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Full text of "Archiv für die gesamte Psychologie. v.20.1911. Princeton"

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ARCHIV 

FÜR DIE 

GESAMTE PSYCHOLOGIE 


UNTER MITWIRKUNG 

VON 

Pbof. H. HÖFFDING in Kopenhagen, Pbof. F. JODL in Wien, 
Pbof. F. XIESOW in Tubin, Pbof. A. KIRSCHMANN in Tobonto 
(Canada), Phof. E. KRAEPELIN in München, Pbof. 0. KÜLPE in 
Bonn, Db. A. LEHMANN in Kopenhagen, Pbof. TH. LIPPS in Mün¬ 
chen, Pbof 1 . G. MAR1TUS in Kiel, Pbof. G. STÖRRING in Zübigh 
und Pbof. W. WTJNDT in Leipzig 


HERAUSGEGEBEN VON 

E. MEUMANN und W. WIRTH 

0. PKOFESSOB A. D. ÜNIVEBSITÄT A. 0. PROFESSOR A. D. UNIVERSITÄT 

LEIPZIG LEIPZIG 

XX. BAND 

MIT 58 FIGUREN UND 4 DIAGRAMMEN IM TEXT 


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Inhalt des zwanzigsten Bandes, 


Abhandlungen: Seite 

Eugenio Rignano, Über die mnemonische Entstehung und die mnemonische 

Natur affektiver Neigungen. 1 

Ludwig Bürmester, Bemerkungen zu der Mitteilung des Herrn A. Thier¬ 
felder »Eine Sinnestäuschung«.34 

E. Meumann, Über Bekanntheits- und Unbekanntheitsqualität.36 

F. M. Urban, Eine Bemerkung über die Methode der ebenmerklichen Unter¬ 

schiede .4ö 


W. Wirth, Zur erkenntnistheoretischen und mathematischen Begründung 


der Maßmethoden für die Unterschiedsschwelle. (Kritische Betrach¬ 
tungen über F. M. Urbans Behandlung der Methode der ebenmerk¬ 
lichen Unterschiede und 6. F. Lipps’ Verwertung der Gleichheitsfälle.) 

Mit 5 Figuren im Text..52 

Friedrich Schübotz, Beiträge zur Kenntnis des Sehraumes auf Grund 

der Erfahrung. (Mit 13 Figuren im Text).101 

Abraham Schlesinger, Die Methode der historisch-vülkerpsychologischen 

Begriffsanalyse..150 

W. Betz, Vorstellung und Einstellung. II. Über Begriffe.186 


C. Minnemann, Untersuchungen Uber die Differenz der Wahrnehmungs¬ 
geschwindigkeit von Licht- und Schallreizen. 

I. Theoretische Erörterungen über die Differenz von Wahrnehmungs¬ 
geschwindigkeiten. (Mit 2 Figuren [Figur 1 und 2] im Text) . 227 

II. Bisheriger Stand der Untersuchungen über die Wahrnehmungs¬ 

geschwindigkeit von Licht- und Schallreizen. (Mit 2 Figuren 
[Figur 3 und 4] im Text).277 

III. Experimentelle Untersuchung über die WahrnehmungsgeBchwin- 

digkeit von Licht- und Schallreizen, nach der Methode direk¬ 
ter Vergleichung. (Mit 20 Figuren [Figur 5—24] im Text) . . 311 
Vittorio Benussi, Über die Motive der Scheinkörperlichkeit bei umkehr¬ 
baren Zeichnungen. (Mit 9 Figuren und 4 Diagrammen im Text) . . 36^ 
Meyer, Experimentelle Analyse psychischer Vorgänge beim Schießen mit 
der Handfeuerwaffe. Ein Versuch. (Mit 7 Figuren im Text) .... 

G. Anschütz, Über die Methoden der Psychologie. 


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IV 


Seit« 


Einzelbesprechung 

W. Wirth, Die mathematischen Grundlagen der sogenannten unmittelbaren 

Behandlung psychophysischer Resultate. (F. M. Urban) . 1 

Stephan Witasek, Zur Lehre von der Lokalisation im Scbraum. (J.Riffert) 73 

Ludwig Klages, Prinzipien der Charakterologie. (A. Huther) .101 

K. Weiler, Untersuchungen Uber die Muskelarbeit des Menschen. 1. Teil. 

(Z. Treves) .108 

Warner Brown, The Judgment of Difference with Special Reference to 
the Doctrine of the Thrcshold in the Case of Lifted Weigths. (F. M. 
Urban) .137 


Referate 

A. Meinong, Über Annahmen. (E. Menmann) . 9 

Gustav Störring, Einführung in die Erkenntnistheorie. (Aloys Müller) . 9 

Hermann Türck, Der geniale Mensch. (J. Mühlethaler) .13 

C. Lombroso, Neue Studien über Genialität. (E.Meumann) .14 

W. E. Lecky, Charakter und Erfolg. (Emst Ebert) .16 

Eugen Fischer, Sozialanthropologie und ihre Bedeutung für den Staat. 

(Ernst Ebert) .15 

Max Verworn, Die Entwicklung des menschlichen Geistes. (E.Meumann) 16 

Giulio Fano, Homo sapiens. (E.Meumann) .18 

Arthur Wreschner, Das Gedächtnis im Lichte des Experimentes. (E. Meu¬ 
mann) .18 

Martin Gildemeister, Über Zählen und Zeitschätzen. (E. Meumann) . . 18 

Alfred Neumann, Über die Sensibilität der inneren Organe (kritisches 

Referat. (E. Meumann) .19 

H. v. Helmholtz, Handbuch der physiologischen Optik. (E.Meumann). . 22 

Oswald Bumke, Über die körperlichen Begleiterscheinungen psychischer 

Vorgänge. (Paul Mcnxerath) .24 


Ottmar Rutz, Sprache, Gesang und Körperhaltung (E. Meumann) ... 24 
C. Täuber, Die Ursprache und ihre Entwicklung. (Paul Menxerath' ... 26 
Heinrich B. Gerland, Zur Frage der Zeugenaussage. (E. Meumann) . . 29 
H. Gudden, Die Behandlung der jugendlichen Verbrecher in den Ver¬ 
einigten Staaten von Nordamerika. (Emst Ebert) .29 

Ernst Schulze, Die jugendlichen Verbrecher im gegenwärtigen und zu¬ 
künftigen Strafrecht. (Emst Ebert) .31 

Ed. Claparöde, Psychologie de l’enfant et Pedagogie expdrimentale. 

(E. Meumann) .32 

Erich Becher, Der Darwinismus und die soziale Ethik. (E. Oacde) ... 32 
Gustav Hauffe, Volkstümliches Handbuch der humanen Ethik auf wissen- 


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V 


Seit© 


Richard Flachs, Die Stellung der Schule znr sexuellen Pädagogik. (E.Meu- 


mann) .49 

Wilhelm v. Gwinner, Schopenhauers Leben. (E. Mcumann) .50 

Ludwig Goldschmidt, Baumanns Anti-Kant. (Aloys Müller) .51 


Paul Deußen, Die Elemente der Metaphysik. 4. Aufl. (Ernst Ebert) . . 51 

Philosophisches Jahrbuch. Mit Unterstützung der Görresgesellschaft 


unter Mitwirkung von Pohle (Breslau), Schreiber (Fulda), heraus¬ 
gegeben von Konstantin Gutberiet. (E. Mcumann) .52 

Detleff-Neumann-Neurode, Kindersport. Körperübungen fiir das frühe 

Kindesalter. (Paul Menzerath) .52 

Erich Ziebart, Aus dem griechischen Schulwesen. (E. Mcumann). ... 53 

Paul Carus, Our Children hints from Practical Experience for Parents and 

Teachers. (E. Mcumann) .54 

Klinik für psychische und nervöse Krankheiten. Herausgegeben 

von Robert Sommer. (E. Mcumann) .54 


Bericht über den 4. Kongreß für experimentelle Psychologie in 
Innsbruck (vom 19. bis 22. April), herausgegeben von F. Schumann. 

(E. Meumann)- .54 

Bericht über den 6. internationalen Kongreß für Pychologie in 
Genf (unter dem Vorsitz von Th. Flournoy), herausgegeben von 

Ed. Claparede. (E. Mcumann) .56 

Enzyklopädisches Handbuch des Kinderschutzes und der Ju¬ 


gendfürsorge, herausgegeben unter Mitwirkung hervorragender 
Fachleute von Th. Heller, Fr. Schiller und M. Taube. (E.Meumann) 56 
Enzyklopädisches Handbuch der Heilpädagogik. Unter Mitwirkung 
zahlreicher am Erziehungswerke interessierter Arzte und Pädagogen 
von Professor Dr. A. Dannemann, Lehrer H. Schober und Lehrer 


E. Schulze. (E. Meumann) .58 

Aus Zeitschriften. (E. Meumann) .59 

E. B. Titchener, Lehrbuch der Psychologie. (J. Köhler) .87 

W. Jerusalem, Lehrbuch der Psychologie. 4. Aufl. (J. Köhler) .87 

Max Verworn, Die Mechanik des Geisteslebens. (J. Köhler) .92 


C. Lange, Die Gemütsbewegungen, ihr Wesen und ihr Einfluß auf körper¬ 
liche, besonders auf krankhafte Lebenserscheinungen. (E. Mcumann) 93 
W. Lubosch, Vergleichende Anatomie der Sinnesorgane der Wirbeltiere. 

(E. Meumann) .93 

Viktor Hueber, Die Organisierung der Intelligenz. (Moritz Scheinert). . 94 

Neue philosophische Literatur. (E. Mcumann) .100 

Bericht über Arbeiten aus dem »Pedagogical Seminary < 1908 und 

1909. (Rolsch) .118 

SanoTorata, Zur Frage der Sensibilität des Herzens und anderer innerer 

Organe. (E. Mcumann) .130 

E. Gilbert. Ein Beitrag zur Frage der Sensibilität des Herzens. (E.Meumann) 130 
Victor Mercante, La Verbocromia. (E.Meumann) .131 

Zeitschrift für pädagogische Psychologie und experimentelle 


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Uber die mnemonische Entstehung 
und die mnemonische Natur affektiver Neigungen, 

Von 

Eugenio Rignano (Mailand). 


I. 

Beobachten wir das Verhalten der verschiedenen Organismen, 
von den einzelligen an bis zum Menschen, so sehen wir, wie eine 
ganze Anzahl ihrer Handlungen, darunter namentlich die haupt¬ 
sächlichsten, als Äußerungen eines dem Organismus eigenen Be¬ 
strebens angesehen werden dürfen, in seinem — um Ostwalds 
energetischen Ausdruck zu gebrauchen — »stationären« physio¬ 
logischen Zustande zu beharren oder ihn wieder anzunehmen. 

Mit anderen Worten: wenn wir jene besondere Gattung orga¬ 
nischer Bestrebungen als »affektiv« bezeichnen, die sich subjektiv 
beim Menschen als »Wünsche« oder »Gelüste« oder »Bedürfnisse« 
und objektiv bei Mensch und Tier als völlig ausgeführte oder 
noch im Entstehen begriffene »Bewegungen« äußern, mit Aus¬ 
nahme derer, die mechanischer Natur geworden sind, so läßt sich 
eine ganze Anzahl der so gekennzeichneten hauptsächlichsten 
»affektiven Neiguugen« geradezu auf die eine Grundbestrebung 
eines jeden beliebigen Organismus zurückführen, seine »physio¬ 
logische Unverändertheit« zu bewahren. 

Wir sehen beispielsweise, daß das allerursprüuglichste affektive 
Streben, der Hunger, im Grunde nichts anderes ist als das Be¬ 
streben, den Nahrunffszustand im Innern des Körners in der- 


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Eugenio Rignano, 


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Zustände durchzumachen, die geeignet sind, ihn in diese not¬ 
wendige Beschaffenheit seines Inneren zurückzuführen, also zu der 
Neigung, sämtliche die Ernährung bezweckende Handlungen zu 
vollbringen; es hat jedoch darum niemals seine ursprüngliche 
Wesensart aufgegeben. Das geht ohne weiteres schon daraus her¬ 
vor, daß im Tiere sofort jede Neigung, sich neue Nahrung zu ver¬ 
schaffen, aufhört, sobald sein innerer Nahrungszustand die ge¬ 
wünschte Beschaffenheit erlangt hat. 

Daher reagieren die Hydra oder die Seeanemone nur dann 
positiv auf die Speise, wenn ihr Metabolismus sich in einem mehr 
Nahrungsstoff verlangenden Zustande befindet (unless metaholism 
is in such a state as to require more material, sagt Jennings); 
z. B. wenn die große Seeanemone Stoichactis helianthus keinen 
Hunger hat, so bewirkt die ihr auf die Mundscheibe gelegte Speise 
dieselbe charakteristische Gegenwirkung des »Auswerfens«, wie 
wenn es sich um irgendeinen anderen störenden Körper handelte. 
Und ebenso verhalten sich im großen und ganzen alle übrigen 
höheren oder niederen Organismen 1 ). 

Schiffs bekannte Versuche Uber endovenöse Injektionen von 
Nährstoffen bei Hunden beweisen andererseits direkt, daß die 
Grundbedingung des Hungers durch den Mangel an histogenetischen 
Stoffen im Blute gegeben ist. Denn diese Einspritzungen ver¬ 
mögen nicht allein das Tier zu nähren, sondern auch dessen 
Hunger zu stillen. 

Daß übrigens der Hunger, namentlich solange er nur mäßig 
ist, beim Menschen die Gestalt einer besonderen, von der Magen¬ 
wand ausgehenden örtlichen Empfindung annimmt, welche allein 
schon die Handlungen veranlaßt, zu denen der wirkliche Hunger 
treibt, ist — wie kaum hervorgehoben zu werden braucht — eine 
daraus folgende Tatsache und von untergeordneter Bedeutung. 
Das ist nur eine der vielen Gestalten, in denen sich das Ein¬ 
treten des Teiles für das Ganze zeigt; und diese für alle 


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Uber die mnemon. Entstehung and die mnemon. Natur affekt. Neigungen. 3 


ttimlichen Empfindungen, die ihren Sitz in der Magenschleimhaut 
haben und durch deren Schwellung oder eine andere darin durch 
die Magenleere hervorgebrachte Veränderung entstehen, werden 
allerdings, da sie gewöhnlich vor dem oder zugleich mit dem 
wirklichen Mangel histogenetischer Stoffe im Blute stattfinden, 
schließlich zn Äußerungen, welche den Hunger darstellen oder für 
ihn eintreten. 

Dasselbe gilt ftir den Durst und die für ihn eintretende Lokali¬ 
sierung im oberen Teile der Verdauungsröhre. 

Vom Hunger und Durst könnten wir zu anderen, noch so ver¬ 
schiedenen mehr oder weniger hauptsächlichsten organischen »Ge¬ 
lüsten« oder »Bedürfnissen« übergehen; alle würden uns in ihren 
Äußerungen zeigen, daß sie einzig und allein das gemeinsame 
Ziel verfolgen, den verlorenen oder irgendwie gestörten stationären 
physiologischen Zustand wiederherzustellen. 

Daher existiert für eine jede Tierart ein Optimum der Um¬ 
gebung in bezug auf den Sättigungsgrad der Lösung, worin das 
Tier lebt, oder den Grad der Wärme oder der Lichtstärke usw., 
über und unter welchem der Organismus nicht in seinem normalen 
physiologischen Zustande zu beharren vermag und auf dessen Be¬ 
wahrung das Tier darum alle seine Anstrengungen richtet. 

So sehen wir z. B., wie das Infusorium Paramaecium bei 
einer Temperatur von 28 Grad in seiner Umgebung gegen eine 
weitere Steigerung, doch nicht gegen die Abnahme der Wärme 
negativ reagiert, wie es dagegen bei 22 Grad gegen die Abnahme, 
doch nicht gegen die Erhöhung der Temperatur negativ reagiert. 
Und bei mäßiger Beleuchtung ihrer Umgebung sehen wir die 
Euglena gegen die Verminderung, aber nicht gegen die Steigerung 
der Lichtstärke negativ reagieren, während sie sich unter starker 
Beleuchtung gerade umgekehrt verhält 1 ). 

Das Streben der Organismen nach Unverändertheit ihres statio¬ 
nären physiologischen Zustandes verwandelt sich mithin in ein 
Streben nach Unverändertheit ihrer Außen- und Innenwelt. So 


schließen sich_ 7 .. B. Apstern lind A Minien, sohni/1 sie der Luft aus- 

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jiaen sich;/. 15. Ansr< 

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4 


Eugenio Rignano, 


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Zu der Unverändertheit der Umgebung gehört auch die Stellung 
des Organismus zu der Richtung der verschiedenen auf ihn wirken¬ 
den äußeren Kräfte, vor allem der Schwerkraft. Daher das Be¬ 
streben, seine normale Lage zu bewahren oder wiederherzustellen. 
So zieht z. B. die Amöbe sofort ihre Pseudopodien ein, sobald sie 
feste ungenießbare Körper berühren; wird sie aber vom Boden 
des Aquariums entfernt und schwebt sie mitten im Wasser, so 
streckt sie ihre Pseudopien nach allen Richtnngen aus. Kaum be¬ 
rührt eines derselben einen festen Gegenstand, so hängt sie sieh 
daran, zieht ihren Körper nach und lagert sich wieder wie zuvor. 
Und der Seestern, der umgekehrt worden ist, sucht sich wieder 
»umzudrehen«, also zu seinen normalen Beziehungen zur Umgebung 
hinsichtlich der Schwerkraft zurückzukehren 1 ). 

Auch alle »Bedürfnisse«, Stoffe auszuscheiden, die durch den 
allgemeinen Metabolismus erzeugt wurden, und die der Orga¬ 
nismus nicht länger gebrauchen kann, weichen von dieser allge¬ 
meinen Regel nicht ab. Denn — obgleich es möglicherweise durch 
gewisse örtliche »vertretende« Empfindungen hervorgerufen ist, 
welche den Akt der Ausscheidung schon im voraus auszulösen 
vermögen — ist das Bedürfnis der Absonderung, gleichviel ob es 
sieb dabei um das kleinste und einfachste Infusorium oder um das 
höchstentwickelte Wirbeltier handelt, im Grunde nur dem Umstande 
zuzuschreiben, daß die Anhäufung dieser Auswurfstoffe im Inneren 
des Organismus dessen normales physiologisches Verhalten schlie߬ 
lich beeinträchtigen würde. 

Zu dieser Gattung absondernder affektiver Bestrebungen scheint 
auch der »Geschlechtstrieb« oder »geschlechtliche Hunger« zu ge¬ 
hören. 

In der Tat neigen bekanntlich einige neue Anschauungen dazu, 
gerade wie dem eigentlichen Hunger, so auch dem »geschlecht¬ 
lichen Hunger« nicht etwa eine beschränkte Gegend des Körpers, 
in diesem Falle also die Geschlechtsteile, sondern vielmehr den 
Gesamtorganismus als Sitz anzuweisen und ihn zugleich dem Be- 


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Über die moemon. Entstehung und die mnemon. Natur affekt. Neigungen. 5 


nach einer gewissen Anzahl einfacher Zweiteilungen die »Alters¬ 
entartung« eintritt (Maupas), so auch die vom erwachsenen Organis¬ 
mus fortwährend erzeugte Keimsubstanz, namentlich nachdem sie 
die reduzierende Teilung erfahren hat, einer mehr oder weniger 
ähnlichen Entartung unterliegt, wenn ihr ebenfalls die erforderliche 
karvogamische Verjüngung nicht zuteil wird. Die Annahme scheint 
daher nicht ausgeschlossen, der »geschlechtliche Hunger« sei ur¬ 
sprünglich nichts anderes als das Bestreben des Organismus, sich 
von dieser »Altersverunreinigung« zu befreien, die von der Keim¬ 
substanz, da sie ja eben ihrem Wesen nach ein der Befruchtung 
harrender Kernstoff ist, infolge ihrer hormonischen Zersetzungs¬ 
produkte erzeugt und über den Gesamtorganismus verbreitet wird. 

Das mehr oder weniger glänzende und auffallende »Hochzeits¬ 
kleid«, das fast alle Tiere zur Liebeszeit anlegen, rührt von einem 
abnormen Zustand allgemeiner Hypersekretion her, der auch wieder 
durch die hormonischen Produkte der Keimsubstanz hervorgebracht 
wird. Er beweist jedenfalls, wie tief die physiologische Störung 
geht, die der abzusondernde Keimstoff in allen Zellen des Soma 
erregt. 

Das Streben nach Ausscheidung eines so überaus störenden 
Elementes würde dann zum Streben nach Begattung werden, eben 
als Mittel, um diese Ausscheidung zu bewirken. 

Daher der »von Grund aus egoistische Charakter« (nature 


foncierement egoi'ste), den Ribot mit Recht in der Geschlechts¬ 
liebe hervorhebt: »Chez l’immense majorite des animaux et souvent 
chez l'homme l’instinct sexuel n’est accompagne d’aucune Emotion 
tendre. L’acte accompli, il y a Separation et oubli 1 ).« 

Es bliebe jedoch immer noch zu erklären, weshalb die Begat¬ 
tung das einzige Mittel geworden ist, das die Absonderung der 
Keimsubstanz ermöglicht, während doch zur Beseitigung aller 
anderen mehr oder weniger ähnlichen unreinen Stoffe das einzelne 
Individuum genügt. 

Die Vermutung liegt nahe, daß dies im Grunde auf der eigen¬ 
tümlichen Natur de^ «ibznsondemden Stoffes beruht. Und zur Er¬ 
klärung der TatSH( i y ie dürften vielleicht auch zwei zusammen- 

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Engenio Rignano, 


fern auf den Samenfaden ausgettbte Anziehung durch Sekretionen, 
die sich nach allen Richtungen hin ausbreiten, und zweitens der 
Hermaphroditismus, der wahrscheinlich bei den mehrzelligen Tieren 
dem geschlechtlichen Dimorphismus phylogenetisch voranging. 
Dennoch dürfen wir uns nicht verhehlen, daß der phylogenetische 
Vorgang, der diese Absonderung auch bei den mehrzelligen Tieren 
in so enge Verbindung mit der Begattung gebracht hat, noch nicht 
genügend aufgeklärt ist. 

Doch auch schon in dieser unvollendeten Gestalt erlaubt diese 
Hypothese, die dem Geschlechtstrieb nur die Bedeutung des 
Strebens nach Absonderung eines störenden Elementes beilegt, 
diesen Trieb in einem ganz anderen Lichte darzustellen als dem, 
in welchem er bisher erschien. Denn nimmt man diese Hypo¬ 
these an, so würde der Geschlechtstrieb nicht mehr zum »Wohle« 
der Art, sondern geradezu zum Wohle des Individuums ent¬ 
standen sein und sich entwickelt haben. Er würde somit nicht 
etwa den »Willen der Art« darstellen, der sich dem Individuum 
aufnötigt, wie noch jetzt mit Schopenhauer die meisten be¬ 
haupten, sondern vielmehr hier wie überall den »Willen« des ein¬ 
zelnen Individuums, d. h. dessen gewohntes Bestreben, seinen 
stationären physiologischen Zustand unverändert zu bewahren. 
Und statt mit Weismann und allen Neu-Darwinisten darin einen 


neuen Beweis für die angebliche Allmacht der Naturzüchtung zu 
sehen, würde schon Lamarcks Prinzip der individuellen Anpassung 
zugleich mit der Vererbung erworbener Eigenschaften genügen, 
dafür, wie für alle anderen Instinkte, eine Erklärung zu liefern. 

Diese »Absonderungshypothese« gestattet ferner ohne weiteres, 
einzelne Eigentümlichkeiten dieses Triebes zu erklären, die, vom 
Standpunkte Schopenhauers und der Neu-Darwinisten aus be¬ 
trachtet, ganz unverständlich wären. 

Ri bot z. B. wundert sich darüber, daß der Geschlechtstrieb, 
der doch für das Fortbestehen der Art so überaus wichtig ist, so 
oft gewissen Entartungen ausgesetzt ist, die geradezu dessen 
völlige Vernichtung scheinen ! ). 


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Und wenn wir auch von den eigentlichen pathologischen Ver- 


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Über die mnemon. Entstehung und die mnemon. Natur affekt. Neigungen. 7 


Ersatzmitteln greifen und »Unterschlagungen« bei der Liebe vor¬ 
nehmen, im Widerspruche zu der Annahme zu stehen, der einzige 
Zweck dieses Triebes sei die Fortpflanzung und Erhaltung der Art. 

Wenn ferner Tier oder Mensch jetzt die Begattung oder ge¬ 
wisse untergeordnete geschlechtliche Beziehungen um ihrer selbst 
willen »anstreben«, also auch unabhängig von dem Vorgang der 
Keimstoffabsonderung, ja vielleicht sogar in Ermangelung irgend¬ 
welches abzusondernden Keimstoffes, so ist auch dies, wie wir 
später noch besser erkennen werden, nur die Folge des Gesetzes 
von dem Eintreten des Teiles für das Ganze und des daraus 
abgeleiteten Gesetzes von der Übertragung affektiver 
Neigungen, wonach alle Erscheinungen, die beständig die Be¬ 
friedigung gewisser Affekte begleiten, auch ihrerseits zu Zielen 
des Wunsches werden, und wonach alle Gewohnheiten, die zur 
Befriedigung oder bei der Befriedigung gewisser Affekte ange¬ 
nommen wurden, ebenfalls in Affekte übergehen. 

Haben wir somit auch den Geschlechtstrieb seiner Entstehung 
nach in die Gattung der Bestrebungen zurückgeführt, die dazu 
dienen, den stationären physiologischen Zustand des Organismus 
zu bewahren, so ist das obige Gesetz, was die grundlegenden 
organischen Bestrebungen betrifft, keiner Ausnahme mehr unter¬ 
worfen. Wir können es also mit folgenden Worten zusammen¬ 
fassen : 

Jeder Organismus ist ein physiologisches System im statio¬ 
nären Zustand und strebt danach, diesen Zustand zu bewahren 
oder wiederanzunehmen, sobald er durch irgendeine Veränderung 
gestört wurde, die in der Außen- oder Innenwelt des Organismus 
eingetreten ist. Diese Eigenschaft bildet die Grundlage und das 
Wesen aller »Bedürfnisse«, aller hauptsächlichsten organischen 
»Gelüste«. Sämtliche von Tieren ausgefUhrte Bewegungen der 
Annäherung oder Entfernung, des Angriffes oder der Flucht, des 
Nehmens oder Auswerfens sind nur ebenso viele unmittelbare oder 
mittelbare Folgen dieses durchaus allgemeinen Strebens jedes 
stationären physiologischen Zustandes nach seiner Unver- 
ändertheit. Wir werden gleich sehen, daß dieses Streben wieder 


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8 


Eugenio Rignano, 


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affektiven Neigungen zu veranlassen. Jeder einzelnen Ursache der 
Störung wird also ein Streben nach deren Beseitigung entsprechen, 
dessen besondere Merkmale von der Art der Störung, von ihrer 
Stärke, von den Maßnahmen zur Vermeidung des störenden Ele¬ 
mentes bestimmt werden; und für jedes etwaige Mittel, den 
normalen physiologischen Zustand zu bewahren oder wiederher¬ 
zustellen, wird ebenfalls ein entsprechendes, ganz bestimmtes 
Streben, als »Sehnsucht«, »Wunsch«, »Anziehung« usw. vorhanden 
sein. 

Sogar der »Trieb der Selbsterhaltung« — wenn man ihn im 
gewöhnlichen beschränkten Sinne der Erhaltung des eigenen 
Leben8 auffaßt — ist auch nur eine besondere Ableitung und 
unmittelbare Folge dieses überall vorhandenen Strebens nach Er¬ 
haltung der physiologischen Unverändertheit. Denn 
offenbar erscheint jeder Zustand, der zuletzt den Tod herbeiführen 
würde, anfangs als bloße Störung, und nur als solche sucht und 
lernt das Tier ihn zu vermeiden. Jennings Amöbe z. B., die 
von einer anderen Amöbe vollständig verschlungen worden war, 
der es aber gelungen war, sich zu befreien, flieht nicht etwa vor 
einer Erscheinung, die ihr Leben in Gefahr bringt, sondern vor 
einem Zustand in ihrer Umgebung, der zwar eine tiefgehende 
Störung, aber doch nichts weiter als eine Störung ist. 

Quinton hat bekanntlich zuerst eine Theorie entwickelt Uber 
das Bestreben der Organismen, ihre innere Lebensbeschaffenheit 
in demselben chemisch-physikalischen Zustande zu bewahren, in 
welchem sie sich beim ersten Erscheinen des Lebens auf der Erde 
befanden *). 

Man sieht aber, daß die eben ausgeführte Theorie sich darauf 
beschränkt, dieses Streben nach Unverändertheit so weit zu be¬ 
rücksichtigen, als es sich in jedem Augenblick beim einzelnen 
Individuum durch dessen Verhalten äußert. Anstatt daher als 
allzu einseitiger Ausgangspunkt für die Erklärung der Entwick¬ 
lung der Art zu dienen, bildet sie die erste Grundlage, von der 


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Über die mnemon. Entstehung und die mnemon. Natur affekt. Neigungen. 9 

Als Mittel der Unverändertheit für das Individuum ist dieses 
Streben, seinen stationären physiologischen Zustand zu bewahren, 
zwar eines der wichtigsten Mittel der Veränderung und des Fort¬ 
schrittes für die Art geworden, aber auf einem anderen als dem 
von Quinton angegebenen Wege. Denn daraus entstand und 
entwickelte sich die Bewegungsfähigkeit, die den größten, 
wenn auch nicht absoluten Unterschied zwischen Tier- und Pflanzen¬ 
welt darstellt, und mit der die Entwicklung und Vervollkommnung 
des gesamten Bewegungsapparates, wie auch des Sinnes- oder 
Nervenapparates, die eine so wichtige Rolle bei den die verschie¬ 
denen Tierarten unterscheidenden Grundmerkmalen spielen, gleichen 
Schritt gehalten hat. 

Als Mittel individueller Unverändertheit hat es endlich durch 
seine Wirkung auf den Menschen auch eines der hervorragendsten 
Mittel der gesamten sozialen Entwicklung abgegeben; denn man 
darf wohl sagen, daß technische Erfindungen und wirtschaftliche 
Erzeugnisse, von den ersten Höhlen Wohnungen, den ersten als 
Kleidung dienenden Tierfellen, der ersten Erfindung des Feuers 
an bis zu den heutigen höchsten Errungenschaften stets mehr oder 
weniger unmittelbar oder mittelbar einem einzigen Ziele zustrebten: 
nämlich auf künstliche Weise die Umgebung * möglichst unver¬ 
ändert zu erhalten, was die notwendige und hinreichende Be¬ 
dingung für die Bewahrung der physiologischen Unverändertheit ist. 

II. 

Allein zu dieser jedem Organismus innewohnenden Grund¬ 
eigenschaft, die Bewahrung seines normalen physiologischen Zu¬ 
standes oder dessen Wiederherstellung, sobald er gestört wird, 
anzustreben, gesellt sich noch eine andere Eigenschaft, die auch 
ihrerseits zur Quelle neuer Affekte wird. 

Sobald nämlich der frühere stationäre Zustand auf keine Weise, 
d. h. durch keinerlei Bewegungen oder Ortsveränderungen, wieder¬ 
hergestellt werden kann, sucht der Organismus einen neuen statio- 

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10 


Eagenio Rign&no, 


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normaler Temperatur lebender Organismen auch in den heißesten 
Quellen leben und gedeihen — gezeigt, daß Infusorien nach und 
nach an immer höhere Temperaturen gewöhnt werden können, 
so daß sie schließlich nach Jahre dauernder, langsamer Steigerung 
des Wärmegrades so hohe Temperaturen aushalten, daß jedes 
andere, nicht akklimatisierte Individuum darin untergehen würde. 
Ebenso bekannt ist es, daß dieselben Arten von Protozoen sowohl 
im Süß- wie im Salzwasser Vorkommen, und daß es möglich ist, 
Amöben und Infusorien des Süßwassers allmählich an einen Salz¬ 
gehalt zu gewöhnen, der sie anfangs getötet hätte. Und der¬ 
gleichen mehr 1 ). 

Für uns hat die Tatsache besonderes Interesse, daß die neuen 
Verhältnisse der Umgebung, an die sich das Tier so allmählich 
gewöhnt, mit der Zeit danach streben, sein »Optimum« zu werden. 
»Die individuelle Anpassung (z. B. an einen anderen Salzgehalt) 
geschieht nach dem Gesetze, daß der Dichtigkeitsgrad der Flüssig¬ 
keit, in der ein Individuum zu leben genötigt ist, mit der Zeit 
danach strebt, die beste Lebensbedingung für dasselbe zu werden 2 ).« 

Das ist sogar bei pflanzlichen Organismen beobachtet worden. 
Die Plasmodien der Myxomycete, die getötet werden, wenn man 
sie plötzlich in Glykoselösungen zu 1 oder 2 % bringt, und die 
sich sogar aus Lösungen zu y 2 oder y 4 % zurückziehen, ge¬ 
wöhnen sich nach und nach an 2 #ige Lösungen, so daß sie, wie 
ihr Verhalten beweist, ihre neue Umgebung der früheren, die keine 
Glykose enthielt, vorziehen 3 ). 

Die Diatomee Navicula brevis flieht regelmäßig auch das 
schwächste Licht und sucht sich in dem dunkelsten Teile des 
Wassertropfens, in dem sie beobachtet wird, zu bergen. Ist je¬ 
doch eine Kultur zwei Wochen lang dem hellen Licht eines 
Fensters ausgesetzt worden, so zeigt sie dagegen die umgekehrte 
Neigung, den hellsten Teil des Tropfens aufzusuchen, sobald man 


1) Siehe z. B. C. B. Davenport and W. E. Castle, On the acclimati- 
sation of organianis to high temperaturea. Archiv für Entw.-Mecb. der Or- 


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Über die mnemon. Entstehung und die mnemon. Natur affekt. Neigungen. 11 


diesen wieder in den früheren Zustand schwachen Lichtes zurück¬ 
versetzt '). 

Die gemeine Aktinie (Actinia equina), die man oft an Felsen 
haftend in allen möglichen Stellungen zur Richtung der Schwer¬ 
kraft findet, bald mit der Körperachse nach oben, bald nach 
unten, bald nach der Seite, scheint sich an ihre Lage so zu ge¬ 
wöhnen, daß sie diese wiederanzunehmen strebt, wenn sie daraus 
entfernt wird. Wenn man z. B. in verschiedenen Stellungen be¬ 
findliche Aktininien sammelt und in ein Aquarium setzt, »on 
constate chez elles une tendance assez nette a reprendre, en se 
fixant, la meme position que celle qu’elles avaient precedemment« 2 ). 

Wir könnten zahlreiche andere Beispiele anführen. Hier kommt 
es darauf an, sogleich deren Bedeutung klarzustellen. Sie be¬ 
weisen, daß der neue physiologische Zustand, der aus der An¬ 
passung an die neue Umgebung hervorgegangen ist, sich zu er¬ 
halten oder wiederherzustellen sucht, wenn er einmal eingetreten 
ist und eine gewisse Zeit im Organismus angedauert hat. Dieses 
Bestreben eines vergangenen physiologischen Zustandes, sich wieder 
zu betätigen oder hervorzubringen, ist nichts anderes als das jeder 
mnemonischen Akkumulation innewohnende Bestreben, sich selbst 
wieder »hervorzurufen«. Es ist also ein Bestreben rein mnemo- 
nischer Natur. Doch dann folgt auch daraus unmittelbar die 
gleiche mnemonische Natur des Strebens nach physiologischer 
Unverändertheit, von dem, wie wir oben sahen, die hauptsäch¬ 
lichsten organischen Neigungen sämtlicher Organismen herstammen. 
Denn wenn nach den zuletzt angeführten Beispielen schon ein 
völlig neuer und erst seit kurzem entstandener physiologischer 
Zustand dennoch eine mnemonische Akkumulation von sich hinter¬ 
lassen kann, die ein deutliches Streben nach seiner Wieder¬ 
herstellung aufweist, so begreift man leicht, wie der normale 
physiologische Zustand eben darum, weil er viel länger ange¬ 
dauert hat, ein um so stärkeres mnemonisches Streben besitzen 
muß, sich, sobald er gestört wird, wiederherzustellen. 


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12 


Eugenio Rignano, 


den allgemeinen physiologischen Zustand bildet, die Fähigkeit 
voraus, eine »spezifische Akkumulation« von sich zu hinterlassen, 
wie es allem Anscheine nach im Gehirn die nervösen Ströme tun, 
von denen die verschiedenen Empfindungen gebildet werden, und 
die einen mnemonischen Rückstand hinterlassen, der wieder in 
Tätigkeit zu treten oder hervorgerufen zu werden vermag. Unter 
»spezifischer Akkumulation« der verschiedenen nervösen Ströme 
ist hier nur zu verstehen, daß eine jede Akkumulation fähig ist, 
als »Entladung« einzig und allein diejenige Spezifizität des ner¬ 
vösen »Ladestromes« zu liefern, von dem diese Akkumulation 
selbst hinterlassen wurde. 

Die Ausdehnung dieser Fähigkeit der »spezifischen Akkumu¬ 
lation« auf alle physiologischen Erscheinungen überhaupt steht 
im Einklang mit der Hypothese, welche eben die nervöse Energie 
allen Lebenserscheinungen zugrunde legt. Wenn bei den eigent¬ 
lichen psychomnemonischen Erscheinungen der Vorgang der durch 
»Entladung« oder Erregung des bezüglichen Zentrums hervor¬ 
gebrachten nervösen Energie in den Vordergrund tritt, während 
die spezifischen physikalisch-chemischen mit dieser Entladung 
verbundenen Erscheinungen im Hintergrund bleiben, so daß sie 
bis vor kurzem überhaupt unbeachtet blieben, so wäre bei den 
eigentlichen physiologischen Erscheinungen — gemäß der Grund¬ 
anschauung Claude Bernards von der Wesensgleichheit sämt¬ 
licher verschiedener Formen der Erregbarkeit der lebendigen Sub¬ 
stanz — nur dieser eine Unterschied des Grades, aber nicht des 
Wesens vorhanden: nämlich das bedeutende Überwiegen der spezi¬ 
fischen physikalisch-chemischen, diebezügliche Erregung begleitenden 
Erscheinungen (Muskelzusammenziehung, Drüsenabsonderung usw.), 
während die spezifischen nervösen Erscheinungen , die gleichfalls 
mit dieser physiologischen Tätigkeit verbunden sind, sich mehr 
der Beobachtung entziehen. Auf diesem Wege haben wir eben 
in anderen Schriften gesucht, die mnemonische Grundeigenschaft 
jeder lebendigen Substanz zu erklären, die in den letzten Jahren 
hauptsächlich durch Herine:, Semon und Francis Darwin hervor- 


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Über die mnemon. Entstehung und die mnemon. Natur affekt. Neigungen. 13 


Durch diese Ausdehnung der mnemonischen Fähigkeit auf 
sämtliche elementare physiologische Erscheinungen gewinnt man 
also nun eine somatische oder viszerale Theorie von den 
affektiven Grundbestrebungen, in dem Sinne, daß das 
Streben nach physiologischer Unverändertheit oder Wieder¬ 
herstellung des einen oder anderen früheren physiologischen Zu¬ 
standes, welcher der einen oder anderen früheren Umgebung ent¬ 
spricht, von zahllosen elementaren, an jedem Punkte des Soma 
verschiedenen spezifischen Akkumulationen abhängig ist, deren 
gesamte potentielle Energie gewissermaßen eine nach derjenigen 
Umgebung oder denjenigen Beziehungen zur Umgebung hin »gravi¬ 
tierende Kraft« bilden würde, welche die Bewahrung oder Wieder¬ 
herstellung des von all diesen elementaren Akkumulationen dar¬ 
gestellten zusammengesetzten physiologischen Systemes ermöglichen. 

Natürlich hätte sich allmählich in den mit einem Nervensystem 
ausgestatteten Organismen zu jeder dieser affektiven Bestrebungen 
rein somatischen Ursprunges und Sitzes als ihre Mitwirkerin und 
manchmal ihre Vertreterin diejenige affektive Bestrebung gesellt 
und neben ihr entwickelt, die durch die entsprechenden mnemo¬ 
nischen Akkumulationen dargestellt wurde, welche in jener be¬ 
sonderen Zone des Nervensystems zurückgeblieben waren, die sich 
mit den bezüglichen Punkten des Soma in unmittelbarer Verbindung 
fand. Beim Menschen z. B. wäre diese Zone Flechsigs »Körper- 
ftihlsphäre«, zu der in gewissen Fällen noch die Stirnzone hinzu¬ 
kommen würde 1 ). 

Nachdem nun einmal diese mnemonischen Gehirnakkumulationen 
so unter der unmittelbaren somatischen Wirkung entstanden waren, 
hätten sie zuletzt das Vermögen erlangt, auch allein, nach Unter¬ 
brechung aller Verbindungen mit dem Soma, die affektive Be¬ 
strebung darzustellen, der sie früher ihren Ursprung verdankten. 
Und zwar geschah dies infolge der beiden mnemonischen Grund- 


Gedächtniserscheinung und die Lebenserscheinung. Leipzig, Wilhelm Engel¬ 
mann, 1907; franz. Ausgabe, Paris, Alcan, 1906; ital. Ausgabe, Bologna, 
Zanichelli, 1907. — Die Zentroepigenese und die nervöse Natur der LebenB- 


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Eagenio Rignano, 


gesetze, die eben aus der Tatsache hervorgehen, daß jede elementare 
spezifische Akkumulation, wenn sie sich einmal abgesetzt hat, 
einer selbständigen Existenz fähig wird. Wir meinen die Gesetze 
der allmählichen Unabhängigkeit des Teiles vom Ganzen 
und des Eintretens des Teiles für das Ganze. Daher 
empfand beispielsweise Sherringtons »Spinalhund« noch immer 
denselben Abscheu vor dem Fleisch anderer Hunde, und andere 
ähnliche Affekte, wie auch dieselben Erregungen, genau wie ein 
normaler Hund, obgleich sie sämtlich unzweifelhaft phyletischen 
somatischen Ursprunges sind 1 ). 

Doch diese Mitwirkung und diese Möglichkeit eines etwaigen 
Eintretens der affektiven Bestrebung, deren Sitz das Gehirn ist, 
an Stelle der entsprechenden affektiven Bestrebung somatischen 
Ursprungs ändert nichts daran, daß erstere gewöhnlich auch jetzt 
noch von der letzteren vollständig geleitet wird. Daher gibt die 
neuere Psychologie allgemein zu, das Affektleben habe »sa cause 
en bas, dans les variations de la conesthesie, qui est elle-meme 
une resultante, un concert des actions vitales« 2 ). 

Und sie ändert auch nichts daran, daß die affektiven Neigungen 
sämtliche Grundeigenschaften bewahren, die sie ihrem mnemonisch- 
viszeralen Ursprung verdanken. 

Darunter sind die hauptsächlichsten, daß sie einen »diffusen« 
Sitz haben, und zweitens, daß sie in hervorragendem Maße »sub¬ 
jektiv« sind. 

Denn jedes physiologische System, das in der inneren Masse 
des Soma entsteht und sich zu seiner Umgebung ins Gleichgewicht 
und in stationären Zustand setzt, durchdringt eben dadurch den 
gesamtem Organismus und infolgedessen auch den ganzen Teil des 
Gehirns, in dem sich dieser Organismus spiegelt. Also im Gegen¬ 
satz zu den mnemonischen Sinnesakkumulationen, von denen jede 
allem Anscheine nach einen auf einen einzigen Punkt oder auf ein 
einziges Zentrum der Gehirnrinde deutlich lokalisierten Sitz hat, 
haben wir allen Grund zu der Folgerung, daß jede affektive 


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Über die mneraon. Entstehung und die mnemon. Natur afTekt. Neigungen. 15 

Neigung von einer unendlich großen Zahl verschiedener elemen¬ 
tarer mnemonischer Akkumulationen gebildet wird, die sich be¬ 
ziehungsweise an jedem Punkte des Soma und an jedem ent¬ 
sprechenden Punkte des Gehirns abgesetzt haben. 

Und dieser mnemonisch-physiologischen Entstehung verdanken 
endlich die affektiven Neigungen auch ihren hervorragend »sub¬ 
jektiven« Charakter; denn der Organismus wird potentiell mit 
diesen oder jenen »idiosynkrasischen« affektiven Neigungen, mit 
dieser oder jener »Sehnsucht« ausgestattet, je nach den verschie¬ 
denen Umgebungen, oder den verschiedenen besonderen Beziehungen 
zur Umgebung, denen die Art und das Individuum längere oder 
kürzere Zeit in der Vergangenheit ausgesetzt waren, mit anderen 
Worten: je nach ihrer besonderen Geschichte. 

Daher die »Subjektivität« und unendliche Verschiedenheit, die 
sich in den Bedürfnissen, in den Gelüsten, in den Wünschen kund¬ 
tut, und infolgedessen bei allem, was den Gegenstand »affektiver 
Wertschätzung« ausmacht. 


III. 


Die eben ausgeführte Hypothese von der mnemonischen Natur 
aller affektiven Neigungen überhaupt wird noch durch andere Bei¬ 
spiele mehr eigenartiger Affekte bestätigt, die auch auf dem Wege 
der »Gewohnheit« entstanden sind, jedoch ganz besonderen Be¬ 
ziehungen zur Umgebung entsprechen, die nur den einen oder 
anderen Teil des Organismus betreffen, und nur eine periodische 
oder irgendwie unterbrochene Tätigkeit bekunden. Sie sind nament¬ 
lich bei höheren Tieren und besonders beim Menschen vorhanden. 

Als typisches Beispiel brauchen wir nur die Mutterliebe zu wählen. 

Die Gewohnheit gewisser Beziehungen des Parasitismus oder 
Zusammenlebens, überhaupt der Symbiose, mit den Nachkommen, 
die eine lange Reihe von Generationen hindurch andauerte, hat 
sich hier offenbar auf mnemonischem Wege nach und nach in 
affektive Neigung zu diesen Beziehungen verwandelt. 



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Eugenio Rignano, 


tend a 8’etablir une position definitive d’equilibre mutua- 
liste *).« 

Dies gilt z. B. für die Beziehungen innerer Inkubation. Zuerst 
vom Embryo selbst in irgendeiner Phase seiner Entwicklung zum 
Zwecke seiner Ernährung oder anderer ihm daraus erwachsender 
Vorteile hervorgerufen und von einem der Eltern, sei cs dem Vater 
oder der Mutter, zuerst nur geduldet, gestalten sie sich zuletzt für 
den Vater oder die Mutter zu wirklichen »Bedürfnissen«. 

Dies gilt ebenfalls für die Beziehungen äußerer Inkubation (des 
Brütens), die zuerst zufällig infolge irgendeines besonderen Um¬ 
standes entstanden und auf diese Weise zur Gewohnheit wurden. 
Die Zuneigung, die beispielsweise das Weibchen der Spinne 
Chiracanthium carnifex zu ihrem Neste bekundet, gleichviel 
ob es ihr eigenes, oder ein von ihr in Besitz genommenes ist, 
wächst mit der Zeit, also mit der Dauer ihres Aufenthaltes 
darin. Die »Mutterliebe« scheint daher bei dieser Spinne im 
Grunde nichts anderes als ihre »Anhänglichkeit« zu einem ihr zur 
Gewohnheit gewordenen Wohnsitz zu sein 2 ). 

Ebenso verhält es sich mit dem Brüten der Vögel und einiger 
Reptilien, das zuerst jseine Entstehung der angenehmen Empfin¬ 
dung verdankte, die die Berührung der frischen Eier bei dem das 
Eierlegen begleitenden Fieberzustand hervorbringt, das aber zuletzt 
durch die Gewohnheit zu einer an sich instinktiven Neigung ge¬ 
worden ist 3 ). 

Was schließlich das Säugen anlangt, so haben die Jungen die 
Schweißdrüsen der sie bedeckenden mütterlichen Brust durch ihr 
Saugen nach und nach zu Milchdrüsen umgestaltet und zugleich 
die Mutter so an diese Saftentleerung gewöhnt, daß sich mit der 
Zeit ein wirkliches und eigentliches Bedürfnis nach Milch¬ 
entziehung bei ihr herausbildete. »Chez les mammiferes« — wir 
geben wieder Giard das Wort — »c’est dans le phenomäne de 
la lactation et de Tallaitement qu’il faut chercher l’orgine des 
rapports de Symbiose mutualiste qui unissent la mere ä l’enfant. 
Les troubles physiologiques de la grossesse et de la parturition 


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Über die mnemon. Entstehung und die mnemon. Natur affekt. Neigungen. 17 


amenent, parmi d’autres eftets trophiques fort curieux, une hyper- 
secretion des glandes mammaires, qui ne aont, comme on aait, 
qn’nne localiaation speciale des glandea sebacees de la peau. Le 
petit, en lechant et su^ant cette secretion dont il tire sa premiere 
nourriture, produit un Soulagement de la gene eprouvee par la 
femelle. II devient par la pour sa mere un Instrument de bien-etre 1 ).« 

Daß das Bedürfnis nach Milchentziehung der Ursprung der Mutter¬ 
liebe ist, beweist die Tatsache, daß die Mutter, die ihrer Jungen be¬ 
raubt ist, sich andere Säuglinge an deren Stelle zu verschaffen sucht. 
»Le besoin de se debarrasser d’une secretion genante est assez 
puissant pour determiner parfois la femelle qu’on a privee de ses 
petits ä voler la progenitnre d’une autre femelle, et ces rapts de 
progeniture ont ete constatcs meme chez des femelles qui allaitaient 
encore leurs propres enfants, la satisfaction d’un besoin les portant, 
comme cela arrive generalement, a la recherche d’une satisfaction 
plus grande et pouvant aller jusqu’ä l’excös 2 ). 

Bei den von Lloyd Morgan beobachteten Fällen nimmt dieses 
Bedürfnis nach Milchentziehung die Gestalt der um die Ernährung 
der Jungen besorgten Mutterliebe an, und mag vielleicht tatsäch¬ 
lich einen Anfang uneigennütziger Zuneigung zu ihnen darstellen. 
»Ich habe Hirschkühe und Katzen sich so aufrichten und wieder 
niederlegen sehen, daß ihre Zitzen unmittelbar mit dem Maule 
jedes ihrer Jungen, das sie nicht allein finden konnte, in Berührung 
kamen. Ist ein Lamm zu schwach, um selbst die Zitze zu finden, 
so sucht das Mutterschaf nicht selten mit Hilfe der Schultern, des 
Kopfes und des Halses, die es als Hebel benutzt, das Junge auf 
die Beine zu bringen. Ist das geschehen, so beugt sich das Schaf 
Uber ihr Lamm und bringt ihre Zitzen an dessen Lippen, was so 
oft wiederholt wird, bis das Junge zu saugen anfängt 3 ).« 

Dies Beispiel ist sehr bezeichnend; denn es geht deutlich 
daraus hervor, wie das Bedürfnis nach Milchentziehung damit 
enden mußte, eine Zuneigung zum Säugling, als dem gewöhnlich 
zur Erreichung dieses Zweckes dienenden Mittel, zu erwecken, 
ererade wie das Bedürfnis nach Entfernung der Keimsubstanz. wie wir 


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Engenio Rignano, 


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Und gerade ebenso wie nach Entfernung der Keimsubstanz die 
»geschlechtliche Anziehung« aufhört, so ist auch die »Mutterliebe« 
nicht mehr vorhanden, sobald das Bedürfnis nach Milchentziehung 
sich nicht mehr fühlbar macht. »L'affection maternelle ne survit pas, 
en general, aux causes qui l’ont fait apparaitre et Ton n’en trouve 
plus que des traces tres vagues une fois la lactation terminee J ).« 

Endlich wird auch durch die Tatsache, daß die mütterliche 
Liebe stärker als die väterliche, und die Liebe der Eltern zu den 
Kindern stärker als die der Kinder zu den Eltern ist, die Hypo¬ 
these bestätigt, daß alle diese Affekte ausschließlich auf dem 
Wege der Gewohnheit entstanden sind; denn sie beweist, daß die 
Zuneigung zu den Wesen, zu denen man gewisse Beziehungen hat, 
um so stärker ist, je zahlreicher und länger diese Beziehungen 
sind. »Dans l’animalite prise d’ensemble«, bemerkt Ribot, 
»l’amour paternel est rare et peu stable, et chez les representants 
inferieurs de l’humanite c’est un sentiment bien faible et d’un lien 
bien lache.« Väterliche Liebe findet man nur bei festen geschlecht¬ 
lichen Verbindungen, wo das Zusammenleben »cree un courant 
d’affection qui est en raison des Services rendus« 2 ). 

»Tout le monde reconnait«, bemerkt seinerseits Pillon, »que 
l’amour des parents pour leurs enfants l’emporte en intensite sur 
l’amour des enfants pour leurs parents et que, du pere et de la 
mere, c’est celle-ci qui a le plus d’amour pour l’enfant». — »C’est 
que, chez la m&re, en raison de ses fonctions speciales, l’amour 
pour l’enfant est nourri et accru, beaucoup plus qu’il ne Test chez 
le pere, par les actes continuels qu’il determine 3 ).« 

Doch die Mutterliebe, wie überhaupt die gegenseitige Liebe der 
Familienmitglieder, die also gewissen zur Gewohnheit gewordenen 
Beziehungen so ihre Entstehung verdankt, stellt nur einen einzelnen 
Fall eines ganz allgemeinen Gesetzes dar. Denn jede andere, 
noch so eigenartige Beziehung zu Sachen oder Menschen, die auch 
nur in geringem Maße zur Gewohnheit wird, erscheint endlich 
eben dadurch als etwas »Erwünschtes«. Bei jeder allgemeinen 
oder besonderen Beziehung zur Umgebung bewährt sich somit 


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Über die mnemon. Entstehung und die mnemon. Natur affekt. Neigungen. 19 

welches dieser Forscher auch für jeden Reiz feststellte, an den man 
gewöhnt ist, und dessen Auf hören das »Bedürfnis« danach erweckt 1 ). 

»Ich habe eine kleine Uhr im Zimmer« — so schrieb z. B. 
an G. E. Müller ein Freund —, »die nicht ganz 24 Stunden 
durch einmaliges Aufziehen geht. Es kommt daher öfter vor, daß 
sie stehen bleibt. Sobald das eintritt, werde ich darauf aufmerk¬ 
sam, während ich sie natürlich gar nicht gehen höre. Anfangs 
mit einer Modifikation: es passierte mir, daß ich nur plötzlich 
eine ganz unbestimmte Unruhe Uber eine gewisse Leere 
empfand, ohne sagen zu können, was fehle. Erst bei einigem 
Besinnen fand ich den Grund in dem Stehen meiner Uhr« 2 ). 

Übrigens hat wohl jeder von uns Gelegenheit gehabt, zu be¬ 
obachten, wie anfangs unliebsame Dinge durch Gewohnheit zu an¬ 
genehmen gestaltet werden, und wie gewisse im Laufe des Lebens 
angenommene Gewohnheiten für die Menschen zu ebenso unab¬ 
weisbaren »Bedürfnissen« wie die »natürlichen« Bedürfnisse werden: 
»Raucher, Schnupfer oder Tabakskauer liefern bekannte Beispiele 
dafür, wie das lange Andauern einer anfänglich nicht angenehmen 
Empfindung diese zu einer angenehmen macht, obgleich doch die 
Empfindung dieselbe bleibt. Dasselbe geschieht bei verschiedenen 
Speisen und Getränken, die zuerst Widerwillen erregen, später 
aber nach häufigem Genuß wohlschmeckend werden 3 ).« 

Daher die »Sehnsucht« nach allen gewohnten Dingen, die uns 
plötzlich fehlen: »II se produit chez certains animaux un etat 
assimilable ä la nostalgie, se traduisant par un besoin violent de 
retourner aux lieux d’autrefois, ou par un lent deperissement qui 
resulte de l’absence des personnes et des choses accoutumees 4 ).« 

Deshalb genügt z. B. schon die bloße Gewohnheit, damit bei 
Tieren und beim Menschen, wie wir schon bei der Familienliebe 
gesehen haben, ähnliche Neigungen, nur von weit größerem Um¬ 
fange, entstehen und feste Wurzel fassen, wie herdenweises Bei¬ 
sammensein (»gregariousness«), Geselligkeit, Freundschaft und 


1) A. Lehmann, Die Hauptgesetze des menschlichen Gefühlslebens. 
S. 194 ff. Leipzig, Reisland, 1892. 

2i G. E. Müller. Zur Theorie der sinnlichen Aufmerksamkeit. S. 128. 

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Eugenio Rignano, 


dergleichen: »Das Wahrnehmen gleichartiger Wesen, die fortwährend 
gesehen, gehört und gerochen werden, bildet schließlich einen 
vorherrschenden Teil des Bewußtseins, so vorherrschend, daß deren 
Fehlen notwendigerweise Unbehagen erweckt 1 ).« 

Endlich ist auch der mächtige Einfluß der Lebensgewohnheiten 
bekannt, die im zufälligen Familienkreise während der ersten 
Jugendjahre angenommen werden — der Erziehung (»nurture«) 
im weiten Sinne, wie Galton sagen würde —, indem daraus Ge¬ 
fühle und sittliche Neigungen entstehen und sich entwickeln, die 
sich dann für das ganze Leben unauslöschlich cinprägen, als 
wären sie »angeboren« 2 ). 

Kurz, wir sehen aus diesen wenigen, nur zur Erläuterung unserer 
Behauptung angeführten Beispielen, welch tiefe Wahrheit in dem 
Sprichwort enthalten ist, das in der Gewohnheit »eine zweite 
Natur« erblickt. 

Wenn wir aber gewissermaßen so vor unseren Augen das Ent¬ 
stehen der verschiedensten Neigungen auf dem Wege der Gewohn¬ 
heit beobachten können, so dürfen wir auch mit vollem Recht 
sämtlichen affektiven Neigungen einen gleichen mnemonischen Ur¬ 
sprung beimessen, da das Wesen der »angeborenen« Neigungen 
in nichts von dem Wesen der »erworbenen« Neigungen abweicht. 
In ganz ähnlicher Weise hält sich der Lamarckismus für berech¬ 
tigt, in bezug auf die morphologische Entwicklung aus den wenigen 
Fällen im Leben erworbener Anpassungen, die beobachtet werden 
konnten, den Schluß zu ziehen, daß der gesamte Bau des Orga¬ 
nismus auch nur einer unendlichen Anzahl ähnlicher funktioneller 
Anpassungen sein Dasein verdanken kann. 

Wir dürfen also das obige Sprichwort durch den Zusatz er¬ 
gänzen, daß umgekehrt die »Natur« nichts anderes ist, als eine 
»erste Gewohnheit«. 

IV. 

Die Hypothese von der mnemonischen Entstehung und Natur 


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Über die mnemon. Entstehung nnd die mnemon. Natnr affekt. Neigungen. 21 


ist, nnd zur Folge hat, daß von den Affekten unmittelbar 
mnemonischen Ursprungs andere herstammen, die somit in¬ 
direkt mnemonische Entstehung haben. (Ribots »loi de trans- 
fert«.) 

Denn infolge des bereits mehrfach erwähnten »Eintretens des 
Teiles ftir das Ganze« — einer mnemonischen Grundeigenschaft — 
geschieht es, daß bloße Teile oder Fragmente gewisser Beziehungen 
zur Umgebung, die anfänglich in ihrer Gesamtheit angestrebt 
wurden, oder daß »analoge« Umgebungsbeziehungen, d. h. solche, 
die nur zum Teil den gewünschten ähnlich sind, oder daß Um¬ 
gebungsbeziehungen, welche geeignete »Mittel« zur Erreichung 
eines »Zieles« bilden, daher dessen notwendige Vorgänger sind, 
oder endlich, daß Umgebungsbeziehungen, welche• dieses »Ziel« 
beständig begleiten, denselben Affekt erregen, wie das ursprüng¬ 
liche »Ziel« selbst. Dieser Affekt »überträgt sich« also vom 
Ganzen auf den Teil. Und diese Zuneigung zu dem Teile wird 
dann um so stärker dadurch, daß diese partielle Beziehung, die 
zuerst als Ersatz ftir das Ganze angestrebt wurde, zuletzt auch 
ihrerseits eine gewohnte Beziehung zur Umgebung bildet, 
daher um ihrer selbst willen gewünscht oder angestrebt wird, auch 
abgesehen von der wirklichen und eigentlichen affektiven Ȇber 
tragung«. 

So ist es z. B., wie wir bereits erwähnten, mit der Begattung 
zugegangen, als dem gewohnten Mittel zur Entfernung der Keim¬ 
substanz, und dann mit den untergeordneten geschlechtlichen Be¬ 
ziehungen, als Erscheinungen, die gewöhnlich die Begattung be¬ 
gleiten. Die »Eroberung« des anderen Geschlechtes, die auch 
nur ein unerläßliches Mittel zur Befriedigung des Geschlechts¬ 
hungers bildet, ist schließlich bei gewissen Individuen eben¬ 
falls ihr Selbstzweck geworden; die Lust am Verführen um der 
Verführung willen, die »geschlechtliche Eitelkeit« sowohl beim 
männlichen wie beim weiblichen Geschlechts und die an¬ 


deren ähnlichen Neigungen gehen als weitere Folgen daraus 
hervor. 


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Eugenio Rignano, 


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alle Zeichen der Niederlage des Opfers gewähren, seine vergeb¬ 
lichen Anstrengungen und sein Todeskampf« l ). 

Und als Folgen weiterer »Übertragungen« ergeben sich daraus 
beim Menschen der Wunsch des Sieges um seiner selbst willen, 
die Herrschsucht, die Machtbegierde, das Verlangen nach Ruhm 
und Ruf, das Streben, seine Nebenmenschen zu tibertreffen. 

In diesen und allen anderen ähnlichen Fällen »affektiver Über¬ 
tragungen« auf Beziehungen zur Umgebung, die immer weniger 
materiell und immer mehr sittlichen Gehaltes werden, ist außer 
der wirklichen und eigentlichen »affektiven Übertragung«, die den 
Teil zu einem neuen Ziele umgestaltet, stets bei höheren Tieren 
und beim Menschen noch die Mitwirkung ihrer Verstandes¬ 
entwicklung vorhanden. 

Denn der Verstand entdeckt immer neue unvermutete Ähnlich¬ 
keiten zwischen den verschiedensten Erscheinungen, auch zwischen 
stofflichen und sittlichen, indem er so auf die einen dieselben 
Affekte ausdehnt, die für die anderen galten. Gerade wie wenn 
der Ekel vor gewissen Speisen, die der Geschmack oder der Ge¬ 
ruch als ungesund kennzeichnet, sich auf gewisse Gegenstände 
erstreckt, die nur gefühlt oder gesehen werden (schleimige Körper), 
und dann, indem die Analogie noch weiter ausgedehnt wird, sogar 
auf einfache »Gegenstände« oder Beziehungen sittlicher Ordnung 2 ). 

Zugleich gelingt es dem Verstände, indem er mit immer 
schärferem Blicke die in der Zukunft zu erwartenden äußeren 
Erscheinungen voraussieht, fortwährend neue, immer indirektere 
und zusammengesetztere Mittel zur Erreichung der Ziele zu er¬ 
sinnen, und damit der »affektiven Übertragung« einen immer 
weiteren Wirkungskreis zu eröffnen. Die Waffe z. B., dieses vom 
Menschen zum Zweck der Selbsterhaltung erfundene Mittel, bat 
dem Krieger und dem Jäger jene affektive Übertragung auf sich 
ermöglicht, die für beide typisch ist; und die Erde, die der Acker¬ 
bau zum Mittel der Ernährung gestaltete, hat jene heftige Liebe 
zu ihr möglich gemacht, die man oft beim Bauer findet. 


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Über die mnemon. Entstehung und die mnemon. Natur affekt. Neigungen. 23 


affektive Neigungen unbefriedigt bleiben. So erzeugt z. B. die 
Voraussicht künftigen Hungers auch bei dem gesättigten Menschen 
die Neigung, übrig gebliebene Speisen aufzubewahren und »in 
seinem Besitz« zu behalten, und erweckt dann überhaupt das 
»Eigentumsgeftihl«, ebenso wie das Voraussehen der zahllosen 
anderen Wünsche, die der heutige Kulturmensch hegen kann, in 
ihm so heftig das Verlangen nach Reichtum, die Gewinnsucht und 
ähnliches erregt 1 ). 

Endlich ermöglicht der Verstand jene unendliche Mannigfaltig¬ 
keit der »Abschattungen«, deren die affektiven Neigungen beim 
Menschen fähig sind. Denn da er imstande ist, jedes auch nur 
einigermaßen verwickelte UmgebungsVerhältnis gleichzeitig, oder 
fast gleichzeitig, unter verschiedenen Gesichtspunkten zu 
betrachten, so vermag er zu gleicher Zeit mannigfache Affekte 
hervorzurufen: und diese bringen dann — um mit Bain zu reden — 
durch Anreihung, Verbindung, Zusammenfließen, Dazwischen treten, 
oder gegenseitige Ausschließung zuletzt einen überaus komplizierten 
resultierenden Affekt zustande, welcher daher fähig ist, von Fall 
zu Fall, je nach Zahl und Beschaffenheit seiner Komponenten, 
die denkbar feinsten Abstufungen aufzuweisen. 

Aus dem Selbsterhaltungstrieb in seiner rein defensiven Gestalt 
hatte sich z. B. schon bei den Tieren das Gefühl der Furcht, die 
Ängstlichkeit und ähnliches entwickelt. Beim Menschen veran¬ 
laßt er auch alle versöhnenden Affekte in zahllosen Verschieden¬ 
heiten nnd Abschattungen: Fußfall, Demut, Heuchelei, Schmeichelei 
und dergleichen. Auch das religiöse Gefühl ist in seinen niedrigsten 
Formen eine unmittelbare Folge dieses versöhnenden Affektes. 
Das höhere religiöse Gefühl und das damit verwandte Gefühl für das 
Erhabene sind dessen weitere, noch vollendetere Umgestaltungen 2 ). 

Aus dem Selbsterhaltungstrieb in seiner doppelten, zugleich 
offensiven und defensiven Gestalt hatte sich ferner bei den höheren 
Tieren schon der Trieb zum Angriff und zu all den verschiedenen 
Arten des Gegenangriffs herausgebildet. Beim Menschen hat dieser 
Trieb die verschiedensten Gestalten und Abschattungen annehmen 


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Eugenio Rignano, 


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von der Raubsacht bis zum bloßen Neide, vom heftigsten Rache¬ 
durst bis zum leisesten Unwillen. Das hohe Gefühl für »Gerech¬ 
tigkeit« ist dessen entfernter, kaum noch kenntlicher Ersatz 1 ). 

Welch hoher Grad der Komplizierung so erreicht werden kann, 
beweist z. B. die Mutterliebe, die sich von dem rein körperlichen 
Bedürfnis nach Milchentziehung zu den zärtlichsten Gefühlen 
edelster Selbstverleugnung erhebt, und namentlich die Gattenliebe, 
die sich aus dem rohen,, tierischen Geschlechtshunger zu einem 
harmonischen Zusammenwirken der zartesten und sanftesten sitt¬ 
lichen Affekte gestaltet 2 ). 

Doch es wäre, wie man leicht begreift, nutzlos und unmöglich, 
hier noch länger bei der Untersuchung aller Affekte und Ab¬ 
schattungen von Affekten zu verweilen, die auf diese Weise bei 
den höheren Tieren und namentlich beim Menschen zur Entstehung 
und zur Entwicklung gelangt sind. Obige wenige Hinweise mögen 
genügen, um es verständlich zu machen, daß, sobald einmal der 
Organismus auf direktem mnemonischem Wege einen Vorrat affek¬ 
tiver Neigungen erlangt, und der Verstand die geeignete Entwick¬ 
lung erreicht hat, die Zahl der Affekte, die daraus durch Ȇber 
tragung« oder »Verbindung«, also auf indirektem mnemonischem 
Wege hervorgehen können, unendlich ist. 


V. 


Wenige Worte werden nunmehr hinreichen, um die Stelle zu 
bezeichnen, welche den affektiven Neigungen unter jenen psychischen 
Grunderscheinungen zukommt, die am engsten damit verbunden 
sind, wie die »Gemütsbewegungen«, der »Wille« und die Zustände 
der »Lust« und des »Schmerzes«. 

»Gemütsbewegungen« sind nur plötzliche und heftige Be¬ 
tätigungsarten jener Akkumulationen von Energie, aus denen eben 
die affektiven Neigungen bestehen. 

Natürlich ist es nicht immer möglich, die affektiven Neigungen 
von den Gemütsbewegungen deutlich zu unterscheiden, da erstere, 
solange sie in potentiellem Zustande bleiben, weder objektiv noch 
subjektiv wahrnehmbar sind, sondern es erst bei ihrer Betätigung 


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Über die mnemon. Entstehung und die mnemon. Natur aftekt. Neigungen. 25 

werden, die, wenn sie plötzlich und heftig erfolgt, eben die ent¬ 
sprechende Gemütsbewegung darstellt. Doch die Wichtigkeit und 
Notwendigkeit, genau zwischen Gemütsbewegungen und affektiven 
Neigungen zu unterscheiden — eine Unterscheidung, die jedoch 
gewöhnlich von den meisten Psychologen völlig vernachlässigt 
wird —, ergibt sich daraus, daß ein und dieselbe affektive Neigung, 
je nach den äußeren Umständen, die allerverschiedensten Gemüts¬ 
bewegungen, deren verschiedenste Abstufungen, und allenfalls auch 
gar keine eigentliche Gemütsbewegung hervorzurufen vermag. 
Sehen wir z. B. von fern einen Wagen auf uns zukommen, so 
weichen wir ihm mit Ruhe aus; erscheint er dagegen plötzlich an 
einer jähen Straßenwendung vor uns, so fühlen wir eine starke 
Gemütserschütterung. Und ein und dieselbe affektive Neigung 
des Hundes zu einem Stück Fleisch kann je nach den Umständen, 
durch die sein leckeres Mahl in Gefahr kommt, seine Flucht, 
seinen Zorn, oder das vorsichtige, kaltblütige Aufsuchen eines 
sicheren Versteckes veranlassen. 

Kurz, jede Gemütsbewegung, wie Stout richtig hervorhebt, 
setzt immer ein affektives Streben voraus; aber das Umgekehrte 
trifft nicht zu, denn eine affektive Bestrebung kann, auch wenn 
sie sich schon betätigt, jeder Gemütsbewegung ermangeln 1 ). 

Jede affektive Neigung »treibt« zur Handlung; d. h. sie ist es, 
welche die Bewegungsorgane »anläßt«, entweder unmittelbar, wie 
bei den niederen, oder mit Hilfe des Nervensystems, wie bei den 
höheren Organismen; sie erscheint daher gleich vom ersten Augen¬ 
blick ihrer Betätigung an als eine »Bewegung im Entstehungs¬ 
zustande« (Ri bot). 

Erfolgt ihre Betätigung plötzlich und heftig, so tritt zur Tätig¬ 
keit der Bewegungsmuskeln auch die Tätigkeit aller Eingeweide 
hinzu. Diese »viszerale Mitwirkung«, die sich so bei den eigent¬ 
lichen Gemütsbewegungen geltend macht, erklärt sich nicht sowohl 
daraus, daß die Schnelligkeit und Heftigkeit, mit der die Muskeln 
in Bewegung gesetzt werden, sofort eine gesteigerte Tätigkeit der 



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26 Eugenio Rignano, 

die, ganz plötzlich in großer Menge ausgelöst, wie eine Überflutung 
wirkt, und sich in zahlreiche andere Bahnen, als nur die eng mit 
dem Bewegungsapparate verbundenen, ergießt *). 

Und diese infolge eines plötzlichen heftigen Antriebes so hervor¬ 
gebrachte »Erschütterung« der Eingeweide findet — nach James’, 
Langes und Sergis bekannter Theorie — ihren zentripetalen 
Widerhall im Gehirn in Gestalt einer »Gemütsbewegung« 2 ). 

Nicht die Gemütsbewegung ist es also, die »uns treibt«, 
wie infolge der obenerwähnten, nicht genug zu bedauernden Ver¬ 
wechslung zwischen affektivem Streben und Gemütsbewegung auch 
Sherrington behauptet; sondern »uns treibt« das affektive 
Streben, und die Gemütsbewegung ist nur der Rückschlag einer 
zu raschen und heftigen Betätigung dieses Strebens. 

Geschieht dagegen die Betätigung des affektiven Strebens, in¬ 
folge äußerer Verhältnisse oder der psychischen Verfassung des 
Individuums, weder zu plötzlich, noch zu heftig, so kann es Vor¬ 
kommen, daß nur die durchaus dazu notwendigen Muskeln ohne 
jede Gemütsbewegung in Tätigkeit treten. Die affektive Neigung 
liefert dann bei ihrer Entladung eine um so größere Arbeitsleistung, 
je kleiner der Teil ist, der bei den wirren und nutzlosen Be¬ 
wegungen rein emotiver Bedeutung verloren geht. Darum sind es 
gerade meist die »erregungsunfähigen« Individuen, bei denen man 
die größte Willensfestigkeit, die zäheste Ausdauer beim Handeln, 
die angestrengteste und fieberhafteste Tätigkeit wahrnimmt 3 ). 

Was den »Willen« anlangt, so hat man einen »Willensakt«, 
so oft ein affektives Streben nach einem künftigen Ziel einem 
affektiven Streben nach einem gegenwärtigen Ziel siegreich ent¬ 
gegentritt, also so oft ein weitblickender Affekt Uber einen kurz¬ 
sichtigen den Sieg davonträgt. Wer nach langem Laufen keuchend 
und schweißtriefend zur Quelle stürzt, um gierig daraus zu trinken, 
begeht keinen Willensakt; wohl aber, wer aus Furcht vor künf¬ 
tigen größeren Übeln es unterläßt, seinen glühenden Durst zu 
löschen. Ebensowenig ist es ein Willensakt, wenn sich ein 


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1) Siehe Sherrington, The integrative action of the nervous syBtem. 



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Über die mnemon. Entstehung and die mnemon. Natur affekt. Neigungen. 27 


ermüdeter Wanderer zur Ruhe niederwirft; wohl aber, wenn ein 
Bergsteiger seine Ermattung oder seine Schlaffheit überwindet, 
um den ersehnten Gipfel zu erreichen. Und was eine große 
»Willenskraft« erfordert, ist nicht etwa das Benehmen eines 
Menschen, der, dem augenblicklichen Drange folgend, bei der ge¬ 
ringsten Beleidigung sich mit Schimpfworten und Faustschlägen 
auf den Gegner stürzt, sondern die Handlungsweise desjenigen, 
der seinen gerechten Unwillen zügelt, um kaltblütig bis in die 
fernsten Folgen das zweckmäßigste Verfahren zu berechnen, das 
gegen den Beleidiger einzuschlagen ist 1 ). 

Der »Wille« ist also im Grunde nichts anderes als eine wirk¬ 
liche und eigentliche affektive Bestrebung, die andere affektive 
Bestrebungen hemmt, weil sie weitblickender ist, und die auch 
ihrerseits, wie jede überhaupt, zum Handeln »treibt«. »In der 
Willenstätigkeit«, sagt Maudsley, »ist stets irgendein Wunsch 
nach einem zu erzielenden Guten, oder einem zu vermeidenden 
Übel vorhanden, der ihr ihre Triebkraft verleiht (which imparts 
its driving force)« 2 ). 

Hier verdienen, so scheint es uns, zwei äußerste Fälle hervor¬ 
gehoben zu werden, welche alle übrigen in sich schließen, und 
deren ersterer wiederum eine Zweiteilung zuläßt. 

Zuweilen ist eine der affektiven Neigungen so stark und so 
andauernd, daß sie in jedem Augenblicke jede andere Uberwiegt; 
sie hemmt sie, wenn sie ihr widerspricht; sie verstärkt sie, wenn 
sie mit ihr Ubereinstimmt. Eine solche »hypertrophisierte« affek¬ 
tive Neigung heißt »Leidenschaft« (Ribot, Renda); ist sie auf 
ein gegenwärtiges Ziel gerichtet, so pflegt man zu sagen, daß sie 
»den Willen vernichtet«, weil sie der hemmenden Wirkung jeder 
anderen weitblickenden affektiven Neigung stets siegreich wider¬ 
steht; ist sie dagegen auf ein fernes Ziel der Zukunft, auf ein 
»Ideal« gerichtet, dessen Erreichung vielleicht das Werk eines 
ganzen Lebens erfordert, dann sagt man, das Individuum sei »aus¬ 
dauernd«, »hartnäckig«, »unbeugsam«, »mit eisernem Willen« be¬ 
jaht wpil iedpfl andprp Pnto-Pfrpno'PHPtT+p pin <ypo'Pnwärti*>oa 7Ae\ 


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Eugenio Rignano, 


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In anderen Fällen dagegen halten sich die beiden sich be¬ 
kämpfenden affektiven Neigungen die Wage. In einem gewissen 
Augenblick gewinnt die fernblickende Neigung, da der Sinn auf 
neue künftige Folgen gelenkt wird, größere Kraft und scheint zu 
Uberwiegen; aber schon im gleich darauffolgenden Augenblick ist 
es wieder die kurzsichtige Neigung, die neue oder deutlicher er¬ 
kannte Seiten an dem gegenwärtig ersehnten Gegenstand entdeckt, 
daher heftiger wird und das Übergewicht zu erlangen droht. Das 
Individuum gerät dann in einen Zustand, den man »Unschlüssig- 
keit« nennt. Findet sich dann ein »Philosoph«, der sich durch 
Selbstbetrachtung in diesem Zustande beobachtet, so wird er un¬ 
schwer empfinden, daß beide Affekte gleichzeitig in ihm selber 
vorhanden, daß sie »Fleisch von seinem Fleisch« sind, und wie 
der geringste und unbedeutendste psychische Vorfall genügt, um 
dem ersteren das Übergewicht über den anderen, oder umgekehrt, 
zu verschaffen. So erklärt es sich, daß er leicht in die subjektive 
Täuschung verfällt, als genüge ein Nichts, ein willkürlicher 
Hauch, um dem einen zum Sieg über den anderen zu verhelfen. 
Das ist die subjektive Täuschung des »freien Willens«, welche, 
wie allbekannt, viele Jahrhunderte hindurch das größte und 
schwierigste Problem gebildet hat, das die Philosophie jemals zu 
lösen berufen wurde. 

Um schließlich auf die »Lust« und den »Schmerz zu kommen, 
so ist es das Verdienst der neueren psychologischen Schule, die 
Hinfälligkeit von Bains Theorie dargetan zu haben, daß die 
Grundlage des tierischen Lebens die »Jagd nach dem Vergnügen« 
sei, d. h. das Streben nach allem Angenehmen und die Vermeidung 
alles Unangenehmen, und dagegen deutlich hervorgehoben zu haben, 
daß die »Zustände der Lust und des Schmerzes« nur den ober¬ 
flächlichen Teil des affektiven Lebens darstellen, »dont l’el^ment 
profond consiste dans les tendances affectives, positives ou nega¬ 
tives«. — »Celles-ci sont les processus elementaires de la vie 
affective, dont le plaisir et la douleur ne font que traduire la 
satisfaction ou l’echec 1 ).« 


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Über die mnemon. Entstehung nnd die mnemon. Natur affekt. Neigungen. 29 


so würde die »Lust« im Grunde jedem Zustand der Entladung oder 
Belebung der nervösen oder Lebensenergie entsprechen, und der 
»Schmerz« jedem Zustande der Hemmung oder Unterdrückung 
derselben. 

Und in der Tat, »peinlich« ist jeder Akt der Hemmung ge¬ 
wisser nervöser Betätigungen; »unangenehm« ist jede etwas zu 
fühlbare Änderung der Umgebungsverhältnisse, welche die Fort¬ 
dauer des bis dahin wirksamen physiologischen Zustandes unmög¬ 
lich macht; »schmerzvoll« ist jener plötzliche und gewaltsame 
Wechsel der Umgehung, der in dem einen oder anderen Teile des 
Organismus den völligen Stillstand oder sogar die Zerstörung des 
Lebens herbeiführt; und »traurig« ist das Individuum, wenn sich 
in seinem Organismus eine allgemeine Abnahme der Lebens¬ 
funktionen kundtut. 

Und umgekehrt, »angenehm« ist es, seine Muskeln im Spiel 
und Sport zu betätigen; eine »Erholung« ist das Aufhören eines 
gespannten Seelenzustandes; »willkommen« die Rückkehr zur 
gewohnten Umgebung oder zu seinen Gewohnheiten; voll 
»Lust« und »Freude« überhaupt ist jeder Zustand, bei dem im 
Organismus eine größere Betätigung nervöser Energie statt¬ 
findet *). 

Hier genüge es, darauf hinzuweisen, daß die Theorie von der 
mnemonischen Entstehung sämtlicher affektiven Neigungen, die wir 
in dieser Abhandlung zu erläutern und zu begründen snchten, 
einen neuen Beweis bildet zur Stütze dieser neueren psycho¬ 
logischen Anschauungen in bezug auf das innerste Wesen der 
Lust und des Schmerzes. Denn indem sie diesen affektiven 
Neigungen die Natur mnemonischer Akkumulationen beimißt, 
schließt sie die Folge in sich, daß die Grundlage des affektiven 
Lebens nichts anderes sein kann, als das diesen Akkumulationen 
innewohnende Streben nach Betätigung, ebenso wie es bei jeder 
anderen Ansammlung potentieller Energie der Fall ist, daß somit 
»Lust« und »Schmerz«, daß »angenehme« und »peinliche« Zustände 
nichts anderes sein können, als die oberflächliche und subjektive 


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Eugenio Rignano, 


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VI. 

Bevor wir diese kurzen Hinweise auf das Wesen der affektiven 
Neigungen beendigen, wollen wir noch einige uns notwendig 
scheinende Erwägungen hinzufligen Uber den Grundcharakter 
dieser Neigungen, vermöge dessen sie sozusagen eine Kraft dar¬ 
stellen, welche das zu erreichende Ziel angibt, aber den einzu¬ 
schlagenden Weg unbestimmt läßt. 

Diese Eigenschaft des Hinstrebens nach einem »Ziele«, während 
das »Mittel« dazu gleichgültig ist, verdankt eben die affektive 
Neigung dem Umstande, daß sie von dem Vorhandensein eines 
gewissen, in potentiellem Zustande befindlichen, allgemeinen oder 
partiellen, physiologischen Systems oder Zustandes abhängt, der 
schon in der Vergangenheit durch die Außenwelt in ihrer Gesamt¬ 
heit, oder durch einzelne, besondere Beziehungen zu dieser Außen¬ 
welt bestimmt wurde, und der nunmehr — sobald er einmal durch 
das Andauern oder durch das Wiedereintreten auch nur eines kleinen 
Teiles dieser Umgebung oder dieser Beziehungen zur Umgebung aus¬ 
gelöst wird — wie jede andere potentielle Energie einfach danach 
strebt, sich wieder zu betätigen. Denn das Vorhandensein dieser 
Neigung hat eben zur Folge, daß der Organismus nach dieser 
Umgebung oder diesen Umgebungsbeziehungen hin gravitiert, welche 
die Wiederbetätigung dieses physiologischen Zustandes ermöglichen; 
aber an sich bildet es durchaus keinen »Antrieb«, der vorzugs¬ 
weise die eine oder die andere Reihe vorübergehender physio¬ 
logischer Zustände oder Bewegungen hervorbringen könnte, die 
zwar allenfalls fähig sein können, den Organismus in die ge¬ 
wünschte Umgebung zurückzuführen, jedoch mit dem end¬ 
gültigen physiologischen Zustande nichts gemein haben. 

Nur wenn es einer Reihe von Bewegungen zufällig gelungen ist, 
früher als die anderen den Organismus in die gewünschten. Be¬ 
ziehungen zur Umgebung zurückzuführen, wird sie von diesem, 
aber nur von diesem Augenblick an den »Vorzug« vor den 


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Über die mnemon. Entstehung und die mnemon. Natur affekt. Neigungen. 31 


gewisse Reflexbewegungen gegenseitig treiben (Sherrington). 
Und erst von diesem Augenblick an werden diese Bewegungen 
— solange sie nicht in Gestalt von Reflexbewegungen mechanisch 
geworden sind — ausschließlich unter dem Drange des bezüg¬ 
lichen Affektes oder des gleichwertigen »Willensaktes« ins Leben 
gerufen werden. 

Solange dies aber noch nicht geschieht, zeigt der Affekt durch¬ 
aus keine Neigung, sich eher in die eine als in die andere Bahn 
zu entladen. Daher der große Unterschied zwischen der affek¬ 
tiven Neigung oder dem Willensakte auf der einen, und der Re¬ 
flexbewegung auf der anderen Seite. Letztere — bei der durch 
mnemoniscbe Akkumulation der so »gewählte« Akt, wenn er oft 
wiederholt wird, nach und nach mechanisch wird und sich vom 
Ganzen unabhängig macht — stellt ein Streben dar, sich längs 
einer einzigen gegebenen Bahn zu entladen, die schon vor dieser 
Entladung bestimmt ist. Sie ist eine Kraft, deren Angriffspunkt 
und Richtung schon im voraus bekannt sind; sie könnte also 
graphisch durch den üblichen Pfeil bezeichnet werden, mit dem 
man in der Mechanik die Kräfte darstellt. Die affektive Neigung 
dagegen bildet eine Kraft, bei der weder Angriffspunkt noch 
Richtung vorher bestimmt sind, sondern nur allein der Punkt, 
nach dem sie hinstrebt. Sie ist eine »verfügbare« Energie, die 
nach Belieben zu diesem oder jenem Akt gebraucht werden kann, 
wofern er an das gewünschte Ziel führt. Sie könnte daher ganz 
unbestimmt zugleich von irgendeinem der unendlich vielen Pfeile 
dargestellt werden, die den ganzen Inhalt eines Kegels füllen und 
nach dessen Spitze konvergieren. 

Die Reflexbewegung ist daher nur einer einzigen Lösung 
fähig. Dagegen ist die affektive Neigung, solange noch keine der 
möglichen Bewegungen zufällig schon ausgeführt worden ist und 
eine »Wahl« veranlaßt hat, oder wenn die zum Ziele führenden 
Wege mannigfach und einander ungefähr gleich sind, einer un¬ 
bestimmten, auch sehr großen Zahl von Lösungen fähig. 

Diese Fähigkeit vielfacher Lösungen bildet, eben das »Unvor- 


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32 


Eugenio Rignano, 


Endlich ist es diese charakteristische Grundeigenschaft der 
affektiven Neigung, gewissermaßen eine Kraft zu bilden, die nach 
derjenigen Umgebung oder denjenigen besonderen Beziehungen 
zur Umgebung hin gravitiert, welche die Wiederbetätigung ge¬ 
wisser, eben diese Neigung bildenden mnemonischen Akkumulationen 
gestatten, welche dieser Umgebung oder diesen besonderen Um¬ 
gebungsbeziehungen den Anschein einer »vis a fronte«, oder 
»finalen Ursache« verleiht, deren Wesen ganz verschieden von der 
in der anorganischen Welt allein wirkenden »vis a tergo« oder 
»aktuellen Ursache« ist 1 ). 

»Der Organismus«, sagt Jennings, »scheint nach einem be¬ 
stimmten Vorsatze zu handeln. Mit anderen Worten: das End¬ 
ergebnis seiner Handlung scheint gewissermaßen schon 
von Anfang an vorhanden zu sein, und das, was die Handlung 
sein soll, zu bestimmen. Hierin scheint die Handlung der leben¬ 
digen Dinge im Gegensatz zu der der anorganischen zu stehen 2 ).« 

Nun ist aber dieses Endergebnis seiner Handlung schon von 

Anfang an in Gestalt der mnemonischen Akkumulation vorhanden. 

! 

Jene Umgebung nämlich, oder jene besonderen Beziehungen zur 
Umgebung, nach denen hin das Tier gravitiert, wirken jetzt als 
»vis a fronte«, insoweit sie in der Vergangenheit »vis a tergo« 
waren, und insoweit die von ihnen damals im Organismus be¬ 
stimmten physiologischen Tätigkeiten von sich eine mnemonische 
Akkumulation hinterlassen haben, welche jetzt selber die wahre 
und wirkliche, das lebende Wesen bewegende »vis a tergo« bildet 3 ). 

Und so zeigt sich, daß ein und dieselbe Erklärung auf den 
gesamten »Finalismus« des Lebens anwendbar ist. 

Denn von der ontogonetischen Entwicklung an, die Organe 
schafft, welche erst im erwachsenen Zustand ihre Funktion er¬ 
füllen können, bis zur Eigenschaft überhaupt sämtlicher physio¬ 
logischer, durch gewisse Beziehungen zur Umgebung bestimmter 
Zustände, sich beim ersten Eintritt von Erscheinungen zu be¬ 
tätigen, die meist diesen Beziehungen vorhergehen, sie aber keines- 


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Uber die mnemon. Entstehung und die mnemon. Natnr affekt. Neigungen . 33 


der Organismus in seiner Gesamtheit an seine Umgebung morpho¬ 
logisch anpaßt, bevor diese noch ihre gestaltende Wirkung aus- 
tiben konnte, bis zu all den wunderbaren Bildungen und beson¬ 
deren Anlagen, die so richtig auf alle die wahrscheinlichsten 
Verhältnisse berechnet sind, denen dieser Organismus später aus¬ 
gesetzt sein könnte; von den einfachsten, mechanisch gewordenen 
Reflexbewegungen an, die schon im voraus so vorzüglich auf das 
Ziel der Erhaltung und des Wohles des Individuums gerichtet sind, 
bis zu all den komplexesten Instinkten, vermöge deren die Tiere 
sich schon vorher auf zukünftige Verhältnisse vorbereiten, die sie 
wahrscheinlich selbst nicht kennen; — alle diese »finalistischen« 
Lebenserscheinungen, die ihrem Wesen nach identisch sind, können, 
wie wir schon in unseren früher erwähnten Schriften gesehen 
haben, als ebenso viele Äußerungen rein mnemonischer Natur er¬ 
klärt werden. 

Und nun sehen wir in der gegenwärtigen Abhandlung, daß 
auch die affektiven Neigungen, die ja in noch hervorragenderem 
Maße »finalistische« Äußerungen sind, ebenfalls auf der mnemo- 
nischen Eigenschaft der lebendigen Substanz beruhen, also im 
letzten Grunde auf der Fähigkeit »spezifischer Akkumulation«, 
welche eine ausschließlich der dem Leben zugrunde liegenden 
nervösen Energie zukommende Fähigkeit ist. 

Die mnemonische Eigenschaft — die Fähigkeit »spezifischer 
Akkumulation« —, die der anorganischen Welt fehlt, sie daher in 
der ausschließlichen Gewalt der Kräfte »a tergo« läßt und ihr 
jeden finalistischen Charakter entzieht, ist dagegen in der orga¬ 
nischen Welt überall vorhanden und gestaltet sie zu einer beson¬ 
deren Schöpfung, die gerade in dem, was für sie am charakte¬ 
ristischsten ist, durch die Gesetze der Physik und Chemie allein, 
in dem ihnen heute beigelegten beschränkten Sinne, durchaus 
nicht erklärt zu werden vermag. 


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Bemerkungen zu der Mitteilung 
des Herrn A. Thierfelder »Eine Sinnestäuschung<. 

(In diesem Archiv, Bd. XIX, Heft 3/4, S. 553.) 

Von 

Ludwig Burmester (München). 


Diese »Sinnestäuschung«, bei der ein Uber einem Lampen¬ 
zylinder befindliches Flügelrädchen bald in dem einen, bald in 
dem anderen Sinne rotierend erscheint, gehört zu den geometrisch¬ 
optischen Gestalttäuschungen, deren Theorie und Literatur ich aus¬ 
führlich behandelt habe 1 ). Der Hinweis von Herrn Thierfelder, 
daß diese Erscheinung wohl ähnlich sei wie bei der Schroeder- 
schen Treppenzeichnung, die als Darstellung einer von oben oder 
von unten gesehenen Treppe aufgefaßt werden kann, ist nicht 
genügend, weil die Täuschung bei der Bewegung des Flügel¬ 
rädchens durch eine scheinbare Wendung seiner Drehungsebene 
im Raum erfolgt. Herr Thierfelder erwähnt richtig, daß bei 
schräger Ansicht durch Beobachtung des vorderen oder hinteren 
Teiles des Flügelrädchens die Drehung entgegengesetzt erscheint 
Schon im Jahre 1728 berichtet Robert Smith 2 ), daß wir 
uns zuweilen irren betreffs der Stellung eines Wetterhahnes oder 
einer Fahne, und auch betreffs der Drehung der Flügel einer 
Windmühle, indem wir den näheren Teil für den entfernteren 
halten, auch zuweilen nicht beurteilen können, in welchem Sinne 
die Lichter eines Kronleuchters gedreht werden. Dann beschreibt 
Sinsteden 3 ) 122 Jahre später die entgegengesetzte Drehung der 
Flügel einer Windmühle, was er schon oft als Knabe beobachtet 


1) Theorie der geometrisch-optischen Gestalttäuschungen. Zeitschrift 

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Uber Bekanntheits- und Unbekanntheitsqualität, 

Von 

E. Meumann (Leipzig). 


Bei Gedächtnisversuchen mit sinnlosen Silben, bei denen der 
Effekt des Behaltens nach der Treffermethode festgestellt wurde, 
machte ich vor einigen Jahren eine Beobachtung, die mir seitdem 
wiederholt bestätigt worden ist. Sie besteht im wesentlichen darin, 
daß die Unbekanntheitsqualität eines beliebigen akustischen oder 
optischen Komplexes von Eindrücken sich viel schärfer im Be¬ 
wußtsein markiert als die Bekanntheitsqualität; d. h. wir haben 
ein viel sichereres Bewußtsein davon, ob uns ein Eindruck unbe¬ 
kannt als ob er uns bekannt ist, oder, das Unbekanntsein von 
Eindrücken ist im Bewußtsein mit einem eigenartigen Index oder 
Charakter ausgestattet, der uns das Unbekannte sofort und un¬ 
mittelbar, ohne das Dazwischentreten einer Reflexion als solches 
erkennbar macht. 

Ohne auf die bekannte Diskussion über das Wesen der »Be¬ 
kanntheitsqualität« (Höffding) einzugehen, möchte ich in der folgen¬ 
den Mitteilung einige Beobachtungen anführen, die ich gegenwärtig 
weiter verfolge. Sie sollen nur den eigentümlichen Tatbestand der 
Bekanntheits- und der Unbekanntheitsqualität von Eindrücken 
etwas näher erläutern. 

Die erwähnten Versuche bestanden darin, daß das Wieder¬ 
erkennen sinnloser Silben geprüft wurde unter Anwendung der 
von mir so genannten Methode des fraktionierten Lernens. Solche 
Versuche lassen sich benutzen, um die einzelnen Stadien des 


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Uber Bekanntheits- und Unbekanntheitsqualität. 


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gelesene bekannt, mit Bestimmtheit oder nur vermutungsweise an¬ 
geben konnte. 

Um dabei eine objektive Kontrolle der Aussagen der Vp. zu 
erhalteu, führten wir noch die Variation der Versuchsbedingungen 
ein, daß der Vp. mitten unter den vorher gelesenen Silben neue, 
in der gelesenen Reihe nicht vorkommende Silben dargeboteu 
wurden; diese wurden iu unregelmäßiger Reihenfolge unter die 
vorher gelesenen Silben gemischt, die Vp. wußte nur, daß über¬ 
haupt unbekannte neben den vorher gelesenen Silben Vorkommen 
würden. (Das Verfahren war also keineswegs das Täuschungs¬ 
verfahren von Reut her.) 

Bei diesen Versuchen kommt nun die Vp. mit ihrem Versuch, 
die vorher dagewesenen Silben wiederzuerkennen, von der zweiten 
oder dritten Lesung an in ein eigentümliches Stadium des Wieder- 
erkennens. Nach der ersten Lesung allein werden in der Regel 
die neu eingeschobenen Silben nicht bestimmt von den schon ein¬ 
mal gelesenen unterschieden, es kommen Irrtümer vor, in dem 
Sinne, daß auch neue Silben mit unsicherer Vermutung als schon 
gelesene bezeichnet werden; überhaupt aber sind die neuen Silben 
durch kein sicheres inneres Kennzeichen von den schon 
gelesenen unterschieden. Anders nach der zweiten oder dritten 
Lesung. Nunmehr kommt es häufig vor, daß die Vp. bei der einen 
oder anderen der gelesenen Silben darüber im Zweifel ist, ob sie 
dagewesen war oder nicht, auch kommt es noch vor, daß sie eine 
gelesene Silbe als neu ‘bezeichnet, aber niemals wird nun eine 
neue Silbe als gelesen oder bekannt bezeichnet. 

Die unbestimmt wiedererkannten gelesenen Silben einerseits 
und die unbekannten neuen Silben andererseits erhalten gewisser¬ 
maßen einen psychischen Index, auf Grund dessen beide ganz 
sicher, wie mit unmittelbarer Gewißheit unterschieden werden. 
Während nun aber dieser Index bei den gelesenen Silben häufig 
versagt, die Vp. also unsicher ist, ob sie die Silbe als bekannt 
bezeichnen darf oder nicht, versagt er nie bei den neuen 
Silben. Sobald also die erelesenen Silben ein e-ewisses Maß von 


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38 


E. Meumann, 


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fllr das Bewußtsein mit erstaunlich viel größerer Bestimmtheit ab 
als die halb bekannten; diese erregen Zweifel, ob sie bekannt 
sind, jene werden unzweifelhaft als neu erkannt. 

Die Vp. wurden nun auch darüber gefragt, ob sie die inneren 
Kennzeichen, auf denen jene unsichere Bekanntheitsqualität und 
dieses sichere Erkennen des Neuen beruht, angeben könnten ? Die 
Beobachtungen einer der Vp. hierüber mögen hier wiedergegeben 
sein. 

Ganz dem entsprechend, daß sich die Unbekanntheitsqualität 
der Silben schärfer im Bewußtsein abhebt und unmittelbarer kund¬ 
tut als die im Übergang zur vollen Bekanntheit begriffene Be¬ 
kanntheitsqualität, läßt sich auch der psychische Zustand der Un¬ 
bekanntheitsqualität — wie ich ihn vorläufig nennen will — 
leichter analysieren als jener. Er kennzeichnet sich durch folgende 
Merkmale. 

1) Beim Lesen der neuen Silbe tritt eine Empfindung des 
Stockens und des Stutzens auf, die etwas vom Charakter 
eines schwachen Affektes, vielleicht eines sehr schwachen Schreck¬ 
affektes hat. Wenn die Vp. gerade innerlich gar nicht auf das 
Eintreten einer neuen Silbe gefaßt war, so ist dieser Zustand des 
Stutzens deutlich mit einer motorischen Stockung verbunden, 
es tritt eine Hemmung motorischer Art ein, ein Innervieren 
antagonistischer Muskelgruppen, z. B. Aufrichten und starres Auf¬ 
rechthalten des Halses und des Kumpfes, auch eine antagonistische 
Innervation der Beuger und Strecker der Arme, ein Stocken der 
Sprechbewegung, das deutlich der Aussage der Vp. über das 
Wiedererkennen der Silbe vorausgeht; es ist als wenn die Aussage 
sich erst aus dieser inneren Hemmung herausarbeiten müßte. 

2) Damit ist schon gesagt, daß dieser Zustand des Stockens 
keineswegs ein rein motorischer ist; auch der Ablauf der 
Vorstellnngstätigkeit ist momentan ein gehemmter. Und 
eben diese Hemmung im Ablauf der Vorstellungen (und natürlich 
auch der Aussage Uber das innerlich Erlebte) ist besonders deut¬ 
lich zu beobachten. 


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Tk n i • • 

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Über Bekanntheits- und Unbekanntheitsqualität. 


39 


zeichnet scharf das Nene gegenüber dem Bekannten. Man darf nicht 
glauben, die Vorstellungstätigkeit, die sich an das Lernen sinn¬ 
loser Silben anknüpft, sei so gering, daß sich ein solcher Zustand 
der Unterbrechung des Vorstellens nicht kenntlich machen könnte! 
Die Auffassung selbst eines so einfachen Materials wie die sinn¬ 
losen Silben ist mit einer mannigfachen Reproduktionstätigkeit 
(Apperzeptionstätigkeit) verbunden. Über die Natur dieser Pro¬ 
zesse werde ich übrigens in kurzem weitere Mitteilungen machen. 

4) Mit den bisherigen Merkmalen dieses Erlebens der Un¬ 
bekanntheitsqualität verbindet sich häufig, wahrscheinlich immer, 
ein eigentliches Gefühl der Unlust, meist gekennzeichnet 
durch bestimmte Organempfindungen, die die Vp. in den Nacken 
oder in die Magengegend verlegt. 

5) Ein weiteres Kennzeichen des Neuen und Unbekannten ist das 
Ausbleiben der gewohnten Vorstellungsreproduktionen. 
Alle Vorstellungen und Eindrücke, die unser Bewußtsein passieren, 
lösen für gewöhnlich Reproduktionen anderer Vorstellungen aus. 
Sie reihen sich dadurch in den Prozeß des psychischen Geschehens 
anstandslos ohne besondere Stockungen ein. Das Neue und Un¬ 
bekannte löst im ersten Moment keine Vorstellungsreproduktioneu 
aus. Es tritt ein Moment der Arretierung der intellektuellen Pro¬ 
zesse ein, der erst wieder überwunden werden muß, indem wir 
anfangen, uns mit dem neuen Eindruck genauer zu beschäftigen. 

Bei den sinnlosen Silben ist es im wesentlichen das Ausbleiben 
der Urteile und Aussagen »bekannt«, das Ausbleiben schwacher 
Reproduktionen, die von einzelnen Partialeindrücken ausgehen, 
wie vom Klang und der Schreibweise der Silben, was uns die 
neuen als neu erkennen läßt. 

Von allen diesen Merkmalen trägt nun der Zustand des Er¬ 
lebens der Bekanntheitsqualität keine Spur. Die ersten Symptome 
des Bekanntwerdens der Silben bestehen in einem Wiedererkennen, 
das den Charakter der reinen Vermutung an sich trägt: die Be¬ 
kanntheitsschwelle wird erreicht oder die Bekanntheitsqualität 


erreicht die Schwelle, d. h. jene inneren Kennzeichen, die das Be¬ 
kannte als solche kennzeichnen, werden allmählich so stark, daß 


sie eben zum Bewußtsein kommen. Nun tritt häufig der von 


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40 E. Meumann, 

nicht ihrer Nachbarsilbeu, ja man weiß oft nicht einmal, ob die 
Silbe überhaupt in der soeben vorangegangenen Lesung da war, 
sondern sie ist »überhaupt bekannt«. Dieser letztere Zustand geht 
wieder durch mehrere Grade oder Stadien hindurch, die ich im 
folgenden zu bezeichnen versuche: 

1) Das erste und Unmittelbarste, das man au den be¬ 
kannten Silben wahrzunehmen glaubt, ist der leichtere Ablauf 
der psychischen Prozesse, die mit der Aufnahme der schon 
einmal gelesenen Silben verbunden sind; wir fassen diese Silben 
leichter auf, die Wahrnehmung als solche ist erleichtert und ebenso 
die Aussprache der Silbe. Die Art und Weise, wie wir das wahr¬ 
nehmen, ist, zum Teil wenigstens, eine rein zeitliche: die schon 
einmal gelesenen Silben werden zeitlich schneller aufgefaßt und 
ausgesprochen wie die noch nicht gelesenen neuen. 

2) Dieser leichtere Ablauf des psychischen Geschehens bei dem 
Bekannten vollzieht sich aber auch in Begleitung charakte¬ 
ristischer Gefühle und Organempfindungen, die (als Formal¬ 
gefühle im Sinne von Jo dl) durch die Art des Ablaufs der 
psychischen Prozesse erregt werden. Sie tragen den Charakter 
von schwachen Lustgefühlen und von Empfindungen der Ent¬ 
spannung im Gegensatz zu den Empfindungen vermehrter Spannung 
beim Eintritt des Unbekannten. 

3) Das Bewußtsein des leichteren Ablaufs der psychischen Pro¬ 
zesse beruht aber jedenfalls auch auf einem verschiedenen Ver¬ 
halten der Aufmerksamkeit gegenüber dem Bekannten und dem 
Unbekannten. Hier wird die Aufmerksamkeit intensiv in Anspruch 
genommen, lebhaft gefesselt, ein höherer Grad von willkürlicher 
Aufmerksamkeitsspannung wird durch den unbekannten Eindruck 
erforderlich gemacht. Das relativ Bekannte hingegen beschäftigt 
auch die Aufmerksamkeit weniger, wir gleiten mit einem geringeren 
Maße von Aufmerksamkeitsspannung leichter darüber hinweg und 
gehen leichter weiter zu etwas anderem Uber. Beide Verhaltungs¬ 
weisen der Aufmerksamkeit sind zugleich häufig (vielleicht sogar 


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Über Bekanntheits- und Unbekanntheitequalität. 


41 


Ausbleiben der gewohnten Reproduktionen. Ganz dem entsprechend 
kennzeichnet sich das Bekannte durch das reguläre Eintreten von 
reproduzierten Vorstellungen, die sich an den Gesamteindruck oder 
an Partialeindrücke der Silben anknllpfen. Man kann diese bis¬ 
weilen nur ganz unbestimmt auftauchenden Reproduktionen oft nur 
mit einiger Mühe auffinden; werden sie bestimmter, so tritt ein 
deutlicher, auf bestimmte Kriterien gestützter Identifizierungs¬ 
prozeß ein, man sagt sich z. B.: diese Silbe muß dagewesen sein, 
denn ich erinnere mich an ihren Vokal oder au die Zusammen¬ 
stellung eines der Konsonanten mit dem Vokal oder daran, daß 
der visuelle Eindruck der Silbe zwei Oberlängen in den Konso¬ 
nanten enthielt usw. Aber diesem bestimmten Identifizieren der 
Silben auf Grund deutlich bewußter Kennzeichen geht oft voran 
ein nur dunkel bewußtes Auftauchen von Merkmalen, Kennzeichen, 
an denen das Urteil »bekannt«, richtiger »schon dagewesen«, 
seine Stütze findet. Diese halb oder dunkel bewußten Elemente, 
die man sich nicht selten mit einiger Mühe nachträglich zum Be¬ 
wußtsein bringen kann, machen einen Teil des scheinbar ganz un¬ 
mittelbar erfolgenden Wiedererkennens aus. 

Es ist geradezu der Nichteintritt des das Unbekannte charak¬ 
terisierenden Ausbleibens aller Vorstellungsreproduktionen, was 
das schon einmal Erlebte kennzeichnet. 

5) Man kann vielleicht noch einen Grund für das Eintreten 
des Urteils des »Schoudagewesenen« anführen. Bisweilen hat 
man den Eindruck, daß der Akt der Bekannterklärung (das Urteil: 
das ist schon dagewesen) unmittelbar und ohne jeden ins Be¬ 
wußtsein fallenden Grund eintrete. In diesem Falle scheinen 
alle jene erwähnten psychischen oder ins Bewußtsein fallenden 
Kennzeichen des Bekannten zu fehlen, und doch tritt das 
Urteil mit einer gewissen unmittelbaren Sicherheit auf (nicht 
mit »Gewißheit«, sondern mit Sicherheit). Natürlich ist es immer 
möglich, daß man in solchen Fällen das eine oder andere innere 
Zeicheu des Bekannten nicht beachtet hat, ganz besonders mag 
das von den erwähnten Gefühlen und Onranemnfindniuren selten. 


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42 


E. Meumann, 

sich das erklären aus der schwachen »Bahnung«, die tatsächlich 
stattgefunden hat, und die nun in den kortikalen Parallelprozessen 
des psychischen Geschehens den Parallelvorgang der Reproduktion 
der Vorstellung »bekannt« auslöst. Psychologisch können wir uns 
nicht anders helfen als mit der Annahme, daß ein faktisch ein¬ 
mal dagewesener Eindruck die Fähigkeit erhalten kann, das Urteil 
oder die Vorstellung »bekannt«, »schon dagewesen« zu reprodu¬ 
zieren, ohne daß ins Bewußtsein fallende Kennzeichen dabei mit- 
wirken. 

Wahrscheinlicher ist aber die Annahme, daß schon ein Mini¬ 
mum von dunkel bewußten Kriterien dazu genügt, um die Vor¬ 
stellung des Bekannten auszulösen, und daß diese auslösenden 
Prozesse keineswegs in bestimmten, mit auftauchenden und an den 
Inhalt der Vorstellung anküpfenden Vorstellungen zu bestehen 
brauchen, sondern daß dazu genügen solche Vorgänge wie die er¬ 
wähnten Formalgefühle und Organempfindungen oder motorischen 
Begleitvorgänge. — 

Bemerkenswert ist auch noch, daß die sorgfältige Beobachtung 
der verschiedenen Stadien des »Wiedererkennens« den Beobachter 
zu der Ansicht zwingen muß, daß die Ausdrücke »Wiedererkennen« 
und »Bekanntheitsqualität« auf die elementarsten Stadien dieses 
Prozesses der Bekanntheitserklärung gar nicht zu passen scheinen. 
Denn in jenem Stadium des »Wiedererkennens«, in welchem wir 
uns nur dunkel gewisser Kennzeichen für das schon Dagewesene 
erinnern (nämlich in der unmittelbar nach der Darbietung der 
Silbe angestellten rückblickenden Erinnerung an das soeben Er¬ 
lebte), haben wir eher das Bewußtsein der Unbekanntheit wie das 
der Bekanntheit der Silbe, wir schwanken eben deshalb mit 
unserem Urteil und geben es nur mit dem Zusatz »ungewiß« ab; 
die Silbe hat gewissermaßen ebenso ein Recht auf Bekanntheits- 
wie auf Unbekanntheitserklärung. Man faßt den Sinn seines Ur¬ 
teils so auf, daß man erklären will: die Silbe ist faktisch 
schon dagewesen, aber »bekannt« erscheint sie mir nicht. 


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Über Bekanntheits- and Unbekanntheitsqualität. 


43 


werden in der Verwendung solcher dunkel bewußter Kriterien der 
Bekanntheit, »der schon Erlebtheit« der Silben. Alle solche Kri¬ 
terien lernen wir erst durch Erfahrung darauf hin deuten, daß sie 
uns die Bekanntheit, richtiger wieder »das schon Dagewesensein« 
der Silben anzeigen. Deutlich bemerkt man im Lauf der Ver¬ 
suche, daß einige dieser Kennzeichen uns schon geläufig sind, 
andere weniger, andere erst im Zusammenhang mit den übrigen 
schon relativ bekannten Kriterien erlernt werden. Auch daß das 
Wiedererkennen durch Übung zunimmt, ist am einfachsten durch 
die zunehmende Sicherheit in der Verwendung gewisser Kenn¬ 
zeichen des »Schondagewesenen« zu erklären; übrigens läßt 
dieser Prozeß sich auch direkt beobachten. 

Diese Beobachtungen werfen nun auch manches Licht auf das 
Problem der »unmittelbaren« Bekanntheit, die beim unmittelbaren 
Wiedererkennen den Akt des Urteils: »das ist bekannt« zu ver¬ 
ursachen scheint. In den meisten Fällen dürfte diese Unmittel¬ 
barkeit gar nicht bestehen, sondern als Vermittler des Urteils oder 
der Vorstellung der Bekanntheit sind dann wohl dunkel bewußte 
Formalgefühle, veranlaßt durch die Art des Ablaufs der psychischen 
Prozesse, vorhanden, ebenso die anderen oben erwähnten Kriterien, 
die nicht den Charakter bestimmter, an den wiedererkannten 
Eindruck anschließender Vorstellungen tragen. Diese haben wir 
durch tausendfältige Erfahrung daraufhin zu deuten gelernt, daß 
sie nur bei schon dagewesenen Eindrücken auftreten und als 
Kennzeichen des Erlebtsein dienen können. Wie alle fest er¬ 
lernten Gewohnheitskriterien kommen sie uns aber nicht als solche 
zum Bewußtsein. Zugleich aber hebt sich das wirklich Unbe¬ 
kannte mit solcher Schärfe (auf Grund der erwähnten psychischen 
Indices des Unbekannten) in unserem Bewußtsein ab, daß das 
Bekannte nicht leicht mit ihm verwechselt wird. 

Beachtet man nun die oben zusammengestellten Merkmale 
des Bekannten und des Unbekannten, so dürfte das »unmittelbar 
Wiedererkannte« alle jene Merkmale des schon Erlebten, die wir 
oben aufzählten, besitzen, außer den bestimmten, an die 
wiedererkannte Vorstellung, d. h. an ihren Inhalt anknüpfenden 


renrndnzierten Vorstftllnno-An 

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-zutriA.ip.b fp.hlen ihm die charak- 

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44 E. Meumann, Über Bekanntheits- und Unbekanntheitsqualität. 

einreiht. Es erfährt vielmehr statt dessen eine Mittelstellung 
zwischen dem widerstandslosen, ohne alle Stockungen erfolgenden 
Einreihen in den Verlauf der Vorstellungen, der bei dem Bekannten 
stattfindet und zwischen jenem Stocken der Vorstellungstätigkeit bei 
dem schlechthin Neuen; dieser Zustand kennzeichnet sich dann in 
der Unsicherheit unseres Urteils über die Bekanntheit des Eindrucks. 
Über dieses Stadium des als Schoudagewesenerklärens erhebt 
sich dann jenes unmittelbare Wiedererkennen, bei dem alle die er¬ 
wähnten Kennzeichen des schon Erlebten vorhanden sind, ohne die 
bestimmten, der Identifikation dienenden inhaltlichen Vorstellungen, 
wobei aber das Schwanken des Urteils nicht eintritt, vielleicht weil 
diese psychischen Indices des Schondagewesenen jetzt intensiver 
wirken. Jene psychischen Indices des Schondagewesenen bewirken 
dabei faktisch die Reproduktion der Vorstellung (der Aussage, 
des Urteils) »bekannt«, werden aber nicht als Kriterien der Be¬ 
kanntheit des Eindrucks aufgefaßt und auf ihn bezogen. So ent¬ 
steht dann der Schein eines unmittelbaren Wiedererkennens, das 
aber in Wahrheit ein in ganz bestimmt nachweisbarer Weise ver¬ 
mitteltes ist. Durch wiederholtes Erleben und unmittelbare Er¬ 
innerung an den Vorgang dieses Wiedererkennens können wir uns 
solche Indices zum Bewußtsein bringen. 

Das unmittelbare Wiedererkennen wäre danach ein Bewußtsein 
des schon Erlebten, das vermittelt wird ohne inhaltlich bestimmte, 
an den Inhalt des als schon erlebt bezeichneten Eindrucks an- 
knüpfende reproduzierte Vorstellungen, das vielmehr ausgeht von 
lauter »formalen« Kriterien, die sich an die Art des Ablaufs der 
psychischen Prozesse des schon Erlebten anknüpfen; diese Kenn¬ 
zeichen formaler Art lassen sich durch Beobachtung im einzelnen 
feststellen, sie sind durch Erfahrung als Kennzeichen des schon 
Erlebten erworben worden, sie sind der Verfeinerung (Vervoll¬ 
kommnung) durch Übung fähig, vielleicht werden sie durch die 
Übung auch vermehrt; durch sie hebt sich das unmittelbar Be¬ 
kannte scharf ab von dem im Bewußtsein durch besondere deut- 


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Eine Bemerkung über die Methode der ebenmerk¬ 
lichen Unterschiede, 

Von 

F. M. Urban (Philadelphia, Pa., U. S. A.). 


In Versuchsreihen nach dieser Methode finden sich häufig so¬ 
genannte Verkehrtheiten, die von manchen Forschern als sehr 
störend empfunden wurden. Um den hierdurch entstehenden 
Schwierigkeiten auszuweichen, wurde vorgeschlagen, die Versuchs¬ 
reihen zur Bestimmung eines ebenmerklichen (bzw. ebenunmerk¬ 
lichen) Unterschiedes über diesen Punkt hinaus fortzusetzen und 
eine Bestimmung nur dann als gültig anzusehen, wenn sie mit 
diesen Kontroll versuchen Ubereinstimmt 1 ). Sanford hat diese Be¬ 
stimmung noch weiter dahin spezifiziert, daß ein oder zwei 
Kontroll versuche vorzunehmen sind 2 ). Es handelt sich in dieser 
Vorschrift um eine der Praxis entstammende Vorsichtsmaßregel, 
deren Hauptschwäche darin besteht, daß man sie nicht theoretisch 
begründen kann. Dieser Umstand wurde bereits von Foucault 3 ) 
und Titchener 4 ) hervorgehoben. 

Der Zweck dieser Kontrollversuche kann offenbar ein dop¬ 
pelter sein: entweder man beabsichtigt in dieser Weise grobe 
Versehen in der Bestimmung der Schwellen zu entdecken oder 
man bezweckt eine Elimination zufälliger Fehler. Es besteht nun 


1,' W. Wandt, Physiologische Psychologie. 6. Aafl. Bd. 1. S. 690. 

2] E. C. Sanford. A Course in Experimental Psychology. Bd. 2. 1898. 

S. 344: »The first stage might end here, but it is considered better to in- 
crease the variable Stimulus once or twice more in order to guard the eub- 
ject against a merely accidental impression tliat a perceptible differenee bas 
been reached, thougli no record is made of the differences used unless it is 

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46 


F. If. Urban, 


kein Zweifel, daß der erstere Zweck durch die in Rede stehende 
Vorsichtsmaßregel erreicht wird und daß hierdurch die Methode 
der ebenmerklichen Unterschiede an Brauchbarkeit gewinnt. Daß 
eine Elimination zufälliger Fehler in dieser Weise nicht erreicht 
werden kann, ist unmittelbar klar, da man ja in keiner Weise 
darüber Auskunft gewinnen kann, oh nicht die Kontrollversuche 
von zufälligen Fehlern beeinflußt sind. Eine Übereinstimmung 
der ursprünglichen Bestimmung mit den Kontrollversuchen ist des¬ 
halb ebensowenig eine Sicherstellung des Resultates gegen zu¬ 
fällige Fehler, als ein Mangel an Übereinstimmung als zwingender 
Nachweis angesehen werden kann, daß die ursprüngliche Bestim¬ 
mung fehlerhaft sei. Hierzu kommt, daß die Beschränkung auf 
irgendeine bestimmte Zahl von Kontrollversuchen willkürlich ist, 
da ja nicht einznsehen ist, warum man bei irgendeiner bestimmten 
Zahl von Versuchen stehen bleiben soll. Soweit also eine Eli¬ 
mination der zufälligen Fehler in der Bestimmung der Schwellen 
beabsichtigt ist — und um eine solche handelt es sich in den 
meisten Fällen —, so erscheint diese Regel als eine willkürliche 
und wesentlich zwecklose Festsetzung. 

Man kann aber kaum in Abrede stellen, daß der Gedanke, die 
Verläßlichkeit der einzelnen Schwellenbestimmung durch Fort¬ 
setzung Uber den Punkt, wo das Urteil umschlägt, zu erhöhen, 
etwas Bestechendes habe. Bei Befolgung dieser Regel will man 
sich offenbar vor dem Auftreten von Verkehrtheiten in der Reihe 
der abgegebenen Urteile schützen. Man unterwirft also die eben- 
merklichen Unterschiede der Bedingung, daß über sie hinaus nur 
extreme Urteile der einen Art Vorkommen sollen, während als 
ebenunmerkliche Unterschiede jene Vergleichsreize zu gelten haben, 
Uber die hinaus extreme Urteile der einen Art überhaupt nicht 
mehr Vorkommen. Der ebenmerkliche positive Unterschied ist 
also nicht als der kleinste Reiz einer Reihe definiert, auf welchen 
das Urteil größer abgegeben wurde, sondern als der kleinste Ver¬ 
gleichsreiz, auf welchen das Urteil größer abgegeben wurde. 


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Eine Bemerknng über die Methode der ebenraerklichen Unterschiede. 47 


gegeben wurde, während zugleich in dieser Versuchsreihe auf 
keinen der Vergleichsreize kleinerer Intensität das Urteil größer 
abgegeben wurde. Die Definitionen des ebenmerklichen und des 
ebenunmerklichen negativen Unterschiedes sind in ähnlicher Weise 
abzuändern. 

Es ist sehr wahrscheinlich, daß der Wunsch, sich von der 
Abwesenheit von Verkehrtheiten in der Urteilsabgabe zu über¬ 
zeugen, die Veranlassung zur Aufstellung dieser Regel gab. Zu¬ 
nächst muß man bedenken, daß es sich hier um eine durchaus 
der Praxis entstammende Regel handelt, die man nicht aufgestellt 
hätte, wenn sich nicht mit ihr ein bestimmtes Ziel erreichen ließe. 
Setzt man die Versuche nach Erreichung eines ebenmerklichen 
positiven Unterschiedes mit Vergrößerung der Reizdifferenz in der¬ 
selben Richtung fort, so besteht in den folgenden Versuchen, 
wenn die Schritte, mit welchen man sich der Schwelle näherte, 

nicht allzu klein waren, im allgemeinen eine den Betrag y über¬ 
steigende Wahrscheinlichkeit flir die Abgabe des Urteiles »größer«. 
Die Wahrscheinlichkeiten des Urteiles »größer« wachsen in der 
Umgebung jenes Wertes, für welchen die psychometrische Funktion 

den Wert y annimmt, sehr rasch, und cs besteht dementsprechend 

eine nur geringe Wahrscheinlichkeit dafür, daß auf eine Anzahl 
von »größer«-Urteilen bei weiterer Vergrößerung des Reizunter¬ 
schiedes ein »kleiner« oder »gleich«-Urteil folge. Bei den meisten 
Versuchen nach der Methode der ebenmerklichen Unterschiede 


sind die Schritte, mit denen man sich der Schwelle nähert, ver¬ 
hältnismäßig groß, und deshalb gibt das Vorhandensein einer 
kurzen, aber ununterbrochenen Reihe von »größer«-Urteilen dem 
Erscheinen eines anderen Urteiles in den späteren Teilen der Ver¬ 
suchsreihe eine nur geringe Wahrscheinlichkeit. Es dürfte also 
die Beobachtung, daß eine Reihe von zwei oder drei extremen 
Urteilen der einen Art nur selten von einem anderen Urteile ge¬ 


folgt ist, die Veranlassung zur Aufstellung dieser Regel gegeben 
haben. Der Grund, warum sich diese Regel, die scheinbar mehr 
oder weniger willkürlich ist, in der Praxis bewährt, ist einesteils 




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48 


F. M. Urban, 


Wir wollen nun untersuchen, ob die bei Anwendung dieser 
Vorsichtsmaßregel gewonnenen Resultate mit jenen in irgendeiner 
Beziehung stehen, die nach der Methode der ebenmerklichen Unter¬ 
schiede in ihrer ursprünglichen Form erhalten werden. Wir geben 
nur die Analyse des Resultates, das als Bestimmung der Schwelle 
in der Richtung der Zunahme gewonnen wird, da sich dieselben 
Überlegungen ohne weiteres auf die Analyse der Schwelle in der 
Richtung der Abnahme übertragen lassen. Wir betrachten eine 
Reihe von nach der Größe geordneten Vergleichsreizen r lf r 2 ... r n , 
die beim Vergleiche mit dem Hauptreize r durch eine bestimmte 
Vp. und unter genau bestimmten Versuchsbedingungen der Ab¬ 
gabe des Urteiles »größer« die Wahrscheinlichkeiten pi , p 2 ... p n 
geben. Die Wahrscheinlichkeiten, daß entweder das Urteil »kleiner« 
oder das Urteil »gleich« abgegeben werde, sind dementsprechend 
7 , = 1 — />!, q 2 = 1 — p 2 , ... q n = l — p n . Bei Verwendung 
dieser Reihe von Vergleichsreizen hat jener Vergleichsreiz als Be¬ 
stimmung des ebenmerklichen positiven Unterschiedes zu gelten, 
der der kleinste Vergleichsreiz ist, von dem angefangen keine 
anderen als »größer«-Urteile abgegeben wurden. Es sei r k dieser 
Reiz. Aus der Definition eines ebenmerklichen Unterschiedes folgt, 
daß r k -! als kleiner oder gleich dem Hauptreize beurteilt wurde, 
während auf alle Vergleichsreize r k +1 , r k + 2 , ... r u das Urteil 
»größer« abgegeben wurde. Das Erscheinen eines Vergleichsreizes 
als Bestimmung des ebenmerklichen positiven Unterschiedes ist 
also ein zusammengesetztes Ereignis, dessen Wahrscheinlichkeit 
aus den Wahrscheinlichkeiten des Urteiles »größer« für die ver¬ 
wendeten Intensitäten des Vergleichsreizes bestimmt werden kann. 
Es sei Pk die Wahrscheinlichkeit, daß bei Verwendung der Reihe 
von Vergleichsreizen r,, r 2 , ... r n der Reiz r k als Bestimmung 
des ebenmerklichen positiven Unterschiedes erhalten werde, so ist 

1 n == Pn Qn — 1 

Pn — 1 == Pn Pn — 1 — 2 


Pr —PnPn -1 ... P*Pr<l\ 

P\ — Pn Pn - 1 . . . 2h Pi ■ 

j? _ T7i _ i_ _ :i j _t-> i vir c nr\n J_ k l 

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Eine Bemerkung über die Methode der ebenmerklichen Unterschiede. 49 


Unterschiedes bei Anwendung dieser Regel gleich ist der Wahr¬ 
scheinlichkeit des Erhaltens des Vergleichsreizes als Be¬ 

stimmung des ebenunmerklichen positiven Unterschiedes nach dem 
ursprünglichen Verfahren der Methode der ebenmerklichen Unter¬ 
schiede. Daß diese beiden Werte einander entsprechen müssen, 
kann man leicht an einem Beispiele erkennen. Es seien auf die 
Vergleichsreize r,, r 2 , r 3 , r 4 , r 5 , r 6 , r 7 bei dem Vergleiche mit 
dem Hauptreize r der Reihe nach die Urteile »kleiner«, »gleich«, 
»gleich«, »größer«, »gleich«, »größer«, »größer« abgegeben worden. 
Es hat dann r 6 als Bestimmung des ebenmerklichen positiven 
Unterschiedes nach der hier in Rede stehenden Regel genommen 
zu werden, weil es der kleinste Vergleichsreiz ist, von dem an 
keine anderen als »größer«-Urteile Vorkommen. Definieren wir 
aber den ebenunmerklichen positiven Unterschied als den größten 
Vergleichsreiz, auf den ein anderes als ein »größer«-Urteil abge¬ 
geben wurde, so hat r b als Bestimmung dieser Größe genommen 
zu werden. Der Unterschied zwischen diesen beiden Resultaten 
ist gleich dem Intervalle zwischen r b und ?* 6 , und wir werden 
deshalb erwarten dürfen, daß bei Verwendung von äquidistanten 
Vergleichsreizen der Unterschied zwischen den Resultaten nach 
den beiden Verfahren in Beziehung zu der Länge dieses Inter¬ 
valles stehen wird. Behufs näherer Untersuchung dieser Beziehung 
betrachten wir die wahrscheinlichen Werte dieser beiden Größen. 
Diese sind 

T =r i P i +r 2 P 2 + ... + r n P n 

und 

T = r A P\ -f- r 2 P 2 -f-... + T n P' n 


l 


in Übereinstimmung mit der Formel a. a. 0. S. 307. Der Unter¬ 
schied dieser beiden Größen beträgt 

T - T = r, [1\ - + d [jV P k — In — 1) j . 

In dieser Formel sind die Größen P 4 und q n sehr klein, weshalb 
auch die Summe der P* von k = 2 bis k — n sich nur wenig von 
der Einheit unterscheiden wird. D» P\ — 7 ,-. i™ allgompinor. 
negativ sein wird, so hat man 


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50 F. M. Urban, 

in derselben Art durch. Jener Vergleichsreiz r k hat als Bestim¬ 
mung dieser Größe genommen zu werden, von dem an in einer 
absteigenden Reihe keine »größer«-Urteile mehr Vorkommen. 
Hieraus folgt, daß r k + 1 als größer als der Hauptreiz beurteilt 
wurde, auf die Vergleichsreize r k , r*_i, ... r, aber nur die Ur¬ 
teile »kleiner« oder »gleich« abgegeben wurden. Bezeichnen wir 
die Wahrscheinlichkeit, daß der Vergleichsreiz r k nach dieser 
Regel als Bestimmung des ebenunmerklichen Unterschiedes er¬ 
halten werde, mit Q k , so ist 

Qi = q\ Pi 

Qi = Q\ ( li Pi 


Qn—i — q j qi • • • qn—iPn 

Qn = (?1 • 

Diese Beziehungen entsprechen den am a. a. 0. S. 291 gegebenen 
Formeln für die Wahrscheinlichkeiten, daß ein Reiz als Bestim¬ 
mung des ebenmerklichen Unterschiedes ohne Anwendung der in 
Rede stehenden Regel erhalten werde. Bezeichnen wir die 
letzteren Wahrscheinlichkeiten mit Q ' k , so ist allgemein 

Qk = Qk +1 • 

Die Richtigkeit dieser Beziehung erkennt man auch an dem obigen 
Beispiele, in dem ?* 4 bzw. r 3 Bestimmungen der hier besprochenen 
Größen sind. 

Wir wenden uns nun zur Untersuchung der Größen 


S — r \ Q\ + r i Qi + • • • 4 ~ r n Qn 

und 

S — r \ Ql + r i Q'l + • • • + r n Qn } 

die die wahrscheinlichen Werte des ebenmerklichen bzw. eben¬ 
unmerklichen positiven Unterschiedes sind. Für ihre Differenz 
findet sich 


s — s ' = — r \ [Pi — Qn) —d Qk — n Q n J . 


Aus denselben Gründen wie oben sind hier die Größen p x und Q u 
sehr kiein, und p x ist im allgemeinen größer als Q tn so daß mau 


schreiben kann 

Gck >gle 


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Eine Bemerkung Uber die Methode der ebenmerklichen Unterschiede. 51 


liehen positiven Unterschiede genommen, und es ist zu untersuchen, 
in welcher Weise sich die mit den beiden Verfahren gewonnenen 
Endresultate voneinander unterscheiden. Um den Einfluß der 
Vorsichtsmaßregel abzuschätzen, bilden wir die Differenz der beiden 
Resultate, für die wir finden 

~2 - = 2 ^ -*)■ 

Da e und «' nur sehr klein und positiv sind, so unterscheiden sich 
die beiden Resultate nur sehr wenig voneinander. Hieraus folgt, 
daß dieVerwendung dieser Vorsichtsmaßregel das Endresultat der 
Methode der ebenmerklichen Unterschiede nicht wesentlich beein¬ 
flußt und daß man deshalb erwarten darf, daß bei Verwendung 
einer größeren Anzahl von Bestimmungen mit verschiedenen 
Reihen von Vergleichsreizen das Mittel aus allen Beobachtungen 
jenen Vergleichsreiz bestimmen wird, der der Abgabe eines 

>größer«-Urteiles die Wahrscheinlichkeit gibt. 

Das von Wundt und Sanford empfohlene Verfahren hat also 
die charakteristischen Eigenschaften einer Vorsichtsmaßregel, da 
es dienlich ist, um Irrtlimern oder Versehen auf die Spur zu 
kommen, den Wert der zu bestimmenden Größen aber unbeein¬ 
flußt läßt. Man wird deshalb diese Maßregel in allen jenen 
Fällen mit Vorteil anwenden, wo die Methode der ebenmerklichen 
Unterschiede in ihrer traditionellen Form verwendet wird. Falls 
man aber die Resultate von Vollreihen nach dem Rechenverfahren 
der Methode der ebenmerklichen Unterschiede auswerten will, ist 
es gleichgültig, ob man die ursprünglichen oder die hier be¬ 
sprochenen Definitionen der ebenmerklichen und ebenunmerklichen 
Unterschiede verwendet. 


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Zur erkenntnistheoretischen und mathematischen 
Begründung der Maßmethoden für die Unterschieds¬ 
schwelle, 

(Kritische Betrachtungen Uber F. M. Urbans Behand¬ 
lung der Methode der ebenmerklichen Unterschiede und 
Gr. F. Lipps’ Verwertung der Gleickheitsfalle.) 

Von 

W. Wirth (Leipzig). 

iMit 5 Figuren im Text.) 


Inhalt des I. und II. Teiles. s.it« 

I. Das Wesen des Schwellenbegriffes.53 

1) Urbans und Lipps’ Stellung zur SchwellenhypotheBC.53 

2) Der hypothetische Charakter des Schwellenbegriffes.64 

3) Die Unbestimmtheit der realen Abhängigkeitsbeziehung zwischen 

der oberen und unteren Schwelle innerhalb des tatsächlichen 
Beobachtungsraateriales.73 

II. Zur Methode der ebenmerklichen Unterschiede.74 


1) Die Methode der Minimaländerungen als spezielle Form der Ab¬ 

leitung sogenannter Vollreihen.— Urbans Rückkehr zur Sonder¬ 
behandlung ihres Beobachtungsmateriales mittels der Begriffe des 
ebenmerklichen und des ebenunmerklichen Unterschiedes .... 74 

2) Die Verschiedenheit des Wertes r (@. SW.) von r ((£) ohne Voraus¬ 
setzung spezieller Verteilungsgesetze.79 

3) Die Bedeutungslosigkeit des Wertes r (S. SW.) als des bloßen 

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Znr erk. n. math. Begründung d. Maßmethoden f. die Unterechiedsschwelle. 53 


I. Das Wesen des Schwellenbegriffes. 


1) Urbans and Lipps’ Stellung zur Schwellenhypothese. 

a) Eine systematische Analyse der Relationserkenntnis wird 
ihr empirisches Material aus dem Gebiete der Sinneswahrnehmung 
jederzeit am besten in der Form sogenannter »vollständiger 
Reihen« (Vollreihen) aufnehmen, welche die Abhängigkeit des 
Vergleichsurteiles von der Abstufung eines variablen Vergleichs¬ 
reizes V bei konstantem »Normal«- oder »Hauptreiz« N (oder H) 
ohne spezielle Voraussetzungen über die Wirkungsform der zu¬ 
fälligen Nebeneinflüsse unmittelbar überschauen lassen. Dabei 
ordnet man die auf die einzelnen Stufen r t , r t ... r n von V 
abgegebenen Urteile am einfachsten in drei Hauptklassen, je nach¬ 
dem die Eigenschaft, hinsichtlich deren man vergleicht, bei V in 
höherem, in gleichem oder in geringerem Grade vorhanden zu sein 
schien als bei N. Bezeichnen wir diesen Grad fernerhin einfach 
selbst mit F, bzw. N, so sind also »größer«, »gleich« (unbestimmt, 
ob größer oder kleiner), »kleiner« die »drei Hauptfälle«, nach 
denen diese Methode auch von Wundt 1 ) benannt wird. Natür¬ 
lich ist diese nachträgliche Ordnung der Urteilstatsachen zum 
Zwecke ihrer theoretischen Verarbeitung von der Urteilsrichtung 
des Beobachters (ob er F für »größer«, oder N für »kleiner« er¬ 
klärte) ebenso unabhängig w r ie von der Absonderung oder Unter¬ 
mischung der einzelnen Stufen des Vergleichsreizes, die zu einem 
und dem nämlichen N einer Vollreihe hinzugehören. Dies sind 
eben nur spezielle Bedingungen der Relationserkenntnis neben 
anderen, deren Einfluß aber schließlich immer nur an Vollreihen 
eingehender zu verfolgen ist, die unter möglichst gleichen Um¬ 
ständen aufgenommen sind. 

b) Die einfache Aufzeichnung der relativen Häufigkeiten 
g x , u x , k r , mit denen jede einzelne Stufe r x des F bei gleich 
häufiger, z. B. zw mal wiederholter Darbietung »größer«, »gleich« 
oder »kleiner« erschien, nnd die emnirische Aufstellung einer 


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54 W. Wirth, 

Rohmaterial der experimentellen Analyse betrachtet werden, 
aus welchem erst bestimmte Erklärungsbegriffe abzuleiten und 
mit Größenwerten zu versehen sind, falls diese Analyse überhaupt 
auf den Rang einer wissenschaftlichen Verarbeitung der Einzel¬ 
beobachtungen eines Gebietes Anspruch erheben will. Einer der 
Hauptfaktoren, die aus jenen Tatsachen des Vergleichens er¬ 
schlossen werden können, ist nun bekanntlich die sogenannte 
»Schwelle« der Unterscheidung. Die endgültige Form, in der 
dieser Erklärungsbegriff anzuwenden ist, wurde schon vor einem 
Menschenalter von G. E. Müller gefunden. In seiner damaligen 
Arbeit »Über die Maßbestimmungen des Ortssinnes der Haut 
mittels der Methode der richtigen und falschen Fälle«*) benützte 
er sie allerdings zunächst nur für die Reizschwelle, bevorzugte 
sie in seinen »Gesichtspunkten und Tatsachen der psychophysischen 
Methodik« (1904) aber dann ganz allgemein auch für die Unter¬ 
schiedsschwelle. Hierbei wird eine untere und eine obere Schwelle 
als zufällig variables Maß des jeweils ebenmerklichen 
Reizunterschiedes ± [V — N) aufgefaßt. Während also 
Müller in seiner »Grundlegung« noch von der Voraussetzung 
konstanter Schwellen ausgegangen war, und die zufälligen 
Schwankungen des Urteiles ausschließlich aus der wechselnden 
inhaltlichen Auffassung des jeweiligen Unterschiedes, d. h. aus 
»Fehlern« abgeleitet hatte, betont er nunmehr in seinen »Gesichts¬ 
punkten« S. 60 ff. mit Recht, daß nur jene Annahme variabler 
Schwellen als ein unmittelbarer Ausdruck des Tatsäch¬ 
lichen zu gelten habe. Die relativen Häufigkeiten (r. H.) g und k 
müssen ja auch bei dem Vorkommen von drei Hauptfällen von¬ 
einander unabhängig sein, da für jede Stufe des Vergleichsreizes 
erst g -f- u -f k = 1 ist, und so lassen sich auch aus den Urteils¬ 
funktionen F g (x) und F k (ar) jeder Vollreihe zwei voneinander un¬ 
abhängige Kollektivgegenstände (K.-G.) der zufällig variablen 
oberen und unteren Schwelle ableiten, deren Verteilungsfunktionen 

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Zur erk. u. math. Begründung d. Maßmethoden f. die Unterschiedsschwelle. 55 

diesen Müllerschen Schwellenbegriff anknüpfen und die wich¬ 
tigsten Sätze entwickeln, nach denen die anerkanntesten Repräsen¬ 
tanten dieser als stetig aufgestellten K.-6. der beiden Schwellen 
aus den Daten zweier Vollreihen ohne Voraussetzung spezieller 
Verteilungsgesetze (z. B. des Gaußschen) sehr bequem zu be¬ 
rechnen sind. Indessen ist bisher weder dieser Erklärungsbegriff 
der »Schwelle« überhaupt, noch speziell die grundlegende Be¬ 
deutung der neueren Form, in der wir ihn mit Müller verwerten, 
so allgemein auerkannt, daß wir uns nicht mit beachtenswerten 
Bestrebungen in anderer Richtung auseinanderzusetzen hätten. Im 
folgenden wollen wir uns nun vor allem mit zwei derartigen Ver¬ 
suchen beschäftigen, weil sie, abgesehen von ihren angreifbaren 
Schlußfolgerungen bezüglich des Schwellenbegriffes, doch auch 
wertvolle Gesichtspunkte enthalten. Beide sind von je einer der 
Methoden ausgegangen, die sich neben der sogenannten Methode 
der richtigen und falschen Fälle, aus denen diejenige der Vollreihen 
am unmittelbarsten abzuleiten ist, als selbständige Bestimmungs¬ 
weisen der Unterschiedsempfindlichkeit entwickeln mußten, um 
die Einseitigkeiten der ursprünglichen Form jener Methode der 
r. und f. Fälle vor der Ableitung richtiger Vollreihen zu kompen¬ 
sieren. 

c) Die neuere dieser beiden Auffassungen, die erst jüngst von 
F. M. Urban in diesem Archive veröffentlicht wurde 1 ), geht von 
der einfachsten jener drei klassischen Wege zur Messung der 
Unterschiedsempfindlichkeit, von der sogenannten Methode der 
ebenmerklicben Unterschiede (Minimaländerungen) aus, und sucht 
von ihr aus in einer gewissermaßen positivistischen Ten¬ 
denz zu einem rein empirischen Begriffe der Schwelle zu gelangen. 
Dieser soll überhaupt nichts Hypothetisches mehr an sich haben, 
sondern nur das Phänomen der Ebenmerklichkeit selbst nach den 
Prinzipien der Statistik repräsentieren, wie es Urban bei der ge¬ 
nannten Methode am unmittelbarsten entgegenzutreten scheint 2 ). 


1] Dieses Archiv. Bd. XV. 1909. Heft 3/4. S. 261 ff. und Bd. XVI. 1909. 
Heft 1/2. S. 168 ff- 

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56 W. Wirth, 

Als positiver Wert seiner interessanten Darlegungen ist dabei die 
an sich neue Analyse dieser speziellen Methode nach den Prin¬ 
zipien der Wahrscheinlichkeitsrechnung anzuerkennen, wenn auch 
wir selbst gerade von dieser Urbanschen Analyse aus bezüglich 
der Bedeutung dieser Methode und des wissenschaftlichen Wertes 
der früheren Art, ihr Material rechnerisch zu bearbeiten, zu einem 
ganz anderen Schlüsse gelangen werden. 

Im direkten Gegensätze zu dieser empiristischen Tendenz 
möchte dagegen G. F. Lipps an Müllers früherer Anwendungs¬ 
form des Schwellenbegriffes in der »Grundlegung« festhalten, 
die durch die Voraussetzung einer Konstanz der Unterschieds¬ 
schwelle und die Reduktion aller Zufälligkeiten auf einen 
einzigen Kollektivgegenstand der Beobachtungsfehler ent¬ 
schieden viel hypothetischer ist, als jene neuere Annahme zweier 
voneinander unabhängiger K.-G. der oberen und unteren Schwelle, 
wie ja auch Müller selbst in dem oben zitierten Passus seiner 
»Gesichtspunkte« klar hervorgehoben hat. Lipps hatte nun 
seinerseits jene ältere Form schon vor mehr als zehn Jahren*) 
speziell auf die sogenannte Methode der mittleren Fehler 
(Herstellungs- oder Gleicheinstellungsmethode) angewendet, bei 
welcher der Beobachter selbsttätig einen variablen Vergleichsreiz V 
auf subjektive Gleichheit mit N wiederholt einstellt. Den einzigen 


kurzem einzigen) Repräsentanten der Müllerschen Schwelle im sogenannten 
unmittelbaren Verfahren, nämlich dem V mit 50 % richtigen Fällen gleich¬ 
kommt, und da Urban gegen die Mii 11 ersehe Deutung dieses Wertes nicht 
polemisierte, so sah ich auch theoretisch noch keinen direkten Gegensatz. In 
seinem ausgezeichneten Referate meiner soeben genannten Abhand¬ 
lung, das sich als Einzelbesprechung ebenfalls in diesem Hefte befindet und 
für das ich Herrn Prof. Urban auch an dieser Stelle meinen verbindlichsten 
Dank aussprechen möchte, hat er aber nun im Schlüsse seine prinzipielle 
Abweichung bezüglich der Deutung unserer Maße der Unterschiedsempfind¬ 
lichkeit kurz hervorgehoben. Da diese Besprechung aber soeben erst in 
meine Hände gelangt, wäre ich nach dem oben Gesagten natürlich nicht in 
der Lage gewesen, bereits eine ausführliche Abhandlung über diesen nicht 
unwichtigen Streitpunkt abgeschlossen zu haben, wenn nicht Herr Professor 
Urban die Liebenswürdigkeit gehabt hätte, mir schon vor etwa sechs 


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Zur erk. u. math. Begründung d. Maßmethoden f. die Unterechiedsschwelle. 57 


K.-G. der sämtlichen, zufällig wechselnden Gleicheinstellungen 
wollte er hierbei zu der Funktion F u ( x ) der relativen Häufigkeit 
des mittleren Urteiles bei der Methode der drei Hauptfälle in 
direkte Parallele bringen, von dem wir ihn im folgenden durch 
die Bezeichnung seiner Verteilungsfunktion mit F g j (x) unterscheiden 
wollen. Dabei hatte er zunächst noch ebenso wie Müller selbst 
nur mit dem einfachen Gaußschen Exponentialgesetz operiert. 
In seiner im III. Bande dieses Archives S. 153 ff. erschienenen 
Habilitationsschrift und in seinem Buche »Die psychischen Ma߬ 
methoden« (1906) übertrug er jedoch den nämlichen Standpunkt 
bezüglich der Unterschiedsschwelle auch auf die freiere, rein 
empirische Auffassung der beteiligten Kollektivgegenstände 1 ), bei 
der man auf die Annahme spezieller Verteilungsgesetze völlig ver¬ 
zichtet. 

Bezüglich der speziellen Entwicklung dieses Lippssehen 
Standpunktes aus der Herstellungsmethode wurde nun von 
Müller allerdings zunächst schon ganz allgemein der Ein wand 
erhoben, daß eine so unmittelbare Analogie zwischen dem K.-G. 
dieses Verfahrens einerseits und der Funktion der Gleichheits- 
nrteile nach der Methode der drei Hauptfälle andererseits nur dann 
möglich wäre, wenn bei jener die Anzahl der endgültigen Ein¬ 
stellungen auf ein Intervall r x d= * zusammen mit der Zahl der 

Prüfungen, in denen es als verschieden sogleich wieder verlassen 
wurde, für jedes Intervall die nämliche Summe ergeben würde, 
oder wenn wenigstens diese Summe bei jedem Intervall bekannt 
wäre, um geeignete Reduktionen zu ermöglichen, die sich auf eine 
gleiche Gesamtzahl aller Fälle beziehen. Denn bei der Methode 
der drei Hauptfälle ist eben diese Gesamtzahl der drei Urteile für 
jedes Intervall genau bestimmt. Diese Vorfrage, die natürlich 
nur die Herstellungsmethode angeht, da bei der anderen in dieser 
Hinsicht alles klar liegt, scheint mir jedoch bisher doch noch 
keineswegs entschieden. Nur so viel ist gewiß, daß eine Überein¬ 
stimmung aller Intervalle hinsichtlich der Zahl der Prüfungen, die 
im Verlaufe der Einstellung vonrenommen werden, natürlich nur 


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58 


W. Wirtb, 


maßen ausgleichen. Doch ist ja auch bei der anderen Methode 
dieses Prinzip der großen Zahlen zur Kompensation der sonstigen 
Zufälligkeiten nicht zu umgehen. Freilich braucht man zur Ver¬ 
teidigung der Analogie zwischen beiden Methoden nicht gleich 
den Nachweis zu versuchen, daß ein K.-G. F g , {x) und ein unter 
sonst möglichst gleichen Umständen abgeleiteter K.-G. F u (x) nach 
der Reduktion auf eine gleiche Anzahl sämtlicher Fälle äußerlich 
vollständig Ubereinstimmen. Denn hierbei wären die Schwierig¬ 
keiten doch zu gering angeschlagen, mit der die Herstellung völlig 
gleicher psychophysischer Bedingungen jederzeit umgeben ist. Ist 
ja doch auch schon die ganze Apperzeption der verschiedenen 
Relationen in beiden Methoden gewöhnlich sehr verschieden, wenn 
es auch bei spezieller Instruktion und Einübung prinzipiell mög¬ 
lich sein müßte, sowohl bei der Methode der drei Hauptfälle die 
hier oft vernachlässigte Gleichheit bzw. Ähnlichkeit, als auch bei 
der Gleichheitseinstellung die hier möglichst gemiedene Verschieden¬ 
heit wenigstens vorübergehend gleichmäßiger aufzufassen. Der 
verschiedene Ausfall der (reduzierten) Verteilungen F gl (x) und F v (x) 
könnte also niemals die Annahme ausschließen, daß F g i ( x) eben 
mit einer anderen Verteilung des mittleren Falles F u (x) direkt 
vergleichbar sei. Da aber die strittige Analogie außerdem nicht 
gerade unbedingt die Gleichheit der Prüfungszahl für alle Inter¬ 
valle, sondern nur ihre Kontrollierbarkeit verlangt, so scheint der 
direkteste Weg zur Entscheidung immer noch darin zu bestehen, 
daß man einfach den wirklichen Verlauf sämtlicher Stadien der 
Einstellung bis zur endgültigen Anerkennung eines Reizintervalles 
durch irgendeine Registrierung so konkret als möglich verfolgt, 
zumal ja auch die Methode der Darbietung bestimmter Reizstufen 
(Konstanzmethode) durch eine Registrierung des ganzen Verlaufes 
der Beurteilung noch eindeutiger gestaltet werden könnte. Da 
wir für dieses auch sonst interessante Problem der psychologischen 
Reaktionsmethoden, die natürlich auch hier wiederum mit der 
Selbstbeobachtung zusammenzufassen sind, erst in einiger Zeit 

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Zur erk. n. math. Begründung d. Maßmethoden f. die Unterschiedsschwelle. 59 


K.-G. F u (x), bzw. aus einem als ihm äquivalent betrachteten F gl ( x ) 
allein für sich, also ohne gleichzeitige Gegebenheit des 
zugehörigen F g (x) und F k [x ), zu berechnen, eine Rechen¬ 
aufgabe, die freilich nur unter Hinzunahme der speziellen Lipps- 
schen Voraussetzung der Konstanz der Schwelle und des K.-G. 
der bei ihrer Beobachtung beteiligten Fehlerschwankungen lösbar 
wird. Von seinem Standpunkte aus bedeutet dies also vor allem 
die Möglichkeit einer Berechnung der Schwellen nach 
der Herstellungsmethode. Auch hat man natürlich allein 
bei ihrer Anwendung an diesem Umweg Uber den K.-G. des mittleren 
Falles ohne Kenntnis der Darbietungszahl m jeder ein¬ 
zelnen Stufe V r ein unmittelbares Interesse, da ja bei der Methode 
der drei Hauptfälle unter allen Umständen die direkte Bestimmung 
der Schwelle aus F g ( x) und F k (x) selbst am nächsten liegt oder 
bei Benützung von F u (x) wenigstens m sicher bekannt ist. 
Lipps selbst hat aber kein Verfahren angegeben, nach 
welchem ohne Voraussetzung spezieller Verteilungs¬ 
gesetze die genannte Berechnung aus einem einzigen 
K.-G. F g i (x) in ähnlicher Weise möglich wäre, wie es 
seinerzeit aus seinen früheren Formeln unter Voraus¬ 
setzung des Gaußschen Gesetzes geschehen konnte. Er 
versucht zwar eine solche Berechnung, kommt aber nach Ein¬ 
führung der Mittelwertpotenzen zur Charakterisierung der beteiligten 
bekannten und unbekannten K.-G. zu einem Ansätze, der erst 
durch eine neue, an sich sehr unwahrscheinliche und in seinem 
eigenen Beispiele gar nicht erfüllten Voraussetzung zu einer 
Lösung führen würde. Es sollen nämlich hierbei mehrere An¬ 
wendungen der Herstellungsmethode mit den Ergebnissen F gl [x ) t , 
(x) t U8w. in ein System von Gleichungen mit mehreren Unbe¬ 
kannten einbezogen werden können, bei denen zwar die gesuchten 
(nach Lipps jeweils konstanten) Unterschiedsschwellen verschieden, 
die beteiligten K.-G. (nach Lipps die zufälligen Vergleichsfehler) 
aber überall die nämlichen seien, so daß also die (zunächst 
unbekannten) Mittelwertnotenzen in allen diesen hvüothetischen Ver- 


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60 


W. Wirth, 


zu einer Berechnung der Schwellen beizuziehen, erinnert uns 
daran, daß die Verteilungsfunktion, die Lipps aus diesen Po¬ 
tenzen unmittelbar aufgebaut hatte, auch keine praktische Inter¬ 
polationsformel an die Hand gibt. Die Aufgabe einer Berechnung 
der Schwellen aus F u (x), wie sie sich Lipps von seinem Stand¬ 
punkt aus gestellt hatte, scheint mir aber mittels der bekannten 
Interpolationsmethoden, wie wir sie in den genannten »Grund¬ 
lagen« verwandten, sogar ohne neue Voraussetzungen, also von 
einer einzigen, und zwar von jeder beliebigen Ver¬ 
teilung F g i [x) aus, ihrer Lösung wirklich näher gebracht werden 
zu können. Wo aber jene neuen Lippsschen Voraussetzungen 
fllr mehrere gleichzeitig gegebene K.-G. F (J (.r) t usw. in der Tat genau 
erfüllt wären, da könnte wiederum die Berechnung der Schwelle 
viel einfacher vorgenommen werden, wie ebenfalls kurz zu er¬ 
wähnen sein wird. 

Die hypothetischere Form, in der Lipps den Schwellenbegriff 
einführt und gegen die wir den unserigen hier vor allem ver¬ 
teidigen wollen, ist aber natürlich an sich von dieser speziellen 
Anwendung auf die Herstellungsmethode, bzw. von der Schwellen¬ 
berechnung aus dem isolierten F g i (x) völlig unabhängig. Sie ist 
also zunächst vor allem auch für die Auffassung entscheidend, 
die Lipps aus ihr über das Verhältnis der sämtlichen Urteils¬ 
kurven einer Vollreihe, also insbesondere auch der Kurven F g (r) 
und F k (x), zur Schwelle gewinnt, bei der die Darbietungszahl m r 
jeder Stufe V x bekannt und im einfachsten Falle überall gleich 
ist. Dabei ist es eben für diese ältere, hypothetischere Anschau¬ 
ung vom Wesen der Schwelle charakteristisch, daß bei ihrer Zu¬ 
lassung die Kurven F (J [x) und F k [x) ihre gegenseitige Un¬ 
abhängigkeit verlören und wirklich nichts mehr zum 
Ausdruck bringen könnten, was nicht auch schon aus 
der Kurve F u (a;) allein zu entnehmen wäre, wobei sich na¬ 
türlich die Berechnung infolge der Bekanntheit des in viel einfacher 
gestaltet als für die Herstellungsmethode. In der Tat benützt denn 
auch Lipps folgerichtig für die Berechnung der Schwellen bei 
sämtlichen Methoden schließlich nur die Funktion F u [x), und am 


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Zur erk. a. math. Begründung d. Maßmethoden f. die Unterschicdsechwelle. 61 

auf eine gemeinsame, einer und derselben Behandlung 
zugängliche Form gefordert werden muß« (a. a. 0. S. 88). 
Die tatsächliche Unabhängigkeit, die für die Beobachtung bei 
mindestens drei Hauptfällen zwischen F {) [x) und F k [x) jederzeit an¬ 
erkannt werden muß und die uns mit Müllers neueren Schwellen- 
liypothesen zunächst auf zwei relativ selbständige K.-G. hinfuhrt» 
gerät aber nun freilich, wie wir sehen werden, mit dieser weiteren 
Hypothese der Konstanz der Schwelle und der ausschließlichen 
Operation mit einem einzigen K.-G. der Fehler sofort in Wider¬ 
spruch, sobald die beiden hypothetischen K.-G. unter sich nicht 
genau iibereinstimmen *). — Auch an dieser einleitenden Stelle soll 
jedoch sogleich auch wiederum das positive Verdienst hervor¬ 
gehoben werden, das sich gerade G. F. Lipps um die Klärung 
des Verhältnisses zwischen den Resultaten der einzelnen Methoden 
allein schon dadurch erworben hat, daß er von Anfang an bei 
ihnen allen auf die gleichmäßige Berücksichtigung der Gesichts¬ 
punkte der Kollektivmaßlehre drang, wenn diese natürlich auch 
von jeder Vereinfachung der Hypothesen, die Uber das empirisch 
hinreichend begründete Maß hinausgeht, scharf unterschieden 
werden muß. Insbesondere aber hat G. F. Lipps durch die 
eingehendere Beschäftigung mit der Verteilung F u (r) bereits eine 
wichtige Beziehung derselben zur Unterschiedsschwelle aufge- 
funden 2 ), die auch später in Müllers Anerkennung des Idealgebietes 
der u -Fälle als eines Maßes der Unterschiedsempfindlichkeit zur 
Geltung kam. Doch konnte auch diese Relation wegen der 
speziellen Voraussetzungen bei Lipps noch nicht in der vollen 
Allgemeinheit hervortreten, in der sie, wie Spearman zuerst 


11 Auch Herr Professor G. F. Lipps hat die Freundlichkeit gehabt, 
bereits brieflich auf diesen Differenzpunkt hinsichtlich der Unabhängigkeit 
zwischen F g (x) und F k [x) hinzuweisen. Da er aber seinen Standpunkt in 
dieser Richtung bereits in den genannten Veröffentlichungen ausführlich dar¬ 
gelegt hatte, so war dieser von mir schon vor meinem Eintreten für G. E. 
Müllers neueren Schwellenbegriff in Erwägung gezogen worden. Ins¬ 
besondere hatte ich den für mich in dieser Frage entscheidendeu Gesichts¬ 


punkt im Abschnitt I, 3 bereits vor meiner Abhandlung über die »Grund- 

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62 


W. Wirth. 


gesehen hat, wenigstens das arithmetische Mittel der beiden 
hypothetischen K.-G. der oberen und unteren Schwelle mit dem 
Idealgebiet der Gleichheitsfälle verbindet 1 ). 

d) Bei unserer Stellungnahme zu den beiden Anschauungen 
werden wir nun die nämliche Reihenfolge wie bisher innehalten. 
Denn die Kritik des Urban sehen Versuches, auf einen hypo¬ 
thetischen Schwellenbegriff überhaupt zu verzichten, wird sich am 
besten unmittelbar an eine Rekapitulation unserer eigenen Auf¬ 
fassung von diesem Begriffe anschließen, wenn auch der Inhalt des 
kurzen, unmittelbar vorhergehenden Abschnittes I, 3 Uber die Un¬ 
bestimmtheit der realen Abhängigkeit zwischen der oberen und 
unteren Schwelle vor allem der Polemik gegen G. F. Lipps vor¬ 
arbeitet. Der Grad der Hypothesenbildung, bis zu dem wir bei 
unserem Müllerschen Begriffe fortschreiten, wird sich hierbei als 
ein besonders natürlicher erweisen, da dessen Inhalt uns von dem 
Tatsachenmaterial geradezu aufgenötigt wird. Im Anschluß daran 
wird sich dann die tatsächliche Bedeutung des Resultates der Minimal¬ 
änderungen bei seiner gewöhnlichen Berechnungsweise ganz von 
selbst ergeben, wenn wir nur ihr von Urban zunächst richtig dar¬ 
gestelltes Verhältnis zu den Urteilskurven der Vollreihe berück¬ 
sichtigen. Dabei glaube ich freilich schon hier zu finden, daß sich 
für Urban am Schlüsse seiner mathematischen Analyse 
das Resultat der Methode leider bereits durch irgend 
einen Fehler zugunsten seiner speziellen Theorie ver¬ 
schoben hat (siehe S. 85). Darüber hinaus wird sich uns aber 
dann zeigen, daß Urbans Bearbeitung des Materiales dieser Me¬ 
thode, bei der einfach wieder wie früher das arithmetische Mittel 
aus dem ebenmerklichen und ebenunmerklichen Unterschiede vieler 
Reihen gezogen wird, nicht nur kein korrektes Maß der 
Unterschiedsschwelle abzugeben vermag, sondern über¬ 
haupt die gesamte Mannigfaltigkeit der unmittelbaren 
Erfahrungen Uber die Urteilskurven nur unvollständig 
wiedergibt. 


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Den Übergang zum zweiten Abschnitt über den Lipps sehen 
Standpunkt wird eine Analvse der allgemeinen Beziehungen 

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Zur erk. u. math. Begründung d. Maßraethoden f. die Unterschiedsschwelle. 63 


F g (x) + F u (x) F k (x) = 1 und die Stetigkeit dieser Funktionen, 
aber keinerlei spezielles Verteilungsgesetz, insbesondere aber auch 
keine sonstige Beziehung zwischen F g (x) und F k (x) vorausgesetzt 
ist. Dabei wird uns zunächst noch ein, wie ich glaube, neuer 
Satz über die Beziehung des Dichtigkeitsmittels (Häufigkeits¬ 
maximums) der Gleichheitsfälle 2)„ begegnen, der uns noch kurz 
zu der Zurücksetzung Stellung nehmen läßt, die diesem Äquivalenz- 
werte der F’s beim Vergleich mit N bei Urban widerfährt, der 
ihm den Schnittpunkt der unmittelbar beobachteten Urteilskurven 
Fg (x) und F k (x) vorziehen will*). Dieser leicht zu beweisende 
Satz lautet einfach: Das Dichtigkeitsmittel (Kurvenmaxi¬ 
mum) £) u der Gleichheitsfälle ist für jede beliebige 
Kurvenform gleich der Abszisse des Schnittpunktes der 
Verteilungskurven der (hypothetischen) K.-G. des oberen 
und des unteren Grenzreizes f 0 (x) und /'„(x), also der Ver¬ 
gleichsreiz, der gleich häufig mit dem oberen und mit 
dem unteren (hypothetischen) Grenzreiz zusammenfällt, 
bzw. als r 0 und r u gleich wahrscheinlich ist. — Die weiteren 
Betrachtungen gelten dann zunächst der Vieldeutigkeit, die bei 
bloßer Kenntnis der Kurve F u (x) bezüglich der beiden K.-G. der 
oberen und unteren Schwelle bestehen bleiben muß, solange 
der tatsächlich vorhandene Grad der Unabhängigkeit zwischen 
F g (x) und F k (x) in der Beobachtung nicht durch neue Hypothesen 
aufgehoben wird. Hiermit erscheint also eigentlich jeder 
Versuch einer Berechnung der Schwellen aus der iso¬ 
lierten Funktion F u (x) schon von vornherein illusorisch, 
falls man keine besonderen Gründe für Zusatzhypo¬ 
thesen über eine Abhängigkeit zwischen F g (x) und F k (x) 
beizubringen vermag. — Hierauf wenden wir uns endlich zu der 
speziellen Hypothese, die in der älteren Annahme einer Konstanz 
der Schwelle enthalten liegt und die in der Tat jene eben ge¬ 
nannte Berechnung der Schwelle aus F tl (x), bzw. dann eventuell 
auch aus F gt (x), ermöglichen würde. Diese Beziehungen zwischen 
der Schwelle und F„ ix) unter Voraussetzung der älteren Schwellen- 


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64 


W. Wirth, 


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2) Der hypothetische Charakter des Schwellenbegriffes. 

a) Eine Schwelle bedeutet ganz allgemein ein Extrem einer 
Auslösungsbedingung für einen Vorgang, der somit jenseits dieses 
Extremes eben nicht mehr eintreten kann, während er bei allen 
übrigen Stufen bis zu einer weiteren Grenze, die bei den einzelnen 
Anwendungen des Begriffes jeweils nicht näher ins Auge gefaßt zu 
werden braucht, durchweg vorkommt. Als »Unterschiedsschwelle« 
(U.-S.) bezeichnet man daher die ebenmerkliche Differenz zwischen 
V und N, welche die Schwelle der Unterscheidung oder der Er¬ 
kennung des Unterschiedes bildet. Ist die Auffassung von N nicht 
mit wesentlichen Fehlern behaftet, so kann man dann weiterhin 
speziell die »obere« U.-S. s 0 einfach als die Differenz V — N 
definieren, von der an der Grad der Eigenschaft bei V, hinsicht¬ 
lich der man vergleicht, größer erscheint, als »untere« U.-S. s„ 
dagegen den entgegengesetzt gerichteten Unterschied N — F, von 
dem an dieser überall selbst mit F bezeichnete Grad eben als 
kleiner beurteilt wird. Da somit dieses allgemein anerkannte 
»oben« und »unten« am unmittelbarsten verständlich ist, wenn 
man F im Vergleich zu N beurteilt, so haben wir auch hier überall 
diese Urteilsrichtung bei der Darstellung des Urteilsinhaltes bei¬ 
behalten, ohne Rücksicht darauf, wie man sich das Urteil selbst 
von dem Beobachter abgegeben denkt (also umgekehrt wie bei 
G. E. Müller, der N als beurteilt betrachtet). Dabei wird die 
Unterscheidung dieses »oben« und »unten« von jener Einschränkung 
der Fehler bei N unabhängig, wenn man nicht den Abstand 
± (F — N ), sondern die einzelnen Stufen des Vergleichsreizes 
r,, r t . . . r n als unabhängige Variable auffaßt. Man spricht 
also dann von einer »oberen« oder »unteren« »Schwelle« 
ähnlich absolut wie bei der Reizschwelle, und meint damit 
einen »oberen Grenzreiz« r 0 = r + s 0 als Minimum der in Fvariierten 
Auslösungsbedingung des Urteiles »größer«, bzw. einen »unteren 

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Zar erk. u. math. Begründung d. Maßmethoden f. die Unterschiedsschwelle. 65 


b) Lägen nun diese Extreme r 0 und r u konstant bei den näm¬ 
lichen Stufen des F, so fände man sie unmittelbar aus einer 
einzigen F-Reihe r,, r 3 ... r„ direkt heraus, die der Experi¬ 
mentator dem Beobachter in irgend einer Folge vorlegt. Würde 
man aber jede Stufe mmal wiederholen und aus der »Vollreihe« der 
drei »Hauptfälle« k, u } g die relativen Häufigkeiten (r. H.) als empi¬ 
rische Funktionen F k (x), F u ( x ), F g ( x ) dieser Stufen r = x ableiten, 
so würde sich die hier zunächst fingierte Konstanz der Schwelle 
einfach darin äußern, daß bis r„ nur k-, von da bis r 0 nur u-, 
und darüber hinaus nur noch g -Fälle vorlägen. In diesen Be¬ 
reichen käme also immer nur eine jener drei Kurven F(x) vor, die 

in der Höhe = 1 parallel zur re-Achse verliefe, während die 

Grenzen zwischen dem k - und m-, dem u- und <7-Bereich völlig 
mit den Ordinaten der Grenzreize r u und r 0 zusammenfielen. 
Diese »Schwellen« hätten also in diesem Falle wirklich nicht viel 


Hypothetisches an sich, sondern wären unmittelbar zu beobachten. 
Eben deshalb ist aber nun auch angesichts des wirklichen Bildes 
jener empirischen »Verteilungskurven« der drei Hauptfälle 
F k (z ), F„(x), F g (x), das keine solche scharfe Sonderung der drei 
Urteilsgebiete, sondern eine weitgehende Überschneidung zeigt (vgl. 
z. B. Urbans Kurven in diesem Archiv, XV., S. 339), immer noch 
ohne spezielle Hypothese wenigstens so viel unmittelbar zu beobach¬ 
ten, daß die Extreme r 0 und r u auf keinen Fall konstant sind, son¬ 
dern in einer Weise schwanken, deren Prinzip hierbei allerdings 
noch völlig unbekannt bleibt, ja die überhaupt in keinem Punkte 
für allgemeingültig gehalten zu werden braucht. Würde es sich nun 
bloß um die Beobachtung der Beurteilung der V neben dem 
speziellen Normalreiz N allein handeln, so könnte man sich 
vielleicht mit dieser Feststellung begnügen. Eine Analyse der 
Faktoren, die für die spezielle Lage von r 0 und r„ entscheidend 
sind, insbesondere also auch die Deutung der als sogenannte »kon¬ 


stante Fehler« bezeichneten Abweichungen von einer als Norm 
geltenden Lage zu N=r selbst (z. B. von ihrer einfachen Symmetrie 


zu N ), ist aber natürlich nur dadurch zu erreichen, daß mau die 


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W. Wirth, 


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beteiligten Faktoren zurUckgeschlossen werden kann. Läßt also 
die unmittelbare Beobachtung den einzelnen Versuchslagen mit 
JV,, iV 4 usw. überhaupt keine bestimmten Paare von Grenzreizen 
r 0 1 , '/"«i; r 0t 2 , r u> 2 usw. eindeutig zuordnen, so müßte jene Ana¬ 
lyse auf Grund der Variation der Vergleichsbedingungen entweder 
mit lauter genau übereinstimmenden Schwankungsformen ähnlich 
wie mit konstanten Einzelwerten operieren können, was natürlich 
auch nicht angenähert erfüllt ist, oder sie ist gezwungen, jeweils 
vergleichbare Repräsentanten auf stets analoge Art aus den un¬ 
mittelbar beobachteten Verteilungsfunktionen abzuleiten und beim 
Vergleich der verschiedenen Varianten weiterhin allein zu berück¬ 
sichtigen. Für die Berechnung solcher Repräsentanten für zu¬ 
fällig, d. h. im einzelnen unerklärlich schwankende »Exemplare* 
hat nun bekanntlich die Kollektivmaßlehre bereits wohl- 
bewäbrte Prinzipien entwickelt, die einerseits sogenannte »Haupt- 
werte« ableiten lassen, die den nicht eindeutig zu beobachtenden 
Einzelwert selbst ersetzen, andererseits ihnen Streuungsmaße 
an die Seite stellen, die auch über den Umfang und die Form der 
Schwankungen selbst vergleichbare Auskunft geben. 

c) Für die Anwendung dieser Prinzipien auf einzelne 
Fälle ist aber natürlich stets vorausgesetzt, daß man 
sich darüber klar geworden ist, welche »Kollektivgegen¬ 
stände« (K.-G.), d. h. welche Arten von zufällig variablen 
Exemplaren denn eigentlich repräsentiert werden sollen. 
Dies ist z. B. ohne weiteres klar, wenn man den K.-G. der 
u -Fälle zusammenstellt, in denen V von N nicht unterschieden 
werden konnte, eventuell ihm also einfach gleich erschien. Die 
so definierten »Exemplare* konstituieren ja den direkt beobach¬ 
teten K.-G. mit der Verteilung F u [x) und lassen sich daher durch 
deren bekannte Hauptwerte, z. B. durch das arithmetische Mittel 

r gl (51) 1 ) =Jx-F u {x)dx • - 

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Zur erk. u. math. Begründung d. Maßmethoden f. die Unterschiedsschweüe. 67 


aber dies wenigstens nicht direkt mit der Bestimmung von Schwellen 
im Sinne eines »Maximums« oder »Minimums« von Urteils¬ 
bedingungen etwas zu tun, sondern bezieht sich im Gegenteil ge¬ 
wissermaßen auf das Optimum für eine bestimmte, in engere 
Grenzen eingeschlossene Urteilsart. Die k- und ^-Urteile können 
dagegen in ihrer Abhängigkeit von den V nicht in gleicher Weise 
als K.-G. »nach Zufall wechselnder« Exemplare aufgefaßt werden, 
da jedes in seinem Hauptbereich außerhalb E u , bzw. E 0 sogar allein 
vorkommt. Eine Beschränkung auf die Unsicherheitsregion wäre 
aber eben deshalb auch wiederum völlig willkürlich, solange man 
die Urteile als solche als K.-G. betrachten wollte. Der zufällig 
variable Tatbestand kann also immer nur indem Urteils¬ 
wechsel bestehen, d. h. in dem psychophysischen Zu¬ 
stande, der bei vollständiger Konstanz der Urteils¬ 
bedingungen in der vorhin betrachteten Weise in die Er¬ 
scheinung treten würde, daß die Urteilsgebiete durch 
je eine Grenzordinate scharf voneinander geschieden 
sind. Da wir aber nun einmal aus dem wirklichen Verlauf der 
Urteilskurven ersehen haben, daß eine solche Konstanz der »Grenz¬ 
reize«, bei denen dieser Übergang vom einen Urteil zum anderen 
jederzeit erfolgen würde, überhaupt nicht existiert, so können 
wir überhaupt niemals erwarten, daß die einzelnen zu¬ 
fällig wechselnden Exemplare unseres K.-G. des Urteils¬ 
wechsels jemals in einer empirischen Urteilsfolge un¬ 
mittelbar zu beobachten wären. Selbst wenn zwei Reiz¬ 
darbietungen r v und r v + x (r„ + x >> r,,), von denen man r v noch als 
gleich, r y + i richtig als größer beurteilt fände, zeitlich noch so un¬ 
mittelbar aufeinanderfolgten, so brauchte dieser empirisch beobach¬ 
tete Urteilswechsel doch niemals der augenblicklichen wirklichen 
Lage des Minimums für die g -Fälle zu entsprechen. Dieses 
Minimum r 0 kann sich im ersten von beiden Versuchen bei r v + x 
und im zweiten bei r r - u befunden haben, ohne daß man diese 
Stellen aus der empirischen Beobachtung dieses Urteilswechsels 
von einem Versuch zum anderen näher bestimmen könnte. Nicht 


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die spezielle Form dieser Änderung, insbesondere also auch darüber, 
ob sie stetig oder sprungweise geschieht, im voraus gar nichts 
auszumachen ist. Diese Unsicherheit Uber die konkrete Einzel¬ 
lage der Schwelle würde daher auch, wenigstens prinzipiell, nicht 
beseitigt, wenn man von der Darbietung diskreter Reizstufen zur 
stetigen Veränderung überginge. Die Schwelle als das jeweils 
wirklich herrschende Extrem der Reizbedingungen, bis zu dem 
man in jedem durch je einen Einzelversuch dargestellten Moment 
gehen könnte, ohne auf eine andere Urteilsart als die augen¬ 
blicklich vertretene zu stoßen, muß daher bei sukzessiver 
Beurteilung je einer einzigen Stufe des Vergleichs¬ 
reizes V notwendig immer hypothetisch bleiben. 

Natürlich wäre diese im Wesen der Sache gelegene Ein¬ 
schränkung auch dann nicht beseitigt, wenn man die verschiedenen 
Stufen des Reizes V in irgend einer Verteilung gleichzeitig 
einwirken und dadurch gleichzeitig im Bewußtsein vergegenwärtigt 
sein ließe. Denn das gesuchte Bedingungsextrem für die Er¬ 
kennung eines Unterschiedes zwischen N und V bezieht sich ja 
jedesmal auf ganz bestimmte Wahrnehmungsbedingungen des N 
und der einzelnen Stufen des V, die durch die Wechsel¬ 
wirkungen zwischen den gleichzeitigen Wahrnehmungen 
mehrerer Reizstufen mehr oder weniger stark verschoben 
würden. — Kurz die Schwelle als jeweils quantitativ eindeutig ge¬ 
dachter Begriff des Urteilsextremes bleibt auf keinen Fall ein Be¬ 
griff der Beschreibung eines jeweils empirisch zu beobachtenden 
Einzelprozesses, der sich im Bewußtsein als einzelnes Urteils¬ 
system irgendwelcher Art unter bestimmten Reizbedingungen ab¬ 
spielt, sondern ist ein psychophysischer Dispositionsbegriff, 
ähnlich wie die Begriffe der additiven und multiplikativen Ein¬ 
flüsse der Nach- und Nebenerregungen, der Erregbarkeits¬ 
änderung, der Assoziationen usw. Doch meint man mit der 
Schwelle keine Disposition für einen bestimmten einzelnen Be¬ 
wußtseinsinhalt oder ein Merkmal eines solchen, wie bei den eben 


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Zur erk. u. math. Begründung d. Maßmethoden f. die Unterechiedsschwelle. 69 


nicht etwa ein so abstrakter Begriff wie derjenige der »Unter¬ 
scheidungsfähigkeit« für bestimmte Sinnesqualitäten Überhaupt, 
sondern sie bringt nur eine einzelne ganz konkrete, aber auch 
besonders charakteristische Seite dieser Fähigkeit zum Ausdruck, 
wie sie eben durch die Abgrenzung bestimmter experimenteller Be¬ 
dingungen ermöglicht wird. Aber sie hat natürlich mit jenen elemen¬ 
taren Dispositionsbegriffen den erkenntnistheoretischen Grund¬ 
charakter gemein, daß sie nichts völlig Unsagbares, sondern eben 
eine Bedingung für Bewußtseinsinhalte bedeutet, da ja ihr 
Sinn vollständig in dem des Bedingungsextrems für ein natürlich 
stets bewußtes Unterscheidungsurteil aufgeht. Dabei läßt aber 
gerade diese Disposition so bequem wie nicht leicht eine 
andere den prozessualen Charakter aller psychischen 
Dispositionen überhaupt experimentell verfolgen, der 
ihnen genau wie den Bewußtseinsinhalten selbst, aber auch wie 
vielen außerpsychischen Tatbeständen, als fortwährende Änderung 
des mit ihnen gemeinten konkreten Zustandes eigen ist. Während 
also eine oberflächliche, mehr qualitative Betrachtung bisweilen 
wenigstens die psychischen Dispositionen als konstante Zu¬ 
stände zu betrachten geneigt macht, insofeni gewisse Gründzüge 
der von ihnen erwarteten Bewußtseinseffekte erhalten bleiben, 
nötigt uns der Versuch einer genaueren quantitativen 
Bestimmung der mit ihnen gegebenen Leistung ohne 
weiteres, sie als etwas stets Veränderliches, d. h. also als Vor¬ 
gänge zu betrachten. Das vorhin über die psychischen Dispo¬ 
sitionen im allgemeinen Gesagte wird diese Formulierung hoffent¬ 
lich vor Mißdeutungen bewahren. 

d) Freilich ermöglichen diese Rückschlüsse deshalb auch keine 
quantitative Bestimmung der jeweiligen Lage der Schwelle im 
einzelnen, sondern nur ihres Kollektivgegenstandes, so 
daß man sich schließlich mit bloßen Mittelwerten und Streuungs¬ 
maßen der beiden Grenzreize begnügen muß. Der Gedanken¬ 
gang dieses Schlusses aber ist mit dem Wesen des Be¬ 
dingungsextremes, wonach r 0 ein (dispositionelles) Mini¬ 
mum und r u ein Maximum für je einen besonderen Effekt 


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W. Wirth, 


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relativ so oft das Urteil »größer« anslösen, als der obere Grenz¬ 
reiz r 0 niedriger lag als r x (oder als r 0 < r x ) und andererseits so 
oft zum Urteil »kleiner« führen, als r u höher hinaufrückte (oder 
als r u ^> r x ) *). Hiermit sind also die tatsächlich beobachteten Funk- 
tionen F g [x) und F k (x) ohne weiteres als sogenannte »Summen¬ 
funktionen« der Kollektivgegenstände von r ö und r u charakterisiert, 
bzw., hei der Stetigkeit der letzteren, als bestimmte Integrale 
über die von mir mit f u (x) und/), (x) bezeichnetenVerteilungsfunktion 
dieser hypothetischen K.-G. Dabei muß f 0 [x) als K.-G. eines 
Minimums von seinem unteren Extrem E' 0 her, f u (x) als K.-G. eines 
Maximums aber von seinem oberen Extrem E' u her aufsummiert 
werden. Alle weiteren analytischen Sätze Uber die Beziehung der 
Mittelwerte und Streuungsmaße der Grenzreize zu den Summen¬ 
funktionen F g (x) und F k (x) sowie die Vorschriften für eine be¬ 
queme Berechnung aus den beobachteten einzelnen Summen werten 
ergeben sich dann ohne jede weitere Hypothese ganz von selbt. 

e) Wenn also Urban meint, daß »die Erklärung der Grenz¬ 
reize als größte, bzw. kleinste Werte des V, die ,eben‘ ein ex¬ 
tremes Urteil (d. h. g oder f) ergeben, diesen Begriff nicht klarer 
machten« (vgl. Literaturber. S. 7f.), so dürfte das Gesagte nunmehr 
wohl auch für ihn jede Unbestimmtheit in dieser Richtung be¬ 
seitigen. In seiner, dem eben genannten Passus folgenden Alter¬ 
native, daß der Begriff der Ebenmerklichkeit entweder der 
Methode der ebenmerkliclien Unterschiede entnommen sei, oder 
aber eine Aussage Uber einen introspektiven Befund enthalte, der 
sich jeder weiteren Kontrolle entziehe, ist ja gerade die für uns 
allein mögliche Bedeutung noch gar nicht enthalten. Denn 
der Begriff kann nach dem oben Gesagten eben nicht einfach auf 
empirische Urteilsfolgen irgendeiner Methode, z. B. derjenigen der 
ebenmerklichen Unterschiede zurückgeführt werden, wie unten (II, 3) 
noch deutlicher werden wird, andererseits hat er aber doch ganz 
gewiß auch nichts mit unkontrollierbaren Introspektionen zu tun, 
sondern ist entsprechend seinem Wesen als ein Dispositionsbegrifi' 


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Zur erk. u. math. Begründung d. Maßmethoden f. die Unterschiedsschwelle. 71 


Analyse der Bewußtseinsmomente und sonstigen psychischen Fak¬ 
toren, die bei dem Vorgang der Ununterscheidbarkeit zweier 
objektiv verschiedener Reize beteiligt sind, haben wir vielmehr in 
dem physikalischen Maß der Unterschiedsschwelle 1 ) s = g- (r ö — r M ), 

von dem alle quantitativen Analysen der Schwellen usw. auszu¬ 
gehen haben, sogar ausdrücklich verzichtet. 

Es geht aber deshalb auch auf keinen Fall an, unseren Formeln 
ftlr die Repräsentanten der Grenzreize selbst und für ihre Streu¬ 
ungsmaße eine von diesem (hypothetischen) Dispositionsbegriff 
losgelöste Bedeutung zuschreiben zu wollen, wie sie ihnen 
Urban trotz seiner Polemik gegen diesen Begriff zuer¬ 
kennen möchte. Er bezeichnet unser Verfahren als eine Cha¬ 


rakterisierung der beobachteten Urteilsverteilungen F g ( x ) und F k (x) 
»durch ihre Parameter oder durch Funktionen dieser Parameter« 
und meint, man könne meine Abhandlung so umschreiben, daß 
die Funktionen f (d. h. die soeben genannten K.-G. f 0 [x) und 
f,{x) der hypothetischen Grenzreize) überhaupt nicht erwähnt 
werden. Nun ist natürlich, was sich zunächst nicht gegen Urban 
richten soll, klar, daß Formeln, die die gesuchten hypothetischen 
Werte r 0 und r u , M 0 und M u usw. durch die beobachteten Ver¬ 
teilungen F g (x) und F k (x) der Urteile auszudrucken gestatten 
sollen, die Unbekannten r 0 und r u , bzw. ihre Verteilung f 0 (x) 
und f u ( x ) selbst nicht mehr enthalten dürfen, da eben sonst die 
Rechenaufgabe nicht gelöst wäre. Und da ferner jede Funktion 
zu unbegrenzt vielen anderen in eine rein formale Beziehung ge¬ 
bracht werden kann, in denen sie als Summand oder Faktor und 
dergleichen vorkommt, so muß die nämliche rechnerische Ver¬ 
bindung der g , bzw. der k , die für uns r 0 (51) usw. ausdrückt, 
rein formal auch aus solchen anderen, weder f 0 [x) usw. noch 
eine Funktion dieser K.-G. enthaltenden Verbindungen 
der gr und k durch Subtraktion oder Division und dergleichen 


wiederum »abzuleiten« gein. Die für uns entscheidende Fr^^e ^ 
aber natürlich, ob diggen anderen Verbindungen i*|^ e tvA' 
feine reale psycboiog-ische Bedeutung zuzuschreib ^ 

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eines K.-G. von solcher realer Bedeutung darstellt. Wir 
würden Müllers, Spearmans und meinen Bestrebungen in dieser 
Richtung vorläufig jede Bedeutung absprechen müssen, falls wir 
die beobachteten Verteilungen der Urteile F a (x) und F k (x) nur 
einfach durch irgendeine neue rechnerische Verbindung 
ihrer »Parameter« »repräsentiert« hätten, die nicht zugleich 
die Ableitung anerkannter Hauptwerte des a. Mittels usw. und 
ihrer Streuungsmaße für einen ganz bestimmten K.-G. dar¬ 
stellten ! ). Andere Repräsentationen würden ja mit allen sonstigen, 
nach den anerkannten Prinzipien abgeleiteten Werten völlig un¬ 
vergleichbar, inkommensurabel bleiben. Nun hat z. B. unsere für 

r 0 ($1) angegebene Formel i ('S 7 g x + den Sinn, daß sie das 

x = 1 bis p — 1 

arithmetische Mittel der Differentialquotienten von F g (x) nach x 

zwischen E 0 und E' 0 darstellt, und diese Werte — j b -^~ bezeichnen 

für uns mit logischer Notwendigkeit die Wahrscheinlichkeit dafür, 
daß das Bedingungsminimum für ein g-Urteil bei x liege. Nimmt 
man aber auch nur eine von diesen beiden völlig »klaren« Einsichten 
weg, so verliert die genannte Formel für mich vorläufig jede 
psychologische repräsentative Bedeutung. Auch glaube ich, daß 
sich für keine anderen rechnerischen Prämissen der soeben ge¬ 
nannten Formel für r (21) diese reale Bedeutung der zu repräsen¬ 
tierenden K.-G. und die Anerkanntheit der benützten Repräsen¬ 
tationsfunktion nach weisen lassen, die sie unseren Erklärungs¬ 
begriff des Bedingungsextremes ersetzen ließen, wenn wir 
nicht etwa, wie es hier ja überall ausdrücklich aus¬ 
geschlossen sein soll, spezielle Verteilungsformen, z. B. 
Symmetrie der zu repräsentierenden K.-G., einführen. 
Urban glaubt nun anscheinend wohl, diese Ableitung von seinem 


1) So lege ich auch z. B. meinerseits der Tatsache höchstens einen Affek¬ 
tionswert bzw. allgemein eine mnemotechnische Bedeutung bei, daß ich 
auf die Formel für r (21) schon lange Zeit vor ihrer Ableitung durch Spear- 
man durch eine einfache rein äußerliche Operation bei Her¬ 
stellung der Müllerschen Idealgebiete gekommen war, indem mir 
auch die absolute Lage der Grenzlinie, die gewissermaßen bei der getrennten 

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Zur erk. u. math. Begründung d. Maßmethoden f. die Unterschiedeschwelle. 73 


Begriff des »ebenmerklichen Unterschiedes« aus zustande bringen 
zu können, von dem er meint, daß er sich zunächst wenigstens 
mit unserem r (6) decke. Unsere folgenden Darlegungen in Ab¬ 
schnitt II dürften aber wohl auch jede Aussicht in dieser Richtung 
benehmen, so daß uns vorläufig wohl nur die genannte Alter¬ 
native bleibt, unseren Formeln entweder »ohne Umschreibung« die 
von uns gemeinte Bedeutung oder überhaupt keine beizulegen. 


3) Die Unbestimmtheit der realen Abhängigkeits¬ 
beziehung zwischen der oberen und unteren Schwelle 
innerhalb des tatsächlichen Beobachtungsmateriales. 

Mit der Feststellung, daß wir von den beobachteten Häufig¬ 
keiten g und k aus immer nur auf Kollektivgegenstände 
jener Bedingungsextreme, nicht aber auf ihre jeweilige Lage im 
einzelnen zurtickschließen können (siehe I, 2 d), ist natürlich das 
gleiche auch für den jeweiligen Abstand zwischen r 0 und r n 
konstatiert, der häufig einfach als doppelter Wert der mittleren 
»Unterschiedsschwelle« aufgefaßt wird, insofern nach S. 62 
r 0 — r u = s 0 - f- s u ist. Natürlich hält man in jedem Augenblick, 
in welchem man ein r 0 als das Minimum der scheinbar größeren 
Vergleichsreize annimmt, erst bei einem ganz bestimmten klei¬ 
neren r x <^r u das »kleiner«-Urteil für eben möglich. Denn wenn 
diese Extreme auch schwanken, so ist doch deshalb in jedem 
Augenblick die Möglichkeit für beide Urteilsarten eine bestimmt 
abgegrenzte. Wenn sich aber eben überhaupt einmal eine 
mittlere Urteilsart dazwischenschiebt, so daß also nicht 
etwa immer schon F g (x) -f- F k (x) = 1 ist, so läßt sich nie¬ 
mals a priori etwas darüber aussagen, welche spezielle 
Eventualität von r u aus dem gesamten K.-G. f w (x) jeweils 
gerade mit einem angenommenen Falle r 0 aus f 0 (x) zu¬ 
sammentrifft. Die Summe s 0 -f- s u = r 0 — r u ist also für unsere 
Erkenntnis noch um einen Grad hypothetischer als s 0 und s u bzw. 

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Möglichkeit aus, daß ein V gleichzeitig entgegengesetzte 
Urteile (g und t) auslöst, wie es sein mußte, wenn jemals 
r 0 <C r u würde. Da sich aber im allgemeinen die nach dem vorhin 
genannten Prinzip abgeleiteten hypothetischen K.-G. f 0 [x) und f u (x) 
von E' 0 bis E' u überschneiden, wie in Figur 2 zu sehen sein wird, 
so darf also von vornherein nicht etwa die bekannte Produkt¬ 
bildung f 0 (; x p ) • f u (x g ) als Ausdruck der Wahrscheinlichkeit betrach¬ 
tet werden, daß gleichzeitig r 0 bei x p und r t4 bei x q liege. Denn 
dieses aus der Kombinationsrechnung abgeleitete Produkt hat eben 
nur so lange Bedeutung, als wirklich sämtliche Kombinationen je 
eines Wertes des einen mit je einem der anderen K.-G. überhaupt 
möglich sind. Doch wird uns dies in der beiderseitigen Zuordnung der 
einzelnen Fälle von f 0 [x) und f u (x), die wir uns gleichzeitig ver¬ 
wirklicht denken können, freilich nur sehr wenig einschränken, d a 
(bei stetigen K.-G.) doch noch immer unendlich viele 
Kombinationen ohne Inversion von r 0 und r M übrig bleiben. 
Wir heben diesen hohen Grad der beiderseitigen Unabhängigkeit 
von f 0 [x) und f u (x), der insbesondere die Repräsentanten 
beider K.-G. völlig unabhängig voneinander zu berechnen 
gestattet, schon an dieser Stelle ausdrücklich hervor, wenn wir 
auch erst bei der Stellungnahme zu der Lippssehen Behandlung 
der Gleichheitsfälle darauf zurückkommen werden. 


II. Zur Methode der ebenmerklichen Unterschiede. 


1) Die Methode der Minimaländerungen als spezielle 
Form der Ableitung sogenannter Vollreihen. — Urbans 
Rückkehr zur Sonderbehandlung ihres Beobachtungs¬ 
materiales mittels der Begriffe des ebenmerklichen und 
des ebenunmerklichen Unterschiedes. 


a) Bei Anwendung der Methode der Minimaländerungen wurde 
ursprünglich die Möglichkeit, daß die Urteilsextreme schon wäh¬ 
rend der Ableitung einer einzelnen Partialreihe (mit be¬ 
stimmter Richtung: der Abstufung: oder mit unregelmäßiger Reihen- 

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Zur erk. u. math. Begründung d. Maßmethoden f. die Unterschiedsachwelle. 75 


mum reduziert bleiben, so daß man sich gewissermaßen den In¬ 
halt unseres hypothetischen Schwellenbegriffes in jeder einzelnen 
Reihe an einem ganz bestimmten Werte dieser »Disposition« völlig 
konkret verwirklicht dachte. Die Mittelbildung zwischen den 
Partialreihen entgegengesetzter Richtung wurde also auch nur 
vorgenommen, um vor allem die systematischen Einflüsse der 
Richtung (z. B. Erwartungsfehler) auszuschalten. Unter dieser 
Voraussetzung war man dann offenbar auch ohne weiteres be¬ 
rechtigt, die Zufälligkeit, die den innerhalb jeder Reihe annähernd 
konstanten Gesamtlagen im Vergleich zu anderen Reihen an¬ 
haftete, einfach durch das arithmetische Mittel aus den Grenz¬ 
reizen der verschiedenen Reihen zu eliminieren. 

Sobald man aber einmal näher in Betracht zog, daß die zu¬ 
fälligen Schwankungen der Urteilsextreme schon einer und der 
nämlichen Reihe die Möglichkeit benehmen, einen eindeutigen 
Wert der beiden Extreme r 0 und r u unmittelbar auffinden zu 
lassen, ging die Methode der Minimaländerung durch die Ab¬ 
leitung von Häufigkeitskurven ganz von selbst in diejenige der 
drei Hauptfälle über, wie es aus ihrer neuesten Darstellung sei¬ 
tens ihres Begründers Wundt selbst am deutlichsten zu ersehen 
ist 1 ). Daher darf auch die oben als endgültig betrachtete Auf¬ 
stellung sogenannter »Vollreihen« keineswegs, wie es öfters ge¬ 
schieht, als eine bloße Weiterentwicklung der Methode der r. und 
f. Fälle betrachtet und zu derjenigen der minimalen Abstufung 
in Gegensatz gestellt werden, sondern sie bildet nur eine aus der 
zweckmäßigen Verbindung dieser beiden Methoden her¬ 
vorgegangene Vervollkommnung des einzig möglichen Verfahrens 
einer exakten Schwellenbestimmung schlechthin, wie es durch das 
sachliche Wesen der Schwelle als eines zufällig schwankenden 
(dispositionellen) Urteilsextremes gefordert ist. Nachdem man 
durch eine geeignete »Abstufung« in notwendiger Verbindung 
mit der »Abzählung« der Urteile eine hinreichende Anzahl von 
Werten der Funktionen F g [x) usw. abgeleitet hat, können daher 

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W. Wirth, 


geboten erscheint. Natürlich wird jede besondere Reihenfolge 
in der Darbietung der sämtlichen, in einer Vollreihe enthaltenen 
Fälle stets das tatsächliche Verhalten der Urteilsextreme beein¬ 
flussen. Wenn aber die Mittelwerte einigermaßen allgemeingültig 
bleiben sollen, wird man jedenfalls die einseitige Wiederholung 
von Vergleichsreizen bestimmter Regionen möglichst zu vermeiden 
haben. Dies führt aber somit ganz von selbst dazu, daß man, 
wie bei der Minimaländerung mit unregelmäßiger Reihenfolge, die 
sämtlichen Stufen zu absolvieren sucht, bevor man zu einer höheren 
Frequenzzahl aller Stufen weiterschreitet, wenngleich auch die 
zufällige Mischung aller Eventualitäten bei mehrmaliger Dar¬ 
bietung jeder einzelnen für die Aufrechterhaltung der vollen Un¬ 
wissentlichkeit um so wichtiger wird, je geringer die Gesamtzahl 
sämtlicher Stufen ist. Und ich wüßte nicht, was noch mehr dafür 
sprechen sollte, daß der Minimaländerung bei diesem Aufgehen in 
der Methode der drei Hauptfälle ganz gewiß kein Unrecht ge¬ 
schieht, als die sinngemäße Forderung vom Standpunkte der all¬ 
gemeinen, von der Annahme spezieller Verteilungsgesetze 
unabhängigen Kollektivmaßlehre, daß diese vollkommenste Me¬ 
thode bei Einschränkung der Zeit, die für die Versuche unter 
konstanten Versuchsumständen zu Gebote steht, nicht etwa in 
Richtung der Häufung einiger weniger Stufen, also nicht der alten 
Methode der r. und f. Fälle, sondern gerade in Richtung der 
Minimaländerung, d. h. einer weniger häufigen Absolvie¬ 
rung einer geschlossenen Reihe zu reduzieren ist, wenn 
man den wichtigsten Repräsentanten des arithmetischen 
Mittels der Schwelle und die bekannten Streuungsmaße 
in der a. a. 0. beschriebenen Weise will angeben können. 

b) Gegenüber dieser einheitlichen Kollektivbehandlung alles 
Materiales, das zur Ableitung von Schwellen gewonnen wird, 
möchte nun Urban seinerseits der Methode der Minimaländerungen 
gerade aus der Betrachtung der relativen Häufigkeiten g und k in 
Vollreihen eine Sonderstellung wiedergewinnen, mit der eine 
spezifische Behandlung des Materiales Hand in Hand gehe. 
Ähnlich wie also G. F. Lipps mit seiner wesentlich hypotheti- 


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Zur erk. u. math. Begründung d. Maßmethoden f. die UnterschiedeBchwelle. 77 


Abstufungsmethoden eine neue aktuelle Bedeutung zuerkennen 
zu müssen. Das Endziel dieser Methode bliebe nach Urban frei¬ 
lich selbst dann, wenn es mit den von ihm dazu vorgeschlagenen 
Mitteln wirklich sicher und genau zu erreichen wäre, kein anderes, 
als es auch von uns bei der unmittelbaren Behandlung der Voll¬ 
reihen, und zwar in der schon längst üblichen Seite dieses 
unmittelbaren Verfahrens angestrebt wird, nämlich die Bestim¬ 
mung desjenigen Vergleichsreizes, für welchen die rela¬ 
tiven Häufigkeiten g bzw. k gerade den Wert 2 er¬ 
reichen. Nur verfolgen wir mit Müller dieses Ziel eben aus 
dem Grunde, weil nach den oben dargelegten Prinzipien diese 
Abszissen des Vergleichsreizes den Zentralwerten r 0 (6) und 
r„ (6) unserer hypothetischen K.-G. f 0 (x) und f u (x) entsprechen, 
also den bei der Gültigkeit des Gaußschen Gesetzes mit r (51) 
und r (2)) identischen und auch sonst immerhin wichtigen Haupt¬ 
werten. Eben deshalb wollen wir diese Größe des Vergleichsreizes, 
für welche aus den unmittelbar beobachteten Häufigkeitszahlen der 

Vollreihe der Wert F g ( x ) bzw. F k [x) = y nach irgendeiner Me¬ 
thode, eventuell auch unter Voraussetzung einer bestimmten Ver¬ 
teilungsfunktion, zu interpolieren ist, auch fernerhin kurz mit 
r (Q) bezeichnen. Urban glaubt hingegen diesen speziellen Ab¬ 
szissenwert ohne Verwendung des hypothetischen, dispositionellen 
Begriffes der Schwelle als Resultat der Methode betrachten zu 
können, die wir mit ihm unter Benützung des älteren Fechnerschen 
Terminus als diejenige der »ebenmerklichen Unterschiede« be¬ 
zeichnen wollen, die aber, abgesehen von der für dieses Endziel 
nötigen Häufung der einzelnen Reihen, mit der Wundtschen Me¬ 
thode der Minimaländerungen bei unregelmäßiger Reizvaria- 
tion übereinstimmt. Markiert man die Urteile »größer«, »gleich« 
(unbestimmt), »kleiner«, deren relative Häufigkeiten mit g, u, k 
bezeichnet werden, mit g, u, ! und einem Index, der demjenigen 
des Vergleichsreizes r x entspricht, auf den das Urteil abgegeben 
wurde (gleichgültig, wie die Fälle in der Reihe zeitlich an¬ 


geordnet waren), so wäre also z. B. in einer Reihe mit 6 Stufen: 


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»ebenunmerkliche« obere Unterschied, da hier, von rechts her ge¬ 
zählt, zum erstenmal g nicht mehr vorkommt. Als Wert des 
oberen Grenzreizes erscheint dann innerhalb der Reihe das 
arithmetische Mittel des ebenmerklichen und ebenunmerklichen 
Unterschiedes, und als endgültiges Resultat der Methode das Mittel 
solcher Einzel werte aus vielen derartigen Reihen. Diese endgül¬ 
tigen Resultate, für die wir die Symbole r 0 (S. äft.) und r u (Ge. 9ft.) 
bzw. einfach r ((5. üft.) wählen wollen, werden also zunächst un¬ 
mittelbar als die beiden rein empirisch gefundenen »Grenzen des 
Intervalles der Ungewißheit« definiert, und mit ihnen sollen 
dann nach Urban ((£) und r u (ß) notwendig zusammen¬ 
fallen. 

Eben deshalb bringt es uns wenigstens zu den praktischen 
Konsequenzen der Urb an sehen Theorie auch noch in keinen 
wesentlichen Gegensatz, daß wir da, wo wir überhaupt diese 
speziellen Hauptwerte als Repräsentanten benützen wollen, natür¬ 
lich direkt auf diese selbst losgehen, also sie aus den beobach¬ 
teten g- bzw. ^-Werten durch Interpolation bestimmen, falls sie 
sich nicht zufällig einmal unter diesen selbst befinden. Denn 
nachdem Urban einmal die Übereinstimmung von r (6) mit 
r (@. 9R.) a priori abgeleitet zu haben glaubt, wendet auch er 
sich in den weiteren Teilen seiner Arbeit vor allem zur direkten 


Bestimmung von r ((£) aus den mit sieben Beobachtern ge¬ 
wonnenen Vollreihen, deren beobachtete Verteilungsfunktionen 
F„ (x) usw. er kurz als »psychometrische Funktionen« be¬ 
zeichnet. Dabei findet er nun, wie vor allem in seinen Ta¬ 
bellen 58 und 59 ‘) abschließend dargestellt ist, daß die Inter¬ 
polation von r (£) nach Lagrange, die auch wir in der speziellen 
Form der sogenannten »Differenzenmethode« dem unmittelbaren 
Verfahren durchweg zugrunde gelegt haben, von r 0 (@. 9tt.) und 
r u (@. 2R.) nur ganz wenig abweicht, wenn auch die Übereinstim¬ 
mung nicht ganz so gut ist wie bei der Ausgleichung der psycho¬ 
metrischen Funktionen nach der ©-Hypothese (d. h. bei der An¬ 
wendung des Müll ersehen Gewichtsverlahrens, das er durch die 


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Bruns hierbei theoretisch berücksichtigten Gewichts- 

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Zur erk. u. math. Begründung d. Maßmethoden f. die Unterschiedsschwelle. 79 

Hypothese, deren Werte in seinen Beispielen zwischen der ©-Hypo- 
these und der Interpolation stehen. Diese »Arctan-Hypothese« ge¬ 
winnt aUerdings auch für Urban wegen der großen übrigbleibenden 
Fehler (a. a. 0., S. 412 f. des S.-A.) keine weitere Bedeutung. Doch 
brauchen wir auf die Bestimmungen der sogenannten »Genauig¬ 
keit« der einzelnen Methoden nach den gebräuchlichen Gesichts¬ 
punkten, die hier je nach der Herkunft der Resultate selbst natür¬ 
lich ganz verschieden zu spezialisieren waren, an dieser Stelle 
nicht näher einzugehen. Denn für uns handelt es sich ja hier nur 
um das Wesen der Größen r (@. 9tt.) selbst, die in der von Urban 
vorausgesetzten Anwendung der Methode gefunden wurden, und 
insbesondere um ihre Beziehung zu r (6), ohne Rücksicht darauf, 
aus welchem Schwankungsbereich*sie durch Mittelbildung heraus¬ 
gehoben werden 1 ). 


2) Die Verschiedenheit des Wertes r (@. 3JZ.) von r (ß) ohne 
Voraussetzung spezieller Verteilungsgesetze. 

a) Die ganze Sorgfalt der Urbanschen Analyse kon¬ 
zentriert sich also auf den Versuch, die Übereinstimmung 
von r (@. 2R.) mit r (S) nachzuweisen. Ja, Urban geht sogar 
so weit, die vorhin genannte kleine Abweichung des inter¬ 
polierten r (S) von dem aus dem gleichen Beobachtungsmaterial 
berechneten r (@. 9??.) auf den Unterschied des interpolierten Wertes 
als einer mit Fehlern behafteten »Beobachtung« von dem wahren 
r ((£) zurtickzuftthren, und betrachtet somit, bei idealer An¬ 
wendung der Methode, r (@. üft.) sogar als den unmittel¬ 
barsten Repräsentanten des zur Hälfte aller Fälle richtig 
beurteilten Vergleichsreizes r (©). Da aber natürlich die 
bessere Übereinstimmung mit der ©-Funktion, die den beobach¬ 
teten Häufigkeiten g und k am nächsten kommt, bei dem gänzlich 
unbekannten Charakter der »wahren« Funktion noch nicht als 

Beweis für die These angesehen werden kann, so ruht dieser voll- 

•• 

ständig auf den apriorischen Überlegungen, die von den wahren 
psychometrischen Funktionen F g ( x ) und F k (x) ausgehen und aus 


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ihnen die Wahrscheinlichkeiten berechnen, wie oft jede Stufe des 
Vergleichsreizes bei einer sehr großen Zahl von Einzelreihen als 
Punkt r (ß. 9)2.*) der Ebenmerklichkeit (vom Inneren der Un¬ 
sicherheitsregion, d. h. von der Region der Gleichheit aus gezählt) 
und als Punkt r (ß. 9ft. a ) der Ebenunmerklichkeit (von außen her 
gezählt) zu erwarten ist*). Die Summe sämtlicher mit diesen 
Wahrscheinlichkeiten multiplizierten Stufen aber ist nach den oben 
genannten Vorschriften der Methode das endgültige berechnete 
r 0 (ß. üft.) bzw. r„ (ß. 5tt.). Die Wahrscheinlichkeit, als r 0 (ß. 9)?.<) 
vorzukommen, bezeichnet Urban mit P, für r 0 (ß. 9ft. B ) mit P', 
ferner für r M (ß. 3R.<) mit U und für r M (ß. 9}?. a ) mit ü'. Nach 
Urban müßte also 

r. (S) = r t (g. 3».) = [1] 

Lt 

sein, wobei 

r. (ffi. SR.,) = r,P+r,P ... + r„ P [2] 

und 

(ß. m. a ) = r 4 P' + r # P' . . . + r u P, [3] 

und ganz analoge Gleichungen wären für r u (ß. 2R.) unter Ver¬ 
wendung von U und TT anzuschreiben. Man brauchte offenbar 
nur noch die plausible Voraussetzung hinzuzufügen, daß in einer 
großen Anzahl von auf- und absteigenden Einzelreihen jede Reiz¬ 
stufe x wirklich so oft als r (ß. 9ft.<) usw. gefunden wird, als es 
der Erwartung an der Hand der psychometrischen Funktionen 
entspricht 1 2 ), und‘hätte dann in der Tat nach dem Beweis des 
Satzes [1] diese Methode als Hilfsmittel zur Bestimmung von r (ß) 
anzuerkennen. Ich kann aber nun keineswegs finden, daß 
Urban den Beweis für [1] wirklich erbracht hat. Ja bei 
der funktionstheoretischen Analyse der Methode hat er sogar selbst 


1) Diese Bezeichnungen der Abstufnngsrichtung sind auf r 0 und r u gleich¬ 
mäßiger anwendbar als die des »auf- und absteigenden Verfahrens«. 

2) Diese Voraussetzung findet Urban auch rein empirisch sehr gut be¬ 
stätigt, wobei er allerdings die sehr große Zahl von je 300 bis 450 Einzel reihen 
bei 7 Vp. für jeden Wert zugrunde legt. Die Werte, die sich flir r 0 (S. 3)1.) usw. 
aus den empirischen psychometrischen Funktionen unter Einsetzung von 


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Zur erk. u. math. Begründung d. Maßmethoden f. die Unterechiedsschwelle. 81 


nirgends behauptet, daß er diesen Beweis tatsächlich geführt habe. 
Im Gegenteil ist man sich innerhalb dieses Zusammen¬ 
hanges überall wohl bewußt, daß ohne Voraussetzung 
spezieller Verteilungsgesetze an einen allgemeinen Satz 
zur genauen Bestimmung des Verhältnisses zwischen 
r (&. 2)1.) und r (6) überhaupt nicht gedacht werden kann. 
Erst gegen den Schluß dieser Vorüberlegungen erscheint zu¬ 
nächst auf einmal schon der Abstand zwischen r ((£) einerseits und 
den von innen und von außen her gewonnenen Partialwerten 
r(&. 9)1.*) und r (@. 9Ji. a ) andererseits ohne nähere Angabe eines 
Grundes prinzipiell vermindert, und in den späteren Diskussionen 
werden dann die arithmetischen Mittel r (©. 9ft.) aus den Partial- 
werten mit den r (&) als »Grenzen des Intervalles der Unsicher¬ 
heit« ohne weiteres vollständig identifiziert. 

Aus jenem Wahrscheinlichkeitskalkul an der Hand der psycho¬ 
metrischen Funktionen und der Definitionen der r (Gs. äft.*) usw. 
geht nur so viel mit Notwendigkeit hervor, daß r (@. üft.) und r (ß) 
für den niemals genau zutreffenden Fall Ubereinstimmen, 
daß erstens jene Funktionen sich symmetrisch zu r (ß) 
verhalten, gleichgültig, ob sie dabei speziell auch noch die be¬ 
kannte Snmmenfunktion 1 + d) (t ) zum einfachen Exponential- 
gesetz nach Gauß darstellen oder nicht, und daß zweitens 
die tatsächliche Abstufung der Vergleichsreize zufällig 
gerade so gewählt ist, daß sie zu r (ß) selbst symmetrisch 
ist. Für diesen Fall würde dann der gesuchte Beweis zugleich 
überaus einfach und selbstverständlich. Als Wahrscheinlichkeit 
P z dafür, daß jede Reizstufe r < r x das Urteil u oder f, r z aber 
zum erstenmal, von innen (unten) her gezählt, das Urteil g ergibt, 
finden wir mit Urban offenbar das Produkt der Wahrscheinlich¬ 
keiten dafür, daß jede einzelne Stufe, unabhängig von den übrigen, 
den hier bei ihr gefundenen Urteilseffekt erzeuge. Somit wird 


P, = [l_JV(r,)].[l-^(r t )] ... [l-Pifr,.,)]. JV(rJ. [41 

Ebenso wird die Wahrscheinlichkeit dieses Reizes r x , als r 0 (ß. 5[R. n ) 
befunden zu werden, 

\ t~ . .\ . ri _ v ir n 


P' - KJS,. \ TP f* 

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Tr 

glc 


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F o i r i) = 1 - F o ('•) 

F i (#*,) = 1 — F a (r w _,) usw., [6] 

und wir erhalten 

P' = P 

P'n -1 = USW. [7] 

Setzen wir also die Werte aus [7] in die Gleichungen [2] und [3] für die 
»berechneten« Werte (vgl. S. 80, Anm. 2) r 0 (@. 9Jt.,) und r 0 (ß. üfl. a ) 
ein, so müssen diese natürlich ebenfalls zu r (ß) symmetrische 
Werte ergeben, da die nach unserer zweiten Voraussetzung zu r (ß) 
paarweise symmetrisch gelegenen Abszissen r { und r n , r t und r„_i 
usw. nach Gl. [7] mit übereinstimmenden Häufigkeitswerten ange¬ 
setzt sind. Unter dieser ganz speziellen und in Wirklichkeit nie¬ 
mals genau erfüllten Bedingung würde also dann in der Tat auch 
Gl. [1] gelten, da das a. Mittel der zu r (ß) symmetrischen Partial¬ 
mittel natürlich in den Symmetriepunkt selbst hineintrifft. 

In den übrigen Fällen wird dagegen Gl. [1] im allgemeinen 
hinfällig. Es ist nichts mehr Allgemeines darüber auszu¬ 
sagen, wie die Partialmittel r 0 (ß. 907.*) und r 0 (ß. 9fl. a ), nach 
Gl. [2] und [3] berechnet, sich zueinander und zu r (ß) ver¬ 
halten, und ein ganz analoger Gedankengang ist natürlich wieder 
bezüglich r u (ß. 9D7.) und r u (ß) durchführbar. Allerdings wird man 
auch noch für den Fall, daß wenigstens F g (x) bzw. F k (x) zu 
ihren r (ß) genau symmetrisch sind, auch ohne jene zu r (ß) sym¬ 
metrische Abstufung der Reize innerhalb einer Reihe doch noch 
so viel zugestehen können, daß dann das arithmetische Mittel aus 
sehr vielen Reihen mit stets wechselnder Abstufung dem r (ß) be¬ 
liebig nahe gebracht werden kann, insofern man sich die Ab¬ 
stufung hierbei so variiert denkt, daß die Asymmetrien innerhalb 
jeder einzelnen Reihe sich schließlich doch wiederum symmetrisch 
kompensieren. Für die gewünschte Verallgemeinerung des Satzes 
zu einem Prinzip der Methode überhaupt ist aber dieses Zugeständnis 
natürlich nicht ausreichend, da eben gerade diese Hauptvoraus¬ 
setzung der symmetrischen Änderung von F g [x] im allgemeinen 


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Zar erk. u. math. Begründung d. Maßmethoden f. die Unterschiedsschwelle. 83 


U ( x) und ü' [x] zuteil werden läßt, können hieran nichts ändern. 
Als allgemeinster Satz wird hierbei nur so viel gewonnen, daß 
die Maxima der Wahrscheinlichkeit dieser Funktionen, die 
natürlich ohne spezielle Voraussetzungen mit den a. Mitteln 
r„ (G. 5J£.<), r 0 (@. ÜDi«) usw. keineswegs zusammenfallen, im allge¬ 
meinen (d. h. bei nicht zu unglücklicher Abstufung) in der Rich¬ 
tung des Abzählens der Fälle vor r (S) liegen, weil diese Funk¬ 
tionen von der nach r (6) gelegenen Reizstufe an notwendig 
abnehmen. Es liegen also wenigstens diese Maxima (Dichtigkeits¬ 
mittel) 55* und 3)* von P und P' auf verschiedenen Seiten von 

r(6), und ihr a. Mittel-^- wird dem r ((£) im allgemeinen 

näher liegen als jedes einzelne 2) für sich. Über den ttbrig- 

2 ) + 2 )' 

bleibenden Fehler r (6)-——— und insbesondere Uber die 

Lage des a. Mittels r 0 (@. 9ft.) der arithmetischen Partial¬ 
mittel nach Gl. [2] und [3] ist aber hiermit noch gar 
nichts Näheres ausgemacht 1 ). Da sich jenem Satz Uber die 


1) Das gilt dann auch für den Flächenschwerpunkt der Kurve für die 
stetige Funktion P[x) bzw. Pix) ubw., die sich aus den Wegen zusamraen- 
fdgen läßt, welche die diskreten Ordinaten- 


gipfel P,, P,, ... P n einer äquidistanten 
Stufenreihe r,, r 2 , ... r„ bei einer stetigen 
Verschiebung der Reihe nach r, «t, 
r s + « », ... r n + tt i [i = r v + 1 — r y ) zu- 
riicklegen. Jedenfalls ist hiermit der klarste 
Fall der Variation der Stufenreihe in meh¬ 
reren Reihengruppen bezeichnet, von der sich 
Urban, wie schon S. 82 angedeutet, die 
Auffindung bestimmterer Beziehungen zwi¬ 
schen r (GE) und r ((5. 37?.) erhofft zu haben 
scheint. In beifolgender Figur 1 ist diese 
Kurve Pix) ftir ein rein schematisches 



Beispiel einer psychometrischen Funktion 
F } (x) = iQ x dargestellt, von deren gerad¬ 
linigem Verlauf die tatsächlichen Beobach¬ 
tungen natürlich sehr weit abweichen. Doch 
kann man alle wirklich allgemeinen Sätze an 
solchen einfachen Funktionen leichter ver¬ 
anschaulichen und sich oft vor falschen Ver- 



Fig. 1. DieWahrschein- 
lichkeit Pix) einer Reiz¬ 
stufe x, als r a (<S.37?.<) be- 
fundenzuwerden. (Inter¬ 
vall der Stufen i = 1, äußerste 


linke Stufe x, = 0 + « • 
wobei « < 1. = 


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Lage von 35* vor P usw. wenigstens noch die allgemein gültige 
Spezialisierung hinzufügen läßt, daß seine Abweichung von r (CS) 
in der genannten Richtung um so größer wird, je enger und zahl¬ 
reicher die Reizstufen aneinandergereiht sind, so ließe sich viel¬ 
leicht eine allgemeine Bezeichnung zu r (&) noch am ehesten von 
2 ) + 2 )' 

——— erwarten. Aber abgesehen davon, daß die Methode der 

ebenm. Unterschiede in diesem Falle eben nach dem Prinzip des 
Dichtigkeitsmittels und nicht mehr nach dem jedenfalls an sich 
näherliegenden des arithmetischen Mittels gehandhabt werden 
müßte, um eine etwas kontrollierbarere Beziehung des Resultates 
zu r (&) herzustellen, wäre ja mit der bloßen Sicherung der Ab¬ 
weichung zwischen r ((£) und r (©. 9ft.), deren Hauptrichtung 
übrigens in dem genannten Sinne schon bei einer sehr geringen 
Zahl von Stufen vor r ((£) garantiert erscheint, über die ge¬ 
naueren Maßverhältnisse immer noch nichts ausgemacht. Auch 
die Beiziehung des Tchebycheff sehen Satzes bringt uns hierin 
nicht weiter, da dieser ohne Voraussetzung spezieller Verteilungs¬ 
gesetze ebensowenig eine Brücke zwischen 3)* und r 0 (S. usw. 
oder zwischen r ((£. ÜR.) und r ((£) zu schlagen vermag. Denn er 
bezieht sich ja hier auf das Verhältnis des r (@. 2JZ.) aus mehreren 
Abstufungssystemen zu dem Mittel aus allen möglichen Systemen 
dieser Art, ohne zu dem speziellen Repräsentanten r ((£) der 
psychometrischen Funktionen oder auch nur zu 35* ein bestimmtes 
Verhältnis herzustellen. Am klarsten hat aber Urban selbst 
diese Verzichtleistung auf den gesuchten Beweis bereits 
S. 300 und 302 formuliert, wo er sagt: »Es läßt sich a priori 
keine Aussage über die in einem gegebenen Falle gültige Ver¬ 
teilung (der P) machen« und »Eine symmetrische Verteilung 
(von P und P') würde die Ausnahme sein« (S. 300), und S. 302: »Falls 
man nun nicht besondere Annahmen über die Größen P macht, 
kommt man nicht zu den bekannten, relativ einfachen Aus¬ 
drücken.« 



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Zur erk. u. math. Begründung d. Maßmethoden f. die UnterschiedsBchwelle. 85 

näher an r (6) heranzuriicken gesucht, daß »einer der beiden Ver¬ 
gleichsreize«, zwischen denen r (6) liegt, »die größte Wahrschein¬ 
lichkeit hat, als Ergebnis der Bestimmung des ebenmerklichen 
ibzw. des ebenunmerklichen) Unterschiedes zur Beobachtung zu kom¬ 
men«. In Wirklichkeit findet man aber, daß SD* bei genügend 
enger Abstufung leicht zwei oder noch mehr Stufen 

vor -r (©) liegen kann, wodurch dann natürlich auch ein wesent- 

$ 1 2 )' 

lieh größerer übrigbleibender Fehler r (6)-—— möglich 

wird. Insbesondere ist dies z. B. auch schon an Figur 1 (S. 83, 
Anm. 1) veranschaulicht, da ja hier 2)* um zwei volle Reizstufen 

«C 

vor r (6) liegt. Wenn jene Verteilungsfunktion F g (x) — ^ auch 
von der psychometrischen sehr stark abweicht, so können analoge 
Abstände zwischen r (@. bzw. r(@. 9K.«) und r ((£) auch bei 
der Ob-Hypothese Vorkommen. Der falsche Satz (S. 305) 
bildet aber in Urbans Schlußkette ein nicht unwichtiges 
Glied! 

c) Da also die Deduktion aus der Voraussetzung bestimmter 
»psychometrischer Funktionen« die Beziehung zwischen r ((£. 9)?.) 
und r ((X) im einzelnen noch dahingestellt sein läßt, so kommt die 
Vermutung, daß die Abweichung des r (@. 9tt.) von dem nach 
Lagrange interpolierten r ((5) in dem empirischen Beispiele 
Urbans von den Fehlern der beobachteten g herrübre, einer 
petitio principii gleich. Denn wenn auch diese Annahme an und 
flir sich nichts Unmögliches behauptet, so kann doch diese bessere 
Übereinstimmung mit der Interpolation nach der ©-Hypothese 
ebensowohl einfach darauf beruhen, daß die wahren Funktionen 
F g (x) und F k (x) von der ©-Form verschieden und überhaupt zu 
den r ((£) asymmetrisch ansteigen, und daß der wahre Wert r ((£) 
von r (@. 9R.) systematisch verschieden ist und von diesem 
nur eben zufällig in derjenigen Richtung abweicht, in der er auch 
durch die Umgestaltung der beobachteten Verteilung in die nächst- 
liegende Form der ©-Funktion verschoben wird 1 ). Gerade vom 


1) Daß nicht etwa die algebraische Form der Lagrangeschen 
Interpolationsfunktion, die von der wahren jedenfalls mehr oder weniger 


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rein empirischen Standpunkte aus hat man also dabei 
stehen zu bleiben, daß die Resultate r(ß. 9}?.) der Methode 
der ebenmerklichen Unterschiede selbst bei einer so 
großen Reihenzahl, wie sie Urban anwandte, den wahr¬ 
scheinlichen Wert r (ß), so genau er nur immer auf Grund 
brauchbarer Vollreihen bestimmt werden könnte, immer nur an¬ 
nähernd erreichen. Eine solche bloße Annäherung würde aber 
dann nicht nur an r (ß) stattfinden, sondern ebenso auch an r (51) 
und r ($), die ja bei voller Symmetrie der Änderung der F (x) 
zu ihren r (ß) ohnehin zusammenfielen. Im allgemeinen Falle der 
Abweichung zwischen r (ß. 9Ä.) und r (ß) dürfte r (ß. 2ß.) also ge¬ 
legentlich auch dem r (5t) oder r (2)) näher liegen als dem Vergleichs¬ 
reiz mit 50# richtiger Urteile, so daß also insbesondere von 
der Methode der ebenmerklichen Unterschiede aus nie¬ 
mals zwischen den verschiedenen Hauptwerten der hypo¬ 
thetischen Schwellen eine Entscheidung getroffen werden 
könnte. 

3) Die Bedeutungslosigkeit des Wertes r (ß. 9JJ.) als des 
bloßen Mittels der scheinbaren (nicht der wirklichen) 
Lage der Urteilsextreme und die unvollsändige Berück¬ 
sichtigung des Beobachtungsmateriales der Vollreihen 

bei seiner Berechnung. 

a) Wenn man aber nun auch in r (ß. $R) und r (ß) im allge¬ 
meinen verschiedene Werte zu sehen hat, so daß also die Methode 


bestehen bleiben, wo r((5) fast genau mit einem beobachteten Werte überein¬ 
stimmt, wie aus Tabelle 11, Bd. XV, S. 287 und Tabelle 58 und 59 zu ersehen. 



V 

g bzw. lc 

r (£) nach 
Hypothese 

r (£) nach 
Lagrange 

r (ffi. SOI.) 
(beobachtet) 

Vp. II 

100 

g = 0,53 

99,27 

99,55 

98,71 

Vp. V 

96 

g = 0,51 

97,16 

95,83 

97,35 

Vp. VI 

96 

k = 0,49 

95,29 

95,82 

95,20 


Dabei ist aber auch noch zu berücksichtigen, daß die beobachteten Werte 
der psychometrischen Funktionen bei Urbans Versuchen schon einen relativ 
sehr hohen Grad von Zuverlässigkeit beanspruchen künnen, insofern sie. 
allerdings dafür in nicht sehr engen Intervallen, bei Vp. II wie bei I und III 
aps je 45Q und bei V und VI wie bei IV und VII wenigstens aus je 300 Einzel- 

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Ural 


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Zur erk. u. matk. Begründung d. Maßmethoden f. die Unterschiedsschwelle- 87 


der ebenmerklichen Unterschiede mit r (6) im Grunde genommen 
gar nichts zu tun hat, so bleibt doch zunächst immer noch die 
Frage, ob dem Werte r(@.2R.) nicht vielleicht doch wenig¬ 
stens unabhängig von den Hauptwerten unserer hypo¬ 
thetischen Schwellen r (6) usw. eine selbständige Bedeu¬ 
tung zuzuerkennen sei. Tatsächlich ist ja auch der Gedanken¬ 
gang bei Urban der, daß er bereits in den zufällig wechselnden 
Einzel werten r(@. 3JJ.) unmittelbar und völlig hypothesenfrei die 
jeweilige Grenze des Intervalles der Unsicherheit sehen zu dürfen 
glaubt, wenn er auch wohl erst nachträglich durch die vermeint¬ 
liche Übereinstimmung ihres a. Mittels mit einem Werte, der seit 
A. W. Volkmann als mittlere Schwelle anerkannt ist, in seiner 
Anschauung bestärkt wurde, ein solches Mittel unter gleich¬ 
mäßigerer Berücksichtung aller Stufen (nicht nur derer bei 50^) 
ohne das zeitraubende »Gewichtsverfahren« ableiten zu können. Wäh¬ 
rend aber r((£) aus den schon für Müller entscheidenden Gründen 
(vgl. oben I, 2) in der Tat einen Hauptwert derjenigen Häufigkeits¬ 
verteilung bildet, die gemäß der gesamten Mannigfaltigkeit den 
wirklichen Lagen der Schwellen in jedem Einzelversuch zukommt, 
ist /*((£. 2ft.) immer nur der Repräsentant der Häufigkeiten, mit denen 
das Urteil in einer Reihe, die jede Reizstufe je einmal 
enthält, von der einen und der anderen Seite her ge¬ 
zählt, zum erstenmal umschlägt. Nachdem aber einmal un¬ 
zweideutig feststeht, daß dieses Extrem von Versuch zu Ver¬ 
such schwanken kann, ist dieser Punkt des tatsächlichen ersten 
Urteilswechsels innerhalb einer Reihe nur noch ein scheinbares 
Extrem, eventuell also gewissermaßen eine »Extrem¬ 
täuschung«, und noch dazu unter dem ganz speziellen 
Gesichtspunkte der Abzählung von der einen oder 
anderen Seite. Über diesen letzten Sinn dieser Einzelwerte, 
aus denen r (@. schließlich das Gesamtmittel bildet, kann keine 
einfache Mittelbildung mehr hinweghelfen. Solange man natürlich 
bei der Methode der Minimaländerungen von diesen möglichen 
Schwankungen innerhalb der nämlichen Reihe völlig abstra¬ 
hierte, war, wie schon gesagt, auch das Mittel der Wechselpunkte 


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täuschungen« erscheinen, über deren spezielle Beziehung zu den 
Mittelwerten der wirklichen Lage der Extreme, die wir doch 
im letzten Grunde allein suchen, ohne Voraussetzung spezieller 
Verteilungsgesetze nichts Allgemeingültiges zu bestimmen ist, wie 
wir nunmehr zur Genüge erörtert haben. Dabei liegt es im Wesen 
der Sache, daß die Definition des ebenmerklichen und ebenunmerk¬ 
lichen Unterschiedes auch schon für die einzelnen Reihen gar nicht 
einmal ein eindeutiges Phänomen einer augenblicklichen Schein¬ 
lage des Urteilsextremes zu sein braucht. Denn bei der Fest¬ 
stellung des ebenmerklichen oder ebenunmerklichen 
Unterschiedes kümmerte sich Urban nicht darum, ob in 
der Reihe hinter dem ersten Urteilswechsel nicht viel¬ 
leicht noch mehrere weitere Urteilswechsel stattfinden. 
Dabei ist die Form dieser Einschränkung der Betrachtung ganz von 
der zufälligen Form F g ( x ) abhängig. Jedes letzte Element der Mittel¬ 
bildung bedeutet also nicht nur ein bloß scheinbares Extrem über¬ 
haupt, sondern wird auch nur bei einer zufällig wechselnden 
Einengung des Blickes als solches erscheinen. 

Auch liegt die Sache keineswegs so, daß man sich hier, wie 
in manchen anderen Erscheinungen, die man beobachtend zu 
analysieren sucht, mit den soeben als »Erscheinungen« bezeichneten 
Werten begnügen müßte. Unser oben in I, 2 d kurz rekapitu¬ 
lierter Rückschluß, der aus der ganzen Mannigfaltigkeit der 
psychometrischen Funktionen unter Einbeziehung der sachlichen 
Relationen auf die (mittlere) wirkliche Lage der Urteilsextreme 
gezogen werden kann, ist vielmehr erkenntnistheoretisch ganz 
ähnlich klar, wie wenn man etwa aus den Gesichtswinkeln 
a, ß, y , d usw., unter denen eine geradlinige, aber sonst nach 
Lage und Ausdehnung unbekannte und dabei variable Strecke 
von verschiedenen, hinsichtlich ihrer Lage bekannten Punkten 
A, B, ( 7 , D . .. einer Ebene aus erscheint, ihre wirkliche mittlere 
Länge s berechnet, indem man auf die beteiligten geome- 

triap.hp.n Rp7.ißlinmrAn RH p.lr ai p.b t. nimmt dip bpi knnatiintpr 


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Zur erk. u. niath. Begründung d. Maßmethoden f. die Unterschiedsßchwelle. 89 


Verfahren kann unter Umständen zufällig das Richtige treffen, 
wenn bezüglich derLage sämtlicher Beobachtungspunkte 
und der Veränderungsweise der unbekannten Strecke 
ganz spezielle Voraussetzungen erfüllt sind. Es sei z. B. 
die Unbekannte die durchschnittliche Länge einer variablen 
Sehne eines Kreises, und die Beobachtungspunkte liegen beliebig 
auf der Peripherie des Kreises verteilt, gewissermaßen wie kleine 
Löcher, durch die mau in das Innere eines Ringes nach seiner Sehne 
hinblickt. In diesem Falle müßte eine konstante Sehne wegen 
der Konstanz der zur gleichen Sehne gehörigen Peripheriewinkel 
von allen diesen Punkten aus gleich groß erscheinen, und das 
arithmetische Mittel ihrer wirklichen, variablen Länge (in 
Bogenmaß) würde daher in der Tat einfach aus dem arithmeti- 

sehen Mittel der a, /f, 7, d durch Multiplikation mit -ggQ- zu 

finden sein. Auch könnte die schon leichter erfüllte 
Voraussetzung, daß die wirkliche Lage der Beobach¬ 
tungspunkte von dieser Lage auf der Kreisfläche tatsäch¬ 
lich niemals allzu weit abweicht, es mit sich bringen, 
daß sich diese Berechnungsweise aus dem Mittel der 
scheinbaren Größen wenigstens niemals allzu weit 
von der wirklichen mittleren Ausdehnung s entfernen 
würde, wie wir es wegen der tatsächlichen Verhältnisse bei 
sehr vielen Versuchsreihen ja auch beim Werte r (@. ÜDL) allen¬ 
falls zugestehen wollten. Bei Bekanntheit der geometrischen Be¬ 
ziehungen, die dem Wesen der Vergleichstatsachen entsprechen, 
würde man aber natürlich auch in diesem Falle lieber den völlig 
exakten Weg der geometrischen Berechnung nach Formeln eiu¬ 
schlagen, die zunächst für jede beliebige Lage der Punkte 
A, B, C usw. die wirkliche mittlere Ausdehnung der gesuchten 
Strecke so genau als möglich berechnen lassen, falls der 
exakte Weg wirklich so bequem ist, wie bei den 
Schwellenwerten, insbesondere bei Anwendung unserer neuen 
Formeln für r (21) usw. 


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wahre Lage der Extreme zur Verfügung stehen würde, 
bei seiner Behandlung nach der Methode der ebenmerk¬ 
lichen Unterschiede nur ganz unvollständig verwertet 
wird. Ohne die Voraussetzung spezieller Verteilungsgesetze kann 
er also gar nichts über die wahren Verhältnisse aussagen, 
die bei einem Kollektivgegenstande immer nur aus sämtlichen 
Einzelversuchen des Materiales zu erschließen sind. Bei der Ab¬ 
leitung unserer hypothetischen K.-G. der beiden Schwellen f 0 {x) 
und f u [x) sind dagegen in der Tat sämtliche beobachtete 
Urteilsfälle g und f einbezogen, da sie ja alle zu unserem 
K.-G. der wirklichen Schwellenlagen mit den Verteilungen 

f 0 (z) = d F , 8 W und f„ ( x) = — d ^* - z - (siehe a.a.O. S. 144 Gl. [1 c] 

und [2c]) beitragen. Alle Ordinaten der hypothetischen K.-G. f (x) 
werden aber ihrerseits wiederum von den arithmetischen Mitteln r 0 (2l) 
und r u {%) am gleichmäßigsten repräsentiert. Wenn wir dagegen 
die relativen Häufigkeiten P und P' bestimmen, von denen der 
Beitrag jeder Stufe r x zu dem Mittel r 0 (@. 2K.) der Extreme nach 
Gl. [2] und [3] abhängt, so betrachten wir hierbei, wie schon S. 87 f. 
zunächst in einem allgemeineren Zusammenhänge hervorgehoben 
wurde, immer nur den Verlauf bis zum UrteilswechBel von einer 
Seite her. Die Kombinationen 


1) 

U. (f.), 

ü* A) ) 

9.i > 

9i i 

95 > 

2) 

u, ff,) > 

A) ) 

9s» 

u« A)» 

u 5 A), 

3) 

u, (f.) , 

ü» A) > 

9.i > 

94 , 

»5 A) 1 

4) 

U, ff,), 

», A), 

9.i > 

u t A), 

9s 1 


würden also z. B. bei der Bestimmung von r 0 (@. 9)t.<) als völlig 
gleichwertig behandelt, d.h. als vier Möglichkeiten der scheinbaren 
Lage des Extremes bei r 3 . Und wenn auch 1) und 4) sich dann 
wenigstens bei der Bestimmung von r 0 (@. 9J?.«) voneinander und von 
2) und 3) unterscheiden, so kommen doch die tatsächlichen 
Unterschiede der beiden Kombinationen 2) und 3) nicht 
einmal bei dieser Bestimmung des ebenunmerklichen 
Unterschiedes (bei Stufe >‘ 5 ), also bei der ganzen Urbanschen 
Behandlung überhaupt nicht zur Geltung. Kurz, die beiden 


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Zur erk. u. math. Begründung d. Maßmethoden f. die Unterschiedaechwelle. 91 


extreme stets ihren Einfluß geltend machen müssen. Ganz das 
nämliche gilt dann natürlich für die Verwendung der Beobach¬ 
tungen zur Berechnung von r u (@. ÜJi.), zu deren Veranschaulichung 
man in den obigen Reihenbeispielen nur ! und g zu vertauschen 
und die Reihenfolge umzukehren braucht. Mau kann sich aber 
wohl leicht selbst klar machen, wie groß die Zahl der bei Be¬ 
rechnung von r 0 (@. 9 R.) bzw. r u (@. 9ft.) völlig unberücksich¬ 
tigten Versuche sein muß, wenn die Reihen nicht nur aus sechs 
sondern aus sehr viel mehr Stufen bestehen, so daß die Stellen 
der Reihen, bis zu denen die Versuche von beiden Seiten her 
berücksichtigt werden, immer weiter auseinander rücken und viel 
mehr als nur eine einzige Stufe, wie hier i \, aus der Betrachtung 
ausschalten können. Auch ist hiervon nicht etwa eine wesentliche 
Einsparung von Einzelversuchen zu erwarten, da die Reihenfolge 
der Versuche bei unregelmäßiger Variation der Stufen die 
Irrelevanz dieser Versuche nur selten oder meist nur noch für 
einen Teil derselben voraussehen läßt, ganz abgesehen davon, daß 
die Ungleichmäßigkeit der Reihenlänge im ganzen kein Vorteil 
wäre, zumal, wenn dadurch Versuche verloren gingen, die bei einer 
richtigen Berechnung der Schwellenwerte gut zu brauchen wären. 
Dies alles gilt natürlich sogar für Urbans ideale »Berechnung« 
des Wertes r (@. 3J2.), also unter der Voraussetzung, daß die wirk¬ 
lich beobachteten Reihen die sämtlichen Möglichkeiten der Einzel¬ 
werte von r ((£. 9 Ji.<) und r(@. 2R. a ), die sich aus bestimmten 
psychometrischen Funktionen F g [x) und F k (x) ergeben, wirklich 
gleichmäßig realisieren, was auch immer nur annähernd erfüllt ist. 

Wollte man aber diese Einschränkung, mit der das Material 
der Vollreihen bei n Reizstufen in den Werten r (@. 2J£.) schließlich 
zur Geltung gebracht wird, durch eine weniger einseitige Behand¬ 
lung aufheben, so müßte man eben wirklich sämtliche ver¬ 
schiedenen Urteilskombinationen für je w Stufen, die unter 
Voraussetzung bestimmter psychometrischer Funktionen überhaupt 
als Einzelreihen mit je einmaliger Darbietung jeder Stufe möglich 
sind, getrennt berücksichtigen. Wollte man aber auf diese Art 


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92 


W. Wirth, 


Beobachtungsreihen hinreichend konstant blieben. Aber init 
m n Reihen könnte man doch wenigstens in der Theorie das gesamte 
Material wohldifferenziert berücksichtigen, während die Zufälligkeit 
der Urbanschen Behandlung des Materiales auch schon daraus zu 
ersehen ist, daß man ohne Einführung der tatsächlichen psycho¬ 
metrischen Funktionen gar nicht allgemein angeben kann, wie 
viele von allen m n möglichen Reihenkombinationen bestenfalls 
gesondert in Rechnung gezogen worden sind. Jedenfalls ist es 
aber auch schon eine sehr große Anzahl, die uns zeigt, daß 
jede Operation mit bestimmten speziellen Urteilsfolgen 
innerhalb der Partialreihen zu n Gliedern zu ihrer A11- 


gemeingültigkeit zum mindesten in eine ganz andere 
Dimension der Versuchszahl hineinführen würde, auch 
wenn das Ergebnis weniger einseitig wäre. — Denkt man sich aber 
wirklich einmal in m n Reihen sämtliche Möglichkeiten der Urteils¬ 
gruppierung in separaten Einzelreihen dieser Methode vertreten, 
so hätte man offenbar wiederum nur das gesamte Rohmaterial, 
aus dem man sich zunächst die psychometrischen Funktionen ab¬ 
geleitet denkt, ^- = ra" _1 -mal vor sich, und mit der Analyse 
desselben bzw. der Berechnung der wirklichen Urteilsextreme wäre 
man, abgesehen von der Aussicht auf eine größere Genauigkeit nach 
Lösung der Vorfrage, so weit wie nach einmaliger Absolvierung 
von mn wirklich voneinander unabhängigen Einzel versuchen, 
eine übrigens ganz charakteristische Situation, in die 
aber eben jeder positivistische Versuch sich schließlich 
hineingedrängt sieht, der den Inbegriff dessen, was 
(dispositionelle) Bedingungen bedeuten, ohne Abstraktion 
in die konkrete Gesamtheit ganz spezieller aktueller 
Erfahrungen über sie auflösen will, und zwar gerade in 
dem noch relativ besten Falle, in dem die sogenannte »ein¬ 
fachste Beschreibung« nicht einfach durch fehlerhafte Abbrevia¬ 
turen erlangt wird. Bei unserer Behandlung der Vollreihen brauchen 
wir, wie oben erwähnt (siehe S. 69 f.), unsererseits bloß anzu¬ 
nehmen , daß in sämtlichen m n Einzelversuchen alle wesentlichen 


Möglichkeiten 


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der Beurteilung jeder einzelnen Reizstufe 

• ’ ‘ " Origir^l frorrT ' 

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Zur erk. u. math. Begründung d. Maßmethoden f. die Unterschiedsschwelle. 93 

mäßig in Angriff genommenen Ziele hinreichend nahe. So weit 
systematische Nebeneinflüsse der speziellen Reihenfolge da sind, 
bedenten sie natürlich stets eine Gefahr für den Erfolg der 
Schwellenberechnung aus relativ wenig Einzelversuchen. Aber 
man kann dann wenigstens dafür sorgen, daß die speziellen 
Nebeneinflüsse, die aus der Reihenfolge resultieren können, durch 
die Zufälligkeit der Untermischung vieler Fälle möglichst kom¬ 
pensiert sind. 

Somit kann also den Werten r (@. irgendwelche Bedeutung 
zur Repräsentation der einer Vollreihe zugrunde liegenden Unter¬ 
scheidungsfähigkeit nicht zugesprochen werden, und da Urban 
seinerseits selbst zugibt, daß r (6) am genauesten immer durch die 
Interpolation nach Lagrange bestimmt werden kann und gegen die 
hier vorgebrachten Tatsachen im einzelnen auch kaum einen Ein¬ 
wand erheben dürfte, so werden wir seinen eigenen Ausführungen 
über die Methode der ebenmerklichen Unterschiede nur die 
eine praktische Bedeutung zuerkennen können, daß sie, 
freilich entgegen seiner Absicht, die Unzulänglichkeit 
dieser Sonderbehandlung der Methode der Minimal¬ 
änderungen gegenüber den Schwankungen der Schwelle 
während ihrer Partialreihen mit voller Sicherheit dar¬ 
getan haben. 


Anhang. 


Die Variation des arithmetischen Mittels der 
Schwellest), des konstanten Fehlers c (91) und der 
Strenungsmaße M (31) bei Fraktionierung von Voll¬ 
reihen. 


a) Wie schon erwähnt, hat Urban die wahrscheinlichen 
Werte r ((£.30?.) aus den »psychometrischen Funktionen« F g {x) 
und Ft (x) an der Hand des ausgedehntesten Materiales über 
Gewichtsvergleichungen vorgenommen, das bisher für so viele 
7) Versuchspersonen unter gleichwertigen Bedingungen abgeleitet 
worden sein dürfte. Das Normalgewicbt von 100 g wurde hier- 
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' ' "OTigirrilfi: n 

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94 


W. Wirth, 


i — 4. Urban gibt aber nicht etwa nur die in seiner Tabelle 11 
(a. a. 0. S. 287) enthaltenen relativen Häufigkeiten g, u und k für 
sämtliche Versuche, deren Gesamtzahl bei Vp. I bis III für jede 
Stufe m = 450 und für IV bis VII m = 300 war. In Tabelle 1 
bis 7 fraktioniert-er vielmehr das gesamte Material flir 
die sieben Vp. in Gruppen zu je 50 zeitlich zusammengehörigen 
Einzel versuchen ftlr jede Reizstufe, was flir I bis III neun und flir 
IV bis VII sechs Gruppen von gleichem Gewichte ergab. Er wollte 
an der Hand dieses Materiales erst einmal feststellen, ob sich 
die Partialwerte g (1), g (2) usw. dieser Fraktionierung in einer 
hinreichend »normalen Dispersion« um ihr Mittel scharen, wie es 
zur strengeren Anwendung des Wahrscheinlichkeitskalküls voraus¬ 
gesetzt ist, und fand dies auch für alle Vp., außer etwa III und 
V, und am besten flir die bereits geübte Vp. II bestätigt. 

Dieses schöne Material gibt uns nun eine sehr dankenswerte 
Handhabe, um die Schwankungen des a. Mittels der Schwelle 
innerhalb solcher an sich bereits hochwertiger Partialgruppen zu 
verfolgen, also desjenigen Hauptwertes r (51), der vor dem im 
unmittelbaren Verfahren früher allein gebräuchlichen r (&), 
aber auch vor dem r(®) den Hauptvorteil voraus hat, 
daß er nicht nur aus den nach dem Bernoullischen 
Theorem viel unzuverlässigeren g- und /c-Werten in der 
Nähe von 50 % , sondern gleichmäßig aus der ganzen 
Funktion von E 0 , bzw. E u bis E' 0 , bzw. E’ u abgeleitet ist. 
Urban hat ja auch das Verdienst, daß er auf diesen Gewichts¬ 
unterschied der verschiedenen relativen Häufigkeiten je nach ihrer 
absoluten Größe, auf den freilich seinerzeit schon Bruns 1 ) und 
inzwischen auch G. F. Lipps 2 ) ausdrücklich hingewiesen haben, 
in der praktischen Rechnung überall sorgfältig Rücksicht genommen 
hat. Ein Vergleich der einzelnen Fraktionswerte g (1), g (2) . . . 
usw. für die verschiedenen Reizstufen läßt denn auch die großen 
Verschiedenheiten ihrer absoluten Größenschwankungen je nach 
dem Abstand von r (©) sehr deutlich hervortreten. Dadurch können 
auch die Extreme E 0 usw. des Anstieges der psychometrischen 


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Zur erk. n. math. Begründung d. Maßmethoden f. die Unterschiedsschwelle. 95 


Man braucht nun bloß die nach Lage der Sache für sehr viele 
Reihen wohl wahrscheinliche Annahme zu machen, daß die 
äußersten Reizstufen 84 und 108 bei Urban den tatsächlichen 
Extremen E, t und E 0 wirklich vollständiger Reihen, falls sie diese 
noch nicht einschließen, doch wenigstens unmittelbar benachbart 
seien, so daß E u mindestens 80 und E 0 höchstens 112 würde 1 ), 
und man kann die Werte r (51) für alle Partialreihen nach der 
Spearmanschen Formel berechnen, die ich allgemein für stetige 
Funktionen F g [x) und F k [x) als hinreichend genau bewies, wonach 2 ) 
Bo 

r 0 (31) = E 0 — jF g (z) d x = E 0 — i + g t + ... g p _ , + ) 

*0 

und — bei symmetrischer Numerierung der k — 

K 

(31) = E u +1 Ft[x) dx — E u -\- i \k x -f- k t -f- • • • — ( -f* • 

K 

Einstweilen habe ich diese Berechnungen wenigstens für die 
beiden Vp. I und II durchgefUhrt 3 ), die nicht nur das reichste 
Material darbieten, sondern auch Urban als die konstantesten 
erschienen. Außerdem füge ich wenigstens für Yp. I auch noch 
das nach meiner Formel sehr bequem zu berechnende Streuungs¬ 
maß Af* (31) für sämtliche Partialgruppen, sowie für die Zusammen¬ 
fassung aller Versuche (nach Tabelle 11) hinzu, da sie ja eine von 
den Hauptwerten relativ unabhängige Charakterisierung des Ver¬ 
haltens der Vp. bedeuten. Gleichzeitig betrachten wir den so¬ 
genannten konstanten Fehler, nach dem gleichen Prinzip als 

c (31) = r °- ^ ] + 2 r " (g) — N berechnet 4 ). 


1) Wenn die Versuche nicht von vornherein auf die Einbeziehung der 
Extreme E und E' angelegt sind, wozu ja Urban ebenso wie die von ihm 
zitierte neueste Abhandlung von Brown seinerzeit noch keine Veranlassung 
hatte, bedeutet deren Extrapolation natürlich immer eine Annahme mehr. 
Doch stimme ich mit Urban in der hohen Einschätzung der Extrerhe Uber- 


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96 


W. Wirth, 


Übersicht über die arithmetischen Mittel r 0 (31) und r u (3t) 
der Grenzreize und Uber Ms (St) und Ml (St), sowie über 
die U.-S. s (St) = l [r 0 — r u ) und c (St) bei Urbans Vp. I und II 
in Einzelgruppen zu je 7x50 und in der Zusammen¬ 
fassung zu 7 X 450 Versuchen. 

Vp. I. 



Einzelgruppen I—IX 

! Zusam- 
J men- 
fassum: 

n, (*>[ 

I 1 

1 101,04 

98.48 

101,60 

98,96 

100,16 

100,24 

98,82 1 

1 98,16 

99,68 

99.67 

r„(® 

91.92 

92,80 

92,96 

91,68 

93,60 

93,84 

94,48 

93.68 

95,60 

' 93,39 

* m 

4,66 

2,84 

4,32 

3,64 

3,28 

3,20 

2,17 

2,24 

2,04 

1 3,14 

c (3t) 

— 3.52 

— 4,37 

— 2,72 

— 4,66 

-3,12 

— 2,96 

— 3,35 

-4,08 

— 2,36 

1 3,47 

iV; M* (B) 

1,73 

1 0,97 

0,61 

2,37 

1,78 

1,48 

1,29 

1,69 

0,64 

1,65 

iV K («) 

| 2,29 

1,21 

2,03 

1 2,12 

1.57 

2,09 

2,07 

1 2 ’ 15 

1,16 

1,96 

l 





Vp. II. 















! 

Zusain- 





Einzelgruppen I—IX 




men- 










|j fass uns 

r 0 [Wl 

100,64 

100,32 

99,20 

98,80 

99,44 

99,36 

98,48 

98,88 

97,68 

1 99.20 

r„ (2t) 

96,40 

95,60 

96,00 

95,28 

95.36 

95,68 

94.24 

93,44 

94,48 

1 95,15 

* (2t) 

2,12 

2,36 

1,60 

1,76 

2,04 

1.84 

2,12 

2,72 

1,60 

2,02 

e (31) 

-1,48 

-2,04 

-2,40 

— 3,96 

-2,60 

1 

— 2,48 

— 3,64 

— 3,84 

— 3.87 

-2,82 


Eine sichere Kontrolle dieser Werte, abgesehen von den Rubriken M\ be¬ 
steht darin, daß das Mittel aus den obigen Einzelgruppen I—IX mit der 
direkten Berechnung nach unseren Formeln aus der Zusammenfassung nach 
Urbans Tabelle 11 übereinstimmen muß. 


Diese Tabellen lassen nuu unschwer erkennen, daß der all¬ 
gemeine Zustand der Vp. in den verschiedenen Partial¬ 
gruppen doch nicht ganz so konstant war, wie es Urban 
seinerseits aus der bloßen Betrachtung der Dispersion 
Aer q - und £-\Verte für jede Stufe des V einzeln für sich 


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Zur erk. u. matb. Begründung d. Maßmethoden f. die Unterschiedsachwelle. 97 


das nämliche auch für Yp. II behaupten lassen, obgleich zwischen 
den einzelnen Partialreihen sehr nennenswerte absolute Differenzen 
in dieser Hinsicht Vorkommen, die hierbei w r ohl zunächst einfach 
als zufällige Dispositionsschwankungen zu deuten sind. Bei Vp. II, 
die ja auch für Urban als die konstanteste erschien, gilt wohl 
die nämliche Zufälligkeit des Wechsels auch noch fllr den mitt¬ 
leren Schwellenwert 5 (51) und bei Vp. I ebenso fUr den konstanten 
Fehler c (51). Dagegen scheint mir nebenstehende Tabelle 
für Vp. I ganz unzweideutig eine zunehmende Verfeine¬ 
rung des Wertes s (51) und für Vp. II wohl ebenso bestimmt 
eine Zunahme des negativen konstanten Fehlers c (51) 
darzutun. Jene Tatsache dürfte auch mit dem sonstigen Befunde 
gut zusammenstimmen, da bei Vp. I die Schwelle s (51) zunächst 
an und für sich noch relativ groß, also noch eine hinreichende 
Übungsfähigkeit vorhanden war. Andererseits ist auch bei ge¬ 
übten Vp. eine Erhöhung des negativen Fehlers als Effekt einer 
systematischen Änderung des gesamten Verhaltens sehr wohl denk¬ 
bar, das nicht gerade Übung oder Anpassung zu sein braucht und 
von Lehmann als Bahnungseffekt, von G. E. Müller als Er- 
müdung8einfluß gedeutet wird. 

Für Vp. I wollen wir schließlich auch noch das unmittelbare 
Verfahren und die von Urban allerdings bei der Fülle der Rechen¬ 
arbeit nur an der Zusammenfassung durchgeführte Berechnung 
nach der <D-Hypothese (nach Urbans Tabelle 43 und 44, S. 380) 
miteinander vergleichen. Berechnet man aus Ml und Ml die 

Präzisionsmaße h = _ , so ergibt sich folgende Zusammen¬ 

stellung der Werte nach dem angenäherten unmittelbaren Ver¬ 
fahren (u. V.) und nach der ©-Hypothese: 



r 0 !«) 

r u (2) 

K 

h u 

u. V. 

99,67 

93,39 

0,1376 

0,1264 

<P-R. 

99,68 

93,34 

0,136113 

0,125777 

Differenz 

-0,01 

0,0ö 

0,0015 

0,0006 


was also immerhin für diese Vp. wieder eine ganz über- 


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Gcx igle 


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98 


W. Wirth, 


b) Am Schlüsse seiner Besprechung (vgl. Literaturber.) scheint mir 
indessen Urban in der Verallgemeinerung dieser Übereinstimmung 
zwischen den arithmetischen Mittelwerten, die wir im unmittel¬ 
baren Verfahren gewinnen, und seinen nach der ©-Hypothese 
interpolierten Mittelwerten doch etwas zu weit zu gehen. Doch 
will ich nach Urbans Ankündigung einer ausgedehnten Behand¬ 
lung des Materiales in dieser Untersuchung nichts weiter tun, ins¬ 
besondere also auch nicht über meine Annäherungsformeln hinaus- 
gehen, die ja bezüglich M i nicht so genau sind wie für r (St) 
selbst. Nur eines muß ich auf alle Fälle über Urbans Formu¬ 
lierung dieser Übereinstimmung noch hinzufügen: Es ist offen¬ 
bar zu speziell, wenn Urban in seiner Besprechung 
meiner Arbeit seinen Wert nach der ©-Hypothese als 
r (©) bezeichnet, da ja doch unter Voraussetzung des 
einfachen Exponentialgesetzes r(2l), r ((£) und r (®) zu¬ 
sammenfallen. Auch Urban hat also, ebenso wie ich, einen 
Wert r (St) berechnet. Würden sich also die beobachteten Werte 
g und k von vornherein ohne Ubrigbleibende Fehler der 
©-Hypothese unterordnen, so würde die Übereinstimmung zwi¬ 
schen Urbans Werten und unseren r (51) und M i (2t) überhaupt 
gar nichts weiter zu erklären übrig lassen. Aber auch die Fälle, 
in denen eine Abweichung der einzelnen Beobachtungen von der 
©-Kurve besteht, sind ohne Erwähnung des Begriffes des Zentral- 
wertes einfach so zu erklären, daß die übrigbleibenden Fehler bei 
der ©-Hypothese hier nach Vorzeichen und Größenverteilung 
offenbar so zufällige sind, daß sie sich im Mittel r (2t) und M * 
des unmittelbaren Verfahrens hinreichend kompensieren. Dies 
sind aber gerade die klassischen Fälle, in denen eben 
die einfache ©-Hypothese wirklich berechtigt ist. In so 
und so vielen Fällen ist aber die Verteilung der übrigbleibenden 
Fehler bei der einfachen ©-Hypothese keine so gleichmäßige, 
daß Urbans und meine Werte übereinstimmen könnten, und man 
wird dann wohl auch jene Hypothese als zu einfach ansehen. 
Dies läßt sich aber eben auch schon im unmittelbaren 


Verfahren selbst ohne weiteres daraus ersehen, daß die 

ttanntmorto r /9H nn/1 r fffl f tt m f ni* vnTininnn/lai' n V\ nr ni/tKnn 

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Zur besseren Verteilung der übrigbleibenden Fehler wären dann 
eben kompliziertere Verteilungsfunktionen, also vor allem die 
Brunssche Reihe beizuziehen 1 ). Hierbei scheint mir aber keines¬ 
falls etwas der näheren Erklärung bedürftig zu sein, da die tat¬ 
sächliche systematische, d. h. nicht völlig zufällig verteilte Ab¬ 
weichung vom einfachen Exponentialgesetz (E.-G.) in so und so 
vielen Fällen einfach als Tatsache hingenommen werden muß. 

Ich erwähne dies alles aber nur, weil mir Urban durch die 
Formulierung, daß er r (©) und ich r (§1) berechnet hätte und 
beides tibereinstimme, doch wiederum nur auf den Anschluß 
unseres r (31) an seinen Wert r ((£. 9tt.) der Methode des ebenmerk¬ 
lichen Unterschiedes hinzustreben scheint. Wir haben aber oben 
nun wohl schon zur Genüge dargetan, daß r ((£. 9tt.) ohne ganz 
spezielle Voraussetzungen weder mit r ((5) noch mit r (31) zu¬ 
sammenfällt. 

Lassen sich aber die tatsächlichen Beobachtungen ungezwungen 
der einfachen <D - Hypothese unterordnen, dann bleibt jeden¬ 
falls die Urbansche Modifikation des Müllerschen Ge¬ 
wichtsverfahrens der exakteste unter den zugleich be¬ 
quemen Wegen, um die bestmögliche Subsumtion auf dem 
Wege der Ausgleichung zu erlangen. Sein arithmetisches 
Mittel des Grenzreizes r (31) und das Streuungsmaß M bieten dann 
allerdings auch nichts wesentlich anderes als die mittels unseres 
unmittelbaren Verfahrens unvergleichlich schneller gewonnenen 
Werte r(3I) und Jf(31). Insbesondere sind die Abweichungen 
zwischen beiden Wertsystemen nicht etwa dem letzteren 
als Fehler anzurechnen. Da wir aber beim unm. Verfahren zur 
Bestimmung des r (3t) und M Vollreihen brauchen, die sich bis 


1) Ich darf wohl bei dieser Gelegenheit auch noch auf den anderwärts 
genauer dargelegten Vorteil hin weisen, daß auch die Brunssche Reihe 
(bei ihrer Bestimmung mittels Ausgleichung) nach Anwendung 
unserer Formeln für r(2t) und3/(5ä) sogleich auf die sogenannte 
»Normalform« 2 F g (x) — 1 = 0 (<) ■+■ D 3 0 3 (t) -f- D x 0 4 (t) usw. gebracht 
werden kann, die eben bei Beziehung der Abweichungen x — r in dem 

Ausdruck t x — h [x — r) auf r (21) und bei der Wahl von h = --—— zu- 

M (2t) V2 


stände kommt. 

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do« Ausfalles der frlieder 


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(Aus dem psychologischen Institut der Universität Kiel.) 


Beiträge zur Kenntnis des Sehraumes auf Grund 

der Erfahrung. 

Von 

Friedrich Schnbotz (Groß-Lichterfelde). 

Mit 13 Figuren im Text. 


Übersicht. seit« 

Einleitung.101 

Versuchsanordnung.102 

I. Teil: 

1) Einstellung von Hillebrandsehen Alleen.107 

2) Einstellung von einzelnen Geraden.111 

3 Einstellung von zwei Geraden in derselben Ebene.119 

II. Teil: 

4) Der stereoskopische Bereich.126 

5' Einstellung von Quadraten.136 


6) DirekterVergleich zwischen binokularem und monokularem Gesichtsfelde 142 

Einleitung. 

Die folgenden Untersuchungen gehen aus von dem speziellen 
Problem der scheinbaren Größe. Dieser Gegenstand ist zuerst in 
exakter Form von Götz Martius (Wundts Philos. Stud. V. 1889. 

S. HOI ff.), später in anderer Art von Franz Hillebrand (Denk¬ 
schriften der math.-naturwiss. Klasse der Kaiserl. Ak. d. Wiss., 
Bd. LXXII, Wien 1902) behandelt worden. 

Die Methode, die für die nachstehenden Beobachtungen einge¬ 
schlagen wurde, knüpfte an die Untersuchung von Hillebrand an. 

Zunächst sollten die Einstellung von »Alleen« wiederholt und 
einige Bedingungen derselben geprüft werden. Dieses Problem 
führte von selber zu einer allgemeineren Fragestellung, da die 
Versuchseinrichtuug, die sich zu einem soliden Aufbau gestaltete, 
für eine weitergehende Erforschung des Sehraumes vorzüglich ge¬ 
eignet erschien. Deshalb traten die Alleeversuche mehr zurltok., 


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102 


Friedrich Schnbotz, 


Anfänglich wurden die von Hillebrand festgestellten Krtim- 
mungsverhiiltnisse des Sehraumes an neuen geometrischen Gebilden 
verfolgt und dabei eine grundsätzliche Übereinstimmung des ein¬ 
äugigen Sehens mit dem zweiäugigen hinsichtlich der Krümmungs- 
erscheinungen konstatiert. Daraufhin wurden direkte Vergleiche 
zwischen dem binokularen und monokularen Sehen vorgenommen, 
in mehrerlei Richtungen. Weiter wurde derjenige Bereich fest¬ 
gelegt (in einigen Fällen), innerhalb dessen normalerweise keine 
Doppelbilder wahrgenommen werden, und es wurden einzelne 
Bedingungen entdeckt, von denen die Größe dieses Bereiches ab¬ 
hängig ist. Zum Schluß, nachdem die Augen geübt waren, wurde 
nochmals eine Hillebrandsche Allee eingestellt. 

Es soll nun zuerst die Versuchsanordnung mitgeteilt, und von 
den Beobachtungen sollen zunächst die Allee-Einstellungen be¬ 
schrieben werden. 


Die Versuchsanordnung (Figur 1) 

liegt zwischen vier Pfeilern P t bis P 4 im Sitzungszimmer des 
psychologischen Instituts der Universität Kiel. Sie hat rechteckige 
Form, etwa 1 1 / 2 m mal D/o m. Der Sitz des Beobachters B war 
an der einen Schmalseite. 

Zwischen P x und P 2 , ebenso zwischen P 3 und P 4 sind in 
175—180 cm Höhe über dem Fußboden zwei starke eiserne Schienen 
Si und s 2 angebracht, deren Höhenlage durch doppelte Muttern 
reguliert werden kann. Sie sind genau wagerecht und zu¬ 
einander parallel eingestellt. 

An den Seiten liegen auf s { und .v 2 zwei P-Träger P, und P 2 
von ziemlich 4V 2 m Länge, die jeder zweimal (bei bis S 4 ) 
unterstützt und ebenfalls horizontal gestellt sind. Außerdem stehen 
sie zu und s 2 senkrecht. 

Die beiden P-Träger tragen die gesamte weitere Versuchs¬ 
anordnung. 


Auf Pj und P 2 sind in bestimmten Abständen vom Beobachter 


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oisp.rno Horizontalstiihp von 


pm DnrphniPHRPr immpr 

unyinai Trum 


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Median -Ebene 


des Sehrauines auf Grund der Erfahrung. 103 












104 


Friedrich Schubotz, 


Schraubengewinde zur Aufnahme von Vertikalstäben versehen 
sind. 

An der Öse greifen 2 Fäden an, die, der eine nach rechts, 
der andere nach links, erst Uber dem Horizontalstab, dann parallel 
zu den T-Trägern an den Seiten entlang zum Sitz des Be¬ 
obachters B hinlaufen. Mit Hilfe dieser Fäden kann jeder der 
beiden Schlitten auf jedem der 10 Horizontalstäbe im Verlaufe 
einer Einstellung vom Beobachter selbständig beliebig nach rechts 
und links gezogen werden, ohne daß der Beobachter dafür seinen 
Sitz zu verlassen braucht. Die Fäden laufen zweimal, wo ihre 
Richtung sich ändern muß, durch Rinnen, so daß sie sich nicht 
verwirren können. 

Zur Bewegung der 20 Schlitten sind doppelt so viel Fäden 
nötig, unter denen man nach einiger Übung durch schnelles 
tastendes Abzählen jedesmal den richtigen herausfindet. Eine 
zweckmäßige Anordnung der Fäden vor dem Sitze des Beobachters 
erleichtert das Auffinden. Auf diese Weise ist der Gehilfe, den 
Hillebrand nötig hatte, entbehrlich geworden. 

Folgende Tabelle gibt den Gesamtabstand der 10 Horizontal¬ 
stäbe vom Knotenpunkt im Auge des Beobachters an; die letzte 
Spalte enthält die Abstände zwischen den benachbarten Horizontal¬ 
stäben. 

1 . 

2 . 

3. 

4. 

5 . 

6 . 

7. 

8 . 

9 . 

10 . 

Aus dieser Orientierungstabelle ist zu entnehmen, in welcher 
Entfernung vom Auge des Beobachters sich die Ebenen der ein- 

_.i_ tt —i i.i-iuL. ;_a j ui u:_ 


25 CII1 
ÖO > 
75 » 
100 > 
132 » 
172 » 
222 » 
282 » 
352 » 
432 » 


25 cm 

26 » 
25 » 
32 » 
40 » 
50 » 
60 » 
70 » 
80 » 


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Beiträge zur Kenntnis des Sehraumes auf Grund der Erfahrung. 105 


gefähr 80 cm Uber dem Fußboden befindet. Vermöge der an den 
Schlitten angreifenden Fäden können die 20 Vertikalstäbe -aut 
ihrem jeweiligen Horizontalstab in jede beliebige Entfernung von 
der Medianebene gebracht werden, und es ist z. B. leicht, die 
10 Vertikalstäbe etwa rechts von der Medianebene in einer geo¬ 
metrischen Vertikalebene anzuordnen, die die Medianebene in 
einem beliebigen Winkel schneiden kann. Eine solche Ebene ist 
eindeutig bestimmt etwa durch den Abstand der Vertikalstäbe 
des 1. und des 10. Horizontalstabes von der Medianebene. 

Die Vertikalstäbe sind genau eingelotet worden, und von Zeit 
zu Zeit ist mittels des Lotes ihre senkrechte Lage nachgeprüft 
und, wenn nötig, wiederhergestellt worden. 

Mit Hilfe der 20 Vertikalstäbe ist es einem Beobachter leicht 
möglich, durch Selbsteinstellung die Hillebrandschen Allee-Ein¬ 
stellungen zu wiederholen. 


Es werden nun die Versuchsmöglichkeiten noch erweitert, da¬ 
durch, daß auf jedem der 20 Vertikalstäbe 2 Kugeln von 19 mm 
Durchmesser angebracht sind, die durch weitere 40 Fäden vom 
Beobachter selbständig in jede beliebige Höhenlage auf ihrem 
Vertikalstabe gezogen und nach Belieben vermöge ihres Gewichtes 
'etwa 9 g) wieder herabgelassen werden können. 

Zur Verringerung der Reibung sind die Kugeln so bergestellt, 
daß ihr Schwerpunkt unter dem exzentrischen Aufhängungspunkt 
liegt. 

Zu der Möglichkeit seitlicher Verschiebungen, die schon durch 
die Schlitten mit den Vertikalstäben geboten wird, tritt also noch 
die einer Vertikal Verschiebung von Raumpunkten. 

Wenn nun auch noch die 10 Horizontalstäbe durch Anbringung 
von Rollen auf den beiden T-Trägern verschiebbar hergerichtet 
würden, so würde dadurch jeder Punkt des Beobachtungsraumes 
(d. h. jede Kugel) nach allen drei Koordinatenrichtungen bewegt 
werden können. Im Modell war eine solche Vorrichtung schon 
angefertigt; nur wäre die Zahl der Fäden, die infolge der 40 Kugeln 
bereits auf 80 gestiegen war, wiederum um 40 gewachsen. 


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106 


Friedrich Schubotz. 


führen, sind mit den anderen Fäden, die an dem betreffenden 
Schlitten angreifen, durch eine Vorrichtung miteinander verknüpft, 
vermöge deren die Kugeln trotz einer seitlichen Verschiebung des 
zugehörigen Vertikalstabes doch ihre ursprüngliche Höhenlage be¬ 
halten, eine Verknüpfung, die andererseits aber jederzeit für so 
lauge aufgehoben werden kann, bis die Kugeln in eine andere 
Höhe verlegt sind. 



Siehe die Figuren. In der ersten drücken die Federn ff 
beiderseits die Fäden FF fest gegen die obere Wand. In der 
zweiten sind beide Federn vermittels der Knöpfe KK herabge- 
drückt und geben beide Fäden frei. Jede Feder kann für sich 
gelockert werden. 

Sämtliche 80 Fäden sind an dem beim Beobachter befindlichen 
Eude durch Gewichte beschwert, die einer Verwirrung Vorbeugen 
und speziell bei den Kugeln ein unbeabsichtigtes Herabgleiten 
der Kugeln an den Stäben verhindern sollen. 

Die beschwerten Enden der Fäden hängen zwischen dem Be¬ 
obachter und einem Metallschirm, der vor dem Sitz des Beobachters 
zwischen den Pfeilern P x und P 2 zwischen B und s x angebracht 
ist (MS). Aus diesem Metallschirm ist eine Öffnung herausge¬ 
schnitten, die den Blick in das Beobachtungsfeld frei gibt und 
die vergrößert und verengert werden kann. Die Knotenpunkte 
der Augen sind durch eine Beiß Vorrichtung ein für allemal fest¬ 
gelegt. 

Am anderen Ende der Versuchsanordnung, hinter P 3 und P 4 , 

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Beiträge zur Kenntnis des Sehraumes auf Grund der Erfahrung. 107 


Flaggenstoff, der eich 12 cm Uber den T-Trägern befindet. Dieser 
Schirm hält den Staub von der Versuchseinrichtung fern und ver¬ 
teilt vor allem das Licht möglichst gleichmäßig Uber den Be¬ 
obachtungsraum. Das Tageslicht wird ausgeschlossen und bei 
künstlichem Licht beobachtet. 15 cm Uber dem weißen Schirm 
sind zu diesem Zwecke in der Mitte in Längsrichtung in gleichen 
Abständen fUnf 50-kerzige Glühbirnen mit Mattglas angebracht. 

Damit keine Reflexe an den Kugeln auftreteu, sind diese mit 
diffus reflektierender Silberbronze angestrichen. 

Schatten sind vollständig ausgeschlossen. 


I. Teil: 

1) Einstellung von Hillebrandschen Alleen. 

Nur der Vollständigkeit halber sei Tabelle 1 mit den Zahlen 
der ersten drei Versuchsreihen hergesetzt. Sie ist nach dem 
Muster Hillebrands angelegt, 0 bedeutet die fest angenommene 
Normaldistanz des letzten Stäbepaares. 

Die letzte Spalte der Tabelle 1 scheint eine qualitative Über¬ 
einstimmung mit Hillebrand zu zeigen; indessen läßt eine Zeich¬ 
nung nach diesen Zahlen eine KrUmmung der Alleekurve im ent¬ 
gegengesetzten Sinne erkennen: konkav nach außen, statt nach innen. 

Die Schwierigkeit und Unsicherheit bei der Einstellung von 
Alleekurven, die schon hervorgehoben worden und die besonders 
aus den ersten beiden Spalten von Tabelle 1 ersichtlich ist, war 


Tabelle 1. 


Nummer 

des 

Stäbe¬ 

paares 

Entfernung 

vom 

Beobachter 

Imm] 


G = (mm) 


155 

300 

300 

10 

r-- 

4320 

155 

300 

300 

9 

3520 

158 

290 

267 

8 

2820 

171 

288 

230 


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PRINCETON UNIVERSITY 



108 


Friedrich Schubotz, 


Digitized by 


die Veranlassung, auf Versuche dieser Art zunächst ganz zu ver¬ 
zichten. Erst nach dem Abschluß der übrigen Beobachtungen, 
Uber die in den folgenden Kapiteln zu berichten sein wird, wurde 
noch eine Alleekurve eingestellt, und zwar wurde eine der von 
Hillebrand selbst gewählten Normaldistanzen benutzt, (? = 390mm. 


Maße in Millimetern. 


Tabelle 2. 

Hillebrand, Tabelle VIII. 


Nr. 

des 

Stäbe¬ 

paares 

Entfer -1 
nung 

vom 
Beob- 
i achter 

ü: 

Abweichung 
gegen die 
Gerade nach 
außen 

links | rechts 

Summe 
der Ab¬ 
weich¬ 
ungen 

Nr. 

des 

Faden- 
pa ares 

Entfer¬ 

nung 

vom 
Beob- j 
achter 

G 

= 390 

390 

mm 

( 

Beobachter 

1 _._ 

1 H.J 

Cz. , 

R. 

10 

4320 

390 

0 

0 

_ 


1 

1 









IX 

3800 

390 

390 

390 

9 

3620 ; 

362 

15 

12 

27 



1 

1 








VIII 

3400 

374 

378 

385 







VII 

3000 

362 

363 

380 

8 

2820 

322 

17 

17 

34 




1 








VI 

2600 

348 

346 

366 

7 

2220 

276 

11 

16 

27 












V 

2200 

328 

331 

354 







IV 

1800 1 

311 

308 

345 

6 

1720 

236 

8 

13 

21 












III 

1400 

i 281 

288 

318 

5 

1320 

200 

3 

8 

11 






4 

1000 ; 

170 

0 

0 

— 

II 

1000 

|245 

251 

276 







I 

600 1 

202 

1196 

205 


Tabelle 2 zeigt diese Beobachtung. 

Sie ist entstanden bei fixierendem Blick, der Fixationspunkt lag 
median in Augenhöhe in der Tiefe des fernsten, 10. Stäbepaares. 
Unter diesen selben Bedingungen ist Hillebrands Tabelle VIII 
entstanden, von der zum Vergleich der Teil daneben gesetzt ist, 
der sich auf O = 390 mm für drei Versuchspersonen bezieht. 

Die beiden Tabellen sind so angeordnet, daß die Hillebrand- 
schen neun Fadenpaare sich nach ihren Entfernungen vom Be¬ 
obachter zwischen die Stäbepaare 4—10 in Tabelle 2 einreihen. 

Hillebrand bemerkt zu seiner Tabelle VIII, daß auf die Werte 
für das I. (600 mm entfernte) Fadenpaar nicht viel Gewicht zu 

Cr\ ,olp Original from 

Ö PRINCETON UNIVERSITY 



Beiträge zur Kenntnis des Sehraumes auf Grund der Erfahrung. 109 


kleinen Teil des Gesichtsfeldes zu machen, weil bei fester Fixation 
gar bald Doppelbilder auftreten, wenn man an die Einstellung; 
der näher gelegenen Stäbepaare geht. Darum mußte auf die 
vordersten drei Stäbepaare vollständig verzichtet werden. 

In der Zeichnung stellt die Tabelle 2 zwei LinienzUge dar, die 
ebenso wie bei Hillebrand konkav nach innen gekrümmt sind. 

In den beiden letzten Spalten von Tabelle 2 sind die Ab¬ 
weichungen verzeichnet, die die Stäbe gegen die geradlinige Ver¬ 
bindung des 4. Stabes mit dem 10. sowohl links wie rechts auf¬ 
wiesen. Die Abweichungen der beiden Stäbe in derselben Tiefe 
stimmen genau Uberein nur beim 8 . Stäbepaar. Beim 9. ist links 
eine um 3 mm größere Abweichung als rechts, während vor dem 
8. Stäbepaar die größere Abweichung auf der rechten Seite bleibt. 
Der Unterschied bleibt rechts genau 5 mm. 

Es sei noch darauf aufmerksam gemacht, daß in der Ebene 
des 8 . Stäbepaares ein Maximum der Abweichung gegen die Ge¬ 
raden zu konstatieren ist, eine Tatsache, an die späterhin zu er¬ 
innern sein wird. 

Vergleicht man die Spalte G in Tabelle 2 und Tabelle VIII, 
so weist offenbar Tabelle 2 eine stärkere Konvergenz der Allee 
auf als VIII für die Beobachter H. und Cz., deren Konvergenz 
wieder erheblich größer ist als die von R. 

Nun ist zwar die Normaldistanz G bei Tabelle 2 in einer um 
mehr als y 2 m größeren Tiefe als bei Ilillebrand angenommen; 
sie würde in der Ebene des IX. Fadenpaares vielleicht nur einen 
Betrag von 370 mm haben. Immerhin dürfte bei Berücksichtigung 
dieses Umstandes für das II. Faden- bzw. 4. Stäbepaar (in 
1000 mm Entfernung) die Lateraldistanz wohl kaum geringer als 
220 mm (statt 245 mm) angenommen werden, während Tabelle 2 
nur 170 mm aufweist. 

Es bleibt also doch eine erheblich stärkere Konvergenz in 
Tabelle 2 bestehen. 


Vorhin war schon gesagt, daß bei der Einstellung die Doppel¬ 
bilder allmählich so störend wirkten, daß die vorderen Stäbepaare 

eigentlich nicht jnehr in Betracht kommen könnten. Und hierin 

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« Vjm PRINCETON UNIVERSITY 



HO Friedrich Scbubotz, 

größerer Tiefe erstreckt werden soll. Nur bei einer beharrlichen 
und angestrengten Aufmerksamkeit gelingt es allmählich, nach 
unendlich vielen größeren und nachher kleineren Verschiebungen 
der Stäbe eine Anordnung zu erzielen, mit der man sich einiger¬ 
maßen zufrieden geben kann. 

Die Bedingungen, unter denen solche Untersuchungen über die 
Natur des Sehraumes ausgeführt werden, entfernen sich weit von 
den anderen Bedingungen, unter denen wir im Raume wirklich 
zu sehen gewohnt sind. Sie erfolgen unter einem Zwange, der, 
wenigstens anfänglich, wider die Natur geht. Man kann beinahe 
sagen, daß die Ergebnisse solcher Untersuchungen nur einen ge¬ 
ringen Anspruch darauf machen dürfen, den natürlichen Verhält¬ 
nissen gerecht zu werden. Mehr Gültigkeit muß zweifellos den 
Beobachtungen mit willkürlich wanderndem Blick zuerkannt werden. 
Denn in außerordentlich wenigen Fällen kommen wir in die 
Zwangslage, eine räumliche Konstellation auch nur eine Minute 
lang mit vollkommen fixierendem Blick zu erfassen. Und die in 
Tabelle 2 mitgeteilte Einstellung hat etwa 2 Stunden gedauert, und 
die Pausen dazwischen mögen zusammen 3 Stunden betragen haben. 

Wohl muß jede genauere wissenschaftliche Untersuchung be¬ 
sondere Bedingungen einführen, was nur geschehen kann, indem 
man dem natürlichen Ablauf der Vorgänge einen gewissen Zwang 
antut. Und gerade in der Psychologie ist das nötig wegen der 
Kompliziertheit der psychischen Erlebnisse; — aber es gibt eine 
Grenze, Uber die hinaus den psychischen Erlebnissen nicht anders 
als Gewalt angetan werden kann. 

Diese Grenze glaubt derjenige, der gewissenhaft mit fixierendem 
Blick Alleen bis zu vier Metern Tiefe einzustellen versucht, min¬ 
destens erreicht zu haben 1 ). 

Hinzu kommt, daß die Unsicherheit des Urteils, der Spielraum 
in den zahlenmäßigen Ergebnissen stets bestehen bleiben wird. 


Die vorstehend angedeuteteu allgemeinen Einwendungen können 
zum Teil zwar auch bei den Beobachtungen gemacht werden, die 
nun mitgeteilt werden sollen; indessen haben sie viel von ihrer 
Schärfe verloren. Gewiß sind Beobachtungsfehler nie ganz aus- 


Digitized b 1 


Q znschließen, und es soll auch stets auf sie hinerewiesen werden: 

DDIMrETV'lM I IMIWCDCITV 


PRINCETON UNIVERSITY 



Beiträge zur Kenntnis deB Sehraumea auf Grund der Erfahrung. Hl 


aber es darf wohl gesagt werden, daß mit der größeren Einfach¬ 
heit der Eindrücke und Erlebnisse eine größere Sicherheit in ihrer 
Beurteilung einhergeht, und daß diese Sicherheit um so größer 
sein wird, je weniger sich die Bedingungen für die Darbietung 
und Auffassung der Erlebnisse von den natürlichen, für den un¬ 
befangenen Beschauer geltenden entfernen. 

Aus letzterem Grunde wurde fast nur mit willkürlich wandern¬ 
dem Blick beobachtet. In den wenigen Fällen, wo für kurze Zeit 
fixiert werden mußte, ist dies jedesmal ausdrücklich angegeben. 


2) Einstellung von einzelnen Geraden. 

Die Versuche wurden so angestellt, daß eine bestimmte Anzahl 
von Vertikalstäben in eine genaue geometrische Ebene gebracht 
wurden, deren Spur in der Horizontalebene (d. h. die Verbindungs¬ 
linie der Schnittpunkte der Vertikalstäbe mit der Ebene des Hori¬ 
zontes) jedesmal in der ersten Figur bei den einzelnen Tabellen 
eingezeichnet ist. Die gestrichelte Gerade in der ersten Figur ist 
immer die Medianebene. Das Kreuz bedeutet den Platz des Be¬ 
obachters B. Die zur Medianebene senkrechten Geraden sind die 
Horizontalstäbe, denen ihre Nummer beigefügt ist. v. St. 14,1 cm 
r. oder 1. bedeutet: Der vorderste Vertikalstab ist rechts oder links 
von der Medianebene und 14,1 cm von ihr entfernt, h. St. ist der 
hinterste Vertikalstab. 

Die erste Figur, zusammen mit den Zahlen für die Endvertikal¬ 
stäbe, orientiert die eingestellte Ebene gegenüber dem Beobachter B. 

In dieser Ebene war mit Hilfe von Kugeln eine scheinbare 
Gerade einzustellen. 


Auf dem vordersten und hintersten Vertikalstab wurde je eine 
Kngel (v. K. und h. K.) in bestimmter Höhe festgemacht. Die 
Kugeln der zwischenliegenden Stäbe wurden dann so lange in 


ihrer Höhenlage verändert, bis sie mit den festen Kugeln in einer 
Geraden zu liegen schienen. Jedesmal aus der zweiten Figur 
nebst den Angaben für v. K. und h. K. ist die Lage der Geraden 
ersichtlich. Hier bedeutet die gestrichelte Gerade die Augenhöhe, 


die Zahlen für die beiden K. haben das Plus- oder Minuszeichen, 


Digitized by Google 


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112 


Friedrich Scbubotz. 


Die Zahlen in den Tabellen geben die Abweichungen an, die 
die einzelnen Zwischenpunkte gegen die geometrische Verbindungs- 
gerade der Endpunkte zeigten. -f- bedeutet hier Abweichung nach 
oben, — nach unten. Die zum Vergleich benutzte geometrische 
Gerade wurde zum Zweck der Ausmessung nach erfolgter Ein¬ 
stellung erzeugt durch einen an den Enden beschwerten Faden, 
der zwischen den Endkugeln ausgespannt war. 

a) Gerade in Augenhöhe, b) Gerade Uber Augenhöhe, c) Gerade 
unter Augenhöhe, d) Gerade, die den Horizont durchsetzen. 

a) Gerade in Augenhöhe. 

Links in der Tabelle stehen die Nummern der Horizontalstäbe, 
in deren Tiefe sich die Kugeln mit den rechtsstehenden Ab¬ 
weichungen befinden. Die Entfernung der Ebenen der 10 Hori¬ 
zontalstäbe vom Beobachter B ist aus der Tabelle zu entnehmen, 
die der Beschreibung der Versuchsanordnung beigegeben ist. 

Tabelle 3. Tabelle 4. 

v. St. 14.1 cm r., h. St. 53,7 cm r. v. St. 13,3 cm 1., h. St. 00,9 cm r. 


0.0 

cm 

9. 

— 0,10 cm 

- 0,07 

> 

8 - ! 

-0,18 » 

0,0 

> 

7. 

-0,19 » 

— 0,02 

> 

H. 

-0,22 » 

0,0 

> 

5. 

0.0 » 

0,0 

» 

4- 

-0,11 » 

0,0 

> 

i 



Die beiden vorstehenden Tabellen bestätigen die Vermutung, 
daß scheinbare Gerade in Augenhöhe gleichzeitig geometrische 
Gerade sind. Die Abweichungen bei der ersten Geraden betragen 
noch nicht 1 mm, und bei der zweiten ist das Maximum der Ab¬ 
weichung 2 mm, ein Betrag, der nicht ins Gewicht fällt. 


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b) Gerade Uber Augenhöhe. 

Tabelle 5 und 6 zeigen horizontale Geraden in verschiedenen 
Ebenen. Bei Tabelle 5 ist eine Durchbiegung nach unten, Maxi¬ 
mum in der Ebene des 7. Horizontalstabes von 11 mm. Tabelle 6, 
die eine Durchbiegung nach oben zeigt, ist ein Beweis dafUr, daß 
auch bei diesen Versuchen einfachster Art keine unbedingte Sieber- 


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Beiträge zur Kenntnis des Sehrauraes auf Grund der Erfahrung. 113 



Tabelle 5. 

v. St. 15 cm r. 
h. St. 0 cm 

v. K. + 16,0 cm 
h. K. 16,0 cm 

9. I — 0,63 cm 

8 . 1 - 1,00 » 

7. | - 1,11 » 

6. 1-0,96 » 

5. | - 0,67 » 


Tabelle 6. 

v. St. 13,3 cm 1. 
h. St 50,9 cm r. 

v. K. 4- 16,8 cm 
h. K. 4-16)8 cm 

9. 4- 0,39 cm 

8. 4-0,79 » 

7. 4-0,76 > 

6. 4* 0,65 » 

5. 4- 0,54 » 



Fig. 3 (zu Tabelle 5). 



Tabelle 7. Tabelle 8. Tabelle 9. 


v. St. 11,1 cm r. 
h. St. 53,7 cm r. 

vTk. ö - 

h. K. 4- 23,9 cm 

9. — 0,48 cm 

8. —0,52 > 

7. -0,82 » 
6 . — 1,01 » 
5. —0,99 » 
4. . — 0,85 » 

3. 1 - 0,82 » 

2. | _ 0,44 » 


v. St. 14,1 cm r. 
h. St. 53,7 cm r. 

v. K. 4- 0,3 cm 
h. K. 4~ 33)2 cm 

9. — 0,14 cm 

8. -0,28 » 
7. -0,49 » 

6. -0,44 » 
5. -0,34 » 

4. —0,26 » 

3. - 0,22 » 


v. St. 11,1 cm r. 
h. St. 63,7 cm r. 

v. K. 0 
h. K. 4- 46,1 cm 

9. — 0,25 cm 
8. —0,33 > 

7. -0,44 » 
6. — 0,40 » 

5. - 0,36 > 

4. — 0;30 • 
3. - 0,26 » 

2. -0,18 » 






114 


Friedrich Schubotz, 


Digitized by 


Tabelle 10. 


Tabelle 11. 


v. St. 15 cm r. 
h. St. 50 cm r. 


v. St. 22,5 cm r. 
h. St. 50 cm r. 


v. K. 10 cm v. K. 4- 24,5 cm 


h. K 

. 4- 32,5 

cm 

h. K. 

, — 0,3 

cm 

9. 

1 - 0,23 

cm 

9. 

- 1,00 

cm 

8. 

- 0,51 

» 

8. 

- 1,75 

> 

7. 

- 0,63 

» 

7. 

- 1,67 

» 

6. 

- 0,57 

> 

6. 

- 1,19 

» 

5. 

- 0,49 

> 




4. 

-0.40 

» 




3. 

1 - 0,18 

» 





Tabelle 12. 

v. St. 15 cm r. 
h. St. 0 


v. K. + 3,6 cm 
h. K. + 41,1 cm 



Binokular 

1 

Monokular 



H. Stage 

links 

rechte 

9. 

- 0,04 

cm 

— 0,11 cm 

— 0,10 cm 

— 0,26 cm 

8. 

- 0,12 

> 

— 0,27 » 

-0,16 » 

-0,34 * 

7. 

- 0,20 

> 

-0,35 » 

-0,21 » 

-0,47 . 

6. 

-0,20 

» 

— 0,25 » 

-0,21 » 

— 0,36 > 

5. 

— 0,17 

> 

— 0,25 » 

-0,17 > 

— 0,34 » 

4. 

— 0,07 

> 

- 0,08 • 

-0,09 » 

-0,24 » 


Tabelle 13. 

v. St. 25 cm 1. 
h. St. 5 cm 1. 

v. K. + 8,6 cm 
h. K. 4- 44,8 cm 


Binokular 

Monokular 


links 

rechte 


Tabelle 14. 

v. St. 15 cm r. 
h. St. 0 

v. K. 4- 11,5 cm 
h. K. 0 

Binokular^ Monokular 

links rechts 


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Beiträge zur Kenntnis des Sehraumes auf Grund der Erfahrung. 115 


Die Tabellen 7, 8, 9 zeigen drei Geraden in ein und derselben 
Ebene, aber eine immer stärker ansteigend als die vorhergehende. 
Das Maximum der Durchbiegung nach unten liegt immer beim 6. 
oder 7. Horizontalstab, es wird kleiner bei stärkerem Anstieg der 
Geraden. Man sollte das Gegenteil erwarten. 

Es sei hinzugefügt, daß diese drei Tabellen ganz zu Anfang 
entstanden sind. Dagegen sind Tabelle 5, ebenso wie die folgen¬ 
den, 10 bis 14, nach reichlicher Übung gewonnen worden. 

Tabelle 10 zeigt eine ansteigende Gerade in etwa derselben 
Ebene. Maximum der Abweichung beim 7. Stab. 

Tabelle 11: absteigende Gerade. Endkugel etwa in Augenhöhe. 
Maximum der Abweichung nach dem 8. Stab verschoben, da die 
Anfangskugel auf dem 5. Stab genommen wurde. 

Das Tagebuch verzeichnet bei absteigenden Geraden stets eine 
gewisse Unsicherheit des Urteils Uber die Geradheit. 

Tabellen 12—14. — Bisher sind die Einstellungen nur binokular 
angeführt. — 

Die Zahlen der zweiten Spalte in Tabelle 12 ergaben sich bei 
einer erstmaligen Beobachtung, die Herr cand. math. Stage vor- 
nahm, ohne daß er Uber bereits erkannte Gesetzmäßigkeiten unter¬ 
richtet war. 

Das Maximum liegt in der ersten und zweiten Spalte in der¬ 
selben Gegend wie früher. Der unbefangene Beobachter liefert 
ein etwas größeres Maximum. 

Die dritte und vierte Spalte zeigen die Abweichungen bei 
monokularem Sehen, mit dem linken und dem rechten Ange. 

DerVergrößerung des Maximums für das rechte Auge — während 
das linke Auge keinen Unterschied ergibt — ist wohl im Hinblick 
auf Tabelle 13 kein allzugroßer Wert beizumessen, wenngleich 
Tabelle 14 dieselbe Erscheinung zeigt. In Tabelle 14 handelt es 
sich jedoch um eine absteigende Gerade, die als solche dem Urteile 
des Beobachters schon größere Schwierigkeiten bot. 

•*"» • i l • i n • i i* 1 . i_ii 


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cj u+raae unter Augenüöüe. 

Tabelle 15 zeigt eine horizontale Gerade, Durchbiegung nach 
oben mit dem Maximum an derselben Stelle wie früher. 

Tabelle 16 ist eine der ersten Beobachtungen, eine stark nach hinten 
absteigende Gerade, die im vorderen Teil eine Durchbiegung nach 
unten, nachher nach oben erkennen läßt — stets sehr kleine Beträge. 



>k 


Tabelle 15. 

Tabelle 16. 

Tabelle 17. 

v. St 

. 15 cm r. 

v. St 

. 14,1 cm r. 

v. St 

. 15 cm 

r. 

h. St 

. 0 

h. St 

. 53,7 cm r. 

h. St 

. 50 cm 

r. 

v. K. 

— 16 cm 

v. K. 

0 

v. K. 

0 


h. K. 

. — 16 cm 

h. K. 

— 41,6 cm 

h. K. 

. - 41,6 

cm 

9. 

+ 0,25 cm 

9. 

— 0,10 cm 

9. 

-0,06 

cm 

8. 

+ 0,46 » 

8. 

- 0,05 » 

8. 

- 0,10 

> 

7. 

+ 0,50 » 

7. 

-0,02 . 

7. 

— 0,16 

> 

6. 

+ 0,44 > 

6. 

-0,02 » 

6. 

— 0,15 

> 

5. 

+ 0,09 » 

5. 

+ 0,07 » 

5. 

-0,13 

> 

4. 

±0,00 » 

4. 

+ 0,23 » 

4. 

- 0,10 

» 



3. 

+ 0,22 » 

3. 

-0,05 

> 



Tabelle 18. 

v. St. 15 cm r. 
h. St. 0 


v. K. — 17,6 cm 
h. K. — 2,5 cm 



Binokular 

Monokular 



H. Stage 

links 

rechte 

9. 

+ 0,49 cm 

+ 0,72 cm 

+ 0,09 cm 

+ 0,42 cm 

8. 

+ 0,75 » 

+ 1,01 > 

+ 0,51 » 

+ 0,85 » 

7. 

+ 0,80 » 

+ 0,98 » 

+ 0,57 » 

+ 0,97 » 

6. 

+ 0,77 » 

+ 1,26 » 

+ 0,44 » 

+ 0,89 * 

5. 

+ 0,61 * 

+ 0,70 » 

+ 0,17 > 

+ 0,54 » 

<->4. 

i+ 0,38 » 

+ 0,38 » 

1 ±0.00 

+ 0,30 » 


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Beiträge zur Kenntnis des Sehraumes auf Grund der Erfahrung. 117 


Tabelle 17, die zur Nachprüfung der vorigen (etwa gleiche 
Ebene und gleicher Anstieg) ziemlich am Schluß der Beobachtungen 
aufgenommen worden ist, zeigt durchweg eine Durchbiegung nach 
oben, also entgegen den Erwartungen. Das Tagebuch verzeichnet 
ebenso wie bei Tabelle 16 wieder besondere Schwierigkeiten und 
Unsicherheit in der Beurteilung der Einstellung. 

Wenn auch die Abweichungen außerordentlich unbedeutend sind, 
so bleibt doch diese Tabelle ein Beweis dafür, daß trotz langer Ein¬ 
übung eine absolute Sicherheit des Urteils nicht zu bestehen braucht. 

Tabelle 18, eine ansteigende Gerade. Die zweite Spalte gibt 
die für den unbefangenen Herrn Stage geltenden Zahlen, Maxi¬ 
mum in der Gegend des 7. Stabes, wenn auch gerade bei diesem 
Stab die Abweichung um 3 mm hinter der beim 6. zurückbleibt. 

Die erste, dritte und vierte Spalte zeigen wieder eine Überein¬ 
stimmung zwischen dem zweiäugigen und beiderseitig einäugigen 
Sehen, mit dem Maximum an derselben Stelle. Tabellen 19 und 20 
ebenfalls. 

ln Tabellen 18 bis 20 ist durchweg eine Vergrößerung des 
Maximums für das rechte Auge festzustellen (vgl. auch Tabelle 12). 
ln dioptrischer Beziehung sind beide Augen des Beobachters von 
Herrn Dr. med. Schumacher, Oberarzt der Universitäts-Augen¬ 
klinik zu Kiel, als vollkommen gleich bezeichnet worden, so daß 
hier vielleicht doch Übungseinflüsse, die durch Zielen oder andere 
Ursachen bewirkt sind, vermutet werden müssen. 


Tabelle 19. 


Tabelle 20. 


v. St 15 cm r. 
h. St. 0 

v. K. 0 
h. K. — 36 cm 


v. St. 25 cm 1. 
h. St. 5 cm 1. 

v. K. — 8,4 cm 
h. K. — 43,2 cm 


Biaokular j 

Monokular 

Binokular { Monokular 

M 

links | 

1 rechts 

links 

rechts 


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118 


Friedrich Schubotz, 


Digitizea by 


d) Gerade, die den Horizont durchsetzen. 

Zum Schluß seien noch zwei Einstellungen aus der ersten Zeit 
mitgeteilt, von Geraden, die teils Uber, teils unter Augenhöhe ver¬ 
laufen und deren Abweichungen demgemäß das Vorzeichen in 
Augenhöhe wechseln müßten, die also geometrisch eine lang¬ 
gezogene S- Form darbieten müßten. 


10 


Tabelle 21. 


Tabelle 22. 


1 4 


* 


v. St. 8,3 cm 1. 
h. St. 50,9 ein r. 


/ v. K. 

— 24,4 cm 

v. K. 

i / li. K. + 40,2 cm 

h. K. 

9. 

— 2,62 cm 

9. 

/ 8> 

-3,39 » 

8. 

/ 7l 

— 2,71 » 

7. 

/ 6 - 

-1,78 » 

6. 


-1,27 * 

6 . 


v. St. 8,3 cm 1. 
h. St. 50,9 cm r. 


4- 0,60 cm 
+ 1,04 > 
+ 1,64 » 
+ 1,16 » 
+ 1,03 > 



Nach den Tabellen 21 und 22 ist das nicht der Fall. Es 
scheint vielmehr jedesmal der hintere Teil der Geraden für die 
Beobachtung ausschlaggebend gewesen zu sein: bei Tabelle 21, 
wo der hintere Teil Uber Augenhöhe liegt, ist die Durchbiegung 
einseitig nach unten, also wie bei Geraden über Augenhöhe all¬ 
gemein; bei Tabelle 22, wo der hintere Teil unter Augenhöhe 
ist, nach oben. Wie nun die zweite Figur bei beiden Geraden 
zeigt, ist der hintere Teil, d. h. der Teil Uber bzw. unter dem 

I 


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Beiträge zur Kenntnis des Sehraumes auf Grund der Erfahrung. 119 

weichungen, bei Tabelle 21 bis über 3 cm, wie sie sich anfäng¬ 
lich ein paarmal gezeigt haben (vgl. Tabelle 23 des folgenden Ab¬ 
schnitts), wie sie später aber nie mehr aufgetreten sind. Es ist 
allerdings auch eine Ebene gewählt worden, wie sie für den An¬ 
fang und ftir diese Art Geraden, die den Horizont durchsetzen, 
ungeeignet erscheinen muß. 

Wenn nun auch vermieden werden muß, aus diesen zwei An¬ 
tangereinstellungen Schlüsse zu ziehen, so gebietet immerhin die 
Gewissenhaftigkeit, auch solche Beobachtungen mitzuteilen. 

3) Einsteilang von zwei Geraden in derselben Ebene, 
a) Die Geraden bilden einen Winkel. 

Aus demselben Grunde wie die letzten Tabellen seien zwei 
weitere, ebenfalls ganz im Anfang entstandene Einstellungen 
wiedergegeben, in den Tabellen 23 und 24. 


Tabelle 23. Tabelle 24. 



Fig. 7 (zu Tabelle 23). 



v irJ ’ inalfrcm 

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120 


Friedrich Schubotz, 


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parallel dem Horizont unter diesem verläuft und das zweitemal 
nach der Tiefe hin noch weiter absteigt. 

An die erste Spalte in Tabelle 23 können dieselben Betrach¬ 
tungen geknüpft werden wie an Tabelle 21, da auch hier der 
über dem Horizont befindliche Teil der Geraden der größere ist. 

Die zweite Spalte müßte durchweg das entgegengesetzte Vor¬ 
zeichen haben. Hier ist vielleicht ein Einfluß des zuerst einge¬ 
stellten oberen Schenkels wirksam gewesen. 

Die dritte Spalte dieser Tabelle zeigte zum erstenmal, daß die 
scheinbaren Geraden im einäugigen Sehen dieselbe Krümmung 
haben wie im zweiäugigen. 

Tabelle 24 bietet bis auf die unbedeutenden Beobachtungsfehler 
bei der ersten und letzten Kugel des unteren Schenkels völlige 
Übereinstimmung mit den bereits festgestellten Gesetzmäßigkeiten. 

b) Die Geraden sind scheinbar parallel. 

Die Beobachtungen der nun folgenden beiden Tabellen 25 und 26 
haben Anspruch auf ein ganz besonderes Interesse. Sie sind nach 
langer Übung, erst kurz vor dem Abschluß der Versuche, mit 



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Tabelle 25. 

v. St. 16 cm r. 
h. St. 0 

a) obere Gerade v. K. 4- 7,9 cm 

h. K. -(- 15,7 cm 

b) untere Gerade v. K. — 10,2 cm 

h. K. — 16,1 cm 


5 

6 

7 

8 

9 10 

1 


— 

- — 

— — 

• m 



Original f 

om 


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Beiträge znr Kenntnis des Sehranmes auf Grund der Erfahrung. 121 


Tabelle 25. 


Tabelle 26. 


Nr. des 
Hori¬ 
zontal¬ 
stabes 

i 

Entfern. 

vom 

Beob¬ 

achter 

mm 

1 0 = 

j 318 
mm 

Abweichung 
gegen die 
Gerade nach 

Summe 
der Ab¬ 
weich¬ 
ungen 

0 = 1 
280 

mm 

Abweichung 
gegen die 
Gerade nach 

Summe 
der Ab¬ 
weich¬ 
ungen 

oben 

unten | 

oben 

unten 

10 

4320 

1 318 

_ 

— 

— 

280 

- 1 

— 

— 

9 

3620 

1 285 

+ 2,3 

— 3.3 

5.6 

251 

+ 1,8 

— 2.0 

3,8 

8 

2820 

269 

+ 4,9 

— 6,0 

10,9 

223 

+ 1,8 

— 1,7 

3,5 

7 

2220 

232 

+ 6,7 

— 6.7 

11,4 

195 

+ 0,2 

+ 0.2 

0 

6 

1720 

206 

+ 4,6 

- 3,9 

8,5 

173 


— 

— 

6 

1320 | 

1 181 

— 

— 

— 

— 

_ i 

— 

— 



10 


6 


* 


*- - 


Tabelle 26. 

v. St. 26 ein 1. 
h. St. 6 cm 1. 

a) obere Gerade v. K. + 6,91 cm 

h. K. + 16,0 cm 

b) untere Gerade v. K. — 10.4 cm 

li. K. — 16 cm 


G 



10 

— — 

— 

— — - 

- ■— — -- 






Fig. 9 (zu Tabelle 26). 


großer Sorgfalt gemacht, in einem Raume von so kleiner Tiefen¬ 
erstreckung, daß die räumliche Konstellation mit einem fixierenden 
Blick gut überschaut werden konnte; in Tabelle 26 ist diesem 
Imstande zuliebe sogar noch auf den 5. Stab verzichtet worden, 
weil die Ebene in Tabelle 26 so weit von der Medianebene ent¬ 
fernt war, daß die einheitliche plastische Erfassung der Anordnung 


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122 


Friedrich Schubotz, 


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Skizze in beiden Tabellen angegeben ist. Die Ebene lag bei 
Tabelle 25 rechts von der Medianebene und war nur wenig gegen 
sie geneigt; sie traf die Medianebene in der Tiefe des 10. Horizontal¬ 
stabes. 

In Tabelle 26 lag die Ebene linker Hand, weiter entfernt, und 
konvergierte erheblich stärker gegen die Medianebene, die sie 
trotzdem erst hinter dem 10. Horizontalstabe durchsetzte. 

In jeder dieser beiden Ebenen wurde mittels der Kugeln eines 
Vertikalstabes in der Tiefe des 10. Stabes eine senkrechte feste 
Normaldistanz O so gewählt, daß sie ungefähr gleichviel über 
und unter dem Horizont lag. Die zweite Figur läßt jedesmal die 
Lage der Kugeln von G gegen die Augenhöhe erkennen. 

Nun wurden die beiden Kugeln des 9. bis 5. bzw. bis 6. Stabes 
nacheinander unter stetigem Korrigieren so eingestellt, daß die 
Abstände der Kugeln jedesmal der Normaldistanz gleich zu sein 
schienen, daß also die beiden durch die obere und durch die 
untere Kugelreihe gebildeten optischen Geraden scheinbar parallel 
waren. 

Es wurde mit beliebig wanderndem Blick beobachtet. 

Nachher wurde ein Faden (geometrische Gerade) zwischen der 
Anfangs- und der Endkugel bei beiden Kugelreihen ausgespannt, 
und es wurden die Abweichungen der einzelnen Punkte gegen 
die geometrische Gerade notiert. 

Dabei ergab sich, daß die Abweichungen gegen die geo¬ 
metrische Gerade in allen Fällen [bis auf einen unbedeutenden 
Beobachtungsfehler: + 0,2 in der vorletzten Spalte in Tabelle 26] 
den bisher beobachteten Abweichungen entgegengesetzt waren: 
die scheinbaren Geraden über Augenhöhe waren nach oben, die 
unter Augenhöhe nach unten durchgebogen. 

Durch diese beiden Beobachtungen ist festgestellt, daß der Seh¬ 
raum in der vertikalen Richtung dieselbe Eigenschaft besitzt, die 
Hillebrand für die sagittale Richtung gefunden hat. 

Diese Tatsache enthält aber andererseits aufs deutlichste den 


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Beiträge zur Kenntnis des Sehraumes auf Gruud der Erfahrung. 123 

Das ist nicht verwunderlich; denn erstens ist die Normal¬ 
distanz G erheblich kleiner als damals, und zweitens wurde mit 
beliebig wanderndem Blick beobachtet — beides Umstände, bei 
denen Hillebrand stets kleinere Abweichungen gefunden hat. 
Endlich kommt hinzu, daß die Tiefenerstreckung hier eine geringere 
ist als bei der Alleekurve. 

Dieser Grund kann wohl auch als Erklärung herangezogen 
werden für den Größenunterschied, der sich in der Summe der 
Abweichungen (in den letzten Spalten der Tabellen) findet: in 
Tabelle 26, wo ja schon die geringere Normaldistanz G eine 
kleinere Abweichung bewirken muß, ist die Tiefenerstreckung um 
fast Vj m geringer als in Tabelle 25. 

Aus diesem Grunde hat sich auch das Maximum der Abweichung, 
das in Tabelle 25 in etwa 2500 mm Tiefe liegt, bei Tabelle 26 
nach ungefähr 3000 mm Tiefe verschoben. 


Allgemein sei noch ein Wort über die Lage des Maximums der 
Abweichung der scheinbaren gegen die geometrische Gerade 
gesagt. 

Schon bei Tabelle 2 (S. 108) wurde auf eine maximale Ab¬ 
weichung in der Gegend des 8. Stabes aufmerksam gemacht, in 
einer Tiefe von etwa 2800 mm vom Beobachter. 

Dieses Maximum der Abweichung kehrt bei allen Geraden¬ 
einstellungen wieder, bei denen sich eine eindeutige Krümmung 
ergab, und zwar zu allermeist in der Tiefe des 7. Stabes. Es 
verschiebt sich, besonders bei kürzeren Geraden, öfters nach dem 8. 
und in dem Falle der Tabelle 26 (S. 121) sogar nach dem 9. Stabe. 
Mehrmals ist es auch auf den 6. oder in die Gegend zwischen 
dem 6. und 7. Stabe verlegt. 

Der 7. Stab ist in 2220 mm Tiefe vom Beobachter; der 10. Stab 
ist fast doppelt so weit vom Beobachter entfernt: 4320 mm. 

Da nun die Kugeln des ersten Stabes (250 mm) nur selten mit 
eingestellt wurden, so kommt die Gegend des 7. Stabes noch 
mehr in die Mitte zu liegen zwischen der festen Anfangs- und 
Endkugel der jeweils eingestellten Geraden. 

Wenn die Anfangskugel in der Tiefe des 4. oder gar des 


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’ Origiral f : m 

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124 


Friedrich Schubotz, 


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vornherein zu machende Annahme, daß die größte Durchbiegung 
immer ungefähr in der Mitte der für die Einstellung in Betracht 
kommenden Tiefenerstreckung des Beobachtungsraumes auftreteß 
müsse. 


II. Teil. 


Auf S. 122 war die Binokularparallaxe als Erklärungsprinzip 
für die Krümmungserscheinungen im Sehraurae abgelehut worden. 

Es hätte dessen gar nicht mehr bedurft. 

Die Krümmung der scheinbaren Geraden auch beim einäugigen 
Sehen, wo doch von einer Parallaxe nicht die Rede sein kann, 
ist der zwingende Beweis, daß hier eine grundsätzliche Überein¬ 
stimmung zwischen dem monokularen und binokularen Sehen be¬ 
steht, daß die beobachtete Krümmung nichts anderes alj 
eine ursprüngliche Eigenschaft unseres Sehraumes ist, 
die als solche nur festgestellt zu werden braucht, die einer »Er¬ 
klärung« aber ebensowenig bedarf wie etwa die Tatsache, daß 
das Wasser bei einer bestimmten Temperatur in Dampfform über¬ 
geht. 

Es gilt eben nur möglichst viele einzelne Eigenschaften des 
Sehraumes kennen zu lernen, und die Bedingungen zu studieren, 
unter denen die Eigenschaften sich ändern, d. h. funktionale Ab¬ 
hängigkeiten. So faßte zum erstenmal G. Martins das Raum¬ 
problem, in der Untersuchung der scheinbaren Größe, die nur auf 
einem schwer analysierbaren psychischen Eindruck beruht, die sich 
aber durchaus nicht richtet nach dem Gesichtswinkel. 

Es sei im Anschluß hieran zunächst eine neue Eigenschaft des 
Sehraumes mitgeteilt, soweit sie zahlenmäßig festgestellt ist, eine 
Eigenschaft, die ihrer Natur wegen nur binokular untersucht zu 
werden braucht: der Bereich des Sehraumes, in dem keine Doppel¬ 
bilder gesehen werden. 

Für den späteren Fortgang der Untersuchung war die Absicht 


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Beiträge zur Kenntnis des Sehraumes auf Grund der Erfahrung. 125 


4) Der stereoskopische Bereich. 


Es gibt einen Bereich, innerhalb dessen wir stereoskopisch 
einfach sehen. 

Diesen stereoskopischen Bereich in einigen Fällen seiner Größe 
nach und in einigen Bedingungen für seine Veränderlichkeit fest¬ 
zustellen, dienen die folgenden Versuche. 

In der Ebene eines bestimmten Horizontalstabes (»H.-St.«), 
dessen Ebene fixiert wird, werden die beiden zugehörigen Vertikal¬ 
stäbe (»V.-St.«) symmetrisch zur Medianebene in bestimmter Ent¬ 
fernung b voneinander festgelegt. Dann wird auf dem davor oder 
dahinter befindlichen H.-St. ein V.-St. so lange hin- und her¬ 
geschoben, bis er bei binokularer Betrachtung in der Mitte zwischen 
den beiden festen V.-St. zu hängen scheint, wobei stets auf den 
plastisch-einfachen Eindruck geachtet wird. Wird nun der be¬ 
wegliche V.-St. allmählich auf entfernterem H.-St. genommen, also 
weiter entfernt von der Ebene der beiden festen V.-St., und wird 
dabei stets diese Ebene von b fixiert, so wird der bewegliche Stab 
bald als Doppelbild erscheinen. 

Zwischen dem deutlichen einfach-plastischen, stereoskopischen 
Eindruck und dem anderen Eindruck, bei dem klar voneinander 
getrennte Doppelbilder gesehen werden, liegt eine Zone, in der 
der Eindruck immerfort schwankt zwischen den entgegengesetzten 
Eindrücken der Doppelbilder und des stereoskopischen Sehens. 
Der Eindruck »alterniert«; in dieser Zone liegt offenbar die Grenze 
des stereoskopischen Bereichs. 

Die feste Entfernung b wurde in drei verschiedenen Tiefen ge¬ 
nommen, erst auf dem 8., dann auf dem 10. und für kurze Zeit 
auf dem 5. H.-St. 


Tabelle 27 zeigt die Einstellungen für die größte Tiefe von b. 
Die feste Entfernung b der beiden V.-St. wurde verschieden 
groß genommen; sie soll als laterale Basis des stereoskopischen 
Bereichs bezeichnet werden. Fixiert wurde stets die laterale Basis 


in Augenhöhe 

Digitizeo by 


dian. so daß die Tabellen erenan srenoimnen die 


median, so 

Co gfe 


T)fl?ifS from 

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126 


Friedrich Schubotz, 


Tabelle 27. T b — 4320 mm. 


b = 

mm) 

Binokular eingestellte Mitte auf dem 

9. 

Horizontalstabe 

(800 mm 
vor b ) 

8. 

Horizontalstabe 

(1500 mm 
vor b) 

7. 

Horizontalstabe 

(2100 mm 
vor b ) 

1000 


12,0 r. 

Doppelbilder 

600 

2.9 r. 

6,1 r. ? 

> 

500 

4,1 r. 

7,1 r. ? 


400 

2,1 r. 

5,9 r. ? 

— 

300 

2,1 r. 

3,4 r. ?? 

— 

200 

0,3 r. 

1,2 r. ??? 

— 

190 


1,3 r. ??? 

— 

180 


Doppelbilder 

— 

160 

— 


— 

120 

0,9 1. 

— 

— 

80 

0,8 1 . 

— 

— 

60 

0,6 r. ? 

— 

— 

40 

0,6 r. ??? 

— 

— 

30 

Doppelbilder 

— 



Tabelle 28. T h = 4320 mm. 

i = lm, t v = etwa l 3 / 4 bis 2 m. 

b = i/ 5 m, t v = > IV 2 

b = i/ 2 . in, t v = > 4 /:. m - 

a) Die laterale Basis b liegt in der Tiefe des 10. H.-St.. 

T b = 4320 mm. 


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Ein r. oder 1. hinter der jeweils eingetragenen Zahl bedeutet 
eine zufällige Abweichung nach rechts oder links. Eigentlich 
müßte der auf binokulare Mitte eingestellte V.-St. immer in der 
Medianebene stehen, indessen ist er zumeist um einige Millimeter 
nach rechts oder links von ihr entfernt. 

Ist die eingetragene Zahl mit einem Fragezeichen versehen, 
so bedeutet dies, daß die Einstellung durch das beginnende 
^^Alternieren des Eindrucks nicht mehr abslut sicher war. Zwei 
g ie PRINCETON UNIVERSITY 



Beiträge zur Kenntnis des Seliranmes auf Grund der Erfahrung. 127 


einfachen stereoskopischen Gesamteindruck abgelöst werden. Hier 
kann somit die Grenze angenommen werden. 

Diskussion von Tabelle 27. Zahlenangaben in mm. 

Bei b = 1000 mm wird noch ein durchaus plastischer einfacher 
Eindruck von dem in 1500 mm Entfernung davor befindlichen V.-St. 
erhalten. Deshalb wird auf die Einstellung des 9. V.-St. in 800 mm 
Entfernung verzichtet. Die Abweichung ist groß: 12 mm. Vom 
7. V.-St. in 2100 mm Entfernung vor b sind deutliche Doppel¬ 
bilder sichtbar, ebenso von den noch näher zum Beobachter hin 
gelegenen V.-St. 

Der stereoskopische Bereich erstreckt sich also für die in einer 
Tiefe von über 4 m befindliche, 1 m lange Basis b nach vorn 
(zum Beobachter hin) um eine Strecke, die zwischen 1500 und 
2100 mm lang ist. — 

Beträgt die Basis nur 600 mm, so treten beim 7. V.-St. auch 
wieder Doppelbilder auf, und beim 8. V.-St. macht sich schon leise 
das Alternieren des Eindrucks bemerkbar: die Grenze des 


stereoskopischen Bereichs ist etwas näher nach der Basis hingerückt. 

Der 9. V.-St., in 800 mm Entfernung vor der Basis gelegen, 
liefert einen einwandfreien stereoskopischen Eindruck, ebenso bei 
den folgenden Verkürzungen der Basis. 

Bei b = 500 mm ist der alternierende Eindruck vom 8. V.-St. 
ein klein wenig kräftiger geworden, und er verstärkt sich noch 
etwas mehr bei einer weiteren Verkürzung von b auf 400 mm. 
Indessen bleibt der Eindruck in der Hauptsache noch einfach und 
plastisch, auch noch bei b = 300 mm, wenngleich hier die Doppel¬ 
bilder schon deutlicher werden. 

Bei b = 200 mm gewinnen die Doppelbilder sehr an Klarheit, 
und bei b = 190 mm ist die Grenze wohl erreicht, b = 180 mm 
liefert ganz deutliche Doppelbilder beim 8. V.-St., der Eindruck 
alterniert nicht mehr, er hat seine Tiefenwirkung, seine Plastizität 
verloren. 

Also: der stereoskopische Bereich erstreckt sich bei einer 
lateralen Basis von b = 20 cm und bei einer Tiefenlage von 


m a n/% 

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128 


Friedrich Schubotz, 


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Bei b = 120 mm bleibt der Eindruck des 9. V.-St. unbedingt 
einfach und plastisch. Bei 6 = 80 mm glaubt man schon das 
Alternieren zu verspüren, es wird bei b — 60 und 40 mm immer 
stärker, bis bei b = 30 mm deutlich Doppelbilder vorhanden sind. 

Wird die Grenze bei b = 4 cm angenommen, so stellen sich 
die Größen der drei bestimmten stereoskopischen Bereiche so dar 
(siehe Tabelle 28): 

Die Basis b liegt in einer Tiefe von etwa 4y 3 m vom Beobachter. 

Hat die Basis die Länge b = 1 m, so erstreckt sich der Be¬ 
reich nach dem Beobachter hin um weniger als 2100 mm und 
mehr als 1500 mm. d. h. um etwa l 3 / 4 bis 2 m : t v »vordere Tiefen¬ 
erstreckung«. 

Soll die vordere Tiefenerstreckung auf 1 y 2 m, also um höchstens 
V, m zurückgehen, so muß die Basis b schon auf den vierten bis 
fünften Teil ihrer Länge zusammenschrumpfen, und eine weitere 
Verkürzung von t v auf 4 / 6 m, also um etwas Uber i / 2 m, erfordert 
eine abermalige Verkürzung der Basis bis auf den fünften Teil; d. h. 
soll die vordere Tiefenerstreckung t v halb so groß werden, so muß 
die Basis b sogar auf y 2 5 ihrer ursprünglichen Länge zurückgehen. 
Umgekehrt: mit der Vergrößerung der lateralen Basis b des 
stereoskopischen Bereiches wächst seine (vordere) Tiefen¬ 
erstreckung t V) aber nur sehr langsam. 

Immerhin ist die vordere Tiefenerstreckung t v für die kleine 
Basis b — 4 cm eine Größe, die die 20facke Länge von b hat, 
und für i = lm ist t v noch immer fast doppelt so groß wie b. 

Wie verhält sich nun zunächst t v zu t h ? 

Um einen schnellen Vergleich zwischen der vorderen und 
hinteren Tiefenerstreckung anzustellen, wurde die laterale Basis 
in der Tiefe des 5. H.-St. angenommen, T b = 1320 mm. Der 
6. H.-St. befindet sich 400 mm dahinter, der 4. dagegen nur 
320 mm davor. — Wenn nun bei einer bestimmten Länge von b 
der 6. V.-St. noch einfach und plastisch erscheint, während der 


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Beiträge zur Kenntnis des Sehrauines auf Grund der Erfahrung. 129 


auf binokulare Mitte einstellen, 1,5 mm nach rechts. Bei 
b = 280 mm wurde das Alternieren bedeutend stärker, und bei 
b = 260 mm lieferte der 6. V.-St. ebenfalls deutliche Doppelbilder. 

[Zwischenbemerkung. Es wurde versucht, b so lange zu ver¬ 
größern, bis das Alternieren beim 6. V.-St. aufhören würde. Da 
machte sich schon bei einer Vergrößerung von b um einige 
wenige cm eine Schwierigkeit bemerkbar: bei Fixation der Mitte 
von b fing der Eindruck von den beiden Grenz-V.-St. der Basis 
selbst zu alternieren an. 

Offenbar gibt es in jeder Tiefenlage der Basis, für jedes T ln 
ein Maximum für die Länge der Basis, d. h. überschreitet b dieses 
Maximum, so kann die laterale Basis selbst nicht mehr als einheit¬ 
licher Eindruck erfaßt werden, sondern die Grenzstäbe werden 
als Doppelbilder erscheinen. 

Demnach besteht auch für die laterale Erstreckung der 
stereoskopischen Bereiche eine obere Grenze. 

Letztere scheint für die Tiefenlage T b = 1,32 m unmittelbar 
oberhalb von 30 cm zu liegen. Genauere Versuche hierüber sind 
nicht gemacht worden; indessen läßt sich aus Tabelle 27 und 28 
entnehmen, daß in der Tiefe T b = 4,32 m die obere Grenze mit 
b= 1 m noch nicht erreicht war; und nach Tabelle 29 und 30 
war für T b = 2,82 m das Maximum noch oberhalb von b — 80 cm. 

Hieraus läßt sich die Eigenschaft folgern: die laterale Er¬ 
streckung der stereoskopischen Bereiche nimmt zu, wenn die Basis 
in eine größere Tiefe verlegt wird.] 


Nach den Erörterungen von S. 128 ist festzuhalten: 

4 > tv, 

die hintere Tiefenerstreckung des stereoskopischen Bereiches ist 
erheblich größer als die vordere. Es besteht kein Bedenken gegen 
die Übertragung der obigen Vergleichung auch auf andere Tiefen¬ 
lagen von b. 

Wird noch mit einem Wort auf die Zahlen von S. 128 gegen¬ 
über Tabelle 28 eingegangen, so ist in einer Tiefe der Basis v<^n'- 
T b = 1320 mm t h = % m t v < Vs m, etwa = V 4 m (geschätztt), 
wenn b = 30 cm, dagegen nach Tabelle 28 ebenfalls für b = 30 ; 

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« Vjm PRINCETON UNIVERSITY 



130 


Friedrich Schubotz, 


1 


uud in einer dreimal so großen Entfernung, in 4*/ 3 m Tiefe, etwa 4 m, 
d. h. ungefähr das Sechsfache der vorigen. 

Also: die Gesamttiefenerstreckung des stereoskopischen Bereiches 
wächst, wenn seine Basis mehr nach der Tiefe verlegt wird. 


b) Die laterale Basis b liegt in der Tiefe des 8. Horizontal¬ 
stabes, T b = 2820 mm. 

Die Tabellen 29 und 30 sollen mehr unter dem Gesichtspunkt 
betrachtet werden, daß sie die aus den bisher mitgeteilten Be¬ 
obachtungen gewonnenen Resultate bestätigen, als daß aus ihnen 
neue Bedingungen flir die Veränderlichkeit des stereoskopischen 
Bereiches abgeleitet werden. 

[Die Tabellen 29 und 30 sind zuerst gewonnen worden.] 


Tabelle 29. T b = 2820 mm. 


Binokular eingestellte Mitte auf dem 


b = 
(mm) 

10. H.-St. 

(1500 mm 
hinter b) 

9. H.-St. 

(700 mm 
hinter b) | 

’ 7. H.-St. 

(600 mm 
vor b) 

6. H.-St. 

(1100 mm 
vor b) 

5. H.-St. 

(1500 mm 
vor b) 

4. H.-St. 

(1820 mm 
vor b) 

800 

— 

_ 

— 

— 

5,1 r. ? 

Doppelb. 

600 



— 

5,8 r. 

7,2 r. ??? 

» 

400 

3,5 r. 

3,6 r. 

2,9 r. 

4,8 r. ? 

Doppelb. 

— 

200 

1,8 r. 

1,0 1. 

0,9 r. 

3,8 r. ??? 

» 

— 

100 

1,2 r. 

— 

1,3 r. ? 

Doppelb. 

— 

— 

80 

0,2 1. ? 

— 

1,2 r. ? 

» 

— 

— 

60 

0,7 1. ??? 

1,8 1. 

1 0,9 1. ?? 

— 

— 

— 

50 

Doppelb. 

1,7 1. 

0,7 r. ??? 

— 


— 

40 

> 

2,4 1. ?? 

Doppelb. 

— 


— 

30 


Doppelb. 

> 

— 




Tabelle 30. T b = 2820 mm. 


b = V 2.1 m 

b = 50 mm 
b = 60 mm 

h = Vs m 
b = 3 / 5 m 
b = 4 / 6 m 


t h = 700 mm = 2 3 m 
t h ]> 700 mm 
t h = 1500 mm 
t h ]> 1500 mm 


t v < V» m 

t v = 600 mm 
t v <[ 1100 mm 

t v = V/to m 
t v = D /2 m 

t v <[ 1820 mm 


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Zunächst erkennt man wieder: Wird die Basis kleiner, so wird 

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Beitrüge zur Kenntnis des Sehraumes auf Grund der Erfahrung. 131 


Ferner: Bei b = 200 mm ist der 6. V.-St. an der Grenze des 
Bereichs, während der 10. noch bei viel kürzerer Basis einfach 
und plastisch erscheint. Der 6. V.-St. liegt 1100 mm vor der 
Basis, der 10. liegt 1500 mm hinter ihr. Zu b = 200 mm gehört 
also ein t v — 1100 mm und ein t h ]> 1500 mm, d. h. die hintere 
Tiefenerstreckung ist erheblich größer als die vordere. — Das¬ 
selbe wird von neuem bestätigt durch die Einstellungen b = 50 mm, 
wo t v = 600 mm und t h zwar kleiner als 1500 mm ist, aber immer 
noch erheblich größer bleibt als 700 mm. 


Interessant ist noch ein Vergleich der jetzigen Zahlen mit den 
früheren, hinsichtlich der vorderen Tiefenerstreckung bei gleicher 
Basis b. 


T b = 4320 mm 
T b = 2820 mm | 6 ~ l%: ' m 


Ferner: 


Endlich: 


T b = 4320 mm 
T b = 2820 mm 

T b = 4320 mm 
T b = 2820 mm 


} 


Vs m 


b = 3 /s m 


t v = 4 /ß m 

t v < V& m • 

t v = iy 2 m 

IVlO m 




t v zwischen 1 4 / 2 und 2 m 
t v = 1 Va m . 


Damit ist wieder erwiesen (S. 130 oben): Bei gleicher Basis 
wächst die Tiefenerstreckung des stereoskopischen Bereichs mit der 
Tiefenlage der Basis. 

Dasselbe zeigt folgende Zusammenstellung, wo die gleiche Basis 
b = 30 cm drei verschiedene Tiefenlagen hat: 

5. H.-St., T b = IVa m , t v < y 3 m , 

8. H.-St., T h = 2 4 / 5 m , t v > iy, 0 m , 

10. H.-St., T b = 4Vs m , t v > l 1 /* m . 

Hiernach wächst die in l 1 ^ m Entfernung vom Beobachter vor¬ 
handene sehr geringe Tiefenerstreckung bis zur doppelten Tiefe 
ziemlich schnell, in größerer Tiefe aber langsamer. 

Zusammengefaßt kann gesagt werden: Die Tiefenerstreckung 
des stereoskopischen Bereichs ist um so größer, je länger- 
laterale Basis selbst und je größer ihr Abstand vom Beobachter 


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132 lYiedrich Schubotz, 

außerhalb des jeweils bestehenden stereoskopischen Bereiches sich 
befindet — d. h. dann können sie zum Bewußtsein kommen. 
Sie brauchen es offenbar nicht, da ja in obigen Versuchen die 
Aufmerksamkeit immer auf das Auftreten der Doppelbilder ge¬ 
richtet war und die Aufmerksamkeit das Bevvußtwerden psychischer 
Ereignisse außerordentlich begünstigt 1 ). Für den unbefangenen 
Beschauer mag der stereoskopische Bereich oft erheblich größer 
sein als oben angegeben. — 

Die nachfolgenden Beobachtungen klären die Inkongruenz 
zwischen physikalischer Theorie und Wirklichkeit noch mehr auf. 

Diese Beobachtungen wurden etwas anders ausgeführt als die bis¬ 
her mitgeteilten. Sie sind nur in der Absicht angestellt, qualitative 
Zusammenhänge aufzuweisen. 

Die Basis b wurde für die neuen Versuche immer in der Tiefe 
des 10. H.-St. genommen und so lange verkleinert, bis ein V.-St. 
in der Tiefe des 8. H.-St. anfing, einen alternierenden Eindruck 
zu erzeugen. Das mußte nach Tabelle 27 und 28 bei einer Basis¬ 
länge von b = 20 cm eintreten. — Wurde nun durch irgendwelche 
Bedingungen der Fall herbeigeführt, daß die Basis noch kürzer 
genommen werden konnte, ohne daß der plastische Eindruck an Ein¬ 
heitlichkeit verlor, so war damit nachgewiesen, daß diese Bedingungen 
eine Vergrößerung des stereoskopischen Bereiches bewirkt hatten: 
die Tiefenerstreckung t v = 1500 mm, die erst eine Basis von b = 20 cm 
zur Voraussetzung gehabt hatte, gehört jetzt zu einer kürzeren 
Basis; infolgedessen würde jetzt zu der alten Basis von 20 cm 
ein größeres t v gehören müssen, d. h. der Bereich ist vergrößert. 

Nun trat tatsächlich der Fall ein, daß bei gleichem t v = 1500 mm 
die Basis noch weiter verkürzt werden konnte, und zwar dann, 
wenn der 8. V.-St., der auf binokulare Mitte eingestellt gewesen 
war, seitlich verschoben wurde. Der alternierende Eindruck, der 
bei der Einstellung auf binokulare Mitte bestanden hatte, wurde 
bei einer seitlichen Verschiebung des 8. V.-St. sofort einheitlicher 
und plastischer, und die Basis konnte um etwa 3 cm verkürzt 


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Beiträge zur Kenntnis des Sehraumes auf Grund der Erfahrung. 133 

Schiebung des 8. V.-St. und dem Bereich, derart, daß bei einer 
größeren Verschiebung etwa eine noch stärkere Verkürzung der 
Basis möglich gewesen wäre; ebenso ist nicht untersucht worden, 
ob die Basis auch noch verkürzt werden darf, wenn der 8. V.-St. 
ganz dicht an einen der Grenzstäbe der Basis heranrückt. Es 
wäre auf diese Weise nicht sehr schwierig gewesen, die Kurve zu 
gewinnen, die den Verlauf der vorderen Tiefenerstreckung für ein 
bestimmtes T b und ein bestimmtes b wiedergibt. Nach obigem wäre 
das Aussehen dieser Kurve in der Nähe der Medianebene etwa dieses: 
Im Punkte S würde sie einen extremen 
Wert aufweisen: t v ist hier in der Median¬ 
ebene ein Minimum. An Stelle der Spitze 
in S wäre auch ein nach oben konvexer 
Bogen denkbar.] 

Die Verlegung des Mittelstabes aus der 
Medianebene heraus ist jedenfalls eine Be¬ 
dingung, die eine Vergrößerung des stereo¬ 
skopischen Bereiches herbeiführt. Diese 
Bedingung findet im täglichen Leben fast 
stets statt. 

Eine neue Bedingung mit derselben 
Wirkung geht aus folgender Beobachtung her- Pi g iq. 

vor: Wurde der 8. V.-St. ganz aus dem Raum 
zwischen den Blicklinien nach der Basis herausgerückt, so konnte 
die BasiB beliebig verkürzt werden, ohne daß der einfache 
plastische Eindruck aufgehört hätte. Nun ist Bicher, daß der 
8. V.-St. schließlich doch als Doppelbild gesehen worden wäre, 
wenn er etwa an der oberen Grenze der lateralen Basis für den 
8. H.-St. angelangt wäre [vgl. Zwischenbemerkung S. 129]. — 

Jedenfalls ist auch diese Bedingung im täglichen Leben oft 
erfüllt und damit ein neuer Grund für die seltene Wahrnehmung 
von Doppelbildern aufgezeigt. 

Endlich ist noch ein Versnob mitzuteilen. Der 8. V.-St. wurde 



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134 


Friedrich Schnbotz, 


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den Blicklinien hineingezogen. Dadurch wurde der Eindruck 
wiederum einheitlicher, plastischer, und die Basis konnte wiederum 
verkürzt werden, dieses Mal sogar um 6 cm, bis das Alternieren 
wieder auftrat. 

Hieraus folgt: Der stereoskopische Bereich wächst, wenn die 
Mannigfaltigkeit der gleichzeitig überschauten Gegenstände größer 
wird, falls diese in verschiedener Entfernung liegen. 

Wurde also der Bereich des Einfachsehens schon größer, wenn 
ein Gegenstand aus der binokularen Mitte der fixierten Fläche 
seitlich verschoben wurde, so wird er jetzt wiederum erheblich 
erweitert, wenn die Anzahl der gesehenen Gegenstände eine größere 
wird. 

Ein neuer Umstand, der wegen seines häufigen Vorkommens 
in unserer Umgebung wohl am meisten dazu beiträgt, daß in der 
Wirklichkeit die Doppelbilder ausbleiben! — 


Andererseits soll nun auch eine Bedingung für das Kleiner¬ 
werden des plastischen Bereichs mitgeteilt werden. 

Bisher war die laterale Basis stets symmetrisch zur Median¬ 
ebene gelegen. Sie wurde einmal stark seitlich der Medianebene 
genommen, wieder auf dem 10. H.-St., und wieder wurde der 
8. V.-St. auf binokulare Mitte eingestellt. Zu t v = 1500 mm hatte 
früher b = 200 mm gehört; jetzt mußte die Basis auf Uber 300 mm 
verlängert werden, damit der 8. V.-St. einfach gesehen wurde und 
der Gesamteindruck ein plastischer war. Fixiert wurde dabei 
wieder die Mitte der Basis, aber der Kopf wurde in seiner 
alten Stellung festgehalten, so daß die Medianebene die alte 
blieb und nur die Augen ein wenig seitwärts gedreht werden 
mußten. 

In Wirklichkeit pflegt man nicht nur die Augen, sondern den 
ganzen Kopf zu bewegen, wenn man seitlich fixieren will, so daß 
nach der Kopfbewegung die Medianebene doch wieder ungefähr 
durch die Mitte des Raumes geht, Uber den die Aufmerksamkeit 
verteilt ist, d. h. durch die Mitte der lateralen Basis. 


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Beiträge zur Kenntnis des Sehraumes auf Grund der Erfahrung. 135 


5) Einstellung von Quadraten. 

Es sollte geprüft werden, ob bei der Einstellung von Quadraten 
sich monokular dieselbe Täuschungserscheinung zeigen würde wie 
binokular, ob die beiden vertikalen Seiten eines Quadrats bei ge¬ 
gebener horizontaler Kante auch monokular zu klein gemacht, ob 
also die Vertikalen auch monokular überschätzt werden würden. 


Die beiden V.-St. eines H.-St. wurden symmetrisch zur Median¬ 
ebene in eine bestimmte Entfernung voneinander gebracht, und 
auf ihnen wurden die oberen Kugeln in genau gleicher Höhe Uber 
Augenhöhe festgelegt. Sie bildeten die beiden oberen Ecken des 
Quadrats. Nun wurden die unteren Kugeln auf beiden V.-St. 
langsam höher gezogen, bis die vier Kugeln ein Quadrat zu bilden 
schienen. Dann wurden die Längen der beiden Vertikalseiten ge¬ 
messen. 

Sämtliche Quadrate wurden in dieser Weise eingestellt, daß 
ihre vertikalen Seiten zunächst bedeutend größer waren als die 
feste horizontale Quadratseite, daß also von einem Hochrechteck 
tibergegangen wurde zu einem Quadrat. Akkommodiert wurde 
auf die Ebene des Quadrats, bei den beiden letzten Tabellen 
auf größere Tiefe (siehe später). 

Die feste obere Quadratseite wurde immer so hoch gelegt, daß 
der Horizont ungefähr durch die Mitte des Quadrats hindurchging. 
Fixiert wurde nun die Mitte des Quadrats; indessen wurde keine 
Fixationsmarke angebracht, weil diese die Schätzung der Vertikalen 
hätte beeinflussen müssen. 


Bei den ersten Versuchen wurde die Einstellung so gemacht, 
daß der Blick über das Quadrat hin und her ging. So wurde in 
der Tiefe des 10. H.-St. ein Quadrat von 20 cm horizontaler Kante 
eingestellt, bei dem die vertikalen Seiten links 17,9 cm und rechts 
17,7 cm lang waren. So sind auch die Zahlen in den Tabellen 31 
und 32 gewonnen. 


Auf die Blickwanderunff wurde bei den übrigen Versuchen ver- 


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136 


Friedrich Schubotz, 


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schiede zeigen, ist ein Beweis, daß das Urteil auch bei diesen 
einfachen Versuchen nicht absolut sicher ist, daß für die Zahlen¬ 
angaben auch hier noch ein gewisser Spielraum bleibt. 

Die Tabellen 31 und 32 zeigen, daß die Überschätzung der 
vertikalen Seite nicht nur bei binokularer Betrachtung, sondern 
auch beim einäugigen Sehen vorhanden ist. 

Nach Tabelle 31 ist sie beim monokularen Sehen stärker, 
nach Tabelle 32 schwächer als beim binokularen. Diese Beobach¬ 
tungen widersprechen sich. Das ist nicht erstaunlich wegen der 
Größe des Quadrats, dessen Seite einmal über */ a m, das andere 
Mal 3 / 4 m lang Deshalb wurde die Kante erheblich verkürzt. 

Jedenfalls geht aus den Versuchen wieder eine grundsätzliche 
Übereinstimmung zwischen dem binokularen und dem monokularen 
Sehen hervor. 

Auf die monokularen Einstellungen wurde vorläufig verzichtet, 
und es wurde untersucht, ob sich bei binokularer Betrachtung die 
Überschätzung der Vertikalen etwa mit der Tiefe ändert (Tabellen 33 
bis 35). 

Die Tabellen 33, 34 und 35 sind gewonnen bei Fixierung der 
Mitte des jeweils einzustellenden Quadrats, der Fixierpunkt ver¬ 
änderte gleichzeitig mit dem Quadrat seine Tiefenlage. 

ln Tabelle 33 weist die Vertikale eine größere Länge auf als 
die Horizontale in der Tiefe des 6. H.-St. Hier ist ein Übungs¬ 
fortschritt zu vermuten. Bei einer zweiten Einstellung, bei der 
von einem Langrechteck statt wie sonst immer von einem Hoch¬ 
rechteck ausgegangen wurde, ergab sich für dieselbe Tiefe links 
18,03 cm, rechts 17,94 cm. 

In Tabelle 34 lieferte eine Beobachtung von Dr. Minnemann 
für den 1 H.-St. eine geringere Überschätzung: links 7,73 cm, 
rechts 7,71 cm. 

Nach Tabellen 34 und 35 liegt in der Tiefe des 7. H.-St ein 
Maximum der Überschätzung, also in derselben Tiefe, wo auch 


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Beiträge zur Kenntnis des Sehraumes auf Grund der Erfahrung. 137 


Tabelle 31. 10. Horizontalstab. 55,8 cm horizontale Kante K. 


1 

1 

Binokular 

Monok. links 

Monok. rechts 

linke vertikale Seite 

53,8 

63,5 

52,1 

rechte » » | 

64,6 

53,5 

52,1 


Tabelle 32. 9. Horizontalstab. 75,0 cm horizontale Kante K. 



Binokular Monok. links 

Monok. rechts 

linke vertikale Seite 

70,3 71,8 

72,4 

rechte > » 

71.4 | 72,4 

72,9 


Tabelle 33. K = 20 cm. 2.—10. Horizontalstab. Binokular. 



1. 

H.-St. 

2. 

H.-St. 

3. 

H.-St. 

4. 

H.-St. 

1 H.-St 

6. 

H.-St. 

7. 

H.-St. 

8. 

H.-St. 

1 t 

1 9- 
'H.-St. 

10. 

H.-St. 

1. vert. Seite 
r. vert Seite | 

— 

18,49 
18,42 ! 

18,30 

18,15 

17.71 

17.72 

18,12 

18,10 

20.21 19,26 
20,13') 19,26 

18,74 

18,73 

18.46 18,51 

18.46 i 18,53 


Tabelle 34. K = 8 cm. 1.—10. Horizontalstab. Binokular. 



1. 

2. 

3. 

4. 

5. 6. 

7. 8. 

9. 

10. 

» 

IjH.-St' 

H.-St. 

H.-St. 

H.-St. 

H.-St H.-St. 

H.-St. H.-St.' 

H.-St 

H.-St. 

linke Seite 

7,39 

7,60 

7,46 

7,25 

7,40 7,05 

6,96 7,18 

7,45 

7,57 

rechte Seite 

1! 7,411)! 

7,55 

7,43 

7.27 

7,38 | 7.05 

6,94 7,22 

7,40 

7,66 


Tabelle 35. K = 6 cm. 1.—10. Horizontalstab. Binokular. 



1. 

H.-St. 

2. 

H.-St. 

3. 

H.-St. 

1 4 ’ 
H.-St. 

5. 

H.-St. 

6. 

H.-St 

7. 

H.-St. 

8. 

H.-St. 

9. 

H.-St. 

1 10 * 

| H.-St. 

linke Seite 5,8^ 

Digitized by l -,i 

oogle 

5,88 

— 

— 

5,67 

— 

PRINCI 

5,73 

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ETON UNIVERSITY 




138 


Friedrich Schubotz, 


bei den Abweichungen der optischen Geraden von den geometrischen 
zu konstatieren war, hier keine Rede sein. 

Von einer Gesetzmäßigkeit lassen diese Tabellen nichts er¬ 
kennen. Es ist aber auch nicht ausgeschlossen, daß die Größe 
•• •• 

der Überschätzung sich ändert mit einer Änderung der Länge der 
festen Kante K. 

Weiterhin wurde untersucht, ob eine Gesetzmäßigkeit zu finden 
wäre, wenn der Fixationspunkt nicht wie bisher seine Tiefenlage 
mit der Ebene des Quadrates änderte, sondern ein für allemal 
fest blieb. Er wurde in Augenhöhe in der Medianebene auf dem 
schwarzen Schirm hinter dem Beobachtungsraum markiert, etwa 
27 cm hinter dem 10. H.-St. 

Nach den Mitteilungen über den stereoskopischen Bereich ist 
zu vermuten, daß der Raum, innerhalb dessen die Tiefe des 
Quadrats geändert werden konnte, nur ein sehr beschränkter sein 
konnte. Tatsächlich trat auch bei dem Quadrat von 20 cm Kanten¬ 
länge in der Tiefe des 8. H.-St. schon ein alternierender Eindruck 
auf, der die Einstellung erschwerte. In der Ebene des 7. H.-St. 
entstanden Doppelbilder. Bei 12 cm Kantenlänge waren die Doppel¬ 
bilder schon auf dem 8. H.-St. vorhanden. 

Aus den wenigen Zahlen, die infolge dieser Umstände ge¬ 
wonnen werden konnten (siehe die Tabellen 36 und 37), kann 
zwar keine zwingende Gesetzlichkeit hergeleitet werden. Immer- 


Tabelle 36. K = 20,2 cm. 



Binokular 

Monokular 





links 

rechts 


10. H.-St. 

9. H.-St. 

8 . H.-St. 

| 8. H.-St 

8 . H.-St 

linke Seite 

18,5 

18,8 

18.2 

19.2 

19,0 

rechte Seite | 

18,9 

18,7 

18.3 

19,0 

18,8 


Tabelle 37. K = 12,15 cm. 


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Binokular 


Monokular 


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Beiträge zur Kenntnis des Sehraumes auf Grund der Erfahrung. 139 


hin sind die Beobachtungen gerade dieser beiden Tabellen mit 
großer Sorgfalt und ziemlich gegen Schluß der Versuche, also nach 
reichlicher Übung ausgeflihrt, so daß doch mit einigen Worten 
noch auf die zahlenmäßigen Verhältnisse eingegangen werden 
soll. 

In Tabelle 36 ist die Überschätzung der Vertikalen ftlr die 
Quadrate in der Ebene des 10. und des 9. H.-St. ungefähr die 


gleiche, sie ist aber auf dem 8. H.-St. 
etwas größer. 

In Tabelle 37, bei kleinerer Quadrat¬ 
seite, also größerer Sicherheit des Urteils, 
zeigt sich im binokularen Sehen wieder 
eine stärkere Überschätzung der Vertikalen 
bei geringerer Entfernung der Ebene vom 
Beobachter. 

Beide Male ist der Unterschied nur sehr 
gering, aber er ist jedenfalls vorhanden 
und beide Male in demselben Sinne. 

Die nebenstehende Zeichnung zeigt den 
Sachverhalt für die Ebene des Horizonts. 

Die Visierlinien von den Knotenpunkten 
nach dem Fixationspunkte F schneiden 
aus der horizontalen Kantenlänge K des 
Quadrats auf dem 10. H.-St. ein kleines 
Stück Ojo heraus. In größerer Nähe vom 
Beobachter werden diese Stücke größer: 

Denkt man sich diese 
Stücke ans der Quadratkante K jedesmal 
entfernt, so wird K in größerer Augen¬ 
nähe immer kleiner. Wenn nun K auch 
tatsächlich in größerer Nähe kleiner ge¬ 
sehen würde, so müßten die zugehörigen 
vertikalen Seiten ebenfalls kleiner einge¬ 
stellt werden. 



Knotenpunkte 

Fig. 11 . 



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Digitized b) 


140 Friedrich Schubotz, 

der in größerer Nähe breiter wird und der physiologisch (optisch) 
unwirksam ist. 

Diese Erklärung findet eine Bestätigung in den monokularen 
Beobachtungen, deren Ergebnisse den Tabellen 36 und 37 bei¬ 
gegeben sind. 

Beim einäugigen Sehen liegt kein optisch unwirksamer Raum 
vor, die Kanten K werden in jeder Tiefe in ihrer ganzen Länge 
gesehen, folglich dürfen hiernach die vertikalen Seiten in größerer 
Nähe vom Beobachter monokular nicht kleiner eingestellt werden 
als auf dem 10. H.-St., sogar noch ein wenig (nämlich um a 10 ) 
größer. 

Nach den Beobachtungen trifft dies zu: In Tabelle 36 ist die 
monokulare Einstellung für den 8. H.-St. vorgenommen; die Verti¬ 
kale ist in dieser Tiefe durchschnittlich fast 1 cm länger einge¬ 
stellt als binokular; sie hat eine tatsächlich etwas größere Länge 
als die binokular eingestellte auf dem 10. H.-St. In Tabelle 37 
liefert die monokulare Einstellung für den 10. und 9. H.-St. un¬ 
gefähr dieselbe Vertikale, und zwar ist die Vertikale wieder größer 
als die binokular eingestellte Vertikale auf dem 10. H.-St. 

Trifft die Erklärung auch quantitativ zu? 

Die Weite des physiologisch-unwirksamen Raumes beträgt in 
den Knotenpunkten etwa 66 mm. Der Fixationspunkt liegt in 
459 cm Entfernung. Der 10. H.-St. liegt 27 cm vor dem Fixations¬ 
punkt, also beträgt 

66-27 - , . 

a 10 = 4Ö9~ m > ®io = fast 4 mm . 

Der 9. H.-St. liegt 80 cm vom 10. H.-St. entfernt, also ist 

66-(80 - 1 - 27 ) , 1f .., 

Og =-^459 -—~ = etwa 15 72 mm . 

Um die Beträge a 10 bzw. a 9 müßte somit die monokulare 
Schätzung der Vertikalen Uber die binokulare hinausgehen. Nach 
Tabelle 37 ist die binokular geschätzte Vertikale durchschnittlich 
11,62 cm auf dem 10. H.-St. und 11,47 cm auf dem 9. H.-St. [die 
Differenz dieser beiden Zahlen müßte sein a g — a 10 , d. h. mehr 


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Beiträge zur Kenntnis des Sehraumes auf Grund der Erfahrung. 141 

In Tabelle 36 kommt die Differenz zwischen der binokular 
eingestellten Vertikalen und der monokularen Schätzung für den 
8. H.-St. dem a 8 , das ja größer ist als a, J} wieder nur auf i / i 
bis V 4 nahe. Und auch der Unterschied zwischen dem mon¬ 
okularen Mittelwert 19,0 cm und dem Mittel 18,7 cm aus den beiden 
Vertikalen des 10. H.-St. erreicht nicht ganz den errechneten Be¬ 
trag a i0 = 4 mm, allerdings fehlt hier nur 1 mm. 

Nach allem muß gesagt werden: Qualitativ trifft die Erklärung 
für die Verschiedenheit der Überschätzung der Vertikalen im 
monokularen und im binokularen Sehen wohl zu, nicht aber auch 
quantitativ. 

Letzteres ist jedoch nicht so sehr zu verwundern, im Gegen¬ 
teil, es wäre eigenartig, wenn die Erklärung auch quantitativ 
zutreffen würde. 

Das würde nämlich bedeuten, daß sowohl beim größten wie 
beim allerkleinsteu Quadrat die binokular eingestellten Vertikalen 
sich in den verschiedenen Tiefen stets unterscheiden müßten um 
stets dieselben Beträge dg — a i0 , Og — a ö usw. Dies erscheint 
wenig wahrscheinlich, wenn man an ein auf dem 9. und 10. H.-St. 
eingestelltes Quadrat von 4 bis 5 cm horizontaler Kante denkt, 
dessen vertikale Seite sich in den beiden verschiedenen Tiefen 
um mehr als 1 cm unterscheiden müßte, da a g — a J0 = 1,15 cm. 

Sollten zudem die aus der mathematischen Erklärung herge¬ 
leiteten Zahlen allein maßgebend sein, so dürfte eigentlich im 
monokularen Sehen überhaupt keine Überschätzung der Vertikalen 
vorhanden sein. Dem steht aber schon die Tatsache der ver¬ 
schiedenen Wertigkeit der Netzhautmeridiane entgegen. 

Die Erklärung kann somit nur herangezogen werden in quali¬ 
tativer Hinsicht für die verschiedene Stärke der Überschätzung 
im binokularen und monokularen Sehen. 

Die Überschätzung der Vertikalen selbst muß, eben weil sie 
im Sehen mit einem Auge ebensowohl vorhanden ist wie im Sehen 
mit zwei Augen, als eine ursprüngliche Eigenschaft unseres Seh- 


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142 


Friedrich Scbubotz, 


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6) Direkter Vergleich zwischen binokularem und monokularem 

Gesichtsfelde. 

a) Die binokularen Einstellungen werden bei 
dauernder Darbietung eines monokularen Gesichts¬ 
feldes gewonnen. 

Das binokulare Gesichtsfeld war der Raum mit den Horizontal- 
und Vertikalstäben, der bisher benutzt worden war. Dazu wurde 
ein monokulares Gesichtsfeld geschaffen, das durch einen verti¬ 
kalen Spiegel s in das eine Auge gespiegelt wurde. 

Als Spiegel wurde eine sehr dünne durchsichtige planparallele 
Glasplatte benutzt. Sie war vor dem rechten (später zeitweilig 
auch dem linken) Auge des Beobachters auf einem Tischchen mit 
Drehvorrichtung (Prismentisch) angebracht, so daß die spiegelnde 
Fläche um eine vertikale Achse gedreht werden konnte. 



Fig. 12. 


Die Achse des Spiegels, die bei der Rotation in Ruhe blieb, 
wurde auf den Fußboden projiziert, und vom Projektionspunkte a 
aus wurden auf der Geraden a b die Punkte 1 bis 10 so mar¬ 
kiert, daß die Länge der Strecke vom Knotenpunkt des rechten 
Auges des Beobachters B nach jedem dieser Punkte (über den 

' — ‘ Original from 


Lick gle 


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Beiträge zur Kenntnis des Sehraumes auf Gmnd der Erfahrung. 143 


Stativ etwas unter Augenhöhe so angebracht, daß der Nullpunkt 
der Skalenbank genau Uber einen der zehn Punkte auf a b ein¬ 
gestellt werden konnte. 

An der Skalenbank konnten 2 bis 4 etwa 1 mm breite, von 
hinten zu erleuchtende, senkrechte Spalte S befestigt werden, von 
etwa 5 bis 7 cm Länge, und zwar so, daß sie gleichviel Uber 
and unter den Horizont zu liegen kamen. Zwischen den £ ist 
schwarzer Stoff ausgespannt gewesen. 

Wurde nun das Stativ mit der Skala c d etwa so gestellt, daß 
der Nullpunkt Uber dem Punkt 8 des Fußbodens lag, so hatte 
der Nullpunkt dieses monokularen Gesichtsfeldes vom Knoten¬ 
punkte des rechten Auges genau dieselbe Entfernung wie der 
Medianpunkt der Ebene des 8. H.-St. im binokularen Gesichtsfelde 
vom Beobachter. 

Die richtige Stellung des Spiegels wurde so ermittelt, daß ein 
Lichtspalt S in den Nullpunkt der Skala gebracht und mit einem 
in der Medianebene befindlichen, binokular gesehenen Vertikal¬ 
stabe durch Drehung des Spiegels zur Deckung gebracht wurde. 

Es wurden nun im monokularen Felde zwei Spalte in 30,4 cm 
Entfernung voneinander in der Tiefe 8 auf der Skalenbank c d 
befestigt und darauf im binokularen Felde die beiden V.-St. auf 
dem 8. H.-St. zur Koinzidenz mit den Spalten gebracht. Die Ent¬ 
fernung der beiden V.-St. wurde zu 30,3 cm gemessen. Bei 
anderen Einstellungen ergaben sich die Zahlen: 

monokular: 30,4, 24,5, 21,3, 17,7, 2,9, 17,4, 

binokular: 30,3, 24,5, 21,3, 17,8, 2,9, 17,5. 


Hieraus folgt, daß bei gleichzeitiger dauernder Darbietung der 
beiden Gesichtsfelder kein Unterschied der lateralen Distanzen 
bei monokularem und binokularem Sehen in gleicher Tiefe be¬ 
steht. 

Nun wurde die Art der Darbietung geändert. Das monokulare 
Gesichtsfeld wurde unten, das binokulare oben abgeblendet; dabei 
ergab sich bei 18,0 cm Entfernung der Spalte eine binokulare 
Distanz von 18,2 cm zwischen den V.-St. 


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144 Friedrich Sehubotz, 

wie bei der letzten Art der Darbietung: monokular 18,0 cm; dazu 
binokular 18,2 cm. 

Später wurde die Vergleichung auch fUr das linke Auge vor¬ 
genommen, wiederum für die Tiefe des 8. H.-St. Das Ergebnis 
war: bei gleichzeitiger völliger Überlagerung der Gesicbsfelder 
kein Unterschied der lateralen Distanzen, dagegen sowohl bei teil¬ 
weiser Abblendung wie bei intermittierender Darbietung ein Unter¬ 
schied von l‘/ 2 Dam zugunsten der binokularen Distanz. — Bei allen 
drei Arten der Darbietung war nun ein deutlicher Unterschied in 
der scheinbaren Entfernung bemerkbar gewesen: die monokular 
gesehenen Spalte schienen tiefer zu liegen als die binokular ge¬ 
sehenen V.-St. 

Diese verschiedene Tiefenlokalisation macht sich in den beiden 
letzten Arten der Darbietung insofern wohl etwas bemerkbar, als 
die binokulare Distanz, die ja näher erscheint, etwas kleiner, 
IV 2 bis 2 mm kleiner eingestellt wird. Indessen ist dieser Unter¬ 
schied nur sehr gering, wahrscheinlich deswegen, weil die dauernd 
dargebotene monokulare Distanz einen gewissen kontrollierenden 
Einfluß austlbt. 


Bei anderen Versuchen wurden im monokularen Gesichtsfelde 
drei und später auch vier Spalte benutzt. Zwei in gleicher Tiefe 
wie die Spalte befindliche V.-St. wurden binokular mit zweien 
dieser Spalte zur Koinzidenz gebracht, sie wiesen bei der ersten 
Art der Darbietung (die jetzt nur noch benutzt wurde) wieder die 
gleichen Distanzen auf wie im monokulareu Felde die zuge¬ 
hörigen Spalte. Diese beiden »festen« V.-St. waren stets auf dem 
8. H.-St. 

Mit dem einen bzw. den beiden übrigen Spalten wurden nun 
Vertikalstäbe in größerer und geringerer Tiefe zur Koinzidenz ge¬ 
bracht, und zwar zuerst nur bei monokularer Betrachtung, dann 
binokular. 


Auch hier waren die Unterschiede außerordentlich gering, sie 
betrugen stets weniger als 4 mm, oft nur bis zu 1 mm, und zwar 
kaum zur Hälfte in dem Sinne, daß die Verbindungslinien der 
binokular gewonnenen Einstellungen zwischen den Knotenpunkten 


Gck gle 


—. _M L_J 


\t _j 


1— ^-.ifrrr,- - 1 - 

PRINCETON UNIVERSITY 



Beiträge zur Kenntnis des Sehraumes auf Grund der Erfahrung. 145 


Monokular-rechts-Beobachtungen, Tiefe 8. 

Tabelle 38. 

Drei Spalte 8 cm l.<) 0 cm 20 cm r. 1 ) 

Auf den mittleren Spalt J binokular 0.66 cm r. ') 

wird der 7. V.-St. eingestellt ( monokular 0,57 cm r. 


Tabelle 

Drei Spalte 

Auf den mittleren Spalt ( 
wird der 7. V.-St. eingestellt j 

Tabelle 

Drei Spalte 

Auf den mittleren Spalt 
wird der 10. V.-St. eingestellt 

ebenso 9. V.-St. 

ebenso 7. V.-St. 

ebenso 6. V.-St. 
ebenso 5. V.-St. 


39. 


8 cm 1. 4 cm 1. 2Ö cm r. 

binokular 

2.27 cm 1. 


monokular 

2,17 cm 1. 


40. 



1 

8 cm 1. 

1 1 

12 cm r. 20 cm r. 

binokular 

15.92 cm r. 

+ 

monokular 

16 35 cm r. 


binokular 

13.21 cm r. 

-t- 

monokular 

13,63 cm r. 


binokular 

10,19 cm r. 


monokular 

10,36 cm r. 


Doppelbilder 


Doppelbilder 



Tabelle 41. 


Drei Spalte 

Auf den mittleren Spalt 
wird der 10. V.-St. eingestellt 

ebenso 9. V.-St. 

ebenso 7. V.-St. 

ebenso 6. V.-St. 
ebenso 5. V.-St. 

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20 cm 1. 

13 cm r. 20 cm 

\ binokular 

17.77 cm r. 

+ 

j monokular 

17,84 cm r. 


l binokular 

14.90 cm r. 

+ 

( monokular 

14,97 cm r. 


( binokular 

11,06 cm r. 


| monokular 

11,15 cm r. 


j binokular 

9,10 cm r. 

? (Ei 

( monokular 

9,10 cm r. 


Doppelbilder 







^ret* c 


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146 


Friedrich Schubotz, 


Tabelle 42. 


Drei Spalte 

Auf den mittleren Spalt 
wird der 10. V.-St. eingestellt 

ebenso 9. V.-St. 

ebenso 7. V.-St. 

ebenso 6. V.-St. 
ebenso 5. V.-St. 


2Ö cm 1. 13 cm 1. 20 cm r. 

\ binokular 21,70 cm 1. 

( monokular 22,00 cm 1. 

| binokular 17,33 cm 1. 

| monokular 17,59 cm 1. 

I binokular 9,58 cm 1. 

| monokular 9,67 cm 1. 

( binokular 6,73 cm 1. ? 

{ monokular 6,73 cm 1. 

Doppelbilder 


Tabelle 43. 


Die Versuchsreihen 41 und 42 werden vereinigt: 4. Spalte, 
auf die beiden mittleren werden beide V.-St. der einzelnen H.-St. eingestellt. 


Vier Spalte 


20 cm 1. 13 cm 1. 


Die beiden V.-St. werden 
auf dem 10. H.-St. eingestellt 

ebenso 9. H.-St. 


binokular 21,70 cm 1. 
monokular 22,02 cm 1. 
binokular 17,43 cm 1. 
monokular 17,57 cm 1. 


13 cm r. 20cm r. 

I I 

17,91 cm r. 

18.88 cm r. 

14,94 cm r. -f- 
15,02 cm r. 


Monokular-links-Beobachtungen, Tiefe 8. 


Tabelle 44. 


Drei Spalte 

Auf den äußersten Spalt linkB 
wird der 10. V.-St. eingestellt 

ebenso 9. V.-St. 
ebenso 7. V.-St. 
ebenso 6. V.-St. 


20 cm 1. 

1 

10 cm 1. 

1 

10 . 
I 

1 

J binokular 

1 

29,10 cm 1. 

1 

4- 

1 monokular 

29,46 cm 1. 


( binokular 

24,77 cm 1. 

-f 

1 monokular 

24.% cm 1. 


\ binokular 

16,73 cm 1. 


] monokular 

16,80 cm 1. 


( binokular 

Doppelbilder 

( monokular 

13,73 cm 1. 



Tabelle 45. 


Vier Spalte 


20 cm 1. 10 cm 1. 10 cm r. 20 cm r. 


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Auf die mittleren Spalte 
werden die beiden V.-St. 
auf dem lO.H.-St. eingestellt 


| binok. 13,33 cm 1. 
I monok. 13,81 cm 1. 

I klr»/\lr 1 1 ür\ si Ttr» 1 

J 


17.04 cm r. -+- 
16,74 cm r. 

1 Q AÜ n m v 1- 


PRINCETON UNIVERSITY 



Beiträge zur Kenntnis des Sehraumes auf Grund der Erfahrung. 147 

Aus allen diesen Beobachtungen ist zu entnehmen: 

Wenn einzelne Objekte im Gesichtsfelde dauernd nur dem 
einen Auge dargeboten werden, während andere Gegenstände zu¬ 
gleich binokular sichtbar sind, scheint sich die räumliche Anord¬ 
nung so zu gestalten, als ob das nur von einem Auge Gesehene 
zugleich dem anderen Auge mitgeboten würde, oder: 

Das dauernd monokular Gesehene betrachten wir ebenfalls als 
das Ergebnis des binokularen Sehens, und wir stellen deshalb bei 
den hier beschriebenen Versuchen objektiv so ein, wie es eigent¬ 
lich nur dem monokularen Sehen entspricht. 

Hiernach erklärt es sich leicht, daß bei den Vergleichen der 
lateralen Distanzen bei der ersten Art der Darbietung, bei dauernder 
Vergleichung der beiden Gesichtsfelder, sich kein Unterschied 
zeigte. 

Der Einfluß, den in den bisherigen Versuchen das monokulare 
Gesichtsfeld auf das binokulare ausgeübt hat, wird vermieden, 
wenn monokulare und binokulare Einstellungen jede für sich vor¬ 
genommen werden. Es ist zu vermuten, daß dann die Unter¬ 
schiede größer sein und einen eindeutigen Sinn zeigen werden. 

Darüber soll nun berichtet werden. 


b) Die monokularen und binokularen Einstellungen werden 
zeitlich getrennt vorgenommen. 


Die Versuche über den stereoskopischen Bereich waren an¬ 
fänglich so gemacht worden, daß zwei V.-St. in gleicher Tiefe 
und fester Entfernung voneinander symmetrisch zur Medianebene 
festgelegt wurden, und daß dann ein davor oder dahinter befind¬ 
licher V.-St. auf »binokulare Mitte« eingestellt wurde. 

Bei einer ganzen Reihe dieser Versuche wurde nun außer auf 
binokulare auch auf monokulare Mitte eingestellt, für beide Augen. 

Hier, wo das monokulare und das binokulare Gesichtsfeld 
zeitlich voneinander getrennt dargeboten waren, traten größere 
Unterschiede auf als bei den vorigen Beobachtungen, bei denen 
stets das monokulare Gesichtsfeld wirksam war. 


Es ist (siehje Figur 13) offenbar, daß bei den 

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, Einstellungen 

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148 


Friedrich Schubotz, 


die monokular gewonnenen Einstellungen weiter von der Median¬ 
ebene entfernt liegen werden, und zwar, wenn der Mittelstab M 
vor b lag, für das rechte Auge nach rechts und für das linke 
nach links; und wenn der Mittelstab dahinter lag, umgekehrt. 
Die Tabellen 46 bis 48 bestätigen diese Deduktion durchweg. 

Die Zeichnung läßt auch erkennen, daß die Abweichungen 
von M gegen die Medianebene größer werden müssen, wenn M 

sich weiter von b entfernt. — Die 



Rüge 
Fig. 13. 


Tabellen zeigen vollkommen kontinuier¬ 
liche Änderungen. 

Die binokular gewonnenen Ein¬ 
stellungen liegen stets in der Mitte 
zwischen den beiden monokularen, 
d. h. die Verbindungslinien von der 
tatsächlichen Mitte von b über 
M binokular schneiden zwischen den 
Knotenpunkten ein, ungefähr im 
Zyklopenauge. 

Hiernach müssen die Tabellen 46 
bis 48 als Beweis dafür gedeutet wer¬ 
den, daß es sich im binokularen 
Sehen wirklich um eine Zentral¬ 
projektion handelt, als deren Zentrum 
das Zyklopenauge anzusehen ist. 

Es handelt sich nun im mon¬ 
okularen Sehen von vornherein auch 
um eine Zentralprojektion mit dem 
betreffenden Auge als Zentrum, aber 
dem monokularen Eindruck fehlt etwas 
von dem Plastischen, Stereoskopischen, 
das dem binokularen Eindruck seine 
Lebhaftigkeit verleiht. Da dieser 
Eindruck des Stereoskopischen auch 


vorhanden ist bei vollkommen fester Fixation innerhalb eines 


t 

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gewissen Bereichs, 

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so müssen mit dem Vorzug des Plastischen 

Original fron _ 

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Beiträge zur Kenntnis des Sehraumes auf Grund der Erfahrung. 149 

solche, sondern nur in Form von Tiefenwerten zum Bewußtsein 
kommen. 

Das würde für eine unmittelbare Tiefenwahrnehmung sprechen. 


Tabelle 46. Mitte, eingestellt. 

[Abweichungen in mm] 


auf 
dem ? 
H.-St. 

Mon¬ 

okular 

links 

Binokular 

Mon¬ 

okular 

rechts 

] 

b auf dem 10. H. 

1, = 60 cm 

■St.; 

9. 

2.0 1. 

2.9 r. 

6.6 r. 

8. 

2.0 1. 

6,1 r. ? 

b = 50 cm 

10.4 r. 

9. 

1,0 1. 

4.1 r. 

7.0 r. 

8. 

2,2 1. 

7,1 r. ? 

b = 40 cm 

13,2 r. 

9. 

0,7 1. 

2,1 r. 

5,5 r. 

8. 

4.2 1. 

5,9 r. ? 

b = 30 cm 

13,3 r. 

9. 

! 0,0 

2.1 r. 

7,0 r. 

8. 

1 2,5 1. 

l 

3,4 r. ? ? 

b = 20 cm 

15,0 r. 

9. 

i 3,7 1. 

0,3 r. 

5,7 r. 

8. 

8.2 1. 

1.2 r. ??? 

b — 12 cm 

12,4 r. 

9. 

7,8 1. 

0,9 1. 

b = 8 cm 

4.3 r. 

9. 

7.8 1. 

0,8 1. 

5 = 6 cm 

5,1 r. 

9. 

8.6 1. 

0,6 r. ? 

5,0 r. 


Tabelle 47. Mitte, eingestellt. 

[Abweichungen in mm] 


auf 
dem ? 
H.-st.: 

1 

Mon- 

1 

okular 

links 

Binokular 

Mon¬ 

okular 

rechts 

i 

b auf dem 5. H.- 

b = 30 cm 

St.; 

6 

‘ i 

2,7 r. | 1,5 r. ?? | 

Tabelle 48 

0,7 1. 


b auf dem 8. H.-St.: 

b = 40 cm 

10. 

24,3 r. 

3,5 r. 

14,4 1. 

9. 

12,8 r. 

3,6 r. 

7,01. 

7. 

| 3,2 1., 

2,9 r. 

5,8 r. 

6. 

: 6,51.1 

4,8 r. ? 

15,7 r. 

5. 

14,9 1. 

Doppelb. 

20,3 r. 

4. 

17,3 1. 

» 

24,2 r. 

3. 

21,0 1. 

» 

27,8 r. 

2. 

25,8 1. 


29,7 r. 

1. 

27,4 1. 

* 

b — 20 cm 

31,3 r. 

10. 

21.8 r . 

! 1,8 r. 

14,3 1. 

9. 

10,6 r. 

1,0 1. 

9,1 1. 

7. 

2.0 1. 

0.9 r. 

7.2 r. 

6. 

8.91. 

3,8 r. ??? 

14,2 r. 

5. 

14,4 1. 

Doppelb. 

20,0 r. 

4. 

| 20,9 1. 

> 

20,6 r. 

3. 

| 23,1 1. 

» 

25,0 r. 

2. 

1 26,0 1. 

> 

27,1 r. 

1- 

29,9 1. 

> 

30,6 r. 


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PRINCETON UNIVERSITY 



Digitized b) 


Die Methode der historisch-völkerpsychologischen 

Begriffsanalyse. 

Von 

Dr. Abraham Schlesinger (Würzburg). 


Inhaltsverzeichnis. s«it« 

I. Die Notwendigkeit einer neuen Methode.150 

II. Zwei Referate.156 

1) Maurice Millioud, La Formation De L’Idäal.156 

2) Ach ad Haara, Moseh.167 

III. Die Beschaffenheit der neuen Methode.177 


I. Die Notwendigkeit einer neuen Methode. 


Die exakte wissenschaftliche Bestimmung eines Begriffes hat 
zu ihrer unerläßlichen Voraussetzung die wissenschaftliche Er¬ 
kenntnis des mit ihm gemeinten Objektes. Als sicherer, wenn¬ 
gleich beschwerlicher Weg zu einer solchen Erkenntnis wird für 
normwissenschaftliche bzw. für philosophische Begriffe nunmehr 
die Methode der »historisch-psychologischen Analyse« 
gelten dürfen. Sie besteht ihrem Wesen nach kurz gesagt darin, 
daß der zu untersuchende Begriff zunächst in seiner historischen 
Gegebenheit dargestellt und hernach in seiner psychologischen 
Grundlage analysiert wird. 

Für die vollständige Klärung eines Begriffes scheint es mir 
jedoch prinzipiell erforderlich, ihn von zwei verschiedenen Ge¬ 
sichtspunkten aus zu betrachten. Einmal muß die Frage lauten: 
wie ist das psychische Gebilde, welches die Bewußtseinsgrundlage 


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Die Methode der historisch-völkerpsychologischen Begriffsanalyse. 151 

• 

die anfangs genannte Methode in ihrer besonderen Gestaltung als 
historisch-individualpsychologische Analyse. Sodann ist fest¬ 
zustellen, welche allgemeine, d. h. in der Gemeinschafts¬ 
psyche wurzelnde, Erlebnisgrundlage dem nämlichen Begriffe 
eignet. Und eine solche Feststellung muß einheitlich durch die 
Anwendung jener selben Methode oder genauer: jenes selben 
methodischen Grundgedankens in der Form einer historisch¬ 
völkerpsychologischen Analyse vollzogen werden. 

Bei der »historisch-individualpsychologischen Analyse« ge¬ 
staltet sich der erste Teil als chronologische Darstellung der 
bisherigen Theorien Uber den zu behandelnden Begriff, wobei 
jeder dargestellten Einzeltheorie nach Bedürfnis eine kurze 
Würdigung vom psychologischen Standpunkt aus angefUgt werden 
kann. Die psychologische Untersuchung zerfällt hierauf in zwei 
Teile: in eine systematisch-psychologische Darstellung und 
Würdigung jener Theorien und in eine empirisch-psychologische 
Behandlung des Erlebnisses selbst. Der letzteren Untersuchung 
läßt sich am besten die Fragebogen- und die (mündliche) Frage¬ 
methode zugrunde legen. 

Über die Art der Verbindung des dritten mit dem seinerseits 
ganz auf dem ersten beruhenden »systematisch-psychologischen« 
Teile der Gesamtarbeit sind dreierlei verschiedene Auffassungen 
methodologisch möglich. 

Man könnte erstens daran denken so zu verfahren, daß die 
empirische Untersuchung vollständig unabhängig von dem 
zweiten Teile in Angriff genommen wird. D. h.: die Anlegung 
des Fragebogens erfolgt ohne jede Rücksicht auf Inhalt und Er¬ 
gebnisse des zweiten Teils. Zur Erzielung einer solchen Unab¬ 
hängigkeit empfiehlt sich die Fixierung der Fragen schon vor 
dessen Ausführung. Der systematische Zusammenhang mit ihm 
besteht darin, daß die Ergebnisse der empirischen Untersuchung 
mit dem vorhergehenden Teile verglichen und kombiniert werden. 
So liefert die »systematisch-psychologische Darstellung und Wür¬ 
digung der bisherigen Theorien« über den bezüglichen Begriff 


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152 


Abraham Schlesinger, 


genommeuheit des Bearbeiters und somit in dieser Hinsicht strengste 
Objektivität der Bearbeitung gewährleistet. Andererseits ergibt 
sich jedoch ein großer Übelstand. Es kann und wird leicht ge¬ 
schehen, daß in dem systematisch-psychologischen Teile eine Reihe 
von wichtigen Tatbestandsmöglichkeiten aufgedeckt werden, über 
deren Wirklichkeit die empirische Untersuchung nicht das min¬ 
deste zu ermitteln vermag, weil jene Möglichkeiten eben erst nach 
der Anlage und Verwendung des Fragebogens gefunden worden 
sind und datier das ausschließlich auf ihm beruhende empirische 
Material nichts darüber enthält. Umgekehrt dürften wiederum 
manche Fragen sich jetzt als unwesentlich und gar nicht zur Sache 
gehörig erweisen. 

Um eine derartige Unvollkommenheit zu vermeiden, kann man 
zweitens so Vorgehen, daß der Fragebogen ganz auf Grund 
der »systematisch - psychologischen Darstellung und 
Würdigung« entworfen wird. Die natürlich in sich hier gleich¬ 
falls durchaus selbständige Verarbeitung des Materials bringt dann 
wie bei dem vorhin erörterten Verfahren die empirische Bestätigung 
oder Nichtbestätigung der Ergebnisse des zweiten Teils. 

Allein auf diese Weise erwächst eine neue Schwierigkeit. Die 
Fixierung der Fragen auf der Grundlage eines bestimmten System¬ 
schemas scheint die Unabhängigkeit und fundamentale Selbständig¬ 
keit der empirischen Untersuchung aufzuheben. 

Einen Ausweg aus dem Dilemma bietet die dritte Möglich¬ 
keit des Verfahrens. Die Verbindung des dritten mit dem zweiten 
Teile gestaltet sich bei der neuen Auffassung so, daß der Ent¬ 
wurf des Fragebogens zuerst, d. h. vor der systematisch-psycho¬ 
logischen Untersuchung erfolgt (also ganz »voraussetzungslos«, 
gerade wie bei dem ersten Verfahren), aber nachher, d. h. nach 
Vollendung des zweiten Teiles, die Fragen auf dieser Grundlage 
ergänzt bzw. verringert werden. Wegen einer allzu großen 
Häufung der Fragen bei einem solchen Vorgehen braucht man 
keine übertriebene Besorgnis zu hegen. Wie die Erfahrung ge- 


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Die Methode der historiscb-vülkerpsychologischen Begriffsanalyse. 153 


beiden anderen, und sie wird in Zukunft bei Anwendung unserer 
Methode maßgeblich sein müssen *). 

Daß die Begriffsanalyse, welche vom völkerpsychologischen 
Gesichtspunkte ausgeht, eine ganz andere Form anzunehmen 
hat als die individualpsychologisch orientierte, ist unverkenn¬ 
bar. Um mit dem letzten Teile zu beginnen: eine empirisch¬ 
psychologische Untersuchung vermittels der Fragebogenmethode 
oder auf irgendeine sonstige Weise läßt sich unmöglich ausführen. 
Nur Individuen sind imstande, ihre Erlebnisse unvermittelt kund¬ 
zugeben; der Gemeinschaft als solcher, dem Gemeinschaftsbewußt¬ 
sein, kann man direkt schlechterdings nicht beikommen. 

Sodann kann man die Art, wie der erste historische« Teil 
unter dem individualpsychologischen Gesichtspunkte zu behandeln 
ist, gleichfalls nicht auf dem Boden der völkerpsychologischen 
Forschung einfach nachahmen. 

Vor allem fehlt es bei den verschiedenen Theorien, welche 
über das einem bestimmten Begriffe zugrunde liegende Bewußt¬ 
seinsgebilde etwa vorhanden sind, meist an einer genügenden 
Unterscheidung zwischen individual- und völkerpsychologischer 
Betrachtung. Jene »Theorien« gehen ja auch von ganz anderen 
Voraussetzungen aus und verfolgen ganz andere Zwecke, als eine 
»Begriffsanalyse« in unserem Sinne. Sie bestehen sehr oft nur 
aus gelegentlichen Bemerkungen und Reflexionen Uber einen Be¬ 
griff, der in den Ausführungen des betreffenden Philosophen oder 
Psychologen gerade eine wichtige Rolle spielt und eine kurze all¬ 
gemeine Besprechung verlangt. Diese Theorien künstlich in 
individual- und völkerpsychologische zu zerlegen, wäre häufig 
bloß durch eine recht gewaltsame und willkürliche Deutung mög¬ 
lich 2 ). Jedenfalls müssen sie, wie sie nun sind, in der grund- 


1) Ich stütze mich bei der ganzen bisherigen Ausführung auf meine — mit 
Ausnahme der letzten Abschnitte der empirischen Untersuchung abge¬ 
schlossene — Arbeit: »Der Begriff des Ideals«. Im I. Teile (erschienen bei 
Wilhelm Engelinann, Leipzig 1908) § 3 und in der »Schlußbetrachtung« des 
II. Teils (Archiv für diu pp.r. Psvchnlncip XV Pdd finden sich dip hp-Hi«-. 


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Abraham Schlesinger, 


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legenden »historisch-individualpsychologischen Analyse« be¬ 
handelt werden, zu der die »historisch-völkerpsychologische 
Analyse« lediglich die Ergänzung bildet. Dann aber ist dort 
schon alles miterledigt, was über das betreffende Erlebnis als 
Gemeinschaftserlebnis wissenschaftlich geäußert worden ist. 

Dazu tritt ein weiteres Bedenken. Die systematisch-psycho¬ 
logische Verarbeitung der Theorien, welche und wie sie im zweiten 
Teile zum Vollzüge gelangt, erscheint mir auf dem Gebiete der 
Völkerpsychologie sachlich unstatthaft. Die Bewußtseinsvorgänge, 
die dort als Tatbestandsmöglichkeiten aufgedeckt werden, tragen 
ausschließlich individualpsychologischen Charakter. Denn es 
ist ausschließlich die allgemeine Psychologie, mit deren Be¬ 
griffen und auf deren Grundlage hier operiert werden muß, wo¬ 
fern die fundierenden Theorien nicht selbst streng völkerpsycho¬ 
logisch gehalten sind: eine Bedingung, die, wie vorhin ausgeführt 
wurde, meist unerfüllt bleibt. Die allgemeine Psychologie je¬ 
doch ist die Individualpsychologie 1 ). Die Gebilde der Gemein¬ 
schaftspsyche dürfen aber keineswegs von vornherein ein¬ 
fach mit denen der Individualpsyche identisch gesetzt werden, so 
sehr wir auf Analogieschlüsse angewiesen sein mögen Ein solches 
Vorgehen schlösse eine Art petitio principii in sich und machte 
die ganze Untersuchung wertlos. Ich will herausfinden, wie ein 
Objekt einerseits vom Individuum und andererseits von der Ge¬ 
meinschaft erlebt wird und setze dabei schon voraus, daß auf beiden 
Gebieten die Erlebnisweisen, die psychischen Außerungsformen, 
gleichartig und die psychologischen Termini gleichbedeutend sind! 

Endlich kommt in Betracht, daß bei der völkerpsychologischen 
Untersuchung die historische Grundlage eine ganz andere sein 
kann als es bei der individualpsychologischen möglich ist. Bei 
dieser ergibt sich nämlich die Schwierigkeit, daß das, woran man 
im allgemeinen bei dem betreffenden Begriff zu denken pflegt, 
kollektiver Natur ist. Der Begriff des Wertes z. B. läßt uns 
vor allem an allgemein als Werte geltende Gegenstände denken, 
an — wirkliche oder vermeintliche — Eigenwerte schlechthin. 


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Die Methode der historisch-vülkerpsychologiachen Begriffsanalyso. 155 


Gemeinschaftswertungen. Für mich persönlich brauchen die 
genannten Gegenstände gar keinen Wert darzustellen. Ich per¬ 
sönlich kann als Stoiker die Lust, als Asket die Schönheit usw. 
fllr Unwerte ansehen. Will man also wissen, was für das Indi¬ 
viduum der Begriff des Wertes bedeutet, so darf man nicht von 
der Untersuchung dessen ausgeben, was im allgemeinen, was 
im Durchschnitt von dem Gemeinschaftsbewußtsein als Wert erlebt 
wird. Um nur irgendwie eine historische Grundlage zu haben, 
muß man bei der historisch-individualpsychologischen Analyse 
notgedrungen die Theorien Uber den betreffenden Begriff ent¬ 
sprechend zu verwenden suchen. Geht man jedoch von dem 
völkerpsychologischen Standpunkt aus, so kann man gleich die 
Sache selbst betrachten: die allgemein, d. h. vom Gemeinschafts¬ 
bewußtsein mit dem Begriffe gemeinten Objekte in ihrer geschicht¬ 
lichen Gegebenheit. 

Wir gelangen somit zu dem Ergebnis, daß sowohl die historische 
Grundlage wie die psychologische Ausführung bei der historisch¬ 
völkerpsychologischen Begriffsanalyse anders geartet sein muß 
als bei der historisch-individualpsychologischen. 

Es erhebt sich nun die Frage, wie jene erstere Methode positiv 
zu gestalten sei. Für ihre Behandlung besitzen wir einen wert¬ 
vollen Stutzpunkt in einer Abhandlung des hebräischen Denkers 
Achad Haam. Sind auch ihre Voraussetzungen und Ziele von 
den unserigen gänzlich verschieden, so läßt sich aus ihr dennoch 
der Plan einer Methode gewinnen, wie wir ihn gerade suchen. 
Dem bisherigen Gang unserer Betrachtung folgend, wollen wir 
vorher noch eine französische Arbeit kennen lernen, die ad oculos 
demonstrieren soll, wie nötig nicht nur eine Trennung der völker- 
von der individualpsychologischen Untersuchung ist (was der Ver¬ 
fasser selbst betont), sondern auch eine Trennung der Me¬ 
thoden. 

So löse ich gleichzeitig ein früher gegebenes Versprechen 1 ). 


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Abraham Schlesinger, 


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II. Zwei Referate. 

1) Maurice Millioud: La formation de l’ideal 1 ). 

Wenn man die Gedanken als Tatsachen faßt und ihre Eigen¬ 
tümlichkeiten studiert, so verschwinden einerseits gewisse philo¬ 
sophische Probleme, während auf der anderen Seite sich neue er¬ 
heben und manche eine Umbildung erfahren. 

Zur Illustrierung dieser Behauptung kann das Problem der 
Bildung des Ideals dienen. Millioud will in einigen vorläufigen 
Auseinandersetzungen die Bedeutung des Problems dartun. Es 
handelt sich dabei und bei den Sätzen, auf die sich das Ganze 
bringen läßt, mehr um eine Art Postulate, welchen noch die eigent¬ 
lichen Beweise fehlen. Die letzteren würden für sich allein be¬ 
sondere Untersuchungen erfordern. 

Das Problem der Idealbildung gehört in die Reihe der moral¬ 
philosophischen Fragen, wo man die größten Schwierigkeiten 
findet, wenn man sich an eine »Naturgeschichte« der Ideen 
heranwagt. Man will da die Bedingungen des Entstehens und 
Vergehens eines Gedankens kennen lernen sowie seine Wirksam¬ 
keit. Der Ethiker hingegen weiß mit derartigen Feststellungen 
nicht viel anzufangen. Er versucht, wie man immer betont, zu 
ermitteln, was sein soll, nicht was ist. Daraus könnte man 
folgern, daß eine natürliche Geschichte der Gedanken philosophisch 
bedeutungslos sei. 

Indessen haben einige Soziologen auf die Möglichkeit einer 
aus der Kenntnis der sozialen Tatsachen geschöpften Sozialethik 
hingewiesen, wonach »normal« alles hieße, was den Grund¬ 
bedingungen des Gemeinschaftslebens konform wäre. Bei einer 
solchen Ethik kommt freilich das Innenleben zu kurz. Wir 
gehen keineswegs in der Gemeinschaft auf. Wir vermögen ihr 
nur zu geben, was wir haben, und was wir (moralisch) haben, 
hängt von dem ab, was wir sind. Dergestalt gibt es keine soziale 
ohne eine Persönlichkeitsmoral. Allein eine Persönlichkeitsmoral 

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Die Methode der histuriscli-vülkerpsychologiacheü Begriffsanalyße. 157 

Ihre »Materie« sind wir selbst: unser Geist, der Komplex 
der psychischen Erscheinungen und Funktionen, aus denen sich 
das Innenleben zusammensetzt. Ihr Ziel ist die Organisation der 
Persönlichkeit (l’organisation de la personnalite) als das Grund¬ 
gesetz des psychischen Lebens. Hinsichtlich der Mittel, die 
gleich dem Ziele ebenfalls in der Natur gegeben sind, müssen wir 
die Hauptformen der Persönlichkeitsorganisation erforschen (les 
principaux inodes d’organisation de la personnalite); und dann 
wird die Beobachtung, welche uns zweifellos verschiedene Typen 
aufzeigt, auch darüber Auskunft erteilen, wie man von einer 
Organisationsform zur anderen gelangt, unter welchen Bedingungen 
und mit welchem Ergebnis. 

Zu den verschiedenen Organisationsformen der Persönlich¬ 
keit gehört die Idealbildung. Sie soll im folgenden defi¬ 
niert, ihr Mechanismus beschrieben, ihre Wirksamkeit erörtert 
werden. 

Das Ideal gilt gewöhnlich als der Gegensatz des Alltäglichen, 
als das Gegenteil der Realität, als das Vollendete gegenüber dem 
Wechselnden, als das letzte und höchste Ziel jenseits unserer 
eitlen Wünsche und flüchtigen Träume. Aber mit derlei Redens¬ 
arten ist nichts anzufangen. Um zu einer wirklichen Bestimmung 
des Idealbegriffes zu kommen, müssen wir vielmehr einige jener 
glänzenden Bilder betrachten, »qui se sont levees aux yeux des 
hommes, debout sur l’horizon de l’histoire, et vers lesquelles des 
generations ont couru«. 

Als im alten Hellas nach den Schlachten bei Marathon und 
Salamis die nationale Degeneration begann und die leuchtenden 
Götter Homers, die schönheiterfüllten, aber ohnmächtigen National¬ 
gottheiten alterten und verblichen, da erstand ein neuer Gott: der 
gewaltige Heracles mit Keule und Löwenfell. Diesen Kraft¬ 
menschen versetzte man nach einer rauhen Pilgerfahrt auf Erden 
unter die Unsterblichen. Gehorsam hatte er sich bis zum Sklaven 
erniedrigt, Hohn und Verachtung ertragen und gigantische Arbeiten 
verrichtet. Arglos, treuherzig, betrogen, voll mörderischen Zornes 
und tiefer Reue war dieser »Tor« (ce simple), dieser Ma,u n der 

harten A rlküif , riinlit Klnll ein Röndin-er vnn TTn crpViPiiPTTl dOndem 

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Abraham Schlesinger, 


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Erde durchwandert und uuter unsäglichen Anstrengungen die 
Unvollkommenheiten einer schlecht geordneten Welt verbessert, 
um schließlich durch das Feuer gereinigt im Olymp mit der 
ewigen Jugend vermählt zu werden. 

Wer hat Heracles erwählt? Warum geschah es gerade erst 
damals, als die Bürger die Sache des Staates aufzugeben und 
ihren Schutzgöttern die Treue zu brechen begannen? 

Doch er ist gar keine Staatsgottheit; er war vielmehr der Held 
der Zyniker, jener Bettelmönche des Altertums, die von Stadt 
zu Stadt wunderten, um die moralische Kraft Griechenlands 
zu beleben. Sie machten aus Heracles das Vorbild der regene¬ 
rierten Menschheit. Losgelöst von den Banden des Staates, der 
Tradition, der Sitten, frei in jeder Hinsicht, trunken von persön¬ 
licher Freiheit, aber einsam in der Menge und ganz auf sich selbst 
gestützt; voll Ehrerbietung gegenüber dem, was für niedrig und 
voll Widerstreben gegen alles, was für begehrenswert galt; voll 
Verachtung für Ehren, Reichtum, Wissen; verherrlichend die 
Arbeit der Hände, die Armut, Ausdauer, Unwissenheit, ein primi¬ 
tives, durch keine Kunst verschöntes Leben: diese Rauhigkeit und 
Größe verkörperten die Zyniker in Heracles. 

Solche Idealbildungen linden sich so häufig in der Geschichte, 
daß man das Phänomen als eine Art Funktion des moralischen 
Lebens betrachten darf. Aber das Ideal tritt nicht immer frei 
hervor. Oft wird es nur teilweise herausgearbeitet und bleibt un¬ 
bestimmt. Es löst sich dann nicht von der Person los, in der es 
ursprünglich zum Ausdruck kam, um sie in einer organisierten 
Gruppe oder in dem allgemeinen Volksstreben zu überdauern. 
So blieb das patriotische Ideal der Jungfrau von Orleans an die 
besondere Tat der Vertreibung der Engländer aus Frankreich ge¬ 
bunden. Nach Vollendung der Tat lebte die Heldin zwar in der 
allgemeinen Volksmeinung als eine anziehende, makellose Gestalt, 
aber sie wurde keineswegs die Verkörperung der vielfältigen, 
mächtigen Strebungen, die sich vermittels der Idealisierung und 
Personifizierung klären und vereinigen. 


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Die Methode der historisch-vülkerpsychologisclien Begriffsanalyee. 159 


Gestalt eines Franz von Assisi, weil sein erhabener Traum vollendet, 
sein Ideal völlig ausgebildet ist. 

Die bisher betrachteten Ideale sind Gemeinschaftsphänomene. 
Sie gehen vielleicht von einem einzelnen Menschen aus, sind je¬ 
doch bestimmt, in der Menge und durch sie zu existieren, eine 
Partei oder eine Nation zu gruppieren. Das Gemeinschaftsideal 
ist zumeist konkret, es stellt eine Verkörperung dar. Wenn es 
sich an einer wirklichen, historischen Persönlichkeit verdichtet, so 
verklärt es sie, nicht um sie zu verwischen, sondern im Gegen¬ 
teil, um sie zu vereinfachen und die charakteristischen Züge zu 
betonen. 

Steht es auch so beim individuellen Ideal? Gibt es überhaupt 
eine individuelle Form des Ideals? Zur Kenntnis und Würdigung 
dieses besonderen Phänomens der Idealbildung ist eine Unter¬ 
suchung seiner Hauptarten erforderlich. Gibt es eine individuelle 
Form des Ideals wie es eine kollektive gibt, so hat es vielleicht 
jetzt, uuter dem neuen Gesichtspunkt betrachtet, nicht mehr die 
gleichen Eigenschaften noch genau die gleiche Natur. 

Da nun das Individuum ein derart kompliziertes Wesen und 
andererseits der Ausdruck >Ideal« derartig schwankend und viel¬ 
deutig ist, daß man bei jedem Schritt sich zu verirren Gefahr 
läuft, so müssen wir bei der Untersuchung in der Weise Vorgehen, 
daß wir die wesentlichen Merkmale betrachten, welche für die uns 
schon bekannten Fälle charakteristisch sind und dann zusehen, ob 
wir sie ganz oder teilweise in neuen Fällen wiederfinden. 

Jene Merkmale lassen sich kurz angeben als: Die Herstellung 
eines Bildes, seine Veräußerung und seine Rückwirkung auf das 
Subjekt (l’elaboration d’une image, l’exteriorisation de cette image 
et l’action en retour que cette image exerce sur l’homme). Finden 
wir die genannten Merkmale auch in neuen Fällen? 

In gewissen Schöpfungen auf dem Gebiete der schönen Künste, 
in gewissen politischen oder sozialen Entwürfen, in gewissen 
philosophischen Konzeptionen begegnen wir ihnen tatsächlich wieder. 
Der echte Künstler verkörpert, wie mau mit Recht zu sagen pflegt, 
sein Ideal in seinemWerke und macht es in diesem frei. Er reprodu¬ 
ziert nicht etwa ein ihm geistig gegenwärtiges Bild, sondern er 


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bekannten Idealbildung eine offensichtliche Analogie, indem dort 
ebenfalls ein konkretes Bild irgendwie fixiert wird und in unseren 
Augen einen höheren Wert erlangt, so kann man ganz ähnliche 
Merkmale bei Konzeptionen politischer und sozialer Art finden. 
Es handelt sich dabei, wie sich von der entsprechenden Utopie 
Platos (in der »Republik«) entnehmen läßt, um einen Traum, um 
ein Gewebe von Träumen, hervorgegangen aus Emotionen und 
Reflexionen, Erinnerungen und Phantasievorstellungen, die aber 
nicht mehr als Träume vorhanden sind, sondern eine feste Form 
angenommen haben und dergestalt eine Anziehungs-, eine wunder¬ 
bare Suggestionskraft gewinnen. Ebenso steht es bei den epoche¬ 
machenden metaphysischen Systemen. Nimmt man den ganzeu 
Apparat von Beweisen, Induktionen usw. weg, dann entdeckt man 
ein einziges oder einige wenige Prinzipien oder eine sehr allge¬ 
meine Tatsache, auf welche die unendliche Mannigfaltigkeit der 
Erscheinungen zurückgeführt wird: aber lebendige, wirksame 
Tatsachen und Prinzipien, deren Kontemplation den Auserwählten 
alles Leid stillt und eine Erhöhung ihres Seins bedeutet. Eine 
Emotion finden wir Überall im Grunde der großen metaphysischen 
Systeme; den GemUtsvorgang eines inneren Kampfes, der sich in 
Harmonie auflöst, wenn man aus der Disharmonie der Wirklich¬ 
keit zu den ewigen Realitäten sich wendet. Dies erkennen wir 
bei Plato, bei Aristoteles, doch ebenso bei einem modernen 
Denker gleich Spencer. 

Allein es existieren auch Verschiedenheiten zwischen dem 
Individual- und Gemeinschaftsideal. 

Das letztere ist mehr veräußert (exterieur) als das Individual¬ 
ideal und unabhängiger von seinen Trägern. Die Ursache liegt 
nicht nur darin, daß es bisweilen in einer Person verkörpert ist. 
Es vermag recht wohl eine unpersönliche, wenngleich fast immer 
konkrete Form anzunehmen. Man denke z. B. an das Ideal der 
französischen Revolutionszeit: Freiheit, Menschenrechte usw., das 
in der unabstrakten Marseillaise seinen Ausdruck fand. Ein Ge- 


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Die Methode der historisch-völkerpsychologischen Begriffsanalyse. 161 


seinem ursprünglichen Subjekte los. Zweifellos nimmt es in 
einem Kunstwerk usw. äußere Gestalt an; zweifellos übt es eine 
Rückwirkung auf das Individuum, oft derart, daß der Künstler 
der Nachahmer seines ersten Werkes bleibt. Man darf geradezu 
sagen: bisweilen wirkt das Individualideal wie ein fremder An¬ 
trieb auf sein eigenes Subjekt zurück. Allein dieser Fall, welcher 
beim Gemeinschaftsideal die Regel bildet, stellt beim 
Individualideal eine Ausnahme dar. Das letztere gehört 
seinem Autor, dem ersteren gehört man selbst. 

Ferner ist das Individualideal weniger fest und bestimmt. Ein 
Beispiel zeigt deutlich den Unterschied. Racine war einer der 
Hauptvertreter des französischen Klassizismus. Aber während er 
diese Geschmacksrichtung auf längere Zeit hinaus für andere 
zur Herrschaft brachte, wurde er selbst ihr am ersten untreu: er 
schrieb die »unklassische« Esther. Und auch in seiner nach¬ 
maligen »Rückfalligkeit« (Athalie) kehrte er keineswegs völlig 
zu seinem alten Ideal zurüek, sondern erlaubte sich wesentliche 
Neuerungen. 

Es muß jedoch zwischen vollendeten und unvollendeten Idealen 
unterschieden werden. Einmal konzipiert, kann das Ideal zu einem 
Bild, einem Symbol, einer Formel sich entwickeln und sich auf 
solche Art von uns frei machen und über uns erheben. Aber 
nicht immer kommt es zu einer Vollentwicklung; die Loslösung 
tritt oft nur teilweise ein. W. James bringt z. B. in seinem 
Bache »Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit« 1 ), wo 
das religiöse Phänomen als ein ganz subjektives erscheint, eine 
Reihe von Idealen ohne jede Form überhaupt. Das Ideal erweist 
seine Existenz in diesen Fällen lediglich durch heftige emotionale 
Regungen und ist einfach (gegen James, der gerade hier das 
religiöse Phänomen in seiner Reinheit sehen will) »un Sentiment 
a l’etat pur«, welches weder politischen, noch religiösen, noch 
moralischen, noch sonst einen besonderen Charakter besitzt. 

Aus allem Bisherigen resultiert, daß die Entwicklungsformen 
des Ideals innerhalb zweier Endnnnkte liefen: zwischen dem 


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Abraham Schlesinger, 


freie Bild vorliegt, vollständig lösgelöst vom Individuum, konkret, 
feststehend und kollektiver Natur. Kurz gesagt: das Ideal ist ein 
»processus d’^volution compris entre deux extremes: l’emotion 
actuelle et l’exteriorisation de l’image«. 

Nimmt man das gefundene Ergebnis wenigstens als Hypothese 
an, so erhebt sich jetzt die doppelte Frage: was geht in uns vor, 
wenn sich ein Ideal bildet und was, wenn es gebildet ist? Oder 
anders ausgedrUckt: was empfängt das Ideal von uns und was 
empfangen wir von ihm? 

Wählen wir zur Beantwortung der ersten Frage ein Beispiel 
aus dem Gebiete der Literatur. Das schwer definierbare roman¬ 


tische Ideal verriet sich vor allem durch eine Auflehnung gegen 
die herkömmlichen, geheiligten Regeln. In der Lyrik wird es zu 
einem Aufstand gegen alles, was den Aufschwung des Willens 
hemmt und das Feuer der Leidenschaft niederhält. Gleichzeitig 
beginnt die Verherrlichung Napoleons. Und wann tritt diese 
Entfaltung des Individualismus, diese Begeisterung für den Helden 
in die Erscheinung? In der besonders friedlichen Epoche der 
Jahre 1820—1848! Als nach dem Tatenfieber und Siegesrausch, 
in welchen die Generation von 1820 groß geworden war, das 
Einerlei des Alltages wieder einsetzte, da kam die Reaktion hier¬ 
gegen: ein intellektueller Aufstand. Das Bedürfnis zu handeln, 
den geistigen Horizont zu erweitern, der sich nach dem Sturze 
Napoleons verengert hatte, machte sich auf solche Weise geltend. 

Was man also in das romantische Ideal eingehen ließ, das 
war ein Komplex stürmischer, unterdrückter Tendenzen, die sich 
dergestalt auslebten und beruhigten. Das Ideal verlor seinen Reiz, 
sobald Frankreich wieder zu einer größeren äußeren Aktion kam. 
Die unterdrückten, zurückgedrängten Tendenzen in uns 
sind es, welche wir in das Ideal legen und welche dessen Bildung 
bestimmen. Man könnte für diese Tatsache viele Beispiele an¬ 
führen. Um nur eines zu erwähuen: gerade in der Epoche des 
Industrialismus, der kommerziellen Kultur, der wachsenden Soli¬ 
darisierung der materiellen Interessen schwärmte Nietzsche für 
die Einsamkeit und predigte den Kultus der Persönlichkeit und 


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d ie Verachtung des Herdenmenschen. 

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Die Methode der historisch-vülkerpsychologischen Begriffsanalyse. 163 

bildet die Äußerung jenes Teiles des Innenlebens, der unbefriedigt 
ist und sich verzehren würde, indem er uns selbst verzehrt, wenn 
er sich nicht eine Form gäbe, irgendwie als Realität veräußerte. 

Weshalb diese Formgebung? Weshalb bleibt das Ideal nicht 
rein intramental ? Wir stehen damit bei der zweiten der oben 
aufgeworfenen Fragen: was empfangen wir unsererseits vom Ideal? 

Wir sehen, daß das Ideal die Tendenz hat, aus seinem Sub¬ 
jekte heraus zu treten, ihm als eine selbständige Gegebenheit 
sich darzubieten; und daß es in dem Maße beherrschend wird, 
als ihm eine solche Veräußerung gelingt. Wie vollzieht sie sich 
aber ? 

Da das Phänomen meistens wenig klar bewußt wird, so 
bleibt das Problem, welches dem der äußeren Wahrnehmung 
ähnelt (weshalb setzen wir innere Empfindungen als äußere Ob¬ 
jekte?), schwer lösbar. Seine Behandlung soll hier auch bloß auf 
den Nachweis beschränkt werden, daß seine Lösung nicht über¬ 
haupt unmöglich sei. 

Die unbefriedigten Tendenzen werden bewußt und nehmen die 
Form eines Gedankens an: des Gedankens, der sich veräußert, 
weil er auf uns einwirkt. In der Kontemplation der reinen Schön¬ 
heit tröstet sich Plato Uber den inneren Zwist Griechenlands. 
Das Ideal der Schönheit ist ein von Plato verschiedenes Objekt, 
da es auf ihn Einfluß übt. Diesen Schluß ziehen wir, um die 
Existenz eines Objektes darzutun. Da aber die reine Schönheit 
nicht in der Welt der empirischen Wirklichkeit zu finden ist, so 
muß sie anderswo gesucht werden. Und der Philosoph projiziert 
sie ins Unendliche. 

Jedenfalls veräußert sich das Ideal ganz oder teilweise. Es 
erhebt sich nun die Frage: wie wirkt es auf uns? 

Offenbar durch einen »rappel des tendances«. Der Vorgang 
besitzt gar nichts Geheimnisvolles. An einem herrlichen Morgen 
z. B., beim Anblick des blauen Himmels und der sonnenüber- 
strahlten Hügel werden mannigfache Erinnerungen in uns lebendig. 
Gleichzeitig vollziehen sich jedoch unmerklich innerliche Geh- 

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164 Abraham Schlesinger, 

den Ausdruck und die Ursache dar des Wiederauflebens der 
stärksten und hartnäckigsten Tendenzen des psychischen Organis¬ 
mus. Ihre Hartnäckigkeit vermag, vorzüglich bei weniger kulti¬ 
vierten Menschen, einen unglaublich hohen Grad zu erreichen. 
Dadurch erklärt sich die Kraft der Ideal Wirkung zusammen¬ 
gehalten mit der Organisation des moralischen Lebens. Das Ideal 
dient sozusagen als Akkumulator und Regulator. Als Akkumulator, 
indem es die von Haus aus stürmischen, einander widerstrebenden 
Tendenzen konzentriert und um ein Bild herum kristallisiert; als 
Regulator, insofern es sie in ihrer ungezügelten Wildheit und 
Plötzlichkeit einschränkt und mäßigt. Dadurch verliert das Ideal 
nichts an seiner Tiefe und Umfänglichkeit. Es kommt nur das 
Wesen der Organisation zur Geltung: die Kraft wird weniger 
sichtbar, aber mehr wirksam. Eine Teilung, keinen Widerstreit 
der psychischen Funktionen zieht die Idealbildung nach sich. Die 
Tendenzen und Emotionen wandeln sich, bis sie die Natur eines 
Gedankens annehmen und damit der Analyse und logischen Kritik 
zugänglich werden. 

Wir berühren hier eine letzte Frage: die nach der Entwicklung 
oder, da dieser Ausdruck oben schon in anderem Sinne gebraucht 
wurde, nach der Wandlung des Ideals (les destinees de l’ideal). 
Wenn das Ideal eine so wichtige Rolle in der Organisation der 
Persönlichkeit spielt, warum bewahren wir es dann nach seiner 
Bildung nicht sorgfältig vor jeder Beeinträchtigung? 

Leider hängt dies nicht von uns ab. Wir sind nicht imstande, 
unser moralisches Leben um einen schlechthin festen Punkt zu 
organisieren. Eine solche Fixierung wäre nur durch eine Trennung 
des individuellen vom sozialen Leben zu ermöglichen, wie sie von 
Asketen angestrebt wurde, welche sich jedoch in Halluzinationen 
und Aberglauben aller Art verloren haben. Denn beides gehört 
zusammen und bedarf der harmonischen Verbindung: das indi¬ 
viduelle und das soziale Leben. Deshalb verflechten wir unser 
Ideal mit unserer Person in das soziale Leben, wo wir anderen 
Personen und anderen Idealen begegnen. Beständig treffen ent- 

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Die Methode der historisch-völkerpsychologischen Begriffsanalyse. 165 

ab. Viele früheren Ideale sind heute abgestorben; überwunden 
mußten sie neuen das Feld räumen. 

Derartige Idealkämpfe erweitern oft das allgemeine Bewußt¬ 
sein und bewirken eine Klärung der öffentlichen Meinung, eine 
Erhebung über die enge Schätzung der partikulären Interessen. 
Neue Elemente dringen von da aus in die alten Anschauungen 
und verlängern ihnen durch eine allmähliche Modifikation Dauer 
und Wert. Unser Gerechtigkeitsbegriflf führt z. B. seinen Ursprung 
auf die Wiedervergeltung zurück. Wir haben der Gemein¬ 
schaft das Recht der Wiedervergeltung übertragen. Ihr legen 
wir die Pflicht auf, dem Verbrechen vorzubeugen durch Fürsorge 
für die Jugend, durch Erziehung usw. In unserem Gerechtigkeits¬ 
begriff hat es keine Revolution gegeben. Nur neue Begriffe haben 
in ihm ihre Verkörperung gefunden und ihn allmählich innerlich 
umgewandelt. Indem das Ideal sich wandelt, wandelt es die 
Richtung der Tendenzen und schließlich die letzteren selbst. 

Darauf beruht die Superiorität der Idealfuuktion gegenüber den 
anderen Organisationsarten der Persönlichkeit und die besondere 
Macht ihrer Wirkung. Sie bietet dem Denken, der Reflexion, die 
beste Handhabe und ermöglicht so die reichste und vollkommenste 
Entwicklung des moralischen Lebens. 

Das Ideal ist nicht das Ziel, sondern das Ziel ist das Leben, 
während das Ideal eine Funktion bildet. Nicht im Absoluten 
noch im Reiche der Phantasie darf es gesucht werden, sondern 
auf dem Boden der Wirklichkeit müssen wir es bestimmen, dem 
Gange der Geschichte folgend. •— 


Ich unterlasse es, im einzelnen an dem Inhalte der zweifellos 
sehr viel Anregendes enthaltenden Millioudschen Ausführungen 
Kritik zu üben. Hier kommt es lediglich darauf an, nachzuweisen, 
daß ein psychologisches Problem so wenig wie ein anderes zu¬ 
länglich behandelt werden kann, solange die Behandlung in einer 
methodologisch unzulänglichen Weise geschieht, wie es eben bei 
Millioud der Fall ist. 


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historischer und mythologischer Heroengestalten. Allein 
woher nimmt er das Recht zu der Voraussetzung, daß diese Ge¬ 
stalten gerade Ideale sind? Man könnte freilich die Gegenfrage 
stellen: Ja, was in aller Welt soll denn sonst ein Ideal sein, wenn 
nicht einmal so ein »glänzendes Bild« wie Heracles oder Franz 
von Assisi usw. ? Irgend etwas muß doch der Begriff schließlich 
zum Inhalt haben! Uns obliegt vorläufig nicht die Aufgabe, in 
die positive Erörterung der Frage einzutreten. Bloß das Eine 
müssen wir jetzt schon feststellen, daß der Idealheitscharakter 
jener »glänzenden Bilder« aus Geschichte und Tradition keines¬ 
wegs definitiv vorausgesetzt werden darf, wenn man das Ideal 
bestimmen will. 

Einem schweren Bedenken unterliegt sodann die Art und Weise, 
wie Millioud die Völker- und individualpsychologische Behandlung 
seines Problems voneinander trennt. Sicherlich verdient es An¬ 
erkennung, daß er eine solche Trennung für notwendig hält; 
aber sie hätte in ganz anderer Form geschehen sollen. 

Millioud stellt zunächst die wesentlichen Merkmale fest, 
welche sich ihm bei der Betrachtung der Gemeinschaftsideale er¬ 
geben hatten. Von da aus will er die Beschaffenheit der Indi¬ 
vidualideale ermitteln, indem er an einer Reihe von individuellen 
Erlebnissen (wobei man übrigens doch den Eindruck hat, als ob 
sie halb und halb als Individual ideale schon definitiv voraus¬ 
gesetzt wären) teils die gleichen bzw. ähnliche, teils verschiedene 
Merkmale wie dort aufzeigt. 

Angenommen, es sei statthaft, die eine der beiden sich er¬ 
gänzenden Untersuchungen auf der anderen aufzubauen, so scheint 
es mir jedenfalls unstatthaft, die Völker psychologische, d. h. eben 
die Untersuchung der Gemeinschaftsideale, zur Grundlage zu 
machen, wie es Millioud tut. Die Individualpsychologie ist, 
um es zu wiederholen, die allgemeine und fundamentale Psycho¬ 
logie. Was man direkt untersuchen kann, ist das individuelle 
Erlebnis, nicht das der Gemeinschaft. Im letzteren Falle, beim 
Gemeinschaftserlebnis, sind wir, wenigstens fürs Gewöhnliche, auf 
Schlüsse angewiesen. Will man daher die individual- und die 


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Die Methode der hiatorisch-vülkerpaychologischen Begriffsanalyse. 167 


Allein ich halte ein derartiges Verfahren überhaupt für un¬ 
berechtigt. Beide Untersuchungen sind voneinander völlig ge¬ 
trennt, jede ist völlig selbständig zu führen. Die Gründe, die 
uns zu dieser prinzipiellen Forderung veranlassen, wurden bereits 
oben erörtert. Hinzugefügt mag noch werden, daß es durchaus 
nicht genügt, durch allgemeine Betrachtungen und Ausführungen, 
gewissermaßen auf dem Wege der >Spekulation«, ein Problem 
Völker- oder auch individualpsychologisch zu behandeln. 

Zum Schlüsse möchte ich an einem Beispiele zeigen, wie leicht 
man auf solche Art zu Willkürakten verführt wird. Millioud 
kritisiert, wie erinnerlich, W. James, der in einfachen, elemen¬ 
taren Gemütsregungen sozusagen das religiöse Urphänomen er¬ 
blicken will. Millioud hält, meines Erachtens mit Recht, das 
Phänomen für »un sentiment ä l’etat pur« ohne jeden religiösen, 
moralischen, ästhetischen oder sonstigen Sondercharakter. Aber •— 
Ideal Charakter schreibt er ihm zu! — 

Unsere Ausführungen sind bisher im wesentlichen negativer 
Natur gewesen. Wir haben zu zeigen versucht, daß zu der wirk¬ 
lichen Klärung von Begriffen auf psychologischem Wege auch 
eine Völker psychologische Behandlung des Begriffes jeweils er¬ 
forderlich ist, daß jedoch die Schritte, welche in dieser Richtung 
nnternommen worden sind, trotz aller Anerkennung, die das Be¬ 
streben verdient, nicht zum Ziele führen können. Die folgende 
Abhandlung vermag uns dagegen einen wertvollen Fingerzeig für 
eine Annäherung an jenes Ziel zu geben und leitet somit zu dem 
positiven Teile unserer Darlegung hinüber. 


2) Achad Haam: Moseh 1 ). 

Die Gelehrten streiten Uber die Frage, welchen Einfluß die 
>Helden der Geschichte« auf den Entwicklungsgang der mensch¬ 
lichen Gattung ausüben. Während die einen behaupten, die 
»Helden« seien die eigentlichen Geschichtsbildner und das Volk 
stelle lediglich den Stoff dar. erklären die anderen, gerade das 


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Abraham Schlesinger, 


sehen zu werden. Die echten Geschichtshelden, d. h. die Persön¬ 
lichkeiten, welche auf viele Generationen hinaus zu wirkenden 
Kräften im Leben der menschlichen Gattung geworden sind, haben 
überhaupt niemals als leibhaftige Wesen in der empirischen Wirk¬ 
lichkeit existiert. Es gibt keine historisch große Persönlichkeit, 
deren geistige Gestalt nicht von der Volksphantasie völlig umge¬ 
prägt worden wäre. Und dieses Bewußtseinsgebilde, welches 
der Volksgeist und die Volksphantasie ihren besonderen Bedürf¬ 
nissen und Tendenzen gemäß sich selbst geschaffen haben, ist 
allein der echte Geschichtsheld mit Beinern oft Jahrtausende hin¬ 
durch wirksamen Einfluß. 

Man hat demnach zwischen einer historischen und einer 
archäologischen Wahrheit zu unterscheiden. Eine historische 
Wahrheit liegt ausschließlich dort vor, wo eine wirkende Kraft 
im Leben der menschlichen Gesellschaft aufgezeigt wird, auch 
wenn jene Kraft nur ein Phantasiegebilde (■’DY’tn 1‘PS) darstellt. 
Erbringt man dagegen den Nachweis der wirklichen, empirischen 
Außenexistenz einer Person, die jedoch keinerlei Spuren ihres 
Daseins hinterlassen hat, so ist freilich ebenfalls eine Wahrheit 
zutage gefördert: aber eine fruchtlose, eine archäologische 
Wahrheit. Der von Goethe erdichtete Werther z. B. besitzt 
vermöge des starken Einflusses, den er auf seine Zeit geübt hat, 
eine weit größere geschichtliche Realität als irgendein damals 
wirklich lebender Deutscher, der nach seinem Tode vergessen 
wurde und verschollen ist, wie wenn er nie gewesen wäre. 

Unter diesem Gesichtspunkte muß auch die Persönlichkeit 
Moses betrachtet werden, des größten »Helden« der jüdischen 
Geschichte. Bekanntlich zieht die wissenschaftliche Forschung in 
Zweifel, ob der Mann Mose tatsächlich gelebt hat, ob er genau 
so lebte und genau alles das tat, wie es die biblischen Berichte 
wiedergeben. Mögen die gesamten derartigen Fragen eine voll¬ 
ständig negative Beantwortung finden: der historische Mose 
wird dadurch nicht berührt. Die historische Realität dieser 
idealischen Gestalt, welche als solche im Bewußtsein der 
iüdischen Gemeinschaft wurzelt und deren Einfluß sich hier bis 


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Die Methode der historisch-völkerpsychologischen Begriffsanalyse. 169 


welche möglichen »archäologischen« Entdeckungen, klar erkennen. 
Der jüdische Volksgeist hat jenes Ideal geschaffen; der Schöpfer 
aber schafft in seinem Gleichnisse. Derlei Gebilde, in 
welchen der Geist des Volkes seine inneren Strebungen zum Aus¬ 
druck bringt, werden von ihm unbewußt und unabsichtlich immer 
weiter ausgewirkt und allmählich mit zahlreichen Zutaten versehen, 
die im einzelnen häufig dem Grundgedanken widerstreiten. Allein, 
wofern man das Gebilde in seiner Totalität betrachtet, findet 
man stets den ursprünglichen Grundgedanken, um dessenwillen es 
geschaffen wurde, den Kern, aus welchem der Baum erwuchs. 

Werfen wir also einen Blick auf die Tradition und fragen uns: 
Was war eigentlich Mose? D. h. von welcher Art ist das nationale 
Ideal, das sich in ihm verkörperte? Wollen wir ein idealisches 
Gebilde richtig kennen lernen, so müssen wir vor allem fest¬ 
zustellen suchen, was es nach Absicht seines Bildners darstellen 
soll. Das Bild des Kriegshelden z. B. wäre etwas ganz anderes 
als das des Geisteshelden usw. 

War nun Mose etwa ein Kriegsheld? Unmöglich! In dem 
ganzen Bilde findet sich kein solcher Zug. Niemals sehen wir 
Mose als Feldherrn auftreten. Einmal erblicken wir ihn wohl 
auf dem Schlachtfelde, im Kampfe gegen Amalek, aber nur, um 
mit seinem moralischen Einfluß auf das Heer einzuwirken 1 ). 

War er vielleicht ein Staatsmann? Auch mit »Politik« wollte 


er nichts zu schaffen haben. Als er mit dem Pharao über po¬ 
litische Angelegenheiten unterhandeln sollte, mußte er sich fremder 
Hilfe, der Hilfe seines Bruders Aharon bedienen 2 ). 

Und selbst ein Gesetzgeber war er nicht. Ein solcher gibt 
immer den Mitlebendeu sein Gesetz, gemäß den zeitlichen und 
örtlichen Lebensbedürfnissen. Mose indessen gibt Gesetze für 
die Zukunft, für ein Geschlecht, das noch nicht existiert und 
für ein Land, das noch nicht erobert ist. Die Tradition verhehlt uns 


nicht, daß manche mosaischen Verordnungen überhaupt nie zum 
Vollzüge gelangten. 

Was war eigentlich Mose? In einem kurzen Satze spricht 


es die Überlieferung deutlich ans: 

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erstand in Israel nicht 

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Abraham Schlesinger, 


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doch nicht gleich den anderen Propheten, die zur Königszeit 
realiter existierten. Er ist vielmehr der idealische Repräsen¬ 
tant der israelitischen Prophetie in ihrem erhabensten Sinne. 

Worin besteht das Wesen der israelitischen Prophetie? Durch 
zwei Grundeigenschaften scheint sich der Prophet von den übrigen 
Menschen zu unterscheiden. 

Er ist erstens der Mann der Wahrheit (rrastn 1D'K). Er 
sieht das Leben, wie es ist, nimmt seine Eindrücke rein ob¬ 
jektiv in sich auf und verkündet was er sieht genau so, wie er 
es gesehen hat. Nicht einfach einer persönlichen Neigung folgend 
lehrt er auf diese Weise die Wahrheit, auch nicht als Resultat 
einer entsprechenden Forschung, sondern weil er muß, weil ihn 
die eigenartige Beschaffenheit seines Geistes zwingt, so zu 
handeln, selbst wenn er anders handeln will. 

Zweitens ist der Prophet der Mann des Extrems (ni*apn XCPVt). 
Er konzentriert sein ganzes Dichten und Trachten auf sein Ideal, 
in welchem er das Ziel des Lebens erblickt und dem er das Leben 
restlos unterwerfen möchte. Die idealische Welt, die er in sich 
trägt, strebt er äußerlich zu realisieren. Im klaren Bewußtsein, 
daß es so sein soll, fordert er mit aller Kraft, ohne eine Aus¬ 
flucht gelten zu lassen, daß es auch so sei, selbst wenn er mit 
allem Bestehenden in Konflikt gerät. 

Aus diesen beiden prophetischen Wesensmerkmalen resultiert 
ein drittes: die Herrschaft der absoluten Gerechtigkeit (pT2) 
in der Seele des Propheten, in dessen Reden und Handeln. Als 
»Mann der Wahrheit« muß er zugleich der Mann der Gerech¬ 
tigkeit sein. Denn Gerechtigkeit bedeutet: Wahrheit in der 
Praxis. Und als »Mann des Extrems« muß er Gerechtigkeit 
walten lassen ohne Rücksicht auf seine persönlichen Gefühle. 
Seine Gerechtigkeit ist mithin eine absolute; sie ist unbeschränkt 
durch soziale Bedürfnisse und individuelle Neigungen. 

Da aber der Prophet einerseits das Leben nicht absolut dem 
eigenen Geiste gemäß reformieren und andererseits ebensowenig 
die Unvollkommenheiten des Lebens übersehen kann, so liegt er 


.immer mit 

Go gie 


it der Gegenwart in Streit unrl denkt immer, wie er ia 




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Die Methode der hifltorisch-vülkerpsychologischen BcgriffsanalyBe. 171 


Doch wie der Prophet sich nicht seiner Zeit fügt, so ftigt sich 
auch seine Zeit nicht ihm. Nur indirekt, durch Kanäle sozusagen, 
ergießt sich sein Geist in die Menge. Die Vermittler bilden 
Personen, die zwar keine Propheten sind, aber ihnen viel näher 
stehen als die große Masse: nämlich die »Priester« (D'OrD) des 
prophetischen Ideals. 

So sieht der Prophet in seiner reinen Gestalt aus. Die soeben 
allgemein aufgezeigten Grundzllge, welche bei allen Propheten 
nachweisbar sind, kommen am deutlichsten beim Idealbilde des 
größten unter ihnen zum Vorschein. An Mose können wir sie 
am besten studieren. 

Wie Mose ins öffentliche Leben tritt, stößt er gleich auf eine 
Verletzung der Gerechtigkeit 1 ). Ohne viel zu überlegen rächt 
er sie. Dergestalt offenbart sich sofort der ewige Kampf des 
Propheten mit der Wirklichkeit. 

Und er kämpft diesen Kampf ungeachtet aller schlimmen Er¬ 
fahrungen, die er machen muß. Ein neuerlicher Versuch, im 
Namen und zum Schutze der Gerechtigkeit einzugreifen, bringt 
ihn in Lebensgefahr 2 ); er muß aus Ägypten fliehen. Aber die 
erste Tat in dem fremden Zufluchtslande besteht wiederum in 
einem Eintreten für die Gerechtigkeit. Starke Hirten wollen 
schwache Mädchen widerrechtlich daran verhindern, ihre Herden 
zu tränken: »da trat Mose auf und half ihnen« 3 ). 

Achtzig Jahre war er alt, wie die Bibel berichtet, als er vor 
dem Pharao erschien, und nur die drei erwähnten, für die prophe¬ 
tische Wesenheit charakteristischen Geschehnisse werden von ihr 
aus dem Leben Moses bis zu diesem Zeitpunkte mitgeteilt, von 
welchem an seine eigentliche Wirksamkeit erst beginnt: die Befreiung 
der Israeliten und die Verkündigung der Lehre der Gerechtigkeit. 

In der Wüste wird ihm sein Lebensberuf klar. Fruchtlos war 
bisher sein Dasein, wie der Dornbusch, vor dem er steht; und 
jetzt, wo er bereits alt ist, wird er erst recht nichts mehr auszu- 
ricbten vermögen. Allein er hört im Innern »die Stimme Gottes 
welcher er sich nicht entziehen kann. Der »Gott der Väter < 
offenbart sieh ihm und ruft ihn als Befreier seines Volkes. Bi»- 


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Abraham Schlesinger, 


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schlechthin gekämpft, wo immer er sie verletzt fand. Aber darum 
gerade war sein Streben erfolglos geblieben: in allen Kreisen, in 
denen er auftrat, galt er als ein Fremder, nirgends hatte man ihm 
noch das rechte Vertrauen entgegengebracht. Jetzt endlich will 
er zum eigenen Volke gehen, zu den Seinigen, die ihn sicher 
verstehen mußten. Vermittels dieses Volkes, welches zu be¬ 
freien er berufen ist, soll das idealische Reich der Gerechtigkeit 
auf Erden gegründet werden. So beschließt er, sein Ideal zu 
realisieren. Doch bald kommen ihm Bedenken. Er muß mit dem 
Pharao »diplomatische« Verhandlungen pflegen, er muß die Ältesten 
des eigenen Volkes, wenn es nicht anders geht, durch »Wunder« 
von der Mission überzeugen, für welche er sich bestimmt weiß: 
und derlei Dinge sind ihm unmöglich. Denn er ist »der Mann 
der Wahrheit«, der keine glatten Worte machen und keine krummen 
Pfade wandeln kann. Endlich findet er einen Ausweg: er bleibt 
bei seiner Wahrhaftigkeit und Geradheit und bedient sich gegen¬ 
über dem Pharao wie dem Volke eines Vermittlers, der ihm 
unbedingt glaubt und ergeben ist, auch ohne daß er glatte Worte 
oder Gaukelkünste gleich den ägyptischen Geheimktinstlern zu 
Hilfe zu nehmen braucht. Der Vermittler aber ist Aharon, der 
»Priester« der Zukunft 1 ). 

Als nun das erste Ziel, die Befreiung des Volkes, erreicht ist, 
da fühlt sich Mose hochbeglückt. Indessen wußte der Prophet 
damals nicht, daß er erst am Anfänge seines Werkes stand und 
die Haupttätigkeit, die schwierigste Arbeit, noch vor sich hatte: 
die innere Befreiung des Jahrhunderte hindurch geknechteten 
Volkes. Der Sklave war noch Sklave, wenn auch der Herr nicht 
mehr Herr war. 

Allein der Prophet baut auf die Kraft seines Ideals. Er hofft, 
daß es imstande ist, jeden Rest von Sklavensinn aus dem Volks¬ 
geiste zu tilgen und in demselben das Streben nach dem hohen 
Ziele zu wecken. So führt er das Volk an den Sinai, spaltet ihm 
den Himmel und zeigt ihm den »Gott der Väter« in seiner neuen 
Gestalt, in seiner universalen Größe: Es gibt nur Einen Herrn der 


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Die Methode der historisch-vülkerpsychologißchen BegriffsanalyBe. 173 

heiligen Gemeinschaft« bestimmt, welche in vorbildlicher Weise 
das individuelle und soziale Leben auf eine neue Grundlage stellen 
soll: auf den Geist der Wahrheit und Gerechtigkeit. »Der Ge¬ 
rechtigkeit jaget nach«; »von Lüge haltet euch fern«; den 
Schwachen und den Fremden bedrückt nicht, aber auch für ihn 
nehmt nicht Partei. Nicht Haß und Härte, noch Liebe und Mitleid 
dürfen euer Verhalten bestimmen, sondern Gerechtigkeit, Ge¬ 
rechtigkeit allein 1 )! 

So predigt der Prophet und glaubt, daß eine derartige Lehre 
das Volk aus seiner Niedrigkeit in die höchsten Höhen emporreißen 
müssen. Er zieht sich einsam auf den Bergesgipfel zurück, um die 
Lehre der Gerechtigkeit im einzelnen weiter auszubauen. Doch 
kaum hat er sich entfernt, da kommt der alte Sklavensinn des 
Volkes wieder zum Vorschein: es verfertigt sich ein Götzenbild, 
das »goldene Kalb«. 

Der Prophet sieht bei der Rückkehr sein Werk vernichtet. Er 
zerschmettert die »Bundestafeln«, will das Volk seinem Schicksal 
überlassen und einem zähligen Häuflein Getreuer seine Lehre zur 
Bewahrung übergeben, damit sie auf solche Weise allmählich bei 
den Besten der Menschheit Eingang finde. Aber der Prophet ist 
kein »Priester«, daß er sich durch die Wirklichkeit bestimmen 
ließe. Nachdem er seiner ersten Erregung Herr geworden, be¬ 
schließt er, jetzt im vollen Bewußtsein der Schwierigkeit des Unter¬ 
nehmens, das Volk auf demWege einer allmählichen Erziehung 
für das hohe Ideal zu gewinnen. Er lehrt und unterweist nun¬ 
mehr, duldet und verzeiht 2 ). 

Da tritt das Ereignis mit den »Kundschaftern« ein 3 ). Das 
Volk, welches sich eine Heimat erobern soll, um dort sein natio¬ 
nales Leben im Sinne des prophetischen Ideals führen zu können, 
läßt sich durch eine ungünstige Auskunft über jenes Land so ein¬ 
schüchtern, daß es verzweifelt resigniert. Beim Anblick einer 
solchen erbärmlichen Gesinnungsniedrigkeit faßt der Prophet einen 
heroischen Entschluß. In der klaren Erkenntnis, daß mit dem 
minderwertigen Material der eenlante Bau nicht errichtet werden 


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Abraham Schlesinger, 


eine spätere Zeit: vierzig Jahre will er noch in der Wüste ab- 
warten, bis das ganze lebende Geschlecht ausgestorben und ein 
neues, von ihm selbst vollständig erzogenes, herangewachsen sein 
wird, welches zur Erfüllung seiner Aufgabe geeignet ist. Bei diesem 
Entschluß beharrt er, unbeirrt durch die nachträgliche Reue des 
Volkes und ohne Rücksicht auf die Regungen des eigenen Gemütes. 
Geduldig, aber nicht untätig, wartet er: er pflanzt in das Herz der 
Jugend die Begeisterung für sein Ideal, erfüllt sie mit Verständnis 
für dasselbe und sorgt, daß sie lehrreiche Erinnerung an die Ver¬ 
gangenheit wach bleibt. 

Wie nun die Vorbereitungszeit zu Ende ist, da — stirbt der 
Prophet und ein neuer Führer tritt an dessen Stelle i ). Die Über¬ 
lieferung bemüht sich vergeblich, einen befriedigenden Aufschluß 
darüber zu geben, weshalb ein Anderer das Werk des Propheten 
vollenden muß. Aber der Grund läßt sich leicht erkennen. Der 
Prophet hat sein erhabenes Ideal geschaffen und das Volk für die 
Realisierung vorbereitet: die Realisierung selbst ist nicht mehr 
seine Sache. Hier stellt sich die Notwendigkeit ein, mit der 
Wirklichkeit zu paktieren, das Ideal an das Bestehende anzu¬ 
passen; indessen, der Prophet ist »der Mann der Wahrheit und 
des Extrems«! Er bleibt seinem Ideal unbedingt treu. Des¬ 
halb muß er gehn, sobald für ihn die Zeit erfüllt ist: sobald das 
Ideal in die Wirklichkeit umgesetzt und damit unweigerlich herab¬ 
gezogen und modifiziert wird. — 

Es wurde schon früher darauf hingewiesen, daß der Schöpfer 
in seinem Ebenbilde schafft. Die Geschichte lehrt, daß in der 
Gestalt Moses der jüdische Volksgeist den besten Teil der 
eigenen Wesenheit verkörpert hat. Das jüdische Volk, dessen 
Sprache bezeichnenderweise bloß ein Futurum und Präteritum 
kennt, befand sich stets im Kampfe mit der Gegenwart, hoffte 
und erstrebte andererseits immer den Sieg der Gerechtigkeit und 
des Guten für die Zukunft und schöpfte diese Hoffnung aus der 
Vergangenheit, die es zu einem idealischen Spiegelbilde der Zu¬ 
kunft verklärte. 

Man warf bisweilen die Frage auf, ob die Grundrichtung des 

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Die Methode der hiatoriBch-völkerpsycbologischen Begriffsanalyße. 175 


mismus und Zukunftsoptimismus. Von solcher Art waren 
die Propheten, von solcher Art ist das Volk der Propheten. Selbst 
in Zeiten nationaler Verirrung erhebt sich jedesmal wieder sieg¬ 
reich die prophetische Tendenz: der Geist, der sich in Mose seine 
idealische Verkörperung schuf, ist stark genug, um den historischen 
Sondercharakter des jüdischen Volkes dauernd zu wahren. — 

Wir haben die Abhandlung Ach ad Haams lediglich in ihrer 
Bedeutung für unser methodologisches Problem zu betrachten. 
Unter diesem Gesichtspunkte wird auch sie zunächst von dem 
Vorwurfe getroffen, daß es unberechtigt ist, historische Gestalten 
ohne weiteres als Gemeinschaftsideale zu bestimmen. Zwar 
bildet nach der, meines Erachtens im allgemeinen wohl zu billigenden 
Auffassung Ach ad Haams, die historische Persönlichkeit als solche 
ein Produkt der Gemeinschaftspsyche, welches deren innere Ten¬ 
denzen, Strebungen (r*i£“'Kü) verkörpert ‘). Allein es könnte mehrere 
derartige Gebilde des Gemeinschaftsbewußtseins geben, welche 
trotz einer nahen Verwandtschaft voneinander in dem einen oder 
anderen Wesensmerkmal verschieden sind und somit nicht identi¬ 
fiziert werden dürfen, weder psychologisch noch sprachlich. An 
sich ist es freilich gleichgültig, welches der Phänomene man dann 
gerade mit der Bezeichnung Ideal, welches mit der des (Normal-) 
Typus usw. belegen will. Aber darauf kommt es an, daß jedes 
der Phänomene in seiner spezifischen Besonderheit genau 
erkannt wird und auf Grund einer solchen Erkenntnis eine be¬ 
sondere Bezeichnung erhält. ‘ Es dürfte sich damit im Bereiche 
der Völkerpsychologie nicht anders verhalten, wie in dem der 
Individualpsychologie 2 ). Bei einer Begriffsanalyse gleich der von 
uns angestrebten darf jedenfalls ein bestimmter Gegenstand als 
Ideal nicht schlechthin zugrunde gelegt werden. 

Weiterhin müssen wir uns doch der Frage näher zuwenden, 
die Achad Haam scheinbar bereits vollständig erledigt hat. Wie 

steht es, wenn einmal ausnahmsweise eine »historische« Persönlicli~- 

* ’ -■ —•_ . 1 .:: -. 


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176 Abraham Schlesinger, 

betreffende Persönlichkeit auch noch als Produkt des Gemein¬ 
schaftsbewußtseins, als ein Pbantasiebild desselben gelten und von 
einer Idealbildung die Rede sein? 

Die Wichtigkeit der Frage fllr unsere gesuchte Methode liegt 
klar zutage. Die Betrachtung irgendwelcher historischen Gegeben¬ 
heiten muß jedenfalls, wenngleich wir vorerst noch nicht wissen 
wie, die Grundlage unserer Begriffsanalyse bilden. Gegebenheiten 
jedoch, die überhaupt nicht vom Gemeinschaftsbewußtsein, son¬ 
dern die ihm selbst gegeben sind, müssen von der Betrachtung 
notwendig ausgeschlossen bleiben. Wir können nur dann etwas 
Uber die Beschaffenheit von Gemeiuschaftsidealen ermitteln, wenn 
wir wenigstens das Eine wissen, daß überhaupt ein bestimmter 
Gegenstand möglicherweise idealisch oder idealähnlich erlebt wird. 
In dem erwähnten Falle geht uns aber ein solches Wissen voll¬ 
ständig ab. Wir sehen, daß von einer Persönlichkeit gewisse 
Tatsachenberichte vorliegen; wie sie dagegen von einer Gemein¬ 
schaft erlebt werden, geht daraus nicht hervor. 

Für Achad Haam erledigt sich die ganze Frage, wie gesagt, 
dadurch, daß er derartige Ausnahmefälle von vornherein nicht an¬ 
erkennt. Jede historische Persönlichkeit ist ihm als solche, wie 
er wiederholt ausdrücklich betont, ein Produkt der Volksphantasie, 
des Volksgeistes; niemals wandelten nach seiner Lehre die echten 
Helden der Geschichte in ihrer »historischen« Gestalt auf Erden. 
Allein diese Theorie wäre notwendig erst eingehend zu prüfen, 
bevor sie als ausnahmslos berechtigt bei unserer angestrebten Me¬ 
thode vorausgesetzt werden dürfte.' Ich glaube daher die Frage 
lieber von einem anderen Gesichtspunkt aus betrachten zu sollen, 
besonders da sie sich mir von hier aus befriedigend beantworten 
zu lassen scheint, auch für den Fall, daß man die Allgemein¬ 
gültigkeit der radikalen Lehre Achad Haams in Abrede stellen 
sollte. 

Angenommen, eine geschichtliche Persönlichkeit sei vollständig 
in ihrer »archäologisch« richtigen Gestalt überliefert, etwa durch 


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Die Methode der historisch-vijlkerpsychologischen Begriffeanalyse. 177 

Wir müssen nämlich nur zusehen, ob eine solche »archäologisch« 
überlieferte Gestalt sonst noch für das Geistesleben des be¬ 
treffenden Volkes als wirksames Anregungszentrum nachweisbar 
ist, so daß sie in dessen literarischer oder künstlerischer oder einer 
anderen gemeinschaftspsychischen Eigentätigkeit eine hervorragende 
Rolle spielt. In einem derartigen stark apperzeptiven Verhalten 
der Gemeinschaftspsyche gegenüber einer Gegebenheit liegt impli- 
cite die Anerkennung derselben eben in ihrer gegebenen Totalität. 
Auf diese Anerkennung jedoch kommt es ausschließlich an. Es 
bleibt sich gleich, ob ein Gegenstand vom Gemeinschaftsbewußt¬ 
sein selbst geschaffen oder ob er ihm gegeben ist: es kommt 
nur darauf an, daß er, so wie er vorhanden ist, offenkundig in 
einerWeise erlebt wird, die unvorgreiflich als möglicherweise 
idealisches Erleben angesehen werden kann. Wo wir also von 
einem Geschichtshelden wissen, daß er dergestalt im Volksbewußt¬ 
sein existiert, sind wir berechtigt, ihn in die historische Betrach¬ 
tung eiuzubeziehen, welche die Grundlage der Begriffsanalyse 
bilden muß. 

So wichtig für uns die Arbeit Ach ad Haams hinsichtlich der 
bisher erörterten Einzelheiten ist: ihr Hauptwert besteht doch in 
ihrer Gesamtbeschaffenheit. Die Abhandlung bildet im großen und 
ganzen ein Muster für die Art der historischen Grund- * 
legung, d. h. für die Gestaltung des ersten, fundierenden 
Teiles einer historisch-völkerpsychologischen Begriffs¬ 
analyse. In solcher Weise ungefähr müssen entsprechende 
Gegenstände des Gemeinschaftsbewußtseins behandelt werden; 
derlei Monographien, etwa von historischen Persönlichkeiten, welche 
die charakteristischen Wesenszüge der letzteren auf Grund der 
bezüglichen maßgeblichen Tradition herauszuarbeiten haben, ver¬ 
mögen die sichere Basis zu liefern, auf der sich hernach der 
psychologische Oberbau erheben kann. 

Damit befinden wir uns bereits im Bereiche der positiven Aus¬ 
führungen Uber die Beschaffenheit der gesuchten neuen Methode, 
denen wir uns jetzt zuwenden wollen. 


III. 


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Die Beschaffenheit der neuen Methode. 

Go«, igle 


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Abraham Schlesinger, 


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liehen bzw. philosophischen Begriffes die Anwendung der historisch- 
psychoiogisehen Analyse auch in ihrer völkerpsychologischen 
Sonderform verlangt. Andererseits ergab sich aus einer Reihe von 
Erwägungen, daß jene Form weder in ihrer historischen Grundlage 
noch in deren psychologischer Verarbeitung einfach als Nachahmung 
der individualpsychologischen Analyse gestaltet werden kann. Wie 
soll nun die neue Methode beschaffen sein? 

Den Ausgangspunkt des fundierenden I. Teils bildet notwendig 
eine provisorische Voraussetzung. Um exakt festzustellen, was 
ein Begriff völkerpsychologisch zu bedeuten hat, sind diejenigen 
oder ist ein großer Teil derjenigen Gegenstände zu untersuchen, 
welche in diesem Sinne gewöhnlich unter dem betreffenden Be¬ 
griffe befaßt werden oder vielleicht befaßt werden könnten. 
Es wird also provisorisch vorausgesetzt, daß die populäre An¬ 
schauung den Begriff überall gleicherweise in richtiger Bedeutung 
nimmt. Die Untersuchung selbst, d. h. die an die Betrachtung der 
bezüglichen Gegenstände anschließende psychologische Analyse, 
deren Beschaffenheit nachher zu erörtern ist, muß die erforder¬ 
liche wissenschaftliche Korrektur der provisorischen Voraussetzung 
vornehmen. Sie muß zeigen, ob sämtliche der behandelten Gegen¬ 
stände in derselben Form erlebt werden, oder ob eine solche 
Gemeinsamkeit des Erlebtwerdens nur für einzelne jener Gegen¬ 
stände besteht, so daß die letzteren eine besondere typische Gruppe 
bilden, welche auch eine besondere Bezeichnung verlangt. Der 
gesuchte Begriff darf alsdann allein auf eine der solchergestalt 
ermittelteu typischen Erlebnisgruppen Anwendung finden. 

Wir kommen Uber die nähere Beschaffenheit des fundierenden 
I. Teiles am besten ins klare, wenn wir die Erörterung an ein 
konkretes Beispiel anlehnen. Ich wähle dazu den Begriff des 
Ideals: einmal, weil er bereits individualpsychologisch nach 
der Methode der »historisch-psychologischen Analyse« untersucht 
ist; und ferner, weil er auch das Thema der für die völker¬ 
psychologische Gestaltung jener Methode richtungweisenden Abhand¬ 
lung Achad Haams bildet. 

Welche Gegenstände dürfen als mögliche Gemeinschaftsideale 

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Die Methode der historiBch-vülkerpsychologischen Begriffsanalyse. 179 


Gemeinschaftspsyche ihre besonderen Wertungen, ihre Lieblings¬ 
gedanken und -geflihle, ihre innersten Strebungen verkörpert und 
erfüllt gesehen. Ich erinnere z. B. an die olympischen Götter der 
Griechen oder an die verklärte Heldengestalt des Achilles. 
Diese Figuren wären auf Grund der bezüglichen maßgeblichen 
Tradition, wie sie wohl im Homer zum klassischen Ausdruck ge¬ 
kommen ist, nach ihren charakteristischen Wesenszügen darzu¬ 
stellen. 

Wie die mythologischen Götter, so darf auch der Gott der 
Religion als mögliches Gemeinschaftsideal angenommen werden. 
Wenngleich die Religion in ihren höchsten Erscheinungsformen als 
Feindin des Mythos auftritt oder auftreten kann 1 ), so bleibt ver¬ 
mutlich dennoch eine gewisse psychologische Verwandtschaft 
zwischen religiösem und mythologischem Erleben. Es wäre dem¬ 
nach erforderlich, die Gottesbegriffe der Völker bzw. Gemein¬ 
schaften zu untersuchen, welche eine übermythologische, eigent¬ 
liche Religion besitzen, um die charakteristischen Wesenszüge, die 
Gott für das jeweilige Gemeinschaftsbewußtsein hat, klar heraus¬ 
zuarbeiten 2 ). 

Drittens kommen historische Persönlichkeiten in Betracht. 
Wir haben bei der Besprechung der Achad Haamschen Aus¬ 
führungen gezeigt, daß sogar solche historische Figuren als mög¬ 
liche Ideale angesehen werden dürfen, welche streng »archäologisch« 
korrekt überliefert sind, wofern wir nur aus irgendwelchen anderen 
Quellen auf ihr entsprechendes Erlebtsein durch die betreffende 
Gemeinschaft vermutungsweise schließen können. 

Außer persönlichen müssen aber sachliche Gegebenheiten 
gleichfalls als mögliche Ideale Berücksichtigung finden. 

Vor allem pflegt man in Kunstwerken Idealbildungen zu er¬ 
blicken. Und zwar handelt es sich hier durchaus um mögliche 
Gemein Schafts ideale, wenn man auf die Stilformen und -Eigen¬ 
tümlichkeiten, auf die allgemeineren Charakteristika der Kunst¬ 
entfaltungen bei den verschiedenen Völkern sein Augenmerk richtet. 
Hauptsächlich die Schöpfungen auf dem Gebiete der Baukunst 
wären einer solchen Betrachtung zn&ränerlich. Man denke etwa. 


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Abraham Schlesinger, 


richtung des jonischen und dorischen Volksgeistes förmlich an¬ 
schauen läßt. Ich glaube allerdings, daß man nicht auf jedem 
beliebigen Kunstgehiete derartige Untersuchungen mit einigem Er¬ 
folg anzustelleu vermag. Die Musik z. B. scheint mir dafür 
weniger geeignet. 

Ferner wären manche philosophische und religiöse 
Systeme bzw. Ideen zu berücksichtigen. Die christliche und 
buddhistische Erlösungslehre, die islamitische Jenseitsvorstellung, 
der jüdische Messianismus usw. gehören hierher. Von Philo¬ 
sophemen kommt besonders in Betracht die stoische und epi- 
kuräische, die platonische und ncuplatonische Ethik usw. Bei 
diesen philosophischen Systemen handelt es sich um Gemein¬ 
schaftsideale. Zwar sind sie von einem Individuum konzi¬ 
piert worden, allein sie haben Schule gemacht: ein Teil der 
Nachwelt hat sie ähnlich anerkannt und sich angeeignet, wie es 
mit den historischen »Helden« der Fall ist Insofern dürfen sie 
als mögliche Gemeinschaftsideale gelten. 

Endlich wäre auf die Rechtssysteme und auf das Ver¬ 
fassungswesen staatlich organisierter Nationen ein Blick zu 
werfen. In den Grundgedanken des Rechts und der Staats¬ 
verfassung einer Gemeinschaft könnten ebenfalls deren ethische, 
soziale usw. Ideale zum Ausdruck gebracht sein. 

Angesichts einer solchen Fülle des Materials erhebt sich die 
Frage, ob es in seiner Gesamtheit zur Grundlage unserer 
Methode gemacht werden muß bzw. gemacht werden kann. Wir 
haben nämlich mit zwei Schwierigkeiten zu rechnen. Erstens 
wäre ein derartiges Material, dessen Zusammenstellung allein schon 
einen ganzen Stab von Mitarbeitern erforderte, von so ungeheuerem 
Umfange, daß die für seine psychologische Verarbeitung nötige 
Übersichtlichkeit und Vertiefung in alle Einzelheiten von vorn¬ 
herein fast ausgeschlossen ist. Zweitens dürfte sich das Material 
aus inneren Gründen nicht gleichmäßig verwerten lassen. 
Bei der Betrachtung einzelner Kunstgebiete, vielleicht auch bei 

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Die Methode der historisch-völkerpsychologisehen Begriffsanalyse. 181 


zu legen wie auf die Friedrich Barbarossas. Wie verfahren 
wir also bei der Zusammenstellung unseres Materials? 

Ich glaube, daß sich das Wesen des Gemeinschaftsideals dort 
am besten studieren läßt, wo es in persönlicher Verkörperung 
vorliegt. »Historische« Gestalten, d. h. irgendwie historisch wirk¬ 
same Persönlichkeitsträger aus Sage und Mythos, aus dem Gebiete 
der religiösen Verehrung, wobei zuoberst die Gottheit Beachtung 
verdient, sowie aus der Geschichte im engeren Sinne, bilden 
demnach in erster Linie die Gegenstände des fundierenden I. Teiles 
unserer Analyse. Die Behandlung muß in jedem Einzelfalle un¬ 
gefähr so erfolgen, wie wir es bei Achad Haam oben gesehen 
haben. Erst in zweiter Linie finden dann die möglichen Sach- 
ideale Berücksichtigung, in einer mehr gedrängten und knappen 
Form. 


Doch selbst jetzt ist der Stoff noch viel zu umfangreich. Wir 
dürfen uns nämlich keineswegs auf die Darstellung nur einiger 
weniger historischer Persönlichkeiten beschränken, sondern müssen 
tunlichst große Mannigfaltigkeit anstreben. Einmal, um subjek¬ 
tive Deutungen, soweit es geht, zu vermeiden. Eine Person, 
z. B. Karl d. Gr., kann ich leicht in ihrem Wesen subjektiv¬ 
willkürlich erfassen und darstellen. Muß ich dagegen außerdem 
etwa Otto d. Gr., Friedrich Barbarossa, Karl V. nach ihren 
charakteristischen »historischen« Wesenszügen vorfuhren, so dürfte 
die Subjektivität bei der Darstellung der einen oder anderen Per¬ 
sönlichkeit wieder für die psychologische Gesamtverarbeitung 
einigermaßen ausgeglichen werden. Sodann ist eine größere 
Mannigfaltigkeit aus einem zweiten, wichtigen Grunde unbedingt 
nötig. Der ganze I. Teil bringt lediglich mögliche Ideale, in der 
Absicht, daß die anschließende psychologische Verarbeitung auf 
Grund innerer Kriterien, die sich aus dem gegebenen Material 
selbst gewinnen lassen sollen, zu ermitteln sucht, ob alle jene 
Gegebenheiten psychologisch gleichartig erlebt werden und daher 
alle im wissenschaftlichen Sinne für Ideale gelten dürfen, oder 


bloß ein Teil von ihnen. Werden nur ganz wenige Gegenstände 
als mögliche Ideale in Betracht gezogen, so läßt sich unter TTm— 
ständen gar nichts über ihre Idealheit oder Nichtidealheit fest¬ 


stellen. Daß .wir a 


en. Dan^wir an. c 

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drei oder vier Personen einige besondere 

. Origirarfrom 


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182 Abraham Schlesinger, 

allgemeinen und genügend gesicherten Ergebnissen gelangen zu 
können. 

Es ist also einerseits eine größere Mannigfaltigkeit in dem 
Material erforderlich und andererseits dürfen wir es nicht über¬ 
mäßig anschwellen lassen, wenn wir eine eindringende Analyse 
nicht von vornherein vereiteln wollen. Der einfachste Aus¬ 
weg scheint mir der zu sein, daß wir uns darauf beschränken, 
die historischen Persönlichkeiten und die möglichen Sachideale 
jeweils einer einzigen Nationalgemeinschaft zu behandeln. 
Wir betrachten ausschließlich die hervorragendsten und zugäng¬ 
lichsten persönlichen oder persönlich gedachten sowie nachher die 
unpersönlichen in der bezüglichen speziellen Volksgeschichte wirk¬ 
samen Kräfte. Daun folgt, worauf wir gleich näher einzugehen 
haben, die psychologische Verarbeitung, und es wird so zunächst 
der für das betreffende Volk geltende Idealbegriff ermittelt. Nun¬ 
mehr wird unsere Methode auf ein zweites Volk angewandt, auf 
ein drittes usw., bis eine Reihe für die Menschheitsgeschichte her¬ 
vorragend wichtiger Völker in solcher Weise bearbeitet worden 
*st. Zuletzt müssen die Ergebnisse der verschiedenen, wahr¬ 
scheinlich nur von mehreren Bearbeitern ausführbaren Unter¬ 
suchungen miteinander kombiniert werden. Dergestalt ergibt sich 
ein allgemeiner Begriff des Gemeinschaftsideals auf wissenschaft¬ 
lich gesicherter Grundlage. Die kombinierende Enduntersuchung 
mag ihrerseits wiederum in mancher Hinsicht modifizierend und 
berichtigend auf die besonderen Spezialuntersuchungen zurück¬ 
wirken, aus welchen sie eben das Fazit zieht. 

Sehr wünschenswert wäre es, wenn der völkerpsychologische 
Bearbeiter schon eine Anzahl brauchbarer Vorarbeiten fände. 
Nachdem Ach ad Haam in seiner Mose-Monographie bereits eine 
solche geleistet hat, würde es sich vielleicht empfehlen, zunächst 
gleich auf diesem Boden, jedoch nunmehr bewußt für unseren 
Zweck, weiterzuarbeiten. Es sollten also weitere Monographien 
ähnlicher Art Uber persönliche und sachliche in der jüdischen Ge- 

1*1* C. * 3 o 1? .1_TJ_1 _ __ . 3 .»V . 


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Die Methode der historiBch-völkerpsychologischen BegriflaanalyBC. 183 


brauchte, so könnte ihm hier durch entsprechende wissenschaft¬ 
liche Monographien eine wesentliche Erleichterung und der 
Sache ein wertvoller Dienst erwiesen werden; ganz abgesehen von der 
Bedeutung, welche derartige Arbeiten für sich allein, auch ohne ihre 
psychologische Ausnutzung, in anderer Hinsicht besitzen dürften. 

Es bleibt jetzt noch die Frage nach der psychologischen 
Verwertungsweise des historischen Materials. Die Beant¬ 
wortung gestaltet sich einfacher wie beim I. Teil. Aus dem 
Material sind die gemeinsamen charakteristischen Wesensmerkmale 
der dargestellten Person- und Sachideale zu ermitteln bzw. ent¬ 
sprechende Gruppen aus den letzteren mit jeweils gemeinsamen 
Wesensmerkmalen zusammenzustellen, von welchen alsdann bloß 
eine den Namen des Ideals zu tragen wissenschaftlich berechtigt 
ist. Als »Leitfaden« dürfen wir bei der Bearbeitung mutatis 
mutandis wohl die Disposition benutzen, welche der, wie bereits 
erwähnt, vorher auszuführenden »systematisch-psychologischen« 
Untersuchung des gleichen Begriffes auf individualpsycho¬ 
logischem Gebiete zugrunde gelegt wurde. Ich will abermals 
an unserem bisherigen Beispiele klar machen, wie ich mir die 
Ausführung und den möglichen Erfolg unserer Methode denke. 

Wir untersuchen zuerst an den im I. Teile betrachteten Ge¬ 
gebenheiten den Inhalt und Bestand des für den jüdischen Volks¬ 
geist idealischen Bewußtseinsgebildes. Dabei kämen wir, was 
natürlich nur beispielsweise stehen soll, zu der allgemeinen Be¬ 
stimmung: Als Ideal gilt für das jüdische Volksbewußtsein jeder 
Gegenstand, der in einer gewissen Reinheit erlebt wird mit der 
Tendenz auf Realisierung 1 ). Im Laufe der Analyse vermöchten 
wir jedoch eine Gruppenscheidung vorzunehmen. Wir gelangten 
etwa zu dem Ergebnis, daß in absoluter Reinheit bloß etwas Un¬ 
persönliches erlebt wird, wie die Gerechtigkeit, die Wahrheit usw. 
und außerdem die persönliche urbildliche Verkörperung dieser 
ethischen Eigenschaften in Gott. Bei allen übrigen Gegenständen 
fände sich der Yolksgeist durch irgendwelche störenden Momente 2 ) 
an einem solchen reinen Erleben behindert. Von Mose werden 
gewisse Fehler berichtet, von Aharon, von David usf. 3 ). Hier 

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■ 


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184 


Abraham Schlesinger, 


liegt somit ein wenigstens nicht völlig gleiches Erlebnis vor wie 
in jenem ersteren Fall bzw. es darf wohl auf eine größere oder 
geringere Differenz geschlossen werden. Dann haben wir kein 
eigentliches Ideal mehr vor uns, wofern das andere Phänomen 
so genannt wurde. Weiterhin ließe sich eine dritte Gruppe fest¬ 
stellen, wo zwar eine gewisse »Reinheit« konstatierbar ist, aber 
keine oder fast keine Realisierungstendenz. Usw. Auf solche 
Weise könnte aus den historischen Gegebenheiten eine wissen¬ 
schaftliche, psychologisch-formale Bestimmung des Begriffes des 
Ideals in seiner Bedeutung für das jüdische Volk gewonnen 
und seine Abgrenzung gegenüber verwandten Bewußtseinsgebilden 
vorgenommen werden. 

Analog wie beim Individualideal wäre ferner womöglich die 
Entstehung und Wandlung des Gemeinschaftsideals zu er¬ 
forschen. Die erste Aufgabe ist allerdings meines Erachtens 
schwer durchführbar. Die zweite scheint mir dagegen weniger 
Schwierigkeiten zu bieten. Man müßte eine Anzahl zeitlich weit 
getrennter Personen miteinander vergleichen, z. B. den Kriegs¬ 
helden Josua mit Bar Kochba, und Zusehen, ob die betreffenden 
Personen in ihrer »historischen« Gestalt irgendwelche wesentlichen 
Verschiedenheiten aufweisen, die auf eine Entwicklung, Neubildung 
oder dergleichen des Ideals in psychologischem Sinne schließen 
lassen. 

Endlich bildet die Wirksamkeit des Ideals einen Gegenstand 
der Forschung, selbstverständlich auch vom rein psychologischen 
Standpunkt aus. 

Natürlich handelt es sich hier nur darum, das Schema einer 
ganz allgemeinen Disposition darzulegen. Im einzelnen muß sich 
alles jeweilen erst aus dem Stoffe selbst entwickeln. 

Besteht zwischen den beiden ersten Teilen der historisch¬ 


individual- und der historisch-völkerpsychologischen Begriffsanalyse 
eine gewisse Ähnlichkeit in der äußeren Anlage, so unterscheidet 
sich der III. Teil der letzteren vollständig von dem der ersteren. Er 


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hat nämlich lediglich die Aufgabe, die gefundenen Ergebnisse mit 
denen der historisch-individualpsychologischen Analyse desselben 


Begriffes zi 

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zu vergleichen und zu kombinieren. 


Unter Umständen 

iTTi 


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Die Methode der historisch-völkerpsychologischen Begriffsanalyse. 185 


geklärt und bestimmt, so bleibt noch eine Kombination der End¬ 
ergebnisse der gesamten völkerpsychologischen Einzelunter¬ 
suchungen übrig und wiederum eine Vergleichung dieser Kombi¬ 
nation mit den Endresultaten der individualpsychologischen Arbeit, 
ln einer solchen endgültigen Scblußabhandlung kommt der Be¬ 
trachtung völkerindividueller Differenzen beim Idealerlebnis 
besondere Wichtigkeit zu. 

Erst jetzt, nachdem die historisch-Völkerpsychologische der 
historisch-individualpsychologischen Analyse ergänzend an die 
Seite getreten ist, verdient das Ge samt werk den allgemeinen 
Namen: >historisch-psychologische (Begriffs-)Analyse « i ). 

Wir haben den Begriff des Ideals als Beispiel gewählt. Aber 
zweifellos läßt sich unsere Methode in gleicher Weise an jedem 
anderen durchführen. Schwierigkeiten dürfte immer nur die 
Frage bereiten, welche Gegenstände für den I. Teil in Betracht 
gezogen werden sollen. Allein die individualpsychologische 
Untersuchung, die, wie betont wurde, vorangehen muß, kann 
wohl stets in ihrem I. Teile, der ja die verschiedenen Theorien 
über den Begriff überhaupt enthält, die erforderlichen Anhalts¬ 
punkte gewähren. — 

Man sieht: der Weg, den wir zeigen, ist lang und beschwer¬ 
lich; aber er scheint mir am sichersten zum Ziele zu führen. 
Freilich, allzu große Zuversicht wäre von Übel. Es soll ausdrück¬ 
lich darauf hingewiesen werden, daß wir uns vielleicht doch 
auf falscher Fährte befinden. Jedenfalls kann erst ein prak¬ 
tischer Versuch Gewißheit bringen. Und selbst, wenn ein 
solcher dartun sollte, daß unsere Methode verfehlt ist, so braucht 
sie deswegen nicht unfruchtbar gewesen zu sein: ihre versuchs¬ 
weise vollzogene Anwendung mag lehren, wo der Fehler liegt und 
wie er sich verbessern läßt. Die Erfahrung wird auch hier die 
beste Lehrmeisterin abgeben. 


1) Demnach müßte auch der Untertitel meiner Schrift: »Der Begriff 


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Vorstellung und Einstellung 1 ). 

II. Über Begriffe. 


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Von 

W. Betz (Mainz). 


Das Wort Begriff hat keinen ganz angenehmen Klang. Das 
Wort ist von der Öde scholastischer Kontroversen belastet, die 
Langweiligkeit der Lehrbuchlogik haftet ihm an, und einer Unter¬ 
suchung über die Begriffe geht man gern aus dem Wege. Ihre 
Entstehung denkt man sich ja ganz einfach, und doch hat man 
dabei das unbehagliche Gefühl, daß die traditionelle Meinung am 
Ende nur oberflächlich ist und das Licht nicht recht verträgt. 

In der Umgangssprache redet man nun recht häufig von Be¬ 
griffen, und aus dem Zusammenhang ist in der Regel klar, was 
man damit meint. Wenn aber der Zusammenhang fehlt und man 
plötzlich vor die Aufgabe gestellt wird: man denke sich den Be¬ 
griff Staat, den Begriff Recht, den Begriff Philosophie, den Be¬ 
griff Schiff oder Baum oder Maschine, dann ist man unsicher, was 
mit dem Wort Begriff gemeint sein soll. Man kann die Aufgabe 
so auffassen, daß man eine Definition dieser Begriffe geben 
soll, was eine erhebliche Anstrengung erfordern würde; aber es 
könnte auch gemeint sein, daß man das denken soll, was mit 
den Wörtern Staat, Recht usf. gemeint ist, ganz im allgemeinen 
und ohne an einen bestimmten Staat, an einen bestimmten Rechts¬ 
fall, an ein bestimmtes Schilf zu denken. Faßt man die Aufgabe 
in diesem Sinne auf, dann ist zunächst nur eines sicher, nämlich 
daß man die Wörter versteht. Aber ob man außerdem über- 


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Vorstellung und Einstellung. II. Über Begriffe. 187 

Akten eine Anzahl Aussagen über'Staat, Philosophie, Maschinen 
machen. Nun redet man im gewöhnlichen Leben durchaus so, 
als seien durch diese Wörter ganz bestimmte Denkinhalte ge¬ 
geben; und dieser Sprachgebrauch ist auch vollkommen gerecht¬ 
fertigt, wenn man sich etwa bei der Zeitungslektüre beobachtet, 
wo sofort, auch beim flüchtigsten Lesen, die Wörter bestimmt und 
sicher verstanden werden, ohne daß man an bestimmte Fälle 
dächte und ohne daß Erinnerungsbilder aufzutauchen brauchten. 
Man hat durchaus den Eindruck, als handle es sich hier um ganz 
einfache psychische Gebilde, die mit der größten Sicherheit beim 
Lesen reproduziert werden. Und es ist im höchsten Grade be¬ 
merkenswert, daß beim Lesen auch solche Wörter, die leicht vor¬ 
stellbare Dinge bezeichnen, sofort verstanden werden, während 
es in der Regel eine merkliche Zeit dauert, bis eine Vorstellung 
des betreffenden Gegenstandes auftaucht. 

Greift man nun aber ein solches Wort heraus, etwa Haudel, 
und sucht den erwarteten Denkinhalt zu analysieren, das psychi¬ 
sche Gebilde zu erleben, dann ist man erstaunt, daß nichts davon 
zu finden ist. Ohne Zweifel verstehe ich das Wort mit absoluter 
Sicherheit; und es ist mir ganz deutlich, daß es etwas anderes, 
aber doch etwas ähnliches bedeutet wie das Wort Geschäft, ohne 
daß ich mir dabei einen Fall von Handel und einen Fall von 
Geschäft vorzustellen brauchte. Wenn ich irgendeine Vorstellung 
habe, und sei sie noch so dunkel, undeutlich und verschwommen, 
dann kann ich sie betrachten und beobachten, ich kann sie kom¬ 
men und gehen lassen, ich sehe, daß etwas, und ich sehe, was 
in meinem Bewußtsein vorhanden ist; und ebenso, wenn ich 
irgendein Gefühl habe, wenn ich mich wohl fühle, wenn ich 
Hunger habe, wenn ich niedergeschlagen bin, dann kann ich 
wiederum dieses Gefühl mehr oder weniger beachten, ich merke 
unmittelbar, daß es vorhanden ist, ich kann es analysieren. In 
beiden Fällen existiert etwas in meinem Geiste, das bei Vor¬ 
stellungen ohne weiteres und bei Gefühlen in der Regel ohne 
eroße Schwierigkeiten der Selbstbeobachtune: zueränedich ist. Bei 


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188 


W. Betz, 



Begriffen zn geben, die aber keineswegs parat liegt und nicht ohne 
beträchtliche Anstrengung des Denkens zu finden ist. 

Man hat sich nun gewöhnt, als durchgehendes Kriterium der 
Begriffe den Umstand anzusehen, daß mit einem Begriff nicht ein 
einzelner konkreter Fall gemeint sei, sondern das, was einer 
ganzen Gruppe von Fällen gemeinsam sei. Durch diese Auf¬ 
fassung ist sofort eine überaus plausible Theorie der Begriffs¬ 
bildung vorgezeichnet: Ans einer Mehrheit von Erscheinungen faßt 
man diejenigen Erscheinungen in eine Gruppe zusammen, die ge¬ 
meinsame Merkmale aufweisen — hiermit hat man die sogenannten 
Kollektivbegriffe —, oder man hebt die an einer Mehrheit von 
Erscheinungen bemerkten gemeinsamen Eigentümlichkeiten heraus 
und gewinnt so die sogenannten abstrakten Begriffe. Aus dieser 
Auffassung ergibt sich die Konsequenz, daß es unmög¬ 
lich sein muß, aus einer einzigen Vorstellung, für die 
jegliches Vergleichsmaterial fehlt, einen Begriff zu ent¬ 
wickeln. 

Man kann wohl sagen, daß diese Auffassung der Begriffe Ge¬ 
meinbesitz aller wissenschaftlich Gebildeten ist, und selbst Logiker 
pflegen sich bei dieser populären Meinung Uber die Begriffe zu 
beruhigen. Die ganze Lehrbuchlogik ist nun auch auf Kollektiv¬ 
begriffe — ich möchte sagen unwillkürlich — zugeschnitten. Denn 
einmal sind die Wörter der Sprache von vornherein Kollektiv¬ 
bezeichnungen; sodann hat man in einer Menge wissenschaftlicher 
Begriffe, die das gemeinsame Merkmal in ihrem Namen schon 
andeuten, sehr einfache Beispiele vor Augen, auf die das Denken 
leicht rekurriert, wenn man Uber die Natur der Begriffe nach¬ 
denkt; und schließlich ist die Repräsentation der Begriffe durch 
die bekannten Kreise dem Gedächtnis so fest eingeprägt, daß 
mehr oder weniger unbewußt das Denken dauernd dadurch be¬ 
herrscht wird. 


Läßt man die populäre Abstraktionstheorie nun gelten, so wäre 
damit zwar beschrieben, wie man sich verhält, wenn man einen 
Begriff' bildet, aber es ist damit noch keinesweg erklärt, was ein 


Begriff' nun eigentlich ist. Die einen sagen: Begriffe sind nichts 
weiter als names und terms, die eine Anzahl diskreter Einzel- 

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Vorstellung und Einstellung. II. Über Begriffe. 


189 


Stellungen damit meint. Hier liegt nun eine eminent psycho¬ 
logische Frage vor: Sind Begriffe nur eine gewisse Art von Akten, 
die mit Einzelvorstellungen vorgenommen werden, oder sind sie 
etwas Selbständiges, neue psychische Gebilde, etwas von Empfin¬ 
dungen, Vorstellungen und Gefühlen Verschiedenes? Die Logik 
kümmert sich prinzipiell nicht um psychologische Fragen, da sie 
sich nur die Aufgabe stellt, die sprachlich formulierten Denk¬ 
äußerungen zu beschreiben und zu klassifizieren; sie betrachtet 
das Denken nur so weit, als es aus der Psyche schon heraus¬ 
getreten ist; was aber in der Psyche selber beim Denken vor sich 
geht, das will die Logik ignorieren. In der Theorie klingt diese 
Unterscheidung sehr gut, aber in Wirklichkeit kann man sich nicht 
streng daran halten: denn um festzustellen, was irgendein Aus¬ 
druck bedeute, was mit ihm gemeint sei, muß ich eine Selbst¬ 
beobachtung daraufhin anstellen, was bei diesem Ausdruck in 
meiner Psyche vorhanden ist, ich muß also eine psychologische 
Beobachtung machen. Da die Logik sich aber prinzipiell von 
psychologischer Beobachtung entbindet, wird die nicht zu um¬ 
gehende Selbstbeobachtung auch nur flüchtig angestellt und durch 
rationalistische Erwägungen präjudiziert. Die Vertiefung, die die 
Logik neuerdings erfahren hat, beruht denn nun auch auf ver¬ 
schärfter Selbstbeobachtung, »was denn eigentlich gemeint sei«. 
Allerdings ist es immer notwendig, sich den Unterschied zwischen 
logischer und psychologischer Betrachtung vor Augen zu halten, 
denn die Gefahr ist in der Tat erstaunlich groß, daß man Uber 
einer psychologischen Untersuchung die logischen Beziehungen 
des Ansgesagten vergißt und umgekehrt etwa durch eine logische 
Beschreibung der Schlußformen das Schließen erklärt zu haben 
glaubt. 


Die folgende Untersuchung ist auf die psychologische Natur 
der Begriffe gerichtet. 

Wenn man eine alleinstehende, von jedem grammatischen Zu¬ 
sammenhang losgelöste Partikel hört, doch, aber, trotzdem usf., 
dann redet man im gewöhnlichen Sprachgebrauch ganz genau so 
von Verstehen, als wenn von leicht vorstellbaren Dingen die Redo 


wäre; und man,,sagt gewiß nicht: 

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»Ich erkenne das Wort wiedet-^ 

Original ffcm 

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190 


W. Betz, 


dessen Übersetzung man vergessen hat, oder das man zwar im 
Zusammenhang einigermaßen versteht, Uber dessen genauere Be¬ 
deutung man aber im Zweifel ist. Das bei derartigen Unter¬ 
suchungen überaus gewichtige Zeugnis des Sprachgebrauchs zeigt 
also an, daß es sich beim »Verstehen« einer alleinstehenden Par¬ 
tikel nicht um ein bloßes Wiedererkennen der Worterscheinung 
handelt. Nun kann man allerdings darüber streiten, ob eine 
alleinstehende Partikel überhaupt noch einen logischen Sinn hat, 
der mindestens schwierig zu definieren wäre. Wenn ich mir 
nun die Partikeln geradezu, immerhin, aber langsam vor¬ 
spreche (natürlich ohne dabei an Satzbeispiele zu denken, was 
ich auch im folgenden zu vermeiden bitte), dann bemerke ich, 
daß ich bei jedem dieser Wörter eine verschiedene intellektuelle 
Attitüde, Einstellung, einnehme; und diese Unterschiede sind so 
stark, daß es mir ganz unmöglich ist, beim Wort geradezu 
etwa die gleiche Einstellung festzuhalten, die beim Wort aber 
oder immerhin eintrat. Wenn ich mir andererseits Partikeln 
wie trotzdem, doch, aber vorspreche, dann merke ich eben¬ 
falls einen Unterschied in der Attitüde, aber diese Unterschiede 
sind weit weniger beträchtlich als vorhin: ich kann sogar die 
Wörter vertauschen, ohne dabei die Einstellung wesentlich zu 
ändern. Bei diesen Vertauschungsversuchen bemerke ich aber 
weiter, daß ich mit den aber und doch nicht je eine einzige, 
unveränderliche Einstellung verbinde, sondern daß ich die Ein¬ 
stellungen in einem gewissen Spielraum variiere, bis ich diejenige 
Einstellung gefunden habe, die mir ein Vertauschen der Worte 
gestattet. Hiermit ist also sichergestellt, daß das »Verstehen« der 
Partikeln in der Tat mehr ist als ein bloßes Wiedererkenneu der 
Worterscheinung, daß es sich um wirkliche Bedeutungserlebnisse 
handelt. 

Die Partikeln der betrachteten Art wird man nun ganz gewiß 
nicht Begriffe nennen. Und wenn man sie in eine substantivische 
Form überführt, das Dochigc, das Immerhinige, die Abrig- 
keit, dann läßt sich die von dieser Wortform verlangte Bedeutung 
nicht erfüllen, die Ausdrücke sind unsinnig. 


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Vorstellung und Einstellung. II. Über Begriffe. 


191 


diesen Ausdrücken charakteristische Verhaltungsweisen treffend 
dargestellt sein könnten, wenn man auch die Ausdrücke wahr¬ 
scheinlich nicht gleich voll versteht. Und wenn ich nun noch er¬ 
kläre: ein dochiger Mensch sucht immer an den vorgebrachten 
Argumenten zu zweifeln; ein immerhiniger Mensch sieht, daß an 
den Argumenten »etwas dran* ist, will aber nicht so recht folgen; 
ein abriger Mensch will sich gar nicht überzeugen lassen und 
macht beständig Einwendungen — dann bekommen diese Aus¬ 
drücke einen deutlichen Sinn zuerteilt, und es kommt jetzt darauf 
an, diese Bedeutungen wirklich zu erleben und auf ihre Stich¬ 
haltigkeit zu prüfen: Der Dochige ist selbstbewußt, aber unter 
Umständen auch vorsichtig, und er will objektiv sein; der Immer- 
hinige ist unentschlossen bis kleinmütig; der Abrige ist intellek¬ 
tuell widerspenstig, mehr oder weniger überheblich, eine besondere 
Art von Widersprecher, nicht einfach ein Nörgler und Besser¬ 
wisser. Daß ich solche Aussagen machen kann, beweist, daß ich 
dabei sehr bestimmte Denkinhalte habe. 

Es kann nun kein Zweifel bestehen, daß wir in der Dochig- 
keit usf. echte Begriffe vor uns haben: die Art, wie man erklä¬ 
rende Aussagen Uber sie macht oder sie im eigenen Denken be¬ 
stätigt findet, ist durchaus charakteristisch dafür. Die beiden 
ersten sind auch neue Begriffe, die wir vorher nicht hatten, wäh¬ 
rend der dritte, die Abrigkeit, sich einigermaßen mit dem sonst 
schon geläufigen Begriff des Widersprechers deckt. 

Wie sind diese Begriffe nun entstanden? Bei den bloßen 
doch, immerhin, aber konnten wir Einstellungen konsta¬ 
tieren, die an sich zwar kaum merklich, aber beim Übergang 
von einer Partikel zur anderen deutlich bemerkbar werden. 
Wenn wir nun Dochigkeit, Immerhinigkeit, Abrigkeit 
denken, dann sind die spezifischen Einstellungen sehr viel deut¬ 
licher, sie werden nicht lediglich momentan merklich, sie halten 
einer sekundenlangen Betrachtung stand, und sie lassen sich leicht 
wieder von neuem erzeugen. Wir bemerken weiter, daß die Ein¬ 
stellung, bei Dochigkeit etwa, ihrer Qualität nach konstant 
bleibt, daß ich ihre Intensität aber zunehmen und abnehmen 


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Vorstellung und Einstellung. II. Über Begriffe. 


193 


projiziere sie in die Minimalvorstellung hinein. Und der 
Ortswechsel meiner Einstellungen wird deutlich, wenn ich mich 
vom Dochigen zum Immerhinigen wende. In dieser Fassung 
scheint die Sache höchst befremdlich, aber man überlege, daß 
unter einem anderen Ausdruck der Tatbestand ein völlig geläufiger 
ist, nämlich wenn ich sage: ich stelle meine Einstellung »vor«, 
d. h. ich stelle sie vor mich hin und betrachte sie, sie wird da¬ 
durch zum Objekt für mich, zu einem Gegenstand. 

Es besteht in der Tat ein erheblicher Unterschied, ob ich mir 
ein Gefühl, das ich im Augenblick nicht habe, einzubilden 
suche, oder ob ich mir dieses Gefühl vorstelle, ein Unterschied, 
der meines Wissens bis jetzt übersehen wurde. Es gelingt mir 
ziemlich leicht, mir einzubilden, daß ich Hunger habe, so sehr, 
daß ich zweifelhaft werde, ob ich wirklich hungrig bin oder es 
mir nur einbilde. Es ist etwas ganz anderes, wenn ich mir den 
Zustand des Hungers vorzustellen suche; hier achte ich nicht im 
geringsten auf eventuelle Gefühle und Empfindungen in mir. 
Meine Aufmerksamkeit ist durchaus nach außen gerichtet, auf 
eine Gegend in meinem Vorstellungsraum, rechts vor mir auf 
Armlänge etwa 1 ), welche Gegend sich von dem übrigen Raum 
durch eine Art »Verdichtung« auszeichnet, und ich betrachte diese 
Raumgegend beim Nachdenken über den Hunger, gerade als 
ob der Hunger wie eine greifbare Sache in dieser Gegend vor¬ 
handen wäre. Bei diesem Vorstellen kann gelegentlich auch ein 
eingebildetes Hungergefühl in mir zu Bewußtsein kommen, aber 
in der Regel fehlt es vollständig. Das Einbilden ist für dieses 
Vorstellen also unnötig. Aber was stelle ich dann eigentlich vor? 

Die Hungergegend ist nun nicht lediglich eine indifferente 
Gegend im Raum, auf die die Aufmerksamkeit gerade gerichtet 
ist. sondern es scheint diese Gegend in einem eigentümlich dyna¬ 
mischen Zustand zu stehen, woraus zu schließen ist, daß meine 
Einstellung »Hanger« in diese Gegend projiziert ist. Ein 
eventuelles Hungergefühl ist kein integrierender Bestandteil der 


b Durch den 
‘okaüaiere, WllTde i 

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Umstand, daß ich die Einstellungen rechts vor mil¬ 
ch auf die Projektion der Einstellungen zuerst aufmerk- 

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194 


W. Betz. 


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Einstellung, worunter vielmehr die Strebungen (Appetit von appetere) 
zu verstehen sind, die man im Zustand des Hungers hat. Die 
Projektion der Einstellung scheint befremdlich, sie ist an sich 
aber nicht unverständlicher wie die Projektion einer Empfindung 
auf der Netzhaut in den Raum. In beiden Fällen ist ein Bewußt¬ 
sein davon vorhanden, daß ich die Farbe dort sehe und daß 
ich die Einstellung dort spüre, aber Farbe und Einstellung sind 
beide Male Gegen —stände, sie sind vor — gestellt. Die Ein¬ 
stellung »Hunger« in Worten zu beschreiben ist sehr schwierig, 
in der »Hungergegend« werden bestimmte Tendenzen vorgestellt. 
Hier muß uns der Nachweis genügen, daß Einstellungen existieren; 
die weitere Autklärung wird sich bei der Untersuchung der Urteils¬ 
akte ergeben, wo mehrere Einstellungen oder Vorstellungen und 
Einstellungen zusammentreten. 

In diesen vorgestellteu Einstellungen haben wir nun in der 
Tat Denkinhalte vor uns, die man in der Umgangssprache als 
abstrakte Begriffe bezeichnet. Sie sind eigentümlich leer: indem 
man einen abstrakten Begriff denkt, hat man zwar das Bewußt¬ 
sein, daß tatsächlich etwas im Denken vorhanden ist außer 
der akustischen Worterscheinung, aber man weiß nicht recht was. 
Wir haben gezeigt, daß es vorgestellte Einstellungen sind. Man 
ist nun häufig in den Fall gesetzt, einen solchen abstrakten Be¬ 
griff zu erläutern. Solche Erläuterungen liegen nicht parat, sie 
sind nicht so ganz leicht zu geben, sie erfordern Überlegung. Es 
geht einem allerlei durch den Kopf, man untersucht diese Einfälle 
darauf, ob sie zur vorgestellten Einstellung passen, man verwirft 
sie oder man sucht sie in Worte zu fassen. Diese Überlegungen 
erstrecken sich über viele Sekunden, in deren Verlauf die Ein¬ 
stellung wiederholt aufgefrischt werden muß, am bequemsten durch 
Vorsprechen des betreffenden Wortes. Dem Logiker gilt nun eigent¬ 
lich erst die vollendete Aussage über den Begriff als Begriff, ohne 
daß diese Frage indessen explicit und prinzipiell erörtert würde. 
Konform mit dem gemeinen Sprachgebrauch nennen wir aber schon 
den als vorgestellte Einstellung erkannten Denkinhalt Begriff, der 

immpr Eintritt worin man oin Wnrf. Hns p.inp.n abstrakten Ttecrriff 


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Vorstellung und Einstellung. II. Über Begriffe. 


195 


Kollektiven gestoßen. FUr die Bildung der Begriffe Dochigkeit usf. 
war es völlig irrelevant, ob die Dochigkeit nur in einem einzigen 
Fall vorkommt oder ob sie bei vielen Menschen in vielen Fällen 
Vorkommen kann. Ich habe mir nur eine einzige Diskussion vor¬ 
gestellt, und diese Minimalvorstellung blieb konstant. 

Nach der üblichen Abstraktionstheorie hätte man sich ihre 
Entstehung etwa in der folgenden Weise zu denken: Entweder 
müßte man sich eine Anzahl Menschen vorgestellt haben, von 
denen einer oder mehrere sich durch eine Eigentümlichkeit aus¬ 
zeichneten, die man treffend mit Dochigkeit benennen könnte; 
oder man müßte sich einen Menschen in seiner gesamten Ver¬ 
haltungsweise vorstellen, diese Vorstellungen analysieren und vari¬ 
ieren, bis man schließlich eine Eigentümlichkeit herausgefunden 
hätte, auf die das Wort Dochigkeit paßte. Aber um beurteilen 
zu können, ob das Wort paßt oder nicht, muß man doch schon 
eine Ahnung haben, was das Wort eigentlich ausdrückt. Die 
Abstraktionstheorie läßt uns also hier völlig im Stich. 

Unser Beispiel ist aber nicht etwa eine künstliche Konstruktion 
eines Falles, der praktisch nicht vorkommt. Denn die allermeisten 
Begriffe, Uber die ein Mensch verfügt, hat man nicht selber aus 
der Mannigfaltigkeit der Welt abstrahiert und man hat sie sich auch 
nicht aus dem Konversationslexikon geholt, sondern man hat sie 
irgendwie aus der Unterhaltung oder aus der Zeitung und aus 
Büchern aufgegriffen, aus einem einzigen Beispiel, das in der 
Kegel doch nicht zur Begriffserklärung dahingesetzt war. Das 
war in der Jugend; aber man kann diesen Prozeß heute noch 
beobachten, wenn man irgendein fremdsprachiges Buch liest, wo 
sich die Bedeutung einer Menge Wörter nicht mit den deutschen 
Begriffen deckt, und wo man das fremde Wort doch aus einem 
einzigen Beispiel so vollständig versteht, daß man sich über seine 
Unübersetzbarkeit im klaren ist 1 ). 

Man überzeugt sich nun ohne weiteres, daß alle Begriffe, die* 
sich irgendwie auf ein Verhalten beziehen, sich als vorgestellt^ 

F.inafa11nnn*an orrrphAn \ri A in vmn imm Koroin 7ü PrWiirtAn iq4> 


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196 


W. Betz, 


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sinnenfällig sind. Ich gestehe, daß ich überrascht war, zu finden, 
daß auch solche Begriffe, die mit menschlichem Verhalten schein¬ 
bar gar nichts zu tun haben, sich sehr bald als Anthropomorphismen 
ergaben; ich will nur ein Beispiel geben: den logisch ungemein 
schwierigen Begriff des Wesens einer Sache. Das sehr häufige 
Wort Wesen wird ohne weiteres von jedem verstanden. Als psy¬ 
chischen Inhalt während des Verständniserlebnisses finde ich die 
vor—gestellte Einstellung: die Sache (= Gegend im Raum) re¬ 
agiert innerlich gegen Einwirkung von außen und wartet auf eine 
neue Einwirkung. Das klingt äußerst naiv und vielleicht auch 
komisch, aber ich wüßte nicht, wie ich meinen psychischen Inhalt 
in gelehrterem Stil auch nur halb so treffend beschreiben könnte. 

Die bis jetzt beschriebenen Inhalte wird ein Logiker vielleicht 
nicht als Begriffe gelten lassen wollen, da er mit Begriff die 
definierenden Aussagen über die Gegenstände der Begriffe meinen 
könnte. Das wäre aber eine Verwechslung des Begriffes mit 
seinen Gegenständen, ein Mißverständnis, das durch die unselige 
Verbildlichung der Begriffe durch Kreise tief in das Denken ein¬ 
gegraben ist. Wir kommen hierauf noch zurück. 

Die Gegenstände der sogenannten abstrakten Begriffe sind 
»Gedankendinge«, soweit sie nicht unmittelbar erlebt werden können 
wie etwa Hoffnung, Aufmerksamkeit usf. Die Gegenstände der 
konkreten Begriffe dagegen sind »wirklich«, sie führen eine ganz 
andere Art der Existenz als die Gegenstände der abstrakten Be¬ 
griffe; und es wäre durchaus möglich, daß ein fundamentaler 
Unterschied zwischen konkreten und abstrakten Begriffen bestünde. 
Die traditionelle Logik macht nun keinen Unterschied in der Be¬ 
handlung dieser beiden Begriffsarten, was um so erstaunlicher ist, 
als die Existentialfragen vom logisch-erkenntnistheoretischen Stand¬ 
punkt aus von fundamentalster Bedeutung sind. Immerhin scheint 
diese Ignorierung des Problems durch die Logik anzudeuten, daß der 
psycholgische Unterschied zwischen abstrakten und konkreten Be¬ 
griffen nicht erheblich ist oder wenigstens nicht in die Augen springt. 

Die Untersuchung der Begriffe konkreten Inhalts wird zugleich 


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Vorstellung und Einstellung. II. Über Begriffe. 


Für Menschen, die sich Farben deutlich und lebhaft vorstellen 
können — etwa die Hälfte der Menschen kann das —, scheint 
es einigermaßen sinnlos zu sein, vom Begriff Blau usw. zu reden, 
da sie bei diesen Wörtern jedesmal eine farbige Vorstellung haben 
oder doch ohne weiteres produzieren können: im ungezwungenen 
Sprachgebrauch redet man ja auch immer von der Vorstellung 
Blan, Rot usf. Da aber die Farbbezeichnungen eine Unmenge 
von Nuancen umfassen, ist es klar, daß im Sinne der Logiker 
Farbbegrifte existieren, womit keineswegs bewiesen ist, daß Farb- 
begriffe auch psychologisch existieren. 

Man stelle sich ein dunkles Blau vor und suche sich dann 
ein ebenso dunkles Grün vorzustellen. Ich habe zunächst schon 
Schwierigkeiten, mein Gesichtsfeld von einem gleichmäßigen Blau 
erfüllt vorzustellen. Das vorgestellte Gesichtsfeld ist eigentlich 
nur dunkel, ohne sichere Farbqualität. Erst indem ich an be¬ 
stimmte Stoffe denke, an das Farbband der Schreibmaschine, an 
einen blauen Bucheinband, blauen Möbelstoff, komme ich zur Vor¬ 
stellung eines bestimmten Blau, aber ich kann dabei nicht von 
dem betreffenden Gegenstand abstrahieren, ich kann mir nicht das 
betreffende Blau an sich vorstellen, sondern immer nur den blauen 
Gegenstand. Jetzt fällt mir auch das Erinnerungsbild eines tief¬ 
blauen Himmels ein; aber auch jetzt kann ich das Vorstellungs¬ 
feld nicht vollständig mit diesem Blau ausfüllen, am Rande blei¬ 
ben weiße Wolken oder (undeutlich) Bäume, und ich kann hierbei 
nicht unterlassen, mich selber auf dem Rücken liegend und in 
den Himmel starrend vorzustellen. Daraus geht hervor, daß ich 
überhaupt keine Vorstellung von einem Blau au sich habe, son¬ 
dern immer nur Erinnerungsbilder von blauen Gegenständen. 

Als in Grün umzuwandelnde Vorstellung wähle ich nun die 
Vorstellung eines tiefblauen Himmels; und ich versuche die eigen¬ 
tümlich klare Transparenz dieses Bildes festzuhalten und nur statt 
Blau eben Grün vorzustellen, was unmittelbar und mit einem 
Schlage nicht gelingt. Zunächst lasse ich das Erinnerungsbilcl 
des Himmels verschwinden und suche eine beliebige Vorstellung 
eines dunklen Grüns zu erzeue-en: p.r kommt die Vorstellung einest. 


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W. Betz, 


Transparenz umwandeln kann; nun hole ich die Erinnerungsbilder 
zweier dunkelgrüner Samte herauf, welche auch nicht zum Him¬ 
melsblau passen, da sie zu dunkel und zu »schwer« sind und ich 
sie wieder nicht variieren kann; nunmehr suche ich nach Erinne¬ 
rungsbildern von tiefgrünem Meerwasser, die ebenfalls nicht brauch¬ 
bar sind, da sie unerwartet undeutlich sind; jetzt endlich fällt mir 
eine bestimmte tiefgrüne Lösung von Chromchlorid ein und gleich 
darauf ein großer Smaragdring, die in bezug auf Transparenz und 
Sättigung einigermaßen mit dem Himmelsblau Ubereinstimmen, nur 
daß sie klarer sind als das Blau des Himmels. Es will mir aber 
nicht gelingen, mein ganzes Gesichtsfeld mit dem Smaragdgrün 
auszufüllen. 

Ehe ich solche Versuche anstellte, hatte ich gemeint, daß ich 
mir eine beliebige Farbe an sich, ganz unabhängig von den Gegen¬ 
ständen, an denen ich die Farbe gesehen hatte, vorstellen könnte, 
und daß ich weiter diese Farbvorstellung ohne jede Mühe vari¬ 
ieren könnte, sie heller oder dunkler, mehr oder weniger gesättigt 
vorstellen und eine kontinuierliche Reihe von Nuancen durchlaufen 
lassen könnte. Die Vorstellung einer Farbe an sich hätte den 
Charakter der Allgemeinheit, und vermöge der supponierten 
leichten Variabilität der Vorstellung an sich wäre die »allgemeine 
Vorstellung« als »Inbegriff« der subsumierbaren Fälle psychologisch 
realisiert gewesen. Es erscheint sehr einfach und plausibel, zu 
erklären, eine allgemeine Vorstellung gehe aus einem konkreten 
Erinnerungsbild dadurch hervor, daß man von dem Material ab¬ 
strahiere und die übrigbleibende Vorstellung an sich kontinuier¬ 
lich und rapide variieren, »changieren« lasse. 

Wir haben nun gesehen, daß weder eine Farbvorstellung an 
sich existiert, noch daß eine beliebige Farbvorstellung in bezug 
auf ihre Farbqualität kontinuierlich variiert werden kann: es han¬ 
delt sich immer nur um Erinnerungsbilder, deren Herkunft nicht 
immer leicht zu finden ist, wenn sie blaß und verschwommen sind. 
Nun kann ich ein lebhaftes farbiges Erinnerungsbild verschwimmen 
lassen, so daß Form und Stoff undeutlich und unerkennbar werden . 


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Vorstellung und Einstellung. II. Über Begriffe. 


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etwas dunkler vorstellen. Kommt ausnahmsweise hierbei eine 
dunklere Vorstellung, dann hatte ich sie jedesmal nicht lange vor¬ 
her vorgestellt gehabt; die Weite des Sprunges habe ich keines¬ 
falls in der Hand. Will ich die ursprüngliche Blauvorstellung ver¬ 
ändern, dann muß ich einen Umweg einschlagen, indem ich mich 
anf blaue Gegenstände besinne, was erhebliche Zeiten beansprucht. 

Eine allgemeine Vorstellung in der Art, daß gleichsam mit 
einem Blick alle Nuancen von Hellblau zu Dunkelblau durchlaufen 
würden, existiert also für meine Person nicht. Wenn ich nun das 
Wort Blau höre, dann verstehe ich es lange, ehe eine deutliche 
Farbenvorstellung, irgendein Erinnerungsbild auftaucht; und ich 
kann jede Spur von einer Farbvorstellung unterdrücken und trotz¬ 
dem ein vollkommenes Verständniserlebnis des Wortes Blau haben. 

In der Regel, glaube ich, ist allerdings beim Hören eines Farb¬ 
wertes der Schimmer einer Farbenvorstellung vorhanden, die sich 
aber von selbst in ein Erinnerungsbild entwickelt, sobald ich meine 
Aufmerksamkeit darauf richte. 

Wie ist es nun überhaupt möglich, daß ich einen Sinn des 
Wortes Blau erleben kann, ohne die Spur einer Vorstellung Blau 
dabei zu haben? Farbempfindungen und Farbvorstellungen sind 
die einfachsten aller psychischen Inhalte. Farben sind nichts als 
Farben, Farben werden im allgemeinen nicht interpretiert als 
etwas vorstellend oder ausdrückend oder als etwas selbständig 
Existierendes, man nimmt sie als Faktum hin, während man bei 
einem Geräusch oder einem Geruch in der Regel wohl noch daran 
denkt, wovon er hervorgebracht wird, während Töne und Ton¬ 
folgen von stärkeren psychischen Erlebnissen begleitet sind und 
die einfachste gerade Linie von einer Wolke logischer Schwierig¬ 
keiten umgeben ist: Farben sind frei von logischen Beziehungen, 
und sie sind arm an assoziativen Beziehungen, aber sie haben 
ästhetische Qualitäten. Wenn ich nun ein Farbwort verstehe, ohne 
die betreffende Farbvorstellung zu haben, dann kann das Ver¬ 
ständnis dadurch realisiert werden, daß ich entweder die assozia¬ 
tiven Beziehungen erlebe oder die ästhetischen Qualitäten od^^. 
beides Fs ist nun nicht schwer in iedem Fall festzustellen, 


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W. Betz. 


schwerer zu erkenneu und noch schwerer zu unterdrücken.) Man 
kann nun leicht konstatieren, daß man ein Farbwort auch dann 
noch versteht, wenn sowohl Vorstellungen als assoziative Be¬ 
ziehungen vollkommen fehlen. Es bleibt also nur übrig, das Ver¬ 
ständnis des Wortes im Wiedererlebeu der ästhetischen Qualität 
zu suchen. 

Wenn ich mir die Wörter Blau, Grün, Braun, Purpur vor¬ 
spreche und vorstellungs- und assoziationsfrei zu verstehen suche, 
was für die ganze Reihe nur in günstigen Momenten gelingt, in¬ 
dem entweder doch eine Farbvorstellung eintritt oder die Wörter 
bloße, bekannte, Wörter bleiben, dann verspüre ich deutliche Än¬ 
derungen meiner Gefühlslage bei jedem Übergang zum anderen 
Wort: Bei Blau könnte ich mein Gefühl als angenehm, klar, ruhig, 
tief beschreiben, bei Grün bemerke ich eine deutliche Änderung 
ins Unangenehme, ich verspüre etwas Aufdringliches, Störendes, 
bei Braun tindet wieder ein Wechsel ins Angenehme, Warme statt, 
bei Purpur ins unangenehm Emotionale. Diese Gefühlseindrücke 
sind nach unserer Terminologie wieder als Einstellungen zn be¬ 
zeichnen, da sie Reaktionen auf Erscheinungen sind. Eine ge¬ 
nauere Beschreibung dieser Einstellungen in Worten ist wiederum 
schwierig und recht unsicher; ich gehe deshalb nicht näher 
darauf ein. Unter diesen besonderen Versuchsbedingungen 
konnte ich mit Mühe die Einstellungen also einigermaßen vor¬ 
stellen und Aussagen Uber sie machen. Aber es gelingt mir nicht 
spontan. 

Wenn man rasch von einer Farbe zur anderen übergeht, dann 
wird es ziemlich deutlich, daß den verschiedenen Farben ein ver¬ 
schiedener »Charakter* zukommt: Rot ist im Gegensatz zu Blau 
und Violett »warm*, Grün hat im Gegensatz zu anderen Farben 
etwas »Giftiges« usf. Ich habe den Eindruck, daß bei allen 
Farben, die sprachlich noch mit dem gleichen Namen bezeichnet 
werden, auch der gleiche Charakter noch zu erkennen sei, einerlei 
ob die betreuenden Nuancen matt oder glänzend oder durchsichtig 
sind usf. Aber ich kann nicht mit Sicherheit aus bloßer Selbst¬ 


beobachtung heraus behaupten, daß alle Blau etwa einen gemein 


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Vorstellung und Einstellung. II. Über Begriffe. 


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betrachten, nicht für sich erleben. Aber existieren muß der Grund- 
charakter, denn sonst wäre es nicht verständlich, daß ich noch 
nie gesehene Nuancen richtig benennen kann, oder daß ich über¬ 
legen kann, ob gewisse Nuancen zwischen Blau und Grün etwa 
noch Blau oder schon Grün seien. Solche Überlegungen führe 
ich in der Weise aus, daß ich mir die Wörter Blau und 
Grün gemächlich vorspreche und die Nuauce als blau und 
als grün zu sehen suche. Je nachdem nun das eine oder das 
andere besser oder gleich gut gelingt, entscheide ich die Frage 
oder lasse sie unentschieden. Blau- und Grün-Einstellungen sind 
in diesem Fall sicher vorhanden, aber ich kann sie nicht vor¬ 
stellen. Ich kann also auch keine Begriffe von den Farben 
haben, in dem Sinne, wie wir bei Dochigkeit von Begriff sprachen. 
Und in der Tat, es fehlt mir jegliche Spur von »Begriffsgefühl« 
bei den Farbwörtern. Nur bei Weiß habe ich etwas Begriffs- 
gefühl, wenn auch lange nicht so deutlich wie bei Dochigkeit, 
Weiß kann ich in diesem Sinne als Begriff denken, die vorge¬ 
stellte Einstellung könnte ich etwa als allgemeine Helligkeit des 
Gemüts beschreiben. Ebenso habe ich bei »Farbigkeit«, bei »bunU 
vorstellungsfreie begriffliche Erlebnisse mit deutlich spezifischen 
Einstellungen. Ich halte es deshalb durchaus für wahrscheinlich, 
daß andere Menschen auch Farbbegriffe haben, wenn solche Men¬ 
schen vielleicht auch selten sind. 

Die Farbwörter sind nun Kollektivbezeichnungen, und im Sinne 
der Logiker repräsentieren sie deshalb ohne Zweifel Begriffe. Von 
anderen Kollektivbegriffen, etwa »Vierfüßler«, unterscheiden sie 
sich aber sehr wesentlich durch den Umstand, daß man sie nicht 
definieren kann, sie haben kein demonstrables Merkmal. (Die 
Definition durch Wellenlängen kommt hier natürlich nicht in Be¬ 
tracht.) Alle Blau müssen zum Unterschied von allen Grün usf. 
etwas Gemeinsames haben, aber dieses Gemeinsame kann ich 
nicht isolieren. Alle anderen Sinnesempfindungen kann ich be¬ 
grifflich denken, indem ich wieder die betreffenden Einstellungen 
vorstelle: warm, naß, hart, süß, stinkend, hell, dunkel, hoher Ton ^ 
tiefer Ton. Wir müssen also sagen, daß Farbbegriffe psycho-., 
logisch als isolierbare, selbständige Gebilde, als Denkgegenstäud^ 


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202 


W. Betz, 


dieses Gemeinsame nicht bewußt wird, hat es keinen Sinn, es Be¬ 
griff zn nennen. 

Die Analyse der Farbenbeispiele hat uns zwei interessante Er¬ 
gebnisse gebracht: Die Farbvorstellungen bleiben ihrer Farbqualität 
nach konstant, sie »changieren« nicht; und es hat sich heraus¬ 
gestellt, daß Farbbegriffe im allgemeinen nicht vorhanden sind, 
daß aber in günstigen Momenten nur ein weniges daran fehlt; und 
es ist deutlich geworden, daß dieser Mangel in dem Unvermögen 
besteht, die Farbeinstellungen vorzustellen, die an sich sicher vor¬ 
handen sein müssen. 

Bei den Farbvorstellungen sind wir nun nicht auf eine Er¬ 
scheinung gestoßen, die man als »allgemeine Vorstellung« an¬ 
sprechen könnte. Der Ausdruck »allgemeine Vorstellung« ist nun 
aber so überaus geläufig, daß ihm psychologisch wohl etwas ent¬ 
sprechen muß, trotzdem er eine contradictio in adjecto zu enthalten 
scheint. Auf jeden Fall ist es heute noch zweifelhaft, wie weit 
der Ausdruck psychologisch berechtigt ist. Wir wollen also das 
für die Leugnung der allgemeinen Vorstellungen stehend gewor¬ 
dene Beispiel des Dreiecks untersuchen. 

Wenn ich mir ein Dreieck vorstellen will, dann kommt mir 
das wenig detaillierte Bild einer schwarzen Tafel in der Schule 
in Erinnerung mit einem Dreieck aus weißen Kreidestrichen darauf. 
Das Dreieck sehe ich aber gar nicht vollständig vor mir, deutlich 
ist nur die linke Seite des Dreiecks mit ihren beiden Ecken, die 
Ecke rechts dagegen sehe ich nicht vor mir; die linke Seite stelle 
ich außerordentlich deutlich vor als breiten weißen Kreidestrich 
mit all seinen Ungleichmäßigkeiten. Die rechte Ecke dieses Drei¬ 
ecks kann ich in der Vorstellung ergänzen, ich kann sie aber 
nicht so deutlich sehen als die linke Seite, und es gelingt mir 
nicht, das ganze Dreieck mit einem einzigen Blick zu übersehen: 
entweder ist die linke Seite oder die rechte Ecke deutlich, nie¬ 
mals beides gleichzeitig. Und ich bemerke weiter, daß ich nicht 
einfach meine Aufmerksamkeit von der linken Seite auf die rechte 
Ecke verlegen kann und umgekehrt, sondern ich muß das Drei¬ 
eck jedesmal in Gedanken von neuem konstruieren, indem ich in 


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Vorstellung und Einstellung. II. Über Begriffe. 


vorgestellten Stücke wirklich demselben Dreieck angehören und 
nicht vielmehr Stücke von Erinnerungsbildern verschiedener Drei¬ 
ecke sind. Und es glückt mir eigentlich nie ganz vollkommen, 
das ganze Dreieck in deutlichen weißen Kreidestrichen vorzustellen, 
es bleiben immer kleiue Lücken, meist in der Nähe der Ecken. 
Die eben besprochenen Dreiecke waren so groß, daß sie in natura 
nicht in ihrer ganzen Ausdehnung in den Punkt des deutlichsten 
Sehens fallen, daß ihre Konturen also sukzessiv fixiert werden 
müßten. Die mangelhafte Vorstellbarkeit könnte also hierin ihre 
Ursache haben. Wenn ich mir indessen ganz kleine Dreiecke von 
2—3 mm Durchmesser auf Papier zeichne und dann vorzustellen 
suche, dann bleibt die Schwierigkeit nach wie vor bestehen: auf 
dem Papier kann ich ein solches Dreieck deutlich sehen, ohne 
den Fixationspunkt zu ändern; wenn ich sie dagegen deutlich vor¬ 
stellen will, gelingt es wieder nur sukzessiv, indem ich das Auge 
in der Vorstellung um sie herumführe; oder wenn ich es in einem 
Blick vorzustellen suche, dann ist die dritte Seite undeutlich und 
ich bin nicht sicher, ob und wo sie die beiden anderen Seiten 
trifft. Der ganze Unterschied gegen früher besteht darin, daß bei 
den großen Dreiecken eine Seite (immer die linke) deutlich vor¬ 
gestellt wird und Ausgangsort ist, und bei den kleinen Drei¬ 
ecken immer eine Ecke. 


Bisher habe ich mich nun immer bemüht, das ganze Dreieck 
möglichst deutlich vorzustellen. Wenn ich mir nun gelegentlich, 
ohne psychologische Absichten, ein Dreieck vorstelle, dann sehe 
ich eine Seite in der Regel als Bleistiftstrich sehr deutlich vor 
mir, und den Rest des Dreiecks sehe ich eigentlich überhaupt 
nicht, sondern ich konstruiere es durch eine impulsmäßig gefühlte 
Augen- oder Handbewegung, je nach der vorliegenden Aufgabe, 


rechtwinklig, stumpfwinklig, lang oder kurz usf. Diese konstruk¬ 
tive Bewegung hinterläßt nun eine Art von visueller, sehr ver¬ 
schwommener Spur. Dabei wird die ursprünglich überaus deut¬ 
liche Vorstellung der einen Seite verschwommen und nähert sich 
dem Charakter der Spur, oder sie verschwindet auch gänzlich, so 
daß die übrigbleibende visuelle Vorstellung beinahe schon keine 
Vorstellung mehr ist, auf jeden Fall so überaus verschwommen 


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W. Betz, 


»Vorstellung« von den Winkel- und Seitenverhältnissen des Dreiecks. 
Die Konstruktionen führe ich mit motorischen Impulsen uub, die 
nicht in das Stadium aktueller Bewegungen Uberzugehen brauchen, 
es aber regelmäßig bei intensiverem Denken tun, wo ich mit dem 
Finger oder dem Kopf usf. deute, ohne daß mir das von selbst 
zu Bewußtsein kommt. Die Bewegungen oder Bewegungsinten¬ 
tionen sind nun natürlich keine Dreiecksvorstellungen, es sind 
Einstellungen nach meiner Terminologie; aber sie erzeugen eine 
besondere Art von Vorstellungen. 

Wenn ich meine Augen schließe, dann kann ich mir ein Drei¬ 
eck irgendwo im Raum denken, ohne daß ich irgendwie dabei 
Bleistiftstriche oder Drähte oder Fäden u. dgl. vorstelle oder daß 
ich irgendwie das Dreieck in der Vorstellung sehe, etwa hell auf 
dunklem Grunde. Aber das kann ich nur, wenn ich mit meinen 
geschlossenen Augen eine Dreiecksbewegnng wirklich ausftthre 
und dadurch ein Dreieck im Raum fixiere, ohne daß es hierbei 
in visuelle Erscheinung tritt. Diese Bewegung hinterläßt nun eine 
Spur, wie daraus hervorgeht, daß ich ein Bewußtsein der Lage 
der schon zurückgelegten Strecken habe, was noch deutlicher zu 
bemerken ist, wenn ich mir ebenso einen Kreis denke. Ich 
kann nun nicht behaupten, daß diese Vorstellungen ganz frei von 
visuellen Rudimenten sind, da der Raum um das gedachte Dreieck 
nicht überall gleichmäßig dunkel ist; das Dreieck selber sehe ich 
aber nicht, namentlich nicht die Eckpunkte. Die nichtgesehene 
Vorstellung ist sehr präzis, ich kann z. B. die Winkel halbieren 
und Senkrechte fällen, wobei sich graduell eine mäßige Sichtbar¬ 
keit durch Helligkeitsunterschiede einschleicht, wenn ich sie nicht 
absichtlich unterdrücke. Dabei läßt sich immer mit großer Schärfe 
feststellen, ob und wann Erinnerungsbilder, Bleistiftstriche u. dgl. 
in die Vorstellung eintreten. 

Die Minimalvorstellungen sind nun nicht mit den vorgestellten 
Einstellungen zu verwechseln. Meine vorgestellte Dreieckseinstel¬ 
lung würde nur ergeben, daß da im Raum in einer bestimmten 
Art herumgefahren wird, während die Minimalvorstellung eben in 

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Verstellung und Einstellung. II. Über Begriffe. 


205 


die eiue aufbürt und die andere beginnt. Richte ich meine Auf¬ 
merksamkeit auf die Einstellung, dann komme ich zu einem Be¬ 
griff der Dreieckigkeit, ganz in derselben Weise, wie ich früher 
zum Begriff der Dochigkeit kam. Wenn ich nun die Aufmerk¬ 
samkeit auf die Minimalvorstellung richte, so ist die Vorstellung 
zwar wenig deutlich, und sie verlischt sehr bald, wenn ich sie 
nicht immer von neuem erzeuge; aber die erzeugenden Bewegungen 
wiederholen sich immer angenähert in der gleichen Bahn, die 
Minimal Vorstellung bleibt angenähert konstant, sie »changiert« 
nicht von stumpfwinkligen bis zu spitzwinkligen Dreiecken; die 
ursprüngliche Einstellung perseveriert innerhalb ziemlich enger 
Grenzen. Aber die Minimalvorstellung und die Einstellung sind 
nur angenähert, nicht völlig konstant; und wenn ich will, kann 
ich die Einstellung und damit die Minimalvorstellung in einem 
weiten Bereich ziemlich kontinuierlich, ohne erhebliche Sprünge 
variieren. Wenn ich nun diese Variation ohne Überhastung aus¬ 
führe, dann erzeuge ich eine allgemeine Vorstellung, die 
mehrere Spezialfälle durchläuft, umfaßt. Denn es handelt sich 
nicht um eine Reihe diskreter Einzelvorstellungen von Dreiecken, 
sondern in einem einzigen, kontinuierlichen Prozeß wachsen die 
Dreiecke auseinander heraus: es ist ein einheitliches Erlebnis, 
nicht eine Anzahl diskreter Erlebnisse. Allerdings ist die all¬ 
gemeine Vorstellung nicht deutlich und nicht simultan gegeben, 
sie ist überhaupt nicht gegeben, sondern ich muß sie erzeugen, 
was eine merkliche Anstrengung erfordert, sobald ich die Varia¬ 
tion über einen etwas größeren Spielraum ausdehnen will. Die 
Variation wird aber nun nie alle möglichen Fälle durchlaufen, 
und sie wird sich in der Regel gar nicht weit von der ursprüng¬ 
lichen Vorstellung entfernen. Die allgemeine Vorstellung bleibt 
weit davon entfernt, wirklich völlig allgemein zu sein. Was sie 
von Erinnerungsbildern und Restvorstellungeu unterscheidet, ist 
ihre Veränderlichkeit, sie changiert, und ich habe das bestimmteste 
Bewußtsein, daß ich sie beliebig verändern kann, wenn ich will. 
(Das Abändern der Erinnerungsbilder in der Phantasie ist ein 
wesentlich anderer Vorgang, vor allem kann ich sie nicht kon- 


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W. Betz, 


allen ausgedehnten Gegenständen bilden. Alle Menschen haben 
eine allgemeine Vorstellung Baum, Berg, Haus, Hund, Pferd, 
Wagen usf., kurz von allen Gegenständen, die der einzelne mit 
einer Geste schematisch in die Luft zeichnen kann. Hierbei ist 
scharf zu unterscheiden zwischen einer etwaigen Restvorstellung 
des Gegenstandes, die man bei einiger Übung fast immer auf ihr 
Original zurtlckfUhren kann, und dem Schema, das man unter 
deutlichem Aktivitätsgeftlhl in den Raum einprägt, einzeichnet, 
wobei das Schema in der Regel nicht bis zu visueller Deutlich¬ 
keit kommt. 

Das auf Papier fixierte Schema einer Lokomotive wird man 
um so weniger eine allgemeine Vorstellung nennen können, je 
sorgfältiger die schematische Zeichnung ausgeftihrt ist, da die 
Größenverhältnisse aller Teile völlig bestimmt sind. Das bloß in 
die Luft vorgestellte Schema dagegen ist wenig bestimmt und es 
ist dehnbar, es variiert auch ungewollt in einem kleinen Spiel¬ 
raum, wenn ich es zu längerer Betrachtung beständig neu er¬ 
zeugen muß. 

Wenn man in der gewöhnlichen Rede von allgemeinen Vor¬ 
stellungen spricht — und man gebraucht den Ausdruck recht 
häufig —, dann meint man, soviel ich sehe, in der Regel ein in 
die Luft vorgestelltes Schema damit, es kann aber auch nur die 
Restvorstellung damit gemeint sein. In der philosophischen Sprache 
dagegen liegt der Nachdruck auf dem allgemein, womit eine Vor¬ 
stellung gemeint ist, die alle Spezialfälle umfaßt, nicht eine Vor¬ 
stellung, die unbestimmt und deshalb allgemein ist. Wir haben 
gesehen, daß dieser Sprachgebrauch psychologisch doch nicht so 
unbegründet ist, wie er auf den ersten Blick erscheint. Es ge¬ 
lingt in der Tat, wenn auch mit Anstrengung, so etwas wie eine 
wirklich ziemlich allgemeine Vorstellung zu erzeugen, allerdings 
nur bei einem so äußerst einfachen Gegenstand, wie es das Drei¬ 
eck ist. Für gewöhnlich jedoch ist die Allgemeinheit einer all¬ 
gemeinen Vorstellung auf einen sehr engen Spielraum beschränkt. 
Weiter, wenn man sich ein Schema in die Luft vorstellt, fehlt 


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Vorstellung und Einstellung. II. Über Begriffe. 207 

Vorstellungen nennen, wenn nicht die allgemeinen Vorstellungen 
selbst sehr vertrauter Gegenstände so äußerst unvollkommene 
Schemata wären. Pferde z. B. sieht man wohl täglich, man ver¬ 
suche aber ein Pferd aus der Erinnerung zn zeichnen, und viele 
werden finden, daß sowohl die Erinnerungsbilder als die schema¬ 
tische Vorstellung für die Gelenkanordnung der Vorder- und 
namentlich der Hinterbeine völlig im Stich lassen. 

Nach dem Vorhergehenden kann es nicht zweifelhaft sein, daß 
wir die schematischen Vorstellungen als von den Erinnerungs¬ 
bildern genetisch verschieden erklären müssen. Sie entstehen 
nicht dadurch, daß ein Erinnerungsbild allmählich bis auf gewisse 
Reste verblaßt und verschwindet; auch nicht dadurch, daß sich 
mehrere Erinnerungsbilder überdecken und die gemeinsamen Züge 
sich verstärken und allein Ubrigbleiben. Wenn ich eine rein sche¬ 
matische Zeichnung, in einem Witzblatt etwa, betrachte, dann fülle 
ich nicht das Schema mit Erinnerungsbildern aus, und es gelingt 
mir auch nicht, wenn ich es ernstlich versuche, außer wenn ich 
zufällig ein Erinnerungsbild besitze, daß der schematischen Figur 
ähnlich ist und genau hineinpaßt. Und auch dann geschieht das 
»Hineinsehen« nicht von selbst, ich muß mich bemühen. Dem¬ 
nach ist es äußerst merkwürdig, daß man schematische Zeich¬ 
nungen überhaupt versteht, da sie von dem bloßen Gesichtsbild 
doch völlig verschieden sind. Und wenn der des Zeichnens Un¬ 
kundige aus der Erinnerung ein Pferd etwa zeichnen soll, dann 
macht er sofort den Versuch, das Schema zu zeichnen, und denkt 
nicht daran, eine erscheinungsgetreue Wiedergabe zu versuchen. 
Nun fällt es mir aber sehr schwer, aus einem scheinbar ganz 
deutlichen Erinnerungsbild, eines Nilpferds etwa, ein auch nur 
einigermaßen befriedigendes Schema zu zeichnen: sowie ich den 
Stift ansetze, verschwindet das Erinnerungsbild. Das Schema 
muß also so sicher in mir sein, daß ich das Erinnerungsbild nicht 
brauche. Die ganze Auseinandersetzung zeigt, wie tief das 
Zeichnen in der menschlichen Natur liegt. 

Nun kann es keinem Zweifel unterliegen, daß die schematische 
Zeichnung: die ADDerzeDtionsbahnen und -punkte des Blickes d«r- 


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I 


208 


W. Betz, 


vor mir sehe, der an sich ja völlig anders aussieht als die sche¬ 
matische Zeichnung vor mir. 

Zwischen schematischer und allgemeiner Vorstellung ist nur 
ein gradueller Unterschied; wenn die schematische Vorstellung 
sehr unbestimmt und unvollständig ist, nennt man sie im gewöhn¬ 
lichen Sprachgebrauch allgemeine Vorstellung. 

Ich finde nun, daß ich nur verhältnismäßig sehr wenige, leid¬ 
lich ausgebildete schematische Vorstellungen habe; ihre Produktion 
erfordert immer eine gewisse Zeit und eine gewisse Anstrengung, 
eine Konzentration der Aufmerksamkeit; und ich produziere sie 
beim Lesen nur dann, wenn es wirklich notwendig ist, z. B. wenn 
etwas über die Bauart von Lokomotiven gesagt wird und mir ein 
entsprechendes Erinnerungsbild fehlt. Wenn ich nun einerseits 
Erinnerungsbilder vermeide, andererseits auch die schematische 
Vorstellung nicht ausflihre, dann finde ich, daß ich mir in der 
oben beschriebenen, eigentümlich dynamischen Weise eine Gegend 
im Raum vorstelle, und ich verspüre hierbei eine Disposition, in 
dieser Raumgegend mir die schematische Vorstellung zu »machen«, 
und zwar nicht bloß linienhaft, wie in einer schematischen Zeich¬ 
nung, sondern körperlich, aber farblos und mehr für das Gefühl 
als für die Augen (z. B. »Jemand«). Dieser Bewußtseinsinhalt ist 
mir simultan gegeben, und es ist durch diesen Inhalt für mich 
völlig bestimmt, was für ein Ding ich meine. Das sind aber die 
allgemeinen Vorstellungen der Umgangssprache. 

Das Resultat unserer Analyse formulieren wir nun dahin: All¬ 
gemeine Vorstellungen sind durch die Einstellungen erzeugte Vor¬ 
stellungen besonderer Art, die sich scharf von den Erinnerungs¬ 
bildern unterscheiden und mehr »gefühlt als gesehen« werden. 
Vermöge der Variabilität des erzeugenden Aktes sind diese Vor¬ 
stellungen auch allgemein im Sinne des Logikers, wenn sich auch 
diese Allgemeinheit innerhalb verhältnismäßig sehr enger Grenzen 
hält und ein kollektives Interesse an ihrer Entstehung im allge¬ 
meinen nicht beteiligt ist. 

Allgemeine Vorstellungen sind etwas anderes, psychologisch, 
als Begriffe in unserem Sinn. Wir haben Begriffe als vorgestellte 


Einstellungen erklärt. 

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Die erzeugende Einstellung der allgemeinen 

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Vorstellung und Einstellung. II. Über Begriffe. 


209 


mir die Einstellung Pferd vorstelle, komme ich ohne weiteres zu 
einem Begriff Pferdigkeit, dessen Beschreibung im wesentlichen 
eine Schilderung ästhetischer Qualitäten ergeben wlirde, da der 
erzeugende Akt an sich ohne Interesse ist und unwesentlich er¬ 
scheint gegenüber den begleitenden Gefühlen. Und man kann 
ganz allgemein sagen, daß man zu allen allgemeinen Vorstellungen 
Begriffe bilden kann, indem man die betreffende Einstellung vor¬ 
stellt. Solche Begriffe sind allerdings nicht kurrent, soweit sie 
sich nicht auf die menschliche Erscheinung beziehen (z. B. Plump¬ 
heit). Das Interesse ist eben mehr auf die Erscheinung der 
anschaulichen Gegenstände gerichtet als auf den Eindruck, den 
sie auf mich machen. 


Der Unterschied zwischen Begriffen und allgemeinen Vorstel¬ 
lungen ist demnach graduell und nicht absolut; in den extremen 
Fällen ist meine Aufmerksamkeit entweder lediglich auf die durch 
die Einstellung produzierte Vorstellung gerichtet oder auf die Ein¬ 
stellung, die aber vorgestellt und nicht lediglich erlebt wird. Wie 
schon hervorgehoben, wäre eine bloß erlebte Einstellung nur ein 
psychischer Zustand, dem alle Beziehung auf etwas anderes, alle 
Bedeutung fehlen würde. Durch das Vorstellen wird die Ein¬ 
stellung einmal verdinglicht und eine wenn auch häufig fast un- 
raerkliche Vorstellung einer derjenigen Erscheinungen reprodu¬ 
ziert, bei welcher ich die betreffende Einstellung früher hatte. 
Diese beim Denken eines Begriffs vorhandenen Vorstellungen über¬ 
sieht man leicht, und man kann sich häutig nur durch einen 
kleinen Kunstgriff von ihrem tatsächlichen Vorhandensein über¬ 
zeugen, z. B. dadurch, daß man sich, wenn von Menschen die 
Rede ist, an ihrer Stelle Tiere andeutungsweise vorzustellen sucht. 
Praktisch ist man denn auch häufig im Zweifel, ob man etwas 
als Begriff oder als allgemeine Vorstellung denkt, etwa wenn von 
Personen im allgemeinen gesprochen wird: in Polizeiverordnungen 
wird man »Personen« mehr als allgemeine Vorstellung, in juristi¬ 
schen Deduktionen mehr als Begriff denken. Der unbefangene 
Sprachgebrauch redet bei leicht vorstellbaren Sachen in der Regel 


von allgemeinen Vorstellungen, bei abstrakten Dingen von Be¬ 
griffen. Es besteht aber in der Tat kein prinzipieller Unterschied 


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W. Betz, 


• produzierte (d. h. allgemeine) Vorstellungen oder ganz versehwom- 
mene Reste von Erinnerungsbildern oder beides sind, werde ich 
hierfür gelegentlich den oben schon eingeführten Ausdruck Minimal- 
vorstellungen gebrauchen. Sicher selbsterzeugte Vorstellungen da¬ 
gegen werde ich immer allgemeine Vorstellungen nennen. (Meine 
Erinnerungsbilder sind durch vollkommene Erhaltung der Farben 
ausgezeichnet, und wenn eine Minimal Vorstellung einen farbigen 
Schimmer zeigt, dann kann ich sie dadurch als Rest eines Er¬ 
innerungsbildes erkennen; aber dieses Kriterium versagt auch 
manchmal.) 

Begriff und allgemeine Vorstellung können nun an einer ein¬ 
zigen Erscheinung erzeugt werden; aber das Vorstellen einer Ein¬ 
stellung und das Produzieren der Vorstellung erfordern eine ge¬ 
wisse Anstrengung des Denkens, die man natürlich nur unter der 
Einwirkung eines Motivs unternimmt, was in der Regel darin 
liegen wird, daß diese Erscheinung in besonderem Grade die 
Aufmerksamkeit erregt. Wenn einem schon öfters eine nahezu 
gleiche oder ähnliche Erscheinung vorgekommen ist, dann wird 
man schließlich darauf aufmerksam: »da ist ja schon wieder so 
ein Ding«. In dem Moment, wo man sagt: so ein Ding, so ein 
Zustand, so ein Verhalten u. dgl., macht man sich die allgemeine 
Vorstellung oder stellt sich die Einstellung vor. Das wiederholte 
Vorkommen ist aber nicht das einzige, wenn auch möglicherweise 
das häufigste Motiv; eine ungewohnte Erscheinung kann mich ge¬ 
rade so gut, eben durch ihre Sonderbarkeit, veranlassen, so ein 
Ding zu denken, statt »dieses Ding« rein passiv zu betrachten. 
Allerdings wird man nur solche Erscheinungen mit einem beson¬ 
deren Terminus benennen, die wiederholt Vorkommen oder von 
denen man annehmen kann, daß sie öfters so oder ähnlich Vor¬ 
kommen werden. Wer sich daraufhin beobachtet, wird finden, 
daß man im Lauf des täglichen Denkens massenhaft neue Be¬ 
griffe bildet, für die einem aber die Wörter fehlen, weshalb man 
übersieht, daß es tatsächlich Begriffe sind. 

Wie wir in unserer vorigen Abhandlung »Über Wiedererkennen« 
auseinandergesetzt haben, beruht das Wiedererkennen und das Er¬ 
kennen der Ähnlichkeit auf der Renroduktion identischer oder 
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Vorstellung und Einstellung. II. Über Begriffe. 


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sind ähnlich«, erfordert nicht die Bildung intermediärer Begriffe 
oder allgemeiner Vorstellungen. Wenn ich nun irgendeinen Be¬ 
griff schon besitze, dann erkenne ich, ob ein neuer Fall unter 
diesen Begriff fällt, daran, daß der Fall zur Einstellung paßt. 
Dieses Passen kann Dir mein eigenes Denken völlig überzeugend 
sein, aber es genügt nicht, um einen anderen, der die Anwend¬ 
barkeit des Begriffes auf einen bestimmten Fall leugnet, zur An¬ 
erkennung zu zwingen. So stellt sich für jeden sehr bald die 
Notwendigkeit heraus, objektiv demonstrable Merkmale der Gegen¬ 
stände zu finden, die unter einen Begriff fallen; d. h. man sucht 
nach einer Definition des Begriffs. Die Definitionen sind Urteile 
über die Gegenstände, die unter einen Begriff fallen, sie sind aber 
nicht Urteile Uber den Begriff selber. Dieser Unterschied ist nach- 
drücklichst hervorzuheben. 

Nach der traditionellen Abstraktionstheorie geschieht die Bil¬ 
dung der Begriffe in der Weise, daß man verschiedene Fälle mit¬ 
einander vergleicht und die gemeinsamen Merkmale heraussucht. 
Es müßte also eine Kleinigkeit sein, bei jedem Begriff anzugeben, 
aus welchen Merkmalen ich mir ihn gebildet habe; und man 
müßte jeden beliebigen Begriff ohne weiteres definieren können. 
In Wirklichkeit ist aber das Definieren ein widerwärtiges, müh¬ 
seliges und unsicheres Geschäft; und es gibt eine Menge Begriffe, 
die noch niemand befriedigend definieren konnte oder über deren 
Definition gestritten wird, z. B. die Begriffe Recht und Geld. 

Es hat nun jeder einigermaßen Gebildete eine, wenn auch 
ziemlich dunkle Idee, wie eine gute Definition beschaffen sein soll, 
eine Idee, der man mehr oder weniger unbewußt nachzukommen 
sucht, wenn man in den peinlichen Fall versetzt wird, etwas 
definieren zu müssen. Wie man zu dieser Idee kommt, ist schwer 
anzugeben, auf keinen Fall stammt sie aus den Lehrbüchern der 
Logik, die keine Theorie der Definition enthalten, trotzdem das 
Definieren unstreitig ein höchst wichtiges Denkgeschäft ist. Man 
möchte also, daß eine Definition das Gemeinsame der unter 
einen Begriff fallenden Erscheinungen angibt, und man möchte 
das Gemeinsame so fassen, daß es gut als Kriterium, Merkmal 
dafür dienen kann, ob ein konkreter Fall unter den Begriff fällt 


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W. Betz, 


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nicht notwendig zusammenlallt, und die Definition so fassen, daß 
auch ein mit dem Begriff noch Unbekannter sich eine ungefähre 
Anschauung von diesen Gegenständen machen kann; das alles 
möchte man möglichst in einem einzigen Satz leisten, der mög¬ 
lichst allgemein gehalten ist, aber möglichst keine Ausdrücke ent¬ 
hält, die selber noch nicht definiert sind. (Diese Aussage über 
die Definitionen ist, als Definition der Definition betrachtet, durch¬ 
aus nicht befriedigend; ich habe im wesentlichen nur die Einstel¬ 
lung beschrieben, die ich einnehme, wenn ich etwas definieren 
will. Ich war nicht imstande, eine einstellungsfreie Definition der 
Definition zu finden.) 

Beim Definieren schwebt jedem dieses Programm mehr oder 
weniger unbestimmt vor, und jeder weiß aus eigener Erfahrung, 
wie schwer schon eine einzelne Forderung, geschweige die Ge¬ 
samtheit des Programms zu erfüllen ist. Da erhebt sich denn die 
Frage sehr dringend, ob die Idee der Definition nicht unter Um¬ 
ständen unvereinbare Forderungen einschließe, so sehr, daß in 
gewissen Fällen eine Definition prinzipiell unmöglich werde, wo 
auch faktisch bisher noch keine Definition erzielt wurde: ob also 
das Suchen nach einer Definition nicht häufig eine gänzlich nutz¬ 
lose Verschwendung von Arbeitskraft bedeute. 

Zunächst scheint das Bestreben, sich möglichst allgemein aus¬ 
zudrücken, unvereinbar mit der Absicht, dem Hörer oder Leser 
auch eine ungefähre Anschauung der betreffenden Dinge zu ver¬ 
mitteln. Diese Absicht läßt man ja verhältnismäßig leicht fallen, 
da man häufig voraussetzen kann, daß der Leser schon eine un¬ 
gefähre Anschauung hat. Unterläßt man es also, dann kommt 
aber schon keine volle Befriedigung mehr an der Definition zu¬ 
stande. Wenn ich z. B. definiere: eine Brücke überspannt einen 
freien Raum (was, soviel ich im Moment sehe, im übrigen eine 
richtige Definition sein dürfte), dann werde ich das Gefühl nicht 
los, daß sich nach dieser Definition kein Mensch ein Bild von 
einer Brücke machen kann, wenn er es nicht schon hat. Ans 


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Vorstellung und Einstellung. II. Über Begriffe. 213 

wenn mau die Sicherheit hätte, daß Anschaulichkeit und Allge¬ 
meinheit sich nicht vereinigen lassen. Diese Sicherheit aber hat 
man nicht, da man nie weiß, ob sich nicht doch noch eine an¬ 
schaulichere Definition finden läßt, ln unserem Fall wäre es 
schon erheblich anschaulicher, die Brücke als Fortsetzung eines 
Weges über einen freien Raum bin zu erklären, wodurch der 
Zweck der Brücken betont ist. Doch der Zweck einer Sache ist 
in der Regel nicht ihr Wesen: eine Brücke bleibt eine Brücke, 
auch wenn keine Wege zu ihr führen. Aber in dem freien Raum 
unter der Brücke scheinen wir wenigstens das allen Brücken Ge¬ 
meinsame gefunden zu haben. Doch dieses Gemeinsame ist wieder 
nicht das Wesen der Brücke, das doch offenbar darin besteht, daß 
sie etwas tragen kann, nicht darin, daß unter ihr ein Loch ist, 
das man sich ja mit Sand ausgefüllt denken kann, ohne daß da¬ 
durch die Brücke aufhört, eine Brücke zu sein. Das Gemeinsame 
des freien Raums unter den Brücken scheint aber wenigstens ein 
ausgezeichnetes Merkmal zu sein, das auf den ersten Blick in die 
Augen springt. Aber leider trifft es auch auf Tore, Treppen und 
Leitern zu, auf Tische und Stühle und wer weiß, worauf noch, 
und unsere beiden Definitionen waren natürlich wieder einmal 
nicht richtig. Das Überspannen eines freien Raums ist also bei¬ 
nah eine conditio sine qua non, aber sie ist kein Merkmal, kein 
Kriterium der Brücke, sondern bloß ihr auffallendstes Symptom, 
ein beinah notwendiges, aber lange kein hinreichendes Merkmal. 

Nun kann man sich leicht so helfen, daß man sagt: alles, was 
einen freien Raum überspannt, ist letzten Eudes eine Brücke, in¬ 
dem man sich nicht weiter um den gemeinen Sprachgebrauch 
kümmert, der sich doch nicht nach strenger Logik richte und vor 
allem dem Bedürfnis gehorche, häufig vorkommende Dinge mit 
besonderen Namen zu bezeichnen. In der Tat erleichtert man 
sich nicht selten das Definieren in dieser Weise. In unserem Fall 
wäre der Ausweg aber gewiß nicht legitim, denn kein Mensch 
verwechselt eine Leiter oder Uber die Straße gespannte Telephon¬ 
drähte mit einer Brücke, es erfordert im Gegenteil eine gewisse 


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214 • W. Betz, 

hinüber, z. B. von einem Bahnsteig zum andern. Das Hinüber¬ 
führen ist also auch wieder kein ausreichendes Kriterium. Aber 
über eine Treppe muß man »steigen«, während man über eine 
Brücke bequem und sicher »gehen« kann. Nun scheinen wir end¬ 
lich zu einer ausreichenden Definition zu kommen: Eine Brücke 
überspannt einen freien Raum, so daß man bequem und sicher 
hinübergehen kann. (Sonst wäre sie ein Steg oder eine »schlechte« 
Brücke.) Aber diese Definition ist »populär«, sie ist nicht »wissen¬ 
schaftlich«, d. h. sie nimmt Bezug auf Dinge, die mit der Brücke 
als solcher, mit ihrem »Wesen« gar nichts zu tun haben, nämlich 
auf die Gehbewegungen des Menschen. 

»Hinüber« und »Gehen« sind aber Einstellungen oder durch 
Einstellung erzeugte allgemeine Vorstellungen. Und die Definition 
erzeugt uns sofort die allgemeine Vorstellung Brücke. In dieser 
Beziehung ist die Definition also ausgezeichnet, sie ist anschau¬ 
lich und leicht verständlich, aber sie ist »unwissenschaftlich«. 
Die Brücke des gemeinen Sprachgebrauchs ist nun kein wissen¬ 
schaftlicher Begriff, und man kann bezweifeln, ob man eine 
wissenschaftliche Definition eines unwissenschaftlichen Begriffs 
überhaupt verlangen soll. Das Wesen der Brücke, ihre mecha¬ 
nischen Eigenschaften spielen für die große Mehrzahl der Men¬ 
schen überhaupt keine Rolle, da sie ihnen völlig unbekannt sind; 
sie brauchten also in der Definition nicht vorzukommen. Hiervon 
abgesehen ist der Ausdruck »bequem und sicher hinübergehen« 
unpräzis, und es haftet ihm, in einer Definition, entschieden etwas 
Anstößiges an. Aber man muß zugeben, daß der Ausdruck prak¬ 
tisch völlig ausreicht und daß er gar nicht mißzuverstehen ist. 
Der Ausdruck ist eine durch Einstellung erzeugte allgemeine, un¬ 
bestimmte Vorstellung, worin die Einstellung sehr deutlich ist und 
die überwiegende Rolle spielt: der psychische Inhalt ist mehr Sache 
des Gefühls, präzise und fixe, reine Vorstellungselemente fehlen 
darin. Das Merkmal enthält ein stark subjektives Moment auch 
noch dadurch, daß von der Position des Vorstellenden abhängt, 
wo das Drüben ist. 


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Vorstellung und Einstellung. II. Über Begriffe. 215 


nicht demonstrieren kann und man sich selber wohl leichter 
über sein Vorhandensein täuschen kann als bei einem objektiven 
Merkmal. 

Nun beruhen nach unserer Auffassung eine große Zahl der¬ 
jenigen psychischen Inhalte, die man gemeiniglich als Begriffe 
bezeichnet, auf Einstellungen, also auf subjektiven Momenten. Es 
erhebt sich also die prinzipielle Frage: Ist es möglich, bei der 
Definition von Einstellungsbegriflfen die subjektiven Momente, die 
Einstellungen, zu eliminieren und durch objektive Merkmale zu 
ersetzen ? 


So viel ist sicher, daß man es immer probiert, wenn man eine 
Definition zu geben sucht, mehr einem dunklen Drang als klaren 
prinzipiellen Erwägungen gehorchend. Eine wirklich in jeder Be¬ 
ziehung befriedigende Definition zu finden, gelingt aber nur sehr 
selten. Wenn man trotzdem die Versuche nicht anfgibt, wenn 
man, soviel ich weiß, bis jetzt nicht einmal die Frage nach der 
prinzipiellen Möglichkeit der Definition aufgeworfen hat, so ist 
aus einer so tiefgewurzelten Überzeugung Aller und des Einzelnen 
doch wohl von vornherein zu schließen, daß dieses Bedürfnis nicht 
etwas gänzlich und prinzipiell Unmögliches verlangt. 

Die Lösung der Schwierigkeit wird sich in folgender Weise 
ergeben: Wenn man einen Einstellungsbegriff definiert, verläßt 
man den ursprünglichen psychischen Inhalt, den man eigentlich 
definieren wollte, und setzt an seine Stelle etwas gänzlich Neues, 
eine »Zuordnung«. 

Betrachten wir einen extremen Fall, den Begriff' der Tempe¬ 
ratur. Man hat zunächst die spezifisch verschiedenen Empfindungen 
Warm und Kalt, die miteinander keine Ähnlichkeit haben. Man 
hat weiter die Einstellungen Frieren, Kalt haben, behagliche Wärme, 
Warm haben, Heiß haben. Indem ich die betreffenden Einstel¬ 
lungen vorstelle, komme ich sofort zu den Begriffen Kälte und 
Wärme. Und zu dem Einstellungsbegriff Temperatur, der Wärme 
und Kälte umfaßt, komme ich ohne weiteres dadurch, daß ich 


meine Einstellung auf Temperaturempfindungen der Haut vorstelle, 


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21ß 


W. Betz 


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Die Temperatur hat nun für jeden Menschen eine große 
Wichtigkeit, da Hitze und Kälte das Allgemeinbefinden höchst 
unangenehm stören können. In heißen und in kalten Zeiten hat 
man ein Interesse, zu erfahren, ob es heute noch heißer oder 
noch kälter ist als gestern; Bemerkungen Uber Warm und Kalt 
pflegen in der alltäglichen Unterhaltung nicht zu fehlen; und 
Meinungsverschiedenheiten sind so häufig und die Temperatur¬ 
empfindung so wenig sicher, daß auch der physikalisch gänzlich 
Uninteressierte ein Bedürfnis hat, die Temperatur objektiv fest¬ 
zustellen, d. h. mit Sicherheit entscheiden zu können, ob es eben 
oder hier wärmer oder kälter ist als früher oder dort. Man könnte 
zunächst daran denken, die Temperatur durch die physiologischen 
Symptome zu definieren, aber sie können nicht helfen, da sie zu 
grob sind, auch nicht immer eindeutig, und von Person zu Person 
variieren. Nun hat man aber gefunden, daß sich gewisse Körper 
mit zunehmender Wärme in gleichmäßiger Weise ausdehnen. Zu¬ 
nehmende Ausdehnung dieser Körper ist also ein vorzügliches 
Symptom zunehmender Wärme: Den Wärmegrad kann ich nun¬ 
mehr durch den Ausdehnungsgrad eines willkürlich festzusetzenden 
Körpers definieren. Hierdurch bin ich aber zu einem neuen 
TemperaturbegriiT gelangt, der von dem ursprünglichen toto genere 
verschieden ist und nicht etwa bloß eine Klärung und schärfere 
Fassung des ursprünglichen Begriffes gibt. Die Temperatur ist 
nunmehr für alle physikalisch Ungebildeten — und das ist die 
große Mehrzahl der Gebildeten — nichts weiter als eine Gradzahl 
am Thermometer. Das ist aber keine vorgestellte Einstellung 
mehr, sondern ein Urteil und ein »Wissen«, eine Zuordnung. Aus 
diesen Gradzahlen kann man entnehmen, ob es kalt oder warm 
ist, man kann sich auch eine ungefähre Vorstellung davon machen, 
wie kalt oder warm es ist, wenn man weiß, daß es bei 30° C 
sehr heiß ist und bei 40° C fast unerträglich usf. Aber bei dem 
gleichen Thermometergrad kann man einmal frieren und ein ander¬ 
mal schwitzen: der definitorische und der Einstellungsbegriff der 
Temperatur decken sich also gar nicht und kommen unter Um¬ 
ständen iu W T iderspruch. 


Go~gle 


'Original fron* * 
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Vorstellung und Einstellung. II. Über Begriffe. 


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Die Temperaturempfindung ist eine spezifische, d. h. sie kann 
nicht in andere Empfindungskomponenten zerlegt werden; sie kann 
also nur durch begleitende »Symptome« definiert werden. Das 
gleiche gilt für spezifische Einstellungen. Die Frage, ob aber 
irgendeine Einstellung spezifisch ist oder sich in andere Ein¬ 
stellungskomponenten zerlegen lasse, wird sich nur selten mit 
einiger Sicherheit entscheiden lassen, soweit es sich nicht um 
räumliche Einstellungen handelt (hinüber, hier, dort usf.). Es 
erscheint also von vornherein ziemlich aussichtslos, einen Eiu- 
stellungsbegriff durch Einstellungen definieren zu wollen: Ein¬ 
stellungen sind als Merkmale, als Kennzeichen in der Regel in¬ 
sofern nicht brauchbar, als man sie einem anderen nicht demon¬ 
strieren kann. Die Definition eines Einstellungsbegritfs muß 
also in demonstrablen Symptomen gesucht werden, was man 
beim Definieren ja immer instinktiv probiert. Ob sich aber ein 
durch alle Fälle durchgehendes, objektives Symptom finden lassen 
wird, läßt sich prinzipiell nicht entscheiden, das ist durchaus 
Sache der Empirie. Praktisch liegen die Dinge häufig so, daß 
sich eine Anzahl von Symptomen angebeu lassen, die nicht alle 
gleichzeitig vorhanden Bein müssen und von denen jedes einzelne 
gelegentlich fehlen kann. 

Es ist nun wieder eine andere Frage, ob es immer zweck¬ 
mäßig ist, alle Einstellungsmomente aus der Definition zu ent¬ 
fernen, vorausgesetzt, daß im gegebenen Fall brauchbare objektive 
Symptome zu Gebote stehen. In unserer letzten Definition der 
Brücke würde es sich ermöglichen lassen, das »Hinübergehen¬ 
können« durch exaktere und objektivere Ausdrücke zu ersetzen; 
die Definition würde dadurch aber sicher an Anschaulichkeit er¬ 
heblich verlieren und an Worten reichlich zunehmen. Wie weit 
man hiermit im einzelnen Falle gehen soll, ist im wesentlichen 
Geschmackssache. 

In der Definition möchte man nun auch das Wesen der de¬ 
finierten Sache angeben; Symptome sind aber in der Regel nicht 
das Wesen eines Sachverhalts. Auf dem Boden der Hypothese, 
daß die Wärme eine Bewegung der Moleküle sei, ist die Aus- 


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W. Betz, 


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Ausdehnungsgrad zunächst wieder zum bloßen Symptom degra¬ 
diert, das zunächst unverständlich bleibt. Die Kriterien eines 
Begriffes sind also nicht immer das allen Fällen Gemeinsame, 
und das Gemeinsame ist nicht immer das Wesen der Sache. 
Die Frage, ob in jedem Fall wirklich allgemeingültige Symptome 
existieren, die direkt das Wesen der Sache treffen, läßt sich 
a priori nicht entscheiden. Die Erfahrung scheint aber recht 
nachdrücklich dagegen zu sprechen. 

Wenn man nun irgendeinen Begriff zu definieren sucht, ver¬ 
fährt man in der Regel in der Weise, daß man sich einen kon¬ 
kreten Fall ins Gedächtnis ruft, von dem man irgendwie weiß, 
daß er unter den betreffenden Begriff' fällt. An diesem Fall sucht 
man die Definition zu finden, und dann prüft man das, was sich 
zunächst als Definition bietet, ob es auch auf andere konkrete 
Fälle paßt, die sicher noch unter den Begriff fallen, und ob es 
auch andere, sicher nicht zugehörige Fälle wirklich ausschließt 
Bei diesem Prozeß ist man nun durchaus davon abhängig, ob 
einem genügend viele, verschiedene Fälle einfallen oder nicht. 
Es passiert sehr häufig, daß, wenn man eine Definition glücklich 
gefunden zu haben glaubt, einem nachträglich noch Fälle ein¬ 
fallen, die von der Definition nicht getroffen werden, oder was 
verdrießlicher ist, Fälle, die von der Definition eingeschlossen 
werden, obwohl sie ganz und gar nicht zum Begriff gehören'). 
Es ist nachdrücklich hervorzuheben, daß man beim Nachdenken 
über die Definition in der Regel nur ganz wenige Fälle vor Augen 
hat, selten mehr als vier, da einem auch beim besten Willen wei¬ 
tere Fälle nur sehr langsam und »zufällig« einfallen: die Ähn¬ 
lichkeitsassoziationen funktionieren eben sehr schlecht 2 ). 

Beim Suchen nach einer Definition verhält man sich also fast 


1) Man versuche den Begriff Maschine in der Bedeutung zu definieren, 
die er in der Umgangssprache hat, so daß Näh- und Schreibmaschinen ein¬ 
geschlossen, Uhren, Klaviere und Apparate ausgeschlossen werden, und daß 

Schließlich noch der französische Snrn.cha'phraiieh mnshim <rlpieh > Hin iraria < 


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Vorstellung und Einstellung. II. Über Begriffe. 


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ganz so, wie man sich nach der traditionellen Abstraktionstheorie 
bei der Bildung von Begriffen verhalten soll. Ich sage »fast«, 
denn die Abstraktionstheorie denkt an viele Fälle, während tat¬ 
sächlich nur ganz wenige Fälle präsent sind. Aber wenn mau 
einen Begriff zu definieren sucht, dann hat man den Begriff schon; 
die Definition kann den Begriff also höchstens klären; aber da 
man beim Definieren immer etwas übersieht und nie sicher sein 
kann, daß man nichts übersehen hat, wird durch die Definition 
dem ursprünglichen Begriff immer mehr oder weniger Gewalt an¬ 
getan, was insofern nicht allzu schlimm ist, als man sich häufig 
nicht streng an die eigene Definition hält und ruhig mit dem ur¬ 
sprünglichen Begriff weiter denkt. 

Die vorstehenden Ausführungen führen nun zu einer nicht 
unwichtigen praktischen Konsequenz. Es kann keinem Zweifel 
unterliegen, daß viele Definitionen in wissenschaftlichen Schriften 
ihren Zweck nicht erfüllen. Es ist eine Folge der traditionellen 
Abstraktionstheorie, daß man meint, das Definieren müsse für einen 
gescheiten Menschen eigentlich ein leichtes Geschäft sein, da man 
die Definitionen analytisch aus dem Begriff herausbolen könne. 
Definitionen sind aber Urteile über die Gegenstände des Begrift's; 
ehe man zur Definition schreitet, muß man sich die Gegenstände 
also vorfuhren, was ein langes Besinnen und kompliziertes Ver¬ 
gleichen erfordert. Glaubt man so nun ein allgemeines Merkmal 
gefunden zu haben, dann muß man sich wieder nach Gegenständen 
umsehen, auf die das Merkmal zutrifft, die aber nicht zum Be¬ 
griff gehören. Dieser Prozeß ist mühsam, und die aufgewendete 
Mühe würde häufig nicht im Verhältnis zum Resultat stehen. Für 
viele Zwecke ist eine Definition aber entbehrlich; es genügt voll¬ 
kommen, wenn man dem Leser durch ein oder mehrere Beispiele 
eine deutliche Einstellung vermittelt oder die Einstellung zu be¬ 
schreiben sucht. Hierdurch wird der Begriff selber im Leser er¬ 
zeugt, die Zuordnung der Gegenstände ihm aber überlassen. Macht 
mau sich dies klar, dann verschwindet die scheinbare UnWissen¬ 
schaftlichkeit der Beisniele an Stelle von Definitionen. Natürlich. 


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W. Betz, 


Nun kann man aber umgekehrt dekretieren: Alle Erscheinungen, 
an denen das und das Merkmal zu finden ist, nenne ich so und 
so. Das von diesem Namen Bezeichnete wird aber auch im ge¬ 
wöhnlichsten Sprachgebrauch Begriff genannt. Und man meint, 
daß auf diese Weise die meisten wissenschaftlichen Begriffe ent¬ 
standen sind. Sind nun die solchermaßen entstandenen Begriffe 
die gleichen psychischen Gebilde wie die Begritfe, von denen wir 
in dieser Abhandlung ausgingen? 

Wenn man irgend etwas liest Uber Dinge, von denen mau 
nichts »versteht«, dann trifft man häufig auf Begriffsdefinitioneu. 
bei denen man sich zwar eine mehr oder weniger gute Vorstellung 
von den definierenden Merkmalen machen kann, wo man aber 
nicht die geringste Vorstellung von den Erscheinungen selber hat, 
die von dem Begriff umfaßt werden sollen. Alsdann versteht mau 
zwar die Definition, ohne daß man einen »Begriff« von der ge¬ 
meinten Sache bekäme. Mit einer solchen Definition kann man 
weiter denken, urteilen, Schlüsse ziehen. Der Mathematiker kauu 
mit der Gleichung, die eine Kurve definiert, arbeiten, ohne daß er 
nötig hätte, sich zuerst einmal eine Vorstellung der Kurve zu ver¬ 
schaffen, indem er sie auf dem Papier konstruiert. Die Definition 
gibt also, wenn man den Begriff noch nicht hat, unter Umständen 
eine Anweisung, nach der man sich eine Vorstellung von den in¬ 
begriffenen Erscheinungen machen kann oder nach der man wenig¬ 
stens künftig erkennen kann, ob eine Erscheinung unter den Be¬ 
griff gehört. Ohne weitere Denkarbeit führt die Definition aber 
nicht zum Begriff oder zur allgemeinen Vorstellung. Wenn ich 
eine Kurve aus ihrer Gleichung konstruiere, daun ist das Rechnen 
und das Abtragen von Strecken auf dem Papier offenbar keine 
Tätigkeit, die die Vorstellung erzeugt: die Vorstellung entsteht 


erst in dem Moment, wo ich durch die gewonnenen Punkte tat¬ 
sächlich oder in der Vorstellung eine Linie hindurchziehe. Durch 
diesen ganz mühelosen Akt gewinne ich ohne weiteres schon die 
allgemeine Vorstellung der betreffenden Kurve (in laxerem Sprach¬ 
gebrauch: ich »bekomme einen Begriff« von der Kurve). Der 
mehr oder weniger mühsame Konstruktionsprozeß hat gar keinen 


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Anteil au der Bildung der allgemeinen Vorstellung. Bei niebt- 


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Vorstellung und Einstellung. II. Über Begriffe. 


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über ein dahingehöriges Beispiel und ist der Definition kein sol¬ 
ches beigegeben, dann ist man vollkommen hilflos, und mau kann 
weiter nichts tun, als die Definition zu eventuellem künftigen Ge¬ 
brauch auswendig lernen. Aber den Begriff oder die allgemeine 
Vorstellung kann man sofort gewinnen, sobald nur ein einziges 
Beispiel gegeben wird. Dann allerdings hat man in der Definition 
eine erhebliche Bereicherung des Denkens gegenüber dem gleichen 
Beispiel ohne Definition, da erklärt wird, worauf es in dem Bei¬ 
spiel ankomme und was gegenüber anderen Beispielen variieren 
darf. Der Begriff oder die allgemeine Vorstellung werden am 
Beispiel erzeugt; die Definition bat nur den Charakter einer 
wertvollen Unterstützung, die die psychischen Gebilde klarer und 
bestimmter machen kann, ihre Natur aber nicht verändert. Die 
Definition als solche wirkt also gar nicht begriffsbildend; ob sie 
zu einem Begriffe oder einer allgemeinen Vorstellung führt, hängt 
durchaus von der Erfahrung des einzelnen Individuums ab. Au 
sich gibt sie zunächst lediglich eine Anweisung, nach der man 
eine künftige Erscheinung benennen und unterbringen kann. 

Die fertige Definition, die Angabe der Kennzeichen, verhilft 
einem anderen also nicht an sich schon zu dem Begriff'. Wann 
und wie komme aber ich selber zu einem Begriff, wenn ich selber 
aus einem Komplex von Erscheinungen die gemeinsamen Merk¬ 
male aufsnche und einen neuen Begriff durch sie definiere? Ein 
ganz einfaches Beispiel: Man stelle sich vor, vor mir auf dem 
Tisch liege ein Haufen Briefmarken aus den verschiedensten Län¬ 
dern; ich will den Haufen sortieren. Ich werde also alle Marken, 
auf denen die gleiche Figur oder dgl. zu sehen ist, auf kleinere 
Häufchen Zusammenlegen, ohne Rücksicht auf die Farben. So weit 
handelt es sich nur um Wiedererkennen ohne weitere Denkleistungen. 
Die Marken der kleinen Häufchen ordne ich nun weiter nach ihren 
Wertbezeichnungen und klebe jedes Häufchen auf ein besonderes 
Blatt Papier; dann lege ich die Blätter aufeinander und numeriere 
sie. — Ich habe also aus einem Komplex von Erscheinungen, dem 
großen Haufen Marken, gemeinsame Merkmale ausgesucht und die 
Erscheinungen mit gleichem Merkmal zusammencefnIU. ganz wie 


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W. Betz, 


Sammlung haben wir so erzeugt, aber kein Mensch wird be¬ 
haupten wollen, daß diese Sammlung da vor mir ein Oberbegriff 
mit einer Anzahl von Unterbegriffen sei. Nun kann es aber offen¬ 
bar keinen Unterschied machen, daß ich einen Prozeß, den man 
nach der Theorie sonst nur in Gedanken vollzieht, diesmal auch 
objektiv realisiert habe, daß ich die »Zusammenfassung« auch 
durch Gummi und Papier solide ausgefiihrt habe. Und wer die 
übliche Repräsentation der Begriffe durch Kreise für ein gutes 
Bild hält, oder wer es auch nur in gewissen Fällen gelten lassen 
will, der müßte mindestens das Erinnerungsbild eines einzelnen 
mit Marken beklebten Blattes als vollkommene psychische Reali¬ 
sation eines Begriffes ansehen, wobei er immerhin noch die mate¬ 
rielle Bindung durch eine zusammenfassende Intention ersetzen 
könnte, welche Intention sich aber auf die Erinnerungsbilder der 
Marken des Blattes beziehen müßte. Nehmen wir an, das Merk¬ 
mal der Marken dieses Blattes sei ein Doppeladler. Durch den 
Begriff »Doppeladlermarke« ist aber ein ganz anderer psychischer 
Inhalt gesetzt als die unter einer zusammenfassenden Intention 
durchlaufene Reihe der Erinnerungsbilder der einzelnen Exemplare 
dieser Markensorte. Der psychische Inhalt »Doppeladlermarke« 
ist eine einzige Minimalvorstellung (so ein Ding). Und er war 
schon in dem Moment gegeben, als ich die erste Marke dieser 
Art in die Hand nahm und für sich hinlegte, ehe ich überhaupt 
wissen konnte, ob noch mehr Marken dieser Art in dem Haufen 
vorhanden wären. Von »Zusammenfassung« ähnlicher Exemplare 
ist gar keine Rede, ich nehme nur an, daß es noch mehr solcher 
oder sehr ähnlicher Exemplare geben könnte. Diese Annahme ist 
nun aber kein notwendiges Moment der Begriffsbildung. Denn 
soviel ich sehe, gibt es keinen logischen Grund, der ausschlösse, 
daß ein Ding nicht mehrmals in der Welt Vorkommen könne; es 


sind lediglich Erfahrungssätze, daß jedes Ding wiederholt fast 
identisch Vorkommen kann und daß kein Ding absolut identisch 
zum zweitenmal in der Welt vorkommt. Wäre es nun möglich, 
daß in einer Welt, in der nichts zum zweitenmal vorkäme, oder 
in einer Welt, in der die denkenden Wesen nur über ein Gedächt- 


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gten, das sich Uber die unmittelbar vorausgehenden Se- 

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Vorstellung und Einstellung. II. Über Begriffe. 


223 


zeugt würden? Wir müssen die Frage bejahen. Schließlich spre¬ 
chen wir ja schon in unserer Welt von notorischen Unicis, als ob 
sie mehrmals Vorkommen könnten: man sagt »Männer wie Plato« 
genau so wie man sagt »Marken wie die da«. Ich brauche keine 
Erfahrung, um vor »diesem Ding da« »so ein Ding« meinen zu 
können. 

Psychologisch ist der Begriff also immer schon da, ehe 
man überhaupt anfängt, nach gemeinsamen Merkmalen zu suchen. 
Man wird aber nur dann dem Begriff' einen Namen geben, ihn 
fixieren, seine Merkmale angeben, ihn definieren, wenn »so ein 
Ding« öfter vorkommt und wenn es wichtig genug ist. 

Trotz alledem sagt man aber: durch die Definition wird ein 
Begriff geschaffen. Daß Begriffe in unserem Sinn durch die De¬ 
finition nicht geschaffen werden, haben wir umständlich nachge¬ 
wiesen; daß auch nicht die Summe der von der Definition ge¬ 
troffenen Gegenstände gemeint werden kann, geht aus dem Marken¬ 
beispiel hervor. Daß aber durch die Definition etwas geleistet, 
etwas geschaffen wird, auch dann, wenn man bloß die definie¬ 
renden Merkmale kennt, ohne daß man sich Begriff oder Vor¬ 
stellung der zu subsumierenden Gegenstände machen kann, bedarf 
keines Nachweises. Das von der Definition Geschaffene nun Be¬ 


griff zu nennen, ist irreführend, denn die Definition, deren Gegen¬ 
stände mir noch unbekannt sind, gibt nichts weiter als eine Zu¬ 
ordnung. Ich kann mir diese Zuordnung einprägen und künftig 
danach verfahren. Als psychischer Inhalt ist eine solche Zuord¬ 
nung keine Einheit, es ist ein ganzer Gedanke, der sich nur als 
Satz, nicht durch ein einziges Wort formulieren läßt. Wenn wir 
nun daran festhalten wollen, mit dem Wort Begriff eine psychische 
und logische Einheit zu bezeichnen, dann dürfen wir das von der 
Definition Geschaffene auch nicht Begriff nennen. Es scheint mir 


zweckmäßig, das Wort Begriff in dieser Bedeutung immer durch 
das Wort Zuordnung zu ersetzen (connotation bei Stuart Mill). 

Daß man sagt, durch Definitionen würden Begriffe gebildet, 
ist begreiflich genug. Denn in der Hegel bringt der Leser einer 
Definition die allgemeine Vorstellung oder den Einstellungsbegriff 
schon mit und hat sie vor Augen, während er die Zuordnung er- 


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hat. Und mau bat weiter häutig die Erfahrung gemacht, daß man 
aus einer Definition, die sich auf mehr oder minder unbekannte 
Erscheinungen bezieht, in der Tat einen neuen Begriff erzeugen 
konnte, aber man übersieht, daß mau sich zu diesem Zweck zu¬ 
erst einen konkreten Fall nach den Angaben der Definition kon¬ 
struieren mußte, aus dem mau ohne weitere Mühe sofort den Be¬ 
griff entnehmen konnte. Die Definition war an der Begriffsbildung 
also nur mittelbar beteiligt, sofern sie zufällig geeignete Angaben 
enthielt. 

Jeder Definition muß nun ein Vergleichen von Gegenständen 
auf ihre gemeinsamen Merkmale vorausgegangen sein. Aber nicht 
jede Zuordnung wird durch Aufsuchen gemeinsamer Merkmale und 
durch Definition geschahen. Eine Menge Zuordnungen hat mau 
rein äußerlich in der Schule gelernt, z. B. die lange Reihe der 
deutschen Kaiser; die geschlossene Zahl dieser Personen konsti¬ 
tuiert den Inbegriff der deutschen Kaiser, die Definition des Be¬ 
griffs »Deutscher Kaiser« wird damit aber nicht gegeben. Oder 
es werden Zuordnungen automatisch durch Ähnlichkeit gefunden, 
ohne daß man gemeinsame Merkmale angeben könnte und ohne 
eine Einstellung vorzustellen, wie wir das bei den Farben gefunden 
haben. Daß Barbarossa ein deutscher Kaiser ist, das weiß ich, 
daß aber eine vielleicht vorher noch nie gesehene Nuance Blau 
ist, das sehe ich unmittelbar ohne Vergleich der vorliegenden 
Farbe mit Erinnerungsbildern anderer Blaus. Bei den Farben 
kann ich (für meine Person wenigstens) die Einstellungen nicht 
vorstellen, habe also auch keine Farbbegriffe in unserem Sinn, 
was aber nicht hindert, daß die Farbenzuordnuugen völlig sicher 
sind und Verwechslungen nicht Vorkommen. 

Ich wiederhole: vorgestellte Einstellungen, die Begriffe, haben 
an sich gar kein kollektives Moment, sie werden an einem ein¬ 
zigen Fall gebildet. Die kollektive Zuordnung verschiedener Fälle 


unter einen Begriff geschieht erst nachträglich. Ist der neue Fall 
dem ursprünglichen Fall sehr ähnlich, dann ergibt sich die Zu¬ 
ordnung ohne Überlegung. Ist die Ähnlichkeit aber geringer, dann 
muß man schon überlegen. Der neue Fall wird aber nicht Zug 


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um Zug mit der 

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Vorstellung des früheren Falles verglichen. 

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(Aus dem psychologischen Institut der Universität Kiel.) 


Untersuchungen über die Differenz der Wahrnehmungs¬ 
geschwindigkeiten von Licht- und Schallreizen ! ), 

Von 

C. Minnemanu (Kiel). 

I. 

Theoretische Erörterungen über die Differenz von 
W ahrnehmungsge sch windigkeit en. 

Mit 2 Figuren (Figur 1 und 2) im Text. 

Inhaltsübersicht. seit« 

1) Einleitung.227 

2 Begriff der Wahrnehmungsgeschwindigkeit.229 

3; Positive und negative Zeitverschiebungen.240 

4 Allgemeine Bedeutung der Schwelle subjektiver Gleichzeitigkeit. . . 248 
o Bedeutung der Gleichzeitigkeitszonen für den Vergleich von Wahr- 
nehmungsgeschwindigkeiten.262 

1) Einleitung. 

Die Frage nach der Differenz der Wahrnehmungsgeschwindig¬ 
keiten desselben oder verschiedener Sinnesgebiete könnte als ein 
Thema so spezieller Natur erscheinen, daß es nur für eine ge¬ 
nauere Sinnespsychologie von einigem Interesse ist. Jedoch führt 
die Untersuchung sofort auf fundamentale Prinzipien der gesamten 
Psychologie, so daß die Erörterung unter diesem Gesichtswinkel 
an Bedeutung gewinnt. Denn die Diskussion erfordert zugleich, 
eine Klarlegung des psychologischen Vorganges der Sinneswahr- 
nehmung, da der Einfluß bestimmt werden soll, den objektive un<l 


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228 C. Minnemann, 

pnnkt des Einsetzens einer Sinneswahrnehmung ansüben. Zn 
diesem Zwecke ist auch eine Abgrenzung des rezeptiven Vor¬ 
ganges gegen die erste begriffliche Verarbeitung, die mit dem In¬ 
halte der Sinneswahrnehmung vor sich geht, erforderlich, und es 
ist im Anschluß an diese Stellungnahme die Theorie der Zeit¬ 
vorstellung zu erörtern, die in engem Konnex zur Frage nach 
der Wahrnehmungsgeschwindigkeit steht und zum großen Teile 
auf sie zurilckgeht. 

Bei der Wichtigkeit des Untersuchungsgegenstandes scheint es 
geboten, die Frage nach der verschiedenen Wahrnehmungsge¬ 
schwindigkeit, wenn man sie experimentell in Angriff nimmt, nicht 
nur nach der Methode der direkten Vergleichung einfacher Wahr¬ 
nehmungsprozesse zu erforschen, sondern auch die übrigen Wege 
einzuschlagen, die zur Kontrolle oder Berichtigung der direkten 
Beobachtungen dienen können. Jedenfalls werden die experimen¬ 
tellen Feststellungen bedeutend an Sicherheit gewinnen, wenn 
auch in denjenigen Gebieteu, wo eine verschiedene Wahrnehmungs¬ 
geschwindigkeit neben anderen Faktoren in Betracht kommt, eine 
Übereinstimmung mit den Resultaten der direkten Untersuchung 
erzielt wird. Solche Gebiete sind namentlich die Einordnung einer 
Empfindling in eine längere Empfindungsreihe, die sogenannte 
Komplikation von Empfindungen, und die in eine Bewegung 
auslaufende Wahrnehmung, der Reaktionsprozeß. Dieselben 
Differenzen, die sich aus der direkten Methode ergeben, müssen 
sich in den komplizierteren Prozessen bei richtiger Analyse wieder¬ 
finden lassen, wenn nicht schon die direkte Methode unrichtige 
Ergebnisse liefert. 

Zu einer neuen Untersuchung dieser Fragen fordert in erster 
Linie die geringe Vergleichbarkeit des bis jetzt vorhandenen 
Zahlenmaterials Uber diesen Gegenstand auf, da es bei den ver¬ 
schiedenen Autoren aus Versuchsanordnungen stammt, die sich 
nicht gut vergleichen lassen. Dazu kommt vielfach eine Unstimmig¬ 
keit zwischen den gefundenen Hauptergebnissen nach den einzel- 

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I. Theor. Erürter.iib. die Differenz von Wahrnehmungsgeschwindigkeiten. 229 

wäre. Die einzelnen Reihen müssen aber ihre Ergänzung und 
Bestätigung durch ähnliche Versuche anderer Reihen finden. 
Neuerdings gewinnt übrigens dieser Grundsatz größere Anerken¬ 
nung, daß wenige, sorgfältig ausgeführte Beobachtungen mehr 
Wert haben und schneller zur Auffindung von psychologischen 
Gesetzmäßigkeiten führen als eine große Zahl von Beobachtungen 
über ein und denselben Gegenstand, wenn sich die Bedingungen 
der Beobachtung doch nicht recht konstant erhalten lassen. 

Die Herstellung exakter Versuchseinrichtungen bereitet natur¬ 
gemäß einige Schwierigkeiten. Denn gewöhnlich muß an vor¬ 
handene Mittel angeknüpft werden, und an diese müssen manche 
andere Apparate und Apparatteile angepaßt bzw. eigens kon¬ 
struiert werden. Für die Beurteilung der Ergebnisse ist aber eine 
genaue Beschreibung der Versuchsanordnungen unerläßlich. Eine 
solche wird deshalb bei Mitteilung eigener Untersuchungen Uber 
diese Fragen detailliert gegeben werden. Hierbei findet sich auch 
Gelegenheit, auf einige allgemeiner verwendbare Hilfsapparate 
hinzuweisen. Bevor aber die eigenen Experimente geschildert 
werden, dürfte es zweckmäßig sein, in einer besonderen Abhand¬ 
lung einige Fragen vorwiegend theoretischer Natur zu erörtern. 
Denn in erster Linie bedarf es für die Darstellung eines solchen 
Gebietes eindeutiger Definitionen und klarer Fragestellungen, da¬ 
mit Mißverständnisse über den Gegenstand der Untersuchungen 
ausgeschlossen sind. Ferner sind auch die Punkte zu diskutieren, 
worauf sich die Messung und Berechnung der Wahrnehmungs¬ 
geschwindigkeit gründet. 


2) Begriff’ der Wahruehniungsgeschwindigkeit. 


Unter der Wahrnehmungsgeschwindigkeit soll diejenige Zeit¬ 
strecke verstanden werden, die verstreicht, bis uns ein Sinnesreiz 
znm Bewußtsein kommt, nachdem er unser Sinnesorgan erreicht 
hat: in diese Zeit ist also einbegriffen die Trägheit des betreffen¬ 
den peripheren Sinnesorganes bis zum Ansprechen auf den Reiz, 
die Leitung des Nerven und die zentrale Erregung, sowie der 
Eintritt ins Bewußtsein. Ob für diese Größe der Ausdruck »Wahr- 

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230 


C. Minneuiann, 


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kömmliche Bedeutung des Ausdruckes Wahrnehmung und einiger 
angrenzenden Termini zu vergegenwärtigen. Gewöhnlich werden 
zwei Arten der Auffassung durch die Sinne unterschieden: ein 
unmittelbarer Bewußtseinsvorgang infolge der Reizeinwirkung 
und ein erkennendes Erfassen des Eindruckes, die Beziehung 
des Bewußtseiusvorganges auf einen Gegenstand. Als Wahr¬ 
nehmung galt ursprünglich nur die zweite Art psychischer Auf¬ 
nahme, die schon einen primären Denkakt enthält. Dagegen hieß 
der unmittelbare psychische Aufnahmeprozeß Empfindung. In der 
neueren Psychologie ist aber eine andere Bezeichnungsweise herr¬ 
schend geworden. Nach dem Vorgänge von Wundt gilt die 
Empfindung nicht mehr als ein selbständig vorkommender Prozeß, 
sondern bezeichnet einen analytischen Bestandteil der einfachsten 
Sinnesaufnahme, ein Vorstellungselement, zu dem wir nur durch 
Abstraktion gelangen können. Was früher Empfindung hieß, wird 
jetzt Wahrnehmung im engeren Sinne oder »Perzeption« genannt, 
und das erkennende Auffassen wird größtenteils einem anderen 
psychischen Prozesse, der »Apperzeption« zugeschrieben. 

Bei dieser neueren Bezeichuungsweise bandelt es sich jedoch 
nicht bloß um eine einfache Änderung der Namen. Schon des¬ 
wegen darf als spezifischer Unterschied beider Prozesse nicht ein¬ 
fach das Vorhandensein oder Fehlen der Beziehung auf einen 
Gegenstand gelten. Meistens stellt allerdings die Apperzeption 
diese Beziehung auf einen Gegenstand her und bewirkt somit die 
Bildung einer Vorstellung im eigentlichen Sinne. Aber es läßt 
sich doch andererseits nicht leugnen, daß auch die Perzeption bis 
zu einem gewissen Grade bereits eine gegenständliche Auffassung 
liefern kann. Dennoch bleibt es für eine Auffassung wie die 
von Wundt charakteristisch, daß die Perzeption auch ohne das 
Moment gegenständlichen Bewußtseins auftreten kann, indem 
sie sich dann als eine reine Gefühlsäußerung darstellt. In diesem 
Falle bezeichnet die Perzeption einen unmittelbaren psychischen 
Prozeß ohne Gegenstandsbeziehung, also ein einfaches Bewußtsein 
individuellen Verhaltens gegenüber dem Reize. 



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I. Theor. Erürter. üb. die Differenz von Wahrnehuiungsgeschwindigkeiten. 231 


identifiziert. Mehr oder weniger war ein intellektuelles, eine ge¬ 
wisse Vergegenständlichung bewirkendes Moment in dem Begriffe 
einge8Chlossen; aber man war sich dieser Tatsache nicht klar be¬ 
wußt. Indem die einfache Empfindung meistens ausdrücklich von 
dem Gefühle unterschieden wurde, trat sie auf die Seite der in¬ 
tellektuellen Prozesse; und doch sollte sie nicht eigentlich als ein 
intellektueller Vorgang angesehen werden. 

Erst einige moderne Erkenntnistheoretiker suchen dieser 
Schwierigkeit zu begegnen, indem sie die Unterscheidung von 
Empfindungen und sinnlichen Gefühlen fallen lassen. Dann wird 
als Kriterium einer Wahrnehmung im Unterschiede von der ein¬ 
fachen Empfindling die Vergegenständlichung statuiert, die durch 
den Akt auffassender Deutung zustande kommt. Trotzdem wird 
noch ein Unterschied gemacht einerseits zwischen dem unmittel¬ 
baren Bewußtsein einfacher Empfindungen und sinnlicher Gefühle 
und andererseits zwischen dem eigentlichen Gefühl oder Zustands¬ 
bewußtsein; letzteres entsteht nach dieser Meinung erst auf Grund 
fundierender Akte des Gegenstandsbewußtseins. Demnach stellt 
das Gefühl ein sekundäres Bewußtseinserlebnis dar; die Empfin¬ 
dungen hingegen sind einfachste Bewußtseinserscheinungen, die 
noch keine Deutung durch ein verarbeitendes Subjekt erfahren 
haben. Ob für ein entwickeltes Individuum solche primitive Be¬ 
wußtseinserlebnisse noch möglich sind oder ob es sich nicht viel¬ 
mehr nur um eine geringere Komplikation durch Assoziationen, 
auf jeden Fall aber doch um ein gegenständliches Erfassen han¬ 
delt, mag unerörtert bleiben. Denn zeitliche Differenzen zwischen 
beiden Prozessen, die für die Frage nach der Wahrnebmungs- 
geschwindigkeit von Belang wären, werden nur für seltene Aus¬ 
nahmefälle angenommen. 

Anders scheint es in dieser Beziehung mit den erwähnten Vor¬ 
gängen der Perzeption und Apperzeption zu liegen. Deshalb muß 
deren Verhältnis noch genauer erörtert werden. 

Wenn bereits die Perzeption ein gegenständliches Erfassen ein—. 
schließen kann, so erscheinen die Begriffe nach dieser Richtun^^ 


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232 


C. Minnemann, 


Größeres Gewicht wird gewöhnlich bei der Unterscheidung 
beider Prozesse auf eine andere Wirkung des Apperzeptionsvor¬ 
ganges gelegt. Die Apperzeption soll nicht nur den Übergang 
ins intellektuelle Bewußtsein oder eine weitere Intellektualisierung 
der Vorstellung bedeuten, sondern überhaupt die Bewußtheit 
des psychischen Erlebnisses steigern. Hierin liegt, daß 
zugleich und wohl in erster Linie durch die Apperzeption das 
unmittelbare, sinnliche Bewußtsein gesteigert wird und nicht nur 
eine Veränderung hinsichtlich des rein intellektuellen Momentes, 
des begrifflichen Bewußtseins entsteht. Gerade aus der Steigerung 
des unmittelbaren Bewußtseins soll die fortschreitende Intellektua¬ 
lisierung des psychischen Vorgangs wie von selber hervorgehen. 
Indem einzelne Teile eines Bewußtseinserlebnisses stärker hervor¬ 
gehoben werden als andere, soll sich eine abstrahierende Begriffs¬ 
bildung vollziehen. Somit liegt der Unterschied zwischen unmittel¬ 
bar sinnlichem und apperzeptivem Bewußtsein hauptsächlich in 
einem verschiedenen Grade anschaulicher Bewußtheit; und man 
könnte die apperzipierten Vorstellungen oder Vorstellungselemente 
sinnlicher und folglich anschaulicher nennen als die bloß per- 
zipierten. Eigentlich sollte man das Umgekehrte erwarten, wenn 
es sich um die Bildung von Begriffen handelt. Jedenfalls ist klar, 
daß auch in dieser Beziehung kein einschneidender, sondern nur 
ein gradueller Unterschied zwischen beiden Prozessen zu konsta¬ 
tieren 18t. 

Trotz dieser weitgehenden Ähnlichkeit von Perzeption und 
Apperzeption wird bei der Siuneswahrnehmnng eine Zweiheit 
der Bewußtseinsprozesse angenommen, einerseits die unmittel¬ 
bare, großenteils gefühlsmäßige Aufnahme, die einfache Perzeption, 
andererseits die psychische Verarbeitung des unmittelbar Anf- 
genommenen zu klarer bewußten Vorstellungen, die Apperzeption. 
Die Zweiheit dieser Prozesse soll sich namentlich durch ihr zeit¬ 
liches Verhalten zueinander bemerkbar machen. 


Unter Umständen sollen allerdings die beiden Prozesse zeitlich 


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zusammenfallen können, indem die subjektive Tätigkeit ausson¬ 
dernder Aufnahme sofort mit der Perzeption einsetzt. Auch bei 
der sogenannten passiven Apperzeption, wo unsere Aufmerksam- 


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I. Theor. Erörter. üb. die Differenz von WahruehmungsgeBchwindigkeiten. 233 


stehen der Prozesse vorzuliegen. Aber oft wird tatsächlich ein 
zeitliches Auseinanderfallen beider Prozesse angenommen. Sollen 
doch sogar die Abweichungen in der Auffassung zeitlicher Ver¬ 
hältnisse gegenüber der objektiven Zeitordnung von Reizen großen¬ 
teils eben auf diese apperzeptive Verschiebung zurück- 
geführt werden können. Für das unmittelbare Bewußtsein der 
Perzeption wird dagegen im gleichen Falle eine Ordnung voraus¬ 
gesetzt, die mehr der objektiven Reizfolge entspricht. 

Bei dieser verbreiteten Ansicht darf eine Untersuchung über 
die Wahrnehmungsgeschwindigkeit keinen Zweifel darüber lassen, 
worauf sich die Feststellungen beziehen, auf die einfache Sinnes¬ 
wahrnehmung oder auf die apperzeptive Aufnahme der Sinnes¬ 
vorstellungen. Der Verf. steht allerdings auf dem Standpunkt, 
daß eine Sonderung dieser beiden Arten psychischer Aufnahme 
in getrennte Bewußtseinsprozesse nicht dem Sachverhalte ent¬ 
spricht, wie er sich der Selbstbeobachtung darbietet. Richtiger 
scheint es zu sein, die durch die Sinne vermittelten Bewußtseins¬ 
vorgänge als psychisch einfache, gleichartige Erlebnisse 
aufzufassen, deren Charakter nur nach dem Anteile objektiver 
und subjektiver Faktoren an dem Zustandekommen der Wahr¬ 
nehmung ein verschiedener ist. 

Durch diese Auffassung braucht nicht der Unterschied zwischen 
unmittelbarem und begrifflichem Bewußtsein verwischt oder ge¬ 
leugnet zu werden. Aber es soll betont werden, daß es unmög¬ 
lich ist, schon die direkte sinnliche Auffassung in zwei psy¬ 
chische Prozesse zu zerlegen. Bei einem solchen Versuche bliebe, 
je weiter er durchgeführt wird, für den ersten der beiden Pro¬ 
zesse immer weniger Psychisches übrig, so daß die sogenannte 
»Perzeption« augenscheinlich zu einem bloßen physiologischen 
Vorgang wird, für den aber noch ein Minimum von Bewußtheit 
postuliert wird. 

Der Vorgang der Sinneswahrnehmung erscheint psychisch als 
ein durchaus einheitlicher, mag er physiologisch auf noch so viele 
Faktoren zarückgehen, und die psychologische Theorie darf hier¬ 
für nicht mehr Bewußtseinsprozesse annehmen, als sich wirklich 


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234 


C. Minnemann. 


mitwirkt, ohne daß wir dann seine Existenz zu bemerken brauchten. 
Nur so lange gilt ein psychischer Vorgang als vorhanden, 
wie er bemerkt wird; in anderen Fällen haben wir es nur mit 
seinen physiologischen Grundlagen, aus denen er entspringen kann, 
zu tun. Auch diese sind für die Psychologie außerordentlich wichtig 
und müssen zum Verständnis psychischer Erscheinungen heran* 
gezogen werden. Aber sie selbst gehören nicht mehr in das Ge¬ 
biet des Bewußten. 

Was die Abgrenzung des Wahrnehmungsprozesses gegen die 
Abstraktionstätigkeit anbelangt, so sei darauf hingewiesen, daß 
die Haupteigenschaft der Apperzeption, das aktive Herausheben 
einer Wahrnehmungsvorstellung oder einzelner Teile derselben, 
wesentlich verschieden ist von der Abstraktion im Sinne einer 
Begriffsbildung. Allerdings wird von manchen gegenwärtig diese 
Unterscheidung nicht mehr gemacht, sondern behauptet, daß die 
durch Bewußtseinssteigerung einzelner Teile eintretende Differen¬ 
zierung bereits einen Abstraktionsprozeß ausmache. Indem einiges 
aus einem Vorstellungskomplexe stärker herausgehoben wird, bleibt 
anderes weniger beachtet und entschwindet infolgedessen rascher 
aus dem Bewußtsein, so daß die betonten Hinsichten allmählich 
isoliert werden. Sicherlich kann auf diese Weise die Abstraktion 


durch die Apperzeption eingeleitet werden; aber im Grunde sind 
doch wohl beide Vorgänge verschieden. Der unmittelbare Effekt 
der apperzeptiven Tätigkeit ist ja größere sinnliche Lebhaftigkeit, 
während die Abstraktion gerade auf eine Verflüchtigung des kon¬ 
kreten Bewußtseinserlebnisses abzielt. Der Abstraktionsprozeß will 
für psychische Erlebnisse Namen und Zeichen einführen, die uns 
in den Stand setzen, über das direkte Erleben hinauszugehen, so 
daß wir mit psychischen Daten operieren können, ohne sie jedes¬ 
mal von neuem zu erleben. Durch bloße Steigerung der Leb¬ 


haftigkeit eines Eindruckes läßt sich dieser Zweck nicht er¬ 
reichen; die Abstraktion kann sogar dadurch beeinträchtigt oder 
gehemmt werden. Ein sinnlich empfundenes Rot ist etwas anderes 
als der abstrakte Begriff des Roten. Demnach erscheint der 
Prozeß der Apperzeption viel enger mit der schlichten Perzeption 


verwandt als mit der abstrahierenden Begriffsbildung. Denn zwi- 


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L Theor. Erörter. üb. die Differenz von Wahrnehmungsgeschwindigkeiten. 235 


eine Art Automatischwerden der herausgefundenen Beziehungen, 
woraus der Charakter des Unanschaulicheu resultiert. 

Überlegt man nach dieser Erörterung der in Frage kommenden 
Begriffe, ob es zweckmäßig ist, eine Untersuchung Uber die Wahr¬ 
nehmungsgeschwindigkeit an den Begriff der Apperzeption anzu¬ 
lehnen, so sprechen verschiedene Gründe dagegen, selbst wenn 
man nicht dem Verf. in der Ansicht folgt, daß Apperzeption und 
Perzeption bei der Sinneswahrnehmung zu einem psychischen Pro¬ 
zesse untrennbar verbunden sind. 

Zunächst dürfte feststehen, daß die Apperzeption sich nur auf 
die subjektfve Seite desjenigen Vorganges bezieht, dessen Ge¬ 
schwindigkeit untersucht werden soll, auf die aktive Auffassung, 
während die definierte Zeitstrecke eine ganze Kette von Vor¬ 
gängen physiologischer Art enthält, die allmählich in einen psy¬ 
chischen Prozeß auslaufen. Die Dauer vom Beginne der physio¬ 
logischen Reizung bis zum ersten Eintreten einer psychischen 
Wirkung sollte untersucht werden. Der eigentliche Auffassungs¬ 
vorgang ließe sich gar nicht zum Zwecke der Beobachtung iso¬ 
lieren. Nur in der Verknüpfung mit den peripheren und zentralen 
physiologischen Erregungsvorgängen ist die Zeitdauer der Auf¬ 
fassung bei Sinnesreizen bestimmbar. Der Ausdruck Wahrnehmung 
begreift dagegen auch diese einleitenden Prozesse, die zu ihrer 
Entstehung führen, nach dem Sprachgebrauche schon in sich. 

Wenn man ferner als Apperzeption bereits das erste Eintreten 
eines Eindruckes in das intellektuelle Bewußtsein bezeichnen 
wollte, so würden Beginn der Wahrnehmung und Apperzeption 
zusammenfallen, und es entstünde durch die Bezeichnung als 
Wahrnehmungsgeschwindigkeit kein sachlicher Unterschied gegen 
die Zeitdauer bis zur Apperzeption. Beide Zeitpunkte wären 
identisch, weil man als Sinneswahrnehmung nur eine ins intellek¬ 
tuelle Bewußtsein dringende Sinnesempfindling zu bezeichnen pflegt. 
Solange ein Reiz nur gefühlsmäßig bewußt wird, kann von einer 
Wahrnehmung des Reizes nicht gesprochen werden, höchstens 
von dem Bewußtwerden eines Gefühles anläßlich des Reizes. OB 
man einen solchen Vorgang als »Perzeption« zu bezeichnen hat, 


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236 


C. Minueiuanu, 


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Uber das erste Bewußtwerden des Eindruckes hinaus, ja entwickelt 
sieh eigentlich erst von da an. Apperzeption ist ja zugleich die¬ 
jenige subjektive Tätigkeit, die bewirkt, daß ein Eindruck klarer 
bewußt wird und relativ ins Zentrum der Beachtung rückt. Diese 
Auffassung führt weiterhin leicht zu der Annahme, daß die Mo¬ 
mente der einfachen Wahrnehmung und der Apperzeption unter 
Umständen überhaupt zeitlich getrennt Vorkommen. Da beide Pro¬ 
zesse als Bewußtseinserscheinungen angesehen werden, müßte dann 
ihre zeitliche Differenz auch bemerkbar sein, und die Beobachtung 
würde in diesem Falle wesentlich schwieriger sein, wenn man den 
Perzeptionsmoment geflissentlich außer acht lassen wollte, um den 
Moment der Apperzeption festzustellen. Ein solcher Fall würde 
beispielsweise durch einseitig gerichtete Aufmerksamkeit bei Dar¬ 
bietung zweier Reize eintreteu müssen, indem der eine der Reize 
zunächst nur perzeptiv bewußt werden würde. Wollte man nun 
die Momente der Apperzeption beider Reize miteinander ver¬ 
gleichen, so hätte man abzuwarteu, bis auch der relativ un¬ 
beachtete die Sphäre der Perzeption durchlaufen hat und klar 
bewußt wird. 

Wenn dagegen die Apperzeption nur graduelle Unterschiede 
der Bewußtheit des Wahrgenommenen hervorruft, wird der Über¬ 
gang von der Perzeption zur Apperzeption fließend sein, und es 
ist schwierig, einen bestimmten Zeitpunkt anzugeben, wann die 
Apperzeption der Empfindung zuerst einsetzt. Man könnte daran 
denken, den Gipfel der apperzeptiven Aufnahme, die Zeitpunkte 
größter Klarheit der einzelnen Empfindungen als Vergleichspunkte 
für die Messung ihrer Auffassungsgeschwindigkeit zu wählen. 
Jedoch ist dieser Zeitpunkt so unbestimmt und so variabel, da er 
von subjektiven Bedingungen der Aufmerksamkeit in hohem Grade 
abhängt, daß er sich kaum zur Untersuchung von Auffassungs¬ 
geschwindigkeiten eignet, an denen die Wirksamkeit auch objek¬ 
tiver Faktoren festgestellt werden soll. 

Deshalb ist in der obigen Definition der Zeitpunkt des 
ersten Bewußtwerdens als eindeutiger Vergleichspunkt für die 
Wahrnehmungsgeschwiudigkeit zugrunde gelegt worden. Eine An- 


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I. Theor. Erürter. üb. die Differenz von WahrnehinungsgeBchvriudigkeiten. 237 


Sinnesauffassung und der sich etwa daran anschließenden psychi¬ 
schen Prozesse muß die Frage nach dem Einfluß verschiedener 
objektiver und subjektiver Faktoren auf die definierte Zeitstrecke 
untersucht werden. Daher ist die Bezeichnung dieser Größe 
als Wahrnehmungsgeschwindigkeit zunächst indifferent 
und darf mit dem Ausdrucke der Auffassungsgeschwindig¬ 
keit gleichgesetzt werden. 

In bezug auf die Gewinnung der Zahlenergebnisse muß es 
gleichgültig sein, wie die Einwirkungen objektiver oder subjek¬ 
tiver Faktoren theoretisch zu interpretieren sind. Namentlich 
können die Einzelheiten der darauf bezüglichen Theorien außer 
Betracht bleiben. Die Variieruug objektiver Reizverhältnisse, z. B. 
eine Intensitätsänderung, mag direkt die Wahrnehmungsgeschwiu- 
digkeit beeinflussen oder erst durch Vermittelung spezifisch sub¬ 
jektiver Faktoren zur Geltung kommen. Man könnte die Per¬ 
zeptionsgeschwindigkeit für relativ konstant halten oder eine 
abweichende Änderung derselben annehmen, als wie sie die un¬ 
mittelbare Vergleichung angibt. So könnte die Änderung der 
Zeitdauer bis zum Eintritt ins Bewußtsein etwa dadurch hervor¬ 
gerufen sein, daß differente objektive Faktoren einen verschie¬ 
denen >Reiz auf die Apperzeption« ausüben und auf diese Weise 
die Auffassungszeit beschleunigen oder verkürzen. Solche Fragen 
haben für die experimentelle Untersuchung eigentlich kein Inter¬ 
esse, weil sich ihr die Beantwortung entzieht. Vollends die quanti¬ 
tative Bestimmung solch mittelbarer Einflüsse auf die Apperzep¬ 
tionszeit bei objektiven Faktoren erscheint unmöglich. Denn dann 
müßte man die beobachteten Differenzen der Wahrnehmungsge¬ 
schwindigkeiten zerlegen in einen aktiv-apperzeptiven Einfluß, der 
aus der spontanen Aufmerksamkeit resultiert, und außerdem in 
einen passiven Apperzeptionseinfluß, der mittelbar durch die ob¬ 
jektiven Bedingungen hervorgerufen wäre, sowie endlich in eine 
direkte Änderung der Perzeptionsgeschwindigkeit. Von diesen 
Faktoren ließe sich der Einfluß aktiv-apperzeptiver Momente even¬ 
tuell noch durch Analoerie feststellen. Für die weitere Sonderuner 


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238 


C. Minnemann, 


bei der Sinneswahrnehmung gleichartiger Heize eine Bedeutung 
zuerkennen wollte, dagegen bei der Zeitvergleichung disparater 
Empfindungen diesen Faktor fllr belanglos hält. Nur soviel läßt 
sich sagen, daß der Einfluß subjektiver Faktoren in solchem Falle 
die gewöhnlichen, peripher-physiologisch bedingten Differenzen der 
Wahrnebmuug8geschwindigkeit stark Ubertreffen kann; aber diese 
verlieren hierdurch nicht ihre Wirksamkeit. Sie machen ihr Ge¬ 
wicht auch dann noch geltend. Denn es ist wahrscheinlich, daß 
zu einer bestimmten Auffassungsverschiebung durch subjektive 
Faktoren stets ein entsprechender Grad von Aktivität erforderlich 
ist, und es wäre eine nicht sehr naheliegende Hypothese, daß 
innerhalb einer gewissen simultanen Zeitstrecke die Empfindungen 
gleichmäßig in der Perzeptionssphäre bereitliegen. Die Auf¬ 
nahme ins klare Bewußtsein kann nicht jederzeit beliebig durch 
die gleiche subjektive Energie erfolgen, sondern es entspricht 
den Zeitgrößen der wechselseitigen Verschiebungen zweier Emp¬ 
findungen sicherlich ein Äquivalent auf seiten der subjektiven 
Faktoren. Eine Empfindung, die schon normalerweise durch 
physiologische Verhältnisse begünstigt ist, gelangt auch zuerst in 
diese Sphäre subjektiver Verschiebbarkeit, und daher treten bei 
Umkehrung der Aufmerksamkeitsrichtung die gewöhnlichen physio¬ 
logischen Differenzen der Wahrnehmungsgeschwindigkeit sofort 
zutage. Die herrschende Darstellung der Apperzeptionstheorie 
läßt sich auch schon mit den allgemeinsten Ergebnissen einer der¬ 
artigen Untersuchung wohl nicht leicht vereinigen. Denn es zeigt 
sich, daß bereits der Zeitpunkt des ersten Eintretens einer Emp¬ 
findung ins intellektuelle Bewußtsein von der Aufmerksamkeit ab¬ 
hängig sein kann. Wenn man also annehmen wollte, daß eine 
Empfindung zunächst nur perzeptiv bewußt wird, so würde man, 
da dieser Zeitpunkt für die Beobachtung zu wählen ist, zu der 
Auffassung gedrängt werden, daß auch die Perzeptionsgeschwindig¬ 
keit variabel ist, und zwar, wenigstens zum Teil, eine Funktion 
der Aufmerksamkeit, d. h. der Apperzeption darstellt. Eine solche 


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I. Theor. Erürter. üb. die Differenz von Wahrnehmungegeschwindigkeiteu. 239 


die Aufnahme des Eindruckes begünstigenden oder hemmenden 
subjektiven Faktor, der zu deu objektiven Bedingungen der Wahr¬ 
nehmung hinzutreten kann, so daß aus beiden gemeinsam die 
Sinneswahrnehmung resultiert. Der subjektive Faktor modi¬ 
fiziert danach den durch objektive Faktoren hervorgerufenen Ein¬ 
druck schon während seiner Entstehung. Es ist keine neue Sphäre, 
in die der Eindruck gelangt, wenn subjektive Faktoren wirksam 
werden; und die klarer apperzipierten Bestandteile unterscheiden 
sich nicht ihrer Art nach von den weniger klar bewußten. 
Perzeption und Apperzeption sind keine wesentlich verschiedenen 
psychischen Prozesse; die Unterscheidung bezieht sich nur auf 
den größeren oder geringeren Anteil subjektiver Momente an dem 
Wahrnehmungsprozeß, und wahrscheinlich ist die Wirksamkeit 
apperzeptiver Betätigung auf demselben Gebiete psychophysischer 
Erregung zu suchen, wie der Einfluß objektiver Elemente. Der 
sogenannte Klarheitsgrad einer Vorstellung scheint keine spezi¬ 
fische Wirkung der apperzeptiven Tätigkeit zu sein, und anderer¬ 
seits ist die Empfindung offenbar nicht nur von objektiven Mo¬ 
menten abhängig. Anscheinend können objektive und subjektive 
Faktoren bei der Sinneswahrnehmung sogar bis zu einem gewissen 
Grade einander ausgleichen, so daß in bezug auf den beiderseitigen 
Effekt gewisse Aquivalenzgleichungen aufgestellt werden könnten. 
Der Vorgang der Sinneswahrnehmung verläuft in der Art, daß 
schon der eigentliche Perzeptionsprozeß durch subjektive Betäti¬ 
gung beeinflußt wird und eventuell gar nicht zustande kommt, 
wenn subjektive Momente ihm entgegenstehen. 

Auf diese Weise gestaltet sich die Auffassung über den psycho¬ 
logischen Prozeß der Sinneswahrnehmung sehr einfach. Die An¬ 
nahme eines hypothetischen Bewußtseinszustandes, der überhaupt 
nicht beobachtet wird, ist für die Psychologie entbehrlich. Soweit 
der Prozeß, wenn auch etwa bloß »gefühlsmäßig«, bewußt wird, 
zählt er zur selben Art psychischer Erscheinungen wie die apper- 
zeptive Auffassung. Soweit er unbewußt verläuft, braucht er nur 
als rein physiologisch begründete psychische Disposition angesehe-.n 


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240 


C. Minnemann, 


3) Positive und negative Zeitverschiebungen. 


Nachdem der Begriff der Wahrnebmungsgeschwindigkeit klar¬ 
gelegt worden ist, scheint es wichtig, die Konsequenzen, die aus 
dieser Definition folgen, hervorzuheben und besonders den Begriff 
einer »Differenz zweier Wahrnehmungsgeschwindigkeiten«, d. h. 
die positiven und negativen Zeitverschiebungen, einer eingehenden 
Erläuterung zu unterziehen. Denn an diesen Punkt knüpft sich 
eine Reihe von unrichtigen Auffassungen, die über das Problem 
und die Beobachtungen der Zeitverschiebungen in den Kurs ge¬ 
kommen sind. 

Eine experimentelle Untersuchung kann sich vorläufig nur 
darauf beschränken, Differenzen von Wahrnehmungsgeschwindig¬ 
keiten festzustellen, und kann nicht die Dauer eines derartigen 
Entstehungsprozesses im ganzen messen. Allerdings läßt sich an¬ 
genähert eine Maximalgrenze für die Zeitdauer der Entstehung 
einer Wahrnehmung angeben, wenn man Rückschlüsse aus den 
Ergebnissen von Reaktionsversuchen zieht. Aber solche Bestim¬ 
mungen können keinen Anspruch auf Genauigkeit machen. Denn 
der Reaktionsvorgang ist ein ziemlich komplizierter Prozeß. Es 
sind in ihm eine Reihe von Faktoren enthalten, die nur zum Teil 
und höchstens schätzungsweise durch Analogien anderer, entspre¬ 
chend variierter Reaktionsversuche bestimmbar sind; einige andere 
Faktoren lassen sich überhaupt nicht eliminieren, und selbst eine 
Annahme Uber Konstanz oder Variabilität derselben in den kom¬ 
plizierteren Zusammenhängen ist nicht ohne weiteres begründet. 
Die Angabe einer unteren Grenze für die Entstehungszeit einer 
Wahrnehmung ist vollends ohne Anhalt. Nur soviel läßt sich mit 
Sicherheit sagen, daß diese Zeitdauer nicht gleich Null zu setzen 
ist; denn es wäre widersinnig, anzunehmen, die bewußte Wahr¬ 
nehmung setze sofort mit der peripheren Reizung ein. 

Rechnet man mit der Tatsache, daß eine Wahrnehmung ohne 
Verzögerung gegen den Moment der Reizung unmöglich ist, so er¬ 
gibt sich hieraus völlig ungezwungen die Möglichkeit negativer 


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(Jrigiral frern 

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I. Theor. Erörter. üb. die Differenz vonWahrnehmungsgeachwindigkeiten. 241 


der einen oder anderen Empfindung mißt, erscheint ihre Verände¬ 
rung gegenüber der objektiven Zeitfolge als positiv oder negativ. 
Eine absolut negative Verschiebung in dem Sinne, daß der Be¬ 
wußtseinsvorgang schon eher eintritt als die Erregung beginnt, 
was anscheinend v. Tchisch in Erwägung zog 1 ), ist ausgeschlossen. 
Jeder Eindruck gelangt verspätet ins Bewußtsein, aber der eine 
mehr, der andere weniger. Daß es sich dabei zum Teil um große 
Zeitstrecken handelt, die die gewöhnliche Ausdehnung psycho¬ 
physiologischen Erregungsanstieges bedeutend überschreiten, darf 
nicht auffallen, da sogenannte spezifisch subjektive Faktoren den 
psychischen Anfnahmeprozeß beträchtlich hemmen können. 

Eine experimentelle Untersuchung muß sich die Aufgabe stellen, 
die Zeitverschiebung unter dem Einflüsse verschiedener objektiver 
und subjektiver Bedingungen möglichst exakt zu bestimmen. Da¬ 
bei ist zu beachten, daß die Ursache der Zeitverschiebung für den 
Begriff derselben außer Betracht bleibt. Eine Zeitverschiebung 
besteht einfach in der Verschiedenheit der subjektiven 
Zeitordnung der Empfindungen gegenüber der objektiven 
Zeitfolge der Reize. Es darf nicht etwa nur eine solche Ver¬ 
schiebung darunter verstanden werden, die durch eine spezifisch 
subjektive Anffassungstätigkeit, durch apperzeptive Momente her¬ 
vorgerufen wird. Durch diese Einschränkung würden theoretische 
Elemente in die Fragestellung hineinkommen, die die Objektivität 
der Untersuchung beeinträchtigen könnten. Denn eine allgemein 
anerkannte Abgrenzung der Zeitwerte einer physiologischen und 
etwa einer spezifisch »psychischen« Zeitverschiebung ist kaum 
möglich. 

Da ein und dieselbe Zeitverschiebung eine positive oder nega¬ 
tive Größe darstellt, je nach dem Standpunkte, den man bei der 
Messung einnimmt, so muß angegeben werden, in bezug auf 
welche Empfindung die Verschiebung positiv oder negativ 
erscheint. Den Ablauf der objektiven Zeitreihe pflegt man als 
positiv zu rechnen. Deshalb wird eine Zeitverschiebung dann a\s 
negativ zu bezeichnen sein, wenn die Wahrnekinungsverspätuw^. 
eines Reizes nach seinem objektiven Auftreten kleiner ist als di^. 


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~ * Original from 

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242 


C. Minnemann. 


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zum Vergleiche herangezogene Wahrnehmungsverspätung eines an¬ 
deren Reizes, d. h. wenn der erstere Reiz relativ rascher be¬ 
wußt wird und die Auffassungsgeschwindigkeit des zweiten als 
Messungsnorm dient. 

Es empfiehlt sich nicht, ein für allemal die Reize eines be¬ 
stimmten Sinnesgebietes als Norm für die Festsetzung des Vor¬ 
zeichens bei Zeitverschiebungen zu benutzen, weil die Wahr- 
nehmungsgescliwindigkeit je nach den Umständen wechselt, also 
keinem Sinnesgebiete eine konstante Wahrnehmungs¬ 
geschwindigkeit zukommt. Ebensowenig erscheint es zweck¬ 
mäßig, den Sinn der Zeitverschiebung allgemein in Anlehnung an 
die Verhältnisse der Komplikationsuhr zu definieren. Denn 
wenn man z. B. die Zeigerstellung beim Hören eines einzuord¬ 
nenden Glockenschlages als maßgebend für die Richtung der Zeit¬ 
verschiebung ansieht, also die visuelle Wahrnehmungsgeschwindig¬ 
keit als Norm ftir das Vorzeichen wählt, so ist dagegen zu er¬ 
wägen, daß bei dieser Versuchsanordnung durch Änderung der 
Geschwindigkeit gerade der Bewegungseindruck variiert wird, 
während der Schallreiz konstant zur selben Zeit eintritt. Es ist 
also naheliegend, die subjektiv bemerkbare Verschiebungsänderung 
bei Variierung der Rotationsgescliwindigkeit des Zeigers wenig¬ 
stens zum Teil auf Rechnung der veränderten visuellen Wahr¬ 
nehmungsgeschwindigkeit zu setzen. Die andere Auffassung, daß 
nur der Schallreiz unter diesen Umständen verschieden rasch ap- 
perzipiert wird, steht in enger Beziehung zur Theorie der apper- 
zeptiven Einordnung perzeptiv bereits vorhandener Eindrücke, die 
oben erörtert wurde. 

Die konstante Bezugnahme auf die Verhältnisse der 
Komplikationsuhr für die Bestimmung des Vorzeichens der 
Verschiebung stößt noch auf weitere Schwierigkeiten. Denn 
Komplikationsversuche beschränken sich keineswegs auf die Ein¬ 
ordnung einer disparaten Empfindung in eine kontinuierliche 
visuelle Empfiudungsreihe. Schon wenn mehrere Schallreize dar- 
geboteu werden und die kontinuierliche Zeigerbewegung in eine 
Reihe sukzessiver Lichtreize aufgelöst wird, kann man schwanken, 



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1. Theor. Erörter. üb. die Differenz von Wahrnehmungsgeschwindigkeiten. 243 


sich um die Durchgangsbestimmung eines Sternes durch die Fäden 
eines Passageinstrumentes handelt und nach der Auge-Ohr-Methode 
beobachtet wird. Die in Frage kommende Beobachtung läßt sich 
so auffassen, daß die Sekundenschläge in die Sternbewegung ein¬ 
geordnet werden oder aber die Fadendurchgänge bzw. die Orte 
vor und hinter einem Faden in die Reihe der Sekundenschläge. 
Die auftretende Verschiebung kann also nach der visuellen oder 
akustischen Empfindungsreihe gemessen werden, wobei der abso¬ 
lute Betrag derselbe bleibt, aber der Sinn der Verschiebung ent¬ 
gegengesetzt ist. Da die Sekundenschläge zugleich zur objektiven 
Zeitmessung dienen, so ist letztere Messungsart, die nach den 
akustischen Eindrücken, praktisch die übliche. Eine uhren¬ 
mäßige Verspätung des visuell beobachteten Durchganges gilt 
als positive Zeitverschiebung, während für die Zeigerbewegung 
an der Komplikationsuhr gerade eine relativ raschere visuelle 
Auffassung als positive Zeitverschiebung definiert zu werden 
pflegt. 

Ebenso fundamental wie die Relativität des Vorzeichens für 
die Zeitverschiebung, je nach der speziellen, als Norm behan¬ 
delten Wahrnehmungsgeschwindigkeit, ist der Gesichtspunkt, daß 
die Verschiebung durch die Abweichung der subjektiven 
Zeitreihe von der objektiven Reizfolge zustande kommt. Darin 
liegt, daß die Verschiebung auf subjektiver Seite zu messen ist, 
indem man die psychische Anordnung der Empfindungen mit der 
objektiv gegebenen Zeitordnung der Reize vergleicht. 

Es ist nun zu beachten, daß in den Versuchen, die sich mit 
der Zeitvergleichung befassen, beide Methoden der Ablesung sich 
finden, teils die unmittelbare Bestimmung der subjektiven Ver¬ 
schiebung, teils die Ablesung der objektiven Zeitdifferenz zweier 
subjektiv gleichzeitiger Wahrnehmungen. Beide Ablesungen weisen 
bei gleichen Auffassungsbedingungen das entgegengesetzte Vor¬ 
zeichen für die beobachtete Distanz der Reize bzw. der Empfin¬ 
dungen auf. Denn bezeichnet man ein zeitliches Später, wie es 
üblich ist. dnreh Plus, dagegen das Früherliegendpi durch eine 


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244 


C. Minnemann, 


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Fig. 1. 


Das vorstehende Schema erläutert diese Verhältnisse. Nehmen 
wir an, zwei Reize 1 und 2 würden objektiv gleichzeitig dar¬ 
geboten, aber der Reiz 2, etwa ein Schallreiz, werde rascher ins 
intellektuelle Bewußtsein aufgenommen als der Reiz 1, der bei¬ 
spielsweise den Gesichtssinn affiziert. Dann wird die Distanz auf 
subjektiver Seite, die Zeitverschiebung, sich als eine negative 
Größe darstellen, wenn die Wahrnehmungsgeschwindigkeit von 
Reiz 1 als Norm für den Vergleich zugrunde gelegt wird (Figur 1 a). 
Gerade umgekehrt liegen die Beziehungen der objektiven Zeit¬ 
reihe, wenn, wie Figur 1 b darstellt, die von den Reizen ausge- 
lösten Empfindungen zeitlich zusammenfallen. Die relativ 
rascher ins Bewußtsein gelangende Empfindung, die durch den 
Reiz 2 ausgelöst wird, erfordert eine positive Distanz des Exposi¬ 
tionsmomentes für diesen Reiz im Vergleich zu dem als Ausgangs¬ 
punkt der Messung dienenden Reiz 1. 

Bei den Komplikationsversuchen wird meistens die direkte 
Ablesung der Verschiebung in der subjektiven Zeitordnung an¬ 
gewandt, da sie sich an dem Apparate unmittelbar anschaulich 
darbietet. Man zieht von dem scheinbaren Skalenorte eines Schall¬ 
reizes die Zeigerstellung für objektive Koinzidenz der Reize ab, 

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I. Theor. Erörter. üb. die Differenz von Wahrnehmungsgeschwindigkeiten. 245 


jektiv zusammenfällt, so ist die Differenz eine negative, d. h. der 
Schall wird relativ rascher aufgefaßt als die Zeigerbewegung. Ist 
dagegen der Zeitwert des scheinbaren Schallortes großer als der 
Wert für den Zeitpunkt, in dem das mit der Schallentstehung 
koinzidierende Element der Bewegung bewußt wird, so ergibt sich 
die Verschiebung des Schallreizes in der Zeitfolge der Empfin¬ 
dungen als eine positive. 

Nur eine mittelbare Ablesung der Verschiebung, nämlich 
eine Messung der objektiven Zeitdifferenz der Reize, ist bei der 
gewöhnlichen Zeitvergleichung zweier Einzelreize möglich. Die 
Aufgabe der Beobachtung geht dann dahin, den subjektiven Ko¬ 
inzidenzpunkt aufzufinden. Ergibt sich fllr diesen eine Distanz 
der Expositionsmomente, so muß der rascher aufgefaßte Reiz 
später dargeboten worden sein, da beide Reize gleichzeitig be¬ 
wußt werden; d. h. die gemessene objektive Zeitdifferenz zwischen 
dem rascher wahrgenommenen Reize und dem langsamer wirken¬ 
den ist in diesem Falle positiv, während bei der unmittelbaren 
Messung der subjektiven Verschiebung sich fllr dieselben Ein¬ 
drücke eine negative Differenz ergeben würde. 

Es ist deshalb für den Vergleich der Versuchsergebnisse ver¬ 
schiedener Beobachtungsmethoden sehr wichtig, sich klar zu 
machen, was die Messung für die eine oder andere Versuchs¬ 
anordnung bedeutet, ob die Verschiebung der Empfindungen 
im Vergleich zur objektiven Folge der Reize gemessen 
wurde oder aber die objektive Distanz der Reize. Nur 
die erstere kann im strengen Sinne als eine Verschiebung« gelten. 
Und ebenso wichtig ist die andere Frage, ob der Ausgangspunkt 
der Messung beidemal im selben Sinnesgebiete liegt oder in ver¬ 
schiedenen. Da sich die Bedeutung der Symbole des Plus- und 
Minuszeichens mit dem Standpunkte ändert, so ist es geraten, um 
Mißverständnissen vorzubeugen, möglichst in Worten eine Erklä¬ 
rung der Zeichen beizufügen. In der Literatur sind diese Ge¬ 
sichtspunkte nicht immer beachtet worden. 

Gerade in bezug auf den Vergleich der experimentellen Kom- 

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246 C. Minnemann, 

menen, die bei der astronomischen Beobachtung auftreten, aus- 
gegangen, um deren Gesetzmäßigkeiten zu ergründen. Die Be¬ 
obachtungen an der Komplikationsuhr haben zu dem Resultate 
geführt, daß mit wachsender Geschwindigkeit der Bewegung die 
Zeitverschiebuug nach der positiven Seite hin sich ändert, also in 
diesem Sinne zunimmt; das bedeutet eine relativ langsamere Schall¬ 
auffassung bzvv. raschere Wahrnehmung des visuellen Bewegungs¬ 
bildes. Nun hat sich aber bei Durchgangsbestimmungen eines 
künstlichen Sternes 1 ) herausgestellt, daß bei gesteigerter Ge¬ 
schwindigkeit der Bewegung die Auffassung des Durchgangs¬ 
momentes sich etwas verspätete, die Bewegung also langsamer 
aufgefaßt wurde. Daher kann man in diesen Versuchen keine 
Bestätigung der gewöhnlichen Komplikationsergebnisse finden, wie 
angenommen worden ist. Wenn man beidemal die Verschiebung 
als eine positive bezeichnet, so darf nicht übersehen werden, daß 
bei der Komplikationsuhr die Auffassung eines Schalles an einer 
Bewegungserscheinung gemessen wird, dagegen am Passageinstra- 
ment ein oder mehrere Punkte der Bewegung in der Regel an 
einer akustischen Empfindungsreihe 2 ). Dem gleichen Vorzeichen 
kommt beim Beobachten nach der einen oder anderen Methode 
eine verschiedene Bedeutung zu. 

Ebensowenig läßt sich die von Bessel beobachtete Verminde¬ 
rung der persönlichen Differenz bei Anwendung von akustischen 
Signalen in Abständen von halben anstatt ganzer Sekunden auf 
denselben Einfluß der Geschwindigkeit wie bei rascherer Zeiger¬ 
bewegung an der Komplikationsuhr zurückführen. Denn wenn 
auch die raschere Folge akustischer Reize gleichbedeutend sein 
sollte mit einer Steigerung der visuellen Bewegungsgeschwindig¬ 
keit, was keineswegs wahrscheinlich ist, da die optische Distanz 
zwischen zwei Schallorten im ersteren Falle geringer wird, wäh¬ 
rend sie im zweiten Falle wächst, so könnte doch nicht aus einer 
speziellen Anderungstendenz der Zeitverschiebung geschlossen 


1) J. Hartmann, Grunerts Archiv für Mathematik und Physik. Bd. 31. 
1868. S. 1 ff. N. C. Wolf, Recherches sur l’öquation personnelle. (Ann. de 
l’observatoire de Paris, t. 8, 1866; im Auszug in der Vierteljahrsschrift der 


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I. Theor. Erörter. üb. die Differenz von Wahrnehmungsgeschwindigkeiten. 247 


werden, daß auch die Differenz zwischen den individuellen Auf¬ 
fassungen zweier Beobachter kleiner werden müßte. Sie könnte 
gerade so gut größer werden, wenn der eine Beobachter dieser 
Tendenz mehr unterliegt als der andere. Die Annahme, daß bei 
Geschwindigkeitssteigerung nur einseitig gerichtete Verschiebungen 
möglich sind, schließt nicht notwendig eine Annäherung der indi¬ 
viduellen Unterschiede bei den Zeitbestimmungen ein. 

Dieselbe Bemerkung gilt für die Erklärung der Abnahme per¬ 
sönlicher Differenzen bei plötzlichen Erscheinungen, die darin be¬ 
gründet sein soll, daß in solchen Fällen nur noch positive Zeit¬ 
verschiebungen stattfinden könnten. In dem Ausdruck »positive 
Verschiebung« liegt wiederum ein Beleg dafür, daß meistens die 
gleichen Symbole unterschiedslos auf entgegengesetzte Erschei¬ 
nungen angewendet wurden. Da diese Verschiedenheit nicht be¬ 
merkt wurde, ist die Parallele zwischen den astronomischen und 
den an der Komplikationsuhr auftretenden Zeitverschiebungen 
nicht zutreffend *). Wenn dann noch zugunsten einer Erklärung 
das tatsächliche Verhalten bei der Beobachtung nicht richtig ge¬ 
deutet wird, so ist die Entwirrung der Tatsachen um so schwie¬ 
riger. Sicherlich ist es unrichtig, die Ursache der astronomischen 
Zeitverschiebung in einer größeren Konzentration der Aufmerksam¬ 
keit auf die Sekundenschläge zu sehen; auch dürfte es nicht zu- 
treflfen, daß bei rascherer Durchgangsbewegung die Erwartung des 
Schalleindruckes gleich bleibt, aber nicht so stark zur Geltung 
kommt, da andererseits die raschere Bewegungserscheinuug dazu 
nötigt, in derselben Zeit mehr Gesichtseindrücke zu apperzipieren, 
so daß der einzelne visuelle Apperzeptionsakt sich rascher ab¬ 
spielen müßte 2 ). Wenn wirklich eine Bewegungserscheinung 
sich aus einzelnen zu apperzipierenden Gesichtswahrnehmungeil 


1) Erst Wirth hat diesen Unterschied richtig erkannt; vgl. sein Buch: 
»Die experimentelle Analyse der Bewußtseinsphänomene«. Braunschweig 
1908. S. 310. Auch zu den übrigen hier erörterten Fragen sind seine Aus¬ 
führungen mit Vorteil heranzuziehen. 

2) Geiger, Philos.Studien. Bd.XVIII. S.415: »Die Schalleindrücke sind 


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248 


C. Minnemann, 


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zusammensetzte, würde aus einer rascheren Aufeinanderfolge solcher 
Auffassungsprozesse noch nicht ohne weiteres eine absolute Ver¬ 
kürzung der visuellen Apperzeption zu folgern sein. Außerdem 
ist aber zu betonen, daß bei Durchgangsbestimmungen die Auf¬ 
fassung und Zählung der Sekundenschläge nahezu automatisch 
verläuft. 

Es liegt also auf der Hand, daß die Komplikationsversuche 
bisher nicht die Erscheinungen der astronomischen Zeitverschie¬ 
bung erklärt haben. Weil eine eindeutige Terminologie fehlte, 

•• 

war nur der Schein einer Übereinstimmung entstanden, während 
tatsächlich die Beobachtungsergebnisse in Widerspruch zueinander 
stehen. 


4) Allgemeine Bedeutung der Schwelle subjektiver Gleich¬ 
zeitigkeit. 


Bei der praktischen Ausführung von Messungen über die Wahr¬ 
nehmungsgeschwindigkeit drängt sich die Beobachtung auf, daß 
nicht bloß ein einziger Zeitpunkt für den Vergleich in Betracht 
kommt, sondern eine ganze Zeitstrecke. Denn der Moment des 
Eintrittes einer Empfindung ins Bewußtsein läßt sich. zunächst 
nicht so präzis abgrenzen, daß man ihn als einen mathematischen 
Zeitpunkt behandeln könnte. Zwei Reize, die sukzessiv ins Be¬ 
wußtsein eintreten würden, wenn es nur auf die jedem Reize 
normalerweise zukommende Wahrnehmungsgeschwindigkeit an¬ 
käme, werden in Wirklichkeit bei nicht allzu großer zeitlicher 
Distanz als gleichzeitig aufgefaßt. Daher ergibt sich bei der 
Zeitvergleichung zweier Reize oder der Einordnung einer Empfin¬ 
dung in eine Empfindungsreihe nicht bloß eine einzelne Konstel¬ 
lation der Reize als die Bedingung für subjektive Gleichzeitigkeit: 
es resultiert nicht nur ein einzelner Zeitpunkt. Sondern eine ganze 
Reihe objektiver Distanzen führt zur Auffassung der Konzinnität, 
so daß die subjektive Gleichzeitigkeit durch eine Zeit¬ 
strecke oder Zone dargestellt erscheint 1 ). Zweierlei ist hei 
dieser Bewußtseinstatsache zu erwägen. Einerseits hat man sich 
theoretische Klarheit Uber diese Erscheinung zu verschaffen, zwei- 


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I. Theor. Erürter. üb. die Differenz von Wahrnehmungsgeschwindigkeiten. 249 


tens ist aDZUgeben, wie sich danach die Berechnung der Diffe¬ 
renzen von Wahrnehmnngsgeschwindigkeiten zu gestalten bat ! ). 

Was die theoretische Bedeutung dieser Erscheinung anbelangt, 
so ist bemerkenswert, daß die Ausdehnung der subjektiven Gleich¬ 
zeitigkeit über eine längere Zeitstrecke als ein unmittelbares 
Bewußtseinsphänomen erscheint und nicht erst sekundär 
als Produkt einer reflektierenden Verstandestätigkeit im 
Bewußtsein anzutreffen ist. Die genauere Entstehungsursache 
dieser unmittelbaren Schwelle für zeitliche Distanzen mag dahin¬ 
gestellt bleiben. So ist es gleichgültig, ob die Erregungsprozesse 
zweier distanter Reize, die subjektiv gleichzeitig erscheinen, schon 
mehr oder weniger peripher-physiologisch zusammenfallen, oder 
ob erst der zentrale Prozeß, der Eintritt ins Psychische einheit¬ 
lich erfolgt. Aber das muß als feststehende Tatsache angesehen 
werden, daß schon bei dem ersten Bewußtwerden der Vor¬ 
gänge, also sogleich mit der Entstehung der Empfin¬ 
dungen, die zeitliche Zusammenfassung gegeben ist. 
Theoretisch einfacher lägen die Dinge, wenn die Wahrnehmungs¬ 
geschwindigkeit keinen Veränderungen beim Zusammentreffen rasch 
aufeinanderfolgender Reize unterworfen wäre. Es würde also 
näher liegen, die Wahrnehmungsgeschwindigkeit als konstant zu 
betrachten und die Abweichungen der wirklichen Auffassung von 
den berechneten Verhältnissen auf einen anderen psychischen Pro¬ 
zeß, etwa auf die Apperzeption, zurtickzuführen. Jedoch ist, wie 
im folgenden dargelegt wird, diese Auffassung nicht annehmbar, 
weil mit einer Wahrnehmung zugleich ihre zeitliche Bestimmtheit 
im Bewußtsein gegeben sein muß. 

Wenn sich schon oben prinzipielle Bedenken gegen eine Tren¬ 
nung von Perzeption und Apperzeption bei der Sinneswahrnehmung 
einstellten, so muß hier die spezielle Form, die diese Theorie hin¬ 
sichtlich der Zeityorstellung erhalten hat, entschieden abge¬ 
wiesen werden. Gerade auf diesen Punkt, auf die vermeintliche 
Notwendigkeit einer Trennung der Zeitvorstellung von dem psy- 


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250 


C. Minneiu&nn, 


Meistens gebt man bei der Theorie Uber die Zeitvorstellung 
von der Behauptung aus, daß es etwas anderes sei, »Empfindungen 
sukzessiv wahrnehmen« als »ein Bewußtsein von ihrer zeitlichen 
Aufeinanderfolge haben«. Eine Sukzession von Empfindungen 
bzw. Vorstellungen sei nicht gleichbedeutend mit einer Vorstellung 
ihrer Sukzessiou. Dies ist insofern zuzugeben, als unsere Zeit¬ 
vorstellung nicht auf die einfachste Kette unmittelbaren psychi¬ 
schen Erlebens beschränkt ist. Durch Abstraktion können wir 
mannigfaltige zeitliche Beziehungen aufdecken, die uns durch die 
einfache Zeitfolge des konkreten Erlebens nicht zum Bewußtsein 
kommen würden. Aber diese Erweiterung unserer Zeitvorstellung 
durch Denkoperationen darf nicht zu einem Widerspruche 
gegen den wirklichen Ablauf der psychischen Vorgänge 
führen. Eine solche Diskrepanz würde jedoch vorliegen, wenn 
zwei Wahrnehmungen zeitlich getrennt ins Bewußtsein einträten und 
dennoch ihre zeitlichen Bewußtseinskomponenten eineVerschmelzung 
eingingen derart, daß die Vorgänge, obwohl sie tatsächlich 
psychisch distant sind, dennoch als psychisch gleichzeitig erschienen. 

Eine nachträgliche, durch die Auffassung bewirkte zeitliche 
Verschmelzung von Empfindungen, die in Wirklichkeit psychisch 
sukzessiv statttinden, wird aber vielfach vertreten und damit be¬ 
gründet, daß eine Zeitvorstellung überhaupt erst durch apperzep- 
tive Tätigkeit ermöglicht würde. Manche Psychologen gestehen 
der Empfindung ein unmittelbares Sukzessionsbewußtsein zu und 
leiten erst die Vorstellung der komplizierteren zeitlichen Verhält¬ 
nisse, namentlich das Bewußtsein von der Dauer, aus apperzep- 
tiven Bedingungen ab; andere aber scheinen jedes Zeitbewußtseiu 
durch apperzeptive Tätigkeit bedingt anzusehen. Die perzeptiven 
Vorgänge sollen sich dann ohne Bewußtsein ihrer Sukzession 
oder sonstiger zeitlicher Verhältnisse abspielen und nur inhaltlich 
bestimmte Vorstellungen vermitteln. Eine derartige Annahme von 
psychischen Prozessen mit unbewußtem zeitlichen Charakter ist 
eine unanschauliche Konstruktion, obgleich sie gerade einer kon¬ 
kret psychischen Zeitvorstellung gerecht werden will. Im Gegen- 


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I. Theor. Erörter. üb. die Differenz von Wahrnehmungsgeschwindigkeiten. 251 


zelne psychische Zeitpunkt soll infolgedessen stets eine gewisse 
Dauer besitzen, sich Uber eine größere objektive Zeitstrecke aus¬ 
dehnen, so daß die Differenzierung der psychischen Zeitreihe im 
Unterschiede zum kontinuierlichen mathematischen Zeitbegriffe eine 
beschränkte wäre. Der gesamte Inhalt eines Apperzeptionsaktes 
würde auf diese Weise simultan im Bewußtsein gegenwärtig sein. 
Dieser Auffassung widerspricht jedoch schon die andere Bestim¬ 
mung, die der psychologischen Zeitvorstellung ebenfalls beigelegt 
wird. Um den kontinuierlichen Charakter des psychischen Zeit¬ 
ablaufes zu kennzeichnen, bezeichnet man nämlich außerdem die 
Zeitvorstellung als eine fließende Größe. Durch dieses Prädikat 
wird die Bestimmung, die zur Annahme einer unmittelbaren sub¬ 
jektiven Simultaneität von objektiven Zeitstrecken führte und das 
psychische Phänomen einer Gleichzeitigkeitszone erklären sollte, 
augenscheinlich wieder aufgehoben. Diese Theorie läßt sich um 
so weniger aufrecht erhalten, wenn die geforderte Simultaneität 
einer Vorstellung gar auf die gesamte Zeitstrecke ausgedehnt wird, 
innerhalb welcher eine Vorstellung unmittelbar, d. h. ohne Unter¬ 
brechung, im Anschluß an die periphere Erregung bewußt bleiben 
kann. Denn innerhalb dieser Strecke werden wechselnde Klar¬ 
heitsgrade des Bewußtseins zugegeben, so daß schon hieraus folgt, 
daß auch zeitliche Differenzen an der Hand dieser Bewußtheits¬ 
grade auffaßbar sind. Nimmt man aber an, daß innerhalb eines 
bestimmten engen Bezirkes infolge der zeitlichen Extensität eines 
Apperzeptionsaktes eine zeitliche Differenzierung nicht möglich 
ist, so müßte wenigstens an der Grenze zweier Apperzeptionsakte 
die Auffassung der Sukzession zweier Reize sehr fein ausgebildet 
sein, da von zwei rasch aufeinanderfolgenden Reizen die Auf¬ 
fassung des einen noch in den ersten Apperzeptionsakt eiugehen 
könnte, während der zweite durch die folgende Apperzeptionswelle 
bereits in eine merkbare Distanz gerückt würde. Hält man hin¬ 
gegen daran fest, daß die Zeitstrecke simultaner Bewußtheit kon¬ 
tinuierlich fortschreitet, so würde man an dem Momente des Ein¬ 
tretens oder Schwindens einer Empfindung aus dieser Sphäre ein. 
feines Kriterium für ihre zeitliche Bestimmtheit haben. Die beiden 


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252 C. Minnenmun, 

Ebensosehr wie die spezielle Ausgestaltung dieser Theorie Uber 
die Zeitvorstellung mit Hilfe apperzeptiver Prozesse ist überhaupt 
der Versuch abzulehnen, die Zeitvorstellung erst in den Bereich 
der Apperzeption zu verlegen und somit den schon durch die Per¬ 
zeption gegebenen Wahrnehmungsinhalt von dem Bewußtsein seines 
zeitlichen Ablaufes zu trennen. Denn es liegt nun einmal in dem 
Wesen einer Bewußtseinserscheinung, daß zugleich eine Vorstellung 
ihres zeitlichen Konnexes mit anderen psychischen Vorgängen ge¬ 
geben ist Sonst wäre die Kontinuität des persönlichen Erlebens 
aufgehoben. Ein psychisch isoliert dastehender Prozeß kann nicht 
als bewußt angesehen werden. Ein Bewußtsein, das sich lediglich 
auf einen Vorstellungsinhalt bezieht und keine bewußte zeitliche 
Verbindung zu anderen Vorstellungsinhalten hat, existiert nnr in 
der Abstraktion. Von einer Empfindung muß man unbedingt wissen, 
daß man sie in einem bestimmten Zeitpunkte, d. h. in einer be¬ 
stimmten Verbindung hat; sonst handelt es sich nicht mehr um 
einen psychischen Prozeß. Es mag das Bewußtsein zeitlichen Zu¬ 
sammenhanges mit anderen Vorstellungen mehr oder minder deut¬ 
lich ausgeprägt sein, und es kann von größerer oder geringerer 
psychischer Dauer sein, sich Uber mehr oder weniger Glieder er¬ 
strecken, aber fehlen kann es niemals, wo Bewußtseinsvorgänge 
auftreten. Deshalb muß man wenigstens ein unmittelbares Suk¬ 
zessionsbewußtsein annehmen, das direkt mit der Zeitfolge der 
Empfindungen zusammenfallt. Die unmittelbare Zeitvorstellnng 
existiert nicht neben den Empfindungen, als etwas davon Ge¬ 
trenntes oder erst Hinzukommendes, sondern in ihnen. 

Bei genauerer Betrachtung der Belege für die apperzeptive 
Auffassung der Zeitvorstellung zeigt sich, daß manche Beobacb- 
tungstatsachen nicht richtig beurteilt werden. So wird die Inter- 
missionslosigkeit der Empfindung bei rascher sukzessiver 
Heizung eines peripheren Organes als eine Folge der Zeitschwelle 
angesehen und mit der Erscheinung der Schwelle bei disparaten 
Sinnesreizen in eine Linie gestellt. Es wird allerdings angegeben. 


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I. Theor. Erürter. üb. die Differenz von Wahrnehmungegeschwindigkeiten. 253 

genommen werden könne. Hierbei wird nicht berücksichtigt, 
daß bei solchen Versuchen, wie bei Feststellung der Flimmer¬ 
grenze fiir zwei optische Reize, die Empfindungsdauer in ihrer 
Abhängigkeit von physiologischen Prozessen in die Messung ein¬ 
geht, so daß gar nicht die kleinstmögliche Sukzessionsvorstellung 
gemessen wird. Die Beobachtung besagt also nicht, daß die bei¬ 
den Reize, falls ihre objektive Distanz innerhalb der Flimmer¬ 
grenze liegt, gleichzeitig aufgefaßt werden, sondern nur, daß 
sie einheitlich, ohne Intermission der psychischen Vorgänge be¬ 
wußt werden. Sonst würde man auch bei Fortsetzung der Reibe 
durch weitere Glieder annehmen müssen, daß sämtliche Reize der 
Reihe, falls kein Flimmern bemerkt wird, gleichzeitig bewußt 
würden, daß es also für die Vorstellung keinen zeitlichen Unter¬ 
schied zwischen zwei Punkten dieser kontinuierlichen Empfindungs¬ 
reihe gäbe. Das Phänomen der Intermissionslosigkeit erklärt sich 
jedoch einfach durch die den physikalischen Reiz überdauernden 
Empfindungen, mögen dabei die Erregungsprozesse schon peripher 
verschmelzen, oder zentral bzw. im Bewußtsein. Denn die Sache 
spielt sich nicht so ah, daß die Empfindungen getrennt bewußt 
würden, die Intermissionen derselben aber deswegen unbemerkt 
blieben, weil man keine Vorstellung von so kleinen Intervallen 
hätte 1 ). Wenn es sich bei solchen Versuchen wesentlich um die 
Messung einer Schwelle für die reine Zeitvorstellung handelte, 
müßte man den Versuch durch eine geringe Modifikation umkehren 
können und etwa wegen rasch aufeinanderfolgender Intermissionen 
keine Empfindung bemerken. Es wäre nicht einzusehen, weshalb 
beispielsweise ein Lichtreiz von einem Milliontel einer Sekunde 
zwischen zwei langen Intermissionen bemerkt wird, dagegen eine 
Intermission von etwa einem Zwanzigstel einer Sekunde zwischen 
zwei Lichtreizen unbemerkt bleiben sollte, wenn nicht, wie gesagt, 
die physiologischen oder direkten Empfindungsverhältnisse aus¬ 
schlaggebend für die Beobachtung sind. 

Wenn demnach diese Erscheinung sich nicht im Sinne eii\^ 8 
apperzeptiven Vorganges ausleeen läßt, so bleibt doch noch 


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254 


C. Minnemann, 


sukzedierende Reize. Die Auffassung, daß es sich hierbei um 
apperzeptive Vorgänge handelt, stützt sich besonders auf die An¬ 
sicht, daß unendlich kleine Zeitabschnitte nicht bewußt 
werden. Hierfür könnte es zwei prinzipiell verschiedene Gründe 
geben. Entweder könnte die Ursache in einer mangelhaften Unter¬ 
scheidungsfähigkeit von getrennt vorhandenen Bewußtseinsinhalten 
liegen. Diesen Standpunkt nimmt die apperzeptive Zeittheorie ein. 
Die Bewußtseinsvorgänge müßten dann noch auf ihr zeitliches 
Verhältnis gesondert betrachtet werden, damit ihre Anordnung be¬ 
wußt wird. Oder man ist der Ansicht, daß schon die perzeptiven 
Bewußtseinsvorgänge mit einer Zeitvorstellung verknüpft sind, daß 
also beispielsweise bei subjektiver Gleichzeitigkeit zweier Wahr¬ 
nehmungen der gesamte Bewußtseinsinhalt der betreffenden Emp¬ 
findungen und nicht bloß ihre zeitliche Seite tatsächlich psychisch 
gleichzeitig bewußt wird bzw. bei merklicher Distanz die Bewußt¬ 
seinsvorgänge in endlichen Abständen entstehen. Dann würde 
man aus dem Grunde eine sinnliche Vorstellung von minimalen 
Zeitabschnitten nicht für möglich halten, weil im ganzen Bewußt¬ 
seinsleben einschließlich der perzeptiven Vorgänge keine so feinen 
Differenzierungen vorkämen. Nach der apperzeptiven Auffassung 
der Zeitvorstellung würden psychisch wohl kleinere Zeitabschnitte 
vorhanden sein, aber es würde uns das Organ dafür fehlen, diese 
Differenzen des Bewußtseins aufzufassen. Solche Auslegung er¬ 
scheint mit der Definition eines Bewußtseinsprozesses nicht verein¬ 
bar. Denn es würden zeitliche Bewußtseinsunterschiede ange¬ 
nommen werden, die nicht bewußt wären, während doch nur das¬ 
jenige als psychisch vorhanden angesehen werden darf, von dessen 
psychischer Existenz man tatsächlich etwas weiß. Die psychischen 
Erscheinungen, in denen man eine Trägheit der Apperzeptions¬ 
prozesse erblickt, lassen sich, wie gezeigt werden wird, ohne Mühe 
auch durch eine auf konkreten Empfindungsrelationen basierende 
Zeitvorstellung erklären. 

Aber noch aus einem anderen Grunde ist das Argument, daß 
die Trägheit der Apperzeption eine absolute Grenze für kleine 
Zeitvorstellungen bedingt, anfechtbar. Es fragt sich, ob wirklich 


unsere unmittelbare psychische Sukzessionsvorstellung in allen 


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I. Theor. Erörter. üb. die Differenz von Wahrnehmungsgeschwindigkeiten. 255 


während unter anderen Wahrnehmungsbedingungen bedeutend 
feinere zeitliche Unterschiede unmittelbar bewußt wer¬ 
den können. 

Daß uns viele Feinheiten der objektiven Vorgänge infolge der 
Beschaffenheit und Funktionsweise unserer Sinnesorgane verloren 
gehen, unterliegt keinem Zweifel. Meistens werden wir daher 
durch die Abstraktion weiter eindringen können in die Zeitord¬ 
nung der Vorgänge als durch die direkte Beobachtung. Aber es 
gibt doch auch psychische Vorgänge, an denen wir sehr feine suk¬ 
zessive Abstufungen direkt wahrnehmen. Überall, wo wir eine 
Veränderung eines psychischen Vorganges bemerken, z. B. beim 
deutlichen Ansteigen einer Empfindung, haben wir es mit einer 
direkten, nicht erst aus der Reflexion stammenden Sukzessions¬ 
vorstellung zu tun. Unmittelbare Sukzessionsvorstellungen 
können äußerst fein ausgeprägt sein. Wenn wir z. B. einen 
bewegten Gegenstand sehen und die Bewegung unmittelbar wahr¬ 
nehmen, d. h. nicht erst auf eine solche schließen, so haben wir 
an der Bewegungsvorstellung direkt die Wahrnehmung sukzedie- 
render Netzhauterregungen. Diese Wahrnehmung ist gegenüber 
dem gewöhnlichen Falle sukzessiver Lichtreize dadurch ausge¬ 
zeichnet, daß die Reize verschiedene Netzhautstellen treffen, so 
daß die einzelnen Erregungen sich nicht völlig überdecken. Da¬ 
durch sind viel feinere psychische Zeitunterschiede ermöglicht. 
Nicht minder aber fällt der Umstand ins Gewicht, daß bei einer 
Bewegungserscheinung die Erregungen der Netzhautelemente nach 
einer geläufigen räumlichen Anordnung fortschreiten, so daß die 
Aufmerksamkeit jeweilig auf den in Frage kommenden Punkt 
eingestellt sein kann. Allerdings liegt gleichzeitig in diesem Um¬ 
stande der räumlichen Kontinuität, daß es in der Praxis meistens 
überflüssig ist, alle Phasen eines Bewegungsvorganges zu beacbteu. 
Wenn man den Reiz an zwei voneinander entfeinten Stellen nach¬ 
einander gesehen hat, darf man in der Regel an nehmen, daß der 
Reiz in der Zwischenzeit sukzessiv die übrigen zwischen den be¬ 
achteten Stellen liegenden Punkte passiert hat. Daher kann in 
der Vorstellung der Eindruck einer kontinuierlicher» Bewegung 


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2öö 


C. Minnemanu, 


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unmittelbaren, kontinuierlichen Sukzessionsvorstellung nicht gespro¬ 
chen werden. Denn die unmittelbare Sukzessionsvorstellung be¬ 
zieht sich nur auf die wirklich wahrgenommenen Phasen der Be¬ 
wegung, hier auf die beiden distanten Punkte; der kontinuierliche 
Übergang dagegen ist erst in der mittelbaren Sukzessionsvorstellung 
anzutrefifen. 

Oft ist es schwierig, bei solchen Erscheinungen zwischen un¬ 
mittelbarer Wahrnehmung und mittelbarer Zutat zu unterscheiden. 
Dies geht schon daraus hervor, daß objektive Störungen in dem 
gleichmäßigen Gange einer Bewegung leicht übersehen werden, 
da man scheinbar den Eindruck unmittelbarer Wahrnehmung hat. 
Häufig wird allerdings in den zentralen Prozessen der Sinnes¬ 
erregung wohl keine Diskontinuität oder Abweichung vom er¬ 
warteten Vorstellungsverlaufe vorhanden sein, was als eine Folge 
allgemeiner physiologischer Dispositionen oder besonderer Ein- 
stellungsbedingungen angesehen werden kann. Manchmal jedoch 
liegt der Grund für die Gleichmäßigkeit des Eindruckes in solchen 
Fällen offenbar nur darin, daß man sich nicht klare Rechenschaft 
Uber das wirklich Wahrgenommene und die konstruktive Er¬ 
gänzung des sinnlichen Eindruckes gibt. Andererseits aber kann 
man auch bei nicht zu rascher Orts Veränderung des Reizobjektes 
eine kontinuierliche Auffassung unmittelbar durch das Sinnesorgan 
erreichen, und man braucht nicht erst seine Zuflucht zu Denk¬ 
operationen bzw. Assoziationen zu nehmen, um den Eindruck einer 
kontinuierlichen Bewegung zu erhalten. 

Eine unmittelbare Bewegungsvorstellung ist offenbar ohne die 
sinnliche Vorstellung sich kontinuierlich aneinanderschließender 
Phasen nicht gut möglich; diese Vorstellung enthält somit direkt, 
d. h. ohne besondere Denkoperation, eine unmittelbar anschau¬ 
liche Vorstellung eines zeitlichen Ablaufes, der für die analysie¬ 
rende Betrachtung als Reihe unendlich kleiner Zeitteile erscheint. 
Also kann die unmittelbare Wahrnehmung manchmal äußerst fein 
zeitlich differenziert sein, und es braucht nicht die Auffassung 


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I. Theor. Erürter. lib. die Differenz von WahrnehmnngageBchwindigkeiten. 257 


Für die genauere Darlegung der Theorie einer unmittelbaren, 
sinnlichen Zeitvorstellung muß man vor allen Dingen feststellen, 
inwiefern sich das Beobachtungsurteil von dem unmittelbar Wahr¬ 
genommenen unterscheidet. In der Regel vergeht eine gewisse 
Zeit nach dem Auftauchen des Sinneseindruckes, bis ein Urteil 
abgegeben wird. Was in dieser Zeit mit dem Wahrnehmungs¬ 
inhalte geschieht, muß klargestellt werden. Ist das Urteil nur 
eine Ausprägung dessen, was die Sinneswahrnehmung schon ent¬ 
hält, oder bringt es zum unmittelbaren Eindrücke etwas Wesent¬ 
liches hinzu bzw. modifiziert ihn? 

Wenn für einen speziellen Fall eine klare Sinnes Wahrnehmung 
nicht vorliegt, sind offenbar zur Abgabe eines bestimmten Urteiles 
■subjektive Ergänzungen nötig. Wenn aber ein klarer psychischer 
Wahrnehmungsprozeß stattgefunden hat, fällt es schwer, bedeu¬ 
tendere Abweichungen zwischen der ursprünglichen Wahrnehmung 
und dem Beobachtungsurteile zuzugeben. Die sogenannte »Ver- 
gegenständlichung« des psychischen Vorganges der Sinneswahr¬ 
nehmung durch ein primäres Urteil scheint nichts prinzipiell Ver¬ 
schiedenes von der direkten, einfachen Beobachtung zu sein, wenn¬ 
gleich die Vergegenständlichung wesentlich durch subjektive, nicht 
in dem Reize liegende Faktoren bedingt ist. 

Wie ausgeftthrt worden ist, hat man in einer einfachen, wäh¬ 
rend einer Sinneswahrnehmung stattfindenden Klärung der Vor¬ 
stellung keinen neuen Bewußtseinsprozeß zu erblicken. Deshalb 
wird man auch nach dem Aufhören der eigentlichen Sinnes¬ 
wahrnehmung, solange die Vorstellung noch unmittelbar im Be¬ 
wußtsein bleibt, kaum einen von der Sinnesauffassung dif¬ 
ferenten Prozeß als Ursache für eine weitere Klärung der 
Vorstellung annehmen können. Es sind dieselben subjektiven 
Faktoren, die schon beim Zustandekommen der Sinneswahrnehmung 
mitwirken mußten und die nachher eine weitere Verdeutlichung 
der Vorstellung herbeiführen, sei es, daß auch die objektiven 
Momente noch weiter wirken und nur der Bewußtseinsgrad der 
Sinneswahrnehmung zonimmt, sei es, daß nur noch die Bubjek- 


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258 


C. Minnemann, 

Erläuterungen, da hierauf die sogenannte psychische Simultaneität 
einer Zeitstrecke sich gründet. Die unmittelbare Bewußtheit einer 
Sinneswahrnehmung geht nicht sofort mit dem Aufhören der ob¬ 
jektiven Heize, oder sobald das Aufhören derselben bemerkt wird, 
zu Ende. Wahrscheinlich dauern die zentraleren Erregungspro¬ 
zesse, die durch die Sinnestätigkeit hervorgerufen wurden, noch 
eine Weile an. Tatsächlich hat man noch eine Zeitlang ein un¬ 
mittelbares Bewußtsein der bereits vergangenen Sinneswahrneh¬ 
mung. Diese Erscheinung hat man sich aber nicht so vorzustellen, 
daß die Sinneswahrnehmung in gleicher Weise, wie sie aktuell 
vorhanden war, nur vielleicht etwas abgeblaßt, fortbesteht, sondern 
man bemerkt deutlich einen Unterschied. Man weiß, daß die ob¬ 
jektive Reizaufnahme nicht mehr stattfindet. Dennoch ist die Ver¬ 
änderung des Bewußtseinsinhaltes nicht derartig, daß man hierfür 
einen neuen psychischen Prozeß ansetzen müßte. Es hat vielmehr 
den Anschein, als ob bloß eine- bestimmte Nuancierung des 
Wahrnehmungsprozesses, die durch die aktuelle Beteiligung 
objektiver Faktoren bei der Reizaufnahme hervorgerufen war, jetzt 
fehlt, so daß aber die Kontinuität des Vorganges durch die Kon¬ 
stanz subjektiver Faktoren gewahrt bleibt, die ebenfalls von An¬ 
beginn der Wahrnehmung, bzw. schon vorher, an dem psychischen 
Prozesse beteiligt waren. Somit läßt sich der Standpunkt ver¬ 
treten, daß keine getrennten Bewußtseinsprozesse anzunehmen sind, 
weder für die Sinneswahrnehmung im engeren Sinne (Perzeption) 
und die Auffassung derselben (Apperzeption), noch für den Ge¬ 
samtvorgang der direkten Sinnesbeobachtung und die Erhaltung 
dieses Bewußtseins über die Dauer der eigentlichen Sinneswahr¬ 
nehmung hinaus. 

Zunächst ist der Eindruck der Unmittelbarkeit durch die 
Kontinuität des Bewußtseinsprozesses gegeben. Aber es ist für 
den Eindruck der unmittelbaren, auf eine Sinneswahrnehmung 
zurückgehenden Bewußtheit offenbar nicht unbedingt erforderlich, 
daß wirklich der psychische Prozeß kontinuierlich fortbesteht. 


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1. Theor. Erürter. iib. die Differenz von Wahrnehmungsgeschwindigkeiten. 259 


Es ist das natürlichste, als Ursache für die Fortdauer dieses Ein¬ 
druckes der Unmittelbarkeit physiologische Prozesse oder von der 
Erregung zurtickgelassene Dispositionen anzunehmen. Denn eine 
psychische Fortdauer der Vorstellung in einer unbewußten Sphäre 
oder unterhalb der Merklichkeit erscheint für den hier vertretenen 
Standpunkt nicht angängig. Dann ist es allerdings nicht leicht, 
die noch unmittelbar bewußten Sinnesvorstellungen gegen die aus 
der Wiedererinnerung entstandenen Eindrücke abzugrenzen. Je¬ 
doch ist es fraglich, ob eine derartige Scheidung überhaupt nötig 
ist. Vielleicht stellt die Erinnerung, soweit sie sich mit Bestimmt¬ 
heit als solche charakterisiert, nur ein Rudiment ursprünglicher 
Sinneswahrnehmung bzw. anderer aktuell gewesener psychischer 
Prozesse dar, das auf Grund der damals entstandenen physio¬ 
logischen Dispositionen durch irgendeinen Anlaß erneut ein Be¬ 
wußtsein auslösen kann. Insoweit im Bewußtsein eine deutliche 
Beziehung auf ein früheres Erlebnis besteht, kann man noch von 
einer unmittelbaren Bewußtheit dieses Prozesses reden. Das Kri¬ 
terium für die Unmittelbarkeit wäre demnach ein subjek¬ 
tives. Mag der spätere psychische Inhalt sich noch so sehr von 
dem ursprünglichen Erlebnis unterscheiden, indem subjektive Fak¬ 
toren in der Zwischenzeit eine modifizierende Wirkung ausgeübt 
haben: soweit der subjektive Eindruck besteht, daß ein direkter 
Zusammenhang mit dem ersten Wahrnehmungsprozesse vorliegt, 
und daß keine wesentlichen subjektiven Modifikationen nachträg¬ 
lich vorgenommen sind, fehlt die Berechtigung, die wirkliche Un¬ 
mittelbarkeit des späteren Prozesses in Abrede zu stellen. Ebenso¬ 
wenig berechtigt eine Inkonzinnität des Wahrnehmungsbildes gegen¬ 
über einem objektiven Reize zu dem Schlüsse, daß überhaupt kein 
unmittelbar bewußter Aufnahmeprozeß stattfand. So trägt eine 
Wahrnehmungstäuschung in gleicher Weise den Charakter einer 
unmittelbaren Wahrnehmung wie eine den objektiven Verhältnissen 
besser gerecht werdende Auffassung. Möglicherweise sind bei einer 
Sinnestäuschung mindestens die zentraleren Erregungsprozess^ 
schon entsprechend der Täuschung modifiziert. Vielleicht besitzt 


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260 


C. Minnemann, 


Schwierigkeiten za ergeben scheinen. Eine Sukzessionsvorsteilang 
kommt dadurch zustande, daß psychische Prozesse sukzessiv ent¬ 
stehen. Da nun der Moment des Wechsels nur einen einzigen 
Zeitpunkt erfüllt, so scheint auch die Dauer einer derartigen Suk¬ 
zessionsvorstellung nur eine momentane sein zu können, und es 
erscheint zunächst nicht verständlich, wie eine derartige Vorstellung 
sich länger im Bewußtsein erhalten kann. Aber diese Schwierig¬ 
keit ist nur eine scheinbare. Einerseits ist die Vorstellung einer 
Sukzession z. B. zweier Wahrnehmungen nicht allein an die Mo¬ 
mente des Eintretens der Empfindungen gebunden, sondern auch 
im weiteren Verlaufe, z. B. durch die Phasen des An- und Ab¬ 
klingens, gibt sich die Zeitdifferenz der beiden Empfindungen kund 
und bleibt für einige Zeit anschaulich im Bewußtsein bestehen. 
Andererseits besitzt man an der Reproduktionsmöglichkeit kon¬ 
kreter psychischer Zusammenhänge ein Mittel, sich die ursprüng¬ 
liche Aufeinanderfolge wiederholt psychisch zu vergegenwärtigen. 
Denn die unmittelbare Bewußtheit eines Wahrnehmungsprozesses 
bezieht sich nicht bloß auf den Inhalt dieses Vorganges, sondern 
auch auf seinen zeitlichen Ablauf und den erlebten Zusammen¬ 
hang mit anderen Bewußtseinsvorgängen. Man darf sogar au- 
nehmen, daß die unmittelbare Bewußtheit der zeitlichen Verhält¬ 
nisse eines Erlebnisses unter Umständen die Bewußtheit der 
qualitativen Inhalte überdauert. Aus der konkreten Sukzessiojis- 
vorstellung kann sich auf diese Weise schon eine Art Sukzessions¬ 
urteil entwickeln, das längere Zeit im Gedächtnis festgehalten 
wird. Natürlich kann ein solches Urteil auch bereits entstehen, 
solange noch inhaltliche Seiten des Wahrnehmungsvorganges relativ 
stark bewußt sind. Für die Zuverlässigkeit des Urteiles ist es 
sogar wichtig, daß das Zeiturteil in möglichst naher Beziehung 
zu den konkreten Erlebnissen steht. Wenn das Urteil erst ge¬ 
bildet wird, nachdem die unmittelbare Bewußtheit der Prozesse, 
auf die es sich bezieht, schon beträchtlich herabgemindert ist, so 


werden sich um so leichter subjektive Modifikationen des eigent¬ 
lich Erlebten einstellen können. Dasselbe ist der Fall, w^enn über¬ 
haupt keine deutliche Wahrnehmung zustande kommt, etwa bei 


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I. Theor. Erürter. üb. die Differenz von VVahrnelmningegeschwindigkeiteu. 261 


anderen Erlebnissen angewiesen. Es ist deshalb Aufgabe jeder 
exakten Untersuchung Uber die Zeitverhältnisse von Wahrneh¬ 
mungen, genau zu unterscheiden zwischen dem unmittelbar sinn¬ 
lich Erlebten und zwischen eventuellen späteren Zutaten und 
Modifikationen, die das Urteil beeinflußt haben. Im einzelnen 
Falle ist die sichere Feststellung dieser Momente manchmal nicht 
leicht, so daß ein gewisser Spielraum hinsichtlich der Auslegung 
des psychischen Vorganges bestehen bleibt. Im allgemeinen aber 
darf inan behaupten, daß, sofern der psychische Eindruck der un¬ 
mittelbaren Bewußtheit vorhanden ist, diese auch wirklich existiert. 

Die Hauptgesichtspunkte Uber die unmittelbare Zeit¬ 
vorstellung sind also kurz folgende. 

Die unmittelbare Sukzessionsvorstellung schließt sich durchaus 
an die konkreten Bewußtseinserlebnisse an und entsteht nicht erst 
durch einen besonderen psychischen Prozeß. Soweit eine Suk¬ 
zessionsvorstellung unabhängig von mittelbaren Prozessen existiert, 
enthält sie nur tatsächliche Beziehungen der Bewußtseinsvorgänge, 
so daß keine Abweichung zwischen den Zeitverhältnissen der un¬ 
mittelbaren Wahrnehmung und der darauf bezüglichen unmittel¬ 
baren Zeitvorstellung möglich ist. Ein einzelner erlebter Zeit¬ 
punkt kann für längere Dauer im Bewußtsein bleiben in derselben 
Art, wie ganze Vorstellungen oder einige ihrer Teilinhalte längere 
Zeit unmittelbar im Bewußtsein verharren können. Dieser Um¬ 
stand verhindert nicht, daß die direkte Sukzessionswahrnehmung 
innerhalb der sogenannten Bewußtseinsdauer einer bestimmten 
Vorstellung fortschreiten kann und sogar sehr feine psychische 
Zeitunterschiede innerhalb dieser Zeitspanne Vorkommen können. 
Denn die Bewußtseinsdauer einer Vorstellung bedeutet nicht einen 
psychischen Zeit-»Punkt«, sondern sie ist gerade dadurch als Zeit¬ 
strecke kenntlich, daß sich während des Vorhandenseins einer 
unmittelbaren Bewußtheit noch andere psychische Vorgänge ab¬ 
spielen oder verschiedene Phasen der unmittelbaren Bewußtheit 
erkennbar sind. Dementsprechend ist die Tatsache der Gleich- 
zeitiffkeitszone bei rasch aufeinanderfolgenden Beizen auf wirk- 


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262 


C. Minneruann. 


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5) Bedeutung der Oleichzeitigkeitszouen ftir den Vergleich von 
Wahrnelimiingsgesclnvindigkeiten. 


Da es sich bei dem Vergleiche von Wahmehmungsgeschwindig- 
keiteu darum handelt, Eindrücke von rasch aufeinanderfolgenden 
Reizen zu beobachten, so stößt man bei der Untersuchung unwill¬ 
kürlich auf die erörterte Erscheinung der Gleichzeitigkeitszone. 
Es erhebt sich die Frage, wie diese Größe rechnerisch zu be¬ 
handeln ist und welche Unterschiede sich aus den verschiedenen 
Beobachtungsmethoden für sie ergeben. 

Zwei Reize lassen sich also nicht beliebig einander nähern, 
so daß noch stets subjektive Differenzen der Zeitfolge bestehen, 
sondern bei einer gewissen objektiven Zeitdistanz erscheinen die 
Eindrücke als gleichzeitig, und auch bei weiterer zeitlicher An¬ 
näherung der Reize gegeneinander bleibt die Auffassung eine 
koinzidente. Es ergibt sich aber, daß meistens die objektive Dif¬ 
ferenz, bei welcher die zeitliche Verschmelzung der Reize eintritt, 
nicht die gleiche ist, wenn man die Reizfolge umkehrt. So macht 
es eineu Unterschied aus, ob man den Grenzpunkt der Gleich¬ 
zeitigkeit für eine Reizfolge Licht-Schall bestimmt oder ob mau 
den äußersten subjektiven Koiuzidenzpunkt für die Folge Schall- 
Licht aufsucht. Die Verhältnisse der umgekehrten Reizfolge lassen 
sich als Fortsetzung der ersten Anordnung betrachten, da bei 
gleichbleibender Verschiebungsrichtung eines Reizes gegen den 
anderen die Reihenfolge der Reize umschlägt, sobald der objek¬ 
tive Gleichzeitigkeitspunkt überschritten wird. Das von beiden 
Grenzpunkten eingeschlossene Gebiet stellt demnach die 
gesamte Zone für subjektive Gleichzeitigkeit zweier 
Reize dar. Meistens verteilt sie sich asymmetrisch um den ob¬ 
jektiven Gleichzeitigkeitspunkt. Manchmal kann auch der Fall 
eintreten, daß beide Grenzpunkte subjektiver Gleichzeitigkeit auf 
derselben Seite des objektiven Koinzidenzpunktes liegen, so daß 
die eine der beiden Reizfolgen niemals als gleichzeitig, sondern 
stets als zeitlich dilferent aufgefaßt wird. Dies wird jedoch, wie 


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I. Tbcor. Erürter. üb. die Differenz von Wahmehinungsgeschwindigkeiten. 263 


stimmte Aufmerksamkeitseinstellung kann eine derartig bedeutende 
Zeitverschiebung der objektiven Vorgänge herbeigeführt werden. 

Der Betrag der Gleichzeitigkeitszone, also die gesamte Strecke 
für subjektive Gleichzeitigkeit zweier Keize, ist zunächst insofern 
von Interesse, als man daraus die Präzision der zeitlichen 
Auffassung beider Reize erkennen kann. Vergleicht man den 
Umfang der Gleichzeitigkeitszonen zweier Darbietungen, in denen 
die objektiven und subjektiven Verhältnisse des einen Eindruckes 
konstant geblieben sind, während man die Bedingungen des an¬ 
deren Eindruckes nach dieser oder jener Hinsicht variiert hat, so 
läßt sich die Differenz der Beobachtungsergebnisse auf den vari¬ 
ierten Faktor beziehen. Je geringer die Gleichzeitigkeitszone 
ausfällt, desto geringer ist der Spielraum für die subjektive Zeit¬ 
verschiebung des einen oder anderen Reizes bei ihrem Zusammen¬ 
treffen, desto präziser erscheint der Moment des Eintretens der 
Empfindungen begrenzt. Durch geeignete Variation der Unter¬ 
suchungsbedingungen findet man ziemlich genau den Anteil 
heraus, der dem einen oder anderen der Reize bzw. ihren Eigen¬ 
schaften und den für sie bestehenden speziellen Auffassungs¬ 
dispositionen für die Bildung der Gleichzeitigkeitszone zukommt. 
Eine gewisse Unsicherheit der Auslegung läßt sich allerdings bei 
dem Vergleiche kaum ausschließen, da es schwer ist, bei Vari- 
ierung eines Reizes die Auffassungsverhältnisse des anderen ge¬ 
nau konstant zu erhalten. Wenn nun auch die Gleichzeitigkeits¬ 
zone ein Produkt ist, das aus dem nahen Zusammentreffen zweier 
Keize resultiert, so liegt es dennoch nahe, daß diese Schwelle 
auch für größere Intervalle der Reize und für das isolierte Vor¬ 
kommen eines Reizes ihre Bedeutung hat. Für diese Fälle wird 
eine ähnliche Verschiebbarkeit des Auffassungsmomentes bestehen, 
wie sie in der Gleichzeitigkeitszone für zwei kurz aufeinander¬ 


folgende Reize zutage tritt. 

Wichtiger als die Größe der Gleichzeitigkeitszone, aus der sich 
eine angenäherte Vorstellung von der Präzision des subjektiven 
Wahrnehmungsmomentes ableiten läßt, ist für die Feststellung 
der relativen Wahrnehmungsgeschwindigkeit die Lage der Zone 
zu dem durch die Auffassung des anderen Reizes gegebenen 


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264 


C. Miimeinauu. 


tration größeren Schwankungen unterworfen ist, wird der Mittel¬ 
punkt der Schwelle hiervon weniger berührt. Deshalb ist für den 
Vergleich der Wahrnehmungsgeschwindigkeiten dieser aus den 
Grenzpunkten der Gleichzeitigkeitszone sich ergebende durch¬ 
schnittliche subjektive Gleichzeitigkeitspunkt zu wählen. Die 
direkten Beobachtungsdaten lassen sich jederzeit aus den mit¬ 
geteilten Zahlen rekonstruieren. Man braucht zu diesem Zwecke 
nur die Hälfte der Gleichzeitigkeitszone zu dem berechneten 
Mittelwerte der Zeitverschiebung zu addieren bzw. zu subtrahieren. 

Jedoch erfordert die Benutzung des mittleren Zonenpunktes 
für deu Vergleich von Wahrnehmungsgeschwindigkeiten einige 
Erläuterungen. Besonders ist zu überlegen, ob sich nicht durch 
diesen Schritt die Fragestellung der Untersuchung wesentlich 
verschiebt. Das wird kaum der Fall sein; denn der festgestellte 
Mittelwert bedeutet den durchschnittlichen Betrag der Zeitverschie¬ 
bungen, die bei wechselnder Aufeinanderfolge der betreuenden, 
rasch sukzedierenden Reize möglich sind. Bald wird der eine, 
bald der andere Reiz infolge der zeitlichen Verschmelzung der 
Wahrnehmungen verhältnismäßig früher oder später aufgefaßt. 
Durchschnittlich aber besteht eine Verschiebung mehr zugunsten 
des einen als des anderen Reizes. Der Mittelwert stellt also w r ohl 
deu allgemeineren Fall der Wahrnehmungsverschiebung dar, un¬ 
abhängig von der speziellen nahen Aufeinanderfolge der Reize, 
und scheint daher auch für die Auffassung eines einzelnen Reizes 
eine entsprechende Gültigkeit zu besitzen. Durch die Lage des 
Mittelpunktes der Gleichzeitigkeitszone imVergleich zum Nullpunkte 
der Verschiebung ist diese mittlere Wahrnehmungsdiflerenz bestimmt. 


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—I-1--1-> 

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Fig. 2. 


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Figur 2 erläutert diese Verhältnisse. Es stelle L, S die für 
die Reizfolge Licht-Schall gefundene Zeitstrecke dar, innerhalb 
welcher die Reize als gleichzeitig erscheinen. S L 2 bezeichne die 
analoge Zeitstrecke für die Reizfolge Schall-Licht. Die gesamte 


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I. Theor. Erörter. üb. die Differenz von Wabrnehmungsgeschwindigkeiten. 265 


tive Zusammenfallen beider Reize, die Expositionsdifferenz Null 
darstellen würde. Der Abstand des Zonenmittelpunktes M von 
diesem Punkte S läßt die durchschnittliche Verschiebung des Licht¬ 
reizes gegenüber dem Schallreize erkennen; d. h. der Lichtreiz 
muß durchschnittlich um den Betrag 5 M früher geboten werden 
als der Schallreiz, damit er diesem gleichzeitig erscheint. Die 
mittlere Verschiebung der Lichtauffassung ist in diesem Beispiel 
positiv, denn das Schema stellt die Verhältnisse der objektiven, 
nicht der subjektiven Zeitreihe dar. 

Nach dieser Darstellung liegt stets eine Wahrnehmungsver¬ 
schiebung vor, wenn der Mittelpunkt der Gleichzeitigkeitszone 
nicht mit dem Auffassungsmomente des Normalreizes zusammen¬ 
fällt. Es ist also nicht erforderlich, daß beide Grenzpunkte der 
Gleichzeitigkeitszone auf derselben Seite des Zeitpunktes für die 
Auffassung eines Normalreizes liegen, so daß eine wirklich vor¬ 
handene Sukzession subjektiv umgekehrt würde oder in Wirklich¬ 
keit gleichzeitig vorhandene Sinneseindrücke sukzessiv wahrge¬ 
nommen würden. Für die Konstatierung einer Zeitverschiebung 
genügt es, daß eine subjektive Gleichzeitigkeit zweier Eindrücke 
eher erreicht wird, wenn man den variablen Reiz von der einen 
Seite dem konstanten zeitlich nähert, als wenn man ihn von der 
anderen Seite heranrückt. So hat schon Exner, der zuerst die 
Frage nach der relativen Wahrnehmungsgeschwindigkeit zweier 
Reize experimentell in Angriff nahm, seine Versuchsresultate inter¬ 
pretiert. Seine Ergebnisse können deshalb nicht etwa als Beleg 
dafür gelten, daß eine eigentliche Zeitverschiebung in den betref¬ 
fenden Fällen nicht stattgefunden habe. Selbst wenn man den 
Grund für die verschiedene Distanz der Grenzpunkte für Gleich¬ 
zeitigkeit in einer verschiedenen Dauer des Ansteigens und der 
Nachwirkung der Reizung sehen wollte, ist doch zu bedenken, 
daß die Untersuchung nur nach dem ersten Eintreten der Wahr¬ 
nehmung fragt, wobei die Ursachen der Verschiebung für die Fest¬ 
stellung der Tatsache zunächst nicht in Betracht kommen. Z»um 
Teil wird die Verschiebung sicherlich durch peripher-physiologische 
Verzögerungen hervorgerufen. Aber wenn eine verschiedene lDa ttCr 
des Ansteigens einer Empfindung in dem Sinne angenommen wi r< ^ 


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266 


C. Minnemann, 


dieser Vorgang keinen Einfluß mehr auf den zu bestimmenden 
Zeitpunkt des ersten Bewußtwerdens der Empfindung haben. 
Eine Wahrnehmungsverschiebung kann sowohl subjektiv wie 
auch objektiv, iu diesem Falle einfach durch Differenzen der 
Erregungsprozesse bei gleichen subjektiven Bedingungen, herbei- 
geführt werden. Denn es sollen nicht nur durch die Auf¬ 
merksamkeit bedingte Abweichungen als Zeitverschiebungen 
gelten. 

Daß schon bei ungleicher Verteilung der Gleichzeitigkeitszone 
um den objektiven Gleichzeitigkeitspunkt zweier Reize die Be¬ 
dingungen für eine wirkliche Zeitverschiebung vorliegen, ergibt 
sich schon daraus, daß beim Überschreiten der Grenzpunkte, also 
bei größeren Intervallen, die scheinbare Distanz sich als abhängig 
von dem zugehörigen Schwellengrenzwerte erweist. Denn be¬ 
obachtet man eine Reizfolge, die merklich distant erscheint, so 
richtet sich die Vorstellung des Intervalles nicht nach dem Ab¬ 
stande vom objektiven Gleichzeitigkeitspunkte, sondern nach der 
Entfernung von der Grenze des Gebietes scheinbarer Gleichzeitig¬ 
keit. Bei ungleicher Distanz beider Grenzpunkte vom objektiven 
Gleichzeitigkeitspunkte wird dasselbe objektive Intervall in der 
einen Reizfolge flir größer angesehen als in der anderen, d. h. die 
Verschiebung der objektiven Relationen ist für die eine Zeitfolge 
bedeutender als für die andere. Auch die Intervallschätzung 
richtet sich also nach dem Punkte mittlerer subjektiver Gleich¬ 
zeitigkeit. 

Noch an einer anderen Erscheinung sieht man, daß bei asym¬ 
metrischer Verteilung der Zone um den objektiven Gleichzeitig¬ 
keitspunkt eine eigentliche Zeitverschiebung vorliegt. Ändert man 
die objektiven oder subjektiven Faktoren der Wahrnehmung, so 
verschiebt sich die ganze Gleichzeitigkeitszone, d. h. der 
Bereich, innerhalb dessen unter den gegebenen Bedingungen die 
Eindrücke als gleichzeitig erscheinen. Auch die Einordnung eine» 
Reizes in eine durch andere Empfindungen gegebene subjektive 


Zeitreihe erfolgt gesetzmäßig, je nach den objektiven Reizungs¬ 
bedingungen oder subjektiver Anspannung bzw. nach der Auf- 


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I. Theor. Erörter. üb. die Difterenz von Walirnehimingsgeschwindigkeiten. 267 


Mittelwert der Zuordnungsmöglichkeiten als die durchschnittliche 
Wahrnehmungsverschiebung anzusehen *). 

Dennoch darf man nicht übersehen, daß der Mittelwert durch¬ 
schnittlicher Verschiebung nicht einen wirklich beobachteten Fall 
darstellt, sondern sich rechnungsmäßig aus den beiden Grenz¬ 
punkten der Gleichzeitigkeitszone ergibt. In erster Linie dient 
dieser Wert dazu, die Übersichtlichkeit der Ergebnisse zu erleich¬ 
tern. Dagegen soll seine Berechnung nicht etwa bedeuten, daß 
der Einfluß des Ansteigens und der Empfindungsdauer bzw. des 
Abklingens als gleichwertig für das Zustandekommen der Gleich¬ 
zeitigkeitszone angesehen wird. Es kann sehr wohl sein, daß die 
durchschnittliche Wahrnehmungsverspätung eines Lichtreizes im 
Vergleich zu Gehörseindrücken hauptsächlich auf Rechnung eines 
allmählichen Einsetzens der Lichtempfindungen zu stellen ist, oder 
daß sich Unterschiede des mittleren Gleichzeitigkeitspunktes auch 
aus der Dauer der Empfindungen ergeben. Aber es ist Sache 
einer speziellen Erörterung der Ergebnisse, auf diesen Punkt ein¬ 
zugehen und auch die Frage zu diskutieren, inwieweit etwa den¬ 
noch mittelbaren Ursachen ein Einfluß auf die Bildung des Be- 
obachtungsurteiles zuzuschreiben ist. 

Will man Resultate, die aus verschiedenen Untersuchungs¬ 
methoden für die Wahrnehmungsgeschwindigkeiten gefunden wer¬ 
den, miteinander vergleichen, so hat man natürlich die Art des 
Messungsvorganges zu berücksichtigen. Nicht bei allen Unter¬ 
suchungswegen wird methodisch ein Gebiet subjektiver Gleich¬ 
zeitigkeit festgestellt. Z. B. beim Reagieren auf den einen oder 
anderen Reiz, wobei nachträglich die Reaktionszeiten miteinander 
verglichen werden, liegt es schon in der Untersuchungsart, daß 
die Feststellung einer Gleichzeitigkeitszone auf direktem Wege 
ausgeschlossen bleibt. Es lassen sich höchstens die zu den Reizen 
gehörigen Streuungsgebiete nach gewissen Gesichtspunkten in Be¬ 
ziehung setzen. Aber diese Schwellen sind keineswegs identisch 
mit der bei einer direkten Reizvergleichung auftretenden Gleich¬ 
zeitigkeitszone, die nach der Methode der Minimaländerung ge¬ 
funden wird. Ebensowenie: läßt sich bei Komnlikationsver- 


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C. Minneinaim. 


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Glockenscklag in die Bewegungserscheiuuug eines Zeigers einge¬ 
ordnet werden soll, lassen sich sehr wohl die Punkte bezeichnen, 
an denen die Schallempfinduug und der optische Eindruck eben 
zusammenzufallen scheinen und wo diese Eindrücke subjektiv 
wieder auseinandertreten, und mau findet auf diese Weise eine 
Zone subjektiver Gleichzeitigkeit für das akustische und optische 
Sinnesgebiet. Aber es ist zu beachten, daß die Grenzpunkte dieses 
Gebietes unter ungleichen Bedingungen bestimmt wurden. Bei 
der Bestimmung des ersten Grenzpunktes bewegte sich der Zeiger 
auf den Bereich der Gleichzeitigkeit hin, an dem zweiten Punkte 
verließ er diese Zone wieder und rückte kontinuierlich weiter 
davon ab. Berechnet man aus beiden Schwellenpunkten den mitt¬ 
leren Koinzidenzpunkt, so enthält das Ergebnis den Faktor ein¬ 
seitiger Beobachtungsrichtung, und der auf diese Weise gefundene 
Wert läßt sich nicht ohne weiteres mit der Bestimmung der Wahr¬ 
nehmungsgeschwindigkeit disparater Einzelreize vergleichen. 

Die an der Komplikationsuhr auftretende Einseitigkeit der Be- 
obachtuugsrichtung ist eine ähnliche, wie sie bei einer unvoll¬ 
ständigen Messung von Unterschiedsschwellen nach der Methode 
der Miuimaländerungen auftritt. Wenn man bei der Minimal¬ 
methode nur in einer Richtung die Punkte der Gleichheit und 
ebenmerklichen Verschiedenheit bestimmt, dagegen nicht auch 
den umgekehrten Weg einschlägt, um aus allen vier Werten das 
Mittel zu berechnen, so zeigt sich eine analoge Verschiebung des 
Durchschnittes infolge der einseitig gerichteten Aufmerksamkeit. 
Bei den Komplikationsversuchen besteht überhaupt nicht die Mög¬ 
lichkeit, die Beobachtungsrichtung gleichwertig umzukehren; denn 
der optische Eindruck wird durch eine Beweguugserscheinung dar¬ 
gestellt, deren zeitlicher Ablauf naturgemäß nicht entsprechend 
umkehrbar ist. Selbst wenn man bei sogenannter Skalenbeobach¬ 
tung versucht, von einem Punkte zeitlichen Auseinanderfallens der 
Sinneseindrücke wieder zur Zone subjektiver Koinzidenz zurlick- 
zukehren, liegen für diesen Weg die Beobachtungsbedingungen 


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I. Theor. Erörter. lib. die Differenz von Walirueliuiungsgeschwindigkeiteu. 269 


keitspunkt besitzt, erhält man an der zweiten Grenze der Schwelle, 
wenn man den Punkt eben noch vorhandener Gleichzeitigkeit auf 
dem rückläufigen Wege bestimmen will, erst durch die folgende 
Umdrehung des Zeigers Aufschluß darüber, ob man durch eine 
korrigierte Annahme schon die Grenze erreicht hat oder um 
wieviel mau sich darin geirrt hat. In dieser Besonderheit der 
Schwellenbestimmung liegt eine Eigentümlichkeit, die an jedem 
Bewegungsvorgange zu bemerken ist; dennoch hat man die da¬ 
durch bewirkte Verschiebung nicht eigentlich durch die Bewegung 
bedingt anzusehen, sondern durch die Einseitigkeit der Zonen¬ 
ablesung, die freilich bei einer Bewegungserscheinuug nicht anders 
möglich ist. Bei einem Vergleiche solcher Beobachtungen mit 
Zeitverschiebungen zwischen Einzelreizen ist dieser Umstand zu 
berücksichtigen und nach einer dann etwa noch verbleibenden 
Differenz der Beobachtungen zu fragen, die speziell als Einfluß 
der Bewegung aufzufassen wäre. 

Die Einseitigkeit der Ablesung tritt an der Komplikationsuhr 
um so stärker hervor, wenn man, wie es häufig geschieht, über¬ 
haupt keine Zone, sondern nur den ersten Grenzpunkt der Gleich¬ 
zeitigkeitszone bestimmt und diesen als den eigentlichen Punkt 
der Gleichzeitigkeit mit dem Schalleindrucke ansieht. Diese Art 
der Ablesung scheint mit der Annahme zusammenzuhängen, daß 
die Ausdehnung der psychischen Gleichzeitigkeit durch die längere 
Dauer des Schalleindruckes verursacht würde. Es ist aber die 
Aufgabe, auf den Beginn der Schallempfindung zu achten und 
sich nicht durch deren Dauer irritieren zu lassen. Auch dann, 
wenn man sich an die Bedingungen der Aufgabe hält, erweist 
sich eine größere Strecke der Zeigerbeweguug als gleichzeitig mit 
dem Beginn der Schallwahrnehmung, in analoger Weise, wie es 
eine größere Schwelle für Gleichzeitigkeit bei Einzelreizen gibt. 
Bestimmt man also an Komplikationserscheinungen nur den einen 
Grenzwert der Schwelle, so fällt auch dieses Moment bei einem 
Vergleiche mit den Ergebnissen anderer Zeitverschiebungen be¬ 
deutend ins Gewicht. 


Dagegen entsteht ein spezifischer Einfluß der Bewegungs- 
erscheinune- auf, die Zeitverschiebnner schon dadurch, daß sich 


imune- auf, die Ze 

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C. Minnemanu 


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Tendenz, daß man den Einordnungspunkt möglichst früh anzunelmien 
sucht. Je langsamer die Bewegung vor sich geht, um so besser 
gelingt es, den Schall relativ früh anzusetzen, denn eine raschere 
Zeigerbewegung erfordert zur Wahrnehmung einen größeren Auf¬ 
wand von Aufmerksamkeit. Bei langsamer Rotation dagegen kann 
sich die Aufmerksamkeit mehr auf die Wahrnehmung des Schall¬ 
reizes konzentrieren. Es ist das Natürliche, daß sich die Auf¬ 
merksamkeit vornehmlich diesem als dem zu beobachtenden, neu 
eintretenden Phänomen zuwendet; daraus erklärt sich zur Genüge, 
daß gewöhnlich eine sogenannte negative Zeitverschiebung statt¬ 
findet. Es kommt hinzu, daß ein geringerer Grad von Aufmerk¬ 
samkeit beim Beobachten die Folge haben würde, daß der Schall¬ 
reiz zu spät angesetzt werden würde, da die Zeigerbeweguug 
kontinuierlich fortschreitet und die Auffassung derselben ohne be¬ 
deutende Aufmerksamkeit vor sich gehen kann. Hat man jedoch 
den ersten Moment der Schallwahrnehmung zur Feststellung des 
augenblicklichen Zeigerortes verpaßt, so erscheint die Wahrnehmung 
des akustischen Reizes verspätet, weil der Zeiger mittlerweile 
weiter vorgerückt ist. Anders liegen natürlich die Dinge, wenn 
man bei undeutlicher Wahrnehmung des Vorganges sich nachträg¬ 
lich die eigentliche Lage für den Beobachtungsmoment vergegen¬ 
wärtigen will. Dann besteht wiederum die Neigung, den Punkt 
rückwärts, entgegengerichtet der Zeigerbewegung, zu verschieben. 
Bei rascher Drehung ist der Erfolg dieser Tendenz, in Zeit be¬ 
rechnet, geringer als bei langsamerer Rotation'). Der Beobachter 
muß sich daher im einzelnen Falle genau darüber klar sein, wie 
weit seine Angaben den Inhalt unmittelbarer Wahrnehmung dar¬ 
stellen und wie weit sie etwa das Ergebnis modifizierender Re¬ 
flexion sind. 

Einen Einfluß auf das Beobachtungsresnltat kann außerdem 
bei langsamer Rotation dem Bewegungsnachbild zugeschrieben 
werden, wenn man der Zeigerbewegung mit dem Blicke folgt und 
den Skalenpunkt im kritischen Moment durch Fixieren festzuhalten 
sucht. Da die Skala zunächst eine der Zeigerbewegung entgegen- 


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I Tbeor. Erürter. üb. die Differenz von Walimehmungsgeßchwindigkeiteu. 271 

negative Verschiebung des Schallortes begünstigen. Jedenfalls 
müssen die Beobachtungserscheinuugen genau analysiert werden, 
wenn eine Parallele zu den einfacher bedingten Zeitverschiebuugen 
gezogen werden soll, und wenn etwaige Differenzen, die spezi¬ 
fisch von der Bewegungserscheinung verursacht sind, aufge¬ 
zeigt werden sollen. Zum Teil erklären sich die Abweichungen 
der Zahleuwerte schon aus der verschiedenen Beobachtungs¬ 
art. 

Für die Bestimmung der Gleichzeitigkeitszone zweier Einzel¬ 
reize liefert die Methode der Minimaländerungen rasch sichere 
Werte. Meistens ist es nicht nötig, alle vier Grenzpunkte der 
Schwelle zu bestimmen, die nach dieser Maßmethode möglich sind; 
sondern in der Regel genügen die beiden Punkte, die den Über¬ 
gang von merklicher zeitlicher Distanz zur subjektiven Gleich¬ 
zeitigkeit bezeichnen. Dieses Verfahren wird auch als Methode 
der Gleicheinstellung oder der mittleren Fehler bezeichnet, ist 
aber im Grunde nur eine vereinfachte Minimalmethode. Für die 
Berechnung der Schwelle sind in der Regel die so gefundenen 
Werte ausreichend. Denn es zeigt sich, daß diese Grenzen bei 
Wiederholung der Versuche relativ konstant bleiben und sich 
diese Bestimmungen durch subjektive Sicherheit auszeichnen. 
Dagegen fallen die Beobachtungen über die ebenmerkliche Zeit¬ 
distanz nach Überschreiten der Gleichzeitigkeitszone bedeutend 
unsicherer aus. Der Einfluß der Aufmerksamkeitsrichtung läßt 
sich nach dieser Methode ziemlich gut eliminieren, und es 
genügten verhältnismäßig wenige Beobachtungen, um sichere 
Resultate Uber den Einfluß verschiedener objektiver 
Reizfaktoren auf die Wahrnehmungsgeschwindigkeit zu ge¬ 
winnen. 

Weniger exakt sind die Messungen über die Wirkung subjek¬ 
tiver Faktoren auf den Wahrnehmungsvorgang. Denn hierbei 
liegen die Bedingungen bedeutend komplizierter. Bestimmte Ge¬ 
setzmäßigkeiten lassen sich auch hier nachweisen; aber die Zahlen- 
ercebnisse können unmöglich von derselben Präzision sein wici 


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C. Minnemann, 


wie sich etwa verschiedene Helligkeiten quantitativ festsetzen 
lassen. Man möchte umgekehrt den Grad der Aufmerksamkeit 
aus ihrer Wirksamkeit auf die Wahrnehmungsgeschwindigkeit 
messen. Solchen Messungen käme jedoch kein praktischer Wert 
zu, weil die Aufmerksamkeit so inkonstant ist, daß eine Bestim¬ 
mung derselben schon für den nächsten Moment keine Gültigkeit 
mehr hätte, vor allem aber, weil die gefundenen Werte sieh nicht 
auf die Aufmerksamkeitsverhältnisse bei einer andersartigen Be¬ 
schäftigung übertragen ließen. 

Von größerer Bedeutung ist für die Untersuchung der subjek¬ 
tiven Faktoren namentlich der Umstand, daß sich der Aufmerk¬ 
samkeitseinfluß bei der Zeitvergleichung zweier Empfindungen aus 
zwei differenten Momenten zusammensetzt, aus einer Begünstigung 
des einen Eindruckes und einer Hemmung des anderen. Bei der 
Auffassung zweier Reize handelt es sich meistens um eine Auf¬ 
merksamkeitsverteilung. Wenn die Aufmerksamkeit dem einen 
Eindrücke zugewendet ist, so liegt darin meistens, daß sie von 
dem anderen relativ stark abgewendet wird. Anscheinend ist mit 
dieser Einstellung, abgesehen von dem bloßen Fortfall einer mitt¬ 
leren Auffassuugsbegünstigung, häufig zugleich eine direkte Hem¬ 
mung der Wahrnehmungsgeschwindigkeit des weniger beachteten 
fundruckes verbunden. Diese Hemmung kann unter Umständen 
einen solchen Stärkegrad erreichen, daß der Reiz überhaupt nicht 
mehr zur Wahrnehmung gelangt. Bei der experimentellen Unter¬ 
suchung der Wahrnehmungsgeschwindigkeit ist ein solcher Fall 
natürlich ausgeschlossen, da die Beobachtung einen gewissen Grad 
der Aufmerksamkeitskonzentration auch für den weniger beach¬ 
teten Reiz zur Voraussetzung hat. Aber die Tatsache der Auf¬ 
merksamkeitsverteilung läßt es doch praktisch unmöglich er¬ 
scheinen, einen Normalreiz für zwei Beobachtungen in völlig 
gleichem Beachtungsgrade zu erhalten, w r enn die Beachtung des 
anderen Reizes variiert wird. Außerdem liegt bei solchen Beob¬ 
achtungen wiederum eine Selhsttänschiiner über die Unmittelhnr- 


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I. Theor. Erürter. üb. die Differenz von Wahruelnnungsgeschwindigkeiten. 273 


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stehenden Zeitverschiebungen sind ziemlich gering. Eine weit 
größere Verschiebung wird durch eine andere Art der Aufmerk¬ 
samkeitsrichtung erreicht, durch die Tendenz, den einen Eindruck 
möglichst rasch aufzufassen. Dazu gehört als Korrelat die Ver¬ 
zögerung der anderen Wahrnehmung. Auch dieser Verschie¬ 
bungseinfluß der Beachtung gestattet unmittelbare Wahrneh¬ 
mungen. Es ist aber naheliegend, die Verhältnisse der unmittel¬ 
baren Wahrnehmung infolge der Verschiebungstendenz zurlicktreten 
zu lassen. Die Ditferenzen beider Beobachtungsarten liegen prin¬ 
zipiell darin, daß das eine Mal die Aufmerksamkeit möglichst 
objektiv auf die Zeitfolge der Eindrücke gerichtet ist und nament¬ 
lich die Entstehungszeit des einen der Eindrücke genauer be¬ 
achtet wird; im anderen Falle tritt der beachtete Reiz in seiner 
ganzen Breite qualitativ und intensiv ins Bewußtsein und es 
herrscht die Absicht einer Auffassungsverschiebung, so daß sich 
der Wahrnehmungsvorgang dann auch tatsächlich anders zeitlich 
abspielt. Beiden Fällen gebührt theoretisch ein großes Interesse; 
aber die zweite Beobachtungsart liefert noch weniger zahlen¬ 
mäßig bestimmte Resultate als die erstere, bei der die Auf¬ 
merksamkeit mehr auf die objektiven Zeitverhältnisse gerich¬ 
tet ist. 


Bei der Zeitvergleichung zweier Eindrücke aus ein und dem¬ 
selben Sinnesgebiete gibt es noch einen anderen Anhaltspunkt für 
die Messung, als die Grenzpunkte der eigentlichen Gleichzeitig¬ 
keitszone. Dieser Fall zeigt sich z. B. bei der Untersuchung mit 
zwei Lichtreizen, die auf differente Netzhautstellen fallen. Noch 
innerhalb der Gleichzeitigkeitszone bemerkt man dann Unterschiede 
der Empfindung. Die von den Reizen ausgelösten Empfindungen 
besitzen nämlich eine verschiedene Dauer, je nach der Distanz 
der Expositionsmomente. Folglich kann man noch eine engere 
Zone bestimmen, innerhalb welcher die Eindrücke nicht nur gleich¬ 


zeitig, sondern zusammen auch möglichst kurzdauernd erscheinen. 
Diese Zone läßt sich am bequemsten so feststellen, daß man die¬ 
jenigen Reizdistanzen aufsucht, wo die Eindrücke an Dauer wieder 
zu wachsen scheinen. Diese Beobachtungsverhältnisge geben zu¬ 


gleich die Möglichkeit, auch die sonst weniger 

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gut bestimmbaren 

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hat man ein vorbereitendes Kriterium für das erste Merkbarwerden 
einer Differenz der Empfindungseinsätze. 

Demnach stehen in diesem Falle drei Schwellenwerte für die 
Berechnung der mittleren Zeitverschiebung zur Verfügung. Außer 
der Zone für subjektive Gleichzeitigkeit läßt sich eine etwas 
größere Zone für ebenmerkliche Zeitdistanz der Reize auf¬ 
stellen und eine wesentlich engere Zone für Konziunität, die 
sich auf die kürzeste Dauer der Empfindungen bezieht. Die 
Mittelpunkte dieser drei Zonen fallen gewöhnlich etwas ausein¬ 
ander. Am konstantesten ist die Bestimmung der mittleren Wahr¬ 
nehmungsgeschwindigkeit durch die engste Zone, die der Kon- 
zinnität; aber auch die aus den weiteren Zonen der Gleichzeitig¬ 
keit berechueten Mittelwerte weichen meistens nicht beträchtlich 
von jener Bestimmung ab. Daher lassen sich auch alle drei 
Mittelwerte zu einem Gesamtdurchschnitt vereinigen, und das Er¬ 
gebnis aus einer solchen vollständigen Messung ist einigermaßen 
zuverlässig; letzteres schon deshalb, weil die zugrunde liegenden 
Beobachtungen rasch ausführbar sind. 

Die Tatsache, daß sich innerhalb der Gleichzeitigkeitezone 
noch ein Gebiet für Konzinnität abhebt, mag überraschend 
erscheinen. Denn man sollte meinen, daß bei völligem zeitlichen 
Zusammenfallen beider Empfindungen die Dauer derselben keine 
Rolle mehr spielen dürfte. Etwas anderes wäre es, wenn durch 
beide Reize dieselbe Netzhautstelle erregt würde, oder wenn die 
Untersuchnngsfrage nicht ausdrücklich auf den Anfang der Emp¬ 
findungen sich bezöge. Keineswegs aber hat man an den Dif¬ 
ferenzen der einheitlichen Empfindungsdauer, die trotzdem auch 
in unserem Falle auftreten, einen Beleg dafür, daß sekundäre 
Bewußtseinsprozesse an der Wahrnehmung beteiligt wären oder 
gar überhaupt die Zeitvorstellung erst durch einen von den Emp¬ 
findungen gesonderten psychischen Akt zustande käme. Nach der 
oben dargelegten Auffassung der Wahrnehmungsvorgänge hat man 
vielmehr diese Erscheinung so auszulegen, daß durch die Erregung 
einer Netzhautstelle bzw. durch die zugehörige zentrale Weiter¬ 
leitung auch die Wahrnehmuugsgeschwindigkeit für eine andere 
Netzhautstelle nicht nur beschleunigt wird, sondern auch der Er- 


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I. Theor. Erörter. üb. die Differenz von Wahrnehraungageschwindigkeiten. 275 


wußtseinsdauer beider Reize erscheint somit über die normale 
Größe verlängert, da die Wahrnehmung durch Betätigung empfind¬ 
licher eingestellt ist; der psychische Prozeß setzt früher ein und 
klingt langsamer aus. Natürlich kann es sich bei solchen Wahr- 
nehmungsVerschiebungen nicht um eine absolute Verfrühung der 
Auflassung eines Reizes handeln, bevor dieser dargeboten ist, 
sondern der zweite Eindruck tritt nur weniger verspätet nach 
dem Beginn der peripheren Erregung ins Bewußtsein ein als 
der erste. Beide werden mit einer absoluten Verspätung 
aatgefaßt, wie in einem der vorigen Abschnitte dargelegt 
wurde. 

Es könnten sich jedoch Bedenken einstellen, ob ein derartiges, 
sich auf die Dauer der Eindrücke stützendes Kriterium überhaupt 
ftir die Bestimmung von Wahrnehmungsgeschwindigkeiten verwertet 
werden darf. Wollte man nur die Wahrnehmungsgeschwindigkeit 
speziell für die rasche Aufeinanderfolge zweier Reize feststellen, 
so dürfte man allerdings dieses Beobachtungsmittel, das auf die 
Empfindungsdauer rekurriert, nicht anwenden. Aber schon die 
tatsächlich sich ergebende nahe Übereinstimmung des aus diesen 
Beobachtungen gefundenen mittleren Zeitpunktes mit dem Mittel¬ 
punkte der weiteren Gleichzeitigkeitszone gibt eine gewisse Ge¬ 
währ dafür, daß es sich beidemal um ein Abhängigkeitsverhältnis 
von der Wahrnehmungsgeschwindigkeit handelt. Vor allem aber 
berechtigt zu dieser Beobachtungsart das Interesse, die Differenzen 
der absoluten Wahrnehmungsgeschwindigkeiten von Sinnesge¬ 
bieten oder Reizarten festzustellen. Diese allgemeinen Verhält¬ 
nisse kommen offenbar auch in der Zone der »Konzinnität« zum 
Ausdruck, während die Erscheinung der eigentlichen Gleichzeitig¬ 
keitszone als ein Produkt der raschen Aufeinanderfolge zweier 
Reize, also mehr durch die besonderen Verhältnisse bedingt er¬ 
scheint. Die Verlängerung der Empfindungen außerhalb der Kon- 
zinnitätszone läßt sich kaum anders erklären als dadurch, daß 
die normalen Empfindungsprozesse, die'; für isolierte oder in 
größeren Abständen exponierte Reize gelten, noch teilweise aus¬ 
einanderfallen würden; durch das zeitliche Übereinandergreifen 


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II. 


Bisheriger Stand der Untersuchungen über die 
Wahrnehmungsgeschwindigkeit von Licht- und 

Schallreizen. 

Mit 2 Figuren (Figur 3 und 4) im Text. 


Inhaltsübersicht. Peit , 

1) Untersuchungswege und aufgestellte Hauptergebnisse 

a) der Reaktionsmethode.278 

b) der direkten Vergleichung zweier Sinneseindrücke.283 

c) der Komplikationsversuche.285 

2) Vergleichende Zusammenstellung der wichtigsten Zahlenergebnisse 
(nebst einer Tabelle) 

a) nach Reaktionsversuchen.290 

b) nach der Methode der direkten Vergleichung.291 

e) nach Komplikationsversuchen.301 

3) Zusammenfassung.309 


Der vorliegende Abschnitt will eine kritische Übersicht geben 
über die wichtigsten Feststellungen, die auf dem Gebiete der Wahr¬ 
nehmungsgeschwindigkeit von Licht- und Schallreizen bisher ver¬ 
sucht worden sind. Denn mit der experimentellen Erforschung 
dieses Problems hat sich bereits eine große Zahl von Arbeiten 
befaßt, um namentlich einzelne Seiten der Frage klarzustellen. 
Es erscheint deshalb erwünscht, die Hauptbefunde kurz zusammen¬ 
zufassen, damit man um so leichter erkennt, wo sich noch Lücken 
in der Behandlung dieses Gebietes finden. Zugleich aber dürfte 
es wichtig sein, die gefundenen Ergebnisse miteinander, soweit es 
möglich ist, zu vergleichen und festzustellen, ob auch die Resul¬ 
tate übereinstimmen oder ob sie im einzelnen einander wider¬ 


sprechen und zu einer erneuten Untersuchung anffordern. Ein 
solcher Vergleich ist nur dadurch möglich, daß manche der An¬ 


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miteeteilt worden sind, einer 

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C. Minnemann, 


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werden. Jedoch darf man sich nicht verhehlen, daß dieses Ver¬ 
fahren schließlich doch nur einen Notbehelf darstellt. Zur ein¬ 
wandfreien Beantwortung der Fragen gehört eine einheitlich 
durcbgeflihrte Untersuchung, die sich über das ganze Gebiet er¬ 
streckt. Aber zur vorläufigen Orientierung Uber den augenblick¬ 
lichen Stand der Untersuchungsfragen mag die kritische Übersicht 
doch einiges beitragen. Denn es wird schon mancherlei zur 
Sichtung des Materiales und zur Bewertung der Feststellungen 
erreicht werden können. 


1) Untersuchung«wege und aufgestellte Hauptergebnisse. 

Drei Hauptwege kommen für die Untersuchung von Wahr¬ 
nehmungsgeschwindigkeiten in Betracht: Die Methode der Reaktion 
auf verschiedene Reize, die direkte Vergleichung von Auffassungs¬ 
zeiten für Reize desselben oder verschiedener Sinnesgebiete und 
die Einordnung eines oder mehrerer Eindrücke in eine längere 
Empfindungsreihe eines anderen Sinnesgebietes, die sogenannten 
Komplikationsversuche. 

a) Reaktionsmethode. 

Die Reaktionsmethode ist auf psychologische Fragen zuerst 
in Anwendung gebracht worden von Exner 1 ), der auch den Ter¬ 
minus der Reaktionszeit geprägt hat. Die Methode selber war 
damals bereits bei einigen Physiologen in Gebrauch, um die 
Fortpflanzungsgeschwindigkeit einer Erregung in den Nervenfasern 
zu messen; Exner aber unternahm es, in den MessungsVorgang 
die zentrale Leitung mit verschiedenen Bewußtseinsverhältnissen 
einzubeziehen, und legte die Besonderheit dieser Untersuchungsart 
gegenüber anderen Methoden zur Feststellung der sogenannten 
persönlichen Gleichung dar. In seiner Abhandlung findet sich 
auch ein Literaturnachweis Uber angrenzende Untersuchungen, die 
namentlich zur Beseitigung des persönlichen Fehlers von Astro- 


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11. Stand d. Unters, üb. die Wahrnehmungsgeschw.v. Licht-u. Schallreizen. 279 


Das von den Astronomen schon vorher befolgte Verfahren 
manueller Registrierung von Sterndurchgängen kann nach Exners 
Ausführungen nicht als reine Reaktion angesehen werden, weil 
bereits die Annähernng des Sternes zu den Fäden hin sichtbar 
ist. Es handelt sich in solchem Falle also nicht um ein Reagieren 
auf einen einfachen Sinnesreiz; sondern es liegen kompliziertere 
Bedingungen vor. Die Sternbewegung Uber die Fäden hin soll 
möglichst synchron mittaktiert werden. Dieses Verfahren wurde 
als Signalisierungsmethode bezeichnet. Es lieferte augenscheinlich 
viel größere Registrierungsschwankungen als das einfache, zuerst 
von Exner untersuchte Reaktionsverfahren. Auch rhythmische 
Wiederholung des Versuches ließ keine eigentliche Reaktionszeit 
erkennen, da dann manchmal der motorische Impuls schon früher 
abgegeben wurde, als der Reiz eintrat. 

Die Messung der Zeiten erfolgte bei Exner graphisch. Eine 
Beziehung der Reaktionszeiten zum Alter und Temperament der 
Versuchspersonen konnte er nicht feststellen. Nur einige Medika¬ 
mente zeigten einen deutlichen Einfluß, während andere sich 
als indifferent erwiesen. Auch das Gefühl für die längere oder 
kürzere Dauer der erfolgten Reaktion war durchweg sehr gut 
ausgeprägt. Im übrigen gewann Exner den Eindruck, daß feinere 
Unterschiede der Sinnesreize schwerlich in det Gesamtheit der 


Prozesse zum Ausdruck kämen. Zum Teil mag dieses negative 
Ergebnis vielleicht in dem langsamen Experimentieren bei diesen 
ersten Versuchen seinen Grund haben. Eine der Vp. hat in der 
ersten Versuchsreihe nur drei Reaktionen ausgeführt. Aber aus 
allgemeinen Erwägungen heraus möchte man trotzdem diesem 
Befunde beipflichten. Denn in die Reaktionszeit geht eine ganze 
Reihe von Faktoren ein und zeigt sich hierin so eng verschmolzen, 
daß es kaum möglich erscheint, den Zahlenwert der Wahrnehmungs¬ 
geschwindigkeiten für verschiedene Reiz- und Auffassungverhält¬ 
nisse aus dem Gesamtergebnis herauszuschälen. Daher möchte 
man der ganzen Methode nur eine sekundäre Bedeutung zur 


Lösung dieser Fragen zusprechen. 

Wenn man sich auch die größte Mühe gibt, nur einen der zu 
untersuchenden Faktoren zu ändern, die übrigen an dem Vorgänge 

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C. Minnemann 


beziehen. Es sei beispielsweise zuerst auf einen Schallreiz, dann 
auf einen Lichtreiz reagiert worden; dann weiß man noch nicht, 
ob der Übergang von der Empfindung zur Auslösung einer Be¬ 
wegung für beide Sinnesgebiete gleich gut ausgebildet ist, oder 
ob er sich etwa rascher für einen Schalleindruck als für eine 
Lichtperzeption vollzieht. Gewöhnlich werden Differenzen nach 
dieser Richtung hin angenommen, da man gewohnheitsmäßig 
leichter auf einen Schallreiz als auf eine Lichterscheinung mit 
einer Bewegung reagiert. Bisher lagen eindeutige Resultate für 
die Differenzen von Wahrnehmungsgeschwindigkeiten noch nicht 
vor. Deshalb konnte Uber den Wert der Reaktionsmethode für die 
Feststellung von Wahrnehmuugsgeschwindigkeiten noch keine 
sichere Entscheidung getroffen werden. Auf eine weitere Ursache 
für die Schwierigkeit der Analyse von Reaktionszeiten weist 
Wirth in seinem Buche hin 1 ). Er betont, daß jedes der im 
Ganzen nacheinander ablaufenden Stadien des Reaktionsprozesses 
bereits vorgebildet ist, bevor es deutlich in die Erscheinung tritt. 
Ein augenfälliges Beispiel für diese Verhältnisse ist die Bildung 
von Gesamtimpulsen für kompliziertere Handlungen; die Aus¬ 
führung ist offenbar größtenteils bereits durch das vorbereitende 
Stadium determiniert. 

Aus ähnlichen Gründen erscheint es unmöglich, aus Reaktions¬ 
versuchen die Dauer eines Apperzeptionswechsels zu berechnen. 
Wundt nimmt für diesen Vorgang ein Minimum von 20—30 o 
an, indem er diese Größe aus der kleinst möglichen Differenz 
zwischen muskulärer und sensorieller Reaktion folgert 2 ). Es ist 
aber fraglich, ob die Zeitunterschiede beider Reaktionsarten durch 
einen Apperzeptionswechsel hervorgerufen werden. Man vergleiche 
hierüber die kritischen Ausführungen von Ach 3 ). Die größere 
Dauer der sensoriellen Reaktion scheint zu einem bedeutenden 
Teile durch einfache Verlängerung der mit Bewußtsein verknüpften 
Komponenten des Prozesses verursacht zu sein. Auch darf man 
sich die apperzeptive Tätigkeit bei der Sinneswahrnehmung nicht 


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II. Stand d. Unters, üb. die Wahrnehmungsgeschw. v. Licht- u. Schallreizen. 281 


I 


wie die zahlenmäßige Bestimmung dieses Vorganges nahe legt 1 ). 

Unser psychisches Erleben verläuft in der Regel nicht derart dis¬ 
kontinuierlich, daß es sich aus einzelnen aufeinander folgenden 
Apperzeptionsakten zusammensetzt, wenn sich auch natürlich Auf¬ 
merksamkeitsschwankungen mehr oder weniger periodisch ein-, 
stellen. Meistens besteht ein kontinuierlicher Übergang zu neuen 
Eindrücken, und die Beachtung stellt sich nicht abrupt ein. 

Während neue Eindrücke aufitreten, klingen noch die früheren 
allmählich ab, so daß der Inhalt unseres Bewußtseins gewöhnlich 
in stetig sich änderndem Flusse abläuft. 

Würde die Apperzeption einen selbständigen psychischen Prozeß 
neben der einfachen Sinneswahrnehmung darstellen und das höhere 
Bewußtseinsleben sich aus solchen Einzelprozessen auf bauen, so 
würde auch die Auffassung zweier Sinneseindrücke, die nicht zu 
einer Gesamtvorstellung gehören, stets nur auf Grund von sukzes¬ 
siven psychischen Akten möglich sein, ähnlich wie Herbart 
eine Vorstellungskonkurrenz annimmt. In dieser Hinsicht würden 
sich namentlich schon für die Komplikationsbeobachtungen einige 
Schwierigkeiten ergeben, da es unmöglich sein soll, den Zeiger 
einer Komplikationsuhr und das Bild des auf die Glocke herab¬ 
fallenden Hammers in einem Akte zu apperzipieren. Analoge 
Verhältnisse würden für die subjektive Gleichzeitigkeit zweier 
einzelner disparater Eindrücke vorliegen, so daß es geboten er¬ 
scheint, von der Vorstellung besonderer Apperzeptionsakte ab¬ 
zusehen. 

i 

Übrigens verträgt sich die Ansicht, daß der Unterschied zwischen einer 
muskulären und sensoriellen Reaktion durch die Dauer des Apperzeptions- 
wechsels bedingt sei, nicht mit der Auffassung, daß nur physiologische 
Bedingungen der SinneBreizung den Unterschied zwischen den Reaktions¬ 
zeiten auf einen Licht- oder Schallreiz hervorrufen ? ). Für die beiden Reaktions- 


1) Bei Wundt findet sich die deutliche Scheidung des Reaktionsvor¬ 
ganges in die drei Akte der Perzeption, Apperzeption und Willenserregung, 
von denen namentlich die beiden letzteren »in deutlicher Aufeinanderfolge« 
erscheinen sollen (S. 412); und es wäre von Interesse, die Perzeptions-, 
Apperzeptions- und Willenszeit, nachdem sie von den rein physiologischen. 
Vorgängen der peripheren und zentralen Nervenleitung gesondert sind, soweit: 
als möglich einzeln za bestimmen fS. 411). Eine besondere Tätigkeit, «lies 


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C. Minnemann. 


arten ergibt sich nämlich nicht der gleiche Unterschied zwischen der Licht- 
und Schallreaktion. Die sensorielle Lichtreaktion dauert verhältnismäßig 
länger. Wenn dieses eine Folge der weniger ausgebildeten Koordination 
zwischen Gesichts- und Tastsinn ist, so daß der Apperzeptionswechsel bei 
einer sensoriellen Lichtreaktion mehr Zeit beansprucht als bei dem gleichen 
Reaktionsverfahren auf einen Schallreiz 1 ), dann wird außer den physiologi¬ 
schen Bedingungen der Sinnesreizung noch ein weiteres Moment zur Er¬ 
klärung der Reaktionsdifferenzen herangezogen, das zentraler bedingt ist oder 
gar als rein psychisch angesehen wird. 

Auf dem Wege der eingeschlagenen Betrachtung liegt es offen¬ 
bar, wenn die Differenzierung in Erkennungs-, Unterscheidungs¬ 
und Wahlreaktionen, die durch Don der s angeregt wurde, ebenso 
wie die Berechnung ihrer Teilstrecken wieder aufgegeben wird, 
da man die prinzipielle Gleichartigkeit dieser Reaktionsformen 
erkennt. So läßt Wirth nur noch den Hauptgegensatz zwischen 
einfacher und disjunktiver Reaktion bestehen, indem er die erstere 
als einen Grenzfall der letzteren bezeichnet. 

Trotz der engen Verschmelzung der in den ReaktionBvorgang 
eingehenden Prozesse ist man nicht genötigt, der Reaktionsmethode 
nur einen geringen Wert für die Erforschung mannigfaltiger Be¬ 
wußtseinsverhältnisse zuzuerkennen. Wirth und Kästner 2 ) haben 
allerdings für die Bestimmung des Klarheitsgrades von Gesichts¬ 
empfindungen nur in einem mittleren Übungsstadium eine Über¬ 
einstimmung mit den Resultaten direkter Beobachtung gefunden, 
während im übrigen keine Proportionalität nachzuweisen war. 
Dies paßt zu dem Exnerschen Ergebnis. Aber auf anderen Ge¬ 
bieten, so hinsichtlich der Hautsensibilität und der Feinheit der 
Lokalisation von Druckreizen (Rupp) hat die Reaktionsmethode 
dennoch zu greifbaren Ergebnissen geführt. Auch für kompli¬ 
ziertere Versuche, wie Assoziationsreaktionen, ist die Bedeutung 
der Methode eine unbestrittene. Namentlich scheint die Auf¬ 
stellung von »Häufigkeitskurven« eine feinere Analyse der ursäch¬ 
lichen Faktoren zu ermöglichen. Immerhin bleibt die Methode 
eine indirekte. Ihre Ergebnisse müssen nach Möglichkeit durch 
andere Beobachtungen gestützt werden. Besonders hinsichtlich der 


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II. Stand d. Unters, üb. die Wahmehmnngsgeschw.v. Licht- u. Schallreizen. 283 


b) Direkte Vergleichung zweier Sinneseindrücke. 

Mehr Vertrauen hat man bei Bestimmung der Wahrnehmungs¬ 
geschwindigkeit zu derjenigen Methode, die sich an die direkte 
Vergleichung zweier momentaner Reize hält. 

Diese Methode wurde gleichfalls zuerst von Exner 1 ) in exakter 
Form angewendet und als »Pointiermethode« von der üblichen 
Auge-Ohr-Methode der Astronomen unterschieden. Von den späteren 
Untersuchungen seien die von Bloch 2 ), Hamlin 3 ), Diew 4 ), 
Tracy 5 ), Weyer 6 ), Whipple und Peters 7 ) genannt. Die Er¬ 
gebnisse dieser Arbeiten sind z. T. aus dem Grunde nicht sehr 
übersichtlich, weil meistens nur die Grenzen der Gleichzeitigkeits¬ 
zonen, nicht aber auch der Mittelpunkt derselben angegeben 
wurde. Offenbar sind die Grenzen der aufgefundenen Schwellen 
viel weniger charakteristisch und besitzen für die Wahrnehmungs¬ 
geschwindigkeit keine so große Bedeutung wie der konstantere 
Zonenmittelpunkt; denn die Grenzen sind unter den verschiedensten 
Einflüssen sehr leicht verschiebbar. Eine Gleichzeitigkeitsschwelle 
ist rechnerisch ebenso zu behandeln wie jede andere Unterschieds¬ 
schwelle. Erst das Mittel aus den verschiedenen Beobachtungs¬ 
richtungen macht einen Vergleich verschiedener Messungen mög¬ 
lich. Dagegen liefern die einzelnen Grenzpunkte einer Schwelle 
interessante Spezialerscheinungen, die hauptsächlich durch die 
Aufmerksamkeitsrichtung hervorgerufen werden, die aber für die 
Messung der Wahrnehmungsgeschwindigkeiten doch erst an zweiter 
Stelle in Betracht kommen. Eine größere Anzahl von Beziehungs¬ 
linien erschwert zugleich die Übersicht. Man könnte nun meinen, 
den Mangel dadurch zu beseitigen, daß man nachträglich die 
charakteristischen Mittelwerte für die Beobachtungen früherer 
Untersuchungen berechnet. Aber abgesehen von einigen hierbei 
auftauchenden Bedenken wird sich herausstellen, daß eine Ein¬ 
stimmigkeit der Beobachtungsresultate nicht zu bewerkstelligen ist. 


1) Pflügers Archiv. Bd. XI. 1876. 

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C. Minnemann, 


Die Untersuchungen über die Wahrnehmungsgeschwindigkeit 
zweier Lichtreize haben z. T. ein und dieselbe Netzhautstelle 
affiziert, so daß richtige Ergebnisse, wie bereits gezeigt, auf diese 
Weise nicht gewonnen werden konnten. Auch in anderen Fällen 
scheint die Empfindungsdauer bei der Beobachtung der Zeitver¬ 
schiebung nicht ganz ausgeschlossen gewesen zu sein, da die 
Fragestellung nicht mit Rücksicht hierauf formuliert war. Für 
die Interpretation der gefundenen Werte wird z. B. häufig die 
verschiedene Nachwirkung der Reize angeführt. Augenscheinlich 
ist die Aufmerksamkeit der Beobachter nicht immer auf den Beginn 
der Empfindungen gerichtet gewesen, sondern es sind Punkte in 
der Nähe des Empfindungsmaximums ins Auge gefaßt worden, 
wie aus den Ergebnissen und Erklärungsversuchen zu schließen 
ist. In bezug auf die Intensität der Reize fand Exner keinen 
nennenswerten Einfluß: dagegen glaubte Weyer einen solchen 
nachgewiesen zu haben, während Hamlin eine differente Wirkung 
großer Intensitätsabschwächung auf verschiedene Personen auf¬ 
zeigte und durch eine abweichende Aufmerksamkeitseinstellung 
zu erklären suchte. Ähnlich glaubt Peters die Veränderungen 
der Wahrnehmungsgeschwindigkeiten bei Annäherung an die Reiz¬ 
schwelle auf den Einfluß der Aufmerksamkeit zurückführen zu 
müssen. Freilich soll nach ihm die »natürliche« Aufmerksamkeits¬ 
einstellung, die hierbei wesentlich in Betracht kommt, nichts 
anderes besagen, als daß bestimmte Perzeptionsakte beschleunigt, 
andere verzögert wurden 1 ). Durch diese Bedeutung wird der 
Gegensatz zur direkten Einwirkung der Intensität aufgehoben, und 
es ist nicht nötig, eine solche Abhängigkeit zu negieren, wenn 
man den natürlichen Aufmerksamkeitseiufluß in der erläuterten 
Form dafür an die Stelle setzt. Im übrigen ist der Faktor der 
Aufmerksamkeit in den früheren Untersuchungen verschiedentlich 
zur Erklärung herangezogen und sein Einfluß direkt untersucht 
worden; aber Erklärungen wie Messungen zeigen beträchtliche 
Differenzen, da der Begriff der Aufmerksamkeit augenscheinlich 


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II. Stand d. Untere, üb. die Wahrnehuiungsgeschw. v. Licht- u. Schallreizen. 285 

Beobachtung. Auch hinsichtlich der Übung bleibt die Frage 
unentschieden, ob sie eine Veränderung der Wahrnehmungs¬ 
geschwindigkeit herbeiftlhrt. Von einigen wird eine solche in 
Abrede gestellt. 

c) Komplikationsversuche. 

Schließlich sollte man auch aus den Komplikationsver¬ 
suchen einen Beitrag zur Lösung der Frage nach der verschie¬ 
denen Wahrnehmungsgeschwindigkeit erwarten; oder wenigstens 
müßten die Resultate der direkten Vergleichungsmethode hier 
wiedergefunden werden können. Hierzu könnten eventuell noch 
andere, die Geschwindigkeit des Wahrnehmungsprozesses beein¬ 
flussende Faktoren hinzukommeu, die ebenfalls bestimmt werden 
könnten. Begründet wurde die wissenschaftliche Untersuchung 
der Komplikationserscheiuungen auf psychologischem Gebiete von 
Wundt, nachdem die früheren Untersuchungen lediglich in astro¬ 
nomischem Interesse unternommen waren. Von Wundt wurden sie 
in Anlehnung an Herbart, der die Verbindungen ungleichartiger 
Vorstellungen Komplikationen genannt hatte, mit dem hierauf 
bindeutenden Namen belegt. Der Begriff Komplikation erscheint 
demnach eigentlich auf die Einordnung eines oder mehrerer Ein¬ 
drücke in eine Reihe von Empfindungen eines anderen Sinnes¬ 
gebietes eingeschränkt; dagegen wäre die Verbindung gleichartiger 
Reize zu einer Gesamtvorstellung wohl als Assimilation zu be¬ 
zeichnen. Diese Unterscheidung ist hier jedoch nicht wesentlich, 
da sich bei der Einordnung eines Einzelreizes in eine kontinuier¬ 
liche Reizreihe desselben Sinnesgebietes analoge Erscheinungen 
ergeben, wie bei den eigentlichen Komplikationsversuchen. Ein 
indifferenter Name für beide Vorgänge wäre etwa durch den Be¬ 
griff der »Einordnung« gegeben. Die auftretenden Zeitverschie- 
bnngen könnten »Einordnungsverschiebungen« genannt werden 
zum Unterschiede von den »einfachen« Wahrnehmungsverschie- 
bungen, die bei der direkten Zeitvergleichung einzelner Reize 
beobachtet werden J ). 

Die Versuche sind in großem Umfane-p. von anderen Forschern 


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C. Minnemann 


Komplikationspendel ausgeführt, so in den Untersuchungen von 
v. Tchisch 1 ) und Pflaum 2 ). Einen Apparat mit gleichförmiger 
Geschwindigkeit benutzten die Amerikaner Angel und Pierce 3 ); 
ebenso untersuchte Geiger 4 ) an einer Komplikationsuhr. Ein¬ 
gehende Untersuchungen am Komplikationspendel sind neuerdings 
von Klemm 5 ) vorgenommen, und liber mehrfache Einordnung an 
der Komplikationsuhr sollen Versuche von Hey de veröffentlicht 
werden, Uber die Wirth bereits in seinem Buche berichtet hat. 
Die alten Leipziger Arbeiten konstatierten für gewöhnlich eine 
negative Verschiebung des Schalleindruckes gegenüber der Reihe 
der GesichtseindrUcke; eine positive Tendenz trat hervor bei 
rascherer Geschwindigkeit und bei verzögerter Zeigerbewegung. 
Die Amerikaner dagegen fanden bei gleichförmiger Bewegung 
keinen bemerkenswerten Einfluß der Geschwindigkeit, wohl aber 
eine deutliche Abhängigkeit von der Übung des Beobachters. Die 
Versuche von Geiger heben namentlich drei Faktoren als be¬ 
stimmend für den Einordnungspunkt hervor, außer der Geschwindig¬ 
keit und der Übung die Bewegungsrichtung des Zeigers. Daß die 
Übung auf die Komplikationsbeobachtungen einen Einfluß besitzen 
soll, ist bemerkenswert, da bei der direkten Zeitvergleichung 
zweier Einzelreize die Übung nach Ansicht einiger Forscher keine 
Rolle spielt. Allerdings ist ein Vergleich der Resultate von Kompli- 
kationsbeobachtungeu mit denjenigen der einfachen Reizvergleichuug 
schwer durchzuführen. Es sind andere Reize, die hier zur Be¬ 
obachtung kommen; außerdem sind sie von wechselnder Intensität 
und Dauer auch innerhalb der Versuchsreihen. Die Gesichtsein- 
drücke nähern sich hier teilweise schon stark der Empfindungs¬ 
schwelle, die nach dem übereinstimmenden Urteile mehrerer 
Forscher bei der direkten Methode eine deutliche Abweichung der 
Beobachtungsergebnisse von denen bei normaler Intensität hervor- 
rufen. Auch der Schalleindruck verändert seine Stärke mit der 
Umdrehungsgeschwindigkeit des Uhrwerkes, wenn die Auslösung 
des Klanges durch den direkten Klöppelanschlag erfolgt. Vor 


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daß auch bei einer negativen oder positiven Verschiebung eine 
genaue Anpassung vorliegen kann. Solches trifft stets dann zu, 
wenn bei aufeinanderfolgenden Umdrehungen der Einordnungs¬ 
punkt an die gleiche Stelle verlegt wird. Außerdem ist zu be¬ 
denken, daß der Nullpunkt der Verschiebung einigermaßen zu¬ 
fälliger Natur ist und keine besondere Bedeutung beansprucht. 
Denn einerseits ist mit einer normalen Auffassungsverschiebung 
zu rechnen, die ftir einzelne Licht- und Schallreize gilt; anderer¬ 
seits besteht oft noch eine physikalische Differenz der Reizzeiten, 
die bei der Berechnung des objektiven Gleichzeitigkeitspunktes 
außer acht gelassen wird. Wenn der Schallreiz elektrisch oder 
durch einen sogenannten »Daumen« mechanisch ausgelöBt wird, 
so ist dabei eine gewisse Latenzzeit bis zum wirklichen Eintritt 
des Schalles zu berücksichtigen, und der durch langsame Um¬ 
drehung gefundene Skalenort für den Schall ist nicht demjenigen 
bei rascherer Rotation gleichzusetzen. 

Ebensowenig ist die Annahme zutreffend, daß bei sehr lang¬ 
samer Rotation die Zeitverschiebung verschwindet. Diese mag 
wohl herabgemindert sein, weil die Bewegungserscheinung weniger 
auffallend ist; aber wenn sich ein gänzliches Auf hören der Zeit¬ 
verschiebung heraussteilen würde, so stünde dieses im Widerspruch 
zu dem gewöhnlichen Ergebnis der direkten Zeitvergleichung von 
Licht- und Schallreizen, wonach letztere durchschnittlich rascher 
aufgefaßt werden. Nur wenn die Schallentstehung genau mit dem 
Vorbeistreichen des Zeigers an einem bestimmten Teilstriche zu¬ 
sammentrifft, was bei der Geigerschen Anordnung der Fall ge¬ 
wesen zu sein scheint, ist es natürlich, daß bei langsamer Be¬ 
wegung stets der richtige Teilstrich erkannt wird. Sonst aber, 
wenn auch die Zwischenräume zwischen zwei Teilstrichen hei der 
Einordnung für die Beobachtung in Frage kommen, wird eine, 
wenn auch nicht sehr bedeutende Einordnungsverschiebung wahr¬ 
scheinlich sein. Übrigens ist zu beachten, daß bei langsamer 
Rotation schon sehr kleine räumliche Schätzungsfehler, in Zeit 


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II. Stand d. Untere, üb. die Wahrnehmungsgeschw. v. Licht- u. Schallreizen. 289 


der verschiedene Einfluß des dritten Faktors, der Bewegungs¬ 
richtung, auf die Größe der Zeitverschiebung wesentlich als 
Wirkung einer geometrischen Täuschung heraus. Die Ableitung 
dieser Funktion aus einer ungleichmäßigen Augenbewegung ist 
kaum aufrecht zu erhalten, da sich der Einfluß auch bei reflek¬ 
tierender Beobachtung, also bei ruhiger Augenstellung zeigt. 
Außerdem könnte man meinen, daß ein Zurückbleiben der Augen¬ 
bewegung hinter der Geschwindigkeit des Zeigers auf die gesehene 
Stellung nicht sehr von Belang sein könnte, da doch der Zeiger 
und mit ihm seine optische Lage in bezug auf die Skala kon¬ 
tinuierlich fortschreitet, unabhängig von der jeweiligen Blickrichtung. 

Wenn demnach schon die an der Komplikationsuhr gewonnenen 
Beobachtungsresultate nicht ausreichend analysiert sind, als daß 
sichere Angaben Uber die speziellen Bedingungen der Wahr¬ 
nehmungsgeschwindigkeit sich machen ließen, so enthalten die 
Versuche an dem Komplikationspendel noch einen weiteren Faktor, 
der eine Eindeutigkeit der Resultate erschwert, die Beschleunigung 
oder Verzögerung der Bewegung. Erst neuerlich scheint es 
Klemm gelungen zu sein, durch eine verbesserte Untersuchungs¬ 
methode die Einflüsse der Beschleunigung oder Verzögerung 
wenigstens für bestimmte Schwingungsdauern herauszustellen. Die 
Resultate mehrfacher Komplikationen, die v. Tchisch an einem 
Pendelapparate erzielte, dürften kaum richtig ausgelegt werden, 
wenn die dabei auftretende positive Verschiebungstentenz daraus 
abgeleitet wird, daß die Spannung der Aufmerksamkeit durch die 
Bedingung einer mehrfachen Komplikation erschwert werde. Offen¬ 
bar braucht die Aufmerksamkeitsspannung nicht nachzulassen oder 
die Ursache des Effektes in einer geringeren Konzentration auf 
den einzelnen Eindruck zu liegen. Wahrscheinlich kommt einer¬ 
seits die Verschiebungstendenz der Aufmerksamkeit nicht so stark 
zum Ausdruck, während zugleich die auf die objektiven Verhält¬ 
nisse gerichtete Spannung derselben zunimmt. Denn durch die 
verschiedenen gleichzeitigen Eindrücke kann der objektive Zu¬ 
ordnungspunkt mehr zur Geltung gelangen, so daß eine willkürliche 
Verschiebung erschwert ist. Andererseits mag auch der Umstand 
mitwirken, daß unter solchen Bedingungen nicht der erste Eintritt 


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C. Minnemann 


jedoch nicht in Abrede gestellt werden, daß durch eine größere 
Anzahl gleichzeitiger Reize schon an sich die Wahrnehmung der¬ 
selben verzögert werden kann. Gerade die rein physiologische 
Seite des Wahrnehmungsvorganges legt diese Folgerung nahe. 
Nur darf man die beobachteten Werte nicht allein aus dem 
Momente verschiedener Wahrnehmuugsgeschwindigkeit erklären 
wollen, da auch die Art der Bestimmung des Einordnungspunktes 
dabei eine Rolle spielt; und es könnte eine unrichtige Vorstellung 
erwecken, wenn man die gemessenen Differenzen zwischen den 
Zeitpunkten für einfache und mehrfache Komplikation als den 
Betrag bezeichnet, den die erste, zweite, dritte usw. hinzutretende 
Komplikation zu ihrem Vollzüge brauche. Der Versuch von Hey de, 
die Verschiebungsgröße für jeden der einzuordnenden Reize ge¬ 
sondert zu bestimmen, wobei bis zu vier Zeigern zur Verwendung 
kamen, ist interessant. Hey de glaubt bei seiner Versuchsanordnung 
namentlich assoziative Bedingungen zur Erklärung heranziehen 
zu müssen. Eine endgültige Lösung scheint das Problem durch 
seine Versuche noch nicht zu erhalten. 

2) Vergleichende Zusammenstellung der wichtigsten Zahleu- 

ergebnisse. 

Vergegenwärtigt man sich nun die wichtigsten Zahlenergeb¬ 
nisse, die durch die verschiedenen Untersuchungsmethoden ge¬ 
wonnen sind, so tritt um so deutlicher die Notwendigkeit zutage, die 
Frage nach der Wahrnehmungsgeschwindigkeit erneut experimentell 
zu behandeln. Zur besseren Übersicht über die besprochenen Zahlen¬ 
ergebnisse sind diese auch in einer vergleichenden Tabelle nieder¬ 
gelegt worden. Es sei aber an die Eingangsbemerkung dieses 
Kapitels erinnert. 

a) Ergebnisse von Reaktionsversuchen. 

Die Reaktionsmessungen der älteren Arbeiten zeigen in 
ihren Ergebnissen bedeutende Verschiedenheiten, da die Unter- 


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II. Stand d. Unters, iib. die Wahmehmungsgeschw. v. Licht- u. Schallreizen. 291 

sind. Exner fand zwischen einer Licht- und Schallreaktion 
für sich einen Unterschied von 15 o und für einen anderen Be¬ 
obachter fast die gleiche Größe von 13 a. Donders erzielte eine 
noch geringere Anzahl, nämlich 8 a, Catteil 1 ) eine etwas höhere, 
25 o. Dagegen wurde von anderen Forschern die Differenz sogar 
auf 60 bis 80 a angegeben. Gleichzeitig bestand eine große 
Meinungsverschiedenheit hinsichtlich der absoluten Dauer des 
Reaktionsprozesses. Die neuesten Untersuchungen haben durchweg 
sehr niedrige, nicht weit über 100 a gehende Werte hierfür er¬ 
geben. Was die Intensität der Reize anlangt, so konstatierte 
Wundt in der Nähe der Schwelle ein Aufhören der Zeitdiffe¬ 
renzen für disparate Sinnesgebiete. Im übrigen fand Berger 2 ) 
mit steigender Intensität der Lichtreize die beträchtliche Ver¬ 
minderung der Reaktionszeit um 140 a, während Martius 3 ) für 
Schallintensitäten keine nennenswerte Abnahme der Reaktions¬ 
geschwindigkeit feststellcn konnte. Wirth und Kästner 4 ) ge¬ 
langten zu der Überzeugung, daß auch die verschiedene Netz¬ 
hautregion bei übermerklichen Lichtreizen keinen nachweisbaren 
Einfluß besitzt. Für die Geschwindigkeit der Reaktion soll hierbei 
entscheidend sein die verschieden rasch sich einstellende Vergegen¬ 
wärtigung, daß ein Reaktionsmotiv vorliegt. 

b) Resultate nach der Methode der direkten Vergleichung. 

Eine bessere Übereinstimmung der Resultate verschiedener 
Forscher scheint in bezug auf die Ergebnisse der direkten Zeit¬ 
vergleichung von Einzelreizen zu herrschen, die demselben 
Sinnesgebiete angehören, d. h. bei der Messung der sogenannten 
»eigentlichen absoluten Zeitschwelle«. Jedoch ist die Überein¬ 
stimmung nur eine scheinbare, da die annähernd gleichen Zählen- 
werte sich auf verschiedene Phänomene beziehen. Exner hat 
die Lichtreize auf differente Netzhautstellen ein wirken lassen und 
fand auf diese Weise eine Zeitschwelle von 44 o bei Beobachtung 
sukzedierender elektrischer Funken und 45 a bei sukzessiver Er¬ 
leuchtung von Löchern eines Gasflammenschirmes, vor dem sich 


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Tabelle: Hauptergebnisse früherer Untersuchungen. 


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II. Stand d. Unters, üb. die WahrnehmungageBchw.v. Licht- n. Schallreizen. 293 



grenzen bestimmt, da sie stets die 
gleiche Netzhautstelle affizierten. Ob¬ 
wohl somit die Empfindungsdaner in 
ihre Messungen einging, beträgt den¬ 
noch ihre Schwelle für merkliche Auf¬ 
einanderfolge der Reize nur 47 a nach 
den Messungen von Mach und nach 
Weyer, der seine Versuche mit dem 
Wnndtschen Zeitschwellenapparat und 
einem Fnnkeninduktorium anstellte, bei 
Helladaption 42,6 bis 52,8 o. Eine ge¬ 
ringere Schwelle konstatierte Exner 
allerdings, wenn er als Kriterium eine 
scheinbare Bewegung des leuchtenden 
Objektes annahm. Dann genügte be¬ 
reits eine Distanz von 15 bzw. 14 a 
zur Erkennbarkeit des Zeitunterschiedes. 
Diese Feststellung wird aber nicht als 
eigentliche Zeitschwelle anerkannt. Die 
Zahlen für die Gehörsschwelle mögen 
außer Betracht bleiben. Jedoch sei an¬ 
gemerkt, daß auch schon Exner neben 
seinerAnordnungmit Funkengeräuschen, 
ein Savartsches Rad benutzte, um die 
Zeitschwelle für Gehörsreize festzu¬ 
stellen. Zu diesem Zwecke waren die 
Stifte des Rades bis auf drei heraus¬ 
gezogen. Zu einer Tonentwicklung 
konnte es hierbei allerdings wohl nicht 
kommen; aber ob das sehr abweichende 
Mach sehe Resultat über die Zeitschwelle 
einer Tonunterbrechung richtig ist, kann 
bezweifelt werden, da eine exakte Ton- 


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294 


C. Minnemann, 


bzw. 60 ff als eben merkbare Zeitdistanz der Reize je nach ihrer 
Reihenfolge. Das bedeutet im Mittel eine um 50 a langsamere Wahr¬ 
nehmung des Lichtreizes. (Im Interesse eines Vergleiches sei es er¬ 
laubt, die Mittelwerte anzugeben, obgleich sie von den Autoren nicht 
berechnet sind.) Für eine andere Versuchsperson wurden nur 63 
bzw. 15 ff als Grenzen festgestellt, d. h. eine durchschnittliche 
Wahrnehmungsdifferenz von nur 24 a. Ungefähr dieselben Mittel¬ 
werte fand Haines 1 ) nach der Methode der r-Fälle: bei einmaliger 
Darbietung 20 ff, bei Wiederholung 29 ff. Die Grenzen lagen 
im ersten Falle bei 83 und 43 <j, im zweiten Falle bei 92 und 
34 ff. Bloch erreichte einen weit geringeren Wert innerhalb der 
Grenzen von 35,7 bzw. 27,8 ff, was nur eine durchschnittliche 
Lichtverspätung von 4 o ausmacht. Hamlin und Tracy ge¬ 
langten mit Hilfe der Methode der richtigen und falschen 
Fälle sogar zu entgegengesetzten Befunden. Für 75# r -Fälle 
konstatierte Hamlin ein Intervall von 32 o für die Folge Licht- 
Schall und 37 ff für die umgekehrte Reizfolge, also eine Schall¬ 
verspätung von durchschnittlich 2,5 ff; bei einer zweiten Vp. 
betrug diese relative Verspätung sogar 67 ff, als arithmetisches 
Mittel der analogen Intervalle von 35 a und 169 ff. Der von 
Tracy auf dieselbe Art gefundene Wert liegt zwischen den 
beiden letzteren, nämlich 11,5 Verspätung des Gehörseindruckes 
aus den Schwellenwerten 44 und 67 a. Ähnlich ergab sich nach 
Whipple bei einmaliger Darbietung eine Schallverspätung von 
20 ff aus den Grenzwerten 41 und 81 a. Bei rhythmischer 
Wiederholung traten bei ihm die Grenzpunkte der Schwelle be¬ 
deutend enger zusammen, und der Mittelpunkt derselben zeigte nur 
geringe Abweichungen von Null, meistens im Sinne einer lang¬ 
sameren Schallauffassung. Es herrscht somit eine außerodentlich 
große Streuung der Ergebnisse Uber die Frage nach dem Einfluß 
des Sinnesgebietes, so daß Wirth die Ansicht ausspricht, ea 
brauchten überhaupt keine wesentlichen mittleren Zeitverscbie- 


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II. Stand d. Unters, üb. die Wahmehmungsgeschw. v. Licht- u. Scballreizen. 295 

beinflußt. Der Prozentsatz der r- Fälle stieg bei einer Vp. hierdurch 
auf 80# gegen 32# unter normalen Verhältnissen; bei einer 
anderen Vp. sank er unter denselben Umständen von 92# auf 
42#. Dieser entgegengesetzte Effekt soll sich aus einem ver¬ 
schiedenen Verhalten der Aufmerksamkeit erklären. Jedoch können 
bei solchen Versuchen an der Schwellennähe auch schon die 
Merklichkeitsverhältnisse für verschiedene Vp. beträchtlich diffe¬ 
rieren. Daher könnte nur die Untersuchung einer größeren Zahl 
von Intensitätsstufen einen sicheren Aufschluß Uber die etwaige 
Abhängigkeit der Wahrnehmungsgeschwindigkeit von der Intensität 
der Reize geben. Die Wirkung der willkürlichen Aufmerksam¬ 
keit auf die Zeitverschiebung hatte Weyer besonders zum Gegen¬ 
stände seiner Untersuchung gemacht. Eliminiert man aus seinen 
Zahlenergebnissen Uber die Zeitverschiebung disparater Reize den 
Faktor der Aufmerksamkeit, so gut es angeht, indem man die 
Resultate der verschiedenen Aufmerksamkeitseinstellungen kom¬ 
biniert, so erhält man für den ersten seiner Beobachter ungefähr 
27 a als relative Auffassungsverspätung eines Lichtreizes, für eine 
zweite Vp. 6 a. Diese Werte würden mit den Ergebnissen Haines 
und Blochs verglichen werden können. Es muß allerdings be¬ 
merkt werden, daß zur Gewinnung dieser Durchschnitte die Resul¬ 
tate der zweiten Zeitlage (Gehör-Gesicht) aus den Beobachtungen 
zweier Vp. zusammengefaßt wurden, da jede Vp. diese Reizfolge 
nur in einer, aber in entgegengesetzter Aufmerksamkeitsbetonung 
bestimmt hat. Die Zusammenfassung darf jedoch wohl für eine 
angenäherte Berechnung zugelassen werden, da die betreffenden 
Zahlen nicht sehr von den Bestimmungen der vierten Vp. ab¬ 
weichen, die beide Einstellungen dieser Reihenfolge ausgeftihrt 
hat. Da das Material Weyers ziemlich unvollständig ist, läßt 
sich nur wenig daraus ablesen. Als durchschnittlicher Einfluß der 
Aufmerksamkeit, wie er aus den Werten für die Aufmerksamkeits¬ 
einstellung auf den Reiz eines bestimmten Sinnesgebietes in beiden 
Zeitlagen gefolgert werden kann, ergibt sich aus Weyers Angaben 
eine deutliche Verzögerung der Auffassung, während Hamlin 
irerade umgekehrt aus einer Abnahme des Zeitunterschiedes auf 

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296 


C. Minnemann, 


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2, 3 und 4. Wurde aber der akustische lieiz stärker beachtet, so 
resultierte für diesen sogar eine durchschnittliche Auffassungsver- 
spätung von 50,5 o (Beobachter 6). Vielleicht hat Weyer in 
Wirklichkeit etwas anderes als die Zeitverschiebungen bei dis¬ 
paraten Sinneseindrücken untersuchen lassen, da er sein Augen¬ 
merk auf die Prozesse des Ansteigens, Abklingens und der Däner 
der Empfindungen richtete 1 ). 


1) Nicht ganz zutreffend ist die Bemerkung Wundts über die Versuche 
Weyers (a. a. 0. S. 67;, daß die Schwellen für Zeitverschiebung disparater 
Reize im allgemeinen größer seien, wenn die Aufmerksamkeit auf den zuletzt 
kommenden Eindruck gerichtet sei, »ausgenommen beim Gesichtssinn«, wo 
offenbar infolge des langsamen Ansteigens der Lichtempfindung nun gerade 
diese Kombination für eine verhältnismäßig rasche Aufeinanderfolge der 
Empfindungen meist die günstigere sei. Bedenkt man, daß vorher erwähnt 
ist, die Zeitschwellen würden sehr viel größer, wenn sich die Aufmerksamkeit 
vorwiegend den Gesichtseindrücken zuwende, und es träte eine bedeutende 
Verlängerung der Schwelle bei vorangehendem Gesichtseindruck ein. so 
lassen sich diese Angaben wohl nur so vereinigen, daß man die Verkürzung 
der Schwelle bei Beachtung auf einen nachfolgenden Lichtreiz bezieht, 
wie es auch die natürlichste Auffassung ist, und daß sich die Verlängerung 
der Schwelle bei besonders beachteten Gesichtseindrücken nur für einen 
vorangehenden Lichtreiz zeigt. Diese Auslegung widerspricht aber dem an¬ 
geführten Zahlenmaterial von Weyer, das hierdurch erläutert werden soll. 

Man vergleiche seine Zahlen, soweit sie sich auf das Zusammentreffen 
von Lichtreizen mit anderen Sinneseindrücken beziehen. In der folgenden 
Übersicht heißt H Gehürsreiz, L Lichtreiz, T Tastreiz; HL bedeutet die 
Folge von Gehörs- und Gesichtsreiz, analog die übrigen Buchstabenzusammen¬ 
setzungen. Ein Strich unter dem einen der Buchstaben kennzeichnet den 
Reiz, auf den die Aufmerksamkeit gerichtet war. Die unter der Zeile Vp. 
stehenden Ziffern 1—7 sind die von Weyer gewählten Unterscheidungen 
der Vp. Wundt hat nur die hauptsächlich in Betracht kommenden Resultate 
von A, B, C angeführt. Unter dem Strich der Tabellen ist das Ergebnis 
der Aufmerksamkeitswirkung auf die angegebene Zeitschwelle der betreffenden 
Vp. gezogen, indem ein Wachsen durch Plus, eine Abnahme durch Minus 
bezeichnet ist. 


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Tabelle 1. Lichteindruck folgend. 



Vp. 

B (1) 

C (2) 

4 

A (6) 

3 

7 


B(l) 

C\2 

HL 

TJT 

47,1 

ha n 

50,1 

£Q O 

etw r a 60 

Ql Q 

nv n 

TL 

rrT 

20,4 

OQ O 

28.9 

IQ U 


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II. Stand d.Unters, üb. die Wahrnehmungsgeschw.v. Licht- u. Schallreizen. 297 

Die Arbeit von Peters will, wie Weyer, namentlich den 
Einfluß der Aufmerksamkeit feststellen und gelangt hierbei zu 
dem entgegengesetzten Resultate wie dieser. Seine Versuche sind 
anscheinend recht exakt ausgeflihrt worden. Daher lohnt es, 
auf seine Ergebnisse genauer einzugehen. Theoretisch unter¬ 
scheidet er zwischen willkürlicher und natürlicher Aufmerksam¬ 
keitseinstellung. Letztere Auffassung, die sich einigermaßen mit 
der Annahme einer passiven Apperzeption deckt, wenngleich sie 
rein physiologisch als Bahnung ausgelegt wird, verhindert ihn, 
einen direkten Einfluß der Intensität oder sonstiger objektiver 
Faktoren konstatieren zu können. Er scheint indessen auch zu 
große Differenzen durch objektive Momente erwartet zu haben. 
Denn wenn er bei Intensitätsabschwächung auf Vio eine Ver¬ 
schiebung der sogenannten Früher-Schwelle (so bezeichnet Peters 
die Reizdistanz, die nötig ist, um den optischen Eindruck als eben 
vorangehend zu erkennen) um höchstens 10 o mißt, so wäre dies 
immerhin eine wohl in Betracht zu ziehende Größe. Außerdem 
scheint es die theoretische Auswertung seiner Ergebnisse zu be¬ 
einträchtigen, daß er einen Einfluß der Übung nicht anerkennt. 

Die aus seinen Angaben nachträglich berechneten Mittelwerte 
der Verschiebung zwischen Licht- und Schalleindrücken bei 
gleichmäßig gespannter Aufmerksamkeit betragen für die 
verschiedenen Vp. 25,35 a (Vp. III), 11,25 a (Vp. I), 6,5 a (Vp. IV) 


Tabelle 2. Lichteindruck vorangehend. 




Vp. 

B (1) 

C 

3 

4 


A (6) 

C (2) 

5 


LH 

LH 

80,6 

[148,1] 

96,6 

57,3 

132,3 

127,7 

LT 

LT 

83,2 

87,7 

56,2 

49,3 

Aufmerksamkeitseinfluß 
auf die Schwelle bei Beach¬ 
tung des zweiten Reizes 

[+1 

— 



! 

1 


Das Fazit widerspricht, wie man sieht, durchaus der Auffassung, daß ein 
nachfolgender beachteter Lichtreiz die Schwelle verkürzt. Die Zahlen der 


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298 


C. Minnemann, 


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als verspätete Lichtwahrnehmung und 3,9 o (Vp. II) als langsamere 
Schallwahrnebmung. Der Gesamtdurchschnitt dieser Bestimmungen 
würde auf eine um 9,8 a verspätete Lichtauffassung hinauslaufen. 
Bei besonderer Beachtung des akustischen Reizes verschiebt 
sich das Mittel für die einzelnen Vp. auf 5 a (Vp. I) und 2,5 a 
(Vp. II) raschere Lichtwahrnehmung bzw. 76,75 a (Vp. III) lang¬ 
samere optische Auffassung. Als Differenz gegen die normale 
Beobachtung ist also infolge Hervorhebung des akustischen Ein¬ 
druckes bei der ersten Vp. eine durchschnittliche Verzögerung der 
Schallauffassung um 16,25 o zu konstatieren, beim zweiten Be¬ 
obachter dagegen eine kaum merkliche Beeinflussung zugunsten 
der Schallwahrnehmung, um 1,4 a und beim dritten eine sehr 
beträchtliche, nämlich 51,4 a. Wollte man das Gesamtmittel dieser 
Wirkungen berechnen, so beträgt es 12,2 o als Auffassungsbe¬ 
schleunigung für den beachteten akustischen Eindruck. Eine 
größere Übereinstimmung der einzelnen Vp. in bezug auf diesen 
Punkt würde herrschen, wenn man annimmt, daß sich in erster 
Zeit die Übung sehr stark geltend macht und besonders eine 
raschere Wahrnehmung von Lichtreizen herbeiführt. Vp. III war 
der Experimentator selber, der bereits einige Übung im Beobachten 
von Lichtreizen besaß. Auf diesem Gebiete tritt ein Einfluß der 
Übung nur zu Anfang stark hervor; daher ist es erklärlich, wenn 
bei den sehr zahlreichen Versuchen der Arbeit von Peters 
sich späterhin kein Übungseinfluß bei den Beobachtern heraus¬ 
stellte. 

Die Versuche mit besonderer Beachtung des Lichtreizes, 
bei denen ein Einfluß der Übung offenbar nur steigernd hinzu¬ 
treten konnte, zeigen einen weit größeren Unterschied gegen die 
gewöhnliche Beobachtungsart und weisen alle eine starke Bevor¬ 
zugung der Lichtwahrnehmung auf: gegen die normalen Resultate 
eine Differenz von 17,8 a (Vp. I), 26,95 o (Vp. II), 35,35 a (Vp. IH) 
und 71,65 o (Vp. IV), also durchschnittlich einen Beachtungseinfluß 
von 37,9 ff. Berechnet man außerdem den allgemeinen Beachtnngs- 
einfluß, wie er sich aus akustischer oder optischer Aufmerksam¬ 
keitsbetonung nach den mitgeteilten Zahlen ergibt (es mag allerdings 


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II. Stand d. Untere, üb. die Wahrnehmungsgeschw. v. Licht- u. Schallreizen. 299 


relativ raschere Auffassung eines Reizes infolge der Beachtung 
und im Gesamtdurchschnitt 19,4 a für diesen Faktor. 

Hinsichtlich der Ausdehnung der Gleichzeitigkeitszone läßt 
sich kein bestimmter Einfluß der Aufmerksamkeit nachweisen, da 
in beiden Fällen, wo einer der Eindrücke stärker beachtet 
wurde, die Beobachtungen der Vp. auseinander gehen, indem 
sowohl Vergrößerung wie Verkleinerung des Gebietes vorkam. 
Vielleicht steckt auch hierin noch ein Übungseinfluß. 

Wenn bei Erzeugung künstlicher Myopie durch Vorschalten 
von 10 bis 20 Dioptrien sich für indifferente Aufmerksamkeit 
kaum Abweichungen von den ersten Beobachtungen mit gleich¬ 
mäßiger Aufmerksamkeitsverteilung zeigten [die mittleren Zeit¬ 
verschiebungen bei dieser Anordnung betragen 15 a (Vp. I), 25 a 
(Vp. III) zu ungunsten des Lichteindruckes und 7,5 o (Vp. II) zu¬ 
gunsten desselben], so wird diese angenäherte Gleichheit sich wohl 
ebenfalls aus der inzwischen eingetretenen Übung erklären. Denn 
während der Einfluß akustischer Beachtung in demselben Falle 
ungefähr der gleiche geblieben ist, wie in den Anfangsversuchen, 
haben die für optische Aufmerksamkeit geltenden mittleren Zeit¬ 
verschiebungen hier längst nicht den Einfluß optischer Beachtung 
unter normalen Bedingungen erreicht. So liefern die Zonenmittel¬ 
punkte 4,1 a (Vp. I) subjektive Verspätung, 20 a (Vp. II) Verfrühung 
und 20 a (Vp. III) Verspätung des Lichteindruckes. Gegen die 
ersten Normalversuche mit indifferenter Aufmerksamkeit bedeuten 
diese Werte nur eine Begünstigung von 7,15 o bzw. 16,1 a oder 
5,35 a des beachteten Eindruckes, so daß diese Zahlen hinter dem 
Aufmerksamkeitseinfluß bei normaler Intensität und Feldgröße um 
10,65 < 7 , 10,85 o und 30 o Zurückbleiben, also durchschnittlich für 
die drei Personen um 17,2 o. Der optische Beachtungseinfluß, 
der unter gewöhnlichen Bedingungen für diese drei Beobachter 
durchschnittlich 26,7 o betrug, erscheint demnach durch die 
Akkommodationsänderung wesentlich reduziert. Die Zonen für 
Gleichzeitigkeit erweitern sich anscheinend durch diese Bedingung 
ein wenig. 

Eine wichtige Bestätigung findet diese Annahme eines Ein¬ 
flusses der ikkonimodation durch die Zahlenergebnisse bei An¬ 
näherung an tfj e Reizschwelle, die freilich nur von Be- 


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300 


C. Minnemann, 


als Mittelwert der Verschiebung bei Abscbwäcbung der Intensität 
des akustischen Reizes 70 a , bei Verdunkelung des Lichtreizes 
17,5 o verspätete Lichtauffassung. Gegenüber dem früher kon¬ 
statierten Einfluß der Aufmerksamkeit bei dem betreffenden Be¬ 
obachter zeigte sich also eine Abnahme von 6,75 o bzw. 27,5 a, 
durchschnittlich 17,1 <x, eine Größe, die auf Rechnung der Intensi¬ 
tätsänderung gesetzt werden dürfte. Auch in diesen Versuchen 
war eine Erweiterung der Gleichzeitigkeitsschwelle im Vergleich 
zu derselben bei normalen Intensitätsverhältnissen und einseitig 
gerichteter Aufmerksamkeit zu verzeichnen. 

Alle diese Bestimmungen wurden bei ein- bis zweimaliger Dar¬ 
bietung der Reize ausgefiilirt. Bei häufigerer, kontinuierlicher Dar¬ 
bietung, wie sie ähnlich bei Beobachtungen an der Komplikations¬ 
uhr vorkommt und auch schon von Haines und Whipple unter¬ 
sucht worden war, wurde die Auffassung des Schallreizes noch 
früher angesetzt. Beobachter III, der diesen Fall untersuchte, zeigt 
bei indifferenter Aufmerksamkeitseinstellung eine solche Differenz 
von 15,37 o gegenüber der Bestimmung nach ein- bis zweimaliger 
Exposition. Eine besondere akustische Beachtung verlegte diesen 
Mittelwert noch um weitere 60 o, so daß die Auffassung des 
Schalles im ganzen 100 a vor der Lichtwahrnchmung erfolgte. 
Der optische Einfluß war in dem entsprechenden Falle ebenso 
groß, 60 a. In bezug auf die Zonenbreite läßt sich für diese Fälle 
nichts sicheres ausmachen; bei optischer Beachtung fiel sie größer 
als gewöhnlich aus, bei akustischer Einstellung kleiner. Bei 
ausgeschalteter Akkommodation war kein besonderer Einfluß der 
Wiederholung auf die Auffassungsverschiebung zu bemerken. Zu¬ 
gleich blieb, wie auch in den vorher beschriebenen Versuchen 
der aufgehobenen Akkommodation, eine erkennbare Wirkung der 
optischen Aufmerksamkeit aus. Die festgestellten Werte sind 20 a 
Licht Verzögerung bei indifferenter Aufmerksamkeit und 22,42 a 
bei besonderer optischer Beachtung. Nur die Zonen scheinen 
durch wiederholte Darbietung etwas zu wachsen, und zwar 
wiederum bei optischer Einstellung mehr als bei indifferenter Be¬ 
achtung. 


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II. Stand d. Untere, üb. die Wahrnehnmngegeecbw. v. Licht- u. Schallreizen. 301 

stimmen ungefähr mit den Beobachtungen an Reizen ohne Signale 
tiberein. Es kamen jedoch einige auffallende Schwankungen vor, 
die z. T. in einer Rhythmisierung der Darbietung ihren Grund 
haben können. 

Im ganzen geht aus der Übersicht der Peters sehen Ergebnisse 
hervor, daß subjektive Faktoren weitaus den größten Einfluß auf 
die Zeitverschiebung besitzen, und daß sie eine gewisse Unsicher¬ 
heit für die Feststellung der Wirkung objektiver Faktoren mit 
sich bringen, besonders wenn sich die Versuche, wie bei der ein¬ 
geschlagenen Beobachtungsmethode, über größere Zeiträume er¬ 
strecken. Es mag allerdings noch darauf hingewiesen werden, 
daß Berechnungen, die nicht ursprünglich in den Intentionen des 
Versuchsleiters lagen und erst aus seinen Tabellen abgeleitet sind, 
naturgemäß etwas Hypothetisches an sich haben müssen. Wenn¬ 
gleich das Verfahren des Mittelziehens aus beiden Grenzpunkten 
der Gleichzeitigkeitsschwelle an sich berechtigt ist, wie oben aus¬ 
führlich dargelegt wurde, so ist es doch nach den allgemeinen 
Grundsätzen psychologischer Untersuchung exakter, die Beobach¬ 
tungen schon mit Rücksicht auf die Fragestellung einzurichten 
und auch jedesmal nur diejenige Beobachtuugsreihe für die Wirk¬ 
samkeit eines Faktors in Rechnung zu ziehen, die diesem besonders 
gewidmet war. Dafür ist eine rasche Erledigung der Einstellungen 
Voraussetzung, damit sich die vielen sonst noch den Vorgang be¬ 
einflussenden Faktoren nicht innerhalb der betreffenden Messungen 
ändern. 


c) Ergebnisse von Komplikationsversuchen. 


Über die Ergebnisse der Komplikationsversuche sei er¬ 
wähnt, daß die älteren Arbeiten weit größere Zeitverschiebungen 
festgestellt haben als die neuere Untersuchung von Geiger, die 
mit Hilfe der Komplikationsuhr unternommen wurden. Durch mehr¬ 
fache Komplikation erzielte z. B v. Tchisch eine Änderung des 
Einordnungspunktes um 1110 a nach der positiven Seite, nämlich 
von — 670 bis -f 440 </. Die Angaben P flau ms Uber Beobach¬ 
tungen am KompJikationspendel schwanken sogar zwischen den 
Werten von 1520 a bis 760 a. Derartige Größen kamen unter 


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302 


C. Minnemann, 


mit viel größeren optischen Bewegungsgeschwindigkeiten gearbeitet 
als sie bei der astronomischen Beobachtung in Betracht kommen. 
Schon seine zweiten Versuchsreihen brach er bei einer Ge¬ 
schwindigkeit der Zeigerspitze von 41 bis 57 cm pro Sekunde ab, 
weil sich bei geringerer Geschwindigkeit ein konstanter geometrisch¬ 
optischer Einordnungsfehler geltend zu machen schien. Die größten 
zu Anfang der Untersuchung gemessenen mittleren Verschiebungen 
betrugen bei seinen Vp. für den Schallreiz — 128 a und +40 a 
(nicht 52,5 wie Geiger und deshalb auch Wirth angibt); jedoch 
beziehen sich diese Maximalwerte auf verschiedene Beobachter. 
Später war so gut wie gar keine Verschiebung des Schalleindruckes 
gegen die Reihe optischer Eindrücke mehr zu konstatieren, abge¬ 
sehen vielleicht von der physikalischen Latenzzeit des Gehörs¬ 
reizes, die in der Berechnung nicht enthalten ist. 

Die Hauptabsicht Geigers war es, durch seine Versuche die 
Unstimmigkeit zwischen den Befunden der Leipziger und amerikani¬ 
schen Forscher zu lösen. Er hat aber die dabei in Frage kommen¬ 
den Faktoren der Übung und Geschwindigkeit wohl nicht deutlich 
genug nachgewiesen, besonders kann der Einfluß der Geschwindig¬ 
keit durch seine Untersuchung nicht als gesichert gelten. Vielmehr 
wird man aus seinen Feststellungen nur so viel folgern können, 
daß die Einübung für verschiedene Geschwindigkeiten verschieden 
rasch fortschreitet. Für manche Beobachter zeigt sich schon bald 
kein Unterschied mehr für die Ablesungen bei verschiedenen Ge¬ 
schwindigkeiten ; andere lassen einen solchen länger erkennen. 
Nur die Zahlen des Experimentators (Vp. VIII) bringen die ange¬ 
nommenen Gesetzmäßigkeiten besonders stark zum Ausdruck. Um 
einen genaueren Einblick in die Ergebnisse der Geiger sehen 
Arbeit zu gewinnen, empfiehlt es sich, die von ihm mitgeteilten 
Zahlen einer weiteren Berechnung zu unterziehen. 

Die Anfangsversuche zeigen für sieben Beobachter bei zu¬ 
nehmender Geschwindigkeit 94,4 a als durchschnittliche Differenz 
zwischen Minimum und Maximum der Zeitverschiebungen, wobei 
Geschwindigkeit und Übung zusammenwirkten; bei Fortsetzung 


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II. Stand d. Unters, üb. die Wahrnehinungsgeschw. v. Licht- u. Schallreizen. 303 


Versuchsreihe auch langsamere Geschwindigkeiten vertreten waren, 
während die zweite Reihe früher abgebrochen wurde; daher lassen 
sich Übung und Geschwindigkeit aus diesen Ergebnissen nicht 
gesondert berechnen. Berücksichtigt man jedoch auch von der ersten 
Versuchsreihe nur die Werte für 2,5 Sek. Umdrehungszeit bis zu 
0,9 Sek. so kann man versuchen, den Einfluß der Übung und Ge¬ 
schwindigkeit isoliert zur Darstellung zu bringen. Voraussetzung 
hierfür ist allerdings, daß nach Erledigung der ersten Versuche 
die Übung einigermaßen gleichmäßig fortgeschritten ist. Berechnet 
man den Mittelwert der Zeitverschiebung für die Reihe zunehmen¬ 
der Geschwindigkeit und ebenfalls für die abnehmende, so be¬ 
zeichnet die Differenz beider Größen die Einwirkung der Übung 
für den halben Zeitraum, Uber den sich die Versuche erstreckten. 



Vp. 

H 

II 

IV 

n 

VI 

VII 

vm 

Mittl. Zeit- i der 1.Reihe 
Terschiebung) der2.Reihe 

+ 55 
+ 57 

+ 71 
+ 33 

+ 6 
+ 63 

+ 17 
— 44 

- 37 
+ 105 

— 135 

- 80 

— 294 

- 74 

Einfluß der Übung -t- 2 

- 38 

+ 57 

- 27 

+ 68 

+ 55 

+ 220 


Die vorstehende Tabelle zeigt, daß innerhalb dieser Zeit bei einer 
Vp. keine merkbare Änderung durch die Übung vorhanden war; 
bei zweien war eine entgegengesetzte Wirkung als die geforderte 
zu verzeichnen; eine der vier übrigen Personen wies in bezog auf 
diesen Punkt einen außerordentlichen Einfluß von 220 o auf. 
Durchschnittlich betrug die Übungswirkung 48,1 a positiver Tendenz, 
wenn Vp. VIII mitgerechnet wird; sonst 19,5 o. 

Die Kurven für den reinen Einfluß der Geschwindigkeit 
erhält man angenähert dadurch, daß man aus den beiden Werten 
der Zeitverschiebung, die für jede einzelne Geschwindigkeit in 
den Versuchsreihen festgestellt wurden, das arithmetische Mittel 
bildet. Dann erhält man für die einzelnen Vp. die in Figur 3 
niedergelegten Abhängigkeiten. 

Ans den Kurven erhellt, daß die einzelnen Vp. dem Einfluß 

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304 


C. Minnemann, 


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Gesamtdurchschnitt der Geschwindigkeitsfunktion, (Figur 4, stark 
ausgezogene Kurve) zeigt sich sehr stark durch die Vp. VIII be¬ 
stimmt. Die Differenz zwischen Minimum und Maximum der 
Kurve beträgt 25 o. Ohne Einbeziehung des Beobachters VIII ist 
das Kurvenbild durch die schwach ausgezogene Linie dargestellt, 
wo die entsprechende Differenz nur 15,5 a ausmacht. Da die Vp. 


eine verschiedene Beobachtungs¬ 
art anwendeten (die einen be¬ 
obachteten reflektierend, die an¬ 
deren naiv), so sind die Ergeb¬ 
nisse auch nach dieser Hinsicht 
differenziert worden. Bei den 
ausgesprochen reflektierenden 
Beobachtern I, II und VI (punk¬ 
tierte Kurve) ist schon hier kein 
deutlicher Einfluß der Geschwin¬ 
digkeit vorhanden. Ebensowenig 
bemerkt man einen solchen an 
den später hinznkommenden Be¬ 
obachtern IX, X und XI, die 
denselben Beobachtungsmodus 




befolgten. Man vergleiche die Tabelle auf S. 390 der Geiger- 
schen Arbeit, wo die Geschwindigkeiten 2,5 Sek. und 1 Sek. 
auf den Stellenfehler hin untersucht wurden. Die daraus be¬ 
rechneten Differenzen der durchschnittlichen ZeitverschiebuDgen 
(1 bis 2,5 Sek.) betragen: -f 18 (V), - 2 (VHI), - 4 (IX), -+- 4 (X), 


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II. Stand d. Untere, iib. die WahrnehumngsgeBchw.v. Licht-u. Schallreizen. 305 


dieses Faktors, während die andere Gruppe wegen der starken 
Übungswirknng bei VIII auf einen Durchschnitt von 137,5 o kommt. 
Auch die Kontrollversuche Uber Übung und Geschwindigkeit, die 
mit zwei Beobachtern (V und IX) angestellt wurden, tragen inso¬ 
fern nicht zur Klärung der Frage bei, als die Zahlen des einen (V) 
sehr stark gegen den aufgestellten Übungseinfluß sprechen, die des 
anderen (IX) gegen die geforderte Wirkung der Geschwindigkeit. 

Da sich also für die eine Beobachtungsart nahezu kein Einfluß 
der Geschwindigkeit herausgestellt hat und vielleicht nur eine 
geringe Einwirkung der Übung, 
für die andere dagegen beides 
wenigstens anfangs in bedeuten¬ 
dem Maße, so lassen sich die 
Differenzen der früheren Arbeiten 
nicht in der Art, wie Geiger an¬ 
nimmt, teilweise schon aus diesem 
Unterschied der Beobachtungs¬ 
arten erklären. Auch dürfte man 
in der Anwendung der einen 
oder anderen Methode kaum be¬ 
reits »individuelle Differenzen« zu 
erblicken haben und annehmen, 
daß die reflektierend Beobachten¬ 
den nicht auch die Zeigerbeobach¬ 
tung e inschlagen könnten. Es wird 
sich bei dem Unterschiede der Be¬ 
obachtungsarten wesentlich um die 
Aufmerksamkeitsrichtunghandeln. 

Die naive Beobachtung bestimmt Pig # 4 . 

einen Grenzpunkt der Gleichzeitig¬ 
keitszone, während die reflektierende den Mittelpunkt derselben auf- 
sucht (vgl. die Kurven der Figur 4). Dann bedeutet aber der anfäng¬ 
lich bestehende Geschwindigkeitseinfluß wesentlich eine Änderung 
des Zonenumfanges, ebenso wie der Effekt der Einübung ein 
solcher wäre: und ein eigentlicher Einfluß der Bewegungs- 




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306 C. Minnemann, 

überdeckt durch eine Reihe anderer Faktoren, z. B. von der In¬ 
tensität und Reizdauer. 

Daher erscheint es ferner jetzt noch nicht möglich, schon eine 
Kurve für den Gang der Zeitverschiebungen an der Komplikations¬ 
uhr aufzustellen. Ebensowenig läßt sich bereits die Lage eines 
Indifferenzpunktes dieser Kurve diskutieren. Denn wenn man in 
den obigen Kurven, die den reinen Geschwindigkeitseinfluß dar¬ 
stellen, wie er für den Anfang der Versuche zu bestehen schien, 
die Abszissenachse um mindestens 4,5 o hinaufrücken würde, wie 
es schon wegen der Schallfortpflanzung bis zum Ohre des Be¬ 
obachters nötig wäre, so würde es kaum noch einen Schnittpunkt 
der Kurven mit der Abszissenachse geben. 

Aber eine andere wichtige Tatsache hat die Geigersche 
Arbeit aufgedeckt, den Einfluß der Skalenstelle auf die Größe 
und Richtung der Zeitverschiebung. Rechnet man die Angaben, 
die hierüber in Teilstricheinheiten gemacht sind, in Zeit um, so 
erkennt man, daß der Maximalbetrag dieses Faktors bei ver¬ 
schiedener Geschwindigkeit sich ungefähr gleich bleibt. Demnach 
handelt es sich bei dem Stelleneinfluß wohl nicht um einen 
Schätzungsfehler von räumlichen Strecken, sondern um einen, der 
durch die zeitlichen Verhältnisse der Wahrnehmung verursacht 
ist. Die ungenau abkürzende Bewegung des Fixierens bei der 
Zeigerverfolgung, worauf Geiger u. a. hinweist, wirft einiges 
Licht auf diese Erscheinung, die in ihrem Wesen ebenfalls durch 
die Richtung der Aufmerksamkeit bedingt sein wird. Die Auf- 
merksamkeit konnte ja sogar, wenn alle Teilstriche bis auf einen 
einzigen verdeckt waren, eine Zeitverschiebung bis zu 174 a 
hervormfen l ). 

Die Größe des Stellenfehlers läßt sich durch den Unterschied 
zwischen der durchschnittlich größten positiven und negativen 
Verschiebung, die durch verschiedene Skalenorte bedingt wird, 
einigermaßen charakteristisch bestimmen. Für die Geschwindigkeit 
von 2,5 Sek. betrug diese Differenz 48,7 o, bei 1 Sek. Umdrehungs- 


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II. Stand d. Unters, üb. die WahrnehmungBgeschw.v.Licht- u. Schallreizen. 307 


der einen Bewegungsrichtung könnte der erste, in der anderen 
der zweite Grenzpunkt der Gleichzeitigkeitszone oder ein dahin 
tendierender Zeitpunkt für die Einordnung bevorzugt werden. Da 
dieses Verhalten von der Aufmerksamkeit abhängt, so wäre es 
zugleich begreiflich, daß sich die Funktion des Stellenfehlers nicht 
ganz konstant zeigt, und daß es individuelle Verschiedenheiten 
in bezug auf diesen Punkt geben kann. Wahrscheinlich jedoch 
verschiebt sich im Falle des Stellenfehlers die ganze Zone der 
Einordnungsmöglichkeiten infolge von zentralen Bedingungen. 

Die dargelegten Ergebnisse der Geigerschen Arbeit stützen 
sich auf eine große Anzahl von Versuchen. Trotzdem erscheint 
anßer einer Weiterführung auch eine Nachprüfung der Ergebnisse 
angebracht, da die einzelnen Bestimmungen meistens auf Grund 
von nur wenigen Umdrehungen gemacht wurden. So führte bei 
der reflektierenden Methode bereits in der ersten Versuchsreihe 
durchschnittlich weniger als eine viermalige Darbietung zur Angabe 
des Einordnungspunktes; in der zweiten Versuchsreihe betrug der 
Durchschnitt sogar nur S x / 2 Umdrehungen. Bei dieser geringen 
Zahl der Darbietungen kann ein sorgfältiges Prüfen der Teilstriche 
vor und hinter dem Einordnungspunkte, sowie eine genaue Ab¬ 
schätzung der Bruchteile von Skaleneinheiten kaum stattfinden; 
und es ist fraglich, ob für den einzelnen Fall schon 25 Einstel¬ 
lungen genügten, diese Ungenauigkeit der Ablesung zu eliminieren. 
Denn außerdem war der Einfluß der ausgezeichneten Teilstriche 
und der sogenannte Stellenfehler gleichzeitig auszuschalten. Immer¬ 
hin bildet das Zahlenmaterial der Geigerschen Arbeit eine gute 
Grundlage für die weitere Untersuchung. 

Auch für die ungleichförmige Bewegung am Komplikationspendel 
liegen jetzt durch die Untersuchung von Klemm weit genauere 
Resultate vor, die an einem verbesserten Apparate gewonnen 
wurden. Die Zeigerbewegung füllte fast eine ganze Kreisfläche 
aus; auch war der Schwingungsmittelpunkt um 180 Grad drehbar, 
eo daß der Einflaß der Bewegungsform unabhängig von der 
Schwingungsrichtung festgestellt werde konnte. 

Wichtig: ist vor allem, daß die Tatsache des »Simultaneitäts- 


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308 


C. Minnem&nn, 


scheint das Anftreten der Schwelle sogar wesentlich ans der 
Benutzung einer Einstellungsmarke ableiten zu wollen, da er 
hervorhebt, daß die Marke einen kräftigen Reiz auf die Apper¬ 
zeption austlbt. Die Abweichungen der Schallokalisation sollen 
größtenteils auf den Rhythmus der Aufmerksamkeitsspannung 
zurückgeftihrt werden; jedoch dürfte dieser Faktor für eine lang¬ 
same Aufeinanderfolge der einzuordnenden Reize wohl versagen. 
Was über die Lage des objektiven Nullpunktes zu den Sektoren 
des Simultaneitätsbereiches ausgeführt wird, ist zu feinsinnig, als 
daß es richtig sein könnte. Auch die Darlegungen über die Ab¬ 
hängigkeit des Simultaneitsbereiches von der Größe der mittleren 
Verschiebung halten sich zu sehr an zufällige Erscheinungen. Denn 
wenn man Klemms Ergebnisse Uber die Schwellenbestimmungen 
in die Form gewöhnlicher Häufigkeitskurven bringt, so fallen die 
von ihm diskutierten besonderen Erscheinungen fort. Jeder Punkt 
einer mittleren Unsicherheitsregion gehört nahezu mit gleicher 
Häufigkeit dem Sch Wellenbereiche an. Minima und Maxima 
in bezug auf einzelne Stellen in der Nähe des objektiven Null¬ 
punktes lassen sich nicht auffinden. 

Die Breite der eigentlichen Sukzessionsschwelle zeigt in 
Klemms Versuchen auffallend geringe Werte; für die verschiedenen 
Vp. beträgt sie 7 bis 21 o, 10 bis 31 a, 26 bis 56 a. Bei geringen 
Geschwindigkeiten wächst die Breite der Schwelle, so daß sich die 
niedrigen Zahlen z. T. wohl aus den verwendeten großen Ge¬ 
schwindigkeiten erklären. Andererseits liegt darin ein Beweis für 
die Genauigkeit der Beobachtungen und die Exaktheit des 
Apparates. 

Weil der Einfluß der Bewegungsform von dem der Be¬ 
wegungsrichtung abgetrennt wurde, läßt sich aus den Ta¬ 
bellen III und IV S. 334/5 ein Wert berechnen der für die 
Schwingungsdauer von 2,1 Sek. eine Differenz von 10,9 o zwischen 
dem Einfluß der verzögerten und beschleunigten Bewegung angibt; 
für die Schwingungsdauer von 1,2 Sek. beträgt der Wert 7,7 o. 
Diese verschiedene absolute Geschwindigkeit scheint hiernach 


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II. Stand d.ÜHters.tib.dieWahrnehmung8geBchw.v.Licht-u.SchaUreizen. 309 

Einfluß der Vertikalkomponente peripher aus der Leichtigkeit 
oder Schwierigkeit der Augenbewegungen hergeleitet. Hey de neigt 
wieder der Ansicht zu, daß auch der Stellenfehler assoziativ be¬ 
dingt ist. Überall wo die Vorstellung einer Beschleunigung oder 
Verzögerung auftritt, soll sich eine entsprechende negative oder 
positive Zeitverschiebung einstellen (vgl. Wirth, S. 327). 


3) Zusammenfassung. 


Aus der Zusammenstellung der Befunde ergibt sich folgender 
Stand für unser Problem. 

Die vorliegenden Ergebnisse der Reaktionsversuche spre¬ 
chen für eine raschere Auffassung des Schalles im Vergleiche zur 
Lichtwahrnehmung. Aber aus Gründen der Methode können die 
Feststellungen nicht als entscheidend für einen Einfluß des Sinnes¬ 
gebietes auf die Wahrnehmungsgeschwindigkeit angesehen werden. 

Die Bestimmungen über die Dauer der Reaktion lassen erkennen, 
daß die Wahrnehmungsgeschwindigkeit wenigstens in günstigen 
Fällen unter 100 a liegt. Größere Reizintensität scheint die Wahr¬ 
nehmungslatenz herabzusetzen. Jedoch ist der Einfluß nicht be¬ 
stimmt erwiesen trotz einer sehr beträchtlichen Reaktionsdifferenz, 
die von einem Forscher konstatiert wurde. Eine bestimmte Be¬ 
ziehung der Auffassungsgeschwindigkeit zur Netzhautregion war 
aus Reaktionsversuchen nicht zu folgern. 

Die direkte Zeitvergleichung zweier Lichteindrticke hat 
sich auf Gleichheit der Reize beschränkt. Daher ließ sich für 
diesen Fall nur eine Sukzessionsschwelle angeben. Die Bestim¬ 
mungen derselben erscheinen nicht ausreichend. Was Uber die 
Flimmergrenze gefunden wurde, interessiert für unsere Frage 
nicht. 

Der Vergleich von Licht- und Schallreizen unter gewöhnlich 11 
Bedingungen ergab stark widersprechende Resultate über frai- 
fassungsgeschwindigkeit. Der Durchschnitt der angeführten 
zeigt eine um 5 a raschere Schallwahrnehmung. Vermin 
der Intensität des Reizes scheint in der Schwellennähe <*i& G ** 


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III. 


Experimentelle Untersuchung über die Wahrneh¬ 
mungsgeschwindigkeit von Licht- und Schallreizen, 
nach der Methode direkter Vergleichung. 

Mit 20 Figuren (Figur 6—24) im Text. 


Inhaltsübersicht. s «it« 

Einleitung: Stellung der Experimente im Rahmen der Gesamtunter¬ 
suchung .311 

1) Beschreibung der Apparate.312 

a) Erste Versuchsanordnung, bei der die Variation des Schallmoinentes 

durch Zahnübertragung bewerkstelligt wurde.312 

b) Zweite Versuchsanordnung: Die Variation des Schallreizes erfolgt 

durch verschiebbaren Trommelkontakt unter Verwendung einiger 
Hilfsapparate.317 

2) Bestimmung physikalischer Latenzzeiten.326 

a) Erste Methode: Mit Hilfe von Schleiffedern und Chronoskop- 

ablesungen.325 

b) Zweite Methode: Photographische Registrierung der Auslösungs- 

prozesse.333 

3) Versuchsergebnisse.342 

a) Vorbemerkung über Beobachtungsumstände.342 

b) Erläuterung der Ergebnisse.344 

u) Reizdaner.344 

ß) Übung.348 

Y ) Reizintensität.349 

cf) Qualität des Lichtes.362 

e) Diverse optische Bedingungen.353 

c) Notizen der Selbstbeobachtung.358 

4) Zusammenfassung.360 


Einleitung: Stellung der Experimente im Rahmen der Gesamt- 

untersuchung. 

Die Darstellung beschäftigt sich mit der Beschreibung eigener 
Versuche, die nach der Methode direkter Vergleichung zweier 
Eindrücke angestellt wurden. Es sollte die Wahrnehmungs- 

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312 


C. Minnemann, 


reichenden Untersuchung über die Wahrnehmungsgeschwindigkeit 
von Licht- und Schallreizen. Eine spätere Serie von Versuchen 
sollte nach derselben Methode die Bedingungen der Wahrnehmungs- 
geschwindigkeit für Reize ein und desselben Sinnesgebietes fest¬ 
stellen und namentlich auch die subjektiven Faktoren dabei berück¬ 
sichtigen. Dann wurde ein Übergang zu Komplikationsversuchen 
hergestellt und die dabei zu beobachtenden Erscheinungen mit 
den Verhältnissen der einfacheren Reizauffassung verglichen. 
Schließlich wurden Reaktionsversuche mit den gleichen Reizen 
und unter gleichen Bedingungen ausgeführt, so daß auch diese 
Prozesse in den Vergleich einbezogen werden konnten. 

Für die erste Untersuchung bedurfte es einer nicht ganz ein¬ 
fachen Apparatur. Nach genauer Beschreibung derselben und 
nach dem Bericht Uber einige Hilfsmessungen, die anzustellen 
waren, sollen die Ergebnisse der Versuche, nach den Faktoren 
geordnet, mitgeteilt werden. 


1) Beschreibung der Apparate. 

Zur Verwendung gelangten zwei Versuchsanordnungen. Weitaus 
die meisten Versuche wurden mit Hilfe der ersten Anordnung 
unternommen. Diese ist dadurch charakterisiert, daß der Moment 
des Schalleintrittes durch eine Zahnübertragung variiert werden 
konnte. Bei der zweiten Anordnung geschah die Variation im 
wesentlichen durch eine verschiebbare Kontakttrommel. 


a) Erste Versuchsanordnung, bei der die Variation des Sohall- 
momentes durch Zahnübertragung bewerkstelligt wurde. 


Die Darbietung des Lichtreizes erfolgte durch den Martius- 
schen Unterbrechungsapparat, der in den »Beiträgen zur Psychologie 
und Philosophie«, Heft 3, herausgegeben von G. Martins, S. 301 ff. 
beschrieben ist. Das Prinzip des Apparates ist kurz folgendes. 
Von einer Lichtquelle ausgehende Strahlen werden an zwei Stellen, 

wo das Strahlenbündel punktuell ist, durch Uberstehende Sektoren 

* 

rotierender Scheiben geschnitten. Die erste Scheibe rotiert rasch, 


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in. Exp. Unters, üb. d. Wahrnehmungsgeschw. v. Licht- u. Schallreizen usw. 313 


schnitten. Die Sektorenausschnitte der schnell rotierenden Scheibe 
haben die Aufgabe, den Lichtgang möglichst rasch freizugeben 
und wieder abzudecken. Die langsame Scheibe dagegen soll die 
Wiederkehr des Lichtreizes nur in angemessenen Zwischenräumen 
zulassen. Denn nur wenn auch die langsame Scheibe den Weg 
freigibt, hat die exakt abgegrenzte Exposition der raschen Scheibe 
eine Wirkung. 

An dem Martins sehen Lichtunterbrechungsapparat sind zwei 
Lichtgänge vorhanden, für jedes Auge einer; aber es wurde in 
diesen Versuchen nur ein Lichtgang benutzt, weil nur ein einziger 
Lichtreiz beobachtet werden sollte. Die Lichtleitung wurde nur 
in der Hinsicht etwas modifiziert, daß die Strahlen ein objektives 
Bild des Lichtreizes auf einer Mattscheibe entwarfen, statt, wie es 
sonst der Fall ist, direkt in das Auge des Beobachters zu gelangen. 
Figur 5 veranschaulicht diesen Strahlengang, f bezeichnet die 
schnelle, c die langsame Scheibe, e, g und b sind die Linsen 
des Systems, d ein Diaphragma; a ist die Mattscheibe, auf welcher 
der Reiz erscheint. 



Als Lichtquelle diente Auerlicht mit einem Reflektor. Das 
Übertragungsverhältnis der langsamen Scheibe auf das rasche 
Unterbrechungsrad betrug 32. Infolgedessen verstrichen zwischen 
den einzelnen Darbietungen etwa 5 Sek. Zwischenzeit, so daß ein 
Einfluß des Rhythmus auf die Beobachtungen ausgeschlossen 
schien. 

Die Einrichtung für die Exposition eines Schallreizes gliederte 
sich an den skizzierten Unterbrechungsapparat an. Auch hierbei 
kam das Prinzin zur Anwendung, daß durch eine rasche Rotations- 


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314 


C. Minnenianu, 


Verschiebung mußte möglichst ohne Unterbrechung der Beobachtung, 
also während der Rotation des Apparates möglich sein. Eine 
hierauf abzielende Einrichtung gibt es heute in solider Ausführung. 
Damals leistete nur das Marbesche Prinzip des Variationskreisels 
etwas ähnliches. Dieses Prinzip schien aber schon wegen der 
beschränkten Raumverhältnisse für den vorliegenden Zweck nicht 
geeignet. 

Die benutzte Vorrichtung ist durch Figur 6 dargestellt. Sie 
gibt die Teile wieder, die mit dem Martiusschen Lichtunter¬ 
brechungsapparate zum Zwecke der Schallauslösung kombiniert 


t 



wurden. Die Welle w trägt außer den dargestellten Teilen 
namentlich die langsame Scheibe c des Unterbrechungsapparates 
(vgl. Figur 5); die andere Welle, an der die schnelle Scheibe f 
befestigt ist, lief durch das obere Lager des Statives n und durch 
ein kurzes, hier gelagertes Rohr frei hindurch, so daß sich die 
Scheibe f bei der Rotation nahe an der Glocke oder Feder h des 
Armes o vorbei beweerte. 


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III. Exp. Unters, üb. d. Wahrnehmungsgeschw. v. Licht-u. Schallreizen nsw. 315 


herausgerückt war. Später wurde die Glocke durch eine Feder 
ersetzt und der Klöppel durch einen Kontaktsektor. Denn es hatte 
sich herausgestellt, daß der mechanische Anschlag bei rascher 
Bewegung leicht etwas hart ausfiel, so daß dem eigentlichen Er¬ 
klingen der Glocke ein kurzes Anschlaggeräusch voraufging, das 
die Exaktheit der Beobachtung beeinträchtigen konnte. Die Aus¬ 
lösung des Schalles geschah deshalb meistens elektrisch. Durch 
den Kontaktschluß an dieser Stelle wurde ein Schallhammer be¬ 
tätigt, der auf Filz stand und durch Watte gedämpft war, so daß 
er einen scharf abgegrenzten kurzen Knall lieferte. Natürlich 
mußte die Latenzzeit, die nach dem Beginne des Kontaktes bis 
zum Eintreten des Schalles verstrich, bekannt sein. Die hierzu 
nötigen Messungen sind im nächsten Kapitel genauer auseinander 
gesetzt. Für den mechanischen Anschlag ist eine Latenzzeit bis 
zur Entwicklung des Klangcharakters viel weniger sicher an¬ 
zugeben. 

Die elektromagnetische Auslösung arbeitete geräuschlos, da 
auf t ein Polster von Watte und Fließpapier aufgelegt war. Durch 
eine Zahnradtibertragung p, q , r auf die Kurbel s war es ermög¬ 
licht, die Glocke oder Feder, die durch den Elektromagneten vor¬ 
gerückt werden konnte, auch längs der Peripherie der rasch 
rotierenden Scheibe beliebig zu verstellen. 

Durch die Kurbelung wurde gleichzeitig ein schmaler Kontakt¬ 
sektor auf der langsamen Welle w um 7s2 der Drehung von h 
verschoben. Diese zweite Kontaktstelle gab die Vorbedingung 
für die Betätigung des Elektromagneten t und somit für das Vor- 
rticken der Glocke oder Feder h ab. Es wurde also durch den 
Kontakt bewirkt, daß nicht bei jeder Umdrehung der schnellen 
Scheibe eine Berührung mit h stattfand, sondern immer erst bei 
jeder 32. Umdrehung. Da mit der Drehung von h der Kontakt¬ 
sektor auf der langsamen Welle sich um eine proportionale Strecke 
verschob, konnte durch einfache Kurbelung der Eintritt des 
Schalles gegenüber dem Auftauchen des Lichtreizes kontinuierlich 
variiert werden. Also bei jeder beliebigen Umdrehung uu^ in 
jeder beliebigen Stellung der rasch rotierenden Scheibe konnte 
die Auslösung des Schalles erfolgen. 

Die Dronortionale Verschiebunfir des Kontaktsektors der l»tiß- 

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316 


C. Minaemaun, 


und gleichzeitig auf zwei Flthrungsstangen lief ein Schlitten u 
mit einer Gabel v, der durch die Kurbelung langsam vorwärts 
und rückwärts bewegt werden konnte. Die Gabel griff in die 
Nute eines Rades x der Welle w ein. Da das Rad auf einem 
Vierkant der Welle lose aufsaß, wurde es durch die Gabel eben¬ 
falls hin und her bewegt, während es gleichzeitig mit den übrigen 
auf die Welle montierten Teilen die Drehung der Welle mitmachte. 
Das Rad * war mit einer Zahnstange x fest verbunden. Die 
Zahnstange wiederum lag gegen das Triebrädchen eines Kegel¬ 
rades, dessen Achse an die Welle iv geschraubt war. In dieses 
Kegelrad griff ein zweites, lose auf der Welle bewegliches Kegel¬ 
rad ein, an welchem der schmale Kontaktsektor befestigt war. 
Wenn also durch die Gabel v das Rad x verschoben wurde, rückte 
auch die Zahnstange x mit und drehte das Triebrad nebst dem 
daran sitzenden ersten Kegelrade. Auf diese Weise erhielt das 
zweite Kegelrad eine entsprechende Zusatzdrehung zu seiner 
normalen Rotation. Für gewöhnlich hatte es nur die Drehung 
der Welle w mit zu machen, da es durch die Zahneingriflfe in 
seiner relativen Lage zu den übrigen rotierenden Teilen erhalten 
blieb. 

Für die Auslösungsprozesse dienten folgende elektrische Ver¬ 
bindungen : 

1) Der schmale Kontaktsektor des einen Kegelrades berührte 
bei jeder Umdrehung der langsamen Welle für kurze Zeit ein 
seitlich angebrachtes Stativ. Hierdurch wurde ein Strom zur Be¬ 
tätigung des Elektromagneten t in den Hauptapparat eingeleitet. 
Mit den Metallteilen des Apparates stand der Spulendraht des 
Elektromagneten in leitender Verbindung; das andere Ende des¬ 
selben war durch das Zahnrad p hierdurch zu einem isolierten 
Schleifringe y geführt. Hier lag von einem zweiten seitlichen 
Stative aus eine Schleiffeder an, so daß der Strom nach Passieren 
der Magnetspule dem Apparate wieder entnommen wurde. 


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318 C. Minnemann, 

Barnen Welle um die Kurbelungsachse der Variationsvorrichtung 
zentriert wurde (Figur 7). 

Durch Zahnräder a und ß wurde die Umdrehungsgeschwindig¬ 
keit der langsamen Welle w auf ein Zahnrad y übertragen, das 
lose auf der Kurbelungsachse rotierte. An diesem Rade war ein 
isolierter Arm d mit Platinkontakt befestigt; dieser stand mit einem 
isolierten Schleifring e in Verbindung, auf dem konstant eine 
Feder von einem neben dem Apparate befestigten Stativ auflag 



und die Stromzuleitung von einer Batterie aus besorgte. Der 
Kontakt von d strich um den Mantel einer Kautschuktrommel £, 
die an Stelle des Schlittens u der Figur 6 auf der Kurbelungsachse 

varflnltiaKhor war Tn rlan Monfol or TrAmmal moi* nin Plofin_ 


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IIL Exp. Unters, üb. d. WahrnehmungsgeBchw.v.Licht- u.Schallreizen usw. 319 

lose um die Trommel herum und zieht ihn durch ein Loch, das 
um 32 mm in geradem Abstande vom Anfangspunkte entfernt, durch 
den Trommelmantel gebohrt ist. Läßt man darauf einen schwachen 
elektrischen Strom durch den Draht hindurch und spannt diesen 
straff, so senkt er sich gleichmäßig in die Trommeloberfläche ein. 
Es ist vorteilhaft, ihn nicht ganz in die Oberfläche des Mantels 
zu versenken, sondern ihn ein wenig aufliegen zu lassen, damit 
er bei der Rotation des Apparates einen sicheren Kontakt ver¬ 
mittelt. Durch die Kurbelung verschiebt sich an dieser Einrichtung 
die Trommel £ längs der Kurbelungsachse; infolgedessen erreicht 
der Kontaktarm d bei der Umdrehung des Rades y den Platin¬ 
streifen der Trommel früher oder später, so daß sich die Kontakt¬ 
möglichkeit ftlr den Stellkontakt der schnellen Scheibe entsprechend 
verschiebt. 

Auch an der schnellen Scheibe wurde die Kontaktvorrichtung 
von dem Gesichtspunkt aus modifiziert, daß ein Schleifkontakt 
an einer rasch bewegten Scheibe nicht so gut und gleichmäßig 
den Strom leitet, wie ein in Ruhe befindlicher Stromschlüssel. 
Deshalb wurde die Einrichtung getroffen, daß zwei kürzere Strom¬ 
schlüsse durch die schnell rotierende Scheibe hergestellt und die¬ 
selben durch ein Relais in einen Dauerkontakt verwandelt wurden. 
Der Elektromagnet t der Figur 6 konnte nun entbehrt werden, 
da er nur für einen direkten Glockenanschlag erforderlich gewesen 
war. Die Einrichtung zweier kurzer Kontakte bot außerdem den 
Vorteil, daß sich die Kontaktdauer für den Schallhammer leicht 
variieren ließ; solches ist zur Bestimmung der Minimalkontaktzeit 
für den Schallhammer erwünscht. Statt eines einzigen Hebels 
(o Figur 6 ) wurden also zwei drehbare Arme ( 17 , # in Figur 7) 
mit kurzen, etwas federnden Kontaktsektoren verwendet, auf denen 
ein Platindraht aufgelegt war. Die Kontaktarme waren durch 
Hartgummi voneinander und vom Hauptapparate isoliert und 
ließen sich einzeln durch Lösen der zugehörigen Druckschrauben 
gegeneinander verstellen, während sie bei der einfachen Kurbelung 
ihren eresrenseitieren Abstand nicht veränderten, sondern ihre 


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320 


C. Minnemann, 


Zahnrad p , anf dem die Kontaktarme saßen, war an zwei Stellen 
für isolierte Drähte durchbohrt. Diese führten von den verschieb¬ 
baren Kontaktarmen zu je einem isolierten Schleifringe an der 
Rückseite des Rades p. Von dort aus wurde der Strom durch 
zwei getrennte Schleiffedern abgenommen und zu einem Relais 
für Dauerstrom geführt. Andererseits trug bei dieser Versuchs¬ 
anordnung die schnell rotierende Scheiße an ihrer Peripherie einen 
kurzen, radial gerichteten Platindraht, der während der Drehung 
den Hauptapparat bald mit dem einen, bald mit dem anderen der 
Kontaktarme leitend verband. Da aber der Apparat seine Strom¬ 
zuführung durch den vorher beschriebenen Kontaktarm d erhielt, 



so kam ein Strom immer nur dann zustande, wenn dieser Arm 
gerade Uber die Kontaktspirale der Trommel hinwegstrich und 
einer der Arme 17 oder # den Kontaktdraht der schnell rotierenden 
Scheibe berührte. 

Die Umwandlung der beiden momentanen Stromschlüsse in 

_n_1_1-i.i_ j. r e~ 1_j. itt „:_. i_:_i_i n:. 


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III. Exp. Unters, üb. d. WahrnehmungsgeBchw.v.Licht-u. Schallreizen uaw. 321 

eine Arm stand mit dem ersten, der andere mit dem zweiten der 
Elektromagnete in Verbindung, so daß die Spulen 1 und 2 
(Figur 8 ) je nach der eingestellten Entfernung der Kontaktarme 17 , & 
kurz nacheinander erregt wurden. Der Anker 1 des Relais war 
beiden Spulen gemeinsam und hatte bei •/. seinen Drehpunkt, so 
daß er entsprechend der Aufeinanderfolge beider Stromschlüsse 
eine Drehbewegung hin und zurück ausftihrte. Die Bewegung 
wurde also nach beiden Richtungen durch gleiche Bedingungen 
hervorgerufen, während gewöhnlich Elektromagnete so funktionieren, 
daß verschiedene Kräfte auf den Anker einwirken, bei der 
Anziehung besonders der Magnetismus, beim Abziehen meistens 
Feder- bzw. Schwerkraft. Dann fällt der Typus der Hin- 
und Rückbewegung des Ankers verschieden aus und wird durch 
den remanenten Magnetismus je nach der Kontaktdauer beeinflußt; 
und für einen durch Anker und Eisenkern geschlossenen Strom¬ 
kreis wäre in Betracht zu ziehen, daß der Kontakt erst nach Aus¬ 
führung der Hinbewegung einsetzt und schon bei Beginn des 
ZurUckweichens aufhört. Bei dem hier benutzten Apparate spielte 
auch der remanente Magnetismus keine Rolle, weil die Kontakt¬ 
arme 17 , # genügend weit gegeneinander gedreht waren, so daß 
der zweite Stromschluß erst einsetzte, nachdem der erste bereits 
gänzlich abgeklungen war. Daher kann man unbedenklich die 
Zeit eines von dem Relais geschlossenen Stromes proportional 
dem Abstande der Kontaktarme setzen, da auch die Zeit des An¬ 
steigens der beiden kurzen Stromschlüsse beidemal die gleiche 
ist und nur eine Verspätung, keine Verkürzung der Kontaktzeit 
hervorrufen kann. Eine geringe Abweichung von der genauen 
Proportionalität entsteht aus der Funkenbildung bei Stromunter¬ 
brechung. Will man nicht nur eine Konstanz der Zeiten, sondern 
auch eine bestimmte absolute Größe der Kontaktdauer mit diesem 
Relais erzielen, so muß man einige Kontrollmessungen vornehmen; 
jedoch ist der Einfluß der Funkenbildung sehr gering. 

Durch einen langen, an dem Anker 1 befindlichen Hebel ^ 
wurde der Dauerstromkreis geschlossen, und zwar an zwei Stellen 
ffleichzeitiff. indem zwei Rädchen u und v. deren Kranz mit einem 


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322 C. Minnemann. 

klötze mit den Plättchen waren etwas verschiebbar nnd so zn 
regulieren, daß der Kontaktschluß an beiden Stellen gleichzeitig 
erfolgte. Durch die doppelte Unterbrechung wurde die Funken¬ 
bildung wesentlich eingeschränkt und auf ein ziemlich konstantes 
Maß gebracht; auch vollzog sich der Prozeß bei Einstellung der 
Kontaktgrenzen auf die Mitte der auszufllhrenden Hebelbewegung 
einigermaßen rasch, so daß durch etwaige Funkenbildung höchstens 
eine ganz kurze Kontaktverlängerung entstehen konnte. Das 
Dauer-Relais funktionierte also in der Weise, daß der erste der 



Fig. 9. 


momentanen Ströme durch die Klemmen <x, r in das Relais ge¬ 
langte und eine leitende Verbindung zwischen den Klemmen n, p 
für einen sekundären Stromkreis herstellte, während der zweite 
durch die Klemmen t, v eintretende Strom ihn wieder öffnete. 

Y .nm ernfon ^nnlrtinniArpn Hioaoa Roloio innv/lan At» «Inn 

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III. Exp.Uuters.iib. d.Wahraehmungsgeschw.v.Licht-u. Schallreizen usw. 323 

der es gestattete, die Aufmerksamkeit gänzlich den auftretenden 
Reizen zuzuwenden, ohne daß in den Zeiträumen zwischen den 
einzelnen Darbietungen Handgriffe auszuflihren waren. Der 
Apparat, der die Umschaltung besorgte, beruht auf dem Kon¬ 
struktionsprinzip, daß bei jedem vorkommenden Stromschluß ein 
Anker ungezogen wird uud dieser beim Zuriickweichen, d. h. 
sobald der Strom unterbrochen wird, ein Kontaktrad um einen 
Zahn weiter dreht. Durch diese Drehung entsteht eine Umschal¬ 
tung für den Stromschluß. 

Durch die Klemmen 1 und 2 wird der Umschalter Figur 9 
mit einer Stromquelle verbunden. Die Klemmen führen zunächst 
in die beiden inneren, mit Quecksilber gefüllten Ringe a und b. 
Von hier aus wird der Strom weitergeleitet durch einen Kamm, 
der durch Figur 10 in Seitenansicht dargestellt ist. Die Zinken 
des Kammes bewirken abwechselnd eine Verbindung von n und b 
nach den beiden äußeren, ringförmig angeordneten Reihen von 
Quecksilberknppen c oder d, je nach der Stellung des Kammes. 



Fig. 10. 


Jedesmal wenn a mit einer Kuppe von c verbunden ist, steht b 
durch die andere Kammhälfte mit einem Quecksilberkontakt von 
d in Verbindung. Denn die Kuppen der beiden äußeren Ringe 
liegen verschränkt zueinander, und die Kammhälften sind durch 
einen Hartgummiklotz voneinander isoliert. Untereinander und 
mit den Klemmen 3 bzw. 4 sind die Kuppen der einzelnen Ringe 
durch Drähte verbunden, so daß durch Drehung des Kammes ab¬ 
wechselnd eine Leitung zwischen den Klemmen 1 und 3, 2 und 4 
oder aber zwischen 1 und 4, 2 und 3 hergestellt wird. Durch 
einen Elektromagneten c, den der Strom in seinem weiteren Ver¬ 
laufe zu passieren hat, wird bei Unterbrechung der Kamm jedes¬ 
mal bis zur folgenden Kuppe des anderen Ringes weiter gedreht. 

I Winn Her A nlfflr flea Plalrtrmvian-nnton hdfinflot aifill an einem 



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324 


C. Minnemann, 


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Zahn weiter, während beim Einsetzen des Stromes der Ankerhebel 
Uber einen Zahn des Sperrades leicht hinweggleitet, da eine zweite 
dem Rade anliegende Sperrklinke h die RUckwärtsdrehung ver¬ 
hindert. Zwei Zugfedern i und k dienen zur Regulierung der 
Labilität des Hebels; / und m sind Gummianscbläge. Das Hebel¬ 
glied ebenso wie die Sperrfeder besitzen geringe Reibung, da sie 
nur mit einem vertikal gespannteu Drahte das Sperrad berühren; 
auch ist das Trägheitsmoment des Kammes nur klein wegen seiner 
geringen Masse und der dünnen Platinzinken. 



Fig. 11. 


Zur Abstufung der für den Elektromagneten einerseits und den 
Schallhammer andererseits erforderlichen Stromstärken war bei 
Klemme 4 eine Stromverzweiguug vorgenommeu, indem der 

n i in • . • ■» v i i • i .1 ii i i 


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III. Exp. Unters. Ub.d.Wahrnehimingsgeachw. v. Licht-u.Schallreizen usw. 325 

die Hilfsapparate iu einem besonderen Raume aufgestellt und die 
dazu gehörigen SchaltschlUssel handlich angebracht waren, ver¬ 
steht sich von selbst. Im Interesse der Übersicht Uber diese 
zweite Versuchsanordnung sei das Schema der Stromleitungen 
durch Figur 11 wiedergegeben. 

Der erste Stromkreis führte von der Batterie B t durch den 
Kontaktarm d zeitweise in den Rotationsapparat R für die Licht¬ 
unterbrechung mit den daran angebrachten Kontakten für die 
Schallauslösung und von da aus durch die Kontaktarme 17 oder & 
in die Elektromagnete 1 bzw. 2 des Dauerrelais D. 

Der zweite Stromkreis, von der Batterie B 2 ausgehend, führte 
zum Umschalter U , von da aus durch den Widerstand W und 
Schallhammer S bzw. durch den Elektromagneten e zu den Ein¬ 
schaltungsstellen >t, q des Dauerrelais D und wieder in den Um¬ 
schalter zurück. 

Dazu kam drittens der oben erwähnte Stromkreis zur Messung 
der Geschwindigkeit des Rotationsapparates (S. 317). 

2). Bestimmung physikalischer Latenzzeiten. 

Bei Anwendung einer elektrischen Schallauslösung ist es nicht 
statthaft, den Moment der Schallentstehung mit dem Beginne des 
auslösenden Kontaktes gleichzusetzen und einfach die Differenz 
der Kontakteinstellung gegenüber dem Auftreten des Lichtreizes 
zu messen. Denn es findet eine Verspätung des Schallreizes 
gegenüber dem Einsetzen des Kontaktes statt, und diese Größe 
muß festgestellt werden. Die konstante Auslösungsverspätung 
wurde auf zweifache Weise bestimmt: erstens durch eine Reihe 
von Schleiffedern und Kontakträdern, die au den Rotationsapparat 
angebracht wurden, zweitens durch photographische Registrierung. 
Zugleich bot sich bei den Messungen Gelegenheit zur Bestimmung 
von Latenzzeiten des Chronoskops. 


a) Erste Methode: Mit Hilfe von Schleiffedern und Chronoakop- 

ablesungen. 


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III. Exp. Uuters. üb. d.Wahrnehrunngsgeschww.Licht-u.Schallreizen usw. 327 

mit dem Zeiger verbundene Arm den Weg zu den Zähnen des 
Kronrades zurlickgelegt hat und mitgerisseu wird. Wenn auch 
der Weg, der hierbei in Frage kommt, sehr klein ist, so erfordert 
doch seine Zurllcklegung einen meßbaren Zeitraum, zumal da eine, 
wenn auch geringe, äußere Reibung zu überwinden ist und die 
Masse der zu bewegenden Teile einen Einfluß auf die Geschwindig¬ 
keit besitzt. Für die Ausschaltung des Zeigers durch Stromschluß 
kommen ähnliche Verhältnisse in Betracht, zunächst das Ansteigen 
des elektrischen Stromes und der damit fast parallel gehenden 
magnetischen Erregung, bis die Anziehungskraft größer wird als 
die Federspannung und der Zeigerteil aus den Zähnen des laufenden 
Kronrades herausgestoßen wird. In diesem Falle wird ein ge¬ 
ringes Weiterschleudern des Zeigers in der Drehrichtuug anzu¬ 
nehmen sein, bevor der Arm von den Zähnen des feststehenden 
Kronrades aufgefangen wird. 

Aus dieser Überlegung ergibt sich, daß es berechtigt ist, sich 
die Latenzzeit einer Auslösevorrichtung bis zum erzielten Effekt 
in zwei Teile zerlegt zu denken: 1) in eine Zeit, die erforderlich 
ist, damit die auslösende Kraft genügend anwächst, die betreffende 
Leistung zu vollziehen und 2; in die außerdem noch nötige Zeit, 
bis der Effekt wirklich eingetreten ist. In den Fällen, wo die 
Wirkung durch Stromunterbrechung geschieht, wollen wir den 
ersten Teil der Zeitstrecke als Unterbrechungsminimum bezeichnen; 
im Falle eines Stromschlusses dagegen reden wir von einem er¬ 
forderlichen Kontaktminimum. 

So besteht die Zeitstrecke A B in unserer Betrachtung (Figur 12 a) 
aus einem Unterbrechungsminimum a plus einer Zeit x , die nachher 
noch vergeht, bis der (’hronoskopzeiger sich wirklich dreht. Beide 
Größen sind natürlich abhängig von speziellen Bedingungen, z. B. 
von der Federregulierung des Chronoskopankers, von der Strom¬ 
stärke und dem Leitungswiderstande. Aber diese Veränderlichkeit 
spielt für die unternommenen Messungen keine Rolle, wenn man 
die Bedingungen möglichst gleichmäßig erhält. Insbesondere muß 
man darauf achten, daß die LeitungsVerhältnisse für den vom 

n .1 _ill_ __ i i_ m i .i ■» • i • _l_,1 


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328 


C. Miunemunn. 


eine zweite Vorrichtung am Rotationsapparat, diesmal ein Kontakt¬ 
sektor, etwa im Zeitpunkte C eine Leitung zu den Elektromagneten 
des Schallhammers. Wiederum wird eine Zeitstrecke ( b ) ablaufen, 
bis der dem Hammer erteilte Antrieb groß genug ist, ein Auf¬ 
schlagen zu bewirken, und es wird außerdem eine Wirkungsver- 
spätung y bestehen nach Beendigung des Kontaktminimums, bis 
das Aufschlagen wirklich erfolgt, im Momente D. In diesem 
Augenblick der Schallentstehung wird durch Hammer und Amboß 
ein Stromkreis fürs Chronoskop geschlossen, der das Zeigerwerk 
arretiert. Der Zeiger kommt natürlich nicht sofort bei Strom¬ 
schluß zum Stehen, sondern es verstreicht zunächst eine Zeit¬ 
strecke c als Kontaktminimum für Chronoskoparretierung und dann 
noch eine registrierte Zeit x, bis die Zeigerdrehung wirklich 
aufhört. 

Die bei diesen Vorgängen vom Chronoskop markierte Zeit¬ 
strecke d bezieht sich also auf einen Zeitraum von B bis F; und 
es besteht für die Latenzzeit des Schallreizes b -f- y bei Verwen¬ 
dung des elektrischen Hammers die 

Gleichung 1 b y — d — (c -f- x) + (a + x) — e. 

e bedeutet in dieser Gleichung die Zeit, die nach A, dem Inter¬ 
missionsaufange des Chronoskopstromes, vergeht, bis der Kontakt 
für Schallauslösung im Zeitpunkte C einsetzt. Diese Zeitstrecke 
ergibt sich aus der Graddistanz der Unterbrechungs- und Kontakt¬ 
stelle mit Rücksicht auf die Rotationsgeschwindigkeit des Appa¬ 
rates, die sich mit großer Genauigkeit feststellen läßt. Die Glei¬ 
chung besagt also, daß die Latenzzeit der Schallentstehung nach 
Beginn des auslösenden Kontaktes gleichzusetzen ist dem abge¬ 
lesenen Chronoskopintervalle minus der Latenzzeit für Chronoskop¬ 
arretierung plus derjenigen für Chronoskoperregung, wovon die 
eingestellte Zeitdistanz der Unterbrechungs- und Kontaktvorrich¬ 
tung am Rotationsapparatc zu substrahieren ist. 

Unternimmt man eine zweite Chronoskopmessung einzig mit 
Auslösungen am Rotationsapparate, so heben sich unter sonst 


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III. Exp. Unters, üb. d.Wahrnehraungsgeschw.v. Licht- u. Schallreizen usw. 329 


wiedergibt, während die obere die Chronoskopablesung anzeigt. 
Die gemessene Chronoskopzeit d l ist gleich dem Zeitwert f eines 
rotierenden Unterbrechnngssektors, vermindert um die Differenz 
der Latenzzeiten für Ckronoskoperregung und Arretierung: 

Gleichung 2 d 1 = f — (a -f- x) -f- (c + x). 

Aus beiden Gleichungen zusammen folgt: 

b y = d f — d l — e. 

Die Größen rechts sind bekannte Werte, so daß b + y, der 
Wert für die Auslösungsverspätung des Schallreizes, zu berechnen 
ist. Eine Vereinfachung der Messung wird erzielt, wenn man die 
Distanzen der in Betracht kommenden Öft'nungs- und Schließungs¬ 
kontakte e gleich f wählt. Dann ist die Latenzzeit des Schall¬ 
reizes einfach gleich der Differenz der beiden Chronoskopab- 
lesungen d — d 1 . 

Für die erste der oben beschriebenen Versuchsanordnungen 
ergab sich auf diese Weise durch wiederholte Messungen der Wert 
von 27 a als Verspätung des Schallhammergeräusches gegenüber 
dem an der rotierenden Scheibe eingestellten Kontaktmomente. 
Diese Größe ist an die unten mitgeteilten Beobachtungsergebnisse 
stets als Korrektur angebracht worden. 


Es mögen noch einige nähere Angaben Uber die Einrichtung 
der Messungen folgen und darauf eingegangen werden, daß sich 
einzelne der in den Gleichungen enthaltenen Größen direkt messen 
lassen, so die Zeitstrecken a, b und c. Daraus folgt auch 
der Wert für y und die Differenz x — x, sowie die Größe 
(c + x) — (a -j- x) als Differenz der latenten Zeitverschiebungen 
des Chronoskopes. Jedoch darf nicht übersehen werden, daß diese 
Bestimmungen nur für spezielle Leitungsverhältnisse und Feder¬ 
spannungen Geltung haben. Die gefundenen Zahlen sind folgende: 

a — 6 o‘ 
b = 2ba 
c = 32 o 
r — x = 5 o 


y —2 o. 

Gemessen wurden die Größen auf folgende Art 

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Der Minimal¬ 
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330 


C. Minneraaun, 


Scheibe der ersten Versuchsanordnung. Der Sektor wurde größten¬ 
teils nichtleitend überdeckt, und dann wurde durch geringe 
Variierung der Rotationsgeschwindigkeit genau die Grenze auf¬ 
gesucht, bei welcher Dauer des Kontaktes der Hammer gerade 
noch aufsehlug. In ähnlicher Weise wurde die Minimalinter¬ 
mission a für die Erregung des Chronoskopes gemessen durch einen 
kurzen, an einer schnell rotierenden Scheibe angebrachten Inter¬ 
missionssektor. Gleichzeitig wurde die Rotationsgeschwindigkeit 
des Apparates durch einen größeren, an einer langsamen Scheibe 
befindlichen Unterbrechungssektor festgestellt. Das Vorhandensein 
von Latenzzeiten hat auf diese Geschwindigkeitsmessung keinen 
nennenswerten Einfluß, da die hierbei in Frage kommende Inter¬ 
missionszeit eine zu große Ausdehnung besitzt. Der Messungs¬ 
sektor hatte, wie durch behutsame Drehung des Rades bis zum 
Reagieren des Chronoskopes konstatiert wurde, eine eigene Breite 
von 205,31°, d. i. gleich 6570 Graden der schnellen Scheibe, 
während die Sektoren flh Minimalkontakt oder kürzeste Inter¬ 
mission unvergleichlich viel kleiner waren. 

Für die Arretierung des Chronoskopes ließ sich der Minimal¬ 
kontakt c bestimmen aus der Größe eines Kontaktsektors der 
schnellen Scheibe, der gerade einen Ruck in der Zeigerbewegung 
der Uhr hervorrief. Eine solche Bestimmung war weniger leicht 
auszuführen. Durch einfaches Hinsehen auf die Uhr war noch 
keine sichere Entscheidung Uber eine kontinuierliche oder ruck¬ 
weise Bewegung des Zeigers zu gewinnen, eher schon durch das 
Gehör. Völlig sicher aber ist ein Rücken des Zeigers auf indi¬ 
rektem Wege zu konstatieren, wenn die untersuchte Zeigerbewegung 
relativ kurz ist und man Anfang und Ende derselben ablesen kann. 
Diese Bedingungen wurden dadurch herbeigeflthrt, daß für ge¬ 
wöhnlich durch einen Kontakt au der langsamen Scheibe der 
Chronoskopstrom dauernd geschlossen war, so daß das Zeigerwerk 
ruhte; bei einer bestimmten Umdrehungsstelle jedoch wurde der 
Strom durch eine Schleiffeder umgeschaltet zu einer Kontaktvor¬ 
richtung der schnellen Scheibe des Apparates und hier kurz nach¬ 
einander zweimal unterbrochen und geschlossen. Darauf trat 
wieder die ursprüngliche Leitung durch die langsame Kontakt- 


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III. Exp. Unters, üb. d. WahrnehmungsgeBchw.v. Lieht- u.Sehallreizen usw. 331 

Unterbrechungen liegende kurze Kontaktzeit kein Stillstehen des 
Chronoskopes, so erschien die abgelesene Zeitstrecke relativ groß; 
im anderen Falle konnte trotz langsamerer Rotation der Sektoren 
die registrierte Zeit kürzer ausfallen. Es war nun durch Vari- 
ierung der Geschwindigkeit derjenige Puukt aufzusuchen, wo 

a 

Chronoikopzeit L _ 

-- a . x. ■ ' . • z i --c- —z-i - 

I.Jntermission Konlaklsektor 2. Jntermission 


b 


Chronoskopzeilen „ 

-. a . Xi 


Koniaktsektor' 


Z I 


X I 


Fig. 13 a und b. 


diese Veränderung der Chronoskopablesuugen eintrat. Aus der 
Gradzahl des kurzen Kontaktsektors ergab sich dann die Zeit¬ 
strecke, die ein Kontakt mindestens andauern mußte, um eine 
Arretierung des Zeigers zu bewirken. 



Genauer veranschaulicht sind die Verhältnisse der Chroiioskop* 
registrierung durch die Figuren 13 und 14. Figur 13 a stellt ein en 


Fall dar 


dpi* oincraiinlinhorm Cnntalrtadttnr nieht. 7.11T 


Ulen 


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332 


C. Minncnianu 


eine Kontaktzeit e, die zur Arretierung des Zeigers mindestens 
erforderlich ist, verstreicht, setzt bereits eine zweite Unterbrechung 
des Stromes ein, die dann natürlich keine Latenzzeit bis zu ihrer 
Wirksamkeit braucht, da der Zeiger sich schon in Bewegung be¬ 
findet. Anders liegen die Verhältnisse, sobald der Kontaktsektor 
ausreichend ist, einen Stillstand hervorzurufen (Fig. 13 b). Dann 
ist eine Latenzzeit a + x erforderlich, um den Zeiger wieder in 
Gang zu setzen. Daher werden die beiden vom Chronoskop 
registrierten Zeitstrecken durch eine Zwischenzeit getrennt, und 
die gesamte Chronoskopablesung erscheint kürzer. Die Kurve 
der Chronoskopregistrierungen weist demnach bei derjenigen Ge¬ 
schwindigkeit, wo der eingeschobene Kontaktsektor eben wirksam 
wird, eine Unstetigkeit auf und verläuft von da ab weniger steil; 
vgl. Figur 14. Die Abszisse stellt abnehmende Geschwindigkeiten 
dar, die Ordinaten bezeichnen Ablesungen des Chronoskopes. Zum 
Vergleiche ist die wirkliche Dauer der eingestellten Sektorenfolge 
(Linie ACF) und die auf den eingeschobenen Kontaktsektor ent¬ 
fallende Zeitstrecke eingezeichnet. Solange der Sektor nicht 
wirksam ist (bis zum Abszissenpunkte B) hat man zur wahren 
Zeit der gesamten Sektorenfolge die Differenz der Latenzzeiten [g) 
zu addieren, um die vom Chronoskop registrierten Zeiten zu er¬ 
halten (Linie D bis E ). Von B ab, wo der Kontaktsektor die 
Dauer c überschreitet und einen Einfluß ausübt, ist die Differenz 
der Latenzzeiten zweimal zur objektiven Dauer der gesamten 
Sektorenfolge zu addieren, dafür aber die Zeitstrecke des wirk¬ 
samen Kontaktsektors zu substrahieren. Der zweite Ast der 
Chronoskopregistrierung setzt also tiefer ein und steigt weniger 
rasch au, so daß man sehr leicht die zum Punkte B gehörige 
Geschwindigkeit durch Variierung auffinden kann und daraus den 
Minimalkontakt c erhält. 

Dieselbe Versuchsanordnuug lieferte den Chronoskopwert füi 
die oben angeführte Gleichung 2. Für diesen Zweck brauchten 
die Zeiten nur durch 2 dividiert zu werden, da der herbeigeführte 
Vorgang zweimal die Bedingungen der Gleichung 2 enthielt. 

I^i n \f Aaannm nn nli d 1 a« nhnn m 1 itakIIäT U * a! •—«— 


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III. Exp.Unters, üb.d.Wahrnehmungsgesehw.v.Licht- u.Schallreizen usw. 333 

während an der langsamen Scheibe eine Unterbrechung eintrat. 
Bald darauf öffnete sich auch der Kontakt der schnellen Scheibe, 
so daß das Zeigerwerk sich in Bewegung setzte; und der Strom¬ 
kreis wurde wieder zur langsamen Scheibe umgeschaltet, wo er 
längere Zeit unterbrochen blieb. Mittlerweile entstand der Schall¬ 
hammeraufschlag durch eine andere Auslösung des Apparates und 
schloß eine dritte Abzweigung der Chronoskopleitung, so daß der 
Zeiger zum Stehen kam. Endlich war durch eine Umschaltung 
des Schallhammerstromes auf den Sektor einer langsamen Scheibe 
dafür gesorgt, daß dieser Strom genügend lange geschlossen blieb, 
bis der anfängliche Zustand der Chronoskopleitung wieder einge¬ 
treten war. Die Zeigerstellung konnte daher bequem jedesmal 
abgelesen werden. 

Wie man sieht, ist diese Methode, die einzelnen Größen zu be¬ 
stimmen, nicht sehr einfach, weil im Interesse zeitlich exakter 
Auslösungen eine ganze Anzahl von Schleiffedern und Kontakt¬ 
scheiben nötig ist. Eleganter und wohl noch zuverlässiger er¬ 
scheint die Methode photographischer Registrierung der Auslösungs¬ 
zeiten, die für die zweite oben beschriebene Versuchsanordnung 
angewendet wurde. 


b) Zweite Methode: Photographische Registrierung der Aus¬ 
lösungsprozesse. 


Durch photographische Registrierung wurden auf einen licht¬ 
empfindlichen Streifen folgende Vorgänge aufgezeichnet: Ein Ab¬ 
schnitt der Scheibenumdrehung des Lichtunterbrechungsapparates, 
die Aufschlagbewegung des Schallhammers und eine hierdurch 
erfolgende Auslösung des Chronoskopzeigers bis zu seiner Arre¬ 
tierung durch Stromunterbrechung an einem Reaktionstaster. Gleich¬ 
zeitig schrieben sich die Schwingungen einer Stimmgabel auf, so 
daß die Zeitwerte der Intervalle erkennbar sind. 

Als Lichtquelle wurde für diese Aufzeichnung eine lOOOkerzige 
Nernstlampe mit drei geraden Glühfäden benutzt. Eine solche 
Lampe eignet sich besonders gut, weil die Fäden intensiv und 
ruhig leuchten. Registriert wurde auf sehr empfindliches soge- 

nannfpa Npo-n+ivnanipr 


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334 


C. Mionemann, 


in unmittelbarer Nähe der Nernstlampe [L] rotierte und zeitweise 
die untere Partie der vertikal gerichteten Glühfäden verdeckte. 
Durch eine Sammellinse a wurde ein vergrößertes Bild der Fäden 
auf dem Negativpapier entworfen. Eines der StrahlenbUndel 
streifte kurz vor seinem Auftreffen den Hebel b des stark schräg 
gestellten Schallhammers S , so daß ein scharfes Schattenbild der 
Grenzlinie des Hammerkopfes entstand. Das StrahlenbUndel eines 
anderen Glühfadens traf auf einen kurzen, an einer Stimmgabel¬ 
zinke befestigten Kartonstreifen d auf und bildete diesen ab, da 
einige der Strahlen zu beiden Seiten desselben noch vorbeigingeu. 



l-'ig. 15. 


Das Chronoskop ließ sich nicht so nahe an das lichtempfindliche 
Papier heranbringeu, daß ein auf die Zeigerachse aufgesetzter 
Papierzylinder von minimalem Gewichte sich deutlich genug hätte 
abheben können. Auch mußte, da nur drei vertikal gerichtete 
Glühfäden zur Verfügung standen und der Film sich ebenfalls in 
dieser Richtung bewegte, das Bild des vierten aufzunehmenden 
Vorganges seitlich verschoben werden; denn der untere Teil des 


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III. Exp. Unters, üb. d.Wahrnehmuugsgeschw.v. Licht-u.Schallreizen usw. 335 


seitliche Verschiebung des Bildes erreicht. Zugleich entstand eine 
etwa vierfache Vergröberung der Zeigerverschiebung, die in 
Richtung der Achsen beim Ein- und Ausschalten der Uhr vor sich 
geht. Die Kamera K selber enthielt keine Linsen. Nur eine 
Blende mit entsprechenden Ausschnitten befand sich unmittelbar 
vor dem lichtempfindlichen Streifen. An der Vorderseite war die 
Blende mit weißem Papiere beklebt, so daß mau die Schattenbilder 
gut auf die in der Blende befindlichen Schlitze einstellen konnte. 
Die vier kurzen horizontalen Schlitze hatten eine Breite von 1 bis 
Vj mm. Die rasche Fortbewegung des registrierenden Streifens 
geschah, beiläufig erwähnt, durch denselben Motor, der den Licht¬ 
unterbrechungsapparat autrieb. Ein Schnurlauf führte von einem 
Stufenrade li der Kamera K zum Kotationsapparate hin. Da ein 
Tourenzähler i an dem Stufenrade angebracht war, konnte man 
die Filmgeschwindigkeit bei der Aufnahme ziemlich genau be¬ 
urteilen. 

Die für die Aufnahme benutzte Filmkassette K enthält in 
ihrem Innern einen komplizierten Schleifenapparat. Obgleich 
die äußeren Dimensionen des Kastens nur 61 X 37 X 21 cm be¬ 
tragen, konnte der lichtempfindliche Streifen first eine Länge von 
6 m haben. Jedoch sind auch kürzere Streifen verwendbar, wie 
z. B. für die vorliegenden Aufnahmen, wenn nicht alle Schleifen 
gewickelt werden. Im einzelnen ist die innere Einrichtung des 
Apparates durch die Figuren 16 und 17 ersichtlich. 

Zwischen zwei soliden Eisenrahmen, die durch vier Säulen mit¬ 
einander verbunden sind, befinden sich elf Walzen von etwa 4 cm 
Durchmesser, und zwar je 5 bzw. 6 derselben an den beiden 
Schmalseiten. Die eine Gruppe der Walzen (Figur 16 Nr. 1, 3, 5 } 
4, 9, und 11) trägt an einer Seite Zahnräder. Nur die Räder der 
Walzen 1 und 3, 9 und 11 greifen direkt ineinander ein; zwischen 
den anderen Rädern sind kleinere Rädchen /.-, I, m eingeschaltet, 
damit eine sinngemäße Drehrichtung entsteht. Die Welle der 
ersten Walze trägt außerdem das Stufenrad h, das au der äußeren 
Kastenwand sichtbar ist. Es dienen die inneren Zahnräder ctazu, 


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C. Minnemann. 


Digitized b) 


dafür Rad uud Walze 11, wie an Figur 16 ersichtlich, in ent¬ 
sprechende Lager legen, so daß die Schleifenbahn verkürzt wird; 
desgleichen kann man beim Herumlegen des Streifens eine oder 
mehrere Schleifen überspringen, so daß eventuell nur die Rollen 1, 
2, 10 und 11 benutzt werden. Die Eisenrahmen mit den Walzen 
sind durch 4 Schrauben an der einen seitlichen Kastenwaud be¬ 
festigt, so daß sie sich aus der Kassette herausnehmen lassen; 
jedoch ist es nicht schwierig, auch ohne den Schleifenapparat 
herauszunehmen, die Rollen mit lichtempfindlichem Papier zu be¬ 
spannen; mau braucht nur die andere Seitenwand des Kastens, 
die als Schiebedeckel eingerichtet ist, herauszuziehen; durch zwei 



1 


n i/r 




Fig. 17. 


Hebel n und o wird die Lage dünner Walzen reguliert, die den 
Streifen an die vordere Kastenwand glatt anlegen und eine straf¬ 
fere Spannung des Films nach dem Umlegen desselben herbei- 
f Uhren. 

An der Vorderseite der Kassette befindet sich ein kurzes 


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III. Exp.Unters, üb.d.Wahrnehmungageschw.v.Licht-u.Schallreizen usw. 337 

der Expositionsdauer durch Kontakte herbeigeführt wurden. Es 
kamen wiederum zwei einzelne Kontakte zur Verwendung, damit 
in der Zwischenzeit sich die zu registrierenden Vorgänge ungestört 
abspielen konnten, ohne daß ein weiterer Strom den Apparat 
passierte, der vielleicht Induktionswirkungen hätte hervorrufeu 
können. Durch ein Relais, das nach seiner Einstellung immer 
nur einmal funktionierte, wurden die beiden StromschlUsse zur 
Abgrenzung eines längeren Stromschlusses verwendet, der den 
Belichtungsmechanismus auslöste. 

Das Relais (Figur 18 und Relais der Figur 15) war nach 
bekanntem Prinzip speziell für die Aufnahme zusammengestellt. 



Eine erste Schleiffeder, die an einem langsam rotierenden 
Rade des Unterbrechungsapparates anlag, schloß einen zum 
ersten Elektromagneten des Relais führenden Strom; eine zweite 
Schleiffeder erregte den zweiten Elektromagneten. Die zuge¬ 
hörigen Anker s und t (Figur 18) lösen durch ihre Sperr¬ 
haken zwei gebrochene Hebel u und v aus, falls diese vorher 
gespannt sind. Der eine Hebelarm von v liegt bei der Spannung 
gegen den Anschlag iv des ersten Hebels, so daß ein in beide 
Hebel durch die Klemmen x und ?/ hineingeführter Strom bei 


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III. Exp. Unters, üb. d-Wahrnehmungegeschw. v. Licht-u. Schallreizen usw. 339 

Kontaktscheibe bleiben für den Stromkreis zum Kameraverschlnß 
unwirksam, solange nicht die mit Zugfedern versehenen Hebel 
von neuem eingestellt sind. Hatte der Rotationsapparat eine ge¬ 
nügende Geschwindigkeit erreicht, so wurde durch einen Schlüssel 
der Relaisstrom eingeschaltet, und es spielten sich die übrigen 
Vorgänge mit Ausnahme der Reaktion auf den Schallreiz von 
selber ab. 

Die Auslösung des Chronoskopes durch den Schallhammer ge¬ 
schah hierbei auf andere Weise als bei Arretierung des Chrono¬ 
skopes nach der ersten Versuchsanordnung. Nicht durch den 
Hammeraufschlag wurde der Chronoskopkreis geschlossen und 
durch Stromumschaltung im Unterbrechungsapparat der Kontakt 
verlängert; sondern wie es für die späteren Reaktionsversuche 
bequemer war, fand der Stromschluß durch einen mit dem Schall¬ 
hammer in Verbindung stehenden Sperrhebel statt. Ein Sperr¬ 
haken am Arme des Schallhammers bewirkte die Auslösung, wenn 
vorher durch einen Faden x (Figur 15) der kurze Hebel gespannt 
war. Dadurch blieb der Chronoskopstrom dauernd geschlossen, 
bis er an einer anderen Stelle durch den Reaktionstaster T unter¬ 
brochen wurde, sobald man den Finger vom Knopf desselben 
abhob. 

Die Ergebnisse der auf diese Weise erzielten Registrierung 
sind durch Figur 19 wiedergegeben. A bezeichnet den Vorüber¬ 
gang eines offenen Sektors der schnell rotierenden Scheibe vor 
einem der Glühstäbe; B ist die Lichteinwirkung beim Nieder¬ 
schlagen des Schallhammers; B\ B" usw. sind Nachschwingungen 
des HammerB. Der Streifen C bedeutet die Einschaltung des 
Chronoskopzeigers. D sind Schwingungen einer elektrischen 
Stimmgabel für c' = 256. Eine Nachprüfung durch photographi¬ 
schen Vergleich mit Normal -a = 435 ergab, daß die elektrische 
Gabel ungefähr um 1 Schwingung verstimmt war. Für die Be¬ 
rechnung der Auslösungszeiten wurde deshalb 1 Schwingung zu 
3,891 a angesetzt. 

Die photographisch aufgezeichneten Vorgänge sind nicht direkt 
miteinander zeitlich zn vergleichen: sondern znnäohst ist Hie 


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340 


C. Minnemann, 


nach vorgenommene Reduktion der Registrierungen auf eine ein¬ 
heitliche Zeitreihe ist in dem unteren Liniensystem der Figur 19 
angebracht. Für den aufgenommenen Abschnitt der Scheiben¬ 
drehung A kam außerdem in Betracht, daß der Sektor nicht 
gleichzeitig mit dem Anfänge der Schallhammerauslösung den 
Glühfaden abdeckte, sondern erst um 95,3° später. Diese Ein¬ 
stellungsdifferenz ist in Zeit umzurechnen und auf der Zeitlinie 
entgegengesetzt abzutragen, damit man den Anfangsmomeut für 
die Schallhammerauslösung erhält. Der Zeitwert für die Ein¬ 
stellungsdifferenz ist aus dem Abstande zweier Sektorenbelich¬ 
tungen bei aufeinanderfolgenden Umdrehungen und den zugehörigen 
Stimmgabelschwingungen zu ermitteln. In dem dargestellten Falle 
beanspruchte eine ganze Umdrehung 115,3 Stimmgabelschwin¬ 
gungen; also wurden 95,3° in einer Zeit von 118,3 a zurückge¬ 
legt. Demnach fällt der mit dem Beginn des Auslösungskontaktes 
für den Schallhammer identische Zeitpunkt der Lichtreihe auf a. 
Das Aufschlagen des Hammers und somit die Entstehung des 
Gehörsreizes erfolgte erst im Zeitpunkte ß , d. h. 44 o später als 
das Auftreten eines Lichtreizes, der gleichzeitig mit dem Beginn 
des Schallhammerkontaktes sichtbar wird. Der Chronoskopzeiger 
endlich begann erst nach einer weiteren Verzögerung von 31,7 o, 
im Momente y zu laufen. 

Was die Teilzeiten der AuslösungsVorgänge anbelangt, so 
brauchte der Schallhammer 8,7 o zum Niederfallen (Zeitstrecke d 
bis ß). Die Rückbewegung e C, die langsamer verlief, hat für 
die Untersuchung kein Interesse. Aber die Vorgänge bei Ein- 
nnd Ausschaltung des Zeigers am Chronoskope sind genauer zu 
betrachten. Bei wird die Zeigervorrichtung bereits von dem 
Kronrade gefaßt und herumgedreht, so daß die Einschaltezeit bis 
zu diesem Momente (rj bis y) 9,6 o beträgt. Jedoch dauert der 
Prozeß des Zurückweichens noch 5,7 o länger an bis zum Punkte i 
der registrierten Bewegung; und darauf folgt eine Nachschwan¬ 
kung, die erst in x beendigt ist. In ähnlicher Weise geht die 
Ausschaltung vor sich, die auf der Reproduktion nicht mehr ab¬ 
gebildet ist. Nach etwas kürzerer Zeit (7,4 a) werden die Zähne 


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III. Exp. Unters, üb. d.Wahrnehmungsgeschw.v. Licht-u. Schallreizen usw. 341 

rangen handeln kann. Die Ausschaltbewegung zeigt genau das 
inverse Bild des Einschaltprozesses, nur daß jener etwas rascher 
verlief. 

Vergleicht man diese Zeiten mit den nach der ersten Methode 
(durch Schleiffedern) gewonnenen, so muß man die Verschieden¬ 
heiten der beiden Anordnungen in Rechnung ziehen. Bei der 
zweiten Anordnung war zur Auslösung des Schallhammers ein 
Relais zwischengeschaltet; außerdem wurden andere (bessere) Kon¬ 
takte verwendet, und die Lage des Schallhammers war geändert. 
Die beiden letzteren Momente werden keine sehr wesentliche Rolle 
gespielt haben, da sich die Differenz der Messungsergebnisse (17 o) 
wohl angenähert durch die Zwischenschaltung des Relais erklärt. 
Fiir die Verspätung der Zeigereinschaltung des Chronoskopes 
kommt in Betracht, daß bei der zweiten Anordnung die unteren 
Elektromagnete benutzt wurden, wodurch zugleich eine andere 
Federspannung nötig wurde. Auch war die Kontaktgebung eine 
andere, nämlich durch ein dauernd sich schließendes Relais (vgl. 

S. 320 f.). Es ist möglich, daß dabei der Stromschluß nicht genau 
im gleichen Zeitpunkte erfolgte wie der Aufschlag des Hammers; 
allerdings waren Zeitdifferenzen zwischen diesen Vorgängen nicht 
merkbar. Die Resultate zeigen auch hier wiederum eine gute 
Übereinstimmung. 

Für den Vergleich der Teilzeiten ist zu bedenken, daß bei der 
photographischen Registrierung diese Größen eine andere Bedeu¬ 
tung hatten als bei der Messung mit Hilfe von Schleifkontakten. 
Die Zeitdauer zur Ausführung einer Bewegung muß größer sein 
als die zum Eintritt des Effektes noch erforderliche, wenn die 
Kraft bereits bis zur vollständigen Auslösungsmöglichkeit ange¬ 
wachsen ist. Unter Berücksichtigung dieses Punktes kann man 
auch bezüglich der Teilzeiten eine Übereinstimmung der Ergeb¬ 
nisse finden. Soweit ein Vergleich möglich ist, hat demnach die 
photographische Methode eine gute Bestätigung der durch Schleif¬ 
kontakte erzielten Messungen geliefert. 

Es fällt an den Ergebnissen der Messungen auf, daß die Zeiten 

■■ i _1 m_ •• 1 1 i •• 1 il* 1 • 1 TV _ _ 

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342 


C. Minnemann, 


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3) Versuchsergebnisse. 

a) Vorbemerkung Uber Beobachtungsumstände. 

Die Beobachtungen Uber die Zeitvergleichung von Licht- und 
SchalleindrUcken zerfallen in vier Versuchsgruppen, die den Ein¬ 
fluß der Dauer, Intensität, Qualität und die Wirkung einiger 
physiologischer Einstellungsbedingungen des Auges auf die sub¬ 
jektive Gleichzeitigkeit der Empfindungen zum Gegenstände haben. 
Durch Wiederholung von Versuchsreihen zeigte sich außerdem ein 
Einfluß der Übung. 

Beobachter war in diesen Versuchen hauptsächlich der Verfi, 
der zugleich experimentierte. Trotz dieses Umstandes läßt sich 
das Beobachtungsverfahren als ein unwissentliches ansehen, da 
die Ablesung der Einstellungen erst nach beendigter Beobachtung 
erfolgte, die im Dunkeln geschah, und die Ausrechnung unter 
Berücksichtigung der Rotationsgeschwindigkeit des Apparates viel 
später stattfand. Einstellungen, die gelegentlich von anderen Vp., 
zum Teil auch in ganzen Reihen gemacht wurden, zeigten analoge 
Ergebnisse, wie sie sich bei den Beobachtungen des Verf. heraus¬ 
gestellt hatten. Individuelle Unterschiede in bezug auf die Breite 
der Gleichzeitigkeitszone kamen natürlich vor; solche Differenzen 
scheinen hauptsächlich mit der Übung und der Sorgfalt bzw. Me¬ 
thode der Einstellung zusammenzuhängen. Namentlich für die 
ersten beiden Versuchsgruppen, über den Einfluß der Reizdauer 
und Intensität auf die relative Wahrnehmungsgeschwindigkeit, 
wurden Kontrollversuche mit anderen Beobachtern vorgenommen. 

Obgleich die Anzahl der Beobachtungen einer Reihe nur gering 
ist, bedeutet dies keinen merklichen Mangel, da schon die ein¬ 
zelne Einstellung der Reize auf subjektive Gleichzeitigkeit recht 
exakt möglich war. Denn es wurden, angefangen von den beiden 
Seiten zeitlichen Auseinanderfallens der Reize (Licht scheinbar 
früher bzw. später als der Schall), die Punkte der eben erreichten 


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III. Exp.Unters.tib.d. Wahrnehinungsgeöchw.v.Licht-u.SchaUreizen usw. 343 


Da die Beobachtungen Uber die Wahrnehmungsgeschwindigkeit 
eine Abhängigkeit auch von der Intensität der Reize zeigten, 
scheint es angebracht, etwas Uber die Stärke der verwendeten 
Reize mitzuteilen. 

Der Schall wurde durch ein mäßig starkes Aufschlagen eines 
elektromagnetischen Hammers, wie er zu Reaktionsversuchen dient, 
hervorgerufen. Jedoch wurde eine objektive Maßbestimmung des 
Geräusches nicht unternommen, da es keine passenden allgemein 
anerkannten Meßapparate dafUr gab. Vielleicht ließen sich mit 
einer modifizierten Atwoodsehen Fallmaschine ziemlich genaue 
Bestimmungen machen. 

Auch die Messung der Lichtintensität stieß auf Schwierigkeiten, 
weil kein großer Raum zur Verfügung stand und zunächst kein 
geeignetes Photometer vorhanden war. Es soll aber versucht 
werden, die Helligkeit des Eindruckes etwas näher anzugeben. 

Es wurde der Mattscheibe, auf welcher durch den Lichtunter¬ 
brechungsapparat eine Kreisfläche von etwa 2 cm Durchmesser 
erhellt wurde, von der anderen Seite eine Kerze soweit genähert, 
daß kein Helligkeitsunterschied der Kreisfläche gegenüber seiner 
Umgebung zu bemerken war. Das von der Mattscheibe reflek¬ 
tierte Lichtquantum liefert unter Berücksichtigung der Unterschieds¬ 
empfindlichkeit einen Anhalt für die Intensität des Reizes. Bei 
der anfangs benutzten geringen Helligkeit betrug der Kerzen¬ 
abstand gegen 8^2 cm. Später wurde die Helligkeit durch einen 
Hohlspiegel etwa auf das Fünffache gesteigert. Die Normalkerze 
mußte dann bis 4 cm herangerückt werden. Es ist klar, daß bei 
diesen Distanzen die Messungen keinen Anspruch auf Genauigkeit 
machen können. 

Exakter schienen die Bestimmungen mit Hilfe eines Bunsen- 
photometers auszufallen. Die Mattscheibe wurde fortgenommen, 
so daß die parallelen Strahlen aus dem Unterbrechungsappar&te 
direkt auf den Photometerschirm fielen, dessen beide Seiten durch 
schrägstehende Spiegel gleichzeitig beobachtet werden köntxetv- 
Als Vergleichshelligkeit diente eine Petroleumlampe mit geschwärz¬ 
tem Zylinder and kreisförmiger Blende, die für Aufnahme 
Absorptionsgläsern bestimmt war. Die Intensität dieser bis 
das DiaDhrafirna abireblendeten Lichtonelle wurde mit einer HefV^r- 


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344 


C. Minnemann, 


zusammen; jede Schirmseite lieferte vier Werte, da nach der 
Methode der Minimaländerung, von deutlich hellerer Zeichnung 
bis zum Verschwinden derselben variiert wurde, dann bis zum 
Wiederauftreten der nunmehr dunkleren Figur und auf dem um¬ 
gekehrten Wege die analogen Punkte aufgesucht wurden. Die 
so gefundenen Daten betrugen 0,07 für die anfängliche und 
0,35 Hefnermeterkerzen flir die späterhin verwendete ungeschwächte 
Helligkeit. In einem Abstande von 1 m würden also diese Quanten 
der Hefnerkerze eine gleiche Helligkeit aufweisen, wie sie die 
aus dem Apparat austretenden parallelen Strahlen besaßen. 

Die bedeutende Abweichung dieser Messungen von der vorhin 
erwähnten Bestimmung läßt sich daraus erklären, daß bei dem 
ersten Verfahren die Reflexionsverhältnisse auf der Mattscheibe 
ungleichmäßige waren und die Flammenhöhe eine Rolle spielte, 
so daß die Unterschiedsschwelle beträchtlich herabgesetzt wurde. 
Ferner kam hauptsächlich für die zweite Methode in Betracht, 
daß parallel gerichtete Strahlen nicht nach allen Seiten gleich¬ 
mäßig diffundieren, wenn sie eine transparente Schicht durch¬ 
dringen. Da der Schirm des Photometers durch die Spiegel¬ 
einrichtung stark perspektivisch gesehen wird, folgt hieraus eine 
scheinbar geringere Helligkeit des parallelen Strahlenbündels. 
Eine Ungenauigkeit liegt schließlich auch darin, daß von der 
Hilfslampe ein großer Teil abgeblendet werden mußte. In sol¬ 
chem Falle nimmt die Intensität nicht mehr genau mit dem Qua¬ 
drate der Entfernung ab. 

Zuverlässigere Werte hätten erzielt werden können, wenn die 
Einwirkung der Strahlen auf eine photographische Platte gemessen 
worden wäre; diese Methode ist in neuester Zeit sehr exakt aus¬ 
gebildet worden. Aber für die vorliegende Arbeit genügte es, 
eine angenäherte Vorstellung von der Intensität der Reize zu er¬ 
möglichen. Wichtiger war es, die Abstufung der Intensitäten ge¬ 
nau zu berücksichtigen; diese ließ sich exakt genug feststellen, da 

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III. Exp. Unters, üb. d. Wahrnehmungsgeschw. v. Licht- u. Schallreizen usw. 345 


Abszisse bezeichnet die Expositionsdauern. Die Ordinaten der 
Kurven a und b geben an, um wieviel Sigma die Reize durch die 
Auffassung verschoben wurden. Sie schienen gleichzeitig zu sein, 
während sie objektiv einen mittleren Zeitabstand von der Größe 
der betreffenden Ordinate besaßen. Die Ordinaten oberhalb der 
Abszissenachse beziehen sich auf eine objektiv spätere Exposition 
des Lichtreizes, also auf verhältnismäßig raschere Lichtperzeption; 
die negativen Ordinaten dagegen bedeuten eine raschere Schall¬ 
auffassung. Die Zeitdifferenzen gelten von dem Einsätze der 
Reize, wie sich ja auch die Beobachtung einer Wahrnehmungs¬ 
differenz nur auf den Beginn der Empfindungen, nicht auf deren 
Dauer bezog. 

Kurve a enthält die Resultate der ersten Versuchsreihe; Kurve b ist 
eine Kontrollreihe, die bei fünffacher Intensität unternommen wurde. 

Die gestrichelten Kur¬ 
ven a und ß veran¬ 
schaulichen die zu den 
Kurven a bzw. b gehöri¬ 
gen Breiten der Gleich¬ 
zeitigkeitszone. Im In- 
teressederRaumerspar- 
nis ist nur die halbe 
Breite dieser Schwelle 
eingezeichnet; ihr Be¬ 
trag ist von der Abszis¬ 
senachse an zu rechnen. 

Auf den ersten Blick scheint es, daß die Kurven keine be¬ 
sondere Abhängigkeit der Wahrnehmungsgeschwindigkeit von der 
Dauer der Expositionszeit anzeigen. Dies wäre durchaus natür¬ 
lich, da es Aufgabe der Untersuchung war, auf den ersten Moment 
der Wahrnehmung zu achten, so daß der weitere Verlauf der 
Empfindungen belanglos sein könnte. Aber eine genauere \3\>er- 
legung zeigt, daß verschiedene Umstände dennoch bestimmen^, auf 
den Moment der Anffassnnp* oinwirken konnten. Zunächst i sat. d\e 



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346 


C. Miunemanu. 


bestehen wie für verschiedene Intensitäten. Die physikalischen Er- 
regnngsbedingungen sind allerdings andere; aber es erscheint sehr 
wohl möglich, daß ein länger anhaltender Reiz infolge einer Sum¬ 
mation der Erregung rascher ins Bewußtsein eintritt 1 ). Demnach 
müßte die Kurve für wachsende Expositionszeiten bis zu einem 
gewissen Punkte eine ansteigende Tendenz haben. Betrachtet 
man daraufhin die besonders in Betracht kommenden Messungen 
aueh der späteren Beobachtungen, so scheint eine solche Abhängig¬ 
keit für sehr kurze Reizdauern entschieden vorzuherrschen; und 
zwar ist ein Ansteigen der Kurve namentlich bei den geringeren 
objektiven Helligkeiten zu konstatieren. In bezug auf die Zonen¬ 
breiten dieser Bestimmungen zeigte sich ein auffallender Gegen¬ 
satz zwischen den ursprünglichen und den späteren Einstellungen. 
Während bei den ersten Versuchen die Zonenbreite bei wachsender 
Exposition zunächst abnahm, wuchs sie hingegen bei der Wieder¬ 
holung der Einstellungen. Hier liegt wahrscheinlich eine Erschei¬ 
nung der Übung vor, die später die Auffassung sehr kurzer Licht¬ 
reize erleichtert hat, so daß sie zeitlich präzisierter erscheinen 
als die länger dauernden Reize. 

Sieht man in Figur 20 von den nachweisbaren Zufälligkeiten 
der Einstellungen ab, so kann man trotz der geringen Zahl der 
untersuchten Zeiten in den Kurvenbildern der Wahrnehmungs¬ 
geschwindigkeit ein anfängliches Steigen mit zunehmender Ex¬ 
positionsdauer erkennen; bei höherer Intensität zeigt sich wenig¬ 
stens ein langsameres Absinken der Kurve als in ihrem zweiten 
Teile. Nach den Aufzeichnungen erklärt sich die tiefe Lage des 
Kurvenpunktes bei 22,5 o Expositionsdauer in der Kontrollreihe b 
aus der Verschiedenheit der subjektiven Disposition bei der Be¬ 
stimmung der beiden Grenzpunkte der Schwelle, die zu einem 
Mittel vereinigt wurden. Ebenso ist der Wert derselben Kurve 
für 45 a Expositionsdauer ein wenig zu hoch ausgefallen, da der 
eine Grenzpunkt schärfer bestimmt wurde als der andere. Auch 
Kurve a erscheint unter Berücksichtigung der speziellen Ein- 

dt.ellnno-avprhältniaap orlainlunÄRifrAr TT.a nrärp «mnaAtionawpri 


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III. Exp. Unters, üb. d. W.alirnehmungsgeschw. v. Licht-u. Schallreizen usw. 347 


Deutlicher ist im zweiten Teile der Kurven a und b ein Sinken 
festzustellen, das freilich auch nur durch wenige Einstellungen 
belegt ist, sich aber subjektiv der Beobachtung stark aufdrängte. 
Daß der durchschnittliche Wahrnehmungsmoment bei längeren 
Reizen später angesetzt wird, kann verschiedene Ursachen haben. 
Entweder wird die Vorschrift der Beobachtung nicht streng be¬ 
folgt, nur den Anfang der Empfindungen zu beurteilen. Dann ist 
die Beobachtung nicht korrekt. Oder es kann trotz genauester 
Beobachtung eine durchschnittliche Auffassungsverzögerung durch 
Verschiebung der einen Zonengrenze entstehen, weil etwa die 
Extensität des einen Eindruckes eine Zeitdifferenz des Bewußtseins 
nicht aufkommen läßt. Dies scheint in der Tat der Fall zu sein. 
Denn betrachten wir die zugehörigen halben Zonenbreiten, die 
durch die Kurven a und ft dargestellt sind, so zeigt sich auch an 
ihnen eine doppelte Abhängigkeit für verschieden große Reiz¬ 
zeiten. 

Für mittlere Expositionsdauer haben beide Kurven a und ft 
ein Minimum der Zonenbreite, während sowohl für kleinere wie 
für größere Darbietungszeiten eine breitere Gleichzeitigkeitszone 
besteht. Ganz kleine Reizzeiten könnten wieder geringere 
Schwellenwerte für Gleichzeitigkeit besitzen; denn es mögen Auf¬ 
merksamkeitsverhältnisse zum Teil breitere Schwellen für kurze 
Darbietungszeiten hervorgerufen haben. Nach dem Optimum der 
Präzision des Lichteindruckes wächst die Schwellenbreite nahezu 
im selben Maße wie die Verlängerung der Reizdauer. Das ist an 
der schräg verlaufenden schwach ausgezogenen Geraden 1 ersicht¬ 
lich, deren Erhebung Uber die Abszisseuachse die zugehörige 
halbe Reizdauer angibt. Eine einseitige Erweiterung der Gleich¬ 
zeitigkeitszone würde sich in den Kurven der Durchschnittswerte 
(a und b) durch eine entsprechend geneigte Richtung geltend 
machen müssen. Dies trifft für den zweiten Kurvenast augen¬ 
scheinlich zu. Die Hilfslinie 2 markiert die durch eine fort¬ 
schreitende einseitige Zonenerweiterung geforderte Änderung des 
mittleren Gleichzeitigkeitspunktes. Natürlich kann sich eine der¬ 
artige Änderungstendenz nicht beliebig weit ausdehnen. Bei einer 
srewisseu Dauer der Lichtreize wird eine weitere Verlängerung 


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348 C. Minnemann, 

Die ideale Form der Kurven Uber den Einfluß der Expositions¬ 
dauer dürfte demnach folgende Gestalt haben: 



Die gestrichelte Kurve gilt für größere Helligkeit. Für die 
untersuchten Zeiten und bei der Willkür der herausgegriffenen 
Punkte ergab sich in unserem Falle eine Anstieghöhe von 29 a 
bzw. bei größerer Helligkeit eine solche von 5 o. Das Sinken 
im zweiten Teile der Kurven betrug 15 o bzw. 31 a. Genauere 
Untersuchungen Uber diese Verhältnisse schienen erforderlich. 
Dies leistete zum Teil schon die spätere Fortführung der Versuche 
durch den Vergleich zweier Lichtreize. 


ß) Übung. 


Die erörterten Abhängigkeiten treten deutlicher hervor, wenn 
man bei der Auslegung der Kurven den Faktor der Übung mit- 
berücksichtigt. Schon der Selbstbeobachtung drängte sich die Er¬ 
scheinung auf, daß selbst innerhalb weniger Versuche Fortschritte 
in der Fähigkeit einer raschen Lichtauffassung gemacht wurden. 
Das Ungewohnte der Beobachtung, das namentlich für die zeit¬ 
liche Auffassung des Lichtreizes anfänglich bestand, trat mehr 
und mehr zurück. Auf einen Schallreiz zu reagieren, waren die 
Vp. gewohnt. Aber auch im allgemeinen scheint meistens die 
Auffassung von Schallreizen rascher zu erfolgen als von Lichtein- 
drücken; die Schallauffassung liegt uns offenbar besser schon 

wegen der größeren Übung und der praktischen Bedeutung. In- 

% •• 

folgedessen wird sich beim Experimentieren die Übung besonders 
auf die Schnelligkeit der Lichtauffassung erstrecken und hierin 
einen größeren Fortschritt bewirken, als die Steigerung der Wahr- 

„«1— -„i—A s_ __i.* 


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III. Exp.Unters.üb.d.Wahrnehmungsgeschw.v.Licht-u.Schallreizenusw. 349 


wurden. Die Höhendifferenz der zweiten Kurve gegen die erste 
könnte also auf den Intensitätsunterschied allein bezogen werden. 
Jedoch zeigen die späteren Kontrollreihen für die Untersuchung 
des Intensitätseintlusses ebenfalls eine derartige Verschiebung der 
mittleren Gleichzeitigkeit bei Punkten gleicher Intensitäten. Dort 
lassen sich die Unterschiede sicher auf einen Übungseinfluß zurück- 
ftihren. Hiernach bewirkt die Übung außer einer durchschnittlich 
rascheren Lichtauffassung zugleich eine Verengerung der Zone für 
scheinbare Gleichzeitigkeit. 

Die Zonenverkleinerung entsteht hauptsächlich durch Ver¬ 
schiebung des einen Grenzpunktes. Bei der Aufeinanderfolge von 
Licht-Schall nähert sich der zweite Eindruck dem ersten, so daß 
gewissermaßen die kleinste Zeitdauer des Bewußtseins flir eine 
Lichtempfindung verkürzt erscheint. Aber auch bei der umge¬ 
kehrten Reihenfolge war häufig eine Verkleinerung des objektiven 
Intervalles infolge der Übung festzustellen. Dies bedeutet ein 
relativ früheres Einsetzen der Lichtempfindung. 

Der Einfluß der Übung auf die mittlere Zeitpunktbestimmung 
des Lichteindruckes trat besonders im Anfänge der Untersuchung 
hervor. Deshalb darf dieser Faktor für die Auslegung der Kurven, 
durch die der Einfluß der Dauer auf die relative Wahrnehmungs¬ 
geschwindigkeit konstatiert werden sollte, nicht unberücksichtigt 
bleiben. Die längeren Expositionszeiten wurden zuerst untersucht. 
Folglich wird für gleiche Übungsdisposition der ansteigende Ast 
der Kurven über den Einfluß der Dauer wahrscheinlich etwas 
steiler anzusetzen sein, als er sich in der Figur 20 zeigt. Feste 
Daten für die Größe des Übungseinflusses sind schwer anzugeben, 
da der Faktor zu labil ist und ein gut Teil der Differenzen von 
vorübergehenden Beobachtungsdispositionen abhängen mag. Die 
meisten Kontrollversuche deuten auf einen Einfluß von 5 bis 10 o 
zugunsten der Auffassung des Lichtreizes hin. In anderen Fällen 
wurden bedeutend höhere Werte erreicht. 


y) Reizintensität. 

Da schon bei den Versuchsreihen für verschiedene Expositions¬ 
dauer des Lichtreizes die Intensitätsverhältnisse zur Erklärung 

1. ______j_ t _ • l J ■ _ /«.i_ j _ IT _ _ ,.V- dip 


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350 


C. Minuemaun. 


Verschiebung von der Intensität des Lichtreizes ist an den Kurven 
der Figur 22 ersichtlich. Die Kurven a und b beziehen sich auf 
eine Expositionsdauer des Lichtreizes von 2‘/ 2 o, c und d auf eine 
solche von 10 o. Die Kurven b und d sind Kontrollversuche mit 
den gleichen Helligkeiten wie in a und c. Die Punkte der Kon- 
trollreihen wurden unter Ausgleich des Übungsfaktors bestimmt; 

die Reihenfolge der ersten 
Versuche schritt von größerer 
zu geringerer Intensität fort. 
Aus der durchgängigen Paral- 
lelität der zusammengehöri¬ 
gen Kurven ersieht man. daß 
der Übungseinfluß sich bei 
diesen Versuchen nicht mehr 
so stark geltend machte, daß 
er innerhalb einer und der¬ 
selben Kurve von Bedeutung 
gewesen wäre. Aber im ganzen weist der Vergleich von Haupt- 
und Kontrollreihen, die zeitlich weit auseinander lagen, auf einen 
beträchtlichen Übungseinfluß hin. Denn im Vergleich zu den 
ersten Versuchen ging die Lichtwahrnehmung in den späteren 
Versuchsreihen sehr viel rascher vor sich als die Auffassung des 
Schalles. 

Untersucht wurden für jede Expositionszeit drei Intensitäten, 
deren Verhältnis durch die Abszissen der Figuren angegeben ist. 
Durch Vorschalten von Rauchgläsern entstand die Abstufung 
33 : 5‘/ 2 :1. Der objektive Helligkeitsmaßstab ist ebenfalls an¬ 
gedeutet. Die Ordinaten geben wie in den vorigen Figuren die 
durchschnittlichen Zeitverschiebungen in Sigma an. Die ge¬ 
strichelten Kurven a bis <5 bezeichnen durch ihren Abstand von 
der Abszissenachse die zugehörigen halben Zonenbreiten. 

Das eindeutige Ergebnis der Durchschnittskurven ist, daß mit 
wachsender Intensität die relative Wahrnehmungsgeschwindierkeit 


T 



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111. Exp.Unters.üb.d. Wahrnehmungsgeechw.v.Licht-u.Schallreizeu usw. 351 

zwischen der mittleren und größten verwendeten Helligkeit nur 
noch ein geringer Unterschied der Anffassungsgeschwindigkeiten. 

Fast ebenso deutlich ist eine Wirkung der Intensität auf die 
Breite der subjektiven Gleichzeitigkeitszone zu verzeichnen. Die 
Auffassung geschieht bei stärkeren Lichtreizen zeitlich präziser, 
indem die Zone sich verengert, innerhalb welcher beide Eindrücke 
als gleichzeitig erscheinen. Beide Tatsachen, die frühere und die 
präzisere Auffassung des Lichtreizes infolge der Intensitätssteige¬ 
rung, bestehen bis zu einem gewissen Grade unabhängig vonein¬ 
ander. Denn allein aus der Veränderung der Zonenbreite oder 
aus einseitiger Verschiebung des einen Grenzpunktes bei der Folge 
Licht-Schall läßt sich der mittlere Zeitunterschied in der Auf¬ 
fassungsgeschwindigkeit der Beize nicht erklären. Es werden 
auch die Verhältnisse des Anklingens der Lichtempfindung an den 
Unterschieden mit beteiligt sein; die intensiveren Lichteindrücke 
pflegen nicht nur im Durchschnitte aus beiden Zeitlagen, sondern 
überhaupt rascher ins Bewußtsein zu kommen als schwächere 
Reize ’), wenn nicht andere Umstände, von denen später die Rede 
sein wird, entgegenwirken. 

Ein analoges Resultat wie die Intensitätsänderung des Licht¬ 
reizes lieferte ein Versuch mit verschiedener Schallintensität. 
Die Entfernung des Schallhammers vom Ohre des Beobachters 
wurde variiert. Dann nimmt der Schall, wenn keine störende 
Reflexion vorhanden ist, proportional dem Quadrate der Entfernung 
ab. Da der Schallhammer in dieser Versuchsreihe stark gedämpft 
war, konnte die Reflexion kaum einen merkbaren Einfluß haben. 
Aber es waren andere Momente vorhanden, die eine Wirkung der 
Intensität weniger klar zum Ausdrucke kommen ließen. Das 
zeigte sich schon an der geringen Zunahme der Zonenbreite bei 
wachsender Stärke des Schalles. Ein intensiverer Schallreiz ist 
offenbar zeitlich nicht so scharf begrenzt wie ein leiser, der rasch 
gedämpft wird; und diese Verlängerung der Dauer scheint eine 
größere Unsicherheit in der Zeitpunktsbestimmung für den Begin^ 
des Eindruckes im Gefolge zu haben, ähnlich wie sich bei längte* 


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352 


C. Minnem&nn 


wie es natürlich ist, die entgegengesetzte Tendenz vorzuliegen wie 
bei Steigerung der Lichtintensität. Ein stärkerer Schall führt 
ebenfalls zu einer rascheren Auffassung. 

Die Schallintensitäten verhielten sich ungefähr wie 1:5:50. 
Für die Berechnung der Zeitverschiebung wurden natürlich auch 
die aus dem verschiedenen Abstande der Schallquelle entsprin¬ 
genden physikalischen Differenzen in Betracht gezogen, die sich 
aus der Fortpflanzungsgeschwindigkeit ergeben. Für die Ent¬ 
fernungen von 1,10 m und 2,40 m war gegenüber dem gewöhn¬ 
lichen Abstand von 35 cm eine Korrektur von 3,3 o bzw. 8 o an¬ 
zubringen. 

Die durch Intensitätsunterschiede bedingten Differenzen der 
relativen Wahrnehmungsgeschwindigkeit betrugen quantitativ für 
den Lichtreiz bei einer Dauer von 2,5 o 34 bzw. in der Kontroll- 
reihe 36 o; bei einer Reizdauer von 10 a war der Unterschied nur 
10 bzw. 15 (7. Die Schallvariation rief eine Verschiebung um 8 a 
hervor; jedoch wirkten hierbei vielleicht zwei Tendenzen einander 
entgegen. 


ö) Qualität des Lichtes. 


In einer dritten Versuchsgruppe wurden farbige Lichteindrücke 
mit einem gleichbleibenden Schallreize kombiniert, um etwaige 
Unterschiede der Lichtqualitäten in bezug auf die Wahrnehmungs¬ 
geschwindigkeit aufzudecken. 
Zur Herstellung der Farben- 
eindrücke dienten Gelatine¬ 
folien, die in den Lichtgang 
gebracht wurden (Reizdauer 
10 ff). Die Versuchsergeb¬ 
nisse sind in Figur 23 nieder¬ 
gelegt, in der Reihenfolge, 
wie die Farben untersucht 
wurden. 

Fig. 23. Das Resultat dieser Ver¬ 

suchsgruppe läßt sich dahin 
zusammenfassen, daß ein eigentlicher Einfluß der Qualität nicht 
nachzuweisen war. Wohl zeigten sieh Differenzen zwisehen Her Anf- 




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III. Exp. Unters, üb. d. Wahrnehmungsgeschw. v. Licht- u. Schallreizen usw. 353 

sondern in der den Farben zukommenden Helligkeit. Denn 
ordnet man die untersuchten Farben nach der Helligkeit, so er¬ 
hält man unter Berücksichtigung eines mit der Zeitfolge der Be¬ 
obachtungen verbundenen geringen Übungseinflusses und der Ver¬ 
teilung der Versuche Uber mehrere Tage ein übereinstimmendes 
Bild mit den durch die Helligkeit allein bedingten Differenzen 
der Wahrnehmungsgeschwindigkeit. 

Etwas auffallend ist die Kurve a mit den Zonenbreiten. Aber 
es ist zu bedenken, daß solche Werte z. T. von der Beobachtungs¬ 
art abhängen und daher in längeren Versuchsreihen kaum eine 
besondere Regelmäßigkeit aufweisen können. Die enge Schwellen¬ 
breite für Grün erklärt sich wohl aus einer Wiederaufnahme der 
Versuchsreihe und einer damit zusammenhängenden veränderten 
Beobachtungsdisposition. Der Tiefpunkt im Rot illustriert eine 
Eigentümlichkeit, die schon der Selbstbeobachtung aufgefallen 
war und wofür auch der Anfang der Hauptkurven für Intensitäts¬ 
änderung spricht, daß dunkle, kurze Reize zeitlich schärfer be¬ 
grenzt erscheinen können. Denn in der Empfindung entsteht der 
Eindruck eines kurzen Aufblitzens, weil sich die Erregung nur 
für kurze Zeit über die Schwelle erhebt; daher gewährt der Reiz 
für die subjektive Einordnung in die Zeitreihe nur einen geringen 
Spielraum. Andererseits besitzt ein längerer Eindruck den Cha¬ 
rakter größerer zeitlicher Unbestimmtheit, d. h. er ist mit einer 
größeren Gleichzeitigkeitszone verknüpft. 

Die größte bei Farbigkeit auftretende Differenz des Wahr¬ 
nehmungsmomentes, die wohl zur Hauptsache auf den Helligkeits¬ 
unterschied zu beziehen ist, betrug in dieser Versuchsreihe gegen¬ 
über dem Weiß 38 a. Untereinander zeigten die Farben einen 
Unterschied bis zu 31 o *). 

tj Diverse optische Bedingungen. 

Es folgten orientierende Versuche Uber einige Einstellungs¬ 
verhältnisse des Auges, nämlich Uber die Abhängigkeit von 
der Netzhautresrion, auf welche der Lichtreiz auftrifft, über die 


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354 


C. Minnemann, 


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zustande des Auges. Genauer sollten diese Verhältnisse erst durch 
eine spätere Versuchseinrichtung festgestellt werden. Jedoch 
mögen auch die Ergebnisse dieser Vorversuche kurz mitgeteilt 
werden, da sich die Werte z. T. durch die vorausgegangenen 
Versuchsreihen erklären lassen und durch spätere Untersuchungs¬ 
ergebnisse gestützt sind. 

Für die graphische Darstellung der Resultate (Figur 24) ist 
hier eine etwas andere Form gewählt wie in den vorhergehenden 
Fällen, nämlich das Bild, wie sich die Zeitfolge der Eindrücke in 
unserem Bewußtsein abspielt, wenn wir den Moment der Schall- 
anffassuog in den Versuchen als konstant ansehen. Es handelt 
sich also um das Schema der subjektiven Zeitreihe. Die Abszissen 
bedeuten den Zeitablauf des Bewußtseins; der Nullpunkt (die 
Vertikale) bezeichnet den mittleren Wahrnehmungseinsatz des 

Schalles. Eine nega¬ 
tive Verschiebung des 
Lichteindrucks gegen 
diese Normale bedeu¬ 
tet eine verhältnis¬ 
mäßig raschere Auf¬ 
fassung des Licht¬ 
reizes; eine positive 
Abweichung kommt dagegen einer gegenüber dem Schalle ver¬ 
späteten Licht Wahrnehmung zu, so daß die objektiven Zeitver¬ 
hältnisse, zwei simultane Gehörs- und Gesichtsreize, entsprechend 
der Zeichnung verschoben erscheinen. Die Durchschnittswerte 
der Zeitvergleichung fltr beide Reizfolgen, Licht-Schall und 

Schall-Licht, sind durch Kreuze markiert und ihr Wert in Sigma 
beigefügt; die Zouenbreite für die Gleichzeitigkeitsauffassung 

beider Eindrücke ist durch horizontale Linien von entsprechender 
Länge angezeigt, deren halbe Ausdehnung ebenfalls in Sigma 
an & e & e ^ en ist- Die Endpunkte der Linien bezeichnen direkt die 
bei der Beobachtung gemachten Einstellungen. 

Die unterste Horizontale a bezieht sich auf einen normalen 
Vergleich der Wahrnehmungsgeschwindigkeit eines Licht- und 


Licht rascher 

langsamer aufgefaßt 

*- i/1 

, 

— — 77 - 

25 

** 33 


a- 59 -*- 



Fig. 24. 


n i n 


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ID. Exp. Untera.iib. d. Wahrnehmungsgeschw.v. Licht- u. Schallreizen ubw. 355 


eine Akkommodationsänderung des Auges (vgl. die Horizon¬ 
tale b ) ähnlich wie eine Verminderung der Intensität eine merk¬ 
liche Verspätung der LichtauffaBSung und eine etwas breitere 
Gleichzeitigkeitszone. Der objektive Abstand des Lichtreizes war 
hierbei auf 60 cm vergrößert, während gewöhnlich aus einer Ent¬ 
fernung von 25—30 cm beobachtet wurde; gleichzeitig wurde der 
Fixationspunkt bedeutend angenähert, bis auf etwa 8 cm. 

Das abweichende Ergebnis nur auf die mit der Entfernungs¬ 
änderung etwa verknüpfte Abnahme der Intensität zurtickzuführen, 
durfte kaum angehen. Denn einerseits zeigt ein anderer Versuch, 
bei dem aus derselben größeren Entfernung, aber mit richtiger 
Akkommodation beobachtet wurde, im Gegenteil eine wesentlich 
beschleunigte Auffassung des Lichtreizes, zugleich allerdings mit 
beträchtlicher Erweiterung der Gleichzeitigkeitszone (vgl. in der 
Figur Linie c); andererseits zeigt ein Vergleich mit der Normal¬ 
bestimmung dieser Versuchsreihe, daß auch die aus der un¬ 
günstigen Akkommodation entspringende Lichtzerstreuung und die 
hieraus resultierende Schwächung des Lichteindruckes noch keinen 
genügenden Erklärungsgrund für die starke positive Verschiebung 
abgeben kann. Dafür ist die Differenz zu groß. Es müssen viel¬ 
mehr außer den objektiven Reizbedingungen noch verschiedene 
subjektive Momente herangezogen werden, die gewöhnlich als 
AufmerksamkeitsVerhältnisse bezeichnet werden. Bei dem Fern¬ 
sehen ist die Aufmerksamkeit besonders angestrengt. Hierdurch 
kann eine raschere Auffassung des Reizes herbeigeführt werden. 
Zugleich aber herrscht wegen der Schwierigkeit der Einstellung 
auf die Ferne eine größere Unsicherheit des Vergleiches, die in 
der Vergrößerung der Zonenbreite zum Ausdruck kommt. Beim 
Akkommodieren auf die Nähe unter den gleichen objektiven Ver¬ 
hältnissen besteht dagegen eine Art hemmender Tendenz, die den 
Eindruck nicht rasch auf kommen läßt; es herrscht eine aktive 
Unaufmerksamkeit, da die Beachtung durch das Fixieren in An¬ 
spruch genommen wird. Dieser Umstand wirkt im selben Sinn® 
wie objektiv ungünstigere Wahrnehmungsbedingungen. In später© 11 
Versuchen war diese subjektive Seite der Wahrnehmnngsvergie»" 
chnng Gegenstand besonderer Beobachtung. 

Auch bei einem Vergleiche des Schalleindruckes mit einem 


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356 


C. Minnemanu 


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ist es in der Kegel nicht sehr gewohnt, auf periphere Gesichts- 
eindrlicke zu achten. Der Versuch ergab eine stark verspätete 
Auffassung für indirekte Beobachtung unter einem Winkel von 
45 Grad. Zu diesem Ergebnis werden gewiß konstante physio¬ 
logische Bedingungen der betreffenden Netzhautpartien beigetragen 
haben. Aber zum Teil wird es sich aus dem geringeren Aufmerk¬ 
samkeitsgrade erklären, der dem seitlichen Eindruck entgegen¬ 
gebracht wird. Ein Teil der Aufmerksamkeit scheint gewisser¬ 
maßen an dem Fixationspunkte zu haften. Jedenfalls ist eine 
Konzentration auf periphere Objekte nicht in dem Maße durch- 
zuführen, wie es für fixierte Objekte möglich ist. 

Eine mäßige Helladaptation (vgl. Linie e) bei der Beobachtung 
hatte denselben Einfluß wie eine Intensitätsabuahme des Licht¬ 
reizes. Dies entspricht völlig dem subjektiven Eindrücke, daß 
für das helladaptierte Auge die Helligkeitsempfindung geringer 
erscheint. Abgesehen von den veränderten physiologischen Be¬ 
dingungen der Netzhautreizuug infolge der Adaptation hat sich der 
Reiz auf eine bereits vorhandene Erregung zu superponieren. Die 
gleiche objektive Helligkeitsdifferenz kann daher subjektiv nicht 
so stark zur Geltung kommen, weil der relative Helligkeitsunter¬ 
schied geringer ist. Es ist somit natürlich, daß solche Bedingungen 
ähnlich wirken wie eine objektiv geringere Intensität. Besonders 
bei schwachen Reizen wird dieser Einfluß bemerkbar sein. Mit 
zunehmender Dauer der Beobachtung im Dunkeln treten demnach 
günstigere Auffassungsverhältnisse für den Lichtreiz ein. Die 
oben besprochenen Kurven über den Einfluß der Expositionsdauer 
und Intensität sind übrigens in einer solchen Reihenfolge 
gewonnen worden, daß sich die betreffenden Ergebnisse trotz 
dieses eutgegenwirkeuden Faktors der Adaptation heraus¬ 
stellten. 

Zur genaueren Aufhellung der Fragen, die durch diese Einzel¬ 
versuche gestreift wurden, bedürfte es einer großen Reihe weiterer 
Versuche, die namentlich die rein physiologischen Intensitäts¬ 
änderungen der Netzhautreizung unter den erwähnten Einstellungs¬ 
bedingungen zu berücksichtigen hätten. Die verschiedene Emp- 


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III. Exp. Unters, iib. d. Wahrnehinungsgeschw.v. Licht- u. Schallreizen usw. 357 


scheint jedoch eine charakteristische Einstellungstendenz der Auf¬ 
merksamkeit zu sein. 

Nicht unwesentlich ist es, sich darüber klar zu sein, daß die 
durch Figur 24 dargestellten Beziehungen vielleicht nicht ganz 
den Beobachtungstatsachen entsprechen. Denn streng genommen 
hat die Zeichnung nur für den Fall Geltung, daß die Verhältnisse 
der Schallauffassung in den Versuchen sich gleich geblieben sind. 
Nun wissen wir aber, daß die Aufmerksamkeit die Wahrnehmung 
eines Reizes verhältnismäßig beschleunigen oder verzögern kann. 
Wenn die Aufmerksamkeitsverhältnisse in bezug auf einen Reiz 
sich ändern, ist es fast gänzlich ausgeschlossen, sie in bezug auf 
einen anderen konstant zu erhalten. Konzentriert man stärker 
seine Aufmerksamkeit auf den Lichtreiz, so schließt das meistens 
eine um so geringere Beachtung des Schallreizes und daher ein 
subjektives Zurücktreten desselben ein. Es wäre also verkehrt, 
etwa nach dem Versuche mit dem fernakkommodierten Auge an¬ 
zunehmen, daß die absolute Zeit, die zu einer Schallwahrnehmung 
erforderlich ist, stets mindestens 35 a betragen müsse. Nur für 
den speziellen Versuchsfall gilt dieser Verspätungswert. Da aber 
eine veränderte Aufmerksamkeitsverteilung meistens die Wahr¬ 
nehmungsgeschwindigkeit beider Reize in entgegengesetzter Weise 
beeinflußt, so ist dennoch ein Vergleich der verschiedenen Ver¬ 
suche durch Vermittlung des Zeitpunktes der Schallauffassung, 
wenn auch unter Vorbehalten, zulässig. Die Beziehung der Ver¬ 
suchsergebnisse auf einen objektiv gleichen Zeitpunkt würde 
wahrscheinlich nur die gefundenen Werte verkleinern, aber ihre 
Relation unberührt lassen. Auch scheint es hauptsächlich der 
Lichteindrnck zu sein, wenigstens bei geringeren Intensitäten, der 
einer zeitlichen Anpassung mehr unterworfen ist. Eine Ver¬ 
schiebung desselben erscheint in weiteren Grenzen möglich als 
für den Schalleindruck. 

Auch diese Betrachtung drängt zur Untersuchung der Frage 
nach dem Einfluß der Aufmerksamkeit auf die Wahrnehmungs¬ 
geschwindigkeit. Diese Frage läßt sich entschieden besser beant¬ 
worten, wenn man zwei völlig gleiche Reize für die Untersuchung 
verwendet, als wenn man die Frage durch Versuche mit disparaten 


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358 


C. Minnemaun, 


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Dauer durch weitere Versuche gestützt werden, andererseits sollten 
namentlich die Wirkungen subjektiver Einstellungsbedingungen 
quantitativ bestimmt werden. 

Über die vorliegenden Feststellungen sind noch einige Be¬ 
merkungen der Selbstbeobachtung nachzutragen, die sich bei den 
Versuchen Uber die Zeitvergleichuug von Licht- und Schallreizen 
ergaben. Solche Einzelheiten können vielleicht noch zur Ver¬ 
anschaulichung der Beobachtungen beitragen. 


c) Notizen der Selbstbeobachtung. 

Anfangs trat von den beiden Reizen der Schalleindruck bei 
der Beobachtung entschieden in den Vordergrund, und dies war 
auf die Zeitpunktsbestimmung des Lichteindruckes von besonders 
störendem Einfluß. Denn es stellte sich leicht zu dem Gehörs¬ 
eindrucke des Schalles das Bild des niederfallenden Hammers 
ein; dann lag es nahe, das Auf blitzen des Lichtreizes in den 
gleichen Zusammenhang hineinzubeziehen oder wenigstens es 
analog aufzufassen, indem man nicht den Eintritt, sondern das 
Ende des Lichtreizes in der Beobachtung betonte und hierauf bei 
der Messungseinstellung achtete. Der endongsbetonte Rhythmus 
des mit dem Schalleindruek assoziierten Vorganges übertrug sich 
auf die optische Wahrnehmung. Das konnte namentlich für die 
Versuchsreihen mit verschiedener Dauer des Lichtreizes störend 
ins Gewicht fallen, und man hatte Mühe, diesen ablenkenden Ein¬ 
fluß zu überwinden. 

Eine zweite Ungenauigkeit lag nahe bei mangelhafter Auf¬ 
merksamkeitseinstellung, wie sie z. B. bei erzwungener Akkommo¬ 
dation vorlag. Jedoch auch in anderen Fällen, wenn der Moment 
der Reizdarbietung verpaßt worden war, war man geneigt, ein 
korrigierendes Urteil an die Stelle des wirklich Wahrgenommeuen 
treten zu lassen. Man urteilte leicht nicht nach dem unmittel¬ 
baren Eindrücke, sondern abstrahierte von der ungünstigen Auf- 


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III. Exp. Unters, üb.d. WahrnehmungsgeBchw. v. Licht-u. Schallreizen ubw. 359 


Abgabe einer Entscheidung über den Gleichzeitigkeitspunkt eine 
kurze Beobachtungspanse eintreten ließ und nochmals die ver¬ 
meintliche Gleichzeitigkeit der Einstellung nachprttfte. Abgesehen 
von der Anstrengung bei längerem Beobachten und der hiermit 
zusammenhängenden Abnahme der Wahrnehmungsempfindlichkeit 
bildete sich durch die Einstellung nach dem Verfahren der Minimal¬ 
änderung eine bestimmte Aufmerksamkeitsrichtung heraus, die 
sich meistens in einer Verschmelzungstendenz, also in einer zu 
frühen Angabe des betreffenden Gleichheitspunktes äußerte. Da 
bei diesen Versuchen der Einfluß objektiver Faktoren auf die 
Wahrnehmungsgeschwindigkeit untersucht werden sollte, mußten 
auch derartige subjektive Einstellungsmomente nach Möglichkeit 
ausgeschaltet werden. 

Über die Bedeutung der Zone für subjektive Gleichzeitigkeit 
läßt sich ebenfalls eine Bemerkung anfügen. Es ist dieses Inter¬ 
vall keineswegs so beschaffen, daß es hierin überhaupt keine 
Unterschiede in der Zeitauffassung beider Eindrücke geben kanu. 
Die Zone hat sich vielmehr auch bei konstanten objektiven Ver¬ 
hältnissen als variabel erwieseu infolge der Aufmerksamkeits- 
bedingungen. So ist es sehr wohl möglich, daß bei wechselnder 
Aufmerksamkeit stets Zeitdifferenzen zwischen beiden Eindrücken 
wahrgenommen werden, indem entweder der eine oder der andere 
Reiz als der frühere angesehen wird; und in solchem Falle würde 
man überhaupt keinen Punkt, noch viel weniger eine Strecke 
subjektiver Gleichzeitigkeit feststellen können, sondern höchstens 
eine Grenze auffinden, wo die subjektive Zeitfolge der Eindrücke 
umschlägt. Bei gleichbleibender Aufmerksamkeitsrichtung ist da¬ 
gegen stets eine zeitliche Indifferenzzone vorhanden, innerhalb 
welcher gar keiner der Reize als der frühere aufgefaßt wird. 
Auch leuchtet es ein, daß bei wechselnder Aufmerksamkeits¬ 
richtung die einmal herrschende Reihenfolge nicht stets bei der¬ 
selben objektiven Reizdistanz umschlägt, sondern daß dieser Punkt 
von dem Grade der Aufmerksamkeitsanspannung abhäugt, so daß 
es eine Reihe von Einstellungen geben kann, wo beide Zeitfolgen 
der Auffassung möglich sind. Es ist ia auch schon von früheren 


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360 


C. Minneuiann, 


Bedingungen auf die Wahrnehmungsgeschwindigkeit feststellen, 
also die Beobachtung aus der Abhängigkeit von den Wirkungen 
willkürlicher Aufmerksamkeit herauslösen, so hat man an der 
Umkehrbarkeit der subjektiven Zeitfolge beider Eindrücke stets 
ein bequemes Hilfsmittel. Die Leichtigkeit oder Schwierigkeit 
der Auffassung in der einen oder anderen Form ergibt ein in¬ 
direktes Maß für die Vor- oder Nachzeitigkeit eines Eindruckes, 
wie sie unabhängig von spezieller Aufmerksamkeitseinstellung für 
die Wahrnehmung besteht. Diejenige objektive Zeitstrecke, inner¬ 
halb welcher kein Unterschied für beide Auffassungsformen merk¬ 
lich ist, fällt) angenähert mit der auf die gewöhnliche Weise 
gefundenen Zone für Gleichzeitigkeit zusammen. Bei der gewöhn¬ 
lichen Einstellungsart war es nicht schwer, die Aufmerksamkeits¬ 
richtung einigermaßen gleichmäßig zu erhalten, da nur die Punkte 
der ebenmerklichen Gleichzeitigkeit bestimmt wurden. An den 
anderen Grenzen, von der Gleichzeitigkeit zu ebenmerklichen 
Unterschieden, zeigte sich eine viel größere Inkonstanz der Ein¬ 
stellungen, z. T. wohl weil die Aufmerksamkeitsrichtung hierbei 
nicht gleichmäßig genug erhalten werden kann, sondern leicht 
umschlägt. 

Die Bemerkungen der Selbstbeobachtung weisen auf die Sub- 
tilität der Versuche hin und lassen erkennen, daß eine Reihe von 
Gesichtspunkten zu beachten ist, wenn brauchbare Ergebnisse er¬ 
zielt werden sollen. 


4) Zusammenfassung. 

Die Fundamentalfrage Uber die Wahrnehmungsgeschwindigkeit 
von Licht- und Schallreizen, welchem Sinnesgebiete eine raschere 
Auffassung zukommt, ist dahin zu beantworten, daß kein Sinnes¬ 
gebiet absolut raschere Werte liefert. Bald wird der Schall¬ 
reiz, bald der Lichtreiz früher bewußt. Die erörterten Kurven 
verlaufen teils Uber, teils unter der Null-Linie für objektive 


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III. Exp. Unters, üb.d.Wahrnehnuingsgesclnv.v.Licht-u.Schallreizen usw. 3(jl 

gar die Reihenfolge der Eindrücke umschlägt. Unter den anderen 
objektiven Faktoren, deren Einfluß auf die Wahrnehmuugs- 
geschwindigkeit untersucht wurde, steht obenan die Intensität. 
Bei geringen Intensitäten, namentlich des Lichtreizes, ist der Ein¬ 
fluß beträchtlich. Je intensiver der Reiz, desto rascher wird er 
aufgefaßt. Natürlich findet diese Funktion bald ihre Grenze, 
wenn höhere Intensitäten erreicht werden. In der Untersuchung 
zeigten sich Differenzen bis zu 36 <j. Mit der Intensität hängt 
aufs engste zusammen der Faktor der Reizdauer, soweit es sich 
um kurze Zeiten handelt. Denn offenbar kommt es auf die Stärke 
der Erregung an, und diese wächst bekanntlich mit zunehmender 
Expositionsdauer. Bei längeren Zeiten hingegen Uberwiegt eine 
gegensinnige Verschiebungstendenz, die aus der zeitlichen Er¬ 
streckung des Eindruckes entsteht. Sie bewirkt, daß länger¬ 
dauernde Lichtreize später angesetzt werden. Jedoch erreicht 
auch diese Beziehung selbstverständlich bald ihre Grenze. Die 
festgestellten Unterschiede bewegten sich etwa zwischen 30 a. 
Für die Qualität des Lichtes war kein spezifischer Faktor nach¬ 
zuweisen. Die aufgefundenen Differenzen bis zu 38 a ließen sich 
im wesentlichen auf die Helligkeitsverhältnisse zurückführen. Auch 
bei einigen besonderen optischen Bedingungen war anschei¬ 
nend der Einfluß des Intensitätsfaktors wiederzuerkennen. Außer¬ 
dem aber schienen hieran Aufmerksamkeitsverhältnisse stärker 
beteiligt zu sein. Die Einstellungen ergaben Abweichungen von 
21 a Verfrühung und 34 o Verspätung gegenüber dem Normal¬ 
versuch. 

Die Präzision der zeitlichen Auffassung, die durch den Umfang 
der Gleichzeitigkeitszoneu zum Ausdruck kommt, ist zum großen 
Teile von dem Übungsgrad abhängig. Mit fortschreitender Übung 
wird die Zeitabstufung feiner, die psychische Zeitordnuug diffe¬ 
renziert sich. Dasselbe tritt ein, wenn die Eindrücke durch 
größere Intensität sich schärfer abheben oder wenn dies durch 
eine größere Dauer des Reizes bewirkt wird. Im übrigen nimmt 
bei längerer Reizdauer die zeitliche Bestimmtheit ab. die Zone 


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(Ans dem psychologischen Laboratorium der Universität Graz.) 


Über die Motive der Scheinkörperlichkeit 
hei umkehrbaren Zeichnungen. 

(Mit 9 Figuren und 4 Diagrammen im Text.) 

Von 

Vittorio Benussi (Graz). 


Inhalt. seit« 

§ 1. Entwicklung der Fragestellungen.363 

§ 2. Hilfsmittel und inneres Verhalten der Vp.366 

§ 3. Die reinen Reaktionszeiten für Scheinkörperlichkeit.372 

§ 4. Die Arten scheinkörperlicher Auffassung in ihren Beziehungen zur 

Fignrenlage.376 

§ 5. Daten der Selbstbeobachtung. Zur Stellungnahme.376 

§ 6. Expositionsdauer nnd Scheinkörperlichkeit.386 

§ 7. Zusammenfassung der Ergebnisse.388 

§ 8. Zur Theorie.390 


§ 1. Entwicklung der Fragestellungen. 

Der erste Versuch, die Tatsache der sogenannten umkehrbaren 
Zeichnungen verständlich zu machen, appellierte an die Fixation und 
die Augenbewegungen. Wir stellen gewöhnlich die Blicklinie auf 
das Näherliegende ein, dieses wird fixiert, und von dieser fixierten 
Stelle geht die eine oder die andere Augenbewegung aus 1 ). 
Werden uns Zeichnungen, etwa von Würfeln, gezeigt, so ent¬ 
scheiden Uber die — wie wir hier kurz sagen möchten — schein¬ 
körperliche 3 ) Auffassung dieser Zeichnungen die Lage des 

1) W. Wundt, Zur Theorie der räumlichen Gesichtswahrnehmungen. 
Phil. Studien. Bd. 14. 1878. S. 31 ff. 

2) Die Ausdrücke »Scheinkörperlich«, »Scheinkörperlichkeit« oder »Schein¬ 
körper« bedürfen wohl keiner Erläuterung. Der Grund, weshalb ich lieber 
von Scheinkörperlichkeit als von perspektivischem Eindruck spreche, liegt 
in der Tatsache, daß wir beim Erfassen von Figuren wie die hier zu be¬ 
handelnden, in viel größerem Maße die Illusion der Körperlichkeit erreichen 
als dort, wo wir uns vor einer regelrechten perspektivischen Zeichnung be- 

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364 


Vittorio Benussi, 


Fixationspunktes und die darauf folgenden Angenbewegungen. 
Gegen diese freilich sehr einfache und daher bevorzugt er¬ 
scheinende Auffassung wurde von verschiedener Seite Stellung 
genommen. Es wurde bemerkt, daß auch dann, wenn man sich 
an eine bestimmte Fixationsstelle hält, oder den Blick längs einer 
bestimmten Kante bewegt, scheinkörperliche Gebilde erfaßt werden, 
bei denen gerade das Fixierte oder die mit dem Blicke verfolgte 
Linie nicht näher sondern entfernter zu sein scheint 1 ). Die erwähnte 
Hypothese scheint schließlich definitiv abgelehnt werden zu müssen 
durch den Versuch, mit Zuhilfenahme eines Nachbildes der Fixations¬ 
stelle den Zusammenhang zwischen Fixation sowie Blickbewegung 
und Scheinkörperlichkeit, bzw. relative Scheinentfernung einzelner 
Flächen oder Punkte festzustellen 2 3 ). Natürlich nicht in dem Maße, 
daß man den erwähnten Momenten jeden Anteil an einer resul¬ 
tierenden Scheinkörperlichkeit mit bestimmten scheinbaren Ent¬ 
fernungsverhältnissen abstreiten müßte, sondern nur insofern, als 
neben oder vor diesen andere Momente zu berücksichtigen sind. 
Es kam hinzu die Richtung der Aufmerksamkeit 8 ) und die Bereit¬ 
schaft reproduktiver Vorstellungselemente 4 ). Zu diesen Ergänzungen 
kam dann das Moment der Bodenständigkeit 5 * * ) einigermaßen ein¬ 
schränkend hinzu. Die Wirkung der Bodenständigkeit wurde mit 
einem ebenso glücklichen als einfachen Griff in der Art der Dar¬ 
bietung annehmbar gemacht, wenn auch wieder nur als teilweise, 

1) E. Becher, Über umkehrbare Zeichnungen. Dieses Archiv. Bd. XVI. 
1910. S. 397—417. Vgl. auch Zeitschrift für Psychol. Bd. 36. S. 68. 

2) E. Becher, a. a. 0. S. 408. 

3) v. Aster, Zur Theorie der räumlichen Gesichtswahrnehmungen. Zeit¬ 
schrift für Psychologie. Bd. 43. S. 175ff. Mit Recht bemerkt E. Becher 
(a. a. 0. ä. 403) hierzu, daß es auch gelingt, eine genau beachtete Steüe »als 
tief« zu sehen. 

4) Solche werden immerhin auch von Wundt zugegeben (Grundzüge der 

phys. Psychol. II.® S. 576 f.), wenn auch nach ihm die Hauptrolle der 

Fixation zukommt (Die Projektionsmethode und die geom.-opt. Täuschungen. 

Psychol. Studien. Bd. 2. S. 497 f.). Von ihnen sagt E. Becher (a. a. 0. 

S. 408 f.), daß sie willkürlich festgehalten werden künnen; die Bereitschaft 


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Über die Motive der Scheinkörperlichkeit bei umkehrbaren Zeichnungen. 365 

nicht als einzige Ursache der in Rede stehenden Erscheinungen *). 
Ans eigener Erfahrung glaube ich, daß man berechtigterweise sämt¬ 
lichen bisher genannten Momenten eine Stelle unter den Teilursachen 
der Scheinkörperlichkeit wird einräumen müssen, von der Fixation 
angefangen bis zur Bodenständigkeit. Nur zwei Punkte ließen mich 
unbefriedigt; einmal der Mangel an Zeitbestimmungen (was hier 
darunter gemeint ist, wird sofort zur Sprache kommen), dann die 
Vernachlässigung einer geübten Selbstbeobachtung von seiten des 
Beschauers. Solange man über derartige Bestimmungen nicht 
verfügt, läßt sich nicht mehr behaupten, als daß jede Auffassung 
eine gewisse Natürlichkeit in sich schließt und infolgedessen 
mit einiger Wahrscheinlichkeit als berechtigt anzusehen sei. 
Nicht zuletzt durch die Versuche zur Bekräftigung der Wirkung 
eines Bodenständigkeitsmomentes wurde ich zur Durchführung der 
im folgenden zu besprechenden Experimente angeregt. 

Meine erste Fragestellung lautet: Geht die Scheinkörper¬ 
lichkeit auf eine Ergänzung des wirklich Dargebotenen 
durch Erfahrungsmomente (Assoziation, Bodenständigkeit) 
zurück, so muß (aller Wahrscheinlichkeit nach) die Zeit ( Z ) 
die die Ergreifung oder die Vorstellung einer Scheinkörper¬ 
lichkeit von dem Augenblicke trennt, in dem die eine 



ab c d 


Fig. 1. 

oder die andere Zeichnung der Anschauung geboten wird, 
je nach der Lage dieser Zeichnung eine verschiedene 
sein; denn es ist im vorhinein zu erwarten, daß die gleiche 
Zeichnung bei Lageveränderung weder sich gleich leicht als 
scheinkörperlich erfassen lassen, noch daß sie mit gleichet 


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366 


Vittorio Benussi, 


Leichtigkeit in einer bestimmten Art der Scheinkörper¬ 
lichkeit zn erfassen sein wird. Es fragt sich also einerseits, 
wie sich die Z bei je einer der in Figur 1 wiedergegebenen Zeich¬ 
nungen verhalten, andererseits, was dabei die geübte Selbst¬ 
beobachtung in Erfahrung zu bringen vermag. 

Diese erste Fragestellung führt durch eine Art Umkehrung zur 
zweiten hinüber. Diese lautet: Wie verhält sich die Schein¬ 
körperlichkeit zur Expositionsdauer D der in Figur 1 
wiedergegebenen Zeichnungen. 

Die Überlegung, die zu dieser Fragestellung führen mußte, 
liegt auf der Hand: sind Momente assoziativer Ergänzung, gleich¬ 
viel in welchem Maße, an der Entstehung eines inneren Erleb¬ 
nisses, das uns eine Scheinkörperlicbkeit zu erfassen gestattet, 
beteiligt, so müssen sie um so weniger zur Geltung kommen 
können, je weniger Zeit ihrer Entfaltung bzw. Aktuali¬ 
sierung gelassen wird. Es ist daher zu erwarten, daß die 
Verkürzung der Expositionszeit eine Zunahme von Fällen 
mit sich führen muß, bei denen keine Scheinkörperlich¬ 
keit erreicht wird. Auch hier ist als Nebenfrage die auf¬ 
zustellen, wie sich die Figurenlage in bezug auf Scheinkörperlich¬ 
keit zur Größe der Zeit D verhält. 

Es sei hier in Erinnerung gebracht, daß Z die Zeit bedeutet, 
die zur Erreichung einer, genauer irgendeiner ersten Schein¬ 
körperlichkeit erforderlich ist, D dagegen jene Expositionszeit, 
deren Veränderung eine Häufung oder eine Herabsetzung der Fälle 
scheinkörperlichen Erfassens mit sich führt. 

§ 2. Hilfsmittel und inneres Verhalten der Vp. 

Zunächst einige Worte über die in Figur 1 wiedergegebenen 
Bilder a bis d. 

Vom mittleren kleinen Quadrat aus sind die Bilder, oder viel¬ 
mehr ist das Bild, das von a bis d nur seiner Lage nach ein anderes 


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Über die Motive der Scheinkörperlichkeit bei umkehrbaren Zeichnungen. 367 


schirm (eine Opalglasscheibe in der Größe von 40 x 40 cm) mar¬ 
kiert, da die Vp., welche in einer Entfernung von 3,5 m vom 
Projektionsschirm saß, nicht eine bestimmte Stelle besonders zn 
fixieren hatte, sondern den Auftrag erhielt, ihre Aufmerksamkeit 
nm die eben sichtbare Stelle herum möglichst gleichmäßig zu 
verteilen, so daß in bezug auf Aufmerksamkeitseinstellung 
keiner der einzelnen Figurenteile im Vorteil war. Anders bei 
der zweiten Gruppe von Versuchen, bei denen eine genaue Fixa¬ 
tion des Mittelpunktes des kleinen mittleren Quadrates verlangt 
wurde und bei welcher die Fixationsstelle im durchscheinenden 
Lichte hellrot erschien. 

Bei der ersten Versuchsgruppe (§ 3 und 4) verwendete ich 
folgende Versuchsanordnung. Eine runde, schwarzgebeizte Messing¬ 
scheibe S ist mit starker Reibung um a drehbar, so daß sie in 



Fig. 2. 


beliebiger Lage stehen bleibt. Sie hat die in Figur 2 wieder¬ 
gegebene Form und ist an der Stelle f durchbrochen; außerdem 
trägt sie den Stift s. Liegt der Stift s unterhalb des Stiftes s K , 
so ist die Scheibe in Ausgangsstellung. Hierbei trifft die 
Brennfläche einer Projektionslampe die Stelle b, die blank ist. 
Sind diese Bedingungen erfüllt, dann geht das in der Brennfläcli® 
konzentrierte Licht in dem Augenblick durch die Stelle /*, in cle** 1 
der Stift s die Kontaktstelle k t berührt. Von der Ausgangs- fcis 
zu dieser Lage wird die Scheibe mit der Hand gedreht. Liegt 



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368 


Vittorio Benussi, 


Die Chronoskopzeiger beginnen nun, da mit Arbeitsstrom gearbeitet 
wird, sich zu drehen. Sie halten inne in dem Augenblick, in dem 
die Yp. den Hammer losläßt, was sie dann zu tun bat, wenn sie 
den Eindruck einer, d. h. der ersten Scheinkörperlichkeit erlebt. 
Damit wird die Zeit S bestimmt, die die Summe von einfacher 
Reaktionszeit und Z-Zeit ist (wo Z, wie oben bemerkt wurde, 
die Zeit zwischen Expositionsbeginn und Gewinnung eines Ein¬ 
druckes von Scheinkörperlichkeit bedeutet). Die einfache Reak¬ 
tionszeit kann unter den gegebenen Verhältnissen als eine Quasi- 
Konstante angesehen werden und unberücksichtigt bleiben. Diese 
Zeit beträgt (für optische Eindrücke) im übrigen, wie bei früheren 
Versuchen festgestellt werden konnte, im Durchschnitt mit ge¬ 
ringer Variation (± 25 o) 275 a *). 

Der Einzelversuch nahm folgenden Gang: Hatte der Versuchs¬ 
leiter die Lage der Brennfläche kontrolliert und das zu projizie¬ 
rende Bild eingeschoben, so setzte er die Uhr in Gang. Letzteres 
diente der Vp. als Signal zur Einstellung; nach 2,5 bis 3" erschien 
das Bild. Die Maximaldistanz zweier Kanten des Bildes betrug 
25 cm. Es wurde, gerade diese Größe gewählt, weil sich bei ihr 
eine sichere Aufmerksamkeitsverteilung einstellte; war das Bild 
größer, so war die Aufmerksamkeitseinstellung nicht befriedi- 


1) Die Zeit Z entspricht natürlich nicht bloß der Gewinnung, sondern 
auch der Erkennnng der gewonnenen Scheinkörperlichkeit. Diese Erkennungs¬ 
zeit (*), die in Z mit enthalten iBt, mag wohl als Konstante angesehen werden, 
wenn es auch einen Gesichtspunkt gibt, der dagegen sprechen dürfte; ich 
meine die verschiedene Auffälligkeit der erreichten oder gewonnenen 
Scheinkörperlichkeit. Es ließe sich vermuten, daß die auffälligere Scheinkörper¬ 
lichkeit die Reaktion seitens der Yp. relativ hemmen und mithin relativ 
größere Z ergeben müßte, als dies der Fall wäre, wenn eine Auffälligkeits¬ 
verschiedenheit verschiedener Arten von Scheinkörperlichkeiten nicht be¬ 
stünde. Da ich aber über keinerlei Mittel verfüge, mit deren Hilfe man den 
Einfluß der ScheinkörperlichkeitsauffäUigkeit, für sich genommen, bestimmen 
könnte, außerdem auch nicht mit Bestimmtheit sagen kann, ob dererlei Auf¬ 
fälligkeitsverschiedenheiten tatsächlich Vorkommen, so betrachte ich die Er¬ 
kennungszeit als faktisch konstant. Aus Versuchen über Buchstaben¬ 
erkennung hat sich ergeben, daß die Erkennungs- plus Reaktionszeit bei mir 
im Durchschnite 400 a, die Erkennungszeit also 135 a beträgt. Es ist jedoch 

ninbf afoHboft annb ^ioan 7nif trnn /1 a«* 7nil Z in A Kraobnnnnr wn aiaKon 


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370 


Vittorio Benussi, 


Versuchsreihe bestand aus 28 Einzel versuchen und nahm ungefähr 
dreiviertel Stunde in Anspruch. Es war also jede Absicht, das 
Erwartete auf eine bestimmte Art zu erfassen, ausgeschaltet. Des¬ 
gleichen durfte sich die Vp. nicht im vorhinein auf die Beachtung 
bestimmter Momente, wie etwa perspektivischer Verzerrungen, Auf¬ 
fallen bestimmter Figurenteile u. ä., innerlich bereit halten; ihre 
Grundabsicht hatte nur die zu sein, das unvoreingenommen und 
willenlos Erfaßte unmittelbar nach dem Versuch niederzuschreiben. 
Wir werden weiter unten sehen (§ 5), daß dementsprechend auch 
erst in den relativ späteren Versuchsreihen Beobachtungen be¬ 
stimmter Richtung zu Protokoll gegeben wurden: Beobachtungen, 
für welche sich die Zeit, bzw. die Versuchsreihe genau angeben 
läßt, bei welcher sie sich spontan aufdrängten. Da, wie berührt, 
ich selbst Vp. war, glaube ich keiner Selbsttäuschung zu unterliegen, 
wenn ich ausdrücklich betone, daß die erwähnten Bedingungen tat¬ 
sächlich realisiert wurden *). Das Gesagte dürfte zur Erläuterung der 
Versuchsanordnung für die Beantwortung der ersten Frage genügen. 

Bezüglich der Hilfsmittel zur vorläufigen Orientierung in Sachen 
der zweiten Fragestellung ist folgendes zu bemerken: Die zwei 
in Betracht kommenden Kollektivversuche (Expositionszeit = 100 a 
bei der ersten, = 50 a bei der zweiten) wurden im verfinsterten 
Hörsaale mit Benutzung eines von mir vor Jahren konstruierten 
Tachistoskops vorgenommen, das ich hier in Vorder- und Seiten¬ 
ansicht wiedergebe (Figur 3 und 4). Auf dem Projektionsschirme 
war eine 1,5 cm im Durchmesser betragende hellrote Fixations¬ 
marke angebracht, und zwar so, daß sie in durchscheinendem 
Lichte sichtbar war. Ich benutzte hierfür eine in einem licht¬ 
dichten Kästchen eingefaßte 2-voltige Glühlampe. Die eine Seite 
des Kästchens war in der Mitte kreisförmig durchgeschlagen und mit 
einem Rubinglas bedeckt; diese durchgeschlagene Fläche wurde 
mittels zweier plankonkaven Linsen auf der Rückwand des Schirmes 

1) Die Einschränkung auf die Prüfung einer Vp. allein geschah wegen 


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Über die Motive der Scheinkörperlichkeit hei umkehrbaren Zeichnungen. 371 


abgebildet and maßte von den (24) anwesenden Vp. streng fixiert 
werden. Die Diapositive, die jenen der Versuche zur Beantwortung 
der ersten Frage gleich waren, wurden auch hier so einge¬ 
schoben, daß der Mittelpunkt des kleinen Quadrates genau 
auf die Fixationsmarke zu fallen kam. Die Vp. hatten nach 
erfolgter Exposition je eines Bildes anzugeben, ob sie eine Schein¬ 
körperlichkeit oder eine ebene Zeichnung erfaßt hatten, 
bzw. mußten sie, wenn ersteres der Fall war, unzweideutig, 
am besten durch eine Zeichnung, die Art der erfaßten Schein¬ 
körperlichkeit zu Protokoll geben. Einige Tage vor den 
Versuchen machte ich meine Vp. mit den Bildern selbst und 
mit der Art der Beschreibung des erlebten Eindruckes vertraut. 



D Metallscheibe; P variierbares Treibgewicht; l Hebel zur Loslassung von D; 
F um die D -Achse verschiebbare Gabel zum Auffangen und Festhalten 
von D nach erfolgter Exposition, p, p' Scheibchen zur Variierung der Öff¬ 
nung a, durch deren Größe die Expositionszeit bestimmt wird; r, r 1 usw. 
Rollen zur Leitung des Fadens f und Einstellung von F in die gewünschte 
Lage. (Vgl. Atti del V Congresso intern, di Psicologia Roma 1905. S. 267 ff.) 


Aus den Protokollen geht zweifelsohne hervor, daß die Vorübungen 
hinreichend gewesen sein müssen. Über Fragestellung und Ziel der 
Versuche erfuhren die Vp. erst nach den Versuchen selbst das für 
sie Wissenswerte. Ebensowenig wie über Fragestellung und Ver- 
suchsziel waren sie darüber unterrichtet, daß aller Wahrscheinlich¬ 
keit nach bestimmte Lagen viel eher den Eindruck einer ebenen 

^Aip.brmno- 7n Dl -ma plron rvnninmnf nrarnn nla ovwIarA n A 


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372 Vittorio Benussi, 

den roten Pnnkt zu fixieren, und Anfrage, ob dies geschehen war. 
Lautes Zählen 1, 2, 3 seitens des Versuchsleiters, wobei unmittel¬ 
bar (etwa 1—1,5") nach 3 die Exposition erfolgte. Aufdrehung 
der drei Bogenlampen zwecks Protokollanfertigung durch die Vp. 
Kleine Pause von 8—10", dann Abdrehung der Lampen, Auf¬ 
forderung zur Fixation usw. *). 

§ 3. Die reinen Reaktionszeiten für Scheinkörperlichkeit. 

Die zehn Versuchsreihen, deren numerische Ergebnisse im fol¬ 
genden zusammengestellt werden, fanden an den Tagen 25., 26., 
28., 29. November, 1., 2., 3., 5., 6. und 7. Dezember (1910) zwischen 
10 und 11 Uhr vormittags statt. Die Vp. war in gleichmäßiger 
Stimmung und gleichmäßigem, kaum merklichem Ermüdungszu- 
stand, da sie um 10 Uhr 2 Stunden harmloser und 1 Stunde an¬ 
strengender Arbeit hinter sich hatte. Die Versuche selbst be¬ 
deuteten zu Beginn eine Erholung, gegen Schluß war eine leise 
Ermüdung zu verzeichnen, die sich in einer gewissen Unbeholfenheit 
gegenüber den exponierten linearen Zeichnungen kundgab. Dies war 
jedoch erst vom Versuch 20 bis 23 der Fall. Wie bereits angemerkt, 
bestand die Versuchsreihe aus 28 Versuchen, bei denen jede Figur, 
genauer jede Figurenlage, siebenmal in zyklischer undurchsich¬ 
tiger Reihenfolge vorkam. Die mittleren Reaktionszeiten waren: 

Figur (Lage) 




1 (a) 

2 ( b ) 

3 (c) 

4 (rf) 

Versuchsreihe I 

1075 ff 

711 ff 

3247 «r 

1738 ff 

> 

U 

1067 ff 

768 ff 

2960 ff 

2430 ff 

> 

III 

991 <r 

951 « 

3652 <r 

3364 ff 

> 

IV 

1394 <r 

1187 ff 

3393 ff 

3040 ff 

> 

V 

872 ff 

1062 ff 

2969 ff 

3408 <r 


m, = 

= 1080,6 <r, 

933,6 ff, 

3242 <t , 

2794 ff. (a) 

> 

VI 

601 «t 

698 <r 

3027 ff 

2712 ff 

> 

VII 

669 ff 

547 «r 

2208 ff 

1418 ff 

> 

VIII 

633 ff 

412 <t 

2265 ff 

1230 ff 

> 

IX 

412 «r 

437 ff 

2986 ff 

979 ff 

» 

X 

660 ff 

622 ff 

2662 <r 

2097 ff 


m i 

= 553 ff, 

523 ff, 

2629,6 ff, 

1687 <r. 09) 


7n, -h m t 
2 

= 801,5 <r, 

728 ff, 

2935,8 ff, 

2240,5 ff. (y) 


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Über die Motive der Scheinkörperlichkeit bei umkehrbaren Zeichnungen. 373 


In größerer Anschaulichkeit gehen die in dieser Zusammen¬ 
stellung gegebenen Beziehungen aus Diagramm 1 hervor, welches 
die a, ß und y zugeordneten Werte wiedergibt. Als Ergebnis ist 
der Uber Erwartung große Abstand der Reaktionszeiten 
für die einzelnen Figurlagen zu verzeichnen, der namentlich 
bei Lage 2, 3 und 4 zu besonderer Geltung gelangt. Die Lage 
der (konstanten) Figur vermag in hohem Maße die Ent¬ 
stehung einer Scheinkörperlichkeit zu hemmen oder zu 
begünstigen. Solange wir die Protokolle der Vp. nicht zu Rate 
ziehen, können wir nicht mehr als dieses eine behaupten. 



Diagramm 1. Diagramm 2. 


Vergleichen wir die a-Werte mit den ^-Werten, so können 
wir im allgemeinen sagen, daß im Laufe der Versuche sich die 
Fähigkeit, eine Scheinkörperlichkeit zu erfassen, er¬ 
höht hat. 

Wir können die Herabsetzung der ß- gegenüber den a-Werte*xx 
nicht als Übung in der Reaktion auf einen visuellen Eindruc^^ 
znrückführen, weil die Verschiedenheit zwischen den a- und d^-^ 

Ä-Wertpn fHr H io in Rotrartht VnmmAnHo Vn wflit o-i-üRftT ist al 

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374 


Vittorio Benuesi, 


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Diagramm 3. 


Wichtig ist in diesem Zusammenhänge auch die Tatsache, daß 
die Ergebnisse der ersten Versuchsreihe (I) jenen der 
zehnten (X) nahezu am nächsten liegen. Ich stelle in 

Diagramm 2 die Werte 
dieser Reihen zusam¬ 
men. 

Eine Aufklärung 
über dieses Verhalten 
gewinnen wir, wenn 
wir den Gang der Reak¬ 
tionszeiten für Schein¬ 
körperlichkeit für jede 
einzelne Figurenlage 
durch sämtliche zehn 
Sitzungen beobachten; 
am leichtesten mit Zu¬ 
hilfenahme von Dia¬ 
gramm 3 und 4. Hier 
sehen wir, daß die 
Größe der R.-Z. 
für die Gewinnung 
einer Scheinkörper¬ 
lichkeit wellenför¬ 
mig verläuft; sie 
nimmt zuerst zu, 
dann ab, dann wie¬ 
der zu; hier hören 
unsere Versuche auf. 
Vielleicht würde de¬ 
ren Fortsetzung diesen 
Wellengang noch klarer 
gezeigt haben. Dieser 
Punkt bedarf also noch 
einer näheren Unter¬ 
suchung. Immerhin 

_ILi - ' _1_ J _ 

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n-1-1-1-1-h 


-i-h 


n m FT V VI VE Y1E IX X 

Diagramm 4. 


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Über die Motive der Scheinkörperlichkeit bei umkehrbaren Zeichnungen. 375 

momenten, sehr vorsichtig sein muß; denn durch Wieder¬ 
holung der Versuche wäre u. s. U. nicht ein Ab-und Zunehmen 
der Zeiten zu erwarten, sondern eine Veränderung der¬ 
selben in eindeutiger Hinsicht, mit anderen Worten, eine 
Herabsetzung der R.-Z. von Fall zu Fall, die als Folge 
einer Assoziationsbefestigung aufzufassen wäre. 


§ 4. Die Arten scheinkörperlicher Auffassung in ihren Be¬ 
ziehungen zur Figurenlage. 

Unser nächster Schritt betrifft die Beziehungen zwischen je 
einer Lage der an sich konstanten Figur und der Häufigkeit der 
einen oder anderen scheinkörperlichen Auffassung, die dabei an- 
zutreflfen war. Ich stelle in den folgenden Übersichten die abso¬ 
luten Frequenzbeträge je einer Auffassung zusammen. Dabei be¬ 
deutet 

r u : die Fläche rechts unten als näher erfaßt, 
l 0 : • Fläche links oben als näher erfaßt, 
r 0 : » Fläche rechts oben als näher erfaßt, 
l u : » Fläche links unten als näher erfaßt, 

K u : » Kante unterhalb der Mitte als näher erfaßt, 

K „: » Kante oberhalb der Mitte als näher erfaßt, 

K r : > Kante rechts vom Mittelpunkt als näher erfaßt, 

Ki : > Kante links vom Mittelpunkt als näher erfaßt. 

I—X: Reihenfolge der Versuchsreihen. 


Wir erhalten für die 4 in Betracht kommenden Lagen folgende Werte: 


Lage 1. 

(Fig. la, S. 365.) 


Lage 2. 

(Fig. 16, S.365.) 


Lage 3. 

(Fig. lc, S. 366.) 


Lage 4. 

(Fig. 1 d, S. 365.) 


Ver¬ 

suchs¬ 

reihe 

B 

h 

Ver¬ 

suchs¬ 

reihe 

r 0 

lu 

I 

IBV 


- ES 

2 

5 

n 

in 

0 

n 

0 

7 

III 

lij 

1 

m 

0 

7 

IV 

J »J 

2 

IV 

2 

5 

V 

§3 

0 

V 

1 

6 


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Ver¬ 

suchs¬ 

reihe 

Ku 

K 0 

Ver¬ 

suchs¬ 

reihe 

K r 

Ki 

I 

1 

5 

1 

I 

1 

II 

1 

3 

n 

D 

2 

III 

3 

4 

UI 

m 

6 

IV 

0 

5 

IV 

2 

3 

V 

1 

n 

5 

c* 

V 

ITT 

6 

n 

1 

ft 


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376 


Vittorio Benussi, 


Drücken wir die Summen I, r u bis X, r u usw. in Prozenten 
aos, so erhalten wir folgende Zusammenstellung: 

Lage 1: r u = 90 ^ ; l 0 = 8,ö * . 

Lage 2: r 0 = 7,14 % ; l u = 92,86 % . 

Lage 3: K u = 17,16 % •, K 0 = 67,14 # . 

Lage 4: K r = 68,67 * ; JTj = 31,67 X • 

Aus dieser Übersicht ließe sich als Ergebnis — allerdings mit 
der später zu berührenden Einschränkung — der Satz aufstellen: 
die Vp. neigt in hohem Maße zur Auffassung »von oben« 
hei Lage 1 und 2 (90 # r u gegen 8,5 % l 0 bzw. 92,86 % l, t 
gegen 7,14 % r 0 ); hei Lage 3 (. K 0 — 67,14 %\ K u = 17,15 %) 
tritt das Entgegengesetzte hervor, es wird eine Schein¬ 
körperlichkeit erfaßt, die einem Sehen wie »von unten« entspricht; 
bei Lage 4 schließlich prävaliert das »Sehen von links 
nach rechts«, da K r 58,57 #, K x aber bloß 31,57# beträgt. 

Für Figur bzw. Lage 1 und 2 ließe sich der Hinweis auf die Boden¬ 
ständigkeit benützen, wenn ihm die Daten der Selbstbeobachtung, 
wie nunmehr zu erörtern sein wird, nicht widersprechen möchten. 

Da ferner die Aufmerksamkeit der Intention nach eine gleich¬ 
mäßig verteilte war, so ließen sich die soeben konstatierten 
Ergebnisse auch so formulieren: Bei Lage 1 nnd 2 liegt die 
größere Auffälligkeit auf dem unteren Teile der Figur, 
ebenso hei Lage 3, bei 4 dagegen auf den links vom Mittel¬ 
punkt gelegenen Partien; es findet also eine unwillkürliche 
größere Beachtung von »unten« und »links« statt, oder die 
relativ tiefer und links gelegenen Partien weisen eine 
größere Auffälligkeit auf. Auch gegen diese Auffassung 
sprechen jedoch die Selbstbeobachtungen der Vp. Zu diesen gehe 
ich nunmehr Uber. 


§ 5. Daten der Selbstbeobachtung. Znr Stellungnahme. 

Die Überschrift dieses Paragraphen entspricht mehr der Tradi¬ 
tion als den Tatsachen. Sie müßte eigentlich, wenn auch schwer- 


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Über die Motive der Scheinkörperlichkeit hei umkehrbaren Zeichnungen. 377 


such eine andere Entwicklungsrichtung eingeschlagen und die Vp. 
hierdurch zur Auffassung verschiedener Gegenstände, bzw. gegen¬ 
ständlicher Veränderungen veranlaßt haben mögen, sondern lediglich 
auf diese Gegenstände und deren Veränderungen in einer bestimm¬ 
ten Zeitstrecke. Läßt sich daraus auch etwas Uber die inneren 
Vorgänge aussagen, so darf man nicht vergessen, daß diese Aus¬ 
sage auf einem Schluß, aber nicht auf direkter, unmittelbarer Er¬ 
fahrung beruht. Ich stehe bezüglich dieser Auffassung übrigens 
nicht allein da ’). Was bisher in diesem Zusammenhänge beobachtet 
wurde, ist nicht viel und bezieht sich hauptsächlich auf die Ab¬ 
weisung der Fixations-, bzw. Augen-(Blick-)bewegnngshypothese. 
So geht die eine Bemerkung dahin, daß man jene Teile willkür¬ 
lich als näher sehen kann, auf die man die Aufmerksamkeit hin¬ 
lenkt 2 ). Es tritt aber auch der Fall ein, daß das Beachtete umge¬ 
kehrt als das Tieferliegende erfaßt wird 3 ). Von seiten der Boden¬ 
ständigkeitshypothese wird dagegen kurz mitgeteilt, daß die Vp. nicht 
imstande waren zu sagen, welche Momente die eine oder die 
andere Auffassung bedingten 4 ), und die Frage aufgeworfen, ob nicht 
eine bestimmte Gewohnheit der »Vorstellungsproduktion« 5 ) einer be¬ 
stimmten Auffassung zugrunde liege. Diese Spärlichkeit an Beobach¬ 
tungen geht darauf zurück, daß man bisher keine systematischen 
Versuche anstellte und sich mit der nicht zu bestreitenden inneren 


1) Dasselbe bemerkten auch E. Dürr (Über die experimentelle Unter¬ 
suchung der Denkvorgänge. Zeitschrift für Psychol. Bd. 49. S. 313—340), 
▼. Aster (Die psychologische Beobachtung und Untersuchung der Denk¬ 
vorgänge. Ebenda. S. 56—107) und, mit größter Annäherung der Sache 
nach, auch 0. Schnitze (Beitrag zur Psychologie des Zeitbewußtseins. Dieses 
Archiv. Bd. XVIII. S. 276- 351). 

2) v. Aster, a. a. 0. S. 175. 

3) E. Becher, a. a. 0. S. 408, 414. 

4) de Boer, a. a. 0. S. 181. 

5) Was darunter zu verstehen ist, sagt de Boer nicht. Doch geht aus 
seinen Ausführungen hervor, daß er den Ausdruck »Vorstellungsproduktion« 
nicht in dem Sinne gebraucht, in dem bei der Klarlegung der einschlägigen 
Probleme durch R. Ameseder (Untersuchungen zurGegenstandsth.u.Psych., 
herausgeg. von A. Meinong. Nr. VIII) dieses Wort zuerst in die psycho¬ 
logische Terminologie, bei präziser Bedeutungebegrenzung, eingeführt wurde. 


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378 


Vittorio Benussi, 


Natürlichkeit des Hinweises anf Gewohnheit, Nachwirkung früherer 
Erfahrungen n. dgl. begnügte. Das vorübergehend betonte Moment 
des Wollens 1 ) kann natürlich kaum etwas zur Aufklärung bei¬ 
tragen, zumal die Tatsachen zeigen, daß es so gut wie unmöglich 
ist, namentlich bei kurzer Exposition eine bestimmte Scheinkörper- 
lichkeit als erste willkürlich zu erreichen. Ist die Exposition be¬ 
liebig lang, so wird freilich auch die gewollte Auffassung erreicht, 
nicht aber als erste. Es liegt hier eine analoge Sachlage vor wie 
ich sie bei stroboskopischen Erscheinungen, worüber an anderer 
Stelle zu berichten sein wird, konstatierte: werden Bilder hinter¬ 
einander gezeigt, die etwa die vier Eckpunkte eines Quadrates 
darstellen, die von Bild zu Bild in immer kleineren Abständen 
erscheinen, so hängt es nicht von unserer Intention ab, ob wir 
eine sternartige Scheinbewegung von vier Punkten, die 
sich in einer Ebene vollzieht, erfassen (so daß sich uns die 
vier Punkte in den Diagonalen eines Quadrates zu bewegen 
scheinen), oder aber die rasche Bewegung eines Quadrates 
aus größerer Entfernung zu uns her und von hier aus 
wieder in die Tiefe verfolgen, wiewohl gerade bei diesem 
Beispiele Erfahrungsmomente noch viel eher im Spiele sein dürften 
als bei der ScheiDkörperlichkeit. Ich für meinen Teil bin kaum 
imstande, u. d. g. U. eine Bewegung aus einer Entfernung her und 
zu einer größeren Entfernung hin zu erfassen. Vielleicht steht 
diese Unfähigkeit in Zusammenhang mit einer gewissen Wider¬ 
spenstigkeit meinerseits, umkehrbare Zeichnungen sofort in irgend¬ 
einer Scheinkörperlichkeit, die doch Entfernungsverschiedenheiten 
impliziert, zu erfassen. 

Das, was mir nun in den ersten Versuchsreihen zunächst auffiel, 
war eine gewisse Unsicherheit in der Angabe, was vorn und 
was hinten zu liegen schien, wiewohl ich einen schein- 
körperlichen Würfel zweifellos erfaßte. Dies gilt für 
Lage 1 und 2. Möglicherweise liegt, wie ich später untrügerisch 


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Über die Motive der Scheinkörperlichkeit bei umkehrbaren Zeichnungen. 379 


konstatiert zn haben glaube, dieser Unsicherheit der Beginn einer 
Umkehrung zugrunde, der wohl nicht zur Entfaltung gelangte, die 
Aussage jedoch im letzten Augenblick zum Schwanken brachte. 
Auch kam es bereits in den ersten Versuchsreihen, wenn auch sehr 
selten, vor, daß ich eine Größenverschiedenheit zwischen den zwei 
zur Frontalebene parallel erscheinenden »Flächen« zu bemerken 
glaubte, ohne aber imstande gewesen zu sein, Klarheit darüber zu 
erlangen, welche die größere war. Sobald das Bild sichtbar 
wurde, folgte der nicht näher zu beschreibenden Erscheinung einer 
nicht zu einer Ebene allein gehörigen Zeichnung eine bestimmte 
Scheinkörperlichkeit, die eine relative Beharrlichkeit besaß, so daß 
ich noch in der Lage war, den Taster auszulassen, ohne eine Um¬ 
kehrung der Scheinkörperlichkeit erlebt zu haben. Das eben Ge¬ 
sagte gilt hauptsächlich für Lage 1. Darauf hinweisende Be¬ 
merkungen kamen bei der durch die Lage 2 bedingten Figur 
spärlicher vor. Der Vorgang, der sich bei Lage 2 bis zur 
Erreichung einer Scheinkörperlichkeit abspielte, muß also 
ein einfacher oder ein ungehemmt vor sich gehender gewesen 
sein. Dafür sprechen auch die Zeiten, die erforderlich waren, 
um bei Lage 1 und 2 eine Scheinkörperlichkeit zu erreichen; für 
jene betragen sie in der ersten Reihe 1075 er, für diese bloß 711 a. 
Außerdem kommt auch die Neigung zur stärkeren inneren Be¬ 
tonung, zur größeren Beachtung des links und unten Liegenden 
in Betracht, eine Neigung, die im Laufe der Versuche einer Stei¬ 
gerung unterlag, die namentlich, was das Linksbeachten anbelangt, 
bei Lage 3 zur Geltung kam. Wir sahen bereits weiter oben, daß 
bei dieser Lage die Auffassung Ki in 58,57 % der Fälle, die ent¬ 
gegengesetzte aber nur in 31,57 % der Versuche zu verzeichnen war. 

Was nun Lage 3 und 4 anlangt, so war der innere Zustand 
der der Verwirrung. Der erste Eindruck war der einer ebenen 
Zeichnung, aber einer unruhigen; die Aufmerksamkeit wurde 
durch Teilfiguren wie die in Figur 7 und 8 wiedergegebenen u. dgl. 
gefesselt. Absichtslos wanderten Blick und Aufmerksamkeit um 
die einzelnen Linien und Flächen, bis sich eine Scheinköruer- 


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380 


Vittorio Benussi, 


körperlichkeit die Linien, die für sie nicht konstitutiv waren, 
weggelöscht wären; es war also der Schein eines Körpers 
verbunden mit dem Eindruck undurchsichtiger Flächen 
vorhanden. Dies war bei Lage 1 und 2 nicht der Fall; bei diesen 
wußte ich noch nicht, ob ich Flächen erfaßte oder durch eine Art 
Liniengebilde durchschaute oder ähnliches. Unbehaglicher war mir 
Lage 3 gegenüber Lage 4 nahezu immer; bei dieser hatte ich nicht 
so ausgesprochen den Eindruck einer völligen Unordnung wie bei 
jener. Diese innere Unbeholfenheit gegenüber 4 und namentlich 3 
drückt sich in den Reaktionszeiten mehr als deutlich aus. Diese 
Zeiten betragen in der ersten Reihe 3247 a für Lage 3, 1738 o für 
Lage 4. Soweit die ersten Eindrücke. Im Laufe der Sitzungen 
wurde einiges klarer, worüber ich nunmehr zu berichten habe. 

War, wie bemerkt, bei den ersten Sitzungen der einmal erreichte 
Eindruck einer Scheinkörperlichkeit ein relativ beharrlicher, so trat 
von Reihe 3 an eine sofortige Umkehrung ein; es konnte 
aber Uber die scheinbare Größe der näher im Vergleich zur ent¬ 
fernter erscheinenden Fläche noch nichts gesagt werden. Dies 
war erst bei Sitzung 5 der Fall und von da an nahezu immer. 
Vordere und rückwärtige Fläche des Würfels wurden 
als deutlich verschieden groß erfaßt, die Umkehrung trat 
sofort nach Erreichung der ersten Scheinkörperlichkeit ein, ohne 
jedoch eine Änderung der Größenverhältnisse zu bedingen. 
Die Umkehrung trat nahezu gleichzeitig mit dem Auslassen des 
Kontakthammers meinerseits ein und war nunmehr relativ beharr¬ 
lich, d. h. während der wenigen Augenblicke, während welcher 
ich nach Loslassung des Tasters das Bild weiter betrachtete, blieb 
alles unverändert. Die erfaßte Größenverschiedenheit der zwei 
in Betracht kommenden Flächen war von Fall zu Fall sehr ver¬ 
schieden; die Umkehrung wies aber immer das bei Er¬ 
reichung der ersten Scheinkörperlichkeit bemerkte 
Größenverhältnis auf. Aus dem Berührten geht zunächst her¬ 
vor, daß jener innere Prozeß, der zur Umkehrung und 
mithin auch zur Scheinkörperlichkeit führt, ein anderer, 
sich viel rascher vollziehender ist als jener, von dem 


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Fig. (Lage) 1 


Über die Motive der Scheinkörperlichkeit bei umkehrbaren Zeichnungen. 381 

stehen nnn Lage 1 und 2 in direktem Gegensätze, wie aus fol¬ 
gender Zusammenstellung deutlichst hervorgeht: 

Figur (Lage) 1. r u erschien in 18,57 % der Gesamtfälle > 


r u 

> 

» 50 % * 

> 

< 

lo 

> 

» 0,0 % » 

» 

> 

l 0 

> 

» 1,4 X » 

> 

< 


d. h. bei Lage 1 (vgl. Figur 1 a) erschien die als näher erfaßte Fläche 
rechts unten (r u ) nahezu immer, wenn eine Größenverschiedenheit 
überhaupt erfaßt wurde, kleiner als die scheinbar entferntere und be¬ 
hielt ihre scheinbare Größe auch nach erfolgter Umkehrung. Die Zeich¬ 
nung wurde also immer zuerst wie in Figur 5 A, dann wie sub B ange¬ 
geben, erfaßt. Für Figur (Lage) 2 (vgl. Figur 1 b) finden wir dagegen: 

Figur (Lage) 2. r 0 erschien in 2,8 % der Gesamtfälle > 

r„ » » 1,4 % » » < 

l u » » 54,28 X » » 

t u » » 7,14 X » » < 

d. h. bei Lage 2 schien die als näher erfaßte Fläche ( l u ) links unten nicht 
kleiner, sondern größer als die entfernter erscheinende. Auch 
hier blieb dieses Verhältnis konstant trotz der sofort eintretenden Um¬ 
kehrung. 



Fig. 5. Fig. 6. 


Das Erfaßte erschien also zuerst wie in Figur 6A, dann wie 
sub B angegeben ist. Es mögen hier als Probe die Ergebnisse 
etwa der 9. Versuchsreihe mitgeteilt werden (I bis VII bezeichnet 
die einzelnen Gruppen zu je 4 Expositionen, 1 und 2 die hier 
in Betracht kommenden Figurlagen). 


I 

n 

HI 

IV 

V 

VI 

VII 

r u < 

r„ < (sehr) 

r M <;(wenig) 

r«<(sehr) 

wie 


r u < (wenig) 

u. 

u. 

U. 

U. 

IV 

wie IV 

U. 

lo> 

l a > (sehr 

h > (wenig) 

l 0 > (sehr) 


lo > (wenig) 


deutlich) 






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Aus Versucht 





382 


Vittorio Benussi, 


Es braucht natürlich kaum gesagt zu werden, daß die Figuren 1 
und 2 nicht hintereinander erschienen; sie nahmen vielmehr die 
weiter oben (§ 2) angegebene Stelle innerhalb der 28 Versuche, 
die eine Versuchsreihe bildeten, ein. Als Ergebnis des Mitgeteilten 
ist also zu verzeichnen: 

1) Es herrscht eine starke Tendenz, die unterhalb des 
Mittelpunktes gelegene Fläche als die nähere zu erfassen. 

2) Liegt diese Fläche zugleich links vom Mittelpunkte, so 
erscheint sie näher und größer, liegt sie rechts vom Mittel¬ 
punkte, so erscheint sie näher und kleiner. 

3) Die sofort eintretende Umkehrung (U.) vermag an 
den Größenverhältnissen so gut wie nichts zu ändern: 
Eine gleichzeitige Umkehrung der Größenverhältnisse kam für 
Lage 1 achtmal, für Lage 2 nur zweimal vor. 

Bezugnehmend auf die Feststellungen des § 3 ist noch zu be¬ 
merken, daß 

4) die Wiederholung der Versuche nicht so sehr, möglicher¬ 
weise gar nicht die Größe der Reaktionszeiten für Scheinkörper¬ 
lichkeit beeinflußt, sondern hauptsächlich für das Auftreten 
von Umkehrungen und deutlichen Größenverschieden¬ 
heiten von Bedeutung ist; wir konnten ja feststellen, daß 
erste und letzte Reihe in bezug auf Reaktionszeiten sehr 
nahe, im übrigen aber sehr weit voneinander stehen. 

Es erübrigt nun noch, auf eine Beobachtung hinzuweisen, die 
mir in Sachen der bereits oben (§ 1) erwähnten Bodenständigkeit 
oder der »Auffassung als bodenständig« nicht unwichtig erscheint. 
Es kommt in diesem Zusammenhänge hauptsächlichst Lage 1 in 
Betracht, bei welcher, wie wir wissen, sich mehr und mehr die 
Auffassungsweise »rechts unten näher und kleiner « entwickelte. 
Diese Aussage würde, wenn sie so knapp und ohne weitere Be¬ 
obachtung vorläge, den Schluß, wenn auch ohne Berechtigung, ge¬ 
statten, es sei diese Figur »wie von oben gesehen«, also »als 
bodenständig« erfaßt worden. De Boer 1 ), dessen Vp. nicht im- 

—J - —j _i_ -.-u * _ 


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Über die Motive der Scheinkörperlichkeit bei umkehrbaren Zeichnungen. 383 


daß die Vp. die Figuren als »Körper, wie von oben gesehen« er¬ 
faßten. Nun drängte sich mir, sobald Größenverschiedenheiten 
und Umkehrungen zu verzeichnen waren, die Erscheinung auf, 
daß der scheinkörperliche »Würfel« mit seiner scheinbar größeren 
Basis auf einer vertikalen Ebene zu haften schien. Außer¬ 
dem war ich nie im Zweifel, daß gerade diese entfernter liegende, 
»haftende« Basis meine größere Beachtung in Anspruch nahm; 
ich »sah« den Würfel wie aus der besonders beachteten 
Basis heraus zu mir hin aufgebaut. Dasselbe war für Lage 2 
zu bemerken, wenn der gewöhnlich ursprünglichen Auffassung 
»links unten näher und größer « die Umkehrung »rechts oben 
näher und kleiner « folgte. Daraus ergibt sich (abgesehen davon, 
daß wir hier deutlich den Fall vor uns haben, in dem das mehr 
Beachtete tiefer zu liegen scheint), daß man aus Aussagen, 
wie sie de Boer sammelte, nicht berechtigt ist, auf »Boden¬ 
ständigkeit« zu schließen, denn nach dieser Auffassung 
müßte der Würfel wie auf einer horizontalen oder schiefgelegenen 
Ebene ruhend erfaßt werden. 

Über Lage 2 ist in diesem Zusammenhänge noch folgendes 
zu erwähnen. Bei dieser Lage war die sozusagen normale Auf¬ 
fassung »links unten näher und größer «. Dabei schien die 
näher »gesehene« und scheinbar größere Fläche auf einer senk¬ 
rechten, mir naheliegenden Ebene zu haften, durch diese 
Ebene »sah« ich gleichsam durch, so daß der Würfel sich wie 
von mir weg aufzubauen schien. Die in höherem Grade be¬ 
achtete Fläohe war diesmal ebenfalls die Basis, sie schien aber 
naher zu liegen. Wir finden also bei Figur (bzw. Lage) 1 
und 2 eine völlige Unabhängigkeit der zwei Momente 
»näher erscheinen« und »besonders beachtet werden«. 
Bei Lage 1 liegt das Beachtetere in der Tiefe, bei 2 da¬ 
gegen in relativ größerer Nähe zum Beschauer. 

Diese Beobachtungen geben uns nunmehr ein Mittel zur 
Hand, mit dessen Hilfe wir uns darüber, 1) daß bei Lage 1 im 
Gegensatz zu Lage 2 das näher Erscheinende kleiner zu sein 


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384 


Vittorio Benassi, 


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kleiner )« erreicht, so mußte wohl die näher lokalisierte Fläche 
kleiner erscheinen, da sie mit der tiefer lokalisierten und haupt¬ 
sächlichst beachteten objektiv gleich war und die Vp. den Ein¬ 
druck hatte, es »baue sich eine Art Würfel aus einem Hintergrund 
zu ihr her«. War bei Lage 2 dagegen die Aussage »links unten 
naher und größer « vorhanden, so mußte der entgegengesetzte 
Schein erweckt werden, weil jetzt die Vp. den Eindruck hatte, 
»es baue sich ein Würfel von ihr hinweg in die Tiefe hin«. In 
diesem Falle war die näher erscheinende Fläche die größere, 
zugleich aber auch die mehr beachtete; bei Lage 1 dagegen 
war die tieferliegende die in besonderem Maße beachtete und 
größer erscheinende. Es scheint mir daher, daß hauptsächlich 
die Richtung der größeren Beachtung in Verbindung mit dem 
Eindruck des » xu mir her « und '»von mir iveg « das gegensätz¬ 
liche Ergebnis bei 1 und 2 aufzuklären vermag. Da nun mit 
der Umkehrung der Scheinkörperlichkeit auch eine Um¬ 
kehrung des Eindruckes » xu mir her « und »von mir weg « 
Hand in Hand ging, ist es ohne weiteres klar, weshalb die Um¬ 
kehrung der Scheinkörperlichkeit nicht auch eine Umkehrung der 
scheinbaren Größenverhältnisse zur Folge hatte. So sehr dieser 
Punkt zur Hypothesenbildung reizen mag, will ich einstweilen da¬ 
von absehen, da ich jeden Erklärungsversuch, der sich nicht un¬ 
gezwungen aus den festgestellten Tatsachen ergibt, wenn schon 
nicht für gewagt, so doch um so sicherer für verfrüht halte. Ich 
hoffe, daß die WeiterfUhrung der Untersuchung bei verschiedener 
Expositionsdauer das hier bloß Mitgeteilte auch verständlich zu 
machen imstande sein wird. 

Ich gehe nunmehr zur Figur (Lage) 3 Uber. Bei dieser sowie 
bei Lage 4 war bis zur 8. Reihe nichts zu merken, was be¬ 
sonders hervorzuheben wäre, außer der bereits berührten Tat¬ 
sache, daß, wenn eine Scheinkörperlichkeit erreicht wurde, nur 
jene Linien gesehen wurden, die für sie konstitutiv waren; der 
Scheinkörper war wie aus undurchsichtigen Wänden 
konstruiert. Der erste Eindruck war der einer ebenen Zeich¬ 
nung. Diese wurde aber nicht in ihrer charakteristischen Gestalt 


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Über die Motive der Scheinkörperlichkeit bei umkehrbaren Zeichnungen. 385 


obachten: War die lineare Gestalt A oder B erreicht (Figur 8), und 
zwar unabsichtlich, dann schien sich der Punkt p 0 bzw. p u 


xx M 

Fig. 7. 




PlL 

Fig. 8. 


in die Tiefe zu neigen, und ein völlig plastischer Ein¬ 
druck stellte sich sofort ein. Diese Erscheinung wiederholte 
sich bei den letzten Versuchsreihen öfters in voller Klarheit, und 
zwar für Lage 3 ebenso wie für Lage 4: das Entscheidende 
für den Eintritt der Scheinkörperlichkeit war das Er¬ 
fassen einer bestimmten linearen Gestalt, diese führte 
zur Plastik über. 

Daß sich ähnliches auch bei Lage 1 und 2 ereignet haben mag, ist 
wohl berechtigterweise zu vermuten, nur spielte sich dort vielleicht 
dieser Übergang viel rascher ab und blieb daher unbemerkt. Das 
Erfassen einer linearen Gestalt bei 3 und 4 dürfte nicht frei von 
jeder diesbezüglichen anfänglichen Übung gewesen sein. Dies 
dürften einige besonders kurze Reaktionszeiten, die unter 1000 o 
sanken, beweisen, Reaktionszeiten, die nur dort anzutreffen sind, 
wo die Vp. einfach vermerkte: »lineare Gestalt (nach Figur 7, 

A oder B); plastischer Eindruck«. Hierauf komme ich im nächst¬ 
folgenden Paragraphen zurück. Soweit die wesentlichsten Be¬ 
merkungen zu den erfaßten Scheinkörperlichkeiten. Ich hätte das 
Obige durch Abdrucken ganzer Protokolle natürlich viel ausführ¬ 
licher gestalten können; ich muß aber gestehen, daß ich der immer 
weiter um sich greifenden Sitte, den Leser durch Protokoll¬ 
angaben zu ermüden, die sehr oft kaum mehr als bloße Wieder¬ 
holungen enthalten, keine Sympathie entgegenzubringen vermag. 
Ich wende mich somit der Mitteilung eines KollektivveTSuches zu, 
der zur vorläufigen Beantwortung- der Fraere dienen soll, ob die 


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386 


Vittorio Benussi, 


Digitizea bj 


§ 6. Expositionsdauer and Scheinkörperlichkeit. 

Da die Versuchsanordnung, mit deren Hilfe die im folgenden 
zu besprechenden Versuche unternommen wurden, bereits weiter 
oben (§ 2) dargestellt wurde, kann ich mich sofort zum Versuche 
selbst wenden. Die Anzahl der Vp. war 24, die zwei Exposi¬ 
tionszeiten = 100 o bzw. = 50 a ; die Reihenfolge der Figuren 
(Lagen) war fttr beide Expositionszeiten: 



1 , 4 
3 , 1 


Da die Vp. auch eventuell zu Protokoll zu gehen hatten, ob sie 
den Eindruck einer Scheinkörperlichkeit erlebt hatten trotz Un¬ 
fähigkeit, dieselbe zu beschreiben, werden im folgenden auch die 
^-Frequenzen dieser Art Reaktion berücksichtigt. Natürlich 
verdienen auch jene Fälle eine besondere Beachtung, bei denen 
keine Scheinkörperlichkeit, sondern eine ebene Figur erfaßt 
wurde. Ich stelle daher für jede Lage die #-Frequenz für je 
eine Art scheinkörperlicher Auffassung zusammen und füge die 
#-Beträge für bloße, nicht näher präzisierbare Scheinkörperlich¬ 
keit (K), sowie für die Auffassung der Figur als einer zweidimen¬ 
sionalen Gestalt ( l ) hinzu. Man erhält sodann folgende Übersicht: 


Figur 1 


Figur 3 


Expositionszeit = 100 a. 


r„ . . 

.... = 89,6 X 


r u • • 

.... = 16,6 X 

/. 

.. . . = 6,26 % 

K = 2,10 
l = 2,10 % 

Figur 2 ' 

ln-- 

\ 

... . = 79,0 96 
K= 0,0 X 
l = 4,2 X 

Ku •• 

.... = 66,6 % 


\K,.. 

.... = 39,6 % 


. ... = 16,6 96 

K = 6,3 % 
l = 10,2 X 

Figur 4 

K, . . 

_= 29,0 % 

K — 8,7 % 
l =22,9 S 


{ r» 


Expositionszeit = 60 a. 

= 52,0 % | r 0 


= 6,26 X 


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Über die Motive der Scheinkörperlichkeit bei umkehrbaren Zeichnungen. 387 

Daraus geht, wenn man die A -Werte 

| T » + h + r o + l'j + + Ko + Ki -f- K r __ 

die sich für E.-Z. = 100 a und E.-Z. = 50 a ergeben, vergleicht 
(sie sind gleich 85,61 % für 100 a neben 61,29 % für 50 o), zu¬ 
nächst hervor, daß die Herabsetzung der Expositionszeit in 
nicht geringem Grade das Erfassen eines scheinkörper¬ 
lichen Gebildes erschwert. Dies Ergebnis ließe sich ohne 
weiteres so deuten, daß man sagt: je weniger Zeit man der 
Abwicklung assoziativer und assimilativer Vorgänge läßt, 
um so mehr tritt der Schein der Körperlichkeit zurück. 
Wir wollen indes diese Deutung nur mit Vorbehalt hier aus¬ 
gesprochen haben. Daß diese Versuche neuerdings eine Instanz 
nicht zugunsten der reinen Fixationshypothese darstellen, liegt auf 
der Hand. Hach den Wundtschen Regeln hätte überhaupt keine 
Scheiukörperlichkeit angetroffen werden sollen. Sie ist dagegen 
reichlichst vertreten trotz der »ungünstigen« Lage der Fixations¬ 
marke und trotz der Unmöglichkeit von Augenbewegungen. Und 
zwar stimmen die Ergebnisse dieser Versuche mit den Ergebnissen 
der bereits oben erörterten Einzelversuche völlig überein. Es 
herrscht die Tendenz, das unterhalb des Fixationspunktes 
sowie das links von ihm Liegende als das Nähere zu er¬ 
fassen. Ob hier eine bodenständige Auffassung vorliegt, ist 
natürlich aus dem, was wir oben gesehen habenj nicht zu ent¬ 
scheiden, ja vielmehr kaum zu vermuten. Wir haben bereits 
gesehen, daß die Auffassung »wie von oben gesehen «, der die hohe 
Frequenz von r u , l u , K u entspricht, noch lange nicht äquivalent 
ist mit der Auffassung »am Boden haftend, oder bodenständig «. Ist 
somit der Hauptsache nach wenigstens das Ergebnis dieser Kol¬ 
lektivversuche festgestellt, so muß ich noch auf einen ungünstigen 
Versuchsumstand hinweisen, von dem es abhängen dürfte, daß 
die zweidimensionale Auffassung der exponierten Bilder bei 
E.-Z. = 50 o nicht stärker zur Geltung kam, als tatsächlich kon¬ 
statiert wurde. Die Fieruren wurden, wie wir wiss**«. im ver- 


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388 


Vittorio Bennssi, 


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gleichem Maße. Daraus folgt aber, daß die subjektive Expositions¬ 
zeit in den zwei Fällen sich nicht wie 2:1, sondern vielleicht 
bloß wie 2 :1,8 o. ä. verhalten haben mußte, was der Intention der 
Versuche eben nicht entsprach. Die Weiterführung dieser Ver¬ 
suche wird daher bei helladaptiertem Auge mit schwach, aber 
doch deutlich sichtbaren Projektionsbildern erfolgen, und zwar 
stellen sich diese noch nicht abgeschlossenen Versuche, worüber 
an anderer Stelle zu berichten sein wird, die Aufgabe, dem hier 
im theoretischen Teile vermutungsweise Ausgesprochenen zu einer 
positiven oder negativen Entscheidung zu verhelfen. Bevor ich 
jedoch zu den theoretischen Erwägungen übergehe, mögen im 
folgenden Paragraphen die Ergebnisse der bisherigen Versuche 
zusammengestellt werden. 


§ 7. Zusammenfassung der Ergebnisse. 

A. Die Reaktionszeiten auf Scheinkörperlichkeit. 

Gegenüber ein und derselben Figur, die nur ihre Lage in 
der Frontalebene wechselt, ist die Zeit (Z), die zur Erreichung 
einer scheinkörperlichen Auffassung überhaupt erforder¬ 
lich ist, keine konstante. Sie beträgt für Lage 3 und 4 
gegenüber 1 und 2 mehr als das Zweifache. 

Die Wiederholung der Versuche beeinflußt die Größe Z 
nicht eindeutig; Z nimmt ungeachtet der Lage durch einige 
Versuchsreihen zu, dann ab, dann wieder zu. Es sind also perio¬ 
dische Veränderungen von Z zu verzeichnen, die von ungefähr 
drei zu drei Versuchsreihen ihre Richtung ändern. So liegen zu¬ 
fällig gerade die Z-Beträge von erster und letzter (10.) Versuchs¬ 
reihe einander sehr nahe. 

Der Wechsel in der Veränderungsrichtung von Z spricht 
gegen die (zum mindesten gegeD die ausschließliche) Wirkung 
assoziativer und assimilativer Elemente; denn wenn solche 
Elemente die für die Entstehung eines Eindruckes von Schein- 


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Über die Motive der Scheinkörperlichkeit bei umkehrbaren Zeichnungen. 389 


B. Die Daten der Selbstbeobachtung. 


Für jedeLage gibt es eine scheinkörperliche Auffassung, die über 
die anderen in hohem Maße prävaliert. Für Lage 1 (Figur 1 a usw.) 
ist die Auffassung »vertikale Fläche rechts unten näher*, für Lage 2 
»links unten näher*, für Lage 3 » obere senkrechte Kante näher*, 
für Lage 4 » horizontale rechts liegende Kante näher* bevorzugt. 

Da die Aufmerksamkeit während der Erwartung eine auf die 
ganze Bildfläche der Absicht nach gleich verteilte war, ist aus 
diesem Ergebnis auf eine größere Auffälligkeit der links 
sowie unterhalb des Mittelpunktes liegenden Figurenteile 
zu schließen, wenn auch mit Vorbehalt. 

Bei Lage 1 und 2 sind beim Erreichen einer scheinkörper¬ 
lichen Auffassung sämtliche Zeichnungslinien sichtbar; sie 
werden alle beachtet. Bei Lage 3 und 4 bleiben die für einen 
bestimmten scheinkörperlichen Eindruck unwesentlichen 
Linien, sobald einer erreicht ist, unbeachtet, man glaubt sie 
nicht zu sehen. Wie aus Flächen, und zwar aus undurchsichtigen 
erbaut, gcheint der Scheinwürfel nur bei Lage 3 und 4. 

Im Laufe der Versuchsreihen tritt zunächst eine Beharrlich¬ 
keit bestimmter Auffassungsweisen hervor; sie ist unab¬ 
hängig von den langsam vor sich gehenden Schwankungen 
der R.-Z. Weiter stellt sich, namentlich bei Lage 1 und 2, eine 
sofortige Umkehrung ein. Es ist dabei zu beachten, daß bei 
diesen Lagen alle Linien sichtbar bleiben. 

Tritt die Auffassung » rechts unten näher* auf, so erscheint 
die nähere Fläche deutlich kleiner als die entferntere. 
Dieser gilt jedoch die größere Beachtung: sie haftet 
gleichsam an einer senkrechten Ebene, sie ist die Basis, 
aus der sich etwas Würfelartiges zum Beschauer her aufbaut. 

Die Umkehrung läßt diese Größenverhältnisse unberührt; nur 
wird jetzt der Schein erweckt, als würde sich der Würfel aus 
der scheinbar näherliegenden größeren und besonders 
beachteten Basis vom Beschauer weg aufbauen. 

Daraus ist zu entnehmen, daß das Beachtetere größer er- 


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390 


Vittorio Bennsai, 


Das nämliche gilt für Lage 2. Die beharrende erste Auf- 
fassnngsweise ist hier *links unten näher und größer c. Die 
scheinbar nähere Fläche wird als Basis erfaßt. Tritt die Um- 
kehrung ein, so ist diese Fläche noch immer die Basis, nnr 
liegt sie jetzt in der Tiefe und haftet somit an einer entfern¬ 
teren vertikalen Ebene. Der Scheinwürfel erstreckt sich ans 
ihr heraus dem Beschauer zu; die als näher erfaßte Fläche 
ist die scheinbar kleinere. 

Dieses Haften an einer Vertikalebene verbietet uns, aus Aus¬ 
sagen wie »von oben gesehen « oder »von unten gesehen• auf eine 
bodenständige oder nicht bodenständige Auffassang zu schließen. 

Lage 3 ergibt: zuerst Eindruck der Unordnung, dann Auffas¬ 
sung einer linearen Teilgestalt, dann Erreichung einer Schein¬ 
körperlichkeit, die relativ beharrlich ist. Dieses Erfassen einer 
zweidimensionalen Gestalt scheint die Verbindung zwischen Sehen 
der Zeichnungslinien und Erreichung einer Scheinkörperlichkeit 
herzustellen. Ebenso Lage 4. 

C. Wirkung der Expositionszeit. 

Kollektivversuche haben gezeigt, daß die Herabsetzung der 
Expositionszeit die Erreichung einer Scheinkörperlichkeit hemmt. 

Ob diese Tatsache darauf zurückzuführen ist, daß den assimi- 
lativen und reproduktiven Faktoren weniger Zeit zur Entwicklung 
gelassen wird, oder ob nicht vielmehr durch die kürzere Expositions¬ 
zeit die Auffassung einer passenden zweidimensionalen Gestalt als 
Übergang vom Sehen der Linien zum Erleben einer Scheinkörper¬ 
lichkeit erschwert wird, wird sich aus den Ausführungen des 
nächsten Abschnitts m. E. von selbst ergehen. 


§ 8. Zur Theorie. 

Der rascheren Verständigung wegen präzisiere ich hier als 
Vorstellungserlebnis jenen Teil oder jene Seite eines gegebenen 
komplizierteren Augenblickszustandes, der uns die Ergreifung 
oder Vergegenwärtigung eines Gegenstandes oder Objektes 
in voller sinnlicher Frische und Anschaulichkeit ermög- 


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Über die Motive der Scheinkörperlichkeit bei amkehrbaren Zeichnungen. 391 

d. h. ihrer Entstehnngsart *) gestatten. Die Antwort lautet »ja«; 
der Einteilungsgesichtspunkt ist durch das Verhältnis dieser Vor¬ 
stellungserlebnisse zu äußeren Reizen gegeben, wie wenig auch das 
mittels Vorstellungen in sinnlicher Anschauung Vorgehaltene oder 
Vergegenwärtigte selbst ein Reiz oder ein Reizkomplex ist. 

Es gibt Vorstellungen, die in ihrem Auftreten restlos an den 
Reiz gebunden sind; so sämtliche Sinnes Vorstellungen oder, nach 
herkömmlichem Sprachgebrauch, Empfindungen. Die sinnliche, an¬ 
schauliche Vergegenwärtigung eines Tones oder einer Farbe kann 
nicht in eine andere tibergeleitet werden, ohne daß auch 
an der Reizlage sich etwas änderte; ebensowenig kann 
ein eben angeschautes Grau eine Schein färbe aufweisen, ohne 
daß sich die Farbe seiner Umgebung, mithin die Reizlage, ge¬ 
ändert hätte. Diesen durchaus reizgebundenen Vorstellungen 
stehen solche gegenüber, die so vollständig als reizunabhängig 
zu bezeichnen sind, daß ihnen kein nachweisbarer äußerer 


1) Auch in allerletzter Zeit (vgl. A. Gelb, Theoretisches über »Gestaltquali¬ 
täten«. Zeitschrift für Psychol. I. Bd. 58 [Nov. 1910]. S. 1—66) wurde gegen 
eine Charakteristik der Vorstellung durch die Art ihrer Entstehung Stellung 
genommen, und zwar mit dem Hinweis darauf, daß sich die »deskriptive« 
Psychologie nicht damit zu befassen habe, diese andererseits die Vorstellungen 
der drei oben zu bestimmenden Gruppen als gleichgeartet betrachten muß, 
da dieselben als Vorstellungen (Gelb sagt Wahrnehmungen) schlecht¬ 
weg in unB vorgefunden werden. Die deskriptive Psychologie, heißt es 
a. a. 0., verläßt nicht den psychologischen Boden, sie kümmert sich nicht 
um die Beize. Ich kann aber absolut nicht einsehen, weshalb auch die 
deskriptive Erforschung psychischer Dinge nur im engsten Sinne »deskriptiv« 
sein darf und weshalb sie von einer relativ genetischen Beschreibung, wenn 
sie sich zur Bereicherung unseres psychologischen Wissens als nützlich erweist, 
Abstand nehmen müßte. Ich konnte übrigens an anderer Stelle fünf Kri¬ 
terien aufstellen, und zwar auf Grund experimenteller Befunde, aus welchen 
wohl klar genug hervorgeht, daß die Vorstellung einer Gestalt gegenüber 
der einer Farbe oder eines Tones und anderen Empfindungen etwas Eigen¬ 
artiges aufweist, was sich freilich nicht aus der Betrachtung der fertigen 
Vorstellung entnehmen läßt, wohl aber aus der Art ihrer Entstehung, 
ihres Verhaltens bei Wiederholungen usw. ergibt. Die hier ins 
Auge gefaßten Untersuchungen (»Über Gestalterfassen« und »Die ver¬ 
schobene Schachbrettfigur« in »Untersuchungen zur Gegenstandsth. u. Psych.«, 
herausgeg. von A. Meinong, Nr. V und VI [1904], namentlich S. 381—403, 
sowie »Experimentelles Uber Vorstellungsinadäquatheit, I und II« in Zeit- 

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392 


Vittorio Benuasi, 


d iapiap 


B 


Reiz zngeordnet erscheint. Die Vergegenwärtigung des Tones c 
und die des Tones g sind zwei reizgebundene Vorstellungen; die 
des Intervalles oder Melodieschrittes »Quinte« ist eine rein 
reizfreie, sie ist eine außersinnliche Vorstellung, insofern durch 
den Mangel eines Reizes auch die Beteiligung eines Sinnes¬ 
organes ausgeschlossen ist. Das bloße Beisammensein der Reize 
oder deren Folge ändert an der Reizfreiheit nichts, denn die 

Einstellung einer Intervall¬ 
vorstellung kann trotz der 
Aktualisierung einer c- und 
einer ^-Vorstellung aus- 
bleiben, und zwar selbst dann, 
wenn sowohl c als g beachtet wer¬ 
den. Dasselbe gilt für sämtliche 
Raumgestalt Vorstellungen. 
Auch sie sind völlig reizunab¬ 
hängig, trotz Beachtung aller 
Momente, die durch die Reizlage 
restlos bedingt werden. Vergegen¬ 
wärtigt man sich, oder m. a. W., 
schaut man sich den in Figur 9 A 
gegebenen Komplex aus dunklen 
Strichen an, so wird man wohl 
zugeben müssen, daß man auch 
den Hintergrund dieser Ge¬ 
stalt sieht und beachtet; 
dessen Gestalt aber bleibt 
dennoch unerfaßt. Wäre 
hingegen die Vorstellung der 
Gestalt des Hintergrundes 
eine reizgebundene, dann 
müßte sie auftreten, so¬ 
bald man den Hintergrund anschaulich erfaßt, sobald 

ainVi dan ßi-nnd uo r (ro (re uni ö rf i rr + Hiofl ist ahor ni 0V1 f 




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Über die Motive der Scheinkörperlichkeit bei umkehrbaren Zeichnungen. 393 

ohne Unterbrechung durch einen dunklen Hintergrund 
schlängelt. Diese zweifache Art der Auffassung wäre nicht 
möglich, wenn die Vorsteilongen der Gestalten ihrer Natur nach 
gleich jenen von Farben wären. Wie schwer es mitunter fallen kann, 
die Vorstellung einer Raumgestalt zu gewinnen, zeigt Figur 9B. 
Man versuche zwischen den Kreuzhaken jene Gestalt zu erfassen, 
die bei C durch Äußerlichkeiten der Auffassung näher gebracht ist. 
Ich glaube, daß für den Augenblick der Hinweis auf solche Figuren 
genügt, um die in Rede stehende Sachlage zu verdeutlichen. Ganz 
ähnliches wie in Figur 9 B ist etwa durch einen polyphonen Satz ge¬ 
geben. Beachtet und gehört können und werden da mitunter sämtliche 
vorliegende Töne; unbeachtet und unvorgestellt können aber trotzdem 
so gut wie sämtliche Stimmen bleiben, und zwar eben deshalb, weil 
deren Vorstellungen reizfrei sind undin ihrer Entstehung nicht durch 
den Reiz ebenso bestimmt werden wie die Vorstellungen der Töne Ü- 
Zwischen diesen zwei Extremen, den reizfreien und reizge¬ 
bundenen Vorstellungen, gibt es noch eine dritte Gruppe von Vor¬ 
stellungen, die sich dadurch auszeichnet, daß bei ihr nur zum Teil jene 
Reizlage realisiert ist, die zum Entstehen gegebener Vorstellungen 
erforderlich erscheint; in diese Gruppe gehören die Vorstellungen von 
Scheinkörpern und mit ihnen auch die Vorstellungen von 
Scheinhewegungen. Das, was in beiden Fällen vergegenwärtigt 
wird, ist mehr als das, was reizbegründet geboten wird, und 
weist eine ganz eigenartige neue gegenständliche Seite auf. 
Statt einer Sukzession von verschiedenen Lagen eines Gegen- 


1) A. Gelb glaubt (a. a. 0. S. 48, 51 u. p.) auf Grund der Erfahrung ge¬ 
zwungen zu sein, das Vorhandensein von Gestalten als eigenartigen Gegen¬ 
ständen (Erscheinungen) in Abrede zu stellen. So ist auch für ihn etwa ein 
Intervall weiter nichts als eine Folge zweier Töne nebst deren Tonhöhen¬ 
beziehung. Dementsprechend ist auch die Vorstellung eines Intervalles lediglich 
die Vorstellung der Töne, vermehrt um die Vorstellung der zwischen ihnen 
liegenden Verhältnisse. Daß nun jemand, der eine Melodie erfaßt, nur Töne 
und Beziehungen zwischen Tönen erfassen soll, ist für mich und sicher nicht 
für mich allein wohl alles eher als erfahrungsgemäß. Freilich liegen den 
Intervallen Beziehungen zugrunde, und zwar Verschiedenheiten der Tonhöhe, 
es werden aber wohl nicht diese vergegenwärtigt und etwa schön gefunden, 
wenn man eine wohlklingende Melodie erfaßt. Ebensowenig werden in 

ivnm D > _ _ V. o'n«\l/\l Q\ «h _ «-1 T a MAnA«k o 1 l'an /1 ßl mtAM« 


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394 


Vittorio Benussi, 


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Standes wird im Falle einer Scheinbewegung eben die Bewegung 
des gezeigten Gegenstandes vergegenwärtigt; statt einer zwei¬ 
dimensionalen Gestalt, vielmehr einer reizbegründeten Mannigfaltig¬ 
keit heller und dunkler Flächen, wird im Falle der Scheinkörperlich¬ 
keit eben diese erfaßt, bzw. in sinnlicher Anschauung vergegen¬ 
wärtigt. Es scheint außer Zweifel zu stehen, daß reproduktive Mo¬ 
mente aus früheren Erlebnissen an derartigen Auffassungsweisen be¬ 
teiligt sind, nur ein Punkt bleibt dabei unklar; er läßt die Frage 
formulieren, wodurch eigentlich (wir betrachten hier nur die Schein¬ 
körperlichkeit) eine Verbindung hergestellt wird zwischen 
dem sinnlich vermittelten, sinnesvorstellungsmäßig ver¬ 
gegenwärtigten Material an Helligkeits-und Dunkelheits¬ 
momenten (bzw. Gegenständen) und der erreichten Vergegen¬ 
wärtigung der Scheinkörperlichkeit. Da eine solche Ver¬ 
bindung nur zwischen inneren Erlebnissen stattfinden kann, so läßt 
sich die Frage besser wie folgt aufwerfen: Einerseits liegen Sinnes¬ 
vorstellungen, und zwar reizgebundene vor, andererseits eine 
durchaus den Charakter der reizfreien Vorstellungen aufweisende 
Vergegenwärtigung eines durch die vorliegende Reizlage keineswegs 
bestimmten Gegenstandes; was vermittelt den Übergang von 
jenen Sinnesdaten zu dieser (Scheinkörperlichkeits-)Ver- 
gegenwärtigung? Der Hinweis auf reproduktive (assimila- 
tive) Ergänzung von Sinnesdaten kann keine Klärung mit sich 
führen, denn es würde sich dann fragen: Warum ergänzt sich 
eine Mannigfaltigkeit von Sinnesdaten zu einer Schein¬ 
körperlichkeitsvorstellung und nicht zu einer Vorstellung 
eines der Scheinkörperlichkeit gegenüber qualitativ ver¬ 
schiedenen Gegenstandes, der ebenso wie jene auf Hellig¬ 
keitseindrücke zurückzuführen wäre? Es muß also etwas im 
Spiele sein, was die assoziative Ergänzung leitet und bestimmt 1 ). 
Dieses Etwas haben wir bei Besprechung der Daten der Selbst¬ 
beobachtung bereits, wenn auch ohne jedes nähere Eingehen auf 
dieselben, kennen gelernt 3 ). Es ist dies das Erfassen einer 


1) Vgl. hierzu auch meine Arbeit Ȇber Aufmerksamkeitsrichtung beim 
Raum- und Zeitvergleich« in Zeitschrift für Psycbol., Bd. 62, S. 73 ff. 

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Über die Motive der Scheinkörperlichkeit bei umkehrbaren Zeichnungen. 395 


zunächst zweidimensionalen Gestalt; erst von dieser ans ist 
eine Ergänzung durch reproduktive Momente faßbar, denn diese 
Gestalt wird in der Erfahrung von Körpervergegenwärtigung mit¬ 
erfaßt, sie ist mit dem »Sehen« von Körpern assoziativ ver¬ 
knüpft und vermag nun, wenn sie u. U. in uns hervorgebracht 
wird, unter denen kein »Körper« uns in Wirklichkeit gegenüber- 
stebt, der Vergegenwärtigung eines Scheinkörpers zur allerdenkbar¬ 
sten Frische zu verhelfen. Unsere Position ist also folgende: das ge¬ 
gebene Material an Sinneseindrücken oder -Vorstellungen 
steht ohne jede Beziehung zu der ohne eigenen äußeren 
Reiz entstehenden Vorstellung einer Scheinkörper¬ 
lichkeit; die Vermittlung oder die Verbindung zwischen 
dem reizgemäß Gebotenen und der erreichten Vor¬ 
stellung eines Scheinkörpers wird dadurch hergestellt, 
daß das Sinnesmaterial innerlich so verarbeitet oder ge¬ 
ordnet wird, daß eine Gestalt vergegenwärtigt wird, die 
sonst beim Sehen von Körpern gleichfalls erfaßt wird; 
zwischen dieser und dem Eindrücke oder der Vergegen¬ 
wärtigung eines Körpers ist eine assoziative Verknüpfung 
vorhanden, daher vermag auch die Hervorbringung jener 
Gestaltvorstellung eine Ergänzung durch Reproduktion zu 
aktualisieren. Der Schein eines Körpers wird durch assoziative 
Momente bedingt, vielleicht sogar nur durch solche, diese selbst 


halb wir (etwa bei einer Würfelzeichnung von der Art, wie sie auch meiner 
gegenwärtigen Arbeit zugrunde liegt) nicht die ebene lineare Gestalt er¬ 
fassen, die durch sämtliche Striche gegeben ist, sondern den Eindruck des 
Körperlichen erleben. Er meint, die assoziativen Vorgänge, die auch nach 
seiner Meinung einen solchen Eindruck ermöglichen, seien geläufiger und 
leichter anzuregen als jene, die zum Erfassen einer ebenen Gestalt führen 
würden. (Derartige Vorgänge scheinen also nach Beiner Auffassung beim 
Entstehen einer Scheinkörperlicbkeitsvorstellung unbeteiligt zu sein.) Er¬ 
schwert man, etwa durch Farbengebung (S. 380), die Entwicklung von assozia¬ 
tiven Ergänzungen, dann läßt sich die ebene Gestalt erfassen. Ich muß zu 
dieser Position bemerken, daß durch Farbengebung hauptsächlich deswegen 
eine Scheinkörperlichkeit ferngehalten wird, weil dadurch das Erfassen von 
solchen Gestalten erleichtert wird, die beim Erfassen von Körpern nicht mit- 


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396 V. Bennssi, Über d. Motive der Scheinkörperlichkeit bei nmkehrb. Zeichn. 

aber können nur durch dieVorstellung einer zweidimensio- 
nalen Gestalt, die alsBindeglied zwischen Sinnesdaten und 
Scheinkörperlichkeitsvorstellung fungiert, erweckt werden. 

Das Erfassen einer solchen Gestaltvorstellnng ist übbar, die 
Folge dieser Übung ist die sich im Laufe derVersuche einstellende 
Beharrlichkeit für eine bestimmte Auffassungsart. 

Die Lage der Figur kommt insofern in Betracht, als sie das Er¬ 
fassen einer solchen »vermittelnden« Gestaltvorstellung erleichtert 
oder erschwert, und zwar einer Gestaltvorstellung, die beim Er¬ 
fassen wirklicher Körper auch wirklich aktualisiert war. Sieht man 
sich unsere Lagen 3 und 4 an, namentlich aber 3, so wird man 
merken, daß man hier leicht allerlei zweidimensionale Gestal¬ 
ten erfaßt, die bei der echten »Körpererfahrung« nicht 
anzutreffen sind. Erst wenn unter solchen erschwerenden 
Umständen eine passende zur Auffassung gelangt, inte¬ 
griert sich das Ganze zum Schein eines Körpers. Diese 
ungünstigen Umstände bedingen natürlich eine längere Dauer der 
Zeit, die das Sehen des reizgebundenen Materials von der Erreichung 
einer Scheinkörper-Vergegenwärtigung trennt. Gestaltvorstellungen 
sind flüchtig, darauf geht das Spiel der Umkehrung zurück. 
Es tritt an Stelle der ersten assimilativ wirksamen Gestaltvorstellung 
eine zweite, die einen anderen körperlichen Schein mit sich führt. 

Wodurch die hier provisorisch und daher sehr kurz dargestellte 
Auffassung zu kontrollieren ist, wird in einer später folgenden 
Abhandlung zu zeigen versucht werden, bei der der Eintritt der 
Scheinkörperlichkeit in Beziehung gesetzt wird zur relativen 
Auffälligkeit der einzelnen Teile der exponierten Zeich¬ 
nung. Die Resultate der obigen Versuche berechtigen zur Vermutung, 
daß hier die Scheinkörperlichkeit auf eine größere Auffälligkeit jener 
Zeichnungsteile zurückzuführen ist, die unterhalb sowie links 
vom Figurenmittelpunkt liegen. Liegt das auslösende Moment 
für den Eintritt einer Scheinkörperlichkeit im Erfassen 
einer bestimmten, assoziativ wirksamen zweidimensio¬ 
nalen Gestalt, so ist ohne weiteres klar, daß die relative Lo¬ 
kalisation in die Tiefe ganz unabhängig von der Richtung 

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Experimentelle Analyse psychischer Vorgänge 
beim Schießen mit der Handfeuerwaffe. 

Ein Versuch. 

Von 

Hauptmann Meyer (Leipzig). 

Mit 7 Figuren im Text 


Die Beschäftigung mit der experimentellen Psychologie und 
Pädagogik hat mich zu der Überzeugung gebracht, daß diese 
Wissenschaften für die weitere Vervollkommnung des Wehrwesens 
— dieses so wichtigen Gliedes unserer Volkserziehung — künftig 
von großem Wert sein können. 

Zu untersuchen, nach welchen Gesichtspunkten dies vielleicht 
möglich ist, muß späteren Studien Vorbehalten bleiben. Denn da 
wir bisher weder unter den aktiven Militärs Fachpsychologen 
haben (wenn auch geborene Psychologen zahlreich unter ihnen 
vorhanden sind) noch umgekehrt die Fachpsychologen Fragen des 
praktischen Heeresdienstes näher getreten sind, würden allge¬ 
mein gehaltene Betrachtungen Uber die Anwendbarkeit der mo¬ 
dernen Psychologie auf den Dienst im Heere kaum viel Interesse 
erwecken. Es wird besser sein, induktiv zu verfahren, zunächst 
Einzelfälle dieser Anwendbarkeit ausfindig zu machen und aus 
solchen Einzelfällen ein Allgemeines zu bauen. 

Zum Studium so manches dieser Einzelfälle bedarf es des 
Experiments oder der statistischen Feststellung. Beides 
erfordert Zeit und Geld. Die fehlen mir. Ich kann deshalb nur 
Anregungen zu geben suchen und hoffen, daß sie dort bereitwilliges 
Entgegenkommen finden, wo die Vorbedingungen zur Verfolgung 
meiner Ideen gegeben sind. 


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398 


Meyer, 


nicht nur theoretisch vorschreibt, sondern auch tatsächlich durch¬ 
fährt, ist das Feld für psychologische Beobachtungen sicher gut 
bereitet. 


Unter allem nun, was dem Soldaten während seiner Aus¬ 
bildungszeit gelehrt wird, ist das Schießen vielleicht mit am 
ergiebigsten für experimentell-psychologische Studien. Allerdings 
sind die psychischen Vorgänge bei der Abgabe eines Schusses sehr 
komplizierter Natur, und es wird viel darauf ankommen, ob es 
gelingt, einzelnes aus solchen Komplexen zum Zwecke der Be¬ 
obachtung zu isolieren. 

Zunächst ist es nötig, für diejenigen Leser, denen nicht vom 
praktischen Militärdienst her der Vorgang in der Waffe beim 
Lösen des Schusses bekannt ist, hierüber die nötigsten Angaben 
zu machen, wobei Einzelheiten der Waffenkonstruktion nur inso¬ 
weit erwähnt werden sollen, als unbedingt geboten ist. 

Die Abzugsvorrichtung unseres Infanteriegewehrs (Figur 1) 
trägt in der Abzugsgabel, deren eine Seite man auf der Zeichnung 

sieht(schraffiert),den 
um den Stift a dreh¬ 
baren Abzug, wäh¬ 
rend die Gabel selbst 
umdenfeststehen- 
den Stift b drehbar 
ist. Hinten trägt die 
Gabel den aus einem 
Stück mit ihr ge¬ 
arbeiteten A b z u g s- 
Stollen, dessen Ge¬ 
stalt die Figur er¬ 
sehen läßt, vorn ist 
eine senkrecht ste¬ 
hende Spiralfeder in 

Fig. 1. Abxugsvorrichtung und Ruhelage. sie eingelagert. 

Vermittels des 




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Expertin. Analyse psych. Vorgänge beim Schießen mit der Handfeuerwaffe. 399 


Spiralfeder bewirkt, daß ständig der vordere Teil der Gabel nach 
unten, der hintere Teil mit dem Abzngsstollen nach oben gedrückt 
wird. Dabei greift der Abzugsstollen durch eine Öffnung im 
Metall der Hülse in diese hinein (in Figur 2 punktiert), und der 
obere Teil des Abzugs liegt mit seiner vorderen Drucknase 
(Figur 1, 2) am Metall der Hülse an. 

Beim Spannen des Gewehrs legt sich ein Teil des oben 
erwähnten Schlosses hinter den Abzugsstollen (Figur 2 bei N). 
Eine besondere Feder bewirkt, 
daß dieser Teil ständig sehr 
stark nach vorn gedrückt wird. 

Zieht man den um den 
Stift a in der Abzugsgabel 
drehbaren Abzug zurück, so 
wird eine Drehung der ganzen 
Abzugs Vorrichtung um den 
feststehenden Stift b einge¬ 
leitet. Die vordere Drucknase 
senkt sich, die hintere hebt 
sich, bis sie das Metall der 
Hülse berührt (Figur 2). In 
diesem Augenblick »hat man 
Druckpunkt«. Zieht man nun den Abzug noch weiter zurück, 
so senkt sich der hintere Teil der Gabel und damit der Abzugs¬ 
stollen schließlich so weit, daß der festgehaltene Teil des Schlosses 
infolge des auf ihn nach vorn wirkenden Druckes darüber hinweg¬ 
gleiten kann. Damit wird die Patrone zur Entzündung ge¬ 
bracht. 

Wie wir sehen werden, und wie der gediente Soldat, wie über¬ 
haupt jeder Schütze weiß, ist die Art des Abziehens für das 
Treffresultat von großer Bedeutung. Es bedarf nun noch einer 
allgemeinen Erläuterung des Begriffes »Zielen«, und der An¬ 
forderungen, die dabei gestellt werden 1 ). 

Beim Zielen wird dem Gewehr eine solche Höhen- und Seiten¬ 
richtung gegeben, daß die Visierlinie auf den Haltepunkt gerichtet 



Fig. 2. Abzugsvorrichtung. 
Druckpunkt genommen. 


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400 


Meyer, 


Digitized b; 


Fig. 3. Visier. 


ist. Die Visierlmie ist die gerade Linie zwischen Visier und Korn. 
Die Gestalt des Visiers zeigt Figur 3. ab heißt der »Visierkamm«, 
der dreieckige Einschnitt die »Kimme«. Das 
Korn ist spitz. Beim richtigen Zielen soll die 
Kornspitze derart in der Visierkimme zu sehen 
sein, daß sie mit dem wagerecht stehenden 
Visierkamm in gleicher Höhe und in dessen 
Mitte steht (Figur 4). Auf diese Art des Zielens 
sind unsere Gewehre eingeschossen. Nimmt 
man das Korn höher in die Kimme (Vollkorn), 
oder tiefer (Feinkorn), oder nicht genau in die 
Mitte (Kornklemmen), oder verdreht man das Ge¬ 
wehr, so verschlechtern sich die Trefferresultate. 



Ich gehe nunmehr dazu über, eine Reihe von Bestimmungen 
der deutschen Schießvorschrift für die Infanterie vom Oktober 1909 
zusammenzustellen, deren Kenntnis für die nachfolgenden Aus¬ 
führungen Voraussetzung ist. Die Zahlen bezeichnen die Punkte 
der Vorschrift. 


Zielen. 

44. Mit dem Unterricht im Zielen wird der Mann Uber das Um¬ 
fassen des Kolbenhalses zunächst am festliegenden Gewehr belehrt. 
Der Kolbenhals wird mit der rechten Hand so weit vorn umfaßt, daß 
der Zeigefinger auf die innere untere Seite des Abzugsbügels zu liegen 
kommt und später beim AbkrUmmen mit der Wurzel des ersten Gliedes 
oder mit dem zweiten Gliede den Abzug berühren kann. Die übrigen 
Finger umfassen den Kolbenhals gleichmäßig fest und möglichst so, daß 
der Daumen dicht neben dem vorderen Gliede des Mittelfingers liegt. 
Der Handteller paßt sich bis zur Handwurzel dem Kolbenhals an. 

AbkrUmmen. 

45. Demnächst wird zum Abkrümmen Ubergegangen. 

Die Art des Zurückführens des Abzuges bis zur Schußabgabe (Ab¬ 
krümmen) hat einen großen Einfluß auf das Treffen und muß deshalb 
eingehend besprochen und geübt werden. 

Das Abkrümmen wird ebenfalls zuerst am festliegenden Gewehr vor¬ 
genommen. Der Zeigefinger nimmt mit der Wurzel des ersten Gliedes 
oder mit dem zweiten Gliede Fühlung am Abzug und führt ihn durch 
Krümmen der beiden vorderen Glieder in einem Zuge so weit zurück, 

bis «in Widerstand versniirt wird. d. h. man nimmt Drnr.knnnkt: dann 


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Experim. Analyse psych. Vorgänge beim Schießen mit der Handfeuerwaffe. 401 

Nach dem Vorschnellen des Schlagbolzens wird der Zeigefinger noch 
einen Augenblick am völlig zurückgezogenen Abzüge behalten und dann 
langsam gestreckt. 

46. Es empfiehlt sich, daß der Lehrer durch Auflegen des eigenen 
Fingers auf den des Mannes diesem die richtige Art des AbkrUmmens 
veranschaulicht und dann umgekehrt den eigenen Zeigefinger durch den 
des Schülers mit dem Abzüge zurückführen läßt. 

Zielen und Abkrümmen. 

47. Hat der Rekrut im Zielen und Abkrümmen Sicherheit er¬ 
langt, so wird beides miteinander verbunden, und zwar zunächst im An¬ 
schlag am Tisch sitzend. 

Vom Einziehen des Gewehrs bis zur Schußabgabe wird der Atem 
angehalten. 

Beim Einziehen wird die Visierlinie sogleich auf den Haltepunkt 
gerichtet, dann das linke Auge geschlossen, Druckpunkt genommen und 
sofort unter Festhaltung oder Berichtigung des Haltepunktes gleichmäßig 
abgekrümmt. 

Selbst wenn die Visierlinie etwas schwankt, darf das gleichmäßige 
Abkrümmen nicht unterbrochen werden. Bei erheblicher Abweichung 
setzt der Schütze ab; ebenso wenn er glaubt das gleichmäßige Ab¬ 
krümmen nicht bis zur Schußabgabe durchführen zu können. 

Das AbBetzen darf jedoch nicht zur Gewohnheit werden. Der Schütze 
muß von Anfang an mit Nachdruck angehalten werden, entschlossen und 
ohne Scheu abzukrümmen. 

48. Nach Abgabe des Schusses verbleibt der Schütze im Anschlag 
und gibt den Punkt an, auf den die Visierlinie im Augenblick der Schu߬ 
abgabe gerichtet war. Fehlern, die in Unruhe, Unsicherheit und Feuer- 
scheu ihren Grund haben, wird hierdurch am besten vorgebeugt. 

Das Absetzen erfolgt mit Ruhe; der Schütze öffnet das linke Auge, 
streckt den rechten Zeigefinger und setzt unter Erheben des Kopfes ab, 
die linke Hand verbleibt am Kolben. 

49. Alle Ausführungen des Schützen in den verschiedenen Tätig¬ 
keiten müssen auf das genaueste überwacht werden. Stellung, Haltung, 
Lage des Gewehrs, Druckpunktnehmen, Abkrümmen usw. kann der 
Lehrer am besten beobachten, wenn er links vorwärts des Schützen steht. 

Nach Abgabe des Schusses bespricht er die etwa begangenen Fehler 
und gibt die Hilfen zu ihrer Vermeidung an. 

50. Dem richtigen Melden des Abkommens ist hoher Wert bei¬ 
zulegen. Hat der Mann sein Abkommen nicht mit Sicherheit erkannt, 
so ist er mit Emst und Geduld anzuhalten, dies z. B. durch die Meldung 
»unsicher abgekommen« wirklich anzugeben. Nur die in diesem Sinne 
unermüdlich belehrende Ausbildung gewährleistet eine fortschreitende 
Verbesserung der Schießfertigkeit. 

51. Bei Anwendung von Zielmunition und Bcharfen Patronen pflegen 


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402 


Meyer, 


Digitized bj 


in Erwartung des Knalles und Rückstoßes den Kopf nach vorn, schließt 
das rechte Auge, bringt die rechte Schulter vor usw., so »muckt« er. 

In beiden Fällen kann von einer sicheren Abgabe des Schusses 
nicht die Rede sein. 

Die Fehler des Reißens und Muckens treten meist erst dann deut¬ 
lich hervor, wenn wider Erwarten der Schuß versagt Um dem Manne 
seinen Fehler zum Bewußtsein zu bringen, empfiehlt es sich, ihm zeit¬ 
weise ein mit Exerzierpatronen geladenes Gewehr zuzureichen. 

Anschlagsarten. 

52. Bei allen Arten des Anschlags bleibt der Blick auf das Ziel 
gerichtet; der Körper wird fest, aber frei und ungezwungen gehalten und 
das Gewehr kräftig in die Schulter gezogen, nicht aber die Schulter vor¬ 
gebracht oder gar gehoben. Während des Hebens und Einziehens des 
Gewehrs wird leicht ein- und ausgeatmet und hierauf bis zur Schu߬ 
abgabe der Atem angehalten. 

Jede unnatürliche Körperverdrehung und jeder übermäßige Kraft¬ 
aufwand stört die ruhige Lage des Gewehrs oder erschwert dem Auge 
das Zielen. Auch schlecht angepaßte Bekleidungs- und Ausrüstungs¬ 
stücke behindern den freien Gebrauch der Waffe. 

55. Zum Anschlag stehend freihändig wendet sich der Schütze 
unter Anheben des Gewehrs auf dem Ballen des linken Fußes halbrechts, 
setzt den rechten Fuß in der neu gewonnenen Linie etwa einen halben 
Schritt nach rechts und stellt das Gewehr, Abzugsbügel nach vorn, an 
die innere Seite des rechten Fußes. 

Die Knie sind leicht durchgedrückt. 

Hüften und Schultern machen die gleiche Wendung wie die Füße. 

Das Gewicht des Körpers ruht gleichmäßig auf Hacken und Ballen 
beider Füße. 

Das Gewehr wird beim Anschlag kniend an die rechte Brustseite 
gebracht, demnächst mit beiden Händen auf den Haltepunkt gerichtet 
und vornehmlich durch die rechte Hand fest in die Schulter gezogen. 
Der rechte Ellenbogen wird bis etwa Schulterhöhe gehoben. 

Der Kopf, mäßig nach vorn geneigt, liegt ganz leicht am Kolben, 
die Halsmuskeln sind nicht angespannt. 

Von all den vielen Tätigkeiten sind es vor allem das AbkrUmmen, 
das Zielen und das Anhalten des Atems, die gemeinsam psychisch 
ganz erheblich auf den noch wenig gefestigten Schutzen wirken 
und bei ehrgeizigen, nervösen und ängstlichen Leuten die in 
Punkt 51 geschilderten Fehler des Reißens und Muckens ver¬ 
schulden. 


Es seien jetzt einige physiologische und psychische Zustände, 
bzw. Vorgänge, beschrieben, die ich an mir selbst beim Schießen 


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Eixpenm.Analyse psycn. vorgange oeim »erneuen mit aer nanaieaerwane. qfjö 


andere. Die Beobachtangen tragen natürlich den Stempel des 
Unvollkommenen, denn die Vorbedingungen exakter Experimente 
haben gefehlt. Immerhin sind die Angaben für den Anfang viel¬ 
leicht von einigem Wert. 

Ich habe, im Begriff einen Schaß abzageben, stets eine er¬ 
hebliche Veränderung meines körperlichen Zustandes verspürt. 

Als ich noch ein Anfänger war, äußerte sich das in notorischer 
Aufregung, und sogar das »Mucken« ist mir vorgekommen. Doch 
das ist überwunden, und selbst nach jahrelanger Unterbrechung 
schieße ich jetzt vollkommen sicher. 

Jene Veränderung des körperlichen Zustandes äußert sich etwa 
wie folgt. Beim Heben der Waffe zur Fertigstellung (Kolben an 
der Hüfte, Mündung in Augenhöhe) habe ich ein Gefühl der 
Spannung und Erregung in den Finger- und Handgelenken, in 
den Muskeln des Unterarms, im Ellbogengelenk und ein wenig in 
den Oberarmen nach dem Schultergelenk zu. Beide Arme werden 
ungefähr in gleicher Weise von diesem Gefühl betroffen. Weiter 
zeigt Bich dieses in den Waden, ein wenig im Unterleib und am 
Hinterkopf. Von hier glaube ich einen Zusammenhang dieses 
Gefühls mit dem in den Armen konstatieren zu können, und zwar 
nicht erst beim Abziehen (siehe unten), sondern schon vorher, ehe 
ich noch das Gewehr an die Schulter bringe. 

Beim Einziehen des Gewehrs in die Schulter, wobei eine er¬ 
hebliche Anstrengung aller Muskeln des rechten Armes stattfindet, 
gewinnt die Spannung im rechten Arm einen ganz anderen Cha¬ 
rakter; ich habe dann das Bewußtsein, diesen Arm entschieden 
zn beherrschen, während der linke, der das Vordergewicht des 
Gewehrs tragen muß, eine schnell wachsende Spannung und Er¬ 
müdung zeigt. Das Gefühl in den Waden hält jetzt noch an, das¬ 
jenige im Unterleib scheint nachzulassen, ebenso das im Hinter¬ 
kopf, sobald zum Zwecke des Zielens der Kopf nach vorn geneigt 
wird. 

Die nun folgenden Tätigkeiten, Zielen, Abkrümmen, Anhalt^xx 
des Atems, strengen den Organismus stark an. Im 20. LebensjaYvn 
konnte ich länger zielen als jetzt, ohne daß mir das Bild 
Auge verschwamm. Heute, als 40jähriger, muß ich schnell 
dem Schuß fertig* werden, sonst wird das Rild undeutlich Uu^i 


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404 


Meyer, 


des za erwartenden Flimmerns schnell mit dem Schnß fertig 
werden zu müssen, ist die Veranlassung, daß ich kräftig Druck¬ 
punkt nehme und kräftig, also schnell abkrümme (siehe oben 
Punkt 47, Abs. 4 der Schießvorschrift!). Da in dieser kurzen 
Zeit die Ermüdung nicht so stark auftritt, wie bei längerer Dauer 
der Schußabgabe, der linke Arm demnach sicherer die Waffe in 
der gewünschten Richtung halten kann, ist das Resultat besser, 
als es voraussichtlich bei längerem Zielen sein würde. Tatsäch¬ 
lich schieße ich auch jetzt weit besser und sicherer, als ich vor 
20 Jahren mit besseren Augen schoß. 

Die Ausführung der einzelnen Tätigkeiten gelingt nun bei 
weitem nicht immer so, wie es zu einer sicheren Schußabgabe er¬ 
wünscht ist. Manchmal glückt es nicht, den Zielpunkt sofort 
scharf zu erfassen, manchmal, besonders wenn man die betreffende 
Waffe noch nicht kennt 1 ), nimmt man zu zaghaft Druckpunkt. 
Dann dauert alles zu lange. Der Anfänger wird angewiesen, in 
solchen Fällen abzusetzen und von vorn anzufangen. Das darf 
aber nicht zur Gewohnheit werden, im Gegenteil soll im weiteren 
Verlauf der Ausbildung der Schütze in allen Tätigkeiten immer 
sicherer werden und körperliche wie psychische Indispositionen 
durch Willenskraft zu überwinden lernen. So habe ich mich auch 
selbst zu erziehen gesucht, habe mich gezwungen, auch dann den 
Schuß zur Lösung zu bringen, wenn mir die oder jene Einzel¬ 
tätigkeit nicht ganz nach Wunsch gelang, sobald überhaupt ein 
brauchbares Resultat zu erwarten war. Dabei habe ich ebenfalls 
Beobachtungen gemacht, die möglicherweise für den Psychologen 
Wert haben können. 

Wie schon erwähnt, verschwamm mir das Bild von Visier, 
Korn und Ziel bei zu langem Zielen. Die Umrisse des Spiegels 
(Figur 5) 2 ) wurden undeutlich, die 12 verschwand fast völlig, 
Visier und Korn verloren ihr scharf abgegrenztes Bild. Das ge¬ 
schah nicht etwa nur bei Hitze und flimmernder Luft oder infolge 

Btartor P.rliitinno 1 Hör Waffe naoVi Ion (rorom fioViioRan unmlem 


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Experim. Analyse pBych. Vorgänge beim Schießen mit der Handfeuerwaffe. 405 

haben, der sich anch über die rechte Hälfte der Stirn nnd die 
Schläfengegend als Erwärmnng, fast möchte ich sagen als stechende 
Hitze bemerkbar machte. Die Undeutlichkeit des Bildes war nun 
aber nicht dauernd, sie wich nach einiger Zeit — deren Dauer 
ich aber auch nicht annähernd angeben könnte — wieder einem 
deutlichen Bild, das dann abermals von einem verschwommenen 
abgelöst wurde. Meist kam ich nach dem Verschwinden der ersten 
Trübung, also beim ersten Wiederdeutlich werden, dazn, den Schuß 



Fig. 6. 

Spiegel nennt man die Hinge 10, 11, 12. Breite eines Ringes 5 cm. 


zu lösen. Jedenfalls glaube ich die Trübungen bestimmt als 
periodische bezeichnen zu können. Vielleicht kommt hier auckx 
Tränen und Blinzeln des Auges in Frage, es ist aber sicher nicht; 

JmmAr Hi'a TTra q nVi o Hay TVHhnno» 

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406 


Meyer, 


glaube sagen zu können, daß mir das UnlustgefÜhl hierbei so gut 
wie fremd ist. Die Spannung und Erregung — soweit sie von 
der Verschwommenheit des Zielbildes abhängen — lassen nach 
meiner Beobachtung nach, sobald das Bild wieder deutlicher 
wird. 

Ich glaube übrigens während der Trübung den Begriff »un¬ 
deutlich« oder »verschwommen« als Wortbild sowohl wie als 
schwarzgrau-weißliches, sonst undefinierbares Etwas innerlich vor 
mir zu sehen. Das Wortbild »Zielen« kann ich mich nicht er¬ 
innern vor mir gehabt zu haben, wohl aber die Wortbilder »Visier«, 
»Korn«, »Spiegel«, da ja diese Gegenstände beim Zielen tatsäch¬ 
lich vor dem Auge stehen. — 

Ich schildere nun meine Beobachtungen beim Erfassen des 
Kolbenhalses, beim Einziehen des Kolbens in die Schulter und 
beim Abziehen, das also sozusagen dem Zielen mit seinen 
psychischen Vorgängen parallel geht. 

Beim Erfassen des Kolbenhalses, das ja besonders kräftig aus¬ 
zuführen ist, werden die oben beschriebenen Spannungsgeftihle im 
rechten Arm wohl etwas durch die Maskelanspannung vermindert, 
sie verschwinden aber keineswegs vollständig, auch die in den 
übrigen Köperteilen bleiben bestehen, vielleicht wieder mit Aus¬ 
nahme des Unterleibs. Trotzdem daß sich die Aufmerksamkeit 
jetzt vorzugsweise dem Zielen und Abziehen zuwendet, sind diese 
Spannungsgefühle sehr wohl weiter zu bemerken. Sie bleiben, 
um dies vorweg zu nehmen, auch nach dem Lösen des Schusses 
bestehen, sind sogar noch vorhanden, wenn man das Gewehr 
wieder heruntergenommen hat. 

Beim Einziehen des Kolbens in die Schulter habe ich meist 
ein entschiedenes Lustgefühl zu konstatieren; ich glaube, daß 
dieses Lustgefühl durch die Art und Weise hervorgerufen wird, 
wie der rechte Arm und die rechte Hand hier arbeitet, ganz be¬ 
sonders dadurch, daß bei aller Kraft, mit der der Kolbenhals um¬ 
faßt und die Waffe in die Schulter eingezogen wird, doch der 
Zeigefinger ganz locker und frei bleibt und im Vergleich zu Faust 
and Arm fast gar keine Muskelanspannung zeigt, um eben dann 
durch allmähliches leichtes Krümmen den Abzug zu betätigen. 


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Experim. Analyse peych. Vorgänge beim Sohießen mit der Handfeuerwaffe. 407 


erlernen soll, kommt nach meiner Erfahrung zn diesem Beherrschen 
der Waffe durch den rechten Arm und damit zu jenem Lust¬ 
gefühl ziemlich schnell. Das ist auch kein Wunder, da wir es 
ja dabei mit lauter kräftigen jungen Leuten zu tun haben und das 
Gewehr sehr leicht ist, auch die Gestaltung des Kolbenhalses, ins¬ 
besondere die Pistolenschäftung an unserem jetzigen Gewehr, das 
sichere Zufassen sehr begünstigt. 

Viel bedenklicher für die psychischen Vorgänge im Schützen 
ist die Tätigkeit des linken Armes beim Schießen stehend frei¬ 
händig. Er trägt das Gewehr und richtet es auf den Zielpunkt. 
Schwankungen sind dabei unvermeidlich, und die Schießvorsohrift 
gibt in Pnnkt 47 (siehe oben) die Mahnung, sich durch kleine 
Schwankungen nicht am ruhigen Durchziehen irre machen zu 
lassen. Sieht der Schutze, wie die Visierlinie nicht auf den Halte¬ 
punkt gerichtet bleibt, sondern bald mehr, bald weniger abweicht, 
so macht sich bei ihm ein Unlustgefühl geltend, das sich vermehrt, 
je längere Zeit bis zum Lüsen des Schusses verstreicht, je mehr 
also der linke Arm ermüdet. Der Biohere, erfahrene Schütze läßt 
dieses Unlustgefühl nicht über sich Herr werden, der Anfänger 
aber leidet darunter oft ganz erheblich. Es tritt ein Gegensatz 
ein: rechts gelingt die Beherrschung der Waffe (Umfassen des 
Kolbenhalses, Einziehen in die Schulter) tadellos — Lustgefühl —, 
links zittert der linke Arm unter dem Gewicht der Waffe — Un¬ 
lustgefühl, vermehrt durch Trübungen beim Zielen! — Die Willens¬ 
kraft muß trotz aller UnlustgefUhle den Schützen zum ruhigen 
Abziehen kommen lassen. 

Dieses Abziehen aber ist wieder ein überaus wichtiges Agens 
psychischer Vorgänge (Punkt 45 der Schieß Vorschrift, siehe oben), 
und ich glaube, wir können auch experimentell mit entsprechenden 
Apparaten diese Tätigkeit auf ihre psychologische Bedeutung unter¬ 
suchen. Wir sagen bei der Schießausbildung oft zu unseren 
Schülern: »man darf gar nicht wissen, wann der Schuß losgeht«. 
Das soll heißen, der Schutze soll die größte Aufmerksamkeit auf 
das Zielen richten, und unterdessen soll der Zeigefinger, gleichsan* 
dem Schützen selbst unbewußt, sich stetig weiterkrümmen, so 
daß der Knall des Schusses gewissermaßen überraschend kommt. 

T/»h hin ff n anll* T nl A «V __ ltAnV^AllAn An aV\ «VtMSh A««t A AaIaL 


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408 


Meyer, 


die doch wohl erstes Charakteristikum der Triebhandluag ist, liegt 
hier bis zu einem gewissen Grade vor. Das Abziehen eignet sich 
auch dazu, nach und nach mechanisiert zu werden, da es kaum 
Modifikationen erfährt und bei jedem Schuß annähernd in der¬ 
selben Weise vor sich gehen soll, im Gegensatz z. B. zum Zielen. 

Haben wir nun eine Triebhandlung im Abziehen vor uns oder 
wenigstens eine dem Mechanisiertwerden zuneigende Willenshand¬ 
lung, so muß doch wohl auf mechanischem Wege dafür ge¬ 
sorgt werden können, daß dieser Vorgang möglichst un¬ 
abhängig von störenden Reizen in allen Einzelfällen 
etwa gleichmäßig verläuft, es muß die Mechanisierung, die 
bisher nur durch Gewöhnung geschieht, durch besondere, geeig¬ 
nete Vorkehrungen oder Apparate beschleunigt werden können. 

Wenn ich den rechten Zeigefinger an den Abzug bringe, 
Druckpunkt nehme und durchziehe, werde ich mir dreier 

Arten von Vorgängen be¬ 
wußt: 

Druckempfindungen, 
Lageempfindungen, 
Raumvorstellungen. 
Die Stärke des Druckes, 
den der Schütze ausüben 
muß, um Druckpunkt zu be¬ 
kommen , kann festgestellt 
und zum Ausdruck gebracht 
werden, wenn wir (Figur 6) 
ausfindig machen, wieviel Gewicht wir bei g auflegen müssen, 
damit der Abzug bis »Druckpunkt< zurtickbewegt wird. Voll¬ 
ständig einwandfrei und richtig ist zwar diese Feststellung nicht 
Die Reibung der Rolle mit ihrem Lager und der Schnur auf der 
Rolle sind z. B. Fehlerquellen, auch wird hier der Druck auf den 
Abzug A in einem Punkte P ausgeübt, während beim Schließen 
der Finger vermittels einer Fläche drückt. Doch wird das Er¬ 
gebnis wohl immerhin zu brauchen sein. Genauer kann man 
möglicherweise die Größe des Druckes mit Hilfe einer Feder- 



Fig. 6. 


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Experim. Analyse psych. Vorgänge beim Schießen mit der Handfeuerwaffe. 409 

Wie groß der zum Lösen des Schusses nötige Druck ist, läßt sich 
mit der beschriebenen Vorrichtung ebenfalls feststellen. Bei der 
Verstärkung des Druckes, die der Schütze mit seinem Zeigefinger 
ausüben muß, werden nach meiner Beobachtung mehrere Unter¬ 
schiedsschwellen überschritten; man hat mehrfach die Empfindung: 
»jetzt eben ist der Druck stärker geworden, als er erst war, er 
genügt aber, noch nicht, du mußt ihn noch verstärken*. Der 
Moment des Schusses fällt dabei durchaus nicht immer mit 
dem Moment einer Schwellenüberschreitung zusammen. Solcher 
Überschreitungen glaube ich meist zwei, manchmal drei, selten 
eine — je nach der Art der Waffe — erkannt zu haben. 

Wenn man findet, daß hier das Web ersehe Gesetz gilt und 
wenn man die erwähnten Druckmessungen ausgeführt hat, so 
könnte man vielleicht feststellen, wie hart der Fabrikant den Druck¬ 
punkt der Waffe machen kann und darf, damit sich der Schuß 
weder zu schwer, noch zu leicht löst. Auch wäre die Frage zu 
erörtern, ob man nicht besser Waffen baut, an denen das Ab¬ 
ziehen einem anderen Finger zufällt. Ich kannte einen Schützen, 
der es vorzog, mit dem Mittelfinger abzuziehen. 

Die Fläche am Zeigefinger, die beim Abziehen mit dem Abzug 
in Berührung kommt, ist ziemlich umfangreich und wird Punkte 
verschiedener Empfindungsgebiete umfassen. Es wird nötig sein 
festzustellen, wie diese Punkte verteilt sind. Ich glaube bemerkt 
zu haben, daß die innere Oberfläche des zweiten Zeigefinger¬ 
gliedes nur Druckempfindungen zeigt, während der Übergang 
zwischen erstem und zweitem Glied, die innere (Beuge-) Seite des 
ersten Gelenkes auch Schmerz- und Wärmepunkte enthält. Es 
wird also beim Abziehen ein Komplex von Empfindungen 
auftreten. 

Ich gehe jetzt darauf aus, die Räume zwischen den beim 
Vermehren des Druckes zu überschreitenden Unter¬ 
schiedsschwellen zu verkleinern und dadurch der Gefahr 
vorzubeugen, daß der Schütze über dem Zielen das Abziehen ver¬ 
gißt (darüber weiter unten S. 412 f. noch mehr). Wenn wir jenen 
Konmlex von Emnfindun?en zerlegen könnten, derart, daß zwei 

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410 


Meyer, 


versehen (Figur 7), so werden, wenn der Abstand der Warzen 
voneinander größer ist als die Kaumschwelle des Tastsinns an 
dieser Stelle des Fingers, anstatt des genannten Komplexes von 
Empfindungen zwei gesonderte Druckempfindungen gespürt (neben 
einer Reihe anderer, mehr zurücktretender Empfindungen, da ja 
der Finger nicht nur an den beiden Warzen drückt, was man aber 
auch herbeiführen könnte). Diese beiden gesonderten Druck¬ 
empfindungen werden nicht gleich stark sein, und wenn sie es 
in einem einzelnen Moment des Abziehens doch einmal sein sollten, 
so werden sie doch sicher nicht gleich stark bleiben. Es wird 
also dem Schutzen, wenn er den Druck des Zeigefingers verstärkt, 
nicht sowohl der stärkere Druck an sich, als vielmehr die Differenz 
zwischen den beiden durch die Warzen verursachten Druck¬ 
empfindungen zum Bewußtsein kommen. Nennen wir die beiden 

Warzen a und b und 
bezeichnen die beim 
Nehmen des Druck¬ 
punktes an ihnen er- 
zeugtenDruckempfin- 
dungen mit Da und 
D b, so wird bei Ver¬ 
stärkung des Druckes 
wahrscheinlich zuerst 
an einer der Warzen, 
Fig. 7. z. B. a, die Schwelle 

überschritten werden 

und die dann dort eintretende Druckempfindung heiße D an. 
Dieser Moment kommt dem Schützen zum Bewußtsein, und zwar 
nicht nur das Überschreiten der Schwelle von Da zu Da -f- n , 
sondern auch die Differenz zwischen D a -f- n und der bei b in 
diesem Moment nooh herrschenden Empfindung D b. Diese Differenz 
wird als verschieden von der vorhergehenden zwischen D a und D b 
empfunden, das Überschreiten der Schwelle wird auf diese Weise 
vielleicht in verstärkter Weise bemerkt. 

Erhöht sich nun der Druck noch weiter, bo, denke ich mir, 
wird ein Moment eintreten, wo bei b die Schwelle überschritten 



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Experim. Analyse psych. Vorgänge beim Schießen mit der Handfeuerwaffe. 411 


aus denen keine gesondert hervortritt, die Schwelle über¬ 
schritte. 

Ob meine Hoffnung, daß es auf diese Weise schneller gelingen 
wird, die Willenshandlung des Abziehens zu mechanisieren, zu 
kühn ist, das zu entscheiden sei dem berufenen Psychologen und 
dem Experiment überlassen. Fände die Psychologie ein Mittel, 
den vielgeplagten Schießlehrern gerade diesen Unterricht zu er¬ 
leichtern, so wäre schon dadurch viel gewonnen. 

Man könnte sich nun noch den Fall denken, daß bei a der 
Druck beim Zurückführen des Zeigefingers sich verstärkt, während 
er sich bei b infolge törichter Hand- und Fingerhaltung verringert. 
Das würde unseren Wünschen zuwider sein. Doch würde dem 
wohl der Waffenkonstrukteur Vorbeugen können, indem er den 
Abzug stärker geschweift herstellt und die Warzen in der tiefsten 
Schweifung anbringt, so daß der sich zurückbewegende Zeige¬ 
finger unter allen Umständen einen stets wachsenden Druck gegen 
beide Warzen ausüben muß. 

Oben war gesagt, daß außer der Druckempfindung auch Lage¬ 
empfindung und Raumvorstellung beim Abziehen sich geltend 
machen. Von dem Moment des erreichten Druckpunktes an bis 
zum Lösen des Schusses legen der Abzug und die von ihm be¬ 
wegten Teile noch einen, wenn auch geringen Weg zurück. Die 
Lage des Fingers in den einzelnen Momenten wird dem Schützen 
bewußt, ich glaube parallel mit dem Bewußtwerden der Über¬ 
schreitung der Druckempfindungsschwelle. Deutlicher aber noch 
als die Lage des Fingers wird ihm die Lage des Abzugs selbst 
bewußt: die minimalen Strecken, die er nach rückwärts zurück- 
legt, kommen mir beim Schießen voll zum Bewußtsein, ich habe 
das Bild des Abzugs innerlich vor mir, aber eigentümlicherweise 
weniger die Schweifung, an die sich der Finger legt, als den 
äußerlich nicht sichtbaren, in Figur 2 punktierten Teil. Jemandem, 
der noch nicht oft auseinandergenommene Gewehre und einzelne 
Gewehrteile gesehen hat, wird es wohl nicht so gehen. 

Ob man den psychischen Erscheinungen beim Abziehen experi¬ 
mentell besser näher kommt, wenn man sie als Ergebnisse von 

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412 


Meyer, 


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Daß die Arbeit des Abziehens Stoff genug für psychologische 
Untersuchungen gibt, hoffe ich gezeigt zu haben. Es liegt viel¬ 
leicht noch in sehr weitem Felde, daß darüber Arbeiten zustande 
kommen, ich könnte daher hier schließen. Es liegt mir aber noch 
eine für die Praxis äußerst wichtige Frage am Herzen, deren Be¬ 
handlung auf experimentell-psychologischem Wege möglicherweise 
ebenfalls die Arbeit des Schießlehrers in dankenswertester Weise 
erleichtern könnte. Ich meine die gegenseitige Beeinflussung 
des Zielens und Abziehens. 

Unsere jungen Soldaten pflegen Zielen und Abziehen, jedes für 
sich, meist schnell und gut zu lernen. Sobald aber beides vereinigt 
wird, besonders aber, sobald eine scharfe Patrone im Laufe steckt 
und die Sorge um das Ergebnis des Schusses sich geltend macht, 
stellen sich die gröbsten Fehler ein. Man beobachtet sehr oft, daß 
der Schütze gut zielt 1 ), dabei aber die Arbeit des Abziehens ver¬ 
gißt. Nach den bisherigen Ausführungen darf ich vielleicht sagen: 
das Abziehen ist nicht genügend mechanisiert. Nachdem er nun 
einige Zeit gezielt hat, fällt es ihm ein, daß er ja abkrümmen muß, 
gleichzeitig aber macht sich auch die Ermüdung des linken Armes 
bemerkbar. In der Besorgnis, der Arm könnte versagen, die 
Schwankungen könnten zu groß werden, vielleicht auch mit dem 
Wunsche, einen Moment eben gelungenen guten Zielens nicht un¬ 
benutzt vorübergehen zu lassen, beschleunigt der Schutze das Ab¬ 
ziehen, »reißt* oder »muckt« und bringt dadurch die Waffe voll¬ 
ständig aus der richtigen Lage. 

Oder umgekehrt: der Schütze richtet seine Aufmerksamkeit 
völlig auf das Abziehen (auch hier ist das Abziehen ungenügend 
mechanisiert, sonst genügte geringere Aufmerksamkeit) und ver¬ 
nachlässigt darüber das Zielen. Er kann dabei anfänglich die 
Visierlinie tadellos auf das Ziel gerichtet haben, er vergißt aber 
infolge der ausschließlichen Aufmerksamkeit auf das Abziehen, daß 
er während des Abziehens weiterzielen muß. Er blickt nur noch 
oberflächlich Uber Visier und Korn hin, er ist sich nicht ständig 
bewußt, ob das Korn richtig in der Kimme erscheint, ja es kommt 


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Experim. Analyae psych. Vorgänge beim Schießen mit der Handfeuerwaffe. 413 


Ich sage mir non: sobald dem Schützen bewußt wird, daß seine 
Visierlinie den Haltepunkt richtig trifft, so ist das der Reiz, der 
den Willens Vorgang des Abziehens erzeugt. Möglicherweise kann 
man nun für ängstliche, willensschwache Leute einen Apparat kon¬ 
struieren, der beides, den auslösenden Reiz (richtiges Zielbild) und 
die Handlung, die darauf folgen soll (richtiges Durchziehen), genau 
so wie sie ausgeführt werden muß, künstlich zuwege bringt. Ohne 
eine solche Vorrichtung muß der Lehrer in oftmaliger ermüdender 
Wiederholung dem Schüler zeitraubende Beschreibungen geben, wie 
Zielen und Abziehen nebeneinander hergehen, hat aber außer der 
doch ziemlich trügerischen Beobachtung des Schützen keinen An¬ 
halt, ob dieser alles begriffen hat und richtig ausführt. Ich denke 
mir den Hergang in großen Zügen etwa wie folgt: 

Der Schütze wird angewiesen, an dem Apparat, der Kolbenhals 
und Abzug wie das Gewehr besitzt (vielleicht läßt sich auch dieses 
selbst verwenden), zuzufassen wie an der Waffe selbst. Er muß 
ferner in eine Röhre hineinblicken, in der das Bild des richtig in 
der Kimme stehenden Kornes sichtbar ist. Durch eine besondere 
Vorrichtung kann man ein Miniaturbild der Scheibe derart in der 
Röhre sichtbar machen, daß der Beschauer annähernd denselben 
Eindruck empfängt wie beim Zielen auf die richtige Scheibe. So¬ 
bald dieses Bild erscheint, wird durch eine am Abzug angebrachte 
besondere Vorrichtung der Zeigefinger gezwungen, diejenige Be¬ 
wegung auszuführen, die beim sachgemäßen Abziehen nötig ist. Hier 
muß also der BewegungsVorgang dem Reiz folgen, und ich hoffe 
durch diese Einübung zu erreichen, daß die Aufmerksamkeit des 
Schützen in richtiger Weise zwischen Zielen und Abziehen verteilt 
wird. 


Ich bin mir wohl bewußt, daß die vorstehenden Ausführungen 
psychologisch den Dilettanten verraten und den Anforderungen 
exakter Wissenschaftlichkeit nicht genügen. Das ist bei jemandem, 
dem bisher die Psychologie nur Nebenbeschäftigung sein konnte, 
wohl begreiflich. Vervollkommnung bleibt anzustrebeu. Die be¬ 
handelten Fragen — und noch andere später — müssen aber 

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Uber die Methoden der Psychologie. 

Von 

G. Anschütz (München). 


In der Betitelung der vorliegenden Untersuchung liegt eine 
bewußtermaßen ausgesprochene Beschränkung. Indem nämlich 
»über Methoden« gehandelt werden soll, scheidet die Frage nach 
allen Einzelheiten und den verschiedenen Formen, deren sich die 
psychologische Forschung bedient, aus, und unsere Aufgabe be¬ 
stimmt sich vielmehr in der Heraushebung fundamentaler und 
prinzipieller Untersuchnngsweisen, welche auf Grund einer kurzen 
Darstellung eine gegenseitige Abwägung und Würdigung erfahren 
sollen. 

Die Beschränkung des Stoffes ist hauptsächlich durch zwei 
Gesichtspunkte motiviert. Einerseits müssen wir uns der Tatsache 
bewußt sein, daß sich in der Psychologie trotz ihrer erstaunlichen 
Fortschritte vor allem in Sachen des Experimentes während der 
letzten Dezennien eine ungeheure Zahl ungelöster und zum Teil 
kaum hinreichend aufgestellter Probleme findet — es sei nur an 
das dunkle Gebiet des Unbewußten erinnert —, und daß schon 
aus diesen Erwägungen heraus eine allgemeine und eingehende 
Methodik, wenn auch nicht mit unüberwindlichen, so doch mit 
beträchtlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hätte. Auch ist es 
eine häufig zu beobachtende, auch von Wundt 1 ) betonte Tatsache, 
daß man sich in einer Wissenschaft erst relativ spät der Prinzipien 
bewußt wird, auf welche die Methoden gegründet sind, und daß 
daher die Ausbildung dieser letzteren oft sogar von zufälligen An¬ 
lässen abhängig ist. Andererseits aber kann mit Recht geltend 
gemacht werden, daß zum Zweck einer allgemeinen Abwägung 


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Über die Methoden der Psychologie. 


415 


Betrachtung und Würdigung der naturwissenschaftlichen Methoden 
ein genaues Eingehen auf alle einzelnen Verfahren der Physik, 
Chemie, Mineralogie, Zoologie, Botanik usw. nicht unerläßlich ist, 
sondern im allgemeinen der Hinweis auf einzelne charakteristische 
Weisen der Forschung genügen wird. 

Auf der anderen Seite nehmen die folgenden Erörterungen an 
einer Beschränkung nicht teil, die man sich bei der Besprechung 
der psychologischen Methoden häufig auferlegt hat, indem man 
diese lediglich im Sinne der psychophysischen auffaßte, ln dieser 
Richtung gehen verschiedene Arbeiten von Wundt 1 ), vor allem 
aber Lehmanns Lehrbuch der psychologischen Methodik. Da¬ 
gegen zeigt sich bei Münsterberg 2 ) die auch von uns vertretene 
weitere Auffassung. Jedenfalls läßt sich auch die Berechtigung 
jener engeren Fassung bestreiten. Denn die Psychologie hat es, 
so sehr auch im einzelnen die Ansichten Uber Ziele und Aufgaben 
derselben divergieren mögen, mit Bewußtseinserscheinungen oder 
Bewußtseinstatsachen zu tun, von denen keine unbefangene Be¬ 
trachtung behaupten wird, daß sie sich in den gegenseitigen Ab¬ 
hängigkeiten von Bewußtsein und Körperwelt oder gar in den 
gesetzmäßigen Beziehungen zwischen Reiz und Empfindung, mit¬ 
hin im engeren Gebiete der Psychophysik erschöpfen. Vielmehr 
wird das Gebiet der psychologischen Methoden so weit reichen, 
wie überhaupt von Bewußtseinstatsachen und deren Erforschung 
geredet werden kann. Wie weit diese letztere im Sinne einer 
exakten möglich sei, diese Frage kann zwar jederzeit aufgeworfen, 
nicht aber von vornherein in irgendeinem Sinne entschieden werden. 
Die folgenden Betrachtungen aber wollen den Versuch machen, 
auch zur Lösung jenes Problems einige Gesichtspunkte aufzustellen. 


I. Allgemeines über wissenschaftliche Forschung. 

Zum Ausdruck unseres Bewußtseinslebens sowohl als auch zu 
solchen Äußerungen desselben, die die Form von Urteilen an¬ 
nehmen, bedienen wir uns mehr oder minder bestimmter Begriffe, 

/I ATI n /I AM n« A \T J Am /] A fl A «**« 4>V ATT aV» Jam A TT ffn CI CM ATT J A Ol TV Oll 


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416 


G. Anschütz, 


was der eine meint und der andere auffaßt, nicht immer deckt, 
daß vor allem bei allen wissenschaftlichen Untersuchungen oft 
eine erstaunliche Diskrepanz in dieser Hinsicht zutage tritt, dürfte 
eine allgemein zugestandene Tatsache sein. Aus ihr aber erwächst 
für jeden, der sich der Begriffe zur Darstellung von Tatsachen 
bedient, eine primäre oder prinzipielle Aufgabe, nämlich eine Ab¬ 
grenzung gewisser Begriffe, welche zur Aufstellung und Beurteilung 
von Tatsachen dienen sollen. 

Wenn wir der Klarheit halber nicht von irgendeinem weitab¬ 
liegenden und erkenntnistheoretischen, sondern von einem mög¬ 
lichst geläufigen und in seinem allgemeinen Umfange annähernd 
bestimmten Begriffe ausgehen wollen, so wählen wir den des 
wissenschaftlichen Denkens, mit dem jedermann einen bestimmten 
Sinn verbinden wird. Unter dieser Bezeichnung verstehen wir 
diejenige Art des Denkens, welche jenen ausgeprägten Charakter 
trägt, den wir auch in Bezeichnungen wie Forschen und Unter¬ 
suchen zum Ausdruck bringen. Das wissenschaftliche Denken 
steht dann in deutlichem Gegensatz einerseits zu allen unbe¬ 
stimmten und gefühlsmäßigen Bewußtseinszuständen, andererseits 
aber auch zu jenem Überlegen und Bedenken, welches sich auf 
äußere Umstände und Ereignisse des praktischen Lebens bezieht. 
Ob und wie weit wissenschaftliches Denken notwendig oder zu¬ 
fällig mit Vorstellungen verbunden sei, die Frage kann an dieser 
Stelle unerörtert bleiben, und wir begnügen nns mit seiner Cha¬ 
rakteristik insofern, als wir an die Tätigkeiten des Kombinierens 
und Trennens, speziell des Abstrahierens erinnern und weiterhin 
von ihm sagen, es sei diejenige Art oder Stufe des Denkens über¬ 
haupt, welche einer geistigen Erfassung von Gegenständen so nahe 
als möglich zu kommen bestrebt sei. 

Im Begriff des wissenschaftlichen Denkens liegen für uns ge¬ 
nau genommen drei Begriffe eingeschlossen. Der eine ist der des 
Gegenstandes, dem wir uns zum Zwecke seiner Erforschung zu¬ 
wenden und den wir zu erkennen streben. Daß die Gegenstände 


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Über die Methoden der Psychologie. 


417 


des Begriffes bewegen. Anf einer solchen Betrachtung kann ein 
ganzes System von Wissenschaften aufgebaut werden, was z. B. 
von Lipps 1 ) bereits geschehen ist. Der zweite Begriff ist als 
solcher ein sekundärer zu nennen, insofern er nämlich auf einer 
Art von Zurttckwendung des Denkens auf uns selbst beruht. Das 
ist der des denkenden Subjektes, welches die wissenschaftliche 
Untersuchung treibt und welches so in eigenartiger Weise Subjekt, 
und Objekt zugleich sein kann. Der dritte endlich ist der der 
Beziehung, die zwischen dem denkenden Subjekt und dem ge¬ 
dachten Gegenstand besteht und die eben im wissenschaftlichen 
Denken eine spezielle Form erhalten hat. 

Wenn man die Tatsache beachtet, daß jeder Begriff ein Stück 
des Tatsächlichen fassen oder wiedergeben will, mag man nun 
bei dem Tatsächlichen an die Welt der äußeren physikalischen 
Dinge oder an die Bewußtseinserlebnisse, die Objekte der psycho¬ 
logischen Untersuchung, oder endlich an die der mannigfachen 
Eigenarten von Gegenständen, die kategorialen Bestimmtheiten, 
gegenständliche Gefühlsqualitäten und andere mehr denken, deren 
Untersuchung man nach dem Standpunkte der eigenen Über¬ 
zeugung der Erkenntnistheorie oder der Psychologie zuschreiben 
wird, so drängt sich bei einer eingehenden Beobachtung ein eigen¬ 
artiger Umstand auf, den man als eine gewisse Inadäquatheit der 
Begriffe gegenüber dem Wiedergegebenen bezeichnen kann und 
der sich in manchen Fällen weniger, in anderen aber sehr deut¬ 
lich offenbart. Diese Tatsache läßt sich damit deuten, daß die 
Zahl der Begriffe stets nur eine begrenzte sein kann, wenn der 
Begriff überhaupt seinen Zweck erfüllen soll, während doch die 
Welt des Tatsächlichen für uns eine unbegrenzte ist. 

Vor allem ist hier an die Tatsachen des Bewußtseinslebens, 
die Objekte der psychologischen Forschung, gedacht. Wenn in der 
Psychologie z. B. die Rede von Denken, Fühlen, Wollen, Emp¬ 
finden und Vorstellen ist und wenn es sich um Gedanken, Wil¬ 
lensakte, Empfindungen, Vorstellungen handelt, so ist bereits im 
Gesamtgebiete des Psychischen eine genau abgegrenzte begriff¬ 
liche Scheidung vorgenommen, welche zwar durch objektive Tat- 


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418 


G. Anschtitz, 


für uns zumeist in den Gefühlen gewisse unklare, halb bewußte, 
vielleicht unbewußte oder nur teilweise zu fragmentarischer Be¬ 
wußtheit aufflackernde Gedanken. Es finden sich in ihnen ferner 
gewisse Erlebnisse des Wollens, die von den undeutlichsten Stufen 
dumpfer Instinkte bis zu den klarsten und entschiedensten Wil¬ 
lensakten variieren. Das gesamte psychische Leben aber darf 
niemals als ganz frei von Empfindungen, Wahrnehmungen oder 
Vorstellungen gelten, und wenn eine eingehende Betrachtung auch 
ein vorstellungsloses Denken finden mag, so kann dies nur so ge¬ 
meint sein, daß das Denken als solches in seiner begrifflichen 
Isolierung von dem Vorstellen verschieden sei, während doch eine 
Betrachtung, die außer jenem vorstellungslosen Denken auch auf 
das Gesamte des Bewußtseins blickte, finden würde, daß sich 
stets irgendwo, wenn auch minimale Fragmente von Vorstellungen 
finden, die freilich dem Denken gegenüber als heterogen gelten 
müssen. Daß aber ein Denken außer in seiner begrifflichen Iso¬ 
lierung auch in einer tatsächlichen vorkäme, daß es also aus dem 
Zusammenhänge des Gesamtbewußtseinslebens vollkommen heraus¬ 
lösbar sei, wird nicht als Tatsache, sondern höchstens von einer 
spekulativen Betrachtung als Hypothese aufgestellt werden können. 
Will man aber geltend machen, daß eine reine Betrachtung der 
Tatsachen andere Elemente als Denkakte gelegentlich im Be¬ 
wußtsein nicht auffinde, so läßt sich gegen diese Phänomeno¬ 
logie ein wenden, daß sie von vornherein Gegenstände als isoliert 
betrachte, die in der Tat nicht isoliert seien und bei dieser Be¬ 
schränkung auf eine Betrachtung en face etwas ähnliches leiste 
wie ein Feldherr, der keine Patrouillen aussende und vielmehr 
mit dem Fernrohr die Länge des Flintenlaufes bei seinen Feinden 
untersuche. 

Der Behauptung, daß Begriffe die Tatsachen des Bewußtseins- 
lebens nur bis zu gewissem Grade fassen, könnte man vorwerfen, 
sie gebe vor, die im Begriff gefaßten Gegenstände mit den noch 
nicht in ihm gefaßten zu vergleichen; dabei aber fasse sie ja 
diese auch im Begriffe, und zwar in willkürlicher Weise, da sie 
später eine Differenz herausfinde. Aber dieser Einwurf ginge von 

n TiKqtiti aaannrt \7 Avnnaonlffii«« n na ^7-rrr ckfkVr Ck ni n oa n>A_ 


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419 


Über die Methoden der Psychologie. 

die Tatsache übersehen, daß Begriffe sehr wohl mit den Erleb¬ 
nissen zum Zwecke des Vergleichens zusammengestellt werden 
können, die in jenen gefaßt werden sollen. Daß aber Begriffs¬ 
inhalte und Erlebnisse direkt verglichen, oder daß Begriffsinhalte, 
wenn sie Bewußtseinserlebnisse zu fassen vorgeben, direkt an den 
Erlebnissen gemessen werden können, ein Messen, das sich in 
einer Kombination von Erleben und Denken vollzieht, dürfte schon 
darin zugegeben sein, daß man überhaupt jemals Begriffe an 
Bewußtseinstatsachen mißt und sie diesen entsprechend zu ge¬ 
stalten sucht. 

Wenn man sich in Kürze über den Begriff der wissenschaft¬ 
lichen Forschung Klarheit verschaffen will, so werden schließlich 
so allgemeine Angaben wie die, es sei die höchste Stufe des DenkenB 
und könne in einem Kombinieren und Trennen näher bezeichnet 
werden, nicht genügen. Wenn Aristoteles l ) auf die fxia /.aüölov 
jceq'i t üv o/iioitov vrtöXrjipig hinweist und weiter sagt, daß es 
die Wissenschaft nicht nur mit einfachen Konstatierungen (an), 
sondern auch mit der Frage nach dem »Warum?« (dion), den 
Gründen [ctQxai) zu tun habe, wenn Chr. Wolff 2 ) sie eine Fertig¬ 
keit des Verstandes nennt, alles, was man behauptet, aus unwider- 
sprechlichen Gründen unumstößlich darzutun, und wenn endlich 
Kant 3 ) ihre Aufgabe in der Auffindung apodiktischer Gewißheit 
sieht, so sind diese Angaben imstande, den allgemeinen Sinn und 
die allgemeine Aufgabe der Wissenschaft klarzulegen. In ähn¬ 
licher Richtung geht auch die Ansicht von Husserl 4 ), der von 
der Einheit des Begründungszusammenhanges spricht, in dem mit • 
den einzelnen Erkenntnissen auch die Begründungen selbst und 
mit diesen auch die höheren Komplexionen von Begründungen, 
die wir Theorien nennen, eine systematische Einheit erlangen. 
Dagegen muß man solchen Definitionen, wie sie von H. Cor¬ 
nelius 5 ), Ostwald 6 ) und Poincard 7 ) gegeben sind, einiges Mi߬ 
trauen entgegenbringen. Die beiden ersteren legen auf die Be¬ 
schreibung das Hauptgewicht und scheinen somit ein wesentliches 

1) Met. I. 1, 981 a 6. 

2) Vera. Ged. v. d. Kr. d. m. Verst. § 2. 

3) Met.-Auf. d. Nat.-W. 


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420 


O. Anschütz, 


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Moment zu wenig zu beachten. Dagegen zeigt Poincares hierauf 
bezüglicher Discours in gewissem Sinne eine scharfsinnige Be¬ 
obachtung. So sagt er: »Tout ce que cree le savant dans un 
fait, c’est le langage, dans lequel il l’enonce.« Darin liegt der 
zweifellos richtige Gedanke ausgesprochen, daß alle wissenschaft¬ 
liche Forschung keineswegs eine willkürliche Leistung ist, sondern 
daß sie objektiv, d. h. durch die Eigenart der untersuchten Ob¬ 
jekte, bedingt ist. Wenn wir also auf die soeben kurz angeführten 
Angaben der genannten Autoren Rücksicht nehmen, so werden 
wir in der wissenschaftlichen Forschung jedenfalls ein solches 
Denken zu erblicken haben, welches aus einer Summe von Er¬ 
fahrungstatsachen, deren notwendige Gründe es aufsucht, allge¬ 
meine, für uns absolut gewisse Sätze zieht und diese zu einheit¬ 
lichen, systematischen, von nebensächlichen Elementen freien 
Ganzen verarbeitet, wobei diese gesamte Tätigkeit sowohl in 
seiner allgemeinen Eigenart als seinen einzelnen Formen ein durch 
die Objekte bestimmtes ist. In kürzerer Form kann man das 
wissenschaftliche Denken dadurch kennzeichnen, daß man es eine 
systematische und methodische Erforschung der Objekte und ihrer 
Gesetzmäßigkeiten nennt. 

Das Ziel aller wissenschaftlichen Forschung kann man somit 
in der allgemeinen Auffindung von Tatsachen und Gesetzen sehen. 
Mit dieser Behauptung ist zugleich aus der Wissenschaft alles, 
was Ausnahmen zuläßt und somit als Regel anzusehen ist, aus¬ 
zuscheiden. Allerdings wird man das Postulat aufstellen, daß 
letzten Endes auch alle Regeln auf Gesetze zurückftihrbar sein 
werden, indem man behauptet, daß in der Regel eine sehr hohe 
Anzahl von Gesetzen als wirksam gedacht werden müsse. Von 
diesem Gesichtspunkte aus werden dann auch Regeln mit ins Ge¬ 
biet der Wissenschaft fallen können. Vor allem wird dies da der 
Fall sein, wo wir aus allgemeinen, zunächst nur auf Grund von 
Statistiken als Wahrscheinlichkeiten anzusehenden Tatsachen solche 
von allgemeinem Charakter zu finden suchen. 

Alle wissenschaftlichen Tatsachen und Gesetze aber stehen 


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Über die Methoden der Psychologie. 


421 


Qualitäten vereinen und ausschließen«, stets auch eine Tatsache 
mitwirken läßt, »welche immer wieder auf vorhergehende hinweist 
und so zu einer Notwendigkeit aus der ursprünglichen Tatsache« 
gelangt, »mit der sich außer mit der gesetzlichen Notwendigkeit 
alles wirkliche Geschehen zusammensetzt«. Solche Betrachtungen 
leiten uns aber von dem allgemeinen Begriff wissenschaftlicher 
Forschung zu dem etwas spezielleren der Methode hinüber, der 
oft 1 ) sogar mit jenem identisch gesetzt wurde. Unter Methode 
verstehen wir ein solches Vorgehen des wissenschaftlichen Denkens, 
welches in bestimmter Richtung auf ein bestimmtes Ziel geht. 
Freilich muß man zugestehen, daß auch Abweichungen von jener 
Hauptrichtung Vorkommen können; aber wo sie stattfinden, da 
ordnen sie sich stets der eigentlichen konsequent verfolgten Rich¬ 
tung unter. Auf solche Weise entsteht das Planmäßige oder 
Systematische, welches jeder Methode eigen ist, und ihr einheit¬ 
licher Charakter. Wenn wir von einigen früheren Definitionen der 
Methode absehen, so bezeichnet sie Descartes 2 ) als die »Ordnung 
und Disposition des Materials« und sagt, daß im methodischen 
Vorgehen verwickelte und dunkle Sätze stufenweise auf die ein¬ 
facheren zurückzuführen seien und daß von der Intuition dieser 
dann zu den übrigen Sätzen fortzuschreiten sei. Ähnlich sieht 
Pascal 3 ) ihre Aufgabe darin, »a definir tous les termes et ä 
prouver toutes les propositions«. In anderer Art definiert Kant 4 ), 
wenn er sie die »Art und Weise« nennt, »wie ein gewisses Ob¬ 
jekt, zu dessen Erkenntnis sie anzuwenden ist, vollständig zu er¬ 
kennen sei«. Zumeist aber werden uns nicht genaue Definitionen, 
sondern einzelne Arten von Methoden angeführt. Herbart 5 ) 
scheint, wenn er sie die »allgemeine Angabe der Art und Weise, 
aus Prinzipien etwas abzuleiten«, nennt, nur die sogenannte De¬ 
duktion im Auge zu haben. 

Bei vielen wird der Begriff der Methode sehr weit gefaßt, 
so daß man unter ihm etwas mit dem Charakter bloßer Regeln 
Verwandtes einbegreift. So bemerkt Husserl 6 ), daß »alle 


1) Aristoteles, Pbys. I. 1, 184a 11. 


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422 G. Anßchlitz, 

Methoden, die nicht selbst den Charakter von wissenschaftlichen 
Methoden haben, entweder denkökonomische Abbreviaturen und 
Surrogate von Begründungen sind, die, nachdem sie selbst durch 
Begründungen ein für allemal Sinn und Wert empfangen haben, 
bei ihrer praktischen Verwendung zwar die Leistung, aber nicht 
den einsichtigen Gedankengehalt von Begründungen in sich 
schließen; oder daß sie mehr oder weniger komplizierte Hilfs¬ 
vorrichtungen darstellen, die zur Vorbereitung, zur Erleichterung, 
Sicherung oder Ermöglichung künftiger Begründungen dienen«. 
Alles methodische, d. h. konsequente und planmäßige Vorgehen 
kann man in eine gewisse Analogie zum Gesetz stellen, zumal 
die Methode eben zur Auffindung von Gesetzen dient und selbst 
in sich solche enthält. Gerade von diesem Gesichtspunkte aus 
betrachtet ist Husserls Begriff der Methode, der auch kompli¬ 
zierte Hilfsvorrichtungen einbegreift, sehr weit. Man täte besser, 
solche als bloßes Verfahren oder Vorgehen der eigentlichen Me¬ 
thode im engeren Sinne gegenüberzustellen. Der Hauptunterschied 
wäre der, daß das bloße Verfahren die geschlossene Einheitlich¬ 
keit der Methode in bezug auf Planmäßigkeit und vor allem auf 
innere Konsequenz nicht aufweist. Viele Verfahren könnte man 
rein praktische nennen und damit zum Ausdruck bringen, daß sie 
nur äußere, nicht aber wesentliche Hilfsmittel sind, daß sie sogar 
aus im einzelnen voneinander ganz unabhängigen Operationen aus¬ 
geführt werden können, denen der eigentliche innere Zusammen¬ 
hang fehlt und die sich dem Plane und dem methodisch-konse¬ 
quenten Vorgehen der wissenschaftlichen Forschung nur als gleich¬ 
sam unwesentliche Mittel zum Zweck unterordnen. Solche Weisen 
des Verfahrens können möglicherweise auch von jemand mecha¬ 
nisch eingelernt und bis zu gewissem Grade angewendet werden. 
Es fehlt ihnen aber das eigentliche Bewußtsein eines »Warum?«, 
das für jedes einzelne Glied den inneren Sinn sucht, und es kennt 
nur ein »Wozu?«, d. h. »zur Erreichung welches äußeren End¬ 
ergebnisses?«. Es ist insofern eine Art von Rezept, eine Mani¬ 
pulation nach einem gegebenen Schema; da aber in der Praxis 


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Über die Methoden der Psychologie. 


423 


Daß endlich Methode nicht solche schlechtweg ist, sondern 
daß sie stets in einer bestimmten Form, einer Art von Verkörpe¬ 
rung oder Konkretion auftritt, ist eine Tatsache, die mit der Dif¬ 
ferenzierung der verschiedenen Gegenstände zusammenhängt. So 
haben sich entsprechend den Objekten nicht nur ganz allgemein 
naturwissenschaftliche, mathematische, logische, erkenntnistheore¬ 
tische, psychologische Methoden herausgebildet, sondern auch im 
Zusammenhänge mit der Richtung, in der der Forschende verfährt, 
deduktive und induktive, analytische und synthetische Methoden. 
Wenn man zu diesen noch die genetische, experimentelle, demon¬ 
strative und reduktive Methode hinzufügt, so hat man im allge¬ 
meinen alle wesentlichen Arten von Methoden, die man mit mehr 
oder weniger Recht auch Grundarten nennen kann. Die genannten 
verbinden sich dann weiterhin zu den mannigfachsten Formen, die 
hauptsächlich der Scholastik zu verdanken sind. Will man end¬ 
lich auch der historischen Überlieferung ein gewisses Gehör 
schenken, so kann man als eine solche Betrachtungsweise, die 
freilich schon über das Gebiet der Wissenschaft hinausgeht, die 
metaphysisch-spekulative Methode anführen, die jedenfalls mit der 
einfachen Deduktion nicht identisch ist. 

Bevor wir aber von den allgemeinen Betrachtungen über 
Methode ins speziellere Gebiet der psychologischen übergehen, 
bedarf noch ein letzter, mit dem der Methode eng zusammen¬ 
hängender Begriff einer Würdigung, nämlich der der Voraus¬ 
setzung. Unter dieser Bezeichnung denken wir hier aber nicht 
an solche Voraussetzungen, wie sie etwa der Geometer in der 
Analysis macht, wenn er einmal annimmt, die Aufgabe sei gelöst. 
Andererseits aber ist auch nicht an Annahmen im Sinne Mei- 
nongs 1 ) gedacht, der unter diesen ein »Urteil ohne Überzeugung« 
versteht. Voraussetzung einer Wissenschaft ist vielmehr dasjenige, 
was diese bewußt oder stillschweigend als eine Art letzter Ge¬ 
gebenheit oder letzter Tatsächlichkeit, als letzte Grundlage ihres 
Gesamtsystems hinnimmt oder als hingenommen zugibt oder 
aufweist. So ist für die Naturwissenschaft dasie-rnffe die letzte 


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424 


6. Anschütz, 


Voraussetzungen und ihren näheren Eigenschaften nicht zu. Die 
Mathematik bat als eine solche letzte Voraussetzung, sofern sie 
Geometrie und Arithmetik ist, den Raum und die Zahl. Ftlr die 
Logik liegt ein analoges Element im Gegenstand. Die Psycho¬ 
logie endlich hat, wenn man sie als Bewußtseinswissenschaft faßt, 
das Bewußtsein als letzte Voraussetzung oder Gegebenheit; die 
experimentelle Psychologie speziell setzt auch das fremde Indi¬ 
viduum und sein Seelenleben voraus. Der enge Zusammenhang 
zwischen jenen Voraussetzungen und den Methoden der entspre¬ 
chenden Wissenschaft aber steht außer Frage. In der Natur¬ 
wissenschaft hängt das kausal-erklärende Element mit der Voraus¬ 
setzung der Materie, des objektiv Wirklichen, aufs engste 
zusammen. Bei anderen Wissenschaften trifft eine analoge Be¬ 
stimmung auf größere Schwierigkeiten, und wenn wir kurz als 
die mathematische Methode das mathematisch-kausale Erklären 
hinstellen, welches mit dem Demonstrieren, d. h. einem Rekurs 
auf die Fähigkeit, räumlich-anschaulich zu denken, verbunden ist, 
und ferner als Methode der Logik die Aufweisung der für unser 
abstraktes Denken evidenten Tatsachen in Anspruch nehmen, so 
sollen damit nur allgemeine, keineswegs aber erschöpfende An¬ 
gaben gemacht sein. Die Methode oder die Methoden der Psycho¬ 
logie aber sollen den Gegenstand der folgenden Untersuchungen 
bilden. 

Neben den letzten Voraussetzungen, die sich in jeder Wissen¬ 
schaft finden, müssen wir noch eine Reihe anderer Voraussetzungen 
anerkennen, die ebenfalls mit der Frage nach der Methode aufs 
engste verknüpft sind. Als Beispiele solcher kann die der Gesetz¬ 
mäßigkeit im Physischen und im Psychischen und in den Gegen¬ 
ständen der Mathematik und Logik gelten; dazu kommt diejenige 
der Erkennbarkeit solcher Gesetzmäßigkeiten. Eine Voraussetzung, 
die wieder einen andersartigen Charakter trägt, ist die, welche 
jede Induktion macht, wenn sie von einigen, vielleicht nur ganz 
wenigen Fällen auf alle in bestimmter Richtung überhaupt mög- 


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425 


Über die Methoden der Psychologie. 

in ihrem Wesen zu untersuchen, ist die Aufgabe der Erkenntnis¬ 
theorie. Dagegen kann sie nicht in das engere Gebiet einer Be¬ 
trachtung über die Methoden der Psychologie fallen. 

Diesen Voraussetzungen, denen für uns eine Art von Not¬ 
wendigkeit zukommt, stehen dann eine Menge von anderen 
gegenüber, die besser aus jeglicher Wissenschaft für alle Zeiten 
verbannt blieben. Das sind solche, die nicht notwendige, sondern 
zufällige sind und daher eine bedeutende Irrtumsquelle repräsen¬ 
tieren. Solche Voraussetzungen, die wir als subjektive jenen 
anderen als den objektiven gegenüberstellen können, finden sich 
leider in sehr hohem Maße noch in der Psychologie. Eine solche 
von typischem Charakter ist diejenige, daß der Einzelne mit Hilfe 
der Selbstbeobachtung imstande sei, in sich selbst die genaue und 
jedenfalls weitgehend auffindbare Grenze zwischen solchen Eigen¬ 
arten aufzufinden, die ihm als individuellem Subjekt überhaupt 
zakommen, und solchen, die ihm nur als bestimmtem Individuum 
eignen. Man muß daher den zahlreichen Anklagen, die gegen 
eine ausschließliche Verwendung jener subjektiven Methode in 
der Psychologie erhoben worden sind, bis zu gewissem Grade zu¬ 
stimmen. 

Wenn man nun von der Wissenschaft verlangt, sie solle 
voraussetzungslos sein, so kann dies lediglich im Sinne der letzt¬ 
genannten Voraussetzungen gemeint sein, und man kann sogar 
sagen, daß von dem Grade, in welchem sich die wissenschaftliche 
Arbeit der allgemeinen und notwendigen objektiven Voraussetzungen 
bewußt sei, die Klarheit in der Aufstellung und Abgrenzung der 
Problemstellungen und daher auch in den entsprechenden Beant¬ 
wortungen abhänge. Auf der anderen Seite aber kann die For¬ 
derung aufgestellt werden, daß auch die subjektiven Voraus¬ 
setzungen eine entsprechende Beleuchtung erfahren sollen. Nur 
so wird es möglich sein, ihre volle Bedeutung als Irrtumsquelle 
einzusehen und nach entsprechenden Weisen zu suchen, um ihren 
schädlichen Einfluß nach Kräften zu eliminieren. 




426 


6. Anschtitz, 


kaum mehr als psychologische Methode gilt, die jedoch noch vor 
kurzem als eine solche angesehen wurde, nämlich die spekulative, 
deren sich die ältere Psychologie, aber auch noch zum Teil die 
neue — man denke an Herbart, der der metaphysischen Be¬ 
trachtungsweise in der Psychologie neben der erfahrungsmäßigen 
und mathematischen eine grundlegende Bedeutung beilegte — be¬ 
dient hat. Heutzutage hat man diesem Moment gegenüber die 
empirische Betrachtung ganz entschieden als die einzig mögliche 
anerkannt, und auch Cohen 1 ) sagt, daß es sich nicht darum 
handeln könne, festzustellen, »womit in Wahrheit das Bewußtsein 
beginnt und worin es entspringt, da diese letzten Elemente stets 
hypothetische sind und bleiben, die kein mit Bewußtsein Operie¬ 
render auszugraben und festzustellen vermag«. Es gibt kaum 
einen schlimmeren Vorwurf für einen Psychologen, als den, er 
treibe Metaphysik. Charakteristisch ist in dieser Hinsicht die 
Art, wie sich Wundt 2 ) gegen derartige Vorwürfe von seiten Meu- 
manns wehrt, indem er sich in einer besonderen Abhandlung 
»Über empirische und metaphysische Psychologie« ausspricht. 
Überlassen wir aber die Behandlung jenes spekulativen Stand¬ 
punktes einer rein historischen Untersuchung und lassen als eigent¬ 
liche psychologische Methoden lediglich die empirischen, die in 
irgendeiner Weise auf Erfahrung fundierten, gelten. Diese Be¬ 
stimmung der psychologischen Methoden als empirischer ist aller¬ 
dings noch zu allgemein, und man könnte daran erinnern, daß 
auch jede naturwissenschaftliche Disziplin empirisch sei, daß aber 
die Psychologie nicht als Naturwissenschaft gelten könne. Es wird 
daher mit Rücksicht auf die Differenz in den Voraussetzungen 
jener beiden Wissenschaften die Methode der Psychologie in all¬ 
gemeiner Weise als die Empirie des Bewußt-Wirklichen bezeichnet 
werden können, während die naturwissenschaftliche als die des 
Dinglich-Realen anzusehen ist. 

Die Tatsache, daß das Bewußtsein und sein Umkreis, d. h. 
also der gesamte Wirklichkeitsbereich des schlechterdings Un¬ 
räumlichen und in der Weise des Bewußtseins Gegebenen die 

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427 


Über die Methoden der Psychologie. 


hin, nämlich auf die innere Wahrnehmung oder Selbstbeobachtung, 
die seit dem bekannten sokratischen yvio&i oavxöv durch die viel¬ 
fachen Angriffe und Diskussionen hindurch, welche besonders 
während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von seiten der 
emporblühenden Naturwissenschaft gegen sie geführt wurden, ihre 
Stellung als die eines prinzipiellen Mittels zur Erforschung der Tat¬ 
sachen des Seelenlebens bis in die Neuzeit herein behauptet hat. 

Die Streitfragen, die sich um ihre Charakteristik und ihren 
Wert erhoben haben, sollen hier nicht ausführlich zu Worte 
kommen; wir beschränken uns im wesentlichen auf die Her¬ 
vorhebung einzelner hervorstechender Momente. Zunächst be¬ 
darf bei der Würdigung der inneren Wahrnehmung der Um¬ 
stand einer besonderen Beachtung, daß dieselbe im engsten 
Konnex mit den Bewußtseinserlebnissen steht, denen sie sich 
später zum Zwecke einer Erforschung zuwendet, ja daß dieser 
enge Zusammenhang sogar ein Heraus wachsen derselben aus den 
Erlebnissen genannt werden kann. Der Tatsache, daß der später 
die innere Wahrnehmung Betreibende die betrachteten Gegenstände 
ursprünglich womöglich in seinem ganzen Bewußtseinsumfang 
selbst von innen her erlebt hat, ist nicht genug Gewicht beizu¬ 
legen. Die Gegenstände seiner Betrachtung sind ihm in einer 
allerunmittelbarsteu Weise gegeben; ja schon diese Bezeichnung 
einer unmittelbaren Gegebenheit wird den Tatsachen nicht zur 
Genüge gerecht. Man kann sogar sagen, daß der Betrachtende 
selbst in seinen Gegenständen gesteckt habe und sogar noch in 
ihnen stecke, daß er also mit seinen Objekten ein unmittelbar 
Eines sei, das er erst später durch die innere Wahrnehmung in 
seine Bestandteile auflöst. Dies unmittelbare Zusammen- oder 
Ineinandersein von Erlebnis und Erlebendem ist jedenfalls stets 
das Ursprüngliche und primär Vorhandene. Erlebnisse können 
sogar solche im vollen Sinne bleiben, ohne daß später irgend¬ 
welche Elemente von Reflexion oder Selbstbetrachtung hinzukämen. 
Hier liegt sogar eine ganz geläufige Tatsache vor. Jedermann 
kennt nicht nur das gedankenlose Vor-sich-hinträumen, sondern 

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6. Anßchütz, 


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der Malerei, vor allem aber in der Musik. Eben das Moment der 
Inspiration, von dem ja auch bei anderen, z. B. religiösen Dingen, 
so häufig die Rede ist, ist das beste Beispiel eines von aller 
Selbstbetrachtung und Reflexion freien Erlebens, und das Schaffen, 
welches der Eingebung folgt, ist oft der reine, urteilslose Aus¬ 
druck, die unmittelbare Kundgabe des betreffenden Erlebnisses. 

Dieser fundamentale, in unserem Erleben jederzeit vorliegende 
Umstand des Ineinanderseins der Erlebnisse und des Erlebten ist 
imstande, einer später einsetzenden Reflexion wesentliche Anhalts¬ 
punkte zu gewähren. James hat mit Recht darauf hingewiesen, 
daß jedes Erlebnis nur ein einziges Mal als solches vorkomme, 
und daß es, wenn es einmal vorüber ist, unwiederbringlich dahin¬ 
gegangen ist. Diese Originalität der Bewußtseinstatsachen gilt 
natürlich nur von solchen komplexer Art. Aber in der Tat sind 
alle Bewußtseinstatsachen, wenn wir sie nicht willkürlich aus dem 
Gesamtbereich des Bewußtseins herauslösen, sondern so betrachten, 
wie sie im Bewußtsein Vorkommen, in diesem ihrem komplexen 
Charakter stets etwas in seiner Art absolut Originelles, dessen 
Auftreten mit dem eines Menschen verglichen werden kann, der als 
ein bestimmtes Individuum auch nur ein einziges Mal vorkommt, 
oder dem eines Blattes, das unter allen alljährlich grünenden 
Millionen von Blättern nicht eines seines gleichen hat. Dieser Ge¬ 
danke hat zweifellos eine tiefgreifende Berechtigung, und man 
darf ihn nicht von der Hand weisen, indem man ihm einen prak¬ 
tischen Wert abstreitet. Er hat vielmehr sogar einen solchen, 
indem er uns Fingerzeige auf die Beantwortung der Frage gibt, 
wie weit überhaupt eine psychologische Forschung in wissen¬ 
schaftlicher Form reichen könne. 

Der einzigartige Charakter, der einem jeden Bewußtseins¬ 
erlebnis eignet, drängt sich uns in den mannigfachsten Weisen 
auf. Unwillkürlich macht ein jeder den Versuch, gewisse in 
unserer Erinnerung angenehme oder lebensvolle Erlebnisse zu re¬ 
produzieren. Oder die Tendenz einer Reproduktion gibt sich as¬ 
soziativ auf einen äußeren Anlaß hin. Es ist bekannt, daß durch 
den Anblick gewisser Gegenstände, durch ein Wort, einen Geruch 
gewisse Stimmungen, ja ganze Ereignisse von kompliziertem Cha- 

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429 


Über die Methoden der Psychologie. 

knüpft haben, so daß das Auftreten entsprechender Eindrücke die 
Reproduktion oft mit einer erstaunlichen Klarheit hervorzurufen 
imstande ist. Aber bei alledem gibt es niemals ein vollkommenes 
Wiedererleben. Den Gefühlen, oder um mit der Terminologie 
Külpes zu reden, den Bewußtseinslagen anheimelnder Vertraulich¬ 
keit, häuslicher Zurückgezogenheit, inneren Glücks, die sich mit 
bestimmten Vorstellungen paaren, gesellt sich eine Art von Weh¬ 
mut und Sehnsucht bei; denen deB verbissenen Ärgers, des hinein¬ 
gefressenen Grimmes ein fragmentarisches Aufleben aktuellen 
Ärgers oder mannigfache andere Elemente. Niemals aber lebt 
das Alte in der Gesamtdisposition vollkommen auf. Und wer diese 
Behauptung bestreitet, da er Analoges in sich nicht zu finden ver¬ 
meint, der wende sich an solche, denen wir in Dingen voller und 
reflexionsloser Erlebnisse, vor allem aber solcher, die durch den 
Ausdruck in eine kontrollierbare Form gebannt sind, ein gewisses, 
wenn auch nicht immer autoritatives Gehör schenken müssen, 
nämlich die Künstler und die künstlerischen Naturen. Dabei 
haben wir nicht einmal der zahllosen Fälle gedacht, in denen es 
sich um solche Erinnerungen handelt, die auffallend fragmen¬ 
tarisch sind oder bei denen die entsprechenden Vorstellungen zu 
leblosen und traumähnlichen Bildern verblaßt sind. 

Wenn wir nun auch in dieser Tatsache eine sichere Grenze 
aller psychologischen Erkenntnis zu sehen haben, so müssen wir 
doch den Versuch machen, jene Grenzen so weit hinauszuschieben, 
als dies möglich und berechtigt ist. Dieser Versuch aber besteht 
allgemein nicht nur in der Erkenntnis und Betonung jener Grenze, 
sondern er kann vor allem in dem Streben zum Ausdruck kom¬ 
men, die Reproduktion bis zu einem möglichst hohen Grade zu 
treiben. Dieser Versuch wird in jedem Falle zwei Vorteile mit 
sich bringen. Er ermöglicht uns einerseits eine zuweilen weit¬ 
gehende Annäherung an die vollkommene Gestalt des Erlebnisses; 
andererseits ersehen wir aus ihm gegebenenfalls die Differenz, 
welche zwischen der Reproduktion und dem Originalerlebnis be- 


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G. Anschütz, 


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gemeinsamen Charakter, den man ihre Bewußtheit nennen kann. 
Auf der anderen Seite aber sind sie außer durch mannigfaltige 
Qualitätsunterschiede auch insofern durch graduelle Differenzen 
voneinander unterscheidbar, als gewisse Elemente mit großer, 
andere aber mit einer geringeren Klarheit 1 ) erlebt sind. Diesen 
Unterschied kann man einen solchen im Grade der Bewußtheit 
nennen. Die letzteren scheinen zuletzt im Unter-, schließlich aber 
im Unbewußten, in Instinkten, Trieben usw. zu verschwimmen, 
während diese wiederum einen immer höheren Grad von Be¬ 
wußtheit erlangen können. Das einfache Erleben wird zu einem 
Erleben mit Betonung, wie man im gewöhnlichen Leben sagt, zu 
einem Bewußt-Erleben oder Innewerden. Mit diesem ist also ein 
solcher Bewußtseinstatbestand gemeint, in welchem noch keinerlei 
Reflexion steckt. Die Überleitung zu dieser liegt erst in einer 
Art von Selbstbesinnung. Daß jenes Erleben mit Betonung für 
die innere Wahrnehmung einen großen Wert besitzt, scheint klar. 
Man braucht nicht einmal daran zu denken, daß jene Betonung 
auch der Grund für einen tieferen Eindruck sei, für ein Perse- 
verieren, ein Fortbestehen möglichst lebensfähiger potentieller oder 
latenter Bewußtseinselemente; vor allem braucht man nicht an das 
entsprechend bessere Fortbestehen etwaiger physiologischer Grund¬ 
lagen zu denken. 

Diesem Mit-Betonung-Erleben ist ein größerer Wert bei¬ 
zumessen, als es für gewöhnlich geschieht; denn es scheint in 
der Tat eine wesentliche Grundlage aller psychologischen Er¬ 
kenntnis zu sein. Hat es auf der einen Seite vor dem einfachen 
Erleben den Vorzug größerer Klarheit, so nimmt es an den zahl¬ 
reichen Fehlern, die sich bei der inneren Wahrnehmung einstellen 
können und von denen noch zu reden sein wird, nicht teil. Vor 
allem hat es darin einen großen Wert, daß es sich in unmittel¬ 
baren Ausdrücken und Kundgaben offenbaren kann. In diesen 
letzteren bietet es sich dann sogar der Betrachtung anderer. Zu 
solchen Ausdrücken sind nicht nur gelegentliche und zufällige 
Äußerungen zu rechnen, die trotz der Notwendigkeit ihrer Auf- 


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Über die Methoden der Psychologie. 


431 


hören, sondern auch die Verhaltungs weisen von Beobachtern hei 
planmäßig zusammengestellten experimentellen Untersuchungen. 
Endlich gehören hierher vor allem auch Kunstwerke, soweit sie 
nicht neben dem Element unmittelbaren Ausdrucks das Wirken 
einer Reflexion mitspielen lassen, und sogar solche Dinge wie 
Selbstbiographien und Tagebücher, wenn diese die unmittelbaren 
Erlebnisse wiedergeben und nicht > Wahrheit und Dichtung« ent¬ 
halten. Schließlich aber können wir vorgreifend eine Bemerkung 
machen, die des näheren beim Experiment zu besprechen sein 
wird. Die Versuchsanordnung wird Rücksicht darauf zu nehmen 
haben, daß sie vor allem unmittelbare Ausdrücke sammelt und 
aus ihnen Schlüsse zieht, nicht aber solche Urteile, die offen¬ 
kundig durch Reflexionen aller Art getrübt sind. Die experimen¬ 
telle Psychologie soll also bei ihren Beobachtern vielmehr ein be¬ 
tontes Erleben fördern, nicht aber in gleichem Maße, wie häufig 
gesagt wird, deren Selbstbeobachtung. 

So wesentlich aber auch das Erleben und dessen Betonung 
sein mag, so kommt die psychologische Forschung mit ihm nicht 
aus, ja sie würde mit ihm allein nicht einmal zu wissenschaft¬ 
lichen Ergebnissen, geschweige denn zu einer Psychologie kom¬ 
men können. Zur wissenschaftlichen Verarbeitung des im Erleben 
gegebenen Materials, ja schon zu seiner einfachen Aufstellung und 
Sichtung, der Deskription und Analyse bedarf sie wie jede wissen¬ 
schaftliche Tätigkeit des Denkens, und zwar in ihrem Falle des 
Denkens, sofern es sich auf die eigenen Bewußtseinstatsachen 
zum Zweck ihrer Untersuchung richtet, d. h. der inneren Wahr¬ 
nehmung. Diese auf den ersten Blick relativ einfach aussehende 
Tätigkeit hat seit langem zu den mannigfachsten Erörterungen 
Anlaß gegeben. Wenn wir von mehreren Einzelfragen absehen, 
so läßt sich ein prinzipieller Streitpunkt dahin fassen, daß man 
die Alternative aufstellt, ob die innere Wahrnehmung oder Selbst¬ 
betrachtung im Momente des Erlebens stattfinde oder ob sie nur 
eine nachträgliche Untersuchung der im Bewußtsein vorhandenen 
Restbestände sei. Zugleich hat man an die Entscheidung dieser 
Frage gewisse Wertungen geknüpft und z. B. behauptet, daß, wenn 
die innere Wahrnehmung nachträglich stattfinde, ihre Leistung 

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432 


G. Anschütz, 


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Wenn wir ohne Rücksicht auf etwa sich ergebende Konse¬ 
quenzen fragen, welche Behauptung von diesen beiden die zu¬ 
treffende sei, so müssen wir unbedingt der zustimmen, die von 
einem Selbstwahrnehmen während des Erlebens nichts wissen 
will. Ganz abgesehen von theoretischen Erwägungen, wie etwa 
der, daß, wenn das Bewußtsein einmal von etwas erfüllt sei, das 
es erfüllende Erlebnis, ohne Schaden zu nehmen, nicht bestehen 
könne, wenn ein anderes Element auftrete und seinen Platz im 
jederzeit beschränkten Bereiche des Bewußtseins beanspruche *), 
kann auf das alte, auch von Mlinsterberg angeführte Beispiel 
von dem Zornigen verwiesen werden, dessen Zorn vergeht, wenn 
er sich selbst zu betrachten beginnt und wenn er, auf seine Ver¬ 
fassung etwa aufmerksam gemacht, mit einem gewissen Rechte 
behauptet, er sei gar nicht zornig oder ärgere sich gar nicht 
Oder man nehme denjenigen als Beispiel, in welchem vor lauter 
Reflexion und Selbstbetrachtung der Willensimpuls zu einer Hand¬ 
lung nicht zustande kommt, sondern in Beinern Erstehen zu halbem 
Leben bereits wieder erstirbt. Die klassischen Worte aus Wallen¬ 
stein »Ich will es lieber doch nicht tun« können hier als Exempel 
gelten. Die besten Beispiele aber wird endlich die Kunst liefern 
können. Es wird sich selten ein Künstler finden, der nicht beim 
Schaffen die kalte Überlegung, vor allem die Selbstbetrachtung 
als einen gefährlichen Feind seiner Stimmungen fürchtet, wenn sie 
ihm auch andererseits zu Betrachtungen theoretischer und ästhe¬ 
tischer Art sehr zweckdienlich sein kann. »Des que la pensee 
intervient, la deformation commence« 2 ), so sagt Ribot in anderem 
Zusammenhänge in zutreffender Weise von dem Verhältnis zwi¬ 
schen Erleben und Selbstbedenken. 

Ist nun also die innere Wahrnehmung nicht eine simultane 
Betrachtung der Erlebnisse, so scheint es zunächst, als könnte sie 
nur eine nachträgliche sein. Ist sie aber nachträglich, so kann 
sie nur die Fragmente, die Restbestände des Erlebens untersuchen. 
Diese Tatsache scheint ganz einleuchtend; aber es taucht eine 


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6. Anschütz, 


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findet, scheint den Tatsachen zu entsprechen. Aber sie scheint 
noch einer näheren Bestimmung fähig zu sein. Denn da einer¬ 
seits das Erlebnis schwindet oder zum mindesten bedeutend an 
seiner Originalität und Lebendigkeit einbüßt, wenn die Selbst¬ 
betrachtung hinzutritt, andererseits aber auch die Grade der 
Potentialität von Erlebnissen in dem Sinne variieren werden, als 
einige Elemente eben aus dem vollen Lichte des Bewußtseins ge¬ 
schwunden und noch relativ leicht aktualisierbar sind, während 
sich andere in größerer Tiefe befinden und von der Möglichkeit 
einer Aktualisierung weiter entfernt sind, so steht einer Ausdeh¬ 
nung unserer Hypothese in dem Sinne nichts entgegen, als die 
innere Wahrnehmung in einem zeitlich ausgedehnten Bewußtseins¬ 
zustand erblickt werden kann, in welchem ein mehrfaches Wieder¬ 
aufleben der Erlebnisse mit einer mehrfachen Wendung des Blickes 
auf diese und einer entsprechenden jedesmaligen Zurtlckdrängung 
jener Erlebnisse abwechselt. In der Tat hat die innere Wahr¬ 
nehmung einen offenkundigen Charakterzug, der jene Hypothese 
zu verifizieren scheint, nämlich jenes eigenartig Tastende, und die 
verschiedenen Etappen der mehr oder weniger auf den Gegenstand 
konzentrierten geistigen Tätigkeit, des Oszillierens der Aufmerk¬ 
samkeit im Sinne von graduellen Schwankungen. Sie hat diesen 
Charakterzug in auffällig höherem Maße als jede naturwissenschaft¬ 
liche Betrachtung, die zwar auch wie jede geistige Tätigkeit eine 
festzustellende und in bestimmten Grenzen sich bewegende Un¬ 
beständigkeit der Aufmerksamkeit aufweist, aber doch eine solche 
von weniger intensiven Schwankungen. Wir wollen aber endlich 
doch mit der Möglichkeit rechnen, daß jemand die innere Wahr¬ 
nehmung anders bestimmen wird und, um eventuelle Definitions¬ 
differenzen zu vermeiden, die oft ein fruchtloses Bemühen sind, 
uns dahin aussprechen, daß jedenfalls die soeben skizzierte Weise 
einer inneren Wahrnehmung große Vorzüge haben wird, und sie 
als eine gute Form derselben hinstellen. Ihr ganzer Charakter, 
der nicht ein so fest abgeschlossener und begrenzter ist, wie ihn 


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Über die Methoden der Psychologie. 


435 


ist, indem sie mehrfach in das Erleben selbst eingreift. Endlich 
aber zeigt uns jene so bestimmte Methode der inneren Wahr¬ 
nehmung, daß zu einer genauen Erfassung der entsprechenden 
psychischen Gegenstände nicht eine gewisse Anzahl von Versuchen 
des Wiederauflebenlassens genUgt, sondern daß diese Zahl sogar 
eine unbegrenzte ist, wenn es sich um ideale Erkenntnis handeln 
soll. Sie zeigt uns also weiter noch, daß auch unsere Erkenntnis 
der psychischen Tatsachen genau genommen nur eine approxima¬ 
tive ist, die sich dem von ihr angestrebten Ideal nur asymptotisch 
nähern kann, ohne es jemals ganz zu erreichen. Wohl bemerkt, 
gelten aber diese Ausführungen nur, sofern es sich um eine voll¬ 
kommene Erkenntnis individueller Erlebnisse in ihrer vollen Origi¬ 
nalität handelt; daß und inwiefern eine solche bei anderen Erleb¬ 
nissen allerdings möglich ist, davon wird später die Rede sein. 

Die Rede vom Wiederaufleben der Erlebnisse in der inneren 
Wahrnehmung, und sogar von einem mehrfachen, in das dann die 
Selbstbetrachtung eingreift, weist schon indirekt auf ein Moment 
hin, das noch der besonderen Hervorhebung bedarf und das auf 
mehrfache Art aufweisbar ist, nämlich das zeitliche. Daß die 
innere Wahrnehmung, sofern sie überhaupt psychische Gegenstände 
erfaßt und diese letzteren jederzeit irgendwie zeitlich bestimmte 
sind, d. h. simultan oder in der Nacheinanderfolge stattfinden, 
ebenfalls eine Uber verschiedene Zeitpunkte sich erstreckende ist 
und daß sie nicht nur momentartig auftritt, wird ohne weiteres 
zugegeben werden müssen. Das zeitliche Element aber ist noch 
in anderer Beziehung bedeutungsvoll als nur darin, daß die innere 
Wahrnehmung in einer Abwechslung mit dem Wiederaufleben der 
Erlebnisse auftritt. Die Selbstbeobachtung zeigt uns nämlich nicht 
nur das einfache Dasein von Tatsachen im Bewußtsein auf, son¬ 
dern auch deren Hervorgehen und Herauswachsen aus allgemei¬ 
neren Bewußtseinslagen oder als ganz spezialisierten Einzelerleb¬ 
nissen, die wir als gleich- oder fremdartig ansehen mögen; sie 
zeigt uns ferner in einigen Fällen das Anwachsen solcher Erleb- 
nisse zu ihrer vollkommenen Vollendung und weiterhin ein Ver¬ 
schwimmen und Verschwinden in die mannigfachsten Details oder* 
in ganz unbestimmte Elemente; oder wir ersehen endlich mit ihre*- 

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G. AnBchütz, 


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in gleich- oder verschiedenartigen Zusammenhängen zu verfolgen 
und zu sehen, wie sie sich in diesen gestalten. Solche verschie¬ 
denen Zusammenhänge, in die bestimmte Erlebnisse eingeordnet 
sind, können sich nun entweder ohne unser ausdrückliches Zutun 
darbieten. In diesem Falle betrachten wir unser seelisches Leben 
als passive Zuschauer. Oder aber wir vollziehen jene Einordnung 
absichtlich und nach bestimmten Gesichtspunkten, wir variieren 
bewußtermaßen und willkürlich die »Fälle«. Dann treiben wir 
das sogenannte innere Experiment. In jedem Falle aber wenden 
wir die innere Wahrnehmung in ihrer näheren Charakterisierung 
als Selbstbeobachtung an. Die Bezeichnung des Selbstbeobachtens 
schließt sowohl das zeitliche Element als auch das der Richtung 
des geistigen Blickes auf die Gegenstände des Bewußtseinslebens 
zum Zwecke ihrer näheren Erforschung ein. 

Indem aber die innere Wahrnehmung aus den verschiedenen 
Bewußtseinszusammenhängen das Gleiche herausfindet und das 
Veränderliche ausscheidet, indem sie diese eigenartige innere Er¬ 
fahrung treibt, ist sie mit der naturwissenschaftlichen Induktion 
in Analogie zu stellen. Auch sie beobachtet entsprechend der 
Empirie der Naturwissenschaft nicht nur die gleichen Fälle als 
solche, sondern sie zieht auch aus diesen etwas allgemein Gel¬ 
tendes, allgemeine Tatsachen und Gesetze heraus; sie schließt 
gleichsam von einigen Fällen auf alle überhaupt möglichen, in 
der gleichen Richtung liegenden. Daß freilich hier nur eine ge¬ 
wisse Analogie vorliegt, ergibt sich aus den Voraussetzungen der 
beiden Betrachtungsweisen, der inneren und äußeren Wahrnehmung, 
welche letztere die Naturwissenschaft betreibt, nämlich der des 
Bewußtseins und der der außerbewußten Wirklichkeit. Die innere 
Wahrnehmung oder Selbstbeobachtung kommt daher nicht zu Ge¬ 
setzen von kausalem Charakter, zu denen die Betrachtung der 
Außenwelt führt; sie kann auch nicht derartige Gesetze aufstellen 
wie etwa das, daß auf Stoß Gegenstoß folge, oder daß zwei 
Körper sich proportional ihrer Masse und umgekehrt proportional 
ihrer Entfernung anziehen, da sie ja mit entsprechenden Gegen¬ 
ständen überhaupt nicht zu tun hat. Die Frage, zu was für Ge- 


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über die Methoden der Psychologie. 


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Vorstellung und Gegenvorstellung im normalen Seelenleben an¬ 
einander gebunden sind, in der Vorstellung die Tendenz nach dem 
Gedanken an die Wirklichkeit des VorgeBtellten liegt, und endlich 
etwa Erlebnisse, wenn sie zu Teilerlebnissen werden, ihre ur¬ 
sprüngliche Selbständigkeit verlieren und sich dem Gesamterlebnis 
assimilieren *). 

Die psychologische Methode der Selbstbeobachtung können wir 
sowohl die nächstliegende als auch die fundamentale nennen. 
Nahegelegt ist sie schon durch ihre umstandslose Verwendbarkeit 
durch jedes beliebige individuelle Bewußtsein in jedem Zeitpunkte; 
fundamental aber muß sie genannt werden, weil sie ihren Blick 
auf die Bewußtseinstatsachen als auf unmittelbare Tatsachen 
richtet, wobei sie weder auf die äußeren Sinne, noch aber auf 
einen hypothetischen inneren Sinn angewiesen ist. Sie nimmt 
somit an den zahlreichen Fehlerquellen, die durch die Vermittlung 
der Sinne erwachsen, nicht teil. Jene Unmittelbarkeit ihrer Be¬ 
obachtung, die als ihr größter Vorzug zu gelten hat, wird aber 
dadurch, daß auch sie freilich die BewußtseinserlebniBse nur 
gegenständlich erfassen kann, sofern sie nämlich zu allgemeinen 
Gesetzen des Bewußtseins kommen will, nicht in eine bloße 
Mittelbarkeit verwandelt. Denn die Bewußtseinstatsachen bleiben 
Bewußtseinstatsachen, auch wenn sie gegenständlich werden, d. h. 
wenn die innere Wahrnehmung sie betrachtet und erforscht. In 
Gefühlen, Gedanken, Willensakten usw. bleibt das sie erlebende 
individuelle Subjekt trotz dieser Gegenständlichkeit bestehen. Das 
Subjekt aber, welches die Erlebnisse hat, und das, welches sie 
betrachtet, sind in der Tat trotz dieser eigenartigen Spaltung das 
gleiche. Dieser Umstand wird uns vor allem dazu berechtigen, 
von der Unmittelbarkeit dieser Betrachtungsweise in der inneren 
Wahrnehmung zu sprechen. Zu diesen zweifellosen Vorzügen ge¬ 
sellt sich endlich derjenige, der in der induktiven Seite der Selbst¬ 
beobachtung liegt, mit deren Hilfe das individuelle Bewußtsein 
imstande ist, an seinen Erlebnissen die nur zufälligen und 
alliremeintrttltieen Elemente herausznfinden. Mit Rücksicht atif 


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438 


G. Anschütz, 


zuerkennen müssen, dürfen wir in ihr doch kein ideales Mittel er¬ 
blicken, das uns eine vollkommene Erkenntnis des Bewußtseins¬ 
lebens ermöglichen könnte. Wir müssen hier zunächst auf eine 
allgemeine Tatsache des Bewußtseins hinweisen, aus der zwar 
jene Unmöglichkeit nicht folgen soll, die uns aber zeigt, daß 
unsere Erkenntnis stets nur eine approximative sein kann. Das 
ist jene Tatsache, daß wir im Bewußtsein jene deutlichen Schei¬ 
dungen nicht machen können, welche in den meisten die Erleb¬ 
nisse bezeichnenden Begriffen liegt. Schon wenn wir nur vom 
Denken, Fühlen und Wollen sprechen und die Denkakte, die 
mannigfachsten Gefühle, Willensakte und die vielgestaltigen Vor¬ 
stellungen untersuchen, so können wir streng genommen keines 
dieser Elemente annähernd erschöpfen, ohne daß wir nicht auf 
ein anderes gleichzeitig den Blick lenkten. Die innere Wahr¬ 
nehmung hat, sofern sie ihre Objekte erkennen will, nicht nur 
ihren allgemeinen Charakter festzustellen, sondern auch die fremd¬ 
artigen Elemente in ihnen aufzuweisen und zu zeigen, wie sich 
diese in sie einordnen, wie sie das Ganze modifiziert haben 
und durch das Ganze selbst modifiziert sind. Sie hat aber weiter¬ 
hin nicht bloß solche Elemente zu untersuchen, welche im vollen 
Bewußtsein stehen, sondern auch die dunkleren und fast im Un¬ 
definierbaren verschwimmenden. Die Rede von dem Halbbewußten, 
den unter- und unbewußten psychischen Erlebnissen hat ihren sehr 
guten und wohlberechtigten Sinn, solange man dieses Gebiet nicht 
als einen Deus ex machina zur Erklärung heranzieht. Schon jene 
Aufgabe aber ist als eine ganz beträchtliche zu bezeichnen. 
Endlich aber kommt zu jenen Schwierigkeiten, die schon das Be¬ 
wußtsein in einem Momente darbietet, eine wesentliche Komplikation, 
indem der zeitliche Verlauf jener mannigfachen Phänomene die 
Einsichtigkeit und Klarheit wesentlich erschwert. 

Zu alledem kann man endlich noch eine Schwierigkeit anderer 
Art hinzufUgen, von der eingangs bereits die Rede war. Wenn 
die innere Wahrnehmung ihre Objekte überhaupt erfassen und 


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Über die Methodeu der Psychologie. 


439 


menen Erkenntnis der Bewußtseinsphänomene auch eine unbe¬ 
grenzte Anzahl von Begriffen erforderlich. Auch wenn aber jene 
Fassung einmal erfolgt wäre, so wäre damit doch nichts Wesent¬ 
liches geleistet; es ginge uns ähnlich wie bei dem kontinuierlichen 
Strome des Heraclit, daß nämlich der Gegenstand während 
unserer Erforschung bereits wieder seine Gestalt verändert hätte. 

Diese Betrachtungen scheinen vielleicht ein wenig ins Extrem 
zu gehen. Wo es sich jedoch um eine Begrenzung der Methoden 
und um ihre Leistungsfähigkeit handelt, sind auch derartige Er¬ 
örterungen notwendig. Es folgt nämlich aus ihnen jene nicht un¬ 
wesentliche Erkenntnis, daß sich die gesamte psychologische For¬ 
schung zunächst nur auf allgemeinere Phänomene, allgemeine 
Seiten und Richtungen im Bewußtsein beziehen kann und daß der 
unendliche Reichtum individuellen Erlebens gar nicht ihr eigent¬ 
liches Objekt darstellen kann. Mit einem gewissen Rechte, so 
wird man jederzeit sagen können, sind die feinsten und komplexe¬ 
sten Erlebnisse nur erlebbar, und sie sind dies, so wie sie sind, 
nur ein einziges Mal. Diese Erkenntnis kann den Wert des ein¬ 
zelnen Erlebnisses für uns wesentlich steigern. 

Während die soeben angegebenen Grenzen, die der Forschung 
aller inneren Wahrnehmung gesteckt sind und die zugleich für 
alle psychologische Forschung überhaupt gelten, im Wesen der 
letzten Voraussetzungen der Psychologie begründet sind, sofern 
nämlich das bis ins Unendliche differenzierte Bewußtsein die 
Voraussetzung der Psychologie ist, beruht ein anderer Mangel, 
den man ihr gegenüber mit einem gewissen Rechte geltend ge¬ 
macht hat, vielmehr auf solchen Voraussetzungen, wie wir sie ein¬ 
gangs den letzten oder primären als sekundäre oder akzidentielle 
gegenüberstellten. Da nämlich die innere Wahrnehmung stets nur 
im individuellen Bewußtsein stattfindet, in diesem individuellen 
Bewußtsein aber solche Elemente vorhanden sind, die nur diesem 
bestimmten, d. h. unter bestimmten Bedingungen und bestimmten 
Verhältnissen, mit bestimmten Anlagen, Trieben, Neigungen und 
Interessen ause-estatteten Individuum znkommen, und auf der an- 


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440 


G. Anechütz, 


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das Urteil Uber diesen zn beeinflussen pflegt —, da aber endlich 
die Scheidung zwischen solchen individuellen und allgemeinen 
»Zügen« in der Natnr des Individuums in ihren Einzelheiten eine 
für die innere Wahrnehmung äußerst schwierige ist, so kann es 
nicht wundernehmen, wenn diese in ihrer Anwendung durch ein 
individuelles Bewußtsein nicht in jeder Beziehung ideale Dienste 
zu leisten vermag. Zu einer entsprechenden Korrektur aber 
scheint schließlich auch die einfache Beobachtung anderer und 
die Heranziehung deren innerer Wahrnehmung nicht zu genügen; 
die Diskussion, die, an vielfachen und notwendigen gegenseitigen 
Mißverständnissen reich, über psychologische Probleme geführt 
wird und die nicht selten mit einer erstaunlichen Diskrepanz der 
Meinungen endet, die sich oft erst während der Diskussion zu 
entschiedener Gestalt heranbildet, während sie zu Anfang nur eine 
verschwindende war, zeigt trotz der unverkennbaren Vorzüge, die 
sich hauptsächlich in Form gegenseitiger Anregung in ihrem Ge¬ 
folge befinden, wie fruchtlos dieses Verfahren ist, wenn man die 
aufgewandte Mühe mit dem positiven Erfolge vergleicht. Es darf 
daher einerseits als eine in der Sache begründete Forderung, 
andererseits als das Ergebnis persönlicher Bedürfnisse gelten, 
wenn sich gegenüber den an Differenzen reichen subjektiven Be¬ 
obachtungen das Verlangen nach einer solchen Methode geltend 
gemacht hat, die in objektiver Form, wenn auch zunächst nur ge¬ 
ringe, so doch später jedenfalls steigende Erfolge hinsichtlich einer 
objektiven Tatsachenaufstellung aufzuweisen hat. Die Forderung 
einer sogenannten »objektiven Kontrolle« ist vor allem von Wundt *) 
unzweideutig ausgesprochen und zum großen Teil auch realisiert 
worden. Abgesehen von tatsächlich positiven Erfolgen einer 
solchen objektiven Methode ist aber auch auf den Umstand zu 
verweisen, daß viele Probleme sowohl in ihrer allgemeinen be¬ 
grifflichen Stellung als auch in ihrer Formulierung im einzelnen 
durch jene objektive Methode eine Klärung und Erweiterung er- 


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Über die Methoden der Psychologie. 


441 


Wahrnehmung dasselbe als eine Tätigkeit, welche das apperzep- 
tive Erfassen der zu vergleichenden Gegenstände als notwendige 
und unerläßliche Vorbedingung habe, so kommen wir bei der 
Interpretation von experimentell festgestellten Tatsachen in große 
Schwierigkeiten. Das Experiment weist uns in der Tat auf eine 
Menge von Fällen hin, in denen wir allerdings vergleichen, even¬ 
tuell sogar ganz exakte, z. B. mathematisch formulierbare Ver¬ 
gleiche ausftihren. Die Beobachtung der Versuchspersonen ergibt 
aber, daß von einer Apperzeption gar nicht die Rede sein kann. 
Eine Differenz mag sich zwar dann aufstellen lassen, wenn man 
den Sicherheitsgrad, das Bewußtsein der Gewißheit bei unmittel¬ 
baren Kundgaben und bei ausgeprägten Urteilen angeben läßt, 
indem dann bei vorausgehender voller Apperzeption das Vergleichs¬ 
urteil mit größerer subjektiver Gewißheit gefällt wird als bei un¬ 
mittelbaren Ausdrücken, die nur den Eindruck wiedergeben. Trotz¬ 
dem aber liegen offenbar Vergleiche vor, möglicherweise sogar 
solche von erstaunlicher Exaktheit. Schließlich kann man sogar 
mit einer Erweiterung des Begriffes des Vergleichens von einem 
Vergleichen im Erleben reden. Das Gefühl »mir ist so, als 
wenn . . .« enthält zweifellos gewisse Vergleichselemente, und auch 
in diesem Falle kann der unmittelbare Ausdruck eine große Ge¬ 
nauigkeit enthalten l ). 

Ehe wir jedoch zur Besprechung des Experimentes in der 
Psychologie selbst übergehen, mag nochmals auf das Gesamt¬ 
gebiet der inneren Wahrnehmung zurtickgegriffen sein, indem wir 
einen an dieser Stelle noch nicht berührten Begriff einführen. 
Wenn wir in der Selbstbeobachtung eine Erweiterung der inneren 
Wahrnehmung in der Richtung sahen, daß sie bereits Induktion 
treibe und zu allgemeinen Tatsachen und Gesetzen gelange, so 
war damit unausgesprochen der Begriff der inneren Erfahrung ge¬ 
streift. Von innerer und äußerer Erfahrung kann nun auch im 
Anschluß an die Begriffe der unmittelbaren und mittelbaren Tat¬ 
sachen gesprochen werden. Diese Begriffe sind besonders von 
Wundt, aber auch von Lipps 2 ) nicht nur verwendet, sondern 


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442 


6. AnBchütz, 


auch einer spezielleren Untersuchung unterzogen worden. Die 
beiden jedesmal sich entsprechenden Begriffe, die man auch 
Komplementärbegriffe nennen kann, werden von beiden Autoren 
im wesentlichen in übereinstimmender Weise verwendet, und zwar 
in dem Sinne, daß sich die innere Erfahrung auf die unmittelbar 
gegebenen Tatsachen bezieht, d. h. also auf die Bewußtseinserleb¬ 
nisse, die psychischen Tatsachen, während es die äußere mit Tat¬ 
sachen zu tun hat, die durch die Sinne vermittelt sind, mithin mit 
den Objekten der Außenwelt. Die Frage nach den zahlreichen 
nicht nur möglichen, sondern auch notwendig aufzustellenden 
Zwischenstufen beider, z. B. der mathematischen Erfahrung, dann 
der, die wir an nur gedachten Gegenständen, und solchen, die 
wir kategoriale nennen können, machen, und endlich derjenigen, 
zu der uns die phantasierten und nur vorgestellten, dazu als wirk¬ 
lich oder nichtwirklich gedachten Gegenstände den Stoff liefern, 
soll an dieser Stelle nicht eingehend behandelt werden. Ins¬ 
besondere scheidet auch der von den genannten Autoren be¬ 
handelte Gedanke aus, inwiefern sich auf jene Begriffe bzw. Tat¬ 
sachen der mittelbaren und unmittelbaren Erfahrung eine ganze 
Systematik der Wissenschaften aufbauen läßt. Die innere Er¬ 
fahrung soll uns an dieser Stelle nur so weit interessieren, als sie 
die eigentliche Grundlage für die auf sie sich aufbauende Spezial¬ 
wissenschaft oder Spezialbetrachtungsweise im Gesamtgebiet der 
Psychologie bildet, die jetzt unter dem Namen der Phänomeno¬ 
logie besonders durch Husserl eine besondere Ausbildung und 
Betonung als eines ganz bestimmten Zweiges der Psychologie er¬ 
fahren hat 1 ). 

Wenn wir unter dieser eine Betrachtungsweise verstehen, die 
es mit den Phänomenen des psychischen Lebens, mit seinen Einzel¬ 
erscheinungen und Gesamterscheinungsweisen zu tun hat, und 
diese Erscheinungen nicht so verstehen, als wenn hinter ihnen 
noch das in ihnen Erscheinende zu suchen sei, so können wir die 
erste Aufgabe aller Phänomenologie in der Aufstellung des in der 
inneren Erfahrung gegebenen Materials sehen, d. h. also in einer 


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Über die Methoden der Psychologie. 


443 


Psychischen möglich sei, ranß wiederum bestritten werden 1 ), da 
eben die begriffliche Fassung nicht alle Erlebnisse zu fassen ver¬ 
mag. Andererseits aber liegt auch schon in jeder begrifflichen 
Fassung der erste Ansatz einer Uber die einfache Beschreibung 
hinaus tendierenden Erklärung, und wir können somit die erste 
Aufgabe der Phänomenologie nur in einer möglichst genauen und 
von allen fremdartigen Elementen möglichst freien Aufstellung des 
reinen Tatbestandes sehen. Ohne darüber entscheiden zu wollen, 
ob eine solche einfache Beschreibung von Tatsachen schon Wissen¬ 
schaft oder ob sie nur etwas dieser Vorangehendes sei, welches 
erst das Rohmaterial für die eigentliche Forschung herbeizuschaffen 
habe, müssen wir jener reinen deskriptiven Phänomenologie jeden¬ 
falls eine wesentliche Bedeutung zuschreiben. Sie stellt, um mit 
Husserl 2 ) zu reden, einerseits ein »Gebiet neutraler Forschungen« 
dar; andererseits aber beschränkt sie sich auf ein Minimum von 
Voraussetzungen. Sie setzt lediglich die Bewußtseinstatsachen 
voraus, ja sie stellt diese sogar erst auf und denkt vorerst nicht 
einmal an ihre Erklärbarkeit. Wir können sie daher eine Art 
propädeutischer Disziplin für die speziellere psychologische For¬ 
schung nennen. 

Immerhin kann sich eine Phänomenologie nicht auf das enge 
Gebiet bloßer Deskription beschränken, sondern sie sucht zu¬ 
nächst in dem gesammelten Material einige begriffliche Klarheit 
zu schaffen. Zu diesem Zwecke bedient sie sich im wesentlichen 
zweier Elemente, nämlich der Synthese und der Analyse. Diese 
Scheidung ist aber nicht in dem Sinne zu machen, als wenn die 
eine dieser beiden Tätigkeiten der anderen zeitlich voranginge; 
sondern es verbinden sich beide zu einer Tätigkeit, der wir dann 
freilich den Namen der Analyse zu geben gewohnt sind. Jene 
Schaffung begrifflicher Klarheit ist also in der Tat schon mit 
diesem weiteren Momente verbunden. Eine solche analysierende 
Tätigkeit der Phänomenologie bezieht sich nun einerseits auf die 
Untersuchung sukzessiv zusammenhängender Bewußtseinstatsachen. 
Sie faßt etwa ein Gesamterlebnis des Wollens ins Ausre und ver- 


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444 


G. Anschütz 


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findet, daß der Willensentschluß aus einer langen Kette von Über¬ 
legungen und Erwägungen hervorgegangen ist, aus denen sich 
jedesmal gewisse Tendenzen und Gegentendenzen entsprechend 
den jene begleitenden Vorstellungen und Gegenvorstellungen er¬ 
geben haben. Weiterhin findet sie an jenem vielleicht ziemlich 
komplizierten Erlebnis des Willens das Auftreten bestimmter mehr 
oder minder charakterisierter Gefühle, die entweder von innen 
heraus motiviert oder durch das Eingreifen äußerlich bedingter 
Empfindungen und Wahrnehmungen hervorgerufen sein mögen. 
Am Ende aber steht sie vielleicht vor gewissen nicht näher 
definier- oder beschreibbaren Tatsachen, die sie Triebe oder In¬ 
stinkte nennt und die sie letzten Endes für alle späteren Affekte 
und Bewußtseinslagen jeglicher Art verantwortlich zu machen 
geneigt ist. Auf der anderen Seite verfolgt die Phänomenologie 
die Weiterentwicklung des Willensaktes zur Willenshandlung und 
findet hier z. B. gewisse Hindernisse, die jene vereiteln und an 
ihrer Stelle aus dem Willensakte ein Gefühl der Mißmutigkeit, 
der Verzweiflung, oder aber eine neue Überlegung, die sich in 
ganz neuen Formen gestaltet und ganz neue Begleiterlebnisse im 
Gefolge hat, hervorwachsen lassen. Eine Phänomenologie solcher 
Art kann als analytisch-genetische bezeichnet werden. 

Dieser Art analysierender Phänomenologie muß eine andere 
gegenübergestellt werden, die nicht immer praktisch, wohl 
aber theoretisch von jener zu trennen ist. Die hier gemeinte 
Betrachtungsweise, die eine analytisch-erkenntnistheoretische ge¬ 
nannt werden kann, geht jener gegenüber nicht in die Breite, 
sondern sie verfolgt die psychischen Phänomene in ihre Tiefe, sie 
fragt nach dem »Was?«, dem inneren Sinn des Erlebnisses. So 
wird auf die Frage, was das Denken sei, nicht geantwortet wer¬ 
den, indem auf den Zusammenhang desselben mit Empfindungen 
und Wahrnehmungen und auf sein Herauswachsen aus diesen ver¬ 
wiesen wird und indem man weiterhin in einfachen und kompli¬ 
zierten Urteilen seine Weiterentwicklung sehen wird, sondern sie 
antwortet, das Denken sei eine geistige Tätigkeit des Konzentriert- 


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445 


Über die Methoden der Psychologie. 

implicite schon ein Urteil usw. Oder sie untersucht solche Phäno¬ 
mene wie kategoriale Bestimmtheiten und sagt von ihnen, sie seien 
insofern von GefUhlsqualitäten der Gegenstände unterschieden, als 
man von diesen abstrahieren könne, von jenen aber nicht. Als 
ziemlich typisch filr die beiden hier unterschiedenen Betrachtungs¬ 
weisen dürfen wohl die von Wundt 1 ) und Lipps 2 ) gegebenen 
Darstellungen der Willensphänomene gelten. Während jener durch¬ 
aus genetisch verfährt und den Willen aus Empfindungen, Vor¬ 
stellungen und weiterhin aus Gefühlen und Atfekten hervorgehen 
läßt, also gleichsam den äußeren, zeitlichen Zusammenhang auf¬ 
weist, stellt sich Lipps vielmehr die Aufgabe, den eigentlichen 
Sinn der betreuenden Tatsache aufzudecken, indem er die im 
Willen steckenden Elemente klarzulegen sucht. Für die letztere 
Art der Phänomenologie sind auch die Darstellungen der »Ein¬ 
fühlung« 3 ) und die Lösung der Frage: »Wie komme ich zum Be¬ 
wußtsein der Außenwelt?« bei Lipps bezeichnend 4 ). Wir können 
die ganze Art auch als eine fast metaphysische in Anspruch 
nehmen. 

Wie weit nun eine deutende und interpretierende Phänomeno¬ 
logie gehen kann, um nicht einem berechtigten Vorwurf, Metar 
physik zu enthalten, zu verfallen, ist eine Frage, deren Beant¬ 
wortung zu den schwersten Problemen gehört. Wenn Stumpf 5 ) 
der Phänomenologie sogar die Aufgabe zuschreibt, »bis zu den 
letzten Elementen« vorzudringen, so präzisiert sich unsere Frage 
nur in der Weise, daß es sich eben um die Bestimmung jener 
letzten Elemente handelt. Wenn wir nun die Grenzen aufzusuchen 
bemüht sind, bis zu welchen die phänomenologische Betrachtung 
gehen darf, so scheint es, als müsse diese lediglich im Gebiete 
derjenigen Tatsachen bleiben, die als unmittelbare noch der inne¬ 
ren Erfahrung zugehören. Unmittelbar aber sind Bewußtseins¬ 
tatsachen nur so lange, wie sie rein als solche, d. h. als Phäno¬ 
mene, als Erscheinungen betrachtet sind, hinter denen wir in der 

1) Grandzüge der Dhvsiol. Psvchol. III. 6. Aufl. S. 3l0fU PbiloB. 


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Über die Methoden der Psychologie. 447 

däre in diesem Falle jenem anderen gegenüber in den Hinter¬ 
grund. 

Das reduktive Element der Phänomenologie und das der In¬ 
duktion, welche jede Erfahrung, auch die innere Erfahrung auf¬ 
weist, brauchen bei einer zusammenhängenden Untersuchung 
phänomenologisch-psychologischer Natur nicht in einer ausdrück¬ 
lichen Getrenntheit vorzukommen. Es scheint vielmehr, als wenn 
sich beide in der Weise miteinander komplizierten, daß die Be¬ 
trachtungsweise in ihren Etappen bald jenen, bald diesen Faktor 
deutlich hervortreten läßt. Auch die einfache Aufstellung des 
Materials der inneren Erfahrung wird sich in der Tat nicht immer 
von den Momenten der Interpretation und Reduktion absolut 
scheiden lassen. Die Phänomenologie entwickelt sich für unseren 
Blick gegenüber jeder in sich abgeschlossenen und streng nach 
einem einzigen Gesichtspunkt vorgehenden Methode zu etwas 
Kompliziertem, in welchem mehrere methodische Bestandteile 
stecken. Wenn man somit auf ihren allgemeinen Charakter 
achtet, so haftet diesem weniger etwas von Erklärung als viel¬ 
mehr der Aspekt des Aufsptirens an. In dieser auch heuristisch 
zu nennenden Eigenart der Phänomenologie vereinigen sich dann 
die betrachteten einzelnen Elemente zu einer ganz neuen und 
eigenartigen Forschungsweise, in welcher sich Deskription und 
Analyse, Interpretation und Reduktion in günstiger Weise ver¬ 
einigen. Nimmt man zu diesen Elementen das Erleben hinzu, 
von dem bei der inneren Wahrnehmung des näheren die Rede 
war, so dürfte die phänomenologische Betrachtungsweise der 
Psychologie für die Erkenntnis der Bewußtseinstatsachen höchst 
bedeutsame Momente in sich vereinigen. Freilich kann auch sie 
nicht als etwas absolut Vollkommenes gelten, denn es finden sich 
auch in ihr noch einige Mängel, die sie mit jeder inneren Wahr¬ 
nehmung oder Selbstbeobachtung zu teilen hat, da sie als eine 
auf jener basierende Spezialwissenschaft im Gesamtgebiete der 
Psychologie aus eigenen Kräften die möglicherweise vorhandenen 
Irrtumsquellen nicht vollkommen zu eliminieren vermag. So er¬ 
wächst also auch von hier aus das Bestreben nach einer nh- 


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448 


G. Anechiitz, 


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« 

III. Die mittelbaren Methoden nnd das Problem der exakten 

Forschung. 

Wenn man über den rein theoretischen Wert der psycho¬ 
logischen Methoden ein Urteil fällen will, so muß man jederzeit 
der inneren Wahrnehmung und der auf sie sich aufbauenden 
Phänomenologie der inneren Erfahrung den entschiedenen Vorzug 
geben, indem man sie als unmittelbare, primäre, fundamentale 
oder prinzipielle Methode den anderen als mittelbaren, sekundären 
und gleichsam akzidentiellen gegenüberstellt. Und in der Tat 
dürfen alle anderen Weisen psychologischer Forschung lediglich 
als solche gelten, die jene nur zu vervollkommnen, nicht aber zu 
ersetzen imstande sind. Sie dienen lediglich dem Zwecke der 
Vermeidung und Eliminierung der Fehler, die jene in vieler Hin¬ 
sicht aufweist, wobei sie sich aber selbst der inneren Wahr¬ 
nehmung in hervorragender Weise bedienen und diese sogar 
durch sich selbst zu korrigieren und zu vervollständigen streben. 
Lenkt man jedoch seinen Blick auf den Umstand, daß die Psycho¬ 
logie nicht dann ihr Ziel erreicht hat, wenn sie sich auf eine 
theoretisch möglichst einwandfreie Methode gründet, sondern wenn 
sie auch Ergebnisse aufzuweisen imstande ist, die zu einem in 
sich zusammenhängenden, objektiv als einwandfrei aufzeigbaren 
System vereinigt sind, so muß der praktische Wert der objektiven, 
die innere Wahrnehmung ergänzenden Methoden in unseren Augen 
wesentlich steigen. Denn wenn einmal eine Wissenschaft fehler¬ 
hafte Elemente aufweist, mögen diese auch in ganz geringer Zahl 
sein, so ist dadurch ihr Wert ganz wesentlich beeinträchtigt, und 
es kann sogar eine kleine Fehlstelle zum Zusammenbruch des 
Gesamtgebäudes fuhren. Von diesem Gesichtspunkte aus scheint 
es, als seien die objektiven Methoden sogar etwas Notwendiges 
und Unerläßliches. Des Vergleiches halber soll hier die Natur¬ 
wissenschaft herangezogen werden. Mag ein Physiker auf Grund 


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Uber die Methoden der Psychologie. 


449 


An eine solche objektive Methode, die die Fehler der inneren 
Wahrnehmung zu beseitigen hat, kann zunächst eine allgemeine 
Forderung gestellt werden, nämlich die, daß sie analog der 
exakten mathematisch-physikalischen Forschung in die Behand¬ 
lung der psychischen Phänomene eine exakte Methode einftihren 
solle. Daß nun diese Exaktheit einfach im Sinne Herbarts auf¬ 
gefaßt werden könne, der die Psychologie u. a. auf Mathematik 
gründen wollte, darf entschieden negiert werden *). Auf der an¬ 
deren Seite aber kann jene Exaktheit auch keineswegs im physi¬ 
kalischen Sinne gemeint sein, ein Gedanke, der auf den ersten 
Augenschein hin etwas Verlockendes haben könnte. Eine solche 
Möglichkeit aber widerlegt sich bei einer einfachen Berück¬ 
sichtigung der Differenz, welche die Voraussetzung der Psycho¬ 
logie von der der Physik scheidet. Die Exaktheit in der Physik 
gilt eben schlechterdings nur mit Rücksicht auf die dinglich¬ 
materielle Welt, auf das vom Bewußtsein in der Daseinsweise 
realer Dinge Unabhängige. Eine Psychologie aber, welche auch 
die psychischen Phänomene als materiell-wirkliche ansähe, würde 
eine merkwürdige Metaphysik sein. Man denke an den Wider¬ 
sinn, den es gibt, wenn im Bewußtsein Stoß und Gegenstoß statt¬ 
finden sollen 2 ), eine Meinung, die stillschweigend die Differenz 
übersehen würde, welche zwischen einem räumlich ausgedehnten, 
undurchdringlichen, in seiner Bewegung beharrenden physikali¬ 
schen Körper einerseits und dem jeder Räumlichkeit fremden und 
dementsprechend jeder analogen Meßbarkeit unzugänglichen psy¬ 
chischen Erlebnis andererseits besteht. Es muß aber außerdem 
noch bestritten werden, daß, wenn einmal das Ziel der inneren 
Psychophysik, so wie Fechner es meint, erreicht und die ge¬ 
nauen Beziehungen zwischen Körperwelt und Bewußtsein in idealer 
Weise aufgezeigt sind, diese Beziehungen etwa solche wären, 
welche ausschließlich in physikalischen Begriffen und Gesetzen 
faßbar wären. 

Der hierauf bezügliche Unterschied zwischen Psychologie untl 
Physik kommt noch in einem anderen Punkte zum Außdruc^^ 
Während nämlich die Physik nicht nur mit räumlich ausgedehnt^*. 


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451 


Über die Methoden der Psychologie. 

welches beide miteinander verbindet, nämlich das Assoziieren, 
bietet eine Menge von Problemen. Dazu aber kommt der Cha¬ 
rakter des Gesamterlebnisses aus jenen beiden Teilerlebnissen, 
der über ein einfaches, dem räumlichen Neben- oder Übereinander 
Vergleichbares weit hinausgeht. Auch läßt sich die mechanische 
Wechselwirkung zweier physikalischer Körper, etwa eines me¬ 
tallischen und eines hölzernen von 50 und 100 g, mit denen 
wir manipulieren, in keinerlei Analogie zu jenem Zusammen 
bringen. 

Ist somit eine direkte Übertragung der messenden, zählenden 
und berechnenden Methode der Physik in die Psychologie nicht 
am Platze, so bietet sich doch die Möglichkeit, dieselbe in in¬ 
direkter Weise für die Psychologie nutzbar zu machen. Solche 
Arten der indirekten Bestimmung finden sich sehr oft in der 
wissenschaftlichen Forschung; man denke vor allem an alle Be¬ 
stimmungen zeitlicher Art, die stets durch eine Veränderung, eine 
Bewegung, also unter Zuhilfenahme auch des Räumlichen erfolgt. 
Analog sind die Messungen der Elektrizität, die Bestimmung der 
Schallgeschwindigkeit usw. Alle an sich unsichtbaren Gegen¬ 
stände der Physik, die Kräfte, sind so überhaupt nur indirekt zu 
messen. Auch in der Physiologie werden etwa Muskelkräfte nicht 
direkt, sondern mit Hilfe von Leistungen, etwa des Hebens von 
Körpern und der Dauer derselben bestimmt. Ein treffliches Bei¬ 
spiel für alle indirekten Messungen ist das Kymographion, das 
zur Registrierung der mannigfachsten Tatbestände in der Physio¬ 
logie treffliche und unentbehrliche Dienste leistet. Man denke 
etwa an die Aufzeichnungen des Pulses oder der Atmung. Ver¬ 
lassen wir aber für einen Augenblick das engere Gebiet der 
Experimentalphysik und der Physiologie und blicken auf die 
astrale Physik. Hier hat die Spektralanalyse erstaunliche Dienste 
geleistet, indem man mit ihrer Hilfe nicht nur bekannte Elemente 
auf fremden Weltkörpern erkundete, sondern auch fremdartige, 
z. B. das vielgenannte Helium, und indem man sogar die 
anantitativen Verhältnisse dieser Körner in fremden Welten fand. 


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452 6. AnschUtz, 

Modifikation der Bewegungsrichtung eines Pendels in einem 
großen Raume stützt 1 ). 

Den speziellen Anlaß, die Untersuchung der psychischen Phäno¬ 
mene auf indirekte Weise zu unternehmen, bildet der allgemeine 
Umstand, daß die Tatsachen des Bewußtseins nicht in vollkom¬ 
mener Isolation von der Körperwelt stehen, sondern daß zwischen 
beiden ein Zusammenhang besteht, der sich sogar als ein ganz 
bestimmter offenbart. Zu dieser Erkenntnis sind keineswegs 
komplizierte und ins einzelne gehende Studien erforderlich, son¬ 
dern sie wird uns bereits durch Tatsachen des alltäglichen Lebens 
nahegelegt. Wenn man von solchen Erwägungen allgemeiner Art 
absieht, daß »niemand mit einem gefrorenen Gehirn oder mit 
einem Schwamme in seinem Hirnkasten denken kann« 2 ), wie sie 
Fechner gibt, so drängen sich der Betrachtung eine Menge von 
Einzelheiten auf, die sehr bald die Hypothese von festen Be¬ 
ziehungen zwischen Bewußtsein und Körperwelt aufkeimen lassen. 
Daß wir bei Beleuchtung durch zwei Lampen die Dinge besser 
erkennen als bei solcher durch eine, daß, wo wir stärkeren Druck 
empfinden, auch das Wirken einer größeren Kraft, z. B. eines 
Gewichtes angenommen wird und daß diese Beziehung nicht nur 
eine zufällige, sondern eine allgemein beobachtete ist, oder um 
die bekannten Termini einzufUhren, daß Reiz and Empfindung in 
bestimmter gegenseitiger Abhängigkeit stehen, ist nicht nur ein 
Postulat, sondern eine auf normaler Induktion beruhende und ein¬ 
leuchtende Tatsache. In solchen einfachen Daten aber ist der 
Angriffspunkt gegeben, an dem eine exakte Forschung einzusetzen 
hat; denn es scheint natürlich, daß, wenn die objektiven Reize 
durch die subjektiven Empfindungen irgendwie meßbar sind, dann 
auch umgekehrt von den Reizen auf die Empfindungen geschlossen 
werden könne. Freilich wird dieser letzteren Untersuchung die¬ 
jenige über die Gesetze, nach welchen sich Reiz und Empfindung 
einander zuordnen, vorangehen müssen. 

Wenn aber einmal jener Angriffspunkt da ist, so stehen der 
Anwendung mathematisch-physikalischer Methoden auf die Tat- 


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453 


Über die Methoden der Psychologie. 

Reize jederzeit nicht nur genauen Messungen unterzogen werden 
können, sondern sie auch einer willkürlichen und planmäßigen 
Variation fähig sind, da mit einem Worte auf sie alle Arten 
mathematisch-physikalischen Verfahrens anwendbar sind, so ist 
vor allem dem Experiment und der naturwissenschaftlichen In¬ 
duktion der Weg zur Welt der Empfindungen eröffnet. Es ist 
charakteristisch, daß sich bei jenem Versuche, die exakte Er¬ 
forschung der Empfindungen zu unternehmen, eine relativ selb¬ 
ständige Wissenschaft herausgebildet hat, die sich als eine ganz 
eigenartige und ein Grenzgebiet der Psychologie und Naturwissen¬ 
schaft bildende darstellt. Indem nämlich jener auf Grund ein¬ 
facher Tatsachen gemachten Voraussetzung, daß zwischen Reiz 
und Empfindung überhaupt ein bestimmter Zusammenhang bestehe, 
des näheren nachgegangen wurde, indem man sich also über den 
näheren Charakter jener Voraussetzung Rechenschaft zu geben 
suchte, fand sich, daß jene Beziehung keine eindeutig bestimm¬ 
bare und in einem einfachen Verhältnis faßbare Gesetzmäßigkeit 
enthalte, sondern daß zu einer diesbezüglichen Untersuchung eine 
ausgeprägte wissenschaftliche Methode eigener Art erforderlich sei; 
es entstand so die Psychophysik. 

Die Psychophysik ist in ihrem Grundgedanken nicht ganz neu, 
wenn sie auch als eigentliche Wissenschaft erst seit der Mitte des 
19. Jahrhunderts aaftritt. Allgemeinere Tatsachen wie die, daß 
der Lustzuwachs einer konstanten Vermögensdifferenz entspreche, 
waren schon D. Bernoulli 1 ) und Laplace 2 ) bekannt. Auch 
wußte Euler bereits von dem bestimmten Verhältnis zwischen 
Tonempfindungen und Schwingungszahlen, eine Beobachtung, die 
freilich in unklarerer Gestalt schon die Pythagoräer gemacht 
haben. Wenn endlich Hume 3 ) sagt, »daß Gegenstände nicht nach 
Maßgabe ihrer absoluten Größe, sondern entsprechend dem Größen¬ 
verhältnis, in dem sie zueinander stehen, auf den Geist einwirkeu 
und die Kontinuität seiner Tätigkeiten aufzuheben und zu unter¬ 
brechen vermögen«, so weist diese Beobachtung deutlich auf den 
Grundgedanken der Psvchoühvsik hin. Wenn wir nun auch di«* 


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454 


G. AnschUtz, 


Weber 1 ) anerkennen mögen, nach welchem das bekannte Gesetz 
seinen Namen trägt, so ist doch erst G. Th. Fechner 2 ) als der 
eigentliche Begründer dieser Wissenschaft anznsehen, dem wir die 
erste umfangreiche Darstellung des betreffenden Gebietes ver¬ 
danken. Wenn wir von der umfangreichen Diskussion absehen, 
die sich im Anschluß an Fechners Aufstellungen speziell von 
seiten G. E. Müllers 3 ) entspann und jenen zu seiner »Revision 
der Hauptpunkte der Psychophysik« veranlaßte, sowie von den 
weiteren Etappen in der Entwicklung der Psychophysik, die uns 
hier zu weit führen würden, und uns vielmehr wieder der sach¬ 
lichen Frage zuwenden, so haben wir in der Psychophysik keinen 
eigentlichen Teil der engeren Psychologie zu sehen, sondern nur 
ein Hilfsgebiet derselben 4 ). Im Vergleich zur Physik sowohl als 
auch zur Psychologie, sofern diese Phänomenologie ist, weist die 
Psychophysik eine erhebliche Komplikation in den Voraussetzungen 
auf. Denn indem sie einerseits die Bewußtseinstatsachen voraus¬ 
setzt, andererseits aber die Körperwelt, außerdem endlich von der 
Annahme einer festen Beziehung beider ansgeht, vereinigt sie die 
Voraussetzungen der Psychologie und der Physik miteinander und 
fügt noch eine neue hinzu. Diese Komplikation aber kommt in 
ihrer ganzen Untersuchungsweise zum Ausdruck, und wenn man 
sie so faßt, wie auch Fechner, nämlich in dem Sinne, daß sie 
nicht nur die Beziehungen zwischen Reiz und Empfindung, son¬ 
dern schließlich diejenige zwischen Bewußtsein und Körperwelt 
überhaupt aufzufinden hat, daß sie also äußere und innere Psycho¬ 
physik zugleich ist, dann kann die Lösung ihrer Aufgabe in ihrem 
ganzen Umfange, vielleicht für alle Zeiten, sicherlich aber für eine 
absehbare Zukunft, als problematisch gelten. 

Diese Einteilung der Psychophysik in eine äußere und eine 
innere scheint durch die psychischen Tatsachen nahegelegt. Daß 
wir zunächst im psychischen Leben eine allgemeine, wenn auch 
nicht unbedingt fest zu fixierende Scheidung zwischen gewissen 
äußerlichen Tatsachen, die wir als periphere oder Randphänomene 


1) Wagners Handb. der Phys. II. S. 550 ff. 

2) Elemente der Psychophysik. 1860. Vgl. auch Ber. der Sachs. Soc. 

iqko a oo 


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Über die Methoden der Psychologie. 


455 


bezeichnen können und bei denen wir insbesondere an die Emp¬ 
findung denken, und solcher anderen machen müssen, die eher 
zentrale zu nennen sind und deren Gebiet jedenfalls umfangreicher 
ist als das jener, ist eine fast ausnahmslos zugestandene Tatsache. 
Sie wird höchstens von solchen bis zu gewissem Grade geleugnet 
werden können, die Uber eine wissenschaftliche Betrachtung hinaus, 
ohne sich dessen bewußt zu sein, die Empfindungen die Elemente 
des gesamten Seelenlebens sein lassen 1 ). Während dann also die 
äußere Psychophysik die engere Aufgabe hat, die zwischen Reiz und 
zugehöriger Empfindung bestehenden Gesetze genau aufzufinden, 
kommt der inneren Psychophysik die bei weitem schwierigere Auf¬ 
gabe zu, die wir oben bereits als problematisch hinstellten, nämlich 
die Auffindung exakter, gesetzlicher Beziehungen zwischen jedwedem 
höheren, d.h. zentraleren seelischen und geistigen Phänomen und ent¬ 
sprechenden physikalischen bzw. physiologischen Tatsachen. Zum ge¬ 
ringeren Teile kann auch diese Aufgabe bereits als gelöst gelten; man 
denke an die Beziehungen, die nicht nur zwischen Tonempfindungen 
und Luftschwingungen, sondern auch zwischen jeder Wahrnehmung 
einer Gestalt und deren objektiven Grundlagen besteht. Hierher 
gehören Tonintervalle und räumliche Distanzen, aber auch die¬ 
jenigen Zwischenräume, welche der simultanen Harmonie zugrunde 
liegen. Die Frage der räumlichen Distanzen, was das Neben-, 
Über-, Hintereinander betrifft, ist bereits von Lotze 2 ) speziell 
untersucht worden, allerdings mehr unter Zuhilfenahme hypothe¬ 
tischer Elemente, nämlich der von ihm so benannten > Lokal¬ 
zeichen«, die eine Art Mittelglied sind, das der Seele das physi¬ 
kalisch Vorhandene auf physiologischem Wege näher bringen soll, 
und nicht auf dem Wege einer genauen Aufzeigung vorliegender 
Tatsachen. Die hier berührten Fragen schließen sich aber immer 
noch mehr oder minder an die äußere Psychophysik an. Gehen 
wir aber vollends zu solchen Phänomenen über, die rein zentrale 
genannt werden müssen, etwa ganz gegenstandslosen Gefühlen, 
Stimmungen, komplizierten Denkakten usw., so befinden wir uns 
im SDezielleren Gebiet der inneren Psvehonhvsik. die man eher 


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456 


6. Anschlitz, 


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Auffindung der gesetzmäßigen Beziehungen zwischen den zentralen 
psychischen Phänomenen einerseits und physiologisch konstatierten 
Gehirn- und Nervenprozessen andererseits. Sie sucht also keines¬ 
wegs nach einer Erklärung des Einen durch das Andere, sondern 
sie will lediglich den gesetzlichen Zusammenhang beider Welten 
aufdecken. Dabei kann ihre speziellere Voraussetzung in dem 
Bestehen des sogenannten psychophysischen Parallelismus gesehen 
werden. Auf der anderen Seite aber liegen, zumal wo es sich um 
die zentraleren Phänomene handelt, noch so wenig Tatsachen vor, 
daß in diesen nur gewisse Anhaltspunkte für das Postulat gesehen 
werden dürfen, daß auch komplizierten Bewußtseinstatsachen, wie 
Erinnerung usw., physiologische Tatsachen überhaupt parallel 
gehen, und daß dann weiter dieser Parallelismus in seiner spe¬ 
ziellen Gesetzmäßigkeit aufweisbar ist. Jenes Postulat kann die 
Psychophysik gegenüber einer Behauptung, die auf die unendlich 
fein differenzierte Gestalt der Bewußtseinsphänomene verweist und 
auf Grund derartiger Erwägungen dasselbe zu entwerten sucht, 
behaupten und mit Recht entgegenhalten, daß, wenn auch die 
Komplikation der seelischen Erscheinungen eine unendliche und 
staunenerregende sei, ihr doch die physikalischen und speziell die 
physiologischen die Wage halten könnten, da auch jedes Atom 
der unzähligen Atome im Weltenraume erst durch die Komplika¬ 
tion und das Zusammenwirken sämtlicher anderer Atome in seiner 
Lage und Kraftwirkung, ja in seiner ganzen Existenz bedingt sei. 

Wenn wir allgemein die Frage entscheiden sollten, ob die 
Psychophysik eher Physik oder ob sie eher Psychologie zu nennen 
sei, so müßten wir uns im letzteren Sinne entscheiden. Denn 
wenn sie auch mit äußeren Tatsachen operiert und vor allem 
Reize variiert und somit eine ganz ähnliche Tätigkeit vollzieht 
wie die Physik, so muß sie doch als dem Psychischen zugewandt 
gelten, da sie alle jene Manipulationen nur im Interesse der 
Psychologie, also in der Funktion eines Hilfsgebietes der Psycho¬ 
logie ausführt. Sie ist diejenige Methode, die einer weiteren Unter¬ 
suchung erst die nötigen Angriffspunkte aufzudecken hat. Inwie- 


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457 


Über die Methoden der Psychologie. 

würden. Sondern einmal liegen in Empfindungen und deren 
Komplexen, den Wahrnehmungen, bereite mehr oder weniger zen¬ 
tralere Phänomene, oder aber es treten diese sogar in jenen deut¬ 
lich hervor, wodurch der natürliche Übergang von den Raud- 
phänomenen in jene zentraleren für eine exakte Forschung ge¬ 
geben ist. Hierbei ist hauptsächlich an solche Erscheinungen 
gedacht, wie Erinnerung, die eine rein sinnliche sein kann, dann 
weiter an Aufmerksamkeit, sogar Abstraktion und Assoziation. 
Alle diese zentraleren Phänomene können in den Empfindungen 
mehr oder minder enthalten sein und sich somit in jenen der 
Untersuchung darbieten. Daß sie sich in den Empfindungen zu¬ 
gleich nicht erschöpfen, muß allerdings betont werden. 

Bei der Frage, in welchem Sinne denn eigentlich in der Psycho- 
physik der Angriffspunkt für eine exakte Erkenntnis psychischer Tat¬ 
sachen gesehen werden könne, muß an zwei Umstände erinnert 
werden, nämlich an den, daß die Empfindungen nicht direkt, sondern 
nur indirekt, d. h. unter Zuhilfenahme der ihnen zugehörigen Reize 
gemessen werden, dann aber auch an jenen anderen, daß es im psy¬ 
chischen Leben keine absoluten Größen, keine Maßeinheiten gibt. 
Wenn es sich also in der Psychophysik überhaupt um ein Messen 
handeln kann, so nur um ein solches von Empfindungen an Empfin¬ 
dungen J ). Zu diesem Zwecke einer relativen Bestimmung psy¬ 
chischer Phänomene aber muß zur mathematisch-physikalischen 
Bestimmung der Reize auch die entsprechende Selbstbeobachtung 
des Individuums hinzukommen, an welchem die Gesetze von Reiz 
und Empfindung gefunden werden können. So kompliziert sich 
also die psychophysische Methode aus jenen beiden Elementen in 
eigenartiger und origineller Weise. Auf die speziellen Methoden, 
die sich nun in dieser Richtung herausgebildet haben, soll hier 
nicht eingegangen werden. Sie sind von den verschiedenen 
Autoren zum Teil unter dem Titel der psychologischen Methoden, 
eine Bezeichnung, deren Berechtigung bestritten werden kann, 
eingehend behandelt worden. Diese Methoden, die zunächst aus¬ 
schließlich der nsvchonhvsischen IInter8nchnnß , eieren sind, können 


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458 


G. Anschütz 


bereits die Angriffspunkte zur Erforschung der höheren geistigen 
Phänomene liegen, wollen wir noch kurz einen Blick auf die 
Weise machen, in welcher dies geschieht. Abgesehen davon, 
daß zunächst die Empfindungen in ihren »Leistungen« wesent¬ 
lich variieren, je nachdem in ihnen solche Erscheinungen wie 
Aufmerksamkeit und Interesse des Individuums an dem Empfun¬ 
denen zur Geltung kommen, mag hier die bereits gestreifte 
charakteristische Weise erwähnt sein, wie van Biervliet l ) Intelli¬ 
genzmessungen vornahm, die auch wiederum als eine indirekte 
angesehen werden muß, da sie analog, wie die Psychophysik von 
den Reizen auf die zugehörigen Empfindungen zu schließen ver¬ 
mag, aus den Empfindungen auf zentralere Phänomene Ubergreift. 
Die Untersuchungen Biervliets, die einen eigenartig indirekten 
Ausgangspunkt haben — sie greifen zum Zweck einer Intelligenz- 
prüfung eine Anzahl von auffällig, jedoch nicht einseitig intelli¬ 
genten Personen heraus —, haben festgestellt, daß, allgemein ge¬ 
sagt, die relativ größere Konstanz in den Empfindungsleistungen, 
z. B. was die zum Erkennen von Schriftzeichen erforderliche Di¬ 
stanz betrifft, ein Kriterium für eine im allgemeinen höhere In¬ 
telligenz sei. 

Es soll jedoch an dieser Stelle auf solche Fragen nicht näher ein¬ 
gegangen werden und vielmehr noch eine andere kurz erörtert sein, 
nämlich die, daß es sich bei Empfindungen nur um relative Größen¬ 
bestimmungen handeln könne, und eine andere, sich an jene an¬ 
schließende, nämlich die nach der Stabilität der zu untersuchenden 
Erscheinungen. Damit nämlich schon in der einfachen äußeren Psy¬ 
chophysik eine Messung von Empfindungen sinnvoller Weise statt¬ 
finden kann, ist erforderlich, daß die Empfindungen »unter sonst 
konstanten Bedingungen des Bewußtseinszustandes in unmittelbarer 
Aufeinanderfolge gegeben werden« 2 ). Daß diese Einschränkung eine 
notwendige ist, geht aus verschiedenen Erwägungen hervor. Zunächst 
muß daran erinnert werden, daß im psychischen Leben überhaupt 
absolute Größenbestimmungen nicht möglich sind, daß man also, 
spezieller ausgedrtickt, die Empfindungen, die ein bestimmtes Indi- 


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Über die Methoden der Psychologie. 


459 


irgendwie zu veranschaulichen oder jemandem sonst zur genauen 
Kenntnis zu bringen, so daß er fortan ein absolutes Maß für seine 
Empfindungen hätte. Andererseits könnten nicht einmal für jenes zur 
Bestimmung einer eventuellen Maßeinheit herangezogene Individuum 
die Bedingungen so gestaltet werden, daß für dieses selbst ein 
absolutes Maß der Empfindung möglich wäre. Würde es aber 
wirklich in einem Zeitpunkte ein solches haben können, so ist 
doch auf der anderen Seite keine Möglichkeit vorhanden, jene 
Einheit irgendwie dauernd im Bewußtsein zu fixieren; alle Be¬ 
wußtseinselemente pflegen unter normalen Bedingungen in einem 
gewissen, der zeitlichen Distanz vom Punkte ihres Auftretens ab 
umgekehrt proportionalen Verhältnis an Lebhaftigkeit zu verlieren 
und gleichsam abzuklingen." Dazu kommen die mannigfachen 
Erinnerungstäuschungen, die entsprechend in um so größerem 
Maße auftreten, je weiter der Zeitpunkt des Erlebnisses zurück¬ 
liegt, und die durch die zahllosen neu auftretenden Bewußtseins¬ 
elemente wesentlich gefördert werden. Vor allem ist hier an den 
ständigen Wechsel der Gesamtdisposition des psychischen Indi¬ 
viduums gedacht, einen Faktor, der jeder exakten Erkenntnis die 
größten Schwierigkeiten in den Weg legt. Um diesen erheblichen 
Hindernissen entgegenzutreten, bietet sich aber nur eine Möglich¬ 
keit, nämlich die der Einschränkung der Beobachtungszeit auf ein 
Minimum, auf Sekunden und womöglich auf kleinste Bruchteile 
von solchen, da vollkommene Simultaneität leider nicht in Betracht 
kommt. Im Verlaufe so geringer Zeitintervalle wird weder die 
Disposition so wesentlich variieren, noch aber werden die Er¬ 
innerungstäuschungen eine so wesentliche Rolle zu spielen im¬ 
stande sein, daß wir beachtenswerte Fehlerquellen annehmen 
müßten. Wir können vielmehr, rein praktisch genommen, trotz 
aller theoretischen Erwägungen, die auch durch die geringsten 
Zeitintervalle eine Veränderung der Disposition bedingt sein lassen, 
in solchen Fällen eine Konstanz des Gesamtbewußtseins annehmen, 
so daß wir nunmehr ein neutrales Feld für das Experiment haben. 
Auch dann aber wird, wie bereits in den obigen Ausführungen 
erwähnt wurde, eine absolute Größenbestimmung nicht möglich 
sein, da ja alles Absolute nicht auf kleine Zeitintervalle, eventuell 

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460 


G. Anschiite, 

anderen, ja sogar als zwei-, drei-, viermal oder einhalb-, eindrittel¬ 
einviertelmal so intensiv wie andere bestimmt werden können. 
Diese Bestimmungen gehen sogar sehr weit und sind großer Kompli¬ 
kationen fähig. Man denke z. B. an die genauen Helligkeitsbestim- 
mnngen in Farben nnd deren relative Wandlung bei zunehmender 
Dnnkelheit, wie sie am > Purk inj eschen Phänomen« auftritt 1 ). 

Zu dergleichen Untersuchungen aber bedient man sich des aus¬ 
geprägten psychophysischen Experimentes, das sich nicht einfach, 
wie das physikalische, auf einige wenige Fälle oder sogar anf 
einen einzigen beschränken kann, sondern sich zunächst anf die 
Menge der Beobachtungen zu stutzen hat. Lassen wir aber die 
nähere Besprechung dieses Prinzips für spätere Ausführungen und 
greifen von ihm nur den allgemeinen Gedanken heraus, daß die 
vergleichende Tätigkeit, sofern sie in der Psychophysik zur Be¬ 
stimmung der Empfindungsdifferenzen herangezogen wird, durch 
die Menge der Fälle, deren sich das Experiment bedient, eine 
weitere Vervollkommnung erfahren soll, so können wir die Frage 
aufwerfen, wann jenes Vergleichen der Empfindungen eine mög¬ 
lichst vollkommene Gestalt erreicht habe. Daß zunächst durch 
die Menge der Fälle nnd die Berechnung des allgemeinen Mittel¬ 
wertes viel fehlerhafte Fälle verschwinden oder wenigstens an¬ 
nähernd ausgeschieden werden, muß anerkannt werden. Sehen 
wir aber auch von den bekannten Variationen ab, die in der 
mannigfachsten Weise zur Vermeidung von Fehlerquellen ange¬ 
wandt werden — es sei nur an die Verschiebung der Bedingungen, 
unter welchen bei der Variation der Fälle das betrachtende Indi¬ 
viduum steht, nnd weiter im spezielleren an die Variation inner¬ 
halb der einzelnen Empfindungsgebiete, dann aber auch an die 
Heranziehung verschiedener Empfindungsgebiete nnd an die Varia¬ 
tionen der Zeiten und Zeitintervalle erinnert —, so kann das viel¬ 
genannte Prinzip der Variation noch eine spezielle Anwendung 
von origineller Art erfahren, indem wir auf einen früher erwähnten 

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Über die Methoden der Psychologie. 


461 


leicht zu erläutern, bei welchem es sich nicht um eine auf einen 
Bruchteil von Sekunden beschränkte Einstellung des Apparates 
auf Grund eines einmaligen sukzessiven Vergleichens handelt, son¬ 
dern um ein jedenfalls mehrere Sekunden dauerndes abwägendes 
Vergleichen, welches entweder eine Helligkeit sucht, die gleich 
oder zwei-, dreimal so groß ist wie eine andere, oder eine Farben¬ 
gleichung, einen gleichen Sättigungsgrad oder gleiche Intensität 
hersteilen soll. Diese Art des Vergleichens bietet jedenfalls be¬ 
deutende Vorteile, und die Psychophysik wird sie in vielen Fällen 
mit Glück anwenden können. 

Es mögen noch ein paar weitere Beispiele angeführt werden, 
die uns auf die Fehlerhaftigkeit einfachen Vergleichens hinweisen. 
Man stellt etwa Versuche an, gleichgültig zu welchem Zwecke, 
hei denen man Eindrücke optischer, akustischer, eventuell auch 
taktiler Art miteinander vergleichen läßt. Die Versuchsanordnung 
ist so, daß sich in sorgfältig genau eingehaltenen Zeitintervallen 
zwei Reize folgen, denen also zwei Empfindungen entsprechen, 
die bezüglich der Intensität oder Dauer verglichen werden sollen. 
Jeder einzelne Eindruck wird durch ein bestimmtes Zeichen, das 
ebenso sorgfältig zeitlich fixiert ist und dessen Charakter in jeder 
Beziehung möglichst konstant gehalten wird, angekÜDdigt. Auf 
den Eindruck hin folgt dann das Urteil der Versuchsperson, welches 
ein »heller, lauter, früher usw.« angibt und eventuell diese An¬ 
gaben noch mehr präzisiert; die Äußerungen lauten z. B. auf ein 
»ich glaube, wahrscheinlich ist es so« usw. Ferner können wir 
auch die Zeiten, welche vom zweiten Eindruck bis zum Urteil 
verstreichen, genau messen, uud diese Messung kann wieder in 
eine solche zerfallen, welche sich auf das Zeitintervall zwischen 
dem zweiten Eindruck und einem allgemeineren Urteil, welches 
überhaupt erst das Aufgefaßtsein beider Reize verkündet, bezieht, 
und eine andere, der es auf die Bestimmung der Zeitintervalle 
zwischen jenem allgemeinen Urteil und der spezielleren Angabe 
ankommt; oder aber es wird nur die Zeit bis zum ersten Urteil 
oder die vom ersten bis zum sozialisierten fremeasen. Diese 


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462 


G. Anschütz, 


äoßeren Genauigkeit ist auf die Disposition des Beobachtenden 
zu wenig Rücksicht genommen, in deren Veränderung bei der¬ 
artigen Versuchen eine wesentliche Irrtumsquelle liegt. Vor allem 
ist zu beachten, daß, wenn auch eine allgemeine Aufgabestellung 
eine gewisse Konstanz in der Verfassung garantieren kann, so 
doch das gleichsam Zerrissene solcher Versuche gewisse, wenn 
auch kleine, so doch immerhin wirksame, für den Experimentator 
aber unbekannte Schwankungen in der Disposition herbeiftihrt. 
Wenn der erste Eindruck kommt, so trifft er eine Disposition axyx 
an, in der wir nur den Faktor a, das Moment der Aufgabestellung, 
kennen. Die Disposition verändert dann offenkundig auf den 
ersten Eindruck hin ihre Gestalt während der Zwischenzeit zum 
zweiten Eindruck, bei welchem sie die allgemeine Form Bx y x 
haben mag. Endlich aber wirkt auch der zweite Eindruck wieder 
zugunsten einer konstanten Disposition, so daß wir endlich ein 
B (x y x) haben. Hier ist nun freilich das Unbekannte in der 
Disposition, die Elemente xyx, wesentlich eingeschränkt. Aber 
es muß stark bezweifelt werden, daß jene Einschränkung nicht 
noch in weit höherem Maße hätte stattfinden können. Das zwi¬ 
schen dem ersten und dem zweiten Eindruck verfließende Zeit¬ 
stück gibt für allerlei unbekannte Veränderungen, das Auftauchen 
von Gefühlen, Gedanken, Erwartungen, einen günstigen Angriffspunkt, 
und wir müssen suchen, wie jenem Übelstande abzuhelfen sei. 

Wir können nun zu dem Zwecke auf die erwähnte Art der 
oszillierenden Vergleichstätigkeit rekurrieren. Wenn wir z. B. statt 
zweier sukzessiver Eindrücke, die um zwei Sekunden zeitlich 
differieren, zwei solche haben, die während dieser Zeit in mehr¬ 
facher Abwechslung auftauchen, so ist zunächst die rein sinnliche 
Aufmerksamkeit wesentlich mehr gefesselt als in jenem anderen 
Falle, und demgemäß wird auch auf die allgemeine Disposition 
in günstigem Sinne eingewirkt werden. Es ist auf die Weise das 
Auftauchen von Bewußtseinselementen verschiedenen Charakters, 
welches äußerlich oder innerlich motiviert sein mag, wesentlich 
eingeschränkt. Daß freilich jene Weise des Vergleichens von 


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Über die Methoden der Psychologie. 


463 


parallel gehenden Konstanz in der Gesamtdisposition als ein Mittel 
hingestellt werden, dessen Verwendung in weitem Umfange an¬ 
gestrebt werden muß. Welchen Wert aber jedes Vergleichen für 
Untersuchungen psychophysischer, ebensogut aber auch rein psycho¬ 
logischer Art hat, bedarf keiner besonderen Betonung. 

Die letzteren Betrachtungen haben den nunmehr folgenden über 
die eigentliche experimentelle Psychologie bereits vorgegriffen, ins¬ 
besondere, sofern vom Vergleichen die Rede war, das ja selbst 
ein ausgeprägtes Problem des psychologischen Experimentes ist. 
Daß aber von einer psychophysischen Methode nicht ganz für sich 
die Rede sein kann, sondern daß einige in andere Gebiete Uber¬ 
greifende Fragen auch bei ihrer Besprechung eine gewisse Berück¬ 
sichtigung verdienen, liegt in der Tatsache begründet, daß auch 
die Gegenstände der Psychophysik und die der experimentellen 
Psychologie, welche, an sich betrachtet, miteinander in keinem 
engeren Zusammenhänge stehen, ineinander tibergreifen, so daß 
eine Entscheidung oft nur mit Mühe zu fällen ist, wo die Psycho¬ 
physik aufhöre und die experimentelle Psychologie anfange. Die 
genaue Abgrenzung beider Gebiete läßt sich ebensowenig mit ab¬ 
soluter Gewißheit ein für allemal feststellen, wie diejenige von 
äußerer und innerer Psychophysik im Sinne Fechners. Und der 
Unterschied beider Gebiete sowie dementsprechend der in ihnen 
zur Anwendung gelangenden Methoden wird sich daher nur in 
begrifflicher Form absolut festlegen lassen. Hier freilich scheint 
die Differenz eine prinzipielle. Die Psychophysik hat es als 
solche schlechterdings nur mit der Auffindung der gesetzlichen 
Beziehungen zwischen Bewußtsein und Körperwelt zu tun, da¬ 
gegen besteht die Aufgabe der eigentlichen experimentellen Psycho¬ 
logie vielmehr in der Untersuchung der psychischen Tatsachen 
und der gesetzlichen Beziehungen in ihnen, wobei sie jene von 
der Psychophysik näher zu erforschenden Beziehungen als gesetz¬ 
liche voraussetzt, indem sie darauf aufbaut, daß nun einmal psy¬ 
chische Phänomene in irgendeiner Weise ein sie repräsentierend 
Korrelat in der Körperwelt haben und daß somit ihre Erforschung 
unter Zuhilfenahme jener Korrelate und der Beziehungen in ihnen 


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G. Anschütz, 


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wozu sie denn eigentlich ihre Bemühungen anstelle, wozu es dien¬ 
lich sein könne, von exakten Beziehungen zwischen Bewußtsein 
und Körperwelt zu wissen, so kann die Antwort nur dahin lauten, 
daß auf Grund jener Beziehungen der Weg zu einer exakten Er¬ 
kenntnis seelischer Phänomene angebahnt sei, da ja nunmehr die 
Reize gleichsam an Stelle der ihnen entsprechenden Empfindungen 
untersucht, und zwar exakt untersucht werden könnten. 

Ein weiteres Unterscheidungsmoment zwischen Psychophysik 
und experimenteller Psychologie kann man in der Tatsache sehen, 
daß ein ganzes Gebiet der Psychophysik, nämlich die innere oder 
die Psychophysiologie, in seinen weitaus meisten Problemen ein 
Gebiet ist, in welchem es fast nur Postulate, Vermutungen, Hypo¬ 
thesen und Annahmen der mannigfachsten Art gibt Wie das 
nähere Verhältnis zwischen Gehirn und Seele, Nervensystem und 
Bewußtseinsleben sei, darüber werden zurzeit noch die mannig¬ 
fachsten Spekulationen laut. Denkt man sich aber einmal jene 
Frage in weitgehendem Maße gelöst, so steht die Psychophysik 
vor einer merkwürdigen Krisis. Entweder muß sie Halt machen 
und sich auf das von ihr erworbene Gebiet beschränken, oder sie 
muß die Kluft zwischen Bewußtsein und Körperwelt überschreiten 
und somit Metaphysik werden. Die Psychophysik nimmt somit 
eine nur einmal im gesamten Gebiete der Wissenschaft vorkom¬ 
mende, ganz originelle Stellung ein, die kein anderes Gebiet auch 
nur in annähernd ähnlicher Weise aufzuzeigen vermag. Dagegen 
ist die experimentelle Psychologie in einer prinzipiell anderen 
Lage, die man eher der der Physik vergleichen kann; denn 
indem sie einfach jene Beziehungen zwischen Bewußtsein und 
Körperwelt voraussetzt und sich um ihre nähere Bestimmung nicht 
kümmert, kann sie unbeschadet des Umstandes an die Unter¬ 
suchung der Phänomene des Seelenlebens unter Zuhilfenahme der 
entsprechenden parallelen Erscheinungen in der Welt der sicht¬ 
baren Gegenstände, z. B. der körperlichen Lebensäußerungen 
fremder Individuen, herangehen. Wollte sie sich mit der Frage 
befassen, wie wir überhaupt zum Bewußtsein der Außenwelt, 
speziell anderer Individuen kommen, so würde sie Uber das ihr 
natürlich zukommende Gebiet hinausgreifen und etwas ähnliches 


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Über die Methoden der Psychologie. 


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haupt von einer Materie und von materiellen Gegenständen ge¬ 
redet werden könne. Mag non aber die experimentelle Psycho¬ 
logie in ihrem Gebiete so weit Vordringen wie die Physik in der 
Körperwelt, so wird sie, wenn ihr auch natürliche Schranken ge¬ 
setzt sind, doch niemals an eine analoge Grenze gelangen können 
wie die Psychophysik, und wenn sich auch in dem Bereich ihrer 
Gegenstände manches Gebiet finden mag, dessen Erkundung aus 
prinzipiellen Erwägungen heraus als Möglichkeit gelten kann, so 
werden sich doch, was ein unbegrenztes Vordringen derselben be¬ 
trifft, ungeheure praktische Schwierigkeiten in den Weg stellen. 
Schließlich aber kann die Berechtigung auch jener prinzipiellen 
Erwägung bestritten werden, da es im psychischen Leben noch 
manche dunklen Gebiete gibt, deren Erforschung wegen der Un¬ 
bekanntheit mit denselben weder direkt behauptet noch aber 
wissenschaftlich als unberechtigt erwiesen werden kann. 

Wenn wir an dieser Stelle noch einen Unterschied beider 
Wissenschaftszweige konstatieren wollen, so können wir auf ein 
später näher zu bezeichnendes Moment verweisen. Wenn nämlich 
beide auf Exaktheit Anspruch erheben, so ist die Exaktheit der 
experimentellen Psychologie nicht im gleichen Sinne aufzufassen 
wie die psychophysische. Denn während diese letztere in einer 
Art, die der mathematisch-physikalischen Methode nahe kommt, 
solche allgemeine Tatsachen und Gesetze findet, die sie in der 
Weise mathematischer Formeln zu fassen vermag — man denke 
an das Webersche Gesetz —, kann die experimentelle Psycho¬ 
logie keineswegs eine Exaktheit im gleichen Sinne treiben. Son¬ 
dern, indem ihrer Forschungsweise das Moment der Verwendung 
von Statistiken charakteristisch ist, ergibt sich dementsprechend 
für die nähere Bestimmung ihrer Methode das Prädikat, sie gehe 
zunächst nicht auf Gewinnung allgemeiner Gesetze, vor allem aber 
nicht solcher, die in exakten mathematischen Formulierungen zu 
fassen wären, sondern ihre Aufgabe sei in erster Linie die Auf¬ 
stellung von Statistiken, aus denen zunächst noch keine Gesetze, 
sondern nur Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten folgen. Da- 


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Über die Methoden der Psychologie. 

teilen Physik erschöpfen, die in Parallele zur experimentellen 
Psychologie stehen soll. Andererseits aber kann weder von Ber 
wußtseinselementen in Analogie zu physikalischen Körpern die 
Rede sein, noch aber von einer Kausalerklärung, die Wundt doch 
an anderer Stelle der Physik mit Recht zuschreibt 1 ). Endlich 
aber steht das ganze zählende Verfahren der experimentellen 
Psychologie, also ihre Statistik, zur Physik in einem gewissen, 
wenn auch nicht absoluten Gegensatz. 

Kehren wir aber von diesen Fragen, die uns zu weit führen 
würden, zur Unterscheidung der experimentellen Psychologie von 
der Psychophysik zurück, so müssen wir betonen, daß, so sicher 
jene Scheidung zu machen ist, doch die beiden Methoden bei der 
Einführung einer exakten Untersuchungsweise in die Psychologie 
nicht immer getrennt werden können. Wenn man die beiden 
Methoden mit Rücksicht auf eine gewisse Gemeinsamkeit ihres 
schließlich zu erreichenden Zieles zusammenstellt, so verhält es 
sich mit ihnen, wenn auch nicht ebenso, so doch ähnlich wie mit 
den Methoden der Chemie und Mineralogie oder wie mit denen 
der Physiologie und Zoologie. Beide sind jedesmal voneinander 
zu trennen; aber es ist klar, daß sie sich in den mannigfachsten 
Weisen gegenseitig verbinden und ergänzen. Wie aber etwa die 
physiologische Methode mehr oder minder Anwendung in der Zoo¬ 
logie verdient, so muß auch die psychophysische in der experi¬ 
mentellen Psychologie eine Berücksichtigung finden. Freilich kann, 
wie oben angedeutet, eine reine, von psychophysischen Elementen 
freie experimentelle psychologische Untersuchung sehr wohl an¬ 
gestellt werden; dahin gehören derartige Versuche, die die ge¬ 
samte Wechselbeziehung zwischen Bewußtsein und Außenwelt von 
vornherein stillschweigend voraussetzen, und wenn sie auch in 
dieser Voraussetzung ein Problem von ganz eigenartigem Cha¬ 
rakter zu sehen hat, so doch auf eine eingehende Behandlung 
desselben nicht nur verzichten kann, sondern auch gut tut, diesen 
Verzicht zu leisten. Das psychologische Experiment teilt also zu¬ 
nächst mit der Psychophysik deren sämtliche Voraussetzungen. 

TnHpm Ps «her weiterhin »nph Hie Dentharkeit — im Gegensatz 


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G. Anschütz, 


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ein Maximum von Voraussetzungen auf. Dabei soll von derartigen 
Voraussetzungen, daß andere Individuen auch ein im gleichen 
Prinzip konstituiertes Bewußtseinsleben besitzen wie wir, und 
anderen ähnlichen nicht einmal die Rede sein. 

Jene ihr charakteristische Voraussetzung von Zusammenhängen 
eigener Art im Bewußtsein und deren Deutbarkeit auf Grund des 
Experimentes läßt sich noch näher bezeichnen. Die gemeinten 
Zusammenhänge sind z. B. in den Regeln des Assoziierens, Aus¬ 
wendiglernens, und Behaltens, Aufmerkens usw. ausgedrllckt. Daß 
die Probleme, welche sich hier eröffnen, unzählig sind, ist allge¬ 
mein bekannt. Zugleich zeigt sich auch zwischen ihnen und der 
Praxis des Lebens ein enger Zusammenhang. Sie verkörpern ein 
selten konkret faßbares Gebiet der Psychologie. Man denke nur 
an den hohen Prozentsatz unter allen psychologischen Experimenten, 
der auf Gedächtnisversuche fällt. Nächst diesem Gebiete hat das¬ 
jenige der Assoziation wesentliches Interesse gefunden. Das der 
Aufmerksamkeit war bis vor kurzem noch ziemlich unbearbeitet, 
bis in neuerer Zeit z. B. 0. Klemm ‘) ausgedehntere Untersuchungen 
in dieser Richtung angestellt hat. Wegen des großen Umfanges 
jener Probleme ist auch ihre Einteilung etwas erschwert. Jeden¬ 
falls aber kann eine ganz allgemeine in dem Sinne aufgestellt 
werden, daß man die einfacheren Erscheinungen den komplizier¬ 
teren gegenüberstellt. Die experimentelle Psychologie aber wird 
analog jeder anderen Wissenschaft naturgemäß vom Einfachen 
zum Komplizierten übergehen, da sich dieses letztere in gewissem 
Sinne auf jenes aufbaut. Sie verfolgt dabei insbesondere den 
analogen Weg wie auch die Psychophysik, die, mit den einfachsten 
Reizen und Empfindungen und deren Wechselbeziehungen begin¬ 
nend, zu immer komplizierteren Fragen fortschreitet. Welches nun 
die »Elemente« des Seelenlebens seien, diese Frage ist zumeist 
zugunsten der Empfindungen entschieden worden, ein Standpunkt, 
der dann als berechtigt gelten darf, wenn die Empfindungen als 
Elemente nicht in dem Sinne genommen werden, wie sie auf 
naturwissenschaftlicher Seite 2 ) gern verstanden werden, nämlich 
als grundlegende, eventuell gar konstituierende Elemente des Be- 


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Über die Methodea der Psychologie. 


469 


Mit jener Behauptung, die Empfindungen seien die Elemente 
des Seelenlebens, ist aber noch nichts Wesentliches gesagt, und 
eine präzisere Aufstellung und Abgrenzung der für die experimen¬ 
telle Psychologie in Betracht kommenden psychischen Erschei¬ 
nungen ist eine Aufgabe von selten großer Tragweite für die Er¬ 
kenntnis der psychischen Tatsachen. Bei einer derartigen Er¬ 
wägung müssen wir von vornherein viele der inneren Wahrnehmung 
überhaupt nicht zugänglichen Objekte ausschalten, nämlich die 
absolut originellen und streng genommen nur erlebbaren Erleb¬ 
nisse. Auf der anderen Seite fällt unser Blick sogleich auf andere 
Tatsachen, die nur dem Experiment zugänglich sind, nämlich die¬ 
jenigen, welche lediglich an einer Menge von Fällen beobachtbar 
sind, mögen nun diese Fälle an einem Individuum, oder aber an 
mehreren, oder endlich an ganzen Volksmassen stattfinden. Dann 
bleibt uns noch das nunmehr allgemein abgegrenzte, aber immer 
noch ungeheuer weite Gebiet derjenigen psychischen Erlebnisse, 
die auch der inneren Wahrnehmung zugänglich sind und deren 
Erkenntnis das Experiment in gewisser Hinsicht vervollständigen 
soll. Nehmen wir aber auch hier auf die Forderung Rücksicht, 
daß mit dem relativ Elementaren begonnen werden solle, und 
sehen wir von den bereits erwähnten Empfindungen selbst ab, so 
können als solche nur diejenigen in Betracht kommen, welche in 
den sinnlichen Empfindungen impliziert stecken und zunächst einer 
Explikation zum Zwecke einer Untersuchung unterzogen werden 
müssen.. Dergleichen allgemeinere psychische Phänomene aber 
sind sehr geläufig. 

Ein paar Beispiele für die Heraussonderung und Aufstellung 
von Problemen aus einzelnen komplexeren psychischen Erschei¬ 
nungen wird das Gemeinte zu veranschaulichen imstande sein. 
Eine komplexere psychische Tatsache haben wir z. B. dann, wenn 
jemand, der einer Versammlung beiwohnt und mit seinen Gedanken 
abwesend ist, durch einen Freund, der ihm auf die Schulter klopft, 
aufgeweckt wird und aufmerkt, oder wenn ein Musiker beim An¬ 
hören einer SvmDhonie sich tranz in diese verliert. his ihn ein 


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G. Anschütz, 


aber die experimentelle Psychologie greift sie nicht in jener »un¬ 
beschnittenen« Form auf, sondern sie läßt ihrer Untersuchung 
eine genaue, womöglich sehr weitgehende Abgrenzung und Be¬ 
schränkung des zu erforschenden Tatbestandes vorangehen. Sie 
richtet ihr Augenmerk, um auf die angeführten Beispiele zurück- 
zugreifen, nicht auf das Aufmerken des Versammlungsmitgliedes, 
des Musikers oder Politikers, sondern auf das Aufmerken schlecht¬ 
hin, sofern es sich an Empfundenes, an sinnliche Eindrücke op¬ 
tischer, akustischer oder anderer Art anschließt oder bereits in 
diesen zum Ausdruck kommt. Es wird freilich niemals die Auf¬ 
gabe unternommen werden können, derartige Phänomene in ihrer 
Isolierung greifen zu wollen, sondern jederzeit in einem gewissen, 
nunmehr aber willkürlichen und planmäßigen, d. h. nach be¬ 
stimmten Prinzipien herbeigeführten Zusammenhang. Während so 
gewissermaßen eine Verallgemeinerung der Aufgabe für die ex¬ 
perimentelle Psychologie eingetreten ist, müssen wir auf der an¬ 
deren Seite stets eine Spezialisierung vornehmen, die freilich 
nicht in der Gesamtheit des Problems, wohl aber in den einzelnen 
Etappen seiner Behandlung liegen soll. Denn da nun einmal ein 
Aufmerken usw., wenn es sich um ein sinnliches handelt, stets 
auf ein bestimmtes Empfinduugsgebiet bezogen ist und auf einem 
bestimmten Sinnesorgan beruht, da mit anderen Worten psychische 
Individuen nicht überhaupt, sondern mit Hilfe der Sinnesfunktionen 
in Konnex mit der Welt der äußeren Reize stehen, so scheint 
die Bemerkung fast überflüssig, daß auch das psychologische Ex¬ 
periment auf jene Tatsache Rücksicht nehmen und zunächst das 
Aufmerken nur untersuchen solle, sofern es in einer Empfindung 
von ganz bestimmtem Charakter zum Ausdruck kommt. Außer 
dieser natürlich gegebenen Motivation für die Art der Versuche 
ist aber noch ein tieferer Sinn aufzeigbar. Denn da das psycho¬ 
logische Experiment die Erforschung der Aufmerksamkeit, sofern 
sie im Hören, Sehen, Tasten usw. zum Ausdruck kommt, nicht 
als Endzweck ihrer Untersuchung betrachtet, sondern jene Spe- 


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471 


Über die Methoden der Psychologie. 

mit Hilfe derer sie später imstande ist, von den gefundenen 
Tatsachen des optischen, aknstischen und taktilen Anfmerkens die 
nur zufälligen und unwesentlichen Elemente jener Phänomene aus¬ 
zuscheiden und die allgemeinen Tatsachen des sinnlichen Auf- 
merkens herauszufinden. Die Zuhilfenahme der exakten Unter¬ 
suchung der einzelnen Sinnesgebiete in dieser Hinsicht ermöglicht 
ihr also ein wesentliches Vordringen über die bloßen Empfindungen 
hinaus auf Grund exakter Methoden. Von diesem Gesichtspunkte 
aus aber ist absolut deutlich, wie die experimentelle Psychologie 
eine ganz ausgeprägt empirische Wissenschaft ist. Im Vergleich 
zur Physik könnte sie fast als noch empirischer erscheinen, da 
bei ihr das Moment der Erfahrung — wovon später noch zu reden 
sein wird — eine praktisch bedeutsamere Rolle spielt. Denn 
während sich die physikalische Betrachtung oft mit wenigen 
Fällen begnügen und die weitere Beobachtung nichts Neues mehr 
bringen kann, gilt vom psychologischen Experiment die Behaup¬ 
tung, es sei nm so vollkommener, d. h. es nähere sich dem von 
ihm angestrebten Ziele der genaueren Erkenntnis des Seelenlebens 
um so mehr, je mehr Fälle die Erfahrung aufzuweisen habe. 
Natürlich gilt diese Behauptung nur in bestimmtem Sinne. Aber 
es ist in der Tat ein eigenartiges Moment, das sich nur in der 
Historie und in der Nationalökonomie wiederfindet, nämlich daß 
eine Mehrzahl von Fällen in gewissem Sinne auch eine bessere 
Erkenntnis zu vermitteln imstande sei. Der Gedanke der Er¬ 
fahrung kann daher im psychologischen Experiment, von diesem 
Gesichtspunkte aus betrachtet, gar nicht genug Anwendung finden, 
da, sobald er vernachlässigt oder eingeschränkt wird, auch die 
Erkenntnis der Tatsachen eine lückenhafte wird. 

Was wir hier unter einer möglichst weitgehenden Anwendung 
des Gedankens der Erfahrung verstehen, bezeichnet man auch mit 
dem Prinzip der Variation der Fälle. Diese Variation muß also 
jedenfalls angewandt werden, wo sie überhaupt möglich ist. Die 
Möglichkeiten dazu aber sind natürlicherweise unbegrenzt. Zunächst 
weist schon das einzelne als Beobachter heran«rezoeene Individuum. 


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472 


G. Anschüti, 


verschiedenenVersuchsreihen betreibt, bei denen besonders die Gegen¬ 
stände einer planmäßigen Veränderung und Umwandlung in mehr¬ 
facher Hinsicht unterzogen werden. Es sei nur wieder daran 
erinnert, daß sie in einem optischen, akustischen oder taktilen 
Eindruck gegeben oder endlich sogar in einem zugerufenen Wort 
bestehen können. Ferner aber sind die Gegenstände in sich 
selbst weitgehend zu variieren, indem sie bald einfachere, bald 
kompliziertere Gestalt annehmen. Eine weitere Variation gegen¬ 
über der der Gegenstände besteht in der Heranziehung verschie¬ 
dener Versuchspersonen, in deren Reihe das Prinzip planmäßiger 
Abänderung weit mehr angewendet werden sollte, als es bisher 
geschehen ist. Mit Recht bemerkt Ribot 1 ), daß in der fast aus¬ 
schließlichen Heranziehung von Studenten oder sogar von Fach¬ 
psychologen ein Fehler gemacht wird, da in diesen Leuten trotz 
einer mit aller Energie betriebenen Abstraktion eine Menge von 
Begriffen wirksam sind, die naturgemäß, wie an alle Dinge, so 
auch in gewissem Maße an die zu beobachtenden Gegenstände 
herangebracht werden. Die subjektive Überzeugung einer voll¬ 
kommenen Abstraktion von diesen und die vollkommener Unbe¬ 
fangenheit kann hier den Schaden nur vergrößern. Es ist zwar 
keineswegs der Vorteil zu verkennen, den gerade auch die 
Heranziehung von Fachpsychologen zur Rolle des Beobachters bei 
psychologischen Experimenten darstellen kann, da diese in der 
Selbstbeobachtung eine bessere Schulung zu haben pflegen als der 
erste beste aus der Masse. Aber es kann nur von Vorteil für 
die psychologische Erkenntnis sein, deren Interesse doch nicht 
nur im Seelenleben der Psychologen, sondern in dem des Men¬ 
schen überhaupt liegt, wenn zu den Versuchen Leute verschiedenen 
Berufes, Alters, Geschlechtes und wenn möglich verschiedener 
Nation herangezogen werden. Dann kommt die Variation hanpt- 
sächlich insofern wesentlich mehr in Betracht, als auch in hervor¬ 
ragendem Maße verschiedene Interessen und verschiedene Tem¬ 
peramente wirksam sind 2 ). 


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473 


Über die Methoden der Psychologie. 

treiben wollen, so kann die Rolle des Experimentators gelegent¬ 
lich mit der des Beobachters vertauscht werden. Daß man hier¬ 
bei mit größter Vorsicht Vorgehen mnß, ist natürlich, und von 
einem gewissen Gesichtspunkte aus wäre sogar die Behauptung 
nicht unberechtigt, daß der Experimentator selbst die allerschlech¬ 
teste Versuchsperson bei seinen eigenen Untersuchungen sei. Zweifel¬ 
los treten bei seinen Beobachtungen die bereits bei anderen Leuten 
vorhandenen Fehlerquellen möglicher Voreingenommenheit und Be¬ 
fangenheit wesentlich in den Vordergrund. Aber wenn er sich 
einmal dieser Tatsache ausdrücklich bewußt ist und von ihr weit¬ 
gehend zu abstrahieren sucht, ferner aber diese Rollenvertauschung 
erst dann einfuhrt, wenn bereits gewisse Resultate vorliegen, und 
endlich die eigenen Beobachtungen nicht denen der anderen an 
die Seite stellt oder sie sogar mehr wertet als jene, sondern sie 
lediglich dazu benützt, um gewisse Dunkelheiten und Unklarheiten 
in den Äußerungen seiner anderen Beobachter zu beheben — ein 
Moment, das von ganz wesentlicher Bedeutung ist —, dann dürfte 
dieser Griff eine günstige Vervollkommnung des Gesamtversuches 
bedeuten. Sieht man aber von diesen Vorteilen ab, so bleibt noch 
ein anderes Interesse, das dann allerdings von der engeren Pro¬ 
blemstellung bei den entsprechenden Versuchen etwas abweichen 
wird, nämlich dasjenige, wie weit gegebenenfalls die Differenz in 
den Ergebnissen der relativ unbefangen beobachtenden Versuchs¬ 
personen und des von seiner natürlichen Befangenheit weitgehend 
abstrahierenden Experimentators in der Rolle des Beobachters 
gehen kann, bzw. wie weit sie auf ein Minimum reduzierbar ist. 
Derartige Untersuchungen sollten bei allen Versuchen experimen¬ 
teller Art einen Bestandteil bilden. Sie würden nicht nur zur 
Auffindung und Klärung bisher weniger bekannter Tatbestände 
beitragen, die sich in Bezeichnungen wie »die Suggestibilität der 
Versuchspersonen« oder »die Beeinflussung der Resultate durch 
suggestive Momente« fassen ließen, sondern auch jede einzelne Unter¬ 
suchung vor etwaigen Schäden bewahren können, die sich in dieser 
Hinsicht mit ungeahnter Leichtigkeit einzuschleichen imstande sin<A. 

Wie keine erkenntnistheoretische Betrachtung Uber die »Er- 

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474 


6. Anschiits, 


Häßlichen und die Ethik auch vom Schlechten zu reden hat, und 
wie auf der anderen Seite auch die Arithmetik gut tut, Trug¬ 
formeln, und die Astronomie, subjektive Beobachtungsfehler auf¬ 
zuweisen, so hat auch eine Betrachtung der psychologischen For¬ 
schung, zumal, soweit sich diese auch des Experimentes bedient, 
die ihr eigentümlichen Irrtumsquellen zu finden. Natürlich aber 
hat sie an dieser Untersuchung kein rein theoretisches Interesse, 
sondern sie treibt dieselbe nur, weil jede Erkenntnis eines Irr¬ 
tums den ersten Schritt zu dessen Beseitigung bedentet. Daß 
nun in der experimentellen Psychologie die Irrtumsquellen in 
großer Zahl auftreten, daß sie sowohl im Beobachter, als in den 
beobachteten Gegenständen, schließlich aber auch in der ganzen 
Versuchsanordnung und nicht zum mindesten in der Registrierung 
der Resultate durch den Experimentator und in dessen Verwertung 
derselben liegen, bedarf nicht von neuem der besonderen Hervor¬ 
hebung, und es soll hier nur unsere Aufgabe sein, auf einige 
Mittel zu ihrer Fernhaltung und Eliminierung hinzuweisen. 

Ein allgemeines und bereits angedeutetes Mittel liegt in einer 
genaueren Spezialisierung und Abgrenzung des zu behandelnden 
Problems, welche sowohl auf den Wert der Resultate als auch 
auf deren Klarheit und Verständlichkeit von weittragendem Ein¬ 
fluß ist. Es ist eine ganz natürliche und fast notwendige Folge, 
daß sich aus einer zu weiten Fassung des Problems analoge 
Schwierigkeiten ergeben wie aus der Aufstellung eines zu um¬ 
fassenden Begriffsumfanges in jeder Wissenschaft. In der Mathe¬ 
matik würde der Begriff der Linie, wenn nicht aus ihm der der 
Strecke als des Begrenzten herausgenommen würde, ein zu weiter 
sein. Vor allem tut die Psychologie nicht gut, ihre Begriffe zu 
weit zu fassen. Wenn jemand die Apperzeption und die heute 
sogenannte Assoziation unter den allgemeineren dieser letzteren 
zusammenfaßt, indem er auf das Gemeinsame beider blickt, so 
ergeben sich die bekannten, fast unüberwindbaren Schwierigkeiten. 
Die Forderung, die H. Cornelius 1 ) aufstellt, nämlich die, daß 
die Psychologie mit möglichst wenig Begriffen auszukommen 
trachten müsse, ist daher mit Rücksicht auf die sich ergebenden. 


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Über die Methoden der Psychologie. 475 

zeigen sich die Konsequenzen insofern in besonders schroffer 
Form, als auch die Ergebnisse eine entsprechend weite und wenig 
klare Gestalt haben werden, ein Umstand, der an das Interpreta¬ 
tionsvermögen des Experimentators zn hohe Anforderungen stellt, 
denen dieser zumeist gar nicht vollkommen genügen kann. Wenn 
man so z. B. das Problem der Assoziation ins Auge faßt und im 
Zusammenhang experimentell-ästhetischer Untersuchungen kom¬ 
plizierte Gemälde als zu beobachtende Gegenstände wählt, an die 
nun assoziiert werden soll, so tritt, abgesehen davon, daß allen 
experimentell-ästhetischen Versuchen, weil sie noch sehr in den 
Anfängen sind, einiges Mißtrauen entgegengebracht werden muß, 
eine fast unlösbare Aufgabe in der Deutung der betreffenden Aus¬ 
sagen der Beobachter auf, auch wenn man exakte Zeitmessungen 
vornimmt. Die zu findenden Tatbestände werden wegen der 
großen Bedeutung, die bei ihrer Aufstellung der Interpretation 
des Experimentators zufällt, selten Uber vorher bekannte oder 
speziell vom Versuchsleiter hypothetisch aufgestellte Thesen hinaus¬ 
gehen. Erst wenn einmal entsprechende einfachere Phänomene 
bekannt sind, etwa die Assoziation bei einfachen Farben und 
Farbenzusammenstellungen, bei einfacheren und komplizierteren 
geometrischen Figuren und skizzierten Gegenständen der Er¬ 
fahrung, endlich auch bei Tönen und Tonschritten, einzelnen Wör¬ 
tern und Begriffen, kann ein Fortschreiten zu Versuchen der an¬ 
gegebenen Art als möglich gelten. Aber auch hier muß das 
Elementarere stets im Auge behalten werden, und man darf ferner 
die Tatsache nicht übersehen, daß elementare und andere elemen¬ 
tare Phänomene in ihrem Zusammen nicht etwa als eine Summe 
aus beiden gelten dürfen, sondern daß sowohl am Gegenstände 
für den Betrachter, als auch in diesem selbst eine Komplexion 
und die mit ihr koinzidierende Relation hinzukomme 1 ). Die an 
einem GeBamtgegenstande entgegentretende »Gesamt- oder Gestalt- 
qnalität«, gleichgültig, wie man diese des näheren definieren mag, 
hat im beobachtenden Subjekt ein Korrelat, das natürlicherweise 
die Äußerungen beeinflnßt. 


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476 


G. Anschütz, 


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Empfindungen und Wahrnehmungen, diesen »Randphänomenen« des 
Bewußtseinsgebietes, in engem Konnex stehen, wie etwa die 
Tatsachen des Aufmerkens, Assoziierens usw., da ist jener Weg 
leichter erkenntlich. Wenn aber solche Phänomene in Betracht 
kommen, die einen abstrakteren Charakter haben und nicht ebenso 
eng mit den Empfindungen Zusammenhängen, wie z. B. das Ur¬ 
teilen, die gedanklichen Trennungen und Kombinationen, Willens- 
akte, gegenstandslose Gefühle, Stimmungen usw., da ist die Tren¬ 
nung des Einfacheren vom Komplizierteren für eine experimentelle 
Untersuchung nicht ebenso einfach, wie ja überhaupt diese Er¬ 
scheinungen einer exakten Erforschung größere Schwierigkeiten 
bieten. Mit einem gewissen Rechte kann man auch in der ex¬ 
perimentellen Psychologie eine analoge Scheidung machen wie in 
der Psychophysik, indem man einerseits von solchen psycho¬ 
logischen Experimenten spricht, die sich auf relativ äußere, auf 
Randphänomene beziehen, und andererseits von solchen, die es 
mit den zentraleren Bewußtseinstatsachen zu tun haben, eine 
Analogie, die auch mit Rücksicht auf die relative Schwierigkeit 
einer genauen Erkenntnis gelten kann. Daß man im allgemeinen 
die Phänomene der Empfindung, Wahrnehmung und Vorstellung 
als relativ periphere den abstrakteren und zentraleren des Denkens, 
Fuhlens und Wollens gegenüberstellt, wird mit Rücksicht auf den 
Umstand als berechtigt erscheinen, daß jene Einteilung lediglich 
dem Zwecke größerer methodischer Klarheit im psychologischen 
Experiment dient und daß damit keineswegs etwa eine feBt fixier¬ 
bare Grenze angegeben sein soll, wie ja überhaupt im Bewußtsein 
strenge Abteilungen nicht zu machen sind. 

Der Gedanke einer klaren Fragestellung, einer bestimmten Ab¬ 
grenzung bei einer Aufgabe und der mit ihm zusammenhängende 
des Ausgehens vom Einfachen zum Komplizierten kann nun so 
verstanden werden, als sollte die experimentelle Psychologie zu¬ 
nächst überhaupt nur die »Randerscheinungen« der gesamten Be¬ 
wußtseinssphäre untersuchen. Diese Forderung wird zweifellos 

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Über die Methoden der Psychologie. 


477 


so auch für die experimentelle Psychologie keine fest zu ziehende 
ist, so kann auch jene Forderung keine allgemeine und schlecht¬ 
weg zu erfüllende sein. Zwar müssen wir auch in der experi¬ 
mentellen Psychologie immerhin eine gewisse Kenntnis von der 
genaueren Beschaffenheit der Randphänomene haben, ehe wir an 
die weiteren Aufgaben herantreten. Aber da nun einmal an vielen 
Punkten der Zusammenhang zwischen relativ inneren und relativ 
äußeren Phänomenen ein sehr enger ist, so werden wir von vielen 
Untersuchungsgebieten in der Rand Sphäre wie von selbst auf Grenz¬ 
gebiete und weiterhin auf zentralere Sphären hingeleitet. Es sei 
nur an die tausendfältigen Formen erinnert, die das Gefühlsleben 
aufweist. Das Elementargefühl der Lust etwa kann von der ein¬ 
fachsten Lust an einer ganz primitiven sinnlichen Empfindung, 
z. B. einer Farbe, einem Tone, seine Gestalt so weit verändern, 
daß es nicht nur ästhetische und ethische Lust an Kunstwerken, 
Handlungen und der Erscheinung von Persönlichkeiten ist, son¬ 
dern daß es schließlich in einer ganz gegenstandslosen Bewußt¬ 
seinslage, einer ganz innerlichen Stimmung erscheint und somit 
trotz aller realiter möglichen Zwischenstufen in ausdrücklichen 
Gegensatz zur sinnlichen Lust an Empfindungen zu stellen ist 
Nicht umsonst bezeichnet auch die Sprache mit dem einen Worte 
»Schmerz« die zahlreichen Phänomene, welche sich von der ein¬ 
fachsten Schmerzempfindung in mannigfachen Übergängen z. B. 
durch ein »schmerzlich-Berührtsein« durch Worte, ja womöglich 
nur durch grelle Eindrücke optischer oder akustischer Art bis zu 
dem inneren Schmerz, etwa dem tiefen Weltschmerz, in ihrer 
Qualität abstufen. In solchen Tatsachen aber liegen die natür¬ 
lichen Fingerzeige aus der Welt bloßer Randphänomene in die 
der innersten Gedanken- und Gemütsbewegungen. Und wenn auch 
die experimentelle Psychologie die unbegrenzte Verfolgung der 
seelischen Phänomene zunächst nur als ein Ideal in nebelhafter 

# 

Ferne zu betrachten hat und vielleicht zu allen Zeiten wird be¬ 
trachten müssen, so kann man ihr doch den Versuch, unsere 
exakten Erkenntnisse soweit als möglich in die Welt des Seelen¬ 
lebens auszudehnen, nicht verübeln: ia man wird in ihm nur ein 


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6. Anscbiitz, 


Erweiterung erfahren hat, die sich die experimentelle Erforschung 
der komplexeren Phänomene als ideales Ziel gesetzt hat 1 ). 

Ein zweiter sehr wesentlicher Faktor, welcher zur Verhütung 
von Fehlerquellen, hauptsächlich soweit diese in der Verfassung 
der Beobachter zu suchen sind, dient, besteht in der Aufgabe¬ 
stellung, die diesem letzteren beim Versuche erteilt wird. Der 
Begriff der Aufgabe hat in der experimentellen Psychologie natur¬ 
gemäß einen ganz anderen Sinn als in der Physik, Chemie, 
Botanik, Physiologie usw. Während bei diesen die Aufgabe den 
Experimentator angeht, nicht aber seine Hilfsmittel, mit denen er 
manipuliert, spielt die Aufgabestellung im psychologischen Experi¬ 
ment insofern eine wesentlichere Rolle, als sie unmittelbar zur 
Auffindung der gesuchten Erkenntnis dienen soll und somit ein 
wesentlicher Faktor beim Versuche ist. Sie wirkt eben in den¬ 
jenigen Hilfsmitteln, die die psychologische Erkenntnis fördern 
und ergänzen sollen, nämlich in den Beobachtern, und liefert zur 
Gewinnung brauchbarer Resultate einen wertvollen Beitrag. Die 
Aufgabestellung leistet somit zwei wesentliche Dienste. Einerseits 
ist sie der Grund für ein gewisses Interesse beim Beobachter und 
gibt diesem sogar eine Einstellung in ganz bestimmter Richtung; 
andererseits aber dient sie einem ähnlichen Zwecke wie das oben 
genannte oszillierende Vergleichen; sie wirkt dem Aufkommen 
zufälliger und unberechenbarer Bewußtseinselemente entgegen und 
sorgt somit gewissermaßen für eine Konstanz in der Disposition. 
Wenn aber einmal der Wert der Aufgabe erkannt ist, so besteht 
die natürliche Konsequenz in ihrer ausdrücklichen Betonung. Diese 
aber wird nicht nur in Form wiederholter mündlicher Erteilung 
bestehen, sondern auch in ihrer Einübung mit Hilfe einer eventuell 
sehr großen Reihe von Vorversuchen, die übrigens wegen vieler 
anderer Vorteile von großem Werte sind. 

Daß wir in der Aufgabestellung ein ganz fundamentales und 
zugleich natürlicherweise nahegelegtes Hilfsmittel zu sehen haben, 

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Über die Methoden der Psychologie. 


479 


druck kommen. Denn wenn die Aufgabe und die Aufmerksamkeit 
des Beobachtenden nicht in ganz bestimmter und ausgeprägter 
Weise wirksam wären, so würden alle jene vielleicht nur poten¬ 
tiell oder latent im Bewußtsein vorhandenen Elemente zur Aktua¬ 
lität erwachen können, ein Geschehen, das aber der Experimentator 
nicht direkt beobachten kann und auf das er nur durch gelegent¬ 
liche Fragen an den Beobachter und die entsprechenden Äuße¬ 
rungen derselben aufmerksam gemacht werden kann. Es ist vor 
allem zu bedenken, daß jedes Individuum ohne Rücksicht auf 
seine speziellere Konstitution gewisse persönliche Anlagen, Inter¬ 
essen und bewußte oder unbewußte Neigungen oder Abneigungen, 
Intentionen oder Absichten an die Versuche ebensogut wie an 
alles, was ihm im Leben begegnet, heranbringt, und daß diese 
Tatsache von sehr großer Tragweite ist, ja daß ohne ihre Berück¬ 
sichtigung alle psychologische Erkenntnis, die sich prinzipiell im 
Experiment anderer Individuen bedient, nur eine lückenhafte sein 
kann, so interessant an sich die Beobachtung sein mag, wie auf 
gleiche Eindrücke von verschiedenen Individuen, zumal wo es 
sich um komplizierte Versuche handelt, in gänzlich anderer und 
oft ganz origineller Weise reagiert wird. In derartigen Fällen 
aber wäre wieder der Interpretation ein sehr weites Feld zu¬ 
gestanden, und die mannigfachsten spekulativen Hypothesen ge¬ 
wännen von neuem Eingang. 

Mit der Aufgabestellung in unmittelbarem Zusammenhänge 
steht die Erteilung einer gewissen Instruktion, die in einer mög¬ 
lichst vollkommenen Gestalt als ein vortreffliches Mittel gelten 
darf, um die Disposition des Beobachters in bestimmte Bahnen 
zu lenken und so zur Herbeiführung ihrer Konstanz wesentlich 
mitzuwirken. Die Instruktion erschöpft sich nicht in einer aus¬ 
führlichen Darlegung der Aufgabestellung, sondern sie enthält 
direkte und indirekte Anweisungen bezüglich des gesamten Ver¬ 
haltens während des Versuches. Zunächst kann in allgemeiner 
Weise auf die zu beobachtenden Objekte im voraus hingewiesen 
werden, und zwar in der Weise, daß der Versuch weder etwas 
ganz Neues und Unerwartetes, noch aber etwas Erwartetes bieten 
wird. Die Instruktion soll also möglichst neutral gehalten sein. 

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G. Anscliiitz, 


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und nicht reflektieren soll; bei Versuchen, deren jeder aus 
mehreren Eindrücken besteht, kann etwa verlangt werden, der 
Beobachter solle während der Zwischenzeit den ersten Eindruck 
möglichst gut festzuhalten suchen, damit er dieses Festhalten 
später genauer beschreiben kann, oder er solle während ihres 
Verlaufes seine Gedanken nflch Möglichkeit abstellen und seine 
Einstellung für den folgenden Eindruck möglichst neutral ge¬ 
stalten. 

Im allgemeinen kann die Behauptung aufgestellt werden, daß 
eine Instruktion um so bessere Dienste leistet, je mehr sie 
— natürlich bis zu gewissem Grade — die Aufmerksamkeit wäh¬ 
rend des ganzen Versuches in Anspruch nimmt. Denn gerade 
auf diese Weise ist die meiste Gewähr geleistet, daß fremdartige 
Elemente, die den Wert des Versuches in ungünstigem Sinne be¬ 
einflussen können, an ihrem Aufkeimen verhindert werden. Vor 
allem aber ist auch einem nicht gewollten Assoziieren an das zu 
Beobachtende entgegengearbeitet. Jedermann kennt die Tatsache, 
daß die Aufmerksamkeit nicht bei einem bestimmten Gegenstände 
stehen zu bleiben, sondern von ihm unwillkürlich auf anderes 
überzugehen strebt, so daß sogar eine Tendenz, vom Hundertsten 
ins Tausendste zu kommen, vorliegt, die sich auch bis zu ge¬ 
wissem Grade realisiert, wenn ihr nicht eine abstrahierende und 
konzentrierende Bewußtseinstätigkeit entgegenwirkt. Die Erschei¬ 
nungen der Ideenflucht, so pathologisch auch ihr Aspekt sein mag, 
verkörpern in der Tat eine jederzeit und bei jedermann vorhan¬ 
dene Tendenz, die nur mehr oder minder durch die entsprechende 
Gegentendenz neutralisiert sein kann. Diese Neutralisation aber 
wird beim psychologischen Experiment dann am meisten erreicht 
sein, wenn die Instruktion im Beobachter so wirkt, als wäre sie 
eine selbstgegebene. Von diesem Gesichtspunkte aus stellen 
hypnotische Versuche ein Ideal dar, da im Zustande der Hypnose 
das Individuum die Instruktion des Suggestors unmittelbar nicht 
nur als selbst gegeben, sondern bereits sogar als realisiert erlebt. 

Da aber mit hypnotisierten Individuen aus zahlreichen Gründen 
nicht immer und sogar nur selten experimentiert werden kann, so 

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Über die Methoden der Paychologie. 

Dabei braucht die Versuchsperson gar nicht von dem genauen 
Gang und dem Ziel des Versuches zu wissen; ein diesbezügliches 
Wissen würde sogar die Unbefangenheit wesentlich beeinflussen 
und somit eine notwendige Vorbedingung aller psychologischen 
Experimente verkennen. Aber die Weckung des Interesses ist 
auch möglich, ohne daß dem Beobachter speziellere Angaben ge¬ 
macht werden. Entsprechende Zwischenversuche, die aus der 
eigentlichen Reihe herausfallen, aber auch Zwischenbemerkungen 
werden den monotonen Charakter, den die meisten psychologischen 
Experimente in den Laboratorien für die Versuchspersonen haben, 
günstig zu modifizieren fähig sein. Es scheint fast eine selbst¬ 
verständliche Tatsache, daß man mit gähnenden Leuten oder mit 
solchen, die das Ende der Versuchszeit innerlich herbeiwtinschen, 
ja endlich auch mit denen, die so mitmachen, weil sie einmal 
angefangen haben, aber ebensogut auch wieder aufhören würden, 
keine brauchbaren Resultate erzielen kann, da nicht das Seelen¬ 
leben des Gelangweilten untersucht werden soll. In der Tat aber 
können auch Bemerkungen, die den Beobachter scheinbar in den 
Gang der Versuche einweihen, so neutral gehalten sein, daß von 
einer Befangenheit in keinem Sinne gesprochen werden darf. 
Versuche einfacher Art können davon Zeugnis ablegen. Vor allem 
ist dabei zu bedenken, daß auch eine planmäßig erzielte Unwissen¬ 
heit beim Beobachter vielfach in dem Sinne schädlich wirkt, alB 
jener, gleichsam auf Selbsthilfe angewiesen, sich selbständig eine 
Vorstellung zu machen sucht, worin denn nun eigentlich der Zweck 
der Sache liege und worauf die Versuche hinauslaufen. Es ist 
aber ein bekannter Umstand, daß sich die Versuchspersonen auch 
mit allgemeinen Angaben abfinden lassen, und wenn sie auch die 
einzelnen Versuche nicht mit jenen in Zusammenhang bringen 
können, so doch meinen, sie müßten wohl mit dem Angegebenen 
zu tun haben; und ihre Angaben sowohl als auch die Beobach¬ 
tungen deuten darauf hin, daß in der Tat aus einer allgemeinen 
Bekanntheit mit dem Problem keine Befangenheit, sondern nur 
ein gesteigertes Interesse erwächst. Allerdings ist bei allen der¬ 
artigen Dingen eine weitgehende Vorsicht am Platze. 

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G. Ansehütz, 


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natürlicherweise liegen, so daß sie also für jedes beliebige Indi¬ 
viduum in Betracht käme. Oder aber die Formulierung ist zwar 
an sich neutral, aber der Beobachter sieht in ihr aus irgend¬ 
welchen, in der Regel nicht aufweisbaren Gründen etwas, das zur 
suggestiven Beeinflussung Anlaß geben kann, so daß sich also 
ungewollte und oft auch schwer kontrollierbare Tendenzen ein¬ 
stellen. Häufig meint der Beobachter, es müsse »nun einmal anders 
kommen«, oder es müsse »noch ebenso kommen«, wie eine nach¬ 
trägliche, seitens des Experimentators gestellte Frage aufzeigen 
kann; und doch kann für derartige Phänomene im einzelnen kein 
Grund oder Anlaß aufgezeigt werden. Solche Fälle unwillkür¬ 
licher oder selbstgegebener Einstellung sind daher so gut wie jede 
ausgeprägte Autosuggestion ein schlimmer Feind jeder psycho¬ 
logischen Untersuchung experimenteller Art, zumal gerade hier 
die Kontrolle sehr schwer ist und der Beobachter von derartigen 
Tatbeständen oft selbst nichts weiß oder ihm zumeist nichts der¬ 
artiges auffällt. Es muß daher die Forderung aufgestellt werden, 
seine Einstellung von Zeit zu Zeit durch ganz allgemeine Fragen, 
die sich auf seine Gedanken und seinen augenblicklichen Bewußt¬ 
seinsinhalt einschließlich seiner Gefühle und Tendenzen beziehen, 
zu neutralisieren, da auf solche Weise am ehesten die Herbei¬ 
führung einer gleichmäßigen und weitgehend bekannten Disposition 
möglich ist. Solche Zwischenfragen oder Zwischenbemerkungen 
werden natürlich nur in gleichgültiger und beiläufiger Weise ge¬ 
stellt werden, damit nicht etwa durch sie erst der suggestive 
Faktor eingeführt und eine etwa bereits vorhandene günstige Ein¬ 
stellung des Beobachters beeinträchtigt wird. In jedem Falle 
aber kann eine eingehende nachträgliche Befragung, die nicht 
nach jedem Einzel versuch, wohl aber nach jeder Einzelreihe statt¬ 
findet, eine gute Kontrolle für suggestive Momente und ungewollte 
Einstellungen sein und somit ein Mittel darbieten, um unbrauch¬ 
bare Äußerungen als solche zu erkennen und daher zu eliminieren. 

Es muß hier noch eine andere Frage Beachtung finden, näm¬ 
lich die Art, wie denn im einzelnen der Experimentator zu einem 
Wissen von den psychischen Tatsachen im Beobachter kommt. 
Diese Frage aber ist keineswegs so zu verstehen, als wenn von 


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Über die Methoden der Psychologie. 


483 


mag man zugunsten der Einfühlung J ) oder zugunsten des Analogie¬ 
schlusses entscheiden. Unbeschadet einer diesbezüglichen Lösung 
aber, die man der eigentlichen Erkenntnistheorie zuschreiben mag, 
bleibt noch die engere methodische Frage bestehen, die auf ein¬ 
zelne charakteristische Hilfsmittel das Augenmerk richtet. Als 
solche kommen nun die sogenannte Ein- und Ausdrucksmethode 
in Betracht und die jene beiden verbindende und ergänzende 
Reaktionsmethodc, über die hier nicht ausführlich die Rede sein 
soll. Es sei nur gesagt, daß die erstere darin besteht, daß mög¬ 
lichst eindeutige Veränderungen des psychischen Zustandes durch 
physikalisch-chemische Reize hervorgerufen werden, daß weiter¬ 
hin bei der zweiten gewisse körperliche Symptome als Repräsen¬ 
tanten seelischer Tatsachen geprüft werden, und daß die letztere 
insofern eine Vereinigung beider bedeutet, als sie mit Hilfe eines 
Eindruckes gewisse psychische Tatbestände hervorruft und diese 
dann wiederum in ihrem körperlichen Ausdruck untersucht. Mit 
diesen Arten ist aber keineswegs ein erschöpfendes Schema auf- 
gestellt; auch wenn Wundt 2 ) die psychischen Maßmethoden binzu- 
fügt, so ist damit die Reihe noch nicht vollendet. Daß endlich 
die sogenannte Fragemethode nicht als etwas in sich eindeutig 
Bestimmtes anzusehen ist, dürfte einleuchten. Bei allen jenen 
sogenannten Methoden aber spielt wiederum die Interpretation 
eine große Rolle. Das zeigen vor allem die Ergebnisse, die bei 
der Ausdrucksmethode mit Hilfe des Dynamometers, des Sphygmo- 
graphen, des Pneumatographen und des Plethysmographen ge¬ 
funden werden 3 ). 

Von allen diesen Methoden wollen wir hier eine solche heraus¬ 
greifen, die man diejenige der einfachen Reaktion nennen kann, 
da sie gewisse bedeutende Vorzüge bietet. Gemeint sind hier 
solche Versuche, bei denen das, was der Beobachter zu leisten 
hat, auf ein Minimum eingeschränkt ist. Man denke an solche 
Versuche, bei denen auf den Eindruck hin mit einem einfachen 
»ja« oder »nein«, einem einfachen »größer«, »kleiner«, »früher«, 
»snäter« nsw. reagiert werden soll Dips« Versuche bieten in- 


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484 0- AnBchUtz, 

ist, wodurch das Auftreten einer die Unmittelbarkeit des Aus¬ 
druckes und die Unbefangenheit des Beobachters störende Re¬ 
flexion möglichst eingeschränkt ist. Die psychischen Phänomene 
geben sich in solchen Fällen viel unmittelbarer, sie geben der 
jene Unmittelbarkeit störenden und vernichtenden Selbstkritik des 
Beobachters keine Gelegenheit zu ihrem schädlichen Eingreifen. 
Nehmen wir aber einmal an, daß die Reflexion des Beobachters, 
die sich damit abgibt, ob denn das Beobachtete überhaupt mög¬ 
lich sei oder ob nicht eine Täuschung vorliegen könne, ob etwa 
gar die Erinnerung schuld sein könne an einer etwaigen Täu¬ 
schung, bewußtermaßen ausgeschaltet oder wenigstens bedeutend 
eingeschränkt werden könne, so besteht doch noch die oft unwill¬ 
kürlich sich verändernde Disposition als störendes Moment bei 
allen über eine gewisse Zeitspanne sich erstreckenden Versuchen, 
ein Übelstand, der also bei der einfachen Reaktion, soweit es 
sich um den Einzelversuch handelt, nicht in Betracht kommt. Zu 
diesen beiden entschiedenen Vorzügen kommt endlich noch ein 
dritter, der in der bedeutend erleichterten Interpretation bei der¬ 
artig einfachen Versuchen besteht. Auf diese drei offenkundigen 
Vorzüge muß also jederzeit Rücksicht genommen werden, wenn 
man aus irgendeinem Grunde von jeder Reaktionsmethode Ab¬ 
stand nehmen will. 

Da nun allerdings in solchen einfachen Reaktionen eine ganz 
wesentliche Beschränkung liegt, da insbesondere das Gebiet der 
zu untersuchenden Probleme ein relativ enges ist, und da endlich 
auch die Erforschung komplexerer Bewußtseinsphänomene 1 ) an¬ 
gestrebt werden muß, so ist man natürlicherweise auf andere Me¬ 
thoden angewiesen, die uns jene Erkenntnis komplexerer oder 
zentralerer psychischer Phänomene zu vermitteln imstande sind. 
Hier aber bietet sich die Fragemethode als ein Mittel dar, das 
entsprechend der größeren Schwierigkeit der Aufgabe auch an 
die Selbstbeobachtung der Versuchspersonen in höherem Maße 
appelliert. Sie ist insofern als den entsprechend schwierigeren 
Problemen adäquat zu bezeichnen, als bei ihr auch auf scheinbar 

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Über die Methoden der Psychologie. 


485 


liehen Kontrolle zugänglich ist und daß eventuelle suggestive 
Momente möglicherweise erkannt werden können. 

In vielen Punkten kann man diese Methode als ein brauch¬ 
bares Hilfsmittel der experimentellen Psychologie ansehen, da sie 
nämlich die Methode der Selbstbeobachtung und die der objek¬ 
tiven Kontrolle in weitgehendem Maße vereint; indem sie nämlich 
einerseits die Selbstbeobachtung der Versuchsperson heranzieht 
und diese Selbstbeobachtung sogar von verschiedenen Individuen, 
und zwar nach dem Prinzip der Variation betrieben wird, steht 
auf der anderen Seite noch der Experimentator, der eigentliche 
Forscher, der den Problemen sowohl auf Grund seiner eigenen 
Introspektion als auf Grund der von ihm genau kontrollierten Aus¬ 
sagen der Versuchsperson näher zu treten und sie zu lösen sucht. 

Daß auf der anderen Seite die Fragemethode ihre großen 
Schwierigkeiten mit sich bringt, muß zugegeben werden; aber 
man wird diese Schwierigkeiten als etwas ganz Natürliches be¬ 
trachten, da die von ihr zu lösenden Probleme wesentlich schwie¬ 
rigere sind als die, welche bei der einfachen Reaktion in Betracht 
kommen. Es handelt sich eben um die genauere Erkenntnis sehr 
komplexer seelischer Phänomene, daß aber höhere Aufgaben zu 
ihrer Lösung auch größere Schwierigkeiten bieten, ist natürlich. 
Ein Hauptmoment, welches gegebenenfalls zu einer wesentlichen 
Irrtumsquelle werden kann, ist die Deutung oder Interpretation 
der einzelnen Angaben der Beobachter. Eine erste Frage, welche 
in dieser Richtung ginge, wäre diejenige danach, ob und wie weit 
denn der Beobachter überhaupt selbständig aussagt und wie weit 
er nicht etwa durch die Fragestellung beeinflußt ist. Daran 
schließt sich unmittelbar jene andere an, ob sich bei ihm nicht 
irgendwie unbewußtermaßen eine Einstellung herausgebildet hat, 
eine Art von Erwartung oder ein unbemerktes Vorurteil. Endlich 
aber kommt die sehr wesentliche Frage — wesentlich, weil sie 
oft schwer zu entscheiden ist —, welche danach fragt, ob und 
wie weit der Beobachter in seinen Äußerungen einen reinen, un¬ 
getrübten Eindruck wiedergibt, oder inwieweit dieser wieder- 
ereeebene Eindruck nicht etwa ein solcher ist. der bereits eine 


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G. Anschiitz, 


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fragmentarisch und unausgeprägt diese auch sein mögen, ob das, 
was er beobachtet hat, wohl auch dem wirklichen Tatbestände 
entspreche, oder ob es eigentlich aus diesen oder jenen Gründen 
gar nicht so sein könne. In den Aussagen aber kommen der¬ 
artige Tatbestände nicht immer zum Ausdruck, und erst eine ge¬ 
naue diesbezügliche Einübung ist bis zu gewissen Grenzen imstande, 
das unmittelbar Erlebte von den Produkten der Reflexion zu sondern. 

Die Unterscheidung, welche wir hier bei den Äußerungen der 
Versuchspersonen machen, kommt im Grunde auf diejenige hinaus, 
welche auch Lipps 1 ) zwischen Kundgabe und unmittelbarem Aus¬ 
druck einerseits und Urteil andererseits macht. Diese Scheidung, 
die schon ohne Rücksicht auf das psychologische Experiment un¬ 
bedingt aufgestellt werden muß, wenn es auch zahlreiche Zwischen¬ 
stufen geben mag 2 ), ist von ungeheurer Tragweite für die Wertung 
der Aussagen. Es ist zweifellos, daß, so groß auch der Wert sein 
mag, der einem offenkundigen Urteil, ja unter Umständen sogar 
der Reflexion zukommt, doch die unmittelbare Kundgabe, der ganz 
unvermittelt, Urteils- und reflexionslos sich gebende Ausdruck eines 
inneren Erlebnisses von ungleich höherem Werte für die experi¬ 
mentelle Psychologie ist, insbesondere wenn wir an die Deutung 
der Ergebnisse herangehen, in denen sich oft solche unmittelbaren 
Elemente unzweideutig aufweisen lassen. Den Wert, der in allen 
solchen unmittelbar, d. h. hier ohne Vermittlung einer urteils¬ 
mäßigen Verarbeitung gemachten Äußerungen liegt, erkennt auch 
Ribot 3 ) an, wenn er die Forderung aufstellt, die wahren psychi¬ 
schen Tatsachen, wenn man sie bei anderen suche, dürften nicht 
eigentlich dort gesucht werden, wo die Reflexion durch künstliche 
Bedingungen wachgerufen werde. Auch Münsterberg legt 
zwanglos sich gebenden Äußerungen einen besonderen Wert bei. 

In dieser Richtung hat die Interpretation die Aussagen der 
Beobachter vor allem zu untersuchen, und sie hat zugleich die 
Aufgabe, eine allgemeine Auslese unter den erhaltenen Antworten 
zu vollziehen, indem sie alle solchen, die offenkundig unter dem 


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Über die Methoden der Psychologie. 487 

mittelbaren Ausdruck zu enthalten scheinen, den Vorzug gibt. 
Dabei kann aber natürlich nicht alles, was die äußere Form 
des Urteils trägt, eliminiert werden, da einmal unmittelbare Aus¬ 
drücke die Form des Urteils tragen können und dann auch jedes 
Urteil einen mehr oder minder brauchbaren Ausdruck enthält. Es 
ist beachtenswert, daß auch nicht selten das Auftreten einer Re¬ 
flexion und eines die Reflexion wiedergebenden Urteils auf eine 
Eigenart des unmittelbaren Eindruckes zurückgeht, die wir somit 
aus jenem zu ersehen imstande sind. 

Zur Interpretation der Äußerungen oder, allgemeiner, der Ver¬ 
haltungsweisen der Versuchspersonen gehört aber, sofern es sich 
um Aussagen von größerem Umfange und größerer Tragweite 
handelt und die Selbstbeobachtung der Versuchspersonen wesent¬ 
lich herangezogen wird, mehr als die Deutung der unmittelbar 
vorliegenden Worte. Diese stehen zwar im Vordergründe und 
bieten stets den ersten Anhaltspunkt. Aber wenn wir bedenken, 
daß die gesamte Anlage und der Charakter des Beobachters ein 
wesentliches Moment bei jeder etwas komplizierten Aussage spielt, 
so ist für den Experimentator eine wenn auch allgemeine Fest¬ 
stellung dieser Umstände eine unerläßliche Aufgabe. Hier aber 
muß er sich vor einer einseitigen Information hüten. Er tut viel¬ 
mehr gut, eine solche zunächst von dem Beobachter selbst, dann 
von einem oder mehreren Dritten einzuholen und endlich seine 
eigene Kritik wirken zu lassen. Auf solche Weise ist er imstande, 
wesentliche Faktoren aufzufinden, die gewisse Verhaltungsweisen 
der Beobachter aufklären können. Auch hierin müssen wir also 
ein Mittel sehen, vorhandene Fehlerquellen zu beseitigen. 

Trotz aller bisher angeführten Mittel, die zur Vermeidung von 
Fehlerquellen dienen, ist es aber nicht möglich, zu solchen Resul¬ 
taten zu gelangen, die ein für allemal als mustergültig anzusehen 
sind. Es treten stets noch vereinzelte Fälle auf, in denen auch 
unser Interpretationsvermögen versagt oder täuscht, ohne daß es 
hierfür ein direktes Kriterium gäbe. Hier setzt nun ein neues 
methodisches Verfahren des Exnerimentes ein. das auf eieentüm- 


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488 


6. Anschiitz, 


Dieses Verfahren hat zugleich einen weiteren bedeutungsvollen 
Vorzug. Wie im sozialen Leben gewisse Erscheinungen nicht 
immer am Einzelnen auftreten, sondern nur an der Gesamtheit 
der Bevölkerung, wie der Charakter eines Monats nicht immer in 
einem einzelnen Tage, sondern erst in dem Zusammen aller dreißig 
Tage erscheint, so gibt es auch zahlreiche psychische Phänomene, 
die erst an einer Menge von Fällen als ein Gesamtcharakter vieler 
Bewußtseinserlebnisse auftritt. Solche Tatsachen aber lassen sich 
lediglich mit Hilfe jener Statistiken feststellen. Auch hier aber ge¬ 
nügt wiederum die Statistik allein nicht, sondern es bedarf erst noch 
des Interpretierenden, der die zahlenmäßigen Bestimmungen reden 
macht und allgemeine psychische Tatbestände aus ihnen ersieht. 

Jene allgemeinen psychischen Tatbestände sind zunächst nicht 
im gleichen Sinne allgemein, wie allgemeine Naturgesetze. Sie 
lassen sich vielmehr wiederum den allgemeinen Tatsachen des 
sozialen Lebens vergleichen, oder der allgemeinen Tatsache, daß 
ein Monat eine gewisse Durchschnittstemperatur habe und ein ge¬ 
wisses Mittel von sonnenlosen Tagen. Wenn wir also jene all¬ 
gemeine Tatsache auf das einzelne psychische Individuum an¬ 
wenden wollen, so ist dies zunächst nicht im gleichen Sinne mög¬ 
lich, wie etwa das Fallgesetz auf den einzelnen Körper Anwendung 
findet, sondern es kann sich hier vorerst nur um Möglichkeiten 
und Wahrscheinlichkeiten handeln, deren Charakter sich nach Ma߬ 
gabe der zugrunde liegenden Statistik bestimmt. Was wir also 
aus jenen allgemeinen Tatsachen ableiten können, ist zunächst 
nicht das allgemeine Gesetz, sondern die Regel, bei der der all¬ 
gemeine Fall nur einen gewissen approximativen Grad von aus¬ 
nahmsloser Allgemeinheit erreicht. 

Wir können zum Zwecke einer weiteren Betrachtung der All¬ 
gemeinheit von experimentell gefundenen psychischen Tatsachen 
bei dem soeben indirekt berührten Beispiel bleiben, da die Tat¬ 
sachen es gestatten. Wie nämlich rein theoretisch die Wahrschein¬ 
lichkeit immer mehr wachsen kann, bis wir sie endlich in einer 
Art Asymptote mit der vollen Gewißheit zusammenfallen sehen, 
so ist es auch bei den Regeln, die wir auf experimentelle Weise 


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Über die Methoden der Psychologie. 


489 


Fällen zu sammeln. Er beobachtet das entsprechende Phänomen 
in einem einzigen Falle, eventuell in einigen wenigen, um mög¬ 
liche Irrtumsquellen aufzufinden, und findet auf seine eigentüm¬ 
lich naturwissenschaftlich-induktive Weise seine Gesetze, die für 
ihn auf Grund eines gleichsam unvermittelten Sprunges allgemeine 
Gültigkeit besitzen, die er auch in Bezeichnungen wie »Notwendig¬ 
keit« oder »Unverbrüchlichkeit« zum Ausdruck bringt. Demgegen¬ 
über ist die Weise, wie die experimentelle Psychologie zu ihren 
allgemeinen Tatsachen gelangt, empirisch betrachtet eine völlig 
andere, so gleichartig sie auch auf den ersten Blick erscheinen 
mag. Für die experimentelle Psychologie ist die Beobachtung 
einer hohen Anzahl von Fällen von großer Bedeutung. Man kann 
im allgemeinen sagen, daß sich innerhalb einer bestimmten Sphäre 
die experimentelle Psychologie einer vollen Gewißheit um so mehr 
nähert, als die Zahl der von ihr aufgestellten Fälle wächst. 

Daß die Induktion, welche die experimentelle Psychologie zu 
treiben hat, mit der naturwissenschaftlichen in ihren einzelnen 
Etappen nicht zusammen fällt, daß sie insbesondere im Gegensatz 
zur Naturwissenschaft ein Interesse an einer hohen Anzahl vor¬ 
liegender Fälle hat, dieser Umstand hat seinen Grund darin, daß 
ihr die Gegenstände ihrer Untersuchung nicht in gleicher Weise 
gegeben sind, sondern daß eine ihrer Aufgaben, bis zu gewissem 
Grade sogar ihr Ziel, erst die klare Heraussonderung von Gegen¬ 
ständen aus dem Gesamten des psychischen Lebens ist. Diese 
bei jeder Einzeluntersuchung zuvor oder zugleich mit zu lösende 
Aufgabe wird in der möglichst weitgehenden, in bestimmter 
Richtung gehenden Einübung der Beobachter erfüllt. Auf Grund 
dieser Einübung werden erst die zu erforschenden psychischen 
Gegenstände, die allgemeinen und speziellen Seiten oder Rich¬ 
tungen im Bewußtseinsleben herauskristallisiert, so daß sie dann 
in dieser Isolierung später von der Vermischung mit fremdartigen 
Elementen möglichst frei sind und einer Erforschung zugänglich 
gemacht werden können. > 

In dieser Heraussonderune: der zu betrachtenden -nsvchischen 


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490 


G. Anschütz, 


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Statistiken zu achten ist. Eine vollkommene Heraussonderung oder 
Isolierung aber wird auch hier, theoretisch betrachtet, im Gegen¬ 
satz zur Naturwissenschaft nicht möglich sein. Ganz genaue 
Untersuchungen würden daher zeigen müssen, daß in der Tat 
jene vollkommene Isolierung, also jene vollkommene Einübung 
keine ideale wird, sondern daß sie nur eine approximative ist. 
Rein praktisch aber scheint diese Tatsache ebenfalls einleuchtend, 
da es zwar nicht als bewiesen, wohl aber als etwas in der Weise 
einer Evidenz Zugestaudenes gelten darf, daß ein absolut los¬ 
gelöstes Bewußtseinselement nicht vorkommt. Indes kann von 
derartigen Erwägungen Abstand genommen werden, und wir kön¬ 
nen jedenfalls praktisch damit rechnen, daß eine Konstanz psy¬ 
chischer Tatbestände im Gesamten einer entsprechend angeordneten 
experimentellen Untersuchung als Tatsache anzusehen ist. 

Ist aber jene Vorbedingung bei der experimentellen Psycho¬ 
logie erfüllt, so nähert sie sich nunmehr in ihrem Verfahren 
wesentlich der naturwissenschaftlichen Methode. Sie bedarf jetzt 
nur einiger Fälle, um auf ihnen in analoger Weise nicht nur bloße 
Wahrscheinlichkeiten, sondern ebenfalls allgemeine Tatsachen und 
Gesetze aufzubauen. Diese ihre allgemeinen Tatsachen und Ge¬ 
setze also sind letzten Endes ebenfalls solche, die auf voll induk¬ 
tivem Wege gefunden sind. Die wissenschaftliche Forschung in 
der experimentellen Psychologie gelangt also zu ihnen auch nur 
auf Grund jenes Sprunges, den auch die physikalische Betrach¬ 
tungsweise macht, wenn sie von ganz wenigen Fällen auf all¬ 
gemeine Gesetze schließt. Daß sich im letzten Grunde die Me¬ 
thode der experimentellen Psychologie, sofern sie sich in jenem 
induktiven Charakter offenbart, hinsichtlich dieses letzteren von 
der naturwissenschaftlichen nicht wesentlich unterscheidet, zeigt 
schon ein rein mathematisches Kalkül, nämlich dasjenige, welches 
uns sagt, daß eine Zahl von Fällen gegenüber einer unendlich 
großen Anzahl von solchen stets verschwindend klein bleibt, daß 
also der Sprung aus dem Endlichen der Erfahrung in das Unend¬ 
liche der allgemeinen Gesetze stets der gleiche ist. Trotzdem aber 
wird die experimentelle Methode in der Psychologie niemals mit 


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Über die Methoden der Psychologie. 491 

Fragen wir ans nun nach dem eigentlichen positiven Resultate, 
welches das gesamte Experiment zu liefern vermag, so müssen 
wir vor allem auf den entschieden günstigen Einfluß hinweisen, 
den dasselbe, sowohl was die Klärung der Begriffe, als auch was 
die präzisere Aufstellung von Problemen betrifft, auf die gesamte 
Psychologie auszuüben imstande ist. Dazu kommt endlich das 
Moment der objektiven Kontrolle. Es scheint in der Tat sehr 
wohl möglich, zahlreiche Hypothesen auf Grund des Experimentes 
auf ihren Wert hin zu untersuchen. Daß aber das Experiment 
zumeist nur ein Mittel sei, vorgefaßte Meinungen zu bekräftigen, 
ist eine Behauptung, die, wenn sie auch in vereinzelten Fällen 
Recht haben mag, so doch nur von solchen geltend gemacht wer¬ 
den kann, die selbst noch kein ernsthaftes Experiment betrieben 
haben und die zweifellos die sehr reiche Anregung noch nicht 
erfahren haben, die auch der apriorisch noch so feinsinnige Denker 
aus ihm erfahren kann. Der größte Vorteil aber, den das Ex¬ 
periment mit sich bringt, ist zweifellos der, daß es den Psycho¬ 
logen, der es ernsthaft betreibt, auf das engere Gebiet hinweißt, 
welches er sein eigen nennen darf, und daß es ihm verbietet, 
seine Spekulationen in eine äußerlich wissenschaftliche Form zu 
kleiden. . 


IV. Die Hilfsmethoden. 


Die Frage, wo eine methodische Forschung in der Psychologie 
überhaupt beginne und wie weit sie reiche, läßt sich mit voller 
Bestimmtheit nicht beantworten. Die Psychologie zeigt also auch 
hinsichtlich des ihr zugehörigen Gebietes gegenüber der Physik 
eine Differenz. Denn wenn wir auch die Selbstbeobachtung und 
die mannigfachen Arten experimenteller Untersuchungen als ihre 
Hauptmethoden nennen können, so gibt es doch noch ein weiteres 
Gebiet wissenschaftlicher Forschungen, welche als Grenzgebiete der 
Psychologie von dieser nicht unbeachtet gelassen werden dürfen. 
Ja diese Gebiete können sogar als Hilfsdisziplinen in Anspruch 
genommen werden, und aus ihnen erwachsen alsdann der eigent¬ 
lichen Pavcholofi-ie im enteren Sinne eine Reihe von Hilfsmethodei-» 


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Digitizea bj 


492 G. AnschUtz, 

in einzelnen Teilen dieser letzteren nähern. Zu ihnen gehören 
vor allem die Kinderpsychologie, die Psychopathologie, die Völker- 
und die Tierpsychologie. 

Die Kinderpsychologie ist erst relativ jungen Ursprungs; vor 
allem ist man erst neuerdings zu ihrer Verwertung für die Psycho¬ 
logie geschritten, während sie in ihren Anfängen fast nur in den 
Dienst der Pädagogik gestellt wurde. Es braucht kaum an die 
bekannten Arbeiten von Sigismund 1 ), Kußmaul 2 ), Preyer 3 ), 
Compayre‘), Meumann 6 ), Binet 6 ) u. a. erinnert zu werden. 

Die Hauptaufgabe dieser Hilfsmethode ist die Auffindung der 
Genese psychischer Phänomene, wie sie beim Erwachsenen durch 
Selbstbeobachtung und Experiment bereits festgestellt sind. Daß 
eine Verfolgung seelischer Tatbestände bis zu ihren überhaupt 
auffindbaren Anfängen ungeahnte Vorzüge bietet, bedarf kaum 
der Hervorhebung. Als derartige Probleme kommen hauptsächlich 
solche in Betracht, wie die Entwicklung und Ausbildung des lch- 
Bewußtseins und des Persönlichkeitsgefühles. Weiterhin ist die 
Beobachtung wesentlich, wie sich die Begriffe aus den ersten all¬ 
gemeinen Ansätzen bilden und speziellere Formen annehmen, wie 
Willensvorgänge und Affekte entstehen, wie sich Denken und 
Sprechen in gegenseitigen Beziehungen entwickeln. Der Kinder¬ 
psychologie kann daher Münsterberg mit einem gewissen 
Rechte eine analoge Bedeutung für die Psychologie zuschreiben, 
wie sie die Embryologie für die Anatomie besitzt. 

Trotzdem würde der Wert, den die Kinderpsychologie über¬ 
haupt besitzt, kein allzu großer sein, wenn nicht auch die Psycho¬ 
logie ihrerseits die ihr im Experiment zur Verfügung stehenden 
Mittel benützen würde, um die Bedingungen, unter welchen die 
Beobachtungen an Kindern gemacht werden, willkürlich und plan¬ 
mäßig abzuändern. Es ist zwar zunächst nicht abzulengnen, daß 
gerade eine Beobachtung von Kindern unter natürlichen Be¬ 
dingungen unschätzbare Werte besitzt und daß jede Einspannung 
in den engen Rahmen einer experimentellen Untersuchung für das 


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493 


Über die Methoden der Psychologie. 


schneidung der natürlichen Formen einer Pflanze, und man wird 
daher der Beobachtung von Kindern in einem natürlichen Milieu 
ihre Bedeutung stets zuerkennen. Aber wo es sich um die 
Untersuchung des kindlichen Empfindens und Wahrnehmens, der 
Reaktionen auf sinnliche Eindrücke, endlich sogar seiner Entwick¬ 
lung hinsichtlich konkreter und abstrakter Begriffe ! ) handelt, da 
wird man zweifellos dem Experiment die gebührende Stellung 
zugestehen. Zu derartigen Beobachtungen kommen dann noch 
solche, die sich auf natürliche Defekte und deren Einwirkung auf 
die psychische Entwicklung beziehen. Hier handelt es sich aber 
nicht nur um blinde und taubstumme Kinder und um solche, die 
etwa blind und taub zugleich sind, sondern vor allem um solche 
Fälle, in denen durch operativen Eingriff jene Funktionen wach¬ 
gerufen sind. Dazu kommen endlich solche abnorme Erschei¬ 
nungen wie Hörstummheit und vor allem Seelenblindheit. 

Die letzteren Beispiele greifen schon der zweiten wesentlichen 
Hilfsmethode vor, nämlich der Heranziehung pathologischer Er¬ 
scheinungen zur Erforschung des normalen Seelenlebens. Es ist 
ein seit langem aufgegebener Standpunkt, daß das sogenannte 
krankhafte Seelenleben gegenüber dem normalen ein völlig hetero¬ 
genes sei, und man ist heutzutage im allgemeinen der Ansicht, 
daß es krankhafte Bewußtseinselemente als solche eigentlich gar 
nicht gebe, sondern daß geistige Krankheit nur eine Bezeichnung 
für eine Gesamtverfassung der Seele sei, in welcher das normale 
Gleichgewicht durch das Hervor- oder Zurücktreten gewöhnlicher 
Bewußtseinserscheinungen gestört sei. Dieser Standpunkt ist der 
Grund für die neuerliche Annäherung von Psychologie und 
Psychiatrie, welche in dem Sinne erfolgt ist, daß einerseits die 
Psychiatrie aus dem Studium des normalen Seelenlebens Nutzen 
zieht, andererseits aber die Psychologie pathologische Fälle nutz¬ 
bar verwendet, um an ihnen allgemeine psychische Tatsachen, 
Tendenzen, Vorstellungen, Affekte usw. zu studieren, die im nor¬ 
malen Bewußtsein mehr im Hintergrund stehen und oft latent sind, 
in den Fällen geistiger Erkrankung jedoch deutlich zutage treten. 

Vor einer kurzen BesDrechnne 1 anao-Asnrochener ffeistierer Kr- 


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494 


G. Anschütz, 


vielfach insofern ein besonderes Interesse, als der Betreffende, 
der sich in jenem Zustande befindet, später selbst wertvolle An¬ 
gaben machen kann, wenn er die pathologischen Phänomene mit 
den normalen vergleicht. Wenn wir von der Erscheinung des 
Schlafes und der mannigfachen Halbwachzustände absehen, so ist 
es vor allem die jedermann bekannte Tatsache des Traumes, die 
uns in vielem Aufklärung zu geben vermag. Es sei hier nur 
daran erinnert, daß das im Zustande des Traumes befindliche 
Bewußtseiusleben die sonderbarsten Erscheinungen aufweist, wie 
diejenigen, daß oft eine eigentliche Kritik der Erlebnisse voll¬ 
kommen fehlt, daß Gegenstände Furcht und Gefühle mannigfacher 
Art wecken, die uns im gewöhnlichen Leben gleichgültig sind, 
oder umgekehrt, vor allem aber, daß Traumbilder und Halbschlaf¬ 
phantasien in den sonderbarsten Weisen in unserem Leben nach¬ 
wirken, daß sie vielleicht sogar Willensentscheide oder das Gegen¬ 
teil herbeifuhren können, eine Tatsache, die uns in nachträglicher 
Betrachtung ganz klar erscheinen kann, während sie im Erlebnis 
selbst verschleiert ist. Die Kenntnis des sogenannten Unterbewußt¬ 
seins 1 ) erhält durch derartige Untersuchungen eine wesentliche 
Förderung. Auf der anderen Seite bieten sich uns , solche Fälle 
dar, wie Störungen des Bewußtseins durch Läsionen, Krankheiten 
(Fieber), sogar durch Schreck, übermäßige Freude usw. Endlich 
aber sei an solche Störungen erinnert, die durch Alkohol und die 
mannigfachsten Medikamente planmäßig oder unwillkürlich herbei- 
geführt werden. Kraepelin 2 ), dessen Verdienst überhaupt auf 
dem Gebiete der Psychopathologie hervorragend ist, hat auch 
diesen Dingen ein spezielles Studium gewidmet. Die Tatsachen 
solcher Art haben den großen Vorzug, daß sie noch mehr als der 
Traum einer genauen experimentellen Untersuchung zugänglich 
sind, und daß der Experimentator imstande ist, was auch von 
Kraepelin durchgeführt wurde, selbst die Rolle des unmittel¬ 
baren Beobachters zu übernehmen. 

Vor allem muß bei den vorübergehenden pathologischen Er¬ 
scheinungen der Hypnose gedacht werden. Sie besitzt den außer- 


1) Vzl. z. B. M. Desaoir. »Das Unterbewußtaein 


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Rannort au VI. Con- 

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Über die Methoden der Psychologie. 


495 


ordentlichen Vorteil, daß bei ihr die Versuchsperson die Aufträge 
des Suggestors in sich aufnimmt, als wären es ihre eigenen Ge¬ 
danken, und daß die willkürlich und planmäßig herbeigeftihrten 
Suggestionen somit unmittelbar im Gesamtbewußtseinsleben zu 
wirken imstande sind. Das genaue Studium der Hypnose J ) wird 
somit ganz wesentliche Dienste zur Erforschung der Willens¬ 
phänomene und der Vorstellungen leisten. Es zeigt uns vor allem 
jene bei jedermann, in jedem Momente in irgendeiner Weise, und 
sei es auch nur in minimalem Grade, wirkende Suggestion in 
einer klaren und ausgeprägten Form. Die Bedeutung der sugge¬ 
stiven Momente für die gesamte Psychologie aber liegt auf der 
Hand; ohne sie wäre, wie auch Münsterberg sagt, keine Er¬ 
ziehung, keine Überzeugung, keine Kunst, fügen wir hinzu, über¬ 
haupt kein Zusammenleben psychischer Individuen möglich. Von 
diesem Gesichtspunkte aus wird ein eingehendes experimentelles 
Studium der Hypnose für die Psychologie eine wesentliche Be¬ 
reicherung bedeuten können. 

Nicht ganz so bedeutsam wie diese willkürlich herbeiführ- und 
variierbaren pathologischen Zustände, aber doch in vielen Punkten 
lehrreich für die Normalpsychologie ist das Studium ausge¬ 
sprochener geistiger Erkrankungen. Auch in den verwickeltsten 
Fällen dieser Art lassen sich psychische Tatsachen verfolgen und 
in ihren durch ihre relative Isoliertheit oft zu bizarren Formen 
verzerrten Erscheinungsweisen auf solche des normalen Bewußt¬ 
seins zurückflihren. Die einzelnen Arten bieten jeweils einen 
interessanten Anhaltspunkt für die Kenntnis einzelner Tatbestände. 
So wird der, welcher die Assoziation untersuchen will, sein Augen¬ 
merk auf die Ideenflucht richten, die durch einen raschen Wechsel 
von Vorstellungen charakterisiert ist, bei dem der innere Zu¬ 
sammenhang und das Mitwirken der aktiven, auswählenden und 
fixierenden Apperzeption fehlt 2 ). Die Untersuchungen über die 
Aufmerksamkeit finden eine Förderung durch den verlangsamten 
Verlauf derselben, insbesondere der Reaktionen, bei Manisch- 
Depressiven 3 ). Auch Fälle von fixen Ideen sind insofern heran- 


1) Vgl. die Arbeiten von Charcot, Forel u. a. 

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496 


(t. Anschütz, 

zuziehen, als durch sie die Wirksamkeit von Vorstellungen und 
Gedanken im Gesamten des Seelenlebens untersucht werden können. 
Eine der interessantesten Studien wird endlich das der Hyste¬ 
rischen sein, bei denen die Affekte besonders deutlich hervortreten 
Ein hervorragendes Verdienst bei derartigen Forschungen kommt 
Ribot 1 ) zu. Die Frage, wie weit bei Geisteskranken ein eigent¬ 
liches Experiment zulässig ist, hat M. Dessoir 2 ) in seiner Arbeit 
Uber »Experimentelle Psychopathologie« behandelt. 

Zu den genannten Hilfsgebieten kommt noch ein weiteres in 
der Völkerpsychologie. Der Vorteil, den diese der engeren Psycho¬ 
logie bieten kann, besteht in der Aufzeigung solcher psychischer 
Phänomene, welche nicht am Einzelnen, sondern erst an der Ge¬ 
samtheit auftreten. Derartige Tatsachen können in solche ge¬ 
schieden werden, welche sich in der Geschichte offenbaren, und 
solche, die an der sozialen Masse als solcher ohne Rücksicht auf 
ihre zeitlich sich folgenden Entwicklungsstufen sich offenbaren. 
Es ist klar, daß bei derartigen Untersuchungen das statistische 
Moment eine große Rolle spielt. Von jener Seite her entrollen 
sich eine Menge interessanter Aufgaben von großer Tragweite. 
Es sei nur des Beispiels halber an die Statistik der Selbstmorde 
erinnert, die auf ein eigenartiges periodisches Wiederkehren all¬ 
gemeiner diesbezüglicher Zahlenverhältnisse hinweist. Weiter aber 
kommt die Entwicklung von Sitten, Gebräuchen usw., das Auf¬ 
treten und der Ablauf von Massensuggestionen, Begeisterungen, 
Paniken und anderes als Gegenstände hinzu, welche ein weit- 
tragendes Interesse darbieten und der Psychologie bei dem Stu¬ 
dium sozialer Phänomene im einzelnen ganz wesentlich behilflich 
sein können. Schließlich aber weist uns die gesamte Völker¬ 
psychologie auf eine beachtenswerte Tatsache hin, die im Seelen¬ 
leben des einzelnen niemals als solche auffindbar ist, nämlich auf 
eine Art von Völkerseele und ein Völkerbewußtsein, ja sogar auf 
ein Nationalbewußtsein, zu dem sich die psychischen Individuen 

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Über die Methoden der Psychologie. 


497 


forschten und schwer erkundbaren Gebiete unbewußter Trieb¬ 
handlungen und dumpfer Instinkte. 

Wie sich aber die psychologische Forschung als solche nicht 
auf die Kultur- und schließlich auf die Naturvölker beschränkt, 
sondern sogar in das Tierreich übergreift, so wird umgekehrt die 
engere Psychologie wiederum auch von der Tierpsychologie einige 
Unterstützung erwarten dürfen. Auch hier sind es vornehmlich 
die »sozialen Instinkte«, schließlich aber auch einige als primitive 
Denkvorgänge zu betrachtende Erscheinungen, welche in Betracht 
kommen. Indes treten hier noch weit mehr als bei der Völker¬ 
psychologie einer genauen Untersuchung große Hindernisse ent¬ 
gegen. Ist schon das Verständnis und die Deutung sozialer Er¬ 
scheinungen, noch dazu bei Naturvölkern, als problematisch, aber 
nicht als wirkliche Tatsache in Anspruch zu nehmen, so gilt dies 
in noch weit höherem Maße bei der Tierpsychologie, und es läßt 
sich häufig sehr darüber streiten, mit welchem Rechte man von 
einem Willen bei primitiven Tieren 1 ), von sozialen Instinkten bei 
Ameisen, Bienen usw. sprechen kann. Schließlich ist die Frage 
nach den Grenzen der Bewußtseinsphänomene in der belebten 
Welt überhaupt eher einer metaphysisch-spekulativen Betrachtung 
zuznweisen, und sie darf nicht einer exakt-wissenschaftlichen Be¬ 
antwortung für fähig erachtet werden. Trotzdem wird die Tier¬ 
psychologie, sofern sie sich zunächst auf eine möglichst einfache 
Beschreibung von Tatsachen beschränkt und von willkürlichen 
und bestreitbaren Hypothesen bewußtermaßen abstrahiert, der 
Psychologie im engeren Sinne zahlreiche wertvolle Anregungen 
geben können, die uns teils auf Analogien mit unserem Bewußt¬ 
seinsleben, teils auf Differenzen mit demselben hinzuweisen im¬ 
stande sind. Schließlich muß sogar mit der Möglichkeit gerechnet 
werden, daß wir auf solche Weise auf gewisse ganz dunkle und 
verschwommene Tatsachen im Hintergründe des eigenen Bewußt¬ 
seins hingewiesen werden können. 

Wollen wir unseren Weg, der uns von unmittelbaren Tatsachen 
immer weiter in das Gebiet bloßer mittelbarer leitete, zu Ende 
P'fihen. so müssen wir als ein letztes Hilfse-ehiet der Psvcholoeie 


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6- Anachlitz, Über die Methoden der Psychologie. 


Hier könnte das viel besprochene und umstrittene Gebiet des 
»Unbewußten« das Verbindungsglied darstellen. Daß natürlich 
vom erkenntnistheoretischen Standpunkte aus alles Physiologische 
schlechterdings gegenüber dem Psychischen etwas absolut Hetero¬ 
genes ist, wird niemand bestreiten dürfen. Daß aber jenes Postulat 
einer gesetzlichen Wechselwirkung zwischen physiologischem und 
psychologischem Geschehen wesentliche Dienste zu leisten imstande 
sein kann, zumal wo es sich um Unbewußtes und Unterbewußtes 
handelt, das ist nicht abzuleugnen. Und jenes prinzipielle Mi߬ 
trauen, welches die reine Betrachtung des Bewußtseins aller 
physiologischen Forschung lange Zeit entgegengebracht hat und 
zum Teil heute noch entgegenbringt, dürfte nur eine Reaktion auf 
die unberechtigten und voreiligen Übergriffe einzelner Physiologen 
und überhaupt Naturwissenschaftler in das Gebiet der Psychologie 
sein und somit zwar als motiviert, aber nicht als ein für allemal 
begründet erscheinen. Eine Beschränkung auf die natürlichen und 
notwendigen Grenzen ist auch hier Vorbedingung einer gedeih¬ 
lichen Annäherung und Aussöhnung. 

Wenn wir am Schlüsse unserer Untersuchungen auf die ein¬ 
gangs gemachten Erörterungen Uber den Begriff der Methode 
zurückgreifen und uns zugleich erinnern, daß ihrer engeren Fas¬ 
sung der Begriff des bloßen Verfahrens gegentiberzustellen ist, 
schließlich aber unter »Methoden« beides entsprechend dem natür¬ 
lichen Sprachgebrauch verstanden ist, so können wir noch eine, 
wenn man will, fundamentale Unterscheidung aller Methoden vor¬ 
nehmen, die mit Psychologie zu tun haben, indem wir uns an 
Wundt 1 ) anschließen und der reinen Psychologie eine praktische, 
d. h. angewandte, dementsprechend aber der reinen, d. h. wissen¬ 
schaftlichen Methode in der Psychologie eine angewandte gegen¬ 
überstellen, die wir dann weiterhin in eine praktisch-technische, 
eine praktisch-theoretische und eine rein theoretische einteilen 
können. Über diese Frage finden sich in der betreffenden Ab- 

v. „„ J i __ tt r Jx _ _«i_ * _ i i 


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Literaturbericht 


Einzelbesprechangen. 


1) W. Wirth, Die mathematischen Grundlagen der sogenannten unmittel¬ 
baren Behandlung psychophysischer Resultate. Wundts Psycho¬ 
logische Studien. 1910. Bd. VI. S. 141—156, 252—315, 430- 453. 


Die sogenannte unmittelbare Behandlung psychophysischer Resultate 
dient zur möglichst direkten Bestimmung der Schwellen, Fehler und Streu¬ 
ungsmaße aus den beobachteten relativen Häufigkeiten der Vergleichsurteile. 
Die unmittelbare Behandlung leistet nicht auf eine formelmäßige Darstellung 
der beobachteten Verteilungskurven überhaupt Verzicht, sondern wählt nur 
eine allgemeine, anpassungsfähige Form der Darstellung, nach der dio be¬ 
obachteten Funktionswerte unverändert dargestellt werden können. Man 
sollte deshalb die unmittelbare Behandlung nicht der Behandlung mittels 
Formel überhaupt, sondern der Behandlung nach speziellen VerteilungB- 
gesetzen entgegenstellen. Gefordert wird, daß die Resultate möglichst direkt 
und bequem, d. h. ohne schwierige Zwischenrechnung gewonnen werden sollen. 

Es wird von dem Begriffe einer zufälligen. Schwankungen ausgesetzten 
oberen und unteren Schwelle ausgegangen, der so gefaßt wird, daß er 
positive und negative Schwankungen vom Hauptreize E aus gerechnet um¬ 
faßt. Dieser Begriff bedeutet dann nichts anderes, als daß in jedem Augen¬ 
blicke ein zufällig variabler oberer Grenzreiz r„ das Minimum der Vergleichs¬ 
reize V bildet, das eben zum Urteile »größer« führt, und ein ebenso variabler 
unterer Grenzreiz r„ das Maximum der V, das eben als »kleiner« beurteilt 
wird. Ist H= r, so ist r„ — r = S 0 die obere und r„ — r = S u die untere 
Schwelle. Die oberen und die unteren Schwellen bilden zwei hypothetische 
Kollektivgegenstände, und betrachtet man die Vergleichsreize als unabhängige 
Variable, so sind f,[x)dx und f„{x)dx die relativen Häufigkeiten des 
Wertes x für den oberen, bzw. unteren Grenzreiz. Über die Funktionen/;, 
und f u werden keine Voraussetzungen gemacht. Bezeichnet F y (x) die relative 
Häufigkeit des Urteiles »größer«, und F„ (x) die des Urteiles »kleiner« für 
den Vergleichsreiz x, so ist 

X 


und 



(x) d x 


K 


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r. 


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2 


Literaturbericht. 


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ebenso F k {E' u ) = 0. Außerdem werden noch die Größen E 0 , von der an 
alle Urteile auf »größer« lauten, und E u , von der an nicht mehr alle Urteile 
auf »kleiner« lauten, eingefiihrt. Es ist demnach F g [E 0 ] = F; : (E u ) = 1. 
Ebenso sind die zwischen den Grenzen E ’ 0 und E 0 , bzw. E„ und E' u er¬ 
streckten Integrale der Verteilungsfunktionen gleich der Einheit Außerdem 
ist erforderlich, daß die Funktion F g (x) stets zunimmt und F k [x) stets ab¬ 
nimmt. Die Zentralwerte r 0 (E) und r u ((£) bestimmen sich aus F g (r 0 ((£)) = -|- 

und F k (r„ (£)) = durch Interpolation. Boi der Bestimmung der Dichtig¬ 
keitsmittel hat man die Wendepunkte der Kurven F g ix) und F k (x) aufzu¬ 
suchen. Die Kollektivgegenstände werden als stetig vorausgesetzt. 

Das arithmetische Mittel der oberen Grenzreize ist nach bekannten Regeln 

E o 

r„ {%) = J*x f g [x)dx. 

E o 

Setzt man in diesem Ausdrucke x — u und f g (x) dx = d v und integriert 
per partes, so erhält man 

E 0 

r o (2t) = K —j Fg [x)dx = E u — J g . 

K 

In gleicher Weise ergibt sich für das arithmetische Mittel der »kleiner«- 
Urteile 

K 

r u (21) = F„ -f- J*.F k (aj) d x = E„ + J k . 


Die in den beiden letzten Formeln vorkommenden Integrale sind ähnlich 
gebaut wie die Ausdrücke, die als die Idealgebiete der Gleichheitsurteile 
bezeichnet werden, und es werden nach Analogie J g und J k als die Ideal¬ 
gebiete der »größer«- und »kleiner«-Urteile bezeichnet. Da die Summe der 
Idealgebiete aller Urteilsarten gleich ist der Differenz E„ — E „, so hat man 


(2t) - r„ (2t) = [E 0 - E h ) - {J g + J k ) = J u . 

Dieser Satz gilt allgemein und sollte als Fundamentalsatz der Theorie der 
Idealgebiete bezeichnet werden. Er besagt im wesentlichen, daß sich die 
arithmetischen Mittel der oberen und unteren Grenzreize aus den Grenzen 
der UnBicherheitsregion und aus den Idealgebieten der »größer«- und »kleiner«- 
Urteile berechnen lassen. Diese Formel liefert auch die bis jetzt vermißte 
Bestimmung der Schwellenabschnitte S 0 (2t) und S„ (2t) aus den Ideal gebieten, 
wie unmittelbar ersichtlich, und sie kann auch zur Bestimmung eines kon¬ 
stanten Fehlers dienen. Sind bei Umkehrung einer einzigen Verschiedenheit 
die neuen Schwellen und S’ u den alten Schwellen ungefähr gleich, bo ist 

c (5tj = s ° (2 Q — (21) _ r _ E 0 E„ _ J g — J k _ ^ 


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Literaturbericht. 


3 


der »größer*- und »kleiner«-Urteile. Diese Größen lassen sich aus einer 
verhältnismäßig kleinen Anzahl von Versuchen bestimmen, wenn nur die 
Vergleichsreize einer Vollreihe bis zu den Extremen E n und E u erstreckt 
sind und mit jedem Vergleichsreize die gleiche Zahl von Versuchen gemacht 
wurde. 

Der nächste Schritt besteht in der Charakterisierung der Kollektivgegen¬ 
stände durch die mittlere Abweichung und das mittlere Fehlerquadrat. Be¬ 
zeichnet man einen beliebig gewählten Ausgangswert mit r mn bzw. mit r mH> 
so finden sich für die mittleren Variatonen der oberen und unteren Grenzreize 

r M O ^0 



x) f„ (x) d x +J [x 


'mo 


r,n o) fn [X) dx, 



X) f, 


u {x)dx+ j[x 


u) fn [x] d X , 


da diese als die Mittelwerte der absoluten Beträge der Abweichungen defi¬ 
niert sind. Mit Berücksichtigung der speziellen Funktionswerte F 0 [E' 0 ) = 0 , 
F g (. E 0 ) = 1 , F k (E„) = 1 und F k [E' u ] = 0 findet man 


r m o 


D 0 = E„ — 



dx -J Fg IX) dX, 


' m o 


D n 


= r„ 




d x. 


Bei Bestimmung der mittleren Fehlerquadrate 


£' 


Ml —J (r m 0 — x) 2 f 0 (x)dx, 


E' 


M « = f (*■»> « — ®) 2 fu [x)dx, 


E„ 


stößt man auf die Integrale der Funktionen x 2 f„ (x) d x und x 2 f„ (x) d x , für 
die man durch zweimalige Integration per partes findet 


£’ 


I x 2 f () (x) d x = El — 2E a Jg + 2 jjFg ix) dx, 

k _ A-i 

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Literaturbericht. 


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Bei Ausführung dieser Integrationen ist darauf zu achten, daß die Funk¬ 
tionen F durch Integrale dargestellt sind, in denen für die auftretenden 
Integrationskonstanten bestimmte Werte eingeführt wurden, auf welche sich 
die erste unbestimmte Integration erstreckt. 

Die mittlere Variation ist mit dem Zentralwerte in dem Sinne solidarisch, 
als dieser die mittlere Varation zu einem Minimum macht, ebenso wie das 
arithmetische Mittel das mittlere Fehlerquadrat. Setzt man die Differential¬ 
quotienten von D„ und D„ nach r„, 0 und r m „ gleich Null, so erhält man 

F g {x) '= — und Fk(x) = 9 als Bedingungen für das Eintreten eines Extremums. 

Durch Betrachtung der zweiten Ableitungen überzeugt man sich leicht, daß 
es sich um Minimal- und nicht um Maximalwerte handelt. Ebenso findet man, 
daß M„ und M„ für r mu = E u — J g , bzw. für r„,„ = E„ J k ein Minimum 
hat. Letzteres aber sind die arithmetischen Mittel der Kollekivgegenstände 
der oberen und unteren Grenzreize, wie zu beweisen war. 

Setzt man in den obigen Ausdrücken für D 0 und D„ für r mo den Wert 
E„ — J„ und für r mu den Wert E„ -f- J k , so reduzieren sich die Formeln auf 

»•oW 

D u («) = 2 fF g (x)dx, 

K 

K 

A< (2t) = 2 J F k [x) d x . 

•■«(») 

Die gleichen Substitutionen ergeben für M* und M n - t 

*o 

Ml = 2 ffF g (x)dx-J 

K 

K 

M* = - F k (x)dx- Jl . 

K' 

Wegen der Beziehung g -+• u + k = 1 läßt sich aus den relativen Häufig¬ 
keiten der Unentschiedenheitsfälle über die UnterschiedsBchwellen und deren 
Strenuugsmasse nichts Neues herausholen. Dagegen kann man diese Daten 
ebenso behandeln wie die hypothetischen Verteilungsfunktionen f„ (x) und 
f„ (x), um die Hauptwerte und Streuungsmaße der Kurve F u (x) zu berechnen 
Der Unterschied besteht darin, daß es sich hier um einen tatsächlich be¬ 
obachteten, dort aber um einen hypothetischen Kollektivgegenstand handelt. 
Es werden in dieser Art Formeln gewonnen, die sich auch bei Bearbeitung 


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Literaturbericht. 


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Nach Ableitung der Formeln für r„ (21), r„ (21) und ihre D und M- 
handelt es sich um Angabe eines handlichen Verfahrens zur Bestimmung 
der Werte der in diesen Formeln auftretenden Integrale. Man hat zunächst 
zwischen der graphischen und der rechnerischen Interpolation zu wählen, 
jedoch stellt es sich heraus, daß man mit der rechnerischen Interpolation 
schneller zum Ziele kommt als mit der graphischen, die außerdem stets mehr 
oder weniger willkürlich ist. Daß man zum Zwecke einer Interpolation 
irgendeinen Funktionsausdruck voraussetzen muß, ist klar, und die Unmittel¬ 
barkeit des Verfahrens besteht nur darin, daß man diesen Ausdruck völlig 
nach den beobachteten Werten einzurichten trachtet. Unter den möglichen 
Ansätzen wird man natürlich jenen wählen, der für die Ausführung der 
Rechnungen am bequemsten ist. Eb ist nun zu bedenken, daß es in der 
Praxis nur auf eine hinreichende Übereinstimmung der Rechnung mit der 
Beobachtung ankommt und daß man deshalb unter Umständen mit einem 
weniger allgemeinen Ansätze dasselbe erreichen kann wie mit einem Aus¬ 
drucke, der Für alle Fälle paßt, eben wegen dieser Allgemeinheit aber auf 
die tatsächlich vorliegenden besondem Umstände keine Rücksicht nimmt. 
Wirth verwendet zur Interpolation und numerischen Integration die Methode 
der Funktionsdifferenzen, und bezeichnet dieselbe als das unmittelbare Ver¬ 
fahren im speziellsten Sinne. 

Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf Resultate von Versuchen 
mit äquidistanten Vergleichsreizen, weshalb die Formeln eine wesentlich ein¬ 
fachere Gestalt annehmen. Gegen diese Beschränkung kann man nicht Ein¬ 
spruch erheben, da die Wahl der Vergleichsreize in unserer Hand liegt und 
die Aquidistanz der Vergleichsreize also stets erzielt werden kann. Zur 
Ausführung der numerischen Integration geht man von einem beliebigen, nach 
getroffener Wahl aber festgehaltenen Vergleichsreize x m aus und führt die 

“JC ~~~~ 3 / 

neue Variable n = -.—— ein, worin dann i der Abstand der Vergleichs- 

l 


reize ist. Man kann nun das Integral j F (x) 

Jf u [x) Ux, j Fi (x) d x , J F 3 {x) dx , 


d x aus den Teilintegralen 
... J F p (x) d x 


zusammensetzen, deren mittlere Ordinate einer der beobachteten Funktions¬ 
werte ist, von dem aus das Iutegrationsintervall sich nach links und rechts 

um ~2 erstreckt. Natürlich ist hierbei vorausgesetzt, daß die Integrations¬ 
konstanten so bestimmt sind, daß die Stetigkeit der Funktion an den Über¬ 
gangsstellen garantiert ist. Man bezeichnet die Funktionsditferenzen wie 
aus folgendem Schema ersichtlich 


*o Vo 


J 


x \ V\ ^\,'i) 

A 


/in 


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Jl r .4 \ 


,iv / 


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6 


Literaturbericht. 


worin die in Klammern gesetzten Ausdrücke ungerader Ordnung die Be¬ 
deutung von Durchschnitten 

+ \ ~ 2 \ m-1 ' ■>» I 

haben, während die gerader Ordnung gleich den entsprechenden Differenzen 
sind. Bei Bestimmung des Idealgebietes der »größer<-Urteile hat man den 
Ansatz 

o.s o 


0,5 


ij„= 


Fg (E 0 n *) d n 


= ( Fg (. E' 0 + n tj d n + ^ | F g (x m + » ») d n -f / J 

./ m=l J ./ 

0 - 0,5 — 0,5 

Die Auflösung der angedeuteten Operationen gibt bei Berücksichtigung der 
Differenzen bis einschließlich dritter Ordnung 

1 p 11 1 j i? =l 

T J 9=2 9k ~ 2 + 8 [j °•' — + + 

k- 1 t —l 

Die gleiche Formel gilt für die Idealgebiete der »kleiner«-Urteile. Bezeichnet 
man mit r,, den Wert, der dem arithmetischen Mittel des Kollektivgegeu- 
standes der »größer<-Urteile am nächsten ist, bo daß r ni = x,, + « t, so be¬ 
stimmt sich die mittlere Variation für diesen Ausgangswert aus der Formel 

1 'C4 «2 

2i D « W = 9k + (0.6 + «) <J ( > + -4 (g (j+ 1 - 9<! - 1 ), 

k = 1 

während das mittlere Fehlerquadrat durch 

(®)= 2 (P — l)0»+2(p —2)0 t + ...+20 p _ 1 + * — ^,+^ + •■•+^- 1 + 2 

angenähert dargestellt ist. Neben diesen Formeln werden solche gegeben, 
bei denen die Differeazen berücksichtigt sind und die demgemäß eine höhere 
Genauigkeit ermöglichen. 

Der dritte Teil der Arbeit enthält Beispiele über die numerische Aus¬ 
führung der Rechnungen. Es werden zunächst das arithmetische Mittel, die 
mittlere Variation und das mittlere Fehlerquadrat für das oben erwähnte 

Beispiel F (x) — sin |x — E 0 — 4 - nach den angenäherten und nach 

den genaueren Formeln bestimmt. Da sich diese Größen direckt berechnen 
lassen, so kann man aus dem Vergleiche der Resultate ein Urteil über die 
mit diesen Formeln zu erreichende Genauigkeit gewinnen. Es zeigt sich, 
daß das Mittel genau und die beiden Streuungsmassen mit einem nur sehr 
kleinen Fehler getroffen werden. Die Genauigkeit, mit welcher das mittlere 
Fehlerquadrat schon mit der angenäherten Formel getroffeu wird, ist für die 
meisten psychophysischen Berechnungen hinreichend. Hierauf wird an den 
Resultaten einer Versuchsreihe aus Kellers akumetrischen Versuchen ge- 




A _ 


.„i—_r i.»i. 


ai! -u _ r. _j — 


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Literatarbericht. 


7 


and für die zahlenmäßige Bestimmung dieser Grüßen die Interpolation mit 
einer beschränkten Anzahl von Differenzen charakteristisch. Die Richtigkeit 
des letzteren Gedankens ist durch die erhaltenen Resultate erwiesen, allein 
gegen die beiden ersten Gedanken ist so häufig argumentiert worden, daß 
es vielleicht der Mühe wert ist die Gründe darzulegen, warum uns dieses 
Verfahren als berechtigt erscheint. Gegen die Annahme endlicher Grenzen 
wird gewöhnlich angeführt, daß jeder Unterschied, gleichgültig wie groß er 
sei, unter Umständen unrichtig beurteilt werden kann, und daß deshalb nur 
solche Funktionen F g [x) und F k (x) angenommen werden sollen, die zwischen 
den Werten 0 und 1 asymptotisch verlaufen. Praktisch kommt es nun auf 
dasselbe heraus, ob man sagt, daß einem Ereignisse eine unendlich kleine 
Wahrscheinlichkeit zukommt, oder daß dieses Ereignis überhaupt nicht vor¬ 
kommt. Man kann für jede noch so große Anzahl von Versuchen eine 
Grenze angeben, außerhalb welcher mit einer der Einheit beliebig nahen 
Wahrscheinlichkeit nur extreme Urteile der einen Art zu erwarten sind. Die 
Einführung von Funktionen, die zwischen 0 und 1 asymptotisch verlaufen, 
ist nur eine Zweckraäßigkeitssache, da es eben keine stetigen Funktionen gibt, 
welche sich innerhalb eines gegebenen Bereiches verändern, außerhalb desselben 
aber konstant Bind, wie es der Befund in allen psychophysischen Versuchen 
ist. Für die bis jetzt behandelten psychophysischen Probleme war es von Vor¬ 
teil, anzunehmen, daß die Werte der psychometrischen Funktionen außerhalb 
des in Rede stehenden Intervalles nicht genau gleich 0 oder 1 sind, allein Wirths 
Formeln zeigen klar, daß sich aus der entgegengesetzten Annahme für die Rech¬ 
nung wertvolle Formeln ableiten lassen. Der Vorteil dieser Annahme besteht 
darin, daß die Uber ein unendliches Intervall genommenen Integrale der psycho¬ 
metrischen Funktionen der extremen Urteilsarten divergieren, bei endlichen 
Integrationsgrenzen aber bestimmt konvergieren. Von diesen theoretischen Über¬ 
legungen muß natürlich die Rücksicht auf die Tatsache, daß sich in einer sehr 
ausgedehnten Versuchsreihe mit einer gegebenen Anzahl von Fsolche obere und 
untere Grenzen nicht finden lassen, unterschieden werden; diese Verhältnisse 
finden sich in der Tat in meinen und in W. Browns Gewichtsversuchen. 

Es ist wichtig auf die Rolle hinzuweisen, die in dieser Abhandlung der 
Begriff der Schwelle spielt. An mehreren Stellen werden die Kollektiv¬ 
gegenstände der oberen und unteren Grenzreize als hypothetisch bezeichnet. 
Die Verteilungsgesetze f„ (x) und f 0 (x) werden eingeführt und zu einer Inte¬ 
graldarstellung der Funktionen F k (x) und F g (x) benützt, allein alle weiteren 
Ableitungen stützen sich auf diese, und in den Endformeln kommen die 
Funktionen f überhaupt nicht vor. Die Darstellung der F durch die f hat 
den Vorteil, daß man sich leicht Funktionen verschaffen kann, die zwischen 
0 und 1 asymptotisch verlaufen, ein Vorteil, der aber bei Einführung end¬ 
licher Integrationsgrenzen verschwindet. Dieses rein formale Verfahren bei 
der Definition der Funktionen F wurde in meiner Abhandlung über die 
psychophysischen Maßmethoden befolgt, und es besteht kein Zweifel, daß man 
Wirths Abhandlung so umschreiben könnte, daß die Funktionen f über¬ 
haupt nicht erwähnt werden. Die Einführung der f bietet also keinen Vor¬ 
teil, der sich nicht auf anderem Wege auch erreichen läßt. Die Erklärung 


• i ..n. 

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i • i _ •__ 

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8 


Literaturbericht. 


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eine Aussage Uber einen introspektiven Befund enthält, der sich jeder 
weiteren Kontrolle entzieht. Das Wort Schwelle ist ein metaphorischer 
Ausdruck, dessen reale Bedeutung als Maß der Sinnesempfindlichkeit nur 
auf Grnnd einer Kenntnis des zur Bestimmung dieser Größe verwendeten 
Verfahrens gefunden werden kann. Tatsächlich gegeben sind nur die rela¬ 
tiven Häufigkeiten, mit welchen sich die verschiedenen Urteile auf die Ver¬ 
gleichsreize einstellen, und von diesen, und nicht von dem hypothetischen 
Begriffe einer Schwelle hat die Theorie der psychophysischen Maßmethoden 
auszugehen. Bei einer abschließenden Darstellung der psychophysischen 
Maßmethoden wird man sich jedenfalls darüber klar sein müssen, welche 
Stellung man der Methode der ebenmerklichen Unterschiede — oder wie 
immer man dieses Verfahren bezeichnen will — einräumen soll. 

Man kann sagen, daß Wirths Verfahren in einer Charakterisierung der 
psychometrischen Funktionen durch ihre Parameter oder durch Funktionen 
dieser Parameter bestehe. Von welcher Allgemeinheit manche der Formeln 
sind, soll an folgendem Beispiele gezeigt werden. In meiner Abhandlung 
Uber die Methode der mehrfachen Fälle wurde (Archiv für die ges. Psycho¬ 
logie. Bd. XVII. S. 390 ff.) durch geometrische Betrachtungen folgender Satz 
bewiesen: Falls die psychometrischen Fuuktionen der beiden extremen Urteile 
durch Kurven dargestellt sind, die aus zwei Teilen bestehen, die durch 
Spiegelung an zwei gewissen, aufeinander senkrechten Graden ineinander 
übergehen, so ist das Idealgebiet der mittleren Urteile gleich dem Intervalle 
der Ungewißheit. Der an dieser Stelle gegebene geometrische Beweis läßt 
sich leicht in analytischer Form führen, indem man einen Grenzübergang 
ausfUhrt, allein dieser Satz läßt sich aus Wirths Fundamentalsatz der 
Theorie der Idealgebiete direkt ableiten. Gleichheit des Idealgebietes der 
mittleren Urteile mit dem Intervalle der Ungewißheit findet in der Tat nur 
dann statt, wenn r„ (2t) und r u (£) einerseits, und r„ (Ä) und r„ ((£; anderer¬ 
seits zusammenfallen, was aber im allgemeinen nur geschehen kann, falls die 
Funktionen f 0 (x) und f n (x) Symmetrieachsen haben. Bei Vorhandensein 
solcher Symmetrieachsen aber bestehen die Kurven, die die Integrale dieser 
Funktionen darstellen, aus zwei Teilen, die durch Spiegelung an zwei zu¬ 
einander senkrechten Geraden ineinander übergehen. 

Es ist schließlich noch auf die Übereinstimmung hinzuweisen, die sich 
zwischen Wirths Resultaten und den von mir im Archiv für die ges. 
Psychologie, Bd. XVIII (1910), S. 400 ff. veröffentlichten Daten findet. Eine 
kursorische Rechnung scheint zu ergeben, daß diese Übereinstimmung nicht 
nur für r u der Versuchsreihe Me. 55, sondern auch für die anderen Werte be¬ 
steht. In Anbetracht des Umstandes, daß Wirth die r (2t), ich aber die r (C 1 
berechnete, erscheint diese Übereinstimmung wichtig, wenn auch vielleicht 
nicht ganz unerwartet. Es handelt sich offenbar um eine Regelmäßigket, die 

ainnr nölmron TTnfai'finnliiinrr vrort ist 7nr V.rloHitrminr Hiaoor F pq tr a arfinhaint 


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Referate 


2) A. Meinong, Über Annahmen. Zweite umgearbeitete Auflage. Leipzig, 
Joh. Ambr. Barth, 1910. M. 10.— ; geb. M. 11.—. 

Die zweite Auflage des Werkes von Meinong ist gegen die erste er¬ 
heblich umgearbeitet worden. Die Lehre vom »Objektiv« — als dem »Ur¬ 
teilsgegenstand«, der in erster Linie beim »negativen Erkennen« gegeben 
ist, und seinem Unterschiede vom »Objekt«, das »erst auf dem Umwege Uber 
das Vorstellen vor das Forum des Urteils gelangt« — ist mehr in den 
Vordergrund gerückt als in der ersten Auflage, und in mehreren anderen 
Kapiteln hat der Verf. seine Ansichten weiter zu bilden versucht. 

Ebenso ist manche kritische Auseinandersetzung mit Gegnern und Anders¬ 
denkenden hinzugekommen, z. B. auch mit den »Freunden Brentanos«, wie 
sie der Verf. selbst in Anführungszeichen bezeichnet. Manche längeren Aus¬ 
einandersetzungen mit anderen Auffassungen sind in engerem Druck in den 
Text eingeschaltet. 

Zu bemerken ist, daß der Verf. es nicht für unmöglich hält, auch seine 
Lehren Uber Annahmen dem psychologischen Experiment zugänglich zu 
machen, und er stellt mit berechtigter Genugtuung fest, daß die »genetische 
Psychologie« in den Arbeiten von Baldwin und W. M. Urban seine frü¬ 
heren Ausführungen aufgenommen und verwertet hat. Das Buch hat ein 
ausführliches Sachregister (bearbeitet von V. Benussi). 

E. Meumann (Leipzig). 


3) Gustav Störring, Einführung in die Erkenntnistheorie. Eine Ausein¬ 
andersetzung mit dem Positivismus und dem erkenntnistheoretischen 
Idealismus. V und 330 S. Leipzig, Wilhelm Engelmann, 1909. 
M. 6.—. 


Störring lehnt die Definitionen der Philosophie als Wissenschaft von 
der inneren Erfahrung, als Lehre vom Erkennen, als Gesamtwissenschaft, 
die in enzyklopädischer Weise eine systematische Darstellung der Haupt¬ 
faktoren der Einzelwissenschaften gibt, als Wissenschaft von den absoluten 
Werten ab; er definiert sie als allgemeine Wissenschaft und Wissenschaft 
von den sittlichen Werten. Er grenzt dann genauer die Gebiete der Logik 
und Erkenntnistheorie gegeneinander ab. Beide Gebiete berühren sich bei 
der begrifflichen Fixierung der Voraussetzungen der Einzelwissenschaften. 
Die Logik begnügt sich mit einer eindeutigen Angabe dieser Voraussetzungen, 
während der Erkenntnistheorie die Analyse derselben zufällt. 

Mit der Herbartschen Begründung, daß jeder tüchtige Anfänger der 

tu.;I^„,,„ l,:_ qi All u,., o * v __: : „„i 


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10 


Literaturbericht. 


Die systematische Entwicklung behandelt im ersten Abschnitt das Denken 
und die Logik vom erkenntnistheoretischen Standpunkte aus. Welches Denken 
ist allgemeingültig? Unser Denken vollzieht sich in Urteilen. Die Urteile 
im logischen Sinn unterscheiden sich von den Urteilen im psychologischen 
Sinn dadurch, daß sie nur die richtig gedachten Urteile umfassen. Die 
Gegenstände dieser richtigen Urteile als gedachte zu analysieren, ist Auf¬ 
gabe der Logik. Die Beachtung der Bedeutung des »richtig« ergibt die Er¬ 
kenntnis, daß die Bestimmungen allgemeingültig genannt werden, die bei 
Zerlegung in elementare Operationen mit absoluter, nicht mehr steigerungs¬ 
fähiger Sicherheit vollzogen werden. Unter diese Bestimmungen lassen sich 
auch die Resultate der Verifikation subsumieren. Die Ansetzung von Be¬ 
stimmungen als allgemeingültig kann man nicht, wie Rickert will, dadurch 
rechtfertigen, daß man dem im Urteil anerkannten Sollen eine transzendente 
Bedeutung gibt; denn im besten Falle gilt das für ein Urteil. Streng läßt 
sich die Allgemeingültigkeit überhaupt nicht beweisen, weil ein solcher Be¬ 
weis offensichtlich das zu Beweisende schon voraussetzt. Nur ich als Ur¬ 
teilender erfahre die unmittelbare Berechtigung des Anspruchs auf Allgemein¬ 
gültigkeit. In der Annahme der Allgemeingültigkeit gewisser Erlebnisse ist 
die Behauptung einbeschlossen, daß die in Erlebnissen mit dem Charakter 
absoluter Sicherheit als gedacht erscheinenden Gegenstände wirklich gedacht 
sind, und zwar mit diesem Charakter der Sicherheit. Umgekehrt ist aber in 
diesem eingeschränkten Satz vom unmittelbaren Bewußtsein nicht die An¬ 
erkennung der Allgemeingültigkeit gewisser Prozesse enthalten. Weiterhin 
wird die Leistungsfähigkeit des Denkens behandelt. Es wird gezeigt, daß 
es innerhalb der formalen Wissenschaften, außerhalb des Gebietes des arith¬ 
metischen Denkens, synthetische Bestimmungen gibt, die für unendlich viele 
Fälle unabhängig von der Erfahrung erfolgen. Sie sind also synthetisch und 
a priori. Nachdem noch kurz bemerkt wird, daß die mit einem höheren 
Grade der Sicherheit begabte Erinnerung eine große Rolle beim Aufbau 
komplex deduktiver Systeme (z. B. der Arithmetik) spielt, geht die Behand¬ 
lung zum Problem der Gültigkeit des Denkens für etwaige transzendente 
Objekte über. Das Problem wird in die Frage gefaßt: Haben die Denk¬ 
gesetze denselben Charakter, wie ihn nach Kant die Kategorien besitzen? 
Es folgen zuerst erkenntnispsychologischo Untersuchungen. Daß sich Vor¬ 
stellungsverbindungen bilden, die für mich und andere zu verschiedenen 
Zeiten Gültigkeit besitzen, beruht darauf, daß sich durch die Einstellung der 
Aufmerksamkeit auf den zu beurteilenden Tatbestand eine Konstanz der 
Bedingungen bildet, die das Auftreten der eben charakterisierten psychischen 
Erlebnisse ermöglicht. Die Entwicklung des Denkgeschebens geht in Stufen 
vor sich. Auf der ersten Stufe wirkt im Individuum die Erfahrung von der 
Ökonomie der Einstellung der Aufmerksamkeit auf die zu beurteilenden Tat¬ 
bestände. Auf der zweiten Stufe bildet sich das Bewußtsein des Gegen- 

___i_ ttt_i __j n.j.Ai_ * ..*■ 


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Literaturbericht. 


11 


aus der als Einstellung zum Denken vorhin charakterisierten Einstellung eine 
Art des Operierens bei Voraussetzung der Gültigkeit des Kausalgesetzes 
im psychischen Geschehen ergibt, welche den Denkgesetzen entsprechend 
ist. so daß sich aus dieser Art des Operierens die Gedanken der Denk¬ 
gesetze ableiten lassen; das wird dann genauer für das Prinzip der Iden¬ 
tität, den Satz vom Widerspruch, den Satz vom ausgeschlossenen Dritten 
und das Gesetz vom Grunde ausgeführt. Die erkenntnistheoretische Behand¬ 
lung des Problems ergibt, daß die Denkgesetze zu der Materie des Denkens 
nichts Neues hinzutragen, daß sie also — unter der Voraussetzung, daß die 
Denkakte selbst gültig sind — auch für etwaige unabhängig vom Denken 
existierende Objekte gelten. 

Der zweite Abschnitt des Hauptteiles bespricht die Realitätsprobleme. 
Als erstes dieser Probleme ist die Frage nach der transzendenten Außenwelt 
und, damit zusammenhängend, die Frage nach dem Ich gestellt. Unter 
transzendenter Außenwelt sollen Seinsgrößen verstanden werden, die unab¬ 
hängig von dem Bewußtseinsinhalt des denkenden Subjektes sind. Gegen 
Schuppe, v. Schubert-Soldern, Avenarius läßt sich ohne Schwierig¬ 
keit dartun, daß die Annahme der Existenz einer solchen Außenwelt keinen 
inneren Widerspruch in sich schließt und zu den Erfahrungsbeständen nicht 
in Gegensatz Bteht. Vielleicht aber ist sie unerweisbar und überflüssigV 
Was ist aber dann der Gegenstand der Untersuchung der Naturwissenschaften? 
Darauf antworten J. St. Mi 11 und seine Nachfolger — wie E. Laas — mit 
der Theorie der permanenten Möglichkeiten der Empfindungen. Indes ge¬ 
nügt diese Theorie nicht dem allgemeinen Kausalgesetz als axiomatischem 
Prinzip. Wenn alles Geschehen kausal-gesetzmäßig verläuft, dann exi¬ 
stieren transzendente Seinsgrößen. Ob allerdings diese Verknüpfung vor¬ 
handen ist, läßt sich erkenntnistheoretisch nur verifizieren, nicht allgemein- 
gültig erweisen. Die Ersetzung der kausalen Beziehungen durch funktionale 
ist eine Verwechslung des mathematischen Denkens mit dem naturwissen¬ 
schaftlichen. Der Beweis der Existenz fremder Ichs arbeitet mit denselben 
Mitteln wie der Beweis der Existenz der transzendenten Außenwelt (hat nur 
nicht dieselbe erkenntnistheoretische Dignität), man kann also nicht, wie 
z. B. Avenarius und Mach, die ersteren annehmen, die letztere abweisen. 
Hier bietet sich ein Anlaß, das Ichproblem kurz zu besprechen. Nachdem 
der Inhalt des Ichbewußtseins dargelegt ist, wird der psychologische Ich- 
begriff als für die erkenntnistheoretische Betrachtung wertlos abgelehnt und 
das erkenutuistlieoretische Ich genauer analysiert. Es folgt eine eingehende 
Auseinandersetzung mit Rickert, Windelband, Helmholtz, Wundt, 
Riehl, Volkelt und Külpe. 

Als zweites der Realitätsprobleme gilt das Raumproblem. Zunächst wird 
eiue logische Charakteristik des Raumes versucht. Der Raum ist eine stetige, 
als unendlich gedachte Größe, in der das unzerlegbare Einzelne durch drei 
unabhängige Variable eindeutig bestimmt ist, deren Dimensionen vertausch¬ 
bar sind. Denkbar sind «-dimensionale Räume nicht, denkbar sind nur die 

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Literaturbericht. 


erweisen; es bleibt nur die »vage Möglichkeit der transzendenten Realität« 
bestehen. Als transzendent real ist der Raum aber nur anzusehen, soweit er 
mathematisch-analytisch bestimmbar ist. 

Bei dem Zeitproblem interessiert zuerst die Frage nach der Entstehung 
der Zeitvorstellung. Sie ist zurzeit nicht befriedigend zu beantworten; die 
Entscheidung zwischen der physiologischen und der apriorischen Theorie 
steht noch aus. Begrifflich charakterisiert sich die Zeit gegenüber dem 
Raum als allgemeinere Form, die allen Erlebnissen zukoramt. Sie ist eine 
stetige, eindimensionale, als unendlich gedachte Größe, nicht bloße An¬ 
schauung, sondern auch Begriff. Wie der Raum wird auch die Zeit als 
transzendent real angesehen. 

An letzter Stelle erfährt das Kausalproblem eine Behandlung. Sie wird 
eingeleitet durch den Versuch einer psychogenetischen Entwicklung der 
Kausalidee. Als Abhängigkeitsbeziehungen der Idee können mit Harne die 
subjektive Nötigung, mit Locke und Berkeley das Erleben des Ursache- 
Wirkung-Zusammenhanges im Willensvorgang, mit Spencer der Selbst¬ 
erhaltungstrieb, mit Tetens gewisse Tatsachen des Denkgeschehens, endlich 
noch einige Erfahrungen des EinzelwisBenschaftlers gelten. Die logische 
Formulierung des Kausalprinzips wird wie folgt gegeben: Alles Geschehen 
steht als real Bedingtes in einer konstanten Beziehung zu einem realen Be¬ 
dingungskomplex, welcher die notwendigen und hinreichenden realen Be¬ 
dingungen desselben darstellt. Es folgt eine Diskussion der vor allem von 
Heymans ausgebildeten Hamiltonschen Hypothese, ferner eine nähere 
Untersuchung der zeitlichen und der räumlichen Beziehung zwischen Ursache 
und Wirkung. In kritischen Ausführungen gegen Mach, Kroman, Cor¬ 
nelius, Lipps u. a. wird das Kausalprinzip zunächst als axiomatische 
Voraussetzung der Realwissenschaften aufgezeigt. Es läßt sich indes auch 
qualitativ und quantitativ verifizieren. 

Der letzte Abschnitt der systematischen Entwicklung analysiert das 
mathematische Denken vom erkenntnistheoretischen Standpunkte aus. Die 
Analyse des ZählenB, des Zahlbegriffes und der arithmetischen Schlüsse bildet 
den Inhalt des ersten Kapitels, Ausführungen über die geometrischen Axiome, 
die Psychologie der Geometrie, den geometrischen Gedankenfortschritt füllen 
das zweite Kapitel. 

Das Buch schließt mit einem Worte über die Beziehungen der Psycho¬ 
logie zur Erkenntnistheorie. Der Psychologie wird hauptsächlich eine heuri¬ 
stische und pädagogische Bedeutung für die Erkenntnistheorie beigelegt; 
allenfalls können in ihr Voraussetzungen, die erkenntnistheoretisch zu be¬ 
handeln sind, eine Verifikation erfahren. — 

Man wird manche Rücksichtnahme in dem Buche vermissen. Der mit 
dem Rickertschen verwandte eigenartige Idealismus der Marburger Schule 
hat Bicher eine Würdigung verdient. Das Problem der Wahrheit der Erkennt- 


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Literaturbericht. 


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4) Hermann Türck, Der geniale Mensch. 7. Aufl. Berlin, Verlag von 
Ferd. Diimmler, 1910. M. 5.50. 

Als stattlicher Band von 33 Bogen ist das rühmlich bekannte Werk 
Türcks nunmehr in 7. Auflage erschienen. Der Verf. hat sich darin eine 
große Aufgabe gestellt, und wir können wohl verstehen, wie er sich mit 
solchem Eifer und solcher Liebe seinem Werke gewidmet hat. Nichts weniger 
sollte mit diesem Buche bezweckt sein, als der Welt den wahren »Herren¬ 
menschen«, den Genius, möglichst lebendig lind auch dem nicht philosophisch 
vorgebildeten Leser leicht verständlich als hohes Strebeziel vor Augen zu 
führen. Das Werk hat in seinen verschiedenen Auflagen auch keinen leichten 
Stand gehabt, besonders weil darin energisch Stellung genommen ist gegen 
jenes breitspurig-protzige Übermenschentum, das die modernen Sophisten 
oder, wie sie Türck zutreffend nennt, »Antisophen« verkünden. Türck ist 
ein Kämpfer für altwährhafte Ideale, die sich in der Geschichte behauptet 
nnd im Zeitenlauf als erstrebenswert erwiesen haben. Er ließ sich nicht be¬ 
tören durch das Pauken- und Trompetengetöse der »Aufklärer« unserer 
Tage, deren seichtes, hohles PhraBentum bei hellerem Lichte besehen in nichts 
zerfällt. 

Wahrlich, unserer Zeit tun gute Bücher von der Art und Tendenz des 
Türck sehen Werkes not, Schriften, in denen den Menschen wieder höher 
führende und doch erreichbare Ziele gesteckt sind. Genialität ist nicht eine 
seltene Gnadengabe Gottes, sondern ein erringbares Menschengut, der An¬ 
lage nach vielleicht in allen Menschen vorhanden, aber nur in seltenen 
Fällen als Antizipation eines künftigen Menschheitszustandes vorläufig noch 
zur Entfaltung kommend. Die tiefer Denkenden unserer Zeit kämen ja allen¬ 
falls durch eigenes Sinnen und Forschen über die plumpe Breite materia¬ 
listischer Welt- und Lebensauffassung hinweg; nicht so leicht aber ist dies 
der großen Zahl jener Halbgebildeten möglich, und wie viele sind doch, trotz 
ihrer dünkelhaften Weisheit, hierher zu zählen und wären sie gar auf hohen 
Schulen gewesen. Und erst die breiten Massen! Wenn die richtig gehen 
sollen, müssen die führenden Geister ihnen die rechten Wege weisen. Die 
Masse will gewiesen und geleitet sein, aber in verständiger, ehrlicher, un¬ 
eigennütziger Art, und dafür hat sie einen feinen Instinkt. Nicht herrisch 
gedrückt, selbstsüchtig zertreten wollen die Vielen von jenen »Egoisten« und 
»Übermenschen« ä la Stirner —Nietzsche sein. Das Volk hat im Grunde 
noch eine Empfindung behalten für wahres Menschentum und ist, wo der rohe, 
anarchistisch-materialische Zug noch nicht zu tiefe Wurzeln geschlagen hat, 
empfänglich geblieben für tiefere sittliche und religiöse Werte. Wenn ihm 
aber solche nicht von oben her zukommen, woher sollten sie dann kemmen? 
Der Teufel schickt sie sicherlich nicht von unten herauf! Das Volk hat 
noch nicht verlernt zu großen, überlegenen Persönlichkeiten in Ehrfurcht 
emporzuschauen nnd ihnen willig zu folgen. Wenn aber bei den Obern die 
heiligsten und höchsten Werte und Ideale der Menschheit ererinsrschätzig ver- 


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Literaturbericht. 


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Der Verf. geht bei der Ableitung des Begriffes Genialität von der 
Auffassung Schopenhauers aus, für den derselbe nichts anderes ist als 
die vollkommenste Objektivität oder, wie Goethe das ausdrückte, un¬ 
bedingte Wahrheitsliebe. Das iBt das Fundament, auf welchem Türeks 
Ausführungen fußen. In den verschiedenen Kapiteln, die allerdings oft nur 
lose Zusammenhängen, hat er dann aus Literatur und Geschichte die ver¬ 
schiedenartigsten Belege für seine Hypothese beigebracht und dabei zum 
Teil geradezu bahnbrechende Ansichten an den Tag gelegt. So sind seine 
Kommentare zu Hamlet, Faust und Manfred als durchaus mustergültig 
und dem Wesen der Sache entsprechend zu bezeichnen. Instruktiv ist auch 
das, was er über Ibsens »Wenn wir Toten erwachen«, »Brand«, »John 
Gabriel Borkman« und »Gespenster« zu sagen hat. Auch die Polemik gegen 
Stirner—Nietzches antisophische Lehren ist, meiner Meinung nach, wohl 
angebracht und zeitgemäß; denn in den letzten Jahren hat unser Geistes¬ 
leben eine offensichtliche Wendung genommen. Man beginnt sich wieder zu 
interessieren für jene alten hehren Werte, wie sie schon in den Evangelien 
für alle Zeiten vorbildlich niedergelegt sind. 

In Einzelheiten mag man mitunter von der Ansicht des Verf. abweichen, 
mir geht es z. B. so in bezug auf seine Auffassung Jesu Christi, der meiner 
Meinung nach zu menschlich-irdisch dargestellt ist, während wir im Grunde 
nur noch nicht reif genug sind, die ungeheure, in mystisch-okkulte Tiefen 
reichende Tragweite seiner menschlich-göttlichen Mission zu verstehen. — Im 
ganzen aber begrüßen wir das schöne Werk Türcks und wünschen ihm auch 
in dieser neuen, erweiterten Auflage einen weiten Leserkreis, für den es. 
seiner ganzen Anlage und Ausdrucksweise nach, auch berechnet ist. 

Dr. J. Mühlethaler (Basel). 


5) C. Lombroso, Neue Studien über Genialität. Mit Genehmigung des 
Verfassers deutsch von Dr. E. Jentsch. Schmidts Jahrbücher der 
ges. Medizin. Bd. 29. 

Der Übersetzer führt diese interessante Arbeit Lombrosos mit einigen 
"Worten ein, in denen er auf die Theorie der Genialität Lombrosos hin¬ 
weist. Während Lombroso früher die vielen Besonderheiten genialer Männer 
mehr als ein interessantes und zufälliges Beiwerk der genialen Veranlagung 
angesehen hatte, drängte sich ihm später immer mehr die Überzeugung auf. 
daß sie vielmehr durch die gesamte Organisation des genialen Menschen not¬ 
wendig bedingt Beien. »Das Genie«, so schloß er, »sei eine psychische Be¬ 
gleiterscheinung einer allgemeinen Degenerationsform des genialen Indivi¬ 
duums«. 

Die Genialität ist nach Lombroso eine Psychose oder Neurose. Diese 
Ansicht wurde zum erstenmal ausgesprochen in dem Werke L’uomo di ingenio, 
deutsch von Fränkel, 1890. Hierauf erschien: Genie und Irrsinn (Reclams 


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Swedenborg, Cardanus, Petrarca, Manzoni, Schopenhauer, 
Goethe, Pascal, Verlaine, Tolstoi, Savonarola, Kambyses, 
Richard Wagner, Agnesi, Rousseau, Comte, Leopardi. Ein 
Überblick über die zahlreichen pathologischen Züge aller dieser Persönlich¬ 
keiten ergibt allerdings ein Bild, das zu der Theorie Lombrosos paßt. Es 
fehlt der Beweis, daß die geniale Persönlichkeit immer pathologisch ist und 
daß sie notwendig mit solchen Zügen ausgerüstet sein muß. 

E. Meumann (Leipzig). 


6) W. E. Lecky, Charakter und Erfolg. Zwei Abhandlungen aus desselben 
Verfassers »Map of life«, übersetzt von M. Barnewitz. 174 S. 
Berlin, K. Curtius, 1909. M. 1.20. 

Zwei »Versuche« Uber die Behandlung deB Charakters und über den 
Erfolg, die etwa im Stile der Schriften von Sam. Smiles ihren Gegenstand 
in gutem Sinne populär darstellen und viele bedeutsame Tatsachen und Be¬ 
obachtungen anführen, ohne wissenschaftliche Vollständigkeit zu erstreben 
und ohne sich der Fachausdrücke zu bedienen. Letzteres kommt wohl zum 
größeren Teil auf Rechnung des Herrn Übersetzers, der sich wiederholt zu 
ängstlich an das englische Vorbild anklammerte: Vom »Nerv« des Genusses 
und der Sittlichkeit zu reden, wära nicht einmal poetisch empfehlenswert, 
— ebenso ist die Gleichstellung von Traum und Einbildungskraft zu rügen. 
Die Folge solcher schiefer Ausdrücke sind dann Sätze wie dieser: »Eine 
heiße und richtig gewählte Verehrung (!) ist eines der besten Hilfs¬ 
mittel zur moralischen Vervollkommnung.« 

Nichtsdestoweniger sei das Büchlein um der darin enthaltenen wertvollen 
Anregungen willen warm empfohlen. Es eignet sich besonders als Geschenk 
fijr Mittel- und Fortbildungsschüler. Das treffliche Charakterbild des »echten 
Gentleman«, entlehnt aus Newmans Scope and nature of University Edu- 
cation, Discourse IX, sei noch besonders lobend erwähnt. 

Dr. Ernst Ebert (Zürich). 


7) Dr. Eugen Fischer, Sozialanthropologie und ihre Bedeutung für den 
Staat. (Vortrag, gehalten in der Natürfbrsebenden Gesellschaft zu 
Freiburg i. Br., 8. Juni 1910.) 30 S. Freiburg i. Br. und Leipzig, 
Speyer & Kaerner. M. 1.—. 

Jenes hochbedeutsame Forschungsgebiet, das die Engländer »Eugenic« 
nennen und für das Gal ton seinerzeit eine ansehnliche Stiftung ins Leben 
rief, — das also, was im allgemeinen die von Deutschland ausgehende, aber 
völkerumfassende »Internationale Gesellschaft für Rassenhygiene« 
— mit einem Hygieniker wie v. Gruber-München als Führer — erstrebt, 

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Literaturbericht. 


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Deutschlands Zukunft abhängt und daran jeder Volkserzieher von der 
Dorfschule bis zur Universität intensiv mitarbeiten muß, zu- 
nächst etwa dadurch, daß er der Broschüre und ihren Tendenzen zu mög¬ 
lichster Verbreitung verhilft, und daß er — vielleicht korporativ — An¬ 
schluß an den obengenannten Verein sucht. Dr. Ploetz, München, Kle- 
menBstraße 2, wird immer bereit sein, der Lehrerschaft dabei ratend zur 
Seite zu stehen. Dr. Ernst Eben (Zürich). 


8) Max Verworn, Die Entwicklung des menschlichen Geistes. Jena, 
Gustav Fischer, 1910. M. 1.—. 

Die vorliegende Schrift ist der Abdruck eines Vortrages, welchen der 
Verf. auf der 41. allgemeinen Versammlung der deutschen Gesellschaft für 
Anthropologie in Köln am 4. August 1910 gehalten hat. Die Schrift trägt 
die dem Psychologen schon bekannten Charakterzüge der Art und Weise, 
wie Verworn die psychologischen und philosophischen Probleme zu behan¬ 
deln pflegt. Sie enthält großzügige und kühne Ideen, durch die das den Fach¬ 
psychologen bekannte Material oft in überraschend neue Zusammenhänge 
gebracht werden. Es fehlt dem Verf. aber gerade auf psychologischem Ge¬ 
biet oft an der nötigen Sachkenntnis und kritischen Vorsicht. Ganz beson¬ 
ders wollen wir aufmerksam machen auf den Versuch des Verf., den Ablauf 
der Vorstellungen mit physiologischen Begriffen über die Funktion der ner¬ 
vösen Organe, in denen wir die physischen Parallelvorgänge der Assoziation 
und Reproduktion der Vorstellungen anzunehmen haben, in ein neues Licht 
zu bringen. Der Grundgedanke ist der, daß die Zelle der Vermittler von 
»Entladungsserien« ist, nervösen Irapulsentladungen, von denen jeder einzelne 
dem psychischen Auftauchen und Wiederverschwinden einer Vorstellung ent¬ 
spricht. Sobald die Zelle eine solche Entladung erlebt hat, wird die Erreg¬ 
barkeit für einen zweiten Reizstoß vermindert, weil der notwendig ein¬ 
tretende Prozeß der Restitution ihrer Erregbarkeit eine gewisse Zeit braucht, 
ehe diese ihr altes Niveau wieder erreicht hat. Das Stadium verminderter 
Erregbarkeit der Ganglienzelle nennt Verworn das Refraktärstadium, und 
zwar spricht er von einem absoluten Refraktärstadium, wenn die Erregbar¬ 
keit total, d. h. für alle Reizstärken, und von einem relativen, wenn sie nur 
relativ, für schwächere, auf Zeit erloschen ist. Die nervösen Hemmungs- 
vorgänge, die bei der Interferenz von zwei Reizen in einer und derselben 
Ganglienzelle entstehen, sind nur der Ausdruck solcher Refraktärstadien. 
Durch diese Begriffe sucht Verworn verständlich zu machen, mit mecha¬ 
nischen Überlegungen, »wie es möglich ist, daß eine Vorstellung, die durch 
die Erregung einer Ganglienzelle häufig bedingt ist, bei der allseitig 
leitenden Verbindung der Neurone unserer Großhirnrinde sofort gehemmt 
werden kann, sobald durch Erregungen einer anderen Ganglienzelle häufig 


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lichkeiten entsteht, und er will nun weiter versuchen, die elektiven Faktoren 
noch genauer zu bestimmen. Im großen und ganzen aber kommt diese 
mechanische Erklärung des Verlaufs der Vorstellungen darauf hinaus, daß der 
Zustand der miteinander verknüpften Ganglienzellen darüber entscheidet, in 
welcher Richtung die bei ihnen eintreffenden Reizimpulse weiter verlaufen. 
Hierdurch glaubt der Verf. auf eine mechanische und naturwissenschaftliche 
Weise die Rolle zu erklären, die nach Kant in dem Ablauf der Vorstel¬ 
lungen die Apperzeption gespielt hat. 

Ich habe schon auf dem Anthropologenkongreß in Köln selbst münd¬ 
lich die Bedenken vorgebracht, die ich gegen diese Theorie des Verf. habe, 
und da sie außerdem noch an einem anderen Orte veröffentlicht worden 
sind, so möge es mir erspart sein, sie hier ausführlich zu wiederholen. Ich 
mache vor allen Dingen geltend, daß der Verf. den gegenwärtigen Begriff 
der Apperzeption mit denjenigen von Kant verwechselt und daß mit seiner 
Theorie zahlreiche Erscheinungen des Vorstellungsverlaufes nicht erklärt 
werden können, wie z. B. die Perseveration der Vorstellungen und nament¬ 
lich die Grunderscheinungen alles planmäßigen Vorstellens und Denkens, das 
eine bestimmte Vorstellung als sogenannte Zielvorstellung oder Gesamtvor¬ 
stellung, oder leitende Vorstellung im Ablauf der Vorstellungen eine Zeitlang 
beherrscht. Denn bei diesen Erscheinungen müßte nach der Hypothese von 
Verworn eine Ganglienzelle, welche im Refraktärstadium sich befindet, ge¬ 
rade imstande sein, den Ablauf der Vorstellungen und die Richtung der 
Fortpflanzung der Erregungen zu bestimmen, was natürlich physiologisch un¬ 
möglich ist. 

Es sei noch darauf aufmerksam gemacht, daß in dem zweiten Teile des 
Vortrages ein höchst geistvoller, ebenfalls sehr kühner und großzügiger 
Versuch gemacht wird, die Entwicklungsstadien des menschlichen Geistes 
von den ältesten Anfängen der Kultur bis zur Gegenwart aufzustellen. Dabei 
unterscheidet der Verf. 1) ein Zeitalter »des sinnlichen impressionistischen 
Geistes«, der zugleich dem geistigen Zustand der höheren Tiere entsprechen 
soll; 2) ein Zeitalter des naiv praktischen Geistes, in welchem die Vorstel¬ 
lungsreihen nicht mehr an den momentanen Sinneseindruck gebunden sind 
und zu praktischen Schlußfolgerungen bearbeitet werden; 3) ein Zeitalter des 
theoretisierenden Geistes, welcher dadurch charakteristisch ist, daß die Vor- 
stellnngsreihen sich zu längeren theoretischen Spekulationen entwickeln, die 
sich mehr oder weniger weit von der den Anstoß gebenden Beobachtungs¬ 
tatsache entfernen. Auch gegen diese in einer Tabelle zusammengestellten 
Entwicklungsstadien des Geisteslebens lassen sich zahlreiche Bedenken er¬ 
heben. Das Ganze ist eine kühne Konstruktion, bei der namentlich der 
Fehler begangen wird, daß die ganze Mannigfaltigkeit in dem historisch 
festgestellten Verlauf der menschlichen Geistesentwicklung nicht zum Aus¬ 
druck kommt. Immerhin können die Ausführungen des Verf., wie seine 
meisten Schriften, nach mancher Hinsicht anregend und belehrend wirken. 

E. Meumann (Leipzig). 


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Giulio Fano, Homo sapiens, 
dei Lincei. 1910. 


Roma, Tipdgr a p b wi i Ml a R. Accadefaua 


In dem vorliegenden Vortrag gibt Professor Fano eine geistreiche Skizze 
der höheren Vertebraten und des Menschen vom Standpunkte des Biologen 
aus, mit zahlreichen interessanten Seitenblicken anf die geistigen Funktionen, 
insbesondere die unbewußten. E. Meumann (Leipzig). 


10) Arthur Wreschner, Das Gedächtnis im Lichte des Experimentes. 
Zweite vermehrte Auflage. Zürich, Orell Füssli, 1910. M. 1.—. 



Der Verf. gibt eine sehr klare und übersichtliche Einführung in die 
experimentelle Begabung der Gedächtnisprobleme, die in der neuen Auflage 
gemäß dem gegenwärtigen Stande der experimentellen Gedächtnispsychologie 
erweitert worden ist. Das vor allem für Lehrer und Studierende bestimmte 
Buch kann unbedingt zum Studium empfohlen werden. Namentlich da es 
anch die praktische Anwendung der wichtigsten Resultate unserer gegen¬ 
wärtigen Gedächtnisexperimente für Unterricht und Erziehung angibt. 

E. Meumann (Leipzig). 

11) Martin Gildemeister, Über Zählen und Zeitschätzen. (Aus—dem_ 

physiologischen Institut zn Straßburg i. E.) Zeitschrift fi## bio¬ 
logische Techük urfd Methodik^ 1910. Bd. II. Nr. 2. 


Gildemeister erörtert zuerst die Schwierigkeit einfacher Zeitmessungen 
durch das direkte Abzählen von Einheiten. Wenn man die Frequenz irgend¬ 
welcher Vorgänge, die in regelmäßiger Folge immer wiederkehren (z. B. Pendel¬ 
schwingungen, Pulsschläge u. dgl.), zählen will, so hat das keine Schwierig¬ 
keit, solange die Pausen nicht kürzer als eine halbe Sekunde sind. Bei be¬ 
trächtlich größerer Frequenz begeht man leicht Irrtiimer, man »verzählt sich«. 
Analysiert man die Gründe dafür, so findet man zweierlei: 1) man kann 
nicht schnell genug die Zahlennamen aussprechen oder denken; 2) unser 
natürliches Gefühl für Rhythmus nimmt Anstoß an der Einteilung in Gruppen 
von je zehn Vorgängen, zu der wir durch das Dezimalsystem gezwungen 
sind. 


»Was ich damit meine, wird der Leser sofort einsehen, wenn er die 
Schläge seiner Taschenuhr zu zählen versucht (gewöhnlich 300 in der Minute). 
Man zähle einmal so: 1, 2, 3, 4, 5, 6. 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 
18, 19, 20, 21, 22 . . . usw. Ich glaube nicht, daß man so weit, kommt, wie 
ich die Zahlen hier hingeschrieben habe. Vielleicht geht es so: 1, 2, 3, 4. 
5, 6, 7, 8, 9, 10, 1, 2, 3, 4, 5, 6. 7, 8, 9, 10, 1, 2 . . . usw., wobei man bei 
jeder Zehn einen anderen Finger auf den Tisch setzt. Nun versuche man 
es so: 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 1, 2, 3, 4, 6, 6, 7, 8, 1, 2, 3 . . . usw., ebenfalls 
mit Fingermarkierung. Das geht ausgezeichnet, auch wenn die Frequenz 
noch viel höher ist als in dem Beispiele. Sofort wird man merken, daß 
die 9 und 10 bei der vorigen Zählart störende Anhängsel sind. Woher 
kommt daB? 


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Literaturbericht. 


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Wie dem auch sei, jedenfalls vermag ich auf diese Weise (d. h. mit Markie¬ 
rung der einzelnen Gruppen durch die Finger, fortschreitend vom linken 
kleinen zum rechten kleinen) bequem zu zählen, ohne meine Aufmerksamkeit 
wesentlich anzuspannen.« 

Noch weitere Erleichterung kann man sich nach den Angaben des Verf. 
dadurch verschaffen, daß man eine Melodie, bei der der Achterrhythmus eine 
Rolle spielt (im Vierviertel- oder Zweiviertel-Takt, nicht im Dreiviertel- oder 
Sechsachtel-Takt), im Takt der zu zählenden Vorgänge singt, pfeift oder 
auch nur denkt. »Wenn man so zählt, ist das Bewußtsein fast gar nicht 
dabei beteiligt. Ich habe auf diese Weise oft Schritte gezählt, indem ich 
mich mit meinem Begleiter unterhielt.« 

Sodann geht der Verf. auf das Zeitschätzen über und erwähnt die ver¬ 
schiedenen Methoden, die die einzelnen Menschen haben, um sich ein leid¬ 
lich korrektes Zählen von Vorgängen, Zeitpausen u. dgl. zu ermöglichen. 
Am leichtesten ist das, wenn man das Zählen mit dem Gehen verbindet, da 
das mittlere Schrittempo der meisten Menschen etwa eine halbe Sekunde 
ist. Man übt sich zweckmäßig eine bestimmte Melodie nach einer Uhr ein, 
die annähernd halbe Sekunden schlägt (der Verf. verwendet die Melodie 
»Fachs du hast die Gans gestohlen«). 

Ist der Rhythmus des Liedes vorher im richtigen Tempo eingeübt w'orden, 
so erreicht man ein für die Praxis genügend sicheres Messen. 

Der Verf. schließt: »Ich betone nochmals, daß man zuerst vor der Uhr 
üben muß. Wenn man den Rhythmus einmal innehat, sitzt er auch sehr 
fest. Selbst nach wochenlanger Pause pflegt der Fehler, den ich bei einer 
Zeitbestimmung dieser Art begehe, zehn Prozent des wahren Wertes nicht 
zu erreichen, Das genügt für die Praxis vollkommen.« 

Der Ref., der sich ebenfalls viel mit Zeitmessungen beschäftigt hat, kann 
alle diese Beobachtungen aus eigener Erfahrung bestätigen. 

E. Meumann (Leipzig). 

,^2; Alfred Neumann, Über die Sensibilität der inneren Organe (kr ü is eh os 
_ -Referat). Centmlblatt fiif die Grenzgebiete dqf Medien» utfd Chir^gi^y. 

herausgegeben von H. Schlesinger. Bd. XIII. 1910. S. 1 ff. 


/i. / - 


Neumann gibt in dem vorliegenden kritischen Referat eine höchst lehr¬ 
reiche Zusammenstellung der Forschung und der Diskussion über die Sensi¬ 
bilität der inneren Organe. Es mag bemerkt werden, daß auch das Herz 
(beim Tier) und jetzt wohl überhaupt fast alle inneren Organe als sensibel 
erwiesen zu betrachten sind. Mit Recht verweist der Verf. zuletzt auf 
die allzu wenig beachteten Untersuchungen von He ad hin; wir lassen diesen 
Teil seiner Ausführungen hier wörtlich folgen: »Über einen Gegenstand sind 
die meisten Autoren, welche sich mit der Sensibilität der inneren Organe 
befaßt haben, leichthin weggekommen, ich meine über die grundlegenden 
Arbeiten der Engländer, namentlich der von Head, betreffend die Sensibili¬ 
tätsstörungen der Haut bei Visceralerkrankungen. Nur Lennander, Müller 
und Meumann haben sich eingehender mit ihnen befaßt. Bekanntlich hat 
Head Zonen an der Körperoberfläche beschrieben, welche mit den inneren 


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* 



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Literaturbericht 


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Darm usw., jedes eine lokal gut charakterisierte und abgegrenzte Zone. 
Head erklärt das Zustandekommen dieser Hyperästhesien in der Weise, daß 
er sagt, daß von dem erkrankten Organ ans Impulse zum Rückenmark ge¬ 
langen und in dem Spinalsegment, in das sie gelangen, eine Störung veran¬ 
lassen. In dieses selbe Spinalsegment gelangen aber auch die sensiblen 
Fasern einer bestimmten Hautpartie. Wenn nun in dieser Hautpartie ein 
Reiz gesetzt wird, welcher normalerweise nicht als schmerzhaft empfunden 
wird, so wird derselbe auf dem Wege zur Hirnrinde eine Verstärkung er¬ 
fahren, wenn das Rücken mar kssegment durch schmerzhafte, von inneren 
Organen ausgehende Reize gestört ist, er wird also in diesem Falle als 
schmerzhaft empfunden. Die dem betreffenden kranken Organ korrespon¬ 
dierende Hautpartie ist hyperästhetisch. 

Die Tatsache des Vorkommens solcher Hauthyerästhesien ist über jeden 
Zweifel erhaben. Außer den überaus exakten Beobachtungen Heads, gibt 
es noch eine große Zahl seither erschienener Arbeiten, welche seine Angaben 
bestätigen. 

Die Bedeutung dieser Erscheinung für unsere Frage liegt nun meiner 
Ansicht nach darin, daß zur Erklärung derselben unbedingt von den inneren 
Organen ausgehende centripetalleitende Nervenfasern angenommen werden 
müssen, Nerven, welche bei Erkrankungen derselben Reize von dem Organ 
zum Spinalsegment leiten müssen. Wie immer wir die Hauthyperästhesien 
erklären wollen, diese centripetalleitenden Nervenfasern müssen da sein, sie 
sind das Bindeglied zwischen dem erkrankten Organ und der Körperoberfläche. 
Wie sich der Vorgang der nyperästhesierung im Rückenmark abspielt, ist 
für unsere Frage nebensächlich. Vielleicht ist es wirklich so, wie Head es 
sich vorstellt. Es ist ja eine plausible Erklärung. 

Wenn wir nun an der Existenz solcher centripetalleitenden Nerven nicht 
zweifeln, dann ist der Schritt ganz kurz zu der Annahme, daß diese Fasern 
auch die in den Organen empfundenen Schmerzen zum Rückenmark und 
mehr oder weniger direkt zur Hirnrinde bringen. Wenn wir unbefangen von 
den Beobachtungen der älteren Chirurgen und Lennanders urteilen, so 
kommen wir auf gar keinen anderen Gedanken. 

Noch auf eine zweite Art wird das Vorhandensein sensibler Fasern, 
die von den inneren Organen zum Rückenmark und zur Hirnrinde leiten, 
durch ältere Beobachtungen von Ross sowie von Head und den gleich¬ 
zeitigen von Makenzie wahrscheinlich gemacht. 

Es ist eine bekannte Tatsache, daß der Schmerz bei Visceralerkrankungen 
von den Patienten nicht immer auf das betreffende Organ lokalisiert wird. 
Ross hatte bereits diese Tatsache so erklärt, daß der Schmerz von Sym- 
pathicusfasern des betreffenden Organs auf die in dasselbe Rückecmarks- 
niveau einmündenden Spinalnerven reflektiert wird. 

Heads Erklärung weicht von dieser ab. Er erinnert an die von Ober- 


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wird zu demjenigen Rückenmarksegment geleitet, von welchem seine sensiblen 
Nerven stammen. Dort kommt er in nahe Beziehung zu den Schmerz¬ 
empfindungsfasern, welche der Kürperoberfläche angehüren und gleichfalls 
aus demselben Segmente stammen. Aber das sensible und das Lokalisations- 
vermügen der Körperoberfläche übertrifft bei weitem dasjenige der inneren 
Organe und so gelangt gewissermaßen durch einen psychischen Urteilsfehler 
das Diffusionsgebiet in den Bewußtseinskreis und der Schmerz wird auf die 
Oberfläche bezogen anstatt auf das tatsächlich erkrankte Organ. 

Dazu ist für unsere Frage folgendes zu sagen: Auch Für diese Vor¬ 
stellung Heads ist eine gewisse, wenn auch geringe Fähigkeit der Organ¬ 
nerven, sensible Reize zu empfinden, respektive sie weiter zu leiten, Grund¬ 
bedingung. Denn an einer ganz unempfindlichen Stelle kann man einen Reiz 
weder an dieser selbst empfinden, noch kann er auf eine andere Stelle über¬ 
tragen werden. Das ist ein Postulat, welches ja ganz selbstverständlich ist, 
welches auch Head für das Zustandekommen der Allocheirie als notwendig 
bezeichnet. Head sagt selbst, daß in solchen Fällen von falscher Lokali¬ 
sation die betreftende Empfindungsform herabgesetzt sein muß, zugleich in 
dem betroffenen Gebiet nicht ganz aufgehoben sein darf. Wenn das Per- 
ceptionsvermügen für den betreffenden Reiz völlig verloren sei, dann käme 
es auch zu keiner Allocheirie, dann gäbe es auch keine falsche Lokalisation. 
Dann Fühlt der betreffende Kranke eben gar nichts. 

Das ist aber auch nicht mehr und nicht weniger als nach dem heutigen 
Stand unserer Kenntnisse angenommen werden muß: eine gegenüber der 
Sensibilität der vom spinalen System versorgten Gebilde ge¬ 
ringere Empfindlichkeit der inneren Organe. DaFür sprechen unsere 
täglichen Erfahrungen Uber das empfindungslose oder empfindungsschwache 
Funktionieren der Organe, dafür sprechen auch die experimentell erbrachten 
Tatsachen. 

Ich habe bereits in meiner Arbeit über die Temperaturempfindlichkeit 
des Magens aus den von Head erbrachten Tatsachen einen ähnlichen Schluß 
gezogen, indem ich hervorhob, daß nichts im Wege stehe, vom Magen aus¬ 
gehende, zum Gehirn führende sensible Fasern anzunehmen, wenn man die 
Angaben Heads als zu recht bestehend hält. 

Auch E. Meumann kommt zu demselben Schlüsse. Er meint, man 
müsse doch wohl annehmen, daß Organe, die bei abnorm starker innerer 
Reizuug lebhafte, wenn auch unbestimmte Empfindungen auszulösen imstande 
sind, sensible Nerven haben, die auch bei normaler reflektorischer Er¬ 
regung dieser Organe Empfindungen auslösen können, wenn auch nur in 
schwächerem Grade oder auch nur von anderer Qualität (innere Tastempfin¬ 
dungen, nicht Schmerzempfindungen). 

Auch Müller führt die He ad sehen Beobachtungen zur Unterstützung 
seiner Annahmen an. Er bedient sich ihrer aber mehr indirekt. Die Hyper- 
algesie der Haut weise darauf hin (bei Gallen- und Nierensteinkoliken), daß 

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Literaturbericht. 


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13) H. v. Helmholtz, Handbuch der physiologischen Optik. 3. Aull Er¬ 
gänzt und heraasgegeben in Gemeinschaft mit Herrn Professor 
Dr. A. Gullstrand und Professor Dr. J. v. Kries von Professor 
Dr. W. Nagel. I. Band mit 146 Abbildungen im Text. Einleitung 
herausgegeben von Piofessor Dr. W. Nagel. Die Dioptrik des 
Auges, herausgegeben von Dr. A. Gullstrand. Hamburg und 
Leipzig, Leopold Voss, 1909. M. 14.— ; geb. M. 16.— . 

Es bedurfte wohl der gemeinsamen Arbeit von mehreren unserer ersten 
Autoritäten im Gebiete der physiologischen Optik, um die vorliegende neue 
Auflage von Helmholtz klassischem Werk entsprechend dem gegenwär¬ 
tigen Stande der Forschung herauszugeben. Denn die Forschung in der 
physiologischen Optik ist so gewaltig angeschwollen, daß es fast die Arbeit 
eines Menschenlebens erfordert, um sie vollständig zu übersehen und zugleich 
(gemäß der ganzen Anlage dieses Werkes) auch der älteren Forschung ge¬ 
recht zu werden. So haben Gullstrand, v. Kries und Nagel sich in die 
Arbeit der Herausgabe geteilt. Der vorliegende Band bringt nach einer Ein¬ 
leitung von Nagel die Dioptrik des Auges von Professor Gullstrand in 
Upsala. 

• Die Herausgeber haben sich nach gründlichen Erwägungen des Für und 
Wider entschlossen, für die vorliegende Auflage wieder den Text der ersten 
Ausgabe zugrunde zu legen und den ursprünglichen Helmholtz sehen Text 
unverändert zum Abdruck zu bringen; die Bearbeitung ist daher auf die 
Form von Hinzufügungen beschränkt worden, wobei natürlich die voll¬ 
kommene Einheitlichkeit des Werkes geopfert werden mußte. Hierbei 
übernahm Gullstrand die Dioptrik, v. Kries die Gesichtswahrnehmungen 
und der Herausgeber Nagel die Gesichtsempfindungen. Durch das Zu¬ 
sammenarbeiten von drei verschiedenen Autoren mußte die Gefahr vermehrt 
werden, daß durch die Zusätze der einheitliche Charakter des Werkes und 
die konsequente Durchführung der Grundgedanken aufgehoben wurde. Diese 
Gefahr konnte aber um so mehr vermieden werden, je mehr der einzelne 
Autor den Ansichten von Helmholtz beistimmt. Wie sich das in den drei 
verschiedenen Abschnitten gestalten wird, das ist natürlich noch nicht zu 
übersehen, doch macht der Herausgeber darüber schon einige Mitteilungen. 
Nach seiner Ansicht lagen »in den theoretischen am meisten umstrittenen 
Gebieten der Physiologie der Gesichtsempfindungen wie der Gesichtswahr¬ 
nehmungen« nach der Überzeugung der Herausgeber die Verhältnisse inso¬ 
fern günstig, als selbst da, wo eine beträchtliche Weiterentwicklung der 
wissenschaftlichen Forschung gegen die Entstehungszeit der ersten Auflage 
die physiologische Optik zu verzeichnen ist, diese Entwicklung keinerlei 
gegensätzliches Verhältnis zu den Lehren von Helmholtz in sich schließt 
»Gerade darin, daß wir in diesen Fragen von denselben grundsätzlichen An- 


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Stellung zu der Frage zu nehmen, ob die Vorstellungen, die sich Helm¬ 
hol tz über den Aufban und die Funktionsweise unseres farbenempfindeuden 
Apparates gebildet hatte, auch für die in den letzten vier Jahren gemachten 
neuen Beobachtungen noch eine hinreichende Erklärung zu bieten ver¬ 
möchten, und wenn nicht, ob sie etwa ganz zu verlassen seien, oder endlich, 
ob uns die Einführung neuer ergänzender Hypothesen nennenswerten Ge¬ 
winn bringe«. Der Herausgeber bekennt Bich nun in dieser Frage zu dem 
Standpunkt, »daß keinerlei Anlaß vorliegt, in der Farbentheorie die Grund¬ 
anschauungen, dieHelmholtz vertrat, preiszugeben«; und er ist weiter der 
Ansicht, daß die Lehre von der Duplizität der Netzhautfunktion im wesent¬ 
lichen genügt, um eine Ergänzung der Helmholtzschen Theorie herbei¬ 
zuführen, welche den wichtigsten Ergebnissen unserer Tatsachenforschung 
gerecht wird. 

Was die Gesichtswahrnehmungen betrifft, so sind die Herausgeber der 
Ansicht, daß der »Empirismus« von Helmholtz eine Auffassung ist, »die 
auch gegenwärtig noch möglich, ja im Grunde ebenso berechtigt, durch die¬ 
selben Tatsachen gestützt, mit den gleichen Schwierigkeiten und Bedenken 
behaftet ist, wie sie es vor 40 Jahren war. Auch hierin kann man wohl un¬ 
bedingt dem Herausgeber beistimmen, und es wird sicher eine wertvolle Er¬ 
gänzung des ursprünglichen Werkes Bein, daß der Herausgeber die Absicht 
hat, die fundamentalen, an die Begriffe des Empirismus und Nativismus ge¬ 
knüpften Probleme aufs neue selbständig zu bearbeiten. Da dieser Teil des 
Werkes noch nicht vorliegt, so läßt sich ein Urteil darüber noch nicht fällen; 
er wird natürlich für den Psychologen und den Philosophen ganz besonders 
interessant sein. 

Außer diesen Zusätzen »ist dem 3. Abschnitt noch ein Kapitel hinzu¬ 
gefügt worden, das sich mit den binokularen optischen Instrumenten be¬ 
schäftigt, ein Gegenstand, der ja ganz im Rahmen des Werkes liegt, in er¬ 
heblichem Umfang auch schon in der ursprünglichen Helmholtzschen Dar¬ 
stellung berücksichtigt worden ist, für den aber die umfangreiche und praktisch 
so bedeutsame Entwicklung der Konstruktion eine ausführlichere Darstel¬ 
lung wünschenswert machte«. 

Es sei noch erwähnt, daß die Verlagsbuchhandlung das Format des 
Werkes vergrößert und die Ausstattung wesentlich verbessert hat. Da daB 
Papier stärker und der Text durch die Zusätze erheblich vermehrt worden 
ist, erwies es sich als notwendig, eine Teilung des Werkes in drei Bände 
vorzunehmen, die natürlich der ursprünglichen Einteilung in die drei er¬ 
wähnten Hauptabschnitte folgt. Es ist zweifellos, daß das Werk dadurch an 
Handlichkeit und Gebrauchsfähigkeit gewonnen hat. Dagegen kann man im 
Zweifel darüber sein, ob es vorteilhaft war, das von Arthur König für die 
zweite Auflage gelieferte Literaturverzeichnis nicht aufzunehmen. Es würde 
ja allerdings zweifellos wieder einen vollständigen Band gebildet haben und 
hätte nur dann Wert gehabt, wenn es mit Vollständigkeit bis auf die Gegen¬ 
wart fortgeführt worden wäre. Der Herausgeber ist der Ansicht, daß der 
ganze Aufwand von Zeit und Mühe, der dazu nötig gewesen wäre, kaum im 
richtigen Verhältnis zu dem Wert der Arbeit gestanden hätte, da wir jetzt 


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Literaturbericht. 


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der ersten Auflage sind beibehalten worden. Natürlich sind auch in den 
neuen Zusätzen Zitate aus der neueren Literatur angebracht, die unter den 
Text gesetzt worden sind. Mit Recht haben die Herausgeber ferner über 
den einzelnen Seiten die entsprechenden Seitenzahlen der ersten Auflage 
angegeben, und in den Zusatzabschnitten, die von den einzelnen Bearbeitern 
herrühren, wird an Stelle der Seitenzahl aus der ersten Auflage ein g. k. n. 
angebracht. Ebenso sind die von den Bearbeitern herrührenden Anmer¬ 
kungen unter dem Text gekennzeichnet. Der nächste Band soll noch ein 
Bild von Helm hol tz bringen. E. Me um an n (Leipzig). 


14) Oswald Bumke, Über die körperlichen Begleiterscheinungen psychi¬ 
scher Vorgänge. (Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens. 
Heft 68.) 16 S. Wiesbaden, Bergmann, 1909. M. —.65. 

Dem Psychologen werden die Ausführungen des Verf. nichts Neues 
bringen, darum sei das Referat möglichst kurz gefaßt. Empfindungen sind 
nicht direkt zu messen, sondern nur indirekt durch Bestimmung der auf ge¬ 
wisse Reize folgenden Ausdrucksbewegungen; hier handelt es sich um die 
körperlichen Begleiterscheinungen psychischer Vorgänge. Lachen und Wei¬ 
nen, Zittern, Mienenspiel, Erröten und Erbleichen, Pupillenspiel usw. sind 
bekannte Begleiterscheinungen von Gefühlen und Affekten sowohl wie ein¬ 
fachen Empfindungen oder Vorstellungen; gleichfalls sind Herz-, Atem- und 
Pulstätigkeit einem Wechsel unterworfen je nach der Einwirkung bestimmter 
äußerer oder innerer Reize. Von größerem Interesse aber sind die so¬ 
genannten »unmerklichen« oder »kleinsten Bewegungen«, die für die Psycho¬ 
logie der Telepathie in Betracht kommen, wie z. B. der Kartenkünstler die 
von seinem Gegenüber gewählte Karte einfach daraufhin erfährt, daß er 
dessen Mienenspiel beobachtet; für das »Gedankenlesen« tritt neben diesen 
unwillkürlichen Bewegungen noch speziell das unwillkürliche Flüstern in 
Wirkung (Hansen und Lehmann), v. Ostens »kluger Hans« verstand Bich 
gleichfalls auf diese Dinge, und Stumpf wie Pfungst lernten es ebenso. 
Endlich sei neben Bergers schönen Untersuchungen Veraguths »psycho- 
galvanisches Reflexphänomen« erwähnt, auf dessen Prinzip man — irre ich 
nicht, so war es Jung — das sogenannte »Psychometer« konstruierte. Im 
übrigen wird man noch einige treffende Bemerkungen über die »Erwartungs¬ 
vorstellung« (speziell über die von Furcht begleiteten) finden und deren Be¬ 
deutung für das »Tischrücken«. Paul Menzerath (Brüssel). 


15) Ottmar Rutz, Sprache, Gesang und Körperhaltung. Handbuch zur 
Typenlehre Rutz. München, C. H. Beck, 1911. M. 2.80. 

Die von dem Vater des Herrn Dr. Ottmar Rutz entdeckten Typen der 
menschlichen Stimme in Sprache, Deklamation und Gesang haben wir schon 
in dem Abdruck des Vortrages von Herrn Dr. Rutz unseren Lesern bekannt 
gemacht (vgl. dieses Archiv Bd. XVIII). Dort wurde auch das Hauptwerk 
von Rutz erwähnt, Neue Entdeckungen von der menschlichen Stimm (Mün- 


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die praktischen Zwecke der Erlernung der Körperhaltung für Deklamation 
nnd Gesang und der Charakteristik der einzelnen Typen der Möglichkeit 
ihrer Feststellung. Zuerst werden die einzelnen Typen beschrieben und ihre 
warmen nnd kalten Unterarten. Dann wird besonders behandelt die große 
Art, die dramatische Art, die ausgeprägte Art und die Verbindung der Unter¬ 
arten. Hierauf folgt ein fiir den Psychologen besonders lehrreicher Abschnitt, 
der Zusammenhang zwischen Körper, Seele und Stimme. An diesem Punkt 
hat natürlich die genaue psychologische Erforschung der Entdeckungen von 
Rutz einzusetzen. Es ist für den Psychologen — ganz besonders für die 
Psychologie des seelischen Ausdruckes — von größtem Interesse, den Zu¬ 
sammenhängen einmal mit exakter Forschung nachzugehen, die nach den Be¬ 
obachtungen von Rutz bestehen, zwischen Gemütsbewegungen, Muskelein¬ 
stellungen, stimmlichem Ausdruck und Ausdruck des seelischen Lebens über¬ 
haupt. Einen ersten Anfang dazu hat Rutz selbst gemacht in dem Vortrag 
»Eine neue Welt des seelischen Ausdruckes« (1909 in München), erschienen 
in Ostwalds Annalen Für Naturphilosophie 1910, S. 159ff., und vor allen 
Felix Krueger in der Schrift »Mitbewegungen beim Singen, Sprechen 
und Hören (Leipzig, Breitkopf & Härtel, 1910). Besonders zu beachten ist 
für den Psychologen, daß nach den Beobachtungen von Schammberger und 
von Sievers in Leipzig die charakteristischen Typen der Körperhaltung 
auch beim Betrachten von Werken der bildenden Kunst eintreten, bei den 
Gemälden und Statuen; sobald sich der Betrachtende in den Ausdrucksgehalt 
dieser Werke versenkt, nimmt er unwillkürlich den einen oder anderen Typus 
der Körperhaltung mit den betreffenden Unterarten an. Für die Psychologen 
sind besonders auch interessant die Beobachtungen über Mienenspiel und 
Gliederbewegungen, die dem kalten und warmen Ton entsprechen, ja z. B. 
Sievers beobachtet, daß auch die Bewegungen der Arme und Beine im Zu¬ 
sammenhang mit den Typen und ihren Unterarten stehen. Daher kann man 
die Armbewegungen auch dazu verwenden, um die Annahme der verschie¬ 
denen Rumpfmuskeleinstellungen zu erleichtern. 

Es war von vornherein zu erwarten, daß die Entwicklungen von Rutz 
auch pädagogische Bedeutung erlangen könnten, denn die Anleitung zur 
richtigen Körperhaltung kann auch dem Unterricht in Gesang und Dekla¬ 
mation gute Dienste leisten. In der Tat hat schon Herr Oberlehrer und 
Konzertsänger Borebers in Leipzig die Anwendung der Typenlehre von 
Rutz beim Chorgesang und beim Schulgesang erprobt, und zwar »wie 
nicht anders zu erwarten war« mit sehr gutem Erfolg, weil Nach¬ 
ahmungstrieb und Klangvorstellung noch besonders dazu mitwirken, daß man 
in den gewünschten Typus gerät. »Man stelle sich vor, wie erst die Chöre 
z. B. in der Götterdämmerung wirken würden, wenn alle Mitsingenden den 
richtigen Typus nebst seinen Unterarten hätten. Ich habe speziell diese 
Chöre noch niemals wirkungsvoll gehört, da hierzulande die meisten Mit¬ 


wirkenden den ersten und zweiten Typns singen, die beide bei Wagner 
schwächlich und undramatisch klingen.« Es mag noch erwähnt werden, daß 
auch bei Instrumenten von einem Klangtypus gesprochen werden kann, der 
den Melodien, w r elche auf dem Instrumente gespielt, entsprechen oder nicht 



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Literaturbericht. 


weich und dankeiklingende, die Mehrzahl deutscher Komponisten weich nnd 
hellklingende Instrumente. 

Sehr wertvoll sind die Beilagen zu dem Werke, in denen ein ganz ko¬ 
lossales Stück geistiger Arbeit steckt. Es folgt nämlich zunächst ein alpha¬ 
betisches Verzeichnis der festgestellten Sprachtypen. Da finden wir nicht 
nur ältere und neuere Dichter, Redner und Komponisten, auch bildende 
Künstler und Gelehrte nach ihrem Typus analysiert. Ebenso ist der charak¬ 
teristische Typus verschiedener Sprachen und Dialekte, z. B. des alteng¬ 
lischen, altfranzösischen, altfriesischen, althochdeutschen usw. bis in die 
Gegenwart angegeben. Wertvoll ist auch das alphabetische Inhaltsverzeichnis 
und ein Merkblatt der Muskelbewegungen zur willkürlichen Herstellung der 
den einzelnen Typen entsprechenden Kürperhaltung. Dieses ist zugleich 
durch photographische Abbildungen der Stellung der Rumpf-, Arm- und 
Nackenrauskeln erläutert Endlich sind einige Tabellen hinzugefügt, nach 
welchen sich die Rutzsehen Typen und ihre Unterarten aufsuchen lassen. 
Damit ist von seiten der Entdecker der Typen ein großes und bedeutendes 
Stück Arbeit geleistet worden. Nun ist es Sache der Psychologen, der Phy¬ 
siologen und der Pädagogen, dieser Entdeckung ihre wissenschaftliche 
Grundlage und ausgedehnte praktische Verwertung zu geben. 

E. Meumann (Leipzig). 



16) C. Täuber, Die Ursprache und ihre Entwicklung. (S.-A. aus Globus, 
•IHuetrierte Zeitschrift für Länder- und-Völkerkunde*—B4. XCVLL 
•Ne.-lS.—277—282. Braunschweig, Friedr. Vieweg u. Sohn, 1910.^ 


Seit Trombetti sein Losungswort von der einen Ursprache in die Welt 
warf, hat der italienische Gelehrte abseits von der offiziellen akademischen 
Wissenschaft Schule gemacht. Mehr oder minder geistreiche Nachfolger 
haben versucht, des vorgenannten Forschers Gedanken praktisch zu formu¬ 
lieren und sich bemüht, das gesamte Sprachgut nun auf eine kleine Zahl 
von Urbestandteilen zurückzufiihren: bei Anton v. Velins (Onomatopöie und 
Algebra) waren es ganze drei, hier sind es ihrer sechs, wie wir noch sehen 
werden. Ich räume ein, daß mich die Kühnheit dieser Forscher bezaubert, 
gestehe aber offen, daß ich ihnen nicht im mindesten in ihren Spekulationen 
folgen kann. 

Ihr Raisonnement ist etwa so: wir haben Wortreihen, wie sie jüngst 
bekanntlich von Meringer, Murko, Schuchardt behandelt worden sind, 
z. B. molere-Reihe (in »Wörter und Sachen« Heft I. Graz 1910) u. a. Die 
Reihe domus, domare, domesticus, dominus, domicilium usw. gibt die Wurzel 
dum, d. h. also, eine ganze Anzahl von Wörtern, die irgend etwas mitein¬ 
ander zu tun haben, besitzen einen lautlichen Bestandteil gemeinsam, der 
übrigens, wie gleich bemerkt sei, der Grundbestandteil (bzw. Grundvorstellung) 
ist, von dem alles andere abgeleitet ist (Beziehungsvorstellung). Nun folgt 


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samtheit dieser Grundbestandteile (im Indoeuropäischen etwa 1000—2000) 
ihrerseits wieder auf einheitliche Elemente untersuchen. Daä hat Täuber 
getan, setzte dabei aber Trombettis Hypothese als bewiesen voraus und 
kalkulierte so: »Wenn alle Sprachen und Sprachfamilien auf einen gemein¬ 
samen Ursprung zurilckgehen, so können wir mit irgendeiner von ihnen die 
Untersuchung anfangen, und wir müssen überall zum gleichen Endresultat 
kommen« (S. 277). 

Wie gesagt, seine Sprachbehandlung reduziert den gesamten Sprach¬ 
schatz der Erde im wesentlichen auf folgende sechs Wurzeln: m -f- Vokal 
= flüssige Nahrung, p + Vokal = feste Nahrung, n + Vokal = atmosphä¬ 
rische Flüssigkeit, t -(- Vokal = Holz, Wald, l oderr -+- Vokal = Futter- und 
Tränkeplatz, k + Vokal = Tierwelt. 

Kritische Beobachter werden sich nun schon die seit langem alle Sprach¬ 
forscher beunruhigende Frage vorgelegt haben: wie kommt es nun gerade, 
daß mit dem bestimmten Laut die betreffende Vorstellung assoziiert, bzw. 
identifiziert und in ihm symbolisiert wurde? Täuber macht sich das leicht: 
»Man wird sagen können, m (für flüssige Nahrung) und p (für feBte Nahrung) 
seien Naturlaute, seien unwillkürlich, beim Trinken und Essen, gekommen, 
während die übrigen Hauptlaute des menschlichen Organs: n (für die atmo¬ 
sphärische Flüssigkeit), t (Für Wald, Holzj, l [-r-] (Für Futter- und Tränkeplatz) 
und k (für die Tierwelt) nach Analogie, in bewußter Nachbildung, konven¬ 
tionell erfunden worden seien« (S. 281). Sehr banal, zu banal! Sogar ihn 
selber schreckt der letzte Halbsatz; denn er fügt schnell hinzu: »Es entsteht 
dann die Frage, da diese konventionelle Sprache nicht zufällig auf verschie¬ 
denen Punkten der Erde gleichzeitig entstanden sein kann, ob denn alle 
jetzigen Völker von den gleichen Urmenschen abstammen. Darauf wäre zu 
sagen, daß diese Annahme durchaus nicht nötig ist, daß die wunderbare Er¬ 
findung, die neben dem Gebrauch der Hände dem menschlichen Individuum 
eine ungeheure Überlegenheit über alle anderen Wesen gab, so gut wie heut¬ 
zutage noch jede wertvolle Erfindung, wenn auch zeitlich viel langsamer, 
ihren Siegeslauf um die ganze Erde nehmen mußte. Annehmen oder unter¬ 
liegen war die Losung« (8. 281). Gelinde gesagt, das ist äußert naiv, und 
man ist mit Recht erstaunt, das in einer ethnographischen Zeitschrift zu 
finden; nnd Täubers Spielerei mit »20,50oder mehr tausend Jahren« ist nicht 
besonders geeignet, für seine Gedanken einzunehmen. Die Anschauung 
ferner, das Chinesische sei bei der Einsilbigkeit der Wörter »stehen geblieben«, 
ist nach den neuesten Forschungen der Sinologen doch kaum aufrecht zu 
erhalten; ganz das Gegenteil ist wahr: es ist dazu »fortgeschritten«. Und 
dabei setzt der Verf. stolz unter seinen Artikel das kühne Wort: »Post tene- 
bras lux!« — Habeat sibi. 

Allgemein wäre nun zu diesen Ausführungen zu bemerken: Der Glaube 
an eine einheitliche Ursprache ist heute mehr als je zweifelhaft geworden, 
nnd auch anthropologisch w’ird man nicht mehr nach der »Wiege des Merx- 

_1 — tl. I i_ £L- 1_ ••_ J J! _ * J- M «%<1 


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Literaturbericht. 


finden sein; da wäre also noch die Sprache zu finden, die vor dem Menschentum 
lag. Sprache im weitesten iBt »Ausdruck«, und dieser besteht auch bei Tieren. 

Ferner ist Täubers Anschauung von der Sprachwanderung zu ober¬ 
flächlich, das wird ihm heute kein Ethnograph, kein Anthropologe oder 
Soziologe mehr glauben, schon rein anthropologisch w 7 äre da eine Lautver¬ 
schiebung ganz heterogenster Art zustande gekommen, wie heute bei den 
von Ausländern gesprochenen lebenden Sprachen leicht nachzuprüfen ist. 
So können beispielsweise die meisten Holländerinnen keinen erweichten g- 
oder /-Laut (vor e, t, y) im Französischen aussprechen und ersetzen ihn durch 
ein scharfes s, ein Gaumenlaut also erhält Ersatz durch einen Zischlaut. Und 
allgemein: alles auf die Form der Akkulturation zurückführen zu wollen, 
ist nicht angängig, obschon deren Bedeutung durchaus nicht abzuleugnen 
ist. Die Sprache ist auch keine »Erfindung«, es ist eine »Findung«, man 
sprach längst, ehe man es w r ußte, und erst mit dem Auftreten des Gedankens, 
daß man sprechen kann, beginnt die Sprache im engeren Sinne als bewußte 
und beabsichtigte Mitteilung, d. h. die eigentliche Sprache hebt mit der Er¬ 
zählung an. (So scheint mir wenigstens, und damit scheiden auch die Vor¬ 
stadien, mitsamt der Tiersprache usw., aus. Die Fähigkeit zu »erzählen«, 
glaube ich, ist die fundamentale Differenz der Tiersprache gegenüber.) 

Ferner ist die Sprache wohl an vielen Orten gleichzeitig entstanden 
(Täuber stritt dies ja, wie wir oben sahen, rundweg ab), damit konnte aber 
der Wortschatz trotz aller sonstigen Verschiedenheiten immer noch verhält¬ 
nismäßig gleich sein, aus dem einfachen Grunde, weil die auszudrückenden 
Verhältnisse ziemlich identisch sind, die Apperzeption dieser Verhältnisse 
aber wechselt, und das physische Milieu hat daran nicht geringen Anteil; 
mit der wechselnden Apperzeption aber wandelt sich auch naturgemäß die 
Wiedergabe, und so glaube ich denn auf diese Weise Doppelformen wie 
p -+- Vokal neben b -j- Vokal, g -+- Vokal neben k -+- Vokal ebenfalls erklären 
zu können als unabhängig entstandene Originalbildungen. Dabei ist über¬ 
haupt die Frage, weshalb nun gerade ein bestimmter Laut einer Vorstellungs¬ 
reihe entspricht, einfach unlösbar, will man sich nicht in weitere Spekula¬ 
tionen verlieren. Man konstatiert: »das ist so«, und bescheidet sich. Das 
ist meiner Ansicht nach das einzige, was sich hier sagen läßt (Wilhelm 
Uhl hat ja eine andere Lösung versucht, die als durchaus mißlungen zu be¬ 
zeichnen ist), und so kommen w T ir am Schlüsse dem Verf. in etwas entgegen, 
als wir ihm wohl die Berechtigung zuschreiben, die Wortreihen zu unter¬ 
suchen und auf den Stammteil zurückzuführen, eine Berechtigung, die, wie 
ich betone, nie abzustreiten ist, da doch jeder Sprachforscher als Etymologe 
sie in Anspruch zu nehmen hat; Einspruch aber möchte ich dagegen erheben, 
daß man nun irgendeine Sprache einer beliebigen anderen gleich behandelt, 
das ist psychologisch ein Unding — jede Sprache will aus sich heraus ver¬ 
standen sein als individuelle Bildung derer, die sie reden, d. h. also: korre¬ 
lativ Vnn PVntlohnnnorAn anlip ir»V> Viipr natiirlipVi aVi _ Purnar Haiuiran 


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Literatarbericht. 


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17) Heinrich B. Gerland, Zur Frage der Zeugenaussage. Archiv für 
Kriminalantbropologie. Bd. 39. 1910. S. 116. 

Der Verf. erörtert in dieser Abhandlung die Frage, welchen Wert die 
Anwendung der Aussagemethode für die Bewertung von Zeugenaussagen 
haben kann. Er ist der Ansicht, daß Hans Gross mit Recht auf die große 
Differenz hingewiesen hat, die sich auch bei erwachsenen Menschen in ihrer 
individuellen Begabung für die Auffassung der räumlichen Verhältnisse bei 
Ereignissen zeigt, über die sie Aussagen machen sollen. Gross hat infolge¬ 
dessen von »graphischen und nichtgraphischen Naturen« gesprochen. Der 
Verf. zeigt nnn, daß die Aussagemethode ein gutes Mittel sein kann, um 
durch das Experiment »die graphische Natur eines Zeugen festzustellen und 
sie nunmehr zur Feststellung des Tatbestandes zu benutzen«. Und zwar 
kann man entweder eine Zeugenaussage auf ihre Glaubwürdigkeit hin kri¬ 
tisch prüfen, wenn nachgewiesen wird, daß ein Zeuge, der genau die Loka¬ 
lität eines Verbrechens schildert, nicht im mindesten eine graphische Natur 
ist, oder auch im positiven Sinne, daß man den wirklichen Wert einer 
Zeugenaussage nach weist, indem man zeigt, daß der Zeuge sehr viel Sinn 
für das räumliche Nebeneinander der Ereignisse hat. 

Der Herausgeber, Herr Gross, weist in einem Zusatz darauf hin, daß 
er im ganzen mit den Ausführungen des Verf. einverstanden ist, daß er aber 
schon wiederholt vorgeschlagen habe, die Experimente über Aussage nicht 
nur an Bildern, sondern auch an Vorgängen zu machen. (Wird von W. 
Stern ansgeführt.) E. Menmann (Leipzig). 


18) Dr. H. Gudden, Die Behandlung der jugendlichen Verbrecher in den 
Vereinigten Staaten von Nordamerika. 167 S. Nürnberg, Korn, 
1910. M. 1.50. 


Abermals die Gabe eines hervorragenden Psychiaters, Für die ihm eine 
große Lesergemeinde dankbar sein wird: Psychiater und Psychologen, fort¬ 
schrittlich denkende Juristen und Verwaltungsbeamte, Sozialpolitiker und 
Lehrer, — nicht zuletzt auch die Experimentalpädagogen. Denn 
Gnddens Schilderungen betreffenVersuche korrektioneller Erziehung, 
die — von geistvollen Experimentatoren erdacht und durchge- 
führt — »zweifellos glänzend« (S. 166) gelangen. 

Schon der einleitende Abschnitt über die allmählichen legislatorischen 
Fortschritte in der Sache enthält zahlreiche beachtliche Details. Die Höhe¬ 
punkte der Schrift sind aber doch die folgenden Schilderungen der ver¬ 
schiedenen korrektioneilen Zwecken dienenden Anstalten, der Parental-, 
Reform-, Training- und Industrial-Schools, sowie der Reformatories, 
denen Verf. eine lebensvolle Skizze über die Jugendgerichtshöfe voraus¬ 
schickt. Dazwischen finden sich Charakterbilder der bedeutendsten Förderer 
des gedachten Zweiges der Jugendfürsorge in Amerika, — jener »fanatischen 
Optimisten«, die die amerikanische Behandlung verwahrloster oder verbreche¬ 
rischer Jugendlicher zum leuchtenden Vorbild für die ganze Kulturwelt 

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Literaturbericht. 


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im Reformatory zu Pontiak (Illinois), — Jugendrichter Tuthill und vor allem 
der unvergleichliche Lindsey, der das meiste zur Verbreitung der Idee der 
Jugendgerichtshüfe beitrug und dessen pädagogischer Takt und psycho¬ 
logischer Scharfblick die Gegner jener jungen Institution verstummen machte. 

Es ist von ungemeinem Interesse, einen Psychiater über jene Mittel zur 
Bekämpfung des Verbrechertums Minderjähriger zu vernehmen, denen die 
tüchtigsten Kriminalisten der Gegenwart gleich vielen namhaften Mitarbeitern 
auf dem Gebiete der Jugendfürsorge volle Aufmerksamkeit schenken und 
die bezwecken, statt der Strafe für »Verbrechen« eine breit angelegte Er¬ 
ziehung zu setzen, — den jugendlichen »Verbrecher« nicht als verabscheuungs¬ 
würdigen Gesellschaftsfeind, sondern als Gegenstand väterlicher Fürsorge zu 
betrachten —, ihn nicht durch ausgeklügelte Demütigungen um den Rest 
seiner Selbstachtung und des Gefühles der Menschenwürde zu bringen, son¬ 
dern ihn körperlich zu kräftigen, geistig zu schulen, sittlich zu veredeln, 
seinen Charakter zu stählen und ihn durch instruktive Beschäftigung in den 
Stand zu setzen, sich als rechtschaffener Staatsbürger mit Arbeit zu erhalten. 

Daß sich aus den reichen Erfahrungen der amerikanischen Praktiker auf 
korrektionellem Gebiete auch vielfacher Gewinn für die Psychologie ergeben 
würde, war von vornherein anzunehmen. Zum Beweis dessen sei nur eine 
Tatsache angeführt, die auf die »Willensgesetze« neues Licht wirft. Gudden 
berichtet S. 127: »Die Erfahrung hat gelehrt, daß, je höher das Straf¬ 
maximum ist, desto mehr die Gefangenen sich bemühen, das Ihre 
zur Kürzung zu tun. So stellt das Elmira-Jahrbuch von 1898 fest, daß 
diejenigen Gefangenen, deren Höchstzeit fünf Jahre oder weniger betrug, 
durchschnittlich nach 27 Monaten entlassen werden konnten, daß dagegen 
die Gefangenen, die ein Maximum von zehn bis zwanzig Jahren vor 
sich sehen, durchschnittlich nach 21 Monaten sich die Freiheit 
zurückgewinnen. Ähnlich berichtet (das Reformatory) Concord, daß 
Gefangene, die nur ein Maximum von zwei Jahren hatten, lieber 
dieses durch machten, als sich allzusehr um eine Kürzung desselben zu 
bemühen.« 

Der mancherseits gering geschätzte Wert wohlgeordneter militä¬ 
rischer Disziplin erwies sich als ganz bedeutend in einer Anstalt, 
in der man den »Drill« eigentlich nur als Lückenbüßer einfiihrte, um mangels 
gewinnbringender Arbeit die Zeit ausznfüllen, — vgl. den S. 119 angeführten 
Fall. 

Wäre Lombrosos Lehre vom »geborenen Verbrecher« nicht schon 
auf Grund anderer Tatsachen erschüttert, so würde dies durch die sicheren 
Ergebnisse der amerikanischen Korrektionspraxis geschehen, die Gudden 
bei Gelegenheit einer Studienreise aus eigener Anschauung kennen lernte. 

Den Schluß der sachlichen Darlegungen Guddens bildet die Wieder¬ 
gabe einer Skizze von All er s aus dem Handbuche des Reformatorys zu 

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Literaturbericht. 


31 


Wie von selbst wächst aus den vielen Komponenten in Guddens 
Schrift zuletzt als Schlußresultante der Wunsch heraus, daß insbesondere 
Deutschland den in Rede stehenden Zweig amerikanischer Jugendfürsorge 
scharf im Auge behalten möge, um das Nachahmenswerte daran soviel 
als nur möglich seinen Verhältnissen anzupaBsen und gleichfalls einen 
»ungeheuren idealen und sozialen Gewinn« — S. 181 — daraus zu 
ziehen. 

Wer wollte sich diesem Wunsche nicht voll und ganz anschließen? Die 
analogen Institutionen Schwedens, Norwegens und — in den ersten An¬ 
fängen — sogar Rußlands zeigen, daß sich die anglo-amerikanische Grund¬ 
idee recht verschiedenen Formen anzuschraiegen vermag. 

Dr. Ernst Ebert (Zürich). 


19) Prof. Dr. Ernst Schnitze, Die jugendlichen Verbrecher im gegen¬ 
wärtigen und zukünftigen Strafrecht. Heft 72 der »Grenzfragen 
des Nerven- und Seelenlebens« (Herausgeber: Dr. Loewenfeld, 
München). 174 S. Wiesbaden, Bergmann, 1910. M. 2.—. 

Eine Schrift, die mehr bietet, als ihr Titel zu besagen scheint: Die 
Stellungnahme eines erfahrenen Psychiaters mit weitem, kühlem 
Blick und freimütigem, warmem Herzen zu den Rechtsnormen 
über die Behandlung jugendlicher »Verbrecher«, — fesselnd 
durch die Fülle anregender Gedanken in knapper Form. Die 
Schrift sei allen, die sich aus allgemeinem staatsbürgerlichen oder aus spe¬ 
ziellem beruflichen Interesse mit dem Problem der Bekämpfung des Ver¬ 
brechertums Jugendlicher und der Behandlung gefährdeter oder verdorbener 
Minderjähriger befassen, aus vollster Überzeugung empfohlen, wenn 
in diesem kurzen Hinweis auch nicht erst auf bedeutungsvolle Einzel¬ 
heiten wissenschaftlicher Art aufmerksam gemacht werden kann. 

Verf. bemerkt gelegentlich, daß das Wort »Summura jus — summa 
injuria!« seine Bedeutung für »Jugendliche« zukünftig verlieren dürfte. Wer 
sollte wohl mehr dazu beitragen können, an Stelle formaler Jurisdiktion 
eine zweckmäßige pädagogisch - psychologische Behandlung gefährdeter 
Minderjähriger zu setzen, als die berufsmäßigen Volkserzieher?! Wie Verf. 
über deren Mitwirkung denkt, mögen folgende seiner Worte in etwas an¬ 
deuten: »Ich weiß ... nicht, ob es notwendig war, Volksschullehrer 
— wie es § 118, 4 des I. Entwurfs G.-V.-G. vorschrieb — den Jugend¬ 
gerichten fernzuhalten. Ich möchte glauben, daß die Besetzung 
des einen Schöffen durch einen Lehrer einen gesunden päda¬ 
gogischen Zug in die Rechtsprechung bringen kann. Und warum 
sollte dieser Lehrer nicht auch ein Volksschullehrer sein? Daß er das für 
die Aufgabe nötige Verständnis hat. wird keiner bezweifeln, und daB ak¬ 
tive Interesse der Volksschullehrer an der Lösung dieser Frage 

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Literaturbericht. 


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Lohmann in der Sitzung des Abgeordnetenhauses sagte, etwas Wunder¬ 
bares: Der Bundesrat fügte in die Novelle zum G.-V.-G. aus eigenem 
Antriebe die Bestimmung ein, daß auch die Volksschullehrer als Schöffen, 
wenngleich nur für Jugendgerichtshöfe, zugelassen sind. Diese 
Anerkennung haben unsere Volksschullehrer wirklich verdient. Sie wird 
dazu beitragen, ihr Ansehen nicht nur im Volke, sondern vor allem 
in der Schule zu heben« 1 ). 

Es wäre zu begrüßen, wenn Verf. oder ein gleichgesinnter Berufsgenosse 
einmal vom psychiatrischen Standpunkte aus daran ginge, die Ursachen 
und Anfänge des »jngendlichen Verbrechertums« zu beleuchten, — der 
Gewinn daraus für die Pädagogik der Gegenwart und Zukunft dürfte erheb¬ 
lich sein. Dr. ErnBt Ebert (Zürich). 


20) Ed. Claparede, Psychologie de l’enfant et Pedagogie experimentale. 

3. vermehrte Auflage. Genf, Verlag von Kündig, 1909. 

Es ist keine vollständige Darstellung der Kinderpsychologie oder der 
experimentellen Pädagogik, was der Verf. in dem vorliegenden Werke gibt, 
sondern eine Anzahl ausgewählter Abschnitte aus diesen beiden Gebieten, 
die in recht eingehender Weise behandelt werden. 

Nach einer allgemeinen Einführung in die Grundbegriffe und Aufgaben 
der Psychologie und Pädagogik folgt ein historischer Abriß, der sich mit 
der Entwicklung beider Wissenschaften und ihrer Beziehungen beschäftigt, 
dann werden die Probleme und Methoden behandelt, der Gang der geistigen 
Entwicklung im allgemeinen, die Bedeutung der Kindheit, dann besonders 
eingehend die Entwicklung des Interesses der Kinder und die geistige Er¬ 
müdung. Es fehlen also noch so wuchtige Fragen wie die Entwicklung des 
kindlichen Gedächtnisses u. a. m., doch gibt der Verf. im Vorwort an, daß 
er Gedächtnis, Intelligenz und Wille in einem besonderen Bande behandeln 
will. Der Text ist durch einige Abbildungen und mehrere recht lehrreiche 
Kurven erläutert. E. Meumann (Leipzig). 


21) Erich Becher, Der Darwinismus und die soziale Ethik. Ein Vortrag, 
gehalten zur Hundertjahrfeier von Darwins Geburtstag vor der 
philosophischen Vereinigung in Bonn, nebst Erweiterungen und 
Anmerkungen. 67 S. Leipzig, Joh. Ambr. Barth, 1909. M. 2.—. 

Die ganze Richtung der darwinistisch gesinnten Sozialbiologen wird in 
der Einleitung von Becher klargelegt: es handelt sich darum, »in humaner 
Weise das geborene Elend einer künftigen Menschheit ersparen« zu helfen. 
Man muß unvoreingenommen zugeben, daß so denkende und strebende 

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Literaturbericht. 


33 


Argumentationen des Verf. zu folgen. Er beginnt mit einer Darstellung und 
kritischen Nachweisung der großen darwinistischen biologischen Hypothesen. 
Die Entwicklungshypothese ist fast allgemein unter unseren Naturforschern 
verbreitet und anerkannt. Über die Art und Ursache dieser außerordentlich 
fruchtbaren wissenschaftlichen Annahme herrscht allerdings noch keinerlei 
Einstimmigkeit. Die einen nehmen den Entwicklungsprozeß als kontinuier¬ 
lich, die anderen als diskontinuierlich (d. h. in größeren Sprüngen erfolgend) 
an. Man vergleiche Darwins und de Vries’ Ansichten. Bei der Ursache 
der entstandenen Entwicklungen betonen die einen innere Ursachen — Auto¬ 
genese —, andere aber äußere, außerhalb des Organismus liegende Be¬ 
dingungen. Für beide Erklärungen lassen sich einleuchtende Beispiele an¬ 
führen. Der Verf. weist an einem sehr treffenden Beispiel die Richtigkeit 
der Selektionshypothese nach. Darwin hat die geistreiche Hypothese ge¬ 
macht, eine der künstlichen ähnlich wirkende natürliche Selektion als Er¬ 
klärungsprinzip der mannigfaltigen Tatsachen in der organischen Welt an¬ 
zunehmen. Daß es auch hierfür erstaunlich passende Beispiele gibt, an 
denen es auch Becher nicht fehlen läßt, braucht kaum besonders betont 
zu werden. So unterliegen im Kampfe ums Dasein Angreifer und Verfolgter 
der natürlichen Auslese, indem die schlechter Angepaßten weit eher dem 
Tode verfallen als die besser Angepaßten. Dasselbe gilt von der natürlichen 
Zuchtwahl, die mit dem Vorigen in engster Beziehung steht. Auch hier 
haben sich die Geister dafür oder dawider erklärt. Nun haben die Biologen 
und Sozialbiologen versucht, diese Prinzipien, die in der gesamten organi¬ 
schen Welt gelten, auch auf den Menschen, wie es konsequent geschehen 
muß, auszudehnen. In rein praktische Interessen sind diese Hypothesen 
hineingezogen worden — merkwürdigerweise hat hier der Darwinismus den 
härtesten Widerstand seitens oft tüchtiger Männer erfahren. Man fürchtete 
für die Existenz der köstlichsten Güter, für Religion und Moral. Wir müssen 
es dankbar begrüßen, daß der Verf. sich die Aufgabe gestellt hat, diesen 
schweren Konflikt zu beseitigen. So wird Becher auf soziale Probleme und 
deren Zusammenhang mit dem Darwinismus geführt. Wir werden erwarten 
dürfen, daß aus den hieraus entspringenden Folgerungen sich für den Ethiker 
mancherlei Beachtenswertes ergeben wird. So stellt sich dem Verf. der 
Zweck der Anwendung der biologischen Tatsachen auf Ethik und Soziologie 
als »eine vorbeugende Arbeit am Wohle der Menschheit« dar (siehe S. 17—18). 
Daß Becher nicht ein befangener Sozialbiologe ist, ergibt sich auB der aus¬ 
drücklichen Betonung, daß die Gesetze der organischen Materie nicht als 
ethische Gesetze zu gelten haben. Wir möchten Bechers Meinung dahin 
verschärfen, daß die Naturgesetze und Gesetze der Organismenwelt nie 
ethische Gesetze werden können, da diese das Seinsollende, jene aber das 
Sein angehen. Daß wir aus den in der Natur vorkommenden Tatsachen fllr 
unser Handeln lernen können, leuchtet ein. Das aber will nach Becher 
die biologische Ethik. Ihr schwebt das Ideal einer an Leib und Seele ge¬ 
sunderen und wertvolleren künftigen Menschheit vor. Wie soll aber diese 
Vervollkommnung erzielt werden? »Darauf wollen wir vom Standpunkte der 


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Literaturbericht. 


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(S. 21). In einwandfreier Weise sucht der Verf. nachzuweisen, daß die natür¬ 
liche Zuchtwahl soziale und humane Unterstützung der Schwächeren eher 
begünstigt als ausschließt. In der organischen Natur unterliegen die Lebe¬ 
wesen 1) der Gunst oder Ungunst der äußeren Umstände, der sogenannten 
Situation, 2) den Eigenschaften des Lebewesens, der sogenannten Anpassungs¬ 
höhe. Sehr mit Recht betont Becher, daß das bloße Werken von Situa¬ 
tionsvorteilen und -nachteilen nicht zu einer Züchtung des Vollkommeneren 
führte, denn dann würde der eigene Wert oder Unwert der Lebewesen für 
die Erhaltung oder Vernichtung wenig beitragen. S. 24 sagt der Verf.: »Je 
größer die Situationsunterschiede, um so geringer die züchtende Wirkung 
des Daseinskampfes.« Durch ein weiteres Argument sucht der Verf. dies 
zu befestigen: Die Kulturvölker leiden unter der sinkenden Anzahl von Ge¬ 
burten, während niedrig stehende Völker oft erstaunlich reichen Nachwuchs 
haben. Weil aber die Zahl wertvoller Menschen unter den Kulturvölkern 
immerhin nicht allzu groß ist, darum muß die natürliche Zuchtwahl mög¬ 
lichst hinter die Rassenförderungsfaktoren zurücktreten. Hier liegt doch 
offenbar ein utilitarischer Bestimmungsgrund vor, der die Gesinnung des 
biologischen Ethikers leitet. Es liegt die verhängnisvolle Konsequenz nahe, 
daß bei genügend reichlichem Material an wertvollen Individuen die ver¬ 
schwindende Minderzahl der natürlichen Zuchtwahl unterliegt, weil sie we¬ 
niger gut ausgestattet ist. Es w r Urde aber ein sozialer Biologe nicht wün¬ 
schen wollen, daß ein Individuum, das nur physisch minderwertig ist, wäh¬ 
rend es geistig durchaus leistungsfähig ist, wegen seiner physischen Schwäche 
der natürlichen Zuchtwahl und Auslese anheimfallen sollte. Daß dies der 
Fall ist, zeigen die Ausführungen des Verf. (S. 31). Im Sinne der biologi¬ 
schen Ethik erscheint es gerechtfertigt, zu fordern, daß körperlich Minder¬ 
wertige sich nicht fortpflanzen dürfen, damit das künftige Geschlecht frei 
von ererbten Krankheiten werde. Wenn aber körperlich Minderwertige ge¬ 
boren werden, so sei es eine einfache Forderung der Humanität, daß man 
hnen ihr schweres Schicksal erleichtern helfe. Jedoch möchten wir er¬ 
gänzend hinzufügen, daß diese Forderung doch wohl nur auf körperlich 
Schwerleidende Anwendung finden dürfte. Es muß die Erfahrung lehren, bei 
welchen Leiden die Nachkommenschaft gar nicht oder ganz minimal in Mit¬ 
leidenschaft gezogen ist. Spürt man nun einmal gründlich den tiefsten Mo¬ 
tiven der biologischen Ethiker nach, so findet man, daß sie nicht im 
strengsten Sinne rein sittliche, sondern utilitarisch z. T. sind. Es heißt 
S. 39/40: »Am ersten könnten die Kinderkrankheiten im Sinne einer 
Konstitutionsauslese wirken, denn wer ihnen erliegt, ist in der Tat von der 
Vererbung seiner Eigenschaften ausgeschlossen. Es versteht sich von selbst, 
daß wir auch hier den Daseinskampf nicht ungestört, d. h. die Erkrankten 
ohne Pflege zugrunde gehen lassen können. Das würde bei der Häufigkeit 
dieser Erkrankungen einer Ausrottung nnseres Volkes nahekommen. Nimmt 
man alles zusammen, so wird man sagen dürfen, daß freilich die natürliche 
Auslese durch Absterben des gesundheitlich Minderwertigen wirkt und immer 
wirken wird, daß wir ihre Bedeutung aber nicht überschätzen dürfen, daß 
sie schwere Übelstände mit sich bringt und daher ein Ersatz durch Besseres 


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Literatnrbericht. 


35 


znra Teil als notwendig bedingt durch den Mangel an Menschen. Das ist 
aber ein Irrtum. Man darf dem Verf. recht geben, daß die natürliche Zucht¬ 
wahl geistigen Werten und Charakteranlagen nicht günstig gegenübersteht. 
Darum weist Becher mit Recht das laisser faire der natürlichen Zuchtwahl 
zurück. Als Beispiel gibt der Verf. die moral insanity an. Um nun die 
große Zahl an Elend zu vermindern, so dürfen wir gewiß Becher recht 
geben, daß künstliche sexuelle Selektion nur vorteilhaft fiir die Menschheit 
ist. Es gibt kein milderes Mittel zur Beseitigung all der traurigen Krank- 
heitserscheinungen körperlicher und geistiger Art. Wie geht aber die sexuelle 
Selektion vor sich? Darüber werden wir folgendermaßen belehrt. Bei der 
Gattenwahl kommt es auf sittlichen, intellektuellen und geistigen Wert an. 
Die Geldheirat ist nicht nur ein schwer schädigender Faktor, wie Becher 
meint, sondern im strengen Sinne unsittlich. Man benutzt die Ehe, die 
doch wahrlich eine der verantwortungsvollsten und darum größten ge¬ 
meinschaftlichen Aufgabe zwischen Menschen ist, zur Aufbesserung ma¬ 
terieller Güter und entwürdigt so die Ehe. Deshalb handelt der biologische 
Ethiker im vollsten Einverständnis eines gerecht urteilenden Menschen, daß 
er das sexuelle Verantwortungsgefühl, das leider so oft bei den Menschen 
fehlt, stärken und zur Anerkennung bringen will. Man mache sich einmal 
ernsthaft klar, was für ein sozialer Segen sich aus strengem Verantwortungs¬ 
gefühl ergeben würde (vgl. S. 47—48). So ergibt sich, daß als Form der Ehe 
die monogame die beste ist, da in ihr die gegenseitige Verantwortung in be¬ 
zug auf Reinheit, Treue, Erziehung usw. ermöglicht wird. Wir erkennen die 
ethischen Forderungen Bechers völlig an, daß in der Ehe das höchste Ver¬ 
trauen und die höchste Liebe und Achtung, wie wir hinzufügen möchten, 
herrschen muß. Diese ist nur in der Monogamie möglich. Des weiteren 
geht der Verf. auf eine meist höchst unklare Auffassung von dem Eheleben 
des Genies über. Wenn die Biologie feBtgestellt hat, daß geniale Anlagen 
sich im allgemeinen vererben, so ist die Forderung eines geordneten Familien¬ 
lebens, die er an das Genie stellt, gewiß gerecht. Aber wir sind der Mei¬ 
nung, daß vom Genie genau dieselbe Verantwortlichkeit zu fordern ist, denn 
es gibt nur einen einheitlichen Maßstab in der Beurteilung ethischer Fragen. 
Wer fiir das Genie einen anderen zu schaffen sich berechtigt glaubt, ist ein 
Tor. Sehr mit Recht bemerkt Becher: »Das ,quod licet Jovi, non licet bovi‘ 
läßt sich mit gleichem Recht umkehren« (S. 68). An der folgenden Zusammen¬ 
fassung, daß eine gesunde und von idealem Streben gerichtete eheliche Ge¬ 
meinschaft für die Zunahme höherwertiger Menschen von hervorragender Be¬ 
deutung sein wird, während beim System der Geldheiraten unbemittelte, aber 
sittlich und geistig hochstehende Mädchen unverheiratet bleiben und daraus 
biologischer Schaden entsteht, ist eine utilitarische Entscheidung. Wir haben 
gezeigt, daß die hohe und reine Ehe mit dem nichtswürdigen Tand einer 
Geldehe schlechterdings nichts gemein hat. Erst so erhält Bechers Zu¬ 
sammenfassung eine ethische Begründung. — Da die Kinder geistig und 


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Literaturbericht. 


von guten Eigenschaften und Fähigkeiten und die Vernachlässigung von 
schlechten setzt aber den Willen voraus. 

Der Verf. hat sein Problem gelöst. Es ist eine sittliche Tat, daß die 
Sozialbiologen sich bemühen, über weniger bekannte Tatsachen, die des 
Menschen Tun und Treiben angehen, Licht zu verbreiten, damit die so auf¬ 
geklärten Menschen an dem Fortschritt zur Vervollkommnung der Mensch¬ 
heit mitarbeiten können und sollen. Wer aber wider erfolgte Aufklärung 
dennoch die Befolgung der Vorschriften mißachtet, ist ein Nichtswürdiger. — 
Der Verf. hat eine ernste Arbeit vollendet, der an einzelnen Stellen die 
ethische Begründung fehlt. Das ist der einzige Mangel. — Dem Werkchen 
sind zahlreiche interessante und aufklärende Anmerkungen beigefügt. 

E. Gaede (Marburg). 


22) Gustav Hauffe, Volkstümliches Handbuch der humanen Ethik auf 
wissenschaftlicher Grundlage. In vier Bänden. Hohen-Neudorf bei 
Berlin, Verlag von Richard Fuchs. Bd. 1—3 ä M. 7.—; Bd. 4 
M. 4.60. 

Das vorliegende Werk möge im gegenwärtigen Heft unserer Zeitschrift 
nur kurz angezeigt sein, damit weitere Leserkreise darauf aufmerksam werden. 
Eine ausführliche Besprechung werden wir folgen lassen. 

Das Werk ist eine Preissehrift der deutschen Gesellschaft für ethische 
Kultur. Es unternimmt die Gesamtdarstellung einer rein menschlichen Ethik 
als unabhängiger, von aller religiösen Grundlegung freien Wissenschaft. Die 
Einteilung des Gesamtwerkes ist die folgende: Der erste Band enthält zu¬ 
nächst allgemeine Ausführungen über die Ethik als Wissenschaft und Unter¬ 
richtsgegenstand. Es folgt der erste Teil der Individualethik, darauf im 
zweiten Bande die Fortsetzung der Individualethik. Der dritte Band enthält 
die Sozialethik, der vierte bringt eine ausführliche Darlegung des praktischen 
Lehrganges im ethischen Unterricht oder in der religiös-sittlich-moralischen 
Unterweisung. E. Meumann (Leipzig). 


23) Oskar Pfister, Psychoanalytische Seelsorge und experimentelle Moral¬ 
pädagogik. Protestantische Monatshefte (herausg. von J. Webskyk 
Jahrgang 13. Heft 1. 1909. 

Der Verf. berichtet in dieser Abhandlung über seine Idee und seine Er¬ 
fahrungen auf dem Gebiete der »experimentellen Moralpädagogik«. Pfister 
erläutert hier seine Idee einer experimentellen Moralpädagogik an einigen 
ausführlich mitgeteilten Beispielen aus seiner seelsorgerischen Praxis. Eine 
verheiratete Frau wurde eine Zeitlaner durch anonvmo Rricfc und Postkarten 


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Literaturbericht. 


37 


tigkeit der Freudschen Ideen für die Arbeit des Geistlichen und des Päda¬ 
gogen, und er gelangte dazu, den Satz aufzustellen: »Die praktische Theo¬ 
logie als wissenschaftliche Disziplin, ja die gesamte Theologie hat noch 
selten eine derartige Bereicherung ihrer Methodik erfahren, wie sie ihr durch 
Sigmund Freuds Psychologie zuteil wird. Nicht nur die Seelsorge am 
gemütskranken Menschen, sondern auch die Seelsorge im weitesten Sinne, 
die Pflege der religiös-sittlichen Gesundheit gewinnt durch die Arbeit deB 
großen Wiener Psychiaters eine Fülle neuer Ziele und mannigfacher Mittel, 
die evangelischen Heilskräfte zur Geltung zu bringen.« Zu diesem Satz des 
Verf. sei sogleich bemerkt, daß Pfister die Freudsche Methode ebenso in 
einseitigem Sinne als eine pädagogisch-seelsorgerische aufzufassen scheint, wie 
die Ärzte sie als therapeutische zu behandeln pflegen. Der rechte Gesichts¬ 
punkt für die Würdigung des Verfahrens der psychanalytischen Behandlung 
anderer Menschen scheint mir allein der rein psycholgische zu sein! 
Das tritt auch in allen weiteren Ausführungen des Vcrf. hervor. Wiederholt 
muß Pfister selbst feststellen, daß bei seinen psychisch und physisch 
Kranken die religiösen Mittel, insbesondere das Gebet, versagt haben; ja, 
er konstatiert sogar einige Male, daß der Verkehr mit Gott als ein für die 
Krankheit unzweckmäßiges Überdeckungsmittel eintritt: die Kranken 
gelangen dadurch, daß sie sich der Religion in die Arme werfen, gerade 
nicht zu einer inneren Überwindung von Erinnerungen an frühere Vergehen 
oder gar zu einem Abreagieren verdrängter Vorstellungskomplexe. Die Re¬ 
ligiosität erscheint dann bisweilen als eine Art von Surrogat für das sich 
Anssprechen des Kranken und für die Gewinnung von beruhigenden Mo¬ 
tiven! Solche Surrogate führen dann wohl gelegentlich eine relative Erleich¬ 
terung herbei, aber sie vermögen den inneren Schaden nicht zu beseitigen. 
Dieses Eingeständnis eines Pfarrers ist mir religionspsychologisch besonders 
interessant gewesen. Daraus geht nun aber doch unzweifelhaft hervor, daß 
die Freudsche Methode, den Kranken zur Aussprache über seine sittlichen 
Fehltritte zu bringen und dann durch die Herbeiführung der sittlichen Be¬ 
urteilung und des ihr entsprechenden Affektes Beruhigung zu schaffen, eine 
ganz selbständige Bedeutung hat, sie ist weder eine ethische noch eine re¬ 
ligiöse Methode, sondern die Herbeiführung des adäquaten psychischen 
Mittels, um den verdrängten Affekt zur ihm gebührenden Entlastung zu 
bringen. 

Den obigen Satz, von dessen Kühnheit der Verf. selbst überzeugt ist, 
sucht er in der gegenwärtigen Mitteilung nun durch einige interessante Fälle 
aus seiner Praxis zu stützen, von denen der erste, ausführlich beschriebene, 
hier besprochen werden möge. Er stellt sozusagen ein Schulbeispiel dar. Es 
handelt sich um einen lö^jährigen Schüler, der den Konfirmandenunterricht 
Pfisters besuchte. Er blieb einst zum Beginn des neuen Schuljahres aus. 
Von der Familie erfuhr der Verf., daß der seelische und körperliche Zustand 
des Knaben in der letzten Zeit ein ganz bedenklicher geworden sei. Er hatte 
Frechheit und Unehrlichkeit gezeigt, stand im Verdacht, aus seiner Mutter 
Schreibtisch Geld entwendet zu haben, bekam heftige Kopfschmerzen, verlor 


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Literaturbericht. 


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typisch für ein richtiges Angreifen solcher Fälle, sie möge deshalb mit den 
Worten des Verf. mitgeteilt sein. »Zuerst beruhigte ich den erschrockenen 
Burschen, indem ich den wohlgemeinten Zweck meines Besuches hervorhob. 

Ich glaube, daß ihn eine Erinnerung quäle und krank mache. seine 

Krankheit mache mir deu Eindruck einer Störung, die mit einem peinlichen 
Erlebnis Zusammenhänge. Er selbst werde das Gefühl haben, daß Beine 
Krankheit nur für den Augenblick zurückgedrängt sei und in Bälde wieder 
hervortreten werde. Es gebe jedoch ein ausgezeichnetes Mittel, ihn zu heilen; 
wenn er sein Geheimnis einem von ihm geachteten Menschen anvertraue, 
dann sei er auf dem Wege zur Besserung. Falls er mich lieb habe und zu 
mir unbedingtes Vertrauen besitze, wolle ich ihm gerne den Freundschafts¬ 
dienst leisten, sein Geständnis entgegenzunehmen « 

Der junge Mann vertraute sich nun in der Tat Herrn Pfister an und 
erzählte ihm von seinem Verkehr mit einem älteren, ausschweifend lebenden 
Jüngling, durch den er zur Selbstbefriedigung und zu häufigen, stark gefühls¬ 
betonten sexuellen Phantasien veranlaßt wurde. Infolgedessen stellte sich 
bei ihm Schulüberdruß ein, er versäumte den Konfirmandenunterricht, es trat 
auch pathologisches Vergessen der Unterweisungsstunde ein, wenn jedoch 
die Stunde vorgerückt war, so wurde er körperlich unwohl, Schweißentwick¬ 
lung in der Magengegend trat ein (wie auch vorher schon bei der sexuellen 
Betätigung), zugleich machte sich ein Angstgefühl geltend, das nach Freud 
beim Träumenden wie beim hysterisch erregten Menschen »die unbefriedigte 
Libido sexualis ausdrückt«. Betrügereien und Diebstähle, die er an der 
Mutter verübte, verstärkten die aus dem sexuellen Leben herriilirenden Ge¬ 
wissensbisse (»das sexuelle Trauma«). Wichtig ist dabei, daß das sexuell 
bedingte Schuldgefühl sein Gewissen abstumpfte gegen die übrigen sittlichen 
Vergehen. Aber auch der Gewissensaffekt über diese Vergehen wurde 
— wenigstens teilweise — unterdrückt. 

Nunmehr bildeten sich immer schwerere körperliche Affektionen aus: 
überaus heftige Kopfschmerzen, Verdauungsstörungen, Ohnmachtsanfälle u. dgl. 
Diese, insbesondere der Kopfschmerz, haben nach Pfister die Bedeutung 
von »Abwehrsymptomen« im Sinne der Freudschen Theorie, sie wollen 
das Bewußtsein »vor den schädlichen Reminiszenzen bewahren«. »Das 
Gefühl, an allen Gliedern geschlagen zu sein, gleichzeitig die Empfindung 
eines schweren Druckes, der auf der ganzen Person lastet, spiegelt ... in 
gleicher Weise die Selbstverurteilung, wie die Angst den unterdrückten Ge¬ 
schlechtstrieb.« Während nun der sexuelle Affekt sich seine Abhilfe selbst 
schaffte (teils durch die erwähnten nervösen Abwehrsymptome, teils auf 
dem bekannten natürlichen Wege), kam für das zweite nervöse Trauma 
(die Diebstähle) keine analoge Ableitung zustande, daher mußte es (im Sinne 
der Freudschen Theorie) zu einer sogenannten Konversion kommen, d. h. 
»zu einer pathologischen Ableitung der verdrängten Komplexe in körper¬ 
liche Bahnen. Im vorliegenden Falle drücken die physischen Störungen den 
sie bewirkenden moralischen Defekt symbolisch aus«. Diese symbolische 
Konversion zeigte sich bei Pfisters jungem Manne darin, daß eintrat: Ab- 


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Literaturbericht. * 


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Die Heilung erfolgte nun so, daß zunächst durch religiöse Lektüre und 
Gebet eine sogenannte »Sublimierung« (gewissermaßen eine Idealisierung) 
des inneren Zustandes eintrat: »sicherlich,« so sagt der Verf., »beförderten 
diese religiösen Motive, so dürftig sie auftreten mochten, die günstige Wen¬ 
dung. brachten sie doch die Anfänge jener Reintegration, die wir als ideale 
Überwindung der traumatischen Komplexe, d. h. der aus dem Bewußtsein 
weggedrängten, vom Unterbewußtsein aus störend wirkenden peinlichen Er¬ 
innerungen betrachten müssen, der Sublimierung«. Wichtig ist nun, daß 
diese religiösen Betätigungen aber keineswegs das Leiden überwinden konnten, 
weil »die Befreiung der pathologisch gebundenen Energie durch die voll¬ 
ständige Aufdeckung der peinlichsten Delikte« fehlte. Man sieht hieraus 
deutlich, daß dieser rein intellektuelle Prozeß der Aufdeckung und Beurtei¬ 
lung der sittlichen Vergehungen eine ganz selbständige Bedeutung 
besitzt, die durch nichts anderes ersetzt werden kann! Trotz¬ 
dem konnte der junge Mann den Schulbesuch wieder aufnehmen, zeigte sich 
aber noch sehr auffallend abnorm. 


Zehn Tage nach der Rückkehr in die Schule fand die erste Sitzung bei 
Pfister statt. Sie hatte noch nicht sogleich Erfolg. Nach der zweiten 
Sitzung gelangte A. (so will ich den jungen Mann kurz bezeichnen) dazu, der 
Mutter alles zu gestehen. Trotzdem war er noch lange nicht genesen, seine 
Aufführung im Elternhause blieb eine rohe. Als A. keine Fortschritte machte, 
mußte eine tiefer greifende Psychoanalyse versucht werden, und zu diesem 
Zwecke wendete nun Pfister die jedem Psychologen wohlbekannte 
»Assoziationsmethode« (richtiger »Reproduktionsmethode«) an, in der Weise, 
wie sie von dem Psychiater Dr. Jung für die Zwecke der Freudschen 
Untersuchungen umgearbeitet ist. (Die Methode besteht bekanntlich darin, 
daß man der Versuchsperson beliebige oder nach ganz bestimmten Zwecken 
ausgewählte Worte zuruft, auf welche sie mit dem ersten ihr einfallenden 
Worte zu antworten hat. Nach Dr. Jungs Auswahl der Reizworte scheint 
sich die Methode gut zu Untersuchungen Uber verdrängte Vorstellungskom¬ 
plexe zu eignen: die untersuchten Personen wissen nicht, wozu die Methode 
dient, daher verraten sie durch den Gang ihrer Assoziationen leichter die 
verdrängten Vorstellungskomplexe als beim Ausfrageu; diese drängen sich 
gewissermaßen aus dem Unterbewußtsein hervor.) 

Die Anwendung der Assoziationsmethode ergab nun so günstige Resul¬ 
tate, daß Pfister geneigt ist, die Methode für praktisch erzieherische Zwecke 
sehr hoch zu schätzen. »Zu meiner Überraschung,« so sagt der Verf., »sah 
ich mich plötzlich im Besitze einer Technik, die für die Seelsorge und Er¬ 
ziehung Bedeutendes zu leisten vermag und die nach ihrer wissenschaftlichen 
Ausarbeitung zu einer nicht nur generellen, sondern auch individuellen 


experimentellen Religions- und Moralpädagogik führen wird.« 
Durch Anwendung der Assoziationsmethode, deren Ergebnisse nun Pfister 
ausführlich mitteilt, wurden nämlich zunächst noch eine Menge, daB sittliche 
Bewußtsein des jungen Mannes belastender Vorstellungen hervotgeholt und 
»abreagiert«, d. h. der Beurteilung und dem Gefühl zugänglich gemacht. So¬ 
dann wurden noch eine Anzahl Assoziationsversuche gemacht, fü r die Pfister 
r?ie Reizworte nach dmn Falle seiner Versnchsnersnn andern» fl* hatte. (Es 



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Literaturbericht. 


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A. auf die Reizworte läßt sich in recht interessanter Weise verfolgen. Sie 
geben ihm teils Gelegenheit zur Verurteilung und Bereuung der früheren 
sittlichen Verfehlungen, teils die Gelegenheit zu einer Stärkung des Selbst¬ 
vertrauens, sie werden selbst zu ethischen Leistungen, die ein sittliches 
Hochgefühl bei A. entstehen lassen. Das Selbstvertrauen erwacht wieder 
und die Willenskraft nimmt zu. Ob freilich eine völlige moralische und phy¬ 
sische Heilung eintrat, das ist natürlich, wie auch Pfister Belbst klar er¬ 
kennt, noch keineswegs sicher. Der Verf. schließt denn auch seinen Bericht 
mit den Worten: »Solche Methoden wollen durchaus nicht als eine Art Blitz¬ 
pädagogik angesehen werden, . .. therapeutisch ist so viel gewonnen, daß 
ein frecher, diebischer, religiös und sittlich verwahrloster, durch sittliche 
Konflikte schwer erkrankter Bursche, der sich unter dem Zwang finsterer 
unbewußter Mächte in immer tieferes Elend hineinbohrte, nun ein zärtlicher, 
liebenswürdiger Sohn, ein glücklicher Kämpfer um ein reines edles Leben, 
ein ehrlicher Gottsucher geworden ist.« Sodann erläutert Pfister die Frage, 
wie weit der Erfolg nun den Methoden der Psychoanalyse zu verdanken ist. 
In der Beantwortung dieser Frage entscheidet er sich dahin, daß die Auf¬ 
lösung der »Traumata« (der schädigenden sittlichen Delikte) als die Be¬ 
dingung für das Wirksamwerden der religiös-Bittlichen Motive zu betrachten 
sei. So kommt er zu dem für die Willenserziehung wichtigen »Gesetz«: 
»Eine große Anzahl schwerer und leichter religiös-sittlicher Defekte ist alt* 
Wirkung verdrängter Komplexe, d. h. ungenügend abreagierter peinlicher 
Erlebnisse anzusehen und kann deshalb als psychanalytische Behandlung, 
d. h. durch Überleitung jenes traumatisch wirkenden Vorkommnisses ins Be¬ 
wußtsein und Ableitung mit Hilfe beruhigend wirkender Motive aufgehoben 
werden.« E. Meumann (Leipzig). 


24) Gustav v. Allesch, Über das Verhältnis der Ästhetik zur Psychologie. 

Zeitschrift für Psychol. Bd. 54. 1910. S. 4G1 ff. 

Der Verf. dieser Arbeit will die Richtigkeit der psychologischen Methode 
in der wissenschaftlichen Ästhetik dartun; dies sucht er zu erreichen einmal 
durch eine Kritik an den antipsychologischen Richtungen, sodann durch Bei¬ 
bringung von neuen Argumenten. 

I. Alleschs Kritik richtet sich an erster Stelle gegen Jonas Cohn als 
den Vertreter der normativen Ästhetik. In vier Punkten greift er die 
Cohn sehe Definition des Schönen an: »Das Schöne ist rein intensiver 
Anschauungswert mit Forderungscharakter.« 

1) Allesch greift Cohn an, weil er den Ausdruck »Wert« in 
doppelter Weise gebrauche: einmal ist das Schöne selbst Wert, das andere 
Mal hat es Wert, kommt ihm außer seiner Schönheit auch noch Wert zu. 


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2) Wenn Cohn das Schöne als das Gefallen selbst definiert, wie gewinnt 
er dann den Begriff Anschanungswert? Doch nur so, daß er sich möglichst 
genau ästhetische Reaktionen vergegenwärtigt und dann untersucht, was 
daran an einzelnen Momenten zu finden ist. Er nimmt also den Begriff der 
Anschauung aus der ästhetischen Erfahrung, was schon Fe ebner, Lotze 
und Külpe nachgewiesen haben. 

3) Daß die Schönheit »intensiver Wert« sei, gibt Allesch Cohn zu, 
weil es sich beim Schönen und Gefallen nicht um konsekutive Werte 
handeln kann. Die Großartigkeit eines Gewittersturmes besteht nicht 
nur in der Wirkung auf unsere Empfindung; denn das Gefallen ist nicht das 
Bewußtwerden dieser physiologischen Vorgänge, welche in der Selbst¬ 
beobachtung nicht einmal als die Ursachen unseres Gefallens angesehen 
werden, da jene Wirkungen auch bei genauester Analyse vollständig unbe¬ 
wußt sind. — Auch formale und assoziative Qualitäten berechtigen uns nicht, 
beim Gefallen von konsekutiven Werten zu sprechen. Die assoziativen und 
formalen Qualitäten sind nur Teile des Fundamentes der Gefühlsreaktion. 
Allesch nennt diese Verknüpfung des Gefühlstones mit dem Gefühlston 
der assoziativen und formalen Elemente »Gefilhlsverschraelzung«. Diese ist 
selbst da zu konstatieren, wo die Assoziationen wesentliche Beiträge zur 
ästhetischen Reaktion liefern. Stimmt Allesch zwar in diesem Punkte 
Cohn zu, so zeigt er aber andererseits, daß Cohn bei der Untersuchung 
der ästhetischen Reaktion auf ihre Wertung psychologische Vorgänge unter¬ 
suche, d. h. Psychologie treibe. — An dieser Stelle hätte Allesch nach- 
weisen können, daß die Definition des Schönen als eines intensiven Wertes 
zu eng ist, weil es sich bei den Assoziationen und formalen Qualitäten, die 
er im Vorgang des Gefallens findet, noch um etwas anderes handelt als um 
das Werten. 

Cohn determiniert die Bestimmung der Intensität noch, indem er be¬ 
hauptet, daß die Werte des Guten und Wahren charakteristische Verschieden¬ 
heiten gegenüber dem Ästhetischen hätten, weil »die einzelne Wahrheit erst 
durch ihre Bedeutung für das Gesamtwissen wertvoll wird«, »der gute Wille 
bei seiner Beurteilung nicht aus seinem Zusammenhang zu lösen sei, dagegen 
das ästhetische Objekt sich als ein für sich stehendes, ruhendes Ganze dar¬ 
biete, dessen Wert in ihm selbst liege, nicht in einem Beitrag, den es zu 
einem Ganzen leistet.« Diese Trennung der Immanenz des ästhetischen 
Wertes und der Transgredienz der intensiven Werte des Guten und 
Wahren ist nach Allesch verfehlt, weil das primäre Gute oder Schlechte 
einer Handlung nicht von derartigen Zusammenhängen bestimmt wird nnd 
auch der Wert des Schönen vom Zusammenhang abhängt, in den das schöne 
Objekt eingereiht wird. — Wir können hinzufügen. daß mit dem Wort »in¬ 
tensiv« das Ästhetische gegenüber dem Wahren und Guten nicht abgegrenzt 
ist, es kann nämlich nicht als eine differentia specifica für das Ästhetische 
gelten. — Allesch schließt aus der Unhaltbarkeit der Trennung von Im¬ 
manenz und Transgredienz des Intensiven, daß damit der ganze systematische 
Aufbau der Cohnschen Ästhetik erschüttert nnd daß der Vorwurf hinfällig 
sei, die Psychologie könne die ästhetischen Begriffe nicht abgrenzen. 


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völlig zusammenhingen. Die einzelnen Geschmacksunterschiede in den 
Schönheitsurteilen seien von wenig Belang gegenüber der großen Einheit, 
die sich in einzelnen Schönheiten zur allgemeinen Anerkennung bringen 
läßt. — Wenn Allesch zugeben will, daß sich etwas ähnliches im Ästhe¬ 
tischen finde, so muß Cohn doch noch beweisen, daß der »Forderungs¬ 
charakter«, den er einfach setzt, notwendiger Bestandteil im ästhetischen 
Urteil ist, und zeigen, wie er beim ästhetischen Urteil zustande kommt — Es 
gibt ja auch noch andere Möglichkeiten, z. B. die Steigerung der ästhetischen 
Empfänglichkeit usw. — Auch die Trennung des Schönen vom Angenehmen 
und der »Forderungscharakter« fallen keineswegs zusammen. Denn der 
Psychologe kann mittels der Assoziationen, Urteile, Bewußtheiten usw. die 
beiden Gebiete voneinander zu scheiden suchen. Mit ästhetischen Gefühlen 
sind manchmal Gefühlsempfindungen verbunden, auf die sich das Gefallen 
wesentlich stützt. Wo die Grenzen zu finden sind, welche die rein ästhe¬ 
tischen Gefühle von den Gefühlsempfindungen trennen, ist eine psychologische 
Frage. Mit der Hinfälligkeit der Voraussetzungen fällt auch der Schluß 
Cohns. »Er hat weder bewiesen, daß der Forderungscharakter der einzig 
mögliche Unterschied zwischen dem Angenehmen und Ästhetischen ist, noch 
daß ein solcher Unterschied überhaupt überall und notwendig besteht. Damit 
entbehrt die Behauptung, daß der Forderungscharakter ein Merkmal deB 
Ästhetischen sei, jeder Berechtigung, und auch die daraus hergeleitete Ab¬ 
grenzung der beiden fraglichen Gebiete gegeneinander ist in dieser Weise 
nicht mehr zu verteidigen.« 

Auch die Behauptung, daß das ästhetische Urteil Allgemeingültigkeit 
habe, kann Cohn nur aufstellen, wenn die ästhetischen Urteile entweder 
apriorische oder solche Erfahrungsurteile sind, die sich auf eine ausreichende 
Induktion stützen. Da die ästhetischen Urteile aus der Erfahrung stammen, 
sind sie nicht apriorische. Aber sie sind auch nicht den Urteilen gleich zu 
stellen, die wir etwa in der Physik gewinnen, weil die Zusammenfassung der 
einzelnen Urteile, worauf die Physik beruht, hier nicht möglich ist. Die Ver¬ 
schiedenheit der Urteile, welche einige Ästhetiker zugunsten einer überindi¬ 
viduellen Geltung des Ästhetischen als nichtssagend darstellen wollen, ist so 
schwerwiegend, daß eine analoge Betrachtungsweise zu den Gesetzen der 
Physik unmöglich ist, da ja die ästhetischen Einzelreaktionen von den Wahr¬ 
nehmungsurteilen so grundverschieden sind, während die Abweichungen in 
den Sinnesgebieten eine gesetzmäßige und eindeutige Erscheinungsweise in 
physikalischen Dingen zulassen. (Aus diesem Grunde stellt Allesch die 
Arbeit von Landmann-Kalischer, Über den Erkenntniswert ästhetischer 
Urteile, als verfehlt hin.) 

Zusammenfassend ergibt sich, daß Cohn eine deduktive Behandlung des 
Problems nicht hat zu Ende führen können. Damit ist auch der Versuch 
mißlungen, eine Abgrenzung des Ästhetischen gegenüber anderen Wissen¬ 
schaften auf diese Weise zu finden. 

II. Der zweite Teil der Kritik Alleschs richtet sich gegen Meumann, 
der (in der Festschrift für Heinze 1903) behauptet hatte, daß die Psychologie 


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tischen Reaktionen manchmal gar kein äußereB Objekt notwendig ist; es 
knüpft sich vielmehr das ästhetische Werten an bloße Vorstellungen. Der 
Genießende ist in tausend Fällen auf seine Vorstellungen allein angewiesen. 
Was soll es heißen, in diesen Fällen von objektiven Methoden zu sprechen? 
Der Genuß einer eben empfundenen und bloß vorgestellten Melodie ist 
generell nicht verschieden von dem Genuß einer, die in Wirklichkeit gehört 
ist. Die Kritik an Cohn ergab schon, daß sich das Gefallen zu dem realen 
Gegenstand durchaus nicht in derselben Weise verhalten muß wie die Wahr¬ 
nehmung. Denn im Gefallen gibt es keine allgemeinen Übereinstimmungen 
und darum keine Induktion, und aus dem Gefallen läßt sich darum nicht 
schließen, daß wir mit dem Gefühl direkt und in eindeutiger Weise zu den 
äußeren Gegenständen in Beziehung treten. Objektive Gesetzmäßigkeiten 
und allgemeine Bedingungen des Gefallens decken sich nicht. Wie oft ist 
der Pinsel und die Technik nicht imstande, den ästhetischen Eindruck des 
Künstlers wiederzugeben. »Die Vorstellungen sind also von den objektiven 
Beständen in hohem Maße unabhängig. Diese Vorstellungen richten sich 
nach ästhetischen Gesetzen, die jedoch niemals auch nur die Existenzmög¬ 
lichkeit des gefallenden Dinges als realen Objektes, sei es als Kunstwerk 
oder als Natur, fordern würden.« Ja bei demselben Objekt und bei kon¬ 
stanten Eigenschaften desselben ändern sich die ästhetischen Reaktionen, 
so wie der psychische Habitus sich ändert. Das Gefallen ist eben nicht die 
einfache Wirkung des Gegenstandes wie die Empfindungen, sondern der 
Effekt der von ihnen hervorgerufenen Erscheinungen und der übrigen psy¬ 
chischen Gegebenheiten. Auch in Fällen, wo das künstlerische Wissen hin¬ 
zutritt, wo ein Wissen um die Technik und das Material vorhanden ist, wo¬ 
durch das Kunstwerk dem Betrachtenden zugänglicher wird, schließt sich 
das Gefallen nicht an die kunstgeschichtlichen Tatsachen oder an das Material 
und seine Entstehung; diese sind nur Umstände, Einzelheiten beim Kunst¬ 
werk mehr hervortreten zu lassen. Das Gefallen bleibt immer eine Wirkung 
des psychologischen Komplexes, der sich aus den Wahrnehmungsdaten und 
einer Reihe von Assoziationen zusammensetzt. Die großen Kunstwerke be¬ 
sitzen auch ohne kunsthistorische Kenntnisse in sich eine so eindringliche 
Wirkung, daß sie eine ästhetische Reaktion erzeugen. »Was sich durch ein 
solches Wissen verändern kann, ist allein die Hochschätzung der künst¬ 
lerischen Kraft des Genies. Das ist aber keine ästhetische Schätzung mehr, 
sondern eine Wertung ganz anderer Art, die sich auch gar nicht auf daB 
vorliegende Kunstwerk, sondern auf eine historisch-menschliche Tatsache 
richtet.« Wenn Allesch zu einer möglichst adäquaten ästhetischen Unter¬ 
suchung die Kunstgeschichte herangezogen wissen will, so meint er damit 
nur, daß die Auffassung des Kunstwerkes durch die kunstgescbichtlichen 
Kenntnisse vervollständigt und verfeinert werden kann. Aber zum Gebiet 
der Ästhetik im engeren Sinne gehört die Kunstgeschichte nicht; denn sie 
gibt nur Hilfen zur Ausbildung der Anschauung. 

Gegen Meumann führt er noch die »Vergleichsschönheit« in» Feld: 
Wenn einer Vp. einzelne Farben vorgelegt werden, so erfolgt keine Re¬ 
aktion, und doch kann sie bei zwei Farben sagen, die eine Farbe war schöner 


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Auffassung, ihr Erkanntwerden und die bewußten Beziehungen zu den Er¬ 
scheinungen. Von unserer Anschauung gehen wir aus und ergänzen sie am 
Kunstwerk. Demgegenüber sucht Meumann mit seiner objektiven ästhe¬ 
tischen Methode am Gegenstand selbst ästhetische Prinzipien klarzulegen und 
analysiert dann erst psychologisch: das Wissen um den kunstvollen Gegen¬ 
stand verwandelt sich in ein ästhetisches Erlebnis. Al losch weist diesen 
Übergang vom Wissen zu einem ästhetischen Gefühl als unrichtig ab. — Wir 
fügen hinzu, daß nicht einzusehen ist, weshalb gerade das von dem Wissen 
um das technische und materielle Bedingtsein des ästhetischen Gegenstandes 
das ästhetische Erlebnis durch Assoziationen bereichern sollte. Damit wäre 
die Forderung aufgestellt, alle Assoziationen, die zum ästhetischen Erlebnis 
beitragen, in der Ästhetik zu behandeln. 

Erwähnt sei noch, daß Allesch in dieser Kritik auf den Unterschied 
von Wahrnehmen und Erkennen eingeht und zu dem Schluß kommt, daß 
das Erkennen eine Grundlage und Vorbedingung für eine ganze Reihe von 
ästhetischen Wirkungen ist. Betont soll aber hierbei immer werden, daß das 
unmittelbar Wirksame immer der gegebene Sinnesinhalt selbst ist und nicht 
der darin gedachte Gegenstand. 

Gegen Meumanns »objektive Methode« faßt Allesch noch einmal in 
drei Punkten seine Argumente zusammen: 

li Schon bloße Vorstellungen genügen, um eine vollständige ästhetische 
Reaktion auszulösen, und wir können genau die parallelen Veränderungen 
verfolgen, die an der Reaktion durch Veränderung des Vorstellungsinhaltes 
und seine besonderen Auffassungen bewirkt werden. 

2) Äußere Objekte stehen dort, wo sie vorhanden sind, zum Gefallen in 
keiner näheren Beziehung, als der einer mittelbaren Gelegenheit, im Gegen¬ 
satz zur Existenz des Beschauers, die unbedingt erforderlich ist. 

3) Es wird zwar zugegeben, daß ein Wissen, das Uber die Aufnahme der 
sinnlichen Erscheinungen hinausgeht, für die ästhetische Reaktion in Betracht 
kommt; aber erstens ist es dann nur ein Hilfsmittel, um die Analyse der 
Erscheinungen rascher und bequemer durchzuführen, als es ohne Kenutnisse 
auch geschehen könnte, und zweitens bildet das hinzukommende W T issen eine 
vom Eindruck im Beschauer selbst geforderte Ergänzung des Wahrnehmungs¬ 
inhaltes und ist rein subjektiv begründet. — 

Wie Meumann die Ästhetik auf diese Weise nicht abzugrenzen ver¬ 
mochte, so gelang ihm auch die Kritik an der psychologischen Methode nicht 
Denn er hätte bei der Gefühlspsychologie mit seiner Kritik ansetzen müssen. 
In diesem Teil der Psychologie ist das ästhetische Gefühl noch der besten 
Untersuchung fähig, weil es sich immer wieder hervorrufen läßt. Wenn 
Meumann der Psychologie ferner vorwirft, daß sie das Komische, Tragische, 
das Erhabene nicht scheiden könne, weil sie diese einfach als Tatsache hin¬ 
nehme, so muß er zunächst den Nachweis erbringen, daß dies die von ihm 


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mente für die Forderung einer psychologischen Ästhetik bei. Wenn die ästhe¬ 
tischen Vorgänge sich wesentlich im Bewußtsein abspielen, so ist die Frage, 
ob es der wissenschaftlichen Ästhetik gelingen will, die verschiedenen Re¬ 
aktionsweisen zu erklären und gewisse Gesetzmäßigkeiten im Ästhetischen 
zu konstatieren. 

Es handelt sich bei der Untersuchung der Abgrenzung der Ästhetik nach 
Allesch darum, die Anschauungen, d. h. jene Komplexe von Wahrnehmungs¬ 
und Assoziationsmaterial zu finden, die einem bestimmten Kunstwerk ange¬ 
messen sind, d. h. »die adäquaten Anschauungen«. Weil bei der ad¬ 
äquaten Anschauung sowohl kunstgeschichtliche wie psychologisch-ästhetische 
Untersuchungen beteiligt sind, so ist es zunächst notwendig, unter dem auf 
so verschiedene Weise assoziierten Material die rechte Auslese zu treffen. 
Die Vertreter einer objektiven Methode könnten behaupten, die adäquate An¬ 
schauung ergebe sich, wenn auch nicht schon aus den Erscheinungen, so doch 
aus dem, was in diesen Erscheinungen gemeint sei. Sie vergessen jedoch 
dabei, daß die Kunstwerke niemals so eindeutig sicher und klar ihren Inhalt 
formulieren. Dazu kommt noch die Intention des Künstlers, die oft sehr 
schwer festzustellen ist und immer die Frage offen läßt, ob der Künstler das, 
was er hatte ausdrücken wollen, wirklich ausgedrückt hat. So kann die ad¬ 
äquate Anschauung nur dann auf die Meinung des Künstlers zurückgehen, 
wenn seine Meinung im Kunstwerk die rechte Erfüllung erfahren hat. Ob 
ihm die Erfüllung gelungen ist, das entscheidet wiederum nur unser sub¬ 
jektiver Eindruck, das Erlebnis des Kunstwerkes. Also kann die Meinung 
des Künstlers kein entscheidendes Kriterium für die adäquate Anschauung 
abgeben. Letztere wird auch noch dahin abgegrenzt, daß wir das beim 
künstlerischen Genießen hinzutretende Wissen ordnen und sichten. 

Die adäquate Anschauung kommt durch das Zusammenwirken folgender 
Faktoren zustande: *1) Den Grundstoff bilden die einfachen und genauen 
Wahrnehmungen der gegebenen Sinnesdaten und der zwischen ihnen be¬ 
stehenden Relationen. 2) An Bie schließen sich unmittelbar eine Reihe von 
Vorgängen in der Seele des Beschauers, die als Auffassungen, Einfühlungen 
und ähnliches bekannt sind. 3) Es fordert die so weit gediehene Anschauung 
nun ihrerseits wieder Ergänzungen aller Art. In diesem Material ist alles 
enthalten, was in irgendeiner Weise, vom Künstler oder sonstwie, in den ge¬ 
gebenen Erscheinungen gemeint sein kann.« Um sich vor dem Vorwurf zu 
hüten, als ob alle Assoziationen in das Untersuchungsgebiet der Ästhetik zu 
rechnen seien, will Allesch dieses Material nach zwei Richtungen hin be¬ 
schränkt wissen: Beschränkt wird es erstens durch das Erfüllungsverhältnis, 
d. h. nur die an die gegebenen Erscheinungen angeschlossenen Intentionen 
gehören zu dieser Anschauung. »Dadurch werden z. B. jene so oft. in die 
Anschauung aufgenommenen persönlichen Erlebnisse und Erinnerungen in 
hinreichendem Maße ausgeschaltet und ebenso die Bezugnahme auf ethische 
Prinzipien.« Die Forderung des Erfüllungsverhältnisses stellt Allesch zu- 


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dieser will seine Behauptung nicht so kategorisch auftstellen und zeigt an 
Hjalraar Ekdal (Wildentej, daß »nicht nur das Ästhetische der geschilderten 
Person in dem Gesamtspiel, sondern auch das Ethische seines Charakters 
dargestellt und genossen werden muß, um das Ganze als Kunstwerk zu ver¬ 
stehen. Zu betonen ist also, daß das Ethische nicht als Selbstzweck, son¬ 
dern als Nebenbedingung zu einer Gesamtwirkung auftritt.« — Zweitens 
wird die Anschauung determiniert durch den Einfluß auf das Gefallen des 
in Frage stehenden Gegenstandes, indem man vom ästhetisch Gleichgültigen 
absieht und das ästhetisch Wirksame hervorhebt. Auch das bloße Erfüllungs- 
merkmal reicht nicht aus, wo es sich um das Verstehen eines Stimmungs¬ 
ausdruckes handelt, der nur leise und fein angedeutet ist. Hierin ist die 
Ästhetik am wenigsten fähig, den Relativismus auszuschalten. Der Rela¬ 
tivismus wird beschränkt durch die Interpretation des Kunstwerkes, die 
manchmal zwar verschieden sein kann, aber doch meistens eindeutig ist. 

WennAllesch auch nicht den relativistischen Standpunkt in der ästhe¬ 
tischen Forschung wie etwa Volkelt. in seinem ,System der Ästhetik 4 ver¬ 
tritt. so glaubt er doch, daß trotz der »adäquaten Anschauung« ein gewisser 
Relativismus unvermeidlich sei. Auch bei der Betrachtung des ästhetischen 
Gefühls bleibe dieser Relativismus bestehen. Jedenfalls hat die Ästhetik die 
Aufgabe, den ästhetischen Prozeß zu studieren, und Alle sch hofft, daß die 
Ästhetik schließlich zu der Erkenntnis von Gesetzmäßigkeiten in den Re¬ 
aktionen kommen wird. »Die Ästhetik muß danach trachten, daß gewisse 
seelische Konstellationen mit gewissen Anschauungen verknüpft bestimmte 
Gefühle ergeben.« 

Dies ist der Iubalt der ergebnisreichen Arbeit Alleschs. Wer sie selbst 
liest, wird mehr Überzeugung von den Gedanken des Verf. gewinnen, weil 
er seine Argumente und Kritik mit einer ganzen Menge kuusthistorischer 
Beispiele treffendster Art zu belegen weiß, was der Arbeit äußerst gut zu¬ 
statten kommt und sicherlich zur Lösung der schwierigen Probleme vor¬ 
wärts hilft. Heinrich Wirtz (Bonn). 


25) Oskar Pfister, Die Frömmigkeit des Grafen Ludwig von Zinzendorf. 

Ein psychoanalytischer Beitrag zur Kenntnis der religiösen Subli¬ 
mierungsprozesse und zur Erklärung des Pietismus. (Schriften zur 
angewandten Seelenkunde, herausg. von Sigm. Freud. 8. Heft.) 
Leipzig und Wien, Franz Deuticke, 1910. M. 4.50 (Kr. 5.40). 

Die Schrift Pfisters ist ein höchst interessanter und wegen seiner 
rückhaltlosen Offenheit höchst wertvoller Beitrag zur Psychologie gewisser 
Entartungsformen des religiösen Lebens, insbesondere zum Verständnis der 


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religiöse weltfremde Verständnislosigkeit Zinzendorfs gegenüber den natür¬ 
lichen Trieben des Menschen. 

Pfister gibt zunächst in großen Zügen die Biographie Zinzendorfs. bei 
deren Lektüre man mit dem Verf. bedauert, daß wir nicht mehr aktenmäßiges 
Material über Zinzendorf besitzen, das uns vielleicht noch über manches 
interessante Detail aufklären könnte, z. B. namentlich darüber, wie sich sein 
sexuelles Leben in der Wirklichkeit, nicht bloß das in der Phantasie ab¬ 
spielte. Die Angst vor der Sexualität treibt den Grafen zu einer »Sexual¬ 
verdrängung« im Sinne der Theorie Freuds. Er verheiratet sich zwar trotz¬ 
dem, bleibt aber zu seiner Gattin in einem kalten Verhältnis, sein ganzes 
sexuelles Leben verlegt er in den Verkehr mit Christus, und dieser Ver¬ 
kehr wird in der Phantasie des Grafen in der widerlichsten Weise mit allen 


Details des perversen, vorwiegend homosexuellen Verkehrs ausgestattet, 
teils in sadistischer, teils in masochistischer Form. 

Die religiöse Erotik, in durchweg perverser Form, feiert wahre Orgien 
in seinen geschmacklosen und kindischen Liedern, sie überträgt sich auf 
seine Brüdergemeinde durch die Lieder und die fast noch perverseren Ho- 
milien (Predigten und Ansprachen), sie wird natürlich auch auf die Erziehung 
der Kinder übertragen, die zu dem gleichen widerlich-weichlichen und passiv¬ 
erotischen Wundenknltus (Kultus der Wunden Christi) angeleitet werden, 
unter denen das erotisch ausgemalte Seitenhöhlchen eine Hauptrolle 
Bpielt. 

Besonders wichtig für die Beurteilung des religiösen Lebens ist dabei, 
daß das sittliche Leben des Grafen ein sehr niedriges blieb. Selbst 
seinen besten Freunden fiel sein Mangel an Wahrhaftigkeit auf, seine Nei¬ 
gung zur Heuchelei, sein brutales und jähzorniges Benehmen gegen die 
Untergebenen, der völlige Mangel an Selbstkritik, der dem »Gefühlsmenschen« 
überhaupt zu eigen ist, der Mangel an wahrer Menschenliebe u. a. m. Die 
interessantesten Ausführungen des Werkes sind wohl die, in denen die 
»sublimierte Erotik« Zinzendorfs im Detail geschildert wird, die er in seiner 
»Eruptionsperiode« (im Sinne der Freudschen Theorie) ausbildet. Entsetz¬ 
lich ist das Spielen mit dem Leichnam Christi, mit dem Blut und dem Angst¬ 
schweiß; der Graf dringt immer wieder darauf, dem Verkehr des Gläubigen 
mit Christus die denkbar sinnlichste und sexuellste Form zu geben, er soll 
den Leichengeruch Christi in sich aufnehmen, sich in seinem Blute baden, 
sich in die Seitenhöhle einsaugen (eines der Lieder, in denen dieses Ein¬ 
saugen empfohlen wird, schließt mit einem »prosit-proficiat«), selbst die Ge¬ 
schlechtsteile Gottes werden ausgiebig besprochen und besungen, man soll in 
dem Seitenhöhlchen Christi »wühlen«, es belecken, saugen, »sich einfresBen« usf. 
Selbst bis zur ausgesprochenen Nekrophagie versteigen sich die perversen 
Gefühle des Grafen bei der Betrachtung des Abendmahls. Beinahe ebenso 
widerlich berühren die »Infantilismen«, der gesucht kindliche Ton, der in des 
Grafen und seiner Gemeinde Reden und Liedern vorherrscht; er äußert sich 
besonders in der beständigen Verwendung des Diminutivums. Sehr wichtig 
sind die religionsgeschichtlichen und religionspsychologischen Reflexionen, 


7,11 denen daB Leben Zin 7 ,endnrfs dem Verf. Anlaß eiht_ Nach Albert 

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Formen finden; unter ihnen ist es natürlich die zweite, die wegen ihres 
sexuellen Charakters den Grafen am meisten fesselte. 

Es würde sich lohnen, einige Proben aus den Liedern und Predigten 
Zinzendorfs mitznteilen, denn sie sind von allgemeinem religionspsychologi¬ 
schen oder mehr noch von religionspathologischem Interesse. Doch emp¬ 
fehlen wir mehr die ganze Zusammenstellung des Verf. im Original nach¬ 
zulesen. Sie ist höchst lehrreich. 

Zu bemerken ist, daß das ganze Buch auf der Freudsehen Gefühls- und 
Affekttheorie beruht, doch braucht man kein Anhänger dieser Theorie zu 
sein, um zu der gleichen Grundauffassung zu kommen wie der Verf.: daß 
in Zinzendorf Bich eine Form des religiösen Lebens verkörpert hat, in der 
alle echte und wahre christliche Frömmigkeit verdrängt war durch ein per¬ 
vers sexuelles Leben, das sich in der Form der Sexualgefühle für die Person 
Christi und sein Leiden austobte. 

Das zusammenfassende Urteil des Verf. über Zinzendorfs Religiosität ist 
— wie nach diesen Ausführungen nicht anders erwartet werden darf — ein 
sehr absprechendes. Nach der Auffassung Pfisters solider religiöse Glaube 
dem sittlichen Leben »Glanz, Sicherheit und jene Fülle von Kraft« verleihen, 
»die Jesus zum größten ethischen Reformator der Weltgeschichte . . . ge¬ 
macht hat«. »Gerade die Psychoanalyse, die uns zeigt, wie wir in erster 
Linie nicht von abstrakten Ideen, sondern von Liebeskräften und damit von 
geliebten Personen abhängen, gibt uns das rechte Verständnis für die Sehn¬ 
sucht der anima christiana nach Jesus.« 

»Wie jammervoll hat Zinzendorf diesen grandiosen Aufbau geschändet! 
Indem er die primäre Sexualität ächtet, fällt er in Angst, Weltverachtung, 
Überschätzung der Zeremonie, Entwertung des Ethos zurück. Statt die 
Primärerotik in den Dienst des sittlichen Ideals zu stellen und damit zu 
heiligen, treibt er ihre niedrigsten Komponenten, die sadistischen und 
masochistischen Gelüste, die homosexuellen Begierden, die polymorph per¬ 
versen , die Sinnesorgane einzeln reizenden Triebe usw. ins Innerste der 
Religion und feiert in Form überbetonter Phantasien die unschönsten Orgien, 
die selbst aus der aufgenötigten Reserve des Alters widerlich hervorschim¬ 
mern. So verwüstet er die sittliche Schönheit des christlichen Ehelebens 
ebenso wie die der Frömmigkeit Jesu und verrennt sich in die höchst minder¬ 
wertige ethische Situation, die wir bereits kennen lernten. Zusammenfassend 
müssen wir bekennen: Zinzendorf hat die Religion auf das häßlichste sexua- 
lisiert, der Sittlichkeit aber alle, auch die sublimierte Libido entzogen und 
sie total entwertet. So verfiel der Graf trotz redlichen Strebens dem tragi¬ 
schen Geschick, ein Verderber der Sittlichkeit und der Frömmigkeit zu sein.« 

E. Meumann (Leipzig. 


26) Cesare Lombroso, 
60 Abbildungen. 


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Hypnotische und spiritistische Forschungen. Mit 
Stuttgart, Julius Hoffmann. M. 6.—; geb. M. 7.—. 

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selbst spricht sich in dom Vorwort in sehr charakteristischer Weise Uber die 
Bedenken und das Erstaunen seiner Freunde aus, als er ihnen den Entschluß 
mitteilte, sich der verrufenen Wissenschaft der »Metapsychik« zu widmen. 

Der Inhalt des Werkes ist ein sehr mannigfaltiger. Nachdem zunächst 
in ziemlich eingehender Weise die Erscheinungen des Hypnotismus be¬ 
sprochen worden sind, wird eine lange Betrachtung dem Spiritismus ge¬ 
widmet. Das fiir den Psychologen am meisten Interessante bei diesen Aus¬ 
führungen sind die Experimente, dieLombroso (ähnlich wie übrigens schon 
früher in Frankreich Flammarion) mit allem Aufwand wissenschaftlicher 
Exaktheit und wissenschaftlichen Apparaten ausgeführt hat, um die spiriti¬ 
stischen Phänomene wissenschaftlich zu kontrollieren. Er hat dabei alle 
Mittel der Forschung, wie die Photographie und die graphischen Methoden, 
verwendet und legt besonderen Wert darauf, daß es bei seinen Versuchen 
gelungen ist, die bisher nur im Dunkeln beobachteten Erscheinungen auch 
bei Licht und bei vollkommener Sichtbarkeit des Mediums hervorzurufen. 
Freilich können die mitgeteilten Abbildungen wohl niemanden recht über¬ 
zeugen, denn man kann z. B. bei keiner der Photographien von dem Tisch- 
rücken alle vier Füße des Tisches gleichzeitig sehen, so daß immer die 
Möglichkeit bestanden hat, daß das Medium den Tisch teils mit der Hand, 
teils mit der Fußspitze heben konnte. Ferner trifft es nicht zu, daß die 
Untersuchenden immer ihre Füße auf denen des Mediums hielten (vgl. Ab¬ 
bildung 36); sehr verdächtig sind auch andere Vorgänge, z. B. der, daß das 
Medium die Wage, auf der es sitzt, nur dann bewegen kann, wenn sich sein 
Kleid mit dem Erdboden in Verbindung setzt. Besonders aufmerksam machen 
wollen wir auf die zahlreichen Experimente mit dem bekannten Medium 
Eusapia Paladino in Mailand, die wirklich zu ganz erstaunlichen Leistungen 
befähigt zu sein scheint. Wirklich wertvoll ist das Material, das der Verf. 
Uber die Medien und Magier bei den Wilden, bei den unteren Völkerschichten 
und bei antiken Völkern zusammengestellt hat, und nicht uninteressant ist 
auch der Versuch, die Grundzüge einer »Geisterbiologie« zu entwickeln. 
Auf die Details der Einführungen können wir hier nicht näher eingehen. 
Es sei noch hervorgehoben, daß das Werk mit zahlreichen, technisch zum 
Teil recht guten und klaren Abbildungen ausgestattet ist. 

E. Meumann (Leipzig). 


27) Dr. med. Richard Flachs (Dresden), Die Stellung der Schule zur 
sexuellen Pädagogik. Zeitschrift für Schulgesnndheitspflege. 1910. 
Nr. 12. S. 864 ff. 


Der Verf. wendet sich zunächst gegen die jetzt eingebürgerte Termino¬ 
logie, »sexuelle Aufklärung« der Jugend, nicht um eine »Aufklärung«, 
sondern um Erklärung der sexuellen Vorgänge handle es sieb. 

Sodann wirft er die Frage auf: Haben wir eine befriedigende pädagogische 
Praxis in der schwierigen Frage der sexuellen Belehrung der .Jugend? Er 
verneint diese Frage mit Recht. 


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Literaturbericht. 


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*1) Es ist unmöglich, die Kinder von den Tatsachen des Geschlechts¬ 
lebens fernzuhalten. Deshalb müssen sie damit bekannt werden, und zwar 
in einer Form, welche nicht mit den einfachsten naturwissenschaftlichen Tat¬ 
sachen in Widerspruch steht. 

2) Diese Aufgabe leistet die heutige Erziehung nicht. 

a) Sie wirkt verwirrend auf die kindliche Vorstellung. 

b) Sie reizt durch ihre Verhüllungen die Phantasie und kann zu Ver¬ 
wirrungen führen. 

c) Sie ist eine ungenügende Vorbereitung für das Leben. 

3) Die erste Erklärung geschlechtlicher Tatsachen soll in der Familie 
stattfinden, am besten durch die Mutter, und zwar dann, wenn das Kind zu 
fragen anfängt. Die Hauptaufgaben dabei sind: auf die Fragen des Kindes 
eingehen, sie möglichst einfach erklären, keine Unsicherheit zeigen, alles mit 
Anlehnung an Vorgänge im Pflanzen- und Tierreich und dem kindlichen Auf¬ 
fassungsvermögen angepaßt. 

4) Da bisweilen die Zeit zu solchen Unterweisungen mangelt, vielfach 
auch das Verständnis und die Kenntnis naturwissenschaftlicher Dinge, so 
ist es notwendig, daß die Schule das Haus hierin ergänzt. 

Der naturwissenschaftliche Unterricht soll demgemäß erweitert werden, 
und Fortpflanzung und Zeugung sollen einen größeren Raum einnehmen als 
bisher. 

5) Der Unterricht in Menschenkunde und die damit verbundenen Be¬ 
lehrungen über Zeugung und Fortpflanzung soll der Arzt in höheren Klassen 
und im Lehrerseminar erteilen. 

Er soll ebenso die abgehenden Schüler in angemessener Weise mit einer 
Hygiene des Geschlechtslebens und mit den Gefahren der Geschlechts¬ 
erkrankungen bekannt machen.« E. Me um an n (Leipzig). 


28) Wilhelm v. Gwinner, Schopenhauers Leben. Dritte neu geordnete 
und verbesserte Ausgabe. Mit vier Porträts und einer Steindruck¬ 
tafel. Leipzig, F. A. Brockhaus, 1910. M. 6.—. 

Das Werk von Gwinner über Schopenhauer ist so bekannt, daß es 
keiner Empfehlung mehr bedarf, und es war sehr zweckmäßig, daß es neuer¬ 
dings in verbesserter Ausgabe herausgegeben wurde, wobei der Verf. das 
seit der ersten Auflage in bedeutendem Maße vermehrte biographische Material 
verwertet hat. Manche Ausführungen der ersten und zweiten Auflage, durch 
die der Text belastet und, unterbrochen wurde, hat der Verf. mit Recht weg¬ 
gelassen. Z. B. die Prozeßschriften Schopenhauers aus seiner Berliner 
Periode und den Briefwechsel mit Johann August Becker. 

Der Ausgabe sind vier Bildnisse beigefügt worden. Darunter ein Por¬ 
trät der Mutter aus der Zeit von 1820, das in ganz auffallender Weise die 

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Literaturbericht. 


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Schopenhauers Schädel nach einem Gipsabguß. Sie zeigt die auch auf 
den Bildern hervortretende kolossale Breitenentwicklung des Schädels. Wenn 
ich nicht irre, haben die Maße eine gewisse Ähnlichkeit mit denen des 
Schädels von Kant. E. Meumann (Leipzig). 


29) Ludwig Goldschmidt, Baumanns Anti-Kant. Eine Widerlegung. 

115 S. Gotha, E. F. Thienemann, 1900. M. 2.80. 

Bei aller Anerkennung des sachlichen Charakters der Baumann sehen 
Ausführungen hält Goldschmidt sie in sämtlichen Punkten für verfehlt. 
Vor allem versucht er eingehend die Vorwürfe gegen die Kantsche Raum¬ 
theorie zurückzuweisen. Goldschmidts Standpunkt ist bekannt. Man kann 
die Baumannsche Kritik als ganz unberechtigt ansehen und braucht der 
Auffassung seines Gegners deshalb doch nicht beizustimmen. 

Noch die Notiz, daß ich die Schrift erst in diesem Jahre (1910j zur Be¬ 
sprechung erhielt. Aloys Müller (Bonn). 


30) Paul Deußen, Die Elemente der Metaphysik. 4. Auflage. XLVII, 
284 S. Leipzig, F. A. Brockhaus, 1907. M. 6.—. 

Daß W. Wundt recht hat mit seiner Behauptung, es w r erde wohl nie¬ 
mals der Moment kommen, wo die Metaphysik aus dem menschlichen Denken 
ausgeschaltet sei, da ihr aus zwei starken Wurzeln — der »empirischen« 
und »philosophischen« — stets neue Lebenskraft Zuströme, beweist unter 
anderem auch die kontinuierliche Nachfrage nach guten wissenschaftlichen 
Darstellungen der Metaphysik. Eine solche ist unzweifelhaft diejenige 
Deußens, Professor in Kiel, die erstmalig vor 35 Jahren erschien, sich in 
Übersetzungen — wohl nicht zuletzt ihrer glänzenden Diktion wegen — der 
besonderen Gunst der Engländer und Franzosen erfreut und nunmehr in 
vierter Auflage vorliegt. 

Deußens Gedankengänge bew-egen sich in der Denkrichtung Kants 
und Schopenhauers; gleichzeitig bemüht er sich, die Grundideen des 
Christentums mit denen der Vedanta zu verschmelzen. Dies bedingt einen 
dogmatischen Idealismus, der — eben weil er dogmatisch ist — alles wesent¬ 
lich vereinfacht, aber auch Kants kritizistischem Standpunkte widerspricht. 
Tritt der Leser kritisch an Deußens Buch heran und sieht er besonders 
auch über gewisse psychologische Auffassungen hinweg, wie sie auch in der 
an Ziehen anschließenden Literatur zu finden sind, so wird ihm die Lektüre 
vielfachen Gewinn bringen. Deußen verfügt Uber ein eminentes Wissen 
und ist einer der besten Kenner der indischen Philosophie, als weicher er 

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Literatnrbericht. 


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31) Philosophisches Jahrbuch. Mit Unterstützung der Görresgesellschatt 
unter Mitwirkung von Pohle (Breslau), Schreiber (Fulda), heraus¬ 
gegeben von Konstantin Gutberiet. 23. Bd. Fulda, 1910. 

Das Philosophische Jahrbuch bringt auch in dem vorliegenden Jahrgang 
eine Anzahl Abhandlungen, die für den Psychologen wichtig sind. Unter 
anderem berichtigt der Herausgeber selbst Uber die Kinderpsychologie und 
die experimentelle Pädagogik der neuesten Zeit, wobei natürlich sein spezi¬ 
fisch katholischer Standpunkt hervortritt. Es ist sehr bezeichnend, daß 
Gutberiet sich dabei durchweg in Übereinstimmung mit der Polemik 
weiß, welche Wundt an meinen Ausführungen in dem Werke Intelligenz 
und Wille ausgeübt hat. Es ist nicht gerade sehr erfreulich, den Altmeister 
der Psychologie dabei ganz in Übereinstimmung zu wissen mit der Polemik, 
die Gutberiet vom grünen Tisch aus gegen die »Einseitigkeit« der experi¬ 
mentell psychologischen Pädagogik und »ihre unheilvollen Folgen« ausübt. 

Zu beachten ist ferner die Abhandlung von Muszinski über Tempera¬ 
mente und Charaktere. Ferner die Abhandlungen von Th (ine über eine 
neue Deszendenztheorie. Die meisten übrigen Abhandlungen gehören mehr 
in das Gebiet der allgemeinen Philosophie. In den kleineren Mitteilungen 
sind einige recht interessante Beobachtungen zur Tierpsychologie beigebracht, 
und ebenso wird dort natürlich mit großer Freude festgestellt, daß Herr 
Willy Hellpach ganz ähnliche Bedenken wie Wundt gegen meine Folge¬ 
rungen aus den Experimenten über Übung gemacht hat. Die Mißverständ¬ 
nisse, die dieser Polemik zugrunde liegen, sind derartige, daß es mir nicht 
der Mühe wert erscheint, darauf einzugehen. Recht interessant ist, daß sogar 
Hellpach glaubt, mich verteidigen zu müssen gegen den Vorwurf Wundts, 
daß ich einen Rückfall in die Vermögenspsychologie begangen hätte. Auch 
Hellpach hat eingesehen, daß man noch lange nicht Vermögenspsychologie 
treibt, wenn man Begriffe wie Gedächtnis und Phantasie »in der alther¬ 
gebrachten Weise auseinanderhält«, und daß es überhaupt gar keine 
andere Möglichkeit gibt, der Psychologie der individuellen Differenzen 
gerecht zu werden. Noch interessanter ist, daß die Ausführungen von 
Wundt hier von seiten der katholischen Pädagogik auf eine Linie gestellt 
werden mit der Polemik gewisser Herbartianer, die gefordert haben, daß 
man die Experimente in der Schule verbiete »und dies besonders in jedem 
Lehrplan vermerke«. Wundt, Gutberiet, Hellpach und die Herbar¬ 
tianer die gleichen Warnungen vor meinen Folgerungen aussprechen zu sehen, 
das ist ein eigenartiges Schauspiel. E. Meumann (Leipzig). 


32) Detleff Neumann-Neu rode (Oberleutnant an der Unteroffizierschule 
in Potsdam), Kindersport. Körperübungen für das frühe Kindes¬ 
alter. 79 S. Berlin W. 30 (Hermann Walther, Verlagsbuchhandlung. 
G. m. b. H.), 1910. M. 2.—. 


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Literaturbericht. 


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Körpers, die Gewandtheit soll früh entwickelt und der sogenannte Schneid 
ganz allmählich zur Gewohnheit werden, es ist aber nicht die Ausbildung 
von Akrobaten vorgesehen« (S. 6). Außer allgemeinen Ratschlägen, die sehr 
vernünftig und wohl zu beherzigen sind, gibt das Büchlein einige 60 photo¬ 
graphische Aufnahmen mit entsprechenden Bemerkungen. Berücksichtigt 
sind Übungen für Kinder, die noch nicht, und' solche, die sicher laufen 
können, und zwar handelt es sich dabei um die Ausbildung sämtlicher 
Muskelgruppen durch jedeBmal angepaßte Bewegungen, zunächst passiver, 
dann aktiver Natur. Meine Anzeige will ich enden mit dem Schlußsatz von 
Klapps Vorwort: »Da es bis jetzt an einem Turnbuche für das Alter fehlt, 
in welchem die Kinder am besten nur unter sorgsamer Aufsicht turnen, so 
wird sich das vorliegende kleine Buch bald Freunde erwerben.« 

Paul Menzerath (Brüssel). 


33) Erich Ziebarth, Aus dem griechischen Schulwesen. Leipzig, B. G. 

Teubner, 1909. M. 4.—. 

Die vorliegende Schrift stellt einen besonders wertvollen Beitrag zur 
Geschichte des Erziehungswesens dar, weil der Verf. Wege zur Aufhellung 
des griechischen Schulwesens betritt, die von den üblichen dnrchaus ab¬ 
weichen. Es sind nicht pädagogische Theoretiker, aus denen er schöpft, 
sondern antike Urkunden, Urkunden im weitesten Sinne des Wortes: die 
Urkunde der milesischen Schulstiftung des Eudemos, im Anschluß an die 
andere Schulstiftungen mitgeteilt werden, deren Schauplatz hauptsächlich 
Athen ist, endlich benutzt der Verf. die erhaltenen Reste der Bauwerke an¬ 
tiker Gymnasien und umfangreiches inschriftliches Material, um zahlreiche 
bisher unbekannte Verhältnisse des griechischen Schulwesens zu erläutern. 

Den äußeren AnBtoß zu der Schrift haben wohl die eigenen Arbeiten 
Ziebarths bei den Ausgrabungen in Milet (von 1904 an) gebildet. Bei 
dieser Gelegenheit wurde er auf die Inschrift aufmerksam, welche die Schul¬ 
stiftung eines Eudemos mitteilt, und faßte zunächst den Plan, diese be¬ 
sonders zu bearbeiten. Hierzu fand sich bald weiteres Material, das den 
Verf. veranlaßte, »ein zusammenfassendes Bild dieser großen Inschriften¬ 
gruppe zu versuchen, zu welcher die zahlreichen neuen Reste von schrift¬ 
lichen Denkmälern aus der antiken Schulstube eine sehr erwünschte Er¬ 
gänzung bildeten«. (Unterstützt wurde der Verf. dabei durch die BUcher- 
schätze der Hamburger Stadtbibliothek und bei seinem Aufenthalt in Milet 
durch die Oberschulbehörde in Hamburg und ihren Präses Herrn Senator 
v. Melle.) 

Zuerst wird die Schulstiftung des Eudemos von Milet im griechischen 
Originaltext und mit deutscher Übersetzung mitgeteilt. Sie wirft manches 
interessante Licht auf die Bedingungen für die Bewerbung der Eiementar- 

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Literaturbericht. 


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Zahlreiche wichtige Details des griechischen Schullebens behandelt so¬ 
dann das vierte Kapitel »Aus griechischen Schulen«. Die großartigen Schul¬ 
anlagen der Gymnasien von Pergamon werden geschildert; wir lernen kennen 
die Urkunden über Schülerlisten, die Klasseneinteilungen, die Schülerverbin¬ 
dungen, die Turn- und Fechtvereine, die Schülerinschriften, welche die Wände 
der Schulen und anderer öffentlicher Bauten bedecken, die Schülerstationen, 
den Unterrichtsbetrieb und vieles andere Interessante mehr. 

Angehängt ist dem Buche ein Sachregister und ein Verzeichnis der be¬ 
handelten Urkunden. E. Meumann (Leipzig,!. 


34) Paul Carus, Our Cbildren hints from Practical Experience for Parents 
and Teachers. Chicago, The open Court Publishing Company, 
1906. 

Es ist keine eigentliche Kinderpsychologie im landläufigen Sinne des 
Wortes, was der Verf. bietet, sondern eine Reihe anspruchsloser Skizzen, 
hervorgegangen aus Beobachtung und Lektüre über das kindliche Seelen¬ 
leben. Sie sind besonders geeignet zum Studium für Eltern und Erzieher. 
Aus dem Inhalt des Buches sei noch erwähnt, daß er sich mit zahlreichen 
Fragen beschäftigt, die sonst in ähnlichen Werken vernachlässigt zu werden 
pflegen, w'ie das Lesen, das Rechnen, die sprachliche und musikalische Er¬ 
ziehung des Kindes, die gegenseitige Erziehung der Kinder u. a. m. 

E. Meumann (Leipzig). 


36) Klinik für psychische und nervöse Krankheiten. Herausgegeben 
von Robert Sommer. Halle a. S., Carl Marhold, 1909 und 1910. 
IV. und V. Band. 

Die obengenannte Zeitschrift bringt fast in jeder Nummer Abhandlungen, 
die auch für den Psychologen und Pädagogen von Wichtigkeit sind. Unter 
anderen sei aufmerksam gemacht auf eine Abhandlung von Klett über die 
graphische Darstellung der Stirnmuskelbewegung, auf die Abhandlungen von 
Berliner über die Begutachtung paranoischer Geistesstörungen; von Todt: 
Zur Lehre von den Halluzinationen; von Mönkemöller: Geschichtlicher 
Beitrag zur Klinik des primären Schwachsinns (Dementia praecox); von 
Becker: Pseudologia phantastica und Simulation. 

E. Meumann (Leipzig). 


36) Bericht über den 4. Kongreß für experimentelle Psychologie 
in Innsbruck (vom 19. bis 22. April), herausgegeben von F. Schu¬ 
mann. Leipzig, Ambrosius Barth. M. 11.—. 


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Literaturbericht. 


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rieht Spearmanns über eine neue Korrelationsformel; Lipmanns Vortrag 
über visuelle Auffassungstypen; Exners kurze Ausführungen über die Er¬ 
werbung erworbener Eigenschaften und Cohns Untersuchungen über Ge¬ 
schlechts- und Altersunterschiede bei Schülern. 

Aus dem Vortrag von Lipmann mag erwähnt werden, daß er nach 
eigenen Experimenten empfiehlt, nicht bloß von einem visuellen Typus 
schlechthin zu reden, sondern mehrere Unterarten desselben zu unterscheiden, 
z. B. einen Formen-, Farben- und Helligkeitstypus. Es erscheint aber doch 
etwas gewagt, nun manche Künstler diesen Typen unterzuordnen, z. B. Raffael 
dem Formentypus, Tizian dem Farbentypus, Rembrandt dem Helligkeitstypus; 
denn zweifellos repräsentiert Rembrandt auch den Farbentypus, ganz abge¬ 
sehen von anderen, rein kunstgeschichtlichen Bedenken. 

Recht interessant versprechen die Untersuchungen von J. Cohn über 
die Geschlechts- und Altersunterschiede bei Kindern zu werden, Uber die 
allerdings bis jetzt nur eine kurze Mitteilung vorliegt. 

Cohn machte gemeinsam mit Dieffenbacherin Freiburg Untersuchungen 
über das Gedächtnis Für Zahlenreihen nach der Methode des unmittelbaren 
Behaltene (auch Cohn nennt diese Methode mit dem unrichtigen Ausdruck: 
Methode der behaltenen Glieder; es handelt sich aber dabei gar nicht um 
das Behalten von Gliedern, sondern um das Behalten eines Ganzen, genau 
so wie beim Lernen; die Vp. bemühen sich, das Ganze als Ganzes einzu¬ 
prägen, ja es ist für einen gewissen Typus des Behaltene charakteristisch 
daß er gerade das Ganze und nicht »die Glieder« zu behalten sucht). Ge¬ 
prüft wurde das Gedächtnis für Zahlenreihen, angewandt wurde ferner die 
Ebbinghaussche Ergänzungsmethode (so nennt sie auch Cohn mit Recht 
statt »Kombinationsmethode«), eine Bildbeschreibung mit Bericht und Verhör 
(nach Sterns Bezeichnung) und zwei Versuche über Konzentration der Auf¬ 
merksamkeit bei Ablenkung (Dilatation der Aufmerksamkeit). 

Unter den Resultaten werden nur die den Alters- und Geschlechtsunter¬ 
schied betreffenden erwähnt. 

Beim Zahlenlernen zeigte sich ein deutlicher Altersfortschritt bei den 
Knaben nur bis zum sechsten Schuljahr »nachher traten Schwankungen auf«. 
»Bei den Mädchen dagegen hielt der Fortschritt bis obenhin an.« Der 
Ebbinghaussche Ergänzungsversuch« erwies sich als ein ganz vortreffliches 
Mittel zur Untersuchung gewisser Funktionen des intellektuellen Lebens. 
Er zeigt einen im großen und ganzen recht regelmäßigen Fortschritt der 
Leistung mit dem Alter, einen Fortschritt, der sich natürlich vom 16. Lebens¬ 
jahr an verlangsamt, aber bis über das 19. hinaus deutlich bleibt«. Die 
Mädchen blieben bei diesen Prüfungen durchweg erheblich hinter den Knaben 
zurück, nur für das Lebensalter von 11 bis 12 Jahren kehrt sich dieses Ver¬ 
hältnis um. Die höheren Mädchenklassen bleiben sehr erheblich hinter den 
Oberklassen der Oberrealschule zurück. 

Ein Vorzug der Mädchen zeigt sich bei der BildbeBchreibung und Aus- 


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Literaturbericht. 


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Bei den Versuchen über die Dilatation der Aufmerksamkeit wurde die 
Methode von Binet angewandt, gleichzeitig lesen und schreiben zu lassen. 
(Vgl. die frühere Arbeit von Cohn und Gentin der Zeitschrift für angew. 
Psychol. I.) Für die untersten der untersuchten Klassen (zweites und viertes 
Schuljahr) >ergaben sich sehr stark verlängerte abgelenkte Zeiten, weil hier 
Lesen und Schreiben noch wenig eingeübt und mühevoll sind. Vergleichbar 
werden die Resultate erst vom sechsten Schuljahr ab«, und in den mit¬ 
geteilten Zahlen zeigt sich nun das sonderbare Resultat, daß das sechste und 
achte Schuljahr den späteren in der Wiederstandsfähigkeit der Aufmerksam¬ 
keit gegen die Dilatationsreize überlegen sind. 

Über die Ergebnisse der Versuche mit den Aufsätzen teilt Cohn nur mit. 
daß die Mädchen sich an Umfang der Leistung und an stilistischer Gewandt¬ 
heit den Knaben überlegen zeigten. 

K. Bühler teilt Gedächtnisversuche mit, bei denen zunächst (genau wie 
der Unterzeichnete das schon vor Jahren versucht hat, vgl. Vorlesungen über 
experimentelle Pädagogik, Bd. I, S. 189) Wortreihen verwendet wurden, bei 
denen die Wirkung bestimmter Arten bewußter Beziehungen auf das Be¬ 
halten untersucht wurde. Da es aber nicht gelang, die einzelnen Beziehungen 
zu isolieren, so ersann Bühler ein räumliches Schema, an dem nun die 
Gedächtnisversuche gemacht wurden. In der Diskussion ergab sich, daß 
Twardowski in Lemberg und G. E. Müller in Güttingen schon ähnliche 
Ideen hatten ausführen lassen. 

Unter den zusammenfassenden Referaten möge besonders das von Herrn 
Dr. Ranschburg in Budapest erwähnt werden, das in außerordentlich 
instruktiver Weise die Ergebnisse der experimentellen pathologischen Ge¬ 
dächtnisforschung zusammenstellt und kritisch betrachtet. 

E. Meumann (Leipzig'. 


37) Bericht Uber den 6. internationalen Kongreß für Psycho¬ 
logie in Genf (unter dem Vorsitz von Th. Flournoy), herans- 
gegeben von Ed. Claparede. Genf, Verlag von Kündig, 1910. 
Fr. 20.—. 

Der Bericht zeigt durch seinen außerordentlich großen Umfang (869 Seiten), 
wie groß die Arbeit gewesen ist, die auf dem Kongreß bewältigt wurde. Ein 
ausführliches Inhaltsverzeichnis und Namenregister erleichtern den Gebrauch 
des umfangreiches Werkes. Einzelne Autoren haben ihre Mitteilungen durch 
Abbildungen erläutert, so daß im ganzen der Text durch 21 Figuren belebt ist. 

E. Menmann (Leipzig). 


38) Enzyklopädisches Handbuch des Kinderschutzes und der 
Jugendfürsorge, herausgegeben unter Mitwirkung hervorragender 
Fachleute von Th. Heller, Fr. Schiller und M. Tanbe. 8°. In 
10 Lieferungen von 5 Bogen, jede Lieferung zu M. 3.— oder in zwei 
Bänden, ereheftet M. 30.—: in zwei Bänden in Leinenband M. 33.—. 


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Literaturbericht. 


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Lieferung vor. Sie enthält eine Reihe ausgezeichneter Artikel, die auch für 
den Psychologen und Pädagogen in Betracht kommen. Wir erwähnen von 
diesen den Artikel von Stern (Breslau) zu dem Stichwort Aussage des 
Kindes. Ferner »Altersstufen«, unter welchem Stichwort sowohl die 
pädagogische, wie die straf- und die zivilrechtliche Seite der kindlichen 
Altersstufen behandelt wird. Sexuelle Aufklärung, von Altschul. Erb¬ 
liche Belastung, von H. Vogt. Belohnungen, von Kemsies. Be¬ 
rufsbildung, von Petersen. 

Über den Inhalt wichtigerer Artikel werden wir mit dem Fortgang des 
Werkes wiederholt berichten. 

Was die Tendenz des Unternehmens betrifft, so sei aus dem Vorwort 
das Wesentlichste darüber mitgeteilt: »Es ist kaum zwei Dezennien her, daß 
Kinderschutz und Jugendfürsorge in den Vordergrund des allgemeinen Inter¬ 
esses getreten sind. Wohl hatte man früher schon in der öffentlichen Für¬ 
sorge und privaten Liebestätigkeit für die Jugend eine wichtige humanitäre 
Aufgabe erblickt; aber systemlos, ohne innere Zusammenhänge, ohne geeignete 
Gesetzesvorschriften konnten diese Bestrebungen nicht znr gedeihlichen Reife 
kommen. Der gewaltige Fortschritt der letzten Jahrzehnte besteht darin, 
daß die Gesellschaft die Fürsorge für arme, kranke, mißhandelte, gefährdete 
und verwahrloste Jugendliche als eine soziale Notwendigkeit erkannt hat, 
von der das Wohl und Wehe der kommenden Geschlechter und damit des 
ganzen Volkes abhängt. Man hat einsehen gelernt, daß durch philanthropische 
Maßnahmen allein die großen sozialen Aufgaben der Jugendfürsorge nicht 
bewältigt werden können. Zu den praktischen Bestrebungen traten die 
theoretischen Forschungen, und erst diese schufen die Grundlage für eine 
planmäßige Arbeit im Dienste der Jugend. Je weiter aber die Forschung 
vordrang, um so größer mußte sich das Gebiet des Kinderschutzes und der 
Jugendfürsorge gestalten. Immer neue Probleme traten heran, immer um¬ 
fassender wurden die Aufgaben der privaten und öffentlichen Fürsorge. 
Dem einzelnen nicht mehr übersehbar, wird ein Wegweiser auf diesem weiten 
Felde edelster menschlicher Betätigung dringend notwendig. 

Das vorliegende Werk ist unter der Mitwirkung zahlreicher hervor¬ 
ragender Fachleute entstanden. Es hat sich die Aufgabe gestellt, eine Über¬ 
sicht über das ganze Gebiet der Jugendfürsorge zu geben, festzulegen, was 
bereits erreicht ist, zu zeigen, was 'hoch zu erstreben bleibt. Die Probleme 
des Kinderschutzes und der Jugendfürsorge werden von allen Seiten be¬ 
leuchtet, so daß unschwer zu erkennen ist, wo die Theorie weiter zu schaffen 
hat, wo gesetzliche Maßregeln nötig sind, wo die praktische Hilfstätigkeit 
vornehmlich einzusetzen hat, wo noch organisatorische Arbeit zu leisten ist. 
Diese vielseitige Betrachtungsweise bietet den Lesern Gelegenheit, ver¬ 
schiedene Auffassungen der Autoren kennen zu lernen und Bich auf Grund 
der mitgeteilten Tatsachen eigene Meinungen zu bilden. Es wird daher nicht 
als Fehler angesehen werden dürfen, wenn zu gleicher Sache zwei oder selbst 


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Ans Zeitschriften. 


Sigmund Freuds Bemühungen um die wissenschaftliche Erörterung 
seiner Theorien haben zur Gründung einer neuen Zeitschrift geführt, dem 
»Zentralblatt für Psychoanalyse, medizinische Monatsschrift für 
Seelenkunde«. Herausgeber Prof. Dr. Sigmund Freud, Schriftleitung: 
Dr. Alfred Adler, Wien, und Dr. Wilhelm Stekel, Wien. Zahlreiche 
bekannte Autoren haben ihre Mitwirkung zugesagt. Jährlich erscheinen 
12 Hefte. Jahrespreis M. 16. Wiesbaden, Verlag von J. F. Bergmann. Der 
Inhalt des ersten Doppelheftes sei hier mitgeteilt: 

An unsere Leser (Mitteilungen der Schriftleitung über das Programm 
der Zeitschrift). 

Originalarbeiten: I. Die zukünftigen Chancen der psychoanalyti¬ 
schen Therapie. Von Sigmund Freud. — II. Die psychische Behandlung 
der Trigeminusneuralgie. Von Dr. Alfred Adler in Wien. — III. Zur 
Psychologie des hysterischen Madonnenkultus. Von Dr. Oskar Pfister, 
Pfarrer in Zürich. 

Mitteilungen: I. Der Neurotiker als Schauspieler. Von Dr. Wil¬ 
helm Stekel. — n. Ein Beispiel von Versprechen, (ei — bei — brei — blei.) 
Von Dr. Wilhelm Stekel. — III. Beispiele des Verrats pathogener Phan¬ 
tasien bei Neurotikern. Von Sigm. Freud. — IV. Typisches Beispiel eines 
verkappten Ödipustraumes. Von Sigm. Freud. — V. Zur Differential¬ 
diagnose organischer und psychogener Erkrankungen. Von Dr. Wilhelm 
Stekel. 

Referate, Kritiken und Grenzgebiete. 


Die Schriften der Physikalisch-ökonomischen Gesellschaft 
zu Königsberg i. Pr. enthalten auch psychologisch interessante Abhand¬ 
lungen. — Im 1. Heft des 51. Jahrganges (1910) berichtet Kaufmann über 
die Grenzen der optischen Abbildung. Herr Kaufmann zeigte, daß 
für die Leistung eines Fernrohres oder Mikroskopes nicht allein die Ver¬ 
größerung maßgebend ist, durch welche dem Objekt diejenigen Dimensionen 
gegeben werden, die zur Erkennung durch das Auge notwendig sind, son¬ 
dern daß es auch darauf ankommt, daß das Bild die nötige Schärfe und 
Deutlichkeit besitzt, im ferneren Strukturen, deren Abstand das Auge bereits 

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Literaturbericht 


Beiträge zur Frage nach dem Ursprung und der Entwicklung der Kunst. 

I. 


Von Richard Hellmuth Goldschmidt (Leipzig). 


1) K. Lamprecht, Zur Universalgeschichtlichen Methodenbildung; 

XXVII. Bd. der Abhandlungen der Philol. -Histor. Kl. der Kgl. 

Sachs. Gesellschaft der Wissenschaften Nr. H. Leipzig, B. G. 

Tenbner. 

2) August Schmarsow, Anfangsgriinde jeder Ornamentik. Zeitschrift 

für Ästhetik und allgem. Kunstwissenschaft . . . Dessoir; 1910; 

V, 1 und 3. 

(1) Im ersten Teile seiner Abhandlung schildert Lamprecht die Auf¬ 
gabe der modernen universalgeschicbtlichen Forschung. Es ist zunächst 
»eine empirische Umschau über die Höhen der von der Geschichtswissenschaft 
gewonnenen kritischen Ergebnisse« zu geben, »und aus dieser Umschau 
heraus sind Hypothesen über den Gesamtverlauf dieser Entwicklung zu 
bilden. Mit diesen Hypothesen, die alsbald eine Fülle neuer Problem¬ 
stellungen ergeben werden, ist dann an die Geschichte des Einzelverlaufes 
heranzutreten . . .« Die dringlichste und schwierigste Aufgabe ist »die rich¬ 
tige Hypothesenbildung«. Um aber das gewaltige sich darbietende Material 
bewältigen zu können, bedarf es der Isolierung, für die es ein doppeltes 
Prinzip gibt: »die isolierende Betrachtung des nationalen Verlaufes und die 
isolierende Betrachtung des Verlaufes der einzelnen Kulturzweige innerhalb 
eines gegebenen nationalen Ganzen«. Mit der danach ersten Aufgabe mußte 
begonnen werden und ist längst begonnen worden. Die in der zweiten Auf¬ 
gabe geforderte »vergleichende Untersuchung der verschiedenen Kulturzweige 
— und zwar aller ohne Ausnahme! — in der Entwicklung einer und der¬ 
selben menschlichen Gesellschaft« hat zuerst Lamprecht selbst in seiner 
»deutschen Geschichte« durchgeführt. »Im vorliegenden Falle halte ich durch 
meine eingehende Darstellung der deutschen Geschichte zunächst für deren 
Verlauf die Auffassung für unbedingt gesichert, daß sich in der menschlichen 


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Literarurbericht. 


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der Darstellung hatten indes »alle Einzelvorstellungen Uber die einzelnen 
Zeitalter, abgesehen von einer Kernvorstellung (Symbolismus, TypismuB* 
Konventionalismus, Individualismus, Subjektivismus)« vorderhand offen zu 
bleiben; nur noch für den »Übergangsmechanismus eines sozialpsychischen 
Zeitalters in ein anderes« wurde in Form von Spezialhypothesen eine volle 
Theorie gewonnen. 

Im zweiten Teile seiner Abhandlung spricht Lamprecht über die nun¬ 
mehr vorzunehmenden »universalgeschichtlichen Studien«. Es müssen »zwei 
große Phasen vergleichender Geschichte passiert werden . ..: die Phase des 
Vergleiches einzelner Entwicklungszweige bei verschiedenen, schließlich allen 
Nationen, und die Phase des Vergleiches ganzer nationaler Gesamtentwick¬ 
lungen untereinander«. Mit der ersten Phase ist zu beginnen. Und unter 
den Kulturzweigen ergibt sich »das Feld der Phantasietätigkeit als vor allem 
lohnend. Es besteht zunächst kein Zweifel darüber, daß starke Phantasie¬ 
tätigkeit ein Charakteristikum primitiver Kulturen ist, ja sie häufig, im Ver¬ 
gleich zur intellektuellen Tätigkeit, fast beherrscht. ..« Diesem Satze gegen¬ 
über darf der Psychologe seine Bedenken äußern, denn der zugrunde liegende 
Begriff Phantasietätigkeit kann nur durch psychologische Einsicht gewonnen 
werden. Ohne daß an diesem Ort eine Analyse der Phantasietätigkeit re¬ 
kapituliert werden müßte, darf hervorgehoben werden, daß die Phantasie 
nicht als Seelenvermügen zu denken ist, daß vielmehr die Phantasietätigkeiten 
der Menschen je nach ihrer Kultur sehr verschiedenartig sind, und daß diese 
verschiedenen Phantasietätigkeiten, als qualitativ verschieden, zunächst un¬ 
vergleichbar sind; ein tertium comparationis müßte erst durch besondere 
Analyse gewonnen werden. Um ferner die Bedeutung der Phantasietätigkeit 
im Seelenleben eines Menschen von primitiver Kulturstufe richtig bewerten 
zu können, ist allein die Mannigfaltigkeit von Phantasieäußerungen auf dieser 
Kulturstufe zu beachten; dabei ist die oft schwierige Abstraktion zu voll¬ 
ziehen von den Eigenschaften dieser Phantasieäußerungen, gerade uns phan- 
taBievoll oder phantastisch zu erscheinen. Dem Ethnologen oder dem Völker¬ 
psychologen nun, der in diesem Sinn das Material einer bestimmten primi¬ 
tiven Kultur bearbeitet, wird dabei nach mannigfachen bisherigen Erfahrungen 
eine Armut in der Mannigfaltigkeit von Phantasieäußernngen aufstoßen. 
Freilich ist demgegenüber zu erwägen, was etwa der Spärlichkeit des Mate¬ 
rials auf Rechnung zu setzen ist; und vor allem ist zu bedenken, daß uns 
vielleicht geringfügig erscheinende Variationen in den Phantasieäußerungen 
für ein primitiveres Bewußtsein sehr bedeutungsvoll sein können. Die nach 
vorstehendem zu fordernden, an Einzeluntersuchungen sich anschließenden 
Diskussionen liegen nicht vor, so daß die berührte Frage ihrer definitiven 
Beantwortung noch harrt. 

Innerhalb des Gebietes der Phantasietätigkeit wählte Lamprecht als 
erstes Arbeitsfeld für die Fortsetzung seiner universalgeschichtlichen Studien 
die bildende Kunst, insbesondere die Bildnerei und die zeichnenden Künste, 

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Literaturbericht. 


63 


Perioden nahezntreten haben.« Die danach zunächst sich ergebenden Unter¬ 
suchungen behandelt Lamp recht im dritten und zugleich letzten Abschnitt 
seiner Abhandlung. Ein hierfür besonders geeignetes Material »wurde in der 
chinesischen Tradition gefunden; sie umfaßt filr die Zeiten vom Symbolismus 
bis zum Individualismus zur Geschichte des Ornamentes . . . mehr als 
3000 Denkmäler . . ., die nach der chinesischen Chronologie etwa das 
17. Jahrhundert v. Chr. bis 2. Jahrhundert n. Chr. decken und deren geord¬ 
nete Publikation die chinesische Wissenschaft schon im 12. Jahrhnndert n. Chr. 
besorgt hat«. Für die Arbeiten wurde die »ornamentale Tradition in ihre 
einzelnen Elemente: lineare Motive, Motive der Tierornamentik wie Drachen, 
Löwen, Paradiesvögel usw., pflanzliche Motive usw. zerlegt«, und dann wur¬ 
den die Einzelornamente »nach dem Prinzip des zunehmenden Deutlicher¬ 
werdens des gemeinten Bildes geordnet«, so daß die so aufgestellten Reihen 
»dem in der deutschen Geschichte aufgefundenen generellen Entwicklungs¬ 
prinzip der zunehmenden Intensivierung der Eindrücke und speziell auch 
den allgemeinen Erfahrungen in der Entwicklung der deutschen urzeitlichcn 
Ornamentik entsprachen«. Die gefundenen Einzelomamentreihen stimmten 
untereinander, sie stimmten ferner in ihrer Abfolge mit den freilich nur un¬ 
gefähr. nämlich nach Dynastien gegebenen chinesischen Daten und stimmen 
mit der Formenentwicklungsreihe der Gegenstände, meist Vasen, auf denen 
die Ornamente angebracht waren. Die Vergleichung der bis jetzt für die 
germanische und die chinesische Ornamentik vorliegenden Entwicklungsreihen 
»kann nun in sehr verschiedenem Sinne vorgenommen werden: sie kann sich 
auf die Abfolge der einzelnen Perioden und den inneren Charakter der Ab¬ 
folgeordnung beziehen; sie kann die ästhetischen Prinzipien festzustellen 
suchen, nach denen in dem einen und in dem anderen Falle die Durch¬ 
bildung der Ornamente und deren Einordnung in einen gegebenen Raum 
erfolgt ist; sie kann Zahl und Charakter der ornamentalen Substrate aus 
Tier- und Pflanzenwelt ins Auge fassen; sie kann den Mechanismus der 
künstlerischen Fortbewegung suchen: und noch tausend andere Probleme 
stehen ihr offen. Und dabei handelt es sich in den meisten Fällen um Dinge, 
die alsbald ganz tief in elementare Fragen des Völkerwerdens einführen«. 
Die vorstehenden Bemerkungen über Untersuchungen Lamprechts und 
seiner Schüler zeigen zur Genüge, daß der Psychologe, besonders der Völker- 
psychologe, darin viel fundamental wichtiges Material finden kann, so z. B.: 
»Eine vergleichende Durchprüfung der ästhetischen Prinzipien der Raurn- 
behandlung und der ornamentalen Umbildungsprinzipien gegebener Objekte 
bei Chinesen und Germanen hat herausgestellt, daß diese Prinzipien bei 
beiden Völkern auf gleicher entwicklungsgeschichtlicher Grundlage nach 
Motiven verschieden sind, deren Differenz sich aus der Verschiedenheit des 
noch heute bestehenden Rassencharakters erklärt.« Eine kritische psycho¬ 
logische Behandlung solcher Thesen und des zugrunde liegenden Materials 
kann nur an Hand der Einzeluntersuchungen erfolgen; gelegentlich der Be¬ 
sprechung einer im Erscheinen begriffenen Abhandlung Uber die »Stilprinzi¬ 
pien der primitiven Tierornamentik bei Chinesen und Germanen von G. F. 

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Literatarbericht. 


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nun noch auf eine gemeinsame Gefahr für die Untersuchungen der Lam pr ecbt- 
schüler hingewieson. 

Bei dem Bestreben, das vorliegende Material nach charakteristischen 
Kernvorstellungeu. wie Symbolismus oder Typismus usf., zu durchforschen, 
treten die Kulturerzeugnisse in den Mittelpunkt des Interesses, die im an¬ 
gedeuteten Sinn charakteristisch sind; und es liegt nahe, die Zeit, aus der 
solche Kulturerzeugnisse stammen, in der also die Eigenschaften einer Kultur¬ 
epoche besonders ausgesprochen sind, nicht nur als besonders charakteri¬ 
stische und interessante, sondern auch als Blütezeit oder auch als Höhe einer 
Kulturepoche zu bezeichnen. Der Höhe einer Kulturepoche gegenüber er¬ 
scheinen die Übergangszeiten zur nächsten Höhe einer Kulturepoche als Ver¬ 
fallszeiten. Damit, ist aber in die Betrachtung ein Werturteil involviert. 
Menschen, die nicht in einer Zeit des Ringens nach manchmal nur geahnten 
neuon Kulturgütern, die nicht in einer Zeit des Überganges leben, könnten 
vielleicht eine an Kämpfen reichere Übergangszeit als die lebensvollere 
preisen; dagegen scheint ihnen vielleicht, was wir Blütezeit nennen, keine 
Weiterentwicklung zu haben, und auf Grund dieses scheinbaren Stillstandes 
erschiene ihnen diese Blütezeit als Verfallszeit. Jedenfalls sind bei der For¬ 
schung Werturteile auszuscbalten. Vielleicht dürfen die im Entwicklungs¬ 
gang immer wiederkehrenden Epochen, die bisher als Blüte- und Verfallszeit 
bezeichnet wurden, als die einer extensiven und intensiven Entwicklung 
einander gegenübergestellt werden, wobei unter extensiver Entwicklung die 
Ausbreitung des zu einer bestimmten Zeit Erreichten in die Gesamtkultur, 
mithin auch dessen Ausdehnung auf möglichst alle ihre Träger, unter inten¬ 
siver Entwicklung das Streben des Alten, sich zu einem Neuen umzuwandeln, 
verstanden wird. — Wie die Untersuchung des Materials nach seinen Kern¬ 
vorstellungen leicht zum Involvieren von Werturteilen verleitet, droht eine 
solche Gefahr noch in doppelter Hinsicht bei Untersuchung eines Kultur¬ 
zweiges und seiner Entwicklung. Ein Kulturzweig nämlich besteht so wenig 
isoliert für sich als etwa ein Gefühl im Leben eines Individuums; vielmehr 
steht, jeder Kulturzweig mit allen zeitgenössischen innerhalb einer Gesamt- 
knltur so innig im Zusammenhang, daß man eben nicht einen Kulturzweig 
irgendwie selbständig auszusondern vermag, und daß man deshalb nicht 
eigentlich von ihm reden darf, sondern nur von der betreffenden Gesamt¬ 
kultur, betrachtet im Hinblick auf den Gesichtspunkt, nach dem der Kultur¬ 
zweig hätte abgegrenzt werden sollen. Bei dem Bestreben, eine Gesamt¬ 
kultur von einem bestimmten Gesichtspunkt aus zu betrachten, kann nun 
leicht außer dem Gesichtspunkt auch der Gesichtskreis ans unserer Kultur 
übernommen und das zu untersuchende Material in solchen Gesichtskreis 
eingezwängt werden. Bei Untersuchung der Entwicklung eines Kultur¬ 
zweiges endlich wird wie bei jeder Entwicklung leicht außer dem gesetz¬ 
mäßigen Sich-ändern ein Streben angenommen und vielleicht noch zudem 
der Gedanke eines Fortstrebens in bestimmter Richtung, nach dem neuesten 
Kulturzustand hin, in die Untersuchung involviert. Die genannten Wert- 

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Literaturbericlit. 


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schichte« auö einer Entwicklungsreihe gewonnene Prinzip bei weiteren Unter¬ 
suchungen zwar heuristisch verwertet, aber kritisch naehgeprlift wird, ge¬ 
schieht gerade nach dem Wunsche des Lehrers. 

Im Schlußteil seiner Abhandlung bringt Lamprecht noch daß Wich¬ 
tigste Uber die ältesten Entwicklungsreihen der Kunst und den Wert einer 
vergleichenden Untersuchung von Kinderzeichnungen: »In den Urzeiten der 
Volker später hoher Kulturen handelt es sich wohl ausnahmslos schon um 
Erscheinungen einer relativ fortgeschrittenen Entwicklung; über ein Zeitalter 
verhältnismäßig schon recht durchgebildeter Tierornamentik scheint die ge¬ 
regelte Überlieferung keines dieser Völker zurückzureichen. Darin ist es 
denn auch begründet, daß für die Sicherung der chronologischen Anordnung 
des Quellenraateriales solcher Völker noch wenigstens gelegentlich außerhalb 
dieses Quellenmateriales liegende Stützen herangezogen werden können. . .. 
Bei den urzeitlichen Völkern dagegen bestehen nicht so günstige Verhältnisse 
der Überlieferung. Sie reichen nämlich entwicklungsgeBchichtlich mit ihrem 
Materiale häufig in Stufen hinab, deren Tradition man bei den hochgeschicht¬ 
lichen Völkern im allgemeinen vergebens sucht. ... In dieser Lage hilft 
nun, bis zu einem gewissen Grade, die Untersuchung der Kinderzeichnungen. 
Aber freilich nur auf einem indirekten Wege von einer solchen Langwierig¬ 
keit, daß er schwerlich alsbald aufgenommen werden würde, ergäbe sich 
nicht in seinem Verlaufe zugleich auch eine große Summe sonst überaus 
wichtiger Tatsachen.« Das sehr große Material an Kinderzeichnungen übri¬ 
gens, das Lamprecht in seinem Institut fürKultur-und Universal¬ 
geschichte zusammengebracht hat (1908 waren es schon 140000 Stück), 
wurde zum sehr großen Teil in der Weise gewonnen, daß einer ganzen 
Schulklasso ein bestimmtes Thema, etwa »Hans Guck’ in die Luft«, zur 
zeichnerischen Behandlung gegeben wurde. Das Material ist natürlich für 
eine Untersuchung verschieden wertvoll, je nachdem sich mehr oder minder 
genau feststellen läßt, wodurch die Kinder bei ihrer zeichnerischen Leistung 
beeinflußt waren. Aus dem Umstand z. B., daß japanische Kinder in ihre 
Zeichnungen landschaftliche Motive, insbesondere eine Bergdarstellnng, zu 
bringen pflegen, in einem Alter, wo die Kinder anderer Völker dies nicht 
zu tun pflegen, darf nicht etwa auf Besonderheiten des japanischen Rassen¬ 
charakters geschlossen werden; denn in den Kreisen, aus denen die betref¬ 
fenden japanischen Schulkinder stammen, pflegen die Familien in ihren Häu¬ 
sern an dominierenden Stellen Hausgärtchen aufznstellen, und in deren 
Hintergrund befindet sich das Bild ihres größten heiligen Berges; damit ist 
offenbar der bestimmende Einfluß gegeben. Es sei hier vermerkt, was als 
Leitsatz Für den bei fremden Völkern forschenden Völkerpsychologen gelten 
dürfte: es ist nicht seine Aufgabe, alle Knltureinflüsse aufzudecken. die auf 
ein Volk gewirkt haben oder wirken, um so seine Eigenart kennen zu lernen, 
sondern er hat fcstzustellen, wie ein Volk dank seiner Kultur gestimmten, 
vom Völkerpsychologen gleichsam experimentell gebrachten, neuen Eindrücken 
gegenüber sich verhält. Daher ist es auch für völkerpBychologlgcbe Unter- 

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06 


Literaturbericht. 


Kulturstufe ist eben dann besonders interessant und fuhrt wohl zu deren 
genauester Charakterisierung, wenn vergleichend untersucht wird, wozu die 
Menschen dieser Kulturstufe unter bestimmten bekannten Einflüssen sich ent¬ 
wickeln können. Damit aber ist gegeben, daß der Völkerpsychologe etwa 
den Missionsschulen, aus denen Lamprechts hergehöriges Material zürn 
großen Teile stammt, überaus viel Wertvolles verdanken kann. — Die vor¬ 
liegende Skizze der universalgeschichtlichcn Methode und ihrer Anwendung 
auf dem Boden der chinesischen Geschichte ergibt, »daß ihr nicht bloß ein 
starker heuristischer Wert innewohnt, sondern daß auf Grund ihrer heuri¬ 
stischen Prinzipien auch Ergebnisse zutage zu treten vermögen, die weite 
Perspektiven für eine geschlossene universalgeschichtliche Anschauung und 
Tätigkeit eröffnen, und mit keinerlei anderen Methoden als den für sie neu 
entwickelten zu erreichen waren«. 

(2) Schmarsows Schüler wissen, daß ihr Lehrer seine Worte sehr ge¬ 
wissenhaft abwägt, besonders auch die Worte eines Themas. Seine Anfange- 
gründe jeder Ornamentik wollen zur Ergründung der Oruamentanfänge die 
Gründe ebnen; das dem Kunstwissenschaftler gehörende Erbteil an Erfah¬ 
rungen (»Grundtatsachen«) zum Studium der Ornamentik will er mitteilen. 
Dabei beachtet er vor allem, wie der Blick über ein Ornament gleitet, wie 
er z. B. durch ein auffallendes, dominierendes Stück zum Verweilen, durch 
eine Reihung im Typus gleichartiger Glieder zum Entlanggleiten veranlaßt 
wird, ferner, wie in die Vorstellung vom Ornament außer den einander folgen¬ 
den Gesichtsempfindungen noch Tastempfindungen eingehen, die der Blick¬ 
bewegung assoziiert sind und endlich noch, wie das Ornament in seiner 
Gesamtheit dem Betrachter als Objekt gegenübersteht. Er benutzt ein 
Menschenkind auf der entlegensten Insel der Südsee, das am Ufer wandeln 
mag, so recht mit sich selbst allein, von keinem praktischen Zweck getrieben, 
im träumenden Genuß des Daseins und in glücklichster Seelenruhe, und be¬ 
trachtet im Leben eines solchen Menschenkindes die Verwendung der Natur¬ 
objekte zum Schmuck und das Verfahren des Menschen bei eigener Hervor¬ 
bringung von Schrauckmitteln; hierdurch kommt er dank seiner im vorletzten 
Satz skizzierten Interesseurichtung zur Feststellung der für die Ornamentik 
gültigen Gestaltungsprinzipien (oder Ilauptgliederungsprinzipien): Symme¬ 
trie, Proportionalität und Rhythmus, die er im Sinn von Gottfried 
Semper behandelt. Er betont sodann, daß jedes Ornament an einem, dem 
Betrachter gegenüberstehenden Objekt sich befindet und in seiner Vertikalen 
an das Aufrechte des eigenen menschlichen Körpers gemahnt. Endlich leitet 
er aus seinen bisher genannten Ausführungen ab, welche Ornamentformen 
sich zuerst mögen entwickelt haben, und bringt dabei eine scharfe Abgrenzung 
des Gebietes der Ornamentik, besonders gegenüber der darstellenden Kunst 
und eine Charakterisierung ihres Wesens. 

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Literaturbericht. 


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werden. Dabei traten die neuen Stücke neben den bisherigen Solitär in 
Reih' und Glied; nur entscheidende Eigenschaften, die ihnen allen gemeinsam 
sind, wurden an ihnen beachtet; nicht mehr ein Einzelstück, nur eine Reihe 
von Stücken, deren Typus gemeinsam ist, wurde gesehen. Dabei kam jedes 
Stück in Relativität erstens als Glied zur ganzen Reihe, zweitens als Glied 
zu den andern Gliedern, drittens durch das Verhältnis des Ganzen zu seinem 
Träger, etwa des Halsbandes zum menschlichen Körper. Des weiteren 
mochte nun in einer Reihe der Wert eines Einzelstücks besonders gesteigert 
erscheinen, und die anderen Glieder wurden ihm zu beiden Seiten angeordnet. 
Infolgedessen blieben die Reihungsglieder nicht mehr gleichwertige Konkur¬ 
renten, sie ordneten sich vielmehr dem besonderen Glied in ihrer Mitte, der 
Dominante, unter. So entstand nach der ersten, wie selbstverständlich ein- 
gefiihrten Form der Ornamentik, nämlich der auf Wiederholung eines und 
desselben Elementes beruhenden Reihung: Symmetrie und Propor¬ 
tionalität. Von der besonderen Anziehungskraft einer Dominante hing es 
dabei ab, ob sie noch ein zweites, ein drittes Paar ihrer Nachbarn miterfaßte 
und für sich als Trabanten festlegte, oder ob die fortlaufende Reihung sich 
ablenkend rechts und links geltend machen konnte. Die beiden Trabanten 
des Mittelgliedes zeigen in Ruhelage das Prinzip der Symmetrie; im Ver¬ 
gleich mit der Dominante ergibt sich das der Proportionalität. Sobald aber 
wieder die sukzessive Auffassung der Glieder in ihrem Verhältnis unter¬ 
einander und zu ihrer Gesamtheit die Oberhand gewinnt, so daß der Eindruck 
einer Bewegung entsteht, so darf man in vollem Bewußtsein von Rhythmus 
im Vollzüge des Kräftespiels aller Größen miteinander reden. Statt des einen 
Gegensatzes in der Mitte der einfachen Reihung kann ein Paar von Gegen¬ 
sätzen als Reihungsglied genommen und zu einer alternierenden Reihe ge¬ 
ordnet werden. 

Die Ableitung von Gestaltungsprinzipien der Ornamentik wurde, wie 
soeben skizziert, unter Beachtung der eigenen Wirkungskraft der Naturobjekte 
auf das Naturkind durchgeführt, wurde sodann in abstrakterer Form wieder¬ 
holt, und in entsprechender Weise bei Untersuchung der Mitwirkung dieses 
Subjektes zur Entstehung von Ornamentformen, beispielsweise bei der Her¬ 
stellung von Schmuckgegenständen, ausgeführt. Besonders wesentlich ist 
unter den Ergebnissen dieser Ausführungen, so daß danach das Ornament 
geradezu definiert werden kann: durch ein Ornament soll die Form des 
ornamentierten Gegenstandes voll ausgekostet werden. 

Für den Psychologen ist es reizvoll, über Schmarsow auf dem von 
ihm gebahnten Wege hinauszugehen und die, für das Blick-wandern- 
lassen bei einer Ornamentbetrachtung gültigen und für die ästhetische 
Ornamentauffassung wesentlichen Gesetze aus der wie für andere Tätigkeiten 
bestehenden Tendenz zu einer regelmäßigen Betätigung abzuleiten. Diese 
Tendenz zeigt sich am deutlichsten, wo es zu einer, wenigstens dem Psycho¬ 
logen erkennbaren Rhythmisierung der Eindrücke kommt Leicht wird z. B. 

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Literaturbericht. 


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Wenn nun allein die Weise des Blick-wandern-lassens untersucht werden 
soll, so darf man absehen vom Unterschiede einerseits der rhythmischen 
Tätigkeiten, bei denen der Rhythmus unmittelbar erlebt werden kann, und 
andererseits der regelmäßigen rhythinusiihnlichen, die in gleicher Zeitenfolge 
wie die rhythmischen erfolgen mögen; man darf überhaupt von allem ab¬ 
sehen, was außer dem Sukzcdieren einzelner, als besondere, gar nicht bewußt 
werdender Tätigkeiten noch in das Rhythmuserleben eingeht, wie vor allem 
auch von der Auffassung der Gesamtheit rhythmisch gegliederter Gebilde; 
und endlich darf man so noch von der Frage absehen, ob die Weise deB 
Blick-wandern-lassens zunächst allein auf die Apperzeption und nur etwa 
mittelbar auf den ästhetischen Kindruck des betrachteten Ornamentes von 
Einfluß ist. Besonders bemerkt sei indes, daß mit den regelmäßigen, rhyth¬ 
musähnlichen Tätigkeiten nur solche gemeint sind, deren Rhythmusähnlich¬ 
keit, d. h. deren regelmäßiges Sukzedieren sich durch Selbstbeobachtung 
feststellen läßt, nicht aber solche, bei denen sich eine Rhythmisierung nur 
denken läßt, derart etwa wie sie von C. S Cornelius in seiner Theorie des 
Sehens und räumlichen Vorstellens (S. 444 flf.) durch den gedachten Zusammen¬ 
hang der ästhetischen Wirkung der Farben mit der Schwingungsweise der 
Retinaelemente (die ihrerseits der Frequenz der Lichtätherwellen folge) an¬ 
gebahnt wurde. Der Einfachheit des Ausdrucks wegen sei im folgenden der 
Begriff »rhythmische Tätigkeit« in dem erweiterten Sinne genommen, daß die 
als rhythmisch, sowie die als rhythmusähnlich erlebbaren Tätigkeiten damit 
gemeint sind. Dann läßt sich die einfache Reihung als eine rhythmische 
Folge gleicher Glieder auffassen, da jedes der einander folgenden Glieder 
wie ein Takt aus mehr oder minder betonten Teilen bestehen muß, damit die 
Mehrheit der Glieder nicht etwa als ein gleichmäßiger Stab, sondern eben als 
ein gereihtes Gebilde, wie etwa eine Perlenkette, anfgefaßt wird. Ganz ähn¬ 
lich ist die alternierende Reihe eine rhythmische Folge gleicher Glieder, 
deren Einzelglieder in gleichbleibender Weise aus verschiedenartigen Teilen 
zusammengesetzt sind. — Das Einzelglied, das mit seinesgleichen gereiht 
wird, kann überhaupt in der mannigfaltigsten Weise ans mehr oder minder 
betonten Teilen zusammengesetzt sein. Es können die schon einmal zu einer 
einfachen Reihung verwandten Glieder paarweise und noch mehrfach ge¬ 
nommen und zu Doppel- und mehrfachen Reihen geordnet werden. Selbst 
einfache Reihen, oder sogar alternierende, oder die eben geschilderten 
gruppierten Reihen können als Einzelglieder genommen und ihrerseits wieder 
zu Reihen geordnet werden, etwa auf einer Ebene in einer zur ersten 
Reihung senkrechten Richtung. Bei einer solchen Komplikation der gereihten 
Einzelglieder kann sich die Erscheinung der ganzen Reihe dahin komplizieren, 
daß nicht nur die Einzelglieder selbst durchweg in gleicher Weise sich 
wiederholen und mehr oder minder betonte Stellen zeigen, sondern daß 
auch noch diese mehr oder minder betonten Stellen ihrerseits wieder, gleich¬ 
sam wie Einzelglieder geringerer Ordnung, auch in einer durchgehend gleich¬ 
artigen Weise aus verschieden betonten Teilen bestehen. Damit ist ein 
mächtigerer Takt durch einen ihm untergeordneten, in ihn eingehenden 
weiter gegliedert. (Vgl. Lipps’ »Prinzip der stufenweisen differenzieren- 


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Die Reihen können im speziellen Fall parallel zueinander geordnet werden; 
oder in einem anderen speziellen Fall können sie von einem gemeinsamen 
Anfangspunkt mit zusammenliegenden und vielleicht zudem noch ver¬ 
schmelzenden Anfangsgliedern strahlenförmig ausgehen. Im letzteren Fall 
können die Strahlen rings im Kreise angeordnet sein, oder, noch spezieller, 
nur nach zwei entgegensätzlichen Richtungen gehen Strahlen aus. Damit 
ist ein besonderer Fall von Symmetriebidung gegeben, ln diesem Fall 
wird das gereihte Gebilde, wie bei jeder speziellen ReihungsweiBe in be¬ 
sonderer Weise mit dem Blick durchwandert, entsprechend der für ihre mehr 
oder minder betonten Stellen geltenden Taktfolge. — In rhythmischer 
Reihung aufgefaßte Glieder können wie in ihrer Anordnung, auch in ihrer 
Größe sehr stark variieren. Betrachtet man etwa die Einteilung eines Gegen¬ 
standes durch die Gesamtheit seines Ornamentes, also wie die Glieder dieses 
Gegenstandes untereinander und zum Ganzen in Proportion treten, so hat 
der gleitende Blick dabei zum mindesten zweierlei Tätigkeiten auszufiihren, 
die zum mindesten einen Takt ausfüllen, einen freilich im Vergleich mit den 
Rhythmen der Ornamentreihe sehr groben Takt. — Es ist also sehr ver¬ 
schiedenes Ornamentbetrachten aus der Tendenz zu einem Auffassen der 
Sehdinge in Takten oder Taktfolgen (Rhythmen) abgeleitet worden, ins¬ 
besondere auch die Auffassung einer einfachen oder alternierenden Reihung 
eines symmetrischen Gebildes und in Proportion stehender Teile. Damit soll 
nicht etwa angedeutet sein, daß dem Gang der Ableitung folgend der 
Ornaraentforraenschatz der Menschheit sich entwickelt haben könne, es soll 
nur darauf hingewiesen werden, wie von Schmarsowschen Anregungen 
ausgehend ein Psychologe in der angedeuteten Weise an der reizvollen 
Aufgabe einer experimentell-psychologischen Untersuchung des Blick¬ 
wandern-lassens beim Ornamentsehen kommt, indem er etwa die Unter¬ 
suchungen Koffkas und Meumanns über die Rhythmisierung von Ge¬ 
sichtseindrücken zugleich mit photographischer Registrierung der Augen¬ 
bewegungen fortführt. Daß mit der hierbei notwendigen Zergliederung der 
von Schmarsow nur als Gesamterlebnisse geschilderten Vorgänge ein eben 
von Schmarsow kaum gebilligtes Verfahren eingeschlagen wird, sei indes 
nicht verschwiegen. Durch das Vorausgehende aber sollte zugleich noch 
gezeigt werden, daß eine nicht die Ableitung ist; es wird der Kritiker in 
Schmarsow» Ausführungen neben dem Plansibelmachen der einen das 
Ausschließen jeder anderen noch möglichen Ableitung für das Entstehen 
der Gestaltungsprinzipien vermissen. Noch mehr wie gegen diese Ableitungen 
wendet sich eine solche Kritik gegen die nunmehr zu skizzierenden Aus¬ 
führungen Schmarsows über Ursprung und allererste Entwicklung des 
Ornamentschatzes der Menschheit, zumal Schmarsow die Möglichkeit ver¬ 
schiedenartiger Anfänge und Entwicklungsreihen nicht besprochen hat. 

Interessant für den Psychologen sind die Schmarsowschen Betrach¬ 
tungen über eine Ornamententwicklung vornehmlich durch den Hinweis auf 
Etappen im Entwicklungsgang, auf die großen Schritte, welche die Mensch¬ 
heit in ihrem Entwicklungsgang machen mußte. Bei einer Schilderung der 


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dadurch angebahnt, daß dem mit gleichgültiger Oberfläche Vorgefundenen 
Körper durch die ornamentale Behandlung eine Struktur verliehen wurde. 
Hierzu betont Schmarsow, wieviel gerade die abstrakteste Regelmäßigkeit 
fiir den erwachenden Menschengeist wert war, als dieser sich anschickte, 
»nach seinem eigenen Hausgesetz die Mannigfaltigkeit der Natur zu be¬ 
wältigen«. »Für solches Entwicklungestadinm ist die Regel kein Joch, 
sondern eine Befreiung.« Die ältesten Kerbreihen, Urkunden rhythmischer 
Periodenteilung, können uns zeigen, wie der Mensch »das Zählen gelernt hat 
und das genaue Maßhalten in solcher Aufteilung, wenn nicht die Nachmessung 
solcher Größen an anderen Objekten«. »Alle überschüssige Vervielfältigung 
der technischen Prozedur, die nur ein verweilendes, durchkostendes, um¬ 
spielendes Wiederholen der Zweckform bedeutet, ist Ornamentik [oder Zier¬ 
kunst]. Und dient diese freie Zutat zunächst auch lediglich zur Befriedigung 
des Verfertigers während der Ausführung und steht nachher mit der Voll¬ 
endung des Werks in unmittelbarem Zusammenhang, so wirkt der Nieder¬ 
schlag der Arbeit wie des Spieles dabei doch nach auch bei spätererer Be¬ 
trachtung, erneut ihm die Erinnerung an Mühewaltung und Genugtuung zu¬ 
gleich und wirkt ebenso weiter auf den späteren Empfänger, den fremden 
Eigentümer und eifrigen Benutzer des Geräts wie endlich auf den nach¬ 
folgenden Beschauer noch heute, sowie er sich nur in Sinn und Wesen der 
Leistung ernstlich vertieft . .. Die Bedingungen für das Zustandekommen 
längerer Kerben und gerader Linien liegen noch anders ... Es sind Aus¬ 
drucksbewegungen, keine Linealstriche; keine Schenkel eines Winkels, 
sondern zwei anfeinanderplatzende Richtungen oder auseinanderlaufende 
Wege der Kraft, und zwar . .. einer ganz subjektiven der eigenen Ichheit 
des Verfertigers entströmenden...« Also: »der Niederschlag geregelter 
AusdrucksbewegnDgen in sichtbaren Zeichen ist der gemeinsame Anfangs¬ 
grund aller Ornamentik«. Dies zeigt Schmarsow auch bei seiner Be¬ 
sprechung der ältesten Tongefäße. 

Durchwebt sind die oben skizzierten Ausführungen Schmarsows von 
vielen auch psychologisch interessanten Bemerkungen, so zeigt er die Unter¬ 
stützung der Symmetrieauffassung durch eine gleichzeitige Bewegung beider 
Arme. Von solchen Bemerkungen sind aber manche angreifbar, z. B. wird 
man wohl nicht mit Schmarsow für die Entstehung einer Kerbreihe an¬ 
nehmen wollen, ein fehlgegangener Strich sei die Gelegenheitsursache ge¬ 
wesen, indem man zur Aushilfe die »ganze ursprünglich glatt gewollte Fläche 
mit Ritzen schraffiert« hätte, denn eine schraffierte Fläche statt einer glatten 
schaffen zu wollen, wird wohl nur dem möglich sein, der Bchon Gelegenheit 
hatte beide zu sehen, und eine Assoziationen ermöglichende Ähnlichkeit 
zwischen den beiden Vorstellungen zu bemerken. 

Gelegentlich der Besprechung wissenschaftlicher Streitfragen finden sich 
in der Arbeit noch Bemerkungen zuWundts Völkerpsychologie, wie schon 
in früheren Heften derselben Zeitschrift, und zu Lamp rechts oben (1) exzer¬ 
pierter Abhandlung. Von allgemeinstem Interesse ist darunter Schmarsows 


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Kunstwissenschaftler zunächst liegt, eine Schilderung der bemerkenswertesten 
Erlebnisse beim Ornamentbetrachten gibt Schmarsow dem Spezialforscher 
zum Ausgang für seine Untersuchung von Ursprung und Entwicklung der 
Ornamentik mit auf den Weg. 

Dem Spezialforscher wäre eine Fortführung der von Schmarsow’ ge¬ 
gebenen psychologischen Analyse des Ornamentbetrachtens dienlich; auch 
von Gesichtspunkten, die Schmarsow nur kurz streifte, wie die Bedeutung 
der Einfühlung in den ornamentierten Gegenstand, wäre die Analyse 
durchzuFühren. Die Analyse hätte scharf auBzusondern, was rein ästhetische 
Betrachtung ist und was dagegen nur eine besondere Weise der Ornament- 
anffassung, die vielleicht ihrerseits in eindeutiger Weise die ästhetische Be¬ 
trachtung beeinflußt. — Schmarsow aber hat selbst schon auf die 
Schwierigkeit hingewiesen, die von seinen Gesichtspunkten aus bis in 
Einzelheiten durchgeführte Analyse überhaupt in Angriff zu nehmen. Das 
Material liegt »fossil« geworden in unseren Museen. Während bei fast jeder 
anderen vülkerpsychologischen Untersuchung wir umfängliche Vorstudien 
machen müssen und dabei Gelegenheit haben, uns soweit wie möglich in 
den Geist der untersuchten Kultur einzuleben, haben wir bei Ornament¬ 
betrachtungen die gefährliche Gelegenheit, sofort an die Untersuchung des 
Materiales zu gehen. Dabei droht der unbefangenen Beurteilung des Materiales 
die Gefahr, daß es unser modernes Auge unmittelbar ansprechen kann; wir 
aber sind dabei noch geneigt, dem Material eine Art Wohlwollen entgegen¬ 
zubringen, ähnlich wie den Handarbeiten von Kindern. Und der Gedanke, aus 
welcher Kulturepoche das Material stammt, mit welchen technischen Schwierig¬ 
keiten der Verfertiger zu kämpfen hatte, begleitet uns bei seiner Betrachtung 
wie bei unserer Zeitungslektüre der Gedanke an jüngste Ereignisse. Wir 
sind infolgedessen geneigt, das Material so anzusehen, wie es unserem mo¬ 
dernen Auge möglichst gefällig erscheint, und Abweichungen als Mängel zu 
übersehen. Es kann aber zudem auch Ornamente geben, die uns so direkt 
ansprechen, daß wir bei ihrer Betrachtung des Urhebers völlig vergessen. 
Hauptsächlich dieser Gefahr wollte Schmarsow durch seine Ausführungen 
über ein Naturkind entgehen. 

Das Problem, ob Menschen verschiedener Kulturen gleicher ästhetischer 
Erlebnisse fähig sind, ist von Schmarsow nicht behandelt worden, aber 
von ihm schon durch die Tatsache seiner Untersuchung bejaht. Danach 
kann ein Ästhetiker durch systematische Analyse der beim Ornamentbetrachten 
(oder -schaffen) waltenden Gestaltungsprinzipien die noch gewünschte Unter¬ 
stützung bringen. Es wäre nachzuweiseu nicht nur, daß gewisse Gestaltungs¬ 
prinzipien als waltend gedacht werden können, sondern daß sie als waltend 
gedacht werden müssen, daß nämlich die Entstehung der untersuchten Orna¬ 
mente psychisch nicht anders als durch deren Walten motiviert werden kann. 
Zu derartigen Beweisen wären typische Beispiele auszusuchen, d. b. Beispiele, 


die nur eine eindeutige Erklärung zulassen; denn die meißten Ornamente 

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Nachweis etwa eines gegensätzlichen Gestaltnngsprinzips, welches das Walten 
des ersteren ausschließt; auch solche Beispiele wären praktisch zu verwerten. 
Von hergehörigen Einzeltatsachen seien nur erwähnt: Manchmal findet man 
ein Ornament auf einer Fläche und darüber ein gänzlich anderes, das 
ohne jede Beziehung zum ersten Ornament verschiedene Teile desselben 
verdeckt; wenn nun für das zweite Ornament andere Gestaltungsprinzipien 
sich waltend zeigen als für das erste, so wird sich im vorliegenden Fall 
vielleicht die Bevorzugung eines Gestaltungsprinzips vor einem anderen er¬ 
weisen lassen. Ähnliches gilt wohl für einen Fall, wo lauter Zickzacklinien 
Vorkommen außer an den Stellen, wo infolge einer starken Wölbung des 
ornamentierten Gegenstandes die Zickzacklinien hätten unterbrochen werden 
müssen, und wo nun die Zacken in weite Wellenbogen auseinandergezogen 
werden. Oder ein in den Speerschaft geritzter Pfeil zeigt die Einfühlung in 
die Flugbewegung des Speeres. Befinden sich dagegen auf dem Speerschaft 
Pfeilverzierungen, die zur Hälfte der Flugrichtung entsprechen, zur Hälfte 
entgegengesetzt gerichtet sind, so kann dies in der Weise erklärt werden 
müssen, daß die überkommene Form, unabhängig von dem sie verursachenden 
Gestaltungsprinzip, infolge eines neuen Gestaltungsprinzips zur Betonung 
der Längsrichtung des Speeres verwandt wird. Oder es sind einmal die 
Glieder der Ornamente auf Kosten der Gesamtwirkung sehr fein ausgeflihrt. 
ein andermal dagegen (vielleicht bei weiter fortgeschrittenen Kulturstufen) 
gibt das ganze Ornament einen sehr schönen Gesamteindruck, es mag auch 
recht fein gegliedert erscheinen, nur die einzelnen Glieder des Ornamentes 
sind sehr schlecht ausgeführt usf. Indessen sind die meisten Ornamente 
sehr atypisch, m. a. W.: ihre Genese läßt sich psychologisch sehr ver¬ 
schiedenartig motivieren, ferner läßt sich das Nichtwalten bestimmter Ge- 
staltuugsprinzipien sehr oft nicht durch das Vorkommen gegensätzlicher er¬ 
weisen (durch welche ihr Walten ausgeschlossen würde). Deshalb kann die 
hier gewünschte exakte Arbeit bestenfalls nur zu einer Orientierung im 
Material und zu Gesichtspunkten für eine Systematisierung, nicht aber zur 
vollen systematischen Verarbeitung des tatsächlich gegebenen Materials, also 
auch nicht zu einer definitiven Gruppierung der gefundenen Ergebnisse 
fuhren. Je schwieriger aber der zuletzt skizzierte Weg ist, um so not¬ 
wendiger ist es, allein von solchen Erwägungen auszugehen, wie sie 
Schmarsow gab. 


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Einzelbesprechung. 


1) Stephan Witasek, Zur Lehre von der Lokalisation im Sehraum. Zeit¬ 
schrift für Psychologie, herausgegeben von F. Schumann. Bd. 50. 


S. 161 ff. 


Die Untersuchung WitaBeks ist im wesentlichen auf die Frage ge¬ 
richtet, ob wir monokular ebenso lokalisieren, wie binokular. Er formuliert 
sein Problem folgendermaßen: »Sind korrespondierenden Punkten der 
beiden Netzhäute bei gesonderter monokularer Funktion subjektiv gleiche 
Punkte der beiderseitigen Sehfelder zugeordnet oder nicht?« Er be¬ 
schränkt Bich in seiner Untersuchung im wesentlichen auf die Stellen 
des deutlichsten Sehens. Der Apparat, dessen er sich bedient, ist sehr 
einfach. Zwei gleiche, 10 cm lange, 3 cm weite, innen geschwärzte 
zylindrische Guckröhren konnten mit ihren Achsen in Pupillendistanz und 
in jeder beliebigen Richtung und Lage fest eingestellt werden. An ihren, 
den Augen zugewandten Enden hatten sie zentrale, kreisrunde Öffnungen 
von ungefähr Pupillengröße. Vor den äußeren Enden der Guckröhren war 
ein Wechselschirm aufgestellt, der es gestattete, durch eine kleine Finger¬ 
bewegung die beiden Röhren abwechselnd oder auch gleichzeitig in be¬ 
liebiger Reihenfolge und beliebigem Tempo nach außen lichtdicht ab¬ 
zuschließen. Dem Röhrenpaare gegenüber, in einem Abstande von einem 
Meter, war ein großer, von rückwärts gleichmäßig beleuchteter Milchglas- 
Schirm so aufgestellt, daß flir jedes der beiden Angen das ganze Gesichtsfeld 
von einer homogenen hellen Fläche ausgefüllt erschien. Auf dem Schirm be¬ 
fand sich ferner eine kleine schwarze Marke, gegen welche die beiden Röhren 
in der Art eingestellt waren, daß sie sich ira Zentrum eines jeden der beiden 
durch die Röhre ausgeschnittenen kreisförmigen Gesichtsfelder präsentierten. 
Der Grnndversuch ging in folgender Weise vonstatten: Die Marke wurde 
zunächst binokular scharf fixiert; dann wurde bei fortwährend, wenigstens 
der Intention nach, unverrückt festgebaltener Blick- und Kopflage plötzlich 
links der Schirm vorgeschoben, nach etwa 1 Sekunde ebenso rasch auch 
rechts, dann nach beiläufig einer halben Sekunde beiderseitigen Abschlusses 
wieder links geöffnet und hierauf, nach etwa 1 Sekunde, auch rechts. So 
folgten einander binokulare Fixation, monokulare Fixation rechts, mono¬ 
kulare links und wieder binokulare Fixation, die beiden monokularen Fixa¬ 
tionen durch eine kurze Pause beiderseitiger Abdunkelung getrennt. Der 
Versuch wurde natürlich auch in der entgegengesetzten Reihenfolge vorge¬ 


nommen. Das Ergebnis gestaltete sich ausnahmslos dahin, daß die Marke 

beim Überfiranfi'fl von Hpr mnnnlrnlarpn FivaHnn rlou pinpn Amrp« ■/.n Her des 


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Literaturbericht. 


Bei 1 m Objektdistanz betrug die Gcsamtverschiebung ungefähr 2 cm. 
Variierte man die Objektdistanz, so änderte sich, von der Grüße der schein¬ 
baren Verschiebung abgesehen, nichts am Ergebnis. Witasek verschob 
die Marke von 30 cm bis 4 m Abstand. Der Erfolg blieb in der Hauptsache 
stets der gleiche. Nur die Größe der scheinbaren Verschiebung änderte sich 
dabei, und zwar nicht nur in ihrem linearen, sondern auch in ihrem Winkel¬ 
wert. Um schließlich den Sachverhalt bei Einstellung der Augen auf Un¬ 
endlich zu untersuchen, richtete Witasek die Guckröhren auf eine etwa 
1 km entfernte Turmspitze, die sich in geringer Höhe Uber dem Horizonte 
vom Himmel abhob. Auch da ließ es sich leicht erreichen, daß die Aus¬ 
schnitte in beiden Röhren kongruent waren und die Fixationsmarke (Turm¬ 
spitze) beiderseits genau ins Zentrum zu liegen kam. Die scheinbare Ver¬ 
schiebung zeigte sich auch dabei ganz außerordentlich deutlich. 

Bevor wir zur Erklärung dieses Versuchs übergehen, wollen wir vorerst 
den weiteren Verlauf der Untersuchung besprechen. 

Witasek modifizierte zunächst den Versuch so, daß er zwar wieder 
beide Augen gut fixierend auf die Marke gerichtet hielt, nun aber das eine 
von ihnen — in nicht allzu raschem Tempo — abwechselnd verdeckte und 
frei gab, während das andere unbehelligt blieb. Der Erfolg war bei weitem 
weniger deutlich als beim Grundversuche. Gleichwohl ließ er sich bei 
einiger Aufmerksamkeit und Geduld mit genügender Bestimmtheit sicher- 
steilen. Die scheinbare Verschiebung der Marke war auch dabei zu beob¬ 
achten, und zwar vollzog sie sich in demselben Sinne wie bei der früheren 
Versuchsanordnung. Schloß und öffnete man abwechselnd das rechte Ange, 
so rückte die Marke beim Öffnen ein wenig nach links. Die Verschiebung 
war aber von viel geringerer Elongation, als wenn zugleich das andere der 
beiden Augen verschlossen wurde, und auch die Geschwindigkeit der Ver¬ 
schiebung schien herabgesetzt. Die Bewegung ging gleichsam unter dem 
hemmenden Einflüsse eines Widerstandes vor sich. Es kam nur eine ganz 
langsame und kurze Bewegung zustande, die deshalb leicht übersehen 
wurde. Schloß man wieder, wie im ersten Grundversuche, abwechselnd 
einmal das eine, einmal das andere der beiden Augen, aber so, daß 
dazwischen immer eine kurze Zeitlang beide Augen geöffnet waren, so 
war der Erfolg der gleiche wie in der ersten Versuchsanordnung, aber eben¬ 
falls mit der Modifikation, wie sie sich bei der eben besprochenen Ab¬ 
änderung des Versuches gezeigt hatte. Die Marke rückte also immer, wenn 
eines der beiden Augen verschlossen wurde, ein Stückchen gegen die Seite 
dieses AugeB hin, um, wenn es wieder geöffnet wurde, nach seiner früheren 
Mittelstellung zurückzukehren, und dann, wenn das andere Auge geschlossen 
wurde, nach der entgegengesetzten Richtung, also im Sinne der letzten 
Rückkehrbewegung weiter auszuweichen. Alle diese Bewegungen gingen 
jedoch nur sehr langsam vor sich und hatten eine außerordentlich geringe 
Elongation. Auch schienen sie vom Tempo des Augenwechsels in dem 
Sinne abhängig zu sein, daß sie überhaupt verschwanden, wenn man den 
Wechsel zu rasch vollzog. 


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Außer der besprochenen führte Witasek noch eine zweite Abänderung 


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Literaturbericht. 


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wurde jeder der beiden Punkte im Doppelbilde gesehen. Nun konnte man 
die Augen so einstellcn, daß ein Halbbild des einen Auges mit dem benach¬ 
barten des anderen zusammenfiel. Wurde nun daB eine Auge geschlossen, 
so trat auch hier die entsprechende Erscheinung, nämlich eine scheinbare 
Bewegung der Halbbilder des offenbleibenden Auges ein. 

Die Ergebnisse der bis jetzt beschriebenen Versuche lassen sich nach 
Witasek folgendermaßen zusammenfassen: »Korrespondierenden Punkten der 
beiden Netzhäute sind bei gesonderter monokularer Funktion nicht gleiche 
Sehfeldpunkte zugeordnet, sondern der der rechten Netzhaut zugehörige 
Punkt des rechten monokularen Sehfeldes liegt etwas links von dem Punkte, 
welcher gleich ist dem des linken monokularen Sehfeldes, der dem korre¬ 
spondierenden Punkte der linken Netzhaut zugehört« *), und umgekehrt. 
Witasek nennt diese Tatsache Monokularlokalisationsdifferenz (. MLD ;. Beim 
binokularen Seheu liegt der den beiden korrespondierenden Netzhautstellen 
zugehörige Punkt des binokularen Sehfeldes ungefähr in der Mitte zwischen 
denjenigen Punkten, die den monokularen Sehfeldpunkten, wenn man ßie 
auf das binokulare Sehfeld überträgt, entsprechen, oder kürzer: »Korrespon¬ 
dierende Netzhautpunkte lokalisieren bei monokularer, gesonderter Funktion 
nicht gleich, sondern der rechte etwas mehr nach links, und umgekehrt, bei 
binokularem, gemeinsamen Funktionieren ungefähr in der Mitte zwischen den 
beiden monokularen Lokalisationspunkten« 2 j. 

Witaseks Untersuchungen erhalten eine erweiterte Bedeutung durch 
ihre Beziehung zu der Lehre Herings von der binokularen Blicklinie. 
Diese sagt aus, »daß die Lokalisation der Netzhautbilder beider Augen, 
soweit sie überhaupt von der Stellung und Bewegung der Angen ab¬ 
hängig ist, sich keineswegs nach den Sonderstellungen beider Augen, 
sondern nach der Stellung und Bewegung der Blicklinie des Doppelauges 
richtet, und daß wir ... die Netzhautbilder in betreff der Richtung so 
lokalisieren, als ob beide wirkliche Netzhautbilder auf der Netzhaut des 
imaginären Auges lägen« 3 ]. Die Annahme, »daß die Richtung, in der uns 
ein fixiertes Objekt erscheint, sich im allgemeinen nach der jeweiligen Lage 
der Blicklinie richte« 4 ), macht Hering auch für das monokulare Sehen. 
Der Versuch, durch den Hering die Gültigkeit dieser Annahme für 
monokulares Sehen nachzuweisen suchte, wurde von Witasek wiederholt. 
Er erhielt aber das abweichende Ergebnis, daß bei monokularem Sehen 
»beim Übergang der Fixation von der Fern- zur Nahmarke jede Veränderung 
der Lokalisation ausblieb, sofern nur die Augenbewegung genau nach den 
Intentionen des Versuches ausgeführt wurde« 5 ). Eine Bestätigung der 
Heringschen Beobachtung einer Scheinbewegung aber fand Witasek 
durch einen Versuch, in dem beide Augen geöffnet blieben, während 
sie einen Fixationswechsel von einer Fernmarke zu einer NaPonuTke, die 
mit der Fernmarke auf derselben Gesichtslinie des einen AvM5 eB 
vollzogen, und umgekehrt. Dann trat die Scheinbewegun^ t anch bei 


1) Zeitschrift für Psychologie, 
Bd. öO. S. 181. 


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herausgegeben 


von F. «gcb uman0. 

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76 


Literaturbericht 


korrektester AusflihruDg des Versuches, regelmäßig und sehr auffallend ein. 
Die Lateralbewegung der Marken, besonders der Nahmarke, war beim Über¬ 
gang auf den Nahpunkt, die medianwärts gerichtete Bewegung, besonders 
der Fernmarke, beim Übergang auf den Fernpunkt regelmäßig von großer 
Elongation. Bei zweiäugiger Ausführung des Versuches war von den beiden 
auf der Gesichtslinie des einen Auges liegenden Marken natürlich immer 
die eine, eben nicht fixierte, im Doppelbilde sichtbar. Das eine der beiden 
Halbbilder gebürte dem Auge an, dessen Gesichtslinie sich nicht verschieben 
sollte, und lag in der gleichen Richtung mit dem der zweiten Fixationsmarke. 
Das zweite Halbbild lag seitlich davon und gehörte dem anderen Auge an, 
also jenem, dessen Gesichtslinie beim FixationsUbergange eine Richtnngs- 
änderung, das also selbst dabei eine Einwärts- oder Auswärtswendung er¬ 
litt. Das diesem zugehörige Netzhautbild verschob sich beim Fixations- 
Ubergang auf der Netzhaut, und es ist deshalb selbstverständlich, daß das 
entsprechende Halbbild dabei eine Bewegung im Sehraum ausflihrte. In dem 
Versuch kam es jedoch auf die Scheinbewegung des anderen der beiden 
Halbbilder an, jenes Halbbildes also, das bei jeder der beiden Fixations¬ 
einstellungen der gleichen Netzhautstelle, nämlich der Netzhautgrube, an¬ 
gehörte. Diese Scheinbewegnng also war, wie Witasek feststellte, ungemein 
auffallend bei der zweiäugigen Ausführung deB Versuches. 

Zusammenfassend kann Witasek das Ergebnis seiner Nachprüfung so 
formulieren: »Die Heringsche Scheinbewegung tritt bei monokularem Sehen, 
wenn die Gesichtslinie nur des verschlossenen Auges sich verschiebt, nicht 
ein. Wohl aber kommt sie zustande bei binokularem Sehen. . .. Die Lokali¬ 
sation eines Sehdinges im Sehraum, genauer, die Richtung, in der das Ding 
erscheint, ist demnach nur bei binokularem Sehen durch die binokulare Blick¬ 
linie bestimmt und somit von der Lage der Blicklinie eines jeden der beiden 
Augen abhängig. Beim monokularen Sehen dagegen ist die Richtung, in 
der das Sehding erscheint, nicht im Sinne der Hcringschen Scheinbewegnng 
auch von der Blicklinie des verdeckten Auges mit abhängig, sondern im 
allgemeinen bloß durch die Funktion des sehenden Auges bestimmt« 1 ). 

Die Tatsache, daß Hering und auch Witasek selbst zuweilen bei monoku¬ 
larem Sehen ein anderes Ergebnis erhielten, erklärt Witasek daraus, daß wahr¬ 
scheinlich das Auge beim Übergang der Fixation aus der Ferne in die Nähe eine 
starke Tendenz zur Einstellung symmetrischer Konvergenz auf die Medianebene 
besitze. Die Heringsche Scheinbewegnng bei monokularem Sehen sei daher 
nichts weiter als eine Folge dieser nicht genügend unterdrückten Tendenz. 
Durch Einführung einer Kontrolle der Augenbewegungen suchte Witasek 
das Resultat, daß niemals eine Spur der Heringschen Scheinbewegung zum 
Vorschein komme, wenn keine Angenbewegungen konstatiert wurden, sicher 
zu stellen. Andere Versuche Witaseks sollen die Ungültigkeit des Hering¬ 
schen Gesetzes der identischen Sehrichtung für monokulares Sehen erweisen. 
Da ihnen jedoch, worauf Hillobrand hingewiesen hat, eine von Hering 
abweichende Auffassung dieses Gesetzes zugrunde liegt, so kommt diesen 


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Literaturbericht. 


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Soweit vorerst die Versuche Witaseks nnd die Resultate, die sich 
daraus unmittelbar ergeben. 

Zur Erklärung der MLD zieht Witasek zunächst die Möglichkeit einer 
Parallaxenwirkung in Betracht. Er lehnt sie aber ab, weil bei seiner Ver¬ 
suchsanordnung beim Wechsel der Gesichtsfelder in der relativen räumlichen 
Anordnung und Ausmessung der Sebdinge innerhalb des Gesichtsfeldes nicht 
das Mindeste sich ändere und überhaupt keine Verschiebung irgendeines Seh¬ 
dinges relativ zur Marke stattfinde. 

Er diskutiert sodann auch die Möglichkeit von unwillkürlichen Augen- 
bewegungen und dadurch hervorgerufenen Doppelbildern genauer, da diese 
nicht gleichzeitig sichtbar sind, Halbbildern, die, als disparaten Netzhaut¬ 
punkten zugehörig, ganz selbstverständlich verschieden lokalisiert erscheinen 
müßten. Dabei seien zwei Möglichkeiten von unwillkürlichen Augenbewegungen 
zu unterscheiden: 

a) die Fixation weiche durch die unwillkürliche Augenbewegung nach 
einem Uber die Marke hinaus entfernter liegenden Punkte, also im Sinne 
verminderter Konvergenz, aus oder 

b) die Fixation ändere sich so, daß der Fixationspunkt näher zu liegen 
komme alB die Marke, also im Sinne vermehrter Konvergenz. Im Fall a 
komme es zu gekreuzten Doppelbildern bzw. Halbbildern; dieselben wiesen 
also tatsächlich eben die gegenseitige Lage zueinander auf, in die sich die 
Marke beim monokularen Wechsel zu verrücken scheine. Im Falle b, bei 
Näherfixation, ergäben sich aber ungekreuzte Doppelbilder. Dann ließe sich 
nach Witasek etwa folgende Erklärung finden: Angenommen das Auge 
sei, während es verdeckt ist, nach innen, also im Sinne größerer Konvergenz, 
von der ursprünglichen Fixation abgewichen. Wenn es dann wieder geöffnet 
werde, so bilde sich die Marke nicht auf der Netzhautgrube, sondern an einer 
seitlich nach innen zu gelegenen Stelle der Netzhaut ab. Darauf richte sich 
das Auge unwillkürlich wieder auf den Fixationspunkt ein, bo daß das 
Netzbautbildchen der Marke von dem seitlichen inneren Fixationspunkte 
gegen auswärts auf die Netzhautgrube zu rücke. Daraus resultiere dann der 
trügerische Eindruck eines entgegengesetzt, das ist nach innen, nach der 
Seite des eben verdeckten Auges hin gerichteten Rückens der Marke, also 
eben der Bewegung, wie sie Witasek bei seinen Versuchen wahrnimmt. 

Es muß hier betont werden, was Witasek nicht genug hervorhebt, daß 
nach dieser Argumentation die Vp. im Falle a den scheinbaren Ort der 
Marke als mehr nach innen liegend, im Falle b aber die scheinbare Be¬ 
wegung der Marke als nach innen hin, nämlich auf den tatsächlichen Ort der 
Marke zu gerichtet beurteilt. Im Falle b würde also die scheinbare Lage 
der Marke, die als nach außen liegend erscheinen müßte, nicht bewußt, 
im Falle a würde entweder eine RUckbewegung des Auges ausbleiben, 
oder, wenn sie einträte, würde die scheinbare Bewegung de* Marke nicht 
als von innen nach außen hin gerichtet, bewußt. 

Die Möglichkeit einer unveränderten Fixation glaubt a.\>eT WitaBek 
durch eine Reihe von Kontrollversuchen nachweisen zu können; 1) Er weist 


die Möglichkeit eines dauernden Festhaltens einer bestimmte** 

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Konvergenz- 
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Literaturbericht. 


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unverändert an seiner Stelle zu halten. 3) Eine zweite Kontrolle mit Hilfe 
der Nachbilder. Er läßt die Fixationsmarke als kleines, kreisrundes, dunkles 
Scheibchen auf möglichst hellem Grunde erscheinen, setzt dem äußeren Ende 
des einen Guckrohres einen leichten abnehmbaren Deckel auf, der in der 
Mitte ein mäßig großes kreisrundes Loch hat, und fixiert durch dieses Loch 
hindurch mit dem einen Ange — das andere bleibt während des ganzen 
Kontrollversuches geschlossen — eine halbe bis 3 /« Minute lang die Marke. 
Sie erscheint dabei inmitten eines kreisrunden, hellen Ringes. Schließt man 
dann für einen Moment das Auge, nimmt inzwischen den Deckel vom Guck¬ 
rohre ab und fixiert die Marke weiter, so erscheint sie nun inmitten eines 
dunklen Ringes, des Nachbildes von jenem hellen, und dieser auf intensiv 
hellem ausgedehntem Hintergrund. Dieser Anblick zeigt, daß es gelungen 
ist, während des Verschlusses die Fixation festzuhalten. 4) Ein vierter Kon- 
trollversuch betrifft den Fall, wo das eine Auge geöffnet bleibt, während 
das andere geschlossen wird. Witasek bringt in den Verschlußschirm eine 
ganz feine Öffnung (Vs mm Durchmesser) so an. daß sie bei auf die Marke 
gerichteter Gesichtslinie von dieser passiert wird, und zwar so, daß diese 
Öffnung während der ganzen Bewegung des VerBchlußschirmes durch ein 
zweites, diesem aufsitzendes kleines Schirmchen mit Feder- und Gegenzug 
verdeckt bleibt und erst im Moment des Verschlußstillstandes enthüllt wird. 
Die Folge müßte sein, daß, falls das verdeckte Auge eine unwillkürliche 
Konvergenzänderung der beschriebenen Art machte, das aufblitzende Licht- 
pünktchen eine Scheinbewegung machte. Von einer solchen Scheinbewegung 
jedoch bemerkt Witasek keine Spur. 

Diese Kontrollversuche haben den Nachteil, daß sie nicht unmittelbar 
mit der Hauptversuchsanordnung verbunden sind. 

Als Gegenargumente führt Witasek sodann noch im besonderen den 
Fall an, daß die Scheinbewegung beim Augenwechsel auch dann eintritt, 
wenn die Marke sich in unendlicher Entfernung befindet. Damit sei eine 
ZurUckführung auf gekreuzte Doppelbilder ausgeschlossen. In diesem Falle 
sei nämlich der Konvergenzwinkel bei Fixation der Marke gleich Null, und 
daher eine weitere unwillkürliche Verminderung desselben bei Verschluß des 
einen oder anderen Auges ausgeschlossen. 

Der Fall b, also eine ZurUckführung auf ungekreuzte Doppelbilder scheint 
Witasek deshalb ausgeschlossen zu sein, weil hierbei für das Zustande¬ 
kommen des scheinbaren nach innen Rückens der Marke beim Öffnen des einen 
Auges ein Datum aus dem Sehfelde des anderen Auges gar nicht erforder¬ 
lich sei, und daher der Schein, daß die Marke nach innen rücke, auch zu¬ 
stande kommen müßte, wenn das zweite Auge dauernd verschlossen bliebe 
und nur daB andere zunächst auf Fixation eingestellt und dann im alten 
Tempo abwechselnd zu- und aufgedeckt würde. Bei einem derartigen mon¬ 
okularen Experimente aber stehe die Marke dauernd fest und unbeweglich. 


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Literaturbericht. 79 

Hillebrand vorbringt, scheinen mir besondere folgende beachtenswert 
zu sein: 

Gegen die Methode mit Hilfe der Nachbilder macht Hillebrand geltend, 
daß man nicht vorraussetzen dürfe, daß sich jede Augenbewegung durch 
eine Bewegung des Nachbildes verrate. Daß dies nicht im entferntesten 
geschehe, zeige die Tatsache, daß die vehementen Bewegungen, die die 
Augen beim Drehschwindel ausführen, ein vorher erzeugtes, dauerhaftes 
Nachbild in völliger Ruhe lassen, wenn die Augen geschlossen sind. 

Gegen den Schluß, den Witasek aus der Tatsache zieht, daß die 
scheinbare Verschiebung der Marke auch dann zu beobachten ist, wenn man 
den Grundversuch mit einem unendlich fernen Fixationsobjekt anstellt, macht 
Hillebrand die Möglichkeit einer Heterophorie, speziell hier einer Exophorie 
geltend; wäre diese gegeben, so träte eine über die Parallelstellung hinaus¬ 
gehende Divergenz der Augenachsen ein. Damit wäre dann die Möglichkeit 
von Doppelbildern gegeben. Entsprechend wäre auch für jede Ablenkung 
der Gesichtslinie des geschlossenen Auges ira Sinne einer verminderten 
Konvergenz Exophorie, und für eine Ablenkung im Sinne vergrößerter 
Konvergenz Esophorie als Ursache anzunehmen. Auf die Möglichkeit einer 
Heterophorie kommt Witasek in seiner Schrift »Lokalisationsdifferenz und 
latente Gleichgewichtsstörung« J ) zu sprechen, mit dem Resultat, daß er zwar 
kein Kriterium dagegen angeführt habe, daß nicht gegebenenfalls eine mon¬ 
okulare Lokalisationsdifferenz durch eine bestehende latente Divergenz vor¬ 
getäuscht werden könnte, er aber glaube, soweit es mit den zur Verfügung 
stehenden Untersuchungsmitteln überhaupt möglich sei, gezeigt zu haben, 
daß eine monokulare Lokalisationsdifferenz auch dort deutlich und regel¬ 
mäßig zur Geltung kommen könne, wo von einer beständigen latenten 
Divergenz keine Spuren nachzuweisen seien.« Welche von den Lehrmeinungen 
der beiden Autoren zu Recht bestehe, kann im Zusammenhänge dieses Refe¬ 
rates nicht entschieden werden. 

Den Standpunkt Witaseks haben wir bisher nur insoweit kennen ge¬ 
lernt, als er Parallaxenwirkung und unwillkürliche Augenbewegungen 
ablehnt. Die positive Erklärung Witaseks ist folgende: »Korrespondieren¬ 
den Netzhautstellen ist bei binokularem Sehen eine einzige Sehstelle der 
Sehsphäre zugeordnet — und sie sind dadurch als solche definiert. — Man 
sieht also trotz doppelten Netzhautbildes mit ihnen einfach; im monokularen 
Sehen sind ihnen um die Monokularlokalisationsdifferenz verschiedene Seh¬ 
stellen zugeordnet.« Unter Sehsphäre ist dabei »jene räumliche Sehmannig¬ 
faltigkeit« gemeint, »die nur nach zwei Dimensionen bestimmt, nach der 
dritten dagegen völlig unbestimmt ist«. »Die Elemente der Sehsphäre, die 
nach zwei Dimensionen unabhängig variabel, nach der dritten jedoch unbe¬ 
stimmt sind, heißen Sehstellen 2 ).« In einer späteren Schrift, *In Sachen der 
Lokalisationsdifferenz« 3), wird zur Erklärung im besonderen gesagt: »Hin¬ 
sichtlich der Ortsempfindungen ist das Auge nur zusammen mit seinem Be- 

_~~__X __!_.1_A_ F\ _ 

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Literaturbericht. 


bestimmt, sondern noch mitbestimrat durch den jeweils mitgegebenen Kon- 
traktionsverteilungszuBtand des Bewegungsapparates. Es boII dies nicht ein 
Znrilckgreifen auf die Muskel- oder Bewegungsempfindungstheorie bedeuten.« 
Witasek betrachtet sich als im Gegensatz zu Hering stehend insofern, als 
nach dessen Lehre die absolute Lokalisation lediglich durch die Anfmerk- 
samkeitsrichtung bestimmt sein soll. In seinem jetzt erschienenen Werke 
»Psychologie der Raumwahrnehmung des Auges« 1 ) kommt er darauf näher 
zu sprechen. 

Zusammenfassend können wir somit sagen, daß auch die Erklärung 
Witaseks physiologisch ist. Sie unterscheidet sich von der Hillebrands 
dadurch, daß dieser unwillkürliche Augenbewegungen in Anspruch nimmt, 
durch die eine unbemerkte Verschiebung der Netzhautbilder zustande 
komme, Witasek aber eine Konstanz der Netzbautbilder voraussetzt und 
die psychologisch verschiedene Wirkung abhängig sein läßt von Verände¬ 
rungen des Kontraktionsverteilnngszustandes. Welche von diesen beiden 
Hypothesen zu Recht bestehe, dürfte wohl noch keiner der Autoren ein¬ 
deutig nachgewiesen haben. 

Diesen beiden physiologischen Hypothesen stellt v. Sterneck in 
seinem Aufsatze »Über wahre und scheinbare monokulare Sehrichtungen« 2 ) 
eine psychologische gegenüber, auf die wir gleichfalls eingehen müssen. Die 
Versuche von v. Sterneck sind zunächst darauf gerichtet, eine quantitative 
Bestimmung der MLD zu liefern. Bei diesen Versuchen wurden folgende 
Entfernungen d eines glimmenden Punktes von der Basallinie der Augen ge¬ 
wählt: d = 10, 30, 60. 100, 40) cm. Die Resultate waren folgende: 

1) d = 10 cm. Das rechte Auge lokalisierte um 3,5 cm weiter links als 

das linke MLD == 3,5 cm 

2) d = 30 cm MLD = + 1.6 cm 

3) d = 60 cm MLD = + 0,5 cm 

4) d = 1 m MLD = — 1 cm, d. h. in diesem Falle loka¬ 

lisierte das rechte Auge um etwa 1 cm weiter rechts als das linke, 
v. Sterneck fand also das von Witasek abweichende Resultat, daß die 
MLD bei ihm in der Nähe zwar wie bei Witasek positiv sei, bei 1 m aber 
ihr Vorzeichen umkehre 

Auf Gruud seiner Versuche erhebt nun v. Sterneck gegen Witasek 
folgendes edenken. Er sagt: »Wenn wirklich den einzelnen Netzhautstellen 
im monokularen Sehen andere Stellen des Sehfeldes zugeordnet wären als 
im binokularen, so müßte sich diese Verschiedenheit für unser räumliches 
Sehen in einem ganz bestimmten Winkelwert der MLD äußern, so daß die 
seitliche Verschiebung des gesehenen Gegenstandes seiner scheinbaren Ent¬ 
fernung proportional wäre.« Hiervon aber zeigen die Versuche v. Sternecks 
das Gegenteil, denn die MLD nimmt im Anfang bei zunehmender Entfernung 
ab, bis sie 0 und dann negativ wird. Dieser Einwand war im wesentlichen 
schon von Hillebrand 3 ) erhoben worden, dem Witasek 4 ) folgendes ent- 


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Literaturbericht. 


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gegenhält: >1) Wir wissen, daß die scheinbare Distanz zweier auf zwei fixen 
Netzhautpunkten zur Abbildung gelangender äußerer Punkte durchaus nicht 
proportional mit ihrer Entfernung vom Auge sich ändert. 2) Wir können 
nicht erwarten, daß der offenbar mit der muskulären Einstellung des Auges 
irgendwie zusammenhängende, im übrigen aber noch recht unbekannte Faktor, 
der die absolute Lokalisation bedingt, oder zum mindesten mitbedingt, der 
daher auch die räumliche Reaktionsweise der einzelnen Netzhautpunkte mit¬ 
bestimmt und so der Monokularlokalisationsdifferenz zugrunde liegt, in seinem 
Einflüsse auf die Lokalisationsdifferenz bei jeder Objektdistanz, d. h. also bei 
jedem Konvergenzwinkel mit demselben Winkel zur Geltung kommen müßte.« 

Gegen Hillebrand macht dann v. Sterneck besonders noch geltend, 
daß sich sein (v. Sternecks) Versuchsergebnis von seiner starken Über¬ 
sichtigkeit (linkes Auge 6 D, rechtes Auge 4 D) unabhängig erwies. Er 
korrigierte die Augen zunächst nicht, dann mit + 2,25, + 3,0, +6,26, 
+ 7,6 D und erhielt immer genau dasselbe Ergebnis der MLD. Da hier ganz 
verschiedene Akkommodationszustände der Augen vorlägen, so müßte auch 
eine entsprechende Veränderung im Konvergenzzustande Platz greifen und 
demnach eine Änderung der MLD stattfinden. Wir können noch hinzufügen, 
daß jene Veränderungen der Akkommodationszustände auch über die Grenze 
der relativen Akkommodationsbreite hinauslagen. 

Den physiologischen Hypothesen stellt v. Sterneck die psychologische 
entgegen: Das Phänomen der MLD habe den Charakter einer Täuschung 
über die Sehrichtung. Der Grund der Täuschung liege, wie bei allen Sinnes¬ 
täuschungen in einer ungewohnten Art der Verwendung der Sinnesorgane, 
bei der es nur unvollkommen an die Umgebung angepaßt sei, so daß mit 
den von ihm gelieferten Empfindungskomplexen keine richtigen Vorstellungen 
über die Außenwelt assoziiert würden. Im besonderen liege der Grund für 
die MLD in der für den Zweiäugigen höchst ungewohnten Situation des 
monokularen Sehens. Je ungewohnter die Situation, desto beträchtlicher 
die Täuschung. 

Eine Stütze seiner Theorie findet v. Sterneck durch folgenden Versuch, 
der allerdings nicht unmittelbar die MLD berührt, sondern lediglich die 
Möglichkeit von Scheinbewegungen auf Grund einer Täuschung dartun soll, 
v. Sterneck fixiert einen leuchtenden Punkt kontinuierlich monokular und 
wendet während der Fixation den Kopf nach rechts. Der Erfolg ist, daß 
der gesehene Punkt im Sehranme Bich scheinbar nach links bewegt. Wendet 
er den Kopf nach links, bo bewegt sich die gesehene Marke scheinbar nach 
rechts. Dieselbe Erscheinung findet statt, wenn nicht monokular, sondern 
binokular fixiert wird. Da in diesem Versuche, sagt v. Sterneck*), wenn 
er binokular ausgeführt wird, beide Augen in derselben Konvergenzstellung 
bleiben, so kann die Scheinbewegung nicht auf einer Änderung der Kon- 
vergenzBtellung beruhen. »Wir können also die geschilderte Scheinbewegung 
des fixierten, in Wirklichkeit ruhenden Punktes in der Tat als eine Täuschung 

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Literaturberieht. 


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Über die Bedeutung des Gesetzes von der MLD für das Gesetz von 
den identischen Sehrichtungen sind Meinungsverschiedenheiten zwischen 
Witasek und Hillebrand entstanden. Im folgenden soll versucht 
werden, das zur Lösung dieser Frage Entscheidende herauszuheben. 
Hillebrand 1 ) hat darauf hingewiesen, daß der Satz von den identischen 
Sehrichtungen in dem Sinne, wie er bei Hering zu nehmen sei, aussage, 
daß korrespondierenden Netzhautpunkten, wenn sie von Lichtstrahlen ge¬ 
troffen werden, die von Punkten korrespondierender Gesichtslinien ausgehen, 
ein und dieselbe Sehrichtung zukomme, daß dieser Satz also keine Be¬ 
stimmung Uber die Beschaffenheit dieser für beide Augen »identischen« Seh¬ 
richtung enthalte, im besonderen also auch keine Bestimmung darüber, ob 
diese Sehrichtung unter bestimmten Umständen mit der binokularen Blick¬ 
linie Zusammenfalle. 

Den Ausführungen Witaseks liegt zum Teil eine etwas andere Auf¬ 
fassung von dem Gesetze der identischen Sehrichtungen zugrunde; er faßt 
es nämlich auch in dem Sinne auf, daß ein und derselben Netzhautstelle, 
wenn sie von Lichtstrahlen getroffen wird, die von Punkten ein und der¬ 
selben Gesichtslinie ausgehen, ein und dieselbe Sehrichtung zukomme, bei 
monokularem wie bei binokularem Sehen. Witasek weist nach, daß eine 
»Identität« in diesem Sinne nicht bestehe. Eine zweite Abweichung von 
der Form des Gesetzes, wie es bei Hering zu nehmen ist, besteht bei 
Witasek darin, daß er die Sehrichtung durch Sehstelle einer Sehsphäre 
umschreibt. 

Wenn wir in die Fassung des Gesetzes, wie es im Sinne Herings liegt, 
zunächst nur die zweite von den angeführten Abweichungen einführen, so 
bleibt für dasselbe bestehen, daß es keine Bestimmung über die Beschaffen¬ 
heit der Sehrichtung bzw. Sehstelle enthält, im besonderen also keine Be¬ 
stimmung darüber, ob den Netzhautstellen des deutlichsten Sehens bei Primär¬ 
stellung der Augen diejenige Sehstelle als identische zuzuordnen sei, die 
derjenigen Sehrichtung entspricht, die wir mit der binokularen Blicklinie 
zusammenfallend denken. Für das Gesetz der identischen Sehstelle, wenn 
es in diesem Sinne, d. h. lediglich in Beziehung auf korrespondierende Netz¬ 
hautpunkte genommen wird, gilt also auch, daß es auf monokulares Sehen 
nicht anwendbar ist. 

Auch in der Umformung des Gesetzes der identischen Sehrichtungen, 
wie sie Witasek für monokulares Sehen vornimmt, enthält dasselbe keine 
Bestimmung über die Beschaffenheit der Sehrichtung, deren Identität für ein 
und dieselbe Netzhautstelle bei binokularem und monokularem Sehen geprüft 
wird, im besonderen also keine Bestimmung darüber, ob bei monokularem 
Sehen die Sehrichtung identisch sei mit derjenigen, die wir bei binokularem 
Sehen mit der binokularen Blicklinie zusammenfallend denken. Entsprechen¬ 
des gilt, wenn wir auch hier den Ausdruck Sehstelle einer Sehsphäre ein¬ 
führen. Es muß bemerkt werden, daß bei Witasek diese Verhältnisse nicht 
klar genug zum Ausdruck gebracht worden sind. 

Zu den Ausführungen Hillcbrands ist noch zu bemerken, daß sie 


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Literaturbericht 


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die Unabhängigkeit dieses von jenem. Nehmen wir an, das Gesetz der iden¬ 
tischen Sehrichtnng sei aufgehoben, so folgt daraus, daß wir nicht auch in 
die binokulare Blicklinie lokalisieren, da diese ja nur eine, also eine für 
beide Augen identische Richtung darstellt. Wenn aber das eine Auge einen 
bestimmten Sehpunkt bei binokularem Sehen in die binokulare Blicklinie, 
das andere ihn dagegen in eine andere Richtung lokalisiert, so ist zwar 
denkbar, daß das Erstere bei monokularem Sehen diesen Sehpunkt in dieselbe 
Richtung lokalisiert. Aber dies ist, wenn wir jeweils von der Beschaffenheit 
der Sehrichtung absehen, gleichbedeutend mit einer Unabhängigkeit des Ge¬ 
setzes der identischen Sehrichtung in dem modifizierten Sinne, in dem es 
Witasek nimmt, von dem Gesetze der identischen Sehricbtung wie es im 
Sinne Herings gilt. 

Die Umschreibung der Sehrichtung durch Sehstelle einer Sehsphäre gibt 
zu einigen Bemerkungen Anlaß. Witasek 1 ) gewinnt den Begriff der Seh¬ 
sphäre durch Ableitung aus dem Begriffe des Sehraumes. Dieser ist »die 
dreidimensionale Mannigfaltigkeit, deren jedes Element (jeder Sehraumpunkt) 
nach den drei Dimensionen eindeutig bestimmt ist«. Der erste Schritt der 
Ableitung gibt den Begriff des Sehfeldes. Dieses ist »eine zweidimensionale 
Mannigfaltigkeit«, deren Elemente »im weiteren Sinne jener dreidimensionalen 
Mannigfaltigkeit angehören« und »dadurch ausgewählt sind, daß zu jeder 
Doppelbestimmtheit nach der ersten und zweiten Dimension nur eine einzige 
(nicht viele, wie im Sehraum) der dritten Dimension gehört, mit anderen 
Worten, daß, wenn die Koordinaten der ersten und zweiten Dimension ge¬ 
geben Bind, die nach der dritten nicht mehr variabel, sondern eindeutig ab¬ 
hängig ist: Das Sehfeld ist eine in bestimmter Tiefe im Sehraum lokalisierte 
Fläche.« Ein zweiter Schritt der Ableitung führt zu dem Begriff der Seh¬ 
sphäre. »Sie ist jene räumliche Sehmannigfaltigkeit, die nur nach zwei 
Dimensionen bestimmt, nach der dritten dagegen völlig unbestimmt ist. Die 
Elemente der Sehsphäre, die, gerade so wie die des Sehfeldes, nach zwei 
Dimensionen unabhängig variabel, nach der dritten jedoch im Gegensatz zu 
diesem, unbestimmt sind, sollen, da der Punkt nach drei Dimensionen be¬ 
stimmt sein muß und daher die Ausdrücke Sehraum oder Sehsphären un¬ 
richtig wären, Sehstellen heißen.« Die definitorischen Bestimmungen, die 
Witasek für Sehraum, Sehfeld und Sehsphäre gibt, sind den Begriffen des 
dreidimensionalen Raumes, der Fläche im dreidimensionalen Raum und der 
Fläche im zweidimensionalen Raum entnommen. Wenn wir mit Hering 
unter Sehraum >den Raum, wie er uns in einem gegebenen Augenblicke er¬ 
scheint«, verstehen, so haben jene definitorischen Bestimmungen für den 
Sehraum als solchen keine Geltung, deshalb nämlich nicht, weil Bie nicht 
den Bestand des im Sehraum psychologisch Gegebenen treffen. Aber da der 
zweidimensionalen Fläche in unserem entwickelten Bewußtsein keine Seh¬ 
sphäre, d. i. kein Anschauungsbild eines nnr zweidimensionalen Raumgebildes 
entspricht, so ist jene Deduktion der zweidimensionalen Fläche zweckmäßig, 
um ein entsprechendes Anschauungsbild als möglich zu fordern. Diese 
Forderung wird erfüllt in der Annahme, daß die Sehsphäre, »als die unserem 

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Literaturbericht. 


liehen Anschauung wäre jene Begriffsbildung nur dann zweckmäßig, wenn 
sich nachweisen ließe, daß die Sehsphäre einen einfachen Bestandteil der 
Raumanschauung als eines Anschauungskomplexes ansmache, wie analoger¬ 
weise die reinen sinnlichen Empfindungen als einfache Bestandteile aus den 
psychologisch unmittelbar gegebenen Empfindungskomplexen durch Ab¬ 
straktion allererst gewonnen werden. Daß die Sehsphäre ein solches un¬ 
mittelbar sinnlich Gegebenes, gegenüber dem Sehraum psychologisch Ein¬ 
faches. die Sehrichtung dagegen ein Produkt gedanklicher Verarbeitung des 
sinnlich Gegebenen sei, ist der Sinn der Annahme Witaseks. »Der Rich¬ 
tungsgedanke ist von sekundärer Natur. Die Richtung nehmen wir nicht 
wahr, sondern denken sie auf Grund der Wahrnehmungsdaten aus eigenem 
hiuzu . . . Der Richtungsgedanke ist uns niemals unmittelbar durch Sinnes¬ 
tätigkeit gegeben, sondern immer erst auf einem Umwege gedanklicher Ver¬ 
arbeitung des der Sinnestätigkeit unmittelbar Entstammenden ... Zur Bildung 
des Richtungsgedankens sind die Vorstellungen von zwei örtlich bestimmten 
Gegenständen, kurz von zwei Ortsbestimmungen erforderlich . .. Um die 
Sehrichtung aufzufassen, ist erforderlich, den Sehort des Sehdinges zum 
Orte des Sehenden in Beziehung zu setzen. Der Ort des Sehenden wird aber 
nicht wie der des Sehdinges, im Sehakto mit wahrgenommen ... Es muß 
also der durch die Wahrnehmung gebotene anschaulich gegebene Sehraum 
erst noch konstruktiv im Geiste ergänzt werden, indem man ihm in der 
Phantasie den Raum, in welchem man sich vermöge anderweitiger Data den 
eigenen Körper (genauer den Kopf) vorstellt, anfügt. Ist das geschehen, so 
hat man wieder die beiden Gegenstände bzw. ihre Ortsbestimmungen in der 
Vorstellung, die in Beziehung zueinander zu setzen sind, damit die Richtung 
von dem einen zum anderen erfaßt werden könne, die Richtung von sich 
selbst, dem Sehenden aus (diesen als Sehding im erweiterten Sehraum vor- 
gestellt) zum jeweiligen Sehding.« 

Hillebrand vertritt demgegenüber die Ansicht, daß die Sehrichtung 
»unmittelbar und anschaulich« gegeben sei. Die Sehrichtung ist nach ihm 
»kein Relationsbegriff« und setzt nicht die Zweiheit von Orten voraus, die 
aufeinander bezogen werden.« Er unterscheidet demgemäß einen primären 
und einen abgeleiteten Richtungsbegriff: »Der primäre ist der Sebrichtnng 
entnommen, und nur eine Verallgemeinerung dieses Phänomens, der abge¬ 
leitete« — der für die Richtung zweier objektiver Punkte zueinander gilt — 
»unterscheidet sich von ihm nur dadurch, daß er von dem tatsächlichen Seh¬ 
akte abstrahiert und statt dessen bloß den Ort angibt, wo sich dieser ab- 
spielen müßte.« 

Die Entscheidung über diese Frage ist abhängig von einer Prüfung, ob 
hier in der Tat das Wahrgenommene und das Hinzugedachte getrennt werden 
können, oder ob nicht das räumliche Nebeneinander, auch wie es in der un¬ 
mittelbaren Wahrnehmung gegeben ist, ein Produkt unseres beziehenden 
Denkens sei und als solches einen Bestandteil unserer Wahrnehmung aus- 


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Literaturbericht. 


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jedes räumliche Verhältnis eine Beziehung sei. Daß in unserem entwickelten 
Bewußtsein der eine der Beziehungspunkte im Verlaufe der Gewöhnung und 
der ihr entsprechenden Verringerung der Aufmerksamkeit sehr undeutlich 
bewußt oder gar nur unbewußt erregt geworden ist, würde nicht gegen jene 
Annahme sprechen. 

Zum Schlüsse dieses Referates sei mir gestattet, einige Ergebnisse von 
Versuchen, die zur Nachprüfung der Ergebnisse Witaseks angestellt wurden, 
beizufügen. Ich bin dabei auf Tatsachen gestoßen, die die Möglichkeit 
einer psychologischen Dentung zulassen. 

Witasek fand, daß die Heringsche Scheinbewegung bei binokularem 
Sehen sehr ausgeprägt zustande komme. Den betreffenden Versuch Wita¬ 
seks wiederholte ich: Ich fixierte zuerst binokular einen fernen Punkt a, 
darauf einen nahen Punkt b, der mit a auf derselben Gesichtslinie des 
rechten Auges lag. Die Scheinbewegung konnte ich anfangs mühelos beob¬ 
achten, bis es mir einfiel, während ich den fernen Punkt a fixierte, zugleich 
meine Aufmerksamkeit auf daB dem rechten Auge zukommende Halbbild ß r 
des nahen Punktes b zu richten. Wenn ich nun die Augen nach dem nahen 
Punkte konvergierte, und dabei immer das nahe Halbbild ß r und während 
des ganzen Verlaufes der Konvergenzbewegung auch die Lage von ß r zu 
dem jetzt auftretenden, dem rechten Auge zugehörigen, Halbbild « r des 
fernen Punktes a, streng beachtete, so konnte ich keine Spur einer Bewegung 
eines zum rechten Auge gehörigen Halbbildes, weder des nahen noch des 
fernen bemerken. Das gleiche Resultat erhielt ich bei entsprechendem Über¬ 
gang von der nahen zur fernen Marke. Dieses Resultat bedeutet, daß das 
Zustandekommen der Scheinbewegung von der Einstellung der Aufmerksam¬ 
keit abhängt. Die Scheinbewegung ist also in diesem Falle nicht peripher, 
sondern zentral bedingt. Es liegt demnach nahe, anzunehmen, daß sie, wenn 
sie eintritt, auf einer durch Unaufmerksamkeit bedingten Täuschung beruht, 
die hervorgerufen wird durch den Kontrast zu der entgegengesetzt gerich¬ 
teten Bewegung des Halbbildes ßi bzw. rt ( des linken Auges. 

Die Annahme einer »Urteilstäuschung« glaubt Witasek auB folgendem 
Grunde ablehnen zu können: »Schon der bloße genaue Augenschein der 
Vorgänge im Sehraum zeigt, daß nicht nur das Halbbild des bewegten, 
sondern auch das des ruhenden Auges eine Verschiebung im Sehraum er¬ 
leidet. Wenn man schon, was übrigens unbegründet wäre, dem anschaulichen 
Bewegungseindruck, der an beiden Halbbildern gleich deutlich auftrete, mi߬ 
trauen zu müssen glaubt, so spricht doch der Vergleich der ursprünglichen 
mit der schließlichen absoluten Lage dieses Halbbildes im Sehraum be¬ 
stimmtest dafür, daß seine Lage nicht dieselbe bleibt.« Auch nach Wita¬ 
seks Auffassung ist die Bewegung des in Betracht kommenden Halbbildes 
eine Scheinbewegung; es geht aber nicht an, den anschaulichen Charakter 
dieser Scheinbewegung als Gegenargument dagegen aufzustellen , daß die 
Scheinbewegung nicht auf einer »Urteilstäuschung« beruhe. 

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Literaturbericht. 


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einer solchen Einstellung, daß das Halbbild ß t mit dem Halbbild a r zusammen¬ 
fiel. Dann verdeckte ich das linke Auge und beobachtete die scheinbare 
Verschiebung von a r und ß r nach links hin. 

Darauf aber veränderte ich den Versuch folgendermaßen: Ich stellte die 
Augen so ein, daß das rechte Auge a fixierte, während das Halbbild ß r vom 
Punkte b auf den blinden Fleck dieses Auges fiel, und entsprechend das 
linke Auge b fixierte, während das Halbbild «/ auf den blinden Fleck des 
linken Auges fiel, und zwar so, daß die Halbbilder « r und ß t zusammenfielen. 
Die Beibehaltung der Fixationsstellung erleichterte ich mir zunächst dadurch, 
daß ich den Konvergenzpunkt der beiden Augenachsen durch eine Feder¬ 
spitze markierte. Wenn ich nun das eine Auge verdeckte und dann wieder 
freigab, so konnte ich eine inzwischen stattgefundene Abweichung aus der 
Fixationsstellung daran kontrollieren, daß die Halbbilder und ßi sich nun 
nicht mehr deckten. Stärkere Abweichungen konnte ich schon während des 
Verschlusses des einen Auges an dem Auftauchen des vorher auf den blinden 
Fleck fallenden Halbbildes «/ bzw. ß r des offenbleibenden Auges feststellen. 
In allen Fällen, wo eine Abweichung der Fixationsstellung nicht konstatiert 
wurde, blieb bei dieser Versuchsanordnung das Phänomen der Scheinbewegung 
aus. Einige Male gelang es mir auch, die Fixationsstellung ohne Hilfe der 
Federspitzo beizubehalten, mit dem gleichen negativen Erfolge. Daraus geht 
hervor, daß das Auftreten des Phänomens in der ersten Versuchsanordnung 
durch das Vorhandensein der Halbbilder a r und ß t bedingt ist. Dies legt 
folgende Deutung nahe: Während im ersten Stadium des I. Versuches mit 
einem scheinbar identischen Punkte, wo beide Augen geöffnet sind, die 
Aufmerksamkeit auf den Punkt u r ß t gerichtet ist und tu und ß r gleich¬ 
mäßig nebenher beachtet werden, tritt im zweiten Stadium dieses Ver¬ 
suches eine andere Verteilung der Aufmerksamkeit ein. Durch das Ver¬ 
schwinden von ui verliert der Punkt a r ß t seine Stellung als Zentrum des 
Sehfeldes. ß r drängt sich infolgedessen flir die Beachtung mehr hervor. Eine 
damit wahrscheinlich verbundene Verschiebung des Zentrums des Aufmerk¬ 
samkeitsbereiches nach rechts hin scheint eine Täuschung über die Lage 
der Punkte u t und ß r in der Richtung nach links zu veranlassen. Dem¬ 
entsprechend fällt bei der II. Versuchsanordnung, wo im zweiten Stadium ß r 
nicht vorhanden ist, und daher keine Verschiebung des Zentrums des Auf¬ 
merksamkeitsbereiches stattfindet, die Täuschung aus. Ich versuchte darauf, 
bei der ersten Anordnung der Täuschung entgegen zu wirken, indem ich 
meine Aufmerksamkeit streng darauf einstellte, ob beim Zudecken des 
linken Auges das linke Halbbild verschwinden werde und hielt beim Ver¬ 
schluß dieses Auges den Ort, wo das Bild verschwand, noch streng be¬ 
achtet. Ich kann mit großer Gewißheit sagen, daß dabei eine Schein¬ 
bewegung nicht zustande kam, und daß es mir bei den unmittelbar darauf¬ 
folgenden Versuchen nur noch in einzelnen Fällen gelang, diese Aulmerk- 
samkeitseinstelluns’ zu unterdrücken und eine Scheinbewesrnne- zu erhalten. 


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Referate 


2) E. B. Titchener, Lehrbuch der Psychologie. Übersetzt von 0. Klemm. 

Erster Teil. Mit 44 Figuren. 8°. 315 S. Leipzig, J. A. Barth, 
1910. M. 6.—; geb. M. 6.80. 

3) W. Jerusalem, Lehrbuch der Psychologie. 4. Aufl. Mit 20 Abbil¬ 

dungen. gr. 8o. 213 S. Wien und Leipzig, W. Braumiiller, 1907. 
geb. Kr. 4.—. 


Der vorwiegend didaktische Zweck der beiden vorliegenden Bücher 
dürfte ohne weiteres eine gemeinsame Besprechung derselben rechtfertigen; 
dazu kommt der zum Teil übereinstimmende, zum Teil sich widerstreitende 
oder ergänzende Inhalt der Bücher, der zu Gegenüberstellungen und zu Ver¬ 
gleichen auffordert. In der Hauptsache wird es natürlich unsere Aufgabe 
bleiben, die wissenschaftlichen Momente herauszuziehen und in den Vorder¬ 
grund zu stellen. Beide Bücher sind für Anfänger geschrieben und zwar 
für Schüler der Oberklassen mittlerer Lehranstalten: Gymnasien, Realgymna¬ 
sien usw., sowie für Studenten der Hochschule, die Vorlesungen über Psycho¬ 
logie hören. Leider sind in Deutschland die Fälle noch selten, wo die 
Mittelschulen in ihrem Lehrplan der Psychologie so viel Raum übrig lassen, 
daß von einem geordneten Betrieb derselben die Rede sein könnte. Bei 
solch stiefmütterlicher Behandlung des Faches auf der Mittelschule ist es 
denn für die Studierenden der Hochschule von großem Nutzen, wenn sie 
neben dem gehörten Worte ihres Lehrers auch zugleich literarische Hilfs¬ 
mittel zu Rate ziehen können, die ihnen die Wiederholung des Gehörten 
erleichtern, ihnen ferner eine Vorbereitung auf das Kommende ermöglichen 
und sie in den Stand setzen, eingerissene Lücken sofort wieder auszugleichen. 
Da die größeren fachwissenschaftlichen Handbücher erfahrungsgemäß für die 
meisten Anfänger zu schwer sind, die kleineren populären Schriften anderer¬ 
seits aber zu wenig bieten, so dürften Lehrbücher wie die beiden vorliegen¬ 
den mit einer elementaren Ausdrucksweise bei anschaulicher Darstellung und 
zugleich wissenschaftlicher Vollständigkeit unter der studierenden Jugend 
stets Freunde und Abnehmer finden. Auch für das Selbststudium mögen die 
beiden Bücher recht gute Dienste leisten, weil sie beide immer wieder zu 
selbständigem Nachdenken anregen, sich nicht — wie so manche Schul¬ 
bücher — bloß an das Gedächtnis wenden und mit allgemeinen Begriffs¬ 
bestimmungen und logischen Ableitungen sich begnügen, sondern die Tat¬ 
sachen selber in den Mittelpunkt der Betrachtung stellen. 

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Literaturbericht. 


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Ausführungen etwas weniger konkret ausfallen, nichtsdestoweniger aber stets 
bei den Tatsachen bleiben. Finden wir bei Titchener besonders die 
Psychologie der Sinne, die Untersuchung der einfachen Empfindungen mit 
einer Ausführlichkeit behandelt, wie dies sonst in Lehrbüchern der Psycho¬ 
logie nicht der Fall zu sein pflegt, so weist Jerusalem der elementaren 
Sinnespsychologie einen verhältnismäßig knappen Raum an, verweilt dafür 
aber ziemlich eingehend bei den komplizierteren Vorgängen des Vorstellungs¬ 
lebens und verwendet ganz besondere Sorgfalt auf die Untersuchung der 
Gefühle, wobei es ihm aber mehr auf eine durchgehende Klassifikation und 
biologisch-soziologische Betrachtung der Gefühle ankommt als auf ihre 
psychologische Analyse. Titchener vermeidet es einigermaßen — soweit 
der vorliegende erste Teil des Buches ein abschließendes Urteil zuläßt —, 
nach umfassenden philosophischen Gesichtspunkten seine Gedanken zu orien¬ 
tieren; er untersucht und beschreibt vielmehr im allgemeinen die seelischen 
Tatsachen ohne Rücksicht auf Theorien und Hypothesen. Jerusalem legt 
seinen Betrachtungen, unbeschadet der streng empirischen Behandlung der 
Fragen, stets das biologische Prinzip zugrunde und gibt auf diese Weise 
seiner Darstellung den Charakter der Einheitlichkeit und des festen Zu¬ 
sammenhangs. — So tritt uns also Titchener in seinem Buche entgegen 
als der mit dem Interesse und dem Geist des Naturforschers an die Einzel¬ 
tatsachen des Seelenlebens herantretende Kleinarbeiter, Jerusalem dagegen 
als der mehr von allgemeinen Gesichtspunkten aus die seelischen Inhalte 
logisch ordnende und biologisch-soziologisch betrachtende Philosoph. 

Zu Einzelheiten übergehend, fällt uns bei Titchener vor allem die 
weitgehende Analyse der Empfindungen auf Neben den sogenannten höheren 
Sinnen finden wir genauer besprochen Geruchs-, Geschmacks- und Hautsinn; 
und alles das, was gewöhnlich in der Hauptsache als Gemeinempfindungen 
ganz kurz und flüchtig abgehandelt wird, finden wir hier sorgfältig analysiert 
und geordnet unter den Titeln: Ampullarsinn und Vestibularsinn des inneren 
Ohres, Empfindlichkeit der Unterleibsorgane, Empfindungen des Verdauungs¬ 
und Urinsystems, Empfindungen des Kreislaufs- und Atmungssystems, Emp¬ 
findungen des Genitalsystems. Die kinästhetischen Sinne: Muskelsinn, Sehnen¬ 
sinn, Gelenksinn sind außerdem scharf von den Sinnen der Haut abgetrennt 
und zu selbständigen Empfindungsgrnppen vereinigt. 

Bei Betrachtung des Gesichts und des Gehörs gibt Titchener 
nichts wesentlich Neues. In der Farbentheorie steht er auf dem Standpunkt 
Herings und folgt G. E. Müller in der Annahme eines kortikalen Ur¬ 
sprungs der neutralen Grauempfindnng. Zur Erklärung der Ton- und Klang¬ 
empfindungen macht er sich die Resonanzhypothese zu eigen und verteidigt 
sie gegen andere Theorien, deren keine die Tatsachen so befriedigend er¬ 
kläre wie die Theorie Helmholtz’. — In dem Kapitel über Geruchs¬ 
empfindungen wird die Abhängigkeit der Gerüche von der Zusammen- 


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Literaturbericht. 


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übersteigt. Bei stärkeren Geschmäcken beobachtete er statt eines Ver¬ 
schmelzens ein Oszillieren von einem Geschmack znm anderen. — Dem 
inneren Ohr schreibt Ti t che n er zwei selbständige k in ästhetische Sinne 
zu, die — an bestimmte Organe gebunden — uns Wahrnehmungen über die 
Bewegung und Lage des Kopfes sowie des ganzen Körpers verschaffen. 
Diese Organe sind die Cristae der Bogengänge und die Maculae des 
Vorhofs, die nach Ursprung und äußerer Beschaffenheit große Ähnlichkeit 
miteinander besitzen, aber sich darin wesentlich unterscheiden, daß in den 
Cristae die Haarzellen frei in die Ampullarrühren hineinreichen, während sie 
in den Maculae winzige Kristalle von kohlensaurem Kalk, die Otolithen, ein¬ 
schließen, so daß im ersten Fall direkt die Flimmerhärchen als die empfin¬ 
denden Organe sich darstellen, während im zweiten Fall die Otolithen es 
sind, deren Bewegung die Empfindung vermittelt. Durch Beispiele von 
Taubstummenbeobachtungen sind die theoretischen Erörterungen über die 
beiden Sinne des näheren noch erläutert und zu stützen versucht. 

Nachdem in dem folgenden Abschnitt die Empfindungen der Unterleibs¬ 
organe im einzelnen geordnet und nach ihrer Eigenart ausführlich geschil¬ 
dert sind, behandelt ein weiteres Kapitel die Intensität der Empfindung, die 
Maßmethoden und das Web ersehe Gesetz, wobei der Verf. im allgemeinen 
den in den Handbüchern der Psychologie gegebenen Darstellungen folgt. 
Von größerer eigenartiger Bedeutung ist dann wieder das Kapitel über das 
Gefühl. Hier vertritt Titchener ganz entschieden die eindimensionale 
Lust-Unlusttheorie und bekämpft ebenso entschieden die Dreidimensionalität 
Wundts. Er macht dieser Theorie zunächst den Vorwurf des unlogischen 
Aufbaues, indem sie drei Kategorien von Gefühlen annehme: die erste Kate¬ 
gorie Lust-Unlust (in Abhängigkeit gesetzt zu der Intensität der 
Reize), die zweite Kategorie Erregung-Beruhigung (in Beziehung ge¬ 
bracht zu der Qualität der Reize) und die dritte Kategorie Spannung- 
Lösung (abhängig von den zeitlichen Verhältnissen der Reize) —; 
daß sie also eine dreifache Variation der Erlebnisse unterscheide, eine 
Variation dem Grad, der Art und der Zeit nach, und jeder dieser Variationen 
eine Geflihlskategorie entsprechen lasse. Da nun aber die räumliche Be¬ 
ziehung der Reize unberücksichtigt geblieben sei, so hätte Wundt bei folge¬ 
richtigem Aufbau seiner Theorie noch eine vierte Gefühlskategorie — die 
durch die räumlichen Eigentümlichkeiten der Reize charakterisierte — hinzu¬ 
fügen müssen. Dieses logische Argument gegen die Dreidimensionalität der 
Gefühle scheint aber Titchener selber nicht für durchschlagend zu halten. 
Er bringt darum den zweiten logischen Einwand: daß das Gefühlspaar Lust- 
Unlust sich in gegensätzlichen Erlebnissen bewege, während in den beiden 
anderen Gefühlspaaren der eine Teil nnr die niedrigste Stufe des anderen 
ausdrücke, Beruhigung also den Nullpunkt der Erregung, Lösung aber den 
Nullpunkt der Spannung bezeichne. Ferner weist er auf die Ergebnisse der 
experimentellen Forschung hin und versucht daraus den Nachweis zu er- 


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Literaturbericht. 


Aufmerksamkeit. Er lehnt es ab, eine aktive Aufmerksamkeit im Sinne 
einer spezifischen und willkürlichen seelischen Tätigkeit gelten zu lassen, 
betrachtet sie vielmehr als bloße Resultante aus einem Widerstreit von Rich¬ 
tungen der passiven Aufmerksamkeit. Aus diesem Grunde wählt er auch 
zur Bezeichnung der beiden Arten seelischen Verhaltens die Namen primäre 
und sekundäre Aufmerksamkeit, fügt dann aber gleich noch eine dritte Ent¬ 
wicklungsstufe der Aufmerksamkeit hinzu, nämlich die Rückkehr aus dem 
sekundären Stadium in das primäre. Als der beste Beweis für das Entstehen 
der sekundären aus der primären Aufmerksamkeit gilt ihm »die Tatsache, 
daß in der alltäglichen Erfahrung die sekundäre Aufmerksamkeit sich kon¬ 
tinuierlich in die primäre Form zurückverwandelt«. Die Analyse des Auf¬ 
merksamkeitserlebnisses führt Titchener ferner zur Annahme zweier 
Niveauhöhen (Klarheitsabstufungen) des Bewußtseins, die beide nicht all¬ 
mählich durch Zwischenstufen, sondern sprungweise ineinander übergehen, 
so daß ein eben noch dunkelbewußter Vorgang im nächsten Augenblick so¬ 
fort auf seiner maximalen Klarheitsstufe stehe, um sodann wieder ganz plötz¬ 
lich ohne jeden Übergang auf seine vorige Stufe herabzusinken. 

Was seine Stellungnahme zu den verschiedenen physiologischen Theorien 
anbelangt, so lehnt der Verf. im Interesse Beiner Schüler es ab, in weit¬ 
läufige Erörterungen darüber einzutreten, führt vielmehr an der Hand der 
ihm am plausibelsten erscheinenden Lehre seine Erklärung durch, die Frage 
offen lassend, ob nicht eine andere Theorie die eine oder andere Frage 
ebensogut oder noch besser zu erklären imstande sei. — 

Wenden wir uns nun zur näheren Besprechung des BucheB von Jeru¬ 
salem. Hier begegnen wir vor allem dem Einflüsse Wundts. Besondere 
im Gebiet der Gefühlslehre finden wir — im Gegensatz zu Titchener — 
die Dreidimensionalität der Gefühle unverändert herübergenommen. Daneben 
aber gibt Jerusalem eine selbständige Beschreibung des Charakters ein¬ 
zelner TotalgefÜlile in ihrer Beziehung zur Außenwelt, in ihrer Bedeutung 
für die Stellung des Menschen zu den Naturdingen, zum Nebenmenschen und 
zum Weltganzen, ferner in ihrem Verhältnis zu dem Subjekt, soweit sie aus 
der Einkehr der Seele in ihr eigenes Sein entstehen. Nach diesen Be¬ 
ziehungen ordnet er die Gefühle in folgende Gruppen: Individualgefiihle, 
FamiliengefUhle, patriotische Gefühle, Gefühle der Sympathie, sittliche, reli¬ 
giöse und intellektuelle Gefühle. 

Was dem Buch seine besondere Eigenart verleiht, ist die oben erwähnte 
streng durchgeführte biologische Betrachtungsweise des seelischen Ge¬ 
schehens. Es wird überall versucht, die psychischen Vorgänge zu verstehen 
im Hinblick auf die Erhaltung des Individuums und der Gattung. Die ein¬ 
fachsten Empfindungen sowohl wie die Gefühle, die Aufmerksamkeit, die 
komplizierteren Denkprozesse, die Willensvorgänge: sie alle dienen in letzter 
Linie dem Zweck, den Menschen in seinem Kampfe um seine Existenz zu 
unterstützen, ihm die Mittel an die Hand zu geben zu erfolgreicher prak¬ 
tischer Lebensbetätigung. Nach diesem Gesichtspunkt ist das ganze Buch 
orientiert, und Jerusalem sieht darin ein gutes heuristisches Prinzip, durch 

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. Literaturbericht. 


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öffentliche ist. Der Begriff der typischen Vorstellung an sich dürfte wohl in 
der Hauptsache mit dem, was Wundt »repräsentative« Vorstellung nennt, ■ 
zusammenfallen. In der Formulierung des Begriffs liegt also das Neue nicht 
Neu ist vielmehr die Auffassung, wie sich die typische Vorstellung psycho¬ 
logisch entwickelt. Hierin weicht Jerusalem von der herkömmlichen 
Theorie der »Gemeinsamkeit der Merkmale« wesentlich ab. Nicht die Häufig¬ 
keit des Wiederkehrens der gemeinschaftlichen Merkmale der Objekte bringe 
die typische Vorstellung hervor, sondern die Wichtigkeit bestimmter Merk¬ 
male für unser praktisches Verhalten den Dingen gegenüber Bei maßgebend 
für ihren Anteil am Aufbau jener Vorstellung — mit anderen Worten: die 
typische Vorstellung sei der Inbegriff der biologisch wichtigen Merkmale 
eines Objekts. »Wir erfahren gewissermaßen durch die typische Vorstellung 
nur, wessen wir uns von dem Objekte zu versehen haben. Wie der Gegen¬ 
stand sonst aussieht, davon enthält die typische Vorstellung wenig oder 
nichts.« Jerusalem erläutert seine Auffassung an mehreren Beispielen 
und zeigt, daß die Aufmerksamkeit Bich immer zunächst auf diejenigen Merk¬ 
male eines Dinges konzentriere, die für uns biologisch bedeutsam sind, und 
daß darum die typische Vorstellung in der seelischen Entwicklung viel früher 
entstehe als die genauen, alle Einzelheiten enthaltenden Einzelvorstellungen. 
Der biologischen Betrachtungsweise entstammt ferner noch der Begriff der 
fundamentalen Apperzeption. Hierunter versteht Jerusalem die¬ 
jenige ursprüngliche Auffassungsweise der Dinge, durch welche alle Vor¬ 
gänge der Umgebung und alle Eigenschaften der Gegenstände als Willens¬ 
äußerungen selbständiger Objekte gedeutet werden. Diese Auffassung ent¬ 
stehe dadurch, daß das unentwickelte Bewußtsein im Kind seine eigenen 
Willensimpulse in die Dinge der Außenwelt hineintrage und so in den Vor¬ 
gängen Willensäußerungen der Dinge sehe. In der entwickelteren Auf¬ 
fassungsweise des Erwachsenen trete dann an die Stelle eines Willens, aber 
doch nach Analogie unserer Willenshandlungen, der Begriff der Kraft, und 
die Dinge selber gestalteten sich zu Kraftzentren. — Nach dieser Vorberei¬ 
tung der Auffassung äußerer Gegenstände durch die fundamentale Apper¬ 
zeption, die zugleich als inneres, ungesprochenes und unanalysiertes U r t e i 1 
gelten könne, entstehe dann durch allmähliche Fortentwicklung der Aus- 
drucksmittel in der Sprache die äußere Urteilsform des Satzes, bestehend 
aus zwei Teilen, Subjekt und Prädikat. Das Urteil sei also nichts anderes 
als die Auflösung eines Vorgangs in zwei Bestandteile zum Zweck der 
sprachlichen Fixierung — anders ausgedrückt: die äußere sprachliche Form, 
in die wir alles Geschehen bringen müssen, um es geistig zu verarbeiten und 
um unsere Erkenntnis weiterzubringen. So ist an dem Beispiel der einfachen 
Urteile gezeigt, wie biologische Momente in den Denkprozessen mitspielen; 
es wird dann in der Folge noch weiter gezeigt, wie diese Momente bis in 
die abstraktesten Denkakte hinein mitwirken und fortgesetzt die seelische 
Entwicklung bedingen. 

Zum Schlüsse sei noch anerkennend auf eine Eigentümlichkeit des Buches 
hingewiesen, die zwar wissenschaftlich keine besondere Bedeutung bean- 


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oft nur halb oder gar nicht verstandenen Dichterwortes. Man darf dem 
Verf. nur dankbar sein für diese Art didaktischer Nutzanwendung der Psycho¬ 
logie, weil sie das Verständnis der Psychologie erleichtert nnd ihre Wert¬ 
schätzung erhöht. J. Köhler (Lauterbach). 


4) Max Verworn, Die Mechanik des Geisteslebens. Aus Natur und 
Geisteswelt. Leipzig, B. G. Teubner, 1910. M. 1.—; geb. M. 1.25. 

Nach einem Eingangskapitel über das Verhältnis von Leib und Seele 
werden in dem Büchlein die physiologischen Bedingungen der seelischen 
Vorgänge aufgezeigt; es werden vor allem die Elemente des Nervensystems 
aufgesucht, ihr anatomischer Bau wird betrachtet, ihrem Zusammenhang 
untereinander und den in ihnen ablaufenden Lebensprozessen der Dissimi¬ 
lation und Assimilation nach ihrem Wesen und ihrem Zweck genauer nach¬ 
geforscht; es wird dann die Aufgabe der Nervenfasern und ihr Verhalten 
gegenüber Ermüdungsexperimenten an der Hand von Beispielen näher illu¬ 
striert. — In dem Kapitel Uber die Bewußtseinsvorgänge geht der Verf. ein¬ 
gehend auf die Gehirn-Lokalisationslehre ein und versucht, gestützt auf die 
Ergebnisse bei Tierversuchen, das Problem des Gedächtnisses physiologisch 
zu erklären durch die Annahme einer Massevermehrung der Ganglienzellen 
infolge fortgesetzter Übung Gedächtnisverlust hingegen durch die Annahme 
einer Masseverminderung der Zellen bei geringer oder fehlender Übung 
— analog den Vorgängen im geübten und nichtgeübten Muskel. — In den 
beiden Schlußkapiteln des Buches werden die physiologischen Vorgänge in 
den Zuständen des Schlafes, der Narkose, des Tranmes, der Snggestion und 
der Hypnose auseinandergesetzt. Die Wesensverschiedenheit von Schlaf und 
Narkose wird hier scharf betont und darauf hingewiesen, daß im Schlaf eine 
Restitution der ermüdeten Ganglienzellen stattfinde, während in der Narkose 
die Rückkehr dieser Organe in den unermlideten Zustand vollständig ge¬ 
hemmt sei. Beim Traum handle es sich, da er bewußt verlaufe, um einen 
partiellen Wachzustand des Gehirns, wobei der größere Teil der Großhirn¬ 
rinde schlafe, während einzelne Partien von Ganglien durch bestimmte Reize 
in einen Erregungszustand versetzt seien. Die Hypnose will der Verf. nicht 
als Schlaf, sondern als Wachzustand betrachtet wissen, der sich von dem 
normalen Wachzustand des Menschen prinzipiell nicht unterscheide, sich 
vielmehr einzig und allein durch die erhöhte Suggestibilität auszeichne. 

Kritisch ist zu dem Buch nur wenig zu bemerken Es wäre vielleicht 
zu empfehlen, daß der Verf. auch sprachlich die Unterscheidung zwischen 
dem subjektiv bezogenen Vorgang des Fühlens und der nach außen gerich¬ 
teten Tastempfindung machen würde, damit auch in der populären Auf¬ 
fassungsweise die beiden Begriffe immer deutlicher auseinandergehalten 
werden. In den Darlegungen des ersten Kapitels über das Verhältnis von 
Geistigem und Materiellem können wir dem Verf. nicht überall zustimmen, 
weil wir die von ihm postulierte Identität von Empfindung und Empfindungs¬ 
bedingung entschieden bestreiten müssen. Die übrigen Kapitel des Buches. 


Deaingung 

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Origirslfrcm 

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5) C. Lange, Die Gemütsbewegungen, ihr Wesen und ihr Einfluß auf 
körperliche, besonders auf krankhafte Lebcnserscheinungcn. Zweite 
Auflage, besorgt und eingeleitet von H. Kurelia. Mit einer Ab¬ 
bildung im Text. WUrzburg, Kurt Kabitzsch (A. Stüber), 1910. 
M. 1.80. 

Die zweite Auflage von Langes »Gemütsbewegungen« hat der Heraus¬ 
geber Kurella mit einer interessanten Einleitung versehen, in der er die 
allmähliche Aufnahme der Langeschen Theorie und ihr Verhältnis zu ver¬ 
wandten Theorien bespricht Mit Recht tadelt Kurella es, daß gerade die 
Physiologen und Pathologen und sogar manche Psychiater von Langes 
Gedanken kaum Notiz genommen haben, und die »Widerlegung«, die manche 
Psychologen der Theorie gewidmet haben, wird von ihm mit Recht als keine 
wissenschaftlich genügende anerkannt. Es ist schade, daß die S. 23 (der 
Vorrede) vom Herausgeber erwähnte kritische Auseinandersetzung Langes 
mit Lehmann nicht in deutscher Übersetzung erschienen ist; vielleicht fügt 
sie der Herausgeber einer späteren Auflage der vorliegenden Schrift bei. 

E. Meumann (Leipzig). 


6 W. Lubosch, Vergleichende Anatomie der Sinnesorgane der Wirbeltiere. 

(Aus Natur und Geisteswelt. Bd. 282.) Mit 107 Abbildungen im 

Text. Leipzig. B. G. Teubner, 1910. M. 1.25. 

Die kleine Schrift gibt eine ganz vortreffliche Einführung in einen für 
den Psychologen wichtigen Teil der vergleichenden Anatomie. Der Verf. 
betrachtet die einzelnen Sinne nach Gruppen, die unter vergleichend-anato¬ 
mischen Gesichtspunkten geordnet sind: Sinnesorgane mit Ganglienzellen als 
Endapparat und Sinnesorgane mit spezifischen Sinneszellen als Endapparaten. 

Was die Grundauffassung des Verf. angeht, so möge diese mit seinen 
eigenen Worten hier wiedergegeben sein: »Auf dem Boden der Darwin¬ 
schen NaturauffasBung, die wir als einen dauernden Besitz bewahren, hat 
sich das Lehrgebäude der vergleichenden Anatomie erhoben; die verglei¬ 
chende Anatomie der Sinnesorgane ist nur ein Teil dieses großen Gebietes. 
Doch wird auch beim Studium dieses Teiles das der ganzen Wissenschaft 
Eigentümliche wohl zum Verständnis des Lesers gelangen. Kein Organ be¬ 
steht für sich; kein Teil an lebenden Wesen kann sich verändern, ohne daß 
alles an ihnen in Veränderung gerät. Oft liegen die Ursachen für Umgestal¬ 
tungen eines Organes ganz außerhalb dieses Organes selbst. Diese gegen¬ 
seitige Beeinflussung der einzelnen Organe, überhaupt aber die Darstellung 
der Ursachen jeder Veränderung schien mir bei einer für weitere Kreise be¬ 
stimmten Schilderung das Wichtigste zu sein. Aus diesen Ursachen er¬ 
wachsen und durch sie bewirkt, tritt uns dann die Geschichte jedes Organes 
wie ein langsam, mächtig und unter reicher Verzweigung emporwaebsender 
Baum entgegen. Auch das Menschengeschlecht steht fortgesetzt in einem 

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7) Viktor Hlieber, Die Organisierung der Intelligenz. Mit einer Ein¬ 
führung von Prof. Dr. Ernst Mach. Dritte erweiterte Auflage. 
234 S. kl. 80 . Leipzig, J. A. Barth, 1910. kart. M. 3.60. 


Der k. k. Hauptinann IIueher in Prag hat im April 1910 an etwa 
100 geistige Arbeiter einen Aufruf versandt über die Organisierung der 
Intelligenz. Schon im Monat darauf erfolgte eine zweite Auflage von 
öOO Stück, vermehrt um einige Zusätze. Alles dies, samt den brieflich oder 
in Zeitungen kundgegebenen Äußerungen zu beiden Auflagen, hat der Verf. 
mit einem Schlußwort zu dem vorliegenden Buche vereinigt. Was er an¬ 
strebt, faßt Mach in seinem Vorwort gut zusammen: »die Gesamtheit der 
Intellektuellen, welche den großen Horizont verloren haben, die wie alle 
anderen unter dem Drucke des Kapitalismus oder sagen wir lieber des 
Egoismus leiden, aufzurütteln, bei ihnen das Gefühl der Solidarität mit der 
ganzen Menschheit, das Bewußtsein ihres Einflusses zu wecken, um die ge¬ 
samte menschliche Existenz auf eine gesündere Basis hinüberzuleiten«. Die 
Intellektuellen sollen sich also organisieren — und zwar international —, 
um planmäßig zu wirken (zuvörderst etwa für »die Vereinheitlichung aller 
heute ungeregelt nebeneinanderlaufenden humanitären Bestrebungen«, S. 40). 
Unerläßlich dafür ist die allmähliche Überwindung des Kapitalismus. 
Hier wie auch sonst wird es sich lohnen, die Ausführungen des Verf. wenig¬ 
stens teilweise wörtlich wiederzugeben. »Es muß dem Kapitalismus deutlich 
klargemacht werden: 1) Daß jeder Mensch nur auf das Maß an materiellen 
Gütern Anspruch habe, das seinen materiellen Bedürfnissen entspricht; daß 
das Maß dieser Bedürfnisse nicht für jedermann gleich, für niemanden aber 
schlechthin unbegrenzt, groß sein kann, Bondern eine vernünftige obere Grenze 
habe. ... 3) Daß es dem Anständigkeitsgefühl eines jeden überlassen bleiben 
muß, zu beurteilen, bis wohin das Maß der eigenen Bedürfnisse reicht und 
wo somit der der Allgemeinheit zukommende Überschuß beginnt. ... 5) Daß 
die Überlassung des Überschusses, die bisher gelegentlich in Form von 
Legaten, Stiftungen, Spenden usw. als ein Akt persönlicher Güte und be¬ 
sonderer Freigebigkeit angesehen wurde, fortan in der öffentlichen Moral 
als normale Erfüllung einer selbstverständlichen Pflicht sich einzubürgern 
haben wird.« 6) Daß die Verfügung über die Verwendung dieser Über¬ 
schüsse ... einer leitenden Instanz erteilt werden muß. . .. »Es bliebe so¬ 
mit das kapitalistische Prinzip aufrecht. Es erhielte aber darin eine Er¬ 
gänzung, daß der Unternehmer nicht mehr wie bisher sich als Herr, sondern 
nur mehr als freiwilligen Verwalter seines Unternehmens und sich persönlich 
nur als ersten Angestellten desselben anzusehen berechtigt wäre« (S. 16 f.}. 
»Jeder Überreichtum muß fortan als ein Merkmal von Unbildung gekennzeichnet 
werden.« Die Überschüsse der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen, »muß 
zur Sache der Mode gemacht werden, ... und dieser Mode muß die Intelli¬ 
genz Eingang schaffen« (S. 18). 


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das Verhältnis vnn Resitz Arh«it und Rildnnor iat 

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Gedanken um so mehr bei pflichten, als ich auch längst überzeugt bin, daß 
es mit dem Wühlen und Bohren von unten nicht getan ist, sondern daß 
eine Reform der Gesinnung in den oberen Schichten viel mehr not tut. Der 
Kern der Anschauungen des Verf. liegt aber bedeutend tiefer als iu einem 
Kampfe gegen den Kapitalismus. Er hat das Ideal der Humanität umge¬ 
bildet zu dem der Solidarität. »Das gemeinsame Merkmal des heutigen 
materiellen und geistigen Kapitalismus, das Merkmal, welches die Kapita¬ 
listen zu Ausbeutern stempelt, ist die irrige Meinung, daß der Einzelne direkt 
nur für sich zu arbeiten habe, woraus dann indirekt eine Gemeinarbeit sich 
vollzieht, während es in der Idee der Solidarität liegt, daß die Arbeit direkt 
allen zugedacht wird und damit indirekt eo ipso dem einzelnen zugute kommt. 
Das Merkmal des Kapitalismus ist demnach sein Mangel an solidarischem 
Empfinden, seine Unfähigkeit, das Menschenleben in seinem solidaren Zu¬ 
sammenhang zu sehen. ... Solange dieses Gefühl der Solidarität mit allen 
Menschen in uns nicht lebendig geworden ist, sind wir noch nicht Menschen, 
noch nicht dort, wo das Menschentum, das wahre, erst beginnt« (S. 68). Ein 
prachtvolles, freilich weit entferntes Ziel! Übrigens, wenn der Verf. in seiner 
Erwiderung auf eine Zuschrift den Satz verteidigt, die Solidarisierung der 
Interessen 6ei niemals von Schaden, immer nur von Nutzen (S. 70 f.), so ist 
dies höchstens dann richtig, wenn man unter Solidarität Altruismus versteht. 
Für schöpferische geistige Leistungen kann eine Bindung irgendwelcher Art 
zu leicht zu einem unerträglichen Hemmschuh werden. Der Künstler, der 
unter inneren Kämpfen zuckt, muß sich oft nach jeglicher Seite den Weg 
offen halten, damit er seine individuelle Leistungsfähigkeit voll entfalten 
kann, und mancher schon hat, nachdem er sich auf einen höheren Stand¬ 
punkt durchgerungen hatte, mit vollem Recht über seine auf früheren Ent¬ 
wicklungsstufen zurückgebliebene Umgebung sagen dürfen: Gott schütze 
mich vor meinen Freunden! (die mich am Vorwärtsschreiten hindern wollen). 
Vielleicht fehlen aber dem Verf. die Erfahrungen darüber, daß Rücksichten, 
die genommen werden müssen, auch an den Füßen des geistigen Arbeiters 
wie schwere Ketten schleppen können. 

Dafür jedoch, daß der Verf. ein so hohes Ziel weist wie das des Soli- 
darismus, verdient er uneingeschränkte Anerkennung. Es wäre gnt, wenn 
man auch auf Einzelgebieten (etwa dem der Erziehung) ein letztes wünschens¬ 
wertes Ziel aufstellte. Dann läßt sich durch Vergleich mit den bestehenden 
Verhältnissen das überlegen, was zurzeit erreichbar scheint, und man kann 
hinauskommen über das planlose Herumtappen an weit auseinanderliegenden 
Teilen eines großen Gebietes, daB wir jetzt manchmal mit ansehen. 

Indes, gerade dieses Herabstimmen der idealen Forderungen durch die 
gegebenen Tatsachen fehlt bei Hueber. Er greift kühn nach den Sternen. 
Kein Wunder demnach, daß er Utopien vorbringt, Utopien wenigstens fUr 
die nächsten Jahrtausende der MenBchengeschichte. So ist der Gedanke 
einer Ablösung der einzelnen Staatsorffanismen durch den werdenden Orga- 


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Verkennung geistiger Produktion, wenn sie sich auf ein Ziel eineu soll (S.72:. 
Bisher und für die Zukunft, die fllr unser vernünftiges Nachdenken über¬ 
haupt in Frage kommt, ist doch gerade in der geistigen Arbeit die Ver- 
Bchiedenartigkeit und die dadurch ermöglichte Anregung von Wert. Die 
Gemeinsamkeit, die Hueber wünscht, wird sich beschränken müssen auf die 
oben charakterisierte Ethik der Solidarität, neben der doch die mannigfaltig¬ 
sten Ziele geistiger Einzelarbeit möglich sind. Ans Abenteuerliche aber 
grenzt die Utopie, daß die Menschheit das Arbeiten auf di© Naturkräfte 
Wasser, Elektrizität nsw.) abwälzen soll und selbst nur noch der Arbeit 
obliegen, zu der ihr innerer schöpferischer Drang sie treibt (S. 36f.). Dann 
muß der Verf. auch die Naturkraft nennen, die das Konstruieren der Ma¬ 
schinen selbsttätig übernimmt; oder er sollte erst einmal ein Mittel angeben 
gegen die Eintönigkeit des Maschinebedienens. Übrigens, wie oft hat nicht 
gerade die Not, das Arbeitenmüssen, den Menschen nicht bloß erfinderisch, 
sondern auch innerlich reif gemacht! Wollte man die Mensohengattung, die 
wir kennen, in eitel Behagen betten, es würde voraussichtlich nur zu bald 
erbärmlich werden. Utopisch ist auch der Zusammenschluß der Ges&mt- 
menschheit, deren Führung die international organisierte Intelligenz über¬ 
nehmen soll. Denn für diese Einheit höherer Ordnung sind doch die 
internationalen Organisationen und Abmachungen der Sozialdemokratie, der 
Friedensliga, des Esperanto, des Verkehrs recht schwache Ansätze — wenn 
man nämlich erwägt, was uns noch alles trennt (S. 28, 64). Als ein Beispiel 
für eine Weltorganisation auf einem Teilgebiet, die zunächst durchführbar 
wäre — eins der wenigen praktischen Beispiele des Buches —, befürwortet 
der Verf. wiederholt (z. B. S. 158) eine solche in der Mutterschutzbewegung. 
Ich vermag aber nicht einzusehen, wie diese bei der verschiedenartigen 
Lebenspraxis und Lebenstheorie der einzelnen Länder und Provinzen soll 
eine fruchtbare Wirkung ausüben können; nur eine Auskunftsstelle über die 
hier und dort gesammelten Erfahrungen und die entworfenen Pläne kann 
vielleicht von Nutzen sein. Für die eigentliche praktische Arbeit gibt es in 
der Nähe genug zu tun, und wir wollen froh sein, wenn erst einmal bei uns 
noch eine Menge notwendiger Bewegungen richtig in Fluß gebracht sind; 
zu einem planmäßigen, organisierten Wirken in die Ferne sind wenigstens 
wir Deutschen auch nicht reich genug. 

Wie es bei einem Utopisten gehen muß, beurteilt Hueber die Gegen¬ 
wart von seinem Ideal ans und daher zu pessimistisch. Er wird ganz ein¬ 
fach zum Lobredner der Vergangenheit. Er spricht nicht bloß von dem 
»Rückschritt, der sich rapid vollzieht« (S. 203), sondern es ist dahin ge¬ 
kommen, »daß die Masse immer tiefer in Schmutz, Dummheit, Roheit ver¬ 
sank nnd schließlich nur in völliger Stumpfheit gleichsam ein Narkotikum 
gegen die Schmerzwirkungen des auf ihr lastenden Elenddruckes fand« (9.40;. 
Da möchte man doch wünschen, daß sich der Verf. einmal eingehend mit 


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flußlosigkeit iro politischen Leben verwirft (S. 19). Auch der Satz läßt sich 
leider nicht widerlegen, daß die Bildung oft Unfreiheit durch Vorurteile ge¬ 
bracht habe (S. 3, 4), daß also ohne weiteres für ungebildet gilt, wer etwa 
nicht mit der Menge Konzerte besucht und in der neuesten Literatur be¬ 
wandert ist. Gut ist folgendes beobachtet: »Das Leben ist der Mehrzahl 
der sich heute zu den Intellektuellen zählenden in der Tat nicht mehr als 
ein Ateliermodell, um das sie herumgehen, das sie von verschiedenen Seiten 
mit dem genießenden Auge des Künstlers betrachten« (S. 69 f.). Diese ästheti- 
sierende Lebensauffassung ist übrigens ganz gut erklärbar, denn sie er¬ 
fordert vielleicht die wenigsten irgendwie dogmatischen Vorausselzungen, 
denen eben unsere Zeit abhold ist, und sie verursacht vielleicht die gering¬ 
sten Schmerzen und Kämpfe. Die Werte des Altruismus oder Solidarismus 
allerdings können mit ihr nicht gefördert werden, zumal sie leicht dem 
Egoismus als Mantel dient. Wenn also diese Werte noch vielmehr zur An¬ 
erkennung gebracht werden müssen — und Hueber dürfte recht haben, 
daß es hier noch reichlich zu tun gibt —, dann darf man auch den Intellek¬ 
tuellen ihren Mangel an Idealen, für die sie arbeiten könnten, vorwerfen 
und darf sagen, daß es ihnen an dem »persönlichen Mut fehlt« (S. 69), für 
die Werte, die auch sie vielleicht im stillen hochhalten, offenkundig einzu¬ 
treten und um ihre Erfüllung zu kämpfen. Durchaus richtig ist es auch, 
wenn der Verf. die Spezialisierung bekämpft, die den Menschen Scheuklappen 
anlegt. »Und das ist auch der Irrwahn aller heutigen humanitären Bestre¬ 
bungen, daß die jeweiligen immer nur je ein Übel, das ihnen just in die 
Augen fallt, aus dem Ganzen herausgreifen und dessen isolierte Bekämpfung 
sich zur besonderen Aufgabe machen. Während in Wahrheit keine einzige 
Frage isoliert nachhaltig wirksam lösbar ist, alles was das Leben der Men¬ 
schen heute umfaßt, verstrickt und in der wahren Entwicklung hemmt, — 
in einem allseitig zusammengewachsenen Zusammenhang besteht und daher 
auch nur wieder in einem Zusammenhang gelöst werden kann« (S. 210). Wirk¬ 
lich fehlt unserem öffentlichen Leben eine Idee, hoch genug, um viele zu 
begeistern (S. 218). Aber schon regt sich ja allerorten der Idealismus, und 
es kann vielleicht auch gelingen, dem praktischen Ideal der Solidarität 
Werbungskraft zu verleihen. Ein guter Aphorismus, der zum Nachdenken 
darüber anregen könnte, mag hier noch seine Stelle finden: »Ihr wollt daB 
Tier im Menschen zähmen? Zähmt es nicht mit Prügel, mit Knebelung; 
zähmt es mit Zufriedenheit« (S. 209). 

Nun noch ein paar Bemerkungen zur praktischen Durchführung. 
Daß eine Organisation für die Werbekraft eines ethischen Ideals viel beizu¬ 
tragen vermag, glaube ich nicht. Im Gegenteil, die Gefahr einer Ver¬ 
knöcherung ist hier immer nahe, wie es die Geschichte bei Organisationen 
religiöser Art oft genug erwiesen hat, und dann ist eben die Werbekraft 
zum Teufel. Hier muß die Wucht einer starken Persönlichkeit Bich einsetzen, 
nnd nur sie kann wirken. Das kann geschehen durch Flugschriften, Auf¬ 
sätze, Reden, persönliche Überredung; am besten wohl dadurch, daß hier 

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Literatnrbericht. 


Jo dl flir die ethische Gesellschaft nicht genügte. Kein, hier ist unausge¬ 
setzte Werbung notwendig. Der Vertreter einer solchen Idee muß mit der 
Überzeugungskraft eines Propheten auftreten. Vor allen Dingen auch im 
Lande hernmkoimnen, in Versammlungen Vorträge halten und dann die auf 
diese Weise Interessierten noch durch persönlichen Verkehr gewinnen. Und 
man muß wissen, daß der Betreffende hier sein Hauptgebiet hat, daß er es 
nicht bloß in Mußestunden betritt und daß er schon seit Jahren darin 


arbeitet. Derartige Bewegungen lassen sich eben nicht gewaltsam beschleu¬ 
nigen. Gut, wenn der Prophet dann noch eine Reihe Apostel gewinnt — 
wiewohl zweifelhaft bleibt, ob er mit ihrer Weiterentwicklung immer wird 
einverstanden sein können. Was die Frage der Organisation angeht, so 
käme wohl nur die Errichtung einer Zentrale in Frage, durch die ein Neu¬ 
gewonnener für seine eigene Agitation Winke aus den aufgespeicherten Er¬ 
fahrungen erhalten könnte. Vermutlich ließe sich das aber auf lange Zeit 
hinaus durch eine geringe Anzahl von Leuten besorgen. 

Huebers Fehler liegt darin, daß er die Sache viel zu intellektualistisch 
betrachtet. Die bloße Kundgebung von Gedanken, seien sie noch so er¬ 
haben, tut es nicht. Sollen sie Motive zum Handeln werden, so muß die 
Begeisterung hinzukommen, sie müssen den Menschen mit aller Eindringlich¬ 
keit nahegebracht werden — das geschriebene Wort übt auf die meisten 
diese Wirkung nicht aus. Auch die Tatsache, daß eine solche Organisation 
besteht, wie der Verf. sie ersehnt, wird keineswegs seiner Vermutung ent¬ 
sprechend in der gebildeten Welt ein Gefühl der Befreiung auBlösen (S. 34;. 
Man wird vielmehr, da wir so viele Bewegungen auch merkwürdiger Art er¬ 
leben. zunächst etwas skeptisch sein und abwarten wollen, was die Organi¬ 
sation eigentlich leistet. Auch dann aber, wenn Leistungen vorliegen, die 
von einer großen Anzahl anerkannt werden, auch dann noch ist unausge¬ 
setzte Propaganda nötig, wenn die Ideen nicht einschlafen sollen. 

Noch an einem Punkte zeigt der Verf., wie gründlich er die Bedingungen 
des Wirkens auf die gegenwärtige Menschheit verkennt, wenn er nämlich 
verlangt, daß Stiftungen ohne eine besondere Bestimmung der Zentralleitung 
zur Verfügung gestellt werden (S. 43). Die Erfolge, die er damit erreicht 
hat. dürften recht gering sein, obwohl inan in mehreren Jahrhunderten über 
die Sache vielleicht reden kann. Für die Gegenwart ist es ganz zweifellos 
das einzig Richtige, daß ein einzelner — nur muß er eine Autorität sein — 
für einen ganz bestimmten Zweck Anhänger wirbt und dann auch Geld 
sammelt. Rosegger ist das gelungen; daß es auch geht, ohne von Anfang 
an die Öffentlichkeit in laute Bewegung zu setzen, hat Lamprecht bewiesen 
mit der Gründung des Instituts für Universalgeschichte (bei der Kaiserlichen 
Gesellschaft der Wissenschaften liegen natürlich die Bedingungen weit 
anders). So könnte man daran denken, für die Bearbeitung pädagogischer 
Probleme, die ja jetzt mit im Mittelpunkte der Diskussion stehen, kapital¬ 
kräftige Freunde zu gewinnen. Sicher ginge es an für die Förderung her¬ 


vorragend Begabter. Daß die Agitation von Fachmännern ausgehen muß. 
ergibt sich daraus, daß in den meisten Fällen nur diese die Zweckmäßigkeit 

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Literaturbericht. 


Neue philosophische Literatur. 

Von philosophischen Neuausgaben, dio auch psychologisches Interesse 
haben, seien hier die folgenden angezeigt: 

Die »Philosophische Bibliothek« (Leipzig, Diirrsche Verlagsbuch¬ 
handlung ist um einen Band darstellender Philosophie bereichert worden in 
Dorners Enzyklopädie der Philosophie (Philos. Bibi. Bd. 92, 120, 
122, 123. M. 6.—). Der Verf. betrachtet das Ganze der Philosophie aller¬ 
dings wesentlich unter dem Gesichtspunkt der Erkenntnistheorie, doch sind 
die Eingangskapitel auch für die Psychologie der Wahrnehmung und des 
Denkens lehrreich. 

An Neuausgaben älterer und neuerer Philosophen sind in der gleichen 
Bibliothek erschienen: Bd. 93: Spinozas Theologisch - politischer 
Traktat; übersetzt und eingeleitet nebst Anmerkungen und Registern von 
Carl Gebhardt. Bd. 92: Spinozas Ethik, übersetzt und mit einer Ein¬ 
leitung und einem Register versehen von Otto Baensch. (M. 3.40. Siebente, 
der neuen Übersetzung zweite verbesserte Auflage.) Bd. 68: De la Mettrie. 
Der Mensch eine Maschine; übersetzt und mit einer Vorrede und mit An¬ 
merkungen versehen von Dr. Max Brahn. Bd. 122: Wolffsche Begriffs¬ 
bestimmungen; ein HilfsbUchlein zum Studium Kants, zusammengestellt 
von Julius Baumann. (M. 1.—.) Bd. 120: Fichte, Schleiermacher, 
Steffens Uber das Wesen der Universität. Mit einer Einleitung heraus¬ 
gegeben von Dr. Ed. Spranger. Bd. 123: Wilhelm v. Humboldts aus- 
gowählte Schriften; herausgegeben von Johannes Schubert. Bd. 120. 
(M. 3.40; geb. M. 4.—.) 

Eine sehr verdienstvolle Neuausgabe ist: David Iluine, Anfänge nnd 
Entwicklung der Religion; deutsch mit einer Einleitung von Wilhelm 
Boliu. Leipzig, Wilhelm Engelmann, 1909. Es ist die erste Verdeutschung 
dieser wichtigen Schrift Humes. (M. 2.—.) 

In der Bibliothek der Gesamtliteratur des In- und Auslandes 
(Nr. 2195 bis 2206) ist erschienen: E. Fr. Apelt, Metaphysik; neu heraus¬ 
gegeben von Rudolf Otto. Halle a. d. S., Otto Hendels Verlag. 

Spinozas Ethik ist in Kröners Volksausgabe neu herausgegeben wor¬ 
den von Dr. Carl Vogl. Leipzig, Alfred Kröner, 1909. M. 1.—. 

Eine Sammlung von Neuausgaben philosophischer Werke er¬ 
scheint in französischer Sprache im Verlag von Louis Michaud in Paris. 
Die Bändchen haben handliches Format und sind gut ausgestattet (Les 
grands Philosophes fran^ais et etrangers.) Vor uns liegen die Ausgaben von 
Cabanis und Boutroux. Beide mit Porträts und anderen Abbildungen. 

»Moderne Philosophie« betitelt sich ein Lesebuch zur Einführung 
in die Standpunkte und Probleme der gegenwärtigen Philosophie. Stuttgart, 
Verlag von Ferd. Enke, 1907. Von Dr. Frischeisen-Köhler. Der Ref. 
kann die Auswahl, die der Herausgeber getroffen hat, nicht gerade glücklich 
finden. Daß Konrad Langes »Bewußte Selbsttäuschung« Anfängern der 
Philosophie in einem »Lesebuch« dargeboten wird, ist etwas stark. Die Be¬ 
hauptung des Herausgebers, daß »die« Kritik der »Illusionstheorie« (die in 
dieser allgemeinen Bezeichnung natürlich gar nicht von Lange herstamrat) 
sich »zunächst« (!) auf die frühere, von Lange nicht mehr aufrecht erhaltene 
Fassung beziehe, ist unrichtig (vgl. meine Kritik dieser Theorie in der Ein¬ 
führung in die »Ästhetik der Gegenwart«, Leipzig, Quelle & Meyer). 

Q Hiap aki flimh nnnli arwülint ni,<»h *>,r> nnVir hranphhiTAS >P«(ls- 

3ÖQIC 


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Literaturbericht. 


Einzelbesprechungen. 


1) Ludwig Klages, Prinzipien der Charakterologie. VI und 93 S. Leipzig, 
Verlag von Ambr. Barth, 1910. Geh. M. 2.50; geb. M. 3.50. 


Der Verf. beabsichtigt unter diesem Titel, den wenngleich skizzenhaften 
Entwurf eines Systems der Charakterkunde zu liefern. 

Er will die Charakterologie auf eine »synthetische« Psychologie begründet 
wissen, welche in erster Linie »Morphologie«, d. h. eine Formenlehre 
von den psychischen Organisationen sei, wobei das Körperliche als Objekti- 
vation des Geistigen zu gelten habe. Demzufolge erklärt er ausdrücklich 
(im Sinne von Aristoteles), daß die Seele in der Form liege (S. 15), 
und lehnt zugleich (ebenso wie Lipps, dem er sich in seinen psychologischen 
Grundanschauungen auschließt) den Standpunkt der physiologischen Psycho¬ 
logie grundsätzlich ab. Die letztere läßt bekanntlich das spekulative Problem 
in betreff des Verhältnisses zwischen Seele und Leib außer Betracht 1 ) und 
begnügt sich damit, die tatsächlichen Beziehungen zwischen psychischen und 
physischen Vorgängen festzustellen, unter welchen letzteren vorzugsweise 
NervenerregungsVorgänge als Begleiterscheinungen der psychischen in 
Frage kommen. Von diesem Standpunkt aus wird die anatomisch-physio¬ 
logische Untersuchung des Nervensystems, von welcher der Verf. gering¬ 
schätzig urteilt, allerdings bedeutendes Interesse zu beanspruchen haben, eine 
Untersuchung, die zur Entdeckung der Waldeyersehen Neurone als der 
anatomischen, nutritiven und funktionellen Einheiten des Nervensystems 
geführt hat, von deren beiden Funktionen (Selbsterhaltungs- und Selbst¬ 
erregungsarbeit) die geistigen Vorgänge wesentlich bedingt sind. Charaktero- 
logiscli interessant ist die Neuronenlehre besonders insofern, als jene bei¬ 
den Funktionen nach ihrer verschiedenen Arbeitsleistung den physiologischen 
Erklärungsgrund für die Temperamentsunterschiede zu bilden scheinen. 
Verläuft nämlich die Selbsternährungsarbeit günstig, dergestalt, daß reich¬ 
licher Ersatz des Stoffverbrauchs vorhanden ist: so werden die psychischen 
Parallelvorgänge vorwiegend lustbetont sein, und es wird auf diese Weise 
die Entwicklung des sanguinischen Temperaments bedingt; verläuft 


1) An die Stelle des spekulativen Erklärungsbegriffs der Form setzt die 
Naturwissenschaft den der phylogenetischen Triebanlage, welche den 

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Literaturbericht. 


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sie ungünstig, dergestalt, daß der Stoffverbrauch nicht normalen Ersatz 
findet: so nehmen die psychischen Vorgänge vorherrschenden Unlustcharakter 
an, womit die physiologische Voraussetzung für das melancholische 
Temperament gegeben ist. Leisten andererseits die Neurone kräftige 
Erregungsarbeit, so erscheint damit die physiologische Grundlage des cho¬ 
lerischen, sanguinischen und melancholischen Temperaments 
geboten, welche alle drei, wenngleich in verschiedenem Grade, sich durch 
geistige Regsamkeit kennzeichnen. Schwache Erregungsarbeit der Neurone 
hingegen stellt die physiologische Bedingung des mit geringer Regsamkeit 
gepaarten phlegmatischen Temperaments dar 1 ). 

Der Begriff des Charakters wird sodann vom Verf. (S. 19) als die 
mit dem Bewußtsein ihrer selbst verbundene Persönlichkeit oder als indi¬ 
viduelles SelbBt und die Charakterkunde als die mit ihm sich befassende 
Wissenschaft bestimmt. Gleichwohl redet er später (S. 84, 86, 87, 89) auch 
von einem Charakter im Sinne eines generellen Ichs oder einer allge¬ 
meinen Vernünftigkeit, einer Form des Bewußtseins, der doch nur zu¬ 
folge bestimmter spekulativer Voraussetzungen das Merkmal der Persönlich¬ 
keit beigemessen werden kann. 

Die allgemeinsten Gesichtspunkte für die Zergliederung des Charakters 
findet der Verf. zunächst in zwei spezifischen Eigenschaftskategorien: 1) den 
Anlagen oder Fähigkeiten und 2j den Strebungen. Die ersteren 
bilden in ihrer Gesamtheit den Stoff der Persönlichkeit; in den Strebungen 
realisieren sich die Anlagen zur Verwertung dieses Stoffes. Die psychische 
Grundlage der Anlagen wird als Material, diejenige der Strebungen als 
die Qualität des Charakters bezeichnet (S. 35). Sie bilden in ihrer Gesamt¬ 
heit die vorhandenen spezifischen Motive für begriffliche Feststellungen, 
von denen die persönliche Richtung des Strebens und Handelns abhängt. 
Zwischen jenen beiden liegt als dritter Faktor die Struktur des Charakters 
als Inbegriff der konstanten Ablaufsweise der psychischen Vorgänge (S. 39'. 

Für Triebfedern ist auch zu sagen: Gefiihlsanlagen (S. 40). Der Verf. 
erkennt also das Gefühl nicht als besonderen psychischen Grundfaktor an. 

Die besonderen Einteilungsgesichtspunkte für die drei »Zonen«, die der 
Charakter nach dem Obigen umfaßt, gewinnt er auf folgende Weise. 

Da die Elemente des psychischen Materials Vorstellungsinhalte sind, 
so müssen seine individuellen Differenzen I. aus Verschiedenheiten der Auf¬ 
nahmefähigkeit für solche Inhalte stammen oder m. a. W. aus Ver¬ 
schiedenheiten der Vorstellungskapazität. In dieser Beziehung sind zu 
trennen: 1) Quantitätsunterschiede (Vorstellungsreichtum und Vorstellungs¬ 
armut), 2) Deutlichkeitsunterschiede (Sensualität oder vorwiegende konkret« 
Art des Denkens und Spiritualität 2 ) oder abstrakte Art des Denkens, 
3) Beweglichkeitsunterschiede oder Unterschiede in der Ablaufsgeschwindig¬ 
keit der Vorstellungsinhalte (ein Ausdruck, für den, da die Vorstellungen 

1) Es ist mir übrigens nicht klar geworden, inwiefern die vom Verf. 

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Literaturbericht. 


103 


doch nicht eigene Bewegungsfähigkeit besitzen, sondern nach Klages' 
eigener Angabe durch die Strebungen, also den Willen verarbeitet werden: 
Disponierbarkeit wohl geeignet gewesen wäre; ! ), 4) Qualitätsunterschiede 
(vorherrschende Wahrnehmungs- oder Vorstellungskapazität als Bedingungen 
des nach außen oder nach innen gerichteten, bzw. flachen oder tiefen Cha¬ 
rakters). 

II. Weitere Unterscheidungen hinsichtlich des Materials des Charakters 
betreffen die Anlagen zur apperzeptiven Verarbeitung der Vorstellnngs- 
inhalte: die apperzeptionellen oder Auffassungsdispositionen. Unter 
diesen sondert der Verf.: 


1) Den Grad der apperzeptioneilen Tätigkeit (Vorwalten des assoziativen 
oder apperzeptiven Verhaltens. Ersteres bedingt: Phantasie, Intuität, Er¬ 
findungsgabe, Beeinflußbarkeit, Suggestibilität, Unachtsamkeit, Sorglosigkeit 
u. a. m. — Letzteres: Auffassungsgabe, Dialektik, Kombinationsgabe, Acht¬ 
samkeit, Umsicht, Besonnenheit usw.); 

2) die Richtung der apperzeptionellen Tätigkeit (vorherrschend subjektive 
oder objektive Auffassung); 

3) Formen der apperzeptionellen Tätigkeit (vorherrschend konkrete oder 
abstrakte Auffassungsform, ein Begriffspaar, das sich mit dem oben I. 2 ge¬ 
gebenen decken dürfte). 

Im Anschluß an letzteren Punkt mag ein grundsätzlicher Mangel der 
Arbeit berührt werden, der uns noch öfters begegnen wird, nämlich die 
Nichtberücksichtignng der Vererbungslehre. Diese letztere kommt im 
vorliegenden Falle insofern zur Geltung, als es sich um Unterscheidung der 
vorwiegend konkreten und abstrakten AuffaBBungsform handelt. Klages 
erklärt selber (S. 36—37): >Alle die Fähigkeiten oder Anlagen betreffen den 
Intellekt.« Es wäre deshalb wohl angebracht gewesen, auf die Natur der 
intellektuellen Anlage einzugehen; denn eine grundsätzlich verschiedene Form 
der Verstandesfunktion ist es, welche die beiden angegebenen Auffassungs¬ 
formen begründen. Die intellektuelle Anlage nun beruht auf zwei Faktoren, 
dem phylogenetischen und ontogenetischen, die beide indessen niemals völlig 
getrennt voneinander in die Erscheinung treten. Der erstere aktualisiert sich 
unmittelbar in Verbindung mit den betreffenden Erfahrungsinhalten. Das 
Kind hat demzufolge schon früh ein allgemeines, logisches Bewußtsein, das 
es befähigt, die Kausalbeziehungen, die sich ihm in anschaulicher Form dar¬ 
bieten, aufzufassen, wobei ihm freilich die Anleitung und Belehrung von 
seiten der Erwachsenen wesentlich zu Hilfe kommt. Der ontogenetische 
Faktor der intellektuellen Anlage bildet sich heraus, indem das Individuum 
sich die abstrakten Denkformen (die Kategorien im Sinne Kants) aneiguet, 
in denen das logische Bewußtsein sich differenziert. DieB geschieht in syste¬ 
matischer, wenngleich nicht streng logischer Form, erst beim sprachlich- 
grammatischen Unterricht, in dem das Kind Folge-, Absichts- und Kausal¬ 
sätze, genauer ausgedrückt, Satzgefüge, die das Verhältnis von Ursache und 
Wirkung, Mittel und Zweck, Grund und Folge zum Ausdruck bringen, aus¬ 
einander halten lernt. Vermöge dieser Denkformen vermag das Subjekt 


sich Uber die Art des Kausalzusammenhanges Rechenschaft zu geben, indem 


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Literaturbericht. 


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es die logischen Beziehungsbegriffe auf die entsprechenden Erfahrungs- bzw. 
konkreten Denkvorgänge anwendet. Darin besteht das abstrakte oder reflek¬ 
tierte Denken. Je nach dem Vorwiegen des einen oder anderen Begabungs¬ 
faktors stellt sich eine konkrete und eine abstrakte Form der Auffassung 
oder, wie wir auch Bagen können, eine naive und eine reflektierte Entwick¬ 
lungsstufe der intellektuellen Begabung heraus 1 ). 

Nach dem Material behandelt der Verf. die Struktur des Charakters, 
ein Begriff, unter dem er das Temperament, die Affektivität und den Willen 
zusanimenfaßt. 

Das Temperament will er rein strukturell erklärt haben (S. 52), d. h. 
also rein formell als bestimmte Ablaufsweise des psychischen Strebens. Es 
soll den Reagibiliätsgrad darstellen (S. 54—55). Inwiefern sich nun die 
Temperamentsunterschiede vermöge der wechselnden Stärke und des Rhythmus 
der inneren Tätigkeit ergeben, wird nicht näher ausgeflilirt, da der Verf. 
die Temperamentslehro als überwundenen Standpunkt betrachtet. Und doch 
hätten m. E. gerade hier die historisch ausgeprägten termini technici, die 
ein bewährtes Hilfsmittel zur Kennzeichnung der persönlichen Eigenart nach 
gewissen Seiten bilden, willkommenen Anlaß geboten, die Eigenschaftskom¬ 
plexe, welche wir damit auszudrücken pflegen, schärfer begrifflich festzu¬ 
stellen. Ich brauche an dieser Stelle meine abweichende Ansicht in betreff 
der Natur des Temperaments nicht darzulegen, da ich dies anderswo getan 
habe 2 ). 

Eingehender werden vom Verf. die beiden anderen psychischen Struktur¬ 
eigenschaften behandelt, die Affektivität und der Wille. Beide unterscheiden 
sich dadurch, daß die erstere die Neigung hat, unmittelbar in Handlung 
überzugehen, während der Wille sein Ziel auf dem Umwege über die Mittel 
zu seiner Verwirklichung sucht und mit dem Bewußtsein der Realisierbarkeit 
seines Gegenstandes verbunden ist iS. 61). Darin besteht der Unterschied 
der Ablaufsform oder der strukturelle Gegensatz des ihnen zugrunde liegen¬ 
den psychischen Strebens. Dem Vorherrschen der einen oder anderen Form 
des Strebens entsprechen zwei besondere Typen, der affektive und der 
Willenstypus. 

I. Der affektive Typus begreift in sich: 

Die Stimmungsherrschaft (Unterarten: A. Expansivität oder Aufgeregtheit 
und B. Depressivität oder Herabgestimmtheit); 

II. Der Willenstypus kann eine dreifache Form aufweisen, je nach¬ 
dem nämlich der Wille sich änßert: 

1) aktiv als Entschlossenheit, Entschiedenheit; 

2) passiv als Widerstandskraft, Standhaftigkeit, Beharrlichkeit; 

3, reaktiv (d. h. sofern Affekte auf Grund anderer Affekte entstehen als 
Eigensinn, Halsstarrigkeit. 


1) In den phylogenetischen Anlagen ist, empirisch betrachtet, das sub¬ 
jektiv-apriorische Moment begründet, welches das Subjekt beim erkennenden 


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Literatarbericht. 105 

Der StimmungBherrschaft Btebt gegenüber der Gleichmut (Beschaulichkeit), 
der Willeusbetonung der Willensmangel (Energielosigkeit). 

So viel über die »Struktur« des Charakters, das genügen mag. um über 
die Behandlung dieses Gegenstandes kurze Kenntnis zu geben. Was übrigens 
den Charaktertypus der Affektivität betrifft, so scheint mir das Bezeichnende 
nicht in der Ablaufsform des sich darin äußernden psychischen Strebens, 
sondern, wie dies der Name anzeigt, in dem Umstande zu liegen, daß er 
unmittelbar von Affekten bestimmt bzw. beherrscht wird. Der Willenstypus 
(im engeren Sinne) kennzeichnet sich hingegen dadurch, daß zwischen Affekt, 
soweit ein solcher vorhanden ist, und Handlung sich die Reflexion einschiebt, 
wodurch der Affekt in seiner unmittelbaren determinierenden Wirksamkeit 
abgeschwächt und infogedessen das handelnde Subjekt in die Lage versetzt 
wird, sich von verschiedenen Motiven bestimmen zu lassen. 

Sofern nun das Temperament ohnehin aus dem Kapitel über Struktur 
des Charakters ausscheidet, verliert, nach unserer Auffassung, letzterer Be¬ 
griff überhaupt seine Berechtigung, und es würde an die Stelle jenes Ka¬ 
pitels eine Erörterung über die Natur des Willens zu treten haben, dahin¬ 
gehend, daß zwei Entwicklungsstufen zu sondern sind, eine unmittelbare, 
vorwiegend affektive und eine eigentlich voluntarische, denen je ein 
naiver und reflektierter Charaktertypus entspricht. 

Der letzte Teil der Schrift behandelt das System der Triebfedern, 
welche, wie schon bemerkt, die Qualität des Charakters darstellen. Für die 
Einteilung der Triebfedern lehnt er grundsätzlich die »unpsychologischen« 
Gegensatzpaare von »gut« und »böse«, »Egoismus« und »Altruismus«, »so¬ 
zial« und »unsozial«, »zweckmäßig« und »degeneriert«, die tatsächlich Wert¬ 
urteile zudecken, ab (S. 68). Statt dieser Gegensatzpaare geht er von dem 
Gegensätze des »fühlenden« und »wollenden Strebens« aus. Bei jenem ver¬ 
hält das Ich mit seiner Tätigkeit sich passiv, bei diesem aktiv. Dem 
fühlenden Streben liegt der Selbsthingebungstrieb, dem wollenden der 
Selbsterhaltungstrieb zugrunde (S. 68f.). In bezug auf beide komple¬ 
mentären Grundtriebe ist, da das Ich als Träger derselben je ein generelles 
und ein personelles sein kann, eine generelle und personelle Form 
zu trennen. Beide Formen bilden den Ausgangspunkt für die Ableitung ent¬ 
sprechender Charaktereigenschaften. 

A*. Die generelle Selbsthiugebnng zunächst oder das Be¬ 
geisterungsvermögen, auch Idealismus oder Liebe zur Sache ge¬ 
nannt, tritt auf 1) als Liebe zur Wahrheit oder Erkenntnistrieb, 2) als Liebe 
zur Schönheit oder Schönheitsdurst, 3) als Liebe zur Menschheit oder als 
moralisches Pathos. Philanthropie, Humanität. 

B 1 . Die personelle Selbsthingebung sodann oder die Leiden¬ 
schaftlichkeit umfaßt drei Formen. 1) in aktiver bedingt sie die Leiden¬ 
schaften, Begierden, deren Abarten sind: Ehrsucht, Habsucht, Spielsucht, 
Trunksucht, Geiz, Rachsucht, Geschlechtsbegierde; 2) in passiver stellt sie 

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Literaturbericht. 


106 

inhaltes überhaupt, welche letztere in dreifacher Richtung wirkt, in logischer, 
ästhetischer und ethischer S. 85. Dementsprechend sind drei Formen der 
Vernünftigkeit zu sondern: 1) Die logische oder der Wille zur Denkbarkeit: 
Tendenz nach Objektivität. Wirklichkeitssinn: 2: Die ästhetische als Wille 
zur Anschaulichkeit: Geschmacksbedürfnis, Ordnungssinn, Organisations¬ 
tendenz; 3) Die ethische als Wille zur Gleichheit: Selbstachtungsbedürfnis, 
kategorischer Imperativ, Altruismus, Verantwortlichkeitsgefühl, kurz »Cha¬ 
rakter*. 

B. Die personelle SelbBterhaltung oder der Egoismus tritt in 
denselben drei Formen in die Erscheinung: 1) als aktiver Egoismus oder 
personeller Selbsterweiterungstrieb: Eigennutz, Erwerbssinn, Herrschlust. Ehr¬ 
geiz U8w. 2 als passiver oder personeller Selbstbewahrungstrieb: Vorsicht, 
Umsicht, Wachsamkeit, Berechnung. Argwohn, Mißtrauen; 3) als reaktiver 
oder personeller Selbstwiederherstellungstrieb: Vergeltungsbedürfnis, Rache¬ 
trieb, Spottsucht, Boshaftigkeit, Grausamkeit, Neid. Schadenfreude usw. 

Der positiven Form des SelbBthingebungs- und Selbsterhaltungstriebes 
steht gegenüber der Mangel an einer solchen Betätigung. Daraus ergeben 
sich die Gesichtspunkte für Gewinnung von Charakterfehlern, die aus der 
einen oder anderen Wurzel entspringen. Der Mangel an Selbsterhal¬ 
tungstrieb offenbart sich : 

C*. als Unvernünftigkeit, und zwar 1) in logischer Hinsicht. In 
dieser begründet sie: Sprunghaftigkeit, Mangel an Wirklicheitssinn, Subjek¬ 
tivität, Illusionismus; 2) in ästhetischer Hinsicht: Ordnungslosigkeit, Phan¬ 
tastik; 3) in ethischer: Ungerechtigkeit, Unzuverlässigkeit, Pflichtvergessen¬ 
heit, »Charakterlosigkeit«. 

D‘. als Mangel an Egoismus, nämlich 1) an aktivem Egoismus: 
Uneigennützigkeit, »Selbstlosigkeit«, Willfährigkeit, Folgsamkeit, (Bescheiden¬ 
heit); 3) an passivem Egoismus: Sorglosigkeit, Arglosigkeit, Unachtsamkeit, 
Unverständigkeit, Leichtsinn. 

In ähnlicher Weise werden die Formen des Mangels an Selbsthin¬ 
gebung entwickelt und dabei alssolche aufgefUhrt: Nüchternheit, Pedanterie. 
Verstandesherrschaft, Kälte, Strenge. Weiterhin die Formen des Mangels 
an Liebefähigkeit, wobei der Verf. z. B. die Tendenz zur Kritik als 
Mangel au dieser Eigenschaft kennzeichnet und somit doch immerhin nur 
einseitig die negative Bedingung dieses Charakterzuges berücksichtigt. 

Ich lasse die spekulativen und erkenntnistheoretischen Probleme, die in 
den Darlegungen des Verf. zur Erörterung gelangen, beiseite und hebe nur 
kurz die Folgen hervor, die mir auch in bezug auf diesen letzten Teil die 
schon erwähnte Nichtberücksichtigung der Vererbungslehre nach sich zu 
ziehen scheint. Klages erklärt das Merkmal des Daseins als das einzige 
ursprüngliche des Iclis, sofern nämlich das Ich als solches dem Subjekt zu¬ 
nächst nur als Ichgefiihl oder Bewußtsein des eignen Daseins sich bekundet. 

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Literaturbericht. 


2) K. Weiler, Untersuchungen Uber die Muskelarbeit des Menschen. 

1. Teil: Messung der Muskelkraft und Muskelarbeit. Kraepelins 

Arbeiten. Bd. 5 (1910. Heft 4. 

Die Lektüre dieser Arbeit gab mir Anlaß zu einigen Überlegungen, die 
m. E. veröffentlicht zu werden verdienen, da sie vielleicht bewirken, daß 
neue Zweideutigkeiten und Verwechslungen bei dieser so strittigen Frage 
der physiologischen Psychologie vermieden werden. Diese Überlegungen 
beziehen sich auf verschiedene Punkte der Arbeit, zunächst auf die Genauig¬ 
keit der historischen Behandlung, mit der Verf. den gegenwärtigen Stand 
der Frage resümiert, und auf die theoretischen Prämissen, die ihm als Grund¬ 
lage dienen, um seine neue Methode der ergographischen Aufzeichnung zu 
erläutern; die anderen Überlegungen beziehen sich auf den inneren Wert der 
Methode selbst und auf die Bedeutung der nach ihr erhaltenen Kurven. 
Wegen der Natur des Stoffes und weil ich Weiler bei seiner Disposition 
zu folgen wünsche, wird es mir übrigens nicht immer möglich sein das in 
richtiger Aufeinanderfolge vorzubringen, was ich Uber die oben angegebenen 
Punkte zu sagen habe. 

Was die historische Behandlung betrifft, so ist Weiler, wie mir scheint, 
zu summarisch vorgegangen, und wenn er auch gewandt alle dynamometrischen 
und ergographischen Dispositive der früheren Zeiten besprochen hat, so hat 
er doch m. E. die Sache zu oberflächlich behandelt, wenn er hinsichtlich der 
von mir vorgeschlagenen Modifikationen nichts anderes zu sagen weiß als sie 
seien »nicht prinzipieller Art,«. Vielleicht sind dem Verf. die tiefgehenden 
und wesentlichen Modifikationen nicht bekannt, welche die ergographische 
Kurve erfuhr, als sie mit meinem Apparat statt mit dem von A. Mobso auf¬ 
gezeichnet wurde; vielleicht kennt er auch die große Menge der neuen und 
fundamentalen Probleme nicht, die eben mit dem neuen Apparat auftauchten 
und einer befriedigenden Lösung entgegenzugehen schienen. Diese Lücke 
in seinen ergographischen Kenntnissen erklärt es mir, daß K. Weiler, indem 
er im wesentlichen nochmals auf ein w r enn auch registrierendes und wenn 
auch mechanisch noch so sehr vervollkommnetes Dynamometer zurückkommt, 
glaubt, er könne ex novo das verwickelte psychophysische Problem des Ver¬ 
laufes der freiwilligen Muskelarbeit lösen. 

(S. 536) »Da wir wissen, daß die Muskelkraft der einzelnen Menschen 
sehr verschieden ist, bo erhellt aus dem Gesagten, daß es eine günstige Be¬ 
lastung des Ergographen für jeden geben muß, bei der er imstande ist, die 
größtmöglichste Arbeit zu leisten. Wie groß nun diese günstigste Last 
im Einzelfalle ist, wissen wir naturgemäß nicht, und wir sind da¬ 
her nicht imstande, Ergographenkurven verschieden starker Menschen ohne 
weiteres zu vergleichen. Ein weiterer Mangel des Ergographen besteht darin, 
daß er es nicht ermöglicht, den Muskel ohne Unterbrechung bis zur Er- 

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Literaturbericht. 


109 


willigen Muskeltätigkeit, die aufgeklärt zu haben gerade ein Verdienst der 
modifizierten ergographischen Apparate ist. Jedes gute ergographische Ex¬ 
periment, das sich die Aufgabe stellt, mit dem Ergographen das Individuum 
die größtmöglichste Arbeit leisten zu lassen, muß also unter Berücksichtigung 
dieser charakteristischen Tatsachen durchgeführt werden, indem man bedenkt: 
a) daß bei der freiwilligen Arbeit das günstigste Gewicht für die Arbeits¬ 
leistung, d. h. dasjenige, welches man in der Physiologie gewöhnlich Maximal¬ 
gewicht nennt, in den Einzelfällen nicht unbekannt ist, wie der Verf. be¬ 
hauptet, sondern das größte Gewicht ist, welches mit einer gewissen Unge¬ 
zwungenheit der zu untersuchenden Muskelgruppe gehoben werden kann; 
b daß dieselbe Regel für jeden folgenden Ilub gilt; c) endlich daß wir, da 
der Wert des Maximalgewichts natürlich mit der Ermüdung der Vp. all¬ 
mählich abnimmt, nach und nach die Last vermindern müssen. Wie man 


dies praktisch tun kann, ohne sich sehr von dem wirklichen Verlauf der Er¬ 
müdung des Muskels zu entfernen, habe ich anderswo nachgewiesen; ich will 
nur daran erinnern, daß diese Abstufung des Gewichts ziemlich schwierig 
beim Fingerergographen ist; deshalb ist es besser, mit dem Armergographen 
zu experimentieren. Wenn diese Bedingungen eingehalten werden, so lassen 
sich die beiden von zwei verschiedenen Subjekten oder von demselben Sub¬ 
jekt in verschiedenen Zeitabschnitten gewonnenen ergographischen Maximal¬ 
kurven vollkommen miteinander vergleichen. Man wird einwenden, die 
Methode sei wenig bequem, aber es hängt nicht von uns ab, Methoden zu 
vereinfachen, die dazu bestimmt sind, ihrer Natur nach sehr komplizierte Er¬ 
scheinungen zu beobachten; die Methode um jeden Preis vereinfachen zu 
wollen, verleitet uns zu Irrtümern und Täuschungen, wie es ein Irrtum ist, 
wenn man die Gewichte durch Federn ersetzen will. Der Verf. glaubt durch 
dieses Mittel den zweiten Einwand, den er gegen den Ergographen erhebt 
und den ich oben angeführt habe, beseitigt zu haben. Eine Reihe von schon 
zahlreichen Arbeiten, wie die von Woodworth, S. Y. Franz, Sclienck u. a. 
beweisen, daß die durch Federdynamometer erhaltenen Kurven ebenso 
unerschöpflich sind wie die durch Ergographen mit Gewicht erhaltenen, weil 
man, wenn einmal die Phase der konstanten Leistung (level of fatigue der 
Amerikaner) mit einer Feder von bestimmter Widerstandsfähigkeit erreicht 
ist, eine neue Arbeitskurve mit absteigendem Verlauf erhalten kann, wenn 
man das Subjekt mit einer weniger widerstandsfähigen Feder arbeiten läßt, 
weder mehr noch weniger als bei der Abstufung der Gewichte eintritt. Und 
wirklich hat, wenn man nach seinen Kurven urteilt und nach dem, was 
Weiler ausdrücklich sagt, sein Arbeitschreiber auch nie Erschöpfungs¬ 
kurven registriert. Daraus folgt, daß man, um auch mit Dynamographen 
oder Federergographen eine, ich will nicht sagen Erschöpfungökurve, die 


unerreichbar ist, wohl aber eine Maximalkurve (die einzigen miteinander 
vergleichbaren Kurven) zu erhalten, eine in jedem Falle verschiedene Feder 
von einer vom Beginn bis zum Ende des Experiments allmählich geringer 
werdenden Kraft verwenden muß, und die Kraftwertereihen werden für 
die verschiedenen Vp. verschieden sein müssen, weil man sonst Gefahr 


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Subjekte absolut gleichen, nicht aber hin- 

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110 


Literatur bericht. 


sich, daß die Arbeitskurve der zweiten Vp. sich so verschieden vou der 
der ersten Person gestaltet hat; die Feder des Apparates für die zweite 
Person war aller Wahrscheinlichkeit nach weniger hart, d. h. die Wider¬ 
standsvermehrung, die sie in den verschiedenen Phasen eines Druckes und 
bei den folgenden Drucken zeigte, weniger rasch als bei der ersten Person, 
so dal3 die Arbeitsleistung der zweiten Person anfangs konstant ver¬ 
läuft und nur langsam war und in einer vorgeschrittenen Phase der Arbeits¬ 
kurve die Bedingungen merklich submaximal werden, weil der Widerstand 
übermäßig wird; daher eine geringere Ermüdung dieser Vp., um so eher bei 
Versuchen, bei welchen Ruhepausen zwischen den Arbeitsperioden einge¬ 
schaltet werden. 

Ähnliche Unterschiede untereinander zeigen die von verschiedenen Vp- 
mit demselben Gewicht ausgeführten Kurven, wenn letzteres in verschiedenem 
Maße Für die einzelnen Individuen infolge übermäßigen Widerstandes sub¬ 
maximal wird. 

Von diesem Gesichtspunkte aus ist es also nicht glaubhaft, daß die Ver¬ 
wendung der Federn irgendeinen Vorteil im Vergleich zur Verwendung der 
Gewichte bedeutet, und die Wahl dieser oder jener wäre vollständig gleich¬ 
gültig, wenn nicht zugunsten der Verwendung der Gewichte andere Gründe 
sprächen, darunter vor allem die durch die freie Beweglichkeit des Gewichtes 
gewährte Möglichkeit, in die Einzelheiten der psychophysischen Entwicklung 
der freiwilligen Muskelarbeit einzudringen. 

Richten wir nun unser Augenmerk auf die theoretischen Überlegungen, 
welche der Verf. als Prämissen anführt, die dazu bestimmt sind, die von ihm 
ersonnene dynamographische Methode zu rechtfertigen, so bemerken wir vor 
allem, daß dieses Verfahren des Verf. einigermaßen von den strengen Vor¬ 
schriften der experimentellen Methode abweicht; die psychophysische Seite 
der freiwilligen Muskelarbeit ist noch immer so dunkel, daß alle unsere Be¬ 
mühungen darauf gerichtet sein müssen, neue Daten durch eine vorurteils¬ 
freie experimentelle Forschung zu gewinnen, die nur von dem Gedanken 
beseelt sei, die Äußerung der Muskelarbeit selbst in ihrer grüßten Kompli¬ 
ziertheit zu erkennen. Irgendein Bestreben, das darauf gerichtet ist, die Er¬ 
forschung der Tatsachen in die unsicheren Schranken unserer Theorien ein¬ 
zuzwängen, kann nur schädlich sein. 

Außerdem finden wir in der Darlegung Weilers mehr als eine Stelle, 
deren Bedeutung wir nicht recht erfassen können oder der wir offen wider¬ 
sprechen müssen. Wir wollen nur die wichtigsten anftihren. 

1) S. 562. »Die Stärke der Nervenerregung hängt nun einerseits von 
dem Zustande der motorischen Zentren, ihrer Reizbarkeit, andererseits von 
der Reizstärke des Willensimpulses ab.« Was will der Verf. eigentlich mit 
den Worten »Reizstärke des Willensimpulses« sagen? Vielleicht, daß der 
Willensimpuls eine Erscheinung sei, die rein physiologisch erforscht und ge¬ 
messen werden kann, d. h. eine physische, unabhängige, durch sich selbst 

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Literaturbericht. 


111 


eimlriicke beruht, die früher die zu wiederholende Bewegung charakterisierten, 
darunter in erster Linie das Gefühl der Anstrengung. Wenn man Weiler 
nicht bezüglich der Vorstellung beipflichten kann, die er sich vom Willens¬ 
impuls als von einer Energie macht, die sich über und außer dem un¬ 
unterbrochen durch die Sinnesreize der peripheren Nerven-Muskelorgane 
ausgeübten Einfluß nach außen hin kundgibt, so werden wir auch die 
Hypothesen nicht annehmen können, die er in der Folge hinsichtlich der Ab¬ 
nahme der Stärke des Willensimpulses durch Ermüdung entwickelt. 

Übrigens erlauben uns weder die objektiven Ergebnisse des Experiments 
noch die der inneren Beobachtung entnommenen Aufschlüsse, von einer 
quantitativen Abnahme der Stärke des Willensimpulses zu sprechen. 

2) S. 553. »Um zu verhüten, daß eine . . . Nervenüberreizung statt¬ 
finden kann, besitzt der Organismus Schutzapparate. Einen solchen haben 
wir bereits im Ermüdungsgefühl kennen gelernt, da dieses mit Eintritt der 
Ermüdung mahnend vor weiterer Kraftausgabe in Erscheinung tritt. Einen 
noch wichtigeren Schutz gewährt jedoch die starke Ermüdbarkeit der peri¬ 
pheren Organe.« Daß das Ermüdungsgefühl in der Regel wirklich ein wirk¬ 
samer Schutzmechanismus gegen übermäßige Anstrengung sei, d. h. daß es, 
um dies zu werden, ein bo entschiedenes Übergewicht Uber alle anderen 
Affekte annimmt, die während der freiwilligen Arbeit auftreten, ist zum 
mindesten bestreitbar. Man beobachtet zu häufig, daß bei sehr vorgeschrittener 
organischer Ermüdung die Vp. das Streben zeigt, die Tätigkeit eher intensiver 
zu gestalten als zu vermindern, da der Rhythmus beschleunigt und der Im¬ 
puls intensiver wird; diese Steigerung des Impulses kann zur Wirkung haben, 
die psychophysische Ursache des Anstrengungsgefühls herabzusetzen und 
mithin die Vp. hinsichtlich des wirklichen Ermiidungsgrades nicht zu warnen, 
sondern zu täuschen. Dr. Falciola, Abteilungsarzt an der Irrenanstalt zu 
Como, hat unter meiner Anleitung ein umfangreiches Material von experi¬ 
mentellen Beobachtungen gesammelt, das er nächstens veröffentlichen wird, 
und das eben wieder das beweist, was ich hier auf Grund älterer Ver¬ 
suche anführe. 


Es bleibt noch zu untersuchen, ob wenigstens die von Weiler behauptete 
starke Ermüdbarkeit der peripheren Organe ein wirksamer Schutz gegen über¬ 
mäßige Ermüdung der Nerven ist. Meine vor einigen Jahren unternommenen 
Versuche haben, im Gegensatz zu der übrigens weitverbreiteten Ansicht, zu 
der sich jetzt auch Weiler bekennt, nachgewiesen, daß während der Ent¬ 
wicklung der Kurve der maximalen freiwilligen Arbeit Erscheinungen eintreten, 
die aller Wahrscheinlichkeit nach Anzeichen nervöser Ermüdung sind, und 
zwar viel früher als die Arbeitsleistung sich ihrer Endphase zuwendet; diese 
Anzeichen bestehen in der Abnahme des Wertes der (mit dem Produkt des 
Gewichts und der Zeit) gemessenen statischen Kontraktion und in der ent¬ 
stehenden Unmöglichkeit, mit kleinen Widerständen zu arbeiten. Diese ner¬ 
vösen Ernaüdungserscheinungen zeigen sich auch, wenn die mechanische 
Arbeitsleistung mäßig gewesen ist und das zu hebende Gewicht gewählt 
wird, daß die Arbeit in regelmäßiger Weise fortschreitet, ohne d .^13 es nötig 

wirft a!a *7.n vprmindflm IDinrrl:»« isf am Vorronmiiatalovatpm ,1a» ftC.llOn 


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112 


Literaturbericht. 


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3) S. 561. Um das immer langsamere und praktisch unbegrenzte Sinken 
der Arbeitskurve zu erklären, sagt der Verf.: 

»Die Muskelkraft wird geschwächt, und dies um so mehr, je länger ihr 
solche starken Aufgaben zugemutet werden. Der neu auftretende Willens- 
impnls findet ein geschwächtes Organ vor, und es steht kaum zu erwarten, 
daß es hier den nämlichen Erfolg haben kann wie beim unermiideten Muskel. 
Die Leistung wird infolgedessen geringer werden, aber immerhin noch größer 
sein können, als die Einnahme in der Pause beträgt, so daß also einerseits 
das Energiedefizit (bzw. die Anhäufung von ZersetzungBstoffen) noch mehr 
aufsteigt, während andererseits die Zunahme des Defizits infolge der geringen 
Ausgabe allmählich kleiner wird ... So wird schließlich ein Moment ein- 
treten können, wo infolge der Schwächung des Muskels der Effekt des Willens¬ 
reizes so gering ist, daß nunmehr eine Energieausgabe resultiert, die durch 
die Zufuhr neuer Nährstoffe in der Pause ganz bedeckt werden kann und 
wo die Pausenzeit genügt, die wenigen neuen Zerfallsstoffprodukte völlig zu 
beseitigen.« An diesem Punkte soll das Sinken der Kurve aufhören. Wie 
verlockend dieses Schema auch sein mag, die Tatsachen gestatten seine 
Annahme nicht, besonders wenn es sich um eine Kurve freiwilliger Arbeit 
handelt, denn: 

1) Wenn man auch annimmt, daß, so weit es wenigstens von der Vp. 
abhängen kann, der freiwillige Impuls die Tendenz habe, stets den gleichen 
oder wenigstens den größten Muskelimpuls zu erregen, so kann man doch 
nicht annehmen, daß die Abnahme der Muskelkapazität regelmäßig progressiv 
sei, oder daß die Abnahme der äußeren Effekte in einfachen Verhältnissen 
der Abnahme der Menge chemischer Energie entspräche, die im Muskel bei 
den aufeinanderfolgenden Kontraktionen nmgewandelt wird: für einen all¬ 
mählich ermüdenden Muskel entspricht jede neue Arbeitsleistung einem che¬ 
mischen Verbrauch, der allmählich verhältnismäßig rascher zunimmt, so daß, 
wenn der Rhythmus nicht verlangsamt wird, nie der Moment kommen wird, 
in welchem die für den Ersatz der Verluste in einem frischen Muskel unge¬ 
nügende Pause für den Ersatz der Zerstörungen genügend wird, die ein 
müder und der Erschöpfung naher Muskel erlitten hat. 

2) Der bis zur Phase konstanter Arbeit fiir ein bestimmtes Gewicht mit 
einem rhythmischen Reiz von einer bestimmten Intensität angestrengte Muskel 
kann während einer kurzen abnehmenden Reihe von Hebungen seine Arbeits¬ 
leistung erhöhen, wenn man die Reizintensität erhöht. 

3) Dementsprechend bleibt bei der Ermüdung des Muskels während der 
rhythmischen freiwilligen Arbeit unter bestimmten mechanischen Bedingungen 
der Impuls nicht konstant, sondern er nimmt an Intensität allmählich zu. 
wenn die mechanischen Bedingungen weniger angemessen werden, und er 
kann so intensiv werden, daß die Arbeitsproduktion eines Muskels, der 
unter der Herrschaft des größten Willensimpulses schon einige hundert 
Kontraktionen ausgeführt hat, den Anfangswert erreicht. Wenn der Muskel 


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Literaturbericht. 


113 


reicht, die durch die Widerstände bestimmt sind, welche in den motorischen 
Bahnen liegen; es ist dies die Anwendung auf den Fall freiwilliger Arbeit, 
der Gesetze der Arbeit bei submaximalen Reizen, die schon Tiegel, wenn 
ich nicht irre, zur Zeit der ersten Anfänge der Muskelphysiologie be¬ 
schrieben hat. 

Wir sind also weit entfernt, das Schema Weilers annehmen zu können, 
nach welchem das Maß und die Beschränkung der Abnahme der mechanischen 
Wirkungen einer rhythmisch wiederholten freiwilligen Kontraktion ihre auto¬ 
matische Begründung in der organischen Verarmung des den Willensimpulsen 
gehorchenden Muskels findet. 

4) S. 664. »Der steilabfallende Verlauf unserer Arbeitskurve zeigt, daß 
die Muskelermüdbarkeit eine viel hochgradigere sein muß als die Ermüdbar¬ 
keit des Zentralorgans, oder, anders ausgedrückt, daß wir imstande sind, 
dem Muskel verhältnismäßig mehr Kraft in der Zeiteinheit zu entziehen, als 
dem Zentralorgan. Während bei geistiger Arbeit die Ermüdungsvorgänge 
durch die Übung verdeckt werden, treten hier die Ermüdungserscheinungen 
in den Vordergrund. Da wir nach den Erfahrungen bei der Untersuchung 
geistiger Arbeit von vornherein nicht annehmen können, daß die geistige 
Ermüdbarkeit in kurzer Zeit von wesentlichem Einfluß auf den Verlauf der 
muskulären Arbeitskurve sein wird, usw.«. »Beide werden gleichmäßig dahin 
wirken, daß die Leistung allmählich sinkt, so daß wir uns darauf beschränken 
müssen., gröbere Schwankungen der Willensspannung, die unabhängig von 
der Ermüdung auftreten und den Muskelermüdungswert beeinflussen, aufzu¬ 
decken.« 

Wie kann man die am Anfang dieses Zitates vorkommenden Behaup¬ 
tungen aufrecht erhalten angesichts der täglichen Erscheinungen von Er¬ 
schöpfung uud Neurasthenie, die aus Mangel an Maßhalten bei der täglichen 
Arbeit und, wie wir wohl sagen können, vorwiegend gerade bei den Berufen, 
bei welchen die Muskelarbeit am wenigsten in Betracht kommt, eintreten? 
Wie kann man Vergleiche anstellen zwischen der Leichtigkeit, mit welcher 
es uns gelingt, Energie aus den Muskeln oder aus den Nerven zu ziehen, da wir 
doch nichts von den zwischen den beiden Formen von Energie bestehenden 
Verhältnissen wissen, und vielmehr die Energie, welche das Nervensystem bei 
der Ausübung seiner ergänzenden Funktion (Sh er ring ton) verbraucht, der 
Anßenwelt unter keiner der Formen zurtickgegeben wird, die sich gewühn- 
ich in den spezifischen Zwischenorganen zeigen und als solche unseren 
Beobachtungsinstrumenten zugänglich sind? Schon oben bemerkten wir, 
daß die Erscheinungen, welche bei dem Verlauf der motorischen Ermüdung 
aller Wahrscheinlichkeit nach der Herabsetzung der psychischen oder Nerven- 
energie zuzuschreiben sind, schneller und ausgeprägter eintreten als die¬ 
jenigen, welche man der Muskelermüdung zuschreiben kann. Wenn man bei 
der Kurve einer ziemlich leichten geistigen Arbeit, wie z. B. die Additionen 
Kraepelins es sind, nicht das rasche Sinken beobachtet, das man bei der 
Kurve der freiwilligen Maximalarbeit beobachtet, so muß mau die Gründe 
anderswo suchen, d. h., aller Wahrscheinlichkeit nach, einerseits einem 


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Literaturbericht. 


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zu entnehmen ist, das gestattet, mit Sicherheit das Vorhandensein dieser be¬ 
sonderen Ermiidungsform als getrennte, von der Abnahme der Fähigkeit zur 
Arbeitsproduktion unabhängige Erscheinung zu behaupten. Alles dient 
vielmehr zum Beweis dafür, daß die Willenseinmischung trotz der Nerven- 
ermiidung immer intensiver wird, um das Eintreten der mechanischen Folge 
der Muskelermiidung zu verschieben. Und die verschiedenen von Kraepe- 
lin beschriebenen Antriebsformen, besonders der Müdigkeitsantrieb, scheinen 
zu beweisen, daß dasselbe auch während des Verlaufs der geistigen Arbeit 
geschieht. 

5) S. 564. Weiler schätzt die Beziehung ab, die zwischen dem Fort¬ 
schreiten der Ermüdung (Abnahme der Leistung) bei einer ununterbrochenen 
Reihe von Kontraktionen ( E ) und dem Fortschreiten der Ermüdung bei einer 
durch eine kleine Ruhepause unterbrochenen Reihe von Kontraktionen ( E') 
besteht, und aus diesem Vergleich glaubt er den Grad der Abnahme folgern 
zu können, der durch die reine Muskelermüdbarkeit bedingt ist, indem er 
die Schwankungen des Willensfaktors als etwas Launisches betrachtet, 
das durch Zufall eintreten kann oder nicht. Er nimmt an, ihr Eintreten 
könne bewirken, daß die effektive Arbeitsfähigkeit sich als etwas mehr 
oder weniger verschieden von dem herausstellt, was der reinen Ermüdbarkeit 
der Muskeln entsprechen würde, und auf diesem Grund scheint er zu glaubeu, 
daß die Willensspannung in einem vorgerückteren Stadium der Arbeit etwas 
geschwächt sei. Leider kann man dies, wie wir schon sagten, nicht be¬ 
dingungslos annehmen. Wir können annehmen, daß die prozentuale Ab¬ 
nahme der Leistung, die in den aufeinanderfolgenden Abschnitten einer 
Arbeitskurve ( E) erhalten wurde, etw r as kleiner ist als der wirkliche Zustand 
des Muskels sie gestatten würde, dank der stufenmäßigen Intensifizierung 
des Impulses. Wir können auch mit Sicherheit annehmen, daß diese Ab¬ 
nahme merklich geringer ist als sie im Verhältnis sein würde, wenn 
zwischen den verschiedenen Teilen der Kurve eine Ruhepause ( E ') ein¬ 
geschaltet wird, eben weil dank der Ruhe der Muskel weniger ermüdet; 
aber die Folge ist auch, daß die Intensifizierung deB Impulses, die 
diese Abnahme begrenzt, nicht mehr in so ausgeprägtem Maße eintritt. 
Auch Weiler hat stets E im Vergleich mit E ' zu klein gefunden. Wir er¬ 
klären uns die Sache durch die bei unseren Versuchen erhaltenen Resultate, 
und zwar folgendermaßen: wird die Vp. aufgefordert, mit dem größten 
Impuls zu arbeiten, wenn die Widerstände, die der Muskel überwinden 
muß, verhältnismäßig gering sind (Beginn der Arbeit), ist der Impuls anfangs 
immer relativ schwach; er wird allmählich mit dem fortschreitenden Er¬ 
müden des Muskels eifriger und tätiger, periodisch sogar intensiv aus¬ 
geprägt. Auf diese Weise erklären wir uns auch, daß bei der zweiten 
Person, für die, wie ich sagte, der Weilersche Apparat wahrscheinlich 

E 

einen geringeren relativen Widerstand darbot, das Verhältnis noch 

p-nrinp’cr ist. weil h«i ihr di« F,rmildhark«it fiir di«s«n Annnrat. und mithin 


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Literaturbericht. 


115 


Wir brauchen also nicht mehr zu der von Weiler aufgestellten, sehr un¬ 
wahrscheinlichen Hypothese zu greifen, daß die Einschaltung einer Ruhe¬ 
pause in schädlichem Sinne auf den Verlauf der Arbeit einwirken könne 
(S. 565); sie ist allerdings schädlich, aber nur in dem Sinne, daß ihretwegen 
das Eintreten solcher mechanischer Bedingungen verzögert wird, welche die 
Intensifizierung des Impulses erfordern. Es bliebe noch übrig, uns zu 
fragen, ob diese Verschlechterung der für die Äußerung mechanischer Arbeit 
günstigen Bedingungen eine Wirkung ist, die man ausschließlich der Muskel- 
ermüdung zuschreiben muß. Wir glauben dies nicht; wir glauben, daß es, 
besonders wenn es sich um isometrische ergographische Apparate (Dynamo¬ 
meter, Federn im allgemeinen) handelt, allen Formen von Ermüdung (der 
Muskeln, der Nerven, miteingeschlossen die Geschicklichkeit zur Regulierung 
des Willensimpulses) zuzuschreiben ist. Es gelingt Weiler wirklich nicht, 
aus seinen neuen Versuchen etwas anderes zu folgern als den größeren oder 
geringeren Grad der Kraft, der Ermüdbarkeit, der Widerstandsfähigkeit 
gegenüber dem Anstrengungsgefühl; aber diese so ohne weitere Analyse 
betrachteten Angaben dienen uns nicht dazu, die Natur der Ermüdung näher 
zu kennen, und sie wurden schon mit den ersten nicht so vervollkommneten 
Dynamometern oder Ergographen erhalten; eine weitere Analyse wurde erst 
ermöglicht durch die verschiedenartigen Modifikationen, die ich in die 
ergographische Methode eingefübrt habe zu folgenden Zwecken: 

1) um den mechanischen Effekten der freiwilligen Kontraktionen die 
größte Äußerungsmöglichkeit als Weite der Bewegung zu gestatten; 

2) um den Verlauf der Kontraktionsenergie und des nützlichen Effektes 
bei rhythmischer freiwilliger Muskeltätigkeit, die in praktisch konstantem 
Maße fortschreite, zu taxieren; 

3) um die Schwankungen zu untersuchen, welche bei den aufeinander¬ 
folgenden Hebungen die dem verschobenen Körper mitgeteilte Geschwindig¬ 
keit erleidet. 

Die Apparate, welche, wie die Dynamometer, künstlich diese einzigen 
meßbaren Kundgebungen des Verlaufes der freiwilligen Muskelarbeit unter¬ 
drücken, sind offenbar dazu bestimmt, Kraftwerte oder Zahlen von Kilo¬ 
grammen zu registrieren, d. h. die rein mechanische Seite der Arbeit, aber 
sie werden uns keine Auskunft über die Ökonomie der Arbeit und des Im¬ 
pulses geben können, d. h. eben über die Fragen, durch welche die Er¬ 
scheinung der freiwilligen Muskeltätigkeit auch für den Psychologen ein 
Interesse gewinnt. 

Das bis jetzt Gesagte gestattet uns, die Resultate zu verstehen und auch 
vorherzusehen, die Weiler hinsichtlich des Verlaufes von länger andauernden 
Reihen von Kompressionen mitteilt (1000 Kompressionen, gruppiert in zehn 
Gruppen von je 100 Kompressionen, getrennt durch eine kurze Ruhepause). 
Auch in diesem Falle verwandelt die Starrheit des Apparates in leichte 
Schwankungen alle Unregelmäßigkeiten, die sonst eingehend zu beobachten 
höchst interessant wäre, eben weil sie die Symptome der Art \\ad WeiBe 
sind, wie sich die Vp. der Arbeitsform anpaßt. Weiler aber glaubt das 


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...Mi iVirOTYi 

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116 


Literaturbericht. 


Wenn man bedenkt, daß die von einem künstlich gereizten Muskel ge¬ 
lieferte Arbeitskurve einen ganz verschiedenen Verlauf von derjenigen hat, 
die man durch den freiwilligen Reiz erhält, so sind wir wohl berechtigt, 
daran zu zweifeln, daß das rechtlinige Absteigen von der mechanischen Arbeits¬ 
leistung diejenige Kurve sei, welche den theoretischen Anforderungen der 
Erscheinung der Muskelermüdung entspricht; wohl aber ist es gerade die¬ 
jenige, welche durch die Einmischung der psychischen und nervösen Faktoren 
bedingt ist, die alle zu dem praktischen Zweck Zusammenwirken, die Effekte 
der willkürlichen Muskeltätigkeit möglichst hoch und konstant zu erhalten. 

Eine letzte Überlegung Weilers (S. 680 erinnert uns an einen weiteren 
Mangel der dynamographischen Methode, der in technisch-experimenteller 
Hinsicht sehr wichtig ist: 

» ... bei einer bestimmten absoluten Größe der Leistung die einzelnen 
in gleichen Zeitabständen aufeinanderfolgenden Abschnitte derselben in einem 
bestimmten Verhältnis abnehmen. Diese Abnahme ist nun unabhängig 1 ) zu¬ 
nächst von der Stärke der Willensspannung, indem sie ceteris paribus rascher 
erfolgen wird, wenn mit mehr Willensspannung an die Arbeit herangetreten 
wird (der Exponent wird dann kleiner). Umgekehrt wird bei weniger starker 
Willensspannung die Leistung allmählich sinken, ja sie kann sogar bei sehr 
geringem Willensautrieb überhaupt keine Neigung zum Abnehmen zeigen.« 
Dies ist gleichbedeutend wie das Zugeben, daß man bei der dynamometri¬ 
schen Anordnung nie weiß, unter welchen Bedingungen ein ergographisches 
Experiment fortschreitet, weil man, was die verwendete Intensität des Im¬ 
pulses betrifft, sich auf die Aussage der Vp. verlassen muß; dadurch wird 
ein Vergleich zwischen zwei Kurven von verschiedenen Personen oder zwei 
Kurven einer und derselben Person, die jedoch in verschiedenen Zeitab¬ 
schnitten entnommen wurden, sehr erschwert werden. Bei der ergographischen 
Methode mit dem freien Gewicht wird dagegen als Willensspannung die ge¬ 
ringste verlangt, die zur Hebung des Gewichts genügt: die Schwankungen 
des Impulses, die infolge Unlust oder Unerfahrenheit des Subjektes eintreten 
können, werden stets zwischen diesem Minimum und dem Impuls, der die 
größte Geschwindigkeit dem Gewicht verleihen würde, liegen, d. h. sie werden 
stets in einem sehr begrenzten Feld enthalten sein. Dies bedeutet einen 
nicht geringen Vorteil für die Kontrolle des Verhaltens der Vp.; nämlich 
entgehen die innerhalb dieser Grenzen gehaltenen Schwankungen des Im¬ 
pulses fast vollständig der absichtlichen Einmischung des Subjektes. Da¬ 
gegen berechtigt uns die Unmöglichkeit, in die uns die Verwendung des 
Dynamometers versetzt, der Vp. eine bestimmte Art des freiwilligen Impulses 
vorzuschreiben, den Schlußfolgerungen Weilers, nach dessen Ansicht seine 
dyuamometrische Methode (S. 582) zu dem Ziele führen soll, daß man die 
Leistungsfähigkeit der Muskeln schätzen kann, einige Einschränkungen auf¬ 
zuerlegen, da die Methode hinsichtlich des Exponenten der Abnahme nichts 
entscheidet und der Exponent der Abnahme der Arbeitskurve gerade von 
der von der Vp. aufgewendeten Intensität des Impulses abhängt. 

Was die weitere Schlußfolgerung (S. 581) betrifft: »wird bei zwei Personen 


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Referate. 


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3) Bericht Uber Arbeiten aus dem »Pedasrogical Seminarv« 1908 
und 1909. 

Psychologie der Kindheit in bezug auf Lesen und die öffentlichen 
Bibliotheken von Stanley Hall. 

Auch in Amerika hat das Jugendschriftenwesen sowohl in bezug auf 
Lesen als auch auf Produktion einen großen Aufschwung genommen. Als 
eine Gefahr erscheint nun dem Verf. neben den guten Seiten das starke 
Dominieren der Mittelmäßigkeit (auch in Deutschland, dessen Jugendschriften¬ 
warte und Prüfungsausschüsse er rühmend erwähnt), wodurch die Gefahr 
einer gewissen Lesewut und Interesselosigkeit wächst. Dazu sollen Jugend¬ 
bücher auch nicht das bieten, was das Kind aus erster Hand seiner Erfahrung 
selbst haben kann; sondern sie müssen ihm etwas wesentlich Neues bieten, 
dazu farbig illustriert. »Weder zu Hause noch in der Schule soll das Buch 
mit der mündlichen Erzählung konkurrieren wollen.« Und, meint er dann, 
wie wir nicht das Recht haben bloß Lesen zu lehren, ohne gehörige Vor¬ 
sichtsmaßregeln, daß nicht Minderwertiges und Unverstandenes die jungen 
Seelen verwüste, welche Gefahr tatsächlich groß ist, so gilt es auch vor 
allem auch den Unterschied in der Psyche von Knaben und Mädchen in 
bezug auf Lektüre zu beachten. Zwar in früher Kindheit sind die Unter¬ 
schiede nicht hervorragend, aber einige Jahre vor der Pubertät treten sie 
markant auf und vergrößern sich dann hervorragend. Zunächst darin, daß 
Mädchen überhaupt viel mehr lesen, mehr wahllos, oft auf Anraten von 
Lehrern, Freundinnen, Eltern usw., sie lesen, weil andere es kennen; Knaben 
im Gegenteil haben ihrem selbständigen Sinne gemäß mehr Neigung zu dem. 
was andere nicht kennen, was verboten, was gefährlich ist. Tiergeschichten 
lieben beide Geschlechter, aber Mädchen solche von gezähmten, Knaben von 
wilden, ebenso wie Jagd; dies sei, meint Stanley Hall, wahrscheinlich ein 
Atavismus, weil die Urmenschen schon in den Geschlechtern so verschiedene 
Neigungen gehabt hätten. 

Knaben lesen meist Geschichte, Wissenschaften, Reisen, Abenteuer; 
Mädchen Novellen und Poesie; Historie interessiert letztere nur, wenn sie 
biographisch, persönlich gehalten ist. Knaben lieben Abenteuer, kraftvolle 
Handlung, Mädchen Gefühl. Knaben haben mehr Sinn für Feinheiten des 

Qfilmi nnd dar Pnmn Mödnlien cralinn mol. auf Hon TnVialt Ttina sinH nnr 


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Literaturbericht. 


119 


Nachdem nach den besten Quellen mit größter Lebhaftigkeit alle Lebens¬ 
gewohnheiten der wilden Affen geschildert sind, Bollte ein weiteres Kapitel 
von gezähmten Tieren dieser Art und ihren Eigentümlichkeiten reden; so¬ 
dann müßten Fabeln und Erzählungen von Affen gebracht werden: zuletzt 
sollten Tafeln entwicklungsgeschichtliche Tatsachen, auch in Beziehung auf 
den Menschen, darstellen; letzteres für gereifte Leser gedacht. Und so die 
anderen Bücher auch. 

Den Wert solcher Bücher schätzt er hoch ein; sie würden Eltern und 
Kinder vereinen beim Studium, sie würden auch die Menschen in der Liebe 
zur Tierwelt den alten paradiesischen Zeiten näher bringen, wo der Mensch 
dem Tiere näher war. 

2) Eine andere dringende Not für Geistesnahrung der Kinder gilt es abzu¬ 
stellen, indem die großen Schätze der Weltliteratur von Homer zu den Nibe¬ 
lungen, zur Artussage bis zu Faust dargeboten werden sollten. Jedes Kind hat 
ein Recht zu diesen großen, erhabenen Traditionen der Menschheit, die voll 
sind von moralischer ästhetischer, sittlicher Kraft. »Sie sind wie die ewigen 
Sterne, während unsere zeitgenössischen Geschichten Talglichtern gleichen.« 
Nun kann weder der Urtext noch seine wortgetreue Übersetzung der Jugend ge¬ 
boten werden, es muß vielmehr unter Beihilfe der Kinder, an denen man erprobt, 
in welcher Form es am wirksamsten ist, überarbeitet und neugeschaffen werden. 

3) Sollten die Quellen der Ethnologie fließen gemacht werden und so 
in die Urgeschichte der Menschheit, die dem Kinde so kongenial ist, ein¬ 
geführt werden. Nicht nur ihre Lebensweise, sondern wie sie Sonne, Mond, 
Sterne, Seen, Bäume, Tiere, Felder betrachteten und wie ihnen die Probleme 
des Lebens entstanden und wie sie dieselben lösten. 

4) Zuletzt meint er, die mündliche Erzählung nicht verkümmern zu lassen, 
sie ist natürlicher und kürzer und darum am wirksamsten. 


Im Märzheft 1909 veröffentlichte Louise Ellison eine Literaturstudie 
über »Ökonomie und Technik des Lernens« (The acquisition of tech- 
nical skill). Benutzt sind 39 der namhaftesten deutschen und amerikanischen 
Forscher über diesen Gegenstand. Es ist interessant wie Professor Meu¬ 
ra an ns Ergebnisse hier im allgemeinen bestätigt werden. Wir geben einige 
Sätze der »Summary« wieder. 

1) »Die Fähigkeit der Kinder zu lernen für unmittelbares Behalten ist 
weniger groß als die bei Erwachsenen; erstere werden mehr ermüdet bei 
Material von mittlerer Länge. Kinder brauchen eine größere Zahl von 
Wiederholungen als Erwachsene.« 

2) »Sinnvolles Material eignet sich zehnmal so leicht an als sinnloses.« 

4) »Je mehr Wiederholungen beim ersten Lernen angewendet werden, um 
so weniger sind beim Wiederlernen nötig in gewissen Grenzen.« 

5) »Es ist ökonomischer, die Wiederholungen in Gruppen von nicht zu 

p*rr»Rpn Tnfprvallpn im pinaplnpn i.n fpilpn als aip in oinpr Sitinnv ■»« häufen.« 


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120 


Literaturbericht. 


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15) »Es sprechen auch noch andere individuelle Elemente beim Lernen 
mit.« 

14) »Bei Empfehlung gewisser Methoden für das lernende Kind muß der 
Lehrer beachten, ob das Kind ,reif‘ für die betreffende Methode ist, sonst ist 
sie ohne Wert.« 

18) »Irrtümer sollten gleich am Anfänge vermieden werden, um falsche 
Assoziationen, die in der Folge immer wieder störend eintreten, zu vermeiden.« 


Zur heute so aktuellen Frage der Belehrung der Jugend über 
sexuelle Fragen nimmt Stanley Hall das Wort unter dem Titel: The 
needs and methods of educating young people in the hygiene of sex. 

Auch er tritt für eine Belehrung der Jugend in der Schulzeit, und zwar 
beide Geschlechter umfassend, ein. Er schlägt vor, ehe die eigentliche Be¬ 
lehrung über geschlechtliche Verhältnisse des Menschen eintritt, soll der 
naturkundliche Unterricht eine breite Basis dazu gelegt haben, indem er auf 
Geschlechtsvorgänge bei Pflanzen und Tieren eingeht. Dem späteren Knaben¬ 
alter müssen vom Arzte Belehrungen zuteil werden über die Gefahren ge¬ 
schlechtlicher Ansteckung und Ausschweifung, und in Jünglingsvereinen 
müssen Bibliotheken auch Bücher über eine veredelte Auffassung der Liebe 
von unseren besten Künstlern in Wort und Bild zu finden sein. Hervorragend 
kann auch die Rolle der Religion sein, wenn sie in ihrem eigensten Geiste 
an den Menschen herangebracht wird. 

Selbstverständlich sollen auch die jungen Mädchen bedacht werden 
soweit es ihr eigenes Geschlecht angeht, am besten von einer Frau, 
Lehrerin usw. 

Doch kann schon in dem vorschulpflichtigen Alter manches zur ge¬ 
schlechtlichen Hygiene beigetragen werden durch naturgemäße Körperpflege, 
Nahrung, Kleidung, Betten, durch geeignete körperliche Betätigung, auch 
letztere in der Schule, damit der Geist möglichst mit praktischen Interessen 
ausgefüllt sei. Auch unsere akademische Jugend bedarf der Fürsorge in 
dieser Hinsicht. — 

Bietet bisher Stanley Hall nichts wesentlich Neues zu der behandelten 
Frage, so erscheint mir die Einleitung und Begründung seiner Forderungen 
geradezu klassisch. Sie sei darum in den Hauptpunkten wörtlich wieder¬ 
gegeben. 

»Die 1500 Millionen Menschen, die jetzt auf der Erde leben, sind doch 
bloß eine Handvoll, verglichen mit den zahllosen Generationen, welche von 
deren Lenden für künftige Zeiten hervorgehen sollen. Alle Nachkommenschaft 
schlummert in unseren Körpern, wie wir in denen unserer Vorfahren. Diese 
fordert von uns das höchste Recht und den Segen wohlgeboren zu werden, 
und sie wird nur Fluch für uns haben, wenn sie sich in ihrem Leben be- 


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Literaturbericht. 


121 


geborenen befördert und das Gegenteil Unrecht. Und das letztere tun ist 
eine unverzeihliche Sünde, die einzige, die die Natur kennt. Gerade wie 
alle die sterblichen Zellen und Organe von unserem Körper und all deren 
Aktivitäten durch unser ganzes Leben nur da sind zu dienen dem unsterb¬ 
lichen Keimplasma, so ist jede menschliche Institution: Heim, Schule, Staat, 
Kirche und alles übrige in der Absicht eingerichtet Jugend und Kinder zu 
deren höchstmöglichen Reife zu bringen an Leib und Seele und der Wert 
nicht nur dieser Institutionen, sondern auch von Kunst, Wissenschaft, Lite¬ 
ratur, Kultur und Zivilisation ist letzten Endes zu messen daran, wieviel sie 
beitragen zu diesem letzten Ziel.« 

Ich glaube, schöner und tiefer kann man den Wert und die Pflicht eines 
reinen körperlichen und geistigen Lebens nicht darlegen. Und von dem 
Standpunkte Stanley Halls ans wird man immer erneut auf diese bedenkliche 
und gefährliche Reihe der geschlechtlichen Verirrungen und Unnattirlichkeiten 
zurück kommen müssen und durchdenken, ob die Sanierung nicht schon bei 
der Jugend einsetzen muß. Ohne Zweifel gehört das Thema zu den heikelsten, 
aber wiederum auch unabweisbaren Fragen der modernen Pädagogik. 

Über den Wortschatz eines dreijährigen Kindes bringt die März¬ 
nummer 1909 einen Aufsatz aus der Feder des Professor Guy Montrose 
Whipple und seiner Frau, die ihren eigenen Sohn in dieser Hinsicht sehr 
sorgfältig behandelten und beobachteten. Die Ergebnisse passen sich im all¬ 
gemeinen der Tabelle S. 122 an, der Wortschatz ist reicher, gegen 1800 Wörter. 
Das erklärt sich daraus, daß der Junge für sehr geweckt erklärt wird; daher 
sind auch die Formen der Verben in verschiedenen Zeilen als selbständige 
Wörter mitgezählt. 

Ich glaube, am meisten interessiert den Leser der nachstehend mitge¬ 
teilte Exkurs, der den Wert und die Notwendigkeit experimenteller Forschung 
schlagend illustriert. 

Ein so hervorragender Forscher wie Max Müller sagt: »Bei einem 
Kinde von 8 Jahren ist der Wortschatz sehr eng, er wird sich beschränken 
anf 150 Worte«. Auch in Gesprächen bei Diners über den Wortreichtum 
bei jungen Kindern mit gebildeten Leuten fand der Verf., daß sie ganz 
ähnlich wie Max Müller schätzten; ja, als einer auch 150 Wörter annahm, 
rief ein anderer lachend, es würden wohl kaum 50 sein, dann müßte ein 
dreijähriges Kind auch noch sehr »hell« sein. 

Im übrigen ist aus der Arbeit zu ersehen, wie sorgfältig in den Ver¬ 
einigten Staaten die betreffende deutsche und französische Literatur, auch 
neusten Datums, über pädagogische experimentelle Forschung verfolgt und 
verwertet wird. 

Der Wortschatz eines vierjährigen Knaben. 


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122 


Literatnrbericht. 


Autor 

Alter des 
Kindes 

-— ■ - 

Dingwörter 

Verben 

Adjektiv 

Adverb 

Fürwörter 

Interjektion 

Konjunktion 

Proposition 

3 

^0 


r 

1 % 

X 

* 

1 % 

% 

% 

* 

* 

% 

Mateer 

j 4 Jahre 

65 

22 

14 

1 4 

2 

1,2 

3 

1.6 

100 

Tracy 

Durchschnitt 

60 

22 

9 

5 

2 

2 

1,7 

2 

100 

Wörterbuch gibt an | 

1 

60 


22 

6,5 j 

1,6 

1,5 

1,5 

1,5 

100 

Mateer 

4 Jahre 

578 

211 

125 

öl 

21 

18 

12 

4 

1020 

Salisbury 

2 3 /« Jahre 

350 

160 

60 

32 

24 

20 

5 

4 

642 

> 

5 1 /; Jahre 

883 

321 

236 

40 

22 

20 

1 

5 

1528 

Gale 

21/2 (Mädch.) 

307 

165 

79 

38 

15 

14 

8 

3 

629 

> 

j2i/o (Knaben) 

369 

189 

83 

42 

27 

21 

8 

14 

751 

> 

j 3 Jahre 

675 

238 

141 

63 

33 

17 

10 

9 

1176 

Kirk patrik 

3 5 Jahre 

108 | 

217 

49 ! 

44 

186 

27 

5 

19 

700 


Auffällig ist die hohe Prozentzahl der Tätigkeitswörter gegenüber der im 
Wörterbuch. DerVerf. hält das für einenHinweis, daß der Tätigkeitsdrang einer¬ 
seits und Beobachtung der Handlung bei Kindern am meisten ausgebildet und 
demgemäß vom Pädagogen beachtet sein wollen. Selbstgeprägte waren etw r a 3 ti . 


»Anatomisches oder physiologisches Alter gegen das chronologische.« 
betitelt sich eine Abhandlung von C. Ward Crampton. 

Wir entnehmen den Tabellen folgendes über die verschiedenartige Entwick¬ 
lung, wie sie sich kuudgibt nach verschiedenen Gesichtspunkten der Pubertät 
in gleichem Alter. Vorausgeschickt ist die Angabe über Sammlung des Quellen¬ 
materials: 4800 Daten von Schulkuaben einer New Yorker höheren Schule, 
welche dieselben von der Elementarschule empfängt und in 4 Jahren vorbe¬ 
reitet für Hochschule oder Geschäftsleben. Sie sind aus allen sozialen Schichten 
uud schließen eine reiche Mannigfaltigkeit von Rasseumischungen in sich. 


Alter in 
Jahren 

Physio- | 
logisches j 
Alter in % 

Durchschnitts¬ 
gewicht in kg 

Durchschnittshöhe 
in cm 

Körperkraft, gern, 
am Dynamometer, 
ausgedr. in kg. geh. 
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II 

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II 

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35,2 

36,6 

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35,4 

37,9 

35,2 

38,6 

36,8 

39,0 

37,9 

38,8 

36,7 

41.8 


50.8 

44.3 

43.8 

45.4 

47.2 
47,7 

49.3 


144 

144.2 

145.7 
146,6 

147.3 

149.8 
149,8 


147.5 
148,7 

150.4 

150.6 

151.7 

151.5 
153,1 


150,5' 
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158,9 
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26.3 

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29.4 

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37.8 

38.3 
40.1 

42.9 


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PRINCETON UNIVERSITY 



Literaturbericht. 


123 


Auf Grund der vor Augen liegenden Verschiedenheiten vor und nach 
dem Pabertätseintritte fordert der Verf., in erster Linie das physiologische 
Alter als Basis fUr Erziehung; die Klassen nicht zu trennen nach dem chrono¬ 
logischen Alter, sondern nach dem physiologischen, auch einen Unterschied 
in Unterricht und Fächern zwischen beiden Gruppen zu machen; die Kinder- 
arbeitgesetzgebnng abhängig zu machen von dem Eintritt der Pubertät. 


Arbeiten aus »L’ann6e psychologique« von Binet. (1909.) 

Die Intelligenz der Imbezillen: 

I. Besteht eine Beziehung zwischen dem Charakter der Abnormen und 
einem gewissen Niveau des Geistes? 

Binet beobachtete eine Anzahl solcher Kranken — Imbezille und Idioten 
— in seiner Anstalt. Er legte zunächst Wert darauf, ob Bie seinen Experi¬ 
menten willig folgen oder widerspenstig sind: R6tifs et Dociles, und frug 
sich, ob etwa die niederen Grade der Intelligenz mehr widerspenstig sind 
und umgekehrt, ob dies abnimmt bei geringeren Graden des Schwachsinns. Er 
gibt nun in seiner Abhandlung neben einer Reihe trefflicher photographischer 
Porträts Individualbilder im Wort. 

Das Resultat auf seine Frage ist: Es besteht keine solche Beziehung. 
Denn in allen Graden der Intelligenz fanden sich ebenso viel Willige als auch 
Gegenteilige. Daraus folgert er: Anstelligkeit (docilit6) und Widerspenstig¬ 
keit (r6tivite) nehmen nur danu abnormen Charakter an, wenn sie in über¬ 
triebenem Grade auftreten. 

Auch bei den Widerspenstigen fand er nur dann heftigen Widerstand, 
wenn ihnen Sachen zugemutet wurden, die irgendeine Anstrengung er¬ 
fordern. 

Übrigens gesteht Binet seinen Ergebnissen nur den Wert zu, den etwa 
die Ansichten eines Professors Uber die Jugend haben, wenn er dieselbe nur 
beurteilen wollte nach ihrem Verhalten im Klassenzimmer und ihr sonstiges 
Leben außer acht ließe. Binet benrteilt sie nach seinen Erfahrungen im 
Laboratorium. 

II. Die Aufmerksamkeit derselben, betrachtet unter dem Gesichtspunkt 
der Beweglichkeit (mobilisation). 

Ist bisher die Angabe die gewesen, Idioten hätten gar keine oder nur 
wenig. Imbezille etw r as Aufmerksamkeit, so will Binet diese Art als zu all¬ 
gemein nicht gelten lassen und forscht nach: »Kann die Aufmerksamkeit dieser 
Kranken erregt, verstärkt, durch einen besonderen Gegenstand angezogen 
werden? Einmal gefesselt, kann sie von Dauer sein während einer gewissen 
Zeit? Wenn eine Ablenkung sich bietet und der Kranke ihr folgt, kann er 
letztere wieder verlassen und spontan zum alten Objekt zurückkehren? Kann 
er seihst: widerstehen und dasselbe Ohiekt. fixieren trotz nhlenkpuder Ein- 


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124 


Literaturbericht. 


Bändiger, 5 oder 6 Stühle stehen herum. Auf unseren Befehl, mit der Hand ge¬ 
geben, setzt sich Vousin auf alle Stühle und zeigt auch nicht einmal den 
Willen zum Widerstand, und 3 —4mal tut er es im Kreise; aber vor jedem 
Aufstehen und Setzen müssen wir ihm den Befehl geben; wenn wir die Ges'te 
nicht erneuern, bleibt er sitzen.« 

Anmerkungsweise weist Bi net darauf hin, daß dies dem Verfahren des 
Pädagogen La Martiniere ähnelt, der auch durch Bewegungen die Auf¬ 
merksamkeit seiner Schüler erhält und stärkt, z. B. wenn sie schriftlich 
rechnen müssen und jeder einzeln sein Resultat zum Lehrer bringen, natür¬ 
lich in gehöriger Ordnung. 

Bei Imbezillen mit verhältnismäßig gesteigerter Intelligenz fand Bi net 
die oben gestellten Fragen im allgemeinen bejaht. 

III. Freiwillige Anstrengung Teffort volontaire). 

In den darauf bezüglichen Versuchen zeigten alle Abnormen eine große 
Scheu, sich irgendwie anzustrengen. Bin et untersuchte die Reaktionszeit, 
die verlief zwischen einem gegebenen Signal und der Antwort darauf; Proben 
der Lebhaftigkeit der Bewegung; Experimente, um eine möglichst große Zahl 
von Worten in einem gegebenen Zeitraum hervorzubringen, unmittelbare 
Wiedergabe gehörter Zahlen. Überall trat, verglichen mit den Normalen, 
eine auffällige Verlangsamung und Armut hervor. 

IV. Schreibversuche mit Stift und Papier, die dem Belieben der Ver¬ 
suchspersonen überlassen waren, ergaben die interessante Tatsache, daß im 
allgemeinen eine Annäherung in Formen der Schrift und der Gesten an die 
des normalen Menschen in dem Maße erfolgte, als die Versuchspersonen 
selbst intellektuell sich ihnen nähern. Außerdem wurde bemerkt, wie alle 
sich darin den Verhältnissen anpaßten, daß keiner über den Rand des Papiers 
auf den Tisch schrieb. Die photographisch mitgeteilten Schreibversuche 
zeigen eine allmähliche Entwicklung vom Allgemeinen (einfache Linien} zum 
Besonderen (Schreibformen, die der Schrift Normaler sich nähern). 

V. Die Intelligenz der Perzeption (l’intelligence de perception). 

Versuche mit Gewichten von 10—15 Gramm ergaben die überrraschende 

Tatsache, daß »die Feinheit der Perzeption ist gleich oder ziemlich gleich 
der eines normalen Individuums«. »Es bleibt eine beachtenswerte Tatsache, 
die schon früher bei Kindern beobachtet wurde, daß die Intelligenz der Per¬ 
zeption nicht eine Entwicklung durchmacht, die parallel ist derjenigen der 
Aufmerksamkeit, der willkürlichen Anstrengung oder der Sprache. Sie ist 
sehr viel mehr frühreif, und man ist überrascht, festzustellen, daß ein Im¬ 
beziller, der uns Normalen doch so viel unterlegen ist, für jedes Experiment, 
welches Anstrengung erfordert, doch richtige Vergleiche von Linienweiten 
und Gewichten erreicht, die uns sehr schwierig erscheinen.« Binet meint, 
dns sei sn 7.11 erklären. daß diese nsvehisehe Fähigkeit. vor sich ß-eht. ohne 


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Literaturbericht. 


125 


suche (Stechen mit der Nadel in den Arm, Eintauchen des Fingers ins 
Wasser, brennendes Streichhölzchen nahe der Nasenspitze), daß eine gewisse 
Abstumpfung hierfür bei den Abnormen besteht. Wie bei den normalen 
Kindern ein gewisses Verhältnis der Feinheit der Schmerzempfindung zur 
Entwicklung der Intelligenz festzustellen ist in dem Sinne: mit höherer In¬ 
telligenz steigt die Feinheit und umgekehrt, so bestätigten diese Versuche 
die Abnahme nach unten. »Man muß aber unter Schmerz nicht allein eine 
lokalisierte Empfindung verstehen, die gewertet ist nach ihrer Intensität, 
sondern die gesamte psychische Resonanz dieses Schmerzes, Vorstellungen 
und Gefühle, die er hervorruft und die ihn vergrößern wie eine Lawine.« 
»In Wahrheit haben intelligente Naturen mehr Verdienst, wenn sie coura¬ 
giert sind, als weniger intelligente.« 


VII. Vorstellungsassoziationen. 

Sie sind in der bekannten Weise untersucht worden, daß der Experimen¬ 
tator ein Wort nannte, worauf die Versuchsperson mit einem Worte oder 
Satze antwortete. Bin et gibt als Ergebnisse folgendes an: 

In der äußeren Haltung zeigt sich zwischen Normalen und Abnormen 
ein auffallender Unterschied. Während die ersteren stets etwas befangen 
find nachdenklich sich zeigen, in Besorgnis, auch richtig und verständig zu 
antworten, fällt bei den Abnormen sofort die sehr zuversichtliche Haltung 
und Sorglosigkeit auf. 

Zuerst wiederholen die Abnormen stets das Reizwort als Antwort, erst 
mit der Zeit folgen andere Wörter; die meisten stehen in keinem Zusammen¬ 
hänge mit dem Reizworte; oft scheinen sie schon vorher überlegt, und es 
werden von vorn dieselben wiederholt, wenn der Wortvorrat erschöpft ist. 

Infolgedessen ist auch die durchschnittliche Reaktionszeit bedeutend 
kürzer als bei den Normalen. 

Abnorme geringeren Grades nähern sich in ihrem Verhalten den Nor¬ 
malen. 

Im allgemeinen kann festgestellt werden, daß es nicht das geringere 
Vermögen in bezug auf das Wort ist, das die Grenze zieht zwischen Nor¬ 
malen und Abnormen, es ist vielmehr das Urteil, die Beziehung; »es ist mehr 
durch den Satz als durch das Wort, es ist mehr durch den Gedanken als 
durch die Vorstellung, es ist mehr durch die Organisation als durch die Ele¬ 
mente, welche sich organisieren,« was nämlich die Grenze ausmacht. 


VIII. Aktivität der Intelligenz unterschieden vom Niveau der Intel¬ 
ligenz. 

Einige Gespräche mit Abnormen und Erzählungen derselben illustrieren 
hervorragend, was Binet am Schluß dieses Abschnittes sagt, daß wohl zu 
unterscheiden sei zwischen der Tätigkeit der Intelligenz überhaupt und dem 
Niveau, »zwischen Quantität und Qualität der psychologischen Phänomene«. 
»Wer hätte nicht schon solche Individuen kennen gelernt, die sich beschäf¬ 
tigen mit einer Masse von Fragen, wissen viel Notizen, sprechen von allem 

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126 


Literaturbericht. 


Schwäche des Niveau»; oft haben die Worte (im Zusammenhang) kaum 
einen Sinn und folgen nur den kapricenhaften Assoziationen der tönenden 
Organe.« 

»Man muß bedenken, daß die Fähigkeit, sich zu adaptieren, hervorragend 
die Eigenschaft der Intelligenz ist und die Macht der Adaptation ist ihr 
Maß. Von diesen Gesichtspunkten aus ist jede Verwechslung zwischen Ak¬ 
tivität und Niveau der Intelligenz unmöglich.« 

IX. In bezug auf rechnerische Fähigkeiten ergeben die Untersuchungen 
nichts wesentlich Neues. 


X. Verstand (Raisonnement). 

Bi net untersuchte diese Fähigkeiten der Abnormen bei den Apper¬ 
zeptionsakten, die jeder Erfassung des Neuen innewohnen. 

Zunächst an Bildern. Deutlich zeigte sich je nach dem sonstigen intel¬ 
lektuellen Stande die Dreiteilung: Die geringsten Grade begnügen sich mit 
bloßer Aufzählung der Personen oder Sachen des Bildes; etwas höher stehen 
sie, wenn sie dazu eine kurze Beschreibung geben; endlich wird die Stufe 
der Normalen erreicht, wenn eine Interpretation des Gesehenen erfolgt. 

Auch diese Erfahrungen erinnern Binet daran, in wie hohem Grade die 
Abnormen den Typus normaler Kinder in deren frühester Lebensstufe dar¬ 
stellen. 

»Es ist eine Intelligenz, welcher das Eindringen fehlt.« 

Definition von Worten. Normale Kinder pflegen darin drei Arten zu 
geben. Einfache Wiederholungen desselben Wortes (ein Wagen ist ein 
V T agen), Angabe des Gebrauches (ein Wagen dient zum Fahren), Defi¬ 
nitionen, die Uber die Angabe des Gebrauchs sich erheben (ein W r agen ist 
ein Gerät). 

Die Abnormen bewegten sich ausnahmslos in Definitionen der zweiten 
Art: Angabe des Gebrauchs. 

Deutlich zeigten sich bei einem Geduldsspiele die verschiedenen Grade. 
Eine Visitenkarte wurde in beliebige, phantastische Formen zerschnitten. Sie 
sollten wieder so zusammengesetzt werden, daß die richtige Form der Karte 
wieder herauskam, nachdem man eine solche als Muster gezeigt hatte. Die 
niedersten Grade legten die einzelnen Teile einfach nebeneinander, ohne eine 
Spur von dem Zwecke vor Augen zu haben und so fort, bis eine Abnorme, 
die in ihren intellektuellen Fähigkeiten an die Normalen grenzt, sie zusammen¬ 
brachte nach einigen Versuchen. »Es fehlte ihren Versuchen an Kontinuatiou, 
und sie ist charakteristisch für diese Menschen; sie machen nicht eine Serie 
von Versuchen, von Irrtümern, wie die Normalen, welche den Fortschritt des 
Tastens verwandten, um endlich ihr Ziel zu erreichen. Sie ordnen die Frag¬ 
mente in beliebiger Ordnung; aber sie bleiben auf dem ersten Punkte, suchen 
nicht in verschiedener Weise.« 


XI. Suggestibilität. 

Die mitgeteilten interessanten Versuche zeigen, wie vorsichtig man in der 
Deutung des Gebahrens der Versuchspersonen sein muß Zunächst hatte man 

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Literatnrbericht. 


127 


suchspersonen nähmen die suggerierten Tatsachen als Wirklichkeit, war in 
der Tat vollkommen, bis endlich eine wiederholte Aussprache mit ihnen über 
diesen Punkt sie überzeugte, sie hätten sich so verhalten, weil er als Chef¬ 
arzt es wünschte: »Wir würden es niemals geglaubt haben, daß ein Imbezille 
mit solchem Emst hätte Komödie spielen können, ln Wahrheit, die Moral 
aus der Geschichte ist im allgemeinen: Wir haben geglaubt, einen Imbezillen 
betrügen zu können, und er war es, der uns betrog.« 

XII. Inwiefern man bei Debilen von Afterintelligenz reden kann. (Com- 
ment un debile peut avoir l’csprit faux.) 

Der Fall wurde beobachtet an einem Debilen, Griffon, der eine gewisse 
.Schulbildung besitzt; Bi net sagt: Griffon, debil, 28 Jahre alt, ist auf dem 
intellektuellen Niveau eines achtjährigen Kindes. Auf Fragen aus den ver¬ 
schiedensten Gebieten gab er Antworten, oft in keinem genauen Zusammen¬ 
hänge mit der Frage stehend, oft halb richtig, immer eine gewisse Erfindungs¬ 
gabe verratend, wenn er sonst nichts wußte. »Warum haben Sie ihre 
Arbeitsstätte — Feinbäckerei — verlassen?« »Weil es nötig war, daß 
ein anderer meine Stelle einnahm.« »Wer ist Ali ben Tai'lo (erfundener 
Name vom Fragesteller)?« Antwort: »Es ist ein König, welcher die Wilden 
repräsentiert.« Diese zwei sind charakteristisch für alle anderen. 

Bi net meint, dieser Esprit faux entspricht nicht einer regulären Etappe 
in der psychologischen Entwicklung, er sei ein »Etat exccptionell«; welcher 
aus einer Disharmonie zwischen den erfinderischen und korrektiven Fähig¬ 
keiten entspringt, »wie bei einem Automobile, dessen Bremsvorrichtungen 
nicht im Verhältnis zu der Anzahl seiner Pferdekräfte stehen«. 


XIII. Ein Schema des Gedankens (Un Schema de la pensee). 


In diesem letzten bedeutsamen Abschnitt gibt Bin et sehr bemerkens¬ 
werte Ausführungen über eine neue Hypothese für das Zustandekommen und 
den Verlauf des Gedankens. 

Zunächst weist er die verbreitete Hypothese von unteren und oberen 
intellektuellen Prozessen ab, wie sie angewendet wird von einigen Psychia¬ 
tern und derzufolge etwa Aufmerksamkeit, Reflexion, Koordination und Ap¬ 
perzeption den oberen Prozessen angehörten und an bestimmte Rindengebiete 
gebunden sein sollen; sie wären dann ausgeschaltet, wenn hochgradige De¬ 
fekte vorliegen, und die mehr automatischen Prozesse herrschten unbeschränkt. 
Allein diese Hypothese ist einseitig und zur Erklärung des spezifischen Geistes¬ 
zustandes der Debilen nicht zureichend. Denn bei letzteren sind alle Fähigkeiten 
der Normalen, wenn auch nur keimhaft, vorhanden, und die obige Hypothese 
hat nicht den Wert, ein allgemeines Evolutionsprinzip der menschlichen 
Psyche zu sein. 

Wenn mau unterscheidet zwischen Fertigkeiten (Lesen, Schreiben, Rechnen, 
Handfertigkeit) und Fähigkeiten (Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Urteil, Ab¬ 
straktion), so zeigt sich, daß von letzteren keins den Debilen ganz fehlt, 
während bei den ersteren allerdings die Lektüre die unüberbrückbare Grenze 


abgibt zwischen Normalen und Abnormen. 

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Literaturbericht. 


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die Vorstellungen (iinages mentales) und Betrachtung (contemplation) der¬ 
selben gelegt und gemeint, das sei der Gedanke. Allein diese passive Art 
des Hinnehmens macht keineswegs sein Wesen aus, sondern es besteht viel¬ 
mehr in einem Dreifachen: Direktion, Adaptation und Kritik. Diese drei 
Stücke finden sich bei jedem kompletten Gedanken; sie können bei un¬ 
vollständigen mehr oder weniger fehlen. Unter Direktion ist gemeint, man 
müsse zuerst wissen, um was es sich handelt, um einen Akt des Denkens 
mit Bewußtsein und Sicherheit zu vollenden. Bei den Debilen ist diese 
Fähigkeit oft abgeschwächt, entweder, wenn sie angefangen ist, setzt sie 
sich nicht fort oder tritt überhaupt nicht auf. Die Adaptation bedeutet eine 
Art Wahl. Die Idee des Zieles ist anfangs embryonal, der fortschreitende 
Gedanke vollzieht Auswahl usw. Auch sie findet sich bei Abnonnen zumeist 
in abgeschwächter Form. Zu dem dritten Merkmal, der Selbstkritik, ist 
wohl Erläuterung nicht nötig: Spuren derselben zeigen auch die Debilen. 

Bi net charakterisiert seine neue Theorie in ihrem Verhältnis zur alt¬ 
hergebrachten so, daß ohne Zweifel die sonst gebrauchten Ausdrücke: Auf¬ 
merksamkeit (Direktion), Gedächtnis, Phantasie (Wahl', Urteil (Kritik) hier 
wiederkehren. Aber, sagt er, in einem ganz anderen Sinne. Es ist klar, 
daß hier der Hauptton darauf gelegt ist, den Gedanken als ein System von 
Aktionen zu betrachten, dem bisherigen passiven Element, das im Bewußt¬ 
werden alles Intellektuelle sah, das Willenselement zur Vervollständigung 
Uberzuordnen. Er gebraucht ein Bild aus der Biologie: Gedächtnis, Auf¬ 
merksamkeit usw. entsprechen den Zellen und Geweben, die aber erst ihre 
volle Würdigung vom Organ aus, in dem sie sind, erhalten. Dem entspricht 
das Schema des Gedankens, und in Übereinstimmung mit James kann man 
hier von funktioneller Psychologie reden, und von dieser ist viel praktischer 
Nutzen für Pädagogik und Moral zu erwarten. 


Können die Taubstummen sprechen lernen? 

Dieser Studie haben sich Bi net und Simon unterzogen. 

Sie wandten sich an zwei Pariser Taubstummenanstalten, an das Institut 
nationale des sourds-muets de la rue Saint Jacques und Institut departemental 
d'Asniferes, ließen sich sämtliche Schüler seit 1892 bzw. 1895 aufschreiben 
samt näheren Angaben, Adresse usw. mit der Absicht, selbige aufzusuchen 
und selbst zu prüfen. Sie aufzufinden gelang allerdings nur zum allerkleinsten 
'Feile. 

Eine Orientierung über die Schulzeugnisse ergab folgendes Bild. 

Zahl der Schüler, welche von diesem Sprechunterricht profitiert haben. 


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Asni&res 

1 

Saint Jacques 


1894—1902 

1908-1907 } 

1892—1902 1903—1907 


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Literaturbericht. 


129 


Die Erfolge hingen von verschiedenen Faktoren ab: Ob intellektuell 
normal oder nicht, ob von Geburt taubstumm, ob Taubstummheit in späterer 
Zeit eingetreten. 


Es lernten sprechen: 



Normal 

Zurück- 

gebl. 

Normal 

Zurück- 

gebl. 

vollständig 

taub 

teilweise 

taub 

Mittelmäßig 

77 ^ 

13 % 

94 % 

22 % 

64 % 

60 y. 

79 % 

75 % 

Unter Mittel 

23 % 

87 % 

6 ^ 

78 % 

36 % 

40 * 

21 % 

25 % 


Inst, national 

Inst. d’Asnieres 

I. n. 

I. A. 

N. 

A. 


Aus anderen Tabellen geht hervor, wie die Erfolge wachsen, wenn die 
Taubheit erst nach dem ersten Lebensjahr eingetreten ist. 

So rosig fand nun Bin et bei seinen Besuchen die Erfolge keineswegs. 
Zwar waren auch die Eltern voll von Lob. Binet aber prüfte: Können sich 
die Taubstummen unterhalten mit Personen ihrer Familie. Die Antwort kann 
kaum bejahend ausfallen, das Mienenspiel spielte bei der Unterhaltung die 
Hauptrolle, wo es ausgeschaltet wurde, versagte alles. Gut ging es dagegen 
schriftlich. Können sie sich unterhalten mit Freunden? Binet konnte keinen 
einzigen Fall feststellen, wo dies geschah. 


Haben die Insekten ein Gedächtnis der Tatsachen? 

Felix Plateau, Professor an der Universität Gand, sagt darüber: 

Zur Beantwortung dieser Frage und Würdigung der gebotenen Versuche 
ist es nötig, zu wissen, daß Instinkt nicht rudimentäre Intelligenz und In¬ 
telligenz nicht vollendeter Instinkt ist. Was manche darin irregeführt hat 
ist dieses, daß zum Ausüben des Instinktes zuweilen einfache Urteils¬ 
handlungen sich assoziieren, die sich auf Hinwegräumen von Hindernissen 
für die Instinkthandlung beziehen; so kommt es häufig in der Natur vor. 

Er ist nun in der Lage, reine Instinkthandlungen zu bieten, beobachtet 
an Hummeln. 

Zunächst existiert bei ihnen ein Gedächtnis des einige Male zurückgelegten 
Weges; keineswegs zu erklären durch einen Sinn für Orientieren, denn Bienen 
fliegen in eine neue Wohnung ein, die man an Stelle der alten setzt; Bienen 
und Hummeln nehmen ein für allemal den Weg in derselben Zickzakform, 
in der sie sich einer Pflanze das erstemal näherten; sogar Umwege werden 
später nicht vermieden. 

Auch Gedächtnis war zu beobachten, insofern sich die Insekten erst zu 
der Stunde (vormittags 10 Uhr) einstellten, an der die Pflanze zu honigen 
begann. 


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Literaturbericht. 


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mit karminrotem Pulver konnte nicht verhindern, daß der Zug zur Pflanze, 
der ihnen innewohnt, immer sein Recht behauptete. So meint Plateau, 
darf man schließen: Die Insekten haben kein Gedächtnis für Tatsachen. 

Rolßch [Altenburg). 


4) Sano Torata, Zur Frage von der Sensibilität des Herzens nnd anderer 
innerer Organe. Pflügers Archiv f. d. ges. Physiol. 1909. Bd. 129. 
S. 217 ff. 

Die Ergebnisse der Sensibilitätsprüfnngen innerer Organe, die der Verf. 
an strychnisierten Fröschen und Kaninchen vornahm, bleiben im allgemeinen 
auf dem Stande der Untersuchungen Lennanders stehen, über die wir in 
Bd. IX, S. 27 f. dieses Archivs ausführlich berichtet haben (vgl. auch »Um¬ 
schau« 1907 Bd. 11, Nr. 26, S. 601 f.) ; sie können also anch ebensowenig 
als beweiskräftig angesehen werden als diese — wie nach den Untersuchungen 
von Carl Ritter in Greifswald angenommen werden muß [vgl. dazu dieses 
Archiv, Bd. XIV, Heft 3/4). 

Bei den erwähnten Tieren wurde das Herz und die Bauchhöhle frei¬ 
gelegt (wodurch nach Ritter schon allein die Sensibilität in abnormer Weise 
verändert wird) und dann auf die freigelegten Organe und zur Kontrolle auf 
die Haut Tast- und Schmerzreize appliziert (Berührung. Schneiden, Drücken . 
Die verschiedenen Reize riefen von der Haut, von den Skelettmuskeln, den 
Faszien, dem Periost, den Spinalnerven und dem Peritoneum parietale aus 
regelmäßig die charakteristischen Strychninkrämpfe hervor, dagegen nicht 
bei Reizung des Herzmuskels, des Perikardiums, des Peritoneums viszerale, 
des Magens, der Leber, des Darmes, der Milz, der Lunge und der Geschlechts¬ 
organe. Die naheliegende Folgerung, daß diese inneren Organe eine andere 
Art von Sensibilität hätten als die äußeren, ist nach den Untersuchungen 
von Ritter nicht stichhaltig. Der Magen und der Anfangsteil des Darmes 
erwiesen sich gegen manche Schmerzreize als empfindlich; auch das weist 
auf die Richtigkeit der Ritterschen Auffassung hin. Ebenso, daß das Herz 
sowohl wie der Magen und der erwähnte Darmteil anf chemische Reize 
Schmerzreaktionen auslösten. E. Meumann [Leipzig, 1 . 


6) E. Gilbert, Ein Beitrag zur Frage der Sensibilität des Herzens. (Aus 
dem Physiologischen Institut in Halle.) Pflügers Archiv f. d. ges. 
Physiol. 1909. Bd. 129. S. 329 ff. 


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Literaturbericht. 


131 


6) Victor Mercante, La Verbocromia. Madrid, Verlag von Daniel Josso, 
1910. 

Der durch seine Untersuchungen Uber das Rechnen und die Entwicklung 
der Zahleuvor8tellnngen beim Kinde bekannte Verf. hat in dieser Schrift 
zahlreiche Untersuchungen über die Ergebnisse des Farbenhörens (Audition 
coloröe) mitgeteilt. Seine Untersuchungen beruhen auf einer umfangreichen 
Statistik Uber die Assoziation von akustischen Eindrücken und Farbvor- 
stellungen. Im ganzen wurden über 900 männliche und weibliche Individuen 
in Buenos Aires und La Plata untersucht, denen Fragen vorgelegt wurden, 
ob sie bestimmte optische Vorstellungen haben bei Vokalen, Konsonanten, 
bei konkreten und abstrakten Substantiven, bei sinnlosen Silben usw., und 
die Vp. wurden aufgefordert, die Ursache der Erscheinung der Farbenvor¬ 
stellungen und ihre Verbindung mit Gehörseindrücken anzugeben. Dabei 
wurden die Worte so gewählt, daß in ihnen diejenigen Vokale, welche vor¬ 
her einzeln auf ihre Verbindung mit Farbenvorstellungen untersucht wor¬ 
den waren, entweder eine vorherrschende oder eine untergeordnete Rolle 
spielten; dadurch konnte Bich zugleich eine Entscheidung darüber treffen 
lassen, ob die Farbenvorstellungen, welche mit dem Anhören von Worten 
verbunden sind, von dem in dem einzelnen Worte dominierenden Buch¬ 
staben abhängen oder nicht. Es ergibt sich dabei im allgemeinen, daß die 
Verbindung akustischer Eindrücke mit Farbenvorstellungen eine ganz er¬ 
staunlich verbreitete ist und daß sich unzweifelhaft gewisse konstante Be¬ 
vorzugungen bestimmter optischer Eindrücke bei bestimmten Vokalen und 
Worten zeigen. Die Zusammenstellung der Resultate in einer sehr lehr¬ 
reichen Tabelle macht die Auffassung notwendig, daß bei einer großen Zahl 
von Menschen eine relativ konstante Zuordnung zwischen akustischen Ein¬ 
drücken und Farbenvorstellungen bestimmter Art besteht. — 

Was die Farbenvorstellungen angeht, die mit Worten verbunden sind, 
so sind diese, wie man erwarten muß, häufig, aber durchaus nicht immer, 
durch die dominierenden Vokale bestimmt. Wenn z. B. mit dem Vokal a 
die optische Vorstellung des Weißen verbunden ist, so tritt auch bei dem 
Worte Allah oder bei dem Worte Sahara vorzugsweise die Vorstellung des 
Weißen auf. Doch kommt es auch vor, daß die Vorstellung des Schwarzen 
damit verbunden wird, was vielleicht ein Einfluß des Kontrastes ist, ebenso 
wird die optische Wirkung eines Wortes eine um so weniger konstante, je 
mehr es aus Konsonanten und Vokalen verschiedener Art zusammengesetzt ist. 

Im ganzen sammelte der Verf. 19300 Urteile an 965 Vp. und ordnete sie 
statistisch unter dem Gesichtspunkt ihrer Beziehungen zu dem Individuum, 
der Intelligenz, der Natur der Worte usw. 

In dem letzten sehr ausführlichen Abschnitt behandelt der Verf. sodann 
die verschiedenen Theorien, die das Phänomen des Farbenhörens zu erklären 

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Literaturbericht. 


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kortikaler oder psychischer Irradiation — sekundäre assoziierte Sensationen. 
Seine eigene Theorie nennt der Verf. die Theorie der irregulären dyna¬ 
mischen Irradiation. E. Meumann (Leipzig). 


7) Zeitschrift für pädagogische Psj'chologie und experi¬ 
mentelle Pädagogik, herausgegeben von E. Meumann und 
0. Scheibner unter redaktioneller Mitwirkung von A. Fischer 
(München) und H. Gaudig (Leipzig). Leipzig, Verlag von Quelle 
& Meyer, 1911. (Zugleich zwölfter Band der Zeitschrift für experi¬ 
mentelle Pädagogik und der Zeitschrift für pädagogische Psycho¬ 
logie von Brahn und Scheibner. Jährlich 12 Hefte. Preis des 
Jahrgangs M. 10.—. (Augezeigt vom Herausgeber E. Meumann.) 

Die beiden Zeitschriften für pädagogische Psychologie und experimentelle 
Pädagogik, deren Programm sich in letzter Zeit schon im wesentlichen deckte, 
sind nunmehr miteinander verschmolzen worden. 

In dem vorliegenden ersten Heft wird zunächst unter dem Titel »Zur 
Einführung* (von Meumann) das Programm der Vereinigungszeitschrift ent¬ 
wickelt. Daraus mögen hier einige Sätze mitgeteilt sein: 

»Ihre (der Zeitschrift) erste Aufgabe wird die sein, die Arbeit der beiden 
Organe im gleichen Sinne weiterzuführen, die psychologische Forschung zu 
pflegen, soweit sie pädagogische Bedeutung hat. und zugleich die selb¬ 
ständige experimentell-pädagogische Arbeit im weitesten Sinne des Wortes 
weiterzuführen. Beides zusammen macht im wesentlichen das aus, was wir 
die Pädagogik als empirische Forschung nennen können. Unsere Zeitschrift 
wird daher in erster Linie Uber diese empirische Forschungsarbeit auf dem 
Gebiete der Pädagogik selbst und ihrer wissenschaftlichen Grundlegung und 
in ihren sämtlichen Grenzwissenschaften zu orientieren suchen. 

Aber alle empirische Forschung bedarf der beständigen Orientierung 
durch die großen Probleme unserer Zeit. Ganz besonders durch die be¬ 
ständige Weiterarbeit an den letzten Zielen des gesamten Erziehungswerkes. 
Nur aus dem Leben, nicht durch das rein logische Weiterspinnen gegebener 
Probleme schöpft die Wissenschaft selbst neues Leben. Daher wird unsere 
Zeitschrift bemüht sein, vor allem mit den pädagogischen Zeitfragen Fühlung 
zu halten, die prinzipiellen Grundlagen der Erziehungsarbeit zu erörtern und 
ans ihnen das hervorzuheben, was wahrhaft wissenschaftlicher Behandlung 
zugängig ist. Die wissenschaftliche Forschung verhält sich aber gegenüber 
dem Leben und gegenüber der Praxis der Erziehung teils nehmend, teils 
gebend. Sie empfängt von dem Praktiker neue Probleme, zu deren Lösung 
ihn die Erfahrung in dem Erziehungswerke selbst drängt, sie stellt ihrerseits 
der Praxis neue Aufgaben und sucht sie zu begründen und dadurch auf be¬ 
stimmte Normen zu bringen, was der Praktiker ausführt. Sie bedarf endlich 
überall der letzten Erprobung ihrer Folgerungen aus den Forschungsergeb¬ 
nissen durch die Praxis selbst. Daher müssen wir ebensowohl die An- 
reffuneron der Praktiker zn Worte kommen lassen wie die Theoretiker der 


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Literaturbericht. 


133 


Den Vereinigungspunkt zu bilden für die Erfahrungen und Anregungen 
der Praxis, für die Detail- und Kleinarbeit der empirischen Kinderpsycho¬ 
logie und der experimentellen und statistischen Pädagogik, zugleich aber 
auch für die zusammenfassende Verarbeitung aller Forschungsergebnisse im 
Sinne der pädagogischen Systematik, das wird die Aufgabe unserer Zeit¬ 
schrift sein. 

Der gemeinsame Boden flir alle diese Arbeiten soll die Tendenz sein, 
eine Wissenschaft der Pädagogik zu schaffen, die den Anforderungen des 
Lebens, der erzieherischen Praxis und der theoretischen Begründung wie der 
systematischen Zusammenfassung in gleicher Weise genügt.« 

Als erster Artikel eröffnet dieses Heft eine Abhandlung von Menmann 
über experimentelle Pädagogik und Schulreform. Der Verf. zeigt 
darin, daß die beiden großen, unabhängig voneinander entstandenen päda¬ 
gogischen Bewegungen unserer Zeit, die wissenschaftliche der psychologi¬ 
schen und experimentellen Pädagogik und die praktische der Schulreform, 
zahlreiche Beziehungen zueinander haben und daß die pädagogische Praxis 
und die theoretische Forschung in vielen Punkten zu den gleichen Forde¬ 
rungen kommen. Prof. Münch betrachtet in der nächsten Abhandlung 
»Schülertypen«, die typischen Unterschiede der Schüler, die sich dem auf¬ 
merksam beobachtenden Praktiker ergeben. Der Verf. tadelt zunächst die 
oberflächlichen Einteilungen der Schüler nach ihrer vermeintlichen Intelligenz, 
besonders nach der Schnelligkeit ihrer Leistungen und der leichten Aus- 
drucksfähigkeit, die bei vielen Lehrern üblich ist. Sie berücksichtigen 
namentlich zuwenig die originale Anlage, die sich naturgemäß oft erst 
durch Einseitigkeiten und langsame Entwicklung durcharbeiten muß. Ebenso 
wird die Bedeutung der Stimmung des Schülers oft übersehen, auf Grund 
deren man von »inneren Typen« reden könnte. 

Sodann entwickelt Münch typische Unterschiede, die in den Leistungen 
der Schüler bei den einzelnen Lehrfächern zutage treten. Wir kennen den 
Unterschied der mathematischen Köpfe und der »mathematikfeindlicheu 
Freunde der Sprach- und Geschichtsstudien«; den der für mündlichen oder 
schriftlichen Betrieb der Sprachen spezifisch begabt erscheinenden Schüler; 
den der in der Grammatik unsicheren, in der Lektüre guten; und in der 
Mathematik den Unterschied der Schüler, die Lehrsätze wohl erfassen, denen 
aber das Lüsen von Aufgaben weniger gelingt. Beim Geschichtsunterricht 
fällt die Fähigkeit, Zahlen und Namen zn behalten, nicht zusammen mit der 
Fähigkeit, das menschlich Interessante zu erfassen. Mit Recht macht ferner 
Münch darauf aufmerksam, wieviel psychologisch und physiologisch Ver¬ 
schiedenes sich unter dem bequemen Ausdruck »Fehler« verbirgt. Was ist 
allein in den »Fehlern« der deutschen Aufsätze für eine Fülle individueller 
Unterschiede verborgen. 

Ähnliche Betrachtungen lassen sich anstellen über die in den fremd¬ 
sprachlichen Leistungen zutage tretenden Differenzen, über die Unterschiede 
der zeichnerischen Begabung. Von großer Bedeutung sind ferner die Unter- 

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Literaturbericht. 


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Einflusses, den der Lehrer und seine Art, das Fach zu behandeln, auf die Lei¬ 
stung des Schülers hat. Ich habe es wiederholt erlebt, daß ein Schüler seine 
Leistungen in einem Schulfach und ebenso sein Interesse an ihm total änderte 
in dem Augenblick, in dem ein anderer Lehrer eintrat. Der Verf. unter¬ 
schätzt die Fähigkeit mancher Lehrer, einem Schüler, dessen Individualität 
sie nicht verstehen, einen Unterrichtsgegenstand völlig und auf lange Zeit zu 
verleiden. Er unterschätzt ferner — wie die meisten den Kreisen unserer 
Oberlehrer angehürigen Pädagogen — die ungemein ausgedehnten Möglich¬ 
keiten, eine latente Begabung zu wecken und Unterschiede der Begabung 
auszugleichen; ein solches »unabänderliches Versagen«, wie es der Verf. 
S. 21 seiner Abhandlung beschreibt, ist bei normaler Durchschnittsintelligenz 
gar nicht möglich und muß immer als ein Fehler in der Behandlung des 
Stoffes und des Individuums angesehen werden. 

Gegenüber dem, was uns die heutige psychologische Forschung an die 
Hand gibt zur Beurteilung individueller Unterschiede der Schüler, mutet es 
dann etwas seltsam an, wenn Münch nun den Lehrer ermahnt, nicht sogleich 
jeden Defekt in den Leistungen auf »Unlust und Willensschwäche« zu deuten. 
Das ist allerdings der typische rückständige Standpunkt zahlreicher Ober¬ 
lehrer nnd stellt wohl das Primitivste dar, was von dem Praktiker an »psycho¬ 
logischer« Behandlung verlangt werden kann. Und ganz in diesem Geiste 
ist die Skepsis gehalten, die Münch unserer heutigen Begabungsforschnng 
entgegensetzt. Es handelt sich nicht bloß darum, etwa einem gedächtnis¬ 
schwachen Schüler mit Memoriermethoden nachzuhelfen, sondern es handelt 
sich um das Prinzip, kein einziges Zurückbleiben eines durchschnittlich 
begabten Schülers als einen Übelstand anzusehen, der nicht durch geeignete 
Anleitung zum richtigen Gebrauch Beiner Begabung überwunden werden 
könnte. 

Daß auch dem Verf. solche Überlegungen nicht fern liegen, sieht man 
aus Bemerkungen wie denen Uber die Mängel der Begabung in der Geo¬ 
graphie. Münch meint, daß diese in ganz auffallend großer Ausprägung 
bei Schülern jüdischer Abstammung Vorkommen, weil ihnen als typischer 
Begabungsdefekt der Mangel an plastischer Phantasie zukomme. Dann fährt 
er fort: »Die neuerdings nicht mehr fehlenden bedeutenden Maler aus diesem 
Stamme waren wesentlich große Lerner, Leute von energischstem, auf ein 
bestimmtes persönliches Ziel gerichtetem Fleiße, womit man bekanntlich dem 
Genie ganz nahe kommen kann.« Nun fragt man natürlich: Wodurch haben 
denn solche Menschen diesen hochgradigen Mangel ihrer Begabung über¬ 
wunden, wenn nicht durch Energie und durch einen richtigen Gebrauch 
ihrer natürlichen Begabungsmittel? Denn die Energie allein nützt nichts. 
Sollte nun die Schule nicht auch diese Mittel verwenden können? Welches 
Armutszeugnis würden wir der Schule ausstellen, wenn wir bestreiten wollten, 
daß sie nicht dasselbe erreichen kann wie das energische Individuum? 

Der Verf. scheint sich überhaupt die von der experimentellen Psycho- 

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Literaturbericht. 


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mit weit mehr Nuancen als mit »einfachen typischen Gegenüberstellungen«; 
die erwähnten Unterschiede sind überhaupt keine »typischen Gegenüber¬ 
stellungen« der einzelnen Lerner, sondern allgemeine Unterschiede der 
Methode. 

In der nächsten Abhandlung erweitert Herr A. Hutlier seine Studien 
über Charakter und Begabung (»Probleme zur Charakter- und Begabungs¬ 
lehre«). Wir müssen uns leider versagen, auf die schwierigen Probleme 
dieser Abhandlung näher einzngehen. Nnr das sei bemerkt, daß die Ansicht 
des Yerf., man könne nur auf dem Boden der Vermögenslehre von formaler 
Übung sprechen, ein Irrtum ist. Es hindert natürlich gar nichts, auch von 
formaler Übung komplexer psychischer Funktionen zu reden, genau so. wie 
wir etwa auf körperlicher Seite von Übung der körperlichen Gewandtheit 
reden, obwohl kein Mensch annimmt, daß es ein angeborenes elementares 
»Vermögen« körperlicher Gewandtheit gibt. Auch die Erfahrung des täg¬ 
lichen Lebens nötigt uns zu der Auffassung desRef.; wir nehmen z. B. eine 
allgemeine Übung solcher Fähigkeiten wie der Geistesgegenwart an (um nur 
eines von sehr vielen Beispielen zu wählen), ja wir können eine solche An¬ 
nahme der formalen Übung komplexer Fähigkeiten bei keinem einzigen 
Zweige der Erziehung entbehren. Hier hat sich der Verf. wohl durch 
Wundts übereilte Polemik irre führen lassen. 


In der nächsten Abhandlung betrachtet Schulrat Gaudig das wichtige 
Element der eigenen Reflexion des Schülers für die bildende Arbeit der 
Schule. Die geistreichen Ausführungen des Verf. sind vorwiegend päda¬ 
gogisch interessant. 

Mehr ins Gebiet der Psychologie gehört die Abhandlung von Mitten- 
zwey Uber »GefUhlscharaktere der Sprache«. Der Verf. zeigt, daß zahlreiche 
Worte einen bestimmten Gefühlscharakter haben, und geht den Ursachen 
dieser Erscheinung nach. Er unterscheidet den Gefüblscharakter des Wortes 
als eines lautlichen Gebildes von dem der Wortbedeutung und wider den kon¬ 
stanten Gefühlscharakter eines Wortes von einem variablen, der erst durch 
eine Verwendung des Wortes entsteht, »und zwar durch eine Verwendung, 
welche sich von der idealen Verwendung in gewisser Weise entfernt«. 

In der Verwendung von Wörtern unter Entfernung von ihrem Be¬ 
deutungsakzent zur Erzeugung besonderer Gefühlscharaktere ist nun zu¬ 
gleich eine wichtige Ursache des Bedeutungswandels der Worte. Teils 
pädagogisch, teils psychologisch interessant ist sodann die Anwendung 
dieser Betrachtungen auf den Bedeutungs- und Gefühlswandel der Worte 
beim Übersetzten. Die weiteren Ausführungen gehören znm Teil so weit in 
den Bereich der Pädagogik, daß sie Uber den Rahmen unserer Zeitschrift 
hinausgehen. 

Marx Lobsien teilt in der nächsten Abhandlung Resultate von Ver¬ 
suchen Uber »Korrelationen zwischen Zahlengedächtnis und Rechenleistung« 
mit. Von seinen Ergebnissen mögen folgende erwähnt sein. Optisches 
Zahlengedächtnis und Rechenleistung stehen in keinerlei Korrelation. 


Optisches Zahlengedächtnis und Kopfrechnen stehen in (schwach aus¬ 
geprägter) umgekehrter Korrelation: je größer die Leistungsfähigkeit im 
Kopfrechnen, desto geringer ist das Gedächtnis für optische Zahlbilder. 


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Einzelbesprechung. 


1) Warner Brown, The Judgment of Difference with Special Reference 
to the Doctrine of the Threshold in the Case of Lifted Weigtha. 
Univeraity of California Publicationa, 1910. 


Der Verf. hat mit Hilfe einer auedauemden und ergebenen VerBuchB- 
peraon 75100 Gewichtaverauche gemacht, deren Ergebniaae mitgeteilt und 
ala Grundlage der weiteren Ausführungen benlitzt werden. Ala Gewichte 
dienten Metallzylinder, die durch Auafüllen mit Paraffin und Schrot auf daa 
gewünacbte Gewicht gebracht wurden. In der ersten Gruppe von Versuchs- 
reihen wurden 19 Vergleichsgewichte, deren Unterachied */*—18 des 
Hauptgewichtes betrug, und 3 Hauptgewichte von 50, 100 und 150 g benutzt. 
Die Höhe der einzelnen Hebungen war ungefähr 5 cm und ihre Dauer etwa 
3/4 Sekunden. Zwischen den Hebungen eines Versuches war ein Intervall 
von etwa */< Sekunden und zwischen zwei Versuchen ein solches von 
31/4 Sekunden. Die Vp. hatte stets anzugeben, welches Gewicht schwerer 
war, und wenn ein Unterschied nicht wahrgenommen wurde, so mußte ge¬ 
raten werden. Daa Urteil wurde auagedrückt, indem daa als schwerer er¬ 
scheinende Gewicht vorwärts geschoben wurde. In der zweiten Gruppe von 
Versuchsreihen wurden äquidistante Vergleichareize im Abstande von 0.2 g 
von 97,8 bis 100.4 g mit Gewichten von 100 g verglichen. Diese Gruppe 
umfaßt 14000 Experimente. In der dritten Gruppe, die 6000 Versuche um¬ 
faßt, hatte die Vp. zu entscheiden, ob daa zweite Gewicht größer oder gleich 
dem ersten sei. Die Daten der vierten Gruppe von 11 400 Verauchen sollen 
den Einfluß verschiedener Formen der Urteilsabgabe und den der Anzahl 
und Größe der verwendeten Vergleichsgewichte zeigen. Die letzte Gruppe 
von 1900 Experimenten ist eine Wiederholung der Versuche der ersten 
Gruppe. 

Verf. unternimmt es, auf Grund dieser Daten gegen den Begriff einer 
Schwelle als eines Unterschiedes, der ao klein ist, daß er stets unbemerkt 


bleibt, zu argumentieren. Diesem Zwecke dienen die Daten einer Tabelle, 
in der die Anzahl der richtigen Urteile für jedes Vergleichsgewicht vind 
jeden Normalreiz gegeben werden. Diese Tabelle zeigt, daß seifet 
kleine Gewichtsunterschiede manchmal richtig erkannt werden und ) e ^ e 

Zunahme des Unterschiedes eine Zunahme der Anzahl der richtiger*. |JrteU® 
mit sich bringt. Von 1 % angefangen gibt es keinen Unterschied, der 


manchmal ricbtig^wahrgenommen wird, und bis 18 % eribt es keinen Uo* er ' 


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Literaturbericht. 


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Tatsache bleibt bestehen, daß manchmal ein Unterschied nicht wahr¬ 
genommen wird, der unter anderen Umständen wahrgeuommen worden wäre. 
Erklärt man die Fehler bei der Beurteilung von Unterschieden im Betrage 
von 18 % als durch einen Mangel an Aufmerksamkeit verursacht, so ent¬ 
steht die Frage, von welchem Punkte an solche fehlerhafte Beurteilungen 
auf Rechnung von Aufmerksamkeitsschwankungen gesetzt werden sollen. 
Nimmt man einen solchen Punkt willkürlich an, so muß mau die Schwelle 
durch die relativen Häufigkeiten der richtigen Fälle definieren. Verf. sieht 
keinen Grund, warum irgendeinem besonderen Werte der relativen Häufig¬ 
keiten ein Vorrang eingeräumt werden sollte, da sich kein Punkt angeben 
läßt, von dem an die Urteile eine andere Qualität haben, denn das Zutrauen 
in die Richtigkeit des Urteiles ist ein subjektiver Faktor und beeinflußt die 
relative Häufigkeit der richtigen Urteile nicht. Es gibt also keine Unter¬ 
schiedsschwelle in dem gewöhnlichen Sinne dieses Wortes, und wo eine 
solche zur Beobachtung kommt, ist ihr Erscheinen einem fehlerhaften experi¬ 
mentellen Verfahren zuzuschreiben. Es wird dann an der Hand der Ergeb¬ 
nisse einer Versuchsreihe mit sehr kleinen Reizunterschieden gezeigt, daß 
jeder Unterschied, wie klein er auch sei, unter Umständen wahrgenommen 
wird, und daß jede Zunahme des Reizunterschiedes eine Vergrößerung der 
relativen Häufigkeit der richtigen Urteile mit sich bringt. Man erkennt in 
diesen Ausführungen leicht den Gedankengang von Peirce und Jastrows 
bekanntem Memoir. 

Im nächsten Kapitel unternimmt es der Verf., seine Wahl der zuzu¬ 
lassenden Urteilsausdrücke, also insbesondere die Ausschließung der Un¬ 
entschiedenheitsfälle, zu rechtfertigen. Es wird zunächst verlangt, daß die 
Urteile einander ausschließende Fälle und unabhängig von irgendwelchen 
Verschiedenheiten der Bedeutung, die die Vp. mit ihnen verbinden möge, 
seien. In der Methode der ebenmerklichen Unterschiede wird dies durch die 
Alternative der Aussage Uber die Wahrnehmung oder Nichtwahrnehmung 
eines Unterschiedes geleistet. Falls die Vp. weiß, daß zwischen den beiden 
Reizen stets ein Unterschied vorhanden ist, so ist nach der Meinung des 
Verf. die Aussage Uber die Wahrnehmung eines Unterschiedes die natür¬ 
lichste und psychologisch richtigste Form. Um die Richtigkeit dieser An¬ 
schauung zu bestätigen, wurde eine Versuchsreihe hergestellt, in welcher 
nur sehr kleine Unterschiede verwendet wurden. Anfangs kamen Fälle vor. 
in denen das kleinere Hauptgewicht als schwerer beurteilt wurde, allein nach 
und nach wurden diese falschen Fälle in die Gleicbheitsfälle einbezogen. 
Nach etwa 4000 Versuchen machte die Vp. die Bemerkung, zwei Gewichte 
seien gleich und dies sei das erstemal, daß dem so sei. Verf. schl eßt daraus, 
daß man stets auf Abgabe eines Urteiles über die Wahrnehmung eines 
Unterschiedes bestehen solle. Die Schlüsse, die man aus diesen Tatsachen 
zu ziehen hat, sind nach Meinung des Ref. anders. Zunächst werden in der 
Methode der ebenmerklichen Unterschiede die Aussagen iiher Wahrnehmnn*’ 


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erwähnten Aussage der Vp. Browns wird man eine große Bedeutung nicht 
beilegen können, da die Selbstbeobachtung unter sehr ungünstigen Verhält¬ 
nissen stattfand. In der Tat wird es kaum möglich sein, eine genaue Er¬ 
innerung von dem psychologischen Tatbestände von mehr als 4000 Versuchen 
zu behalten, und man wird in dieser Aussage nur eine Bestätigung der be¬ 
kannten Tatsache, daß der Eindruck positiver Gleichheit nur selten erhalten 
wird, erblicken können. Die Unentschiedenheitsfälle — in Browns Ver¬ 
suchen also jene Fälle, in denen die Vp. zu raten gezwungen war — haben 
mit den Gleichheitsfällen gemein, daß subjektiv kein Grund vorhanden ist, 
warum einer der Reize als größer bezeichnet werden sollte. Jedenfalls ist 
die Abwesenheit des Eindruckes eiuer zwischen den Reizen bestehenden 
Verschiedenheit eine ebenso positive Tatsache wie dessen Vorhandensein, 
weshalb die Fälle, in denen die Vp. zu raten gezwungen ist, als solche zu 
kennzeichnen sind. Hervorzuheben ist ferner der Umstand, daß die Vp. an¬ 
fangs einige Vergleichsgewichte falsch beurteilte und diese falschen Fälle 
im Laufe der Versuche den Unentschiedenheitsfällen assimilierte, was offen¬ 
bar ein unrichtiges Verhalten ist, da der in diesen Fällen vorliegende Tat¬ 
bestand von dem bei Unentschiedenheitsfällen vorliegenden verschieden ist. 
Man wird also schließen müssen, daß auch im Lichte von Browns Ver¬ 
suchen die Ausschließung der Gleichheitsfälle fehlerhaft ist. Ob man den 
psychologischen Tatbestand, der zur Abgabe eines Unentschiedenheitsurteiles 
ftihrt, noch weiter analysieren kann, indem man zeigt, daß die Vp. geneigt 
ist. Daten der Empfindung zu übersehen, die an und für sich hinreichend 
wären, das Urteil zu bestimmen, ist eine weitere Frage, die mit der Zu¬ 
lassung der Unentschiedenheitsfälle nicht in unmittelbarer Beziehung steht 
Es wird ferner untersucht, ob die Urteilsabgabe von der Urteilsform ab¬ 
hängt. Zu diesem Zwecke wurden zu derselben Zeit drei Versuchsreihen 
hergestellt, in deren erster die Vp. nach jedem Versuche das schwerere Ge¬ 
wicht durch Wegschieben mit der naud bezeichnete, während in der zweiten 
die Frage, ob das zweite Gewicht leichter oder schwerer sei, mündlich be¬ 
antwortet wurde, und in der dritten die Frage, ob die Gewichte gleich wären, 
mit ja oder nein beantwortet wurde. Das Hauptgewicht war 100 g schwer, 
und die Vergleichsgewichte liefen in Abständen von 2 g von 82 bis 92 g, 
in Abständen von 1 g von 92 bis 100 g und in Abständen von 2 g von 
100 bis HO g. so daß im ganzen 19 Vergleichsgewichte zur Verwendung 
kamen. Untersucht wurde, in welcher Weise sich die relativen Häufigkeiten 
der Urteile in den verschiedenen Versuchsreihen verhielten. Es wurden bei 
motorischer Form der Urteilsabgabe 2068 Urteile »Zweites Gewicht größer« 
abgegeben, während bei mündlicher Urteilsabgabe in derselben Anzahl von 
Versuchen (3800) nur 1952 solcher Urteile abgegeben wurden. Die Urteiis- 
abgabe hängt also nicht nur von der Reizdifferenz, sondern auch von der 
gebrauchten Urteilsform ab. Hieraus wird geschlossen, daß die Vp. unter 
einer gewissen Voreingenommenheit oder unter Defekten leide, die die Ab- 


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Literaturbericht 


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zu werden. Es handelt sich hier um eine Eigenschaft der Vp., die näher 
erforscht werden soll, aber nicht mit irgendwelchen Bezeichnungen, die eine 
negative Wertung ausdrlicken oder mindestens nahelegen, belegt werden 
darf, um so mehr, als bei einer anfälligen Untersuchung die Vp. davon 
Kenntnis gewinnen kann nnd sich von solchen Defekten zu befreien trachten 
wird, womit dann die ganze Untersuchung illusorisch wird. Die vorliegenden 
Verhältnisse werden vielleicht durch folgenden Vergleich klarer. Die Strahlen¬ 
brechung durch die Luft ist eine Tatsache und als solche weder ein Fehler 
noch ein Vorteil der uns umgebenden Natur. Zu einem Fehler wird die 
Strahlenbrechung erst dann, wenn wir gewisse Beobachtungen ausfiihren und 
hierbei auf die Ablenkung der Lichtstrahlen durch die Luft nicht Rücksicht 
nehmen. Eigenschaften der Vp., die in deren psychophysischer Konstitution 
bedingt sind, sind ebenso Tatsachen, die als solche hingenommen nnd mit 
Hilfe der vorhandenen Methoden untersucht werden müssen, und zu Fehlern 
werden sie erst dann, wenn wir irgendwelche andere Zwecke verfolgen, wobei 
diese Eigenschaften ins Spiel kommen, ohne daß wir sie berücksichtigen 
oder wegen Mangel einer Kenntnis derselben ihren Einfluß nicht abschätzen 
können. 

Die Gültigkeit des Weberschen Gesetzes wird in der Art untersucht, 
daß bestimmt wird, ob gleiche relative Reizunterschiede bei verschiedenen 
Hauptreizen gleiche relative Häufigkeiten der richtigen Urteile geben. Die 
verwendeten Hanptreize betrugen 50, 100 und 150 g. Es zeigt sich, daß die 
Kurven, welche die Verteilung der richtigen Fälle darstellen, fast parallel 
Bind, woraus geschlossen wird, daß innerhalb des beobachteten Gebietes 
eine wesentliche Abweichung vom Weberschen Gesetze besteht. Verf. 
verlangt, daß eine Untersuchung dieses Gesetzes in der Art geführt werden 
soll, daß die Anzahl der zugelassenen Urteile und deren Ausdrucksforra, 
sowie die Zahl der verwendeten Vergleichsreize für die verschiedenen Haupt¬ 
reize gleich sind. 

Es wird ferner untersucht, ob sich ein Einfluß der fortschreitenden Übung 
nachweisen läßt, was man wohl erwarten könnte, da die Vp. während eines 
großen Teiles der Versuchsreihe von den gemachten Fehlern unterrichtet 
wurde. Verf. findet keinen solchen Einfluß deutlich nachweisbar und findet 
nur eine Tendenz, große Fehler zu vermeiden. Bei den Versuchen mit mini¬ 
malen Reizunterschieden findet sich überhaupt keine Veränderung, die der 
Übung zugeschrieben werden könnte. Die Diskussion der Resultate ist ganz 
unzureichend, und es könnte sich möglicherweise herausstellen, daß eine 
genauere Untersuchung der Sachlage ganz andere Resultate ergibt. 

Im letzten Kapitel bespricht der Verf. die Variabilität der Urteile. Zu 
diesem Zwecke berechnet er die mittleren Variationen der relativen Häufig¬ 
keiten und bestimmt ihre Mittel- und Zentralwerte. Als Ergebnis, das gegen 
den Schwellenbegriff und gegen die übliche Auffassung des Weberschen 


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Referate 


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2) G. Heymans, Die Psychologie der Frauen. (Aus: »Die Psychologie 
in Einzeldarstellungen, herausgegeben von Ebbinghausf und 
Meuinann.) Heidelberg, Carl WinterB Verlag, 1910. M. 4.—; 

geb. M. 6.—. 


Das Buch bildet einen Ausschnitt aus der speziellen Psychologie, die 
(im Gegensatz zur allgemeinen Disziplin) die Untersuchung besonderer 
und unterscheidender Merkmale im menschlichen Bewußtsein und ihrer Korre¬ 
lationen zum Gegenstand hat. Es stellt sich die Aufgabe, die Eigenart der 
weiblichen Psyche zu untersuchen und festzustellen, ob und welche be¬ 
stimmte Modifikationen sich durchschnittlich im seelischen Habitus der Frauen 
— im Gegensatz zum männlichen — finden. Es ist mit Freude zu be¬ 
grüßen, daß in diesem Buche eine gründliche wissenschaftliche Leistung 
vorliegt für ein Gebiet, das bisher fast nur auf Grund zufälliger, oft gewiß 
feinsinniger Beobachtungen und unsicherer Schlüsse, mehr oder minder geist¬ 
reicher Einfälle und vorgefaßter Meinungen behandelt worden ist. Die vom 
Verf. benutzte Untersuchungsmethode ist im wesentlichen die der pycho- 
logischen Enquete; doch werden auch die anderen zu Gebote stehenden 
Hilfsmittel — allgemeine Beobachtung nnd Lebenserfahrung, Kenntnis hervor¬ 
ragender Persönlichkeiten und ihrer Leistungen, ferner die in der ein¬ 
schlägigen Literatur und in Sprichwörtern niedergelegten Ergebnisse, und 
endlich auch spezielle experimentelle Untersuchungen — reichlich zur Ver¬ 
anschaulichung und zur Kontrolle herangezogen. 

Vor allem liegen zwei umfassende, von Heymans und Wiersma an- 
gestellte Erhebungen zugrunde: die »Hereditäts-Enquete« und die »Schul- 
Enquete«. Die erstere wendete sich an etwa 3000 niederländische Ärzte und 
stellte ihnen die Aufgabe, 90 im Buch mitgeteilte Fragen in bezug auf je 
eine ihnen genau bekannte Familie zu beantworten. Die 90 Fragen, die 
durchweg präzise und geschickt formuliert sind, suchen tatsächlich in alle 
Seiten des Bewußtseinslebens einzudringen, nm über die Erblichkeit der 
psychischen Eigenschaften Aufschluß zu erhalten. Nicht auf die Erblich¬ 
keit aber, sondern auf das prozentuale Verhältnis im Vorkommen aller der 
genannten Eigenheiten und Betätigungsweisen bei Männern und bei Frauen 
kommt es dem Verf. in diesem Zusammenhänge an. So wird — um einiges 
aus dem umfangreichen Material herauszugreifen — z. B. gefragt nach der 
allgemeinen Lebhaftigkeit der Bewegungen und Handlungen, nach der Art, 
wie Gefühle ansprechen und verharren, nach dem Charakter der prävalierenden 
Gefühle und des Temperamentes, nach den verschiedensten intellektuellen 
Funktionen und Erscheinungen, nach den Neigungen und darauf gegründeten 
Charaktereigenschaften (Egoismus, Ehrgeiz, Pflichttreue, Liebe, Hingebung 

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Literaturbericht. 


143 


Die Schulenquete stellt ferner Erhebungen an über die Entwicklung des 
Charakters bei Knaben und Mädchen vom 12. bis zum 18. Jahre und ver¬ 
gleicht sie in bezug auf alle die Eigenschaften, die in der Schule zum Aus¬ 
druck kommen. Ferner werden auch Enqueten Uber die Ergebnisse des 
akademischen Studiums beider Geschlechter berücksichtigt. Auf Grund des 
so gewonnenen Tatsachenmaterials wird nun der Versuch gemacht, die all¬ 
gemeinen psychologischen Daten in spezieller Anwendung auf die Frauen¬ 
psyche zu modifizieren und die weibliche Eigenart, wie sie sich in bewußter 
und unbewußter Geistestätigkeit, im Wahrnehmen und Vorstellen, in den 
intellektuellen Funktionen, im Fühlen, Wollen und Handeln bekundet, dar¬ 
zulegen. Durchweg bezeugen die Ausführungen des Verf. das Bestreben, 
die gefundenen Tatsachen nicht nur äußerlich hinzunehmen oder in traditio¬ 
neller Weise zu erklären; überall versucht er, das Wesen der Sacho in der 
Tiefe zu erfassen, die beobachteten Daten feinsinnig und weitblickend zu 
deuten. 

Und die Resultate? Die wesentlichsten Unterschiede der Geschlechter 

— um nur auf das Grundlegendste einzugehen — bestehen in der bedeutend 
stärkeren Emotionalität und größeren Aktivität (Reaktion auf Motive) der 
Durchschnittsfrau gegenüber dem Durchschnittsmann. Aus dieser Differenz 
scheinen tatsächlich die schwerwiegendsten Unterschiede zwischen den Ge¬ 
schlechtern, die die Enqueten ergeben und die man im Leben beobachtet, 
sich zu erklären. So reagiert die Frau vorwiegend auf Motive, die einen 
starken Gefühlswert auf sie ausüben, und läßt Bich von ihnen leicht so stark 
erfüllen, daß sie ihr ganzes augenblickliches Interesse in Anspruch nehmen. 
Durchschnittlich aber fesseln konkrete Dinge und Beziehungen, vor allem 
solche, die ihre sozialen Gefühle erregen, bei denen es sich um das Wohl 
und Wehe von Menschen handelt, ihr Interesse stärker als theoretische 
Probleme. Darum leistet von den weiblichen Studierenden ein viel kleinerer 
Prozentsatz im späteren Leben wissenschaftliche Arbeiten als von den männ¬ 
lichen, obwohl die ersteren beim Studium und im Examen öfter bessere 
Leistungen aufweisen, auf Grund des sie Btärker erfüllenden Pflichtgefühls; 
darum ist — obwohl sie oft ebenso schnell, ja schneller auffassen — ihre 
wissenschaftliche Selbständigkeit durchschnittlich viel geringer. Darum 
haben auch in Gebieten, die ihr kraft ihrer Eigenart hervorragend zukommen 

— soziale Arbeit, Krankenpflege usw. —, Männer zumeist den Anstoß zu 
den großen Reformen, die Grundgedanken für die Systeme geliefert, obwohl 
Frauenarbeit auf diesen Gebieten jederzeit Heroisches geleistet hat: weil 
auch hier wieder das Konkrete, der leidende Mensch, der einzelne nach ihrer 
Hilfe verlangende Fall, sie viel stärker interessiert als das Allgemeine, 
Normative. Im ganzen neigt der männliche Intellekt zu scharfsinnigem 
Analysieren, zu zwingendem, Glied für Glied sich bewußt machendem Be¬ 
weisen; der der Frau zu »Divination und Intuition«; ihre Einsicht ist sehr 
oft das Ergebnis einer unbewußt sich vollziehenden, von ihrem ganzen 
Wesen und Wirken abhängigen Selektion; weil aber die zu dexi Beweisen 
führenden Gründe hier mehr als dort unbewußt bleiben, so sehen wir in 


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Literaturbericht. 


sich schnell in Neues zu versetzen, eine Lage praktisch zu erfassen, sich in 
andere hineinzufühlen, Menschen und Dinge mit einem Blick zu durch¬ 
schauen. 

So ist das weibliche Denken 1 ) »von dem männlichen in hohem Grade 
verschieden, und es hat dementsprechend andere Vorzüge and andere Nach¬ 
teile wie dieses. Bei geringerer Strenge hat es größeren Reichtum; der un¬ 
endlich komplizierten Kurve des Lebens schließt es sich vollständig an, 
während jenes dieselbe nur durch geradlinige, eckig zusammenstoßende 
Striche einzuschließen versuchen kann. So zeigt es ..., auch wenn es sich 
auf andere Ziele richtet, eine Verwandtschaft mit der geistigen Arbeit des 
Künstlers. So wie der Roman zur psychologischen Analyse, oder die 
plastische Darstellung zur anatomischen Beschreibnng des menschlichen 
Körpers, so verhalten sich auf jedem Gebiete die weiblichen zu den männ¬ 
lichen Einsichten . .. Darum ist allerdings die Leistungsfähigkeit des weib¬ 
lichen Denkens viel mehr als diejenige des männlichen den Zufälligkeiten 
der individuellen Lebensumstände ausgesetzt. Sofern aber diese günstig sind, 
kann es viel tiefer durchdringen als jenes«. Auf dieser Eigenart beruht es 
auch, daß Frauen geniale, den männlichen ebenbürtige Leistungen vor allem 
auf dem Gebiete der Schauspielkunst und des Romans geschaffen haben; 
in beiden gilt eB, Bich intuitiv in anderes Seelenleben hinein zu versetzen, 
es aus sich heraus zu erschaffen. 

Auf andere Gebiete ans der reichhaltigen Arbeit einzugehen, verbietet 
der Raum; das Buch wird jedem, der sich für diesen Teil der speziellen 
Psychologie interessiert, reiche Anregung und Belehrung bieten. Der Verf. 
hat es grundsätzlich vermieden, aus dem gefundenen Material praktisch- 
pädagogische oder soziale Konsequenzen zu ziehen; jeder aber, der über 
Mädcbenerziehung und -bildung, Uber Frauenberufe usw. sich ein Urteil bilden 
will, wird künftig das hier vorliegende reiche Material zu berücksichtigen 
haben. Einigermaßen skeptisch wird man m. E. den abschließenden Er¬ 
örterungen über den »Ursprung der psychischen Verschiedenheiten der Ge¬ 
schlechter« gegenüber stehen müssen; der Stand unseres Wissens um die Ver¬ 
erbung psychischer Eigenschaften dürfte kaum gestatten, über diese Fragen All- 
gemeingültiges, Abschließendes zu äußern. Aber nicht in diesen Erwägungen 
liegt der Wert des vorliegenden Buches, sondern in der wissenschaftlich 
und vielseitig fundierten, vorurteilslosen, feinsinnigen Darstellung der Eigen¬ 
arten der weiblichen Psyche. Daß die hier entworfenen Züge immer nur 
einen Grundriß bilden, auf dem das Leben in den einzelnen Individuen die 
größte Mannigfaltigkeit entwickelt — daß die individuellen Züge für den 
Einzelfall oft charakteristischer sind als die generellen, an die eine solche 
wissenschaftliche Analyse grundsätzlich sich halten muß —, das ist dem 
Verf. sehr wohl bewußt. Ebenso ist er sich vollkommen darüber klar, daß 
in einer Zeit, wo die Erziehung und Bildung des weiblichen Geschlechtes 


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Literaturbericht. 


Ich zwar sich eelbBt innerhalb gewisser Grenzen in seinen Funktionen und 
Zuständen Gegenstand der apperzeptiven Wahrnehmung werden; aber es ist 
doch nicht ein Wahrnehmungsgegenstand wie die Reihe der anderen, da es 
weder ein Objektives, noch eine psychische Funktion oder ein Zustand ist Es 
ist vielmehr »das den Zuständen und Funktionen zugrunde liegende rätselhafte 
EtwaB, dessen Zustände und Funktionen jene Prozesse sind«. Und wir 
müssen den (gewiß wunderbaren) Tatbestand anerkennen, daß das Ich die 
Aufmerksamkeit während seiner Funktionen auf sich selbst zu lenken ver¬ 
mag, ohne dabei Spaltungen zu erleiden. 

Wir müssen aber ferner die Identität dieses Subjektes während seiner 
sich ändernden Erlebnisse voraussetzen, »wenn wir auch keinen zwingen¬ 
den Beweis dafür und keinen eigentlichen Gegenbeweis gegen 
Kants Hypothese der Vertauschung des zugrunde liegenden Subjektes« 
geben können. (Immerhin würde m. E. die Hypothese Kants sich schwer¬ 
lich gegen die von Lotze geltend gemachten Einwürfe behaupten können!) 
Alle Hypothesen dagegen, die das Ich als eine »Verknüpfungseinheit aller 
seelischen Erlebnisse«, oder als »Zusammenhang von Funktionen« erklären 
wollen, erweist der Verf. mit scharfsinniger Kritik als ebenso unhaltbar wie 
die Auffassung Humes, auf die sie alle zurückgehen. Ebensowenig ist es 
möglich, das Ichbewußtsein aus dem Gedächtnis zu erklären, da Gedächtnis 
und Erinnerung vielmehr umgekehrt die Identität des erlebenden und er¬ 
innernden Subjektes voraussetzen, und da es pathologische Fälle von Amnesie 
ohne Veränderung des Persönlichkeitsbewußtseins gibt. Der Ichcharakter 
alles Psychischen aber ist es, der das Geistige völlig grundsätzlich von der 
physikalischen und chemischen Welt unterscheidet. 

Nicht genügend wird m. E. vom Verf. die Abhängigkeit der Seele vom 
Körper gewürdigt. Gedächte er der Abhängigkeit unserer emotionalen Er¬ 
lebnisse sowohl wie unserer psychischen Funktionen von unserem momen¬ 
tanen körperlichen Befinden, wie von unserem gesamten, uns dauernd eigenen 
körperlichen Habitus: so würde er die »Lokalisation« des Ich in den ihm 
zugehörenden Körper nicht auf eine Stufe mit krankhaften Illusionen stellen. 
Gewiß ist die naiv angenommene »Lokalisation« ein Bild; aber die Natur der 
engen Beziehung von Seele und Körper wird gerade für die hier gewonnene 
Auffassung des Ich zum Problem. 

Das Persönlichkeitsbewußtsein besteht nun — nach den Aus¬ 


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führungen des Verf. — nicht in irgendeinem Wissen oder in Erinnerungen: 
sondern in einem jedem Menschen eignen »individuellen Lebens- 
gefühl«, in einer »allgemeinen Lebensstimmung«. Ein »potentielles Willens¬ 
erlebnis« und die »allgemeine intellektuelle Bewußtseinslage« gesellen sich 
dazu; das körperliche Allgemeinempfinden und die daraus resultierende Ge¬ 
fühlslage bilden nur einen sekundären Beitrag. 

Viele Fälle von »Depersonalisation«, in denen die Kranken Uber den 
»Verlust ihrer Persönlichkeit« klagen, sind aus der pathologischen Ver¬ 
änderung dieses Lebensgefühls tatsächlich zu erklären. Ja alle uns be¬ 
kannten Fälle einer scheinbaren Spaltung, einer sukzessiven oder simultanen 


Ich-Verdoppelung sind vollkommen, ja sogar allein auf dem Boden der 
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Literaturbericht 


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den« — wie will eine wörtliche Deutung diese widersprechenden Tatsachen 
reimen? 

Die Urteilstäuschnng, die den Kranken durch ihren pathologischen Zu¬ 
stand aufgezwungen wird, hat natürlich die verschiedensten psychologischen 
— und zumeist wohl auch unbekannte physiologische — Ursachen. Vor 
allem kommen periodische Gedächtnisstörungen und dadurch bedingte 
Stimmungsschwankungen in Betracht; sie erzeugen im Verein mit 
krankhaft gesteigerten Einfühlungsphänomenen und unnormal leb¬ 
haften Erinnerungen an frühere Zustände, denen sehr oft eine augen¬ 
blickliche GefÜhlshemu.nng oder Veränderung zu Bilfe kommt, die Erschei¬ 
nungen des »doppelten« oder »alternierenden Bewußtseins«. Be¬ 
zeichnet sich, wenn alle diese Störungen nur in geringem Grade auftreten, 
das Individuum nur als »instabil« und »psychisch variabel«, so kommt es 
sich mit der Zeit als sich selbst fremd vor, bis es sich schließlich nicht 
mehr erkennt und in dritter Person von sich spricht. Der berühmte Fall 
der von Jan et beobachteten Leonie gehört hierher. L6onie 3 erinnert sich 
ja der beiden anderen Persönlichkeiten, und sie weiß, daß ihr jetziger Zu¬ 
stand sich von den anderen Zuständen unterscheidet, wenn sie die anderen 


auch nicht als solche, die sie selbst zuweilen erlebt hat, erkennt. Jede 
auch noch so schwache Erinnerung und Vergleichung aber setzt ja die 
Identität dessen, der jetzt etwas erlebt, und der einst etwas erlebt hat, was 
er im Vergleich damit für verändert hält, voraus. Selbstverständlich können 
wir alle die genannten pathologischen Erscheinungen nicht restlos erklären; 
aber vermögen wir das vielleicht gegenüber dem normalen Seelenleben? 
Jedenfalls ist der Gedanke, daß seelische Prozesse sich von dem Subjekt, 
das sie als Zustände oder Funktionen in sich hegt, loslösen, daß in einem 
seelischen Subjekt ein zweites entstehen und sich geltend machen könne, 
unfaßbarer als alle anderen Erklärungsversuche. 

Aber vermögen wir die Einheit des seelischen Subjektes wirklich zu be¬ 
haupten in den Fällen simultaner Ichspaltung, in dem die Kranken be¬ 
haupten, daß in ihnen zugleich zwei Iche seien, oder daß sie selbst sich 
verdoppelt haben? Der Verf. zeigt auf Grund des ihm vorliegenden psycho- 
pathologisehen Materials, daß alle diese Erscheinungen hauptsächlich in 
psychischen Zwangsprozessen begründet sind. Zwangsmäßig rechnen 
die Kranken beständig, oder sie beobachten sich in quälender Weise unauf¬ 
hörlich; oder eie denken etwas, was mit ihrem eigeneu Urteilen und Fürwahr¬ 
halten gar nicht zusammenstimmt. Da sie aber im normalen Zustande alle 
diese intellektuellen Funktionen nur willentlich ausübten, und da ihr Urteil 
krankhaft getrübt ist, so meinen sie, es sei in ihnen ein anderes Ich, von 
dem diese Funktionen ausgehen. 

Ebenso können mehrere nebeneinander bestehende, unverschmolzene Gc- 
fühlsvorgänge zu dieser Illusion Anlaß geben. Die Erscheinungen der Be¬ 
sessenheit im Mittelalter, von denen uns berichtet wird, lassen sich, vor 
allem wenn man die Wirkung des Dämonenglaubens jener Zeit mit in Be¬ 
tracht zieht, auf diese Art restlos erklären. 

Als Ursache der Spaltungsillusion kommen ferner häufig hochgradig gc- 


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Literaturbericht. 


aber und der ZwRng, sich selbst in allen möglichen Situationen vorzustellen 
und reden zu hören, kann zu der Illusion, daß unsere gewohnte Persönlich¬ 
keit ein Doppeldasein führe, Anlaß geben. 

So enthalten alle die psychopathologischen Fälle, die so oft gegen die 
Einheit des seelischen Subjektes ins Feld geführt werden, tatsächlich keinen 
Beweis dagegen. Es ist ein wesentliches Verdienst Oesterreichs, diesen 
Nachweis an den mannigfachsten Krankheitsberichten mit feinsinniger psycho¬ 
logischer Analyse geführt zu haben. Er macht es in der Tat wahrscheinlich, 
daß jene »Spaltungen« nur auf verschiedenen krankhaften Bedingungen be¬ 
ruhende Störungen des Selbstbewußtseins darstellen. Von diesem 
Selbstbewußtsein aber, das hat auch der Verf. überzeugend nachgewiesen, hat 
man den Träger, das Subjekt dieses Bewußtseins, zu scheiden. Ob wir diesem 
Subjekt Einheit und Identität innerhalb der verschiedenen Bewußtseinsphasen 
zusprechen müssen oder nicht: darüber sagen die erwähnten pathologischen 
Fälle nichts aus, weil sie eben nur die phänomenologischen Erscheinungen des 
Bewußtseins und nicht das Subjekt selbst betreffen. Jedenfalls ist anch die 
irrtümliche Deutung, die der psychisch Erkrankte selbst auf seinen Zustand 
anwendet, im Grunde dadurch bedingt, daß er sich doch irgendwie ver¬ 
ändert fühlt. Und sollte diese Tatsache nicht die in den wechselnden Zu¬ 
ständen gewahrte Identität des Erlebenden zur Voraussetzung haben? 

Vielleicht würde ein tiefereB Eindringen in die Krankengeschichten noch 
eine Reihe neuer, fruchtbarer Gesichtspunkte eröffnen; vielleicht mögen im 
einzelnen auch noch andere, als die herangezogenen Erklärungsmöglichkeiten 
bestehen. Jedenfalls aber hat der Verf. in diesem hochinteressanten Buche 
gezeigt, daß die Fälle jener Bewußtseinsanomalien keinen notwendigen Stein 
des Anstoßes für die Subjektspsychologie bilden. Damit hat er Grundlinien 
gewiesen, auf denen neue Forschungen weiter bauen können. 

Else Wentscher (Bonn a. Rh.). 


Dr. Johannes Rehrake (o. ü. Professor der Philosophie zu Greifswald), 
Zur Lehre vom Gemüt. Eine psychologische Untersuchung. 
Zweite umgearbeitete Auflage. Leipzig, Verlag der Dürrschen 
Buchhandlung, 1911. M. 3.—. 

Die Umarbeitungen dieses 1898 zum erstenmal erschienenen Buches ver¬ 
raten keine Änderungen in der Stellungnahme des Verf. zu den aufgerollten 
Problemen des Gefühlslebens, sie sind vielmehr im wesentlichen äußerlicher 
Natur. Der Standpunkt des Verf. ist bekannt. Die Voraussetzung seiner 
Ausführungen ist die Seele als Einzelwesen, »wie es mit dem Leibe in einer 
stetigen Wirkungseinheit innig verbunden sich findet, in der Wirkungseinheit, 
die wir .Mensch’ nennen«. Das Gefühl ist eine Bestimmtheitsbesonderheit der 
Seele. In den weiteren Angaben über das Gefühl, die Stimmung, den 
Affekt usw. ist mehr Konstruktion als Beobachtung enthalten, obgleich der 
Verf. den festen Boden der Tatsachen unter den Füßen zu haben meint. 

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Literaturbericht. 


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6) Dr. phil. Else Voigtländer, Vom Selbstgefühl. Ein Beitrag zur 
Förderung psychologischen Denkens. 119 S. kl. 8°. Leipzig, 
Voigtländer, 1910. Geh. M. 2.—. 


Angeregt durch die »in München gepflegte Richtung der wissenschaft¬ 
lichen Psychologie«, will die Verf. die Tatsachen des Selbstgefühls zunächst 
phänomenologisch beschreiben. In vorsichtigen einleitenden Erwägungen 
wird das Selbstgefühl definiert als eine ganz eigentümliche Tatsache, die nicht 
abgetan sei mit Einordnung in die Gefühlsdimensionen Lust-Unlust und mit der 
Möglichkeit des Nachdenkens usw. Uber sich selbst, und zwar genauer »als 
ein gefühlsmäßiges Wertbewußtsein seiner selbst, das jeder mit sich herum¬ 
trägt und das Schwankungen unterliegt« (S. 19). Die Besonderheiten im 
Verhältnis zu anderen psychischen Erlebnissen sind namentlich »der Kon- 
zentrationsmittelpnnkt, das Selbst« und das äußerst schwer definierbare Wert¬ 
bewußtsein. An Unterarten scheidet die Verf. 1) das vitale (natürliche, in¬ 
stinktive) Selbstgefühl, ausgeprägt in Stimmungen, 2) das bewußte (von 
Reflexion — cum grano salis — beeinflußt), 3) Richtungen mit besonderer 
Betonung oder Zurückdränguug des »Selbst« (Selbstbehauptung und Selbst¬ 
hingabe), und in fundamentalem Unterschiede von diesen Arten das »Spiegel- 
selbstgeFiihl«. Hier erblickt die Verf. das wichtigste Ergebnis ihrer Unter¬ 
suchung. Es sind alle die Fälle, in denen das Selbstgefühl in Beziehung 
steht zur Umgebung der Persönlichkeit, nicht bloß im Sinne des Eindruck- 
machenwollens, sondern auch etwa in dem Sinne des Rühens, des Geborgen¬ 
seins im sozialen Milieu (Standesgefühl des Adels; Bauernstolz). Als Bei¬ 
spiel soll hierher auch die Selbstbewundernng gehören, die an Richard 
Wagner hübsch erörtert wird. Will man diese verschiedenen Gruppen zu¬ 
sammenfassen, so ist wirklich der Ausdruck Spiegelselbstgefühl, der an sich 
wenig einleuchtet, ganz geschickt. Ich hege jedoch noch einigen Zweifel, 
ob die Zusammenfassung so recht brauchbar ist (wie ich überhaupt die Ge¬ 
dankenentwicklung des Büchleins oft nicht sehr überzeugend, auch in ein¬ 
zelnen Teilen ziemlich ungleichmäßig finde). Die Selbstbewunderung z. B. 
würde man auch im Zusammenhänge mit dem Stolz betrachten können, so 
daß die übrigbleibenden Formen des Spiegelselbstgefühls irgendwie mit dem 
sozialen Moment in Beziehung ständen. An einigen Stellen wiederum halte 
ich nicht für sicher, daß überhaupt ein Selbstgefühl in Frage kommt. So 
bei der Skala Vornehmheit-Gemeinheit, die die Verf. auch sehr fein als 
Lebenston bezeichnet, und bei der Stimmung, die man Lampenfieber nennt. 

Mir scheint auch, es wäre nötig gewesen, wenigstens in einem Über¬ 
blick die Schwankungen des Selbstgefühls, die nur einmal gestreift werden, 
Für sich zu betrachten. Dann käme man auf die Dispositionen zu solchen 
Schwankungen der Stimmung, auf die Entwicklung des Selbstgefühls, und 
schließlich auf die Faktoren, die es von erster Kindheit an in der Entwick¬ 
lung beeinflussen. Gewiß hat das alles nicht im Plane der Verf. gelegen, es 
stoßen einem aber bei der Lektüre so viel derartige Fragen auf, daß eine 
wenn auch nur andeutende Berührung dieser Dinge von größtem Interesse 


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Literaturbericht. 


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bis zum Gegenteil; Ausdauer) und in den Antrieben zum Bandeln bedingt. 
Vor allem wird aber betont werden müssen, daß die Erlebnisse des Selbst¬ 
gefühls entweder Stiramungsgrnndlagen irgendwelcher Art sind, gewisser¬ 
maßen Unt<rströmungen des Bewußtseins, oder, im anderen Hauptfalle, 
vorübergehende Prozesse, die auf Grund einer vorhandenen Disposition durch 
bestimmte Anlässe wieder ausgelüst werden. Fast möchte ich glauben, daß 
die Verf. sich zu diesen Betrachtungen nicht veranlaßt gesehen hat, weil 
sie im Grunde doch nicht lediglich phänomenologisch denkt, sondern auch 
»realpsychologisch«, wie sie gelegentlich sagt (beiläufig bemerkt, findet das 
»Psychisch-Reale« in der neuesten 3. Auflage des Leitfadens von Lipps 
gar keine separate Behandlung mehr), — und weil sie deshalb möglicher¬ 
weise geneigt ist, bei Tatsachen wie dem Wertbewußtsein als Realitäten 
Halt zu machen, da diese nicht bloß nicht weiter zurück führbar, sondern 
überhaupt nicht mehr analysierbar seien. 

Sehr anfechtbar ist die Absicht der Verf., die künstlerische Darstellung 
des Psychischen »als Erkenntnismaterial« heranzuziehen, wie es in dem den 
Besprechungsexemplaren beigegebenen (übrigens stilistisch recht wenig ge¬ 
feilten) Vorwort heißt. Was die Verf. in dieser Richtung vorbringt, ist wohl 
in den meisten Fällen haltbar; als Grundsatz wird man aber hier annehmen 
müssen, daß die Charaktere der Dichtung für die Psychologie nur heuristischen, 
nicht Tatsachenwert haben. Etwas zuverlässiger ist schon das biographische 
Material, doch gleichfalls mit großer Vorsicht zu benutzen. Wenn übrigens 
die Verf. aus einem Briefe von Henriette Feuerbach an Frau Herwegh 
(S. 41 und 66) schließt, daß H. Feuorbach sich ihrer Begabung nicht ge¬ 
wachsen fühlte, so werden zwei verschiedene Arten von Begabung hypo- 
stasiertund dann gegeneinander ausgespielt (Neigung zu kleineren literarischen 
Produktionen und Fähigkeit, einen größeren Entwurf wirklich zu vollenden); 
die Selbstanalyse des Briefes, obwohl nicht wissenschaftlich formuliert, scheint 
mir zutreffender zu Bein. Wahrscheinlich kommt man bei dem biographischen 
Material nicht aus, ohne das Problem der Entwicklung des Individuums 
hereinznziehen. 

Wie schwierig jedoch das ganze Gebiet ist, das wird einem am besten 
klar, wenn man Bich fragt, was man gleich Besseres an die Stelle des vor¬ 
liegenden Büchleins zu setzen habe; und darum wird man ihm den Wert des 
Anregens auf jeden Fall zugestehen müssen. 

Moritz Scheinert (Leipzig). 


6) Waldemar Conrad, Der ästhetische Gegenstand. Eine phänomeno¬ 
logische Studie. Zeitschrift für Ästhetik und allgem. Kunstwissen¬ 
schaft. Bd. III. 1908. S. 71—118, 469—511. Bd. IV. 1909. 
S. 400-455. 


Der vorliegende Versuch, die phänomenologische Methode prinzipiell 
auf die Ästhetik anzuwenden, ist zu begrüßen, da er zeigt, daß diese Me- 


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Literatarboricht. 


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menologische Methode ihrem Wesen nach zu erklären als sie anzuwenden. 
Die phänomenologische Methode besteht auf dem Gebiete der Ästhetik in 
einer Weiterbildung der gewöhnlichen deskriptiven Methode, der »naiven«, 
wie Conrad sie nennt. »Wenn man . .. auf einen intentionalen Gegenstand 
rein als solchen ohne irgendwelche Voraussetzungen gerichtet ist und von 
ihm Wesenseigenschaften mit Evidenz aussagt, so ist die naive deskriptive 
Methode in die sogenannte phänomenologische übergegangen« (III, S. 76), 
wobei man sich »sukzessive eine Seite nach der anderen zu adäquater An¬ 
schauung« zu bringen hat (III, S. 74). Conrad nennt drei Eigentümlich¬ 
keiten der phänomenologischen Methode: 1) Sie ist voraussetzungslos, sieht 
vor allem von »der Existenz der Welt mit ihren Dingen und psychischen 
Individualitäten« völlig ab; 2) ihre Gegenstände sind nicht reale, konkrete 
Naturdinge, sondern ideale Objekte; 3) sie ist auf Eigenbeobachtung ange¬ 
wiesen. 

Die Möglichkeit, die phänomenologische Analyse in der Ästhetik zur 
Anwendung zu bringen, beruht darin, daß »dem Kunstgenüsse nicht eine ge¬ 
wöhnliche Dingwahrnehmung zugrunde liegt«. Wir genießen und werten 
nicht die Partitur einer Symphonie, nicht das Manuskript eines Gedichtes; 
wir trennen beim Werten sehr wohl »die Symphonie«, »das Gedicht« von 
der Aufführung, der Rezitation. [Der Theaterkritiker schreibt oft: »Der Bei¬ 
fall galt wohl weniger dem Schauspiel als vielmehr der guten Darstellung.« 
Findige Köpfe versuchen, wie die Blätter häufiger zu melden wissen, durch 
Abstimmungsmaschinen und -antomaten die beiden Wertungen zu scheiden.] 
Eine Phrase aus einer Symphonie mag gepfiffen, auf dem Klavier gespielt, 
von einem Orchester wiedergegeben werden: gemeint ist immer diese 
Phrase. Dieser gemeinte ideale Gegenstand wird von Conrad der Ȋsthe 
tische Gegenstand« genannt. 

Bei der Wahrnehmung eines Kunstwerkes sind drei Geisteshaltungen zu 
unterscheiden: »1) Die Erscheinung repräsentiert uns das Ding der Wirk¬ 
lichkeit«, das »wirkende Kunstwerk«; 2 ) dieses repräsentierte wirkliche Ding 
repräsentiert d*n gemeinten ästhetischen Gegenstand; 3) die Erscheinung 
repräsentiert unmittelbar den ästhetischen Gegenstand. Conrad fordert für 
seine Analyse nach Möglichkeit den letztgenannten Fall. 

Wie eine bestimmte Symphonie, bo kann auch »die Symphonie« als 
Genus oder »der musikalische Gegenstand überhaupt« betrachtet werden, 
»nicht als Gattungsbegriff von Wirklichkeiten, sondern als Typus von Mög¬ 
lichkeiten«, und ebenso wie der Gegenstand können auch die verschiedenen 
Typen der Erlebnisseitc einer Untersuchung unterworfen werden. [Conrad 
selbst will später eine solche Analyse anstellen.l 

Der Verf. benutzt zur Anordnung des Stoffes die z. B. auch bei Dessoir 
anzutreffende Einteilung der Künste in Zeitkünste und Raumkünste, wählt 
ahs den ersteren Musik und Poesie und teilt die letzteren in nicht¬ 
darstellende und darstellende Raumkünste ein. Der eigentlichen Analyse 

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Literaturbericht. 


Conrad wendet sich zunächst dem ästhetischen Gegenstand der Musik 
zu. Aus der Voruntersuchung über den Einzelton ist zu erwähnen, daß 
nach Conrad die vier »Seiten« eines Tones, Tonhöhe, Intensität, Dauer und 
Klangfarbe, einander nicht koordiniert sind. »Die Tonhöhe scheint für den 
Ton am wesentlichsten zu sein«, da der Ton nach ihr benannt, an ihr wieder¬ 
erkannt wird. Für das Verhältnis der drei anderen, weniger wichtigen 
Seiten zum Tone schlägt der Verf. anstatt des naheliegenden Ausdruckes 
»Inhärenz« den Terminus »Adhärenz« vor. Auf die Bevorzugung der Ton¬ 
höhe kann nach Conrad letzten Endes nur hingewiesen werden; wir haben 
den Gattungsbegriff des Tones um dieser Auszeichnung der Tonhöhe willen 
gebildet, nicht ist umgekehrt die Tonhöhe deshalb ausgezeichnet, weil nach 
ihr der Gattungsbegriff gebildet ist. Doch soll eines aus dieser Sachlage zu 
entnehmen sein, nämlich daß das Interesse bei dieser Auszeichnung mit¬ 
spiele, und zwar ein objektives, kein rein zufälliges, subjektives Interesse. 

An dem gewählten Beispiel Melodie von »Beil dir im Siegerkranz«, 
C-Dur, 3 / 4 -Takt) konstatiert Conrad bei der allgemeinen Analyse zunächst 
eine »zeitliche Erstreckung« (wohl dasselbe, was später »Dauer« genannt 
wird) und eine »zeitliche Umgebung«, einen »Hof« der Vorbereitung und des 
Ausklingens. (Das Beifallklatschen, welches Conrad hier nennt, ist doch 
wohl kaum als »weeenszugehörige« Umgebung »mitgemeint«). Sodann unter¬ 
scheidet der Verf. eine Gliederung in Stücke und einen Aufbau aus Seiten. 
Die Gliederung ist rhythmisch und sinngemäß; rhythmisch: in Takte und 
Rhythmuseinheiten; sinngemäß: in Sätze, Phrasen, Töne. Beide Gliederungen 
sind wesentliche Merkmale des ästhetischen Gegenstandes. Bei dem Auf¬ 
bau begegnen uns jene vier Seiten wieder, die wir beim Einzelton kennen 
lernten, hier als Tonhöhenverlauf, Intonsitätsverlauf, Klangfarbenverlauf und 
Dauer. Die Gesamtheit dieser Seiten, der »akustische Kern«, besitzt gewisse 
psychische Faktoren, nämlich einen Stimmungscharakter und einen Aus¬ 
druck scharakter; die beiden können auseinandertreten, z. B. bei einer 
humoristisch gemeinten Musik, die wortreichen Liebesschmerz ausdrückt. 
Ferner stellt der Verf. eine (objektive) Interessenverteilung fest: das 
eine Moment steht im Vordergründe des Interesses, ein anderes tritt zurück. 
Im Vordergründe stehen »Tonlinienform« und psychischer Charakter [bald 
der Ausdruck, bald der Stimmungston]; der Intensitätsverlauf tritt mehr 
zurück; noch mehr im Hintergründe steht der Klangfarbenverlauf. Die 
»Tonlinienform« ist »fundiert in den Verhältnissen der Tonhöhen und Ton- 


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dauern der aufeinanderfolgenden Einzeltöne, bezogen auf Tonika und 
Rhythmuseinheit«. 

Dieser Sphäre des Gemeinten stellt der Verf. das Gebiet des Mit¬ 
gemeinten gegenüber. Mitgemeint ist die schon erwähnte zeitliche Um¬ 
gebung, die Persönlichkeit des darbietenden Künstlers, in anderem Sinne 
z. B. die »ländliche Gegend« einer Symphonia rusticaua, schließlich Dinge, 
die in gewissem Sinne dargestellt sein können und daher bisweilen zum Ge¬ 
meinten gehören, z. B. das Gewitter in Haydns »Jahreszeiten«. 

Aus der Detail-Analyse des gewählten Beispiels sei erwähnt, daß nach 


Conrad im ersten Takte die Höhe des zweiten Tones auf die des ersten, 


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neue sinngemäße Einheit aufgefaßt?] Die Tonart ist dadurch gegeben, daß 
sich c in der Melodie irgendwie als Tonika bemerkbar macht, daß die 
übrigen Töne direkt oder indirekt auf c als Hauptgrundton bezogen werden. 
Der interessante Versuch, die Tonlinienform wie eine Kurve in ein Koordi¬ 
natensystem einzutragen, macht indirekt auf weitere Tatsachen aufmerksam: 
Kontinuität der Melodie, Akzent des ersten Tones im Takte, Bevorzugung 
des Toneinsatzes. Die von Conrad genannten psychischen Charaktere 
dieser Melodie zeigen deutlich die Abhängigkeit dieser Momente von der 
Individualität des Auffassenden. 


Es gibt für den ästhetischen Gegenstand eine Irrelevanzsphäre, inner¬ 
halb deren die einzelnen Elemente sich ändern können, ohne dadurch die 
Identität des ästhetischen Gegenstandes zu gefährden, d. h. ohne daß der 
ästhetische Gegenstand als Gattungsgegenstand verloren geht. Zu seiner Er¬ 
haltung sind unbedingtes Erfordernis Erhaltung der Tonlinienform und Be¬ 
ziehung auf die zugehörige Tonika, in gewissem Sinne auch Erhaltung der 
Rhythmisierung. Innerhalb dieser Gattangsgrenze gibt es noch eine Irrelevanz- 
sphäre flir den gemeinten ästhetischen Gegenstand im engeren Sinne. Nur 
eine der möglichen Ansichten ist die gemeinte, sie allein fundiert das ästhe¬ 
tische Werturteil. (Bei einem Vergleich mit Riemanns Standpunkt findet 
Conrad trotz der Verschiedenheit der Betrachtungsweisen manche Überein¬ 
stimmung in den Ergebnissen.) 

Der Behandlung des ästhetischen Gegenstandes der Poesie geht eine 
Untersuchung über den verbalen Ausdruck voraus. Conrad entwickelt hier 
zunächst im Anschluß an Busserl den Unterschied zwischen Zeichen, Be¬ 
deutung und Gegenstand. »Der wesentliche Kern eines Wortes ist die Be¬ 
deutung, die, getragen von einem akustischen Symbol, einen Gegenstand 
meint.« Denn »Wort« im eigentlichen Sinne ist das akustische Wort; eine 
Geste besitzt keine Bedeutung, sondern meint nur einen Gegenstand; das 
visuelle Zeichen bezeichnet primär Laute und besitzt erst dadurch sekundär 
eigentliche Bedeutungsfunktion. Die drei genannten Momente sind »Seiten« 
des Wortes. (Später tritt noch eine vierte Seite, der ausgedrückte Gegen¬ 
stand, hinzu.) »Stücke« eines Wortes gibt es für diese Analyse nur, sofern 
die Stücke eine Bedeutung haben, z. B. in zusammengesetzten Wörtern. Der 
Gegenstand eines zusammengesetzten Wortes ist nicht gleich der Summe der 
von den Einzelwörtern gemeinten Gegenstände, er ist vielmehr ein neuer 
Gegenstand. Die Gegenstände der Einzelwörter sind in dem neuen Gegen¬ 
stände nicht enthalten, dagegen wohl die Bedeutungen in dem neuen Be¬ 
deutungsganzen, wenngleich dieses nicht einfach gleich der Summe der Teil¬ 
bedeutungen ist. 

Conrad behandelt sodann in allgemeiner Analyse das Gedicht »Unge¬ 
duld« aus dem Zyklus »Die schöne Müllerin« von Wilh. Müller. Die 
Überschrift des Zyklus weiBt darauf hin, daß das Nachfolgende als ein 
Gegenstandsganzes aufzufassen ist. Der Titel gehört zur zeitlichen Um¬ 
gebung, die auch hier einen Hof der Vorbereitung und des Abklingens um¬ 
faßt. Die rhythmische Gliederung des Einzelgedichtes liegt in der Ein¬ 
teilung in Strophen, Verse, Metren nnd Silben: zur sinngemäßen Gliederung 


gehören die S 

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Stroohen, die 

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ie Einzelsätze, die selbständigen und die unselb- 


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Literaturbericht. 


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bildet die Liebesgeschichte von Müller und Müllerin: der Gegenstand des 
Gedichtes »Ungeduld« ist die stürmische, ungeduldige Liebe des jungen 
Müllers, die er gern der Geliebten mitteilen möchte, jedoch ihr in Worten 
auszudrücken nicht wagt, und sein Kummer, daß sie von all seiner Liebe 
nichts merkt. In den ersten vier Versen wird derselbe Gegenstand, die 
Sehnsucht nach einer Mitteilung an die Geliebte, in vier verschiedenen Be¬ 
deutungen gemeint oder, wie später verbessert wird, ausgedrückt 
Worte können Gegenstände nämlich nicht nur meinen, sondern auch aus- 
drücken. Conrad unterscheidet eine subjektive Ausdruckspoesie und eine 
objektive Poesie, je nachdem die Worte wesentlich etwas ausdrücken Bollen 
oder nicht. Zum Ausdruck tritt als weiteres Moment der Stimmungston. 
Im Vordergrund des Interesses stehen Bedeutung und Ausdruck, dann 
kommen Gegenstand und Zeichen; daran schließt sich der Stimmungston. 
dann Vorstellungen, Gefühle und Wollungen, die schon auf der Grenze zu 
dem Mitgemeinten hin stehen. 

Der Titel »Ungeduld« weist, wie Conrad in der Detailanalyse zeigt, 
darauf hin, daß in dem Gedicht sich Ungeduld äußert; ferner gibt er eine 
gewisse Direktive für die Aufassung. Sodann analysiert der Verf. in sorg¬ 
fältiger und scharfsinniger Weise die erste Strophe. Die Frage, ob den 
beiden ersten Worten ein oder zwei Gegenstände entsprechen, entscheidet 
er dahin, daß nur das Symbol in zwei Teile zerfalle. Die Identität 
des ästhetischen Gegenstandes wird nicht bedroht durch gewisse Ver¬ 
änderungen von Sprechhöhe, Tonfall, Betonung, Tempo usw. Über Be¬ 
deutung und gemeinten Gegenstand spricht Conrad sich nicht deutlich aus; 
ihre Variationsmöglichkeit scheint nicht groß zu sein. Sehr gering ist sie 
jedenfalls für den ausgedrückten Gegenstand. Bei Überschreitung der 
Irrelevanzsphäre (i. e. S.) liegt eine unvollkommene oder falsche Wiedergabe 
bzw. Auffassung vor. Auch hier ist nur eine der möglichen Ansichten die 
gemeinte. 

Aus der Voruntersuchung zur Raumkunst sei nur erwähnt, daß die 
phänomenologische Analyse im Gegensätze zur gewöhnlichen Betrachtungs¬ 
weise die Farben und Formen, die primitiven Elemente der Gegenstände der 
Raumkunst, als Arten von Färb- und Formtypen auffaßt. 

Als Beispiel aus der nichtdarstellenden Raumkunst wählt Conrad 
zunächst die Mäanderlinie. (Auf das Bd. IV, S. 405 wiedergegebene Muster 
passen einige Stellen schlecht [z. B. Richtung links-rechts, Stilisierung der 
Wellenbewegung], besser dagegen auf ein anderes Ornament, s. etwa 
K. Woermann, Geschichte der Kunst aller Völker und Zeiten, Leipzig und 
Wien 1900, Bd. I, S. 24; mindestens müßte an dem vorliegenden Muster die 
obere Ausladung nach links wegfallen.) Dieses Ornament baut sich in der 
zweidimensionalen Ebene aus einfachen geraden Linien auf, die Lage, Rich¬ 
tung, Größe und eindimensionale Kontinuität besitzen. Eine rhythmische 

Gliederung kann man in der Oliedernn<r in wlninhn Ronmtnilo nrKli«»kon 


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Literaturbericht. 


155 


sie als Linien gemeint. Als angewandte Kunst, z. B. als Ornament an einer 
Wand, kann der Mäander mitgemeint sein. Auch bei dieser Kunstgattung 
finden sich psychische Charaktere; man nennt z. B. ein Ornament »steif«, 
die Farbe einer Wandfiäche »kalt«. Die Wand kann ebenfalls mitgemeint 
sein als Wand einer Gartenhalle. Sie weist auf den Innenraum hin, dieser 
auf das Gebäude, dieses auf den Garten, dieser auf die meist nicht mehr 
mitgemeinte weitere Umgebung. Dieser Mangel an eindeutiger Grenze iBt 
ein Charakteristikum der angewandten Knnst. Eine Gartenhalle kann von 
verschiedenen Seiten gesehen werden; wir erhalten so verschiedene An¬ 
sichten, meinen aber trotzdem den einen Gegenstand, und zwar so, daß 
wir in erster Linie die betreffenden Gegenstandsansichten genießen und 
werten, aber als Ansichten des letzten Endes gemeinten Gegenstandes. Tat¬ 
sächlich besitzt der Gegenstand meist eine »Hauptansicht« und einige mit¬ 
gemeinte »Nebenansichten«. Ein Gegenstand, der nicht eindeutig auffaßbar 
ist, ist kein Kunstwerk im Sinne des ästhetischen Gegenstandes. Conrad 
beschreibt ein farbiges Vorsatzpapier zu einem Buchdeckel, das keine ein¬ 
deutige Auffassung zuläßt, und nennt es deshalb »naturschön«. Der Verf. 
möchte nämlich den Ausdrücken »naturschön« und »kunstschön« ihren ge¬ 
netischen Sinn nehmen; er will auch ein Produkt von Menschenhand natur¬ 
schön nennen, wenn es nicht als Realisation eines eindeutigen ästhetischen 
Gegenstandes auffaßbar ist, und umgekehrt auch ein sogenanntes Natur¬ 
produkt gegebenenfalls als »Kunstwerk« bezeichnen. (Diese Umprägung von 
geläufigen Begriffen ist nicht unbedenklich.) Die Eindeutigkeit beruht im 
letzten Grunde auf der Ausbildung gewisser Typen. Conrad unterscheidet 
drei Form- bzw. Farbtypen: 1) Typen, die im Kunstwerk durch Wieder¬ 
holung geprägt sind (Beispiel: Mäander, bunte englische Plaiddecke), 

2) Typen, die an Naturformen oder -färben erinnern (Schlangenlinie, grasgrün), 

3) eigentlich darstellende Typen. 

Damit kommen wir zur darstellenden Raumkunst. Conrad fragt 
zuerst nach dem Wesen der Darstellung. Zur Darstellung gehört zunächst 
Ähnlichkeit, und zwar sichtbare Ähnlichkeit: Das Darstellende muß als 
Wiedergabe einer visuellen Ansicht des wirklichen Gegenstandes aufgefaßt 
werden können. Dazu kommt noch, daß das Abbild sein Vorbild meint. 
Das Meinen fand sich bereits beim Symbol, bei dem das Interesse dem ge¬ 
meinten Gegenstände zugewandt iBt; bei der Bildauffassung ist die Aufmerk¬ 
samkeit zwischen Darstellendem und Dargestelltem verteilt. Zeitlicher oder 
kansaler Zusammenhang zwischen Vorbild und Abbild ist zum Wesen der 
Darstellung nicht erforderlich. Charakteristisch ist vielmehr »das Im-Bilde- 
meinen eines Ähnlichen«. 


Nach der gewöhnlichen Auffassung kann man mit Hilfe verschiedener 
Darstellungsmittel denselben Gegenstand wiedergeben. Conrad fragt da¬ 
gegen, warum man dann überhaupt zu »unvollkommneren« Darstellungs¬ 
mitteln greife, während »vollkommnere« zu Gebote ständen. Daraus sei zu 
folgern, daß jedes Darstellungsmittel einen anderen ästhetischen Gegenstand 
gebe, gemeinsam sei nur ein letzten Endes Gemeintes. Conrad scheidet 


also zwischen 

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imären und sekundären Bildobjekten. 


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»Man muß Bich zu- 

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156 


Literaturbericht. 


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Ansichten des Lehrers dar, etwa der Profilansicht; die eingeschlossene Fläche 
will nicht die vielfach gekrümmte, vielfarbige Kürperoberfläche darstellen. 
Das primäre Bildobjekt besteht vielmehr »ans einer bestimmt amgrenzten, in 
unbestimmten Krümmangsverhältnissen verlaufenden Fläche« in einem »Räume 
von ebenfalls unbestimmter Erstreckung«. Dieses Gebilde besitzt seinerseits 
weitere Darstellungsfunktion. Der Schattenriß, bei dem die schwarze Fläche 
im Vordergründe steht, ist eher eine Ansichtswiedergabe. In noch höherem 
Maße ist dies der Fall, wenn die Fläche getönt oder gefärbt ist Das pri¬ 
märe Bildobjekt der Reliefplastik ist die Körperoberfläche in ihren wirk¬ 
lichen Kriimmungsverhältnissen; bei der Vollplastik ist es gleich (nicht 
identisch mit .. .!) dem darstellenden Gegenstände. Malerei, Zeichnung und 
Relief geben, im Gegensatz zur Vollplastik, die Körperlichkeit inadäquat 
wieder, die Malerei gibt aber noch darüber hinaus die Farbe. 

DaB primäre Bildobjekt ist in bestimmter Weise aufzufaBsen, z. B. als 
der Lehrer. Ferner sind noch manche Gegenstandsseiten mitgemeint, z. B. 
die Rückansicht, indirekt auch nichtvisuelle Momente, etwa das Rauhe eines 
Kleides. Schließlich kommt noch die Auffassung als dieser Lehrer hinzu, 
die allerdings nach Conrad, als auf die Wirklichkeit Bezug nehmend, nicht 
mehr zur rein ästhetischen Geisteshaltung gehört. 

Conrad unterwirft schließlich die Bleistiftzeichnung des Kindes einer 
genaueren Analyse. Dabei findet er hier zum erstenmal keine rhythmische, 
wohl aber eine doppelte sinngemäße Gliederung, eine nach den genannten 
Typen (z. B. der Kopf als kreisähnliches Gebilde) und eine andere nach Dar¬ 
stellungstypen (als »Arm«, »Finger« usw.). Die Rhythmik wird in etwa 
ersetzt durch einen Grundmaßstab, den der menschlichen Größe, zu dem 
noch Untermaßstäbe treten können, und durch gewisse Beziehungsrichtungen, 
die Horizontale und die Vertikale. Von dem primär Dargestellten und seiner 
weiteren Darstellungsfunktion war schon die Rede. Psychische Charaktere 
könnte man auch hier finden. Bezüglich der Interessenverteilung ist 
zu scheiden zwischen Kern und Umgebung; am Kern ist einiges, hier Kopf 
und Hand, besonders betont; im übrigen teilt Bich, wie gesagt, das Interesse 
zwischen Darstellendem und Dargestelltem. 

In einigen eingeschobenen Abschnitten, und besonders im Schlußkapitel, 
behandelt Conrad das Wesen des ästhetischen Gegenstandes gegenüber 
anderen Gegenständen. Folgendes sei daraus hervorgehoben: Die »naive« 
deskriptive Methode »sieht an dem eigentlichen ästhetischen Gegenstände 
vorbei« auf das Naturobjekt. Sie steht unter dem Einfluß der »natürlichen« 
Geisteshaltung, die auf ein wirklich existierendes, reales Ding geht. Sie 
unterscheidet daher zwischen dem, was dem Kunstwerke als Naturobjekt zu¬ 
gehört, und dem, was ihm nur unserer Einbildung nach zukommt; um es in 
Schlagworten auszudrücken, sie unterscheidet zwischen Sein und Schein. 
Auf die eine Seite würden z. B. bei einem Musikwerk Tonhöhen-, Intensitäts-, 


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Literaturbericht. 


157 


Conrads Arbeit, die anscheinend nur eine Anregung oder eine Grund¬ 
lage für eingehendere Arbeiten Bein will, ist sorgfältig und vorsichtig. Mit 
großer Liebe sind offenbar die beiden ersten Teile über Musik und Poesie 
behandelt, denen gegenüber die Raumkünste etwas zu kurz gekommen sind. 
Eine genauere Analyse namentlich der Gegenstände von Malerei und Plastik 
wäre wünschenswert gewesen. 

Die Untersuchung gibt an manchen Stellen zu Einwänden Anlaß, so 
z. B. bei den Ausführungen Uber den besonderen Charakter der Tondauer, 
Uber die Auffassung von Tonart und Tongeschlecht. Doch sei hier nur 
einigen Bemerkungen allgemeinerer Art Raum gegeben. 

Conrad wirft der einfachen deskriptiven Methode vor, sie verfahre 
nicht rein ästhetisch. Dieser Vorwurf wird verständlich, wenn man bedenkt, 
daß Conrad mit dem Ausdruck »ästhetischer Gegenstand« einen idealen 
Gegenstand bezeichnet, demnach eine Betrachtungsweise, die nicht auf 
diesen idealen Gegenstand allein geht, nicht rein ästhetisch nennen kann. 
Doch ist die Verwendung dieser Bedeutung von »ästhetisch«, die von 
dem gewöhnlichen Gebrauche abweicht, bedenklich. Conrad muß von 
seinem Standpunkte aus dem ästhetischen Gegenstände, dem Kunstwerke, 
das Naturschöne gegenüberstellen. Und doch sprechen wir auch beim 
Naturgenuß von ästhetischem Genießen. Conrad faßt den Begriff also zu 
eng. Dennoch geht G. v. Allesch wohl zu weit, wenn er (Zeitschrift für 
Psychol., Bd. 54, S. 528) sagt, Conrads ästhetischer Gegenstand habe mit 
dem ästhetischen Vorgang nichts zu tun. 

Ferner trennt Conrad den ästhetischen Gegenstand durchaus vom 
ästhetischen Verhalten, das er später untersuchen will. Eine derartige 
Trennung ist nicht ratsam. Dies zeigt sich bei Conrads Arbeit darin, daß 
er manche Untersuchungen vornimmt, die mit dem Ästhetischen wenig oder 
nichts mehr zu tun haben, Dinge analysiert, die ästhetisch irrelevant sind. 
(Es sei an die Analyse der Worte »Ich schnitt« erinnert, wo rein logische 
Erwägungen Platz greifen.) v. Allesch wirft dem Verf. mit Recht vor, er 
habe den ästhetischen Gegenstand nicht genügend abgegrenzt, und zwar 
deshalb, weil er das ästhetische Verhalten nicht berücksichtigt habe. 

Zum Schluß sei noch eins erwähnt: Conrads Untersuchung gibt keinen 
Aufschluß über die wichtige Frage, ob der ästhetische Gegenstand in den 
verschiedenen Phasen des ästhetischen Verhaltens derselbe sei. 

M. Honecker (Bonn a. Rh.). 


7) Richard Müller-Freienfels, Die assoziativen Faktoren im ästhe¬ 
tischen Genießen. Zeitschrift für Psychologie. Bd. 54. 1910. S. 71 ff. 

Um eine wissenschaftliche, auf empirische Grundlage gestellte Theorie 
des ästhetischen Genießens zu gewinnen, will der Verf. die ganze Mannig¬ 
faltigkeit der Erscheinungen, in denen das künstlerische Genießen auftritt, 
untersuchen. Die Selbstbeobachtung genügt ihm nicht zur Gewinnung einer 
allgemeinen Basis;, denn wie die Systeme der Ästhetik, welche in den letzten 
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Literaturbericht. 


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Im Gegensatz dazu Bind die Untersuchungen des Verf. aus den Proto¬ 
kollen vieler Personen hervorgegangen, und zwar bediente er sich nicht 
eines Fragebogens, wie ihn etwa Vernon Lee angewandt hatte, sondern 
um jede Suggestivfrage anszuschalten und vor allem um einwandfreiere 
Resultate zu erhalten, suchte er in gelegentlicher Unterhaltung und persön¬ 
licher Befragung nicht nur psychologisch orientierter Vp., sondern bei Ver¬ 
tretern der verschiedensten Berufs- oder Altersklassen, das Wesen des 
ästhetischen Genießens zu erkennen. Allerdings scheint mir der Verf. doch 
nicht den richtigen Gesichtspunkt in der Durcharbeitung des ihm zur Ver¬ 
fügung stehenden Materials angewandt zu haben. Denn er hat vor allem 
und fast ausschließlich auf die »ganz individuellen Bemerkungen und Selbst¬ 
beobachtungen« der Vp. geachtet und glaubt auf Grund der »größeren Un¬ 
mittelbarkeit und Unbefangenheit« der Aussagen tiefer in das ästhetische 
Genießen, wie es sich tatsächlich in unserem Seelenleben darstellt, eindringen 
zu können. Wenn ich auch mit dem Verf. einer Meinung bin, daß man sich 
vor Verallgemeinerungen hüten soll, daß man nicht das durchgehende Über¬ 
einstimmung ira Erleben nennen soll, was bei dem jeweiligen Forscher oder 
in den Psychen einzelner hervortreten mag, so ist doch andererseits zu 
betonen, daß die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten des ästhetischen Erlebens 
für eine wissenschaftliche Ästhetik in erster Linie bedeutungsvoll sind. Aus 
den gelegentlichen Selbstbeobachtungen und Bemerkungen der einzelnen 
Vp. sollen die gemeinsamen Faktoren herausgesondert werden, und man 
soll die Untersuchungsmethode genau beschreiben, um anderen Forschungen 
den Weg der Nachprüfung offen zu halten. Denn nur so werden wir 
zu allgemeinen Resultaten gelangen, welche eine wissenschaftliche Ästhetik 
besitzen muß, wenn sie auf Wissenschaftlichkeit Anspruch haben und nicht 
in der Aufzählung einzelner Tatsachen und individueller Erfahrungen 
sich erschöpfen und zerfasern will. Der Verf. droht die Bestimmungen zu 
verwerfen, welche Külpe (»Über den assoziativen Faktor des ästhetischen 
Eindrucks« Vierteljahrschrift für wissenschaftliche Philosophie 23. S. 149 
und nach ihm von Allesch (»Über das Verhältnis der Ästhetik zur Psycho¬ 
logie« Zeitschrift Für Psychologie Bd. 54 S. 511 ff.) über den assoziativen 
Faktor im ästhetischen Erleben gewonnen haben. Um eine Abgrenzung des 
assoziativen Faktors des ästhetischen Eindrucks gegenüber anderen Assozia¬ 
tionen zu erreichen, forderten sie, daß der indirekte Faktor in einem not¬ 
wendigen und eindeutigen Zusammenhang mit dem direkten stehe, daß alle 
Bestandteile des assoziativen Faktors dem Hauptinteresse des Ästhetischen 
dienen, daß der assoziative Faktor selbst Kontemplationswert habe. Das 
sind Bestimmungen, welche nach meiner Meinung eine richtige Abgrenzung 
des Ästhetischen gegenüber anderen seelischen Erlebnissen möglich machen. 
Wenn dies dem Verf. bewußt bleibt, dann sind wir ihm dankbar, wenn er 


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Litera turbericht. 


159 


weisen findet der Verf. darin, daß die Funktionen beim Gefallen »um ihrer 
selbst der sie begleitenden Gefühle willen geübt werden«. Damit ist aber 
»weder eine scharfe Abgrenzung gegeben .. . noch ist eine Beschreibung 
des ästhetischen Verhaltens an sich erreicht«. Der Verf. will den von 
manchen Ästhetikern aufgestellten Begriff der »Einfühlung« genau unter¬ 
suchen und nachweisen, daß die Einfühlung nicht der einzige, in vielen 
Fällen »sogar nicht einmal« der wesentliche Faktor des ästhetischen Ge- 
nießens ist. Alle bloßen Empfindungen und ihre Gefühlstöne, sowie alle 
spezifisch intellektuellen Funktionen schaltet er aus seiner Untersuchung aus. 
In Betracht für ihn kommt nur »alles, was als Vorstellung, Wahrnehmung, 
Vorstellungsgefühl, Affekt, motorische Assoziationen usw. beim künstlerischen 
Erleben vorkommt«. 

Als eine typische Gruppe der ästhetischen Wirkungen in formaler Be¬ 
ziehung betrachtet der Verf. 

1) Die TätigkeitsgefUhle, »die von Wahrnehmungen und Vorstellungen 
an sich, nicht durch deren Inhalt und Bedeutung ausgelöst werden, Gefühle, 
die sich bloß an die Vorstellungstätigkeit als solche anschließen«. »Es ist 
sozusagen die formale Tätigkeit der Phantasie, an die sich die Gefühle an¬ 
schließen.« Die Anregung des Vorstellens und Sinneslebens hält der Verf. 
für einen wichtigen Bestandteil des künstlerischen Genießens. Die Erfüllung 
des Bedürfnisses nach Betätigung in den Gehirnzentren wird als Lust, die 
Nichterfüllung als Unlust empfunden. Der Verf. nennt diese Art des Er¬ 
lebens eine sehr primitive, »die sich jedoch nur gradweise, nicht wesentlich 
vom künstlerischen Genießen unterscheidet«. 

Neben diesen Tätigkeitsgefühlen unterscheidet der Verf. 

2) Die »Formgefühle«, die ebenfalls mit dem Inhalt der Vorstellungen 
nichts zu tun haben, sondern »infolge der besonderen Verknüpfung der 
Einzelvorstellungen entstehen«. Dabei betont er, daß es eine abstrakte 
Theorie ist. Kunstwerke nur nach der Form abschätzen zu wollen, weil das 
Kunstwerk ein Zusamraenerleben von Inhalt und Form sei. Der Verf. zählt 
nunmehr folgende Formprinzipien auf, welche die Tätigkeit der Vorstellung 
zu der ästhetischen steigern: 

a) Das »Prinzip der grüßten Anregungsfähigkeit«. Was er damit meint, 
zeigt er an Goethes »Hochzeitslied«. Nicht der Inhalt, sondern die überaus 
klaren und lebendigen Ausdrucksformen rufen eine ebenso große Lebhaftig¬ 
keit der Vorstellungen hervor und lösen das ästhetische Kunstgefühl ans. 

b) »Die verschiedenen Kompositionsprinzipien.« In den bildenden 
Künsten ist alle Komposition auf der einen Seite bestrebt, »dem Beschauer 
einen möglichsten Reichtum an Vorstellungsmaterial zu überliefern und ihm 
dabei doch zugleich eine möglichst geringe Anspannung des Geistes zu¬ 
zumuten«, auf der anderen Seite »strebt sie die Verwirrung deB Beschauers 
an, um ihn sozusagen zu überwältigen«. In den zeitlichen Künsten sind es 
die Prinzipien der Abwechslung und der Kontrastwirkungen, vor allem das 
Prinzip der Steigerung, welche diese Formgefühle im ästhetischen Genießen 

Vifirrn m*n fon 


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160 


Literaturbericht. 


d) Das »Prinzip der Überraschung«, welches in der modernen Musik und 
Dichtung sehr häufig angewandt erscheint 

An zweiter Stelle betrachtet der Verf. die »assoziierten Vorstellungen 
and reproduzierten Gefühle.« welche den Inhalt des ästhetischen Genießens 
betreffen. Er verwirft die Scheidung in den direkten und assoziativen 
Faktor, ebenso die Groossche Terminologie, welche zwischen »Verwachsung« 
und »eigentlicher Assoziation« sondert; statt dessen scheidet er zwischen 
objektiver und subjektiver Assoziation. Unter jener versteht er 
»die durch den Gegenstand bedingte Assoziation, d. h. »jede zu einem ersten 
Eindruck hinzutretende zweite Vorstellung, deren Binzutritt bei allen Men¬ 
schen, wenn nicht notwendig, so doch möglich ist,« unter dieser »eine nur 
nach Gründen, die in meinem Einzelich liegen, hinzutretende zweite Vor¬ 
stellung«. Für die objektive Assoziation hält er die Verbindung des Ein¬ 
drucks des Feuchten mit der besonderen Art des Glanzes, für eine sub¬ 
jektive, »wenn ich bei einem Flußbilde an einen Abend denke, wo ich gerade 
an dieser Stelle des Rheins, die ich wiedererkenne, übergefahren bin«. Solche 
subjektive Faktoren müssen, wie die oben erwähnte Arbeit von Allesch 
dartut, für eine wissenschaftliche Ästhetik ausgeschaltet werden. Daß derartige 
Assoziationen Vorkommen und sehr häufig den Eindruck steigern können, 
weiß jeder. Aber wo sollen die Grenzen des Ästhetischen gefunden werden, 
wenn alle nur denkbaren Assoziationen in das Forschungsgebiet des Ästhe¬ 
tischen fallen. Die rein persönlichen Assoziationen gehören weder zu einer 
allgemeinen Kunstlehre noch zu einer wissenschaftlichen Ästhetik und müssen 
gerade bei jeder Analyse eines ästhetischen Eindrucks ausgeschaltet werden. 
Mit dieser Forderung fällt natürlich die Scheidung des Verf. in objektive 
und subjektive Assoziationen. 

Zu den objektiven Assoziationen rechnet er die assoziativen Vorgänge, 
die wir als Wahrnehmung oder »Gesamtvorstellung« bezeichnen: Bei einem 
Eindruck aus einem Sinnesgebiet ergänzen wir Vorstellungen aus anderen 
Sinnesgebieten infolge unserer Erfahrung zu einer Gesamtvorstellung. Bei 
der Betrachtung der Gefühlstöne, die mit diesen Assoziationen verbunden 
sind, bespricht der Verf. zunächst die »reproduzierten Gefühle, das heißt 
diejenigen, die ^ich an die Vorstellung eines Dinges anknüpfen, weil sie 
einst auch mit der Empfindung verknüpft waren«. Mit Recht bezeichnet er 
die Art der Formalisten, welche solche Erlebnisse aus dem künstlerischen 
Genießen ausschließen wollen, als extrem und irrig. Anders ist es mit den 
Gefühlen, die an subjektive Assoziationen sich anschließen. Während der 
Verf. das Hineinspielen der persönlichsten, zufälligsten Assoziationen und 
der damit verknüpften Gefühle in den Kunstgenuß noch als künstlerisches 
Genießen gelten läßt, wird eine wissenschaftliche Ästhetik nur diejenigen 
Gefühlstöne als spezifisch ästhetische bezeichnen, die unmittelbar zum Kunst¬ 
genuß gehören, die sein Wesen unterstützen, welche in eindeutiger Weise 
und notwendig an dem Kunstwerke selbst orientiert sind. Wenn es auch 
praktisch nicht immer möglich ist, im Kunstgenuß die reine Anschauung, 
das einheitliche Versenken zu erreichen, so werden wir doch nur diejenigen 
Assoziationen und Gefühle als zu diesem Kunstwerk gehörig oder überhaupt 


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als. künstleris« 

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ische gelten lassen, welche der Beschaffenheit des Kunstwerks 


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I 



Literaturbericht. 


161 


lerisches Genießen hemmen. Daß derartige Assoziationen das bloße Genießen 
steigern können, leugnet niemand. Aber es ist eine Forderung der Erziehung, 
den Kunstgenuß von solchen zufälligen Phänomenen frei zu halten. In 
diesem Sinne möchte ich auch den Satz deuten, auf den der Verf. sichtlich 
großen Wert legt: »Für die ganz stark künstlerische Wirkung ist nicht der 
ganz unvoreingenommene, neutrale Zustand der Seele der beste Boden, 
sondern dort werden die besten und stärksten Wirkungen entstehen, wo 
schon latente verwandte Stimmungen vorhanden waren, die neue verstärkend 
zu dem äußern Eindruck hinzukommen.« 

Wenn der Verf. zum Schluß dieses Kapitels zugibt, daß manches von 
dem, was er als KunstgefUhl geschildert habe, vor dem Kunsturteil nicht 
bestehen könne, so ist dies gerade der Sinn meiner Kritik. Aber eine wissen¬ 
schaftliche Ästhetik vereinigt KunstgefUhl und -urteil unter ihrem Forschungs¬ 
gebiet. Sie hat die Aufgabe, zu zeigen, was unter gegebenen Bedingungen 
als Reaktion eintritt, d. h. sie muß danach trachten, »die ästhetische Reaktion 
als eine gesetzmäßige Funktion des Zusammentreffens gewisser seelischer 
Verfassungen mit gewissen Vorstellungskomplexen oder Vorstellungsvor- 
gängen heraus zu stellen« (siehe Allesch, a. a. 0. S. 536). Somit hat die 
Aufzählung und Analyse der Kunstgefdhle für die Ästhetik nur dann Wert, 
wenn diese Gefühle im Sinne einer wissenschaftlichen Ästhetik Wert haben. 
Sonst gehören sie in das Gebiet der GefUhlspsychologie und haben mit der 
Ästhetik nur sehr wenig zu tun. 

An dritter Stelle behandelt Müller-Freienfels die nacherlebten und 
zugefühlten Zustände, »kompliziertere Gefühle und Affekte, die irgendwie in 
dem Kunstwerk, wenn auch nur scheinbar, gegeben zu Bein scheinen«. Es 
gibt viele Zuschauer, welche im Theater die dargestellten Gefühle und Affekte 
nicht »anschaulich«, sondern als wirkliche erleben. Dies ist nur ein Faktor 
in all den verwickelten Formen des künstlerischen Geuießens. die nacherlebten 


Gefühle und Affekte wirken als dynamische Tätigkeitsgefühle und Formge¬ 
fühle. Körperliche Haltungen und Bewegungen erregen vorzüglich jene Affekte 
und Gefühle. »Die innere Nachahmung verstärkt ganz außerordentlich 
die Wirkung der Gesichtsnachahmung«, aber »sie ist nicht ein unentbehrlicher 
Bestandteil des künstlerischen Genießens«, »das beste Mittel jedoch, die 
Eindrücke zu steigern und zu verstärken.« Eine Bereicherung und Vertiefung 
des ästhetischen Genießens tritt ferner ein bei der »ZufUhlung«; damit be¬ 
zeichnet der Verf. jene Akte des Seelenlebens, welche wir vollbringen, »wenn 
wir allerlei Stimmungen und Inhalte in tote Objekte einfühlen und sie so 
beseelen«. Aber auch diese Zufühlung ist, wie der Verf. sagt, nicht wesent¬ 
lich und nicht unwesentlich für die ästhetische Freude. »Einen sehr großen, 
wenn nicht oft den ausschließlichen Anteil an den Gefühlen, die wir zu an 
sich toten Formen, Linien, Ornamenten, Melodien, Rhythmen usw. liinzufUgeu, 
haben jedenfalls die organischen Einstellungen und Innervationen.« 

An letzter Stelle behandelt der Verf. die Icbvorstellung im ästhetischen 
Genießen. In diesen Erörterungen weiß er sich in Übereinstimmung mit 
William James. Er unterscheidet zwischen Ichgefühl und IchvorBtclluug. 
Das erstere ist aufs engste mit unserem Körper verbunden und begleitet 


alle unsere psyc! 

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ürlebnisse. 

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Die Ichvorstellung ist eine Unterart 

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162 


Literaturbericht. 


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Alle diese Arten des Ich sind im künstlerischen Genießen ausgeschaltet. 
Mit dem theoretischen Denken hat das ästhetische Genießen das gemeinsam, 
daß kein Übergang zum Handeln stattfindet. (Liegen auch keine Impulse 
zum Handeln im ästhetisch tiefsten Erleben vor?) Weil die Ichvorstellnng 
zurückgetreten ist. lokalisieren wir die Stimmungen im ästhetischen Verhalten 
nicht in unseren Körper, sondern es scheint, als seien sie im Kunstgegen- 
stand. Allerdings ist diese Lokalisation auch keine bestimmte. 

So spielt die Ichvorstellung immer in das künstlerische Anschauen hinein. 
Zwei Idealzustände des ästhetischen Verhaltens sind je nach der Stellung, die 
man der Ichvorstellung einräumt, möglich: Die einen fordern ein voll¬ 
ständiges Zurückdrängen des Ich und ein Aufgehen im Objekt. Die so 
genießen, nennt der Verf. »Mitspieler«. Die anderen verlangen, daß man 
sich im ästhetischen Genuß stets seines Ichs bewußt bleibe. Diese heißt der 
Verf. »Zuschauer«. Diese Zustände können auch in ein und derselben 
Person wechseln, so daß dieselbe Person im Verlauf des ästhetischen 
Genießens einmal Mitspieler, das andere Mal Zuschauer ist 

Diese kurze Inhaltsangabe der Müller-Freienfelsschen Arbeit läßt 
schon auf einen reichen und ergebnisvollen Gehalt schließen. Wenn ich 
auch stets die Forderungen, die eine allgemeine Ästhetik in diesen Phäno¬ 
menen stellen muß, betonte, so sind doch die guten Beobachtungen und 
Qualifizierungen der einzelnen GefUblsphänomenc zu schätzen. 

Dr. Heinrich Wirtz (Bonn). 


8; Jacob Segal, Psychologische und normative Ästhetik. Zeitschrift für 
Ästhetik und allgem. Kunstwt. II, 1. S. 1—25. 

Verf. faßt Normen als Begleit- oder Folgeerscheinungen des Selektions¬ 
vorganges. Daraus resultiert ihre Zweckmäßigkeit und Allge¬ 
meinheit. Die dritte wesentliche Eigenschaft der Normen ist ihre 
»Transgredienz«, d. h. sie brauchen nicht unmittelbar, spontan verwirk¬ 
licht zu sein; sie sind auf das Fernere gerichtet. Viertens sind Normen 
immer Vorschriften. Verf. zeigt nun, daß das ästhetische Verhalten die 
Bedingungen nicht aufweist, an welche Normen geknüpft sein können. Die 
Unmittelbarkeit des ästhetischen Genusses widerstreitet der Transgredienz 
und dem Vorschriftcharakter der Norm; da der Genuß selbst das letzte Ziel 
ist, so kann er nicht dem Gesichtspunkt des Zweckes untergeordnet werden, 
und schließlich braucht, was, ohne der Gesellschaft oder dem einzelnen 
Schaden bringen zu können, vor sich geht, auch nicht bindend und allge¬ 
meingültig zu sein. Die Normen können also in der Ästhetik gar nicht an¬ 
gewendet werdeu. 

Verf. bespricht sodann die Versuche zur Begründung der normativen 
Ästhetik von Windelband, Cohn und Volk eit. Die »Norm« des letzteren 
weist er treffend als eine nur in andere Worte gefaßte psychologische Ge¬ 
setzmäßigkeit nach. Die entscheidende Frage, die der Werturteile, löst er. 
zugunsten der psychologischen Ästhetik, in völlig imperatorischer Weise: 

»Das ästhetische Werturteil ist für die psychologische Ästhetik nur ein 
l O ,olf> Original from 

Vjwv PRINCETON UNIVERSITY 



Literaturbericht. 


163 


anderen. Analysiert aber wird nicht das Merkmal, sondern der seelische 
Verlauf und die Zusammensetzung des seelischen Erlebnisses« (S. 23/24). 
Zur Kritik dieses psychologistischen Standpunktes sei auf die Darlegungen 
von Meumann 1 ) hingewiesen. 

Edith Landmann-Kalischer (Basel). 


9) Dr. Käte Friedemann, Die Rolle des Erzählers in der Epik Unter¬ 
suchungen zur neueren Sprach- und Literaturgeschichte. Heraus¬ 
gegeben von Professor Dr. Oskar F. Walzel. Neue Folge. 
VII. Heft. 245 S. Leipzig, Haessels Verlag, 1910. M. 4.60. 


Die vorliegende Arbeit, eine erweiterte Berner Dissertation, ist aus der 
Walzelschen Schule hervorgegangen, der wir bereits mehrere Arbeiten aus 
dem Grenzgebiete der Literaturgeschichte und Literarästhetik verdanken. 
Vor diesen zeichnet sie sich durch die Allgemeinheit ihrer Problemstellung 
und dadurch aus, daß sie den ästhetischen Gesichtspunkt streng festhält. 

Mittels einer formal-ästhetischen Art der Betrachtung, deren Fruchtbar¬ 
keit auf dem Gebiete der bildenden Kunst bereits erprobt ist, sucht Verf. 
das Gesetz der epischen Dichtung zu bestimmen. Sie sieht den Unterschied 
von Drama und Epos nicht in einem besonderen Stoffgebiet, sondern in der 
besonderen Art, in der ein Stoff angeschaut wird. »Der Gattungsunterschied 
zwischen epischer und dramatischer Dichtung besteht darin, daß uns im 
EpoB die Geschehnisse nicht direkt, sondern durch ein (organisch mit der 
Dichtung selbst verwachsenes) Medium übermittelt werden.« Die erzählende 
Dichtung, die den Erzähler de facto voraussetzt, soll ihn eben deshalb 
auch künstlerisch zum Ausdruck bringen. Man könnte sagen, es sei, 
aufs Poetische übertragen, die Sempersche Forderung der Materialechtheit, 
die hier erhoben, der Begriff der ästhetischen Wahrhaftigkeit, der hier zum 
Bewußtsein gebracht wird. Modernen Tendenzen gegenüber, die auf Ver¬ 
wischung der Gattungsunterschiede gehen, und die theoretisch bei Spiel - 
hagen zum Ausdruck gekommen sind, hebt Verf. das Spezifische der 
Gattung hervor und schließt sich damit an die Tradition des 18. Jahrhunderts, 
Goethes und der Romantiker an. — 

Wie alle der Erzählung eigentümlichen Mittel auf den Erzähler hin¬ 
deuten, dies wird nun an den einzelnen Problemen der Romantechnik dar¬ 
gelegt. Wie ordnet der Erzähler, im Unterschiede vom Dramatiker, seinen 
Stoff an, welches ist die epische Art, das Gleichzeitige und das Nach¬ 
einander zu geben (Verschiebung der Chronologie), wie führt der Epiker 
seine Personen ein. wie charakterisiert er sie, wie gibt er den Dialag, wie 
schildert er Räume, Landschaften, Situationen, das Äußere der Personen, 
wie erschließt er das Seelische? Man sieht, es sind ebenso umfassende wie 


schwierige, ebenso wichtige wie bisher vernachlässigte Fragen, deren syste¬ 
matische Durcharbeitung die Verf. unternimmt. Es kann nicht wunde r- 
nehmen, wenn ein solcher erster Versuch der Aufgabe nicht überall 


gerecht wird. Die Schwierigkeit lag zum Teil schon in der Auswahl des 
Materials. Verf. hat die natürlich unerreichbare Vollständigkeit durch große 


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Reichhaltigkeit zu ersetzen versucht. Aber vielleicht hätte eine geringere 
Reichhaltigkeit, eine Beschränkung auf wenige charakteristische Werke der 
Weltliteratur die Grundlinien der Erzählungatechnik und ihre historischen 
Typen klarer hervortreten lassen. Indessen: noch die bunte Heranziehung 
des Ältesten und Neuesten, des Bedeutenden und Ephemeren bestätigt das 
der Erzählungsform als solcher immanente Gesetz. Daher stellt das Buch 
nach Fragestellung wie Resultat einen äußerst wichtigen Vorstoß im Gebiete 
der Poetik, speziell der Ästhetik des Romanes dar. 

Edith Landmann-Kalischer (Basel). 


IOj Erich Becher, Die Grundfrage der Ethik. Versuch einer Begründung 
des Prinzipes der grüßten allgemeinen GlückseligkeitefÜrderung. 
Köln, Verlag der M. Dumont-Schaubergschen Buchhandlung, 1908. 
M. 3.Ö0; geb. M. 4.60. 

Verf. geht von einer intuitiven Gewissensethik aus. Seine Frage lautet: 
Wie sollen wir handeln? Seine Antwort: Wie das Gewissen will! Da nun 
aber die Gewissensaussagen sich widersprechen künnen, so fordert er, um 
sie zur Übereinstimmung zu bringen, eine gründliche Durcharbeitung der¬ 
selben: eine Rationalisierung des Gewissens. Im rationalisierten Gewissen 
sollen alle seine einzelnen Forderungen aus einem höchsten Ziele alles 
Handelns abgeleitet werden. Verf. kommt so zu einer interessanten, wohl 
zu akzeptierenden Verschmelzung von intuitiver Ethik und Zielethik. Indessen 
wird die durch diese Konstellation nahegelegte Formung der Gewissens¬ 
aussagen aus einem »wirren Aggregate« zu einem »wohlgebauten organischen 
System« vom Verf. nicht durchgefiihrt. Vielmehr Bteht ihm als Resultat der¬ 
selben der Benthamsche Satz von der universalen GlUckseligkeitsflirderung 
von vornherein fest. Was er zur Begründung des Satzes anführt, bezieht 
sich mehr auf die formalen Schwierigkeiten seiner Durchführung: Vergleich¬ 
barkeit verschiedener Lüste und Unlüste — Vorausberechnung des Erfolges 
einer Handlung — Möglichkeit des ethischen Fortschritts u. dgl. Erwähnt sei, 
daß Verf. nach indischem und englischem Vorbilde seine Forderung auch auf 
die Tiere ausdehnt. Gegner des Utilitarismus zu überzeugen, liegt nicht in 
seiner Absicht. Vielmehr nimmt er mit den englischen Utilitaristen die 
Unbeweisbarkeit des obersten ethischen Prinzipes an. 

Edith Landmann-Kalischer (Basel). 


11) Robert Sommer, Familienforschung und Vererbungslehre. Mit 
16 Abbildungen und zwei Tabellen. 225 S. Leipzig, Verlag von 
J. A. Barth, 1907. M. 9.— ; geb. M. 10.—. 


Aus der Feder Sommers ist mit diesem Buche ein Werk hervorgegangen, 

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Literaturbericht. 


165 


liehen Teil ihrer ärztlichen Aufgabe vernachlässigt und jenes Moment in 
einem oft deprimierenden Umfange in das allgemeine soziale Leben 
hinüberreichen läßt. Wenn eine solche Auffassung und Darstellung abnormer 
Phänomene bis zu einem gewissen Grade wissenschaftlich und logisch fest¬ 
gehalten werden darf, so hat sie doch ihre Grenze. Dieselbe ist oftmals 
überschritten worden und hat zur Beunruhigung des natürlichen Empfindens 
weiter Kreise geführt, dabei aber gleichzeitig auch zur Diskreditierung der 
Psychiatrie beigetragen. Einen hervorragenden Platz unter den Arbeiten, 
die diesen gefährlichen Tendenzen entgegenarbeiten, nimmt Sommers 
Werk ein. Er tritt heraus aus dem engen und den Sinn verengernden 
Kreis rein psychiatrischer Fachwissenschaft und betritt das weite Feld 
psychologischer, biologischer, physiologischer Betrachtung der 
Vererbungserscheinungen. Ein Forscher, der die Fehler seiner Fach¬ 
wissenschaft erkannt hat, erscheint besonders qualifiziert, die schädlichen 
Folgen zu bekämpfen und zu beseitigen, die aus der erwähnten einseitigen 
Darstellung von pathologischen Vererbungstatsachen entstanden sind. 

Allerdings dürfen diese Sätze nicht so verstanden werden, als ob die 
Wirkung degenerativer Pänomene von dem Verf. übersehen oder vernach¬ 
lässigt würde. Dem ist nicht so. Die Kap. 4 und 6 (Psychopathische Be¬ 
lastung und Degeneration. Kriminalität und Vererbung) erkennen diese Tat¬ 
sachen an und verfechten sie sogar in einigen Punkten, in denen sie von 
anderen Forschern bestritten worden sind. Aber bereits hier wird die Kraft 
der Vererbung degenerativer Eigenschaften auf das Maß zurück geführt, das 
ihnen objektiv zukommt. Gewisse organische Gehirnkrankheiten, wie Para¬ 
lyse. Tumoren oder chronische Intoxikationen, wie Alkoholismus, Morphinis¬ 
mus u. ä. können nur znm Teil und in bestimmten Fällen überhaupt nicht 
als Belastungsmomente aufgefaßt werden. Infektion und äußere Zufällig¬ 
keiten spielen sehr häufig und manchmal allein die Rolle der Ursache. Aber 
selbst da, wo psychische Abnormitäten die unzweifelhafte Folge einer un¬ 
heimlichen Kraft der Vererbung sind, selbst da ist es, wie dargetan wird ? 
verfehlt, nun dem verderblichen Wirken degenerativer Kräfte hoffnungslos 
zuzusehen. Vielmehr liegt in der Erkenntnis dieser Kräfte auch die aus¬ 
sichtsvolle Möglichkeit ihrer Bekämpfung. Denn die Vererbung be¬ 
schränkt sich nicht nur auf das Gebiet des Pathologischen, sondern sie ist 
ein allgemeines Naturgesetz. Wie pathologische Eigen¬ 
schafte n vererben sic h auch physiologische. Der Degeneration 
steht die Möglichkeit der Regeneration und die Möglichkeit^ 
diese zu leiten, gegenüber. In der Aufstellung dieses Satzes liegt der 
hohe soziale und moralische Wert des Werkes. Mit der gleichen Deutlich¬ 
keit hat meines Wissens kein anderer moderner Forscher auf diesen für die 


Entwicklung unserer Gesellschaft so wichtigen Umstand hingewiesen und 
ihn einleuchtend dargetan. Im 13. Kapitel gibt Sommer die Darstellung 
der »Geschichte einer bürgerlichen Familie vom 14. bis 20. Jahrhundert«. 
Aus ihr geht hervor, daß bestimmte Eigenschaften sich im Laufe der Gene¬ 
rationen nicht nur erhalten, sondern weiter entwickelt werden, so daß das 


Endergebnis eine Steigerung der gesamten inneren Kräfte einer Familie ist. 


Über den vorliegenden Fidl 

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reden Sein. 


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Literaturbericht. 


Buche gelüst wird. Im Jahre 1908 hat Sommer im Verlage von J. A. 
Barth eine Studie über »Goethe im Lichte der Vererbungslehre« heraus- 
gegeben. Es zeigt sich dabei, daß die Grundeigenschaften, aus denen sich 
das Genie Goethes entwickelt, bereits in der Ahnenreihe des Dichters so¬ 
wohl auf Muttere- wie auf Vatersseite mit verschiedener und unterbrochener 
Intonsität vorgebildet waren. Die hauptsächlichsten Talente, die Goethe 
auszeichnen, stammen von mütterlicher Seite, und zwar von der Linie der 
Mutter der Frau Rath, die eine geborene Lindheimer aus Wetzlar war. Da¬ 
gegen sind wuchtige männliche Charaktereigenschaften, »des Lebens ernstes 
Führen«, offenbar tatsächlich von der Vatereeite ererbt, in dessen Aszendenz 
sich das Bestreben zeigt, allmählich auf der sozialen Ranglinie in die Hühe 
zu steigen. Es würde mich zu weit führen, auf den Fall Goethe des ge¬ 
naueren einzugehen. Da er aber ein vorzügliches Beispiel des Spiels der 
Vererbungskräfte bietet, so habe ich ihn an diesem Punkte gerne erwähnt 
und empfehle die Lektüre dieses kleinen Buches aufs wärmste. 

Ich wende mich zur Besprechung der wissenschaftlichen Seite des vor¬ 
liegenden Buches. Im wesentlichen sieht es seine Aufgabe darin, die Me¬ 
thoden zu entwickeln, die für die Erforschung der Vererbung geeignet 
sind. In dem Titel ist bereits zum Ausdruck gebracht, in welcher Richtung 
sich diese Methoden betätigen. Wenn man sich bisher nach Erkenntnis der 
Tatsache, daß es Vererbungserscheinungen im sozialen Leben gibt, nur der 
Statistik bediente, um jenen auf die Spur zu kommen, so liegt das Originelle 
der Sommerschen Methode eben darin, daß es mit Hilfe der Familien¬ 
forschung der Genese der individuellen Charaktereigenschaften nachgeht, 
mögen diese nun pathologischer oder krimineller oder physiologischer Natur 
sein. Der Autor stellt sich demnach die Aufgabe, »die beobachtende 
Psychologie, als deren wesentliches Hilfsmittel die experimentelle 
Untersuchung bestimmter Personen erscheint, mit der naturwissen¬ 
schaftlichen Entwicklungslehre in engste Berührung zu bringen, um 
die Vererbungs- und Variationserscheinungen menschlicher Fa¬ 
milien methodisch zu untersuchen, aus deren Beschaffenheit im letzten Grunde 
alle Gesellschaftsentwicklung entspringt. Nur aus der Vereinigung 
entwicklungsgeschichtlicher, psychologischer und sozio¬ 
logischer Untersuchung kann ein richtiger Einblick in die Beziehung 
der menschlichen Familie zur Kulturgeschichte gewonnen werden.« 

Die einzelnen Tatsachen auf dem Gebiete der Vererbung werden in 
folgendem Gedankeugange erörtert. Die Persönlichkeit erscheint als 
Produkt von Anlage und Erziehung, die Anlage ist das Endergebnis 
der Vererbungskräfte, die bereits in früheren Generationen wirksam gewesen 
sind oder sich in diesen allmählich entwickelt haben. Um zur Erkenntnis 


der Anlage zu gelangen, ist es nötig, von den Eigenschaften des Individuums, 
die auf ihr beruhen, diejenigen zu trennen, die die Erziehung im weiteren 
Sinne, d. h. das gesamte Milieu erzeugt hat, in dem ein Mensch gro߬ 
geworden ist und lebt. In vielen Fällen sind die Wahl des Berufes und 
die Leistungen, die ihm vollbracht werden, wichtige Hilfsmittel zur Er¬ 
forschung des Charaktere. In vielen anderen Fällen aber besteht ein Miß- 



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Literaturbericht. 


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gäbe, nämlich die, daß der Beruf unter Maßgabe der individuellen Be¬ 
fähigung gewählt werde, da nur auf diese Weise eine größtmögliche Leistung 
vom Individuum erwartet werden kann (Kap. 1). — Die Anlage ist nun ein 
Produkt der Vererbung, eine Folge bestimmter Eigenschaften, die bei Indi¬ 
viduen der Ahnenreihe vorhanden gewesen sind, und gebunden an die 
spezifischen Eigenschaften der Keimzellen, aus denen das Individuum 
entstanden ist, und welche die eigentlichen Träger aller Vererbungskräfte 
sind. Nur diejenigen Anlagen, die in ihnen vorgebildet sind, können beim 
Individuum zur Entwicklung kommen (Kap. 7: Vererbung, Entwicklung und 
Züchtung). Daß nun aber den Keimzellen diese Aufgabe zukommt, ist der 
Ausdruck des Naturgesetzes von der Variation der Art. Die Ursachen 
dieser Fähigkeit des Variierens sind teils exogener, teils endogener 
Natur. »Die Variation ist, abgesehen von äußeren Momenten, eine imma¬ 
nente Eigenschaft der Arten. Um beide Momente, nämlich einerseits die 
Veränderlichkeit der Arten, andererseits die inneren Ursachen vieler 
Variationen, gleichmäßig hervorzuheben, sprechen wir von endogener 
Variation.« Unter dem Gesichtspunkte der Zweckmäßigkeit und in be¬ 
sonderer Beziehung auf das Leben des Menschen kommt Sommer zur Ein¬ 
teilung aller Variationserscheinungen in vier Gruppen. Er unterscheidet 
1) pathologische, d. h. dem Individuum schädliche; 2) kriminelle, d. h. dem 
Leben der Gesellschaft schädliche; 3) indifferente; 4) artsteigernde, d. h. 
der Weiterentwicklung der Gesellschaft förderliche. Sehr häufig ist die Er¬ 
kenntnis, in welche dieser Gruppen bestimmte Anlagen einzelner Menschen 
einzureihen sind, sehr schwer und vielleicht unmöglich. Merkwürdigerweise 
gilt dies gerade von den artsteigernden Anlagen. Indem nämlich die endo¬ 
gene Variation in ihrem Manifestwerden bei einem bestimmten Menschen 
ganz und gar selbständig wirkt, treten viele solcher an sich artsteigernden 
Anlagen bei Menschen in Erscheinung, deren Epoche oder äußere Verhält¬ 
nisses nicht zu solchen Eigenschaften passen. Den Abschnitt, der diesen 
für jeden denkenden und an dem Fortschritt der Gesellschaft herzlich be¬ 
teiligten Menschen von hoher Aktualität ist, setze ich gern wörtlich hier 
hin: »Diese (die artsteigernden Abarten) werden vermöge ihrer angeborenen 
Abweichung vom Durchschnitt der herrschenden Art häufig als pathologisch 
angesehen, indem der Begriff des Abnormen mit dem des Krankhaften ver¬ 
wechselt wird, manchmal auch als kriminell, insofern aus der Anlage, die 
den Kern einer zukünftigen Entwicklung bildet, Handlungen hervorgehen, 
die den Anschauungen und Gesetzen einer Zeit widersprechen. Trotz dieser 
symptomatischen Ähnlichkeit mit dem Kriminellen und Pathologischen sind es 
die artsteigernden Variationen, auf welchen der Fortschritt der Menschheit 
beruht. — Diese Auffassung gewährt nun einen Einblick in das tragische 
Schicksal vieler bahnbrechender Menschen, die von ihrer Zeit für Geistes¬ 
kranke oder Verbrecher gehalten werden, während nach ihren Gedanken sich 
dio Zukunft gestaltet. Ilierker gehört das innere Elend, das alle Belbstän- 

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seele finden, welche Bie völlig 1 versteht und durch Mitgefühl und seelische 
Hilfe die gestaltende Kraft des artsteigernden Menschen erhält. — Wenn 
diese Variationen im übrigen mit Eigenschaften verbanden sind, die dem 
Milieu angepaßt sind, so daß ein soziales Vorwärtskommen möglich ist, so 
ist dies der günstigste Fall; schlimmer ist es, wenn gleichzeitig mit art¬ 
steigernden Eigenschaften Züge vorhanden sind, die das Fortkommen in 
dem vorhandenen Milien hemmen oder zu tatsächlichen Kollisionen mit den 
Mächten der Zeit führen. Dann entstehen tragische Persönlichkeiten, wie 
Giordano Bruno, Savonarola, Hnß, Kepler, die durch ihre Zeit zu¬ 
grunde gerichtet werden, während sie in einer anderen, vielleicht zum Teil 
durch sie selbst bedingten, sich ungestört hätten ausleben können. Das 
gleiche gilt für ganze Generationen, die für ein Ideal kämpfen nnd zugrunde 
gehen, wie viele Schwärmer für die deutsche Einheit, während ihre Gedanken 
einige Jahrzehnte darauf zur staatlichen Organisation geworden sind. Im 
Sinne unserer Betrachtung handelt es sich hierum artsteigernde Variationen, 
die in ihrer Zeit vielfach für kriminelle Umstürzler oder pathologische 
Schwärmer gehalten worden sind. — Bei der Untersuchung der menschlichen 
Gesellschaft muß man also neben der passiven Anpassung durch Unter¬ 
drückung der nicht zu einem bestimmten Milieu passenden mit den art¬ 
steigernden Formen bei den endogenen Variationen rechnen, um die Ge¬ 
schichte der Menschheit richtig zu verstehen. Diese ist im Grunde ein fort¬ 
währender Kampf der Mehrheit gegen die Minderheit der artsteigernden 
Individuen gewesen, der offen und geheim, bewußt und unbewußt geführt 
wird. Sehr viele gehen hieran zugrunde, bevor die von ihnen vertretenen 
Ideen zur Herrschaft gelangt sind, deren Anhänger nun leider oft ihrerseits 
den Kampf gegen die neuen weiterbildenden Variationen führen. Untersucht 
man das Aufkommen von bestimmten Ideen und Richtungen in der mensch¬ 
lichen Kulturgeschichte genauer, so ergibt sich stets, daß dieselbe aus be¬ 
stimmten Naturanlagen hervorgehen. Diese sind aber nichts anderes als die 
Zweige an bestimmten Familienstammbäumen, die allerdings insofern neben 
der endogenen Ursache eine exogene haben, als bestimmte Zeitumstände ihr 
Wachstum begünstigen, während andere sie hemmen.« — Die Züchtung 
solcher höherwertigen Zweige ist also eine wesentliche Aufgabe, die er¬ 
wächst, wenn die Erkenntnis der Bedingungen, unter denen dies möglich ist, 
weiter fortgeschritten sein wird. Dabei ist der Verf. der Meinung, daß 
höchstwahrscheinlich bestimmte Arten erworbener Eigenschaften ebenso ver¬ 
erbt werden können, wie die endogen durch die Eigenart des Keimplasmas 
entstandenen. Die Gesetze allerdings, nach denen exogene und endogene, 
angeborene oder erworbene Eigenschaften sich vererben, liegen noch fast 
ganz im Dunkeln (Kap. 8: Vererbungsgesetze). Es fehlt noch an genügenden 
Beobachtungen aus der freien Natur in dieser Richtung oder planmäßigen 
Versuchen über diese Fragen, aus denen man allgemeingültige und nament¬ 
lich auf die hier interessierenden Fragen anwendbare Gesetze ableiten könnte, 
so daß wir auf diesem Gebiete nur einzelne Vererbungstatsachen oder 
im beBten Falle Vererbungsregeln feststellen können. 

Es ist daher eine wesentliche Aufgabe für den Forscher, Methoden 
auszubilden, die den Weg durch das Labyrinth der Vererbungserscheinungen 

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dürfte. Namentlich die Methode der Aufstellung von Stammbäumen in der 
Form, wie sie bisher allein geübt worden ist, kann einen Anspruch auf Ver¬ 
wertbarkeit für die Zwecke der wissenschaftlichen Erforschung von Ver¬ 
erbungserscheinungen nicht erheben, weil bei ihr das für die Vererbung 
außerordentlih wichtige weibliche Element zugunsten der männlichen Träger 
des Familiennamens vernachlässigt wird. Sommer selbst ist es nun ge¬ 
lungen, ebenso geistreiche wie brauchbare Formeln za finden, mit deren 
Hilfe man sowohl die nach oben führende Ahnen reihe, wie die nach 
unten führende Deszendenzreihe einer Person and den Bestand einer 
Familie in einer bestimmten Generation mit großer Leichtigkeit erkennen 
kann. Vor allem gelingt es, an der Hand der für diese Methoden gegebenen 
Schemata selbst die verwickeltsten verwandtschaftlichen Beziehungen sofort 
richtig zu formulieren and zu begreifen (Kap. 3). Die speziellen Methoden 
der Farnilienforschnng (Kap. 9} findet Sommer in dem Studium von 
Urkunden (Geburtsschein und Taufschein}, von Werken eines bestimmten 
Farailiengliedes oder einer Vielheit von Familiengliedern, da aus ihnen be¬ 
stimmte Neigungen, Talente und Leistungen, also psychologische Kräfte, 
erkennbar werden, im Studium von Familiennamen und Grabdenkmälern, im 
Studium und in der Weiterbildung des Wappenwesens (Konstruktion einer 
»Ahnenuhr«). Der Familienforschnng stellt sich zur Seite die Untersuchung 
der einzelnen Individuen. Sie ist einerseits eine körperliche und hat 
auf alle charakteristischen anatomischen Merkmale eines Individuums oder 


mehrerer derselben Familie angehörender Individuen acht zu haben, anderer¬ 
seits eine psychologische und erstreckt sich auf Affektzustände, Talente, 
motorisches Verhalten u. dgl. Selbst erprobt hat Sommer die Brauch¬ 
barkeit seiner Methoden durch die Untersuchung einer bürgerlichen Familie, 
deren Geschichte vom 14. bis zum 20. Jahrhundert von ihm mit Genauigkeit 
verfolgt worden ist. Es ist ihm gelungen, an diesem Beispiel darzutun, wie 
bestimmte Familiencharaktere selbst Jahrhunderte hindurch festgehalten 
werden, und wie bestimmte Neigungen und Talente in den verschiedensten 
Epochen und bei den verschiedensten Mitgliedern einer Familie immer 
wiederkehren. Die Methoden, die bei diesem Unternehmen angewandt 
wurden, sind im wesentlichen diejenigen, die oben skizziert wurden. 

In logischer Fortführung des Entwicklungs- und Vererbnngsgedankens 
kommt Sommer zur Formulierung des Begriffes des natürlichen Adels 
(Kap. 16). Dieser ist im wesentlichen bei jedem Individuum vorhanden, 
welches artsteigernde Eigenschaften besitzt und weiterentwickelt, und 
findet sich demnach »in allen Ständen ziemlich gleichmäßig und zwar in der 
Minderzahl«, eine Auffassung, die allerdings »weder den Anforderungen des 
sozial immer noch in vielen Punkten herrschenden Erbadels noch denen 
einer sozialistischen Demokratie entspricht, so daß sie zurzeit wenig 
Aussicht hat, von diesen gesellschaftlichen Interessengruppen aufgenommen 
und gefördert zu werden. Aber wenn sie naturwissenschaftlich richtig ist, 
wird sie sich auf die Dauer behaupten und zur Grundlage werden, auf welcher 


die Verbesserung der menschlichen Rasse geschehen kaun. — 

Das W esen des Edlen besteht im Grunde darin, daß auf dem Boden 


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hervorgegangen sind, welche Leistungen im Interesse der mensch¬ 
lichen Gesellschaft hervorgebracht haben. Nicht Stand oder Reichtum, 
in den ein Mensch hineingeboren wird, sondern eine soziale Leistung ist 
das Kriterium, mit welchem sein Adel gemessen werden soll. Zeigen sich 
solche Eigenschaften durch Generationen, so mag man das Geschlecht ein 
edles nennen, solange es derartige Individuen hervorbringt.« 

Dannenberger (Goddelau [Philippshospital]). 


12) Max Lüwy, Stereotype »pseudokatatone« Bewegungen bei leichtester 
Bewußtseinsstörung (im »hysterischen« Ausnahmezustände). Zeit¬ 
schrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie. 1910. Bd. I. 
Heft 3. S. 330 ff. 

Der Verf. erörtert einige Beobachtungen, Fälle von Erregungszuständen 
mit Bewegungsstereotypien, und analysiert sodann einen Fall mit »stereo¬ 
typen«, nichtkatatonen, d. h. nicht durch Dementia praecox begründeten Be¬ 
wegungen. Aus der Analyse des Falles schließt er: 

1) Daß die sogenannten katatonenähnlichen Bewegungen auch der Mo¬ 
tilität des Gesunden nicht ganz fremd sind; daß auch ohne »Motilitäts¬ 
psychose«, ohne eine grundlegende Erkrankung des motorischen Systems 
und ohne daß ein Demenzprozeß vorliegt, beim Gesunden wie bei Psycho¬ 
pathen stereotype Bewegungen auftreten können. 

2, Vielleicht entspringen solche stereotype Bewegungen einer gewissen 
unbestimmten Unruhe mit Versunkenheit — oder ein andermal der erregten 
Flucht nicht genauer gefaßter Gedanken bei gleichzeitiger Erregung und Ab¬ 
sorption durch einen stark affektbetonten Gedankengang, welcher den ganzen 
Zustand auslöst. 

In beiden Fällen entstehen Pansen in der oberschwelligen Abwicklung 
der Gedanken. — Diese entsprechen teils einer wirklichen Ablaufspause im 
klaren Denken (Gedankenleere nennen es manche Patienten), teils einem 
stärkeren, verwirrenden, von Unruhe begleiteten Hervortreten nicht genau 
bemerkter Gedankenelemente »der Gedankenatmosphären«, wie mir ein 
Patient diese assoziierten Begleiter des Hauptgedankens bezeichnete. So¬ 
wohl als automatische Füllsel der Ablaufspausen beim Fortbestehen nach 
motorischer Entladung drängender Unruhe, Erregung oder Angst, wie auch 
als Mitbewegungen für an der Grenze des Bemerkens gelegene Gedanken¬ 
atmosphären könnten diese stereotypen Bewegungen aufgefaßt werden. Die 
erstere Auffassung solcher stereotyper Bewegungen als »automatische Füllsel 
in Ablanfspausen des Denkens« scheint mir mehr für sich zu haben. (Inwie¬ 
weit die geschilderten Auffassungen etwa auch für »echt katatone« Be¬ 
wegungen bei Dementia-praecox-Kranken in Betracht kommen, bleibe hier 
unerörtert.) E. Meumann (Leipzig). 


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weis der besonderen Natur der Komponenten des Persönlichkeitsbewußtseins 
dient. Der Fall selbst ist so verwickelt, daß wir ihn hier nicht im einzelnen 
analysieren können, es seien aber die wichtigen Ergebnisse wiedergegeben, 
die der Verf. aus seinen Beobachtungen ableitet. Bemerkt sei noch, daß 
der Verf. sich ausführlich mit anderen Vertretern der Psychologie der Persön¬ 
lichkeit auseinandersetzt, besonders mit Störring, den Löwy mit Recht 
als den eigentlichen Entdecker des Aktivitätsgefdhls bezeichnet, und mit 
Oesterreich. Bemerkenswert ist an dem Fall noch, daß Löwy keine tiefer¬ 
greifende Anästhesie der inneren Organe bei der Patientin annimmt. Über 
die Beziehungen der inneren Empfindungen zum Selbstgefühl scheint mir 
aber der Verf. etwas zu leicht hinwegzugehen (vgl. die Ausführungen S. 43 ff.). 

Die Hauptergebnisse seiner Analyse faßt der Verf. so zusammen: 

»1) Es gibt eine besondere Form von Gefühlen, die Aktionsgefühle. Diese 
bedeuten unsere ,Aktivität 1 und beziehen sich auf das psychische Agieren 
als solches, d. h. sie haben das psychische Geschehen, unbekümmert um 
seinen jeweiligen Inhalt, zum Gegenstände. Sie beziehen sich nicht auf den 
Denkinhalt, nicht auf das Gedachte, sondern auf den Denkvorgang, auf das 
Denkgeschehen. Sie sind unabhängig von dem, was gedacht wird, wahr¬ 
genommen, gefühlt wird, und beziehen sich eben nur darauf, daß gedacht, 
wahrgenommen und gefühlt wird. Sie sind aber nicht etwa eine Lust oder 
Unlust am psychischen Agieren, am Denkvorgang, ebensowenig wie eine 
Lust oder Unlust am Denkinhalt; sondern sie sind eine andere Form des 
Interessenehmens, ein allgemeines Zuwenden des Interesses, und in ihrer 
Hauptform, dem Denkgefühl, überdies ein Zuwenden zum Allgemeinsten, zu 
dem psychischen Geschehen überhaupt, zum Denkgeschehen als solchem. 
Die AktiousgefUhle sind die allgemeinste Form des ,Gefühlsmäßig-psychisch- 
tätigseins 1 , des Interessenehmens, Bie sind sozusagen das Interessenehmen 
schlechtweg. 

2) Es gibt verschiedene Formen der Aktionsgefühle. Sie haben nämlich 
sowohl das allgemeine psychische Geschehen wie die verschiedenartigen 
speziellen Formen der psychischen Akte zum Gegenstände. Es gibt ein all¬ 
gemeines Gefühl der psychischen Aktion, das Gefühl, psychisch tätig zu 
sein, das Gefühl des psychischen Agierens schlechtweg: ich nenne es das 
Aktionsgefühl des psychischen Geschehens überhaupt oder das Denkgefühl. 
Dieses Aktionsgefühl der intellektuellen Tätigkeit ist eben das hauptsäch¬ 
liche Aktionsgefühl, es begleitet in der Norm jeden psychischen Akt, es 
kommt jedem psychischen Akt als solchem zu (unbekümmert um seinen 
Inhalt), es deklariert uns vor allem, daß die Gedanken unser Produkt sind, 
charakterisiert sie als von uns erzeugt, als unsere eigenen Gedanken, und 
weiter als eben erzeugt, gegenwärtig, neu und vorhanden. Es gibt ihnen 
aber auch ihre überzeugende Kraft und Gewißheit. 

Daneben bestehen noch andere Aktionsgefühle. Diese sind nicht etwa 
einfach die Anwendung des allgemeinen Denkgefühls auf die verschiedenen 
Arten psychischer Tätigkeit; denn sie können bei einem bestimmten psychi¬ 
schen Akt vorhanden sein, während das allgemeine Denkgeftilil fehlt, oder 


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genommene gegenüber den bloß vorgeatellten, den Phantasievorstellungen; 
es liefert zugleich das Realitätsbewußtsein für die Objekte der Wahrnehmung, 
es ist der Grund dafür, daß wir die Gegenstände der Außenwelt alB wirk¬ 
lich ansehen. 'Bei seinem Fehlen erscheinen die Farben, Töne fern und 
fremd, die Dinge unwirklich, wie von einer anderen Welt) Das Perzeptions- 
geflihl für die Vitalempfindung gibt uns erst das volle Wissen vom Körper, 
dessen Kenntnis zwar die Vitalempfindung selber vermittelt; aber dieses 
Perzeptionsgefühl, das Aktionsgefühl beim Perzipieren der Vitalempfindung 
ist der Träger der sicheren Überzeugung von der Existenz unseres Körpers, 
es garantiert uns unsere leibliche Existenz, wie das Denkgefühl unsere gei¬ 
stige. Das Impulsgefühl, jenes Aktionsgefühl, welches den Bewegungsimpuls 
begleitet, charakterisiert die Bewegung nicht nur als von uns ausgehend, 
von uns gemacht, sondern auch als in willkürlicher Ausführung befindlich, 
d. h. als nicht bloß vorgestellt oder gewünscht, sondern als gewollt (Dabei 
ist dieses Aktionsgefühl natürlich nicht etwa das Wollen der Bewegung, der 
Impuls selber, es kann fehlen bei ungestörtem Impuls.) Das Aktionsgefühl 
beim Gefühlsmäßigtätigsein, ,FUhlgeführ möchte ich es nennen, gibt erst 
den Gefühlen ihren vollen Klang und ist jenes Moment, welches das Sich- 
fühlen im Fühlen bewirkt. Bei Beinern Fehlen behaupten die Kranken, sie 
hätten kein Gefühl, könnten nicht fühlen und sich nicht interessieren, natür¬ 
lich genau mit demselben Recht, wie sie beim Fehlen des Denkgefühls er¬ 
klären, sie hätten keine Gedanken, könnten nicht denken, dächten überhaupt 
nicht. 

Auf Grund dieser meiner Feststellung von dem Nebeneinanderbestehen 
bei jedem psychischen Akte sowohl eines allgemeinen Aktionsgefühls als 
des hauptsächlichen und eines speziellen für verschiedene Arten von Akten 
verschiedenen Aktionsgefühls, von denen unter besonderen Umständen ein¬ 
mal das allgemeine, ein andermal das spezielle fehlen kann: erscheint den 
Autoren gegenüber festgelegt, daß nicht bloß ein Aktivitätsgefühl oder eine 
einzige Form von Aktivitätsgefühlen existiert, und daß nicht das Aktions¬ 
gefühl des Handelns das Wesentliche an unserer Aktivität ist, sondern das 
allgemeine Denkgefühl. (Das Aktionsgefühl des Handelns, d. i. Impuls- und 
Initiativegefühl kommen aber immerhin als Wurzel des Bewußtseins unserer 
,Spontaneität 1 , d. h. des Handelns, Bewegens aus scheinbar freier Ent¬ 
schließung in Betracht.) Die Aktionsgefühle sind nur eine besondere Form 
der echten Gefühle, d. i. der Phänomene des Interessenehmens, und zwar ent¬ 
sprechen sie (vgl. insbesondere ihre Hauptform, das allgemeine Gefühl des 
psychischen Geschehens) nicht einer Lust oder Unlust an etwas, weder an 
einem Vorstellungsinhalt, noch am Erleben eines bestimmten Inhaltes, noch 
einer Lust am psychischen Agieren als solchem, Bondern der allgemeinsten 
Form des Interessenehmens, dem Interessenehmen am Psychischen schlecht¬ 
weg. Es wäre gekünstelt, das einfache Interessenehmen am psychischen Ge- 


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es auch verständlich, daß sich an die Aktionsgefühle selber nicht, wie sonst 
an alle psychischen Akte anderer Art, wieder neue Aktionsgeflihle knüpfen. 
Es müßte ja auch sonst in infinitum fortgehen. Die allgemeinste Form des 
Zuwendens, das Interessenehmen am Psychischen, das ist das Interessenehmen 
schlechtweg, bedarf eben, nm Vollwert zu erlangen, nicht wieder selber eines 
Gefühls seines Bestehens und Geschehens, während sonst die Aktionsgefühle 
nötig sind, um allen psychischen Akten ihren Vollwert zu geben. Durch 
diese Ubiquität und Allgemeinheit gewinnt das Denkgefühl eine äußere 
Ähnlichkeit mit dem anerkennenden Urteil und mit der Vitalempfindung. 

Es ist aber das Denkgefühl, ebensowenig wie die anderen Aktions¬ 
gefühle, etwa die Vitalempfindung selber oder eine andere Empfindung irgend¬ 
welcher Art. Denn die Aktionsgeflihle sind ja kein Empfindungsinhalt (Vor¬ 
stellungsinhalt), wie sie dergleichen überhaupt nicht einmal enthalten, nicht 
einmal zum Gegenstände haben. Sie sind ohne sinnliche Qualität, haben 
nichts auf den Raum Bezügliches, nichts Phänomenales, an sich und in sich. 
Es spricht auch nichts dafür, daß die Aktionsgeflihle etwa Urteilsakte sind, 
welche das psychische Geschehen zum Gegenstände haben, welche dessen 
Existenz anerkennen. Dergleichen könnte ja die Leugnung des selbstver¬ 
ständlich bestehenden Denkens der Kranken beim Fehlen der Aktionsgeflihle 
von vornherein nahelegen. Dazu müßte man das ,Interessenehmen schlecht¬ 
weg 4 als einen anerkennenden Urteilsakt bezeichnen wollen. Kehren wir 
aber probeweise die Sache ins Negative um, so wird uns die Unmöglichkeit 
einer solchen Annahme klar. Das Nichtinteressieren, eine Gleichgültigkeit, 
ist eben kein verneinendes Urteil, und ein verneinendes Urteil ist gewiß 
keine bloße Gleichgültigkeit, also ist das Interessenehmen gewiß kein aner¬ 
kennendes Urteil. Und in der Tat werden bei unserer Kranken über Auf¬ 


forderung richtige Urteile selbst Uber das vorher von ihr bestrittene Be¬ 
stehen ihres Denkens gefällt, aber es fehlt diesen Urteilen nur eines, die 
Beweiskraft für die Kranke. Die Aktionsgeflihle sind auch nicht die Auf¬ 
merksamkeit; denn diese hebt sich schon von vornherein als ein besonderer 
Einstellungsakt auf etwas Einzelnes heraus, ist also das gerade Gegenteil 
von etwas Ubiquitärem. Daß die Aktionsgeflihle nicht der Impuls, die Ini¬ 
tiative, kurz der Wille selber sind, gerade so wie sie auch nicht das Denken 
selber sind, haben wir oben gesehen. Die Aktionsgeflihle können fehlen, 
während Wille, Aufmerksamkeit, Urteil und Empfindung ungestört sind. 
Dazu stimmt es, was mir mein Fall zu erweisen Gelegenheit gab: Daß die 
Depersonalisation und die anderen Folgen des Verlustes der Aktionsgeflihle 
nicht etwa das sind, ,was die Autoren meinen: Folge einer Störung von 
Sinnesempfindungen oder der Vitalempfindung selber oder die Folge des 
Verlostes von Gefühlstönen gewöhnlicher Art, des Verlustes der Summe der 
Gefühle, des größten Teiles der Geflihlsmassen usw., kurz, daß sie nicht das 
Produkt einer Gefiihlshemmung sind, was Oesterreich annimmt 4 . 

4) Die Zeitbegriffe vergangen' und .gegenwärtig* ergeben sich durch das 
Gegenübertreten verschiedener Formen von Aktionsgeflihlen in unserem Be¬ 
wußtsein. Es finden sich einmal Vorstellungsinhalte (und zuweilen Empfin¬ 


dungsinhalte), detpn Erzeugung, deren EntstehungsVorgang begleitet ist von 

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Literaturbericht. 


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gef Uhl, dieses deklariert den VorBtellungs Vorgang als etwas andereß wie ein 
Denken in der Phantasie oder wie das Wahrnehmeu, eben als ein Erinnern. 
Durch dießes Aktionsgeflihl für den Erinnerungsvorgang erscheint der Vor- 
stellungsinhalt eben als erinnert. Tritt nun ein Vorstellungsinhalt, welcher 
durch das Reproduktionsgeftihl alß erinnert deklariert ist, anderen gegenüber, 
welche vom Wahrnehmungsgefühl getragen sind und dadurch als neu, als 
eben wahrgenommen erscheinen, so erscheint der erinnerte diesen gegenüber 
als vergangen. Ein neu auftretender Inhalt, begleitet vom Wahrnehmungs¬ 
gefühl, zu anderen gleichzeitigen Inhalten mit dem Wahrnehmungsgefühl oder 
mit dem bloßen Denkgefühl hinzukommend, erscheint als eben wahrgenommen, 
als neu und gegenwärtig. Ebenfalls durch ein Aktionsgefühl — jedoch durch 
ein anderes, — durch das Denkgefühl werden die anderen Gruppen des Psy¬ 
chischen, vor allem die psychischen Akte selber als neu und gegenwärtig 
deklariert. Diese Wirkung des allgemeinen Denkgefühls haben wir schon 
oben (Resümee Punkt 1) kennen gelernt. 

5) Das Wahrnehmuugsgefühl und mit ihm das Denkgefühl spielt eine 
Rolle beim Bemerken. Beim Fehlen des Wahrnehinungsgefühls kann es 
ebenso wie zur Minderung des Realitätsbewußtseins der Eindrücke ein 
andermal auch zum gänzlichen Nichtbemerken von Eindrücken, zum Unbe¬ 
merktbleiben kommen. Es grenzt sich auf diese Weise eine besondere 
Grnppe des Unterschwelligen, des sogenannten Unbewußten oder Unter¬ 
bewußten, ab, das Unbemerkte. Dieses kann ganz komplizierte Denk¬ 
resultate enthalten, welche gelegentlich später — aber nur als Erinnerungen — 
zum Bemerken gelangen können. 

Durch das Fehlen des Wahrnehmungsgefühls kann es auch zur so¬ 
genannten Pseudoreminiszenz, zur Wiedererkennungstäuschang kommen, zum 
Bekanntvorkommen, Schonerlebtvorkommen ganz neuer Eindrücke, ohne daß 
sie dabei als wirkliche Erinnerungen erscheinen. Es fehlt ihnen eben bloß 
das, was sie als neu wahrgenommen deklariert. 

6) Schon in der Norm sind die Aktionsgefühle graduellen Schwankungen 
bis zum völligen Fehlen unterworfen, z. B. auf der Höhe der geistigen Pro¬ 
duktion (vergleiche mein Beispiel des Malers und ,Geißlers* Selbstbeobach¬ 
tungen). 

Auch in pathologischen Fällen spielt das vorübergehende und auf ein¬ 
zelne Gedanken beschränkte, das partielle Fehlen verschiedener Aktions¬ 
gefühle zum Teil gerade durch seine Partialitiit eine Rolle, und zwar für 
das Zustandekommen von autochthonen Ideen (und von gewissen Formen 
von Besessenheit), weiter für das Gedankenlautwerden und Doppeldenken, 
für das sogenannte zweite Gesicht und vielleicht auch für das alternierende 
Bewußtsein. 

7) Der Verlust verschiedener Formen der Aktionsgefüble kann, wie wir 

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8) In einzelnen Fällen ist, wie an dem hier berichteten zum erstenmal 
gezeigt wird, der Verlust der verschiedenen Formen der Aktionsgefühle und 
die Depersonalisation eine ,Symbolneurose 1 , d. h. diese Erscheinungen sind 
Symbole eines erschütternden Erlebnisses, vor welchem sich der betroffene 
Patient in die Krankheit geflüchtet hat. Dadurch ist ein neues Anwendungs¬ 
gebiet der Breuer-Freudschen Lehre gegeben. 

9) Wir können mit der allgemeinen Lehre schließen, welche meine Be¬ 
trachtungen geliefert haben: ' 

Zum Gedankeninhalt, d. i. zum Bewußthaben eines Objektes hinzu wird 
mit Hilfe eines allgemeinen Interessenehmens, mit Hilfe des Interessenehmens 
am psychischen Geschehen als solchem, d. h. mit Hilfe des Denkgefühls, die 
Überzeugung vom Bewußtwerden, d. h. von einem psychischen Geschehen 
hinzugeliefert. Kurz, es besteht neben dem Hiersein der Gedanken, dem 
Bewußthaben, noch als Produkt des Denkgefühls eine Kenntnis von der 
psychischen Aktion überhaupt, vom Bestehen eines Geschehens auf gei¬ 
stigem Gebiete, somit eine Überzeugung vom Bewußtwerden. Durch diese 
Überzeugung vom Bewußtwerden ist zugleich mit dem Bewußtwerden von 
etwas auch ein ,Seinerselbstbewußtwerden 1 des Denkenden gegeben, 
ein Bewußtsein des Denkenden, daß die Gedanken nicht zufällig da sind, 
sondern daß sie von ihm gemacht sind, daß er der Erzeuger seiner Ge¬ 
danken ist. Bei Kenntnis des allgemeinen Denkgefühls können wir also das 
psychologische Grundgesetz Jedes Bewußtsein ist ein Selbstbewußtsein 1 für 
unsere Fragestellung nunmehr lesen: .Jedes Bewußtsein ist ein Selbstbewußt- 
werden*. Und das hauptsächlichste Aktionsgefühl, die allgemeinste Form 
des Interessenehmens, d. i. das Interessenehmen am psychischen Geschehen 
schlechtweg, das Denkgefühl ist es, welches diese, Selbsterkenntnis* des Be¬ 
wußtseins bewirkt, welches bewirkt, daß Jedes Bewußtsein von etwas zu¬ 
gleich ein Selbstbewußtsein des Denkenden selber ist*. 

Damit ist aber auch das Denkgefiihl als jenes Moment erkannt, welches 
die Richtigkeit des Satzes ,cogito ergo sum* verbürgt, welches uns so das 
sichere Bewußtsein unserer Existenz liefert.« E. Meumann (Leipzig). 


14} Dr. H. E. Timerding, Die Mathematik in den physikalischen Lehr¬ 
büchern. (Abhandlungen über den math. Unterricht in Deutschland, 
veranlaßt durch die internat. math. Unterrichtskomm., herausgegeben 
von F. Klein. Bd. HI. Heft 2.) 112 S. Leipzig und Berlin 

1910. 


Der Verf. legt in der Einleitung dar, daß es auf die Beantwortung zweier 
Fragen wesentlich ankommo: »1) Welchen Einfluß hat die Physik auf die 
Entstehung der modernen mathematischen Methoden gehabt? 2) Und welche 
Rolle hat umgekehrt die Mathematik in der Entwicklung der Physik, ins¬ 
besondere des physikalischen Unterrichts gespielt?« (siehe S. 4). Die 
interessante Arbeit Timerdings zerfällt in zwei große Teile, in einen 
historischen und einen methodischen Teil. Im ersten Teile wird dann 


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Literaturbericht. 


rechnung und Differential- und Integralrechnung behandelt (s. S. 9—18). Der 
zweite Abschnitt des ersten Teiles ist auch rein historisch, aber von beson¬ 
derem Interesse, weil manche unserer Lehrbücher auf alte Werke direkt 
Bezug nehmen. Von der Reihe möchten wir nur s’Gravesandes, 
Desaguliers’, E. G. Fischers, Tobias Meyers, Brettners, Eisen¬ 
lohrs und Beetzens Lehrbücher erwähnen (s. S. 19—28). Im zweiten, 
methodischen Teil unterscheidet Tim er ding zwischen zwei besonderen 
Typen, die aus der Auffassung des physikalischen Unterrichts bei den 
Lehrenden hervorgeht: 1) Es besteht bei vielen Lehrern die Neigung, »so 
weiter zu unterrichten, wie sie selbst gelernt haben«. Man sucht neue Ent¬ 
deckungen unter die bisherigen Gesetze unterzuordnen. 2) Es besteht die 
Neigung, »den Unterricht so leicht und faßlich wie möglich zu gestalten«. 
Zur ersten Klasse von Lehrbüchern gehört z. B. das große physikalische 
Werk von Müller-Pouillet; zur zweiten gehören Jochmanns, Lom- 
mels, Warburgs Bücher. In diesem ersten Unterabschnitt führt der Verf. 
auch die interessante Tatsache an, daß moderne Lehrbücher auf die vom 
Anfang des vorigen Jahrhunderts zuweilen Bezug nehmen (s. S. 33—34). 
Was die Lehrbücher in mathematischer Hinsicht anbetrifft, so unterscheidet 
Timerding sehr richtig zwischen solchen 1) ohne irgendwelche mathe¬ 
matische Formulierung und Entwicklung, 2) mit Elementarmathematik, 3) mit 
höherer Mathematik. Nur auf Lehrbücher der zweiten Art nimmt der Autor 
Bezug. Diesen »allgemeinen Betrachtungen« des methodischen Teiles 
schließen sich Erörterungen »Uber den mathematischen Charakter einzelner 
physikalischer Probleme« und Uber »besondere mathematische Fragen« an. 
Timerding weist an der Hand der Geschwindigkeit, der Fallgesetze, des 
mathematischen Pendels, deB Schwerpunktes und der Trägheitsmomente, der 
barometrischen Höhenmessung, der Wellentheorie, der Fernwirkungs- und 
Feldwirkungstheorien die höchst interessanten Unterschiede in der Ein¬ 
führung und Verwendung der infinitesimalen Hilfsmittel und Rechnungs- 
methoden auf (s. S. 40-69). Der letzte Abschnitt des zweiten Teiles ist be¬ 
sonderen mathematischen Fragen gewidmet. Der Autor betont die 
Bedeutung der Zeichnung und des Diagrammes, die in der modernen Lehr¬ 
buchliteratur immer mehr und mehr anerkannt wird. Ein unserer Meinung 
nach besonders wichtiger Unterabschnitt betrifft, die verschiedenen geo¬ 
metrischen Auffassungen des Unendlichkleinen (kritische, d. h. approxi¬ 
mative Auffassung und dogmatische oder transfinite Auffassung, die sich 
wieder in infinitesimale und indivisible spaltet). Auch hier führt 
Timerding kritische Betrachtungen an den bekannten modernen Lehr¬ 
büchern durch. Die Schlußbetrachtungen sind der elementaren Darstellung 
an Stelle der infinitesimalen in unseren Lehrbüchern gewidmet. Mit Recht 
rügt Timerding die falsche Anwendung des Differentialsymbols. Uns 
scheint die Alternative des Verf., daß entweder Infinitesimalrechnung ganz 

vermieden und auch nieht. in elementarmnthematisehein Gewände einp’efilhrt 


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15) J. H. F. Kohlbrugge, Der Einfluß des Tropenkümas auf den blonden 
Europäer. Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie. 1910. 
5. Heft. 

Der Verf. sucht in der vorliegenden Abhandlung zu zeigen, daß blonde 
Europäer in den Tropen leicht der Degeneration verfallen, wie überhaupt 
die reinen Rassen weniger widerstandsfähig gegen die degenerierenden Ein¬ 
flüsse des Tropenklimas sind als gemischte. 

B. Rüders (Münster i. W.). 


16) Fr. von den Felden, Der verschiedene Widerstand der Geschlechter 
gegen die Entartung. Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie. 


1910. Heft 5. 


Der Verf. behandelt in der vorliegenden Abhandlung einige interessante 
Degenerationserscheinungen. Unter den Eltern und Großeltern der Geistes¬ 
kranken findet man relativ selten Geisteskranke, viel häufiger körperlich Ent¬ 
artete. »Hieraus ist ersichtlich, daß die körperliche Degeneration der ge¬ 
wöhnliche Vorgänger der geistig-sittlichen ist.« »Körperliche Degeneration 
ist also die gewöhnliche Pforte, durch welche die geistig-sittliche in die 
Familien Einzug hält, aber gangbar ist auch der umgekehrte Weg.« Mora¬ 
lische Degeneration findet sich auch besonders häufig mit körperlicher ver¬ 
bunden. Das ist für die statistische Beurteilung von Stammbäumen und 
Familienlisten wichtig, weil die Statistik in der Regel nur die körperliche 
Degeneration erkennen läßt; aus der einen läßt sich also mit einem ge¬ 
wissen Recht auf die andere schließen. »Stellt man nun Familien, deren 
körperliche Degeneration an abnorm hoher Kindersterblichkeit und stark 
verkürzter mittlerer Lebensdauer erkennbar ist, dem allgemeinen Durch¬ 
schnitt gegenüber, so fällt zunächst auf, daß in degenerierenden Familien 
eine Überzahl von Mädchen geboren wird.« »Wo die Bedingungen der Re¬ 
produktion erschwert sind, da gelingt es also der Natur leichter, das weib¬ 
liche Geschlecht hervorzubringen als das männliche.« Es zeigt sich ferner, 
daß in degenerierenden Familien die Mädchen öfter heiraten als die Männer, 
während man sonst die gleiche Anzahl Heiraten von männlichen und weib¬ 
lichen Individuen einer Familie (natürlich nur annähernd und im Durch¬ 
schnitt) annehmen kann. 

»Danach kann also als erwiesen gelten, daß das weibliche Geschlecht 
der Degeneration stärkeren Widerstand leistet als das männliche, daß in 
degenerierenden Familien das männliche Geschlecht rascher Vorzüge aller 
Art einbüßt, anders ausgedrückt, daß unter erschwerten Bedingungen wohl 
noch die Hervorbringung von Mädchen mittlerer und guter Qualität gelingt, 
viel weniger aber von Knaben.« 

Es sei noch bemerkt, daß d e r Verf. zu seinem Nachweis die Riffelsche 
und Meyer-Tesdorpfsehe Statistik benutzt hat (vgl. A. Riffel, Mit¬ 


teilungen über die Erblichkeit und Infektiosität der Schwindsucht, Braun- 

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Literaturbericht. 


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17) Fritz Seidel, Intellektualismus und Voluntarismus in der platonischen 
Ethik. Weida (Thüringen), Thomas & Hubert, 1910 (Leipziger 
Dissertation). 

Der Verf. ist den intellektualistischen und voluntaristisclien Elementen 
der sokratisch-platonischen Ethik sorgiältig nachgegangen; im allgemeinen 
stellt sich auch nach seinen Untersuchungen die platonische Ethik als eine 
intellektualistische dar, doch fehlen nicht die Anfänge einer mehr volunta- 
ristischen Betrachtungsweise der ethischen Probleme. Besonders treten ’iese 
hervor iu den Lehren, die M. Wundt als »homerischen Intellektualismus« 
bezeichnet hat. Ferner spielt in den »Gesetzen« die Anlage zur Tugend 
eine große Rolle, und das Moment der Übung wird hierbei gewürdigt. 

Der Verf. schließt seine Darstellung mit den Worten: »Wir glauben 
nun unsere Aufgabe gelüst und den Nachweis erbracht zu haben, daß der 
Intellektualismus von dem ,sokratischen‘ Höhepunkt des Dialogs Protagoras' 
an in den platonischen Schriften im allgemeinen eine absteigende Tendenz 
zeigt und die platonische Philosophie wohl im Grunde intellektualistisch 
bleibt, daß aber diese Grundanschauung sich mehr und mehr vom starren 
und einseitigen sokratischen Intellektualismus entfernt. Dieser wird vom 
selbständigen Platon zunächst in einen mystisch-metaphysischen oder 
idealistisch-spiritualistischen umgewandelt, der schon eher die Möglichkeit 
gibt, Nichtintellektuelles zu berücksichtigen; zuletzt wird auch der mystische 
Intellektualismus wieder aufgegeben, und der schon vorher überall zum Vor¬ 
schein kommende ,homerische 1 Intellektualismus bleibt allein zurück, der das 
Wollen, Begehren und Fühlen in seinen Wirkungen auf das Tun in vollem 
Maße anerkennt.« B. Rüders {Münster i. W.). 


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