'" Kopialbuch W 11, S. 240 b; 267 (1527); W 12, S. 297 (1528); S. 88 b (1529).
" Kopialbuch W 11, S. 299.
I
Stadtschreiber und Stadtbücher in Mühlhausen i. Th. 457
Amberg zurück. Wenn auch mit ihm noch einmal ein Geistlicher in
Beziehung zum Stadtschreiberamte trat, so ist das durch die Umstände
bedingt; im Prinzip ist die 1523 aufgestellte Forderung eines welt-
lichen Stadtschreibers nicht umgestoßen worden.
Obgleich der oberste Schreiber ein städtischer Beamter war, hin-
derte ihn der Rat nicht daran die Rechte eines publicus notarius im
Dienste Privater auszuüben, solange eine solche Tätigkeit nicht mit
seinen Amtspflichten in Konflikt kam= In der bisherigen Entwicklung
ist mir kein Fall bekannt geworden, daß das Amt unter dieser Doppel-
stellung des Beamten gelitten hätte.
Erst 1535 berief der Rat einen neuen Sekretär, den Weißenfelser
Bürger Wolf Töpfer.^ Doch schon im Juni 1537 nahm dieser seinen
Abschied^ und begab sich wieder in seine Heimatstadt Weißenfels
unter dem Vorgeben,^ daß er gewohnt sei „innerhalb und außerhalb
rechtens, als vor einenn advocatenn und promrator inn der leutte
sachenn auff tagen ader gerichtssachen sich brauchen zu lassen," und
beschwerte sich, „daß unser dinst ihn daran vorhindert." Der Rat be-
mühte sich vergebens um einen geeigneten Ersatz/ und sah sich in
der Zwischenzeit genötigt, damit die Kanzlei nicht litte, aus dem Rate
zwei Herren zur Unterstützung des Unterschreibers zu bestimmen.^
Schließlich fiel seine Wahl doch wieder auf Töpfer, dem er bei seiner
Neubestellung im Juli 1538^ verhängnisvolle Sonderbedingungen zu-
gestehen mußte. Nicht nur, daß sein Jahrgehalt von 50 auf 80 Gulden
erhöht wurde, so daß er an Spesen, Naturalien und Sold beinahe
200 Gulden^ jährlich einnahm, sondern der Rat versprach auch, ihn
jederzeit zu seinen Privatgeschäften zu beurlauben, ihm dazu ein Pferd
aus seinem Marstall zur Verfügung zu stellen. In städtischen Geschäften
soll er außerhalb der Stadt höchstens 4—5 Tagereisen weit geschickt
werden, auch soll er jedes Mal zum Reisen nicht gezwungen werden.
„Wir wollen Inen außerhalb der Stadt in keynen sachen gebrauchen,
die wir vormutlich selbst nicht gern thetten, doch in wichtigen,
tapferen sachen sali man van Raths wegen desto statlicher ausschicken."
Geschieht ihm in städtischem Dienste Schaden, so leistet der Rat
^ Schreiberbestallungen H 6, 1 1535.
^ Kämmereirechnung 1536 (Johanni 1537).
^ Schreiberbestallungen H 6, 1 (1537) (Konzept noch ohne Namen, doch deut-
lich auf W. Töpfer gemünzt; es ist sein neuer Bestallungsbrief, 29. IX. 1538).
* Syndikatsbestallungen H 6, 2, 1 (1537): Bewerbung eines L. Hödische aus
Leipzig.
^ Protokolle des senatus triplex T 1—4, 2 (1537, 5. IX.).
® cf. Anm. 3.
' Kopialbuch W 15, S. 304 (1539).
458 Erich Kleeberg
vollen Ersatz. Als seine Bestallung im nächsten Jahre auf 3 Jahre
erneuert wurde, behielt er sich vor, „jederzeit auszutreten, wenr
erhebliche Ursachen vorfallen."^ Aus diesen Bedingungen mußten sich
Kollisionen ergeben. 1539 war Töpfer als Anwalt Privater in einen
Handel am Gericht des Grafen zu Stolberg-Wernigerode verwickelt'
Der Rat bat den Grafen für ihn um Verschiebung des Termins, da dei
Sekretär beim Ratswechsel unentbehrlich sei.^ Die Sache muß füi
Töpfer eine unerfreuliche Wendung genommen haben; am 15. August
1539 entfernte er sich plötzlich ohne Urlaub aus der Stadt^ und brachte
seine Herren damit in Verlegenheit. Erst auf Vermittlung des säch-
sischen Kurfürsten vertrugen sich beide; der Rat zahlte Töpfers Be-'
vollmächtigten den rückständigen Sold aus und ließ ihm seine fahr-
bare Habe nach Weißenfels schaffen.^ — Aus diesen Vorgängen zog
der Rat eine Lehre und verpflichtete ausdrücklich einen späteren Syn-
dikus bei seiner Neubestallung, sich des procurierens in streitigen
Sachen der Bürger, außer in seiner Verwandtschaft, Vormundschaft
oder für sich selbst zu enthalten.®
§3. Lukas Otto und Nikolaus Fritzlar
Um die Mitte des Jahrhunderts wurde auf Drängen der protestan-
tischen Schutzfürsten zweimal die Reformation in der Stadt eingeführt
1542 und ca. 1556. Daß die konfessionellen Gegensätze im Rate nicht
zu schärferen Konflikten führten, ist durch die politischen Verhältnisse
zu erklären. Die Gemüter fanden sich zusammen in dem Streben
nach der Restitution der Stadt, nach der Wiederherstellung der alten
städtischen Freiheit, die ihnen durch die Führer der protestantischen
Partei in Deutschland, die Häupter des Schmalkaldischen Bundes be-
schränkt war. Bei deren Gegner, beim Oberhaupte des Reiches, suchte
man Unterstützung, die nur beim Festhalten an der alten Religion zu
erwarten war. Erst nach dem Siege des Kurfürsten Moritz über Karl V.
erlangte die protestantische Partei in wenig Jahren die Herrschaft.
Restitution und Reformation bestimmten bis ca. 1562 die Politik des
Rates. Die anschließende Periode war eine Zeit der Ruhe und des
' Kopialbuch W 15, S. 304 (1539).
' Kopialbnch W 15, S. 266 (1539, 14. V.).
' Kopialbuch W 15, S. 279 (1539 Juni).
' Schreiberbestallungen H6, 1; Kopialbuch W 15, S. 304 (1539).
' Kämmereirechnung 1529, 21. Sept.; Kopialbuch W 12, S. 309b.
* Bestallungsurkunde des Lukas Otto 1561. Ü.-Nr. 1448b.
Stadtschreiber und Stadtbücher in Mühlhausen i. Th. 459
^ufatmens und bedeutete für die Entwicklung der Stadt eine Blüte des
geistigen Lebens.
Das Amt des Oberstadtschreibers und Syndikus bekleideten Ma-
gister Lukas Otto und Magister Nikolaus Fritzlar, zwei bedeutende
Persönlichkeiten, fähig an der Entwicklung der Dinge leitenden Anteil
zu nehmen. In den Kämpfen haben sie sich eine beherrschende
Stellung erworben und so das Amt des Syndikus zu seiner Voll-
endung geführt. Mit der Betrachtung dieser Periode kann ich meine
Darstellung des Stadtschreiberamtes beendigen.
In ihnen fand der Rat für die Zeit des Kampfes und der Ruhe
die geeigneten Männer. Otto besaß vor allem Tatkraft und üner-
schrockenheit, er war einer der sympathischen Vertreter der damaligen
gelehrten Diplomatie und fähig, die politischen Kämpfe zum Ab-
schluß zu bringen; in religiöser Beziehung erkannte er die Reform-
bedürftigkeit der alten Kirche an: bereit, manche Formen seiner Kirche
preiszugeben, ließ er die Reformation geschehen, wenn er auch selbst
im katholischen Lager verblieb. Fritzlar dagegen war mehr der Mann
der Form, der feinsinnige Gelehrte, ein Erbe der humanistischen Welt-
anschauung. Durch seine amtliche Tätigkeit gewann die Form der
Kanzlei, des Archivs. Er nahm an der neu aufblühenden geistigen
Kultur innerhalb der protestantischen Bürgerschaft teil und beeinflußte
fruchtbringend die historischen Bestrebungen in der Stadt. Der Gegen-
satz auf religiösem Gebiet wurde von ihm wohl empfunden. Denn
wenn auch die unter ihm^ entstandene Chronik Ottos politische Wirk-
samkeit anerkennen muß, so kann sie sich trotz der ihm gezollten
Verehrung einiger Seitenhiebe gegen seine konfessionelle Stellung nicht
enthalten. So fließt z. B. bei der Nachricht über seine Wahl zum
Bürgermeister die bezeichnende Bemerkung^ ein: „aber die Praticken
gingen dem Papisten nicht, den er wardt halt krank," bei Betrachtung
der kirchlichen Verhältnisse in der Stadt: „Rodemann und Lukas Otto
konnten vil praticken, gott vertzeihe es ihnen." ^
Lukas Otto, der freien Künste Magister, beider Rechte Baccalaureus,
aus Leipzig gebürtig, war auf Empfehlung des Erfurter Syndikus Plick^
am 22. November 1540 mit einem festen Jahresgehalt von 130 Gulden,
freier Wohnung und den üblichen Präsenten auf zwei Jahre als Ober-
schreiber und Sekretär der Stadt angestellt^ worden. Nachdem er im
^ Über Fritzlars Anteil an der Chronik cf. Jordan, Einleit. zum 1. u. 2. Bd.
' Chronik II, S. 106/07.
' Chronik II, S. 99 (1558, 21. I.).
* Kopialbuch W 16, S. 19 (1540).
' Syndikatsbestallungen H 6, 2, 1, S. 24; Gesindebuch Y 4, 1, S. 148.
450 Erich Kleeberg
eigenen Interesse das Amt 1542 niedergelegt^ und 1543 einen Nach-
folger in Hartmann Spetter gefunden hatte, trat er 1546 nach Abgang
dieses tüchtigen Beamten^ in gleicher Eigenschaft wieder in städtischer
Dienst, in dem er von jetzt ab auch Syndikus genannt wurde. 1561
machte ihn die Universität Erfurt zu ihrem Ehrendoktor;^ im gleicher
Jahre wählte man ihn zum Bürgermeister, aber schon nach einen-
halben Jahre starb er am 10. Mai 1562.^
Schon aus seinem Antrittsrevers* geht hervor, daß er wohl noch
die Oberaufsicht in der Kanzlei führen, aber hauptsächlich dem Rate
und den Bürgern als ein Berater und Prokurator dienen sollte. — Er
verpflichtete sich, „in allen Sachen gemeyner Stadt, Iren burgern vnd
vnderthanen, es sey uff landtstagen ader in peynlichen Sachen innen
und außerhalb landes gegen menniglich mit radt, reden, schreyben,
reyten, lesen, zu concipirn, vnd die Originalia zu richten zum besten."
Seine vornehmsten Aufgaben erfüllte er auf repräsentativen und ge-
heimen Gesandtschaften, er war der Vertreter der Stadt bei den
Tagungen des Reiches, der Städte und des niedersächsischen Kreises.
Nach vielfachen Bemühungen während der vergangenen Reichstage
und vor dem Reichskammergericht wurde der Rat wie der Kurfürst
von Sachsen und der Landgraf von Hessen zum 14. Januar 1542 auf
einen Kommissionstag unter Vorsitz des Pfalzgrafen bei Rhein und
des Mainzer Erzbischofs zur Verhandlung über der Stadt Forderung
auf Restitution und über die Ansprüche dieser beiden Schutzherren
zitiert.^ Lukas Otto und drei Ratsherren bildeten die Gesandtschaft.
Der ganze Plan und die schönsten Hoffnungen der Stadt scheiterten
daran, daß trotz mehrmaliger Vorladung die sächsischen und hessischen
Vertreter zum Termin nicht erschienen. Sich in der kritischen Zeit
wegen der Reichsstadt Mühlhausen mit den Führern des Protestantismus
ernstlichen Konflikten auszusetzen, dazu hatten die kaiserlichen Ver-
treter weder Neigung noch Vollmacht. Und die Mühlhäuser mußten
sich damit begnügen, eine von ihnen aufgesetzte Supplikation „Mühl-
hausen nicht vom Reiche zu trennen" mit Hilfe der Reichsstände ein-
zureichen mit dem Erfolge, daß alle Stände die Bittschrift dem Kaiser
übergaben.^ Hoffnungsfreudig kehrte die Gesandtschaft zurück und
' Notulbuch X 9, S. 81 b (1542, 25. IX.).
' Notulbuch X9, S. 142b (1546, 11. VI.); Kämmereirechnung 1545.
' Chronik II, S. 106/07.
* Syndikatsbestallungen ti 6, 2, 1, S. 24.
' Chronik II, S. 16; Kopialbuch W 16 S. 147 b; 148 (1542); cf. zu den allge-
meinen Vorgängen Nebelsieck und Knieb.
* Kopialbuch W 16, S. 165 (1542).
Stadtschreiber und Stadtbücher in Mühlhausen i.Th. 461
'erkündete: „die Restitution werde bald kommen."^ Auf dem Regens-
)urger Reichstage wurde sie ausgesprochen und die Stadt des Ver-
rages von 1525 entbunden.^ Doch half ihr dieses wenig, denn das
/erhältnis zu den Schutzherren verschlechterte sich nur noch dadurch,
ind die Folge war die zwangsweise Einführung der ersten Reformation.
.ukas Otto stand, wie erwähnt, während der Zeit nicht im städtischen
)ienste.
Der Schmalkaldische Krieg erst brachte die Entscheidung, ün-
Tiittelbar nach dem 24. April 1547, dem Tage der Schlacht bei Mühl-
)erg, schickte der Rat am 29. April seinen Syndikus Otto und einen
<riegsmeister ürbach in das kaiserliche Feldlager bei Biesen vor
vVittenberg, wo sie den Huldigungseid für die Stadt ablegten.^ Von
lier aus bereisten sie die Tage zu Ulm und Augsburg 1547/48, und
_rotz der wiederholten Einsprache des Kurfürsten Moritz brachten sie
ier Stadt die Erneuerung der Restitution von 1542 und das Interim
mit* So hatte die Stadt ihre Reichsfreiheit vorläufig wiedererlangt,
wenn auch die Freude bei den Anhängern der neuen Lehre durch die
Niederlage der protestantischen Sache getrübt wurde. Die Herrschaft
des Kaisers mußte einer selbständigen Entwicklung der Stadt vorteil-
lafter sein als die scharfe Bevormundung der angrenzenden „Schutz-
ierren."
Da Lukas Otto an der Lösung der kirchlichen Frage nicht stark
beteiligt war, konnte er mit seinem bisherigen Erfolge wohl zufrieden
sein. Weniger glücklich war er in den folgenden Jahren; wenn sich
der Erfolg nicht in gleicher Weise einstellte, so fehlte es ihm nicht an
politischer Gewandtheit, sondern die äußeren umstände waren stärker
als der Vertreter der Reichsstadt Mühlhausen.
Mit der Opposition der Fürsten gegen das Reichsoberhaupt unter
Führung des Kurfürsten Moritz war auch die Machtstellung des
sächsischen Kurfürstentums zum Schaden Mühlhausens wiederhergestellt.
Noch im Jahre 1547 auf dem Augsburger Reichstage hatte Moritz
seine Rechte auf die Stadt nach dem Vertrage von 1525 geltend ge-
macht.^ Nach der Aufgabe der Magdeburger Belagerung besetzte er
im Herbste 1551 die Stadt Mühlhausen und ihre Dörfer. Von dieser
schweren Last konnte sich der Rat nur auf dem Wege der Verhand-
lung befreien. Ende November zog er noch einmal seinen früheren
Oberschreiber H. Spetter, jetzt Bürger in Eisenach heran, da „Lukas
' Chronik II, S. 16.
' Nebelsieck a. a. 0. S. 142ff.
' Chronik II, S. 29; Kopialbuch W 18, S. 221b (1547).
* Chronik II, S. 3t.
' Nebelsieck S. 191.
452 Erich Klceberg
Otto wegen Gebrechen des Leibes für legationen usw. unfähig war."
Aber seit dem Dezember des Jahres stand Otto im Vordergründe.^ Zu-
nächst erlangte er Befreiung der Stadt von der Einquartierung. An
17. Dezember und 6. c7anuar nahm er an zwei erfolglosen Gesandt-
schaften nach Dresden teil. Als am 14. Januar kurfürstliche Räte ir
Mühlhausen erschienen und sich durch Vermittlung des Syndikus ar
die versammelten Räte wandten, verlas Otto als Antwort fünf von ihn:
aufgesetzte, scharf abwehrende Artikel. In einer neuen Versammlung
forderten die kurfürstlichen Räte die Auslieferung des Syndikus und
des Bürgermeisters Rodemann, die sie auf „Anstiften unruhiger Leute"'
beschuldigten, sich hinsichtlich der Religion unbeständig gezeigt und
dadurch die Unruhen und den Abfall der Stadt verursacht zu haben,
Beide verteidigten sich vor dem Rat, der sich für sie in einer Bitt-
schrift nach Dresden wandte. Am 25. Januar fand das öffentliche
Verhör der beiden Angeschuldigten statt. Während Rodemann, d^r
sich schuldiger fühlen mochte, sich schweigend auf die Unterstützung
des Rates verließ, führte der Syndikus zu seiner Verteidigung an, daß
er stets dem alten Glauben treu geblieben sei, im übrigen nur nach
den Instruktionen seiner Herren gehandelt habe. Schließlich verzich-
teten die Räte doch auf die Auslieferung der beiden Führer, zumal die
Verhandlungen jetzt zu einem annehmbaren Ergebnis führten. Der
Streit fand sein Ende damit, daß die Stadt sich eine Schutzherrschaft
von vorläufig 20 jähriger Dauer gegen jährHche Zahlung von 600 Gulden
gefallen lassen mußte, wofür aber ihre anderen Rechte nicht angetastet
wurden. Unter dem starken sächsischen Einfluß, der fortan nicht mehr
zu beseitigen war, erfolgte die zweite, endgültige Reformation der Stadt.
Sahen wir Lukas Otto mit Entschiedenheit für die Restitution ein-
treten und sich der Ungnade des Kurfürsten mit Hintansetzung seiner
eigenen Persönlichkeit aussetzen, so machte er den Kampf gegen die
Reformation nur mit halbem Herzen mit. Die politische Stellung der
Stadt und die Einigung der Bürger erschien ihm persönlich von größerer
Wichtigkeit als der Streit der Konfessionen. Entschieden war er neben
Rodemann die bedeutendste Persönlichkeit seiner Zeit in der Stadt.
Magister Nikolaus Fritzlar war eines vermögenden Mühlhäuser
Bürgers Sohn. 1540 finden wir ihn als Studenten der Erfurter Uni-
' Kopialbuch W 20, S. 233b (1551).
Ich kann hier im wesentlichen verweisen auf eine edierte Quelle: den Rechen-
schaftsbericht L. Ottos über die Vorgänge, der in die Chronik aufgenommen und
so erhalten worden ist (Hactenus M. Lucae Otten descriptio; Chronik II S. 44—63).
Das wichtigste Aktenmaterial flicht er in seine Darstellung ein.
' Kopialbuch W 21, S. 335 b (1554).
Stadtschreiber und Stadtbücher in Mühlhausen i. Th. 463
^ersität/ die er 1550 als Magister der freien Künste verließ.^ Nachdem
;r schon 1556/57 dem Rate gelegentliche Dienste^ geleistet hatte, über-
lahm er 1561 das Amt des Oberschreibers, des Archigrammateus, wie
r sich selber gern nannte. 1574 trat er von dem Posten zurück,
)lieb aber noch wie sein Vorgänger Syndikus und wurde zum Bürger-
neister des Jahres erwählt. Wo er politisch hervortrat, fühlte er sich
ils Wortführer der Protestanten.^ 1575 bekleidete er das Ratsamt eines
)berkämmerers, spielte überhaupt im Rate noch verschiedentlich eine
ührende Rolle ;^ Pfingsten 1601 ist er gestorben.^
Er gehörte als der Jurist der Stadt und höchster Ratsdiener mit zu
len Führern des neuen geistigen Lebens innerhalb der protestantischen
Bürgerschaft. Zu den bedeutendsten Köpfen in der Stadt, zu den
/ertretern der Gelehrsamkeit unterhielt er Beziehungen, so zum Resti-
ütor ecclesiae, dem Superintendenten Tilesius, dem Dichter und Super-
ntendenten Helmbold und dem Musiker Joachim Müller ä Burgk,
iamals Aktuar und Organisten. An der Einweihung der neuen latei-
lischen Schule nahm er als Vertreter des Rates teil;' er schritt dem
eierlichen Zuge mit dem Rektor und Superintendenten voran und hielt
leben diesen eine lateinische Eröffnungsrede. Im nächsten Jahre
^^ohnte er als Ratsvertreter dem ersten Examen und der Vorstellung
lines neuen Lehrers an der Lateinschule bei."^
Mindestens stark von ihm beeinflußt entstand in den 70 er Jahren
lie älteste überlieferte offizielle Stadtchronik, ^ die ganz sicher ältere
/orlagen überarbeitete und synchronistisch fortsetzte. Ihre Nachrichten
nthalten viel Material zur Stadtgeschichte und sind im allgemeinen
[laubwürdig. Mit manchen Irrtümern und oft merkwürdiger Verwechse-
lingen in der Datierung, die wohl auf die gebrauchten Vorlagen zu-
ückzuführen sind, ist natürlich immer zu rechnen. Von Fritzlars Hand,
nit nur wenigen eingehefteten Berichten in anderen Schriftzügen,
tammt ein Memoriale, das die Jahre 1562—1573, also fast die ganze
^eit seines Stadtschreiberamtes überspannt. Außer Nachrichten über
igene Handlungen hat er auch wichtige und bedeutungsvolle Gescheh-
^ Weißenborn, Akten der Universität Erfurt II, 353; Auszug von Jordan,
jchichtsbl. 5.
' Kopialbuch W 19, S. 179 b (1550).
' z. B. 1556 Chronik II, S. 96; 1557 Kopialbuch W 21, S. 307.
^ cf. Knieb S. 100; 112; 113.
^ Protokolle des Senatus tripicis und des regierenden Rates.
^ Chronik II, S. 152.
^ Jordan, Beiträge zur Geschichte des städt. Gymnasiums III, S. 13 ff.
^ cf. Jordan, Einleit. zum 1. u. 2. Bande seiner Mühlhäuser Chronik; in diesen
iden ist die Chronik ediert.
464 Erich Kleeberg
nisse aus der Stadtgeschichte aufgezeichnet und damit eine offiziöse
und zeitgenössische Chronik geschaffen. Das Memoriale ist vielleicht
begonnen als Rechenschaftsbericht über seine Amtsführung, ähnlich
wie Lukas Otto die Vorgänge der Jahre 1551 — 1553 in einer umfang-
reichen Darstellung^ zusammengefaßt hat. Es sind das die einzigen
Fälle, in denen wir den Mühlhäuser Stadtschreiber als Stadthistorio-
graphen nachweisen können, eine Tätigkeit, in der der Stadtschreiber
in vielen anderen Städten sich großen Ruhm errungen hat.^
Wie weit Fritzlar an der Revision und Neuausgabe der Statuten D
von 1567 beteiligt war, weiß ich im einzelnen nicht. Als Syndikus
wird er in der 1562 zur Vorbereitung der Aufgabe eingesetzten Kom-
mission von 8 — 9 Mann gewesen sein.^ Notwendig war eine gründ-
liche Neuredaktion schon lange; entsinnen wir uns, daß die letzte
Kodifikation im Jahre 1401 vorgenommen wurde. Schon aus den
Jahren 1439—1442 findet sich eine Abschrift^ der noch gültigen Sta-
tuten aus der Willkür C und ihren Zusätzen, in der auch A und B
verarbeitet waren. Nachdem die Kommission die Vorarbeiten erledigt
hatte, wurden die nach und nach fertiggestellten fünf Bücher einzeln
im Rate der Ältesten, zu dem auch der Syndikus Zutritt hatte; be-
sprochen unter Hinzuziehung eines „Konsiliars," des Schwarzburg-
Sondershausenschen Kanzlers ApoUonius Wigand, der vom Rate seit
1564 einen Gehalt von 50 Gulden bezog.^ Seine Aufgabe bestand
darin, die ..Statuta den kayserlichen und landüblichen Rechten, auch
ihren vernünfftigen Gewohnheiten gemäß, zu erklären, zu emendirn und
in richtige Ordnung zubringen."^ Nachdem am 22. Juli 1565 die erste
Lesung vor dem großen Rate stattgefunden hatte,^ wurden sie wieder
an den ältesten Rat zurückgegeben mit der Weisung, „einige Artikel
besser zu bedenken." Mai und Juni 1566 fand die zweite Lesung vor
dem senatus triplex statt,^ und da auch jetzt noch Anderungsvorschläge
gemacht wurden, konnte die neue Willkür erst am 25. August 1567^
' cf. S. 462 Anm. 2.
' W. Stein a.a.O. S. 29ff.
^ Protokolle des Senatus triplicis T 1—4, 4 (1562).
* Abschrift ediert von Bemmann, Mühlh. Geschichtsbl. 9; Handschrift de5
ünterschreibers Helmbold, der von 1539—42 im Amte war.
^ Kämmereirechnungen der Jahre 1564 — 66.
* Jordan, Zur Geschichte der Stadt Mühlhausen II, S.S.
^ Fritzlar, Memoriale, S. 76.
' Protokolle des Senatus triplicis T 1—4, 4 (1566).
® Chronik II, S. 122. Schon am 22. März 1561 (Gesindebuch S. 282) war dei
ünterschreiber Leonhard Hübner (cf. Familiengesch. von Otto Hübner, Geschichts-
blätter VIll, S. 131 ff.) dazu bestimmt worden: „wenn der Rat die Willkür zu rekti-
fizieren vornehmen lassen werden, daß ich zum schönsten und fleißigsten Iren a.
W. zu eheren uffs pergament impressieren, schreiben und verfertigen sol und wil.
Stadtschreiber und Stadtbücher in Mühlhausen i. Th. 465
durch den Stadtschreiber Fritzlar im Beisein der drei Räte publiziert
und vor der Bürgerschaft öffentlich verlesen werden.
Jedenfalls auch unter der Aufsicht des Ratsherrn und Syndikus
Fritzlar fand um das Jahr 1576 eine Neuordnung des Urkunden-
bestandes und die Anlegung mehrerer Urkundenregister statt. Auf
diese Arbeiten werde ich bei der zusammenhängenden Besprechung
der Registratur noch einmal zurückkommen.^
Fritzlar, wie sein Vorgänger Otto, hatten als Oberschreiber An-
stellung gefunden und erst im Verlaufe ihrer Dienstzeit den Titel
Syndikus^ erhalten. Beide behielten nach Niederlegung ihres Schreib-
amtes und nach ihrer Wahl zum Bürgermeister den Titel und die
Stellung eines Syndikus bei, womit sie zu politischen Vertretungen,
gerichtlichen Prokurationen in- und außerhalb der Stadt und zur Auf-
sicht über die Schreibstube verpflichtet blieben.^ Erst 1581 wurde
mit Dr. Salomon Plathner ein ständiger, über dem Protonotar stehender
Syndikus geschaffen, der wohl zum Stadtschreiberamte in naher Be-
ziehung stand, aber nicht aus diesem hervorzugehen brauchte. Seine
Stellung hat man nicht unrichtig als die eines Kanzlers der Stadt
bezeichnet, und als solcher wird er auch mitunter in Briefen von
Fremden angeredet. — 1613 wurde das Personal vermehrt,* indem
ein dem Oberschreiber an Gehalt und Ansehen gleichgestellter Sekretär
angenommen wurde. Mit diesem Jahre erst gewann der Titel Sekre-
tariüs einen spezifischen Inhalt. Er war im Gegensatze zu dem in
der Kanzlei sitzenden Stadtschreiber der Ratsschreiber, der in den
Sitzungen die Proposition vorlas und das Protokoll führte. Der Syndikus
war der oberste Beamte des Rates, der Oberschreiber und Sekretär
blieben an Bedeutung hinter ihm zurück. Und als in der weiteren
JEntwicklung diese Schreibämter einen subalternen Charakter erhielten,
lebte in ihm die Stellung des Stadtschreibers fort, bis das Amt 1802^
Doch ist er dazu nicht gekommen, die Chronili (S. 116) meldet vom 6. Juli 1565,
!daß L tiübner seiner untreu halber im Schreiben inkarzeriret und endlich nach Ver-
ibüßung wieder losgestellt wurde". 1602 und 1679 wurden noch einmal Neuredaktionen
'in Angriff genommen. Die fertigen Statuten erschienen 1692 im Drucke. Soweit in
den Statuten von 1692 sich gegen 1567 nichts geändert hat, zitiere ich die Willkür
von 1567 nach dem Druck.
^ cf. S. 477.
^ Nicht in allen Städten steht der Syndikus in so naher Beziehung zum Stadt-
schreiberamte. K. Koppmann z.B. berichtet (Beiträge zur Gesch. von Rostock,
Bd. 3, 1903, S. 78), daß in Rostock 1533 der Syndikus vom Stadtschreiber ganz ge-
trennt gewesen sei, daß er keine näheren Beziehungen zur Kanzlei gehabt hat.
' cf. S. 471f.
* Protokolle des regierenden Rates, D 2—4, 6 (1613).
^ Der letzte Syndikus von alter Bedeutung war der kaiserliche Rat Adolf
tiübner (Geschichtsbl. 8, S. 146ff.).
Afü II 30
\
456 Erich Kleeberg
bei Eingliederung der Stadt in den preußischen Staatsorganismus in der
alten Form überflüssig wurde.
Die übrigen Verwaltungszweige wie Kämmerei, Zinsmeisterei, Stadt-
gericht, seit ca. 1580 auch das Konsistorium^ haben in selbständiger
Fortentwicklung auch ihr eigenes Schreiberpersonal gehabt. Wenn ich
von Kopisten und untergeordneten Beamten wie dem Zollschreiber
absehe, so bestanden im 16. Jahrhundert die Ämter des Syndikus,
Ober-, ünterschreibers, Kammer-, Zinsschreibers, Gerichtsaktuars und
wenigstens seit 1580 des Konsistoriumschreibers. — Ihre Stellung inner-
halb der Bürgerschaft und ihre Tätigkeit mögen jetzt betrachtet werden.
§4. Stellung der Schreibbeamten innerhalb der Bürgerschaft
und ihr Dienstverhältnis
Da selbst die meisten der unteren Schreiber noch dem aka-
demischen Stande angehörten und öffentliche Notariatsrechte besaßen,
so betätigten sie sich nicht nur im Dienste Privater als Prokuratoren
und Advokaten, sondern auch der Rat verwandte sie vor dem städti-
schen und an fremden Gerichten in solchen Geschäften.
Der Kammerschreiber nahm unter den niederen Schreibbeamten
den ersten Rang ein und war auch unter ihnen am besten gestellt.
Das mag seinen Grund vor allem in der Entwicklung des Amtes haben ;
waren doch 1540 noch einmal die Ämter des Ober- und Kammer-
schreibers in einer Person vereinigt. Da täglich größere Summen durch
ihre fiand gingen, bekleideten sie eine Vertrauensstellung: bewährte
Subnotare wurden oft auf diesen Posten befördert. Der unterschreiben
kam im Gehalt dem Gerichtsaktuar gleich. Ein Übergang von dem
einen in das andere Amt kam wiederholt vor. Daß ein ünterschreiber
zum Protonotar vorrückte, habe ich nie beobachtet, trotzdem es nicht
verboten und für L. tiübner sogar vorgesehen^ war. Den untersten
Rang nahm der Zinsschreiber ein; er überschaute nur einen, verhältnis-
mäßig kleinen Teil der städtischen Verwaltung, und er war von seinen
Herren, den Zinsmeistern sehr abhängig.
Außer den Zinsschreibern wurden die meisten dieser Beamten
nach Beendigung ihres Dienstes, soweit sie nicht aus irgend welchem
Grunde die Stadt verließen, in den Rat gewählt, wo sie auf der „Lite-
ratenbank" Platz nahmen. Man scheute sich, Angehörige des Rates
Das Konsistorium vor 1573 eingesetzt, bestand aus dem Superintendenten
und drei Ratsmitgliedern; ihm unterstanden die kirchlichen Angelegenheiten, be-
sonders die Ehesachen (Nebelsieck a. a. C S. 247).
* Kopialbuch W 23, S. 226 (1559).
Stadtschreiber und Stadtbücher in Mühlhausen i.Th. 467
uf Schreiberposten zu berufen, wenn es auch seit der Mitte des
6. Jahrhunderts zuweilen vorkam. Der ünterschreiber Liborius Schröter
j,;urde nach Niederlegung seines Amtes 1550 als Marktmeister in den
»itzenden Rat gewählt.^ Er blieb auch im Ratsstande, trotzdem er
ald darauf zum Kammerschreiber berufen wurde. Aber noch 1558
/ar es Gewohnheit, bei der Wahl in den Rat andere städtische Ämter
Lifzugeben.^ Erst als im 17. Jahrhundert größere Unregelmäßigkeit
ingetreten war, und der Schreiberdienst seine Bedeutung eingebüßt
atte, bestimmte der Rat in einem Rezeß von 1642:^ „Es ist des
vatsherrn unwürdig, sich mit Skribentenstellen in der Kanzlei zu be-
assen. Zu Kammer- und Zinsschreibern sollen keine Ratsherren ge-
zählt werden; treten aber solche Schreiber in den Rat ein, so können
ie bleiben, bis sie an den sitzenden Rat kommen, dann sollen sie
lY Schreiberamt aufgeben."
Außer den genannten städtischen Beamten berief der Rat auch
ndere öffentliche Notare in städtischen Dienst. Spätestens seit
580 bestellte* er zwei vereidigte Prokuratoren und Advokaten, die
er dem Rat und dem Stadtgericht auf Forderung der Parteien die
firistische Vertretung übernehmen sollten. Sie waren gehalten in
urzer Form mündlich oder schriftlich die Sachen einzubringen und
n Sinne der städtischen Statuten „in bescheidenheit, ohne schmehen"
ie Verteidigung zu übernehmen. Andere, auch auswärtige tüchtige
fachwalter waren damit keineswegs ausgeschlossen.^
Seit den 30 er Jahren des 16. Jahrhunderts wurde es notwendig,
inen der Prokuratoren am Reichskammergericht mit der ständigen
Vertretung der Stadt zu betrauen. Er konnte sich, wenn nötig, „auch
inen oder zwei Afteranwälte im Dienste der Stadt substituieren."^
>eit 1595 bezog Dr. Ludwig Ziegler advocatus einen Gehalt von
2 Talern,' der bis 1551 auf 27 Taler gestiegen war. Nach seinem
ode bekleideten in den Jahren 1553—1575 diesen Posten Dr. Joh.
>eschler,^ Dr. Leop. Dick, Dr. Melchior Schwarzenberg,^ Dr. Georg '
»erlein'^ und Dr. Malachin Ramminger.^^
' Notulbuch X9, S. 223b; 226 (1550).
* cf. Geschichtsbl. 9, S. 129f.: Brief Joachims ä Burgk, der sich 1588 ver-
;ns um den Gerichtsschreiberposten bewirbt.
^ Gedruckte Ratsrezesse, § 35.
* Gesindebuch Y 4, 2 b, S. 27 b (1580).
' Rezeß von 1679, § 27.
^ z. B. Notulbuch X IIa S. 176 (1572).
' Kämmereirechnung 1535; Kopialbuch W 20, S. 102 (1549).
^ Kopialbuch W 21, S. 123b (1553).
' Notulbuch X 10, S. 231 (1563).
'" Notulbuch X IIa, S. 178 (1572).
30*
468 Erich Kleeberg
Die Notariatsgeschäfte konnten von den städtischen Schreibern al
ein Recht, aber auch als drückende Pflicht empfunden werden, j
nachdem ob sie dem Rate unentgeltlich ihre Dienste leisten mußten
oder ob sie von Privaten Sondereinnahmen bezogen. Es sind offenba
besondere Vergünstigungen, wenn den beiden Sekretären Töpfer um
Otto bei Erneuerung ihrer Kontrakte gestattet wurde, dem einen 1537,
daß er nicht in Sachen gebraucht werden soll, die die Ratsherrei
„vormutlich selber nicht gernn thetten", dem andern 1555,^ „daß er ii
peinlichen handeln redens, prokurierens, Schreibens wie billich verschone
bleiben soll." Der 1579 zum Oberschreiber bestellte Magister Gerbe
verpflichtete sich wieder zum Dienst in allen vorfallenden Sachei
bürgeriich und peinlich, in- und außerhalb der Stadt.^ In diesem Sinn,
ist es auch zu verstehen, wenn sich zu Ottos Zeit die Frage erhebei
konnte, ist der Stadtschreiber als publicus notarius schuldig „äff vor
geend requisition einem jeden, der vor dem Rat etwan zu handeli
hatte. Instrumenta publica zu machen oder nit?"* Der um sein Gut
achten angegangene kurpfälzische Rat Dr. Drechsel äußerte sich dahin:
„Sovil ich in der Eyl erwägen kann, so achte ich, diweyl gemeinücl
den Notarys disses officium injungirt wurdet, uff Requisition ihr Amp
niemant zu verweigern, so wird es auch mit Eurem Stadttschreibe
sein. Disse Frage ist meer auß dem Bugstaben seiner Creation al
aus dem Rechten zu eriedigen." Prinzipiell wurde die Frage nicht ent^,
schieden, und auch die mir vorliegenden Dienstverträge aus spätere-'
Zeit lösen sie nicht. Tatsächlich wird der vielbeschäftigte Oberschreibe
und Syndikus mit diesen Geschäften verschont geblieben sein; de
Rat bediente sich dazu seiner niederen Schreibbeamten, vor allen
des Subnotars und des Aktuars, oder er wandte sich an einen de
öffentlichen Notare in der Stadt.^
Wurden andererseits Stadtschreiber als Anwälte Privater zu sehr ii
, Anspruch genommen, so konnte ihnen dieses, wie das Beispiel Töpfers
beweist, bei der Erfüllung ihrer Amtspflichten hinderiich werden. Abe
nur in einzelnen Fällen, wie bei der Syndikatsbestallung Lukas Ottoj
im Jahre 1561^ verbot der Rat dem Beamten das Prokurieren in
Dienste Privater.
Die Bedingungen, unter denen die Beamten angestellt wurden
* Schreiberbestallungen, Konzept H 6, 1 (1537, 29. IX.).
' Syndikatsbestallungen ti 6, 2, 1, S. 20.
^ Gesindebuch Y 4, 2 b, S. 7 (1579).
* Schreiberbestallungen H 6, 3 (Brief des Dr. Drechsel an den Rat).
' z. B. Ü.-Nr. 1458 (4. X. 1562).
* cf. S. 458.
Stadtschreiber und Stadtbücher in Mühlhausen i. Th. 469
uind nicht prinzipiell festgelegt; in den Statuten geben darüber nur
fiinige recht allgemein gehaltene Amtseide Auskunft. Das Verhältnis
/Lirde bestimmt durch einen vom Rate von Fall zu Fall aufgesetzten
Kontrakt, der meistens in das Gesindebuch eingetragen wurde. Immerhin
assen sich einige allgemeine Gesichtspunkte aus ihnen herausheben.
I Der Vertrag lautete stets auf eine bestimmte Anzahl von Jahren,
unächst auf ein oder wenige Jahre; hatte sich der Beamte bewährt,
0 wurde der Kontrakt auf einen größeren Zeitraum ausgedehnt. Wer
\d munüs personale tantum obeundum erwählt wurde, dem mußte eine
kppellation und gebührliche Frist zu seiner Entscheidung zugestanden
/erden. Wurde einer dagegen berufen ad honores et munera, quae
\riüs sepissime gessit, itemm administranda, so mußte er der Voka-
on Folge leisten, wenn nicht der Rat seine triftigen Gründe billigte.
pnter solchen Gründen wurden vor allem verstanden, wenn man sich,
seiner bürgerlichen Hantierung, Gewerbe, Nahrung wegen" nach aus-
wärts begeben wollte,^ auch die Erwählung in den Ratsstand schloß,
i^ie wir sahen, gewöhnlich die Fortführung des Amtes aus. Tüchtige
)berschreiber und Syndici für den Mühlhäuser Dienst zu finden, war
licht immer leicht, obgleich Bewerbungen, nach dem vorhandenen
»Material zu schließen, immer eingelaufen sind. Der Rat sah sich
leshalb bei Anstellung seines obersten Beamten oft zu besonderen
/ergünstigungen genötigt. Wolf Töpfer z. B. erhielt die Erlaubnis,^
ederzeit auch während der Dauer des Vertrages abgehen zu können,
^^enn erhebliche Sachen vorfielen. Lukas Otto vereinbarte 1540 und
555,^ daß es ihm wie dem Rate freistehen sollte, Abschied zu nehmen
)der zu geben nach Ablauf des Vertrages mit Einhaltung einer viertel-
ährlichen Kündigungsfrist. Mühlhäuser Bürgerssöhne scheinen im all-
gemeinen bevorzugt gewesen zu sein; der Rat setzte für die in Erfurt
lecht und Theologie studierenden Mühlhäuser Stipendien aus, wenn
iie sich verpflichteten, ihrer Vaterstadt ihre Dienste zu leisten.
Die strengste Amtsverschwiegenheit wurde ihnen zur Pflicht ge-
nacht, gewöhnlich in der Form, daß sie schwuren, die ihnen zu-
jänglichen Bücher und Akten „heimlich zu halten" und keinem ün-
)erufenen zu zeigen oder ohne Wissen des Rates Abschriften zu-
lommen zu lassen. Auch durften sie weder Fremde auf Grund ihrer
\ktenkenntnisse warnen und sonstigen unerlaubten Rat geben, noch
iie im Amt oder durch Zufall gehörten Äußerungen während und nach
hrer Dienstzeit zum Schaden des Rates im eigenen. Interesse ver-
^ Kopialbuch W 23, S. 226 (1559): tiübner, der seinen Abschied nehmen wollte,
vird an diese Verhältnisse erinnert.
' cf. S. 458.
' Syndikatsbestallungen H 6, 2, 1, S. 20; 24ff.
470 Erich Kleeberg
wenden.^ Oberschreiber und Syndikus mußten sich noch obendrein
verpflichten, Streitpunkte mit dem Rat, mit Bürgern und Einwohnern,
nie anderswo als vor dem Rat oder dem städtischen Gericht zum
gerichtlichen Austrag zu bringen, bei der Stellung des Beamten eine
dem Rat offenbar sehr wertvolle Bedingung.^
Dem Oberschreiber und Syndikus, die ihr Dienst oft über Land,
führte und sie Gefahren an Gut und Leben aussetzte, versprach deri
Rat Schadenersatz zu leisten, gewöhnlich aber nicht über die Summe
ihres jährlichen Einkommens an festem Gehalt und Präsenten hinaus,
in einigen Fällen, wie in dem schon wiederholt genannten Kontrakt
mit W. Töpfer 1537 Ersatz in voller Höhe des Verlustes. Ganz all-
gemein waren die Beamten gehalten, bei Tag und Nacht ?um Dienste
bereit zu sein, von dem sie „nur Krankheit und Leibesschwachheit"i
entbinden konnte. Der Oberschreiber durfte ohne Wissen der Bürger-
meister das Weichbild der Stadt nicht verlassen, nicht einmal die
Weinberge oder das Feld besuchen.^
Ihre Besoldung bestand in einem festen Geldsatz, in Natural-
lieferungen und gewissen Präsenten, die damals durch Geld meistens
abgelöst waren. Bei den niederen Beamten stieg der Gehalt im Laufe
des Jahrhunderts langsam und stätig, beim Oberschreiber wechselte
er von Vertrag zu Vertrag und war sehr abhängig von seiner Bildung
und Tüchtigkeit. So kam es, daß des Sekretärs Gehalt 1535 noch
50 Gulden betrug, während Otto 1540 schon 130 Gulden erhielt. Dazu
kamen noch Lieferungen an Getreide, Holz, Tuch, ein oder zwei freie
Brautage und oft noch freie Wohnung. Der Kammerschreiber" bezog
etwa einen Gehalt von 28 Schock (1 Schock um diese Zeit = % Gulden),
der Zinsschreiber ^ von 14 Schock. Bis zum Jahre 1535 wurde der
* Über diese Fragen sind besonders lehrreich die folgenden Stücke: Syndikats-
bestallungen H 6, 2, 1, S. 20, 24, 30; Bestallungsurkunde Ottos: 1448b, 1561; Schreiber-
bestallungen ti 6, 1 (1535) des ünterschreibers Chr. Ritter; Gesindebuch Y 4, 1,
S. 214: 1550 Revers des Gerichtsschreibers L tiübner.
' Gesindebuch Y 4, 2 b, S. 7 (1579).
^ In der Schreibstube der Kämmerei hatte sich seit dem 15. Jahrhundert nichts
Wesentliches geändert. Die Rechnungen werden jetzt ausführlicher, so daß es nötig
wurde, einen Auszug der tiauptposten anzulegen, der den Räten vorgelegt wurde.
Seit 1527 fanden die Abrechnungen alljährlich bloß einmal im Juli statt. — Die
Briefe wurden wie auch in der Kanzlei jetzt sorgfältiger registriert (cf. S. 477).
* Einen Zinsschreiber gab es spätestens seit 1503: „Er soll sitzen und schreiben,
so oft die Herren Zinsmeister beieinander sitzen und in den Scheunen und Mühlen
ausmessen und aufheben." 1541 stellte man ihm ein Pferd zur Verfügung, da er
auch das Bestellen der Äcker und das Einfahren der Früchte zu überwachen hatte.
Alle vier Wochen soll er das Korn, das er eingenommen hat, stürzen und das Geld
abliefern. Der 20. Malter der Einnahmen gehörte ihm. Statuten 1567, Art. 46; Ge-
sindebuch 1537, S. 118b; 1539, S. 137b; 1541, S. 149b.
Stadtschreiber und Stadtbücher in Mühlhausen i. Th. 471
ünterschreiber vom Oberschreiber oder Sekretär verpflegt, wofür dieser
das Schreibgefälle in der Kanzlei verwenden durfte. Seit der Zeit
jbezog der ünterschreiber aus der Kämmereikasse einen Gehalt von
26 Schock, der ebenfalls von den nun in die Kämmerei fließenden
Schreibgebühren bestritten wurde. Erst seit 1554 ^ kam ihm der ganze
Ertrag der Kanzlei zugute, die einkommenden Summen brauchte er
nicht mehr vor der Kämmerei anzugeben, doch wurde es ihm zur
Pflicht gemacht, die Gebühren nach den Taxen ^ zu bemessen und nie-
manden zu übervorteilen. Die Schreiber am städtischen Gericht^ und
in der Vogtei waren außer kleineren Naturallieferungen ebenfalls nur
auf das Schreibgefälle angewiesen, das wie in der Kanzlei nach be-
stimmten Taxen ^ erhoben wurde.
An den Präsenten, an den Geschenken, die am Tage der Fron-
leichnamsprozession und der Statutenverlesung unter die Ratsherren
verteilt wurden, nahmen die städtischen Schreiber teil, und zwar in
dem Maße, daß die Oberschreiber den Ratsherren gleichgestellt waren,
und daß die Gaben der übrigen in der üblichen Reihenfolge vom
Kammerschreiber auf den Zinsschreiber abnahmen.
§5. Die amtliche Tätigkeit, der Kanzleischreiber; Stadtbücher
im 16. Jahrhundert
Im 16. Jahrhundert entwickelten sich die einzelnen Schreibstuben
ganz selbständig voneinander. Der Syndikus allein führte über ihr
Personal eine gewisse Oberaufsicht, da er mit den verschiedenen
Zweigen der Ratsregierung vertraut sein mußte. Besonders nahe stand
"■ Gesindebuch Y 4, 1, S. 238 b (1554).
^ Von solchen Taxen des 16. Jahrhunderts sind noch einige erhalten: Kanzlei-
taxen: Kopialbuch W 14, S. 136b (1534); Kopialbuch W. 16 (1540); 1556, T8c Nr. 10.
Gerichtstaxen: 1556, TSc Nr. 10. 1578, Gerichtsordnung in einem Nachtrag zu den
Statuten von 1567.
^ Die Gerichtsaktuare waren im 16. Jahrhundert fast alle akademisch gebildet.
Noch 1556 wurde die Vertretung der Stadt auf dem Reichstage einem Gerichts-
schreiber anvertraut. Beim städtischen Schultheißengericht bestand seine Tätigkeit
im Schreiben und Vorlesen aus den Gerichtsakten und -büchern. Er besorgte die
Vorladungen, fixierte die vorbereitenden Handlungen, wie Aufnahme des Tatortes
und des Tatbestandes, Zeugenverhör, Vereidigung — und schrieb die fiändel, Ur-
teile und Kontrakte in das Gerichtsbuch. Bevor in die rechtliche Verfolgung einer
Anklage eingetreten wurde, versuchte er mit dem Schultheißen die „gütliche Einigung"
(Statuten D 1567 Art. 37). Auf Verlangen stellte er den Parteien Instrumente und
Gerichtsbriefe aus; und durch ihn wurden die Akten, falls Rechtsspruch auswärtiger
Schöffen oder das Gutachten auswärtiger Rechtsautoritäten verlangt wurde, „inrotu-
liert und verschickt". (Gerichtsordnung von 1578; Gesindebuch Y 4, 2, S. 214 b; S. 2.)
»
472 Erich Kleeberg
er auch weiterhin der Kanzlei und den Geschäften des Stadtschreiber-
amtes, aus dem er hervorgegangen war.^ „Was er dem städtischen
Schreiber befiehlt in- und außerhalb der Kanzlei in Rats- und Stadt-
sachen aufzusuchen, umzuschreiben oder zu verfertigen, das soll er
verrichten, wie vom Bürgermeister befohlen." Ihm waren alle wich-
tigeren Briefe, die mit dem Stadtsekret zu versiegeln waren, vorzulegen,
bevor sie den regierenden Bürgermeistern übergeben wurden,^ und von
ihm hatte sich der Stadtschreiber in allen Zweifelsfällen Rat zu holen.
Seine Hauptwirksamkeit entfaltete er als juristischer Sachverständiger,
als Prokurator und politischer Vertreter der Stadt. In diesen Eigen-
schaften ist er im Verlaufe der Darstellung schon genügend hervor-
getreten. Lukas Otto wurde 1561^ als Syndikus ausdrücklich ver-
pflichtet, „sich brauchen zu lassen auf Kreis-, Reichstagen und anderen
Legationen". Seine Vollmacht durfte er nur im Interesse des Rates
verwenden und unmittelbar nach seiner Rückkehr hatte er vor dem
Rate Bericht zu erstatten und Rechenschaft abzulegen. Als Rechts-
kundiger war er ganz allgemein gehalten,^ „im rathe umb Berichtswillen
ezlicher vurfallender Sachen — dorumb ihm vor anderen bewußt —
erfordertt, Bericht zu tun mit Consilio, Rat, Urteil". Im senatus intimus
oder seniorum, wohin die Räte „die hohen und wichtigen sachen, welche
nit gemeine Rathshendel betreffen, noch einem Stadtschreiber zustendigk
sind, sondern doran gemeiner Stadt gelegen, und die Rethe auß solchem
Bewegnus dieselben in der Hern Eldisten engen Rath zu berathschlagen
dohin zu remittiren und zuweisen pflegen", ist er verpflichtet, „jeder-
zeith uf erfordern zu dienen mit rathen, reden, lesen, conzipiren". Sind
solche Fälle, die wegen ihrer Wichtigkeit nicht zum Geschäftskreis
des Stadtschreibers gehören, nach der Beratung im Ältestenrate auch
dem Kollegium der übrigen Räte vorzulegen, so ist er auch hier zu
ihrer Vorbereitung bestimmt. So war des Syndikus Tätigkeit, ob-
wohl er nicht dem Ratsstande anzugehören brauchte, bei Besprechung
wichtiger allgemeiner Interessen nicht darauf beschränkt, auf Befragen,
Rat und Antwort zu erteilen, sondern dadurch, daß er die vorliegende
Sache „einzubringen und vorzutragen hatte", war ihm schon durch die
Fassung des Antrages ein gewisser Einfluß gesichert.
Als Stadtjurist nahm der Syndikus eine leitende Stellung ein bei
* Ich lege meiner Darstellung einen Zustand zugrunde, in dem das Syndikat
und Oberschreiberamt nicht durch eine Person verwaltet wurde. Lehrreich sind für
dieses Verhältnis die schon wiederholt zitierten Briefe: Syndikatsbestallung L Ottos
1561 und Revers des Oberschreibers Gerber 1579.
^ Gesindebuch Y4, 2 b, S. 7.
' Ü.-Nr. 1448 b.
Stadtschreiber und Stadtbücher in iWühlhausen i.Th. 473
ier Ratsrechtsprechung.^ Das Semneramt, die eigentliche Behörde der
Kriminalgerichtsbarkeit, vor dessen Forum alle peinlichen und fis-
kalischen Fälle gehörten, mochten sie Jnquisitorie oder per modum
iccüsationis geführt werden, zog ihn als Aktuar zw? Aus dieser zu-
nächst untergeordneten Stellung entwickelte sich das Direktorium der
Kriminalgerichtsbarkeit. Das Appellationsgericht von sämtlichen städ-
ischen Gerichten wurde ihm übertragen,^ soweit er bei den Verhand-
lungen in erster Instanz nicht beteiligt gewesen war; dazu wurden
ihm aus den Räten drei Herren als Kommissare beigeordnet.
Des Oberschreibers Wirkungskreis wurde durch diebeherrschende
Stellung des Syndikus ein engerer. In allen wichtigen Fragen von ihm
abhängig, büßte er seine Selbständigkeit mehr und mehr ein. In den
Sitzungen des regierenden Rates oder des drei Rätekollegiums führte
er die Protokolle;^ er hatte „die Nota oder daß Einbringen der er-
baren Rethe zu kolligiren und auffzunehmen'V soweit ihn nicht,
wenigstens schon im Senatus triplex der ünterschreiber vertreten
konnte. Standen „gemeine Stadtsachen" zur Verhandlung, so wurde
der vorstehende Handel durch den regierenden Bürgermeister selber
oder durch den Stadtschreiber mit kurzen und klaren Worten propo-
niert, worauf Umfrage zu halten war nach Ordnung und Session.^
Seine Amtserfahrung und Kenntnis der laufenden Geschäfte machten
ihn auch hier fähig, manchen Rat zu geben. Dem alljährlich wechselnden
Rate gegenüber war er der Träger der Tradition und brachte die un-
erledigten Geschäfte vom alten auf den neuen Rat. „Damit nun der
neue aufgegangene Rath von solchen Sachen Wissenschaft erlangen
möge, .... soll auch der alte Rath bey dessen Abgang, dem Syndico,
Secretario oder Stadt-Schreiber selbige dem neuen Rathe zu vermelden
anbefehlen, bevorab wenn solche frembde Leute, so hier nicht wohnhaft
seyn, betreffen."'' — In mancher Beziehung war sein Geschäftskreis
nicht streng geschieden von dem des Syndikus, und wie dieser bei
den Beratungen über wichtige, die Allgemeinheit betreffende Fragen
an des Stadtschreibers Stelle treten konnte, so mag auch zuweilen .der
Protonotar seine Vertretung übernommen haben. Die Dienstverträge
' Im folgenden lege ich zum Teil die Statuten von 1692 zugrunde, die von
1567 enthalten über die Beziehungen des Syndikus zum Semneramte noch nichts.
2 Statuten 1692, S. 42f.
' Statuten 1692, S. 81f.
* Protokolle des Senatus triplicis seit 1525, Tl— 4; Protokolle des Senatus or-
dinarii seit 1570, D 2—4.
' 1561 Ü.-Nr. 1448 b.
' Statuten 1567, Art. 66.
' Statuten 1567, Art. 75.
474 Erich Kleeberg
drücken die Verpflichtung ganz allgemein aus und fordern seinen ;
Dienst „in allen vorfallenden Sachen, bürgerlich oder peinlich, in- und j
außerhalb der Stadt mit Reden, Rat, Schreiben, Lesen, Reiten."^
Seine Hauptwirksamkeit war in die Kanzlei verwiesen, in der er
die Aufsicht führte, die rechte Ausführung der Ratskorrespondenz ^
überwachte und die städtischen Bücher verwahrte, so daß er jederzeit {
für ihren Inhalt einstehen konnte. Hier ging ihm der ünterschreiber,,!
sein Substitut, zur Hand, doch blieb die Bearbeitung der Schriftstücke !
von größerer Wichtigkeit dem Oberschreiber vorbehalten. Gerber ver-
stand^ unter den „furnempsten Conzepf , deren Verfertigung inner-
halb und außerhalb der Versammlung der Räte, des Rats, der Ältesten
ihm besonders gebührte: „Missionen, furschriften, urpheden, abschiede,
kundtschaften, geburttsbriefe, der erbarn Rath und Rethe Decreta,,
Spruche, Entscheidungen, Intimationes der geboth unde Verbot, Orde-'
nunge", also die Abfassung der Konzepte über alle wichtigen Rats-
handlungen. Bei ihrer Ausfertigung und ihren Kopien in die Stadt-
bücher konnte ihn der Unterschreiber ersetzen. Seit L Hübner führte
auch der ünterschreiber oft die Protokolle im Senatus triplex. In den
Büchern der Kanzlei herrschen die Hände der ünterschreiber vor, nur
die Einträge in das Gesindebuch gehörten nach wie vor zu den aus-,
schließlichen Pflichten des Protonotars. j
In der Form der städtischen Bücher hatten sich im 16. Jahr-!
hundert manche Änderungen vollzogen. Die Gruppe der Stadtbücher^ ^
kam dem früheren Brauch noch am nächsten. Das Registrum recogni-
cionum et diversamm concordiamm und das Registrum contractuum,^ ^
die schon am Ende des 15. Jahrhunderts manche Verwirrungen und
Übergänge gezeigt hatten, wurden im ersten Viertel des 16. Jahrhun-
derts wieder in einem Stadtbuche, dem Notulbuche,* nach ihrem
Inhalte vereinigt. Vom Jahre 1527 wurden die Abmachungen über
Verpfändung von Immobilien und Rentenkauf Privater untereinander
in ein besonderes „Schuldbuch"^ eingetragen, das in seinem Inhalte
an das älteste Stadtpfandbuch des 14. Jahrhunderts erinnert. Die ein-
zelnen Einzeichnungen aber sind ausführlicher geworden und nähern
sich mitunter der Form von Stadtbriefen. Rechtsgeschichtlich haben
^ Gesindebuch Y 4, 2 b, S. 7.
^ cf. Anhang C I.
' cf. S. 439 f.
* Den Namen „Notulbuch" trägt eine ganze Anzahl der Rats- und Stadtbücher
nach der heutigen Registratur; ich habe die unbestimmte Bezeichnung in meiner
Darstellung meist durch präzisere Titel ersetzt, möchte aber für die eine Reihe von
Stadtbüchern des 16. Jahrhunderts den Namen beibehalten.
' E8b 2.
Stadtschreiber und Stadtbücher in Mühlhausen i. Th. 475
sich Rentenkauf und Verpfändung an liegend Gut zu einem Realkredit-
geschäft entwickelt; im Jahre 1561 wird zum ersten Male ein solcher
Vertrag als Hypothek bezeichnet.
Seit 1541 verzweigte sich das Stadtbuch (Notulbuch) weiter in
ähnlicher Weise wie im Jahre 1441. Ein über contractuum^ nahm die
Fälle der freiwilligen Gerichtsbarkeit über Geld und Gut, Waren- und
Kreditverkehr auf; das alte Notulbuch^ behielt nur noch familienrecht-
liche Abmachungen und Erklärungen des Rates, die sich auf persön-
liche Verhältnisse bezogen: Zeugnisse über Einwohner, Bürgerbriefe,
Innungsbriefe. Auch Verträge und Vollmachten für städtische Diener
wurden hier eingezeichnet, so daß das Notulbuch sich wieder mit dem
Gesindebuch, der Fortsetzung des alten Ratsbuches, berührt. Privat-
verträge wurden nur auf Forderung der Parteien eingetragen, was mit
besonderen Kosten verbunden war; dafür erhielten sie auch wieder
erhöhte Sicherheit.
Das ältere Ratsbuch, das Buch der Ratsverwaltung, hatte sich,
wie schon festgestellt wurde, ca. 1458 aufgelöst. Sein Inhalt war zum
Teil vom Gesindebuch ^ übernommen worden. In ihm ist aufgezeichnet,
was sich auf das Personal der Stadtverwaltung bezog. Die Namen
der Ratsherren und ihre Ämter wurden seit 1525 in das Album Sena-
torum^ eingetragen. Die Verordnungen des Rates sind seit 1527 in
einem besonderen Bande, dem Ediktbuche,^ zusammengefaßt. Die aus-
gehenden Briefe wurden wie bisher in die Kopialbücher^ eingetragen,
nur mit dem unterschiede, daß man sich seit den 70 er Jahren des
15. Jahrhunderts auf die wichtigeren Kopien beschränkte, deren Ab-
schrift besonders vom Rate angeordnet wurde. Um eine bequemere
Übersicht der Materien zu gestatten, wurden ihnen mitunter auch Ab-
schriften einlaufender Briefe zugefügt.
Später als die Resultate der Beratung ging man daran, den Gang
der Beratung zu fixieren. Seit 1525 wurde im Senatus trlpiex Proto-
koll geführt. Die Führung von Protokollbüchern' ist veranlaßt worden
durch die im restituierten Rate neu belebte Verwaltungstätigkeit, die
der fürstlichen Oberregierung gegenüber für alle Fälle Beweismittel
haben wollte. Die Protokollbücher des sitzenden Rates sind erst seit
1570, die des ältesten Rates seit 1605 erhalten.
' tiandelbuch E8a 2. •
' X 1, 9.
^ Y4, 1, cf. Anhang A IV b,
* H 1, la, cf. Anhang A V. Bürgerbücher sind seit 1540 erhalten,
' Yl/2, 1 cf. Anhang A Ib.
^ W 9, cf. Anhang A VI.
' cf. Anhang A III.
476 Erich Kleeberg
Die Urfehdebücher/ die sich 1441 vom allgemeinen Ratsbuche
abgelöst hatten, sind auch im 16. Jahrhundert in der alten Weise
geschrieben worden; sonst hatten die Akte der Kriminalgerichtsbarkeit
des Rates in der vorigen Periode noch keine regelmäßigen Aufzeich-
nungen in Ratsbüchern beansprucht. Erst seit 1460 führten die
städtischen Schreiber, meist der Subnotar, ein über excessuum, das
Buch der Brüche,^ in das die Vergehungen gegen die Ratsstatuten
eingezeichnet wurden. Es handelte sich hier nicht darum, die Bußen
zu fixieren, sondern vielmehr die Namen des Schuldigen und seinen
Frevel festzustellen, um im Wiederholungsfalle strengere Maßregeln
treffen zu können. Die leichteren Verbal- oder Realinjurien der
Bürger untereinander, die nicht vom Rate nach den Statuten verfolgt
wurden, sondern die meistens die Scheltherren auf der Scheltlaube
schlichteten, sind seit 1543 in ein besonderes „Scheltbuch und Friede-
gebotregister" ^ eingezeichnet, nachdem sie bis zu diesem Jahre im
Notulbuche mitunter Platz gefunden hatten. Schon seit 1527 hatte
man auch in den ürgichtbüchern* die Aussagen in peinlichen Fällen
niedergeschrieben.
So hatte das alte Ratsbuch in den zahlreichen Verwaltungs- und
Polizeibüchern einen Ersatz gefunden bis auf die Kopien wichtiger
einlaufender Briefe und Dokumente; aber diese Abschriften wurden über-
flüssig, seitdem man ein größeres Gewicht auf eine systematische
Registratur der Originale legte.
Die Registratur in früheren Jahrhunderten haben wir uns sehr
primitiv vorzustellen, da aus früheren Zeiten nur selten Vermerke einer
registrierenden Hand über Inhalt, Datierung und weitere Behandlung
auf den einlaufenden Schriftstücken angebracht sind. Die Originale,
soweit man sie überhaupt des Aufhebens für wert hielt, wurden ohne
besondere Ordnung im einzelnen Truhen aufbewahrt. Als im Jahre
1526 tierzog Georg von Sachsen die städtischen Privilegien zur Ein-
sicht (!) einforderte, konnte der Rat ihre Versendung mit der Begrün-
dung^ verweigern, daß „der Kasten, wo die Privilegien und andere
Briefe und Händel aufbewahrt werden, sehr lang und fast unverschlossen
sei". Beim Transport würden die Briefe hin- und hergeschüttelt, und
die Siegel verletzt werden. Diese Kasten werden an anderer Stelle^
als die „langen Truhen" oder die „langen Kisten" bezeichnet. Die
^ cf. Anhang A 11 4.
' Auf J, cf. Anhang A II 1.
' ti 8, 1 cf. Anhang A II 3.
* Auf J, cf. Anhang A II 2.
' Kopialbuch W 11, S. 94 (1526).
® Syndikatsbestallungen 1542: Brief des Adolarius von Ottera.
Stadtschreiber und Stadtbücher in Mühlhausen i. Th. 477
Kämmereiregistratur befand sich in des Rates Silberl^ammer,^ von ein-
zelnen Quittungen ist bemerl^t, daß sie in der Kämmerei Goldiaden^
oder im Guldenkästlein ^ niedergelegt worden seien.
Seit dem Jahre 1525, seit Bauseis Tätigkeit in der Kanzlei, sind
dje einlaufenden Briefe regelmäßiger mit Bemerkungen über Inhalt und
Empfangsdatum versehen. Um die Mitte des Jahrhunderts sind dann
einzelne wichtige Materien, z.B. die Kaiserurkunden, durchlaufend nume-
riert worden. Es mag das in derselben Zeit ungefähr geschehen sein, in
der die Stadtschreiber die noch vorhandenen Privilegienurkunden in
drei Bänden* zusammengeschrieben, in den 40er Jahren. 1576 wurde
eine neue systematische Registratur der Urkunden vorgenommen. Es
wurde ein Repertorium^ angelegt, das nach Buchstaben geordnet das
urkundliche Material verzeichnet. Es umfaßt bloß die Buchstaben A— P;
da aber von derselben Hand auf der Rückseite der Urkunden sich auch
die Buchstaben Q— BB finden, muß ein zweiter Band des Registers
verloren gegangen sein. Das Repertorium wurde 1576 oder kurz vorher
angelegt, denn bis 1576 sind die Stücke von einer Hand registriert
und häufen sich gerade in diesem Jahre.
Der gesamte Inhalt ist nach Materien in Gruppen eingeteilt, deren
jede mit einem großen Buchstaben überschrieben ist, innerhalb dieser
Rubriken sind dann die Stücke chronologisch aufgezählt. Das Ein-
teilungsprinzip der ersten Gruppen läßt sich noch ungefähr übersehen.
A und B umfassen die Kaiserurkunden: Privilegien und Konfirmationen;
CDE -Verträge mit benachbarten Fürsten und Herren, Schutzbriefe usw.;
F Lehnssachen; G Quittungen in Reichsangelegenheiten; H Quittungen
in anderen Sachen, auch sind hier manche Kleinigkeiten untergebracht;
K Dienstbestallungen usw. War in dem Register der für Nachträge
einer Gruppe freigelassene Raum ausgefüllt, so beschrieb man die
letzten freien Blätter des Bandes in buntem Durcheinander. Das Reper-
torium wurde 1602 in der alten Art erneuert; 1617 trat eine völlige
Neuordnung des Archivs ein. — Der Handschriftenvergleich lehrt, daß
auch ungefähr in den 70 er Jahren eine Ordnung der Briefe vor-
genommen wurde. Diese wurden nach Absendern geordnet, in ge-
wöhnlicher Weise gefaltet, aufbewahrt.
' z. B. Gesindebuch Y 4, 2, S. 124b; 148; 161; 241.
- Kämmereirechnung 1647; Lukas Otto.
^ Kämmereirechnungen 1561; 1563, unter Ausgaben für die Schreiber.
* D5ab 3, 1—3 drei Bände; die Haupthandschrift ist die des Lib. Schröter,
des ünterschreibers der Jahre 1543—50.
'EEl.
478 Erich Kleeberg
Fassen wir unsere Ergebnisse kurz zusammen, so erfolgte die Aus-
gestaltung des Stadtschreiberamtes in Mühlhausen, obschon durch die
Gewohnheiten anderer Städte vielfach beeinflußt, doch aus den beson-
deren lokalen Bedingungen; sie ließ sich nur im Zusammenhange mit
der allgemeinen Geschichte der städtischen Verwaltung und Politik
verstehen. Drei Hauptpunkte sind in der Entwicklung festzuhalten:
Die Einrichtung einer Schreibstube durch Zuteilung des ersten Hilfs-
schreibers und die dadurch nötige Regelung der Arbeitsweise ca. 1340,
die Vereinigung des Stadtschreiberamtes mit dem öffentlichen Notariat
1460 und die Anstellung des ersten juristisch gebildeten Laien, des
Syndikus, 1523. Diese drei Entwicklungsstufen waren durch den
wachsenden Umfang der Geschäfte bedingt.
Wenn die bisherigen Untersuchungen über das Stadtschreiberamt
mit Ausnahme der schon mehrfach genannten Arbeit Steins vor allem
als Hilfsmittel für eine kritische Quellenedition angelegt sind, so hoffe
ich gezeigt zu haben, daß auch die Betrachtung des Amtes an und für
sich eine Sonderdarstellung wert ist. Wurde doch der Protonotar
unter der Regierung des Mühlhäuser Rates, der die meisten Ver-
waltungszweige mit seinen Ratsmitgliedern besetzte, aus einem gewöhn-
lichen ürkundenschreiber bald der höchste städtische Beamte, der
Lenker des Stadtwesens. Als Syndikus und Stadtjurist trat er auch
mit der Bürgerschaft in nahe Berührung, und manche interessante
Persönlichkeit mag sich hier im engen Kreise gebildet haben. Es ist
nur zu bedauern, daß die Überlieferung zu dürftig ist, um uns Männer
wie Eisenhart und Raven persönlich nahe zu bringen. Lukas Otto
und Nikolaus Fritzlar stehen schon deutlicher vor unseren Augen, und
wir können erkennen, daß sie auch unter ihren Zeitgenossen eine
geachtete Stellung einnahmen. Waren die Schreiber auch nur Beamte
und Diener des Rates, so konnten sich doch ihre vornehmsten Ver-
treter dem bevorrechteten Ratsstande gegenüber gleichwertig fühlen.
Als der bekannte Organist Joachim a Burck sich als Ratsherr 1588
um den Dienst eines Gerichtsaktuars bewarb, schrieb er mit Selbst-
bewußtsein, daß ihm ein solcher Dienst „zu unheill und nachteill gar
mitt nichten gelangen mögen, sintemall aller menschen lebenn vom
höchsten biß zum niederigsten — salva tarnen et observata graduum,
dignitatum, ordinum, statuum, et officiomm quoque discretione — eine
stett werende dienstbarkeitt sine omni exceptione ist unnd bleibett, darzu
die Schreibfeder unbescholtener diener in allen regimenten, gerichten
und handlungen daß nötigste unndt nutzlichste mittellist".
Stadtschreiber und Stadtbücher in miihlhausen i. Th. 479
4
Anhang
Beschreibung der Mühlhäuser Stadtbücher des 13.— 16. Jahr-
.Ifiunderts, mit einem Verzeichnis wichtiger Editionen mittelalter-
licher Stadtbücher
ältere Werke, soweit sie aufgenommen sind in W. Th. Kraut: Grundriß zu Vor-
lesungen über das Deutsche Privatrecht, 6. Aufl. von F. Frensdorff, Berlin und
Leipzig 1886 — bleiben unberücksichtigt.
unter mittelalterlichen Stadtbüchern sind zu verstehen alle Bücher,
bie der Verwaltungstätigkeit des Rates oder einer anderen städtischen
Behörde entstammen und von öffentlichen Schreibbeamten geführt
«wurden. Der Zweck ihrer Anlage war ein doppelter. Sie dienten zu-
nächst Aufzeichnungen über das öffentliche Recht der Stadt und über
die Verwaltungstätigkeit der regierenden Behörde: sie wurden not-
wendig mit der Ausdehnung einer komplizierteren Verwaltung und
mit dem spätestens im 14. Jahrhundert sich allgemein geltend machen-
den Bedürfnis nach schriftlicher Fixierung. Ich fasse diese städtischen
Bücher unter der Bezeichnung „Ratsbücher" zusammen, wobei ich
aus Zweckmäßigkeitsgründen die Bücher, die der Finanzverwaltung
dienen, als eine Sondergruppe behandele.
Auf eine andere Wurzel gehen die Reihen von Büchern zurück,
die ich „Stadtbücher" im engeren Sinne nennen wül; sie enthalten
Verträge der Bürger und anderer Personen über Übergabe und Be-
lastung von Eigentum, zunächst nur Fälle, die das Recht an Immo-
bilien betreffen; Register über Akte der freiwilligen Gerichtsbarkeit an
Mobilien sind im allgemeinen später begonnen worden.
Die Heimat der Stadtbücher liegt im Gebiete des sächsischen
Rechts, in dem diese Aufzeichnungen in amtlich beglaubigten Registern
den Wert eines urkundlichen Zeugnisses mit gerichtlicher Beweiskraft
bekamen. Sie ersetzten in diesen Gebieten die urkundliche Zeugnis-
ausstellung in Stadt- und Gerichtsbriefen, die neben der Eintragung
in Stadtbücher auch weiterhin je nach den städtischen Gewohnheiten
mehr oder weniger Platz hatte. Die Anfänge dieser Stadtbücher lassen
sich in einigen Städten bis in das 13. Jahrhundert zurückverfolgen
(Magdeburg seit 1215, aber verloren); — Köln hat mit seiner Schreins-
kartenpraxis seit 1135 eine eigene Entwicklung. — Doch wird in solchen
frühen Fällen der Eintrag noch keine gerichtliche Beweiskraft gehabt
haben; er diente nur zur Unterstützung der mündlichen Zeugenaussagen.
Als man, eigentlich erst seit dem Ende des 14. Jahrhunderts dazu
schritt, Verhandlungen und Urteile in streitigen Sachen schriftlich fest-
480 Erich Kleeberg
zuhalten, wurden solche Fälle zum Teil auch in die Stadtbüchei
aufgenommen, oder sie wurden in eigenen Büchern geführt, dit
ich in den meisten Fällen unter der Kategorie der Stadtbücher mit zu-
sammenfassen kann. Ein Übergang in die Gruppe der Ratsbüchei
findet vor allem unter dem Gesichtspunkt statt, daß man urteile, die
man als Präzedenzfälle ansah, unter die Rubrik der Stadtrechte, dei
Willküren, aufnahm, ja ganze Sammlungen in sogenannten ürteilsbücherr
anlegte, wie sie uns in den Schöppenstuhl- und Oberhofakten vorliegen
Gerichtsbücher (oft vor Schöffenkollegien oder ähnlich geführte
Register) und Stadtbücher können in diesem Zusammenhange nach
Ihrem Inhalt unter demselben Gesichtspunkte betrachtet werden. Das
Unterscheidende an ihnen ist die Verschiedenheit der Behörden, vor
denen die Verhandlungen geführt wurden; das Verhältnis des Rates
zu einem besonderen Stadtgericht ist in den einzelnen Städten nach
ihrer verfassungsrechtlichen Entwicklung außerordentlich verschieden.
um die mittelalterlichen Stadtbücher, die den verschiedensten Wissenszweigen
ein reiches Quellenmaterial bieten, in zweckentsprechender Weise der Wissenschaft
nutzbar zu machen, wäre es längst nötig, das überlieferte Quellenmaterial übersicht-
lich zusammenzustellen. Denn nur aus einem Vergleich der Archivalien möglichst
vieler Städte nach Alter und Inhalt kann man den richtigen Maßstab für den Quellen-
wert der einzelnen Stücke und für eine fruchtbringende Edition gewinnen. Von den
Werken, die in diesem Sinne Beschreibungen mittelalterlicher Stadtbücher bieten,
seien hier die wichtigsten genannt:
tiomeyer: Über die Stadtbücher des Mittelalters, insbesondere das Stadt-
buch von Quedlinburg (Abhdlg. d. Berliner Akad, d. Wiss. 1860). Laban d: Die
schlesischen Stadtbücher (Zeitschr. f. Gesch. Schlesiens 4, 1862). Hansische Ge-
schichtsblätter: Reiseberichte in den Nachrichten des Hansischen Geschichtsvereins.
Koppmann: Rundschau über die Literatur der hansischen Geschichte (Hansische
Geschichtsbl. I. 2, 1872). Proschaska: Über die Entstehung und Entwicklung
der ältesten Stadtbücher in Böhmen (Mitteil. d. Ver. f. Gesch. d. Deutschen in Böhmen,
22. Jahrg. 1884). Ermisch: Die sächsischen Stadtbücher des Mittelalters ( Neues |
Archiv für sächs. Geschichte u. Altertumskunde 10, Dresden 1889) dazu 20, 1899. |
Aubert-Doublier: Beiträge zur Geschichte der deutschen Grundbücher (Zeitschr. |
d. Savignystiftung f. Rechtsgeschichte 14, 1893). Fabricius-Manke-Wehrmann:
Die erhaltenen Stadtbücher Pommerns bis 1500 (Baltische Studien 46, 1896). War-
schauer: Die ma. Stadtbücher der Provinz Posen (Zeitschr. d. histor. Gesellsch. f.
Posen 11; 12, 1896/97). Derselbe: Die städtischen Archive in d. Provinz Posen
(Mitteil. d. kgl. preuß. Archivverwaltung H. 5, 1901). Die Inventare der nicht-
staatlichen Archive Schlesiens I. Die Kreise Grünberg und Freystadt, hrsg. Wutke
1909. Mitteilungen aus dem Kölner Stadtarchiv. Eine umfassende Zusammenstellung
des handschriftlichen und gedruckten Materials plant Prof. K. Beyerle, womit dann
ein vorläufiger Abschluß dieser Arbeiten erreicht sein wird. In meiner Zusammen-
stellung beschränke ich mich darauf, zu den Gruppen der Mühlhäuser Stadtbücher
die entsprechenden Editionen aus anderen Archiven zu verzeichnen, wobei ich das
Verzeichnis in dem schon genannten Werke Kraut-Frensdorff S. 24— 33; S. 58
bis 60 voraussetze, ohne aber den Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu wollen.
Stadtschreiber und Stadtbücher in Mühlhausen i. Th. 481
Die reichen Schätze des Mühlhäuser Archivs sind einer breiteren
Öffentlichkeit noch wenig bekannt geworden. Einen kurzen Überblick
über den handschriftlichen Bestand an Akten und Büchern bietet an
der Hand des dreibändigen Archivregisters Mitzschke: Wegweiser
durch die historischen Archive Thüringens, Gotha 1900. Einen Ein-
blick in das Urkundenmaterial, das 2000 Nummern übersteigt, gewährt
Heydenreich: Das Archiv der Stadt Mühlhausen in Thüringen (Ge-
schichtsbl. 2).
A. Ratsbücher
I. Stadtrechte, Statuten und Ordnungen
a) Stadtrecht und Willküren cf. S. 440
1. Stadtrecht von ca. 1250, das als ältestes mitteldeutsches Stadt-
recht in deutscher Sprache besonderes Interesse verdient. Es ist wie
die gleich zu erwähnenden Statutenkodifikationen (Welkoeren) des
14. Jahrhunderts gedruckt und beschrieben bei Lambert: Die Rats-
gesetzgebung der freien Reichsstadt Mühlhausen i. Th. im 14. Jahr-
hundert, Halle 1870. Einen verbesserten Druck dieses ältesten Stadt-
rechts bietet: Herquet: Mühlhäuser ürkundenbuch (Geschichtsqu. d.
Provinz Sachsen III. 1874).
2. Der Stadt Willküren von 13111 , ,, , ,■
ca 13501 S^^^"^*^* vö" Lambert s. oben.
3. Der Stadt Willküren von 1401, erhalten nur in einer späteren Ab-
:hrift, gedruckt von Bemmann: Mühlhäuser Geschichtsblätter 9, 1908.
Ratsbücher. I. Stadtrechte, Statuten und Ordnungen
1. Bruchstücke einer alten Stadtordnung von Besigheim; Breining (Zeitschr.
d. Gesch. d. Oberrheins, N. F. 18, Heidelb. 1903). 2. Stadtbuch von Brüx bis
i26; Schlesinger (Beiträge zur Gesch. Böhmens Abt. IV. Bd. 1, Prag 1876).
Aus dem Ratsarchiv der Stadt Crimmitschau; Ermisch (Neues Arch. f. sächs.
jech. 22, 1901). 4. Eine Danziger Willkür aus der Ordenszeit; Günther (Zeitschr. d.
'^estpreußischen Geschichtsvereins H. 48, Danzig 1905). 5. Eine Sammlung des
inbecker Stadtrechts; Feise (Zeitschr. d. hist. Ver. f. Niedersachs. 1899). 6. Ge-
leindestatut der Stadt Feldberg] Längle (Jahresber. des Vorarlberger Museums-
jreins 38). 7. Freiberger Stadtrecht; Ermisch: Ürkunden-Buch d. Stadt Freiberg
^od. dipl. Sax. reg. 14, Leipzig 1891). 8. Die Stadtrechte von Freiburg und Arconciel-
?ns i. üechtland; Zehntbauer, Innsbruck 1906. 9. Göttinger Statuten, 2 T. auf
^achstafeln; v. d. Ropp (Qu. u. Darst. z. Gesch. Nieders. 25). 10. Ältestes Greifs-
lider Stadthuch ; Kosegarten (Pommersche Geschichtsdenkm. I. 1834). 11. Das alte
itutenbuch der Stadt fiagenau ; Hanauer, Kiele, tiagenau 1900. 12. Mitteilungen
IS dem alten Stadtbuche und dem alten Bürgerbuche der Stadt Hannover; Fi edel er
Zeitschr. des histor. Ver. f. Niedersachsen 1876). 13. Das Stiftungsbuch von Husum;
Afü II 31
482 Erich Kleeberg
4. Der Stadt Willküren von 1567, erhalten in mehreren gleich-
zeitigen Handschriften T8c 6; 6a; 6b.
5. Ratsrezesse: alter Druck der Rezesse von 1642 ab.
6. Willkür von 1692; alter Druck.
b) Ediktbücher
Y 1/2 umspannen in 12 Bänden die Jahre 1527—1802. Es sind
Papierbände in dem im Mühlhäuser Archiv üblichen Format 32x22,
eingebunden in rote, grüne oder gelbe Pappdeckel mit goldenem Stadt-
wappen. In meiner weiteren Beschreibung gebe ich nur noch Ab-
weichungen von dieser Form besonders an.
c) Kleinere Ordnungen
1. Zollordnung ti 16, 1 (1): 2 Pergamentblätter 20x15 aus dem
Anfang des 15. Jahrhunderts, enthaltend ein Verzeichnis des Zolls und
der Wage. H 16, 1 (2): 6 Pergamentblätter 26x20 vom Jahre 1531
mit gleichem Inhalt.
2. Heimburgenordnungen H 13, 1 u. 2a: drei Ordnungen aus dem
Jahren 1544, 66, 82 verschiedenen ümfanges.
3. Punkte Salariorum H 1 3a 1565.
4. Gerichtsordnung T 8 c. 10 S. 201—10.
5. Holzordnung T8 c. 10 S. 220b— 23, 1565.
6. Marktordnung ti 22, la, 1568.
7. Wasseramtsregister H 23, 1; 2 Bde. 1534—1614.
8. Feuerordnung H 29, 1. 1574—1708.
9. Brau-, Bäcker-, Fleischhauerordnung H 28, la, 1518 — 60. Brauordnung
H 28, lg: ein Pergamentblatt aus dem 15. Jahrhundert.
10. Verzeichnis des Landwehrgeldes der Dörfer a. 1381, drei Perga-
mentblätter 20x15.
Henningsen, Husum 1904. 14. Das Kieler Denkelbok; Gundlach (Mitteil. d. Ges.
f. Kieler Stadtgesch. XXIV. 1909). 15. Akten und Urkunden zur Geschichte der Ver-
fassung und Verwaltung der Stadt Koblenz bis zum Jahre 1500; Bär (Publik, d.
Ges. f. rhein. Geschichtsk. 17, Bonn 1898). 16. Akten zur Geschichte der Ver-
fassung und Verwaltung der Stadt Köln, 14. u. 15. Jahrh; Stein (Publik, d. Ges.
f. rhein. Geschichtsk. 10, Bonn 1893/95). 17. Urkunden und Aktenstücke zur Geschichte
des Leipziger Rates, seit 1469; Wustmann (Qu. z. Gesch. Leipzigs II, 1865).
18. Lubliner ältestes Stadtbuch; ülanowski {Scriptores rerum Polonicarum 9, Krakau
1886). 19. Die älteste Lübecker Zollrolle ca. 1227; Hasse (Hans. Geschichtsbl. 1893).
20. Statuten der Stadt Münden, 1467; Doebner (Zeitschr. d. histor. Ver. f. Nieders.
1899). 21. Das älteste Stadtbuch von Olmütz, 1343; Bischoff (Ber. d. kais. Akad.
zu Wien, philos.-histor. Klasse 85, 1877). 22. Stadtbuch von Posen; Warschauer
(Sonderveröffentlichungen der bist. Ges. für d. Provinz Posen I). 23. Küren der
Stadt Ratingen aus dem 14. Jahrb.; Eschbach (Beitr. z. Gesch. d. Niederrheins 14).
24. Die älteste Gerichtsordnung Rostocks {miit des 15. Jahrb.); Koppmann (Beitr.
z. Gesch. V. Rostock III, 4, 1900). 25. Das ältere Recht der Reichsstadt Rottweil;
Greiner, Stuttg. 1900. 26. Straßbürger ürkundenbuch, I.Abt. Bd. I; Wiegand.
Stadtschreiber und Stadtbücher in Mühlhausen i. Th. 483
IL Polizeibücher
1. Bruchbuch (über excessuum) auf J. In den Jahren 1460—1654
7 Bücher. Die beiden ersten Bücher 1460—1500; 1517—48 in dem
Format 22x16.
2. ürgichtbücher, auf J. In den Jahren 1526—1613 8 Bücher, die
beiden ersten 1526—33; 1534—48 in dem Format 22x16.
3. Scheltbuch und Friedegebotregister H 8, 1 1543—1614, 1 Bd.
4. Urfehdebücher, gegen T. In den Jahren 1441—1675 19 Bücher.
III. Ratsprotokolle
1. Des Senatus triplicis, Tl-4. In den Jahren 1525 — 1757
34 Bücher.
2. Des Senatus ordinarii D 2—4. In den Jahren 1570 — 1801
78 Bücher.
3. Des Senatus intimi. T5/6. In den Jahren 1604-1757 20 Bücher.
Bd. IV 2; Schulte und Wolfram. 27. Das älteste Trierer Stadtrecht; Kentenich
(Trierisches Archiv ti. 7, Trier 1904). 28. Das rote Buch der Stadt Ulm, 1376—1445;
Mo 11 wo (Württemberger Geschichtsqu. Stutt. 1905). 29. Weidas Stadtrechte von
1377 und 1483; Franke (Jahresber. des Vogtländer Altertumsforschenden Ver.
tiohenleuben H. 75, 1905). 30. Die Bürgersprachen der Stadt Wismar; Te sehen
(Hansische Geschichtsqu. N. F. 3, 1906). 31. Stadtrecht von Znaim 1314; Rößler
(Deutsche Rechtsdenkm. aus Böhmen und Mähren II. Prag 1852). 32. Stadtrechte im
Herzogtum Gotha; von Strenge (Mitteil. d. Vereinigung f. Gothaische Gesch. u.
Altertumsforschung, Friedrichroda 1903).
Neue systematische Publikationen auf diesem Gebiete sind begonnen durch
die Veröffentlichungen der historischen Kommission für Westfalen (Münster) seit
1901 für die Westfälischen Städte, der Badischen historischen Kommission seit 1895
für die Oberrheinischen Städte (fränkische, alemannische, elsässische Stadtrechte) und
des Schweizer Juristenvereins (Aarau) seit 1898: Sammlung Schweizer Rechtsquellen.
Einen Überblick über diese Arbeiten geben Beyerle (Deutsche Geschichtsbl. V, 1904)
und Köhne (Correspondenzblatt des Gesamtvereins 53, 1904). Eine Übersicht über
das Quellenmaterial für die Edition der Badischen und Esässischen Stadtrechte haben
Schröder und Köhne (Zeitschr. f. d. Gesch. d. Oberrheins 10; 13) geboten.
Als städtische Rechtsbücher sind auch die Sammlungen von Schöffensprüchen
in den städtischen Oberhöfen zu betrachten: 1. urkundliches Material aus den
Brandenburger Sch'6p\i^nsi\lh\?i\ii^n; Stölzel, Berlin 1901). 2. Magdeburger ^c\[6\^Qr\-
sprüche; Friese und Liesegang I. 1 — 4 Berlin 1901.
II. Polizeibücher
1. Jauersche Wachstafeln; Lindner (Archiv. Mitteil, in Zeitschr. d. Ver. f. schles.
Gesch. 9, 1868). 2. A'raÄawer Proskriptionsbuch 1362 — 1400; Piekosinski, Szujski
(Mon. medii aevi historica res gestas Poloniae illustrantia , Tom. 4, Krakau 1878).
3. Das älteste Leipziger ürfehdebuch, 1390—1480; Wustmann (Qu. z. Gesch. Leipzigs
II, 1895). 4. Das Freiberger Verzählbuch (15. Jahrh.); Er misch Freiberger Urkunden-
buch (Cod. dipl. Sax. reg. 14). 5. Das Achtbuch des Egerer Schöffengerichts 1310
bis 1668; Siegl, Prag 1903 (auch in Mitteil. d. Ver. f. Gesch. d. Deutschen in
Böhmen 39; 41).
31*
484 Erich Kleeberg
IV. Ratsbücher im engeren Sinne
a) Ratsbücher vermischten Inhalts cf. S. 436f.
1. X. Ib 1371/72. Fragment eines Ratsbuches bestehend aus
neun Pergamentblättern im Format 24x16.
2. Xlc 1398, Papierheft in Pergamentumschlag, 11 Blätter.
3. X Id 1405/06 10 Blätter wie in Xlc.
4. X le 1408/09 16 Blätter wie in X Ic.
5. X 2 1415—26 57 Blätter in neuerem Einband.
6. X 4 1427—31 36 Blätter wie X 2.
7. X 5 1432 32 Blätter wie X 2.
8. X 6 1. Teil 1441—56. Kopien einlaufender Briefe 79 Blätter.
2. Teil 1441—58. Stipendiarii 61 Blätter.
b) Gesindebücher Y 4, 1. In den Jahren 1502—1655 6 Bücher.
c) Geleitsregister D 5cd 9, schmales Papierheft im Format 32x12,
begonnen im Jahre 1525.
d) Privilegienbücher D 5ab 3.
1. über primus 92 Blätter. Mitte des 16. Jahrhunderts angelegt.
[2. ist noch nicht wiedergefunden].
3. 26 Blätter Ende des 16. Jahrhunderts begonnen.
V. Namenlisten
1. Bürgerlisten H 26, 2a. Ein Fragment bestehend aus sieben
Pergamentbl. 32x22, das die Jahre 1414— 91 mit einigen Lücken enthält,
cf. S. 441.
2. Bürgerregister ti 26, 2. Der 1. Bd. enthält die Jahre 1540—1612,
weitere Bücher bis 1802.
3. Album Senatomm H 1, 1. Aus den Jahren 1525—1802 sieben
Bücher. Das erste Buch, das von 1525—1602 reicht, hat ca. 250 Blätter
im Format 32x12.
4. Verzeichnis der Kriegspflichtigen aus Stadt und Dörfern, a) K 1, la.
42 Papierblätter (30x12) der Jahre ca. 1450—80. ß) K 1, Ib Kriegs-
listen aus dem 16. Jahrhundert, jetzt in 7 Bänden vereinigt.
5. Verzeichnisse der Brau- und Holzberechtigten seit dem 16. Jahrhundert.
H 28, 11 und tl 19.
IV. Ratsbücher im engeren Sinne
1. Stadtbuch von Leipzig vom Jahre 1539; Gersdorf (iWitteil. d. deutschen
Ges. in Leipzig, Leipz. 1856). 2. Freiberger Stadtbücher; Ermisch: Freiberger
Urkundenb. siehe oben. 3. Züricher Stadtbücher; Zeller-Werdmüller, Leipz. 1899
bis 1906. Bd. 3 von Na b holz, Leipzig 1906. "
V. Namenlisten
1. Braunsberger Bürgerbuch 1344-59; Cod. dipl. Warm. IL Nr. 305. 2. Danziger
Kürbuch; tiirsch (Scriptor. rer. Pruss. 4, S. 315—34). 3. Freiberger Stadtbücher
Stadtschreiber und Stadtbücher in Mühihausen i. Th. 485
I VI. Briefbücher cf. S. 428
Kopialbücher (Kopien der auslaufenden Briefe) W. In den Jahren
1382-1805 76 Bücher; um 1400 füllt ein Jahrgang etwa 50 Blätter,
um 1800 etwa 20 Blätter. Größere Lücken nur in den Jahren: 1399
bis 1403; 1488—1503; 1518-20.
B. Bücher der Finanzverwaltung
I. Kämmereirechnungen MPO cf. S. 429ff.
a) MPOla: sechs Pergamentkarten aus den Jahren 1380; 1388;
1390/91; 1391/92; 1394/95; 1405. Sie enthalten Recepta venerabilis
civitatis Molhusen. Die älteste Rechnung ist etwa halb so umfangreich
wie die zweite, die Rechnungen der 90er Jahre nehmen noch etwas
an Umfang zu. Die Länge des größten Pergaments beträgt 70 cm.
Die sechs Blätter sind beschrieben und abgedruckt von K. von Kauf-
fungen: Geschichtsbl. 6. Dazu kommt noch unter derselben Ziffer ein
undatiertes Rechnungskonzept auf Pergamentblatt.
(seit 1404 eine Reihe von Rats- und Bügermatrikeln); Ermisch: Freiberger ürkunden-
buch, Bd. III, siehe oben. 4. Ao/zs/a/zz^r Ratslisten des Mittelalters; Beyerle, Heidel-
berg 1908 (herausgegeben von der Bad. histor. Kommission). 5. Von den ältesten
Lübeckischen Ratslinien; Dencke, Lübeck 1842. 6. Ratslinie von Wismar seit 1344;
Crull (Hansische Geschichtsqu. II, 1875).
VI. Briefbücher
1. Die stadtkölnischen Kopienbücher in Regesten mitgeteilt seit 1367 (Mitteil.
aus d. Stadtarchiv von Köln in verschiedenen Heften). 2. Die 7?ei/a/er Missivbücher,
seit 1385; Schiemann (Archiv. Zeitschr. XI, 1886: Revaler Stadtbücher).
B. Bücher der Finanzverwaltung. I. Stadt- oder Kämmereirechnungen
1. Aachener Stadtrechnungen des 14. Jahrh. (bis 1373 Pergamentrollen, seit-
dem Pergamenthefte); Laurent, Aachen 1866. 2. Die ältesten Bernischen Stadt-
rechnungen 1375—77; Welti (Arch. d. hist. Ver. in Bern 14, 1896). Berner Stadt-
rechnungen 1375 — 84; Welti, Bern 1896. Berner Stadtrechnungen 1482-1500;
Fetscherin (Abhandig. des histor. Vereins des Kanton Bern. 2. Jahrg. H. 1, 1851).
3. 5re<s/a«er Stadtrechnungen; fienricus pauper 1299—1358; Grünhagen (Cod. dipl.
Sax. reg. III. Breslau 1860). 4. Die ältesten Görlitzer Ratsrechnungen ca. 1380 bis
1419; Jecht (Cod. dipl. Lusatiae superioris III). 5. Kämmereirechnungen von Hamburg
1350 — 1552; Kopp mann, Hamburg 1869—94. 6. ffildesheimer Stadtrechnungen
und Geschoßregister 1379—1450; Doebner (Urkundenbuch d. Stadt Hildesheim 5;
6, Hildesh. 1893/96). 7. Die ältesten Stadtrechnungen der Stadt Kalbe a. S. zwischen
1374 und 82; Hertel (Magdeb. Geschichtsbl. 37, 1902). 8. De Kammeraars en renfc-
meesters rekeningen der stad Kampen; üitterdyk Nanninga, 1875. 9. Kasseler
Stadtrechnungen 1468—1553; Stölzel (Zeitschr. d. Ver. f. hess. Gesch. u. Landes-
liunde, N. F. Suppl. 3, Kassel 1871). 10. Die Kölner Stadtrechnungen des Mittel-
alters; Knipping (Publik, d. Ges. für rhein. Geschichtskunde 15, Bonn 1897 98).
11. Krakauer Stadtrechnungen; Piekosinski, Szujski (Mon. Pol. s. oben, Tom. 4).
12. Leipziger Wachstafelbücher (15. Jahrh.); Frey tag (Neues Arch. f. sächs. Gesch.
20, 1899). 13. Die 3 ältesten Lüneburger Kämmereirechnungen (1321; 1328; 1330);
486 Erich Kleeberg
b) /V\PO 1 ältestes Rechnungsbuch, enthält auf 27 Papierblättern
in Pergamentumschlag die Einnahmen der Stadt während des Jahres
1407/08; ediert K. von Kauffungen: Geschichtsbl. 5.
> c) MPO 2 enthält auf 30 Blättern die Ausgaben des Jahres 1409/10.
d) Vom Jahre 1417 ab sind die Rechnungsbücher in die drei Ab-
teilungen: Recepta — Distributa — Census eingeteilt und umfassen in
ungefähr 270 Büchern die Zeit bis 1802, bis zum Ende der alten Reichs-
unmittelbarkeit. Die äußere Form ist bei allen dieselbe: Papierbände
im Pergamentumschlag im Format 32x22. Die Einträge eines Halb-
jahres bedecken im 15. Jahrhundert etwa 30—40 Blätter. Seit 1527
werden es Jahresrechnungen, deren einzelne Bände bis zum Ende des
16. Jahrhunderts auf etwa 250 Blätter angeschwollen sind. Es fehlen
die Jahrgänge: 1420-27; 1431—41; 1474—82; 1487—91; 1518—23.
— Daneben ist seit den 30er Jahren des 16. Jahrhunderts oft noch
eine Computacio coram toto ordine senatomm auf ca. 15 Blättern erhalten.
II. Aufnahmebücher über steuerbaren Besitz; Geschoßregister
a) Kataster, auf N. cf. S. 430f.
1. der Bürger
Ein Band ca. 1403.
Zwei Bände 1407.
Zwei Bände 1413/14.
Rei necke (Lüneburger Museumsbl. H. 6. Lüneb. 1909). 14. Stadtrechnungen von
Osnabrück des 13. und 14. Jahrb.; Stüve (Mitteil. d. hist. Ver. z. Osnabrück 14;
15. 1889 15./90). Znere/- Stadtrechnungen des Mittelalters. I. Rechn. d. 14. Jahrb.;
Kentenich (Trierisches Archiv, Trier 1908). 16. Rechnungen der Stadt Wien
1368—85; Chmel (Notizenblatt d. Wiener Akad. d. Wissensch. 1855). 17. Kämmerei-
register der Stadt Wismar 1326-36; (Jahrbücher d. Ver. f. Mecklenburger Gesch.
u. Altertumskunde 29; 1864).
Anmerkung: Rechnungen über einzelne Materien.
1. Der Bremer Rathausbau; Ehmk und Schumacher (Bremer Jahrbücher II.
1886). 2. Das Rostocker Weinbuch; Dragendorff und Krause, Rostock 1908.
3. Der Koblenzer Mauerbau, Rechnungen von 1276—89; Bär (Publ. d. Ges. f. rhein.
Geschichtsk. V, 1888).
IL Steuerlisten und Abrechnungen über Geschoß
1. Teilbücher der Stadt Bern; Welti (Archiv d. histor. Ver. in Bern 14, 1896).
2. Das älteste C/zürer Steuerbuch 1481; Jecklin, Chur 1908. 3. Hildesheimer Stadt-
rechnungen und Geschoßregister 1379—1450; Do ebner (ürkundenbuch der Stadt
tlildesheim 5; 6. tiildesh. 1893/96). 4. Steuerlisten des Kirchspiels St. Kolumba
in Köln vom 13.— 16. Jahrb.; Greving (Mitteil, aus d. Stadtarchiv v. Köln, H. 30).
5. Zins- und Geschoßregister der Stadt Leisnig; Hingst (Mitteil. d. Geschichts- u.
Altertumsvereins zu Leisnig III, 11). 6. Abrechnung der Stadt Rostock über die von
ihren Bürgern erhaltenen Darlehen und deren Abtragung bei der Schoßerhebung
ca. 1260; Dragendorff (Beitr. zur Gesch. von Rostock III, 1, 1900). 7. Trierer
Stadtrechnungen des Mittelalters (Volleiste des Jahres 1363 64); Kentenich
(Trierisches Archiv, Trier 1908).
Stadtschreiber und Stadtbücher iu Mühlhausen i. Th. 487
Jeder Band umfaßt ca. 250 Papierblätter und ist eingebunden in
einen Pergamentumschlag.
Ein Band ca. 1470 ca. 505 Blatt, in Holzdeckel mit Lederüberzug.
Ein Band ca. 1540, Pergament, Einband aus gepreßtem Leder.
Zwei Bände 1551, Papier, Einband aus gepreßtem Leder.
Zwei Bände 1566. Papier, Einband aus gepreßtem Leder.
2. Kataster der Dörfer und Vorstädte.
Ein Band 1407, Papier in Pergamentumschlag.
Ein Band ca. 1540, Papier in Pergamentumschlag.
Ein Band 1567, Papier, Einband aus gepreßtem Leder.
Ein Band 1567, Papier in Pergamentumschlag enthält Einträge
über Bürger und Vorstädte.
Aus den Jahren 1626—1802 noch 17 Bände Kataster der Bürger,
Dörfer und Vorstädte.
3. Buch der Flurmessungen; auf N, II 4 ca. 1456.
4. Zwei Bände in Pergamentumschlag: Inkomen der Dorffer so umb
Molhusen gelegenn vnd ytzundt Churfursten vnd Fürsten zcu Sachssen
vnnd Hessenn zcustenn. ca. 1530/40, je ca. 280 Blätter stark.
5. Beschreibung und Verzeichnis aller Güter und liegenden Gründe,
auch Erb- und wiederkäuflichen Zinsen, so den gemeinen f. f. Rats
Vorstädten auch Dorfschaften, und denen Kirchen daselbst zuständig,
davon jährlich Rechnung zu tun: 1574 — 1638.
Ein Band ca. 350 Blätter in gepreßtem Ledereinband.
b) Geschoßregister, auf N. cf. S. 430.
Aus den Jahren 1418 — 1640 30 Bücher, Papierblätter im Format
45x17 in Pergamentumschlag. Aus dem 15. Jahrhundert sind er-
halten die Jahrgänge 1418; 1446—47; 1457-60; 1471—75; 1475/76;
1485/86. Nach 1500 sind größere Lücken nur noch in den Jahren
1530—39; 1548—51; 1553—62. Sie enthalten die Namen der schoß-
pflichtigen Bürger nach Straßen, der Bauern nach Dörfern geordnet
mit der Anzahl der Geschoßmarken und einem Vermerk über Zahlung
odfer Nichtzahlung der Summen.
III. Zinsbücher, auf N. cf. S. 431
1. Ein Band ca. 150 Pergamentblätter in einem Einband aus ge-
preßtem Leder, 1456 angefangen. Inhalt: Verzeichnis der Reichszinsen,
gemeinen Zinsen, des Spendekorns und der Dorfzinsen.
III. Verzeichnis der städtischen Einkünfte aus Grundbesitz und Zinsgut
1. Libri redituum der Stadt Riga; Napiersky; Leipzig 1881. 2. Verzeichnis der
Renten der Stadt Osnabrück 1347; Stüve (Mitteil, des historischen Vereins zu Osna-
brück 16, 1891).
488 Erich Kleeberg
2. Ein Band Papierblätter in Pergamentumschlag umfaßt die Jahre
1586-90.
3. Ein Band Papierblätter in einem Einband aus gepreßtem Leder,
1591 angelegt.
IV. Rentenbücher (Zinsverschreibungen des Rates) cf. S.437
1. E 8 c 1, Kopienbuch der Verschreibungen von 1392 — 1402;
70 Pergamentblätter in Holzdeckel mit Lederüberzug.
2. E8 c2, Kopienbuch der Verschreibungen von 1408—59; 92
Papierblätter in Pergamentumschlag. Die zwei ersten Blätter fehlen.
In späteren Jahren auch Verträge in Regestenform.
3. E 8 c 3, Kopienbuch der Verschreibungen von 1459 bis in das
16. Jahrhundert hinein; 162 Blätter in Pergamentumschlag. Im 16. Jahr-
hundert geschehen die Einträge sehr unregelmäßig.
4. E 8 c 4, Registrum venerabilis civitatis Imperii Molhusen de
1410 ff. De censibüs de pretorio dandis. cf. S. 438. Ein Register für
die ebengenannten Kopienbücher, enthält Verträge von 1380—1480.
68 Pergamentblätter 23x19.
C. Stadtbücher
I. Bücher, enthaltend Einträge über Akte der freiwilligen Gerichts-
barkeit, die vor dem Rat vorgenommen wurden, cf. S. 438 ff, 474 f.
a) Stadtpfandbuch.
1. E 8 b 1: 40 Pergamentblätter eingebunden in Holzdeckel mit
Lederüberzug. Es erstreckt sich über die Jahre 1374 — 91.
2. X 1, 3 (Teil 1) 112 Blätter in neuerem Einband: 1416—41.
b) Kaufbuch.
XI, 3 (Teil 2): ca. 20 Blätter in neuerem Einband: 1415—17.
C. Stadtbücher. I. Die von dem Rat geführten Stadtbücher
verzeichne ich in drei Gruppen, die sich in dem Mühlhäuser Material nicht scharf
unterscheiden lassen:
a) der Inhalt bezieht sich auf Übergabe von Erb- und Eigengut;
b) auf Belastung von Erb und Eigen durch Rente und Pfand;
c) auf Schuldverschreibungen und Rentenverkehr.
a) 1. Kieler Erbebuch 1411—1604; Reuter, Kiel 1897 (im Auftrage d. Ges. f.
Kieler Stadtgeschichte). 2. Das ZööecÄe/- Oberstadtbuch; Rehme, Hannover 1895.
3. Das Zweitälteste Erbebuch der Stadt Reval 1360—83; von Nottbeck (Archiv f.
Stadtschreiber und Stadtbücher in Mühlhausen i. Th. 489
Seit 1441 Stehen die Grundbuchsachen meistens im Kontrakt-
buche, andere Materien der freiwilligen Gerichtsbarkeit sind verzeichnet
im Registrum recogniciomm.
a) Registrum Contractuum.
1. E8, 1—2, 1 ca. 200 Blätter in neuerem Einband: 1441—1501.
Ib) Registrum recognicionum et diversarum concordiarum.
1. XI, 6 (Teils) ca. 65 Blätter in neuerem Einband: 1441—1450.
2. XI, 7 357 Blätter in neuerem Einband: 1450—1500.
Seit 1501 gibt es zunächst nur ein Stadtbuch, von dem sich
mehrere andere Bücher abzweigen.
a) Notulbuch X 1, 8, bis zum Jahre 1802 noch weitere 27 Bücher,
"davon zweigt sich ab:
b) 1. Schuldbuch (Hypothekenbuch)
E 8 b 2, bis zum Jahre 1618 noch weitere drei Bücher.
2. Handelbuch.
E 8 a 2, bis zum Jahre 1623 noch weitere acht Bücher.
fesch. Liv-, Est- und Kurlands III, 2, 1890). 4 Das drittälteste Erbebuch der Stadt
Uval; (wie oben III, 3, 1892). 5. Die Erbebücher der Stadt Riga; Napiersky,
liga 1888. 6. Die ältesten Kaufbücher der Stadt Wien, 1368—88; Staub (Mayer:
Quellen zur Geschichte d. Stadt Wien, herausg. vom Wiener Altertumsverein III, 1).
1. Das älteste Kieler Rentebuch; Reuter, Kiel 1893. 2. Das zweite Stralsunder
tadtbuch, 1310—42; Reuter, Lietz, Wehner; Stralsund 1896. Der 3. Teil mit Über-
rbeitung der ersten beiden Teile von Ebeling, Stralsund 1903. c) Krakauer Stadt-
Icher; Piekosiriski, Szujski (Mon. med. aevi bist, res gestas Poloniae illustr.,
[om 4, Krakau 1878). — Die drei Gruppen sind vereinigt: Das älteste Wittschopbuch
5r Stadt Reval, 1312—60; Arbusow (Arch. f. Gesch, Liv-, Est- und Kurlands III, 2,
0. Die ersten beiden Gruppen finden sich vereinigt: Das zweite Stader Stadt-
ich, 1322—39; herausg. vom Ver. f. Gesch. u. Altertümer zu Stade, 1890.
Ganz eigene Anfänge zeigt Köln mit seiner Schreinskartenpraxis seit 1135. Die
Verträge Privater über Besitzrechte an Immobilien wurden vor dem Schreinsbeamten
einer der Sondergemeinden der Stadt vorgenommen und auf einer Schreinskarte, die
im jeweiligen Schrein niedergelegt wurde, verzeichnet. Seit 1229 etwa beginnt man
mit der Anlage von Schreins bü ehern: 1. /Tö/n^/' Schreinsurkunden des 12. Jahrh. II.;
Höniger (Publik, d. Ges. f. rhein. Geschichtsk. I., Bonn 1893/94). 2. Die ältesten
Faszikel der Schreinsnotierungen 1170—1200, ca. 1350; Höniger: Urkunden und
Akten aus dem Amtleute-Archiv des Kolumba-Kirchspiels zu Köln (Ann. d. bist. Ver.
f. d. Niederrhein 48, 1887). 3. Das Judenschreinsbuch der Laurenzpfarre zu /TöY/z,
14. und 15. Jahrb.; Höniger (Quellen z. Gesch. d. Juden in Deutschland I, Berlin
1888). Das Grundbuchwesen in Metz ist unter Kölns Einfluß entstanden : die Amanns-
praxis. Etwas eigenes hatte Metz in seinen Bannrollen, zusammengenähten Pergament-
blättern, in welchen die unter dem Banne der Mayer stattgefundenen Güterauflas-
sungen verzeichnet wurden: Die ßletzer hanmoWen des 13. Jahrh. seit 1220; Wich-
mann (Quellen z. Gesch. Lothringens V, Metz 1908).
I
490 Erich Kleeberg, Stadt seh reiber u. Stadtbücher i. Mü hl hausen i. Th.
II. Bücher des Schultheißengerichts cf. S. 442
RA — uu
RAi 1431/32
RA2 1437/38
RA3 1442/43
RBi 1446/47
und noch 57 Bücher bis zum Jahre 1678. Es sind Papierbände in
Pergamentumschlag in dem gewöhnlichen Stadtbuchformat 32x22.
II. Schöffenbücher
Die Register der Schöffenbücher zeigen je nach den Kompetenzen der Behörde
in den verschiedenen Städten einen mehr oder weniger reichen Inhalt. 1. Akener
Schöffenbücher, 1265—1555; Neubauer (Magdeburger Geschichtsbl. 30; 31; 32).
2. Freiberger Gerichtsbücher, seit 1464; Ermisch (Freiberger Ürk.-B. III. Cod. dipl.
Sax. reg. 14). 3. Das älteste Schöffenbuch von Freienwalde i. Pommern, 1320—1567;
Lemcke (Baltische Studien 32, 1882). 4. Die Hallischen Schöffenbücher, 1266—1460;
Hertel (Geschichtsqu. der Provinz Sachsen 14, 1882/87). 5. Das Wetebuch der
Schöffen zu Kalbe a. S.; Hertel (Magdeburg. Geschichtsbl. 20; 21, 1885/86). 6. Das
Kieler Varbuch; Luppe (Mitteil, der Ges. für Kieler Stadtgesch. H. 17, Kiel 1899).
7. Krakauer älteste Stadtbücher, 1300—75 liber actorum, obligacionum et resignatio-
num ;Piekosinski,Szujski {Mon. med. aevi histor. res gestas Poloniae illustr. Tom 4,
Krakau 1878). 8. Lemberger Schöffenbuch; Czotowski, Lemberg 1892. 9. Das
älteste Stadtbuch der Stadt Neuhaldensleben; tiülße (Magdeburg. Geschichtsbl. 14,
1879). 10. Das Schöppenbuch von Seehausen (Kreis Wanzleben), 1496—1581; Setze-
pfandt (Magdeburg. Geschichtsbl. 40, 1905. 41, 1906). 11. Das älteste Schöffenbuch
der Stadt Zer65/, 1323—60; Neubauer (Mitteil. d. Ver. f. Anhaltin. Gesch. u. Alter-
tumsk. 7 ff.).
D. Unentwickelte Formen
finden sich in einigen Städten, die es gar nicht, oder erst später zu einem ge-
ordneten Kanzleiwesen gebracht haben. Alle vor dem Rat verhandelte Materien
werden in ein Stadtbuch verzeichnet: 1. Das älteste Stadtbuch der Stadt Garz
(Rügen), 1377—1571; von Rosen, Stettin 1885 (Quellen zur Pommerschen Gesch.).
2. Lüneburgs ältestes Stadtbuch; Rein ecke (Quellen u. Darst. z. Gesch. Nieders.
VIII, 1903). 3. Stadtbuch von Oschersleben , 1428-1562; Setzepfandt (Magdeb.
Geschichtsbl. 32, 1897). 4. Rostocker Stadtbuchblatt; Dragendorff (Beiträge zur
Gesch. Rostocks III 1, 1900). 5. Die ältesten Stadtbuchfragmente Rostocks, 1258-62;
Dragendorff (Beitrag zur Gesch. Rostocks II 2, 1897). 6. Das älteste S/aofe^r Stadt-
buch, von 1286 ab; herausg. vom Verein f. Geschichte u. Altertümer zu Stade, tl. 1,
Stade 1882).
llDas Königsurkunden-Verzeichnis des Bistums
Hildesheim und das Gründungsjahr des Klosters
Steterburg
Ernst Müller
In der Nacht des 21. Januar 1013 brannte der tiildesheimer Dom
aus, und Bibliothek und Archiv des Bistums wurden ein Raub der
Flammen.^ Nur geringe Reste der urkundlichen Überlieferung blieben
erhalten, so eine noch heute vorhandene Originalurkunde Kaiser Ottos 111.
vom 23. Januar 1001 (DO. III. 390); welcher Zufall sie, die von Anfang
an dem Domarchive angehört haben muß, vor dem Feuer bewahrte,
wissen wir nicht.- So sind wir, zumal auch die erzählenden Quellen
^ Ann. Hildeslieim. 1013: Postea 12. Kai. Februarii peccatis agentibus prin-
cipale templum Hildineshemensis ecclesiae diabolo insidiante per noctem igne suc-
censum, sed solo divinae miserationis subsidio velociter, deo gratias, est exstinctum.
Sed hoc, ah ah, nobis restat lugendum, quia in eodem incendio cum preciossissimo
missali ornamento inexplicabilis et inrecuperabilis copia periit librorum. — DH. II.
256a: Bernwardus Hildeneshemensis aecclesiae venerabilis presul ... miserabilem
conquestus querimoniam, eo quod peccatis id merentibus in loco superius
memorato ab antecessoribus suis collecta, suo quoque ingenio maxime et decenter
elaborata cunctorum ibidem voluminum scripta vorax ignis absorbuit, in cinerem
namque cuncta redegit. — Die schon von V. Bayer, Forsch, zur Deutschen Gesch.
XVI (1876) 184 N. 2, beobachtete Übereinstimmung der hier durch Sperrdruck her-
vorgehobenen Stellen scheint eine weitere Beziehung des Notars GB. zum Verfasser
der tiildesheimer Annalen, der zum Jahre 1014 über ein dem Bistume Bamberg er-
teiltes, nicht erhaltenes Privileg Heinrichs II. berichtet, zu ergeben, vgl. ti. Bresslau,
; Einl. zur Ausg. der Urk. tieinr. II. S. XXII, und eben S. 217 Anm. 2.
^ Auch DO. III. 409, Bestätigung eines Tausches zwischen Bischof Bernward
I und dem Grafen Bardo vom 11. September desselben Jahres, scheint in der für den
Bischof bestimmten Ausfertigung vorzuliegen. Bernwards Testament zugunsten der
heil. Kreuzkapelle, tlochstift. ÜB. I Nr. 38, in deren Gründungsjahr 996 zu versetzen,
sehe ich keinen zwingenden Anlaß.
492 Ernst Müller
spät und spärlich fließen, über die Anfänge der Hildesheimer Kirche
und ihre Geschichte in den ersten zwei Jahrhunderten ihres Bestehens
nur dürftig unterrichtet.^ Die 48 Stücke, die das hochstiftische ür-
kundenbuch^ für die Zeit vor 1013 beibringt, enthalten Erwähnunger
der Anwesenheit der Hildesheimer Bischöfe auf Synoden und be:
politischen Verhandlungen, ihrer Fürbitte oder Zeugenschaft in Ur-
kunden, oder sind Diplome für andere Empfänger, darunter Schen-
kungen an Laien, deren Objekte später mit den Urkunden selbst in
den Besitz der Domkirche übergingen. Um so wertvoller ist ein in
dem großen tiildesheimer Kopialbuch des 15. Jahrhunderts erhaltenes
Verzeichnis der älteren Königsurkunden des Bistums.^ Es ist in den
Vorbemerkungen zu den im Folgenden zu besprechenden Diplomen
Heinrichs II. von den Herausgebern regelmäßig herangezogen worden,'
bedarf jedoch noch ergänzender Betrachtung und einheitlicher Wertung.
Das Verzeichnis führt . in zwei besonders durchgezählten Teilen
erst die den zwölf ersten Bischöfen von Ludwig dem Frommen bis
auf Otto III. verlieherben Privilegien, sodann die durch Bischof Bernward
von diesem Kaiser sowie seinem Nachfolger Heinrich II. erwirkten
Diplome auf. Der erste Teil umfaßt elf Nummern; der zweite dreizehn,
doch ist in diesem Nr. 9 ausgefallen. II, 13 betrifft die Beilegung des
Gandersheimer Grenzstreites zwischen Bernward und Erzbischof Willigis
von Mainz, die im Januar 1007 erfolgte und nach H. Bresslaus über-
zeugender Vermutung schon damals beurkundet wurde.^ Ergibt sich so
^ Ganz im Dunkel liegt die Gründungsgeschichte. Gleichzeitige Berichte sind
nicht vorhanden. Die spätere Überlieferung schreibt die Gründung übereinstimmend
Kaiser Ludwig dem Frommen zu; die Jahresansätze schwanken zwischen 814 und
822. Eine wichtige Quelle ist in der „Fundatio ecclesie tlildensemensis" neu er-
schlossen worden; vgl. A. Bertram, Hildesheims Domgruft und die Fund. eccl.
tiild., 1897, und im übrigen A. Hauck, Kirchengesch. Deutschlands 11^ 075 N. 5;
F. W. Rettberg, Kirchengesch. Deutschi. II (1848) 466ff.; A. Bertram, Gesch. des
Bist, tiild. I (1899) 30; E. Du mm 1er, Gesch. des Ostfränk. Reiches I^ 259 N. 3;
B. V. Simson, Jahrb. Ludwig des Fr. II, 284 ff. Erst mit dem vierten Bischöfe,
Altfrid (851—874), gewinnt die Bistumsgeschichte feste Gestalt, vgl. Bertram S. 36,
Simson S. 286.
' 1. Teil herausgegeben von.K. Jan icke 1896.
' ÜB. Nr. 60, Neudruck in der Anlage.
^ tierausgegeben sind die Urkunden Heinrichs IL in den MG. DD. III von
H. Bresslau und H. Bloch unter Mitwirkung von M. Meyer und R. Holtzmann.
Der Kürze halber führe ich im Folgenden nur den Namen des Leiters der Ausgabe an.
^ Eine solche bietet auch J. Lechner in Böhmer-Mühlbacher, Reg. imp. I l^
S. 852 (unter „Verlorene Urkunden" Nr. 206—211) nicht.
^ Vorbemerkung zu DH. II. 255. Das Vorhandensein eines älteren, wohl der
Weihe der Gandersheimer Kirche gleichzeitigen Diploms wird gerade durch das Ur-
kunden Verzeichnis sicher erwiesen, denn unter dem Regestil, 13 kann DH. IL 255
Hildesheim — Steterburg 493
Is Frühgrenze für die Entstehung des Verzeichnisses der Anfang des
fahres 1007, so muß es anderseits vor dem Aufenthalte des Königs
1 Werla Ende Februar und März 1013 verfaßt sein, da es die während
lesselben für das Bistum ausgestellten Erneuerungsurkunden nicht be-
ücksichtigt. Es fragt sich nun, ob es vor dem Brande des Januar 1013
»der nachher aufgestellt wurde. Während R. Janicke sich darauf
)eschränkte, das Stück, dessen Überschrift für seine Datierung
lichts austrägt, der Zeit nach 1013 zuzuweisen, was mindestens
ingenau ist, betrachtet es Bresslau^ als eine kurze Zeit nach dem
)rande zusammengestellte Verlustliste. Man müßte dann also an-
lehmen,- Heinrich II. habe seit dem Januar 1007 bis Anfang des
lahres 1013 für Hildesheim ebensowenig geurkundet wie nach dem
/erzeichnisse, das ihm nur Nr. II 13, Nr. II 1—12 aber seinem Vor-
gänger zuschreibt, in der Zeit von 1002—1006,^ d. h. er habe außer
ier Gandersheimer Entscheidung in den ersten zehn Jahren seiner
Regierung dem Bistume keinen urkundlichen Gunstbeweis erteilt. Auch
st wohl nicht recht einzusehen, welchen Zweck in einem Verlust-
/erzeichnisse die Teilung der Urkunden in zwei Gruppen und die
doppelte Zählung haben sollte. Schwerer noch wiegt die Überlegung,
iaß ein so umfassendes Verzeichnis mit so genauen und teilweise
ausführlichen Angaben^ unmöglich nach dem Gedächtnis aufgestellt
5ein kann, was der Fall sein müßte, wenn es nach der Vernichtung
der Urkunden entstanden wäre. Es dürfte daher eher als ein Bestands-
verzeichnis zu betrachten sein, angelegt kurze Zeit nach Beendigung
jes Gandersheimer Streites, auf Veranlassung Bernwards, der zu prak-
tischen Zwecken seine eigenen Privilegien von denen seiner Vorgänger
getrennt übersehen wollte, um so wertvollere Dienste wird es dann
nach dem Brande dem Bischöfe bei seinen Bemühungen um den Er-
satz der Rechtstitel seiner Kirche geleistet haben.
Während des erwähnten Aufenthaltes Heinrichs II. in Werla ließ
Bernward sich nämlich anscheinend alle ihm selbst verliehenen und
verbrannten Diplome neu ausstellen. Von den zwölf Nummern des
zweiten Teiles des ürkundenverzeichnisses sind uns noch für sieben
die Erneuerungsurkunden erhalten. Betrachten wir sie genauer, so
nicht verstanden werden, da es erst gleichzeitig mit den im Verzeichnis noch nicht
berücksichtigten Erneuerungsurkunden aus dem Aufenthalte Heinrichs 11. zu Werla im
März 1013, DD. 256 ff., ausgestellt wurde, vgl. unten S. 502 mit Anm. 1.
' Vorbemerkungen DH. II. 126. 255.
^ Vgl. dazu unten S. 506.
^ Vgl. I 3. 5, II 1 ; hier werden geradezu Sätze der Urkunden mehr oder weniger
wörtlich ausgezogen.
I
494 Ernst Müller
werden wir erkennen, daß der ältere ürkundenbestand doch nicht ganz
restlos zugrunde gegangen sein kann.
An erster Stelle nennt das Verzeichnis (I 1) eine Urkunde Kaiser
Ludwigs des Frommen über die Grenzumschreibung der Diözese, die
Begründung des Domstiftes und die Verleihung der Immunität unbe-
schadet der Verpflichtung zum Königsdienste. Da, wie wir jetzt sicher
wissen,^ bei der Gründung der sächsischen Bistümer deren Grenzen
nicht umschrieben und urkundlich festgelegt worden sind, muß in
dieser ersten Hildesheimer Immunität die Umgrenzung nachträglich
eingefügt gewesen sein. Diese Einschiebung könnte in Zusammenhang
mit den durch den Gandersheimer Streit veranlaßten Feststellungen
Bischof Bernwards über die alten Grenzen seiner Diözese gestanden
haben , von denen Thangmar zum Jahre 1006/7 , also derselben
Zeit, der wir die Entstehung des Urkundenverzeichnisses zuschreiben
möchten, berichtet,^ und deren Ergebnis wohl in der den Namens-
formen zufolge dem angehenden 11. Jahrhundert angehörenden Grenz-
beschreibung (G) vorliegt.^ Die darin verwertete Grenzlinie zwischen
dem ostfälischen Bistum tiildesheim und dem engernschen Minden
war bereits unter Otto III., spätestens Anfang des Jahres 993, also
wohl erst nach Beginn des Gandersheimer Streites (987) und im Zu-
sammenhange mit ihm und möglicherweise auch erst auf Anregung
Bernwards hin, durch ein Inquisitionsverfahren festgestellt worden;
diese Aufzeichnung ist im Archive des Domstiftes, freilich erst in
Schrift des 11. Jahrhunderts, erhalten geblieben.^ Es liegt nun die
Annahme nahe, daß die Grenzumschreibung, durch welche die Urkunde
Ludwigs des Frommen verfälscht wurde, keine andere ist als jene
Grenzangabe, die man im März 1013 in das DH. II. 256, das jene
älteste Immunität mit ersetzen sollte, einzuschmuggeln vergeblich ver-
suchte und die einen Auszug aus der Grenzbeschreibung G darstellt.
Daß aber die Immunität Ludwigs wirklich keine Grenzumschreibung
enthielt, ergibt die weiter unten folgende Nachweisung ihrer echten
Gestalt.
Seine Immunitätsurkunde erneuerte Ludwig der Fromme dem
zweiten Bischöfe (I 2). Sein Sohn Ludwig der Deutsche legte die
Bistumsgrenze nach Ostfalen hin^ am Ufer der Innerste fest, verfügte
* Vgl. M. Tangl oben S. 210—218.
' SS. IV 776 c. 41.
' ÜB. S. 30, Nr. 40, vgl. Vorbemerkung DH. 11. 256.
* ÜB. S. 24, Nr. 35 mit Anm.
" „Super Astfalas" ist schwer zu erklären. Der Gau Astfala, der Kern des
Sprengeis, in dem die Bischofsstadt selbst liegt, kann kaum gemeint sein. Die
Innerste bildet zwar in ihrem Laufe von Südosten nach Nordwesten die Grenze der
Hildesheim — Steterburg» 495
Über alles innerhalb der Grenzen des engeren bischöflichen Pfarr-
sprengels^ gelegene Königsgut zugunsten der Domherren und befreite
die bischöflichen Vasallen und Hintersassen für den Fall der Heerfahrt,
ies Hof- und Gerichtsdienstes und jedes anderen Königsdienstes von
3er Zwangsgewalt der königlichen Beamten. So das Regest 1 3, dessen
Angaben wir wohl Vertrauen schenken dürfen. Denn wenn die
Sprengel der sächsischen Bistümer auch nirgends in Königsurkunden
allgemein umschrieben worden sind, so liegen doch einzelne bestimmte
Zeugnisse vor, daß in Streitfällen auf Synoden oder ausdrücklich durch
Diplome über Bistumsgrenzen vermittels Demarkation an der strittigen
iStelle entschieden wurde. ^ Es kann somit nicht ohne weiteres ins
jReich der Fabel verwiesen werden , wenn das ürkundenverzeichnis
anzugeben scheint, Ludwig der Deutsche habe die Hildesheimer Süd-
ostgrenze gegen die Diözese Halberstadt ^ an einer bestimmten Stelle ge-
regelt. Die Unterstellung der Immunitätsleute bei Ausübung ihrer öffent-
lichen Pflichten^ unter den Immunitätsherrn und seine Beamten ist eine
natürliche Folge der Immunität überhaupt. Merkwürdigerweise ist sie
selten durch Königsurkunden verbrieft worden.^ Die Zuverlässigkeit
Gaue Ostfalen einerseits und Flenithi, Valedungo (hier liegt Hildesheim selbst an
ihr) und Scotelingo anderseits, vgl. das Kartenblatt: Ostfalen und Nordthtiringen
mit Diözesan-, Gau- und dynastischer Einteilung bis ins 14. Saec, von J. V. Kut-
sch ei t, Verlag von Simon Schropp & Co., Berlin 1842; da die letztgenannten drei
Gaue jedoch zum Sprengel gehören, kann hier keine Bistumsgrenze bestanden haben.
Man wird also unter Ostfalen hier einen weiteren Begriff, das Stammesland verstehen
müssen (ähnlich wie es in DH. II. 256a als „pagus sive provincia Astfalo** vor-
kommt) und an eine Abgrenzung des im Westen an das engernsche Bistum Minden
sich anschließenden Hildesheimer Sprengeis nach der ostfälischen Seite hin, d.h.
gegen das östlich und südöstlich angrenzende andere ostfälische Bistum Halberstadt
denken können. Hier kann die Innerste in ihrem Oberlaufe stellenweise die Grenze
gebildet haben. Nach der Grenzbeschreibung G verlief die Bistumsgrenze von
Ahrendsberg zum Vorbach, einem Nebenflusse der Innerste, von dort über zwei un-
bestimmbare Orte an diese selbst, überschritt sie und wandte sich über zwei un-
bekannte Orte nach Münchehof. A. Bertram gibt a.a.O. S. 25 die Linie so an:
die Rohmke aufwärts bis zu ihrer südlichen Quelle am Fuße des großen Ahrens-
berges, weiter- zum Vorbach, zum großen Kellerhalsteich, unterhalb Wildemann über
die Innerste, im Süden von Münchehof (Kemnade) vorbei.
^ Von den Kapellen des Domes war später die Antoni-Kapelli Pfarrkirche, vgl.
Bertram a. a. 0. S. 27.
2 Vgl. M. Tangl oben S. 212.
^ Über deren ümgrenzungsfrage vgl. oben S. 198—215.
* Von denen die Hildesheimer, wie wir sahen (I, 1), nicht befreit waren.
^ Eine solche auf die Heerfahrt bezügliche Privilegierung findet sich in Karo-
lingerzeit sonst nur in der Urkunde Pippins DK. 20 für das Bistum Worms und,
daraus übernommen, in der Bestätigung Ludwigs des Frommen M.'^ 536. Weiteren
Aufschluß über die Frage darf man von E. Stengels Untersuchungen über die Im-
munitätsurkunden der deutschen Könige erwarten. Vgl. auch M. Tangl oben S. 292 f.
496
Ernst Müller
gerade dieser Angabe des Regestes wird vollends dadurch über jeden
Zweifel erhoben, daß in der Erneuerungsurkunde Heinrichs II. D. 256,
deren beide Fassungen, wie wir noch genauer sehen werden, teilweise
auf karolingischem Formular beruhen, sich ein Abschnitt findet, der
ihr durchaus entspricht,^ und den wir somit durch die Bestätigung
Arnolfs (I 4) hindurch auf die verbrannte Urkunde Ludwigs des Deutschen
zurückführen dürfen.
Die weiteren Nummern des ersten Teiles des Verzeichnisses (I 5—11)
betreffen Überweisungen von Gütern und Klöstern und deren Bestäti-
gungen durch die Könige Arnolf bis Otto III. Da diese Urkunden
spurlos verschwunden sind, brauchen wir auf sie hier nicht weiter
einzugehen.
Die Hildesheimer Kirche nahm einen neuen Aufschwung, als
Bernward die Leitung des Bistums übernahm. Der vielseitig tätige
Bischof war eifrig bemüht, den Umfang seines Sprengeis und die
Rechte seiner Kirche zu sichern. Er fand bei diesen Bestrebungen
geneigtes Entgegenkommen bei Otto IIL, dessen Erzieher er gewesen
war. Nicht weniger als zwölf Diplome nennt das Verzeichnis, die er
von diesem Herrscher erhielt.
Die erste Urkunde, die ihm zuteil wurde, war ein großes Privileg,
das eine allgemeine Besitzbestätigung und Bestimmungen über Im-
munität und Vogtwahl sowie über die patristischen Studien der Dom-
^ Das lehrt eine Gegenüberstellung:
Regest I 3:
ut nulla maior vel minor persona au-
deret stringere homines suos, nobiles aut
liberos, colonos vel servos, quamdiu in ex-
pedicione aut ad placitum vel in ullo re-
gali servicio essent. — Allgemein gehalten,
aber teilweise damit übereinstimmend ist
Regest II 1:
ut null US comes potestatem haberet
stringere homines suos, nobiles li-
beros colonos litones aut servos, in
qualicunque territorio habitarent, excepta
illa persona quam illius loci episcopus
regio consensu eligeret.
Die Wormser Immunitäten (vgl. die
ganz anders.
DH. II. 256 b:
Proinde quotiens in expeditionem
seu ad palatium (!) vel in aliud quod-
libet nostrum ser Vitium ire debeat, quo-
rumlibet ho min um suorum ad hoc iter
potestatem habeat nee eo tempore quisquam
aliquos eins homines distringere vel
ad aliam profectionem cogere presumat —
Damit nahe verwandt: DH^ II. 256a:
Cum vero in expeditionem aut in
palatium vel in aliud servicium
nostrum iter arripuerit, quorumlibet
hominum suorum cuiuscumquevideantur
persone potestatem habeat nee in
aliam profectionem quis eos cogere
presumat, nullusque iudex publicus seu
iudiciaria qualiscumque persona in hoc
sibi contradicere vel se molestare audeat.
vorhergehende Anm.) fassen die Sache
Hildesheim — Steterburg 497
schule^ enthielt (II 1). Ihm entspricht wenigstens teilweise die Er-
neuerungsurkunde DH. II. 256, die sich Bischof Bernward nach dem
Brande von Heinrich II. über die Grundrechte seiner Kirche ausstellen
ieß. Dieses Diplom ist in zwei verschiedenen Fassungen überliefert.
)ie eine, DH. II. 256a, die nicht vom Könige vollzogen und nicht mit
Siegel und Tagesangabe versehen wurde, also ein vom Empfänger
eingereichter und ihm zurückgegebener Entwurf ohne Rechtskraft blieb,
ist inhaltlich durch die bereits erwähnte Grenzangabe des Bistums-
sprengeis, einen Auszug aus der Grenzbeschreibung G, erweitert, für
die sie sich auf Bestätigungen Arnolfs und Ludwigs beruft, die, wenn
überhaupt je vorhanden, sicher nicht echt gewesen sein können. Nach
3resslaus Vermutung sollte diese Grenzangabe wohl zugleich den
Ansprüchen Bernwards im Gandersheimer Grenzstreite, dessen Ent-
scheidung gleichzeitig erneuert wurde, eine neue allgemeinere Grund-
age verschaffen. Da dieser Empfängerentwurf jedoch bei Hofe
nicht durchging, fügte man, nach Bresslaus Annahme gleichfalls
mit Rücksicht auf die früheren Mainzer Ansprüche, in der neuen,
von Bernward vorgelegten und vom König anerkannten Fassung,
)H. II. 256 b, eine in D. 256a fehlende Stelle über Besitz und
Zehnten ein.
Beide Fassungen des D. 256 rühren von dem Notar G(unther) B.
her, der nach Bresslaus sehr einleuchtender Vermutung erst kurze
Zeit vorher aus dem Dienste Bernwards in den der königlichen Kanzlei
übergetreten war und alle Hildesheimer Urkunden Heinrichs II. verfaßt
hat.^ Während er das Diktat von D. 256a großenteils selbständig
gestaltete,^ lehnte er sich in D. 256b weitgehend an eine karolingische
Vorlage an. Entspncht die Fassung D. 256 a durch ihre Grenzangabe
gewissermaßen der Fälschung, von der das ürkundenverzeichnis an
erster Stelle (I 1) berichtet, so ist uns in D. 256b die echte Gestalt
der ersten Hildesheimer Immunität erhalten geblieben. Dachten
bereits Bresslau und Stengel an eine Vorurkunde Ludwigs des
^ Vgl, über diese Bertram a. a. 0. S. 54ff.
^ Vgl. über ihn Bresslau, NA. XXH (1897) 158f. und Einleitung zur Ausgabe
S. XXII, und Stengel in seinem demnächst erscheinenden Buche S. 225ff. (in dem
unter dem Titel „Die Verfasser der deutschen Immunitätsprivilegien des 10. und
11. Jahrhunderts" als Marburger tiabilitationsschrift, Marburg i. ti. 1907, vorliegen-
den Teile S. 96ff.), ferner unten S. 509 Anm. 2.
' Auf karolingische Vorlage führt Bresslau die Abschnitte über bischöf-
liche Leute (vgl. oben S. 495 Anm. 5, S. 496 Anm. 1) und Bischofswahl, deren Fas-
sung der in D. 256b nahe verwandt ist, ferner die den Assensus ausdrückende
Wendung und die Worte „pro animae nostr? remedio, regni quoque tocius nobis
divinitus coUati stabilitate et pro coniugis prolisque regalis incolumitate" zu-
rück. — Ich verweise hier ein für allemal auf die Vorbemerkung zu D. 256.
AfU II 32
498
Ernst Müller
Frommen,^ so läßt sich diese Erkenntnis durch eine Vergleichung
mit den Immunitätsurkunden dieses Herrschers zu voller Gewißheit
erheben und die Vorlage zeitlich genau festlegen.^ Der Text von
Dr256b stimmt, soweit in ihm Königsschutz und Immunität
verbrieft werden, fast wörtlich mit der Urkunde Ludwigs des Frommen
für das französische Bistum Viviers, M. 585 (565), überein, wie die
folgende Gegenüberstellung zeigt.
IA\585:
Si sacerdotum ac servomm dei iustis
petitionibüs acquiescimus , hoc nobis sane
ad aeternam beatitudinem provenire con-
fidimus.
Idcirco comperiat omnium fidelium
nostromm praesentium scilicet etfuturomm
D. 256 b:
Si sacerdotum et servorum dei
petitiones pro suis necessitatibus quas
nobis innotuerint ad effectum perducimus,
non solum regiam consuetudinem exerce-
mus, verum etiam ad aeternae beati-
tudinis premia capessenda talia nobis
facta profutura liquido credimus.^
Quapropter^ omnium fidelium
nostrorum presentium scilicet et
^ Während Br esslau im NA. XXII (1897) 158 f. von teilweiser, mittelbarer
oder unmittelbarer Benutzung eines verlorenen Immunitätsprivilegs Ludwigs des
Frommen für tiildesheim in DDH. II. 126, 256a und b sprach, drückte er sich
später in der Einleitung zur Ausgabe S. XXII und in den Vorbemerkungen zu D. 126.
256 (vgl. auch S. 307 , N. v. der Ausgabe) allgemeiner und zurückhaltender aus.
Stengel spricht von einer „an Diplome Ludwigs des Frommen erinnernden Fas-
sung", vgl. „Die Immunitätsurkunden der deutschen Könige vom 10. — 12. «Jahrhundert,
Berliner Dissert. 1902, S. 17, von „der im DH. II. 256b ausgeschriebenen ludowici-
schen Urkunde", Hab.-Schrift S. 94 (Buch S. 223) Anm. 8, von einer „ludowici-
schen Formel", ebenda S. 97 bzw. 226.
^ Als diese Abhandlung im ersten Entwürfe fertig war, teilte mir Herr Privat-
dozent Dr. E. Stengel in Marburg mit, er habe für sein Werk über die Immunitäts-
urkunden der deutschen Könige die Hildesheimer Überlieferung bereits vor Jahren
untersucht, das Deperditum Ludwigs des Frommen rekonstruiert und zeitlich ziem-
lich genau bestimmt sowie den Anteil der verlorenen Nachurkunden an der Fassung
des Dti. II. 256b festgelegt. So sehr ich bedauere, Stengel von seinen in einen
größeren Zusammenhang gerückten Einzelergebnissen etwas vorwegzunehmen, so
wenig konnte ich im Rahmen meiner Untersuchung, die mit den mir übertragenen
Vorarbeiten für die Ausgabe der Urkunden Ludwigs des Frommen in den Mon. Germ,
bist, in engster Verbindung steht, auf den genauen Nachweis und die Zeitbestimmung
des Deperditums Ludwigs verzichten. Ich habe mir indessen hierbei möglichste Zu-
rückhaltung auferlegt und verweise auf Stengels Arbeit als auf eine Ergänzung
meiner eigenen, behalte mir jedoch vor, auf die Geschichte der Hildesheimer Bistums-
gründung an anderem Orte zurückzukommen.
^ Ähnliche Arengen finden sich in folgenden Urkunden (Immunitäten) Ludwigs
des Frommen: M.' 531 = 550; in der Gruppe 535 (Halberstadt), 536 = 537 (Worms),
570 und 884 (Vienne) und 702 (Visbeck); 572, 598 (vom 3. Dezember 815).
* „Quapr." in M.^ 535, 536. Wo ich wie hier auf ein Glied der Gruppe 535
(Halberstadt), 536 (Worms), 570 (Vienne) und 702 (Visbeck) verweisen kann, ver-
zichte ich auf weitere Belege.
Hildesheim — Steterburg
499
industria, quia vir venerabilis Thomas
episcopus Albensium seu Vivariensium
veniens ad nos deprecatus est celsitudinem
nostram, ut pro nostrae mercedis augmento
oraedictam sedem cum fratribus ibidem
domino servientibus sab nostra defensione
el immunitate reciperemus. Cuius petitioni
assensum praebentes per hoc nostrae
auctoritatis praeceptum confirmare studu-
imus. Praecipientes ergo iiibemus, ut nullus
iudex publicus neque quislibet ex iudiciaria
potestate seu aliquis ex fidelibus sanctae
dei ecclesiae ac nostris in ecclesias aut
loca vel agros seu reliquas possessiones,
quas moderno tempore iuste et rationabi-
liter possidere videtur in quibustibet pagis
et territoriis vel quidquid etiam deinceps
propter divinum amorem ibidem collatum
fuerit, ad causas audiendas vel freda
exigenda aut mansiones aut paratas fa-
ciendas aut fideiussores tollendos aut ho-
mines ipsius ecclesiae tam ingenuos quam
servos iniuste distringendos sive alias
redibitiones vel illicitas occasiones requi-
rendas ullo unquam tempore ingredi au-
deat vel ea quae supra memorata sunt
exactare praesumat Sed liceat servis
domini ibidem consistentibus sub nostra
defensione et immunitatis tuitione perpetuo
tempore quiete residere et pro nobis ac
coniuge proleque nostra seu pro stabilitate
totius imperii nostri a domino nobis collati
et eius clementissima miseratione iugiter
conservandi domini misericordiam exorare.
futurorum cognoscat^ industria, qua-
liter vir venerabilis Bernwardus epi-
scopus ex oppido qui vocatur^ Hildeneshem
qui^ est in pago Astfala in honore sanctae
Mariae super fluvium Indistha^ veniens
ad nos deprecatus est celsitudinem
nostram, ut prefatam aecclesiam cum
fratribus ibidem deo famulantibus*
pro nostrae mercedis incremento^ sub
nostra defensione et immunitatis
tuitione'^ reciperemus. Cuius peti-
cionem quia^ iustam fore cognovimus'' ,
assensum prebere non negavimus et,
sicut petivit,^ per hoc nostrae aucto-
ritatis preceptum confirmare stu-
duimus. Precipientes ergo iube-
mus, ut nullus iudex publicus ne-
que quislibet ex iudiciaria potestate
seu aliquis ex fidelibus sanctae dei
aecclesiae ac nostris in aecclesias
loca vel agros seu reliquas pos-
sessiones, quas moderno tempore
iuste et rationabiliter possidere
videtur in quibus{!) pagis vel terri-
toriis vel quicquid deinceps propter
divinum ettiam (!) amorem ibidem
collatum fuerit, ad causas audien-
das vel freda exigenda seu mansio-
nes faciendas aut fideiussores tol-
lendos aut homines ipsius aeccle-
siae tam ingenuos iniuste quam
et servos distringendos vel ullas
redibitiones aut illicitas occasiones
requirendas ullo umquam tempore
ingredi audeat vel ea quae supe-
rius^ memorata sunt exactare pre-
sumat. Sed liceat Uli suisque ibi
' „cognoscat" nicht nachzuweisen, vielleicht aus „comperiat«, vgl. M.* 556
(unecht, doch echte Vorlage) mit „Quapr. comperiat . . . quia".
2 „q. voc." auch in M.^ 702.
^ Vgl. iV\.^535: „que est constructa in hon sup. fluv in pago . . ."
* „deo famul." in M.^ 535 an anderer Stelle zweimal.
^ „increm." in M.^ 536 in demselben Zusammenhang an anderer Stelle.
^ „immun, tuit." in M.^ 585 selbst an anderer Stelle, in 535 an derselben Stelle.
' iV\.-654; quia iustam ac deo amabilem esse cognov.; M.* 535: quia iuste
. . . petiit.
^ M.' 536: et ... sicut petiit.
' „superius" in M.' 666.
32*
500
Ernst Müller
Et ut haec auctoritas verius certiusque
credatur, manu propria subscripsimus et
anuli nostri impressione signari iussimus.
Sübiectis^ deo servientibus dericis^ sab
nostra defensione et immunitatis
tüitione quieto tramite^ ibidem resi-
dere et pro nobis et coniuge prole-
que nostra seu pro stabilitate
tociüs imperii nostri a deo^ nobis
concessi^ et eius clementissima mi-
seratione perpetuo*' conservandi iu-
giter domini misericordiam exorare.
Et ut haec nostra auctoritas fir-
mior habeatur et per futura tempora
diligentius observetur, manu propria
nostra subter eam confirmavimus sigil-
loque nostrae impressionis(!) insig-
I niri precepimus.^
Die wenigen abweichenden Wendungen gehören gleichfalls der
Kanzleisprache Ludwigs des Frommen an und sind in seinen Immunitäten
größtenteils nachzuweisen;^ dasselbe gilt von der Arenga, der Pro- 1
mulgation und Korroboration , die sich mit kleineren Abweichungen i
vielfach belegen lassen.' Damit ist der exakte Beweis geliefert, daß i
für den tiauptteil des D. 256 b von der Arenga an bis zum Schlüsse |
der Immunitätsformel, also mit Ausschluß der Bestimmungen über
Besitz und Zehnten, bischöfliche Leute und BischofswahP, und dann
wieder für die Korroboration eine Urkunde Ludwigs des Frommen
die fast wörtlich ausgeschriebene mittelbare oder unmittelbare Vorlage
gebildet hat. An eine Abhängigkeit des D. 256 b von der Immuni-
tät für Viviers ist schon wegen der kanzleimäßigen Abweichungen
nicht zu denken, ganz abgesehen von der sonstigen Unmöglichkeit.
Aber auch eine Urkunde irgendeines anderen Empfängers ist als Vor-
* Vgl. M.^ 629 (Form. imp. 29) = 649: „clericorum in eodem loco domino de-
servientium" (auch in M.^ 655) und „cum . . . sibi subiectis . . . hominibus; A\.'634,
652, 745, Form. imp. 12, 28: „una cum clero et populo sibi subiecto" (ohne „et po-
pulo" auch in M.^820); vgl. auch oben in M.^ 585: cum fratr. ibidem domino ser-
vientibus.
* „quieto tramite" in JA? 521 zweimal, in M.^ 531.
^ „a deo nobis concessi" in M.^ 535.
* In M.' 573, 629 (Form. imp. 29) = 649.
^ Ähnliche Korroborationen in M.' 529, 572, 577, 598, 619 = 655 = 777, 716, 786
(davon sind 529, 577, 619 und 777 keine Immunitäten).
® Vgl. oben S. 499 Anm. 1 bis S. 500 Anm. 4.
' Vgl. oben S. 498 Anm. 3, 4 und S. 500 Anm. 5.
® Über die tieerfahrtprivilegierung vgl. oben S. 495 mit Anm. 5, S. 496 mit
Anm. 1; auch für die auf das Recht der Bischofswahl bezüglichen Sätze nimmt
Bresslau Übernahme aus älteren, karolingischen Urkunden an, vgl. oben S. 497
Anm. 3, Stengel wird über die Zeit seiner Verleihung Genaueres feststellen, vgl.
schon seine Dissert. S. 17.
tiildesheim — Steterburg 501
läge nicht in Betracht zu ziehen. Denn Kenntnis und Verwertung
von Beständen eines anderen Empfängerarchives durch einen könig-
lichen oder bischöflichen Kanzleibeamten ist von vornherein un-
wahrscheinlich; vielmehr wird die Vorlage zunächst immer bei dem
Empfänger der Nachurkunde zu suchen sein. Müssen wir also an-
nehmen, daß die Vorlage des Notars GB. für die Hildesheimer Kirche
ausgestellt war, so ist uns in D. 256 b der bis auf den Bischofsnamen
und das Protokoll vollständige, unverfälschte Text dieser Immunitäts-
verleihung Ludwigs des Frommen erhalten geblieben \ Berücksichtigen
wir weiter die bei der Abfassung der Diplome dieses Herrschers,
insbesondere seiner Immunitäten obwaltenden (hier nicht näher zu
erörternden) Verhältnisse, so können wir eine so weitgehende Über-
einstimmung zweier Urkunden für verschiedene Empfänger, wie sie
zwischen D. 256b und M.^ 585 besteht, nicht anders erklären, als
durch Herstellung durch denselben Kanzleibeamten, und da der
stilistische Zusammenhang mit keiner anderen Immunität ähnlich eng
ist, so können wir mit großer Sicherheit das wiedergefundene De-
perditum Ludwigs in die Zeit der Abfassung von M.^ 585, d. h. in
den Sommer des Jahres 815 versetzen, eine Datierung, die dadurch be-
stätigt wird, daß die wenigen abweichenden Wendungen sowie die ähn-
lichen Arengen, Promulgationen und Korroborationen überwiegend in
dieser ersten Regierungszeit Ludwigs vorkommen. Wir besitzen also
in D. 256b eine Immunitätsurkunde Ludwigs des Frommen
für Hildesheim aus dem Sommer des Jahres 815. Das aber
ist ein für die Gründungsgeschichte des Bistums sehr wichtiges Er-
gebnis, es bedeutet nicht weniger als die bisher vollständig fehlende
urkundliche Festlegung seines Gründungsdatums.
Am 15. Juni ist in Aachen die Urkunde für Viviers M.^ 585 ausgestellt
worden, die eine so enge Verwandtschaft mit der Hildesheimer Im-
munität aufweist, daß wir annähernde Gleichzeitigkeit für diese an-
nehmen müssen; noch am 18. ist der Kaiser dort nachweisbar,^ bald
darauf begab er sich nach Sachsen^ und hielt am I.Juli in Paderborn
Reichstag, um sich jetzt zum ersten Male seit seiner Thronbesteigung
mit den Angelegenheiten dieses Landes zu beschäftigen. Hier erhielt
^ Doch sind einige Umstellungen vorzunehmen (vgl. schon Stengel, Dissert.
S. 18 Anm. 1): quas nobis pro suis necessitatibus innotuerint; etiam deinceps
propter divinum amorem; quam et servos iniuste distringendos; „in quibus pagis"
ist in „quibuslibet" oder „quibusque" zu verbessern (vgl. schon S. 299 N. e der
Ausgabe), der Schluß der Korroboration wohl in „sigillique (?) nostri impressione;
vgl. ferner unten S. 505 Anm. 1.
^ M.' 586.
^ Vgl. für das Folgende die Nachweise bei M.* 587 a. b.
502 Ernst Müller
der jüngere Adalhard die Erlaubnis, in Korvey ein Kloster zu
gründen, und der Kaiser erließ ihm alle Dienstleistungen, damit er
freier das heilige Werk erfüllen könne. Die Zeit, der wir auf Grund
der diplomatischen Untersuchung die Ausstellung der Hildesheimer
Immunität zuschreiben müssen, ist also nachweislich durch Bemühungen
des Kaisers um Kirchengründung im Sachsenlande ausgefüllt. Durch
ein solches Zusammentreffen gewinnt unser Datierungsversuch die
sicherste Stütze, und wir dürfen ohne Bedenken auf den Paderborner
Reichstag des Juli 815 auch die Anfänge der Hildesheimer Kirche
verlegen. Doch so verlockend es ist, diesen Gedankengang hier weiter
zu verfolgen und genauer zu begründen, — es würde uns das von
unserem eigentlichen Gegenstande zu weit entfernen; wir müssen es
uns daher für eine andere Gelegenheit aufsparen.
Daß der Notar GB. noch nach dem Archivbrande in D. 256 b
eine karolingische Vorurkunde verwerten konnte, braucht nicht in Ver-
wunderung zu versetzen, wenn die weitere Betrachtung der Erneuerungs-
urkunden auf noch andere Spuren des älteren Archivbestandes führt.
Die Gandersheimer Entscheidung vom Januar 1007 (II 13) erneuerte
König Heinrich durch das Diplom Nr. 255- Da seine Unterschriften
zum Jahre 1013 nicht mehr passen, sondern zu 1007 gehören, muß
sich ein Entwurf oder eine Abschrift der älteren Urkunde, mindestens ein
ihre Zeugenliste enthaltender Auszug,^ trotz dem Brande erhalten haben.
Der Nr. II 4 des ürkundenverzeichnisses entspricht DH. II. 257.
Diese Urkunde bestätigt eine Schenkung Kaiser Ottos III. an die Ka-
pelle des heil. Kreuzes zu Hildesheim, deren Text Bischof Bernward dem
Könige in einem mitgebrachten „libellus" vorlegte.^ Bresslau lehnt die
Deutung dieses Ausdruckes als „Urkunde" wohl mit Recht ab und ver-
steht darunter ein Kopialbuch. Nun waren Kartulare um das Jahr 1000
auf deutschem Boden noch sehr selten. Erst im 11. und mehr noch im
12. Jahrhundert schritten zahlreiche Bistümer und Klöster zur Anlage
von Abschriftensammlungen ihrer Urkunden in Buchform. Aus früherer
Zeit kennen wir, abgesehen von den bayrisch-österreichischen Traditions-
^ Bresslau nimmt, Vorbem. D. 255, für die ganze Fassung Wiederholung der
älteren Urkunde an, während Stengel S. 225 (Hab.-Schrift S. 96) Anm.2 die Fassung
erst dem Jahre 1013 zuschreiben will. Eine zweite Ausfertigung für Mainz ist kaum
in Betracht zu ziehen, da Erzbischof Willigis durchaus nur der nachgebende und
Verzicht leistende Teil war, vgl. schon V. Bayer, Forsch, zur Deutschen Gesch^, XVI
(1876) 185 Anm. 4, auf dessen Erklärung durch Vorhandensein eines Entwurfes oder
einer Abschrift der ersten Ausfertigung im „königlichen Archive" man indessen
besser verzichtet.
Bernwardus . . . portans secum libellum, in quo continebatur, quod dominus
piae memoriae Otto tercius Imperator . . . predium ... ad cappellam ... in proprium
ius contradidit ea namque lege ut etc.
Hildesheim — Steterburg 503
büchern, die ganz anderen Charakter tragen, Kopialbücher von Königs-
(und Papst-)ürkunden nur aus den Klöstern Prüm und Korvey, beide dem
10. Jahrhundert entstammend. V Glaubt man trotzdem für das Jahr 1013
das Vorhandensein eines Kartulars in Hildesheim voraussetzen zu dürfen,
so kann der „libellus" doch kaum ein domstiftisches Kopiar gewesen
sein; sonst müßte unbedingt mehr als diese eine nicht sehr wichtige
Urkunde und etwa noch die dürftigen Reste des übrigen ürkunden-
vorrates, die festzustellen der Zweck dieser Abhandlung ist, darin ab-
schriftlich erhalten geblieben sein. Eher könnte es ein neu angelegtes
Kartular der im Jahre 996 eingeweihten und später mit dem St. Micha-
eliskloster vereinigten Kreuzkapelle gewesen sein oder, da die kaiser-
liche Schenkung „pro remedio animae suae suorumque cunctorum
memoria" erfolgte, vielleicht ein Memorienbuch derselben; seine Er-
haltung in der außerhalb der Stadt gelegenen Kapelle wäre dann ohne
weiteres erklärlich. Vielleicht aber hat „libellus" hier überhaupt einen
ganz anderen Sinn. Das Wort kommt im klassischen und dann auch
im mittelalterlichen Latein^ in der besonderen Bedeutung „Streitschrift,
Prozeßschrift, von selten der einen Partei in einem Rechtsstreit ein-
gereichter Schriftsatz" vor. Nun interessierte sich, wie wir sahen,
Bischof Bernward lebhaft für den Umfang seines Sprengeis und die
Rechte seiner Kirche und bemühte sich um die urkundliche Sicherung
beider. Seinem Streben, klare und sichere Rechtsverhältnisse zu
schaffen, verdankte vielleicht schon die Festlegung der Bistumsgrenze
gegen Minden, wohl sicher die allgemeine Grenzumschreibung (G) der
Diözese und ebenso die Grenzangabe in D. 256 a ihre Entstehung, aus
ihm glauben wir die Aufstellung des Königsurkunden-Verzeichnisses,
das seinen ältesten Diplomen Umgrenzungen zuschreibt, erklären
zu können. Eine von Bernward zum Nachweise bestimmter Rechts-
ansprüche veranlaßte Schrift, ähnlich etwa, wie sie weit früher im
Osnabrücker Zehntstreit in der bekannten Querimonia Egilmari ab-
gefaßt wurde, ^ könnte nun jener „libellus" gewesen sein, der, nach Art
der Deduktionsschriften einer späteren Zeit, den Text der Schenkung
Ottos III. eingerückt enthielt und ebenso wie das Urkundenverzeichnis
den Brand überdauerte. Daß das Hildesheim Bernwards für die Ent-
^ Vgl. Bresslau, ürkundenlehre S. 85f. Das Korveyer ist auch noch kein
reines Kartular, sondern enthält in seinen ersten beiden Teilen einen Text der Lex
Saxonum und verschiedene Kapitulare und Dekretalen, erst in seinem dritten Teile
die Abschriften der Kaiserurkunden des Klosters. Reine Sammlungen von Privat-
urkunden waren schon die Weifienburger und Fuldaer Traditionen des 9. Jahrhunderts
' Vgl. Du Gange, Glossarium V (1885) 88 f.
^ Vgl. M. Tangl, oben S. 218ff.; auch im Jahre 1077 hat der Korveyer Abt
sicher und Bischof Benno wahrscheinlich eine ähnliche Satzschrift vorgelegt, oben S. 247.
504 Ernst Müller
Stehung einer solchen Schrift einen geeigneten Boden abgab, zeigt
auch der Charakter von Thangmars Werk. Es ist teilweise so stark
Parteischrift für die tiildesheimer Ansprüche auf Gandersheim, daß
ein neuerer Kritiker^ ihm die einheitliche Abfassung abgesprochen hat
und es geradezu aus einer im Jahre 1007 herausgegebenen Ganders-
heimer Streitschrift und einer um 1015 abgefaßten Lebensbeschreibung
Bernwards nach dessen Tode zusammengearbeitet sein läßt. Wie dem
auch sein mag, für D. 257 ergibt sich die Tatsache der Erhahung der
Vorurkunde nicht nur aus ihrer Benutzung im Texte, sondern wird im
Texte selbst unmittelbar ausgesprochen.
Über die Erneuerungsurkunde DH. II. 258 ist nur zu bemerken,
daß ihr Objekt (Gut zu Duisburg) der Nr. II 3 des ürkundenverzeich-
nisses nur teilweise entspricht.
Für DH. II. 259, das Nr. II 8 des Verzeichnisses ersetzt, scheint
Bresslau Benutzung der die Verleihung der Grafschaft Mundburg
verfügenden Vorurkunde Ottos III. durch den Notar GB., der also über
eine Abschrift derselben verfügt haben müßte, anzunehmen. Die Be-
stätigung erfolgte unter Berufung lediglich auf den mündlichen Bericht
des Bittstellers.^
Die Immunitätsurkunde für das Nonnenkloster Heiningen DH. IL 261,
die Nr. II 11 des Verzeichnisses ersetzen sollte, schließt sich, gleich-
falls von GB. verfaßt, nach Bresslaus Angabe in ihrer Dispositio
im wesentlichen an D. 256 b an, also an die Hildesheimer Vorurkunde
Ludwigs des Frommen. Eng mit ihr verwandt war die echte Vorlage
von DH. II. 260, einer Fälschung des Michaelisklosters aus dem
12. Jahrhundert; die echte Immunität stimmte teilweise auch mit
D. 256 a überein und war ebenfalls von GB. abgefaßt. Während nun
Bresslau dahingestellt sein ließ, ob die Benutzung von D. 256b
durch D. 261 eine unmittelbare oder durch die gleichfalls auf D. 256 b
zurückgehende echte Gestalt von D. 260 vermittelt war, suchte StengeP
wahrscheinlich zu machen, daß die Diplome 256a, 256 b, 260 und 261
insgesamt, voneinander unabhängig und selbständig, aus der „gemein-
samen Hildesheimer Vorurkunde karolingischer Formulierung" abgeleitet
seien. Dadurch, daß diese unbekannte Größe jetzt in D. 256b selbst
ermittelt ist, wird die Fragestellung erheblich verschoben. Anderseits
ist es weder nötig noch wohl auch möglich, auf sie allein alle karo-
lingischen Bestandteile dieser Urkunden des Notars GB. zurück-
' J. R. Dieterich, NA. XXV (1900) 425ff.
^ Bernwardus . . . nostram regiam clementiam adiit dicens sibi ab antecessore
nostro pi^ memoriae tertio Ottone imperatore ius speciale castellum edificandi . . .
permissum fuisse.
' Dissert. S. 17ff., vgl. jedoch auch schon Bresslau, Ausg. S. 297 Z. 32.
Hildesheim — Steterburg 505
zuführen.^ Läßt sich auch kein anderes Deperdituni so sicher uhd
vollständig wiederherstellen, wie das Ludwigs des Frommen, so finden
sich doch in diesen Diplomen, besonders in D. 256a" und den nicht
auf die Vorurkunde Ludwigs des Frommen zurückzuführenden Be-
stimmungen von D. 256b^ ferner in DH. II. 126^ deutliche Spuren
formeller und inhaltlicher Art von den übrigen verlorenen Hildesheimer
Karolingerurkunden (I, 2—6 des Verzeichnisses), für deren Erklärung
die (an sich richtige) Annahme, GB. habe an der Hand des alten
Hildesheimer Archivs sich eine eingehende Vertrautheit mit dem karo-
lingischen Urkundenwesen erworben, kaum ausreicht. Mit dieser all-
gemeinen Feststellung können wir uns begnügen und brauchen die
gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnisse der von demselben Notar GB.
gleichzeitig verfaßten DD. 261, 260, 256a untereinander und zu D. 256b
hier nicht weiter zu verfolgen. Eine Benutzung der Vorurkunde Ottos III.
in D. 261, mit deren Möglichkeit Bresslau rechnet, ist zweifelhaft; es
müßte dann eine Abschrift derselben erhalten geblieben sein.
Da keine den Nrn. II, 2. 5 — 7. 10 entsprechenden Erneuerungs-
urkunden vorliegen, haben wir nur noch eine Angabe des Verzeich-
nisses, II, 12, zu besprechen. Hier liegt die Sache ganz anders als bei
allen bisher behandelten Nummern. Denn ihr entspricht keine Er-
neuerungsurkunde, vielmehr ist ein am 24. Januar 1007, also vor dem
Brande, ausgestelltes Diplom desselben Inhaltes abschriftlich erhalten
geblieben: DH. IL 126. Es heißt in ihm:
Vor dem König erscheint Bischof Bernward in Begleitung der
Grafentochter Frederunda und bittet ihn, diese Matrone samt dem
Teile ihres Eigengutes, den sie dem Hauptaltare der Hildesheimer
Kirche geschenkt habe, in seinen Schutz zu nehmen. Die Besitzüber-
tragung sei zu dem Zwecke erfolgt, daß von den Einkünften des Gutes
in der Stadt (opido) Steterburg ein Jungfrauenkonvent unterhalten
werde. Heinrich nimmt, der Bitte entsprechend, die neue Gründung
in seinen Schutz und verleiht ihr das Recht der Äbtissin- und Vogt-
wahl; doch soll bei ersterer der jeweilige Bischof von Hildesheim mit
Rat und Tat mitwirken, dessen Befehlsgewalt überhaupt das Kloster
' Das von Stengel in D. 256b mit Recht vermißte „vel paratas" wird übrigens
wohl in der Vorurkunde Ludwigs gestanden haben, wie es in M.^ 585 steht, und
nur bei der Übernahme des Textes, bei der ja auch mehrere andere Versehen vor-
fielen (vgl. oben S. 501 Anm. 1) irrtümlich ausgelassen sein. Den Beweisgrund (S. 18
Anm. 2), „monasterium" sei eine für die Hildesheimer Kirche nicht zutreffende Be-
zeichnung, hält Stengel, wie er mir mitteilt, nicht mehr aufrecht.
' Vgl. oben S. 497 Anm. 3.
' Vgl oben S. 500 mit Anm. 8.
' Vgl. unten S. 509.
506 Ernst Müller
unterstellt, dessen Prüfung alle seine inneren und äußeren Angelegen-
heiten unterworfen werden.
Jeder unbefangene Leser dieses Diploms wird den Eindruck ge-
winnen, hier die eigentliche Stiftungsurkunde des Klosters vor sich zu
haben. Die Gründung ist vorbereitet, die Verhandlungen zwischen
Stifterin und Bischof sind zum Abschlüsse geführt, die Landschenkung
ist erfolgt, „ea namque racione, ut . . . ab illo predio catervula puella-
rum, quantulacumque congregari posset, aleretur, que . . . cottidiana
instancia divinam misericordiam deprecaretur"; sobald die königliche
Anerkennung vorliegt, kann das klösterliche Leben seinen Anfang
nehmen. Wenn irgendwo, sollte man annehmen, besitzen wir für das
Kloster Steterburg eine klare und genaue urkundliche Beglaubigung
seines Gründungsdatums.
Zum Inhalte dieses Diploms paßt nun die Angabe des ürkunden-
verzeichnisses II, 12: „de tradicione, commendacione, tuicione pauper-
rime^ abbaciuncule Stederiburg" vortrefflich.^ Tradicio und commen-
dacio bezeichnen die Schenkung und Übertragung an das Bistum durch
Frederunda, tuicio die Verleihung des Königsschutzes; genauer ließ
sich der Inhalt bei dieser Kürze gär nicht angeben. Aber das Ver-
zeichnis schreibt die Urkunde nicht Heinrich IL, sondern Otto III. zu!
Erst in der letzten Nummer II, 13^ wird Heinrich als Aussteller ge-
nannt; da diese auf die erste Urkunde über den Gandersheimer Streit
vom Januar 1007 zu beziehen ist, müßte man also annehmen, Hein-
rich habe in den vorhergehenden fünf Jahren seiner Herrschaft nicht
für Hildesheim geurkundet, was allerdings in Bernwards Eintreten für
die Thronbewerbung des Markgrafen Ekkehard von Meißen seine Er-
klärung finden könnte.^ Nun ist jedoch das Verzeichnis an einer
Stelle lückenhaft: II, 9 ist ausgefallen. Möchte man vermuten, in dieser
Nummer sei bereits Heinrich als Aussteller genannt gewesen und der
unachtsame späte Abschreiber, der in II, 10 gar keine Ausstellerangabe
fand, also das „ab eodem" in II, 11 und 12 noch auf den in seiner
Abschrift zuletzt vorkommenden Otto IIL beziehen mußte, habe sich in
II, 13 erinnert, daß der Gandersheimer Streit nicht durch diesen Kaiser,
sondern erst durch seinen Nachfolger entschieden wurde, und das „ab
Henrico stemmate (!) regum" selber erst eingefügt, so würde diese für
die Erklärung von 11, 12 sehr brauchbare Vermutung, während sich
^ Eine bei einer Ausstattung mit 211 Hufen auffallende Bezerchnung, die eher
für die Zustände des Stiftes in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts passen würde.
^ Das hat schon Stengel, Dissert. S. 20 Anm. 3, ausgeführt.
^ Vgl. über sie schon oben S. 502.
* Vgl. S. Hirsch, Jahrb. Heinrichs II., I S. 202 Anm. 2 und R. üsinger,
ebenda S. 441.
tiildesheim — Steterburg 507
Über II, 10 nichts weiter sagen läßt, die Deutung von II, 11 erschweren;
denn aus DH. II. 261 geht ganz zweifellos hervor, daß das Kloster
Heiningen bereits unter Otto III. gegründet worden ist. Man müßte
dann also weiter voraussetzen, II, 11 sei an eine falsche Stelle geraten
und habe ursprünglich vor dem ausgefallenen II, 9 gestanden. Wie
dem auch sein mag, diese späte und lückenhafte Überlieferung er-
scheint nicht geeignet, ein so klares ürkundenzeugnis, wie es in
Dti. II. 126 vorliegt, umzustoßen; vielmehr scheint gerade die Stellung
von II, 12 unmittelbar vor der ersten Gandersheimer Urkunde vom
Januar 1007 (II, 13) auf Heinrich II. und die Ausstellungszeit von
DH. II. 126: 24. Januar 1007 zu weisen.
Nun will auch Bresslau in der Vorbemerkung zu DH. II. 126 die
Nr. II, 12 nicht auf dieses Diplom, sondern auf eine verlorene Urkunde
Ottos III. beziehen, freilich aus einem anderen Grunde. Er meint, das
Original von D. 126 habe sich in Steterburg erhalten müssen, und
kann sich deshalb das Vorkommen dieser Urkunde in dem Hildes-
heimer Verzeichnisse, das er ja als Verlustliste betrachtet, nicht er-
klären. Genau dasselbe würde doch aber für das vermeintliche Diplom
Ottos III. gelten müssen, denn ebensogut wie die Urkunde Heinrichs
würde das Kloster das Diplom Ottos ausgehändigt bekommen haben.
Mir scheint aber überhaupt diese Voraussetzung nicht zwingend zu
sein.^ Die Beurkundung erfolgte auf Bitten Bernwards, dessen Kirche
das Ausstattungsgut des Klosters geschenkt erhalten hatte; seine Ober-
hoheit, seine Rechte über Steterburg werden in dem Diplome stark
betont. Wie an seiner Ausstellung, so hatte er auch an seiner Ver-
wahrung das größte eigene Interesse; und es ist keineswegs ein
seltener Fall, vielmehr ganz natürlich, daß die Gründungsurkunden
solcher unbedeutenderen, in vollkommener Abhängigkeit vom Bistum
entstandenen Klöster nicht der neuen Gründung ausgehändigt, sondern
im bischöflichen Archive verwahrt wurden. Auch die Schutzurkunde
Ottos III. für Kloster Heiningen gehörte ja demselben an (II, 11)! Daß
die Steterburger Gründungsurkunde zur Zeit der Aufstellung des ür-
kundenverzeichnisses im Hildesheimer Domarchive verwahrt wurde,
"ergibt sich jedenfalls aus dem Regest II, 12 mit unbedingter Sicher-
heit. Man braucht deshalb nicht notwendig anzunehmen, daß das
Original von D. 126 im Jahre 1013 dort mit verbrannt sei.' Dagegen
' So auch Stengel, Dissert. S. 20 Anm. 3.
^ Bresslau rechnet mit seiner Erhaltung noch im 14. Jahrhundert, S. 152, N. a
der Ausgabe; vielleicht ging es in dem Brande des Jahres 1332 zugrunde, über den
der Konvent am 10. Februar an die tierzöge von Lüneburg berichtete: „quod proch
dolor nostrum monasterium predictum casu insperato per incendium una cum ecclesia
dormitorio refectorio ac aliis mansionibus vestibus libris et rebus universis misera-
508 Ernst Müller
Spricht vielmehr die abschriftliche Erhaltung der Urkunde und das
Fehlen einer Erneuerung aus dem Jahre 1013. Will man also an-
nehmen, daß das Diplom durch einen Zufall gerettet worden sei, dann
kann freilich das ürkundenverzeichnis keine Verlustliste, sondern muß
ein vor dem Brande aufgestelltes Bestandsverzeichnis sein. ^ Für diese
Auffassung aber haben wir uns schon oben ausgesprochen.^
Bresslau beruft sich für seine Annahme eines verlorenen Diploms
Ottos III. weiter auf die Steterburger Geschichtschreibung, die das
Jahr 1000 als Gründungsjahr des Klosters bezeichne; wir müssen also
auch diesen Einwand zu entkräften suchen. In den gegen Ende des
12. Jahrhunderts von dem Propste Gerhard verfaßten Steterburger An-
nalen beginnt die Gründungsgeschichte mit der klaren Angabe, die
Kirche sei unter Heinrich II. gestiftet worden.^ Die Vorgeschichte
der Stiftung, der Bericht über die sie veranlassende Vision und die
Umwandlung der Burg in ein Klostergebäude, wird allerdings eingeleitet
durch die runde Jahreszahl 1000,^ beschlossen jedoch wieder durch
die Angabe, damals habe der bambergische Heinrich regiert und die
Schenkung und Stiftung habe im siebenten Jahre vor der Begründung
der Bamberger Kirche ihren Anfang genommen.^ Die ganze weitere
Erzählung ist eine Umschreibung des Inhaltes des dahinter eingerückten
DH. II. 126, dessen Jahresangabe für das Erscheinen der Stifterin bei
Hofe übernommen ist, und das überhaupt neben der Gründungslegende
die einzige schriftliche Quelle des späten Verfassers gebildet zu haben
scheint. Dieser wußte das Gründungsjahr des Bistums Bamberg eben-
sowenig wie Heinrichs II. Regierungsantritt.^ Überdies verlegt er nur
den Beginn der Vorgeschichte ins Jahr 1000, die förmliche Kloster-
gründung dagegen ins Jahr 1007, alles jedoch in die Regierungszeit
Heinrichs II. Von einer Beteiligung Ottos III. weiß er nicht das
Geringste. Das aber ist das Entscheidende. Denn der Name des
biliter est destructum ', H. Sudendorf, ÜB. zur Gesch. der Herz, von Braunschw.
und Lüneb. I 275 n. 533; heute ist das Diplom nur in den Steterburger Annalen
überliefert.
^ Das ursprünglich im Hildesheimer Dome verwahrte Original könnte einige
Zeit nach seiner Ausstellung und nach der Aufstellung des Verzeichnisses, jedoch
noch vor dem Brande dem Kloster selbst ausgehändigt worden sein.
' Oben S. 493.
^ SS. XVI, 199: Fundata est ecclesia . . . sub Heinrico imperatore secundo^
* SS. XVI, 200.
Eo tempore . . . Heinricus Bavembergensis totius imperii monarchiam feliciter
tenebat et septimo anno ante institutionem ecclesiae Bavembergensis . . . huius do-
nationis et felicis institutionis coepit initium.
^ Während er die Bistumsgründung ins Jahr 1006 verlegt, berichtet er über Hein-
richs Sieg über Böhmen und Slaven zum Jahre 1001, über Brunos Empörung zu 1002.
Hildesheim — Steterburg ^qq
Herrschers, der das neu gestiftete Kloster bestätigt hatte, mußte in
dessen mündlicher Überlieferung sicherer fortleben als Jahreszahlen.
Aus der Annahme einer verlorenen Urkunde Ottos III. erwächst
für Bresslau die Notwendigkeit einer Erklärung, weshalb diese Vor-
urkunde in D. 126 nicht benutzt wurde. Denn dieses Diplom ist, ab-
gesehen von der Korroboration , von dem Notar GB. im Anschluß an
ein karolingisches Immunitätsprivileg verfaßt worden. Ob diese Vor-
lage übrigens mit der in D. 256b erhaltenen Immunität Ludwigs des
Frommen zusammenfällt, halte ich bei dem mehrfach, z. B. in der
Arenga, abweichenden Wortlaute für zweifelhaft; es könnte auch eine
von ihren Bestätigungen gewesen sein.^ Dann läge in diesem Diktate
des Notars GB., der im Jahre 1007 noch in Bernwards Dienste stand,-
ein weiterer Rest des damals noch vorhandenen alten Hildesheimer
ürkundenbestandes vor. Daß die vermeintliche Gründungsurkunde
Ottos III. im Jahre 1007 noch vorhanden gewesen sein müßte, gibt
Bresslau selbst zu. Daß sie nicht benutzt wurde, sucht er damit
zu erklären, daß Steterburg 1007 nicht bloß Königsschutz, wie an-
geblich von Otto III., sondern auch Immunität erhalten sollte. Lassen
wir dahingestellt, ob diese Erklärung genügt; jedenfalls bleibt die Tat-
sache bestehen, daß eine frühere Gründung in D. 126 mit keinem
Worte berührt wird, so daß die angebliche Privilegierung Kaiser
Ottos III., die ganze sechsjährige Klostergeschichte einfach totgeschwiegen
sein müßte.^ Man vergleiche damit nur, wie derselbe Notar GB. in
^ Das war auch Bresslaus frühere Ansicht, NA. XXII 158 Anm. 2, während
er sich später zugunsten der Identität aussprach, Vorbem. Dtl. II. 126. 256; ähnlich
auch Stengel, Dissert. S. 20; vgl. dazu schon oben S. 504f.
' Ich folge hier durchaus Bresslaus Auffassung und kann mir von Stengels
angekündigtem Nachweise (a. a. 0. S. 225, Hab.-Schrift S. 96, Anm. 2), daß die Fassung
des DH. II. 126 wahrscheinlich erst 1013 entstanden sei, nicht viel versprechen. Die
Tatsache, daß GB. in den Fassungen der nach dem Brande ausgestellten Erneuerungs-
diplome, wie wir sahen, so vielfach und weitgehend auf die vernichteten Vor-
urkunden seines Bistums zurückgreifen konnte, erfährt ja eine willkommene Er-
klärung gerade durch jene Annahme, die dadurch ihrerseits neu gestützt wird, daß
er nämlich bereits zu einer Zeit, als das Hildesheimer Archiv noch voll erhalten
war, gelegentlich zu Kanzleigeschäften herangezogen wurde. Wahrscheinlich gab
ihm eben seine Beteiligung an der Gandersheimer und Steterburger Beurkundung
den Anstoß, sich mit den älteren Diplomen seines Bistums eingehend zu beschäf-
tigen. Ihm dürfen wir, wenn wir überhaupt nach einem Verfasser des
Königsurkunden-Verzeichnisses suchen wollen, dasselbe am ehesten
zuschreiben. Seine Kenntnis dieser Überlieferung empfahl ihn wie keinen anderen,
als nach dem Ausscheiden seines Vorgängers GA. an die Kanzlei als nächste
schwierige Aufgabe die Erneuerung der Rechtstitel der Hildesheimer Kirche heran-
trat, und auf seiner vorzüglichen Bewährung bei dieser Gelegenheit wird seine weitere
Laufbahn beruht haben.
^ Das wäre höchstens denkbar bei wörtlichem Ausschreiben der Vorurkunde,
510 Ernst Müller
dem ganz ähnlich liegenden Falle der Heininger Bestätigung, D. 261,
verfuhr. Hier werden ganz deutlich die beiden Besuche Bischof Bern-
wards und der Stifterinnen bei Otto III. einerseits, bei Heinrich II.
anderseits unterschieden, und der früheren Verleihung wird eingehend
gedacht.^ Eine Nichtbenutzung der Vorurkunde ^ wäre hier sehr er-
klärlich: ihr Original war eben im Januar 1013 mit verbrannt. Eine
Steterburger Gründungsurkunde Ottos III. vom Jahre 1000 hätte aber
im Januar 1007 noch vorhanden sein müssen; oder, wenn sie durch
irgendeinen Zufall abhanden gekommen war, hätte in D. 126 der
früheren Stiftung und der Bemühungen Kaiser Ottos um sie Er-
wähnung geschehen müssen. Da dies nicht der Fall ist, vielmehr im
Wortlaute des Diploms, wie wir sahen, die Gründung als durchaus
erst im Entstehen begriffen erscheint, stehen wir nicht an, seine Da-
tierung, 24. Januar 1007, als für die Gründungszeit des Klosters
Steterburg maßgebend zu betrachten.
Fassen wir neben diesem Sonderergebnis zum Schlüsse das all-
gemeine zusammen. Das von uns als vor dem Brande angelegte
Bestandsliste betrachtete Königsurkunden -Verzeichnis bildet das dürf-
tige, aber wertvolle Gerippe der urkundlichen Geschichte des Bis-
tums Hildesheim in den ersten zwei Jahrhunderten seines Bestehens
und leistete wichtige Dienste bei dem Ersätze der Bernwardschen
Privilegien. In diesen Erneuerungsurkunden König Heinrichs II. sind
uns Reste des verbrannten älteren ürkundenbestandes erhalten ge-
blieben, vor allem der Wortlaut der ersten Immunitätsverleihung Lud-
wigs des Frommen für das neugegründete ostfälische Bistum. Träger
dieser Überlieferung war der hildesheimische, später königliche Notar
GB., der bei der Abfassung der neuen Diplome Abschriften oder Aus-
züge der älteren Urkunden benutzte. So bildet diese überlieferungs-
geschichtliche Studie zugleich einen kleinen Beitrag zur Erkenntnis
der Tätigkeit des leitenden Notars der Kanzlei Heinrichs II.
vgl. z. B. M. Tangl in DD. Karol. I. S. 567 zu Nr. 211. Ausdrückliche Erwähnung der
Vorurkunden findet durch GB. nicht statt, vgl. Stengel a. a. 0. S. 226 (Habilitations-
schrift S. 97).
^ ünde venerabilis sanctae •Hildenesheimensis ecclesi^ episcopus Bernwardus
cum dominabus duabus prescriptis ad antecessorem nostrum felicis et bonae memoriae
tercium Ottonem cesarem veniens humillime precabatur, ut futurum iamque
monasterium sub tuitionem et mundiburdium regale illa ratione reciperet,
quo sanctimoniales femine liberam haberent facultatem electiones inter sc
facere Advocationes pariter et similia queque eis necessäria impe-
trantes optinebant. Nunc ergo . . ad nostram celsitudinem recurrentes, cenobium
illud eiusque dotes seu quascumque facultates ut sub nostri tuicionem et immuni-
tatem iuxta ordinem premissum recipiamus, flagrantes inhiant.
' Vgl. oben S. 505.
Hildesheim — Steterburg 5^-^
Anlage
Verzeichnis der der fiildesheimer Kirche bis zum Jahre 1007
erteilten Königsurkunden ^
Primum preceptum securitatis et libertatis, quod dominus Gun-
tharius primus sancte Hildenesheymensis ecciesie episcopus^ de
terminacione et circumscripcione notissimorum finium episcopatus sui,
de canonica institucione, ab omni impressione excepto regie servitutis
debito ab Lodowico imperatore filio Karoli Magni acquisivit.
Secundum quod dominus Reinbertus secundus episcopus^ de
eadem re.
Tercium quod dominus Altfridus^ de eadem terminacione super
Astfalas in ripa Enderste, et de omni fisco qui tunc temporis ad
regias manus pertinebat infra terminos brevis parrochie in usus
fratrum, et ut nulla maior vel minor persona änderet stringere homines
suos, nobiles aut liberos, colonos vel servos, quamdiu in expedicione
aut ad placitum vel in ullo regali servicio essent,^ ab Lotwicho piis-
simo imperatore (!) filio Lotwici recepit.
Quartum quod dominus Wihbertus sextus episcopus^ de eadem
confirmacione ab Arnolfo imperatore elaboravit.
Quintum quod idem episcopus de predio quod dicitur Verthigeros-
torp' et Cuspia^ et Burg' in ripa Musalle '^ et de abbatiis que tunc
pertinebant ad manus eins, hoc est Seliganstad^^ et Asnithi^' et Gan-
dersheym, sine avulsione omnium mortalium ad potestatem succes-
sorum suorum perpetuo subsisterent, ab eodem Arnulfo desudavit.
Sextum Walbergthus septimus episcopus^^ de eadem re ab
Lotwico iuniore.^*
Septimum Sehardus episcopus ^^ de eadem re ab Henrico rege
Saxonico.
Octavum Thethardus episcopus^^ de eadem reab eodem Henrico.
Nonum Otwinus episcopus ^^ de eadem re et de vinea in villa
que dicitur Bohcbardon^^ ab Ottone primo imperatore.
^ Im Kopiar VI 11 des König!. Staatsarchivs zu Hannover steht auf S. 726 unter
Nr. 1437 die gemeinsame Überschrift: De finibus et limitibus ecciesie Milden-
(semensis) et multis aliis privilegiis recapitulacio, dann folgt die Grenz-
umschreibung G, ÜB. Nr. 40, und das ürkundenverzeichnis, auf S. 727 als Nr. 1438
Bischof Godehards Urkunde über den Gandersheimer Streit von 1027, ÜB. Nr. 73.
So findet die Annahme eines Zusammenhangs zwischen Grenzumschreibung, ür-
kundenverzeichnis und Gandersheimer Streit in der Überlieferung selbst eine Stütze.
815—834. '834 ff. * 851— 874. %,esset" Kop. '880—903. ' Wiersdorf Kr. Bit-
burg? ^ Kues Kr. Bernkastei? ' Burg a. d. Mosel Kr. Zell? '"Mosel. "Nach
Bertram a. a. 0. 38 f. (39 Anm. 1) Stiftung Bischofs Altfrid, vermutlich in Osterwieck,
wo die den Vorläufer des Bistums Halberstadt bildende Kirche begründet sein soll, vgl.
o. S. 200/1. '" Essen, Stiftung Bischofs Altfrid, vgl. ÜB. I 10 Nr. 15. '' 903—919.
Ludwig IV. (das Kind). '' 919—928. '^ 928—954. '" 954—984. '^ Boppard.
512 Ernst Müller, tiildesheim — Steterburg
Decimum Osdagus episcopus ^ de eadem re ab Ottone
tercio rege.
ündecimum Gerdagus episcopus^ de eadem re ab eodem rege.
Primum preceptum de confirmacione prescriptarum rerum et
Studiorum priorum patrum, ut nullus comes potestatem haberet strin-
gere homines suos, nobiles liberos colonos litones aut servos, in
qualicunque territorio habitarent, excepta illa persona, quam illius loci
episcopus regio consensu eligeret, quod Bernwardus tercius decimus
episcopus^ ab Ottone tercio divo imperatore primum acquisivit.
Secundum idem episcopus ab eodem imperatore de predio quod
situm est in silva que pendet ad Bochbardon, hoc est quinque regales
mansus.
Tercio idem ab eodem de predio iuxta Renum quod dicitur
Withec VII mansus et in Duisburg I mansum cum tribus areis.
Quartum idem ab eodem imperatore de predio in villa que
dicitur Thrate* sex mansus serviles.
Qu in tum idem ab eodem de foresto infra Laginam ^ et Inderistan^
per Silvas circumiacentes.
Sextum idem ab eodem de foresto qui circumiacet loco qui
dicitur Marfhaum certis signis determinatus.
Septimum idem ab eodem de foresto quod iacet inter Weseram
et Scadam fluvium.
Octavum idem ab eodem de comitatu quod pendet ad castellum
Mundburg dictum, quod laboriose opposuit inimicis crucis Christi
prescriptus episcopus l
Decimum idem episcopus de scultacio quod pendet ad' castellum
Wyrinholt dictum.
ündecimum idem ab eodem de mundiburdio et tuicione ab-
baciuncule tieniggi.^
Duodecimum idem ab eodem de tradicione commendacione
tuicione pauperrime abbaciuncule Stederiburg.^
Tercium decimum idem episcopus ab Henrico stemmate (!)
regum de diffinicione^obiurgacionis episcoporum Willegisi et Bernwardi
per terminos Gandershemensis opidi.
' 985—989. ' 990—992. ' „Bernwardus XIII"« episcopus" am Rande von
derselben Hand wiederholt. 993—1022. ^ Wüstung bei Koldfngen Kr. Hannover.
^ Leine. * Innerste. ^ Vgl. DH. II. 259: ad munimen et tuitionem contra per-
fidorum incursionem et vastatlonem Sclavorum ... ad defensionem totius regionis
nostrae. ® Heiningen Kr. Goslar. ^ Steterburg Kr. Wolfenbüttel.
Die Umhüllung eines päpstlichen Breves
von 1453
von
L. Schmitz -Kallenberg
Hierzu Tafel I
Aus P. M. Baumgartens Buch: Aus Kanzlei und Kammer, Frei-
burg 1907, S. 221 ff. erfahren wir, daß im 14. und 15. Jahrhundert
päpstliche Bullen, die an auswärtige Empfänger geschickt werden
sollten, von den Beamten der Bullarie „zur tunlichsten Schonung und
zum Schutze gegen alle Witterungseinflüsse in Wachstuch eingepackt
und verschnürt" den Boten zur Bestellung übergeben wurden. Daß
man zu diesem Zwecke Wachstuch nahm, war in Anbetracht des
manchmal ziemlich umfangreichen Formates der zusammengefalteten
Bullen durchaus praktisch. Viel kleiner war in der Regel das Format
des besiegelten, zur Aushändigung fertigen Breves. Dazu kam, daß
das leicht zerbrechliche Wachssiegel der Breven eine widerstands-
fähigere Umhüllung, wie sie das Wachstuch nicht abgeben konnte
erforderlich machte: während ein Druck auf das harte Bleisiegel der
Bullen dieses nicht oder doch nicht bedeutend beschädigte, lag bei
den Breven immer die Gefahr vor, daß jeder Druck und Stoß das
Wachssiegel verletzte oder auch ganz zerstörte. In welcher Weise
man nun dieser Möglichkeit vorbeugte, überhaupt gegen etwaige Be-
schädigungen die Breven auf ihrer Reise von der Kurie zu den
Adressaten zu schützen suchte, zeigt ein im Staatsarchiv Hannover
aufbewahrtes Originalbreve mit der Verpackung, in der es aus Rom
an den Adressaten abgesandt worden ist.^ Gleichsam als Kuvert für
das — sonst in ganz regelmäßiger Weise gefaltete, besiegelte und
adressierte — Breve hat man zwei tiolztäfelchen benutzt, die genau
dem Format des gefalteten Pergamentes entsprechen; während aber
das eine Täfelchen sehr dünn ist und keine weitere Bearbeitung auf-
weist, ist das andere einige Millimeter dicker und mit einer Aus-
höhlung versehen, die dazu bestimmt ist, das auf der Rückseite des
^ Celle Orig. Arch. Des. 9 Seh. VII Caps. 16 Nr. 9: Papst Nicolaus V. ersucht
den Herzog Friedrich von Braunschweig-Lüneburg, dem Nicolaus Grawerock, der
von Nicolaus Orden in dem Besitz des Archidiakonats Bevensen (bei Lüneburg) ge-
stört und an dem Genuß der Archidiakonatseinkünfte gehindert wird, gegen seinen
Widersacher beizustehen ; Rom 3. Dez. 1453. — Herrn Archivrat Dr. Merx in Münster i. W.
verdanke ich die Kenntnis dieses Stückes.
Afü II - 33
514 L- Schmitz-Kallenberg, Die Umhüllung eines päpstlichen Breves
Pergamentes befindliche Wachssiegel zu umschließen. Zwischen die
beiden Holzplättchen wurde nun das Breve gelegt und das Ganze mit
einem dünnen, aber doch starken Bindfaden verschnürt.^ Nach der
Verschnürung ist dann schließlich auf das eine, dünnere Täfelchen
(und zwar dasjenige, welches die Adresse des Breves bedeckte) die
Adresse geschrieben, in der Weise, daß die Aufschrift den Fäden
auswich: -^ *,
pntet^
Bruns
dno
wicen
Frederico
in
Duci
Tzelle
Ob diese Verpackung nun in der Sekretarie der Breven oder aber
erst nachträglich von dem Prokurator, der das Breve ausgewirkt hat,-
also ohne jegliches Zutun der Sekretarie gemacht ist, wird sich einst-
weilen wohl nicht mit Sicherheit entscheiden lassen. Ich möchte mich
allerdings für letzteres aussprechen, und zwar hauptsächlich aus zwei
Gründen: einmal weil — auch abgesehen von der Verschiedenheit in
dem Schriftcharakter der beiden Adressen — die Adresse auf dem
Holztäfelchen nicht den Fehler in der Adresse des Breves (Bennsswicen
statt Brunswicen, siehe Tafel) wiederholt; sodann weil die Holz-
täfelchen ziemlich roh zurechtgeschnitten sind, vor allem auch die Aus-
höhlung für das Fischerringsiegel nicht gerade sehr geschickt gemacht
ist; würde die Verpackung gleich in der Sekretarie besorgt sein, so
wären diese Hölzchen doch wahrscheinlich auf Vorrat in größeren
Mengen und deshalb auch wohl entsprechend sorgfältiger hergestellt sein.
Zweifelhaft bleibt es auch, ob diese Art der Verpackung, sei sie
nun offiziell oder nicht, längere Zeit hindurch gebräuchlich gewesen
ist oder ob wir es hier nur mit einer Ausnahme zu tun haben. So-
weit mir bekannt, ist das Hannoversche Breve das einzige, bei dem
sich derartige Holztäfelchen erhalten haben. Freilich wie man heutiges-
tags in der Regel nach Öffnung eines Briefes das Kuvert in den
Papierkorb zu werfen pflegt, so mag man früher ebenso die Holz-
täfelchen fortgeworfen haben, und deshalb läßt sich meines Erachtens
ihr Fehlen bei anderen Breven weder für noch gegen die Annahme
einer häufigeren Verpackung dieser Art verwenden.
* Der Annahme, daß der noch vorhandene Bindfaden der ursprüngliche ist,
steht wohl nichts entgegen. Herr Archivrat Merx versichert mir, daß vor mehreren
Jahren auch noch eine kleine Plombe, mit der jedenfalls die Schnurenden zusammen-
gehalten worden sind, vorhanden gewesen sei.
* Da Nie. Grawerock in dem Breve familiaris eines Kardinals genannt wird,
hat er vielleicht auch persönlich die Ausstellung des Breves veranlaßt, in welchem
Falle die Verpackung und Weitersendung des Breves nach Celle auf ihn zurückgehen
könnte. Indes selbst wenn er auch in Rom anwesend war, ist ja die Vermittelung
eines Prokurators nicht ausgeschlossen.
Archiv für ürkundenforschung II
Taf. 1
Verlag von Veit & Comp, in Leipzig
4
f:)
(
BINDUNG S£CT. F£B
CD
9
A7
Bd. 2
Archiv Tiir Urkundenforschung
PLEASE DO NOT REMOVE
CARDS OR SLIPS FROM THIS POCKET
UNIVERSITY OF TORONTO LIBRARY