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Howard Crosby Warren *89
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ARCHIV
FÜR DIE
GESAMTE PSYCHOLOGIE
UNTER MITWIRKUNG
VON
Pbof. H. HÖFFDING in Kopenhagen, Pbof. F. JODL in Wien,
Pbof. F. XIESOW in Tubin, Pbof. A. KIRSCHMANN in Tobonto
(Canada), Phof. E. KRAEPELIN in München, Pbof. 0. KÜLPE in
Bonn, Db. A. LEHMANN in Kopenhagen, Pbof. TH. LIPPS in Mün¬
chen, Pbof 1 . G. MAR1TUS in Kiel, Pbof. G. STÖRRING in Zübigh
und Pbof. W. WTJNDT in Leipzig
HERAUSGEGEBEN VON
E. MEUMANN und W. WIRTH
0. PKOFESSOB A. D. ÜNIVEBSITÄT A. 0. PROFESSOR A. D. UNIVERSITÄT
LEIPZIG LEIPZIG
XX. BAND
MIT 58 FIGUREN UND 4 DIAGRAMMEN IM TEXT
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Inhalt des zwanzigsten Bandes,
Abhandlungen: Seite
Eugenio Rignano, Über die mnemonische Entstehung und die mnemonische
Natur affektiver Neigungen. 1
Ludwig Bürmester, Bemerkungen zu der Mitteilung des Herrn A. Thier¬
felder »Eine Sinnestäuschung«.34
E. Meumann, Über Bekanntheits- und Unbekanntheitsqualität.36
F. M. Urban, Eine Bemerkung über die Methode der ebenmerklichen Unter¬
schiede .4ö
W. Wirth, Zur erkenntnistheoretischen und mathematischen Begründung
der Maßmethoden für die Unterschiedsschwelle. (Kritische Betrach¬
tungen über F. M. Urbans Behandlung der Methode der ebenmerk¬
lichen Unterschiede und 6. F. Lipps’ Verwertung der Gleichheitsfälle.)
Mit 5 Figuren im Text..52
Friedrich Schübotz, Beiträge zur Kenntnis des Sehraumes auf Grund
der Erfahrung. (Mit 13 Figuren im Text).101
Abraham Schlesinger, Die Methode der historisch-vülkerpsychologischen
Begriffsanalyse..150
W. Betz, Vorstellung und Einstellung. II. Über Begriffe.186
C. Minnemann, Untersuchungen Uber die Differenz der Wahrnehmungs¬
geschwindigkeit von Licht- und Schallreizen.
I. Theoretische Erörterungen über die Differenz von Wahrnehmungs¬
geschwindigkeiten. (Mit 2 Figuren [Figur 1 und 2] im Text) . 227
II. Bisheriger Stand der Untersuchungen über die Wahrnehmungs¬
geschwindigkeit von Licht- und Schallreizen. (Mit 2 Figuren
[Figur 3 und 4] im Text).277
III. Experimentelle Untersuchung über die WahrnehmungsgeBchwin-
digkeit von Licht- und Schallreizen, nach der Methode direk¬
ter Vergleichung. (Mit 20 Figuren [Figur 5—24] im Text) . . 311
Vittorio Benussi, Über die Motive der Scheinkörperlichkeit bei umkehr¬
baren Zeichnungen. (Mit 9 Figuren und 4 Diagrammen im Text) . . 36^
Meyer, Experimentelle Analyse psychischer Vorgänge beim Schießen mit
der Handfeuerwaffe. Ein Versuch. (Mit 7 Figuren im Text) ....
G. Anschütz, Über die Methoden der Psychologie.
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T .i t.or>a t.n Thpri eh t. •
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IV
Seit«
Einzelbesprechung
W. Wirth, Die mathematischen Grundlagen der sogenannten unmittelbaren
Behandlung psychophysischer Resultate. (F. M. Urban) . 1
Stephan Witasek, Zur Lehre von der Lokalisation im Scbraum. (J.Riffert) 73
Ludwig Klages, Prinzipien der Charakterologie. (A. Huther) .101
K. Weiler, Untersuchungen Uber die Muskelarbeit des Menschen. 1. Teil.
(Z. Treves) .108
Warner Brown, The Judgment of Difference with Special Reference to
the Doctrine of the Thrcshold in the Case of Lifted Weigths. (F. M.
Urban) .137
Referate
A. Meinong, Über Annahmen. (E. Menmann) . 9
Gustav Störring, Einführung in die Erkenntnistheorie. (Aloys Müller) . 9
Hermann Türck, Der geniale Mensch. (J. Mühlethaler) .13
C. Lombroso, Neue Studien über Genialität. (E.Meumann) .14
W. E. Lecky, Charakter und Erfolg. (Emst Ebert) .16
Eugen Fischer, Sozialanthropologie und ihre Bedeutung für den Staat.
(Ernst Ebert) .15
Max Verworn, Die Entwicklung des menschlichen Geistes. (E.Meumann) 16
Giulio Fano, Homo sapiens. (E.Meumann) .18
Arthur Wreschner, Das Gedächtnis im Lichte des Experimentes. (E. Meu¬
mann) .18
Martin Gildemeister, Über Zählen und Zeitschätzen. (E. Meumann) . . 18
Alfred Neumann, Über die Sensibilität der inneren Organe (kritisches
Referat. (E. Meumann) .19
H. v. Helmholtz, Handbuch der physiologischen Optik. (E.Meumann). . 22
Oswald Bumke, Über die körperlichen Begleiterscheinungen psychischer
Vorgänge. (Paul Mcnxerath) .24
Ottmar Rutz, Sprache, Gesang und Körperhaltung (E. Meumann) ... 24
C. Täuber, Die Ursprache und ihre Entwicklung. (Paul Menxerath' ... 26
Heinrich B. Gerland, Zur Frage der Zeugenaussage. (E. Meumann) . . 29
H. Gudden, Die Behandlung der jugendlichen Verbrecher in den Ver¬
einigten Staaten von Nordamerika. (Emst Ebert) .29
Ernst Schulze, Die jugendlichen Verbrecher im gegenwärtigen und zu¬
künftigen Strafrecht. (Emst Ebert) .31
Ed. Claparöde, Psychologie de l’enfant et Pedagogie expdrimentale.
(E. Meumann) .32
Erich Becher, Der Darwinismus und die soziale Ethik. (E. Oacde) ... 32
Gustav Hauffe, Volkstümliches Handbuch der humanen Ethik auf wissen-
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V
Seit©
Richard Flachs, Die Stellung der Schule znr sexuellen Pädagogik. (E.Meu-
mann) .49
Wilhelm v. Gwinner, Schopenhauers Leben. (E. Mcumann) .50
Ludwig Goldschmidt, Baumanns Anti-Kant. (Aloys Müller) .51
Paul Deußen, Die Elemente der Metaphysik. 4. Aufl. (Ernst Ebert) . . 51
Philosophisches Jahrbuch. Mit Unterstützung der Görresgesellschaft
unter Mitwirkung von Pohle (Breslau), Schreiber (Fulda), heraus¬
gegeben von Konstantin Gutberiet. (E. Mcumann) .52
Detleff-Neumann-Neurode, Kindersport. Körperübungen fiir das frühe
Kindesalter. (Paul Menzerath) .52
Erich Ziebart, Aus dem griechischen Schulwesen. (E. Mcumann). ... 53
Paul Carus, Our Children hints from Practical Experience for Parents and
Teachers. (E. Mcumann) .54
Klinik für psychische und nervöse Krankheiten. Herausgegeben
von Robert Sommer. (E. Mcumann) .54
Bericht über den 4. Kongreß für experimentelle Psychologie in
Innsbruck (vom 19. bis 22. April), herausgegeben von F. Schumann.
(E. Meumann)- .54
Bericht über den 6. internationalen Kongreß für Pychologie in
Genf (unter dem Vorsitz von Th. Flournoy), herausgegeben von
Ed. Claparede. (E. Mcumann) .56
Enzyklopädisches Handbuch des Kinderschutzes und der Ju¬
gendfürsorge, herausgegeben unter Mitwirkung hervorragender
Fachleute von Th. Heller, Fr. Schiller und M. Taube. (E.Meumann) 56
Enzyklopädisches Handbuch der Heilpädagogik. Unter Mitwirkung
zahlreicher am Erziehungswerke interessierter Arzte und Pädagogen
von Professor Dr. A. Dannemann, Lehrer H. Schober und Lehrer
E. Schulze. (E. Meumann) .58
Aus Zeitschriften. (E. Meumann) .59
E. B. Titchener, Lehrbuch der Psychologie. (J. Köhler) .87
W. Jerusalem, Lehrbuch der Psychologie. 4. Aufl. (J. Köhler) .87
Max Verworn, Die Mechanik des Geisteslebens. (J. Köhler) .92
C. Lange, Die Gemütsbewegungen, ihr Wesen und ihr Einfluß auf körper¬
liche, besonders auf krankhafte Lebenserscheinungen. (E. Mcumann) 93
W. Lubosch, Vergleichende Anatomie der Sinnesorgane der Wirbeltiere.
(E. Meumann) .93
Viktor Hueber, Die Organisierung der Intelligenz. (Moritz Scheinert). . 94
Neue philosophische Literatur. (E. Mcumann) .100
Bericht über Arbeiten aus dem »Pedagogical Seminary < 1908 und
1909. (Rolsch) .118
SanoTorata, Zur Frage der Sensibilität des Herzens und anderer innerer
Organe. (E. Mcumann) .130
E. Gilbert. Ein Beitrag zur Frage der Sensibilität des Herzens. (E.Meumann) 130
Victor Mercante, La Verbocromia. (E.Meumann) .131
Zeitschrift für pädagogische Psychologie und experimentelle
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Uber die mnemonische Entstehung
und die mnemonische Natur affektiver Neigungen,
Von
Eugenio Rignano (Mailand).
I.
Beobachten wir das Verhalten der verschiedenen Organismen,
von den einzelligen an bis zum Menschen, so sehen wir, wie eine
ganze Anzahl ihrer Handlungen, darunter namentlich die haupt¬
sächlichsten, als Äußerungen eines dem Organismus eigenen Be¬
strebens angesehen werden dürfen, in seinem — um Ostwalds
energetischen Ausdruck zu gebrauchen — »stationären« physio¬
logischen Zustande zu beharren oder ihn wieder anzunehmen.
Mit anderen Worten: wenn wir jene besondere Gattung orga¬
nischer Bestrebungen als »affektiv« bezeichnen, die sich subjektiv
beim Menschen als »Wünsche« oder »Gelüste« oder »Bedürfnisse«
und objektiv bei Mensch und Tier als völlig ausgeführte oder
noch im Entstehen begriffene »Bewegungen« äußern, mit Aus¬
nahme derer, die mechanischer Natur geworden sind, so läßt sich
eine ganze Anzahl der so gekennzeichneten hauptsächlichsten
»affektiven Neiguugen« geradezu auf die eine Grundbestrebung
eines jeden beliebigen Organismus zurückführen, seine »physio¬
logische Unverändertheit« zu bewahren.
Wir sehen beispielsweise, daß das allerursprüuglichste affektive
Streben, der Hunger, im Grunde nichts anderes ist als das Be¬
streben, den Nahrunffszustand im Innern des Körners in der-
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2
Eugenio Rignano,
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Zustände durchzumachen, die geeignet sind, ihn in diese not¬
wendige Beschaffenheit seines Inneren zurückzuführen, also zu der
Neigung, sämtliche die Ernährung bezweckende Handlungen zu
vollbringen; es hat jedoch darum niemals seine ursprüngliche
Wesensart aufgegeben. Das geht ohne weiteres schon daraus her¬
vor, daß im Tiere sofort jede Neigung, sich neue Nahrung zu ver¬
schaffen, aufhört, sobald sein innerer Nahrungszustand die ge¬
wünschte Beschaffenheit erlangt hat.
Daher reagieren die Hydra oder die Seeanemone nur dann
positiv auf die Speise, wenn ihr Metabolismus sich in einem mehr
Nahrungsstoff verlangenden Zustande befindet (unless metaholism
is in such a state as to require more material, sagt Jennings);
z. B. wenn die große Seeanemone Stoichactis helianthus keinen
Hunger hat, so bewirkt die ihr auf die Mundscheibe gelegte Speise
dieselbe charakteristische Gegenwirkung des »Auswerfens«, wie
wenn es sich um irgendeinen anderen störenden Körper handelte.
Und ebenso verhalten sich im großen und ganzen alle übrigen
höheren oder niederen Organismen 1 ).
Schiffs bekannte Versuche Uber endovenöse Injektionen von
Nährstoffen bei Hunden beweisen andererseits direkt, daß die
Grundbedingung des Hungers durch den Mangel an histogenetischen
Stoffen im Blute gegeben ist. Denn diese Einspritzungen ver¬
mögen nicht allein das Tier zu nähren, sondern auch dessen
Hunger zu stillen.
Daß übrigens der Hunger, namentlich solange er nur mäßig
ist, beim Menschen die Gestalt einer besonderen, von der Magen¬
wand ausgehenden örtlichen Empfindung annimmt, welche allein
schon die Handlungen veranlaßt, zu denen der wirkliche Hunger
treibt, ist — wie kaum hervorgehoben zu werden braucht — eine
daraus folgende Tatsache und von untergeordneter Bedeutung.
Das ist nur eine der vielen Gestalten, in denen sich das Ein¬
treten des Teiles für das Ganze zeigt; und diese für alle
nli vaiAlAo*ianli _ mnomrvnianliDn VArocaTi/»V» nrolrfariafianlia FraoliAi-
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Uber die mnemon. Entstehung and die mnemon. Natur affekt. Neigungen. 3
ttimlichen Empfindungen, die ihren Sitz in der Magenschleimhaut
haben und durch deren Schwellung oder eine andere darin durch
die Magenleere hervorgebrachte Veränderung entstehen, werden
allerdings, da sie gewöhnlich vor dem oder zugleich mit dem
wirklichen Mangel histogenetischer Stoffe im Blute stattfinden,
schließlich zn Äußerungen, welche den Hunger darstellen oder für
ihn eintreten.
Dasselbe gilt ftir den Durst und die für ihn eintretende Lokali¬
sierung im oberen Teile der Verdauungsröhre.
Vom Hunger und Durst könnten wir zu anderen, noch so ver¬
schiedenen mehr oder weniger hauptsächlichsten organischen »Ge¬
lüsten« oder »Bedürfnissen« übergehen; alle würden uns in ihren
Äußerungen zeigen, daß sie einzig und allein das gemeinsame
Ziel verfolgen, den verlorenen oder irgendwie gestörten stationären
physiologischen Zustand wiederherzustellen.
Daher existiert für eine jede Tierart ein Optimum der Um¬
gebung in bezug auf den Sättigungsgrad der Lösung, worin das
Tier lebt, oder den Grad der Wärme oder der Lichtstärke usw.,
über und unter welchem der Organismus nicht in seinem normalen
physiologischen Zustande zu beharren vermag und auf dessen Be¬
wahrung das Tier darum alle seine Anstrengungen richtet.
So sehen wir z. B., wie das Infusorium Paramaecium bei
einer Temperatur von 28 Grad in seiner Umgebung gegen eine
weitere Steigerung, doch nicht gegen die Abnahme der Wärme
negativ reagiert, wie es dagegen bei 22 Grad gegen die Abnahme,
doch nicht gegen die Erhöhung der Temperatur negativ reagiert.
Und bei mäßiger Beleuchtung ihrer Umgebung sehen wir die
Euglena gegen die Verminderung, aber nicht gegen die Steigerung
der Lichtstärke negativ reagieren, während sie sich unter starker
Beleuchtung gerade umgekehrt verhält 1 ).
Das Streben der Organismen nach Unverändertheit ihres statio¬
nären physiologischen Zustandes verwandelt sich mithin in ein
Streben nach Unverändertheit ihrer Außen- und Innenwelt. So
schließen sich_ 7 .. B. Apstern lind A Minien, sohni/1 sie der Luft aus-
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jiaen sich;/. 15. Ansr<
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4
Eugenio Rignano,
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Zu der Unverändertheit der Umgebung gehört auch die Stellung
des Organismus zu der Richtung der verschiedenen auf ihn wirken¬
den äußeren Kräfte, vor allem der Schwerkraft. Daher das Be¬
streben, seine normale Lage zu bewahren oder wiederherzustellen.
So zieht z. B. die Amöbe sofort ihre Pseudopodien ein, sobald sie
feste ungenießbare Körper berühren; wird sie aber vom Boden
des Aquariums entfernt und schwebt sie mitten im Wasser, so
streckt sie ihre Pseudopien nach allen Richtnngen aus. Kaum be¬
rührt eines derselben einen festen Gegenstand, so hängt sie sieh
daran, zieht ihren Körper nach und lagert sich wieder wie zuvor.
Und der Seestern, der umgekehrt worden ist, sucht sich wieder
»umzudrehen«, also zu seinen normalen Beziehungen zur Umgebung
hinsichtlich der Schwerkraft zurückzukehren 1 ).
Auch alle »Bedürfnisse«, Stoffe auszuscheiden, die durch den
allgemeinen Metabolismus erzeugt wurden, und die der Orga¬
nismus nicht länger gebrauchen kann, weichen von dieser allge¬
meinen Regel nicht ab. Denn — obgleich es möglicherweise durch
gewisse örtliche »vertretende« Empfindungen hervorgerufen ist,
welche den Akt der Ausscheidung schon im voraus auszulösen
vermögen — ist das Bedürfnis der Absonderung, gleichviel ob es
sieb dabei um das kleinste und einfachste Infusorium oder um das
höchstentwickelte Wirbeltier handelt, im Grunde nur dem Umstande
zuzuschreiben, daß die Anhäufung dieser Auswurfstoffe im Inneren
des Organismus dessen normales physiologisches Verhalten schlie߬
lich beeinträchtigen würde.
Zu dieser Gattung absondernder affektiver Bestrebungen scheint
auch der »Geschlechtstrieb« oder »geschlechtliche Hunger« zu ge¬
hören.
In der Tat neigen bekanntlich einige neue Anschauungen dazu,
gerade wie dem eigentlichen Hunger, so auch dem »geschlecht¬
lichen Hunger« nicht etwa eine beschränkte Gegend des Körpers,
in diesem Falle also die Geschlechtsteile, sondern vielmehr den
Gesamtorganismus als Sitz anzuweisen und ihn zugleich dem Be-
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Über die moemon. Entstehung und die mnemon. Natur affekt. Neigungen. 5
nach einer gewissen Anzahl einfacher Zweiteilungen die »Alters¬
entartung« eintritt (Maupas), so auch die vom erwachsenen Organis¬
mus fortwährend erzeugte Keimsubstanz, namentlich nachdem sie
die reduzierende Teilung erfahren hat, einer mehr oder weniger
ähnlichen Entartung unterliegt, wenn ihr ebenfalls die erforderliche
karvogamische Verjüngung nicht zuteil wird. Die Annahme scheint
daher nicht ausgeschlossen, der »geschlechtliche Hunger« sei ur¬
sprünglich nichts anderes als das Bestreben des Organismus, sich
von dieser »Altersverunreinigung« zu befreien, die von der Keim¬
substanz, da sie ja eben ihrem Wesen nach ein der Befruchtung
harrender Kernstoff ist, infolge ihrer hormonischen Zersetzungs¬
produkte erzeugt und über den Gesamtorganismus verbreitet wird.
Das mehr oder weniger glänzende und auffallende »Hochzeits¬
kleid«, das fast alle Tiere zur Liebeszeit anlegen, rührt von einem
abnormen Zustand allgemeiner Hypersekretion her, der auch wieder
durch die hormonischen Produkte der Keimsubstanz hervorgebracht
wird. Er beweist jedenfalls, wie tief die physiologische Störung
geht, die der abzusondernde Keimstoff in allen Zellen des Soma
erregt.
Das Streben nach Ausscheidung eines so überaus störenden
Elementes würde dann zum Streben nach Begattung werden, eben
als Mittel, um diese Ausscheidung zu bewirken.
Daher der »von Grund aus egoistische Charakter« (nature
foncierement egoi'ste), den Ribot mit Recht in der Geschlechts¬
liebe hervorhebt: »Chez l’immense majorite des animaux et souvent
chez l'homme l’instinct sexuel n’est accompagne d’aucune Emotion
tendre. L’acte accompli, il y a Separation et oubli 1 ).«
Es bliebe jedoch immer noch zu erklären, weshalb die Begat¬
tung das einzige Mittel geworden ist, das die Absonderung der
Keimsubstanz ermöglicht, während doch zur Beseitigung aller
anderen mehr oder weniger ähnlichen unreinen Stoffe das einzelne
Individuum genügt.
Die Vermutung liegt nahe, daß dies im Grunde auf der eigen¬
tümlichen Natur de^ «ibznsondemden Stoffes beruht. Und zur Er¬
klärung der TatSH( i y ie dürften vielleicht auch zwei zusammen-
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6
Engenio Rignano,
fern auf den Samenfaden ausgettbte Anziehung durch Sekretionen,
die sich nach allen Richtungen hin ausbreiten, und zweitens der
Hermaphroditismus, der wahrscheinlich bei den mehrzelligen Tieren
dem geschlechtlichen Dimorphismus phylogenetisch voranging.
Dennoch dürfen wir uns nicht verhehlen, daß der phylogenetische
Vorgang, der diese Absonderung auch bei den mehrzelligen Tieren
in so enge Verbindung mit der Begattung gebracht hat, noch nicht
genügend aufgeklärt ist.
Doch auch schon in dieser unvollendeten Gestalt erlaubt diese
Hypothese, die dem Geschlechtstrieb nur die Bedeutung des
Strebens nach Absonderung eines störenden Elementes beilegt,
diesen Trieb in einem ganz anderen Lichte darzustellen als dem,
in welchem er bisher erschien. Denn nimmt man diese Hypo¬
these an, so würde der Geschlechtstrieb nicht mehr zum »Wohle«
der Art, sondern geradezu zum Wohle des Individuums ent¬
standen sein und sich entwickelt haben. Er würde somit nicht
etwa den »Willen der Art« darstellen, der sich dem Individuum
aufnötigt, wie noch jetzt mit Schopenhauer die meisten be¬
haupten, sondern vielmehr hier wie überall den »Willen« des ein¬
zelnen Individuums, d. h. dessen gewohntes Bestreben, seinen
stationären physiologischen Zustand unverändert zu bewahren.
Und statt mit Weismann und allen Neu-Darwinisten darin einen
neuen Beweis für die angebliche Allmacht der Naturzüchtung zu
sehen, würde schon Lamarcks Prinzip der individuellen Anpassung
zugleich mit der Vererbung erworbener Eigenschaften genügen,
dafür, wie für alle anderen Instinkte, eine Erklärung zu liefern.
Diese »Absonderungshypothese« gestattet ferner ohne weiteres,
einzelne Eigentümlichkeiten dieses Triebes zu erklären, die, vom
Standpunkte Schopenhauers und der Neu-Darwinisten aus be¬
trachtet, ganz unverständlich wären.
Ri bot z. B. wundert sich darüber, daß der Geschlechtstrieb,
der doch für das Fortbestehen der Art so überaus wichtig ist, so
oft gewissen Entartungen ausgesetzt ist, die geradezu dessen
völlige Vernichtung scheinen ! ).
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Und wenn wir auch von den eigentlichen pathologischen Ver-
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Über die mnemon. Entstehung und die mnemon. Natur affekt. Neigungen. 7
Ersatzmitteln greifen und »Unterschlagungen« bei der Liebe vor¬
nehmen, im Widerspruche zu der Annahme zu stehen, der einzige
Zweck dieses Triebes sei die Fortpflanzung und Erhaltung der Art.
Wenn ferner Tier oder Mensch jetzt die Begattung oder ge¬
wisse untergeordnete geschlechtliche Beziehungen um ihrer selbst
willen »anstreben«, also auch unabhängig von dem Vorgang der
Keimstoffabsonderung, ja vielleicht sogar in Ermangelung irgend¬
welches abzusondernden Keimstoffes, so ist auch dies, wie wir
später noch besser erkennen werden, nur die Folge des Gesetzes
von dem Eintreten des Teiles für das Ganze und des daraus
abgeleiteten Gesetzes von der Übertragung affektiver
Neigungen, wonach alle Erscheinungen, die beständig die Be¬
friedigung gewisser Affekte begleiten, auch ihrerseits zu Zielen
des Wunsches werden, und wonach alle Gewohnheiten, die zur
Befriedigung oder bei der Befriedigung gewisser Affekte ange¬
nommen wurden, ebenfalls in Affekte übergehen.
Haben wir somit auch den Geschlechtstrieb seiner Entstehung
nach in die Gattung der Bestrebungen zurückgeführt, die dazu
dienen, den stationären physiologischen Zustand des Organismus
zu bewahren, so ist das obige Gesetz, was die grundlegenden
organischen Bestrebungen betrifft, keiner Ausnahme mehr unter¬
worfen. Wir können es also mit folgenden Worten zusammen¬
fassen :
Jeder Organismus ist ein physiologisches System im statio¬
nären Zustand und strebt danach, diesen Zustand zu bewahren
oder wiederanzunehmen, sobald er durch irgendeine Veränderung
gestört wurde, die in der Außen- oder Innenwelt des Organismus
eingetreten ist. Diese Eigenschaft bildet die Grundlage und das
Wesen aller »Bedürfnisse«, aller hauptsächlichsten organischen
»Gelüste«. Sämtliche von Tieren ausgefUhrte Bewegungen der
Annäherung oder Entfernung, des Angriffes oder der Flucht, des
Nehmens oder Auswerfens sind nur ebenso viele unmittelbare oder
mittelbare Folgen dieses durchaus allgemeinen Strebens jedes
stationären physiologischen Zustandes nach seiner Unver-
ändertheit. Wir werden gleich sehen, daß dieses Streben wieder
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Eugenio Rignano,
Digitized b)
affektiven Neigungen zu veranlassen. Jeder einzelnen Ursache der
Störung wird also ein Streben nach deren Beseitigung entsprechen,
dessen besondere Merkmale von der Art der Störung, von ihrer
Stärke, von den Maßnahmen zur Vermeidung des störenden Ele¬
mentes bestimmt werden; und für jedes etwaige Mittel, den
normalen physiologischen Zustand zu bewahren oder wiederher¬
zustellen, wird ebenfalls ein entsprechendes, ganz bestimmtes
Streben, als »Sehnsucht«, »Wunsch«, »Anziehung« usw. vorhanden
sein.
Sogar der »Trieb der Selbsterhaltung« — wenn man ihn im
gewöhnlichen beschränkten Sinne der Erhaltung des eigenen
Leben8 auffaßt — ist auch nur eine besondere Ableitung und
unmittelbare Folge dieses überall vorhandenen Strebens nach Er¬
haltung der physiologischen Unverändertheit. Denn
offenbar erscheint jeder Zustand, der zuletzt den Tod herbeiführen
würde, anfangs als bloße Störung, und nur als solche sucht und
lernt das Tier ihn zu vermeiden. Jennings Amöbe z. B., die
von einer anderen Amöbe vollständig verschlungen worden war,
der es aber gelungen war, sich zu befreien, flieht nicht etwa vor
einer Erscheinung, die ihr Leben in Gefahr bringt, sondern vor
einem Zustand in ihrer Umgebung, der zwar eine tiefgehende
Störung, aber doch nichts weiter als eine Störung ist.
Quinton hat bekanntlich zuerst eine Theorie entwickelt Uber
das Bestreben der Organismen, ihre innere Lebensbeschaffenheit
in demselben chemisch-physikalischen Zustande zu bewahren, in
welchem sie sich beim ersten Erscheinen des Lebens auf der Erde
befanden *).
Man sieht aber, daß die eben ausgeführte Theorie sich darauf
beschränkt, dieses Streben nach Unverändertheit so weit zu be¬
rücksichtigen, als es sich in jedem Augenblick beim einzelnen
Individuum durch dessen Verhalten äußert. Anstatt daher als
allzu einseitiger Ausgangspunkt für die Erklärung der Entwick¬
lung der Art zu dienen, bildet sie die erste Grundlage, von der
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Über die mnemon. Entstehung und die mnemon. Natur affekt. Neigungen. 9
Als Mittel der Unverändertheit für das Individuum ist dieses
Streben, seinen stationären physiologischen Zustand zu bewahren,
zwar eines der wichtigsten Mittel der Veränderung und des Fort¬
schrittes für die Art geworden, aber auf einem anderen als dem
von Quinton angegebenen Wege. Denn daraus entstand und
entwickelte sich die Bewegungsfähigkeit, die den größten,
wenn auch nicht absoluten Unterschied zwischen Tier- und Pflanzen¬
welt darstellt, und mit der die Entwicklung und Vervollkommnung
des gesamten Bewegungsapparates, wie auch des Sinnes- oder
Nervenapparates, die eine so wichtige Rolle bei den die verschie¬
denen Tierarten unterscheidenden Grundmerkmalen spielen, gleichen
Schritt gehalten hat.
Als Mittel individueller Unverändertheit hat es endlich durch
seine Wirkung auf den Menschen auch eines der hervorragendsten
Mittel der gesamten sozialen Entwicklung abgegeben; denn man
darf wohl sagen, daß technische Erfindungen und wirtschaftliche
Erzeugnisse, von den ersten Höhlen Wohnungen, den ersten als
Kleidung dienenden Tierfellen, der ersten Erfindung des Feuers
an bis zu den heutigen höchsten Errungenschaften stets mehr oder
weniger unmittelbar oder mittelbar einem einzigen Ziele zustrebten:
nämlich auf künstliche Weise die Umgebung * möglichst unver¬
ändert zu erhalten, was die notwendige und hinreichende Be¬
dingung für die Bewahrung der physiologischen Unverändertheit ist.
II.
Allein zu dieser jedem Organismus innewohnenden Grund¬
eigenschaft, die Bewahrung seines normalen physiologischen Zu¬
standes oder dessen Wiederherstellung, sobald er gestört wird,
anzustreben, gesellt sich noch eine andere Eigenschaft, die auch
ihrerseits zur Quelle neuer Affekte wird.
Sobald nämlich der frühere stationäre Zustand auf keine Weise,
d. h. durch keinerlei Bewegungen oder Ortsveränderungen, wieder¬
hergestellt werden kann, sucht der Organismus einen neuen statio-
nürpn 7,ns+sind anyiinphnum dpr mit aninpr npnpn AuRa-t»- lind
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10
Eagenio Rign&no,
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normaler Temperatur lebender Organismen auch in den heißesten
Quellen leben und gedeihen — gezeigt, daß Infusorien nach und
nach an immer höhere Temperaturen gewöhnt werden können,
so daß sie schließlich nach Jahre dauernder, langsamer Steigerung
des Wärmegrades so hohe Temperaturen aushalten, daß jedes
andere, nicht akklimatisierte Individuum darin untergehen würde.
Ebenso bekannt ist es, daß dieselben Arten von Protozoen sowohl
im Süß- wie im Salzwasser Vorkommen, und daß es möglich ist,
Amöben und Infusorien des Süßwassers allmählich an einen Salz¬
gehalt zu gewöhnen, der sie anfangs getötet hätte. Und der¬
gleichen mehr 1 ).
Für uns hat die Tatsache besonderes Interesse, daß die neuen
Verhältnisse der Umgebung, an die sich das Tier so allmählich
gewöhnt, mit der Zeit danach streben, sein »Optimum« zu werden.
»Die individuelle Anpassung (z. B. an einen anderen Salzgehalt)
geschieht nach dem Gesetze, daß der Dichtigkeitsgrad der Flüssig¬
keit, in der ein Individuum zu leben genötigt ist, mit der Zeit
danach strebt, die beste Lebensbedingung für dasselbe zu werden 2 ).«
Das ist sogar bei pflanzlichen Organismen beobachtet worden.
Die Plasmodien der Myxomycete, die getötet werden, wenn man
sie plötzlich in Glykoselösungen zu 1 oder 2 % bringt, und die
sich sogar aus Lösungen zu y 2 oder y 4 % zurückziehen, ge¬
wöhnen sich nach und nach an 2 #ige Lösungen, so daß sie, wie
ihr Verhalten beweist, ihre neue Umgebung der früheren, die keine
Glykose enthielt, vorziehen 3 ).
Die Diatomee Navicula brevis flieht regelmäßig auch das
schwächste Licht und sucht sich in dem dunkelsten Teile des
Wassertropfens, in dem sie beobachtet wird, zu bergen. Ist je¬
doch eine Kultur zwei Wochen lang dem hellen Licht eines
Fensters ausgesetzt worden, so zeigt sie dagegen die umgekehrte
Neigung, den hellsten Teil des Tropfens aufzusuchen, sobald man
1) Siehe z. B. C. B. Davenport and W. E. Castle, On the acclimati-
sation of organianis to high temperaturea. Archiv für Entw.-Mecb. der Or-
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Über die mnemon. Entstehung und die mnemon. Natur affekt. Neigungen. 11
diesen wieder in den früheren Zustand schwachen Lichtes zurück¬
versetzt ').
Die gemeine Aktinie (Actinia equina), die man oft an Felsen
haftend in allen möglichen Stellungen zur Richtung der Schwer¬
kraft findet, bald mit der Körperachse nach oben, bald nach
unten, bald nach der Seite, scheint sich an ihre Lage so zu ge¬
wöhnen, daß sie diese wiederanzunehmen strebt, wenn sie daraus
entfernt wird. Wenn man z. B. in verschiedenen Stellungen be¬
findliche Aktininien sammelt und in ein Aquarium setzt, »on
constate chez elles une tendance assez nette a reprendre, en se
fixant, la meme position que celle qu’elles avaient precedemment« 2 ).
Wir könnten zahlreiche andere Beispiele anführen. Hier kommt
es darauf an, sogleich deren Bedeutung klarzustellen. Sie be¬
weisen, daß der neue physiologische Zustand, der aus der An¬
passung an die neue Umgebung hervorgegangen ist, sich zu er¬
halten oder wiederherzustellen sucht, wenn er einmal eingetreten
ist und eine gewisse Zeit im Organismus angedauert hat. Dieses
Bestreben eines vergangenen physiologischen Zustandes, sich wieder
zu betätigen oder hervorzubringen, ist nichts anderes als das jeder
mnemonischen Akkumulation innewohnende Bestreben, sich selbst
wieder »hervorzurufen«. Es ist also ein Bestreben rein mnemo-
nischer Natur. Doch dann folgt auch daraus unmittelbar die
gleiche mnemonische Natur des Strebens nach physiologischer
Unverändertheit, von dem, wie wir oben sahen, die hauptsäch¬
lichsten organischen Neigungen sämtlicher Organismen herstammen.
Denn wenn nach den zuletzt angeführten Beispielen schon ein
völlig neuer und erst seit kurzem entstandener physiologischer
Zustand dennoch eine mnemonische Akkumulation von sich hinter¬
lassen kann, die ein deutliches Streben nach seiner Wieder¬
herstellung aufweist, so begreift man leicht, wie der normale
physiologische Zustand eben darum, weil er viel länger ange¬
dauert hat, ein um so stärkeres mnemonisches Streben besitzen
muß, sich, sobald er gestört wird, wiederherzustellen.
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Eugenio Rignano,
den allgemeinen physiologischen Zustand bildet, die Fähigkeit
voraus, eine »spezifische Akkumulation« von sich zu hinterlassen,
wie es allem Anscheine nach im Gehirn die nervösen Ströme tun,
von denen die verschiedenen Empfindungen gebildet werden, und
die einen mnemonischen Rückstand hinterlassen, der wieder in
Tätigkeit zu treten oder hervorgerufen zu werden vermag. Unter
»spezifischer Akkumulation« der verschiedenen nervösen Ströme
ist hier nur zu verstehen, daß eine jede Akkumulation fähig ist,
als »Entladung« einzig und allein diejenige Spezifizität des ner¬
vösen »Ladestromes« zu liefern, von dem diese Akkumulation
selbst hinterlassen wurde.
Die Ausdehnung dieser Fähigkeit der »spezifischen Akkumu¬
lation« auf alle physiologischen Erscheinungen überhaupt steht
im Einklang mit der Hypothese, welche eben die nervöse Energie
allen Lebenserscheinungen zugrunde legt. Wenn bei den eigent¬
lichen psychomnemonischen Erscheinungen der Vorgang der durch
»Entladung« oder Erregung des bezüglichen Zentrums hervor¬
gebrachten nervösen Energie in den Vordergrund tritt, während
die spezifischen physikalisch-chemischen mit dieser Entladung
verbundenen Erscheinungen im Hintergrund bleiben, so daß sie
bis vor kurzem überhaupt unbeachtet blieben, so wäre bei den
eigentlichen physiologischen Erscheinungen — gemäß der Grund¬
anschauung Claude Bernards von der Wesensgleichheit sämt¬
licher verschiedener Formen der Erregbarkeit der lebendigen Sub¬
stanz — nur dieser eine Unterschied des Grades, aber nicht des
Wesens vorhanden: nämlich das bedeutende Überwiegen der spezi¬
fischen physikalisch-chemischen, diebezügliche Erregung begleitenden
Erscheinungen (Muskelzusammenziehung, Drüsenabsonderung usw.),
während die spezifischen nervösen Erscheinungen , die gleichfalls
mit dieser physiologischen Tätigkeit verbunden sind, sich mehr
der Beobachtung entziehen. Auf diesem Wege haben wir eben
in anderen Schriften gesucht, die mnemonische Grundeigenschaft
jeder lebendigen Substanz zu erklären, die in den letzten Jahren
hauptsächlich durch Herine:, Semon und Francis Darwin hervor-
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Über die mnemon. Entstehung und die mnemon. Natur affekt. Neigungen. 13
Durch diese Ausdehnung der mnemonischen Fähigkeit auf
sämtliche elementare physiologische Erscheinungen gewinnt man
also nun eine somatische oder viszerale Theorie von den
affektiven Grundbestrebungen, in dem Sinne, daß das
Streben nach physiologischer Unverändertheit oder Wieder¬
herstellung des einen oder anderen früheren physiologischen Zu¬
standes, welcher der einen oder anderen früheren Umgebung ent¬
spricht, von zahllosen elementaren, an jedem Punkte des Soma
verschiedenen spezifischen Akkumulationen abhängig ist, deren
gesamte potentielle Energie gewissermaßen eine nach derjenigen
Umgebung oder denjenigen Beziehungen zur Umgebung hin »gravi¬
tierende Kraft« bilden würde, welche die Bewahrung oder Wieder¬
herstellung des von all diesen elementaren Akkumulationen dar¬
gestellten zusammengesetzten physiologischen Systemes ermöglichen.
Natürlich hätte sich allmählich in den mit einem Nervensystem
ausgestatteten Organismen zu jeder dieser affektiven Bestrebungen
rein somatischen Ursprunges und Sitzes als ihre Mitwirkerin und
manchmal ihre Vertreterin diejenige affektive Bestrebung gesellt
und neben ihr entwickelt, die durch die entsprechenden mnemo¬
nischen Akkumulationen dargestellt wurde, welche in jener be¬
sonderen Zone des Nervensystems zurückgeblieben waren, die sich
mit den bezüglichen Punkten des Soma in unmittelbarer Verbindung
fand. Beim Menschen z. B. wäre diese Zone Flechsigs »Körper-
ftihlsphäre«, zu der in gewissen Fällen noch die Stirnzone hinzu¬
kommen würde 1 ).
Nachdem nun einmal diese mnemonischen Gehirnakkumulationen
so unter der unmittelbaren somatischen Wirkung entstanden waren,
hätten sie zuletzt das Vermögen erlangt, auch allein, nach Unter¬
brechung aller Verbindungen mit dem Soma, die affektive Be¬
strebung darzustellen, der sie früher ihren Ursprung verdankten.
Und zwar geschah dies infolge der beiden mnemonischen Grund-
Gedächtniserscheinung und die Lebenserscheinung. Leipzig, Wilhelm Engel¬
mann, 1907; franz. Ausgabe, Paris, Alcan, 1906; ital. Ausgabe, Bologna,
Zanichelli, 1907. — Die Zentroepigenese und die nervöse Natur der LebenB-
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Eagenio Rignano,
gesetze, die eben aus der Tatsache hervorgehen, daß jede elementare
spezifische Akkumulation, wenn sie sich einmal abgesetzt hat,
einer selbständigen Existenz fähig wird. Wir meinen die Gesetze
der allmählichen Unabhängigkeit des Teiles vom Ganzen
und des Eintretens des Teiles für das Ganze. Daher
empfand beispielsweise Sherringtons »Spinalhund« noch immer
denselben Abscheu vor dem Fleisch anderer Hunde, und andere
ähnliche Affekte, wie auch dieselben Erregungen, genau wie ein
normaler Hund, obgleich sie sämtlich unzweifelhaft phyletischen
somatischen Ursprunges sind 1 ).
Doch diese Mitwirkung und diese Möglichkeit eines etwaigen
Eintretens der affektiven Bestrebung, deren Sitz das Gehirn ist,
an Stelle der entsprechenden affektiven Bestrebung somatischen
Ursprungs ändert nichts daran, daß erstere gewöhnlich auch jetzt
noch von der letzteren vollständig geleitet wird. Daher gibt die
neuere Psychologie allgemein zu, das Affektleben habe »sa cause
en bas, dans les variations de la conesthesie, qui est elle-meme
une resultante, un concert des actions vitales« 2 ).
Und sie ändert auch nichts daran, daß die affektiven Neigungen
sämtliche Grundeigenschaften bewahren, die sie ihrem mnemonisch-
viszeralen Ursprung verdanken.
Darunter sind die hauptsächlichsten, daß sie einen »diffusen«
Sitz haben, und zweitens, daß sie in hervorragendem Maße »sub¬
jektiv« sind.
Denn jedes physiologische System, das in der inneren Masse
des Soma entsteht und sich zu seiner Umgebung ins Gleichgewicht
und in stationären Zustand setzt, durchdringt eben dadurch den
gesamtem Organismus und infolgedessen auch den ganzen Teil des
Gehirns, in dem sich dieser Organismus spiegelt. Also im Gegen¬
satz zu den mnemonischen Sinnesakkumulationen, von denen jede
allem Anscheine nach einen auf einen einzigen Punkt oder auf ein
einziges Zentrum der Gehirnrinde deutlich lokalisierten Sitz hat,
haben wir allen Grund zu der Folgerung, daß jede affektive
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Über die mneraon. Entstehung und die mnemon. Natur afTekt. Neigungen. 15
Neigung von einer unendlich großen Zahl verschiedener elemen¬
tarer mnemonischer Akkumulationen gebildet wird, die sich be¬
ziehungsweise an jedem Punkte des Soma und an jedem ent¬
sprechenden Punkte des Gehirns abgesetzt haben.
Und dieser mnemonisch-physiologischen Entstehung verdanken
endlich die affektiven Neigungen auch ihren hervorragend »sub¬
jektiven« Charakter; denn der Organismus wird potentiell mit
diesen oder jenen »idiosynkrasischen« affektiven Neigungen, mit
dieser oder jener »Sehnsucht« ausgestattet, je nach den verschie¬
denen Umgebungen, oder den verschiedenen besonderen Beziehungen
zur Umgebung, denen die Art und das Individuum längere oder
kürzere Zeit in der Vergangenheit ausgesetzt waren, mit anderen
Worten: je nach ihrer besonderen Geschichte.
Daher die »Subjektivität« und unendliche Verschiedenheit, die
sich in den Bedürfnissen, in den Gelüsten, in den Wünschen kund¬
tut, und infolgedessen bei allem, was den Gegenstand »affektiver
Wertschätzung« ausmacht.
III.
Die eben ausgeführte Hypothese von der mnemonischen Natur
aller affektiven Neigungen überhaupt wird noch durch andere Bei¬
spiele mehr eigenartiger Affekte bestätigt, die auch auf dem Wege
der »Gewohnheit« entstanden sind, jedoch ganz besonderen Be¬
ziehungen zur Umgebung entsprechen, die nur den einen oder
anderen Teil des Organismus betreffen, und nur eine periodische
oder irgendwie unterbrochene Tätigkeit bekunden. Sie sind nament¬
lich bei höheren Tieren und besonders beim Menschen vorhanden.
Als typisches Beispiel brauchen wir nur die Mutterliebe zu wählen.
Die Gewohnheit gewisser Beziehungen des Parasitismus oder
Zusammenlebens, überhaupt der Symbiose, mit den Nachkommen,
die eine lange Reihe von Generationen hindurch andauerte, hat
sich hier offenbar auf mnemonischem Wege nach und nach in
affektive Neigung zu diesen Beziehungen verwandelt.
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Eugenio Rignano,
tend a 8’etablir une position definitive d’equilibre mutua-
liste *).«
Dies gilt z. B. für die Beziehungen innerer Inkubation. Zuerst
vom Embryo selbst in irgendeiner Phase seiner Entwicklung zum
Zwecke seiner Ernährung oder anderer ihm daraus erwachsender
Vorteile hervorgerufen und von einem der Eltern, sei cs dem Vater
oder der Mutter, zuerst nur geduldet, gestalten sie sich zuletzt für
den Vater oder die Mutter zu wirklichen »Bedürfnissen«.
Dies gilt ebenfalls für die Beziehungen äußerer Inkubation (des
Brütens), die zuerst zufällig infolge irgendeines besonderen Um¬
standes entstanden und auf diese Weise zur Gewohnheit wurden.
Die Zuneigung, die beispielsweise das Weibchen der Spinne
Chiracanthium carnifex zu ihrem Neste bekundet, gleichviel
ob es ihr eigenes, oder ein von ihr in Besitz genommenes ist,
wächst mit der Zeit, also mit der Dauer ihres Aufenthaltes
darin. Die »Mutterliebe« scheint daher bei dieser Spinne im
Grunde nichts anderes als ihre »Anhänglichkeit« zu einem ihr zur
Gewohnheit gewordenen Wohnsitz zu sein 2 ).
Ebenso verhält es sich mit dem Brüten der Vögel und einiger
Reptilien, das zuerst jseine Entstehung der angenehmen Empfin¬
dung verdankte, die die Berührung der frischen Eier bei dem das
Eierlegen begleitenden Fieberzustand hervorbringt, das aber zuletzt
durch die Gewohnheit zu einer an sich instinktiven Neigung ge¬
worden ist 3 ).
Was schließlich das Säugen anlangt, so haben die Jungen die
Schweißdrüsen der sie bedeckenden mütterlichen Brust durch ihr
Saugen nach und nach zu Milchdrüsen umgestaltet und zugleich
die Mutter so an diese Saftentleerung gewöhnt, daß sich mit der
Zeit ein wirkliches und eigentliches Bedürfnis nach Milch¬
entziehung bei ihr herausbildete. »Chez les mammiferes« — wir
geben wieder Giard das Wort — »c’est dans le phenomäne de
la lactation et de Tallaitement qu’il faut chercher l’orgine des
rapports de Symbiose mutualiste qui unissent la mere ä l’enfant.
Les troubles physiologiques de la grossesse et de la parturition
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1' A C i a r (1
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Tao nricrinou dn Vomrmr
mutornol Poviio Hab THaab
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Über die mnemon. Entstehung und die mnemon. Natur affekt. Neigungen. 17
amenent, parmi d’autres eftets trophiques fort curieux, une hyper-
secretion des glandes mammaires, qui ne aont, comme on aait,
qn’nne localiaation speciale des glandea sebacees de la peau. Le
petit, en lechant et su^ant cette secretion dont il tire sa premiere
nourriture, produit un Soulagement de la gene eprouvee par la
femelle. II devient par la pour sa mere un Instrument de bien-etre 1 ).«
Daß das Bedürfnis nach Milchentziehung der Ursprung der Mutter¬
liebe ist, beweist die Tatsache, daß die Mutter, die ihrer Jungen be¬
raubt ist, sich andere Säuglinge an deren Stelle zu verschaffen sucht.
»Le besoin de se debarrasser d’une secretion genante est assez
puissant pour determiner parfois la femelle qu’on a privee de ses
petits ä voler la progenitnre d’une autre femelle, et ces rapts de
progeniture ont ete constatcs meme chez des femelles qui allaitaient
encore leurs propres enfants, la satisfaction d’un besoin les portant,
comme cela arrive generalement, a la recherche d’une satisfaction
plus grande et pouvant aller jusqu’ä l’excös 2 ).
Bei den von Lloyd Morgan beobachteten Fällen nimmt dieses
Bedürfnis nach Milchentziehung die Gestalt der um die Ernährung
der Jungen besorgten Mutterliebe an, und mag vielleicht tatsäch¬
lich einen Anfang uneigennütziger Zuneigung zu ihnen darstellen.
»Ich habe Hirschkühe und Katzen sich so aufrichten und wieder
niederlegen sehen, daß ihre Zitzen unmittelbar mit dem Maule
jedes ihrer Jungen, das sie nicht allein finden konnte, in Berührung
kamen. Ist ein Lamm zu schwach, um selbst die Zitze zu finden,
so sucht das Mutterschaf nicht selten mit Hilfe der Schultern, des
Kopfes und des Halses, die es als Hebel benutzt, das Junge auf
die Beine zu bringen. Ist das geschehen, so beugt sich das Schaf
Uber ihr Lamm und bringt ihre Zitzen an dessen Lippen, was so
oft wiederholt wird, bis das Junge zu saugen anfängt 3 ).«
Dies Beispiel ist sehr bezeichnend; denn es geht deutlich
daraus hervor, wie das Bedürfnis nach Milchentziehung damit
enden mußte, eine Zuneigung zum Säugling, als dem gewöhnlich
zur Erreichung dieses Zweckes dienenden Mittel, zu erwecken,
ererade wie das Bedürfnis nach Entfernung der Keimsubstanz. wie wir
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Engenio Rignano,
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Und gerade ebenso wie nach Entfernung der Keimsubstanz die
»geschlechtliche Anziehung« aufhört, so ist auch die »Mutterliebe«
nicht mehr vorhanden, sobald das Bedürfnis nach Milchentziehung
sich nicht mehr fühlbar macht. »L'affection maternelle ne survit pas,
en general, aux causes qui l’ont fait apparaitre et Ton n’en trouve
plus que des traces tres vagues une fois la lactation terminee J ).«
Endlich wird auch durch die Tatsache, daß die mütterliche
Liebe stärker als die väterliche, und die Liebe der Eltern zu den
Kindern stärker als die der Kinder zu den Eltern ist, die Hypo¬
these bestätigt, daß alle diese Affekte ausschließlich auf dem
Wege der Gewohnheit entstanden sind; denn sie beweist, daß die
Zuneigung zu den Wesen, zu denen man gewisse Beziehungen hat,
um so stärker ist, je zahlreicher und länger diese Beziehungen
sind. »Dans l’animalite prise d’ensemble«, bemerkt Ribot,
»l’amour paternel est rare et peu stable, et chez les representants
inferieurs de l’humanite c’est un sentiment bien faible et d’un lien
bien lache.« Väterliche Liebe findet man nur bei festen geschlecht¬
lichen Verbindungen, wo das Zusammenleben »cree un courant
d’affection qui est en raison des Services rendus« 2 ).
»Tout le monde reconnait«, bemerkt seinerseits Pillon, »que
l’amour des parents pour leurs enfants l’emporte en intensite sur
l’amour des enfants pour leurs parents et que, du pere et de la
mere, c’est celle-ci qui a le plus d’amour pour l’enfant». — »C’est
que, chez la m&re, en raison de ses fonctions speciales, l’amour
pour l’enfant est nourri et accru, beaucoup plus qu’il ne Test chez
le pere, par les actes continuels qu’il determine 3 ).«
Doch die Mutterliebe, wie überhaupt die gegenseitige Liebe der
Familienmitglieder, die also gewissen zur Gewohnheit gewordenen
Beziehungen so ihre Entstehung verdankt, stellt nur einen einzelnen
Fall eines ganz allgemeinen Gesetzes dar. Denn jede andere,
noch so eigenartige Beziehung zu Sachen oder Menschen, die auch
nur in geringem Maße zur Gewohnheit wird, erscheint endlich
eben dadurch als etwas »Erwünschtes«. Bei jeder allgemeinen
oder besonderen Beziehung zur Umgebung bewährt sich somit
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Über die mnemon. Entstehung und die mnemon. Natur affekt. Neigungen. 19
welches dieser Forscher auch für jeden Reiz feststellte, an den man
gewöhnt ist, und dessen Auf hören das »Bedürfnis« danach erweckt 1 ).
»Ich habe eine kleine Uhr im Zimmer« — so schrieb z. B.
an G. E. Müller ein Freund —, »die nicht ganz 24 Stunden
durch einmaliges Aufziehen geht. Es kommt daher öfter vor, daß
sie stehen bleibt. Sobald das eintritt, werde ich darauf aufmerk¬
sam, während ich sie natürlich gar nicht gehen höre. Anfangs
mit einer Modifikation: es passierte mir, daß ich nur plötzlich
eine ganz unbestimmte Unruhe Uber eine gewisse Leere
empfand, ohne sagen zu können, was fehle. Erst bei einigem
Besinnen fand ich den Grund in dem Stehen meiner Uhr« 2 ).
Übrigens hat wohl jeder von uns Gelegenheit gehabt, zu be¬
obachten, wie anfangs unliebsame Dinge durch Gewohnheit zu an¬
genehmen gestaltet werden, und wie gewisse im Laufe des Lebens
angenommene Gewohnheiten für die Menschen zu ebenso unab¬
weisbaren »Bedürfnissen« wie die »natürlichen« Bedürfnisse werden:
»Raucher, Schnupfer oder Tabakskauer liefern bekannte Beispiele
dafür, wie das lange Andauern einer anfänglich nicht angenehmen
Empfindung diese zu einer angenehmen macht, obgleich doch die
Empfindung dieselbe bleibt. Dasselbe geschieht bei verschiedenen
Speisen und Getränken, die zuerst Widerwillen erregen, später
aber nach häufigem Genuß wohlschmeckend werden 3 ).«
Daher die »Sehnsucht« nach allen gewohnten Dingen, die uns
plötzlich fehlen: »II se produit chez certains animaux un etat
assimilable ä la nostalgie, se traduisant par un besoin violent de
retourner aux lieux d’autrefois, ou par un lent deperissement qui
resulte de l’absence des personnes et des choses accoutumees 4 ).«
Deshalb genügt z. B. schon die bloße Gewohnheit, damit bei
Tieren und beim Menschen, wie wir schon bei der Familienliebe
gesehen haben, ähnliche Neigungen, nur von weit größerem Um¬
fange, entstehen und feste Wurzel fassen, wie herdenweises Bei¬
sammensein (»gregariousness«), Geselligkeit, Freundschaft und
1) A. Lehmann, Die Hauptgesetze des menschlichen Gefühlslebens.
S. 194 ff. Leipzig, Reisland, 1892.
2i G. E. Müller. Zur Theorie der sinnlichen Aufmerksamkeit. S. 128.
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Eugenio Rignano,
dergleichen: »Das Wahrnehmen gleichartiger Wesen, die fortwährend
gesehen, gehört und gerochen werden, bildet schließlich einen
vorherrschenden Teil des Bewußtseins, so vorherrschend, daß deren
Fehlen notwendigerweise Unbehagen erweckt 1 ).«
Endlich ist auch der mächtige Einfluß der Lebensgewohnheiten
bekannt, die im zufälligen Familienkreise während der ersten
Jugendjahre angenommen werden — der Erziehung (»nurture«)
im weiten Sinne, wie Galton sagen würde —, indem daraus Ge¬
fühle und sittliche Neigungen entstehen und sich entwickeln, die
sich dann für das ganze Leben unauslöschlich cinprägen, als
wären sie »angeboren« 2 ).
Kurz, wir sehen aus diesen wenigen, nur zur Erläuterung unserer
Behauptung angeführten Beispielen, welch tiefe Wahrheit in dem
Sprichwort enthalten ist, das in der Gewohnheit »eine zweite
Natur« erblickt.
Wenn wir aber gewissermaßen so vor unseren Augen das Ent¬
stehen der verschiedensten Neigungen auf dem Wege der Gewohn¬
heit beobachten können, so dürfen wir auch mit vollem Recht
sämtlichen affektiven Neigungen einen gleichen mnemonischen Ur¬
sprung beimessen, da das Wesen der »angeborenen« Neigungen
in nichts von dem Wesen der »erworbenen« Neigungen abweicht.
In ganz ähnlicher Weise hält sich der Lamarckismus für berech¬
tigt, in bezug auf die morphologische Entwicklung aus den wenigen
Fällen im Leben erworbener Anpassungen, die beobachtet werden
konnten, den Schluß zu ziehen, daß der gesamte Bau des Orga¬
nismus auch nur einer unendlichen Anzahl ähnlicher funktioneller
Anpassungen sein Dasein verdanken kann.
Wir dürfen also das obige Sprichwort durch den Zusatz er¬
gänzen, daß umgekehrt die »Natur« nichts anderes ist, als eine
»erste Gewohnheit«.
IV.
Die Hypothese von der mnemonischen Entstehung und Natur
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Über die mnemon. Entstehung nnd die mnemon. Natnr affekt. Neigungen. 21
ist, nnd zur Folge hat, daß von den Affekten unmittelbar
mnemonischen Ursprungs andere herstammen, die somit in¬
direkt mnemonische Entstehung haben. (Ribots »loi de trans-
fert«.)
Denn infolge des bereits mehrfach erwähnten »Eintretens des
Teiles ftir das Ganze« — einer mnemonischen Grundeigenschaft —
geschieht es, daß bloße Teile oder Fragmente gewisser Beziehungen
zur Umgebung, die anfänglich in ihrer Gesamtheit angestrebt
wurden, oder daß »analoge« Umgebungsbeziehungen, d. h. solche,
die nur zum Teil den gewünschten ähnlich sind, oder daß Um¬
gebungsbeziehungen, welche geeignete »Mittel« zur Erreichung
eines »Zieles« bilden, daher dessen notwendige Vorgänger sind,
oder endlich, daß Umgebungsbeziehungen, welche• dieses »Ziel«
beständig begleiten, denselben Affekt erregen, wie das ursprüng¬
liche »Ziel« selbst. Dieser Affekt »überträgt sich« also vom
Ganzen auf den Teil. Und diese Zuneigung zu dem Teile wird
dann um so stärker dadurch, daß diese partielle Beziehung, die
zuerst als Ersatz ftir das Ganze angestrebt wurde, zuletzt auch
ihrerseits eine gewohnte Beziehung zur Umgebung bildet,
daher um ihrer selbst willen gewünscht oder angestrebt wird, auch
abgesehen von der wirklichen und eigentlichen affektiven »Über¬
tragung«.
So ist es z. B., wie wir bereits erwähnten, mit der Begattung
zugegangen, als dem gewohnten Mittel zur Entfernung der Keim¬
substanz, und dann mit den untergeordneten geschlechtlichen Be¬
ziehungen, als Erscheinungen, die gewöhnlich die Begattung be¬
gleiten. Die »Eroberung« des anderen Geschlechtes, die auch
nur ein unerläßliches Mittel zur Befriedigung des Geschlechts¬
hungers bildet, ist schließlich bei gewissen Individuen eben¬
falls ihr Selbstzweck geworden; die Lust am Verführen um der
Verführung willen, die »geschlechtliche Eitelkeit« sowohl beim
männlichen wie beim weiblichen Geschlechts und die an¬
deren ähnlichen Neigungen gehen als weitere Folgen daraus
hervor.
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alle Zeichen der Niederlage des Opfers gewähren, seine vergeb¬
lichen Anstrengungen und sein Todeskampf« l ).
Und als Folgen weiterer »Übertragungen« ergeben sich daraus
beim Menschen der Wunsch des Sieges um seiner selbst willen,
die Herrschsucht, die Machtbegierde, das Verlangen nach Ruhm
und Ruf, das Streben, seine Nebenmenschen zu tibertreffen.
In diesen und allen anderen ähnlichen Fällen »affektiver Über¬
tragungen« auf Beziehungen zur Umgebung, die immer weniger
materiell und immer mehr sittlichen Gehaltes werden, ist außer
der wirklichen und eigentlichen »affektiven Übertragung«, die den
Teil zu einem neuen Ziele umgestaltet, stets bei höheren Tieren
und beim Menschen noch die Mitwirkung ihrer Verstandes¬
entwicklung vorhanden.
Denn der Verstand entdeckt immer neue unvermutete Ähnlich¬
keiten zwischen den verschiedensten Erscheinungen, auch zwischen
stofflichen und sittlichen, indem er so auf die einen dieselben
Affekte ausdehnt, die für die anderen galten. Gerade wie wenn
der Ekel vor gewissen Speisen, die der Geschmack oder der Ge¬
ruch als ungesund kennzeichnet, sich auf gewisse Gegenstände
erstreckt, die nur gefühlt oder gesehen werden (schleimige Körper),
und dann, indem die Analogie noch weiter ausgedehnt wird, sogar
auf einfache »Gegenstände« oder Beziehungen sittlicher Ordnung 2 ).
Zugleich gelingt es dem Verstände, indem er mit immer
schärferem Blicke die in der Zukunft zu erwartenden äußeren
Erscheinungen voraussieht, fortwährend neue, immer indirektere
und zusammengesetztere Mittel zur Erreichung der Ziele zu er¬
sinnen, und damit der »affektiven Übertragung« einen immer
weiteren Wirkungskreis zu eröffnen. Die Waffe z. B., dieses vom
Menschen zum Zweck der Selbsterhaltung erfundene Mittel, bat
dem Krieger und dem Jäger jene affektive Übertragung auf sich
ermöglicht, die für beide typisch ist; und die Erde, die der Acker¬
bau zum Mittel der Ernährung gestaltete, hat jene heftige Liebe
zu ihr möglich gemacht, die man oft beim Bauer findet.
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Über die mnemon. Entstehung und die mnemon. Natur affekt. Neigungen. 23
affektive Neigungen unbefriedigt bleiben. So erzeugt z. B. die
Voraussicht künftigen Hungers auch bei dem gesättigten Menschen
die Neigung, übrig gebliebene Speisen aufzubewahren und »in
seinem Besitz« zu behalten, und erweckt dann überhaupt das
»Eigentumsgeftihl«, ebenso wie das Voraussehen der zahllosen
anderen Wünsche, die der heutige Kulturmensch hegen kann, in
ihm so heftig das Verlangen nach Reichtum, die Gewinnsucht und
ähnliches erregt 1 ).
Endlich ermöglicht der Verstand jene unendliche Mannigfaltig¬
keit der »Abschattungen«, deren die affektiven Neigungen beim
Menschen fähig sind. Denn da er imstande ist, jedes auch nur
einigermaßen verwickelte UmgebungsVerhältnis gleichzeitig, oder
fast gleichzeitig, unter verschiedenen Gesichtspunkten zu
betrachten, so vermag er zu gleicher Zeit mannigfache Affekte
hervorzurufen: und diese bringen dann — um mit Bain zu reden —
durch Anreihung, Verbindung, Zusammenfließen, Dazwischen treten,
oder gegenseitige Ausschließung zuletzt einen überaus komplizierten
resultierenden Affekt zustande, welcher daher fähig ist, von Fall
zu Fall, je nach Zahl und Beschaffenheit seiner Komponenten,
die denkbar feinsten Abstufungen aufzuweisen.
Aus dem Selbsterhaltungstrieb in seiner rein defensiven Gestalt
hatte sich z. B. schon bei den Tieren das Gefühl der Furcht, die
Ängstlichkeit und ähnliches entwickelt. Beim Menschen veran¬
laßt er auch alle versöhnenden Affekte in zahllosen Verschieden¬
heiten nnd Abschattungen: Fußfall, Demut, Heuchelei, Schmeichelei
und dergleichen. Auch das religiöse Gefühl ist in seinen niedrigsten
Formen eine unmittelbare Folge dieses versöhnenden Affektes.
Das höhere religiöse Gefühl und das damit verwandte Gefühl für das
Erhabene sind dessen weitere, noch vollendetere Umgestaltungen 2 ).
Aus dem Selbsterhaltungstrieb in seiner doppelten, zugleich
offensiven und defensiven Gestalt hatte sich ferner bei den höheren
Tieren schon der Trieb zum Angriff und zu all den verschiedenen
Arten des Gegenangriffs herausgebildet. Beim Menschen hat dieser
Trieb die verschiedensten Gestalten und Abschattungen annehmen
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von der Raubsacht bis zum bloßen Neide, vom heftigsten Rache¬
durst bis zum leisesten Unwillen. Das hohe Gefühl für »Gerech¬
tigkeit« ist dessen entfernter, kaum noch kenntlicher Ersatz 1 ).
Welch hoher Grad der Komplizierung so erreicht werden kann,
beweist z. B. die Mutterliebe, die sich von dem rein körperlichen
Bedürfnis nach Milchentziehung zu den zärtlichsten Gefühlen
edelster Selbstverleugnung erhebt, und namentlich die Gattenliebe,
die sich aus dem rohen,, tierischen Geschlechtshunger zu einem
harmonischen Zusammenwirken der zartesten und sanftesten sitt¬
lichen Affekte gestaltet 2 ).
Doch es wäre, wie man leicht begreift, nutzlos und unmöglich,
hier noch länger bei der Untersuchung aller Affekte und Ab¬
schattungen von Affekten zu verweilen, die auf diese Weise bei
den höheren Tieren und namentlich beim Menschen zur Entstehung
und zur Entwicklung gelangt sind. Obige wenige Hinweise mögen
genügen, um es verständlich zu machen, daß, sobald einmal der
Organismus auf direktem mnemonischem Wege einen Vorrat affek¬
tiver Neigungen erlangt, und der Verstand die geeignete Entwick¬
lung erreicht hat, die Zahl der Affekte, die daraus durch »Über¬
tragung« oder »Verbindung«, also auf indirektem mnemonischem
Wege hervorgehen können, unendlich ist.
V.
Wenige Worte werden nunmehr hinreichen, um die Stelle zu
bezeichnen, welche den affektiven Neigungen unter jenen psychischen
Grunderscheinungen zukommt, die am engsten damit verbunden
sind, wie die »Gemütsbewegungen«, der »Wille« und die Zustände
der »Lust« und des »Schmerzes«.
»Gemütsbewegungen« sind nur plötzliche und heftige Be¬
tätigungsarten jener Akkumulationen von Energie, aus denen eben
die affektiven Neigungen bestehen.
Natürlich ist es nicht immer möglich, die affektiven Neigungen
von den Gemütsbewegungen deutlich zu unterscheiden, da erstere,
solange sie in potentiellem Zustande bleiben, weder objektiv noch
subjektiv wahrnehmbar sind, sondern es erst bei ihrer Betätigung
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Über die mnemon. Entstehung und die mnemon. Natur aftekt. Neigungen. 25
werden, die, wenn sie plötzlich und heftig erfolgt, eben die ent¬
sprechende Gemütsbewegung darstellt. Doch die Wichtigkeit und
Notwendigkeit, genau zwischen Gemütsbewegungen und affektiven
Neigungen zu unterscheiden — eine Unterscheidung, die jedoch
gewöhnlich von den meisten Psychologen völlig vernachlässigt
wird —, ergibt sich daraus, daß ein und dieselbe affektive Neigung,
je nach den äußeren Umständen, die allerverschiedensten Gemüts¬
bewegungen, deren verschiedenste Abstufungen, und allenfalls auch
gar keine eigentliche Gemütsbewegung hervorzurufen vermag.
Sehen wir z. B. von fern einen Wagen auf uns zukommen, so
weichen wir ihm mit Ruhe aus; erscheint er dagegen plötzlich an
einer jähen Straßenwendung vor uns, so fühlen wir eine starke
Gemütserschütterung. Und ein und dieselbe affektive Neigung
des Hundes zu einem Stück Fleisch kann je nach den Umständen,
durch die sein leckeres Mahl in Gefahr kommt, seine Flucht,
seinen Zorn, oder das vorsichtige, kaltblütige Aufsuchen eines
sicheren Versteckes veranlassen.
Kurz, jede Gemütsbewegung, wie Stout richtig hervorhebt,
setzt immer ein affektives Streben voraus; aber das Umgekehrte
trifft nicht zu, denn eine affektive Bestrebung kann, auch wenn
sie sich schon betätigt, jeder Gemütsbewegung ermangeln 1 ).
Jede affektive Neigung »treibt« zur Handlung; d. h. sie ist es,
welche die Bewegungsorgane »anläßt«, entweder unmittelbar, wie
bei den niederen, oder mit Hilfe des Nervensystems, wie bei den
höheren Organismen; sie erscheint daher gleich vom ersten Augen¬
blick ihrer Betätigung an als eine »Bewegung im Entstehungs¬
zustande« (Ri bot).
Erfolgt ihre Betätigung plötzlich und heftig, so tritt zur Tätig¬
keit der Bewegungsmuskeln auch die Tätigkeit aller Eingeweide
hinzu. Diese »viszerale Mitwirkung«, die sich so bei den eigent¬
lichen Gemütsbewegungen geltend macht, erklärt sich nicht sowohl
daraus, daß die Schnelligkeit und Heftigkeit, mit der die Muskeln
in Bewegung gesetzt werden, sofort eine gesteigerte Tätigkeit der
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26 Eugenio Rignano,
die, ganz plötzlich in großer Menge ausgelöst, wie eine Überflutung
wirkt, und sich in zahlreiche andere Bahnen, als nur die eng mit
dem Bewegungsapparate verbundenen, ergießt *).
Und diese infolge eines plötzlichen heftigen Antriebes so hervor¬
gebrachte »Erschütterung« der Eingeweide findet — nach James’,
Langes und Sergis bekannter Theorie — ihren zentripetalen
Widerhall im Gehirn in Gestalt einer »Gemütsbewegung« 2 ).
Nicht die Gemütsbewegung ist es also, die »uns treibt«,
wie infolge der obenerwähnten, nicht genug zu bedauernden Ver¬
wechslung zwischen affektivem Streben und Gemütsbewegung auch
Sherrington behauptet; sondern »uns treibt« das affektive
Streben, und die Gemütsbewegung ist nur der Rückschlag einer
zu raschen und heftigen Betätigung dieses Strebens.
Geschieht dagegen die Betätigung des affektiven Strebens, in¬
folge äußerer Verhältnisse oder der psychischen Verfassung des
Individuums, weder zu plötzlich, noch zu heftig, so kann es Vor¬
kommen, daß nur die durchaus dazu notwendigen Muskeln ohne
jede Gemütsbewegung in Tätigkeit treten. Die affektive Neigung
liefert dann bei ihrer Entladung eine um so größere Arbeitsleistung,
je kleiner der Teil ist, der bei den wirren und nutzlosen Be¬
wegungen rein emotiver Bedeutung verloren geht. Darum sind es
gerade meist die »erregungsunfähigen« Individuen, bei denen man
die größte Willensfestigkeit, die zäheste Ausdauer beim Handeln,
die angestrengteste und fieberhafteste Tätigkeit wahrnimmt 3 ).
Was den »Willen« anlangt, so hat man einen »Willensakt«,
so oft ein affektives Streben nach einem künftigen Ziel einem
affektiven Streben nach einem gegenwärtigen Ziel siegreich ent¬
gegentritt, also so oft ein weitblickender Affekt Uber einen kurz¬
sichtigen den Sieg davonträgt. Wer nach langem Laufen keuchend
und schweißtriefend zur Quelle stürzt, um gierig daraus zu trinken,
begeht keinen Willensakt; wohl aber, wer aus Furcht vor künf¬
tigen größeren Übeln es unterläßt, seinen glühenden Durst zu
löschen. Ebensowenig ist es ein Willensakt, wenn sich ein
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1) Siehe Sherrington, The integrative action of the nervous syBtem.
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Über die mnemon. Entstehung and die mnemon. Natur affekt. Neigungen. 27
ermüdeter Wanderer zur Ruhe niederwirft; wohl aber, wenn ein
Bergsteiger seine Ermattung oder seine Schlaffheit überwindet,
um den ersehnten Gipfel zu erreichen. Und was eine große
»Willenskraft« erfordert, ist nicht etwa das Benehmen eines
Menschen, der, dem augenblicklichen Drange folgend, bei der ge¬
ringsten Beleidigung sich mit Schimpfworten und Faustschlägen
auf den Gegner stürzt, sondern die Handlungsweise desjenigen,
der seinen gerechten Unwillen zügelt, um kaltblütig bis in die
fernsten Folgen das zweckmäßigste Verfahren zu berechnen, das
gegen den Beleidiger einzuschlagen ist 1 ).
Der »Wille« ist also im Grunde nichts anderes als eine wirk¬
liche und eigentliche affektive Bestrebung, die andere affektive
Bestrebungen hemmt, weil sie weitblickender ist, und die auch
ihrerseits, wie jede überhaupt, zum Handeln »treibt«. »In der
Willenstätigkeit«, sagt Maudsley, »ist stets irgendein Wunsch
nach einem zu erzielenden Guten, oder einem zu vermeidenden
Übel vorhanden, der ihr ihre Triebkraft verleiht (which imparts
its driving force)« 2 ).
Hier verdienen, so scheint es uns, zwei äußerste Fälle hervor¬
gehoben zu werden, welche alle übrigen in sich schließen, und
deren ersterer wiederum eine Zweiteilung zuläßt.
Zuweilen ist eine der affektiven Neigungen so stark und so
andauernd, daß sie in jedem Augenblicke jede andere Uberwiegt;
sie hemmt sie, wenn sie ihr widerspricht; sie verstärkt sie, wenn
sie mit ihr Ubereinstimmt. Eine solche »hypertrophisierte« affek¬
tive Neigung heißt »Leidenschaft« (Ribot, Renda); ist sie auf
ein gegenwärtiges Ziel gerichtet, so pflegt man zu sagen, daß sie
»den Willen vernichtet«, weil sie der hemmenden Wirkung jeder
anderen weitblickenden affektiven Neigung stets siegreich wider¬
steht; ist sie dagegen auf ein fernes Ziel der Zukunft, auf ein
»Ideal« gerichtet, dessen Erreichung vielleicht das Werk eines
ganzen Lebens erfordert, dann sagt man, das Individuum sei »aus¬
dauernd«, »hartnäckig«, »unbeugsam«, »mit eisernem Willen« be¬
jaht wpil iedpfl andprp Pnto-Pfrpno'PHPtT+p pin <ypo'Pnwärti*>oa 7Ae\
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28
Eugenio Rignano,
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In anderen Fällen dagegen halten sich die beiden sich be¬
kämpfenden affektiven Neigungen die Wage. In einem gewissen
Augenblick gewinnt die fernblickende Neigung, da der Sinn auf
neue künftige Folgen gelenkt wird, größere Kraft und scheint zu
Uberwiegen; aber schon im gleich darauffolgenden Augenblick ist
es wieder die kurzsichtige Neigung, die neue oder deutlicher er¬
kannte Seiten an dem gegenwärtig ersehnten Gegenstand entdeckt,
daher heftiger wird und das Übergewicht zu erlangen droht. Das
Individuum gerät dann in einen Zustand, den man »Unschlüssig-
keit« nennt. Findet sich dann ein »Philosoph«, der sich durch
Selbstbetrachtung in diesem Zustande beobachtet, so wird er un¬
schwer empfinden, daß beide Affekte gleichzeitig in ihm selber
vorhanden, daß sie »Fleisch von seinem Fleisch« sind, und wie
der geringste und unbedeutendste psychische Vorfall genügt, um
dem ersteren das Übergewicht über den anderen, oder umgekehrt,
zu verschaffen. So erklärt es sich, daß er leicht in die subjektive
Täuschung verfällt, als genüge ein Nichts, ein willkürlicher
Hauch, um dem einen zum Sieg über den anderen zu verhelfen.
Das ist die subjektive Täuschung des »freien Willens«, welche,
wie allbekannt, viele Jahrhunderte hindurch das größte und
schwierigste Problem gebildet hat, das die Philosophie jemals zu
lösen berufen wurde.
Um schließlich auf die »Lust« und den »Schmerz zu kommen,
so ist es das Verdienst der neueren psychologischen Schule, die
Hinfälligkeit von Bains Theorie dargetan zu haben, daß die
Grundlage des tierischen Lebens die »Jagd nach dem Vergnügen«
sei, d. h. das Streben nach allem Angenehmen und die Vermeidung
alles Unangenehmen, und dagegen deutlich hervorgehoben zu haben,
daß die »Zustände der Lust und des Schmerzes« nur den ober¬
flächlichen Teil des affektiven Lebens darstellen, »dont l’el^ment
profond consiste dans les tendances affectives, positives ou nega¬
tives«. — »Celles-ci sont les processus elementaires de la vie
affective, dont le plaisir et la douleur ne font que traduire la
satisfaction ou l’echec 1 ).«
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Über die mnemon. Entstehung nnd die mnemon. Natur affekt. Neigungen. 29
so würde die »Lust« im Grunde jedem Zustand der Entladung oder
Belebung der nervösen oder Lebensenergie entsprechen, und der
»Schmerz« jedem Zustande der Hemmung oder Unterdrückung
derselben.
Und in der Tat, »peinlich« ist jeder Akt der Hemmung ge¬
wisser nervöser Betätigungen; »unangenehm« ist jede etwas zu
fühlbare Änderung der Umgebungsverhältnisse, welche die Fort¬
dauer des bis dahin wirksamen physiologischen Zustandes unmög¬
lich macht; »schmerzvoll« ist jener plötzliche und gewaltsame
Wechsel der Umgehung, der in dem einen oder anderen Teile des
Organismus den völligen Stillstand oder sogar die Zerstörung des
Lebens herbeiführt; und »traurig« ist das Individuum, wenn sich
in seinem Organismus eine allgemeine Abnahme der Lebens¬
funktionen kundtut.
Und umgekehrt, »angenehm« ist es, seine Muskeln im Spiel
und Sport zu betätigen; eine »Erholung« ist das Aufhören eines
gespannten Seelenzustandes; »willkommen« die Rückkehr zur
gewohnten Umgebung oder zu seinen Gewohnheiten; voll
»Lust« und »Freude« überhaupt ist jeder Zustand, bei dem im
Organismus eine größere Betätigung nervöser Energie statt¬
findet *).
Hier genüge es, darauf hinzuweisen, daß die Theorie von der
mnemonischen Entstehung sämtlicher affektiven Neigungen, die wir
in dieser Abhandlung zu erläutern und zu begründen snchten,
einen neuen Beweis bildet zur Stütze dieser neueren psycho¬
logischen Anschauungen in bezug auf das innerste Wesen der
Lust und des Schmerzes. Denn indem sie diesen affektiven
Neigungen die Natur mnemonischer Akkumulationen beimißt,
schließt sie die Folge in sich, daß die Grundlage des affektiven
Lebens nichts anderes sein kann, als das diesen Akkumulationen
innewohnende Streben nach Betätigung, ebenso wie es bei jeder
anderen Ansammlung potentieller Energie der Fall ist, daß somit
»Lust« und »Schmerz«, daß »angenehme« und »peinliche« Zustände
nichts anderes sein können, als die oberflächliche und subjektive
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30
Eugenio Rignano,
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VI.
Bevor wir diese kurzen Hinweise auf das Wesen der affektiven
Neigungen beendigen, wollen wir noch einige uns notwendig
scheinende Erwägungen hinzufligen Uber den Grundcharakter
dieser Neigungen, vermöge dessen sie sozusagen eine Kraft dar¬
stellen, welche das zu erreichende Ziel angibt, aber den einzu¬
schlagenden Weg unbestimmt läßt.
Diese Eigenschaft des Hinstrebens nach einem »Ziele«, während
das »Mittel« dazu gleichgültig ist, verdankt eben die affektive
Neigung dem Umstande, daß sie von dem Vorhandensein eines
gewissen, in potentiellem Zustande befindlichen, allgemeinen oder
partiellen, physiologischen Systems oder Zustandes abhängt, der
schon in der Vergangenheit durch die Außenwelt in ihrer Gesamt¬
heit, oder durch einzelne, besondere Beziehungen zu dieser Außen¬
welt bestimmt wurde, und der nunmehr — sobald er einmal durch
das Andauern oder durch das Wiedereintreten auch nur eines kleinen
Teiles dieser Umgebung oder dieser Beziehungen zur Umgebung aus¬
gelöst wird — wie jede andere potentielle Energie einfach danach
strebt, sich wieder zu betätigen. Denn das Vorhandensein dieser
Neigung hat eben zur Folge, daß der Organismus nach dieser
Umgebung oder diesen Umgebungsbeziehungen hin gravitiert, welche
die Wiederbetätigung dieses physiologischen Zustandes ermöglichen;
aber an sich bildet es durchaus keinen »Antrieb«, der vorzugs¬
weise die eine oder die andere Reihe vorübergehender physio¬
logischer Zustände oder Bewegungen hervorbringen könnte, die
zwar allenfalls fähig sein können, den Organismus in die ge¬
wünschte Umgebung zurückzuführen, jedoch mit dem end¬
gültigen physiologischen Zustande nichts gemein haben.
Nur wenn es einer Reihe von Bewegungen zufällig gelungen ist,
früher als die anderen den Organismus in die gewünschten. Be¬
ziehungen zur Umgebung zurückzuführen, wird sie von diesem,
aber nur von diesem Augenblick an den »Vorzug« vor den
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Über die mnemon. Entstehung und die mnemon. Natur affekt. Neigungen. 31
gewisse Reflexbewegungen gegenseitig treiben (Sherrington).
Und erst von diesem Augenblick an werden diese Bewegungen
— solange sie nicht in Gestalt von Reflexbewegungen mechanisch
geworden sind — ausschließlich unter dem Drange des bezüg¬
lichen Affektes oder des gleichwertigen »Willensaktes« ins Leben
gerufen werden.
Solange dies aber noch nicht geschieht, zeigt der Affekt durch¬
aus keine Neigung, sich eher in die eine als in die andere Bahn
zu entladen. Daher der große Unterschied zwischen der affek¬
tiven Neigung oder dem Willensakte auf der einen, und der Re¬
flexbewegung auf der anderen Seite. Letztere — bei der durch
mnemoniscbe Akkumulation der so »gewählte« Akt, wenn er oft
wiederholt wird, nach und nach mechanisch wird und sich vom
Ganzen unabhängig macht — stellt ein Streben dar, sich längs
einer einzigen gegebenen Bahn zu entladen, die schon vor dieser
Entladung bestimmt ist. Sie ist eine Kraft, deren Angriffspunkt
und Richtung schon im voraus bekannt sind; sie könnte also
graphisch durch den üblichen Pfeil bezeichnet werden, mit dem
man in der Mechanik die Kräfte darstellt. Die affektive Neigung
dagegen bildet eine Kraft, bei der weder Angriffspunkt noch
Richtung vorher bestimmt sind, sondern nur allein der Punkt,
nach dem sie hinstrebt. Sie ist eine »verfügbare« Energie, die
nach Belieben zu diesem oder jenem Akt gebraucht werden kann,
wofern er an das gewünschte Ziel führt. Sie könnte daher ganz
unbestimmt zugleich von irgendeinem der unendlich vielen Pfeile
dargestellt werden, die den ganzen Inhalt eines Kegels füllen und
nach dessen Spitze konvergieren.
Die Reflexbewegung ist daher nur einer einzigen Lösung
fähig. Dagegen ist die affektive Neigung, solange noch keine der
möglichen Bewegungen zufällig schon ausgeführt worden ist und
eine »Wahl« veranlaßt hat, oder wenn die zum Ziele führenden
Wege mannigfach und einander ungefähr gleich sind, einer un¬
bestimmten, auch sehr großen Zahl von Lösungen fähig.
Diese Fähigkeit vielfacher Lösungen bildet, eben das »Unvor-
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32
Eugenio Rignano,
Endlich ist es diese charakteristische Grundeigenschaft der
affektiven Neigung, gewissermaßen eine Kraft zu bilden, die nach
derjenigen Umgebung oder denjenigen besonderen Beziehungen
zur Umgebung hin gravitiert, welche die Wiederbetätigung ge¬
wisser, eben diese Neigung bildenden mnemonischen Akkumulationen
gestatten, welche dieser Umgebung oder diesen besonderen Um¬
gebungsbeziehungen den Anschein einer »vis a fronte«, oder
»finalen Ursache« verleiht, deren Wesen ganz verschieden von der
in der anorganischen Welt allein wirkenden »vis a tergo« oder
»aktuellen Ursache« ist 1 ).
»Der Organismus«, sagt Jennings, »scheint nach einem be¬
stimmten Vorsatze zu handeln. Mit anderen Worten: das End¬
ergebnis seiner Handlung scheint gewissermaßen schon
von Anfang an vorhanden zu sein, und das, was die Handlung
sein soll, zu bestimmen. Hierin scheint die Handlung der leben¬
digen Dinge im Gegensatz zu der der anorganischen zu stehen 2 ).«
Nun ist aber dieses Endergebnis seiner Handlung schon von
Anfang an in Gestalt der mnemonischen Akkumulation vorhanden.
!
Jene Umgebung nämlich, oder jene besonderen Beziehungen zur
Umgebung, nach denen hin das Tier gravitiert, wirken jetzt als
»vis a fronte«, insoweit sie in der Vergangenheit »vis a tergo«
waren, und insoweit die von ihnen damals im Organismus be¬
stimmten physiologischen Tätigkeiten von sich eine mnemonische
Akkumulation hinterlassen haben, welche jetzt selber die wahre
und wirkliche, das lebende Wesen bewegende »vis a tergo« bildet 3 ).
Und so zeigt sich, daß ein und dieselbe Erklärung auf den
gesamten »Finalismus« des Lebens anwendbar ist.
Denn von der ontogonetischen Entwicklung an, die Organe
schafft, welche erst im erwachsenen Zustand ihre Funktion er¬
füllen können, bis zur Eigenschaft überhaupt sämtlicher physio¬
logischer, durch gewisse Beziehungen zur Umgebung bestimmter
Zustände, sich beim ersten Eintritt von Erscheinungen zu be¬
tätigen, die meist diesen Beziehungen vorhergehen, sie aber keines-
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Uber die mnemon. Entstehung und die mnemon. Natnr affekt. Neigungen . 33
der Organismus in seiner Gesamtheit an seine Umgebung morpho¬
logisch anpaßt, bevor diese noch ihre gestaltende Wirkung aus-
tiben konnte, bis zu all den wunderbaren Bildungen und beson¬
deren Anlagen, die so richtig auf alle die wahrscheinlichsten
Verhältnisse berechnet sind, denen dieser Organismus später aus¬
gesetzt sein könnte; von den einfachsten, mechanisch gewordenen
Reflexbewegungen an, die schon im voraus so vorzüglich auf das
Ziel der Erhaltung und des Wohles des Individuums gerichtet sind,
bis zu all den komplexesten Instinkten, vermöge deren die Tiere
sich schon vorher auf zukünftige Verhältnisse vorbereiten, die sie
wahrscheinlich selbst nicht kennen; — alle diese »finalistischen«
Lebenserscheinungen, die ihrem Wesen nach identisch sind, können,
wie wir schon in unseren früher erwähnten Schriften gesehen
haben, als ebenso viele Äußerungen rein mnemonischer Natur er¬
klärt werden.
Und nun sehen wir in der gegenwärtigen Abhandlung, daß
auch die affektiven Neigungen, die ja in noch hervorragenderem
Maße »finalistische« Äußerungen sind, ebenfalls auf der mnemo-
nischen Eigenschaft der lebendigen Substanz beruhen, also im
letzten Grunde auf der Fähigkeit »spezifischer Akkumulation«,
welche eine ausschließlich der dem Leben zugrunde liegenden
nervösen Energie zukommende Fähigkeit ist.
Die mnemonische Eigenschaft — die Fähigkeit »spezifischer
Akkumulation« —, die der anorganischen Welt fehlt, sie daher in
der ausschließlichen Gewalt der Kräfte »a tergo« läßt und ihr
jeden finalistischen Charakter entzieht, ist dagegen in der orga¬
nischen Welt überall vorhanden und gestaltet sie zu einer beson¬
deren Schöpfung, die gerade in dem, was für sie am charakte¬
ristischsten ist, durch die Gesetze der Physik und Chemie allein,
in dem ihnen heute beigelegten beschränkten Sinne, durchaus
nicht erklärt zu werden vermag.
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Bemerkungen zu der Mitteilung
des Herrn A. Thierfelder »Eine Sinnestäuschung<.
(In diesem Archiv, Bd. XIX, Heft 3/4, S. 553.)
Von
Ludwig Burmester (München).
Diese »Sinnestäuschung«, bei der ein Uber einem Lampen¬
zylinder befindliches Flügelrädchen bald in dem einen, bald in
dem anderen Sinne rotierend erscheint, gehört zu den geometrisch¬
optischen Gestalttäuschungen, deren Theorie und Literatur ich aus¬
führlich behandelt habe 1 ). Der Hinweis von Herrn Thierfelder,
daß diese Erscheinung wohl ähnlich sei wie bei der Schroeder-
schen Treppenzeichnung, die als Darstellung einer von oben oder
von unten gesehenen Treppe aufgefaßt werden kann, ist nicht
genügend, weil die Täuschung bei der Bewegung des Flügel¬
rädchens durch eine scheinbare Wendung seiner Drehungsebene
im Raum erfolgt. Herr Thierfelder erwähnt richtig, daß bei
schräger Ansicht durch Beobachtung des vorderen oder hinteren
Teiles des Flügelrädchens die Drehung entgegengesetzt erscheint
Schon im Jahre 1728 berichtet Robert Smith 2 ), daß wir
uns zuweilen irren betreffs der Stellung eines Wetterhahnes oder
einer Fahne, und auch betreffs der Drehung der Flügel einer
Windmühle, indem wir den näheren Teil für den entfernteren
halten, auch zuweilen nicht beurteilen können, in welchem Sinne
die Lichter eines Kronleuchters gedreht werden. Dann beschreibt
Sinsteden 3 ) 122 Jahre später die entgegengesetzte Drehung der
Flügel einer Windmühle, was er schon oft als Knabe beobachtet
1) Theorie der geometrisch-optischen Gestalttäuschungen. Zeitschrift
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Uber Bekanntheits- und Unbekanntheitsqualität,
Von
E. Meumann (Leipzig).
Bei Gedächtnisversuchen mit sinnlosen Silben, bei denen der
Effekt des Behaltens nach der Treffermethode festgestellt wurde,
machte ich vor einigen Jahren eine Beobachtung, die mir seitdem
wiederholt bestätigt worden ist. Sie besteht im wesentlichen darin,
daß die Unbekanntheitsqualität eines beliebigen akustischen oder
optischen Komplexes von Eindrücken sich viel schärfer im Be¬
wußtsein markiert als die Bekanntheitsqualität; d. h. wir haben
ein viel sichereres Bewußtsein davon, ob uns ein Eindruck unbe¬
kannt als ob er uns bekannt ist, oder, das Unbekanntsein von
Eindrücken ist im Bewußtsein mit einem eigenartigen Index oder
Charakter ausgestattet, der uns das Unbekannte sofort und un¬
mittelbar, ohne das Dazwischentreten einer Reflexion als solches
erkennbar macht.
Ohne auf die bekannte Diskussion über das Wesen der »Be¬
kanntheitsqualität« (Höffding) einzugehen, möchte ich in der folgen¬
den Mitteilung einige Beobachtungen anführen, die ich gegenwärtig
weiter verfolge. Sie sollen nur den eigentümlichen Tatbestand der
Bekanntheits- und der Unbekanntheitsqualität von Eindrücken
etwas näher erläutern.
Die erwähnten Versuche bestanden darin, daß das Wieder¬
erkennen sinnloser Silben geprüft wurde unter Anwendung der
von mir so genannten Methode des fraktionierten Lernens. Solche
Versuche lassen sich benutzen, um die einzelnen Stadien des
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Uber Bekanntheits- und Unbekanntheitsqualität.
37
gelesene bekannt, mit Bestimmtheit oder nur vermutungsweise an¬
geben konnte.
Um dabei eine objektive Kontrolle der Aussagen der Vp. zu
erhalteu, führten wir noch die Variation der Versuchsbedingungen
ein, daß der Vp. mitten unter den vorher gelesenen Silben neue,
in der gelesenen Reihe nicht vorkommende Silben dargeboteu
wurden; diese wurden iu unregelmäßiger Reihenfolge unter die
vorher gelesenen Silben gemischt, die Vp. wußte nur, daß über¬
haupt unbekannte neben den vorher gelesenen Silben Vorkommen
würden. (Das Verfahren war also keineswegs das Täuschungs¬
verfahren von Reut her.)
Bei diesen Versuchen kommt nun die Vp. mit ihrem Versuch,
die vorher dagewesenen Silben wiederzuerkennen, von der zweiten
oder dritten Lesung an in ein eigentümliches Stadium des Wieder-
erkennens. Nach der ersten Lesung allein werden in der Regel
die neu eingeschobenen Silben nicht bestimmt von den schon ein¬
mal gelesenen unterschieden, es kommen Irrtümer vor, in dem
Sinne, daß auch neue Silben mit unsicherer Vermutung als schon
gelesene bezeichnet werden; überhaupt aber sind die neuen Silben
durch kein sicheres inneres Kennzeichen von den schon
gelesenen unterschieden. Anders nach der zweiten oder dritten
Lesung. Nunmehr kommt es häufig vor, daß die Vp. bei der einen
oder anderen der gelesenen Silben darüber im Zweifel ist, ob sie
dagewesen war oder nicht, auch kommt es noch vor, daß sie eine
gelesene Silbe als neu ‘bezeichnet, aber niemals wird nun eine
neue Silbe als gelesen oder bekannt bezeichnet.
Die unbestimmt wiedererkannten gelesenen Silben einerseits
und die unbekannten neuen Silben andererseits erhalten gewisser¬
maßen einen psychischen Index, auf Grund dessen beide ganz
sicher, wie mit unmittelbarer Gewißheit unterschieden werden.
Während nun aber dieser Index bei den gelesenen Silben häufig
versagt, die Vp. also unsicher ist, ob sie die Silbe als bekannt
bezeichnen darf oder nicht, versagt er nie bei den neuen
Silben. Sobald also die erelesenen Silben ein e-ewisses Maß von
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38
E. Meumann,
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fllr das Bewußtsein mit erstaunlich viel größerer Bestimmtheit ab
als die halb bekannten; diese erregen Zweifel, ob sie bekannt
sind, jene werden unzweifelhaft als neu erkannt.
Die Vp. wurden nun auch darüber gefragt, ob sie die inneren
Kennzeichen, auf denen jene unsichere Bekanntheitsqualität und
dieses sichere Erkennen des Neuen beruht, angeben könnten ? Die
Beobachtungen einer der Vp. hierüber mögen hier wiedergegeben
sein.
Ganz dem entsprechend, daß sich die Unbekanntheitsqualität
der Silben schärfer im Bewußtsein abhebt und unmittelbarer kund¬
tut als die im Übergang zur vollen Bekanntheit begriffene Be¬
kanntheitsqualität, läßt sich auch der psychische Zustand der Un¬
bekanntheitsqualität — wie ich ihn vorläufig nennen will —
leichter analysieren als jener. Er kennzeichnet sich durch folgende
Merkmale.
1) Beim Lesen der neuen Silbe tritt eine Empfindung des
Stockens und des Stutzens auf, die etwas vom Charakter
eines schwachen Affektes, vielleicht eines sehr schwachen Schreck¬
affektes hat. Wenn die Vp. gerade innerlich gar nicht auf das
Eintreten einer neuen Silbe gefaßt war, so ist dieser Zustand des
Stutzens deutlich mit einer motorischen Stockung verbunden,
es tritt eine Hemmung motorischer Art ein, ein Innervieren
antagonistischer Muskelgruppen, z. B. Aufrichten und starres Auf¬
rechthalten des Halses und des Kumpfes, auch eine antagonistische
Innervation der Beuger und Strecker der Arme, ein Stocken der
Sprechbewegung, das deutlich der Aussage der Vp. über das
Wiedererkennen der Silbe vorausgeht; es ist als wenn die Aussage
sich erst aus dieser inneren Hemmung herausarbeiten müßte.
2) Damit ist schon gesagt, daß dieser Zustand des Stockens
keineswegs ein rein motorischer ist; auch der Ablauf der
Vorstellnngstätigkeit ist momentan ein gehemmter. Und
eben diese Hemmung im Ablauf der Vorstellungen (und natürlich
auch der Aussage Uber das innerlich Erlebte) ist besonders deut¬
lich zu beobachten.
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Tk n i • •
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Über Bekanntheits- und Unbekanntheitsqualität.
39
zeichnet scharf das Nene gegenüber dem Bekannten. Man darf nicht
glauben, die Vorstellungstätigkeit, die sich an das Lernen sinn¬
loser Silben anknüpft, sei so gering, daß sich ein solcher Zustand
der Unterbrechung des Vorstellens nicht kenntlich machen könnte!
Die Auffassung selbst eines so einfachen Materials wie die sinn¬
losen Silben ist mit einer mannigfachen Reproduktionstätigkeit
(Apperzeptionstätigkeit) verbunden. Über die Natur dieser Pro¬
zesse werde ich übrigens in kurzem weitere Mitteilungen machen.
4) Mit den bisherigen Merkmalen dieses Erlebens der Un¬
bekanntheitsqualität verbindet sich häufig, wahrscheinlich immer,
ein eigentliches Gefühl der Unlust, meist gekennzeichnet
durch bestimmte Organempfindungen, die die Vp. in den Nacken
oder in die Magengegend verlegt.
5) Ein weiteres Kennzeichen des Neuen und Unbekannten ist das
Ausbleiben der gewohnten Vorstellungsreproduktionen.
Alle Vorstellungen und Eindrücke, die unser Bewußtsein passieren,
lösen für gewöhnlich Reproduktionen anderer Vorstellungen aus.
Sie reihen sich dadurch in den Prozeß des psychischen Geschehens
anstandslos ohne besondere Stockungen ein. Das Neue und Un¬
bekannte löst im ersten Moment keine Vorstellungsreproduktioneu
aus. Es tritt ein Moment der Arretierung der intellektuellen Pro¬
zesse ein, der erst wieder überwunden werden muß, indem wir
anfangen, uns mit dem neuen Eindruck genauer zu beschäftigen.
Bei den sinnlosen Silben ist es im wesentlichen das Ausbleiben
der Urteile und Aussagen »bekannt«, das Ausbleiben schwacher
Reproduktionen, die von einzelnen Partialeindrücken ausgehen,
wie vom Klang und der Schreibweise der Silben, was uns die
neuen als neu erkennen läßt.
Von allen diesen Merkmalen trägt nun der Zustand des Er¬
lebens der Bekanntheitsqualität keine Spur. Die ersten Symptome
des Bekanntwerdens der Silben bestehen in einem Wiedererkennen,
das den Charakter der reinen Vermutung an sich trägt: die Be¬
kanntheitsschwelle wird erreicht oder die Bekanntheitsqualität
erreicht die Schwelle, d. h. jene inneren Kennzeichen, die das Be¬
kannte als solche kennzeichnen, werden allmählich so stark, daß
sie eben zum Bewußtsein kommen. Nun tritt häufig der von
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40 E. Meumann,
nicht ihrer Nachbarsilbeu, ja man weiß oft nicht einmal, ob die
Silbe überhaupt in der soeben vorangegangenen Lesung da war,
sondern sie ist »überhaupt bekannt«. Dieser letztere Zustand geht
wieder durch mehrere Grade oder Stadien hindurch, die ich im
folgenden zu bezeichnen versuche:
1) Das erste und Unmittelbarste, das man au den be¬
kannten Silben wahrzunehmen glaubt, ist der leichtere Ablauf
der psychischen Prozesse, die mit der Aufnahme der schon
einmal gelesenen Silben verbunden sind; wir fassen diese Silben
leichter auf, die Wahrnehmung als solche ist erleichtert und ebenso
die Aussprache der Silbe. Die Art und Weise, wie wir das wahr¬
nehmen, ist, zum Teil wenigstens, eine rein zeitliche: die schon
einmal gelesenen Silben werden zeitlich schneller aufgefaßt und
ausgesprochen wie die noch nicht gelesenen neuen.
2) Dieser leichtere Ablauf des psychischen Geschehens bei dem
Bekannten vollzieht sich aber auch in Begleitung charakte¬
ristischer Gefühle und Organempfindungen, die (als Formal¬
gefühle im Sinne von Jo dl) durch die Art des Ablaufs der
psychischen Prozesse erregt werden. Sie tragen den Charakter
von schwachen Lustgefühlen und von Empfindungen der Ent¬
spannung im Gegensatz zu den Empfindungen vermehrter Spannung
beim Eintritt des Unbekannten.
3) Das Bewußtsein des leichteren Ablaufs der psychischen Pro¬
zesse beruht aber jedenfalls auch auf einem verschiedenen Ver¬
halten der Aufmerksamkeit gegenüber dem Bekannten und dem
Unbekannten. Hier wird die Aufmerksamkeit intensiv in Anspruch
genommen, lebhaft gefesselt, ein höherer Grad von willkürlicher
Aufmerksamkeitsspannung wird durch den unbekannten Eindruck
erforderlich gemacht. Das relativ Bekannte hingegen beschäftigt
auch die Aufmerksamkeit weniger, wir gleiten mit einem geringeren
Maße von Aufmerksamkeitsspannung leichter darüber hinweg und
gehen leichter weiter zu etwas anderem Uber. Beide Verhaltungs¬
weisen der Aufmerksamkeit sind zugleich häufig (vielleicht sogar
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Über Bekanntheits- und Unbekanntheitequalität.
41
Ausbleiben der gewohnten Reproduktionen. Ganz dem entsprechend
kennzeichnet sich das Bekannte durch das reguläre Eintreten von
reproduzierten Vorstellungen, die sich an den Gesamteindruck oder
an Partialeindrücke der Silben anknllpfen. Man kann diese bis¬
weilen nur ganz unbestimmt auftauchenden Reproduktionen oft nur
mit einiger Mühe auffinden; werden sie bestimmter, so tritt ein
deutlicher, auf bestimmte Kriterien gestützter Identifizierungs¬
prozeß ein, man sagt sich z. B.: diese Silbe muß dagewesen sein,
denn ich erinnere mich an ihren Vokal oder au die Zusammen¬
stellung eines der Konsonanten mit dem Vokal oder daran, daß
der visuelle Eindruck der Silbe zwei Oberlängen in den Konso¬
nanten enthielt usw. Aber diesem bestimmten Identifizieren der
Silben auf Grund deutlich bewußter Kennzeichen geht oft voran
ein nur dunkel bewußtes Auftauchen von Merkmalen, Kennzeichen,
an denen das Urteil »bekannt«, richtiger »schon dagewesen«,
seine Stütze findet. Diese halb oder dunkel bewußten Elemente,
die man sich nicht selten mit einiger Mühe nachträglich zum Be¬
wußtsein bringen kann, machen einen Teil des scheinbar ganz un¬
mittelbar erfolgenden Wiedererkennens aus.
Es ist geradezu der Nichteintritt des das Unbekannte charak¬
terisierenden Ausbleibens aller Vorstellungsreproduktionen, was
das schon einmal Erlebte kennzeichnet.
5) Man kann vielleicht noch einen Grund für das Eintreten
des Urteils des »Schoudagewesenen« anführen. Bisweilen hat
man den Eindruck, daß der Akt der Bekannterklärung (das Urteil:
das ist schon dagewesen) unmittelbar und ohne jeden ins Be¬
wußtsein fallenden Grund eintrete. In diesem Falle scheinen
alle jene erwähnten psychischen oder ins Bewußtsein fallenden
Kennzeichen des Bekannten zu fehlen, und doch tritt das
Urteil mit einer gewissen unmittelbaren Sicherheit auf (nicht
mit »Gewißheit«, sondern mit Sicherheit). Natürlich ist es immer
möglich, daß man in solchen Fällen das eine oder andere innere
Zeicheu des Bekannten nicht beachtet hat, ganz besonders mag
das von den erwähnten Gefühlen und Onranemnfindniuren selten.
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42
E. Meumann,
sich das erklären aus der schwachen »Bahnung«, die tatsächlich
stattgefunden hat, und die nun in den kortikalen Parallelprozessen
des psychischen Geschehens den Parallelvorgang der Reproduktion
der Vorstellung »bekannt« auslöst. Psychologisch können wir uns
nicht anders helfen als mit der Annahme, daß ein faktisch ein¬
mal dagewesener Eindruck die Fähigkeit erhalten kann, das Urteil
oder die Vorstellung »bekannt«, »schon dagewesen« zu reprodu¬
zieren, ohne daß ins Bewußtsein fallende Kennzeichen dabei mit-
wirken.
Wahrscheinlicher ist aber die Annahme, daß schon ein Mini¬
mum von dunkel bewußten Kriterien dazu genügt, um die Vor¬
stellung des Bekannten auszulösen, und daß diese auslösenden
Prozesse keineswegs in bestimmten, mit auftauchenden und an den
Inhalt der Vorstellung anküpfenden Vorstellungen zu bestehen
brauchen, sondern daß dazu genügen solche Vorgänge wie die er¬
wähnten Formalgefühle und Organempfindungen oder motorischen
Begleitvorgänge. —
Bemerkenswert ist auch noch, daß die sorgfältige Beobachtung
der verschiedenen Stadien des »Wiedererkennens« den Beobachter
zu der Ansicht zwingen muß, daß die Ausdrücke »Wiedererkennen«
und »Bekanntheitsqualität« auf die elementarsten Stadien dieses
Prozesses der Bekanntheitserklärung gar nicht zu passen scheinen.
Denn in jenem Stadium des »Wiedererkennens«, in welchem wir
uns nur dunkel gewisser Kennzeichen für das schon Dagewesene
erinnern (nämlich in der unmittelbar nach der Darbietung der
Silbe angestellten rückblickenden Erinnerung an das soeben Er¬
lebte), haben wir eher das Bewußtsein der Unbekanntheit wie das
der Bekanntheit der Silbe, wir schwanken eben deshalb mit
unserem Urteil und geben es nur mit dem Zusatz »ungewiß« ab;
die Silbe hat gewissermaßen ebenso ein Recht auf Bekanntheits-
wie auf Unbekanntheitserklärung. Man faßt den Sinn seines Ur¬
teils so auf, daß man erklären will: die Silbe ist faktisch
schon dagewesen, aber »bekannt« erscheint sie mir nicht.
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Über Bekanntheits- and Unbekanntheitsqualität.
43
werden in der Verwendung solcher dunkel bewußter Kriterien der
Bekanntheit, »der schon Erlebtheit« der Silben. Alle solche Kri¬
terien lernen wir erst durch Erfahrung darauf hin deuten, daß sie
uns die Bekanntheit, richtiger wieder »das schon Dagewesensein«
der Silben anzeigen. Deutlich bemerkt man im Lauf der Ver¬
suche, daß einige dieser Kennzeichen uns schon geläufig sind,
andere weniger, andere erst im Zusammenhang mit den übrigen
schon relativ bekannten Kriterien erlernt werden. Auch daß das
Wiedererkennen durch Übung zunimmt, ist am einfachsten durch
die zunehmende Sicherheit in der Verwendung gewisser Kenn¬
zeichen des »Schondagewesenen« zu erklären; übrigens läßt
dieser Prozeß sich auch direkt beobachten.
Diese Beobachtungen werfen nun auch manches Licht auf das
Problem der »unmittelbaren« Bekanntheit, die beim unmittelbaren
Wiedererkennen den Akt des Urteils: »das ist bekannt« zu ver¬
ursachen scheint. In den meisten Fällen dürfte diese Unmittel¬
barkeit gar nicht bestehen, sondern als Vermittler des Urteils oder
der Vorstellung der Bekanntheit sind dann wohl dunkel bewußte
Formalgefühle, veranlaßt durch die Art des Ablaufs der psychischen
Prozesse, vorhanden, ebenso die anderen oben erwähnten Kriterien,
die nicht den Charakter bestimmter, an den wiedererkannten
Eindruck anschließender Vorstellungen tragen. Diese haben wir
durch tausendfältige Erfahrung daraufhin zu deuten gelernt, daß
sie nur bei schon dagewesenen Eindrücken auftreten und als
Kennzeichen des Erlebtsein dienen können. Wie alle fest er¬
lernten Gewohnheitskriterien kommen sie uns aber nicht als solche
zum Bewußtsein. Zugleich aber hebt sich das wirklich Unbe¬
kannte mit solcher Schärfe (auf Grund der erwähnten psychischen
Indices des Unbekannten) in unserem Bewußtsein ab, daß das
Bekannte nicht leicht mit ihm verwechselt wird.
Beachtet man nun die oben zusammengestellten Merkmale
des Bekannten und des Unbekannten, so dürfte das »unmittelbar
Wiedererkannte« alle jene Merkmale des schon Erlebten, die wir
oben aufzählten, besitzen, außer den bestimmten, an die
wiedererkannte Vorstellung, d. h. an ihren Inhalt anknüpfenden
renrndnzierten Vorstftllnno-An
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-zutriA.ip.b fp.hlen ihm die charak-
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44 E. Meumann, Über Bekanntheits- und Unbekanntheitsqualität.
einreiht. Es erfährt vielmehr statt dessen eine Mittelstellung
zwischen dem widerstandslosen, ohne alle Stockungen erfolgenden
Einreihen in den Verlauf der Vorstellungen, der bei dem Bekannten
stattfindet und zwischen jenem Stocken der Vorstellungstätigkeit bei
dem schlechthin Neuen; dieser Zustand kennzeichnet sich dann in
der Unsicherheit unseres Urteils über die Bekanntheit des Eindrucks.
Über dieses Stadium des als Schoudagewesenerklärens erhebt
sich dann jenes unmittelbare Wiedererkennen, bei dem alle die er¬
wähnten Kennzeichen des schon Erlebten vorhanden sind, ohne die
bestimmten, der Identifikation dienenden inhaltlichen Vorstellungen,
wobei aber das Schwanken des Urteils nicht eintritt, vielleicht weil
diese psychischen Indices des Schondagewesenen jetzt intensiver
wirken. Jene psychischen Indices des Schondagewesenen bewirken
dabei faktisch die Reproduktion der Vorstellung (der Aussage,
des Urteils) »bekannt«, werden aber nicht als Kriterien der Be¬
kanntheit des Eindrucks aufgefaßt und auf ihn bezogen. So ent¬
steht dann der Schein eines unmittelbaren Wiedererkennens, das
aber in Wahrheit ein in ganz bestimmt nachweisbarer Weise ver¬
mitteltes ist. Durch wiederholtes Erleben und unmittelbare Er¬
innerung an den Vorgang dieses Wiedererkennens können wir uns
solche Indices zum Bewußtsein bringen.
Das unmittelbare Wiedererkennen wäre danach ein Bewußtsein
des schon Erlebten, das vermittelt wird ohne inhaltlich bestimmte,
an den Inhalt des als schon erlebt bezeichneten Eindrucks an-
knüpfende reproduzierte Vorstellungen, das vielmehr ausgeht von
lauter »formalen« Kriterien, die sich an die Art des Ablaufs der
psychischen Prozesse des schon Erlebten anknüpfen; diese Kenn¬
zeichen formaler Art lassen sich durch Beobachtung im einzelnen
feststellen, sie sind durch Erfahrung als Kennzeichen des schon
Erlebten erworben worden, sie sind der Verfeinerung (Vervoll¬
kommnung) durch Übung fähig, vielleicht werden sie durch die
Übung auch vermehrt; durch sie hebt sich das unmittelbar Be¬
kannte scharf ab von dem im Bewußtsein durch besondere deut-
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Eine Bemerkung über die Methode der ebenmerk¬
lichen Unterschiede,
Von
F. M. Urban (Philadelphia, Pa., U. S. A.).
In Versuchsreihen nach dieser Methode finden sich häufig so¬
genannte Verkehrtheiten, die von manchen Forschern als sehr
störend empfunden wurden. Um den hierdurch entstehenden
Schwierigkeiten auszuweichen, wurde vorgeschlagen, die Versuchs¬
reihen zur Bestimmung eines ebenmerklichen (bzw. ebenunmerk¬
lichen) Unterschiedes über diesen Punkt hinaus fortzusetzen und
eine Bestimmung nur dann als gültig anzusehen, wenn sie mit
diesen Kontroll versuchen Ubereinstimmt 1 ). Sanford hat diese Be¬
stimmung noch weiter dahin spezifiziert, daß ein oder zwei
Kontroll versuche vorzunehmen sind 2 ). Es handelt sich in dieser
Vorschrift um eine der Praxis entstammende Vorsichtsmaßregel,
deren Hauptschwäche darin besteht, daß man sie nicht theoretisch
begründen kann. Dieser Umstand wurde bereits von Foucault 3 )
und Titchener 4 ) hervorgehoben.
Der Zweck dieser Kontrollversuche kann offenbar ein dop¬
pelter sein: entweder man beabsichtigt in dieser Weise grobe
Versehen in der Bestimmung der Schwellen zu entdecken oder
man bezweckt eine Elimination zufälliger Fehler. Es besteht nun
1,' W. Wandt, Physiologische Psychologie. 6. Aafl. Bd. 1. S. 690.
2] E. C. Sanford. A Course in Experimental Psychology. Bd. 2. 1898.
S. 344: »The first stage might end here, but it is considered better to in-
crease the variable Stimulus once or twice more in order to guard the eub-
ject against a merely accidental impression tliat a perceptible differenee bas
been reached, thougli no record is made of the differences used unless it is
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46
F. If. Urban,
kein Zweifel, daß der erstere Zweck durch die in Rede stehende
Vorsichtsmaßregel erreicht wird und daß hierdurch die Methode
der ebenmerklichen Unterschiede an Brauchbarkeit gewinnt. Daß
eine Elimination zufälliger Fehler in dieser Weise nicht erreicht
werden kann, ist unmittelbar klar, da man ja in keiner Weise
darüber Auskunft gewinnen kann, oh nicht die Kontrollversuche
von zufälligen Fehlern beeinflußt sind. Eine Übereinstimmung
der ursprünglichen Bestimmung mit den Kontrollversuchen ist des¬
halb ebensowenig eine Sicherstellung des Resultates gegen zu¬
fällige Fehler, als ein Mangel an Übereinstimmung als zwingender
Nachweis angesehen werden kann, daß die ursprüngliche Bestim¬
mung fehlerhaft sei. Hierzu kommt, daß die Beschränkung auf
irgendeine bestimmte Zahl von Kontrollversuchen willkürlich ist,
da ja nicht einznsehen ist, warum man bei irgendeiner bestimmten
Zahl von Versuchen stehen bleiben soll. Soweit also eine Eli¬
mination der zufälligen Fehler in der Bestimmung der Schwellen
beabsichtigt ist — und um eine solche handelt es sich in den
meisten Fällen —, so erscheint diese Regel als eine willkürliche
und wesentlich zwecklose Festsetzung.
Man kann aber kaum in Abrede stellen, daß der Gedanke, die
Verläßlichkeit der einzelnen Schwellenbestimmung durch Fort¬
setzung Uber den Punkt, wo das Urteil umschlägt, zu erhöhen,
etwas Bestechendes habe. Bei Befolgung dieser Regel will man
sich offenbar vor dem Auftreten von Verkehrtheiten in der Reihe
der abgegebenen Urteile schützen. Man unterwirft also die eben-
merklichen Unterschiede der Bedingung, daß über sie hinaus nur
extreme Urteile der einen Art Vorkommen sollen, während als
ebenunmerkliche Unterschiede jene Vergleichsreize zu gelten haben,
Uber die hinaus extreme Urteile der einen Art überhaupt nicht
mehr Vorkommen. Der ebenmerkliche positive Unterschied ist
also nicht als der kleinste Reiz einer Reihe definiert, auf welchen
das Urteil größer abgegeben wurde, sondern als der kleinste Ver¬
gleichsreiz, auf welchen das Urteil größer abgegeben wurde.
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Eine Bemerknng über die Methode der ebenraerklichen Unterschiede. 47
gegeben wurde, während zugleich in dieser Versuchsreihe auf
keinen der Vergleichsreize kleinerer Intensität das Urteil größer
abgegeben wurde. Die Definitionen des ebenmerklichen und des
ebenunmerklichen negativen Unterschiedes sind in ähnlicher Weise
abzuändern.
Es ist sehr wahrscheinlich, daß der Wunsch, sich von der
Abwesenheit von Verkehrtheiten in der Urteilsabgabe zu über¬
zeugen, die Veranlassung zur Aufstellung dieser Regel gab. Zu¬
nächst muß man bedenken, daß es sich hier um eine durchaus
der Praxis entstammende Regel handelt, die man nicht aufgestellt
hätte, wenn sich nicht mit ihr ein bestimmtes Ziel erreichen ließe.
Setzt man die Versuche nach Erreichung eines ebenmerklichen
positiven Unterschiedes mit Vergrößerung der Reizdifferenz in der¬
selben Richtung fort, so besteht in den folgenden Versuchen,
wenn die Schritte, mit welchen man sich der Schwelle näherte,
nicht allzu klein waren, im allgemeinen eine den Betrag y über¬
steigende Wahrscheinlichkeit flir die Abgabe des Urteiles »größer«.
Die Wahrscheinlichkeiten des Urteiles »größer« wachsen in der
Umgebung jenes Wertes, für welchen die psychometrische Funktion
den Wert y annimmt, sehr rasch, und cs besteht dementsprechend
eine nur geringe Wahrscheinlichkeit dafür, daß auf eine Anzahl
von »größer«-Urteilen bei weiterer Vergrößerung des Reizunter¬
schiedes ein »kleiner« oder »gleich«-Urteil folge. Bei den meisten
Versuchen nach der Methode der ebenmerklichen Unterschiede
sind die Schritte, mit denen man sich der Schwelle nähert, ver¬
hältnismäßig groß, und deshalb gibt das Vorhandensein einer
kurzen, aber ununterbrochenen Reihe von »größer«-Urteilen dem
Erscheinen eines anderen Urteiles in den späteren Teilen der Ver¬
suchsreihe eine nur geringe Wahrscheinlichkeit. Es dürfte also
die Beobachtung, daß eine Reihe von zwei oder drei extremen
Urteilen der einen Art nur selten von einem anderen Urteile ge¬
folgt ist, die Veranlassung zur Aufstellung dieser Regel gegeben
haben. Der Grund, warum sich diese Regel, die scheinbar mehr
oder weniger willkürlich ist, in der Praxis bewährt, ist einesteils
#» f« ünnh rt m n n 17 J Z
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O _ 1 _ .
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48
F. M. Urban,
Wir wollen nun untersuchen, ob die bei Anwendung dieser
Vorsichtsmaßregel gewonnenen Resultate mit jenen in irgendeiner
Beziehung stehen, die nach der Methode der ebenmerklichen Unter¬
schiede in ihrer ursprünglichen Form erhalten werden. Wir geben
nur die Analyse des Resultates, das als Bestimmung der Schwelle
in der Richtung der Zunahme gewonnen wird, da sich dieselben
Überlegungen ohne weiteres auf die Analyse der Schwelle in der
Richtung der Abnahme übertragen lassen. Wir betrachten eine
Reihe von nach der Größe geordneten Vergleichsreizen r lf r 2 ... r n ,
die beim Vergleiche mit dem Hauptreize r durch eine bestimmte
Vp. und unter genau bestimmten Versuchsbedingungen der Ab¬
gabe des Urteiles »größer« die Wahrscheinlichkeiten pi , p 2 ... p n
geben. Die Wahrscheinlichkeiten, daß entweder das Urteil »kleiner«
oder das Urteil »gleich« abgegeben werde, sind dementsprechend
7 , = 1 — />!, q 2 = 1 — p 2 , ... q n = l — p n . Bei Verwendung
dieser Reihe von Vergleichsreizen hat jener Vergleichsreiz als Be¬
stimmung des ebenmerklichen positiven Unterschiedes zu gelten,
der der kleinste Vergleichsreiz ist, von dem angefangen keine
anderen als »größer«-Urteile abgegeben wurden. Es sei r k dieser
Reiz. Aus der Definition eines ebenmerklichen Unterschiedes folgt,
daß r k -! als kleiner oder gleich dem Hauptreize beurteilt wurde,
während auf alle Vergleichsreize r k +1 , r k + 2 , ... r u das Urteil
»größer« abgegeben wurde. Das Erscheinen eines Vergleichsreizes
als Bestimmung des ebenmerklichen positiven Unterschiedes ist
also ein zusammengesetztes Ereignis, dessen Wahrscheinlichkeit
aus den Wahrscheinlichkeiten des Urteiles »größer« für die ver¬
wendeten Intensitäten des Vergleichsreizes bestimmt werden kann.
Es sei Pk die Wahrscheinlichkeit, daß bei Verwendung der Reihe
von Vergleichsreizen r,, r 2 , ... r n der Reiz r k als Bestimmung
des ebenmerklichen positiven Unterschiedes erhalten werde, so ist
1 n == Pn Qn — 1
Pn — 1 == Pn Pn — 1 — 2
Pr —PnPn -1 ... P*Pr<l\
P\ — Pn Pn - 1 . . . 2h Pi ■
j? _ T7i _ i_ _ :i j _t-> i vir c nr\n J_ k l
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Eine Bemerkung über die Methode der ebenmerklichen Unterschiede. 49
Unterschiedes bei Anwendung dieser Regel gleich ist der Wahr¬
scheinlichkeit des Erhaltens des Vergleichsreizes als Be¬
stimmung des ebenunmerklichen positiven Unterschiedes nach dem
ursprünglichen Verfahren der Methode der ebenmerklichen Unter¬
schiede. Daß diese beiden Werte einander entsprechen müssen,
kann man leicht an einem Beispiele erkennen. Es seien auf die
Vergleichsreize r,, r 2 , r 3 , r 4 , r 5 , r 6 , r 7 bei dem Vergleiche mit
dem Hauptreize r der Reihe nach die Urteile »kleiner«, »gleich«,
»gleich«, »größer«, »gleich«, »größer«, »größer« abgegeben worden.
Es hat dann r 6 als Bestimmung des ebenmerklichen positiven
Unterschiedes nach der hier in Rede stehenden Regel genommen
zu werden, weil es der kleinste Vergleichsreiz ist, von dem an
keine anderen als »größer«-Urteile Vorkommen. Definieren wir
aber den ebenunmerklichen positiven Unterschied als den größten
Vergleichsreiz, auf den ein anderes als ein »größer«-Urteil abge¬
geben wurde, so hat r b als Bestimmung dieser Größe genommen
zu werden. Der Unterschied zwischen diesen beiden Resultaten
ist gleich dem Intervalle zwischen r b und ?* 6 , und wir werden
deshalb erwarten dürfen, daß bei Verwendung von äquidistanten
Vergleichsreizen der Unterschied zwischen den Resultaten nach
den beiden Verfahren in Beziehung zu der Länge dieses Inter¬
valles stehen wird. Behufs näherer Untersuchung dieser Beziehung
betrachten wir die wahrscheinlichen Werte dieser beiden Größen.
Diese sind
T =r i P i +r 2 P 2 + ... + r n P n
und
T = r A P\ -f- r 2 P 2 -f-... + T n P' n
l
in Übereinstimmung mit der Formel a. a. 0. S. 307. Der Unter¬
schied dieser beiden Größen beträgt
T - T = r, [1\ - + d [jV P k — In — 1) j .
In dieser Formel sind die Größen P 4 und q n sehr klein, weshalb
auch die Summe der P* von k = 2 bis k — n sich nur wenig von
der Einheit unterscheiden wird. D» P\ — 7 ,-. i™ allgompinor.
negativ sein wird, so hat man
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50 F. M. Urban,
in derselben Art durch. Jener Vergleichsreiz r k hat als Bestim¬
mung dieser Größe genommen zu werden, von dem an in einer
absteigenden Reihe keine »größer«-Urteile mehr Vorkommen.
Hieraus folgt, daß r k + 1 als größer als der Hauptreiz beurteilt
wurde, auf die Vergleichsreize r k , r*_i, ... r, aber nur die Ur¬
teile »kleiner« oder »gleich« abgegeben wurden. Bezeichnen wir
die Wahrscheinlichkeit, daß der Vergleichsreiz r k nach dieser
Regel als Bestimmung des ebenunmerklichen Unterschiedes er¬
halten werde, mit Q k , so ist
Qi = q\ Pi
Qi = Q\ ( li Pi
Qn—i — q j qi • • • qn—iPn
Qn = (?1 •
Diese Beziehungen entsprechen den am a. a. 0. S. 291 gegebenen
Formeln für die Wahrscheinlichkeiten, daß ein Reiz als Bestim¬
mung des ebenmerklichen Unterschiedes ohne Anwendung der in
Rede stehenden Regel erhalten werde. Bezeichnen wir die
letzteren Wahrscheinlichkeiten mit Q ' k , so ist allgemein
Qk = Qk +1 •
Die Richtigkeit dieser Beziehung erkennt man auch an dem obigen
Beispiele, in dem ?* 4 bzw. r 3 Bestimmungen der hier besprochenen
Größen sind.
Wir wenden uns nun zur Untersuchung der Größen
S — r \ Q\ + r i Qi + • • • 4 ~ r n Qn
und
S — r \ Ql + r i Q'l + • • • + r n Qn }
die die wahrscheinlichen Werte des ebenmerklichen bzw. eben¬
unmerklichen positiven Unterschiedes sind. Für ihre Differenz
findet sich
s — s ' = — r \ [Pi — Qn) —d Qk — n Q n J .
Aus denselben Gründen wie oben sind hier die Größen p x und Q u
sehr kiein, und p x ist im allgemeinen größer als Q tn so daß mau
schreiben kann
Gck >gle
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Eine Bemerkung Uber die Methode der ebenmerklichen Unterschiede. 51
liehen positiven Unterschiede genommen, und es ist zu untersuchen,
in welcher Weise sich die mit den beiden Verfahren gewonnenen
Endresultate voneinander unterscheiden. Um den Einfluß der
Vorsichtsmaßregel abzuschätzen, bilden wir die Differenz der beiden
Resultate, für die wir finden
~2 - = 2 ^ -*)■
Da e und «' nur sehr klein und positiv sind, so unterscheiden sich
die beiden Resultate nur sehr wenig voneinander. Hieraus folgt,
daß dieVerwendung dieser Vorsichtsmaßregel das Endresultat der
Methode der ebenmerklichen Unterschiede nicht wesentlich beein¬
flußt und daß man deshalb erwarten darf, daß bei Verwendung
einer größeren Anzahl von Bestimmungen mit verschiedenen
Reihen von Vergleichsreizen das Mittel aus allen Beobachtungen
jenen Vergleichsreiz bestimmen wird, der der Abgabe eines
>größer«-Urteiles die Wahrscheinlichkeit gibt.
Das von Wundt und Sanford empfohlene Verfahren hat also
die charakteristischen Eigenschaften einer Vorsichtsmaßregel, da
es dienlich ist, um Irrtlimern oder Versehen auf die Spur zu
kommen, den Wert der zu bestimmenden Größen aber unbeein¬
flußt läßt. Man wird deshalb diese Maßregel in allen jenen
Fällen mit Vorteil anwenden, wo die Methode der ebenmerklichen
Unterschiede in ihrer traditionellen Form verwendet wird. Falls
man aber die Resultate von Vollreihen nach dem Rechenverfahren
der Methode der ebenmerklichen Unterschiede auswerten will, ist
es gleichgültig, ob man die ursprünglichen oder die hier be¬
sprochenen Definitionen der ebenmerklichen und ebenunmerklichen
Unterschiede verwendet.
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Zur erkenntnistheoretischen und mathematischen
Begründung der Maßmethoden für die Unterschieds¬
schwelle,
(Kritische Betrachtungen Uber F. M. Urbans Behand¬
lung der Methode der ebenmerklichen Unterschiede und
Gr. F. Lipps’ Verwertung der Gleickheitsfalle.)
Von
W. Wirth (Leipzig).
iMit 5 Figuren im Text.)
Inhalt des I. und II. Teiles. s.it«
I. Das Wesen des Schwellenbegriffes.53
1) Urbans und Lipps’ Stellung zur SchwellenhypotheBC.53
2) Der hypothetische Charakter des Schwellenbegriffes.64
3) Die Unbestimmtheit der realen Abhängigkeitsbeziehung zwischen
der oberen und unteren Schwelle innerhalb des tatsächlichen
Beobachtungsraateriales.73
II. Zur Methode der ebenmerklichen Unterschiede.74
1) Die Methode der Minimaländerungen als spezielle Form der Ab¬
leitung sogenannter Vollreihen.— Urbans Rückkehr zur Sonder¬
behandlung ihres Beobachtungsmateriales mittels der Begriffe des
ebenmerklichen und des ebenunmerklichen Unterschiedes .... 74
2) Die Verschiedenheit des Wertes r (@. SW.) von r ((£) ohne Voraus¬
setzung spezieller Verteilungsgesetze.79
3) Die Bedeutungslosigkeit des Wertes r (S. SW.) als des bloßen
mV<.l 1 1 1 • 1 , • 1 i 1 • 1 II 1 t T 1 *T . •«
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Znr erk. n. math. Begründung d. Maßmethoden f. die Unterechiedsschwelle. 53
I. Das Wesen des Schwellenbegriffes.
1) Urbans and Lipps’ Stellung zur Schwellenhypothese.
a) Eine systematische Analyse der Relationserkenntnis wird
ihr empirisches Material aus dem Gebiete der Sinneswahrnehmung
jederzeit am besten in der Form sogenannter »vollständiger
Reihen« (Vollreihen) aufnehmen, welche die Abhängigkeit des
Vergleichsurteiles von der Abstufung eines variablen Vergleichs¬
reizes V bei konstantem »Normal«- oder »Hauptreiz« N (oder H)
ohne spezielle Voraussetzungen über die Wirkungsform der zu¬
fälligen Nebeneinflüsse unmittelbar überschauen lassen. Dabei
ordnet man die auf die einzelnen Stufen r t , r t ... r n von V
abgegebenen Urteile am einfachsten in drei Hauptklassen, je nach¬
dem die Eigenschaft, hinsichtlich deren man vergleicht, bei V in
höherem, in gleichem oder in geringerem Grade vorhanden zu sein
schien als bei N. Bezeichnen wir diesen Grad fernerhin einfach
selbst mit F, bzw. N, so sind also »größer«, »gleich« (unbestimmt,
ob größer oder kleiner), »kleiner« die »drei Hauptfälle«, nach
denen diese Methode auch von Wundt 1 ) benannt wird. Natür¬
lich ist diese nachträgliche Ordnung der Urteilstatsachen zum
Zwecke ihrer theoretischen Verarbeitung von der Urteilsrichtung
des Beobachters (ob er F für »größer«, oder N für »kleiner« er¬
klärte) ebenso unabhängig w r ie von der Absonderung oder Unter¬
mischung der einzelnen Stufen des Vergleichsreizes, die zu einem
und dem nämlichen N einer Vollreihe hinzugehören. Dies sind
eben nur spezielle Bedingungen der Relationserkenntnis neben
anderen, deren Einfluß aber schließlich immer nur an Vollreihen
eingehender zu verfolgen ist, die unter möglichst gleichen Um¬
ständen aufgenommen sind.
b) Die einfache Aufzeichnung der relativen Häufigkeiten
g x , u x , k r , mit denen jede einzelne Stufe r x des F bei gleich
häufiger, z. B. zw mal wiederholter Darbietung »größer«, »gleich«
oder »kleiner« erschien, nnd die emnirische Aufstellung einer
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54 W. Wirth,
Rohmaterial der experimentellen Analyse betrachtet werden,
aus welchem erst bestimmte Erklärungsbegriffe abzuleiten und
mit Größenwerten zu versehen sind, falls diese Analyse überhaupt
auf den Rang einer wissenschaftlichen Verarbeitung der Einzel¬
beobachtungen eines Gebietes Anspruch erheben will. Einer der
Hauptfaktoren, die aus jenen Tatsachen des Vergleichens er¬
schlossen werden können, ist nun bekanntlich die sogenannte
»Schwelle« der Unterscheidung. Die endgültige Form, in der
dieser Erklärungsbegriff anzuwenden ist, wurde schon vor einem
Menschenalter von G. E. Müller gefunden. In seiner damaligen
Arbeit »Über die Maßbestimmungen des Ortssinnes der Haut
mittels der Methode der richtigen und falschen Fälle«*) benützte
er sie allerdings zunächst nur für die Reizschwelle, bevorzugte
sie in seinen »Gesichtspunkten und Tatsachen der psychophysischen
Methodik« (1904) aber dann ganz allgemein auch für die Unter¬
schiedsschwelle. Hierbei wird eine untere und eine obere Schwelle
als zufällig variables Maß des jeweils ebenmerklichen
Reizunterschiedes ± [V — N) aufgefaßt. Während also
Müller in seiner »Grundlegung« noch von der Voraussetzung
konstanter Schwellen ausgegangen war, und die zufälligen
Schwankungen des Urteiles ausschließlich aus der wechselnden
inhaltlichen Auffassung des jeweiligen Unterschiedes, d. h. aus
»Fehlern« abgeleitet hatte, betont er nunmehr in seinen »Gesichts¬
punkten« S. 60 ff. mit Recht, daß nur jene Annahme variabler
Schwellen als ein unmittelbarer Ausdruck des Tatsäch¬
lichen zu gelten habe. Die relativen Häufigkeiten (r. H.) g und k
müssen ja auch bei dem Vorkommen von drei Hauptfällen von¬
einander unabhängig sein, da für jede Stufe des Vergleichsreizes
erst g -f- u -f k = 1 ist, und so lassen sich auch aus den Urteils¬
funktionen F g (x) und F k (ar) jeder Vollreihe zwei voneinander un¬
abhängige Kollektivgegenstände (K.-G.) der zufällig variablen
oberen und unteren Schwelle ableiten, deren Verteilungsfunktionen
im ollrrPTripInPn FAnoinorwlor vprapüipHpn ainrl
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Zur erk. u. math. Begründung d. Maßmethoden f. die Unterschiedsschwelle. 55
diesen Müllerschen Schwellenbegriff anknüpfen und die wich¬
tigsten Sätze entwickeln, nach denen die anerkanntesten Repräsen¬
tanten dieser als stetig aufgestellten K.-6. der beiden Schwellen
aus den Daten zweier Vollreihen ohne Voraussetzung spezieller
Verteilungsgesetze (z. B. des Gaußschen) sehr bequem zu be¬
rechnen sind. Indessen ist bisher weder dieser Erklärungsbegriff
der »Schwelle« überhaupt, noch speziell die grundlegende Be¬
deutung der neueren Form, in der wir ihn mit Müller verwerten,
so allgemein auerkannt, daß wir uns nicht mit beachtenswerten
Bestrebungen in anderer Richtung auseinanderzusetzen hätten. Im
folgenden wollen wir uns nun vor allem mit zwei derartigen Ver¬
suchen beschäftigen, weil sie, abgesehen von ihren angreifbaren
Schlußfolgerungen bezüglich des Schwellenbegriffes, doch auch
wertvolle Gesichtspunkte enthalten. Beide sind von je einer der
Methoden ausgegangen, die sich neben der sogenannten Methode
der richtigen und falschen Fälle, aus denen diejenige der Vollreihen
am unmittelbarsten abzuleiten ist, als selbständige Bestimmungs¬
weisen der Unterschiedsempfindlichkeit entwickeln mußten, um
die Einseitigkeiten der ursprünglichen Form jener Methode der
r. und f. Fälle vor der Ableitung richtiger Vollreihen zu kompen¬
sieren.
c) Die neuere dieser beiden Auffassungen, die erst jüngst von
F. M. Urban in diesem Archive veröffentlicht wurde 1 ), geht von
der einfachsten jener drei klassischen Wege zur Messung der
Unterschiedsempfindlichkeit, von der sogenannten Methode der
ebenmerklicben Unterschiede (Minimaländerungen) aus, und sucht
von ihr aus in einer gewissermaßen positivistischen Ten¬
denz zu einem rein empirischen Begriffe der Schwelle zu gelangen.
Dieser soll überhaupt nichts Hypothetisches mehr an sich haben,
sondern nur das Phänomen der Ebenmerklichkeit selbst nach den
Prinzipien der Statistik repräsentieren, wie es Urban bei der ge¬
nannten Methode am unmittelbarsten entgegenzutreten scheint 2 ).
1] Dieses Archiv. Bd. XV. 1909. Heft 3/4. S. 261 ff. und Bd. XVI. 1909.
Heft 1/2. S. 168 ff-
O- »_ «•_A Mmrwtlnno-nn TTrhanS hnhp ioV» mpinfir-
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Digitized b)
56 W. Wirth,
Als positiver Wert seiner interessanten Darlegungen ist dabei die
an sich neue Analyse dieser speziellen Methode nach den Prin¬
zipien der Wahrscheinlichkeitsrechnung anzuerkennen, wenn auch
wir selbst gerade von dieser Urbanschen Analyse aus bezüglich
der Bedeutung dieser Methode und des wissenschaftlichen Wertes
der früheren Art, ihr Material rechnerisch zu bearbeiten, zu einem
ganz anderen Schlüsse gelangen werden.
Im direkten Gegensätze zu dieser empiristischen Tendenz
möchte dagegen G. F. Lipps an Müllers früherer Anwendungs¬
form des Schwellenbegriffes in der »Grundlegung« festhalten,
die durch die Voraussetzung einer Konstanz der Unterschieds¬
schwelle und die Reduktion aller Zufälligkeiten auf einen
einzigen Kollektivgegenstand der Beobachtungsfehler ent¬
schieden viel hypothetischer ist, als jene neuere Annahme zweier
voneinander unabhängiger K.-G. der oberen und unteren Schwelle,
wie ja auch Müller selbst in dem oben zitierten Passus seiner
»Gesichtspunkte« klar hervorgehoben hat. Lipps hatte nun
seinerseits jene ältere Form schon vor mehr als zehn Jahren*)
speziell auf die sogenannte Methode der mittleren Fehler
(Herstellungs- oder Gleicheinstellungsmethode) angewendet, bei
welcher der Beobachter selbsttätig einen variablen Vergleichsreiz V
auf subjektive Gleichheit mit N wiederholt einstellt. Den einzigen
kurzem einzigen) Repräsentanten der Müllerschen Schwelle im sogenannten
unmittelbaren Verfahren, nämlich dem V mit 50 % richtigen Fällen gleich¬
kommt, und da Urban gegen die Mii 11 ersehe Deutung dieses Wertes nicht
polemisierte, so sah ich auch theoretisch noch keinen direkten Gegensatz. In
seinem ausgezeichneten Referate meiner soeben genannten Abhand¬
lung, das sich als Einzelbesprechung ebenfalls in diesem Hefte befindet und
für das ich Herrn Prof. Urban auch an dieser Stelle meinen verbindlichsten
Dank aussprechen möchte, hat er aber nun im Schlüsse seine prinzipielle
Abweichung bezüglich der Deutung unserer Maße der Unterschiedsempfind¬
lichkeit kurz hervorgehoben. Da diese Besprechung aber soeben erst in
meine Hände gelangt, wäre ich nach dem oben Gesagten natürlich nicht in
der Lage gewesen, bereits eine ausführliche Abhandlung über diesen nicht
unwichtigen Streitpunkt abgeschlossen zu haben, wenn nicht Herr Professor
Urban die Liebenswürdigkeit gehabt hätte, mir schon vor etwa sechs
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Zur erk. u. math. Begründung d. Maßmethoden f. die Unterechiedsschwelle. 57
K.-G. der sämtlichen, zufällig wechselnden Gleicheinstellungen
wollte er hierbei zu der Funktion F u ( x ) der relativen Häufigkeit
des mittleren Urteiles bei der Methode der drei Hauptfälle in
direkte Parallele bringen, von dem wir ihn im folgenden durch
die Bezeichnung seiner Verteilungsfunktion mit F g j (x) unterscheiden
wollen. Dabei hatte er zunächst noch ebenso wie Müller selbst
nur mit dem einfachen Gaußschen Exponentialgesetz operiert.
In seiner im III. Bande dieses Archives S. 153 ff. erschienenen
Habilitationsschrift und in seinem Buche »Die psychischen Ma߬
methoden« (1906) übertrug er jedoch den nämlichen Standpunkt
bezüglich der Unterschiedsschwelle auch auf die freiere, rein
empirische Auffassung der beteiligten Kollektivgegenstände 1 ), bei
der man auf die Annahme spezieller Verteilungsgesetze völlig ver¬
zichtet.
Bezüglich der speziellen Entwicklung dieses Lippssehen
Standpunktes aus der Herstellungsmethode wurde nun von
Müller allerdings zunächst schon ganz allgemein der Ein wand
erhoben, daß eine so unmittelbare Analogie zwischen dem K.-G.
dieses Verfahrens einerseits und der Funktion der Gleichheits-
nrteile nach der Methode der drei Hauptfälle andererseits nur dann
möglich wäre, wenn bei jener die Anzahl der endgültigen Ein¬
stellungen auf ein Intervall r x d= * zusammen mit der Zahl der
Prüfungen, in denen es als verschieden sogleich wieder verlassen
wurde, für jedes Intervall die nämliche Summe ergeben würde,
oder wenn wenigstens diese Summe bei jedem Intervall bekannt
wäre, um geeignete Reduktionen zu ermöglichen, die sich auf eine
gleiche Gesamtzahl aller Fälle beziehen. Denn bei der Methode
der drei Hauptfälle ist eben diese Gesamtzahl der drei Urteile für
jedes Intervall genau bestimmt. Diese Vorfrage, die natürlich
nur die Herstellungsmethode angeht, da bei der anderen in dieser
Hinsicht alles klar liegt, scheint mir jedoch bisher doch noch
keineswegs entschieden. Nur so viel ist gewiß, daß eine Überein¬
stimmung aller Intervalle hinsichtlich der Zahl der Prüfungen, die
im Verlaufe der Einstellung vonrenommen werden, natürlich nur
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58
W. Wirtb,
maßen ausgleichen. Doch ist ja auch bei der anderen Methode
dieses Prinzip der großen Zahlen zur Kompensation der sonstigen
Zufälligkeiten nicht zu umgehen. Freilich braucht man zur Ver¬
teidigung der Analogie zwischen beiden Methoden nicht gleich
den Nachweis zu versuchen, daß ein K.-G. F g , {x) und ein unter
sonst möglichst gleichen Umständen abgeleiteter K.-G. F u (x) nach
der Reduktion auf eine gleiche Anzahl sämtlicher Fälle äußerlich
vollständig Ubereinstimmen. Denn hierbei wären die Schwierig¬
keiten doch zu gering angeschlagen, mit der die Herstellung völlig
gleicher psychophysischer Bedingungen jederzeit umgeben ist. Ist
ja doch auch schon die ganze Apperzeption der verschiedenen
Relationen in beiden Methoden gewöhnlich sehr verschieden, wenn
es auch bei spezieller Instruktion und Einübung prinzipiell mög¬
lich sein müßte, sowohl bei der Methode der drei Hauptfälle die
hier oft vernachlässigte Gleichheit bzw. Ähnlichkeit, als auch bei
der Gleichheitseinstellung die hier möglichst gemiedene Verschieden¬
heit wenigstens vorübergehend gleichmäßiger aufzufassen. Der
verschiedene Ausfall der (reduzierten) Verteilungen F gl (x) und F v (x)
könnte also niemals die Annahme ausschließen, daß F g i ( x) eben
mit einer anderen Verteilung des mittleren Falles F u (x) direkt
vergleichbar sei. Da aber die strittige Analogie außerdem nicht
gerade unbedingt die Gleichheit der Prüfungszahl für alle Inter¬
valle, sondern nur ihre Kontrollierbarkeit verlangt, so scheint der
direkteste Weg zur Entscheidung immer noch darin zu bestehen,
daß man einfach den wirklichen Verlauf sämtlicher Stadien der
Einstellung bis zur endgültigen Anerkennung eines Reizintervalles
durch irgendeine Registrierung so konkret als möglich verfolgt,
zumal ja auch die Methode der Darbietung bestimmter Reizstufen
(Konstanzmethode) durch eine Registrierung des ganzen Verlaufes
der Beurteilung noch eindeutiger gestaltet werden könnte. Da
wir für dieses auch sonst interessante Problem der psychologischen
Reaktionsmethoden, die natürlich auch hier wiederum mit der
Selbstbeobachtung zusammenzufassen sind, erst in einiger Zeit
noiiog Ufatorial ornropfun will ir>V» liior auf rlioco Inolnn-io Hur 1 for-
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Zur erk. n. math. Begründung d. Maßmethoden f. die Unterschiedsschwelle. 59
K.-G. F u (x), bzw. aus einem als ihm äquivalent betrachteten F gl ( x )
allein für sich, also ohne gleichzeitige Gegebenheit des
zugehörigen F g (x) und F k [x ), zu berechnen, eine Rechen¬
aufgabe, die freilich nur unter Hinzunahme der speziellen Lipps-
schen Voraussetzung der Konstanz der Schwelle und des K.-G.
der bei ihrer Beobachtung beteiligten Fehlerschwankungen lösbar
wird. Von seinem Standpunkte aus bedeutet dies also vor allem
die Möglichkeit einer Berechnung der Schwellen nach
der Herstellungsmethode. Auch hat man natürlich allein
bei ihrer Anwendung an diesem Umweg Uber den K.-G. des mittleren
Falles ohne Kenntnis der Darbietungszahl m jeder ein¬
zelnen Stufe V r ein unmittelbares Interesse, da ja bei der Methode
der drei Hauptfälle unter allen Umständen die direkte Bestimmung
der Schwelle aus F g ( x) und F k (x) selbst am nächsten liegt oder
bei Benützung von F u (x) wenigstens m sicher bekannt ist.
Lipps selbst hat aber kein Verfahren angegeben, nach
welchem ohne Voraussetzung spezieller Verteilungs¬
gesetze die genannte Berechnung aus einem einzigen
K.-G. F g i (x) in ähnlicher Weise möglich wäre, wie es
seinerzeit aus seinen früheren Formeln unter Voraus¬
setzung des Gaußschen Gesetzes geschehen konnte. Er
versucht zwar eine solche Berechnung, kommt aber nach Ein¬
führung der Mittelwertpotenzen zur Charakterisierung der beteiligten
bekannten und unbekannten K.-G. zu einem Ansätze, der erst
durch eine neue, an sich sehr unwahrscheinliche und in seinem
eigenen Beispiele gar nicht erfüllten Voraussetzung zu einer
Lösung führen würde. Es sollen nämlich hierbei mehrere An¬
wendungen der Herstellungsmethode mit den Ergebnissen F gl [x ) t ,
(x) t U8w. in ein System von Gleichungen mit mehreren Unbe¬
kannten einbezogen werden können, bei denen zwar die gesuchten
(nach Lipps jeweils konstanten) Unterschiedsschwellen verschieden,
die beteiligten K.-G. (nach Lipps die zufälligen Vergleichsfehler)
aber überall die nämlichen seien, so daß also die (zunächst
unbekannten) Mittelwertnotenzen in allen diesen hvüothetischen Ver-
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60
W. Wirth,
zu einer Berechnung der Schwellen beizuziehen, erinnert uns
daran, daß die Verteilungsfunktion, die Lipps aus diesen Po¬
tenzen unmittelbar aufgebaut hatte, auch keine praktische Inter¬
polationsformel an die Hand gibt. Die Aufgabe einer Berechnung
der Schwellen aus F u (x), wie sie sich Lipps von seinem Stand¬
punkt aus gestellt hatte, scheint mir aber mittels der bekannten
Interpolationsmethoden, wie wir sie in den genannten »Grund¬
lagen« verwandten, sogar ohne neue Voraussetzungen, also von
einer einzigen, und zwar von jeder beliebigen Ver¬
teilung F g i [x) aus, ihrer Lösung wirklich näher gebracht werden
zu können. Wo aber jene neuen Lippsschen Voraussetzungen
fllr mehrere gleichzeitig gegebene K.-G. F (J (.r) t usw. in der Tat genau
erfüllt wären, da könnte wiederum die Berechnung der Schwelle
viel einfacher vorgenommen werden, wie ebenfalls kurz zu er¬
wähnen sein wird.
Die hypothetischere Form, in der Lipps den Schwellenbegriff
einführt und gegen die wir den unserigen hier vor allem ver¬
teidigen wollen, ist aber natürlich an sich von dieser speziellen
Anwendung auf die Herstellungsmethode, bzw. von der Schwellen¬
berechnung aus dem isolierten F g i (x) völlig unabhängig. Sie ist
also zunächst vor allem auch für die Auffassung entscheidend,
die Lipps aus ihr über das Verhältnis der sämtlichen Urteils¬
kurven einer Vollreihe, also insbesondere auch der Kurven F g (r)
und F k (x), zur Schwelle gewinnt, bei der die Darbietungszahl m r
jeder Stufe V x bekannt und im einfachsten Falle überall gleich
ist. Dabei ist es eben für diese ältere, hypothetischere Anschau¬
ung vom Wesen der Schwelle charakteristisch, daß bei ihrer Zu¬
lassung die Kurven F (J [x) und F k [x) ihre gegenseitige Un¬
abhängigkeit verlören und wirklich nichts mehr zum
Ausdruck bringen könnten, was nicht auch schon aus
der Kurve F u (a;) allein zu entnehmen wäre, wobei sich na¬
türlich die Berechnung infolge der Bekanntheit des in viel einfacher
gestaltet als für die Herstellungsmethode. In der Tat benützt denn
auch Lipps folgerichtig für die Berechnung der Schwellen bei
sämtlichen Methoden schließlich nur die Funktion F u [x), und am
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Zur erk. a. math. Begründung d. Maßmethoden f. die Unterschicdsechwelle. 61
auf eine gemeinsame, einer und derselben Behandlung
zugängliche Form gefordert werden muß« (a. a. 0. S. 88).
Die tatsächliche Unabhängigkeit, die für die Beobachtung bei
mindestens drei Hauptfällen zwischen F {) [x) und F k [x) jederzeit an¬
erkannt werden muß und die uns mit Müllers neueren Schwellen-
liypothesen zunächst auf zwei relativ selbständige K.-G. hinfuhrt»
gerät aber nun freilich, wie wir sehen werden, mit dieser weiteren
Hypothese der Konstanz der Schwelle und der ausschließlichen
Operation mit einem einzigen K.-G. der Fehler sofort in Wider¬
spruch, sobald die beiden hypothetischen K.-G. unter sich nicht
genau iibereinstimmen *). — Auch an dieser einleitenden Stelle soll
jedoch sogleich auch wiederum das positive Verdienst hervor¬
gehoben werden, das sich gerade G. F. Lipps um die Klärung
des Verhältnisses zwischen den Resultaten der einzelnen Methoden
allein schon dadurch erworben hat, daß er von Anfang an bei
ihnen allen auf die gleichmäßige Berücksichtigung der Gesichts¬
punkte der Kollektivmaßlehre drang, wenn diese natürlich auch
von jeder Vereinfachung der Hypothesen, die Uber das empirisch
hinreichend begründete Maß hinausgeht, scharf unterschieden
werden muß. Insbesondere aber hat G. F. Lipps durch die
eingehendere Beschäftigung mit der Verteilung F u (r) bereits eine
wichtige Beziehung derselben zur Unterschiedsschwelle aufge-
funden 2 ), die auch später in Müllers Anerkennung des Idealgebietes
der u -Fälle als eines Maßes der Unterschiedsempfindlichkeit zur
Geltung kam. Doch konnte auch diese Relation wegen der
speziellen Voraussetzungen bei Lipps noch nicht in der vollen
Allgemeinheit hervortreten, in der sie, wie Spearman zuerst
11 Auch Herr Professor G. F. Lipps hat die Freundlichkeit gehabt,
bereits brieflich auf diesen Differenzpunkt hinsichtlich der Unabhängigkeit
zwischen F g (x) und F k [x) hinzuweisen. Da er aber seinen Standpunkt in
dieser Richtung bereits in den genannten Veröffentlichungen ausführlich dar¬
gelegt hatte, so war dieser von mir schon vor meinem Eintreten für G. E.
Müllers neueren Schwellenbegriff in Erwägung gezogen worden. Ins¬
besondere hatte ich den für mich in dieser Frage entscheidendeu Gesichts¬
punkt im Abschnitt I, 3 bereits vor meiner Abhandlung über die »Grund-
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« v PRINCETON UNIVE
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62
W. Wirth.
gesehen hat, wenigstens das arithmetische Mittel der beiden
hypothetischen K.-G. der oberen und unteren Schwelle mit dem
Idealgebiet der Gleichheitsfälle verbindet 1 ).
d) Bei unserer Stellungnahme zu den beiden Anschauungen
werden wir nun die nämliche Reihenfolge wie bisher innehalten.
Denn die Kritik des Urban sehen Versuches, auf einen hypo¬
thetischen Schwellenbegriff überhaupt zu verzichten, wird sich am
besten unmittelbar an eine Rekapitulation unserer eigenen Auf¬
fassung von diesem Begriffe anschließen, wenn auch der Inhalt des
kurzen, unmittelbar vorhergehenden Abschnittes I, 3 Uber die Un¬
bestimmtheit der realen Abhängigkeit zwischen der oberen und
unteren Schwelle vor allem der Polemik gegen G. F. Lipps vor¬
arbeitet. Der Grad der Hypothesenbildung, bis zu dem wir bei
unserem Müllerschen Begriffe fortschreiten, wird sich hierbei als
ein besonders natürlicher erweisen, da dessen Inhalt uns von dem
Tatsachenmaterial geradezu aufgenötigt wird. Im Anschluß daran
wird sich dann die tatsächliche Bedeutung des Resultates der Minimal¬
änderungen bei seiner gewöhnlichen Berechnungsweise ganz von
selbst ergeben, wenn wir nur ihr von Urban zunächst richtig dar¬
gestelltes Verhältnis zu den Urteilskurven der Vollreihe berück¬
sichtigen. Dabei glaube ich freilich schon hier zu finden, daß sich
für Urban am Schlüsse seiner mathematischen Analyse
das Resultat der Methode leider bereits durch irgend
einen Fehler zugunsten seiner speziellen Theorie ver¬
schoben hat (siehe S. 85). Darüber hinaus wird sich uns aber
dann zeigen, daß Urbans Bearbeitung des Materiales dieser Me¬
thode, bei der einfach wieder wie früher das arithmetische Mittel
aus dem ebenmerklichen und ebenunmerklichen Unterschiede vieler
Reihen gezogen wird, nicht nur kein korrektes Maß der
Unterschiedsschwelle abzugeben vermag, sondern über¬
haupt die gesamte Mannigfaltigkeit der unmittelbaren
Erfahrungen Uber die Urteilskurven nur unvollständig
wiedergibt.
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Den Übergang zum zweiten Abschnitt über den Lipps sehen
Standpunkt wird eine Analvse der allgemeinen Beziehungen
l Ol tö f* Original from
VJC/V A*»- DDIMTCTHM I IMI\/CDCITV
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Zur erk. u. math. Begründung d. Maßraethoden f. die Unterschiedsschwelle. 63
F g (x) + F u (x) F k (x) = 1 und die Stetigkeit dieser Funktionen,
aber keinerlei spezielles Verteilungsgesetz, insbesondere aber auch
keine sonstige Beziehung zwischen F g (x) und F k (x) vorausgesetzt
ist. Dabei wird uns zunächst noch ein, wie ich glaube, neuer
Satz über die Beziehung des Dichtigkeitsmittels (Häufigkeits¬
maximums) der Gleichheitsfälle 2)„ begegnen, der uns noch kurz
zu der Zurücksetzung Stellung nehmen läßt, die diesem Äquivalenz-
werte der F’s beim Vergleich mit N bei Urban widerfährt, der
ihm den Schnittpunkt der unmittelbar beobachteten Urteilskurven
Fg (x) und F k (x) vorziehen will*). Dieser leicht zu beweisende
Satz lautet einfach: Das Dichtigkeitsmittel (Kurvenmaxi¬
mum) £) u der Gleichheitsfälle ist für jede beliebige
Kurvenform gleich der Abszisse des Schnittpunktes der
Verteilungskurven der (hypothetischen) K.-G. des oberen
und des unteren Grenzreizes f 0 (x) und /'„(x), also der Ver¬
gleichsreiz, der gleich häufig mit dem oberen und mit
dem unteren (hypothetischen) Grenzreiz zusammenfällt,
bzw. als r 0 und r u gleich wahrscheinlich ist. — Die weiteren
Betrachtungen gelten dann zunächst der Vieldeutigkeit, die bei
bloßer Kenntnis der Kurve F u (x) bezüglich der beiden K.-G. der
oberen und unteren Schwelle bestehen bleiben muß, solange
der tatsächlich vorhandene Grad der Unabhängigkeit zwischen
F g (x) und F k (x) in der Beobachtung nicht durch neue Hypothesen
aufgehoben wird. Hiermit erscheint also eigentlich jeder
Versuch einer Berechnung der Schwellen aus der iso¬
lierten Funktion F u (x) schon von vornherein illusorisch,
falls man keine besonderen Gründe für Zusatzhypo¬
thesen über eine Abhängigkeit zwischen F g (x) und F k (x)
beizubringen vermag. — Hierauf wenden wir uns endlich zu der
speziellen Hypothese, die in der älteren Annahme einer Konstanz
der Schwelle enthalten liegt und die in der Tat jene eben ge¬
nannte Berechnung der Schwelle aus F tl (x), bzw. dann eventuell
auch aus F gt (x), ermöglichen würde. Diese Beziehungen zwischen
der Schwelle und F„ ix) unter Voraussetzung der älteren Schwellen-
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64
W. Wirth,
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2) Der hypothetische Charakter des Schwellenbegriffes.
a) Eine Schwelle bedeutet ganz allgemein ein Extrem einer
Auslösungsbedingung für einen Vorgang, der somit jenseits dieses
Extremes eben nicht mehr eintreten kann, während er bei allen
übrigen Stufen bis zu einer weiteren Grenze, die bei den einzelnen
Anwendungen des Begriffes jeweils nicht näher ins Auge gefaßt zu
werden braucht, durchweg vorkommt. Als »Unterschiedsschwelle«
(U.-S.) bezeichnet man daher die ebenmerkliche Differenz zwischen
V und N, welche die Schwelle der Unterscheidung oder der Er¬
kennung des Unterschiedes bildet. Ist die Auffassung von N nicht
mit wesentlichen Fehlern behaftet, so kann man dann weiterhin
speziell die »obere« U.-S. s 0 einfach als die Differenz V — N
definieren, von der an der Grad der Eigenschaft bei V, hinsicht¬
lich der man vergleicht, größer erscheint, als »untere« U.-S. s„
dagegen den entgegengesetzt gerichteten Unterschied N — F, von
dem an dieser überall selbst mit F bezeichnete Grad eben als
kleiner beurteilt wird. Da somit dieses allgemein anerkannte
»oben« und »unten« am unmittelbarsten verständlich ist, wenn
man F im Vergleich zu N beurteilt, so haben wir auch hier überall
diese Urteilsrichtung bei der Darstellung des Urteilsinhaltes bei¬
behalten, ohne Rücksicht darauf, wie man sich das Urteil selbst
von dem Beobachter abgegeben denkt (also umgekehrt wie bei
G. E. Müller, der N als beurteilt betrachtet). Dabei wird die
Unterscheidung dieses »oben« und »unten« von jener Einschränkung
der Fehler bei N unabhängig, wenn man nicht den Abstand
± (F — N ), sondern die einzelnen Stufen des Vergleichsreizes
r,, r t . . . r n als unabhängige Variable auffaßt. Man spricht
also dann von einer »oberen« oder »unteren« »Schwelle«
ähnlich absolut wie bei der Reizschwelle, und meint damit
einen »oberen Grenzreiz« r 0 = r + s 0 als Minimum der in Fvariierten
Auslösungsbedingung des Urteiles »größer«, bzw. einen »unteren
n»*or»rr»«airf * /»• - />• o old Afovimnm Alu /lln TT 1 a - Irin!« -
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Zar erk. u. math. Begründung d. Maßmethoden f. die Unterschiedsschwelle. 65
b) Lägen nun diese Extreme r 0 und r u konstant bei den näm¬
lichen Stufen des F, so fände man sie unmittelbar aus einer
einzigen F-Reihe r,, r 3 ... r„ direkt heraus, die der Experi¬
mentator dem Beobachter in irgend einer Folge vorlegt. Würde
man aber jede Stufe mmal wiederholen und aus der »Vollreihe« der
drei »Hauptfälle« k, u } g die relativen Häufigkeiten (r. H.) als empi¬
rische Funktionen F k (x), F u ( x ), F g ( x ) dieser Stufen r = x ableiten,
so würde sich die hier zunächst fingierte Konstanz der Schwelle
einfach darin äußern, daß bis r„ nur k-, von da bis r 0 nur u-,
und darüber hinaus nur noch g -Fälle vorlägen. In diesen Be¬
reichen käme also immer nur eine jener drei Kurven F(x) vor, die
in der Höhe = 1 parallel zur re-Achse verliefe, während die
Grenzen zwischen dem k - und m-, dem u- und <7-Bereich völlig
mit den Ordinaten der Grenzreize r u und r 0 zusammenfielen.
Diese »Schwellen« hätten also in diesem Falle wirklich nicht viel
Hypothetisches an sich, sondern wären unmittelbar zu beobachten.
Eben deshalb ist aber nun auch angesichts des wirklichen Bildes
jener empirischen »Verteilungskurven« der drei Hauptfälle
F k (z ), F„(x), F g (x), das keine solche scharfe Sonderung der drei
Urteilsgebiete, sondern eine weitgehende Überschneidung zeigt (vgl.
z. B. Urbans Kurven in diesem Archiv, XV., S. 339), immer noch
ohne spezielle Hypothese wenigstens so viel unmittelbar zu beobach¬
ten, daß die Extreme r 0 und r u auf keinen Fall konstant sind, son¬
dern in einer Weise schwanken, deren Prinzip hierbei allerdings
noch völlig unbekannt bleibt, ja die überhaupt in keinem Punkte
für allgemeingültig gehalten zu werden braucht. Würde es sich nun
bloß um die Beobachtung der Beurteilung der V neben dem
speziellen Normalreiz N allein handeln, so könnte man sich
vielleicht mit dieser Feststellung begnügen. Eine Analyse der
Faktoren, die für die spezielle Lage von r 0 und r„ entscheidend
sind, insbesondere also auch die Deutung der als sogenannte »kon¬
stante Fehler« bezeichneten Abweichungen von einer als Norm
geltenden Lage zu N=r selbst (z. B. von ihrer einfachen Symmetrie
zu N ), ist aber natürlich nur dadurch zu erreichen, daß mau die
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W. Wirth,
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beteiligten Faktoren zurUckgeschlossen werden kann. Läßt also
die unmittelbare Beobachtung den einzelnen Versuchslagen mit
JV,, iV 4 usw. überhaupt keine bestimmten Paare von Grenzreizen
r 0 1 , '/"«i; r 0t 2 , r u> 2 usw. eindeutig zuordnen, so müßte jene Ana¬
lyse auf Grund der Variation der Vergleichsbedingungen entweder
mit lauter genau übereinstimmenden Schwankungsformen ähnlich
wie mit konstanten Einzelwerten operieren können, was natürlich
auch nicht angenähert erfüllt ist, oder sie ist gezwungen, jeweils
vergleichbare Repräsentanten auf stets analoge Art aus den un¬
mittelbar beobachteten Verteilungsfunktionen abzuleiten und beim
Vergleich der verschiedenen Varianten weiterhin allein zu berück¬
sichtigen. Für die Berechnung solcher Repräsentanten für zu¬
fällig, d. h. im einzelnen unerklärlich schwankende »Exemplare*
hat nun bekanntlich die Kollektivmaßlehre bereits wohl-
bewäbrte Prinzipien entwickelt, die einerseits sogenannte »Haupt-
werte« ableiten lassen, die den nicht eindeutig zu beobachtenden
Einzelwert selbst ersetzen, andererseits ihnen Streuungsmaße
an die Seite stellen, die auch über den Umfang und die Form der
Schwankungen selbst vergleichbare Auskunft geben.
c) Für die Anwendung dieser Prinzipien auf einzelne
Fälle ist aber natürlich stets vorausgesetzt, daß man
sich darüber klar geworden ist, welche »Kollektivgegen¬
stände« (K.-G.), d. h. welche Arten von zufällig variablen
Exemplaren denn eigentlich repräsentiert werden sollen.
Dies ist z. B. ohne weiteres klar, wenn man den K.-G. der
u -Fälle zusammenstellt, in denen V von N nicht unterschieden
werden konnte, eventuell ihm also einfach gleich erschien. Die
so definierten »Exemplare* konstituieren ja den direkt beobach¬
teten K.-G. mit der Verteilung F u [x) und lassen sich daher durch
deren bekannte Hauptwerte, z. B. durch das arithmetische Mittel
r gl (51) 1 ) =Jx-F u {x)dx • -
fFuWdx
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Zur erk. u. math. Begründung d. Maßmethoden f. die Unterschiedsschweüe. 67
aber dies wenigstens nicht direkt mit der Bestimmung von Schwellen
im Sinne eines »Maximums« oder »Minimums« von Urteils¬
bedingungen etwas zu tun, sondern bezieht sich im Gegenteil ge¬
wissermaßen auf das Optimum für eine bestimmte, in engere
Grenzen eingeschlossene Urteilsart. Die k- und ^-Urteile können
dagegen in ihrer Abhängigkeit von den V nicht in gleicher Weise
als K.-G. »nach Zufall wechselnder« Exemplare aufgefaßt werden,
da jedes in seinem Hauptbereich außerhalb E u , bzw. E 0 sogar allein
vorkommt. Eine Beschränkung auf die Unsicherheitsregion wäre
aber eben deshalb auch wiederum völlig willkürlich, solange man
die Urteile als solche als K.-G. betrachten wollte. Der zufällig
variable Tatbestand kann also immer nur indem Urteils¬
wechsel bestehen, d. h. in dem psychophysischen Zu¬
stande, der bei vollständiger Konstanz der Urteils¬
bedingungen in der vorhin betrachteten Weise in die Er¬
scheinung treten würde, daß die Urteilsgebiete durch
je eine Grenzordinate scharf voneinander geschieden
sind. Da wir aber nun einmal aus dem wirklichen Verlauf der
Urteilskurven ersehen haben, daß eine solche Konstanz der »Grenz¬
reize«, bei denen dieser Übergang vom einen Urteil zum anderen
jederzeit erfolgen würde, überhaupt nicht existiert, so können
wir überhaupt niemals erwarten, daß die einzelnen zu¬
fällig wechselnden Exemplare unseres K.-G. des Urteils¬
wechsels jemals in einer empirischen Urteilsfolge un¬
mittelbar zu beobachten wären. Selbst wenn zwei Reiz¬
darbietungen r v und r v + x (r„ + x >> r,,), von denen man r v noch als
gleich, r y + i richtig als größer beurteilt fände, zeitlich noch so un¬
mittelbar aufeinanderfolgten, so brauchte dieser empirisch beobach¬
tete Urteilswechsel doch niemals der augenblicklichen wirklichen
Lage des Minimums für die g -Fälle zu entsprechen. Dieses
Minimum r 0 kann sich im ersten von beiden Versuchen bei r v + x
und im zweiten bei r r - u befunden haben, ohne daß man diese
Stellen aus der empirischen Beobachtung dieses Urteilswechsels
von einem Versuch zum anderen näher bestimmen könnte. Nicht
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W. Wirth,
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die spezielle Form dieser Änderung, insbesondere also auch darüber,
ob sie stetig oder sprungweise geschieht, im voraus gar nichts
auszumachen ist. Diese Unsicherheit Uber die konkrete Einzel¬
lage der Schwelle würde daher auch, wenigstens prinzipiell, nicht
beseitigt, wenn man von der Darbietung diskreter Reizstufen zur
stetigen Veränderung überginge. Die Schwelle als das jeweils
wirklich herrschende Extrem der Reizbedingungen, bis zu dem
man in jedem durch je einen Einzelversuch dargestellten Moment
gehen könnte, ohne auf eine andere Urteilsart als die augen¬
blicklich vertretene zu stoßen, muß daher bei sukzessiver
Beurteilung je einer einzigen Stufe des Vergleichs¬
reizes V notwendig immer hypothetisch bleiben.
Natürlich wäre diese im Wesen der Sache gelegene Ein¬
schränkung auch dann nicht beseitigt, wenn man die verschiedenen
Stufen des Reizes V in irgend einer Verteilung gleichzeitig
einwirken und dadurch gleichzeitig im Bewußtsein vergegenwärtigt
sein ließe. Denn das gesuchte Bedingungsextrem für die Er¬
kennung eines Unterschiedes zwischen N und V bezieht sich ja
jedesmal auf ganz bestimmte Wahrnehmungsbedingungen des N
und der einzelnen Stufen des V, die durch die Wechsel¬
wirkungen zwischen den gleichzeitigen Wahrnehmungen
mehrerer Reizstufen mehr oder weniger stark verschoben
würden. — Kurz die Schwelle als jeweils quantitativ eindeutig ge¬
dachter Begriff des Urteilsextremes bleibt auf keinen Fall ein Be¬
griff der Beschreibung eines jeweils empirisch zu beobachtenden
Einzelprozesses, der sich im Bewußtsein als einzelnes Urteils¬
system irgendwelcher Art unter bestimmten Reizbedingungen ab¬
spielt, sondern ist ein psychophysischer Dispositionsbegriff,
ähnlich wie die Begriffe der additiven und multiplikativen Ein¬
flüsse der Nach- und Nebenerregungen, der Erregbarkeits¬
änderung, der Assoziationen usw. Doch meint man mit der
Schwelle keine Disposition für einen bestimmten einzelnen Be¬
wußtseinsinhalt oder ein Merkmal eines solchen, wie bei den eben
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Zur erk. u. math. Begründung d. Maßmethoden f. die Unterechiedsschwelle. 69
nicht etwa ein so abstrakter Begriff wie derjenige der »Unter¬
scheidungsfähigkeit« für bestimmte Sinnesqualitäten Überhaupt,
sondern sie bringt nur eine einzelne ganz konkrete, aber auch
besonders charakteristische Seite dieser Fähigkeit zum Ausdruck,
wie sie eben durch die Abgrenzung bestimmter experimenteller Be¬
dingungen ermöglicht wird. Aber sie hat natürlich mit jenen elemen¬
taren Dispositionsbegriffen den erkenntnistheoretischen Grund¬
charakter gemein, daß sie nichts völlig Unsagbares, sondern eben
eine Bedingung für Bewußtseinsinhalte bedeutet, da ja ihr
Sinn vollständig in dem des Bedingungsextrems für ein natürlich
stets bewußtes Unterscheidungsurteil aufgeht. Dabei läßt aber
gerade diese Disposition so bequem wie nicht leicht eine
andere den prozessualen Charakter aller psychischen
Dispositionen überhaupt experimentell verfolgen, der
ihnen genau wie den Bewußtseinsinhalten selbst, aber auch wie
vielen außerpsychischen Tatbeständen, als fortwährende Änderung
des mit ihnen gemeinten konkreten Zustandes eigen ist. Während
also eine oberflächliche, mehr qualitative Betrachtung bisweilen
wenigstens die psychischen Dispositionen als konstante Zu¬
stände zu betrachten geneigt macht, insofeni gewisse Gründzüge
der von ihnen erwarteten Bewußtseinseffekte erhalten bleiben,
nötigt uns der Versuch einer genaueren quantitativen
Bestimmung der mit ihnen gegebenen Leistung ohne
weiteres, sie als etwas stets Veränderliches, d. h. also als Vor¬
gänge zu betrachten. Das vorhin über die psychischen Dispo¬
sitionen im allgemeinen Gesagte wird diese Formulierung hoffent¬
lich vor Mißdeutungen bewahren.
d) Freilich ermöglichen diese Rückschlüsse deshalb auch keine
quantitative Bestimmung der jeweiligen Lage der Schwelle im
einzelnen, sondern nur ihres Kollektivgegenstandes, so
daß man sich schließlich mit bloßen Mittelwerten und Streuungs¬
maßen der beiden Grenzreize begnügen muß. Der Gedanken¬
gang dieses Schlusses aber ist mit dem Wesen des Be¬
dingungsextremes, wonach r 0 ein (dispositionelles) Mini¬
mum und r u ein Maximum für je einen besonderen Effekt
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W. Wirth,
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relativ so oft das Urteil »größer« anslösen, als der obere Grenz¬
reiz r 0 niedriger lag als r x (oder als r 0 < r x ) und andererseits so
oft zum Urteil »kleiner« führen, als r u höher hinaufrückte (oder
als r u ^> r x ) *). Hiermit sind also die tatsächlich beobachteten Funk-
tionen F g [x) und F k (x) ohne weiteres als sogenannte »Summen¬
funktionen« der Kollektivgegenstände von r ö und r u charakterisiert,
bzw., hei der Stetigkeit der letzteren, als bestimmte Integrale
über die von mir mit f u (x) und/), (x) bezeichnetenVerteilungsfunktion
dieser hypothetischen K.-G. Dabei muß f 0 [x) als K.-G. eines
Minimums von seinem unteren Extrem E' 0 her, f u (x) als K.-G. eines
Maximums aber von seinem oberen Extrem E' u her aufsummiert
werden. Alle weiteren analytischen Sätze Uber die Beziehung der
Mittelwerte und Streuungsmaße der Grenzreize zu den Summen¬
funktionen F g (x) und F k (x) sowie die Vorschriften für eine be¬
queme Berechnung aus den beobachteten einzelnen Summen werten
ergeben sich dann ohne jede weitere Hypothese ganz von selbt.
e) Wenn also Urban meint, daß »die Erklärung der Grenz¬
reize als größte, bzw. kleinste Werte des V, die ,eben‘ ein ex¬
tremes Urteil (d. h. g oder f) ergeben, diesen Begriff nicht klarer
machten« (vgl. Literaturber. S. 7f.), so dürfte das Gesagte nunmehr
wohl auch für ihn jede Unbestimmtheit in dieser Richtung be¬
seitigen. In seiner, dem eben genannten Passus folgenden Alter¬
native, daß der Begriff der Ebenmerklichkeit entweder der
Methode der ebenmerkliclien Unterschiede entnommen sei, oder
aber eine Aussage Uber einen introspektiven Befund enthalte, der
sich jeder weiteren Kontrolle entziehe, ist ja gerade die für uns
allein mögliche Bedeutung noch gar nicht enthalten. Denn
der Begriff kann nach dem oben Gesagten eben nicht einfach auf
empirische Urteilsfolgen irgendeiner Methode, z. B. derjenigen der
ebenmerklichen Unterschiede zurückgeführt werden, wie unten (II, 3)
noch deutlicher werden wird, andererseits hat er aber doch ganz
gewiß auch nichts mit unkontrollierbaren Introspektionen zu tun,
sondern ist entsprechend seinem Wesen als ein Dispositionsbegrifi'
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Zur erk. u. math. Begründung d. Maßmethoden f. die Unterschiedsschwelle. 71
Analyse der Bewußtseinsmomente und sonstigen psychischen Fak¬
toren, die bei dem Vorgang der Ununterscheidbarkeit zweier
objektiv verschiedener Reize beteiligt sind, haben wir vielmehr in
dem physikalischen Maß der Unterschiedsschwelle 1 ) s = g- (r ö — r M ),
von dem alle quantitativen Analysen der Schwellen usw. auszu¬
gehen haben, sogar ausdrücklich verzichtet.
Es geht aber deshalb auch auf keinen Fall an, unseren Formeln
ftlr die Repräsentanten der Grenzreize selbst und für ihre Streu¬
ungsmaße eine von diesem (hypothetischen) Dispositionsbegriff
losgelöste Bedeutung zuschreiben zu wollen, wie sie ihnen
Urban trotz seiner Polemik gegen diesen Begriff zuer¬
kennen möchte. Er bezeichnet unser Verfahren als eine Cha¬
rakterisierung der beobachteten Urteilsverteilungen F g ( x ) und F k (x)
»durch ihre Parameter oder durch Funktionen dieser Parameter«
und meint, man könne meine Abhandlung so umschreiben, daß
die Funktionen f (d. h. die soeben genannten K.-G. f 0 [x) und
f,{x) der hypothetischen Grenzreize) überhaupt nicht erwähnt
werden. Nun ist natürlich, was sich zunächst nicht gegen Urban
richten soll, klar, daß Formeln, die die gesuchten hypothetischen
Werte r 0 und r u , M 0 und M u usw. durch die beobachteten Ver¬
teilungen F g (x) und F k (x) der Urteile auszudrucken gestatten
sollen, die Unbekannten r 0 und r u , bzw. ihre Verteilung f 0 (x)
und f u ( x ) selbst nicht mehr enthalten dürfen, da eben sonst die
Rechenaufgabe nicht gelöst wäre. Und da ferner jede Funktion
zu unbegrenzt vielen anderen in eine rein formale Beziehung ge¬
bracht werden kann, in denen sie als Summand oder Faktor und
dergleichen vorkommt, so muß die nämliche rechnerische Ver¬
bindung der g , bzw. der k , die für uns r 0 (51) usw. ausdrückt,
rein formal auch aus solchen anderen, weder f 0 [x) usw. noch
eine Funktion dieser K.-G. enthaltenden Verbindungen
der gr und k durch Subtraktion oder Division und dergleichen
wiederum »abzuleiten« gein. Die für uns entscheidende Fr^^e ^
aber natürlich, ob diggen anderen Verbindungen i*|^ e tvA'
feine reale psycboiog-ische Bedeutung zuzuschreib ^
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72
W. Wirth,
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eines K.-G. von solcher realer Bedeutung darstellt. Wir
würden Müllers, Spearmans und meinen Bestrebungen in dieser
Richtung vorläufig jede Bedeutung absprechen müssen, falls wir
die beobachteten Verteilungen der Urteile F a (x) und F k (x) nur
einfach durch irgendeine neue rechnerische Verbindung
ihrer »Parameter« »repräsentiert« hätten, die nicht zugleich
die Ableitung anerkannter Hauptwerte des a. Mittels usw. und
ihrer Streuungsmaße für einen ganz bestimmten K.-G. dar¬
stellten ! ). Andere Repräsentationen würden ja mit allen sonstigen,
nach den anerkannten Prinzipien abgeleiteten Werten völlig un¬
vergleichbar, inkommensurabel bleiben. Nun hat z. B. unsere für
r 0 ($1) angegebene Formel i ('S 7 g x + den Sinn, daß sie das
x = 1 bis p — 1
arithmetische Mittel der Differentialquotienten von F g (x) nach x
zwischen E 0 und E' 0 darstellt, und diese Werte — j b -^~ bezeichnen
für uns mit logischer Notwendigkeit die Wahrscheinlichkeit dafür,
daß das Bedingungsminimum für ein g-Urteil bei x liege. Nimmt
man aber auch nur eine von diesen beiden völlig »klaren« Einsichten
weg, so verliert die genannte Formel für mich vorläufig jede
psychologische repräsentative Bedeutung. Auch glaube ich, daß
sich für keine anderen rechnerischen Prämissen der soeben ge¬
nannten Formel für r (21) diese reale Bedeutung der zu repräsen¬
tierenden K.-G. und die Anerkanntheit der benützten Repräsen¬
tationsfunktion nach weisen lassen, die sie unseren Erklärungs¬
begriff des Bedingungsextremes ersetzen ließen, wenn wir
nicht etwa, wie es hier ja überall ausdrücklich aus¬
geschlossen sein soll, spezielle Verteilungsformen, z. B.
Symmetrie der zu repräsentierenden K.-G., einführen.
Urban glaubt nun anscheinend wohl, diese Ableitung von seinem
1) So lege ich auch z. B. meinerseits der Tatsache höchstens einen Affek¬
tionswert bzw. allgemein eine mnemotechnische Bedeutung bei, daß ich
auf die Formel für r (21) schon lange Zeit vor ihrer Ableitung durch Spear-
man durch eine einfache rein äußerliche Operation bei Her¬
stellung der Müllerschen Idealgebiete gekommen war, indem mir
auch die absolute Lage der Grenzlinie, die gewissermaßen bei der getrennten
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uuvu uivj a u P \
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Zur erk. u. math. Begründung d. Maßmethoden f. die Unterschiedeschwelle. 73
Begriff des »ebenmerklichen Unterschiedes« aus zustande bringen
zu können, von dem er meint, daß er sich zunächst wenigstens
mit unserem r (6) decke. Unsere folgenden Darlegungen in Ab¬
schnitt II dürften aber wohl auch jede Aussicht in dieser Richtung
benehmen, so daß uns vorläufig wohl nur die genannte Alter¬
native bleibt, unseren Formeln entweder »ohne Umschreibung« die
von uns gemeinte Bedeutung oder überhaupt keine beizulegen.
3) Die Unbestimmtheit der realen Abhängigkeits¬
beziehung zwischen der oberen und unteren Schwelle
innerhalb des tatsächlichen Beobachtungsmateriales.
Mit der Feststellung, daß wir von den beobachteten Häufig¬
keiten g und k aus immer nur auf Kollektivgegenstände
jener Bedingungsextreme, nicht aber auf ihre jeweilige Lage im
einzelnen zurtickschließen können (siehe I, 2 d), ist natürlich das
gleiche auch für den jeweiligen Abstand zwischen r 0 und r n
konstatiert, der häufig einfach als doppelter Wert der mittleren
»Unterschiedsschwelle« aufgefaßt wird, insofern nach S. 62
r 0 — r u = s 0 - f- s u ist. Natürlich hält man in jedem Augenblick,
in welchem man ein r 0 als das Minimum der scheinbar größeren
Vergleichsreize annimmt, erst bei einem ganz bestimmten klei¬
neren r x <^r u das »kleiner«-Urteil für eben möglich. Denn wenn
diese Extreme auch schwanken, so ist doch deshalb in jedem
Augenblick die Möglichkeit für beide Urteilsarten eine bestimmt
abgegrenzte. Wenn sich aber eben überhaupt einmal eine
mittlere Urteilsart dazwischenschiebt, so daß also nicht
etwa immer schon F g (x) -f- F k (x) = 1 ist, so läßt sich nie¬
mals a priori etwas darüber aussagen, welche spezielle
Eventualität von r u aus dem gesamten K.-G. f w (x) jeweils
gerade mit einem angenommenen Falle r 0 aus f 0 (x) zu¬
sammentrifft. Die Summe s 0 -f- s u = r 0 — r u ist also für unsere
Erkenntnis noch um einen Grad hypothetischer als s 0 und s u bzw.
1 A.. _ • 1 1 « 1 , . *1 rr • i -1 1 • J _
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W. Wirth,
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Möglichkeit aus, daß ein V gleichzeitig entgegengesetzte
Urteile (g und t) auslöst, wie es sein mußte, wenn jemals
r 0 <C r u würde. Da sich aber im allgemeinen die nach dem vorhin
genannten Prinzip abgeleiteten hypothetischen K.-G. f 0 [x) und f u (x)
von E' 0 bis E' u überschneiden, wie in Figur 2 zu sehen sein wird,
so darf also von vornherein nicht etwa die bekannte Produkt¬
bildung f 0 (; x p ) • f u (x g ) als Ausdruck der Wahrscheinlichkeit betrach¬
tet werden, daß gleichzeitig r 0 bei x p und r t4 bei x q liege. Denn
dieses aus der Kombinationsrechnung abgeleitete Produkt hat eben
nur so lange Bedeutung, als wirklich sämtliche Kombinationen je
eines Wertes des einen mit je einem der anderen K.-G. überhaupt
möglich sind. Doch wird uns dies in der beiderseitigen Zuordnung der
einzelnen Fälle von f 0 [x) und f u (x), die wir uns gleichzeitig ver¬
wirklicht denken können, freilich nur sehr wenig einschränken, d a
(bei stetigen K.-G.) doch noch immer unendlich viele
Kombinationen ohne Inversion von r 0 und r M übrig bleiben.
Wir heben diesen hohen Grad der beiderseitigen Unabhängigkeit
von f 0 [x) und f u (x), der insbesondere die Repräsentanten
beider K.-G. völlig unabhängig voneinander zu berechnen
gestattet, schon an dieser Stelle ausdrücklich hervor, wenn wir
auch erst bei der Stellungnahme zu der Lippssehen Behandlung
der Gleichheitsfälle darauf zurückkommen werden.
II. Zur Methode der ebenmerklichen Unterschiede.
1) Die Methode der Minimaländerungen als spezielle
Form der Ableitung sogenannter Vollreihen. — Urbans
Rückkehr zur Sonderbehandlung ihres Beobachtungs¬
materiales mittels der Begriffe des ebenmerklichen und
des ebenunmerklichen Unterschiedes.
a) Bei Anwendung der Methode der Minimaländerungen wurde
ursprünglich die Möglichkeit, daß die Urteilsextreme schon wäh¬
rend der Ableitung einer einzelnen Partialreihe (mit be¬
stimmter Richtung: der Abstufung: oder mit unregelmäßiger Reihen-
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Zur erk. u. math. Begründung d. Maßmethoden f. die Unterschiedsachwelle. 75
mum reduziert bleiben, so daß man sich gewissermaßen den In¬
halt unseres hypothetischen Schwellenbegriffes in jeder einzelnen
Reihe an einem ganz bestimmten Werte dieser »Disposition« völlig
konkret verwirklicht dachte. Die Mittelbildung zwischen den
Partialreihen entgegengesetzter Richtung wurde also auch nur
vorgenommen, um vor allem die systematischen Einflüsse der
Richtung (z. B. Erwartungsfehler) auszuschalten. Unter dieser
Voraussetzung war man dann offenbar auch ohne weiteres be¬
rechtigt, die Zufälligkeit, die den innerhalb jeder Reihe annähernd
konstanten Gesamtlagen im Vergleich zu anderen Reihen an¬
haftete, einfach durch das arithmetische Mittel aus den Grenz¬
reizen der verschiedenen Reihen zu eliminieren.
Sobald man aber einmal näher in Betracht zog, daß die zu¬
fälligen Schwankungen der Urteilsextreme schon einer und der
nämlichen Reihe die Möglichkeit benehmen, einen eindeutigen
Wert der beiden Extreme r 0 und r u unmittelbar auffinden zu
lassen, ging die Methode der Minimaländerung durch die Ab¬
leitung von Häufigkeitskurven ganz von selbst in diejenige der
drei Hauptfälle über, wie es aus ihrer neuesten Darstellung sei¬
tens ihres Begründers Wundt selbst am deutlichsten zu ersehen
ist 1 ). Daher darf auch die oben als endgültig betrachtete Auf¬
stellung sogenannter »Vollreihen« keineswegs, wie es öfters ge¬
schieht, als eine bloße Weiterentwicklung der Methode der r. und
f. Fälle betrachtet und zu derjenigen der minimalen Abstufung
in Gegensatz gestellt werden, sondern sie bildet nur eine aus der
zweckmäßigen Verbindung dieser beiden Methoden her¬
vorgegangene Vervollkommnung des einzig möglichen Verfahrens
einer exakten Schwellenbestimmung schlechthin, wie es durch das
sachliche Wesen der Schwelle als eines zufällig schwankenden
(dispositionellen) Urteilsextremes gefordert ist. Nachdem man
durch eine geeignete »Abstufung« in notwendiger Verbindung
mit der »Abzählung« der Urteile eine hinreichende Anzahl von
Werten der Funktionen F g [x) usw. abgeleitet hat, können daher
1 1» t\ i n i ii i ti . ISoi»
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76
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geboten erscheint. Natürlich wird jede besondere Reihenfolge
in der Darbietung der sämtlichen, in einer Vollreihe enthaltenen
Fälle stets das tatsächliche Verhalten der Urteilsextreme beein¬
flussen. Wenn aber die Mittelwerte einigermaßen allgemeingültig
bleiben sollen, wird man jedenfalls die einseitige Wiederholung
von Vergleichsreizen bestimmter Regionen möglichst zu vermeiden
haben. Dies führt aber somit ganz von selbst dazu, daß man,
wie bei der Minimaländerung mit unregelmäßiger Reihenfolge, die
sämtlichen Stufen zu absolvieren sucht, bevor man zu einer höheren
Frequenzzahl aller Stufen weiterschreitet, wenngleich auch die
zufällige Mischung aller Eventualitäten bei mehrmaliger Dar¬
bietung jeder einzelnen für die Aufrechterhaltung der vollen Un¬
wissentlichkeit um so wichtiger wird, je geringer die Gesamtzahl
sämtlicher Stufen ist. Und ich wüßte nicht, was noch mehr dafür
sprechen sollte, daß der Minimaländerung bei diesem Aufgehen in
der Methode der drei Hauptfälle ganz gewiß kein Unrecht ge¬
schieht, als die sinngemäße Forderung vom Standpunkte der all¬
gemeinen, von der Annahme spezieller Verteilungsgesetze
unabhängigen Kollektivmaßlehre, daß diese vollkommenste Me¬
thode bei Einschränkung der Zeit, die für die Versuche unter
konstanten Versuchsumständen zu Gebote steht, nicht etwa in
Richtung der Häufung einiger weniger Stufen, also nicht der alten
Methode der r. und f. Fälle, sondern gerade in Richtung der
Minimaländerung, d. h. einer weniger häufigen Absolvie¬
rung einer geschlossenen Reihe zu reduzieren ist, wenn
man den wichtigsten Repräsentanten des arithmetischen
Mittels der Schwelle und die bekannten Streuungsmaße
in der a. a. 0. beschriebenen Weise will angeben können.
b) Gegenüber dieser einheitlichen Kollektivbehandlung alles
Materiales, das zur Ableitung von Schwellen gewonnen wird,
möchte nun Urban seinerseits der Methode der Minimaländerungen
gerade aus der Betrachtung der relativen Häufigkeiten g und k in
Vollreihen eine Sonderstellung wiedergewinnen, mit der eine
spezifische Behandlung des Materiales Hand in Hand gehe.
Ähnlich wie also G. F. Lipps mit seiner wesentlich hypotheti-
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Gck igle
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Zur erk. u. math. Begründung d. Maßmethoden f. die UnterschiedeBchwelle. 77
Abstufungsmethoden eine neue aktuelle Bedeutung zuerkennen
zu müssen. Das Endziel dieser Methode bliebe nach Urban frei¬
lich selbst dann, wenn es mit den von ihm dazu vorgeschlagenen
Mitteln wirklich sicher und genau zu erreichen wäre, kein anderes,
als es auch von uns bei der unmittelbaren Behandlung der Voll¬
reihen, und zwar in der schon längst üblichen Seite dieses
unmittelbaren Verfahrens angestrebt wird, nämlich die Bestim¬
mung desjenigen Vergleichsreizes, für welchen die rela¬
tiven Häufigkeiten g bzw. k gerade den Wert 2 er¬
reichen. Nur verfolgen wir mit Müller dieses Ziel eben aus
dem Grunde, weil nach den oben dargelegten Prinzipien diese
Abszissen des Vergleichsreizes den Zentralwerten r 0 (6) und
r„ (6) unserer hypothetischen K.-G. f 0 (x) und f u (x) entsprechen,
also den bei der Gültigkeit des Gaußschen Gesetzes mit r (51)
und r (2)) identischen und auch sonst immerhin wichtigen Haupt¬
werten. Eben deshalb wollen wir diese Größe des Vergleichsreizes,
für welche aus den unmittelbar beobachteten Häufigkeitszahlen der
Vollreihe der Wert F g ( x ) bzw. F k [x) = y nach irgendeiner Me¬
thode, eventuell auch unter Voraussetzung einer bestimmten Ver¬
teilungsfunktion, zu interpolieren ist, auch fernerhin kurz mit
r (Q) bezeichnen. Urban glaubt hingegen diesen speziellen Ab¬
szissenwert ohne Verwendung des hypothetischen, dispositionellen
Begriffes der Schwelle als Resultat der Methode betrachten zu
können, die wir mit ihm unter Benützung des älteren Fechnerschen
Terminus als diejenige der »ebenmerklichen Unterschiede« be¬
zeichnen wollen, die aber, abgesehen von der für dieses Endziel
nötigen Häufung der einzelnen Reihen, mit der Wundtschen Me¬
thode der Minimaländerungen bei unregelmäßiger Reizvaria-
tion übereinstimmt. Markiert man die Urteile »größer«, »gleich«
(unbestimmt), »kleiner«, deren relative Häufigkeiten mit g, u, k
bezeichnet werden, mit g, u, ! und einem Index, der demjenigen
des Vergleichsreizes r x entspricht, auf den das Urteil abgegeben
wurde (gleichgültig, wie die Fälle in der Reihe zeitlich an¬
geordnet waren), so wäre also z. B. in einer Reihe mit 6 Stufen:
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Gck igle
' Origirälfrcm
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»ebenunmerkliche« obere Unterschied, da hier, von rechts her ge¬
zählt, zum erstenmal g nicht mehr vorkommt. Als Wert des
oberen Grenzreizes erscheint dann innerhalb der Reihe das
arithmetische Mittel des ebenmerklichen und ebenunmerklichen
Unterschiedes, und als endgültiges Resultat der Methode das Mittel
solcher Einzel werte aus vielen derartigen Reihen. Diese endgül¬
tigen Resultate, für die wir die Symbole r 0 (S. äft.) und r u (Ge. 9ft.)
bzw. einfach r ((5. üft.) wählen wollen, werden also zunächst un¬
mittelbar als die beiden rein empirisch gefundenen »Grenzen des
Intervalles der Ungewißheit« definiert, und mit ihnen sollen
dann nach Urban ((£) und r u (ß) notwendig zusammen¬
fallen.
Eben deshalb bringt es uns wenigstens zu den praktischen
Konsequenzen der Urb an sehen Theorie auch noch in keinen
wesentlichen Gegensatz, daß wir da, wo wir überhaupt diese
speziellen Hauptwerte als Repräsentanten benützen wollen, natür¬
lich direkt auf diese selbst losgehen, also sie aus den beobach¬
teten g- bzw. ^-Werten durch Interpolation bestimmen, falls sie
sich nicht zufällig einmal unter diesen selbst befinden. Denn
nachdem Urban einmal die Übereinstimmung von r (6) mit
r (@. 9R.) a priori abgeleitet zu haben glaubt, wendet auch er
sich in den weiteren Teilen seiner Arbeit vor allem zur direkten
Bestimmung von r ((£) aus den mit sieben Beobachtern ge¬
wonnenen Vollreihen, deren beobachtete Verteilungsfunktionen
F„ (x) usw. er kurz als »psychometrische Funktionen« be¬
zeichnet. Dabei findet er nun, wie vor allem in seinen Ta¬
bellen 58 und 59 ‘) abschließend dargestellt ist, daß die Inter¬
polation von r (£) nach Lagrange, die auch wir in der speziellen
Form der sogenannten »Differenzenmethode« dem unmittelbaren
Verfahren durchweg zugrunde gelegt haben, von r 0 (@. 9tt.) und
r u (@. 2R.) nur ganz wenig abweicht, wenn auch die Übereinstim¬
mung nicht ganz so gut ist wie bei der Ausgleichung der psycho¬
metrischen Funktionen nach der ©-Hypothese (d. h. bei der An¬
wendung des Müll ersehen Gewichtsverlahrens, das er durch die
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Bruns hierbei theoretisch berücksichtigten Gewichts-
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Zur erk. u. math. Begründung d. Maßmethoden f. die Unterschiedsschwelle. 79
Hypothese, deren Werte in seinen Beispielen zwischen der ©-Hypo-
these und der Interpolation stehen. Diese »Arctan-Hypothese« ge¬
winnt aUerdings auch für Urban wegen der großen übrigbleibenden
Fehler (a. a. 0., S. 412 f. des S.-A.) keine weitere Bedeutung. Doch
brauchen wir auf die Bestimmungen der sogenannten »Genauig¬
keit« der einzelnen Methoden nach den gebräuchlichen Gesichts¬
punkten, die hier je nach der Herkunft der Resultate selbst natür¬
lich ganz verschieden zu spezialisieren waren, an dieser Stelle
nicht näher einzugehen. Denn für uns handelt es sich ja hier nur
um das Wesen der Größen r (@. 9tt.) selbst, die in der von Urban
vorausgesetzten Anwendung der Methode gefunden wurden, und
insbesondere um ihre Beziehung zu r (6), ohne Rücksicht darauf,
aus welchem Schwankungsbereich*sie durch Mittelbildung heraus¬
gehoben werden 1 ).
2) Die Verschiedenheit des Wertes r (@. 3JZ.) von r (ß) ohne
Voraussetzung spezieller Verteilungsgesetze.
a) Die ganze Sorgfalt der Urbanschen Analyse kon¬
zentriert sich also auf den Versuch, die Übereinstimmung
von r (@. 2R.) mit r (S) nachzuweisen. Ja, Urban geht sogar
so weit, die vorhin genannte kleine Abweichung des inter¬
polierten r (S) von dem aus dem gleichen Beobachtungsmaterial
berechneten r (@. 9??.) auf den Unterschied des interpolierten Wertes
als einer mit Fehlern behafteten »Beobachtung« von dem wahren
r ((£) zurtickzuftthren, und betrachtet somit, bei idealer An¬
wendung der Methode, r (@. üft.) sogar als den unmittel¬
barsten Repräsentanten des zur Hälfte aller Fälle richtig
beurteilten Vergleichsreizes r (©). Da aber natürlich die
bessere Übereinstimmung mit der ©-Funktion, die den beobach¬
teten Häufigkeiten g und k am nächsten kommt, bei dem gänzlich
unbekannten Charakter der »wahren« Funktion noch nicht als
Beweis für die These angesehen werden kann, so ruht dieser voll-
••
ständig auf den apriorischen Überlegungen, die von den wahren
psychometrischen Funktionen F g ( x ) und F k (x) ausgehen und aus
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W. Wirth,
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ihnen die Wahrscheinlichkeiten berechnen, wie oft jede Stufe des
Vergleichsreizes bei einer sehr großen Zahl von Einzelreihen als
Punkt r (ß. 9)2.*) der Ebenmerklichkeit (vom Inneren der Un¬
sicherheitsregion, d. h. von der Region der Gleichheit aus gezählt)
und als Punkt r (ß. 9ft. a ) der Ebenunmerklichkeit (von außen her
gezählt) zu erwarten ist*). Die Summe sämtlicher mit diesen
Wahrscheinlichkeiten multiplizierten Stufen aber ist nach den oben
genannten Vorschriften der Methode das endgültige berechnete
r 0 (ß. üft.) bzw. r„ (ß. 5tt.). Die Wahrscheinlichkeit, als r 0 (ß. 9)?.<)
vorzukommen, bezeichnet Urban mit P, für r 0 (ß. 9ft. B ) mit P',
ferner für r M (ß. 3R.<) mit U und für r M (ß. 9}?. a ) mit ü'. Nach
Urban müßte also
r. (S) = r t (g. 3».) = [1]
Lt
sein, wobei
r. (ffi. SR.,) = r,P+r,P ... + r„ P [2]
und
(ß. m. a ) = r 4 P' + r # P' . . . + r u P, [3]
und ganz analoge Gleichungen wären für r u (ß. 2R.) unter Ver¬
wendung von U und TT anzuschreiben. Man brauchte offenbar
nur noch die plausible Voraussetzung hinzuzufügen, daß in einer
großen Anzahl von auf- und absteigenden Einzelreihen jede Reiz¬
stufe x wirklich so oft als r (ß. 9ft.<) usw. gefunden wird, als es
der Erwartung an der Hand der psychometrischen Funktionen
entspricht 1 2 ), und‘hätte dann in der Tat nach dem Beweis des
Satzes [1] diese Methode als Hilfsmittel zur Bestimmung von r (ß)
anzuerkennen. Ich kann aber nun keineswegs finden, daß
Urban den Beweis für [1] wirklich erbracht hat. Ja bei
der funktionstheoretischen Analyse der Methode hat er sogar selbst
1) Diese Bezeichnungen der Abstufnngsrichtung sind auf r 0 und r u gleich¬
mäßiger anwendbar als die des »auf- und absteigenden Verfahrens«.
2) Diese Voraussetzung findet Urban auch rein empirisch sehr gut be¬
stätigt, wobei er allerdings die sehr große Zahl von je 300 bis 450 Einzel reihen
bei 7 Vp. für jeden Wert zugrunde legt. Die Werte, die sich flir r 0 (S. 3)1.) usw.
aus den empirischen psychometrischen Funktionen unter Einsetzung von
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Zur erk. u. math. Begründung d. Maßmethoden f. die Unterechiedsschwelle. 81
nirgends behauptet, daß er diesen Beweis tatsächlich geführt habe.
Im Gegenteil ist man sich innerhalb dieses Zusammen¬
hanges überall wohl bewußt, daß ohne Voraussetzung
spezieller Verteilungsgesetze an einen allgemeinen Satz
zur genauen Bestimmung des Verhältnisses zwischen
r (&. 2)1.) und r (6) überhaupt nicht gedacht werden kann.
Erst gegen den Schluß dieser Vorüberlegungen erscheint zu¬
nächst auf einmal schon der Abstand zwischen r ((£) einerseits und
den von innen und von außen her gewonnenen Partialwerten
r(&. 9)1.*) und r (@. 9Ji. a ) andererseits ohne nähere Angabe eines
Grundes prinzipiell vermindert, und in den späteren Diskussionen
werden dann die arithmetischen Mittel r (©. 9ft.) aus den Partial-
werten mit den r (&) als »Grenzen des Intervalles der Unsicher¬
heit« ohne weiteres vollständig identifiziert.
Aus jenem Wahrscheinlichkeitskalkul an der Hand der psycho¬
metrischen Funktionen und der Definitionen der r (Gs. äft.*) usw.
geht nur so viel mit Notwendigkeit hervor, daß r (@. üft.) und r (ß)
für den niemals genau zutreffenden Fall Ubereinstimmen,
daß erstens jene Funktionen sich symmetrisch zu r (ß)
verhalten, gleichgültig, ob sie dabei speziell auch noch die be¬
kannte Snmmenfunktion 1 + d) (t ) zum einfachen Exponential-
gesetz nach Gauß darstellen oder nicht, und daß zweitens
die tatsächliche Abstufung der Vergleichsreize zufällig
gerade so gewählt ist, daß sie zu r (ß) selbst symmetrisch
ist. Für diesen Fall würde dann der gesuchte Beweis zugleich
überaus einfach und selbstverständlich. Als Wahrscheinlichkeit
P z dafür, daß jede Reizstufe r < r x das Urteil u oder f, r z aber
zum erstenmal, von innen (unten) her gezählt, das Urteil g ergibt,
finden wir mit Urban offenbar das Produkt der Wahrscheinlich¬
keiten dafür, daß jede einzelne Stufe, unabhängig von den übrigen,
den hier bei ihr gefundenen Urteilseffekt erzeuge. Somit wird
P, = [l_JV(r,)].[l-^(r t )] ... [l-Pifr,.,)]. JV(rJ. [41
Ebenso wird die Wahrscheinlichkeit dieses Reizes r x , als r 0 (ß. 5[R. n )
befunden zu werden,
\ t~ . .\ . ri _ v ir n
P' - KJS,. \ TP f*
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W. Wirth,
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F o i r i) = 1 - F o ('•)
F i (#*,) = 1 — F a (r w _,) usw., [6]
und wir erhalten
P' = P
P'n -1 = USW. [7]
Setzen wir also die Werte aus [7] in die Gleichungen [2] und [3] für die
»berechneten« Werte (vgl. S. 80, Anm. 2) r 0 (@. 9Jt.,) und r 0 (ß. üfl. a )
ein, so müssen diese natürlich ebenfalls zu r (ß) symmetrische
Werte ergeben, da die nach unserer zweiten Voraussetzung zu r (ß)
paarweise symmetrisch gelegenen Abszissen r { und r n , r t und r„_i
usw. nach Gl. [7] mit übereinstimmenden Häufigkeitswerten ange¬
setzt sind. Unter dieser ganz speziellen und in Wirklichkeit nie¬
mals genau erfüllten Bedingung würde also dann in der Tat auch
Gl. [1] gelten, da das a. Mittel der zu r (ß) symmetrischen Partial¬
mittel natürlich in den Symmetriepunkt selbst hineintrifft.
In den übrigen Fällen wird dagegen Gl. [1] im allgemeinen
hinfällig. Es ist nichts mehr Allgemeines darüber auszu¬
sagen, wie die Partialmittel r 0 (ß. 907.*) und r 0 (ß. 9fl. a ), nach
Gl. [2] und [3] berechnet, sich zueinander und zu r (ß) ver¬
halten, und ein ganz analoger Gedankengang ist natürlich wieder
bezüglich r u (ß. 9D7.) und r u (ß) durchführbar. Allerdings wird man
auch noch für den Fall, daß wenigstens F g (x) bzw. F k (x) zu
ihren r (ß) genau symmetrisch sind, auch ohne jene zu r (ß) sym¬
metrische Abstufung der Reize innerhalb einer Reihe doch noch
so viel zugestehen können, daß dann das arithmetische Mittel aus
sehr vielen Reihen mit stets wechselnder Abstufung dem r (ß) be¬
liebig nahe gebracht werden kann, insofern man sich die Ab¬
stufung hierbei so variiert denkt, daß die Asymmetrien innerhalb
jeder einzelnen Reihe sich schließlich doch wiederum symmetrisch
kompensieren. Für die gewünschte Verallgemeinerung des Satzes
zu einem Prinzip der Methode überhaupt ist aber dieses Zugeständnis
natürlich nicht ausreichend, da eben gerade diese Hauptvoraus¬
setzung der symmetrischen Änderung von F g [x] im allgemeinen
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Zar erk. u. math. Begründung d. Maßmethoden f. die Unterschiedsschwelle. 83
U ( x) und ü' [x] zuteil werden läßt, können hieran nichts ändern.
Als allgemeinster Satz wird hierbei nur so viel gewonnen, daß
die Maxima der Wahrscheinlichkeit dieser Funktionen, die
natürlich ohne spezielle Voraussetzungen mit den a. Mitteln
r„ (G. 5J£.<), r 0 (@. ÜDi«) usw. keineswegs zusammenfallen, im allge¬
meinen (d. h. bei nicht zu unglücklicher Abstufung) in der Rich¬
tung des Abzählens der Fälle vor r (S) liegen, weil diese Funk¬
tionen von der nach r (6) gelegenen Reizstufe an notwendig
abnehmen. Es liegen also wenigstens diese Maxima (Dichtigkeits¬
mittel) 55* und 3)* von P und P' auf verschiedenen Seiten von
r(6), und ihr a. Mittel-^- wird dem r ((£) im allgemeinen
näher liegen als jedes einzelne 2) für sich. Über den ttbrig-
2 ) + 2 )'
bleibenden Fehler r (6)-——— und insbesondere Uber die
Lage des a. Mittels r 0 (@. 9ft.) der arithmetischen Partial¬
mittel nach Gl. [2] und [3] ist aber hiermit noch gar
nichts Näheres ausgemacht 1 ). Da sich jenem Satz Uber die
1) Das gilt dann auch für den Flächenschwerpunkt der Kurve für die
stetige Funktion P[x) bzw. Pix) ubw., die sich aus den Wegen zusamraen-
fdgen läßt, welche die diskreten Ordinaten-
gipfel P,, P,, ... P n einer äquidistanten
Stufenreihe r,, r 2 , ... r„ bei einer stetigen
Verschiebung der Reihe nach r, «t,
r s + « », ... r n + tt i [i = r v + 1 — r y ) zu-
riicklegen. Jedenfalls ist hiermit der klarste
Fall der Variation der Stufenreihe in meh¬
reren Reihengruppen bezeichnet, von der sich
Urban, wie schon S. 82 angedeutet, die
Auffindung bestimmterer Beziehungen zwi¬
schen r (GE) und r ((5. 37?.) erhofft zu haben
scheint. In beifolgender Figur 1 ist diese
Kurve Pix) ftir ein rein schematisches
Beispiel einer psychometrischen Funktion
F } (x) = iQ x dargestellt, von deren gerad¬
linigem Verlauf die tatsächlichen Beobach¬
tungen natürlich sehr weit abweichen. Doch
kann man alle wirklich allgemeinen Sätze an
solchen einfachen Funktionen leichter ver¬
anschaulichen und sich oft vor falschen Ver-
Fig. 1. DieWahrschein-
lichkeit Pix) einer Reiz¬
stufe x, als r a (<S.37?.<) be-
fundenzuwerden. (Inter¬
vall der Stufen i = 1, äußerste
linke Stufe x, = 0 + « •
wobei « < 1. =
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84
W. Wirth,
Lage von 35* vor P usw. wenigstens noch die allgemein gültige
Spezialisierung hinzufügen läßt, daß seine Abweichung von r (CS)
in der genannten Richtung um so größer wird, je enger und zahl¬
reicher die Reizstufen aneinandergereiht sind, so ließe sich viel¬
leicht eine allgemeine Bezeichnung zu r (&) noch am ehesten von
2 ) + 2 )'
——— erwarten. Aber abgesehen davon, daß die Methode der
ebenm. Unterschiede in diesem Falle eben nach dem Prinzip des
Dichtigkeitsmittels und nicht mehr nach dem jedenfalls an sich
näherliegenden des arithmetischen Mittels gehandhabt werden
müßte, um eine etwas kontrollierbarere Beziehung des Resultates
zu r (&) herzustellen, wäre ja mit der bloßen Sicherung der Ab¬
weichung zwischen r ((£) und r (©. 9ft.), deren Hauptrichtung
übrigens in dem genannten Sinne schon bei einer sehr geringen
Zahl von Stufen vor r ((£) garantiert erscheint, über die ge¬
naueren Maßverhältnisse immer noch nichts ausgemacht. Auch
die Beiziehung des Tchebycheff sehen Satzes bringt uns hierin
nicht weiter, da dieser ohne Voraussetzung spezieller Verteilungs¬
gesetze ebensowenig eine Brücke zwischen 3)* und r 0 (S. usw.
oder zwischen r ((£. ÜR.) und r ((£) zu schlagen vermag. Denn er
bezieht sich ja hier auf das Verhältnis des r (@. 2JZ.) aus mehreren
Abstufungssystemen zu dem Mittel aus allen möglichen Systemen
dieser Art, ohne zu dem speziellen Repräsentanten r ((£) der
psychometrischen Funktionen oder auch nur zu 35* ein bestimmtes
Verhältnis herzustellen. Am klarsten hat aber Urban selbst
diese Verzichtleistung auf den gesuchten Beweis bereits
S. 300 und 302 formuliert, wo er sagt: »Es läßt sich a priori
keine Aussage über die in einem gegebenen Falle gültige Ver¬
teilung (der P) machen« und »Eine symmetrische Verteilung
(von P und P') würde die Ausnahme sein« (S. 300), und S. 302: »Falls
man nun nicht besondere Annahmen über die Größen P macht,
kommt man nicht zu den bekannten, relativ einfachen Aus¬
drücken.«
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Zur erk. u. math. Begründung d. Maßmethoden f. die UnterschiedsBchwelle. 85
näher an r (6) heranzuriicken gesucht, daß »einer der beiden Ver¬
gleichsreize«, zwischen denen r (6) liegt, »die größte Wahrschein¬
lichkeit hat, als Ergebnis der Bestimmung des ebenmerklichen
ibzw. des ebenunmerklichen) Unterschiedes zur Beobachtung zu kom¬
men«. In Wirklichkeit findet man aber, daß SD* bei genügend
enger Abstufung leicht zwei oder noch mehr Stufen
vor -r (©) liegen kann, wodurch dann natürlich auch ein wesent-
$ 1 2 )'
lieh größerer übrigbleibender Fehler r (6)-—— möglich
wird. Insbesondere ist dies z. B. auch schon an Figur 1 (S. 83,
Anm. 1) veranschaulicht, da ja hier 2)* um zwei volle Reizstufen
«C
vor r (6) liegt. Wenn jene Verteilungsfunktion F g (x) — ^ auch
von der psychometrischen sehr stark abweicht, so können analoge
Abstände zwischen r (@. bzw. r(@. 9K.«) und r ((£) auch bei
der Ob-Hypothese Vorkommen. Der falsche Satz (S. 305)
bildet aber in Urbans Schlußkette ein nicht unwichtiges
Glied!
c) Da also die Deduktion aus der Voraussetzung bestimmter
»psychometrischer Funktionen« die Beziehung zwischen r ((£. 9)?.)
und r ((X) im einzelnen noch dahingestellt sein läßt, so kommt die
Vermutung, daß die Abweichung des r (@. 9tt.) von dem nach
Lagrange interpolierten r ((5) in dem empirischen Beispiele
Urbans von den Fehlern der beobachteten g herrübre, einer
petitio principii gleich. Denn wenn auch diese Annahme an und
flir sich nichts Unmögliches behauptet, so kann doch diese bessere
Übereinstimmung mit der Interpolation nach der ©-Hypothese
ebensowohl einfach darauf beruhen, daß die wahren Funktionen
F g (x) und F k (x) von der ©-Form verschieden und überhaupt zu
den r ((£) asymmetrisch ansteigen, und daß der wahre Wert r ((£)
von r (@. 9R.) systematisch verschieden ist und von diesem
nur eben zufällig in derjenigen Richtung abweicht, in der er auch
durch die Umgestaltung der beobachteten Verteilung in die nächst-
liegende Form der ©-Funktion verschoben wird 1 ). Gerade vom
1) Daß nicht etwa die algebraische Form der Lagrangeschen
Interpolationsfunktion, die von der wahren jedenfalls mehr oder weniger
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86
W. Wirth,
rein empirischen Standpunkte aus hat man also dabei
stehen zu bleiben, daß die Resultate r(ß. 9}?.) der Methode
der ebenmerklichen Unterschiede selbst bei einer so
großen Reihenzahl, wie sie Urban anwandte, den wahr¬
scheinlichen Wert r (ß), so genau er nur immer auf Grund
brauchbarer Vollreihen bestimmt werden könnte, immer nur an¬
nähernd erreichen. Eine solche bloße Annäherung würde aber
dann nicht nur an r (ß) stattfinden, sondern ebenso auch an r (51)
und r ($), die ja bei voller Symmetrie der Änderung der F (x)
zu ihren r (ß) ohnehin zusammenfielen. Im allgemeinen Falle der
Abweichung zwischen r (ß. 9Ä.) und r (ß) dürfte r (ß. 2ß.) also ge¬
legentlich auch dem r (5t) oder r (2)) näher liegen als dem Vergleichs¬
reiz mit 50# richtiger Urteile, so daß also insbesondere von
der Methode der ebenmerklichen Unterschiede aus nie¬
mals zwischen den verschiedenen Hauptwerten der hypo¬
thetischen Schwellen eine Entscheidung getroffen werden
könnte.
3) Die Bedeutungslosigkeit des Wertes r (ß. 9JJ.) als des
bloßen Mittels der scheinbaren (nicht der wirklichen)
Lage der Urteilsextreme und die unvollsändige Berück¬
sichtigung des Beobachtungsmateriales der Vollreihen
bei seiner Berechnung.
a) Wenn man aber nun auch in r (ß. $R) und r (ß) im allge¬
meinen verschiedene Werte zu sehen hat, so daß also die Methode
bestehen bleiben, wo r((5) fast genau mit einem beobachteten Werte überein¬
stimmt, wie aus Tabelle 11, Bd. XV, S. 287 und Tabelle 58 und 59 zu ersehen.
V
g bzw. lc
r (£) nach
Hypothese
r (£) nach
Lagrange
r (ffi. SOI.)
(beobachtet)
Vp. II
100
g = 0,53
99,27
99,55
98,71
Vp. V
96
g = 0,51
97,16
95,83
97,35
Vp. VI
96
k = 0,49
95,29
95,82
95,20
Dabei ist aber auch noch zu berücksichtigen, daß die beobachteten Werte
der psychometrischen Funktionen bei Urbans Versuchen schon einen relativ
sehr hohen Grad von Zuverlässigkeit beanspruchen künnen, insofern sie.
allerdings dafür in nicht sehr engen Intervallen, bei Vp. II wie bei I und III
aps je 45Q und bei V und VI wie bei IV und VII wenigstens aus je 300 Einzel-
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Ural
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Zur erk. u. matk. Begründung d. Maßmethoden f. die Unterschiedsschwelle- 87
der ebenmerklichen Unterschiede mit r (6) im Grunde genommen
gar nichts zu tun hat, so bleibt doch zunächst immer noch die
Frage, ob dem Werte r(@.2R.) nicht vielleicht doch wenig¬
stens unabhängig von den Hauptwerten unserer hypo¬
thetischen Schwellen r (6) usw. eine selbständige Bedeu¬
tung zuzuerkennen sei. Tatsächlich ist ja auch der Gedanken¬
gang bei Urban der, daß er bereits in den zufällig wechselnden
Einzel werten r(@. 3JJ.) unmittelbar und völlig hypothesenfrei die
jeweilige Grenze des Intervalles der Unsicherheit sehen zu dürfen
glaubt, wenn er auch wohl erst nachträglich durch die vermeint¬
liche Übereinstimmung ihres a. Mittels mit einem Werte, der seit
A. W. Volkmann als mittlere Schwelle anerkannt ist, in seiner
Anschauung bestärkt wurde, ein solches Mittel unter gleich¬
mäßigerer Berücksichtung aller Stufen (nicht nur derer bei 50^)
ohne das zeitraubende »Gewichtsverfahren« ableiten zu können. Wäh¬
rend aber r((£) aus den schon für Müller entscheidenden Gründen
(vgl. oben I, 2) in der Tat einen Hauptwert derjenigen Häufigkeits¬
verteilung bildet, die gemäß der gesamten Mannigfaltigkeit den
wirklichen Lagen der Schwellen in jedem Einzelversuch zukommt,
ist /*((£. 2ft.) immer nur der Repräsentant der Häufigkeiten, mit denen
das Urteil in einer Reihe, die jede Reizstufe je einmal
enthält, von der einen und der anderen Seite her ge¬
zählt, zum erstenmal umschlägt. Nachdem aber einmal un¬
zweideutig feststeht, daß dieses Extrem von Versuch zu Ver¬
such schwanken kann, ist dieser Punkt des tatsächlichen ersten
Urteilswechsels innerhalb einer Reihe nur noch ein scheinbares
Extrem, eventuell also gewissermaßen eine »Extrem¬
täuschung«, und noch dazu unter dem ganz speziellen
Gesichtspunkte der Abzählung von der einen oder
anderen Seite. Über diesen letzten Sinn dieser Einzelwerte,
aus denen r (@. schließlich das Gesamtmittel bildet, kann keine
einfache Mittelbildung mehr hinweghelfen. Solange man natürlich
bei der Methode der Minimaländerungen von diesen möglichen
Schwankungen innerhalb der nämlichen Reihe völlig abstra¬
hierte, war, wie schon gesagt, auch das Mittel der Wechselpunkte
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Digitizetf by
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88
W. Wirth,
täuschungen« erscheinen, über deren spezielle Beziehung zu den
Mittelwerten der wirklichen Lage der Extreme, die wir doch
im letzten Grunde allein suchen, ohne Voraussetzung spezieller
Verteilungsgesetze nichts Allgemeingültiges zu bestimmen ist, wie
wir nunmehr zur Genüge erörtert haben. Dabei liegt es im Wesen
der Sache, daß die Definition des ebenmerklichen und ebenunmerk¬
lichen Unterschiedes auch schon für die einzelnen Reihen gar nicht
einmal ein eindeutiges Phänomen einer augenblicklichen Schein¬
lage des Urteilsextremes zu sein braucht. Denn bei der Fest¬
stellung des ebenmerklichen oder ebenunmerklichen
Unterschiedes kümmerte sich Urban nicht darum, ob in
der Reihe hinter dem ersten Urteilswechsel nicht viel¬
leicht noch mehrere weitere Urteilswechsel stattfinden.
Dabei ist die Form dieser Einschränkung der Betrachtung ganz von
der zufälligen Form F g ( x ) abhängig. Jedes letzte Element der Mittel¬
bildung bedeutet also nicht nur ein bloß scheinbares Extrem über¬
haupt, sondern wird auch nur bei einer zufällig wechselnden
Einengung des Blickes als solches erscheinen.
Auch liegt die Sache keineswegs so, daß man sich hier, wie
in manchen anderen Erscheinungen, die man beobachtend zu
analysieren sucht, mit den soeben als »Erscheinungen« bezeichneten
Werten begnügen müßte. Unser oben in I, 2 d kurz rekapitu¬
lierter Rückschluß, der aus der ganzen Mannigfaltigkeit der
psychometrischen Funktionen unter Einbeziehung der sachlichen
Relationen auf die (mittlere) wirkliche Lage der Urteilsextreme
gezogen werden kann, ist vielmehr erkenntnistheoretisch ganz
ähnlich klar, wie wenn man etwa aus den Gesichtswinkeln
a, ß, y , d usw., unter denen eine geradlinige, aber sonst nach
Lage und Ausdehnung unbekannte und dabei variable Strecke
von verschiedenen, hinsichtlich ihrer Lage bekannten Punkten
A, B, ( 7 , D . .. einer Ebene aus erscheint, ihre wirkliche mittlere
Länge s berechnet, indem man auf die beteiligten geome-
triap.hp.n Rp7.ißlinmrAn RH p.lr ai p.b t. nimmt dip bpi knnatiintpr
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Zur erk. u. niath. Begründung d. Maßmethoden f. die Unterschiedsßchwelle. 89
Verfahren kann unter Umständen zufällig das Richtige treffen,
wenn bezüglich derLage sämtlicher Beobachtungspunkte
und der Veränderungsweise der unbekannten Strecke
ganz spezielle Voraussetzungen erfüllt sind. Es sei z. B.
die Unbekannte die durchschnittliche Länge einer variablen
Sehne eines Kreises, und die Beobachtungspunkte liegen beliebig
auf der Peripherie des Kreises verteilt, gewissermaßen wie kleine
Löcher, durch die mau in das Innere eines Ringes nach seiner Sehne
hinblickt. In diesem Falle müßte eine konstante Sehne wegen
der Konstanz der zur gleichen Sehne gehörigen Peripheriewinkel
von allen diesen Punkten aus gleich groß erscheinen, und das
arithmetische Mittel ihrer wirklichen, variablen Länge (in
Bogenmaß) würde daher in der Tat einfach aus dem arithmeti-
sehen Mittel der a, /f, 7, d durch Multiplikation mit -ggQ- zu
finden sein. Auch könnte die schon leichter erfüllte
Voraussetzung, daß die wirkliche Lage der Beobach¬
tungspunkte von dieser Lage auf der Kreisfläche tatsäch¬
lich niemals allzu weit abweicht, es mit sich bringen,
daß sich diese Berechnungsweise aus dem Mittel der
scheinbaren Größen wenigstens niemals allzu weit
von der wirklichen mittleren Ausdehnung s entfernen
würde, wie wir es wegen der tatsächlichen Verhältnisse bei
sehr vielen Versuchsreihen ja auch beim Werte r (@. ÜDL) allen¬
falls zugestehen wollten. Bei Bekanntheit der geometrischen Be¬
ziehungen, die dem Wesen der Vergleichstatsachen entsprechen,
würde man aber natürlich auch in diesem Falle lieber den völlig
exakten Weg der geometrischen Berechnung nach Formeln eiu¬
schlagen, die zunächst für jede beliebige Lage der Punkte
A, B, C usw. die wirkliche mittlere Ausdehnung der gesuchten
Strecke so genau als möglich berechnen lassen, falls der
exakte Weg wirklich so bequem ist, wie bei den
Schwellenwerten, insbesondere bei Anwendung unserer neuen
Formeln für r (21) usw.
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90
W. Wirth,
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wahre Lage der Extreme zur Verfügung stehen würde,
bei seiner Behandlung nach der Methode der ebenmerk¬
lichen Unterschiede nur ganz unvollständig verwertet
wird. Ohne die Voraussetzung spezieller Verteilungsgesetze kann
er also gar nichts über die wahren Verhältnisse aussagen,
die bei einem Kollektivgegenstande immer nur aus sämtlichen
Einzelversuchen des Materiales zu erschließen sind. Bei der Ab¬
leitung unserer hypothetischen K.-G. der beiden Schwellen f 0 {x)
und f u [x) sind dagegen in der Tat sämtliche beobachtete
Urteilsfälle g und f einbezogen, da sie ja alle zu unserem
K.-G. der wirklichen Schwellenlagen mit den Verteilungen
f 0 (z) = d F , 8 W und f„ ( x) = — d ^* - z - (siehe a.a.O. S. 144 Gl. [1 c]
und [2c]) beitragen. Alle Ordinaten der hypothetischen K.-G. f (x)
werden aber ihrerseits wiederum von den arithmetischen Mitteln r 0 (2l)
und r u {%) am gleichmäßigsten repräsentiert. Wenn wir dagegen
die relativen Häufigkeiten P und P' bestimmen, von denen der
Beitrag jeder Stufe r x zu dem Mittel r 0 (@. 2K.) der Extreme nach
Gl. [2] und [3] abhängt, so betrachten wir hierbei, wie schon S. 87 f.
zunächst in einem allgemeineren Zusammenhänge hervorgehoben
wurde, immer nur den Verlauf bis zum UrteilswechBel von einer
Seite her. Die Kombinationen
1)
U. (f.),
ü* A) )
9.i >
9i i
95 >
2)
u, ff,) >
A) )
9s»
u« A)»
u 5 A),
3)
u, (f.) ,
ü» A) >
9.i >
94 ,
»5 A) 1
4)
U, ff,),
», A),
9.i >
u t A),
9s 1
würden also z. B. bei der Bestimmung von r 0 (@. 9)t.<) als völlig
gleichwertig behandelt, d.h. als vier Möglichkeiten der scheinbaren
Lage des Extremes bei r 3 . Und wenn auch 1) und 4) sich dann
wenigstens bei der Bestimmung von r 0 (@. 9J?.«) voneinander und von
2) und 3) unterscheiden, so kommen doch die tatsächlichen
Unterschiede der beiden Kombinationen 2) und 3) nicht
einmal bei dieser Bestimmung des ebenunmerklichen
Unterschiedes (bei Stufe >‘ 5 ), also bei der ganzen Urbanschen
Behandlung überhaupt nicht zur Geltung. Kurz, die beiden
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Zur erk. u. math. Begründung d. Maßmethoden f. die Unterschiedaechwelle. 91
extreme stets ihren Einfluß geltend machen müssen. Ganz das
nämliche gilt dann natürlich für die Verwendung der Beobach¬
tungen zur Berechnung von r u (@. ÜJi.), zu deren Veranschaulichung
man in den obigen Reihenbeispielen nur ! und g zu vertauschen
und die Reihenfolge umzukehren braucht. Mau kann sich aber
wohl leicht selbst klar machen, wie groß die Zahl der bei Be¬
rechnung von r 0 (@. 9 R.) bzw. r u (@. 9ft.) völlig unberücksich¬
tigten Versuche sein muß, wenn die Reihen nicht nur aus sechs
sondern aus sehr viel mehr Stufen bestehen, so daß die Stellen
der Reihen, bis zu denen die Versuche von beiden Seiten her
berücksichtigt werden, immer weiter auseinander rücken und viel
mehr als nur eine einzige Stufe, wie hier i \, aus der Betrachtung
ausschalten können. Auch ist hiervon nicht etwa eine wesentliche
Einsparung von Einzelversuchen zu erwarten, da die Reihenfolge
der Versuche bei unregelmäßiger Variation der Stufen die
Irrelevanz dieser Versuche nur selten oder meist nur noch für
einen Teil derselben voraussehen läßt, ganz abgesehen davon, daß
die Ungleichmäßigkeit der Reihenlänge im ganzen kein Vorteil
wäre, zumal, wenn dadurch Versuche verloren gingen, die bei einer
richtigen Berechnung der Schwellenwerte gut zu brauchen wären.
Dies alles gilt natürlich sogar für Urbans ideale »Berechnung«
des Wertes r (@. 3J2.), also unter der Voraussetzung, daß die wirk¬
lich beobachteten Reihen die sämtlichen Möglichkeiten der Einzel¬
werte von r ((£. 9 Ji.<) und r(@. 2R. a ), die sich aus bestimmten
psychometrischen Funktionen F g [x) und F k (x) ergeben, wirklich
gleichmäßig realisieren, was auch immer nur annähernd erfüllt ist.
Wollte man aber diese Einschränkung, mit der das Material
der Vollreihen bei n Reizstufen in den Werten r (@. 2J£.) schließlich
zur Geltung gebracht wird, durch eine weniger einseitige Behand¬
lung aufheben, so müßte man eben wirklich sämtliche ver¬
schiedenen Urteilskombinationen für je w Stufen, die unter
Voraussetzung bestimmter psychometrischer Funktionen überhaupt
als Einzelreihen mit je einmaliger Darbietung jeder Stufe möglich
sind, getrennt berücksichtigen. Wollte man aber auf diese Art
A««t Da aRa ,
Digitizedby
A ^A«| «1 llL_ J! n Tjl / /I A n a n n « A
TV A A^TT n Af Atl
from
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92
W. Wirth,
Beobachtungsreihen hinreichend konstant blieben. Aber init
m n Reihen könnte man doch wenigstens in der Theorie das gesamte
Material wohldifferenziert berücksichtigen, während die Zufälligkeit
der Urbanschen Behandlung des Materiales auch schon daraus zu
ersehen ist, daß man ohne Einführung der tatsächlichen psycho¬
metrischen Funktionen gar nicht allgemein angeben kann, wie
viele von allen m n möglichen Reihenkombinationen bestenfalls
gesondert in Rechnung gezogen worden sind. Jedenfalls ist es
aber auch schon eine sehr große Anzahl, die uns zeigt, daß
jede Operation mit bestimmten speziellen Urteilsfolgen
innerhalb der Partialreihen zu n Gliedern zu ihrer A11-
gemeingültigkeit zum mindesten in eine ganz andere
Dimension der Versuchszahl hineinführen würde, auch
wenn das Ergebnis weniger einseitig wäre. — Denkt man sich aber
wirklich einmal in m n Reihen sämtliche Möglichkeiten der Urteils¬
gruppierung in separaten Einzelreihen dieser Methode vertreten,
so hätte man offenbar wiederum nur das gesamte Rohmaterial,
aus dem man sich zunächst die psychometrischen Funktionen ab¬
geleitet denkt, ^- = ra" _1 -mal vor sich, und mit der Analyse
desselben bzw. der Berechnung der wirklichen Urteilsextreme wäre
man, abgesehen von der Aussicht auf eine größere Genauigkeit nach
Lösung der Vorfrage, so weit wie nach einmaliger Absolvierung
von mn wirklich voneinander unabhängigen Einzel versuchen,
eine übrigens ganz charakteristische Situation, in die
aber eben jeder positivistische Versuch sich schließlich
hineingedrängt sieht, der den Inbegriff dessen, was
(dispositionelle) Bedingungen bedeuten, ohne Abstraktion
in die konkrete Gesamtheit ganz spezieller aktueller
Erfahrungen über sie auflösen will, und zwar gerade in
dem noch relativ besten Falle, in dem die sogenannte »ein¬
fachste Beschreibung« nicht einfach durch fehlerhafte Abbrevia¬
turen erlangt wird. Bei unserer Behandlung der Vollreihen brauchen
wir, wie oben erwähnt (siehe S. 69 f.), unsererseits bloß anzu¬
nehmen , daß in sämtlichen m n Einzelversuchen alle wesentlichen
Möglichkeiten
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der Beurteilung jeder einzelnen Reizstufe
• ’ ‘ " Origir^l frorrT '
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Zur erk. u. math. Begründung d. Maßmethoden f. die Unterschiedsschwelle. 93
mäßig in Angriff genommenen Ziele hinreichend nahe. So weit
systematische Nebeneinflüsse der speziellen Reihenfolge da sind,
bedenten sie natürlich stets eine Gefahr für den Erfolg der
Schwellenberechnung aus relativ wenig Einzelversuchen. Aber
man kann dann wenigstens dafür sorgen, daß die speziellen
Nebeneinflüsse, die aus der Reihenfolge resultieren können, durch
die Zufälligkeit der Untermischung vieler Fälle möglichst kom¬
pensiert sind.
Somit kann also den Werten r (@. irgendwelche Bedeutung
zur Repräsentation der einer Vollreihe zugrunde liegenden Unter¬
scheidungsfähigkeit nicht zugesprochen werden, und da Urban
seinerseits selbst zugibt, daß r (6) am genauesten immer durch die
Interpolation nach Lagrange bestimmt werden kann und gegen die
hier vorgebrachten Tatsachen im einzelnen auch kaum einen Ein¬
wand erheben dürfte, so werden wir seinen eigenen Ausführungen
über die Methode der ebenmerklichen Unterschiede nur die
eine praktische Bedeutung zuerkennen können, daß sie,
freilich entgegen seiner Absicht, die Unzulänglichkeit
dieser Sonderbehandlung der Methode der Minimal¬
änderungen gegenüber den Schwankungen der Schwelle
während ihrer Partialreihen mit voller Sicherheit dar¬
getan haben.
Anhang.
Die Variation des arithmetischen Mittels der
Schwellest), des konstanten Fehlers c (91) und der
Strenungsmaße M (31) bei Fraktionierung von Voll¬
reihen.
a) Wie schon erwähnt, hat Urban die wahrscheinlichen
Werte r ((£.30?.) aus den »psychometrischen Funktionen« F g {x)
und Ft (x) an der Hand des ausgedehntesten Materiales über
Gewichtsvergleichungen vorgenommen, das bisher für so viele
7) Versuchspersonen unter gleichwertigen Bedingungen abgeleitet
worden sein dürfte. Das Normalgewicbt von 100 g wurde hier-
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' ' "OTigirrilfi: n
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94
W. Wirth,
i — 4. Urban gibt aber nicht etwa nur die in seiner Tabelle 11
(a. a. 0. S. 287) enthaltenen relativen Häufigkeiten g, u und k für
sämtliche Versuche, deren Gesamtzahl bei Vp. I bis III für jede
Stufe m = 450 und für IV bis VII m = 300 war. In Tabelle 1
bis 7 fraktioniert-er vielmehr das gesamte Material flir
die sieben Vp. in Gruppen zu je 50 zeitlich zusammengehörigen
Einzel versuchen ftlr jede Reizstufe, was flir I bis III neun und flir
IV bis VII sechs Gruppen von gleichem Gewichte ergab. Er wollte
an der Hand dieses Materiales erst einmal feststellen, ob sich
die Partialwerte g (1), g (2) usw. dieser Fraktionierung in einer
hinreichend »normalen Dispersion« um ihr Mittel scharen, wie es
zur strengeren Anwendung des Wahrscheinlichkeitskalküls voraus¬
gesetzt ist, und fand dies auch für alle Vp., außer etwa III und
V, und am besten flir die bereits geübte Vp. II bestätigt.
Dieses schöne Material gibt uns nun eine sehr dankenswerte
Handhabe, um die Schwankungen des a. Mittels der Schwelle
innerhalb solcher an sich bereits hochwertiger Partialgruppen zu
verfolgen, also desjenigen Hauptwertes r (51), der vor dem im
unmittelbaren Verfahren früher allein gebräuchlichen r (&),
aber auch vor dem r(®) den Hauptvorteil voraus hat,
daß er nicht nur aus den nach dem Bernoullischen
Theorem viel unzuverlässigeren g- und /c-Werten in der
Nähe von 50 % , sondern gleichmäßig aus der ganzen
Funktion von E 0 , bzw. E u bis E' 0 , bzw. E’ u abgeleitet ist.
Urban hat ja auch das Verdienst, daß er auf diesen Gewichts¬
unterschied der verschiedenen relativen Häufigkeiten je nach ihrer
absoluten Größe, auf den freilich seinerzeit schon Bruns 1 ) und
inzwischen auch G. F. Lipps 2 ) ausdrücklich hingewiesen haben,
in der praktischen Rechnung überall sorgfältig Rücksicht genommen
hat. Ein Vergleich der einzelnen Fraktionswerte g (1), g (2) . . .
usw. für die verschiedenen Reizstufen läßt denn auch die großen
Verschiedenheiten ihrer absoluten Größenschwankungen je nach
dem Abstand von r (©) sehr deutlich hervortreten. Dadurch können
auch die Extreme E 0 usw. des Anstieges der psychometrischen
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Zur erk. n. math. Begründung d. Maßmethoden f. die Unterschiedsschwelle. 95
Man braucht nun bloß die nach Lage der Sache für sehr viele
Reihen wohl wahrscheinliche Annahme zu machen, daß die
äußersten Reizstufen 84 und 108 bei Urban den tatsächlichen
Extremen E, t und E 0 wirklich vollständiger Reihen, falls sie diese
noch nicht einschließen, doch wenigstens unmittelbar benachbart
seien, so daß E u mindestens 80 und E 0 höchstens 112 würde 1 ),
und man kann die Werte r (51) für alle Partialreihen nach der
Spearmanschen Formel berechnen, die ich allgemein für stetige
Funktionen F g [x) und F k [x) als hinreichend genau bewies, wonach 2 )
Bo
r 0 (31) = E 0 — jF g (z) d x = E 0 — i + g t + ... g p _ , + )
*0
und — bei symmetrischer Numerierung der k —
K
(31) = E u +1 Ft[x) dx — E u -\- i \k x -f- k t -f- • • • — ( -f* •
K
Einstweilen habe ich diese Berechnungen wenigstens für die
beiden Vp. I und II durchgefUhrt 3 ), die nicht nur das reichste
Material darbieten, sondern auch Urban als die konstantesten
erschienen. Außerdem füge ich wenigstens für Yp. I auch noch
das nach meiner Formel sehr bequem zu berechnende Streuungs¬
maß Af* (31) für sämtliche Partialgruppen, sowie für die Zusammen¬
fassung aller Versuche (nach Tabelle 11) hinzu, da sie ja eine von
den Hauptwerten relativ unabhängige Charakterisierung des Ver¬
haltens der Vp. bedeuten. Gleichzeitig betrachten wir den so¬
genannten konstanten Fehler, nach dem gleichen Prinzip als
c (31) = r °- ^ ] + 2 r " (g) — N berechnet 4 ).
1) Wenn die Versuche nicht von vornherein auf die Einbeziehung der
Extreme E und E' angelegt sind, wozu ja Urban ebenso wie die von ihm
zitierte neueste Abhandlung von Brown seinerzeit noch keine Veranlassung
hatte, bedeutet deren Extrapolation natürlich immer eine Annahme mehr.
Doch stimme ich mit Urban in der hohen Einschätzung der Extrerhe Uber-
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96
W. Wirth,
Übersicht über die arithmetischen Mittel r 0 (31) und r u (3t)
der Grenzreize und Uber Ms (St) und Ml (St), sowie über
die U.-S. s (St) = l [r 0 — r u ) und c (St) bei Urbans Vp. I und II
in Einzelgruppen zu je 7x50 und in der Zusammen¬
fassung zu 7 X 450 Versuchen.
Vp. I.
Einzelgruppen I—IX
! Zusam-
J men-
fassum:
n, (*>[
I 1
1 101,04
98.48
101,60
98,96
100,16
100,24
98,82 1
1 98,16
99,68
99.67
r„(®
91.92
92,80
92,96
91,68
93,60
93,84
94,48
93.68
95,60
' 93,39
* m
4,66
2,84
4,32
3,64
3,28
3,20
2,17
2,24
2,04
1 3,14
c (3t)
— 3.52
— 4,37
— 2,72
— 4,66
-3,12
— 2,96
— 3,35
-4,08
— 2,36
1 3,47
iV; M* (B)
1,73
1 0,97
0,61
2,37
1,78
1,48
1,29
1,69
0,64
1,65
iV K («)
| 2,29
1,21
2,03
1 2,12
1.57
2,09
2,07
1 2 ’ 15
1,16
1,96
l
Vp. II.
!
Zusain-
Einzelgruppen I—IX
men-
|j fass uns
r 0 [Wl
100,64
100,32
99,20
98,80
99,44
99,36
98,48
98,88
97,68
1 99.20
r„ (2t)
96,40
95,60
96,00
95,28
95.36
95,68
94.24
93,44
94,48
1 95,15
* (2t)
2,12
2,36
1,60
1,76
2,04
1.84
2,12
2,72
1,60
2,02
e (31)
-1,48
-2,04
-2,40
— 3,96
-2,60
1
— 2,48
— 3,64
— 3,84
— 3.87
-2,82
Eine sichere Kontrolle dieser Werte, abgesehen von den Rubriken M\ be¬
steht darin, daß das Mittel aus den obigen Einzelgruppen I—IX mit der
direkten Berechnung nach unseren Formeln aus der Zusammenfassung nach
Urbans Tabelle 11 übereinstimmen muß.
Diese Tabellen lassen nuu unschwer erkennen, daß der all¬
gemeine Zustand der Vp. in den verschiedenen Partial¬
gruppen doch nicht ganz so konstant war, wie es Urban
seinerseits aus der bloßen Betrachtung der Dispersion
Aer q - und £-\Verte für jede Stufe des V einzeln für sich
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Zur erk. u. matb. Begründung d. Maßmethoden f. die Unterschiedsachwelle. 97
das nämliche auch für Yp. II behaupten lassen, obgleich zwischen
den einzelnen Partialreihen sehr nennenswerte absolute Differenzen
in dieser Hinsicht Vorkommen, die hierbei w r ohl zunächst einfach
als zufällige Dispositionsschwankungen zu deuten sind. Bei Vp. II,
die ja auch für Urban als die konstanteste erschien, gilt wohl
die nämliche Zufälligkeit des Wechsels auch noch fllr den mitt¬
leren Schwellenwert 5 (51) und bei Vp. I ebenso fUr den konstanten
Fehler c (51). Dagegen scheint mir nebenstehende Tabelle
für Vp. I ganz unzweideutig eine zunehmende Verfeine¬
rung des Wertes s (51) und für Vp. II wohl ebenso bestimmt
eine Zunahme des negativen konstanten Fehlers c (51)
darzutun. Jene Tatsache dürfte auch mit dem sonstigen Befunde
gut zusammenstimmen, da bei Vp. I die Schwelle s (51) zunächst
an und für sich noch relativ groß, also noch eine hinreichende
Übungsfähigkeit vorhanden war. Andererseits ist auch bei ge¬
übten Vp. eine Erhöhung des negativen Fehlers als Effekt einer
systematischen Änderung des gesamten Verhaltens sehr wohl denk¬
bar, das nicht gerade Übung oder Anpassung zu sein braucht und
von Lehmann als Bahnungseffekt, von G. E. Müller als Er-
müdung8einfluß gedeutet wird.
Für Vp. I wollen wir schließlich auch noch das unmittelbare
Verfahren und die von Urban allerdings bei der Fülle der Rechen¬
arbeit nur an der Zusammenfassung durchgeführte Berechnung
nach der <D-Hypothese (nach Urbans Tabelle 43 und 44, S. 380)
miteinander vergleichen. Berechnet man aus Ml und Ml die
Präzisionsmaße h = _ , so ergibt sich folgende Zusammen¬
stellung der Werte nach dem angenäherten unmittelbaren Ver¬
fahren (u. V.) und nach der ©-Hypothese:
r 0 !«)
r u (2)
K
h u
u. V.
99,67
93,39
0,1376
0,1264
<P-R.
99,68
93,34
0,136113
0,125777
Differenz
-0,01
0,0ö
0,0015
0,0006
was also immerhin für diese Vp. wieder eine ganz über-
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Gcx igle
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98
W. Wirth,
b) Am Schlüsse seiner Besprechung (vgl. Literaturber.) scheint mir
indessen Urban in der Verallgemeinerung dieser Übereinstimmung
zwischen den arithmetischen Mittelwerten, die wir im unmittel¬
baren Verfahren gewinnen, und seinen nach der ©-Hypothese
interpolierten Mittelwerten doch etwas zu weit zu gehen. Doch
will ich nach Urbans Ankündigung einer ausgedehnten Behand¬
lung des Materiales in dieser Untersuchung nichts weiter tun, ins¬
besondere also auch nicht über meine Annäherungsformeln hinaus-
gehen, die ja bezüglich M i nicht so genau sind wie für r (St)
selbst. Nur eines muß ich auf alle Fälle über Urbans Formu¬
lierung dieser Übereinstimmung noch hinzufügen: Es ist offen¬
bar zu speziell, wenn Urban in seiner Besprechung
meiner Arbeit seinen Wert nach der ©-Hypothese als
r (©) bezeichnet, da ja doch unter Voraussetzung des
einfachen Exponentialgesetzes r(2l), r ((£) und r (®) zu¬
sammenfallen. Auch Urban hat also, ebenso wie ich, einen
Wert r (St) berechnet. Würden sich also die beobachteten Werte
g und k von vornherein ohne Ubrigbleibende Fehler der
©-Hypothese unterordnen, so würde die Übereinstimmung zwi¬
schen Urbans Werten und unseren r (51) und M i (2t) überhaupt
gar nichts weiter zu erklären übrig lassen. Aber auch die Fälle,
in denen eine Abweichung der einzelnen Beobachtungen von der
©-Kurve besteht, sind ohne Erwähnung des Begriffes des Zentral-
wertes einfach so zu erklären, daß die übrigbleibenden Fehler bei
der ©-Hypothese hier nach Vorzeichen und Größenverteilung
offenbar so zufällige sind, daß sie sich im Mittel r (2t) und M *
des unmittelbaren Verfahrens hinreichend kompensieren. Dies
sind aber gerade die klassischen Fälle, in denen eben
die einfache ©-Hypothese wirklich berechtigt ist. In so
und so vielen Fällen ist aber die Verteilung der übrigbleibenden
Fehler bei der einfachen ©-Hypothese keine so gleichmäßige,
daß Urbans und meine Werte übereinstimmen könnten, und man
wird dann wohl auch jene Hypothese als zu einfach ansehen.
Dies läßt sich aber eben auch schon im unmittelbaren
Verfahren selbst ohne weiteres daraus ersehen, daß die
ttanntmorto r /9H nn/1 r fffl f tt m f ni* vnTininnn/lai' n V\ nr ni/tKnn
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Zur erk. u. m ath. Begründung d. Maßmethoden f. die Unterschiedsschwelle. 99
Zur besseren Verteilung der übrigbleibenden Fehler wären dann
eben kompliziertere Verteilungsfunktionen, also vor allem die
Brunssche Reihe beizuziehen 1 ). Hierbei scheint mir aber keines¬
falls etwas der näheren Erklärung bedürftig zu sein, da die tat¬
sächliche systematische, d. h. nicht völlig zufällig verteilte Ab¬
weichung vom einfachen Exponentialgesetz (E.-G.) in so und so
vielen Fällen einfach als Tatsache hingenommen werden muß.
Ich erwähne dies alles aber nur, weil mir Urban durch die
Formulierung, daß er r (©) und ich r (§1) berechnet hätte und
beides tibereinstimme, doch wiederum nur auf den Anschluß
unseres r (31) an seinen Wert r ((£. 9tt.) der Methode des ebenmerk¬
lichen Unterschiedes hinzustreben scheint. Wir haben aber oben
nun wohl schon zur Genüge dargetan, daß r ((£. 9tt.) ohne ganz
spezielle Voraussetzungen weder mit r ((5) noch mit r (31) zu¬
sammenfällt.
Lassen sich aber die tatsächlichen Beobachtungen ungezwungen
der einfachen <D - Hypothese unterordnen, dann bleibt jeden¬
falls die Urbansche Modifikation des Müllerschen Ge¬
wichtsverfahrens der exakteste unter den zugleich be¬
quemen Wegen, um die bestmögliche Subsumtion auf dem
Wege der Ausgleichung zu erlangen. Sein arithmetisches
Mittel des Grenzreizes r (31) und das Streuungsmaß M bieten dann
allerdings auch nichts wesentlich anderes als die mittels unseres
unmittelbaren Verfahrens unvergleichlich schneller gewonnenen
Werte r(3I) und Jf(31). Insbesondere sind die Abweichungen
zwischen beiden Wertsystemen nicht etwa dem letzteren
als Fehler anzurechnen. Da wir aber beim unm. Verfahren zur
Bestimmung des r (3t) und M Vollreihen brauchen, die sich bis
1) Ich darf wohl bei dieser Gelegenheit auch noch auf den anderwärts
genauer dargelegten Vorteil hin weisen, daß auch die Brunssche Reihe
(bei ihrer Bestimmung mittels Ausgleichung) nach Anwendung
unserer Formeln für r(2t) und3/(5ä) sogleich auf die sogenannte
»Normalform« 2 F g (x) — 1 = 0 (<) ■+■ D 3 0 3 (t) -f- D x 0 4 (t) usw. gebracht
werden kann, die eben bei Beziehung der Abweichungen x — r in dem
Ausdruck t x — h [x — r) auf r (21) und bei der Wahl von h = --—— zu-
M (2t) V2
stände kommt.
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do« Ausfalles der frlieder
mit 0. mid <*. h«} t|
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(Aus dem psychologischen Institut der Universität Kiel.)
Beiträge zur Kenntnis des Sehraumes auf Grund
der Erfahrung.
Von
Friedrich Schnbotz (Groß-Lichterfelde).
Mit 13 Figuren im Text.
Übersicht. seit«
Einleitung.101
Versuchsanordnung.102
I. Teil:
1) Einstellung von Hillebrandsehen Alleen.107
2) Einstellung von einzelnen Geraden.111
3 Einstellung von zwei Geraden in derselben Ebene.119
II. Teil:
4) Der stereoskopische Bereich.126
5' Einstellung von Quadraten.136
6) DirekterVergleich zwischen binokularem und monokularem Gesichtsfelde 142
Einleitung.
Die folgenden Untersuchungen gehen aus von dem speziellen
Problem der scheinbaren Größe. Dieser Gegenstand ist zuerst in
exakter Form von Götz Martius (Wundts Philos. Stud. V. 1889.
S. HOI ff.), später in anderer Art von Franz Hillebrand (Denk¬
schriften der math.-naturwiss. Klasse der Kaiserl. Ak. d. Wiss.,
Bd. LXXII, Wien 1902) behandelt worden.
Die Methode, die für die nachstehenden Beobachtungen einge¬
schlagen wurde, knüpfte an die Untersuchung von Hillebrand an.
Zunächst sollten die Einstellung von »Alleen« wiederholt und
einige Bedingungen derselben geprüft werden. Dieses Problem
führte von selber zu einer allgemeineren Fragestellung, da die
Versuchseinrichtuug, die sich zu einem soliden Aufbau gestaltete,
für eine weitergehende Erforschung des Sehraumes vorzüglich ge¬
eignet erschien. Deshalb traten die Alleeversuche mehr zurltok.,
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Original ffom
PRINCETON UNIVERSITY
102
Friedrich Schnbotz,
Anfänglich wurden die von Hillebrand festgestellten Krtim-
mungsverhiiltnisse des Sehraumes an neuen geometrischen Gebilden
verfolgt und dabei eine grundsätzliche Übereinstimmung des ein¬
äugigen Sehens mit dem zweiäugigen hinsichtlich der Krümmungs-
erscheinungen konstatiert. Daraufhin wurden direkte Vergleiche
zwischen dem binokularen und monokularen Sehen vorgenommen,
in mehrerlei Richtungen. Weiter wurde derjenige Bereich fest¬
gelegt (in einigen Fällen), innerhalb dessen normalerweise keine
Doppelbilder wahrgenommen werden, und es wurden einzelne
Bedingungen entdeckt, von denen die Größe dieses Bereiches ab¬
hängig ist. Zum Schluß, nachdem die Augen geübt waren, wurde
nochmals eine Hillebrandsche Allee eingestellt.
Es soll nun zuerst die Versuchsanordnung mitgeteilt, und von
den Beobachtungen sollen zunächst die Allee-Einstellungen be¬
schrieben werden.
Die Versuchsanordnung (Figur 1)
liegt zwischen vier Pfeilern P t bis P 4 im Sitzungszimmer des
psychologischen Instituts der Universität Kiel. Sie hat rechteckige
Form, etwa 1 1 / 2 m mal D/o m. Der Sitz des Beobachters B war
an der einen Schmalseite.
Zwischen P x und P 2 , ebenso zwischen P 3 und P 4 sind in
175—180 cm Höhe über dem Fußboden zwei starke eiserne Schienen
Si und s 2 angebracht, deren Höhenlage durch doppelte Muttern
reguliert werden kann. Sie sind genau wagerecht und zu¬
einander parallel eingestellt.
An den Seiten liegen auf s { und .v 2 zwei P-Träger P, und P 2
von ziemlich 4V 2 m Länge, die jeder zweimal (bei bis S 4 )
unterstützt und ebenfalls horizontal gestellt sind. Außerdem stehen
sie zu und s 2 senkrecht.
Die beiden P-Träger tragen die gesamte weitere Versuchs¬
anordnung.
Auf Pj und P 2 sind in bestimmten Abständen vom Beobachter
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oisp.rno Horizontalstiihp von
pm DnrphniPHRPr immpr
unyinai Trum
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Median -Ebene
des Sehrauines auf Grund der Erfahrung. 103
104
Friedrich Schubotz,
Schraubengewinde zur Aufnahme von Vertikalstäben versehen
sind.
An der Öse greifen 2 Fäden an, die, der eine nach rechts,
der andere nach links, erst Uber dem Horizontalstab, dann parallel
zu den T-Trägern an den Seiten entlang zum Sitz des Be¬
obachters B hinlaufen. Mit Hilfe dieser Fäden kann jeder der
beiden Schlitten auf jedem der 10 Horizontalstäbe im Verlaufe
einer Einstellung vom Beobachter selbständig beliebig nach rechts
und links gezogen werden, ohne daß der Beobachter dafür seinen
Sitz zu verlassen braucht. Die Fäden laufen zweimal, wo ihre
Richtung sich ändern muß, durch Rinnen, so daß sie sich nicht
verwirren können.
Zur Bewegung der 20 Schlitten sind doppelt so viel Fäden
nötig, unter denen man nach einiger Übung durch schnelles
tastendes Abzählen jedesmal den richtigen herausfindet. Eine
zweckmäßige Anordnung der Fäden vor dem Sitze des Beobachters
erleichtert das Auffinden. Auf diese Weise ist der Gehilfe, den
Hillebrand nötig hatte, entbehrlich geworden.
Folgende Tabelle gibt den Gesamtabstand der 10 Horizontal¬
stäbe vom Knotenpunkt im Auge des Beobachters an; die letzte
Spalte enthält die Abstände zwischen den benachbarten Horizontal¬
stäben.
1 .
2 .
3.
4.
5 .
6 .
7.
8 .
9 .
10 .
Aus dieser Orientierungstabelle ist zu entnehmen, in welcher
Entfernung vom Auge des Beobachters sich die Ebenen der ein-
_.i_ tt —i i.i-iuL. ;_a j ui u:_
25 CII1
ÖO >
75 »
100 >
132 »
172 »
222 »
282 »
352 »
432 »
25 cm
26 »
25 »
32 »
40 »
50 »
60 »
70 »
80 »
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PRINCETON UNIVERSITY
Beiträge zur Kenntnis des Sehraumes auf Grund der Erfahrung. 105
gefähr 80 cm Uber dem Fußboden befindet. Vermöge der an den
Schlitten angreifenden Fäden können die 20 Vertikalstäbe -aut
ihrem jeweiligen Horizontalstab in jede beliebige Entfernung von
der Medianebene gebracht werden, und es ist z. B. leicht, die
10 Vertikalstäbe etwa rechts von der Medianebene in einer geo¬
metrischen Vertikalebene anzuordnen, die die Medianebene in
einem beliebigen Winkel schneiden kann. Eine solche Ebene ist
eindeutig bestimmt etwa durch den Abstand der Vertikalstäbe
des 1. und des 10. Horizontalstabes von der Medianebene.
Die Vertikalstäbe sind genau eingelotet worden, und von Zeit
zu Zeit ist mittels des Lotes ihre senkrechte Lage nachgeprüft
und, wenn nötig, wiederhergestellt worden.
Mit Hilfe der 20 Vertikalstäbe ist es einem Beobachter leicht
möglich, durch Selbsteinstellung die Hillebrandschen Allee-Ein¬
stellungen zu wiederholen.
Es werden nun die Versuchsmöglichkeiten noch erweitert, da¬
durch, daß auf jedem der 20 Vertikalstäbe 2 Kugeln von 19 mm
Durchmesser angebracht sind, die durch weitere 40 Fäden vom
Beobachter selbständig in jede beliebige Höhenlage auf ihrem
Vertikalstabe gezogen und nach Belieben vermöge ihres Gewichtes
'etwa 9 g) wieder herabgelassen werden können.
Zur Verringerung der Reibung sind die Kugeln so bergestellt,
daß ihr Schwerpunkt unter dem exzentrischen Aufhängungspunkt
liegt.
Zu der Möglichkeit seitlicher Verschiebungen, die schon durch
die Schlitten mit den Vertikalstäben geboten wird, tritt also noch
die einer Vertikal Verschiebung von Raumpunkten.
Wenn nun auch noch die 10 Horizontalstäbe durch Anbringung
von Rollen auf den beiden T-Trägern verschiebbar hergerichtet
würden, so würde dadurch jeder Punkt des Beobachtungsraumes
(d. h. jede Kugel) nach allen drei Koordinatenrichtungen bewegt
werden können. Im Modell war eine solche Vorrichtung schon
angefertigt; nur wäre die Zahl der Fäden, die infolge der 40 Kugeln
bereits auf 80 gestiegen war, wiederum um 40 gewachsen.
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Origmal from
PRINCETON UNIVERSITY
106
Friedrich Schubotz.
führen, sind mit den anderen Fäden, die an dem betreffenden
Schlitten angreifen, durch eine Vorrichtung miteinander verknüpft,
vermöge deren die Kugeln trotz einer seitlichen Verschiebung des
zugehörigen Vertikalstabes doch ihre ursprüngliche Höhenlage be¬
halten, eine Verknüpfung, die andererseits aber jederzeit für so
lauge aufgehoben werden kann, bis die Kugeln in eine andere
Höhe verlegt sind.
Siehe die Figuren. In der ersten drücken die Federn ff
beiderseits die Fäden FF fest gegen die obere Wand. In der
zweiten sind beide Federn vermittels der Knöpfe KK herabge-
drückt und geben beide Fäden frei. Jede Feder kann für sich
gelockert werden.
Sämtliche 80 Fäden sind an dem beim Beobachter befindlichen
Eude durch Gewichte beschwert, die einer Verwirrung Vorbeugen
und speziell bei den Kugeln ein unbeabsichtigtes Herabgleiten
der Kugeln an den Stäben verhindern sollen.
Die beschwerten Enden der Fäden hängen zwischen dem Be¬
obachter und einem Metallschirm, der vor dem Sitz des Beobachters
zwischen den Pfeilern P x und P 2 zwischen B und s x angebracht
ist (MS). Aus diesem Metallschirm ist eine Öffnung herausge¬
schnitten, die den Blick in das Beobachtungsfeld frei gibt und
die vergrößert und verengert werden kann. Die Knotenpunkte
der Augen sind durch eine Beiß Vorrichtung ein für allemal fest¬
gelegt.
Am anderen Ende der Versuchsanordnung, hinter P 3 und P 4 ,
!.i n -1 •_ _ __1____ nj . j i_ • • TT..i
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Beiträge zur Kenntnis des Sehraumes auf Grund der Erfahrung. 107
Flaggenstoff, der eich 12 cm Uber den T-Trägern befindet. Dieser
Schirm hält den Staub von der Versuchseinrichtung fern und ver¬
teilt vor allem das Licht möglichst gleichmäßig Uber den Be¬
obachtungsraum. Das Tageslicht wird ausgeschlossen und bei
künstlichem Licht beobachtet. 15 cm Uber dem weißen Schirm
sind zu diesem Zwecke in der Mitte in Längsrichtung in gleichen
Abständen fUnf 50-kerzige Glühbirnen mit Mattglas angebracht.
Damit keine Reflexe an den Kugeln auftreteu, sind diese mit
diffus reflektierender Silberbronze angestrichen.
Schatten sind vollständig ausgeschlossen.
I. Teil:
1) Einstellung von Hillebrandschen Alleen.
Nur der Vollständigkeit halber sei Tabelle 1 mit den Zahlen
der ersten drei Versuchsreihen hergesetzt. Sie ist nach dem
Muster Hillebrands angelegt, 0 bedeutet die fest angenommene
Normaldistanz des letzten Stäbepaares.
Die letzte Spalte der Tabelle 1 scheint eine qualitative Über¬
einstimmung mit Hillebrand zu zeigen; indessen läßt eine Zeich¬
nung nach diesen Zahlen eine KrUmmung der Alleekurve im ent¬
gegengesetzten Sinne erkennen: konkav nach außen, statt nach innen.
Die Schwierigkeit und Unsicherheit bei der Einstellung von
Alleekurven, die schon hervorgehoben worden und die besonders
aus den ersten beiden Spalten von Tabelle 1 ersichtlich ist, war
Tabelle 1.
Nummer
des
Stäbe¬
paares
Entfernung
vom
Beobachter
Imm]
G = (mm)
155
300
300
10
r--
4320
155
300
300
9
3520
158
290
267
8
2820
171
288
230
Digitized by Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
108
Friedrich Schubotz,
Digitized by
die Veranlassung, auf Versuche dieser Art zunächst ganz zu ver¬
zichten. Erst nach dem Abschluß der übrigen Beobachtungen,
Uber die in den folgenden Kapiteln zu berichten sein wird, wurde
noch eine Alleekurve eingestellt, und zwar wurde eine der von
Hillebrand selbst gewählten Normaldistanzen benutzt, (? = 390mm.
Maße in Millimetern.
Tabelle 2.
Hillebrand, Tabelle VIII.
Nr.
des
Stäbe¬
paares
Entfer -1
nung
vom
Beob-
i achter
ü:
Abweichung
gegen die
Gerade nach
außen
links | rechts
Summe
der Ab¬
weich¬
ungen
Nr.
des
Faden-
pa ares
Entfer¬
nung
vom
Beob- j
achter
G
= 390
390
mm
(
Beobachter
1 _._
1 H.J
Cz. ,
R.
10
4320
390
0
0
_
1
1
IX
3800
390
390
390
9
3620 ;
362
15
12
27
1
1
VIII
3400
374
378
385
VII
3000
362
363
380
8
2820
322
17
17
34
1
VI
2600
348
346
366
7
2220
276
11
16
27
V
2200
328
331
354
IV
1800 1
311
308
345
6
1720
236
8
13
21
III
1400
i 281
288
318
5
1320
200
3
8
11
4
1000 ;
170
0
0
—
II
1000
|245
251
276
I
600 1
202
1196
205
Tabelle 2 zeigt diese Beobachtung.
Sie ist entstanden bei fixierendem Blick, der Fixationspunkt lag
median in Augenhöhe in der Tiefe des fernsten, 10. Stäbepaares.
Unter diesen selben Bedingungen ist Hillebrands Tabelle VIII
entstanden, von der zum Vergleich der Teil daneben gesetzt ist,
der sich auf O = 390 mm für drei Versuchspersonen bezieht.
Die beiden Tabellen sind so angeordnet, daß die Hillebrand-
schen neun Fadenpaare sich nach ihren Entfernungen vom Be¬
obachter zwischen die Stäbepaare 4—10 in Tabelle 2 einreihen.
Hillebrand bemerkt zu seiner Tabelle VIII, daß auf die Werte
für das I. (600 mm entfernte) Fadenpaar nicht viel Gewicht zu
Cr\ ,olp Original from
Ö PRINCETON UNIVERSITY
Beiträge zur Kenntnis des Sehraumes auf Grund der Erfahrung. 109
kleinen Teil des Gesichtsfeldes zu machen, weil bei fester Fixation
gar bald Doppelbilder auftreten, wenn man an die Einstellung;
der näher gelegenen Stäbepaare geht. Darum mußte auf die
vordersten drei Stäbepaare vollständig verzichtet werden.
In der Zeichnung stellt die Tabelle 2 zwei LinienzUge dar, die
ebenso wie bei Hillebrand konkav nach innen gekrümmt sind.
In den beiden letzten Spalten von Tabelle 2 sind die Ab¬
weichungen verzeichnet, die die Stäbe gegen die geradlinige Ver¬
bindung des 4. Stabes mit dem 10. sowohl links wie rechts auf¬
wiesen. Die Abweichungen der beiden Stäbe in derselben Tiefe
stimmen genau Uberein nur beim 8 . Stäbepaar. Beim 9. ist links
eine um 3 mm größere Abweichung als rechts, während vor dem
8. Stäbepaar die größere Abweichung auf der rechten Seite bleibt.
Der Unterschied bleibt rechts genau 5 mm.
Es sei noch darauf aufmerksam gemacht, daß in der Ebene
des 8 . Stäbepaares ein Maximum der Abweichung gegen die Ge¬
raden zu konstatieren ist, eine Tatsache, an die späterhin zu er¬
innern sein wird.
Vergleicht man die Spalte G in Tabelle 2 und Tabelle VIII,
so weist offenbar Tabelle 2 eine stärkere Konvergenz der Allee
auf als VIII für die Beobachter H. und Cz., deren Konvergenz
wieder erheblich größer ist als die von R.
Nun ist zwar die Normaldistanz G bei Tabelle 2 in einer um
mehr als y 2 m größeren Tiefe als bei Ilillebrand angenommen;
sie würde in der Ebene des IX. Fadenpaares vielleicht nur einen
Betrag von 370 mm haben. Immerhin dürfte bei Berücksichtigung
dieses Umstandes für das II. Faden- bzw. 4. Stäbepaar (in
1000 mm Entfernung) die Lateraldistanz wohl kaum geringer als
220 mm (statt 245 mm) angenommen werden, während Tabelle 2
nur 170 mm aufweist.
Es bleibt also doch eine erheblich stärkere Konvergenz in
Tabelle 2 bestehen.
Vorhin war schon gesagt, daß bei der Einstellung die Doppel¬
bilder allmählich so störend wirkten, daß die vorderen Stäbepaare
eigentlich nicht jnehr in Betracht kommen könnten. Und hierin
Digitized byT-jOOQl0 r| g™ 0,n
« Vjm PRINCETON UNIVERSITY
HO Friedrich Scbubotz,
größerer Tiefe erstreckt werden soll. Nur bei einer beharrlichen
und angestrengten Aufmerksamkeit gelingt es allmählich, nach
unendlich vielen größeren und nachher kleineren Verschiebungen
der Stäbe eine Anordnung zu erzielen, mit der man sich einiger¬
maßen zufrieden geben kann.
Die Bedingungen, unter denen solche Untersuchungen über die
Natur des Sehraumes ausgeführt werden, entfernen sich weit von
den anderen Bedingungen, unter denen wir im Raume wirklich
zu sehen gewohnt sind. Sie erfolgen unter einem Zwange, der,
wenigstens anfänglich, wider die Natur geht. Man kann beinahe
sagen, daß die Ergebnisse solcher Untersuchungen nur einen ge¬
ringen Anspruch darauf machen dürfen, den natürlichen Verhält¬
nissen gerecht zu werden. Mehr Gültigkeit muß zweifellos den
Beobachtungen mit willkürlich wanderndem Blick zuerkannt werden.
Denn in außerordentlich wenigen Fällen kommen wir in die
Zwangslage, eine räumliche Konstellation auch nur eine Minute
lang mit vollkommen fixierendem Blick zu erfassen. Und die in
Tabelle 2 mitgeteilte Einstellung hat etwa 2 Stunden gedauert, und
die Pausen dazwischen mögen zusammen 3 Stunden betragen haben.
Wohl muß jede genauere wissenschaftliche Untersuchung be¬
sondere Bedingungen einführen, was nur geschehen kann, indem
man dem natürlichen Ablauf der Vorgänge einen gewissen Zwang
antut. Und gerade in der Psychologie ist das nötig wegen der
Kompliziertheit der psychischen Erlebnisse; — aber es gibt eine
Grenze, Uber die hinaus den psychischen Erlebnissen nicht anders
als Gewalt angetan werden kann.
Diese Grenze glaubt derjenige, der gewissenhaft mit fixierendem
Blick Alleen bis zu vier Metern Tiefe einzustellen versucht, min¬
destens erreicht zu haben 1 ).
Hinzu kommt, daß die Unsicherheit des Urteils, der Spielraum
in den zahlenmäßigen Ergebnissen stets bestehen bleiben wird.
Die vorstehend angedeuteteu allgemeinen Einwendungen können
zum Teil zwar auch bei den Beobachtungen gemacht werden, die
nun mitgeteilt werden sollen; indessen haben sie viel von ihrer
Schärfe verloren. Gewiß sind Beobachtungsfehler nie ganz aus-
Digitized b 1
Q znschließen, und es soll auch stets auf sie hinerewiesen werden:
DDIMrETV'lM I IMIWCDCITV
PRINCETON UNIVERSITY
Beiträge zur Kenntnis deB Sehraumea auf Grund der Erfahrung. Hl
aber es darf wohl gesagt werden, daß mit der größeren Einfach¬
heit der Eindrücke und Erlebnisse eine größere Sicherheit in ihrer
Beurteilung einhergeht, und daß diese Sicherheit um so größer
sein wird, je weniger sich die Bedingungen für die Darbietung
und Auffassung der Erlebnisse von den natürlichen, für den un¬
befangenen Beschauer geltenden entfernen.
Aus letzterem Grunde wurde fast nur mit willkürlich wandern¬
dem Blick beobachtet. In den wenigen Fällen, wo für kurze Zeit
fixiert werden mußte, ist dies jedesmal ausdrücklich angegeben.
2) Einstellung von einzelnen Geraden.
Die Versuche wurden so angestellt, daß eine bestimmte Anzahl
von Vertikalstäben in eine genaue geometrische Ebene gebracht
wurden, deren Spur in der Horizontalebene (d. h. die Verbindungs¬
linie der Schnittpunkte der Vertikalstäbe mit der Ebene des Hori¬
zontes) jedesmal in der ersten Figur bei den einzelnen Tabellen
eingezeichnet ist. Die gestrichelte Gerade in der ersten Figur ist
immer die Medianebene. Das Kreuz bedeutet den Platz des Be¬
obachters B. Die zur Medianebene senkrechten Geraden sind die
Horizontalstäbe, denen ihre Nummer beigefügt ist. v. St. 14,1 cm
r. oder 1. bedeutet: Der vorderste Vertikalstab ist rechts oder links
von der Medianebene und 14,1 cm von ihr entfernt, h. St. ist der
hinterste Vertikalstab.
Die erste Figur, zusammen mit den Zahlen für die Endvertikal¬
stäbe, orientiert die eingestellte Ebene gegenüber dem Beobachter B.
In dieser Ebene war mit Hilfe von Kugeln eine scheinbare
Gerade einzustellen.
Auf dem vordersten und hintersten Vertikalstab wurde je eine
Kngel (v. K. und h. K.) in bestimmter Höhe festgemacht. Die
Kugeln der zwischenliegenden Stäbe wurden dann so lange in
ihrer Höhenlage verändert, bis sie mit den festen Kugeln in einer
Geraden zu liegen schienen. Jedesmal aus der zweiten Figur
nebst den Angaben für v. K. und h. K. ist die Lage der Geraden
ersichtlich. Hier bedeutet die gestrichelte Gerade die Augenhöhe,
die Zahlen für die beiden K. haben das Plus- oder Minuszeichen,
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112
Friedrich Scbubotz.
Die Zahlen in den Tabellen geben die Abweichungen an, die
die einzelnen Zwischenpunkte gegen die geometrische Verbindungs-
gerade der Endpunkte zeigten. -f- bedeutet hier Abweichung nach
oben, — nach unten. Die zum Vergleich benutzte geometrische
Gerade wurde zum Zweck der Ausmessung nach erfolgter Ein¬
stellung erzeugt durch einen an den Enden beschwerten Faden,
der zwischen den Endkugeln ausgespannt war.
a) Gerade in Augenhöhe, b) Gerade Uber Augenhöhe, c) Gerade
unter Augenhöhe, d) Gerade, die den Horizont durchsetzen.
a) Gerade in Augenhöhe.
Links in der Tabelle stehen die Nummern der Horizontalstäbe,
in deren Tiefe sich die Kugeln mit den rechtsstehenden Ab¬
weichungen befinden. Die Entfernung der Ebenen der 10 Hori¬
zontalstäbe vom Beobachter B ist aus der Tabelle zu entnehmen,
die der Beschreibung der Versuchsanordnung beigegeben ist.
Tabelle 3. Tabelle 4.
v. St. 14.1 cm r., h. St. 53,7 cm r. v. St. 13,3 cm 1., h. St. 00,9 cm r.
0.0
cm
9.
— 0,10 cm
- 0,07
>
8 - !
-0,18 »
0,0
>
7.
-0,19 »
— 0,02
>
H.
-0,22 »
0,0
>
5.
0.0 »
0,0
»
4-
-0,11 »
0,0
>
i
Die beiden vorstehenden Tabellen bestätigen die Vermutung,
daß scheinbare Gerade in Augenhöhe gleichzeitig geometrische
Gerade sind. Die Abweichungen bei der ersten Geraden betragen
noch nicht 1 mm, und bei der zweiten ist das Maximum der Ab¬
weichung 2 mm, ein Betrag, der nicht ins Gewicht fällt.
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b) Gerade Uber Augenhöhe.
Tabelle 5 und 6 zeigen horizontale Geraden in verschiedenen
Ebenen. Bei Tabelle 5 ist eine Durchbiegung nach unten, Maxi¬
mum in der Ebene des 7. Horizontalstabes von 11 mm. Tabelle 6,
die eine Durchbiegung nach oben zeigt, ist ein Beweis dafUr, daß
auch bei diesen Versuchen einfachster Art keine unbedingte Sieber-
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Beiträge zur Kenntnis des Sehrauraes auf Grund der Erfahrung. 113
Tabelle 5.
v. St. 15 cm r.
h. St. 0 cm
v. K. + 16,0 cm
h. K. 16,0 cm
9. I — 0,63 cm
8 . 1 - 1,00 »
7. | - 1,11 »
6. 1-0,96 »
5. | - 0,67 »
Tabelle 6.
v. St. 13,3 cm 1.
h. St 50,9 cm r.
v. K. 4- 16,8 cm
h. K. 4-16)8 cm
9. 4- 0,39 cm
8. 4-0,79 »
7. 4-0,76 >
6. 4* 0,65 »
5. 4- 0,54 »
Fig. 3 (zu Tabelle 5).
Tabelle 7. Tabelle 8. Tabelle 9.
v. St. 11,1 cm r.
h. St. 53,7 cm r.
vTk. ö -
h. K. 4- 23,9 cm
9. — 0,48 cm
8. —0,52 >
7. -0,82 »
6 . — 1,01 »
5. —0,99 »
4. . — 0,85 »
3. 1 - 0,82 »
2. | _ 0,44 »
v. St. 14,1 cm r.
h. St. 53,7 cm r.
v. K. 4- 0,3 cm
h. K. 4~ 33)2 cm
9. — 0,14 cm
8. -0,28 »
7. -0,49 »
6. -0,44 »
5. -0,34 »
4. —0,26 »
3. - 0,22 »
v. St. 11,1 cm r.
h. St. 63,7 cm r.
v. K. 0
h. K. 4- 46,1 cm
9. — 0,25 cm
8. —0,33 >
7. -0,44 »
6. — 0,40 »
5. - 0,36 >
4. — 0;30 •
3. - 0,26 »
2. -0,18 »
114
Friedrich Schubotz,
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Tabelle 10.
Tabelle 11.
v. St. 15 cm r.
h. St. 50 cm r.
v. St. 22,5 cm r.
h. St. 50 cm r.
v. K. 10 cm v. K. 4- 24,5 cm
h. K
. 4- 32,5
cm
h. K.
, — 0,3
cm
9.
1 - 0,23
cm
9.
- 1,00
cm
8.
- 0,51
»
8.
- 1,75
>
7.
- 0,63
»
7.
- 1,67
»
6.
- 0,57
>
6.
- 1,19
»
5.
- 0,49
>
4.
-0.40
»
3.
1 - 0,18
»
Tabelle 12.
v. St. 15 cm r.
h. St. 0
v. K. + 3,6 cm
h. K. + 41,1 cm
Binokular
1
Monokular
H. Stage
links
rechte
9.
- 0,04
cm
— 0,11 cm
— 0,10 cm
— 0,26 cm
8.
- 0,12
>
— 0,27 »
-0,16 »
-0,34 *
7.
- 0,20
>
-0,35 »
-0,21 »
-0,47 .
6.
-0,20
»
— 0,25 »
-0,21 »
— 0,36 >
5.
— 0,17
>
— 0,25 »
-0,17 >
— 0,34 »
4.
— 0,07
>
- 0,08 •
-0,09 »
-0,24 »
Tabelle 13.
v. St. 25 cm 1.
h. St. 5 cm 1.
v. K. + 8,6 cm
h. K. 4- 44,8 cm
Binokular
Monokular
links
rechte
Tabelle 14.
v. St. 15 cm r.
h. St. 0
v. K. 4- 11,5 cm
h. K. 0
Binokular^ Monokular
links rechts
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Beiträge zur Kenntnis des Sehraumes auf Grund der Erfahrung. 115
Die Tabellen 7, 8, 9 zeigen drei Geraden in ein und derselben
Ebene, aber eine immer stärker ansteigend als die vorhergehende.
Das Maximum der Durchbiegung nach unten liegt immer beim 6.
oder 7. Horizontalstab, es wird kleiner bei stärkerem Anstieg der
Geraden. Man sollte das Gegenteil erwarten.
Es sei hinzugefügt, daß diese drei Tabellen ganz zu Anfang
entstanden sind. Dagegen sind Tabelle 5, ebenso wie die folgen¬
den, 10 bis 14, nach reichlicher Übung gewonnen worden.
Tabelle 10 zeigt eine ansteigende Gerade in etwa derselben
Ebene. Maximum der Abweichung beim 7. Stab.
Tabelle 11: absteigende Gerade. Endkugel etwa in Augenhöhe.
Maximum der Abweichung nach dem 8. Stab verschoben, da die
Anfangskugel auf dem 5. Stab genommen wurde.
Das Tagebuch verzeichnet bei absteigenden Geraden stets eine
gewisse Unsicherheit des Urteils Uber die Geradheit.
Tabellen 12—14. — Bisher sind die Einstellungen nur binokular
angeführt. —
Die Zahlen der zweiten Spalte in Tabelle 12 ergaben sich bei
einer erstmaligen Beobachtung, die Herr cand. math. Stage vor-
nahm, ohne daß er Uber bereits erkannte Gesetzmäßigkeiten unter¬
richtet war.
Das Maximum liegt in der ersten und zweiten Spalte in der¬
selben Gegend wie früher. Der unbefangene Beobachter liefert
ein etwas größeres Maximum.
Die dritte und vierte Spalte zeigen die Abweichungen bei
monokularem Sehen, mit dem linken und dem rechten Ange.
DerVergrößerung des Maximums für das rechte Auge — während
das linke Auge keinen Unterschied ergibt — ist wohl im Hinblick
auf Tabelle 13 kein allzugroßer Wert beizumessen, wenngleich
Tabelle 14 dieselbe Erscheinung zeigt. In Tabelle 14 handelt es
sich jedoch um eine absteigende Gerade, die als solche dem Urteile
des Beobachters schon größere Schwierigkeiten bot.
•*"» • i l • i n • i i* 1 . i_ii
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cj u+raae unter Augenüöüe.
Tabelle 15 zeigt eine horizontale Gerade, Durchbiegung nach
oben mit dem Maximum an derselben Stelle wie früher.
Tabelle 16 ist eine der ersten Beobachtungen, eine stark nach hinten
absteigende Gerade, die im vorderen Teil eine Durchbiegung nach
unten, nachher nach oben erkennen läßt — stets sehr kleine Beträge.
>k
Tabelle 15.
Tabelle 16.
Tabelle 17.
v. St
. 15 cm r.
v. St
. 14,1 cm r.
v. St
. 15 cm
r.
h. St
. 0
h. St
. 53,7 cm r.
h. St
. 50 cm
r.
v. K.
— 16 cm
v. K.
0
v. K.
0
h. K.
. — 16 cm
h. K.
— 41,6 cm
h. K.
. - 41,6
cm
9.
+ 0,25 cm
9.
— 0,10 cm
9.
-0,06
cm
8.
+ 0,46 »
8.
- 0,05 »
8.
- 0,10
>
7.
+ 0,50 »
7.
-0,02 .
7.
— 0,16
>
6.
+ 0,44 >
6.
-0,02 »
6.
— 0,15
>
5.
+ 0,09 »
5.
+ 0,07 »
5.
-0,13
>
4.
±0,00 »
4.
+ 0,23 »
4.
- 0,10
»
3.
+ 0,22 »
3.
-0,05
>
Tabelle 18.
v. St. 15 cm r.
h. St. 0
v. K. — 17,6 cm
h. K. — 2,5 cm
Binokular
Monokular
H. Stage
links
rechte
9.
+ 0,49 cm
+ 0,72 cm
+ 0,09 cm
+ 0,42 cm
8.
+ 0,75 »
+ 1,01 >
+ 0,51 »
+ 0,85 »
7.
+ 0,80 »
+ 0,98 »
+ 0,57 »
+ 0,97 »
6.
+ 0,77 »
+ 1,26 »
+ 0,44 »
+ 0,89 *
5.
+ 0,61 *
+ 0,70 »
+ 0,17 >
+ 0,54 »
<->4.
i+ 0,38 »
+ 0,38 »
1 ±0.00
+ 0,30 »
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Beiträge zur Kenntnis des Sehraumes auf Grund der Erfahrung. 117
Tabelle 17, die zur Nachprüfung der vorigen (etwa gleiche
Ebene und gleicher Anstieg) ziemlich am Schluß der Beobachtungen
aufgenommen worden ist, zeigt durchweg eine Durchbiegung nach
oben, also entgegen den Erwartungen. Das Tagebuch verzeichnet
ebenso wie bei Tabelle 16 wieder besondere Schwierigkeiten und
Unsicherheit in der Beurteilung der Einstellung.
Wenn auch die Abweichungen außerordentlich unbedeutend sind,
so bleibt doch diese Tabelle ein Beweis dafür, daß trotz langer Ein¬
übung eine absolute Sicherheit des Urteils nicht zu bestehen braucht.
Tabelle 18, eine ansteigende Gerade. Die zweite Spalte gibt
die für den unbefangenen Herrn Stage geltenden Zahlen, Maxi¬
mum in der Gegend des 7. Stabes, wenn auch gerade bei diesem
Stab die Abweichung um 3 mm hinter der beim 6. zurückbleibt.
Die erste, dritte und vierte Spalte zeigen wieder eine Überein¬
stimmung zwischen dem zweiäugigen und beiderseitig einäugigen
Sehen, mit dem Maximum an derselben Stelle. Tabellen 19 und 20
ebenfalls.
ln Tabellen 18 bis 20 ist durchweg eine Vergrößerung des
Maximums für das rechte Auge festzustellen (vgl. auch Tabelle 12).
ln dioptrischer Beziehung sind beide Augen des Beobachters von
Herrn Dr. med. Schumacher, Oberarzt der Universitäts-Augen¬
klinik zu Kiel, als vollkommen gleich bezeichnet worden, so daß
hier vielleicht doch Übungseinflüsse, die durch Zielen oder andere
Ursachen bewirkt sind, vermutet werden müssen.
Tabelle 19.
Tabelle 20.
v. St 15 cm r.
h. St. 0
v. K. 0
h. K. — 36 cm
v. St. 25 cm 1.
h. St. 5 cm 1.
v. K. — 8,4 cm
h. K. — 43,2 cm
Biaokular j
Monokular
Binokular { Monokular
M
links |
1 rechts
links
rechts
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118
Friedrich Schubotz,
Digitizea by
d) Gerade, die den Horizont durchsetzen.
Zum Schluß seien noch zwei Einstellungen aus der ersten Zeit
mitgeteilt, von Geraden, die teils Uber, teils unter Augenhöhe ver¬
laufen und deren Abweichungen demgemäß das Vorzeichen in
Augenhöhe wechseln müßten, die also geometrisch eine lang¬
gezogene S- Form darbieten müßten.
10
Tabelle 21.
Tabelle 22.
1 4
*
v. St. 8,3 cm 1.
h. St. 50,9 ein r.
/ v. K.
— 24,4 cm
v. K.
i / li. K. + 40,2 cm
h. K.
9.
— 2,62 cm
9.
/ 8>
-3,39 »
8.
/ 7l
— 2,71 »
7.
/ 6 -
-1,78 »
6.
-1,27 *
6 .
v. St. 8,3 cm 1.
h. St. 50,9 cm r.
4- 0,60 cm
+ 1,04 >
+ 1,64 »
+ 1,16 »
+ 1,03 >
Nach den Tabellen 21 und 22 ist das nicht der Fall. Es
scheint vielmehr jedesmal der hintere Teil der Geraden für die
Beobachtung ausschlaggebend gewesen zu sein: bei Tabelle 21,
wo der hintere Teil Uber Augenhöhe liegt, ist die Durchbiegung
einseitig nach unten, also wie bei Geraden über Augenhöhe all¬
gemein; bei Tabelle 22, wo der hintere Teil unter Augenhöhe
ist, nach oben. Wie nun die zweite Figur bei beiden Geraden
zeigt, ist der hintere Teil, d. h. der Teil Uber bzw. unter dem
I
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Beiträge zur Kenntnis des Sehraumes auf Grund der Erfahrung. 119
weichungen, bei Tabelle 21 bis über 3 cm, wie sie sich anfäng¬
lich ein paarmal gezeigt haben (vgl. Tabelle 23 des folgenden Ab¬
schnitts), wie sie später aber nie mehr aufgetreten sind. Es ist
allerdings auch eine Ebene gewählt worden, wie sie für den An¬
fang und ftir diese Art Geraden, die den Horizont durchsetzen,
ungeeignet erscheinen muß.
Wenn nun auch vermieden werden muß, aus diesen zwei An¬
tangereinstellungen Schlüsse zu ziehen, so gebietet immerhin die
Gewissenhaftigkeit, auch solche Beobachtungen mitzuteilen.
3) Einsteilang von zwei Geraden in derselben Ebene,
a) Die Geraden bilden einen Winkel.
Aus demselben Grunde wie die letzten Tabellen seien zwei
weitere, ebenfalls ganz im Anfang entstandene Einstellungen
wiedergegeben, in den Tabellen 23 und 24.
Tabelle 23. Tabelle 24.
Fig. 7 (zu Tabelle 23).
v irJ ’ inalfrcm
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120
Friedrich Schubotz,
Digitized by
parallel dem Horizont unter diesem verläuft und das zweitemal
nach der Tiefe hin noch weiter absteigt.
An die erste Spalte in Tabelle 23 können dieselben Betrach¬
tungen geknüpft werden wie an Tabelle 21, da auch hier der
über dem Horizont befindliche Teil der Geraden der größere ist.
Die zweite Spalte müßte durchweg das entgegengesetzte Vor¬
zeichen haben. Hier ist vielleicht ein Einfluß des zuerst einge¬
stellten oberen Schenkels wirksam gewesen.
Die dritte Spalte dieser Tabelle zeigte zum erstenmal, daß die
scheinbaren Geraden im einäugigen Sehen dieselbe Krümmung
haben wie im zweiäugigen.
Tabelle 24 bietet bis auf die unbedeutenden Beobachtungsfehler
bei der ersten und letzten Kugel des unteren Schenkels völlige
Übereinstimmung mit den bereits festgestellten Gesetzmäßigkeiten.
b) Die Geraden sind scheinbar parallel.
Die Beobachtungen der nun folgenden beiden Tabellen 25 und 26
haben Anspruch auf ein ganz besonderes Interesse. Sie sind nach
langer Übung, erst kurz vor dem Abschluß der Versuche, mit
Google
Tabelle 25.
v. St. 16 cm r.
h. St. 0
a) obere Gerade v. K. 4- 7,9 cm
h. K. -(- 15,7 cm
b) untere Gerade v. K. — 10,2 cm
h. K. — 16,1 cm
5
6
7
8
9 10
1
—
- —
— —
• m
Original f
om
PRINCETON UNIVERSITY
Beiträge znr Kenntnis des Sehranmes auf Grund der Erfahrung. 121
Tabelle 25.
Tabelle 26.
Nr. des
Hori¬
zontal¬
stabes
i
Entfern.
vom
Beob¬
achter
mm
1 0 =
j 318
mm
Abweichung
gegen die
Gerade nach
Summe
der Ab¬
weich¬
ungen
0 = 1
280
mm
Abweichung
gegen die
Gerade nach
Summe
der Ab¬
weich¬
ungen
oben
unten |
oben
unten
10
4320
1 318
_
—
—
280
- 1
—
—
9
3620
1 285
+ 2,3
— 3.3
5.6
251
+ 1,8
— 2.0
3,8
8
2820
269
+ 4,9
— 6,0
10,9
223
+ 1,8
— 1,7
3,5
7
2220
232
+ 6,7
— 6.7
11,4
195
+ 0,2
+ 0.2
0
6
1720
206
+ 4,6
- 3,9
8,5
173
—
—
6
1320 |
1 181
—
—
—
—
_ i
—
—
10
6
*
*- -
Tabelle 26.
v. St. 26 ein 1.
h. St. 6 cm 1.
a) obere Gerade v. K. + 6,91 cm
h. K. + 16,0 cm
b) untere Gerade v. K. — 10.4 cm
li. K. — 16 cm
G
10
— —
—
— — -
- ■— — --
Fig. 9 (zu Tabelle 26).
großer Sorgfalt gemacht, in einem Raume von so kleiner Tiefen¬
erstreckung, daß die räumliche Konstellation mit einem fixierenden
Blick gut überschaut werden konnte; in Tabelle 26 ist diesem
Imstande zuliebe sogar noch auf den 5. Stab verzichtet worden,
weil die Ebene in Tabelle 26 so weit von der Medianebene ent¬
fernt war, daß die einheitliche plastische Erfassung der Anordnung
Digitized by Gck igle
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122
Friedrich Schubotz,
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Skizze in beiden Tabellen angegeben ist. Die Ebene lag bei
Tabelle 25 rechts von der Medianebene und war nur wenig gegen
sie geneigt; sie traf die Medianebene in der Tiefe des 10. Horizontal¬
stabes.
In Tabelle 26 lag die Ebene linker Hand, weiter entfernt, und
konvergierte erheblich stärker gegen die Medianebene, die sie
trotzdem erst hinter dem 10. Horizontalstabe durchsetzte.
In jeder dieser beiden Ebenen wurde mittels der Kugeln eines
Vertikalstabes in der Tiefe des 10. Stabes eine senkrechte feste
Normaldistanz O so gewählt, daß sie ungefähr gleichviel über
und unter dem Horizont lag. Die zweite Figur läßt jedesmal die
Lage der Kugeln von G gegen die Augenhöhe erkennen.
Nun wurden die beiden Kugeln des 9. bis 5. bzw. bis 6. Stabes
nacheinander unter stetigem Korrigieren so eingestellt, daß die
Abstände der Kugeln jedesmal der Normaldistanz gleich zu sein
schienen, daß also die beiden durch die obere und durch die
untere Kugelreihe gebildeten optischen Geraden scheinbar parallel
waren.
Es wurde mit beliebig wanderndem Blick beobachtet.
Nachher wurde ein Faden (geometrische Gerade) zwischen der
Anfangs- und der Endkugel bei beiden Kugelreihen ausgespannt,
und es wurden die Abweichungen der einzelnen Punkte gegen
die geometrische Gerade notiert.
Dabei ergab sich, daß die Abweichungen gegen die geo¬
metrische Gerade in allen Fällen [bis auf einen unbedeutenden
Beobachtungsfehler: + 0,2 in der vorletzten Spalte in Tabelle 26]
den bisher beobachteten Abweichungen entgegengesetzt waren:
die scheinbaren Geraden über Augenhöhe waren nach oben, die
unter Augenhöhe nach unten durchgebogen.
Durch diese beiden Beobachtungen ist festgestellt, daß der Seh¬
raum in der vertikalen Richtung dieselbe Eigenschaft besitzt, die
Hillebrand für die sagittale Richtung gefunden hat.
Diese Tatsache enthält aber andererseits aufs deutlichste den
Google
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Beiträge zur Kenntnis des Sehraumes auf Gruud der Erfahrung. 123
Das ist nicht verwunderlich; denn erstens ist die Normal¬
distanz G erheblich kleiner als damals, und zweitens wurde mit
beliebig wanderndem Blick beobachtet — beides Umstände, bei
denen Hillebrand stets kleinere Abweichungen gefunden hat.
Endlich kommt hinzu, daß die Tiefenerstreckung hier eine geringere
ist als bei der Alleekurve.
Dieser Grund kann wohl auch als Erklärung herangezogen
werden für den Größenunterschied, der sich in der Summe der
Abweichungen (in den letzten Spalten der Tabellen) findet: in
Tabelle 26, wo ja schon die geringere Normaldistanz G eine
kleinere Abweichung bewirken muß, ist die Tiefenerstreckung um
fast Vj m geringer als in Tabelle 25.
Aus diesem Grunde hat sich auch das Maximum der Abweichung,
das in Tabelle 25 in etwa 2500 mm Tiefe liegt, bei Tabelle 26
nach ungefähr 3000 mm Tiefe verschoben.
Allgemein sei noch ein Wort über die Lage des Maximums der
Abweichung der scheinbaren gegen die geometrische Gerade
gesagt.
Schon bei Tabelle 2 (S. 108) wurde auf eine maximale Ab¬
weichung in der Gegend des 8. Stabes aufmerksam gemacht, in
einer Tiefe von etwa 2800 mm vom Beobachter.
Dieses Maximum der Abweichung kehrt bei allen Geraden¬
einstellungen wieder, bei denen sich eine eindeutige Krümmung
ergab, und zwar zu allermeist in der Tiefe des 7. Stabes. Es
verschiebt sich, besonders bei kürzeren Geraden, öfters nach dem 8.
und in dem Falle der Tabelle 26 (S. 121) sogar nach dem 9. Stabe.
Mehrmals ist es auch auf den 6. oder in die Gegend zwischen
dem 6. und 7. Stabe verlegt.
Der 7. Stab ist in 2220 mm Tiefe vom Beobachter; der 10. Stab
ist fast doppelt so weit vom Beobachter entfernt: 4320 mm.
Da nun die Kugeln des ersten Stabes (250 mm) nur selten mit
eingestellt wurden, so kommt die Gegend des 7. Stabes noch
mehr in die Mitte zu liegen zwischen der festen Anfangs- und
Endkugel der jeweils eingestellten Geraden.
Wenn die Anfangskugel in der Tiefe des 4. oder gar des
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’ Origiral f : m
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124
Friedrich Schubotz,
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vornherein zu machende Annahme, daß die größte Durchbiegung
immer ungefähr in der Mitte der für die Einstellung in Betracht
kommenden Tiefenerstreckung des Beobachtungsraumes auftreteß
müsse.
II. Teil.
Auf S. 122 war die Binokularparallaxe als Erklärungsprinzip
für die Krümmungserscheinungen im Sehraurae abgelehut worden.
Es hätte dessen gar nicht mehr bedurft.
Die Krümmung der scheinbaren Geraden auch beim einäugigen
Sehen, wo doch von einer Parallaxe nicht die Rede sein kann,
ist der zwingende Beweis, daß hier eine grundsätzliche Überein¬
stimmung zwischen dem monokularen und binokularen Sehen be¬
steht, daß die beobachtete Krümmung nichts anderes alj
eine ursprüngliche Eigenschaft unseres Sehraumes ist,
die als solche nur festgestellt zu werden braucht, die einer »Er¬
klärung« aber ebensowenig bedarf wie etwa die Tatsache, daß
das Wasser bei einer bestimmten Temperatur in Dampfform über¬
geht.
Es gilt eben nur möglichst viele einzelne Eigenschaften des
Sehraumes kennen zu lernen, und die Bedingungen zu studieren,
unter denen die Eigenschaften sich ändern, d. h. funktionale Ab¬
hängigkeiten. So faßte zum erstenmal G. Martins das Raum¬
problem, in der Untersuchung der scheinbaren Größe, die nur auf
einem schwer analysierbaren psychischen Eindruck beruht, die sich
aber durchaus nicht richtet nach dem Gesichtswinkel.
Es sei im Anschluß hieran zunächst eine neue Eigenschaft des
Sehraumes mitgeteilt, soweit sie zahlenmäßig festgestellt ist, eine
Eigenschaft, die ihrer Natur wegen nur binokular untersucht zu
werden braucht: der Bereich des Sehraumes, in dem keine Doppel¬
bilder gesehen werden.
Für den späteren Fortgang der Untersuchung war die Absicht
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Beiträge zur Kenntnis des Sehraumes auf Grund der Erfahrung. 125
4) Der stereoskopische Bereich.
Es gibt einen Bereich, innerhalb dessen wir stereoskopisch
einfach sehen.
Diesen stereoskopischen Bereich in einigen Fällen seiner Größe
nach und in einigen Bedingungen für seine Veränderlichkeit fest¬
zustellen, dienen die folgenden Versuche.
In der Ebene eines bestimmten Horizontalstabes (»H.-St.«),
dessen Ebene fixiert wird, werden die beiden zugehörigen Vertikal¬
stäbe (»V.-St.«) symmetrisch zur Medianebene in bestimmter Ent¬
fernung b voneinander festgelegt. Dann wird auf dem davor oder
dahinter befindlichen H.-St. ein V.-St. so lange hin- und her¬
geschoben, bis er bei binokularer Betrachtung in der Mitte zwischen
den beiden festen V.-St. zu hängen scheint, wobei stets auf den
plastisch-einfachen Eindruck geachtet wird. Wird nun der be¬
wegliche V.-St. allmählich auf entfernterem H.-St. genommen, also
weiter entfernt von der Ebene der beiden festen V.-St., und wird
dabei stets diese Ebene von b fixiert, so wird der bewegliche Stab
bald als Doppelbild erscheinen.
Zwischen dem deutlichen einfach-plastischen, stereoskopischen
Eindruck und dem anderen Eindruck, bei dem klar voneinander
getrennte Doppelbilder gesehen werden, liegt eine Zone, in der
der Eindruck immerfort schwankt zwischen den entgegengesetzten
Eindrücken der Doppelbilder und des stereoskopischen Sehens.
Der Eindruck »alterniert«; in dieser Zone liegt offenbar die Grenze
des stereoskopischen Bereichs.
Die feste Entfernung b wurde in drei verschiedenen Tiefen ge¬
nommen, erst auf dem 8., dann auf dem 10. und für kurze Zeit
auf dem 5. H.-St.
Tabelle 27 zeigt die Einstellungen für die größte Tiefe von b.
Die feste Entfernung b der beiden V.-St. wurde verschieden
groß genommen; sie soll als laterale Basis des stereoskopischen
Bereichs bezeichnet werden. Fixiert wurde stets die laterale Basis
in Augenhöhe
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dian. so daß die Tabellen erenan srenoimnen die
median, so
Co gfe
T)fl?ifS from
PRINCETON UNIVERSITY
126
Friedrich Schubotz,
Tabelle 27. T b — 4320 mm.
b =
mm)
Binokular eingestellte Mitte auf dem
9.
Horizontalstabe
(800 mm
vor b )
8.
Horizontalstabe
(1500 mm
vor b)
7.
Horizontalstabe
(2100 mm
vor b )
1000
12,0 r.
Doppelbilder
600
2.9 r.
6,1 r. ?
>
500
4,1 r.
7,1 r. ?
400
2,1 r.
5,9 r. ?
—
300
2,1 r.
3,4 r. ??
—
200
0,3 r.
1,2 r. ???
—
190
1,3 r. ???
—
180
Doppelbilder
—
160
—
—
120
0,9 1.
—
—
80
0,8 1 .
—
—
60
0,6 r. ?
—
—
40
0,6 r. ???
—
—
30
Doppelbilder
—
Tabelle 28. T h = 4320 mm.
i = lm, t v = etwa l 3 / 4 bis 2 m.
b = i/ 5 m, t v = > IV 2
b = i/ 2 . in, t v = > 4 /:. m -
a) Die laterale Basis b liegt in der Tiefe des 10. H.-St..
T b = 4320 mm.
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Ein r. oder 1. hinter der jeweils eingetragenen Zahl bedeutet
eine zufällige Abweichung nach rechts oder links. Eigentlich
müßte der auf binokulare Mitte eingestellte V.-St. immer in der
Medianebene stehen, indessen ist er zumeist um einige Millimeter
nach rechts oder links von ihr entfernt.
Ist die eingetragene Zahl mit einem Fragezeichen versehen,
so bedeutet dies, daß die Einstellung durch das beginnende
^^Alternieren des Eindrucks nicht mehr abslut sicher war. Zwei
g ie PRINCETON UNIVERSITY
Beiträge zur Kenntnis des Seliranmes auf Grund der Erfahrung. 127
einfachen stereoskopischen Gesamteindruck abgelöst werden. Hier
kann somit die Grenze angenommen werden.
Diskussion von Tabelle 27. Zahlenangaben in mm.
Bei b = 1000 mm wird noch ein durchaus plastischer einfacher
Eindruck von dem in 1500 mm Entfernung davor befindlichen V.-St.
erhalten. Deshalb wird auf die Einstellung des 9. V.-St. in 800 mm
Entfernung verzichtet. Die Abweichung ist groß: 12 mm. Vom
7. V.-St. in 2100 mm Entfernung vor b sind deutliche Doppel¬
bilder sichtbar, ebenso von den noch näher zum Beobachter hin
gelegenen V.-St.
Der stereoskopische Bereich erstreckt sich also für die in einer
Tiefe von über 4 m befindliche, 1 m lange Basis b nach vorn
(zum Beobachter hin) um eine Strecke, die zwischen 1500 und
2100 mm lang ist. —
Beträgt die Basis nur 600 mm, so treten beim 7. V.-St. auch
wieder Doppelbilder auf, und beim 8. V.-St. macht sich schon leise
das Alternieren des Eindrucks bemerkbar: die Grenze des
stereoskopischen Bereichs ist etwas näher nach der Basis hingerückt.
Der 9. V.-St., in 800 mm Entfernung vor der Basis gelegen,
liefert einen einwandfreien stereoskopischen Eindruck, ebenso bei
den folgenden Verkürzungen der Basis.
Bei b = 500 mm ist der alternierende Eindruck vom 8. V.-St.
ein klein wenig kräftiger geworden, und er verstärkt sich noch
etwas mehr bei einer weiteren Verkürzung von b auf 400 mm.
Indessen bleibt der Eindruck in der Hauptsache noch einfach und
plastisch, auch noch bei b = 300 mm, wenngleich hier die Doppel¬
bilder schon deutlicher werden.
Bei b = 200 mm gewinnen die Doppelbilder sehr an Klarheit,
und bei b = 190 mm ist die Grenze wohl erreicht, b = 180 mm
liefert ganz deutliche Doppelbilder beim 8. V.-St., der Eindruck
alterniert nicht mehr, er hat seine Tiefenwirkung, seine Plastizität
verloren.
Also: der stereoskopische Bereich erstreckt sich bei einer
lateralen Basis von b = 20 cm und bei einer Tiefenlage von
m a n/%
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128
Friedrich Schubotz,
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Bei b = 120 mm bleibt der Eindruck des 9. V.-St. unbedingt
einfach und plastisch. Bei 6 = 80 mm glaubt man schon das
Alternieren zu verspüren, es wird bei b — 60 und 40 mm immer
stärker, bis bei b = 30 mm deutlich Doppelbilder vorhanden sind.
Wird die Grenze bei b = 4 cm angenommen, so stellen sich
die Größen der drei bestimmten stereoskopischen Bereiche so dar
(siehe Tabelle 28):
Die Basis b liegt in einer Tiefe von etwa 4y 3 m vom Beobachter.
Hat die Basis die Länge b = 1 m, so erstreckt sich der Be¬
reich nach dem Beobachter hin um weniger als 2100 mm und
mehr als 1500 mm. d. h. um etwa l 3 / 4 bis 2 m : t v »vordere Tiefen¬
erstreckung«.
Soll die vordere Tiefenerstreckung auf 1 y 2 m, also um höchstens
V, m zurückgehen, so muß die Basis b schon auf den vierten bis
fünften Teil ihrer Länge zusammenschrumpfen, und eine weitere
Verkürzung von t v auf 4 / 6 m, also um etwas Uber i / 2 m, erfordert
eine abermalige Verkürzung der Basis bis auf den fünften Teil; d. h.
soll die vordere Tiefenerstreckung t v halb so groß werden, so muß
die Basis b sogar auf y 2 5 ihrer ursprünglichen Länge zurückgehen.
Umgekehrt: mit der Vergrößerung der lateralen Basis b des
stereoskopischen Bereiches wächst seine (vordere) Tiefen¬
erstreckung t V) aber nur sehr langsam.
Immerhin ist die vordere Tiefenerstreckung t v für die kleine
Basis b — 4 cm eine Größe, die die 20facke Länge von b hat,
und für i = lm ist t v noch immer fast doppelt so groß wie b.
Wie verhält sich nun zunächst t v zu t h ?
Um einen schnellen Vergleich zwischen der vorderen und
hinteren Tiefenerstreckung anzustellen, wurde die laterale Basis
in der Tiefe des 5. H.-St. angenommen, T b = 1320 mm. Der
6. H.-St. befindet sich 400 mm dahinter, der 4. dagegen nur
320 mm davor. — Wenn nun bei einer bestimmten Länge von b
der 6. V.-St. noch einfach und plastisch erscheint, während der
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Beiträge zur Kenntnis des Sehrauines auf Grund der Erfahrung. 129
auf binokulare Mitte einstellen, 1,5 mm nach rechts. Bei
b = 280 mm wurde das Alternieren bedeutend stärker, und bei
b = 260 mm lieferte der 6. V.-St. ebenfalls deutliche Doppelbilder.
[Zwischenbemerkung. Es wurde versucht, b so lange zu ver¬
größern, bis das Alternieren beim 6. V.-St. aufhören würde. Da
machte sich schon bei einer Vergrößerung von b um einige
wenige cm eine Schwierigkeit bemerkbar: bei Fixation der Mitte
von b fing der Eindruck von den beiden Grenz-V.-St. der Basis
selbst zu alternieren an.
Offenbar gibt es in jeder Tiefenlage der Basis, für jedes T ln
ein Maximum für die Länge der Basis, d. h. überschreitet b dieses
Maximum, so kann die laterale Basis selbst nicht mehr als einheit¬
licher Eindruck erfaßt werden, sondern die Grenzstäbe werden
als Doppelbilder erscheinen.
Demnach besteht auch für die laterale Erstreckung der
stereoskopischen Bereiche eine obere Grenze.
Letztere scheint für die Tiefenlage T b = 1,32 m unmittelbar
oberhalb von 30 cm zu liegen. Genauere Versuche hierüber sind
nicht gemacht worden; indessen läßt sich aus Tabelle 27 und 28
entnehmen, daß in der Tiefe T b = 4,32 m die obere Grenze mit
b= 1 m noch nicht erreicht war; und nach Tabelle 29 und 30
war für T b = 2,82 m das Maximum noch oberhalb von b — 80 cm.
Hieraus läßt sich die Eigenschaft folgern: die laterale Er¬
streckung der stereoskopischen Bereiche nimmt zu, wenn die Basis
in eine größere Tiefe verlegt wird.]
Nach den Erörterungen von S. 128 ist festzuhalten:
4 > tv,
die hintere Tiefenerstreckung des stereoskopischen Bereiches ist
erheblich größer als die vordere. Es besteht kein Bedenken gegen
die Übertragung der obigen Vergleichung auch auf andere Tiefen¬
lagen von b.
Wird noch mit einem Wort auf die Zahlen von S. 128 gegen¬
über Tabelle 28 eingegangen, so ist in einer Tiefe der Basis v<^n'-
T b = 1320 mm t h = % m t v < Vs m, etwa = V 4 m (geschätztt),
wenn b = 30 cm, dagegen nach Tabelle 28 ebenfalls für b = 30 ;
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« Vjm PRINCETON UNIVERSITY
130
Friedrich Schubotz,
1
uud in einer dreimal so großen Entfernung, in 4*/ 3 m Tiefe, etwa 4 m,
d. h. ungefähr das Sechsfache der vorigen.
Also: die Gesamttiefenerstreckung des stereoskopischen Bereiches
wächst, wenn seine Basis mehr nach der Tiefe verlegt wird.
b) Die laterale Basis b liegt in der Tiefe des 8. Horizontal¬
stabes, T b = 2820 mm.
Die Tabellen 29 und 30 sollen mehr unter dem Gesichtspunkt
betrachtet werden, daß sie die aus den bisher mitgeteilten Be¬
obachtungen gewonnenen Resultate bestätigen, als daß aus ihnen
neue Bedingungen flir die Veränderlichkeit des stereoskopischen
Bereiches abgeleitet werden.
[Die Tabellen 29 und 30 sind zuerst gewonnen worden.]
Tabelle 29. T b = 2820 mm.
Binokular eingestellte Mitte auf dem
b =
(mm)
10. H.-St.
(1500 mm
hinter b)
9. H.-St.
(700 mm
hinter b) |
’ 7. H.-St.
(600 mm
vor b)
6. H.-St.
(1100 mm
vor b)
5. H.-St.
(1500 mm
vor b)
4. H.-St.
(1820 mm
vor b)
800
—
_
—
—
5,1 r. ?
Doppelb.
600
—
5,8 r.
7,2 r. ???
»
400
3,5 r.
3,6 r.
2,9 r.
4,8 r. ?
Doppelb.
—
200
1,8 r.
1,0 1.
0,9 r.
3,8 r. ???
»
—
100
1,2 r.
—
1,3 r. ?
Doppelb.
—
—
80
0,2 1. ?
—
1,2 r. ?
»
—
—
60
0,7 1. ???
1,8 1.
1 0,9 1. ??
—
—
—
50
Doppelb.
1,7 1.
0,7 r. ???
—
—
40
>
2,4 1. ??
Doppelb.
—
—
30
Doppelb.
>
—
Tabelle 30. T b = 2820 mm.
b = V 2.1 m
b = 50 mm
b = 60 mm
h = Vs m
b = 3 / 5 m
b = 4 / 6 m
t h = 700 mm = 2 3 m
t h ]> 700 mm
t h = 1500 mm
t h ]> 1500 mm
t v < V» m
t v = 600 mm
t v <[ 1100 mm
t v = V/to m
t v = D /2 m
t v <[ 1820 mm
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Zunächst erkennt man wieder: Wird die Basis kleiner, so wird
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Beitrüge zur Kenntnis des Sehraumes auf Grund der Erfahrung. 131
Ferner: Bei b = 200 mm ist der 6. V.-St. an der Grenze des
Bereichs, während der 10. noch bei viel kürzerer Basis einfach
und plastisch erscheint. Der 6. V.-St. liegt 1100 mm vor der
Basis, der 10. liegt 1500 mm hinter ihr. Zu b = 200 mm gehört
also ein t v — 1100 mm und ein t h ]> 1500 mm, d. h. die hintere
Tiefenerstreckung ist erheblich größer als die vordere. — Das¬
selbe wird von neuem bestätigt durch die Einstellungen b = 50 mm,
wo t v = 600 mm und t h zwar kleiner als 1500 mm ist, aber immer
noch erheblich größer bleibt als 700 mm.
Interessant ist noch ein Vergleich der jetzigen Zahlen mit den
früheren, hinsichtlich der vorderen Tiefenerstreckung bei gleicher
Basis b.
T b = 4320 mm
T b = 2820 mm | 6 ~ l%: ' m
Ferner:
Endlich:
T b = 4320 mm
T b = 2820 mm
T b = 4320 mm
T b = 2820 mm
}
Vs m
b = 3 /s m
t v = 4 /ß m
t v < V& m •
t v = iy 2 m
IVlO m
t v zwischen 1 4 / 2 und 2 m
t v = 1 Va m .
Damit ist wieder erwiesen (S. 130 oben): Bei gleicher Basis
wächst die Tiefenerstreckung des stereoskopischen Bereichs mit der
Tiefenlage der Basis.
Dasselbe zeigt folgende Zusammenstellung, wo die gleiche Basis
b = 30 cm drei verschiedene Tiefenlagen hat:
5. H.-St., T b = IVa m , t v < y 3 m ,
8. H.-St., T h = 2 4 / 5 m , t v > iy, 0 m ,
10. H.-St., T b = 4Vs m , t v > l 1 /* m .
Hiernach wächst die in l 1 ^ m Entfernung vom Beobachter vor¬
handene sehr geringe Tiefenerstreckung bis zur doppelten Tiefe
ziemlich schnell, in größerer Tiefe aber langsamer.
Zusammengefaßt kann gesagt werden: Die Tiefenerstreckung
des stereoskopischen Bereichs ist um so größer, je länger-
laterale Basis selbst und je größer ihr Abstand vom Beobachter
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132 lYiedrich Schubotz,
außerhalb des jeweils bestehenden stereoskopischen Bereiches sich
befindet — d. h. dann können sie zum Bewußtsein kommen.
Sie brauchen es offenbar nicht, da ja in obigen Versuchen die
Aufmerksamkeit immer auf das Auftreten der Doppelbilder ge¬
richtet war und die Aufmerksamkeit das Bevvußtwerden psychischer
Ereignisse außerordentlich begünstigt 1 ). Für den unbefangenen
Beschauer mag der stereoskopische Bereich oft erheblich größer
sein als oben angegeben. —
Die nachfolgenden Beobachtungen klären die Inkongruenz
zwischen physikalischer Theorie und Wirklichkeit noch mehr auf.
Diese Beobachtungen wurden etwas anders ausgeführt als die bis¬
her mitgeteilten. Sie sind nur in der Absicht angestellt, qualitative
Zusammenhänge aufzuweisen.
Die Basis b wurde für die neuen Versuche immer in der Tiefe
des 10. H.-St. genommen und so lange verkleinert, bis ein V.-St.
in der Tiefe des 8. H.-St. anfing, einen alternierenden Eindruck
zu erzeugen. Das mußte nach Tabelle 27 und 28 bei einer Basis¬
länge von b = 20 cm eintreten. — Wurde nun durch irgendwelche
Bedingungen der Fall herbeigeführt, daß die Basis noch kürzer
genommen werden konnte, ohne daß der plastische Eindruck an Ein¬
heitlichkeit verlor, so war damit nachgewiesen, daß diese Bedingungen
eine Vergrößerung des stereoskopischen Bereiches bewirkt hatten:
die Tiefenerstreckung t v = 1500 mm, die erst eine Basis von b = 20 cm
zur Voraussetzung gehabt hatte, gehört jetzt zu einer kürzeren
Basis; infolgedessen würde jetzt zu der alten Basis von 20 cm
ein größeres t v gehören müssen, d. h. der Bereich ist vergrößert.
Nun trat tatsächlich der Fall ein, daß bei gleichem t v = 1500 mm
die Basis noch weiter verkürzt werden konnte, und zwar dann,
wenn der 8. V.-St., der auf binokulare Mitte eingestellt gewesen
war, seitlich verschoben wurde. Der alternierende Eindruck, der
bei der Einstellung auf binokulare Mitte bestanden hatte, wurde
bei einer seitlichen Verschiebung des 8. V.-St. sofort einheitlicher
und plastischer, und die Basis konnte um etwa 3 cm verkürzt
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Beiträge zur Kenntnis des Sehraumes auf Grund der Erfahrung. 133
Schiebung des 8. V.-St. und dem Bereich, derart, daß bei einer
größeren Verschiebung etwa eine noch stärkere Verkürzung der
Basis möglich gewesen wäre; ebenso ist nicht untersucht worden,
ob die Basis auch noch verkürzt werden darf, wenn der 8. V.-St.
ganz dicht an einen der Grenzstäbe der Basis heranrückt. Es
wäre auf diese Weise nicht sehr schwierig gewesen, die Kurve zu
gewinnen, die den Verlauf der vorderen Tiefenerstreckung für ein
bestimmtes T b und ein bestimmtes b wiedergibt. Nach obigem wäre
das Aussehen dieser Kurve in der Nähe der Medianebene etwa dieses:
Im Punkte S würde sie einen extremen
Wert aufweisen: t v ist hier in der Median¬
ebene ein Minimum. An Stelle der Spitze
in S wäre auch ein nach oben konvexer
Bogen denkbar.]
Die Verlegung des Mittelstabes aus der
Medianebene heraus ist jedenfalls eine Be¬
dingung, die eine Vergrößerung des stereo¬
skopischen Bereiches herbeiführt. Diese
Bedingung findet im täglichen Leben fast
stets statt.
Eine neue Bedingung mit derselben
Wirkung geht aus folgender Beobachtung her- Pi g iq.
vor: Wurde der 8. V.-St. ganz aus dem Raum
zwischen den Blicklinien nach der Basis herausgerückt, so konnte
die BasiB beliebig verkürzt werden, ohne daß der einfache
plastische Eindruck aufgehört hätte. Nun ist Bicher, daß der
8. V.-St. schließlich doch als Doppelbild gesehen worden wäre,
wenn er etwa an der oberen Grenze der lateralen Basis für den
8. H.-St. angelangt wäre [vgl. Zwischenbemerkung S. 129]. —
Jedenfalls ist auch diese Bedingung im täglichen Leben oft
erfüllt und damit ein neuer Grund für die seltene Wahrnehmung
von Doppelbildern aufgezeigt.
Endlich ist noch ein Versnob mitzuteilen. Der 8. V.-St. wurde
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134
Friedrich Schnbotz,
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den Blicklinien hineingezogen. Dadurch wurde der Eindruck
wiederum einheitlicher, plastischer, und die Basis konnte wiederum
verkürzt werden, dieses Mal sogar um 6 cm, bis das Alternieren
wieder auftrat.
Hieraus folgt: Der stereoskopische Bereich wächst, wenn die
Mannigfaltigkeit der gleichzeitig überschauten Gegenstände größer
wird, falls diese in verschiedener Entfernung liegen.
Wurde also der Bereich des Einfachsehens schon größer, wenn
ein Gegenstand aus der binokularen Mitte der fixierten Fläche
seitlich verschoben wurde, so wird er jetzt wiederum erheblich
erweitert, wenn die Anzahl der gesehenen Gegenstände eine größere
wird.
Ein neuer Umstand, der wegen seines häufigen Vorkommens
in unserer Umgebung wohl am meisten dazu beiträgt, daß in der
Wirklichkeit die Doppelbilder ausbleiben! —
Andererseits soll nun auch eine Bedingung für das Kleiner¬
werden des plastischen Bereichs mitgeteilt werden.
Bisher war die laterale Basis stets symmetrisch zur Median¬
ebene gelegen. Sie wurde einmal stark seitlich der Medianebene
genommen, wieder auf dem 10. H.-St., und wieder wurde der
8. V.-St. auf binokulare Mitte eingestellt. Zu t v = 1500 mm hatte
früher b = 200 mm gehört; jetzt mußte die Basis auf Uber 300 mm
verlängert werden, damit der 8. V.-St. einfach gesehen wurde und
der Gesamteindruck ein plastischer war. Fixiert wurde dabei
wieder die Mitte der Basis, aber der Kopf wurde in seiner
alten Stellung festgehalten, so daß die Medianebene die alte
blieb und nur die Augen ein wenig seitwärts gedreht werden
mußten.
In Wirklichkeit pflegt man nicht nur die Augen, sondern den
ganzen Kopf zu bewegen, wenn man seitlich fixieren will, so daß
nach der Kopfbewegung die Medianebene doch wieder ungefähr
durch die Mitte des Raumes geht, Uber den die Aufmerksamkeit
verteilt ist, d. h. durch die Mitte der lateralen Basis.
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Beiträge zur Kenntnis des Sehraumes auf Grund der Erfahrung. 135
5) Einstellung von Quadraten.
Es sollte geprüft werden, ob bei der Einstellung von Quadraten
sich monokular dieselbe Täuschungserscheinung zeigen würde wie
binokular, ob die beiden vertikalen Seiten eines Quadrats bei ge¬
gebener horizontaler Kante auch monokular zu klein gemacht, ob
also die Vertikalen auch monokular überschätzt werden würden.
Die beiden V.-St. eines H.-St. wurden symmetrisch zur Median¬
ebene in eine bestimmte Entfernung voneinander gebracht, und
auf ihnen wurden die oberen Kugeln in genau gleicher Höhe Uber
Augenhöhe festgelegt. Sie bildeten die beiden oberen Ecken des
Quadrats. Nun wurden die unteren Kugeln auf beiden V.-St.
langsam höher gezogen, bis die vier Kugeln ein Quadrat zu bilden
schienen. Dann wurden die Längen der beiden Vertikalseiten ge¬
messen.
Sämtliche Quadrate wurden in dieser Weise eingestellt, daß
ihre vertikalen Seiten zunächst bedeutend größer waren als die
feste horizontale Quadratseite, daß also von einem Hochrechteck
tibergegangen wurde zu einem Quadrat. Akkommodiert wurde
auf die Ebene des Quadrats, bei den beiden letzten Tabellen
auf größere Tiefe (siehe später).
Die feste obere Quadratseite wurde immer so hoch gelegt, daß
der Horizont ungefähr durch die Mitte des Quadrats hindurchging.
Fixiert wurde nun die Mitte des Quadrats; indessen wurde keine
Fixationsmarke angebracht, weil diese die Schätzung der Vertikalen
hätte beeinflussen müssen.
Bei den ersten Versuchen wurde die Einstellung so gemacht,
daß der Blick über das Quadrat hin und her ging. So wurde in
der Tiefe des 10. H.-St. ein Quadrat von 20 cm horizontaler Kante
eingestellt, bei dem die vertikalen Seiten links 17,9 cm und rechts
17,7 cm lang waren. So sind auch die Zahlen in den Tabellen 31
und 32 gewonnen.
Auf die Blickwanderunff wurde bei den übrigen Versuchen ver-
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136
Friedrich Schubotz,
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schiede zeigen, ist ein Beweis, daß das Urteil auch bei diesen
einfachen Versuchen nicht absolut sicher ist, daß für die Zahlen¬
angaben auch hier noch ein gewisser Spielraum bleibt.
Die Tabellen 31 und 32 zeigen, daß die Überschätzung der
vertikalen Seite nicht nur bei binokularer Betrachtung, sondern
auch beim einäugigen Sehen vorhanden ist.
Nach Tabelle 31 ist sie beim monokularen Sehen stärker,
nach Tabelle 32 schwächer als beim binokularen. Diese Beobach¬
tungen widersprechen sich. Das ist nicht erstaunlich wegen der
Größe des Quadrats, dessen Seite einmal über */ a m, das andere
Mal 3 / 4 m lang Deshalb wurde die Kante erheblich verkürzt.
Jedenfalls geht aus den Versuchen wieder eine grundsätzliche
Übereinstimmung zwischen dem binokularen und dem monokularen
Sehen hervor.
Auf die monokularen Einstellungen wurde vorläufig verzichtet,
und es wurde untersucht, ob sich bei binokularer Betrachtung die
Überschätzung der Vertikalen etwa mit der Tiefe ändert (Tabellen 33
bis 35).
Die Tabellen 33, 34 und 35 sind gewonnen bei Fixierung der
Mitte des jeweils einzustellenden Quadrats, der Fixierpunkt ver¬
änderte gleichzeitig mit dem Quadrat seine Tiefenlage.
ln Tabelle 33 weist die Vertikale eine größere Länge auf als
die Horizontale in der Tiefe des 6. H.-St. Hier ist ein Übungs¬
fortschritt zu vermuten. Bei einer zweiten Einstellung, bei der
von einem Langrechteck statt wie sonst immer von einem Hoch¬
rechteck ausgegangen wurde, ergab sich für dieselbe Tiefe links
18,03 cm, rechts 17,94 cm.
In Tabelle 34 lieferte eine Beobachtung von Dr. Minnemann
für den 1 H.-St. eine geringere Überschätzung: links 7,73 cm,
rechts 7,71 cm.
Nach Tabellen 34 und 35 liegt in der Tiefe des 7. H.-St ein
Maximum der Überschätzung, also in derselben Tiefe, wo auch
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Beiträge zur Kenntnis des Sehraumes auf Grund der Erfahrung. 137
Tabelle 31. 10. Horizontalstab. 55,8 cm horizontale Kante K.
1
1
Binokular
Monok. links
Monok. rechts
linke vertikale Seite
53,8
63,5
52,1
rechte » » |
64,6
53,5
52,1
Tabelle 32. 9. Horizontalstab. 75,0 cm horizontale Kante K.
Binokular Monok. links
Monok. rechts
linke vertikale Seite
70,3 71,8
72,4
rechte > »
71.4 | 72,4
72,9
Tabelle 33. K = 20 cm. 2.—10. Horizontalstab. Binokular.
1.
H.-St.
2.
H.-St.
3.
H.-St.
4.
H.-St.
1 H.-St
6.
H.-St.
7.
H.-St.
8.
H.-St.
1 t
1 9-
'H.-St.
10.
H.-St.
1. vert. Seite
r. vert Seite |
—
18,49
18,42 !
18,30
18,15
17.71
17.72
18,12
18,10
20.21 19,26
20,13') 19,26
18,74
18,73
18.46 18,51
18.46 i 18,53
Tabelle 34. K = 8 cm. 1.—10. Horizontalstab. Binokular.
1.
2.
3.
4.
5. 6.
7. 8.
9.
10.
»
IjH.-St'
H.-St.
H.-St.
H.-St.
H.-St H.-St.
H.-St. H.-St.'
H.-St
H.-St.
linke Seite
7,39
7,60
7,46
7,25
7,40 7,05
6,96 7,18
7,45
7,57
rechte Seite
1! 7,411)!
7,55
7,43
7.27
7,38 | 7.05
6,94 7,22
7,40
7,66
Tabelle 35. K = 6 cm. 1.—10. Horizontalstab. Binokular.
1.
H.-St.
2.
H.-St.
3.
H.-St.
1 4 ’
H.-St.
5.
H.-St.
6.
H.-St
7.
H.-St.
8.
H.-St.
9.
H.-St.
1 10 *
| H.-St.
linke Seite 5,8^
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oogle
5,88
—
—
5,67
—
PRINCI
5,73
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ETON UNIVERSITY
138
Friedrich Schubotz,
bei den Abweichungen der optischen Geraden von den geometrischen
zu konstatieren war, hier keine Rede sein.
Von einer Gesetzmäßigkeit lassen diese Tabellen nichts er¬
kennen. Es ist aber auch nicht ausgeschlossen, daß die Größe
•• ••
der Überschätzung sich ändert mit einer Änderung der Länge der
festen Kante K.
Weiterhin wurde untersucht, ob eine Gesetzmäßigkeit zu finden
wäre, wenn der Fixationspunkt nicht wie bisher seine Tiefenlage
mit der Ebene des Quadrates änderte, sondern ein für allemal
fest blieb. Er wurde in Augenhöhe in der Medianebene auf dem
schwarzen Schirm hinter dem Beobachtungsraum markiert, etwa
27 cm hinter dem 10. H.-St.
Nach den Mitteilungen über den stereoskopischen Bereich ist
zu vermuten, daß der Raum, innerhalb dessen die Tiefe des
Quadrats geändert werden konnte, nur ein sehr beschränkter sein
konnte. Tatsächlich trat auch bei dem Quadrat von 20 cm Kanten¬
länge in der Tiefe des 8. H.-St. schon ein alternierender Eindruck
auf, der die Einstellung erschwerte. In der Ebene des 7. H.-St.
entstanden Doppelbilder. Bei 12 cm Kantenlänge waren die Doppel¬
bilder schon auf dem 8. H.-St. vorhanden.
Aus den wenigen Zahlen, die infolge dieser Umstände ge¬
wonnen werden konnten (siehe die Tabellen 36 und 37), kann
zwar keine zwingende Gesetzlichkeit hergeleitet werden. Immer-
Tabelle 36. K = 20,2 cm.
Binokular
Monokular
links
rechts
10. H.-St.
9. H.-St.
8 . H.-St.
| 8. H.-St
8 . H.-St
linke Seite
18,5
18,8
18.2
19.2
19,0
rechte Seite |
18,9
18,7
18.3
19,0
18,8
Tabelle 37. K = 12,15 cm.
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Binokular
Monokular
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Beiträge zur Kenntnis des Sehraumes auf Grund der Erfahrung. 139
hin sind die Beobachtungen gerade dieser beiden Tabellen mit
großer Sorgfalt und ziemlich gegen Schluß der Versuche, also nach
reichlicher Übung ausgeflihrt, so daß doch mit einigen Worten
noch auf die zahlenmäßigen Verhältnisse eingegangen werden
soll.
In Tabelle 36 ist die Überschätzung der Vertikalen ftlr die
Quadrate in der Ebene des 10. und des 9. H.-St. ungefähr die
gleiche, sie ist aber auf dem 8. H.-St.
etwas größer.
In Tabelle 37, bei kleinerer Quadrat¬
seite, also größerer Sicherheit des Urteils,
zeigt sich im binokularen Sehen wieder
eine stärkere Überschätzung der Vertikalen
bei geringerer Entfernung der Ebene vom
Beobachter.
Beide Male ist der Unterschied nur sehr
gering, aber er ist jedenfalls vorhanden
und beide Male in demselben Sinne.
Die nebenstehende Zeichnung zeigt den
Sachverhalt für die Ebene des Horizonts.
Die Visierlinien von den Knotenpunkten
nach dem Fixationspunkte F schneiden
aus der horizontalen Kantenlänge K des
Quadrats auf dem 10. H.-St. ein kleines
Stück Ojo heraus. In größerer Nähe vom
Beobachter werden diese Stücke größer:
Denkt man sich diese
Stücke ans der Quadratkante K jedesmal
entfernt, so wird K in größerer Augen¬
nähe immer kleiner. Wenn nun K auch
tatsächlich in größerer Nähe kleiner ge¬
sehen würde, so müßten die zugehörigen
vertikalen Seiten ebenfalls kleiner einge¬
stellt werden.
Knotenpunkte
Fig. 11 .
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Digitized b)
140 Friedrich Schubotz,
der in größerer Nähe breiter wird und der physiologisch (optisch)
unwirksam ist.
Diese Erklärung findet eine Bestätigung in den monokularen
Beobachtungen, deren Ergebnisse den Tabellen 36 und 37 bei¬
gegeben sind.
Beim einäugigen Sehen liegt kein optisch unwirksamer Raum
vor, die Kanten K werden in jeder Tiefe in ihrer ganzen Länge
gesehen, folglich dürfen hiernach die vertikalen Seiten in größerer
Nähe vom Beobachter monokular nicht kleiner eingestellt werden
als auf dem 10. H.-St., sogar noch ein wenig (nämlich um a 10 )
größer.
Nach den Beobachtungen trifft dies zu: In Tabelle 36 ist die
monokulare Einstellung für den 8. H.-St. vorgenommen; die Verti¬
kale ist in dieser Tiefe durchschnittlich fast 1 cm länger einge¬
stellt als binokular; sie hat eine tatsächlich etwas größere Länge
als die binokular eingestellte auf dem 10. H.-St. In Tabelle 37
liefert die monokulare Einstellung für den 10. und 9. H.-St. un¬
gefähr dieselbe Vertikale, und zwar ist die Vertikale wieder größer
als die binokular eingestellte Vertikale auf dem 10. H.-St.
Trifft die Erklärung auch quantitativ zu?
Die Weite des physiologisch-unwirksamen Raumes beträgt in
den Knotenpunkten etwa 66 mm. Der Fixationspunkt liegt in
459 cm Entfernung. Der 10. H.-St. liegt 27 cm vor dem Fixations¬
punkt, also beträgt
66-27 - , .
a 10 = 4Ö9~ m > ®io = fast 4 mm .
Der 9. H.-St. liegt 80 cm vom 10. H.-St. entfernt, also ist
66-(80 - 1 - 27 ) , 1f ..,
Og =-^459 -—~ = etwa 15 72 mm .
Um die Beträge a 10 bzw. a 9 müßte somit die monokulare
Schätzung der Vertikalen Uber die binokulare hinausgehen. Nach
Tabelle 37 ist die binokular geschätzte Vertikale durchschnittlich
11,62 cm auf dem 10. H.-St. und 11,47 cm auf dem 9. H.-St. [die
Differenz dieser beiden Zahlen müßte sein a g — a 10 , d. h. mehr
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PRINCETON UNIVERSITY
Beiträge zur Kenntnis des Sehraumes auf Grund der Erfahrung. 141
In Tabelle 36 kommt die Differenz zwischen der binokular
eingestellten Vertikalen und der monokularen Schätzung für den
8. H.-St. dem a 8 , das ja größer ist als a, J} wieder nur auf i / i
bis V 4 nahe. Und auch der Unterschied zwischen dem mon¬
okularen Mittelwert 19,0 cm und dem Mittel 18,7 cm aus den beiden
Vertikalen des 10. H.-St. erreicht nicht ganz den errechneten Be¬
trag a i0 = 4 mm, allerdings fehlt hier nur 1 mm.
Nach allem muß gesagt werden: Qualitativ trifft die Erklärung
für die Verschiedenheit der Überschätzung der Vertikalen im
monokularen und im binokularen Sehen wohl zu, nicht aber auch
quantitativ.
Letzteres ist jedoch nicht so sehr zu verwundern, im Gegen¬
teil, es wäre eigenartig, wenn die Erklärung auch quantitativ
zutreffen würde.
Das würde nämlich bedeuten, daß sowohl beim größten wie
beim allerkleinsteu Quadrat die binokular eingestellten Vertikalen
sich in den verschiedenen Tiefen stets unterscheiden müßten um
stets dieselben Beträge dg — a i0 , Og — a ö usw. Dies erscheint
wenig wahrscheinlich, wenn man an ein auf dem 9. und 10. H.-St.
eingestelltes Quadrat von 4 bis 5 cm horizontaler Kante denkt,
dessen vertikale Seite sich in den beiden verschiedenen Tiefen
um mehr als 1 cm unterscheiden müßte, da a g — a J0 = 1,15 cm.
Sollten zudem die aus der mathematischen Erklärung herge¬
leiteten Zahlen allein maßgebend sein, so dürfte eigentlich im
monokularen Sehen überhaupt keine Überschätzung der Vertikalen
vorhanden sein. Dem steht aber schon die Tatsache der ver¬
schiedenen Wertigkeit der Netzhautmeridiane entgegen.
Die Erklärung kann somit nur herangezogen werden in quali¬
tativer Hinsicht für die verschiedene Stärke der Überschätzung
im binokularen und monokularen Sehen.
Die Überschätzung der Vertikalen selbst muß, eben weil sie
im Sehen mit einem Auge ebensowohl vorhanden ist wie im Sehen
mit zwei Augen, als eine ursprüngliche Eigenschaft unseres Seh-
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Original from
PRINCETON UNIVERSITY
142
Friedrich Scbubotz,
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6) Direkter Vergleich zwischen binokularem und monokularem
Gesichtsfelde.
a) Die binokularen Einstellungen werden bei
dauernder Darbietung eines monokularen Gesichts¬
feldes gewonnen.
Das binokulare Gesichtsfeld war der Raum mit den Horizontal-
und Vertikalstäben, der bisher benutzt worden war. Dazu wurde
ein monokulares Gesichtsfeld geschaffen, das durch einen verti¬
kalen Spiegel s in das eine Auge gespiegelt wurde.
Als Spiegel wurde eine sehr dünne durchsichtige planparallele
Glasplatte benutzt. Sie war vor dem rechten (später zeitweilig
auch dem linken) Auge des Beobachters auf einem Tischchen mit
Drehvorrichtung (Prismentisch) angebracht, so daß die spiegelnde
Fläche um eine vertikale Achse gedreht werden konnte.
Fig. 12.
Die Achse des Spiegels, die bei der Rotation in Ruhe blieb,
wurde auf den Fußboden projiziert, und vom Projektionspunkte a
aus wurden auf der Geraden a b die Punkte 1 bis 10 so mar¬
kiert, daß die Länge der Strecke vom Knotenpunkt des rechten
Auges des Beobachters B nach jedem dieser Punkte (über den
' — ‘ Original from
Lick gle
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Beiträge zur Kenntnis des Sehraumes auf Gmnd der Erfahrung. 143
Stativ etwas unter Augenhöhe so angebracht, daß der Nullpunkt
der Skalenbank genau Uber einen der zehn Punkte auf a b ein¬
gestellt werden konnte.
An der Skalenbank konnten 2 bis 4 etwa 1 mm breite, von
hinten zu erleuchtende, senkrechte Spalte S befestigt werden, von
etwa 5 bis 7 cm Länge, und zwar so, daß sie gleichviel Uber
and unter den Horizont zu liegen kamen. Zwischen den £ ist
schwarzer Stoff ausgespannt gewesen.
Wurde nun das Stativ mit der Skala c d etwa so gestellt, daß
der Nullpunkt Uber dem Punkt 8 des Fußbodens lag, so hatte
der Nullpunkt dieses monokularen Gesichtsfeldes vom Knoten¬
punkte des rechten Auges genau dieselbe Entfernung wie der
Medianpunkt der Ebene des 8. H.-St. im binokularen Gesichtsfelde
vom Beobachter.
Die richtige Stellung des Spiegels wurde so ermittelt, daß ein
Lichtspalt S in den Nullpunkt der Skala gebracht und mit einem
in der Medianebene befindlichen, binokular gesehenen Vertikal¬
stabe durch Drehung des Spiegels zur Deckung gebracht wurde.
Es wurden nun im monokularen Felde zwei Spalte in 30,4 cm
Entfernung voneinander in der Tiefe 8 auf der Skalenbank c d
befestigt und darauf im binokularen Felde die beiden V.-St. auf
dem 8. H.-St. zur Koinzidenz mit den Spalten gebracht. Die Ent¬
fernung der beiden V.-St. wurde zu 30,3 cm gemessen. Bei
anderen Einstellungen ergaben sich die Zahlen:
monokular: 30,4, 24,5, 21,3, 17,7, 2,9, 17,4,
binokular: 30,3, 24,5, 21,3, 17,8, 2,9, 17,5.
Hieraus folgt, daß bei gleichzeitiger dauernder Darbietung der
beiden Gesichtsfelder kein Unterschied der lateralen Distanzen
bei monokularem und binokularem Sehen in gleicher Tiefe be¬
steht.
Nun wurde die Art der Darbietung geändert. Das monokulare
Gesichtsfeld wurde unten, das binokulare oben abgeblendet; dabei
ergab sich bei 18,0 cm Entfernung der Spalte eine binokulare
Distanz von 18,2 cm zwischen den V.-St.
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144 Friedrich Sehubotz,
wie bei der letzten Art der Darbietung: monokular 18,0 cm; dazu
binokular 18,2 cm.
Später wurde die Vergleichung auch fUr das linke Auge vor¬
genommen, wiederum für die Tiefe des 8. H.-St. Das Ergebnis
war: bei gleichzeitiger völliger Überlagerung der Gesicbsfelder
kein Unterschied der lateralen Distanzen, dagegen sowohl bei teil¬
weiser Abblendung wie bei intermittierender Darbietung ein Unter¬
schied von l‘/ 2 Dam zugunsten der binokularen Distanz. — Bei allen
drei Arten der Darbietung war nun ein deutlicher Unterschied in
der scheinbaren Entfernung bemerkbar gewesen: die monokular
gesehenen Spalte schienen tiefer zu liegen als die binokular ge¬
sehenen V.-St.
Diese verschiedene Tiefenlokalisation macht sich in den beiden
letzten Arten der Darbietung insofern wohl etwas bemerkbar, als
die binokulare Distanz, die ja näher erscheint, etwas kleiner,
IV 2 bis 2 mm kleiner eingestellt wird. Indessen ist dieser Unter¬
schied nur sehr gering, wahrscheinlich deswegen, weil die dauernd
dargebotene monokulare Distanz einen gewissen kontrollierenden
Einfluß austlbt.
Bei anderen Versuchen wurden im monokularen Gesichtsfelde
drei und später auch vier Spalte benutzt. Zwei in gleicher Tiefe
wie die Spalte befindliche V.-St. wurden binokular mit zweien
dieser Spalte zur Koinzidenz gebracht, sie wiesen bei der ersten
Art der Darbietung (die jetzt nur noch benutzt wurde) wieder die
gleichen Distanzen auf wie im monokulareu Felde die zuge¬
hörigen Spalte. Diese beiden »festen« V.-St. waren stets auf dem
8. H.-St.
Mit dem einen bzw. den beiden übrigen Spalten wurden nun
Vertikalstäbe in größerer und geringerer Tiefe zur Koinzidenz ge¬
bracht, und zwar zuerst nur bei monokularer Betrachtung, dann
binokular.
Auch hier waren die Unterschiede außerordentlich gering, sie
betrugen stets weniger als 4 mm, oft nur bis zu 1 mm, und zwar
kaum zur Hälfte in dem Sinne, daß die Verbindungslinien der
binokular gewonnenen Einstellungen zwischen den Knotenpunkten
Gck gle
—. _M L_J
\t _j
1— ^-.ifrrr,- - 1 -
PRINCETON UNIVERSITY
Beiträge zur Kenntnis des Sehraumes auf Grund der Erfahrung. 145
Monokular-rechts-Beobachtungen, Tiefe 8.
Tabelle 38.
Drei Spalte 8 cm l.<) 0 cm 20 cm r. 1 )
Auf den mittleren Spalt J binokular 0.66 cm r. ')
wird der 7. V.-St. eingestellt ( monokular 0,57 cm r.
Tabelle
Drei Spalte
Auf den mittleren Spalt (
wird der 7. V.-St. eingestellt j
Tabelle
Drei Spalte
Auf den mittleren Spalt
wird der 10. V.-St. eingestellt
ebenso 9. V.-St.
ebenso 7. V.-St.
ebenso 6. V.-St.
ebenso 5. V.-St.
39.
8 cm 1. 4 cm 1. 2Ö cm r.
binokular
2.27 cm 1.
monokular
2,17 cm 1.
40.
1
8 cm 1.
1 1
12 cm r. 20 cm r.
binokular
15.92 cm r.
+
monokular
16 35 cm r.
binokular
13.21 cm r.
-t-
monokular
13,63 cm r.
binokular
10,19 cm r.
monokular
10,36 cm r.
Doppelbilder
Doppelbilder
Tabelle 41.
Drei Spalte
Auf den mittleren Spalt
wird der 10. V.-St. eingestellt
ebenso 9. V.-St.
ebenso 7. V.-St.
ebenso 6. V.-St.
ebenso 5. V.-St.
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20 cm 1.
13 cm r. 20 cm
\ binokular
17.77 cm r.
+
j monokular
17,84 cm r.
l binokular
14.90 cm r.
+
( monokular
14,97 cm r.
( binokular
11,06 cm r.
| monokular
11,15 cm r.
j binokular
9,10 cm r.
? (Ei
( monokular
9,10 cm r.
Doppelbilder
^ret* c
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PRINCETON UNIVERSITY
146
Friedrich Schubotz,
Tabelle 42.
Drei Spalte
Auf den mittleren Spalt
wird der 10. V.-St. eingestellt
ebenso 9. V.-St.
ebenso 7. V.-St.
ebenso 6. V.-St.
ebenso 5. V.-St.
2Ö cm 1. 13 cm 1. 20 cm r.
\ binokular 21,70 cm 1.
( monokular 22,00 cm 1.
| binokular 17,33 cm 1.
| monokular 17,59 cm 1.
I binokular 9,58 cm 1.
| monokular 9,67 cm 1.
( binokular 6,73 cm 1. ?
{ monokular 6,73 cm 1.
Doppelbilder
Tabelle 43.
Die Versuchsreihen 41 und 42 werden vereinigt: 4. Spalte,
auf die beiden mittleren werden beide V.-St. der einzelnen H.-St. eingestellt.
Vier Spalte
20 cm 1. 13 cm 1.
Die beiden V.-St. werden
auf dem 10. H.-St. eingestellt
ebenso 9. H.-St.
binokular 21,70 cm 1.
monokular 22,02 cm 1.
binokular 17,43 cm 1.
monokular 17,57 cm 1.
13 cm r. 20cm r.
I I
17,91 cm r.
18.88 cm r.
14,94 cm r. -f-
15,02 cm r.
Monokular-links-Beobachtungen, Tiefe 8.
Tabelle 44.
Drei Spalte
Auf den äußersten Spalt linkB
wird der 10. V.-St. eingestellt
ebenso 9. V.-St.
ebenso 7. V.-St.
ebenso 6. V.-St.
20 cm 1.
1
10 cm 1.
1
10 .
I
1
J binokular
1
29,10 cm 1.
1
4-
1 monokular
29,46 cm 1.
( binokular
24,77 cm 1.
-f
1 monokular
24.% cm 1.
\ binokular
16,73 cm 1.
] monokular
16,80 cm 1.
( binokular
Doppelbilder
( monokular
13,73 cm 1.
Tabelle 45.
Vier Spalte
20 cm 1. 10 cm 1. 10 cm r. 20 cm r.
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Auf die mittleren Spalte
werden die beiden V.-St.
auf dem lO.H.-St. eingestellt
| binok. 13,33 cm 1.
I monok. 13,81 cm 1.
I klr»/\lr 1 1 ür\ si Ttr» 1
J
17.04 cm r. -+-
16,74 cm r.
1 Q AÜ n m v 1-
PRINCETON UNIVERSITY
Beiträge zur Kenntnis des Sehraumes auf Grund der Erfahrung. 147
Aus allen diesen Beobachtungen ist zu entnehmen:
Wenn einzelne Objekte im Gesichtsfelde dauernd nur dem
einen Auge dargeboten werden, während andere Gegenstände zu¬
gleich binokular sichtbar sind, scheint sich die räumliche Anord¬
nung so zu gestalten, als ob das nur von einem Auge Gesehene
zugleich dem anderen Auge mitgeboten würde, oder:
Das dauernd monokular Gesehene betrachten wir ebenfalls als
das Ergebnis des binokularen Sehens, und wir stellen deshalb bei
den hier beschriebenen Versuchen objektiv so ein, wie es eigent¬
lich nur dem monokularen Sehen entspricht.
Hiernach erklärt es sich leicht, daß bei den Vergleichen der
lateralen Distanzen bei der ersten Art der Darbietung, bei dauernder
Vergleichung der beiden Gesichtsfelder, sich kein Unterschied
zeigte.
Der Einfluß, den in den bisherigen Versuchen das monokulare
Gesichtsfeld auf das binokulare ausgeübt hat, wird vermieden,
wenn monokulare und binokulare Einstellungen jede für sich vor¬
genommen werden. Es ist zu vermuten, daß dann die Unter¬
schiede größer sein und einen eindeutigen Sinn zeigen werden.
Darüber soll nun berichtet werden.
b) Die monokularen und binokularen Einstellungen werden
zeitlich getrennt vorgenommen.
Die Versuche über den stereoskopischen Bereich waren an¬
fänglich so gemacht worden, daß zwei V.-St. in gleicher Tiefe
und fester Entfernung voneinander symmetrisch zur Medianebene
festgelegt wurden, und daß dann ein davor oder dahinter befind¬
licher V.-St. auf »binokulare Mitte« eingestellt wurde.
Bei einer ganzen Reihe dieser Versuche wurde nun außer auf
binokulare auch auf monokulare Mitte eingestellt, für beide Augen.
Hier, wo das monokulare und das binokulare Gesichtsfeld
zeitlich voneinander getrennt dargeboten waren, traten größere
Unterschiede auf als bei den vorigen Beobachtungen, bei denen
stets das monokulare Gesichtsfeld wirksam war.
Es ist (siehje Figur 13) offenbar, daß bei den
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, Einstellungen
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PRINCETON UNIVERSITY
148
Friedrich Schubotz,
die monokular gewonnenen Einstellungen weiter von der Median¬
ebene entfernt liegen werden, und zwar, wenn der Mittelstab M
vor b lag, für das rechte Auge nach rechts und für das linke
nach links; und wenn der Mittelstab dahinter lag, umgekehrt.
Die Tabellen 46 bis 48 bestätigen diese Deduktion durchweg.
Die Zeichnung läßt auch erkennen, daß die Abweichungen
von M gegen die Medianebene größer werden müssen, wenn M
sich weiter von b entfernt. — Die
Rüge
Fig. 13.
Tabellen zeigen vollkommen kontinuier¬
liche Änderungen.
Die binokular gewonnenen Ein¬
stellungen liegen stets in der Mitte
zwischen den beiden monokularen,
d. h. die Verbindungslinien von der
tatsächlichen Mitte von b über
M binokular schneiden zwischen den
Knotenpunkten ein, ungefähr im
Zyklopenauge.
Hiernach müssen die Tabellen 46
bis 48 als Beweis dafür gedeutet wer¬
den, daß es sich im binokularen
Sehen wirklich um eine Zentral¬
projektion handelt, als deren Zentrum
das Zyklopenauge anzusehen ist.
Es handelt sich nun im mon¬
okularen Sehen von vornherein auch
um eine Zentralprojektion mit dem
betreffenden Auge als Zentrum, aber
dem monokularen Eindruck fehlt etwas
von dem Plastischen, Stereoskopischen,
das dem binokularen Eindruck seine
Lebhaftigkeit verleiht. Da dieser
Eindruck des Stereoskopischen auch
vorhanden ist bei vollkommen fester Fixation innerhalb eines
t
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gewissen Bereichs,
Google
so müssen mit dem Vorzug des Plastischen
Original fron _
PRINCETON UNIVERSITY
Beiträge zur Kenntnis des Sehraumes auf Grund der Erfahrung. 149
solche, sondern nur in Form von Tiefenwerten zum Bewußtsein
kommen.
Das würde für eine unmittelbare Tiefenwahrnehmung sprechen.
Tabelle 46. Mitte, eingestellt.
[Abweichungen in mm]
auf
dem ?
H.-St.
Mon¬
okular
links
Binokular
Mon¬
okular
rechts
]
b auf dem 10. H.
1, = 60 cm
■St.;
9.
2.0 1.
2.9 r.
6.6 r.
8.
2.0 1.
6,1 r. ?
b = 50 cm
10.4 r.
9.
1,0 1.
4.1 r.
7.0 r.
8.
2,2 1.
7,1 r. ?
b = 40 cm
13,2 r.
9.
0,7 1.
2,1 r.
5,5 r.
8.
4.2 1.
5,9 r. ?
b = 30 cm
13,3 r.
9.
! 0,0
2.1 r.
7,0 r.
8.
1 2,5 1.
l
3,4 r. ? ?
b = 20 cm
15,0 r.
9.
i 3,7 1.
0,3 r.
5,7 r.
8.
8.2 1.
1.2 r. ???
b — 12 cm
12,4 r.
9.
7,8 1.
0,9 1.
b = 8 cm
4.3 r.
9.
7.8 1.
0,8 1.
5 = 6 cm
5,1 r.
9.
8.6 1.
0,6 r. ?
5,0 r.
Tabelle 47. Mitte, eingestellt.
[Abweichungen in mm]
auf
dem ?
H.-st.:
1
Mon-
1
okular
links
Binokular
Mon¬
okular
rechts
i
b auf dem 5. H.-
b = 30 cm
St.;
6
‘ i
2,7 r. | 1,5 r. ?? |
Tabelle 48
0,7 1.
b auf dem 8. H.-St.:
b = 40 cm
10.
24,3 r.
3,5 r.
14,4 1.
9.
12,8 r.
3,6 r.
7,01.
7.
| 3,2 1.,
2,9 r.
5,8 r.
6.
: 6,51.1
4,8 r. ?
15,7 r.
5.
14,9 1.
Doppelb.
20,3 r.
4.
17,3 1.
»
24,2 r.
3.
21,0 1.
»
27,8 r.
2.
25,8 1.
29,7 r.
1.
27,4 1.
*
b — 20 cm
31,3 r.
10.
21.8 r .
! 1,8 r.
14,3 1.
9.
10,6 r.
1,0 1.
9,1 1.
7.
2.0 1.
0.9 r.
7.2 r.
6.
8.91.
3,8 r. ???
14,2 r.
5.
14,4 1.
Doppelb.
20,0 r.
4.
| 20,9 1.
>
20,6 r.
3.
| 23,1 1.
»
25,0 r.
2.
1 26,0 1.
>
27,1 r.
1-
29,9 1.
>
30,6 r.
Digitized by
Google
Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Digitized b)
Die Methode der historisch-völkerpsychologischen
Begriffsanalyse.
Von
Dr. Abraham Schlesinger (Würzburg).
Inhaltsverzeichnis. s«it«
I. Die Notwendigkeit einer neuen Methode.150
II. Zwei Referate.156
1) Maurice Millioud, La Formation De L’Idäal.156
2) Ach ad Haara, Moseh.167
III. Die Beschaffenheit der neuen Methode.177
I. Die Notwendigkeit einer neuen Methode.
Die exakte wissenschaftliche Bestimmung eines Begriffes hat
zu ihrer unerläßlichen Voraussetzung die wissenschaftliche Er¬
kenntnis des mit ihm gemeinten Objektes. Als sicherer, wenn¬
gleich beschwerlicher Weg zu einer solchen Erkenntnis wird für
normwissenschaftliche bzw. für philosophische Begriffe nunmehr
die Methode der »historisch-psychologischen Analyse«
gelten dürfen. Sie besteht ihrem Wesen nach kurz gesagt darin,
daß der zu untersuchende Begriff zunächst in seiner historischen
Gegebenheit dargestellt und hernach in seiner psychologischen
Grundlage analysiert wird.
Für die vollständige Klärung eines Begriffes scheint es mir
jedoch prinzipiell erforderlich, ihn von zwei verschiedenen Ge¬
sichtspunkten aus zu betrachten. Einmal muß die Frage lauten:
wie ist das psychische Gebilde, welches die Bewußtseinsgrundlage
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Original from
PRINCETON UNIVERSITY
Die Methode der historisch-völkerpsychologischen Begriffsanalyse. 151
•
die anfangs genannte Methode in ihrer besonderen Gestaltung als
historisch-individualpsychologische Analyse. Sodann ist fest¬
zustellen, welche allgemeine, d. h. in der Gemeinschafts¬
psyche wurzelnde, Erlebnisgrundlage dem nämlichen Begriffe
eignet. Und eine solche Feststellung muß einheitlich durch die
Anwendung jener selben Methode oder genauer: jenes selben
methodischen Grundgedankens in der Form einer historisch¬
völkerpsychologischen Analyse vollzogen werden.
Bei der »historisch-individualpsychologischen Analyse« ge¬
staltet sich der erste Teil als chronologische Darstellung der
bisherigen Theorien Uber den zu behandelnden Begriff, wobei
jeder dargestellten Einzeltheorie nach Bedürfnis eine kurze
Würdigung vom psychologischen Standpunkt aus angefUgt werden
kann. Die psychologische Untersuchung zerfällt hierauf in zwei
Teile: in eine systematisch-psychologische Darstellung und
Würdigung jener Theorien und in eine empirisch-psychologische
Behandlung des Erlebnisses selbst. Der letzteren Untersuchung
läßt sich am besten die Fragebogen- und die (mündliche) Frage¬
methode zugrunde legen.
Über die Art der Verbindung des dritten mit dem seinerseits
ganz auf dem ersten beruhenden »systematisch-psychologischen«
Teile der Gesamtarbeit sind dreierlei verschiedene Auffassungen
methodologisch möglich.
Man könnte erstens daran denken so zu verfahren, daß die
empirische Untersuchung vollständig unabhängig von dem
zweiten Teile in Angriff genommen wird. D. h.: die Anlegung
des Fragebogens erfolgt ohne jede Rücksicht auf Inhalt und Er¬
gebnisse des zweiten Teils. Zur Erzielung einer solchen Unab¬
hängigkeit empfiehlt sich die Fixierung der Fragen schon vor
dessen Ausführung. Der systematische Zusammenhang mit ihm
besteht darin, daß die Ergebnisse der empirischen Untersuchung
mit dem vorhergehenden Teile verglichen und kombiniert werden.
So liefert die »systematisch-psychologische Darstellung und Wür¬
digung der bisherigen Theorien« über den bezüglichen Begriff
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Abraham Schlesinger,
genommeuheit des Bearbeiters und somit in dieser Hinsicht strengste
Objektivität der Bearbeitung gewährleistet. Andererseits ergibt
sich jedoch ein großer Übelstand. Es kann und wird leicht ge¬
schehen, daß in dem systematisch-psychologischen Teile eine Reihe
von wichtigen Tatbestandsmöglichkeiten aufgedeckt werden, über
deren Wirklichkeit die empirische Untersuchung nicht das min¬
deste zu ermitteln vermag, weil jene Möglichkeiten eben erst nach
der Anlage und Verwendung des Fragebogens gefunden worden
sind und datier das ausschließlich auf ihm beruhende empirische
Material nichts darüber enthält. Umgekehrt dürften wiederum
manche Fragen sich jetzt als unwesentlich und gar nicht zur Sache
gehörig erweisen.
Um eine derartige Unvollkommenheit zu vermeiden, kann man
zweitens so Vorgehen, daß der Fragebogen ganz auf Grund
der »systematisch - psychologischen Darstellung und
Würdigung« entworfen wird. Die natürlich in sich hier gleich¬
falls durchaus selbständige Verarbeitung des Materials bringt dann
wie bei dem vorhin erörterten Verfahren die empirische Bestätigung
oder Nichtbestätigung der Ergebnisse des zweiten Teils.
Allein auf diese Weise erwächst eine neue Schwierigkeit. Die
Fixierung der Fragen auf der Grundlage eines bestimmten System¬
schemas scheint die Unabhängigkeit und fundamentale Selbständig¬
keit der empirischen Untersuchung aufzuheben.
Einen Ausweg aus dem Dilemma bietet die dritte Möglich¬
keit des Verfahrens. Die Verbindung des dritten mit dem zweiten
Teile gestaltet sich bei der neuen Auffassung so, daß der Ent¬
wurf des Fragebogens zuerst, d. h. vor der systematisch-psycho¬
logischen Untersuchung erfolgt (also ganz »voraussetzungslos«,
gerade wie bei dem ersten Verfahren), aber nachher, d. h. nach
Vollendung des zweiten Teiles, die Fragen auf dieser Grundlage
ergänzt bzw. verringert werden. Wegen einer allzu großen
Häufung der Fragen bei einem solchen Vorgehen braucht man
keine übertriebene Besorgnis zu hegen. Wie die Erfahrung ge-
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Die Methode der historiscb-vülkerpsychologischen Begriffsanalyse. 153
beiden anderen, und sie wird in Zukunft bei Anwendung unserer
Methode maßgeblich sein müssen *).
Daß die Begriffsanalyse, welche vom völkerpsychologischen
Gesichtspunkte ausgeht, eine ganz andere Form anzunehmen
hat als die individualpsychologisch orientierte, ist unverkenn¬
bar. Um mit dem letzten Teile zu beginnen: eine empirisch¬
psychologische Untersuchung vermittels der Fragebogenmethode
oder auf irgendeine sonstige Weise läßt sich unmöglich ausführen.
Nur Individuen sind imstande, ihre Erlebnisse unvermittelt kund¬
zugeben; der Gemeinschaft als solcher, dem Gemeinschaftsbewußt¬
sein, kann man direkt schlechterdings nicht beikommen.
Sodann kann man die Art, wie der erste historische« Teil
unter dem individualpsychologischen Gesichtspunkte zu behandeln
ist, gleichfalls nicht auf dem Boden der völkerpsychologischen
Forschung einfach nachahmen.
Vor allem fehlt es bei den verschiedenen Theorien, welche
über das einem bestimmten Begriffe zugrunde liegende Bewußt¬
seinsgebilde etwa vorhanden sind, meist an einer genügenden
Unterscheidung zwischen individual- und völkerpsychologischer
Betrachtung. Jene »Theorien« gehen ja auch von ganz anderen
Voraussetzungen aus und verfolgen ganz andere Zwecke, als eine
»Begriffsanalyse« in unserem Sinne. Sie bestehen sehr oft nur
aus gelegentlichen Bemerkungen und Reflexionen Uber einen Be¬
griff, der in den Ausführungen des betreffenden Philosophen oder
Psychologen gerade eine wichtige Rolle spielt und eine kurze all¬
gemeine Besprechung verlangt. Diese Theorien künstlich in
individual- und völkerpsychologische zu zerlegen, wäre häufig
bloß durch eine recht gewaltsame und willkürliche Deutung mög¬
lich 2 ). Jedenfalls müssen sie, wie sie nun sind, in der grund-
1) Ich stütze mich bei der ganzen bisherigen Ausführung auf meine — mit
Ausnahme der letzten Abschnitte der empirischen Untersuchung abge¬
schlossene — Arbeit: »Der Begriff des Ideals«. Im I. Teile (erschienen bei
Wilhelm Engelinann, Leipzig 1908) § 3 und in der »Schlußbetrachtung« des
II. Teils (Archiv für diu pp.r. Psvchnlncip XV Pdd finden sich dip hp-Hi«-.
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Abraham Schlesinger,
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legenden »historisch-individualpsychologischen Analyse« be¬
handelt werden, zu der die »historisch-völkerpsychologische
Analyse« lediglich die Ergänzung bildet. Dann aber ist dort
schon alles miterledigt, was über das betreffende Erlebnis als
Gemeinschaftserlebnis wissenschaftlich geäußert worden ist.
Dazu tritt ein weiteres Bedenken. Die systematisch-psycho¬
logische Verarbeitung der Theorien, welche und wie sie im zweiten
Teile zum Vollzüge gelangt, erscheint mir auf dem Gebiete der
Völkerpsychologie sachlich unstatthaft. Die Bewußtseinsvorgänge,
die dort als Tatbestandsmöglichkeiten aufgedeckt werden, tragen
ausschließlich individualpsychologischen Charakter. Denn es
ist ausschließlich die allgemeine Psychologie, mit deren Be¬
griffen und auf deren Grundlage hier operiert werden muß, wo¬
fern die fundierenden Theorien nicht selbst streng völkerpsycho¬
logisch gehalten sind: eine Bedingung, die, wie vorhin ausgeführt
wurde, meist unerfüllt bleibt. Die allgemeine Psychologie je¬
doch ist die Individualpsychologie 1 ). Die Gebilde der Gemein¬
schaftspsyche dürfen aber keineswegs von vornherein ein¬
fach mit denen der Individualpsyche identisch gesetzt werden, so
sehr wir auf Analogieschlüsse angewiesen sein mögen Ein solches
Vorgehen schlösse eine Art petitio principii in sich und machte
die ganze Untersuchung wertlos. Ich will herausfinden, wie ein
Objekt einerseits vom Individuum und andererseits von der Ge¬
meinschaft erlebt wird und setze dabei schon voraus, daß auf beiden
Gebieten die Erlebnisweisen, die psychischen Außerungsformen,
gleichartig und die psychologischen Termini gleichbedeutend sind!
Endlich kommt in Betracht, daß bei der völkerpsychologischen
Untersuchung die historische Grundlage eine ganz andere sein
kann als es bei der individualpsychologischen möglich ist. Bei
dieser ergibt sich nämlich die Schwierigkeit, daß das, woran man
im allgemeinen bei dem betreffenden Begriff zu denken pflegt,
kollektiver Natur ist. Der Begriff des Wertes z. B. läßt uns
vor allem an allgemein als Werte geltende Gegenstände denken,
an — wirkliche oder vermeintliche — Eigenwerte schlechthin.
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Die Methode der historisch-vülkerpsychologiachen Begriffsanalyso. 155
Gemeinschaftswertungen. Für mich persönlich brauchen die
genannten Gegenstände gar keinen Wert darzustellen. Ich per¬
sönlich kann als Stoiker die Lust, als Asket die Schönheit usw.
fllr Unwerte ansehen. Will man also wissen, was für das Indi¬
viduum der Begriff des Wertes bedeutet, so darf man nicht von
der Untersuchung dessen ausgeben, was im allgemeinen, was
im Durchschnitt von dem Gemeinschaftsbewußtsein als Wert erlebt
wird. Um nur irgendwie eine historische Grundlage zu haben,
muß man bei der historisch-individualpsychologischen Analyse
notgedrungen die Theorien Uber den betreffenden Begriff ent¬
sprechend zu verwenden suchen. Geht man jedoch von dem
völkerpsychologischen Standpunkt aus, so kann man gleich die
Sache selbst betrachten: die allgemein, d. h. vom Gemeinschafts¬
bewußtsein mit dem Begriffe gemeinten Objekte in ihrer geschicht¬
lichen Gegebenheit.
Wir gelangen somit zu dem Ergebnis, daß sowohl die historische
Grundlage wie die psychologische Ausführung bei der historisch¬
völkerpsychologischen Begriffsanalyse anders geartet sein muß
als bei der historisch-individualpsychologischen.
Es erhebt sich nun die Frage, wie jene erstere Methode positiv
zu gestalten sei. Für ihre Behandlung besitzen wir einen wert¬
vollen Stutzpunkt in einer Abhandlung des hebräischen Denkers
Achad Haam. Sind auch ihre Voraussetzungen und Ziele von
den unserigen gänzlich verschieden, so läßt sich aus ihr dennoch
der Plan einer Methode gewinnen, wie wir ihn gerade suchen.
Dem bisherigen Gang unserer Betrachtung folgend, wollen wir
vorher noch eine französische Arbeit kennen lernen, die ad oculos
demonstrieren soll, wie nötig nicht nur eine Trennung der völker-
von der individualpsychologischen Untersuchung ist (was der Ver¬
fasser selbst betont), sondern auch eine Trennung der Me¬
thoden.
So löse ich gleichzeitig ein früher gegebenes Versprechen 1 ).
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Abraham Schlesinger,
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II. Zwei Referate.
1) Maurice Millioud: La formation de l’ideal 1 ).
Wenn man die Gedanken als Tatsachen faßt und ihre Eigen¬
tümlichkeiten studiert, so verschwinden einerseits gewisse philo¬
sophische Probleme, während auf der anderen Seite sich neue er¬
heben und manche eine Umbildung erfahren.
Zur Illustrierung dieser Behauptung kann das Problem der
Bildung des Ideals dienen. Millioud will in einigen vorläufigen
Auseinandersetzungen die Bedeutung des Problems dartun. Es
handelt sich dabei und bei den Sätzen, auf die sich das Ganze
bringen läßt, mehr um eine Art Postulate, welchen noch die eigent¬
lichen Beweise fehlen. Die letzteren würden für sich allein be¬
sondere Untersuchungen erfordern.
Das Problem der Idealbildung gehört in die Reihe der moral¬
philosophischen Fragen, wo man die größten Schwierigkeiten
findet, wenn man sich an eine »Naturgeschichte« der Ideen
heranwagt. Man will da die Bedingungen des Entstehens und
Vergehens eines Gedankens kennen lernen sowie seine Wirksam¬
keit. Der Ethiker hingegen weiß mit derartigen Feststellungen
nicht viel anzufangen. Er versucht, wie man immer betont, zu
ermitteln, was sein soll, nicht was ist. Daraus könnte man
folgern, daß eine natürliche Geschichte der Gedanken philosophisch
bedeutungslos sei.
Indessen haben einige Soziologen auf die Möglichkeit einer
aus der Kenntnis der sozialen Tatsachen geschöpften Sozialethik
hingewiesen, wonach »normal« alles hieße, was den Grund¬
bedingungen des Gemeinschaftslebens konform wäre. Bei einer
solchen Ethik kommt freilich das Innenleben zu kurz. Wir
gehen keineswegs in der Gemeinschaft auf. Wir vermögen ihr
nur zu geben, was wir haben, und was wir (moralisch) haben,
hängt von dem ab, was wir sind. Dergestalt gibt es keine soziale
ohne eine Persönlichkeitsmoral. Allein eine Persönlichkeitsmoral
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Die Methode der histuriscli-vülkerpsychologiacheü Begriffsanalyße. 157
Ihre »Materie« sind wir selbst: unser Geist, der Komplex
der psychischen Erscheinungen und Funktionen, aus denen sich
das Innenleben zusammensetzt. Ihr Ziel ist die Organisation der
Persönlichkeit (l’organisation de la personnalite) als das Grund¬
gesetz des psychischen Lebens. Hinsichtlich der Mittel, die
gleich dem Ziele ebenfalls in der Natur gegeben sind, müssen wir
die Hauptformen der Persönlichkeitsorganisation erforschen (les
principaux inodes d’organisation de la personnalite); und dann
wird die Beobachtung, welche uns zweifellos verschiedene Typen
aufzeigt, auch darüber Auskunft erteilen, wie man von einer
Organisationsform zur anderen gelangt, unter welchen Bedingungen
und mit welchem Ergebnis.
Zu den verschiedenen Organisationsformen der Persönlich¬
keit gehört die Idealbildung. Sie soll im folgenden defi¬
niert, ihr Mechanismus beschrieben, ihre Wirksamkeit erörtert
werden.
Das Ideal gilt gewöhnlich als der Gegensatz des Alltäglichen,
als das Gegenteil der Realität, als das Vollendete gegenüber dem
Wechselnden, als das letzte und höchste Ziel jenseits unserer
eitlen Wünsche und flüchtigen Träume. Aber mit derlei Redens¬
arten ist nichts anzufangen. Um zu einer wirklichen Bestimmung
des Idealbegriffes zu kommen, müssen wir vielmehr einige jener
glänzenden Bilder betrachten, »qui se sont levees aux yeux des
hommes, debout sur l’horizon de l’histoire, et vers lesquelles des
generations ont couru«.
Als im alten Hellas nach den Schlachten bei Marathon und
Salamis die nationale Degeneration begann und die leuchtenden
Götter Homers, die schönheiterfüllten, aber ohnmächtigen National¬
gottheiten alterten und verblichen, da erstand ein neuer Gott: der
gewaltige Heracles mit Keule und Löwenfell. Diesen Kraft¬
menschen versetzte man nach einer rauhen Pilgerfahrt auf Erden
unter die Unsterblichen. Gehorsam hatte er sich bis zum Sklaven
erniedrigt, Hohn und Verachtung ertragen und gigantische Arbeiten
verrichtet. Arglos, treuherzig, betrogen, voll mörderischen Zornes
und tiefer Reue war dieser »Tor« (ce simple), dieser Ma,u n der
harten A rlküif , riinlit Klnll ein Röndin-er vnn TTn crpViPiiPTTl dOndem
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Abraham Schlesinger,
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Erde durchwandert und uuter unsäglichen Anstrengungen die
Unvollkommenheiten einer schlecht geordneten Welt verbessert,
um schließlich durch das Feuer gereinigt im Olymp mit der
ewigen Jugend vermählt zu werden.
Wer hat Heracles erwählt? Warum geschah es gerade erst
damals, als die Bürger die Sache des Staates aufzugeben und
ihren Schutzgöttern die Treue zu brechen begannen?
Doch er ist gar keine Staatsgottheit; er war vielmehr der Held
der Zyniker, jener Bettelmönche des Altertums, die von Stadt
zu Stadt wunderten, um die moralische Kraft Griechenlands
zu beleben. Sie machten aus Heracles das Vorbild der regene¬
rierten Menschheit. Losgelöst von den Banden des Staates, der
Tradition, der Sitten, frei in jeder Hinsicht, trunken von persön¬
licher Freiheit, aber einsam in der Menge und ganz auf sich selbst
gestützt; voll Ehrerbietung gegenüber dem, was für niedrig und
voll Widerstreben gegen alles, was für begehrenswert galt; voll
Verachtung für Ehren, Reichtum, Wissen; verherrlichend die
Arbeit der Hände, die Armut, Ausdauer, Unwissenheit, ein primi¬
tives, durch keine Kunst verschöntes Leben: diese Rauhigkeit und
Größe verkörperten die Zyniker in Heracles.
Solche Idealbildungen linden sich so häufig in der Geschichte,
daß man das Phänomen als eine Art Funktion des moralischen
Lebens betrachten darf. Aber das Ideal tritt nicht immer frei
hervor. Oft wird es nur teilweise herausgearbeitet und bleibt un¬
bestimmt. Es löst sich dann nicht von der Person los, in der es
ursprünglich zum Ausdruck kam, um sie in einer organisierten
Gruppe oder in dem allgemeinen Volksstreben zu überdauern.
So blieb das patriotische Ideal der Jungfrau von Orleans an die
besondere Tat der Vertreibung der Engländer aus Frankreich ge¬
bunden. Nach Vollendung der Tat lebte die Heldin zwar in der
allgemeinen Volksmeinung als eine anziehende, makellose Gestalt,
aber sie wurde keineswegs die Verkörperung der vielfältigen,
mächtigen Strebungen, die sich vermittels der Idealisierung und
Personifizierung klären und vereinigen.
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Die Methode der historisch-vülkerpsychologisclien Begriffsanalyee. 159
Gestalt eines Franz von Assisi, weil sein erhabener Traum vollendet,
sein Ideal völlig ausgebildet ist.
Die bisher betrachteten Ideale sind Gemeinschaftsphänomene.
Sie gehen vielleicht von einem einzelnen Menschen aus, sind je¬
doch bestimmt, in der Menge und durch sie zu existieren, eine
Partei oder eine Nation zu gruppieren. Das Gemeinschaftsideal
ist zumeist konkret, es stellt eine Verkörperung dar. Wenn es
sich an einer wirklichen, historischen Persönlichkeit verdichtet, so
verklärt es sie, nicht um sie zu verwischen, sondern im Gegen¬
teil, um sie zu vereinfachen und die charakteristischen Züge zu
betonen.
Steht es auch so beim individuellen Ideal? Gibt es überhaupt
eine individuelle Form des Ideals? Zur Kenntnis und Würdigung
dieses besonderen Phänomens der Idealbildung ist eine Unter¬
suchung seiner Hauptarten erforderlich. Gibt es eine individuelle
Form des Ideals wie es eine kollektive gibt, so hat es vielleicht
jetzt, uuter dem neuen Gesichtspunkt betrachtet, nicht mehr die
gleichen Eigenschaften noch genau die gleiche Natur.
Da nun das Individuum ein derart kompliziertes Wesen und
andererseits der Ausdruck >Ideal« derartig schwankend und viel¬
deutig ist, daß man bei jedem Schritt sich zu verirren Gefahr
läuft, so müssen wir bei der Untersuchung in der Weise Vorgehen,
daß wir die wesentlichen Merkmale betrachten, welche für die uns
schon bekannten Fälle charakteristisch sind und dann zusehen, ob
wir sie ganz oder teilweise in neuen Fällen wiederfinden.
Jene Merkmale lassen sich kurz angeben als: Die Herstellung
eines Bildes, seine Veräußerung und seine Rückwirkung auf das
Subjekt (l’elaboration d’une image, l’exteriorisation de cette image
et l’action en retour que cette image exerce sur l’homme). Finden
wir die genannten Merkmale auch in neuen Fällen?
In gewissen Schöpfungen auf dem Gebiete der schönen Künste,
in gewissen politischen oder sozialen Entwürfen, in gewissen
philosophischen Konzeptionen begegnen wir ihnen tatsächlich wieder.
Der echte Künstler verkörpert, wie mau mit Recht zu sagen pflegt,
sein Ideal in seinemWerke und macht es in diesem frei. Er reprodu¬
ziert nicht etwa ein ihm geistig gegenwärtiges Bild, sondern er
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bekannten Idealbildung eine offensichtliche Analogie, indem dort
ebenfalls ein konkretes Bild irgendwie fixiert wird und in unseren
Augen einen höheren Wert erlangt, so kann man ganz ähnliche
Merkmale bei Konzeptionen politischer und sozialer Art finden.
Es handelt sich dabei, wie sich von der entsprechenden Utopie
Platos (in der »Republik«) entnehmen läßt, um einen Traum, um
ein Gewebe von Träumen, hervorgegangen aus Emotionen und
Reflexionen, Erinnerungen und Phantasievorstellungen, die aber
nicht mehr als Träume vorhanden sind, sondern eine feste Form
angenommen haben und dergestalt eine Anziehungs-, eine wunder¬
bare Suggestionskraft gewinnen. Ebenso steht es bei den epoche¬
machenden metaphysischen Systemen. Nimmt man den ganzeu
Apparat von Beweisen, Induktionen usw. weg, dann entdeckt man
ein einziges oder einige wenige Prinzipien oder eine sehr allge¬
meine Tatsache, auf welche die unendliche Mannigfaltigkeit der
Erscheinungen zurückgeführt wird: aber lebendige, wirksame
Tatsachen und Prinzipien, deren Kontemplation den Auserwählten
alles Leid stillt und eine Erhöhung ihres Seins bedeutet. Eine
Emotion finden wir Überall im Grunde der großen metaphysischen
Systeme; den GemUtsvorgang eines inneren Kampfes, der sich in
Harmonie auflöst, wenn man aus der Disharmonie der Wirklich¬
keit zu den ewigen Realitäten sich wendet. Dies erkennen wir
bei Plato, bei Aristoteles, doch ebenso bei einem modernen
Denker gleich Spencer.
Allein es existieren auch Verschiedenheiten zwischen dem
Individual- und Gemeinschaftsideal.
Das letztere ist mehr veräußert (exterieur) als das Individual¬
ideal und unabhängiger von seinen Trägern. Die Ursache liegt
nicht nur darin, daß es bisweilen in einer Person verkörpert ist.
Es vermag recht wohl eine unpersönliche, wenngleich fast immer
konkrete Form anzunehmen. Man denke z. B. an das Ideal der
französischen Revolutionszeit: Freiheit, Menschenrechte usw., das
in der unabstrakten Marseillaise seinen Ausdruck fand. Ein Ge-
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Die Methode der historisch-völkerpsychologischen Begriffsanalyse. 161
seinem ursprünglichen Subjekte los. Zweifellos nimmt es in
einem Kunstwerk usw. äußere Gestalt an; zweifellos übt es eine
Rückwirkung auf das Individuum, oft derart, daß der Künstler
der Nachahmer seines ersten Werkes bleibt. Man darf geradezu
sagen: bisweilen wirkt das Individualideal wie ein fremder An¬
trieb auf sein eigenes Subjekt zurück. Allein dieser Fall, welcher
beim Gemeinschaftsideal die Regel bildet, stellt beim
Individualideal eine Ausnahme dar. Das letztere gehört
seinem Autor, dem ersteren gehört man selbst.
Ferner ist das Individualideal weniger fest und bestimmt. Ein
Beispiel zeigt deutlich den Unterschied. Racine war einer der
Hauptvertreter des französischen Klassizismus. Aber während er
diese Geschmacksrichtung auf längere Zeit hinaus für andere
zur Herrschaft brachte, wurde er selbst ihr am ersten untreu: er
schrieb die »unklassische« Esther. Und auch in seiner nach¬
maligen »Rückfalligkeit« (Athalie) kehrte er keineswegs völlig
zu seinem alten Ideal zurüek, sondern erlaubte sich wesentliche
Neuerungen.
Es muß jedoch zwischen vollendeten und unvollendeten Idealen
unterschieden werden. Einmal konzipiert, kann das Ideal zu einem
Bild, einem Symbol, einer Formel sich entwickeln und sich auf
solche Art von uns frei machen und über uns erheben. Aber
nicht immer kommt es zu einer Vollentwicklung; die Loslösung
tritt oft nur teilweise ein. W. James bringt z. B. in seinem
Bache »Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit« 1 ), wo
das religiöse Phänomen als ein ganz subjektives erscheint, eine
Reihe von Idealen ohne jede Form überhaupt. Das Ideal erweist
seine Existenz in diesen Fällen lediglich durch heftige emotionale
Regungen und ist einfach (gegen James, der gerade hier das
religiöse Phänomen in seiner Reinheit sehen will) »un Sentiment
a l’etat pur«, welches weder politischen, noch religiösen, noch
moralischen, noch sonst einen besonderen Charakter besitzt.
Aus allem Bisherigen resultiert, daß die Entwicklungsformen
des Ideals innerhalb zweier Endnnnkte liefen: zwischen dem
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162
Abraham Schlesinger,
freie Bild vorliegt, vollständig lösgelöst vom Individuum, konkret,
feststehend und kollektiver Natur. Kurz gesagt: das Ideal ist ein
»processus d’^volution compris entre deux extremes: l’emotion
actuelle et l’exteriorisation de l’image«.
Nimmt man das gefundene Ergebnis wenigstens als Hypothese
an, so erhebt sich jetzt die doppelte Frage: was geht in uns vor,
wenn sich ein Ideal bildet und was, wenn es gebildet ist? Oder
anders ausgedrUckt: was empfängt das Ideal von uns und was
empfangen wir von ihm?
Wählen wir zur Beantwortung der ersten Frage ein Beispiel
aus dem Gebiete der Literatur. Das schwer definierbare roman¬
tische Ideal verriet sich vor allem durch eine Auflehnung gegen
die herkömmlichen, geheiligten Regeln. In der Lyrik wird es zu
einem Aufstand gegen alles, was den Aufschwung des Willens
hemmt und das Feuer der Leidenschaft niederhält. Gleichzeitig
beginnt die Verherrlichung Napoleons. Und wann tritt diese
Entfaltung des Individualismus, diese Begeisterung für den Helden
in die Erscheinung? In der besonders friedlichen Epoche der
Jahre 1820—1848! Als nach dem Tatenfieber und Siegesrausch,
in welchen die Generation von 1820 groß geworden war, das
Einerlei des Alltages wieder einsetzte, da kam die Reaktion hier¬
gegen: ein intellektueller Aufstand. Das Bedürfnis zu handeln,
den geistigen Horizont zu erweitern, der sich nach dem Sturze
Napoleons verengert hatte, machte sich auf solche Weise geltend.
Was man also in das romantische Ideal eingehen ließ, das
war ein Komplex stürmischer, unterdrückter Tendenzen, die sich
dergestalt auslebten und beruhigten. Das Ideal verlor seinen Reiz,
sobald Frankreich wieder zu einer größeren äußeren Aktion kam.
Die unterdrückten, zurückgedrängten Tendenzen in uns
sind es, welche wir in das Ideal legen und welche dessen Bildung
bestimmen. Man könnte für diese Tatsache viele Beispiele an¬
führen. Um nur eines zu erwähuen: gerade in der Epoche des
Industrialismus, der kommerziellen Kultur, der wachsenden Soli¬
darisierung der materiellen Interessen schwärmte Nietzsche für
die Einsamkeit und predigte den Kultus der Persönlichkeit und
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d ie Verachtung des Herdenmenschen.
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Die Methode der historisch-vülkerpsychologischen Begriffsanalyse. 163
bildet die Äußerung jenes Teiles des Innenlebens, der unbefriedigt
ist und sich verzehren würde, indem er uns selbst verzehrt, wenn
er sich nicht eine Form gäbe, irgendwie als Realität veräußerte.
Weshalb diese Formgebung? Weshalb bleibt das Ideal nicht
rein intramental ? Wir stehen damit bei der zweiten der oben
aufgeworfenen Fragen: was empfangen wir unsererseits vom Ideal?
Wir sehen, daß das Ideal die Tendenz hat, aus seinem Sub¬
jekte heraus zu treten, ihm als eine selbständige Gegebenheit
sich darzubieten; und daß es in dem Maße beherrschend wird,
als ihm eine solche Veräußerung gelingt. Wie vollzieht sie sich
aber ?
Da das Phänomen meistens wenig klar bewußt wird, so
bleibt das Problem, welches dem der äußeren Wahrnehmung
ähnelt (weshalb setzen wir innere Empfindungen als äußere Ob¬
jekte?), schwer lösbar. Seine Behandlung soll hier auch bloß auf
den Nachweis beschränkt werden, daß seine Lösung nicht über¬
haupt unmöglich sei.
Die unbefriedigten Tendenzen werden bewußt und nehmen die
Form eines Gedankens an: des Gedankens, der sich veräußert,
weil er auf uns einwirkt. In der Kontemplation der reinen Schön¬
heit tröstet sich Plato Uber den inneren Zwist Griechenlands.
Das Ideal der Schönheit ist ein von Plato verschiedenes Objekt,
da es auf ihn Einfluß übt. Diesen Schluß ziehen wir, um die
Existenz eines Objektes darzutun. Da aber die reine Schönheit
nicht in der Welt der empirischen Wirklichkeit zu finden ist, so
muß sie anderswo gesucht werden. Und der Philosoph projiziert
sie ins Unendliche.
Jedenfalls veräußert sich das Ideal ganz oder teilweise. Es
erhebt sich nun die Frage: wie wirkt es auf uns?
Offenbar durch einen »rappel des tendances«. Der Vorgang
besitzt gar nichts Geheimnisvolles. An einem herrlichen Morgen
z. B., beim Anblick des blauen Himmels und der sonnenüber-
strahlten Hügel werden mannigfache Erinnerungen in uns lebendig.
Gleichzeitig vollziehen sich jedoch unmerklich innerliche Geh-
KflirnMnn/aAn /vltvtn /Infi 1 " «V» Ml n Ma» C! n n« /"!» rw *1
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164 Abraham Schlesinger,
den Ausdruck und die Ursache dar des Wiederauflebens der
stärksten und hartnäckigsten Tendenzen des psychischen Organis¬
mus. Ihre Hartnäckigkeit vermag, vorzüglich bei weniger kulti¬
vierten Menschen, einen unglaublich hohen Grad zu erreichen.
Dadurch erklärt sich die Kraft der Ideal Wirkung zusammen¬
gehalten mit der Organisation des moralischen Lebens. Das Ideal
dient sozusagen als Akkumulator und Regulator. Als Akkumulator,
indem es die von Haus aus stürmischen, einander widerstrebenden
Tendenzen konzentriert und um ein Bild herum kristallisiert; als
Regulator, insofern es sie in ihrer ungezügelten Wildheit und
Plötzlichkeit einschränkt und mäßigt. Dadurch verliert das Ideal
nichts an seiner Tiefe und Umfänglichkeit. Es kommt nur das
Wesen der Organisation zur Geltung: die Kraft wird weniger
sichtbar, aber mehr wirksam. Eine Teilung, keinen Widerstreit
der psychischen Funktionen zieht die Idealbildung nach sich. Die
Tendenzen und Emotionen wandeln sich, bis sie die Natur eines
Gedankens annehmen und damit der Analyse und logischen Kritik
zugänglich werden.
Wir berühren hier eine letzte Frage: die nach der Entwicklung
oder, da dieser Ausdruck oben schon in anderem Sinne gebraucht
wurde, nach der Wandlung des Ideals (les destinees de l’ideal).
Wenn das Ideal eine so wichtige Rolle in der Organisation der
Persönlichkeit spielt, warum bewahren wir es dann nach seiner
Bildung nicht sorgfältig vor jeder Beeinträchtigung?
Leider hängt dies nicht von uns ab. Wir sind nicht imstande,
unser moralisches Leben um einen schlechthin festen Punkt zu
organisieren. Eine solche Fixierung wäre nur durch eine Trennung
des individuellen vom sozialen Leben zu ermöglichen, wie sie von
Asketen angestrebt wurde, welche sich jedoch in Halluzinationen
und Aberglauben aller Art verloren haben. Denn beides gehört
zusammen und bedarf der harmonischen Verbindung: das indi¬
viduelle und das soziale Leben. Deshalb verflechten wir unser
Ideal mit unserer Person in das soziale Leben, wo wir anderen
Personen und anderen Idealen begegnen. Beständig treffen ent-
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Die Methode der historisch-völkerpsychologischen Begriffsanalyse. 165
ab. Viele früheren Ideale sind heute abgestorben; überwunden
mußten sie neuen das Feld räumen.
Derartige Idealkämpfe erweitern oft das allgemeine Bewußt¬
sein und bewirken eine Klärung der öffentlichen Meinung, eine
Erhebung über die enge Schätzung der partikulären Interessen.
Neue Elemente dringen von da aus in die alten Anschauungen
und verlängern ihnen durch eine allmähliche Modifikation Dauer
und Wert. Unser Gerechtigkeitsbegriflf führt z. B. seinen Ursprung
auf die Wiedervergeltung zurück. Wir haben der Gemein¬
schaft das Recht der Wiedervergeltung übertragen. Ihr legen
wir die Pflicht auf, dem Verbrechen vorzubeugen durch Fürsorge
für die Jugend, durch Erziehung usw. In unserem Gerechtigkeits¬
begriff hat es keine Revolution gegeben. Nur neue Begriffe haben
in ihm ihre Verkörperung gefunden und ihn allmählich innerlich
umgewandelt. Indem das Ideal sich wandelt, wandelt es die
Richtung der Tendenzen und schließlich die letzteren selbst.
Darauf beruht die Superiorität der Idealfuuktion gegenüber den
anderen Organisationsarten der Persönlichkeit und die besondere
Macht ihrer Wirkung. Sie bietet dem Denken, der Reflexion, die
beste Handhabe und ermöglicht so die reichste und vollkommenste
Entwicklung des moralischen Lebens.
Das Ideal ist nicht das Ziel, sondern das Ziel ist das Leben,
während das Ideal eine Funktion bildet. Nicht im Absoluten
noch im Reiche der Phantasie darf es gesucht werden, sondern
auf dem Boden der Wirklichkeit müssen wir es bestimmen, dem
Gange der Geschichte folgend. •—
Ich unterlasse es, im einzelnen an dem Inhalte der zweifellos
sehr viel Anregendes enthaltenden Millioudschen Ausführungen
Kritik zu üben. Hier kommt es lediglich darauf an, nachzuweisen,
daß ein psychologisches Problem so wenig wie ein anderes zu¬
länglich behandelt werden kann, solange die Behandlung in einer
methodologisch unzulänglichen Weise geschieht, wie es eben bei
Millioud der Fall ist.
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Abraham Schlesinger,
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historischer und mythologischer Heroengestalten. Allein
woher nimmt er das Recht zu der Voraussetzung, daß diese Ge¬
stalten gerade Ideale sind? Man könnte freilich die Gegenfrage
stellen: Ja, was in aller Welt soll denn sonst ein Ideal sein, wenn
nicht einmal so ein »glänzendes Bild« wie Heracles oder Franz
von Assisi usw. ? Irgend etwas muß doch der Begriff schließlich
zum Inhalt haben! Uns obliegt vorläufig nicht die Aufgabe, in
die positive Erörterung der Frage einzutreten. Bloß das Eine
müssen wir jetzt schon feststellen, daß der Idealheitscharakter
jener »glänzenden Bilder« aus Geschichte und Tradition keines¬
wegs definitiv vorausgesetzt werden darf, wenn man das Ideal
bestimmen will.
Einem schweren Bedenken unterliegt sodann die Art und Weise,
wie Millioud die Völker- und individualpsychologische Behandlung
seines Problems voneinander trennt. Sicherlich verdient es An¬
erkennung, daß er eine solche Trennung für notwendig hält;
aber sie hätte in ganz anderer Form geschehen sollen.
Millioud stellt zunächst die wesentlichen Merkmale fest,
welche sich ihm bei der Betrachtung der Gemeinschaftsideale er¬
geben hatten. Von da aus will er die Beschaffenheit der Indi¬
vidualideale ermitteln, indem er an einer Reihe von individuellen
Erlebnissen (wobei man übrigens doch den Eindruck hat, als ob
sie halb und halb als Individual ideale schon definitiv voraus¬
gesetzt wären) teils die gleichen bzw. ähnliche, teils verschiedene
Merkmale wie dort aufzeigt.
Angenommen, es sei statthaft, die eine der beiden sich er¬
gänzenden Untersuchungen auf der anderen aufzubauen, so scheint
es mir jedenfalls unstatthaft, die Völker psychologische, d. h. eben
die Untersuchung der Gemeinschaftsideale, zur Grundlage zu
machen, wie es Millioud tut. Die Individualpsychologie ist,
um es zu wiederholen, die allgemeine und fundamentale Psycho¬
logie. Was man direkt untersuchen kann, ist das individuelle
Erlebnis, nicht das der Gemeinschaft. Im letzteren Falle, beim
Gemeinschaftserlebnis, sind wir, wenigstens fürs Gewöhnliche, auf
Schlüsse angewiesen. Will man daher die individual- und die
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Die Methode der hiatorisch-vülkerpaychologischen Begriffsanalyse. 167
Allein ich halte ein derartiges Verfahren überhaupt für un¬
berechtigt. Beide Untersuchungen sind voneinander völlig ge¬
trennt, jede ist völlig selbständig zu führen. Die Gründe, die
uns zu dieser prinzipiellen Forderung veranlassen, wurden bereits
oben erörtert. Hinzugefügt mag noch werden, daß es durchaus
nicht genügt, durch allgemeine Betrachtungen und Ausführungen,
gewissermaßen auf dem Wege der >Spekulation«, ein Problem
Völker- oder auch individualpsychologisch zu behandeln.
Zum Schlüsse möchte ich an einem Beispiele zeigen, wie leicht
man auf solche Art zu Willkürakten verführt wird. Millioud
kritisiert, wie erinnerlich, W. James, der in einfachen, elemen¬
taren Gemütsregungen sozusagen das religiöse Urphänomen er¬
blicken will. Millioud hält, meines Erachtens mit Recht, das
Phänomen für »un sentiment ä l’etat pur« ohne jeden religiösen,
moralischen, ästhetischen oder sonstigen Sondercharakter. Aber •—
Ideal Charakter schreibt er ihm zu! —
Unsere Ausführungen sind bisher im wesentlichen negativer
Natur gewesen. Wir haben zu zeigen versucht, daß zu der wirk¬
lichen Klärung von Begriffen auf psychologischem Wege auch
eine Völker psychologische Behandlung des Begriffes jeweils er¬
forderlich ist, daß jedoch die Schritte, welche in dieser Richtung
nnternommen worden sind, trotz aller Anerkennung, die das Be¬
streben verdient, nicht zum Ziele führen können. Die folgende
Abhandlung vermag uns dagegen einen wertvollen Fingerzeig für
eine Annäherung an jenes Ziel zu geben und leitet somit zu dem
positiven Teile unserer Darlegung hinüber.
2) Achad Haam: Moseh 1 ).
Die Gelehrten streiten Uber die Frage, welchen Einfluß die
>Helden der Geschichte« auf den Entwicklungsgang der mensch¬
lichen Gattung ausüben. Während die einen behaupten, die
»Helden« seien die eigentlichen Geschichtsbildner und das Volk
stelle lediglich den Stoff dar. erklären die anderen, gerade das
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168
Abraham Schlesinger,
sehen zu werden. Die echten Geschichtshelden, d. h. die Persön¬
lichkeiten, welche auf viele Generationen hinaus zu wirkenden
Kräften im Leben der menschlichen Gattung geworden sind, haben
überhaupt niemals als leibhaftige Wesen in der empirischen Wirk¬
lichkeit existiert. Es gibt keine historisch große Persönlichkeit,
deren geistige Gestalt nicht von der Volksphantasie völlig umge¬
prägt worden wäre. Und dieses Bewußtseinsgebilde, welches
der Volksgeist und die Volksphantasie ihren besonderen Bedürf¬
nissen und Tendenzen gemäß sich selbst geschaffen haben, ist
allein der echte Geschichtsheld mit Beinern oft Jahrtausende hin¬
durch wirksamen Einfluß.
Man hat demnach zwischen einer historischen und einer
archäologischen Wahrheit zu unterscheiden. Eine historische
Wahrheit liegt ausschließlich dort vor, wo eine wirkende Kraft
im Leben der menschlichen Gesellschaft aufgezeigt wird, auch
wenn jene Kraft nur ein Phantasiegebilde (■’DY’tn 1‘PS) darstellt.
Erbringt man dagegen den Nachweis der wirklichen, empirischen
Außenexistenz einer Person, die jedoch keinerlei Spuren ihres
Daseins hinterlassen hat, so ist freilich ebenfalls eine Wahrheit
zutage gefördert: aber eine fruchtlose, eine archäologische
Wahrheit. Der von Goethe erdichtete Werther z. B. besitzt
vermöge des starken Einflusses, den er auf seine Zeit geübt hat,
eine weit größere geschichtliche Realität als irgendein damals
wirklich lebender Deutscher, der nach seinem Tode vergessen
wurde und verschollen ist, wie wenn er nie gewesen wäre.
Unter diesem Gesichtspunkte muß auch die Persönlichkeit
Moses betrachtet werden, des größten »Helden« der jüdischen
Geschichte. Bekanntlich zieht die wissenschaftliche Forschung in
Zweifel, ob der Mann Mose tatsächlich gelebt hat, ob er genau
so lebte und genau alles das tat, wie es die biblischen Berichte
wiedergeben. Mögen die gesamten derartigen Fragen eine voll¬
ständig negative Beantwortung finden: der historische Mose
wird dadurch nicht berührt. Die historische Realität dieser
idealischen Gestalt, welche als solche im Bewußtsein der
iüdischen Gemeinschaft wurzelt und deren Einfluß sich hier bis
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Die Methode der historisch-völkerpsychologischen Begriffsanalyse. 169
welche möglichen »archäologischen« Entdeckungen, klar erkennen.
Der jüdische Volksgeist hat jenes Ideal geschaffen; der Schöpfer
aber schafft in seinem Gleichnisse. Derlei Gebilde, in
welchen der Geist des Volkes seine inneren Strebungen zum Aus¬
druck bringt, werden von ihm unbewußt und unabsichtlich immer
weiter ausgewirkt und allmählich mit zahlreichen Zutaten versehen,
die im einzelnen häufig dem Grundgedanken widerstreiten. Allein,
wofern man das Gebilde in seiner Totalität betrachtet, findet
man stets den ursprünglichen Grundgedanken, um dessenwillen es
geschaffen wurde, den Kern, aus welchem der Baum erwuchs.
Werfen wir also einen Blick auf die Tradition und fragen uns:
Was war eigentlich Mose? D. h. von welcher Art ist das nationale
Ideal, das sich in ihm verkörperte? Wollen wir ein idealisches
Gebilde richtig kennen lernen, so müssen wir vor allem fest¬
zustellen suchen, was es nach Absicht seines Bildners darstellen
soll. Das Bild des Kriegshelden z. B. wäre etwas ganz anderes
als das des Geisteshelden usw.
War nun Mose etwa ein Kriegsheld? Unmöglich! In dem
ganzen Bilde findet sich kein solcher Zug. Niemals sehen wir
Mose als Feldherrn auftreten. Einmal erblicken wir ihn wohl
auf dem Schlachtfelde, im Kampfe gegen Amalek, aber nur, um
mit seinem moralischen Einfluß auf das Heer einzuwirken 1 ).
War er vielleicht ein Staatsmann? Auch mit »Politik« wollte
er nichts zu schaffen haben. Als er mit dem Pharao über po¬
litische Angelegenheiten unterhandeln sollte, mußte er sich fremder
Hilfe, der Hilfe seines Bruders Aharon bedienen 2 ).
Und selbst ein Gesetzgeber war er nicht. Ein solcher gibt
immer den Mitlebendeu sein Gesetz, gemäß den zeitlichen und
örtlichen Lebensbedürfnissen. Mose indessen gibt Gesetze für
die Zukunft, für ein Geschlecht, das noch nicht existiert und
für ein Land, das noch nicht erobert ist. Die Tradition verhehlt uns
nicht, daß manche mosaischen Verordnungen überhaupt nie zum
Vollzüge gelangten.
Was war eigentlich Mose? In einem kurzen Satze spricht
es die Überlieferung deutlich ans:
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erstand in Israel nicht
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Abraham Schlesinger,
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doch nicht gleich den anderen Propheten, die zur Königszeit
realiter existierten. Er ist vielmehr der idealische Repräsen¬
tant der israelitischen Prophetie in ihrem erhabensten Sinne.
Worin besteht das Wesen der israelitischen Prophetie? Durch
zwei Grundeigenschaften scheint sich der Prophet von den übrigen
Menschen zu unterscheiden.
Er ist erstens der Mann der Wahrheit (rrastn 1D'K). Er
sieht das Leben, wie es ist, nimmt seine Eindrücke rein ob¬
jektiv in sich auf und verkündet was er sieht genau so, wie er
es gesehen hat. Nicht einfach einer persönlichen Neigung folgend
lehrt er auf diese Weise die Wahrheit, auch nicht als Resultat
einer entsprechenden Forschung, sondern weil er muß, weil ihn
die eigenartige Beschaffenheit seines Geistes zwingt, so zu
handeln, selbst wenn er anders handeln will.
Zweitens ist der Prophet der Mann des Extrems (ni*apn XCPVt).
Er konzentriert sein ganzes Dichten und Trachten auf sein Ideal,
in welchem er das Ziel des Lebens erblickt und dem er das Leben
restlos unterwerfen möchte. Die idealische Welt, die er in sich
trägt, strebt er äußerlich zu realisieren. Im klaren Bewußtsein,
daß es so sein soll, fordert er mit aller Kraft, ohne eine Aus¬
flucht gelten zu lassen, daß es auch so sei, selbst wenn er mit
allem Bestehenden in Konflikt gerät.
Aus diesen beiden prophetischen Wesensmerkmalen resultiert
ein drittes: die Herrschaft der absoluten Gerechtigkeit (pT2)
in der Seele des Propheten, in dessen Reden und Handeln. Als
»Mann der Wahrheit« muß er zugleich der Mann der Gerech¬
tigkeit sein. Denn Gerechtigkeit bedeutet: Wahrheit in der
Praxis. Und als »Mann des Extrems« muß er Gerechtigkeit
walten lassen ohne Rücksicht auf seine persönlichen Gefühle.
Seine Gerechtigkeit ist mithin eine absolute; sie ist unbeschränkt
durch soziale Bedürfnisse und individuelle Neigungen.
Da aber der Prophet einerseits das Leben nicht absolut dem
eigenen Geiste gemäß reformieren und andererseits ebensowenig
die Unvollkommenheiten des Lebens übersehen kann, so liegt er
.immer mit
Go gie
it der Gegenwart in Streit unrl denkt immer, wie er ia
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Die Methode der hifltorisch-vülkerpsychologischen BcgriffsanalyBe. 171
Doch wie der Prophet sich nicht seiner Zeit fügt, so ftigt sich
auch seine Zeit nicht ihm. Nur indirekt, durch Kanäle sozusagen,
ergießt sich sein Geist in die Menge. Die Vermittler bilden
Personen, die zwar keine Propheten sind, aber ihnen viel näher
stehen als die große Masse: nämlich die »Priester« (D'OrD) des
prophetischen Ideals.
So sieht der Prophet in seiner reinen Gestalt aus. Die soeben
allgemein aufgezeigten Grundzllge, welche bei allen Propheten
nachweisbar sind, kommen am deutlichsten beim Idealbilde des
größten unter ihnen zum Vorschein. An Mose können wir sie
am besten studieren.
Wie Mose ins öffentliche Leben tritt, stößt er gleich auf eine
Verletzung der Gerechtigkeit 1 ). Ohne viel zu überlegen rächt
er sie. Dergestalt offenbart sich sofort der ewige Kampf des
Propheten mit der Wirklichkeit.
Und er kämpft diesen Kampf ungeachtet aller schlimmen Er¬
fahrungen, die er machen muß. Ein neuerlicher Versuch, im
Namen und zum Schutze der Gerechtigkeit einzugreifen, bringt
ihn in Lebensgefahr 2 ); er muß aus Ägypten fliehen. Aber die
erste Tat in dem fremden Zufluchtslande besteht wiederum in
einem Eintreten für die Gerechtigkeit. Starke Hirten wollen
schwache Mädchen widerrechtlich daran verhindern, ihre Herden
zu tränken: »da trat Mose auf und half ihnen« 3 ).
Achtzig Jahre war er alt, wie die Bibel berichtet, als er vor
dem Pharao erschien, und nur die drei erwähnten, für die prophe¬
tische Wesenheit charakteristischen Geschehnisse werden von ihr
aus dem Leben Moses bis zu diesem Zeitpunkte mitgeteilt, von
welchem an seine eigentliche Wirksamkeit erst beginnt: die Befreiung
der Israeliten und die Verkündigung der Lehre der Gerechtigkeit.
In der Wüste wird ihm sein Lebensberuf klar. Fruchtlos war
bisher sein Dasein, wie der Dornbusch, vor dem er steht; und
jetzt, wo er bereits alt ist, wird er erst recht nichts mehr auszu-
ricbten vermögen. Allein er hört im Innern »die Stimme Gottes
welcher er sich nicht entziehen kann. Der »Gott der Väter <
offenbart sieh ihm und ruft ihn als Befreier seines Volkes. Bi»-
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Abraham Schlesinger,
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schlechthin gekämpft, wo immer er sie verletzt fand. Aber darum
gerade war sein Streben erfolglos geblieben: in allen Kreisen, in
denen er auftrat, galt er als ein Fremder, nirgends hatte man ihm
noch das rechte Vertrauen entgegengebracht. Jetzt endlich will
er zum eigenen Volke gehen, zu den Seinigen, die ihn sicher
verstehen mußten. Vermittels dieses Volkes, welches zu be¬
freien er berufen ist, soll das idealische Reich der Gerechtigkeit
auf Erden gegründet werden. So beschließt er, sein Ideal zu
realisieren. Doch bald kommen ihm Bedenken. Er muß mit dem
Pharao »diplomatische« Verhandlungen pflegen, er muß die Ältesten
des eigenen Volkes, wenn es nicht anders geht, durch »Wunder«
von der Mission überzeugen, für welche er sich bestimmt weiß:
und derlei Dinge sind ihm unmöglich. Denn er ist »der Mann
der Wahrheit«, der keine glatten Worte machen und keine krummen
Pfade wandeln kann. Endlich findet er einen Ausweg: er bleibt
bei seiner Wahrhaftigkeit und Geradheit und bedient sich gegen¬
über dem Pharao wie dem Volke eines Vermittlers, der ihm
unbedingt glaubt und ergeben ist, auch ohne daß er glatte Worte
oder Gaukelkünste gleich den ägyptischen Geheimktinstlern zu
Hilfe zu nehmen braucht. Der Vermittler aber ist Aharon, der
»Priester« der Zukunft 1 ).
Als nun das erste Ziel, die Befreiung des Volkes, erreicht ist,
da fühlt sich Mose hochbeglückt. Indessen wußte der Prophet
damals nicht, daß er erst am Anfänge seines Werkes stand und
die Haupttätigkeit, die schwierigste Arbeit, noch vor sich hatte:
die innere Befreiung des Jahrhunderte hindurch geknechteten
Volkes. Der Sklave war noch Sklave, wenn auch der Herr nicht
mehr Herr war.
Allein der Prophet baut auf die Kraft seines Ideals. Er hofft,
daß es imstande ist, jeden Rest von Sklavensinn aus dem Volks¬
geiste zu tilgen und in demselben das Streben nach dem hohen
Ziele zu wecken. So führt er das Volk an den Sinai, spaltet ihm
den Himmel und zeigt ihm den »Gott der Väter« in seiner neuen
Gestalt, in seiner universalen Größe: Es gibt nur Einen Herrn der
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Die Methode der historisch-vülkerpsychologißchen BegriffsanalyBe. 173
heiligen Gemeinschaft« bestimmt, welche in vorbildlicher Weise
das individuelle und soziale Leben auf eine neue Grundlage stellen
soll: auf den Geist der Wahrheit und Gerechtigkeit. »Der Ge¬
rechtigkeit jaget nach«; »von Lüge haltet euch fern«; den
Schwachen und den Fremden bedrückt nicht, aber auch für ihn
nehmt nicht Partei. Nicht Haß und Härte, noch Liebe und Mitleid
dürfen euer Verhalten bestimmen, sondern Gerechtigkeit, Ge¬
rechtigkeit allein 1 )!
So predigt der Prophet und glaubt, daß eine derartige Lehre
das Volk aus seiner Niedrigkeit in die höchsten Höhen emporreißen
müssen. Er zieht sich einsam auf den Bergesgipfel zurück, um die
Lehre der Gerechtigkeit im einzelnen weiter auszubauen. Doch
kaum hat er sich entfernt, da kommt der alte Sklavensinn des
Volkes wieder zum Vorschein: es verfertigt sich ein Götzenbild,
das »goldene Kalb«.
Der Prophet sieht bei der Rückkehr sein Werk vernichtet. Er
zerschmettert die »Bundestafeln«, will das Volk seinem Schicksal
überlassen und einem zähligen Häuflein Getreuer seine Lehre zur
Bewahrung übergeben, damit sie auf solche Weise allmählich bei
den Besten der Menschheit Eingang finde. Aber der Prophet ist
kein »Priester«, daß er sich durch die Wirklichkeit bestimmen
ließe. Nachdem er seiner ersten Erregung Herr geworden, be¬
schließt er, jetzt im vollen Bewußtsein der Schwierigkeit des Unter¬
nehmens, das Volk auf demWege einer allmählichen Erziehung
für das hohe Ideal zu gewinnen. Er lehrt und unterweist nun¬
mehr, duldet und verzeiht 2 ).
Da tritt das Ereignis mit den »Kundschaftern« ein 3 ). Das
Volk, welches sich eine Heimat erobern soll, um dort sein natio¬
nales Leben im Sinne des prophetischen Ideals führen zu können,
läßt sich durch eine ungünstige Auskunft über jenes Land so ein¬
schüchtern, daß es verzweifelt resigniert. Beim Anblick einer
solchen erbärmlichen Gesinnungsniedrigkeit faßt der Prophet einen
heroischen Entschluß. In der klaren Erkenntnis, daß mit dem
minderwertigen Material der eenlante Bau nicht errichtet werden
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Abraham Schlesinger,
eine spätere Zeit: vierzig Jahre will er noch in der Wüste ab-
warten, bis das ganze lebende Geschlecht ausgestorben und ein
neues, von ihm selbst vollständig erzogenes, herangewachsen sein
wird, welches zur Erfüllung seiner Aufgabe geeignet ist. Bei diesem
Entschluß beharrt er, unbeirrt durch die nachträgliche Reue des
Volkes und ohne Rücksicht auf die Regungen des eigenen Gemütes.
Geduldig, aber nicht untätig, wartet er: er pflanzt in das Herz der
Jugend die Begeisterung für sein Ideal, erfüllt sie mit Verständnis
für dasselbe und sorgt, daß sie lehrreiche Erinnerung an die Ver¬
gangenheit wach bleibt.
Wie nun die Vorbereitungszeit zu Ende ist, da — stirbt der
Prophet und ein neuer Führer tritt an dessen Stelle i ). Die Über¬
lieferung bemüht sich vergeblich, einen befriedigenden Aufschluß
darüber zu geben, weshalb ein Anderer das Werk des Propheten
vollenden muß. Aber der Grund läßt sich leicht erkennen. Der
Prophet hat sein erhabenes Ideal geschaffen und das Volk für die
Realisierung vorbereitet: die Realisierung selbst ist nicht mehr
seine Sache. Hier stellt sich die Notwendigkeit ein, mit der
Wirklichkeit zu paktieren, das Ideal an das Bestehende anzu¬
passen; indessen, der Prophet ist »der Mann der Wahrheit und
des Extrems«! Er bleibt seinem Ideal unbedingt treu. Des¬
halb muß er gehn, sobald für ihn die Zeit erfüllt ist: sobald das
Ideal in die Wirklichkeit umgesetzt und damit unweigerlich herab¬
gezogen und modifiziert wird. —
Es wurde schon früher darauf hingewiesen, daß der Schöpfer
in seinem Ebenbilde schafft. Die Geschichte lehrt, daß in der
Gestalt Moses der jüdische Volksgeist den besten Teil der
eigenen Wesenheit verkörpert hat. Das jüdische Volk, dessen
Sprache bezeichnenderweise bloß ein Futurum und Präteritum
kennt, befand sich stets im Kampfe mit der Gegenwart, hoffte
und erstrebte andererseits immer den Sieg der Gerechtigkeit und
des Guten für die Zukunft und schöpfte diese Hoffnung aus der
Vergangenheit, die es zu einem idealischen Spiegelbilde der Zu¬
kunft verklärte.
Man warf bisweilen die Frage auf, ob die Grundrichtung des
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Die Methode der hiatoriBch-völkerpsycbologischen Begriffsanalyße. 175
mismus und Zukunftsoptimismus. Von solcher Art waren
die Propheten, von solcher Art ist das Volk der Propheten. Selbst
in Zeiten nationaler Verirrung erhebt sich jedesmal wieder sieg¬
reich die prophetische Tendenz: der Geist, der sich in Mose seine
idealische Verkörperung schuf, ist stark genug, um den historischen
Sondercharakter des jüdischen Volkes dauernd zu wahren. —
Wir haben die Abhandlung Ach ad Haams lediglich in ihrer
Bedeutung für unser methodologisches Problem zu betrachten.
Unter diesem Gesichtspunkte wird auch sie zunächst von dem
Vorwurfe getroffen, daß es unberechtigt ist, historische Gestalten
ohne weiteres als Gemeinschaftsideale zu bestimmen. Zwar
bildet nach der, meines Erachtens im allgemeinen wohl zu billigenden
Auffassung Ach ad Haams, die historische Persönlichkeit als solche
ein Produkt der Gemeinschaftspsyche, welches deren innere Ten¬
denzen, Strebungen (r*i£“'Kü) verkörpert ‘). Allein es könnte mehrere
derartige Gebilde des Gemeinschaftsbewußtseins geben, welche
trotz einer nahen Verwandtschaft voneinander in dem einen oder
anderen Wesensmerkmal verschieden sind und somit nicht identi¬
fiziert werden dürfen, weder psychologisch noch sprachlich. An
sich ist es freilich gleichgültig, welches der Phänomene man dann
gerade mit der Bezeichnung Ideal, welches mit der des (Normal-)
Typus usw. belegen will. Aber darauf kommt es an, daß jedes
der Phänomene in seiner spezifischen Besonderheit genau
erkannt wird und auf Grund einer solchen Erkenntnis eine be¬
sondere Bezeichnung erhält. ‘ Es dürfte sich damit im Bereiche
der Völkerpsychologie nicht anders verhalten, wie in dem der
Individualpsychologie 2 ). Bei einer Begriffsanalyse gleich der von
uns angestrebten darf jedenfalls ein bestimmter Gegenstand als
Ideal nicht schlechthin zugrunde gelegt werden.
Weiterhin müssen wir uns doch der Frage näher zuwenden,
die Achad Haam scheinbar bereits vollständig erledigt hat. Wie
steht es, wenn einmal ausnahmsweise eine »historische« Persönlicli~-
* ’ -■ —•_ . 1 .:: -.
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176 Abraham Schlesinger,
betreffende Persönlichkeit auch noch als Produkt des Gemein¬
schaftsbewußtseins, als ein Pbantasiebild desselben gelten und von
einer Idealbildung die Rede sein?
Die Wichtigkeit der Frage fllr unsere gesuchte Methode liegt
klar zutage. Die Betrachtung irgendwelcher historischen Gegeben¬
heiten muß jedenfalls, wenngleich wir vorerst noch nicht wissen
wie, die Grundlage unserer Begriffsanalyse bilden. Gegebenheiten
jedoch, die überhaupt nicht vom Gemeinschaftsbewußtsein, son¬
dern die ihm selbst gegeben sind, müssen von der Betrachtung
notwendig ausgeschlossen bleiben. Wir können nur dann etwas
Uber die Beschaffenheit von Gemeiuschaftsidealen ermitteln, wenn
wir wenigstens das Eine wissen, daß überhaupt ein bestimmter
Gegenstand möglicherweise idealisch oder idealähnlich erlebt wird.
In dem erwähnten Falle geht uns aber ein solches Wissen voll¬
ständig ab. Wir sehen, daß von einer Persönlichkeit gewisse
Tatsachenberichte vorliegen; wie sie dagegen von einer Gemein¬
schaft erlebt werden, geht daraus nicht hervor.
Für Achad Haam erledigt sich die ganze Frage, wie gesagt,
dadurch, daß er derartige Ausnahmefälle von vornherein nicht an¬
erkennt. Jede historische Persönlichkeit ist ihm als solche, wie
er wiederholt ausdrücklich betont, ein Produkt der Volksphantasie,
des Volksgeistes; niemals wandelten nach seiner Lehre die echten
Helden der Geschichte in ihrer »historischen« Gestalt auf Erden.
Allein diese Theorie wäre notwendig erst eingehend zu prüfen,
bevor sie als ausnahmslos berechtigt bei unserer angestrebten Me¬
thode vorausgesetzt werden dürfte.' Ich glaube daher die Frage
lieber von einem anderen Gesichtspunkt aus betrachten zu sollen,
besonders da sie sich mir von hier aus befriedigend beantworten
zu lassen scheint, auch für den Fall, daß man die Allgemein¬
gültigkeit der radikalen Lehre Achad Haams in Abrede stellen
sollte.
Angenommen, eine geschichtliche Persönlichkeit sei vollständig
in ihrer »archäologisch« richtigen Gestalt überliefert, etwa durch
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Die Methode der historisch-vijlkerpsychologischen Begriffeanalyse. 177
Wir müssen nämlich nur zusehen, ob eine solche »archäologisch«
überlieferte Gestalt sonst noch für das Geistesleben des be¬
treffenden Volkes als wirksames Anregungszentrum nachweisbar
ist, so daß sie in dessen literarischer oder künstlerischer oder einer
anderen gemeinschaftspsychischen Eigentätigkeit eine hervorragende
Rolle spielt. In einem derartigen stark apperzeptiven Verhalten
der Gemeinschaftspsyche gegenüber einer Gegebenheit liegt impli-
cite die Anerkennung derselben eben in ihrer gegebenen Totalität.
Auf diese Anerkennung jedoch kommt es ausschließlich an. Es
bleibt sich gleich, ob ein Gegenstand vom Gemeinschaftsbewußt¬
sein selbst geschaffen oder ob er ihm gegeben ist: es kommt
nur darauf an, daß er, so wie er vorhanden ist, offenkundig in
einerWeise erlebt wird, die unvorgreiflich als möglicherweise
idealisches Erleben angesehen werden kann. Wo wir also von
einem Geschichtshelden wissen, daß er dergestalt im Volksbewußt¬
sein existiert, sind wir berechtigt, ihn in die historische Betrach¬
tung eiuzubeziehen, welche die Grundlage der Begriffsanalyse
bilden muß.
So wichtig für uns die Arbeit Ach ad Haams hinsichtlich der
bisher erörterten Einzelheiten ist: ihr Hauptwert besteht doch in
ihrer Gesamtbeschaffenheit. Die Abhandlung bildet im großen und
ganzen ein Muster für die Art der historischen Grund- *
legung, d. h. für die Gestaltung des ersten, fundierenden
Teiles einer historisch-völkerpsychologischen Begriffs¬
analyse. In solcher Weise ungefähr müssen entsprechende
Gegenstände des Gemeinschaftsbewußtseins behandelt werden;
derlei Monographien, etwa von historischen Persönlichkeiten, welche
die charakteristischen Wesenszüge der letzteren auf Grund der
bezüglichen maßgeblichen Tradition herauszuarbeiten haben, ver¬
mögen die sichere Basis zu liefern, auf der sich hernach der
psychologische Oberbau erheben kann.
Damit befinden wir uns bereits im Bereiche der positiven Aus¬
führungen Uber die Beschaffenheit der gesuchten neuen Methode,
denen wir uns jetzt zuwenden wollen.
III.
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Die Beschaffenheit der neuen Methode.
Go«, igle
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Abraham Schlesinger,
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liehen bzw. philosophischen Begriffes die Anwendung der historisch-
psychoiogisehen Analyse auch in ihrer völkerpsychologischen
Sonderform verlangt. Andererseits ergab sich aus einer Reihe von
Erwägungen, daß jene Form weder in ihrer historischen Grundlage
noch in deren psychologischer Verarbeitung einfach als Nachahmung
der individualpsychologischen Analyse gestaltet werden kann. Wie
soll nun die neue Methode beschaffen sein?
Den Ausgangspunkt des fundierenden I. Teils bildet notwendig
eine provisorische Voraussetzung. Um exakt festzustellen, was
ein Begriff völkerpsychologisch zu bedeuten hat, sind diejenigen
oder ist ein großer Teil derjenigen Gegenstände zu untersuchen,
welche in diesem Sinne gewöhnlich unter dem betreffenden Be¬
griffe befaßt werden oder vielleicht befaßt werden könnten.
Es wird also provisorisch vorausgesetzt, daß die populäre An¬
schauung den Begriff überall gleicherweise in richtiger Bedeutung
nimmt. Die Untersuchung selbst, d. h. die an die Betrachtung der
bezüglichen Gegenstände anschließende psychologische Analyse,
deren Beschaffenheit nachher zu erörtern ist, muß die erforder¬
liche wissenschaftliche Korrektur der provisorischen Voraussetzung
vornehmen. Sie muß zeigen, ob sämtliche der behandelten Gegen¬
stände in derselben Form erlebt werden, oder ob eine solche
Gemeinsamkeit des Erlebtwerdens nur für einzelne jener Gegen¬
stände besteht, so daß die letzteren eine besondere typische Gruppe
bilden, welche auch eine besondere Bezeichnung verlangt. Der
gesuchte Begriff darf alsdann allein auf eine der solchergestalt
ermittelteu typischen Erlebnisgruppen Anwendung finden.
Wir kommen Uber die nähere Beschaffenheit des fundierenden
I. Teiles am besten ins klare, wenn wir die Erörterung an ein
konkretes Beispiel anlehnen. Ich wähle dazu den Begriff des
Ideals: einmal, weil er bereits individualpsychologisch nach
der Methode der »historisch-psychologischen Analyse« untersucht
ist; und ferner, weil er auch das Thema der für die völker¬
psychologische Gestaltung jener Methode richtungweisenden Abhand¬
lung Achad Haams bildet.
Welche Gegenstände dürfen als mögliche Gemeinschaftsideale
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Die Methode der historiBch-vülkerpsychologischen Begriffsanalyse. 179
Gemeinschaftspsyche ihre besonderen Wertungen, ihre Lieblings¬
gedanken und -geflihle, ihre innersten Strebungen verkörpert und
erfüllt gesehen. Ich erinnere z. B. an die olympischen Götter der
Griechen oder an die verklärte Heldengestalt des Achilles.
Diese Figuren wären auf Grund der bezüglichen maßgeblichen
Tradition, wie sie wohl im Homer zum klassischen Ausdruck ge¬
kommen ist, nach ihren charakteristischen Wesenszügen darzu¬
stellen.
Wie die mythologischen Götter, so darf auch der Gott der
Religion als mögliches Gemeinschaftsideal angenommen werden.
Wenngleich die Religion in ihren höchsten Erscheinungsformen als
Feindin des Mythos auftritt oder auftreten kann 1 ), so bleibt ver¬
mutlich dennoch eine gewisse psychologische Verwandtschaft
zwischen religiösem und mythologischem Erleben. Es wäre dem¬
nach erforderlich, die Gottesbegriffe der Völker bzw. Gemein¬
schaften zu untersuchen, welche eine übermythologische, eigent¬
liche Religion besitzen, um die charakteristischen Wesenszüge, die
Gott für das jeweilige Gemeinschaftsbewußtsein hat, klar heraus¬
zuarbeiten 2 ).
Drittens kommen historische Persönlichkeiten in Betracht.
Wir haben bei der Besprechung der Achad Haamschen Aus¬
führungen gezeigt, daß sogar solche historische Figuren als mög¬
liche Ideale angesehen werden dürfen, welche streng »archäologisch«
korrekt überliefert sind, wofern wir nur aus irgendwelchen anderen
Quellen auf ihr entsprechendes Erlebtsein durch die betreffende
Gemeinschaft vermutungsweise schließen können.
Außer persönlichen müssen aber sachliche Gegebenheiten
gleichfalls als mögliche Ideale Berücksichtigung finden.
Vor allem pflegt man in Kunstwerken Idealbildungen zu er¬
blicken. Und zwar handelt es sich hier durchaus um mögliche
Gemein Schafts ideale, wenn man auf die Stilformen und -Eigen¬
tümlichkeiten, auf die allgemeineren Charakteristika der Kunst¬
entfaltungen bei den verschiedenen Völkern sein Augenmerk richtet.
Hauptsächlich die Schöpfungen auf dem Gebiete der Baukunst
wären einer solchen Betrachtung zn&ränerlich. Man denke etwa.
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Abraham Schlesinger,
richtung des jonischen und dorischen Volksgeistes förmlich an¬
schauen läßt. Ich glaube allerdings, daß man nicht auf jedem
beliebigen Kunstgehiete derartige Untersuchungen mit einigem Er¬
folg anzustelleu vermag. Die Musik z. B. scheint mir dafür
weniger geeignet.
Ferner wären manche philosophische und religiöse
Systeme bzw. Ideen zu berücksichtigen. Die christliche und
buddhistische Erlösungslehre, die islamitische Jenseitsvorstellung,
der jüdische Messianismus usw. gehören hierher. Von Philo¬
sophemen kommt besonders in Betracht die stoische und epi-
kuräische, die platonische und ncuplatonische Ethik usw. Bei
diesen philosophischen Systemen handelt es sich um Gemein¬
schaftsideale. Zwar sind sie von einem Individuum konzi¬
piert worden, allein sie haben Schule gemacht: ein Teil der
Nachwelt hat sie ähnlich anerkannt und sich angeeignet, wie es
mit den historischen »Helden« der Fall ist Insofern dürfen sie
als mögliche Gemeinschaftsideale gelten.
Endlich wäre auf die Rechtssysteme und auf das Ver¬
fassungswesen staatlich organisierter Nationen ein Blick zu
werfen. In den Grundgedanken des Rechts und der Staats¬
verfassung einer Gemeinschaft könnten ebenfalls deren ethische,
soziale usw. Ideale zum Ausdruck gebracht sein.
Angesichts einer solchen Fülle des Materials erhebt sich die
Frage, ob es in seiner Gesamtheit zur Grundlage unserer
Methode gemacht werden muß bzw. gemacht werden kann. Wir
haben nämlich mit zwei Schwierigkeiten zu rechnen. Erstens
wäre ein derartiges Material, dessen Zusammenstellung allein schon
einen ganzen Stab von Mitarbeitern erforderte, von so ungeheuerem
Umfange, daß die für seine psychologische Verarbeitung nötige
Übersichtlichkeit und Vertiefung in alle Einzelheiten von vorn¬
herein fast ausgeschlossen ist. Zweitens dürfte sich das Material
aus inneren Gründen nicht gleichmäßig verwerten lassen.
Bei der Betrachtung einzelner Kunstgebiete, vielleicht auch bei
J_1YLM_t!_x__- -1 _! i - • — 1 • 1 I»
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Die Methode der historisch-völkerpsychologisehen Begriffsanalyse. 181
zu legen wie auf die Friedrich Barbarossas. Wie verfahren
wir also bei der Zusammenstellung unseres Materials?
Ich glaube, daß sich das Wesen des Gemeinschaftsideals dort
am besten studieren läßt, wo es in persönlicher Verkörperung
vorliegt. »Historische« Gestalten, d. h. irgendwie historisch wirk¬
same Persönlichkeitsträger aus Sage und Mythos, aus dem Gebiete
der religiösen Verehrung, wobei zuoberst die Gottheit Beachtung
verdient, sowie aus der Geschichte im engeren Sinne, bilden
demnach in erster Linie die Gegenstände des fundierenden I. Teiles
unserer Analyse. Die Behandlung muß in jedem Einzelfalle un¬
gefähr so erfolgen, wie wir es bei Achad Haam oben gesehen
haben. Erst in zweiter Linie finden dann die möglichen Sach-
ideale Berücksichtigung, in einer mehr gedrängten und knappen
Form.
Doch selbst jetzt ist der Stoff noch viel zu umfangreich. Wir
dürfen uns nämlich keineswegs auf die Darstellung nur einiger
weniger historischer Persönlichkeiten beschränken, sondern müssen
tunlichst große Mannigfaltigkeit anstreben. Einmal, um subjek¬
tive Deutungen, soweit es geht, zu vermeiden. Eine Person,
z. B. Karl d. Gr., kann ich leicht in ihrem Wesen subjektiv¬
willkürlich erfassen und darstellen. Muß ich dagegen außerdem
etwa Otto d. Gr., Friedrich Barbarossa, Karl V. nach ihren
charakteristischen »historischen« Wesenszügen vorfuhren, so dürfte
die Subjektivität bei der Darstellung der einen oder anderen Per¬
sönlichkeit wieder für die psychologische Gesamtverarbeitung
einigermaßen ausgeglichen werden. Sodann ist eine größere
Mannigfaltigkeit aus einem zweiten, wichtigen Grunde unbedingt
nötig. Der ganze I. Teil bringt lediglich mögliche Ideale, in der
Absicht, daß die anschließende psychologische Verarbeitung auf
Grund innerer Kriterien, die sich aus dem gegebenen Material
selbst gewinnen lassen sollen, zu ermitteln sucht, ob alle jene
Gegebenheiten psychologisch gleichartig erlebt werden und daher
alle im wissenschaftlichen Sinne für Ideale gelten dürfen, oder
bloß ein Teil von ihnen. Werden nur ganz wenige Gegenstände
als mögliche Ideale in Betracht gezogen, so läßt sich unter TTm—
ständen gar nichts über ihre Idealheit oder Nichtidealheit fest¬
stellen. Daß .wir a
en. Dan^wir an. c
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drei oder vier Personen einige besondere
. Origirarfrom
PRINCETON UNIVERSITY
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182 Abraham Schlesinger,
allgemeinen und genügend gesicherten Ergebnissen gelangen zu
können.
Es ist also einerseits eine größere Mannigfaltigkeit in dem
Material erforderlich und andererseits dürfen wir es nicht über¬
mäßig anschwellen lassen, wenn wir eine eindringende Analyse
nicht von vornherein vereiteln wollen. Der einfachste Aus¬
weg scheint mir der zu sein, daß wir uns darauf beschränken,
die historischen Persönlichkeiten und die möglichen Sachideale
jeweils einer einzigen Nationalgemeinschaft zu behandeln.
Wir betrachten ausschließlich die hervorragendsten und zugäng¬
lichsten persönlichen oder persönlich gedachten sowie nachher die
unpersönlichen in der bezüglichen speziellen Volksgeschichte wirk¬
samen Kräfte. Daun folgt, worauf wir gleich näher einzugehen
haben, die psychologische Verarbeitung, und es wird so zunächst
der für das betreffende Volk geltende Idealbegriff ermittelt. Nun¬
mehr wird unsere Methode auf ein zweites Volk angewandt, auf
ein drittes usw., bis eine Reihe für die Menschheitsgeschichte her¬
vorragend wichtiger Völker in solcher Weise bearbeitet worden
*st. Zuletzt müssen die Ergebnisse der verschiedenen, wahr¬
scheinlich nur von mehreren Bearbeitern ausführbaren Unter¬
suchungen miteinander kombiniert werden. Dergestalt ergibt sich
ein allgemeiner Begriff des Gemeinschaftsideals auf wissenschaft¬
lich gesicherter Grundlage. Die kombinierende Enduntersuchung
mag ihrerseits wiederum in mancher Hinsicht modifizierend und
berichtigend auf die besonderen Spezialuntersuchungen zurück¬
wirken, aus welchen sie eben das Fazit zieht.
Sehr wünschenswert wäre es, wenn der völkerpsychologische
Bearbeiter schon eine Anzahl brauchbarer Vorarbeiten fände.
Nachdem Ach ad Haam in seiner Mose-Monographie bereits eine
solche geleistet hat, würde es sich vielleicht empfehlen, zunächst
gleich auf diesem Boden, jedoch nunmehr bewußt für unseren
Zweck, weiterzuarbeiten. Es sollten also weitere Monographien
ähnlicher Art Uber persönliche und sachliche in der jüdischen Ge-
1*1* C. * 3 o 1? .1_TJ_1 _ __ . 3 .»V .
Google
Original from
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Die Methode der historiBch-völkerpsychologischen BegriflaanalyBC. 183
brauchte, so könnte ihm hier durch entsprechende wissenschaft¬
liche Monographien eine wesentliche Erleichterung und der
Sache ein wertvoller Dienst erwiesen werden; ganz abgesehen von der
Bedeutung, welche derartige Arbeiten für sich allein, auch ohne ihre
psychologische Ausnutzung, in anderer Hinsicht besitzen dürften.
Es bleibt jetzt noch die Frage nach der psychologischen
Verwertungsweise des historischen Materials. Die Beant¬
wortung gestaltet sich einfacher wie beim I. Teil. Aus dem
Material sind die gemeinsamen charakteristischen Wesensmerkmale
der dargestellten Person- und Sachideale zu ermitteln bzw. ent¬
sprechende Gruppen aus den letzteren mit jeweils gemeinsamen
Wesensmerkmalen zusammenzustellen, von welchen alsdann bloß
eine den Namen des Ideals zu tragen wissenschaftlich berechtigt
ist. Als »Leitfaden« dürfen wir bei der Bearbeitung mutatis
mutandis wohl die Disposition benutzen, welche der, wie bereits
erwähnt, vorher auszuführenden »systematisch-psychologischen«
Untersuchung des gleichen Begriffes auf individualpsycho¬
logischem Gebiete zugrunde gelegt wurde. Ich will abermals
an unserem bisherigen Beispiele klar machen, wie ich mir die
Ausführung und den möglichen Erfolg unserer Methode denke.
Wir untersuchen zuerst an den im I. Teile betrachteten Ge¬
gebenheiten den Inhalt und Bestand des für den jüdischen Volks¬
geist idealischen Bewußtseinsgebildes. Dabei kämen wir, was
natürlich nur beispielsweise stehen soll, zu der allgemeinen Be¬
stimmung: Als Ideal gilt für das jüdische Volksbewußtsein jeder
Gegenstand, der in einer gewissen Reinheit erlebt wird mit der
Tendenz auf Realisierung 1 ). Im Laufe der Analyse vermöchten
wir jedoch eine Gruppenscheidung vorzunehmen. Wir gelangten
etwa zu dem Ergebnis, daß in absoluter Reinheit bloß etwas Un¬
persönliches erlebt wird, wie die Gerechtigkeit, die Wahrheit usw.
und außerdem die persönliche urbildliche Verkörperung dieser
ethischen Eigenschaften in Gott. Bei allen übrigen Gegenständen
fände sich der Yolksgeist durch irgendwelche störenden Momente 2 )
an einem solchen reinen Erleben behindert. Von Mose werden
gewisse Fehler berichtet, von Aharon, von David usf. 3 ). Hier
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■
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184
Abraham Schlesinger,
liegt somit ein wenigstens nicht völlig gleiches Erlebnis vor wie
in jenem ersteren Fall bzw. es darf wohl auf eine größere oder
geringere Differenz geschlossen werden. Dann haben wir kein
eigentliches Ideal mehr vor uns, wofern das andere Phänomen
so genannt wurde. Weiterhin ließe sich eine dritte Gruppe fest¬
stellen, wo zwar eine gewisse »Reinheit« konstatierbar ist, aber
keine oder fast keine Realisierungstendenz. Usw. Auf solche
Weise könnte aus den historischen Gegebenheiten eine wissen¬
schaftliche, psychologisch-formale Bestimmung des Begriffes des
Ideals in seiner Bedeutung für das jüdische Volk gewonnen
und seine Abgrenzung gegenüber verwandten Bewußtseinsgebilden
vorgenommen werden.
Analog wie beim Individualideal wäre ferner womöglich die
Entstehung und Wandlung des Gemeinschaftsideals zu er¬
forschen. Die erste Aufgabe ist allerdings meines Erachtens
schwer durchführbar. Die zweite scheint mir dagegen weniger
Schwierigkeiten zu bieten. Man müßte eine Anzahl zeitlich weit
getrennter Personen miteinander vergleichen, z. B. den Kriegs¬
helden Josua mit Bar Kochba, und Zusehen, ob die betreffenden
Personen in ihrer »historischen« Gestalt irgendwelche wesentlichen
Verschiedenheiten aufweisen, die auf eine Entwicklung, Neubildung
oder dergleichen des Ideals in psychologischem Sinne schließen
lassen.
Endlich bildet die Wirksamkeit des Ideals einen Gegenstand
der Forschung, selbstverständlich auch vom rein psychologischen
Standpunkt aus.
Natürlich handelt es sich hier nur darum, das Schema einer
ganz allgemeinen Disposition darzulegen. Im einzelnen muß sich
alles jeweilen erst aus dem Stoffe selbst entwickeln.
Besteht zwischen den beiden ersten Teilen der historisch¬
individual- und der historisch-völkerpsychologischen Begriffsanalyse
eine gewisse Ähnlichkeit in der äußeren Anlage, so unterscheidet
sich der III. Teil der letzteren vollständig von dem der ersteren. Er
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hat nämlich lediglich die Aufgabe, die gefundenen Ergebnisse mit
denen der historisch-individualpsychologischen Analyse desselben
Begriffes zi
Go gle
zu vergleichen und zu kombinieren.
Unter Umständen
iTTi
PRINCETON UNIVERSITY
Die Methode der historisch-völkerpsychologischen Begriffsanalyse. 185
geklärt und bestimmt, so bleibt noch eine Kombination der End¬
ergebnisse der gesamten völkerpsychologischen Einzelunter¬
suchungen übrig und wiederum eine Vergleichung dieser Kombi¬
nation mit den Endresultaten der individualpsychologischen Arbeit,
ln einer solchen endgültigen Scblußabhandlung kommt der Be¬
trachtung völkerindividueller Differenzen beim Idealerlebnis
besondere Wichtigkeit zu.
Erst jetzt, nachdem die historisch-Völkerpsychologische der
historisch-individualpsychologischen Analyse ergänzend an die
Seite getreten ist, verdient das Ge samt werk den allgemeinen
Namen: >historisch-psychologische (Begriffs-)Analyse « i ).
Wir haben den Begriff des Ideals als Beispiel gewählt. Aber
zweifellos läßt sich unsere Methode in gleicher Weise an jedem
anderen durchführen. Schwierigkeiten dürfte immer nur die
Frage bereiten, welche Gegenstände für den I. Teil in Betracht
gezogen werden sollen. Allein die individualpsychologische
Untersuchung, die, wie betont wurde, vorangehen muß, kann
wohl stets in ihrem I. Teile, der ja die verschiedenen Theorien
über den Begriff überhaupt enthält, die erforderlichen Anhalts¬
punkte gewähren. —
Man sieht: der Weg, den wir zeigen, ist lang und beschwer¬
lich; aber er scheint mir am sichersten zum Ziele zu führen.
Freilich, allzu große Zuversicht wäre von Übel. Es soll ausdrück¬
lich darauf hingewiesen werden, daß wir uns vielleicht doch
auf falscher Fährte befinden. Jedenfalls kann erst ein prak¬
tischer Versuch Gewißheit bringen. Und selbst, wenn ein
solcher dartun sollte, daß unsere Methode verfehlt ist, so braucht
sie deswegen nicht unfruchtbar gewesen zu sein: ihre versuchs¬
weise vollzogene Anwendung mag lehren, wo der Fehler liegt und
wie er sich verbessern läßt. Die Erfahrung wird auch hier die
beste Lehrmeisterin abgeben.
1) Demnach müßte auch der Untertitel meiner Schrift: »Der Begriff
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Vorstellung und Einstellung 1 ).
II. Über Begriffe.
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Von
W. Betz (Mainz).
Das Wort Begriff hat keinen ganz angenehmen Klang. Das
Wort ist von der Öde scholastischer Kontroversen belastet, die
Langweiligkeit der Lehrbuchlogik haftet ihm an, und einer Unter¬
suchung über die Begriffe geht man gern aus dem Wege. Ihre
Entstehung denkt man sich ja ganz einfach, und doch hat man
dabei das unbehagliche Gefühl, daß die traditionelle Meinung am
Ende nur oberflächlich ist und das Licht nicht recht verträgt.
In der Umgangssprache redet man nun recht häufig von Be¬
griffen, und aus dem Zusammenhang ist in der Regel klar, was
man damit meint. Wenn aber der Zusammenhang fehlt und man
plötzlich vor die Aufgabe gestellt wird: man denke sich den Be¬
griff Staat, den Begriff Recht, den Begriff Philosophie, den Be¬
griff Schiff oder Baum oder Maschine, dann ist man unsicher, was
mit dem Wort Begriff gemeint sein soll. Man kann die Aufgabe
so auffassen, daß man eine Definition dieser Begriffe geben
soll, was eine erhebliche Anstrengung erfordern würde; aber es
könnte auch gemeint sein, daß man das denken soll, was mit
den Wörtern Staat, Recht usf. gemeint ist, ganz im allgemeinen
und ohne an einen bestimmten Staat, an einen bestimmten Rechts¬
fall, an ein bestimmtes Schilf zu denken. Faßt man die Aufgabe
in diesem Sinne auf, dann ist zunächst nur eines sicher, nämlich
daß man die Wörter versteht. Aber ob man außerdem über-
Google
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Vorstellung und Einstellung. II. Über Begriffe. 187
Akten eine Anzahl Aussagen über'Staat, Philosophie, Maschinen
machen. Nun redet man im gewöhnlichen Leben durchaus so,
als seien durch diese Wörter ganz bestimmte Denkinhalte ge¬
geben; und dieser Sprachgebrauch ist auch vollkommen gerecht¬
fertigt, wenn man sich etwa bei der Zeitungslektüre beobachtet,
wo sofort, auch beim flüchtigsten Lesen, die Wörter bestimmt und
sicher verstanden werden, ohne daß man an bestimmte Fälle
dächte und ohne daß Erinnerungsbilder aufzutauchen brauchten.
Man hat durchaus den Eindruck, als handle es sich hier um ganz
einfache psychische Gebilde, die mit der größten Sicherheit beim
Lesen reproduziert werden. Und es ist im höchsten Grade be¬
merkenswert, daß beim Lesen auch solche Wörter, die leicht vor¬
stellbare Dinge bezeichnen, sofort verstanden werden, während
es in der Regel eine merkliche Zeit dauert, bis eine Vorstellung
des betreffenden Gegenstandes auftaucht.
Greift man nun aber ein solches Wort heraus, etwa Haudel,
und sucht den erwarteten Denkinhalt zu analysieren, das psychi¬
sche Gebilde zu erleben, dann ist man erstaunt, daß nichts davon
zu finden ist. Ohne Zweifel verstehe ich das Wort mit absoluter
Sicherheit; und es ist mir ganz deutlich, daß es etwas anderes,
aber doch etwas ähnliches bedeutet wie das Wort Geschäft, ohne
daß ich mir dabei einen Fall von Handel und einen Fall von
Geschäft vorzustellen brauchte. Wenn ich irgendeine Vorstellung
habe, und sei sie noch so dunkel, undeutlich und verschwommen,
dann kann ich sie betrachten und beobachten, ich kann sie kom¬
men und gehen lassen, ich sehe, daß etwas, und ich sehe, was
in meinem Bewußtsein vorhanden ist; und ebenso, wenn ich
irgendein Gefühl habe, wenn ich mich wohl fühle, wenn ich
Hunger habe, wenn ich niedergeschlagen bin, dann kann ich
wiederum dieses Gefühl mehr oder weniger beachten, ich merke
unmittelbar, daß es vorhanden ist, ich kann es analysieren. In
beiden Fällen existiert etwas in meinem Geiste, das bei Vor¬
stellungen ohne weiteres und bei Gefühlen in der Regel ohne
eroße Schwierigkeiten der Selbstbeobachtune: zueränedich ist. Bei
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188
W. Betz,
Begriffen zn geben, die aber keineswegs parat liegt und nicht ohne
beträchtliche Anstrengung des Denkens zu finden ist.
Man hat sich nun gewöhnt, als durchgehendes Kriterium der
Begriffe den Umstand anzusehen, daß mit einem Begriff nicht ein
einzelner konkreter Fall gemeint sei, sondern das, was einer
ganzen Gruppe von Fällen gemeinsam sei. Durch diese Auf¬
fassung ist sofort eine überaus plausible Theorie der Begriffs¬
bildung vorgezeichnet: Ans einer Mehrheit von Erscheinungen faßt
man diejenigen Erscheinungen in eine Gruppe zusammen, die ge¬
meinsame Merkmale aufweisen — hiermit hat man die sogenannten
Kollektivbegriffe —, oder man hebt die an einer Mehrheit von
Erscheinungen bemerkten gemeinsamen Eigentümlichkeiten heraus
und gewinnt so die sogenannten abstrakten Begriffe. Aus dieser
Auffassung ergibt sich die Konsequenz, daß es unmög¬
lich sein muß, aus einer einzigen Vorstellung, für die
jegliches Vergleichsmaterial fehlt, einen Begriff zu ent¬
wickeln.
Man kann wohl sagen, daß diese Auffassung der Begriffe Ge¬
meinbesitz aller wissenschaftlich Gebildeten ist, und selbst Logiker
pflegen sich bei dieser populären Meinung Uber die Begriffe zu
beruhigen. Die ganze Lehrbuchlogik ist nun auch auf Kollektiv¬
begriffe — ich möchte sagen unwillkürlich — zugeschnitten. Denn
einmal sind die Wörter der Sprache von vornherein Kollektiv¬
bezeichnungen; sodann hat man in einer Menge wissenschaftlicher
Begriffe, die das gemeinsame Merkmal in ihrem Namen schon
andeuten, sehr einfache Beispiele vor Augen, auf die das Denken
leicht rekurriert, wenn man Uber die Natur der Begriffe nach¬
denkt; und schließlich ist die Repräsentation der Begriffe durch
die bekannten Kreise dem Gedächtnis so fest eingeprägt, daß
mehr oder weniger unbewußt das Denken dauernd dadurch be¬
herrscht wird.
Läßt man die populäre Abstraktionstheorie nun gelten, so wäre
damit zwar beschrieben, wie man sich verhält, wenn man einen
Begriff' bildet, aber es ist damit noch keinesweg erklärt, was ein
Begriff' nun eigentlich ist. Die einen sagen: Begriffe sind nichts
weiter als names und terms, die eine Anzahl diskreter Einzel-
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w Vjm PRINCETON UNIVERSITY
Vorstellung und Einstellung. II. Über Begriffe.
189
Stellungen damit meint. Hier liegt nun eine eminent psycho¬
logische Frage vor: Sind Begriffe nur eine gewisse Art von Akten,
die mit Einzelvorstellungen vorgenommen werden, oder sind sie
etwas Selbständiges, neue psychische Gebilde, etwas von Empfin¬
dungen, Vorstellungen und Gefühlen Verschiedenes? Die Logik
kümmert sich prinzipiell nicht um psychologische Fragen, da sie
sich nur die Aufgabe stellt, die sprachlich formulierten Denk¬
äußerungen zu beschreiben und zu klassifizieren; sie betrachtet
das Denken nur so weit, als es aus der Psyche schon heraus¬
getreten ist; was aber in der Psyche selber beim Denken vor sich
geht, das will die Logik ignorieren. In der Theorie klingt diese
Unterscheidung sehr gut, aber in Wirklichkeit kann man sich nicht
streng daran halten: denn um festzustellen, was irgendein Aus¬
druck bedeute, was mit ihm gemeint sei, muß ich eine Selbst¬
beobachtung daraufhin anstellen, was bei diesem Ausdruck in
meiner Psyche vorhanden ist, ich muß also eine psychologische
Beobachtung machen. Da die Logik sich aber prinzipiell von
psychologischer Beobachtung entbindet, wird die nicht zu um¬
gehende Selbstbeobachtung auch nur flüchtig angestellt und durch
rationalistische Erwägungen präjudiziert. Die Vertiefung, die die
Logik neuerdings erfahren hat, beruht denn nun auch auf ver¬
schärfter Selbstbeobachtung, »was denn eigentlich gemeint sei«.
Allerdings ist es immer notwendig, sich den Unterschied zwischen
logischer und psychologischer Betrachtung vor Augen zu halten,
denn die Gefahr ist in der Tat erstaunlich groß, daß man Uber
einer psychologischen Untersuchung die logischen Beziehungen
des Ansgesagten vergißt und umgekehrt etwa durch eine logische
Beschreibung der Schlußformen das Schließen erklärt zu haben
glaubt.
Die folgende Untersuchung ist auf die psychologische Natur
der Begriffe gerichtet.
Wenn man eine alleinstehende, von jedem grammatischen Zu¬
sammenhang losgelöste Partikel hört, doch, aber, trotzdem usf.,
dann redet man im gewöhnlichen Sprachgebrauch ganz genau so
von Verstehen, als wenn von leicht vorstellbaren Dingen die Redo
wäre; und man,,sagt gewiß nicht:
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»Ich erkenne das Wort wiedet-^
Original ffcm
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W. Betz,
dessen Übersetzung man vergessen hat, oder das man zwar im
Zusammenhang einigermaßen versteht, Uber dessen genauere Be¬
deutung man aber im Zweifel ist. Das bei derartigen Unter¬
suchungen überaus gewichtige Zeugnis des Sprachgebrauchs zeigt
also an, daß es sich beim »Verstehen« einer alleinstehenden Par¬
tikel nicht um ein bloßes Wiedererkennen der Worterscheinung
handelt. Nun kann man allerdings darüber streiten, ob eine
alleinstehende Partikel überhaupt noch einen logischen Sinn hat,
der mindestens schwierig zu definieren wäre. Wenn ich mir
nun die Partikeln geradezu, immerhin, aber langsam vor¬
spreche (natürlich ohne dabei an Satzbeispiele zu denken, was
ich auch im folgenden zu vermeiden bitte), dann bemerke ich,
daß ich bei jedem dieser Wörter eine verschiedene intellektuelle
Attitüde, Einstellung, einnehme; und diese Unterschiede sind so
stark, daß es mir ganz unmöglich ist, beim Wort geradezu
etwa die gleiche Einstellung festzuhalten, die beim Wort aber
oder immerhin eintrat. Wenn ich mir andererseits Partikeln
wie trotzdem, doch, aber vorspreche, dann merke ich eben¬
falls einen Unterschied in der Attitüde, aber diese Unterschiede
sind weit weniger beträchtlich als vorhin: ich kann sogar die
Wörter vertauschen, ohne dabei die Einstellung wesentlich zu
ändern. Bei diesen Vertauschungsversuchen bemerke ich aber
weiter, daß ich mit den aber und doch nicht je eine einzige,
unveränderliche Einstellung verbinde, sondern daß ich die Ein¬
stellungen in einem gewissen Spielraum variiere, bis ich diejenige
Einstellung gefunden habe, die mir ein Vertauschen der Worte
gestattet. Hiermit ist also sichergestellt, daß das »Verstehen« der
Partikeln in der Tat mehr ist als ein bloßes Wiedererkenneu der
Worterscheinung, daß es sich um wirkliche Bedeutungserlebnisse
handelt.
Die Partikeln der betrachteten Art wird man nun ganz gewiß
nicht Begriffe nennen. Und wenn man sie in eine substantivische
Form überführt, das Dochigc, das Immerhinige, die Abrig-
keit, dann läßt sich die von dieser Wortform verlangte Bedeutung
nicht erfüllen, die Ausdrücke sind unsinnig.
Wonn i
Go gle
inVi flKsr nrin aoc ro • Mon utullo aii>}< oino I liaL'naaion vnr
Original trcm
PRINCETON UNIVERSITY
Vorstellung und Einstellung. II. Über Begriffe.
191
diesen Ausdrücken charakteristische Verhaltungsweisen treffend
dargestellt sein könnten, wenn man auch die Ausdrücke wahr¬
scheinlich nicht gleich voll versteht. Und wenn ich nun noch er¬
kläre: ein dochiger Mensch sucht immer an den vorgebrachten
Argumenten zu zweifeln; ein immerhiniger Mensch sieht, daß an
den Argumenten »etwas dran* ist, will aber nicht so recht folgen;
ein abriger Mensch will sich gar nicht überzeugen lassen und
macht beständig Einwendungen — dann bekommen diese Aus¬
drücke einen deutlichen Sinn zuerteilt, und es kommt jetzt darauf
an, diese Bedeutungen wirklich zu erleben und auf ihre Stich¬
haltigkeit zu prüfen: Der Dochige ist selbstbewußt, aber unter
Umständen auch vorsichtig, und er will objektiv sein; der Immer-
hinige ist unentschlossen bis kleinmütig; der Abrige ist intellek¬
tuell widerspenstig, mehr oder weniger überheblich, eine besondere
Art von Widersprecher, nicht einfach ein Nörgler und Besser¬
wisser. Daß ich solche Aussagen machen kann, beweist, daß ich
dabei sehr bestimmte Denkinhalte habe.
Es kann nun kein Zweifel bestehen, daß wir in der Dochig-
keit usf. echte Begriffe vor uns haben: die Art, wie man erklä¬
rende Aussagen Uber sie macht oder sie im eigenen Denken be¬
stätigt findet, ist durchaus charakteristisch dafür. Die beiden
ersten sind auch neue Begriffe, die wir vorher nicht hatten, wäh¬
rend der dritte, die Abrigkeit, sich einigermaßen mit dem sonst
schon geläufigen Begriff des Widersprechers deckt.
Wie sind diese Begriffe nun entstanden? Bei den bloßen
doch, immerhin, aber konnten wir Einstellungen konsta¬
tieren, die an sich zwar kaum merklich, aber beim Übergang
von einer Partikel zur anderen deutlich bemerkbar werden.
Wenn wir nun Dochigkeit, Immerhinigkeit, Abrigkeit
denken, dann sind die spezifischen Einstellungen sehr viel deut¬
licher, sie werden nicht lediglich momentan merklich, sie halten
einer sekundenlangen Betrachtung stand, und sie lassen sich leicht
wieder von neuem erzeugen. Wir bemerken weiter, daß die Ein¬
stellung, bei Dochigkeit etwa, ihrer Qualität nach konstant
bleibt, daß ich ihre Intensität aber zunehmen und abnehmen
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Vorstellung und Einstellung. II. Über Begriffe.
193
projiziere sie in die Minimalvorstellung hinein. Und der
Ortswechsel meiner Einstellungen wird deutlich, wenn ich mich
vom Dochigen zum Immerhinigen wende. In dieser Fassung
scheint die Sache höchst befremdlich, aber man überlege, daß
unter einem anderen Ausdruck der Tatbestand ein völlig geläufiger
ist, nämlich wenn ich sage: ich stelle meine Einstellung »vor«,
d. h. ich stelle sie vor mich hin und betrachte sie, sie wird da¬
durch zum Objekt für mich, zu einem Gegenstand.
Es besteht in der Tat ein erheblicher Unterschied, ob ich mir
ein Gefühl, das ich im Augenblick nicht habe, einzubilden
suche, oder ob ich mir dieses Gefühl vorstelle, ein Unterschied,
der meines Wissens bis jetzt übersehen wurde. Es gelingt mir
ziemlich leicht, mir einzubilden, daß ich Hunger habe, so sehr,
daß ich zweifelhaft werde, ob ich wirklich hungrig bin oder es
mir nur einbilde. Es ist etwas ganz anderes, wenn ich mir den
Zustand des Hungers vorzustellen suche; hier achte ich nicht im
geringsten auf eventuelle Gefühle und Empfindungen in mir.
Meine Aufmerksamkeit ist durchaus nach außen gerichtet, auf
eine Gegend in meinem Vorstellungsraum, rechts vor mir auf
Armlänge etwa 1 ), welche Gegend sich von dem übrigen Raum
durch eine Art »Verdichtung« auszeichnet, und ich betrachte diese
Raumgegend beim Nachdenken über den Hunger, gerade als
ob der Hunger wie eine greifbare Sache in dieser Gegend vor¬
handen wäre. Bei diesem Vorstellen kann gelegentlich auch ein
eingebildetes Hungergefühl in mir zu Bewußtsein kommen, aber
in der Regel fehlt es vollständig. Das Einbilden ist für dieses
Vorstellen also unnötig. Aber was stelle ich dann eigentlich vor?
Die Hungergegend ist nun nicht lediglich eine indifferente
Gegend im Raum, auf die die Aufmerksamkeit gerade gerichtet
ist. sondern es scheint diese Gegend in einem eigentümlich dyna¬
mischen Zustand zu stehen, woraus zu schließen ist, daß meine
Einstellung »Hanger« in diese Gegend projiziert ist. Ein
eventuelles Hungergefühl ist kein integrierender Bestandteil der
b Durch den
‘okaüaiere, WllTde i
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Umstand, daß ich die Einstellungen rechts vor mil¬
ch auf die Projektion der Einstellungen zuerst aufmerk-
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(Jrigiralfrcm
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194
W. Betz.
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Einstellung, worunter vielmehr die Strebungen (Appetit von appetere)
zu verstehen sind, die man im Zustand des Hungers hat. Die
Projektion der Einstellung scheint befremdlich, sie ist an sich
aber nicht unverständlicher wie die Projektion einer Empfindung
auf der Netzhaut in den Raum. In beiden Fällen ist ein Bewußt¬
sein davon vorhanden, daß ich die Farbe dort sehe und daß
ich die Einstellung dort spüre, aber Farbe und Einstellung sind
beide Male Gegen —stände, sie sind vor — gestellt. Die Ein¬
stellung »Hunger« in Worten zu beschreiben ist sehr schwierig,
in der »Hungergegend« werden bestimmte Tendenzen vorgestellt.
Hier muß uns der Nachweis genügen, daß Einstellungen existieren;
die weitere Autklärung wird sich bei der Untersuchung der Urteils¬
akte ergeben, wo mehrere Einstellungen oder Vorstellungen und
Einstellungen zusammentreten.
In diesen vorgestellteu Einstellungen haben wir nun in der
Tat Denkinhalte vor uns, die man in der Umgangssprache als
abstrakte Begriffe bezeichnet. Sie sind eigentümlich leer: indem
man einen abstrakten Begriff denkt, hat man zwar das Bewußt¬
sein, daß tatsächlich etwas im Denken vorhanden ist außer
der akustischen Worterscheinung, aber man weiß nicht recht was.
Wir haben gezeigt, daß es vorgestellte Einstellungen sind. Man
ist nun häufig in den Fall gesetzt, einen solchen abstrakten Be¬
griff zu erläutern. Solche Erläuterungen liegen nicht parat, sie
sind nicht so ganz leicht zu geben, sie erfordern Überlegung. Es
geht einem allerlei durch den Kopf, man untersucht diese Einfälle
darauf, ob sie zur vorgestellten Einstellung passen, man verwirft
sie oder man sucht sie in Worte zu fassen. Diese Überlegungen
erstrecken sich über viele Sekunden, in deren Verlauf die Ein¬
stellung wiederholt aufgefrischt werden muß, am bequemsten durch
Vorsprechen des betreffenden Wortes. Dem Logiker gilt nun eigent¬
lich erst die vollendete Aussage über den Begriff als Begriff, ohne
daß diese Frage indessen explicit und prinzipiell erörtert würde.
Konform mit dem gemeinen Sprachgebrauch nennen wir aber schon
den als vorgestellte Einstellung erkannten Denkinhalt Begriff, der
immpr Eintritt worin man oin Wnrf. Hns p.inp.n abstrakten Ttecrriff
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Vorstellung und Einstellung. II. Über Begriffe.
195
Kollektiven gestoßen. FUr die Bildung der Begriffe Dochigkeit usf.
war es völlig irrelevant, ob die Dochigkeit nur in einem einzigen
Fall vorkommt oder ob sie bei vielen Menschen in vielen Fällen
Vorkommen kann. Ich habe mir nur eine einzige Diskussion vor¬
gestellt, und diese Minimalvorstellung blieb konstant.
Nach der üblichen Abstraktionstheorie hätte man sich ihre
Entstehung etwa in der folgenden Weise zu denken: Entweder
müßte man sich eine Anzahl Menschen vorgestellt haben, von
denen einer oder mehrere sich durch eine Eigentümlichkeit aus¬
zeichneten, die man treffend mit Dochigkeit benennen könnte;
oder man müßte sich einen Menschen in seiner gesamten Ver¬
haltungsweise vorstellen, diese Vorstellungen analysieren und vari¬
ieren, bis man schließlich eine Eigentümlichkeit herausgefunden
hätte, auf die das Wort Dochigkeit paßte. Aber um beurteilen
zu können, ob das Wort paßt oder nicht, muß man doch schon
eine Ahnung haben, was das Wort eigentlich ausdrückt. Die
Abstraktionstheorie läßt uns also hier völlig im Stich.
Unser Beispiel ist aber nicht etwa eine künstliche Konstruktion
eines Falles, der praktisch nicht vorkommt. Denn die allermeisten
Begriffe, Uber die ein Mensch verfügt, hat man nicht selber aus
der Mannigfaltigkeit der Welt abstrahiert und man hat sie sich auch
nicht aus dem Konversationslexikon geholt, sondern man hat sie
irgendwie aus der Unterhaltung oder aus der Zeitung und aus
Büchern aufgegriffen, aus einem einzigen Beispiel, das in der
Kegel doch nicht zur Begriffserklärung dahingesetzt war. Das
war in der Jugend; aber man kann diesen Prozeß heute noch
beobachten, wenn man irgendein fremdsprachiges Buch liest, wo
sich die Bedeutung einer Menge Wörter nicht mit den deutschen
Begriffen deckt, und wo man das fremde Wort doch aus einem
einzigen Beispiel so vollständig versteht, daß man sich über seine
Unübersetzbarkeit im klaren ist 1 ).
Man überzeugt sich nun ohne weiteres, daß alle Begriffe, die*
sich irgendwie auf ein Verhalten beziehen, sich als vorgestellt^
F.inafa11nnn*an orrrphAn \ri A in vmn imm Koroin 7ü PrWiirtAn iq4>
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196
W. Betz,
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sinnenfällig sind. Ich gestehe, daß ich überrascht war, zu finden,
daß auch solche Begriffe, die mit menschlichem Verhalten schein¬
bar gar nichts zu tun haben, sich sehr bald als Anthropomorphismen
ergaben; ich will nur ein Beispiel geben: den logisch ungemein
schwierigen Begriff des Wesens einer Sache. Das sehr häufige
Wort Wesen wird ohne weiteres von jedem verstanden. Als psy¬
chischen Inhalt während des Verständniserlebnisses finde ich die
vor—gestellte Einstellung: die Sache (= Gegend im Raum) re¬
agiert innerlich gegen Einwirkung von außen und wartet auf eine
neue Einwirkung. Das klingt äußerst naiv und vielleicht auch
komisch, aber ich wüßte nicht, wie ich meinen psychischen Inhalt
in gelehrterem Stil auch nur halb so treffend beschreiben könnte.
Die bis jetzt beschriebenen Inhalte wird ein Logiker vielleicht
nicht als Begriffe gelten lassen wollen, da er mit Begriff die
definierenden Aussagen über die Gegenstände der Begriffe meinen
könnte. Das wäre aber eine Verwechslung des Begriffes mit
seinen Gegenständen, ein Mißverständnis, das durch die unselige
Verbildlichung der Begriffe durch Kreise tief in das Denken ein¬
gegraben ist. Wir kommen hierauf noch zurück.
Die Gegenstände der sogenannten abstrakten Begriffe sind
»Gedankendinge«, soweit sie nicht unmittelbar erlebt werden können
wie etwa Hoffnung, Aufmerksamkeit usf. Die Gegenstände der
konkreten Begriffe dagegen sind »wirklich«, sie führen eine ganz
andere Art der Existenz als die Gegenstände der abstrakten Be¬
griffe; und es wäre durchaus möglich, daß ein fundamentaler
Unterschied zwischen konkreten und abstrakten Begriffen bestünde.
Die traditionelle Logik macht nun keinen Unterschied in der Be¬
handlung dieser beiden Begriffsarten, was um so erstaunlicher ist,
als die Existentialfragen vom logisch-erkenntnistheoretischen Stand¬
punkt aus von fundamentalster Bedeutung sind. Immerhin scheint
diese Ignorierung des Problems durch die Logik anzudeuten, daß der
psycholgische Unterschied zwischen abstrakten und konkreten Be¬
griffen nicht erheblich ist oder wenigstens nicht in die Augen springt.
Die Untersuchung der Begriffe konkreten Inhalts wird zugleich
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197
Vorstellung und Einstellung. II. Über Begriffe.
Für Menschen, die sich Farben deutlich und lebhaft vorstellen
können — etwa die Hälfte der Menschen kann das —, scheint
es einigermaßen sinnlos zu sein, vom Begriff Blau usw. zu reden,
da sie bei diesen Wörtern jedesmal eine farbige Vorstellung haben
oder doch ohne weiteres produzieren können: im ungezwungenen
Sprachgebrauch redet man ja auch immer von der Vorstellung
Blan, Rot usf. Da aber die Farbbezeichnungen eine Unmenge
von Nuancen umfassen, ist es klar, daß im Sinne der Logiker
Farbbegrifte existieren, womit keineswegs bewiesen ist, daß Farb-
begriffe auch psychologisch existieren.
Man stelle sich ein dunkles Blau vor und suche sich dann
ein ebenso dunkles Grün vorzustellen. Ich habe zunächst schon
Schwierigkeiten, mein Gesichtsfeld von einem gleichmäßigen Blau
erfüllt vorzustellen. Das vorgestellte Gesichtsfeld ist eigentlich
nur dunkel, ohne sichere Farbqualität. Erst indem ich an be¬
stimmte Stoffe denke, an das Farbband der Schreibmaschine, an
einen blauen Bucheinband, blauen Möbelstoff, komme ich zur Vor¬
stellung eines bestimmten Blau, aber ich kann dabei nicht von
dem betreffenden Gegenstand abstrahieren, ich kann mir nicht das
betreffende Blau an sich vorstellen, sondern immer nur den blauen
Gegenstand. Jetzt fällt mir auch das Erinnerungsbild eines tief¬
blauen Himmels ein; aber auch jetzt kann ich das Vorstellungs¬
feld nicht vollständig mit diesem Blau ausfüllen, am Rande blei¬
ben weiße Wolken oder (undeutlich) Bäume, und ich kann hierbei
nicht unterlassen, mich selber auf dem Rücken liegend und in
den Himmel starrend vorzustellen. Daraus geht hervor, daß ich
überhaupt keine Vorstellung von einem Blau au sich habe, son¬
dern immer nur Erinnerungsbilder von blauen Gegenständen.
Als in Grün umzuwandelnde Vorstellung wähle ich nun die
Vorstellung eines tiefblauen Himmels; und ich versuche die eigen¬
tümlich klare Transparenz dieses Bildes festzuhalten und nur statt
Blau eben Grün vorzustellen, was unmittelbar und mit einem
Schlage nicht gelingt. Zunächst lasse ich das Erinnerungsbilcl
des Himmels verschwinden und suche eine beliebige Vorstellung
eines dunklen Grüns zu erzeue-en: p.r kommt die Vorstellung einest.
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W. Betz,
Transparenz umwandeln kann; nun hole ich die Erinnerungsbilder
zweier dunkelgrüner Samte herauf, welche auch nicht zum Him¬
melsblau passen, da sie zu dunkel und zu »schwer« sind und ich
sie wieder nicht variieren kann; nunmehr suche ich nach Erinne¬
rungsbildern von tiefgrünem Meerwasser, die ebenfalls nicht brauch¬
bar sind, da sie unerwartet undeutlich sind; jetzt endlich fällt mir
eine bestimmte tiefgrüne Lösung von Chromchlorid ein und gleich
darauf ein großer Smaragdring, die in bezug auf Transparenz und
Sättigung einigermaßen mit dem Himmelsblau Ubereinstimmen, nur
daß sie klarer sind als das Blau des Himmels. Es will mir aber
nicht gelingen, mein ganzes Gesichtsfeld mit dem Smaragdgrün
auszufüllen.
Ehe ich solche Versuche anstellte, hatte ich gemeint, daß ich
mir eine beliebige Farbe an sich, ganz unabhängig von den Gegen¬
ständen, an denen ich die Farbe gesehen hatte, vorstellen könnte,
und daß ich weiter diese Farbvorstellung ohne jede Mühe vari¬
ieren könnte, sie heller oder dunkler, mehr oder weniger gesättigt
vorstellen und eine kontinuierliche Reihe von Nuancen durchlaufen
lassen könnte. Die Vorstellung einer Farbe an sich hätte den
Charakter der Allgemeinheit, und vermöge der supponierten
leichten Variabilität der Vorstellung an sich wäre die »allgemeine
Vorstellung« als »Inbegriff« der subsumierbaren Fälle psychologisch
realisiert gewesen. Es erscheint sehr einfach und plausibel, zu
erklären, eine allgemeine Vorstellung gehe aus einem konkreten
Erinnerungsbild dadurch hervor, daß man von dem Material ab¬
strahiere und die übrigbleibende Vorstellung an sich kontinuier¬
lich und rapide variieren, »changieren« lasse.
Wir haben nun gesehen, daß weder eine Farbvorstellung an
sich existiert, noch daß eine beliebige Farbvorstellung in bezug
auf ihre Farbqualität kontinuierlich variiert werden kann: es han¬
delt sich immer nur um Erinnerungsbilder, deren Herkunft nicht
immer leicht zu finden ist, wenn sie blaß und verschwommen sind.
Nun kann ich ein lebhaftes farbiges Erinnerungsbild verschwimmen
lassen, so daß Form und Stoff undeutlich und unerkennbar werden .
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Vorstellung und Einstellung. II. Über Begriffe.
199
etwas dunkler vorstellen. Kommt ausnahmsweise hierbei eine
dunklere Vorstellung, dann hatte ich sie jedesmal nicht lange vor¬
her vorgestellt gehabt; die Weite des Sprunges habe ich keines¬
falls in der Hand. Will ich die ursprüngliche Blauvorstellung ver¬
ändern, dann muß ich einen Umweg einschlagen, indem ich mich
anf blaue Gegenstände besinne, was erhebliche Zeiten beansprucht.
Eine allgemeine Vorstellung in der Art, daß gleichsam mit
einem Blick alle Nuancen von Hellblau zu Dunkelblau durchlaufen
würden, existiert also für meine Person nicht. Wenn ich nun das
Wort Blau höre, dann verstehe ich es lange, ehe eine deutliche
Farbenvorstellung, irgendein Erinnerungsbild auftaucht; und ich
kann jede Spur von einer Farbvorstellung unterdrücken und trotz¬
dem ein vollkommenes Verständniserlebnis des Wortes Blau haben.
In der Regel, glaube ich, ist allerdings beim Hören eines Farb¬
wertes der Schimmer einer Farbenvorstellung vorhanden, die sich
aber von selbst in ein Erinnerungsbild entwickelt, sobald ich meine
Aufmerksamkeit darauf richte.
Wie ist es nun überhaupt möglich, daß ich einen Sinn des
Wortes Blau erleben kann, ohne die Spur einer Vorstellung Blau
dabei zu haben? Farbempfindungen und Farbvorstellungen sind
die einfachsten aller psychischen Inhalte. Farben sind nichts als
Farben, Farben werden im allgemeinen nicht interpretiert als
etwas vorstellend oder ausdrückend oder als etwas selbständig
Existierendes, man nimmt sie als Faktum hin, während man bei
einem Geräusch oder einem Geruch in der Regel wohl noch daran
denkt, wovon er hervorgebracht wird, während Töne und Ton¬
folgen von stärkeren psychischen Erlebnissen begleitet sind und
die einfachste gerade Linie von einer Wolke logischer Schwierig¬
keiten umgeben ist: Farben sind frei von logischen Beziehungen,
und sie sind arm an assoziativen Beziehungen, aber sie haben
ästhetische Qualitäten. Wenn ich nun ein Farbwort verstehe, ohne
die betreffende Farbvorstellung zu haben, dann kann das Ver¬
ständnis dadurch realisiert werden, daß ich entweder die assozia¬
tiven Beziehungen erlebe oder die ästhetischen Qualitäten od^^.
beides Fs ist nun nicht schwer in iedem Fall festzustellen,
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W. Betz.
schwerer zu erkenneu und noch schwerer zu unterdrücken.) Man
kann nun leicht konstatieren, daß man ein Farbwort auch dann
noch versteht, wenn sowohl Vorstellungen als assoziative Be¬
ziehungen vollkommen fehlen. Es bleibt also nur übrig, das Ver¬
ständnis des Wortes im Wiedererlebeu der ästhetischen Qualität
zu suchen.
Wenn ich mir die Wörter Blau, Grün, Braun, Purpur vor¬
spreche und vorstellungs- und assoziationsfrei zu verstehen suche,
was für die ganze Reihe nur in günstigen Momenten gelingt, in¬
dem entweder doch eine Farbvorstellung eintritt oder die Wörter
bloße, bekannte, Wörter bleiben, dann verspüre ich deutliche Än¬
derungen meiner Gefühlslage bei jedem Übergang zum anderen
Wort: Bei Blau könnte ich mein Gefühl als angenehm, klar, ruhig,
tief beschreiben, bei Grün bemerke ich eine deutliche Änderung
ins Unangenehme, ich verspüre etwas Aufdringliches, Störendes,
bei Braun tindet wieder ein Wechsel ins Angenehme, Warme statt,
bei Purpur ins unangenehm Emotionale. Diese Gefühlseindrücke
sind nach unserer Terminologie wieder als Einstellungen zn be¬
zeichnen, da sie Reaktionen auf Erscheinungen sind. Eine ge¬
nauere Beschreibung dieser Einstellungen in Worten ist wiederum
schwierig und recht unsicher; ich gehe deshalb nicht näher
darauf ein. Unter diesen besonderen Versuchsbedingungen
konnte ich mit Mühe die Einstellungen also einigermaßen vor¬
stellen und Aussagen Uber sie machen. Aber es gelingt mir nicht
spontan.
Wenn man rasch von einer Farbe zur anderen übergeht, dann
wird es ziemlich deutlich, daß den verschiedenen Farben ein ver¬
schiedener »Charakter* zukommt: Rot ist im Gegensatz zu Blau
und Violett »warm*, Grün hat im Gegensatz zu anderen Farben
etwas »Giftiges« usf. Ich habe den Eindruck, daß bei allen
Farben, die sprachlich noch mit dem gleichen Namen bezeichnet
werden, auch der gleiche Charakter noch zu erkennen sei, einerlei
ob die betreuenden Nuancen matt oder glänzend oder durchsichtig
sind usf. Aber ich kann nicht mit Sicherheit aus bloßer Selbst¬
beobachtung heraus behaupten, daß alle Blau etwa einen gemein
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Vorstellung und Einstellung. II. Über Begriffe.
201
betrachten, nicht für sich erleben. Aber existieren muß der Grund-
charakter, denn sonst wäre es nicht verständlich, daß ich noch
nie gesehene Nuancen richtig benennen kann, oder daß ich über¬
legen kann, ob gewisse Nuancen zwischen Blau und Grün etwa
noch Blau oder schon Grün seien. Solche Überlegungen führe
ich in der Weise aus, daß ich mir die Wörter Blau und
Grün gemächlich vorspreche und die Nuauce als blau und
als grün zu sehen suche. Je nachdem nun das eine oder das
andere besser oder gleich gut gelingt, entscheide ich die Frage
oder lasse sie unentschieden. Blau- und Grün-Einstellungen sind
in diesem Fall sicher vorhanden, aber ich kann sie nicht vor¬
stellen. Ich kann also auch keine Begriffe von den Farben
haben, in dem Sinne, wie wir bei Dochigkeit von Begriff sprachen.
Und in der Tat, es fehlt mir jegliche Spur von »Begriffsgefühl«
bei den Farbwörtern. Nur bei Weiß habe ich etwas Begriffs-
gefühl, wenn auch lange nicht so deutlich wie bei Dochigkeit,
Weiß kann ich in diesem Sinne als Begriff denken, die vorge¬
stellte Einstellung könnte ich etwa als allgemeine Helligkeit des
Gemüts beschreiben. Ebenso habe ich bei »Farbigkeit«, bei »bunU
vorstellungsfreie begriffliche Erlebnisse mit deutlich spezifischen
Einstellungen. Ich halte es deshalb durchaus für wahrscheinlich,
daß andere Menschen auch Farbbegriffe haben, wenn solche Men¬
schen vielleicht auch selten sind.
Die Farbwörter sind nun Kollektivbezeichnungen, und im Sinne
der Logiker repräsentieren sie deshalb ohne Zweifel Begriffe. Von
anderen Kollektivbegriffen, etwa »Vierfüßler«, unterscheiden sie
sich aber sehr wesentlich durch den Umstand, daß man sie nicht
definieren kann, sie haben kein demonstrables Merkmal. (Die
Definition durch Wellenlängen kommt hier natürlich nicht in Be¬
tracht.) Alle Blau müssen zum Unterschied von allen Grün usf.
etwas Gemeinsames haben, aber dieses Gemeinsame kann ich
nicht isolieren. Alle anderen Sinnesempfindungen kann ich be¬
grifflich denken, indem ich wieder die betreffenden Einstellungen
vorstelle: warm, naß, hart, süß, stinkend, hell, dunkel, hoher Ton ^
tiefer Ton. Wir müssen also sagen, daß Farbbegriffe psycho-.,
logisch als isolierbare, selbständige Gebilde, als Denkgegenstäud^
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W. Betz,
dieses Gemeinsame nicht bewußt wird, hat es keinen Sinn, es Be¬
griff zn nennen.
Die Analyse der Farbenbeispiele hat uns zwei interessante Er¬
gebnisse gebracht: Die Farbvorstellungen bleiben ihrer Farbqualität
nach konstant, sie »changieren« nicht; und es hat sich heraus¬
gestellt, daß Farbbegriffe im allgemeinen nicht vorhanden sind,
daß aber in günstigen Momenten nur ein weniges daran fehlt; und
es ist deutlich geworden, daß dieser Mangel in dem Unvermögen
besteht, die Farbeinstellungen vorzustellen, die an sich sicher vor¬
handen sein müssen.
Bei den Farbvorstellungen sind wir nun nicht auf eine Er¬
scheinung gestoßen, die man als »allgemeine Vorstellung« an¬
sprechen könnte. Der Ausdruck »allgemeine Vorstellung« ist nun
aber so überaus geläufig, daß ihm psychologisch wohl etwas ent¬
sprechen muß, trotzdem er eine contradictio in adjecto zu enthalten
scheint. Auf jeden Fall ist es heute noch zweifelhaft, wie weit
der Ausdruck psychologisch berechtigt ist. Wir wollen also das
für die Leugnung der allgemeinen Vorstellungen stehend gewor¬
dene Beispiel des Dreiecks untersuchen.
Wenn ich mir ein Dreieck vorstellen will, dann kommt mir
das wenig detaillierte Bild einer schwarzen Tafel in der Schule
in Erinnerung mit einem Dreieck aus weißen Kreidestrichen darauf.
Das Dreieck sehe ich aber gar nicht vollständig vor mir, deutlich
ist nur die linke Seite des Dreiecks mit ihren beiden Ecken, die
Ecke rechts dagegen sehe ich nicht vor mir; die linke Seite stelle
ich außerordentlich deutlich vor als breiten weißen Kreidestrich
mit all seinen Ungleichmäßigkeiten. Die rechte Ecke dieses Drei¬
ecks kann ich in der Vorstellung ergänzen, ich kann sie aber
nicht so deutlich sehen als die linke Seite, und es gelingt mir
nicht, das ganze Dreieck mit einem einzigen Blick zu übersehen:
entweder ist die linke Seite oder die rechte Ecke deutlich, nie¬
mals beides gleichzeitig. Und ich bemerke weiter, daß ich nicht
einfach meine Aufmerksamkeit von der linken Seite auf die rechte
Ecke verlegen kann und umgekehrt, sondern ich muß das Drei¬
eck jedesmal in Gedanken von neuem konstruieren, indem ich in
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203
Vorstellung und Einstellung. II. Über Begriffe.
vorgestellten Stücke wirklich demselben Dreieck angehören und
nicht vielmehr Stücke von Erinnerungsbildern verschiedener Drei¬
ecke sind. Und es glückt mir eigentlich nie ganz vollkommen,
das ganze Dreieck in deutlichen weißen Kreidestrichen vorzustellen,
es bleiben immer kleiue Lücken, meist in der Nähe der Ecken.
Die eben besprochenen Dreiecke waren so groß, daß sie in natura
nicht in ihrer ganzen Ausdehnung in den Punkt des deutlichsten
Sehens fallen, daß ihre Konturen also sukzessiv fixiert werden
müßten. Die mangelhafte Vorstellbarkeit könnte also hierin ihre
Ursache haben. Wenn ich mir indessen ganz kleine Dreiecke von
2—3 mm Durchmesser auf Papier zeichne und dann vorzustellen
suche, dann bleibt die Schwierigkeit nach wie vor bestehen: auf
dem Papier kann ich ein solches Dreieck deutlich sehen, ohne
den Fixationspunkt zu ändern; wenn ich sie dagegen deutlich vor¬
stellen will, gelingt es wieder nur sukzessiv, indem ich das Auge
in der Vorstellung um sie herumführe; oder wenn ich es in einem
Blick vorzustellen suche, dann ist die dritte Seite undeutlich und
ich bin nicht sicher, ob und wo sie die beiden anderen Seiten
trifft. Der ganze Unterschied gegen früher besteht darin, daß bei
den großen Dreiecken eine Seite (immer die linke) deutlich vor¬
gestellt wird und Ausgangsort ist, und bei den kleinen Drei¬
ecken immer eine Ecke.
Bisher habe ich mich nun immer bemüht, das ganze Dreieck
möglichst deutlich vorzustellen. Wenn ich mir nun gelegentlich,
ohne psychologische Absichten, ein Dreieck vorstelle, dann sehe
ich eine Seite in der Regel als Bleistiftstrich sehr deutlich vor
mir, und den Rest des Dreiecks sehe ich eigentlich überhaupt
nicht, sondern ich konstruiere es durch eine impulsmäßig gefühlte
Augen- oder Handbewegung, je nach der vorliegenden Aufgabe,
rechtwinklig, stumpfwinklig, lang oder kurz usf. Diese konstruk¬
tive Bewegung hinterläßt nun eine Art von visueller, sehr ver¬
schwommener Spur. Dabei wird die ursprünglich überaus deut¬
liche Vorstellung der einen Seite verschwommen und nähert sich
dem Charakter der Spur, oder sie verschwindet auch gänzlich, so
daß die übrigbleibende visuelle Vorstellung beinahe schon keine
Vorstellung mehr ist, auf jeden Fall so überaus verschwommen
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204
W. Betz,
»Vorstellung« von den Winkel- und Seitenverhältnissen des Dreiecks.
Die Konstruktionen führe ich mit motorischen Impulsen uub, die
nicht in das Stadium aktueller Bewegungen Uberzugehen brauchen,
es aber regelmäßig bei intensiverem Denken tun, wo ich mit dem
Finger oder dem Kopf usf. deute, ohne daß mir das von selbst
zu Bewußtsein kommt. Die Bewegungen oder Bewegungsinten¬
tionen sind nun natürlich keine Dreiecksvorstellungen, es sind
Einstellungen nach meiner Terminologie; aber sie erzeugen eine
besondere Art von Vorstellungen.
Wenn ich meine Augen schließe, dann kann ich mir ein Drei¬
eck irgendwo im Raum denken, ohne daß ich irgendwie dabei
Bleistiftstriche oder Drähte oder Fäden u. dgl. vorstelle oder daß
ich irgendwie das Dreieck in der Vorstellung sehe, etwa hell auf
dunklem Grunde. Aber das kann ich nur, wenn ich mit meinen
geschlossenen Augen eine Dreiecksbewegnng wirklich ausftthre
und dadurch ein Dreieck im Raum fixiere, ohne daß es hierbei
in visuelle Erscheinung tritt. Diese Bewegung hinterläßt nun eine
Spur, wie daraus hervorgeht, daß ich ein Bewußtsein der Lage
der schon zurückgelegten Strecken habe, was noch deutlicher zu
bemerken ist, wenn ich mir ebenso einen Kreis denke. Ich
kann nun nicht behaupten, daß diese Vorstellungen ganz frei von
visuellen Rudimenten sind, da der Raum um das gedachte Dreieck
nicht überall gleichmäßig dunkel ist; das Dreieck selber sehe ich
aber nicht, namentlich nicht die Eckpunkte. Die nichtgesehene
Vorstellung ist sehr präzis, ich kann z. B. die Winkel halbieren
und Senkrechte fällen, wobei sich graduell eine mäßige Sichtbar¬
keit durch Helligkeitsunterschiede einschleicht, wenn ich sie nicht
absichtlich unterdrücke. Dabei läßt sich immer mit großer Schärfe
feststellen, ob und wann Erinnerungsbilder, Bleistiftstriche u. dgl.
in die Vorstellung eintreten.
Die Minimalvorstellungen sind nun nicht mit den vorgestellten
Einstellungen zu verwechseln. Meine vorgestellte Dreieckseinstel¬
lung würde nur ergeben, daß da im Raum in einer bestimmten
Art herumgefahren wird, während die Minimalvorstellung eben in
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Verstellung und Einstellung. II. Über Begriffe.
205
die eiue aufbürt und die andere beginnt. Richte ich meine Auf¬
merksamkeit auf die Einstellung, dann komme ich zu einem Be¬
griff der Dreieckigkeit, ganz in derselben Weise, wie ich früher
zum Begriff der Dochigkeit kam. Wenn ich nun die Aufmerk¬
samkeit auf die Minimalvorstellung richte, so ist die Vorstellung
zwar wenig deutlich, und sie verlischt sehr bald, wenn ich sie
nicht immer von neuem erzeuge; aber die erzeugenden Bewegungen
wiederholen sich immer angenähert in der gleichen Bahn, die
Minimal Vorstellung bleibt angenähert konstant, sie »changiert«
nicht von stumpfwinkligen bis zu spitzwinkligen Dreiecken; die
ursprüngliche Einstellung perseveriert innerhalb ziemlich enger
Grenzen. Aber die Minimalvorstellung und die Einstellung sind
nur angenähert, nicht völlig konstant; und wenn ich will, kann
ich die Einstellung und damit die Minimalvorstellung in einem
weiten Bereich ziemlich kontinuierlich, ohne erhebliche Sprünge
variieren. Wenn ich nun diese Variation ohne Überhastung aus¬
führe, dann erzeuge ich eine allgemeine Vorstellung, die
mehrere Spezialfälle durchläuft, umfaßt. Denn es handelt sich
nicht um eine Reihe diskreter Einzelvorstellungen von Dreiecken,
sondern in einem einzigen, kontinuierlichen Prozeß wachsen die
Dreiecke auseinander heraus: es ist ein einheitliches Erlebnis,
nicht eine Anzahl diskreter Erlebnisse. Allerdings ist die all¬
gemeine Vorstellung nicht deutlich und nicht simultan gegeben,
sie ist überhaupt nicht gegeben, sondern ich muß sie erzeugen,
was eine merkliche Anstrengung erfordert, sobald ich die Varia¬
tion über einen etwas größeren Spielraum ausdehnen will. Die
Variation wird aber nun nie alle möglichen Fälle durchlaufen,
und sie wird sich in der Regel gar nicht weit von der ursprüng¬
lichen Vorstellung entfernen. Die allgemeine Vorstellung bleibt
weit davon entfernt, wirklich völlig allgemein zu sein. Was sie
von Erinnerungsbildern und Restvorstellungeu unterscheidet, ist
ihre Veränderlichkeit, sie changiert, und ich habe das bestimmteste
Bewußtsein, daß ich sie beliebig verändern kann, wenn ich will.
(Das Abändern der Erinnerungsbilder in der Phantasie ist ein
wesentlich anderer Vorgang, vor allem kann ich sie nicht kon-
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W. Betz,
allen ausgedehnten Gegenständen bilden. Alle Menschen haben
eine allgemeine Vorstellung Baum, Berg, Haus, Hund, Pferd,
Wagen usf., kurz von allen Gegenständen, die der einzelne mit
einer Geste schematisch in die Luft zeichnen kann. Hierbei ist
scharf zu unterscheiden zwischen einer etwaigen Restvorstellung
des Gegenstandes, die man bei einiger Übung fast immer auf ihr
Original zurtlckfUhren kann, und dem Schema, das man unter
deutlichem Aktivitätsgeftlhl in den Raum einprägt, einzeichnet,
wobei das Schema in der Regel nicht bis zu visueller Deutlich¬
keit kommt.
Das auf Papier fixierte Schema einer Lokomotive wird man
um so weniger eine allgemeine Vorstellung nennen können, je
sorgfältiger die schematische Zeichnung ausgeftihrt ist, da die
Größenverhältnisse aller Teile völlig bestimmt sind. Das bloß in
die Luft vorgestellte Schema dagegen ist wenig bestimmt und es
ist dehnbar, es variiert auch ungewollt in einem kleinen Spiel¬
raum, wenn ich es zu längerer Betrachtung beständig neu er¬
zeugen muß.
Wenn man in der gewöhnlichen Rede von allgemeinen Vor¬
stellungen spricht — und man gebraucht den Ausdruck recht
häufig —, dann meint man, soviel ich sehe, in der Regel ein in
die Luft vorgestelltes Schema damit, es kann aber auch nur die
Restvorstellung damit gemeint sein. In der philosophischen Sprache
dagegen liegt der Nachdruck auf dem allgemein, womit eine Vor¬
stellung gemeint ist, die alle Spezialfälle umfaßt, nicht eine Vor¬
stellung, die unbestimmt und deshalb allgemein ist. Wir haben
gesehen, daß dieser Sprachgebrauch psychologisch doch nicht so
unbegründet ist, wie er auf den ersten Blick erscheint. Es ge¬
lingt in der Tat, wenn auch mit Anstrengung, so etwas wie eine
wirklich ziemlich allgemeine Vorstellung zu erzeugen, allerdings
nur bei einem so äußerst einfachen Gegenstand, wie es das Drei¬
eck ist. Für gewöhnlich jedoch ist die Allgemeinheit einer all¬
gemeinen Vorstellung auf einen sehr engen Spielraum beschränkt.
Weiter, wenn man sich ein Schema in die Luft vorstellt, fehlt
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Vorstellung und Einstellung. II. Über Begriffe. 207
Vorstellungen nennen, wenn nicht die allgemeinen Vorstellungen
selbst sehr vertrauter Gegenstände so äußerst unvollkommene
Schemata wären. Pferde z. B. sieht man wohl täglich, man ver¬
suche aber ein Pferd aus der Erinnerung zn zeichnen, und viele
werden finden, daß sowohl die Erinnerungsbilder als die schema¬
tische Vorstellung für die Gelenkanordnung der Vorder- und
namentlich der Hinterbeine völlig im Stich lassen.
Nach dem Vorhergehenden kann es nicht zweifelhaft sein, daß
wir die schematischen Vorstellungen als von den Erinnerungs¬
bildern genetisch verschieden erklären müssen. Sie entstehen
nicht dadurch, daß ein Erinnerungsbild allmählich bis auf gewisse
Reste verblaßt und verschwindet; auch nicht dadurch, daß sich
mehrere Erinnerungsbilder überdecken und die gemeinsamen Züge
sich verstärken und allein Ubrigbleiben. Wenn ich eine rein sche¬
matische Zeichnung, in einem Witzblatt etwa, betrachte, dann fülle
ich nicht das Schema mit Erinnerungsbildern aus, und es gelingt
mir auch nicht, wenn ich es ernstlich versuche, außer wenn ich
zufällig ein Erinnerungsbild besitze, daß der schematischen Figur
ähnlich ist und genau hineinpaßt. Und auch dann geschieht das
»Hineinsehen« nicht von selbst, ich muß mich bemühen. Dem¬
nach ist es äußerst merkwürdig, daß man schematische Zeich¬
nungen überhaupt versteht, da sie von dem bloßen Gesichtsbild
doch völlig verschieden sind. Und wenn der des Zeichnens Un¬
kundige aus der Erinnerung ein Pferd etwa zeichnen soll, dann
macht er sofort den Versuch, das Schema zu zeichnen, und denkt
nicht daran, eine erscheinungsgetreue Wiedergabe zu versuchen.
Nun fällt es mir aber sehr schwer, aus einem scheinbar ganz
deutlichen Erinnerungsbild, eines Nilpferds etwa, ein auch nur
einigermaßen befriedigendes Schema zu zeichnen: sowie ich den
Stift ansetze, verschwindet das Erinnerungsbild. Das Schema
muß also so sicher in mir sein, daß ich das Erinnerungsbild nicht
brauche. Die ganze Auseinandersetzung zeigt, wie tief das
Zeichnen in der menschlichen Natur liegt.
Nun kann es keinem Zweifel unterliegen, daß die schematische
Zeichnung: die ADDerzeDtionsbahnen und -punkte des Blickes d«r-
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I
208
W. Betz,
vor mir sehe, der an sich ja völlig anders aussieht als die sche¬
matische Zeichnung vor mir.
Zwischen schematischer und allgemeiner Vorstellung ist nur
ein gradueller Unterschied; wenn die schematische Vorstellung
sehr unbestimmt und unvollständig ist, nennt man sie im gewöhn¬
lichen Sprachgebrauch allgemeine Vorstellung.
Ich finde nun, daß ich nur verhältnismäßig sehr wenige, leid¬
lich ausgebildete schematische Vorstellungen habe; ihre Produktion
erfordert immer eine gewisse Zeit und eine gewisse Anstrengung,
eine Konzentration der Aufmerksamkeit; und ich produziere sie
beim Lesen nur dann, wenn es wirklich notwendig ist, z. B. wenn
etwas über die Bauart von Lokomotiven gesagt wird und mir ein
entsprechendes Erinnerungsbild fehlt. Wenn ich nun einerseits
Erinnerungsbilder vermeide, andererseits auch die schematische
Vorstellung nicht ausflihre, dann finde ich, daß ich mir in der
oben beschriebenen, eigentümlich dynamischen Weise eine Gegend
im Raum vorstelle, und ich verspüre hierbei eine Disposition, in
dieser Raumgegend mir die schematische Vorstellung zu »machen«,
und zwar nicht bloß linienhaft, wie in einer schematischen Zeich¬
nung, sondern körperlich, aber farblos und mehr für das Gefühl
als für die Augen (z. B. »Jemand«). Dieser Bewußtseinsinhalt ist
mir simultan gegeben, und es ist durch diesen Inhalt für mich
völlig bestimmt, was für ein Ding ich meine. Das sind aber die
allgemeinen Vorstellungen der Umgangssprache.
Das Resultat unserer Analyse formulieren wir nun dahin: All¬
gemeine Vorstellungen sind durch die Einstellungen erzeugte Vor¬
stellungen besonderer Art, die sich scharf von den Erinnerungs¬
bildern unterscheiden und mehr »gefühlt als gesehen« werden.
Vermöge der Variabilität des erzeugenden Aktes sind diese Vor¬
stellungen auch allgemein im Sinne des Logikers, wenn sich auch
diese Allgemeinheit innerhalb verhältnismäßig sehr enger Grenzen
hält und ein kollektives Interesse an ihrer Entstehung im allge¬
meinen nicht beteiligt ist.
Allgemeine Vorstellungen sind etwas anderes, psychologisch,
als Begriffe in unserem Sinn. Wir haben Begriffe als vorgestellte
Einstellungen erklärt.
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Die erzeugende Einstellung der allgemeinen
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Vorstellung und Einstellung. II. Über Begriffe.
209
mir die Einstellung Pferd vorstelle, komme ich ohne weiteres zu
einem Begriff Pferdigkeit, dessen Beschreibung im wesentlichen
eine Schilderung ästhetischer Qualitäten ergeben wlirde, da der
erzeugende Akt an sich ohne Interesse ist und unwesentlich er¬
scheint gegenüber den begleitenden Gefühlen. Und man kann
ganz allgemein sagen, daß man zu allen allgemeinen Vorstellungen
Begriffe bilden kann, indem man die betreffende Einstellung vor¬
stellt. Solche Begriffe sind allerdings nicht kurrent, soweit sie
sich nicht auf die menschliche Erscheinung beziehen (z. B. Plump¬
heit). Das Interesse ist eben mehr auf die Erscheinung der
anschaulichen Gegenstände gerichtet als auf den Eindruck, den
sie auf mich machen.
Der Unterschied zwischen Begriffen und allgemeinen Vorstel¬
lungen ist demnach graduell und nicht absolut; in den extremen
Fällen ist meine Aufmerksamkeit entweder lediglich auf die durch
die Einstellung produzierte Vorstellung gerichtet oder auf die Ein¬
stellung, die aber vorgestellt und nicht lediglich erlebt wird. Wie
schon hervorgehoben, wäre eine bloß erlebte Einstellung nur ein
psychischer Zustand, dem alle Beziehung auf etwas anderes, alle
Bedeutung fehlen würde. Durch das Vorstellen wird die Ein¬
stellung einmal verdinglicht und eine wenn auch häufig fast un-
raerkliche Vorstellung einer derjenigen Erscheinungen reprodu¬
ziert, bei welcher ich die betreffende Einstellung früher hatte.
Diese beim Denken eines Begriffs vorhandenen Vorstellungen über¬
sieht man leicht, und man kann sich häutig nur durch einen
kleinen Kunstgriff von ihrem tatsächlichen Vorhandensein über¬
zeugen, z. B. dadurch, daß man sich, wenn von Menschen die
Rede ist, an ihrer Stelle Tiere andeutungsweise vorzustellen sucht.
Praktisch ist man denn auch häufig im Zweifel, ob man etwas
als Begriff oder als allgemeine Vorstellung denkt, etwa wenn von
Personen im allgemeinen gesprochen wird: in Polizeiverordnungen
wird man »Personen« mehr als allgemeine Vorstellung, in juristi¬
schen Deduktionen mehr als Begriff denken. Der unbefangene
Sprachgebrauch redet bei leicht vorstellbaren Sachen in der Regel
von allgemeinen Vorstellungen, bei abstrakten Dingen von Be¬
griffen. Es besteht aber in der Tat kein prinzipieller Unterschied
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W. Betz,
• produzierte (d. h. allgemeine) Vorstellungen oder ganz versehwom-
mene Reste von Erinnerungsbildern oder beides sind, werde ich
hierfür gelegentlich den oben schon eingeführten Ausdruck Minimal-
vorstellungen gebrauchen. Sicher selbsterzeugte Vorstellungen da¬
gegen werde ich immer allgemeine Vorstellungen nennen. (Meine
Erinnerungsbilder sind durch vollkommene Erhaltung der Farben
ausgezeichnet, und wenn eine Minimal Vorstellung einen farbigen
Schimmer zeigt, dann kann ich sie dadurch als Rest eines Er¬
innerungsbildes erkennen; aber dieses Kriterium versagt auch
manchmal.)
Begriff und allgemeine Vorstellung können nun an einer ein¬
zigen Erscheinung erzeugt werden; aber das Vorstellen einer Ein¬
stellung und das Produzieren der Vorstellung erfordern eine ge¬
wisse Anstrengung des Denkens, die man natürlich nur unter der
Einwirkung eines Motivs unternimmt, was in der Regel darin
liegen wird, daß diese Erscheinung in besonderem Grade die
Aufmerksamkeit erregt. Wenn einem schon öfters eine nahezu
gleiche oder ähnliche Erscheinung vorgekommen ist, dann wird
man schließlich darauf aufmerksam: »da ist ja schon wieder so
ein Ding«. In dem Moment, wo man sagt: so ein Ding, so ein
Zustand, so ein Verhalten u. dgl., macht man sich die allgemeine
Vorstellung oder stellt sich die Einstellung vor. Das wiederholte
Vorkommen ist aber nicht das einzige, wenn auch möglicherweise
das häufigste Motiv; eine ungewohnte Erscheinung kann mich ge¬
rade so gut, eben durch ihre Sonderbarkeit, veranlassen, so ein
Ding zu denken, statt »dieses Ding« rein passiv zu betrachten.
Allerdings wird man nur solche Erscheinungen mit einem beson¬
deren Terminus benennen, die wiederholt Vorkommen oder von
denen man annehmen kann, daß sie öfters so oder ähnlich Vor¬
kommen werden. Wer sich daraufhin beobachtet, wird finden,
daß man im Lauf des täglichen Denkens massenhaft neue Be¬
griffe bildet, für die einem aber die Wörter fehlen, weshalb man
übersieht, daß es tatsächlich Begriffe sind.
Wie wir in unserer vorigen Abhandlung »Über Wiedererkennen«
auseinandergesetzt haben, beruht das Wiedererkennen und das Er¬
kennen der Ähnlichkeit auf der Renroduktion identischer oder
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Vorstellung und Einstellung. II. Über Begriffe.
211
sind ähnlich«, erfordert nicht die Bildung intermediärer Begriffe
oder allgemeiner Vorstellungen. Wenn ich nun irgendeinen Be¬
griff schon besitze, dann erkenne ich, ob ein neuer Fall unter
diesen Begriff fällt, daran, daß der Fall zur Einstellung paßt.
Dieses Passen kann Dir mein eigenes Denken völlig überzeugend
sein, aber es genügt nicht, um einen anderen, der die Anwend¬
barkeit des Begriffes auf einen bestimmten Fall leugnet, zur An¬
erkennung zu zwingen. So stellt sich für jeden sehr bald die
Notwendigkeit heraus, objektiv demonstrable Merkmale der Gegen¬
stände zu finden, die unter einen Begriff fallen; d. h. man sucht
nach einer Definition des Begriffs. Die Definitionen sind Urteile
über die Gegenstände, die unter einen Begriff fallen, sie sind aber
nicht Urteile Uber den Begriff selber. Dieser Unterschied ist nach-
drücklichst hervorzuheben.
Nach der traditionellen Abstraktionstheorie geschieht die Bil¬
dung der Begriffe in der Weise, daß man verschiedene Fälle mit¬
einander vergleicht und die gemeinsamen Merkmale heraussucht.
Es müßte also eine Kleinigkeit sein, bei jedem Begriff anzugeben,
aus welchen Merkmalen ich mir ihn gebildet habe; und man
müßte jeden beliebigen Begriff ohne weiteres definieren können.
In Wirklichkeit ist aber das Definieren ein widerwärtiges, müh¬
seliges und unsicheres Geschäft; und es gibt eine Menge Begriffe,
die noch niemand befriedigend definieren konnte oder über deren
Definition gestritten wird, z. B. die Begriffe Recht und Geld.
Es hat nun jeder einigermaßen Gebildete eine, wenn auch
ziemlich dunkle Idee, wie eine gute Definition beschaffen sein soll,
eine Idee, der man mehr oder weniger unbewußt nachzukommen
sucht, wenn man in den peinlichen Fall versetzt wird, etwas
definieren zu müssen. Wie man zu dieser Idee kommt, ist schwer
anzugeben, auf keinen Fall stammt sie aus den Lehrbüchern der
Logik, die keine Theorie der Definition enthalten, trotzdem das
Definieren unstreitig ein höchst wichtiges Denkgeschäft ist. Man
möchte also, daß eine Definition das Gemeinsame der unter
einen Begriff fallenden Erscheinungen angibt, und man möchte
das Gemeinsame so fassen, daß es gut als Kriterium, Merkmal
dafür dienen kann, ob ein konkreter Fall unter den Begriff fällt
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W. Betz,
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nicht notwendig zusammenlallt, und die Definition so fassen, daß
auch ein mit dem Begriff noch Unbekannter sich eine ungefähre
Anschauung von diesen Gegenständen machen kann; das alles
möchte man möglichst in einem einzigen Satz leisten, der mög¬
lichst allgemein gehalten ist, aber möglichst keine Ausdrücke ent¬
hält, die selber noch nicht definiert sind. (Diese Aussage über
die Definitionen ist, als Definition der Definition betrachtet, durch¬
aus nicht befriedigend; ich habe im wesentlichen nur die Einstel¬
lung beschrieben, die ich einnehme, wenn ich etwas definieren
will. Ich war nicht imstande, eine einstellungsfreie Definition der
Definition zu finden.)
Beim Definieren schwebt jedem dieses Programm mehr oder
weniger unbestimmt vor, und jeder weiß aus eigener Erfahrung,
wie schwer schon eine einzelne Forderung, geschweige die Ge¬
samtheit des Programms zu erfüllen ist. Da erhebt sich denn die
Frage sehr dringend, ob die Idee der Definition nicht unter Um¬
ständen unvereinbare Forderungen einschließe, so sehr, daß in
gewissen Fällen eine Definition prinzipiell unmöglich werde, wo
auch faktisch bisher noch keine Definition erzielt wurde: ob also
das Suchen nach einer Definition nicht häufig eine gänzlich nutz¬
lose Verschwendung von Arbeitskraft bedeute.
Zunächst scheint das Bestreben, sich möglichst allgemein aus¬
zudrücken, unvereinbar mit der Absicht, dem Hörer oder Leser
auch eine ungefähre Anschauung der betreffenden Dinge zu ver¬
mitteln. Diese Absicht läßt man ja verhältnismäßig leicht fallen,
da man häufig voraussetzen kann, daß der Leser schon eine un¬
gefähre Anschauung hat. Unterläßt man es also, dann kommt
aber schon keine volle Befriedigung mehr an der Definition zu¬
stande. Wenn ich z. B. definiere: eine Brücke überspannt einen
freien Raum (was, soviel ich im Moment sehe, im übrigen eine
richtige Definition sein dürfte), dann werde ich das Gefühl nicht
los, daß sich nach dieser Definition kein Mensch ein Bild von
einer Brücke machen kann, wenn er es nicht schon hat. Ans
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Vorstellung und Einstellung. II. Über Begriffe. 213
wenn mau die Sicherheit hätte, daß Anschaulichkeit und Allge¬
meinheit sich nicht vereinigen lassen. Diese Sicherheit aber hat
man nicht, da man nie weiß, ob sich nicht doch noch eine an¬
schaulichere Definition finden läßt, ln unserem Fall wäre es
schon erheblich anschaulicher, die Brücke als Fortsetzung eines
Weges über einen freien Raum bin zu erklären, wodurch der
Zweck der Brücken betont ist. Doch der Zweck einer Sache ist
in der Regel nicht ihr Wesen: eine Brücke bleibt eine Brücke,
auch wenn keine Wege zu ihr führen. Aber in dem freien Raum
unter der Brücke scheinen wir wenigstens das allen Brücken Ge¬
meinsame gefunden zu haben. Doch dieses Gemeinsame ist wieder
nicht das Wesen der Brücke, das doch offenbar darin besteht, daß
sie etwas tragen kann, nicht darin, daß unter ihr ein Loch ist,
das man sich ja mit Sand ausgefüllt denken kann, ohne daß da¬
durch die Brücke aufhört, eine Brücke zu sein. Das Gemeinsame
des freien Raums unter den Brücken scheint aber wenigstens ein
ausgezeichnetes Merkmal zu sein, das auf den ersten Blick in die
Augen springt. Aber leider trifft es auch auf Tore, Treppen und
Leitern zu, auf Tische und Stühle und wer weiß, worauf noch,
und unsere beiden Definitionen waren natürlich wieder einmal
nicht richtig. Das Überspannen eines freien Raums ist also bei¬
nah eine conditio sine qua non, aber sie ist kein Merkmal, kein
Kriterium der Brücke, sondern bloß ihr auffallendstes Symptom,
ein beinah notwendiges, aber lange kein hinreichendes Merkmal.
Nun kann man sich leicht so helfen, daß man sagt: alles, was
einen freien Raum überspannt, ist letzten Eudes eine Brücke, in¬
dem man sich nicht weiter um den gemeinen Sprachgebrauch
kümmert, der sich doch nicht nach strenger Logik richte und vor
allem dem Bedürfnis gehorche, häufig vorkommende Dinge mit
besonderen Namen zu bezeichnen. In der Tat erleichtert man
sich nicht selten das Definieren in dieser Weise. In unserem Fall
wäre der Ausweg aber gewiß nicht legitim, denn kein Mensch
verwechselt eine Leiter oder Uber die Straße gespannte Telephon¬
drähte mit einer Brücke, es erfordert im Gegenteil eine gewisse
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214 • W. Betz,
hinüber, z. B. von einem Bahnsteig zum andern. Das Hinüber¬
führen ist also auch wieder kein ausreichendes Kriterium. Aber
über eine Treppe muß man »steigen«, während man über eine
Brücke bequem und sicher »gehen« kann. Nun scheinen wir end¬
lich zu einer ausreichenden Definition zu kommen: Eine Brücke
überspannt einen freien Raum, so daß man bequem und sicher
hinübergehen kann. (Sonst wäre sie ein Steg oder eine »schlechte«
Brücke.) Aber diese Definition ist »populär«, sie ist nicht »wissen¬
schaftlich«, d. h. sie nimmt Bezug auf Dinge, die mit der Brücke
als solcher, mit ihrem »Wesen« gar nichts zu tun haben, nämlich
auf die Gehbewegungen des Menschen.
»Hinüber« und »Gehen« sind aber Einstellungen oder durch
Einstellung erzeugte allgemeine Vorstellungen. Und die Definition
erzeugt uns sofort die allgemeine Vorstellung Brücke. In dieser
Beziehung ist die Definition also ausgezeichnet, sie ist anschau¬
lich und leicht verständlich, aber sie ist »unwissenschaftlich«.
Die Brücke des gemeinen Sprachgebrauchs ist nun kein wissen¬
schaftlicher Begriff, und man kann bezweifeln, ob man eine
wissenschaftliche Definition eines unwissenschaftlichen Begriffs
überhaupt verlangen soll. Das Wesen der Brücke, ihre mecha¬
nischen Eigenschaften spielen für die große Mehrzahl der Men¬
schen überhaupt keine Rolle, da sie ihnen völlig unbekannt sind;
sie brauchten also in der Definition nicht vorzukommen. Hiervon
abgesehen ist der Ausdruck »bequem und sicher hinübergehen«
unpräzis, und es haftet ihm, in einer Definition, entschieden etwas
Anstößiges an. Aber man muß zugeben, daß der Ausdruck prak¬
tisch völlig ausreicht und daß er gar nicht mißzuverstehen ist.
Der Ausdruck ist eine durch Einstellung erzeugte allgemeine, un¬
bestimmte Vorstellung, worin die Einstellung sehr deutlich ist und
die überwiegende Rolle spielt: der psychische Inhalt ist mehr Sache
des Gefühls, präzise und fixe, reine Vorstellungselemente fehlen
darin. Das Merkmal enthält ein stark subjektives Moment auch
noch dadurch, daß von der Position des Vorstellenden abhängt,
wo das Drüben ist.
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Vorstellung und Einstellung. II. Über Begriffe. 215
nicht demonstrieren kann und man sich selber wohl leichter
über sein Vorhandensein täuschen kann als bei einem objektiven
Merkmal.
Nun beruhen nach unserer Auffassung eine große Zahl der¬
jenigen psychischen Inhalte, die man gemeiniglich als Begriffe
bezeichnet, auf Einstellungen, also auf subjektiven Momenten. Es
erhebt sich also die prinzipielle Frage: Ist es möglich, bei der
Definition von Einstellungsbegriflfen die subjektiven Momente, die
Einstellungen, zu eliminieren und durch objektive Merkmale zu
ersetzen ?
So viel ist sicher, daß man es immer probiert, wenn man eine
Definition zu geben sucht, mehr einem dunklen Drang als klaren
prinzipiellen Erwägungen gehorchend. Eine wirklich in jeder Be¬
ziehung befriedigende Definition zu finden, gelingt aber nur sehr
selten. Wenn man trotzdem die Versuche nicht anfgibt, wenn
man, soviel ich weiß, bis jetzt nicht einmal die Frage nach der
prinzipiellen Möglichkeit der Definition aufgeworfen hat, so ist
aus einer so tiefgewurzelten Überzeugung Aller und des Einzelnen
doch wohl von vornherein zu schließen, daß dieses Bedürfnis nicht
etwas gänzlich und prinzipiell Unmögliches verlangt.
Die Lösung der Schwierigkeit wird sich in folgender Weise
ergeben: Wenn man einen Einstellungsbegriff definiert, verläßt
man den ursprünglichen psychischen Inhalt, den man eigentlich
definieren wollte, und setzt an seine Stelle etwas gänzlich Neues,
eine »Zuordnung«.
Betrachten wir einen extremen Fall, den Begriff' der Tempe¬
ratur. Man hat zunächst die spezifisch verschiedenen Empfindungen
Warm und Kalt, die miteinander keine Ähnlichkeit haben. Man
hat weiter die Einstellungen Frieren, Kalt haben, behagliche Wärme,
Warm haben, Heiß haben. Indem ich die betreffenden Einstel¬
lungen vorstelle, komme ich sofort zu den Begriffen Kälte und
Wärme. Und zu dem Einstellungsbegriff Temperatur, der Wärme
und Kälte umfaßt, komme ich ohne weiteres dadurch, daß ich
meine Einstellung auf Temperaturempfindungen der Haut vorstelle,
rtrloi» on/ili rl n R mV» nnnU Ainnrtdoi* Ainn V nn/l Wnl*m
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21ß
W. Betz
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Die Temperatur hat nun für jeden Menschen eine große
Wichtigkeit, da Hitze und Kälte das Allgemeinbefinden höchst
unangenehm stören können. In heißen und in kalten Zeiten hat
man ein Interesse, zu erfahren, ob es heute noch heißer oder
noch kälter ist als gestern; Bemerkungen Uber Warm und Kalt
pflegen in der alltäglichen Unterhaltung nicht zu fehlen; und
Meinungsverschiedenheiten sind so häufig und die Temperatur¬
empfindung so wenig sicher, daß auch der physikalisch gänzlich
Uninteressierte ein Bedürfnis hat, die Temperatur objektiv fest¬
zustellen, d. h. mit Sicherheit entscheiden zu können, ob es eben
oder hier wärmer oder kälter ist als früher oder dort. Man könnte
zunächst daran denken, die Temperatur durch die physiologischen
Symptome zu definieren, aber sie können nicht helfen, da sie zu
grob sind, auch nicht immer eindeutig, und von Person zu Person
variieren. Nun hat man aber gefunden, daß sich gewisse Körper
mit zunehmender Wärme in gleichmäßiger Weise ausdehnen. Zu¬
nehmende Ausdehnung dieser Körper ist also ein vorzügliches
Symptom zunehmender Wärme: Den Wärmegrad kann ich nun¬
mehr durch den Ausdehnungsgrad eines willkürlich festzusetzenden
Körpers definieren. Hierdurch bin ich aber zu einem neuen
TemperaturbegriiT gelangt, der von dem ursprünglichen toto genere
verschieden ist und nicht etwa bloß eine Klärung und schärfere
Fassung des ursprünglichen Begriffes gibt. Die Temperatur ist
nunmehr für alle physikalisch Ungebildeten — und das ist die
große Mehrzahl der Gebildeten — nichts weiter als eine Gradzahl
am Thermometer. Das ist aber keine vorgestellte Einstellung
mehr, sondern ein Urteil und ein »Wissen«, eine Zuordnung. Aus
diesen Gradzahlen kann man entnehmen, ob es kalt oder warm
ist, man kann sich auch eine ungefähre Vorstellung davon machen,
wie kalt oder warm es ist, wenn man weiß, daß es bei 30° C
sehr heiß ist und bei 40° C fast unerträglich usf. Aber bei dem
gleichen Thermometergrad kann man einmal frieren und ein ander¬
mal schwitzen: der definitorische und der Einstellungsbegriff der
Temperatur decken sich also gar nicht und kommen unter Um¬
ständen iu W T iderspruch.
Go~gle
'Original fron* *
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Vorstellung und Einstellung. II. Über Begriffe.
217
Die Temperaturempfindung ist eine spezifische, d. h. sie kann
nicht in andere Empfindungskomponenten zerlegt werden; sie kann
also nur durch begleitende »Symptome« definiert werden. Das
gleiche gilt für spezifische Einstellungen. Die Frage, ob aber
irgendeine Einstellung spezifisch ist oder sich in andere Ein¬
stellungskomponenten zerlegen lasse, wird sich nur selten mit
einiger Sicherheit entscheiden lassen, soweit es sich nicht um
räumliche Einstellungen handelt (hinüber, hier, dort usf.). Es
erscheint also von vornherein ziemlich aussichtslos, einen Eiu-
stellungsbegriff durch Einstellungen definieren zu wollen: Ein¬
stellungen sind als Merkmale, als Kennzeichen in der Regel in¬
sofern nicht brauchbar, als man sie einem anderen nicht demon¬
strieren kann. Die Definition eines Einstellungsbegritfs muß
also in demonstrablen Symptomen gesucht werden, was man
beim Definieren ja immer instinktiv probiert. Ob sich aber ein
durch alle Fälle durchgehendes, objektives Symptom finden lassen
wird, läßt sich prinzipiell nicht entscheiden, das ist durchaus
Sache der Empirie. Praktisch liegen die Dinge häufig so, daß
sich eine Anzahl von Symptomen angebeu lassen, die nicht alle
gleichzeitig vorhanden Bein müssen und von denen jedes einzelne
gelegentlich fehlen kann.
Es ist nun wieder eine andere Frage, ob es immer zweck¬
mäßig ist, alle Einstellungsmomente aus der Definition zu ent¬
fernen, vorausgesetzt, daß im gegebenen Fall brauchbare objektive
Symptome zu Gebote stehen. In unserer letzten Definition der
Brücke würde es sich ermöglichen lassen, das »Hinübergehen¬
können« durch exaktere und objektivere Ausdrücke zu ersetzen;
die Definition würde dadurch aber sicher an Anschaulichkeit er¬
heblich verlieren und an Worten reichlich zunehmen. Wie weit
man hiermit im einzelnen Falle gehen soll, ist im wesentlichen
Geschmackssache.
In der Definition möchte man nun auch das Wesen der de¬
finierten Sache angeben; Symptome sind aber in der Regel nicht
das Wesen eines Sachverhalts. Auf dem Boden der Hypothese,
daß die Wärme eine Bewegung der Moleküle sei, ist die Aus-
J-L_
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ilfigmal frcm
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218
W. Betz,
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Ausdehnungsgrad zunächst wieder zum bloßen Symptom degra¬
diert, das zunächst unverständlich bleibt. Die Kriterien eines
Begriffes sind also nicht immer das allen Fällen Gemeinsame,
und das Gemeinsame ist nicht immer das Wesen der Sache.
Die Frage, ob in jedem Fall wirklich allgemeingültige Symptome
existieren, die direkt das Wesen der Sache treffen, läßt sich
a priori nicht entscheiden. Die Erfahrung scheint aber recht
nachdrücklich dagegen zu sprechen.
Wenn man nun irgendeinen Begriff zu definieren sucht, ver¬
fährt man in der Regel in der Weise, daß man sich einen kon¬
kreten Fall ins Gedächtnis ruft, von dem man irgendwie weiß,
daß er unter den betreffenden Begriff' fällt. An diesem Fall sucht
man die Definition zu finden, und dann prüft man das, was sich
zunächst als Definition bietet, ob es auch auf andere konkrete
Fälle paßt, die sicher noch unter den Begriff fallen, und ob es
auch andere, sicher nicht zugehörige Fälle wirklich ausschließt
Bei diesem Prozeß ist man nun durchaus davon abhängig, ob
einem genügend viele, verschiedene Fälle einfallen oder nicht.
Es passiert sehr häufig, daß, wenn man eine Definition glücklich
gefunden zu haben glaubt, einem nachträglich noch Fälle ein¬
fallen, die von der Definition nicht getroffen werden, oder was
verdrießlicher ist, Fälle, die von der Definition eingeschlossen
werden, obwohl sie ganz und gar nicht zum Begriff gehören').
Es ist nachdrücklich hervorzuheben, daß man beim Nachdenken
über die Definition in der Regel nur ganz wenige Fälle vor Augen
hat, selten mehr als vier, da einem auch beim besten Willen wei¬
tere Fälle nur sehr langsam und »zufällig« einfallen: die Ähn¬
lichkeitsassoziationen funktionieren eben sehr schlecht 2 ).
Beim Suchen nach einer Definition verhält man sich also fast
1) Man versuche den Begriff Maschine in der Bedeutung zu definieren,
die er in der Umgangssprache hat, so daß Näh- und Schreibmaschinen ein¬
geschlossen, Uhren, Klaviere und Apparate ausgeschlossen werden, und daß
Schließlich noch der französische Snrn.cha'phraiieh mnshim <rlpieh > Hin iraria <
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Vorstellung und Einstellung. II. Über Begriffe.
219
ganz so, wie man sich nach der traditionellen Abstraktionstheorie
bei der Bildung von Begriffen verhalten soll. Ich sage »fast«,
denn die Abstraktionstheorie denkt an viele Fälle, während tat¬
sächlich nur ganz wenige Fälle präsent sind. Aber wenn mau
einen Begriff zu definieren sucht, dann hat man den Begriff schon;
die Definition kann den Begriff also höchstens klären; aber da
man beim Definieren immer etwas übersieht und nie sicher sein
kann, daß man nichts übersehen hat, wird durch die Definition
dem ursprünglichen Begriff immer mehr oder weniger Gewalt an¬
getan, was insofern nicht allzu schlimm ist, als man sich häufig
nicht streng an die eigene Definition hält und ruhig mit dem ur¬
sprünglichen Begriff weiter denkt.
Die vorstehenden Ausführungen führen nun zu einer nicht
unwichtigen praktischen Konsequenz. Es kann keinem Zweifel
unterliegen, daß viele Definitionen in wissenschaftlichen Schriften
ihren Zweck nicht erfüllen. Es ist eine Folge der traditionellen
Abstraktionstheorie, daß man meint, das Definieren müsse für einen
gescheiten Menschen eigentlich ein leichtes Geschäft sein, da man
die Definitionen analytisch aus dem Begriff herausbolen könne.
Definitionen sind aber Urteile über die Gegenstände des Begrift's;
ehe man zur Definition schreitet, muß man sich die Gegenstände
also vorfuhren, was ein langes Besinnen und kompliziertes Ver¬
gleichen erfordert. Glaubt man so nun ein allgemeines Merkmal
gefunden zu haben, dann muß man sich wieder nach Gegenständen
umsehen, auf die das Merkmal zutrifft, die aber nicht zum Be¬
griff gehören. Dieser Prozeß ist mühsam, und die aufgewendete
Mühe würde häufig nicht im Verhältnis zum Resultat stehen. Für
viele Zwecke ist eine Definition aber entbehrlich; es genügt voll¬
kommen, wenn man dem Leser durch ein oder mehrere Beispiele
eine deutliche Einstellung vermittelt oder die Einstellung zu be¬
schreiben sucht. Hierdurch wird der Begriff selber im Leser er¬
zeugt, die Zuordnung der Gegenstände ihm aber überlassen. Macht
mau sich dies klar, dann verschwindet die scheinbare UnWissen¬
schaftlichkeit der Beisniele an Stelle von Definitionen. Natürlich.
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220
W. Betz,
Nun kann man aber umgekehrt dekretieren: Alle Erscheinungen,
an denen das und das Merkmal zu finden ist, nenne ich so und
so. Das von diesem Namen Bezeichnete wird aber auch im ge¬
wöhnlichsten Sprachgebrauch Begriff genannt. Und man meint,
daß auf diese Weise die meisten wissenschaftlichen Begriffe ent¬
standen sind. Sind nun die solchermaßen entstandenen Begriffe
die gleichen psychischen Gebilde wie die Begritfe, von denen wir
in dieser Abhandlung ausgingen?
Wenn man irgend etwas liest Uber Dinge, von denen mau
nichts »versteht«, dann trifft man häufig auf Begriffsdefinitioneu.
bei denen man sich zwar eine mehr oder weniger gute Vorstellung
von den definierenden Merkmalen machen kann, wo man aber
nicht die geringste Vorstellung von den Erscheinungen selber hat,
die von dem Begriff umfaßt werden sollen. Alsdann versteht mau
zwar die Definition, ohne daß man einen »Begriff« von der ge¬
meinten Sache bekäme. Mit einer solchen Definition kann man
weiter denken, urteilen, Schlüsse ziehen. Der Mathematiker kauu
mit der Gleichung, die eine Kurve definiert, arbeiten, ohne daß er
nötig hätte, sich zuerst einmal eine Vorstellung der Kurve zu ver¬
schaffen, indem er sie auf dem Papier konstruiert. Die Definition
gibt also, wenn man den Begriff noch nicht hat, unter Umständen
eine Anweisung, nach der man sich eine Vorstellung von den in¬
begriffenen Erscheinungen machen kann oder nach der man wenig¬
stens künftig erkennen kann, ob eine Erscheinung unter den Be¬
griff gehört. Ohne weitere Denkarbeit führt die Definition aber
nicht zum Begriff oder zur allgemeinen Vorstellung. Wenn ich
eine Kurve aus ihrer Gleichung konstruiere, daun ist das Rechnen
und das Abtragen von Strecken auf dem Papier offenbar keine
Tätigkeit, die die Vorstellung erzeugt: die Vorstellung entsteht
erst in dem Moment, wo ich durch die gewonnenen Punkte tat¬
sächlich oder in der Vorstellung eine Linie hindurchziehe. Durch
diesen ganz mühelosen Akt gewinne ich ohne weiteres schon die
allgemeine Vorstellung der betreffenden Kurve (in laxerem Sprach¬
gebrauch: ich »bekomme einen Begriff« von der Kurve). Der
mehr oder weniger mühsame Konstruktionsprozeß hat gar keinen
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Anteil au der Bildung der allgemeinen Vorstellung. Bei niebt-
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Vorstellung und Einstellung. II. Über Begriffe.
221
über ein dahingehöriges Beispiel und ist der Definition kein sol¬
ches beigegeben, dann ist man vollkommen hilflos, und mau kann
weiter nichts tun, als die Definition zu eventuellem künftigen Ge¬
brauch auswendig lernen. Aber den Begriff oder die allgemeine
Vorstellung kann man sofort gewinnen, sobald nur ein einziges
Beispiel gegeben wird. Dann allerdings hat man in der Definition
eine erhebliche Bereicherung des Denkens gegenüber dem gleichen
Beispiel ohne Definition, da erklärt wird, worauf es in dem Bei¬
spiel ankomme und was gegenüber anderen Beispielen variieren
darf. Der Begriff oder die allgemeine Vorstellung werden am
Beispiel erzeugt; die Definition bat nur den Charakter einer
wertvollen Unterstützung, die die psychischen Gebilde klarer und
bestimmter machen kann, ihre Natur aber nicht verändert. Die
Definition als solche wirkt also gar nicht begriffsbildend; ob sie
zu einem Begriffe oder einer allgemeinen Vorstellung führt, hängt
durchaus von der Erfahrung des einzelnen Individuums ab. Au
sich gibt sie zunächst lediglich eine Anweisung, nach der man
eine künftige Erscheinung benennen und unterbringen kann.
Die fertige Definition, die Angabe der Kennzeichen, verhilft
einem anderen also nicht an sich schon zu dem Begriff'. Wann
und wie komme aber ich selber zu einem Begriff, wenn ich selber
aus einem Komplex von Erscheinungen die gemeinsamen Merk¬
male aufsnche und einen neuen Begriff durch sie definiere? Ein
ganz einfaches Beispiel: Man stelle sich vor, vor mir auf dem
Tisch liege ein Haufen Briefmarken aus den verschiedensten Län¬
dern; ich will den Haufen sortieren. Ich werde also alle Marken,
auf denen die gleiche Figur oder dgl. zu sehen ist, auf kleinere
Häufchen Zusammenlegen, ohne Rücksicht auf die Farben. So weit
handelt es sich nur um Wiedererkennen ohne weitere Denkleistungen.
Die Marken der kleinen Häufchen ordne ich nun weiter nach ihren
Wertbezeichnungen und klebe jedes Häufchen auf ein besonderes
Blatt Papier; dann lege ich die Blätter aufeinander und numeriere
sie. — Ich habe also aus einem Komplex von Erscheinungen, dem
großen Haufen Marken, gemeinsame Merkmale ausgesucht und die
Erscheinungen mit gleichem Merkmal zusammencefnIU. ganz wie
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222
W. Betz,
Sammlung haben wir so erzeugt, aber kein Mensch wird be¬
haupten wollen, daß diese Sammlung da vor mir ein Oberbegriff
mit einer Anzahl von Unterbegriffen sei. Nun kann es aber offen¬
bar keinen Unterschied machen, daß ich einen Prozeß, den man
nach der Theorie sonst nur in Gedanken vollzieht, diesmal auch
objektiv realisiert habe, daß ich die »Zusammenfassung« auch
durch Gummi und Papier solide ausgefiihrt habe. Und wer die
übliche Repräsentation der Begriffe durch Kreise für ein gutes
Bild hält, oder wer es auch nur in gewissen Fällen gelten lassen
will, der müßte mindestens das Erinnerungsbild eines einzelnen
mit Marken beklebten Blattes als vollkommene psychische Reali¬
sation eines Begriffes ansehen, wobei er immerhin noch die mate¬
rielle Bindung durch eine zusammenfassende Intention ersetzen
könnte, welche Intention sich aber auf die Erinnerungsbilder der
Marken des Blattes beziehen müßte. Nehmen wir an, das Merk¬
mal der Marken dieses Blattes sei ein Doppeladler. Durch den
Begriff »Doppeladlermarke« ist aber ein ganz anderer psychischer
Inhalt gesetzt als die unter einer zusammenfassenden Intention
durchlaufene Reihe der Erinnerungsbilder der einzelnen Exemplare
dieser Markensorte. Der psychische Inhalt »Doppeladlermarke«
ist eine einzige Minimalvorstellung (so ein Ding). Und er war
schon in dem Moment gegeben, als ich die erste Marke dieser
Art in die Hand nahm und für sich hinlegte, ehe ich überhaupt
wissen konnte, ob noch mehr Marken dieser Art in dem Haufen
vorhanden wären. Von »Zusammenfassung« ähnlicher Exemplare
ist gar keine Rede, ich nehme nur an, daß es noch mehr solcher
oder sehr ähnlicher Exemplare geben könnte. Diese Annahme ist
nun aber kein notwendiges Moment der Begriffsbildung. Denn
soviel ich sehe, gibt es keinen logischen Grund, der ausschlösse,
daß ein Ding nicht mehrmals in der Welt Vorkommen könne; es
sind lediglich Erfahrungssätze, daß jedes Ding wiederholt fast
identisch Vorkommen kann und daß kein Ding absolut identisch
zum zweitenmal in der Welt vorkommt. Wäre es nun möglich,
daß in einer Welt, in der nichts zum zweitenmal vorkäme, oder
in einer Welt, in der die denkenden Wesen nur über ein Gedächt-
Digitized b 1
nis verfü
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gten, das sich Uber die unmittelbar vorausgehenden Se-
> Original frcm
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Vorstellung und Einstellung. II. Über Begriffe.
223
zeugt würden? Wir müssen die Frage bejahen. Schließlich spre¬
chen wir ja schon in unserer Welt von notorischen Unicis, als ob
sie mehrmals Vorkommen könnten: man sagt »Männer wie Plato«
genau so wie man sagt »Marken wie die da«. Ich brauche keine
Erfahrung, um vor »diesem Ding da« »so ein Ding« meinen zu
können.
Psychologisch ist der Begriff also immer schon da, ehe
man überhaupt anfängt, nach gemeinsamen Merkmalen zu suchen.
Man wird aber nur dann dem Begriff' einen Namen geben, ihn
fixieren, seine Merkmale angeben, ihn definieren, wenn »so ein
Ding« öfter vorkommt und wenn es wichtig genug ist.
Trotz alledem sagt man aber: durch die Definition wird ein
Begriff geschaffen. Daß Begriffe in unserem Sinn durch die De¬
finition nicht geschaffen werden, haben wir umständlich nachge¬
wiesen; daß auch nicht die Summe der von der Definition ge¬
troffenen Gegenstände gemeint werden kann, geht aus dem Marken¬
beispiel hervor. Daß aber durch die Definition etwas geleistet,
etwas geschaffen wird, auch dann, wenn man bloß die definie¬
renden Merkmale kennt, ohne daß man sich Begriff oder Vor¬
stellung der zu subsumierenden Gegenstände machen kann, bedarf
keines Nachweises. Das von der Definition Geschaffene nun Be¬
griff zu nennen, ist irreführend, denn die Definition, deren Gegen¬
stände mir noch unbekannt sind, gibt nichts weiter als eine Zu¬
ordnung. Ich kann mir diese Zuordnung einprägen und künftig
danach verfahren. Als psychischer Inhalt ist eine solche Zuord¬
nung keine Einheit, es ist ein ganzer Gedanke, der sich nur als
Satz, nicht durch ein einziges Wort formulieren läßt. Wenn wir
nun daran festhalten wollen, mit dem Wort Begriff eine psychische
und logische Einheit zu bezeichnen, dann dürfen wir das von der
Definition Geschaffene auch nicht Begriff nennen. Es scheint mir
zweckmäßig, das Wort Begriff in dieser Bedeutung immer durch
das Wort Zuordnung zu ersetzen (connotation bei Stuart Mill).
Daß man sagt, durch Definitionen würden Begriffe gebildet,
ist begreiflich genug. Denn in der Hegel bringt der Leser einer
Definition die allgemeine Vorstellung oder den Einstellungsbegriff
schon mit und hat sie vor Augen, während er die Zuordnung er-
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Digitized by LjOOQlC
moinp.n
«pinp.n Nampn.
Tmgiräi Trcm
PRINCETON UNIVERSITY
224
W. Betz
hat. Und mau bat weiter häutig die Erfahrung gemacht, daß man
aus einer Definition, die sich auf mehr oder minder unbekannte
Erscheinungen bezieht, in der Tat einen neuen Begriff erzeugen
konnte, aber man übersieht, daß mau sich zu diesem Zweck zu¬
erst einen konkreten Fall nach den Angaben der Definition kon¬
struieren mußte, aus dem mau ohne weitere Mühe sofort den Be¬
griff entnehmen konnte. Die Definition war an der Begriffsbildung
also nur mittelbar beteiligt, sofern sie zufällig geeignete Angaben
enthielt.
Jeder Definition muß nun ein Vergleichen von Gegenständen
auf ihre gemeinsamen Merkmale vorausgegangen sein. Aber nicht
jede Zuordnung wird durch Aufsuchen gemeinsamer Merkmale und
durch Definition geschahen. Eine Menge Zuordnungen hat mau
rein äußerlich in der Schule gelernt, z. B. die lange Reihe der
deutschen Kaiser; die geschlossene Zahl dieser Personen konsti¬
tuiert den Inbegriff der deutschen Kaiser, die Definition des Be¬
griffs »Deutscher Kaiser« wird damit aber nicht gegeben. Oder
es werden Zuordnungen automatisch durch Ähnlichkeit gefunden,
ohne daß man gemeinsame Merkmale angeben könnte und ohne
eine Einstellung vorzustellen, wie wir das bei den Farben gefunden
haben. Daß Barbarossa ein deutscher Kaiser ist, das weiß ich,
daß aber eine vielleicht vorher noch nie gesehene Nuance Blau
ist, das sehe ich unmittelbar ohne Vergleich der vorliegenden
Farbe mit Erinnerungsbildern anderer Blaus. Bei den Farben
kann ich (für meine Person wenigstens) die Einstellungen nicht
vorstellen, habe also auch keine Farbbegriffe in unserem Sinn,
was aber nicht hindert, daß die Farbenzuordnuugen völlig sicher
sind und Verwechslungen nicht Vorkommen.
Ich wiederhole: vorgestellte Einstellungen, die Begriffe, haben
an sich gar kein kollektives Moment, sie werden an einem ein¬
zigen Fall gebildet. Die kollektive Zuordnung verschiedener Fälle
unter einen Begriff geschieht erst nachträglich. Ist der neue Fall
dem ursprünglichen Fall sehr ähnlich, dann ergibt sich die Zu¬
ordnung ohne Überlegung. Ist die Ähnlichkeit aber geringer, dann
muß man schon überlegen. Der neue Fall wird aber nicht Zug
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um Zug mit der
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Vorstellung des früheren Falles verglichen.
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(Aus dem psychologischen Institut der Universität Kiel.)
Untersuchungen über die Differenz der Wahrnehmungs¬
geschwindigkeiten von Licht- und Schallreizen ! ),
Von
C. Minnemanu (Kiel).
I.
Theoretische Erörterungen über die Differenz von
W ahrnehmungsge sch windigkeit en.
Mit 2 Figuren (Figur 1 und 2) im Text.
Inhaltsübersicht. seit«
1) Einleitung.227
2 Begriff der Wahrnehmungsgeschwindigkeit.229
3; Positive und negative Zeitverschiebungen.240
4 Allgemeine Bedeutung der Schwelle subjektiver Gleichzeitigkeit. . . 248
o Bedeutung der Gleichzeitigkeitszonen für den Vergleich von Wahr-
nehmungsgeschwindigkeiten.262
1) Einleitung.
Die Frage nach der Differenz der Wahrnehmungsgeschwindig¬
keiten desselben oder verschiedener Sinnesgebiete könnte als ein
Thema so spezieller Natur erscheinen, daß es nur für eine ge¬
nauere Sinnespsychologie von einigem Interesse ist. Jedoch führt
die Untersuchung sofort auf fundamentale Prinzipien der gesamten
Psychologie, so daß die Erörterung unter diesem Gesichtswinkel
an Bedeutung gewinnt. Denn die Diskussion erfordert zugleich,
eine Klarlegung des psychologischen Vorganges der Sinneswahr-
nehmung, da der Einfluß bestimmt werden soll, den objektive un<l
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228 C. Minnemann,
pnnkt des Einsetzens einer Sinneswahrnehmung ansüben. Zn
diesem Zwecke ist auch eine Abgrenzung des rezeptiven Vor¬
ganges gegen die erste begriffliche Verarbeitung, die mit dem In¬
halte der Sinneswahrnehmung vor sich geht, erforderlich, und es
ist im Anschluß an diese Stellungnahme die Theorie der Zeit¬
vorstellung zu erörtern, die in engem Konnex zur Frage nach
der Wahrnehmungsgeschwindigkeit steht und zum großen Teile
auf sie zurilckgeht.
Bei der Wichtigkeit des Untersuchungsgegenstandes scheint es
geboten, die Frage nach der verschiedenen Wahrnehmungsge¬
schwindigkeit, wenn man sie experimentell in Angriff nimmt, nicht
nur nach der Methode der direkten Vergleichung einfacher Wahr¬
nehmungsprozesse zu erforschen, sondern auch die übrigen Wege
einzuschlagen, die zur Kontrolle oder Berichtigung der direkten
Beobachtungen dienen können. Jedenfalls werden die experimen¬
tellen Feststellungen bedeutend an Sicherheit gewinnen, wenn
auch in denjenigen Gebieteu, wo eine verschiedene Wahrnehmungs¬
geschwindigkeit neben anderen Faktoren in Betracht kommt, eine
Übereinstimmung mit den Resultaten der direkten Untersuchung
erzielt wird. Solche Gebiete sind namentlich die Einordnung einer
Empfindling in eine längere Empfindungsreihe, die sogenannte
Komplikation von Empfindungen, und die in eine Bewegung
auslaufende Wahrnehmung, der Reaktionsprozeß. Dieselben
Differenzen, die sich aus der direkten Methode ergeben, müssen
sich in den komplizierteren Prozessen bei richtiger Analyse wieder¬
finden lassen, wenn nicht schon die direkte Methode unrichtige
Ergebnisse liefert.
Zu einer neuen Untersuchung dieser Fragen fordert in erster
Linie die geringe Vergleichbarkeit des bis jetzt vorhandenen
Zahlenmaterials Uber diesen Gegenstand auf, da es bei den ver¬
schiedenen Autoren aus Versuchsanordnungen stammt, die sich
nicht gut vergleichen lassen. Dazu kommt vielfach eine Unstimmig¬
keit zwischen den gefundenen Hauptergebnissen nach den einzel-
%» D /\ rt V» rt /* V» /Wfi r*» /\ /-«• rt v>
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I. Theor. Erürter.iib. die Differenz von Wahrnehmungsgeschwindigkeiten. 229
wäre. Die einzelnen Reihen müssen aber ihre Ergänzung und
Bestätigung durch ähnliche Versuche anderer Reihen finden.
Neuerdings gewinnt übrigens dieser Grundsatz größere Anerken¬
nung, daß wenige, sorgfältig ausgeführte Beobachtungen mehr
Wert haben und schneller zur Auffindung von psychologischen
Gesetzmäßigkeiten führen als eine große Zahl von Beobachtungen
über ein und denselben Gegenstand, wenn sich die Bedingungen
der Beobachtung doch nicht recht konstant erhalten lassen.
Die Herstellung exakter Versuchseinrichtungen bereitet natur¬
gemäß einige Schwierigkeiten. Denn gewöhnlich muß an vor¬
handene Mittel angeknüpft werden, und an diese müssen manche
andere Apparate und Apparatteile angepaßt bzw. eigens kon¬
struiert werden. Für die Beurteilung der Ergebnisse ist aber eine
genaue Beschreibung der Versuchsanordnungen unerläßlich. Eine
solche wird deshalb bei Mitteilung eigener Untersuchungen Uber
diese Fragen detailliert gegeben werden. Hierbei findet sich auch
Gelegenheit, auf einige allgemeiner verwendbare Hilfsapparate
hinzuweisen. Bevor aber die eigenen Experimente geschildert
werden, dürfte es zweckmäßig sein, in einer besonderen Abhand¬
lung einige Fragen vorwiegend theoretischer Natur zu erörtern.
Denn in erster Linie bedarf es für die Darstellung eines solchen
Gebietes eindeutiger Definitionen und klarer Fragestellungen, da¬
mit Mißverständnisse über den Gegenstand der Untersuchungen
ausgeschlossen sind. Ferner sind auch die Punkte zu diskutieren,
worauf sich die Messung und Berechnung der Wahrnehmungs¬
geschwindigkeit gründet.
2) Begriff’ der Wahruehniungsgeschwindigkeit.
Unter der Wahrnehmungsgeschwindigkeit soll diejenige Zeit¬
strecke verstanden werden, die verstreicht, bis uns ein Sinnesreiz
znm Bewußtsein kommt, nachdem er unser Sinnesorgan erreicht
hat: in diese Zeit ist also einbegriffen die Trägheit des betreffen¬
den peripheren Sinnesorganes bis zum Ansprechen auf den Reiz,
die Leitung des Nerven und die zentrale Erregung, sowie der
Eintritt ins Bewußtsein. Ob für diese Größe der Ausdruck »Wahr-
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C. Minneuiann,
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kömmliche Bedeutung des Ausdruckes Wahrnehmung und einiger
angrenzenden Termini zu vergegenwärtigen. Gewöhnlich werden
zwei Arten der Auffassung durch die Sinne unterschieden: ein
unmittelbarer Bewußtseinsvorgang infolge der Reizeinwirkung
und ein erkennendes Erfassen des Eindruckes, die Beziehung
des Bewußtseiusvorganges auf einen Gegenstand. Als Wahr¬
nehmung galt ursprünglich nur die zweite Art psychischer Auf¬
nahme, die schon einen primären Denkakt enthält. Dagegen hieß
der unmittelbare psychische Aufnahmeprozeß Empfindung. In der
neueren Psychologie ist aber eine andere Bezeichnungsweise herr¬
schend geworden. Nach dem Vorgänge von Wundt gilt die
Empfindung nicht mehr als ein selbständig vorkommender Prozeß,
sondern bezeichnet einen analytischen Bestandteil der einfachsten
Sinnesaufnahme, ein Vorstellungselement, zu dem wir nur durch
Abstraktion gelangen können. Was früher Empfindung hieß, wird
jetzt Wahrnehmung im engeren Sinne oder »Perzeption« genannt,
und das erkennende Auffassen wird größtenteils einem anderen
psychischen Prozesse, der »Apperzeption« zugeschrieben.
Bei dieser neueren Bezeichuungsweise bandelt es sich jedoch
nicht bloß um eine einfache Änderung der Namen. Schon des¬
wegen darf als spezifischer Unterschied beider Prozesse nicht ein¬
fach das Vorhandensein oder Fehlen der Beziehung auf einen
Gegenstand gelten. Meistens stellt allerdings die Apperzeption
diese Beziehung auf einen Gegenstand her und bewirkt somit die
Bildung einer Vorstellung im eigentlichen Sinne. Aber es läßt
sich doch andererseits nicht leugnen, daß auch die Perzeption bis
zu einem gewissen Grade bereits eine gegenständliche Auffassung
liefern kann. Dennoch bleibt es für eine Auffassung wie die
von Wundt charakteristisch, daß die Perzeption auch ohne das
Moment gegenständlichen Bewußtseins auftreten kann, indem
sie sich dann als eine reine Gefühlsäußerung darstellt. In diesem
Falle bezeichnet die Perzeption einen unmittelbaren psychischen
Prozeß ohne Gegenstandsbeziehung, also ein einfaches Bewußtsein
individuellen Verhaltens gegenüber dem Reize.
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I. Theor. Erürter. üb. die Differenz von Wahrnehuiungsgeschwindigkeiten. 231
identifiziert. Mehr oder weniger war ein intellektuelles, eine ge¬
wisse Vergegenständlichung bewirkendes Moment in dem Begriffe
einge8Chlossen; aber man war sich dieser Tatsache nicht klar be¬
wußt. Indem die einfache Empfindung meistens ausdrücklich von
dem Gefühle unterschieden wurde, trat sie auf die Seite der in¬
tellektuellen Prozesse; und doch sollte sie nicht eigentlich als ein
intellektueller Vorgang angesehen werden.
Erst einige moderne Erkenntnistheoretiker suchen dieser
Schwierigkeit zu begegnen, indem sie die Unterscheidung von
Empfindungen und sinnlichen Gefühlen fallen lassen. Dann wird
als Kriterium einer Wahrnehmung im Unterschiede von der ein¬
fachen Empfindling die Vergegenständlichung statuiert, die durch
den Akt auffassender Deutung zustande kommt. Trotzdem wird
noch ein Unterschied gemacht einerseits zwischen dem unmittel¬
baren Bewußtsein einfacher Empfindungen und sinnlicher Gefühle
und andererseits zwischen dem eigentlichen Gefühl oder Zustands¬
bewußtsein; letzteres entsteht nach dieser Meinung erst auf Grund
fundierender Akte des Gegenstandsbewußtseins. Demnach stellt
das Gefühl ein sekundäres Bewußtseinserlebnis dar; die Empfin¬
dungen hingegen sind einfachste Bewußtseinserscheinungen, die
noch keine Deutung durch ein verarbeitendes Subjekt erfahren
haben. Ob für ein entwickeltes Individuum solche primitive Be¬
wußtseinserlebnisse noch möglich sind oder ob es sich nicht viel¬
mehr nur um eine geringere Komplikation durch Assoziationen,
auf jeden Fall aber doch um ein gegenständliches Erfassen han¬
delt, mag unerörtert bleiben. Denn zeitliche Differenzen zwischen
beiden Prozessen, die für die Frage nach der Wahrnebmungs-
geschwindigkeit von Belang wären, werden nur für seltene Aus¬
nahmefälle angenommen.
Anders scheint es in dieser Beziehung mit den erwähnten Vor¬
gängen der Perzeption und Apperzeption zu liegen. Deshalb muß
deren Verhältnis noch genauer erörtert werden.
Wenn bereits die Perzeption ein gegenständliches Erfassen ein—.
schließen kann, so erscheinen die Begriffe nach dieser Richtun^^
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232
C. Minnemann,
Größeres Gewicht wird gewöhnlich bei der Unterscheidung
beider Prozesse auf eine andere Wirkung des Apperzeptionsvor¬
ganges gelegt. Die Apperzeption soll nicht nur den Übergang
ins intellektuelle Bewußtsein oder eine weitere Intellektualisierung
der Vorstellung bedeuten, sondern überhaupt die Bewußtheit
des psychischen Erlebnisses steigern. Hierin liegt, daß
zugleich und wohl in erster Linie durch die Apperzeption das
unmittelbare, sinnliche Bewußtsein gesteigert wird und nicht nur
eine Veränderung hinsichtlich des rein intellektuellen Momentes,
des begrifflichen Bewußtseins entsteht. Gerade aus der Steigerung
des unmittelbaren Bewußtseins soll die fortschreitende Intellektua¬
lisierung des psychischen Vorgangs wie von selber hervorgehen.
Indem einzelne Teile eines Bewußtseinserlebnisses stärker hervor¬
gehoben werden als andere, soll sich eine abstrahierende Begriffs¬
bildung vollziehen. Somit liegt der Unterschied zwischen unmittel¬
bar sinnlichem und apperzeptivem Bewußtsein hauptsächlich in
einem verschiedenen Grade anschaulicher Bewußtheit; und man
könnte die apperzipierten Vorstellungen oder Vorstellungselemente
sinnlicher und folglich anschaulicher nennen als die bloß per-
zipierten. Eigentlich sollte man das Umgekehrte erwarten, wenn
es sich um die Bildung von Begriffen handelt. Jedenfalls ist klar,
daß auch in dieser Beziehung kein einschneidender, sondern nur
ein gradueller Unterschied zwischen beiden Prozessen zu konsta¬
tieren 18t.
Trotz dieser weitgehenden Ähnlichkeit von Perzeption und
Apperzeption wird bei der Siuneswahrnehmnng eine Zweiheit
der Bewußtseinsprozesse angenommen, einerseits die unmittel¬
bare, großenteils gefühlsmäßige Aufnahme, die einfache Perzeption,
andererseits die psychische Verarbeitung des unmittelbar Anf-
genommenen zu klarer bewußten Vorstellungen, die Apperzeption.
Die Zweiheit dieser Prozesse soll sich namentlich durch ihr zeit¬
liches Verhalten zueinander bemerkbar machen.
Unter Umständen sollen allerdings die beiden Prozesse zeitlich
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zusammenfallen können, indem die subjektive Tätigkeit ausson¬
dernder Aufnahme sofort mit der Perzeption einsetzt. Auch bei
der sogenannten passiven Apperzeption, wo unsere Aufmerksam-
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I. Theor. Erörter. üb. die Differenz von WahruehmungsgeBchwindigkeiten. 233
stehen der Prozesse vorzuliegen. Aber oft wird tatsächlich ein
zeitliches Auseinanderfallen beider Prozesse angenommen. Sollen
doch sogar die Abweichungen in der Auffassung zeitlicher Ver¬
hältnisse gegenüber der objektiven Zeitordnung von Reizen großen¬
teils eben auf diese apperzeptive Verschiebung zurück-
geführt werden können. Für das unmittelbare Bewußtsein der
Perzeption wird dagegen im gleichen Falle eine Ordnung voraus¬
gesetzt, die mehr der objektiven Reizfolge entspricht.
Bei dieser verbreiteten Ansicht darf eine Untersuchung über
die Wahrnehmungsgeschwindigkeit keinen Zweifel darüber lassen,
worauf sich die Feststellungen beziehen, auf die einfache Sinnes¬
wahrnehmung oder auf die apperzeptive Aufnahme der Sinnes¬
vorstellungen. Der Verf. steht allerdings auf dem Standpunkt,
daß eine Sonderung dieser beiden Arten psychischer Aufnahme
in getrennte Bewußtseinsprozesse nicht dem Sachverhalte ent¬
spricht, wie er sich der Selbstbeobachtung darbietet. Richtiger
scheint es zu sein, die durch die Sinne vermittelten Bewußtseins¬
vorgänge als psychisch einfache, gleichartige Erlebnisse
aufzufassen, deren Charakter nur nach dem Anteile objektiver
und subjektiver Faktoren an dem Zustandekommen der Wahr¬
nehmung ein verschiedener ist.
Durch diese Auffassung braucht nicht der Unterschied zwischen
unmittelbarem und begrifflichem Bewußtsein verwischt oder ge¬
leugnet zu werden. Aber es soll betont werden, daß es unmög¬
lich ist, schon die direkte sinnliche Auffassung in zwei psy¬
chische Prozesse zu zerlegen. Bei einem solchen Versuche bliebe,
je weiter er durchgeführt wird, für den ersten der beiden Pro¬
zesse immer weniger Psychisches übrig, so daß die sogenannte
»Perzeption« augenscheinlich zu einem bloßen physiologischen
Vorgang wird, für den aber noch ein Minimum von Bewußtheit
postuliert wird.
Der Vorgang der Sinneswahrnehmung erscheint psychisch als
ein durchaus einheitlicher, mag er physiologisch auf noch so viele
Faktoren zarückgehen, und die psychologische Theorie darf hier¬
für nicht mehr Bewußtseinsprozesse annehmen, als sich wirklich
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234
C. Minnemann.
mitwirkt, ohne daß wir dann seine Existenz zu bemerken brauchten.
Nur so lange gilt ein psychischer Vorgang als vorhanden,
wie er bemerkt wird; in anderen Fällen haben wir es nur mit
seinen physiologischen Grundlagen, aus denen er entspringen kann,
zu tun. Auch diese sind für die Psychologie außerordentlich wichtig
und müssen zum Verständnis psychischer Erscheinungen heran*
gezogen werden. Aber sie selbst gehören nicht mehr in das Ge¬
biet des Bewußten.
Was die Abgrenzung des Wahrnehmungsprozesses gegen die
Abstraktionstätigkeit anbelangt, so sei darauf hingewiesen, daß
die Haupteigenschaft der Apperzeption, das aktive Herausheben
einer Wahrnehmungsvorstellung oder einzelner Teile derselben,
wesentlich verschieden ist von der Abstraktion im Sinne einer
Begriffsbildung. Allerdings wird von manchen gegenwärtig diese
Unterscheidung nicht mehr gemacht, sondern behauptet, daß die
durch Bewußtseinssteigerung einzelner Teile eintretende Differen¬
zierung bereits einen Abstraktionsprozeß ausmache. Indem einiges
aus einem Vorstellungskomplexe stärker herausgehoben wird, bleibt
anderes weniger beachtet und entschwindet infolgedessen rascher
aus dem Bewußtsein, so daß die betonten Hinsichten allmählich
isoliert werden. Sicherlich kann auf diese Weise die Abstraktion
durch die Apperzeption eingeleitet werden; aber im Grunde sind
doch wohl beide Vorgänge verschieden. Der unmittelbare Effekt
der apperzeptiven Tätigkeit ist ja größere sinnliche Lebhaftigkeit,
während die Abstraktion gerade auf eine Verflüchtigung des kon¬
kreten Bewußtseinserlebnisses abzielt. Der Abstraktionsprozeß will
für psychische Erlebnisse Namen und Zeichen einführen, die uns
in den Stand setzen, über das direkte Erleben hinauszugehen, so
daß wir mit psychischen Daten operieren können, ohne sie jedes¬
mal von neuem zu erleben. Durch bloße Steigerung der Leb¬
haftigkeit eines Eindruckes läßt sich dieser Zweck nicht er¬
reichen; die Abstraktion kann sogar dadurch beeinträchtigt oder
gehemmt werden. Ein sinnlich empfundenes Rot ist etwas anderes
als der abstrakte Begriff des Roten. Demnach erscheint der
Prozeß der Apperzeption viel enger mit der schlichten Perzeption
verwandt als mit der abstrahierenden Begriffsbildung. Denn zwi-
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L Theor. Erörter. üb. die Differenz von Wahrnehmungsgeschwindigkeiten. 235
eine Art Automatischwerden der herausgefundenen Beziehungen,
woraus der Charakter des Unanschaulicheu resultiert.
Überlegt man nach dieser Erörterung der in Frage kommenden
Begriffe, ob es zweckmäßig ist, eine Untersuchung Uber die Wahr¬
nehmungsgeschwindigkeit an den Begriff der Apperzeption anzu¬
lehnen, so sprechen verschiedene Gründe dagegen, selbst wenn
man nicht dem Verf. in der Ansicht folgt, daß Apperzeption und
Perzeption bei der Sinneswahrnehmung zu einem psychischen Pro¬
zesse untrennbar verbunden sind.
Zunächst dürfte feststehen, daß die Apperzeption sich nur auf
die subjektfve Seite desjenigen Vorganges bezieht, dessen Ge¬
schwindigkeit untersucht werden soll, auf die aktive Auffassung,
während die definierte Zeitstrecke eine ganze Kette von Vor¬
gängen physiologischer Art enthält, die allmählich in einen psy¬
chischen Prozeß auslaufen. Die Dauer vom Beginne der physio¬
logischen Reizung bis zum ersten Eintreten einer psychischen
Wirkung sollte untersucht werden. Der eigentliche Auffassungs¬
vorgang ließe sich gar nicht zum Zwecke der Beobachtung iso¬
lieren. Nur in der Verknüpfung mit den peripheren und zentralen
physiologischen Erregungsvorgängen ist die Zeitdauer der Auf¬
fassung bei Sinnesreizen bestimmbar. Der Ausdruck Wahrnehmung
begreift dagegen auch diese einleitenden Prozesse, die zu ihrer
Entstehung führen, nach dem Sprachgebrauche schon in sich.
Wenn man ferner als Apperzeption bereits das erste Eintreten
eines Eindruckes in das intellektuelle Bewußtsein bezeichnen
wollte, so würden Beginn der Wahrnehmung und Apperzeption
zusammenfallen, und es entstünde durch die Bezeichnung als
Wahrnehmungsgeschwindigkeit kein sachlicher Unterschied gegen
die Zeitdauer bis zur Apperzeption. Beide Zeitpunkte wären
identisch, weil man als Sinneswahrnehmung nur eine ins intellek¬
tuelle Bewußtsein dringende Sinnesempfindling zu bezeichnen pflegt.
Solange ein Reiz nur gefühlsmäßig bewußt wird, kann von einer
Wahrnehmung des Reizes nicht gesprochen werden, höchstens
von dem Bewußtwerden eines Gefühles anläßlich des Reizes. OB
man einen solchen Vorgang als »Perzeption« zu bezeichnen hat,
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C. Minueiuanu,
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Uber das erste Bewußtwerden des Eindruckes hinaus, ja entwickelt
sieh eigentlich erst von da an. Apperzeption ist ja zugleich die¬
jenige subjektive Tätigkeit, die bewirkt, daß ein Eindruck klarer
bewußt wird und relativ ins Zentrum der Beachtung rückt. Diese
Auffassung führt weiterhin leicht zu der Annahme, daß die Mo¬
mente der einfachen Wahrnehmung und der Apperzeption unter
Umständen überhaupt zeitlich getrennt Vorkommen. Da beide Pro¬
zesse als Bewußtseinserscheinungen angesehen werden, müßte dann
ihre zeitliche Differenz auch bemerkbar sein, und die Beobachtung
würde in diesem Falle wesentlich schwieriger sein, wenn man den
Perzeptionsmoment geflissentlich außer acht lassen wollte, um den
Moment der Apperzeption festzustellen. Ein solcher Fall würde
beispielsweise durch einseitig gerichtete Aufmerksamkeit bei Dar¬
bietung zweier Reize eintreteu müssen, indem der eine der Reize
zunächst nur perzeptiv bewußt werden würde. Wollte man nun
die Momente der Apperzeption beider Reize miteinander ver¬
gleichen, so hätte man abzuwarteu, bis auch der relativ un¬
beachtete die Sphäre der Perzeption durchlaufen hat und klar
bewußt wird.
Wenn dagegen die Apperzeption nur graduelle Unterschiede
der Bewußtheit des Wahrgenommenen hervorruft, wird der Über¬
gang von der Perzeption zur Apperzeption fließend sein, und es
ist schwierig, einen bestimmten Zeitpunkt anzugeben, wann die
Apperzeption der Empfindung zuerst einsetzt. Man könnte daran
denken, den Gipfel der apperzeptiven Aufnahme, die Zeitpunkte
größter Klarheit der einzelnen Empfindungen als Vergleichspunkte
für die Messung ihrer Auffassungsgeschwindigkeit zu wählen.
Jedoch ist dieser Zeitpunkt so unbestimmt und so variabel, da er
von subjektiven Bedingungen der Aufmerksamkeit in hohem Grade
abhängt, daß er sich kaum zur Untersuchung von Auffassungs¬
geschwindigkeiten eignet, an denen die Wirksamkeit auch objek¬
tiver Faktoren festgestellt werden soll.
Deshalb ist in der obigen Definition der Zeitpunkt des
ersten Bewußtwerdens als eindeutiger Vergleichspunkt für die
Wahrnehmungsgeschwiudigkeit zugrunde gelegt worden. Eine An-
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I. Theor. Erürter. üb. die Differenz von WahrnehinungsgeBchvriudigkeiten. 237
Sinnesauffassung und der sich etwa daran anschließenden psychi¬
schen Prozesse muß die Frage nach dem Einfluß verschiedener
objektiver und subjektiver Faktoren auf die definierte Zeitstrecke
untersucht werden. Daher ist die Bezeichnung dieser Größe
als Wahrnehmungsgeschwindigkeit zunächst indifferent
und darf mit dem Ausdrucke der Auffassungsgeschwindig¬
keit gleichgesetzt werden.
In bezug auf die Gewinnung der Zahlenergebnisse muß es
gleichgültig sein, wie die Einwirkungen objektiver oder subjek¬
tiver Faktoren theoretisch zu interpretieren sind. Namentlich
können die Einzelheiten der darauf bezüglichen Theorien außer
Betracht bleiben. Die Variieruug objektiver Reizverhältnisse, z. B.
eine Intensitätsänderung, mag direkt die Wahrnehmungsgeschwiu-
digkeit beeinflussen oder erst durch Vermittelung spezifisch sub¬
jektiver Faktoren zur Geltung kommen. Man könnte die Per¬
zeptionsgeschwindigkeit für relativ konstant halten oder eine
abweichende Änderung derselben annehmen, als wie sie die un¬
mittelbare Vergleichung angibt. So könnte die Änderung der
Zeitdauer bis zum Eintritt ins Bewußtsein etwa dadurch hervor¬
gerufen sein, daß differente objektive Faktoren einen verschie¬
denen >Reiz auf die Apperzeption« ausüben und auf diese Weise
die Auffassungszeit beschleunigen oder verkürzen. Solche Fragen
haben für die experimentelle Untersuchung eigentlich kein Inter¬
esse, weil sich ihr die Beantwortung entzieht. Vollends die quanti¬
tative Bestimmung solch mittelbarer Einflüsse auf die Apperzep¬
tionszeit bei objektiven Faktoren erscheint unmöglich. Denn dann
müßte man die beobachteten Differenzen der Wahrnehmungsge¬
schwindigkeiten zerlegen in einen aktiv-apperzeptiven Einfluß, der
aus der spontanen Aufmerksamkeit resultiert, und außerdem in
einen passiven Apperzeptionseinfluß, der mittelbar durch die ob¬
jektiven Bedingungen hervorgerufen wäre, sowie endlich in eine
direkte Änderung der Perzeptionsgeschwindigkeit. Von diesen
Faktoren ließe sich der Einfluß aktiv-apperzeptiver Momente even¬
tuell noch durch Analoerie feststellen. Für die weitere Sonderuner
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C. Minnemann,
bei der Sinneswahrnehmung gleichartiger Heize eine Bedeutung
zuerkennen wollte, dagegen bei der Zeitvergleichung disparater
Empfindungen diesen Faktor fllr belanglos hält. Nur soviel läßt
sich sagen, daß der Einfluß subjektiver Faktoren in solchem Falle
die gewöhnlichen, peripher-physiologisch bedingten Differenzen der
Wahrnebmuug8geschwindigkeit stark Ubertreffen kann; aber diese
verlieren hierdurch nicht ihre Wirksamkeit. Sie machen ihr Ge¬
wicht auch dann noch geltend. Denn es ist wahrscheinlich, daß
zu einer bestimmten Auffassungsverschiebung durch subjektive
Faktoren stets ein entsprechender Grad von Aktivität erforderlich
ist, und es wäre eine nicht sehr naheliegende Hypothese, daß
innerhalb einer gewissen simultanen Zeitstrecke die Empfindungen
gleichmäßig in der Perzeptionssphäre bereitliegen. Die Auf¬
nahme ins klare Bewußtsein kann nicht jederzeit beliebig durch
die gleiche subjektive Energie erfolgen, sondern es entspricht
den Zeitgrößen der wechselseitigen Verschiebungen zweier Emp¬
findungen sicherlich ein Äquivalent auf seiten der subjektiven
Faktoren. Eine Empfindung, die schon normalerweise durch
physiologische Verhältnisse begünstigt ist, gelangt auch zuerst in
diese Sphäre subjektiver Verschiebbarkeit, und daher treten bei
Umkehrung der Aufmerksamkeitsrichtung die gewöhnlichen physio¬
logischen Differenzen der Wahrnehmungsgeschwindigkeit sofort
zutage. Die herrschende Darstellung der Apperzeptionstheorie
läßt sich auch schon mit den allgemeinsten Ergebnissen einer der¬
artigen Untersuchung wohl nicht leicht vereinigen. Denn es zeigt
sich, daß bereits der Zeitpunkt des ersten Eintretens einer Emp¬
findung ins intellektuelle Bewußtsein von der Aufmerksamkeit ab¬
hängig sein kann. Wenn man also annehmen wollte, daß eine
Empfindung zunächst nur perzeptiv bewußt wird, so würde man,
da dieser Zeitpunkt für die Beobachtung zu wählen ist, zu der
Auffassung gedrängt werden, daß auch die Perzeptionsgeschwindig¬
keit variabel ist, und zwar, wenigstens zum Teil, eine Funktion
der Aufmerksamkeit, d. h. der Apperzeption darstellt. Eine solche
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I. Theor. Erürter. üb. die Differenz von Wahrnehmungegeschwindigkeiteu. 239
die Aufnahme des Eindruckes begünstigenden oder hemmenden
subjektiven Faktor, der zu deu objektiven Bedingungen der Wahr¬
nehmung hinzutreten kann, so daß aus beiden gemeinsam die
Sinneswahrnehmung resultiert. Der subjektive Faktor modi¬
fiziert danach den durch objektive Faktoren hervorgerufenen Ein¬
druck schon während seiner Entstehung. Es ist keine neue Sphäre,
in die der Eindruck gelangt, wenn subjektive Faktoren wirksam
werden; und die klarer apperzipierten Bestandteile unterscheiden
sich nicht ihrer Art nach von den weniger klar bewußten.
Perzeption und Apperzeption sind keine wesentlich verschiedenen
psychischen Prozesse; die Unterscheidung bezieht sich nur auf
den größeren oder geringeren Anteil subjektiver Momente an dem
Wahrnehmungsprozeß, und wahrscheinlich ist die Wirksamkeit
apperzeptiver Betätigung auf demselben Gebiete psychophysischer
Erregung zu suchen, wie der Einfluß objektiver Elemente. Der
sogenannte Klarheitsgrad einer Vorstellung scheint keine spezi¬
fische Wirkung der apperzeptiven Tätigkeit zu sein, und anderer¬
seits ist die Empfindung offenbar nicht nur von objektiven Mo¬
menten abhängig. Anscheinend können objektive und subjektive
Faktoren bei der Sinneswahrnehmung sogar bis zu einem gewissen
Grade einander ausgleichen, so daß in bezug auf den beiderseitigen
Effekt gewisse Aquivalenzgleichungen aufgestellt werden könnten.
Der Vorgang der Sinneswahrnehmung verläuft in der Art, daß
schon der eigentliche Perzeptionsprozeß durch subjektive Betäti¬
gung beeinflußt wird und eventuell gar nicht zustande kommt,
wenn subjektive Momente ihm entgegenstehen.
Auf diese Weise gestaltet sich die Auffassung über den psycho¬
logischen Prozeß der Sinneswahrnehmung sehr einfach. Die An¬
nahme eines hypothetischen Bewußtseinszustandes, der überhaupt
nicht beobachtet wird, ist für die Psychologie entbehrlich. Soweit
der Prozeß, wenn auch etwa bloß »gefühlsmäßig«, bewußt wird,
zählt er zur selben Art psychischer Erscheinungen wie die apper-
zeptive Auffassung. Soweit er unbewußt verläuft, braucht er nur
als rein physiologisch begründete psychische Disposition angesehe-.n
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240
C. Minnemann,
3) Positive und negative Zeitverschiebungen.
Nachdem der Begriff der Wahrnebmungsgeschwindigkeit klar¬
gelegt worden ist, scheint es wichtig, die Konsequenzen, die aus
dieser Definition folgen, hervorzuheben und besonders den Begriff
einer »Differenz zweier Wahrnehmungsgeschwindigkeiten«, d. h.
die positiven und negativen Zeitverschiebungen, einer eingehenden
Erläuterung zu unterziehen. Denn an diesen Punkt knüpft sich
eine Reihe von unrichtigen Auffassungen, die über das Problem
und die Beobachtungen der Zeitverschiebungen in den Kurs ge¬
kommen sind.
Eine experimentelle Untersuchung kann sich vorläufig nur
darauf beschränken, Differenzen von Wahrnehmungsgeschwindig¬
keiten festzustellen, und kann nicht die Dauer eines derartigen
Entstehungsprozesses im ganzen messen. Allerdings läßt sich an¬
genähert eine Maximalgrenze für die Zeitdauer der Entstehung
einer Wahrnehmung angeben, wenn man Rückschlüsse aus den
Ergebnissen von Reaktionsversuchen zieht. Aber solche Bestim¬
mungen können keinen Anspruch auf Genauigkeit machen. Denn
der Reaktionsvorgang ist ein ziemlich komplizierter Prozeß. Es
sind in ihm eine Reihe von Faktoren enthalten, die nur zum Teil
und höchstens schätzungsweise durch Analogien anderer, entspre¬
chend variierter Reaktionsversuche bestimmbar sind; einige andere
Faktoren lassen sich überhaupt nicht eliminieren, und selbst eine
Annahme Uber Konstanz oder Variabilität derselben in den kom¬
plizierteren Zusammenhängen ist nicht ohne weiteres begründet.
Die Angabe einer unteren Grenze für die Entstehungszeit einer
Wahrnehmung ist vollends ohne Anhalt. Nur soviel läßt sich mit
Sicherheit sagen, daß diese Zeitdauer nicht gleich Null zu setzen
ist; denn es wäre widersinnig, anzunehmen, die bewußte Wahr¬
nehmung setze sofort mit der peripheren Reizung ein.
Rechnet man mit der Tatsache, daß eine Wahrnehmung ohne
Verzögerung gegen den Moment der Reizung unmöglich ist, so er¬
gibt sich hieraus völlig ungezwungen die Möglichkeit negativer
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(Jrigiral frern
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I. Theor. Erörter. üb. die Differenz vonWahrnehmungsgeachwindigkeiten. 241
der einen oder anderen Empfindung mißt, erscheint ihre Verände¬
rung gegenüber der objektiven Zeitfolge als positiv oder negativ.
Eine absolut negative Verschiebung in dem Sinne, daß der Be¬
wußtseinsvorgang schon eher eintritt als die Erregung beginnt,
was anscheinend v. Tchisch in Erwägung zog 1 ), ist ausgeschlossen.
Jeder Eindruck gelangt verspätet ins Bewußtsein, aber der eine
mehr, der andere weniger. Daß es sich dabei zum Teil um große
Zeitstrecken handelt, die die gewöhnliche Ausdehnung psycho¬
physiologischen Erregungsanstieges bedeutend überschreiten, darf
nicht auffallen, da sogenannte spezifisch subjektive Faktoren den
psychischen Anfnahmeprozeß beträchtlich hemmen können.
Eine experimentelle Untersuchung muß sich die Aufgabe stellen,
die Zeitverschiebung unter dem Einflüsse verschiedener objektiver
und subjektiver Bedingungen möglichst exakt zu bestimmen. Da¬
bei ist zu beachten, daß die Ursache der Zeitverschiebung für den
Begriff derselben außer Betracht bleibt. Eine Zeitverschiebung
besteht einfach in der Verschiedenheit der subjektiven
Zeitordnung der Empfindungen gegenüber der objektiven
Zeitfolge der Reize. Es darf nicht etwa nur eine solche Ver¬
schiebung darunter verstanden werden, die durch eine spezifisch
subjektive Anffassungstätigkeit, durch apperzeptive Momente her¬
vorgerufen wird. Durch diese Einschränkung würden theoretische
Elemente in die Fragestellung hineinkommen, die die Objektivität
der Untersuchung beeinträchtigen könnten. Denn eine allgemein
anerkannte Abgrenzung der Zeitwerte einer physiologischen und
etwa einer spezifisch »psychischen« Zeitverschiebung ist kaum
möglich.
Da ein und dieselbe Zeitverschiebung eine positive oder nega¬
tive Größe darstellt, je nach dem Standpunkte, den man bei der
Messung einnimmt, so muß angegeben werden, in bezug auf
welche Empfindung die Verschiebung positiv oder negativ
erscheint. Den Ablauf der objektiven Zeitreihe pflegt man als
positiv zu rechnen. Deshalb wird eine Zeitverschiebung dann a\s
negativ zu bezeichnen sein, wenn die Wahrnekinungsverspätuw^.
eines Reizes nach seinem objektiven Auftreten kleiner ist als di^.
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242
C. Minnemann.
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zum Vergleiche herangezogene Wahrnehmungsverspätung eines an¬
deren Reizes, d. h. wenn der erstere Reiz relativ rascher be¬
wußt wird und die Auffassungsgeschwindigkeit des zweiten als
Messungsnorm dient.
Es empfiehlt sich nicht, ein für allemal die Reize eines be¬
stimmten Sinnesgebietes als Norm für die Festsetzung des Vor¬
zeichens bei Zeitverschiebungen zu benutzen, weil die Wahr-
nehmungsgescliwindigkeit je nach den Umständen wechselt, also
keinem Sinnesgebiete eine konstante Wahrnehmungs¬
geschwindigkeit zukommt. Ebensowenig erscheint es zweck¬
mäßig, den Sinn der Zeitverschiebung allgemein in Anlehnung an
die Verhältnisse der Komplikationsuhr zu definieren. Denn
wenn man z. B. die Zeigerstellung beim Hören eines einzuord¬
nenden Glockenschlages als maßgebend für die Richtung der Zeit¬
verschiebung ansieht, also die visuelle Wahrnehmungsgeschwindig¬
keit als Norm ftir das Vorzeichen wählt, so ist dagegen zu er¬
wägen, daß bei dieser Versuchsanordnung durch Änderung der
Geschwindigkeit gerade der Bewegungseindruck variiert wird,
während der Schallreiz konstant zur selben Zeit eintritt. Es ist
also naheliegend, die subjektiv bemerkbare Verschiebungsänderung
bei Variierung der Rotationsgescliwindigkeit des Zeigers wenig¬
stens zum Teil auf Rechnung der veränderten visuellen Wahr¬
nehmungsgeschwindigkeit zu setzen. Die andere Auffassung, daß
nur der Schallreiz unter diesen Umständen verschieden rasch ap-
perzipiert wird, steht in enger Beziehung zur Theorie der apper-
zeptiven Einordnung perzeptiv bereits vorhandener Eindrücke, die
oben erörtert wurde.
Die konstante Bezugnahme auf die Verhältnisse der
Komplikationsuhr für die Bestimmung des Vorzeichens der
Verschiebung stößt noch auf weitere Schwierigkeiten. Denn
Komplikationsversuche beschränken sich keineswegs auf die Ein¬
ordnung einer disparaten Empfindung in eine kontinuierliche
visuelle Empfiudungsreihe. Schon wenn mehrere Schallreize dar-
geboteu werden und die kontinuierliche Zeigerbewegung in eine
Reihe sukzessiver Lichtreize aufgelöst wird, kann man schwanken,
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Original mFm
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1. Theor. Erörter. üb. die Differenz von Wahrnehmungsgeschwindigkeiten. 243
sich um die Durchgangsbestimmung eines Sternes durch die Fäden
eines Passageinstrumentes handelt und nach der Auge-Ohr-Methode
beobachtet wird. Die in Frage kommende Beobachtung läßt sich
so auffassen, daß die Sekundenschläge in die Sternbewegung ein¬
geordnet werden oder aber die Fadendurchgänge bzw. die Orte
vor und hinter einem Faden in die Reihe der Sekundenschläge.
Die auftretende Verschiebung kann also nach der visuellen oder
akustischen Empfindungsreihe gemessen werden, wobei der abso¬
lute Betrag derselbe bleibt, aber der Sinn der Verschiebung ent¬
gegengesetzt ist. Da die Sekundenschläge zugleich zur objektiven
Zeitmessung dienen, so ist letztere Messungsart, die nach den
akustischen Eindrücken, praktisch die übliche. Eine uhren¬
mäßige Verspätung des visuell beobachteten Durchganges gilt
als positive Zeitverschiebung, während für die Zeigerbewegung
an der Komplikationsuhr gerade eine relativ raschere visuelle
Auffassung als positive Zeitverschiebung definiert zu werden
pflegt.
Ebenso fundamental wie die Relativität des Vorzeichens für
die Zeitverschiebung, je nach der speziellen, als Norm behan¬
delten Wahrnehmungsgeschwindigkeit, ist der Gesichtspunkt, daß
die Verschiebung durch die Abweichung der subjektiven
Zeitreihe von der objektiven Reizfolge zustande kommt. Darin
liegt, daß die Verschiebung auf subjektiver Seite zu messen ist,
indem man die psychische Anordnung der Empfindungen mit der
objektiv gegebenen Zeitordnung der Reize vergleicht.
Es ist nun zu beachten, daß in den Versuchen, die sich mit
der Zeitvergleichung befassen, beide Methoden der Ablesung sich
finden, teils die unmittelbare Bestimmung der subjektiven Ver¬
schiebung, teils die Ablesung der objektiven Zeitdifferenz zweier
subjektiv gleichzeitiger Wahrnehmungen. Beide Ablesungen weisen
bei gleichen Auffassungsbedingungen das entgegengesetzte Vor¬
zeichen für die beobachtete Distanz der Reize bzw. der Empfin¬
dungen auf. Denn bezeichnet man ein zeitliches Später, wie es
üblich ist. dnreh Plus, dagegen das Früherliegendpi durch eine
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244
C. Minnemann,
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Fig. 1.
Das vorstehende Schema erläutert diese Verhältnisse. Nehmen
wir an, zwei Reize 1 und 2 würden objektiv gleichzeitig dar¬
geboten, aber der Reiz 2, etwa ein Schallreiz, werde rascher ins
intellektuelle Bewußtsein aufgenommen als der Reiz 1, der bei¬
spielsweise den Gesichtssinn affiziert. Dann wird die Distanz auf
subjektiver Seite, die Zeitverschiebung, sich als eine negative
Größe darstellen, wenn die Wahrnehmungsgeschwindigkeit von
Reiz 1 als Norm für den Vergleich zugrunde gelegt wird (Figur 1 a).
Gerade umgekehrt liegen die Beziehungen der objektiven Zeit¬
reihe, wenn, wie Figur 1 b darstellt, die von den Reizen ausge-
lösten Empfindungen zeitlich zusammenfallen. Die relativ
rascher ins Bewußtsein gelangende Empfindung, die durch den
Reiz 2 ausgelöst wird, erfordert eine positive Distanz des Exposi¬
tionsmomentes für diesen Reiz im Vergleich zu dem als Ausgangs¬
punkt der Messung dienenden Reiz 1.
Bei den Komplikationsversuchen wird meistens die direkte
Ablesung der Verschiebung in der subjektiven Zeitordnung an¬
gewandt, da sie sich an dem Apparate unmittelbar anschaulich
darbietet. Man zieht von dem scheinbaren Skalenorte eines Schall¬
reizes die Zeigerstellung für objektive Koinzidenz der Reize ab,
J:. .l _j_l i_ tt _j_ i_j.. rr __:u.i_
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I. Theor. Erörter. üb. die Differenz von Wahrnehmungsgeschwindigkeiten. 245
jektiv zusammenfällt, so ist die Differenz eine negative, d. h. der
Schall wird relativ rascher aufgefaßt als die Zeigerbewegung. Ist
dagegen der Zeitwert des scheinbaren Schallortes großer als der
Wert für den Zeitpunkt, in dem das mit der Schallentstehung
koinzidierende Element der Bewegung bewußt wird, so ergibt sich
die Verschiebung des Schallreizes in der Zeitfolge der Empfin¬
dungen als eine positive.
Nur eine mittelbare Ablesung der Verschiebung, nämlich
eine Messung der objektiven Zeitdifferenz der Reize, ist bei der
gewöhnlichen Zeitvergleichung zweier Einzelreize möglich. Die
Aufgabe der Beobachtung geht dann dahin, den subjektiven Ko¬
inzidenzpunkt aufzufinden. Ergibt sich fllr diesen eine Distanz
der Expositionsmomente, so muß der rascher aufgefaßte Reiz
später dargeboten worden sein, da beide Reize gleichzeitig be¬
wußt werden; d. h. die gemessene objektive Zeitdifferenz zwischen
dem rascher wahrgenommenen Reize und dem langsamer wirken¬
den ist in diesem Falle positiv, während bei der unmittelbaren
Messung der subjektiven Verschiebung sich fllr dieselben Ein¬
drücke eine negative Differenz ergeben würde.
Es ist deshalb für den Vergleich der Versuchsergebnisse ver¬
schiedener Beobachtungsmethoden sehr wichtig, sich klar zu
machen, was die Messung für die eine oder andere Versuchs¬
anordnung bedeutet, ob die Verschiebung der Empfindungen
im Vergleich zur objektiven Folge der Reize gemessen
wurde oder aber die objektive Distanz der Reize. Nur
die erstere kann im strengen Sinne als eine Verschiebung« gelten.
Und ebenso wichtig ist die andere Frage, ob der Ausgangspunkt
der Messung beidemal im selben Sinnesgebiete liegt oder in ver¬
schiedenen. Da sich die Bedeutung der Symbole des Plus- und
Minuszeichens mit dem Standpunkte ändert, so ist es geraten, um
Mißverständnissen vorzubeugen, möglichst in Worten eine Erklä¬
rung der Zeichen beizufügen. In der Literatur sind diese Ge¬
sichtspunkte nicht immer beachtet worden.
Gerade in bezug auf den Vergleich der experimentellen Kom-
• • « - • « • • < 1 1 • 1 I • _ Al« _.1_ _ A __
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246 C. Minnemann,
menen, die bei der astronomischen Beobachtung auftreten, aus-
gegangen, um deren Gesetzmäßigkeiten zu ergründen. Die Be¬
obachtungen an der Komplikationsuhr haben zu dem Resultate
geführt, daß mit wachsender Geschwindigkeit der Bewegung die
Zeitverschiebuug nach der positiven Seite hin sich ändert, also in
diesem Sinne zunimmt; das bedeutet eine relativ langsamere Schall¬
auffassung bzvv. raschere Wahrnehmung des visuellen Bewegungs¬
bildes. Nun hat sich aber bei Durchgangsbestimmungen eines
künstlichen Sternes 1 ) herausgestellt, daß bei gesteigerter Ge¬
schwindigkeit der Bewegung die Auffassung des Durchgangs¬
momentes sich etwas verspätete, die Bewegung also langsamer
aufgefaßt wurde. Daher kann man in diesen Versuchen keine
Bestätigung der gewöhnlichen Komplikationsergebnisse finden, wie
angenommen worden ist. Wenn man beidemal die Verschiebung
als eine positive bezeichnet, so darf nicht übersehen werden, daß
bei der Komplikationsuhr die Auffassung eines Schalles an einer
Bewegungserscheinung gemessen wird, dagegen am Passageinstra-
ment ein oder mehrere Punkte der Bewegung in der Regel an
einer akustischen Empfindungsreihe 2 ). Dem gleichen Vorzeichen
kommt beim Beobachten nach der einen oder anderen Methode
eine verschiedene Bedeutung zu.
Ebensowenig läßt sich die von Bessel beobachtete Verminde¬
rung der persönlichen Differenz bei Anwendung von akustischen
Signalen in Abständen von halben anstatt ganzer Sekunden auf
denselben Einfluß der Geschwindigkeit wie bei rascherer Zeiger¬
bewegung an der Komplikationsuhr zurückführen. Denn wenn
auch die raschere Folge akustischer Reize gleichbedeutend sein
sollte mit einer Steigerung der visuellen Bewegungsgeschwindig¬
keit, was keineswegs wahrscheinlich ist, da die optische Distanz
zwischen zwei Schallorten im ersteren Falle geringer wird, wäh¬
rend sie im zweiten Falle wächst, so könnte doch nicht aus einer
speziellen Anderungstendenz der Zeitverschiebung geschlossen
1) J. Hartmann, Grunerts Archiv für Mathematik und Physik. Bd. 31.
1868. S. 1 ff. N. C. Wolf, Recherches sur l’öquation personnelle. (Ann. de
l’observatoire de Paris, t. 8, 1866; im Auszug in der Vierteljahrsschrift der
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I. Theor. Erörter. üb. die Differenz von Wahrnehmungsgeschwindigkeiten. 247
werden, daß auch die Differenz zwischen den individuellen Auf¬
fassungen zweier Beobachter kleiner werden müßte. Sie könnte
gerade so gut größer werden, wenn der eine Beobachter dieser
Tendenz mehr unterliegt als der andere. Die Annahme, daß bei
Geschwindigkeitssteigerung nur einseitig gerichtete Verschiebungen
möglich sind, schließt nicht notwendig eine Annäherung der indi¬
viduellen Unterschiede bei den Zeitbestimmungen ein.
Dieselbe Bemerkung gilt für die Erklärung der Abnahme per¬
sönlicher Differenzen bei plötzlichen Erscheinungen, die darin be¬
gründet sein soll, daß in solchen Fällen nur noch positive Zeit¬
verschiebungen stattfinden könnten. In dem Ausdruck »positive
Verschiebung« liegt wiederum ein Beleg dafür, daß meistens die
gleichen Symbole unterschiedslos auf entgegengesetzte Erschei¬
nungen angewendet wurden. Da diese Verschiedenheit nicht be¬
merkt wurde, ist die Parallele zwischen den astronomischen und
den an der Komplikationsuhr auftretenden Zeitverschiebungen
nicht zutreffend *). Wenn dann noch zugunsten einer Erklärung
das tatsächliche Verhalten bei der Beobachtung nicht richtig ge¬
deutet wird, so ist die Entwirrung der Tatsachen um so schwie¬
riger. Sicherlich ist es unrichtig, die Ursache der astronomischen
Zeitverschiebung in einer größeren Konzentration der Aufmerksam¬
keit auf die Sekundenschläge zu sehen; auch dürfte es nicht zu-
treflfen, daß bei rascherer Durchgangsbewegung die Erwartung des
Schalleindruckes gleich bleibt, aber nicht so stark zur Geltung
kommt, da andererseits die raschere Bewegungserscheinuug dazu
nötigt, in derselben Zeit mehr Gesichtseindrücke zu apperzipieren,
so daß der einzelne visuelle Apperzeptionsakt sich rascher ab¬
spielen müßte 2 ). Wenn wirklich eine Bewegungserscheinung
sich aus einzelnen zu apperzipierenden Gesichtswahrnehmungeil
1) Erst Wirth hat diesen Unterschied richtig erkannt; vgl. sein Buch:
»Die experimentelle Analyse der Bewußtseinsphänomene«. Braunschweig
1908. S. 310. Auch zu den übrigen hier erörterten Fragen sind seine Aus¬
führungen mit Vorteil heranzuziehen.
2) Geiger, Philos.Studien. Bd.XVIII. S.415: »Die Schalleindrücke sind
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248
C. Minnemann,
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zusammensetzte, würde aus einer rascheren Aufeinanderfolge solcher
Auffassungsprozesse noch nicht ohne weiteres eine absolute Ver¬
kürzung der visuellen Apperzeption zu folgern sein. Außerdem
ist aber zu betonen, daß bei Durchgangsbestimmungen die Auf¬
fassung und Zählung der Sekundenschläge nahezu automatisch
verläuft.
Es liegt also auf der Hand, daß die Komplikationsversuche
bisher nicht die Erscheinungen der astronomischen Zeitverschie¬
bung erklärt haben. Weil eine eindeutige Terminologie fehlte,
••
war nur der Schein einer Übereinstimmung entstanden, während
tatsächlich die Beobachtungsergebnisse in Widerspruch zueinander
stehen.
4) Allgemeine Bedeutung der Schwelle subjektiver Gleich¬
zeitigkeit.
Bei der praktischen Ausführung von Messungen über die Wahr¬
nehmungsgeschwindigkeit drängt sich die Beobachtung auf, daß
nicht bloß ein einziger Zeitpunkt für den Vergleich in Betracht
kommt, sondern eine ganze Zeitstrecke. Denn der Moment des
Eintrittes einer Empfindung ins Bewußtsein läßt sich. zunächst
nicht so präzis abgrenzen, daß man ihn als einen mathematischen
Zeitpunkt behandeln könnte. Zwei Reize, die sukzessiv ins Be¬
wußtsein eintreten würden, wenn es nur auf die jedem Reize
normalerweise zukommende Wahrnehmungsgeschwindigkeit an¬
käme, werden in Wirklichkeit bei nicht allzu großer zeitlicher
Distanz als gleichzeitig aufgefaßt. Daher ergibt sich bei der
Zeitvergleichung zweier Reize oder der Einordnung einer Empfin¬
dung in eine Empfindungsreihe nicht bloß eine einzelne Konstel¬
lation der Reize als die Bedingung für subjektive Gleichzeitigkeit:
es resultiert nicht nur ein einzelner Zeitpunkt. Sondern eine ganze
Reihe objektiver Distanzen führt zur Auffassung der Konzinnität,
so daß die subjektive Gleichzeitigkeit durch eine Zeit¬
strecke oder Zone dargestellt erscheint 1 ). Zweierlei ist hei
dieser Bewußtseinstatsache zu erwägen. Einerseits hat man sich
theoretische Klarheit Uber diese Erscheinung zu verschaffen, zwei-
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I. Theor. Erürter. üb. die Differenz von Wahrnehmungsgeschwindigkeiten. 249
tens ist aDZUgeben, wie sich danach die Berechnung der Diffe¬
renzen von Wahrnehmnngsgeschwindigkeiten zu gestalten bat ! ).
Was die theoretische Bedeutung dieser Erscheinung anbelangt,
so ist bemerkenswert, daß die Ausdehnung der subjektiven Gleich¬
zeitigkeit über eine längere Zeitstrecke als ein unmittelbares
Bewußtseinsphänomen erscheint und nicht erst sekundär
als Produkt einer reflektierenden Verstandestätigkeit im
Bewußtsein anzutreffen ist. Die genauere Entstehungsursache
dieser unmittelbaren Schwelle für zeitliche Distanzen mag dahin¬
gestellt bleiben. So ist es gleichgültig, ob die Erregungsprozesse
zweier distanter Reize, die subjektiv gleichzeitig erscheinen, schon
mehr oder weniger peripher-physiologisch zusammenfallen, oder
ob erst der zentrale Prozeß, der Eintritt ins Psychische einheit¬
lich erfolgt. Aber das muß als feststehende Tatsache angesehen
werden, daß schon bei dem ersten Bewußtwerden der Vor¬
gänge, also sogleich mit der Entstehung der Empfin¬
dungen, die zeitliche Zusammenfassung gegeben ist.
Theoretisch einfacher lägen die Dinge, wenn die Wahrnehmungs¬
geschwindigkeit keinen Veränderungen beim Zusammentreffen rasch
aufeinanderfolgender Reize unterworfen wäre. Es würde also
näher liegen, die Wahrnehmungsgeschwindigkeit als konstant zu
betrachten und die Abweichungen der wirklichen Auffassung von
den berechneten Verhältnissen auf einen anderen psychischen Pro¬
zeß, etwa auf die Apperzeption, zurtickzuführen. Jedoch ist, wie
im folgenden dargelegt wird, diese Auffassung nicht annehmbar,
weil mit einer Wahrnehmung zugleich ihre zeitliche Bestimmtheit
im Bewußtsein gegeben sein muß.
Wenn sich schon oben prinzipielle Bedenken gegen eine Tren¬
nung von Perzeption und Apperzeption bei der Sinneswahrnehmung
einstellten, so muß hier die spezielle Form, die diese Theorie hin¬
sichtlich der Zeityorstellung erhalten hat, entschieden abge¬
wiesen werden. Gerade auf diesen Punkt, auf die vermeintliche
Notwendigkeit einer Trennung der Zeitvorstellung von dem psy-
1 . 1_ a . T"l _ > _ oMM A <1 AM am
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250
C. Minneiu&nn,
Meistens gebt man bei der Theorie Uber die Zeitvorstellung
von der Behauptung aus, daß es etwas anderes sei, »Empfindungen
sukzessiv wahrnehmen« als »ein Bewußtsein von ihrer zeitlichen
Aufeinanderfolge haben«. Eine Sukzession von Empfindungen
bzw. Vorstellungen sei nicht gleichbedeutend mit einer Vorstellung
ihrer Sukzessiou. Dies ist insofern zuzugeben, als unsere Zeit¬
vorstellung nicht auf die einfachste Kette unmittelbaren psychi¬
schen Erlebens beschränkt ist. Durch Abstraktion können wir
mannigfaltige zeitliche Beziehungen aufdecken, die uns durch die
einfache Zeitfolge des konkreten Erlebens nicht zum Bewußtsein
kommen würden. Aber diese Erweiterung unserer Zeitvorstellung
durch Denkoperationen darf nicht zu einem Widerspruche
gegen den wirklichen Ablauf der psychischen Vorgänge
führen. Eine solche Diskrepanz würde jedoch vorliegen, wenn
zwei Wahrnehmungen zeitlich getrennt ins Bewußtsein einträten und
dennoch ihre zeitlichen Bewußtseinskomponenten eineVerschmelzung
eingingen derart, daß die Vorgänge, obwohl sie tatsächlich
psychisch distant sind, dennoch als psychisch gleichzeitig erschienen.
Eine nachträgliche, durch die Auffassung bewirkte zeitliche
Verschmelzung von Empfindungen, die in Wirklichkeit psychisch
sukzessiv statttinden, wird aber vielfach vertreten und damit be¬
gründet, daß eine Zeitvorstellung überhaupt erst durch apperzep-
tive Tätigkeit ermöglicht würde. Manche Psychologen gestehen
der Empfindung ein unmittelbares Sukzessionsbewußtsein zu und
leiten erst die Vorstellung der komplizierteren zeitlichen Verhält¬
nisse, namentlich das Bewußtsein von der Dauer, aus apperzep-
tiven Bedingungen ab; andere aber scheinen jedes Zeitbewußtseiu
durch apperzeptive Tätigkeit bedingt anzusehen. Die perzeptiven
Vorgänge sollen sich dann ohne Bewußtsein ihrer Sukzession
oder sonstiger zeitlicher Verhältnisse abspielen und nur inhaltlich
bestimmte Vorstellungen vermitteln. Eine derartige Annahme von
psychischen Prozessen mit unbewußtem zeitlichen Charakter ist
eine unanschauliche Konstruktion, obgleich sie gerade einer kon¬
kret psychischen Zeitvorstellung gerecht werden will. Im Gegen-
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I. Theor. Erörter. üb. die Differenz von Wahrnehmungsgeschwindigkeiten. 251
zelne psychische Zeitpunkt soll infolgedessen stets eine gewisse
Dauer besitzen, sich Uber eine größere objektive Zeitstrecke aus¬
dehnen, so daß die Differenzierung der psychischen Zeitreihe im
Unterschiede zum kontinuierlichen mathematischen Zeitbegriffe eine
beschränkte wäre. Der gesamte Inhalt eines Apperzeptionsaktes
würde auf diese Weise simultan im Bewußtsein gegenwärtig sein.
Dieser Auffassung widerspricht jedoch schon die andere Bestim¬
mung, die der psychologischen Zeitvorstellung ebenfalls beigelegt
wird. Um den kontinuierlichen Charakter des psychischen Zeit¬
ablaufes zu kennzeichnen, bezeichnet man nämlich außerdem die
Zeitvorstellung als eine fließende Größe. Durch dieses Prädikat
wird die Bestimmung, die zur Annahme einer unmittelbaren sub¬
jektiven Simultaneität von objektiven Zeitstrecken führte und das
psychische Phänomen einer Gleichzeitigkeitszone erklären sollte,
augenscheinlich wieder aufgehoben. Diese Theorie läßt sich um
so weniger aufrecht erhalten, wenn die geforderte Simultaneität
einer Vorstellung gar auf die gesamte Zeitstrecke ausgedehnt wird,
innerhalb welcher eine Vorstellung unmittelbar, d. h. ohne Unter¬
brechung, im Anschluß an die periphere Erregung bewußt bleiben
kann. Denn innerhalb dieser Strecke werden wechselnde Klar¬
heitsgrade des Bewußtseins zugegeben, so daß schon hieraus folgt,
daß auch zeitliche Differenzen an der Hand dieser Bewußtheits¬
grade auffaßbar sind. Nimmt man aber an, daß innerhalb eines
bestimmten engen Bezirkes infolge der zeitlichen Extensität eines
Apperzeptionsaktes eine zeitliche Differenzierung nicht möglich
ist, so müßte wenigstens an der Grenze zweier Apperzeptionsakte
die Auffassung der Sukzession zweier Reize sehr fein ausgebildet
sein, da von zwei rasch aufeinanderfolgenden Reizen die Auf¬
fassung des einen noch in den ersten Apperzeptionsakt eiugehen
könnte, während der zweite durch die folgende Apperzeptionswelle
bereits in eine merkbare Distanz gerückt würde. Hält man hin¬
gegen daran fest, daß die Zeitstrecke simultaner Bewußtheit kon¬
tinuierlich fortschreitet, so würde man an dem Momente des Ein¬
tretens oder Schwindens einer Empfindung aus dieser Sphäre ein.
feines Kriterium für ihre zeitliche Bestimmtheit haben. Die beiden
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/.PltvnrofallMno' flP.lP
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Jrigir arfrom
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252 C. Minnenmun,
Ebensosehr wie die spezielle Ausgestaltung dieser Theorie Uber
die Zeitvorstellung mit Hilfe apperzeptiver Prozesse ist überhaupt
der Versuch abzulehnen, die Zeitvorstellung erst in den Bereich
der Apperzeption zu verlegen und somit den schon durch die Per¬
zeption gegebenen Wahrnehmungsinhalt von dem Bewußtsein seines
zeitlichen Ablaufes zu trennen. Denn es liegt nun einmal in dem
Wesen einer Bewußtseinserscheinung, daß zugleich eine Vorstellung
ihres zeitlichen Konnexes mit anderen psychischen Vorgängen ge¬
geben ist Sonst wäre die Kontinuität des persönlichen Erlebens
aufgehoben. Ein psychisch isoliert dastehender Prozeß kann nicht
als bewußt angesehen werden. Ein Bewußtsein, das sich lediglich
auf einen Vorstellungsinhalt bezieht und keine bewußte zeitliche
Verbindung zu anderen Vorstellungsinhalten hat, existiert nnr in
der Abstraktion. Von einer Empfindung muß man unbedingt wissen,
daß man sie in einem bestimmten Zeitpunkte, d. h. in einer be¬
stimmten Verbindung hat; sonst handelt es sich nicht mehr um
einen psychischen Prozeß. Es mag das Bewußtsein zeitlichen Zu¬
sammenhanges mit anderen Vorstellungen mehr oder minder deut¬
lich ausgeprägt sein, und es kann von größerer oder geringerer
psychischer Dauer sein, sich Uber mehr oder weniger Glieder er¬
strecken, aber fehlen kann es niemals, wo Bewußtseinsvorgänge
auftreten. Deshalb muß man wenigstens ein unmittelbares Suk¬
zessionsbewußtsein annehmen, das direkt mit der Zeitfolge der
Empfindungen zusammenfallt. Die unmittelbare Zeitvorstellnng
existiert nicht neben den Empfindungen, als etwas davon Ge¬
trenntes oder erst Hinzukommendes, sondern in ihnen.
Bei genauerer Betrachtung der Belege für die apperzeptive
Auffassung der Zeitvorstellung zeigt sich, daß manche Beobacb-
tungstatsachen nicht richtig beurteilt werden. So wird die Inter-
missionslosigkeit der Empfindung bei rascher sukzessiver
Heizung eines peripheren Organes als eine Folge der Zeitschwelle
angesehen und mit der Erscheinung der Schwelle bei disparaten
Sinnesreizen in eine Linie gestellt. Es wird allerdings angegeben.
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I. Theor. Erürter. üb. die Differenz von Wahrnehmungegeschwindigkeiten. 253
genommen werden könne. Hierbei wird nicht berücksichtigt,
daß bei solchen Versuchen, wie bei Feststellung der Flimmer¬
grenze fiir zwei optische Reize, die Empfindungsdauer in ihrer
Abhängigkeit von physiologischen Prozessen in die Messung ein¬
geht, so daß gar nicht die kleinstmögliche Sukzessionsvorstellung
gemessen wird. Die Beobachtung besagt also nicht, daß die bei¬
den Reize, falls ihre objektive Distanz innerhalb der Flimmer¬
grenze liegt, gleichzeitig aufgefaßt werden, sondern nur, daß
sie einheitlich, ohne Intermission der psychischen Vorgänge be¬
wußt werden. Sonst würde man auch bei Fortsetzung der Reibe
durch weitere Glieder annehmen müssen, daß sämtliche Reize der
Reihe, falls kein Flimmern bemerkt wird, gleichzeitig bewußt
würden, daß es also für die Vorstellung keinen zeitlichen Unter¬
schied zwischen zwei Punkten dieser kontinuierlichen Empfindungs¬
reihe gäbe. Das Phänomen der Intermissionslosigkeit erklärt sich
jedoch einfach durch die den physikalischen Reiz überdauernden
Empfindungen, mögen dabei die Erregungsprozesse schon peripher
verschmelzen, oder zentral bzw. im Bewußtsein. Denn die Sache
spielt sich nicht so ah, daß die Empfindungen getrennt bewußt
würden, die Intermissionen derselben aber deswegen unbemerkt
blieben, weil man keine Vorstellung von so kleinen Intervallen
hätte 1 ). Wenn es sich bei solchen Versuchen wesentlich um die
Messung einer Schwelle für die reine Zeitvorstellung handelte,
müßte man den Versuch durch eine geringe Modifikation umkehren
können und etwa wegen rasch aufeinanderfolgender Intermissionen
keine Empfindung bemerken. Es wäre nicht einzusehen, weshalb
beispielsweise ein Lichtreiz von einem Milliontel einer Sekunde
zwischen zwei langen Intermissionen bemerkt wird, dagegen eine
Intermission von etwa einem Zwanzigstel einer Sekunde zwischen
zwei Lichtreizen unbemerkt bleiben sollte, wenn nicht, wie gesagt,
die physiologischen oder direkten Empfindungsverhältnisse aus¬
schlaggebend für die Beobachtung sind.
Wenn demnach diese Erscheinung sich nicht im Sinne eii\^ 8
apperzeptiven Vorganges ausleeen läßt, so bleibt doch noch
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C. Minnemann,
sukzedierende Reize. Die Auffassung, daß es sich hierbei um
apperzeptive Vorgänge handelt, stützt sich besonders auf die An¬
sicht, daß unendlich kleine Zeitabschnitte nicht bewußt
werden. Hierfür könnte es zwei prinzipiell verschiedene Gründe
geben. Entweder könnte die Ursache in einer mangelhaften Unter¬
scheidungsfähigkeit von getrennt vorhandenen Bewußtseinsinhalten
liegen. Diesen Standpunkt nimmt die apperzeptive Zeittheorie ein.
Die Bewußtseinsvorgänge müßten dann noch auf ihr zeitliches
Verhältnis gesondert betrachtet werden, damit ihre Anordnung be¬
wußt wird. Oder man ist der Ansicht, daß schon die perzeptiven
Bewußtseinsvorgänge mit einer Zeitvorstellung verknüpft sind, daß
also beispielsweise bei subjektiver Gleichzeitigkeit zweier Wahr¬
nehmungen der gesamte Bewußtseinsinhalt der betreffenden Emp¬
findungen und nicht bloß ihre zeitliche Seite tatsächlich psychisch
gleichzeitig bewußt wird bzw. bei merklicher Distanz die Bewußt¬
seinsvorgänge in endlichen Abständen entstehen. Dann würde
man aus dem Grunde eine sinnliche Vorstellung von minimalen
Zeitabschnitten nicht für möglich halten, weil im ganzen Bewußt¬
seinsleben einschließlich der perzeptiven Vorgänge keine so feinen
Differenzierungen vorkämen. Nach der apperzeptiven Auffassung
der Zeitvorstellung würden psychisch wohl kleinere Zeitabschnitte
vorhanden sein, aber es würde uns das Organ dafür fehlen, diese
Differenzen des Bewußtseins aufzufassen. Solche Auslegung er¬
scheint mit der Definition eines Bewußtseinsprozesses nicht verein¬
bar. Denn es würden zeitliche Bewußtseinsunterschiede ange¬
nommen werden, die nicht bewußt wären, während doch nur das¬
jenige als psychisch vorhanden angesehen werden darf, von dessen
psychischer Existenz man tatsächlich etwas weiß. Die psychischen
Erscheinungen, in denen man eine Trägheit der Apperzeptions¬
prozesse erblickt, lassen sich, wie gezeigt werden wird, ohne Mühe
auch durch eine auf konkreten Empfindungsrelationen basierende
Zeitvorstellung erklären.
Aber noch aus einem anderen Grunde ist das Argument, daß
die Trägheit der Apperzeption eine absolute Grenze für kleine
Zeitvorstellungen bedingt, anfechtbar. Es fragt sich, ob wirklich
unsere unmittelbare psychische Sukzessionsvorstellung in allen
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I. Theor. Erörter. üb. die Differenz von Wahrnehmungsgeschwindigkeiten. 255
während unter anderen Wahrnehmungsbedingungen bedeutend
feinere zeitliche Unterschiede unmittelbar bewußt wer¬
den können.
Daß uns viele Feinheiten der objektiven Vorgänge infolge der
Beschaffenheit und Funktionsweise unserer Sinnesorgane verloren
gehen, unterliegt keinem Zweifel. Meistens werden wir daher
durch die Abstraktion weiter eindringen können in die Zeitord¬
nung der Vorgänge als durch die direkte Beobachtung. Aber es
gibt doch auch psychische Vorgänge, an denen wir sehr feine suk¬
zessive Abstufungen direkt wahrnehmen. Überall, wo wir eine
Veränderung eines psychischen Vorganges bemerken, z. B. beim
deutlichen Ansteigen einer Empfindung, haben wir es mit einer
direkten, nicht erst aus der Reflexion stammenden Sukzessions¬
vorstellung zu tun. Unmittelbare Sukzessionsvorstellungen
können äußerst fein ausgeprägt sein. Wenn wir z. B. einen
bewegten Gegenstand sehen und die Bewegung unmittelbar wahr¬
nehmen, d. h. nicht erst auf eine solche schließen, so haben wir
an der Bewegungsvorstellung direkt die Wahrnehmung sukzedie-
render Netzhauterregungen. Diese Wahrnehmung ist gegenüber
dem gewöhnlichen Falle sukzessiver Lichtreize dadurch ausge¬
zeichnet, daß die Reize verschiedene Netzhautstellen treffen, so
daß die einzelnen Erregungen sich nicht völlig überdecken. Da¬
durch sind viel feinere psychische Zeitunterschiede ermöglicht.
Nicht minder aber fällt der Umstand ins Gewicht, daß bei einer
Bewegungserscheinung die Erregungen der Netzhautelemente nach
einer geläufigen räumlichen Anordnung fortschreiten, so daß die
Aufmerksamkeit jeweilig auf den in Frage kommenden Punkt
eingestellt sein kann. Allerdings liegt gleichzeitig in diesem Um¬
stande der räumlichen Kontinuität, daß es in der Praxis meistens
überflüssig ist, alle Phasen eines Bewegungsvorganges zu beacbteu.
Wenn man den Reiz an zwei voneinander entfeinten Stellen nach¬
einander gesehen hat, darf man in der Regel an nehmen, daß der
Reiz in der Zwischenzeit sukzessiv die übrigen zwischen den be¬
achteten Stellen liegenden Punkte passiert hat. Daher kann in
der Vorstellung der Eindruck einer kontinuierlicher» Bewegung
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2öö
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unmittelbaren, kontinuierlichen Sukzessionsvorstellung nicht gespro¬
chen werden. Denn die unmittelbare Sukzessionsvorstellung be¬
zieht sich nur auf die wirklich wahrgenommenen Phasen der Be¬
wegung, hier auf die beiden distanten Punkte; der kontinuierliche
Übergang dagegen ist erst in der mittelbaren Sukzessionsvorstellung
anzutrefifen.
Oft ist es schwierig, bei solchen Erscheinungen zwischen un¬
mittelbarer Wahrnehmung und mittelbarer Zutat zu unterscheiden.
Dies geht schon daraus hervor, daß objektive Störungen in dem
gleichmäßigen Gange einer Bewegung leicht übersehen werden,
da man scheinbar den Eindruck unmittelbarer Wahrnehmung hat.
Häufig wird allerdings in den zentralen Prozessen der Sinnes¬
erregung wohl keine Diskontinuität oder Abweichung vom er¬
warteten Vorstellungsverlaufe vorhanden sein, was als eine Folge
allgemeiner physiologischer Dispositionen oder besonderer Ein-
stellungsbedingungen angesehen werden kann. Manchmal jedoch
liegt der Grund für die Gleichmäßigkeit des Eindruckes in solchen
Fällen offenbar nur darin, daß man sich nicht klare Rechenschaft
Uber das wirklich Wahrgenommene und die konstruktive Er¬
gänzung des sinnlichen Eindruckes gibt. Andererseits aber kann
man auch bei nicht zu rascher Orts Veränderung des Reizobjektes
eine kontinuierliche Auffassung unmittelbar durch das Sinnesorgan
erreichen, und man braucht nicht erst seine Zuflucht zu Denk¬
operationen bzw. Assoziationen zu nehmen, um den Eindruck einer
kontinuierlichen Bewegung zu erhalten.
Eine unmittelbare Bewegungsvorstellung ist offenbar ohne die
sinnliche Vorstellung sich kontinuierlich aneinanderschließender
Phasen nicht gut möglich; diese Vorstellung enthält somit direkt,
d. h. ohne besondere Denkoperation, eine unmittelbar anschau¬
liche Vorstellung eines zeitlichen Ablaufes, der für die analysie¬
rende Betrachtung als Reihe unendlich kleiner Zeitteile erscheint.
Also kann die unmittelbare Wahrnehmung manchmal äußerst fein
zeitlich differenziert sein, und es braucht nicht die Auffassung
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I. Theor. Erürter. lib. die Differenz von WahrnehmnngageBchwindigkeiten. 257
Für die genauere Darlegung der Theorie einer unmittelbaren,
sinnlichen Zeitvorstellung muß man vor allen Dingen feststellen,
inwiefern sich das Beobachtungsurteil von dem unmittelbar Wahr¬
genommenen unterscheidet. In der Regel vergeht eine gewisse
Zeit nach dem Auftauchen des Sinneseindruckes, bis ein Urteil
abgegeben wird. Was in dieser Zeit mit dem Wahrnehmungs¬
inhalte geschieht, muß klargestellt werden. Ist das Urteil nur
eine Ausprägung dessen, was die Sinneswahrnehmung schon ent¬
hält, oder bringt es zum unmittelbaren Eindrücke etwas Wesent¬
liches hinzu bzw. modifiziert ihn?
Wenn für einen speziellen Fall eine klare Sinnes Wahrnehmung
nicht vorliegt, sind offenbar zur Abgabe eines bestimmten Urteiles
■subjektive Ergänzungen nötig. Wenn aber ein klarer psychischer
Wahrnehmungsprozeß stattgefunden hat, fällt es schwer, bedeu¬
tendere Abweichungen zwischen der ursprünglichen Wahrnehmung
und dem Beobachtungsurteile zuzugeben. Die sogenannte »Ver-
gegenständlichung« des psychischen Vorganges der Sinneswahr¬
nehmung durch ein primäres Urteil scheint nichts prinzipiell Ver¬
schiedenes von der direkten, einfachen Beobachtung zu sein, wenn¬
gleich die Vergegenständlichung wesentlich durch subjektive, nicht
in dem Reize liegende Faktoren bedingt ist.
Wie ausgeftthrt worden ist, hat man in einer einfachen, wäh¬
rend einer Sinneswahrnehmung stattfindenden Klärung der Vor¬
stellung keinen neuen Bewußtseinsprozeß zu erblicken. Deshalb
wird man auch nach dem Aufhören der eigentlichen Sinnes¬
wahrnehmung, solange die Vorstellung noch unmittelbar im Be¬
wußtsein bleibt, kaum einen von der Sinnesauffassung dif¬
ferenten Prozeß als Ursache für eine weitere Klärung der
Vorstellung annehmen können. Es sind dieselben subjektiven
Faktoren, die schon beim Zustandekommen der Sinneswahrnehmung
mitwirken mußten und die nachher eine weitere Verdeutlichung
der Vorstellung herbeiführen, sei es, daß auch die objektiven
Momente noch weiter wirken und nur der Bewußtseinsgrad der
Sinneswahrnehmung zonimmt, sei es, daß nur noch die Bubjek-
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258
C. Minnemann,
Erläuterungen, da hierauf die sogenannte psychische Simultaneität
einer Zeitstrecke sich gründet. Die unmittelbare Bewußtheit einer
Sinneswahrnehmung geht nicht sofort mit dem Aufhören der ob¬
jektiven Heize, oder sobald das Aufhören derselben bemerkt wird,
zu Ende. Wahrscheinlich dauern die zentraleren Erregungspro¬
zesse, die durch die Sinnestätigkeit hervorgerufen wurden, noch
eine Weile an. Tatsächlich hat man noch eine Zeitlang ein un¬
mittelbares Bewußtsein der bereits vergangenen Sinneswahrneh¬
mung. Diese Erscheinung hat man sich aber nicht so vorzustellen,
daß die Sinneswahrnehmung in gleicher Weise, wie sie aktuell
vorhanden war, nur vielleicht etwas abgeblaßt, fortbesteht, sondern
man bemerkt deutlich einen Unterschied. Man weiß, daß die ob¬
jektive Reizaufnahme nicht mehr stattfindet. Dennoch ist die Ver¬
änderung des Bewußtseinsinhaltes nicht derartig, daß man hierfür
einen neuen psychischen Prozeß ansetzen müßte. Es hat vielmehr
den Anschein, als ob bloß eine- bestimmte Nuancierung des
Wahrnehmungsprozesses, die durch die aktuelle Beteiligung
objektiver Faktoren bei der Reizaufnahme hervorgerufen war, jetzt
fehlt, so daß aber die Kontinuität des Vorganges durch die Kon¬
stanz subjektiver Faktoren gewahrt bleibt, die ebenfalls von An¬
beginn der Wahrnehmung, bzw. schon vorher, an dem psychischen
Prozesse beteiligt waren. Somit läßt sich der Standpunkt ver¬
treten, daß keine getrennten Bewußtseinsprozesse anzunehmen sind,
weder für die Sinneswahrnehmung im engeren Sinne (Perzeption)
und die Auffassung derselben (Apperzeption), noch für den Ge¬
samtvorgang der direkten Sinnesbeobachtung und die Erhaltung
dieses Bewußtseins über die Dauer der eigentlichen Sinneswahr¬
nehmung hinaus.
Zunächst ist der Eindruck der Unmittelbarkeit durch die
Kontinuität des Bewußtseinsprozesses gegeben. Aber es ist für
den Eindruck der unmittelbaren, auf eine Sinneswahrnehmung
zurückgehenden Bewußtheit offenbar nicht unbedingt erforderlich,
daß wirklich der psychische Prozeß kontinuierlich fortbesteht.
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1. Theor. Erürter. iib. die Differenz von Wahrnehmungsgeschwindigkeiten. 259
Es ist das natürlichste, als Ursache für die Fortdauer dieses Ein¬
druckes der Unmittelbarkeit physiologische Prozesse oder von der
Erregung zurtickgelassene Dispositionen anzunehmen. Denn eine
psychische Fortdauer der Vorstellung in einer unbewußten Sphäre
oder unterhalb der Merklichkeit erscheint für den hier vertretenen
Standpunkt nicht angängig. Dann ist es allerdings nicht leicht,
die noch unmittelbar bewußten Sinnesvorstellungen gegen die aus
der Wiedererinnerung entstandenen Eindrücke abzugrenzen. Je¬
doch ist es fraglich, ob eine derartige Scheidung überhaupt nötig
ist. Vielleicht stellt die Erinnerung, soweit sie sich mit Bestimmt¬
heit als solche charakterisiert, nur ein Rudiment ursprünglicher
Sinneswahrnehmung bzw. anderer aktuell gewesener psychischer
Prozesse dar, das auf Grund der damals entstandenen physio¬
logischen Dispositionen durch irgendeinen Anlaß erneut ein Be¬
wußtsein auslösen kann. Insoweit im Bewußtsein eine deutliche
Beziehung auf ein früheres Erlebnis besteht, kann man noch von
einer unmittelbaren Bewußtheit dieses Prozesses reden. Das Kri¬
terium für die Unmittelbarkeit wäre demnach ein subjek¬
tives. Mag der spätere psychische Inhalt sich noch so sehr von
dem ursprünglichen Erlebnis unterscheiden, indem subjektive Fak¬
toren in der Zwischenzeit eine modifizierende Wirkung ausgeübt
haben: soweit der subjektive Eindruck besteht, daß ein direkter
Zusammenhang mit dem ersten Wahrnehmungsprozesse vorliegt,
und daß keine wesentlichen subjektiven Modifikationen nachträg¬
lich vorgenommen sind, fehlt die Berechtigung, die wirkliche Un¬
mittelbarkeit des späteren Prozesses in Abrede zu stellen. Ebenso¬
wenig berechtigt eine Inkonzinnität des Wahrnehmungsbildes gegen¬
über einem objektiven Reize zu dem Schlüsse, daß überhaupt kein
unmittelbar bewußter Aufnahmeprozeß stattfand. So trägt eine
Wahrnehmungstäuschung in gleicher Weise den Charakter einer
unmittelbaren Wahrnehmung wie eine den objektiven Verhältnissen
besser gerecht werdende Auffassung. Möglicherweise sind bei einer
Sinnestäuschung mindestens die zentraleren Erregungsprozess^
schon entsprechend der Täuschung modifiziert. Vielleicht besitzt
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260
C. Minnemann,
Schwierigkeiten za ergeben scheinen. Eine Sukzessionsvorsteilang
kommt dadurch zustande, daß psychische Prozesse sukzessiv ent¬
stehen. Da nun der Moment des Wechsels nur einen einzigen
Zeitpunkt erfüllt, so scheint auch die Dauer einer derartigen Suk¬
zessionsvorstellung nur eine momentane sein zu können, und es
erscheint zunächst nicht verständlich, wie eine derartige Vorstellung
sich länger im Bewußtsein erhalten kann. Aber diese Schwierig¬
keit ist nur eine scheinbare. Einerseits ist die Vorstellung einer
Sukzession z. B. zweier Wahrnehmungen nicht allein an die Mo¬
mente des Eintretens der Empfindungen gebunden, sondern auch
im weiteren Verlaufe, z. B. durch die Phasen des An- und Ab¬
klingens, gibt sich die Zeitdifferenz der beiden Empfindungen kund
und bleibt für einige Zeit anschaulich im Bewußtsein bestehen.
Andererseits besitzt man an der Reproduktionsmöglichkeit kon¬
kreter psychischer Zusammenhänge ein Mittel, sich die ursprüng¬
liche Aufeinanderfolge wiederholt psychisch zu vergegenwärtigen.
Denn die unmittelbare Bewußtheit eines Wahrnehmungsprozesses
bezieht sich nicht bloß auf den Inhalt dieses Vorganges, sondern
auch auf seinen zeitlichen Ablauf und den erlebten Zusammen¬
hang mit anderen Bewußtseinsvorgängen. Man darf sogar au-
nehmen, daß die unmittelbare Bewußtheit der zeitlichen Verhält¬
nisse eines Erlebnisses unter Umständen die Bewußtheit der
qualitativen Inhalte überdauert. Aus der konkreten Sukzessiojis-
vorstellung kann sich auf diese Weise schon eine Art Sukzessions¬
urteil entwickeln, das längere Zeit im Gedächtnis festgehalten
wird. Natürlich kann ein solches Urteil auch bereits entstehen,
solange noch inhaltliche Seiten des Wahrnehmungsvorganges relativ
stark bewußt sind. Für die Zuverlässigkeit des Urteiles ist es
sogar wichtig, daß das Zeiturteil in möglichst naher Beziehung
zu den konkreten Erlebnissen steht. Wenn das Urteil erst ge¬
bildet wird, nachdem die unmittelbare Bewußtheit der Prozesse,
auf die es sich bezieht, schon beträchtlich herabgemindert ist, so
werden sich um so leichter subjektive Modifikationen des eigent¬
lich Erlebten einstellen können. Dasselbe ist der Fall, w^enn über¬
haupt keine deutliche Wahrnehmung zustande kommt, etwa bei
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PRINCETON UNIVERSITY
I. Theor. Erürter. üb. die Differenz von VVahrnelmningegeschwindigkeiteu. 261
anderen Erlebnissen angewiesen. Es ist deshalb Aufgabe jeder
exakten Untersuchung Uber die Zeitverhältnisse von Wahrneh¬
mungen, genau zu unterscheiden zwischen dem unmittelbar sinn¬
lich Erlebten und zwischen eventuellen späteren Zutaten und
Modifikationen, die das Urteil beeinflußt haben. Im einzelnen
Falle ist die sichere Feststellung dieser Momente manchmal nicht
leicht, so daß ein gewisser Spielraum hinsichtlich der Auslegung
des psychischen Vorganges bestehen bleibt. Im allgemeinen aber
darf inan behaupten, daß, sofern der psychische Eindruck der un¬
mittelbaren Bewußtheit vorhanden ist, diese auch wirklich existiert.
Die Hauptgesichtspunkte Uber die unmittelbare Zeit¬
vorstellung sind also kurz folgende.
Die unmittelbare Sukzessionsvorstellung schließt sich durchaus
an die konkreten Bewußtseinserlebnisse an und entsteht nicht erst
durch einen besonderen psychischen Prozeß. Soweit eine Suk¬
zessionsvorstellung unabhängig von mittelbaren Prozessen existiert,
enthält sie nur tatsächliche Beziehungen der Bewußtseinsvorgänge,
so daß keine Abweichung zwischen den Zeitverhältnissen der un¬
mittelbaren Wahrnehmung und der darauf bezüglichen unmittel¬
baren Zeitvorstellung möglich ist. Ein einzelner erlebter Zeit¬
punkt kann für längere Dauer im Bewußtsein bleiben in derselben
Art, wie ganze Vorstellungen oder einige ihrer Teilinhalte längere
Zeit unmittelbar im Bewußtsein verharren können. Dieser Um¬
stand verhindert nicht, daß die direkte Sukzessionswahrnehmung
innerhalb der sogenannten Bewußtseinsdauer einer bestimmten
Vorstellung fortschreiten kann und sogar sehr feine psychische
Zeitunterschiede innerhalb dieser Zeitspanne Vorkommen können.
Denn die Bewußtseinsdauer einer Vorstellung bedeutet nicht einen
psychischen Zeit-»Punkt«, sondern sie ist gerade dadurch als Zeit¬
strecke kenntlich, daß sich während des Vorhandenseins einer
unmittelbaren Bewußtheit noch andere psychische Vorgänge ab¬
spielen oder verschiedene Phasen der unmittelbaren Bewußtheit
erkennbar sind. Dementsprechend ist die Tatsache der Gleich-
zeitiffkeitszone bei rasch aufeinanderfolgenden Beizen auf wirk-
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262
C. Minneruann.
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5) Bedeutung der Oleichzeitigkeitszouen ftir den Vergleich von
Wahrnelimiingsgesclnvindigkeiten.
Da es sich bei dem Vergleiche von Wahmehmungsgeschwindig-
keiteu darum handelt, Eindrücke von rasch aufeinanderfolgenden
Reizen zu beobachten, so stößt man bei der Untersuchung unwill¬
kürlich auf die erörterte Erscheinung der Gleichzeitigkeitszone.
Es erhebt sich die Frage, wie diese Größe rechnerisch zu be¬
handeln ist und welche Unterschiede sich aus den verschiedenen
Beobachtungsmethoden für sie ergeben.
Zwei Reize lassen sich also nicht beliebig einander nähern,
so daß noch stets subjektive Differenzen der Zeitfolge bestehen,
sondern bei einer gewissen objektiven Zeitdistanz erscheinen die
Eindrücke als gleichzeitig, und auch bei weiterer zeitlicher An¬
näherung der Reize gegeneinander bleibt die Auffassung eine
koinzidente. Es ergibt sich aber, daß meistens die objektive Dif¬
ferenz, bei welcher die zeitliche Verschmelzung der Reize eintritt,
nicht die gleiche ist, wenn man die Reizfolge umkehrt. So macht
es eineu Unterschied aus, ob man den Grenzpunkt der Gleich¬
zeitigkeit für eine Reizfolge Licht-Schall bestimmt oder ob mau
den äußersten subjektiven Koiuzidenzpunkt für die Folge Schall-
Licht aufsucht. Die Verhältnisse der umgekehrten Reizfolge lassen
sich als Fortsetzung der ersten Anordnung betrachten, da bei
gleichbleibender Verschiebungsrichtung eines Reizes gegen den
anderen die Reihenfolge der Reize umschlägt, sobald der objek¬
tive Gleichzeitigkeitspunkt überschritten wird. Das von beiden
Grenzpunkten eingeschlossene Gebiet stellt demnach die
gesamte Zone für subjektive Gleichzeitigkeit zweier
Reize dar. Meistens verteilt sie sich asymmetrisch um den ob¬
jektiven Gleichzeitigkeitspunkt. Manchmal kann auch der Fall
eintreten, daß beide Grenzpunkte subjektiver Gleichzeitigkeit auf
derselben Seite des objektiven Koinzidenzpunktes liegen, so daß
die eine der beiden Reizfolgen niemals als gleichzeitig, sondern
stets als zeitlich dilferent aufgefaßt wird. Dies wird jedoch, wie
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I. Tbcor. Erürter. üb. die Differenz von Wahmehinungsgeschwindigkeiten. 263
stimmte Aufmerksamkeitseinstellung kann eine derartig bedeutende
Zeitverschiebung der objektiven Vorgänge herbeigeführt werden.
Der Betrag der Gleichzeitigkeitszone, also die gesamte Strecke
für subjektive Gleichzeitigkeit zweier Keize, ist zunächst insofern
von Interesse, als man daraus die Präzision der zeitlichen
Auffassung beider Reize erkennen kann. Vergleicht man den
Umfang der Gleichzeitigkeitszonen zweier Darbietungen, in denen
die objektiven und subjektiven Verhältnisse des einen Eindruckes
konstant geblieben sind, während man die Bedingungen des an¬
deren Eindruckes nach dieser oder jener Hinsicht variiert hat, so
läßt sich die Differenz der Beobachtungsergebnisse auf den vari¬
ierten Faktor beziehen. Je geringer die Gleichzeitigkeitszone
ausfällt, desto geringer ist der Spielraum für die subjektive Zeit¬
verschiebung des einen oder anderen Reizes bei ihrem Zusammen¬
treffen, desto präziser erscheint der Moment des Eintretens der
Empfindungen begrenzt. Durch geeignete Variation der Unter¬
suchungsbedingungen findet man ziemlich genau den Anteil
heraus, der dem einen oder anderen der Reize bzw. ihren Eigen¬
schaften und den für sie bestehenden speziellen Auffassungs¬
dispositionen für die Bildung der Gleichzeitigkeitszone zukommt.
Eine gewisse Unsicherheit der Auslegung läßt sich allerdings bei
dem Vergleiche kaum ausschließen, da es schwer ist, bei Vari-
ierung eines Reizes die Auffassungsverhältnisse des anderen ge¬
nau konstant zu erhalten. Wenn nun auch die Gleichzeitigkeits¬
zone ein Produkt ist, das aus dem nahen Zusammentreffen zweier
Keize resultiert, so liegt es dennoch nahe, daß diese Schwelle
auch für größere Intervalle der Reize und für das isolierte Vor¬
kommen eines Reizes ihre Bedeutung hat. Für diese Fälle wird
eine ähnliche Verschiebbarkeit des Auffassungsmomentes bestehen,
wie sie in der Gleichzeitigkeitszone für zwei kurz aufeinander¬
folgende Reize zutage tritt.
Wichtiger als die Größe der Gleichzeitigkeitszone, aus der sich
eine angenäherte Vorstellung von der Präzision des subjektiven
Wahrnehmungsmomentes ableiten läßt, ist für die Feststellung
der relativen Wahrnehmungsgeschwindigkeit die Lage der Zone
zu dem durch die Auffassung des anderen Reizes gegebenen
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264
C. Miimeinauu.
tration größeren Schwankungen unterworfen ist, wird der Mittel¬
punkt der Schwelle hiervon weniger berührt. Deshalb ist für den
Vergleich der Wahrnehmungsgeschwindigkeiten dieser aus den
Grenzpunkten der Gleichzeitigkeitszone sich ergebende durch¬
schnittliche subjektive Gleichzeitigkeitspunkt zu wählen. Die
direkten Beobachtungsdaten lassen sich jederzeit aus den mit¬
geteilten Zahlen rekonstruieren. Man braucht zu diesem Zwecke
nur die Hälfte der Gleichzeitigkeitszone zu dem berechneten
Mittelwerte der Zeitverschiebung zu addieren bzw. zu subtrahieren.
Jedoch erfordert die Benutzung des mittleren Zonenpunktes
für deu Vergleich von Wahrnehmungsgeschwindigkeiten einige
Erläuterungen. Besonders ist zu überlegen, ob sich nicht durch
diesen Schritt die Fragestellung der Untersuchung wesentlich
verschiebt. Das wird kaum der Fall sein; denn der festgestellte
Mittelwert bedeutet den durchschnittlichen Betrag der Zeitverschie¬
bungen, die bei wechselnder Aufeinanderfolge der betreuenden,
rasch sukzedierenden Reize möglich sind. Bald wird der eine,
bald der andere Reiz infolge der zeitlichen Verschmelzung der
Wahrnehmungen verhältnismäßig früher oder später aufgefaßt.
Durchschnittlich aber besteht eine Verschiebung mehr zugunsten
des einen als des anderen Reizes. Der Mittelwert stellt also w r ohl
deu allgemeineren Fall der Wahrnehmungsverschiebung dar, un¬
abhängig von der speziellen nahen Aufeinanderfolge der Reize,
und scheint daher auch für die Auffassung eines einzelnen Reizes
eine entsprechende Gültigkeit zu besitzen. Durch die Lage des
Mittelpunktes der Gleichzeitigkeitszone imVergleich zum Nullpunkte
der Verschiebung ist diese mittlere Wahrnehmungsdiflerenz bestimmt.
-+
h
—I-1--1->
M S L 2
Fig. 2.
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Figur 2 erläutert diese Verhältnisse. Es stelle L, S die für
die Reizfolge Licht-Schall gefundene Zeitstrecke dar, innerhalb
welcher die Reize als gleichzeitig erscheinen. S L 2 bezeichne die
analoge Zeitstrecke für die Reizfolge Schall-Licht. Die gesamte
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I. Theor. Erörter. üb. die Differenz von Wabrnehmungsgeschwindigkeiten. 265
tive Zusammenfallen beider Reize, die Expositionsdifferenz Null
darstellen würde. Der Abstand des Zonenmittelpunktes M von
diesem Punkte S läßt die durchschnittliche Verschiebung des Licht¬
reizes gegenüber dem Schallreize erkennen; d. h. der Lichtreiz
muß durchschnittlich um den Betrag 5 M früher geboten werden
als der Schallreiz, damit er diesem gleichzeitig erscheint. Die
mittlere Verschiebung der Lichtauffassung ist in diesem Beispiel
positiv, denn das Schema stellt die Verhältnisse der objektiven,
nicht der subjektiven Zeitreihe dar.
Nach dieser Darstellung liegt stets eine Wahrnehmungsver¬
schiebung vor, wenn der Mittelpunkt der Gleichzeitigkeitszone
nicht mit dem Auffassungsmomente des Normalreizes zusammen¬
fällt. Es ist also nicht erforderlich, daß beide Grenzpunkte der
Gleichzeitigkeitszone auf derselben Seite des Zeitpunktes für die
Auffassung eines Normalreizes liegen, so daß eine wirklich vor¬
handene Sukzession subjektiv umgekehrt würde oder in Wirklich¬
keit gleichzeitig vorhandene Sinneseindrücke sukzessiv wahrge¬
nommen würden. Für die Konstatierung einer Zeitverschiebung
genügt es, daß eine subjektive Gleichzeitigkeit zweier Eindrücke
eher erreicht wird, wenn man den variablen Reiz von der einen
Seite dem konstanten zeitlich nähert, als wenn man ihn von der
anderen Seite heranrückt. So hat schon Exner, der zuerst die
Frage nach der relativen Wahrnehmungsgeschwindigkeit zweier
Reize experimentell in Angriff nahm, seine Versuchsresultate inter¬
pretiert. Seine Ergebnisse können deshalb nicht etwa als Beleg
dafür gelten, daß eine eigentliche Zeitverschiebung in den betref¬
fenden Fällen nicht stattgefunden habe. Selbst wenn man den
Grund für die verschiedene Distanz der Grenzpunkte für Gleich¬
zeitigkeit in einer verschiedenen Dauer des Ansteigens und der
Nachwirkung der Reizung sehen wollte, ist doch zu bedenken,
daß die Untersuchung nur nach dem ersten Eintreten der Wahr¬
nehmung fragt, wobei die Ursachen der Verschiebung für die Fest¬
stellung der Tatsache zunächst nicht in Betracht kommen. Z»um
Teil wird die Verschiebung sicherlich durch peripher-physiologische
Verzögerungen hervorgerufen. Aber wenn eine verschiedene lDa ttCr
des Ansteigens einer Empfindung in dem Sinne angenommen wi r< ^
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266
C. Minnemann,
dieser Vorgang keinen Einfluß mehr auf den zu bestimmenden
Zeitpunkt des ersten Bewußtwerdens der Empfindung haben.
Eine Wahrnehmungsverschiebung kann sowohl subjektiv wie
auch objektiv, iu diesem Falle einfach durch Differenzen der
Erregungsprozesse bei gleichen subjektiven Bedingungen, herbei-
geführt werden. Denn es sollen nicht nur durch die Auf¬
merksamkeit bedingte Abweichungen als Zeitverschiebungen
gelten.
Daß schon bei ungleicher Verteilung der Gleichzeitigkeitszone
um den objektiven Gleichzeitigkeitspunkt zweier Reize die Be¬
dingungen für eine wirkliche Zeitverschiebung vorliegen, ergibt
sich schon daraus, daß beim Überschreiten der Grenzpunkte, also
bei größeren Intervallen, die scheinbare Distanz sich als abhängig
von dem zugehörigen Schwellengrenzwerte erweist. Denn be¬
obachtet man eine Reizfolge, die merklich distant erscheint, so
richtet sich die Vorstellung des Intervalles nicht nach dem Ab¬
stande vom objektiven Gleichzeitigkeitspunkte, sondern nach der
Entfernung von der Grenze des Gebietes scheinbarer Gleichzeitig¬
keit. Bei ungleicher Distanz beider Grenzpunkte vom objektiven
Gleichzeitigkeitspunkte wird dasselbe objektive Intervall in der
einen Reizfolge flir größer angesehen als in der anderen, d. h. die
Verschiebung der objektiven Relationen ist für die eine Zeitfolge
bedeutender als für die andere. Auch die Intervallschätzung
richtet sich also nach dem Punkte mittlerer subjektiver Gleich¬
zeitigkeit.
Noch an einer anderen Erscheinung sieht man, daß bei asym¬
metrischer Verteilung der Zone um den objektiven Gleichzeitig¬
keitspunkt eine eigentliche Zeitverschiebung vorliegt. Ändert man
die objektiven oder subjektiven Faktoren der Wahrnehmung, so
verschiebt sich die ganze Gleichzeitigkeitszone, d. h. der
Bereich, innerhalb dessen unter den gegebenen Bedingungen die
Eindrücke als gleichzeitig erscheinen. Auch die Einordnung eine»
Reizes in eine durch andere Empfindungen gegebene subjektive
Zeitreihe erfolgt gesetzmäßig, je nach den objektiven Reizungs¬
bedingungen oder subjektiver Anspannung bzw. nach der Auf-
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I. Theor. Erörter. üb. die Difterenz von Walirnehimingsgeschwindigkeiten. 267
Mittelwert der Zuordnungsmöglichkeiten als die durchschnittliche
Wahrnehmungsverschiebung anzusehen *).
Dennoch darf man nicht übersehen, daß der Mittelwert durch¬
schnittlicher Verschiebung nicht einen wirklich beobachteten Fall
darstellt, sondern sich rechnungsmäßig aus den beiden Grenz¬
punkten der Gleichzeitigkeitszone ergibt. In erster Linie dient
dieser Wert dazu, die Übersichtlichkeit der Ergebnisse zu erleich¬
tern. Dagegen soll seine Berechnung nicht etwa bedeuten, daß
der Einfluß des Ansteigens und der Empfindungsdauer bzw. des
Abklingens als gleichwertig für das Zustandekommen der Gleich¬
zeitigkeitszone angesehen wird. Es kann sehr wohl sein, daß die
durchschnittliche Wahrnehmungsverspätung eines Lichtreizes im
Vergleich zu Gehörseindrücken hauptsächlich auf Rechnung eines
allmählichen Einsetzens der Lichtempfindungen zu stellen ist, oder
daß sich Unterschiede des mittleren Gleichzeitigkeitspunktes auch
aus der Dauer der Empfindungen ergeben. Aber es ist Sache
einer speziellen Erörterung der Ergebnisse, auf diesen Punkt ein¬
zugehen und auch die Frage zu diskutieren, inwieweit etwa den¬
noch mittelbaren Ursachen ein Einfluß auf die Bildung des Be-
obachtungsurteiles zuzuschreiben ist.
Will man Resultate, die aus verschiedenen Untersuchungs¬
methoden für die Wahrnehmungsgeschwindigkeiten gefunden wer¬
den, miteinander vergleichen, so hat man natürlich die Art des
Messungsvorganges zu berücksichtigen. Nicht bei allen Unter¬
suchungswegen wird methodisch ein Gebiet subjektiver Gleich¬
zeitigkeit festgestellt. Z. B. beim Reagieren auf den einen oder
anderen Reiz, wobei nachträglich die Reaktionszeiten miteinander
verglichen werden, liegt es schon in der Untersuchungsart, daß
die Feststellung einer Gleichzeitigkeitszone auf direktem Wege
ausgeschlossen bleibt. Es lassen sich höchstens die zu den Reizen
gehörigen Streuungsgebiete nach gewissen Gesichtspunkten in Be¬
ziehung setzen. Aber diese Schwellen sind keineswegs identisch
mit der bei einer direkten Reizvergleichung auftretenden Gleich¬
zeitigkeitszone, die nach der Methode der Minimaländerung ge¬
funden wird. Ebensowenie: läßt sich bei Komnlikationsver-
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268
C. Minneinaim.
Digitized b)
Glockenscklag in die Bewegungserscheiuuug eines Zeigers einge¬
ordnet werden soll, lassen sich sehr wohl die Punkte bezeichnen,
an denen die Schallempfinduug und der optische Eindruck eben
zusammenzufallen scheinen und wo diese Eindrücke subjektiv
wieder auseinandertreten, und mau findet auf diese Weise eine
Zone subjektiver Gleichzeitigkeit für das akustische und optische
Sinnesgebiet. Aber es ist zu beachten, daß die Grenzpunkte dieses
Gebietes unter ungleichen Bedingungen bestimmt wurden. Bei
der Bestimmung des ersten Grenzpunktes bewegte sich der Zeiger
auf den Bereich der Gleichzeitigkeit hin, an dem zweiten Punkte
verließ er diese Zone wieder und rückte kontinuierlich weiter
davon ab. Berechnet man aus beiden Schwellenpunkten den mitt¬
leren Koinzidenzpunkt, so enthält das Ergebnis den Faktor ein¬
seitiger Beobachtungsrichtung, und der auf diese Weise gefundene
Wert läßt sich nicht ohne weiteres mit der Bestimmung der Wahr¬
nehmungsgeschwindigkeit disparater Einzelreize vergleichen.
Die an der Komplikationsuhr auftretende Einseitigkeit der Be-
obachtuugsrichtung ist eine ähnliche, wie sie bei einer unvoll¬
ständigen Messung von Unterschiedsschwellen nach der Methode
der Miuimaländerungen auftritt. Wenn man bei der Minimal¬
methode nur in einer Richtung die Punkte der Gleichheit und
ebenmerklichen Verschiedenheit bestimmt, dagegen nicht auch
den umgekehrten Weg einschlägt, um aus allen vier Werten das
Mittel zu berechnen, so zeigt sich eine analoge Verschiebung des
Durchschnittes infolge der einseitig gerichteten Aufmerksamkeit.
Bei den Komplikationsversuchen besteht überhaupt nicht die Mög¬
lichkeit, die Beobachtungsrichtung gleichwertig umzukehren; denn
der optische Eindruck wird durch eine Beweguugserscheinung dar¬
gestellt, deren zeitlicher Ablauf naturgemäß nicht entsprechend
umkehrbar ist. Selbst wenn man bei sogenannter Skalenbeobach¬
tung versucht, von einem Punkte zeitlichen Auseinanderfallens der
Sinneseindrücke wieder zur Zone subjektiver Koinzidenz zurlick-
zukehren, liegen für diesen Weg die Beobachtungsbedingungen
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I. Theor. Erörter. lib. die Differenz von Walirueliuiungsgeschwindigkeiteu. 269
keitspunkt besitzt, erhält man an der zweiten Grenze der Schwelle,
wenn man den Punkt eben noch vorhandener Gleichzeitigkeit auf
dem rückläufigen Wege bestimmen will, erst durch die folgende
Umdrehung des Zeigers Aufschluß darüber, ob man durch eine
korrigierte Annahme schon die Grenze erreicht hat oder um
wieviel mau sich darin geirrt hat. In dieser Besonderheit der
Schwellenbestimmung liegt eine Eigentümlichkeit, die an jedem
Bewegungsvorgange zu bemerken ist; dennoch hat man die da¬
durch bewirkte Verschiebung nicht eigentlich durch die Bewegung
bedingt anzusehen, sondern durch die Einseitigkeit der Zonen¬
ablesung, die freilich bei einer Bewegungserscheinuug nicht anders
möglich ist. Bei einem Vergleiche solcher Beobachtungen mit
Zeitverschiebungen zwischen Einzelreizen ist dieser Umstand zu
berücksichtigen und nach einer dann etwa noch verbleibenden
Differenz der Beobachtungen zu fragen, die speziell als Einfluß
der Bewegung aufzufassen wäre.
Die Einseitigkeit der Ablesung tritt an der Komplikationsuhr
um so stärker hervor, wenn man, wie es häufig geschieht, über¬
haupt keine Zone, sondern nur den ersten Grenzpunkt der Gleich¬
zeitigkeitszone bestimmt und diesen als den eigentlichen Punkt
der Gleichzeitigkeit mit dem Schalleindrucke ansieht. Diese Art
der Ablesung scheint mit der Annahme zusammenzuhängen, daß
die Ausdehnung der psychischen Gleichzeitigkeit durch die längere
Dauer des Schalleindruckes verursacht würde. Es ist aber die
Aufgabe, auf den Beginn der Schallempfindung zu achten und
sich nicht durch deren Dauer irritieren zu lassen. Auch dann,
wenn man sich an die Bedingungen der Aufgabe hält, erweist
sich eine größere Strecke der Zeigerbeweguug als gleichzeitig mit
dem Beginn der Schallwahrnehmung, in analoger Weise, wie es
eine größere Schwelle für Gleichzeitigkeit bei Einzelreizen gibt.
Bestimmt man also an Komplikationserscheinungen nur den einen
Grenzwert der Schwelle, so fällt auch dieses Moment bei einem
Vergleiche mit den Ergebnissen anderer Zeitverschiebungen be¬
deutend ins Gewicht.
Dagegen entsteht ein spezifischer Einfluß der Bewegungs-
erscheinune- auf, die Zeitverschiebnner schon dadurch, daß sich
imune- auf, die Ze
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270
C. Minnemanu
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Tendenz, daß man den Einordnungspunkt möglichst früh anzunelmien
sucht. Je langsamer die Bewegung vor sich geht, um so besser
gelingt es, den Schall relativ früh anzusetzen, denn eine raschere
Zeigerbewegung erfordert zur Wahrnehmung einen größeren Auf¬
wand von Aufmerksamkeit. Bei langsamer Rotation dagegen kann
sich die Aufmerksamkeit mehr auf die Wahrnehmung des Schall¬
reizes konzentrieren. Es ist das Natürliche, daß sich die Auf¬
merksamkeit vornehmlich diesem als dem zu beobachtenden, neu
eintretenden Phänomen zuwendet; daraus erklärt sich zur Genüge,
daß gewöhnlich eine sogenannte negative Zeitverschiebung statt¬
findet. Es kommt hinzu, daß ein geringerer Grad von Aufmerk¬
samkeit beim Beobachten die Folge haben würde, daß der Schall¬
reiz zu spät angesetzt werden würde, da die Zeigerbeweguug
kontinuierlich fortschreitet und die Auffassung derselben ohne be¬
deutende Aufmerksamkeit vor sich gehen kann. Hat man jedoch
den ersten Moment der Schallwahrnehmung zur Feststellung des
augenblicklichen Zeigerortes verpaßt, so erscheint die Wahrnehmung
des akustischen Reizes verspätet, weil der Zeiger mittlerweile
weiter vorgerückt ist. Anders liegen natürlich die Dinge, wenn
man bei undeutlicher Wahrnehmung des Vorganges sich nachträg¬
lich die eigentliche Lage für den Beobachtungsmoment vergegen¬
wärtigen will. Dann besteht wiederum die Neigung, den Punkt
rückwärts, entgegengerichtet der Zeigerbewegung, zu verschieben.
Bei rascher Drehung ist der Erfolg dieser Tendenz, in Zeit be¬
rechnet, geringer als bei langsamerer Rotation'). Der Beobachter
muß sich daher im einzelnen Falle genau darüber klar sein, wie
weit seine Angaben den Inhalt unmittelbarer Wahrnehmung dar¬
stellen und wie weit sie etwa das Ergebnis modifizierender Re¬
flexion sind.
Einen Einfluß auf das Beobachtungsresnltat kann außerdem
bei langsamer Rotation dem Bewegungsnachbild zugeschrieben
werden, wenn man der Zeigerbewegung mit dem Blicke folgt und
den Skalenpunkt im kritischen Moment durch Fixieren festzuhalten
sucht. Da die Skala zunächst eine der Zeigerbewegung entgegen-
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I Tbeor. Erürter. üb. die Differenz von Walimehmungsgeßchwindigkeiteu. 271
negative Verschiebung des Schallortes begünstigen. Jedenfalls
müssen die Beobachtungserscheinuugen genau analysiert werden,
wenn eine Parallele zu den einfacher bedingten Zeitverschiebuugen
gezogen werden soll, und wenn etwaige Differenzen, die spezi¬
fisch von der Bewegungserscheinung verursacht sind, aufge¬
zeigt werden sollen. Zum Teil erklären sich die Abweichungen
der Zahleuwerte schon aus der verschiedenen Beobachtungs¬
art.
Für die Bestimmung der Gleichzeitigkeitszone zweier Einzel¬
reize liefert die Methode der Minimaländerungen rasch sichere
Werte. Meistens ist es nicht nötig, alle vier Grenzpunkte der
Schwelle zu bestimmen, die nach dieser Maßmethode möglich sind;
sondern in der Regel genügen die beiden Punkte, die den Über¬
gang von merklicher zeitlicher Distanz zur subjektiven Gleich¬
zeitigkeit bezeichnen. Dieses Verfahren wird auch als Methode
der Gleicheinstellung oder der mittleren Fehler bezeichnet, ist
aber im Grunde nur eine vereinfachte Minimalmethode. Für die
Berechnung der Schwelle sind in der Regel die so gefundenen
Werte ausreichend. Denn es zeigt sich, daß diese Grenzen bei
Wiederholung der Versuche relativ konstant bleiben und sich
diese Bestimmungen durch subjektive Sicherheit auszeichnen.
Dagegen fallen die Beobachtungen über die ebenmerkliche Zeit¬
distanz nach Überschreiten der Gleichzeitigkeitszone bedeutend
unsicherer aus. Der Einfluß der Aufmerksamkeitsrichtung läßt
sich nach dieser Methode ziemlich gut eliminieren, und es
genügten verhältnismäßig wenige Beobachtungen, um sichere
Resultate Uber den Einfluß verschiedener objektiver
Reizfaktoren auf die Wahrnehmungsgeschwindigkeit zu ge¬
winnen.
Weniger exakt sind die Messungen über die Wirkung subjek¬
tiver Faktoren auf den Wahrnehmungsvorgang. Denn hierbei
liegen die Bedingungen bedeutend komplizierter. Bestimmte Ge¬
setzmäßigkeiten lassen sich auch hier nachweisen; aber die Zahlen-
ercebnisse können unmöglich von derselben Präzision sein wici
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272
C. Minnemann,
wie sich etwa verschiedene Helligkeiten quantitativ festsetzen
lassen. Man möchte umgekehrt den Grad der Aufmerksamkeit
aus ihrer Wirksamkeit auf die Wahrnehmungsgeschwindigkeit
messen. Solchen Messungen käme jedoch kein praktischer Wert
zu, weil die Aufmerksamkeit so inkonstant ist, daß eine Bestim¬
mung derselben schon für den nächsten Moment keine Gültigkeit
mehr hätte, vor allem aber, weil die gefundenen Werte sieh nicht
auf die Aufmerksamkeitsverhältnisse bei einer andersartigen Be¬
schäftigung übertragen ließen.
Von größerer Bedeutung ist für die Untersuchung der subjek¬
tiven Faktoren namentlich der Umstand, daß sich der Aufmerk¬
samkeitseinfluß bei der Zeitvergleichung zweier Empfindungen aus
zwei differenten Momenten zusammensetzt, aus einer Begünstigung
des einen Eindruckes und einer Hemmung des anderen. Bei der
Auffassung zweier Reize handelt es sich meistens um eine Auf¬
merksamkeitsverteilung. Wenn die Aufmerksamkeit dem einen
Eindrücke zugewendet ist, so liegt darin meistens, daß sie von
dem anderen relativ stark abgewendet wird. Anscheinend ist mit
dieser Einstellung, abgesehen von dem bloßen Fortfall einer mitt¬
leren Auffassuugsbegünstigung, häufig zugleich eine direkte Hem¬
mung der Wahrnehmungsgeschwindigkeit des weniger beachteten
fundruckes verbunden. Diese Hemmung kann unter Umständen
einen solchen Stärkegrad erreichen, daß der Reiz überhaupt nicht
mehr zur Wahrnehmung gelangt. Bei der experimentellen Unter¬
suchung der Wahrnehmungsgeschwindigkeit ist ein solcher Fall
natürlich ausgeschlossen, da die Beobachtung einen gewissen Grad
der Aufmerksamkeitskonzentration auch für den weniger beach¬
teten Reiz zur Voraussetzung hat. Aber die Tatsache der Auf¬
merksamkeitsverteilung läßt es doch praktisch unmöglich er¬
scheinen, einen Normalreiz für zwei Beobachtungen in völlig
gleichem Beachtungsgrade zu erhalten, w r enn die Beachtung des
anderen Reizes variiert wird. Außerdem liegt bei solchen Beob¬
achtungen wiederum eine Selhsttänschiiner über die Unmittelhnr-
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I. Theor. Erürter. üb. die Differenz von Wahruelnnungsgeschwindigkeiten. 273
l
stehenden Zeitverschiebungen sind ziemlich gering. Eine weit
größere Verschiebung wird durch eine andere Art der Aufmerk¬
samkeitsrichtung erreicht, durch die Tendenz, den einen Eindruck
möglichst rasch aufzufassen. Dazu gehört als Korrelat die Ver¬
zögerung der anderen Wahrnehmung. Auch dieser Verschie¬
bungseinfluß der Beachtung gestattet unmittelbare Wahrneh¬
mungen. Es ist aber naheliegend, die Verhältnisse der unmittel¬
baren Wahrnehmung infolge der Verschiebungstendenz zurlicktreten
zu lassen. Die Ditferenzen beider Beobachtungsarten liegen prin¬
zipiell darin, daß das eine Mal die Aufmerksamkeit möglichst
objektiv auf die Zeitfolge der Eindrücke gerichtet ist und nament¬
lich die Entstehungszeit des einen der Eindrücke genauer be¬
achtet wird; im anderen Falle tritt der beachtete Reiz in seiner
ganzen Breite qualitativ und intensiv ins Bewußtsein und es
herrscht die Absicht einer Auffassungsverschiebung, so daß sich
der Wahrnehmungsvorgang dann auch tatsächlich anders zeitlich
abspielt. Beiden Fällen gebührt theoretisch ein großes Interesse;
aber die zweite Beobachtungsart liefert noch weniger zahlen¬
mäßig bestimmte Resultate als die erstere, bei der die Auf¬
merksamkeit mehr auf die objektiven Zeitverhältnisse gerich¬
tet ist.
Bei der Zeitvergleichung zweier Eindrücke aus ein und dem¬
selben Sinnesgebiete gibt es noch einen anderen Anhaltspunkt für
die Messung, als die Grenzpunkte der eigentlichen Gleichzeitig¬
keitszone. Dieser Fall zeigt sich z. B. bei der Untersuchung mit
zwei Lichtreizen, die auf differente Netzhautstellen fallen. Noch
innerhalb der Gleichzeitigkeitszone bemerkt man dann Unterschiede
der Empfindung. Die von den Reizen ausgelösten Empfindungen
besitzen nämlich eine verschiedene Dauer, je nach der Distanz
der Expositionsmomente. Folglich kann man noch eine engere
Zone bestimmen, innerhalb welcher die Eindrücke nicht nur gleich¬
zeitig, sondern zusammen auch möglichst kurzdauernd erscheinen.
Diese Zone läßt sich am bequemsten so feststellen, daß man die¬
jenigen Reizdistanzen aufsucht, wo die Eindrücke an Dauer wieder
zu wachsen scheinen. Diese Beobachtungsverhältnisge geben zu¬
gleich die Möglichkeit, auch die sonst weniger
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gut bestimmbaren
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274
C. Minnemann,
hat man ein vorbereitendes Kriterium für das erste Merkbarwerden
einer Differenz der Empfindungseinsätze.
Demnach stehen in diesem Falle drei Schwellenwerte für die
Berechnung der mittleren Zeitverschiebung zur Verfügung. Außer
der Zone für subjektive Gleichzeitigkeit läßt sich eine etwas
größere Zone für ebenmerkliche Zeitdistanz der Reize auf¬
stellen und eine wesentlich engere Zone für Konziunität, die
sich auf die kürzeste Dauer der Empfindungen bezieht. Die
Mittelpunkte dieser drei Zonen fallen gewöhnlich etwas ausein¬
ander. Am konstantesten ist die Bestimmung der mittleren Wahr¬
nehmungsgeschwindigkeit durch die engste Zone, die der Kon-
zinnität; aber auch die aus den weiteren Zonen der Gleichzeitig¬
keit berechueten Mittelwerte weichen meistens nicht beträchtlich
von jener Bestimmung ab. Daher lassen sich auch alle drei
Mittelwerte zu einem Gesamtdurchschnitt vereinigen, und das Er¬
gebnis aus einer solchen vollständigen Messung ist einigermaßen
zuverlässig; letzteres schon deshalb, weil die zugrunde liegenden
Beobachtungen rasch ausführbar sind.
Die Tatsache, daß sich innerhalb der Gleichzeitigkeitezone
noch ein Gebiet für Konzinnität abhebt, mag überraschend
erscheinen. Denn man sollte meinen, daß bei völligem zeitlichen
Zusammenfallen beider Empfindungen die Dauer derselben keine
Rolle mehr spielen dürfte. Etwas anderes wäre es, wenn durch
beide Reize dieselbe Netzhautstelle erregt würde, oder wenn die
Untersuchnngsfrage nicht ausdrücklich auf den Anfang der Emp¬
findungen sich bezöge. Keineswegs aber hat man an den Dif¬
ferenzen der einheitlichen Empfindungsdauer, die trotzdem auch
in unserem Falle auftreten, einen Beleg dafür, daß sekundäre
Bewußtseinsprozesse an der Wahrnehmung beteiligt wären oder
gar überhaupt die Zeitvorstellung erst durch einen von den Emp¬
findungen gesonderten psychischen Akt zustande käme. Nach der
oben dargelegten Auffassung der Wahrnehmungsvorgänge hat man
vielmehr diese Erscheinung so auszulegen, daß durch die Erregung
einer Netzhautstelle bzw. durch die zugehörige zentrale Weiter¬
leitung auch die Wahrnehmuugsgeschwindigkeit für eine andere
Netzhautstelle nicht nur beschleunigt wird, sondern auch der Er-
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I. Theor. Erörter. üb. die Differenz von Wahrnehraungageschwindigkeiten. 275
wußtseinsdauer beider Reize erscheint somit über die normale
Größe verlängert, da die Wahrnehmung durch Betätigung empfind¬
licher eingestellt ist; der psychische Prozeß setzt früher ein und
klingt langsamer aus. Natürlich kann es sich bei solchen Wahr-
nehmungsVerschiebungen nicht um eine absolute Verfrühung der
Auflassung eines Reizes handeln, bevor dieser dargeboten ist,
sondern der zweite Eindruck tritt nur weniger verspätet nach
dem Beginn der peripheren Erregung ins Bewußtsein ein als
der erste. Beide werden mit einer absoluten Verspätung
aatgefaßt, wie in einem der vorigen Abschnitte dargelegt
wurde.
Es könnten sich jedoch Bedenken einstellen, ob ein derartiges,
sich auf die Dauer der Eindrücke stützendes Kriterium überhaupt
ftir die Bestimmung von Wahrnehmungsgeschwindigkeiten verwertet
werden darf. Wollte man nur die Wahrnehmungsgeschwindigkeit
speziell für die rasche Aufeinanderfolge zweier Reize feststellen,
so dürfte man allerdings dieses Beobachtungsmittel, das auf die
Empfindungsdauer rekurriert, nicht anwenden. Aber schon die
tatsächlich sich ergebende nahe Übereinstimmung des aus diesen
Beobachtungen gefundenen mittleren Zeitpunktes mit dem Mittel¬
punkte der weiteren Gleichzeitigkeitszone gibt eine gewisse Ge¬
währ dafür, daß es sich beidemal um ein Abhängigkeitsverhältnis
von der Wahrnehmungsgeschwindigkeit handelt. Vor allem aber
berechtigt zu dieser Beobachtungsart das Interesse, die Differenzen
der absoluten Wahrnehmungsgeschwindigkeiten von Sinnesge¬
bieten oder Reizarten festzustellen. Diese allgemeinen Verhält¬
nisse kommen offenbar auch in der Zone der »Konzinnität« zum
Ausdruck, während die Erscheinung der eigentlichen Gleichzeitig¬
keitszone als ein Produkt der raschen Aufeinanderfolge zweier
Reize, also mehr durch die besonderen Verhältnisse bedingt er¬
scheint. Die Verlängerung der Empfindungen außerhalb der Kon-
zinnitätszone läßt sich kaum anders erklären als dadurch, daß
die normalen Empfindungsprozesse, die'; für isolierte oder in
größeren Abständen exponierte Reize gelten, noch teilweise aus¬
einanderfallen würden; durch das zeitliche Übereinandergreifen
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II.
Bisheriger Stand der Untersuchungen über die
Wahrnehmungsgeschwindigkeit von Licht- und
Schallreizen.
Mit 2 Figuren (Figur 3 und 4) im Text.
Inhaltsübersicht. Peit ,
1) Untersuchungswege und aufgestellte Hauptergebnisse
a) der Reaktionsmethode.278
b) der direkten Vergleichung zweier Sinneseindrücke.283
c) der Komplikationsversuche.285
2) Vergleichende Zusammenstellung der wichtigsten Zahlenergebnisse
(nebst einer Tabelle)
a) nach Reaktionsversuchen.290
b) nach der Methode der direkten Vergleichung.291
e) nach Komplikationsversuchen.301
3) Zusammenfassung.309
Der vorliegende Abschnitt will eine kritische Übersicht geben
über die wichtigsten Feststellungen, die auf dem Gebiete der Wahr¬
nehmungsgeschwindigkeit von Licht- und Schallreizen bisher ver¬
sucht worden sind. Denn mit der experimentellen Erforschung
dieses Problems hat sich bereits eine große Zahl von Arbeiten
befaßt, um namentlich einzelne Seiten der Frage klarzustellen.
Es erscheint deshalb erwünscht, die Hauptbefunde kurz zusammen¬
zufassen, damit man um so leichter erkennt, wo sich noch Lücken
in der Behandlung dieses Gebietes finden. Zugleich aber dürfte
es wichtig sein, die gefundenen Ergebnisse miteinander, soweit es
möglich ist, zu vergleichen und festzustellen, ob auch die Resul¬
tate übereinstimmen oder ob sie im einzelnen einander wider¬
sprechen und zu einer erneuten Untersuchung anffordern. Ein
solcher Vergleich ist nur dadurch möglich, daß manche der An¬
gaben .
rlif» vnp->. den Verfasser»«
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miteeteilt worden sind, einer
urigiral from
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278
C. Minnemann,
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werden. Jedoch darf man sich nicht verhehlen, daß dieses Ver¬
fahren schließlich doch nur einen Notbehelf darstellt. Zur ein¬
wandfreien Beantwortung der Fragen gehört eine einheitlich
durcbgeflihrte Untersuchung, die sich über das ganze Gebiet er¬
streckt. Aber zur vorläufigen Orientierung Uber den augenblick¬
lichen Stand der Untersuchungsfragen mag die kritische Übersicht
doch einiges beitragen. Denn es wird schon mancherlei zur
Sichtung des Materiales und zur Bewertung der Feststellungen
erreicht werden können.
1) Untersuchung«wege und aufgestellte Hauptergebnisse.
Drei Hauptwege kommen für die Untersuchung von Wahr¬
nehmungsgeschwindigkeiten in Betracht: Die Methode der Reaktion
auf verschiedene Reize, die direkte Vergleichung von Auffassungs¬
zeiten für Reize desselben oder verschiedener Sinnesgebiete und
die Einordnung eines oder mehrerer Eindrücke in eine längere
Empfindungsreihe eines anderen Sinnesgebietes, die sogenannten
Komplikationsversuche.
a) Reaktionsmethode.
Die Reaktionsmethode ist auf psychologische Fragen zuerst
in Anwendung gebracht worden von Exner 1 ), der auch den Ter¬
minus der Reaktionszeit geprägt hat. Die Methode selber war
damals bereits bei einigen Physiologen in Gebrauch, um die
Fortpflanzungsgeschwindigkeit einer Erregung in den Nervenfasern
zu messen; Exner aber unternahm es, in den MessungsVorgang
die zentrale Leitung mit verschiedenen Bewußtseinsverhältnissen
einzubeziehen, und legte die Besonderheit dieser Untersuchungsart
gegenüber anderen Methoden zur Feststellung der sogenannten
persönlichen Gleichung dar. In seiner Abhandlung findet sich
auch ein Literaturnachweis Uber angrenzende Untersuchungen, die
namentlich zur Beseitigung des persönlichen Fehlers von Astro-
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11. Stand d. Unters, üb. die Wahrnehmungsgeschw.v. Licht-u. Schallreizen. 279
Das von den Astronomen schon vorher befolgte Verfahren
manueller Registrierung von Sterndurchgängen kann nach Exners
Ausführungen nicht als reine Reaktion angesehen werden, weil
bereits die Annähernng des Sternes zu den Fäden hin sichtbar
ist. Es handelt sich in solchem Falle also nicht um ein Reagieren
auf einen einfachen Sinnesreiz; sondern es liegen kompliziertere
Bedingungen vor. Die Sternbewegung Uber die Fäden hin soll
möglichst synchron mittaktiert werden. Dieses Verfahren wurde
als Signalisierungsmethode bezeichnet. Es lieferte augenscheinlich
viel größere Registrierungsschwankungen als das einfache, zuerst
von Exner untersuchte Reaktionsverfahren. Auch rhythmische
Wiederholung des Versuches ließ keine eigentliche Reaktionszeit
erkennen, da dann manchmal der motorische Impuls schon früher
abgegeben wurde, als der Reiz eintrat.
Die Messung der Zeiten erfolgte bei Exner graphisch. Eine
Beziehung der Reaktionszeiten zum Alter und Temperament der
Versuchspersonen konnte er nicht feststellen. Nur einige Medika¬
mente zeigten einen deutlichen Einfluß, während andere sich
als indifferent erwiesen. Auch das Gefühl für die längere oder
kürzere Dauer der erfolgten Reaktion war durchweg sehr gut
ausgeprägt. Im übrigen gewann Exner den Eindruck, daß feinere
Unterschiede der Sinnesreize schwerlich in det Gesamtheit der
Prozesse zum Ausdruck kämen. Zum Teil mag dieses negative
Ergebnis vielleicht in dem langsamen Experimentieren bei diesen
ersten Versuchen seinen Grund haben. Eine der Vp. hat in der
ersten Versuchsreihe nur drei Reaktionen ausgeführt. Aber aus
allgemeinen Erwägungen heraus möchte man trotzdem diesem
Befunde beipflichten. Denn in die Reaktionszeit geht eine ganze
Reihe von Faktoren ein und zeigt sich hierin so eng verschmolzen,
daß es kaum möglich erscheint, den Zahlenwert der Wahrnehmungs¬
geschwindigkeiten für verschiedene Reiz- und Auffassungverhält¬
nisse aus dem Gesamtergebnis herauszuschälen. Daher möchte
man der ganzen Methode nur eine sekundäre Bedeutung zur
Lösung dieser Fragen zusprechen.
Wenn man sich auch die größte Mühe gibt, nur einen der zu
untersuchenden Faktoren zu ändern, die übrigen an dem Vorgänge
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280
C. Minnemann
beziehen. Es sei beispielsweise zuerst auf einen Schallreiz, dann
auf einen Lichtreiz reagiert worden; dann weiß man noch nicht,
ob der Übergang von der Empfindung zur Auslösung einer Be¬
wegung für beide Sinnesgebiete gleich gut ausgebildet ist, oder
ob er sich etwa rascher für einen Schalleindruck als für eine
Lichtperzeption vollzieht. Gewöhnlich werden Differenzen nach
dieser Richtung hin angenommen, da man gewohnheitsmäßig
leichter auf einen Schallreiz als auf eine Lichterscheinung mit
einer Bewegung reagiert. Bisher lagen eindeutige Resultate für
die Differenzen von Wahrnehmungsgeschwindigkeiten noch nicht
vor. Deshalb konnte Uber den Wert der Reaktionsmethode für die
Feststellung von Wahrnehmuugsgeschwindigkeiten noch keine
sichere Entscheidung getroffen werden. Auf eine weitere Ursache
für die Schwierigkeit der Analyse von Reaktionszeiten weist
Wirth in seinem Buche hin 1 ). Er betont, daß jedes der im
Ganzen nacheinander ablaufenden Stadien des Reaktionsprozesses
bereits vorgebildet ist, bevor es deutlich in die Erscheinung tritt.
Ein augenfälliges Beispiel für diese Verhältnisse ist die Bildung
von Gesamtimpulsen für kompliziertere Handlungen; die Aus¬
führung ist offenbar größtenteils bereits durch das vorbereitende
Stadium determiniert.
Aus ähnlichen Gründen erscheint es unmöglich, aus Reaktions¬
versuchen die Dauer eines Apperzeptionswechsels zu berechnen.
Wundt nimmt für diesen Vorgang ein Minimum von 20—30 o
an, indem er diese Größe aus der kleinst möglichen Differenz
zwischen muskulärer und sensorieller Reaktion folgert 2 ). Es ist
aber fraglich, ob die Zeitunterschiede beider Reaktionsarten durch
einen Apperzeptionswechsel hervorgerufen werden. Man vergleiche
hierüber die kritischen Ausführungen von Ach 3 ). Die größere
Dauer der sensoriellen Reaktion scheint zu einem bedeutenden
Teile durch einfache Verlängerung der mit Bewußtsein verknüpften
Komponenten des Prozesses verursacht zu sein. Auch darf man
sich die apperzeptive Tätigkeit bei der Sinneswahrnehmung nicht
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II. Stand d. Unters, üb. die Wahrnehmungsgeschw. v. Licht- u. Schallreizen. 281
I
wie die zahlenmäßige Bestimmung dieses Vorganges nahe legt 1 ).
Unser psychisches Erleben verläuft in der Regel nicht derart dis¬
kontinuierlich, daß es sich aus einzelnen aufeinander folgenden
Apperzeptionsakten zusammensetzt, wenn sich auch natürlich Auf¬
merksamkeitsschwankungen mehr oder weniger periodisch ein-,
stellen. Meistens besteht ein kontinuierlicher Übergang zu neuen
Eindrücken, und die Beachtung stellt sich nicht abrupt ein.
Während neue Eindrücke aufitreten, klingen noch die früheren
allmählich ab, so daß der Inhalt unseres Bewußtseins gewöhnlich
in stetig sich änderndem Flusse abläuft.
Würde die Apperzeption einen selbständigen psychischen Prozeß
neben der einfachen Sinneswahrnehmung darstellen und das höhere
Bewußtseinsleben sich aus solchen Einzelprozessen auf bauen, so
würde auch die Auffassung zweier Sinneseindrücke, die nicht zu
einer Gesamtvorstellung gehören, stets nur auf Grund von sukzes¬
siven psychischen Akten möglich sein, ähnlich wie Herbart
eine Vorstellungskonkurrenz annimmt. In dieser Hinsicht würden
sich namentlich schon für die Komplikationsbeobachtungen einige
Schwierigkeiten ergeben, da es unmöglich sein soll, den Zeiger
einer Komplikationsuhr und das Bild des auf die Glocke herab¬
fallenden Hammers in einem Akte zu apperzipieren. Analoge
Verhältnisse würden für die subjektive Gleichzeitigkeit zweier
einzelner disparater Eindrücke vorliegen, so daß es geboten er¬
scheint, von der Vorstellung besonderer Apperzeptionsakte ab¬
zusehen.
i
Übrigens verträgt sich die Ansicht, daß der Unterschied zwischen einer
muskulären und sensoriellen Reaktion durch die Dauer des Apperzeptions-
wechsels bedingt sei, nicht mit der Auffassung, daß nur physiologische
Bedingungen der SinneBreizung den Unterschied zwischen den Reaktions¬
zeiten auf einen Licht- oder Schallreiz hervorrufen ? ). Für die beiden Reaktions-
1) Bei Wundt findet sich die deutliche Scheidung des Reaktionsvor¬
ganges in die drei Akte der Perzeption, Apperzeption und Willenserregung,
von denen namentlich die beiden letzteren »in deutlicher Aufeinanderfolge«
erscheinen sollen (S. 412); und es wäre von Interesse, die Perzeptions-,
Apperzeptions- und Willenszeit, nachdem sie von den rein physiologischen.
Vorgängen der peripheren und zentralen Nervenleitung gesondert sind, soweit:
als möglich einzeln za bestimmen fS. 411). Eine besondere Tätigkeit, «lies
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282
C. Minnemann.
arten ergibt sich nämlich nicht der gleiche Unterschied zwischen der Licht-
und Schallreaktion. Die sensorielle Lichtreaktion dauert verhältnismäßig
länger. Wenn dieses eine Folge der weniger ausgebildeten Koordination
zwischen Gesichts- und Tastsinn ist, so daß der Apperzeptionswechsel bei
einer sensoriellen Lichtreaktion mehr Zeit beansprucht als bei dem gleichen
Reaktionsverfahren auf einen Schallreiz 1 ), dann wird außer den physiologi¬
schen Bedingungen der Sinnesreizung noch ein weiteres Moment zur Er¬
klärung der Reaktionsdifferenzen herangezogen, das zentraler bedingt ist oder
gar als rein psychisch angesehen wird.
Auf dem Wege der eingeschlagenen Betrachtung liegt es offen¬
bar, wenn die Differenzierung in Erkennungs-, Unterscheidungs¬
und Wahlreaktionen, die durch Don der s angeregt wurde, ebenso
wie die Berechnung ihrer Teilstrecken wieder aufgegeben wird,
da man die prinzipielle Gleichartigkeit dieser Reaktionsformen
erkennt. So läßt Wirth nur noch den Hauptgegensatz zwischen
einfacher und disjunktiver Reaktion bestehen, indem er die erstere
als einen Grenzfall der letzteren bezeichnet.
Trotz der engen Verschmelzung der in den ReaktionBvorgang
eingehenden Prozesse ist man nicht genötigt, der Reaktionsmethode
nur einen geringen Wert für die Erforschung mannigfaltiger Be¬
wußtseinsverhältnisse zuzuerkennen. Wirth und Kästner 2 ) haben
allerdings für die Bestimmung des Klarheitsgrades von Gesichts¬
empfindungen nur in einem mittleren Übungsstadium eine Über¬
einstimmung mit den Resultaten direkter Beobachtung gefunden,
während im übrigen keine Proportionalität nachzuweisen war.
Dies paßt zu dem Exnerschen Ergebnis. Aber auf anderen Ge¬
bieten, so hinsichtlich der Hautsensibilität und der Feinheit der
Lokalisation von Druckreizen (Rupp) hat die Reaktionsmethode
dennoch zu greifbaren Ergebnissen geführt. Auch für kompli¬
ziertere Versuche, wie Assoziationsreaktionen, ist die Bedeutung
der Methode eine unbestrittene. Namentlich scheint die Auf¬
stellung von »Häufigkeitskurven« eine feinere Analyse der ursäch¬
lichen Faktoren zu ermöglichen. Immerhin bleibt die Methode
eine indirekte. Ihre Ergebnisse müssen nach Möglichkeit durch
andere Beobachtungen gestützt werden. Besonders hinsichtlich der
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II. Stand d. Unters, üb. die Wahmehmnngsgeschw.v. Licht- u. Schallreizen. 283
b) Direkte Vergleichung zweier Sinneseindrücke.
Mehr Vertrauen hat man bei Bestimmung der Wahrnehmungs¬
geschwindigkeit zu derjenigen Methode, die sich an die direkte
Vergleichung zweier momentaner Reize hält.
Diese Methode wurde gleichfalls zuerst von Exner 1 ) in exakter
Form angewendet und als »Pointiermethode« von der üblichen
Auge-Ohr-Methode der Astronomen unterschieden. Von den späteren
Untersuchungen seien die von Bloch 2 ), Hamlin 3 ), Diew 4 ),
Tracy 5 ), Weyer 6 ), Whipple und Peters 7 ) genannt. Die Er¬
gebnisse dieser Arbeiten sind z. T. aus dem Grunde nicht sehr
übersichtlich, weil meistens nur die Grenzen der Gleichzeitigkeits¬
zonen, nicht aber auch der Mittelpunkt derselben angegeben
wurde. Offenbar sind die Grenzen der aufgefundenen Schwellen
viel weniger charakteristisch und besitzen für die Wahrnehmungs¬
geschwindigkeit keine so große Bedeutung wie der konstantere
Zonenmittelpunkt; denn die Grenzen sind unter den verschiedensten
Einflüssen sehr leicht verschiebbar. Eine Gleichzeitigkeitsschwelle
ist rechnerisch ebenso zu behandeln wie jede andere Unterschieds¬
schwelle. Erst das Mittel aus den verschiedenen Beobachtungs¬
richtungen macht einen Vergleich verschiedener Messungen mög¬
lich. Dagegen liefern die einzelnen Grenzpunkte einer Schwelle
interessante Spezialerscheinungen, die hauptsächlich durch die
Aufmerksamkeitsrichtung hervorgerufen werden, die aber für die
Messung der Wahrnehmungsgeschwindigkeiten doch erst an zweiter
Stelle in Betracht kommen. Eine größere Anzahl von Beziehungs¬
linien erschwert zugleich die Übersicht. Man könnte nun meinen,
den Mangel dadurch zu beseitigen, daß man nachträglich die
charakteristischen Mittelwerte für die Beobachtungen früherer
Untersuchungen berechnet. Aber abgesehen von einigen hierbei
auftauchenden Bedenken wird sich herausstellen, daß eine Ein¬
stimmigkeit der Beobachtungsresultate nicht zu bewerkstelligen ist.
1) Pflügers Archiv. Bd. XI. 1876.
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284
C. Minnemann,
Die Untersuchungen über die Wahrnehmungsgeschwindigkeit
zweier Lichtreize haben z. T. ein und dieselbe Netzhautstelle
affiziert, so daß richtige Ergebnisse, wie bereits gezeigt, auf diese
Weise nicht gewonnen werden konnten. Auch in anderen Fällen
scheint die Empfindungsdauer bei der Beobachtung der Zeitver¬
schiebung nicht ganz ausgeschlossen gewesen zu sein, da die
Fragestellung nicht mit Rücksicht hierauf formuliert war. Für
die Interpretation der gefundenen Werte wird z. B. häufig die
verschiedene Nachwirkung der Reize angeführt. Augenscheinlich
ist die Aufmerksamkeit der Beobachter nicht immer auf den Beginn
der Empfindungen gerichtet gewesen, sondern es sind Punkte in
der Nähe des Empfindungsmaximums ins Auge gefaßt worden,
wie aus den Ergebnissen und Erklärungsversuchen zu schließen
ist. In bezug auf die Intensität der Reize fand Exner keinen
nennenswerten Einfluß: dagegen glaubte Weyer einen solchen
nachgewiesen zu haben, während Hamlin eine differente Wirkung
großer Intensitätsabschwächung auf verschiedene Personen auf¬
zeigte und durch eine abweichende Aufmerksamkeitseinstellung
zu erklären suchte. Ähnlich glaubt Peters die Veränderungen
der Wahrnehmungsgeschwindigkeiten bei Annäherung an die Reiz¬
schwelle auf den Einfluß der Aufmerksamkeit zurückführen zu
müssen. Freilich soll nach ihm die »natürliche« Aufmerksamkeits¬
einstellung, die hierbei wesentlich in Betracht kommt, nichts
anderes besagen, als daß bestimmte Perzeptionsakte beschleunigt,
andere verzögert wurden 1 ). Durch diese Bedeutung wird der
Gegensatz zur direkten Einwirkung der Intensität aufgehoben, und
es ist nicht nötig, eine solche Abhängigkeit zu negieren, wenn
man den natürlichen Aufmerksamkeitseiufluß in der erläuterten
Form dafür an die Stelle setzt. Im übrigen ist der Faktor der
Aufmerksamkeit in den früheren Untersuchungen verschiedentlich
zur Erklärung herangezogen und sein Einfluß direkt untersucht
worden; aber Erklärungen wie Messungen zeigen beträchtliche
Differenzen, da der Begriff der Aufmerksamkeit augenscheinlich
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II. Stand d. Untere, üb. die Wahrnehuiungsgeschw. v. Licht- u. Schallreizen. 285
Beobachtung. Auch hinsichtlich der Übung bleibt die Frage
unentschieden, ob sie eine Veränderung der Wahrnehmungs¬
geschwindigkeit herbeiftlhrt. Von einigen wird eine solche in
Abrede gestellt.
c) Komplikationsversuche.
Schließlich sollte man auch aus den Komplikationsver¬
suchen einen Beitrag zur Lösung der Frage nach der verschie¬
denen Wahrnehmungsgeschwindigkeit erwarten; oder wenigstens
müßten die Resultate der direkten Vergleichungsmethode hier
wiedergefunden werden können. Hierzu könnten eventuell noch
andere, die Geschwindigkeit des Wahrnehmungsprozesses beein¬
flussende Faktoren hinzukommeu, die ebenfalls bestimmt werden
könnten. Begründet wurde die wissenschaftliche Untersuchung
der Komplikationserscheiuungen auf psychologischem Gebiete von
Wundt, nachdem die früheren Untersuchungen lediglich in astro¬
nomischem Interesse unternommen waren. Von Wundt wurden sie
in Anlehnung an Herbart, der die Verbindungen ungleichartiger
Vorstellungen Komplikationen genannt hatte, mit dem hierauf
bindeutenden Namen belegt. Der Begriff Komplikation erscheint
demnach eigentlich auf die Einordnung eines oder mehrerer Ein¬
drücke in eine Reihe von Empfindungen eines anderen Sinnes¬
gebietes eingeschränkt; dagegen wäre die Verbindung gleichartiger
Reize zu einer Gesamtvorstellung wohl als Assimilation zu be¬
zeichnen. Diese Unterscheidung ist hier jedoch nicht wesentlich,
da sich bei der Einordnung eines Einzelreizes in eine kontinuier¬
liche Reizreihe desselben Sinnesgebietes analoge Erscheinungen
ergeben, wie bei den eigentlichen Komplikationsversuchen. Ein
indifferenter Name für beide Vorgänge wäre etwa durch den Be¬
griff der »Einordnung« gegeben. Die auftretenden Zeitverschie-
bnngen könnten »Einordnungsverschiebungen« genannt werden
zum Unterschiede von den »einfachen« Wahrnehmungsverschie-
bungen, die bei der direkten Zeitvergleichung einzelner Reize
beobachtet werden J ).
Die Versuche sind in großem Umfane-p. von anderen Forschern
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286
C. Minnemann
Komplikationspendel ausgeführt, so in den Untersuchungen von
v. Tchisch 1 ) und Pflaum 2 ). Einen Apparat mit gleichförmiger
Geschwindigkeit benutzten die Amerikaner Angel und Pierce 3 );
ebenso untersuchte Geiger 4 ) an einer Komplikationsuhr. Ein¬
gehende Untersuchungen am Komplikationspendel sind neuerdings
von Klemm 5 ) vorgenommen, und liber mehrfache Einordnung an
der Komplikationsuhr sollen Versuche von Hey de veröffentlicht
werden, Uber die Wirth bereits in seinem Buche berichtet hat.
Die alten Leipziger Arbeiten konstatierten für gewöhnlich eine
negative Verschiebung des Schalleindruckes gegenüber der Reihe
der GesichtseindrUcke; eine positive Tendenz trat hervor bei
rascherer Geschwindigkeit und bei verzögerter Zeigerbewegung.
Die Amerikaner dagegen fanden bei gleichförmiger Bewegung
keinen bemerkenswerten Einfluß der Geschwindigkeit, wohl aber
eine deutliche Abhängigkeit von der Übung des Beobachters. Die
Versuche von Geiger heben namentlich drei Faktoren als be¬
stimmend für den Einordnungspunkt hervor, außer der Geschwindig¬
keit und der Übung die Bewegungsrichtung des Zeigers. Daß die
Übung auf die Komplikationsbeobachtungen einen Einfluß besitzen
soll, ist bemerkenswert, da bei der direkten Zeitvergleichung
zweier Einzelreize die Übung nach Ansicht einiger Forscher keine
Rolle spielt. Allerdings ist ein Vergleich der Resultate von Kompli-
kationsbeobachtungeu mit denjenigen der einfachen Reizvergleichuug
schwer durchzuführen. Es sind andere Reize, die hier zur Be¬
obachtung kommen; außerdem sind sie von wechselnder Intensität
und Dauer auch innerhalb der Versuchsreihen. Die Gesichtsein-
drücke nähern sich hier teilweise schon stark der Empfindungs¬
schwelle, die nach dem übereinstimmenden Urteile mehrerer
Forscher bei der direkten Methode eine deutliche Abweichung der
Beobachtungsergebnisse von denen bei normaler Intensität hervor-
rufen. Auch der Schalleindruck verändert seine Stärke mit der
Umdrehungsgeschwindigkeit des Uhrwerkes, wenn die Auslösung
des Klanges durch den direkten Klöppelanschlag erfolgt. Vor
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288
C. Minnemann,
daß auch bei einer negativen oder positiven Verschiebung eine
genaue Anpassung vorliegen kann. Solches trifft stets dann zu,
wenn bei aufeinanderfolgenden Umdrehungen der Einordnungs¬
punkt an die gleiche Stelle verlegt wird. Außerdem ist zu be¬
denken, daß der Nullpunkt der Verschiebung einigermaßen zu¬
fälliger Natur ist und keine besondere Bedeutung beansprucht.
Denn einerseits ist mit einer normalen Auffassungsverschiebung
zu rechnen, die ftir einzelne Licht- und Schallreize gilt; anderer¬
seits besteht oft noch eine physikalische Differenz der Reizzeiten,
die bei der Berechnung des objektiven Gleichzeitigkeitspunktes
außer acht gelassen wird. Wenn der Schallreiz elektrisch oder
durch einen sogenannten »Daumen« mechanisch ausgelöBt wird,
so ist dabei eine gewisse Latenzzeit bis zum wirklichen Eintritt
des Schalles zu berücksichtigen, und der durch langsame Um¬
drehung gefundene Skalenort für den Schall ist nicht demjenigen
bei rascherer Rotation gleichzusetzen.
Ebensowenig ist die Annahme zutreffend, daß bei sehr lang¬
samer Rotation die Zeitverschiebung verschwindet. Diese mag
wohl herabgemindert sein, weil die Bewegungserscheinung weniger
auffallend ist; aber wenn sich ein gänzliches Auf hören der Zeit¬
verschiebung heraussteilen würde, so stünde dieses im Widerspruch
zu dem gewöhnlichen Ergebnis der direkten Zeitvergleichung von
Licht- und Schallreizen, wonach letztere durchschnittlich rascher
aufgefaßt werden. Nur wenn die Schallentstehung genau mit dem
Vorbeistreichen des Zeigers an einem bestimmten Teilstriche zu¬
sammentrifft, was bei der Geigerschen Anordnung der Fall ge¬
wesen zu sein scheint, ist es natürlich, daß bei langsamer Be¬
wegung stets der richtige Teilstrich erkannt wird. Sonst aber,
wenn auch die Zwischenräume zwischen zwei Teilstrichen hei der
Einordnung für die Beobachtung in Frage kommen, wird eine,
wenn auch nicht sehr bedeutende Einordnungsverschiebung wahr¬
scheinlich sein. Übrigens ist zu beachten, daß bei langsamer
Rotation schon sehr kleine räumliche Schätzungsfehler, in Zeit
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II. Stand d. Untere, üb. die Wahrnehmungsgeschw. v. Licht- u. Schallreizen. 289
der verschiedene Einfluß des dritten Faktors, der Bewegungs¬
richtung, auf die Größe der Zeitverschiebung wesentlich als
Wirkung einer geometrischen Täuschung heraus. Die Ableitung
dieser Funktion aus einer ungleichmäßigen Augenbewegung ist
kaum aufrecht zu erhalten, da sich der Einfluß auch bei reflek¬
tierender Beobachtung, also bei ruhiger Augenstellung zeigt.
Außerdem könnte man meinen, daß ein Zurückbleiben der Augen¬
bewegung hinter der Geschwindigkeit des Zeigers auf die gesehene
Stellung nicht sehr von Belang sein könnte, da doch der Zeiger
und mit ihm seine optische Lage in bezug auf die Skala kon¬
tinuierlich fortschreitet, unabhängig von der jeweiligen Blickrichtung.
Wenn demnach schon die an der Komplikationsuhr gewonnenen
Beobachtungsresultate nicht ausreichend analysiert sind, als daß
sichere Angaben Uber die speziellen Bedingungen der Wahr¬
nehmungsgeschwindigkeit sich machen ließen, so enthalten die
Versuche an dem Komplikationspendel noch einen weiteren Faktor,
der eine Eindeutigkeit der Resultate erschwert, die Beschleunigung
oder Verzögerung der Bewegung. Erst neuerlich scheint es
Klemm gelungen zu sein, durch eine verbesserte Untersuchungs¬
methode die Einflüsse der Beschleunigung oder Verzögerung
wenigstens für bestimmte Schwingungsdauern herauszustellen. Die
Resultate mehrfacher Komplikationen, die v. Tchisch an einem
Pendelapparate erzielte, dürften kaum richtig ausgelegt werden,
wenn die dabei auftretende positive Verschiebungstentenz daraus
abgeleitet wird, daß die Spannung der Aufmerksamkeit durch die
Bedingung einer mehrfachen Komplikation erschwert werde. Offen¬
bar braucht die Aufmerksamkeitsspannung nicht nachzulassen oder
die Ursache des Effektes in einer geringeren Konzentration auf
den einzelnen Eindruck zu liegen. Wahrscheinlich kommt einer¬
seits die Verschiebungstendenz der Aufmerksamkeit nicht so stark
zum Ausdruck, während zugleich die auf die objektiven Verhält¬
nisse gerichtete Spannung derselben zunimmt. Denn durch die
verschiedenen gleichzeitigen Eindrücke kann der objektive Zu¬
ordnungspunkt mehr zur Geltung gelangen, so daß eine willkürliche
Verschiebung erschwert ist. Andererseits mag auch der Umstand
mitwirken, daß unter solchen Bedingungen nicht der erste Eintritt
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jedoch nicht in Abrede gestellt werden, daß durch eine größere
Anzahl gleichzeitiger Reize schon an sich die Wahrnehmung der¬
selben verzögert werden kann. Gerade die rein physiologische
Seite des Wahrnehmungsvorganges legt diese Folgerung nahe.
Nur darf man die beobachteten Werte nicht allein aus dem
Momente verschiedener Wahrnehmuugsgeschwindigkeit erklären
wollen, da auch die Art der Bestimmung des Einordnungspunktes
dabei eine Rolle spielt; und es könnte eine unrichtige Vorstellung
erwecken, wenn man die gemessenen Differenzen zwischen den
Zeitpunkten für einfache und mehrfache Komplikation als den
Betrag bezeichnet, den die erste, zweite, dritte usw. hinzutretende
Komplikation zu ihrem Vollzüge brauche. Der Versuch von Hey de,
die Verschiebungsgröße für jeden der einzuordnenden Reize ge¬
sondert zu bestimmen, wobei bis zu vier Zeigern zur Verwendung
kamen, ist interessant. Hey de glaubt bei seiner Versuchsanordnung
namentlich assoziative Bedingungen zur Erklärung heranziehen
zu müssen. Eine endgültige Lösung scheint das Problem durch
seine Versuche noch nicht zu erhalten.
2) Vergleichende Zusammenstellung der wichtigsten Zahleu-
ergebnisse.
Vergegenwärtigt man sich nun die wichtigsten Zahlenergeb¬
nisse, die durch die verschiedenen Untersuchungsmethoden ge¬
wonnen sind, so tritt um so deutlicher die Notwendigkeit zutage, die
Frage nach der Wahrnehmungsgeschwindigkeit erneut experimentell
zu behandeln. Zur besseren Übersicht über die besprochenen Zahlen¬
ergebnisse sind diese auch in einer vergleichenden Tabelle nieder¬
gelegt worden. Es sei aber an die Eingangsbemerkung dieses
Kapitels erinnert.
a) Ergebnisse von Reaktionsversuchen.
Die Reaktionsmessungen der älteren Arbeiten zeigen in
ihren Ergebnissen bedeutende Verschiedenheiten, da die Unter-
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II. Stand d. Unters, iib. die Wahmehmungsgeschw. v. Licht- u. Schallreizen. 291
sind. Exner fand zwischen einer Licht- und Schallreaktion
für sich einen Unterschied von 15 o und für einen anderen Be¬
obachter fast die gleiche Größe von 13 a. Donders erzielte eine
noch geringere Anzahl, nämlich 8 a, Catteil 1 ) eine etwas höhere,
25 o. Dagegen wurde von anderen Forschern die Differenz sogar
auf 60 bis 80 a angegeben. Gleichzeitig bestand eine große
Meinungsverschiedenheit hinsichtlich der absoluten Dauer des
Reaktionsprozesses. Die neuesten Untersuchungen haben durchweg
sehr niedrige, nicht weit über 100 a gehende Werte hierfür er¬
geben. Was die Intensität der Reize anlangt, so konstatierte
Wundt in der Nähe der Schwelle ein Aufhören der Zeitdiffe¬
renzen für disparate Sinnesgebiete. Im übrigen fand Berger 2 )
mit steigender Intensität der Lichtreize die beträchtliche Ver¬
minderung der Reaktionszeit um 140 a, während Martius 3 ) für
Schallintensitäten keine nennenswerte Abnahme der Reaktions¬
geschwindigkeit feststellcn konnte. Wirth und Kästner 4 ) ge¬
langten zu der Überzeugung, daß auch die verschiedene Netz¬
hautregion bei übermerklichen Lichtreizen keinen nachweisbaren
Einfluß besitzt. Für die Geschwindigkeit der Reaktion soll hierbei
entscheidend sein die verschieden rasch sich einstellende Vergegen¬
wärtigung, daß ein Reaktionsmotiv vorliegt.
b) Resultate nach der Methode der direkten Vergleichung.
Eine bessere Übereinstimmung der Resultate verschiedener
Forscher scheint in bezug auf die Ergebnisse der direkten Zeit¬
vergleichung von Einzelreizen zu herrschen, die demselben
Sinnesgebiete angehören, d. h. bei der Messung der sogenannten
»eigentlichen absoluten Zeitschwelle«. Jedoch ist die Überein¬
stimmung nur eine scheinbare, da die annähernd gleichen Zählen-
werte sich auf verschiedene Phänomene beziehen. Exner hat
die Lichtreize auf differente Netzhautstellen ein wirken lassen und
fand auf diese Weise eine Zeitschwelle von 44 o bei Beobachtung
sukzedierender elektrischer Funken und 45 a bei sukzessiver Er¬
leuchtung von Löchern eines Gasflammenschirmes, vor dem sich
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Tabelle: Hauptergebnisse früherer Untersuchungen.
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292
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II. Stand d. Unters, üb. die WahrnehmungageBchw.v. Licht- n. Schallreizen. 293
grenzen bestimmt, da sie stets die
gleiche Netzhautstelle affizierten. Ob¬
wohl somit die Empfindungsdaner in
ihre Messungen einging, beträgt den¬
noch ihre Schwelle für merkliche Auf¬
einanderfolge der Reize nur 47 a nach
den Messungen von Mach und nach
Weyer, der seine Versuche mit dem
Wnndtschen Zeitschwellenapparat und
einem Fnnkeninduktorium anstellte, bei
Helladaption 42,6 bis 52,8 o. Eine ge¬
ringere Schwelle konstatierte Exner
allerdings, wenn er als Kriterium eine
scheinbare Bewegung des leuchtenden
Objektes annahm. Dann genügte be¬
reits eine Distanz von 15 bzw. 14 a
zur Erkennbarkeit des Zeitunterschiedes.
Diese Feststellung wird aber nicht als
eigentliche Zeitschwelle anerkannt. Die
Zahlen für die Gehörsschwelle mögen
außer Betracht bleiben. Jedoch sei an¬
gemerkt, daß auch schon Exner neben
seinerAnordnungmit Funkengeräuschen,
ein Savartsches Rad benutzte, um die
Zeitschwelle für Gehörsreize festzu¬
stellen. Zu diesem Zwecke waren die
Stifte des Rades bis auf drei heraus¬
gezogen. Zu einer Tonentwicklung
konnte es hierbei allerdings wohl nicht
kommen; aber ob das sehr abweichende
Mach sehe Resultat über die Zeitschwelle
einer Tonunterbrechung richtig ist, kann
bezweifelt werden, da eine exakte Ton-
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294
C. Minnemann,
bzw. 60 ff als eben merkbare Zeitdistanz der Reize je nach ihrer
Reihenfolge. Das bedeutet im Mittel eine um 50 a langsamere Wahr¬
nehmung des Lichtreizes. (Im Interesse eines Vergleiches sei es er¬
laubt, die Mittelwerte anzugeben, obgleich sie von den Autoren nicht
berechnet sind.) Für eine andere Versuchsperson wurden nur 63
bzw. 15 ff als Grenzen festgestellt, d. h. eine durchschnittliche
Wahrnehmungsdifferenz von nur 24 a. Ungefähr dieselben Mittel¬
werte fand Haines 1 ) nach der Methode der r-Fälle: bei einmaliger
Darbietung 20 ff, bei Wiederholung 29 ff. Die Grenzen lagen
im ersten Falle bei 83 und 43 <j, im zweiten Falle bei 92 und
34 ff. Bloch erreichte einen weit geringeren Wert innerhalb der
Grenzen von 35,7 bzw. 27,8 ff, was nur eine durchschnittliche
Lichtverspätung von 4 o ausmacht. Hamlin und Tracy ge¬
langten mit Hilfe der Methode der richtigen und falschen
Fälle sogar zu entgegengesetzten Befunden. Für 75# r -Fälle
konstatierte Hamlin ein Intervall von 32 o für die Folge Licht-
Schall und 37 ff für die umgekehrte Reizfolge, also eine Schall¬
verspätung von durchschnittlich 2,5 ff; bei einer zweiten Vp.
betrug diese relative Verspätung sogar 67 ff, als arithmetisches
Mittel der analogen Intervalle von 35 a und 169 ff. Der von
Tracy auf dieselbe Art gefundene Wert liegt zwischen den
beiden letzteren, nämlich 11,5 Verspätung des Gehörseindruckes
aus den Schwellenwerten 44 und 67 a. Ähnlich ergab sich nach
Whipple bei einmaliger Darbietung eine Schallverspätung von
20 ff aus den Grenzwerten 41 und 81 a. Bei rhythmischer
Wiederholung traten bei ihm die Grenzpunkte der Schwelle be¬
deutend enger zusammen, und der Mittelpunkt derselben zeigte nur
geringe Abweichungen von Null, meistens im Sinne einer lang¬
sameren Schallauffassung. Es herrscht somit eine außerodentlich
große Streuung der Ergebnisse Uber die Frage nach dem Einfluß
des Sinnesgebietes, so daß Wirth die Ansicht ausspricht, ea
brauchten überhaupt keine wesentlichen mittleren Zeitverscbie-
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II. Stand d. Unters, üb. die Wahmehmungsgeschw. v. Licht- u. Scballreizen. 295
beinflußt. Der Prozentsatz der r- Fälle stieg bei einer Vp. hierdurch
auf 80# gegen 32# unter normalen Verhältnissen; bei einer
anderen Vp. sank er unter denselben Umständen von 92# auf
42#. Dieser entgegengesetzte Effekt soll sich aus einem ver¬
schiedenen Verhalten der Aufmerksamkeit erklären. Jedoch können
bei solchen Versuchen an der Schwellennähe auch schon die
Merklichkeitsverhältnisse für verschiedene Vp. beträchtlich diffe¬
rieren. Daher könnte nur die Untersuchung einer größeren Zahl
von Intensitätsstufen einen sicheren Aufschluß Uber die etwaige
Abhängigkeit der Wahrnehmungsgeschwindigkeit von der Intensität
der Reize geben. Die Wirkung der willkürlichen Aufmerksam¬
keit auf die Zeitverschiebung hatte Weyer besonders zum Gegen¬
stände seiner Untersuchung gemacht. Eliminiert man aus seinen
Zahlenergebnissen Uber die Zeitverschiebung disparater Reize den
Faktor der Aufmerksamkeit, so gut es angeht, indem man die
Resultate der verschiedenen Aufmerksamkeitseinstellungen kom¬
biniert, so erhält man für den ersten seiner Beobachter ungefähr
27 a als relative Auffassungsverspätung eines Lichtreizes, für eine
zweite Vp. 6 a. Diese Werte würden mit den Ergebnissen Haines
und Blochs verglichen werden können. Es muß allerdings be¬
merkt werden, daß zur Gewinnung dieser Durchschnitte die Resul¬
tate der zweiten Zeitlage (Gehör-Gesicht) aus den Beobachtungen
zweier Vp. zusammengefaßt wurden, da jede Vp. diese Reizfolge
nur in einer, aber in entgegengesetzter Aufmerksamkeitsbetonung
bestimmt hat. Die Zusammenfassung darf jedoch wohl für eine
angenäherte Berechnung zugelassen werden, da die betreffenden
Zahlen nicht sehr von den Bestimmungen der vierten Vp. ab¬
weichen, die beide Einstellungen dieser Reihenfolge ausgeftihrt
hat. Da das Material Weyers ziemlich unvollständig ist, läßt
sich nur wenig daraus ablesen. Als durchschnittlicher Einfluß der
Aufmerksamkeit, wie er aus den Werten für die Aufmerksamkeits¬
einstellung auf den Reiz eines bestimmten Sinnesgebietes in beiden
Zeitlagen gefolgert werden kann, ergibt sich aus Weyers Angaben
eine deutliche Verzögerung der Auffassung, während Hamlin
irerade umgekehrt aus einer Abnahme des Zeitunterschiedes auf
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296
C. Minnemann,
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2, 3 und 4. Wurde aber der akustische lieiz stärker beachtet, so
resultierte für diesen sogar eine durchschnittliche Auffassungsver-
spätung von 50,5 o (Beobachter 6). Vielleicht hat Weyer in
Wirklichkeit etwas anderes als die Zeitverschiebungen bei dis¬
paraten Sinneseindrücken untersuchen lassen, da er sein Augen¬
merk auf die Prozesse des Ansteigens, Abklingens und der Däner
der Empfindungen richtete 1 ).
1) Nicht ganz zutreffend ist die Bemerkung Wundts über die Versuche
Weyers (a. a. 0. S. 67;, daß die Schwellen für Zeitverschiebung disparater
Reize im allgemeinen größer seien, wenn die Aufmerksamkeit auf den zuletzt
kommenden Eindruck gerichtet sei, »ausgenommen beim Gesichtssinn«, wo
offenbar infolge des langsamen Ansteigens der Lichtempfindung nun gerade
diese Kombination für eine verhältnismäßig rasche Aufeinanderfolge der
Empfindungen meist die günstigere sei. Bedenkt man, daß vorher erwähnt
ist, die Zeitschwellen würden sehr viel größer, wenn sich die Aufmerksamkeit
vorwiegend den Gesichtseindrücken zuwende, und es träte eine bedeutende
Verlängerung der Schwelle bei vorangehendem Gesichtseindruck ein. so
lassen sich diese Angaben wohl nur so vereinigen, daß man die Verkürzung
der Schwelle bei Beachtung auf einen nachfolgenden Lichtreiz bezieht,
wie es auch die natürlichste Auffassung ist, und daß sich die Verlängerung
der Schwelle bei besonders beachteten Gesichtseindrücken nur für einen
vorangehenden Lichtreiz zeigt. Diese Auslegung widerspricht aber dem an¬
geführten Zahlenmaterial von Weyer, das hierdurch erläutert werden soll.
Man vergleiche seine Zahlen, soweit sie sich auf das Zusammentreffen
von Lichtreizen mit anderen Sinneseindrücken beziehen. In der folgenden
Übersicht heißt H Gehürsreiz, L Lichtreiz, T Tastreiz; HL bedeutet die
Folge von Gehörs- und Gesichtsreiz, analog die übrigen Buchstabenzusammen¬
setzungen. Ein Strich unter dem einen der Buchstaben kennzeichnet den
Reiz, auf den die Aufmerksamkeit gerichtet war. Die unter der Zeile Vp.
stehenden Ziffern 1—7 sind die von Weyer gewählten Unterscheidungen
der Vp. Wundt hat nur die hauptsächlich in Betracht kommenden Resultate
von A, B, C angeführt. Unter dem Strich der Tabellen ist das Ergebnis
der Aufmerksamkeitswirkung auf die angegebene Zeitschwelle der betreffenden
Vp. gezogen, indem ein Wachsen durch Plus, eine Abnahme durch Minus
bezeichnet ist.
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Tabelle 1. Lichteindruck folgend.
Vp.
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B(l)
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II. Stand d.Unters, üb. die Wahrnehmungsgeschw.v. Licht- u. Schallreizen. 297
Die Arbeit von Peters will, wie Weyer, namentlich den
Einfluß der Aufmerksamkeit feststellen und gelangt hierbei zu
dem entgegengesetzten Resultate wie dieser. Seine Versuche sind
anscheinend recht exakt ausgeflihrt worden. Daher lohnt es,
auf seine Ergebnisse genauer einzugehen. Theoretisch unter¬
scheidet er zwischen willkürlicher und natürlicher Aufmerksam¬
keitseinstellung. Letztere Auffassung, die sich einigermaßen mit
der Annahme einer passiven Apperzeption deckt, wenngleich sie
rein physiologisch als Bahnung ausgelegt wird, verhindert ihn,
einen direkten Einfluß der Intensität oder sonstiger objektiver
Faktoren konstatieren zu können. Er scheint indessen auch zu
große Differenzen durch objektive Momente erwartet zu haben.
Denn wenn er bei Intensitätsabschwächung auf Vio eine Ver¬
schiebung der sogenannten Früher-Schwelle (so bezeichnet Peters
die Reizdistanz, die nötig ist, um den optischen Eindruck als eben
vorangehend zu erkennen) um höchstens 10 o mißt, so wäre dies
immerhin eine wohl in Betracht zu ziehende Größe. Außerdem
scheint es die theoretische Auswertung seiner Ergebnisse zu be¬
einträchtigen, daß er einen Einfluß der Übung nicht anerkennt.
Die aus seinen Angaben nachträglich berechneten Mittelwerte
der Verschiebung zwischen Licht- und Schalleindrücken bei
gleichmäßig gespannter Aufmerksamkeit betragen für die
verschiedenen Vp. 25,35 a (Vp. III), 11,25 a (Vp. I), 6,5 a (Vp. IV)
Tabelle 2. Lichteindruck vorangehend.
Vp.
B (1)
C
3
4
A (6)
C (2)
5
LH
LH
80,6
[148,1]
96,6
57,3
132,3
127,7
LT
LT
83,2
87,7
56,2
49,3
Aufmerksamkeitseinfluß
auf die Schwelle bei Beach¬
tung des zweiten Reizes
[+1
—
!
1
Das Fazit widerspricht, wie man sieht, durchaus der Auffassung, daß ein
nachfolgender beachteter Lichtreiz die Schwelle verkürzt. Die Zahlen der
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298
C. Minnemann,
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als verspätete Lichtwahrnehmung und 3,9 o (Vp. II) als langsamere
Schallwahrnebmung. Der Gesamtdurchschnitt dieser Bestimmungen
würde auf eine um 9,8 a verspätete Lichtauffassung hinauslaufen.
Bei besonderer Beachtung des akustischen Reizes verschiebt
sich das Mittel für die einzelnen Vp. auf 5 a (Vp. I) und 2,5 a
(Vp. II) raschere Lichtwahrnehmung bzw. 76,75 a (Vp. III) lang¬
samere optische Auffassung. Als Differenz gegen die normale
Beobachtung ist also infolge Hervorhebung des akustischen Ein¬
druckes bei der ersten Vp. eine durchschnittliche Verzögerung der
Schallauffassung um 16,25 o zu konstatieren, beim zweiten Be¬
obachter dagegen eine kaum merkliche Beeinflussung zugunsten
der Schallwahrnehmung, um 1,4 a und beim dritten eine sehr
beträchtliche, nämlich 51,4 a. Wollte man das Gesamtmittel dieser
Wirkungen berechnen, so beträgt es 12,2 o als Auffassungsbe¬
schleunigung für den beachteten akustischen Eindruck. Eine
größere Übereinstimmung der einzelnen Vp. in bezug auf diesen
Punkt würde herrschen, wenn man annimmt, daß sich in erster
Zeit die Übung sehr stark geltend macht und besonders eine
raschere Wahrnehmung von Lichtreizen herbeiführt. Vp. III war
der Experimentator selber, der bereits einige Übung im Beobachten
von Lichtreizen besaß. Auf diesem Gebiete tritt ein Einfluß der
Übung nur zu Anfang stark hervor; daher ist es erklärlich, wenn
bei den sehr zahlreichen Versuchen der Arbeit von Peters
sich späterhin kein Übungseinfluß bei den Beobachtern heraus¬
stellte.
Die Versuche mit besonderer Beachtung des Lichtreizes,
bei denen ein Einfluß der Übung offenbar nur steigernd hinzu¬
treten konnte, zeigen einen weit größeren Unterschied gegen die
gewöhnliche Beobachtungsart und weisen alle eine starke Bevor¬
zugung der Lichtwahrnehmung auf: gegen die normalen Resultate
eine Differenz von 17,8 a (Vp. I), 26,95 o (Vp. II), 35,35 a (Vp. IH)
und 71,65 o (Vp. IV), also durchschnittlich einen Beachtungseinfluß
von 37,9 ff. Berechnet man außerdem den allgemeinen Beachtnngs-
einfluß, wie er sich aus akustischer oder optischer Aufmerksam¬
keitsbetonung nach den mitgeteilten Zahlen ergibt (es mag allerdings
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II. Stand d. Untere, üb. die Wahrnehmungsgeschw. v. Licht- u. Schallreizen. 299
relativ raschere Auffassung eines Reizes infolge der Beachtung
und im Gesamtdurchschnitt 19,4 a für diesen Faktor.
Hinsichtlich der Ausdehnung der Gleichzeitigkeitszone läßt
sich kein bestimmter Einfluß der Aufmerksamkeit nachweisen, da
in beiden Fällen, wo einer der Eindrücke stärker beachtet
wurde, die Beobachtungen der Vp. auseinander gehen, indem
sowohl Vergrößerung wie Verkleinerung des Gebietes vorkam.
Vielleicht steckt auch hierin noch ein Übungseinfluß.
Wenn bei Erzeugung künstlicher Myopie durch Vorschalten
von 10 bis 20 Dioptrien sich für indifferente Aufmerksamkeit
kaum Abweichungen von den ersten Beobachtungen mit gleich¬
mäßiger Aufmerksamkeitsverteilung zeigten [die mittleren Zeit¬
verschiebungen bei dieser Anordnung betragen 15 a (Vp. I), 25 a
(Vp. III) zu ungunsten des Lichteindruckes und 7,5 o (Vp. II) zu¬
gunsten desselben], so wird diese angenäherte Gleichheit sich wohl
ebenfalls aus der inzwischen eingetretenen Übung erklären. Denn
während der Einfluß akustischer Beachtung in demselben Falle
ungefähr der gleiche geblieben ist, wie in den Anfangsversuchen,
haben die für optische Aufmerksamkeit geltenden mittleren Zeit¬
verschiebungen hier längst nicht den Einfluß optischer Beachtung
unter normalen Bedingungen erreicht. So liefern die Zonenmittel¬
punkte 4,1 a (Vp. I) subjektive Verspätung, 20 a (Vp. II) Verfrühung
und 20 a (Vp. III) Verspätung des Lichteindruckes. Gegen die
ersten Normalversuche mit indifferenter Aufmerksamkeit bedeuten
diese Werte nur eine Begünstigung von 7,15 o bzw. 16,1 a oder
5,35 a des beachteten Eindruckes, so daß diese Zahlen hinter dem
Aufmerksamkeitseinfluß bei normaler Intensität und Feldgröße um
10,65 < 7 , 10,85 o und 30 o Zurückbleiben, also durchschnittlich für
die drei Personen um 17,2 o. Der optische Beachtungseinfluß,
der unter gewöhnlichen Bedingungen für diese drei Beobachter
durchschnittlich 26,7 o betrug, erscheint demnach durch die
Akkommodationsänderung wesentlich reduziert. Die Zonen für
Gleichzeitigkeit erweitern sich anscheinend durch diese Bedingung
ein wenig.
Eine wichtige Bestätigung findet diese Annahme eines Ein¬
flusses der ikkonimodation durch die Zahlenergebnisse bei An¬
näherung an tfj e Reizschwelle, die freilich nur von Be-
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300
C. Minnemann,
als Mittelwert der Verschiebung bei Abscbwäcbung der Intensität
des akustischen Reizes 70 a , bei Verdunkelung des Lichtreizes
17,5 o verspätete Lichtauffassung. Gegenüber dem früher kon¬
statierten Einfluß der Aufmerksamkeit bei dem betreffenden Be¬
obachter zeigte sich also eine Abnahme von 6,75 o bzw. 27,5 a,
durchschnittlich 17,1 <x, eine Größe, die auf Rechnung der Intensi¬
tätsänderung gesetzt werden dürfte. Auch in diesen Versuchen
war eine Erweiterung der Gleichzeitigkeitsschwelle im Vergleich
zu derselben bei normalen Intensitätsverhältnissen und einseitig
gerichteter Aufmerksamkeit zu verzeichnen.
Alle diese Bestimmungen wurden bei ein- bis zweimaliger Dar¬
bietung der Reize ausgefiilirt. Bei häufigerer, kontinuierlicher Dar¬
bietung, wie sie ähnlich bei Beobachtungen an der Komplikations¬
uhr vorkommt und auch schon von Haines und Whipple unter¬
sucht worden war, wurde die Auffassung des Schallreizes noch
früher angesetzt. Beobachter III, der diesen Fall untersuchte, zeigt
bei indifferenter Aufmerksamkeitseinstellung eine solche Differenz
von 15,37 o gegenüber der Bestimmung nach ein- bis zweimaliger
Exposition. Eine besondere akustische Beachtung verlegte diesen
Mittelwert noch um weitere 60 o, so daß die Auffassung des
Schalles im ganzen 100 a vor der Lichtwahrnchmung erfolgte.
Der optische Einfluß war in dem entsprechenden Falle ebenso
groß, 60 a. In bezug auf die Zonenbreite läßt sich für diese Fälle
nichts sicheres ausmachen; bei optischer Beachtung fiel sie größer
als gewöhnlich aus, bei akustischer Einstellung kleiner. Bei
ausgeschalteter Akkommodation war kein besonderer Einfluß der
Wiederholung auf die Auffassungsverschiebung zu bemerken. Zu¬
gleich blieb, wie auch in den vorher beschriebenen Versuchen
der aufgehobenen Akkommodation, eine erkennbare Wirkung der
optischen Aufmerksamkeit aus. Die festgestellten Werte sind 20 a
Licht Verzögerung bei indifferenter Aufmerksamkeit und 22,42 a
bei besonderer optischer Beachtung. Nur die Zonen scheinen
durch wiederholte Darbietung etwas zu wachsen, und zwar
wiederum bei optischer Einstellung mehr als bei indifferenter Be¬
achtung.
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II. Stand d. Untere, üb. die Wahrnehnmngegeecbw. v. Licht- u. Schallreizen. 301
stimmen ungefähr mit den Beobachtungen an Reizen ohne Signale
tiberein. Es kamen jedoch einige auffallende Schwankungen vor,
die z. T. in einer Rhythmisierung der Darbietung ihren Grund
haben können.
Im ganzen geht aus der Übersicht der Peters sehen Ergebnisse
hervor, daß subjektive Faktoren weitaus den größten Einfluß auf
die Zeitverschiebung besitzen, und daß sie eine gewisse Unsicher¬
heit für die Feststellung der Wirkung objektiver Faktoren mit
sich bringen, besonders wenn sich die Versuche, wie bei der ein¬
geschlagenen Beobachtungsmethode, über größere Zeiträume er¬
strecken. Es mag allerdings noch darauf hingewiesen werden,
daß Berechnungen, die nicht ursprünglich in den Intentionen des
Versuchsleiters lagen und erst aus seinen Tabellen abgeleitet sind,
naturgemäß etwas Hypothetisches an sich haben müssen. Wenn¬
gleich das Verfahren des Mittelziehens aus beiden Grenzpunkten
der Gleichzeitigkeitsschwelle an sich berechtigt ist, wie oben aus¬
führlich dargelegt wurde, so ist es doch nach den allgemeinen
Grundsätzen psychologischer Untersuchung exakter, die Beobach¬
tungen schon mit Rücksicht auf die Fragestellung einzurichten
und auch jedesmal nur diejenige Beobachtuugsreihe für die Wirk¬
samkeit eines Faktors in Rechnung zu ziehen, die diesem besonders
gewidmet war. Dafür ist eine rasche Erledigung der Einstellungen
Voraussetzung, damit sich die vielen sonst noch den Vorgang be¬
einflussenden Faktoren nicht innerhalb der betreffenden Messungen
ändern.
c) Ergebnisse von Komplikationsversuchen.
Über die Ergebnisse der Komplikationsversuche sei er¬
wähnt, daß die älteren Arbeiten weit größere Zeitverschiebungen
festgestellt haben als die neuere Untersuchung von Geiger, die
mit Hilfe der Komplikationsuhr unternommen wurden. Durch mehr¬
fache Komplikation erzielte z. B v. Tchisch eine Änderung des
Einordnungspunktes um 1110 a nach der positiven Seite, nämlich
von — 670 bis -f 440 </. Die Angaben P flau ms Uber Beobach¬
tungen am KompJikationspendel schwanken sogar zwischen den
Werten von 1520 a bis 760 a. Derartige Größen kamen unter
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302
C. Minnemann,
mit viel größeren optischen Bewegungsgeschwindigkeiten gearbeitet
als sie bei der astronomischen Beobachtung in Betracht kommen.
Schon seine zweiten Versuchsreihen brach er bei einer Ge¬
schwindigkeit der Zeigerspitze von 41 bis 57 cm pro Sekunde ab,
weil sich bei geringerer Geschwindigkeit ein konstanter geometrisch¬
optischer Einordnungsfehler geltend zu machen schien. Die größten
zu Anfang der Untersuchung gemessenen mittleren Verschiebungen
betrugen bei seinen Vp. für den Schallreiz — 128 a und +40 a
(nicht 52,5 wie Geiger und deshalb auch Wirth angibt); jedoch
beziehen sich diese Maximalwerte auf verschiedene Beobachter.
Später war so gut wie gar keine Verschiebung des Schalleindruckes
gegen die Reihe optischer Eindrücke mehr zu konstatieren, abge¬
sehen vielleicht von der physikalischen Latenzzeit des Gehörs¬
reizes, die in der Berechnung nicht enthalten ist.
Die Hauptabsicht Geigers war es, durch seine Versuche die
Unstimmigkeit zwischen den Befunden der Leipziger und amerikani¬
schen Forscher zu lösen. Er hat aber die dabei in Frage kommen¬
den Faktoren der Übung und Geschwindigkeit wohl nicht deutlich
genug nachgewiesen, besonders kann der Einfluß der Geschwindig¬
keit durch seine Untersuchung nicht als gesichert gelten. Vielmehr
wird man aus seinen Feststellungen nur so viel folgern können,
daß die Einübung für verschiedene Geschwindigkeiten verschieden
rasch fortschreitet. Für manche Beobachter zeigt sich schon bald
kein Unterschied mehr für die Ablesungen bei verschiedenen Ge¬
schwindigkeiten ; andere lassen einen solchen länger erkennen.
Nur die Zahlen des Experimentators (Vp. VIII) bringen die ange¬
nommenen Gesetzmäßigkeiten besonders stark zum Ausdruck. Um
einen genaueren Einblick in die Ergebnisse der Geiger sehen
Arbeit zu gewinnen, empfiehlt es sich, die von ihm mitgeteilten
Zahlen einer weiteren Berechnung zu unterziehen.
Die Anfangsversuche zeigen für sieben Beobachter bei zu¬
nehmender Geschwindigkeit 94,4 a als durchschnittliche Differenz
zwischen Minimum und Maximum der Zeitverschiebungen, wobei
Geschwindigkeit und Übung zusammenwirkten; bei Fortsetzung
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II. Stand d. Unters, üb. die Wahrnehinungsgeschw. v. Licht- u. Schallreizen. 303
Versuchsreihe auch langsamere Geschwindigkeiten vertreten waren,
während die zweite Reihe früher abgebrochen wurde; daher lassen
sich Übung und Geschwindigkeit aus diesen Ergebnissen nicht
gesondert berechnen. Berücksichtigt man jedoch auch von der ersten
Versuchsreihe nur die Werte für 2,5 Sek. Umdrehungszeit bis zu
0,9 Sek. so kann man versuchen, den Einfluß der Übung und Ge¬
schwindigkeit isoliert zur Darstellung zu bringen. Voraussetzung
hierfür ist allerdings, daß nach Erledigung der ersten Versuche
die Übung einigermaßen gleichmäßig fortgeschritten ist. Berechnet
man den Mittelwert der Zeitverschiebung für die Reihe zunehmen¬
der Geschwindigkeit und ebenfalls für die abnehmende, so be¬
zeichnet die Differenz beider Größen die Einwirkung der Übung
für den halben Zeitraum, Uber den sich die Versuche erstreckten.
Vp.
H
II
IV
n
VI
VII
vm
Mittl. Zeit- i der 1.Reihe
Terschiebung) der2.Reihe
+ 55
+ 57
+ 71
+ 33
+ 6
+ 63
+ 17
— 44
- 37
+ 105
— 135
- 80
— 294
- 74
Einfluß der Übung -t- 2
- 38
+ 57
- 27
+ 68
+ 55
+ 220
Die vorstehende Tabelle zeigt, daß innerhalb dieser Zeit bei einer
Vp. keine merkbare Änderung durch die Übung vorhanden war;
bei zweien war eine entgegengesetzte Wirkung als die geforderte
zu verzeichnen; eine der vier übrigen Personen wies in bezog auf
diesen Punkt einen außerordentlichen Einfluß von 220 o auf.
Durchschnittlich betrug die Übungswirkung 48,1 a positiver Tendenz,
wenn Vp. VIII mitgerechnet wird; sonst 19,5 o.
Die Kurven für den reinen Einfluß der Geschwindigkeit
erhält man angenähert dadurch, daß man aus den beiden Werten
der Zeitverschiebung, die für jede einzelne Geschwindigkeit in
den Versuchsreihen festgestellt wurden, das arithmetische Mittel
bildet. Dann erhält man für die einzelnen Vp. die in Figur 3
niedergelegten Abhängigkeiten.
Ans den Kurven erhellt, daß die einzelnen Vp. dem Einfluß
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304
C. Minnemann,
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Gesamtdurchschnitt der Geschwindigkeitsfunktion, (Figur 4, stark
ausgezogene Kurve) zeigt sich sehr stark durch die Vp. VIII be¬
stimmt. Die Differenz zwischen Minimum und Maximum der
Kurve beträgt 25 o. Ohne Einbeziehung des Beobachters VIII ist
das Kurvenbild durch die schwach ausgezogene Linie dargestellt,
wo die entsprechende Differenz nur 15,5 a ausmacht. Da die Vp.
eine verschiedene Beobachtungs¬
art anwendeten (die einen be¬
obachteten reflektierend, die an¬
deren naiv), so sind die Ergeb¬
nisse auch nach dieser Hinsicht
differenziert worden. Bei den
ausgesprochen reflektierenden
Beobachtern I, II und VI (punk¬
tierte Kurve) ist schon hier kein
deutlicher Einfluß der Geschwin¬
digkeit vorhanden. Ebensowenig
bemerkt man einen solchen an
den später hinznkommenden Be¬
obachtern IX, X und XI, die
denselben Beobachtungsmodus
befolgten. Man vergleiche die Tabelle auf S. 390 der Geiger-
schen Arbeit, wo die Geschwindigkeiten 2,5 Sek. und 1 Sek.
auf den Stellenfehler hin untersucht wurden. Die daraus be¬
rechneten Differenzen der durchschnittlichen ZeitverschiebuDgen
(1 bis 2,5 Sek.) betragen: -f 18 (V), - 2 (VHI), - 4 (IX), -+- 4 (X),
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II. Stand d. Untere, iib. die WahrnehumngsgeBchw.v. Licht-u. Schallreizen. 305
dieses Faktors, während die andere Gruppe wegen der starken
Übungswirknng bei VIII auf einen Durchschnitt von 137,5 o kommt.
Auch die Kontrollversuche Uber Übung und Geschwindigkeit, die
mit zwei Beobachtern (V und IX) angestellt wurden, tragen inso¬
fern nicht zur Klärung der Frage bei, als die Zahlen des einen (V)
sehr stark gegen den aufgestellten Übungseinfluß sprechen, die des
anderen (IX) gegen die geforderte Wirkung der Geschwindigkeit.
Da sich also für die eine Beobachtungsart nahezu kein Einfluß
der Geschwindigkeit herausgestellt hat und vielleicht nur eine
geringe Einwirkung der Übung,
für die andere dagegen beides
wenigstens anfangs in bedeuten¬
dem Maße, so lassen sich die
Differenzen der früheren Arbeiten
nicht in der Art, wie Geiger an¬
nimmt, teilweise schon aus diesem
Unterschied der Beobachtungs¬
arten erklären. Auch dürfte man
in der Anwendung der einen
oder anderen Methode kaum be¬
reits »individuelle Differenzen« zu
erblicken haben und annehmen,
daß die reflektierend Beobachten¬
den nicht auch die Zeigerbeobach¬
tung e inschlagen könnten. Es wird
sich bei dem Unterschiede der Be¬
obachtungsarten wesentlich um die
Aufmerksamkeitsrichtunghandeln.
Die naive Beobachtung bestimmt Pig # 4 .
einen Grenzpunkt der Gleichzeitig¬
keitszone, während die reflektierende den Mittelpunkt derselben auf-
sucht (vgl. die Kurven der Figur 4). Dann bedeutet aber der anfäng¬
lich bestehende Geschwindigkeitseinfluß wesentlich eine Änderung
des Zonenumfanges, ebenso wie der Effekt der Einübung ein
solcher wäre: und ein eigentlicher Einfluß der Bewegungs-
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306 C. Minnemann,
überdeckt durch eine Reihe anderer Faktoren, z. B. von der In¬
tensität und Reizdauer.
Daher erscheint es ferner jetzt noch nicht möglich, schon eine
Kurve für den Gang der Zeitverschiebungen an der Komplikations¬
uhr aufzustellen. Ebensowenig läßt sich bereits die Lage eines
Indifferenzpunktes dieser Kurve diskutieren. Denn wenn man in
den obigen Kurven, die den reinen Geschwindigkeitseinfluß dar¬
stellen, wie er für den Anfang der Versuche zu bestehen schien,
die Abszissenachse um mindestens 4,5 o hinaufrücken würde, wie
es schon wegen der Schallfortpflanzung bis zum Ohre des Be¬
obachters nötig wäre, so würde es kaum noch einen Schnittpunkt
der Kurven mit der Abszissenachse geben.
Aber eine andere wichtige Tatsache hat die Geigersche
Arbeit aufgedeckt, den Einfluß der Skalenstelle auf die Größe
und Richtung der Zeitverschiebung. Rechnet man die Angaben,
die hierüber in Teilstricheinheiten gemacht sind, in Zeit um, so
erkennt man, daß der Maximalbetrag dieses Faktors bei ver¬
schiedener Geschwindigkeit sich ungefähr gleich bleibt. Demnach
handelt es sich bei dem Stelleneinfluß wohl nicht um einen
Schätzungsfehler von räumlichen Strecken, sondern um einen, der
durch die zeitlichen Verhältnisse der Wahrnehmung verursacht
ist. Die ungenau abkürzende Bewegung des Fixierens bei der
Zeigerverfolgung, worauf Geiger u. a. hinweist, wirft einiges
Licht auf diese Erscheinung, die in ihrem Wesen ebenfalls durch
die Richtung der Aufmerksamkeit bedingt sein wird. Die Auf-
merksamkeit konnte ja sogar, wenn alle Teilstriche bis auf einen
einzigen verdeckt waren, eine Zeitverschiebung bis zu 174 a
hervormfen l ).
Die Größe des Stellenfehlers läßt sich durch den Unterschied
zwischen der durchschnittlich größten positiven und negativen
Verschiebung, die durch verschiedene Skalenorte bedingt wird,
einigermaßen charakteristisch bestimmen. Für die Geschwindigkeit
von 2,5 Sek. betrug diese Differenz 48,7 o, bei 1 Sek. Umdrehungs-
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II. Stand d. Unters, üb. die WahrnehmungBgeschw.v.Licht- u. Schallreizen. 307
der einen Bewegungsrichtung könnte der erste, in der anderen
der zweite Grenzpunkt der Gleichzeitigkeitszone oder ein dahin
tendierender Zeitpunkt für die Einordnung bevorzugt werden. Da
dieses Verhalten von der Aufmerksamkeit abhängt, so wäre es
zugleich begreiflich, daß sich die Funktion des Stellenfehlers nicht
ganz konstant zeigt, und daß es individuelle Verschiedenheiten
in bezug auf diesen Punkt geben kann. Wahrscheinlich jedoch
verschiebt sich im Falle des Stellenfehlers die ganze Zone der
Einordnungsmöglichkeiten infolge von zentralen Bedingungen.
Die dargelegten Ergebnisse der Geigerschen Arbeit stützen
sich auf eine große Anzahl von Versuchen. Trotzdem erscheint
anßer einer Weiterführung auch eine Nachprüfung der Ergebnisse
angebracht, da die einzelnen Bestimmungen meistens auf Grund
von nur wenigen Umdrehungen gemacht wurden. So führte bei
der reflektierenden Methode bereits in der ersten Versuchsreihe
durchschnittlich weniger als eine viermalige Darbietung zur Angabe
des Einordnungspunktes; in der zweiten Versuchsreihe betrug der
Durchschnitt sogar nur S x / 2 Umdrehungen. Bei dieser geringen
Zahl der Darbietungen kann ein sorgfältiges Prüfen der Teilstriche
vor und hinter dem Einordnungspunkte, sowie eine genaue Ab¬
schätzung der Bruchteile von Skaleneinheiten kaum stattfinden;
und es ist fraglich, ob für den einzelnen Fall schon 25 Einstel¬
lungen genügten, diese Ungenauigkeit der Ablesung zu eliminieren.
Denn außerdem war der Einfluß der ausgezeichneten Teilstriche
und der sogenannte Stellenfehler gleichzeitig auszuschalten. Immer¬
hin bildet das Zahlenmaterial der Geigerschen Arbeit eine gute
Grundlage für die weitere Untersuchung.
Auch für die ungleichförmige Bewegung am Komplikationspendel
liegen jetzt durch die Untersuchung von Klemm weit genauere
Resultate vor, die an einem verbesserten Apparate gewonnen
wurden. Die Zeigerbewegung füllte fast eine ganze Kreisfläche
aus; auch war der Schwingungsmittelpunkt um 180 Grad drehbar,
eo daß der Einflaß der Bewegungsform unabhängig von der
Schwingungsrichtung festgestellt werde konnte.
Wichtig: ist vor allem, daß die Tatsache des »Simultaneitäts-
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308
C. Minnem&nn,
scheint das Anftreten der Schwelle sogar wesentlich ans der
Benutzung einer Einstellungsmarke ableiten zu wollen, da er
hervorhebt, daß die Marke einen kräftigen Reiz auf die Apper¬
zeption austlbt. Die Abweichungen der Schallokalisation sollen
größtenteils auf den Rhythmus der Aufmerksamkeitsspannung
zurückgeftihrt werden; jedoch dürfte dieser Faktor für eine lang¬
same Aufeinanderfolge der einzuordnenden Reize wohl versagen.
Was über die Lage des objektiven Nullpunktes zu den Sektoren
des Simultaneitätsbereiches ausgeführt wird, ist zu feinsinnig, als
daß es richtig sein könnte. Auch die Darlegungen über die Ab¬
hängigkeit des Simultaneitsbereiches von der Größe der mittleren
Verschiebung halten sich zu sehr an zufällige Erscheinungen. Denn
wenn man Klemms Ergebnisse Uber die Schwellenbestimmungen
in die Form gewöhnlicher Häufigkeitskurven bringt, so fallen die
von ihm diskutierten besonderen Erscheinungen fort. Jeder Punkt
einer mittleren Unsicherheitsregion gehört nahezu mit gleicher
Häufigkeit dem Sch Wellenbereiche an. Minima und Maxima
in bezug auf einzelne Stellen in der Nähe des objektiven Null¬
punktes lassen sich nicht auffinden.
Die Breite der eigentlichen Sukzessionsschwelle zeigt in
Klemms Versuchen auffallend geringe Werte; für die verschiedenen
Vp. beträgt sie 7 bis 21 o, 10 bis 31 a, 26 bis 56 a. Bei geringen
Geschwindigkeiten wächst die Breite der Schwelle, so daß sich die
niedrigen Zahlen z. T. wohl aus den verwendeten großen Ge¬
schwindigkeiten erklären. Andererseits liegt darin ein Beweis für
die Genauigkeit der Beobachtungen und die Exaktheit des
Apparates.
Weil der Einfluß der Bewegungsform von dem der Be¬
wegungsrichtung abgetrennt wurde, läßt sich aus den Ta¬
bellen III und IV S. 334/5 ein Wert berechnen der für die
Schwingungsdauer von 2,1 Sek. eine Differenz von 10,9 o zwischen
dem Einfluß der verzögerten und beschleunigten Bewegung angibt;
für die Schwingungsdauer von 1,2 Sek. beträgt der Wert 7,7 o.
Diese verschiedene absolute Geschwindigkeit scheint hiernach
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II. Stand d.ÜHters.tib.dieWahrnehmung8geBchw.v.Licht-u.SchaUreizen. 309
Einfluß der Vertikalkomponente peripher aus der Leichtigkeit
oder Schwierigkeit der Augenbewegungen hergeleitet. Hey de neigt
wieder der Ansicht zu, daß auch der Stellenfehler assoziativ be¬
dingt ist. Überall wo die Vorstellung einer Beschleunigung oder
Verzögerung auftritt, soll sich eine entsprechende negative oder
positive Zeitverschiebung einstellen (vgl. Wirth, S. 327).
3) Zusammenfassung.
Aus der Zusammenstellung der Befunde ergibt sich folgender
Stand für unser Problem.
Die vorliegenden Ergebnisse der Reaktionsversuche spre¬
chen für eine raschere Auffassung des Schalles im Vergleiche zur
Lichtwahrnehmung. Aber aus Gründen der Methode können die
Feststellungen nicht als entscheidend für einen Einfluß des Sinnes¬
gebietes auf die Wahrnehmungsgeschwindigkeit angesehen werden.
Die Bestimmungen über die Dauer der Reaktion lassen erkennen,
daß die Wahrnehmungsgeschwindigkeit wenigstens in günstigen
Fällen unter 100 a liegt. Größere Reizintensität scheint die Wahr¬
nehmungslatenz herabzusetzen. Jedoch ist der Einfluß nicht be¬
stimmt erwiesen trotz einer sehr beträchtlichen Reaktionsdifferenz,
die von einem Forscher konstatiert wurde. Eine bestimmte Be¬
ziehung der Auffassungsgeschwindigkeit zur Netzhautregion war
aus Reaktionsversuchen nicht zu folgern.
Die direkte Zeitvergleichung zweier Lichteindrticke hat
sich auf Gleichheit der Reize beschränkt. Daher ließ sich für
diesen Fall nur eine Sukzessionsschwelle angeben. Die Bestim¬
mungen derselben erscheinen nicht ausreichend. Was Uber die
Flimmergrenze gefunden wurde, interessiert für unsere Frage
nicht.
Der Vergleich von Licht- und Schallreizen unter gewöhnlich 11
Bedingungen ergab stark widersprechende Resultate über frai-
fassungsgeschwindigkeit. Der Durchschnitt der angeführten
zeigt eine um 5 a raschere Schallwahrnehmung. Vermin
der Intensität des Reizes scheint in der Schwellennähe <*i& G **
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III.
Experimentelle Untersuchung über die Wahrneh¬
mungsgeschwindigkeit von Licht- und Schallreizen,
nach der Methode direkter Vergleichung.
Mit 20 Figuren (Figur 6—24) im Text.
Inhaltsübersicht. s «it«
Einleitung: Stellung der Experimente im Rahmen der Gesamtunter¬
suchung .311
1) Beschreibung der Apparate.312
a) Erste Versuchsanordnung, bei der die Variation des Schallmoinentes
durch Zahnübertragung bewerkstelligt wurde.312
b) Zweite Versuchsanordnung: Die Variation des Schallreizes erfolgt
durch verschiebbaren Trommelkontakt unter Verwendung einiger
Hilfsapparate.317
2) Bestimmung physikalischer Latenzzeiten.326
a) Erste Methode: Mit Hilfe von Schleiffedern und Chronoskop-
ablesungen.325
b) Zweite Methode: Photographische Registrierung der Auslösungs-
prozesse.333
3) Versuchsergebnisse.342
a) Vorbemerkung über Beobachtungsumstände.342
b) Erläuterung der Ergebnisse.344
u) Reizdaner.344
ß) Übung.348
Y ) Reizintensität.349
cf) Qualität des Lichtes.362
e) Diverse optische Bedingungen.353
c) Notizen der Selbstbeobachtung.358
4) Zusammenfassung.360
Einleitung: Stellung der Experimente im Rahmen der Gesamt-
untersuchung.
Die Darstellung beschäftigt sich mit der Beschreibung eigener
Versuche, die nach der Methode direkter Vergleichung zweier
Eindrücke angestellt wurden. Es sollte die Wahrnehmungs-
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312
C. Minnemann,
reichenden Untersuchung über die Wahrnehmungsgeschwindigkeit
von Licht- und Schallreizen. Eine spätere Serie von Versuchen
sollte nach derselben Methode die Bedingungen der Wahrnehmungs-
geschwindigkeit für Reize ein und desselben Sinnesgebietes fest¬
stellen und namentlich auch die subjektiven Faktoren dabei berück¬
sichtigen. Dann wurde ein Übergang zu Komplikationsversuchen
hergestellt und die dabei zu beobachtenden Erscheinungen mit
den Verhältnissen der einfacheren Reizauffassung verglichen.
Schließlich wurden Reaktionsversuche mit den gleichen Reizen
und unter gleichen Bedingungen ausgeführt, so daß auch diese
Prozesse in den Vergleich einbezogen werden konnten.
Für die erste Untersuchung bedurfte es einer nicht ganz ein¬
fachen Apparatur. Nach genauer Beschreibung derselben und
nach dem Bericht Uber einige Hilfsmessungen, die anzustellen
waren, sollen die Ergebnisse der Versuche, nach den Faktoren
geordnet, mitgeteilt werden.
1) Beschreibung der Apparate.
Zur Verwendung gelangten zwei Versuchsanordnungen. Weitaus
die meisten Versuche wurden mit Hilfe der ersten Anordnung
unternommen. Diese ist dadurch charakterisiert, daß der Moment
des Schalleintrittes durch eine Zahnübertragung variiert werden
konnte. Bei der zweiten Anordnung geschah die Variation im
wesentlichen durch eine verschiebbare Kontakttrommel.
a) Erste Versuchsanordnung, bei der die Variation des Sohall-
momentes durch Zahnübertragung bewerkstelligt wurde.
Die Darbietung des Lichtreizes erfolgte durch den Martius-
schen Unterbrechungsapparat, der in den »Beiträgen zur Psychologie
und Philosophie«, Heft 3, herausgegeben von G. Martins, S. 301 ff.
beschrieben ist. Das Prinzip des Apparates ist kurz folgendes.
Von einer Lichtquelle ausgehende Strahlen werden an zwei Stellen,
wo das Strahlenbündel punktuell ist, durch Uberstehende Sektoren
*
rotierender Scheiben geschnitten. Die erste Scheibe rotiert rasch,
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in. Exp. Unters, üb. d. Wahrnehmungsgeschw. v. Licht- u. Schallreizen usw. 313
schnitten. Die Sektorenausschnitte der schnell rotierenden Scheibe
haben die Aufgabe, den Lichtgang möglichst rasch freizugeben
und wieder abzudecken. Die langsame Scheibe dagegen soll die
Wiederkehr des Lichtreizes nur in angemessenen Zwischenräumen
zulassen. Denn nur wenn auch die langsame Scheibe den Weg
freigibt, hat die exakt abgegrenzte Exposition der raschen Scheibe
eine Wirkung.
An dem Martins sehen Lichtunterbrechungsapparat sind zwei
Lichtgänge vorhanden, für jedes Auge einer; aber es wurde in
diesen Versuchen nur ein Lichtgang benutzt, weil nur ein einziger
Lichtreiz beobachtet werden sollte. Die Lichtleitung wurde nur
in der Hinsicht etwas modifiziert, daß die Strahlen ein objektives
Bild des Lichtreizes auf einer Mattscheibe entwarfen, statt, wie es
sonst der Fall ist, direkt in das Auge des Beobachters zu gelangen.
Figur 5 veranschaulicht diesen Strahlengang, f bezeichnet die
schnelle, c die langsame Scheibe, e, g und b sind die Linsen
des Systems, d ein Diaphragma; a ist die Mattscheibe, auf welcher
der Reiz erscheint.
Als Lichtquelle diente Auerlicht mit einem Reflektor. Das
Übertragungsverhältnis der langsamen Scheibe auf das rasche
Unterbrechungsrad betrug 32. Infolgedessen verstrichen zwischen
den einzelnen Darbietungen etwa 5 Sek. Zwischenzeit, so daß ein
Einfluß des Rhythmus auf die Beobachtungen ausgeschlossen
schien.
Die Einrichtung für die Exposition eines Schallreizes gliederte
sich an den skizzierten Unterbrechungsapparat an. Auch hierbei
kam das Prinzin zur Anwendung, daß durch eine rasche Rotations-
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314
C. Minnenianu,
Verschiebung mußte möglichst ohne Unterbrechung der Beobachtung,
also während der Rotation des Apparates möglich sein. Eine
hierauf abzielende Einrichtung gibt es heute in solider Ausführung.
Damals leistete nur das Marbesche Prinzip des Variationskreisels
etwas ähnliches. Dieses Prinzip schien aber schon wegen der
beschränkten Raumverhältnisse für den vorliegenden Zweck nicht
geeignet.
Die benutzte Vorrichtung ist durch Figur 6 dargestellt. Sie
gibt die Teile wieder, die mit dem Martiusschen Lichtunter¬
brechungsapparate zum Zwecke der Schallauslösung kombiniert
t
wurden. Die Welle w trägt außer den dargestellten Teilen
namentlich die langsame Scheibe c des Unterbrechungsapparates
(vgl. Figur 5); die andere Welle, an der die schnelle Scheibe f
befestigt ist, lief durch das obere Lager des Statives n und durch
ein kurzes, hier gelagertes Rohr frei hindurch, so daß sich die
Scheibe f bei der Rotation nahe an der Glocke oder Feder h des
Armes o vorbei beweerte.
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III. Exp. Unters, üb. d. Wahrnehmungsgeschw. v. Licht-u. Schallreizen nsw. 315
herausgerückt war. Später wurde die Glocke durch eine Feder
ersetzt und der Klöppel durch einen Kontaktsektor. Denn es hatte
sich herausgestellt, daß der mechanische Anschlag bei rascher
Bewegung leicht etwas hart ausfiel, so daß dem eigentlichen Er¬
klingen der Glocke ein kurzes Anschlaggeräusch voraufging, das
die Exaktheit der Beobachtung beeinträchtigen konnte. Die Aus¬
lösung des Schalles geschah deshalb meistens elektrisch. Durch
den Kontaktschluß an dieser Stelle wurde ein Schallhammer be¬
tätigt, der auf Filz stand und durch Watte gedämpft war, so daß
er einen scharf abgegrenzten kurzen Knall lieferte. Natürlich
mußte die Latenzzeit, die nach dem Beginne des Kontaktes bis
zum Eintreten des Schalles verstrich, bekannt sein. Die hierzu
nötigen Messungen sind im nächsten Kapitel genauer auseinander
gesetzt. Für den mechanischen Anschlag ist eine Latenzzeit bis
zur Entwicklung des Klangcharakters viel weniger sicher an¬
zugeben.
Die elektromagnetische Auslösung arbeitete geräuschlos, da
auf t ein Polster von Watte und Fließpapier aufgelegt war. Durch
eine Zahnradtibertragung p, q , r auf die Kurbel s war es ermög¬
licht, die Glocke oder Feder, die durch den Elektromagneten vor¬
gerückt werden konnte, auch längs der Peripherie der rasch
rotierenden Scheibe beliebig zu verstellen.
Durch die Kurbelung wurde gleichzeitig ein schmaler Kontakt¬
sektor auf der langsamen Welle w um 7s2 der Drehung von h
verschoben. Diese zweite Kontaktstelle gab die Vorbedingung
für die Betätigung des Elektromagneten t und somit für das Vor-
rticken der Glocke oder Feder h ab. Es wurde also durch den
Kontakt bewirkt, daß nicht bei jeder Umdrehung der schnellen
Scheibe eine Berührung mit h stattfand, sondern immer erst bei
jeder 32. Umdrehung. Da mit der Drehung von h der Kontakt¬
sektor auf der langsamen Welle sich um eine proportionale Strecke
verschob, konnte durch einfache Kurbelung der Eintritt des
Schalles gegenüber dem Auftauchen des Lichtreizes kontinuierlich
variiert werden. Also bei jeder beliebigen Umdrehung uu^ in
jeder beliebigen Stellung der rasch rotierenden Scheibe konnte
die Auslösung des Schalles erfolgen.
Die Dronortionale Verschiebunfir des Kontaktsektors der l»tiß-
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316
C. Minaemaun,
und gleichzeitig auf zwei Flthrungsstangen lief ein Schlitten u
mit einer Gabel v, der durch die Kurbelung langsam vorwärts
und rückwärts bewegt werden konnte. Die Gabel griff in die
Nute eines Rades x der Welle w ein. Da das Rad auf einem
Vierkant der Welle lose aufsaß, wurde es durch die Gabel eben¬
falls hin und her bewegt, während es gleichzeitig mit den übrigen
auf die Welle montierten Teilen die Drehung der Welle mitmachte.
Das Rad * war mit einer Zahnstange x fest verbunden. Die
Zahnstange wiederum lag gegen das Triebrädchen eines Kegel¬
rades, dessen Achse an die Welle iv geschraubt war. In dieses
Kegelrad griff ein zweites, lose auf der Welle bewegliches Kegel¬
rad ein, an welchem der schmale Kontaktsektor befestigt war.
Wenn also durch die Gabel v das Rad x verschoben wurde, rückte
auch die Zahnstange x mit und drehte das Triebrad nebst dem
daran sitzenden ersten Kegelrade. Auf diese Weise erhielt das
zweite Kegelrad eine entsprechende Zusatzdrehung zu seiner
normalen Rotation. Für gewöhnlich hatte es nur die Drehung
der Welle w mit zu machen, da es durch die Zahneingriflfe in
seiner relativen Lage zu den übrigen rotierenden Teilen erhalten
blieb.
Für die Auslösungsprozesse dienten folgende elektrische Ver¬
bindungen :
1) Der schmale Kontaktsektor des einen Kegelrades berührte
bei jeder Umdrehung der langsamen Welle für kurze Zeit ein
seitlich angebrachtes Stativ. Hierdurch wurde ein Strom zur Be¬
tätigung des Elektromagneten t in den Hauptapparat eingeleitet.
Mit den Metallteilen des Apparates stand der Spulendraht des
Elektromagneten in leitender Verbindung; das andere Ende des¬
selben war durch das Zahnrad p hierdurch zu einem isolierten
Schleifringe y geführt. Hier lag von einem zweiten seitlichen
Stative aus eine Schleiffeder an, so daß der Strom nach Passieren
der Magnetspule dem Apparate wieder entnommen wurde.
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318 C. Minnemann,
Barnen Welle um die Kurbelungsachse der Variationsvorrichtung
zentriert wurde (Figur 7).
Durch Zahnräder a und ß wurde die Umdrehungsgeschwindig¬
keit der langsamen Welle w auf ein Zahnrad y übertragen, das
lose auf der Kurbelungsachse rotierte. An diesem Rade war ein
isolierter Arm d mit Platinkontakt befestigt; dieser stand mit einem
isolierten Schleifring e in Verbindung, auf dem konstant eine
Feder von einem neben dem Apparate befestigten Stativ auflag
und die Stromzuleitung von einer Batterie aus besorgte. Der
Kontakt von d strich um den Mantel einer Kautschuktrommel £,
die an Stelle des Schlittens u der Figur 6 auf der Kurbelungsachse
varflnltiaKhor war Tn rlan Monfol or TrAmmal moi* nin Plofin_
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IIL Exp. Unters, üb. d. WahrnehmungsgeBchw.v.Licht- u.Schallreizen usw. 319
lose um die Trommel herum und zieht ihn durch ein Loch, das
um 32 mm in geradem Abstande vom Anfangspunkte entfernt, durch
den Trommelmantel gebohrt ist. Läßt man darauf einen schwachen
elektrischen Strom durch den Draht hindurch und spannt diesen
straff, so senkt er sich gleichmäßig in die Trommeloberfläche ein.
Es ist vorteilhaft, ihn nicht ganz in die Oberfläche des Mantels
zu versenken, sondern ihn ein wenig aufliegen zu lassen, damit
er bei der Rotation des Apparates einen sicheren Kontakt ver¬
mittelt. Durch die Kurbelung verschiebt sich an dieser Einrichtung
die Trommel £ längs der Kurbelungsachse; infolgedessen erreicht
der Kontaktarm d bei der Umdrehung des Rades y den Platin¬
streifen der Trommel früher oder später, so daß sich die Kontakt¬
möglichkeit ftlr den Stellkontakt der schnellen Scheibe entsprechend
verschiebt.
Auch an der schnellen Scheibe wurde die Kontaktvorrichtung
von dem Gesichtspunkt aus modifiziert, daß ein Schleifkontakt
an einer rasch bewegten Scheibe nicht so gut und gleichmäßig
den Strom leitet, wie ein in Ruhe befindlicher Stromschlüssel.
Deshalb wurde die Einrichtung getroffen, daß zwei kürzere Strom¬
schlüsse durch die schnell rotierende Scheibe hergestellt und die¬
selben durch ein Relais in einen Dauerkontakt verwandelt wurden.
Der Elektromagnet t der Figur 6 konnte nun entbehrt werden,
da er nur für einen direkten Glockenanschlag erforderlich gewesen
war. Die Einrichtung zweier kurzer Kontakte bot außerdem den
Vorteil, daß sich die Kontaktdauer für den Schallhammer leicht
variieren ließ; solches ist zur Bestimmung der Minimalkontaktzeit
für den Schallhammer erwünscht. Statt eines einzigen Hebels
(o Figur 6 ) wurden also zwei drehbare Arme ( 17 , # in Figur 7)
mit kurzen, etwas federnden Kontaktsektoren verwendet, auf denen
ein Platindraht aufgelegt war. Die Kontaktarme waren durch
Hartgummi voneinander und vom Hauptapparate isoliert und
ließen sich einzeln durch Lösen der zugehörigen Druckschrauben
gegeneinander verstellen, während sie bei der einfachen Kurbelung
ihren eresrenseitieren Abstand nicht veränderten, sondern ihre
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320
C. Minnemann,
Zahnrad p , anf dem die Kontaktarme saßen, war an zwei Stellen
für isolierte Drähte durchbohrt. Diese führten von den verschieb¬
baren Kontaktarmen zu je einem isolierten Schleifringe an der
Rückseite des Rades p. Von dort aus wurde der Strom durch
zwei getrennte Schleiffedern abgenommen und zu einem Relais
für Dauerstrom geführt. Andererseits trug bei dieser Versuchs¬
anordnung die schnell rotierende Scheiße an ihrer Peripherie einen
kurzen, radial gerichteten Platindraht, der während der Drehung
den Hauptapparat bald mit dem einen, bald mit dem anderen der
Kontaktarme leitend verband. Da aber der Apparat seine Strom¬
zuführung durch den vorher beschriebenen Kontaktarm d erhielt,
so kam ein Strom immer nur dann zustande, wenn dieser Arm
gerade Uber die Kontaktspirale der Trommel hinwegstrich und
einer der Arme 17 oder # den Kontaktdraht der schnell rotierenden
Scheibe berührte.
Die Umwandlung der beiden momentanen Stromschlüsse in
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III. Exp. Unters, üb. d. WahrnehmungsgeBchw.v.Licht-u. Schallreizen uaw. 321
eine Arm stand mit dem ersten, der andere mit dem zweiten der
Elektromagnete in Verbindung, so daß die Spulen 1 und 2
(Figur 8 ) je nach der eingestellten Entfernung der Kontaktarme 17 , &
kurz nacheinander erregt wurden. Der Anker 1 des Relais war
beiden Spulen gemeinsam und hatte bei •/. seinen Drehpunkt, so
daß er entsprechend der Aufeinanderfolge beider Stromschlüsse
eine Drehbewegung hin und zurück ausftihrte. Die Bewegung
wurde also nach beiden Richtungen durch gleiche Bedingungen
hervorgerufen, während gewöhnlich Elektromagnete so funktionieren,
daß verschiedene Kräfte auf den Anker einwirken, bei der
Anziehung besonders der Magnetismus, beim Abziehen meistens
Feder- bzw. Schwerkraft. Dann fällt der Typus der Hin-
und Rückbewegung des Ankers verschieden aus und wird durch
den remanenten Magnetismus je nach der Kontaktdauer beeinflußt;
und für einen durch Anker und Eisenkern geschlossenen Strom¬
kreis wäre in Betracht zu ziehen, daß der Kontakt erst nach Aus¬
führung der Hinbewegung einsetzt und schon bei Beginn des
ZurUckweichens aufhört. Bei dem hier benutzten Apparate spielte
auch der remanente Magnetismus keine Rolle, weil die Kontakt¬
arme 17 , # genügend weit gegeneinander gedreht waren, so daß
der zweite Stromschluß erst einsetzte, nachdem der erste bereits
gänzlich abgeklungen war. Daher kann man unbedenklich die
Zeit eines von dem Relais geschlossenen Stromes proportional
dem Abstande der Kontaktarme setzen, da auch die Zeit des An¬
steigens der beiden kurzen Stromschlüsse beidemal die gleiche
ist und nur eine Verspätung, keine Verkürzung der Kontaktzeit
hervorrufen kann. Eine geringe Abweichung von der genauen
Proportionalität entsteht aus der Funkenbildung bei Stromunter¬
brechung. Will man nicht nur eine Konstanz der Zeiten, sondern
auch eine bestimmte absolute Größe der Kontaktdauer mit diesem
Relais erzielen, so muß man einige Kontrollmessungen vornehmen;
jedoch ist der Einfluß der Funkenbildung sehr gering.
Durch einen langen, an dem Anker 1 befindlichen Hebel ^
wurde der Dauerstromkreis geschlossen, und zwar an zwei Stellen
ffleichzeitiff. indem zwei Rädchen u und v. deren Kranz mit einem
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322 C. Minnemann.
klötze mit den Plättchen waren etwas verschiebbar nnd so zn
regulieren, daß der Kontaktschluß an beiden Stellen gleichzeitig
erfolgte. Durch die doppelte Unterbrechung wurde die Funken¬
bildung wesentlich eingeschränkt und auf ein ziemlich konstantes
Maß gebracht; auch vollzog sich der Prozeß bei Einstellung der
Kontaktgrenzen auf die Mitte der auszufllhrenden Hebelbewegung
einigermaßen rasch, so daß durch etwaige Funkenbildung höchstens
eine ganz kurze Kontaktverlängerung entstehen konnte. Das
Dauer-Relais funktionierte also in der Weise, daß der erste der
Fig. 9.
momentanen Ströme durch die Klemmen <x, r in das Relais ge¬
langte und eine leitende Verbindung zwischen den Klemmen n, p
für einen sekundären Stromkreis herstellte, während der zweite
durch die Klemmen t, v eintretende Strom ihn wieder öffnete.
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III. Exp.Uuters.iib. d.Wahraehmungsgeschw.v.Licht-u. Schallreizen usw. 323
der es gestattete, die Aufmerksamkeit gänzlich den auftretenden
Reizen zuzuwenden, ohne daß in den Zeiträumen zwischen den
einzelnen Darbietungen Handgriffe auszuflihren waren. Der
Apparat, der die Umschaltung besorgte, beruht auf dem Kon¬
struktionsprinzip, daß bei jedem vorkommenden Stromschluß ein
Anker ungezogen wird uud dieser beim Zuriickweichen, d. h.
sobald der Strom unterbrochen wird, ein Kontaktrad um einen
Zahn weiter dreht. Durch diese Drehung entsteht eine Umschal¬
tung für den Stromschluß.
Durch die Klemmen 1 und 2 wird der Umschalter Figur 9
mit einer Stromquelle verbunden. Die Klemmen führen zunächst
in die beiden inneren, mit Quecksilber gefüllten Ringe a und b.
Von hier aus wird der Strom weitergeleitet durch einen Kamm,
der durch Figur 10 in Seitenansicht dargestellt ist. Die Zinken
des Kammes bewirken abwechselnd eine Verbindung von n und b
nach den beiden äußeren, ringförmig angeordneten Reihen von
Quecksilberknppen c oder d, je nach der Stellung des Kammes.
Fig. 10.
Jedesmal wenn a mit einer Kuppe von c verbunden ist, steht b
durch die andere Kammhälfte mit einem Quecksilberkontakt von
d in Verbindung. Denn die Kuppen der beiden äußeren Ringe
liegen verschränkt zueinander, und die Kammhälften sind durch
einen Hartgummiklotz voneinander isoliert. Untereinander und
mit den Klemmen 3 bzw. 4 sind die Kuppen der einzelnen Ringe
durch Drähte verbunden, so daß durch Drehung des Kammes ab¬
wechselnd eine Leitung zwischen den Klemmen 1 und 3, 2 und 4
oder aber zwischen 1 und 4, 2 und 3 hergestellt wird. Durch
einen Elektromagneten c, den der Strom in seinem weiteren Ver¬
laufe zu passieren hat, wird bei Unterbrechung der Kamm jedes¬
mal bis zur folgenden Kuppe des anderen Ringes weiter gedreht.
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324
C. Minnemann,
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Zahn weiter, während beim Einsetzen des Stromes der Ankerhebel
Uber einen Zahn des Sperrades leicht hinweggleitet, da eine zweite
dem Rade anliegende Sperrklinke h die RUckwärtsdrehung ver¬
hindert. Zwei Zugfedern i und k dienen zur Regulierung der
Labilität des Hebels; / und m sind Gummianscbläge. Das Hebel¬
glied ebenso wie die Sperrfeder besitzen geringe Reibung, da sie
nur mit einem vertikal gespannteu Drahte das Sperrad berühren;
auch ist das Trägheitsmoment des Kammes nur klein wegen seiner
geringen Masse und der dünnen Platinzinken.
Fig. 11.
Zur Abstufung der für den Elektromagneten einerseits und den
Schallhammer andererseits erforderlichen Stromstärken war bei
Klemme 4 eine Stromverzweiguug vorgenommeu, indem der
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III. Exp. Unters. Ub.d.Wahrnehimingsgeachw. v. Licht-u.Schallreizen usw. 325
die Hilfsapparate iu einem besonderen Raume aufgestellt und die
dazu gehörigen SchaltschlUssel handlich angebracht waren, ver¬
steht sich von selbst. Im Interesse der Übersicht Uber diese
zweite Versuchsanordnung sei das Schema der Stromleitungen
durch Figur 11 wiedergegeben.
Der erste Stromkreis führte von der Batterie B t durch den
Kontaktarm d zeitweise in den Rotationsapparat R für die Licht¬
unterbrechung mit den daran angebrachten Kontakten für die
Schallauslösung und von da aus durch die Kontaktarme 17 oder &
in die Elektromagnete 1 bzw. 2 des Dauerrelais D.
Der zweite Stromkreis, von der Batterie B 2 ausgehend, führte
zum Umschalter U , von da aus durch den Widerstand W und
Schallhammer S bzw. durch den Elektromagneten e zu den Ein¬
schaltungsstellen >t, q des Dauerrelais D und wieder in den Um¬
schalter zurück.
Dazu kam drittens der oben erwähnte Stromkreis zur Messung
der Geschwindigkeit des Rotationsapparates (S. 317).
2). Bestimmung physikalischer Latenzzeiten.
Bei Anwendung einer elektrischen Schallauslösung ist es nicht
statthaft, den Moment der Schallentstehung mit dem Beginne des
auslösenden Kontaktes gleichzusetzen und einfach die Differenz
der Kontakteinstellung gegenüber dem Auftreten des Lichtreizes
zu messen. Denn es findet eine Verspätung des Schallreizes
gegenüber dem Einsetzen des Kontaktes statt, und diese Größe
muß festgestellt werden. Die konstante Auslösungsverspätung
wurde auf zweifache Weise bestimmt: erstens durch eine Reihe
von Schleiffedern und Kontakträdern, die au den Rotationsapparat
angebracht wurden, zweitens durch photographische Registrierung.
Zugleich bot sich bei den Messungen Gelegenheit zur Bestimmung
von Latenzzeiten des Chronoskops.
a) Erste Methode: Mit Hilfe von Schleiffedern und Chronoakop-
ablesungen.
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III. Exp. Uuters. üb. d.Wahrnehrunngsgeschww.Licht-u.Schallreizen usw. 327
mit dem Zeiger verbundene Arm den Weg zu den Zähnen des
Kronrades zurlickgelegt hat und mitgerisseu wird. Wenn auch
der Weg, der hierbei in Frage kommt, sehr klein ist, so erfordert
doch seine Zurllcklegung einen meßbaren Zeitraum, zumal da eine,
wenn auch geringe, äußere Reibung zu überwinden ist und die
Masse der zu bewegenden Teile einen Einfluß auf die Geschwindig¬
keit besitzt. Für die Ausschaltung des Zeigers durch Stromschluß
kommen ähnliche Verhältnisse in Betracht, zunächst das Ansteigen
des elektrischen Stromes und der damit fast parallel gehenden
magnetischen Erregung, bis die Anziehungskraft größer wird als
die Federspannung und der Zeigerteil aus den Zähnen des laufenden
Kronrades herausgestoßen wird. In diesem Falle wird ein ge¬
ringes Weiterschleudern des Zeigers in der Drehrichtuug anzu¬
nehmen sein, bevor der Arm von den Zähnen des feststehenden
Kronrades aufgefangen wird.
Aus dieser Überlegung ergibt sich, daß es berechtigt ist, sich
die Latenzzeit einer Auslösevorrichtung bis zum erzielten Effekt
in zwei Teile zerlegt zu denken: 1) in eine Zeit, die erforderlich
ist, damit die auslösende Kraft genügend anwächst, die betreffende
Leistung zu vollziehen und 2; in die außerdem noch nötige Zeit,
bis der Effekt wirklich eingetreten ist. In den Fällen, wo die
Wirkung durch Stromunterbrechung geschieht, wollen wir den
ersten Teil der Zeitstrecke als Unterbrechungsminimum bezeichnen;
im Falle eines Stromschlusses dagegen reden wir von einem er¬
forderlichen Kontaktminimum.
So besteht die Zeitstrecke A B in unserer Betrachtung (Figur 12 a)
aus einem Unterbrechungsminimum a plus einer Zeit x , die nachher
noch vergeht, bis der (’hronoskopzeiger sich wirklich dreht. Beide
Größen sind natürlich abhängig von speziellen Bedingungen, z. B.
von der Federregulierung des Chronoskopankers, von der Strom¬
stärke und dem Leitungswiderstande. Aber diese Veränderlichkeit
spielt für die unternommenen Messungen keine Rolle, wenn man
die Bedingungen möglichst gleichmäßig erhält. Insbesondere muß
man darauf achten, daß die LeitungsVerhältnisse für den vom
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328
C. Miunemunn.
eine zweite Vorrichtung am Rotationsapparat, diesmal ein Kontakt¬
sektor, etwa im Zeitpunkte C eine Leitung zu den Elektromagneten
des Schallhammers. Wiederum wird eine Zeitstrecke ( b ) ablaufen,
bis der dem Hammer erteilte Antrieb groß genug ist, ein Auf¬
schlagen zu bewirken, und es wird außerdem eine Wirkungsver-
spätung y bestehen nach Beendigung des Kontaktminimums, bis
das Aufschlagen wirklich erfolgt, im Momente D. In diesem
Augenblick der Schallentstehung wird durch Hammer und Amboß
ein Stromkreis fürs Chronoskop geschlossen, der das Zeigerwerk
arretiert. Der Zeiger kommt natürlich nicht sofort bei Strom¬
schluß zum Stehen, sondern es verstreicht zunächst eine Zeit¬
strecke c als Kontaktminimum für Chronoskoparretierung und dann
noch eine registrierte Zeit x, bis die Zeigerdrehung wirklich
aufhört.
Die bei diesen Vorgängen vom Chronoskop markierte Zeit¬
strecke d bezieht sich also auf einen Zeitraum von B bis F; und
es besteht für die Latenzzeit des Schallreizes b -f- y bei Verwen¬
dung des elektrischen Hammers die
Gleichung 1 b y — d — (c -f- x) + (a + x) — e.
e bedeutet in dieser Gleichung die Zeit, die nach A, dem Inter¬
missionsaufange des Chronoskopstromes, vergeht, bis der Kontakt
für Schallauslösung im Zeitpunkte C einsetzt. Diese Zeitstrecke
ergibt sich aus der Graddistanz der Unterbrechungs- und Kontakt¬
stelle mit Rücksicht auf die Rotationsgeschwindigkeit des Appa¬
rates, die sich mit großer Genauigkeit feststellen läßt. Die Glei¬
chung besagt also, daß die Latenzzeit der Schallentstehung nach
Beginn des auslösenden Kontaktes gleichzusetzen ist dem abge¬
lesenen Chronoskopintervalle minus der Latenzzeit für Chronoskop¬
arretierung plus derjenigen für Chronoskoperregung, wovon die
eingestellte Zeitdistanz der Unterbrechungs- und Kontaktvorrich¬
tung am Rotationsapparatc zu substrahieren ist.
Unternimmt man eine zweite Chronoskopmessung einzig mit
Auslösungen am Rotationsapparate, so heben sich unter sonst
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III. Exp. Unters, üb. d.Wahrnehraungsgeschw.v. Licht- u. Schallreizen usw. 329
wiedergibt, während die obere die Chronoskopablesung anzeigt.
Die gemessene Chronoskopzeit d l ist gleich dem Zeitwert f eines
rotierenden Unterbrechnngssektors, vermindert um die Differenz
der Latenzzeiten für Ckronoskoperregung und Arretierung:
Gleichung 2 d 1 = f — (a -f- x) -f- (c + x).
Aus beiden Gleichungen zusammen folgt:
b y = d f — d l — e.
Die Größen rechts sind bekannte Werte, so daß b + y, der
Wert für die Auslösungsverspätung des Schallreizes, zu berechnen
ist. Eine Vereinfachung der Messung wird erzielt, wenn man die
Distanzen der in Betracht kommenden Öft'nungs- und Schließungs¬
kontakte e gleich f wählt. Dann ist die Latenzzeit des Schall¬
reizes einfach gleich der Differenz der beiden Chronoskopab-
lesungen d — d 1 .
Für die erste der oben beschriebenen Versuchsanordnungen
ergab sich auf diese Weise durch wiederholte Messungen der Wert
von 27 a als Verspätung des Schallhammergeräusches gegenüber
dem an der rotierenden Scheibe eingestellten Kontaktmomente.
Diese Größe ist an die unten mitgeteilten Beobachtungsergebnisse
stets als Korrektur angebracht worden.
Es mögen noch einige nähere Angaben Uber die Einrichtung
der Messungen folgen und darauf eingegangen werden, daß sich
einzelne der in den Gleichungen enthaltenen Größen direkt messen
lassen, so die Zeitstrecken a, b und c. Daraus folgt auch
der Wert für y und die Differenz x — x, sowie die Größe
(c + x) — (a -j- x) als Differenz der latenten Zeitverschiebungen
des Chronoskopes. Jedoch darf nicht übersehen werden, daß diese
Bestimmungen nur für spezielle Leitungsverhältnisse und Feder¬
spannungen Geltung haben. Die gefundenen Zahlen sind folgende:
a — 6 o‘
b = 2ba
c = 32 o
r — x = 5 o
y —2 o.
Gemessen wurden die Größen auf folgende Art
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Der Minimal¬
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330
C. Minneraaun,
Scheibe der ersten Versuchsanordnung. Der Sektor wurde größten¬
teils nichtleitend überdeckt, und dann wurde durch geringe
Variierung der Rotationsgeschwindigkeit genau die Grenze auf¬
gesucht, bei welcher Dauer des Kontaktes der Hammer gerade
noch aufsehlug. In ähnlicher Weise wurde die Minimalinter¬
mission a für die Erregung des Chronoskopes gemessen durch einen
kurzen, an einer schnell rotierenden Scheibe angebrachten Inter¬
missionssektor. Gleichzeitig wurde die Rotationsgeschwindigkeit
des Apparates durch einen größeren, an einer langsamen Scheibe
befindlichen Unterbrechungssektor festgestellt. Das Vorhandensein
von Latenzzeiten hat auf diese Geschwindigkeitsmessung keinen
nennenswerten Einfluß, da die hierbei in Frage kommende Inter¬
missionszeit eine zu große Ausdehnung besitzt. Der Messungs¬
sektor hatte, wie durch behutsame Drehung des Rades bis zum
Reagieren des Chronoskopes konstatiert wurde, eine eigene Breite
von 205,31°, d. i. gleich 6570 Graden der schnellen Scheibe,
während die Sektoren flh Minimalkontakt oder kürzeste Inter¬
mission unvergleichlich viel kleiner waren.
Für die Arretierung des Chronoskopes ließ sich der Minimal¬
kontakt c bestimmen aus der Größe eines Kontaktsektors der
schnellen Scheibe, der gerade einen Ruck in der Zeigerbewegung
der Uhr hervorrief. Eine solche Bestimmung war weniger leicht
auszuführen. Durch einfaches Hinsehen auf die Uhr war noch
keine sichere Entscheidung Uber eine kontinuierliche oder ruck¬
weise Bewegung des Zeigers zu gewinnen, eher schon durch das
Gehör. Völlig sicher aber ist ein Rücken des Zeigers auf indi¬
rektem Wege zu konstatieren, wenn die untersuchte Zeigerbewegung
relativ kurz ist und man Anfang und Ende derselben ablesen kann.
Diese Bedingungen wurden dadurch herbeigeflthrt, daß für ge¬
wöhnlich durch einen Kontakt au der langsamen Scheibe der
Chronoskopstrom dauernd geschlossen war, so daß das Zeigerwerk
ruhte; bei einer bestimmten Umdrehungsstelle jedoch wurde der
Strom durch eine Schleiffeder umgeschaltet zu einer Kontaktvor¬
richtung der schnellen Scheibe des Apparates und hier kurz nach¬
einander zweimal unterbrochen und geschlossen. Darauf trat
wieder die ursprüngliche Leitung durch die langsame Kontakt-
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III. Exp. Unters, üb. d. WahrnehmungsgeBchw.v. Lieht- u.Sehallreizen usw. 331
Unterbrechungen liegende kurze Kontaktzeit kein Stillstehen des
Chronoskopes, so erschien die abgelesene Zeitstrecke relativ groß;
im anderen Falle konnte trotz langsamerer Rotation der Sektoren
die registrierte Zeit kürzer ausfallen. Es war nun durch Vari-
ierung der Geschwindigkeit derjenige Puukt aufzusuchen, wo
a
Chronoikopzeit L _
-- a . x. ■ ' . • z i --c- —z-i -
I.Jntermission Konlaklsektor 2. Jntermission
b
Chronoskopzeilen „
-. a . Xi
Koniaktsektor'
Z I
X I
Fig. 13 a und b.
diese Veränderung der Chronoskopablesuugen eintrat. Aus der
Gradzahl des kurzen Kontaktsektors ergab sich dann die Zeit¬
strecke, die ein Kontakt mindestens andauern mußte, um eine
Arretierung des Zeigers zu bewirken.
Genauer veranschaulicht sind die Verhältnisse der Chroiioskop*
registrierung durch die Figuren 13 und 14. Figur 13 a stellt ein en
Fall dar
dpi* oincraiinlinhorm Cnntalrtadttnr nieht. 7.11T
Ulen
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332
C. Minncnianu
eine Kontaktzeit e, die zur Arretierung des Zeigers mindestens
erforderlich ist, verstreicht, setzt bereits eine zweite Unterbrechung
des Stromes ein, die dann natürlich keine Latenzzeit bis zu ihrer
Wirksamkeit braucht, da der Zeiger sich schon in Bewegung be¬
findet. Anders liegen die Verhältnisse, sobald der Kontaktsektor
ausreichend ist, einen Stillstand hervorzurufen (Fig. 13 b). Dann
ist eine Latenzzeit a + x erforderlich, um den Zeiger wieder in
Gang zu setzen. Daher werden die beiden vom Chronoskop
registrierten Zeitstrecken durch eine Zwischenzeit getrennt, und
die gesamte Chronoskopablesung erscheint kürzer. Die Kurve
der Chronoskopregistrierungen weist demnach bei derjenigen Ge¬
schwindigkeit, wo der eingeschobene Kontaktsektor eben wirksam
wird, eine Unstetigkeit auf und verläuft von da ab weniger steil;
vgl. Figur 14. Die Abszisse stellt abnehmende Geschwindigkeiten
dar, die Ordinaten bezeichnen Ablesungen des Chronoskopes. Zum
Vergleiche ist die wirkliche Dauer der eingestellten Sektorenfolge
(Linie ACF) und die auf den eingeschobenen Kontaktsektor ent¬
fallende Zeitstrecke eingezeichnet. Solange der Sektor nicht
wirksam ist (bis zum Abszissenpunkte B) hat man zur wahren
Zeit der gesamten Sektorenfolge die Differenz der Latenzzeiten [g)
zu addieren, um die vom Chronoskop registrierten Zeiten zu er¬
halten (Linie D bis E ). Von B ab, wo der Kontaktsektor die
Dauer c überschreitet und einen Einfluß ausübt, ist die Differenz
der Latenzzeiten zweimal zur objektiven Dauer der gesamten
Sektorenfolge zu addieren, dafür aber die Zeitstrecke des wirk¬
samen Kontaktsektors zu substrahieren. Der zweite Ast der
Chronoskopregistrierung setzt also tiefer ein und steigt weniger
rasch au, so daß man sehr leicht die zum Punkte B gehörige
Geschwindigkeit durch Variierung auffinden kann und daraus den
Minimalkontakt c erhält.
Dieselbe Versuchsanordnuug lieferte den Chronoskopwert füi
die oben angeführte Gleichung 2. Für diesen Zweck brauchten
die Zeiten nur durch 2 dividiert zu werden, da der herbeigeführte
Vorgang zweimal die Bedingungen der Gleichung 2 enthielt.
I^i n \f Aaannm nn nli d 1 a« nhnn m 1 itakIIäT U * a! •—«—
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III. Exp.Unters, üb.d.Wahrnehmungsgesehw.v.Licht- u.Schallreizen usw. 333
während an der langsamen Scheibe eine Unterbrechung eintrat.
Bald darauf öffnete sich auch der Kontakt der schnellen Scheibe,
so daß das Zeigerwerk sich in Bewegung setzte; und der Strom¬
kreis wurde wieder zur langsamen Scheibe umgeschaltet, wo er
längere Zeit unterbrochen blieb. Mittlerweile entstand der Schall¬
hammeraufschlag durch eine andere Auslösung des Apparates und
schloß eine dritte Abzweigung der Chronoskopleitung, so daß der
Zeiger zum Stehen kam. Endlich war durch eine Umschaltung
des Schallhammerstromes auf den Sektor einer langsamen Scheibe
dafür gesorgt, daß dieser Strom genügend lange geschlossen blieb,
bis der anfängliche Zustand der Chronoskopleitung wieder einge¬
treten war. Die Zeigerstellung konnte daher bequem jedesmal
abgelesen werden.
Wie man sieht, ist diese Methode, die einzelnen Größen zu be¬
stimmen, nicht sehr einfach, weil im Interesse zeitlich exakter
Auslösungen eine ganze Anzahl von Schleiffedern und Kontakt¬
scheiben nötig ist. Eleganter und wohl noch zuverlässiger er¬
scheint die Methode photographischer Registrierung der Auslösungs¬
zeiten, die für die zweite oben beschriebene Versuchsanordnung
angewendet wurde.
b) Zweite Methode: Photographische Registrierung der Aus¬
lösungsprozesse.
Durch photographische Registrierung wurden auf einen licht¬
empfindlichen Streifen folgende Vorgänge aufgezeichnet: Ein Ab¬
schnitt der Scheibenumdrehung des Lichtunterbrechungsapparates,
die Aufschlagbewegung des Schallhammers und eine hierdurch
erfolgende Auslösung des Chronoskopzeigers bis zu seiner Arre¬
tierung durch Stromunterbrechung an einem Reaktionstaster. Gleich¬
zeitig schrieben sich die Schwingungen einer Stimmgabel auf, so
daß die Zeitwerte der Intervalle erkennbar sind.
Als Lichtquelle wurde für diese Aufzeichnung eine lOOOkerzige
Nernstlampe mit drei geraden Glühfäden benutzt. Eine solche
Lampe eignet sich besonders gut, weil die Fäden intensiv und
ruhig leuchten. Registriert wurde auf sehr empfindliches soge-
nannfpa Npo-n+ivnanipr
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334
C. Mionemann,
in unmittelbarer Nähe der Nernstlampe [L] rotierte und zeitweise
die untere Partie der vertikal gerichteten Glühfäden verdeckte.
Durch eine Sammellinse a wurde ein vergrößertes Bild der Fäden
auf dem Negativpapier entworfen. Eines der StrahlenbUndel
streifte kurz vor seinem Auftreffen den Hebel b des stark schräg
gestellten Schallhammers S , so daß ein scharfes Schattenbild der
Grenzlinie des Hammerkopfes entstand. Das StrahlenbUndel eines
anderen Glühfadens traf auf einen kurzen, an einer Stimmgabel¬
zinke befestigten Kartonstreifen d auf und bildete diesen ab, da
einige der Strahlen zu beiden Seiten desselben noch vorbeigingeu.
l-'ig. 15.
Das Chronoskop ließ sich nicht so nahe an das lichtempfindliche
Papier heranbringeu, daß ein auf die Zeigerachse aufgesetzter
Papierzylinder von minimalem Gewichte sich deutlich genug hätte
abheben können. Auch mußte, da nur drei vertikal gerichtete
Glühfäden zur Verfügung standen und der Film sich ebenfalls in
dieser Richtung bewegte, das Bild des vierten aufzunehmenden
Vorganges seitlich verschoben werden; denn der untere Teil des
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III. Exp. Unters, üb. d.Wahrnehmuugsgeschw.v. Licht-u.Schallreizen usw. 335
seitliche Verschiebung des Bildes erreicht. Zugleich entstand eine
etwa vierfache Vergröberung der Zeigerverschiebung, die in
Richtung der Achsen beim Ein- und Ausschalten der Uhr vor sich
geht. Die Kamera K selber enthielt keine Linsen. Nur eine
Blende mit entsprechenden Ausschnitten befand sich unmittelbar
vor dem lichtempfindlichen Streifen. An der Vorderseite war die
Blende mit weißem Papiere beklebt, so daß mau die Schattenbilder
gut auf die in der Blende befindlichen Schlitze einstellen konnte.
Die vier kurzen horizontalen Schlitze hatten eine Breite von 1 bis
Vj mm. Die rasche Fortbewegung des registrierenden Streifens
geschah, beiläufig erwähnt, durch denselben Motor, der den Licht¬
unterbrechungsapparat autrieb. Ein Schnurlauf führte von einem
Stufenrade li der Kamera K zum Kotationsapparate hin. Da ein
Tourenzähler i an dem Stufenrade angebracht war, konnte man
die Filmgeschwindigkeit bei der Aufnahme ziemlich genau be¬
urteilen.
Die für die Aufnahme benutzte Filmkassette K enthält in
ihrem Innern einen komplizierten Schleifenapparat. Obgleich
die äußeren Dimensionen des Kastens nur 61 X 37 X 21 cm be¬
tragen, konnte der lichtempfindliche Streifen first eine Länge von
6 m haben. Jedoch sind auch kürzere Streifen verwendbar, wie
z. B. für die vorliegenden Aufnahmen, wenn nicht alle Schleifen
gewickelt werden. Im einzelnen ist die innere Einrichtung des
Apparates durch die Figuren 16 und 17 ersichtlich.
Zwischen zwei soliden Eisenrahmen, die durch vier Säulen mit¬
einander verbunden sind, befinden sich elf Walzen von etwa 4 cm
Durchmesser, und zwar je 5 bzw. 6 derselben an den beiden
Schmalseiten. Die eine Gruppe der Walzen (Figur 16 Nr. 1, 3, 5 }
4, 9, und 11) trägt an einer Seite Zahnräder. Nur die Räder der
Walzen 1 und 3, 9 und 11 greifen direkt ineinander ein; zwischen
den anderen Rädern sind kleinere Rädchen /.-, I, m eingeschaltet,
damit eine sinngemäße Drehrichtung entsteht. Die Welle der
ersten Walze trägt außerdem das Stufenrad h, das au der äußeren
Kastenwand sichtbar ist. Es dienen die inneren Zahnräder ctazu,
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dafür Rad uud Walze 11, wie an Figur 16 ersichtlich, in ent¬
sprechende Lager legen, so daß die Schleifenbahn verkürzt wird;
desgleichen kann man beim Herumlegen des Streifens eine oder
mehrere Schleifen überspringen, so daß eventuell nur die Rollen 1,
2, 10 und 11 benutzt werden. Die Eisenrahmen mit den Walzen
sind durch 4 Schrauben an der einen seitlichen Kastenwaud be¬
festigt, so daß sie sich aus der Kassette herausnehmen lassen;
jedoch ist es nicht schwierig, auch ohne den Schleifenapparat
herauszunehmen, die Rollen mit lichtempfindlichem Papier zu be¬
spannen; mau braucht nur die andere Seitenwand des Kastens,
die als Schiebedeckel eingerichtet ist, herauszuziehen; durch zwei
1
n i/r
Fig. 17.
Hebel n und o wird die Lage dünner Walzen reguliert, die den
Streifen an die vordere Kastenwand glatt anlegen und eine straf¬
fere Spannung des Films nach dem Umlegen desselben herbei-
f Uhren.
An der Vorderseite der Kassette befindet sich ein kurzes
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III. Exp.Unters, üb.d.Wahrnehmungageschw.v.Licht-u.Schallreizen usw. 337
der Expositionsdauer durch Kontakte herbeigeführt wurden. Es
kamen wiederum zwei einzelne Kontakte zur Verwendung, damit
in der Zwischenzeit sich die zu registrierenden Vorgänge ungestört
abspielen konnten, ohne daß ein weiterer Strom den Apparat
passierte, der vielleicht Induktionswirkungen hätte hervorrufeu
können. Durch ein Relais, das nach seiner Einstellung immer
nur einmal funktionierte, wurden die beiden StromschlUsse zur
Abgrenzung eines längeren Stromschlusses verwendet, der den
Belichtungsmechanismus auslöste.
Das Relais (Figur 18 und Relais der Figur 15) war nach
bekanntem Prinzip speziell für die Aufnahme zusammengestellt.
Eine erste Schleiffeder, die an einem langsam rotierenden
Rade des Unterbrechungsapparates anlag, schloß einen zum
ersten Elektromagneten des Relais führenden Strom; eine zweite
Schleiffeder erregte den zweiten Elektromagneten. Die zuge¬
hörigen Anker s und t (Figur 18) lösen durch ihre Sperr¬
haken zwei gebrochene Hebel u und v aus, falls diese vorher
gespannt sind. Der eine Hebelarm von v liegt bei der Spannung
gegen den Anschlag iv des ersten Hebels, so daß ein in beide
Hebel durch die Klemmen x und ?/ hineingeführter Strom bei
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III. Exp. Unters, üb. d-Wahrnehmungegeschw. v. Licht-u. Schallreizen usw. 339
Kontaktscheibe bleiben für den Stromkreis zum Kameraverschlnß
unwirksam, solange nicht die mit Zugfedern versehenen Hebel
von neuem eingestellt sind. Hatte der Rotationsapparat eine ge¬
nügende Geschwindigkeit erreicht, so wurde durch einen Schlüssel
der Relaisstrom eingeschaltet, und es spielten sich die übrigen
Vorgänge mit Ausnahme der Reaktion auf den Schallreiz von
selber ab.
Die Auslösung des Chronoskopes durch den Schallhammer ge¬
schah hierbei auf andere Weise als bei Arretierung des Chrono¬
skopes nach der ersten Versuchsanordnung. Nicht durch den
Hammeraufschlag wurde der Chronoskopkreis geschlossen und
durch Stromumschaltung im Unterbrechungsapparat der Kontakt
verlängert; sondern wie es für die späteren Reaktionsversuche
bequemer war, fand der Stromschluß durch einen mit dem Schall¬
hammer in Verbindung stehenden Sperrhebel statt. Ein Sperr¬
haken am Arme des Schallhammers bewirkte die Auslösung, wenn
vorher durch einen Faden x (Figur 15) der kurze Hebel gespannt
war. Dadurch blieb der Chronoskopstrom dauernd geschlossen,
bis er an einer anderen Stelle durch den Reaktionstaster T unter¬
brochen wurde, sobald man den Finger vom Knopf desselben
abhob.
Die Ergebnisse der auf diese Weise erzielten Registrierung
sind durch Figur 19 wiedergegeben. A bezeichnet den Vorüber¬
gang eines offenen Sektors der schnell rotierenden Scheibe vor
einem der Glühstäbe; B ist die Lichteinwirkung beim Nieder¬
schlagen des Schallhammers; B\ B" usw. sind Nachschwingungen
des HammerB. Der Streifen C bedeutet die Einschaltung des
Chronoskopzeigers. D sind Schwingungen einer elektrischen
Stimmgabel für c' = 256. Eine Nachprüfung durch photographi¬
schen Vergleich mit Normal -a = 435 ergab, daß die elektrische
Gabel ungefähr um 1 Schwingung verstimmt war. Für die Be¬
rechnung der Auslösungszeiten wurde deshalb 1 Schwingung zu
3,891 a angesetzt.
Die photographisch aufgezeichneten Vorgänge sind nicht direkt
miteinander zeitlich zn vergleichen: sondern znnäohst ist Hie
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340
C. Minnemann,
nach vorgenommene Reduktion der Registrierungen auf eine ein¬
heitliche Zeitreihe ist in dem unteren Liniensystem der Figur 19
angebracht. Für den aufgenommenen Abschnitt der Scheiben¬
drehung A kam außerdem in Betracht, daß der Sektor nicht
gleichzeitig mit dem Anfänge der Schallhammerauslösung den
Glühfaden abdeckte, sondern erst um 95,3° später. Diese Ein¬
stellungsdifferenz ist in Zeit umzurechnen und auf der Zeitlinie
entgegengesetzt abzutragen, damit man den Anfangsmomeut für
die Schallhammerauslösung erhält. Der Zeitwert für die Ein¬
stellungsdifferenz ist aus dem Abstande zweier Sektorenbelich¬
tungen bei aufeinanderfolgenden Umdrehungen und den zugehörigen
Stimmgabelschwingungen zu ermitteln. In dem dargestellten Falle
beanspruchte eine ganze Umdrehung 115,3 Stimmgabelschwin¬
gungen; also wurden 95,3° in einer Zeit von 118,3 a zurückge¬
legt. Demnach fällt der mit dem Beginn des Auslösungskontaktes
für den Schallhammer identische Zeitpunkt der Lichtreihe auf a.
Das Aufschlagen des Hammers und somit die Entstehung des
Gehörsreizes erfolgte erst im Zeitpunkte ß , d. h. 44 o später als
das Auftreten eines Lichtreizes, der gleichzeitig mit dem Beginn
des Schallhammerkontaktes sichtbar wird. Der Chronoskopzeiger
endlich begann erst nach einer weiteren Verzögerung von 31,7 o,
im Momente y zu laufen.
Was die Teilzeiten der AuslösungsVorgänge anbelangt, so
brauchte der Schallhammer 8,7 o zum Niederfallen (Zeitstrecke d
bis ß). Die Rückbewegung e C, die langsamer verlief, hat für
die Untersuchung kein Interesse. Aber die Vorgänge bei Ein-
nnd Ausschaltung des Zeigers am Chronoskope sind genauer zu
betrachten. Bei wird die Zeigervorrichtung bereits von dem
Kronrade gefaßt und herumgedreht, so daß die Einschaltezeit bis
zu diesem Momente (rj bis y) 9,6 o beträgt. Jedoch dauert der
Prozeß des Zurückweichens noch 5,7 o länger an bis zum Punkte i
der registrierten Bewegung; und darauf folgt eine Nachschwan¬
kung, die erst in x beendigt ist. In ähnlicher Weise geht die
Ausschaltung vor sich, die auf der Reproduktion nicht mehr ab¬
gebildet ist. Nach etwas kürzerer Zeit (7,4 a) werden die Zähne
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III. Exp. Unters, üb. d.Wahrnehmungsgeschw.v. Licht-u. Schallreizen usw. 341
rangen handeln kann. Die Ausschaltbewegung zeigt genau das
inverse Bild des Einschaltprozesses, nur daß jener etwas rascher
verlief.
Vergleicht man diese Zeiten mit den nach der ersten Methode
(durch Schleiffedern) gewonnenen, so muß man die Verschieden¬
heiten der beiden Anordnungen in Rechnung ziehen. Bei der
zweiten Anordnung war zur Auslösung des Schallhammers ein
Relais zwischengeschaltet; außerdem wurden andere (bessere) Kon¬
takte verwendet, und die Lage des Schallhammers war geändert.
Die beiden letzteren Momente werden keine sehr wesentliche Rolle
gespielt haben, da sich die Differenz der Messungsergebnisse (17 o)
wohl angenähert durch die Zwischenschaltung des Relais erklärt.
Fiir die Verspätung der Zeigereinschaltung des Chronoskopes
kommt in Betracht, daß bei der zweiten Anordnung die unteren
Elektromagnete benutzt wurden, wodurch zugleich eine andere
Federspannung nötig wurde. Auch war die Kontaktgebung eine
andere, nämlich durch ein dauernd sich schließendes Relais (vgl.
S. 320 f.). Es ist möglich, daß dabei der Stromschluß nicht genau
im gleichen Zeitpunkte erfolgte wie der Aufschlag des Hammers;
allerdings waren Zeitdifferenzen zwischen diesen Vorgängen nicht
merkbar. Die Resultate zeigen auch hier wiederum eine gute
Übereinstimmung.
Für den Vergleich der Teilzeiten ist zu bedenken, daß bei der
photographischen Registrierung diese Größen eine andere Bedeu¬
tung hatten als bei der Messung mit Hilfe von Schleifkontakten.
Die Zeitdauer zur Ausführung einer Bewegung muß größer sein
als die zum Eintritt des Effektes noch erforderliche, wenn die
Kraft bereits bis zur vollständigen Auslösungsmöglichkeit ange¬
wachsen ist. Unter Berücksichtigung dieses Punktes kann man
auch bezüglich der Teilzeiten eine Übereinstimmung der Ergeb¬
nisse finden. Soweit ein Vergleich möglich ist, hat demnach die
photographische Methode eine gute Bestätigung der durch Schleif¬
kontakte erzielten Messungen geliefert.
Es fällt an den Ergebnissen der Messungen auf, daß die Zeiten
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342
C. Minnemann,
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3) Versuchsergebnisse.
a) Vorbemerkung Uber Beobachtungsumstände.
Die Beobachtungen Uber die Zeitvergleichung von Licht- und
SchalleindrUcken zerfallen in vier Versuchsgruppen, die den Ein¬
fluß der Dauer, Intensität, Qualität und die Wirkung einiger
physiologischer Einstellungsbedingungen des Auges auf die sub¬
jektive Gleichzeitigkeit der Empfindungen zum Gegenstände haben.
Durch Wiederholung von Versuchsreihen zeigte sich außerdem ein
Einfluß der Übung.
Beobachter war in diesen Versuchen hauptsächlich der Verfi,
der zugleich experimentierte. Trotz dieses Umstandes läßt sich
das Beobachtungsverfahren als ein unwissentliches ansehen, da
die Ablesung der Einstellungen erst nach beendigter Beobachtung
erfolgte, die im Dunkeln geschah, und die Ausrechnung unter
Berücksichtigung der Rotationsgeschwindigkeit des Apparates viel
später stattfand. Einstellungen, die gelegentlich von anderen Vp.,
zum Teil auch in ganzen Reihen gemacht wurden, zeigten analoge
Ergebnisse, wie sie sich bei den Beobachtungen des Verf. heraus¬
gestellt hatten. Individuelle Unterschiede in bezug auf die Breite
der Gleichzeitigkeitszone kamen natürlich vor; solche Differenzen
scheinen hauptsächlich mit der Übung und der Sorgfalt bzw. Me¬
thode der Einstellung zusammenzuhängen. Namentlich für die
ersten beiden Versuchsgruppen, über den Einfluß der Reizdauer
und Intensität auf die relative Wahrnehmungsgeschwindigkeit,
wurden Kontrollversuche mit anderen Beobachtern vorgenommen.
Obgleich die Anzahl der Beobachtungen einer Reihe nur gering
ist, bedeutet dies keinen merklichen Mangel, da schon die ein¬
zelne Einstellung der Reize auf subjektive Gleichzeitigkeit recht
exakt möglich war. Denn es wurden, angefangen von den beiden
Seiten zeitlichen Auseinanderfallens der Reize (Licht scheinbar
früher bzw. später als der Schall), die Punkte der eben erreichten
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III. Exp.Unters.tib.d. Wahrnehinungsgeöchw.v.Licht-u.SchaUreizen usw. 343
Da die Beobachtungen Uber die Wahrnehmungsgeschwindigkeit
eine Abhängigkeit auch von der Intensität der Reize zeigten,
scheint es angebracht, etwas Uber die Stärke der verwendeten
Reize mitzuteilen.
Der Schall wurde durch ein mäßig starkes Aufschlagen eines
elektromagnetischen Hammers, wie er zu Reaktionsversuchen dient,
hervorgerufen. Jedoch wurde eine objektive Maßbestimmung des
Geräusches nicht unternommen, da es keine passenden allgemein
anerkannten Meßapparate dafUr gab. Vielleicht ließen sich mit
einer modifizierten Atwoodsehen Fallmaschine ziemlich genaue
Bestimmungen machen.
Auch die Messung der Lichtintensität stieß auf Schwierigkeiten,
weil kein großer Raum zur Verfügung stand und zunächst kein
geeignetes Photometer vorhanden war. Es soll aber versucht
werden, die Helligkeit des Eindruckes etwas näher anzugeben.
Es wurde der Mattscheibe, auf welcher durch den Lichtunter¬
brechungsapparat eine Kreisfläche von etwa 2 cm Durchmesser
erhellt wurde, von der anderen Seite eine Kerze soweit genähert,
daß kein Helligkeitsunterschied der Kreisfläche gegenüber seiner
Umgebung zu bemerken war. Das von der Mattscheibe reflek¬
tierte Lichtquantum liefert unter Berücksichtigung der Unterschieds¬
empfindlichkeit einen Anhalt für die Intensität des Reizes. Bei
der anfangs benutzten geringen Helligkeit betrug der Kerzen¬
abstand gegen 8^2 cm. Später wurde die Helligkeit durch einen
Hohlspiegel etwa auf das Fünffache gesteigert. Die Normalkerze
mußte dann bis 4 cm herangerückt werden. Es ist klar, daß bei
diesen Distanzen die Messungen keinen Anspruch auf Genauigkeit
machen können.
Exakter schienen die Bestimmungen mit Hilfe eines Bunsen-
photometers auszufallen. Die Mattscheibe wurde fortgenommen,
so daß die parallelen Strahlen aus dem Unterbrechungsappar&te
direkt auf den Photometerschirm fielen, dessen beide Seiten durch
schrägstehende Spiegel gleichzeitig beobachtet werden köntxetv-
Als Vergleichshelligkeit diente eine Petroleumlampe mit geschwärz¬
tem Zylinder and kreisförmiger Blende, die für Aufnahme
Absorptionsgläsern bestimmt war. Die Intensität dieser bis
das DiaDhrafirna abireblendeten Lichtonelle wurde mit einer HefV^r-
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344
C. Minnemann,
zusammen; jede Schirmseite lieferte vier Werte, da nach der
Methode der Minimaländerung, von deutlich hellerer Zeichnung
bis zum Verschwinden derselben variiert wurde, dann bis zum
Wiederauftreten der nunmehr dunkleren Figur und auf dem um¬
gekehrten Wege die analogen Punkte aufgesucht wurden. Die
so gefundenen Daten betrugen 0,07 für die anfängliche und
0,35 Hefnermeterkerzen flir die späterhin verwendete ungeschwächte
Helligkeit. In einem Abstande von 1 m würden also diese Quanten
der Hefnerkerze eine gleiche Helligkeit aufweisen, wie sie die
aus dem Apparat austretenden parallelen Strahlen besaßen.
Die bedeutende Abweichung dieser Messungen von der vorhin
erwähnten Bestimmung läßt sich daraus erklären, daß bei dem
ersten Verfahren die Reflexionsverhältnisse auf der Mattscheibe
ungleichmäßige waren und die Flammenhöhe eine Rolle spielte,
so daß die Unterschiedsschwelle beträchtlich herabgesetzt wurde.
Ferner kam hauptsächlich für die zweite Methode in Betracht,
daß parallel gerichtete Strahlen nicht nach allen Seiten gleich¬
mäßig diffundieren, wenn sie eine transparente Schicht durch¬
dringen. Da der Schirm des Photometers durch die Spiegel¬
einrichtung stark perspektivisch gesehen wird, folgt hieraus eine
scheinbar geringere Helligkeit des parallelen Strahlenbündels.
Eine Ungenauigkeit liegt schließlich auch darin, daß von der
Hilfslampe ein großer Teil abgeblendet werden mußte. In sol¬
chem Falle nimmt die Intensität nicht mehr genau mit dem Qua¬
drate der Entfernung ab.
Zuverlässigere Werte hätten erzielt werden können, wenn die
Einwirkung der Strahlen auf eine photographische Platte gemessen
worden wäre; diese Methode ist in neuester Zeit sehr exakt aus¬
gebildet worden. Aber für die vorliegende Arbeit genügte es,
eine angenäherte Vorstellung von der Intensität der Reize zu er¬
möglichen. Wichtiger war es, die Abstufung der Intensitäten ge¬
nau zu berücksichtigen; diese ließ sich exakt genug feststellen, da
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III. Exp. Unters, üb. d. Wahrnehmungsgeschw. v. Licht- u. Schallreizen usw. 345
Abszisse bezeichnet die Expositionsdauern. Die Ordinaten der
Kurven a und b geben an, um wieviel Sigma die Reize durch die
Auffassung verschoben wurden. Sie schienen gleichzeitig zu sein,
während sie objektiv einen mittleren Zeitabstand von der Größe
der betreffenden Ordinate besaßen. Die Ordinaten oberhalb der
Abszissenachse beziehen sich auf eine objektiv spätere Exposition
des Lichtreizes, also auf verhältnismäßig raschere Lichtperzeption;
die negativen Ordinaten dagegen bedeuten eine raschere Schall¬
auffassung. Die Zeitdifferenzen gelten von dem Einsätze der
Reize, wie sich ja auch die Beobachtung einer Wahrnehmungs¬
differenz nur auf den Beginn der Empfindungen, nicht auf deren
Dauer bezog.
Kurve a enthält die Resultate der ersten Versuchsreihe; Kurve b ist
eine Kontrollreihe, die bei fünffacher Intensität unternommen wurde.
Die gestrichelten Kur¬
ven a und ß veran¬
schaulichen die zu den
Kurven a bzw. b gehöri¬
gen Breiten der Gleich¬
zeitigkeitszone. Im In-
teressederRaumerspar-
nis ist nur die halbe
Breite dieser Schwelle
eingezeichnet; ihr Be¬
trag ist von der Abszis¬
senachse an zu rechnen.
Auf den ersten Blick scheint es, daß die Kurven keine be¬
sondere Abhängigkeit der Wahrnehmungsgeschwindigkeit von der
Dauer der Expositionszeit anzeigen. Dies wäre durchaus natür¬
lich, da es Aufgabe der Untersuchung war, auf den ersten Moment
der Wahrnehmung zu achten, so daß der weitere Verlauf der
Empfindungen belanglos sein könnte. Aber eine genauere \3\>er-
legung zeigt, daß verschiedene Umstände dennoch bestimmen^, auf
den Moment der Anffassnnp* oinwirken konnten. Zunächst i sat. d\e
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346
C. Miunemanu.
bestehen wie für verschiedene Intensitäten. Die physikalischen Er-
regnngsbedingungen sind allerdings andere; aber es erscheint sehr
wohl möglich, daß ein länger anhaltender Reiz infolge einer Sum¬
mation der Erregung rascher ins Bewußtsein eintritt 1 ). Demnach
müßte die Kurve für wachsende Expositionszeiten bis zu einem
gewissen Punkte eine ansteigende Tendenz haben. Betrachtet
man daraufhin die besonders in Betracht kommenden Messungen
aueh der späteren Beobachtungen, so scheint eine solche Abhängig¬
keit für sehr kurze Reizdauern entschieden vorzuherrschen; und
zwar ist ein Ansteigen der Kurve namentlich bei den geringeren
objektiven Helligkeiten zu konstatieren. In bezug auf die Zonen¬
breiten dieser Bestimmungen zeigte sich ein auffallender Gegen¬
satz zwischen den ursprünglichen und den späteren Einstellungen.
Während bei den ersten Versuchen die Zonenbreite bei wachsender
Exposition zunächst abnahm, wuchs sie hingegen bei der Wieder¬
holung der Einstellungen. Hier liegt wahrscheinlich eine Erschei¬
nung der Übung vor, die später die Auffassung sehr kurzer Licht¬
reize erleichtert hat, so daß sie zeitlich präzisierter erscheinen
als die länger dauernden Reize.
Sieht man in Figur 20 von den nachweisbaren Zufälligkeiten
der Einstellungen ab, so kann man trotz der geringen Zahl der
untersuchten Zeiten in den Kurvenbildern der Wahrnehmungs¬
geschwindigkeit ein anfängliches Steigen mit zunehmender Ex¬
positionsdauer erkennen; bei höherer Intensität zeigt sich wenig¬
stens ein langsameres Absinken der Kurve als in ihrem zweiten
Teile. Nach den Aufzeichnungen erklärt sich die tiefe Lage des
Kurvenpunktes bei 22,5 o Expositionsdauer in der Kontrollreihe b
aus der Verschiedenheit der subjektiven Disposition bei der Be¬
stimmung der beiden Grenzpunkte der Schwelle, die zu einem
Mittel vereinigt wurden. Ebenso ist der Wert derselben Kurve
für 45 a Expositionsdauer ein wenig zu hoch ausgefallen, da der
eine Grenzpunkt schärfer bestimmt wurde als der andere. Auch
Kurve a erscheint unter Berücksichtigung der speziellen Ein-
dt.ellnno-avprhältniaap orlainlunÄRifrAr TT.a nrärp «mnaAtionawpri
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III. Exp. Unters, üb. d. W.alirnehmungsgeschw. v. Licht-u. Schallreizen usw. 347
Deutlicher ist im zweiten Teile der Kurven a und b ein Sinken
festzustellen, das freilich auch nur durch wenige Einstellungen
belegt ist, sich aber subjektiv der Beobachtung stark aufdrängte.
Daß der durchschnittliche Wahrnehmungsmoment bei längeren
Reizen später angesetzt wird, kann verschiedene Ursachen haben.
Entweder wird die Vorschrift der Beobachtung nicht streng be¬
folgt, nur den Anfang der Empfindungen zu beurteilen. Dann ist
die Beobachtung nicht korrekt. Oder es kann trotz genauester
Beobachtung eine durchschnittliche Auffassungsverzögerung durch
Verschiebung der einen Zonengrenze entstehen, weil etwa die
Extensität des einen Eindruckes eine Zeitdifferenz des Bewußtseins
nicht aufkommen läßt. Dies scheint in der Tat der Fall zu sein.
Denn betrachten wir die zugehörigen halben Zonenbreiten, die
durch die Kurven a und ft dargestellt sind, so zeigt sich auch an
ihnen eine doppelte Abhängigkeit für verschieden große Reiz¬
zeiten.
Für mittlere Expositionsdauer haben beide Kurven a und ft
ein Minimum der Zonenbreite, während sowohl für kleinere wie
für größere Darbietungszeiten eine breitere Gleichzeitigkeitszone
besteht. Ganz kleine Reizzeiten könnten wieder geringere
Schwellenwerte für Gleichzeitigkeit besitzen; denn es mögen Auf¬
merksamkeitsverhältnisse zum Teil breitere Schwellen für kurze
Darbietungszeiten hervorgerufen haben. Nach dem Optimum der
Präzision des Lichteindruckes wächst die Schwellenbreite nahezu
im selben Maße wie die Verlängerung der Reizdauer. Das ist an
der schräg verlaufenden schwach ausgezogenen Geraden 1 ersicht¬
lich, deren Erhebung Uber die Abszisseuachse die zugehörige
halbe Reizdauer angibt. Eine einseitige Erweiterung der Gleich¬
zeitigkeitszone würde sich in den Kurven der Durchschnittswerte
(a und b) durch eine entsprechend geneigte Richtung geltend
machen müssen. Dies trifft für den zweiten Kurvenast augen¬
scheinlich zu. Die Hilfslinie 2 markiert die durch eine fort¬
schreitende einseitige Zonenerweiterung geforderte Änderung des
mittleren Gleichzeitigkeitspunktes. Natürlich kann sich eine der¬
artige Änderungstendenz nicht beliebig weit ausdehnen. Bei einer
srewisseu Dauer der Lichtreize wird eine weitere Verlängerung
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348 C. Minnemann,
Die ideale Form der Kurven Uber den Einfluß der Expositions¬
dauer dürfte demnach folgende Gestalt haben:
Die gestrichelte Kurve gilt für größere Helligkeit. Für die
untersuchten Zeiten und bei der Willkür der herausgegriffenen
Punkte ergab sich in unserem Falle eine Anstieghöhe von 29 a
bzw. bei größerer Helligkeit eine solche von 5 o. Das Sinken
im zweiten Teile der Kurven betrug 15 o bzw. 31 a. Genauere
Untersuchungen Uber diese Verhältnisse schienen erforderlich.
Dies leistete zum Teil schon die spätere Fortführung der Versuche
durch den Vergleich zweier Lichtreize.
ß) Übung.
Die erörterten Abhängigkeiten treten deutlicher hervor, wenn
man bei der Auslegung der Kurven den Faktor der Übung mit-
berücksichtigt. Schon der Selbstbeobachtung drängte sich die Er¬
scheinung auf, daß selbst innerhalb weniger Versuche Fortschritte
in der Fähigkeit einer raschen Lichtauffassung gemacht wurden.
Das Ungewohnte der Beobachtung, das namentlich für die zeit¬
liche Auffassung des Lichtreizes anfänglich bestand, trat mehr
und mehr zurück. Auf einen Schallreiz zu reagieren, waren die
Vp. gewohnt. Aber auch im allgemeinen scheint meistens die
Auffassung von Schallreizen rascher zu erfolgen als von Lichtein-
drücken; die Schallauffassung liegt uns offenbar besser schon
wegen der größeren Übung und der praktischen Bedeutung. In-
% ••
folgedessen wird sich beim Experimentieren die Übung besonders
auf die Schnelligkeit der Lichtauffassung erstrecken und hierin
einen größeren Fortschritt bewirken, als die Steigerung der Wahr-
„«1— -„i—A s_ __i.*
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III. Exp.Unters.üb.d.Wahrnehmungsgeschw.v.Licht-u.Schallreizenusw. 349
wurden. Die Höhendifferenz der zweiten Kurve gegen die erste
könnte also auf den Intensitätsunterschied allein bezogen werden.
Jedoch zeigen die späteren Kontrollreihen für die Untersuchung
des Intensitätseintlusses ebenfalls eine derartige Verschiebung der
mittleren Gleichzeitigkeit bei Punkten gleicher Intensitäten. Dort
lassen sich die Unterschiede sicher auf einen Übungseinfluß zurück-
ftihren. Hiernach bewirkt die Übung außer einer durchschnittlich
rascheren Lichtauffassung zugleich eine Verengerung der Zone für
scheinbare Gleichzeitigkeit.
Die Zonenverkleinerung entsteht hauptsächlich durch Ver¬
schiebung des einen Grenzpunktes. Bei der Aufeinanderfolge von
Licht-Schall nähert sich der zweite Eindruck dem ersten, so daß
gewissermaßen die kleinste Zeitdauer des Bewußtseins flir eine
Lichtempfindung verkürzt erscheint. Aber auch bei der umge¬
kehrten Reihenfolge war häufig eine Verkleinerung des objektiven
Intervalles infolge der Übung festzustellen. Dies bedeutet ein
relativ früheres Einsetzen der Lichtempfindung.
Der Einfluß der Übung auf die mittlere Zeitpunktbestimmung
des Lichteindruckes trat besonders im Anfänge der Untersuchung
hervor. Deshalb darf dieser Faktor für die Auslegung der Kurven,
durch die der Einfluß der Dauer auf die relative Wahrnehmungs¬
geschwindigkeit konstatiert werden sollte, nicht unberücksichtigt
bleiben. Die längeren Expositionszeiten wurden zuerst untersucht.
Folglich wird für gleiche Übungsdisposition der ansteigende Ast
der Kurven über den Einfluß der Dauer wahrscheinlich etwas
steiler anzusetzen sein, als er sich in der Figur 20 zeigt. Feste
Daten für die Größe des Übungseinflusses sind schwer anzugeben,
da der Faktor zu labil ist und ein gut Teil der Differenzen von
vorübergehenden Beobachtungsdispositionen abhängen mag. Die
meisten Kontrollversuche deuten auf einen Einfluß von 5 bis 10 o
zugunsten der Auffassung des Lichtreizes hin. In anderen Fällen
wurden bedeutend höhere Werte erreicht.
y) Reizintensität.
Da schon bei den Versuchsreihen für verschiedene Expositions¬
dauer des Lichtreizes die Intensitätsverhältnisse zur Erklärung
1. ______j_ t _ • l J ■ _ /«.i_ j _ IT _ _ ,.V- dip
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350
C. Minuemaun.
Verschiebung von der Intensität des Lichtreizes ist an den Kurven
der Figur 22 ersichtlich. Die Kurven a und b beziehen sich auf
eine Expositionsdauer des Lichtreizes von 2‘/ 2 o, c und d auf eine
solche von 10 o. Die Kurven b und d sind Kontrollversuche mit
den gleichen Helligkeiten wie in a und c. Die Punkte der Kon-
trollreihen wurden unter Ausgleich des Übungsfaktors bestimmt;
die Reihenfolge der ersten
Versuche schritt von größerer
zu geringerer Intensität fort.
Aus der durchgängigen Paral-
lelität der zusammengehöri¬
gen Kurven ersieht man. daß
der Übungseinfluß sich bei
diesen Versuchen nicht mehr
so stark geltend machte, daß
er innerhalb einer und der¬
selben Kurve von Bedeutung
gewesen wäre. Aber im ganzen weist der Vergleich von Haupt-
und Kontrollreihen, die zeitlich weit auseinander lagen, auf einen
beträchtlichen Übungseinfluß hin. Denn im Vergleich zu den
ersten Versuchen ging die Lichtwahrnehmung in den späteren
Versuchsreihen sehr viel rascher vor sich als die Auffassung des
Schalles.
Untersucht wurden für jede Expositionszeit drei Intensitäten,
deren Verhältnis durch die Abszissen der Figuren angegeben ist.
Durch Vorschalten von Rauchgläsern entstand die Abstufung
33 : 5‘/ 2 :1. Der objektive Helligkeitsmaßstab ist ebenfalls an¬
gedeutet. Die Ordinaten geben wie in den vorigen Figuren die
durchschnittlichen Zeitverschiebungen in Sigma an. Die ge¬
strichelten Kurven a bis <5 bezeichnen durch ihren Abstand von
der Abszissenachse die zugehörigen halben Zonenbreiten.
Das eindeutige Ergebnis der Durchschnittskurven ist, daß mit
wachsender Intensität die relative Wahrnehmungsgeschwindierkeit
T
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111. Exp.Unters.üb.d. Wahrnehmungsgeechw.v.Licht-u.Schallreizeu usw. 351
zwischen der mittleren und größten verwendeten Helligkeit nur
noch ein geringer Unterschied der Anffassungsgeschwindigkeiten.
Fast ebenso deutlich ist eine Wirkung der Intensität auf die
Breite der subjektiven Gleichzeitigkeitszone zu verzeichnen. Die
Auffassung geschieht bei stärkeren Lichtreizen zeitlich präziser,
indem die Zone sich verengert, innerhalb welcher beide Eindrücke
als gleichzeitig erscheinen. Beide Tatsachen, die frühere und die
präzisere Auffassung des Lichtreizes infolge der Intensitätssteige¬
rung, bestehen bis zu einem gewissen Grade unabhängig vonein¬
ander. Denn allein aus der Veränderung der Zonenbreite oder
aus einseitiger Verschiebung des einen Grenzpunktes bei der Folge
Licht-Schall läßt sich der mittlere Zeitunterschied in der Auf¬
fassungsgeschwindigkeit der Beize nicht erklären. Es werden
auch die Verhältnisse des Anklingens der Lichtempfindung an den
Unterschieden mit beteiligt sein; die intensiveren Lichteindrücke
pflegen nicht nur im Durchschnitte aus beiden Zeitlagen, sondern
überhaupt rascher ins Bewußtsein zu kommen als schwächere
Reize ’), wenn nicht andere Umstände, von denen später die Rede
sein wird, entgegenwirken.
Ein analoges Resultat wie die Intensitätsänderung des Licht¬
reizes lieferte ein Versuch mit verschiedener Schallintensität.
Die Entfernung des Schallhammers vom Ohre des Beobachters
wurde variiert. Dann nimmt der Schall, wenn keine störende
Reflexion vorhanden ist, proportional dem Quadrate der Entfernung
ab. Da der Schallhammer in dieser Versuchsreihe stark gedämpft
war, konnte die Reflexion kaum einen merkbaren Einfluß haben.
Aber es waren andere Momente vorhanden, die eine Wirkung der
Intensität weniger klar zum Ausdrucke kommen ließen. Das
zeigte sich schon an der geringen Zunahme der Zonenbreite bei
wachsender Stärke des Schalles. Ein intensiverer Schallreiz ist
offenbar zeitlich nicht so scharf begrenzt wie ein leiser, der rasch
gedämpft wird; und diese Verlängerung der Dauer scheint eine
größere Unsicherheit in der Zeitpunktsbestimmung für den Begin^
des Eindruckes im Gefolge zu haben, ähnlich wie sich bei längte*
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352
C. Minnem&nn
wie es natürlich ist, die entgegengesetzte Tendenz vorzuliegen wie
bei Steigerung der Lichtintensität. Ein stärkerer Schall führt
ebenfalls zu einer rascheren Auffassung.
Die Schallintensitäten verhielten sich ungefähr wie 1:5:50.
Für die Berechnung der Zeitverschiebung wurden natürlich auch
die aus dem verschiedenen Abstande der Schallquelle entsprin¬
genden physikalischen Differenzen in Betracht gezogen, die sich
aus der Fortpflanzungsgeschwindigkeit ergeben. Für die Ent¬
fernungen von 1,10 m und 2,40 m war gegenüber dem gewöhn¬
lichen Abstand von 35 cm eine Korrektur von 3,3 o bzw. 8 o an¬
zubringen.
Die durch Intensitätsunterschiede bedingten Differenzen der
relativen Wahrnehmungsgeschwindigkeit betrugen quantitativ für
den Lichtreiz bei einer Dauer von 2,5 o 34 bzw. in der Kontroll-
reihe 36 o; bei einer Reizdauer von 10 a war der Unterschied nur
10 bzw. 15 (7. Die Schallvariation rief eine Verschiebung um 8 a
hervor; jedoch wirkten hierbei vielleicht zwei Tendenzen einander
entgegen.
ö) Qualität des Lichtes.
In einer dritten Versuchsgruppe wurden farbige Lichteindrücke
mit einem gleichbleibenden Schallreize kombiniert, um etwaige
Unterschiede der Lichtqualitäten in bezug auf die Wahrnehmungs¬
geschwindigkeit aufzudecken.
Zur Herstellung der Farben-
eindrücke dienten Gelatine¬
folien, die in den Lichtgang
gebracht wurden (Reizdauer
10 ff). Die Versuchsergeb¬
nisse sind in Figur 23 nieder¬
gelegt, in der Reihenfolge,
wie die Farben untersucht
wurden.
Fig. 23. Das Resultat dieser Ver¬
suchsgruppe läßt sich dahin
zusammenfassen, daß ein eigentlicher Einfluß der Qualität nicht
nachzuweisen war. Wohl zeigten sieh Differenzen zwisehen Her Anf-
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III. Exp. Unters, üb. d. Wahrnehmungsgeschw. v. Licht- u. Schallreizen usw. 353
sondern in der den Farben zukommenden Helligkeit. Denn
ordnet man die untersuchten Farben nach der Helligkeit, so er¬
hält man unter Berücksichtigung eines mit der Zeitfolge der Be¬
obachtungen verbundenen geringen Übungseinflusses und der Ver¬
teilung der Versuche Uber mehrere Tage ein übereinstimmendes
Bild mit den durch die Helligkeit allein bedingten Differenzen
der Wahrnehmungsgeschwindigkeit.
Etwas auffallend ist die Kurve a mit den Zonenbreiten. Aber
es ist zu bedenken, daß solche Werte z. T. von der Beobachtungs¬
art abhängen und daher in längeren Versuchsreihen kaum eine
besondere Regelmäßigkeit aufweisen können. Die enge Schwellen¬
breite für Grün erklärt sich wohl aus einer Wiederaufnahme der
Versuchsreihe und einer damit zusammenhängenden veränderten
Beobachtungsdisposition. Der Tiefpunkt im Rot illustriert eine
Eigentümlichkeit, die schon der Selbstbeobachtung aufgefallen
war und wofür auch der Anfang der Hauptkurven für Intensitäts¬
änderung spricht, daß dunkle, kurze Reize zeitlich schärfer be¬
grenzt erscheinen können. Denn in der Empfindung entsteht der
Eindruck eines kurzen Aufblitzens, weil sich die Erregung nur
für kurze Zeit über die Schwelle erhebt; daher gewährt der Reiz
für die subjektive Einordnung in die Zeitreihe nur einen geringen
Spielraum. Andererseits besitzt ein längerer Eindruck den Cha¬
rakter größerer zeitlicher Unbestimmtheit, d. h. er ist mit einer
größeren Gleichzeitigkeitszone verknüpft.
Die größte bei Farbigkeit auftretende Differenz des Wahr¬
nehmungsmomentes, die wohl zur Hauptsache auf den Helligkeits¬
unterschied zu beziehen ist, betrug in dieser Versuchsreihe gegen¬
über dem Weiß 38 a. Untereinander zeigten die Farben einen
Unterschied bis zu 31 o *).
tj Diverse optische Bedingungen.
Es folgten orientierende Versuche Uber einige Einstellungs¬
verhältnisse des Auges, nämlich Uber die Abhängigkeit von
der Netzhautresrion, auf welche der Lichtreiz auftrifft, über die
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354
C. Minnemann,
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zustande des Auges. Genauer sollten diese Verhältnisse erst durch
eine spätere Versuchseinrichtung festgestellt werden. Jedoch
mögen auch die Ergebnisse dieser Vorversuche kurz mitgeteilt
werden, da sich die Werte z. T. durch die vorausgegangenen
Versuchsreihen erklären lassen und durch spätere Untersuchungs¬
ergebnisse gestützt sind.
Für die graphische Darstellung der Resultate (Figur 24) ist
hier eine etwas andere Form gewählt wie in den vorhergehenden
Fällen, nämlich das Bild, wie sich die Zeitfolge der Eindrücke in
unserem Bewußtsein abspielt, wenn wir den Moment der Schall-
anffassuog in den Versuchen als konstant ansehen. Es handelt
sich also um das Schema der subjektiven Zeitreihe. Die Abszissen
bedeuten den Zeitablauf des Bewußtseins; der Nullpunkt (die
Vertikale) bezeichnet den mittleren Wahrnehmungseinsatz des
Schalles. Eine nega¬
tive Verschiebung des
Lichteindrucks gegen
diese Normale bedeu¬
tet eine verhältnis¬
mäßig raschere Auf¬
fassung des Licht¬
reizes; eine positive
Abweichung kommt dagegen einer gegenüber dem Schalle ver¬
späteten Licht Wahrnehmung zu, so daß die objektiven Zeitver¬
hältnisse, zwei simultane Gehörs- und Gesichtsreize, entsprechend
der Zeichnung verschoben erscheinen. Die Durchschnittswerte
der Zeitvergleichung fltr beide Reizfolgen, Licht-Schall und
Schall-Licht, sind durch Kreuze markiert und ihr Wert in Sigma
beigefügt; die Zouenbreite für die Gleichzeitigkeitsauffassung
beider Eindrücke ist durch horizontale Linien von entsprechender
Länge angezeigt, deren halbe Ausdehnung ebenfalls in Sigma
an & e & e ^ en ist- Die Endpunkte der Linien bezeichnen direkt die
bei der Beobachtung gemachten Einstellungen.
Die unterste Horizontale a bezieht sich auf einen normalen
Vergleich der Wahrnehmungsgeschwindigkeit eines Licht- und
Licht rascher
langsamer aufgefaßt
*- i/1
,
— — 77 -
25
** 33
a- 59 -*-
Fig. 24.
n i n
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ID. Exp. Untera.iib. d. Wahrnehmungsgeschw.v. Licht- u. Schallreizen ubw. 355
eine Akkommodationsänderung des Auges (vgl. die Horizon¬
tale b ) ähnlich wie eine Verminderung der Intensität eine merk¬
liche Verspätung der LichtauffaBSung und eine etwas breitere
Gleichzeitigkeitszone. Der objektive Abstand des Lichtreizes war
hierbei auf 60 cm vergrößert, während gewöhnlich aus einer Ent¬
fernung von 25—30 cm beobachtet wurde; gleichzeitig wurde der
Fixationspunkt bedeutend angenähert, bis auf etwa 8 cm.
Das abweichende Ergebnis nur auf die mit der Entfernungs¬
änderung etwa verknüpfte Abnahme der Intensität zurtickzuführen,
durfte kaum angehen. Denn einerseits zeigt ein anderer Versuch,
bei dem aus derselben größeren Entfernung, aber mit richtiger
Akkommodation beobachtet wurde, im Gegenteil eine wesentlich
beschleunigte Auffassung des Lichtreizes, zugleich allerdings mit
beträchtlicher Erweiterung der Gleichzeitigkeitszone (vgl. in der
Figur Linie c); andererseits zeigt ein Vergleich mit der Normal¬
bestimmung dieser Versuchsreihe, daß auch die aus der un¬
günstigen Akkommodation entspringende Lichtzerstreuung und die
hieraus resultierende Schwächung des Lichteindruckes noch keinen
genügenden Erklärungsgrund für die starke positive Verschiebung
abgeben kann. Dafür ist die Differenz zu groß. Es müssen viel¬
mehr außer den objektiven Reizbedingungen noch verschiedene
subjektive Momente herangezogen werden, die gewöhnlich als
AufmerksamkeitsVerhältnisse bezeichnet werden. Bei dem Fern¬
sehen ist die Aufmerksamkeit besonders angestrengt. Hierdurch
kann eine raschere Auffassung des Reizes herbeigeführt werden.
Zugleich aber herrscht wegen der Schwierigkeit der Einstellung
auf die Ferne eine größere Unsicherheit des Vergleiches, die in
der Vergrößerung der Zonenbreite zum Ausdruck kommt. Beim
Akkommodieren auf die Nähe unter den gleichen objektiven Ver¬
hältnissen besteht dagegen eine Art hemmender Tendenz, die den
Eindruck nicht rasch auf kommen läßt; es herrscht eine aktive
Unaufmerksamkeit, da die Beachtung durch das Fixieren in An¬
spruch genommen wird. Dieser Umstand wirkt im selben Sinn®
wie objektiv ungünstigere Wahrnehmungsbedingungen. In später© 11
Versuchen war diese subjektive Seite der Wahrnehmnngsvergie»"
chnng Gegenstand besonderer Beobachtung.
Auch bei einem Vergleiche des Schalleindruckes mit einem
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C. Minnemanu
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ist es in der Kegel nicht sehr gewohnt, auf periphere Gesichts-
eindrlicke zu achten. Der Versuch ergab eine stark verspätete
Auffassung für indirekte Beobachtung unter einem Winkel von
45 Grad. Zu diesem Ergebnis werden gewiß konstante physio¬
logische Bedingungen der betreffenden Netzhautpartien beigetragen
haben. Aber zum Teil wird es sich aus dem geringeren Aufmerk¬
samkeitsgrade erklären, der dem seitlichen Eindruck entgegen¬
gebracht wird. Ein Teil der Aufmerksamkeit scheint gewisser¬
maßen an dem Fixationspunkte zu haften. Jedenfalls ist eine
Konzentration auf periphere Objekte nicht in dem Maße durch-
zuführen, wie es für fixierte Objekte möglich ist.
Eine mäßige Helladaptation (vgl. Linie e) bei der Beobachtung
hatte denselben Einfluß wie eine Intensitätsabuahme des Licht¬
reizes. Dies entspricht völlig dem subjektiven Eindrücke, daß
für das helladaptierte Auge die Helligkeitsempfindung geringer
erscheint. Abgesehen von den veränderten physiologischen Be¬
dingungen der Netzhautreizuug infolge der Adaptation hat sich der
Reiz auf eine bereits vorhandene Erregung zu superponieren. Die
gleiche objektive Helligkeitsdifferenz kann daher subjektiv nicht
so stark zur Geltung kommen, weil der relative Helligkeitsunter¬
schied geringer ist. Es ist somit natürlich, daß solche Bedingungen
ähnlich wirken wie eine objektiv geringere Intensität. Besonders
bei schwachen Reizen wird dieser Einfluß bemerkbar sein. Mit
zunehmender Dauer der Beobachtung im Dunkeln treten demnach
günstigere Auffassungsverhältnisse für den Lichtreiz ein. Die
oben besprochenen Kurven über den Einfluß der Expositionsdauer
und Intensität sind übrigens in einer solchen Reihenfolge
gewonnen worden, daß sich die betreffenden Ergebnisse trotz
dieses eutgegenwirkeuden Faktors der Adaptation heraus¬
stellten.
Zur genaueren Aufhellung der Fragen, die durch diese Einzel¬
versuche gestreift wurden, bedürfte es einer großen Reihe weiterer
Versuche, die namentlich die rein physiologischen Intensitäts¬
änderungen der Netzhautreizung unter den erwähnten Einstellungs¬
bedingungen zu berücksichtigen hätten. Die verschiedene Emp-
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III. Exp. Unters, iib. d. Wahrnehinungsgeschw.v. Licht- u. Schallreizen usw. 357
scheint jedoch eine charakteristische Einstellungstendenz der Auf¬
merksamkeit zu sein.
Nicht unwesentlich ist es, sich darüber klar zu sein, daß die
durch Figur 24 dargestellten Beziehungen vielleicht nicht ganz
den Beobachtungstatsachen entsprechen. Denn streng genommen
hat die Zeichnung nur für den Fall Geltung, daß die Verhältnisse
der Schallauffassung in den Versuchen sich gleich geblieben sind.
Nun wissen wir aber, daß die Aufmerksamkeit die Wahrnehmung
eines Reizes verhältnismäßig beschleunigen oder verzögern kann.
Wenn die Aufmerksamkeitsverhältnisse in bezug auf einen Reiz
sich ändern, ist es fast gänzlich ausgeschlossen, sie in bezug auf
einen anderen konstant zu erhalten. Konzentriert man stärker
seine Aufmerksamkeit auf den Lichtreiz, so schließt das meistens
eine um so geringere Beachtung des Schallreizes und daher ein
subjektives Zurücktreten desselben ein. Es wäre also verkehrt,
etwa nach dem Versuche mit dem fernakkommodierten Auge an¬
zunehmen, daß die absolute Zeit, die zu einer Schallwahrnehmung
erforderlich ist, stets mindestens 35 a betragen müsse. Nur für
den speziellen Versuchsfall gilt dieser Verspätungswert. Da aber
eine veränderte Aufmerksamkeitsverteilung meistens die Wahr¬
nehmungsgeschwindigkeit beider Reize in entgegengesetzter Weise
beeinflußt, so ist dennoch ein Vergleich der verschiedenen Ver¬
suche durch Vermittlung des Zeitpunktes der Schallauffassung,
wenn auch unter Vorbehalten, zulässig. Die Beziehung der Ver¬
suchsergebnisse auf einen objektiv gleichen Zeitpunkt würde
wahrscheinlich nur die gefundenen Werte verkleinern, aber ihre
Relation unberührt lassen. Auch scheint es hauptsächlich der
Lichteindrnck zu sein, wenigstens bei geringeren Intensitäten, der
einer zeitlichen Anpassung mehr unterworfen ist. Eine Ver¬
schiebung desselben erscheint in weiteren Grenzen möglich als
für den Schalleindruck.
Auch diese Betrachtung drängt zur Untersuchung der Frage
nach dem Einfluß der Aufmerksamkeit auf die Wahrnehmungs¬
geschwindigkeit. Diese Frage läßt sich entschieden besser beant¬
worten, wenn man zwei völlig gleiche Reize für die Untersuchung
verwendet, als wenn man die Frage durch Versuche mit disparaten
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358
C. Minnemaun,
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Dauer durch weitere Versuche gestützt werden, andererseits sollten
namentlich die Wirkungen subjektiver Einstellungsbedingungen
quantitativ bestimmt werden.
Über die vorliegenden Feststellungen sind noch einige Be¬
merkungen der Selbstbeobachtung nachzutragen, die sich bei den
Versuchen Uber die Zeitvergleichuug von Licht- und Schallreizen
ergaben. Solche Einzelheiten können vielleicht noch zur Ver¬
anschaulichung der Beobachtungen beitragen.
c) Notizen der Selbstbeobachtung.
Anfangs trat von den beiden Reizen der Schalleindruck bei
der Beobachtung entschieden in den Vordergrund, und dies war
auf die Zeitpunktsbestimmung des Lichteindruckes von besonders
störendem Einfluß. Denn es stellte sich leicht zu dem Gehörs¬
eindrucke des Schalles das Bild des niederfallenden Hammers
ein; dann lag es nahe, das Auf blitzen des Lichtreizes in den
gleichen Zusammenhang hineinzubeziehen oder wenigstens es
analog aufzufassen, indem man nicht den Eintritt, sondern das
Ende des Lichtreizes in der Beobachtung betonte und hierauf bei
der Messungseinstellung achtete. Der endongsbetonte Rhythmus
des mit dem Schalleindruek assoziierten Vorganges übertrug sich
auf die optische Wahrnehmung. Das konnte namentlich für die
Versuchsreihen mit verschiedener Dauer des Lichtreizes störend
ins Gewicht fallen, und man hatte Mühe, diesen ablenkenden Ein¬
fluß zu überwinden.
Eine zweite Ungenauigkeit lag nahe bei mangelhafter Auf¬
merksamkeitseinstellung, wie sie z. B. bei erzwungener Akkommo¬
dation vorlag. Jedoch auch in anderen Fällen, wenn der Moment
der Reizdarbietung verpaßt worden war, war man geneigt, ein
korrigierendes Urteil an die Stelle des wirklich Wahrgenommeuen
treten zu lassen. Man urteilte leicht nicht nach dem unmittel¬
baren Eindrücke, sondern abstrahierte von der ungünstigen Auf-
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III. Exp. Unters, üb.d. WahrnehmungsgeBchw. v. Licht-u. Schallreizen ubw. 359
Abgabe einer Entscheidung über den Gleichzeitigkeitspunkt eine
kurze Beobachtungspanse eintreten ließ und nochmals die ver¬
meintliche Gleichzeitigkeit der Einstellung nachprttfte. Abgesehen
von der Anstrengung bei längerem Beobachten und der hiermit
zusammenhängenden Abnahme der Wahrnehmungsempfindlichkeit
bildete sich durch die Einstellung nach dem Verfahren der Minimal¬
änderung eine bestimmte Aufmerksamkeitsrichtung heraus, die
sich meistens in einer Verschmelzungstendenz, also in einer zu
frühen Angabe des betreffenden Gleichheitspunktes äußerte. Da
bei diesen Versuchen der Einfluß objektiver Faktoren auf die
Wahrnehmungsgeschwindigkeit untersucht werden sollte, mußten
auch derartige subjektive Einstellungsmomente nach Möglichkeit
ausgeschaltet werden.
Über die Bedeutung der Zone für subjektive Gleichzeitigkeit
läßt sich ebenfalls eine Bemerkung anfügen. Es ist dieses Inter¬
vall keineswegs so beschaffen, daß es hierin überhaupt keine
Unterschiede in der Zeitauffassung beider Eindrücke geben kanu.
Die Zone hat sich vielmehr auch bei konstanten objektiven Ver¬
hältnissen als variabel erwieseu infolge der Aufmerksamkeits-
bedingungen. So ist es sehr wohl möglich, daß bei wechselnder
Aufmerksamkeit stets Zeitdifferenzen zwischen beiden Eindrücken
wahrgenommen werden, indem entweder der eine oder der andere
Reiz als der frühere angesehen wird; und in solchem Falle würde
man überhaupt keinen Punkt, noch viel weniger eine Strecke
subjektiver Gleichzeitigkeit feststellen können, sondern höchstens
eine Grenze auffinden, wo die subjektive Zeitfolge der Eindrücke
umschlägt. Bei gleichbleibender Aufmerksamkeitsrichtung ist da¬
gegen stets eine zeitliche Indifferenzzone vorhanden, innerhalb
welcher gar keiner der Reize als der frühere aufgefaßt wird.
Auch leuchtet es ein, daß bei wechselnder Aufmerksamkeits¬
richtung die einmal herrschende Reihenfolge nicht stets bei der¬
selben objektiven Reizdistanz umschlägt, sondern daß dieser Punkt
von dem Grade der Aufmerksamkeitsanspannung abhäugt, so daß
es eine Reihe von Einstellungen geben kann, wo beide Zeitfolgen
der Auffassung möglich sind. Es ist ia auch schon von früheren
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360
C. Minneuiann,
Bedingungen auf die Wahrnehmungsgeschwindigkeit feststellen,
also die Beobachtung aus der Abhängigkeit von den Wirkungen
willkürlicher Aufmerksamkeit herauslösen, so hat man an der
Umkehrbarkeit der subjektiven Zeitfolge beider Eindrücke stets
ein bequemes Hilfsmittel. Die Leichtigkeit oder Schwierigkeit
der Auffassung in der einen oder anderen Form ergibt ein in¬
direktes Maß für die Vor- oder Nachzeitigkeit eines Eindruckes,
wie sie unabhängig von spezieller Aufmerksamkeitseinstellung für
die Wahrnehmung besteht. Diejenige objektive Zeitstrecke, inner¬
halb welcher kein Unterschied für beide Auffassungsformen merk¬
lich ist, fällt) angenähert mit der auf die gewöhnliche Weise
gefundenen Zone für Gleichzeitigkeit zusammen. Bei der gewöhn¬
lichen Einstellungsart war es nicht schwer, die Aufmerksamkeits¬
richtung einigermaßen gleichmäßig zu erhalten, da nur die Punkte
der ebenmerklichen Gleichzeitigkeit bestimmt wurden. An den
anderen Grenzen, von der Gleichzeitigkeit zu ebenmerklichen
Unterschieden, zeigte sich eine viel größere Inkonstanz der Ein¬
stellungen, z. T. wohl weil die Aufmerksamkeitsrichtung hierbei
nicht gleichmäßig genug erhalten werden kann, sondern leicht
umschlägt.
Die Bemerkungen der Selbstbeobachtung weisen auf die Sub-
tilität der Versuche hin und lassen erkennen, daß eine Reihe von
Gesichtspunkten zu beachten ist, wenn brauchbare Ergebnisse er¬
zielt werden sollen.
4) Zusammenfassung.
Die Fundamentalfrage Uber die Wahrnehmungsgeschwindigkeit
von Licht- und Schallreizen, welchem Sinnesgebiete eine raschere
Auffassung zukommt, ist dahin zu beantworten, daß kein Sinnes¬
gebiet absolut raschere Werte liefert. Bald wird der Schall¬
reiz, bald der Lichtreiz früher bewußt. Die erörterten Kurven
verlaufen teils Uber, teils unter der Null-Linie für objektive
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III. Exp. Unters, üb.d.Wahrnehnuingsgesclnv.v.Licht-u.Schallreizen usw. 3(jl
gar die Reihenfolge der Eindrücke umschlägt. Unter den anderen
objektiven Faktoren, deren Einfluß auf die Wahrnehmuugs-
geschwindigkeit untersucht wurde, steht obenan die Intensität.
Bei geringen Intensitäten, namentlich des Lichtreizes, ist der Ein¬
fluß beträchtlich. Je intensiver der Reiz, desto rascher wird er
aufgefaßt. Natürlich findet diese Funktion bald ihre Grenze,
wenn höhere Intensitäten erreicht werden. In der Untersuchung
zeigten sich Differenzen bis zu 36 <j. Mit der Intensität hängt
aufs engste zusammen der Faktor der Reizdauer, soweit es sich
um kurze Zeiten handelt. Denn offenbar kommt es auf die Stärke
der Erregung an, und diese wächst bekanntlich mit zunehmender
Expositionsdauer. Bei längeren Zeiten hingegen Uberwiegt eine
gegensinnige Verschiebungstendenz, die aus der zeitlichen Er¬
streckung des Eindruckes entsteht. Sie bewirkt, daß länger¬
dauernde Lichtreize später angesetzt werden. Jedoch erreicht
auch diese Beziehung selbstverständlich bald ihre Grenze. Die
festgestellten Unterschiede bewegten sich etwa zwischen 30 a.
Für die Qualität des Lichtes war kein spezifischer Faktor nach¬
zuweisen. Die aufgefundenen Differenzen bis zu 38 a ließen sich
im wesentlichen auf die Helligkeitsverhältnisse zurückführen. Auch
bei einigen besonderen optischen Bedingungen war anschei¬
nend der Einfluß des Intensitätsfaktors wiederzuerkennen. Außer¬
dem aber schienen hieran Aufmerksamkeitsverhältnisse stärker
beteiligt zu sein. Die Einstellungen ergaben Abweichungen von
21 a Verfrühung und 34 o Verspätung gegenüber dem Normal¬
versuch.
Die Präzision der zeitlichen Auffassung, die durch den Umfang
der Gleichzeitigkeitszoneu zum Ausdruck kommt, ist zum großen
Teile von dem Übungsgrad abhängig. Mit fortschreitender Übung
wird die Zeitabstufung feiner, die psychische Zeitordnuug diffe¬
renziert sich. Dasselbe tritt ein, wenn die Eindrücke durch
größere Intensität sich schärfer abheben oder wenn dies durch
eine größere Dauer des Reizes bewirkt wird. Im übrigen nimmt
bei längerer Reizdauer die zeitliche Bestimmtheit ab. die Zone
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(Ans dem psychologischen Laboratorium der Universität Graz.)
Über die Motive der Scheinkörperlichkeit
hei umkehrbaren Zeichnungen.
(Mit 9 Figuren und 4 Diagrammen im Text.)
Von
Vittorio Benussi (Graz).
Inhalt. seit«
§ 1. Entwicklung der Fragestellungen.363
§ 2. Hilfsmittel und inneres Verhalten der Vp.366
§ 3. Die reinen Reaktionszeiten für Scheinkörperlichkeit.372
§ 4. Die Arten scheinkörperlicher Auffassung in ihren Beziehungen zur
Fignrenlage.376
§ 5. Daten der Selbstbeobachtung. Zur Stellungnahme.376
§ 6. Expositionsdauer nnd Scheinkörperlichkeit.386
§ 7. Zusammenfassung der Ergebnisse.388
§ 8. Zur Theorie.390
§ 1. Entwicklung der Fragestellungen.
Der erste Versuch, die Tatsache der sogenannten umkehrbaren
Zeichnungen verständlich zu machen, appellierte an die Fixation und
die Augenbewegungen. Wir stellen gewöhnlich die Blicklinie auf
das Näherliegende ein, dieses wird fixiert, und von dieser fixierten
Stelle geht die eine oder die andere Augenbewegung aus 1 ).
Werden uns Zeichnungen, etwa von Würfeln, gezeigt, so ent¬
scheiden Uber die — wie wir hier kurz sagen möchten — schein¬
körperliche 3 ) Auffassung dieser Zeichnungen die Lage des
1) W. Wundt, Zur Theorie der räumlichen Gesichtswahrnehmungen.
Phil. Studien. Bd. 14. 1878. S. 31 ff.
2) Die Ausdrücke »Scheinkörperlich«, »Scheinkörperlichkeit« oder »Schein¬
körper« bedürfen wohl keiner Erläuterung. Der Grund, weshalb ich lieber
von Scheinkörperlichkeit als von perspektivischem Eindruck spreche, liegt
in der Tatsache, daß wir beim Erfassen von Figuren wie die hier zu be¬
handelnden, in viel größerem Maße die Illusion der Körperlichkeit erreichen
als dort, wo wir uns vor einer regelrechten perspektivischen Zeichnung be-
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364
Vittorio Benussi,
Fixationspunktes und die darauf folgenden Angenbewegungen.
Gegen diese freilich sehr einfache und daher bevorzugt er¬
scheinende Auffassung wurde von verschiedener Seite Stellung
genommen. Es wurde bemerkt, daß auch dann, wenn man sich
an eine bestimmte Fixationsstelle hält, oder den Blick längs einer
bestimmten Kante bewegt, scheinkörperliche Gebilde erfaßt werden,
bei denen gerade das Fixierte oder die mit dem Blicke verfolgte
Linie nicht näher sondern entfernter zu sein scheint 1 ). Die erwähnte
Hypothese scheint schließlich definitiv abgelehnt werden zu müssen
durch den Versuch, mit Zuhilfenahme eines Nachbildes der Fixations¬
stelle den Zusammenhang zwischen Fixation sowie Blickbewegung
und Scheinkörperlichkeit, bzw. relative Scheinentfernung einzelner
Flächen oder Punkte festzustellen 2 3 ). Natürlich nicht in dem Maße,
daß man den erwähnten Momenten jeden Anteil an einer resul¬
tierenden Scheinkörperlichkeit mit bestimmten scheinbaren Ent¬
fernungsverhältnissen abstreiten müßte, sondern nur insofern, als
neben oder vor diesen andere Momente zu berücksichtigen sind.
Es kam hinzu die Richtung der Aufmerksamkeit 8 ) und die Bereit¬
schaft reproduktiver Vorstellungselemente 4 ). Zu diesen Ergänzungen
kam dann das Moment der Bodenständigkeit 5 * * ) einigermaßen ein¬
schränkend hinzu. Die Wirkung der Bodenständigkeit wurde mit
einem ebenso glücklichen als einfachen Griff in der Art der Dar¬
bietung annehmbar gemacht, wenn auch wieder nur als teilweise,
1) E. Becher, Über umkehrbare Zeichnungen. Dieses Archiv. Bd. XVI.
1910. S. 397—417. Vgl. auch Zeitschrift für Psychol. Bd. 36. S. 68.
2) E. Becher, a. a. 0. S. 408.
3) v. Aster, Zur Theorie der räumlichen Gesichtswahrnehmungen. Zeit¬
schrift für Psychologie. Bd. 43. S. 175ff. Mit Recht bemerkt E. Becher
(a. a. 0. ä. 403) hierzu, daß es auch gelingt, eine genau beachtete Steüe »als
tief« zu sehen.
4) Solche werden immerhin auch von Wundt zugegeben (Grundzüge der
phys. Psychol. II.® S. 576 f.), wenn auch nach ihm die Hauptrolle der
Fixation zukommt (Die Projektionsmethode und die geom.-opt. Täuschungen.
Psychol. Studien. Bd. 2. S. 497 f.). Von ihnen sagt E. Becher (a. a. 0.
S. 408 f.), daß sie willkürlich festgehalten werden künnen; die Bereitschaft
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Über die Motive der Scheinkörperlichkeit bei umkehrbaren Zeichnungen. 365
nicht als einzige Ursache der in Rede stehenden Erscheinungen *).
Ans eigener Erfahrung glaube ich, daß man berechtigterweise sämt¬
lichen bisher genannten Momenten eine Stelle unter den Teilursachen
der Scheinkörperlichkeit wird einräumen müssen, von der Fixation
angefangen bis zur Bodenständigkeit. Nur zwei Punkte ließen mich
unbefriedigt; einmal der Mangel an Zeitbestimmungen (was hier
darunter gemeint ist, wird sofort zur Sprache kommen), dann die
Vernachlässigung einer geübten Selbstbeobachtung von seiten des
Beschauers. Solange man über derartige Bestimmungen nicht
verfügt, läßt sich nicht mehr behaupten, als daß jede Auffassung
eine gewisse Natürlichkeit in sich schließt und infolgedessen
mit einiger Wahrscheinlichkeit als berechtigt anzusehen sei.
Nicht zuletzt durch die Versuche zur Bekräftigung der Wirkung
eines Bodenständigkeitsmomentes wurde ich zur Durchführung der
im folgenden zu besprechenden Experimente angeregt.
Meine erste Fragestellung lautet: Geht die Scheinkörper¬
lichkeit auf eine Ergänzung des wirklich Dargebotenen
durch Erfahrungsmomente (Assoziation, Bodenständigkeit)
zurück, so muß (aller Wahrscheinlichkeit nach) die Zeit ( Z )
die die Ergreifung oder die Vorstellung einer Scheinkörper¬
lichkeit von dem Augenblicke trennt, in dem die eine
ab c d
Fig. 1.
oder die andere Zeichnung der Anschauung geboten wird,
je nach der Lage dieser Zeichnung eine verschiedene
sein; denn es ist im vorhinein zu erwarten, daß die gleiche
Zeichnung bei Lageveränderung weder sich gleich leicht als
scheinkörperlich erfassen lassen, noch daß sie mit gleichet
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366
Vittorio Benussi,
Leichtigkeit in einer bestimmten Art der Scheinkörper¬
lichkeit zn erfassen sein wird. Es fragt sich also einerseits,
wie sich die Z bei je einer der in Figur 1 wiedergegebenen Zeich¬
nungen verhalten, andererseits, was dabei die geübte Selbst¬
beobachtung in Erfahrung zu bringen vermag.
Diese erste Fragestellung führt durch eine Art Umkehrung zur
zweiten hinüber. Diese lautet: Wie verhält sich die Schein¬
körperlichkeit zur Expositionsdauer D der in Figur 1
wiedergegebenen Zeichnungen.
Die Überlegung, die zu dieser Fragestellung führen mußte,
liegt auf der Hand: sind Momente assoziativer Ergänzung, gleich¬
viel in welchem Maße, an der Entstehung eines inneren Erleb¬
nisses, das uns eine Scheinkörperlicbkeit zu erfassen gestattet,
beteiligt, so müssen sie um so weniger zur Geltung kommen
können, je weniger Zeit ihrer Entfaltung bzw. Aktuali¬
sierung gelassen wird. Es ist daher zu erwarten, daß die
Verkürzung der Expositionszeit eine Zunahme von Fällen
mit sich führen muß, bei denen keine Scheinkörperlich¬
keit erreicht wird. Auch hier ist als Nebenfrage die auf¬
zustellen, wie sich die Figurenlage in bezug auf Scheinkörperlich¬
keit zur Größe der Zeit D verhält.
Es sei hier in Erinnerung gebracht, daß Z die Zeit bedeutet,
die zur Erreichung einer, genauer irgendeiner ersten Schein¬
körperlichkeit erforderlich ist, D dagegen jene Expositionszeit,
deren Veränderung eine Häufung oder eine Herabsetzung der Fälle
scheinkörperlichen Erfassens mit sich führt.
§ 2. Hilfsmittel und inneres Verhalten der Vp.
Zunächst einige Worte über die in Figur 1 wiedergegebenen
Bilder a bis d.
Vom mittleren kleinen Quadrat aus sind die Bilder, oder viel¬
mehr ist das Bild, das von a bis d nur seiner Lage nach ein anderes
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Über die Motive der Scheinkörperlichkeit bei umkehrbaren Zeichnungen. 367
schirm (eine Opalglasscheibe in der Größe von 40 x 40 cm) mar¬
kiert, da die Vp., welche in einer Entfernung von 3,5 m vom
Projektionsschirm saß, nicht eine bestimmte Stelle besonders zn
fixieren hatte, sondern den Auftrag erhielt, ihre Aufmerksamkeit
nm die eben sichtbare Stelle herum möglichst gleichmäßig zu
verteilen, so daß in bezug auf Aufmerksamkeitseinstellung
keiner der einzelnen Figurenteile im Vorteil war. Anders bei
der zweiten Gruppe von Versuchen, bei denen eine genaue Fixa¬
tion des Mittelpunktes des kleinen mittleren Quadrates verlangt
wurde und bei welcher die Fixationsstelle im durchscheinenden
Lichte hellrot erschien.
Bei der ersten Versuchsgruppe (§ 3 und 4) verwendete ich
folgende Versuchsanordnung. Eine runde, schwarzgebeizte Messing¬
scheibe S ist mit starker Reibung um a drehbar, so daß sie in
Fig. 2.
beliebiger Lage stehen bleibt. Sie hat die in Figur 2 wieder¬
gegebene Form und ist an der Stelle f durchbrochen; außerdem
trägt sie den Stift s. Liegt der Stift s unterhalb des Stiftes s K ,
so ist die Scheibe in Ausgangsstellung. Hierbei trifft die
Brennfläche einer Projektionslampe die Stelle b, die blank ist.
Sind diese Bedingungen erfüllt, dann geht das in der Brennfläcli®
konzentrierte Licht in dem Augenblick durch die Stelle /*, in cle** 1
der Stift s die Kontaktstelle k t berührt. Von der Ausgangs- fcis
zu dieser Lage wird die Scheibe mit der Hand gedreht. Liegt
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368
Vittorio Benussi,
Die Chronoskopzeiger beginnen nun, da mit Arbeitsstrom gearbeitet
wird, sich zu drehen. Sie halten inne in dem Augenblick, in dem
die Yp. den Hammer losläßt, was sie dann zu tun bat, wenn sie
den Eindruck einer, d. h. der ersten Scheinkörperlichkeit erlebt.
Damit wird die Zeit S bestimmt, die die Summe von einfacher
Reaktionszeit und Z-Zeit ist (wo Z, wie oben bemerkt wurde,
die Zeit zwischen Expositionsbeginn und Gewinnung eines Ein¬
druckes von Scheinkörperlichkeit bedeutet). Die einfache Reak¬
tionszeit kann unter den gegebenen Verhältnissen als eine Quasi-
Konstante angesehen werden und unberücksichtigt bleiben. Diese
Zeit beträgt (für optische Eindrücke) im übrigen, wie bei früheren
Versuchen festgestellt werden konnte, im Durchschnitt mit ge¬
ringer Variation (± 25 o) 275 a *).
Der Einzelversuch nahm folgenden Gang: Hatte der Versuchs¬
leiter die Lage der Brennfläche kontrolliert und das zu projizie¬
rende Bild eingeschoben, so setzte er die Uhr in Gang. Letzteres
diente der Vp. als Signal zur Einstellung; nach 2,5 bis 3" erschien
das Bild. Die Maximaldistanz zweier Kanten des Bildes betrug
25 cm. Es wurde, gerade diese Größe gewählt, weil sich bei ihr
eine sichere Aufmerksamkeitsverteilung einstellte; war das Bild
größer, so war die Aufmerksamkeitseinstellung nicht befriedi-
1) Die Zeit Z entspricht natürlich nicht bloß der Gewinnung, sondern
auch der Erkennnng der gewonnenen Scheinkörperlichkeit. Diese Erkennungs¬
zeit (*), die in Z mit enthalten iBt, mag wohl als Konstante angesehen werden,
wenn es auch einen Gesichtspunkt gibt, der dagegen sprechen dürfte; ich
meine die verschiedene Auffälligkeit der erreichten oder gewonnenen
Scheinkörperlichkeit. Es ließe sich vermuten, daß die auffälligere Scheinkörper¬
lichkeit die Reaktion seitens der Yp. relativ hemmen und mithin relativ
größere Z ergeben müßte, als dies der Fall wäre, wenn eine Auffälligkeits¬
verschiedenheit verschiedener Arten von Scheinkörperlichkeiten nicht be¬
stünde. Da ich aber über keinerlei Mittel verfüge, mit deren Hilfe man den
Einfluß der ScheinkörperlichkeitsauffäUigkeit, für sich genommen, bestimmen
könnte, außerdem auch nicht mit Bestimmtheit sagen kann, ob dererlei Auf¬
fälligkeitsverschiedenheiten tatsächlich Vorkommen, so betrachte ich die Er¬
kennungszeit als faktisch konstant. Aus Versuchen über Buchstaben¬
erkennung hat sich ergeben, daß die Erkennungs- plus Reaktionszeit bei mir
im Durchschnite 400 a, die Erkennungszeit also 135 a beträgt. Es ist jedoch
ninbf afoHboft annb ^ioan 7nif trnn /1 a«* 7nil Z in A Kraobnnnnr wn aiaKon
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370
Vittorio Benussi,
Versuchsreihe bestand aus 28 Einzel versuchen und nahm ungefähr
dreiviertel Stunde in Anspruch. Es war also jede Absicht, das
Erwartete auf eine bestimmte Art zu erfassen, ausgeschaltet. Des¬
gleichen durfte sich die Vp. nicht im vorhinein auf die Beachtung
bestimmter Momente, wie etwa perspektivischer Verzerrungen, Auf¬
fallen bestimmter Figurenteile u. ä., innerlich bereit halten; ihre
Grundabsicht hatte nur die zu sein, das unvoreingenommen und
willenlos Erfaßte unmittelbar nach dem Versuch niederzuschreiben.
Wir werden weiter unten sehen (§ 5), daß dementsprechend auch
erst in den relativ späteren Versuchsreihen Beobachtungen be¬
stimmter Richtung zu Protokoll gegeben wurden: Beobachtungen,
für welche sich die Zeit, bzw. die Versuchsreihe genau angeben
läßt, bei welcher sie sich spontan aufdrängten. Da, wie berührt,
ich selbst Vp. war, glaube ich keiner Selbsttäuschung zu unterliegen,
wenn ich ausdrücklich betone, daß die erwähnten Bedingungen tat¬
sächlich realisiert wurden *). Das Gesagte dürfte zur Erläuterung der
Versuchsanordnung für die Beantwortung der ersten Frage genügen.
Bezüglich der Hilfsmittel zur vorläufigen Orientierung in Sachen
der zweiten Fragestellung ist folgendes zu bemerken: Die zwei
in Betracht kommenden Kollektivversuche (Expositionszeit = 100 a
bei der ersten, = 50 a bei der zweiten) wurden im verfinsterten
Hörsaale mit Benutzung eines von mir vor Jahren konstruierten
Tachistoskops vorgenommen, das ich hier in Vorder- und Seiten¬
ansicht wiedergebe (Figur 3 und 4). Auf dem Projektionsschirme
war eine 1,5 cm im Durchmesser betragende hellrote Fixations¬
marke angebracht, und zwar so, daß sie in durchscheinendem
Lichte sichtbar war. Ich benutzte hierfür eine in einem licht¬
dichten Kästchen eingefaßte 2-voltige Glühlampe. Die eine Seite
des Kästchens war in der Mitte kreisförmig durchgeschlagen und mit
einem Rubinglas bedeckt; diese durchgeschlagene Fläche wurde
mittels zweier plankonkaven Linsen auf der Rückwand des Schirmes
1) Die Einschränkung auf die Prüfung einer Vp. allein geschah wegen
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Über die Motive der Scheinkörperlichkeit hei umkehrbaren Zeichnungen. 371
abgebildet and maßte von den (24) anwesenden Vp. streng fixiert
werden. Die Diapositive, die jenen der Versuche zur Beantwortung
der ersten Frage gleich waren, wurden auch hier so einge¬
schoben, daß der Mittelpunkt des kleinen Quadrates genau
auf die Fixationsmarke zu fallen kam. Die Vp. hatten nach
erfolgter Exposition je eines Bildes anzugeben, ob sie eine Schein¬
körperlichkeit oder eine ebene Zeichnung erfaßt hatten,
bzw. mußten sie, wenn ersteres der Fall war, unzweideutig,
am besten durch eine Zeichnung, die Art der erfaßten Schein¬
körperlichkeit zu Protokoll geben. Einige Tage vor den
Versuchen machte ich meine Vp. mit den Bildern selbst und
mit der Art der Beschreibung des erlebten Eindruckes vertraut.
D Metallscheibe; P variierbares Treibgewicht; l Hebel zur Loslassung von D;
F um die D -Achse verschiebbare Gabel zum Auffangen und Festhalten
von D nach erfolgter Exposition, p, p' Scheibchen zur Variierung der Öff¬
nung a, durch deren Größe die Expositionszeit bestimmt wird; r, r 1 usw.
Rollen zur Leitung des Fadens f und Einstellung von F in die gewünschte
Lage. (Vgl. Atti del V Congresso intern, di Psicologia Roma 1905. S. 267 ff.)
Aus den Protokollen geht zweifelsohne hervor, daß die Vorübungen
hinreichend gewesen sein müssen. Über Fragestellung und Ziel der
Versuche erfuhren die Vp. erst nach den Versuchen selbst das für
sie Wissenswerte. Ebensowenig wie über Fragestellung und Ver-
suchsziel waren sie darüber unterrichtet, daß aller Wahrscheinlich¬
keit nach bestimmte Lagen viel eher den Eindruck einer ebenen
^Aip.brmno- 7n Dl -ma plron rvnninmnf nrarnn nla ovwIarA n A
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372 Vittorio Benussi,
den roten Pnnkt zu fixieren, und Anfrage, ob dies geschehen war.
Lautes Zählen 1, 2, 3 seitens des Versuchsleiters, wobei unmittel¬
bar (etwa 1—1,5") nach 3 die Exposition erfolgte. Aufdrehung
der drei Bogenlampen zwecks Protokollanfertigung durch die Vp.
Kleine Pause von 8—10", dann Abdrehung der Lampen, Auf¬
forderung zur Fixation usw. *).
§ 3. Die reinen Reaktionszeiten für Scheinkörperlichkeit.
Die zehn Versuchsreihen, deren numerische Ergebnisse im fol¬
genden zusammengestellt werden, fanden an den Tagen 25., 26.,
28., 29. November, 1., 2., 3., 5., 6. und 7. Dezember (1910) zwischen
10 und 11 Uhr vormittags statt. Die Vp. war in gleichmäßiger
Stimmung und gleichmäßigem, kaum merklichem Ermüdungszu-
stand, da sie um 10 Uhr 2 Stunden harmloser und 1 Stunde an¬
strengender Arbeit hinter sich hatte. Die Versuche selbst be¬
deuteten zu Beginn eine Erholung, gegen Schluß war eine leise
Ermüdung zu verzeichnen, die sich in einer gewissen Unbeholfenheit
gegenüber den exponierten linearen Zeichnungen kundgab. Dies war
jedoch erst vom Versuch 20 bis 23 der Fall. Wie bereits angemerkt,
bestand die Versuchsreihe aus 28 Versuchen, bei denen jede Figur,
genauer jede Figurenlage, siebenmal in zyklischer undurchsich¬
tiger Reihenfolge vorkam. Die mittleren Reaktionszeiten waren:
Figur (Lage)
1 (a)
2 ( b )
3 (c)
4 (rf)
Versuchsreihe I
1075 ff
711 ff
3247 «r
1738 ff
>
U
1067 ff
768 ff
2960 ff
2430 ff
>
III
991 <r
951 «
3652 <r
3364 ff
>
IV
1394 <r
1187 ff
3393 ff
3040 ff
>
V
872 ff
1062 ff
2969 ff
3408 <r
m, =
= 1080,6 <r,
933,6 ff,
3242 <t ,
2794 ff. (a)
>
VI
601 «t
698 <r
3027 ff
2712 ff
>
VII
669 ff
547 «r
2208 ff
1418 ff
>
VIII
633 ff
412 <t
2265 ff
1230 ff
>
IX
412 «r
437 ff
2986 ff
979 ff
»
X
660 ff
622 ff
2662 <r
2097 ff
m i
= 553 ff,
523 ff,
2629,6 ff,
1687 <r. 09)
7n, -h m t
2
= 801,5 <r,
728 ff,
2935,8 ff,
2240,5 ff. (y)
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Über die Motive der Scheinkörperlichkeit bei umkehrbaren Zeichnungen. 373
In größerer Anschaulichkeit gehen die in dieser Zusammen¬
stellung gegebenen Beziehungen aus Diagramm 1 hervor, welches
die a, ß und y zugeordneten Werte wiedergibt. Als Ergebnis ist
der Uber Erwartung große Abstand der Reaktionszeiten
für die einzelnen Figurlagen zu verzeichnen, der namentlich
bei Lage 2, 3 und 4 zu besonderer Geltung gelangt. Die Lage
der (konstanten) Figur vermag in hohem Maße die Ent¬
stehung einer Scheinkörperlichkeit zu hemmen oder zu
begünstigen. Solange wir die Protokolle der Vp. nicht zu Rate
ziehen, können wir nicht mehr als dieses eine behaupten.
Diagramm 1. Diagramm 2.
Vergleichen wir die a-Werte mit den ^-Werten, so können
wir im allgemeinen sagen, daß im Laufe der Versuche sich die
Fähigkeit, eine Scheinkörperlichkeit zu erfassen, er¬
höht hat.
Wir können die Herabsetzung der ß- gegenüber den a-Werte*xx
nicht als Übung in der Reaktion auf einen visuellen Eindruc^^
znrückführen, weil die Verschiedenheit zwischen den a- und d^-^
Ä-Wertpn fHr H io in Rotrartht VnmmAnHo Vn wflit o-i-üRftT ist al
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374
Vittorio Benuesi,
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Diagramm 3.
Wichtig ist in diesem Zusammenhänge auch die Tatsache, daß
die Ergebnisse der ersten Versuchsreihe (I) jenen der
zehnten (X) nahezu am nächsten liegen. Ich stelle in
Diagramm 2 die Werte
dieser Reihen zusam¬
men.
Eine Aufklärung
über dieses Verhalten
gewinnen wir, wenn
wir den Gang der Reak¬
tionszeiten für Schein¬
körperlichkeit für jede
einzelne Figurenlage
durch sämtliche zehn
Sitzungen beobachten;
am leichtesten mit Zu¬
hilfenahme von Dia¬
gramm 3 und 4. Hier
sehen wir, daß die
Größe der R.-Z.
für die Gewinnung
einer Scheinkörper¬
lichkeit wellenför¬
mig verläuft; sie
nimmt zuerst zu,
dann ab, dann wie¬
der zu; hier hören
unsere Versuche auf.
Vielleicht würde de¬
ren Fortsetzung diesen
Wellengang noch klarer
gezeigt haben. Dieser
Punkt bedarf also noch
einer näheren Unter¬
suchung. Immerhin
_ILi - ' _1_ J _
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n-1-1-1-1-h
-i-h
n m FT V VI VE Y1E IX X
Diagramm 4.
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Über die Motive der Scheinkörperlichkeit bei umkehrbaren Zeichnungen. 375
momenten, sehr vorsichtig sein muß; denn durch Wieder¬
holung der Versuche wäre u. s. U. nicht ein Ab-und Zunehmen
der Zeiten zu erwarten, sondern eine Veränderung der¬
selben in eindeutiger Hinsicht, mit anderen Worten, eine
Herabsetzung der R.-Z. von Fall zu Fall, die als Folge
einer Assoziationsbefestigung aufzufassen wäre.
§ 4. Die Arten scheinkörperlicher Auffassung in ihren Be¬
ziehungen zur Figurenlage.
Unser nächster Schritt betrifft die Beziehungen zwischen je
einer Lage der an sich konstanten Figur und der Häufigkeit der
einen oder anderen scheinkörperlichen Auffassung, die dabei an-
zutreflfen war. Ich stelle in den folgenden Übersichten die abso¬
luten Frequenzbeträge je einer Auffassung zusammen. Dabei be¬
deutet
r u : die Fläche rechts unten als näher erfaßt,
l 0 : • Fläche links oben als näher erfaßt,
r 0 : » Fläche rechts oben als näher erfaßt,
l u : » Fläche links unten als näher erfaßt,
K u : » Kante unterhalb der Mitte als näher erfaßt,
K „: » Kante oberhalb der Mitte als näher erfaßt,
K r : > Kante rechts vom Mittelpunkt als näher erfaßt,
Ki : > Kante links vom Mittelpunkt als näher erfaßt.
I—X: Reihenfolge der Versuchsreihen.
Wir erhalten für die 4 in Betracht kommenden Lagen folgende Werte:
Lage 1.
(Fig. la, S. 365.)
Lage 2.
(Fig. 16, S.365.)
Lage 3.
(Fig. lc, S. 366.)
Lage 4.
(Fig. 1 d, S. 365.)
Ver¬
suchs¬
reihe
B
h
Ver¬
suchs¬
reihe
r 0
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I
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2
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III
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Ver¬
suchs¬
reihe
Ku
K 0
Ver¬
suchs¬
reihe
K r
Ki
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6
n
1
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376
Vittorio Benussi,
Drücken wir die Summen I, r u bis X, r u usw. in Prozenten
aos, so erhalten wir folgende Zusammenstellung:
Lage 1: r u = 90 ^ ; l 0 = 8,ö * .
Lage 2: r 0 = 7,14 % ; l u = 92,86 % .
Lage 3: K u = 17,16 % •, K 0 = 67,14 # .
Lage 4: K r = 68,67 * ; JTj = 31,67 X •
Aus dieser Übersicht ließe sich als Ergebnis — allerdings mit
der später zu berührenden Einschränkung — der Satz aufstellen:
die Vp. neigt in hohem Maße zur Auffassung »von oben«
hei Lage 1 und 2 (90 # r u gegen 8,5 % l 0 bzw. 92,86 % l, t
gegen 7,14 % r 0 ); hei Lage 3 (. K 0 — 67,14 %\ K u = 17,15 %)
tritt das Entgegengesetzte hervor, es wird eine Schein¬
körperlichkeit erfaßt, die einem Sehen wie »von unten« entspricht;
bei Lage 4 schließlich prävaliert das »Sehen von links
nach rechts«, da K r 58,57 #, K x aber bloß 31,57# beträgt.
Für Figur bzw. Lage 1 und 2 ließe sich der Hinweis auf die Boden¬
ständigkeit benützen, wenn ihm die Daten der Selbstbeobachtung,
wie nunmehr zu erörtern sein wird, nicht widersprechen möchten.
Da ferner die Aufmerksamkeit der Intention nach eine gleich¬
mäßig verteilte war, so ließen sich die soeben konstatierten
Ergebnisse auch so formulieren: Bei Lage 1 nnd 2 liegt die
größere Auffälligkeit auf dem unteren Teile der Figur,
ebenso hei Lage 3, bei 4 dagegen auf den links vom Mittel¬
punkt gelegenen Partien; es findet also eine unwillkürliche
größere Beachtung von »unten« und »links« statt, oder die
relativ tiefer und links gelegenen Partien weisen eine
größere Auffälligkeit auf. Auch gegen diese Auffassung
sprechen jedoch die Selbstbeobachtungen der Vp. Zu diesen gehe
ich nunmehr Uber.
§ 5. Daten der Selbstbeobachtung. Znr Stellungnahme.
Die Überschrift dieses Paragraphen entspricht mehr der Tradi¬
tion als den Tatsachen. Sie müßte eigentlich, wenn auch schwer-
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Über die Motive der Scheinkörperlichkeit hei umkehrbaren Zeichnungen. 377
such eine andere Entwicklungsrichtung eingeschlagen und die Vp.
hierdurch zur Auffassung verschiedener Gegenstände, bzw. gegen¬
ständlicher Veränderungen veranlaßt haben mögen, sondern lediglich
auf diese Gegenstände und deren Veränderungen in einer bestimm¬
ten Zeitstrecke. Läßt sich daraus auch etwas Uber die inneren
Vorgänge aussagen, so darf man nicht vergessen, daß diese Aus¬
sage auf einem Schluß, aber nicht auf direkter, unmittelbarer Er¬
fahrung beruht. Ich stehe bezüglich dieser Auffassung übrigens
nicht allein da ’). Was bisher in diesem Zusammenhänge beobachtet
wurde, ist nicht viel und bezieht sich hauptsächlich auf die Ab¬
weisung der Fixations-, bzw. Augen-(Blick-)bewegnngshypothese.
So geht die eine Bemerkung dahin, daß man jene Teile willkür¬
lich als näher sehen kann, auf die man die Aufmerksamkeit hin¬
lenkt 2 ). Es tritt aber auch der Fall ein, daß das Beachtete umge¬
kehrt als das Tieferliegende erfaßt wird 3 ). Von seiten der Boden¬
ständigkeitshypothese wird dagegen kurz mitgeteilt, daß die Vp. nicht
imstande waren zu sagen, welche Momente die eine oder die
andere Auffassung bedingten 4 ), und die Frage aufgeworfen, ob nicht
eine bestimmte Gewohnheit der »Vorstellungsproduktion« 5 ) einer be¬
stimmten Auffassung zugrunde liege. Diese Spärlichkeit an Beobach¬
tungen geht darauf zurück, daß man bisher keine systematischen
Versuche anstellte und sich mit der nicht zu bestreitenden inneren
1) Dasselbe bemerkten auch E. Dürr (Über die experimentelle Unter¬
suchung der Denkvorgänge. Zeitschrift für Psychol. Bd. 49. S. 313—340),
▼. Aster (Die psychologische Beobachtung und Untersuchung der Denk¬
vorgänge. Ebenda. S. 56—107) und, mit größter Annäherung der Sache
nach, auch 0. Schnitze (Beitrag zur Psychologie des Zeitbewußtseins. Dieses
Archiv. Bd. XVIII. S. 276- 351).
2) v. Aster, a. a. 0. S. 175.
3) E. Becher, a. a. 0. S. 408, 414.
4) de Boer, a. a. 0. S. 181.
5) Was darunter zu verstehen ist, sagt de Boer nicht. Doch geht aus
seinen Ausführungen hervor, daß er den Ausdruck »Vorstellungsproduktion«
nicht in dem Sinne gebraucht, in dem bei der Klarlegung der einschlägigen
Probleme durch R. Ameseder (Untersuchungen zurGegenstandsth.u.Psych.,
herausgeg. von A. Meinong. Nr. VIII) dieses Wort zuerst in die psycho¬
logische Terminologie, bei präziser Bedeutungebegrenzung, eingeführt wurde.
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378
Vittorio Benussi,
Natürlichkeit des Hinweises anf Gewohnheit, Nachwirkung früherer
Erfahrungen n. dgl. begnügte. Das vorübergehend betonte Moment
des Wollens 1 ) kann natürlich kaum etwas zur Aufklärung bei¬
tragen, zumal die Tatsachen zeigen, daß es so gut wie unmöglich
ist, namentlich bei kurzer Exposition eine bestimmte Scheinkörper-
lichkeit als erste willkürlich zu erreichen. Ist die Exposition be¬
liebig lang, so wird freilich auch die gewollte Auffassung erreicht,
nicht aber als erste. Es liegt hier eine analoge Sachlage vor wie
ich sie bei stroboskopischen Erscheinungen, worüber an anderer
Stelle zu berichten sein wird, konstatierte: werden Bilder hinter¬
einander gezeigt, die etwa die vier Eckpunkte eines Quadrates
darstellen, die von Bild zu Bild in immer kleineren Abständen
erscheinen, so hängt es nicht von unserer Intention ab, ob wir
eine sternartige Scheinbewegung von vier Punkten, die
sich in einer Ebene vollzieht, erfassen (so daß sich uns die
vier Punkte in den Diagonalen eines Quadrates zu bewegen
scheinen), oder aber die rasche Bewegung eines Quadrates
aus größerer Entfernung zu uns her und von hier aus
wieder in die Tiefe verfolgen, wiewohl gerade bei diesem
Beispiele Erfahrungsmomente noch viel eher im Spiele sein dürften
als bei der ScheiDkörperlichkeit. Ich für meinen Teil bin kaum
imstande, u. d. g. U. eine Bewegung aus einer Entfernung her und
zu einer größeren Entfernung hin zu erfassen. Vielleicht steht
diese Unfähigkeit in Zusammenhang mit einer gewissen Wider¬
spenstigkeit meinerseits, umkehrbare Zeichnungen sofort in irgend¬
einer Scheinkörperlichkeit, die doch Entfernungsverschiedenheiten
impliziert, zu erfassen.
Das, was mir nun in den ersten Versuchsreihen zunächst auffiel,
war eine gewisse Unsicherheit in der Angabe, was vorn und
was hinten zu liegen schien, wiewohl ich einen schein-
körperlichen Würfel zweifellos erfaßte. Dies gilt für
Lage 1 und 2. Möglicherweise liegt, wie ich später untrügerisch
11 F. Ttnohor 9 t O fi dflfif Don Ranhtr>1ihinin>n riipflpn Antnrn
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Über die Motive der Scheinkörperlichkeit bei umkehrbaren Zeichnungen. 379
konstatiert zn haben glaube, dieser Unsicherheit der Beginn einer
Umkehrung zugrunde, der wohl nicht zur Entfaltung gelangte, die
Aussage jedoch im letzten Augenblick zum Schwanken brachte.
Auch kam es bereits in den ersten Versuchsreihen, wenn auch sehr
selten, vor, daß ich eine Größenverschiedenheit zwischen den zwei
zur Frontalebene parallel erscheinenden »Flächen« zu bemerken
glaubte, ohne aber imstande gewesen zu sein, Klarheit darüber zu
erlangen, welche die größere war. Sobald das Bild sichtbar
wurde, folgte der nicht näher zu beschreibenden Erscheinung einer
nicht zu einer Ebene allein gehörigen Zeichnung eine bestimmte
Scheinkörperlichkeit, die eine relative Beharrlichkeit besaß, so daß
ich noch in der Lage war, den Taster auszulassen, ohne eine Um¬
kehrung der Scheinkörperlichkeit erlebt zu haben. Das eben Ge¬
sagte gilt hauptsächlich für Lage 1. Darauf hinweisende Be¬
merkungen kamen bei der durch die Lage 2 bedingten Figur
spärlicher vor. Der Vorgang, der sich bei Lage 2 bis zur
Erreichung einer Scheinkörperlichkeit abspielte, muß also
ein einfacher oder ein ungehemmt vor sich gehender gewesen
sein. Dafür sprechen auch die Zeiten, die erforderlich waren,
um bei Lage 1 und 2 eine Scheinkörperlichkeit zu erreichen; für
jene betragen sie in der ersten Reihe 1075 er, für diese bloß 711 a.
Außerdem kommt auch die Neigung zur stärkeren inneren Be¬
tonung, zur größeren Beachtung des links und unten Liegenden
in Betracht, eine Neigung, die im Laufe der Versuche einer Stei¬
gerung unterlag, die namentlich, was das Linksbeachten anbelangt,
bei Lage 3 zur Geltung kam. Wir sahen bereits weiter oben, daß
bei dieser Lage die Auffassung Ki in 58,57 % der Fälle, die ent¬
gegengesetzte aber nur in 31,57 % der Versuche zu verzeichnen war.
Was nun Lage 3 und 4 anlangt, so war der innere Zustand
der der Verwirrung. Der erste Eindruck war der einer ebenen
Zeichnung, aber einer unruhigen; die Aufmerksamkeit wurde
durch Teilfiguren wie die in Figur 7 und 8 wiedergegebenen u. dgl.
gefesselt. Absichtslos wanderten Blick und Aufmerksamkeit um
die einzelnen Linien und Flächen, bis sich eine Scheinköruer-
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380
Vittorio Benussi,
körperlichkeit die Linien, die für sie nicht konstitutiv waren,
weggelöscht wären; es war also der Schein eines Körpers
verbunden mit dem Eindruck undurchsichtiger Flächen
vorhanden. Dies war bei Lage 1 und 2 nicht der Fall; bei diesen
wußte ich noch nicht, ob ich Flächen erfaßte oder durch eine Art
Liniengebilde durchschaute oder ähnliches. Unbehaglicher war mir
Lage 3 gegenüber Lage 4 nahezu immer; bei dieser hatte ich nicht
so ausgesprochen den Eindruck einer völligen Unordnung wie bei
jener. Diese innere Unbeholfenheit gegenüber 4 und namentlich 3
drückt sich in den Reaktionszeiten mehr als deutlich aus. Diese
Zeiten betragen in der ersten Reihe 3247 a für Lage 3, 1738 o für
Lage 4. Soweit die ersten Eindrücke. Im Laufe der Sitzungen
wurde einiges klarer, worüber ich nunmehr zu berichten habe.
War, wie bemerkt, bei den ersten Sitzungen der einmal erreichte
Eindruck einer Scheinkörperlichkeit ein relativ beharrlicher, so trat
von Reihe 3 an eine sofortige Umkehrung ein; es konnte
aber Uber die scheinbare Größe der näher im Vergleich zur ent¬
fernter erscheinenden Fläche noch nichts gesagt werden. Dies
war erst bei Sitzung 5 der Fall und von da an nahezu immer.
Vordere und rückwärtige Fläche des Würfels wurden
als deutlich verschieden groß erfaßt, die Umkehrung trat
sofort nach Erreichung der ersten Scheinkörperlichkeit ein, ohne
jedoch eine Änderung der Größenverhältnisse zu bedingen.
Die Umkehrung trat nahezu gleichzeitig mit dem Auslassen des
Kontakthammers meinerseits ein und war nunmehr relativ beharr¬
lich, d. h. während der wenigen Augenblicke, während welcher
ich nach Loslassung des Tasters das Bild weiter betrachtete, blieb
alles unverändert. Die erfaßte Größenverschiedenheit der zwei
in Betracht kommenden Flächen war von Fall zu Fall sehr ver¬
schieden; die Umkehrung wies aber immer das bei Er¬
reichung der ersten Scheinkörperlichkeit bemerkte
Größenverhältnis auf. Aus dem Berührten geht zunächst her¬
vor, daß jener innere Prozeß, der zur Umkehrung und
mithin auch zur Scheinkörperlichkeit führt, ein anderer,
sich viel rascher vollziehender ist als jener, von dem
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Fig. (Lage) 1
Über die Motive der Scheinkörperlichkeit bei umkehrbaren Zeichnungen. 381
stehen nnn Lage 1 und 2 in direktem Gegensätze, wie aus fol¬
gender Zusammenstellung deutlichst hervorgeht:
Figur (Lage) 1. r u erschien in 18,57 % der Gesamtfälle >
r u
>
» 50 % *
>
<
lo
>
» 0,0 % »
»
>
l 0
>
» 1,4 X »
>
<
d. h. bei Lage 1 (vgl. Figur 1 a) erschien die als näher erfaßte Fläche
rechts unten (r u ) nahezu immer, wenn eine Größenverschiedenheit
überhaupt erfaßt wurde, kleiner als die scheinbar entferntere und be¬
hielt ihre scheinbare Größe auch nach erfolgter Umkehrung. Die Zeich¬
nung wurde also immer zuerst wie in Figur 5 A, dann wie sub B ange¬
geben, erfaßt. Für Figur (Lage) 2 (vgl. Figur 1 b) finden wir dagegen:
Figur (Lage) 2. r 0 erschien in 2,8 % der Gesamtfälle >
r„ » » 1,4 % » » <
l u » » 54,28 X » »
t u » » 7,14 X » » <
d. h. bei Lage 2 schien die als näher erfaßte Fläche ( l u ) links unten nicht
kleiner, sondern größer als die entfernter erscheinende. Auch
hier blieb dieses Verhältnis konstant trotz der sofort eintretenden Um¬
kehrung.
Fig. 5. Fig. 6.
Das Erfaßte erschien also zuerst wie in Figur 6A, dann wie
sub B angegeben ist. Es mögen hier als Probe die Ergebnisse
etwa der 9. Versuchsreihe mitgeteilt werden (I bis VII bezeichnet
die einzelnen Gruppen zu je 4 Expositionen, 1 und 2 die hier
in Betracht kommenden Figurlagen).
I
n
HI
IV
V
VI
VII
r u <
r„ < (sehr)
r M <;(wenig)
r«<(sehr)
wie
r u < (wenig)
u.
u.
U.
U.
IV
wie IV
U.
lo>
l a > (sehr
h > (wenig)
l 0 > (sehr)
lo > (wenig)
deutlich)
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Aus Versucht
382
Vittorio Benussi,
Es braucht natürlich kaum gesagt zu werden, daß die Figuren 1
und 2 nicht hintereinander erschienen; sie nahmen vielmehr die
weiter oben (§ 2) angegebene Stelle innerhalb der 28 Versuche,
die eine Versuchsreihe bildeten, ein. Als Ergebnis des Mitgeteilten
ist also zu verzeichnen:
1) Es herrscht eine starke Tendenz, die unterhalb des
Mittelpunktes gelegene Fläche als die nähere zu erfassen.
2) Liegt diese Fläche zugleich links vom Mittelpunkte, so
erscheint sie näher und größer, liegt sie rechts vom Mittel¬
punkte, so erscheint sie näher und kleiner.
3) Die sofort eintretende Umkehrung (U.) vermag an
den Größenverhältnissen so gut wie nichts zu ändern:
Eine gleichzeitige Umkehrung der Größenverhältnisse kam für
Lage 1 achtmal, für Lage 2 nur zweimal vor.
Bezugnehmend auf die Feststellungen des § 3 ist noch zu be¬
merken, daß
4) die Wiederholung der Versuche nicht so sehr, möglicher¬
weise gar nicht die Größe der Reaktionszeiten für Scheinkörper¬
lichkeit beeinflußt, sondern hauptsächlich für das Auftreten
von Umkehrungen und deutlichen Größenverschieden¬
heiten von Bedeutung ist; wir konnten ja feststellen, daß
erste und letzte Reihe in bezug auf Reaktionszeiten sehr
nahe, im übrigen aber sehr weit voneinander stehen.
Es erübrigt nun noch, auf eine Beobachtung hinzuweisen, die
mir in Sachen der bereits oben (§ 1) erwähnten Bodenständigkeit
oder der »Auffassung als bodenständig« nicht unwichtig erscheint.
Es kommt in diesem Zusammenhänge hauptsächlichst Lage 1 in
Betracht, bei welcher, wie wir wissen, sich mehr und mehr die
Auffassungsweise »rechts unten näher und kleiner « entwickelte.
Diese Aussage würde, wenn sie so knapp und ohne weitere Be¬
obachtung vorläge, den Schluß, wenn auch ohne Berechtigung, ge¬
statten, es sei diese Figur »wie von oben gesehen«, also »als
bodenständig« erfaßt worden. De Boer 1 ), dessen Vp. nicht im-
—J - —j _i_ -.-u * _
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Über die Motive der Scheinkörperlichkeit bei umkehrbaren Zeichnungen. 383
daß die Vp. die Figuren als »Körper, wie von oben gesehen« er¬
faßten. Nun drängte sich mir, sobald Größenverschiedenheiten
und Umkehrungen zu verzeichnen waren, die Erscheinung auf,
daß der scheinkörperliche »Würfel« mit seiner scheinbar größeren
Basis auf einer vertikalen Ebene zu haften schien. Außer¬
dem war ich nie im Zweifel, daß gerade diese entfernter liegende,
»haftende« Basis meine größere Beachtung in Anspruch nahm;
ich »sah« den Würfel wie aus der besonders beachteten
Basis heraus zu mir hin aufgebaut. Dasselbe war für Lage 2
zu bemerken, wenn der gewöhnlich ursprünglichen Auffassung
»links unten näher und größer « die Umkehrung »rechts oben
näher und kleiner « folgte. Daraus ergibt sich (abgesehen davon,
daß wir hier deutlich den Fall vor uns haben, in dem das mehr
Beachtete tiefer zu liegen scheint), daß man aus Aussagen,
wie sie de Boer sammelte, nicht berechtigt ist, auf »Boden¬
ständigkeit« zu schließen, denn nach dieser Auffassung
müßte der Würfel wie auf einer horizontalen oder schiefgelegenen
Ebene ruhend erfaßt werden.
Über Lage 2 ist in diesem Zusammenhänge noch folgendes
zu erwähnen. Bei dieser Lage war die sozusagen normale Auf¬
fassung »links unten näher und größer «. Dabei schien die
näher »gesehene« und scheinbar größere Fläche auf einer senk¬
rechten, mir naheliegenden Ebene zu haften, durch diese
Ebene »sah« ich gleichsam durch, so daß der Würfel sich wie
von mir weg aufzubauen schien. Die in höherem Grade be¬
achtete Fläohe war diesmal ebenfalls die Basis, sie schien aber
naher zu liegen. Wir finden also bei Figur (bzw. Lage) 1
und 2 eine völlige Unabhängigkeit der zwei Momente
»näher erscheinen« und »besonders beachtet werden«.
Bei Lage 1 liegt das Beachtetere in der Tiefe, bei 2 da¬
gegen in relativ größerer Nähe zum Beschauer.
Diese Beobachtungen geben uns nunmehr ein Mittel zur
Hand, mit dessen Hilfe wir uns darüber, 1) daß bei Lage 1 im
Gegensatz zu Lage 2 das näher Erscheinende kleiner zu sein
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384
Vittorio Benassi,
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kleiner )« erreicht, so mußte wohl die näher lokalisierte Fläche
kleiner erscheinen, da sie mit der tiefer lokalisierten und haupt¬
sächlichst beachteten objektiv gleich war und die Vp. den Ein¬
druck hatte, es »baue sich eine Art Würfel aus einem Hintergrund
zu ihr her«. War bei Lage 2 dagegen die Aussage »links unten
naher und größer « vorhanden, so mußte der entgegengesetzte
Schein erweckt werden, weil jetzt die Vp. den Eindruck hatte,
»es baue sich ein Würfel von ihr hinweg in die Tiefe hin«. In
diesem Falle war die näher erscheinende Fläche die größere,
zugleich aber auch die mehr beachtete; bei Lage 1 dagegen
war die tieferliegende die in besonderem Maße beachtete und
größer erscheinende. Es scheint mir daher, daß hauptsächlich
die Richtung der größeren Beachtung in Verbindung mit dem
Eindruck des » xu mir her « und '»von mir iveg « das gegensätz¬
liche Ergebnis bei 1 und 2 aufzuklären vermag. Da nun mit
der Umkehrung der Scheinkörperlichkeit auch eine Um¬
kehrung des Eindruckes » xu mir her « und »von mir weg «
Hand in Hand ging, ist es ohne weiteres klar, weshalb die Um¬
kehrung der Scheinkörperlichkeit nicht auch eine Umkehrung der
scheinbaren Größenverhältnisse zur Folge hatte. So sehr dieser
Punkt zur Hypothesenbildung reizen mag, will ich einstweilen da¬
von absehen, da ich jeden Erklärungsversuch, der sich nicht un¬
gezwungen aus den festgestellten Tatsachen ergibt, wenn schon
nicht für gewagt, so doch um so sicherer für verfrüht halte. Ich
hoffe, daß die WeiterfUhrung der Untersuchung bei verschiedener
Expositionsdauer das hier bloß Mitgeteilte auch verständlich zu
machen imstande sein wird.
Ich gehe nunmehr zur Figur (Lage) 3 Uber. Bei dieser sowie
bei Lage 4 war bis zur 8. Reihe nichts zu merken, was be¬
sonders hervorzuheben wäre, außer der bereits berührten Tat¬
sache, daß, wenn eine Scheinkörperlichkeit erreicht wurde, nur
jene Linien gesehen wurden, die für sie konstitutiv waren; der
Scheinkörper war wie aus undurchsichtigen Wänden
konstruiert. Der erste Eindruck war der einer ebenen Zeich¬
nung. Diese wurde aber nicht in ihrer charakteristischen Gestalt
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Über die Motive der Scheinkörperlichkeit bei umkehrbaren Zeichnungen. 385
obachten: War die lineare Gestalt A oder B erreicht (Figur 8), und
zwar unabsichtlich, dann schien sich der Punkt p 0 bzw. p u
xx M
Fig. 7.
PlL
Fig. 8.
in die Tiefe zu neigen, und ein völlig plastischer Ein¬
druck stellte sich sofort ein. Diese Erscheinung wiederholte
sich bei den letzten Versuchsreihen öfters in voller Klarheit, und
zwar für Lage 3 ebenso wie für Lage 4: das Entscheidende
für den Eintritt der Scheinkörperlichkeit war das Er¬
fassen einer bestimmten linearen Gestalt, diese führte
zur Plastik über.
Daß sich ähnliches auch bei Lage 1 und 2 ereignet haben mag, ist
wohl berechtigterweise zu vermuten, nur spielte sich dort vielleicht
dieser Übergang viel rascher ab und blieb daher unbemerkt. Das
Erfassen einer linearen Gestalt bei 3 und 4 dürfte nicht frei von
jeder diesbezüglichen anfänglichen Übung gewesen sein. Dies
dürften einige besonders kurze Reaktionszeiten, die unter 1000 o
sanken, beweisen, Reaktionszeiten, die nur dort anzutreffen sind,
wo die Vp. einfach vermerkte: »lineare Gestalt (nach Figur 7,
A oder B); plastischer Eindruck«. Hierauf komme ich im nächst¬
folgenden Paragraphen zurück. Soweit die wesentlichsten Be¬
merkungen zu den erfaßten Scheinkörperlichkeiten. Ich hätte das
Obige durch Abdrucken ganzer Protokolle natürlich viel ausführ¬
licher gestalten können; ich muß aber gestehen, daß ich der immer
weiter um sich greifenden Sitte, den Leser durch Protokoll¬
angaben zu ermüden, die sehr oft kaum mehr als bloße Wieder¬
holungen enthalten, keine Sympathie entgegenzubringen vermag.
Ich wende mich somit der Mitteilung eines KollektivveTSuches zu,
der zur vorläufigen Beantwortung- der Fraere dienen soll, ob die
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386
Vittorio Benussi,
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§ 6. Expositionsdauer and Scheinkörperlichkeit.
Da die Versuchsanordnung, mit deren Hilfe die im folgenden
zu besprechenden Versuche unternommen wurden, bereits weiter
oben (§ 2) dargestellt wurde, kann ich mich sofort zum Versuche
selbst wenden. Die Anzahl der Vp. war 24, die zwei Exposi¬
tionszeiten = 100 o bzw. = 50 a ; die Reihenfolge der Figuren
(Lagen) war fttr beide Expositionszeiten:
1 , 4
3 , 1
Da die Vp. auch eventuell zu Protokoll zu gehen hatten, ob sie
den Eindruck einer Scheinkörperlichkeit erlebt hatten trotz Un¬
fähigkeit, dieselbe zu beschreiben, werden im folgenden auch die
^-Frequenzen dieser Art Reaktion berücksichtigt. Natürlich
verdienen auch jene Fälle eine besondere Beachtung, bei denen
keine Scheinkörperlichkeit, sondern eine ebene Figur erfaßt
wurde. Ich stelle daher für jede Lage die #-Frequenz für je
eine Art scheinkörperlicher Auffassung zusammen und füge die
#-Beträge für bloße, nicht näher präzisierbare Scheinkörperlich¬
keit (K), sowie für die Auffassung der Figur als einer zweidimen¬
sionalen Gestalt ( l ) hinzu. Man erhält sodann folgende Übersicht:
Figur 1
Figur 3
Expositionszeit = 100 a.
r„ . .
.... = 89,6 X
r u • •
.... = 16,6 X
/.
.. . . = 6,26 %
K = 2,10
l = 2,10 %
Figur 2 '
ln--
\
... . = 79,0 96
K= 0,0 X
l = 4,2 X
Ku ••
.... = 66,6 %
\K,..
.... = 39,6 %
. ... = 16,6 96
K = 6,3 %
l = 10,2 X
Figur 4
K, . .
_= 29,0 %
K — 8,7 %
l =22,9 S
{ r»
Expositionszeit = 60 a.
= 52,0 % | r 0
= 6,26 X
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Über die Motive der Scheinkörperlichkeit bei umkehrbaren Zeichnungen. 387
Daraus geht, wenn man die A -Werte
| T » + h + r o + l'j + + Ko + Ki -f- K r __
die sich für E.-Z. = 100 a und E.-Z. = 50 a ergeben, vergleicht
(sie sind gleich 85,61 % für 100 a neben 61,29 % für 50 o), zu¬
nächst hervor, daß die Herabsetzung der Expositionszeit in
nicht geringem Grade das Erfassen eines scheinkörper¬
lichen Gebildes erschwert. Dies Ergebnis ließe sich ohne
weiteres so deuten, daß man sagt: je weniger Zeit man der
Abwicklung assoziativer und assimilativer Vorgänge läßt,
um so mehr tritt der Schein der Körperlichkeit zurück.
Wir wollen indes diese Deutung nur mit Vorbehalt hier aus¬
gesprochen haben. Daß diese Versuche neuerdings eine Instanz
nicht zugunsten der reinen Fixationshypothese darstellen, liegt auf
der Hand. Hach den Wundtschen Regeln hätte überhaupt keine
Scheiukörperlichkeit angetroffen werden sollen. Sie ist dagegen
reichlichst vertreten trotz der »ungünstigen« Lage der Fixations¬
marke und trotz der Unmöglichkeit von Augenbewegungen. Und
zwar stimmen die Ergebnisse dieser Versuche mit den Ergebnissen
der bereits oben erörterten Einzelversuche völlig überein. Es
herrscht die Tendenz, das unterhalb des Fixationspunktes
sowie das links von ihm Liegende als das Nähere zu er¬
fassen. Ob hier eine bodenständige Auffassung vorliegt, ist
natürlich aus dem, was wir oben gesehen habenj nicht zu ent¬
scheiden, ja vielmehr kaum zu vermuten. Wir haben bereits
gesehen, daß die Auffassung »wie von oben gesehen «, der die hohe
Frequenz von r u , l u , K u entspricht, noch lange nicht äquivalent
ist mit der Auffassung »am Boden haftend, oder bodenständig «. Ist
somit der Hauptsache nach wenigstens das Ergebnis dieser Kol¬
lektivversuche festgestellt, so muß ich noch auf einen ungünstigen
Versuchsumstand hinweisen, von dem es abhängen dürfte, daß
die zweidimensionale Auffassung der exponierten Bilder bei
E.-Z. = 50 o nicht stärker zur Geltung kam, als tatsächlich kon¬
statiert wurde. Die Fieruren wurden, wie wir wiss**«. im ver-
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Vittorio Bennssi,
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gleichem Maße. Daraus folgt aber, daß die subjektive Expositions¬
zeit in den zwei Fällen sich nicht wie 2:1, sondern vielleicht
bloß wie 2 :1,8 o. ä. verhalten haben mußte, was der Intention der
Versuche eben nicht entsprach. Die Weiterführung dieser Ver¬
suche wird daher bei helladaptiertem Auge mit schwach, aber
doch deutlich sichtbaren Projektionsbildern erfolgen, und zwar
stellen sich diese noch nicht abgeschlossenen Versuche, worüber
an anderer Stelle zu berichten sein wird, die Aufgabe, dem hier
im theoretischen Teile vermutungsweise Ausgesprochenen zu einer
positiven oder negativen Entscheidung zu verhelfen. Bevor ich
jedoch zu den theoretischen Erwägungen übergehe, mögen im
folgenden Paragraphen die Ergebnisse der bisherigen Versuche
zusammengestellt werden.
§ 7. Zusammenfassung der Ergebnisse.
A. Die Reaktionszeiten auf Scheinkörperlichkeit.
Gegenüber ein und derselben Figur, die nur ihre Lage in
der Frontalebene wechselt, ist die Zeit (Z), die zur Erreichung
einer scheinkörperlichen Auffassung überhaupt erforder¬
lich ist, keine konstante. Sie beträgt für Lage 3 und 4
gegenüber 1 und 2 mehr als das Zweifache.
Die Wiederholung der Versuche beeinflußt die Größe Z
nicht eindeutig; Z nimmt ungeachtet der Lage durch einige
Versuchsreihen zu, dann ab, dann wieder zu. Es sind also perio¬
dische Veränderungen von Z zu verzeichnen, die von ungefähr
drei zu drei Versuchsreihen ihre Richtung ändern. So liegen zu¬
fällig gerade die Z-Beträge von erster und letzter (10.) Versuchs¬
reihe einander sehr nahe.
Der Wechsel in der Veränderungsrichtung von Z spricht
gegen die (zum mindesten gegeD die ausschließliche) Wirkung
assoziativer und assimilativer Elemente; denn wenn solche
Elemente die für die Entstehung eines Eindruckes von Schein-
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Über die Motive der Scheinkörperlichkeit bei umkehrbaren Zeichnungen. 389
B. Die Daten der Selbstbeobachtung.
Für jedeLage gibt es eine scheinkörperliche Auffassung, die über
die anderen in hohem Maße prävaliert. Für Lage 1 (Figur 1 a usw.)
ist die Auffassung »vertikale Fläche rechts unten näher*, für Lage 2
»links unten näher*, für Lage 3 » obere senkrechte Kante näher*,
für Lage 4 » horizontale rechts liegende Kante näher* bevorzugt.
Da die Aufmerksamkeit während der Erwartung eine auf die
ganze Bildfläche der Absicht nach gleich verteilte war, ist aus
diesem Ergebnis auf eine größere Auffälligkeit der links
sowie unterhalb des Mittelpunktes liegenden Figurenteile
zu schließen, wenn auch mit Vorbehalt.
Bei Lage 1 und 2 sind beim Erreichen einer scheinkörper¬
lichen Auffassung sämtliche Zeichnungslinien sichtbar; sie
werden alle beachtet. Bei Lage 3 und 4 bleiben die für einen
bestimmten scheinkörperlichen Eindruck unwesentlichen
Linien, sobald einer erreicht ist, unbeachtet, man glaubt sie
nicht zu sehen. Wie aus Flächen, und zwar aus undurchsichtigen
erbaut, gcheint der Scheinwürfel nur bei Lage 3 und 4.
Im Laufe der Versuchsreihen tritt zunächst eine Beharrlich¬
keit bestimmter Auffassungsweisen hervor; sie ist unab¬
hängig von den langsam vor sich gehenden Schwankungen
der R.-Z. Weiter stellt sich, namentlich bei Lage 1 und 2, eine
sofortige Umkehrung ein. Es ist dabei zu beachten, daß bei
diesen Lagen alle Linien sichtbar bleiben.
Tritt die Auffassung » rechts unten näher* auf, so erscheint
die nähere Fläche deutlich kleiner als die entferntere.
Dieser gilt jedoch die größere Beachtung: sie haftet
gleichsam an einer senkrechten Ebene, sie ist die Basis,
aus der sich etwas Würfelartiges zum Beschauer her aufbaut.
Die Umkehrung läßt diese Größenverhältnisse unberührt; nur
wird jetzt der Schein erweckt, als würde sich der Würfel aus
der scheinbar näherliegenden größeren und besonders
beachteten Basis vom Beschauer weg aufbauen.
Daraus ist zu entnehmen, daß das Beachtetere größer er-
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390
Vittorio Bennsai,
Das nämliche gilt für Lage 2. Die beharrende erste Auf-
fassnngsweise ist hier *links unten näher und größer c. Die
scheinbar nähere Fläche wird als Basis erfaßt. Tritt die Um-
kehrung ein, so ist diese Fläche noch immer die Basis, nnr
liegt sie jetzt in der Tiefe und haftet somit an einer entfern¬
teren vertikalen Ebene. Der Scheinwürfel erstreckt sich ans
ihr heraus dem Beschauer zu; die als näher erfaßte Fläche
ist die scheinbar kleinere.
Dieses Haften an einer Vertikalebene verbietet uns, aus Aus¬
sagen wie »von oben gesehen « oder »von unten gesehen• auf eine
bodenständige oder nicht bodenständige Auffassang zu schließen.
Lage 3 ergibt: zuerst Eindruck der Unordnung, dann Auffas¬
sung einer linearen Teilgestalt, dann Erreichung einer Schein¬
körperlichkeit, die relativ beharrlich ist. Dieses Erfassen einer
zweidimensionalen Gestalt scheint die Verbindung zwischen Sehen
der Zeichnungslinien und Erreichung einer Scheinkörperlichkeit
herzustellen. Ebenso Lage 4.
C. Wirkung der Expositionszeit.
Kollektivversuche haben gezeigt, daß die Herabsetzung der
Expositionszeit die Erreichung einer Scheinkörperlichkeit hemmt.
Ob diese Tatsache darauf zurückzuführen ist, daß den assimi-
lativen und reproduktiven Faktoren weniger Zeit zur Entwicklung
gelassen wird, oder ob nicht vielmehr durch die kürzere Expositions¬
zeit die Auffassung einer passenden zweidimensionalen Gestalt als
Übergang vom Sehen der Linien zum Erleben einer Scheinkörper¬
lichkeit erschwert wird, wird sich aus den Ausführungen des
nächsten Abschnitts m. E. von selbst ergehen.
§ 8. Zur Theorie.
Der rascheren Verständigung wegen präzisiere ich hier als
Vorstellungserlebnis jenen Teil oder jene Seite eines gegebenen
komplizierteren Augenblickszustandes, der uns die Ergreifung
oder Vergegenwärtigung eines Gegenstandes oder Objektes
in voller sinnlicher Frische und Anschaulichkeit ermög-
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Über die Motive der Scheinkörperlichkeit bei amkehrbaren Zeichnungen. 391
d. h. ihrer Entstehnngsart *) gestatten. Die Antwort lautet »ja«;
der Einteilungsgesichtspunkt ist durch das Verhältnis dieser Vor¬
stellungserlebnisse zu äußeren Reizen gegeben, wie wenig auch das
mittels Vorstellungen in sinnlicher Anschauung Vorgehaltene oder
Vergegenwärtigte selbst ein Reiz oder ein Reizkomplex ist.
Es gibt Vorstellungen, die in ihrem Auftreten restlos an den
Reiz gebunden sind; so sämtliche Sinnes Vorstellungen oder, nach
herkömmlichem Sprachgebrauch, Empfindungen. Die sinnliche, an¬
schauliche Vergegenwärtigung eines Tones oder einer Farbe kann
nicht in eine andere tibergeleitet werden, ohne daß auch
an der Reizlage sich etwas änderte; ebensowenig kann
ein eben angeschautes Grau eine Schein färbe aufweisen, ohne
daß sich die Farbe seiner Umgebung, mithin die Reizlage, ge¬
ändert hätte. Diesen durchaus reizgebundenen Vorstellungen
stehen solche gegenüber, die so vollständig als reizunabhängig
zu bezeichnen sind, daß ihnen kein nachweisbarer äußerer
1) Auch in allerletzter Zeit (vgl. A. Gelb, Theoretisches über »Gestaltquali¬
täten«. Zeitschrift für Psychol. I. Bd. 58 [Nov. 1910]. S. 1—66) wurde gegen
eine Charakteristik der Vorstellung durch die Art ihrer Entstehung Stellung
genommen, und zwar mit dem Hinweis darauf, daß sich die »deskriptive«
Psychologie nicht damit zu befassen habe, diese andererseits die Vorstellungen
der drei oben zu bestimmenden Gruppen als gleichgeartet betrachten muß,
da dieselben als Vorstellungen (Gelb sagt Wahrnehmungen) schlecht¬
weg in unB vorgefunden werden. Die deskriptive Psychologie, heißt es
a. a. 0., verläßt nicht den psychologischen Boden, sie kümmert sich nicht
um die Beize. Ich kann aber absolut nicht einsehen, weshalb auch die
deskriptive Erforschung psychischer Dinge nur im engsten Sinne »deskriptiv«
sein darf und weshalb sie von einer relativ genetischen Beschreibung, wenn
sie sich zur Bereicherung unseres psychologischen Wissens als nützlich erweist,
Abstand nehmen müßte. Ich konnte übrigens an anderer Stelle fünf Kri¬
terien aufstellen, und zwar auf Grund experimenteller Befunde, aus welchen
wohl klar genug hervorgeht, daß die Vorstellung einer Gestalt gegenüber
der einer Farbe oder eines Tones und anderen Empfindungen etwas Eigen¬
artiges aufweist, was sich freilich nicht aus der Betrachtung der fertigen
Vorstellung entnehmen läßt, wohl aber aus der Art ihrer Entstehung,
ihres Verhaltens bei Wiederholungen usw. ergibt. Die hier ins
Auge gefaßten Untersuchungen (»Über Gestalterfassen« und »Die ver¬
schobene Schachbrettfigur« in »Untersuchungen zur Gegenstandsth. u. Psych.«,
herausgeg. von A. Meinong, Nr. V und VI [1904], namentlich S. 381—403,
sowie »Experimentelles Uber Vorstellungsinadäquatheit, I und II« in Zeit-
a/iRnft Ai. T>-L n j in Ci nn er_ j v> j A r CI 1 QQ OOA >_x1! _ i
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392
Vittorio Benuasi,
d iapiap
B
Reiz zngeordnet erscheint. Die Vergegenwärtigung des Tones c
und die des Tones g sind zwei reizgebundene Vorstellungen; die
des Intervalles oder Melodieschrittes »Quinte« ist eine rein
reizfreie, sie ist eine außersinnliche Vorstellung, insofern durch
den Mangel eines Reizes auch die Beteiligung eines Sinnes¬
organes ausgeschlossen ist. Das bloße Beisammensein der Reize
oder deren Folge ändert an der Reizfreiheit nichts, denn die
Einstellung einer Intervall¬
vorstellung kann trotz der
Aktualisierung einer c- und
einer ^-Vorstellung aus-
bleiben, und zwar selbst dann,
wenn sowohl c als g beachtet wer¬
den. Dasselbe gilt für sämtliche
Raumgestalt Vorstellungen.
Auch sie sind völlig reizunab¬
hängig, trotz Beachtung aller
Momente, die durch die Reizlage
restlos bedingt werden. Vergegen¬
wärtigt man sich, oder m. a. W.,
schaut man sich den in Figur 9 A
gegebenen Komplex aus dunklen
Strichen an, so wird man wohl
zugeben müssen, daß man auch
den Hintergrund dieser Ge¬
stalt sieht und beachtet;
dessen Gestalt aber bleibt
dennoch unerfaßt. Wäre
hingegen die Vorstellung der
Gestalt des Hintergrundes
eine reizgebundene, dann
müßte sie auftreten, so¬
bald man den Hintergrund anschaulich erfaßt, sobald
ainVi dan ßi-nnd uo r (ro (re uni ö rf i rr + Hiofl ist ahor ni 0V1 f
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Über die Motive der Scheinkörperlichkeit bei umkehrbaren Zeichnungen. 393
ohne Unterbrechung durch einen dunklen Hintergrund
schlängelt. Diese zweifache Art der Auffassung wäre nicht
möglich, wenn die Vorsteilongen der Gestalten ihrer Natur nach
gleich jenen von Farben wären. Wie schwer es mitunter fallen kann,
die Vorstellung einer Raumgestalt zu gewinnen, zeigt Figur 9B.
Man versuche zwischen den Kreuzhaken jene Gestalt zu erfassen,
die bei C durch Äußerlichkeiten der Auffassung näher gebracht ist.
Ich glaube, daß für den Augenblick der Hinweis auf solche Figuren
genügt, um die in Rede stehende Sachlage zu verdeutlichen. Ganz
ähnliches wie in Figur 9 B ist etwa durch einen polyphonen Satz ge¬
geben. Beachtet und gehört können und werden da mitunter sämtliche
vorliegende Töne; unbeachtet und unvorgestellt können aber trotzdem
so gut wie sämtliche Stimmen bleiben, und zwar eben deshalb, weil
deren Vorstellungen reizfrei sind undin ihrer Entstehung nicht durch
den Reiz ebenso bestimmt werden wie die Vorstellungen der Töne Ü-
Zwischen diesen zwei Extremen, den reizfreien und reizge¬
bundenen Vorstellungen, gibt es noch eine dritte Gruppe von Vor¬
stellungen, die sich dadurch auszeichnet, daß bei ihr nur zum Teil jene
Reizlage realisiert ist, die zum Entstehen gegebener Vorstellungen
erforderlich erscheint; in diese Gruppe gehören die Vorstellungen von
Scheinkörpern und mit ihnen auch die Vorstellungen von
Scheinhewegungen. Das, was in beiden Fällen vergegenwärtigt
wird, ist mehr als das, was reizbegründet geboten wird, und
weist eine ganz eigenartige neue gegenständliche Seite auf.
Statt einer Sukzession von verschiedenen Lagen eines Gegen-
1) A. Gelb glaubt (a. a. 0. S. 48, 51 u. p.) auf Grund der Erfahrung ge¬
zwungen zu sein, das Vorhandensein von Gestalten als eigenartigen Gegen¬
ständen (Erscheinungen) in Abrede zu stellen. So ist auch für ihn etwa ein
Intervall weiter nichts als eine Folge zweier Töne nebst deren Tonhöhen¬
beziehung. Dementsprechend ist auch die Vorstellung eines Intervalles lediglich
die Vorstellung der Töne, vermehrt um die Vorstellung der zwischen ihnen
liegenden Verhältnisse. Daß nun jemand, der eine Melodie erfaßt, nur Töne
und Beziehungen zwischen Tönen erfassen soll, ist für mich und sicher nicht
für mich allein wohl alles eher als erfahrungsgemäß. Freilich liegen den
Intervallen Beziehungen zugrunde, und zwar Verschiedenheiten der Tonhöhe,
es werden aber wohl nicht diese vergegenwärtigt und etwa schön gefunden,
wenn man eine wohlklingende Melodie erfaßt. Ebensowenig werden in
ivnm D > _ _ V. o'n«\l/\l Q\ «h _ «-1 T a MAnA«k o 1 l'an /1 ßl mtAM«
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394
Vittorio Benussi,
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Standes wird im Falle einer Scheinbewegung eben die Bewegung
des gezeigten Gegenstandes vergegenwärtigt; statt einer zwei¬
dimensionalen Gestalt, vielmehr einer reizbegründeten Mannigfaltig¬
keit heller und dunkler Flächen, wird im Falle der Scheinkörperlich¬
keit eben diese erfaßt, bzw. in sinnlicher Anschauung vergegen¬
wärtigt. Es scheint außer Zweifel zu stehen, daß reproduktive Mo¬
mente aus früheren Erlebnissen an derartigen Auffassungsweisen be¬
teiligt sind, nur ein Punkt bleibt dabei unklar; er läßt die Frage
formulieren, wodurch eigentlich (wir betrachten hier nur die Schein¬
körperlichkeit) eine Verbindung hergestellt wird zwischen
dem sinnlich vermittelten, sinnesvorstellungsmäßig ver¬
gegenwärtigten Material an Helligkeits-und Dunkelheits¬
momenten (bzw. Gegenständen) und der erreichten Vergegen¬
wärtigung der Scheinkörperlichkeit. Da eine solche Ver¬
bindung nur zwischen inneren Erlebnissen stattfinden kann, so läßt
sich die Frage besser wie folgt aufwerfen: Einerseits liegen Sinnes¬
vorstellungen, und zwar reizgebundene vor, andererseits eine
durchaus den Charakter der reizfreien Vorstellungen aufweisende
Vergegenwärtigung eines durch die vorliegende Reizlage keineswegs
bestimmten Gegenstandes; was vermittelt den Übergang von
jenen Sinnesdaten zu dieser (Scheinkörperlichkeits-)Ver-
gegenwärtigung? Der Hinweis auf reproduktive (assimila-
tive) Ergänzung von Sinnesdaten kann keine Klärung mit sich
führen, denn es würde sich dann fragen: Warum ergänzt sich
eine Mannigfaltigkeit von Sinnesdaten zu einer Schein¬
körperlichkeitsvorstellung und nicht zu einer Vorstellung
eines der Scheinkörperlichkeit gegenüber qualitativ ver¬
schiedenen Gegenstandes, der ebenso wie jene auf Hellig¬
keitseindrücke zurückzuführen wäre? Es muß also etwas im
Spiele sein, was die assoziative Ergänzung leitet und bestimmt 1 ).
Dieses Etwas haben wir bei Besprechung der Daten der Selbst¬
beobachtung bereits, wenn auch ohne jedes nähere Eingehen auf
dieselben, kennen gelernt 3 ). Es ist dies das Erfassen einer
1) Vgl. hierzu auch meine Arbeit Ȇber Aufmerksamkeitsrichtung beim
Raum- und Zeitvergleich« in Zeitschrift für Psycbol., Bd. 62, S. 73 ff.
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Über die Motive der Scheinkörperlichkeit bei umkehrbaren Zeichnungen. 395
zunächst zweidimensionalen Gestalt; erst von dieser ans ist
eine Ergänzung durch reproduktive Momente faßbar, denn diese
Gestalt wird in der Erfahrung von Körpervergegenwärtigung mit¬
erfaßt, sie ist mit dem »Sehen« von Körpern assoziativ ver¬
knüpft und vermag nun, wenn sie u. U. in uns hervorgebracht
wird, unter denen kein »Körper« uns in Wirklichkeit gegenüber-
stebt, der Vergegenwärtigung eines Scheinkörpers zur allerdenkbar¬
sten Frische zu verhelfen. Unsere Position ist also folgende: das ge¬
gebene Material an Sinneseindrücken oder -Vorstellungen
steht ohne jede Beziehung zu der ohne eigenen äußeren
Reiz entstehenden Vorstellung einer Scheinkörper¬
lichkeit; die Vermittlung oder die Verbindung zwischen
dem reizgemäß Gebotenen und der erreichten Vor¬
stellung eines Scheinkörpers wird dadurch hergestellt,
daß das Sinnesmaterial innerlich so verarbeitet oder ge¬
ordnet wird, daß eine Gestalt vergegenwärtigt wird, die
sonst beim Sehen von Körpern gleichfalls erfaßt wird;
zwischen dieser und dem Eindrücke oder der Vergegen¬
wärtigung eines Körpers ist eine assoziative Verknüpfung
vorhanden, daher vermag auch die Hervorbringung jener
Gestaltvorstellung eine Ergänzung durch Reproduktion zu
aktualisieren. Der Schein eines Körpers wird durch assoziative
Momente bedingt, vielleicht sogar nur durch solche, diese selbst
halb wir (etwa bei einer Würfelzeichnung von der Art, wie sie auch meiner
gegenwärtigen Arbeit zugrunde liegt) nicht die ebene lineare Gestalt er¬
fassen, die durch sämtliche Striche gegeben ist, sondern den Eindruck des
Körperlichen erleben. Er meint, die assoziativen Vorgänge, die auch nach
seiner Meinung einen solchen Eindruck ermöglichen, seien geläufiger und
leichter anzuregen als jene, die zum Erfassen einer ebenen Gestalt führen
würden. (Derartige Vorgänge scheinen also nach Beiner Auffassung beim
Entstehen einer Scheinkörperlicbkeitsvorstellung unbeteiligt zu sein.) Er¬
schwert man, etwa durch Farbengebung (S. 380), die Entwicklung von assozia¬
tiven Ergänzungen, dann läßt sich die ebene Gestalt erfassen. Ich muß zu
dieser Position bemerken, daß durch Farbengebung hauptsächlich deswegen
eine Scheinkörperlichkeit ferngehalten wird, weil dadurch das Erfassen von
solchen Gestalten erleichtert wird, die beim Erfassen von Körpern nicht mit-
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396 V. Bennssi, Über d. Motive der Scheinkörperlichkeit bei nmkehrb. Zeichn.
aber können nur durch dieVorstellung einer zweidimensio-
nalen Gestalt, die alsBindeglied zwischen Sinnesdaten und
Scheinkörperlichkeitsvorstellung fungiert, erweckt werden.
Das Erfassen einer solchen Gestaltvorstellnng ist übbar, die
Folge dieser Übung ist die sich im Laufe derVersuche einstellende
Beharrlichkeit für eine bestimmte Auffassungsart.
Die Lage der Figur kommt insofern in Betracht, als sie das Er¬
fassen einer solchen »vermittelnden« Gestaltvorstellung erleichtert
oder erschwert, und zwar einer Gestaltvorstellung, die beim Er¬
fassen wirklicher Körper auch wirklich aktualisiert war. Sieht man
sich unsere Lagen 3 und 4 an, namentlich aber 3, so wird man
merken, daß man hier leicht allerlei zweidimensionale Gestal¬
ten erfaßt, die bei der echten »Körpererfahrung« nicht
anzutreffen sind. Erst wenn unter solchen erschwerenden
Umständen eine passende zur Auffassung gelangt, inte¬
griert sich das Ganze zum Schein eines Körpers. Diese
ungünstigen Umstände bedingen natürlich eine längere Dauer der
Zeit, die das Sehen des reizgebundenen Materials von der Erreichung
einer Scheinkörper-Vergegenwärtigung trennt. Gestaltvorstellungen
sind flüchtig, darauf geht das Spiel der Umkehrung zurück.
Es tritt an Stelle der ersten assimilativ wirksamen Gestaltvorstellung
eine zweite, die einen anderen körperlichen Schein mit sich führt.
Wodurch die hier provisorisch und daher sehr kurz dargestellte
Auffassung zu kontrollieren ist, wird in einer später folgenden
Abhandlung zu zeigen versucht werden, bei der der Eintritt der
Scheinkörperlichkeit in Beziehung gesetzt wird zur relativen
Auffälligkeit der einzelnen Teile der exponierten Zeich¬
nung. Die Resultate der obigen Versuche berechtigen zur Vermutung,
daß hier die Scheinkörperlichkeit auf eine größere Auffälligkeit jener
Zeichnungsteile zurückzuführen ist, die unterhalb sowie links
vom Figurenmittelpunkt liegen. Liegt das auslösende Moment
für den Eintritt einer Scheinkörperlichkeit im Erfassen
einer bestimmten, assoziativ wirksamen zweidimensio¬
nalen Gestalt, so ist ohne weiteres klar, daß die relative Lo¬
kalisation in die Tiefe ganz unabhängig von der Richtung
_ xD_ t> _ Li __: _ i - 3 - j; _ %r _ t.
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Experimentelle Analyse psychischer Vorgänge
beim Schießen mit der Handfeuerwaffe.
Ein Versuch.
Von
Hauptmann Meyer (Leipzig).
Mit 7 Figuren im Text
Die Beschäftigung mit der experimentellen Psychologie und
Pädagogik hat mich zu der Überzeugung gebracht, daß diese
Wissenschaften für die weitere Vervollkommnung des Wehrwesens
— dieses so wichtigen Gliedes unserer Volkserziehung — künftig
von großem Wert sein können.
Zu untersuchen, nach welchen Gesichtspunkten dies vielleicht
möglich ist, muß späteren Studien Vorbehalten bleiben. Denn da
wir bisher weder unter den aktiven Militärs Fachpsychologen
haben (wenn auch geborene Psychologen zahlreich unter ihnen
vorhanden sind) noch umgekehrt die Fachpsychologen Fragen des
praktischen Heeresdienstes näher getreten sind, würden allge¬
mein gehaltene Betrachtungen Uber die Anwendbarkeit der mo¬
dernen Psychologie auf den Dienst im Heere kaum viel Interesse
erwecken. Es wird besser sein, induktiv zu verfahren, zunächst
Einzelfälle dieser Anwendbarkeit ausfindig zu machen und aus
solchen Einzelfällen ein Allgemeines zu bauen.
Zum Studium so manches dieser Einzelfälle bedarf es des
Experiments oder der statistischen Feststellung. Beides
erfordert Zeit und Geld. Die fehlen mir. Ich kann deshalb nur
Anregungen zu geben suchen und hoffen, daß sie dort bereitwilliges
Entgegenkommen finden, wo die Vorbedingungen zur Verfolgung
meiner Ideen gegeben sind.
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Meyer,
nicht nur theoretisch vorschreibt, sondern auch tatsächlich durch¬
fährt, ist das Feld für psychologische Beobachtungen sicher gut
bereitet.
Unter allem nun, was dem Soldaten während seiner Aus¬
bildungszeit gelehrt wird, ist das Schießen vielleicht mit am
ergiebigsten für experimentell-psychologische Studien. Allerdings
sind die psychischen Vorgänge bei der Abgabe eines Schusses sehr
komplizierter Natur, und es wird viel darauf ankommen, ob es
gelingt, einzelnes aus solchen Komplexen zum Zwecke der Be¬
obachtung zu isolieren.
Zunächst ist es nötig, für diejenigen Leser, denen nicht vom
praktischen Militärdienst her der Vorgang in der Waffe beim
Lösen des Schusses bekannt ist, hierüber die nötigsten Angaben
zu machen, wobei Einzelheiten der Waffenkonstruktion nur inso¬
weit erwähnt werden sollen, als unbedingt geboten ist.
Die Abzugsvorrichtung unseres Infanteriegewehrs (Figur 1)
trägt in der Abzugsgabel, deren eine Seite man auf der Zeichnung
sieht(schraffiert),den
um den Stift a dreh¬
baren Abzug, wäh¬
rend die Gabel selbst
umdenfeststehen-
den Stift b drehbar
ist. Hinten trägt die
Gabel den aus einem
Stück mit ihr ge¬
arbeiteten A b z u g s-
Stollen, dessen Ge¬
stalt die Figur er¬
sehen läßt, vorn ist
eine senkrecht ste¬
hende Spiralfeder in
Fig. 1. Abxugsvorrichtung und Ruhelage. sie eingelagert.
Vermittels des
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Expertin. Analyse psych. Vorgänge beim Schießen mit der Handfeuerwaffe. 399
Spiralfeder bewirkt, daß ständig der vordere Teil der Gabel nach
unten, der hintere Teil mit dem Abzngsstollen nach oben gedrückt
wird. Dabei greift der Abzugsstollen durch eine Öffnung im
Metall der Hülse in diese hinein (in Figur 2 punktiert), und der
obere Teil des Abzugs liegt mit seiner vorderen Drucknase
(Figur 1, 2) am Metall der Hülse an.
Beim Spannen des Gewehrs legt sich ein Teil des oben
erwähnten Schlosses hinter den Abzugsstollen (Figur 2 bei N).
Eine besondere Feder bewirkt,
daß dieser Teil ständig sehr
stark nach vorn gedrückt wird.
Zieht man den um den
Stift a in der Abzugsgabel
drehbaren Abzug zurück, so
wird eine Drehung der ganzen
Abzugs Vorrichtung um den
feststehenden Stift b einge¬
leitet. Die vordere Drucknase
senkt sich, die hintere hebt
sich, bis sie das Metall der
Hülse berührt (Figur 2). In
diesem Augenblick »hat man
Druckpunkt«. Zieht man nun den Abzug noch weiter zurück,
so senkt sich der hintere Teil der Gabel und damit der Abzugs¬
stollen schließlich so weit, daß der festgehaltene Teil des Schlosses
infolge des auf ihn nach vorn wirkenden Druckes darüber hinweg¬
gleiten kann. Damit wird die Patrone zur Entzündung ge¬
bracht.
Wie wir sehen werden, und wie der gediente Soldat, wie über¬
haupt jeder Schütze weiß, ist die Art des Abziehens für das
Treffresultat von großer Bedeutung. Es bedarf nun noch einer
allgemeinen Erläuterung des Begriffes »Zielen«, und der An¬
forderungen, die dabei gestellt werden 1 ).
Beim Zielen wird dem Gewehr eine solche Höhen- und Seiten¬
richtung gegeben, daß die Visierlinie auf den Haltepunkt gerichtet
Fig. 2. Abzugsvorrichtung.
Druckpunkt genommen.
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400
Meyer,
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Fig. 3. Visier.
ist. Die Visierlmie ist die gerade Linie zwischen Visier und Korn.
Die Gestalt des Visiers zeigt Figur 3. ab heißt der »Visierkamm«,
der dreieckige Einschnitt die »Kimme«. Das
Korn ist spitz. Beim richtigen Zielen soll die
Kornspitze derart in der Visierkimme zu sehen
sein, daß sie mit dem wagerecht stehenden
Visierkamm in gleicher Höhe und in dessen
Mitte steht (Figur 4). Auf diese Art des Zielens
sind unsere Gewehre eingeschossen. Nimmt
man das Korn höher in die Kimme (Vollkorn),
oder tiefer (Feinkorn), oder nicht genau in die
Mitte (Kornklemmen), oder verdreht man das Ge¬
wehr, so verschlechtern sich die Trefferresultate.
Ich gehe nunmehr dazu über, eine Reihe von Bestimmungen
der deutschen Schießvorschrift für die Infanterie vom Oktober 1909
zusammenzustellen, deren Kenntnis für die nachfolgenden Aus¬
führungen Voraussetzung ist. Die Zahlen bezeichnen die Punkte
der Vorschrift.
Zielen.
44. Mit dem Unterricht im Zielen wird der Mann Uber das Um¬
fassen des Kolbenhalses zunächst am festliegenden Gewehr belehrt.
Der Kolbenhals wird mit der rechten Hand so weit vorn umfaßt, daß
der Zeigefinger auf die innere untere Seite des Abzugsbügels zu liegen
kommt und später beim AbkrUmmen mit der Wurzel des ersten Gliedes
oder mit dem zweiten Gliede den Abzug berühren kann. Die übrigen
Finger umfassen den Kolbenhals gleichmäßig fest und möglichst so, daß
der Daumen dicht neben dem vorderen Gliede des Mittelfingers liegt.
Der Handteller paßt sich bis zur Handwurzel dem Kolbenhals an.
AbkrUmmen.
45. Demnächst wird zum Abkrümmen Ubergegangen.
Die Art des Zurückführens des Abzuges bis zur Schußabgabe (Ab¬
krümmen) hat einen großen Einfluß auf das Treffen und muß deshalb
eingehend besprochen und geübt werden.
Das Abkrümmen wird ebenfalls zuerst am festliegenden Gewehr vor¬
genommen. Der Zeigefinger nimmt mit der Wurzel des ersten Gliedes
oder mit dem zweiten Gliede Fühlung am Abzug und führt ihn durch
Krümmen der beiden vorderen Glieder in einem Zuge so weit zurück,
bis «in Widerstand versniirt wird. d. h. man nimmt Drnr.knnnkt: dann
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Experim. Analyse psych. Vorgänge beim Schießen mit der Handfeuerwaffe. 401
Nach dem Vorschnellen des Schlagbolzens wird der Zeigefinger noch
einen Augenblick am völlig zurückgezogenen Abzüge behalten und dann
langsam gestreckt.
46. Es empfiehlt sich, daß der Lehrer durch Auflegen des eigenen
Fingers auf den des Mannes diesem die richtige Art des AbkrUmmens
veranschaulicht und dann umgekehrt den eigenen Zeigefinger durch den
des Schülers mit dem Abzüge zurückführen läßt.
Zielen und Abkrümmen.
47. Hat der Rekrut im Zielen und Abkrümmen Sicherheit er¬
langt, so wird beides miteinander verbunden, und zwar zunächst im An¬
schlag am Tisch sitzend.
Vom Einziehen des Gewehrs bis zur Schußabgabe wird der Atem
angehalten.
Beim Einziehen wird die Visierlinie sogleich auf den Haltepunkt
gerichtet, dann das linke Auge geschlossen, Druckpunkt genommen und
sofort unter Festhaltung oder Berichtigung des Haltepunktes gleichmäßig
abgekrümmt.
Selbst wenn die Visierlinie etwas schwankt, darf das gleichmäßige
Abkrümmen nicht unterbrochen werden. Bei erheblicher Abweichung
setzt der Schütze ab; ebenso wenn er glaubt das gleichmäßige Ab¬
krümmen nicht bis zur Schußabgabe durchführen zu können.
Das AbBetzen darf jedoch nicht zur Gewohnheit werden. Der Schütze
muß von Anfang an mit Nachdruck angehalten werden, entschlossen und
ohne Scheu abzukrümmen.
48. Nach Abgabe des Schusses verbleibt der Schütze im Anschlag
und gibt den Punkt an, auf den die Visierlinie im Augenblick der Schu߬
abgabe gerichtet war. Fehlern, die in Unruhe, Unsicherheit und Feuer-
scheu ihren Grund haben, wird hierdurch am besten vorgebeugt.
Das Absetzen erfolgt mit Ruhe; der Schütze öffnet das linke Auge,
streckt den rechten Zeigefinger und setzt unter Erheben des Kopfes ab,
die linke Hand verbleibt am Kolben.
49. Alle Ausführungen des Schützen in den verschiedenen Tätig¬
keiten müssen auf das genaueste überwacht werden. Stellung, Haltung,
Lage des Gewehrs, Druckpunktnehmen, Abkrümmen usw. kann der
Lehrer am besten beobachten, wenn er links vorwärts des Schützen steht.
Nach Abgabe des Schusses bespricht er die etwa begangenen Fehler
und gibt die Hilfen zu ihrer Vermeidung an.
50. Dem richtigen Melden des Abkommens ist hoher Wert bei¬
zulegen. Hat der Mann sein Abkommen nicht mit Sicherheit erkannt,
so ist er mit Emst und Geduld anzuhalten, dies z. B. durch die Meldung
»unsicher abgekommen« wirklich anzugeben. Nur die in diesem Sinne
unermüdlich belehrende Ausbildung gewährleistet eine fortschreitende
Verbesserung der Schießfertigkeit.
51. Bei Anwendung von Zielmunition und Bcharfen Patronen pflegen
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in Erwartung des Knalles und Rückstoßes den Kopf nach vorn, schließt
das rechte Auge, bringt die rechte Schulter vor usw., so »muckt« er.
In beiden Fällen kann von einer sicheren Abgabe des Schusses
nicht die Rede sein.
Die Fehler des Reißens und Muckens treten meist erst dann deut¬
lich hervor, wenn wider Erwarten der Schuß versagt Um dem Manne
seinen Fehler zum Bewußtsein zu bringen, empfiehlt es sich, ihm zeit¬
weise ein mit Exerzierpatronen geladenes Gewehr zuzureichen.
Anschlagsarten.
52. Bei allen Arten des Anschlags bleibt der Blick auf das Ziel
gerichtet; der Körper wird fest, aber frei und ungezwungen gehalten und
das Gewehr kräftig in die Schulter gezogen, nicht aber die Schulter vor¬
gebracht oder gar gehoben. Während des Hebens und Einziehens des
Gewehrs wird leicht ein- und ausgeatmet und hierauf bis zur Schu߬
abgabe der Atem angehalten.
Jede unnatürliche Körperverdrehung und jeder übermäßige Kraft¬
aufwand stört die ruhige Lage des Gewehrs oder erschwert dem Auge
das Zielen. Auch schlecht angepaßte Bekleidungs- und Ausrüstungs¬
stücke behindern den freien Gebrauch der Waffe.
55. Zum Anschlag stehend freihändig wendet sich der Schütze
unter Anheben des Gewehrs auf dem Ballen des linken Fußes halbrechts,
setzt den rechten Fuß in der neu gewonnenen Linie etwa einen halben
Schritt nach rechts und stellt das Gewehr, Abzugsbügel nach vorn, an
die innere Seite des rechten Fußes.
Die Knie sind leicht durchgedrückt.
Hüften und Schultern machen die gleiche Wendung wie die Füße.
Das Gewicht des Körpers ruht gleichmäßig auf Hacken und Ballen
beider Füße.
Das Gewehr wird beim Anschlag kniend an die rechte Brustseite
gebracht, demnächst mit beiden Händen auf den Haltepunkt gerichtet
und vornehmlich durch die rechte Hand fest in die Schulter gezogen.
Der rechte Ellenbogen wird bis etwa Schulterhöhe gehoben.
Der Kopf, mäßig nach vorn geneigt, liegt ganz leicht am Kolben,
die Halsmuskeln sind nicht angespannt.
Von all den vielen Tätigkeiten sind es vor allem das AbkrUmmen,
das Zielen und das Anhalten des Atems, die gemeinsam psychisch
ganz erheblich auf den noch wenig gefestigten Schutzen wirken
und bei ehrgeizigen, nervösen und ängstlichen Leuten die in
Punkt 51 geschilderten Fehler des Reißens und Muckens ver¬
schulden.
Es seien jetzt einige physiologische und psychische Zustände,
bzw. Vorgänge, beschrieben, die ich an mir selbst beim Schießen
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Eixpenm.Analyse psycn. vorgange oeim »erneuen mit aer nanaieaerwane. qfjö
andere. Die Beobachtangen tragen natürlich den Stempel des
Unvollkommenen, denn die Vorbedingungen exakter Experimente
haben gefehlt. Immerhin sind die Angaben für den Anfang viel¬
leicht von einigem Wert.
Ich habe, im Begriff einen Schaß abzageben, stets eine er¬
hebliche Veränderung meines körperlichen Zustandes verspürt.
Als ich noch ein Anfänger war, äußerte sich das in notorischer
Aufregung, und sogar das »Mucken« ist mir vorgekommen. Doch
das ist überwunden, und selbst nach jahrelanger Unterbrechung
schieße ich jetzt vollkommen sicher.
Jene Veränderung des körperlichen Zustandes äußert sich etwa
wie folgt. Beim Heben der Waffe zur Fertigstellung (Kolben an
der Hüfte, Mündung in Augenhöhe) habe ich ein Gefühl der
Spannung und Erregung in den Finger- und Handgelenken, in
den Muskeln des Unterarms, im Ellbogengelenk und ein wenig in
den Oberarmen nach dem Schultergelenk zu. Beide Arme werden
ungefähr in gleicher Weise von diesem Gefühl betroffen. Weiter
zeigt Bich dieses in den Waden, ein wenig im Unterleib und am
Hinterkopf. Von hier glaube ich einen Zusammenhang dieses
Gefühls mit dem in den Armen konstatieren zu können, und zwar
nicht erst beim Abziehen (siehe unten), sondern schon vorher, ehe
ich noch das Gewehr an die Schulter bringe.
Beim Einziehen des Gewehrs in die Schulter, wobei eine er¬
hebliche Anstrengung aller Muskeln des rechten Armes stattfindet,
gewinnt die Spannung im rechten Arm einen ganz anderen Cha¬
rakter; ich habe dann das Bewußtsein, diesen Arm entschieden
zn beherrschen, während der linke, der das Vordergewicht des
Gewehrs tragen muß, eine schnell wachsende Spannung und Er¬
müdung zeigt. Das Gefühl in den Waden hält jetzt noch an, das¬
jenige im Unterleib scheint nachzulassen, ebenso das im Hinter¬
kopf, sobald zum Zwecke des Zielens der Kopf nach vorn geneigt
wird.
Die nun folgenden Tätigkeiten, Zielen, Abkrümmen, Anhalt^xx
des Atems, strengen den Organismus stark an. Im 20. LebensjaYvn
konnte ich länger zielen als jetzt, ohne daß mir das Bild
Auge verschwamm. Heute, als 40jähriger, muß ich schnell
dem Schuß fertig* werden, sonst wird das Rild undeutlich Uu^i
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Meyer,
des za erwartenden Flimmerns schnell mit dem Schnß fertig
werden zu müssen, ist die Veranlassung, daß ich kräftig Druck¬
punkt nehme und kräftig, also schnell abkrümme (siehe oben
Punkt 47, Abs. 4 der Schießvorschrift!). Da in dieser kurzen
Zeit die Ermüdung nicht so stark auftritt, wie bei längerer Dauer
der Schußabgabe, der linke Arm demnach sicherer die Waffe in
der gewünschten Richtung halten kann, ist das Resultat besser,
als es voraussichtlich bei längerem Zielen sein würde. Tatsäch¬
lich schieße ich auch jetzt weit besser und sicherer, als ich vor
20 Jahren mit besseren Augen schoß.
Die Ausführung der einzelnen Tätigkeiten gelingt nun bei
weitem nicht immer so, wie es zu einer sicheren Schußabgabe er¬
wünscht ist. Manchmal glückt es nicht, den Zielpunkt sofort
scharf zu erfassen, manchmal, besonders wenn man die betreffende
Waffe noch nicht kennt 1 ), nimmt man zu zaghaft Druckpunkt.
Dann dauert alles zu lange. Der Anfänger wird angewiesen, in
solchen Fällen abzusetzen und von vorn anzufangen. Das darf
aber nicht zur Gewohnheit werden, im Gegenteil soll im weiteren
Verlauf der Ausbildung der Schütze in allen Tätigkeiten immer
sicherer werden und körperliche wie psychische Indispositionen
durch Willenskraft zu überwinden lernen. So habe ich mich auch
selbst zu erziehen gesucht, habe mich gezwungen, auch dann den
Schuß zur Lösung zu bringen, wenn mir die oder jene Einzel¬
tätigkeit nicht ganz nach Wunsch gelang, sobald überhaupt ein
brauchbares Resultat zu erwarten war. Dabei habe ich ebenfalls
Beobachtungen gemacht, die möglicherweise für den Psychologen
Wert haben können.
Wie schon erwähnt, verschwamm mir das Bild von Visier,
Korn und Ziel bei zu langem Zielen. Die Umrisse des Spiegels
(Figur 5) 2 ) wurden undeutlich, die 12 verschwand fast völlig,
Visier und Korn verloren ihr scharf abgegrenztes Bild. Das ge¬
schah nicht etwa nur bei Hitze und flimmernder Luft oder infolge
Btartor P.rliitinno 1 Hör Waffe naoVi Ion (rorom fioViioRan unmlem
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Experim. Analyse pBych. Vorgänge beim Schießen mit der Handfeuerwaffe. 405
haben, der sich anch über die rechte Hälfte der Stirn nnd die
Schläfengegend als Erwärmnng, fast möchte ich sagen als stechende
Hitze bemerkbar machte. Die Undeutlichkeit des Bildes war nun
aber nicht dauernd, sie wich nach einiger Zeit — deren Dauer
ich aber auch nicht annähernd angeben könnte — wieder einem
deutlichen Bild, das dann abermals von einem verschwommenen
abgelöst wurde. Meist kam ich nach dem Verschwinden der ersten
Trübung, also beim ersten Wiederdeutlich werden, dazn, den Schuß
Fig. 6.
Spiegel nennt man die Hinge 10, 11, 12. Breite eines Ringes 5 cm.
zu lösen. Jedenfalls glaube ich die Trübungen bestimmt als
periodische bezeichnen zu können. Vielleicht kommt hier auckx
Tränen und Blinzeln des Auges in Frage, es ist aber sicher nicht;
JmmAr Hi'a TTra q nVi o Hay TVHhnno»
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Meyer,
glaube sagen zu können, daß mir das UnlustgefÜhl hierbei so gut
wie fremd ist. Die Spannung und Erregung — soweit sie von
der Verschwommenheit des Zielbildes abhängen — lassen nach
meiner Beobachtung nach, sobald das Bild wieder deutlicher
wird.
Ich glaube übrigens während der Trübung den Begriff »un¬
deutlich« oder »verschwommen« als Wortbild sowohl wie als
schwarzgrau-weißliches, sonst undefinierbares Etwas innerlich vor
mir zu sehen. Das Wortbild »Zielen« kann ich mich nicht er¬
innern vor mir gehabt zu haben, wohl aber die Wortbilder »Visier«,
»Korn«, »Spiegel«, da ja diese Gegenstände beim Zielen tatsäch¬
lich vor dem Auge stehen. —
Ich schildere nun meine Beobachtungen beim Erfassen des
Kolbenhalses, beim Einziehen des Kolbens in die Schulter und
beim Abziehen, das also sozusagen dem Zielen mit seinen
psychischen Vorgängen parallel geht.
Beim Erfassen des Kolbenhalses, das ja besonders kräftig aus¬
zuführen ist, werden die oben beschriebenen Spannungsgeftihle im
rechten Arm wohl etwas durch die Maskelanspannung vermindert,
sie verschwinden aber keineswegs vollständig, auch die in den
übrigen Köperteilen bleiben bestehen, vielleicht wieder mit Aus¬
nahme des Unterleibs. Trotzdem daß sich die Aufmerksamkeit
jetzt vorzugsweise dem Zielen und Abziehen zuwendet, sind diese
Spannungsgefühle sehr wohl weiter zu bemerken. Sie bleiben,
um dies vorweg zu nehmen, auch nach dem Lösen des Schusses
bestehen, sind sogar noch vorhanden, wenn man das Gewehr
wieder heruntergenommen hat.
Beim Einziehen des Kolbens in die Schulter habe ich meist
ein entschiedenes Lustgefühl zu konstatieren; ich glaube, daß
dieses Lustgefühl durch die Art und Weise hervorgerufen wird,
wie der rechte Arm und die rechte Hand hier arbeitet, ganz be¬
sonders dadurch, daß bei aller Kraft, mit der der Kolbenhals um¬
faßt und die Waffe in die Schulter eingezogen wird, doch der
Zeigefinger ganz locker und frei bleibt und im Vergleich zu Faust
and Arm fast gar keine Muskelanspannung zeigt, um eben dann
durch allmähliches leichtes Krümmen den Abzug zu betätigen.
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Experim. Analyse peych. Vorgänge beim Sohießen mit der Handfeuerwaffe. 407
erlernen soll, kommt nach meiner Erfahrung zn diesem Beherrschen
der Waffe durch den rechten Arm und damit zu jenem Lust¬
gefühl ziemlich schnell. Das ist auch kein Wunder, da wir es
ja dabei mit lauter kräftigen jungen Leuten zu tun haben und das
Gewehr sehr leicht ist, auch die Gestaltung des Kolbenhalses, ins¬
besondere die Pistolenschäftung an unserem jetzigen Gewehr, das
sichere Zufassen sehr begünstigt.
Viel bedenklicher für die psychischen Vorgänge im Schützen
ist die Tätigkeit des linken Armes beim Schießen stehend frei¬
händig. Er trägt das Gewehr und richtet es auf den Zielpunkt.
Schwankungen sind dabei unvermeidlich, und die Schießvorsohrift
gibt in Pnnkt 47 (siehe oben) die Mahnung, sich durch kleine
Schwankungen nicht am ruhigen Durchziehen irre machen zu
lassen. Sieht der Schutze, wie die Visierlinie nicht auf den Halte¬
punkt gerichtet bleibt, sondern bald mehr, bald weniger abweicht,
so macht sich bei ihm ein Unlustgefühl geltend, das sich vermehrt,
je längere Zeit bis zum Lüsen des Schusses verstreicht, je mehr
also der linke Arm ermüdet. Der Biohere, erfahrene Schütze läßt
dieses Unlustgefühl nicht über sich Herr werden, der Anfänger
aber leidet darunter oft ganz erheblich. Es tritt ein Gegensatz
ein: rechts gelingt die Beherrschung der Waffe (Umfassen des
Kolbenhalses, Einziehen in die Schulter) tadellos — Lustgefühl —,
links zittert der linke Arm unter dem Gewicht der Waffe — Un¬
lustgefühl, vermehrt durch Trübungen beim Zielen! — Die Willens¬
kraft muß trotz aller UnlustgefUhle den Schützen zum ruhigen
Abziehen kommen lassen.
Dieses Abziehen aber ist wieder ein überaus wichtiges Agens
psychischer Vorgänge (Punkt 45 der Schieß Vorschrift, siehe oben),
und ich glaube, wir können auch experimentell mit entsprechenden
Apparaten diese Tätigkeit auf ihre psychologische Bedeutung unter¬
suchen. Wir sagen bei der Schießausbildung oft zu unseren
Schülern: »man darf gar nicht wissen, wann der Schuß losgeht«.
Das soll heißen, der Schutze soll die größte Aufmerksamkeit auf
das Zielen richten, und unterdessen soll der Zeigefinger, gleichsan*
dem Schützen selbst unbewußt, sich stetig weiterkrümmen, so
daß der Knall des Schusses gewissermaßen überraschend kommt.
T/»h hin ff n anll* T nl A «V __ ltAnV^AllAn An aV\ «VtMSh A««t A AaIaL
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Meyer,
die doch wohl erstes Charakteristikum der Triebhandluag ist, liegt
hier bis zu einem gewissen Grade vor. Das Abziehen eignet sich
auch dazu, nach und nach mechanisiert zu werden, da es kaum
Modifikationen erfährt und bei jedem Schuß annähernd in der¬
selben Weise vor sich gehen soll, im Gegensatz z. B. zum Zielen.
Haben wir nun eine Triebhandlung im Abziehen vor uns oder
wenigstens eine dem Mechanisiertwerden zuneigende Willenshand¬
lung, so muß doch wohl auf mechanischem Wege dafür ge¬
sorgt werden können, daß dieser Vorgang möglichst un¬
abhängig von störenden Reizen in allen Einzelfällen
etwa gleichmäßig verläuft, es muß die Mechanisierung, die
bisher nur durch Gewöhnung geschieht, durch besondere, geeig¬
nete Vorkehrungen oder Apparate beschleunigt werden können.
Wenn ich den rechten Zeigefinger an den Abzug bringe,
Druckpunkt nehme und durchziehe, werde ich mir dreier
Arten von Vorgängen be¬
wußt:
Druckempfindungen,
Lageempfindungen,
Raumvorstellungen.
Die Stärke des Druckes,
den der Schütze ausüben
muß, um Druckpunkt zu be¬
kommen , kann festgestellt
und zum Ausdruck gebracht
werden, wenn wir (Figur 6)
ausfindig machen, wieviel Gewicht wir bei g auflegen müssen,
damit der Abzug bis »Druckpunkt< zurtickbewegt wird. Voll¬
ständig einwandfrei und richtig ist zwar diese Feststellung nicht
Die Reibung der Rolle mit ihrem Lager und der Schnur auf der
Rolle sind z. B. Fehlerquellen, auch wird hier der Druck auf den
Abzug A in einem Punkte P ausgeübt, während beim Schließen
der Finger vermittels einer Fläche drückt. Doch wird das Er¬
gebnis wohl immerhin zu brauchen sein. Genauer kann man
möglicherweise die Größe des Druckes mit Hilfe einer Feder-
Fig. 6.
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Experim. Analyse psych. Vorgänge beim Schießen mit der Handfeuerwaffe. 409
Wie groß der zum Lösen des Schusses nötige Druck ist, läßt sich
mit der beschriebenen Vorrichtung ebenfalls feststellen. Bei der
Verstärkung des Druckes, die der Schütze mit seinem Zeigefinger
ausüben muß, werden nach meiner Beobachtung mehrere Unter¬
schiedsschwellen überschritten; man hat mehrfach die Empfindung:
»jetzt eben ist der Druck stärker geworden, als er erst war, er
genügt aber, noch nicht, du mußt ihn noch verstärken*. Der
Moment des Schusses fällt dabei durchaus nicht immer mit
dem Moment einer Schwellenüberschreitung zusammen. Solcher
Überschreitungen glaube ich meist zwei, manchmal drei, selten
eine — je nach der Art der Waffe — erkannt zu haben.
Wenn man findet, daß hier das Web ersehe Gesetz gilt und
wenn man die erwähnten Druckmessungen ausgeführt hat, so
könnte man vielleicht feststellen, wie hart der Fabrikant den Druck¬
punkt der Waffe machen kann und darf, damit sich der Schuß
weder zu schwer, noch zu leicht löst. Auch wäre die Frage zu
erörtern, ob man nicht besser Waffen baut, an denen das Ab¬
ziehen einem anderen Finger zufällt. Ich kannte einen Schützen,
der es vorzog, mit dem Mittelfinger abzuziehen.
Die Fläche am Zeigefinger, die beim Abziehen mit dem Abzug
in Berührung kommt, ist ziemlich umfangreich und wird Punkte
verschiedener Empfindungsgebiete umfassen. Es wird nötig sein
festzustellen, wie diese Punkte verteilt sind. Ich glaube bemerkt
zu haben, daß die innere Oberfläche des zweiten Zeigefinger¬
gliedes nur Druckempfindungen zeigt, während der Übergang
zwischen erstem und zweitem Glied, die innere (Beuge-) Seite des
ersten Gelenkes auch Schmerz- und Wärmepunkte enthält. Es
wird also beim Abziehen ein Komplex von Empfindungen
auftreten.
Ich gehe jetzt darauf aus, die Räume zwischen den beim
Vermehren des Druckes zu überschreitenden Unter¬
schiedsschwellen zu verkleinern und dadurch der Gefahr
vorzubeugen, daß der Schütze über dem Zielen das Abziehen ver¬
gißt (darüber weiter unten S. 412 f. noch mehr). Wenn wir jenen
Konmlex von Emnfindun?en zerlegen könnten, derart, daß zwei
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versehen (Figur 7), so werden, wenn der Abstand der Warzen
voneinander größer ist als die Kaumschwelle des Tastsinns an
dieser Stelle des Fingers, anstatt des genannten Komplexes von
Empfindungen zwei gesonderte Druckempfindungen gespürt (neben
einer Reihe anderer, mehr zurücktretender Empfindungen, da ja
der Finger nicht nur an den beiden Warzen drückt, was man aber
auch herbeiführen könnte). Diese beiden gesonderten Druck¬
empfindungen werden nicht gleich stark sein, und wenn sie es
in einem einzelnen Moment des Abziehens doch einmal sein sollten,
so werden sie doch sicher nicht gleich stark bleiben. Es wird
also dem Schutzen, wenn er den Druck des Zeigefingers verstärkt,
nicht sowohl der stärkere Druck an sich, als vielmehr die Differenz
zwischen den beiden durch die Warzen verursachten Druck¬
empfindungen zum Bewußtsein kommen. Nennen wir die beiden
Warzen a und b und
bezeichnen die beim
Nehmen des Druck¬
punktes an ihnen er-
zeugtenDruckempfin-
dungen mit Da und
D b, so wird bei Ver¬
stärkung des Druckes
wahrscheinlich zuerst
an einer der Warzen,
Fig. 7. z. B. a, die Schwelle
überschritten werden
und die dann dort eintretende Druckempfindung heiße D an.
Dieser Moment kommt dem Schützen zum Bewußtsein, und zwar
nicht nur das Überschreiten der Schwelle von Da zu Da -f- n ,
sondern auch die Differenz zwischen D a -f- n und der bei b in
diesem Moment nooh herrschenden Empfindung D b. Diese Differenz
wird als verschieden von der vorhergehenden zwischen D a und D b
empfunden, das Überschreiten der Schwelle wird auf diese Weise
vielleicht in verstärkter Weise bemerkt.
Erhöht sich nun der Druck noch weiter, bo, denke ich mir,
wird ein Moment eintreten, wo bei b die Schwelle überschritten
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Experim. Analyse psych. Vorgänge beim Schießen mit der Handfeuerwaffe. 411
aus denen keine gesondert hervortritt, die Schwelle über¬
schritte.
Ob meine Hoffnung, daß es auf diese Weise schneller gelingen
wird, die Willenshandlung des Abziehens zu mechanisieren, zu
kühn ist, das zu entscheiden sei dem berufenen Psychologen und
dem Experiment überlassen. Fände die Psychologie ein Mittel,
den vielgeplagten Schießlehrern gerade diesen Unterricht zu er¬
leichtern, so wäre schon dadurch viel gewonnen.
Man könnte sich nun noch den Fall denken, daß bei a der
Druck beim Zurückführen des Zeigefingers sich verstärkt, während
er sich bei b infolge törichter Hand- und Fingerhaltung verringert.
Das würde unseren Wünschen zuwider sein. Doch würde dem
wohl der Waffenkonstrukteur Vorbeugen können, indem er den
Abzug stärker geschweift herstellt und die Warzen in der tiefsten
Schweifung anbringt, so daß der sich zurückbewegende Zeige¬
finger unter allen Umständen einen stets wachsenden Druck gegen
beide Warzen ausüben muß.
Oben war gesagt, daß außer der Druckempfindung auch Lage¬
empfindung und Raumvorstellung beim Abziehen sich geltend
machen. Von dem Moment des erreichten Druckpunktes an bis
zum Lösen des Schusses legen der Abzug und die von ihm be¬
wegten Teile noch einen, wenn auch geringen Weg zurück. Die
Lage des Fingers in den einzelnen Momenten wird dem Schützen
bewußt, ich glaube parallel mit dem Bewußtwerden der Über¬
schreitung der Druckempfindungsschwelle. Deutlicher aber noch
als die Lage des Fingers wird ihm die Lage des Abzugs selbst
bewußt: die minimalen Strecken, die er nach rückwärts zurück-
legt, kommen mir beim Schießen voll zum Bewußtsein, ich habe
das Bild des Abzugs innerlich vor mir, aber eigentümlicherweise
weniger die Schweifung, an die sich der Finger legt, als den
äußerlich nicht sichtbaren, in Figur 2 punktierten Teil. Jemandem,
der noch nicht oft auseinandergenommene Gewehre und einzelne
Gewehrteile gesehen hat, wird es wohl nicht so gehen.
Ob man den psychischen Erscheinungen beim Abziehen experi¬
mentell besser näher kommt, wenn man sie als Ergebnisse von
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Daß die Arbeit des Abziehens Stoff genug für psychologische
Untersuchungen gibt, hoffe ich gezeigt zu haben. Es liegt viel¬
leicht noch in sehr weitem Felde, daß darüber Arbeiten zustande
kommen, ich könnte daher hier schließen. Es liegt mir aber noch
eine für die Praxis äußerst wichtige Frage am Herzen, deren Be¬
handlung auf experimentell-psychologischem Wege möglicherweise
ebenfalls die Arbeit des Schießlehrers in dankenswertester Weise
erleichtern könnte. Ich meine die gegenseitige Beeinflussung
des Zielens und Abziehens.
Unsere jungen Soldaten pflegen Zielen und Abziehen, jedes für
sich, meist schnell und gut zu lernen. Sobald aber beides vereinigt
wird, besonders aber, sobald eine scharfe Patrone im Laufe steckt
und die Sorge um das Ergebnis des Schusses sich geltend macht,
stellen sich die gröbsten Fehler ein. Man beobachtet sehr oft, daß
der Schütze gut zielt 1 ), dabei aber die Arbeit des Abziehens ver¬
gißt. Nach den bisherigen Ausführungen darf ich vielleicht sagen:
das Abziehen ist nicht genügend mechanisiert. Nachdem er nun
einige Zeit gezielt hat, fällt es ihm ein, daß er ja abkrümmen muß,
gleichzeitig aber macht sich auch die Ermüdung des linken Armes
bemerkbar. In der Besorgnis, der Arm könnte versagen, die
Schwankungen könnten zu groß werden, vielleicht auch mit dem
Wunsche, einen Moment eben gelungenen guten Zielens nicht un¬
benutzt vorübergehen zu lassen, beschleunigt der Schutze das Ab¬
ziehen, »reißt* oder »muckt« und bringt dadurch die Waffe voll¬
ständig aus der richtigen Lage.
Oder umgekehrt: der Schütze richtet seine Aufmerksamkeit
völlig auf das Abziehen (auch hier ist das Abziehen ungenügend
mechanisiert, sonst genügte geringere Aufmerksamkeit) und ver¬
nachlässigt darüber das Zielen. Er kann dabei anfänglich die
Visierlinie tadellos auf das Ziel gerichtet haben, er vergißt aber
infolge der ausschließlichen Aufmerksamkeit auf das Abziehen, daß
er während des Abziehens weiterzielen muß. Er blickt nur noch
oberflächlich Uber Visier und Korn hin, er ist sich nicht ständig
bewußt, ob das Korn richtig in der Kimme erscheint, ja es kommt
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Experim. Analyae psych. Vorgänge beim Schießen mit der Handfeuerwaffe. 413
Ich sage mir non: sobald dem Schützen bewußt wird, daß seine
Visierlinie den Haltepunkt richtig trifft, so ist das der Reiz, der
den Willens Vorgang des Abziehens erzeugt. Möglicherweise kann
man nun für ängstliche, willensschwache Leute einen Apparat kon¬
struieren, der beides, den auslösenden Reiz (richtiges Zielbild) und
die Handlung, die darauf folgen soll (richtiges Durchziehen), genau
so wie sie ausgeführt werden muß, künstlich zuwege bringt. Ohne
eine solche Vorrichtung muß der Lehrer in oftmaliger ermüdender
Wiederholung dem Schüler zeitraubende Beschreibungen geben, wie
Zielen und Abziehen nebeneinander hergehen, hat aber außer der
doch ziemlich trügerischen Beobachtung des Schützen keinen An¬
halt, ob dieser alles begriffen hat und richtig ausführt. Ich denke
mir den Hergang in großen Zügen etwa wie folgt:
Der Schütze wird angewiesen, an dem Apparat, der Kolbenhals
und Abzug wie das Gewehr besitzt (vielleicht läßt sich auch dieses
selbst verwenden), zuzufassen wie an der Waffe selbst. Er muß
ferner in eine Röhre hineinblicken, in der das Bild des richtig in
der Kimme stehenden Kornes sichtbar ist. Durch eine besondere
Vorrichtung kann man ein Miniaturbild der Scheibe derart in der
Röhre sichtbar machen, daß der Beschauer annähernd denselben
Eindruck empfängt wie beim Zielen auf die richtige Scheibe. So¬
bald dieses Bild erscheint, wird durch eine am Abzug angebrachte
besondere Vorrichtung der Zeigefinger gezwungen, diejenige Be¬
wegung auszuführen, die beim sachgemäßen Abziehen nötig ist. Hier
muß also der BewegungsVorgang dem Reiz folgen, und ich hoffe
durch diese Einübung zu erreichen, daß die Aufmerksamkeit des
Schützen in richtiger Weise zwischen Zielen und Abziehen verteilt
wird.
Ich bin mir wohl bewußt, daß die vorstehenden Ausführungen
psychologisch den Dilettanten verraten und den Anforderungen
exakter Wissenschaftlichkeit nicht genügen. Das ist bei jemandem,
dem bisher die Psychologie nur Nebenbeschäftigung sein konnte,
wohl begreiflich. Vervollkommnung bleibt anzustrebeu. Die be¬
handelten Fragen — und noch andere später — müssen aber
.. 1 1 • t •_1 o J! - m l i _ Ji - n
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Uber die Methoden der Psychologie.
Von
G. Anschütz (München).
In der Betitelung der vorliegenden Untersuchung liegt eine
bewußtermaßen ausgesprochene Beschränkung. Indem nämlich
»über Methoden« gehandelt werden soll, scheidet die Frage nach
allen Einzelheiten und den verschiedenen Formen, deren sich die
psychologische Forschung bedient, aus, und unsere Aufgabe be¬
stimmt sich vielmehr in der Heraushebung fundamentaler und
prinzipieller Untersuchnngsweisen, welche auf Grund einer kurzen
Darstellung eine gegenseitige Abwägung und Würdigung erfahren
sollen.
Die Beschränkung des Stoffes ist hauptsächlich durch zwei
Gesichtspunkte motiviert. Einerseits müssen wir uns der Tatsache
bewußt sein, daß sich in der Psychologie trotz ihrer erstaunlichen
Fortschritte vor allem in Sachen des Experimentes während der
letzten Dezennien eine ungeheure Zahl ungelöster und zum Teil
kaum hinreichend aufgestellter Probleme findet — es sei nur an
das dunkle Gebiet des Unbewußten erinnert —, und daß schon
aus diesen Erwägungen heraus eine allgemeine und eingehende
Methodik, wenn auch nicht mit unüberwindlichen, so doch mit
beträchtlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hätte. Auch ist es
eine häufig zu beobachtende, auch von Wundt 1 ) betonte Tatsache,
daß man sich in einer Wissenschaft erst relativ spät der Prinzipien
bewußt wird, auf welche die Methoden gegründet sind, und daß
daher die Ausbildung dieser letzteren oft sogar von zufälligen An¬
lässen abhängig ist. Andererseits aber kann mit Recht geltend
gemacht werden, daß zum Zweck einer allgemeinen Abwägung
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Über die Methoden der Psychologie.
415
Betrachtung und Würdigung der naturwissenschaftlichen Methoden
ein genaues Eingehen auf alle einzelnen Verfahren der Physik,
Chemie, Mineralogie, Zoologie, Botanik usw. nicht unerläßlich ist,
sondern im allgemeinen der Hinweis auf einzelne charakteristische
Weisen der Forschung genügen wird.
Auf der anderen Seite nehmen die folgenden Erörterungen an
einer Beschränkung nicht teil, die man sich bei der Besprechung
der psychologischen Methoden häufig auferlegt hat, indem man
diese lediglich im Sinne der psychophysischen auffaßte, ln dieser
Richtung gehen verschiedene Arbeiten von Wundt 1 ), vor allem
aber Lehmanns Lehrbuch der psychologischen Methodik. Da¬
gegen zeigt sich bei Münsterberg 2 ) die auch von uns vertretene
weitere Auffassung. Jedenfalls läßt sich auch die Berechtigung
jener engeren Fassung bestreiten. Denn die Psychologie hat es,
so sehr auch im einzelnen die Ansichten Uber Ziele und Aufgaben
derselben divergieren mögen, mit Bewußtseinserscheinungen oder
Bewußtseinstatsachen zu tun, von denen keine unbefangene Be¬
trachtung behaupten wird, daß sie sich in den gegenseitigen Ab¬
hängigkeiten von Bewußtsein und Körperwelt oder gar in den
gesetzmäßigen Beziehungen zwischen Reiz und Empfindung, mit¬
hin im engeren Gebiete der Psychophysik erschöpfen. Vielmehr
wird das Gebiet der psychologischen Methoden so weit reichen,
wie überhaupt von Bewußtseinstatsachen und deren Erforschung
geredet werden kann. Wie weit diese letztere im Sinne einer
exakten möglich sei, diese Frage kann zwar jederzeit aufgeworfen,
nicht aber von vornherein in irgendeinem Sinne entschieden werden.
Die folgenden Betrachtungen aber wollen den Versuch machen,
auch zur Lösung jenes Problems einige Gesichtspunkte aufzustellen.
I. Allgemeines über wissenschaftliche Forschung.
Zum Ausdruck unseres Bewußtseinslebens sowohl als auch zu
solchen Äußerungen desselben, die die Form von Urteilen an¬
nehmen, bedienen wir uns mehr oder minder bestimmter Begriffe,
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416
G. Anschütz,
was der eine meint und der andere auffaßt, nicht immer deckt,
daß vor allem bei allen wissenschaftlichen Untersuchungen oft
eine erstaunliche Diskrepanz in dieser Hinsicht zutage tritt, dürfte
eine allgemein zugestandene Tatsache sein. Aus ihr aber erwächst
für jeden, der sich der Begriffe zur Darstellung von Tatsachen
bedient, eine primäre oder prinzipielle Aufgabe, nämlich eine Ab¬
grenzung gewisser Begriffe, welche zur Aufstellung und Beurteilung
von Tatsachen dienen sollen.
Wenn wir der Klarheit halber nicht von irgendeinem weitab¬
liegenden und erkenntnistheoretischen, sondern von einem mög¬
lichst geläufigen und in seinem allgemeinen Umfange annähernd
bestimmten Begriffe ausgehen wollen, so wählen wir den des
wissenschaftlichen Denkens, mit dem jedermann einen bestimmten
Sinn verbinden wird. Unter dieser Bezeichnung verstehen wir
diejenige Art des Denkens, welche jenen ausgeprägten Charakter
trägt, den wir auch in Bezeichnungen wie Forschen und Unter¬
suchen zum Ausdruck bringen. Das wissenschaftliche Denken
steht dann in deutlichem Gegensatz einerseits zu allen unbe¬
stimmten und gefühlsmäßigen Bewußtseinszuständen, andererseits
aber auch zu jenem Überlegen und Bedenken, welches sich auf
äußere Umstände und Ereignisse des praktischen Lebens bezieht.
Ob und wie weit wissenschaftliches Denken notwendig oder zu¬
fällig mit Vorstellungen verbunden sei, die Frage kann an dieser
Stelle unerörtert bleiben, und wir begnügen nns mit seiner Cha¬
rakteristik insofern, als wir an die Tätigkeiten des Kombinierens
und Trennens, speziell des Abstrahierens erinnern und weiterhin
von ihm sagen, es sei diejenige Art oder Stufe des Denkens über¬
haupt, welche einer geistigen Erfassung von Gegenständen so nahe
als möglich zu kommen bestrebt sei.
Im Begriff des wissenschaftlichen Denkens liegen für uns ge¬
nau genommen drei Begriffe eingeschlossen. Der eine ist der des
Gegenstandes, dem wir uns zum Zwecke seiner Erforschung zu¬
wenden und den wir zu erkennen streben. Daß die Gegenstände
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Über die Methoden der Psychologie.
417
des Begriffes bewegen. Anf einer solchen Betrachtung kann ein
ganzes System von Wissenschaften aufgebaut werden, was z. B.
von Lipps 1 ) bereits geschehen ist. Der zweite Begriff ist als
solcher ein sekundärer zu nennen, insofern er nämlich auf einer
Art von Zurttckwendung des Denkens auf uns selbst beruht. Das
ist der des denkenden Subjektes, welches die wissenschaftliche
Untersuchung treibt und welches so in eigenartiger Weise Subjekt,
und Objekt zugleich sein kann. Der dritte endlich ist der der
Beziehung, die zwischen dem denkenden Subjekt und dem ge¬
dachten Gegenstand besteht und die eben im wissenschaftlichen
Denken eine spezielle Form erhalten hat.
Wenn man die Tatsache beachtet, daß jeder Begriff ein Stück
des Tatsächlichen fassen oder wiedergeben will, mag man nun
bei dem Tatsächlichen an die Welt der äußeren physikalischen
Dinge oder an die Bewußtseinserlebnisse, die Objekte der psycho¬
logischen Untersuchung, oder endlich an die der mannigfachen
Eigenarten von Gegenständen, die kategorialen Bestimmtheiten,
gegenständliche Gefühlsqualitäten und andere mehr denken, deren
Untersuchung man nach dem Standpunkte der eigenen Über¬
zeugung der Erkenntnistheorie oder der Psychologie zuschreiben
wird, so drängt sich bei einer eingehenden Beobachtung ein eigen¬
artiger Umstand auf, den man als eine gewisse Inadäquatheit der
Begriffe gegenüber dem Wiedergegebenen bezeichnen kann und
der sich in manchen Fällen weniger, in anderen aber sehr deut¬
lich offenbart. Diese Tatsache läßt sich damit deuten, daß die
Zahl der Begriffe stets nur eine begrenzte sein kann, wenn der
Begriff überhaupt seinen Zweck erfüllen soll, während doch die
Welt des Tatsächlichen für uns eine unbegrenzte ist.
Vor allem ist hier an die Tatsachen des Bewußtseinslebens,
die Objekte der psychologischen Forschung, gedacht. Wenn in der
Psychologie z. B. die Rede von Denken, Fühlen, Wollen, Emp¬
finden und Vorstellen ist und wenn es sich um Gedanken, Wil¬
lensakte, Empfindungen, Vorstellungen handelt, so ist bereits im
Gesamtgebiete des Psychischen eine genau abgegrenzte begriff¬
liche Scheidung vorgenommen, welche zwar durch objektive Tat-
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418
G. Anschtitz,
für uns zumeist in den Gefühlen gewisse unklare, halb bewußte,
vielleicht unbewußte oder nur teilweise zu fragmentarischer Be¬
wußtheit aufflackernde Gedanken. Es finden sich in ihnen ferner
gewisse Erlebnisse des Wollens, die von den undeutlichsten Stufen
dumpfer Instinkte bis zu den klarsten und entschiedensten Wil¬
lensakten variieren. Das gesamte psychische Leben aber darf
niemals als ganz frei von Empfindungen, Wahrnehmungen oder
Vorstellungen gelten, und wenn eine eingehende Betrachtung auch
ein vorstellungsloses Denken finden mag, so kann dies nur so ge¬
meint sein, daß das Denken als solches in seiner begrifflichen
Isolierung von dem Vorstellen verschieden sei, während doch eine
Betrachtung, die außer jenem vorstellungslosen Denken auch auf
das Gesamte des Bewußtseins blickte, finden würde, daß sich
stets irgendwo, wenn auch minimale Fragmente von Vorstellungen
finden, die freilich dem Denken gegenüber als heterogen gelten
müssen. Daß aber ein Denken außer in seiner begrifflichen Iso¬
lierung auch in einer tatsächlichen vorkäme, daß es also aus dem
Zusammenhänge des Gesamtbewußtseinslebens vollkommen heraus¬
lösbar sei, wird nicht als Tatsache, sondern höchstens von einer
spekulativen Betrachtung als Hypothese aufgestellt werden können.
Will man aber geltend machen, daß eine reine Betrachtung der
Tatsachen andere Elemente als Denkakte gelegentlich im Be¬
wußtsein nicht auffinde, so läßt sich gegen diese Phänomeno¬
logie ein wenden, daß sie von vornherein Gegenstände als isoliert
betrachte, die in der Tat nicht isoliert seien und bei dieser Be¬
schränkung auf eine Betrachtung en face etwas ähnliches leiste
wie ein Feldherr, der keine Patrouillen aussende und vielmehr
mit dem Fernrohr die Länge des Flintenlaufes bei seinen Feinden
untersuche.
Der Behauptung, daß Begriffe die Tatsachen des Bewußtseins-
lebens nur bis zu gewissem Grade fassen, könnte man vorwerfen,
sie gebe vor, die im Begriff gefaßten Gegenstände mit den noch
nicht in ihm gefaßten zu vergleichen; dabei aber fasse sie ja
diese auch im Begriffe, und zwar in willkürlicher Weise, da sie
später eine Differenz herausfinde. Aber dieser Einwurf ginge von
n TiKqtiti aaannrt \7 Avnnaonlffii«« n na ^7-rrr ckfkVr Ck ni n oa n>A_
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419
Über die Methoden der Psychologie.
die Tatsache übersehen, daß Begriffe sehr wohl mit den Erleb¬
nissen zum Zwecke des Vergleichens zusammengestellt werden
können, die in jenen gefaßt werden sollen. Daß aber Begriffs¬
inhalte und Erlebnisse direkt verglichen, oder daß Begriffsinhalte,
wenn sie Bewußtseinserlebnisse zu fassen vorgeben, direkt an den
Erlebnissen gemessen werden können, ein Messen, das sich in
einer Kombination von Erleben und Denken vollzieht, dürfte schon
darin zugegeben sein, daß man überhaupt jemals Begriffe an
Bewußtseinstatsachen mißt und sie diesen entsprechend zu ge¬
stalten sucht.
Wenn man sich in Kürze über den Begriff der wissenschaft¬
lichen Forschung Klarheit verschaffen will, so werden schließlich
so allgemeine Angaben wie die, es sei die höchste Stufe des DenkenB
und könne in einem Kombinieren und Trennen näher bezeichnet
werden, nicht genügen. Wenn Aristoteles l ) auf die fxia /.aüölov
jceq'i t üv o/iioitov vrtöXrjipig hinweist und weiter sagt, daß es
die Wissenschaft nicht nur mit einfachen Konstatierungen (an),
sondern auch mit der Frage nach dem »Warum?« (dion), den
Gründen [ctQxai) zu tun habe, wenn Chr. Wolff 2 ) sie eine Fertig¬
keit des Verstandes nennt, alles, was man behauptet, aus unwider-
sprechlichen Gründen unumstößlich darzutun, und wenn endlich
Kant 3 ) ihre Aufgabe in der Auffindung apodiktischer Gewißheit
sieht, so sind diese Angaben imstande, den allgemeinen Sinn und
die allgemeine Aufgabe der Wissenschaft klarzulegen. In ähn¬
licher Richtung geht auch die Ansicht von Husserl 4 ), der von
der Einheit des Begründungszusammenhanges spricht, in dem mit •
den einzelnen Erkenntnissen auch die Begründungen selbst und
mit diesen auch die höheren Komplexionen von Begründungen,
die wir Theorien nennen, eine systematische Einheit erlangen.
Dagegen muß man solchen Definitionen, wie sie von H. Cor¬
nelius 5 ), Ostwald 6 ) und Poincard 7 ) gegeben sind, einiges Mi߬
trauen entgegenbringen. Die beiden ersteren legen auf die Be¬
schreibung das Hauptgewicht und scheinen somit ein wesentliches
1) Met. I. 1, 981 a 6.
2) Vera. Ged. v. d. Kr. d. m. Verst. § 2.
3) Met.-Auf. d. Nat.-W.
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420
O. Anschütz,
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Moment zu wenig zu beachten. Dagegen zeigt Poincares hierauf
bezüglicher Discours in gewissem Sinne eine scharfsinnige Be¬
obachtung. So sagt er: »Tout ce que cree le savant dans un
fait, c’est le langage, dans lequel il l’enonce.« Darin liegt der
zweifellos richtige Gedanke ausgesprochen, daß alle wissenschaft¬
liche Forschung keineswegs eine willkürliche Leistung ist, sondern
daß sie objektiv, d. h. durch die Eigenart der untersuchten Ob¬
jekte, bedingt ist. Wenn wir also auf die soeben kurz angeführten
Angaben der genannten Autoren Rücksicht nehmen, so werden
wir in der wissenschaftlichen Forschung jedenfalls ein solches
Denken zu erblicken haben, welches aus einer Summe von Er¬
fahrungstatsachen, deren notwendige Gründe es aufsucht, allge¬
meine, für uns absolut gewisse Sätze zieht und diese zu einheit¬
lichen, systematischen, von nebensächlichen Elementen freien
Ganzen verarbeitet, wobei diese gesamte Tätigkeit sowohl in
seiner allgemeinen Eigenart als seinen einzelnen Formen ein durch
die Objekte bestimmtes ist. In kürzerer Form kann man das
wissenschaftliche Denken dadurch kennzeichnen, daß man es eine
systematische und methodische Erforschung der Objekte und ihrer
Gesetzmäßigkeiten nennt.
Das Ziel aller wissenschaftlichen Forschung kann man somit
in der allgemeinen Auffindung von Tatsachen und Gesetzen sehen.
Mit dieser Behauptung ist zugleich aus der Wissenschaft alles,
was Ausnahmen zuläßt und somit als Regel anzusehen ist, aus¬
zuscheiden. Allerdings wird man das Postulat aufstellen, daß
letzten Endes auch alle Regeln auf Gesetze zurückftihrbar sein
werden, indem man behauptet, daß in der Regel eine sehr hohe
Anzahl von Gesetzen als wirksam gedacht werden müsse. Von
diesem Gesichtspunkte aus werden dann auch Regeln mit ins Ge¬
biet der Wissenschaft fallen können. Vor allem wird dies da der
Fall sein, wo wir aus allgemeinen, zunächst nur auf Grund von
Statistiken als Wahrscheinlichkeiten anzusehenden Tatsachen solche
von allgemeinem Charakter zu finden suchen.
Alle wissenschaftlichen Tatsachen und Gesetze aber stehen
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Über die Methoden der Psychologie.
421
Qualitäten vereinen und ausschließen«, stets auch eine Tatsache
mitwirken läßt, »welche immer wieder auf vorhergehende hinweist
und so zu einer Notwendigkeit aus der ursprünglichen Tatsache«
gelangt, »mit der sich außer mit der gesetzlichen Notwendigkeit
alles wirkliche Geschehen zusammensetzt«. Solche Betrachtungen
leiten uns aber von dem allgemeinen Begriff wissenschaftlicher
Forschung zu dem etwas spezielleren der Methode hinüber, der
oft 1 ) sogar mit jenem identisch gesetzt wurde. Unter Methode
verstehen wir ein solches Vorgehen des wissenschaftlichen Denkens,
welches in bestimmter Richtung auf ein bestimmtes Ziel geht.
Freilich muß man zugestehen, daß auch Abweichungen von jener
Hauptrichtung Vorkommen können; aber wo sie stattfinden, da
ordnen sie sich stets der eigentlichen konsequent verfolgten Rich¬
tung unter. Auf solche Weise entsteht das Planmäßige oder
Systematische, welches jeder Methode eigen ist, und ihr einheit¬
licher Charakter. Wenn wir von einigen früheren Definitionen der
Methode absehen, so bezeichnet sie Descartes 2 ) als die »Ordnung
und Disposition des Materials« und sagt, daß im methodischen
Vorgehen verwickelte und dunkle Sätze stufenweise auf die ein¬
facheren zurückzuführen seien und daß von der Intuition dieser
dann zu den übrigen Sätzen fortzuschreiten sei. Ähnlich sieht
Pascal 3 ) ihre Aufgabe darin, »a definir tous les termes et ä
prouver toutes les propositions«. In anderer Art definiert Kant 4 ),
wenn er sie die »Art und Weise« nennt, »wie ein gewisses Ob¬
jekt, zu dessen Erkenntnis sie anzuwenden ist, vollständig zu er¬
kennen sei«. Zumeist aber werden uns nicht genaue Definitionen,
sondern einzelne Arten von Methoden angeführt. Herbart 5 )
scheint, wenn er sie die »allgemeine Angabe der Art und Weise,
aus Prinzipien etwas abzuleiten«, nennt, nur die sogenannte De¬
duktion im Auge zu haben.
Bei vielen wird der Begriff der Methode sehr weit gefaßt,
so daß man unter ihm etwas mit dem Charakter bloßer Regeln
Verwandtes einbegreift. So bemerkt Husserl 6 ), daß »alle
1) Aristoteles, Pbys. I. 1, 184a 11.
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422 G. Anßchlitz,
Methoden, die nicht selbst den Charakter von wissenschaftlichen
Methoden haben, entweder denkökonomische Abbreviaturen und
Surrogate von Begründungen sind, die, nachdem sie selbst durch
Begründungen ein für allemal Sinn und Wert empfangen haben,
bei ihrer praktischen Verwendung zwar die Leistung, aber nicht
den einsichtigen Gedankengehalt von Begründungen in sich
schließen; oder daß sie mehr oder weniger komplizierte Hilfs¬
vorrichtungen darstellen, die zur Vorbereitung, zur Erleichterung,
Sicherung oder Ermöglichung künftiger Begründungen dienen«.
Alles methodische, d. h. konsequente und planmäßige Vorgehen
kann man in eine gewisse Analogie zum Gesetz stellen, zumal
die Methode eben zur Auffindung von Gesetzen dient und selbst
in sich solche enthält. Gerade von diesem Gesichtspunkte aus
betrachtet ist Husserls Begriff der Methode, der auch kompli¬
zierte Hilfsvorrichtungen einbegreift, sehr weit. Man täte besser,
solche als bloßes Verfahren oder Vorgehen der eigentlichen Me¬
thode im engeren Sinne gegenüberzustellen. Der Hauptunterschied
wäre der, daß das bloße Verfahren die geschlossene Einheitlich¬
keit der Methode in bezug auf Planmäßigkeit und vor allem auf
innere Konsequenz nicht aufweist. Viele Verfahren könnte man
rein praktische nennen und damit zum Ausdruck bringen, daß sie
nur äußere, nicht aber wesentliche Hilfsmittel sind, daß sie sogar
aus im einzelnen voneinander ganz unabhängigen Operationen aus¬
geführt werden können, denen der eigentliche innere Zusammen¬
hang fehlt und die sich dem Plane und dem methodisch-konse¬
quenten Vorgehen der wissenschaftlichen Forschung nur als gleich¬
sam unwesentliche Mittel zum Zweck unterordnen. Solche Weisen
des Verfahrens können möglicherweise auch von jemand mecha¬
nisch eingelernt und bis zu gewissem Grade angewendet werden.
Es fehlt ihnen aber das eigentliche Bewußtsein eines »Warum?«,
das für jedes einzelne Glied den inneren Sinn sucht, und es kennt
nur ein »Wozu?«, d. h. »zur Erreichung welches äußeren End¬
ergebnisses?«. Es ist insofern eine Art von Rezept, eine Mani¬
pulation nach einem gegebenen Schema; da aber in der Praxis
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Über die Methoden der Psychologie.
423
Daß endlich Methode nicht solche schlechtweg ist, sondern
daß sie stets in einer bestimmten Form, einer Art von Verkörpe¬
rung oder Konkretion auftritt, ist eine Tatsache, die mit der Dif¬
ferenzierung der verschiedenen Gegenstände zusammenhängt. So
haben sich entsprechend den Objekten nicht nur ganz allgemein
naturwissenschaftliche, mathematische, logische, erkenntnistheore¬
tische, psychologische Methoden herausgebildet, sondern auch im
Zusammenhänge mit der Richtung, in der der Forschende verfährt,
deduktive und induktive, analytische und synthetische Methoden.
Wenn man zu diesen noch die genetische, experimentelle, demon¬
strative und reduktive Methode hinzufügt, so hat man im allge¬
meinen alle wesentlichen Arten von Methoden, die man mit mehr
oder weniger Recht auch Grundarten nennen kann. Die genannten
verbinden sich dann weiterhin zu den mannigfachsten Formen, die
hauptsächlich der Scholastik zu verdanken sind. Will man end¬
lich auch der historischen Überlieferung ein gewisses Gehör
schenken, so kann man als eine solche Betrachtungsweise, die
freilich schon über das Gebiet der Wissenschaft hinausgeht, die
metaphysisch-spekulative Methode anführen, die jedenfalls mit der
einfachen Deduktion nicht identisch ist.
Bevor wir aber von den allgemeinen Betrachtungen über
Methode ins speziellere Gebiet der psychologischen übergehen,
bedarf noch ein letzter, mit dem der Methode eng zusammen¬
hängender Begriff einer Würdigung, nämlich der der Voraus¬
setzung. Unter dieser Bezeichnung denken wir hier aber nicht
an solche Voraussetzungen, wie sie etwa der Geometer in der
Analysis macht, wenn er einmal annimmt, die Aufgabe sei gelöst.
Andererseits aber ist auch nicht an Annahmen im Sinne Mei-
nongs 1 ) gedacht, der unter diesen ein »Urteil ohne Überzeugung«
versteht. Voraussetzung einer Wissenschaft ist vielmehr dasjenige,
was diese bewußt oder stillschweigend als eine Art letzter Ge¬
gebenheit oder letzter Tatsächlichkeit, als letzte Grundlage ihres
Gesamtsystems hinnimmt oder als hingenommen zugibt oder
aufweist. So ist für die Naturwissenschaft dasie-rnffe die letzte
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424
6. Anschütz,
Voraussetzungen und ihren näheren Eigenschaften nicht zu. Die
Mathematik bat als eine solche letzte Voraussetzung, sofern sie
Geometrie und Arithmetik ist, den Raum und die Zahl. Ftlr die
Logik liegt ein analoges Element im Gegenstand. Die Psycho¬
logie endlich hat, wenn man sie als Bewußtseinswissenschaft faßt,
das Bewußtsein als letzte Voraussetzung oder Gegebenheit; die
experimentelle Psychologie speziell setzt auch das fremde Indi¬
viduum und sein Seelenleben voraus. Der enge Zusammenhang
zwischen jenen Voraussetzungen und den Methoden der entspre¬
chenden Wissenschaft aber steht außer Frage. In der Natur¬
wissenschaft hängt das kausal-erklärende Element mit der Voraus¬
setzung der Materie, des objektiv Wirklichen, aufs engste
zusammen. Bei anderen Wissenschaften trifft eine analoge Be¬
stimmung auf größere Schwierigkeiten, und wenn wir kurz als
die mathematische Methode das mathematisch-kausale Erklären
hinstellen, welches mit dem Demonstrieren, d. h. einem Rekurs
auf die Fähigkeit, räumlich-anschaulich zu denken, verbunden ist,
und ferner als Methode der Logik die Aufweisung der für unser
abstraktes Denken evidenten Tatsachen in Anspruch nehmen, so
sollen damit nur allgemeine, keineswegs aber erschöpfende An¬
gaben gemacht sein. Die Methode oder die Methoden der Psycho¬
logie aber sollen den Gegenstand der folgenden Untersuchungen
bilden.
Neben den letzten Voraussetzungen, die sich in jeder Wissen¬
schaft finden, müssen wir noch eine Reihe anderer Voraussetzungen
anerkennen, die ebenfalls mit der Frage nach der Methode aufs
engste verknüpft sind. Als Beispiele solcher kann die der Gesetz¬
mäßigkeit im Physischen und im Psychischen und in den Gegen¬
ständen der Mathematik und Logik gelten; dazu kommt diejenige
der Erkennbarkeit solcher Gesetzmäßigkeiten. Eine Voraussetzung,
die wieder einen andersartigen Charakter trägt, ist die, welche
jede Induktion macht, wenn sie von einigen, vielleicht nur ganz
wenigen Fällen auf alle in bestimmter Richtung überhaupt mög-
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425
Über die Methoden der Psychologie.
in ihrem Wesen zu untersuchen, ist die Aufgabe der Erkenntnis¬
theorie. Dagegen kann sie nicht in das engere Gebiet einer Be¬
trachtung über die Methoden der Psychologie fallen.
Diesen Voraussetzungen, denen für uns eine Art von Not¬
wendigkeit zukommt, stehen dann eine Menge von anderen
gegenüber, die besser aus jeglicher Wissenschaft für alle Zeiten
verbannt blieben. Das sind solche, die nicht notwendige, sondern
zufällige sind und daher eine bedeutende Irrtumsquelle repräsen¬
tieren. Solche Voraussetzungen, die wir als subjektive jenen
anderen als den objektiven gegenüberstellen können, finden sich
leider in sehr hohem Maße noch in der Psychologie. Eine solche
von typischem Charakter ist diejenige, daß der Einzelne mit Hilfe
der Selbstbeobachtung imstande sei, in sich selbst die genaue und
jedenfalls weitgehend auffindbare Grenze zwischen solchen Eigen¬
arten aufzufinden, die ihm als individuellem Subjekt überhaupt
zakommen, und solchen, die ihm nur als bestimmtem Individuum
eignen. Man muß daher den zahlreichen Anklagen, die gegen
eine ausschließliche Verwendung jener subjektiven Methode in
der Psychologie erhoben worden sind, bis zu gewissem Grade zu¬
stimmen.
Wenn man nun von der Wissenschaft verlangt, sie solle
voraussetzungslos sein, so kann dies lediglich im Sinne der letzt¬
genannten Voraussetzungen gemeint sein, und man kann sogar
sagen, daß von dem Grade, in welchem sich die wissenschaftliche
Arbeit der allgemeinen und notwendigen objektiven Voraussetzungen
bewußt sei, die Klarheit in der Aufstellung und Abgrenzung der
Problemstellungen und daher auch in den entsprechenden Beant¬
wortungen abhänge. Auf der anderen Seite aber kann die For¬
derung aufgestellt werden, daß auch die subjektiven Voraus¬
setzungen eine entsprechende Beleuchtung erfahren sollen. Nur
so wird es möglich sein, ihre volle Bedeutung als Irrtumsquelle
einzusehen und nach entsprechenden Weisen zu suchen, um ihren
schädlichen Einfluß nach Kräften zu eliminieren.
426
6. Anschtitz,
kaum mehr als psychologische Methode gilt, die jedoch noch vor
kurzem als eine solche angesehen wurde, nämlich die spekulative,
deren sich die ältere Psychologie, aber auch noch zum Teil die
neue — man denke an Herbart, der der metaphysischen Be¬
trachtungsweise in der Psychologie neben der erfahrungsmäßigen
und mathematischen eine grundlegende Bedeutung beilegte — be¬
dient hat. Heutzutage hat man diesem Moment gegenüber die
empirische Betrachtung ganz entschieden als die einzig mögliche
anerkannt, und auch Cohen 1 ) sagt, daß es sich nicht darum
handeln könne, festzustellen, »womit in Wahrheit das Bewußtsein
beginnt und worin es entspringt, da diese letzten Elemente stets
hypothetische sind und bleiben, die kein mit Bewußtsein Operie¬
render auszugraben und festzustellen vermag«. Es gibt kaum
einen schlimmeren Vorwurf für einen Psychologen, als den, er
treibe Metaphysik. Charakteristisch ist in dieser Hinsicht die
Art, wie sich Wundt 2 ) gegen derartige Vorwürfe von seiten Meu-
manns wehrt, indem er sich in einer besonderen Abhandlung
»Über empirische und metaphysische Psychologie« ausspricht.
Überlassen wir aber die Behandlung jenes spekulativen Stand¬
punktes einer rein historischen Untersuchung und lassen als eigent¬
liche psychologische Methoden lediglich die empirischen, die in
irgendeiner Weise auf Erfahrung fundierten, gelten. Diese Be¬
stimmung der psychologischen Methoden als empirischer ist aller¬
dings noch zu allgemein, und man könnte daran erinnern, daß
auch jede naturwissenschaftliche Disziplin empirisch sei, daß aber
die Psychologie nicht als Naturwissenschaft gelten könne. Es wird
daher mit Rücksicht auf die Differenz in den Voraussetzungen
jener beiden Wissenschaften die Methode der Psychologie in all¬
gemeiner Weise als die Empirie des Bewußt-Wirklichen bezeichnet
werden können, während die naturwissenschaftliche als die des
Dinglich-Realen anzusehen ist.
Die Tatsache, daß das Bewußtsein und sein Umkreis, d. h.
also der gesamte Wirklichkeitsbereich des schlechterdings Un¬
räumlichen und in der Weise des Bewußtseins Gegebenen die
fMp’finflip.hp. Vnra 11 sap.^•'7nn0■ Hpr Pavohnlno-ip iat wpist lins
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427
Über die Methoden der Psychologie.
hin, nämlich auf die innere Wahrnehmung oder Selbstbeobachtung,
die seit dem bekannten sokratischen yvio&i oavxöv durch die viel¬
fachen Angriffe und Diskussionen hindurch, welche besonders
während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von seiten der
emporblühenden Naturwissenschaft gegen sie geführt wurden, ihre
Stellung als die eines prinzipiellen Mittels zur Erforschung der Tat¬
sachen des Seelenlebens bis in die Neuzeit herein behauptet hat.
Die Streitfragen, die sich um ihre Charakteristik und ihren
Wert erhoben haben, sollen hier nicht ausführlich zu Worte
kommen; wir beschränken uns im wesentlichen auf die Her¬
vorhebung einzelner hervorstechender Momente. Zunächst be¬
darf bei der Würdigung der inneren Wahrnehmung der Um¬
stand einer besonderen Beachtung, daß dieselbe im engsten
Konnex mit den Bewußtseinserlebnissen steht, denen sie sich
später zum Zwecke einer Erforschung zuwendet, ja daß dieser
enge Zusammenhang sogar ein Heraus wachsen derselben aus den
Erlebnissen genannt werden kann. Der Tatsache, daß der später
die innere Wahrnehmung Betreibende die betrachteten Gegenstände
ursprünglich womöglich in seinem ganzen Bewußtseinsumfang
selbst von innen her erlebt hat, ist nicht genug Gewicht beizu¬
legen. Die Gegenstände seiner Betrachtung sind ihm in einer
allerunmittelbarsteu Weise gegeben; ja schon diese Bezeichnung
einer unmittelbaren Gegebenheit wird den Tatsachen nicht zur
Genüge gerecht. Man kann sogar sagen, daß der Betrachtende
selbst in seinen Gegenständen gesteckt habe und sogar noch in
ihnen stecke, daß er also mit seinen Objekten ein unmittelbar
Eines sei, das er erst später durch die innere Wahrnehmung in
seine Bestandteile auflöst. Dies unmittelbare Zusammen- oder
Ineinandersein von Erlebnis und Erlebendem ist jedenfalls stets
das Ursprüngliche und primär Vorhandene. Erlebnisse können
sogar solche im vollen Sinne bleiben, ohne daß später irgend¬
welche Elemente von Reflexion oder Selbstbetrachtung hinzukämen.
Hier liegt sogar eine ganz geläufige Tatsache vor. Jedermann
kennt nicht nur das gedankenlose Vor-sich-hinträumen, sondern
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6. Anßchütz,
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der Malerei, vor allem aber in der Musik. Eben das Moment der
Inspiration, von dem ja auch bei anderen, z. B. religiösen Dingen,
so häufig die Rede ist, ist das beste Beispiel eines von aller
Selbstbetrachtung und Reflexion freien Erlebens, und das Schaffen,
welches der Eingebung folgt, ist oft der reine, urteilslose Aus¬
druck, die unmittelbare Kundgabe des betreffenden Erlebnisses.
Dieser fundamentale, in unserem Erleben jederzeit vorliegende
Umstand des Ineinanderseins der Erlebnisse und des Erlebten ist
imstande, einer später einsetzenden Reflexion wesentliche Anhalts¬
punkte zu gewähren. James hat mit Recht darauf hingewiesen,
daß jedes Erlebnis nur ein einziges Mal als solches vorkomme,
und daß es, wenn es einmal vorüber ist, unwiederbringlich dahin¬
gegangen ist. Diese Originalität der Bewußtseinstatsachen gilt
natürlich nur von solchen komplexer Art. Aber in der Tat sind
alle Bewußtseinstatsachen, wenn wir sie nicht willkürlich aus dem
Gesamtbereich des Bewußtseins herauslösen, sondern so betrachten,
wie sie im Bewußtsein Vorkommen, in diesem ihrem komplexen
Charakter stets etwas in seiner Art absolut Originelles, dessen
Auftreten mit dem eines Menschen verglichen werden kann, der als
ein bestimmtes Individuum auch nur ein einziges Mal vorkommt,
oder dem eines Blattes, das unter allen alljährlich grünenden
Millionen von Blättern nicht eines seines gleichen hat. Dieser Ge¬
danke hat zweifellos eine tiefgreifende Berechtigung, und man
darf ihn nicht von der Hand weisen, indem man ihm einen prak¬
tischen Wert abstreitet. Er hat vielmehr sogar einen solchen,
indem er uns Fingerzeige auf die Beantwortung der Frage gibt,
wie weit überhaupt eine psychologische Forschung in wissen¬
schaftlicher Form reichen könne.
Der einzigartige Charakter, der einem jeden Bewußtseins¬
erlebnis eignet, drängt sich uns in den mannigfachsten Weisen
auf. Unwillkürlich macht ein jeder den Versuch, gewisse in
unserer Erinnerung angenehme oder lebensvolle Erlebnisse zu re¬
produzieren. Oder die Tendenz einer Reproduktion gibt sich as¬
soziativ auf einen äußeren Anlaß hin. Es ist bekannt, daß durch
den Anblick gewisser Gegenstände, durch ein Wort, einen Geruch
gewisse Stimmungen, ja ganze Ereignisse von kompliziertem Cha-
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Über die Methoden der Psychologie.
knüpft haben, so daß das Auftreten entsprechender Eindrücke die
Reproduktion oft mit einer erstaunlichen Klarheit hervorzurufen
imstande ist. Aber bei alledem gibt es niemals ein vollkommenes
Wiedererleben. Den Gefühlen, oder um mit der Terminologie
Külpes zu reden, den Bewußtseinslagen anheimelnder Vertraulich¬
keit, häuslicher Zurückgezogenheit, inneren Glücks, die sich mit
bestimmten Vorstellungen paaren, gesellt sich eine Art von Weh¬
mut und Sehnsucht bei; denen deB verbissenen Ärgers, des hinein¬
gefressenen Grimmes ein fragmentarisches Aufleben aktuellen
Ärgers oder mannigfache andere Elemente. Niemals aber lebt
das Alte in der Gesamtdisposition vollkommen auf. Und wer diese
Behauptung bestreitet, da er Analoges in sich nicht zu finden ver¬
meint, der wende sich an solche, denen wir in Dingen voller und
reflexionsloser Erlebnisse, vor allem aber solcher, die durch den
Ausdruck in eine kontrollierbare Form gebannt sind, ein gewisses,
wenn auch nicht immer autoritatives Gehör schenken müssen,
nämlich die Künstler und die künstlerischen Naturen. Dabei
haben wir nicht einmal der zahllosen Fälle gedacht, in denen es
sich um solche Erinnerungen handelt, die auffallend fragmen¬
tarisch sind oder bei denen die entsprechenden Vorstellungen zu
leblosen und traumähnlichen Bildern verblaßt sind.
Wenn wir nun auch in dieser Tatsache eine sichere Grenze
aller psychologischen Erkenntnis zu sehen haben, so müssen wir
doch den Versuch machen, jene Grenzen so weit hinauszuschieben,
als dies möglich und berechtigt ist. Dieser Versuch aber besteht
allgemein nicht nur in der Erkenntnis und Betonung jener Grenze,
sondern er kann vor allem in dem Streben zum Ausdruck kom¬
men, die Reproduktion bis zu einem möglichst hohen Grade zu
treiben. Dieser Versuch wird in jedem Falle zwei Vorteile mit
sich bringen. Er ermöglicht uns einerseits eine zuweilen weit¬
gehende Annäherung an die vollkommene Gestalt des Erlebnisses;
andererseits ersehen wir aus ihm gegebenenfalls die Differenz,
welche zwischen der Reproduktion und dem Originalerlebnis be-
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G. Anschütz,
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gemeinsamen Charakter, den man ihre Bewußtheit nennen kann.
Auf der anderen Seite aber sind sie außer durch mannigfaltige
Qualitätsunterschiede auch insofern durch graduelle Differenzen
voneinander unterscheidbar, als gewisse Elemente mit großer,
andere aber mit einer geringeren Klarheit 1 ) erlebt sind. Diesen
Unterschied kann man einen solchen im Grade der Bewußtheit
nennen. Die letzteren scheinen zuletzt im Unter-, schließlich aber
im Unbewußten, in Instinkten, Trieben usw. zu verschwimmen,
während diese wiederum einen immer höheren Grad von Be¬
wußtheit erlangen können. Das einfache Erleben wird zu einem
Erleben mit Betonung, wie man im gewöhnlichen Leben sagt, zu
einem Bewußt-Erleben oder Innewerden. Mit diesem ist also ein
solcher Bewußtseinstatbestand gemeint, in welchem noch keinerlei
Reflexion steckt. Die Überleitung zu dieser liegt erst in einer
Art von Selbstbesinnung. Daß jenes Erleben mit Betonung für
die innere Wahrnehmung einen großen Wert besitzt, scheint klar.
Man braucht nicht einmal daran zu denken, daß jene Betonung
auch der Grund für einen tieferen Eindruck sei, für ein Perse-
verieren, ein Fortbestehen möglichst lebensfähiger potentieller oder
latenter Bewußtseinselemente; vor allem braucht man nicht an das
entsprechend bessere Fortbestehen etwaiger physiologischer Grund¬
lagen zu denken.
Diesem Mit-Betonung-Erleben ist ein größerer Wert bei¬
zumessen, als es für gewöhnlich geschieht; denn es scheint in
der Tat eine wesentliche Grundlage aller psychologischen Er¬
kenntnis zu sein. Hat es auf der einen Seite vor dem einfachen
Erleben den Vorzug größerer Klarheit, so nimmt es an den zahl¬
reichen Fehlern, die sich bei der inneren Wahrnehmung einstellen
können und von denen noch zu reden sein wird, nicht teil. Vor
allem hat es darin einen großen Wert, daß es sich in unmittel¬
baren Ausdrücken und Kundgaben offenbaren kann. In diesen
letzteren bietet es sich dann sogar der Betrachtung anderer. Zu
solchen Ausdrücken sind nicht nur gelegentliche und zufällige
Äußerungen zu rechnen, die trotz der Notwendigkeit ihrer Auf-
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Über die Methoden der Psychologie.
431
hören, sondern auch die Verhaltungs weisen von Beobachtern hei
planmäßig zusammengestellten experimentellen Untersuchungen.
Endlich gehören hierher vor allem auch Kunstwerke, soweit sie
nicht neben dem Element unmittelbaren Ausdrucks das Wirken
einer Reflexion mitspielen lassen, und sogar solche Dinge wie
Selbstbiographien und Tagebücher, wenn diese die unmittelbaren
Erlebnisse wiedergeben und nicht > Wahrheit und Dichtung« ent¬
halten. Schließlich aber können wir vorgreifend eine Bemerkung
machen, die des näheren beim Experiment zu besprechen sein
wird. Die Versuchsanordnung wird Rücksicht darauf zu nehmen
haben, daß sie vor allem unmittelbare Ausdrücke sammelt und
aus ihnen Schlüsse zieht, nicht aber solche Urteile, die offen¬
kundig durch Reflexionen aller Art getrübt sind. Die experimen¬
telle Psychologie soll also bei ihren Beobachtern vielmehr ein be¬
tontes Erleben fördern, nicht aber in gleichem Maße, wie häufig
gesagt wird, deren Selbstbeobachtung.
So wesentlich aber auch das Erleben und dessen Betonung
sein mag, so kommt die psychologische Forschung mit ihm nicht
aus, ja sie würde mit ihm allein nicht einmal zu wissenschaft¬
lichen Ergebnissen, geschweige denn zu einer Psychologie kom¬
men können. Zur wissenschaftlichen Verarbeitung des im Erleben
gegebenen Materials, ja schon zu seiner einfachen Aufstellung und
Sichtung, der Deskription und Analyse bedarf sie wie jede wissen¬
schaftliche Tätigkeit des Denkens, und zwar in ihrem Falle des
Denkens, sofern es sich auf die eigenen Bewußtseinstatsachen
zum Zweck ihrer Untersuchung richtet, d. h. der inneren Wahr¬
nehmung. Diese auf den ersten Blick relativ einfach aussehende
Tätigkeit hat seit langem zu den mannigfachsten Erörterungen
Anlaß gegeben. Wenn wir von mehreren Einzelfragen absehen,
so läßt sich ein prinzipieller Streitpunkt dahin fassen, daß man
die Alternative aufstellt, ob die innere Wahrnehmung oder Selbst¬
betrachtung im Momente des Erlebens stattfinde oder ob sie nur
eine nachträgliche Untersuchung der im Bewußtsein vorhandenen
Restbestände sei. Zugleich hat man an die Entscheidung dieser
Frage gewisse Wertungen geknüpft und z. B. behauptet, daß, wenn
die innere Wahrnehmung nachträglich stattfinde, ihre Leistung
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G. Anschütz,
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Wenn wir ohne Rücksicht auf etwa sich ergebende Konse¬
quenzen fragen, welche Behauptung von diesen beiden die zu¬
treffende sei, so müssen wir unbedingt der zustimmen, die von
einem Selbstwahrnehmen während des Erlebens nichts wissen
will. Ganz abgesehen von theoretischen Erwägungen, wie etwa
der, daß, wenn das Bewußtsein einmal von etwas erfüllt sei, das
es erfüllende Erlebnis, ohne Schaden zu nehmen, nicht bestehen
könne, wenn ein anderes Element auftrete und seinen Platz im
jederzeit beschränkten Bereiche des Bewußtseins beanspruche *),
kann auf das alte, auch von Mlinsterberg angeführte Beispiel
von dem Zornigen verwiesen werden, dessen Zorn vergeht, wenn
er sich selbst zu betrachten beginnt und wenn er, auf seine Ver¬
fassung etwa aufmerksam gemacht, mit einem gewissen Rechte
behauptet, er sei gar nicht zornig oder ärgere sich gar nicht
Oder man nehme denjenigen als Beispiel, in welchem vor lauter
Reflexion und Selbstbetrachtung der Willensimpuls zu einer Hand¬
lung nicht zustande kommt, sondern in Beinern Erstehen zu halbem
Leben bereits wieder erstirbt. Die klassischen Worte aus Wallen¬
stein »Ich will es lieber doch nicht tun« können hier als Exempel
gelten. Die besten Beispiele aber wird endlich die Kunst liefern
können. Es wird sich selten ein Künstler finden, der nicht beim
Schaffen die kalte Überlegung, vor allem die Selbstbetrachtung
als einen gefährlichen Feind seiner Stimmungen fürchtet, wenn sie
ihm auch andererseits zu Betrachtungen theoretischer und ästhe¬
tischer Art sehr zweckdienlich sein kann. »Des que la pensee
intervient, la deformation commence« 2 ), so sagt Ribot in anderem
Zusammenhänge in zutreffender Weise von dem Verhältnis zwi¬
schen Erleben und Selbstbedenken.
Ist nun also die innere Wahrnehmung nicht eine simultane
Betrachtung der Erlebnisse, so scheint es zunächst, als könnte sie
nur eine nachträgliche sein. Ist sie aber nachträglich, so kann
sie nur die Fragmente, die Restbestände des Erlebens untersuchen.
Diese Tatsache scheint ganz einleuchtend; aber es taucht eine
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6. Anschütz,
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findet, scheint den Tatsachen zu entsprechen. Aber sie scheint
noch einer näheren Bestimmung fähig zu sein. Denn da einer¬
seits das Erlebnis schwindet oder zum mindesten bedeutend an
seiner Originalität und Lebendigkeit einbüßt, wenn die Selbst¬
betrachtung hinzutritt, andererseits aber auch die Grade der
Potentialität von Erlebnissen in dem Sinne variieren werden, als
einige Elemente eben aus dem vollen Lichte des Bewußtseins ge¬
schwunden und noch relativ leicht aktualisierbar sind, während
sich andere in größerer Tiefe befinden und von der Möglichkeit
einer Aktualisierung weiter entfernt sind, so steht einer Ausdeh¬
nung unserer Hypothese in dem Sinne nichts entgegen, als die
innere Wahrnehmung in einem zeitlich ausgedehnten Bewußtseins¬
zustand erblickt werden kann, in welchem ein mehrfaches Wieder¬
aufleben der Erlebnisse mit einer mehrfachen Wendung des Blickes
auf diese und einer entsprechenden jedesmaligen Zurtlckdrängung
jener Erlebnisse abwechselt. In der Tat hat die innere Wahr¬
nehmung einen offenkundigen Charakterzug, der jene Hypothese
zu verifizieren scheint, nämlich jenes eigenartig Tastende, und die
verschiedenen Etappen der mehr oder weniger auf den Gegenstand
konzentrierten geistigen Tätigkeit, des Oszillierens der Aufmerk¬
samkeit im Sinne von graduellen Schwankungen. Sie hat diesen
Charakterzug in auffällig höherem Maße als jede naturwissenschaft¬
liche Betrachtung, die zwar auch wie jede geistige Tätigkeit eine
festzustellende und in bestimmten Grenzen sich bewegende Un¬
beständigkeit der Aufmerksamkeit aufweist, aber doch eine solche
von weniger intensiven Schwankungen. Wir wollen aber endlich
doch mit der Möglichkeit rechnen, daß jemand die innere Wahr¬
nehmung anders bestimmen wird und, um eventuelle Definitions¬
differenzen zu vermeiden, die oft ein fruchtloses Bemühen sind,
uns dahin aussprechen, daß jedenfalls die soeben skizzierte Weise
einer inneren Wahrnehmung große Vorzüge haben wird, und sie
als eine gute Form derselben hinstellen. Ihr ganzer Charakter,
der nicht ein so fest abgeschlossener und begrenzter ist, wie ihn
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Über die Methoden der Psychologie.
435
ist, indem sie mehrfach in das Erleben selbst eingreift. Endlich
aber zeigt uns jene so bestimmte Methode der inneren Wahr¬
nehmung, daß zu einer genauen Erfassung der entsprechenden
psychischen Gegenstände nicht eine gewisse Anzahl von Versuchen
des Wiederauflebenlassens genUgt, sondern daß diese Zahl sogar
eine unbegrenzte ist, wenn es sich um ideale Erkenntnis handeln
soll. Sie zeigt uns also weiter noch, daß auch unsere Erkenntnis
der psychischen Tatsachen genau genommen nur eine approxima¬
tive ist, die sich dem von ihr angestrebten Ideal nur asymptotisch
nähern kann, ohne es jemals ganz zu erreichen. Wohl bemerkt,
gelten aber diese Ausführungen nur, sofern es sich um eine voll¬
kommene Erkenntnis individueller Erlebnisse in ihrer vollen Origi¬
nalität handelt; daß und inwiefern eine solche bei anderen Erleb¬
nissen allerdings möglich ist, davon wird später die Rede sein.
Die Rede vom Wiederaufleben der Erlebnisse in der inneren
Wahrnehmung, und sogar von einem mehrfachen, in das dann die
Selbstbetrachtung eingreift, weist schon indirekt auf ein Moment
hin, das noch der besonderen Hervorhebung bedarf und das auf
mehrfache Art aufweisbar ist, nämlich das zeitliche. Daß die
innere Wahrnehmung, sofern sie überhaupt psychische Gegenstände
erfaßt und diese letzteren jederzeit irgendwie zeitlich bestimmte
sind, d. h. simultan oder in der Nacheinanderfolge stattfinden,
ebenfalls eine Uber verschiedene Zeitpunkte sich erstreckende ist
und daß sie nicht nur momentartig auftritt, wird ohne weiteres
zugegeben werden müssen. Das zeitliche Element aber ist noch
in anderer Beziehung bedeutungsvoll als nur darin, daß die innere
Wahrnehmung in einer Abwechslung mit dem Wiederaufleben der
Erlebnisse auftritt. Die Selbstbeobachtung zeigt uns nämlich nicht
nur das einfache Dasein von Tatsachen im Bewußtsein auf, son¬
dern auch deren Hervorgehen und Herauswachsen aus allgemei¬
neren Bewußtseinslagen oder als ganz spezialisierten Einzelerleb¬
nissen, die wir als gleich- oder fremdartig ansehen mögen; sie
zeigt uns ferner in einigen Fällen das Anwachsen solcher Erleb-
nisse zu ihrer vollkommenen Vollendung und weiterhin ein Ver¬
schwimmen und Verschwinden in die mannigfachsten Details oder*
in ganz unbestimmte Elemente; oder wir ersehen endlich mit ihre*-
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G. AnBchütz,
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in gleich- oder verschiedenartigen Zusammenhängen zu verfolgen
und zu sehen, wie sie sich in diesen gestalten. Solche verschie¬
denen Zusammenhänge, in die bestimmte Erlebnisse eingeordnet
sind, können sich nun entweder ohne unser ausdrückliches Zutun
darbieten. In diesem Falle betrachten wir unser seelisches Leben
als passive Zuschauer. Oder aber wir vollziehen jene Einordnung
absichtlich und nach bestimmten Gesichtspunkten, wir variieren
bewußtermaßen und willkürlich die »Fälle«. Dann treiben wir
das sogenannte innere Experiment. In jedem Falle aber wenden
wir die innere Wahrnehmung in ihrer näheren Charakterisierung
als Selbstbeobachtung an. Die Bezeichnung des Selbstbeobachtens
schließt sowohl das zeitliche Element als auch das der Richtung
des geistigen Blickes auf die Gegenstände des Bewußtseinslebens
zum Zwecke ihrer näheren Erforschung ein.
Indem aber die innere Wahrnehmung aus den verschiedenen
Bewußtseinszusammenhängen das Gleiche herausfindet und das
Veränderliche ausscheidet, indem sie diese eigenartige innere Er¬
fahrung treibt, ist sie mit der naturwissenschaftlichen Induktion
in Analogie zu stellen. Auch sie beobachtet entsprechend der
Empirie der Naturwissenschaft nicht nur die gleichen Fälle als
solche, sondern sie zieht auch aus diesen etwas allgemein Gel¬
tendes, allgemeine Tatsachen und Gesetze heraus; sie schließt
gleichsam von einigen Fällen auf alle überhaupt möglichen, in
der gleichen Richtung liegenden. Daß freilich hier nur eine ge¬
wisse Analogie vorliegt, ergibt sich aus den Voraussetzungen der
beiden Betrachtungsweisen, der inneren und äußeren Wahrnehmung,
welche letztere die Naturwissenschaft betreibt, nämlich der des
Bewußtseins und der der außerbewußten Wirklichkeit. Die innere
Wahrnehmung oder Selbstbeobachtung kommt daher nicht zu Ge¬
setzen von kausalem Charakter, zu denen die Betrachtung der
Außenwelt führt; sie kann auch nicht derartige Gesetze aufstellen
wie etwa das, daß auf Stoß Gegenstoß folge, oder daß zwei
Körper sich proportional ihrer Masse und umgekehrt proportional
ihrer Entfernung anziehen, da sie ja mit entsprechenden Gegen¬
ständen überhaupt nicht zu tun hat. Die Frage, zu was für Ge-
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über die Methoden der Psychologie.
437
Vorstellung und Gegenvorstellung im normalen Seelenleben an¬
einander gebunden sind, in der Vorstellung die Tendenz nach dem
Gedanken an die Wirklichkeit des VorgeBtellten liegt, und endlich
etwa Erlebnisse, wenn sie zu Teilerlebnissen werden, ihre ur¬
sprüngliche Selbständigkeit verlieren und sich dem Gesamterlebnis
assimilieren *).
Die psychologische Methode der Selbstbeobachtung können wir
sowohl die nächstliegende als auch die fundamentale nennen.
Nahegelegt ist sie schon durch ihre umstandslose Verwendbarkeit
durch jedes beliebige individuelle Bewußtsein in jedem Zeitpunkte;
fundamental aber muß sie genannt werden, weil sie ihren Blick
auf die Bewußtseinstatsachen als auf unmittelbare Tatsachen
richtet, wobei sie weder auf die äußeren Sinne, noch aber auf
einen hypothetischen inneren Sinn angewiesen ist. Sie nimmt
somit an den zahlreichen Fehlerquellen, die durch die Vermittlung
der Sinne erwachsen, nicht teil. Jene Unmittelbarkeit ihrer Be¬
obachtung, die als ihr größter Vorzug zu gelten hat, wird aber
dadurch, daß auch sie freilich die BewußtseinserlebniBse nur
gegenständlich erfassen kann, sofern sie nämlich zu allgemeinen
Gesetzen des Bewußtseins kommen will, nicht in eine bloße
Mittelbarkeit verwandelt. Denn die Bewußtseinstatsachen bleiben
Bewußtseinstatsachen, auch wenn sie gegenständlich werden, d. h.
wenn die innere Wahrnehmung sie betrachtet und erforscht. In
Gefühlen, Gedanken, Willensakten usw. bleibt das sie erlebende
individuelle Subjekt trotz dieser Gegenständlichkeit bestehen. Das
Subjekt aber, welches die Erlebnisse hat, und das, welches sie
betrachtet, sind in der Tat trotz dieser eigenartigen Spaltung das
gleiche. Dieser Umstand wird uns vor allem dazu berechtigen,
von der Unmittelbarkeit dieser Betrachtungsweise in der inneren
Wahrnehmung zu sprechen. Zu diesen zweifellosen Vorzügen ge¬
sellt sich endlich derjenige, der in der induktiven Seite der Selbst¬
beobachtung liegt, mit deren Hilfe das individuelle Bewußtsein
imstande ist, an seinen Erlebnissen die nur zufälligen und
alliremeintrttltieen Elemente herausznfinden. Mit Rücksicht atif
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G. Anschütz,
zuerkennen müssen, dürfen wir in ihr doch kein ideales Mittel er¬
blicken, das uns eine vollkommene Erkenntnis des Bewußtseins¬
lebens ermöglichen könnte. Wir müssen hier zunächst auf eine
allgemeine Tatsache des Bewußtseins hinweisen, aus der zwar
jene Unmöglichkeit nicht folgen soll, die uns aber zeigt, daß
unsere Erkenntnis stets nur eine approximative sein kann. Das
ist jene Tatsache, daß wir im Bewußtsein jene deutlichen Schei¬
dungen nicht machen können, welche in den meisten die Erleb¬
nisse bezeichnenden Begriffen liegt. Schon wenn wir nur vom
Denken, Fühlen und Wollen sprechen und die Denkakte, die
mannigfachsten Gefühle, Willensakte und die vielgestaltigen Vor¬
stellungen untersuchen, so können wir streng genommen keines
dieser Elemente annähernd erschöpfen, ohne daß wir nicht auf
ein anderes gleichzeitig den Blick lenkten. Die innere Wahr¬
nehmung hat, sofern sie ihre Objekte erkennen will, nicht nur
ihren allgemeinen Charakter festzustellen, sondern auch die fremd¬
artigen Elemente in ihnen aufzuweisen und zu zeigen, wie sich
diese in sie einordnen, wie sie das Ganze modifiziert haben
und durch das Ganze selbst modifiziert sind. Sie hat aber weiter¬
hin nicht bloß solche Elemente zu untersuchen, welche im vollen
Bewußtsein stehen, sondern auch die dunkleren und fast im Un¬
definierbaren verschwimmenden. Die Rede von dem Halbbewußten,
den unter- und unbewußten psychischen Erlebnissen hat ihren sehr
guten und wohlberechtigten Sinn, solange man dieses Gebiet nicht
als einen Deus ex machina zur Erklärung heranzieht. Schon jene
Aufgabe aber ist als eine ganz beträchtliche zu bezeichnen.
Endlich aber kommt zu jenen Schwierigkeiten, die schon das Be¬
wußtsein in einem Momente darbietet, eine wesentliche Komplikation,
indem der zeitliche Verlauf jener mannigfachen Phänomene die
Einsichtigkeit und Klarheit wesentlich erschwert.
Zu alledem kann man endlich noch eine Schwierigkeit anderer
Art hinzufUgen, von der eingangs bereits die Rede war. Wenn
die innere Wahrnehmung ihre Objekte überhaupt erfassen und
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Über die Methodeu der Psychologie.
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menen Erkenntnis der Bewußtseinsphänomene auch eine unbe¬
grenzte Anzahl von Begriffen erforderlich. Auch wenn aber jene
Fassung einmal erfolgt wäre, so wäre damit doch nichts Wesent¬
liches geleistet; es ginge uns ähnlich wie bei dem kontinuierlichen
Strome des Heraclit, daß nämlich der Gegenstand während
unserer Erforschung bereits wieder seine Gestalt verändert hätte.
Diese Betrachtungen scheinen vielleicht ein wenig ins Extrem
zu gehen. Wo es sich jedoch um eine Begrenzung der Methoden
und um ihre Leistungsfähigkeit handelt, sind auch derartige Er¬
örterungen notwendig. Es folgt nämlich aus ihnen jene nicht un¬
wesentliche Erkenntnis, daß sich die gesamte psychologische For¬
schung zunächst nur auf allgemeinere Phänomene, allgemeine
Seiten und Richtungen im Bewußtsein beziehen kann und daß der
unendliche Reichtum individuellen Erlebens gar nicht ihr eigent¬
liches Objekt darstellen kann. Mit einem gewissen Rechte, so
wird man jederzeit sagen können, sind die feinsten und komplexe¬
sten Erlebnisse nur erlebbar, und sie sind dies, so wie sie sind,
nur ein einziges Mal. Diese Erkenntnis kann den Wert des ein¬
zelnen Erlebnisses für uns wesentlich steigern.
Während die soeben angegebenen Grenzen, die der Forschung
aller inneren Wahrnehmung gesteckt sind und die zugleich für
alle psychologische Forschung überhaupt gelten, im Wesen der
letzten Voraussetzungen der Psychologie begründet sind, sofern
nämlich das bis ins Unendliche differenzierte Bewußtsein die
Voraussetzung der Psychologie ist, beruht ein anderer Mangel,
den man ihr gegenüber mit einem gewissen Rechte geltend ge¬
macht hat, vielmehr auf solchen Voraussetzungen, wie wir sie ein¬
gangs den letzten oder primären als sekundäre oder akzidentielle
gegenüberstellten. Da nämlich die innere Wahrnehmung stets nur
im individuellen Bewußtsein stattfindet, in diesem individuellen
Bewußtsein aber solche Elemente vorhanden sind, die nur diesem
bestimmten, d. h. unter bestimmten Bedingungen und bestimmten
Verhältnissen, mit bestimmten Anlagen, Trieben, Neigungen und
Interessen ause-estatteten Individuum znkommen, und auf der an-
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G. Anechütz,
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das Urteil Uber diesen zn beeinflussen pflegt —, da aber endlich
die Scheidung zwischen solchen individuellen und allgemeinen
»Zügen« in der Natnr des Individuums in ihren Einzelheiten eine
für die innere Wahrnehmung äußerst schwierige ist, so kann es
nicht wundernehmen, wenn diese in ihrer Anwendung durch ein
individuelles Bewußtsein nicht in jeder Beziehung ideale Dienste
zu leisten vermag. Zu einer entsprechenden Korrektur aber
scheint schließlich auch die einfache Beobachtung anderer und
die Heranziehung deren innerer Wahrnehmung nicht zu genügen;
die Diskussion, die, an vielfachen und notwendigen gegenseitigen
Mißverständnissen reich, über psychologische Probleme geführt
wird und die nicht selten mit einer erstaunlichen Diskrepanz der
Meinungen endet, die sich oft erst während der Diskussion zu
entschiedener Gestalt heranbildet, während sie zu Anfang nur eine
verschwindende war, zeigt trotz der unverkennbaren Vorzüge, die
sich hauptsächlich in Form gegenseitiger Anregung in ihrem Ge¬
folge befinden, wie fruchtlos dieses Verfahren ist, wenn man die
aufgewandte Mühe mit dem positiven Erfolge vergleicht. Es darf
daher einerseits als eine in der Sache begründete Forderung,
andererseits als das Ergebnis persönlicher Bedürfnisse gelten,
wenn sich gegenüber den an Differenzen reichen subjektiven Be¬
obachtungen das Verlangen nach einer solchen Methode geltend
gemacht hat, die in objektiver Form, wenn auch zunächst nur ge¬
ringe, so doch später jedenfalls steigende Erfolge hinsichtlich einer
objektiven Tatsachenaufstellung aufzuweisen hat. Die Forderung
einer sogenannten »objektiven Kontrolle« ist vor allem von Wundt *)
unzweideutig ausgesprochen und zum großen Teil auch realisiert
worden. Abgesehen von tatsächlich positiven Erfolgen einer
solchen objektiven Methode ist aber auch auf den Umstand zu
verweisen, daß viele Probleme sowohl in ihrer allgemeinen be¬
grifflichen Stellung als auch in ihrer Formulierung im einzelnen
durch jene objektive Methode eine Klärung und Erweiterung er-
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Über die Methoden der Psychologie.
441
Wahrnehmung dasselbe als eine Tätigkeit, welche das apperzep-
tive Erfassen der zu vergleichenden Gegenstände als notwendige
und unerläßliche Vorbedingung habe, so kommen wir bei der
Interpretation von experimentell festgestellten Tatsachen in große
Schwierigkeiten. Das Experiment weist uns in der Tat auf eine
Menge von Fällen hin, in denen wir allerdings vergleichen, even¬
tuell sogar ganz exakte, z. B. mathematisch formulierbare Ver¬
gleiche ausftihren. Die Beobachtung der Versuchspersonen ergibt
aber, daß von einer Apperzeption gar nicht die Rede sein kann.
Eine Differenz mag sich zwar dann aufstellen lassen, wenn man
den Sicherheitsgrad, das Bewußtsein der Gewißheit bei unmittel¬
baren Kundgaben und bei ausgeprägten Urteilen angeben läßt,
indem dann bei vorausgehender voller Apperzeption das Vergleichs¬
urteil mit größerer subjektiver Gewißheit gefällt wird als bei un¬
mittelbaren Ausdrücken, die nur den Eindruck wiedergeben. Trotz¬
dem aber liegen offenbar Vergleiche vor, möglicherweise sogar
solche von erstaunlicher Exaktheit. Schließlich kann man sogar
mit einer Erweiterung des Begriffes des Vergleichens von einem
Vergleichen im Erleben reden. Das Gefühl »mir ist so, als
wenn . . .« enthält zweifellos gewisse Vergleichselemente, und auch
in diesem Falle kann der unmittelbare Ausdruck eine große Ge¬
nauigkeit enthalten l ).
Ehe wir jedoch zur Besprechung des Experimentes in der
Psychologie selbst übergehen, mag nochmals auf das Gesamt¬
gebiet der inneren Wahrnehmung zurtickgegriffen sein, indem wir
einen an dieser Stelle noch nicht berührten Begriff einführen.
Wenn wir in der Selbstbeobachtung eine Erweiterung der inneren
Wahrnehmung in der Richtung sahen, daß sie bereits Induktion
treibe und zu allgemeinen Tatsachen und Gesetzen gelange, so
war damit unausgesprochen der Begriff der inneren Erfahrung ge¬
streift. Von innerer und äußerer Erfahrung kann nun auch im
Anschluß an die Begriffe der unmittelbaren und mittelbaren Tat¬
sachen gesprochen werden. Diese Begriffe sind besonders von
Wundt, aber auch von Lipps 2 ) nicht nur verwendet, sondern
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442
6. AnBchütz,
auch einer spezielleren Untersuchung unterzogen worden. Die
beiden jedesmal sich entsprechenden Begriffe, die man auch
Komplementärbegriffe nennen kann, werden von beiden Autoren
im wesentlichen in übereinstimmender Weise verwendet, und zwar
in dem Sinne, daß sich die innere Erfahrung auf die unmittelbar
gegebenen Tatsachen bezieht, d. h. also auf die Bewußtseinserleb¬
nisse, die psychischen Tatsachen, während es die äußere mit Tat¬
sachen zu tun hat, die durch die Sinne vermittelt sind, mithin mit
den Objekten der Außenwelt. Die Frage nach den zahlreichen
nicht nur möglichen, sondern auch notwendig aufzustellenden
Zwischenstufen beider, z. B. der mathematischen Erfahrung, dann
der, die wir an nur gedachten Gegenständen, und solchen, die
wir kategoriale nennen können, machen, und endlich derjenigen,
zu der uns die phantasierten und nur vorgestellten, dazu als wirk¬
lich oder nichtwirklich gedachten Gegenstände den Stoff liefern,
soll an dieser Stelle nicht eingehend behandelt werden. Ins¬
besondere scheidet auch der von den genannten Autoren be¬
handelte Gedanke aus, inwiefern sich auf jene Begriffe bzw. Tat¬
sachen der mittelbaren und unmittelbaren Erfahrung eine ganze
Systematik der Wissenschaften aufbauen läßt. Die innere Er¬
fahrung soll uns an dieser Stelle nur so weit interessieren, als sie
die eigentliche Grundlage für die auf sie sich aufbauende Spezial¬
wissenschaft oder Spezialbetrachtungsweise im Gesamtgebiet der
Psychologie bildet, die jetzt unter dem Namen der Phänomeno¬
logie besonders durch Husserl eine besondere Ausbildung und
Betonung als eines ganz bestimmten Zweiges der Psychologie er¬
fahren hat 1 ).
Wenn wir unter dieser eine Betrachtungsweise verstehen, die
es mit den Phänomenen des psychischen Lebens, mit seinen Einzel¬
erscheinungen und Gesamterscheinungsweisen zu tun hat, und
diese Erscheinungen nicht so verstehen, als wenn hinter ihnen
noch das in ihnen Erscheinende zu suchen sei, so können wir die
erste Aufgabe aller Phänomenologie in der Aufstellung des in der
inneren Erfahrung gegebenen Materials sehen, d. h. also in einer
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Über die Methoden der Psychologie.
443
Psychischen möglich sei, ranß wiederum bestritten werden 1 ), da
eben die begriffliche Fassung nicht alle Erlebnisse zu fassen ver¬
mag. Andererseits aber liegt auch schon in jeder begrifflichen
Fassung der erste Ansatz einer Uber die einfache Beschreibung
hinaus tendierenden Erklärung, und wir können somit die erste
Aufgabe der Phänomenologie nur in einer möglichst genauen und
von allen fremdartigen Elementen möglichst freien Aufstellung des
reinen Tatbestandes sehen. Ohne darüber entscheiden zu wollen,
ob eine solche einfache Beschreibung von Tatsachen schon Wissen¬
schaft oder ob sie nur etwas dieser Vorangehendes sei, welches
erst das Rohmaterial für die eigentliche Forschung herbeizuschaffen
habe, müssen wir jener reinen deskriptiven Phänomenologie jeden¬
falls eine wesentliche Bedeutung zuschreiben. Sie stellt, um mit
Husserl 2 ) zu reden, einerseits ein »Gebiet neutraler Forschungen«
dar; andererseits aber beschränkt sie sich auf ein Minimum von
Voraussetzungen. Sie setzt lediglich die Bewußtseinstatsachen
voraus, ja sie stellt diese sogar erst auf und denkt vorerst nicht
einmal an ihre Erklärbarkeit. Wir können sie daher eine Art
propädeutischer Disziplin für die speziellere psychologische For¬
schung nennen.
Immerhin kann sich eine Phänomenologie nicht auf das enge
Gebiet bloßer Deskription beschränken, sondern sie sucht zu¬
nächst in dem gesammelten Material einige begriffliche Klarheit
zu schaffen. Zu diesem Zwecke bedient sie sich im wesentlichen
zweier Elemente, nämlich der Synthese und der Analyse. Diese
Scheidung ist aber nicht in dem Sinne zu machen, als wenn die
eine dieser beiden Tätigkeiten der anderen zeitlich voranginge;
sondern es verbinden sich beide zu einer Tätigkeit, der wir dann
freilich den Namen der Analyse zu geben gewohnt sind. Jene
Schaffung begrifflicher Klarheit ist also in der Tat schon mit
diesem weiteren Momente verbunden. Eine solche analysierende
Tätigkeit der Phänomenologie bezieht sich nun einerseits auf die
Untersuchung sukzessiv zusammenhängender Bewußtseinstatsachen.
Sie faßt etwa ein Gesamterlebnis des Wollens ins Ausre und ver-
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G. Anschütz
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findet, daß der Willensentschluß aus einer langen Kette von Über¬
legungen und Erwägungen hervorgegangen ist, aus denen sich
jedesmal gewisse Tendenzen und Gegentendenzen entsprechend
den jene begleitenden Vorstellungen und Gegenvorstellungen er¬
geben haben. Weiterhin findet sie an jenem vielleicht ziemlich
komplizierten Erlebnis des Willens das Auftreten bestimmter mehr
oder minder charakterisierter Gefühle, die entweder von innen
heraus motiviert oder durch das Eingreifen äußerlich bedingter
Empfindungen und Wahrnehmungen hervorgerufen sein mögen.
Am Ende aber steht sie vielleicht vor gewissen nicht näher
definier- oder beschreibbaren Tatsachen, die sie Triebe oder In¬
stinkte nennt und die sie letzten Endes für alle späteren Affekte
und Bewußtseinslagen jeglicher Art verantwortlich zu machen
geneigt ist. Auf der anderen Seite verfolgt die Phänomenologie
die Weiterentwicklung des Willensaktes zur Willenshandlung und
findet hier z. B. gewisse Hindernisse, die jene vereiteln und an
ihrer Stelle aus dem Willensakte ein Gefühl der Mißmutigkeit,
der Verzweiflung, oder aber eine neue Überlegung, die sich in
ganz neuen Formen gestaltet und ganz neue Begleiterlebnisse im
Gefolge hat, hervorwachsen lassen. Eine Phänomenologie solcher
Art kann als analytisch-genetische bezeichnet werden.
Dieser Art analysierender Phänomenologie muß eine andere
gegenübergestellt werden, die nicht immer praktisch, wohl
aber theoretisch von jener zu trennen ist. Die hier gemeinte
Betrachtungsweise, die eine analytisch-erkenntnistheoretische ge¬
nannt werden kann, geht jener gegenüber nicht in die Breite,
sondern sie verfolgt die psychischen Phänomene in ihre Tiefe, sie
fragt nach dem »Was?«, dem inneren Sinn des Erlebnisses. So
wird auf die Frage, was das Denken sei, nicht geantwortet wer¬
den, indem auf den Zusammenhang desselben mit Empfindungen
und Wahrnehmungen und auf sein Herauswachsen aus diesen ver¬
wiesen wird und indem man weiterhin in einfachen und kompli¬
zierten Urteilen seine Weiterentwicklung sehen wird, sondern sie
antwortet, das Denken sei eine geistige Tätigkeit des Konzentriert-
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445
Über die Methoden der Psychologie.
implicite schon ein Urteil usw. Oder sie untersucht solche Phäno¬
mene wie kategoriale Bestimmtheiten und sagt von ihnen, sie seien
insofern von GefUhlsqualitäten der Gegenstände unterschieden, als
man von diesen abstrahieren könne, von jenen aber nicht. Als
ziemlich typisch filr die beiden hier unterschiedenen Betrachtungs¬
weisen dürfen wohl die von Wundt 1 ) und Lipps 2 ) gegebenen
Darstellungen der Willensphänomene gelten. Während jener durch¬
aus genetisch verfährt und den Willen aus Empfindungen, Vor¬
stellungen und weiterhin aus Gefühlen und Atfekten hervorgehen
läßt, also gleichsam den äußeren, zeitlichen Zusammenhang auf¬
weist, stellt sich Lipps vielmehr die Aufgabe, den eigentlichen
Sinn der betreuenden Tatsache aufzudecken, indem er die im
Willen steckenden Elemente klarzulegen sucht. Für die letztere
Art der Phänomenologie sind auch die Darstellungen der »Ein¬
fühlung« 3 ) und die Lösung der Frage: »Wie komme ich zum Be¬
wußtsein der Außenwelt?« bei Lipps bezeichnend 4 ). Wir können
die ganze Art auch als eine fast metaphysische in Anspruch
nehmen.
Wie weit nun eine deutende und interpretierende Phänomeno¬
logie gehen kann, um nicht einem berechtigten Vorwurf, Metar
physik zu enthalten, zu verfallen, ist eine Frage, deren Beant¬
wortung zu den schwersten Problemen gehört. Wenn Stumpf 5 )
der Phänomenologie sogar die Aufgabe zuschreibt, »bis zu den
letzten Elementen« vorzudringen, so präzisiert sich unsere Frage
nur in der Weise, daß es sich eben um die Bestimmung jener
letzten Elemente handelt. Wenn wir nun die Grenzen aufzusuchen
bemüht sind, bis zu welchen die phänomenologische Betrachtung
gehen darf, so scheint es, als müsse diese lediglich im Gebiete
derjenigen Tatsachen bleiben, die als unmittelbare noch der inne¬
ren Erfahrung zugehören. Unmittelbar aber sind Bewußtseins¬
tatsachen nur so lange, wie sie rein als solche, d. h. als Phäno¬
mene, als Erscheinungen betrachtet sind, hinter denen wir in der
1) Grandzüge der Dhvsiol. Psvchol. III. 6. Aufl. S. 3l0fU PbiloB.
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Über die Methoden der Psychologie. 447
däre in diesem Falle jenem anderen gegenüber in den Hinter¬
grund.
Das reduktive Element der Phänomenologie und das der In¬
duktion, welche jede Erfahrung, auch die innere Erfahrung auf¬
weist, brauchen bei einer zusammenhängenden Untersuchung
phänomenologisch-psychologischer Natur nicht in einer ausdrück¬
lichen Getrenntheit vorzukommen. Es scheint vielmehr, als wenn
sich beide in der Weise miteinander komplizierten, daß die Be¬
trachtungsweise in ihren Etappen bald jenen, bald diesen Faktor
deutlich hervortreten läßt. Auch die einfache Aufstellung des
Materials der inneren Erfahrung wird sich in der Tat nicht immer
von den Momenten der Interpretation und Reduktion absolut
scheiden lassen. Die Phänomenologie entwickelt sich für unseren
Blick gegenüber jeder in sich abgeschlossenen und streng nach
einem einzigen Gesichtspunkt vorgehenden Methode zu etwas
Kompliziertem, in welchem mehrere methodische Bestandteile
stecken. Wenn man somit auf ihren allgemeinen Charakter
achtet, so haftet diesem weniger etwas von Erklärung als viel¬
mehr der Aspekt des Aufsptirens an. In dieser auch heuristisch
zu nennenden Eigenart der Phänomenologie vereinigen sich dann
die betrachteten einzelnen Elemente zu einer ganz neuen und
eigenartigen Forschungsweise, in welcher sich Deskription und
Analyse, Interpretation und Reduktion in günstiger Weise ver¬
einigen. Nimmt man zu diesen Elementen das Erleben hinzu,
von dem bei der inneren Wahrnehmung des näheren die Rede
war, so dürfte die phänomenologische Betrachtungsweise der
Psychologie für die Erkenntnis der Bewußtseinstatsachen höchst
bedeutsame Momente in sich vereinigen. Freilich kann auch sie
nicht als etwas absolut Vollkommenes gelten, denn es finden sich
auch in ihr noch einige Mängel, die sie mit jeder inneren Wahr¬
nehmung oder Selbstbeobachtung zu teilen hat, da sie als eine
auf jener basierende Spezialwissenschaft im Gesamtgebiete der
Psychologie aus eigenen Kräften die möglicherweise vorhandenen
Irrtumsquellen nicht vollkommen zu eliminieren vermag. So er¬
wächst also auch von hier aus das Bestreben nach einer nh-
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448
G. Anechiitz,
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«
III. Die mittelbaren Methoden nnd das Problem der exakten
Forschung.
Wenn man über den rein theoretischen Wert der psycho¬
logischen Methoden ein Urteil fällen will, so muß man jederzeit
der inneren Wahrnehmung und der auf sie sich aufbauenden
Phänomenologie der inneren Erfahrung den entschiedenen Vorzug
geben, indem man sie als unmittelbare, primäre, fundamentale
oder prinzipielle Methode den anderen als mittelbaren, sekundären
und gleichsam akzidentiellen gegenüberstellt. Und in der Tat
dürfen alle anderen Weisen psychologischer Forschung lediglich
als solche gelten, die jene nur zu vervollkommnen, nicht aber zu
ersetzen imstande sind. Sie dienen lediglich dem Zwecke der
Vermeidung und Eliminierung der Fehler, die jene in vieler Hin¬
sicht aufweist, wobei sie sich aber selbst der inneren Wahr¬
nehmung in hervorragender Weise bedienen und diese sogar
durch sich selbst zu korrigieren und zu vervollständigen streben.
Lenkt man jedoch seinen Blick auf den Umstand, daß die Psycho¬
logie nicht dann ihr Ziel erreicht hat, wenn sie sich auf eine
theoretisch möglichst einwandfreie Methode gründet, sondern wenn
sie auch Ergebnisse aufzuweisen imstande ist, die zu einem in
sich zusammenhängenden, objektiv als einwandfrei aufzeigbaren
System vereinigt sind, so muß der praktische Wert der objektiven,
die innere Wahrnehmung ergänzenden Methoden in unseren Augen
wesentlich steigen. Denn wenn einmal eine Wissenschaft fehler¬
hafte Elemente aufweist, mögen diese auch in ganz geringer Zahl
sein, so ist dadurch ihr Wert ganz wesentlich beeinträchtigt, und
es kann sogar eine kleine Fehlstelle zum Zusammenbruch des
Gesamtgebäudes fuhren. Von diesem Gesichtspunkte aus scheint
es, als seien die objektiven Methoden sogar etwas Notwendiges
und Unerläßliches. Des Vergleiches halber soll hier die Natur¬
wissenschaft herangezogen werden. Mag ein Physiker auf Grund
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Uber die Methoden der Psychologie.
449
An eine solche objektive Methode, die die Fehler der inneren
Wahrnehmung zu beseitigen hat, kann zunächst eine allgemeine
Forderung gestellt werden, nämlich die, daß sie analog der
exakten mathematisch-physikalischen Forschung in die Behand¬
lung der psychischen Phänomene eine exakte Methode einftihren
solle. Daß nun diese Exaktheit einfach im Sinne Herbarts auf¬
gefaßt werden könne, der die Psychologie u. a. auf Mathematik
gründen wollte, darf entschieden negiert werden *). Auf der an¬
deren Seite aber kann jene Exaktheit auch keineswegs im physi¬
kalischen Sinne gemeint sein, ein Gedanke, der auf den ersten
Augenschein hin etwas Verlockendes haben könnte. Eine solche
Möglichkeit aber widerlegt sich bei einer einfachen Berück¬
sichtigung der Differenz, welche die Voraussetzung der Psycho¬
logie von der der Physik scheidet. Die Exaktheit in der Physik
gilt eben schlechterdings nur mit Rücksicht auf die dinglich¬
materielle Welt, auf das vom Bewußtsein in der Daseinsweise
realer Dinge Unabhängige. Eine Psychologie aber, welche auch
die psychischen Phänomene als materiell-wirkliche ansähe, würde
eine merkwürdige Metaphysik sein. Man denke an den Wider¬
sinn, den es gibt, wenn im Bewußtsein Stoß und Gegenstoß statt¬
finden sollen 2 ), eine Meinung, die stillschweigend die Differenz
übersehen würde, welche zwischen einem räumlich ausgedehnten,
undurchdringlichen, in seiner Bewegung beharrenden physikali¬
schen Körper einerseits und dem jeder Räumlichkeit fremden und
dementsprechend jeder analogen Meßbarkeit unzugänglichen psy¬
chischen Erlebnis andererseits besteht. Es muß aber außerdem
noch bestritten werden, daß, wenn einmal das Ziel der inneren
Psychophysik, so wie Fechner es meint, erreicht und die ge¬
nauen Beziehungen zwischen Körperwelt und Bewußtsein in idealer
Weise aufgezeigt sind, diese Beziehungen etwa solche wären,
welche ausschließlich in physikalischen Begriffen und Gesetzen
faßbar wären.
Der hierauf bezügliche Unterschied zwischen Psychologie untl
Physik kommt noch in einem anderen Punkte zum Außdruc^^
Während nämlich die Physik nicht nur mit räumlich ausgedehnt^*.
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451
Über die Methoden der Psychologie.
welches beide miteinander verbindet, nämlich das Assoziieren,
bietet eine Menge von Problemen. Dazu aber kommt der Cha¬
rakter des Gesamterlebnisses aus jenen beiden Teilerlebnissen,
der über ein einfaches, dem räumlichen Neben- oder Übereinander
Vergleichbares weit hinausgeht. Auch läßt sich die mechanische
Wechselwirkung zweier physikalischer Körper, etwa eines me¬
tallischen und eines hölzernen von 50 und 100 g, mit denen
wir manipulieren, in keinerlei Analogie zu jenem Zusammen
bringen.
Ist somit eine direkte Übertragung der messenden, zählenden
und berechnenden Methode der Physik in die Psychologie nicht
am Platze, so bietet sich doch die Möglichkeit, dieselbe in in¬
direkter Weise für die Psychologie nutzbar zu machen. Solche
Arten der indirekten Bestimmung finden sich sehr oft in der
wissenschaftlichen Forschung; man denke vor allem an alle Be¬
stimmungen zeitlicher Art, die stets durch eine Veränderung, eine
Bewegung, also unter Zuhilfenahme auch des Räumlichen erfolgt.
Analog sind die Messungen der Elektrizität, die Bestimmung der
Schallgeschwindigkeit usw. Alle an sich unsichtbaren Gegen¬
stände der Physik, die Kräfte, sind so überhaupt nur indirekt zu
messen. Auch in der Physiologie werden etwa Muskelkräfte nicht
direkt, sondern mit Hilfe von Leistungen, etwa des Hebens von
Körpern und der Dauer derselben bestimmt. Ein treffliches Bei¬
spiel für alle indirekten Messungen ist das Kymographion, das
zur Registrierung der mannigfachsten Tatbestände in der Physio¬
logie treffliche und unentbehrliche Dienste leistet. Man denke
etwa an die Aufzeichnungen des Pulses oder der Atmung. Ver¬
lassen wir aber für einen Augenblick das engere Gebiet der
Experimentalphysik und der Physiologie und blicken auf die
astrale Physik. Hier hat die Spektralanalyse erstaunliche Dienste
geleistet, indem man mit ihrer Hilfe nicht nur bekannte Elemente
auf fremden Weltkörpern erkundete, sondern auch fremdartige,
z. B. das vielgenannte Helium, und indem man sogar die
anantitativen Verhältnisse dieser Körner in fremden Welten fand.
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452 6. AnschUtz,
Modifikation der Bewegungsrichtung eines Pendels in einem
großen Raume stützt 1 ).
Den speziellen Anlaß, die Untersuchung der psychischen Phäno¬
mene auf indirekte Weise zu unternehmen, bildet der allgemeine
Umstand, daß die Tatsachen des Bewußtseins nicht in vollkom¬
mener Isolation von der Körperwelt stehen, sondern daß zwischen
beiden ein Zusammenhang besteht, der sich sogar als ein ganz
bestimmter offenbart. Zu dieser Erkenntnis sind keineswegs
komplizierte und ins einzelne gehende Studien erforderlich, son¬
dern sie wird uns bereits durch Tatsachen des alltäglichen Lebens
nahegelegt. Wenn man von solchen Erwägungen allgemeiner Art
absieht, daß »niemand mit einem gefrorenen Gehirn oder mit
einem Schwamme in seinem Hirnkasten denken kann« 2 ), wie sie
Fechner gibt, so drängen sich der Betrachtung eine Menge von
Einzelheiten auf, die sehr bald die Hypothese von festen Be¬
ziehungen zwischen Bewußtsein und Körperwelt aufkeimen lassen.
Daß wir bei Beleuchtung durch zwei Lampen die Dinge besser
erkennen als bei solcher durch eine, daß, wo wir stärkeren Druck
empfinden, auch das Wirken einer größeren Kraft, z. B. eines
Gewichtes angenommen wird und daß diese Beziehung nicht nur
eine zufällige, sondern eine allgemein beobachtete ist, oder um
die bekannten Termini einzufUhren, daß Reiz and Empfindung in
bestimmter gegenseitiger Abhängigkeit stehen, ist nicht nur ein
Postulat, sondern eine auf normaler Induktion beruhende und ein¬
leuchtende Tatsache. In solchen einfachen Daten aber ist der
Angriffspunkt gegeben, an dem eine exakte Forschung einzusetzen
hat; denn es scheint natürlich, daß, wenn die objektiven Reize
durch die subjektiven Empfindungen irgendwie meßbar sind, dann
auch umgekehrt von den Reizen auf die Empfindungen geschlossen
werden könne. Freilich wird dieser letzteren Untersuchung die¬
jenige über die Gesetze, nach welchen sich Reiz und Empfindung
einander zuordnen, vorangehen müssen.
Wenn aber einmal jener Angriffspunkt da ist, so stehen der
Anwendung mathematisch-physikalischer Methoden auf die Tat-
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453
Über die Methoden der Psychologie.
Reize jederzeit nicht nur genauen Messungen unterzogen werden
können, sondern sie auch einer willkürlichen und planmäßigen
Variation fähig sind, da mit einem Worte auf sie alle Arten
mathematisch-physikalischen Verfahrens anwendbar sind, so ist
vor allem dem Experiment und der naturwissenschaftlichen In¬
duktion der Weg zur Welt der Empfindungen eröffnet. Es ist
charakteristisch, daß sich bei jenem Versuche, die exakte Er¬
forschung der Empfindungen zu unternehmen, eine relativ selb¬
ständige Wissenschaft herausgebildet hat, die sich als eine ganz
eigenartige und ein Grenzgebiet der Psychologie und Naturwissen¬
schaft bildende darstellt. Indem nämlich jener auf Grund ein¬
facher Tatsachen gemachten Voraussetzung, daß zwischen Reiz
und Empfindung überhaupt ein bestimmter Zusammenhang bestehe,
des näheren nachgegangen wurde, indem man sich also über den
näheren Charakter jener Voraussetzung Rechenschaft zu geben
suchte, fand sich, daß jene Beziehung keine eindeutig bestimm¬
bare und in einem einfachen Verhältnis faßbare Gesetzmäßigkeit
enthalte, sondern daß zu einer diesbezüglichen Untersuchung eine
ausgeprägte wissenschaftliche Methode eigener Art erforderlich sei;
es entstand so die Psychophysik.
Die Psychophysik ist in ihrem Grundgedanken nicht ganz neu,
wenn sie auch als eigentliche Wissenschaft erst seit der Mitte des
19. Jahrhunderts aaftritt. Allgemeinere Tatsachen wie die, daß
der Lustzuwachs einer konstanten Vermögensdifferenz entspreche,
waren schon D. Bernoulli 1 ) und Laplace 2 ) bekannt. Auch
wußte Euler bereits von dem bestimmten Verhältnis zwischen
Tonempfindungen und Schwingungszahlen, eine Beobachtung, die
freilich in unklarerer Gestalt schon die Pythagoräer gemacht
haben. Wenn endlich Hume 3 ) sagt, »daß Gegenstände nicht nach
Maßgabe ihrer absoluten Größe, sondern entsprechend dem Größen¬
verhältnis, in dem sie zueinander stehen, auf den Geist einwirkeu
und die Kontinuität seiner Tätigkeiten aufzuheben und zu unter¬
brechen vermögen«, so weist diese Beobachtung deutlich auf den
Grundgedanken der Psvchoühvsik hin. Wenn wir nun auch di«*
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454
G. AnschUtz,
Weber 1 ) anerkennen mögen, nach welchem das bekannte Gesetz
seinen Namen trägt, so ist doch erst G. Th. Fechner 2 ) als der
eigentliche Begründer dieser Wissenschaft anznsehen, dem wir die
erste umfangreiche Darstellung des betreffenden Gebietes ver¬
danken. Wenn wir von der umfangreichen Diskussion absehen,
die sich im Anschluß an Fechners Aufstellungen speziell von
seiten G. E. Müllers 3 ) entspann und jenen zu seiner »Revision
der Hauptpunkte der Psychophysik« veranlaßte, sowie von den
weiteren Etappen in der Entwicklung der Psychophysik, die uns
hier zu weit führen würden, und uns vielmehr wieder der sach¬
lichen Frage zuwenden, so haben wir in der Psychophysik keinen
eigentlichen Teil der engeren Psychologie zu sehen, sondern nur
ein Hilfsgebiet derselben 4 ). Im Vergleich zur Physik sowohl als
auch zur Psychologie, sofern diese Phänomenologie ist, weist die
Psychophysik eine erhebliche Komplikation in den Voraussetzungen
auf. Denn indem sie einerseits die Bewußtseinstatsachen voraus¬
setzt, andererseits aber die Körperwelt, außerdem endlich von der
Annahme einer festen Beziehung beider ansgeht, vereinigt sie die
Voraussetzungen der Psychologie und der Physik miteinander und
fügt noch eine neue hinzu. Diese Komplikation aber kommt in
ihrer ganzen Untersuchungsweise zum Ausdruck, und wenn man
sie so faßt, wie auch Fechner, nämlich in dem Sinne, daß sie
nicht nur die Beziehungen zwischen Reiz und Empfindung, son¬
dern schließlich diejenige zwischen Bewußtsein und Körperwelt
überhaupt aufzufinden hat, daß sie also äußere und innere Psycho¬
physik zugleich ist, dann kann die Lösung ihrer Aufgabe in ihrem
ganzen Umfange, vielleicht für alle Zeiten, sicherlich aber für eine
absehbare Zukunft, als problematisch gelten.
Diese Einteilung der Psychophysik in eine äußere und eine
innere scheint durch die psychischen Tatsachen nahegelegt. Daß
wir zunächst im psychischen Leben eine allgemeine, wenn auch
nicht unbedingt fest zu fixierende Scheidung zwischen gewissen
äußerlichen Tatsachen, die wir als periphere oder Randphänomene
1) Wagners Handb. der Phys. II. S. 550 ff.
2) Elemente der Psychophysik. 1860. Vgl. auch Ber. der Sachs. Soc.
iqko a oo
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Über die Methoden der Psychologie.
455
bezeichnen können und bei denen wir insbesondere an die Emp¬
findung denken, und solcher anderen machen müssen, die eher
zentrale zu nennen sind und deren Gebiet jedenfalls umfangreicher
ist als das jener, ist eine fast ausnahmslos zugestandene Tatsache.
Sie wird höchstens von solchen bis zu gewissem Grade geleugnet
werden können, die Uber eine wissenschaftliche Betrachtung hinaus,
ohne sich dessen bewußt zu sein, die Empfindungen die Elemente
des gesamten Seelenlebens sein lassen 1 ). Während dann also die
äußere Psychophysik die engere Aufgabe hat, die zwischen Reiz und
zugehöriger Empfindung bestehenden Gesetze genau aufzufinden,
kommt der inneren Psychophysik die bei weitem schwierigere Auf¬
gabe zu, die wir oben bereits als problematisch hinstellten, nämlich
die Auffindung exakter, gesetzlicher Beziehungen zwischen jedwedem
höheren, d.h. zentraleren seelischen und geistigen Phänomen und ent¬
sprechenden physikalischen bzw. physiologischen Tatsachen. Zum ge¬
ringeren Teile kann auch diese Aufgabe bereits als gelöst gelten; man
denke an die Beziehungen, die nicht nur zwischen Tonempfindungen
und Luftschwingungen, sondern auch zwischen jeder Wahrnehmung
einer Gestalt und deren objektiven Grundlagen besteht. Hierher
gehören Tonintervalle und räumliche Distanzen, aber auch die¬
jenigen Zwischenräume, welche der simultanen Harmonie zugrunde
liegen. Die Frage der räumlichen Distanzen, was das Neben-,
Über-, Hintereinander betrifft, ist bereits von Lotze 2 ) speziell
untersucht worden, allerdings mehr unter Zuhilfenahme hypothe¬
tischer Elemente, nämlich der von ihm so benannten > Lokal¬
zeichen«, die eine Art Mittelglied sind, das der Seele das physi¬
kalisch Vorhandene auf physiologischem Wege näher bringen soll,
und nicht auf dem Wege einer genauen Aufzeigung vorliegender
Tatsachen. Die hier berührten Fragen schließen sich aber immer
noch mehr oder minder an die äußere Psychophysik an. Gehen
wir aber vollends zu solchen Phänomenen über, die rein zentrale
genannt werden müssen, etwa ganz gegenstandslosen Gefühlen,
Stimmungen, komplizierten Denkakten usw., so befinden wir uns
im SDezielleren Gebiet der inneren Psvehonhvsik. die man eher
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6. Anschlitz,
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Auffindung der gesetzmäßigen Beziehungen zwischen den zentralen
psychischen Phänomenen einerseits und physiologisch konstatierten
Gehirn- und Nervenprozessen andererseits. Sie sucht also keines¬
wegs nach einer Erklärung des Einen durch das Andere, sondern
sie will lediglich den gesetzlichen Zusammenhang beider Welten
aufdecken. Dabei kann ihre speziellere Voraussetzung in dem
Bestehen des sogenannten psychophysischen Parallelismus gesehen
werden. Auf der anderen Seite aber liegen, zumal wo es sich um
die zentraleren Phänomene handelt, noch so wenig Tatsachen vor,
daß in diesen nur gewisse Anhaltspunkte für das Postulat gesehen
werden dürfen, daß auch komplizierten Bewußtseinstatsachen, wie
Erinnerung usw., physiologische Tatsachen überhaupt parallel
gehen, und daß dann weiter dieser Parallelismus in seiner spe¬
ziellen Gesetzmäßigkeit aufweisbar ist. Jenes Postulat kann die
Psychophysik gegenüber einer Behauptung, die auf die unendlich
fein differenzierte Gestalt der Bewußtseinsphänomene verweist und
auf Grund derartiger Erwägungen dasselbe zu entwerten sucht,
behaupten und mit Recht entgegenhalten, daß, wenn auch die
Komplikation der seelischen Erscheinungen eine unendliche und
staunenerregende sei, ihr doch die physikalischen und speziell die
physiologischen die Wage halten könnten, da auch jedes Atom
der unzähligen Atome im Weltenraume erst durch die Komplika¬
tion und das Zusammenwirken sämtlicher anderer Atome in seiner
Lage und Kraftwirkung, ja in seiner ganzen Existenz bedingt sei.
Wenn wir allgemein die Frage entscheiden sollten, ob die
Psychophysik eher Physik oder ob sie eher Psychologie zu nennen
sei, so müßten wir uns im letzteren Sinne entscheiden. Denn
wenn sie auch mit äußeren Tatsachen operiert und vor allem
Reize variiert und somit eine ganz ähnliche Tätigkeit vollzieht
wie die Physik, so muß sie doch als dem Psychischen zugewandt
gelten, da sie alle jene Manipulationen nur im Interesse der
Psychologie, also in der Funktion eines Hilfsgebietes der Psycho¬
logie ausführt. Sie ist diejenige Methode, die einer weiteren Unter¬
suchung erst die nötigen Angriffspunkte aufzudecken hat. Inwie-
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457
Über die Methoden der Psychologie.
würden. Sondern einmal liegen in Empfindungen und deren
Komplexen, den Wahrnehmungen, bereite mehr oder weniger zen¬
tralere Phänomene, oder aber es treten diese sogar in jenen deut¬
lich hervor, wodurch der natürliche Übergang von den Raud-
phänomenen in jene zentraleren für eine exakte Forschung ge¬
geben ist. Hierbei ist hauptsächlich an solche Erscheinungen
gedacht, wie Erinnerung, die eine rein sinnliche sein kann, dann
weiter an Aufmerksamkeit, sogar Abstraktion und Assoziation.
Alle diese zentraleren Phänomene können in den Empfindungen
mehr oder minder enthalten sein und sich somit in jenen der
Untersuchung darbieten. Daß sie sich in den Empfindungen zu¬
gleich nicht erschöpfen, muß allerdings betont werden.
Bei der Frage, in welchem Sinne denn eigentlich in der Psycho-
physik der Angriffspunkt für eine exakte Erkenntnis psychischer Tat¬
sachen gesehen werden könne, muß an zwei Umstände erinnert
werden, nämlich an den, daß die Empfindungen nicht direkt, sondern
nur indirekt, d. h. unter Zuhilfenahme der ihnen zugehörigen Reize
gemessen werden, dann aber auch an jenen anderen, daß es im psy¬
chischen Leben keine absoluten Größen, keine Maßeinheiten gibt.
Wenn es sich also in der Psychophysik überhaupt um ein Messen
handeln kann, so nur um ein solches von Empfindungen an Empfin¬
dungen J ). Zu diesem Zwecke einer relativen Bestimmung psy¬
chischer Phänomene aber muß zur mathematisch-physikalischen
Bestimmung der Reize auch die entsprechende Selbstbeobachtung
des Individuums hinzukommen, an welchem die Gesetze von Reiz
und Empfindung gefunden werden können. So kompliziert sich
also die psychophysische Methode aus jenen beiden Elementen in
eigenartiger und origineller Weise. Auf die speziellen Methoden,
die sich nun in dieser Richtung herausgebildet haben, soll hier
nicht eingegangen werden. Sie sind von den verschiedenen
Autoren zum Teil unter dem Titel der psychologischen Methoden,
eine Bezeichnung, deren Berechtigung bestritten werden kann,
eingehend behandelt worden. Diese Methoden, die zunächst aus¬
schließlich der nsvchonhvsischen IInter8nchnnß , eieren sind, können
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G. Anschütz
bereits die Angriffspunkte zur Erforschung der höheren geistigen
Phänomene liegen, wollen wir noch kurz einen Blick auf die
Weise machen, in welcher dies geschieht. Abgesehen davon,
daß zunächst die Empfindungen in ihren »Leistungen« wesent¬
lich variieren, je nachdem in ihnen solche Erscheinungen wie
Aufmerksamkeit und Interesse des Individuums an dem Empfun¬
denen zur Geltung kommen, mag hier die bereits gestreifte
charakteristische Weise erwähnt sein, wie van Biervliet l ) Intelli¬
genzmessungen vornahm, die auch wiederum als eine indirekte
angesehen werden muß, da sie analog, wie die Psychophysik von
den Reizen auf die zugehörigen Empfindungen zu schließen ver¬
mag, aus den Empfindungen auf zentralere Phänomene Ubergreift.
Die Untersuchungen Biervliets, die einen eigenartig indirekten
Ausgangspunkt haben — sie greifen zum Zweck einer Intelligenz-
prüfung eine Anzahl von auffällig, jedoch nicht einseitig intelli¬
genten Personen heraus —, haben festgestellt, daß, allgemein ge¬
sagt, die relativ größere Konstanz in den Empfindungsleistungen,
z. B. was die zum Erkennen von Schriftzeichen erforderliche Di¬
stanz betrifft, ein Kriterium für eine im allgemeinen höhere In¬
telligenz sei.
Es soll jedoch an dieser Stelle auf solche Fragen nicht näher ein¬
gegangen werden und vielmehr noch eine andere kurz erörtert sein,
nämlich die, daß es sich bei Empfindungen nur um relative Größen¬
bestimmungen handeln könne, und eine andere, sich an jene an¬
schließende, nämlich die nach der Stabilität der zu untersuchenden
Erscheinungen. Damit nämlich schon in der einfachen äußeren Psy¬
chophysik eine Messung von Empfindungen sinnvoller Weise statt¬
finden kann, ist erforderlich, daß die Empfindungen »unter sonst
konstanten Bedingungen des Bewußtseinszustandes in unmittelbarer
Aufeinanderfolge gegeben werden« 2 ). Daß diese Einschränkung eine
notwendige ist, geht aus verschiedenen Erwägungen hervor. Zunächst
muß daran erinnert werden, daß im psychischen Leben überhaupt
absolute Größenbestimmungen nicht möglich sind, daß man also,
spezieller ausgedrtickt, die Empfindungen, die ein bestimmtes Indi-
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Über die Methoden der Psychologie.
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irgendwie zu veranschaulichen oder jemandem sonst zur genauen
Kenntnis zu bringen, so daß er fortan ein absolutes Maß für seine
Empfindungen hätte. Andererseits könnten nicht einmal für jenes zur
Bestimmung einer eventuellen Maßeinheit herangezogene Individuum
die Bedingungen so gestaltet werden, daß für dieses selbst ein
absolutes Maß der Empfindung möglich wäre. Würde es aber
wirklich in einem Zeitpunkte ein solches haben können, so ist
doch auf der anderen Seite keine Möglichkeit vorhanden, jene
Einheit irgendwie dauernd im Bewußtsein zu fixieren; alle Be¬
wußtseinselemente pflegen unter normalen Bedingungen in einem
gewissen, der zeitlichen Distanz vom Punkte ihres Auftretens ab
umgekehrt proportionalen Verhältnis an Lebhaftigkeit zu verlieren
und gleichsam abzuklingen." Dazu kommen die mannigfachen
Erinnerungstäuschungen, die entsprechend in um so größerem
Maße auftreten, je weiter der Zeitpunkt des Erlebnisses zurück¬
liegt, und die durch die zahllosen neu auftretenden Bewußtseins¬
elemente wesentlich gefördert werden. Vor allem ist hier an den
ständigen Wechsel der Gesamtdisposition des psychischen Indi¬
viduums gedacht, einen Faktor, der jeder exakten Erkenntnis die
größten Schwierigkeiten in den Weg legt. Um diesen erheblichen
Hindernissen entgegenzutreten, bietet sich aber nur eine Möglich¬
keit, nämlich die der Einschränkung der Beobachtungszeit auf ein
Minimum, auf Sekunden und womöglich auf kleinste Bruchteile
von solchen, da vollkommene Simultaneität leider nicht in Betracht
kommt. Im Verlaufe so geringer Zeitintervalle wird weder die
Disposition so wesentlich variieren, noch aber werden die Er¬
innerungstäuschungen eine so wesentliche Rolle zu spielen im¬
stande sein, daß wir beachtenswerte Fehlerquellen annehmen
müßten. Wir können vielmehr, rein praktisch genommen, trotz
aller theoretischen Erwägungen, die auch durch die geringsten
Zeitintervalle eine Veränderung der Disposition bedingt sein lassen,
in solchen Fällen eine Konstanz des Gesamtbewußtseins annehmen,
so daß wir nunmehr ein neutrales Feld für das Experiment haben.
Auch dann aber wird, wie bereits in den obigen Ausführungen
erwähnt wurde, eine absolute Größenbestimmung nicht möglich
sein, da ja alles Absolute nicht auf kleine Zeitintervalle, eventuell
r -r»_ki.M._Ci . 1 J i_- i . J 11 _ Hif
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G. Anschiite,
anderen, ja sogar als zwei-, drei-, viermal oder einhalb-, eindrittel¬
einviertelmal so intensiv wie andere bestimmt werden können.
Diese Bestimmungen gehen sogar sehr weit und sind großer Kompli¬
kationen fähig. Man denke z. B. an die genauen Helligkeitsbestim-
mnngen in Farben nnd deren relative Wandlung bei zunehmender
Dnnkelheit, wie sie am > Purk inj eschen Phänomen« auftritt 1 ).
Zu dergleichen Untersuchungen aber bedient man sich des aus¬
geprägten psychophysischen Experimentes, das sich nicht einfach,
wie das physikalische, auf einige wenige Fälle oder sogar anf
einen einzigen beschränken kann, sondern sich zunächst anf die
Menge der Beobachtungen zu stutzen hat. Lassen wir aber die
nähere Besprechung dieses Prinzips für spätere Ausführungen und
greifen von ihm nur den allgemeinen Gedanken heraus, daß die
vergleichende Tätigkeit, sofern sie in der Psychophysik zur Be¬
stimmung der Empfindungsdifferenzen herangezogen wird, durch
die Menge der Fälle, deren sich das Experiment bedient, eine
weitere Vervollkommnung erfahren soll, so können wir die Frage
aufwerfen, wann jenes Vergleichen der Empfindungen eine mög¬
lichst vollkommene Gestalt erreicht habe. Daß zunächst durch
die Menge der Fälle nnd die Berechnung des allgemeinen Mittel¬
wertes viel fehlerhafte Fälle verschwinden oder wenigstens an¬
nähernd ausgeschieden werden, muß anerkannt werden. Sehen
wir aber auch von den bekannten Variationen ab, die in der
mannigfachsten Weise zur Vermeidung von Fehlerquellen ange¬
wandt werden — es sei nur an die Verschiebung der Bedingungen,
unter welchen bei der Variation der Fälle das betrachtende Indi¬
viduum steht, nnd weiter im spezielleren an die Variation inner¬
halb der einzelnen Empfindungsgebiete, dann aber auch an die
Heranziehung verschiedener Empfindungsgebiete nnd an die Varia¬
tionen der Zeiten und Zeitintervalle erinnert —, so kann das viel¬
genannte Prinzip der Variation noch eine spezielle Anwendung
von origineller Art erfahren, indem wir auf einen früher erwähnten
5».n k P.n ■/nrHplrcrrpifVm nnrl dio oinvolncn Voro-loi/iliflalrtp llin_
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Über die Methoden der Psychologie.
461
leicht zu erläutern, bei welchem es sich nicht um eine auf einen
Bruchteil von Sekunden beschränkte Einstellung des Apparates
auf Grund eines einmaligen sukzessiven Vergleichens handelt, son¬
dern um ein jedenfalls mehrere Sekunden dauerndes abwägendes
Vergleichen, welches entweder eine Helligkeit sucht, die gleich
oder zwei-, dreimal so groß ist wie eine andere, oder eine Farben¬
gleichung, einen gleichen Sättigungsgrad oder gleiche Intensität
hersteilen soll. Diese Art des Vergleichens bietet jedenfalls be¬
deutende Vorteile, und die Psychophysik wird sie in vielen Fällen
mit Glück anwenden können.
Es mögen noch ein paar weitere Beispiele angeführt werden,
die uns auf die Fehlerhaftigkeit einfachen Vergleichens hinweisen.
Man stellt etwa Versuche an, gleichgültig zu welchem Zwecke,
hei denen man Eindrücke optischer, akustischer, eventuell auch
taktiler Art miteinander vergleichen läßt. Die Versuchsanordnung
ist so, daß sich in sorgfältig genau eingehaltenen Zeitintervallen
zwei Reize folgen, denen also zwei Empfindungen entsprechen,
die bezüglich der Intensität oder Dauer verglichen werden sollen.
Jeder einzelne Eindruck wird durch ein bestimmtes Zeichen, das
ebenso sorgfältig zeitlich fixiert ist und dessen Charakter in jeder
Beziehung möglichst konstant gehalten wird, angekÜDdigt. Auf
den Eindruck hin folgt dann das Urteil der Versuchsperson, welches
ein »heller, lauter, früher usw.« angibt und eventuell diese An¬
gaben noch mehr präzisiert; die Äußerungen lauten z. B. auf ein
»ich glaube, wahrscheinlich ist es so« usw. Ferner können wir
auch die Zeiten, welche vom zweiten Eindruck bis zum Urteil
verstreichen, genau messen, uud diese Messung kann wieder in
eine solche zerfallen, welche sich auf das Zeitintervall zwischen
dem zweiten Eindruck und einem allgemeineren Urteil, welches
überhaupt erst das Aufgefaßtsein beider Reize verkündet, bezieht,
und eine andere, der es auf die Bestimmung der Zeitintervalle
zwischen jenem allgemeinen Urteil und der spezielleren Angabe
ankommt; oder aber es wird nur die Zeit bis zum ersten Urteil
oder die vom ersten bis zum sozialisierten fremeasen. Diese
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G. Anschütz,
äoßeren Genauigkeit ist auf die Disposition des Beobachtenden
zu wenig Rücksicht genommen, in deren Veränderung bei der¬
artigen Versuchen eine wesentliche Irrtumsquelle liegt. Vor allem
ist zu beachten, daß, wenn auch eine allgemeine Aufgabestellung
eine gewisse Konstanz in der Verfassung garantieren kann, so
doch das gleichsam Zerrissene solcher Versuche gewisse, wenn
auch kleine, so doch immerhin wirksame, für den Experimentator
aber unbekannte Schwankungen in der Disposition herbeiftihrt.
Wenn der erste Eindruck kommt, so trifft er eine Disposition axyx
an, in der wir nur den Faktor a, das Moment der Aufgabestellung,
kennen. Die Disposition verändert dann offenkundig auf den
ersten Eindruck hin ihre Gestalt während der Zwischenzeit zum
zweiten Eindruck, bei welchem sie die allgemeine Form Bx y x
haben mag. Endlich aber wirkt auch der zweite Eindruck wieder
zugunsten einer konstanten Disposition, so daß wir endlich ein
B (x y x) haben. Hier ist nun freilich das Unbekannte in der
Disposition, die Elemente xyx, wesentlich eingeschränkt. Aber
es muß stark bezweifelt werden, daß jene Einschränkung nicht
noch in weit höherem Maße hätte stattfinden können. Das zwi¬
schen dem ersten und dem zweiten Eindruck verfließende Zeit¬
stück gibt für allerlei unbekannte Veränderungen, das Auftauchen
von Gefühlen, Gedanken, Erwartungen, einen günstigen Angriffspunkt,
und wir müssen suchen, wie jenem Übelstande abzuhelfen sei.
Wir können nun zu dem Zwecke auf die erwähnte Art der
oszillierenden Vergleichstätigkeit rekurrieren. Wenn wir z. B. statt
zweier sukzessiver Eindrücke, die um zwei Sekunden zeitlich
differieren, zwei solche haben, die während dieser Zeit in mehr¬
facher Abwechslung auftauchen, so ist zunächst die rein sinnliche
Aufmerksamkeit wesentlich mehr gefesselt als in jenem anderen
Falle, und demgemäß wird auch auf die allgemeine Disposition
in günstigem Sinne eingewirkt werden. Es ist auf die Weise das
Auftauchen von Bewußtseinselementen verschiedenen Charakters,
welches äußerlich oder innerlich motiviert sein mag, wesentlich
eingeschränkt. Daß freilich jene Weise des Vergleichens von
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Über die Methoden der Psychologie.
463
parallel gehenden Konstanz in der Gesamtdisposition als ein Mittel
hingestellt werden, dessen Verwendung in weitem Umfange an¬
gestrebt werden muß. Welchen Wert aber jedes Vergleichen für
Untersuchungen psychophysischer, ebensogut aber auch rein psycho¬
logischer Art hat, bedarf keiner besonderen Betonung.
Die letzteren Betrachtungen haben den nunmehr folgenden über
die eigentliche experimentelle Psychologie bereits vorgegriffen, ins¬
besondere, sofern vom Vergleichen die Rede war, das ja selbst
ein ausgeprägtes Problem des psychologischen Experimentes ist.
Daß aber von einer psychophysischen Methode nicht ganz für sich
die Rede sein kann, sondern daß einige in andere Gebiete Uber¬
greifende Fragen auch bei ihrer Besprechung eine gewisse Berück¬
sichtigung verdienen, liegt in der Tatsache begründet, daß auch
die Gegenstände der Psychophysik und die der experimentellen
Psychologie, welche, an sich betrachtet, miteinander in keinem
engeren Zusammenhänge stehen, ineinander tibergreifen, so daß
eine Entscheidung oft nur mit Mühe zu fällen ist, wo die Psycho¬
physik aufhöre und die experimentelle Psychologie anfange. Die
genaue Abgrenzung beider Gebiete läßt sich ebensowenig mit ab¬
soluter Gewißheit ein für allemal feststellen, wie diejenige von
äußerer und innerer Psychophysik im Sinne Fechners. Und der
Unterschied beider Gebiete sowie dementsprechend der in ihnen
zur Anwendung gelangenden Methoden wird sich daher nur in
begrifflicher Form absolut festlegen lassen. Hier freilich scheint
die Differenz eine prinzipielle. Die Psychophysik hat es als
solche schlechterdings nur mit der Auffindung der gesetzlichen
Beziehungen zwischen Bewußtsein und Körperwelt zu tun, da¬
gegen besteht die Aufgabe der eigentlichen experimentellen Psycho¬
logie vielmehr in der Untersuchung der psychischen Tatsachen
und der gesetzlichen Beziehungen in ihnen, wobei sie jene von
der Psychophysik näher zu erforschenden Beziehungen als gesetz¬
liche voraussetzt, indem sie darauf aufbaut, daß nun einmal psy¬
chische Phänomene in irgendeiner Weise ein sie repräsentierend
Korrelat in der Körperwelt haben und daß somit ihre Erforschung
unter Zuhilfenahme jener Korrelate und der Beziehungen in ihnen
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464
G. Anschütz,
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wozu sie denn eigentlich ihre Bemühungen anstelle, wozu es dien¬
lich sein könne, von exakten Beziehungen zwischen Bewußtsein
und Körperwelt zu wissen, so kann die Antwort nur dahin lauten,
daß auf Grund jener Beziehungen der Weg zu einer exakten Er¬
kenntnis seelischer Phänomene angebahnt sei, da ja nunmehr die
Reize gleichsam an Stelle der ihnen entsprechenden Empfindungen
untersucht, und zwar exakt untersucht werden könnten.
Ein weiteres Unterscheidungsmoment zwischen Psychophysik
und experimenteller Psychologie kann man in der Tatsache sehen,
daß ein ganzes Gebiet der Psychophysik, nämlich die innere oder
die Psychophysiologie, in seinen weitaus meisten Problemen ein
Gebiet ist, in welchem es fast nur Postulate, Vermutungen, Hypo¬
thesen und Annahmen der mannigfachsten Art gibt Wie das
nähere Verhältnis zwischen Gehirn und Seele, Nervensystem und
Bewußtseinsleben sei, darüber werden zurzeit noch die mannig¬
fachsten Spekulationen laut. Denkt man sich aber einmal jene
Frage in weitgehendem Maße gelöst, so steht die Psychophysik
vor einer merkwürdigen Krisis. Entweder muß sie Halt machen
und sich auf das von ihr erworbene Gebiet beschränken, oder sie
muß die Kluft zwischen Bewußtsein und Körperwelt überschreiten
und somit Metaphysik werden. Die Psychophysik nimmt somit
eine nur einmal im gesamten Gebiete der Wissenschaft vorkom¬
mende, ganz originelle Stellung ein, die kein anderes Gebiet auch
nur in annähernd ähnlicher Weise aufzuzeigen vermag. Dagegen
ist die experimentelle Psychologie in einer prinzipiell anderen
Lage, die man eher der der Physik vergleichen kann; denn
indem sie einfach jene Beziehungen zwischen Bewußtsein und
Körperwelt voraussetzt und sich um ihre nähere Bestimmung nicht
kümmert, kann sie unbeschadet des Umstandes an die Unter¬
suchung der Phänomene des Seelenlebens unter Zuhilfenahme der
entsprechenden parallelen Erscheinungen in der Welt der sicht¬
baren Gegenstände, z. B. der körperlichen Lebensäußerungen
fremder Individuen, herangehen. Wollte sie sich mit der Frage
befassen, wie wir überhaupt zum Bewußtsein der Außenwelt,
speziell anderer Individuen kommen, so würde sie Uber das ihr
natürlich zukommende Gebiet hinausgreifen und etwas ähnliches
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Über die Methoden der Psychologie.
465
haupt von einer Materie und von materiellen Gegenständen ge¬
redet werden könne. Mag non aber die experimentelle Psycho¬
logie in ihrem Gebiete so weit Vordringen wie die Physik in der
Körperwelt, so wird sie, wenn ihr auch natürliche Schranken ge¬
setzt sind, doch niemals an eine analoge Grenze gelangen können
wie die Psychophysik, und wenn sich auch in dem Bereich ihrer
Gegenstände manches Gebiet finden mag, dessen Erkundung aus
prinzipiellen Erwägungen heraus als Möglichkeit gelten kann, so
werden sich doch, was ein unbegrenztes Vordringen derselben be¬
trifft, ungeheure praktische Schwierigkeiten in den Weg stellen.
Schließlich aber kann die Berechtigung auch jener prinzipiellen
Erwägung bestritten werden, da es im psychischen Leben noch
manche dunklen Gebiete gibt, deren Erforschung wegen der Un¬
bekanntheit mit denselben weder direkt behauptet noch aber
wissenschaftlich als unberechtigt erwiesen werden kann.
Wenn wir an dieser Stelle noch einen Unterschied beider
Wissenschaftszweige konstatieren wollen, so können wir auf ein
später näher zu bezeichnendes Moment verweisen. Wenn nämlich
beide auf Exaktheit Anspruch erheben, so ist die Exaktheit der
experimentellen Psychologie nicht im gleichen Sinne aufzufassen
wie die psychophysische. Denn während diese letztere in einer
Art, die der mathematisch-physikalischen Methode nahe kommt,
solche allgemeine Tatsachen und Gesetze findet, die sie in der
Weise mathematischer Formeln zu fassen vermag — man denke
an das Webersche Gesetz —, kann die experimentelle Psycho¬
logie keineswegs eine Exaktheit im gleichen Sinne treiben. Son¬
dern, indem ihrer Forschungsweise das Moment der Verwendung
von Statistiken charakteristisch ist, ergibt sich dementsprechend
für die nähere Bestimmung ihrer Methode das Prädikat, sie gehe
zunächst nicht auf Gewinnung allgemeiner Gesetze, vor allem aber
nicht solcher, die in exakten mathematischen Formulierungen zu
fassen wären, sondern ihre Aufgabe sei in erster Linie die Auf¬
stellung von Statistiken, aus denen zunächst noch keine Gesetze,
sondern nur Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten folgen. Da-
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467
Über die Methoden der Psychologie.
teilen Physik erschöpfen, die in Parallele zur experimentellen
Psychologie stehen soll. Andererseits aber kann weder von Ber
wußtseinselementen in Analogie zu physikalischen Körpern die
Rede sein, noch aber von einer Kausalerklärung, die Wundt doch
an anderer Stelle der Physik mit Recht zuschreibt 1 ). Endlich
aber steht das ganze zählende Verfahren der experimentellen
Psychologie, also ihre Statistik, zur Physik in einem gewissen,
wenn auch nicht absoluten Gegensatz.
Kehren wir aber von diesen Fragen, die uns zu weit führen
würden, zur Unterscheidung der experimentellen Psychologie von
der Psychophysik zurück, so müssen wir betonen, daß, so sicher
jene Scheidung zu machen ist, doch die beiden Methoden bei der
Einführung einer exakten Untersuchungsweise in die Psychologie
nicht immer getrennt werden können. Wenn man die beiden
Methoden mit Rücksicht auf eine gewisse Gemeinsamkeit ihres
schließlich zu erreichenden Zieles zusammenstellt, so verhält es
sich mit ihnen, wenn auch nicht ebenso, so doch ähnlich wie mit
den Methoden der Chemie und Mineralogie oder wie mit denen
der Physiologie und Zoologie. Beide sind jedesmal voneinander
zu trennen; aber es ist klar, daß sie sich in den mannigfachsten
Weisen gegenseitig verbinden und ergänzen. Wie aber etwa die
physiologische Methode mehr oder minder Anwendung in der Zoo¬
logie verdient, so muß auch die psychophysische in der experi¬
mentellen Psychologie eine Berücksichtigung finden. Freilich kann,
wie oben angedeutet, eine reine, von psychophysischen Elementen
freie experimentelle psychologische Untersuchung sehr wohl an¬
gestellt werden; dahin gehören derartige Versuche, die die ge¬
samte Wechselbeziehung zwischen Bewußtsein und Außenwelt von
vornherein stillschweigend voraussetzen, und wenn sie auch in
dieser Voraussetzung ein Problem von ganz eigenartigem Cha¬
rakter zu sehen hat, so doch auf eine eingehende Behandlung
desselben nicht nur verzichten kann, sondern auch gut tut, diesen
Verzicht zu leisten. Das psychologische Experiment teilt also zu¬
nächst mit der Psychophysik deren sämtliche Voraussetzungen.
TnHpm Ps «her weiterhin »nph Hie Dentharkeit — im Gegensatz
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G. Anschütz,
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ein Maximum von Voraussetzungen auf. Dabei soll von derartigen
Voraussetzungen, daß andere Individuen auch ein im gleichen
Prinzip konstituiertes Bewußtseinsleben besitzen wie wir, und
anderen ähnlichen nicht einmal die Rede sein.
Jene ihr charakteristische Voraussetzung von Zusammenhängen
eigener Art im Bewußtsein und deren Deutbarkeit auf Grund des
Experimentes läßt sich noch näher bezeichnen. Die gemeinten
Zusammenhänge sind z. B. in den Regeln des Assoziierens, Aus¬
wendiglernens, und Behaltens, Aufmerkens usw. ausgedrllckt. Daß
die Probleme, welche sich hier eröffnen, unzählig sind, ist allge¬
mein bekannt. Zugleich zeigt sich auch zwischen ihnen und der
Praxis des Lebens ein enger Zusammenhang. Sie verkörpern ein
selten konkret faßbares Gebiet der Psychologie. Man denke nur
an den hohen Prozentsatz unter allen psychologischen Experimenten,
der auf Gedächtnisversuche fällt. Nächst diesem Gebiete hat das¬
jenige der Assoziation wesentliches Interesse gefunden. Das der
Aufmerksamkeit war bis vor kurzem noch ziemlich unbearbeitet,
bis in neuerer Zeit z. B. 0. Klemm ‘) ausgedehntere Untersuchungen
in dieser Richtung angestellt hat. Wegen des großen Umfanges
jener Probleme ist auch ihre Einteilung etwas erschwert. Jeden¬
falls aber kann eine ganz allgemeine in dem Sinne aufgestellt
werden, daß man die einfacheren Erscheinungen den komplizier¬
teren gegenüberstellt. Die experimentelle Psychologie aber wird
analog jeder anderen Wissenschaft naturgemäß vom Einfachen
zum Komplizierten übergehen, da sich dieses letztere in gewissem
Sinne auf jenes aufbaut. Sie verfolgt dabei insbesondere den
analogen Weg wie auch die Psychophysik, die, mit den einfachsten
Reizen und Empfindungen und deren Wechselbeziehungen begin¬
nend, zu immer komplizierteren Fragen fortschreitet. Welches nun
die »Elemente« des Seelenlebens seien, diese Frage ist zumeist
zugunsten der Empfindungen entschieden worden, ein Standpunkt,
der dann als berechtigt gelten darf, wenn die Empfindungen als
Elemente nicht in dem Sinne genommen werden, wie sie auf
naturwissenschaftlicher Seite 2 ) gern verstanden werden, nämlich
als grundlegende, eventuell gar konstituierende Elemente des Be-
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Über die Methodea der Psychologie.
469
Mit jener Behauptung, die Empfindungen seien die Elemente
des Seelenlebens, ist aber noch nichts Wesentliches gesagt, und
eine präzisere Aufstellung und Abgrenzung der für die experimen¬
telle Psychologie in Betracht kommenden psychischen Erschei¬
nungen ist eine Aufgabe von selten großer Tragweite für die Er¬
kenntnis der psychischen Tatsachen. Bei einer derartigen Er¬
wägung müssen wir von vornherein viele der inneren Wahrnehmung
überhaupt nicht zugänglichen Objekte ausschalten, nämlich die
absolut originellen und streng genommen nur erlebbaren Erleb¬
nisse. Auf der anderen Seite fällt unser Blick sogleich auf andere
Tatsachen, die nur dem Experiment zugänglich sind, nämlich die¬
jenigen, welche lediglich an einer Menge von Fällen beobachtbar
sind, mögen nun diese Fälle an einem Individuum, oder aber an
mehreren, oder endlich an ganzen Volksmassen stattfinden. Dann
bleibt uns noch das nunmehr allgemein abgegrenzte, aber immer
noch ungeheuer weite Gebiet derjenigen psychischen Erlebnisse,
die auch der inneren Wahrnehmung zugänglich sind und deren
Erkenntnis das Experiment in gewisser Hinsicht vervollständigen
soll. Nehmen wir aber auch hier auf die Forderung Rücksicht,
daß mit dem relativ Elementaren begonnen werden solle, und
sehen wir von den bereits erwähnten Empfindungen selbst ab, so
können als solche nur diejenigen in Betracht kommen, welche in
den sinnlichen Empfindungen impliziert stecken und zunächst einer
Explikation zum Zwecke einer Untersuchung unterzogen werden
müssen.. Dergleichen allgemeinere psychische Phänomene aber
sind sehr geläufig.
Ein paar Beispiele für die Heraussonderung und Aufstellung
von Problemen aus einzelnen komplexeren psychischen Erschei¬
nungen wird das Gemeinte zu veranschaulichen imstande sein.
Eine komplexere psychische Tatsache haben wir z. B. dann, wenn
jemand, der einer Versammlung beiwohnt und mit seinen Gedanken
abwesend ist, durch einen Freund, der ihm auf die Schulter klopft,
aufgeweckt wird und aufmerkt, oder wenn ein Musiker beim An¬
hören einer SvmDhonie sich tranz in diese verliert. his ihn ein
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470
G. Anschütz,
aber die experimentelle Psychologie greift sie nicht in jener »un¬
beschnittenen« Form auf, sondern sie läßt ihrer Untersuchung
eine genaue, womöglich sehr weitgehende Abgrenzung und Be¬
schränkung des zu erforschenden Tatbestandes vorangehen. Sie
richtet ihr Augenmerk, um auf die angeführten Beispiele zurück-
zugreifen, nicht auf das Aufmerken des Versammlungsmitgliedes,
des Musikers oder Politikers, sondern auf das Aufmerken schlecht¬
hin, sofern es sich an Empfundenes, an sinnliche Eindrücke op¬
tischer, akustischer oder anderer Art anschließt oder bereits in
diesen zum Ausdruck kommt. Es wird freilich niemals die Auf¬
gabe unternommen werden können, derartige Phänomene in ihrer
Isolierung greifen zu wollen, sondern jederzeit in einem gewissen,
nunmehr aber willkürlichen und planmäßigen, d. h. nach be¬
stimmten Prinzipien herbeigeführten Zusammenhang. Während so
gewissermaßen eine Verallgemeinerung der Aufgabe für die ex¬
perimentelle Psychologie eingetreten ist, müssen wir auf der an¬
deren Seite stets eine Spezialisierung vornehmen, die freilich
nicht in der Gesamtheit des Problems, wohl aber in den einzelnen
Etappen seiner Behandlung liegen soll. Denn da nun einmal ein
Aufmerken usw., wenn es sich um ein sinnliches handelt, stets
auf ein bestimmtes Empfinduugsgebiet bezogen ist und auf einem
bestimmten Sinnesorgan beruht, da mit anderen Worten psychische
Individuen nicht überhaupt, sondern mit Hilfe der Sinnesfunktionen
in Konnex mit der Welt der äußeren Reize stehen, so scheint
die Bemerkung fast überflüssig, daß auch das psychologische Ex¬
periment auf jene Tatsache Rücksicht nehmen und zunächst das
Aufmerken nur untersuchen solle, sofern es in einer Empfindung
von ganz bestimmtem Charakter zum Ausdruck kommt. Außer
dieser natürlich gegebenen Motivation für die Art der Versuche
ist aber noch ein tieferer Sinn aufzeigbar. Denn da das psycho¬
logische Experiment die Erforschung der Aufmerksamkeit, sofern
sie im Hören, Sehen, Tasten usw. zum Ausdruck kommt, nicht
als Endzweck ihrer Untersuchung betrachtet, sondern jene Spe-
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Über die Methoden der Psychologie.
mit Hilfe derer sie später imstande ist, von den gefundenen
Tatsachen des optischen, aknstischen und taktilen Anfmerkens die
nur zufälligen und unwesentlichen Elemente jener Phänomene aus¬
zuscheiden und die allgemeinen Tatsachen des sinnlichen Auf-
merkens herauszufinden. Die Zuhilfenahme der exakten Unter¬
suchung der einzelnen Sinnesgebiete in dieser Hinsicht ermöglicht
ihr also ein wesentliches Vordringen über die bloßen Empfindungen
hinaus auf Grund exakter Methoden. Von diesem Gesichtspunkte
aus aber ist absolut deutlich, wie die experimentelle Psychologie
eine ganz ausgeprägt empirische Wissenschaft ist. Im Vergleich
zur Physik könnte sie fast als noch empirischer erscheinen, da
bei ihr das Moment der Erfahrung — wovon später noch zu reden
sein wird — eine praktisch bedeutsamere Rolle spielt. Denn
während sich die physikalische Betrachtung oft mit wenigen
Fällen begnügen und die weitere Beobachtung nichts Neues mehr
bringen kann, gilt vom psychologischen Experiment die Behaup¬
tung, es sei nm so vollkommener, d. h. es nähere sich dem von
ihm angestrebten Ziele der genaueren Erkenntnis des Seelenlebens
um so mehr, je mehr Fälle die Erfahrung aufzuweisen habe.
Natürlich gilt diese Behauptung nur in bestimmtem Sinne. Aber
es ist in der Tat ein eigenartiges Moment, das sich nur in der
Historie und in der Nationalökonomie wiederfindet, nämlich daß
eine Mehrzahl von Fällen in gewissem Sinne auch eine bessere
Erkenntnis zu vermitteln imstande sei. Der Gedanke der Er¬
fahrung kann daher im psychologischen Experiment, von diesem
Gesichtspunkte aus betrachtet, gar nicht genug Anwendung finden,
da, sobald er vernachlässigt oder eingeschränkt wird, auch die
Erkenntnis der Tatsachen eine lückenhafte wird.
Was wir hier unter einer möglichst weitgehenden Anwendung
des Gedankens der Erfahrung verstehen, bezeichnet man auch mit
dem Prinzip der Variation der Fälle. Diese Variation muß also
jedenfalls angewandt werden, wo sie überhaupt möglich ist. Die
Möglichkeiten dazu aber sind natürlicherweise unbegrenzt. Zunächst
weist schon das einzelne als Beobachter heran«rezoeene Individuum.
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G. Anschüti,
verschiedenenVersuchsreihen betreibt, bei denen besonders die Gegen¬
stände einer planmäßigen Veränderung und Umwandlung in mehr¬
facher Hinsicht unterzogen werden. Es sei nur wieder daran
erinnert, daß sie in einem optischen, akustischen oder taktilen
Eindruck gegeben oder endlich sogar in einem zugerufenen Wort
bestehen können. Ferner aber sind die Gegenstände in sich
selbst weitgehend zu variieren, indem sie bald einfachere, bald
kompliziertere Gestalt annehmen. Eine weitere Variation gegen¬
über der der Gegenstände besteht in der Heranziehung verschie¬
dener Versuchspersonen, in deren Reihe das Prinzip planmäßiger
Abänderung weit mehr angewendet werden sollte, als es bisher
geschehen ist. Mit Recht bemerkt Ribot 1 ), daß in der fast aus¬
schließlichen Heranziehung von Studenten oder sogar von Fach¬
psychologen ein Fehler gemacht wird, da in diesen Leuten trotz
einer mit aller Energie betriebenen Abstraktion eine Menge von
Begriffen wirksam sind, die naturgemäß, wie an alle Dinge, so
auch in gewissem Maße an die zu beobachtenden Gegenstände
herangebracht werden. Die subjektive Überzeugung einer voll¬
kommenen Abstraktion von diesen und die vollkommener Unbe¬
fangenheit kann hier den Schaden nur vergrößern. Es ist zwar
keineswegs der Vorteil zu verkennen, den gerade auch die
Heranziehung von Fachpsychologen zur Rolle des Beobachters bei
psychologischen Experimenten darstellen kann, da diese in der
Selbstbeobachtung eine bessere Schulung zu haben pflegen als der
erste beste aus der Masse. Aber es kann nur von Vorteil für
die psychologische Erkenntnis sein, deren Interesse doch nicht
nur im Seelenleben der Psychologen, sondern in dem des Men¬
schen überhaupt liegt, wenn zu den Versuchen Leute verschiedenen
Berufes, Alters, Geschlechtes und wenn möglich verschiedener
Nation herangezogen werden. Dann kommt die Variation hanpt-
sächlich insofern wesentlich mehr in Betracht, als auch in hervor¬
ragendem Maße verschiedene Interessen und verschiedene Tem¬
peramente wirksam sind 2 ).
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473
Über die Methoden der Psychologie.
treiben wollen, so kann die Rolle des Experimentators gelegent¬
lich mit der des Beobachters vertauscht werden. Daß man hier¬
bei mit größter Vorsicht Vorgehen mnß, ist natürlich, und von
einem gewissen Gesichtspunkte aus wäre sogar die Behauptung
nicht unberechtigt, daß der Experimentator selbst die allerschlech¬
teste Versuchsperson bei seinen eigenen Untersuchungen sei. Zweifel¬
los treten bei seinen Beobachtungen die bereits bei anderen Leuten
vorhandenen Fehlerquellen möglicher Voreingenommenheit und Be¬
fangenheit wesentlich in den Vordergrund. Aber wenn er sich
einmal dieser Tatsache ausdrücklich bewußt ist und von ihr weit¬
gehend zu abstrahieren sucht, ferner aber diese Rollenvertauschung
erst dann einfuhrt, wenn bereits gewisse Resultate vorliegen, und
endlich die eigenen Beobachtungen nicht denen der anderen an
die Seite stellt oder sie sogar mehr wertet als jene, sondern sie
lediglich dazu benützt, um gewisse Dunkelheiten und Unklarheiten
in den Äußerungen seiner anderen Beobachter zu beheben — ein
Moment, das von ganz wesentlicher Bedeutung ist —, dann dürfte
dieser Griff eine günstige Vervollkommnung des Gesamtversuches
bedeuten. Sieht man aber von diesen Vorteilen ab, so bleibt noch
ein anderes Interesse, das dann allerdings von der engeren Pro¬
blemstellung bei den entsprechenden Versuchen etwas abweichen
wird, nämlich dasjenige, wie weit gegebenenfalls die Differenz in
den Ergebnissen der relativ unbefangen beobachtenden Versuchs¬
personen und des von seiner natürlichen Befangenheit weitgehend
abstrahierenden Experimentators in der Rolle des Beobachters
gehen kann, bzw. wie weit sie auf ein Minimum reduzierbar ist.
Derartige Untersuchungen sollten bei allen Versuchen experimen¬
teller Art einen Bestandteil bilden. Sie würden nicht nur zur
Auffindung und Klärung bisher weniger bekannter Tatbestände
beitragen, die sich in Bezeichnungen wie »die Suggestibilität der
Versuchspersonen« oder »die Beeinflussung der Resultate durch
suggestive Momente« fassen ließen, sondern auch jede einzelne Unter¬
suchung vor etwaigen Schäden bewahren können, die sich in dieser
Hinsicht mit ungeahnter Leichtigkeit einzuschleichen imstande sin<A.
Wie keine erkenntnistheoretische Betrachtung Uber die »Er-
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6. Anschiits,
Häßlichen und die Ethik auch vom Schlechten zu reden hat, und
wie auf der anderen Seite auch die Arithmetik gut tut, Trug¬
formeln, und die Astronomie, subjektive Beobachtungsfehler auf¬
zuweisen, so hat auch eine Betrachtung der psychologischen For¬
schung, zumal, soweit sich diese auch des Experimentes bedient,
die ihr eigentümlichen Irrtumsquellen zu finden. Natürlich aber
hat sie an dieser Untersuchung kein rein theoretisches Interesse,
sondern sie treibt dieselbe nur, weil jede Erkenntnis eines Irr¬
tums den ersten Schritt zu dessen Beseitigung bedentet. Daß
nun in der experimentellen Psychologie die Irrtumsquellen in
großer Zahl auftreten, daß sie sowohl im Beobachter, als in den
beobachteten Gegenständen, schließlich aber auch in der ganzen
Versuchsanordnung und nicht zum mindesten in der Registrierung
der Resultate durch den Experimentator und in dessen Verwertung
derselben liegen, bedarf nicht von neuem der besonderen Hervor¬
hebung, und es soll hier nur unsere Aufgabe sein, auf einige
Mittel zu ihrer Fernhaltung und Eliminierung hinzuweisen.
Ein allgemeines und bereits angedeutetes Mittel liegt in einer
genaueren Spezialisierung und Abgrenzung des zu behandelnden
Problems, welche sowohl auf den Wert der Resultate als auch
auf deren Klarheit und Verständlichkeit von weittragendem Ein¬
fluß ist. Es ist eine ganz natürliche und fast notwendige Folge,
daß sich aus einer zu weiten Fassung des Problems analoge
Schwierigkeiten ergeben wie aus der Aufstellung eines zu um¬
fassenden Begriffsumfanges in jeder Wissenschaft. In der Mathe¬
matik würde der Begriff der Linie, wenn nicht aus ihm der der
Strecke als des Begrenzten herausgenommen würde, ein zu weiter
sein. Vor allem tut die Psychologie nicht gut, ihre Begriffe zu
weit zu fassen. Wenn jemand die Apperzeption und die heute
sogenannte Assoziation unter den allgemeineren dieser letzteren
zusammenfaßt, indem er auf das Gemeinsame beider blickt, so
ergeben sich die bekannten, fast unüberwindbaren Schwierigkeiten.
Die Forderung, die H. Cornelius 1 ) aufstellt, nämlich die, daß
die Psychologie mit möglichst wenig Begriffen auszukommen
trachten müsse, ist daher mit Rücksicht auf die sich ergebenden.
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Über die Methoden der Psychologie. 475
zeigen sich die Konsequenzen insofern in besonders schroffer
Form, als auch die Ergebnisse eine entsprechend weite und wenig
klare Gestalt haben werden, ein Umstand, der an das Interpreta¬
tionsvermögen des Experimentators zn hohe Anforderungen stellt,
denen dieser zumeist gar nicht vollkommen genügen kann. Wenn
man so z. B. das Problem der Assoziation ins Auge faßt und im
Zusammenhang experimentell-ästhetischer Untersuchungen kom¬
plizierte Gemälde als zu beobachtende Gegenstände wählt, an die
nun assoziiert werden soll, so tritt, abgesehen davon, daß allen
experimentell-ästhetischen Versuchen, weil sie noch sehr in den
Anfängen sind, einiges Mißtrauen entgegengebracht werden muß,
eine fast unlösbare Aufgabe in der Deutung der betreffenden Aus¬
sagen der Beobachter auf, auch wenn man exakte Zeitmessungen
vornimmt. Die zu findenden Tatbestände werden wegen der
großen Bedeutung, die bei ihrer Aufstellung der Interpretation
des Experimentators zufällt, selten Uber vorher bekannte oder
speziell vom Versuchsleiter hypothetisch aufgestellte Thesen hinaus¬
gehen. Erst wenn einmal entsprechende einfachere Phänomene
bekannt sind, etwa die Assoziation bei einfachen Farben und
Farbenzusammenstellungen, bei einfacheren und komplizierteren
geometrischen Figuren und skizzierten Gegenständen der Er¬
fahrung, endlich auch bei Tönen und Tonschritten, einzelnen Wör¬
tern und Begriffen, kann ein Fortschreiten zu Versuchen der an¬
gegebenen Art als möglich gelten. Aber auch hier muß das
Elementarere stets im Auge behalten werden, und man darf ferner
die Tatsache nicht übersehen, daß elementare und andere elemen¬
tare Phänomene in ihrem Zusammen nicht etwa als eine Summe
aus beiden gelten dürfen, sondern daß sowohl am Gegenstände
für den Betrachter, als auch in diesem selbst eine Komplexion
und die mit ihr koinzidierende Relation hinzukomme 1 ). Die an
einem GeBamtgegenstande entgegentretende »Gesamt- oder Gestalt-
qnalität«, gleichgültig, wie man diese des näheren definieren mag,
hat im beobachtenden Subjekt ein Korrelat, das natürlicherweise
die Äußerungen beeinflnßt.
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G. Anschütz,
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Empfindungen und Wahrnehmungen, diesen »Randphänomenen« des
Bewußtseinsgebietes, in engem Konnex stehen, wie etwa die
Tatsachen des Aufmerkens, Assoziierens usw., da ist jener Weg
leichter erkenntlich. Wenn aber solche Phänomene in Betracht
kommen, die einen abstrakteren Charakter haben und nicht ebenso
eng mit den Empfindungen Zusammenhängen, wie z. B. das Ur¬
teilen, die gedanklichen Trennungen und Kombinationen, Willens-
akte, gegenstandslose Gefühle, Stimmungen usw., da ist die Tren¬
nung des Einfacheren vom Komplizierteren für eine experimentelle
Untersuchung nicht ebenso einfach, wie ja überhaupt diese Er¬
scheinungen einer exakten Erforschung größere Schwierigkeiten
bieten. Mit einem gewissen Rechte kann man auch in der ex¬
perimentellen Psychologie eine analoge Scheidung machen wie in
der Psychophysik, indem man einerseits von solchen psycho¬
logischen Experimenten spricht, die sich auf relativ äußere, auf
Randphänomene beziehen, und andererseits von solchen, die es
mit den zentraleren Bewußtseinstatsachen zu tun haben, eine
Analogie, die auch mit Rücksicht auf die relative Schwierigkeit
einer genauen Erkenntnis gelten kann. Daß man im allgemeinen
die Phänomene der Empfindung, Wahrnehmung und Vorstellung
als relativ periphere den abstrakteren und zentraleren des Denkens,
Fuhlens und Wollens gegenüberstellt, wird mit Rücksicht auf den
Umstand als berechtigt erscheinen, daß jene Einteilung lediglich
dem Zwecke größerer methodischer Klarheit im psychologischen
Experiment dient und daß damit keineswegs etwa eine feBt fixier¬
bare Grenze angegeben sein soll, wie ja überhaupt im Bewußtsein
strenge Abteilungen nicht zu machen sind.
Der Gedanke einer klaren Fragestellung, einer bestimmten Ab¬
grenzung bei einer Aufgabe und der mit ihm zusammenhängende
des Ausgehens vom Einfachen zum Komplizierten kann nun so
verstanden werden, als sollte die experimentelle Psychologie zu¬
nächst überhaupt nur die »Randerscheinungen« der gesamten Be¬
wußtseinssphäre untersuchen. Diese Forderung wird zweifellos
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Über die Methoden der Psychologie.
477
so auch für die experimentelle Psychologie keine fest zu ziehende
ist, so kann auch jene Forderung keine allgemeine und schlecht¬
weg zu erfüllende sein. Zwar müssen wir auch in der experi¬
mentellen Psychologie immerhin eine gewisse Kenntnis von der
genaueren Beschaffenheit der Randphänomene haben, ehe wir an
die weiteren Aufgaben herantreten. Aber da nun einmal an vielen
Punkten der Zusammenhang zwischen relativ inneren und relativ
äußeren Phänomenen ein sehr enger ist, so werden wir von vielen
Untersuchungsgebieten in der Rand Sphäre wie von selbst auf Grenz¬
gebiete und weiterhin auf zentralere Sphären hingeleitet. Es sei
nur an die tausendfältigen Formen erinnert, die das Gefühlsleben
aufweist. Das Elementargefühl der Lust etwa kann von der ein¬
fachsten Lust an einer ganz primitiven sinnlichen Empfindung,
z. B. einer Farbe, einem Tone, seine Gestalt so weit verändern,
daß es nicht nur ästhetische und ethische Lust an Kunstwerken,
Handlungen und der Erscheinung von Persönlichkeiten ist, son¬
dern daß es schließlich in einer ganz gegenstandslosen Bewußt¬
seinslage, einer ganz innerlichen Stimmung erscheint und somit
trotz aller realiter möglichen Zwischenstufen in ausdrücklichen
Gegensatz zur sinnlichen Lust an Empfindungen zu stellen ist
Nicht umsonst bezeichnet auch die Sprache mit dem einen Worte
»Schmerz« die zahlreichen Phänomene, welche sich von der ein¬
fachsten Schmerzempfindung in mannigfachen Übergängen z. B.
durch ein »schmerzlich-Berührtsein« durch Worte, ja womöglich
nur durch grelle Eindrücke optischer oder akustischer Art bis zu
dem inneren Schmerz, etwa dem tiefen Weltschmerz, in ihrer
Qualität abstufen. In solchen Tatsachen aber liegen die natür¬
lichen Fingerzeige aus der Welt bloßer Randphänomene in die
der innersten Gedanken- und Gemütsbewegungen. Und wenn auch
die experimentelle Psychologie die unbegrenzte Verfolgung der
seelischen Phänomene zunächst nur als ein Ideal in nebelhafter
#
Ferne zu betrachten hat und vielleicht zu allen Zeiten wird be¬
trachten müssen, so kann man ihr doch den Versuch, unsere
exakten Erkenntnisse soweit als möglich in die Welt des Seelen¬
lebens auszudehnen, nicht verübeln: ia man wird in ihm nur ein
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6. Anscbiitz,
Erweiterung erfahren hat, die sich die experimentelle Erforschung
der komplexeren Phänomene als ideales Ziel gesetzt hat 1 ).
Ein zweiter sehr wesentlicher Faktor, welcher zur Verhütung
von Fehlerquellen, hauptsächlich soweit diese in der Verfassung
der Beobachter zu suchen sind, dient, besteht in der Aufgabe¬
stellung, die diesem letzteren beim Versuche erteilt wird. Der
Begriff der Aufgabe hat in der experimentellen Psychologie natur¬
gemäß einen ganz anderen Sinn als in der Physik, Chemie,
Botanik, Physiologie usw. Während bei diesen die Aufgabe den
Experimentator angeht, nicht aber seine Hilfsmittel, mit denen er
manipuliert, spielt die Aufgabestellung im psychologischen Experi¬
ment insofern eine wesentlichere Rolle, als sie unmittelbar zur
Auffindung der gesuchten Erkenntnis dienen soll und somit ein
wesentlicher Faktor beim Versuche ist. Sie wirkt eben in den¬
jenigen Hilfsmitteln, die die psychologische Erkenntnis fördern
und ergänzen sollen, nämlich in den Beobachtern, und liefert zur
Gewinnung brauchbarer Resultate einen wertvollen Beitrag. Die
Aufgabestellung leistet somit zwei wesentliche Dienste. Einerseits
ist sie der Grund für ein gewisses Interesse beim Beobachter und
gibt diesem sogar eine Einstellung in ganz bestimmter Richtung;
andererseits aber dient sie einem ähnlichen Zwecke wie das oben
genannte oszillierende Vergleichen; sie wirkt dem Aufkommen
zufälliger und unberechenbarer Bewußtseinselemente entgegen und
sorgt somit gewissermaßen für eine Konstanz in der Disposition.
Wenn aber einmal der Wert der Aufgabe erkannt ist, so besteht
die natürliche Konsequenz in ihrer ausdrücklichen Betonung. Diese
aber wird nicht nur in Form wiederholter mündlicher Erteilung
bestehen, sondern auch in ihrer Einübung mit Hilfe einer eventuell
sehr großen Reihe von Vorversuchen, die übrigens wegen vieler
anderer Vorteile von großem Werte sind.
Daß wir in der Aufgabestellung ein ganz fundamentales und
zugleich natürlicherweise nahegelegtes Hilfsmittel zu sehen haben,
J1 1 I t 1 « ■ 111 1 Y~X • • . • • 1
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Über die Methoden der Psychologie.
479
druck kommen. Denn wenn die Aufgabe und die Aufmerksamkeit
des Beobachtenden nicht in ganz bestimmter und ausgeprägter
Weise wirksam wären, so würden alle jene vielleicht nur poten¬
tiell oder latent im Bewußtsein vorhandenen Elemente zur Aktua¬
lität erwachen können, ein Geschehen, das aber der Experimentator
nicht direkt beobachten kann und auf das er nur durch gelegent¬
liche Fragen an den Beobachter und die entsprechenden Äuße¬
rungen derselben aufmerksam gemacht werden kann. Es ist vor
allem zu bedenken, daß jedes Individuum ohne Rücksicht auf
seine speziellere Konstitution gewisse persönliche Anlagen, Inter¬
essen und bewußte oder unbewußte Neigungen oder Abneigungen,
Intentionen oder Absichten an die Versuche ebensogut wie an
alles, was ihm im Leben begegnet, heranbringt, und daß diese
Tatsache von sehr großer Tragweite ist, ja daß ohne ihre Berück¬
sichtigung alle psychologische Erkenntnis, die sich prinzipiell im
Experiment anderer Individuen bedient, nur eine lückenhafte sein
kann, so interessant an sich die Beobachtung sein mag, wie auf
gleiche Eindrücke von verschiedenen Individuen, zumal wo es
sich um komplizierte Versuche handelt, in gänzlich anderer und
oft ganz origineller Weise reagiert wird. In derartigen Fällen
aber wäre wieder der Interpretation ein sehr weites Feld zu¬
gestanden, und die mannigfachsten spekulativen Hypothesen ge¬
wännen von neuem Eingang.
Mit der Aufgabestellung in unmittelbarem Zusammenhänge
steht die Erteilung einer gewissen Instruktion, die in einer mög¬
lichst vollkommenen Gestalt als ein vortreffliches Mittel gelten
darf, um die Disposition des Beobachters in bestimmte Bahnen
zu lenken und so zur Herbeiführung ihrer Konstanz wesentlich
mitzuwirken. Die Instruktion erschöpft sich nicht in einer aus¬
führlichen Darlegung der Aufgabestellung, sondern sie enthält
direkte und indirekte Anweisungen bezüglich des gesamten Ver¬
haltens während des Versuches. Zunächst kann in allgemeiner
Weise auf die zu beobachtenden Objekte im voraus hingewiesen
werden, und zwar in der Weise, daß der Versuch weder etwas
ganz Neues und Unerwartetes, noch aber etwas Erwartetes bieten
wird. Die Instruktion soll also möglichst neutral gehalten sein.
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G. Anscliiitz,
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und nicht reflektieren soll; bei Versuchen, deren jeder aus
mehreren Eindrücken besteht, kann etwa verlangt werden, der
Beobachter solle während der Zwischenzeit den ersten Eindruck
möglichst gut festzuhalten suchen, damit er dieses Festhalten
später genauer beschreiben kann, oder er solle während ihres
Verlaufes seine Gedanken nflch Möglichkeit abstellen und seine
Einstellung für den folgenden Eindruck möglichst neutral ge¬
stalten.
Im allgemeinen kann die Behauptung aufgestellt werden, daß
eine Instruktion um so bessere Dienste leistet, je mehr sie
— natürlich bis zu gewissem Grade — die Aufmerksamkeit wäh¬
rend des ganzen Versuches in Anspruch nimmt. Denn gerade
auf diese Weise ist die meiste Gewähr geleistet, daß fremdartige
Elemente, die den Wert des Versuches in ungünstigem Sinne be¬
einflussen können, an ihrem Aufkeimen verhindert werden. Vor
allem aber ist auch einem nicht gewollten Assoziieren an das zu
Beobachtende entgegengearbeitet. Jedermann kennt die Tatsache,
daß die Aufmerksamkeit nicht bei einem bestimmten Gegenstände
stehen zu bleiben, sondern von ihm unwillkürlich auf anderes
überzugehen strebt, so daß sogar eine Tendenz, vom Hundertsten
ins Tausendste zu kommen, vorliegt, die sich auch bis zu ge¬
wissem Grade realisiert, wenn ihr nicht eine abstrahierende und
konzentrierende Bewußtseinstätigkeit entgegenwirkt. Die Erschei¬
nungen der Ideenflucht, so pathologisch auch ihr Aspekt sein mag,
verkörpern in der Tat eine jederzeit und bei jedermann vorhan¬
dene Tendenz, die nur mehr oder minder durch die entsprechende
Gegentendenz neutralisiert sein kann. Diese Neutralisation aber
wird beim psychologischen Experiment dann am meisten erreicht
sein, wenn die Instruktion im Beobachter so wirkt, als wäre sie
eine selbstgegebene. Von diesem Gesichtspunkte aus stellen
hypnotische Versuche ein Ideal dar, da im Zustande der Hypnose
das Individuum die Instruktion des Suggestors unmittelbar nicht
nur als selbst gegeben, sondern bereits sogar als realisiert erlebt.
Da aber mit hypnotisierten Individuen aus zahlreichen Gründen
nicht immer und sogar nur selten experimentiert werden kann, so
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481
Über die Methoden der Paychologie.
Dabei braucht die Versuchsperson gar nicht von dem genauen
Gang und dem Ziel des Versuches zu wissen; ein diesbezügliches
Wissen würde sogar die Unbefangenheit wesentlich beeinflussen
und somit eine notwendige Vorbedingung aller psychologischen
Experimente verkennen. Aber die Weckung des Interesses ist
auch möglich, ohne daß dem Beobachter speziellere Angaben ge¬
macht werden. Entsprechende Zwischenversuche, die aus der
eigentlichen Reihe herausfallen, aber auch Zwischenbemerkungen
werden den monotonen Charakter, den die meisten psychologischen
Experimente in den Laboratorien für die Versuchspersonen haben,
günstig zu modifizieren fähig sein. Es scheint fast eine selbst¬
verständliche Tatsache, daß man mit gähnenden Leuten oder mit
solchen, die das Ende der Versuchszeit innerlich herbeiwtinschen,
ja endlich auch mit denen, die so mitmachen, weil sie einmal
angefangen haben, aber ebensogut auch wieder aufhören würden,
keine brauchbaren Resultate erzielen kann, da nicht das Seelen¬
leben des Gelangweilten untersucht werden soll. In der Tat aber
können auch Bemerkungen, die den Beobachter scheinbar in den
Gang der Versuche einweihen, so neutral gehalten sein, daß von
einer Befangenheit in keinem Sinne gesprochen werden darf.
Versuche einfacher Art können davon Zeugnis ablegen. Vor allem
ist dabei zu bedenken, daß auch eine planmäßig erzielte Unwissen¬
heit beim Beobachter vielfach in dem Sinne schädlich wirkt, alB
jener, gleichsam auf Selbsthilfe angewiesen, sich selbständig eine
Vorstellung zu machen sucht, worin denn nun eigentlich der Zweck
der Sache liege und worauf die Versuche hinauslaufen. Es ist
aber ein bekannter Umstand, daß sich die Versuchspersonen auch
mit allgemeinen Angaben abfinden lassen, und wenn sie auch die
einzelnen Versuche nicht mit jenen in Zusammenhang bringen
können, so doch meinen, sie müßten wohl mit dem Angegebenen
zu tun haben; und ihre Angaben sowohl als auch die Beobach¬
tungen deuten darauf hin, daß in der Tat aus einer allgemeinen
Bekanntheit mit dem Problem keine Befangenheit, sondern nur
ein gesteigertes Interesse erwächst. Allerdings ist bei allen der¬
artigen Dingen eine weitgehende Vorsicht am Platze.
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482
G. Ansehütz,
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natürlicherweise liegen, so daß sie also für jedes beliebige Indi¬
viduum in Betracht käme. Oder aber die Formulierung ist zwar
an sich neutral, aber der Beobachter sieht in ihr aus irgend¬
welchen, in der Regel nicht aufweisbaren Gründen etwas, das zur
suggestiven Beeinflussung Anlaß geben kann, so daß sich also
ungewollte und oft auch schwer kontrollierbare Tendenzen ein¬
stellen. Häufig meint der Beobachter, es müsse »nun einmal anders
kommen«, oder es müsse »noch ebenso kommen«, wie eine nach¬
trägliche, seitens des Experimentators gestellte Frage aufzeigen
kann; und doch kann für derartige Phänomene im einzelnen kein
Grund oder Anlaß aufgezeigt werden. Solche Fälle unwillkür¬
licher oder selbstgegebener Einstellung sind daher so gut wie jede
ausgeprägte Autosuggestion ein schlimmer Feind jeder psycho¬
logischen Untersuchung experimenteller Art, zumal gerade hier
die Kontrolle sehr schwer ist und der Beobachter von derartigen
Tatbeständen oft selbst nichts weiß oder ihm zumeist nichts der¬
artiges auffällt. Es muß daher die Forderung aufgestellt werden,
seine Einstellung von Zeit zu Zeit durch ganz allgemeine Fragen,
die sich auf seine Gedanken und seinen augenblicklichen Bewußt¬
seinsinhalt einschließlich seiner Gefühle und Tendenzen beziehen,
zu neutralisieren, da auf solche Weise am ehesten die Herbei¬
führung einer gleichmäßigen und weitgehend bekannten Disposition
möglich ist. Solche Zwischenfragen oder Zwischenbemerkungen
werden natürlich nur in gleichgültiger und beiläufiger Weise ge¬
stellt werden, damit nicht etwa durch sie erst der suggestive
Faktor eingeführt und eine etwa bereits vorhandene günstige Ein¬
stellung des Beobachters beeinträchtigt wird. In jedem Falle
aber kann eine eingehende nachträgliche Befragung, die nicht
nach jedem Einzel versuch, wohl aber nach jeder Einzelreihe statt¬
findet, eine gute Kontrolle für suggestive Momente und ungewollte
Einstellungen sein und somit ein Mittel darbieten, um unbrauch¬
bare Äußerungen als solche zu erkennen und daher zu eliminieren.
Es muß hier noch eine andere Frage Beachtung finden, näm¬
lich die Art, wie denn im einzelnen der Experimentator zu einem
Wissen von den psychischen Tatsachen im Beobachter kommt.
Diese Frage aber ist keineswegs so zu verstehen, als wenn von
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Über die Methoden der Psychologie.
483
mag man zugunsten der Einfühlung J ) oder zugunsten des Analogie¬
schlusses entscheiden. Unbeschadet einer diesbezüglichen Lösung
aber, die man der eigentlichen Erkenntnistheorie zuschreiben mag,
bleibt noch die engere methodische Frage bestehen, die auf ein¬
zelne charakteristische Hilfsmittel das Augenmerk richtet. Als
solche kommen nun die sogenannte Ein- und Ausdrucksmethode
in Betracht und die jene beiden verbindende und ergänzende
Reaktionsmethodc, über die hier nicht ausführlich die Rede sein
soll. Es sei nur gesagt, daß die erstere darin besteht, daß mög¬
lichst eindeutige Veränderungen des psychischen Zustandes durch
physikalisch-chemische Reize hervorgerufen werden, daß weiter¬
hin bei der zweiten gewisse körperliche Symptome als Repräsen¬
tanten seelischer Tatsachen geprüft werden, und daß die letztere
insofern eine Vereinigung beider bedeutet, als sie mit Hilfe eines
Eindruckes gewisse psychische Tatbestände hervorruft und diese
dann wiederum in ihrem körperlichen Ausdruck untersucht. Mit
diesen Arten ist aber keineswegs ein erschöpfendes Schema auf-
gestellt; auch wenn Wundt 2 ) die psychischen Maßmethoden binzu-
fügt, so ist damit die Reihe noch nicht vollendet. Daß endlich
die sogenannte Fragemethode nicht als etwas in sich eindeutig
Bestimmtes anzusehen ist, dürfte einleuchten. Bei allen jenen
sogenannten Methoden aber spielt wiederum die Interpretation
eine große Rolle. Das zeigen vor allem die Ergebnisse, die bei
der Ausdrucksmethode mit Hilfe des Dynamometers, des Sphygmo-
graphen, des Pneumatographen und des Plethysmographen ge¬
funden werden 3 ).
Von allen diesen Methoden wollen wir hier eine solche heraus¬
greifen, die man diejenige der einfachen Reaktion nennen kann,
da sie gewisse bedeutende Vorzüge bietet. Gemeint sind hier
solche Versuche, bei denen das, was der Beobachter zu leisten
hat, auf ein Minimum eingeschränkt ist. Man denke an solche
Versuche, bei denen auf den Eindruck hin mit einem einfachen
»ja« oder »nein«, einem einfachen »größer«, »kleiner«, »früher«,
»snäter« nsw. reagiert werden soll Dips« Versuche bieten in-
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484 0- AnBchUtz,
ist, wodurch das Auftreten einer die Unmittelbarkeit des Aus¬
druckes und die Unbefangenheit des Beobachters störende Re¬
flexion möglichst eingeschränkt ist. Die psychischen Phänomene
geben sich in solchen Fällen viel unmittelbarer, sie geben der
jene Unmittelbarkeit störenden und vernichtenden Selbstkritik des
Beobachters keine Gelegenheit zu ihrem schädlichen Eingreifen.
Nehmen wir aber einmal an, daß die Reflexion des Beobachters,
die sich damit abgibt, ob denn das Beobachtete überhaupt mög¬
lich sei oder ob nicht eine Täuschung vorliegen könne, ob etwa
gar die Erinnerung schuld sein könne an einer etwaigen Täu¬
schung, bewußtermaßen ausgeschaltet oder wenigstens bedeutend
eingeschränkt werden könne, so besteht doch noch die oft unwill¬
kürlich sich verändernde Disposition als störendes Moment bei
allen über eine gewisse Zeitspanne sich erstreckenden Versuchen,
ein Übelstand, der also bei der einfachen Reaktion, soweit es
sich um den Einzelversuch handelt, nicht in Betracht kommt. Zu
diesen beiden entschiedenen Vorzügen kommt endlich noch ein
dritter, der in der bedeutend erleichterten Interpretation bei der¬
artig einfachen Versuchen besteht. Auf diese drei offenkundigen
Vorzüge muß also jederzeit Rücksicht genommen werden, wenn
man aus irgendeinem Grunde von jeder Reaktionsmethode Ab¬
stand nehmen will.
Da nun allerdings in solchen einfachen Reaktionen eine ganz
wesentliche Beschränkung liegt, da insbesondere das Gebiet der
zu untersuchenden Probleme ein relativ enges ist, und da endlich
auch die Erforschung komplexerer Bewußtseinsphänomene 1 ) an¬
gestrebt werden muß, so ist man natürlicherweise auf andere Me¬
thoden angewiesen, die uns jene Erkenntnis komplexerer oder
zentralerer psychischer Phänomene zu vermitteln imstande sind.
Hier aber bietet sich die Fragemethode als ein Mittel dar, das
entsprechend der größeren Schwierigkeit der Aufgabe auch an
die Selbstbeobachtung der Versuchspersonen in höherem Maße
appelliert. Sie ist insofern als den entsprechend schwierigeren
Problemen adäquat zu bezeichnen, als bei ihr auch auf scheinbar
naVtOnaH nlilinV» a D mim fGnnl A »v» /-»*-» /l« a rrrnkwAM/l /I Art T7 Atmn aVi a a
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Über die Methoden der Psychologie.
485
liehen Kontrolle zugänglich ist und daß eventuelle suggestive
Momente möglicherweise erkannt werden können.
In vielen Punkten kann man diese Methode als ein brauch¬
bares Hilfsmittel der experimentellen Psychologie ansehen, da sie
nämlich die Methode der Selbstbeobachtung und die der objek¬
tiven Kontrolle in weitgehendem Maße vereint; indem sie nämlich
einerseits die Selbstbeobachtung der Versuchsperson heranzieht
und diese Selbstbeobachtung sogar von verschiedenen Individuen,
und zwar nach dem Prinzip der Variation betrieben wird, steht
auf der anderen Seite noch der Experimentator, der eigentliche
Forscher, der den Problemen sowohl auf Grund seiner eigenen
Introspektion als auf Grund der von ihm genau kontrollierten Aus¬
sagen der Versuchsperson näher zu treten und sie zu lösen sucht.
Daß auf der anderen Seite die Fragemethode ihre großen
Schwierigkeiten mit sich bringt, muß zugegeben werden; aber
man wird diese Schwierigkeiten als etwas ganz Natürliches be¬
trachten, da die von ihr zu lösenden Probleme wesentlich schwie¬
rigere sind als die, welche bei der einfachen Reaktion in Betracht
kommen. Es handelt sich eben um die genauere Erkenntnis sehr
komplexer seelischer Phänomene, daß aber höhere Aufgaben zu
ihrer Lösung auch größere Schwierigkeiten bieten, ist natürlich.
Ein Hauptmoment, welches gegebenenfalls zu einer wesentlichen
Irrtumsquelle werden kann, ist die Deutung oder Interpretation
der einzelnen Angaben der Beobachter. Eine erste Frage, welche
in dieser Richtung ginge, wäre diejenige danach, ob und wie weit
denn der Beobachter überhaupt selbständig aussagt und wie weit
er nicht etwa durch die Fragestellung beeinflußt ist. Daran
schließt sich unmittelbar jene andere an, ob sich bei ihm nicht
irgendwie unbewußtermaßen eine Einstellung herausgebildet hat,
eine Art von Erwartung oder ein unbemerktes Vorurteil. Endlich
aber kommt die sehr wesentliche Frage — wesentlich, weil sie
oft schwer zu entscheiden ist —, welche danach fragt, ob und
wie weit der Beobachter in seinen Äußerungen einen reinen, un¬
getrübten Eindruck wiedergibt, oder inwieweit dieser wieder-
ereeebene Eindruck nicht etwa ein solcher ist. der bereits eine
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486
G. Anschiitz,
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fragmentarisch und unausgeprägt diese auch sein mögen, ob das,
was er beobachtet hat, wohl auch dem wirklichen Tatbestände
entspreche, oder ob es eigentlich aus diesen oder jenen Gründen
gar nicht so sein könne. In den Aussagen aber kommen der¬
artige Tatbestände nicht immer zum Ausdruck, und erst eine ge¬
naue diesbezügliche Einübung ist bis zu gewissen Grenzen imstande,
das unmittelbar Erlebte von den Produkten der Reflexion zu sondern.
Die Unterscheidung, welche wir hier bei den Äußerungen der
Versuchspersonen machen, kommt im Grunde auf diejenige hinaus,
welche auch Lipps 1 ) zwischen Kundgabe und unmittelbarem Aus¬
druck einerseits und Urteil andererseits macht. Diese Scheidung,
die schon ohne Rücksicht auf das psychologische Experiment un¬
bedingt aufgestellt werden muß, wenn es auch zahlreiche Zwischen¬
stufen geben mag 2 ), ist von ungeheurer Tragweite für die Wertung
der Aussagen. Es ist zweifellos, daß, so groß auch der Wert sein
mag, der einem offenkundigen Urteil, ja unter Umständen sogar
der Reflexion zukommt, doch die unmittelbare Kundgabe, der ganz
unvermittelt, Urteils- und reflexionslos sich gebende Ausdruck eines
inneren Erlebnisses von ungleich höherem Werte für die experi¬
mentelle Psychologie ist, insbesondere wenn wir an die Deutung
der Ergebnisse herangehen, in denen sich oft solche unmittelbaren
Elemente unzweideutig aufweisen lassen. Den Wert, der in allen
solchen unmittelbar, d. h. hier ohne Vermittlung einer urteils¬
mäßigen Verarbeitung gemachten Äußerungen liegt, erkennt auch
Ribot 3 ) an, wenn er die Forderung aufstellt, die wahren psychi¬
schen Tatsachen, wenn man sie bei anderen suche, dürften nicht
eigentlich dort gesucht werden, wo die Reflexion durch künstliche
Bedingungen wachgerufen werde. Auch Münsterberg legt
zwanglos sich gebenden Äußerungen einen besonderen Wert bei.
In dieser Richtung hat die Interpretation die Aussagen der
Beobachter vor allem zu untersuchen, und sie hat zugleich die
Aufgabe, eine allgemeine Auslese unter den erhaltenen Antworten
zu vollziehen, indem sie alle solchen, die offenkundig unter dem
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Über die Methoden der Psychologie. 487
mittelbaren Ausdruck zu enthalten scheinen, den Vorzug gibt.
Dabei kann aber natürlich nicht alles, was die äußere Form
des Urteils trägt, eliminiert werden, da einmal unmittelbare Aus¬
drücke die Form des Urteils tragen können und dann auch jedes
Urteil einen mehr oder minder brauchbaren Ausdruck enthält. Es
ist beachtenswert, daß auch nicht selten das Auftreten einer Re¬
flexion und eines die Reflexion wiedergebenden Urteils auf eine
Eigenart des unmittelbaren Eindruckes zurückgeht, die wir somit
aus jenem zu ersehen imstande sind.
Zur Interpretation der Äußerungen oder, allgemeiner, der Ver¬
haltungsweisen der Versuchspersonen gehört aber, sofern es sich
um Aussagen von größerem Umfange und größerer Tragweite
handelt und die Selbstbeobachtung der Versuchspersonen wesent¬
lich herangezogen wird, mehr als die Deutung der unmittelbar
vorliegenden Worte. Diese stehen zwar im Vordergründe und
bieten stets den ersten Anhaltspunkt. Aber wenn wir bedenken,
daß die gesamte Anlage und der Charakter des Beobachters ein
wesentliches Moment bei jeder etwas komplizierten Aussage spielt,
so ist für den Experimentator eine wenn auch allgemeine Fest¬
stellung dieser Umstände eine unerläßliche Aufgabe. Hier aber
muß er sich vor einer einseitigen Information hüten. Er tut viel¬
mehr gut, eine solche zunächst von dem Beobachter selbst, dann
von einem oder mehreren Dritten einzuholen und endlich seine
eigene Kritik wirken zu lassen. Auf solche Weise ist er imstande,
wesentliche Faktoren aufzufinden, die gewisse Verhaltungsweisen
der Beobachter aufklären können. Auch hierin müssen wir also
ein Mittel sehen, vorhandene Fehlerquellen zu beseitigen.
Trotz aller bisher angeführten Mittel, die zur Vermeidung von
Fehlerquellen dienen, ist es aber nicht möglich, zu solchen Resul¬
taten zu gelangen, die ein für allemal als mustergültig anzusehen
sind. Es treten stets noch vereinzelte Fälle auf, in denen auch
unser Interpretationsvermögen versagt oder täuscht, ohne daß es
hierfür ein direktes Kriterium gäbe. Hier setzt nun ein neues
methodisches Verfahren des Exnerimentes ein. das auf eieentüm-
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6. Anschiitz,
Dieses Verfahren hat zugleich einen weiteren bedeutungsvollen
Vorzug. Wie im sozialen Leben gewisse Erscheinungen nicht
immer am Einzelnen auftreten, sondern nur an der Gesamtheit
der Bevölkerung, wie der Charakter eines Monats nicht immer in
einem einzelnen Tage, sondern erst in dem Zusammen aller dreißig
Tage erscheint, so gibt es auch zahlreiche psychische Phänomene,
die erst an einer Menge von Fällen als ein Gesamtcharakter vieler
Bewußtseinserlebnisse auftritt. Solche Tatsachen aber lassen sich
lediglich mit Hilfe jener Statistiken feststellen. Auch hier aber ge¬
nügt wiederum die Statistik allein nicht, sondern es bedarf erst noch
des Interpretierenden, der die zahlenmäßigen Bestimmungen reden
macht und allgemeine psychische Tatbestände aus ihnen ersieht.
Jene allgemeinen psychischen Tatbestände sind zunächst nicht
im gleichen Sinne allgemein, wie allgemeine Naturgesetze. Sie
lassen sich vielmehr wiederum den allgemeinen Tatsachen des
sozialen Lebens vergleichen, oder der allgemeinen Tatsache, daß
ein Monat eine gewisse Durchschnittstemperatur habe und ein ge¬
wisses Mittel von sonnenlosen Tagen. Wenn wir also jene all¬
gemeine Tatsache auf das einzelne psychische Individuum an¬
wenden wollen, so ist dies zunächst nicht im gleichen Sinne mög¬
lich, wie etwa das Fallgesetz auf den einzelnen Körper Anwendung
findet, sondern es kann sich hier vorerst nur um Möglichkeiten
und Wahrscheinlichkeiten handeln, deren Charakter sich nach Ma߬
gabe der zugrunde liegenden Statistik bestimmt. Was wir also
aus jenen allgemeinen Tatsachen ableiten können, ist zunächst
nicht das allgemeine Gesetz, sondern die Regel, bei der der all¬
gemeine Fall nur einen gewissen approximativen Grad von aus¬
nahmsloser Allgemeinheit erreicht.
Wir können zum Zwecke einer weiteren Betrachtung der All¬
gemeinheit von experimentell gefundenen psychischen Tatsachen
bei dem soeben indirekt berührten Beispiel bleiben, da die Tat¬
sachen es gestatten. Wie nämlich rein theoretisch die Wahrschein¬
lichkeit immer mehr wachsen kann, bis wir sie endlich in einer
Art Asymptote mit der vollen Gewißheit zusammenfallen sehen,
so ist es auch bei den Regeln, die wir auf experimentelle Weise
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Über die Methoden der Psychologie.
489
Fällen zu sammeln. Er beobachtet das entsprechende Phänomen
in einem einzigen Falle, eventuell in einigen wenigen, um mög¬
liche Irrtumsquellen aufzufinden, und findet auf seine eigentüm¬
lich naturwissenschaftlich-induktive Weise seine Gesetze, die für
ihn auf Grund eines gleichsam unvermittelten Sprunges allgemeine
Gültigkeit besitzen, die er auch in Bezeichnungen wie »Notwendig¬
keit« oder »Unverbrüchlichkeit« zum Ausdruck bringt. Demgegen¬
über ist die Weise, wie die experimentelle Psychologie zu ihren
allgemeinen Tatsachen gelangt, empirisch betrachtet eine völlig
andere, so gleichartig sie auch auf den ersten Blick erscheinen
mag. Für die experimentelle Psychologie ist die Beobachtung
einer hohen Anzahl von Fällen von großer Bedeutung. Man kann
im allgemeinen sagen, daß sich innerhalb einer bestimmten Sphäre
die experimentelle Psychologie einer vollen Gewißheit um so mehr
nähert, als die Zahl der von ihr aufgestellten Fälle wächst.
Daß die Induktion, welche die experimentelle Psychologie zu
treiben hat, mit der naturwissenschaftlichen in ihren einzelnen
Etappen nicht zusammen fällt, daß sie insbesondere im Gegensatz
zur Naturwissenschaft ein Interesse an einer hohen Anzahl vor¬
liegender Fälle hat, dieser Umstand hat seinen Grund darin, daß
ihr die Gegenstände ihrer Untersuchung nicht in gleicher Weise
gegeben sind, sondern daß eine ihrer Aufgaben, bis zu gewissem
Grade sogar ihr Ziel, erst die klare Heraussonderung von Gegen¬
ständen aus dem Gesamten des psychischen Lebens ist. Diese
bei jeder Einzeluntersuchung zuvor oder zugleich mit zu lösende
Aufgabe wird in der möglichst weitgehenden, in bestimmter
Richtung gehenden Einübung der Beobachter erfüllt. Auf Grund
dieser Einübung werden erst die zu erforschenden psychischen
Gegenstände, die allgemeinen und speziellen Seiten oder Rich¬
tungen im Bewußtseinsleben herauskristallisiert, so daß sie dann
in dieser Isolierung später von der Vermischung mit fremdartigen
Elementen möglichst frei sind und einer Erforschung zugänglich
gemacht werden können. >
In dieser Heraussonderune: der zu betrachtenden -nsvchischen
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490
G. Anschütz,
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Statistiken zu achten ist. Eine vollkommene Heraussonderung oder
Isolierung aber wird auch hier, theoretisch betrachtet, im Gegen¬
satz zur Naturwissenschaft nicht möglich sein. Ganz genaue
Untersuchungen würden daher zeigen müssen, daß in der Tat
jene vollkommene Isolierung, also jene vollkommene Einübung
keine ideale wird, sondern daß sie nur eine approximative ist.
Rein praktisch aber scheint diese Tatsache ebenfalls einleuchtend,
da es zwar nicht als bewiesen, wohl aber als etwas in der Weise
einer Evidenz Zugestaudenes gelten darf, daß ein absolut los¬
gelöstes Bewußtseinselement nicht vorkommt. Indes kann von
derartigen Erwägungen Abstand genommen werden, und wir kön¬
nen jedenfalls praktisch damit rechnen, daß eine Konstanz psy¬
chischer Tatbestände im Gesamten einer entsprechend angeordneten
experimentellen Untersuchung als Tatsache anzusehen ist.
Ist aber jene Vorbedingung bei der experimentellen Psycho¬
logie erfüllt, so nähert sie sich nunmehr in ihrem Verfahren
wesentlich der naturwissenschaftlichen Methode. Sie bedarf jetzt
nur einiger Fälle, um auf ihnen in analoger Weise nicht nur bloße
Wahrscheinlichkeiten, sondern ebenfalls allgemeine Tatsachen und
Gesetze aufzubauen. Diese ihre allgemeinen Tatsachen und Ge¬
setze also sind letzten Endes ebenfalls solche, die auf voll induk¬
tivem Wege gefunden sind. Die wissenschaftliche Forschung in
der experimentellen Psychologie gelangt also zu ihnen auch nur
auf Grund jenes Sprunges, den auch die physikalische Betrach¬
tungsweise macht, wenn sie von ganz wenigen Fällen auf all¬
gemeine Gesetze schließt. Daß sich im letzten Grunde die Me¬
thode der experimentellen Psychologie, sofern sie sich in jenem
induktiven Charakter offenbart, hinsichtlich dieses letzteren von
der naturwissenschaftlichen nicht wesentlich unterscheidet, zeigt
schon ein rein mathematisches Kalkül, nämlich dasjenige, welches
uns sagt, daß eine Zahl von Fällen gegenüber einer unendlich
großen Anzahl von solchen stets verschwindend klein bleibt, daß
also der Sprung aus dem Endlichen der Erfahrung in das Unend¬
liche der allgemeinen Gesetze stets der gleiche ist. Trotzdem aber
wird die experimentelle Methode in der Psychologie niemals mit
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Über die Methoden der Psychologie. 491
Fragen wir ans nun nach dem eigentlichen positiven Resultate,
welches das gesamte Experiment zu liefern vermag, so müssen
wir vor allem auf den entschieden günstigen Einfluß hinweisen,
den dasselbe, sowohl was die Klärung der Begriffe, als auch was
die präzisere Aufstellung von Problemen betrifft, auf die gesamte
Psychologie auszuüben imstande ist. Dazu kommt endlich das
Moment der objektiven Kontrolle. Es scheint in der Tat sehr
wohl möglich, zahlreiche Hypothesen auf Grund des Experimentes
auf ihren Wert hin zu untersuchen. Daß aber das Experiment
zumeist nur ein Mittel sei, vorgefaßte Meinungen zu bekräftigen,
ist eine Behauptung, die, wenn sie auch in vereinzelten Fällen
Recht haben mag, so doch nur von solchen geltend gemacht wer¬
den kann, die selbst noch kein ernsthaftes Experiment betrieben
haben und die zweifellos die sehr reiche Anregung noch nicht
erfahren haben, die auch der apriorisch noch so feinsinnige Denker
aus ihm erfahren kann. Der größte Vorteil aber, den das Ex¬
periment mit sich bringt, ist zweifellos der, daß es den Psycho¬
logen, der es ernsthaft betreibt, auf das engere Gebiet hinweißt,
welches er sein eigen nennen darf, und daß es ihm verbietet,
seine Spekulationen in eine äußerlich wissenschaftliche Form zu
kleiden. .
IV. Die Hilfsmethoden.
Die Frage, wo eine methodische Forschung in der Psychologie
überhaupt beginne und wie weit sie reiche, läßt sich mit voller
Bestimmtheit nicht beantworten. Die Psychologie zeigt also auch
hinsichtlich des ihr zugehörigen Gebietes gegenüber der Physik
eine Differenz. Denn wenn wir auch die Selbstbeobachtung und
die mannigfachen Arten experimenteller Untersuchungen als ihre
Hauptmethoden nennen können, so gibt es doch noch ein weiteres
Gebiet wissenschaftlicher Forschungen, welche als Grenzgebiete der
Psychologie von dieser nicht unbeachtet gelassen werden dürfen.
Ja diese Gebiete können sogar als Hilfsdisziplinen in Anspruch
genommen werden, und aus ihnen erwachsen alsdann der eigent¬
lichen Pavcholofi-ie im enteren Sinne eine Reihe von Hilfsmethodei-»
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Digitizea bj
492 G. AnschUtz,
in einzelnen Teilen dieser letzteren nähern. Zu ihnen gehören
vor allem die Kinderpsychologie, die Psychopathologie, die Völker-
und die Tierpsychologie.
Die Kinderpsychologie ist erst relativ jungen Ursprungs; vor
allem ist man erst neuerdings zu ihrer Verwertung für die Psycho¬
logie geschritten, während sie in ihren Anfängen fast nur in den
Dienst der Pädagogik gestellt wurde. Es braucht kaum an die
bekannten Arbeiten von Sigismund 1 ), Kußmaul 2 ), Preyer 3 ),
Compayre‘), Meumann 6 ), Binet 6 ) u. a. erinnert zu werden.
Die Hauptaufgabe dieser Hilfsmethode ist die Auffindung der
Genese psychischer Phänomene, wie sie beim Erwachsenen durch
Selbstbeobachtung und Experiment bereits festgestellt sind. Daß
eine Verfolgung seelischer Tatbestände bis zu ihren überhaupt
auffindbaren Anfängen ungeahnte Vorzüge bietet, bedarf kaum
der Hervorhebung. Als derartige Probleme kommen hauptsächlich
solche in Betracht, wie die Entwicklung und Ausbildung des lch-
Bewußtseins und des Persönlichkeitsgefühles. Weiterhin ist die
Beobachtung wesentlich, wie sich die Begriffe aus den ersten all¬
gemeinen Ansätzen bilden und speziellere Formen annehmen, wie
Willensvorgänge und Affekte entstehen, wie sich Denken und
Sprechen in gegenseitigen Beziehungen entwickeln. Der Kinder¬
psychologie kann daher Münsterberg mit einem gewissen
Rechte eine analoge Bedeutung für die Psychologie zuschreiben,
wie sie die Embryologie für die Anatomie besitzt.
Trotzdem würde der Wert, den die Kinderpsychologie über¬
haupt besitzt, kein allzu großer sein, wenn nicht auch die Psycho¬
logie ihrerseits die ihr im Experiment zur Verfügung stehenden
Mittel benützen würde, um die Bedingungen, unter welchen die
Beobachtungen an Kindern gemacht werden, willkürlich und plan¬
mäßig abzuändern. Es ist zwar zunächst nicht abzulengnen, daß
gerade eine Beobachtung von Kindern unter natürlichen Be¬
dingungen unschätzbare Werte besitzt und daß jede Einspannung
in den engen Rahmen einer experimentellen Untersuchung für das
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493
Über die Methoden der Psychologie.
schneidung der natürlichen Formen einer Pflanze, und man wird
daher der Beobachtung von Kindern in einem natürlichen Milieu
ihre Bedeutung stets zuerkennen. Aber wo es sich um die
Untersuchung des kindlichen Empfindens und Wahrnehmens, der
Reaktionen auf sinnliche Eindrücke, endlich sogar seiner Entwick¬
lung hinsichtlich konkreter und abstrakter Begriffe ! ) handelt, da
wird man zweifellos dem Experiment die gebührende Stellung
zugestehen. Zu derartigen Beobachtungen kommen dann noch
solche, die sich auf natürliche Defekte und deren Einwirkung auf
die psychische Entwicklung beziehen. Hier handelt es sich aber
nicht nur um blinde und taubstumme Kinder und um solche, die
etwa blind und taub zugleich sind, sondern vor allem um solche
Fälle, in denen durch operativen Eingriff jene Funktionen wach¬
gerufen sind. Dazu kommen endlich solche abnorme Erschei¬
nungen wie Hörstummheit und vor allem Seelenblindheit.
Die letzteren Beispiele greifen schon der zweiten wesentlichen
Hilfsmethode vor, nämlich der Heranziehung pathologischer Er¬
scheinungen zur Erforschung des normalen Seelenlebens. Es ist
ein seit langem aufgegebener Standpunkt, daß das sogenannte
krankhafte Seelenleben gegenüber dem normalen ein völlig hetero¬
genes sei, und man ist heutzutage im allgemeinen der Ansicht,
daß es krankhafte Bewußtseinselemente als solche eigentlich gar
nicht gebe, sondern daß geistige Krankheit nur eine Bezeichnung
für eine Gesamtverfassung der Seele sei, in welcher das normale
Gleichgewicht durch das Hervor- oder Zurücktreten gewöhnlicher
Bewußtseinserscheinungen gestört sei. Dieser Standpunkt ist der
Grund für die neuerliche Annäherung von Psychologie und
Psychiatrie, welche in dem Sinne erfolgt ist, daß einerseits die
Psychiatrie aus dem Studium des normalen Seelenlebens Nutzen
zieht, andererseits aber die Psychologie pathologische Fälle nutz¬
bar verwendet, um an ihnen allgemeine psychische Tatsachen,
Tendenzen, Vorstellungen, Affekte usw. zu studieren, die im nor¬
malen Bewußtsein mehr im Hintergrund stehen und oft latent sind,
in den Fällen geistiger Erkrankung jedoch deutlich zutage treten.
Vor einer kurzen BesDrechnne 1 anao-Asnrochener ffeistierer Kr-
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494
G. Anschütz,
vielfach insofern ein besonderes Interesse, als der Betreffende,
der sich in jenem Zustande befindet, später selbst wertvolle An¬
gaben machen kann, wenn er die pathologischen Phänomene mit
den normalen vergleicht. Wenn wir von der Erscheinung des
Schlafes und der mannigfachen Halbwachzustände absehen, so ist
es vor allem die jedermann bekannte Tatsache des Traumes, die
uns in vielem Aufklärung zu geben vermag. Es sei hier nur
daran erinnert, daß das im Zustande des Traumes befindliche
Bewußtseiusleben die sonderbarsten Erscheinungen aufweist, wie
diejenigen, daß oft eine eigentliche Kritik der Erlebnisse voll¬
kommen fehlt, daß Gegenstände Furcht und Gefühle mannigfacher
Art wecken, die uns im gewöhnlichen Leben gleichgültig sind,
oder umgekehrt, vor allem aber, daß Traumbilder und Halbschlaf¬
phantasien in den sonderbarsten Weisen in unserem Leben nach¬
wirken, daß sie vielleicht sogar Willensentscheide oder das Gegen¬
teil herbeifuhren können, eine Tatsache, die uns in nachträglicher
Betrachtung ganz klar erscheinen kann, während sie im Erlebnis
selbst verschleiert ist. Die Kenntnis des sogenannten Unterbewußt¬
seins 1 ) erhält durch derartige Untersuchungen eine wesentliche
Förderung. Auf der anderen Seite bieten sich uns , solche Fälle
dar, wie Störungen des Bewußtseins durch Läsionen, Krankheiten
(Fieber), sogar durch Schreck, übermäßige Freude usw. Endlich
aber sei an solche Störungen erinnert, die durch Alkohol und die
mannigfachsten Medikamente planmäßig oder unwillkürlich herbei-
geführt werden. Kraepelin 2 ), dessen Verdienst überhaupt auf
dem Gebiete der Psychopathologie hervorragend ist, hat auch
diesen Dingen ein spezielles Studium gewidmet. Die Tatsachen
solcher Art haben den großen Vorzug, daß sie noch mehr als der
Traum einer genauen experimentellen Untersuchung zugänglich
sind, und daß der Experimentator imstande ist, was auch von
Kraepelin durchgeführt wurde, selbst die Rolle des unmittel¬
baren Beobachters zu übernehmen.
Vor allem muß bei den vorübergehenden pathologischen Er¬
scheinungen der Hypnose gedacht werden. Sie besitzt den außer-
1) Vzl. z. B. M. Desaoir. »Das Unterbewußtaein
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Rannort au VI. Con-
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Über die Methoden der Psychologie.
495
ordentlichen Vorteil, daß bei ihr die Versuchsperson die Aufträge
des Suggestors in sich aufnimmt, als wären es ihre eigenen Ge¬
danken, und daß die willkürlich und planmäßig herbeigeftihrten
Suggestionen somit unmittelbar im Gesamtbewußtseinsleben zu
wirken imstande sind. Das genaue Studium der Hypnose J ) wird
somit ganz wesentliche Dienste zur Erforschung der Willens¬
phänomene und der Vorstellungen leisten. Es zeigt uns vor allem
jene bei jedermann, in jedem Momente in irgendeiner Weise, und
sei es auch nur in minimalem Grade, wirkende Suggestion in
einer klaren und ausgeprägten Form. Die Bedeutung der sugge¬
stiven Momente für die gesamte Psychologie aber liegt auf der
Hand; ohne sie wäre, wie auch Münsterberg sagt, keine Er¬
ziehung, keine Überzeugung, keine Kunst, fügen wir hinzu, über¬
haupt kein Zusammenleben psychischer Individuen möglich. Von
diesem Gesichtspunkte aus wird ein eingehendes experimentelles
Studium der Hypnose für die Psychologie eine wesentliche Be¬
reicherung bedeuten können.
Nicht ganz so bedeutsam wie diese willkürlich herbeiführ- und
variierbaren pathologischen Zustände, aber doch in vielen Punkten
lehrreich für die Normalpsychologie ist das Studium ausge¬
sprochener geistiger Erkrankungen. Auch in den verwickeltsten
Fällen dieser Art lassen sich psychische Tatsachen verfolgen und
in ihren durch ihre relative Isoliertheit oft zu bizarren Formen
verzerrten Erscheinungsweisen auf solche des normalen Bewußt¬
seins zurückflihren. Die einzelnen Arten bieten jeweils einen
interessanten Anhaltspunkt für die Kenntnis einzelner Tatbestände.
So wird der, welcher die Assoziation untersuchen will, sein Augen¬
merk auf die Ideenflucht richten, die durch einen raschen Wechsel
von Vorstellungen charakterisiert ist, bei dem der innere Zu¬
sammenhang und das Mitwirken der aktiven, auswählenden und
fixierenden Apperzeption fehlt 2 ). Die Untersuchungen über die
Aufmerksamkeit finden eine Förderung durch den verlangsamten
Verlauf derselben, insbesondere der Reaktionen, bei Manisch-
Depressiven 3 ). Auch Fälle von fixen Ideen sind insofern heran-
1) Vgl. die Arbeiten von Charcot, Forel u. a.
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496
(t. Anschütz,
zuziehen, als durch sie die Wirksamkeit von Vorstellungen und
Gedanken im Gesamten des Seelenlebens untersucht werden können.
Eine der interessantesten Studien wird endlich das der Hyste¬
rischen sein, bei denen die Affekte besonders deutlich hervortreten
Ein hervorragendes Verdienst bei derartigen Forschungen kommt
Ribot 1 ) zu. Die Frage, wie weit bei Geisteskranken ein eigent¬
liches Experiment zulässig ist, hat M. Dessoir 2 ) in seiner Arbeit
Uber »Experimentelle Psychopathologie« behandelt.
Zu den genannten Hilfsgebieten kommt noch ein weiteres in
der Völkerpsychologie. Der Vorteil, den diese der engeren Psycho¬
logie bieten kann, besteht in der Aufzeigung solcher psychischer
Phänomene, welche nicht am Einzelnen, sondern erst an der Ge¬
samtheit auftreten. Derartige Tatsachen können in solche ge¬
schieden werden, welche sich in der Geschichte offenbaren, und
solche, die an der sozialen Masse als solcher ohne Rücksicht auf
ihre zeitlich sich folgenden Entwicklungsstufen sich offenbaren.
Es ist klar, daß bei derartigen Untersuchungen das statistische
Moment eine große Rolle spielt. Von jener Seite her entrollen
sich eine Menge interessanter Aufgaben von großer Tragweite.
Es sei nur des Beispiels halber an die Statistik der Selbstmorde
erinnert, die auf ein eigenartiges periodisches Wiederkehren all¬
gemeiner diesbezüglicher Zahlenverhältnisse hinweist. Weiter aber
kommt die Entwicklung von Sitten, Gebräuchen usw., das Auf¬
treten und der Ablauf von Massensuggestionen, Begeisterungen,
Paniken und anderes als Gegenstände hinzu, welche ein weit-
tragendes Interesse darbieten und der Psychologie bei dem Stu¬
dium sozialer Phänomene im einzelnen ganz wesentlich behilflich
sein können. Schließlich aber weist uns die gesamte Völker¬
psychologie auf eine beachtenswerte Tatsache hin, die im Seelen¬
leben des einzelnen niemals als solche auffindbar ist, nämlich auf
eine Art von Völkerseele und ein Völkerbewußtsein, ja sogar auf
ein Nationalbewußtsein, zu dem sich die psychischen Individuen
7.nflnTnTnpnflphlipRpn Anf Ornnrl pinna anlnhpn VHltprhpwnßtcpins
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Über die Methoden der Psychologie.
497
forschten und schwer erkundbaren Gebiete unbewußter Trieb¬
handlungen und dumpfer Instinkte.
Wie sich aber die psychologische Forschung als solche nicht
auf die Kultur- und schließlich auf die Naturvölker beschränkt,
sondern sogar in das Tierreich übergreift, so wird umgekehrt die
engere Psychologie wiederum auch von der Tierpsychologie einige
Unterstützung erwarten dürfen. Auch hier sind es vornehmlich
die »sozialen Instinkte«, schließlich aber auch einige als primitive
Denkvorgänge zu betrachtende Erscheinungen, welche in Betracht
kommen. Indes treten hier noch weit mehr als bei der Völker¬
psychologie einer genauen Untersuchung große Hindernisse ent¬
gegen. Ist schon das Verständnis und die Deutung sozialer Er¬
scheinungen, noch dazu bei Naturvölkern, als problematisch, aber
nicht als wirkliche Tatsache in Anspruch zu nehmen, so gilt dies
in noch weit höherem Maße bei der Tierpsychologie, und es läßt
sich häufig sehr darüber streiten, mit welchem Rechte man von
einem Willen bei primitiven Tieren 1 ), von sozialen Instinkten bei
Ameisen, Bienen usw. sprechen kann. Schließlich ist die Frage
nach den Grenzen der Bewußtseinsphänomene in der belebten
Welt überhaupt eher einer metaphysisch-spekulativen Betrachtung
zuznweisen, und sie darf nicht einer exakt-wissenschaftlichen Be¬
antwortung für fähig erachtet werden. Trotzdem wird die Tier¬
psychologie, sofern sie sich zunächst auf eine möglichst einfache
Beschreibung von Tatsachen beschränkt und von willkürlichen
und bestreitbaren Hypothesen bewußtermaßen abstrahiert, der
Psychologie im engeren Sinne zahlreiche wertvolle Anregungen
geben können, die uns teils auf Analogien mit unserem Bewußt¬
seinsleben, teils auf Differenzen mit demselben hinzuweisen im¬
stande sind. Schließlich muß sogar mit der Möglichkeit gerechnet
werden, daß wir auf solche Weise auf gewisse ganz dunkle und
verschwommene Tatsachen im Hintergründe des eigenen Bewußt¬
seins hingewiesen werden können.
Wollen wir unseren Weg, der uns von unmittelbaren Tatsachen
immer weiter in das Gebiet bloßer mittelbarer leitete, zu Ende
P'fihen. so müssen wir als ein letztes Hilfse-ehiet der Psvcholoeie
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498
6- Anachlitz, Über die Methoden der Psychologie.
Hier könnte das viel besprochene und umstrittene Gebiet des
»Unbewußten« das Verbindungsglied darstellen. Daß natürlich
vom erkenntnistheoretischen Standpunkte aus alles Physiologische
schlechterdings gegenüber dem Psychischen etwas absolut Hetero¬
genes ist, wird niemand bestreiten dürfen. Daß aber jenes Postulat
einer gesetzlichen Wechselwirkung zwischen physiologischem und
psychologischem Geschehen wesentliche Dienste zu leisten imstande
sein kann, zumal wo es sich um Unbewußtes und Unterbewußtes
handelt, das ist nicht abzuleugnen. Und jenes prinzipielle Mi߬
trauen, welches die reine Betrachtung des Bewußtseins aller
physiologischen Forschung lange Zeit entgegengebracht hat und
zum Teil heute noch entgegenbringt, dürfte nur eine Reaktion auf
die unberechtigten und voreiligen Übergriffe einzelner Physiologen
und überhaupt Naturwissenschaftler in das Gebiet der Psychologie
sein und somit zwar als motiviert, aber nicht als ein für allemal
begründet erscheinen. Eine Beschränkung auf die natürlichen und
notwendigen Grenzen ist auch hier Vorbedingung einer gedeih¬
lichen Annäherung und Aussöhnung.
Wenn wir am Schlüsse unserer Untersuchungen auf die ein¬
gangs gemachten Erörterungen Uber den Begriff der Methode
zurückgreifen und uns zugleich erinnern, daß ihrer engeren Fas¬
sung der Begriff des bloßen Verfahrens gegentiberzustellen ist,
schließlich aber unter »Methoden« beides entsprechend dem natür¬
lichen Sprachgebrauch verstanden ist, so können wir noch eine,
wenn man will, fundamentale Unterscheidung aller Methoden vor¬
nehmen, die mit Psychologie zu tun haben, indem wir uns an
Wundt 1 ) anschließen und der reinen Psychologie eine praktische,
d. h. angewandte, dementsprechend aber der reinen, d. h. wissen¬
schaftlichen Methode in der Psychologie eine angewandte gegen¬
überstellen, die wir dann weiterhin in eine praktisch-technische,
eine praktisch-theoretische und eine rein theoretische einteilen
können. Über diese Frage finden sich in der betreffenden Ab-
v. „„ J i __ tt r Jx _ _«i_ * _ i i
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Literaturbericht
Einzelbesprechangen.
1) W. Wirth, Die mathematischen Grundlagen der sogenannten unmittel¬
baren Behandlung psychophysischer Resultate. Wundts Psycho¬
logische Studien. 1910. Bd. VI. S. 141—156, 252—315, 430- 453.
Die sogenannte unmittelbare Behandlung psychophysischer Resultate
dient zur möglichst direkten Bestimmung der Schwellen, Fehler und Streu¬
ungsmaße aus den beobachteten relativen Häufigkeiten der Vergleichsurteile.
Die unmittelbare Behandlung leistet nicht auf eine formelmäßige Darstellung
der beobachteten Verteilungskurven überhaupt Verzicht, sondern wählt nur
eine allgemeine, anpassungsfähige Form der Darstellung, nach der dio be¬
obachteten Funktionswerte unverändert dargestellt werden können. Man
sollte deshalb die unmittelbare Behandlung nicht der Behandlung mittels
Formel überhaupt, sondern der Behandlung nach speziellen VerteilungB-
gesetzen entgegenstellen. Gefordert wird, daß die Resultate möglichst direkt
und bequem, d. h. ohne schwierige Zwischenrechnung gewonnen werden sollen.
Es wird von dem Begriffe einer zufälligen. Schwankungen ausgesetzten
oberen und unteren Schwelle ausgegangen, der so gefaßt wird, daß er
positive und negative Schwankungen vom Hauptreize E aus gerechnet um¬
faßt. Dieser Begriff bedeutet dann nichts anderes, als daß in jedem Augen¬
blicke ein zufällig variabler oberer Grenzreiz r„ das Minimum der Vergleichs¬
reize V bildet, das eben zum Urteile »größer« führt, und ein ebenso variabler
unterer Grenzreiz r„ das Maximum der V, das eben als »kleiner« beurteilt
wird. Ist H= r, so ist r„ — r = S 0 die obere und r„ — r = S u die untere
Schwelle. Die oberen und die unteren Schwellen bilden zwei hypothetische
Kollektivgegenstände, und betrachtet man die Vergleichsreize als unabhängige
Variable, so sind f,[x)dx und f„{x)dx die relativen Häufigkeiten des
Wertes x für den oberen, bzw. unteren Grenzreiz. Über die Funktionen/;,
und f u werden keine Voraussetzungen gemacht. Bezeichnet F y (x) die relative
Häufigkeit des Urteiles »größer«, und F„ (x) die des Urteiles »kleiner« für
den Vergleichsreiz x, so ist
X
und
(x) d x
K
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r.
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2
Literaturbericht.
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ebenso F k {E' u ) = 0. Außerdem werden noch die Größen E 0 , von der an
alle Urteile auf »größer« lauten, und E u , von der an nicht mehr alle Urteile
auf »kleiner« lauten, eingefiihrt. Es ist demnach F g [E 0 ] = F; : (E u ) = 1.
Ebenso sind die zwischen den Grenzen E ’ 0 und E 0 , bzw. E„ und E' u er¬
streckten Integrale der Verteilungsfunktionen gleich der Einheit Außerdem
ist erforderlich, daß die Funktion F g (x) stets zunimmt und F k [x) stets ab¬
nimmt. Die Zentralwerte r 0 (E) und r u ((£) bestimmen sich aus F g (r 0 ((£)) = -|-
und F k (r„ (£)) = durch Interpolation. Boi der Bestimmung der Dichtig¬
keitsmittel hat man die Wendepunkte der Kurven F g ix) und F k (x) aufzu¬
suchen. Die Kollektivgegenstände werden als stetig vorausgesetzt.
Das arithmetische Mittel der oberen Grenzreize ist nach bekannten Regeln
E o
r„ {%) = J*x f g [x)dx.
E o
Setzt man in diesem Ausdrucke x — u und f g (x) dx = d v und integriert
per partes, so erhält man
E 0
r o (2t) = K —j Fg [x)dx = E u — J g .
K
In gleicher Weise ergibt sich für das arithmetische Mittel der »kleiner«-
Urteile
K
r u (21) = F„ -f- J*.F k (aj) d x = E„ + J k .
Die in den beiden letzten Formeln vorkommenden Integrale sind ähnlich
gebaut wie die Ausdrücke, die als die Idealgebiete der Gleichheitsurteile
bezeichnet werden, und es werden nach Analogie J g und J k als die Ideal¬
gebiete der »größer«- und »kleiner«-Urteile bezeichnet. Da die Summe der
Idealgebiete aller Urteilsarten gleich ist der Differenz E„ — E „, so hat man
(2t) - r„ (2t) = [E 0 - E h ) - {J g + J k ) = J u .
Dieser Satz gilt allgemein und sollte als Fundamentalsatz der Theorie der
Idealgebiete bezeichnet werden. Er besagt im wesentlichen, daß sich die
arithmetischen Mittel der oberen und unteren Grenzreize aus den Grenzen
der UnBicherheitsregion und aus den Idealgebieten der »größer«- und »kleiner«-
Urteile berechnen lassen. Diese Formel liefert auch die bis jetzt vermißte
Bestimmung der Schwellenabschnitte S 0 (2t) und S„ (2t) aus den Ideal gebieten,
wie unmittelbar ersichtlich, und sie kann auch zur Bestimmung eines kon¬
stanten Fehlers dienen. Sind bei Umkehrung einer einzigen Verschiedenheit
die neuen Schwellen und S’ u den alten Schwellen ungefähr gleich, bo ist
c (5tj = s ° (2 Q — (21) _ r _ E 0 E„ _ J g — J k _ ^
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Literaturbericht.
3
der »größer*- und »kleiner«-Urteile. Diese Größen lassen sich aus einer
verhältnismäßig kleinen Anzahl von Versuchen bestimmen, wenn nur die
Vergleichsreize einer Vollreihe bis zu den Extremen E n und E u erstreckt
sind und mit jedem Vergleichsreize die gleiche Zahl von Versuchen gemacht
wurde.
Der nächste Schritt besteht in der Charakterisierung der Kollektivgegen¬
stände durch die mittlere Abweichung und das mittlere Fehlerquadrat. Be¬
zeichnet man einen beliebig gewählten Ausgangswert mit r mn bzw. mit r mH>
so finden sich für die mittleren Variatonen der oberen und unteren Grenzreize
r M O ^0
x) f„ (x) d x +J [x
'mo
r,n o) fn [X) dx,
X) f,
u {x)dx+ j[x
u) fn [x] d X ,
da diese als die Mittelwerte der absoluten Beträge der Abweichungen defi¬
niert sind. Mit Berücksichtigung der speziellen Funktionswerte F 0 [E' 0 ) = 0 ,
F g (. E 0 ) = 1 , F k (E„) = 1 und F k [E' u ] = 0 findet man
r m o
D 0 = E„ —
dx -J Fg IX) dX,
' m o
D n
= r„
d x.
Bei Bestimmung der mittleren Fehlerquadrate
£'
Ml —J (r m 0 — x) 2 f 0 (x)dx,
E'
M « = f (*■»> « — ®) 2 fu [x)dx,
E„
stößt man auf die Integrale der Funktionen x 2 f„ (x) d x und x 2 f„ (x) d x , für
die man durch zweimalige Integration per partes findet
£’
I x 2 f () (x) d x = El — 2E a Jg + 2 jjFg ix) dx,
k _ A-i
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4
Literaturbericht.
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Bei Ausführung dieser Integrationen ist darauf zu achten, daß die Funk¬
tionen F durch Integrale dargestellt sind, in denen für die auftretenden
Integrationskonstanten bestimmte Werte eingeführt wurden, auf welche sich
die erste unbestimmte Integration erstreckt.
Die mittlere Variation ist mit dem Zentralwerte in dem Sinne solidarisch,
als dieser die mittlere Varation zu einem Minimum macht, ebenso wie das
arithmetische Mittel das mittlere Fehlerquadrat. Setzt man die Differential¬
quotienten von D„ und D„ nach r„, 0 und r m „ gleich Null, so erhält man
F g {x) '= — und Fk(x) = 9 als Bedingungen für das Eintreten eines Extremums.
Durch Betrachtung der zweiten Ableitungen überzeugt man sich leicht, daß
es sich um Minimal- und nicht um Maximalwerte handelt. Ebenso findet man,
daß M„ und M„ für r mu = E u — J g , bzw. für r„,„ = E„ J k ein Minimum
hat. Letzteres aber sind die arithmetischen Mittel der Kollekivgegenstände
der oberen und unteren Grenzreize, wie zu beweisen war.
Setzt man in den obigen Ausdrücken für D 0 und D„ für r mo den Wert
E„ — J„ und für r mu den Wert E„ -f- J k , so reduzieren sich die Formeln auf
»•oW
D u («) = 2 fF g (x)dx,
K
K
A< (2t) = 2 J F k [x) d x .
•■«(»)
Die gleichen Substitutionen ergeben für M* und M n - t
*o
Ml = 2 ffF g (x)dx-J
K
K
M* = - F k (x)dx- Jl .
K'
Wegen der Beziehung g -+• u + k = 1 läßt sich aus den relativen Häufig¬
keiten der Unentschiedenheitsfälle über die UnterschiedsBchwellen und deren
Strenuugsmasse nichts Neues herausholen. Dagegen kann man diese Daten
ebenso behandeln wie die hypothetischen Verteilungsfunktionen f„ (x) und
f„ (x), um die Hauptwerte und Streuungsmaße der Kurve F u (x) zu berechnen
Der Unterschied besteht darin, daß es sich hier um einen tatsächlich be¬
obachteten, dort aber um einen hypothetischen Kollektivgegenstand handelt.
Es werden in dieser Art Formeln gewonnen, die sich auch bei Bearbeitung
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Literaturbericht.
5
Nach Ableitung der Formeln für r„ (21), r„ (21) und ihre D und M-
handelt es sich um Angabe eines handlichen Verfahrens zur Bestimmung
der Werte der in diesen Formeln auftretenden Integrale. Man hat zunächst
zwischen der graphischen und der rechnerischen Interpolation zu wählen,
jedoch stellt es sich heraus, daß man mit der rechnerischen Interpolation
schneller zum Ziele kommt als mit der graphischen, die außerdem stets mehr
oder weniger willkürlich ist. Daß man zum Zwecke einer Interpolation
irgendeinen Funktionsausdruck voraussetzen muß, ist klar, und die Unmittel¬
barkeit des Verfahrens besteht nur darin, daß man diesen Ausdruck völlig
nach den beobachteten Werten einzurichten trachtet. Unter den möglichen
Ansätzen wird man natürlich jenen wählen, der für die Ausführung der
Rechnungen am bequemsten ist. Eb ist nun zu bedenken, daß es in der
Praxis nur auf eine hinreichende Übereinstimmung der Rechnung mit der
Beobachtung ankommt und daß man deshalb unter Umständen mit einem
weniger allgemeinen Ansätze dasselbe erreichen kann wie mit einem Aus¬
drucke, der Für alle Fälle paßt, eben wegen dieser Allgemeinheit aber auf
die tatsächlich vorliegenden besondem Umstände keine Rücksicht nimmt.
Wirth verwendet zur Interpolation und numerischen Integration die Methode
der Funktionsdifferenzen, und bezeichnet dieselbe als das unmittelbare Ver¬
fahren im speziellsten Sinne.
Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf Resultate von Versuchen
mit äquidistanten Vergleichsreizen, weshalb die Formeln eine wesentlich ein¬
fachere Gestalt annehmen. Gegen diese Beschränkung kann man nicht Ein¬
spruch erheben, da die Wahl der Vergleichsreize in unserer Hand liegt und
die Aquidistanz der Vergleichsreize also stets erzielt werden kann. Zur
Ausführung der numerischen Integration geht man von einem beliebigen, nach
getroffener Wahl aber festgehaltenen Vergleichsreize x m aus und führt die
“JC ~~~~ 3 /
neue Variable n = -.—— ein, worin dann i der Abstand der Vergleichs-
l
reize ist. Man kann nun das Integral j F (x)
Jf u [x) Ux, j Fi (x) d x , J F 3 {x) dx ,
d x aus den Teilintegralen
... J F p (x) d x
zusammensetzen, deren mittlere Ordinate einer der beobachteten Funktions¬
werte ist, von dem aus das Iutegrationsintervall sich nach links und rechts
um ~2 erstreckt. Natürlich ist hierbei vorausgesetzt, daß die Integrations¬
konstanten so bestimmt sind, daß die Stetigkeit der Funktion an den Über¬
gangsstellen garantiert ist. Man bezeichnet die Funktionsditferenzen wie
aus folgendem Schema ersichtlich
*o Vo
J
x \ V\ ^\,'i)
A
/in
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Jl r .4 \
,iv /
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6
Literaturbericht.
worin die in Klammern gesetzten Ausdrücke ungerader Ordnung die Be¬
deutung von Durchschnitten
+ \ ~ 2 \ m-1 ' ■>» I
haben, während die gerader Ordnung gleich den entsprechenden Differenzen
sind. Bei Bestimmung des Idealgebietes der »größer<-Urteile hat man den
Ansatz
o.s o
0,5
ij„=
Fg (E 0 n *) d n
= ( Fg (. E' 0 + n tj d n + ^ | F g (x m + » ») d n -f / J
./ m=l J ./
0 - 0,5 — 0,5
Die Auflösung der angedeuteten Operationen gibt bei Berücksichtigung der
Differenzen bis einschließlich dritter Ordnung
1 p 11 1 j i? =l
T J 9=2 9k ~ 2 + 8 [j °•' — + +
k- 1 t —l
Die gleiche Formel gilt für die Idealgebiete der »kleiner«-Urteile. Bezeichnet
man mit r,, den Wert, der dem arithmetischen Mittel des Kollektivgegeu-
standes der »größer<-Urteile am nächsten ist, bo daß r ni = x,, + « t, so be¬
stimmt sich die mittlere Variation für diesen Ausgangswert aus der Formel
1 'C4 «2
2i D « W = 9k + (0.6 + «) <J ( > + -4 (g (j+ 1 - 9<! - 1 ),
k = 1
während das mittlere Fehlerquadrat durch
(®)= 2 (P — l)0»+2(p —2)0 t + ...+20 p _ 1 + * — ^,+^ + •■•+^- 1 + 2
angenähert dargestellt ist. Neben diesen Formeln werden solche gegeben,
bei denen die Differeazen berücksichtigt sind und die demgemäß eine höhere
Genauigkeit ermöglichen.
Der dritte Teil der Arbeit enthält Beispiele über die numerische Aus¬
führung der Rechnungen. Es werden zunächst das arithmetische Mittel, die
mittlere Variation und das mittlere Fehlerquadrat für das oben erwähnte
Beispiel F (x) — sin |x — E 0 — 4 - nach den angenäherten und nach
den genaueren Formeln bestimmt. Da sich diese Größen direckt berechnen
lassen, so kann man aus dem Vergleiche der Resultate ein Urteil über die
mit diesen Formeln zu erreichende Genauigkeit gewinnen. Es zeigt sich,
daß das Mittel genau und die beiden Streuungsmassen mit einem nur sehr
kleinen Fehler getroffen werden. Die Genauigkeit, mit welcher das mittlere
Fehlerquadrat schon mit der angenäherten Formel getroffeu wird, ist für die
meisten psychophysischen Berechnungen hinreichend. Hierauf wird an den
Resultaten einer Versuchsreihe aus Kellers akumetrischen Versuchen ge-
A _
.„i—_r i.»i.
ai! -u _ r. _j —
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Literatarbericht.
7
and für die zahlenmäßige Bestimmung dieser Grüßen die Interpolation mit
einer beschränkten Anzahl von Differenzen charakteristisch. Die Richtigkeit
des letzteren Gedankens ist durch die erhaltenen Resultate erwiesen, allein
gegen die beiden ersten Gedanken ist so häufig argumentiert worden, daß
es vielleicht der Mühe wert ist die Gründe darzulegen, warum uns dieses
Verfahren als berechtigt erscheint. Gegen die Annahme endlicher Grenzen
wird gewöhnlich angeführt, daß jeder Unterschied, gleichgültig wie groß er
sei, unter Umständen unrichtig beurteilt werden kann, und daß deshalb nur
solche Funktionen F g [x) und F k (x) angenommen werden sollen, die zwischen
den Werten 0 und 1 asymptotisch verlaufen. Praktisch kommt es nun auf
dasselbe heraus, ob man sagt, daß einem Ereignisse eine unendlich kleine
Wahrscheinlichkeit zukommt, oder daß dieses Ereignis überhaupt nicht vor¬
kommt. Man kann für jede noch so große Anzahl von Versuchen eine
Grenze angeben, außerhalb welcher mit einer der Einheit beliebig nahen
Wahrscheinlichkeit nur extreme Urteile der einen Art zu erwarten sind. Die
Einführung von Funktionen, die zwischen 0 und 1 asymptotisch verlaufen,
ist nur eine Zweckraäßigkeitssache, da es eben keine stetigen Funktionen gibt,
welche sich innerhalb eines gegebenen Bereiches verändern, außerhalb desselben
aber konstant Bind, wie es der Befund in allen psychophysischen Versuchen
ist. Für die bis jetzt behandelten psychophysischen Probleme war es von Vor¬
teil, anzunehmen, daß die Werte der psychometrischen Funktionen außerhalb
des in Rede stehenden Intervalles nicht genau gleich 0 oder 1 sind, allein Wirths
Formeln zeigen klar, daß sich aus der entgegengesetzten Annahme für die Rech¬
nung wertvolle Formeln ableiten lassen. Der Vorteil dieser Annahme besteht
darin, daß die Uber ein unendliches Intervall genommenen Integrale der psycho¬
metrischen Funktionen der extremen Urteilsarten divergieren, bei endlichen
Integrationsgrenzen aber bestimmt konvergieren. Von diesen theoretischen Über¬
legungen muß natürlich die Rücksicht auf die Tatsache, daß sich in einer sehr
ausgedehnten Versuchsreihe mit einer gegebenen Anzahl von Fsolche obere und
untere Grenzen nicht finden lassen, unterschieden werden; diese Verhältnisse
finden sich in der Tat in meinen und in W. Browns Gewichtsversuchen.
Es ist wichtig auf die Rolle hinzuweisen, die in dieser Abhandlung der
Begriff der Schwelle spielt. An mehreren Stellen werden die Kollektiv¬
gegenstände der oberen und unteren Grenzreize als hypothetisch bezeichnet.
Die Verteilungsgesetze f„ (x) und f 0 (x) werden eingeführt und zu einer Inte¬
graldarstellung der Funktionen F k (x) und F g (x) benützt, allein alle weiteren
Ableitungen stützen sich auf diese, und in den Endformeln kommen die
Funktionen f überhaupt nicht vor. Die Darstellung der F durch die f hat
den Vorteil, daß man sich leicht Funktionen verschaffen kann, die zwischen
0 und 1 asymptotisch verlaufen, ein Vorteil, der aber bei Einführung end¬
licher Integrationsgrenzen verschwindet. Dieses rein formale Verfahren bei
der Definition der Funktionen F wurde in meiner Abhandlung über die
psychophysischen Maßmethoden befolgt, und es besteht kein Zweifel, daß man
Wirths Abhandlung so umschreiben könnte, daß die Funktionen f über¬
haupt nicht erwähnt werden. Die Einführung der f bietet also keinen Vor¬
teil, der sich nicht auf anderem Wege auch erreichen läßt. Die Erklärung
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8
Literaturbericht.
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eine Aussage Uber einen introspektiven Befund enthält, der sich jeder
weiteren Kontrolle entzieht. Das Wort Schwelle ist ein metaphorischer
Ausdruck, dessen reale Bedeutung als Maß der Sinnesempfindlichkeit nur
auf Grnnd einer Kenntnis des zur Bestimmung dieser Größe verwendeten
Verfahrens gefunden werden kann. Tatsächlich gegeben sind nur die rela¬
tiven Häufigkeiten, mit welchen sich die verschiedenen Urteile auf die Ver¬
gleichsreize einstellen, und von diesen, und nicht von dem hypothetischen
Begriffe einer Schwelle hat die Theorie der psychophysischen Maßmethoden
auszugehen. Bei einer abschließenden Darstellung der psychophysischen
Maßmethoden wird man sich jedenfalls darüber klar sein müssen, welche
Stellung man der Methode der ebenmerklichen Unterschiede — oder wie
immer man dieses Verfahren bezeichnen will — einräumen soll.
Man kann sagen, daß Wirths Verfahren in einer Charakterisierung der
psychometrischen Funktionen durch ihre Parameter oder durch Funktionen
dieser Parameter bestehe. Von welcher Allgemeinheit manche der Formeln
sind, soll an folgendem Beispiele gezeigt werden. In meiner Abhandlung
Uber die Methode der mehrfachen Fälle wurde (Archiv für die ges. Psycho¬
logie. Bd. XVII. S. 390 ff.) durch geometrische Betrachtungen folgender Satz
bewiesen: Falls die psychometrischen Fuuktionen der beiden extremen Urteile
durch Kurven dargestellt sind, die aus zwei Teilen bestehen, die durch
Spiegelung an zwei gewissen, aufeinander senkrechten Graden ineinander
übergehen, so ist das Idealgebiet der mittleren Urteile gleich dem Intervalle
der Ungewißheit. Der an dieser Stelle gegebene geometrische Beweis läßt
sich leicht in analytischer Form führen, indem man einen Grenzübergang
ausfUhrt, allein dieser Satz läßt sich aus Wirths Fundamentalsatz der
Theorie der Idealgebiete direkt ableiten. Gleichheit des Idealgebietes der
mittleren Urteile mit dem Intervalle der Ungewißheit findet in der Tat nur
dann statt, wenn r„ (2t) und r u (£) einerseits, und r„ (Ä) und r„ ((£; anderer¬
seits zusammenfallen, was aber im allgemeinen nur geschehen kann, falls die
Funktionen f 0 (x) und f n (x) Symmetrieachsen haben. Bei Vorhandensein
solcher Symmetrieachsen aber bestehen die Kurven, die die Integrale dieser
Funktionen darstellen, aus zwei Teilen, die durch Spiegelung an zwei zu¬
einander senkrechten Geraden ineinander übergehen.
Es ist schließlich noch auf die Übereinstimmung hinzuweisen, die sich
zwischen Wirths Resultaten und den von mir im Archiv für die ges.
Psychologie, Bd. XVIII (1910), S. 400 ff. veröffentlichten Daten findet. Eine
kursorische Rechnung scheint zu ergeben, daß diese Übereinstimmung nicht
nur für r u der Versuchsreihe Me. 55, sondern auch für die anderen Werte be¬
steht. In Anbetracht des Umstandes, daß Wirth die r (2t), ich aber die r (C 1
berechnete, erscheint diese Übereinstimmung wichtig, wenn auch vielleicht
nicht ganz unerwartet. Es handelt sich offenbar um eine Regelmäßigket, die
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Referate
2) A. Meinong, Über Annahmen. Zweite umgearbeitete Auflage. Leipzig,
Joh. Ambr. Barth, 1910. M. 10.— ; geb. M. 11.—.
Die zweite Auflage des Werkes von Meinong ist gegen die erste er¬
heblich umgearbeitet worden. Die Lehre vom »Objektiv« — als dem »Ur¬
teilsgegenstand«, der in erster Linie beim »negativen Erkennen« gegeben
ist, und seinem Unterschiede vom »Objekt«, das »erst auf dem Umwege Uber
das Vorstellen vor das Forum des Urteils gelangt« — ist mehr in den
Vordergrund gerückt als in der ersten Auflage, und in mehreren anderen
Kapiteln hat der Verf. seine Ansichten weiter zu bilden versucht.
Ebenso ist manche kritische Auseinandersetzung mit Gegnern und Anders¬
denkenden hinzugekommen, z. B. auch mit den »Freunden Brentanos«, wie
sie der Verf. selbst in Anführungszeichen bezeichnet. Manche längeren Aus¬
einandersetzungen mit anderen Auffassungen sind in engerem Druck in den
Text eingeschaltet.
Zu bemerken ist, daß der Verf. es nicht für unmöglich hält, auch seine
Lehren Uber Annahmen dem psychologischen Experiment zugänglich zu
machen, und er stellt mit berechtigter Genugtuung fest, daß die »genetische
Psychologie« in den Arbeiten von Baldwin und W. M. Urban seine frü¬
heren Ausführungen aufgenommen und verwertet hat. Das Buch hat ein
ausführliches Sachregister (bearbeitet von V. Benussi).
E. Meumann (Leipzig).
3) Gustav Störring, Einführung in die Erkenntnistheorie. Eine Ausein¬
andersetzung mit dem Positivismus und dem erkenntnistheoretischen
Idealismus. V und 330 S. Leipzig, Wilhelm Engelmann, 1909.
M. 6.—.
Störring lehnt die Definitionen der Philosophie als Wissenschaft von
der inneren Erfahrung, als Lehre vom Erkennen, als Gesamtwissenschaft,
die in enzyklopädischer Weise eine systematische Darstellung der Haupt¬
faktoren der Einzelwissenschaften gibt, als Wissenschaft von den absoluten
Werten ab; er definiert sie als allgemeine Wissenschaft und Wissenschaft
von den sittlichen Werten. Er grenzt dann genauer die Gebiete der Logik
und Erkenntnistheorie gegeneinander ab. Beide Gebiete berühren sich bei
der begrifflichen Fixierung der Voraussetzungen der Einzelwissenschaften.
Die Logik begnügt sich mit einer eindeutigen Angabe dieser Voraussetzungen,
während der Erkenntnistheorie die Analyse derselben zufällt.
Mit der Herbartschen Begründung, daß jeder tüchtige Anfänger der
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Literaturbericht.
Die systematische Entwicklung behandelt im ersten Abschnitt das Denken
und die Logik vom erkenntnistheoretischen Standpunkte aus. Welches Denken
ist allgemeingültig? Unser Denken vollzieht sich in Urteilen. Die Urteile
im logischen Sinn unterscheiden sich von den Urteilen im psychologischen
Sinn dadurch, daß sie nur die richtig gedachten Urteile umfassen. Die
Gegenstände dieser richtigen Urteile als gedachte zu analysieren, ist Auf¬
gabe der Logik. Die Beachtung der Bedeutung des »richtig« ergibt die Er¬
kenntnis, daß die Bestimmungen allgemeingültig genannt werden, die bei
Zerlegung in elementare Operationen mit absoluter, nicht mehr steigerungs¬
fähiger Sicherheit vollzogen werden. Unter diese Bestimmungen lassen sich
auch die Resultate der Verifikation subsumieren. Die Ansetzung von Be¬
stimmungen als allgemeingültig kann man nicht, wie Rickert will, dadurch
rechtfertigen, daß man dem im Urteil anerkannten Sollen eine transzendente
Bedeutung gibt; denn im besten Falle gilt das für ein Urteil. Streng läßt
sich die Allgemeingültigkeit überhaupt nicht beweisen, weil ein solcher Be¬
weis offensichtlich das zu Beweisende schon voraussetzt. Nur ich als Ur¬
teilender erfahre die unmittelbare Berechtigung des Anspruchs auf Allgemein¬
gültigkeit. In der Annahme der Allgemeingültigkeit gewisser Erlebnisse ist
die Behauptung einbeschlossen, daß die in Erlebnissen mit dem Charakter
absoluter Sicherheit als gedacht erscheinenden Gegenstände wirklich gedacht
sind, und zwar mit diesem Charakter der Sicherheit. Umgekehrt ist aber in
diesem eingeschränkten Satz vom unmittelbaren Bewußtsein nicht die An¬
erkennung der Allgemeingültigkeit gewisser Prozesse enthalten. Weiterhin
wird die Leistungsfähigkeit des Denkens behandelt. Es wird gezeigt, daß
es innerhalb der formalen Wissenschaften, außerhalb des Gebietes des arith¬
metischen Denkens, synthetische Bestimmungen gibt, die für unendlich viele
Fälle unabhängig von der Erfahrung erfolgen. Sie sind also synthetisch und
a priori. Nachdem noch kurz bemerkt wird, daß die mit einem höheren
Grade der Sicherheit begabte Erinnerung eine große Rolle beim Aufbau
komplex deduktiver Systeme (z. B. der Arithmetik) spielt, geht die Behand¬
lung zum Problem der Gültigkeit des Denkens für etwaige transzendente
Objekte über. Das Problem wird in die Frage gefaßt: Haben die Denk¬
gesetze denselben Charakter, wie ihn nach Kant die Kategorien besitzen?
Es folgen zuerst erkenntnispsychologischo Untersuchungen. Daß sich Vor¬
stellungsverbindungen bilden, die für mich und andere zu verschiedenen
Zeiten Gültigkeit besitzen, beruht darauf, daß sich durch die Einstellung der
Aufmerksamkeit auf den zu beurteilenden Tatbestand eine Konstanz der
Bedingungen bildet, die das Auftreten der eben charakterisierten psychischen
Erlebnisse ermöglicht. Die Entwicklung des Denkgeschebens geht in Stufen
vor sich. Auf der ersten Stufe wirkt im Individuum die Erfahrung von der
Ökonomie der Einstellung der Aufmerksamkeit auf die zu beurteilenden Tat¬
bestände. Auf der zweiten Stufe bildet sich das Bewußtsein des Gegen-
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Literaturbericht.
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aus der als Einstellung zum Denken vorhin charakterisierten Einstellung eine
Art des Operierens bei Voraussetzung der Gültigkeit des Kausalgesetzes
im psychischen Geschehen ergibt, welche den Denkgesetzen entsprechend
ist. so daß sich aus dieser Art des Operierens die Gedanken der Denk¬
gesetze ableiten lassen; das wird dann genauer für das Prinzip der Iden¬
tität, den Satz vom Widerspruch, den Satz vom ausgeschlossenen Dritten
und das Gesetz vom Grunde ausgeführt. Die erkenntnistheoretische Behand¬
lung des Problems ergibt, daß die Denkgesetze zu der Materie des Denkens
nichts Neues hinzutragen, daß sie also — unter der Voraussetzung, daß die
Denkakte selbst gültig sind — auch für etwaige unabhängig vom Denken
existierende Objekte gelten.
Der zweite Abschnitt des Hauptteiles bespricht die Realitätsprobleme.
Als erstes dieser Probleme ist die Frage nach der transzendenten Außenwelt
und, damit zusammenhängend, die Frage nach dem Ich gestellt. Unter
transzendenter Außenwelt sollen Seinsgrößen verstanden werden, die unab¬
hängig von dem Bewußtseinsinhalt des denkenden Subjektes sind. Gegen
Schuppe, v. Schubert-Soldern, Avenarius läßt sich ohne Schwierig¬
keit dartun, daß die Annahme der Existenz einer solchen Außenwelt keinen
inneren Widerspruch in sich schließt und zu den Erfahrungsbeständen nicht
in Gegensatz Bteht. Vielleicht aber ist sie unerweisbar und überflüssigV
Was ist aber dann der Gegenstand der Untersuchung der Naturwissenschaften?
Darauf antworten J. St. Mi 11 und seine Nachfolger — wie E. Laas — mit
der Theorie der permanenten Möglichkeiten der Empfindungen. Indes ge¬
nügt diese Theorie nicht dem allgemeinen Kausalgesetz als axiomatischem
Prinzip. Wenn alles Geschehen kausal-gesetzmäßig verläuft, dann exi¬
stieren transzendente Seinsgrößen. Ob allerdings diese Verknüpfung vor¬
handen ist, läßt sich erkenntnistheoretisch nur verifizieren, nicht allgemein-
gültig erweisen. Die Ersetzung der kausalen Beziehungen durch funktionale
ist eine Verwechslung des mathematischen Denkens mit dem naturwissen¬
schaftlichen. Der Beweis der Existenz fremder Ichs arbeitet mit denselben
Mitteln wie der Beweis der Existenz der transzendenten Außenwelt (hat nur
nicht dieselbe erkenntnistheoretische Dignität), man kann also nicht, wie
z. B. Avenarius und Mach, die ersteren annehmen, die letztere abweisen.
Hier bietet sich ein Anlaß, das Ichproblem kurz zu besprechen. Nachdem
der Inhalt des Ichbewußtseins dargelegt ist, wird der psychologische Ich-
begriff als für die erkenntnistheoretische Betrachtung wertlos abgelehnt und
das erkenutuistlieoretische Ich genauer analysiert. Es folgt eine eingehende
Auseinandersetzung mit Rickert, Windelband, Helmholtz, Wundt,
Riehl, Volkelt und Külpe.
Als zweites der Realitätsprobleme gilt das Raumproblem. Zunächst wird
eiue logische Charakteristik des Raumes versucht. Der Raum ist eine stetige,
als unendlich gedachte Größe, in der das unzerlegbare Einzelne durch drei
unabhängige Variable eindeutig bestimmt ist, deren Dimensionen vertausch¬
bar sind. Denkbar sind «-dimensionale Räume nicht, denkbar sind nur die
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Literaturbericht.
erweisen; es bleibt nur die »vage Möglichkeit der transzendenten Realität«
bestehen. Als transzendent real ist der Raum aber nur anzusehen, soweit er
mathematisch-analytisch bestimmbar ist.
Bei dem Zeitproblem interessiert zuerst die Frage nach der Entstehung
der Zeitvorstellung. Sie ist zurzeit nicht befriedigend zu beantworten; die
Entscheidung zwischen der physiologischen und der apriorischen Theorie
steht noch aus. Begrifflich charakterisiert sich die Zeit gegenüber dem
Raum als allgemeinere Form, die allen Erlebnissen zukoramt. Sie ist eine
stetige, eindimensionale, als unendlich gedachte Größe, nicht bloße An¬
schauung, sondern auch Begriff. Wie der Raum wird auch die Zeit als
transzendent real angesehen.
An letzter Stelle erfährt das Kausalproblem eine Behandlung. Sie wird
eingeleitet durch den Versuch einer psychogenetischen Entwicklung der
Kausalidee. Als Abhängigkeitsbeziehungen der Idee können mit Harne die
subjektive Nötigung, mit Locke und Berkeley das Erleben des Ursache-
Wirkung-Zusammenhanges im Willensvorgang, mit Spencer der Selbst¬
erhaltungstrieb, mit Tetens gewisse Tatsachen des Denkgeschehens, endlich
noch einige Erfahrungen des EinzelwisBenschaftlers gelten. Die logische
Formulierung des Kausalprinzips wird wie folgt gegeben: Alles Geschehen
steht als real Bedingtes in einer konstanten Beziehung zu einem realen Be¬
dingungskomplex, welcher die notwendigen und hinreichenden realen Be¬
dingungen desselben darstellt. Es folgt eine Diskussion der vor allem von
Heymans ausgebildeten Hamiltonschen Hypothese, ferner eine nähere
Untersuchung der zeitlichen und der räumlichen Beziehung zwischen Ursache
und Wirkung. In kritischen Ausführungen gegen Mach, Kroman, Cor¬
nelius, Lipps u. a. wird das Kausalprinzip zunächst als axiomatische
Voraussetzung der Realwissenschaften aufgezeigt. Es läßt sich indes auch
qualitativ und quantitativ verifizieren.
Der letzte Abschnitt der systematischen Entwicklung analysiert das
mathematische Denken vom erkenntnistheoretischen Standpunkte aus. Die
Analyse des ZählenB, des Zahlbegriffes und der arithmetischen Schlüsse bildet
den Inhalt des ersten Kapitels, Ausführungen über die geometrischen Axiome,
die Psychologie der Geometrie, den geometrischen Gedankenfortschritt füllen
das zweite Kapitel.
Das Buch schließt mit einem Worte über die Beziehungen der Psycho¬
logie zur Erkenntnistheorie. Der Psychologie wird hauptsächlich eine heuri¬
stische und pädagogische Bedeutung für die Erkenntnistheorie beigelegt;
allenfalls können in ihr Voraussetzungen, die erkenntnistheoretisch zu be¬
handeln sind, eine Verifikation erfahren. —
Man wird manche Rücksichtnahme in dem Buche vermissen. Der mit
dem Rickertschen verwandte eigenartige Idealismus der Marburger Schule
hat Bicher eine Würdigung verdient. Das Problem der Wahrheit der Erkennt-
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Literaturbericht.
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4) Hermann Türck, Der geniale Mensch. 7. Aufl. Berlin, Verlag von
Ferd. Diimmler, 1910. M. 5.50.
Als stattlicher Band von 33 Bogen ist das rühmlich bekannte Werk
Türcks nunmehr in 7. Auflage erschienen. Der Verf. hat sich darin eine
große Aufgabe gestellt, und wir können wohl verstehen, wie er sich mit
solchem Eifer und solcher Liebe seinem Werke gewidmet hat. Nichts weniger
sollte mit diesem Buche bezweckt sein, als der Welt den wahren »Herren¬
menschen«, den Genius, möglichst lebendig lind auch dem nicht philosophisch
vorgebildeten Leser leicht verständlich als hohes Strebeziel vor Augen zu
führen. Das Werk hat in seinen verschiedenen Auflagen auch keinen leichten
Stand gehabt, besonders weil darin energisch Stellung genommen ist gegen
jenes breitspurig-protzige Übermenschentum, das die modernen Sophisten
oder, wie sie Türck zutreffend nennt, »Antisophen« verkünden. Türck ist
ein Kämpfer für altwährhafte Ideale, die sich in der Geschichte behauptet
nnd im Zeitenlauf als erstrebenswert erwiesen haben. Er ließ sich nicht be¬
tören durch das Pauken- und Trompetengetöse der »Aufklärer« unserer
Tage, deren seichtes, hohles PhraBentum bei hellerem Lichte besehen in nichts
zerfällt.
Wahrlich, unserer Zeit tun gute Bücher von der Art und Tendenz des
Türck sehen Werkes not, Schriften, in denen den Menschen wieder höher
führende und doch erreichbare Ziele gesteckt sind. Genialität ist nicht eine
seltene Gnadengabe Gottes, sondern ein erringbares Menschengut, der An¬
lage nach vielleicht in allen Menschen vorhanden, aber nur in seltenen
Fällen als Antizipation eines künftigen Menschheitszustandes vorläufig noch
zur Entfaltung kommend. Die tiefer Denkenden unserer Zeit kämen ja allen¬
falls durch eigenes Sinnen und Forschen über die plumpe Breite materia¬
listischer Welt- und Lebensauffassung hinweg; nicht so leicht aber ist dies
der großen Zahl jener Halbgebildeten möglich, und wie viele sind doch, trotz
ihrer dünkelhaften Weisheit, hierher zu zählen und wären sie gar auf hohen
Schulen gewesen. Und erst die breiten Massen! Wenn die richtig gehen
sollen, müssen die führenden Geister ihnen die rechten Wege weisen. Die
Masse will gewiesen und geleitet sein, aber in verständiger, ehrlicher, un¬
eigennütziger Art, und dafür hat sie einen feinen Instinkt. Nicht herrisch
gedrückt, selbstsüchtig zertreten wollen die Vielen von jenen »Egoisten« und
»Übermenschen« ä la Stirner —Nietzsche sein. Das Volk hat im Grunde
noch eine Empfindung behalten für wahres Menschentum und ist, wo der rohe,
anarchistisch-materialische Zug noch nicht zu tiefe Wurzeln geschlagen hat,
empfänglich geblieben für tiefere sittliche und religiöse Werte. Wenn ihm
aber solche nicht von oben her zukommen, woher sollten sie dann kemmen?
Der Teufel schickt sie sicherlich nicht von unten herauf! Das Volk hat
noch nicht verlernt zu großen, überlegenen Persönlichkeiten in Ehrfurcht
emporzuschauen nnd ihnen willig zu folgen. Wenn aber bei den Obern die
heiligsten und höchsten Werte und Ideale der Menschheit ererinsrschätzig ver-
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Literaturbericht.
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Der Verf. geht bei der Ableitung des Begriffes Genialität von der
Auffassung Schopenhauers aus, für den derselbe nichts anderes ist als
die vollkommenste Objektivität oder, wie Goethe das ausdrückte, un¬
bedingte Wahrheitsliebe. Das iBt das Fundament, auf welchem Türeks
Ausführungen fußen. In den verschiedenen Kapiteln, die allerdings oft nur
lose Zusammenhängen, hat er dann aus Literatur und Geschichte die ver¬
schiedenartigsten Belege für seine Hypothese beigebracht und dabei zum
Teil geradezu bahnbrechende Ansichten an den Tag gelegt. So sind seine
Kommentare zu Hamlet, Faust und Manfred als durchaus mustergültig
und dem Wesen der Sache entsprechend zu bezeichnen. Instruktiv ist auch
das, was er über Ibsens »Wenn wir Toten erwachen«, »Brand«, »John
Gabriel Borkman« und »Gespenster« zu sagen hat. Auch die Polemik gegen
Stirner—Nietzches antisophische Lehren ist, meiner Meinung nach, wohl
angebracht und zeitgemäß; denn in den letzten Jahren hat unser Geistes¬
leben eine offensichtliche Wendung genommen. Man beginnt sich wieder zu
interessieren für jene alten hehren Werte, wie sie schon in den Evangelien
für alle Zeiten vorbildlich niedergelegt sind.
In Einzelheiten mag man mitunter von der Ansicht des Verf. abweichen,
mir geht es z. B. so in bezug auf seine Auffassung Jesu Christi, der meiner
Meinung nach zu menschlich-irdisch dargestellt ist, während wir im Grunde
nur noch nicht reif genug sind, die ungeheure, in mystisch-okkulte Tiefen
reichende Tragweite seiner menschlich-göttlichen Mission zu verstehen. — Im
ganzen aber begrüßen wir das schöne Werk Türcks und wünschen ihm auch
in dieser neuen, erweiterten Auflage einen weiten Leserkreis, für den es.
seiner ganzen Anlage und Ausdrucksweise nach, auch berechnet ist.
Dr. J. Mühlethaler (Basel).
5) C. Lombroso, Neue Studien über Genialität. Mit Genehmigung des
Verfassers deutsch von Dr. E. Jentsch. Schmidts Jahrbücher der
ges. Medizin. Bd. 29.
Der Übersetzer führt diese interessante Arbeit Lombrosos mit einigen
"Worten ein, in denen er auf die Theorie der Genialität Lombrosos hin¬
weist. Während Lombroso früher die vielen Besonderheiten genialer Männer
mehr als ein interessantes und zufälliges Beiwerk der genialen Veranlagung
angesehen hatte, drängte sich ihm später immer mehr die Überzeugung auf.
daß sie vielmehr durch die gesamte Organisation des genialen Menschen not¬
wendig bedingt Beien. »Das Genie«, so schloß er, »sei eine psychische Be¬
gleiterscheinung einer allgemeinen Degenerationsform des genialen Indivi¬
duums«.
Die Genialität ist nach Lombroso eine Psychose oder Neurose. Diese
Ansicht wurde zum erstenmal ausgesprochen in dem Werke L’uomo di ingenio,
deutsch von Fränkel, 1890. Hierauf erschien: Genie und Irrsinn (Reclams
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Literaturbericht.
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Swedenborg, Cardanus, Petrarca, Manzoni, Schopenhauer,
Goethe, Pascal, Verlaine, Tolstoi, Savonarola, Kambyses,
Richard Wagner, Agnesi, Rousseau, Comte, Leopardi. Ein
Überblick über die zahlreichen pathologischen Züge aller dieser Persönlich¬
keiten ergibt allerdings ein Bild, das zu der Theorie Lombrosos paßt. Es
fehlt der Beweis, daß die geniale Persönlichkeit immer pathologisch ist und
daß sie notwendig mit solchen Zügen ausgerüstet sein muß.
E. Meumann (Leipzig).
6) W. E. Lecky, Charakter und Erfolg. Zwei Abhandlungen aus desselben
Verfassers »Map of life«, übersetzt von M. Barnewitz. 174 S.
Berlin, K. Curtius, 1909. M. 1.20.
Zwei »Versuche« Uber die Behandlung deB Charakters und über den
Erfolg, die etwa im Stile der Schriften von Sam. Smiles ihren Gegenstand
in gutem Sinne populär darstellen und viele bedeutsame Tatsachen und Be¬
obachtungen anführen, ohne wissenschaftliche Vollständigkeit zu erstreben
und ohne sich der Fachausdrücke zu bedienen. Letzteres kommt wohl zum
größeren Teil auf Rechnung des Herrn Übersetzers, der sich wiederholt zu
ängstlich an das englische Vorbild anklammerte: Vom »Nerv« des Genusses
und der Sittlichkeit zu reden, wära nicht einmal poetisch empfehlenswert,
— ebenso ist die Gleichstellung von Traum und Einbildungskraft zu rügen.
Die Folge solcher schiefer Ausdrücke sind dann Sätze wie dieser: »Eine
heiße und richtig gewählte Verehrung (!) ist eines der besten Hilfs¬
mittel zur moralischen Vervollkommnung.«
Nichtsdestoweniger sei das Büchlein um der darin enthaltenen wertvollen
Anregungen willen warm empfohlen. Es eignet sich besonders als Geschenk
fijr Mittel- und Fortbildungsschüler. Das treffliche Charakterbild des »echten
Gentleman«, entlehnt aus Newmans Scope and nature of University Edu-
cation, Discourse IX, sei noch besonders lobend erwähnt.
Dr. Ernst Ebert (Zürich).
7) Dr. Eugen Fischer, Sozialanthropologie und ihre Bedeutung für den
Staat. (Vortrag, gehalten in der Natürfbrsebenden Gesellschaft zu
Freiburg i. Br., 8. Juni 1910.) 30 S. Freiburg i. Br. und Leipzig,
Speyer & Kaerner. M. 1.—.
Jenes hochbedeutsame Forschungsgebiet, das die Engländer »Eugenic«
nennen und für das Gal ton seinerzeit eine ansehnliche Stiftung ins Leben
rief, — das also, was im allgemeinen die von Deutschland ausgehende, aber
völkerumfassende »Internationale Gesellschaft für Rassenhygiene«
— mit einem Hygieniker wie v. Gruber-München als Führer — erstrebt,
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Literaturbericht.
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Deutschlands Zukunft abhängt und daran jeder Volkserzieher von der
Dorfschule bis zur Universität intensiv mitarbeiten muß, zu-
nächst etwa dadurch, daß er der Broschüre und ihren Tendenzen zu mög¬
lichster Verbreitung verhilft, und daß er — vielleicht korporativ — An¬
schluß an den obengenannten Verein sucht. Dr. Ploetz, München, Kle-
menBstraße 2, wird immer bereit sein, der Lehrerschaft dabei ratend zur
Seite zu stehen. Dr. Ernst Eben (Zürich).
8) Max Verworn, Die Entwicklung des menschlichen Geistes. Jena,
Gustav Fischer, 1910. M. 1.—.
Die vorliegende Schrift ist der Abdruck eines Vortrages, welchen der
Verf. auf der 41. allgemeinen Versammlung der deutschen Gesellschaft für
Anthropologie in Köln am 4. August 1910 gehalten hat. Die Schrift trägt
die dem Psychologen schon bekannten Charakterzüge der Art und Weise,
wie Verworn die psychologischen und philosophischen Probleme zu behan¬
deln pflegt. Sie enthält großzügige und kühne Ideen, durch die das den Fach¬
psychologen bekannte Material oft in überraschend neue Zusammenhänge
gebracht werden. Es fehlt dem Verf. aber gerade auf psychologischem Ge¬
biet oft an der nötigen Sachkenntnis und kritischen Vorsicht. Ganz beson¬
ders wollen wir aufmerksam machen auf den Versuch des Verf., den Ablauf
der Vorstellungen mit physiologischen Begriffen über die Funktion der ner¬
vösen Organe, in denen wir die physischen Parallelvorgänge der Assoziation
und Reproduktion der Vorstellungen anzunehmen haben, in ein neues Licht
zu bringen. Der Grundgedanke ist der, daß die Zelle der Vermittler von
»Entladungsserien« ist, nervösen Irapulsentladungen, von denen jeder einzelne
dem psychischen Auftauchen und Wiederverschwinden einer Vorstellung ent¬
spricht. Sobald die Zelle eine solche Entladung erlebt hat, wird die Erreg¬
barkeit für einen zweiten Reizstoß vermindert, weil der notwendig ein¬
tretende Prozeß der Restitution ihrer Erregbarkeit eine gewisse Zeit braucht,
ehe diese ihr altes Niveau wieder erreicht hat. Das Stadium verminderter
Erregbarkeit der Ganglienzelle nennt Verworn das Refraktärstadium, und
zwar spricht er von einem absoluten Refraktärstadium, wenn die Erregbar¬
keit total, d. h. für alle Reizstärken, und von einem relativen, wenn sie nur
relativ, für schwächere, auf Zeit erloschen ist. Die nervösen Hemmungs-
vorgänge, die bei der Interferenz von zwei Reizen in einer und derselben
Ganglienzelle entstehen, sind nur der Ausdruck solcher Refraktärstadien.
Durch diese Begriffe sucht Verworn verständlich zu machen, mit mecha¬
nischen Überlegungen, »wie es möglich ist, daß eine Vorstellung, die durch
die Erregung einer Ganglienzelle häufig bedingt ist, bei der allseitig
leitenden Verbindung der Neurone unserer Großhirnrinde sofort gehemmt
werden kann, sobald durch Erregungen einer anderen Ganglienzelle häufig
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Literaturbericht.
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lichkeiten entsteht, und er will nun weiter versuchen, die elektiven Faktoren
noch genauer zu bestimmen. Im großen und ganzen aber kommt diese
mechanische Erklärung des Verlaufs der Vorstellungen darauf hinaus, daß der
Zustand der miteinander verknüpften Ganglienzellen darüber entscheidet, in
welcher Richtung die bei ihnen eintreffenden Reizimpulse weiter verlaufen.
Hierdurch glaubt der Verf. auf eine mechanische und naturwissenschaftliche
Weise die Rolle zu erklären, die nach Kant in dem Ablauf der Vorstel¬
lungen die Apperzeption gespielt hat.
Ich habe schon auf dem Anthropologenkongreß in Köln selbst münd¬
lich die Bedenken vorgebracht, die ich gegen diese Theorie des Verf. habe,
und da sie außerdem noch an einem anderen Orte veröffentlicht worden
sind, so möge es mir erspart sein, sie hier ausführlich zu wiederholen. Ich
mache vor allen Dingen geltend, daß der Verf. den gegenwärtigen Begriff
der Apperzeption mit denjenigen von Kant verwechselt und daß mit seiner
Theorie zahlreiche Erscheinungen des Vorstellungsverlaufes nicht erklärt
werden können, wie z. B. die Perseveration der Vorstellungen und nament¬
lich die Grunderscheinungen alles planmäßigen Vorstellens und Denkens, das
eine bestimmte Vorstellung als sogenannte Zielvorstellung oder Gesamtvor¬
stellung, oder leitende Vorstellung im Ablauf der Vorstellungen eine Zeitlang
beherrscht. Denn bei diesen Erscheinungen müßte nach der Hypothese von
Verworn eine Ganglienzelle, welche im Refraktärstadium sich befindet, ge¬
rade imstande sein, den Ablauf der Vorstellungen und die Richtung der
Fortpflanzung der Erregungen zu bestimmen, was natürlich physiologisch un¬
möglich ist.
Es sei noch darauf aufmerksam gemacht, daß in dem zweiten Teile des
Vortrages ein höchst geistvoller, ebenfalls sehr kühner und großzügiger
Versuch gemacht wird, die Entwicklungsstadien des menschlichen Geistes
von den ältesten Anfängen der Kultur bis zur Gegenwart aufzustellen. Dabei
unterscheidet der Verf. 1) ein Zeitalter »des sinnlichen impressionistischen
Geistes«, der zugleich dem geistigen Zustand der höheren Tiere entsprechen
soll; 2) ein Zeitalter des naiv praktischen Geistes, in welchem die Vorstel¬
lungsreihen nicht mehr an den momentanen Sinneseindruck gebunden sind
und zu praktischen Schlußfolgerungen bearbeitet werden; 3) ein Zeitalter des
theoretisierenden Geistes, welcher dadurch charakteristisch ist, daß die Vor-
stellnngsreihen sich zu längeren theoretischen Spekulationen entwickeln, die
sich mehr oder weniger weit von der den Anstoß gebenden Beobachtungs¬
tatsache entfernen. Auch gegen diese in einer Tabelle zusammengestellten
Entwicklungsstadien des Geisteslebens lassen sich zahlreiche Bedenken er¬
heben. Das Ganze ist eine kühne Konstruktion, bei der namentlich der
Fehler begangen wird, daß die ganze Mannigfaltigkeit in dem historisch
festgestellten Verlauf der menschlichen Geistesentwicklung nicht zum Aus¬
druck kommt. Immerhin können die Ausführungen des Verf., wie seine
meisten Schriften, nach mancher Hinsicht anregend und belehrend wirken.
E. Meumann (Leipzig).
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Literaturbericht.
/
Giulio Fano, Homo sapiens,
dei Lincei. 1910.
Roma, Tipdgr a p b wi i Ml a R. Accadefaua
In dem vorliegenden Vortrag gibt Professor Fano eine geistreiche Skizze
der höheren Vertebraten und des Menschen vom Standpunkte des Biologen
aus, mit zahlreichen interessanten Seitenblicken anf die geistigen Funktionen,
insbesondere die unbewußten. E. Meumann (Leipzig).
10) Arthur Wreschner, Das Gedächtnis im Lichte des Experimentes.
Zweite vermehrte Auflage. Zürich, Orell Füssli, 1910. M. 1.—.
Der Verf. gibt eine sehr klare und übersichtliche Einführung in die
experimentelle Begabung der Gedächtnisprobleme, die in der neuen Auflage
gemäß dem gegenwärtigen Stande der experimentellen Gedächtnispsychologie
erweitert worden ist. Das vor allem für Lehrer und Studierende bestimmte
Buch kann unbedingt zum Studium empfohlen werden. Namentlich da es
anch die praktische Anwendung der wichtigsten Resultate unserer gegen¬
wärtigen Gedächtnisexperimente für Unterricht und Erziehung angibt.
E. Meumann (Leipzig).
11) Martin Gildemeister, Über Zählen und Zeitschätzen. (Aus—dem_
physiologischen Institut zn Straßburg i. E.) Zeitschrift fi## bio¬
logische Techük urfd Methodik^ 1910. Bd. II. Nr. 2.
Gildemeister erörtert zuerst die Schwierigkeit einfacher Zeitmessungen
durch das direkte Abzählen von Einheiten. Wenn man die Frequenz irgend¬
welcher Vorgänge, die in regelmäßiger Folge immer wiederkehren (z. B. Pendel¬
schwingungen, Pulsschläge u. dgl.), zählen will, so hat das keine Schwierig¬
keit, solange die Pausen nicht kürzer als eine halbe Sekunde sind. Bei be¬
trächtlich größerer Frequenz begeht man leicht Irrtiimer, man »verzählt sich«.
Analysiert man die Gründe dafür, so findet man zweierlei: 1) man kann
nicht schnell genug die Zahlennamen aussprechen oder denken; 2) unser
natürliches Gefühl für Rhythmus nimmt Anstoß an der Einteilung in Gruppen
von je zehn Vorgängen, zu der wir durch das Dezimalsystem gezwungen
sind.
»Was ich damit meine, wird der Leser sofort einsehen, wenn er die
Schläge seiner Taschenuhr zu zählen versucht (gewöhnlich 300 in der Minute).
Man zähle einmal so: 1, 2, 3, 4, 5, 6. 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17,
18, 19, 20, 21, 22 . . . usw. Ich glaube nicht, daß man so weit, kommt, wie
ich die Zahlen hier hingeschrieben habe. Vielleicht geht es so: 1, 2, 3, 4.
5, 6, 7, 8, 9, 10, 1, 2, 3, 4, 5, 6. 7, 8, 9, 10, 1, 2 . . . usw., wobei man bei
jeder Zehn einen anderen Finger auf den Tisch setzt. Nun versuche man
es so: 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 1, 2, 3, 4, 6, 6, 7, 8, 1, 2, 3 . . . usw., ebenfalls
mit Fingermarkierung. Das geht ausgezeichnet, auch wenn die Frequenz
noch viel höher ist als in dem Beispiele. Sofort wird man merken, daß
die 9 und 10 bei der vorigen Zählart störende Anhängsel sind. Woher
kommt daB?
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Literaturbericht.
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Wie dem auch sei, jedenfalls vermag ich auf diese Weise (d. h. mit Markie¬
rung der einzelnen Gruppen durch die Finger, fortschreitend vom linken
kleinen zum rechten kleinen) bequem zu zählen, ohne meine Aufmerksamkeit
wesentlich anzuspannen.«
Noch weitere Erleichterung kann man sich nach den Angaben des Verf.
dadurch verschaffen, daß man eine Melodie, bei der der Achterrhythmus eine
Rolle spielt (im Vierviertel- oder Zweiviertel-Takt, nicht im Dreiviertel- oder
Sechsachtel-Takt), im Takt der zu zählenden Vorgänge singt, pfeift oder
auch nur denkt. »Wenn man so zählt, ist das Bewußtsein fast gar nicht
dabei beteiligt. Ich habe auf diese Weise oft Schritte gezählt, indem ich
mich mit meinem Begleiter unterhielt.«
Sodann geht der Verf. auf das Zeitschätzen über und erwähnt die ver¬
schiedenen Methoden, die die einzelnen Menschen haben, um sich ein leid¬
lich korrektes Zählen von Vorgängen, Zeitpausen u. dgl. zu ermöglichen.
Am leichtesten ist das, wenn man das Zählen mit dem Gehen verbindet, da
das mittlere Schrittempo der meisten Menschen etwa eine halbe Sekunde
ist. Man übt sich zweckmäßig eine bestimmte Melodie nach einer Uhr ein,
die annähernd halbe Sekunden schlägt (der Verf. verwendet die Melodie
»Fachs du hast die Gans gestohlen«).
Ist der Rhythmus des Liedes vorher im richtigen Tempo eingeübt w'orden,
so erreicht man ein für die Praxis genügend sicheres Messen.
Der Verf. schließt: »Ich betone nochmals, daß man zuerst vor der Uhr
üben muß. Wenn man den Rhythmus einmal innehat, sitzt er auch sehr
fest. Selbst nach wochenlanger Pause pflegt der Fehler, den ich bei einer
Zeitbestimmung dieser Art begehe, zehn Prozent des wahren Wertes nicht
zu erreichen, Das genügt für die Praxis vollkommen.«
Der Ref., der sich ebenfalls viel mit Zeitmessungen beschäftigt hat, kann
alle diese Beobachtungen aus eigener Erfahrung bestätigen.
E. Meumann (Leipzig).
,^2; Alfred Neumann, Über die Sensibilität der inneren Organe (kr ü is eh os
_ -Referat). Centmlblatt fiif die Grenzgebiete dqf Medien» utfd Chir^gi^y.
herausgegeben von H. Schlesinger. Bd. XIII. 1910. S. 1 ff.
/i. / -
Neumann gibt in dem vorliegenden kritischen Referat eine höchst lehr¬
reiche Zusammenstellung der Forschung und der Diskussion über die Sensi¬
bilität der inneren Organe. Es mag bemerkt werden, daß auch das Herz
(beim Tier) und jetzt wohl überhaupt fast alle inneren Organe als sensibel
erwiesen zu betrachten sind. Mit Recht verweist der Verf. zuletzt auf
die allzu wenig beachteten Untersuchungen von He ad hin; wir lassen diesen
Teil seiner Ausführungen hier wörtlich folgen: »Über einen Gegenstand sind
die meisten Autoren, welche sich mit der Sensibilität der inneren Organe
befaßt haben, leichthin weggekommen, ich meine über die grundlegenden
Arbeiten der Engländer, namentlich der von Head, betreffend die Sensibili¬
tätsstörungen der Haut bei Visceralerkrankungen. Nur Lennander, Müller
und Meumann haben sich eingehender mit ihnen befaßt. Bekanntlich hat
Head Zonen an der Körperoberfläche beschrieben, welche mit den inneren
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Literaturbericht
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Darm usw., jedes eine lokal gut charakterisierte und abgegrenzte Zone.
Head erklärt das Zustandekommen dieser Hyperästhesien in der Weise, daß
er sagt, daß von dem erkrankten Organ ans Impulse zum Rückenmark ge¬
langen und in dem Spinalsegment, in das sie gelangen, eine Störung veran¬
lassen. In dieses selbe Spinalsegment gelangen aber auch die sensiblen
Fasern einer bestimmten Hautpartie. Wenn nun in dieser Hautpartie ein
Reiz gesetzt wird, welcher normalerweise nicht als schmerzhaft empfunden
wird, so wird derselbe auf dem Wege zur Hirnrinde eine Verstärkung er¬
fahren, wenn das Rücken mar kssegment durch schmerzhafte, von inneren
Organen ausgehende Reize gestört ist, er wird also in diesem Falle als
schmerzhaft empfunden. Die dem betreffenden kranken Organ korrespon¬
dierende Hautpartie ist hyperästhetisch.
Die Tatsache des Vorkommens solcher Hauthyerästhesien ist über jeden
Zweifel erhaben. Außer den überaus exakten Beobachtungen Heads, gibt
es noch eine große Zahl seither erschienener Arbeiten, welche seine Angaben
bestätigen.
Die Bedeutung dieser Erscheinung für unsere Frage liegt nun meiner
Ansicht nach darin, daß zur Erklärung derselben unbedingt von den inneren
Organen ausgehende centripetalleitende Nervenfasern angenommen werden
müssen, Nerven, welche bei Erkrankungen derselben Reize von dem Organ
zum Spinalsegment leiten müssen. Wie immer wir die Hauthyperästhesien
erklären wollen, diese centripetalleitenden Nervenfasern müssen da sein, sie
sind das Bindeglied zwischen dem erkrankten Organ und der Körperoberfläche.
Wie sich der Vorgang der nyperästhesierung im Rückenmark abspielt, ist
für unsere Frage nebensächlich. Vielleicht ist es wirklich so, wie Head es
sich vorstellt. Es ist ja eine plausible Erklärung.
Wenn wir nun an der Existenz solcher centripetalleitenden Nerven nicht
zweifeln, dann ist der Schritt ganz kurz zu der Annahme, daß diese Fasern
auch die in den Organen empfundenen Schmerzen zum Rückenmark und
mehr oder weniger direkt zur Hirnrinde bringen. Wenn wir unbefangen von
den Beobachtungen der älteren Chirurgen und Lennanders urteilen, so
kommen wir auf gar keinen anderen Gedanken.
Noch auf eine zweite Art wird das Vorhandensein sensibler Fasern,
die von den inneren Organen zum Rückenmark und zur Hirnrinde leiten,
durch ältere Beobachtungen von Ross sowie von Head und den gleich¬
zeitigen von Makenzie wahrscheinlich gemacht.
Es ist eine bekannte Tatsache, daß der Schmerz bei Visceralerkrankungen
von den Patienten nicht immer auf das betreffende Organ lokalisiert wird.
Ross hatte bereits diese Tatsache so erklärt, daß der Schmerz von Sym-
pathicusfasern des betreffenden Organs auf die in dasselbe Rückecmarks-
niveau einmündenden Spinalnerven reflektiert wird.
Heads Erklärung weicht von dieser ab. Er erinnert an die von Ober-
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wird zu demjenigen Rückenmarksegment geleitet, von welchem seine sensiblen
Nerven stammen. Dort kommt er in nahe Beziehung zu den Schmerz¬
empfindungsfasern, welche der Kürperoberfläche angehüren und gleichfalls
aus demselben Segmente stammen. Aber das sensible und das Lokalisations-
vermügen der Körperoberfläche übertrifft bei weitem dasjenige der inneren
Organe und so gelangt gewissermaßen durch einen psychischen Urteilsfehler
das Diffusionsgebiet in den Bewußtseinskreis und der Schmerz wird auf die
Oberfläche bezogen anstatt auf das tatsächlich erkrankte Organ.
Dazu ist für unsere Frage folgendes zu sagen: Auch Für diese Vor¬
stellung Heads ist eine gewisse, wenn auch geringe Fähigkeit der Organ¬
nerven, sensible Reize zu empfinden, respektive sie weiter zu leiten, Grund¬
bedingung. Denn an einer ganz unempfindlichen Stelle kann man einen Reiz
weder an dieser selbst empfinden, noch kann er auf eine andere Stelle über¬
tragen werden. Das ist ein Postulat, welches ja ganz selbstverständlich ist,
welches auch Head für das Zustandekommen der Allocheirie als notwendig
bezeichnet. Head sagt selbst, daß in solchen Fällen von falscher Lokali¬
sation die betreftende Empfindungsform herabgesetzt sein muß, zugleich in
dem betroffenen Gebiet nicht ganz aufgehoben sein darf. Wenn das Per-
ceptionsvermügen für den betreffenden Reiz völlig verloren sei, dann käme
es auch zu keiner Allocheirie, dann gäbe es auch keine falsche Lokalisation.
Dann Fühlt der betreffende Kranke eben gar nichts.
Das ist aber auch nicht mehr und nicht weniger als nach dem heutigen
Stand unserer Kenntnisse angenommen werden muß: eine gegenüber der
Sensibilität der vom spinalen System versorgten Gebilde ge¬
ringere Empfindlichkeit der inneren Organe. DaFür sprechen unsere
täglichen Erfahrungen Uber das empfindungslose oder empfindungsschwache
Funktionieren der Organe, dafür sprechen auch die experimentell erbrachten
Tatsachen.
Ich habe bereits in meiner Arbeit über die Temperaturempfindlichkeit
des Magens aus den von Head erbrachten Tatsachen einen ähnlichen Schluß
gezogen, indem ich hervorhob, daß nichts im Wege stehe, vom Magen aus¬
gehende, zum Gehirn führende sensible Fasern anzunehmen, wenn man die
Angaben Heads als zu recht bestehend hält.
Auch E. Meumann kommt zu demselben Schlüsse. Er meint, man
müsse doch wohl annehmen, daß Organe, die bei abnorm starker innerer
Reizuug lebhafte, wenn auch unbestimmte Empfindungen auszulösen imstande
sind, sensible Nerven haben, die auch bei normaler reflektorischer Er¬
regung dieser Organe Empfindungen auslösen können, wenn auch nur in
schwächerem Grade oder auch nur von anderer Qualität (innere Tastempfin¬
dungen, nicht Schmerzempfindungen).
Auch Müller führt die He ad sehen Beobachtungen zur Unterstützung
seiner Annahmen an. Er bedient sich ihrer aber mehr indirekt. Die Hyper-
algesie der Haut weise darauf hin (bei Gallen- und Nierensteinkoliken), daß
TL> n*M/\ «■ II O ««fmcniktAnltAM O wm A An ^ Do*
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Literaturbericht.
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13) H. v. Helmholtz, Handbuch der physiologischen Optik. 3. Aull Er¬
gänzt und heraasgegeben in Gemeinschaft mit Herrn Professor
Dr. A. Gullstrand und Professor Dr. J. v. Kries von Professor
Dr. W. Nagel. I. Band mit 146 Abbildungen im Text. Einleitung
herausgegeben von Piofessor Dr. W. Nagel. Die Dioptrik des
Auges, herausgegeben von Dr. A. Gullstrand. Hamburg und
Leipzig, Leopold Voss, 1909. M. 14.— ; geb. M. 16.— .
Es bedurfte wohl der gemeinsamen Arbeit von mehreren unserer ersten
Autoritäten im Gebiete der physiologischen Optik, um die vorliegende neue
Auflage von Helmholtz klassischem Werk entsprechend dem gegenwär¬
tigen Stande der Forschung herauszugeben. Denn die Forschung in der
physiologischen Optik ist so gewaltig angeschwollen, daß es fast die Arbeit
eines Menschenlebens erfordert, um sie vollständig zu übersehen und zugleich
(gemäß der ganzen Anlage dieses Werkes) auch der älteren Forschung ge¬
recht zu werden. So haben Gullstrand, v. Kries und Nagel sich in die
Arbeit der Herausgabe geteilt. Der vorliegende Band bringt nach einer Ein¬
leitung von Nagel die Dioptrik des Auges von Professor Gullstrand in
Upsala.
• Die Herausgeber haben sich nach gründlichen Erwägungen des Für und
Wider entschlossen, für die vorliegende Auflage wieder den Text der ersten
Ausgabe zugrunde zu legen und den ursprünglichen Helmholtz sehen Text
unverändert zum Abdruck zu bringen; die Bearbeitung ist daher auf die
Form von Hinzufügungen beschränkt worden, wobei natürlich die voll¬
kommene Einheitlichkeit des Werkes geopfert werden mußte. Hierbei
übernahm Gullstrand die Dioptrik, v. Kries die Gesichtswahrnehmungen
und der Herausgeber Nagel die Gesichtsempfindungen. Durch das Zu¬
sammenarbeiten von drei verschiedenen Autoren mußte die Gefahr vermehrt
werden, daß durch die Zusätze der einheitliche Charakter des Werkes und
die konsequente Durchführung der Grundgedanken aufgehoben wurde. Diese
Gefahr konnte aber um so mehr vermieden werden, je mehr der einzelne
Autor den Ansichten von Helmholtz beistimmt. Wie sich das in den drei
verschiedenen Abschnitten gestalten wird, das ist natürlich noch nicht zu
übersehen, doch macht der Herausgeber darüber schon einige Mitteilungen.
Nach seiner Ansicht lagen »in den theoretischen am meisten umstrittenen
Gebieten der Physiologie der Gesichtsempfindungen wie der Gesichtswahr¬
nehmungen« nach der Überzeugung der Herausgeber die Verhältnisse inso¬
fern günstig, als selbst da, wo eine beträchtliche Weiterentwicklung der
wissenschaftlichen Forschung gegen die Entstehungszeit der ersten Auflage
die physiologische Optik zu verzeichnen ist, diese Entwicklung keinerlei
gegensätzliches Verhältnis zu den Lehren von Helmholtz in sich schließt
»Gerade darin, daß wir in diesen Fragen von denselben grundsätzlichen An-
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Stellung zu der Frage zu nehmen, ob die Vorstellungen, die sich Helm¬
hol tz über den Aufban und die Funktionsweise unseres farbenempfindeuden
Apparates gebildet hatte, auch für die in den letzten vier Jahren gemachten
neuen Beobachtungen noch eine hinreichende Erklärung zu bieten ver¬
möchten, und wenn nicht, ob sie etwa ganz zu verlassen seien, oder endlich,
ob uns die Einführung neuer ergänzender Hypothesen nennenswerten Ge¬
winn bringe«. Der Herausgeber bekennt Bich nun in dieser Frage zu dem
Standpunkt, »daß keinerlei Anlaß vorliegt, in der Farbentheorie die Grund¬
anschauungen, dieHelmholtz vertrat, preiszugeben«; und er ist weiter der
Ansicht, daß die Lehre von der Duplizität der Netzhautfunktion im wesent¬
lichen genügt, um eine Ergänzung der Helmholtzschen Theorie herbei¬
zuführen, welche den wichtigsten Ergebnissen unserer Tatsachenforschung
gerecht wird.
Was die Gesichtswahrnehmungen betrifft, so sind die Herausgeber der
Ansicht, daß der »Empirismus« von Helmholtz eine Auffassung ist, »die
auch gegenwärtig noch möglich, ja im Grunde ebenso berechtigt, durch die¬
selben Tatsachen gestützt, mit den gleichen Schwierigkeiten und Bedenken
behaftet ist, wie sie es vor 40 Jahren war. Auch hierin kann man wohl un¬
bedingt dem Herausgeber beistimmen, und es wird sicher eine wertvolle Er¬
gänzung des ursprünglichen Werkes Bein, daß der Herausgeber die Absicht
hat, die fundamentalen, an die Begriffe des Empirismus und Nativismus ge¬
knüpften Probleme aufs neue selbständig zu bearbeiten. Da dieser Teil des
Werkes noch nicht vorliegt, so läßt sich ein Urteil darüber noch nicht fällen;
er wird natürlich für den Psychologen und den Philosophen ganz besonders
interessant sein.
Außer diesen Zusätzen »ist dem 3. Abschnitt noch ein Kapitel hinzu¬
gefügt worden, das sich mit den binokularen optischen Instrumenten be¬
schäftigt, ein Gegenstand, der ja ganz im Rahmen des Werkes liegt, in er¬
heblichem Umfang auch schon in der ursprünglichen Helmholtzschen Dar¬
stellung berücksichtigt worden ist, für den aber die umfangreiche und praktisch
so bedeutsame Entwicklung der Konstruktion eine ausführlichere Darstel¬
lung wünschenswert machte«.
Es sei noch erwähnt, daß die Verlagsbuchhandlung das Format des
Werkes vergrößert und die Ausstattung wesentlich verbessert hat. Da daB
Papier stärker und der Text durch die Zusätze erheblich vermehrt worden
ist, erwies es sich als notwendig, eine Teilung des Werkes in drei Bände
vorzunehmen, die natürlich der ursprünglichen Einteilung in die drei er¬
wähnten Hauptabschnitte folgt. Es ist zweifellos, daß das Werk dadurch an
Handlichkeit und Gebrauchsfähigkeit gewonnen hat. Dagegen kann man im
Zweifel darüber sein, ob es vorteilhaft war, das von Arthur König für die
zweite Auflage gelieferte Literaturverzeichnis nicht aufzunehmen. Es würde
ja allerdings zweifellos wieder einen vollständigen Band gebildet haben und
hätte nur dann Wert gehabt, wenn es mit Vollständigkeit bis auf die Gegen¬
wart fortgeführt worden wäre. Der Herausgeber ist der Ansicht, daß der
ganze Aufwand von Zeit und Mühe, der dazu nötig gewesen wäre, kaum im
richtigen Verhältnis zu dem Wert der Arbeit gestanden hätte, da wir jetzt
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Literaturbericht.
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der ersten Auflage sind beibehalten worden. Natürlich sind auch in den
neuen Zusätzen Zitate aus der neueren Literatur angebracht, die unter den
Text gesetzt worden sind. Mit Recht haben die Herausgeber ferner über
den einzelnen Seiten die entsprechenden Seitenzahlen der ersten Auflage
angegeben, und in den Zusatzabschnitten, die von den einzelnen Bearbeitern
herrühren, wird an Stelle der Seitenzahl aus der ersten Auflage ein g. k. n.
angebracht. Ebenso sind die von den Bearbeitern herrührenden Anmer¬
kungen unter dem Text gekennzeichnet. Der nächste Band soll noch ein
Bild von Helm hol tz bringen. E. Me um an n (Leipzig).
14) Oswald Bumke, Über die körperlichen Begleiterscheinungen psychi¬
scher Vorgänge. (Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens.
Heft 68.) 16 S. Wiesbaden, Bergmann, 1909. M. —.65.
Dem Psychologen werden die Ausführungen des Verf. nichts Neues
bringen, darum sei das Referat möglichst kurz gefaßt. Empfindungen sind
nicht direkt zu messen, sondern nur indirekt durch Bestimmung der auf ge¬
wisse Reize folgenden Ausdrucksbewegungen; hier handelt es sich um die
körperlichen Begleiterscheinungen psychischer Vorgänge. Lachen und Wei¬
nen, Zittern, Mienenspiel, Erröten und Erbleichen, Pupillenspiel usw. sind
bekannte Begleiterscheinungen von Gefühlen und Affekten sowohl wie ein¬
fachen Empfindungen oder Vorstellungen; gleichfalls sind Herz-, Atem- und
Pulstätigkeit einem Wechsel unterworfen je nach der Einwirkung bestimmter
äußerer oder innerer Reize. Von größerem Interesse aber sind die so¬
genannten »unmerklichen« oder »kleinsten Bewegungen«, die für die Psycho¬
logie der Telepathie in Betracht kommen, wie z. B. der Kartenkünstler die
von seinem Gegenüber gewählte Karte einfach daraufhin erfährt, daß er
dessen Mienenspiel beobachtet; für das »Gedankenlesen« tritt neben diesen
unwillkürlichen Bewegungen noch speziell das unwillkürliche Flüstern in
Wirkung (Hansen und Lehmann), v. Ostens »kluger Hans« verstand Bich
gleichfalls auf diese Dinge, und Stumpf wie Pfungst lernten es ebenso.
Endlich sei neben Bergers schönen Untersuchungen Veraguths »psycho-
galvanisches Reflexphänomen« erwähnt, auf dessen Prinzip man — irre ich
nicht, so war es Jung — das sogenannte »Psychometer« konstruierte. Im
übrigen wird man noch einige treffende Bemerkungen über die »Erwartungs¬
vorstellung« (speziell über die von Furcht begleiteten) finden und deren Be¬
deutung für das »Tischrücken«. Paul Menzerath (Brüssel).
15) Ottmar Rutz, Sprache, Gesang und Körperhaltung. Handbuch zur
Typenlehre Rutz. München, C. H. Beck, 1911. M. 2.80.
Die von dem Vater des Herrn Dr. Ottmar Rutz entdeckten Typen der
menschlichen Stimme in Sprache, Deklamation und Gesang haben wir schon
in dem Abdruck des Vortrages von Herrn Dr. Rutz unseren Lesern bekannt
gemacht (vgl. dieses Archiv Bd. XVIII). Dort wurde auch das Hauptwerk
von Rutz erwähnt, Neue Entdeckungen von der menschlichen Stimm (Mün-
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Literaturbericht
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die praktischen Zwecke der Erlernung der Körperhaltung für Deklamation
nnd Gesang und der Charakteristik der einzelnen Typen der Möglichkeit
ihrer Feststellung. Zuerst werden die einzelnen Typen beschrieben und ihre
warmen nnd kalten Unterarten. Dann wird besonders behandelt die große
Art, die dramatische Art, die ausgeprägte Art und die Verbindung der Unter¬
arten. Hierauf folgt ein fiir den Psychologen besonders lehrreicher Abschnitt,
der Zusammenhang zwischen Körper, Seele und Stimme. An diesem Punkt
hat natürlich die genaue psychologische Erforschung der Entdeckungen von
Rutz einzusetzen. Es ist für den Psychologen — ganz besonders für die
Psychologie des seelischen Ausdruckes — von größtem Interesse, den Zu¬
sammenhängen einmal mit exakter Forschung nachzugehen, die nach den Be¬
obachtungen von Rutz bestehen, zwischen Gemütsbewegungen, Muskelein¬
stellungen, stimmlichem Ausdruck und Ausdruck des seelischen Lebens über¬
haupt. Einen ersten Anfang dazu hat Rutz selbst gemacht in dem Vortrag
»Eine neue Welt des seelischen Ausdruckes« (1909 in München), erschienen
in Ostwalds Annalen Für Naturphilosophie 1910, S. 159ff., und vor allen
Felix Krueger in der Schrift »Mitbewegungen beim Singen, Sprechen
und Hören (Leipzig, Breitkopf & Härtel, 1910). Besonders zu beachten ist
für den Psychologen, daß nach den Beobachtungen von Schammberger und
von Sievers in Leipzig die charakteristischen Typen der Körperhaltung
auch beim Betrachten von Werken der bildenden Kunst eintreten, bei den
Gemälden und Statuen; sobald sich der Betrachtende in den Ausdrucksgehalt
dieser Werke versenkt, nimmt er unwillkürlich den einen oder anderen Typus
der Körperhaltung mit den betreffenden Unterarten an. Für die Psychologen
sind besonders auch interessant die Beobachtungen über Mienenspiel und
Gliederbewegungen, die dem kalten und warmen Ton entsprechen, ja z. B.
Sievers beobachtet, daß auch die Bewegungen der Arme und Beine im Zu¬
sammenhang mit den Typen und ihren Unterarten stehen. Daher kann man
die Armbewegungen auch dazu verwenden, um die Annahme der verschie¬
denen Rumpfmuskeleinstellungen zu erleichtern.
Es war von vornherein zu erwarten, daß die Entwicklungen von Rutz
auch pädagogische Bedeutung erlangen könnten, denn die Anleitung zur
richtigen Körperhaltung kann auch dem Unterricht in Gesang und Dekla¬
mation gute Dienste leisten. In der Tat hat schon Herr Oberlehrer und
Konzertsänger Borebers in Leipzig die Anwendung der Typenlehre von
Rutz beim Chorgesang und beim Schulgesang erprobt, und zwar »wie
nicht anders zu erwarten war« mit sehr gutem Erfolg, weil Nach¬
ahmungstrieb und Klangvorstellung noch besonders dazu mitwirken, daß man
in den gewünschten Typus gerät. »Man stelle sich vor, wie erst die Chöre
z. B. in der Götterdämmerung wirken würden, wenn alle Mitsingenden den
richtigen Typus nebst seinen Unterarten hätten. Ich habe speziell diese
Chöre noch niemals wirkungsvoll gehört, da hierzulande die meisten Mit¬
wirkenden den ersten und zweiten Typns singen, die beide bei Wagner
schwächlich und undramatisch klingen.« Es mag noch erwähnt werden, daß
auch bei Instrumenten von einem Klangtypus gesprochen werden kann, der
den Melodien, w r elche auf dem Instrumente gespielt, entsprechen oder nicht
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26
Literaturbericht.
weich und dankeiklingende, die Mehrzahl deutscher Komponisten weich nnd
hellklingende Instrumente.
Sehr wertvoll sind die Beilagen zu dem Werke, in denen ein ganz ko¬
lossales Stück geistiger Arbeit steckt. Es folgt nämlich zunächst ein alpha¬
betisches Verzeichnis der festgestellten Sprachtypen. Da finden wir nicht
nur ältere und neuere Dichter, Redner und Komponisten, auch bildende
Künstler und Gelehrte nach ihrem Typus analysiert. Ebenso ist der charak¬
teristische Typus verschiedener Sprachen und Dialekte, z. B. des alteng¬
lischen, altfranzösischen, altfriesischen, althochdeutschen usw. bis in die
Gegenwart angegeben. Wertvoll ist auch das alphabetische Inhaltsverzeichnis
und ein Merkblatt der Muskelbewegungen zur willkürlichen Herstellung der
den einzelnen Typen entsprechenden Kürperhaltung. Dieses ist zugleich
durch photographische Abbildungen der Stellung der Rumpf-, Arm- und
Nackenrauskeln erläutert Endlich sind einige Tabellen hinzugefügt, nach
welchen sich die Rutzsehen Typen und ihre Unterarten aufsuchen lassen.
Damit ist von seiten der Entdecker der Typen ein großes und bedeutendes
Stück Arbeit geleistet worden. Nun ist es Sache der Psychologen, der Phy¬
siologen und der Pädagogen, dieser Entdeckung ihre wissenschaftliche
Grundlage und ausgedehnte praktische Verwertung zu geben.
E. Meumann (Leipzig).
16) C. Täuber, Die Ursprache und ihre Entwicklung. (S.-A. aus Globus,
•IHuetrierte Zeitschrift für Länder- und-Völkerkunde*—B4. XCVLL
•Ne.-lS.—277—282. Braunschweig, Friedr. Vieweg u. Sohn, 1910.^
Seit Trombetti sein Losungswort von der einen Ursprache in die Welt
warf, hat der italienische Gelehrte abseits von der offiziellen akademischen
Wissenschaft Schule gemacht. Mehr oder minder geistreiche Nachfolger
haben versucht, des vorgenannten Forschers Gedanken praktisch zu formu¬
lieren und sich bemüht, das gesamte Sprachgut nun auf eine kleine Zahl
von Urbestandteilen zurückzufiihren: bei Anton v. Velins (Onomatopöie und
Algebra) waren es ganze drei, hier sind es ihrer sechs, wie wir noch sehen
werden. Ich räume ein, daß mich die Kühnheit dieser Forscher bezaubert,
gestehe aber offen, daß ich ihnen nicht im mindesten in ihren Spekulationen
folgen kann.
Ihr Raisonnement ist etwa so: wir haben Wortreihen, wie sie jüngst
bekanntlich von Meringer, Murko, Schuchardt behandelt worden sind,
z. B. molere-Reihe (in »Wörter und Sachen« Heft I. Graz 1910) u. a. Die
Reihe domus, domare, domesticus, dominus, domicilium usw. gibt die Wurzel
dum, d. h. also, eine ganze Anzahl von Wörtern, die irgend etwas mitein¬
ander zu tun haben, besitzen einen lautlichen Bestandteil gemeinsam, der
übrigens, wie gleich bemerkt sei, der Grundbestandteil (bzw. Grundvorstellung)
ist, von dem alles andere abgeleitet ist (Beziehungsvorstellung). Nun folgt
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Literaturbericht.
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samtheit dieser Grundbestandteile (im Indoeuropäischen etwa 1000—2000)
ihrerseits wieder auf einheitliche Elemente untersuchen. Daä hat Täuber
getan, setzte dabei aber Trombettis Hypothese als bewiesen voraus und
kalkulierte so: »Wenn alle Sprachen und Sprachfamilien auf einen gemein¬
samen Ursprung zurilckgehen, so können wir mit irgendeiner von ihnen die
Untersuchung anfangen, und wir müssen überall zum gleichen Endresultat
kommen« (S. 277).
Wie gesagt, seine Sprachbehandlung reduziert den gesamten Sprach¬
schatz der Erde im wesentlichen auf folgende sechs Wurzeln: m -f- Vokal
= flüssige Nahrung, p + Vokal = feste Nahrung, n + Vokal = atmosphä¬
rische Flüssigkeit, t -(- Vokal = Holz, Wald, l oderr -+- Vokal = Futter- und
Tränkeplatz, k + Vokal = Tierwelt.
Kritische Beobachter werden sich nun schon die seit langem alle Sprach¬
forscher beunruhigende Frage vorgelegt haben: wie kommt es nun gerade,
daß mit dem bestimmten Laut die betreffende Vorstellung assoziiert, bzw.
identifiziert und in ihm symbolisiert wurde? Täuber macht sich das leicht:
»Man wird sagen können, m (für flüssige Nahrung) und p (für feBte Nahrung)
seien Naturlaute, seien unwillkürlich, beim Trinken und Essen, gekommen,
während die übrigen Hauptlaute des menschlichen Organs: n (für die atmo¬
sphärische Flüssigkeit), t (Für Wald, Holzj, l [-r-] (Für Futter- und Tränkeplatz)
und k (für die Tierwelt) nach Analogie, in bewußter Nachbildung, konven¬
tionell erfunden worden seien« (S. 281). Sehr banal, zu banal! Sogar ihn
selber schreckt der letzte Halbsatz; denn er fügt schnell hinzu: »Es entsteht
dann die Frage, da diese konventionelle Sprache nicht zufällig auf verschie¬
denen Punkten der Erde gleichzeitig entstanden sein kann, ob denn alle
jetzigen Völker von den gleichen Urmenschen abstammen. Darauf wäre zu
sagen, daß diese Annahme durchaus nicht nötig ist, daß die wunderbare Er¬
findung, die neben dem Gebrauch der Hände dem menschlichen Individuum
eine ungeheure Überlegenheit über alle anderen Wesen gab, so gut wie heut¬
zutage noch jede wertvolle Erfindung, wenn auch zeitlich viel langsamer,
ihren Siegeslauf um die ganze Erde nehmen mußte. Annehmen oder unter¬
liegen war die Losung« (8. 281). Gelinde gesagt, das ist äußert naiv, und
man ist mit Recht erstaunt, das in einer ethnographischen Zeitschrift zu
finden; nnd Täubers Spielerei mit »20,50oder mehr tausend Jahren« ist nicht
besonders geeignet, für seine Gedanken einzunehmen. Die Anschauung
ferner, das Chinesische sei bei der Einsilbigkeit der Wörter »stehen geblieben«,
ist nach den neuesten Forschungen der Sinologen doch kaum aufrecht zu
erhalten; ganz das Gegenteil ist wahr: es ist dazu »fortgeschritten«. Und
dabei setzt der Verf. stolz unter seinen Artikel das kühne Wort: »Post tene-
bras lux!« — Habeat sibi.
Allgemein wäre nun zu diesen Ausführungen zu bemerken: Der Glaube
an eine einheitliche Ursprache ist heute mehr als je zweifelhaft geworden,
nnd auch anthropologisch w’ird man nicht mehr nach der »Wiege des Merx-
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Literaturbericht.
finden sein; da wäre also noch die Sprache zu finden, die vor dem Menschentum
lag. Sprache im weitesten iBt »Ausdruck«, und dieser besteht auch bei Tieren.
Ferner ist Täubers Anschauung von der Sprachwanderung zu ober¬
flächlich, das wird ihm heute kein Ethnograph, kein Anthropologe oder
Soziologe mehr glauben, schon rein anthropologisch w 7 äre da eine Lautver¬
schiebung ganz heterogenster Art zustande gekommen, wie heute bei den
von Ausländern gesprochenen lebenden Sprachen leicht nachzuprüfen ist.
So können beispielsweise die meisten Holländerinnen keinen erweichten g-
oder /-Laut (vor e, t, y) im Französischen aussprechen und ersetzen ihn durch
ein scharfes s, ein Gaumenlaut also erhält Ersatz durch einen Zischlaut. Und
allgemein: alles auf die Form der Akkulturation zurückführen zu wollen,
ist nicht angängig, obschon deren Bedeutung durchaus nicht abzuleugnen
ist. Die Sprache ist auch keine »Erfindung«, es ist eine »Findung«, man
sprach längst, ehe man es w r ußte, und erst mit dem Auftreten des Gedankens,
daß man sprechen kann, beginnt die Sprache im engeren Sinne als bewußte
und beabsichtigte Mitteilung, d. h. die eigentliche Sprache hebt mit der Er¬
zählung an. (So scheint mir wenigstens, und damit scheiden auch die Vor¬
stadien, mitsamt der Tiersprache usw., aus. Die Fähigkeit zu »erzählen«,
glaube ich, ist die fundamentale Differenz der Tiersprache gegenüber.)
Ferner ist die Sprache wohl an vielen Orten gleichzeitig entstanden
(Täuber stritt dies ja, wie wir oben sahen, rundweg ab), damit konnte aber
der Wortschatz trotz aller sonstigen Verschiedenheiten immer noch verhält¬
nismäßig gleich sein, aus dem einfachen Grunde, weil die auszudrückenden
Verhältnisse ziemlich identisch sind, die Apperzeption dieser Verhältnisse
aber wechselt, und das physische Milieu hat daran nicht geringen Anteil;
mit der wechselnden Apperzeption aber wandelt sich auch naturgemäß die
Wiedergabe, und so glaube ich denn auf diese Weise Doppelformen wie
p -+- Vokal neben b -j- Vokal, g -+- Vokal neben k -+- Vokal ebenfalls erklären
zu können als unabhängig entstandene Originalbildungen. Dabei ist über¬
haupt die Frage, weshalb nun gerade ein bestimmter Laut einer Vorstellungs¬
reihe entspricht, einfach unlösbar, will man sich nicht in weitere Spekula¬
tionen verlieren. Man konstatiert: »das ist so«, und bescheidet sich. Das
ist meiner Ansicht nach das einzige, was sich hier sagen läßt (Wilhelm
Uhl hat ja eine andere Lösung versucht, die als durchaus mißlungen zu be¬
zeichnen ist), und so kommen w T ir am Schlüsse dem Verf. in etwas entgegen,
als wir ihm wohl die Berechtigung zuschreiben, die Wortreihen zu unter¬
suchen und auf den Stammteil zurückzuführen, eine Berechtigung, die, wie
ich betone, nie abzustreiten ist, da doch jeder Sprachforscher als Etymologe
sie in Anspruch zu nehmen hat; Einspruch aber möchte ich dagegen erheben,
daß man nun irgendeine Sprache einer beliebigen anderen gleich behandelt,
das ist psychologisch ein Unding — jede Sprache will aus sich heraus ver¬
standen sein als individuelle Bildung derer, die sie reden, d. h. also: korre¬
lativ Vnn PVntlohnnnorAn anlip ir»V> Viipr natiirlipVi aVi _ Purnar Haiuiran
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Literatarbericht.
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17) Heinrich B. Gerland, Zur Frage der Zeugenaussage. Archiv für
Kriminalantbropologie. Bd. 39. 1910. S. 116.
Der Verf. erörtert in dieser Abhandlung die Frage, welchen Wert die
Anwendung der Aussagemethode für die Bewertung von Zeugenaussagen
haben kann. Er ist der Ansicht, daß Hans Gross mit Recht auf die große
Differenz hingewiesen hat, die sich auch bei erwachsenen Menschen in ihrer
individuellen Begabung für die Auffassung der räumlichen Verhältnisse bei
Ereignissen zeigt, über die sie Aussagen machen sollen. Gross hat infolge¬
dessen von »graphischen und nichtgraphischen Naturen« gesprochen. Der
Verf. zeigt nnn, daß die Aussagemethode ein gutes Mittel sein kann, um
durch das Experiment »die graphische Natur eines Zeugen festzustellen und
sie nunmehr zur Feststellung des Tatbestandes zu benutzen«. Und zwar
kann man entweder eine Zeugenaussage auf ihre Glaubwürdigkeit hin kri¬
tisch prüfen, wenn nachgewiesen wird, daß ein Zeuge, der genau die Loka¬
lität eines Verbrechens schildert, nicht im mindesten eine graphische Natur
ist, oder auch im positiven Sinne, daß man den wirklichen Wert einer
Zeugenaussage nach weist, indem man zeigt, daß der Zeuge sehr viel Sinn
für das räumliche Nebeneinander der Ereignisse hat.
Der Herausgeber, Herr Gross, weist in einem Zusatz darauf hin, daß
er im ganzen mit den Ausführungen des Verf. einverstanden ist, daß er aber
schon wiederholt vorgeschlagen habe, die Experimente über Aussage nicht
nur an Bildern, sondern auch an Vorgängen zu machen. (Wird von W.
Stern ansgeführt.) E. Menmann (Leipzig).
18) Dr. H. Gudden, Die Behandlung der jugendlichen Verbrecher in den
Vereinigten Staaten von Nordamerika. 167 S. Nürnberg, Korn,
1910. M. 1.50.
Abermals die Gabe eines hervorragenden Psychiaters, Für die ihm eine
große Lesergemeinde dankbar sein wird: Psychiater und Psychologen, fort¬
schrittlich denkende Juristen und Verwaltungsbeamte, Sozialpolitiker und
Lehrer, — nicht zuletzt auch die Experimentalpädagogen. Denn
Gnddens Schilderungen betreffenVersuche korrektioneller Erziehung,
die — von geistvollen Experimentatoren erdacht und durchge-
führt — »zweifellos glänzend« (S. 166) gelangen.
Schon der einleitende Abschnitt über die allmählichen legislatorischen
Fortschritte in der Sache enthält zahlreiche beachtliche Details. Die Höhe¬
punkte der Schrift sind aber doch die folgenden Schilderungen der ver¬
schiedenen korrektioneilen Zwecken dienenden Anstalten, der Parental-,
Reform-, Training- und Industrial-Schools, sowie der Reformatories,
denen Verf. eine lebensvolle Skizze über die Jugendgerichtshöfe voraus¬
schickt. Dazwischen finden sich Charakterbilder der bedeutendsten Förderer
des gedachten Zweiges der Jugendfürsorge in Amerika, — jener »fanatischen
Optimisten«, die die amerikanische Behandlung verwahrloster oder verbreche¬
rischer Jugendlicher zum leuchtenden Vorbild für die ganze Kulturwelt
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Literaturbericht.
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im Reformatory zu Pontiak (Illinois), — Jugendrichter Tuthill und vor allem
der unvergleichliche Lindsey, der das meiste zur Verbreitung der Idee der
Jugendgerichtshüfe beitrug und dessen pädagogischer Takt und psycho¬
logischer Scharfblick die Gegner jener jungen Institution verstummen machte.
Es ist von ungemeinem Interesse, einen Psychiater über jene Mittel zur
Bekämpfung des Verbrechertums Minderjähriger zu vernehmen, denen die
tüchtigsten Kriminalisten der Gegenwart gleich vielen namhaften Mitarbeitern
auf dem Gebiete der Jugendfürsorge volle Aufmerksamkeit schenken und
die bezwecken, statt der Strafe für »Verbrechen« eine breit angelegte Er¬
ziehung zu setzen, — den jugendlichen »Verbrecher« nicht als verabscheuungs¬
würdigen Gesellschaftsfeind, sondern als Gegenstand väterlicher Fürsorge zu
betrachten —, ihn nicht durch ausgeklügelte Demütigungen um den Rest
seiner Selbstachtung und des Gefühles der Menschenwürde zu bringen, son¬
dern ihn körperlich zu kräftigen, geistig zu schulen, sittlich zu veredeln,
seinen Charakter zu stählen und ihn durch instruktive Beschäftigung in den
Stand zu setzen, sich als rechtschaffener Staatsbürger mit Arbeit zu erhalten.
Daß sich aus den reichen Erfahrungen der amerikanischen Praktiker auf
korrektionellem Gebiete auch vielfacher Gewinn für die Psychologie ergeben
würde, war von vornherein anzunehmen. Zum Beweis dessen sei nur eine
Tatsache angeführt, die auf die »Willensgesetze« neues Licht wirft. Gudden
berichtet S. 127: »Die Erfahrung hat gelehrt, daß, je höher das Straf¬
maximum ist, desto mehr die Gefangenen sich bemühen, das Ihre
zur Kürzung zu tun. So stellt das Elmira-Jahrbuch von 1898 fest, daß
diejenigen Gefangenen, deren Höchstzeit fünf Jahre oder weniger betrug,
durchschnittlich nach 27 Monaten entlassen werden konnten, daß dagegen
die Gefangenen, die ein Maximum von zehn bis zwanzig Jahren vor
sich sehen, durchschnittlich nach 21 Monaten sich die Freiheit
zurückgewinnen. Ähnlich berichtet (das Reformatory) Concord, daß
Gefangene, die nur ein Maximum von zwei Jahren hatten, lieber
dieses durch machten, als sich allzusehr um eine Kürzung desselben zu
bemühen.«
Der mancherseits gering geschätzte Wert wohlgeordneter militä¬
rischer Disziplin erwies sich als ganz bedeutend in einer Anstalt,
in der man den »Drill« eigentlich nur als Lückenbüßer einfiihrte, um mangels
gewinnbringender Arbeit die Zeit ausznfüllen, — vgl. den S. 119 angeführten
Fall.
Wäre Lombrosos Lehre vom »geborenen Verbrecher« nicht schon
auf Grund anderer Tatsachen erschüttert, so würde dies durch die sicheren
Ergebnisse der amerikanischen Korrektionspraxis geschehen, die Gudden
bei Gelegenheit einer Studienreise aus eigener Anschauung kennen lernte.
Den Schluß der sachlichen Darlegungen Guddens bildet die Wieder¬
gabe einer Skizze von All er s aus dem Handbuche des Reformatorys zu
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Literaturbericht.
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Wie von selbst wächst aus den vielen Komponenten in Guddens
Schrift zuletzt als Schlußresultante der Wunsch heraus, daß insbesondere
Deutschland den in Rede stehenden Zweig amerikanischer Jugendfürsorge
scharf im Auge behalten möge, um das Nachahmenswerte daran soviel
als nur möglich seinen Verhältnissen anzupaBsen und gleichfalls einen
»ungeheuren idealen und sozialen Gewinn« — S. 181 — daraus zu
ziehen.
Wer wollte sich diesem Wunsche nicht voll und ganz anschließen? Die
analogen Institutionen Schwedens, Norwegens und — in den ersten An¬
fängen — sogar Rußlands zeigen, daß sich die anglo-amerikanische Grund¬
idee recht verschiedenen Formen anzuschraiegen vermag.
Dr. Ernst Ebert (Zürich).
19) Prof. Dr. Ernst Schnitze, Die jugendlichen Verbrecher im gegen¬
wärtigen und zukünftigen Strafrecht. Heft 72 der »Grenzfragen
des Nerven- und Seelenlebens« (Herausgeber: Dr. Loewenfeld,
München). 174 S. Wiesbaden, Bergmann, 1910. M. 2.—.
Eine Schrift, die mehr bietet, als ihr Titel zu besagen scheint: Die
Stellungnahme eines erfahrenen Psychiaters mit weitem, kühlem
Blick und freimütigem, warmem Herzen zu den Rechtsnormen
über die Behandlung jugendlicher »Verbrecher«, — fesselnd
durch die Fülle anregender Gedanken in knapper Form. Die
Schrift sei allen, die sich aus allgemeinem staatsbürgerlichen oder aus spe¬
ziellem beruflichen Interesse mit dem Problem der Bekämpfung des Ver¬
brechertums Jugendlicher und der Behandlung gefährdeter oder verdorbener
Minderjähriger befassen, aus vollster Überzeugung empfohlen, wenn
in diesem kurzen Hinweis auch nicht erst auf bedeutungsvolle Einzel¬
heiten wissenschaftlicher Art aufmerksam gemacht werden kann.
Verf. bemerkt gelegentlich, daß das Wort »Summura jus — summa
injuria!« seine Bedeutung für »Jugendliche« zukünftig verlieren dürfte. Wer
sollte wohl mehr dazu beitragen können, an Stelle formaler Jurisdiktion
eine zweckmäßige pädagogisch - psychologische Behandlung gefährdeter
Minderjähriger zu setzen, als die berufsmäßigen Volkserzieher?! Wie Verf.
über deren Mitwirkung denkt, mögen folgende seiner Worte in etwas an¬
deuten: »Ich weiß ... nicht, ob es notwendig war, Volksschullehrer
— wie es § 118, 4 des I. Entwurfs G.-V.-G. vorschrieb — den Jugend¬
gerichten fernzuhalten. Ich möchte glauben, daß die Besetzung
des einen Schöffen durch einen Lehrer einen gesunden päda¬
gogischen Zug in die Rechtsprechung bringen kann. Und warum
sollte dieser Lehrer nicht auch ein Volksschullehrer sein? Daß er das für
die Aufgabe nötige Verständnis hat. wird keiner bezweifeln, und daB ak¬
tive Interesse der Volksschullehrer an der Lösung dieser Frage
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Literaturbericht.
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Lohmann in der Sitzung des Abgeordnetenhauses sagte, etwas Wunder¬
bares: Der Bundesrat fügte in die Novelle zum G.-V.-G. aus eigenem
Antriebe die Bestimmung ein, daß auch die Volksschullehrer als Schöffen,
wenngleich nur für Jugendgerichtshöfe, zugelassen sind. Diese
Anerkennung haben unsere Volksschullehrer wirklich verdient. Sie wird
dazu beitragen, ihr Ansehen nicht nur im Volke, sondern vor allem
in der Schule zu heben« 1 ).
Es wäre zu begrüßen, wenn Verf. oder ein gleichgesinnter Berufsgenosse
einmal vom psychiatrischen Standpunkte aus daran ginge, die Ursachen
und Anfänge des »jngendlichen Verbrechertums« zu beleuchten, — der
Gewinn daraus für die Pädagogik der Gegenwart und Zukunft dürfte erheb¬
lich sein. Dr. ErnBt Ebert (Zürich).
20) Ed. Claparede, Psychologie de l’enfant et Pedagogie experimentale.
3. vermehrte Auflage. Genf, Verlag von Kündig, 1909.
Es ist keine vollständige Darstellung der Kinderpsychologie oder der
experimentellen Pädagogik, was der Verf. in dem vorliegenden Werke gibt,
sondern eine Anzahl ausgewählter Abschnitte aus diesen beiden Gebieten,
die in recht eingehender Weise behandelt werden.
Nach einer allgemeinen Einführung in die Grundbegriffe und Aufgaben
der Psychologie und Pädagogik folgt ein historischer Abriß, der sich mit
der Entwicklung beider Wissenschaften und ihrer Beziehungen beschäftigt,
dann werden die Probleme und Methoden behandelt, der Gang der geistigen
Entwicklung im allgemeinen, die Bedeutung der Kindheit, dann besonders
eingehend die Entwicklung des Interesses der Kinder und die geistige Er¬
müdung. Es fehlen also noch so wuchtige Fragen wie die Entwicklung des
kindlichen Gedächtnisses u. a. m., doch gibt der Verf. im Vorwort an, daß
er Gedächtnis, Intelligenz und Wille in einem besonderen Bande behandeln
will. Der Text ist durch einige Abbildungen und mehrere recht lehrreiche
Kurven erläutert. E. Meumann (Leipzig).
21) Erich Becher, Der Darwinismus und die soziale Ethik. Ein Vortrag,
gehalten zur Hundertjahrfeier von Darwins Geburtstag vor der
philosophischen Vereinigung in Bonn, nebst Erweiterungen und
Anmerkungen. 67 S. Leipzig, Joh. Ambr. Barth, 1909. M. 2.—.
Die ganze Richtung der darwinistisch gesinnten Sozialbiologen wird in
der Einleitung von Becher klargelegt: es handelt sich darum, »in humaner
Weise das geborene Elend einer künftigen Menschheit ersparen« zu helfen.
Man muß unvoreingenommen zugeben, daß so denkende und strebende
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Literaturbericht.
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Argumentationen des Verf. zu folgen. Er beginnt mit einer Darstellung und
kritischen Nachweisung der großen darwinistischen biologischen Hypothesen.
Die Entwicklungshypothese ist fast allgemein unter unseren Naturforschern
verbreitet und anerkannt. Über die Art und Ursache dieser außerordentlich
fruchtbaren wissenschaftlichen Annahme herrscht allerdings noch keinerlei
Einstimmigkeit. Die einen nehmen den Entwicklungsprozeß als kontinuier¬
lich, die anderen als diskontinuierlich (d. h. in größeren Sprüngen erfolgend)
an. Man vergleiche Darwins und de Vries’ Ansichten. Bei der Ursache
der entstandenen Entwicklungen betonen die einen innere Ursachen — Auto¬
genese —, andere aber äußere, außerhalb des Organismus liegende Be¬
dingungen. Für beide Erklärungen lassen sich einleuchtende Beispiele an¬
führen. Der Verf. weist an einem sehr treffenden Beispiel die Richtigkeit
der Selektionshypothese nach. Darwin hat die geistreiche Hypothese ge¬
macht, eine der künstlichen ähnlich wirkende natürliche Selektion als Er¬
klärungsprinzip der mannigfaltigen Tatsachen in der organischen Welt an¬
zunehmen. Daß es auch hierfür erstaunlich passende Beispiele gibt, an
denen es auch Becher nicht fehlen läßt, braucht kaum besonders betont
zu werden. So unterliegen im Kampfe ums Dasein Angreifer und Verfolgter
der natürlichen Auslese, indem die schlechter Angepaßten weit eher dem
Tode verfallen als die besser Angepaßten. Dasselbe gilt von der natürlichen
Zuchtwahl, die mit dem Vorigen in engster Beziehung steht. Auch hier
haben sich die Geister dafür oder dawider erklärt. Nun haben die Biologen
und Sozialbiologen versucht, diese Prinzipien, die in der gesamten organi¬
schen Welt gelten, auch auf den Menschen, wie es konsequent geschehen
muß, auszudehnen. In rein praktische Interessen sind diese Hypothesen
hineingezogen worden — merkwürdigerweise hat hier der Darwinismus den
härtesten Widerstand seitens oft tüchtiger Männer erfahren. Man fürchtete
für die Existenz der köstlichsten Güter, für Religion und Moral. Wir müssen
es dankbar begrüßen, daß der Verf. sich die Aufgabe gestellt hat, diesen
schweren Konflikt zu beseitigen. So wird Becher auf soziale Probleme und
deren Zusammenhang mit dem Darwinismus geführt. Wir werden erwarten
dürfen, daß aus den hieraus entspringenden Folgerungen sich für den Ethiker
mancherlei Beachtenswertes ergeben wird. So stellt sich dem Verf. der
Zweck der Anwendung der biologischen Tatsachen auf Ethik und Soziologie
als »eine vorbeugende Arbeit am Wohle der Menschheit« dar (siehe S. 17—18).
Daß Becher nicht ein befangener Sozialbiologe ist, ergibt sich auB der aus¬
drücklichen Betonung, daß die Gesetze der organischen Materie nicht als
ethische Gesetze zu gelten haben. Wir möchten Bechers Meinung dahin
verschärfen, daß die Naturgesetze und Gesetze der Organismenwelt nie
ethische Gesetze werden können, da diese das Seinsollende, jene aber das
Sein angehen. Daß wir aus den in der Natur vorkommenden Tatsachen fllr
unser Handeln lernen können, leuchtet ein. Das aber will nach Becher
die biologische Ethik. Ihr schwebt das Ideal einer an Leib und Seele ge¬
sunderen und wertvolleren künftigen Menschheit vor. Wie soll aber diese
Vervollkommnung erzielt werden? »Darauf wollen wir vom Standpunkte der
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Literaturbericht.
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(S. 21). In einwandfreier Weise sucht der Verf. nachzuweisen, daß die natür¬
liche Zuchtwahl soziale und humane Unterstützung der Schwächeren eher
begünstigt als ausschließt. In der organischen Natur unterliegen die Lebe¬
wesen 1) der Gunst oder Ungunst der äußeren Umstände, der sogenannten
Situation, 2) den Eigenschaften des Lebewesens, der sogenannten Anpassungs¬
höhe. Sehr mit Recht betont Becher, daß das bloße Werken von Situa¬
tionsvorteilen und -nachteilen nicht zu einer Züchtung des Vollkommeneren
führte, denn dann würde der eigene Wert oder Unwert der Lebewesen für
die Erhaltung oder Vernichtung wenig beitragen. S. 24 sagt der Verf.: »Je
größer die Situationsunterschiede, um so geringer die züchtende Wirkung
des Daseinskampfes.« Durch ein weiteres Argument sucht der Verf. dies
zu befestigen: Die Kulturvölker leiden unter der sinkenden Anzahl von Ge¬
burten, während niedrig stehende Völker oft erstaunlich reichen Nachwuchs
haben. Weil aber die Zahl wertvoller Menschen unter den Kulturvölkern
immerhin nicht allzu groß ist, darum muß die natürliche Zuchtwahl mög¬
lichst hinter die Rassenförderungsfaktoren zurücktreten. Hier liegt doch
offenbar ein utilitarischer Bestimmungsgrund vor, der die Gesinnung des
biologischen Ethikers leitet. Es liegt die verhängnisvolle Konsequenz nahe,
daß bei genügend reichlichem Material an wertvollen Individuen die ver¬
schwindende Minderzahl der natürlichen Zuchtwahl unterliegt, weil sie we¬
niger gut ausgestattet ist. Es w r Urde aber ein sozialer Biologe nicht wün¬
schen wollen, daß ein Individuum, das nur physisch minderwertig ist, wäh¬
rend es geistig durchaus leistungsfähig ist, wegen seiner physischen Schwäche
der natürlichen Zuchtwahl und Auslese anheimfallen sollte. Daß dies der
Fall ist, zeigen die Ausführungen des Verf. (S. 31). Im Sinne der biologi¬
schen Ethik erscheint es gerechtfertigt, zu fordern, daß körperlich Minder¬
wertige sich nicht fortpflanzen dürfen, damit das künftige Geschlecht frei
von ererbten Krankheiten werde. Wenn aber körperlich Minderwertige ge¬
boren werden, so sei es eine einfache Forderung der Humanität, daß man
hnen ihr schweres Schicksal erleichtern helfe. Jedoch möchten wir er¬
gänzend hinzufügen, daß diese Forderung doch wohl nur auf körperlich
Schwerleidende Anwendung finden dürfte. Es muß die Erfahrung lehren, bei
welchen Leiden die Nachkommenschaft gar nicht oder ganz minimal in Mit¬
leidenschaft gezogen ist. Spürt man nun einmal gründlich den tiefsten Mo¬
tiven der biologischen Ethiker nach, so findet man, daß sie nicht im
strengsten Sinne rein sittliche, sondern utilitarisch z. T. sind. Es heißt
S. 39/40: »Am ersten könnten die Kinderkrankheiten im Sinne einer
Konstitutionsauslese wirken, denn wer ihnen erliegt, ist in der Tat von der
Vererbung seiner Eigenschaften ausgeschlossen. Es versteht sich von selbst,
daß wir auch hier den Daseinskampf nicht ungestört, d. h. die Erkrankten
ohne Pflege zugrunde gehen lassen können. Das würde bei der Häufigkeit
dieser Erkrankungen einer Ausrottung nnseres Volkes nahekommen. Nimmt
man alles zusammen, so wird man sagen dürfen, daß freilich die natürliche
Auslese durch Absterben des gesundheitlich Minderwertigen wirkt und immer
wirken wird, daß wir ihre Bedeutung aber nicht überschätzen dürfen, daß
sie schwere Übelstände mit sich bringt und daher ein Ersatz durch Besseres
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Literatnrbericht.
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znra Teil als notwendig bedingt durch den Mangel an Menschen. Das ist
aber ein Irrtum. Man darf dem Verf. recht geben, daß die natürliche Zucht¬
wahl geistigen Werten und Charakteranlagen nicht günstig gegenübersteht.
Darum weist Becher mit Recht das laisser faire der natürlichen Zuchtwahl
zurück. Als Beispiel gibt der Verf. die moral insanity an. Um nun die
große Zahl an Elend zu vermindern, so dürfen wir gewiß Becher recht
geben, daß künstliche sexuelle Selektion nur vorteilhaft fiir die Menschheit
ist. Es gibt kein milderes Mittel zur Beseitigung all der traurigen Krank-
heitserscheinungen körperlicher und geistiger Art. Wie geht aber die sexuelle
Selektion vor sich? Darüber werden wir folgendermaßen belehrt. Bei der
Gattenwahl kommt es auf sittlichen, intellektuellen und geistigen Wert an.
Die Geldheirat ist nicht nur ein schwer schädigender Faktor, wie Becher
meint, sondern im strengen Sinne unsittlich. Man benutzt die Ehe, die
doch wahrlich eine der verantwortungsvollsten und darum größten ge¬
meinschaftlichen Aufgabe zwischen Menschen ist, zur Aufbesserung ma¬
terieller Güter und entwürdigt so die Ehe. Deshalb handelt der biologische
Ethiker im vollsten Einverständnis eines gerecht urteilenden Menschen, daß
er das sexuelle Verantwortungsgefühl, das leider so oft bei den Menschen
fehlt, stärken und zur Anerkennung bringen will. Man mache sich einmal
ernsthaft klar, was für ein sozialer Segen sich aus strengem Verantwortungs¬
gefühl ergeben würde (vgl. S. 47—48). So ergibt sich, daß als Form der Ehe
die monogame die beste ist, da in ihr die gegenseitige Verantwortung in be¬
zug auf Reinheit, Treue, Erziehung usw. ermöglicht wird. Wir erkennen die
ethischen Forderungen Bechers völlig an, daß in der Ehe das höchste Ver¬
trauen und die höchste Liebe und Achtung, wie wir hinzufügen möchten,
herrschen muß. Diese ist nur in der Monogamie möglich. Des weiteren
geht der Verf. auf eine meist höchst unklare Auffassung von dem Eheleben
des Genies über. Wenn die Biologie feBtgestellt hat, daß geniale Anlagen
sich im allgemeinen vererben, so ist die Forderung eines geordneten Familien¬
lebens, die er an das Genie stellt, gewiß gerecht. Aber wir sind der Mei¬
nung, daß vom Genie genau dieselbe Verantwortlichkeit zu fordern ist, denn
es gibt nur einen einheitlichen Maßstab in der Beurteilung ethischer Fragen.
Wer fiir das Genie einen anderen zu schaffen sich berechtigt glaubt, ist ein
Tor. Sehr mit Recht bemerkt Becher: »Das ,quod licet Jovi, non licet bovi‘
läßt sich mit gleichem Recht umkehren« (S. 68). An der folgenden Zusammen¬
fassung, daß eine gesunde und von idealem Streben gerichtete eheliche Ge¬
meinschaft für die Zunahme höherwertiger Menschen von hervorragender Be¬
deutung sein wird, während beim System der Geldheiraten unbemittelte, aber
sittlich und geistig hochstehende Mädchen unverheiratet bleiben und daraus
biologischer Schaden entsteht, ist eine utilitarische Entscheidung. Wir haben
gezeigt, daß die hohe und reine Ehe mit dem nichtswürdigen Tand einer
Geldehe schlechterdings nichts gemein hat. Erst so erhält Bechers Zu¬
sammenfassung eine ethische Begründung. — Da die Kinder geistig und
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Literaturbericht.
von guten Eigenschaften und Fähigkeiten und die Vernachlässigung von
schlechten setzt aber den Willen voraus.
Der Verf. hat sein Problem gelöst. Es ist eine sittliche Tat, daß die
Sozialbiologen sich bemühen, über weniger bekannte Tatsachen, die des
Menschen Tun und Treiben angehen, Licht zu verbreiten, damit die so auf¬
geklärten Menschen an dem Fortschritt zur Vervollkommnung der Mensch¬
heit mitarbeiten können und sollen. Wer aber wider erfolgte Aufklärung
dennoch die Befolgung der Vorschriften mißachtet, ist ein Nichtswürdiger. —
Der Verf. hat eine ernste Arbeit vollendet, der an einzelnen Stellen die
ethische Begründung fehlt. Das ist der einzige Mangel. — Dem Werkchen
sind zahlreiche interessante und aufklärende Anmerkungen beigefügt.
E. Gaede (Marburg).
22) Gustav Hauffe, Volkstümliches Handbuch der humanen Ethik auf
wissenschaftlicher Grundlage. In vier Bänden. Hohen-Neudorf bei
Berlin, Verlag von Richard Fuchs. Bd. 1—3 ä M. 7.—; Bd. 4
M. 4.60.
Das vorliegende Werk möge im gegenwärtigen Heft unserer Zeitschrift
nur kurz angezeigt sein, damit weitere Leserkreise darauf aufmerksam werden.
Eine ausführliche Besprechung werden wir folgen lassen.
Das Werk ist eine Preissehrift der deutschen Gesellschaft für ethische
Kultur. Es unternimmt die Gesamtdarstellung einer rein menschlichen Ethik
als unabhängiger, von aller religiösen Grundlegung freien Wissenschaft. Die
Einteilung des Gesamtwerkes ist die folgende: Der erste Band enthält zu¬
nächst allgemeine Ausführungen über die Ethik als Wissenschaft und Unter¬
richtsgegenstand. Es folgt der erste Teil der Individualethik, darauf im
zweiten Bande die Fortsetzung der Individualethik. Der dritte Band enthält
die Sozialethik, der vierte bringt eine ausführliche Darlegung des praktischen
Lehrganges im ethischen Unterricht oder in der religiös-sittlich-moralischen
Unterweisung. E. Meumann (Leipzig).
23) Oskar Pfister, Psychoanalytische Seelsorge und experimentelle Moral¬
pädagogik. Protestantische Monatshefte (herausg. von J. Webskyk
Jahrgang 13. Heft 1. 1909.
Der Verf. berichtet in dieser Abhandlung über seine Idee und seine Er¬
fahrungen auf dem Gebiete der »experimentellen Moralpädagogik«. Pfister
erläutert hier seine Idee einer experimentellen Moralpädagogik an einigen
ausführlich mitgeteilten Beispielen aus seiner seelsorgerischen Praxis. Eine
verheiratete Frau wurde eine Zeitlaner durch anonvmo Rricfc und Postkarten
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Literaturbericht.
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tigkeit der Freudschen Ideen für die Arbeit des Geistlichen und des Päda¬
gogen, und er gelangte dazu, den Satz aufzustellen: »Die praktische Theo¬
logie als wissenschaftliche Disziplin, ja die gesamte Theologie hat noch
selten eine derartige Bereicherung ihrer Methodik erfahren, wie sie ihr durch
Sigmund Freuds Psychologie zuteil wird. Nicht nur die Seelsorge am
gemütskranken Menschen, sondern auch die Seelsorge im weitesten Sinne,
die Pflege der religiös-sittlichen Gesundheit gewinnt durch die Arbeit deB
großen Wiener Psychiaters eine Fülle neuer Ziele und mannigfacher Mittel,
die evangelischen Heilskräfte zur Geltung zu bringen.« Zu diesem Satz des
Verf. sei sogleich bemerkt, daß Pfister die Freudsche Methode ebenso in
einseitigem Sinne als eine pädagogisch-seelsorgerische aufzufassen scheint, wie
die Ärzte sie als therapeutische zu behandeln pflegen. Der rechte Gesichts¬
punkt für die Würdigung des Verfahrens der psychanalytischen Behandlung
anderer Menschen scheint mir allein der rein psycholgische zu sein!
Das tritt auch in allen weiteren Ausführungen des Vcrf. hervor. Wiederholt
muß Pfister selbst feststellen, daß bei seinen psychisch und physisch
Kranken die religiösen Mittel, insbesondere das Gebet, versagt haben; ja,
er konstatiert sogar einige Male, daß der Verkehr mit Gott als ein für die
Krankheit unzweckmäßiges Überdeckungsmittel eintritt: die Kranken
gelangen dadurch, daß sie sich der Religion in die Arme werfen, gerade
nicht zu einer inneren Überwindung von Erinnerungen an frühere Vergehen
oder gar zu einem Abreagieren verdrängter Vorstellungskomplexe. Die Re¬
ligiosität erscheint dann bisweilen als eine Art von Surrogat für das sich
Anssprechen des Kranken und für die Gewinnung von beruhigenden Mo¬
tiven! Solche Surrogate führen dann wohl gelegentlich eine relative Erleich¬
terung herbei, aber sie vermögen den inneren Schaden nicht zu beseitigen.
Dieses Eingeständnis eines Pfarrers ist mir religionspsychologisch besonders
interessant gewesen. Daraus geht nun aber doch unzweifelhaft hervor, daß
die Freudsche Methode, den Kranken zur Aussprache über seine sittlichen
Fehltritte zu bringen und dann durch die Herbeiführung der sittlichen Be¬
urteilung und des ihr entsprechenden Affektes Beruhigung zu schaffen, eine
ganz selbständige Bedeutung hat, sie ist weder eine ethische noch eine re¬
ligiöse Methode, sondern die Herbeiführung des adäquaten psychischen
Mittels, um den verdrängten Affekt zur ihm gebührenden Entlastung zu
bringen.
Den obigen Satz, von dessen Kühnheit der Verf. selbst überzeugt ist,
sucht er in der gegenwärtigen Mitteilung nun durch einige interessante Fälle
aus seiner Praxis zu stützen, von denen der erste, ausführlich beschriebene,
hier besprochen werden möge. Er stellt sozusagen ein Schulbeispiel dar. Es
handelt sich um einen lö^jährigen Schüler, der den Konfirmandenunterricht
Pfisters besuchte. Er blieb einst zum Beginn des neuen Schuljahres aus.
Von der Familie erfuhr der Verf., daß der seelische und körperliche Zustand
des Knaben in der letzten Zeit ein ganz bedenklicher geworden sei. Er hatte
Frechheit und Unehrlichkeit gezeigt, stand im Verdacht, aus seiner Mutter
Schreibtisch Geld entwendet zu haben, bekam heftige Kopfschmerzen, verlor
3 • /-«
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typisch für ein richtiges Angreifen solcher Fälle, sie möge deshalb mit den
Worten des Verf. mitgeteilt sein. »Zuerst beruhigte ich den erschrockenen
Burschen, indem ich den wohlgemeinten Zweck meines Besuches hervorhob.
Ich glaube, daß ihn eine Erinnerung quäle und krank mache. seine
Krankheit mache mir deu Eindruck einer Störung, die mit einem peinlichen
Erlebnis Zusammenhänge. Er selbst werde das Gefühl haben, daß Beine
Krankheit nur für den Augenblick zurückgedrängt sei und in Bälde wieder
hervortreten werde. Es gebe jedoch ein ausgezeichnetes Mittel, ihn zu heilen;
wenn er sein Geheimnis einem von ihm geachteten Menschen anvertraue,
dann sei er auf dem Wege zur Besserung. Falls er mich lieb habe und zu
mir unbedingtes Vertrauen besitze, wolle ich ihm gerne den Freundschafts¬
dienst leisten, sein Geständnis entgegenzunehmen «
Der junge Mann vertraute sich nun in der Tat Herrn Pfister an und
erzählte ihm von seinem Verkehr mit einem älteren, ausschweifend lebenden
Jüngling, durch den er zur Selbstbefriedigung und zu häufigen, stark gefühls¬
betonten sexuellen Phantasien veranlaßt wurde. Infolgedessen stellte sich
bei ihm Schulüberdruß ein, er versäumte den Konfirmandenunterricht, es trat
auch pathologisches Vergessen der Unterweisungsstunde ein, wenn jedoch
die Stunde vorgerückt war, so wurde er körperlich unwohl, Schweißentwick¬
lung in der Magengegend trat ein (wie auch vorher schon bei der sexuellen
Betätigung), zugleich machte sich ein Angstgefühl geltend, das nach Freud
beim Träumenden wie beim hysterisch erregten Menschen »die unbefriedigte
Libido sexualis ausdrückt«. Betrügereien und Diebstähle, die er an der
Mutter verübte, verstärkten die aus dem sexuellen Leben herriilirenden Ge¬
wissensbisse (»das sexuelle Trauma«). Wichtig ist dabei, daß das sexuell
bedingte Schuldgefühl sein Gewissen abstumpfte gegen die übrigen sittlichen
Vergehen. Aber auch der Gewissensaffekt über diese Vergehen wurde
— wenigstens teilweise — unterdrückt.
Nunmehr bildeten sich immer schwerere körperliche Affektionen aus:
überaus heftige Kopfschmerzen, Verdauungsstörungen, Ohnmachtsanfälle u. dgl.
Diese, insbesondere der Kopfschmerz, haben nach Pfister die Bedeutung
von »Abwehrsymptomen« im Sinne der Freudschen Theorie, sie wollen
das Bewußtsein »vor den schädlichen Reminiszenzen bewahren«. »Das
Gefühl, an allen Gliedern geschlagen zu sein, gleichzeitig die Empfindung
eines schweren Druckes, der auf der ganzen Person lastet, spiegelt ... in
gleicher Weise die Selbstverurteilung, wie die Angst den unterdrückten Ge¬
schlechtstrieb.« Während nun der sexuelle Affekt sich seine Abhilfe selbst
schaffte (teils durch die erwähnten nervösen Abwehrsymptome, teils auf
dem bekannten natürlichen Wege), kam für das zweite nervöse Trauma
(die Diebstähle) keine analoge Ableitung zustande, daher mußte es (im Sinne
der Freudschen Theorie) zu einer sogenannten Konversion kommen, d. h.
»zu einer pathologischen Ableitung der verdrängten Komplexe in körper¬
liche Bahnen. Im vorliegenden Falle drücken die physischen Störungen den
sie bewirkenden moralischen Defekt symbolisch aus«. Diese symbolische
Konversion zeigte sich bei Pfisters jungem Manne darin, daß eintrat: Ab-
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Die Heilung erfolgte nun so, daß zunächst durch religiöse Lektüre und
Gebet eine sogenannte »Sublimierung« (gewissermaßen eine Idealisierung)
des inneren Zustandes eintrat: »sicherlich,« so sagt der Verf., »beförderten
diese religiösen Motive, so dürftig sie auftreten mochten, die günstige Wen¬
dung. brachten sie doch die Anfänge jener Reintegration, die wir als ideale
Überwindung der traumatischen Komplexe, d. h. der aus dem Bewußtsein
weggedrängten, vom Unterbewußtsein aus störend wirkenden peinlichen Er¬
innerungen betrachten müssen, der Sublimierung«. Wichtig ist nun, daß
diese religiösen Betätigungen aber keineswegs das Leiden überwinden konnten,
weil »die Befreiung der pathologisch gebundenen Energie durch die voll¬
ständige Aufdeckung der peinlichsten Delikte« fehlte. Man sieht hieraus
deutlich, daß dieser rein intellektuelle Prozeß der Aufdeckung und Beurtei¬
lung der sittlichen Vergehungen eine ganz selbständige Bedeutung
besitzt, die durch nichts anderes ersetzt werden kann! Trotz¬
dem konnte der junge Mann den Schulbesuch wieder aufnehmen, zeigte sich
aber noch sehr auffallend abnorm.
Zehn Tage nach der Rückkehr in die Schule fand die erste Sitzung bei
Pfister statt. Sie hatte noch nicht sogleich Erfolg. Nach der zweiten
Sitzung gelangte A. (so will ich den jungen Mann kurz bezeichnen) dazu, der
Mutter alles zu gestehen. Trotzdem war er noch lange nicht genesen, seine
Aufführung im Elternhause blieb eine rohe. Als A. keine Fortschritte machte,
mußte eine tiefer greifende Psychoanalyse versucht werden, und zu diesem
Zwecke wendete nun Pfister die jedem Psychologen wohlbekannte
»Assoziationsmethode« (richtiger »Reproduktionsmethode«) an, in der Weise,
wie sie von dem Psychiater Dr. Jung für die Zwecke der Freudschen
Untersuchungen umgearbeitet ist. (Die Methode besteht bekanntlich darin,
daß man der Versuchsperson beliebige oder nach ganz bestimmten Zwecken
ausgewählte Worte zuruft, auf welche sie mit dem ersten ihr einfallenden
Worte zu antworten hat. Nach Dr. Jungs Auswahl der Reizworte scheint
sich die Methode gut zu Untersuchungen Uber verdrängte Vorstellungskom¬
plexe zu eignen: die untersuchten Personen wissen nicht, wozu die Methode
dient, daher verraten sie durch den Gang ihrer Assoziationen leichter die
verdrängten Vorstellungskomplexe als beim Ausfrageu; diese drängen sich
gewissermaßen aus dem Unterbewußtsein hervor.)
Die Anwendung der Assoziationsmethode ergab nun so günstige Resul¬
tate, daß Pfister geneigt ist, die Methode für praktisch erzieherische Zwecke
sehr hoch zu schätzen. »Zu meiner Überraschung,« so sagt der Verf., »sah
ich mich plötzlich im Besitze einer Technik, die für die Seelsorge und Er¬
ziehung Bedeutendes zu leisten vermag und die nach ihrer wissenschaftlichen
Ausarbeitung zu einer nicht nur generellen, sondern auch individuellen
experimentellen Religions- und Moralpädagogik führen wird.«
Durch Anwendung der Assoziationsmethode, deren Ergebnisse nun Pfister
ausführlich mitteilt, wurden nämlich zunächst noch eine Menge, daB sittliche
Bewußtsein des jungen Mannes belastender Vorstellungen hervotgeholt und
»abreagiert«, d. h. der Beurteilung und dem Gefühl zugänglich gemacht. So¬
dann wurden noch eine Anzahl Assoziationsversuche gemacht, fü r die Pfister
r?ie Reizworte nach dmn Falle seiner Versnchsnersnn andern» fl* hatte. (Es
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A. auf die Reizworte läßt sich in recht interessanter Weise verfolgen. Sie
geben ihm teils Gelegenheit zur Verurteilung und Bereuung der früheren
sittlichen Verfehlungen, teils die Gelegenheit zu einer Stärkung des Selbst¬
vertrauens, sie werden selbst zu ethischen Leistungen, die ein sittliches
Hochgefühl bei A. entstehen lassen. Das Selbstvertrauen erwacht wieder
und die Willenskraft nimmt zu. Ob freilich eine völlige moralische und phy¬
sische Heilung eintrat, das ist natürlich, wie auch Pfister Belbst klar er¬
kennt, noch keineswegs sicher. Der Verf. schließt denn auch seinen Bericht
mit den Worten: »Solche Methoden wollen durchaus nicht als eine Art Blitz¬
pädagogik angesehen werden, . .. therapeutisch ist so viel gewonnen, daß
ein frecher, diebischer, religiös und sittlich verwahrloster, durch sittliche
Konflikte schwer erkrankter Bursche, der sich unter dem Zwang finsterer
unbewußter Mächte in immer tieferes Elend hineinbohrte, nun ein zärtlicher,
liebenswürdiger Sohn, ein glücklicher Kämpfer um ein reines edles Leben,
ein ehrlicher Gottsucher geworden ist.« Sodann erläutert Pfister die Frage,
wie weit der Erfolg nun den Methoden der Psychoanalyse zu verdanken ist.
In der Beantwortung dieser Frage entscheidet er sich dahin, daß die Auf¬
lösung der »Traumata« (der schädigenden sittlichen Delikte) als die Be¬
dingung für das Wirksamwerden der religiös-Bittlichen Motive zu betrachten
sei. So kommt er zu dem für die Willenserziehung wichtigen »Gesetz«:
»Eine große Anzahl schwerer und leichter religiös-sittlicher Defekte ist alt*
Wirkung verdrängter Komplexe, d. h. ungenügend abreagierter peinlicher
Erlebnisse anzusehen und kann deshalb als psychanalytische Behandlung,
d. h. durch Überleitung jenes traumatisch wirkenden Vorkommnisses ins Be¬
wußtsein und Ableitung mit Hilfe beruhigend wirkender Motive aufgehoben
werden.« E. Meumann (Leipzig).
24) Gustav v. Allesch, Über das Verhältnis der Ästhetik zur Psychologie.
Zeitschrift für Psychol. Bd. 54. 1910. S. 4G1 ff.
Der Verf. dieser Arbeit will die Richtigkeit der psychologischen Methode
in der wissenschaftlichen Ästhetik dartun; dies sucht er zu erreichen einmal
durch eine Kritik an den antipsychologischen Richtungen, sodann durch Bei¬
bringung von neuen Argumenten.
I. Alleschs Kritik richtet sich an erster Stelle gegen Jonas Cohn als
den Vertreter der normativen Ästhetik. In vier Punkten greift er die
Cohn sehe Definition des Schönen an: »Das Schöne ist rein intensiver
Anschauungswert mit Forderungscharakter.«
1) Allesch greift Cohn an, weil er den Ausdruck »Wert« in
doppelter Weise gebrauche: einmal ist das Schöne selbst Wert, das andere
Mal hat es Wert, kommt ihm außer seiner Schönheit auch noch Wert zu.
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2) Wenn Cohn das Schöne als das Gefallen selbst definiert, wie gewinnt
er dann den Begriff Anschanungswert? Doch nur so, daß er sich möglichst
genau ästhetische Reaktionen vergegenwärtigt und dann untersucht, was
daran an einzelnen Momenten zu finden ist. Er nimmt also den Begriff der
Anschauung aus der ästhetischen Erfahrung, was schon Fe ebner, Lotze
und Külpe nachgewiesen haben.
3) Daß die Schönheit »intensiver Wert« sei, gibt Allesch Cohn zu,
weil es sich beim Schönen und Gefallen nicht um konsekutive Werte
handeln kann. Die Großartigkeit eines Gewittersturmes besteht nicht
nur in der Wirkung auf unsere Empfindung; denn das Gefallen ist nicht das
Bewußtwerden dieser physiologischen Vorgänge, welche in der Selbst¬
beobachtung nicht einmal als die Ursachen unseres Gefallens angesehen
werden, da jene Wirkungen auch bei genauester Analyse vollständig unbe¬
wußt sind. — Auch formale und assoziative Qualitäten berechtigen uns nicht,
beim Gefallen von konsekutiven Werten zu sprechen. Die assoziativen und
formalen Qualitäten sind nur Teile des Fundamentes der Gefühlsreaktion.
Allesch nennt diese Verknüpfung des Gefühlstones mit dem Gefühlston
der assoziativen und formalen Elemente »Gefilhlsverschraelzung«. Diese ist
selbst da zu konstatieren, wo die Assoziationen wesentliche Beiträge zur
ästhetischen Reaktion liefern. Stimmt Allesch zwar in diesem Punkte
Cohn zu, so zeigt er aber andererseits, daß Cohn bei der Untersuchung
der ästhetischen Reaktion auf ihre Wertung psychologische Vorgänge unter¬
suche, d. h. Psychologie treibe. — An dieser Stelle hätte Allesch nach-
weisen können, daß die Definition des Schönen als eines intensiven Wertes
zu eng ist, weil es sich bei den Assoziationen und formalen Qualitäten, die
er im Vorgang des Gefallens findet, noch um etwas anderes handelt als um
das Werten.
Cohn determiniert die Bestimmung der Intensität noch, indem er be¬
hauptet, daß die Werte des Guten und Wahren charakteristische Verschieden¬
heiten gegenüber dem Ästhetischen hätten, weil »die einzelne Wahrheit erst
durch ihre Bedeutung für das Gesamtwissen wertvoll wird«, »der gute Wille
bei seiner Beurteilung nicht aus seinem Zusammenhang zu lösen sei, dagegen
das ästhetische Objekt sich als ein für sich stehendes, ruhendes Ganze dar¬
biete, dessen Wert in ihm selbst liege, nicht in einem Beitrag, den es zu
einem Ganzen leistet.« Diese Trennung der Immanenz des ästhetischen
Wertes und der Transgredienz der intensiven Werte des Guten und
Wahren ist nach Allesch verfehlt, weil das primäre Gute oder Schlechte
einer Handlung nicht von derartigen Zusammenhängen bestimmt wird nnd
auch der Wert des Schönen vom Zusammenhang abhängt, in den das schöne
Objekt eingereiht wird. — Wir können hinzufügen. daß mit dem Wort »in¬
tensiv« das Ästhetische gegenüber dem Wahren und Guten nicht abgegrenzt
ist, es kann nämlich nicht als eine differentia specifica für das Ästhetische
gelten. — Allesch schließt aus der Unhaltbarkeit der Trennung von Im¬
manenz und Transgredienz des Intensiven, daß damit der ganze systematische
Aufbau der Cohnschen Ästhetik erschüttert nnd daß der Vorwurf hinfällig
sei, die Psychologie könne die ästhetischen Begriffe nicht abgrenzen.
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völlig zusammenhingen. Die einzelnen Geschmacksunterschiede in den
Schönheitsurteilen seien von wenig Belang gegenüber der großen Einheit,
die sich in einzelnen Schönheiten zur allgemeinen Anerkennung bringen
läßt. — Wenn Allesch zugeben will, daß sich etwas ähnliches im Ästhe¬
tischen finde, so muß Cohn doch noch beweisen, daß der »Forderungs¬
charakter«, den er einfach setzt, notwendiger Bestandteil im ästhetischen
Urteil ist, und zeigen, wie er beim ästhetischen Urteil zustande kommt — Es
gibt ja auch noch andere Möglichkeiten, z. B. die Steigerung der ästhetischen
Empfänglichkeit usw. — Auch die Trennung des Schönen vom Angenehmen
und der »Forderungscharakter« fallen keineswegs zusammen. Denn der
Psychologe kann mittels der Assoziationen, Urteile, Bewußtheiten usw. die
beiden Gebiete voneinander zu scheiden suchen. Mit ästhetischen Gefühlen
sind manchmal Gefühlsempfindungen verbunden, auf die sich das Gefallen
wesentlich stützt. Wo die Grenzen zu finden sind, welche die rein ästhe¬
tischen Gefühle von den Gefühlsempfindungen trennen, ist eine psychologische
Frage. Mit der Hinfälligkeit der Voraussetzungen fällt auch der Schluß
Cohns. »Er hat weder bewiesen, daß der Forderungscharakter der einzig
mögliche Unterschied zwischen dem Angenehmen und Ästhetischen ist, noch
daß ein solcher Unterschied überhaupt überall und notwendig besteht. Damit
entbehrt die Behauptung, daß der Forderungscharakter ein Merkmal deB
Ästhetischen sei, jeder Berechtigung, und auch die daraus hergeleitete Ab¬
grenzung der beiden fraglichen Gebiete gegeneinander ist in dieser Weise
nicht mehr zu verteidigen.«
Auch die Behauptung, daß das ästhetische Urteil Allgemeingültigkeit
habe, kann Cohn nur aufstellen, wenn die ästhetischen Urteile entweder
apriorische oder solche Erfahrungsurteile sind, die sich auf eine ausreichende
Induktion stützen. Da die ästhetischen Urteile aus der Erfahrung stammen,
sind sie nicht apriorische. Aber sie sind auch nicht den Urteilen gleich zu
stellen, die wir etwa in der Physik gewinnen, weil die Zusammenfassung der
einzelnen Urteile, worauf die Physik beruht, hier nicht möglich ist. Die Ver¬
schiedenheit der Urteile, welche einige Ästhetiker zugunsten einer überindi¬
viduellen Geltung des Ästhetischen als nichtssagend darstellen wollen, ist so
schwerwiegend, daß eine analoge Betrachtungsweise zu den Gesetzen der
Physik unmöglich ist, da ja die ästhetischen Einzelreaktionen von den Wahr¬
nehmungsurteilen so grundverschieden sind, während die Abweichungen in
den Sinnesgebieten eine gesetzmäßige und eindeutige Erscheinungsweise in
physikalischen Dingen zulassen. (Aus diesem Grunde stellt Allesch die
Arbeit von Landmann-Kalischer, Über den Erkenntniswert ästhetischer
Urteile, als verfehlt hin.)
Zusammenfassend ergibt sich, daß Cohn eine deduktive Behandlung des
Problems nicht hat zu Ende führen können. Damit ist auch der Versuch
mißlungen, eine Abgrenzung des Ästhetischen gegenüber anderen Wissen¬
schaften auf diese Weise zu finden.
II. Der zweite Teil der Kritik Alleschs richtet sich gegen Meumann,
der (in der Festschrift für Heinze 1903) behauptet hatte, daß die Psychologie
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tischen Reaktionen manchmal gar kein äußereB Objekt notwendig ist; es
knüpft sich vielmehr das ästhetische Werten an bloße Vorstellungen. Der
Genießende ist in tausend Fällen auf seine Vorstellungen allein angewiesen.
Was soll es heißen, in diesen Fällen von objektiven Methoden zu sprechen?
Der Genuß einer eben empfundenen und bloß vorgestellten Melodie ist
generell nicht verschieden von dem Genuß einer, die in Wirklichkeit gehört
ist. Die Kritik an Cohn ergab schon, daß sich das Gefallen zu dem realen
Gegenstand durchaus nicht in derselben Weise verhalten muß wie die Wahr¬
nehmung. Denn im Gefallen gibt es keine allgemeinen Übereinstimmungen
und darum keine Induktion, und aus dem Gefallen läßt sich darum nicht
schließen, daß wir mit dem Gefühl direkt und in eindeutiger Weise zu den
äußeren Gegenständen in Beziehung treten. Objektive Gesetzmäßigkeiten
und allgemeine Bedingungen des Gefallens decken sich nicht. Wie oft ist
der Pinsel und die Technik nicht imstande, den ästhetischen Eindruck des
Künstlers wiederzugeben. »Die Vorstellungen sind also von den objektiven
Beständen in hohem Maße unabhängig. Diese Vorstellungen richten sich
nach ästhetischen Gesetzen, die jedoch niemals auch nur die Existenzmög¬
lichkeit des gefallenden Dinges als realen Objektes, sei es als Kunstwerk
oder als Natur, fordern würden.« Ja bei demselben Objekt und bei kon¬
stanten Eigenschaften desselben ändern sich die ästhetischen Reaktionen,
so wie der psychische Habitus sich ändert. Das Gefallen ist eben nicht die
einfache Wirkung des Gegenstandes wie die Empfindungen, sondern der
Effekt der von ihnen hervorgerufenen Erscheinungen und der übrigen psy¬
chischen Gegebenheiten. Auch in Fällen, wo das künstlerische Wissen hin¬
zutritt, wo ein Wissen um die Technik und das Material vorhanden ist, wo¬
durch das Kunstwerk dem Betrachtenden zugänglicher wird, schließt sich
das Gefallen nicht an die kunstgeschichtlichen Tatsachen oder an das Material
und seine Entstehung; diese sind nur Umstände, Einzelheiten beim Kunst¬
werk mehr hervortreten zu lassen. Das Gefallen bleibt immer eine Wirkung
des psychologischen Komplexes, der sich aus den Wahrnehmungsdaten und
einer Reihe von Assoziationen zusammensetzt. Die großen Kunstwerke be¬
sitzen auch ohne kunsthistorische Kenntnisse in sich eine so eindringliche
Wirkung, daß sie eine ästhetische Reaktion erzeugen. »Was sich durch ein
solches Wissen verändern kann, ist allein die Hochschätzung der künst¬
lerischen Kraft des Genies. Das ist aber keine ästhetische Schätzung mehr,
sondern eine Wertung ganz anderer Art, die sich auch gar nicht auf daB
vorliegende Kunstwerk, sondern auf eine historisch-menschliche Tatsache
richtet.« Wenn Allesch zu einer möglichst adäquaten ästhetischen Unter¬
suchung die Kunstgeschichte herangezogen wissen will, so meint er damit
nur, daß die Auffassung des Kunstwerkes durch die kunstgescbichtlichen
Kenntnisse vervollständigt und verfeinert werden kann. Aber zum Gebiet
der Ästhetik im engeren Sinne gehört die Kunstgeschichte nicht; denn sie
gibt nur Hilfen zur Ausbildung der Anschauung.
Gegen Meumann führt er noch die »Vergleichsschönheit« in» Feld:
Wenn einer Vp. einzelne Farben vorgelegt werden, so erfolgt keine Re¬
aktion, und doch kann sie bei zwei Farben sagen, die eine Farbe war schöner
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Auffassung, ihr Erkanntwerden und die bewußten Beziehungen zu den Er¬
scheinungen. Von unserer Anschauung gehen wir aus und ergänzen sie am
Kunstwerk. Demgegenüber sucht Meumann mit seiner objektiven ästhe¬
tischen Methode am Gegenstand selbst ästhetische Prinzipien klarzulegen und
analysiert dann erst psychologisch: das Wissen um den kunstvollen Gegen¬
stand verwandelt sich in ein ästhetisches Erlebnis. Al losch weist diesen
Übergang vom Wissen zu einem ästhetischen Gefühl als unrichtig ab. — Wir
fügen hinzu, daß nicht einzusehen ist, weshalb gerade das von dem Wissen
um das technische und materielle Bedingtsein des ästhetischen Gegenstandes
das ästhetische Erlebnis durch Assoziationen bereichern sollte. Damit wäre
die Forderung aufgestellt, alle Assoziationen, die zum ästhetischen Erlebnis
beitragen, in der Ästhetik zu behandeln.
Erwähnt sei noch, daß Allesch in dieser Kritik auf den Unterschied
von Wahrnehmen und Erkennen eingeht und zu dem Schluß kommt, daß
das Erkennen eine Grundlage und Vorbedingung für eine ganze Reihe von
ästhetischen Wirkungen ist. Betont soll aber hierbei immer werden, daß das
unmittelbar Wirksame immer der gegebene Sinnesinhalt selbst ist und nicht
der darin gedachte Gegenstand.
Gegen Meumanns »objektive Methode« faßt Allesch noch einmal in
drei Punkten seine Argumente zusammen:
li Schon bloße Vorstellungen genügen, um eine vollständige ästhetische
Reaktion auszulösen, und wir können genau die parallelen Veränderungen
verfolgen, die an der Reaktion durch Veränderung des Vorstellungsinhaltes
und seine besonderen Auffassungen bewirkt werden.
2) Äußere Objekte stehen dort, wo sie vorhanden sind, zum Gefallen in
keiner näheren Beziehung, als der einer mittelbaren Gelegenheit, im Gegen¬
satz zur Existenz des Beschauers, die unbedingt erforderlich ist.
3) Es wird zwar zugegeben, daß ein Wissen, das Uber die Aufnahme der
sinnlichen Erscheinungen hinausgeht, für die ästhetische Reaktion in Betracht
kommt; aber erstens ist es dann nur ein Hilfsmittel, um die Analyse der
Erscheinungen rascher und bequemer durchzuführen, als es ohne Kenutnisse
auch geschehen könnte, und zweitens bildet das hinzukommende W T issen eine
vom Eindruck im Beschauer selbst geforderte Ergänzung des Wahrnehmungs¬
inhaltes und ist rein subjektiv begründet. —
Wie Meumann die Ästhetik auf diese Weise nicht abzugrenzen ver¬
mochte, so gelang ihm auch die Kritik an der psychologischen Methode nicht
Denn er hätte bei der Gefühlspsychologie mit seiner Kritik ansetzen müssen.
In diesem Teil der Psychologie ist das ästhetische Gefühl noch der besten
Untersuchung fähig, weil es sich immer wieder hervorrufen läßt. Wenn
Meumann der Psychologie ferner vorwirft, daß sie das Komische, Tragische,
das Erhabene nicht scheiden könne, weil sie diese einfach als Tatsache hin¬
nehme, so muß er zunächst den Nachweis erbringen, daß dies die von ihm
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mente für die Forderung einer psychologischen Ästhetik bei. Wenn die ästhe¬
tischen Vorgänge sich wesentlich im Bewußtsein abspielen, so ist die Frage,
ob es der wissenschaftlichen Ästhetik gelingen will, die verschiedenen Re¬
aktionsweisen zu erklären und gewisse Gesetzmäßigkeiten im Ästhetischen
zu konstatieren.
Es handelt sich bei der Untersuchung der Abgrenzung der Ästhetik nach
Allesch darum, die Anschauungen, d. h. jene Komplexe von Wahrnehmungs¬
und Assoziationsmaterial zu finden, die einem bestimmten Kunstwerk ange¬
messen sind, d. h. »die adäquaten Anschauungen«. Weil bei der ad¬
äquaten Anschauung sowohl kunstgeschichtliche wie psychologisch-ästhetische
Untersuchungen beteiligt sind, so ist es zunächst notwendig, unter dem auf
so verschiedene Weise assoziierten Material die rechte Auslese zu treffen.
Die Vertreter einer objektiven Methode könnten behaupten, die adäquate An¬
schauung ergebe sich, wenn auch nicht schon aus den Erscheinungen, so doch
aus dem, was in diesen Erscheinungen gemeint sei. Sie vergessen jedoch
dabei, daß die Kunstwerke niemals so eindeutig sicher und klar ihren Inhalt
formulieren. Dazu kommt noch die Intention des Künstlers, die oft sehr
schwer festzustellen ist und immer die Frage offen läßt, ob der Künstler das,
was er hatte ausdrücken wollen, wirklich ausgedrückt hat. So kann die ad¬
äquate Anschauung nur dann auf die Meinung des Künstlers zurückgehen,
wenn seine Meinung im Kunstwerk die rechte Erfüllung erfahren hat. Ob
ihm die Erfüllung gelungen ist, das entscheidet wiederum nur unser sub¬
jektiver Eindruck, das Erlebnis des Kunstwerkes. Also kann die Meinung
des Künstlers kein entscheidendes Kriterium für die adäquate Anschauung
abgeben. Letztere wird auch noch dahin abgegrenzt, daß wir das beim
künstlerischen Genießen hinzutretende Wissen ordnen und sichten.
Die adäquate Anschauung kommt durch das Zusammenwirken folgender
Faktoren zustande: *1) Den Grundstoff bilden die einfachen und genauen
Wahrnehmungen der gegebenen Sinnesdaten und der zwischen ihnen be¬
stehenden Relationen. 2) An Bie schließen sich unmittelbar eine Reihe von
Vorgängen in der Seele des Beschauers, die als Auffassungen, Einfühlungen
und ähnliches bekannt sind. 3) Es fordert die so weit gediehene Anschauung
nun ihrerseits wieder Ergänzungen aller Art. In diesem Material ist alles
enthalten, was in irgendeiner Weise, vom Künstler oder sonstwie, in den ge¬
gebenen Erscheinungen gemeint sein kann.« Um sich vor dem Vorwurf zu
hüten, als ob alle Assoziationen in das Untersuchungsgebiet der Ästhetik zu
rechnen seien, will Allesch dieses Material nach zwei Richtungen hin be¬
schränkt wissen: Beschränkt wird es erstens durch das Erfüllungsverhältnis,
d. h. nur die an die gegebenen Erscheinungen angeschlossenen Intentionen
gehören zu dieser Anschauung. »Dadurch werden z. B. jene so oft. in die
Anschauung aufgenommenen persönlichen Erlebnisse und Erinnerungen in
hinreichendem Maße ausgeschaltet und ebenso die Bezugnahme auf ethische
Prinzipien.« Die Forderung des Erfüllungsverhältnisses stellt Allesch zu-
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dieser will seine Behauptung nicht so kategorisch auftstellen und zeigt an
Hjalraar Ekdal (Wildentej, daß »nicht nur das Ästhetische der geschilderten
Person in dem Gesamtspiel, sondern auch das Ethische seines Charakters
dargestellt und genossen werden muß, um das Ganze als Kunstwerk zu ver¬
stehen. Zu betonen ist also, daß das Ethische nicht als Selbstzweck, son¬
dern als Nebenbedingung zu einer Gesamtwirkung auftritt.« — Zweitens
wird die Anschauung determiniert durch den Einfluß auf das Gefallen des
in Frage stehenden Gegenstandes, indem man vom ästhetisch Gleichgültigen
absieht und das ästhetisch Wirksame hervorhebt. Auch das bloße Erfüllungs-
merkmal reicht nicht aus, wo es sich um das Verstehen eines Stimmungs¬
ausdruckes handelt, der nur leise und fein angedeutet ist. Hierin ist die
Ästhetik am wenigsten fähig, den Relativismus auszuschalten. Der Rela¬
tivismus wird beschränkt durch die Interpretation des Kunstwerkes, die
manchmal zwar verschieden sein kann, aber doch meistens eindeutig ist.
WennAllesch auch nicht den relativistischen Standpunkt in der ästhe¬
tischen Forschung wie etwa Volkelt. in seinem ,System der Ästhetik 4 ver¬
tritt. so glaubt er doch, daß trotz der »adäquaten Anschauung« ein gewisser
Relativismus unvermeidlich sei. Auch bei der Betrachtung des ästhetischen
Gefühls bleibe dieser Relativismus bestehen. Jedenfalls hat die Ästhetik die
Aufgabe, den ästhetischen Prozeß zu studieren, und Alle sch hofft, daß die
Ästhetik schließlich zu der Erkenntnis von Gesetzmäßigkeiten in den Re¬
aktionen kommen wird. »Die Ästhetik muß danach trachten, daß gewisse
seelische Konstellationen mit gewissen Anschauungen verknüpft bestimmte
Gefühle ergeben.«
Dies ist der Iubalt der ergebnisreichen Arbeit Alleschs. Wer sie selbst
liest, wird mehr Überzeugung von den Gedanken des Verf. gewinnen, weil
er seine Argumente und Kritik mit einer ganzen Menge kuusthistorischer
Beispiele treffendster Art zu belegen weiß, was der Arbeit äußerst gut zu¬
statten kommt und sicherlich zur Lösung der schwierigen Probleme vor¬
wärts hilft. Heinrich Wirtz (Bonn).
25) Oskar Pfister, Die Frömmigkeit des Grafen Ludwig von Zinzendorf.
Ein psychoanalytischer Beitrag zur Kenntnis der religiösen Subli¬
mierungsprozesse und zur Erklärung des Pietismus. (Schriften zur
angewandten Seelenkunde, herausg. von Sigm. Freud. 8. Heft.)
Leipzig und Wien, Franz Deuticke, 1910. M. 4.50 (Kr. 5.40).
Die Schrift Pfisters ist ein höchst interessanter und wegen seiner
rückhaltlosen Offenheit höchst wertvoller Beitrag zur Psychologie gewisser
Entartungsformen des religiösen Lebens, insbesondere zum Verständnis der
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religiöse weltfremde Verständnislosigkeit Zinzendorfs gegenüber den natür¬
lichen Trieben des Menschen.
Pfister gibt zunächst in großen Zügen die Biographie Zinzendorfs. bei
deren Lektüre man mit dem Verf. bedauert, daß wir nicht mehr aktenmäßiges
Material über Zinzendorf besitzen, das uns vielleicht noch über manches
interessante Detail aufklären könnte, z. B. namentlich darüber, wie sich sein
sexuelles Leben in der Wirklichkeit, nicht bloß das in der Phantasie ab¬
spielte. Die Angst vor der Sexualität treibt den Grafen zu einer »Sexual¬
verdrängung« im Sinne der Theorie Freuds. Er verheiratet sich zwar trotz¬
dem, bleibt aber zu seiner Gattin in einem kalten Verhältnis, sein ganzes
sexuelles Leben verlegt er in den Verkehr mit Christus, und dieser Ver¬
kehr wird in der Phantasie des Grafen in der widerlichsten Weise mit allen
Details des perversen, vorwiegend homosexuellen Verkehrs ausgestattet,
teils in sadistischer, teils in masochistischer Form.
Die religiöse Erotik, in durchweg perverser Form, feiert wahre Orgien
in seinen geschmacklosen und kindischen Liedern, sie überträgt sich auf
seine Brüdergemeinde durch die Lieder und die fast noch perverseren Ho-
milien (Predigten und Ansprachen), sie wird natürlich auch auf die Erziehung
der Kinder übertragen, die zu dem gleichen widerlich-weichlichen und passiv¬
erotischen Wundenknltus (Kultus der Wunden Christi) angeleitet werden,
unter denen das erotisch ausgemalte Seitenhöhlchen eine Hauptrolle
Bpielt.
Besonders wichtig für die Beurteilung des religiösen Lebens ist dabei,
daß das sittliche Leben des Grafen ein sehr niedriges blieb. Selbst
seinen besten Freunden fiel sein Mangel an Wahrhaftigkeit auf, seine Nei¬
gung zur Heuchelei, sein brutales und jähzorniges Benehmen gegen die
Untergebenen, der völlige Mangel an Selbstkritik, der dem »Gefühlsmenschen«
überhaupt zu eigen ist, der Mangel an wahrer Menschenliebe u. a. m. Die
interessantesten Ausführungen des Werkes sind wohl die, in denen die
»sublimierte Erotik« Zinzendorfs im Detail geschildert wird, die er in seiner
»Eruptionsperiode« (im Sinne der Freudschen Theorie) ausbildet. Entsetz¬
lich ist das Spielen mit dem Leichnam Christi, mit dem Blut und dem Angst¬
schweiß; der Graf dringt immer wieder darauf, dem Verkehr des Gläubigen
mit Christus die denkbar sinnlichste und sexuellste Form zu geben, er soll
den Leichengeruch Christi in sich aufnehmen, sich in seinem Blute baden,
sich in die Seitenhöhle einsaugen (eines der Lieder, in denen dieses Ein¬
saugen empfohlen wird, schließt mit einem »prosit-proficiat«), selbst die Ge¬
schlechtsteile Gottes werden ausgiebig besprochen und besungen, man soll in
dem Seitenhöhlchen Christi »wühlen«, es belecken, saugen, »sich einfresBen« usf.
Selbst bis zur ausgesprochenen Nekrophagie versteigen sich die perversen
Gefühle des Grafen bei der Betrachtung des Abendmahls. Beinahe ebenso
widerlich berühren die »Infantilismen«, der gesucht kindliche Ton, der in des
Grafen und seiner Gemeinde Reden und Liedern vorherrscht; er äußert sich
besonders in der beständigen Verwendung des Diminutivums. Sehr wichtig
sind die religionsgeschichtlichen und religionspsychologischen Reflexionen,
7,11 denen daB Leben Zin 7 ,endnrfs dem Verf. Anlaß eiht_ Nach Albert
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« » viv. PRINCETON UNIVERSITY
L/euen Ainzen
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Formen finden; unter ihnen ist es natürlich die zweite, die wegen ihres
sexuellen Charakters den Grafen am meisten fesselte.
Es würde sich lohnen, einige Proben aus den Liedern und Predigten
Zinzendorfs mitznteilen, denn sie sind von allgemeinem religionspsychologi¬
schen oder mehr noch von religionspathologischem Interesse. Doch emp¬
fehlen wir mehr die ganze Zusammenstellung des Verf. im Original nach¬
zulesen. Sie ist höchst lehrreich.
Zu bemerken ist, daß das ganze Buch auf der Freudsehen Gefühls- und
Affekttheorie beruht, doch braucht man kein Anhänger dieser Theorie zu
sein, um zu der gleichen Grundauffassung zu kommen wie der Verf.: daß
in Zinzendorf Bich eine Form des religiösen Lebens verkörpert hat, in der
alle echte und wahre christliche Frömmigkeit verdrängt war durch ein per¬
vers sexuelles Leben, das sich in der Form der Sexualgefühle für die Person
Christi und sein Leiden austobte.
Das zusammenfassende Urteil des Verf. über Zinzendorfs Religiosität ist
— wie nach diesen Ausführungen nicht anders erwartet werden darf — ein
sehr absprechendes. Nach der Auffassung Pfisters solider religiöse Glaube
dem sittlichen Leben »Glanz, Sicherheit und jene Fülle von Kraft« verleihen,
»die Jesus zum größten ethischen Reformator der Weltgeschichte . . . ge¬
macht hat«. »Gerade die Psychoanalyse, die uns zeigt, wie wir in erster
Linie nicht von abstrakten Ideen, sondern von Liebeskräften und damit von
geliebten Personen abhängen, gibt uns das rechte Verständnis für die Sehn¬
sucht der anima christiana nach Jesus.«
»Wie jammervoll hat Zinzendorf diesen grandiosen Aufbau geschändet!
Indem er die primäre Sexualität ächtet, fällt er in Angst, Weltverachtung,
Überschätzung der Zeremonie, Entwertung des Ethos zurück. Statt die
Primärerotik in den Dienst des sittlichen Ideals zu stellen und damit zu
heiligen, treibt er ihre niedrigsten Komponenten, die sadistischen und
masochistischen Gelüste, die homosexuellen Begierden, die polymorph per¬
versen , die Sinnesorgane einzeln reizenden Triebe usw. ins Innerste der
Religion und feiert in Form überbetonter Phantasien die unschönsten Orgien,
die selbst aus der aufgenötigten Reserve des Alters widerlich hervorschim¬
mern. So verwüstet er die sittliche Schönheit des christlichen Ehelebens
ebenso wie die der Frömmigkeit Jesu und verrennt sich in die höchst minder¬
wertige ethische Situation, die wir bereits kennen lernten. Zusammenfassend
müssen wir bekennen: Zinzendorf hat die Religion auf das häßlichste sexua-
lisiert, der Sittlichkeit aber alle, auch die sublimierte Libido entzogen und
sie total entwertet. So verfiel der Graf trotz redlichen Strebens dem tragi¬
schen Geschick, ein Verderber der Sittlichkeit und der Frömmigkeit zu sein.«
E. Meumann (Leipzig.
26) Cesare Lombroso,
60 Abbildungen.
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Hypnotische und spiritistische Forschungen. Mit
Stuttgart, Julius Hoffmann. M. 6.—; geb. M. 7.—.
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Literaturbericht.
49
selbst spricht sich in dom Vorwort in sehr charakteristischer Weise Uber die
Bedenken und das Erstaunen seiner Freunde aus, als er ihnen den Entschluß
mitteilte, sich der verrufenen Wissenschaft der »Metapsychik« zu widmen.
Der Inhalt des Werkes ist ein sehr mannigfaltiger. Nachdem zunächst
in ziemlich eingehender Weise die Erscheinungen des Hypnotismus be¬
sprochen worden sind, wird eine lange Betrachtung dem Spiritismus ge¬
widmet. Das fiir den Psychologen am meisten Interessante bei diesen Aus¬
führungen sind die Experimente, dieLombroso (ähnlich wie übrigens schon
früher in Frankreich Flammarion) mit allem Aufwand wissenschaftlicher
Exaktheit und wissenschaftlichen Apparaten ausgeführt hat, um die spiriti¬
stischen Phänomene wissenschaftlich zu kontrollieren. Er hat dabei alle
Mittel der Forschung, wie die Photographie und die graphischen Methoden,
verwendet und legt besonderen Wert darauf, daß es bei seinen Versuchen
gelungen ist, die bisher nur im Dunkeln beobachteten Erscheinungen auch
bei Licht und bei vollkommener Sichtbarkeit des Mediums hervorzurufen.
Freilich können die mitgeteilten Abbildungen wohl niemanden recht über¬
zeugen, denn man kann z. B. bei keiner der Photographien von dem Tisch-
rücken alle vier Füße des Tisches gleichzeitig sehen, so daß immer die
Möglichkeit bestanden hat, daß das Medium den Tisch teils mit der Hand,
teils mit der Fußspitze heben konnte. Ferner trifft es nicht zu, daß die
Untersuchenden immer ihre Füße auf denen des Mediums hielten (vgl. Ab¬
bildung 36); sehr verdächtig sind auch andere Vorgänge, z. B. der, daß das
Medium die Wage, auf der es sitzt, nur dann bewegen kann, wenn sich sein
Kleid mit dem Erdboden in Verbindung setzt. Besonders aufmerksam machen
wollen wir auf die zahlreichen Experimente mit dem bekannten Medium
Eusapia Paladino in Mailand, die wirklich zu ganz erstaunlichen Leistungen
befähigt zu sein scheint. Wirklich wertvoll ist das Material, das der Verf.
Uber die Medien und Magier bei den Wilden, bei den unteren Völkerschichten
und bei antiken Völkern zusammengestellt hat, und nicht uninteressant ist
auch der Versuch, die Grundzüge einer »Geisterbiologie« zu entwickeln.
Auf die Details der Einführungen können wir hier nicht näher eingehen.
Es sei noch hervorgehoben, daß das Werk mit zahlreichen, technisch zum
Teil recht guten und klaren Abbildungen ausgestattet ist.
E. Meumann (Leipzig).
27) Dr. med. Richard Flachs (Dresden), Die Stellung der Schule zur
sexuellen Pädagogik. Zeitschrift für Schulgesnndheitspflege. 1910.
Nr. 12. S. 864 ff.
Der Verf. wendet sich zunächst gegen die jetzt eingebürgerte Termino¬
logie, »sexuelle Aufklärung« der Jugend, nicht um eine »Aufklärung«,
sondern um Erklärung der sexuellen Vorgänge handle es sieb.
Sodann wirft er die Frage auf: Haben wir eine befriedigende pädagogische
Praxis in der schwierigen Frage der sexuellen Belehrung der .Jugend? Er
verneint diese Frage mit Recht.
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Literaturbericht.
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*1) Es ist unmöglich, die Kinder von den Tatsachen des Geschlechts¬
lebens fernzuhalten. Deshalb müssen sie damit bekannt werden, und zwar
in einer Form, welche nicht mit den einfachsten naturwissenschaftlichen Tat¬
sachen in Widerspruch steht.
2) Diese Aufgabe leistet die heutige Erziehung nicht.
a) Sie wirkt verwirrend auf die kindliche Vorstellung.
b) Sie reizt durch ihre Verhüllungen die Phantasie und kann zu Ver¬
wirrungen führen.
c) Sie ist eine ungenügende Vorbereitung für das Leben.
3) Die erste Erklärung geschlechtlicher Tatsachen soll in der Familie
stattfinden, am besten durch die Mutter, und zwar dann, wenn das Kind zu
fragen anfängt. Die Hauptaufgaben dabei sind: auf die Fragen des Kindes
eingehen, sie möglichst einfach erklären, keine Unsicherheit zeigen, alles mit
Anlehnung an Vorgänge im Pflanzen- und Tierreich und dem kindlichen Auf¬
fassungsvermögen angepaßt.
4) Da bisweilen die Zeit zu solchen Unterweisungen mangelt, vielfach
auch das Verständnis und die Kenntnis naturwissenschaftlicher Dinge, so
ist es notwendig, daß die Schule das Haus hierin ergänzt.
Der naturwissenschaftliche Unterricht soll demgemäß erweitert werden,
und Fortpflanzung und Zeugung sollen einen größeren Raum einnehmen als
bisher.
5) Der Unterricht in Menschenkunde und die damit verbundenen Be¬
lehrungen über Zeugung und Fortpflanzung soll der Arzt in höheren Klassen
und im Lehrerseminar erteilen.
Er soll ebenso die abgehenden Schüler in angemessener Weise mit einer
Hygiene des Geschlechtslebens und mit den Gefahren der Geschlechts¬
erkrankungen bekannt machen.« E. Me um an n (Leipzig).
28) Wilhelm v. Gwinner, Schopenhauers Leben. Dritte neu geordnete
und verbesserte Ausgabe. Mit vier Porträts und einer Steindruck¬
tafel. Leipzig, F. A. Brockhaus, 1910. M. 6.—.
Das Werk von Gwinner über Schopenhauer ist so bekannt, daß es
keiner Empfehlung mehr bedarf, und es war sehr zweckmäßig, daß es neuer¬
dings in verbesserter Ausgabe herausgegeben wurde, wobei der Verf. das
seit der ersten Auflage in bedeutendem Maße vermehrte biographische Material
verwertet hat. Manche Ausführungen der ersten und zweiten Auflage, durch
die der Text belastet und, unterbrochen wurde, hat der Verf. mit Recht weg¬
gelassen. Z. B. die Prozeßschriften Schopenhauers aus seiner Berliner
Periode und den Briefwechsel mit Johann August Becker.
Der Ausgabe sind vier Bildnisse beigefügt worden. Darunter ein Por¬
trät der Mutter aus der Zeit von 1820, das in ganz auffallender Weise die
Ahnliphkpit mit dpn /Honm dpn Söhnen seitrt_ F.in Porträt dp« Vätern das
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Literaturbericht.
51
Schopenhauers Schädel nach einem Gipsabguß. Sie zeigt die auch auf
den Bildern hervortretende kolossale Breitenentwicklung des Schädels. Wenn
ich nicht irre, haben die Maße eine gewisse Ähnlichkeit mit denen des
Schädels von Kant. E. Meumann (Leipzig).
29) Ludwig Goldschmidt, Baumanns Anti-Kant. Eine Widerlegung.
115 S. Gotha, E. F. Thienemann, 1900. M. 2.80.
Bei aller Anerkennung des sachlichen Charakters der Baumann sehen
Ausführungen hält Goldschmidt sie in sämtlichen Punkten für verfehlt.
Vor allem versucht er eingehend die Vorwürfe gegen die Kantsche Raum¬
theorie zurückzuweisen. Goldschmidts Standpunkt ist bekannt. Man kann
die Baumannsche Kritik als ganz unberechtigt ansehen und braucht der
Auffassung seines Gegners deshalb doch nicht beizustimmen.
Noch die Notiz, daß ich die Schrift erst in diesem Jahre (1910j zur Be¬
sprechung erhielt. Aloys Müller (Bonn).
30) Paul Deußen, Die Elemente der Metaphysik. 4. Auflage. XLVII,
284 S. Leipzig, F. A. Brockhaus, 1907. M. 6.—.
Daß W. Wundt recht hat mit seiner Behauptung, es w r erde wohl nie¬
mals der Moment kommen, wo die Metaphysik aus dem menschlichen Denken
ausgeschaltet sei, da ihr aus zwei starken Wurzeln — der »empirischen«
und »philosophischen« — stets neue Lebenskraft Zuströme, beweist unter
anderem auch die kontinuierliche Nachfrage nach guten wissenschaftlichen
Darstellungen der Metaphysik. Eine solche ist unzweifelhaft diejenige
Deußens, Professor in Kiel, die erstmalig vor 35 Jahren erschien, sich in
Übersetzungen — wohl nicht zuletzt ihrer glänzenden Diktion wegen — der
besonderen Gunst der Engländer und Franzosen erfreut und nunmehr in
vierter Auflage vorliegt.
Deußens Gedankengänge bew-egen sich in der Denkrichtung Kants
und Schopenhauers; gleichzeitig bemüht er sich, die Grundideen des
Christentums mit denen der Vedanta zu verschmelzen. Dies bedingt einen
dogmatischen Idealismus, der — eben weil er dogmatisch ist — alles wesent¬
lich vereinfacht, aber auch Kants kritizistischem Standpunkte widerspricht.
Tritt der Leser kritisch an Deußens Buch heran und sieht er besonders
auch über gewisse psychologische Auffassungen hinweg, wie sie auch in der
an Ziehen anschließenden Literatur zu finden sind, so wird ihm die Lektüre
vielfachen Gewinn bringen. Deußen verfügt Uber ein eminentes Wissen
und ist einer der besten Kenner der indischen Philosophie, als weicher er
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Literatnrbericht.
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31) Philosophisches Jahrbuch. Mit Unterstützung der Görresgesellschatt
unter Mitwirkung von Pohle (Breslau), Schreiber (Fulda), heraus¬
gegeben von Konstantin Gutberiet. 23. Bd. Fulda, 1910.
Das Philosophische Jahrbuch bringt auch in dem vorliegenden Jahrgang
eine Anzahl Abhandlungen, die für den Psychologen wichtig sind. Unter
anderem berichtigt der Herausgeber selbst Uber die Kinderpsychologie und
die experimentelle Pädagogik der neuesten Zeit, wobei natürlich sein spezi¬
fisch katholischer Standpunkt hervortritt. Es ist sehr bezeichnend, daß
Gutberiet sich dabei durchweg in Übereinstimmung mit der Polemik
weiß, welche Wundt an meinen Ausführungen in dem Werke Intelligenz
und Wille ausgeübt hat. Es ist nicht gerade sehr erfreulich, den Altmeister
der Psychologie dabei ganz in Übereinstimmung zu wissen mit der Polemik,
die Gutberiet vom grünen Tisch aus gegen die »Einseitigkeit« der experi¬
mentell psychologischen Pädagogik und »ihre unheilvollen Folgen« ausübt.
Zu beachten ist ferner die Abhandlung von Muszinski über Tempera¬
mente und Charaktere. Ferner die Abhandlungen von Th (ine über eine
neue Deszendenztheorie. Die meisten übrigen Abhandlungen gehören mehr
in das Gebiet der allgemeinen Philosophie. In den kleineren Mitteilungen
sind einige recht interessante Beobachtungen zur Tierpsychologie beigebracht,
und ebenso wird dort natürlich mit großer Freude festgestellt, daß Herr
Willy Hellpach ganz ähnliche Bedenken wie Wundt gegen meine Folge¬
rungen aus den Experimenten über Übung gemacht hat. Die Mißverständ¬
nisse, die dieser Polemik zugrunde liegen, sind derartige, daß es mir nicht
der Mühe wert erscheint, darauf einzugehen. Recht interessant ist, daß sogar
Hellpach glaubt, mich verteidigen zu müssen gegen den Vorwurf Wundts,
daß ich einen Rückfall in die Vermögenspsychologie begangen hätte. Auch
Hellpach hat eingesehen, daß man noch lange nicht Vermögenspsychologie
treibt, wenn man Begriffe wie Gedächtnis und Phantasie »in der alther¬
gebrachten Weise auseinanderhält«, und daß es überhaupt gar keine
andere Möglichkeit gibt, der Psychologie der individuellen Differenzen
gerecht zu werden. Noch interessanter ist, daß die Ausführungen von
Wundt hier von seiten der katholischen Pädagogik auf eine Linie gestellt
werden mit der Polemik gewisser Herbartianer, die gefordert haben, daß
man die Experimente in der Schule verbiete »und dies besonders in jedem
Lehrplan vermerke«. Wundt, Gutberiet, Hellpach und die Herbar¬
tianer die gleichen Warnungen vor meinen Folgerungen aussprechen zu sehen,
das ist ein eigenartiges Schauspiel. E. Meumann (Leipzig).
32) Detleff Neumann-Neu rode (Oberleutnant an der Unteroffizierschule
in Potsdam), Kindersport. Körperübungen für das frühe Kindes¬
alter. 79 S. Berlin W. 30 (Hermann Walther, Verlagsbuchhandlung.
G. m. b. H.), 1910. M. 2.—.
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Literaturbericht.
53
Körpers, die Gewandtheit soll früh entwickelt und der sogenannte Schneid
ganz allmählich zur Gewohnheit werden, es ist aber nicht die Ausbildung
von Akrobaten vorgesehen« (S. 6). Außer allgemeinen Ratschlägen, die sehr
vernünftig und wohl zu beherzigen sind, gibt das Büchlein einige 60 photo¬
graphische Aufnahmen mit entsprechenden Bemerkungen. Berücksichtigt
sind Übungen für Kinder, die noch nicht, und' solche, die sicher laufen
können, und zwar handelt es sich dabei um die Ausbildung sämtlicher
Muskelgruppen durch jedeBmal angepaßte Bewegungen, zunächst passiver,
dann aktiver Natur. Meine Anzeige will ich enden mit dem Schlußsatz von
Klapps Vorwort: »Da es bis jetzt an einem Turnbuche für das Alter fehlt,
in welchem die Kinder am besten nur unter sorgsamer Aufsicht turnen, so
wird sich das vorliegende kleine Buch bald Freunde erwerben.«
Paul Menzerath (Brüssel).
33) Erich Ziebarth, Aus dem griechischen Schulwesen. Leipzig, B. G.
Teubner, 1909. M. 4.—.
Die vorliegende Schrift stellt einen besonders wertvollen Beitrag zur
Geschichte des Erziehungswesens dar, weil der Verf. Wege zur Aufhellung
des griechischen Schulwesens betritt, die von den üblichen dnrchaus ab¬
weichen. Es sind nicht pädagogische Theoretiker, aus denen er schöpft,
sondern antike Urkunden, Urkunden im weitesten Sinne des Wortes: die
Urkunde der milesischen Schulstiftung des Eudemos, im Anschluß an die
andere Schulstiftungen mitgeteilt werden, deren Schauplatz hauptsächlich
Athen ist, endlich benutzt der Verf. die erhaltenen Reste der Bauwerke an¬
tiker Gymnasien und umfangreiches inschriftliches Material, um zahlreiche
bisher unbekannte Verhältnisse des griechischen Schulwesens zu erläutern.
Den äußeren AnBtoß zu der Schrift haben wohl die eigenen Arbeiten
Ziebarths bei den Ausgrabungen in Milet (von 1904 an) gebildet. Bei
dieser Gelegenheit wurde er auf die Inschrift aufmerksam, welche die Schul¬
stiftung eines Eudemos mitteilt, und faßte zunächst den Plan, diese be¬
sonders zu bearbeiten. Hierzu fand sich bald weiteres Material, das den
Verf. veranlaßte, »ein zusammenfassendes Bild dieser großen Inschriften¬
gruppe zu versuchen, zu welcher die zahlreichen neuen Reste von schrift¬
lichen Denkmälern aus der antiken Schulstube eine sehr erwünschte Er¬
gänzung bildeten«. (Unterstützt wurde der Verf. dabei durch die BUcher-
schätze der Hamburger Stadtbibliothek und bei seinem Aufenthalt in Milet
durch die Oberschulbehörde in Hamburg und ihren Präses Herrn Senator
v. Melle.)
Zuerst wird die Schulstiftung des Eudemos von Milet im griechischen
Originaltext und mit deutscher Übersetzung mitgeteilt. Sie wirft manches
interessante Licht auf die Bedingungen für die Bewerbung der Eiementar-
> - ’--i , -i cii-ii - —c ;i—„ r>_1,1_ T n n m
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Literaturbericht.
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Zahlreiche wichtige Details des griechischen Schullebens behandelt so¬
dann das vierte Kapitel »Aus griechischen Schulen«. Die großartigen Schul¬
anlagen der Gymnasien von Pergamon werden geschildert; wir lernen kennen
die Urkunden über Schülerlisten, die Klasseneinteilungen, die Schülerverbin¬
dungen, die Turn- und Fechtvereine, die Schülerinschriften, welche die Wände
der Schulen und anderer öffentlicher Bauten bedecken, die Schülerstationen,
den Unterrichtsbetrieb und vieles andere Interessante mehr.
Angehängt ist dem Buche ein Sachregister und ein Verzeichnis der be¬
handelten Urkunden. E. Meumann (Leipzig,!.
34) Paul Carus, Our Cbildren hints from Practical Experience for Parents
and Teachers. Chicago, The open Court Publishing Company,
1906.
Es ist keine eigentliche Kinderpsychologie im landläufigen Sinne des
Wortes, was der Verf. bietet, sondern eine Reihe anspruchsloser Skizzen,
hervorgegangen aus Beobachtung und Lektüre über das kindliche Seelen¬
leben. Sie sind besonders geeignet zum Studium für Eltern und Erzieher.
Aus dem Inhalt des Buches sei noch erwähnt, daß er sich mit zahlreichen
Fragen beschäftigt, die sonst in ähnlichen Werken vernachlässigt zu werden
pflegen, w'ie das Lesen, das Rechnen, die sprachliche und musikalische Er¬
ziehung des Kindes, die gegenseitige Erziehung der Kinder u. a. m.
E. Meumann (Leipzig).
36) Klinik für psychische und nervöse Krankheiten. Herausgegeben
von Robert Sommer. Halle a. S., Carl Marhold, 1909 und 1910.
IV. und V. Band.
Die obengenannte Zeitschrift bringt fast in jeder Nummer Abhandlungen,
die auch für den Psychologen und Pädagogen von Wichtigkeit sind. Unter
anderen sei aufmerksam gemacht auf eine Abhandlung von Klett über die
graphische Darstellung der Stirnmuskelbewegung, auf die Abhandlungen von
Berliner über die Begutachtung paranoischer Geistesstörungen; von Todt:
Zur Lehre von den Halluzinationen; von Mönkemöller: Geschichtlicher
Beitrag zur Klinik des primären Schwachsinns (Dementia praecox); von
Becker: Pseudologia phantastica und Simulation.
E. Meumann (Leipzig).
36) Bericht über den 4. Kongreß für experimentelle Psychologie
in Innsbruck (vom 19. bis 22. April), herausgegeben von F. Schu¬
mann. Leipzig, Ambrosius Barth. M. 11.—.
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Literaturbericht.
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rieht Spearmanns über eine neue Korrelationsformel; Lipmanns Vortrag
über visuelle Auffassungstypen; Exners kurze Ausführungen über die Er¬
werbung erworbener Eigenschaften und Cohns Untersuchungen über Ge¬
schlechts- und Altersunterschiede bei Schülern.
Aus dem Vortrag von Lipmann mag erwähnt werden, daß er nach
eigenen Experimenten empfiehlt, nicht bloß von einem visuellen Typus
schlechthin zu reden, sondern mehrere Unterarten desselben zu unterscheiden,
z. B. einen Formen-, Farben- und Helligkeitstypus. Es erscheint aber doch
etwas gewagt, nun manche Künstler diesen Typen unterzuordnen, z. B. Raffael
dem Formentypus, Tizian dem Farbentypus, Rembrandt dem Helligkeitstypus;
denn zweifellos repräsentiert Rembrandt auch den Farbentypus, ganz abge¬
sehen von anderen, rein kunstgeschichtlichen Bedenken.
Recht interessant versprechen die Untersuchungen von J. Cohn über
die Geschlechts- und Altersunterschiede bei Kindern zu werden, Uber die
allerdings bis jetzt nur eine kurze Mitteilung vorliegt.
Cohn machte gemeinsam mit Dieffenbacherin Freiburg Untersuchungen
über das Gedächtnis Für Zahlenreihen nach der Methode des unmittelbaren
Behaltene (auch Cohn nennt diese Methode mit dem unrichtigen Ausdruck:
Methode der behaltenen Glieder; es handelt sich aber dabei gar nicht um
das Behalten von Gliedern, sondern um das Behalten eines Ganzen, genau
so wie beim Lernen; die Vp. bemühen sich, das Ganze als Ganzes einzu¬
prägen, ja es ist für einen gewissen Typus des Behaltene charakteristisch
daß er gerade das Ganze und nicht »die Glieder« zu behalten sucht). Ge¬
prüft wurde das Gedächtnis für Zahlenreihen, angewandt wurde ferner die
Ebbinghaussche Ergänzungsmethode (so nennt sie auch Cohn mit Recht
statt »Kombinationsmethode«), eine Bildbeschreibung mit Bericht und Verhör
(nach Sterns Bezeichnung) und zwei Versuche über Konzentration der Auf¬
merksamkeit bei Ablenkung (Dilatation der Aufmerksamkeit).
Unter den Resultaten werden nur die den Alters- und Geschlechtsunter¬
schied betreffenden erwähnt.
Beim Zahlenlernen zeigte sich ein deutlicher Altersfortschritt bei den
Knaben nur bis zum sechsten Schuljahr »nachher traten Schwankungen auf«.
»Bei den Mädchen dagegen hielt der Fortschritt bis obenhin an.« Der
Ebbinghaussche Ergänzungsversuch« erwies sich als ein ganz vortreffliches
Mittel zur Untersuchung gewisser Funktionen des intellektuellen Lebens.
Er zeigt einen im großen und ganzen recht regelmäßigen Fortschritt der
Leistung mit dem Alter, einen Fortschritt, der sich natürlich vom 16. Lebens¬
jahr an verlangsamt, aber bis über das 19. hinaus deutlich bleibt«. Die
Mädchen blieben bei diesen Prüfungen durchweg erheblich hinter den Knaben
zurück, nur für das Lebensalter von 11 bis 12 Jahren kehrt sich dieses Ver¬
hältnis um. Die höheren Mädchenklassen bleiben sehr erheblich hinter den
Oberklassen der Oberrealschule zurück.
Ein Vorzug der Mädchen zeigt sich bei der BildbeBchreibung und Aus-
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Literaturbericht.
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Bei den Versuchen über die Dilatation der Aufmerksamkeit wurde die
Methode von Binet angewandt, gleichzeitig lesen und schreiben zu lassen.
(Vgl. die frühere Arbeit von Cohn und Gentin der Zeitschrift für angew.
Psychol. I.) Für die untersten der untersuchten Klassen (zweites und viertes
Schuljahr) >ergaben sich sehr stark verlängerte abgelenkte Zeiten, weil hier
Lesen und Schreiben noch wenig eingeübt und mühevoll sind. Vergleichbar
werden die Resultate erst vom sechsten Schuljahr ab«, und in den mit¬
geteilten Zahlen zeigt sich nun das sonderbare Resultat, daß das sechste und
achte Schuljahr den späteren in der Wiederstandsfähigkeit der Aufmerksam¬
keit gegen die Dilatationsreize überlegen sind.
Über die Ergebnisse der Versuche mit den Aufsätzen teilt Cohn nur mit.
daß die Mädchen sich an Umfang der Leistung und an stilistischer Gewandt¬
heit den Knaben überlegen zeigten.
K. Bühler teilt Gedächtnisversuche mit, bei denen zunächst (genau wie
der Unterzeichnete das schon vor Jahren versucht hat, vgl. Vorlesungen über
experimentelle Pädagogik, Bd. I, S. 189) Wortreihen verwendet wurden, bei
denen die Wirkung bestimmter Arten bewußter Beziehungen auf das Be¬
halten untersucht wurde. Da es aber nicht gelang, die einzelnen Beziehungen
zu isolieren, so ersann Bühler ein räumliches Schema, an dem nun die
Gedächtnisversuche gemacht wurden. In der Diskussion ergab sich, daß
Twardowski in Lemberg und G. E. Müller in Güttingen schon ähnliche
Ideen hatten ausführen lassen.
Unter den zusammenfassenden Referaten möge besonders das von Herrn
Dr. Ranschburg in Budapest erwähnt werden, das in außerordentlich
instruktiver Weise die Ergebnisse der experimentellen pathologischen Ge¬
dächtnisforschung zusammenstellt und kritisch betrachtet.
E. Meumann (Leipzig'.
37) Bericht Uber den 6. internationalen Kongreß für Psycho¬
logie in Genf (unter dem Vorsitz von Th. Flournoy), herans-
gegeben von Ed. Claparede. Genf, Verlag von Kündig, 1910.
Fr. 20.—.
Der Bericht zeigt durch seinen außerordentlich großen Umfang (869 Seiten),
wie groß die Arbeit gewesen ist, die auf dem Kongreß bewältigt wurde. Ein
ausführliches Inhaltsverzeichnis und Namenregister erleichtern den Gebrauch
des umfangreiches Werkes. Einzelne Autoren haben ihre Mitteilungen durch
Abbildungen erläutert, so daß im ganzen der Text durch 21 Figuren belebt ist.
E. Menmann (Leipzig).
38) Enzyklopädisches Handbuch des Kinderschutzes und der
Jugendfürsorge, herausgegeben unter Mitwirkung hervorragender
Fachleute von Th. Heller, Fr. Schiller und M. Tanbe. 8°. In
10 Lieferungen von 5 Bogen, jede Lieferung zu M. 3.— oder in zwei
Bänden, ereheftet M. 30.—: in zwei Bänden in Leinenband M. 33.—.
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57
Lieferung vor. Sie enthält eine Reihe ausgezeichneter Artikel, die auch für
den Psychologen und Pädagogen in Betracht kommen. Wir erwähnen von
diesen den Artikel von Stern (Breslau) zu dem Stichwort Aussage des
Kindes. Ferner »Altersstufen«, unter welchem Stichwort sowohl die
pädagogische, wie die straf- und die zivilrechtliche Seite der kindlichen
Altersstufen behandelt wird. Sexuelle Aufklärung, von Altschul. Erb¬
liche Belastung, von H. Vogt. Belohnungen, von Kemsies. Be¬
rufsbildung, von Petersen.
Über den Inhalt wichtigerer Artikel werden wir mit dem Fortgang des
Werkes wiederholt berichten.
Was die Tendenz des Unternehmens betrifft, so sei aus dem Vorwort
das Wesentlichste darüber mitgeteilt: »Es ist kaum zwei Dezennien her, daß
Kinderschutz und Jugendfürsorge in den Vordergrund des allgemeinen Inter¬
esses getreten sind. Wohl hatte man früher schon in der öffentlichen Für¬
sorge und privaten Liebestätigkeit für die Jugend eine wichtige humanitäre
Aufgabe erblickt; aber systemlos, ohne innere Zusammenhänge, ohne geeignete
Gesetzesvorschriften konnten diese Bestrebungen nicht znr gedeihlichen Reife
kommen. Der gewaltige Fortschritt der letzten Jahrzehnte besteht darin,
daß die Gesellschaft die Fürsorge für arme, kranke, mißhandelte, gefährdete
und verwahrloste Jugendliche als eine soziale Notwendigkeit erkannt hat,
von der das Wohl und Wehe der kommenden Geschlechter und damit des
ganzen Volkes abhängt. Man hat einsehen gelernt, daß durch philanthropische
Maßnahmen allein die großen sozialen Aufgaben der Jugendfürsorge nicht
bewältigt werden können. Zu den praktischen Bestrebungen traten die
theoretischen Forschungen, und erst diese schufen die Grundlage für eine
planmäßige Arbeit im Dienste der Jugend. Je weiter aber die Forschung
vordrang, um so größer mußte sich das Gebiet des Kinderschutzes und der
Jugendfürsorge gestalten. Immer neue Probleme traten heran, immer um¬
fassender wurden die Aufgaben der privaten und öffentlichen Fürsorge.
Dem einzelnen nicht mehr übersehbar, wird ein Wegweiser auf diesem weiten
Felde edelster menschlicher Betätigung dringend notwendig.
Das vorliegende Werk ist unter der Mitwirkung zahlreicher hervor¬
ragender Fachleute entstanden. Es hat sich die Aufgabe gestellt, eine Über¬
sicht über das ganze Gebiet der Jugendfürsorge zu geben, festzulegen, was
bereits erreicht ist, zu zeigen, was 'hoch zu erstreben bleibt. Die Probleme
des Kinderschutzes und der Jugendfürsorge werden von allen Seiten be¬
leuchtet, so daß unschwer zu erkennen ist, wo die Theorie weiter zu schaffen
hat, wo gesetzliche Maßregeln nötig sind, wo die praktische Hilfstätigkeit
vornehmlich einzusetzen hat, wo noch organisatorische Arbeit zu leisten ist.
Diese vielseitige Betrachtungsweise bietet den Lesern Gelegenheit, ver¬
schiedene Auffassungen der Autoren kennen zu lernen und Bich auf Grund
der mitgeteilten Tatsachen eigene Meinungen zu bilden. Es wird daher nicht
als Fehler angesehen werden dürfen, wenn zu gleicher Sache zwei oder selbst
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Ans Zeitschriften.
Sigmund Freuds Bemühungen um die wissenschaftliche Erörterung
seiner Theorien haben zur Gründung einer neuen Zeitschrift geführt, dem
»Zentralblatt für Psychoanalyse, medizinische Monatsschrift für
Seelenkunde«. Herausgeber Prof. Dr. Sigmund Freud, Schriftleitung:
Dr. Alfred Adler, Wien, und Dr. Wilhelm Stekel, Wien. Zahlreiche
bekannte Autoren haben ihre Mitwirkung zugesagt. Jährlich erscheinen
12 Hefte. Jahrespreis M. 16. Wiesbaden, Verlag von J. F. Bergmann. Der
Inhalt des ersten Doppelheftes sei hier mitgeteilt:
An unsere Leser (Mitteilungen der Schriftleitung über das Programm
der Zeitschrift).
Originalarbeiten: I. Die zukünftigen Chancen der psychoanalyti¬
schen Therapie. Von Sigmund Freud. — II. Die psychische Behandlung
der Trigeminusneuralgie. Von Dr. Alfred Adler in Wien. — III. Zur
Psychologie des hysterischen Madonnenkultus. Von Dr. Oskar Pfister,
Pfarrer in Zürich.
Mitteilungen: I. Der Neurotiker als Schauspieler. Von Dr. Wil¬
helm Stekel. — n. Ein Beispiel von Versprechen, (ei — bei — brei — blei.)
Von Dr. Wilhelm Stekel. — III. Beispiele des Verrats pathogener Phan¬
tasien bei Neurotikern. Von Sigm. Freud. — IV. Typisches Beispiel eines
verkappten Ödipustraumes. Von Sigm. Freud. — V. Zur Differential¬
diagnose organischer und psychogener Erkrankungen. Von Dr. Wilhelm
Stekel.
Referate, Kritiken und Grenzgebiete.
Die Schriften der Physikalisch-ökonomischen Gesellschaft
zu Königsberg i. Pr. enthalten auch psychologisch interessante Abhand¬
lungen. — Im 1. Heft des 51. Jahrganges (1910) berichtet Kaufmann über
die Grenzen der optischen Abbildung. Herr Kaufmann zeigte, daß
für die Leistung eines Fernrohres oder Mikroskopes nicht allein die Ver¬
größerung maßgebend ist, durch welche dem Objekt diejenigen Dimensionen
gegeben werden, die zur Erkennung durch das Auge notwendig sind, son¬
dern daß es auch darauf ankommt, daß das Bild die nötige Schärfe und
Deutlichkeit besitzt, im ferneren Strukturen, deren Abstand das Auge bereits
•-i-- -1 • i--i . i_i _i _:ki <*«_
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Beiträge zur Frage nach dem Ursprung und der Entwicklung der Kunst.
I.
Von Richard Hellmuth Goldschmidt (Leipzig).
1) K. Lamprecht, Zur Universalgeschichtlichen Methodenbildung;
XXVII. Bd. der Abhandlungen der Philol. -Histor. Kl. der Kgl.
Sachs. Gesellschaft der Wissenschaften Nr. H. Leipzig, B. G.
Tenbner.
2) August Schmarsow, Anfangsgriinde jeder Ornamentik. Zeitschrift
für Ästhetik und allgem. Kunstwissenschaft . . . Dessoir; 1910;
V, 1 und 3.
(1) Im ersten Teile seiner Abhandlung schildert Lamprecht die Auf¬
gabe der modernen universalgeschicbtlichen Forschung. Es ist zunächst
»eine empirische Umschau über die Höhen der von der Geschichtswissenschaft
gewonnenen kritischen Ergebnisse« zu geben, »und aus dieser Umschau
heraus sind Hypothesen über den Gesamtverlauf dieser Entwicklung zu
bilden. Mit diesen Hypothesen, die alsbald eine Fülle neuer Problem¬
stellungen ergeben werden, ist dann an die Geschichte des Einzelverlaufes
heranzutreten . . .« Die dringlichste und schwierigste Aufgabe ist »die rich¬
tige Hypothesenbildung«. Um aber das gewaltige sich darbietende Material
bewältigen zu können, bedarf es der Isolierung, für die es ein doppeltes
Prinzip gibt: »die isolierende Betrachtung des nationalen Verlaufes und die
isolierende Betrachtung des Verlaufes der einzelnen Kulturzweige innerhalb
eines gegebenen nationalen Ganzen«. Mit der danach ersten Aufgabe mußte
begonnen werden und ist längst begonnen worden. Die in der zweiten Auf¬
gabe geforderte »vergleichende Untersuchung der verschiedenen Kulturzweige
— und zwar aller ohne Ausnahme! — in der Entwicklung einer und der¬
selben menschlichen Gesellschaft« hat zuerst Lamprecht selbst in seiner
»deutschen Geschichte« durchgeführt. »Im vorliegenden Falle halte ich durch
meine eingehende Darstellung der deutschen Geschichte zunächst für deren
Verlauf die Auffassung für unbedingt gesichert, daß sich in der menschlichen
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der Darstellung hatten indes »alle Einzelvorstellungen Uber die einzelnen
Zeitalter, abgesehen von einer Kernvorstellung (Symbolismus, TypismuB*
Konventionalismus, Individualismus, Subjektivismus)« vorderhand offen zu
bleiben; nur noch für den »Übergangsmechanismus eines sozialpsychischen
Zeitalters in ein anderes« wurde in Form von Spezialhypothesen eine volle
Theorie gewonnen.
Im zweiten Teile seiner Abhandlung spricht Lamprecht über die nun¬
mehr vorzunehmenden »universalgeschichtlichen Studien«. Es müssen »zwei
große Phasen vergleichender Geschichte passiert werden . ..: die Phase des
Vergleiches einzelner Entwicklungszweige bei verschiedenen, schließlich allen
Nationen, und die Phase des Vergleiches ganzer nationaler Gesamtentwick¬
lungen untereinander«. Mit der ersten Phase ist zu beginnen. Und unter
den Kulturzweigen ergibt sich »das Feld der Phantasietätigkeit als vor allem
lohnend. Es besteht zunächst kein Zweifel darüber, daß starke Phantasie¬
tätigkeit ein Charakteristikum primitiver Kulturen ist, ja sie häufig, im Ver¬
gleich zur intellektuellen Tätigkeit, fast beherrscht. ..« Diesem Satze gegen¬
über darf der Psychologe seine Bedenken äußern, denn der zugrunde liegende
Begriff Phantasietätigkeit kann nur durch psychologische Einsicht gewonnen
werden. Ohne daß an diesem Ort eine Analyse der Phantasietätigkeit re¬
kapituliert werden müßte, darf hervorgehoben werden, daß die Phantasie
nicht als Seelenvermügen zu denken ist, daß vielmehr die Phantasietätigkeiten
der Menschen je nach ihrer Kultur sehr verschiedenartig sind, und daß diese
verschiedenen Phantasietätigkeiten, als qualitativ verschieden, zunächst un¬
vergleichbar sind; ein tertium comparationis müßte erst durch besondere
Analyse gewonnen werden. Um ferner die Bedeutung der Phantasietätigkeit
im Seelenleben eines Menschen von primitiver Kulturstufe richtig bewerten
zu können, ist allein die Mannigfaltigkeit von Phantasieäußerungen auf dieser
Kulturstufe zu beachten; dabei ist die oft schwierige Abstraktion zu voll¬
ziehen von den Eigenschaften dieser Phantasieäußerungen, gerade uns phan-
taBievoll oder phantastisch zu erscheinen. Dem Ethnologen oder dem Völker¬
psychologen nun, der in diesem Sinn das Material einer bestimmten primi¬
tiven Kultur bearbeitet, wird dabei nach mannigfachen bisherigen Erfahrungen
eine Armut in der Mannigfaltigkeit von Phantasieäußernngen aufstoßen.
Freilich ist demgegenüber zu erwägen, was etwa der Spärlichkeit des Mate¬
rials auf Rechnung zu setzen ist; und vor allem ist zu bedenken, daß uns
vielleicht geringfügig erscheinende Variationen in den Phantasieäußerungen
für ein primitiveres Bewußtsein sehr bedeutungsvoll sein können. Die nach
vorstehendem zu fordernden, an Einzeluntersuchungen sich anschließenden
Diskussionen liegen nicht vor, so daß die berührte Frage ihrer definitiven
Beantwortung noch harrt.
Innerhalb des Gebietes der Phantasietätigkeit wählte Lamprecht als
erstes Arbeitsfeld für die Fortsetzung seiner universalgeschichtlichen Studien
die bildende Kunst, insbesondere die Bildnerei und die zeichnenden Künste,
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Literaturbericht.
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Perioden nahezntreten haben.« Die danach zunächst sich ergebenden Unter¬
suchungen behandelt Lamp recht im dritten und zugleich letzten Abschnitt
seiner Abhandlung. Ein hierfür besonders geeignetes Material »wurde in der
chinesischen Tradition gefunden; sie umfaßt filr die Zeiten vom Symbolismus
bis zum Individualismus zur Geschichte des Ornamentes . . . mehr als
3000 Denkmäler . . ., die nach der chinesischen Chronologie etwa das
17. Jahrhundert v. Chr. bis 2. Jahrhundert n. Chr. decken und deren geord¬
nete Publikation die chinesische Wissenschaft schon im 12. Jahrhnndert n. Chr.
besorgt hat«. Für die Arbeiten wurde die »ornamentale Tradition in ihre
einzelnen Elemente: lineare Motive, Motive der Tierornamentik wie Drachen,
Löwen, Paradiesvögel usw., pflanzliche Motive usw. zerlegt«, und dann wur¬
den die Einzelornamente »nach dem Prinzip des zunehmenden Deutlicher¬
werdens des gemeinten Bildes geordnet«, so daß die so aufgestellten Reihen
»dem in der deutschen Geschichte aufgefundenen generellen Entwicklungs¬
prinzip der zunehmenden Intensivierung der Eindrücke und speziell auch
den allgemeinen Erfahrungen in der Entwicklung der deutschen urzeitlichcn
Ornamentik entsprachen«. Die gefundenen Einzelomamentreihen stimmten
untereinander, sie stimmten ferner in ihrer Abfolge mit den freilich nur un¬
gefähr. nämlich nach Dynastien gegebenen chinesischen Daten und stimmen
mit der Formenentwicklungsreihe der Gegenstände, meist Vasen, auf denen
die Ornamente angebracht waren. Die Vergleichung der bis jetzt für die
germanische und die chinesische Ornamentik vorliegenden Entwicklungsreihen
»kann nun in sehr verschiedenem Sinne vorgenommen werden: sie kann sich
auf die Abfolge der einzelnen Perioden und den inneren Charakter der Ab¬
folgeordnung beziehen; sie kann die ästhetischen Prinzipien festzustellen
suchen, nach denen in dem einen und in dem anderen Falle die Durch¬
bildung der Ornamente und deren Einordnung in einen gegebenen Raum
erfolgt ist; sie kann Zahl und Charakter der ornamentalen Substrate aus
Tier- und Pflanzenwelt ins Auge fassen; sie kann den Mechanismus der
künstlerischen Fortbewegung suchen: und noch tausend andere Probleme
stehen ihr offen. Und dabei handelt es sich in den meisten Fällen um Dinge,
die alsbald ganz tief in elementare Fragen des Völkerwerdens einführen«.
Die vorstehenden Bemerkungen über Untersuchungen Lamprechts und
seiner Schüler zeigen zur Genüge, daß der Psychologe, besonders der Völker-
psychologe, darin viel fundamental wichtiges Material finden kann, so z. B.:
»Eine vergleichende Durchprüfung der ästhetischen Prinzipien der Raurn-
behandlung und der ornamentalen Umbildungsprinzipien gegebener Objekte
bei Chinesen und Germanen hat herausgestellt, daß diese Prinzipien bei
beiden Völkern auf gleicher entwicklungsgeschichtlicher Grundlage nach
Motiven verschieden sind, deren Differenz sich aus der Verschiedenheit des
noch heute bestehenden Rassencharakters erklärt.« Eine kritische psycho¬
logische Behandlung solcher Thesen und des zugrunde liegenden Materials
kann nur an Hand der Einzeluntersuchungen erfolgen; gelegentlich der Be¬
sprechung einer im Erscheinen begriffenen Abhandlung Uber die »Stilprinzi¬
pien der primitiven Tierornamentik bei Chinesen und Germanen von G. F.
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Literatarbericht.
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nun noch auf eine gemeinsame Gefahr für die Untersuchungen der Lam pr ecbt-
schüler hingewieson.
Bei dem Bestreben, das vorliegende Material nach charakteristischen
Kernvorstellungeu. wie Symbolismus oder Typismus usf., zu durchforschen,
treten die Kulturerzeugnisse in den Mittelpunkt des Interesses, die im an¬
gedeuteten Sinn charakteristisch sind; und es liegt nahe, die Zeit, aus der
solche Kulturerzeugnisse stammen, in der also die Eigenschaften einer Kultur¬
epoche besonders ausgesprochen sind, nicht nur als besonders charakteri¬
stische und interessante, sondern auch als Blütezeit oder auch als Höhe einer
Kulturepoche zu bezeichnen. Der Höhe einer Kulturepoche gegenüber er¬
scheinen die Übergangszeiten zur nächsten Höhe einer Kulturepoche als Ver¬
fallszeiten. Damit, ist aber in die Betrachtung ein Werturteil involviert.
Menschen, die nicht in einer Zeit des Ringens nach manchmal nur geahnten
neuon Kulturgütern, die nicht in einer Zeit des Überganges leben, könnten
vielleicht eine an Kämpfen reichere Übergangszeit als die lebensvollere
preisen; dagegen scheint ihnen vielleicht, was wir Blütezeit nennen, keine
Weiterentwicklung zu haben, und auf Grund dieses scheinbaren Stillstandes
erschiene ihnen diese Blütezeit als Verfallszeit. Jedenfalls sind bei der For¬
schung Werturteile auszuscbalten. Vielleicht dürfen die im Entwicklungs¬
gang immer wiederkehrenden Epochen, die bisher als Blüte- und Verfallszeit
bezeichnet wurden, als die einer extensiven und intensiven Entwicklung
einander gegenübergestellt werden, wobei unter extensiver Entwicklung die
Ausbreitung des zu einer bestimmten Zeit Erreichten in die Gesamtkultur,
mithin auch dessen Ausdehnung auf möglichst alle ihre Träger, unter inten¬
siver Entwicklung das Streben des Alten, sich zu einem Neuen umzuwandeln,
verstanden wird. — Wie die Untersuchung des Materials nach seinen Kern¬
vorstellungen leicht zum Involvieren von Werturteilen verleitet, droht eine
solche Gefahr noch in doppelter Hinsicht bei Untersuchung eines Kultur¬
zweiges und seiner Entwicklung. Ein Kulturzweig nämlich besteht so wenig
isoliert für sich als etwa ein Gefühl im Leben eines Individuums; vielmehr
steht, jeder Kulturzweig mit allen zeitgenössischen innerhalb einer Gesamt-
knltur so innig im Zusammenhang, daß man eben nicht einen Kulturzweig
irgendwie selbständig auszusondern vermag, und daß man deshalb nicht
eigentlich von ihm reden darf, sondern nur von der betreffenden Gesamt¬
kultur, betrachtet im Hinblick auf den Gesichtspunkt, nach dem der Kultur¬
zweig hätte abgegrenzt werden sollen. Bei dem Bestreben, eine Gesamt¬
kultur von einem bestimmten Gesichtspunkt aus zu betrachten, kann nun
leicht außer dem Gesichtspunkt auch der Gesichtskreis ans unserer Kultur
übernommen und das zu untersuchende Material in solchen Gesichtskreis
eingezwängt werden. Bei Untersuchung der Entwicklung eines Kultur¬
zweiges endlich wird wie bei jeder Entwicklung leicht außer dem gesetz¬
mäßigen Sich-ändern ein Streben angenommen und vielleicht noch zudem
der Gedanke eines Fortstrebens in bestimmter Richtung, nach dem neuesten
Kulturzustand hin, in die Untersuchung involviert. Die genannten Wert-
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Literaturbericlit.
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schichte« auö einer Entwicklungsreihe gewonnene Prinzip bei weiteren Unter¬
suchungen zwar heuristisch verwertet, aber kritisch naehgeprlift wird, ge¬
schieht gerade nach dem Wunsche des Lehrers.
Im Schlußteil seiner Abhandlung bringt Lamprecht noch daß Wich¬
tigste Uber die ältesten Entwicklungsreihen der Kunst und den Wert einer
vergleichenden Untersuchung von Kinderzeichnungen: »In den Urzeiten der
Volker später hoher Kulturen handelt es sich wohl ausnahmslos schon um
Erscheinungen einer relativ fortgeschrittenen Entwicklung; über ein Zeitalter
verhältnismäßig schon recht durchgebildeter Tierornamentik scheint die ge¬
regelte Überlieferung keines dieser Völker zurückzureichen. Darin ist es
denn auch begründet, daß für die Sicherung der chronologischen Anordnung
des Quellenraateriales solcher Völker noch wenigstens gelegentlich außerhalb
dieses Quellenmateriales liegende Stützen herangezogen werden können. . ..
Bei den urzeitlichen Völkern dagegen bestehen nicht so günstige Verhältnisse
der Überlieferung. Sie reichen nämlich entwicklungsgeBchichtlich mit ihrem
Materiale häufig in Stufen hinab, deren Tradition man bei den hochgeschicht¬
lichen Völkern im allgemeinen vergebens sucht. ... In dieser Lage hilft
nun, bis zu einem gewissen Grade, die Untersuchung der Kinderzeichnungen.
Aber freilich nur auf einem indirekten Wege von einer solchen Langwierig¬
keit, daß er schwerlich alsbald aufgenommen werden würde, ergäbe sich
nicht in seinem Verlaufe zugleich auch eine große Summe sonst überaus
wichtiger Tatsachen.« Das sehr große Material an Kinderzeichnungen übri¬
gens, das Lamprecht in seinem Institut fürKultur-und Universal¬
geschichte zusammengebracht hat (1908 waren es schon 140000 Stück),
wurde zum sehr großen Teil in der Weise gewonnen, daß einer ganzen
Schulklasso ein bestimmtes Thema, etwa »Hans Guck’ in die Luft«, zur
zeichnerischen Behandlung gegeben wurde. Das Material ist natürlich für
eine Untersuchung verschieden wertvoll, je nachdem sich mehr oder minder
genau feststellen läßt, wodurch die Kinder bei ihrer zeichnerischen Leistung
beeinflußt waren. Aus dem Umstand z. B., daß japanische Kinder in ihre
Zeichnungen landschaftliche Motive, insbesondere eine Bergdarstellnng, zu
bringen pflegen, in einem Alter, wo die Kinder anderer Völker dies nicht
zu tun pflegen, darf nicht etwa auf Besonderheiten des japanischen Rassen¬
charakters geschlossen werden; denn in den Kreisen, aus denen die betref¬
fenden japanischen Schulkinder stammen, pflegen die Familien in ihren Häu¬
sern an dominierenden Stellen Hausgärtchen aufznstellen, und in deren
Hintergrund befindet sich das Bild ihres größten heiligen Berges; damit ist
offenbar der bestimmende Einfluß gegeben. Es sei hier vermerkt, was als
Leitsatz Für den bei fremden Völkern forschenden Völkerpsychologen gelten
dürfte: es ist nicht seine Aufgabe, alle Knltureinflüsse aufzudecken. die auf
ein Volk gewirkt haben oder wirken, um so seine Eigenart kennen zu lernen,
sondern er hat fcstzustellen, wie ein Volk dank seiner Kultur gestimmten,
vom Völkerpsychologen gleichsam experimentell gebrachten, neuen Eindrücken
gegenüber sich verhält. Daher ist es auch für völkerpBychologlgcbe Unter-
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Literaturbericht.
Kulturstufe ist eben dann besonders interessant und fuhrt wohl zu deren
genauester Charakterisierung, wenn vergleichend untersucht wird, wozu die
Menschen dieser Kulturstufe unter bestimmten bekannten Einflüssen sich ent¬
wickeln können. Damit aber ist gegeben, daß der Völkerpsychologe etwa
den Missionsschulen, aus denen Lamprechts hergehöriges Material zürn
großen Teile stammt, überaus viel Wertvolles verdanken kann. — Die vor¬
liegende Skizze der universalgeschichtlichcn Methode und ihrer Anwendung
auf dem Boden der chinesischen Geschichte ergibt, »daß ihr nicht bloß ein
starker heuristischer Wert innewohnt, sondern daß auf Grund ihrer heuri¬
stischen Prinzipien auch Ergebnisse zutage zu treten vermögen, die weite
Perspektiven für eine geschlossene universalgeschichtliche Anschauung und
Tätigkeit eröffnen, und mit keinerlei anderen Methoden als den für sie neu
entwickelten zu erreichen waren«.
(2) Schmarsows Schüler wissen, daß ihr Lehrer seine Worte sehr ge¬
wissenhaft abwägt, besonders auch die Worte eines Themas. Seine Anfange-
gründe jeder Ornamentik wollen zur Ergründung der Oruamentanfänge die
Gründe ebnen; das dem Kunstwissenschaftler gehörende Erbteil an Erfah¬
rungen (»Grundtatsachen«) zum Studium der Ornamentik will er mitteilen.
Dabei beachtet er vor allem, wie der Blick über ein Ornament gleitet, wie
er z. B. durch ein auffallendes, dominierendes Stück zum Verweilen, durch
eine Reihung im Typus gleichartiger Glieder zum Entlanggleiten veranlaßt
wird, ferner, wie in die Vorstellung vom Ornament außer den einander folgen¬
den Gesichtsempfindungen noch Tastempfindungen eingehen, die der Blick¬
bewegung assoziiert sind und endlich noch, wie das Ornament in seiner
Gesamtheit dem Betrachter als Objekt gegenübersteht. Er benutzt ein
Menschenkind auf der entlegensten Insel der Südsee, das am Ufer wandeln
mag, so recht mit sich selbst allein, von keinem praktischen Zweck getrieben,
im träumenden Genuß des Daseins und in glücklichster Seelenruhe, und be¬
trachtet im Leben eines solchen Menschenkindes die Verwendung der Natur¬
objekte zum Schmuck und das Verfahren des Menschen bei eigener Hervor¬
bringung von Schrauckmitteln; hierdurch kommt er dank seiner im vorletzten
Satz skizzierten Interesseurichtung zur Feststellung der für die Ornamentik
gültigen Gestaltungsprinzipien (oder Ilauptgliederungsprinzipien): Symme¬
trie, Proportionalität und Rhythmus, die er im Sinn von Gottfried
Semper behandelt. Er betont sodann, daß jedes Ornament an einem, dem
Betrachter gegenüberstehenden Objekt sich befindet und in seiner Vertikalen
an das Aufrechte des eigenen menschlichen Körpers gemahnt. Endlich leitet
er aus seinen bisher genannten Ausführungen ab, welche Ornamentformen
sich zuerst mögen entwickelt haben, und bringt dabei eine scharfe Abgrenzung
des Gebietes der Ornamentik, besonders gegenüber der darstellenden Kunst
und eine Charakterisierung ihres Wesens.
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werden. Dabei traten die neuen Stücke neben den bisherigen Solitär in
Reih' und Glied; nur entscheidende Eigenschaften, die ihnen allen gemeinsam
sind, wurden an ihnen beachtet; nicht mehr ein Einzelstück, nur eine Reihe
von Stücken, deren Typus gemeinsam ist, wurde gesehen. Dabei kam jedes
Stück in Relativität erstens als Glied zur ganzen Reihe, zweitens als Glied
zu den andern Gliedern, drittens durch das Verhältnis des Ganzen zu seinem
Träger, etwa des Halsbandes zum menschlichen Körper. Des weiteren
mochte nun in einer Reihe der Wert eines Einzelstücks besonders gesteigert
erscheinen, und die anderen Glieder wurden ihm zu beiden Seiten angeordnet.
Infolgedessen blieben die Reihungsglieder nicht mehr gleichwertige Konkur¬
renten, sie ordneten sich vielmehr dem besonderen Glied in ihrer Mitte, der
Dominante, unter. So entstand nach der ersten, wie selbstverständlich ein-
gefiihrten Form der Ornamentik, nämlich der auf Wiederholung eines und
desselben Elementes beruhenden Reihung: Symmetrie und Propor¬
tionalität. Von der besonderen Anziehungskraft einer Dominante hing es
dabei ab, ob sie noch ein zweites, ein drittes Paar ihrer Nachbarn miterfaßte
und für sich als Trabanten festlegte, oder ob die fortlaufende Reihung sich
ablenkend rechts und links geltend machen konnte. Die beiden Trabanten
des Mittelgliedes zeigen in Ruhelage das Prinzip der Symmetrie; im Ver¬
gleich mit der Dominante ergibt sich das der Proportionalität. Sobald aber
wieder die sukzessive Auffassung der Glieder in ihrem Verhältnis unter¬
einander und zu ihrer Gesamtheit die Oberhand gewinnt, so daß der Eindruck
einer Bewegung entsteht, so darf man in vollem Bewußtsein von Rhythmus
im Vollzüge des Kräftespiels aller Größen miteinander reden. Statt des einen
Gegensatzes in der Mitte der einfachen Reihung kann ein Paar von Gegen¬
sätzen als Reihungsglied genommen und zu einer alternierenden Reihe ge¬
ordnet werden.
Die Ableitung von Gestaltungsprinzipien der Ornamentik wurde, wie
soeben skizziert, unter Beachtung der eigenen Wirkungskraft der Naturobjekte
auf das Naturkind durchgeführt, wurde sodann in abstrakterer Form wieder¬
holt, und in entsprechender Weise bei Untersuchung der Mitwirkung dieses
Subjektes zur Entstehung von Ornamentformen, beispielsweise bei der Her¬
stellung von Schmuckgegenständen, ausgeführt. Besonders wesentlich ist
unter den Ergebnissen dieser Ausführungen, so daß danach das Ornament
geradezu definiert werden kann: durch ein Ornament soll die Form des
ornamentierten Gegenstandes voll ausgekostet werden.
Für den Psychologen ist es reizvoll, über Schmarsow auf dem von
ihm gebahnten Wege hinauszugehen und die, für das Blick-wandern-
lassen bei einer Ornamentbetrachtung gültigen und für die ästhetische
Ornamentauffassung wesentlichen Gesetze aus der wie für andere Tätigkeiten
bestehenden Tendenz zu einer regelmäßigen Betätigung abzuleiten. Diese
Tendenz zeigt sich am deutlichsten, wo es zu einer, wenigstens dem Psycho¬
logen erkennbaren Rhythmisierung der Eindrücke kommt Leicht wird z. B.
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Wenn nun allein die Weise des Blick-wandern-lassens untersucht werden
soll, so darf man absehen vom Unterschiede einerseits der rhythmischen
Tätigkeiten, bei denen der Rhythmus unmittelbar erlebt werden kann, und
andererseits der regelmäßigen rhythinusiihnlichen, die in gleicher Zeitenfolge
wie die rhythmischen erfolgen mögen; man darf überhaupt von allem ab¬
sehen, was außer dem Sukzcdieren einzelner, als besondere, gar nicht bewußt
werdender Tätigkeiten noch in das Rhythmuserleben eingeht, wie vor allem
auch von der Auffassung der Gesamtheit rhythmisch gegliederter Gebilde;
und endlich darf man so noch von der Frage absehen, ob die Weise deB
Blick-wandern-lassens zunächst allein auf die Apperzeption und nur etwa
mittelbar auf den ästhetischen Kindruck des betrachteten Ornamentes von
Einfluß ist. Besonders bemerkt sei indes, daß mit den regelmäßigen, rhyth¬
musähnlichen Tätigkeiten nur solche gemeint sind, deren Rhythmusähnlich¬
keit, d. h. deren regelmäßiges Sukzedieren sich durch Selbstbeobachtung
feststellen läßt, nicht aber solche, bei denen sich eine Rhythmisierung nur
denken läßt, derart etwa wie sie von C. S Cornelius in seiner Theorie des
Sehens und räumlichen Vorstellens (S. 444 flf.) durch den gedachten Zusammen¬
hang der ästhetischen Wirkung der Farben mit der Schwingungsweise der
Retinaelemente (die ihrerseits der Frequenz der Lichtätherwellen folge) an¬
gebahnt wurde. Der Einfachheit des Ausdrucks wegen sei im folgenden der
Begriff »rhythmische Tätigkeit« in dem erweiterten Sinne genommen, daß die
als rhythmisch, sowie die als rhythmusähnlich erlebbaren Tätigkeiten damit
gemeint sind. Dann läßt sich die einfache Reihung als eine rhythmische
Folge gleicher Glieder auffassen, da jedes der einander folgenden Glieder
wie ein Takt aus mehr oder minder betonten Teilen bestehen muß, damit die
Mehrheit der Glieder nicht etwa als ein gleichmäßiger Stab, sondern eben als
ein gereihtes Gebilde, wie etwa eine Perlenkette, anfgefaßt wird. Ganz ähn¬
lich ist die alternierende Reihe eine rhythmische Folge gleicher Glieder,
deren Einzelglieder in gleichbleibender Weise aus verschiedenartigen Teilen
zusammengesetzt sind. — Das Einzelglied, das mit seinesgleichen gereiht
wird, kann überhaupt in der mannigfaltigsten Weise ans mehr oder minder
betonten Teilen zusammengesetzt sein. Es können die schon einmal zu einer
einfachen Reihung verwandten Glieder paarweise und noch mehrfach ge¬
nommen und zu Doppel- und mehrfachen Reihen geordnet werden. Selbst
einfache Reihen, oder sogar alternierende, oder die eben geschilderten
gruppierten Reihen können als Einzelglieder genommen und ihrerseits wieder
zu Reihen geordnet werden, etwa auf einer Ebene in einer zur ersten
Reihung senkrechten Richtung. Bei einer solchen Komplikation der gereihten
Einzelglieder kann sich die Erscheinung der ganzen Reihe dahin komplizieren,
daß nicht nur die Einzelglieder selbst durchweg in gleicher Weise sich
wiederholen und mehr oder minder betonte Stellen zeigen, sondern daß
auch noch diese mehr oder minder betonten Stellen ihrerseits wieder, gleich¬
sam wie Einzelglieder geringerer Ordnung, auch in einer durchgehend gleich¬
artigen Weise aus verschieden betonten Teilen bestehen. Damit ist ein
mächtigerer Takt durch einen ihm untergeordneten, in ihn eingehenden
weiter gegliedert. (Vgl. Lipps’ »Prinzip der stufenweisen differenzieren-
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Die Reihen können im speziellen Fall parallel zueinander geordnet werden;
oder in einem anderen speziellen Fall können sie von einem gemeinsamen
Anfangspunkt mit zusammenliegenden und vielleicht zudem noch ver¬
schmelzenden Anfangsgliedern strahlenförmig ausgehen. Im letzteren Fall
können die Strahlen rings im Kreise angeordnet sein, oder, noch spezieller,
nur nach zwei entgegensätzlichen Richtungen gehen Strahlen aus. Damit
ist ein besonderer Fall von Symmetriebidung gegeben, ln diesem Fall
wird das gereihte Gebilde, wie bei jeder speziellen ReihungsweiBe in be¬
sonderer Weise mit dem Blick durchwandert, entsprechend der für ihre mehr
oder minder betonten Stellen geltenden Taktfolge. — In rhythmischer
Reihung aufgefaßte Glieder können wie in ihrer Anordnung, auch in ihrer
Größe sehr stark variieren. Betrachtet man etwa die Einteilung eines Gegen¬
standes durch die Gesamtheit seines Ornamentes, also wie die Glieder dieses
Gegenstandes untereinander und zum Ganzen in Proportion treten, so hat
der gleitende Blick dabei zum mindesten zweierlei Tätigkeiten auszufiihren,
die zum mindesten einen Takt ausfüllen, einen freilich im Vergleich mit den
Rhythmen der Ornamentreihe sehr groben Takt. — Es ist also sehr ver¬
schiedenes Ornamentbetrachten aus der Tendenz zu einem Auffassen der
Sehdinge in Takten oder Taktfolgen (Rhythmen) abgeleitet worden, ins¬
besondere auch die Auffassung einer einfachen oder alternierenden Reihung
eines symmetrischen Gebildes und in Proportion stehender Teile. Damit soll
nicht etwa angedeutet sein, daß dem Gang der Ableitung folgend der
Ornaraentforraenschatz der Menschheit sich entwickelt haben könne, es soll
nur darauf hingewiesen werden, wie von Schmarsowschen Anregungen
ausgehend ein Psychologe in der angedeuteten Weise an der reizvollen
Aufgabe einer experimentell-psychologischen Untersuchung des Blick¬
wandern-lassens beim Ornamentsehen kommt, indem er etwa die Unter¬
suchungen Koffkas und Meumanns über die Rhythmisierung von Ge¬
sichtseindrücken zugleich mit photographischer Registrierung der Augen¬
bewegungen fortführt. Daß mit der hierbei notwendigen Zergliederung der
von Schmarsow nur als Gesamterlebnisse geschilderten Vorgänge ein eben
von Schmarsow kaum gebilligtes Verfahren eingeschlagen wird, sei indes
nicht verschwiegen. Durch das Vorausgehende aber sollte zugleich noch
gezeigt werden, daß eine nicht die Ableitung ist; es wird der Kritiker in
Schmarsow» Ausführungen neben dem Plansibelmachen der einen das
Ausschließen jeder anderen noch möglichen Ableitung für das Entstehen
der Gestaltungsprinzipien vermissen. Noch mehr wie gegen diese Ableitungen
wendet sich eine solche Kritik gegen die nunmehr zu skizzierenden Aus¬
führungen Schmarsows über Ursprung und allererste Entwicklung des
Ornamentschatzes der Menschheit, zumal Schmarsow die Möglichkeit ver¬
schiedenartiger Anfänge und Entwicklungsreihen nicht besprochen hat.
Interessant für den Psychologen sind die Schmarsowschen Betrach¬
tungen über eine Ornamententwicklung vornehmlich durch den Hinweis auf
Etappen im Entwicklungsgang, auf die großen Schritte, welche die Mensch¬
heit in ihrem Entwicklungsgang machen mußte. Bei einer Schilderung der
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dadurch angebahnt, daß dem mit gleichgültiger Oberfläche Vorgefundenen
Körper durch die ornamentale Behandlung eine Struktur verliehen wurde.
Hierzu betont Schmarsow, wieviel gerade die abstrakteste Regelmäßigkeit
fiir den erwachenden Menschengeist wert war, als dieser sich anschickte,
»nach seinem eigenen Hausgesetz die Mannigfaltigkeit der Natur zu be¬
wältigen«. »Für solches Entwicklungestadinm ist die Regel kein Joch,
sondern eine Befreiung.« Die ältesten Kerbreihen, Urkunden rhythmischer
Periodenteilung, können uns zeigen, wie der Mensch »das Zählen gelernt hat
und das genaue Maßhalten in solcher Aufteilung, wenn nicht die Nachmessung
solcher Größen an anderen Objekten«. »Alle überschüssige Vervielfältigung
der technischen Prozedur, die nur ein verweilendes, durchkostendes, um¬
spielendes Wiederholen der Zweckform bedeutet, ist Ornamentik [oder Zier¬
kunst]. Und dient diese freie Zutat zunächst auch lediglich zur Befriedigung
des Verfertigers während der Ausführung und steht nachher mit der Voll¬
endung des Werks in unmittelbarem Zusammenhang, so wirkt der Nieder¬
schlag der Arbeit wie des Spieles dabei doch nach auch bei spätererer Be¬
trachtung, erneut ihm die Erinnerung an Mühewaltung und Genugtuung zu¬
gleich und wirkt ebenso weiter auf den späteren Empfänger, den fremden
Eigentümer und eifrigen Benutzer des Geräts wie endlich auf den nach¬
folgenden Beschauer noch heute, sowie er sich nur in Sinn und Wesen der
Leistung ernstlich vertieft . .. Die Bedingungen für das Zustandekommen
längerer Kerben und gerader Linien liegen noch anders ... Es sind Aus¬
drucksbewegungen, keine Linealstriche; keine Schenkel eines Winkels,
sondern zwei anfeinanderplatzende Richtungen oder auseinanderlaufende
Wege der Kraft, und zwar . .. einer ganz subjektiven der eigenen Ichheit
des Verfertigers entströmenden...« Also: »der Niederschlag geregelter
AusdrucksbewegnDgen in sichtbaren Zeichen ist der gemeinsame Anfangs¬
grund aller Ornamentik«. Dies zeigt Schmarsow auch bei seiner Be¬
sprechung der ältesten Tongefäße.
Durchwebt sind die oben skizzierten Ausführungen Schmarsows von
vielen auch psychologisch interessanten Bemerkungen, so zeigt er die Unter¬
stützung der Symmetrieauffassung durch eine gleichzeitige Bewegung beider
Arme. Von solchen Bemerkungen sind aber manche angreifbar, z. B. wird
man wohl nicht mit Schmarsow für die Entstehung einer Kerbreihe an¬
nehmen wollen, ein fehlgegangener Strich sei die Gelegenheitsursache ge¬
wesen, indem man zur Aushilfe die »ganze ursprünglich glatt gewollte Fläche
mit Ritzen schraffiert« hätte, denn eine schraffierte Fläche statt einer glatten
schaffen zu wollen, wird wohl nur dem möglich sein, der Bchon Gelegenheit
hatte beide zu sehen, und eine Assoziationen ermöglichende Ähnlichkeit
zwischen den beiden Vorstellungen zu bemerken.
Gelegentlich der Besprechung wissenschaftlicher Streitfragen finden sich
in der Arbeit noch Bemerkungen zuWundts Völkerpsychologie, wie schon
in früheren Heften derselben Zeitschrift, und zu Lamp rechts oben (1) exzer¬
pierter Abhandlung. Von allgemeinstem Interesse ist darunter Schmarsows
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Kunstwissenschaftler zunächst liegt, eine Schilderung der bemerkenswertesten
Erlebnisse beim Ornamentbetrachten gibt Schmarsow dem Spezialforscher
zum Ausgang für seine Untersuchung von Ursprung und Entwicklung der
Ornamentik mit auf den Weg.
Dem Spezialforscher wäre eine Fortführung der von Schmarsow’ ge¬
gebenen psychologischen Analyse des Ornamentbetrachtens dienlich; auch
von Gesichtspunkten, die Schmarsow nur kurz streifte, wie die Bedeutung
der Einfühlung in den ornamentierten Gegenstand, wäre die Analyse
durchzuFühren. Die Analyse hätte scharf auBzusondern, was rein ästhetische
Betrachtung ist und was dagegen nur eine besondere Weise der Ornament-
anffassung, die vielleicht ihrerseits in eindeutiger Weise die ästhetische Be¬
trachtung beeinflußt. — Schmarsow aber hat selbst schon auf die
Schwierigkeit hingewiesen, die von seinen Gesichtspunkten aus bis in
Einzelheiten durchgeführte Analyse überhaupt in Angriff zu nehmen. Das
Material liegt »fossil« geworden in unseren Museen. Während bei fast jeder
anderen vülkerpsychologischen Untersuchung wir umfängliche Vorstudien
machen müssen und dabei Gelegenheit haben, uns soweit wie möglich in
den Geist der untersuchten Kultur einzuleben, haben wir bei Ornament¬
betrachtungen die gefährliche Gelegenheit, sofort an die Untersuchung des
Materiales zu gehen. Dabei droht der unbefangenen Beurteilung des Materiales
die Gefahr, daß es unser modernes Auge unmittelbar ansprechen kann; wir
aber sind dabei noch geneigt, dem Material eine Art Wohlwollen entgegen¬
zubringen, ähnlich wie den Handarbeiten von Kindern. Und der Gedanke, aus
welcher Kulturepoche das Material stammt, mit welchen technischen Schwierig¬
keiten der Verfertiger zu kämpfen hatte, begleitet uns bei seiner Betrachtung
wie bei unserer Zeitungslektüre der Gedanke an jüngste Ereignisse. Wir
sind infolgedessen geneigt, das Material so anzusehen, wie es unserem mo¬
dernen Auge möglichst gefällig erscheint, und Abweichungen als Mängel zu
übersehen. Es kann aber zudem auch Ornamente geben, die uns so direkt
ansprechen, daß wir bei ihrer Betrachtung des Urhebers völlig vergessen.
Hauptsächlich dieser Gefahr wollte Schmarsow durch seine Ausführungen
über ein Naturkind entgehen.
Das Problem, ob Menschen verschiedener Kulturen gleicher ästhetischer
Erlebnisse fähig sind, ist von Schmarsow nicht behandelt worden, aber
von ihm schon durch die Tatsache seiner Untersuchung bejaht. Danach
kann ein Ästhetiker durch systematische Analyse der beim Ornamentbetrachten
(oder -schaffen) waltenden Gestaltungsprinzipien die noch gewünschte Unter¬
stützung bringen. Es wäre nachzuweiseu nicht nur, daß gewisse Gestaltungs¬
prinzipien als waltend gedacht werden können, sondern daß sie als waltend
gedacht werden müssen, daß nämlich die Entstehung der untersuchten Orna¬
mente psychisch nicht anders als durch deren Walten motiviert werden kann.
Zu derartigen Beweisen wären typische Beispiele auszusuchen, d. b. Beispiele,
die nur eine eindeutige Erklärung zulassen; denn die meißten Ornamente
amrl *rn /lor lnnr frotrilnooVi + nn P nti>o nlilnn ne nnnrnn'/»« ivoil rn'oV, iVitb GeneBB
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Nachweis etwa eines gegensätzlichen Gestaltnngsprinzips, welches das Walten
des ersteren ausschließt; auch solche Beispiele wären praktisch zu verwerten.
Von hergehörigen Einzeltatsachen seien nur erwähnt: Manchmal findet man
ein Ornament auf einer Fläche und darüber ein gänzlich anderes, das
ohne jede Beziehung zum ersten Ornament verschiedene Teile desselben
verdeckt; wenn nun für das zweite Ornament andere Gestaltungsprinzipien
sich waltend zeigen als für das erste, so wird sich im vorliegenden Fall
vielleicht die Bevorzugung eines Gestaltungsprinzips vor einem anderen er¬
weisen lassen. Ähnliches gilt wohl für einen Fall, wo lauter Zickzacklinien
Vorkommen außer an den Stellen, wo infolge einer starken Wölbung des
ornamentierten Gegenstandes die Zickzacklinien hätten unterbrochen werden
müssen, und wo nun die Zacken in weite Wellenbogen auseinandergezogen
werden. Oder ein in den Speerschaft geritzter Pfeil zeigt die Einfühlung in
die Flugbewegung des Speeres. Befinden sich dagegen auf dem Speerschaft
Pfeilverzierungen, die zur Hälfte der Flugrichtung entsprechen, zur Hälfte
entgegengesetzt gerichtet sind, so kann dies in der Weise erklärt werden
müssen, daß die überkommene Form, unabhängig von dem sie verursachenden
Gestaltungsprinzip, infolge eines neuen Gestaltungsprinzips zur Betonung
der Längsrichtung des Speeres verwandt wird. Oder es sind einmal die
Glieder der Ornamente auf Kosten der Gesamtwirkung sehr fein ausgeflihrt.
ein andermal dagegen (vielleicht bei weiter fortgeschrittenen Kulturstufen)
gibt das ganze Ornament einen sehr schönen Gesamteindruck, es mag auch
recht fein gegliedert erscheinen, nur die einzelnen Glieder des Ornamentes
sind sehr schlecht ausgeführt usf. Indessen sind die meisten Ornamente
sehr atypisch, m. a. W.: ihre Genese läßt sich psychologisch sehr ver¬
schiedenartig motivieren, ferner läßt sich das Nichtwalten bestimmter Ge-
staltuugsprinzipien sehr oft nicht durch das Vorkommen gegensätzlicher er¬
weisen (durch welche ihr Walten ausgeschlossen würde). Deshalb kann die
hier gewünschte exakte Arbeit bestenfalls nur zu einer Orientierung im
Material und zu Gesichtspunkten für eine Systematisierung, nicht aber zur
vollen systematischen Verarbeitung des tatsächlich gegebenen Materials, also
auch nicht zu einer definitiven Gruppierung der gefundenen Ergebnisse
fuhren. Je schwieriger aber der zuletzt skizzierte Weg ist, um so not¬
wendiger ist es, allein von solchen Erwägungen auszugehen, wie sie
Schmarsow gab.
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Einzelbesprechung.
1) Stephan Witasek, Zur Lehre von der Lokalisation im Sehraum. Zeit¬
schrift für Psychologie, herausgegeben von F. Schumann. Bd. 50.
S. 161 ff.
Die Untersuchung WitaBeks ist im wesentlichen auf die Frage ge¬
richtet, ob wir monokular ebenso lokalisieren, wie binokular. Er formuliert
sein Problem folgendermaßen: »Sind korrespondierenden Punkten der
beiden Netzhäute bei gesonderter monokularer Funktion subjektiv gleiche
Punkte der beiderseitigen Sehfelder zugeordnet oder nicht?« Er be¬
schränkt Bich in seiner Untersuchung im wesentlichen auf die Stellen
des deutlichsten Sehens. Der Apparat, dessen er sich bedient, ist sehr
einfach. Zwei gleiche, 10 cm lange, 3 cm weite, innen geschwärzte
zylindrische Guckröhren konnten mit ihren Achsen in Pupillendistanz und
in jeder beliebigen Richtung und Lage fest eingestellt werden. An ihren,
den Augen zugewandten Enden hatten sie zentrale, kreisrunde Öffnungen
von ungefähr Pupillengröße. Vor den äußeren Enden der Guckröhren war
ein Wechselschirm aufgestellt, der es gestattete, durch eine kleine Finger¬
bewegung die beiden Röhren abwechselnd oder auch gleichzeitig in be¬
liebiger Reihenfolge und beliebigem Tempo nach außen lichtdicht ab¬
zuschließen. Dem Röhrenpaare gegenüber, in einem Abstande von einem
Meter, war ein großer, von rückwärts gleichmäßig beleuchteter Milchglas-
Schirm so aufgestellt, daß flir jedes der beiden Angen das ganze Gesichtsfeld
von einer homogenen hellen Fläche ausgefüllt erschien. Auf dem Schirm be¬
fand sich ferner eine kleine schwarze Marke, gegen welche die beiden Röhren
in der Art eingestellt waren, daß sie sich ira Zentrum eines jeden der beiden
durch die Röhre ausgeschnittenen kreisförmigen Gesichtsfelder präsentierten.
Der Grnndversuch ging in folgender Weise vonstatten: Die Marke wurde
zunächst binokular scharf fixiert; dann wurde bei fortwährend, wenigstens
der Intention nach, unverrückt festgebaltener Blick- und Kopflage plötzlich
links der Schirm vorgeschoben, nach etwa 1 Sekunde ebenso rasch auch
rechts, dann nach beiläufig einer halben Sekunde beiderseitigen Abschlusses
wieder links geöffnet und hierauf, nach etwa 1 Sekunde, auch rechts. So
folgten einander binokulare Fixation, monokulare Fixation rechts, mono¬
kulare links und wieder binokulare Fixation, die beiden monokularen Fixa¬
tionen durch eine kurze Pause beiderseitiger Abdunkelung getrennt. Der
Versuch wurde natürlich auch in der entgegengesetzten Reihenfolge vorge¬
nommen. Das Ergebnis gestaltete sich ausnahmslos dahin, daß die Marke
beim Überfiranfi'fl von Hpr mnnnlrnlarpn FivaHnn rlou pinpn Amrp« ■/.n Her des
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Literaturbericht.
Bei 1 m Objektdistanz betrug die Gcsamtverschiebung ungefähr 2 cm.
Variierte man die Objektdistanz, so änderte sich, von der Grüße der schein¬
baren Verschiebung abgesehen, nichts am Ergebnis. Witasek verschob
die Marke von 30 cm bis 4 m Abstand. Der Erfolg blieb in der Hauptsache
stets der gleiche. Nur die Größe der scheinbaren Verschiebung änderte sich
dabei, und zwar nicht nur in ihrem linearen, sondern auch in ihrem Winkel¬
wert. Um schließlich den Sachverhalt bei Einstellung der Augen auf Un¬
endlich zu untersuchen, richtete Witasek die Guckröhren auf eine etwa
1 km entfernte Turmspitze, die sich in geringer Höhe Uber dem Horizonte
vom Himmel abhob. Auch da ließ es sich leicht erreichen, daß die Aus¬
schnitte in beiden Röhren kongruent waren und die Fixationsmarke (Turm¬
spitze) beiderseits genau ins Zentrum zu liegen kam. Die scheinbare Ver¬
schiebung zeigte sich auch dabei ganz außerordentlich deutlich.
Bevor wir zur Erklärung dieses Versuchs übergehen, wollen wir vorerst
den weiteren Verlauf der Untersuchung besprechen.
Witasek modifizierte zunächst den Versuch so, daß er zwar wieder
beide Augen gut fixierend auf die Marke gerichtet hielt, nun aber das eine
von ihnen — in nicht allzu raschem Tempo — abwechselnd verdeckte und
frei gab, während das andere unbehelligt blieb. Der Erfolg war bei weitem
weniger deutlich als beim Grundversuche. Gleichwohl ließ er sich bei
einiger Aufmerksamkeit und Geduld mit genügender Bestimmtheit sicher-
steilen. Die scheinbare Verschiebung der Marke war auch dabei zu beob¬
achten, und zwar vollzog sie sich in demselben Sinne wie bei der früheren
Versuchsanordnung. Schloß und öffnete man abwechselnd das rechte Ange,
so rückte die Marke beim Öffnen ein wenig nach links. Die Verschiebung
war aber von viel geringerer Elongation, als wenn zugleich das andere der
beiden Augen verschlossen wurde, und auch die Geschwindigkeit der Ver¬
schiebung schien herabgesetzt. Die Bewegung ging gleichsam unter dem
hemmenden Einflüsse eines Widerstandes vor sich. Es kam nur eine ganz
langsame und kurze Bewegung zustande, die deshalb leicht übersehen
wurde. Schloß man wieder, wie im ersten Grundversuche, abwechselnd
einmal das eine, einmal das andere der beiden Augen, aber so, daß
dazwischen immer eine kurze Zeitlang beide Augen geöffnet waren, so
war der Erfolg der gleiche wie in der ersten Versuchsanordnung, aber eben¬
falls mit der Modifikation, wie sie sich bei der eben besprochenen Ab¬
änderung des Versuches gezeigt hatte. Die Marke rückte also immer, wenn
eines der beiden Augen verschlossen wurde, ein Stückchen gegen die Seite
dieses AugeB hin, um, wenn es wieder geöffnet wurde, nach seiner früheren
Mittelstellung zurückzukehren, und dann, wenn das andere Auge geschlossen
wurde, nach der entgegengesetzten Richtung, also im Sinne der letzten
Rückkehrbewegung weiter auszuweichen. Alle diese Bewegungen gingen
jedoch nur sehr langsam vor sich und hatten eine außerordentlich geringe
Elongation. Auch schienen sie vom Tempo des Augenwechsels in dem
Sinne abhängig zu sein, daß sie überhaupt verschwanden, wenn man den
Wechsel zu rasch vollzog.
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Außer der besprochenen führte Witasek noch eine zweite Abänderung
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wurde jeder der beiden Punkte im Doppelbilde gesehen. Nun konnte man
die Augen so einstellcn, daß ein Halbbild des einen Auges mit dem benach¬
barten des anderen zusammenfiel. Wurde nun daB eine Auge geschlossen,
so trat auch hier die entsprechende Erscheinung, nämlich eine scheinbare
Bewegung der Halbbilder des offenbleibenden Auges ein.
Die Ergebnisse der bis jetzt beschriebenen Versuche lassen sich nach
Witasek folgendermaßen zusammenfassen: »Korrespondierenden Punkten der
beiden Netzhäute sind bei gesonderter monokularer Funktion nicht gleiche
Sehfeldpunkte zugeordnet, sondern der der rechten Netzhaut zugehörige
Punkt des rechten monokularen Sehfeldes liegt etwas links von dem Punkte,
welcher gleich ist dem des linken monokularen Sehfeldes, der dem korre¬
spondierenden Punkte der linken Netzhaut zugehört« *), und umgekehrt.
Witasek nennt diese Tatsache Monokularlokalisationsdifferenz (. MLD ;. Beim
binokularen Seheu liegt der den beiden korrespondierenden Netzhautstellen
zugehörige Punkt des binokularen Sehfeldes ungefähr in der Mitte zwischen
denjenigen Punkten, die den monokularen Sehfeldpunkten, wenn man ßie
auf das binokulare Sehfeld überträgt, entsprechen, oder kürzer: »Korrespon¬
dierende Netzhautpunkte lokalisieren bei monokularer, gesonderter Funktion
nicht gleich, sondern der rechte etwas mehr nach links, und umgekehrt, bei
binokularem, gemeinsamen Funktionieren ungefähr in der Mitte zwischen den
beiden monokularen Lokalisationspunkten« 2 j.
Witaseks Untersuchungen erhalten eine erweiterte Bedeutung durch
ihre Beziehung zu der Lehre Herings von der binokularen Blicklinie.
Diese sagt aus, »daß die Lokalisation der Netzhautbilder beider Augen,
soweit sie überhaupt von der Stellung und Bewegung der Angen ab¬
hängig ist, sich keineswegs nach den Sonderstellungen beider Augen,
sondern nach der Stellung und Bewegung der Blicklinie des Doppelauges
richtet, und daß wir ... die Netzhautbilder in betreff der Richtung so
lokalisieren, als ob beide wirkliche Netzhautbilder auf der Netzhaut des
imaginären Auges lägen« 3 ]. Die Annahme, »daß die Richtung, in der uns
ein fixiertes Objekt erscheint, sich im allgemeinen nach der jeweiligen Lage
der Blicklinie richte« 4 ), macht Hering auch für das monokulare Sehen.
Der Versuch, durch den Hering die Gültigkeit dieser Annahme für
monokulares Sehen nachzuweisen suchte, wurde von Witasek wiederholt.
Er erhielt aber das abweichende Ergebnis, daß bei monokularem Sehen
»beim Übergang der Fixation von der Fern- zur Nahmarke jede Veränderung
der Lokalisation ausblieb, sofern nur die Augenbewegung genau nach den
Intentionen des Versuches ausgeführt wurde« 5 ). Eine Bestätigung der
Heringschen Beobachtung einer Scheinbewegung aber fand Witasek
durch einen Versuch, in dem beide Augen geöffnet blieben, während
sie einen Fixationswechsel von einer Fernmarke zu einer NaPonuTke, die
mit der Fernmarke auf derselben Gesichtslinie des einen AvM5 eB
vollzogen, und umgekehrt. Dann trat die Scheinbewegun^ t anch bei
1) Zeitschrift für Psychologie,
Bd. öO. S. 181.
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herausgegeben
von F. «gcb uman0.
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Literaturbericht
korrektester AusflihruDg des Versuches, regelmäßig und sehr auffallend ein.
Die Lateralbewegung der Marken, besonders der Nahmarke, war beim Über¬
gang auf den Nahpunkt, die medianwärts gerichtete Bewegung, besonders
der Fernmarke, beim Übergang auf den Fernpunkt regelmäßig von großer
Elongation. Bei zweiäugiger Ausführung des Versuches war von den beiden
auf der Gesichtslinie des einen Auges liegenden Marken natürlich immer
die eine, eben nicht fixierte, im Doppelbilde sichtbar. Das eine der beiden
Halbbilder gebürte dem Auge an, dessen Gesichtslinie sich nicht verschieben
sollte, und lag in der gleichen Richtung mit dem der zweiten Fixationsmarke.
Das zweite Halbbild lag seitlich davon und gehörte dem anderen Auge an,
also jenem, dessen Gesichtslinie beim FixationsUbergange eine Richtnngs-
änderung, das also selbst dabei eine Einwärts- oder Auswärtswendung er¬
litt. Das diesem zugehörige Netzhautbild verschob sich beim Fixations-
Ubergang auf der Netzhaut, und es ist deshalb selbstverständlich, daß das
entsprechende Halbbild dabei eine Bewegung im Sehraum ausflihrte. In dem
Versuch kam es jedoch auf die Scheinbewegung des anderen der beiden
Halbbilder an, jenes Halbbildes also, das bei jeder der beiden Fixations¬
einstellungen der gleichen Netzhautstelle, nämlich der Netzhautgrube, an¬
gehörte. Diese Scheinbewegnng also war, wie Witasek feststellte, ungemein
auffallend bei der zweiäugigen Ausführung deB Versuches.
Zusammenfassend kann Witasek das Ergebnis seiner Nachprüfung so
formulieren: »Die Heringsche Scheinbewegung tritt bei monokularem Sehen,
wenn die Gesichtslinie nur des verschlossenen Auges sich verschiebt, nicht
ein. Wohl aber kommt sie zustande bei binokularem Sehen. . .. Die Lokali¬
sation eines Sehdinges im Sehraum, genauer, die Richtung, in der das Ding
erscheint, ist demnach nur bei binokularem Sehen durch die binokulare Blick¬
linie bestimmt und somit von der Lage der Blicklinie eines jeden der beiden
Augen abhängig. Beim monokularen Sehen dagegen ist die Richtung, in
der das Sehding erscheint, nicht im Sinne der Hcringschen Scheinbewegnng
auch von der Blicklinie des verdeckten Auges mit abhängig, sondern im
allgemeinen bloß durch die Funktion des sehenden Auges bestimmt« 1 ).
Die Tatsache, daß Hering und auch Witasek selbst zuweilen bei monoku¬
larem Sehen ein anderes Ergebnis erhielten, erklärt Witasek daraus, daß wahr¬
scheinlich das Auge beim Übergang der Fixation aus der Ferne in die Nähe eine
starke Tendenz zur Einstellung symmetrischer Konvergenz auf die Medianebene
besitze. Die Heringsche Scheinbewegnng bei monokularem Sehen sei daher
nichts weiter als eine Folge dieser nicht genügend unterdrückten Tendenz.
Durch Einführung einer Kontrolle der Augenbewegungen suchte Witasek
das Resultat, daß niemals eine Spur der Heringschen Scheinbewegung zum
Vorschein komme, wenn keine Angenbewegungen konstatiert wurden, sicher
zu stellen. Andere Versuche Witaseks sollen die Ungültigkeit des Hering¬
schen Gesetzes der identischen Sehrichtung für monokulares Sehen erweisen.
Da ihnen jedoch, worauf Hillobrand hingewiesen hat, eine von Hering
abweichende Auffassung dieses Gesetzes zugrunde liegt, so kommt diesen
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Literaturbericht.
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Soweit vorerst die Versuche Witaseks nnd die Resultate, die sich
daraus unmittelbar ergeben.
Zur Erklärung der MLD zieht Witasek zunächst die Möglichkeit einer
Parallaxenwirkung in Betracht. Er lehnt sie aber ab, weil bei seiner Ver¬
suchsanordnung beim Wechsel der Gesichtsfelder in der relativen räumlichen
Anordnung und Ausmessung der Sebdinge innerhalb des Gesichtsfeldes nicht
das Mindeste sich ändere und überhaupt keine Verschiebung irgendeines Seh¬
dinges relativ zur Marke stattfinde.
Er diskutiert sodann auch die Möglichkeit von unwillkürlichen Augen-
bewegungen und dadurch hervorgerufenen Doppelbildern genauer, da diese
nicht gleichzeitig sichtbar sind, Halbbildern, die, als disparaten Netzhaut¬
punkten zugehörig, ganz selbstverständlich verschieden lokalisiert erscheinen
müßten. Dabei seien zwei Möglichkeiten von unwillkürlichen Augenbewegungen
zu unterscheiden:
a) die Fixation weiche durch die unwillkürliche Augenbewegung nach
einem Uber die Marke hinaus entfernter liegenden Punkte, also im Sinne
verminderter Konvergenz, aus oder
b) die Fixation ändere sich so, daß der Fixationspunkt näher zu liegen
komme alB die Marke, also im Sinne vermehrter Konvergenz. Im Fall a
komme es zu gekreuzten Doppelbildern bzw. Halbbildern; dieselben wiesen
also tatsächlich eben die gegenseitige Lage zueinander auf, in die sich die
Marke beim monokularen Wechsel zu verrücken scheine. Im Falle b, bei
Näherfixation, ergäben sich aber ungekreuzte Doppelbilder. Dann ließe sich
nach Witasek etwa folgende Erklärung finden: Angenommen das Auge
sei, während es verdeckt ist, nach innen, also im Sinne größerer Konvergenz,
von der ursprünglichen Fixation abgewichen. Wenn es dann wieder geöffnet
werde, so bilde sich die Marke nicht auf der Netzhautgrube, sondern an einer
seitlich nach innen zu gelegenen Stelle der Netzhaut ab. Darauf richte sich
das Auge unwillkürlich wieder auf den Fixationspunkt ein, bo daß das
Netzbautbildchen der Marke von dem seitlichen inneren Fixationspunkte
gegen auswärts auf die Netzhautgrube zu rücke. Daraus resultiere dann der
trügerische Eindruck eines entgegengesetzt, das ist nach innen, nach der
Seite des eben verdeckten Auges hin gerichteten Rückens der Marke, also
eben der Bewegung, wie sie Witasek bei seinen Versuchen wahrnimmt.
Es muß hier betont werden, was Witasek nicht genug hervorhebt, daß
nach dieser Argumentation die Vp. im Falle a den scheinbaren Ort der
Marke als mehr nach innen liegend, im Falle b aber die scheinbare Be¬
wegung der Marke als nach innen hin, nämlich auf den tatsächlichen Ort der
Marke zu gerichtet beurteilt. Im Falle b würde also die scheinbare Lage
der Marke, die als nach außen liegend erscheinen müßte, nicht bewußt,
im Falle a würde entweder eine RUckbewegung des Auges ausbleiben,
oder, wenn sie einträte, würde die scheinbare Bewegung de* Marke nicht
als von innen nach außen hin gerichtet, bewußt.
Die Möglichkeit einer unveränderten Fixation glaubt a.\>eT WitaBek
durch eine Reihe von Kontrollversuchen nachweisen zu können; 1) Er weist
die Möglichkeit eines dauernden Festhaltens einer bestimmte**
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Konvergenz-
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unverändert an seiner Stelle zu halten. 3) Eine zweite Kontrolle mit Hilfe
der Nachbilder. Er läßt die Fixationsmarke als kleines, kreisrundes, dunkles
Scheibchen auf möglichst hellem Grunde erscheinen, setzt dem äußeren Ende
des einen Guckrohres einen leichten abnehmbaren Deckel auf, der in der
Mitte ein mäßig großes kreisrundes Loch hat, und fixiert durch dieses Loch
hindurch mit dem einen Ange — das andere bleibt während des ganzen
Kontrollversuches geschlossen — eine halbe bis 3 /« Minute lang die Marke.
Sie erscheint dabei inmitten eines kreisrunden, hellen Ringes. Schließt man
dann für einen Moment das Auge, nimmt inzwischen den Deckel vom Guck¬
rohre ab und fixiert die Marke weiter, so erscheint sie nun inmitten eines
dunklen Ringes, des Nachbildes von jenem hellen, und dieser auf intensiv
hellem ausgedehntem Hintergrund. Dieser Anblick zeigt, daß es gelungen
ist, während des Verschlusses die Fixation festzuhalten. 4) Ein vierter Kon-
trollversuch betrifft den Fall, wo das eine Auge geöffnet bleibt, während
das andere geschlossen wird. Witasek bringt in den Verschlußschirm eine
ganz feine Öffnung (Vs mm Durchmesser) so an. daß sie bei auf die Marke
gerichteter Gesichtslinie von dieser passiert wird, und zwar so, daß diese
Öffnung während der ganzen Bewegung des VerBchlußschirmes durch ein
zweites, diesem aufsitzendes kleines Schirmchen mit Feder- und Gegenzug
verdeckt bleibt und erst im Moment des Verschlußstillstandes enthüllt wird.
Die Folge müßte sein, daß, falls das verdeckte Auge eine unwillkürliche
Konvergenzänderung der beschriebenen Art machte, das aufblitzende Licht-
pünktchen eine Scheinbewegung machte. Von einer solchen Scheinbewegung
jedoch bemerkt Witasek keine Spur.
Diese Kontrollversuche haben den Nachteil, daß sie nicht unmittelbar
mit der Hauptversuchsanordnung verbunden sind.
Als Gegenargumente führt Witasek sodann noch im besonderen den
Fall an, daß die Scheinbewegung beim Augenwechsel auch dann eintritt,
wenn die Marke sich in unendlicher Entfernung befindet. Damit sei eine
ZurUckführung auf gekreuzte Doppelbilder ausgeschlossen. In diesem Falle
sei nämlich der Konvergenzwinkel bei Fixation der Marke gleich Null, und
daher eine weitere unwillkürliche Verminderung desselben bei Verschluß des
einen oder anderen Auges ausgeschlossen.
Der Fall b, also eine ZurUckführung auf ungekreuzte Doppelbilder scheint
Witasek deshalb ausgeschlossen zu sein, weil hierbei für das Zustande¬
kommen des scheinbaren nach innen Rückens der Marke beim Öffnen des einen
Auges ein Datum aus dem Sehfelde des anderen Auges gar nicht erforder¬
lich sei, und daher der Schein, daß die Marke nach innen rücke, auch zu¬
stande kommen müßte, wenn das zweite Auge dauernd verschlossen bliebe
und nur daB andere zunächst auf Fixation eingestellt und dann im alten
Tempo abwechselnd zu- und aufgedeckt würde. Bei einem derartigen mon¬
okularen Experimente aber stehe die Marke dauernd fest und unbeweglich.
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Literaturbericht. 79
Hillebrand vorbringt, scheinen mir besondere folgende beachtenswert
zu sein:
Gegen die Methode mit Hilfe der Nachbilder macht Hillebrand geltend,
daß man nicht vorraussetzen dürfe, daß sich jede Augenbewegung durch
eine Bewegung des Nachbildes verrate. Daß dies nicht im entferntesten
geschehe, zeige die Tatsache, daß die vehementen Bewegungen, die die
Augen beim Drehschwindel ausführen, ein vorher erzeugtes, dauerhaftes
Nachbild in völliger Ruhe lassen, wenn die Augen geschlossen sind.
Gegen den Schluß, den Witasek aus der Tatsache zieht, daß die
scheinbare Verschiebung der Marke auch dann zu beobachten ist, wenn man
den Grundversuch mit einem unendlich fernen Fixationsobjekt anstellt, macht
Hillebrand die Möglichkeit einer Heterophorie, speziell hier einer Exophorie
geltend; wäre diese gegeben, so träte eine über die Parallelstellung hinaus¬
gehende Divergenz der Augenachsen ein. Damit wäre dann die Möglichkeit
von Doppelbildern gegeben. Entsprechend wäre auch für jede Ablenkung
der Gesichtslinie des geschlossenen Auges ira Sinne einer verminderten
Konvergenz Exophorie, und für eine Ablenkung im Sinne vergrößerter
Konvergenz Esophorie als Ursache anzunehmen. Auf die Möglichkeit einer
Heterophorie kommt Witasek in seiner Schrift »Lokalisationsdifferenz und
latente Gleichgewichtsstörung« J ) zu sprechen, mit dem Resultat, daß er zwar
kein Kriterium dagegen angeführt habe, daß nicht gegebenenfalls eine mon¬
okulare Lokalisationsdifferenz durch eine bestehende latente Divergenz vor¬
getäuscht werden könnte, er aber glaube, soweit es mit den zur Verfügung
stehenden Untersuchungsmitteln überhaupt möglich sei, gezeigt zu haben,
daß eine monokulare Lokalisationsdifferenz auch dort deutlich und regel¬
mäßig zur Geltung kommen könne, wo von einer beständigen latenten
Divergenz keine Spuren nachzuweisen seien.« Welche von den Lehrmeinungen
der beiden Autoren zu Recht bestehe, kann im Zusammenhänge dieses Refe¬
rates nicht entschieden werden.
Den Standpunkt Witaseks haben wir bisher nur insoweit kennen ge¬
lernt, als er Parallaxenwirkung und unwillkürliche Augenbewegungen
ablehnt. Die positive Erklärung Witaseks ist folgende: »Korrespondieren¬
den Netzhautstellen ist bei binokularem Sehen eine einzige Sehstelle der
Sehsphäre zugeordnet — und sie sind dadurch als solche definiert. — Man
sieht also trotz doppelten Netzhautbildes mit ihnen einfach; im monokularen
Sehen sind ihnen um die Monokularlokalisationsdifferenz verschiedene Seh¬
stellen zugeordnet.« Unter Sehsphäre ist dabei »jene räumliche Sehmannig¬
faltigkeit« gemeint, »die nur nach zwei Dimensionen bestimmt, nach der
dritten dagegen völlig unbestimmt ist«. »Die Elemente der Sehsphäre, die
nach zwei Dimensionen unabhängig variabel, nach der dritten jedoch unbe¬
stimmt sind, heißen Sehstellen 2 ).« In einer späteren Schrift, *In Sachen der
Lokalisationsdifferenz« 3), wird zur Erklärung im besonderen gesagt: »Hin¬
sichtlich der Ortsempfindungen ist das Auge nur zusammen mit seinem Be-
_~~__X __!_.1_A_ F\ _
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Literaturbericht.
bestimmt, sondern noch mitbestimrat durch den jeweils mitgegebenen Kon-
traktionsverteilungszuBtand des Bewegungsapparates. Es boII dies nicht ein
Znrilckgreifen auf die Muskel- oder Bewegungsempfindungstheorie bedeuten.«
Witasek betrachtet sich als im Gegensatz zu Hering stehend insofern, als
nach dessen Lehre die absolute Lokalisation lediglich durch die Anfmerk-
samkeitsrichtung bestimmt sein soll. In seinem jetzt erschienenen Werke
»Psychologie der Raumwahrnehmung des Auges« 1 ) kommt er darauf näher
zu sprechen.
Zusammenfassend können wir somit sagen, daß auch die Erklärung
Witaseks physiologisch ist. Sie unterscheidet sich von der Hillebrands
dadurch, daß dieser unwillkürliche Augenbewegungen in Anspruch nimmt,
durch die eine unbemerkte Verschiebung der Netzhautbilder zustande
komme, Witasek aber eine Konstanz der Netzbautbilder voraussetzt und
die psychologisch verschiedene Wirkung abhängig sein läßt von Verände¬
rungen des Kontraktionsverteilnngszustandes. Welche von diesen beiden
Hypothesen zu Recht bestehe, dürfte wohl noch keiner der Autoren ein¬
deutig nachgewiesen haben.
Diesen beiden physiologischen Hypothesen stellt v. Sterneck in
seinem Aufsatze »Über wahre und scheinbare monokulare Sehrichtungen« 2 )
eine psychologische gegenüber, auf die wir gleichfalls eingehen müssen. Die
Versuche von v. Sterneck sind zunächst darauf gerichtet, eine quantitative
Bestimmung der MLD zu liefern. Bei diesen Versuchen wurden folgende
Entfernungen d eines glimmenden Punktes von der Basallinie der Augen ge¬
wählt: d = 10, 30, 60. 100, 40) cm. Die Resultate waren folgende:
1) d = 10 cm. Das rechte Auge lokalisierte um 3,5 cm weiter links als
das linke MLD == 3,5 cm
2) d = 30 cm MLD = + 1.6 cm
3) d = 60 cm MLD = + 0,5 cm
4) d = 1 m MLD = — 1 cm, d. h. in diesem Falle loka¬
lisierte das rechte Auge um etwa 1 cm weiter rechts als das linke,
v. Sterneck fand also das von Witasek abweichende Resultat, daß die
MLD bei ihm in der Nähe zwar wie bei Witasek positiv sei, bei 1 m aber
ihr Vorzeichen umkehre
Auf Gruud seiner Versuche erhebt nun v. Sterneck gegen Witasek
folgendes edenken. Er sagt: »Wenn wirklich den einzelnen Netzhautstellen
im monokularen Sehen andere Stellen des Sehfeldes zugeordnet wären als
im binokularen, so müßte sich diese Verschiedenheit für unser räumliches
Sehen in einem ganz bestimmten Winkelwert der MLD äußern, so daß die
seitliche Verschiebung des gesehenen Gegenstandes seiner scheinbaren Ent¬
fernung proportional wäre.« Hiervon aber zeigen die Versuche v. Sternecks
das Gegenteil, denn die MLD nimmt im Anfang bei zunehmender Entfernung
ab, bis sie 0 und dann negativ wird. Dieser Einwand war im wesentlichen
schon von Hillebrand 3 ) erhoben worden, dem Witasek 4 ) folgendes ent-
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gegenhält: >1) Wir wissen, daß die scheinbare Distanz zweier auf zwei fixen
Netzhautpunkten zur Abbildung gelangender äußerer Punkte durchaus nicht
proportional mit ihrer Entfernung vom Auge sich ändert. 2) Wir können
nicht erwarten, daß der offenbar mit der muskulären Einstellung des Auges
irgendwie zusammenhängende, im übrigen aber noch recht unbekannte Faktor,
der die absolute Lokalisation bedingt, oder zum mindesten mitbedingt, der
daher auch die räumliche Reaktionsweise der einzelnen Netzhautpunkte mit¬
bestimmt und so der Monokularlokalisationsdifferenz zugrunde liegt, in seinem
Einflüsse auf die Lokalisationsdifferenz bei jeder Objektdistanz, d. h. also bei
jedem Konvergenzwinkel mit demselben Winkel zur Geltung kommen müßte.«
Gegen Hillebrand macht dann v. Sterneck besonders noch geltend,
daß sich sein (v. Sternecks) Versuchsergebnis von seiner starken Über¬
sichtigkeit (linkes Auge 6 D, rechtes Auge 4 D) unabhängig erwies. Er
korrigierte die Augen zunächst nicht, dann mit + 2,25, + 3,0, +6,26,
+ 7,6 D und erhielt immer genau dasselbe Ergebnis der MLD. Da hier ganz
verschiedene Akkommodationszustände der Augen vorlägen, so müßte auch
eine entsprechende Veränderung im Konvergenzzustande Platz greifen und
demnach eine Änderung der MLD stattfinden. Wir können noch hinzufügen,
daß jene Veränderungen der Akkommodationszustände auch über die Grenze
der relativen Akkommodationsbreite hinauslagen.
Den physiologischen Hypothesen stellt v. Sterneck die psychologische
entgegen: Das Phänomen der MLD habe den Charakter einer Täuschung
über die Sehrichtung. Der Grund der Täuschung liege, wie bei allen Sinnes¬
täuschungen in einer ungewohnten Art der Verwendung der Sinnesorgane,
bei der es nur unvollkommen an die Umgebung angepaßt sei, so daß mit
den von ihm gelieferten Empfindungskomplexen keine richtigen Vorstellungen
über die Außenwelt assoziiert würden. Im besonderen liege der Grund für
die MLD in der für den Zweiäugigen höchst ungewohnten Situation des
monokularen Sehens. Je ungewohnter die Situation, desto beträchtlicher
die Täuschung.
Eine Stütze seiner Theorie findet v. Sterneck durch folgenden Versuch,
der allerdings nicht unmittelbar die MLD berührt, sondern lediglich die
Möglichkeit von Scheinbewegungen auf Grund einer Täuschung dartun soll,
v. Sterneck fixiert einen leuchtenden Punkt kontinuierlich monokular und
wendet während der Fixation den Kopf nach rechts. Der Erfolg ist, daß
der gesehene Punkt im Sehranme Bich scheinbar nach links bewegt. Wendet
er den Kopf nach links, bo bewegt sich die gesehene Marke scheinbar nach
rechts. Dieselbe Erscheinung findet statt, wenn nicht monokular, sondern
binokular fixiert wird. Da in diesem Versuche, sagt v. Sterneck*), wenn
er binokular ausgeführt wird, beide Augen in derselben Konvergenzstellung
bleiben, so kann die Scheinbewegung nicht auf einer Änderung der Kon-
vergenzBtellung beruhen. »Wir können also die geschilderte Scheinbewegung
des fixierten, in Wirklichkeit ruhenden Punktes in der Tat als eine Täuschung
v • i 1 j. r»l! _1-!.Li--1 -a!«- TT -f. J»._ _1-Li.__
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Über die Bedeutung des Gesetzes von der MLD für das Gesetz von
den identischen Sehrichtungen sind Meinungsverschiedenheiten zwischen
Witasek und Hillebrand entstanden. Im folgenden soll versucht
werden, das zur Lösung dieser Frage Entscheidende herauszuheben.
Hillebrand 1 ) hat darauf hingewiesen, daß der Satz von den identischen
Sehrichtungen in dem Sinne, wie er bei Hering zu nehmen sei, aussage,
daß korrespondierenden Netzhautpunkten, wenn sie von Lichtstrahlen ge¬
troffen werden, die von Punkten korrespondierender Gesichtslinien ausgehen,
ein und dieselbe Sehrichtung zukomme, daß dieser Satz also keine Be¬
stimmung Uber die Beschaffenheit dieser für beide Augen »identischen« Seh¬
richtung enthalte, im besonderen also auch keine Bestimmung darüber, ob
diese Sehrichtung unter bestimmten Umständen mit der binokularen Blick¬
linie Zusammenfalle.
Den Ausführungen Witaseks liegt zum Teil eine etwas andere Auf¬
fassung von dem Gesetze der identischen Sehrichtungen zugrunde; er faßt
es nämlich auch in dem Sinne auf, daß ein und derselben Netzhautstelle,
wenn sie von Lichtstrahlen getroffen wird, die von Punkten ein und der¬
selben Gesichtslinie ausgehen, ein und dieselbe Sehrichtung zukomme, bei
monokularem wie bei binokularem Sehen. Witasek weist nach, daß eine
»Identität« in diesem Sinne nicht bestehe. Eine zweite Abweichung von
der Form des Gesetzes, wie es bei Hering zu nehmen ist, besteht bei
Witasek darin, daß er die Sehrichtung durch Sehstelle einer Sehsphäre
umschreibt.
Wenn wir in die Fassung des Gesetzes, wie es im Sinne Herings liegt,
zunächst nur die zweite von den angeführten Abweichungen einführen, so
bleibt für dasselbe bestehen, daß es keine Bestimmung über die Beschaffen¬
heit der Sehrichtung bzw. Sehstelle enthält, im besonderen also keine Be¬
stimmung darüber, ob den Netzhautstellen des deutlichsten Sehens bei Primär¬
stellung der Augen diejenige Sehstelle als identische zuzuordnen sei, die
derjenigen Sehrichtung entspricht, die wir mit der binokularen Blicklinie
zusammenfallend denken. Für das Gesetz der identischen Sehstelle, wenn
es in diesem Sinne, d. h. lediglich in Beziehung auf korrespondierende Netz¬
hautpunkte genommen wird, gilt also auch, daß es auf monokulares Sehen
nicht anwendbar ist.
Auch in der Umformung des Gesetzes der identischen Sehrichtungen,
wie sie Witasek für monokulares Sehen vornimmt, enthält dasselbe keine
Bestimmung über die Beschaffenheit der Sehrichtung, deren Identität für ein
und dieselbe Netzhautstelle bei binokularem und monokularem Sehen geprüft
wird, im besonderen also keine Bestimmung darüber, ob bei monokularem
Sehen die Sehrichtung identisch sei mit derjenigen, die wir bei binokularem
Sehen mit der binokularen Blicklinie zusammenfallend denken. Entsprechen¬
des gilt, wenn wir auch hier den Ausdruck Sehstelle einer Sehsphäre ein¬
führen. Es muß bemerkt werden, daß bei Witasek diese Verhältnisse nicht
klar genug zum Ausdruck gebracht worden sind.
Zu den Ausführungen Hillcbrands ist noch zu bemerken, daß sie
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Literaturbericht
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die Unabhängigkeit dieses von jenem. Nehmen wir an, das Gesetz der iden¬
tischen Sehrichtnng sei aufgehoben, so folgt daraus, daß wir nicht auch in
die binokulare Blicklinie lokalisieren, da diese ja nur eine, also eine für
beide Augen identische Richtung darstellt. Wenn aber das eine Auge einen
bestimmten Sehpunkt bei binokularem Sehen in die binokulare Blicklinie,
das andere ihn dagegen in eine andere Richtung lokalisiert, so ist zwar
denkbar, daß das Erstere bei monokularem Sehen diesen Sehpunkt in dieselbe
Richtung lokalisiert. Aber dies ist, wenn wir jeweils von der Beschaffenheit
der Sehrichtung absehen, gleichbedeutend mit einer Unabhängigkeit des Ge¬
setzes der identischen Sehrichtung in dem modifizierten Sinne, in dem es
Witasek nimmt, von dem Gesetze der identischen Sehricbtung wie es im
Sinne Herings gilt.
Die Umschreibung der Sehrichtung durch Sehstelle einer Sehsphäre gibt
zu einigen Bemerkungen Anlaß. Witasek 1 ) gewinnt den Begriff der Seh¬
sphäre durch Ableitung aus dem Begriffe des Sehraumes. Dieser ist »die
dreidimensionale Mannigfaltigkeit, deren jedes Element (jeder Sehraumpunkt)
nach den drei Dimensionen eindeutig bestimmt ist«. Der erste Schritt der
Ableitung gibt den Begriff des Sehfeldes. Dieses ist »eine zweidimensionale
Mannigfaltigkeit«, deren Elemente »im weiteren Sinne jener dreidimensionalen
Mannigfaltigkeit angehören« und »dadurch ausgewählt sind, daß zu jeder
Doppelbestimmtheit nach der ersten und zweiten Dimension nur eine einzige
(nicht viele, wie im Sehraum) der dritten Dimension gehört, mit anderen
Worten, daß, wenn die Koordinaten der ersten und zweiten Dimension ge¬
geben Bind, die nach der dritten nicht mehr variabel, sondern eindeutig ab¬
hängig ist: Das Sehfeld ist eine in bestimmter Tiefe im Sehraum lokalisierte
Fläche.« Ein zweiter Schritt der Ableitung führt zu dem Begriff der Seh¬
sphäre. »Sie ist jene räumliche Sehmannigfaltigkeit, die nur nach zwei
Dimensionen bestimmt, nach der dritten dagegen völlig unbestimmt ist. Die
Elemente der Sehsphäre, die, gerade so wie die des Sehfeldes, nach zwei
Dimensionen unabhängig variabel, nach der dritten jedoch im Gegensatz zu
diesem, unbestimmt sind, sollen, da der Punkt nach drei Dimensionen be¬
stimmt sein muß und daher die Ausdrücke Sehraum oder Sehsphären un¬
richtig wären, Sehstellen heißen.« Die definitorischen Bestimmungen, die
Witasek für Sehraum, Sehfeld und Sehsphäre gibt, sind den Begriffen des
dreidimensionalen Raumes, der Fläche im dreidimensionalen Raum und der
Fläche im zweidimensionalen Raum entnommen. Wenn wir mit Hering
unter Sehraum >den Raum, wie er uns in einem gegebenen Augenblicke er¬
scheint«, verstehen, so haben jene definitorischen Bestimmungen für den
Sehraum als solchen keine Geltung, deshalb nämlich nicht, weil Bie nicht
den Bestand des im Sehraum psychologisch Gegebenen treffen. Aber da der
zweidimensionalen Fläche in unserem entwickelten Bewußtsein keine Seh¬
sphäre, d. i. kein Anschauungsbild eines nnr zweidimensionalen Raumgebildes
entspricht, so ist jene Deduktion der zweidimensionalen Fläche zweckmäßig,
um ein entsprechendes Anschauungsbild als möglich zu fordern. Diese
Forderung wird erfüllt in der Annahme, daß die Sehsphäre, »als die unserem
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liehen Anschauung wäre jene Begriffsbildung nur dann zweckmäßig, wenn
sich nachweisen ließe, daß die Sehsphäre einen einfachen Bestandteil der
Raumanschauung als eines Anschauungskomplexes ansmache, wie analoger¬
weise die reinen sinnlichen Empfindungen als einfache Bestandteile aus den
psychologisch unmittelbar gegebenen Empfindungskomplexen durch Ab¬
straktion allererst gewonnen werden. Daß die Sehsphäre ein solches un¬
mittelbar sinnlich Gegebenes, gegenüber dem Sehraum psychologisch Ein¬
faches. die Sehrichtung dagegen ein Produkt gedanklicher Verarbeitung des
sinnlich Gegebenen sei, ist der Sinn der Annahme Witaseks. »Der Rich¬
tungsgedanke ist von sekundärer Natur. Die Richtung nehmen wir nicht
wahr, sondern denken sie auf Grund der Wahrnehmungsdaten aus eigenem
hiuzu . . . Der Richtungsgedanke ist uns niemals unmittelbar durch Sinnes¬
tätigkeit gegeben, sondern immer erst auf einem Umwege gedanklicher Ver¬
arbeitung des der Sinnestätigkeit unmittelbar Entstammenden ... Zur Bildung
des Richtungsgedankens sind die Vorstellungen von zwei örtlich bestimmten
Gegenständen, kurz von zwei Ortsbestimmungen erforderlich . .. Um die
Sehrichtung aufzufassen, ist erforderlich, den Sehort des Sehdinges zum
Orte des Sehenden in Beziehung zu setzen. Der Ort des Sehenden wird aber
nicht wie der des Sehdinges, im Sehakto mit wahrgenommen ... Es muß
also der durch die Wahrnehmung gebotene anschaulich gegebene Sehraum
erst noch konstruktiv im Geiste ergänzt werden, indem man ihm in der
Phantasie den Raum, in welchem man sich vermöge anderweitiger Data den
eigenen Körper (genauer den Kopf) vorstellt, anfügt. Ist das geschehen, so
hat man wieder die beiden Gegenstände bzw. ihre Ortsbestimmungen in der
Vorstellung, die in Beziehung zueinander zu setzen sind, damit die Richtung
von dem einen zum anderen erfaßt werden könne, die Richtung von sich
selbst, dem Sehenden aus (diesen als Sehding im erweiterten Sehraum vor-
gestellt) zum jeweiligen Sehding.«
Hillebrand vertritt demgegenüber die Ansicht, daß die Sehrichtung
»unmittelbar und anschaulich« gegeben sei. Die Sehrichtung ist nach ihm
»kein Relationsbegriff« und setzt nicht die Zweiheit von Orten voraus, die
aufeinander bezogen werden.« Er unterscheidet demgemäß einen primären
und einen abgeleiteten Richtungsbegriff: »Der primäre ist der Sebrichtnng
entnommen, und nur eine Verallgemeinerung dieses Phänomens, der abge¬
leitete« — der für die Richtung zweier objektiver Punkte zueinander gilt —
»unterscheidet sich von ihm nur dadurch, daß er von dem tatsächlichen Seh¬
akte abstrahiert und statt dessen bloß den Ort angibt, wo sich dieser ab-
spielen müßte.«
Die Entscheidung über diese Frage ist abhängig von einer Prüfung, ob
hier in der Tat das Wahrgenommene und das Hinzugedachte getrennt werden
können, oder ob nicht das räumliche Nebeneinander, auch wie es in der un¬
mittelbaren Wahrnehmung gegeben ist, ein Produkt unseres beziehenden
Denkens sei und als solches einen Bestandteil unserer Wahrnehmung aus-
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jedes räumliche Verhältnis eine Beziehung sei. Daß in unserem entwickelten
Bewußtsein der eine der Beziehungspunkte im Verlaufe der Gewöhnung und
der ihr entsprechenden Verringerung der Aufmerksamkeit sehr undeutlich
bewußt oder gar nur unbewußt erregt geworden ist, würde nicht gegen jene
Annahme sprechen.
Zum Schlüsse dieses Referates sei mir gestattet, einige Ergebnisse von
Versuchen, die zur Nachprüfung der Ergebnisse Witaseks angestellt wurden,
beizufügen. Ich bin dabei auf Tatsachen gestoßen, die die Möglichkeit
einer psychologischen Dentung zulassen.
Witasek fand, daß die Heringsche Scheinbewegung bei binokularem
Sehen sehr ausgeprägt zustande komme. Den betreffenden Versuch Wita¬
seks wiederholte ich: Ich fixierte zuerst binokular einen fernen Punkt a,
darauf einen nahen Punkt b, der mit a auf derselben Gesichtslinie des
rechten Auges lag. Die Scheinbewegung konnte ich anfangs mühelos beob¬
achten, bis es mir einfiel, während ich den fernen Punkt a fixierte, zugleich
meine Aufmerksamkeit auf daB dem rechten Auge zukommende Halbbild ß r
des nahen Punktes b zu richten. Wenn ich nun die Augen nach dem nahen
Punkte konvergierte, und dabei immer das nahe Halbbild ß r und während
des ganzen Verlaufes der Konvergenzbewegung auch die Lage von ß r zu
dem jetzt auftretenden, dem rechten Auge zugehörigen, Halbbild « r des
fernen Punktes a, streng beachtete, so konnte ich keine Spur einer Bewegung
eines zum rechten Auge gehörigen Halbbildes, weder des nahen noch des
fernen bemerken. Das gleiche Resultat erhielt ich bei entsprechendem Über¬
gang von der nahen zur fernen Marke. Dieses Resultat bedeutet, daß das
Zustandekommen der Scheinbewegung von der Einstellung der Aufmerksam¬
keit abhängt. Die Scheinbewegung ist also in diesem Falle nicht peripher,
sondern zentral bedingt. Es liegt demnach nahe, anzunehmen, daß sie, wenn
sie eintritt, auf einer durch Unaufmerksamkeit bedingten Täuschung beruht,
die hervorgerufen wird durch den Kontrast zu der entgegengesetzt gerich¬
teten Bewegung des Halbbildes ßi bzw. rt ( des linken Auges.
Die Annahme einer »Urteilstäuschung« glaubt Witasek auB folgendem
Grunde ablehnen zu können: »Schon der bloße genaue Augenschein der
Vorgänge im Sehraum zeigt, daß nicht nur das Halbbild des bewegten,
sondern auch das des ruhenden Auges eine Verschiebung im Sehraum er¬
leidet. Wenn man schon, was übrigens unbegründet wäre, dem anschaulichen
Bewegungseindruck, der an beiden Halbbildern gleich deutlich auftrete, mi߬
trauen zu müssen glaubt, so spricht doch der Vergleich der ursprünglichen
mit der schließlichen absoluten Lage dieses Halbbildes im Sehraum be¬
stimmtest dafür, daß seine Lage nicht dieselbe bleibt.« Auch nach Wita¬
seks Auffassung ist die Bewegung des in Betracht kommenden Halbbildes
eine Scheinbewegung; es geht aber nicht an, den anschaulichen Charakter
dieser Scheinbewegung als Gegenargument dagegen aufzustellen , daß die
Scheinbewegung nicht auf einer »Urteilstäuschung« beruhe.
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einer solchen Einstellung, daß das Halbbild ß t mit dem Halbbild a r zusammen¬
fiel. Dann verdeckte ich das linke Auge und beobachtete die scheinbare
Verschiebung von a r und ß r nach links hin.
Darauf aber veränderte ich den Versuch folgendermaßen: Ich stellte die
Augen so ein, daß das rechte Auge a fixierte, während das Halbbild ß r vom
Punkte b auf den blinden Fleck dieses Auges fiel, und entsprechend das
linke Auge b fixierte, während das Halbbild «/ auf den blinden Fleck des
linken Auges fiel, und zwar so, daß die Halbbilder « r und ß t zusammenfielen.
Die Beibehaltung der Fixationsstellung erleichterte ich mir zunächst dadurch,
daß ich den Konvergenzpunkt der beiden Augenachsen durch eine Feder¬
spitze markierte. Wenn ich nun das eine Auge verdeckte und dann wieder
freigab, so konnte ich eine inzwischen stattgefundene Abweichung aus der
Fixationsstellung daran kontrollieren, daß die Halbbilder und ßi sich nun
nicht mehr deckten. Stärkere Abweichungen konnte ich schon während des
Verschlusses des einen Auges an dem Auftauchen des vorher auf den blinden
Fleck fallenden Halbbildes «/ bzw. ß r des offenbleibenden Auges feststellen.
In allen Fällen, wo eine Abweichung der Fixationsstellung nicht konstatiert
wurde, blieb bei dieser Versuchsanordnung das Phänomen der Scheinbewegung
aus. Einige Male gelang es mir auch, die Fixationsstellung ohne Hilfe der
Federspitzo beizubehalten, mit dem gleichen negativen Erfolge. Daraus geht
hervor, daß das Auftreten des Phänomens in der ersten Versuchsanordnung
durch das Vorhandensein der Halbbilder a r und ß t bedingt ist. Dies legt
folgende Deutung nahe: Während im ersten Stadium des I. Versuches mit
einem scheinbar identischen Punkte, wo beide Augen geöffnet sind, die
Aufmerksamkeit auf den Punkt u r ß t gerichtet ist und tu und ß r gleich¬
mäßig nebenher beachtet werden, tritt im zweiten Stadium dieses Ver¬
suches eine andere Verteilung der Aufmerksamkeit ein. Durch das Ver¬
schwinden von ui verliert der Punkt a r ß t seine Stellung als Zentrum des
Sehfeldes. ß r drängt sich infolgedessen flir die Beachtung mehr hervor. Eine
damit wahrscheinlich verbundene Verschiebung des Zentrums des Aufmerk¬
samkeitsbereiches nach rechts hin scheint eine Täuschung über die Lage
der Punkte u t und ß r in der Richtung nach links zu veranlassen. Dem¬
entsprechend fällt bei der II. Versuchsanordnung, wo im zweiten Stadium ß r
nicht vorhanden ist, und daher keine Verschiebung des Zentrums des Auf¬
merksamkeitsbereiches stattfindet, die Täuschung aus. Ich versuchte darauf,
bei der ersten Anordnung der Täuschung entgegen zu wirken, indem ich
meine Aufmerksamkeit streng darauf einstellte, ob beim Zudecken des
linken Auges das linke Halbbild verschwinden werde und hielt beim Ver¬
schluß dieses Auges den Ort, wo das Bild verschwand, noch streng be¬
achtet. Ich kann mit großer Gewißheit sagen, daß dabei eine Schein¬
bewegung nicht zustande kam, und daß es mir bei den unmittelbar darauf¬
folgenden Versuchen nur noch in einzelnen Fällen gelang, diese Aulmerk-
samkeitseinstelluns’ zu unterdrücken und eine Scheinbewesrnne- zu erhalten.
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Referate
2) E. B. Titchener, Lehrbuch der Psychologie. Übersetzt von 0. Klemm.
Erster Teil. Mit 44 Figuren. 8°. 315 S. Leipzig, J. A. Barth,
1910. M. 6.—; geb. M. 6.80.
3) W. Jerusalem, Lehrbuch der Psychologie. 4. Aufl. Mit 20 Abbil¬
dungen. gr. 8o. 213 S. Wien und Leipzig, W. Braumiiller, 1907.
geb. Kr. 4.—.
Der vorwiegend didaktische Zweck der beiden vorliegenden Bücher
dürfte ohne weiteres eine gemeinsame Besprechung derselben rechtfertigen;
dazu kommt der zum Teil übereinstimmende, zum Teil sich widerstreitende
oder ergänzende Inhalt der Bücher, der zu Gegenüberstellungen und zu Ver¬
gleichen auffordert. In der Hauptsache wird es natürlich unsere Aufgabe
bleiben, die wissenschaftlichen Momente herauszuziehen und in den Vorder¬
grund zu stellen. Beide Bücher sind für Anfänger geschrieben und zwar
für Schüler der Oberklassen mittlerer Lehranstalten: Gymnasien, Realgymna¬
sien usw., sowie für Studenten der Hochschule, die Vorlesungen über Psycho¬
logie hören. Leider sind in Deutschland die Fälle noch selten, wo die
Mittelschulen in ihrem Lehrplan der Psychologie so viel Raum übrig lassen,
daß von einem geordneten Betrieb derselben die Rede sein könnte. Bei
solch stiefmütterlicher Behandlung des Faches auf der Mittelschule ist es
denn für die Studierenden der Hochschule von großem Nutzen, wenn sie
neben dem gehörten Worte ihres Lehrers auch zugleich literarische Hilfs¬
mittel zu Rate ziehen können, die ihnen die Wiederholung des Gehörten
erleichtern, ihnen ferner eine Vorbereitung auf das Kommende ermöglichen
und sie in den Stand setzen, eingerissene Lücken sofort wieder auszugleichen.
Da die größeren fachwissenschaftlichen Handbücher erfahrungsgemäß für die
meisten Anfänger zu schwer sind, die kleineren populären Schriften anderer¬
seits aber zu wenig bieten, so dürften Lehrbücher wie die beiden vorliegen¬
den mit einer elementaren Ausdrucksweise bei anschaulicher Darstellung und
zugleich wissenschaftlicher Vollständigkeit unter der studierenden Jugend
stets Freunde und Abnehmer finden. Auch für das Selbststudium mögen die
beiden Bücher recht gute Dienste leisten, weil sie beide immer wieder zu
selbständigem Nachdenken anregen, sich nicht — wie so manche Schul¬
bücher — bloß an das Gedächtnis wenden und mit allgemeinen Begriffs¬
bestimmungen und logischen Ableitungen sich begnügen, sondern die Tat¬
sachen selber in den Mittelpunkt der Betrachtung stellen.
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Literaturbericht.
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Ausführungen etwas weniger konkret ausfallen, nichtsdestoweniger aber stets
bei den Tatsachen bleiben. Finden wir bei Titchener besonders die
Psychologie der Sinne, die Untersuchung der einfachen Empfindungen mit
einer Ausführlichkeit behandelt, wie dies sonst in Lehrbüchern der Psycho¬
logie nicht der Fall zu sein pflegt, so weist Jerusalem der elementaren
Sinnespsychologie einen verhältnismäßig knappen Raum an, verweilt dafür
aber ziemlich eingehend bei den komplizierteren Vorgängen des Vorstellungs¬
lebens und verwendet ganz besondere Sorgfalt auf die Untersuchung der
Gefühle, wobei es ihm aber mehr auf eine durchgehende Klassifikation und
biologisch-soziologische Betrachtung der Gefühle ankommt als auf ihre
psychologische Analyse. Titchener vermeidet es einigermaßen — soweit
der vorliegende erste Teil des Buches ein abschließendes Urteil zuläßt —,
nach umfassenden philosophischen Gesichtspunkten seine Gedanken zu orien¬
tieren; er untersucht und beschreibt vielmehr im allgemeinen die seelischen
Tatsachen ohne Rücksicht auf Theorien und Hypothesen. Jerusalem legt
seinen Betrachtungen, unbeschadet der streng empirischen Behandlung der
Fragen, stets das biologische Prinzip zugrunde und gibt auf diese Weise
seiner Darstellung den Charakter der Einheitlichkeit und des festen Zu¬
sammenhangs. — So tritt uns also Titchener in seinem Buche entgegen
als der mit dem Interesse und dem Geist des Naturforschers an die Einzel¬
tatsachen des Seelenlebens herantretende Kleinarbeiter, Jerusalem dagegen
als der mehr von allgemeinen Gesichtspunkten aus die seelischen Inhalte
logisch ordnende und biologisch-soziologisch betrachtende Philosoph.
Zu Einzelheiten übergehend, fällt uns bei Titchener vor allem die
weitgehende Analyse der Empfindungen auf Neben den sogenannten höheren
Sinnen finden wir genauer besprochen Geruchs-, Geschmacks- und Hautsinn;
und alles das, was gewöhnlich in der Hauptsache als Gemeinempfindungen
ganz kurz und flüchtig abgehandelt wird, finden wir hier sorgfältig analysiert
und geordnet unter den Titeln: Ampullarsinn und Vestibularsinn des inneren
Ohres, Empfindlichkeit der Unterleibsorgane, Empfindungen des Verdauungs¬
und Urinsystems, Empfindungen des Kreislaufs- und Atmungssystems, Emp¬
findungen des Genitalsystems. Die kinästhetischen Sinne: Muskelsinn, Sehnen¬
sinn, Gelenksinn sind außerdem scharf von den Sinnen der Haut abgetrennt
und zu selbständigen Empfindungsgrnppen vereinigt.
Bei Betrachtung des Gesichts und des Gehörs gibt Titchener
nichts wesentlich Neues. In der Farbentheorie steht er auf dem Standpunkt
Herings und folgt G. E. Müller in der Annahme eines kortikalen Ur¬
sprungs der neutralen Grauempfindnng. Zur Erklärung der Ton- und Klang¬
empfindungen macht er sich die Resonanzhypothese zu eigen und verteidigt
sie gegen andere Theorien, deren keine die Tatsachen so befriedigend er¬
kläre wie die Theorie Helmholtz’. — In dem Kapitel über Geruchs¬
empfindungen wird die Abhängigkeit der Gerüche von der Zusammen-
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übersteigt. Bei stärkeren Geschmäcken beobachtete er statt eines Ver¬
schmelzens ein Oszillieren von einem Geschmack znm anderen. — Dem
inneren Ohr schreibt Ti t che n er zwei selbständige k in ästhetische Sinne
zu, die — an bestimmte Organe gebunden — uns Wahrnehmungen über die
Bewegung und Lage des Kopfes sowie des ganzen Körpers verschaffen.
Diese Organe sind die Cristae der Bogengänge und die Maculae des
Vorhofs, die nach Ursprung und äußerer Beschaffenheit große Ähnlichkeit
miteinander besitzen, aber sich darin wesentlich unterscheiden, daß in den
Cristae die Haarzellen frei in die Ampullarrühren hineinreichen, während sie
in den Maculae winzige Kristalle von kohlensaurem Kalk, die Otolithen, ein¬
schließen, so daß im ersten Fall direkt die Flimmerhärchen als die empfin¬
denden Organe sich darstellen, während im zweiten Fall die Otolithen es
sind, deren Bewegung die Empfindung vermittelt. Durch Beispiele von
Taubstummenbeobachtungen sind die theoretischen Erörterungen über die
beiden Sinne des näheren noch erläutert und zu stützen versucht.
Nachdem in dem folgenden Abschnitt die Empfindungen der Unterleibs¬
organe im einzelnen geordnet und nach ihrer Eigenart ausführlich geschil¬
dert sind, behandelt ein weiteres Kapitel die Intensität der Empfindung, die
Maßmethoden und das Web ersehe Gesetz, wobei der Verf. im allgemeinen
den in den Handbüchern der Psychologie gegebenen Darstellungen folgt.
Von größerer eigenartiger Bedeutung ist dann wieder das Kapitel über das
Gefühl. Hier vertritt Titchener ganz entschieden die eindimensionale
Lust-Unlusttheorie und bekämpft ebenso entschieden die Dreidimensionalität
Wundts. Er macht dieser Theorie zunächst den Vorwurf des unlogischen
Aufbaues, indem sie drei Kategorien von Gefühlen annehme: die erste Kate¬
gorie Lust-Unlust (in Abhängigkeit gesetzt zu der Intensität der
Reize), die zweite Kategorie Erregung-Beruhigung (in Beziehung ge¬
bracht zu der Qualität der Reize) und die dritte Kategorie Spannung-
Lösung (abhängig von den zeitlichen Verhältnissen der Reize) —;
daß sie also eine dreifache Variation der Erlebnisse unterscheide, eine
Variation dem Grad, der Art und der Zeit nach, und jeder dieser Variationen
eine Geflihlskategorie entsprechen lasse. Da nun aber die räumliche Be¬
ziehung der Reize unberücksichtigt geblieben sei, so hätte Wundt bei folge¬
richtigem Aufbau seiner Theorie noch eine vierte Gefühlskategorie — die
durch die räumlichen Eigentümlichkeiten der Reize charakterisierte — hinzu¬
fügen müssen. Dieses logische Argument gegen die Dreidimensionalität der
Gefühle scheint aber Titchener selber nicht für durchschlagend zu halten.
Er bringt darum den zweiten logischen Einwand: daß das Gefühlspaar Lust-
Unlust sich in gegensätzlichen Erlebnissen bewege, während in den beiden
anderen Gefühlspaaren der eine Teil nnr die niedrigste Stufe des anderen
ausdrücke, Beruhigung also den Nullpunkt der Erregung, Lösung aber den
Nullpunkt der Spannung bezeichne. Ferner weist er auf die Ergebnisse der
experimentellen Forschung hin und versucht daraus den Nachweis zu er-
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Aufmerksamkeit. Er lehnt es ab, eine aktive Aufmerksamkeit im Sinne
einer spezifischen und willkürlichen seelischen Tätigkeit gelten zu lassen,
betrachtet sie vielmehr als bloße Resultante aus einem Widerstreit von Rich¬
tungen der passiven Aufmerksamkeit. Aus diesem Grunde wählt er auch
zur Bezeichnung der beiden Arten seelischen Verhaltens die Namen primäre
und sekundäre Aufmerksamkeit, fügt dann aber gleich noch eine dritte Ent¬
wicklungsstufe der Aufmerksamkeit hinzu, nämlich die Rückkehr aus dem
sekundären Stadium in das primäre. Als der beste Beweis für das Entstehen
der sekundären aus der primären Aufmerksamkeit gilt ihm »die Tatsache,
daß in der alltäglichen Erfahrung die sekundäre Aufmerksamkeit sich kon¬
tinuierlich in die primäre Form zurückverwandelt«. Die Analyse des Auf¬
merksamkeitserlebnisses führt Titchener ferner zur Annahme zweier
Niveauhöhen (Klarheitsabstufungen) des Bewußtseins, die beide nicht all¬
mählich durch Zwischenstufen, sondern sprungweise ineinander übergehen,
so daß ein eben noch dunkelbewußter Vorgang im nächsten Augenblick so¬
fort auf seiner maximalen Klarheitsstufe stehe, um sodann wieder ganz plötz¬
lich ohne jeden Übergang auf seine vorige Stufe herabzusinken.
Was seine Stellungnahme zu den verschiedenen physiologischen Theorien
anbelangt, so lehnt der Verf. im Interesse Beiner Schüler es ab, in weit¬
läufige Erörterungen darüber einzutreten, führt vielmehr an der Hand der
ihm am plausibelsten erscheinenden Lehre seine Erklärung durch, die Frage
offen lassend, ob nicht eine andere Theorie die eine oder andere Frage
ebensogut oder noch besser zu erklären imstande sei. —
Wenden wir uns nun zur näheren Besprechung des BucheB von Jeru¬
salem. Hier begegnen wir vor allem dem Einflüsse Wundts. Besondere
im Gebiet der Gefühlslehre finden wir — im Gegensatz zu Titchener —
die Dreidimensionalität der Gefühle unverändert herübergenommen. Daneben
aber gibt Jerusalem eine selbständige Beschreibung des Charakters ein¬
zelner TotalgefÜlile in ihrer Beziehung zur Außenwelt, in ihrer Bedeutung
für die Stellung des Menschen zu den Naturdingen, zum Nebenmenschen und
zum Weltganzen, ferner in ihrem Verhältnis zu dem Subjekt, soweit sie aus
der Einkehr der Seele in ihr eigenes Sein entstehen. Nach diesen Be¬
ziehungen ordnet er die Gefühle in folgende Gruppen: Individualgefiihle,
FamiliengefUhle, patriotische Gefühle, Gefühle der Sympathie, sittliche, reli¬
giöse und intellektuelle Gefühle.
Was dem Buch seine besondere Eigenart verleiht, ist die oben erwähnte
streng durchgeführte biologische Betrachtungsweise des seelischen Ge¬
schehens. Es wird überall versucht, die psychischen Vorgänge zu verstehen
im Hinblick auf die Erhaltung des Individuums und der Gattung. Die ein¬
fachsten Empfindungen sowohl wie die Gefühle, die Aufmerksamkeit, die
komplizierteren Denkprozesse, die Willensvorgänge: sie alle dienen in letzter
Linie dem Zweck, den Menschen in seinem Kampfe um seine Existenz zu
unterstützen, ihm die Mittel an die Hand zu geben zu erfolgreicher prak¬
tischer Lebensbetätigung. Nach diesem Gesichtspunkt ist das ganze Buch
orientiert, und Jerusalem sieht darin ein gutes heuristisches Prinzip, durch
»T»a 1 nk/tn m n*« aIi a 17 a>a /Inn C! /\ a1 a«1a!\ Ann ni aV> 1 ninki «m/1 w /«Aw m im
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. Literaturbericht.
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öffentliche ist. Der Begriff der typischen Vorstellung an sich dürfte wohl in
der Hauptsache mit dem, was Wundt »repräsentative« Vorstellung nennt, ■
zusammenfallen. In der Formulierung des Begriffs liegt also das Neue nicht
Neu ist vielmehr die Auffassung, wie sich die typische Vorstellung psycho¬
logisch entwickelt. Hierin weicht Jerusalem von der herkömmlichen
Theorie der »Gemeinsamkeit der Merkmale« wesentlich ab. Nicht die Häufig¬
keit des Wiederkehrens der gemeinschaftlichen Merkmale der Objekte bringe
die typische Vorstellung hervor, sondern die Wichtigkeit bestimmter Merk¬
male für unser praktisches Verhalten den Dingen gegenüber Bei maßgebend
für ihren Anteil am Aufbau jener Vorstellung — mit anderen Worten: die
typische Vorstellung sei der Inbegriff der biologisch wichtigen Merkmale
eines Objekts. »Wir erfahren gewissermaßen durch die typische Vorstellung
nur, wessen wir uns von dem Objekte zu versehen haben. Wie der Gegen¬
stand sonst aussieht, davon enthält die typische Vorstellung wenig oder
nichts.« Jerusalem erläutert seine Auffassung an mehreren Beispielen
und zeigt, daß die Aufmerksamkeit Bich immer zunächst auf diejenigen Merk¬
male eines Dinges konzentriere, die für uns biologisch bedeutsam sind, und
daß darum die typische Vorstellung in der seelischen Entwicklung viel früher
entstehe als die genauen, alle Einzelheiten enthaltenden Einzelvorstellungen.
Der biologischen Betrachtungsweise entstammt ferner noch der Begriff der
fundamentalen Apperzeption. Hierunter versteht Jerusalem die¬
jenige ursprüngliche Auffassungsweise der Dinge, durch welche alle Vor¬
gänge der Umgebung und alle Eigenschaften der Gegenstände als Willens¬
äußerungen selbständiger Objekte gedeutet werden. Diese Auffassung ent¬
stehe dadurch, daß das unentwickelte Bewußtsein im Kind seine eigenen
Willensimpulse in die Dinge der Außenwelt hineintrage und so in den Vor¬
gängen Willensäußerungen der Dinge sehe. In der entwickelteren Auf¬
fassungsweise des Erwachsenen trete dann an die Stelle eines Willens, aber
doch nach Analogie unserer Willenshandlungen, der Begriff der Kraft, und
die Dinge selber gestalteten sich zu Kraftzentren. — Nach dieser Vorberei¬
tung der Auffassung äußerer Gegenstände durch die fundamentale Apper¬
zeption, die zugleich als inneres, ungesprochenes und unanalysiertes U r t e i 1
gelten könne, entstehe dann durch allmähliche Fortentwicklung der Aus-
drucksmittel in der Sprache die äußere Urteilsform des Satzes, bestehend
aus zwei Teilen, Subjekt und Prädikat. Das Urteil sei also nichts anderes
als die Auflösung eines Vorgangs in zwei Bestandteile zum Zweck der
sprachlichen Fixierung — anders ausgedrückt: die äußere sprachliche Form,
in die wir alles Geschehen bringen müssen, um es geistig zu verarbeiten und
um unsere Erkenntnis weiterzubringen. So ist an dem Beispiel der einfachen
Urteile gezeigt, wie biologische Momente in den Denkprozessen mitspielen;
es wird dann in der Folge noch weiter gezeigt, wie diese Momente bis in
die abstraktesten Denkakte hinein mitwirken und fortgesetzt die seelische
Entwicklung bedingen.
Zum Schlüsse sei noch anerkennend auf eine Eigentümlichkeit des Buches
hingewiesen, die zwar wissenschaftlich keine besondere Bedeutung bean-
< i- j.La'I.l .
Digiti:-t 7 VjOl QIC
*--~0rigtff!JHrom
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oft nur halb oder gar nicht verstandenen Dichterwortes. Man darf dem
Verf. nur dankbar sein für diese Art didaktischer Nutzanwendung der Psycho¬
logie, weil sie das Verständnis der Psychologie erleichtert nnd ihre Wert¬
schätzung erhöht. J. Köhler (Lauterbach).
4) Max Verworn, Die Mechanik des Geisteslebens. Aus Natur und
Geisteswelt. Leipzig, B. G. Teubner, 1910. M. 1.—; geb. M. 1.25.
Nach einem Eingangskapitel über das Verhältnis von Leib und Seele
werden in dem Büchlein die physiologischen Bedingungen der seelischen
Vorgänge aufgezeigt; es werden vor allem die Elemente des Nervensystems
aufgesucht, ihr anatomischer Bau wird betrachtet, ihrem Zusammenhang
untereinander und den in ihnen ablaufenden Lebensprozessen der Dissimi¬
lation und Assimilation nach ihrem Wesen und ihrem Zweck genauer nach¬
geforscht; es wird dann die Aufgabe der Nervenfasern und ihr Verhalten
gegenüber Ermüdungsexperimenten an der Hand von Beispielen näher illu¬
striert. — In dem Kapitel Uber die Bewußtseinsvorgänge geht der Verf. ein¬
gehend auf die Gehirn-Lokalisationslehre ein und versucht, gestützt auf die
Ergebnisse bei Tierversuchen, das Problem des Gedächtnisses physiologisch
zu erklären durch die Annahme einer Massevermehrung der Ganglienzellen
infolge fortgesetzter Übung Gedächtnisverlust hingegen durch die Annahme
einer Masseverminderung der Zellen bei geringer oder fehlender Übung
— analog den Vorgängen im geübten und nichtgeübten Muskel. — In den
beiden Schlußkapiteln des Buches werden die physiologischen Vorgänge in
den Zuständen des Schlafes, der Narkose, des Tranmes, der Snggestion und
der Hypnose auseinandergesetzt. Die Wesensverschiedenheit von Schlaf und
Narkose wird hier scharf betont und darauf hingewiesen, daß im Schlaf eine
Restitution der ermüdeten Ganglienzellen stattfinde, während in der Narkose
die Rückkehr dieser Organe in den unermlideten Zustand vollständig ge¬
hemmt sei. Beim Traum handle es sich, da er bewußt verlaufe, um einen
partiellen Wachzustand des Gehirns, wobei der größere Teil der Großhirn¬
rinde schlafe, während einzelne Partien von Ganglien durch bestimmte Reize
in einen Erregungszustand versetzt seien. Die Hypnose will der Verf. nicht
als Schlaf, sondern als Wachzustand betrachtet wissen, der sich von dem
normalen Wachzustand des Menschen prinzipiell nicht unterscheide, sich
vielmehr einzig und allein durch die erhöhte Suggestibilität auszeichne.
Kritisch ist zu dem Buch nur wenig zu bemerken Es wäre vielleicht
zu empfehlen, daß der Verf. auch sprachlich die Unterscheidung zwischen
dem subjektiv bezogenen Vorgang des Fühlens und der nach außen gerich¬
teten Tastempfindung machen würde, damit auch in der populären Auf¬
fassungsweise die beiden Begriffe immer deutlicher auseinandergehalten
werden. In den Darlegungen des ersten Kapitels über das Verhältnis von
Geistigem und Materiellem können wir dem Verf. nicht überall zustimmen,
weil wir die von ihm postulierte Identität von Empfindung und Empfindungs¬
bedingung entschieden bestreiten müssen. Die übrigen Kapitel des Buches.
Deaingung
Gck igle
Origirslfrcm
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Literaturbericht.
93
5) C. Lange, Die Gemütsbewegungen, ihr Wesen und ihr Einfluß auf
körperliche, besonders auf krankhafte Lebcnserscheinungcn. Zweite
Auflage, besorgt und eingeleitet von H. Kurelia. Mit einer Ab¬
bildung im Text. WUrzburg, Kurt Kabitzsch (A. Stüber), 1910.
M. 1.80.
Die zweite Auflage von Langes »Gemütsbewegungen« hat der Heraus¬
geber Kurella mit einer interessanten Einleitung versehen, in der er die
allmähliche Aufnahme der Langeschen Theorie und ihr Verhältnis zu ver¬
wandten Theorien bespricht Mit Recht tadelt Kurella es, daß gerade die
Physiologen und Pathologen und sogar manche Psychiater von Langes
Gedanken kaum Notiz genommen haben, und die »Widerlegung«, die manche
Psychologen der Theorie gewidmet haben, wird von ihm mit Recht als keine
wissenschaftlich genügende anerkannt. Es ist schade, daß die S. 23 (der
Vorrede) vom Herausgeber erwähnte kritische Auseinandersetzung Langes
mit Lehmann nicht in deutscher Übersetzung erschienen ist; vielleicht fügt
sie der Herausgeber einer späteren Auflage der vorliegenden Schrift bei.
E. Meumann (Leipzig).
6 W. Lubosch, Vergleichende Anatomie der Sinnesorgane der Wirbeltiere.
(Aus Natur und Geisteswelt. Bd. 282.) Mit 107 Abbildungen im
Text. Leipzig. B. G. Teubner, 1910. M. 1.25.
Die kleine Schrift gibt eine ganz vortreffliche Einführung in einen für
den Psychologen wichtigen Teil der vergleichenden Anatomie. Der Verf.
betrachtet die einzelnen Sinne nach Gruppen, die unter vergleichend-anato¬
mischen Gesichtspunkten geordnet sind: Sinnesorgane mit Ganglienzellen als
Endapparat und Sinnesorgane mit spezifischen Sinneszellen als Endapparaten.
Was die Grundauffassung des Verf. angeht, so möge diese mit seinen
eigenen Worten hier wiedergegeben sein: »Auf dem Boden der Darwin¬
schen NaturauffasBung, die wir als einen dauernden Besitz bewahren, hat
sich das Lehrgebäude der vergleichenden Anatomie erhoben; die verglei¬
chende Anatomie der Sinnesorgane ist nur ein Teil dieses großen Gebietes.
Doch wird auch beim Studium dieses Teiles das der ganzen Wissenschaft
Eigentümliche wohl zum Verständnis des Lesers gelangen. Kein Organ be¬
steht für sich; kein Teil an lebenden Wesen kann sich verändern, ohne daß
alles an ihnen in Veränderung gerät. Oft liegen die Ursachen für Umgestal¬
tungen eines Organes ganz außerhalb dieses Organes selbst. Diese gegen¬
seitige Beeinflussung der einzelnen Organe, überhaupt aber die Darstellung
der Ursachen jeder Veränderung schien mir bei einer für weitere Kreise be¬
stimmten Schilderung das Wichtigste zu sein. Aus diesen Ursachen er¬
wachsen und durch sie bewirkt, tritt uns dann die Geschichte jedes Organes
wie ein langsam, mächtig und unter reicher Verzweigung emporwaebsender
Baum entgegen. Auch das Menschengeschlecht steht fortgesetzt in einem
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Literaturbericht.
4/
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7) Viktor Hlieber, Die Organisierung der Intelligenz. Mit einer Ein¬
führung von Prof. Dr. Ernst Mach. Dritte erweiterte Auflage.
234 S. kl. 80 . Leipzig, J. A. Barth, 1910. kart. M. 3.60.
Der k. k. Hauptinann IIueher in Prag hat im April 1910 an etwa
100 geistige Arbeiter einen Aufruf versandt über die Organisierung der
Intelligenz. Schon im Monat darauf erfolgte eine zweite Auflage von
öOO Stück, vermehrt um einige Zusätze. Alles dies, samt den brieflich oder
in Zeitungen kundgegebenen Äußerungen zu beiden Auflagen, hat der Verf.
mit einem Schlußwort zu dem vorliegenden Buche vereinigt. Was er an¬
strebt, faßt Mach in seinem Vorwort gut zusammen: »die Gesamtheit der
Intellektuellen, welche den großen Horizont verloren haben, die wie alle
anderen unter dem Drucke des Kapitalismus oder sagen wir lieber des
Egoismus leiden, aufzurütteln, bei ihnen das Gefühl der Solidarität mit der
ganzen Menschheit, das Bewußtsein ihres Einflusses zu wecken, um die ge¬
samte menschliche Existenz auf eine gesündere Basis hinüberzuleiten«. Die
Intellektuellen sollen sich also organisieren — und zwar international —,
um planmäßig zu wirken (zuvörderst etwa für »die Vereinheitlichung aller
heute ungeregelt nebeneinanderlaufenden humanitären Bestrebungen«, S. 40).
Unerläßlich dafür ist die allmähliche Überwindung des Kapitalismus.
Hier wie auch sonst wird es sich lohnen, die Ausführungen des Verf. wenig¬
stens teilweise wörtlich wiederzugeben. »Es muß dem Kapitalismus deutlich
klargemacht werden: 1) Daß jeder Mensch nur auf das Maß an materiellen
Gütern Anspruch habe, das seinen materiellen Bedürfnissen entspricht; daß
das Maß dieser Bedürfnisse nicht für jedermann gleich, für niemanden aber
schlechthin unbegrenzt, groß sein kann, Bondern eine vernünftige obere Grenze
habe. ... 3) Daß es dem Anständigkeitsgefühl eines jeden überlassen bleiben
muß, zu beurteilen, bis wohin das Maß der eigenen Bedürfnisse reicht und
wo somit der der Allgemeinheit zukommende Überschuß beginnt. ... 5) Daß
die Überlassung des Überschusses, die bisher gelegentlich in Form von
Legaten, Stiftungen, Spenden usw. als ein Akt persönlicher Güte und be¬
sonderer Freigebigkeit angesehen wurde, fortan in der öffentlichen Moral
als normale Erfüllung einer selbstverständlichen Pflicht sich einzubürgern
haben wird.« 6) Daß die Verfügung über die Verwendung dieser Über¬
schüsse ... einer leitenden Instanz erteilt werden muß. . .. »Es bliebe so¬
mit das kapitalistische Prinzip aufrecht. Es erhielte aber darin eine Er¬
gänzung, daß der Unternehmer nicht mehr wie bisher sich als Herr, sondern
nur mehr als freiwilligen Verwalter seines Unternehmens und sich persönlich
nur als ersten Angestellten desselben anzusehen berechtigt wäre« (S. 16 f.}.
»Jeder Überreichtum muß fortan als ein Merkmal von Unbildung gekennzeichnet
werden.« Die Überschüsse der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen, »muß
zur Sache der Mode gemacht werden, ... und dieser Mode muß die Intelli¬
genz Eingang schaffen« (S. 18).
Des V|
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erf. Urteil über
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das Verhältnis vnn Resitz Arh«it und Rildnnor iat
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Literaturbericht.
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Gedanken um so mehr bei pflichten, als ich auch längst überzeugt bin, daß
es mit dem Wühlen und Bohren von unten nicht getan ist, sondern daß
eine Reform der Gesinnung in den oberen Schichten viel mehr not tut. Der
Kern der Anschauungen des Verf. liegt aber bedeutend tiefer als iu einem
Kampfe gegen den Kapitalismus. Er hat das Ideal der Humanität umge¬
bildet zu dem der Solidarität. »Das gemeinsame Merkmal des heutigen
materiellen und geistigen Kapitalismus, das Merkmal, welches die Kapita¬
listen zu Ausbeutern stempelt, ist die irrige Meinung, daß der Einzelne direkt
nur für sich zu arbeiten habe, woraus dann indirekt eine Gemeinarbeit sich
vollzieht, während es in der Idee der Solidarität liegt, daß die Arbeit direkt
allen zugedacht wird und damit indirekt eo ipso dem einzelnen zugute kommt.
Das Merkmal des Kapitalismus ist demnach sein Mangel an solidarischem
Empfinden, seine Unfähigkeit, das Menschenleben in seinem solidaren Zu¬
sammenhang zu sehen. ... Solange dieses Gefühl der Solidarität mit allen
Menschen in uns nicht lebendig geworden ist, sind wir noch nicht Menschen,
noch nicht dort, wo das Menschentum, das wahre, erst beginnt« (S. 68). Ein
prachtvolles, freilich weit entferntes Ziel! Übrigens, wenn der Verf. in seiner
Erwiderung auf eine Zuschrift den Satz verteidigt, die Solidarisierung der
Interessen 6ei niemals von Schaden, immer nur von Nutzen (S. 70 f.), so ist
dies höchstens dann richtig, wenn man unter Solidarität Altruismus versteht.
Für schöpferische geistige Leistungen kann eine Bindung irgendwelcher Art
zu leicht zu einem unerträglichen Hemmschuh werden. Der Künstler, der
unter inneren Kämpfen zuckt, muß sich oft nach jeglicher Seite den Weg
offen halten, damit er seine individuelle Leistungsfähigkeit voll entfalten
kann, und mancher schon hat, nachdem er sich auf einen höheren Stand¬
punkt durchgerungen hatte, mit vollem Recht über seine auf früheren Ent¬
wicklungsstufen zurückgebliebene Umgebung sagen dürfen: Gott schütze
mich vor meinen Freunden! (die mich am Vorwärtsschreiten hindern wollen).
Vielleicht fehlen aber dem Verf. die Erfahrungen darüber, daß Rücksichten,
die genommen werden müssen, auch an den Füßen des geistigen Arbeiters
wie schwere Ketten schleppen können.
Dafür jedoch, daß der Verf. ein so hohes Ziel weist wie das des Soli-
darismus, verdient er uneingeschränkte Anerkennung. Es wäre gnt, wenn
man auch auf Einzelgebieten (etwa dem der Erziehung) ein letztes wünschens¬
wertes Ziel aufstellte. Dann läßt sich durch Vergleich mit den bestehenden
Verhältnissen das überlegen, was zurzeit erreichbar scheint, und man kann
hinauskommen über das planlose Herumtappen an weit auseinanderliegenden
Teilen eines großen Gebietes, daB wir jetzt manchmal mit ansehen.
Indes, gerade dieses Herabstimmen der idealen Forderungen durch die
gegebenen Tatsachen fehlt bei Hueber. Er greift kühn nach den Sternen.
Kein Wunder demnach, daß er Utopien vorbringt, Utopien wenigstens fUr
die nächsten Jahrtausende der MenBchengeschichte. So ist der Gedanke
einer Ablösung der einzelnen Staatsorffanismen durch den werdenden Orga-
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Literatnrbericht.
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Verkennung geistiger Produktion, wenn sie sich auf ein Ziel eineu soll (S.72:.
Bisher und für die Zukunft, die fllr unser vernünftiges Nachdenken über¬
haupt in Frage kommt, ist doch gerade in der geistigen Arbeit die Ver-
Bchiedenartigkeit und die dadurch ermöglichte Anregung von Wert. Die
Gemeinsamkeit, die Hueber wünscht, wird sich beschränken müssen auf die
oben charakterisierte Ethik der Solidarität, neben der doch die mannigfaltig¬
sten Ziele geistiger Einzelarbeit möglich sind. Ans Abenteuerliche aber
grenzt die Utopie, daß die Menschheit das Arbeiten auf di© Naturkräfte
Wasser, Elektrizität nsw.) abwälzen soll und selbst nur noch der Arbeit
obliegen, zu der ihr innerer schöpferischer Drang sie treibt (S. 36f.). Dann
muß der Verf. auch die Naturkraft nennen, die das Konstruieren der Ma¬
schinen selbsttätig übernimmt; oder er sollte erst einmal ein Mittel angeben
gegen die Eintönigkeit des Maschinebedienens. Übrigens, wie oft hat nicht
gerade die Not, das Arbeitenmüssen, den Menschen nicht bloß erfinderisch,
sondern auch innerlich reif gemacht! Wollte man die Mensohengattung, die
wir kennen, in eitel Behagen betten, es würde voraussichtlich nur zu bald
erbärmlich werden. Utopisch ist auch der Zusammenschluß der Ges&mt-
menschheit, deren Führung die international organisierte Intelligenz über¬
nehmen soll. Denn für diese Einheit höherer Ordnung sind doch die
internationalen Organisationen und Abmachungen der Sozialdemokratie, der
Friedensliga, des Esperanto, des Verkehrs recht schwache Ansätze — wenn
man nämlich erwägt, was uns noch alles trennt (S. 28, 64). Als ein Beispiel
für eine Weltorganisation auf einem Teilgebiet, die zunächst durchführbar
wäre — eins der wenigen praktischen Beispiele des Buches —, befürwortet
der Verf. wiederholt (z. B. S. 158) eine solche in der Mutterschutzbewegung.
Ich vermag aber nicht einzusehen, wie diese bei der verschiedenartigen
Lebenspraxis und Lebenstheorie der einzelnen Länder und Provinzen soll
eine fruchtbare Wirkung ausüben können; nur eine Auskunftsstelle über die
hier und dort gesammelten Erfahrungen und die entworfenen Pläne kann
vielleicht von Nutzen sein. Für die eigentliche praktische Arbeit gibt es in
der Nähe genug zu tun, und wir wollen froh sein, wenn erst einmal bei uns
noch eine Menge notwendiger Bewegungen richtig in Fluß gebracht sind;
zu einem planmäßigen, organisierten Wirken in die Ferne sind wenigstens
wir Deutschen auch nicht reich genug.
Wie es bei einem Utopisten gehen muß, beurteilt Hueber die Gegen¬
wart von seinem Ideal ans und daher zu pessimistisch. Er wird ganz ein¬
fach zum Lobredner der Vergangenheit. Er spricht nicht bloß von dem
»Rückschritt, der sich rapid vollzieht« (S. 203), sondern es ist dahin ge¬
kommen, »daß die Masse immer tiefer in Schmutz, Dummheit, Roheit ver¬
sank nnd schließlich nur in völliger Stumpfheit gleichsam ein Narkotikum
gegen die Schmerzwirkungen des auf ihr lastenden Elenddruckes fand« (9.40;.
Da möchte man doch wünschen, daß sich der Verf. einmal eingehend mit
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Literaturbericht.
97
flußlosigkeit iro politischen Leben verwirft (S. 19). Auch der Satz läßt sich
leider nicht widerlegen, daß die Bildung oft Unfreiheit durch Vorurteile ge¬
bracht habe (S. 3, 4), daß also ohne weiteres für ungebildet gilt, wer etwa
nicht mit der Menge Konzerte besucht und in der neuesten Literatur be¬
wandert ist. Gut ist folgendes beobachtet: »Das Leben ist der Mehrzahl
der sich heute zu den Intellektuellen zählenden in der Tat nicht mehr als
ein Ateliermodell, um das sie herumgehen, das sie von verschiedenen Seiten
mit dem genießenden Auge des Künstlers betrachten« (S. 69 f.). Diese ästheti-
sierende Lebensauffassung ist übrigens ganz gut erklärbar, denn sie er¬
fordert vielleicht die wenigsten irgendwie dogmatischen Vorausselzungen,
denen eben unsere Zeit abhold ist, und sie verursacht vielleicht die gering¬
sten Schmerzen und Kämpfe. Die Werte des Altruismus oder Solidarismus
allerdings können mit ihr nicht gefördert werden, zumal sie leicht dem
Egoismus als Mantel dient. Wenn also diese Werte noch vielmehr zur An¬
erkennung gebracht werden müssen — und Hueber dürfte recht haben,
daß es hier noch reichlich zu tun gibt —, dann darf man auch den Intellek¬
tuellen ihren Mangel an Idealen, für die sie arbeiten könnten, vorwerfen
und darf sagen, daß es ihnen an dem »persönlichen Mut fehlt« (S. 69), für
die Werte, die auch sie vielleicht im stillen hochhalten, offenkundig einzu¬
treten und um ihre Erfüllung zu kämpfen. Durchaus richtig ist es auch,
wenn der Verf. die Spezialisierung bekämpft, die den Menschen Scheuklappen
anlegt. »Und das ist auch der Irrwahn aller heutigen humanitären Bestre¬
bungen, daß die jeweiligen immer nur je ein Übel, das ihnen just in die
Augen fallt, aus dem Ganzen herausgreifen und dessen isolierte Bekämpfung
sich zur besonderen Aufgabe machen. Während in Wahrheit keine einzige
Frage isoliert nachhaltig wirksam lösbar ist, alles was das Leben der Men¬
schen heute umfaßt, verstrickt und in der wahren Entwicklung hemmt, —
in einem allseitig zusammengewachsenen Zusammenhang besteht und daher
auch nur wieder in einem Zusammenhang gelöst werden kann« (S. 210). Wirk¬
lich fehlt unserem öffentlichen Leben eine Idee, hoch genug, um viele zu
begeistern (S. 218). Aber schon regt sich ja allerorten der Idealismus, und
es kann vielleicht auch gelingen, dem praktischen Ideal der Solidarität
Werbungskraft zu verleihen. Ein guter Aphorismus, der zum Nachdenken
darüber anregen könnte, mag hier noch seine Stelle finden: »Ihr wollt daB
Tier im Menschen zähmen? Zähmt es nicht mit Prügel, mit Knebelung;
zähmt es mit Zufriedenheit« (S. 209).
Nun noch ein paar Bemerkungen zur praktischen Durchführung.
Daß eine Organisation für die Werbekraft eines ethischen Ideals viel beizu¬
tragen vermag, glaube ich nicht. Im Gegenteil, die Gefahr einer Ver¬
knöcherung ist hier immer nahe, wie es die Geschichte bei Organisationen
religiöser Art oft genug erwiesen hat, und dann ist eben die Werbekraft
zum Teufel. Hier muß die Wucht einer starken Persönlichkeit Bich einsetzen,
nnd nur sie kann wirken. Das kann geschehen durch Flugschriften, Auf¬
sätze, Reden, persönliche Überredung; am besten wohl dadurch, daß hier
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Literatnrbericht.
Jo dl flir die ethische Gesellschaft nicht genügte. Kein, hier ist unausge¬
setzte Werbung notwendig. Der Vertreter einer solchen Idee muß mit der
Überzeugungskraft eines Propheten auftreten. Vor allen Dingen auch im
Lande hernmkoimnen, in Versammlungen Vorträge halten und dann die auf
diese Weise Interessierten noch durch persönlichen Verkehr gewinnen. Und
man muß wissen, daß der Betreffende hier sein Hauptgebiet hat, daß er es
nicht bloß in Mußestunden betritt und daß er schon seit Jahren darin
arbeitet. Derartige Bewegungen lassen sich eben nicht gewaltsam beschleu¬
nigen. Gut, wenn der Prophet dann noch eine Reihe Apostel gewinnt —
wiewohl zweifelhaft bleibt, ob er mit ihrer Weiterentwicklung immer wird
einverstanden sein können. Was die Frage der Organisation angeht, so
käme wohl nur die Errichtung einer Zentrale in Frage, durch die ein Neu¬
gewonnener für seine eigene Agitation Winke aus den aufgespeicherten Er¬
fahrungen erhalten könnte. Vermutlich ließe sich das aber auf lange Zeit
hinaus durch eine geringe Anzahl von Leuten besorgen.
Huebers Fehler liegt darin, daß er die Sache viel zu intellektualistisch
betrachtet. Die bloße Kundgebung von Gedanken, seien sie noch so er¬
haben, tut es nicht. Sollen sie Motive zum Handeln werden, so muß die
Begeisterung hinzukommen, sie müssen den Menschen mit aller Eindringlich¬
keit nahegebracht werden — das geschriebene Wort übt auf die meisten
diese Wirkung nicht aus. Auch die Tatsache, daß eine solche Organisation
besteht, wie der Verf. sie ersehnt, wird keineswegs seiner Vermutung ent¬
sprechend in der gebildeten Welt ein Gefühl der Befreiung auBlösen (S. 34;.
Man wird vielmehr, da wir so viele Bewegungen auch merkwürdiger Art er¬
leben. zunächst etwas skeptisch sein und abwarten wollen, was die Organi¬
sation eigentlich leistet. Auch dann aber, wenn Leistungen vorliegen, die
von einer großen Anzahl anerkannt werden, auch dann noch ist unausge¬
setzte Propaganda nötig, wenn die Ideen nicht einschlafen sollen.
Noch an einem Punkte zeigt der Verf., wie gründlich er die Bedingungen
des Wirkens auf die gegenwärtige Menschheit verkennt, wenn er nämlich
verlangt, daß Stiftungen ohne eine besondere Bestimmung der Zentralleitung
zur Verfügung gestellt werden (S. 43). Die Erfolge, die er damit erreicht
hat. dürften recht gering sein, obwohl inan in mehreren Jahrhunderten über
die Sache vielleicht reden kann. Für die Gegenwart ist es ganz zweifellos
das einzig Richtige, daß ein einzelner — nur muß er eine Autorität sein —
für einen ganz bestimmten Zweck Anhänger wirbt und dann auch Geld
sammelt. Rosegger ist das gelungen; daß es auch geht, ohne von Anfang
an die Öffentlichkeit in laute Bewegung zu setzen, hat Lamprecht bewiesen
mit der Gründung des Instituts für Universalgeschichte (bei der Kaiserlichen
Gesellschaft der Wissenschaften liegen natürlich die Bedingungen weit
anders). So könnte man daran denken, für die Bearbeitung pädagogischer
Probleme, die ja jetzt mit im Mittelpunkte der Diskussion stehen, kapital¬
kräftige Freunde zu gewinnen. Sicher ginge es an für die Förderung her¬
vorragend Begabter. Daß die Agitation von Fachmännern ausgehen muß.
ergibt sich daraus, daß in den meisten Fällen nur diese die Zweckmäßigkeit
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100
Literaturbericht.
Neue philosophische Literatur.
Von philosophischen Neuausgaben, dio auch psychologisches Interesse
haben, seien hier die folgenden angezeigt:
Die »Philosophische Bibliothek« (Leipzig, Diirrsche Verlagsbuch¬
handlung ist um einen Band darstellender Philosophie bereichert worden in
Dorners Enzyklopädie der Philosophie (Philos. Bibi. Bd. 92, 120,
122, 123. M. 6.—). Der Verf. betrachtet das Ganze der Philosophie aller¬
dings wesentlich unter dem Gesichtspunkt der Erkenntnistheorie, doch sind
die Eingangskapitel auch für die Psychologie der Wahrnehmung und des
Denkens lehrreich.
An Neuausgaben älterer und neuerer Philosophen sind in der gleichen
Bibliothek erschienen: Bd. 93: Spinozas Theologisch - politischer
Traktat; übersetzt und eingeleitet nebst Anmerkungen und Registern von
Carl Gebhardt. Bd. 92: Spinozas Ethik, übersetzt und mit einer Ein¬
leitung und einem Register versehen von Otto Baensch. (M. 3.40. Siebente,
der neuen Übersetzung zweite verbesserte Auflage.) Bd. 68: De la Mettrie.
Der Mensch eine Maschine; übersetzt und mit einer Vorrede und mit An¬
merkungen versehen von Dr. Max Brahn. Bd. 122: Wolffsche Begriffs¬
bestimmungen; ein HilfsbUchlein zum Studium Kants, zusammengestellt
von Julius Baumann. (M. 1.—.) Bd. 120: Fichte, Schleiermacher,
Steffens Uber das Wesen der Universität. Mit einer Einleitung heraus¬
gegeben von Dr. Ed. Spranger. Bd. 123: Wilhelm v. Humboldts aus-
gowählte Schriften; herausgegeben von Johannes Schubert. Bd. 120.
(M. 3.40; geb. M. 4.—.)
Eine sehr verdienstvolle Neuausgabe ist: David Iluine, Anfänge nnd
Entwicklung der Religion; deutsch mit einer Einleitung von Wilhelm
Boliu. Leipzig, Wilhelm Engelmann, 1909. Es ist die erste Verdeutschung
dieser wichtigen Schrift Humes. (M. 2.—.)
In der Bibliothek der Gesamtliteratur des In- und Auslandes
(Nr. 2195 bis 2206) ist erschienen: E. Fr. Apelt, Metaphysik; neu heraus¬
gegeben von Rudolf Otto. Halle a. d. S., Otto Hendels Verlag.
Spinozas Ethik ist in Kröners Volksausgabe neu herausgegeben wor¬
den von Dr. Carl Vogl. Leipzig, Alfred Kröner, 1909. M. 1.—.
Eine Sammlung von Neuausgaben philosophischer Werke er¬
scheint in französischer Sprache im Verlag von Louis Michaud in Paris.
Die Bändchen haben handliches Format und sind gut ausgestattet (Les
grands Philosophes fran^ais et etrangers.) Vor uns liegen die Ausgaben von
Cabanis und Boutroux. Beide mit Porträts und anderen Abbildungen.
»Moderne Philosophie« betitelt sich ein Lesebuch zur Einführung
in die Standpunkte und Probleme der gegenwärtigen Philosophie. Stuttgart,
Verlag von Ferd. Enke, 1907. Von Dr. Frischeisen-Köhler. Der Ref.
kann die Auswahl, die der Herausgeber getroffen hat, nicht gerade glücklich
finden. Daß Konrad Langes »Bewußte Selbsttäuschung« Anfängern der
Philosophie in einem »Lesebuch« dargeboten wird, ist etwas stark. Die Be¬
hauptung des Herausgebers, daß »die« Kritik der »Illusionstheorie« (die in
dieser allgemeinen Bezeichnung natürlich gar nicht von Lange herstamrat)
sich »zunächst« (!) auf die frühere, von Lange nicht mehr aufrecht erhaltene
Fassung beziehe, ist unrichtig (vgl. meine Kritik dieser Theorie in der Ein¬
führung in die »Ästhetik der Gegenwart«, Leipzig, Quelle & Meyer).
Q Hiap aki flimh nnnli arwülint ni,<»h *>,r> nnVir hranphhiTAS >P«(ls-
3ÖQIC
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Literaturbericht.
Einzelbesprechungen.
1) Ludwig Klages, Prinzipien der Charakterologie. VI und 93 S. Leipzig,
Verlag von Ambr. Barth, 1910. Geh. M. 2.50; geb. M. 3.50.
Der Verf. beabsichtigt unter diesem Titel, den wenngleich skizzenhaften
Entwurf eines Systems der Charakterkunde zu liefern.
Er will die Charakterologie auf eine »synthetische« Psychologie begründet
wissen, welche in erster Linie »Morphologie«, d. h. eine Formenlehre
von den psychischen Organisationen sei, wobei das Körperliche als Objekti-
vation des Geistigen zu gelten habe. Demzufolge erklärt er ausdrücklich
(im Sinne von Aristoteles), daß die Seele in der Form liege (S. 15),
und lehnt zugleich (ebenso wie Lipps, dem er sich in seinen psychologischen
Grundanschauungen auschließt) den Standpunkt der physiologischen Psycho¬
logie grundsätzlich ab. Die letztere läßt bekanntlich das spekulative Problem
in betreff des Verhältnisses zwischen Seele und Leib außer Betracht 1 ) und
begnügt sich damit, die tatsächlichen Beziehungen zwischen psychischen und
physischen Vorgängen festzustellen, unter welchen letzteren vorzugsweise
NervenerregungsVorgänge als Begleiterscheinungen der psychischen in
Frage kommen. Von diesem Standpunkt aus wird die anatomisch-physio¬
logische Untersuchung des Nervensystems, von welcher der Verf. gering¬
schätzig urteilt, allerdings bedeutendes Interesse zu beanspruchen haben, eine
Untersuchung, die zur Entdeckung der Waldeyersehen Neurone als der
anatomischen, nutritiven und funktionellen Einheiten des Nervensystems
geführt hat, von deren beiden Funktionen (Selbsterhaltungs- und Selbst¬
erregungsarbeit) die geistigen Vorgänge wesentlich bedingt sind. Charaktero-
logiscli interessant ist die Neuronenlehre besonders insofern, als jene bei¬
den Funktionen nach ihrer verschiedenen Arbeitsleistung den physiologischen
Erklärungsgrund für die Temperamentsunterschiede zu bilden scheinen.
Verläuft nämlich die Selbsternährungsarbeit günstig, dergestalt, daß reich¬
licher Ersatz des Stoffverbrauchs vorhanden ist: so werden die psychischen
Parallelvorgänge vorwiegend lustbetont sein, und es wird auf diese Weise
die Entwicklung des sanguinischen Temperaments bedingt; verläuft
1) An die Stelle des spekulativen Erklärungsbegriffs der Form setzt die
Naturwissenschaft den der phylogenetischen Triebanlage, welche den
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Literaturbericht.
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sie ungünstig, dergestalt, daß der Stoffverbrauch nicht normalen Ersatz
findet: so nehmen die psychischen Vorgänge vorherrschenden Unlustcharakter
an, womit die physiologische Voraussetzung für das melancholische
Temperament gegeben ist. Leisten andererseits die Neurone kräftige
Erregungsarbeit, so erscheint damit die physiologische Grundlage des cho¬
lerischen, sanguinischen und melancholischen Temperaments
geboten, welche alle drei, wenngleich in verschiedenem Grade, sich durch
geistige Regsamkeit kennzeichnen. Schwache Erregungsarbeit der Neurone
hingegen stellt die physiologische Bedingung des mit geringer Regsamkeit
gepaarten phlegmatischen Temperaments dar 1 ).
Der Begriff des Charakters wird sodann vom Verf. (S. 19) als die
mit dem Bewußtsein ihrer selbst verbundene Persönlichkeit oder als indi¬
viduelles SelbBt und die Charakterkunde als die mit ihm sich befassende
Wissenschaft bestimmt. Gleichwohl redet er später (S. 84, 86, 87, 89) auch
von einem Charakter im Sinne eines generellen Ichs oder einer allge¬
meinen Vernünftigkeit, einer Form des Bewußtseins, der doch nur zu¬
folge bestimmter spekulativer Voraussetzungen das Merkmal der Persönlich¬
keit beigemessen werden kann.
Die allgemeinsten Gesichtspunkte für die Zergliederung des Charakters
findet der Verf. zunächst in zwei spezifischen Eigenschaftskategorien: 1) den
Anlagen oder Fähigkeiten und 2j den Strebungen. Die ersteren
bilden in ihrer Gesamtheit den Stoff der Persönlichkeit; in den Strebungen
realisieren sich die Anlagen zur Verwertung dieses Stoffes. Die psychische
Grundlage der Anlagen wird als Material, diejenige der Strebungen als
die Qualität des Charakters bezeichnet (S. 35). Sie bilden in ihrer Gesamt¬
heit die vorhandenen spezifischen Motive für begriffliche Feststellungen,
von denen die persönliche Richtung des Strebens und Handelns abhängt.
Zwischen jenen beiden liegt als dritter Faktor die Struktur des Charakters
als Inbegriff der konstanten Ablaufsweise der psychischen Vorgänge (S. 39'.
Für Triebfedern ist auch zu sagen: Gefiihlsanlagen (S. 40). Der Verf.
erkennt also das Gefühl nicht als besonderen psychischen Grundfaktor an.
Die besonderen Einteilungsgesichtspunkte für die drei »Zonen«, die der
Charakter nach dem Obigen umfaßt, gewinnt er auf folgende Weise.
Da die Elemente des psychischen Materials Vorstellungsinhalte sind,
so müssen seine individuellen Differenzen I. aus Verschiedenheiten der Auf¬
nahmefähigkeit für solche Inhalte stammen oder m. a. W. aus Ver¬
schiedenheiten der Vorstellungskapazität. In dieser Beziehung sind zu
trennen: 1) Quantitätsunterschiede (Vorstellungsreichtum und Vorstellungs¬
armut), 2) Deutlichkeitsunterschiede (Sensualität oder vorwiegende konkret«
Art des Denkens und Spiritualität 2 ) oder abstrakte Art des Denkens,
3) Beweglichkeitsunterschiede oder Unterschiede in der Ablaufsgeschwindig¬
keit der Vorstellungsinhalte (ein Ausdruck, für den, da die Vorstellungen
1) Es ist mir übrigens nicht klar geworden, inwiefern die vom Verf.
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doch nicht eigene Bewegungsfähigkeit besitzen, sondern nach Klages'
eigener Angabe durch die Strebungen, also den Willen verarbeitet werden:
Disponierbarkeit wohl geeignet gewesen wäre; ! ), 4) Qualitätsunterschiede
(vorherrschende Wahrnehmungs- oder Vorstellungskapazität als Bedingungen
des nach außen oder nach innen gerichteten, bzw. flachen oder tiefen Cha¬
rakters).
II. Weitere Unterscheidungen hinsichtlich des Materials des Charakters
betreffen die Anlagen zur apperzeptiven Verarbeitung der Vorstellnngs-
inhalte: die apperzeptionellen oder Auffassungsdispositionen. Unter
diesen sondert der Verf.:
1) Den Grad der apperzeptioneilen Tätigkeit (Vorwalten des assoziativen
oder apperzeptiven Verhaltens. Ersteres bedingt: Phantasie, Intuität, Er¬
findungsgabe, Beeinflußbarkeit, Suggestibilität, Unachtsamkeit, Sorglosigkeit
u. a. m. — Letzteres: Auffassungsgabe, Dialektik, Kombinationsgabe, Acht¬
samkeit, Umsicht, Besonnenheit usw.);
2) die Richtung der apperzeptionellen Tätigkeit (vorherrschend subjektive
oder objektive Auffassung);
3) Formen der apperzeptionellen Tätigkeit (vorherrschend konkrete oder
abstrakte Auffassungsform, ein Begriffspaar, das sich mit dem oben I. 2 ge¬
gebenen decken dürfte).
Im Anschluß an letzteren Punkt mag ein grundsätzlicher Mangel der
Arbeit berührt werden, der uns noch öfters begegnen wird, nämlich die
Nichtberücksichtignng der Vererbungslehre. Diese letztere kommt im
vorliegenden Falle insofern zur Geltung, als es sich um Unterscheidung der
vorwiegend konkreten und abstrakten AuffaBBungsform handelt. Klages
erklärt selber (S. 36—37): >Alle die Fähigkeiten oder Anlagen betreffen den
Intellekt.« Es wäre deshalb wohl angebracht gewesen, auf die Natur der
intellektuellen Anlage einzugehen; denn eine grundsätzlich verschiedene Form
der Verstandesfunktion ist es, welche die beiden angegebenen Auffassungs¬
formen begründen. Die intellektuelle Anlage nun beruht auf zwei Faktoren,
dem phylogenetischen und ontogenetischen, die beide indessen niemals völlig
getrennt voneinander in die Erscheinung treten. Der erstere aktualisiert sich
unmittelbar in Verbindung mit den betreffenden Erfahrungsinhalten. Das
Kind hat demzufolge schon früh ein allgemeines, logisches Bewußtsein, das
es befähigt, die Kausalbeziehungen, die sich ihm in anschaulicher Form dar¬
bieten, aufzufassen, wobei ihm freilich die Anleitung und Belehrung von
seiten der Erwachsenen wesentlich zu Hilfe kommt. Der ontogenetische
Faktor der intellektuellen Anlage bildet sich heraus, indem das Individuum
sich die abstrakten Denkformen (die Kategorien im Sinne Kants) aneiguet,
in denen das logische Bewußtsein sich differenziert. DieB geschieht in syste¬
matischer, wenngleich nicht streng logischer Form, erst beim sprachlich-
grammatischen Unterricht, in dem das Kind Folge-, Absichts- und Kausal¬
sätze, genauer ausgedrückt, Satzgefüge, die das Verhältnis von Ursache und
Wirkung, Mittel und Zweck, Grund und Folge zum Ausdruck bringen, aus¬
einander halten lernt. Vermöge dieser Denkformen vermag das Subjekt
sich Uber die Art des Kausalzusammenhanges Rechenschaft zu geben, indem
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Literaturbericht.
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es die logischen Beziehungsbegriffe auf die entsprechenden Erfahrungs- bzw.
konkreten Denkvorgänge anwendet. Darin besteht das abstrakte oder reflek¬
tierte Denken. Je nach dem Vorwiegen des einen oder anderen Begabungs¬
faktors stellt sich eine konkrete und eine abstrakte Form der Auffassung
oder, wie wir auch Bagen können, eine naive und eine reflektierte Entwick¬
lungsstufe der intellektuellen Begabung heraus 1 ).
Nach dem Material behandelt der Verf. die Struktur des Charakters,
ein Begriff, unter dem er das Temperament, die Affektivität und den Willen
zusanimenfaßt.
Das Temperament will er rein strukturell erklärt haben (S. 52), d. h.
also rein formell als bestimmte Ablaufsweise des psychischen Strebens. Es
soll den Reagibiliätsgrad darstellen (S. 54—55). Inwiefern sich nun die
Temperamentsunterschiede vermöge der wechselnden Stärke und des Rhythmus
der inneren Tätigkeit ergeben, wird nicht näher ausgeflilirt, da der Verf.
die Temperamentslehro als überwundenen Standpunkt betrachtet. Und doch
hätten m. E. gerade hier die historisch ausgeprägten termini technici, die
ein bewährtes Hilfsmittel zur Kennzeichnung der persönlichen Eigenart nach
gewissen Seiten bilden, willkommenen Anlaß geboten, die Eigenschaftskom¬
plexe, welche wir damit auszudrücken pflegen, schärfer begrifflich festzu¬
stellen. Ich brauche an dieser Stelle meine abweichende Ansicht in betreff
der Natur des Temperaments nicht darzulegen, da ich dies anderswo getan
habe 2 ).
Eingehender werden vom Verf. die beiden anderen psychischen Struktur¬
eigenschaften behandelt, die Affektivität und der Wille. Beide unterscheiden
sich dadurch, daß die erstere die Neigung hat, unmittelbar in Handlung
überzugehen, während der Wille sein Ziel auf dem Umwege über die Mittel
zu seiner Verwirklichung sucht und mit dem Bewußtsein der Realisierbarkeit
seines Gegenstandes verbunden ist iS. 61). Darin besteht der Unterschied
der Ablaufsform oder der strukturelle Gegensatz des ihnen zugrunde liegen¬
den psychischen Strebens. Dem Vorherrschen der einen oder anderen Form
des Strebens entsprechen zwei besondere Typen, der affektive und der
Willenstypus.
I. Der affektive Typus begreift in sich:
Die Stimmungsherrschaft (Unterarten: A. Expansivität oder Aufgeregtheit
und B. Depressivität oder Herabgestimmtheit);
II. Der Willenstypus kann eine dreifache Form aufweisen, je nach¬
dem nämlich der Wille sich änßert:
1) aktiv als Entschlossenheit, Entschiedenheit;
2) passiv als Widerstandskraft, Standhaftigkeit, Beharrlichkeit;
3, reaktiv (d. h. sofern Affekte auf Grund anderer Affekte entstehen als
Eigensinn, Halsstarrigkeit.
1) In den phylogenetischen Anlagen ist, empirisch betrachtet, das sub¬
jektiv-apriorische Moment begründet, welches das Subjekt beim erkennenden
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Literatarbericht. 105
Der StimmungBherrschaft Btebt gegenüber der Gleichmut (Beschaulichkeit),
der Willeusbetonung der Willensmangel (Energielosigkeit).
So viel über die »Struktur« des Charakters, das genügen mag. um über
die Behandlung dieses Gegenstandes kurze Kenntnis zu geben. Was übrigens
den Charaktertypus der Affektivität betrifft, so scheint mir das Bezeichnende
nicht in der Ablaufsform des sich darin äußernden psychischen Strebens,
sondern, wie dies der Name anzeigt, in dem Umstande zu liegen, daß er
unmittelbar von Affekten bestimmt bzw. beherrscht wird. Der Willenstypus
(im engeren Sinne) kennzeichnet sich hingegen dadurch, daß zwischen Affekt,
soweit ein solcher vorhanden ist, und Handlung sich die Reflexion einschiebt,
wodurch der Affekt in seiner unmittelbaren determinierenden Wirksamkeit
abgeschwächt und infogedessen das handelnde Subjekt in die Lage versetzt
wird, sich von verschiedenen Motiven bestimmen zu lassen.
Sofern nun das Temperament ohnehin aus dem Kapitel über Struktur
des Charakters ausscheidet, verliert, nach unserer Auffassung, letzterer Be¬
griff überhaupt seine Berechtigung, und es würde an die Stelle jenes Ka¬
pitels eine Erörterung über die Natur des Willens zu treten haben, dahin¬
gehend, daß zwei Entwicklungsstufen zu sondern sind, eine unmittelbare,
vorwiegend affektive und eine eigentlich voluntarische, denen je ein
naiver und reflektierter Charaktertypus entspricht.
Der letzte Teil der Schrift behandelt das System der Triebfedern,
welche, wie schon bemerkt, die Qualität des Charakters darstellen. Für die
Einteilung der Triebfedern lehnt er grundsätzlich die »unpsychologischen«
Gegensatzpaare von »gut« und »böse«, »Egoismus« und »Altruismus«, »so¬
zial« und »unsozial«, »zweckmäßig« und »degeneriert«, die tatsächlich Wert¬
urteile zudecken, ab (S. 68). Statt dieser Gegensatzpaare geht er von dem
Gegensätze des »fühlenden« und »wollenden Strebens« aus. Bei jenem ver¬
hält das Ich mit seiner Tätigkeit sich passiv, bei diesem aktiv. Dem
fühlenden Streben liegt der Selbsthingebungstrieb, dem wollenden der
Selbsterhaltungstrieb zugrunde (S. 68f.). In bezug auf beide komple¬
mentären Grundtriebe ist, da das Ich als Träger derselben je ein generelles
und ein personelles sein kann, eine generelle und personelle Form
zu trennen. Beide Formen bilden den Ausgangspunkt für die Ableitung ent¬
sprechender Charaktereigenschaften.
A*. Die generelle Selbsthiugebnng zunächst oder das Be¬
geisterungsvermögen, auch Idealismus oder Liebe zur Sache ge¬
nannt, tritt auf 1) als Liebe zur Wahrheit oder Erkenntnistrieb, 2) als Liebe
zur Schönheit oder Schönheitsdurst, 3) als Liebe zur Menschheit oder als
moralisches Pathos. Philanthropie, Humanität.
B 1 . Die personelle Selbsthingebung sodann oder die Leiden¬
schaftlichkeit umfaßt drei Formen. 1) in aktiver bedingt sie die Leiden¬
schaften, Begierden, deren Abarten sind: Ehrsucht, Habsucht, Spielsucht,
Trunksucht, Geiz, Rachsucht, Geschlechtsbegierde; 2) in passiver stellt sie
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Literaturbericht.
106
inhaltes überhaupt, welche letztere in dreifacher Richtung wirkt, in logischer,
ästhetischer und ethischer S. 85. Dementsprechend sind drei Formen der
Vernünftigkeit zu sondern: 1) Die logische oder der Wille zur Denkbarkeit:
Tendenz nach Objektivität. Wirklichkeitssinn: 2: Die ästhetische als Wille
zur Anschaulichkeit: Geschmacksbedürfnis, Ordnungssinn, Organisations¬
tendenz; 3) Die ethische als Wille zur Gleichheit: Selbstachtungsbedürfnis,
kategorischer Imperativ, Altruismus, Verantwortlichkeitsgefühl, kurz »Cha¬
rakter*.
B. Die personelle SelbBterhaltung oder der Egoismus tritt in
denselben drei Formen in die Erscheinung: 1) als aktiver Egoismus oder
personeller Selbsterweiterungstrieb: Eigennutz, Erwerbssinn, Herrschlust. Ehr¬
geiz U8w. 2 als passiver oder personeller Selbstbewahrungstrieb: Vorsicht,
Umsicht, Wachsamkeit, Berechnung. Argwohn, Mißtrauen; 3) als reaktiver
oder personeller Selbstwiederherstellungstrieb: Vergeltungsbedürfnis, Rache¬
trieb, Spottsucht, Boshaftigkeit, Grausamkeit, Neid. Schadenfreude usw.
Der positiven Form des SelbBthingebungs- und Selbsterhaltungstriebes
steht gegenüber der Mangel an einer solchen Betätigung. Daraus ergeben
sich die Gesichtspunkte für Gewinnung von Charakterfehlern, die aus der
einen oder anderen Wurzel entspringen. Der Mangel an Selbsterhal¬
tungstrieb offenbart sich :
C*. als Unvernünftigkeit, und zwar 1) in logischer Hinsicht. In
dieser begründet sie: Sprunghaftigkeit, Mangel an Wirklicheitssinn, Subjek¬
tivität, Illusionismus; 2) in ästhetischer Hinsicht: Ordnungslosigkeit, Phan¬
tastik; 3) in ethischer: Ungerechtigkeit, Unzuverlässigkeit, Pflichtvergessen¬
heit, »Charakterlosigkeit«.
D‘. als Mangel an Egoismus, nämlich 1) an aktivem Egoismus:
Uneigennützigkeit, »Selbstlosigkeit«, Willfährigkeit, Folgsamkeit, (Bescheiden¬
heit); 3) an passivem Egoismus: Sorglosigkeit, Arglosigkeit, Unachtsamkeit,
Unverständigkeit, Leichtsinn.
In ähnlicher Weise werden die Formen des Mangels an Selbsthin¬
gebung entwickelt und dabei alssolche aufgefUhrt: Nüchternheit, Pedanterie.
Verstandesherrschaft, Kälte, Strenge. Weiterhin die Formen des Mangels
an Liebefähigkeit, wobei der Verf. z. B. die Tendenz zur Kritik als
Mangel au dieser Eigenschaft kennzeichnet und somit doch immerhin nur
einseitig die negative Bedingung dieses Charakterzuges berücksichtigt.
Ich lasse die spekulativen und erkenntnistheoretischen Probleme, die in
den Darlegungen des Verf. zur Erörterung gelangen, beiseite und hebe nur
kurz die Folgen hervor, die mir auch in bezug auf diesen letzten Teil die
schon erwähnte Nichtberücksichtigung der Vererbungslehre nach sich zu
ziehen scheint. Klages erklärt das Merkmal des Daseins als das einzige
ursprüngliche des Iclis, sofern nämlich das Ich als solches dem Subjekt zu¬
nächst nur als Ichgefiihl oder Bewußtsein des eignen Daseins sich bekundet.
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Literaturbericht.
2) K. Weiler, Untersuchungen Uber die Muskelarbeit des Menschen.
1. Teil: Messung der Muskelkraft und Muskelarbeit. Kraepelins
Arbeiten. Bd. 5 (1910. Heft 4.
Die Lektüre dieser Arbeit gab mir Anlaß zu einigen Überlegungen, die
m. E. veröffentlicht zu werden verdienen, da sie vielleicht bewirken, daß
neue Zweideutigkeiten und Verwechslungen bei dieser so strittigen Frage
der physiologischen Psychologie vermieden werden. Diese Überlegungen
beziehen sich auf verschiedene Punkte der Arbeit, zunächst auf die Genauig¬
keit der historischen Behandlung, mit der Verf. den gegenwärtigen Stand
der Frage resümiert, und auf die theoretischen Prämissen, die ihm als Grund¬
lage dienen, um seine neue Methode der ergographischen Aufzeichnung zu
erläutern; die anderen Überlegungen beziehen sich auf den inneren Wert der
Methode selbst und auf die Bedeutung der nach ihr erhaltenen Kurven.
Wegen der Natur des Stoffes und weil ich Weiler bei seiner Disposition
zu folgen wünsche, wird es mir übrigens nicht immer möglich sein das in
richtiger Aufeinanderfolge vorzubringen, was ich Uber die oben angegebenen
Punkte zu sagen habe.
Was die historische Behandlung betrifft, so ist Weiler, wie mir scheint,
zu summarisch vorgegangen, und wenn er auch gewandt alle dynamometrischen
und ergographischen Dispositive der früheren Zeiten besprochen hat, so hat
er doch m. E. die Sache zu oberflächlich behandelt, wenn er hinsichtlich der
von mir vorgeschlagenen Modifikationen nichts anderes zu sagen weiß als sie
seien »nicht prinzipieller Art,«. Vielleicht sind dem Verf. die tiefgehenden
und wesentlichen Modifikationen nicht bekannt, welche die ergographische
Kurve erfuhr, als sie mit meinem Apparat statt mit dem von A. Mobso auf¬
gezeichnet wurde; vielleicht kennt er auch die große Menge der neuen und
fundamentalen Probleme nicht, die eben mit dem neuen Apparat auftauchten
und einer befriedigenden Lösung entgegenzugehen schienen. Diese Lücke
in seinen ergographischen Kenntnissen erklärt es mir, daß K. Weiler, indem
er im wesentlichen nochmals auf ein w r enn auch registrierendes und wenn
auch mechanisch noch so sehr vervollkommnetes Dynamometer zurückkommt,
glaubt, er könne ex novo das verwickelte psychophysische Problem des Ver¬
laufes der freiwilligen Muskelarbeit lösen.
(S. 536) »Da wir wissen, daß die Muskelkraft der einzelnen Menschen
sehr verschieden ist, bo erhellt aus dem Gesagten, daß es eine günstige Be¬
lastung des Ergographen für jeden geben muß, bei der er imstande ist, die
größtmöglichste Arbeit zu leisten. Wie groß nun diese günstigste Last
im Einzelfalle ist, wissen wir naturgemäß nicht, und wir sind da¬
her nicht imstande, Ergographenkurven verschieden starker Menschen ohne
weiteres zu vergleichen. Ein weiterer Mangel des Ergographen besteht darin,
daß er es nicht ermöglicht, den Muskel ohne Unterbrechung bis zur Er-
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Literaturbericht.
109
willigen Muskeltätigkeit, die aufgeklärt zu haben gerade ein Verdienst der
modifizierten ergographischen Apparate ist. Jedes gute ergographische Ex¬
periment, das sich die Aufgabe stellt, mit dem Ergographen das Individuum
die größtmöglichste Arbeit leisten zu lassen, muß also unter Berücksichtigung
dieser charakteristischen Tatsachen durchgeführt werden, indem man bedenkt:
a) daß bei der freiwilligen Arbeit das günstigste Gewicht für die Arbeits¬
leistung, d. h. dasjenige, welches man in der Physiologie gewöhnlich Maximal¬
gewicht nennt, in den Einzelfällen nicht unbekannt ist, wie der Verf. be¬
hauptet, sondern das größte Gewicht ist, welches mit einer gewissen Unge¬
zwungenheit der zu untersuchenden Muskelgruppe gehoben werden kann;
b daß dieselbe Regel für jeden folgenden Ilub gilt; c) endlich daß wir, da
der Wert des Maximalgewichts natürlich mit der Ermüdung der Vp. all¬
mählich abnimmt, nach und nach die Last vermindern müssen. Wie man
dies praktisch tun kann, ohne sich sehr von dem wirklichen Verlauf der Er¬
müdung des Muskels zu entfernen, habe ich anderswo nachgewiesen; ich will
nur daran erinnern, daß diese Abstufung des Gewichts ziemlich schwierig
beim Fingerergographen ist; deshalb ist es besser, mit dem Armergographen
zu experimentieren. Wenn diese Bedingungen eingehalten werden, so lassen
sich die beiden von zwei verschiedenen Subjekten oder von demselben Sub¬
jekt in verschiedenen Zeitabschnitten gewonnenen ergographischen Maximal¬
kurven vollkommen miteinander vergleichen. Man wird einwenden, die
Methode sei wenig bequem, aber es hängt nicht von uns ab, Methoden zu
vereinfachen, die dazu bestimmt sind, ihrer Natur nach sehr komplizierte Er¬
scheinungen zu beobachten; die Methode um jeden Preis vereinfachen zu
wollen, verleitet uns zu Irrtümern und Täuschungen, wie es ein Irrtum ist,
wenn man die Gewichte durch Federn ersetzen will. Der Verf. glaubt durch
dieses Mittel den zweiten Einwand, den er gegen den Ergographen erhebt
und den ich oben angeführt habe, beseitigt zu haben. Eine Reihe von schon
zahlreichen Arbeiten, wie die von Woodworth, S. Y. Franz, Sclienck u. a.
beweisen, daß die durch Federdynamometer erhaltenen Kurven ebenso
unerschöpflich sind wie die durch Ergographen mit Gewicht erhaltenen, weil
man, wenn einmal die Phase der konstanten Leistung (level of fatigue der
Amerikaner) mit einer Feder von bestimmter Widerstandsfähigkeit erreicht
ist, eine neue Arbeitskurve mit absteigendem Verlauf erhalten kann, wenn
man das Subjekt mit einer weniger widerstandsfähigen Feder arbeiten läßt,
weder mehr noch weniger als bei der Abstufung der Gewichte eintritt. Und
wirklich hat, wenn man nach seinen Kurven urteilt und nach dem, was
Weiler ausdrücklich sagt, sein Arbeitschreiber auch nie Erschöpfungs¬
kurven registriert. Daraus folgt, daß man, um auch mit Dynamographen
oder Federergographen eine, ich will nicht sagen Erschöpfungökurve, die
unerreichbar ist, wohl aber eine Maximalkurve (die einzigen miteinander
vergleichbaren Kurven) zu erhalten, eine in jedem Falle verschiedene Feder
von einer vom Beginn bis zum Ende des Experiments allmählich geringer
werdenden Kraft verwenden muß, und die Kraftwertereihen werden für
die verschiedenen Vp. verschieden sein müssen, weil man sonst Gefahr
läuft, die ven
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Subjekte absolut gleichen, nicht aber hin-
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Literatur bericht.
sich, daß die Arbeitskurve der zweiten Vp. sich so verschieden vou der
der ersten Person gestaltet hat; die Feder des Apparates für die zweite
Person war aller Wahrscheinlichkeit nach weniger hart, d. h. die Wider¬
standsvermehrung, die sie in den verschiedenen Phasen eines Druckes und
bei den folgenden Drucken zeigte, weniger rasch als bei der ersten Person,
so dal3 die Arbeitsleistung der zweiten Person anfangs konstant ver¬
läuft und nur langsam war und in einer vorgeschrittenen Phase der Arbeits¬
kurve die Bedingungen merklich submaximal werden, weil der Widerstand
übermäßig wird; daher eine geringere Ermüdung dieser Vp., um so eher bei
Versuchen, bei welchen Ruhepausen zwischen den Arbeitsperioden einge¬
schaltet werden.
Ähnliche Unterschiede untereinander zeigen die von verschiedenen Vp-
mit demselben Gewicht ausgeführten Kurven, wenn letzteres in verschiedenem
Maße Für die einzelnen Individuen infolge übermäßigen Widerstandes sub¬
maximal wird.
Von diesem Gesichtspunkte aus ist es also nicht glaubhaft, daß die Ver¬
wendung der Federn irgendeinen Vorteil im Vergleich zur Verwendung der
Gewichte bedeutet, und die Wahl dieser oder jener wäre vollständig gleich¬
gültig, wenn nicht zugunsten der Verwendung der Gewichte andere Gründe
sprächen, darunter vor allem die durch die freie Beweglichkeit des Gewichtes
gewährte Möglichkeit, in die Einzelheiten der psychophysischen Entwicklung
der freiwilligen Muskelarbeit einzudringen.
Richten wir nun unser Augenmerk auf die theoretischen Überlegungen,
welche der Verf. als Prämissen anführt, die dazu bestimmt sind, die von ihm
ersonnene dynamographische Methode zu rechtfertigen, so bemerken wir vor
allem, daß dieses Verfahren des Verf. einigermaßen von den strengen Vor¬
schriften der experimentellen Methode abweicht; die psychophysische Seite
der freiwilligen Muskelarbeit ist noch immer so dunkel, daß alle unsere Be¬
mühungen darauf gerichtet sein müssen, neue Daten durch eine vorurteils¬
freie experimentelle Forschung zu gewinnen, die nur von dem Gedanken
beseelt sei, die Äußerung der Muskelarbeit selbst in ihrer grüßten Kompli¬
ziertheit zu erkennen. Irgendein Bestreben, das darauf gerichtet ist, die Er¬
forschung der Tatsachen in die unsicheren Schranken unserer Theorien ein¬
zuzwängen, kann nur schädlich sein.
Außerdem finden wir in der Darlegung Weilers mehr als eine Stelle,
deren Bedeutung wir nicht recht erfassen können oder der wir offen wider¬
sprechen müssen. Wir wollen nur die wichtigsten anftihren.
1) S. 562. »Die Stärke der Nervenerregung hängt nun einerseits von
dem Zustande der motorischen Zentren, ihrer Reizbarkeit, andererseits von
der Reizstärke des Willensimpulses ab.« Was will der Verf. eigentlich mit
den Worten »Reizstärke des Willensimpulses« sagen? Vielleicht, daß der
Willensimpuls eine Erscheinung sei, die rein physiologisch erforscht und ge¬
messen werden kann, d. h. eine physische, unabhängige, durch sich selbst
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eimlriicke beruht, die früher die zu wiederholende Bewegung charakterisierten,
darunter in erster Linie das Gefühl der Anstrengung. Wenn man Weiler
nicht bezüglich der Vorstellung beipflichten kann, die er sich vom Willens¬
impuls als von einer Energie macht, die sich über und außer dem un¬
unterbrochen durch die Sinnesreize der peripheren Nerven-Muskelorgane
ausgeübten Einfluß nach außen hin kundgibt, so werden wir auch die
Hypothesen nicht annehmen können, die er in der Folge hinsichtlich der Ab¬
nahme der Stärke des Willensimpulses durch Ermüdung entwickelt.
Übrigens erlauben uns weder die objektiven Ergebnisse des Experiments
noch die der inneren Beobachtung entnommenen Aufschlüsse, von einer
quantitativen Abnahme der Stärke des Willensimpulses zu sprechen.
2) S. 553. »Um zu verhüten, daß eine . . . Nervenüberreizung statt¬
finden kann, besitzt der Organismus Schutzapparate. Einen solchen haben
wir bereits im Ermüdungsgefühl kennen gelernt, da dieses mit Eintritt der
Ermüdung mahnend vor weiterer Kraftausgabe in Erscheinung tritt. Einen
noch wichtigeren Schutz gewährt jedoch die starke Ermüdbarkeit der peri¬
pheren Organe.« Daß das Ermüdungsgefühl in der Regel wirklich ein wirk¬
samer Schutzmechanismus gegen übermäßige Anstrengung sei, d. h. daß es,
um dies zu werden, ein bo entschiedenes Übergewicht Uber alle anderen
Affekte annimmt, die während der freiwilligen Arbeit auftreten, ist zum
mindesten bestreitbar. Man beobachtet zu häufig, daß bei sehr vorgeschrittener
organischer Ermüdung die Vp. das Streben zeigt, die Tätigkeit eher intensiver
zu gestalten als zu vermindern, da der Rhythmus beschleunigt und der Im¬
puls intensiver wird; diese Steigerung des Impulses kann zur Wirkung haben,
die psychophysische Ursache des Anstrengungsgefühls herabzusetzen und
mithin die Vp. hinsichtlich des wirklichen Ermiidungsgrades nicht zu warnen,
sondern zu täuschen. Dr. Falciola, Abteilungsarzt an der Irrenanstalt zu
Como, hat unter meiner Anleitung ein umfangreiches Material von experi¬
mentellen Beobachtungen gesammelt, das er nächstens veröffentlichen wird,
und das eben wieder das beweist, was ich hier auf Grund älterer Ver¬
suche anführe.
Es bleibt noch zu untersuchen, ob wenigstens die von Weiler behauptete
starke Ermüdbarkeit der peripheren Organe ein wirksamer Schutz gegen über¬
mäßige Ermüdung der Nerven ist. Meine vor einigen Jahren unternommenen
Versuche haben, im Gegensatz zu der übrigens weitverbreiteten Ansicht, zu
der sich jetzt auch Weiler bekennt, nachgewiesen, daß während der Ent¬
wicklung der Kurve der maximalen freiwilligen Arbeit Erscheinungen eintreten,
die aller Wahrscheinlichkeit nach Anzeichen nervöser Ermüdung sind, und
zwar viel früher als die Arbeitsleistung sich ihrer Endphase zuwendet; diese
Anzeichen bestehen in der Abnahme des Wertes der (mit dem Produkt des
Gewichts und der Zeit) gemessenen statischen Kontraktion und in der ent¬
stehenden Unmöglichkeit, mit kleinen Widerständen zu arbeiten. Diese ner¬
vösen Ernaüdungserscheinungen zeigen sich auch, wenn die mechanische
Arbeitsleistung mäßig gewesen ist und das zu hebende Gewicht gewählt
wird, daß die Arbeit in regelmäßiger Weise fortschreitet, ohne d .^13 es nötig
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3) S. 561. Um das immer langsamere und praktisch unbegrenzte Sinken
der Arbeitskurve zu erklären, sagt der Verf.:
»Die Muskelkraft wird geschwächt, und dies um so mehr, je länger ihr
solche starken Aufgaben zugemutet werden. Der neu auftretende Willens-
impnls findet ein geschwächtes Organ vor, und es steht kaum zu erwarten,
daß es hier den nämlichen Erfolg haben kann wie beim unermiideten Muskel.
Die Leistung wird infolgedessen geringer werden, aber immerhin noch größer
sein können, als die Einnahme in der Pause beträgt, so daß also einerseits
das Energiedefizit (bzw. die Anhäufung von ZersetzungBstoffen) noch mehr
aufsteigt, während andererseits die Zunahme des Defizits infolge der geringen
Ausgabe allmählich kleiner wird ... So wird schließlich ein Moment ein-
treten können, wo infolge der Schwächung des Muskels der Effekt des Willens¬
reizes so gering ist, daß nunmehr eine Energieausgabe resultiert, die durch
die Zufuhr neuer Nährstoffe in der Pause ganz bedeckt werden kann und
wo die Pausenzeit genügt, die wenigen neuen Zerfallsstoffprodukte völlig zu
beseitigen.« An diesem Punkte soll das Sinken der Kurve aufhören. Wie
verlockend dieses Schema auch sein mag, die Tatsachen gestatten seine
Annahme nicht, besonders wenn es sich um eine Kurve freiwilliger Arbeit
handelt, denn:
1) Wenn man auch annimmt, daß, so weit es wenigstens von der Vp.
abhängen kann, der freiwillige Impuls die Tendenz habe, stets den gleichen
oder wenigstens den größten Muskelimpuls zu erregen, so kann man doch
nicht annehmen, daß die Abnahme der Muskelkapazität regelmäßig progressiv
sei, oder daß die Abnahme der äußeren Effekte in einfachen Verhältnissen
der Abnahme der Menge chemischer Energie entspräche, die im Muskel bei
den aufeinanderfolgenden Kontraktionen nmgewandelt wird: für einen all¬
mählich ermüdenden Muskel entspricht jede neue Arbeitsleistung einem che¬
mischen Verbrauch, der allmählich verhältnismäßig rascher zunimmt, so daß,
wenn der Rhythmus nicht verlangsamt wird, nie der Moment kommen wird,
in welchem die für den Ersatz der Verluste in einem frischen Muskel unge¬
nügende Pause für den Ersatz der Zerstörungen genügend wird, die ein
müder und der Erschöpfung naher Muskel erlitten hat.
2) Der bis zur Phase konstanter Arbeit fiir ein bestimmtes Gewicht mit
einem rhythmischen Reiz von einer bestimmten Intensität angestrengte Muskel
kann während einer kurzen abnehmenden Reihe von Hebungen seine Arbeits¬
leistung erhöhen, wenn man die Reizintensität erhöht.
3) Dementsprechend bleibt bei der Ermüdung des Muskels während der
rhythmischen freiwilligen Arbeit unter bestimmten mechanischen Bedingungen
der Impuls nicht konstant, sondern er nimmt an Intensität allmählich zu.
wenn die mechanischen Bedingungen weniger angemessen werden, und er
kann so intensiv werden, daß die Arbeitsproduktion eines Muskels, der
unter der Herrschaft des größten Willensimpulses schon einige hundert
Kontraktionen ausgeführt hat, den Anfangswert erreicht. Wenn der Muskel
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Literaturbericht.
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reicht, die durch die Widerstände bestimmt sind, welche in den motorischen
Bahnen liegen; es ist dies die Anwendung auf den Fall freiwilliger Arbeit,
der Gesetze der Arbeit bei submaximalen Reizen, die schon Tiegel, wenn
ich nicht irre, zur Zeit der ersten Anfänge der Muskelphysiologie be¬
schrieben hat.
Wir sind also weit entfernt, das Schema Weilers annehmen zu können,
nach welchem das Maß und die Beschränkung der Abnahme der mechanischen
Wirkungen einer rhythmisch wiederholten freiwilligen Kontraktion ihre auto¬
matische Begründung in der organischen Verarmung des den Willensimpulsen
gehorchenden Muskels findet.
4) S. 664. »Der steilabfallende Verlauf unserer Arbeitskurve zeigt, daß
die Muskelermüdbarkeit eine viel hochgradigere sein muß als die Ermüdbar¬
keit des Zentralorgans, oder, anders ausgedrückt, daß wir imstande sind,
dem Muskel verhältnismäßig mehr Kraft in der Zeiteinheit zu entziehen, als
dem Zentralorgan. Während bei geistiger Arbeit die Ermüdungsvorgänge
durch die Übung verdeckt werden, treten hier die Ermüdungserscheinungen
in den Vordergrund. Da wir nach den Erfahrungen bei der Untersuchung
geistiger Arbeit von vornherein nicht annehmen können, daß die geistige
Ermüdbarkeit in kurzer Zeit von wesentlichem Einfluß auf den Verlauf der
muskulären Arbeitskurve sein wird, usw.«. »Beide werden gleichmäßig dahin
wirken, daß die Leistung allmählich sinkt, so daß wir uns darauf beschränken
müssen., gröbere Schwankungen der Willensspannung, die unabhängig von
der Ermüdung auftreten und den Muskelermüdungswert beeinflussen, aufzu¬
decken.«
Wie kann man die am Anfang dieses Zitates vorkommenden Behaup¬
tungen aufrecht erhalten angesichts der täglichen Erscheinungen von Er¬
schöpfung uud Neurasthenie, die aus Mangel an Maßhalten bei der täglichen
Arbeit und, wie wir wohl sagen können, vorwiegend gerade bei den Berufen,
bei welchen die Muskelarbeit am wenigsten in Betracht kommt, eintreten?
Wie kann man Vergleiche anstellen zwischen der Leichtigkeit, mit welcher
es uns gelingt, Energie aus den Muskeln oder aus den Nerven zu ziehen, da wir
doch nichts von den zwischen den beiden Formen von Energie bestehenden
Verhältnissen wissen, und vielmehr die Energie, welche das Nervensystem bei
der Ausübung seiner ergänzenden Funktion (Sh er ring ton) verbraucht, der
Anßenwelt unter keiner der Formen zurtickgegeben wird, die sich gewühn-
ich in den spezifischen Zwischenorganen zeigen und als solche unseren
Beobachtungsinstrumenten zugänglich sind? Schon oben bemerkten wir,
daß die Erscheinungen, welche bei dem Verlauf der motorischen Ermüdung
aller Wahrscheinlichkeit nach der Herabsetzung der psychischen oder Nerven-
energie zuzuschreiben sind, schneller und ausgeprägter eintreten als die¬
jenigen, welche man der Muskelermüdung zuschreiben kann. Wenn man bei
der Kurve einer ziemlich leichten geistigen Arbeit, wie z. B. die Additionen
Kraepelins es sind, nicht das rasche Sinken beobachtet, das man bei der
Kurve der freiwilligen Maximalarbeit beobachtet, so muß mau die Gründe
anderswo suchen, d. h., aller Wahrscheinlichkeit nach, einerseits einem
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Literaturbericht.
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zu entnehmen ist, das gestattet, mit Sicherheit das Vorhandensein dieser be¬
sonderen Ermiidungsform als getrennte, von der Abnahme der Fähigkeit zur
Arbeitsproduktion unabhängige Erscheinung zu behaupten. Alles dient
vielmehr zum Beweis dafür, daß die Willenseinmischung trotz der Nerven-
ermiidung immer intensiver wird, um das Eintreten der mechanischen Folge
der Muskelermiidung zu verschieben. Und die verschiedenen von Kraepe-
lin beschriebenen Antriebsformen, besonders der Müdigkeitsantrieb, scheinen
zu beweisen, daß dasselbe auch während des Verlaufs der geistigen Arbeit
geschieht.
5) S. 564. Weiler schätzt die Beziehung ab, die zwischen dem Fort¬
schreiten der Ermüdung (Abnahme der Leistung) bei einer ununterbrochenen
Reihe von Kontraktionen ( E ) und dem Fortschreiten der Ermüdung bei einer
durch eine kleine Ruhepause unterbrochenen Reihe von Kontraktionen ( E')
besteht, und aus diesem Vergleich glaubt er den Grad der Abnahme folgern
zu können, der durch die reine Muskelermüdbarkeit bedingt ist, indem er
die Schwankungen des Willensfaktors als etwas Launisches betrachtet,
das durch Zufall eintreten kann oder nicht. Er nimmt an, ihr Eintreten
könne bewirken, daß die effektive Arbeitsfähigkeit sich als etwas mehr
oder weniger verschieden von dem herausstellt, was der reinen Ermüdbarkeit
der Muskeln entsprechen würde, und auf diesem Grund scheint er zu glaubeu,
daß die Willensspannung in einem vorgerückteren Stadium der Arbeit etwas
geschwächt sei. Leider kann man dies, wie wir schon sagten, nicht be¬
dingungslos annehmen. Wir können annehmen, daß die prozentuale Ab¬
nahme der Leistung, die in den aufeinanderfolgenden Abschnitten einer
Arbeitskurve ( E) erhalten wurde, etw r as kleiner ist als der wirkliche Zustand
des Muskels sie gestatten würde, dank der stufenmäßigen Intensifizierung
des Impulses. Wir können auch mit Sicherheit annehmen, daß diese Ab¬
nahme merklich geringer ist als sie im Verhältnis sein würde, wenn
zwischen den verschiedenen Teilen der Kurve eine Ruhepause ( E ') ein¬
geschaltet wird, eben weil dank der Ruhe der Muskel weniger ermüdet;
aber die Folge ist auch, daß die Intensifizierung deB Impulses, die
diese Abnahme begrenzt, nicht mehr in so ausgeprägtem Maße eintritt.
Auch Weiler hat stets E im Vergleich mit E ' zu klein gefunden. Wir er¬
klären uns die Sache durch die bei unseren Versuchen erhaltenen Resultate,
und zwar folgendermaßen: wird die Vp. aufgefordert, mit dem größten
Impuls zu arbeiten, wenn die Widerstände, die der Muskel überwinden
muß, verhältnismäßig gering sind (Beginn der Arbeit), ist der Impuls anfangs
immer relativ schwach; er wird allmählich mit dem fortschreitenden Er¬
müden des Muskels eifriger und tätiger, periodisch sogar intensiv aus¬
geprägt. Auf diese Weise erklären wir uns auch, daß bei der zweiten
Person, für die, wie ich sagte, der Weilersche Apparat wahrscheinlich
E
einen geringeren relativen Widerstand darbot, das Verhältnis noch
p-nrinp’cr ist. weil h«i ihr di« F,rmildhark«it fiir di«s«n Annnrat. und mithin
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Literaturbericht.
115
Wir brauchen also nicht mehr zu der von Weiler aufgestellten, sehr un¬
wahrscheinlichen Hypothese zu greifen, daß die Einschaltung einer Ruhe¬
pause in schädlichem Sinne auf den Verlauf der Arbeit einwirken könne
(S. 565); sie ist allerdings schädlich, aber nur in dem Sinne, daß ihretwegen
das Eintreten solcher mechanischer Bedingungen verzögert wird, welche die
Intensifizierung des Impulses erfordern. Es bliebe noch übrig, uns zu
fragen, ob diese Verschlechterung der für die Äußerung mechanischer Arbeit
günstigen Bedingungen eine Wirkung ist, die man ausschließlich der Muskel-
ermüdung zuschreiben muß. Wir glauben dies nicht; wir glauben, daß es,
besonders wenn es sich um isometrische ergographische Apparate (Dynamo¬
meter, Federn im allgemeinen) handelt, allen Formen von Ermüdung (der
Muskeln, der Nerven, miteingeschlossen die Geschicklichkeit zur Regulierung
des Willensimpulses) zuzuschreiben ist. Es gelingt Weiler wirklich nicht,
aus seinen neuen Versuchen etwas anderes zu folgern als den größeren oder
geringeren Grad der Kraft, der Ermüdbarkeit, der Widerstandsfähigkeit
gegenüber dem Anstrengungsgefühl; aber diese so ohne weitere Analyse
betrachteten Angaben dienen uns nicht dazu, die Natur der Ermüdung näher
zu kennen, und sie wurden schon mit den ersten nicht so vervollkommneten
Dynamometern oder Ergographen erhalten; eine weitere Analyse wurde erst
ermöglicht durch die verschiedenartigen Modifikationen, die ich in die
ergographische Methode eingefübrt habe zu folgenden Zwecken:
1) um den mechanischen Effekten der freiwilligen Kontraktionen die
größte Äußerungsmöglichkeit als Weite der Bewegung zu gestatten;
2) um den Verlauf der Kontraktionsenergie und des nützlichen Effektes
bei rhythmischer freiwilliger Muskeltätigkeit, die in praktisch konstantem
Maße fortschreite, zu taxieren;
3) um die Schwankungen zu untersuchen, welche bei den aufeinander¬
folgenden Hebungen die dem verschobenen Körper mitgeteilte Geschwindig¬
keit erleidet.
Die Apparate, welche, wie die Dynamometer, künstlich diese einzigen
meßbaren Kundgebungen des Verlaufes der freiwilligen Muskelarbeit unter¬
drücken, sind offenbar dazu bestimmt, Kraftwerte oder Zahlen von Kilo¬
grammen zu registrieren, d. h. die rein mechanische Seite der Arbeit, aber
sie werden uns keine Auskunft über die Ökonomie der Arbeit und des Im¬
pulses geben können, d. h. eben über die Fragen, durch welche die Er¬
scheinung der freiwilligen Muskeltätigkeit auch für den Psychologen ein
Interesse gewinnt.
Das bis jetzt Gesagte gestattet uns, die Resultate zu verstehen und auch
vorherzusehen, die Weiler hinsichtlich des Verlaufes von länger andauernden
Reihen von Kompressionen mitteilt (1000 Kompressionen, gruppiert in zehn
Gruppen von je 100 Kompressionen, getrennt durch eine kurze Ruhepause).
Auch in diesem Falle verwandelt die Starrheit des Apparates in leichte
Schwankungen alle Unregelmäßigkeiten, die sonst eingehend zu beobachten
höchst interessant wäre, eben weil sie die Symptome der Art \\ad WeiBe
sind, wie sich die Vp. der Arbeitsform anpaßt. Weiler aber glaubt das
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Literaturbericht.
Wenn man bedenkt, daß die von einem künstlich gereizten Muskel ge¬
lieferte Arbeitskurve einen ganz verschiedenen Verlauf von derjenigen hat,
die man durch den freiwilligen Reiz erhält, so sind wir wohl berechtigt,
daran zu zweifeln, daß das rechtlinige Absteigen von der mechanischen Arbeits¬
leistung diejenige Kurve sei, welche den theoretischen Anforderungen der
Erscheinung der Muskelermüdung entspricht; wohl aber ist es gerade die¬
jenige, welche durch die Einmischung der psychischen und nervösen Faktoren
bedingt ist, die alle zu dem praktischen Zweck Zusammenwirken, die Effekte
der willkürlichen Muskeltätigkeit möglichst hoch und konstant zu erhalten.
Eine letzte Überlegung Weilers (S. 680 erinnert uns an einen weiteren
Mangel der dynamographischen Methode, der in technisch-experimenteller
Hinsicht sehr wichtig ist:
» ... bei einer bestimmten absoluten Größe der Leistung die einzelnen
in gleichen Zeitabständen aufeinanderfolgenden Abschnitte derselben in einem
bestimmten Verhältnis abnehmen. Diese Abnahme ist nun unabhängig 1 ) zu¬
nächst von der Stärke der Willensspannung, indem sie ceteris paribus rascher
erfolgen wird, wenn mit mehr Willensspannung an die Arbeit herangetreten
wird (der Exponent wird dann kleiner). Umgekehrt wird bei weniger starker
Willensspannung die Leistung allmählich sinken, ja sie kann sogar bei sehr
geringem Willensautrieb überhaupt keine Neigung zum Abnehmen zeigen.«
Dies ist gleichbedeutend wie das Zugeben, daß man bei der dynamometri¬
schen Anordnung nie weiß, unter welchen Bedingungen ein ergographisches
Experiment fortschreitet, weil man, was die verwendete Intensität des Im¬
pulses betrifft, sich auf die Aussage der Vp. verlassen muß; dadurch wird
ein Vergleich zwischen zwei Kurven von verschiedenen Personen oder zwei
Kurven einer und derselben Person, die jedoch in verschiedenen Zeitab¬
schnitten entnommen wurden, sehr erschwert werden. Bei der ergographischen
Methode mit dem freien Gewicht wird dagegen als Willensspannung die ge¬
ringste verlangt, die zur Hebung des Gewichts genügt: die Schwankungen
des Impulses, die infolge Unlust oder Unerfahrenheit des Subjektes eintreten
können, werden stets zwischen diesem Minimum und dem Impuls, der die
größte Geschwindigkeit dem Gewicht verleihen würde, liegen, d. h. sie werden
stets in einem sehr begrenzten Feld enthalten sein. Dies bedeutet einen
nicht geringen Vorteil für die Kontrolle des Verhaltens der Vp.; nämlich
entgehen die innerhalb dieser Grenzen gehaltenen Schwankungen des Im¬
pulses fast vollständig der absichtlichen Einmischung des Subjektes. Da¬
gegen berechtigt uns die Unmöglichkeit, in die uns die Verwendung des
Dynamometers versetzt, der Vp. eine bestimmte Art des freiwilligen Impulses
vorzuschreiben, den Schlußfolgerungen Weilers, nach dessen Ansicht seine
dyuamometrische Methode (S. 582) zu dem Ziele führen soll, daß man die
Leistungsfähigkeit der Muskeln schätzen kann, einige Einschränkungen auf¬
zuerlegen, da die Methode hinsichtlich des Exponenten der Abnahme nichts
entscheidet und der Exponent der Abnahme der Arbeitskurve gerade von
der von der Vp. aufgewendeten Intensität des Impulses abhängt.
Was die weitere Schlußfolgerung (S. 581) betrifft: »wird bei zwei Personen
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Referate.
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3) Bericht Uber Arbeiten aus dem »Pedasrogical Seminarv« 1908
und 1909.
Psychologie der Kindheit in bezug auf Lesen und die öffentlichen
Bibliotheken von Stanley Hall.
Auch in Amerika hat das Jugendschriftenwesen sowohl in bezug auf
Lesen als auch auf Produktion einen großen Aufschwung genommen. Als
eine Gefahr erscheint nun dem Verf. neben den guten Seiten das starke
Dominieren der Mittelmäßigkeit (auch in Deutschland, dessen Jugendschriften¬
warte und Prüfungsausschüsse er rühmend erwähnt), wodurch die Gefahr
einer gewissen Lesewut und Interesselosigkeit wächst. Dazu sollen Jugend¬
bücher auch nicht das bieten, was das Kind aus erster Hand seiner Erfahrung
selbst haben kann; sondern sie müssen ihm etwas wesentlich Neues bieten,
dazu farbig illustriert. »Weder zu Hause noch in der Schule soll das Buch
mit der mündlichen Erzählung konkurrieren wollen.« Und, meint er dann,
wie wir nicht das Recht haben bloß Lesen zu lehren, ohne gehörige Vor¬
sichtsmaßregeln, daß nicht Minderwertiges und Unverstandenes die jungen
Seelen verwüste, welche Gefahr tatsächlich groß ist, so gilt es auch vor
allem auch den Unterschied in der Psyche von Knaben und Mädchen in
bezug auf Lektüre zu beachten. Zwar in früher Kindheit sind die Unter¬
schiede nicht hervorragend, aber einige Jahre vor der Pubertät treten sie
markant auf und vergrößern sich dann hervorragend. Zunächst darin, daß
Mädchen überhaupt viel mehr lesen, mehr wahllos, oft auf Anraten von
Lehrern, Freundinnen, Eltern usw., sie lesen, weil andere es kennen; Knaben
im Gegenteil haben ihrem selbständigen Sinne gemäß mehr Neigung zu dem.
was andere nicht kennen, was verboten, was gefährlich ist. Tiergeschichten
lieben beide Geschlechter, aber Mädchen solche von gezähmten, Knaben von
wilden, ebenso wie Jagd; dies sei, meint Stanley Hall, wahrscheinlich ein
Atavismus, weil die Urmenschen schon in den Geschlechtern so verschiedene
Neigungen gehabt hätten.
Knaben lesen meist Geschichte, Wissenschaften, Reisen, Abenteuer;
Mädchen Novellen und Poesie; Historie interessiert letztere nur, wenn sie
biographisch, persönlich gehalten ist. Knaben lieben Abenteuer, kraftvolle
Handlung, Mädchen Gefühl. Knaben haben mehr Sinn für Feinheiten des
Qfilmi nnd dar Pnmn Mödnlien cralinn mol. auf Hon TnVialt Ttina sinH nnr
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Literaturbericht.
119
Nachdem nach den besten Quellen mit größter Lebhaftigkeit alle Lebens¬
gewohnheiten der wilden Affen geschildert sind, Bollte ein weiteres Kapitel
von gezähmten Tieren dieser Art und ihren Eigentümlichkeiten reden; so¬
dann müßten Fabeln und Erzählungen von Affen gebracht werden: zuletzt
sollten Tafeln entwicklungsgeschichtliche Tatsachen, auch in Beziehung auf
den Menschen, darstellen; letzteres für gereifte Leser gedacht. Und so die
anderen Bücher auch.
Den Wert solcher Bücher schätzt er hoch ein; sie würden Eltern und
Kinder vereinen beim Studium, sie würden auch die Menschen in der Liebe
zur Tierwelt den alten paradiesischen Zeiten näher bringen, wo der Mensch
dem Tiere näher war.
2) Eine andere dringende Not für Geistesnahrung der Kinder gilt es abzu¬
stellen, indem die großen Schätze der Weltliteratur von Homer zu den Nibe¬
lungen, zur Artussage bis zu Faust dargeboten werden sollten. Jedes Kind hat
ein Recht zu diesen großen, erhabenen Traditionen der Menschheit, die voll
sind von moralischer ästhetischer, sittlicher Kraft. »Sie sind wie die ewigen
Sterne, während unsere zeitgenössischen Geschichten Talglichtern gleichen.«
Nun kann weder der Urtext noch seine wortgetreue Übersetzung der Jugend ge¬
boten werden, es muß vielmehr unter Beihilfe der Kinder, an denen man erprobt,
in welcher Form es am wirksamsten ist, überarbeitet und neugeschaffen werden.
3) Sollten die Quellen der Ethnologie fließen gemacht werden und so
in die Urgeschichte der Menschheit, die dem Kinde so kongenial ist, ein¬
geführt werden. Nicht nur ihre Lebensweise, sondern wie sie Sonne, Mond,
Sterne, Seen, Bäume, Tiere, Felder betrachteten und wie ihnen die Probleme
des Lebens entstanden und wie sie dieselben lösten.
4) Zuletzt meint er, die mündliche Erzählung nicht verkümmern zu lassen,
sie ist natürlicher und kürzer und darum am wirksamsten.
Im Märzheft 1909 veröffentlichte Louise Ellison eine Literaturstudie
über »Ökonomie und Technik des Lernens« (The acquisition of tech-
nical skill). Benutzt sind 39 der namhaftesten deutschen und amerikanischen
Forscher über diesen Gegenstand. Es ist interessant wie Professor Meu¬
ra an ns Ergebnisse hier im allgemeinen bestätigt werden. Wir geben einige
Sätze der »Summary« wieder.
1) »Die Fähigkeit der Kinder zu lernen für unmittelbares Behalten ist
weniger groß als die bei Erwachsenen; erstere werden mehr ermüdet bei
Material von mittlerer Länge. Kinder brauchen eine größere Zahl von
Wiederholungen als Erwachsene.«
2) »Sinnvolles Material eignet sich zehnmal so leicht an als sinnloses.«
4) »Je mehr Wiederholungen beim ersten Lernen angewendet werden, um
so weniger sind beim Wiederlernen nötig in gewissen Grenzen.«
5) »Es ist ökonomischer, die Wiederholungen in Gruppen von nicht zu
p*rr»Rpn Tnfprvallpn im pinaplnpn i.n fpilpn als aip in oinpr Sitinnv ■»« häufen.«
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120
Literaturbericht.
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15) »Es sprechen auch noch andere individuelle Elemente beim Lernen
mit.«
14) »Bei Empfehlung gewisser Methoden für das lernende Kind muß der
Lehrer beachten, ob das Kind ,reif‘ für die betreffende Methode ist, sonst ist
sie ohne Wert.«
18) »Irrtümer sollten gleich am Anfänge vermieden werden, um falsche
Assoziationen, die in der Folge immer wieder störend eintreten, zu vermeiden.«
Zur heute so aktuellen Frage der Belehrung der Jugend über
sexuelle Fragen nimmt Stanley Hall das Wort unter dem Titel: The
needs and methods of educating young people in the hygiene of sex.
Auch er tritt für eine Belehrung der Jugend in der Schulzeit, und zwar
beide Geschlechter umfassend, ein. Er schlägt vor, ehe die eigentliche Be¬
lehrung über geschlechtliche Verhältnisse des Menschen eintritt, soll der
naturkundliche Unterricht eine breite Basis dazu gelegt haben, indem er auf
Geschlechtsvorgänge bei Pflanzen und Tieren eingeht. Dem späteren Knaben¬
alter müssen vom Arzte Belehrungen zuteil werden über die Gefahren ge¬
schlechtlicher Ansteckung und Ausschweifung, und in Jünglingsvereinen
müssen Bibliotheken auch Bücher über eine veredelte Auffassung der Liebe
von unseren besten Künstlern in Wort und Bild zu finden sein. Hervorragend
kann auch die Rolle der Religion sein, wenn sie in ihrem eigensten Geiste
an den Menschen herangebracht wird.
Selbstverständlich sollen auch die jungen Mädchen bedacht werden
soweit es ihr eigenes Geschlecht angeht, am besten von einer Frau,
Lehrerin usw.
Doch kann schon in dem vorschulpflichtigen Alter manches zur ge¬
schlechtlichen Hygiene beigetragen werden durch naturgemäße Körperpflege,
Nahrung, Kleidung, Betten, durch geeignete körperliche Betätigung, auch
letztere in der Schule, damit der Geist möglichst mit praktischen Interessen
ausgefüllt sei. Auch unsere akademische Jugend bedarf der Fürsorge in
dieser Hinsicht. —
Bietet bisher Stanley Hall nichts wesentlich Neues zu der behandelten
Frage, so erscheint mir die Einleitung und Begründung seiner Forderungen
geradezu klassisch. Sie sei darum in den Hauptpunkten wörtlich wieder¬
gegeben.
»Die 1500 Millionen Menschen, die jetzt auf der Erde leben, sind doch
bloß eine Handvoll, verglichen mit den zahllosen Generationen, welche von
deren Lenden für künftige Zeiten hervorgehen sollen. Alle Nachkommenschaft
schlummert in unseren Körpern, wie wir in denen unserer Vorfahren. Diese
fordert von uns das höchste Recht und den Segen wohlgeboren zu werden,
und sie wird nur Fluch für uns haben, wenn sie sich in ihrem Leben be-
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Literaturbericht.
121
geborenen befördert und das Gegenteil Unrecht. Und das letztere tun ist
eine unverzeihliche Sünde, die einzige, die die Natur kennt. Gerade wie
alle die sterblichen Zellen und Organe von unserem Körper und all deren
Aktivitäten durch unser ganzes Leben nur da sind zu dienen dem unsterb¬
lichen Keimplasma, so ist jede menschliche Institution: Heim, Schule, Staat,
Kirche und alles übrige in der Absicht eingerichtet Jugend und Kinder zu
deren höchstmöglichen Reife zu bringen an Leib und Seele und der Wert
nicht nur dieser Institutionen, sondern auch von Kunst, Wissenschaft, Lite¬
ratur, Kultur und Zivilisation ist letzten Endes zu messen daran, wieviel sie
beitragen zu diesem letzten Ziel.«
Ich glaube, schöner und tiefer kann man den Wert und die Pflicht eines
reinen körperlichen und geistigen Lebens nicht darlegen. Und von dem
Standpunkte Stanley Halls ans wird man immer erneut auf diese bedenkliche
und gefährliche Reihe der geschlechtlichen Verirrungen und Unnattirlichkeiten
zurück kommen müssen und durchdenken, ob die Sanierung nicht schon bei
der Jugend einsetzen muß. Ohne Zweifel gehört das Thema zu den heikelsten,
aber wiederum auch unabweisbaren Fragen der modernen Pädagogik.
Über den Wortschatz eines dreijährigen Kindes bringt die März¬
nummer 1909 einen Aufsatz aus der Feder des Professor Guy Montrose
Whipple und seiner Frau, die ihren eigenen Sohn in dieser Hinsicht sehr
sorgfältig behandelten und beobachteten. Die Ergebnisse passen sich im all¬
gemeinen der Tabelle S. 122 an, der Wortschatz ist reicher, gegen 1800 Wörter.
Das erklärt sich daraus, daß der Junge für sehr geweckt erklärt wird; daher
sind auch die Formen der Verben in verschiedenen Zeilen als selbständige
Wörter mitgezählt.
Ich glaube, am meisten interessiert den Leser der nachstehend mitge¬
teilte Exkurs, der den Wert und die Notwendigkeit experimenteller Forschung
schlagend illustriert.
Ein so hervorragender Forscher wie Max Müller sagt: »Bei einem
Kinde von 8 Jahren ist der Wortschatz sehr eng, er wird sich beschränken
anf 150 Worte«. Auch in Gesprächen bei Diners über den Wortreichtum
bei jungen Kindern mit gebildeten Leuten fand der Verf., daß sie ganz
ähnlich wie Max Müller schätzten; ja, als einer auch 150 Wörter annahm,
rief ein anderer lachend, es würden wohl kaum 50 sein, dann müßte ein
dreijähriges Kind auch noch sehr »hell« sein.
Im übrigen ist aus der Arbeit zu ersehen, wie sorgfältig in den Ver¬
einigten Staaten die betreffende deutsche und französische Literatur, auch
neusten Datums, über pädagogische experimentelle Forschung verfolgt und
verwertet wird.
Der Wortschatz eines vierjährigen Knaben.
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122
Literatnrbericht.
Autor
Alter des
Kindes
-— ■ -
Dingwörter
Verben
Adjektiv
Adverb
Fürwörter
Interjektion
Konjunktion
Proposition
3
^0
r
1 %
X
*
1 %
%
%
*
*
%
Mateer
j 4 Jahre
65
22
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2
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3
1.6
100
Tracy
Durchschnitt
60
22
9
5
2
2
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2
100
Wörterbuch gibt an |
1
60
22
6,5 j
1,6
1,5
1,5
1,5
100
Mateer
4 Jahre
578
211
125
öl
21
18
12
4
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Salisbury
2 3 /« Jahre
350
160
60
32
24
20
5
4
642
>
5 1 /; Jahre
883
321
236
40
22
20
1
5
1528
Gale
21/2 (Mädch.)
307
165
79
38
15
14
8
3
629
>
j2i/o (Knaben)
369
189
83
42
27
21
8
14
751
>
j 3 Jahre
675
238
141
63
33
17
10
9
1176
Kirk patrik
3 5 Jahre
108 |
217
49 !
44
186
27
5
19
700
Auffällig ist die hohe Prozentzahl der Tätigkeitswörter gegenüber der im
Wörterbuch. DerVerf. hält das für einenHinweis, daß der Tätigkeitsdrang einer¬
seits und Beobachtung der Handlung bei Kindern am meisten ausgebildet und
demgemäß vom Pädagogen beachtet sein wollen. Selbstgeprägte waren etw r a 3 ti .
»Anatomisches oder physiologisches Alter gegen das chronologische.«
betitelt sich eine Abhandlung von C. Ward Crampton.
Wir entnehmen den Tabellen folgendes über die verschiedenartige Entwick¬
lung, wie sie sich kuudgibt nach verschiedenen Gesichtspunkten der Pubertät
in gleichem Alter. Vorausgeschickt ist die Angabe über Sammlung des Quellen¬
materials: 4800 Daten von Schulkuaben einer New Yorker höheren Schule,
welche dieselben von der Elementarschule empfängt und in 4 Jahren vorbe¬
reitet für Hochschule oder Geschäftsleben. Sie sind aus allen sozialen Schichten
uud schließen eine reiche Mannigfaltigkeit von Rasseumischungen in sich.
Alter in
Jahren
Physio- |
logisches j
Alter in %
Durchschnitts¬
gewicht in kg
Durchschnittshöhe
in cm
Körperkraft, gern,
am Dynamometer,
ausgedr. in kg. geh.
mit d. rechten Haud
I
II
hi 1 ; 1 | 11 | in
1 I
II
III
I
II
III
121 / 0-13
13— 131/2
131/2—14
14- 141/2
141/2-15
lö—löi/s
IöVj—16 (
Digitizedby VjO
69
65
41
26
16
9
5
25
26
28
28
24
20
1°
■gle
6
18
31
46
60
70
85
35,2
36,6
35
37,2
35,4
37,9
35,2
38,6
36,8
39,0
37,9
38,8
36,7
41.8
50.8
44.3
43.8
45.4
47.2
47,7
49.3
144
144.2
145.7
146,6
147.3
149.8
149,8
147.5
148,7
150.4
150.6
151.7
151.5
153,1
150,5'
153,91
155,9,
167,9;
158,9
160,7!
162,6
26.6
26.3
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27.3
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Original fr
28,2
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30,4
30.2
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32.5)
33,6
35.2
37.8
38.3
40.1
42.9
m
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Literaturbericht.
123
Auf Grund der vor Augen liegenden Verschiedenheiten vor und nach
dem Pabertätseintritte fordert der Verf., in erster Linie das physiologische
Alter als Basis fUr Erziehung; die Klassen nicht zu trennen nach dem chrono¬
logischen Alter, sondern nach dem physiologischen, auch einen Unterschied
in Unterricht und Fächern zwischen beiden Gruppen zu machen; die Kinder-
arbeitgesetzgebnng abhängig zu machen von dem Eintritt der Pubertät.
Arbeiten aus »L’ann6e psychologique« von Binet. (1909.)
Die Intelligenz der Imbezillen:
I. Besteht eine Beziehung zwischen dem Charakter der Abnormen und
einem gewissen Niveau des Geistes?
Binet beobachtete eine Anzahl solcher Kranken — Imbezille und Idioten
— in seiner Anstalt. Er legte zunächst Wert darauf, ob Bie seinen Experi¬
menten willig folgen oder widerspenstig sind: R6tifs et Dociles, und frug
sich, ob etwa die niederen Grade der Intelligenz mehr widerspenstig sind
und umgekehrt, ob dies abnimmt bei geringeren Graden des Schwachsinns. Er
gibt nun in seiner Abhandlung neben einer Reihe trefflicher photographischer
Porträts Individualbilder im Wort.
Das Resultat auf seine Frage ist: Es besteht keine solche Beziehung.
Denn in allen Graden der Intelligenz fanden sich ebenso viel Willige als auch
Gegenteilige. Daraus folgert er: Anstelligkeit (docilit6) und Widerspenstig¬
keit (r6tivite) nehmen nur danu abnormen Charakter an, wenn sie in über¬
triebenem Grade auftreten.
Auch bei den Widerspenstigen fand er nur dann heftigen Widerstand,
wenn ihnen Sachen zugemutet wurden, die irgendeine Anstrengung er¬
fordern.
Übrigens gesteht Binet seinen Ergebnissen nur den Wert zu, den etwa
die Ansichten eines Professors Uber die Jugend haben, wenn er dieselbe nur
beurteilen wollte nach ihrem Verhalten im Klassenzimmer und ihr sonstiges
Leben außer acht ließe. Binet benrteilt sie nach seinen Erfahrungen im
Laboratorium.
II. Die Aufmerksamkeit derselben, betrachtet unter dem Gesichtspunkt
der Beweglichkeit (mobilisation).
Ist bisher die Angabe die gewesen, Idioten hätten gar keine oder nur
wenig. Imbezille etw r as Aufmerksamkeit, so will Binet diese Art als zu all¬
gemein nicht gelten lassen und forscht nach: »Kann die Aufmerksamkeit dieser
Kranken erregt, verstärkt, durch einen besonderen Gegenstand angezogen
werden? Einmal gefesselt, kann sie von Dauer sein während einer gewissen
Zeit? Wenn eine Ablenkung sich bietet und der Kranke ihr folgt, kann er
letztere wieder verlassen und spontan zum alten Objekt zurückkehren? Kann
er seihst: widerstehen und dasselbe Ohiekt. fixieren trotz nhlenkpuder Ein-
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124
Literaturbericht.
Bändiger, 5 oder 6 Stühle stehen herum. Auf unseren Befehl, mit der Hand ge¬
geben, setzt sich Vousin auf alle Stühle und zeigt auch nicht einmal den
Willen zum Widerstand, und 3 —4mal tut er es im Kreise; aber vor jedem
Aufstehen und Setzen müssen wir ihm den Befehl geben; wenn wir die Ges'te
nicht erneuern, bleibt er sitzen.«
Anmerkungsweise weist Bi net darauf hin, daß dies dem Verfahren des
Pädagogen La Martiniere ähnelt, der auch durch Bewegungen die Auf¬
merksamkeit seiner Schüler erhält und stärkt, z. B. wenn sie schriftlich
rechnen müssen und jeder einzeln sein Resultat zum Lehrer bringen, natür¬
lich in gehöriger Ordnung.
Bei Imbezillen mit verhältnismäßig gesteigerter Intelligenz fand Bi net
die oben gestellten Fragen im allgemeinen bejaht.
III. Freiwillige Anstrengung Teffort volontaire).
In den darauf bezüglichen Versuchen zeigten alle Abnormen eine große
Scheu, sich irgendwie anzustrengen. Bin et untersuchte die Reaktionszeit,
die verlief zwischen einem gegebenen Signal und der Antwort darauf; Proben
der Lebhaftigkeit der Bewegung; Experimente, um eine möglichst große Zahl
von Worten in einem gegebenen Zeitraum hervorzubringen, unmittelbare
Wiedergabe gehörter Zahlen. Überall trat, verglichen mit den Normalen,
eine auffällige Verlangsamung und Armut hervor.
IV. Schreibversuche mit Stift und Papier, die dem Belieben der Ver¬
suchspersonen überlassen waren, ergaben die interessante Tatsache, daß im
allgemeinen eine Annäherung in Formen der Schrift und der Gesten an die
des normalen Menschen in dem Maße erfolgte, als die Versuchspersonen
selbst intellektuell sich ihnen nähern. Außerdem wurde bemerkt, wie alle
sich darin den Verhältnissen anpaßten, daß keiner über den Rand des Papiers
auf den Tisch schrieb. Die photographisch mitgeteilten Schreibversuche
zeigen eine allmähliche Entwicklung vom Allgemeinen (einfache Linien} zum
Besonderen (Schreibformen, die der Schrift Normaler sich nähern).
V. Die Intelligenz der Perzeption (l’intelligence de perception).
Versuche mit Gewichten von 10—15 Gramm ergaben die überrraschende
Tatsache, daß »die Feinheit der Perzeption ist gleich oder ziemlich gleich
der eines normalen Individuums«. »Es bleibt eine beachtenswerte Tatsache,
die schon früher bei Kindern beobachtet wurde, daß die Intelligenz der Per¬
zeption nicht eine Entwicklung durchmacht, die parallel ist derjenigen der
Aufmerksamkeit, der willkürlichen Anstrengung oder der Sprache. Sie ist
sehr viel mehr frühreif, und man ist überrascht, festzustellen, daß ein Im¬
beziller, der uns Normalen doch so viel unterlegen ist, für jedes Experiment,
welches Anstrengung erfordert, doch richtige Vergleiche von Linienweiten
und Gewichten erreicht, die uns sehr schwierig erscheinen.« Binet meint,
dns sei sn 7.11 erklären. daß diese nsvehisehe Fähigkeit. vor sich ß-eht. ohne
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suche (Stechen mit der Nadel in den Arm, Eintauchen des Fingers ins
Wasser, brennendes Streichhölzchen nahe der Nasenspitze), daß eine gewisse
Abstumpfung hierfür bei den Abnormen besteht. Wie bei den normalen
Kindern ein gewisses Verhältnis der Feinheit der Schmerzempfindung zur
Entwicklung der Intelligenz festzustellen ist in dem Sinne: mit höherer In¬
telligenz steigt die Feinheit und umgekehrt, so bestätigten diese Versuche
die Abnahme nach unten. »Man muß aber unter Schmerz nicht allein eine
lokalisierte Empfindung verstehen, die gewertet ist nach ihrer Intensität,
sondern die gesamte psychische Resonanz dieses Schmerzes, Vorstellungen
und Gefühle, die er hervorruft und die ihn vergrößern wie eine Lawine.«
»In Wahrheit haben intelligente Naturen mehr Verdienst, wenn sie coura¬
giert sind, als weniger intelligente.«
VII. Vorstellungsassoziationen.
Sie sind in der bekannten Weise untersucht worden, daß der Experimen¬
tator ein Wort nannte, worauf die Versuchsperson mit einem Worte oder
Satze antwortete. Bin et gibt als Ergebnisse folgendes an:
In der äußeren Haltung zeigt sich zwischen Normalen und Abnormen
ein auffallender Unterschied. Während die ersteren stets etwas befangen
find nachdenklich sich zeigen, in Besorgnis, auch richtig und verständig zu
antworten, fällt bei den Abnormen sofort die sehr zuversichtliche Haltung
und Sorglosigkeit auf.
Zuerst wiederholen die Abnormen stets das Reizwort als Antwort, erst
mit der Zeit folgen andere Wörter; die meisten stehen in keinem Zusammen¬
hänge mit dem Reizworte; oft scheinen sie schon vorher überlegt, und es
werden von vorn dieselben wiederholt, wenn der Wortvorrat erschöpft ist.
Infolgedessen ist auch die durchschnittliche Reaktionszeit bedeutend
kürzer als bei den Normalen.
Abnorme geringeren Grades nähern sich in ihrem Verhalten den Nor¬
malen.
Im allgemeinen kann festgestellt werden, daß es nicht das geringere
Vermögen in bezug auf das Wort ist, das die Grenze zieht zwischen Nor¬
malen und Abnormen, es ist vielmehr das Urteil, die Beziehung; »es ist mehr
durch den Satz als durch das Wort, es ist mehr durch den Gedanken als
durch die Vorstellung, es ist mehr durch die Organisation als durch die Ele¬
mente, welche sich organisieren,« was nämlich die Grenze ausmacht.
VIII. Aktivität der Intelligenz unterschieden vom Niveau der Intel¬
ligenz.
Einige Gespräche mit Abnormen und Erzählungen derselben illustrieren
hervorragend, was Binet am Schluß dieses Abschnittes sagt, daß wohl zu
unterscheiden sei zwischen der Tätigkeit der Intelligenz überhaupt und dem
Niveau, »zwischen Quantität und Qualität der psychologischen Phänomene«.
»Wer hätte nicht schon solche Individuen kennen gelernt, die sich beschäf¬
tigen mit einer Masse von Fragen, wissen viel Notizen, sprechen von allem
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Literaturbericht.
Schwäche des Niveau»; oft haben die Worte (im Zusammenhang) kaum
einen Sinn und folgen nur den kapricenhaften Assoziationen der tönenden
Organe.«
»Man muß bedenken, daß die Fähigkeit, sich zu adaptieren, hervorragend
die Eigenschaft der Intelligenz ist und die Macht der Adaptation ist ihr
Maß. Von diesen Gesichtspunkten aus ist jede Verwechslung zwischen Ak¬
tivität und Niveau der Intelligenz unmöglich.«
IX. In bezug auf rechnerische Fähigkeiten ergeben die Untersuchungen
nichts wesentlich Neues.
X. Verstand (Raisonnement).
Bi net untersuchte diese Fähigkeiten der Abnormen bei den Apper¬
zeptionsakten, die jeder Erfassung des Neuen innewohnen.
Zunächst an Bildern. Deutlich zeigte sich je nach dem sonstigen intel¬
lektuellen Stande die Dreiteilung: Die geringsten Grade begnügen sich mit
bloßer Aufzählung der Personen oder Sachen des Bildes; etwas höher stehen
sie, wenn sie dazu eine kurze Beschreibung geben; endlich wird die Stufe
der Normalen erreicht, wenn eine Interpretation des Gesehenen erfolgt.
Auch diese Erfahrungen erinnern Binet daran, in wie hohem Grade die
Abnormen den Typus normaler Kinder in deren frühester Lebensstufe dar¬
stellen.
»Es ist eine Intelligenz, welcher das Eindringen fehlt.«
Definition von Worten. Normale Kinder pflegen darin drei Arten zu
geben. Einfache Wiederholungen desselben Wortes (ein Wagen ist ein
V T agen), Angabe des Gebrauches (ein Wagen dient zum Fahren), Defi¬
nitionen, die Uber die Angabe des Gebrauchs sich erheben (ein W r agen ist
ein Gerät).
Die Abnormen bewegten sich ausnahmslos in Definitionen der zweiten
Art: Angabe des Gebrauchs.
Deutlich zeigten sich bei einem Geduldsspiele die verschiedenen Grade.
Eine Visitenkarte wurde in beliebige, phantastische Formen zerschnitten. Sie
sollten wieder so zusammengesetzt werden, daß die richtige Form der Karte
wieder herauskam, nachdem man eine solche als Muster gezeigt hatte. Die
niedersten Grade legten die einzelnen Teile einfach nebeneinander, ohne eine
Spur von dem Zwecke vor Augen zu haben und so fort, bis eine Abnorme,
die in ihren intellektuellen Fähigkeiten an die Normalen grenzt, sie zusammen¬
brachte nach einigen Versuchen. »Es fehlte ihren Versuchen an Kontinuatiou,
und sie ist charakteristisch für diese Menschen; sie machen nicht eine Serie
von Versuchen, von Irrtümern, wie die Normalen, welche den Fortschritt des
Tastens verwandten, um endlich ihr Ziel zu erreichen. Sie ordnen die Frag¬
mente in beliebiger Ordnung; aber sie bleiben auf dem ersten Punkte, suchen
nicht in verschiedener Weise.«
XI. Suggestibilität.
Die mitgeteilten interessanten Versuche zeigen, wie vorsichtig man in der
Deutung des Gebahrens der Versuchspersonen sein muß Zunächst hatte man
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Literatnrbericht.
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suchspersonen nähmen die suggerierten Tatsachen als Wirklichkeit, war in
der Tat vollkommen, bis endlich eine wiederholte Aussprache mit ihnen über
diesen Punkt sie überzeugte, sie hätten sich so verhalten, weil er als Chef¬
arzt es wünschte: »Wir würden es niemals geglaubt haben, daß ein Imbezille
mit solchem Emst hätte Komödie spielen können, ln Wahrheit, die Moral
aus der Geschichte ist im allgemeinen: Wir haben geglaubt, einen Imbezillen
betrügen zu können, und er war es, der uns betrog.«
XII. Inwiefern man bei Debilen von Afterintelligenz reden kann. (Com-
ment un debile peut avoir l’csprit faux.)
Der Fall wurde beobachtet an einem Debilen, Griffon, der eine gewisse
.Schulbildung besitzt; Bi net sagt: Griffon, debil, 28 Jahre alt, ist auf dem
intellektuellen Niveau eines achtjährigen Kindes. Auf Fragen aus den ver¬
schiedensten Gebieten gab er Antworten, oft in keinem genauen Zusammen¬
hänge mit der Frage stehend, oft halb richtig, immer eine gewisse Erfindungs¬
gabe verratend, wenn er sonst nichts wußte. »Warum haben Sie ihre
Arbeitsstätte — Feinbäckerei — verlassen?« »Weil es nötig war, daß
ein anderer meine Stelle einnahm.« »Wer ist Ali ben Tai'lo (erfundener
Name vom Fragesteller)?« Antwort: »Es ist ein König, welcher die Wilden
repräsentiert.« Diese zwei sind charakteristisch für alle anderen.
Bi net meint, dieser Esprit faux entspricht nicht einer regulären Etappe
in der psychologischen Entwicklung, er sei ein »Etat exccptionell«; welcher
aus einer Disharmonie zwischen den erfinderischen und korrektiven Fähig¬
keiten entspringt, »wie bei einem Automobile, dessen Bremsvorrichtungen
nicht im Verhältnis zu der Anzahl seiner Pferdekräfte stehen«.
XIII. Ein Schema des Gedankens (Un Schema de la pensee).
In diesem letzten bedeutsamen Abschnitt gibt Bin et sehr bemerkens¬
werte Ausführungen über eine neue Hypothese für das Zustandekommen und
den Verlauf des Gedankens.
Zunächst weist er die verbreitete Hypothese von unteren und oberen
intellektuellen Prozessen ab, wie sie angewendet wird von einigen Psychia¬
tern und derzufolge etwa Aufmerksamkeit, Reflexion, Koordination und Ap¬
perzeption den oberen Prozessen angehörten und an bestimmte Rindengebiete
gebunden sein sollen; sie wären dann ausgeschaltet, wenn hochgradige De¬
fekte vorliegen, und die mehr automatischen Prozesse herrschten unbeschränkt.
Allein diese Hypothese ist einseitig und zur Erklärung des spezifischen Geistes¬
zustandes der Debilen nicht zureichend. Denn bei letzteren sind alle Fähigkeiten
der Normalen, wenn auch nur keimhaft, vorhanden, und die obige Hypothese
hat nicht den Wert, ein allgemeines Evolutionsprinzip der menschlichen
Psyche zu sein.
Wenn mau unterscheidet zwischen Fertigkeiten (Lesen, Schreiben, Rechnen,
Handfertigkeit) und Fähigkeiten (Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Urteil, Ab¬
straktion), so zeigt sich, daß von letzteren keins den Debilen ganz fehlt,
während bei den ersteren allerdings die Lektüre die unüberbrückbare Grenze
abgibt zwischen Normalen und Abnormen.
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Literaturbericht.
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die Vorstellungen (iinages mentales) und Betrachtung (contemplation) der¬
selben gelegt und gemeint, das sei der Gedanke. Allein diese passive Art
des Hinnehmens macht keineswegs sein Wesen aus, sondern es besteht viel¬
mehr in einem Dreifachen: Direktion, Adaptation und Kritik. Diese drei
Stücke finden sich bei jedem kompletten Gedanken; sie können bei un¬
vollständigen mehr oder weniger fehlen. Unter Direktion ist gemeint, man
müsse zuerst wissen, um was es sich handelt, um einen Akt des Denkens
mit Bewußtsein und Sicherheit zu vollenden. Bei den Debilen ist diese
Fähigkeit oft abgeschwächt, entweder, wenn sie angefangen ist, setzt sie
sich nicht fort oder tritt überhaupt nicht auf. Die Adaptation bedeutet eine
Art Wahl. Die Idee des Zieles ist anfangs embryonal, der fortschreitende
Gedanke vollzieht Auswahl usw. Auch sie findet sich bei Abnonnen zumeist
in abgeschwächter Form. Zu dem dritten Merkmal, der Selbstkritik, ist
wohl Erläuterung nicht nötig: Spuren derselben zeigen auch die Debilen.
Bi net charakterisiert seine neue Theorie in ihrem Verhältnis zur alt¬
hergebrachten so, daß ohne Zweifel die sonst gebrauchten Ausdrücke: Auf¬
merksamkeit (Direktion), Gedächtnis, Phantasie (Wahl', Urteil (Kritik) hier
wiederkehren. Aber, sagt er, in einem ganz anderen Sinne. Es ist klar,
daß hier der Hauptton darauf gelegt ist, den Gedanken als ein System von
Aktionen zu betrachten, dem bisherigen passiven Element, das im Bewußt¬
werden alles Intellektuelle sah, das Willenselement zur Vervollständigung
Uberzuordnen. Er gebraucht ein Bild aus der Biologie: Gedächtnis, Auf¬
merksamkeit usw. entsprechen den Zellen und Geweben, die aber erst ihre
volle Würdigung vom Organ aus, in dem sie sind, erhalten. Dem entspricht
das Schema des Gedankens, und in Übereinstimmung mit James kann man
hier von funktioneller Psychologie reden, und von dieser ist viel praktischer
Nutzen für Pädagogik und Moral zu erwarten.
Können die Taubstummen sprechen lernen?
Dieser Studie haben sich Bi net und Simon unterzogen.
Sie wandten sich an zwei Pariser Taubstummenanstalten, an das Institut
nationale des sourds-muets de la rue Saint Jacques und Institut departemental
d'Asniferes, ließen sich sämtliche Schüler seit 1892 bzw. 1895 aufschreiben
samt näheren Angaben, Adresse usw. mit der Absicht, selbige aufzusuchen
und selbst zu prüfen. Sie aufzufinden gelang allerdings nur zum allerkleinsten
'Feile.
Eine Orientierung über die Schulzeugnisse ergab folgendes Bild.
Zahl der Schüler, welche von diesem Sprechunterricht profitiert haben.
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Asni&res
1
Saint Jacques
1894—1902
1908-1907 }
1892—1902 1903—1907
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Literaturbericht.
129
Die Erfolge hingen von verschiedenen Faktoren ab: Ob intellektuell
normal oder nicht, ob von Geburt taubstumm, ob Taubstummheit in späterer
Zeit eingetreten.
Es lernten sprechen:
Normal
Zurück-
gebl.
Normal
Zurück-
gebl.
vollständig
taub
teilweise
taub
Mittelmäßig
77 ^
13 %
94 %
22 %
64 %
60 y.
79 %
75 %
Unter Mittel
23 %
87 %
6 ^
78 %
36 %
40 *
21 %
25 %
Inst, national
Inst. d’Asnieres
I. n.
I. A.
N.
A.
Aus anderen Tabellen geht hervor, wie die Erfolge wachsen, wenn die
Taubheit erst nach dem ersten Lebensjahr eingetreten ist.
So rosig fand nun Bin et bei seinen Besuchen die Erfolge keineswegs.
Zwar waren auch die Eltern voll von Lob. Binet aber prüfte: Können sich
die Taubstummen unterhalten mit Personen ihrer Familie. Die Antwort kann
kaum bejahend ausfallen, das Mienenspiel spielte bei der Unterhaltung die
Hauptrolle, wo es ausgeschaltet wurde, versagte alles. Gut ging es dagegen
schriftlich. Können sie sich unterhalten mit Freunden? Binet konnte keinen
einzigen Fall feststellen, wo dies geschah.
Haben die Insekten ein Gedächtnis der Tatsachen?
Felix Plateau, Professor an der Universität Gand, sagt darüber:
Zur Beantwortung dieser Frage und Würdigung der gebotenen Versuche
ist es nötig, zu wissen, daß Instinkt nicht rudimentäre Intelligenz und In¬
telligenz nicht vollendeter Instinkt ist. Was manche darin irregeführt hat
ist dieses, daß zum Ausüben des Instinktes zuweilen einfache Urteils¬
handlungen sich assoziieren, die sich auf Hinwegräumen von Hindernissen
für die Instinkthandlung beziehen; so kommt es häufig in der Natur vor.
Er ist nun in der Lage, reine Instinkthandlungen zu bieten, beobachtet
an Hummeln.
Zunächst existiert bei ihnen ein Gedächtnis des einige Male zurückgelegten
Weges; keineswegs zu erklären durch einen Sinn für Orientieren, denn Bienen
fliegen in eine neue Wohnung ein, die man an Stelle der alten setzt; Bienen
und Hummeln nehmen ein für allemal den Weg in derselben Zickzakform,
in der sie sich einer Pflanze das erstemal näherten; sogar Umwege werden
später nicht vermieden.
Auch Gedächtnis war zu beobachten, insofern sich die Insekten erst zu
der Stunde (vormittags 10 Uhr) einstellten, an der die Pflanze zu honigen
begann.
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Literaturbericht.
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mit karminrotem Pulver konnte nicht verhindern, daß der Zug zur Pflanze,
der ihnen innewohnt, immer sein Recht behauptete. So meint Plateau,
darf man schließen: Die Insekten haben kein Gedächtnis für Tatsachen.
Rolßch [Altenburg).
4) Sano Torata, Zur Frage von der Sensibilität des Herzens nnd anderer
innerer Organe. Pflügers Archiv f. d. ges. Physiol. 1909. Bd. 129.
S. 217 ff.
Die Ergebnisse der Sensibilitätsprüfnngen innerer Organe, die der Verf.
an strychnisierten Fröschen und Kaninchen vornahm, bleiben im allgemeinen
auf dem Stande der Untersuchungen Lennanders stehen, über die wir in
Bd. IX, S. 27 f. dieses Archivs ausführlich berichtet haben (vgl. auch »Um¬
schau« 1907 Bd. 11, Nr. 26, S. 601 f.) ; sie können also anch ebensowenig
als beweiskräftig angesehen werden als diese — wie nach den Untersuchungen
von Carl Ritter in Greifswald angenommen werden muß [vgl. dazu dieses
Archiv, Bd. XIV, Heft 3/4).
Bei den erwähnten Tieren wurde das Herz und die Bauchhöhle frei¬
gelegt (wodurch nach Ritter schon allein die Sensibilität in abnormer Weise
verändert wird) und dann auf die freigelegten Organe und zur Kontrolle auf
die Haut Tast- und Schmerzreize appliziert (Berührung. Schneiden, Drücken .
Die verschiedenen Reize riefen von der Haut, von den Skelettmuskeln, den
Faszien, dem Periost, den Spinalnerven und dem Peritoneum parietale aus
regelmäßig die charakteristischen Strychninkrämpfe hervor, dagegen nicht
bei Reizung des Herzmuskels, des Perikardiums, des Peritoneums viszerale,
des Magens, der Leber, des Darmes, der Milz, der Lunge und der Geschlechts¬
organe. Die naheliegende Folgerung, daß diese inneren Organe eine andere
Art von Sensibilität hätten als die äußeren, ist nach den Untersuchungen
von Ritter nicht stichhaltig. Der Magen und der Anfangsteil des Darmes
erwiesen sich gegen manche Schmerzreize als empfindlich; auch das weist
auf die Richtigkeit der Ritterschen Auffassung hin. Ebenso, daß das Herz
sowohl wie der Magen und der erwähnte Darmteil anf chemische Reize
Schmerzreaktionen auslösten. E. Meumann [Leipzig, 1 .
6) E. Gilbert, Ein Beitrag zur Frage der Sensibilität des Herzens. (Aus
dem Physiologischen Institut in Halle.) Pflügers Archiv f. d. ges.
Physiol. 1909. Bd. 129. S. 329 ff.
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Literaturbericht.
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6) Victor Mercante, La Verbocromia. Madrid, Verlag von Daniel Josso,
1910.
Der durch seine Untersuchungen Uber das Rechnen und die Entwicklung
der Zahleuvor8tellnngen beim Kinde bekannte Verf. hat in dieser Schrift
zahlreiche Untersuchungen über die Ergebnisse des Farbenhörens (Audition
coloröe) mitgeteilt. Seine Untersuchungen beruhen auf einer umfangreichen
Statistik Uber die Assoziation von akustischen Eindrücken und Farbvor-
stellungen. Im ganzen wurden über 900 männliche und weibliche Individuen
in Buenos Aires und La Plata untersucht, denen Fragen vorgelegt wurden,
ob sie bestimmte optische Vorstellungen haben bei Vokalen, Konsonanten,
bei konkreten und abstrakten Substantiven, bei sinnlosen Silben usw., und
die Vp. wurden aufgefordert, die Ursache der Erscheinung der Farbenvor¬
stellungen und ihre Verbindung mit Gehörseindrücken anzugeben. Dabei
wurden die Worte so gewählt, daß in ihnen diejenigen Vokale, welche vor¬
her einzeln auf ihre Verbindung mit Farbenvorstellungen untersucht wor¬
den waren, entweder eine vorherrschende oder eine untergeordnete Rolle
spielten; dadurch konnte Bich zugleich eine Entscheidung darüber treffen
lassen, ob die Farbenvorstellungen, welche mit dem Anhören von Worten
verbunden sind, von dem in dem einzelnen Worte dominierenden Buch¬
staben abhängen oder nicht. Es ergibt sich dabei im allgemeinen, daß die
Verbindung akustischer Eindrücke mit Farbenvorstellungen eine ganz er¬
staunlich verbreitete ist und daß sich unzweifelhaft gewisse konstante Be¬
vorzugungen bestimmter optischer Eindrücke bei bestimmten Vokalen und
Worten zeigen. Die Zusammenstellung der Resultate in einer sehr lehr¬
reichen Tabelle macht die Auffassung notwendig, daß bei einer großen Zahl
von Menschen eine relativ konstante Zuordnung zwischen akustischen Ein¬
drücken und Farbenvorstellungen bestimmter Art besteht. —
Was die Farbenvorstellungen angeht, die mit Worten verbunden sind,
so sind diese, wie man erwarten muß, häufig, aber durchaus nicht immer,
durch die dominierenden Vokale bestimmt. Wenn z. B. mit dem Vokal a
die optische Vorstellung des Weißen verbunden ist, so tritt auch bei dem
Worte Allah oder bei dem Worte Sahara vorzugsweise die Vorstellung des
Weißen auf. Doch kommt es auch vor, daß die Vorstellung des Schwarzen
damit verbunden wird, was vielleicht ein Einfluß des Kontrastes ist, ebenso
wird die optische Wirkung eines Wortes eine um so weniger konstante, je
mehr es aus Konsonanten und Vokalen verschiedener Art zusammengesetzt ist.
Im ganzen sammelte der Verf. 19300 Urteile an 965 Vp. und ordnete sie
statistisch unter dem Gesichtspunkt ihrer Beziehungen zu dem Individuum,
der Intelligenz, der Natur der Worte usw.
In dem letzten sehr ausführlichen Abschnitt behandelt der Verf. sodann
die verschiedenen Theorien, die das Phänomen des Farbenhörens zu erklären
- — 1 - • — - » —j: „ 17. i. „:___ Kn.
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Literaturbericht.
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kortikaler oder psychischer Irradiation — sekundäre assoziierte Sensationen.
Seine eigene Theorie nennt der Verf. die Theorie der irregulären dyna¬
mischen Irradiation. E. Meumann (Leipzig).
7) Zeitschrift für pädagogische Psj'chologie und experi¬
mentelle Pädagogik, herausgegeben von E. Meumann und
0. Scheibner unter redaktioneller Mitwirkung von A. Fischer
(München) und H. Gaudig (Leipzig). Leipzig, Verlag von Quelle
& Meyer, 1911. (Zugleich zwölfter Band der Zeitschrift für experi¬
mentelle Pädagogik und der Zeitschrift für pädagogische Psycho¬
logie von Brahn und Scheibner. Jährlich 12 Hefte. Preis des
Jahrgangs M. 10.—. (Augezeigt vom Herausgeber E. Meumann.)
Die beiden Zeitschriften für pädagogische Psychologie und experimentelle
Pädagogik, deren Programm sich in letzter Zeit schon im wesentlichen deckte,
sind nunmehr miteinander verschmolzen worden.
In dem vorliegenden ersten Heft wird zunächst unter dem Titel »Zur
Einführung* (von Meumann) das Programm der Vereinigungszeitschrift ent¬
wickelt. Daraus mögen hier einige Sätze mitgeteilt sein:
»Ihre (der Zeitschrift) erste Aufgabe wird die sein, die Arbeit der beiden
Organe im gleichen Sinne weiterzuführen, die psychologische Forschung zu
pflegen, soweit sie pädagogische Bedeutung hat. und zugleich die selb¬
ständige experimentell-pädagogische Arbeit im weitesten Sinne des Wortes
weiterzuführen. Beides zusammen macht im wesentlichen das aus, was wir
die Pädagogik als empirische Forschung nennen können. Unsere Zeitschrift
wird daher in erster Linie Uber diese empirische Forschungsarbeit auf dem
Gebiete der Pädagogik selbst und ihrer wissenschaftlichen Grundlegung und
in ihren sämtlichen Grenzwissenschaften zu orientieren suchen.
Aber alle empirische Forschung bedarf der beständigen Orientierung
durch die großen Probleme unserer Zeit. Ganz besonders durch die be¬
ständige Weiterarbeit an den letzten Zielen des gesamten Erziehungswerkes.
Nur aus dem Leben, nicht durch das rein logische Weiterspinnen gegebener
Probleme schöpft die Wissenschaft selbst neues Leben. Daher wird unsere
Zeitschrift bemüht sein, vor allem mit den pädagogischen Zeitfragen Fühlung
zu halten, die prinzipiellen Grundlagen der Erziehungsarbeit zu erörtern und
ans ihnen das hervorzuheben, was wahrhaft wissenschaftlicher Behandlung
zugängig ist. Die wissenschaftliche Forschung verhält sich aber gegenüber
dem Leben und gegenüber der Praxis der Erziehung teils nehmend, teils
gebend. Sie empfängt von dem Praktiker neue Probleme, zu deren Lösung
ihn die Erfahrung in dem Erziehungswerke selbst drängt, sie stellt ihrerseits
der Praxis neue Aufgaben und sucht sie zu begründen und dadurch auf be¬
stimmte Normen zu bringen, was der Praktiker ausführt. Sie bedarf endlich
überall der letzten Erprobung ihrer Folgerungen aus den Forschungsergeb¬
nissen durch die Praxis selbst. Daher müssen wir ebensowohl die An-
reffuneron der Praktiker zn Worte kommen lassen wie die Theoretiker der
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Literaturbericht.
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Den Vereinigungspunkt zu bilden für die Erfahrungen und Anregungen
der Praxis, für die Detail- und Kleinarbeit der empirischen Kinderpsycho¬
logie und der experimentellen und statistischen Pädagogik, zugleich aber
auch für die zusammenfassende Verarbeitung aller Forschungsergebnisse im
Sinne der pädagogischen Systematik, das wird die Aufgabe unserer Zeit¬
schrift sein.
Der gemeinsame Boden flir alle diese Arbeiten soll die Tendenz sein,
eine Wissenschaft der Pädagogik zu schaffen, die den Anforderungen des
Lebens, der erzieherischen Praxis und der theoretischen Begründung wie der
systematischen Zusammenfassung in gleicher Weise genügt.«
Als erster Artikel eröffnet dieses Heft eine Abhandlung von Menmann
über experimentelle Pädagogik und Schulreform. Der Verf. zeigt
darin, daß die beiden großen, unabhängig voneinander entstandenen päda¬
gogischen Bewegungen unserer Zeit, die wissenschaftliche der psychologi¬
schen und experimentellen Pädagogik und die praktische der Schulreform,
zahlreiche Beziehungen zueinander haben und daß die pädagogische Praxis
und die theoretische Forschung in vielen Punkten zu den gleichen Forde¬
rungen kommen. Prof. Münch betrachtet in der nächsten Abhandlung
»Schülertypen«, die typischen Unterschiede der Schüler, die sich dem auf¬
merksam beobachtenden Praktiker ergeben. Der Verf. tadelt zunächst die
oberflächlichen Einteilungen der Schüler nach ihrer vermeintlichen Intelligenz,
besonders nach der Schnelligkeit ihrer Leistungen und der leichten Aus-
drucksfähigkeit, die bei vielen Lehrern üblich ist. Sie berücksichtigen
namentlich zuwenig die originale Anlage, die sich naturgemäß oft erst
durch Einseitigkeiten und langsame Entwicklung durcharbeiten muß. Ebenso
wird die Bedeutung der Stimmung des Schülers oft übersehen, auf Grund
deren man von »inneren Typen« reden könnte.
Sodann entwickelt Münch typische Unterschiede, die in den Leistungen
der Schüler bei den einzelnen Lehrfächern zutage treten. Wir kennen den
Unterschied der mathematischen Köpfe und der »mathematikfeindlicheu
Freunde der Sprach- und Geschichtsstudien«; den der für mündlichen oder
schriftlichen Betrieb der Sprachen spezifisch begabt erscheinenden Schüler;
den der in der Grammatik unsicheren, in der Lektüre guten; und in der
Mathematik den Unterschied der Schüler, die Lehrsätze wohl erfassen, denen
aber das Lüsen von Aufgaben weniger gelingt. Beim Geschichtsunterricht
fällt die Fähigkeit, Zahlen und Namen zn behalten, nicht zusammen mit der
Fähigkeit, das menschlich Interessante zu erfassen. Mit Recht macht ferner
Münch darauf aufmerksam, wieviel psychologisch und physiologisch Ver¬
schiedenes sich unter dem bequemen Ausdruck »Fehler« verbirgt. Was ist
allein in den »Fehlern« der deutschen Aufsätze für eine Fülle individueller
Unterschiede verborgen.
Ähnliche Betrachtungen lassen sich anstellen über die in den fremd¬
sprachlichen Leistungen zutage tretenden Differenzen, über die Unterschiede
der zeichnerischen Begabung. Von großer Bedeutung sind ferner die Unter-
t ■ _ j _ j _;__ Oi.ii _ j . o i »i •» • i r _i_o. i_ j» _
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Einflusses, den der Lehrer und seine Art, das Fach zu behandeln, auf die Lei¬
stung des Schülers hat. Ich habe es wiederholt erlebt, daß ein Schüler seine
Leistungen in einem Schulfach und ebenso sein Interesse an ihm total änderte
in dem Augenblick, in dem ein anderer Lehrer eintrat. Der Verf. unter¬
schätzt die Fähigkeit mancher Lehrer, einem Schüler, dessen Individualität
sie nicht verstehen, einen Unterrichtsgegenstand völlig und auf lange Zeit zu
verleiden. Er unterschätzt ferner — wie die meisten den Kreisen unserer
Oberlehrer angehürigen Pädagogen — die ungemein ausgedehnten Möglich¬
keiten, eine latente Begabung zu wecken und Unterschiede der Begabung
auszugleichen; ein solches »unabänderliches Versagen«, wie es der Verf.
S. 21 seiner Abhandlung beschreibt, ist bei normaler Durchschnittsintelligenz
gar nicht möglich und muß immer als ein Fehler in der Behandlung des
Stoffes und des Individuums angesehen werden.
Gegenüber dem, was uns die heutige psychologische Forschung an die
Hand gibt zur Beurteilung individueller Unterschiede der Schüler, mutet es
dann etwas seltsam an, wenn Münch nun den Lehrer ermahnt, nicht sogleich
jeden Defekt in den Leistungen auf »Unlust und Willensschwäche« zu deuten.
Das ist allerdings der typische rückständige Standpunkt zahlreicher Ober¬
lehrer nnd stellt wohl das Primitivste dar, was von dem Praktiker an »psycho¬
logischer« Behandlung verlangt werden kann. Und ganz in diesem Geiste
ist die Skepsis gehalten, die Münch unserer heutigen Begabungsforschnng
entgegensetzt. Es handelt sich nicht bloß darum, etwa einem gedächtnis¬
schwachen Schüler mit Memoriermethoden nachzuhelfen, sondern es handelt
sich um das Prinzip, kein einziges Zurückbleiben eines durchschnittlich
begabten Schülers als einen Übelstand anzusehen, der nicht durch geeignete
Anleitung zum richtigen Gebrauch Beiner Begabung überwunden werden
könnte.
Daß auch dem Verf. solche Überlegungen nicht fern liegen, sieht man
aus Bemerkungen wie denen Uber die Mängel der Begabung in der Geo¬
graphie. Münch meint, daß diese in ganz auffallend großer Ausprägung
bei Schülern jüdischer Abstammung Vorkommen, weil ihnen als typischer
Begabungsdefekt der Mangel an plastischer Phantasie zukomme. Dann fährt
er fort: »Die neuerdings nicht mehr fehlenden bedeutenden Maler aus diesem
Stamme waren wesentlich große Lerner, Leute von energischstem, auf ein
bestimmtes persönliches Ziel gerichtetem Fleiße, womit man bekanntlich dem
Genie ganz nahe kommen kann.« Nun fragt man natürlich: Wodurch haben
denn solche Menschen diesen hochgradigen Mangel ihrer Begabung über¬
wunden, wenn nicht durch Energie und durch einen richtigen Gebrauch
ihrer natürlichen Begabungsmittel? Denn die Energie allein nützt nichts.
Sollte nun die Schule nicht auch diese Mittel verwenden können? Welches
Armutszeugnis würden wir der Schule ausstellen, wenn wir bestreiten wollten,
daß sie nicht dasselbe erreichen kann wie das energische Individuum?
Der Verf. scheint sich überhaupt die von der experimentellen Psycho-
InpnA lind Pädatrntrilr nochvAnriaflATiAn infpllplr tnollfir» Pilrinmrafatr+nran ri ?r*V ,t
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mit weit mehr Nuancen als mit »einfachen typischen Gegenüberstellungen«;
die erwähnten Unterschiede sind überhaupt keine »typischen Gegenüber¬
stellungen« der einzelnen Lerner, sondern allgemeine Unterschiede der
Methode.
In der nächsten Abhandlung erweitert Herr A. Hutlier seine Studien
über Charakter und Begabung (»Probleme zur Charakter- und Begabungs¬
lehre«). Wir müssen uns leider versagen, auf die schwierigen Probleme
dieser Abhandlung näher einzngehen. Nnr das sei bemerkt, daß die Ansicht
des Yerf., man könne nur auf dem Boden der Vermögenslehre von formaler
Übung sprechen, ein Irrtum ist. Es hindert natürlich gar nichts, auch von
formaler Übung komplexer psychischer Funktionen zu reden, genau so. wie
wir etwa auf körperlicher Seite von Übung der körperlichen Gewandtheit
reden, obwohl kein Mensch annimmt, daß es ein angeborenes elementares
»Vermögen« körperlicher Gewandtheit gibt. Auch die Erfahrung des täg¬
lichen Lebens nötigt uns zu der Auffassung desRef.; wir nehmen z. B. eine
allgemeine Übung solcher Fähigkeiten wie der Geistesgegenwart an (um nur
eines von sehr vielen Beispielen zu wählen), ja wir können eine solche An¬
nahme der formalen Übung komplexer Fähigkeiten bei keinem einzigen
Zweige der Erziehung entbehren. Hier hat sich der Verf. wohl durch
Wundts übereilte Polemik irre führen lassen.
In der nächsten Abhandlung betrachtet Schulrat Gaudig das wichtige
Element der eigenen Reflexion des Schülers für die bildende Arbeit der
Schule. Die geistreichen Ausführungen des Verf. sind vorwiegend päda¬
gogisch interessant.
Mehr ins Gebiet der Psychologie gehört die Abhandlung von Mitten-
zwey Uber »GefUhlscharaktere der Sprache«. Der Verf. zeigt, daß zahlreiche
Worte einen bestimmten Gefühlscharakter haben, und geht den Ursachen
dieser Erscheinung nach. Er unterscheidet den Gefüblscharakter des Wortes
als eines lautlichen Gebildes von dem der Wortbedeutung und wider den kon¬
stanten Gefühlscharakter eines Wortes von einem variablen, der erst durch
eine Verwendung des Wortes entsteht, »und zwar durch eine Verwendung,
welche sich von der idealen Verwendung in gewisser Weise entfernt«.
In der Verwendung von Wörtern unter Entfernung von ihrem Be¬
deutungsakzent zur Erzeugung besonderer Gefühlscharaktere ist nun zu¬
gleich eine wichtige Ursache des Bedeutungswandels der Worte. Teils
pädagogisch, teils psychologisch interessant ist sodann die Anwendung
dieser Betrachtungen auf den Bedeutungs- und Gefühlswandel der Worte
beim Übersetzten. Die weiteren Ausführungen gehören znm Teil so weit in
den Bereich der Pädagogik, daß sie Uber den Rahmen unserer Zeitschrift
hinausgehen.
Marx Lobsien teilt in der nächsten Abhandlung Resultate von Ver¬
suchen Uber »Korrelationen zwischen Zahlengedächtnis und Rechenleistung«
mit. Von seinen Ergebnissen mögen folgende erwähnt sein. Optisches
Zahlengedächtnis und Rechenleistung stehen in keinerlei Korrelation.
Optisches Zahlengedächtnis und Kopfrechnen stehen in (schwach aus¬
geprägter) umgekehrter Korrelation: je größer die Leistungsfähigkeit im
Kopfrechnen, desto geringer ist das Gedächtnis für optische Zahlbilder.
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Literaturbericht
Einzelbesprechung.
1) Warner Brown, The Judgment of Difference with Special Reference
to the Doctrine of the Threshold in the Case of Lifted Weigtha.
Univeraity of California Publicationa, 1910.
Der Verf. hat mit Hilfe einer auedauemden und ergebenen VerBuchB-
peraon 75100 Gewichtaverauche gemacht, deren Ergebniaae mitgeteilt und
ala Grundlage der weiteren Ausführungen benlitzt werden. Ala Gewichte
dienten Metallzylinder, die durch Auafüllen mit Paraffin und Schrot auf daa
gewünacbte Gewicht gebracht wurden. In der ersten Gruppe von Versuchs-
reihen wurden 19 Vergleichsgewichte, deren Unterachied */*—18 des
Hauptgewichtes betrug, und 3 Hauptgewichte von 50, 100 und 150 g benutzt.
Die Höhe der einzelnen Hebungen war ungefähr 5 cm und ihre Dauer etwa
3/4 Sekunden. Zwischen den Hebungen eines Versuches war ein Intervall
von etwa */< Sekunden und zwischen zwei Versuchen ein solches von
31/4 Sekunden. Die Vp. hatte stets anzugeben, welches Gewicht schwerer
war, und wenn ein Unterschied nicht wahrgenommen wurde, so mußte ge¬
raten werden. Daa Urteil wurde auagedrückt, indem daa als schwerer er¬
scheinende Gewicht vorwärts geschoben wurde. In der zweiten Gruppe von
Versuchsreihen wurden äquidistante Vergleichareize im Abstande von 0.2 g
von 97,8 bis 100.4 g mit Gewichten von 100 g verglichen. Diese Gruppe
umfaßt 14000 Experimente. In der dritten Gruppe, die 6000 Versuche um¬
faßt, hatte die Vp. zu entscheiden, ob daa zweite Gewicht größer oder gleich
dem ersten sei. Die Daten der vierten Gruppe von 11 400 Verauchen sollen
den Einfluß verschiedener Formen der Urteilsabgabe und den der Anzahl
und Größe der verwendeten Vergleichsgewichte zeigen. Die letzte Gruppe
von 1900 Experimenten ist eine Wiederholung der Versuche der ersten
Gruppe.
Verf. unternimmt es, auf Grund dieser Daten gegen den Begriff einer
Schwelle als eines Unterschiedes, der ao klein ist, daß er stets unbemerkt
bleibt, zu argumentieren. Diesem Zwecke dienen die Daten einer Tabelle,
in der die Anzahl der richtigen Urteile für jedes Vergleichsgewicht vind
jeden Normalreiz gegeben werden. Diese Tabelle zeigt, daß seifet
kleine Gewichtsunterschiede manchmal richtig erkannt werden und ) e ^ e
Zunahme des Unterschiedes eine Zunahme der Anzahl der richtiger*. |JrteU®
mit sich bringt. Von 1 % angefangen gibt es keinen Unterschied, der
manchmal ricbtig^wahrgenommen wird, und bis 18 % eribt es keinen Uo* er '
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cl e i <wahrgenomr
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Literaturbericht.
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Tatsache bleibt bestehen, daß manchmal ein Unterschied nicht wahr¬
genommen wird, der unter anderen Umständen wahrgeuommen worden wäre.
Erklärt man die Fehler bei der Beurteilung von Unterschieden im Betrage
von 18 % als durch einen Mangel an Aufmerksamkeit verursacht, so ent¬
steht die Frage, von welchem Punkte an solche fehlerhafte Beurteilungen
auf Rechnung von Aufmerksamkeitsschwankungen gesetzt werden sollen.
Nimmt man einen solchen Punkt willkürlich an, so muß mau die Schwelle
durch die relativen Häufigkeiten der richtigen Fälle definieren. Verf. sieht
keinen Grund, warum irgendeinem besonderen Werte der relativen Häufig¬
keiten ein Vorrang eingeräumt werden sollte, da sich kein Punkt angeben
läßt, von dem an die Urteile eine andere Qualität haben, denn das Zutrauen
in die Richtigkeit des Urteiles ist ein subjektiver Faktor und beeinflußt die
relative Häufigkeit der richtigen Urteile nicht. Es gibt also keine Unter¬
schiedsschwelle in dem gewöhnlichen Sinne dieses Wortes, und wo eine
solche zur Beobachtung kommt, ist ihr Erscheinen einem fehlerhaften experi¬
mentellen Verfahren zuzuschreiben. Es wird dann an der Hand der Ergeb¬
nisse einer Versuchsreihe mit sehr kleinen Reizunterschieden gezeigt, daß
jeder Unterschied, wie klein er auch sei, unter Umständen wahrgenommen
wird, und daß jede Zunahme des Reizunterschiedes eine Vergrößerung der
relativen Häufigkeit der richtigen Urteile mit sich bringt. Man erkennt in
diesen Ausführungen leicht den Gedankengang von Peirce und Jastrows
bekanntem Memoir.
Im nächsten Kapitel unternimmt es der Verf., seine Wahl der zuzu¬
lassenden Urteilsausdrücke, also insbesondere die Ausschließung der Un¬
entschiedenheitsfälle, zu rechtfertigen. Es wird zunächst verlangt, daß die
Urteile einander ausschließende Fälle und unabhängig von irgendwelchen
Verschiedenheiten der Bedeutung, die die Vp. mit ihnen verbinden möge,
seien. In der Methode der ebenmerklichen Unterschiede wird dies durch die
Alternative der Aussage Uber die Wahrnehmung oder Nichtwahrnehmung
eines Unterschiedes geleistet. Falls die Vp. weiß, daß zwischen den beiden
Reizen stets ein Unterschied vorhanden ist, so ist nach der Meinung des
Verf. die Aussage Uber die Wahrnehmung eines Unterschiedes die natür¬
lichste und psychologisch richtigste Form. Um die Richtigkeit dieser An¬
schauung zu bestätigen, wurde eine Versuchsreihe hergestellt, in welcher
nur sehr kleine Unterschiede verwendet wurden. Anfangs kamen Fälle vor.
in denen das kleinere Hauptgewicht als schwerer beurteilt wurde, allein nach
und nach wurden diese falschen Fälle in die Gleicbheitsfälle einbezogen.
Nach etwa 4000 Versuchen machte die Vp. die Bemerkung, zwei Gewichte
seien gleich und dies sei das erstemal, daß dem so sei. Verf. schl eßt daraus,
daß man stets auf Abgabe eines Urteiles über die Wahrnehmung eines
Unterschiedes bestehen solle. Die Schlüsse, die man aus diesen Tatsachen
zu ziehen hat, sind nach Meinung des Ref. anders. Zunächst werden in der
Methode der ebenmerklichen Unterschiede die Aussagen iiher Wahrnehmnn*’
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Literaturbericht.
139
erwähnten Aussage der Vp. Browns wird man eine große Bedeutung nicht
beilegen können, da die Selbstbeobachtung unter sehr ungünstigen Verhält¬
nissen stattfand. In der Tat wird es kaum möglich sein, eine genaue Er¬
innerung von dem psychologischen Tatbestände von mehr als 4000 Versuchen
zu behalten, und man wird in dieser Aussage nur eine Bestätigung der be¬
kannten Tatsache, daß der Eindruck positiver Gleichheit nur selten erhalten
wird, erblicken können. Die Unentschiedenheitsfälle — in Browns Ver¬
suchen also jene Fälle, in denen die Vp. zu raten gezwungen war — haben
mit den Gleichheitsfällen gemein, daß subjektiv kein Grund vorhanden ist,
warum einer der Reize als größer bezeichnet werden sollte. Jedenfalls ist
die Abwesenheit des Eindruckes eiuer zwischen den Reizen bestehenden
Verschiedenheit eine ebenso positive Tatsache wie dessen Vorhandensein,
weshalb die Fälle, in denen die Vp. zu raten gezwungen ist, als solche zu
kennzeichnen sind. Hervorzuheben ist ferner der Umstand, daß die Vp. an¬
fangs einige Vergleichsgewichte falsch beurteilte und diese falschen Fälle
im Laufe der Versuche den Unentschiedenheitsfällen assimilierte, was offen¬
bar ein unrichtiges Verhalten ist, da der in diesen Fällen vorliegende Tat¬
bestand von dem bei Unentschiedenheitsfällen vorliegenden verschieden ist.
Man wird also schließen müssen, daß auch im Lichte von Browns Ver¬
suchen die Ausschließung der Gleichheitsfälle fehlerhaft ist. Ob man den
psychologischen Tatbestand, der zur Abgabe eines Unentschiedenheitsurteiles
ftihrt, noch weiter analysieren kann, indem man zeigt, daß die Vp. geneigt
ist. Daten der Empfindung zu übersehen, die an und für sich hinreichend
wären, das Urteil zu bestimmen, ist eine weitere Frage, die mit der Zu¬
lassung der Unentschiedenheitsfälle nicht in unmittelbarer Beziehung steht
Es wird ferner untersucht, ob die Urteilsabgabe von der Urteilsform ab¬
hängt. Zu diesem Zwecke wurden zu derselben Zeit drei Versuchsreihen
hergestellt, in deren erster die Vp. nach jedem Versuche das schwerere Ge¬
wicht durch Wegschieben mit der naud bezeichnete, während in der zweiten
die Frage, ob das zweite Gewicht leichter oder schwerer sei, mündlich be¬
antwortet wurde, und in der dritten die Frage, ob die Gewichte gleich wären,
mit ja oder nein beantwortet wurde. Das Hauptgewicht war 100 g schwer,
und die Vergleichsgewichte liefen in Abständen von 2 g von 82 bis 92 g,
in Abständen von 1 g von 92 bis 100 g und in Abständen von 2 g von
100 bis HO g. so daß im ganzen 19 Vergleichsgewichte zur Verwendung
kamen. Untersucht wurde, in welcher Weise sich die relativen Häufigkeiten
der Urteile in den verschiedenen Versuchsreihen verhielten. Es wurden bei
motorischer Form der Urteilsabgabe 2068 Urteile »Zweites Gewicht größer«
abgegeben, während bei mündlicher Urteilsabgabe in derselben Anzahl von
Versuchen (3800) nur 1952 solcher Urteile abgegeben wurden. Die Urteiis-
abgabe hängt also nicht nur von der Reizdifferenz, sondern auch von der
gebrauchten Urteilsform ab. Hieraus wird geschlossen, daß die Vp. unter
einer gewissen Voreingenommenheit oder unter Defekten leide, die die Ab-
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Literaturbericht
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zu werden. Es handelt sich hier um eine Eigenschaft der Vp., die näher
erforscht werden soll, aber nicht mit irgendwelchen Bezeichnungen, die eine
negative Wertung ausdrlicken oder mindestens nahelegen, belegt werden
darf, um so mehr, als bei einer anfälligen Untersuchung die Vp. davon
Kenntnis gewinnen kann nnd sich von solchen Defekten zu befreien trachten
wird, womit dann die ganze Untersuchung illusorisch wird. Die vorliegenden
Verhältnisse werden vielleicht durch folgenden Vergleich klarer. Die Strahlen¬
brechung durch die Luft ist eine Tatsache und als solche weder ein Fehler
noch ein Vorteil der uns umgebenden Natur. Zu einem Fehler wird die
Strahlenbrechung erst dann, wenn wir gewisse Beobachtungen ausfiihren und
hierbei auf die Ablenkung der Lichtstrahlen durch die Luft nicht Rücksicht
nehmen. Eigenschaften der Vp., die in deren psychophysischer Konstitution
bedingt sind, sind ebenso Tatsachen, die als solche hingenommen nnd mit
Hilfe der vorhandenen Methoden untersucht werden müssen, und zu Fehlern
werden sie erst dann, wenn wir irgendwelche andere Zwecke verfolgen, wobei
diese Eigenschaften ins Spiel kommen, ohne daß wir sie berücksichtigen
oder wegen Mangel einer Kenntnis derselben ihren Einfluß nicht abschätzen
können.
Die Gültigkeit des Weberschen Gesetzes wird in der Art untersucht,
daß bestimmt wird, ob gleiche relative Reizunterschiede bei verschiedenen
Hauptreizen gleiche relative Häufigkeiten der richtigen Urteile geben. Die
verwendeten Hanptreize betrugen 50, 100 und 150 g. Es zeigt sich, daß die
Kurven, welche die Verteilung der richtigen Fälle darstellen, fast parallel
Bind, woraus geschlossen wird, daß innerhalb des beobachteten Gebietes
eine wesentliche Abweichung vom Weberschen Gesetze besteht. Verf.
verlangt, daß eine Untersuchung dieses Gesetzes in der Art geführt werden
soll, daß die Anzahl der zugelassenen Urteile und deren Ausdrucksforra,
sowie die Zahl der verwendeten Vergleichsreize für die verschiedenen Haupt¬
reize gleich sind.
Es wird ferner untersucht, ob sich ein Einfluß der fortschreitenden Übung
nachweisen läßt, was man wohl erwarten könnte, da die Vp. während eines
großen Teiles der Versuchsreihe von den gemachten Fehlern unterrichtet
wurde. Verf. findet keinen solchen Einfluß deutlich nachweisbar und findet
nur eine Tendenz, große Fehler zu vermeiden. Bei den Versuchen mit mini¬
malen Reizunterschieden findet sich überhaupt keine Veränderung, die der
Übung zugeschrieben werden könnte. Die Diskussion der Resultate ist ganz
unzureichend, und es könnte sich möglicherweise herausstellen, daß eine
genauere Untersuchung der Sachlage ganz andere Resultate ergibt.
Im letzten Kapitel bespricht der Verf. die Variabilität der Urteile. Zu
diesem Zwecke berechnet er die mittleren Variationen der relativen Häufig¬
keiten und bestimmt ihre Mittel- und Zentralwerte. Als Ergebnis, das gegen
den Schwellenbegriff und gegen die übliche Auffassung des Weberschen
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Referate
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2) G. Heymans, Die Psychologie der Frauen. (Aus: »Die Psychologie
in Einzeldarstellungen, herausgegeben von Ebbinghausf und
Meuinann.) Heidelberg, Carl WinterB Verlag, 1910. M. 4.—;
geb. M. 6.—.
Das Buch bildet einen Ausschnitt aus der speziellen Psychologie, die
(im Gegensatz zur allgemeinen Disziplin) die Untersuchung besonderer
und unterscheidender Merkmale im menschlichen Bewußtsein und ihrer Korre¬
lationen zum Gegenstand hat. Es stellt sich die Aufgabe, die Eigenart der
weiblichen Psyche zu untersuchen und festzustellen, ob und welche be¬
stimmte Modifikationen sich durchschnittlich im seelischen Habitus der Frauen
— im Gegensatz zum männlichen — finden. Es ist mit Freude zu be¬
grüßen, daß in diesem Buche eine gründliche wissenschaftliche Leistung
vorliegt für ein Gebiet, das bisher fast nur auf Grund zufälliger, oft gewiß
feinsinniger Beobachtungen und unsicherer Schlüsse, mehr oder minder geist¬
reicher Einfälle und vorgefaßter Meinungen behandelt worden ist. Die vom
Verf. benutzte Untersuchungsmethode ist im wesentlichen die der pycho-
logischen Enquete; doch werden auch die anderen zu Gebote stehenden
Hilfsmittel — allgemeine Beobachtung nnd Lebenserfahrung, Kenntnis hervor¬
ragender Persönlichkeiten und ihrer Leistungen, ferner die in der ein¬
schlägigen Literatur und in Sprichwörtern niedergelegten Ergebnisse, und
endlich auch spezielle experimentelle Untersuchungen — reichlich zur Ver¬
anschaulichung und zur Kontrolle herangezogen.
Vor allem liegen zwei umfassende, von Heymans und Wiersma an-
gestellte Erhebungen zugrunde: die »Hereditäts-Enquete« und die »Schul-
Enquete«. Die erstere wendete sich an etwa 3000 niederländische Ärzte und
stellte ihnen die Aufgabe, 90 im Buch mitgeteilte Fragen in bezug auf je
eine ihnen genau bekannte Familie zu beantworten. Die 90 Fragen, die
durchweg präzise und geschickt formuliert sind, suchen tatsächlich in alle
Seiten des Bewußtseinslebens einzudringen, nm über die Erblichkeit der
psychischen Eigenschaften Aufschluß zu erhalten. Nicht auf die Erblich¬
keit aber, sondern auf das prozentuale Verhältnis im Vorkommen aller der
genannten Eigenheiten und Betätigungsweisen bei Männern und bei Frauen
kommt es dem Verf. in diesem Zusammenhänge an. So wird — um einiges
aus dem umfangreichen Material herauszugreifen — z. B. gefragt nach der
allgemeinen Lebhaftigkeit der Bewegungen und Handlungen, nach der Art,
wie Gefühle ansprechen und verharren, nach dem Charakter der prävalierenden
Gefühle und des Temperamentes, nach den verschiedensten intellektuellen
Funktionen und Erscheinungen, nach den Neigungen und darauf gegründeten
Charaktereigenschaften (Egoismus, Ehrgeiz, Pflichttreue, Liebe, Hingebung
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Literaturbericht.
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Die Schulenquete stellt ferner Erhebungen an über die Entwicklung des
Charakters bei Knaben und Mädchen vom 12. bis zum 18. Jahre und ver¬
gleicht sie in bezug auf alle die Eigenschaften, die in der Schule zum Aus¬
druck kommen. Ferner werden auch Enqueten Uber die Ergebnisse des
akademischen Studiums beider Geschlechter berücksichtigt. Auf Grund des
so gewonnenen Tatsachenmaterials wird nun der Versuch gemacht, die all¬
gemeinen psychologischen Daten in spezieller Anwendung auf die Frauen¬
psyche zu modifizieren und die weibliche Eigenart, wie sie sich in bewußter
und unbewußter Geistestätigkeit, im Wahrnehmen und Vorstellen, in den
intellektuellen Funktionen, im Fühlen, Wollen und Handeln bekundet, dar¬
zulegen. Durchweg bezeugen die Ausführungen des Verf. das Bestreben,
die gefundenen Tatsachen nicht nur äußerlich hinzunehmen oder in traditio¬
neller Weise zu erklären; überall versucht er, das Wesen der Sacho in der
Tiefe zu erfassen, die beobachteten Daten feinsinnig und weitblickend zu
deuten.
Und die Resultate? Die wesentlichsten Unterschiede der Geschlechter
— um nur auf das Grundlegendste einzugehen — bestehen in der bedeutend
stärkeren Emotionalität und größeren Aktivität (Reaktion auf Motive) der
Durchschnittsfrau gegenüber dem Durchschnittsmann. Aus dieser Differenz
scheinen tatsächlich die schwerwiegendsten Unterschiede zwischen den Ge¬
schlechtern, die die Enqueten ergeben und die man im Leben beobachtet,
sich zu erklären. So reagiert die Frau vorwiegend auf Motive, die einen
starken Gefühlswert auf sie ausüben, und läßt Bich von ihnen leicht so stark
erfüllen, daß sie ihr ganzes augenblickliches Interesse in Anspruch nehmen.
Durchschnittlich aber fesseln konkrete Dinge und Beziehungen, vor allem
solche, die ihre sozialen Gefühle erregen, bei denen es sich um das Wohl
und Wehe von Menschen handelt, ihr Interesse stärker als theoretische
Probleme. Darum leistet von den weiblichen Studierenden ein viel kleinerer
Prozentsatz im späteren Leben wissenschaftliche Arbeiten als von den männ¬
lichen, obwohl die ersteren beim Studium und im Examen öfter bessere
Leistungen aufweisen, auf Grund des sie Btärker erfüllenden Pflichtgefühls;
darum ist — obwohl sie oft ebenso schnell, ja schneller auffassen — ihre
wissenschaftliche Selbständigkeit durchschnittlich viel geringer. Darum
haben auch in Gebieten, die ihr kraft ihrer Eigenart hervorragend zukommen
— soziale Arbeit, Krankenpflege usw. —, Männer zumeist den Anstoß zu
den großen Reformen, die Grundgedanken für die Systeme geliefert, obwohl
Frauenarbeit auf diesen Gebieten jederzeit Heroisches geleistet hat: weil
auch hier wieder das Konkrete, der leidende Mensch, der einzelne nach ihrer
Hilfe verlangende Fall, sie viel stärker interessiert als das Allgemeine,
Normative. Im ganzen neigt der männliche Intellekt zu scharfsinnigem
Analysieren, zu zwingendem, Glied für Glied sich bewußt machendem Be¬
weisen; der der Frau zu »Divination und Intuition«; ihre Einsicht ist sehr
oft das Ergebnis einer unbewußt sich vollziehenden, von ihrem ganzen
Wesen und Wirken abhängigen Selektion; weil aber die zu dexi Beweisen
führenden Gründe hier mehr als dort unbewußt bleiben, so sehen wir in
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Literaturbericht.
sich schnell in Neues zu versetzen, eine Lage praktisch zu erfassen, sich in
andere hineinzufühlen, Menschen und Dinge mit einem Blick zu durch¬
schauen.
So ist das weibliche Denken 1 ) »von dem männlichen in hohem Grade
verschieden, und es hat dementsprechend andere Vorzüge and andere Nach¬
teile wie dieses. Bei geringerer Strenge hat es größeren Reichtum; der un¬
endlich komplizierten Kurve des Lebens schließt es sich vollständig an,
während jenes dieselbe nur durch geradlinige, eckig zusammenstoßende
Striche einzuschließen versuchen kann. So zeigt es ..., auch wenn es sich
auf andere Ziele richtet, eine Verwandtschaft mit der geistigen Arbeit des
Künstlers. So wie der Roman zur psychologischen Analyse, oder die
plastische Darstellung zur anatomischen Beschreibnng des menschlichen
Körpers, so verhalten sich auf jedem Gebiete die weiblichen zu den männ¬
lichen Einsichten . .. Darum ist allerdings die Leistungsfähigkeit des weib¬
lichen Denkens viel mehr als diejenige des männlichen den Zufälligkeiten
der individuellen Lebensumstände ausgesetzt. Sofern aber diese günstig sind,
kann es viel tiefer durchdringen als jenes«. Auf dieser Eigenart beruht es
auch, daß Frauen geniale, den männlichen ebenbürtige Leistungen vor allem
auf dem Gebiete der Schauspielkunst und des Romans geschaffen haben;
in beiden gilt eB, Bich intuitiv in anderes Seelenleben hinein zu versetzen,
es aus sich heraus zu erschaffen.
Auf andere Gebiete ans der reichhaltigen Arbeit einzugehen, verbietet
der Raum; das Buch wird jedem, der sich für diesen Teil der speziellen
Psychologie interessiert, reiche Anregung und Belehrung bieten. Der Verf.
hat es grundsätzlich vermieden, aus dem gefundenen Material praktisch-
pädagogische oder soziale Konsequenzen zu ziehen; jeder aber, der über
Mädcbenerziehung und -bildung, Uber Frauenberufe usw. sich ein Urteil bilden
will, wird künftig das hier vorliegende reiche Material zu berücksichtigen
haben. Einigermaßen skeptisch wird man m. E. den abschließenden Er¬
örterungen über den »Ursprung der psychischen Verschiedenheiten der Ge¬
schlechter« gegenüber stehen müssen; der Stand unseres Wissens um die Ver¬
erbung psychischer Eigenschaften dürfte kaum gestatten, über diese Fragen All-
gemeingültiges, Abschließendes zu äußern. Aber nicht in diesen Erwägungen
liegt der Wert des vorliegenden Buches, sondern in der wissenschaftlich
und vielseitig fundierten, vorurteilslosen, feinsinnigen Darstellung der Eigen¬
arten der weiblichen Psyche. Daß die hier entworfenen Züge immer nur
einen Grundriß bilden, auf dem das Leben in den einzelnen Individuen die
größte Mannigfaltigkeit entwickelt — daß die individuellen Züge für den
Einzelfall oft charakteristischer sind als die generellen, an die eine solche
wissenschaftliche Analyse grundsätzlich sich halten muß —, das ist dem
Verf. sehr wohl bewußt. Ebenso ist er sich vollkommen darüber klar, daß
in einer Zeit, wo die Erziehung und Bildung des weiblichen Geschlechtes
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Literaturbericht.
Ich zwar sich eelbBt innerhalb gewisser Grenzen in seinen Funktionen und
Zuständen Gegenstand der apperzeptiven Wahrnehmung werden; aber es ist
doch nicht ein Wahrnehmungsgegenstand wie die Reihe der anderen, da es
weder ein Objektives, noch eine psychische Funktion oder ein Zustand ist Es
ist vielmehr »das den Zuständen und Funktionen zugrunde liegende rätselhafte
EtwaB, dessen Zustände und Funktionen jene Prozesse sind«. Und wir
müssen den (gewiß wunderbaren) Tatbestand anerkennen, daß das Ich die
Aufmerksamkeit während seiner Funktionen auf sich selbst zu lenken ver¬
mag, ohne dabei Spaltungen zu erleiden.
Wir müssen aber ferner die Identität dieses Subjektes während seiner
sich ändernden Erlebnisse voraussetzen, »wenn wir auch keinen zwingen¬
den Beweis dafür und keinen eigentlichen Gegenbeweis gegen
Kants Hypothese der Vertauschung des zugrunde liegenden Subjektes«
geben können. (Immerhin würde m. E. die Hypothese Kants sich schwer¬
lich gegen die von Lotze geltend gemachten Einwürfe behaupten können!)
Alle Hypothesen dagegen, die das Ich als eine »Verknüpfungseinheit aller
seelischen Erlebnisse«, oder als »Zusammenhang von Funktionen« erklären
wollen, erweist der Verf. mit scharfsinniger Kritik als ebenso unhaltbar wie
die Auffassung Humes, auf die sie alle zurückgehen. Ebensowenig ist es
möglich, das Ichbewußtsein aus dem Gedächtnis zu erklären, da Gedächtnis
und Erinnerung vielmehr umgekehrt die Identität des erlebenden und er¬
innernden Subjektes voraussetzen, und da es pathologische Fälle von Amnesie
ohne Veränderung des Persönlichkeitsbewußtseins gibt. Der Ichcharakter
alles Psychischen aber ist es, der das Geistige völlig grundsätzlich von der
physikalischen und chemischen Welt unterscheidet.
Nicht genügend wird m. E. vom Verf. die Abhängigkeit der Seele vom
Körper gewürdigt. Gedächte er der Abhängigkeit unserer emotionalen Er¬
lebnisse sowohl wie unserer psychischen Funktionen von unserem momen¬
tanen körperlichen Befinden, wie von unserem gesamten, uns dauernd eigenen
körperlichen Habitus: so würde er die »Lokalisation« des Ich in den ihm
zugehörenden Körper nicht auf eine Stufe mit krankhaften Illusionen stellen.
Gewiß ist die naiv angenommene »Lokalisation« ein Bild; aber die Natur der
engen Beziehung von Seele und Körper wird gerade für die hier gewonnene
Auffassung des Ich zum Problem.
Das Persönlichkeitsbewußtsein besteht nun — nach den Aus¬
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führungen des Verf. — nicht in irgendeinem Wissen oder in Erinnerungen:
sondern in einem jedem Menschen eignen »individuellen Lebens-
gefühl«, in einer »allgemeinen Lebensstimmung«. Ein »potentielles Willens¬
erlebnis« und die »allgemeine intellektuelle Bewußtseinslage« gesellen sich
dazu; das körperliche Allgemeinempfinden und die daraus resultierende Ge¬
fühlslage bilden nur einen sekundären Beitrag.
Viele Fälle von »Depersonalisation«, in denen die Kranken Uber den
»Verlust ihrer Persönlichkeit« klagen, sind aus der pathologischen Ver¬
änderung dieses Lebensgefühls tatsächlich zu erklären. Ja alle uns be¬
kannten Fälle einer scheinbaren Spaltung, einer sukzessiven oder simultanen
Ich-Verdoppelung sind vollkommen, ja sogar allein auf dem Boden der
CCM >olP Original from
Ö PRINCETON UNIVERSITY
i
Literaturbericht
147
den« — wie will eine wörtliche Deutung diese widersprechenden Tatsachen
reimen?
Die Urteilstäuschnng, die den Kranken durch ihren pathologischen Zu¬
stand aufgezwungen wird, hat natürlich die verschiedensten psychologischen
— und zumeist wohl auch unbekannte physiologische — Ursachen. Vor
allem kommen periodische Gedächtnisstörungen und dadurch bedingte
Stimmungsschwankungen in Betracht; sie erzeugen im Verein mit
krankhaft gesteigerten Einfühlungsphänomenen und unnormal leb¬
haften Erinnerungen an frühere Zustände, denen sehr oft eine augen¬
blickliche GefÜhlshemu.nng oder Veränderung zu Bilfe kommt, die Erschei¬
nungen des »doppelten« oder »alternierenden Bewußtseins«. Be¬
zeichnet sich, wenn alle diese Störungen nur in geringem Grade auftreten,
das Individuum nur als »instabil« und »psychisch variabel«, so kommt es
sich mit der Zeit als sich selbst fremd vor, bis es sich schließlich nicht
mehr erkennt und in dritter Person von sich spricht. Der berühmte Fall
der von Jan et beobachteten Leonie gehört hierher. L6onie 3 erinnert sich
ja der beiden anderen Persönlichkeiten, und sie weiß, daß ihr jetziger Zu¬
stand sich von den anderen Zuständen unterscheidet, wenn sie die anderen
auch nicht als solche, die sie selbst zuweilen erlebt hat, erkennt. Jede
auch noch so schwache Erinnerung und Vergleichung aber setzt ja die
Identität dessen, der jetzt etwas erlebt, und der einst etwas erlebt hat, was
er im Vergleich damit für verändert hält, voraus. Selbstverständlich können
wir alle die genannten pathologischen Erscheinungen nicht restlos erklären;
aber vermögen wir das vielleicht gegenüber dem normalen Seelenleben?
Jedenfalls ist der Gedanke, daß seelische Prozesse sich von dem Subjekt,
das sie als Zustände oder Funktionen in sich hegt, loslösen, daß in einem
seelischen Subjekt ein zweites entstehen und sich geltend machen könne,
unfaßbarer als alle anderen Erklärungsversuche.
Aber vermögen wir die Einheit des seelischen Subjektes wirklich zu be¬
haupten in den Fällen simultaner Ichspaltung, in dem die Kranken be¬
haupten, daß in ihnen zugleich zwei Iche seien, oder daß sie selbst sich
verdoppelt haben? Der Verf. zeigt auf Grund des ihm vorliegenden psycho-
pathologisehen Materials, daß alle diese Erscheinungen hauptsächlich in
psychischen Zwangsprozessen begründet sind. Zwangsmäßig rechnen
die Kranken beständig, oder sie beobachten sich in quälender Weise unauf¬
hörlich; oder eie denken etwas, was mit ihrem eigeneu Urteilen und Fürwahr¬
halten gar nicht zusammenstimmt. Da sie aber im normalen Zustande alle
diese intellektuellen Funktionen nur willentlich ausübten, und da ihr Urteil
krankhaft getrübt ist, so meinen sie, es sei in ihnen ein anderes Ich, von
dem diese Funktionen ausgehen.
Ebenso können mehrere nebeneinander bestehende, unverschmolzene Gc-
fühlsvorgänge zu dieser Illusion Anlaß geben. Die Erscheinungen der Be¬
sessenheit im Mittelalter, von denen uns berichtet wird, lassen sich, vor
allem wenn man die Wirkung des Dämonenglaubens jener Zeit mit in Be¬
tracht zieht, auf diese Art restlos erklären.
Als Ursache der Spaltungsillusion kommen ferner häufig hochgradig gc-
afpitrnrtn IT 5 n Inn er ajnrr
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Literaturbericht.
aber und der ZwRng, sich selbst in allen möglichen Situationen vorzustellen
und reden zu hören, kann zu der Illusion, daß unsere gewohnte Persönlich¬
keit ein Doppeldasein führe, Anlaß geben.
So enthalten alle die psychopathologischen Fälle, die so oft gegen die
Einheit des seelischen Subjektes ins Feld geführt werden, tatsächlich keinen
Beweis dagegen. Es ist ein wesentliches Verdienst Oesterreichs, diesen
Nachweis an den mannigfachsten Krankheitsberichten mit feinsinniger psycho¬
logischer Analyse geführt zu haben. Er macht es in der Tat wahrscheinlich,
daß jene »Spaltungen« nur auf verschiedenen krankhaften Bedingungen be¬
ruhende Störungen des Selbstbewußtseins darstellen. Von diesem
Selbstbewußtsein aber, das hat auch der Verf. überzeugend nachgewiesen, hat
man den Träger, das Subjekt dieses Bewußtseins, zu scheiden. Ob wir diesem
Subjekt Einheit und Identität innerhalb der verschiedenen Bewußtseinsphasen
zusprechen müssen oder nicht: darüber sagen die erwähnten pathologischen
Fälle nichts aus, weil sie eben nur die phänomenologischen Erscheinungen des
Bewußtseins und nicht das Subjekt selbst betreffen. Jedenfalls ist anch die
irrtümliche Deutung, die der psychisch Erkrankte selbst auf seinen Zustand
anwendet, im Grunde dadurch bedingt, daß er sich doch irgendwie ver¬
ändert fühlt. Und sollte diese Tatsache nicht die in den wechselnden Zu¬
ständen gewahrte Identität des Erlebenden zur Voraussetzung haben?
Vielleicht würde ein tiefereB Eindringen in die Krankengeschichten noch
eine Reihe neuer, fruchtbarer Gesichtspunkte eröffnen; vielleicht mögen im
einzelnen auch noch andere, als die herangezogenen Erklärungsmöglichkeiten
bestehen. Jedenfalls aber hat der Verf. in diesem hochinteressanten Buche
gezeigt, daß die Fälle jener Bewußtseinsanomalien keinen notwendigen Stein
des Anstoßes für die Subjektspsychologie bilden. Damit hat er Grundlinien
gewiesen, auf denen neue Forschungen weiter bauen können.
Else Wentscher (Bonn a. Rh.).
Dr. Johannes Rehrake (o. ü. Professor der Philosophie zu Greifswald),
Zur Lehre vom Gemüt. Eine psychologische Untersuchung.
Zweite umgearbeitete Auflage. Leipzig, Verlag der Dürrschen
Buchhandlung, 1911. M. 3.—.
Die Umarbeitungen dieses 1898 zum erstenmal erschienenen Buches ver¬
raten keine Änderungen in der Stellungnahme des Verf. zu den aufgerollten
Problemen des Gefühlslebens, sie sind vielmehr im wesentlichen äußerlicher
Natur. Der Standpunkt des Verf. ist bekannt. Die Voraussetzung seiner
Ausführungen ist die Seele als Einzelwesen, »wie es mit dem Leibe in einer
stetigen Wirkungseinheit innig verbunden sich findet, in der Wirkungseinheit,
die wir .Mensch’ nennen«. Das Gefühl ist eine Bestimmtheitsbesonderheit der
Seele. In den weiteren Angaben über das Gefühl, die Stimmung, den
Affekt usw. ist mehr Konstruktion als Beobachtung enthalten, obgleich der
Verf. den festen Boden der Tatsachen unter den Füßen zu haben meint.
1? ß li m Ir n fl «T.otirn mm r/n Hort ßSi/tliorn Horon ßinlßiioliton/Itfr»
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Literaturbericht.
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6) Dr. phil. Else Voigtländer, Vom Selbstgefühl. Ein Beitrag zur
Förderung psychologischen Denkens. 119 S. kl. 8°. Leipzig,
Voigtländer, 1910. Geh. M. 2.—.
Angeregt durch die »in München gepflegte Richtung der wissenschaft¬
lichen Psychologie«, will die Verf. die Tatsachen des Selbstgefühls zunächst
phänomenologisch beschreiben. In vorsichtigen einleitenden Erwägungen
wird das Selbstgefühl definiert als eine ganz eigentümliche Tatsache, die nicht
abgetan sei mit Einordnung in die Gefühlsdimensionen Lust-Unlust und mit der
Möglichkeit des Nachdenkens usw. Uber sich selbst, und zwar genauer »als
ein gefühlsmäßiges Wertbewußtsein seiner selbst, das jeder mit sich herum¬
trägt und das Schwankungen unterliegt« (S. 19). Die Besonderheiten im
Verhältnis zu anderen psychischen Erlebnissen sind namentlich »der Kon-
zentrationsmittelpnnkt, das Selbst« und das äußerst schwer definierbare Wert¬
bewußtsein. An Unterarten scheidet die Verf. 1) das vitale (natürliche, in¬
stinktive) Selbstgefühl, ausgeprägt in Stimmungen, 2) das bewußte (von
Reflexion — cum grano salis — beeinflußt), 3) Richtungen mit besonderer
Betonung oder Zurückdränguug des »Selbst« (Selbstbehauptung und Selbst¬
hingabe), und in fundamentalem Unterschiede von diesen Arten das »Spiegel-
selbstgeFiihl«. Hier erblickt die Verf. das wichtigste Ergebnis ihrer Unter¬
suchung. Es sind alle die Fälle, in denen das Selbstgefühl in Beziehung
steht zur Umgebung der Persönlichkeit, nicht bloß im Sinne des Eindruck-
machenwollens, sondern auch etwa in dem Sinne des Rühens, des Geborgen¬
seins im sozialen Milieu (Standesgefühl des Adels; Bauernstolz). Als Bei¬
spiel soll hierher auch die Selbstbewundernng gehören, die an Richard
Wagner hübsch erörtert wird. Will man diese verschiedenen Gruppen zu¬
sammenfassen, so ist wirklich der Ausdruck Spiegelselbstgefühl, der an sich
wenig einleuchtet, ganz geschickt. Ich hege jedoch noch einigen Zweifel,
ob die Zusammenfassung so recht brauchbar ist (wie ich überhaupt die Ge¬
dankenentwicklung des Büchleins oft nicht sehr überzeugend, auch in ein¬
zelnen Teilen ziemlich ungleichmäßig finde). Die Selbstbewunderung z. B.
würde man auch im Zusammenhänge mit dem Stolz betrachten können, so
daß die übrigbleibenden Formen des Spiegelselbstgefühls irgendwie mit dem
sozialen Moment in Beziehung ständen. An einigen Stellen wiederum halte
ich nicht für sicher, daß überhaupt ein Selbstgefühl in Frage kommt. So
bei der Skala Vornehmheit-Gemeinheit, die die Verf. auch sehr fein als
Lebenston bezeichnet, und bei der Stimmung, die man Lampenfieber nennt.
Mir scheint auch, es wäre nötig gewesen, wenigstens in einem Über¬
blick die Schwankungen des Selbstgefühls, die nur einmal gestreift werden,
Für sich zu betrachten. Dann käme man auf die Dispositionen zu solchen
Schwankungen der Stimmung, auf die Entwicklung des Selbstgefühls, und
schließlich auf die Faktoren, die es von erster Kindheit an in der Entwick¬
lung beeinflussen. Gewiß hat das alles nicht im Plane der Verf. gelegen, es
stoßen einem aber bei der Lektüre so viel derartige Fragen auf, daß eine
wenn auch nur andeutende Berührung dieser Dinge von größtem Interesse
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Literaturbericht.
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bis zum Gegenteil; Ausdauer) und in den Antrieben zum Bandeln bedingt.
Vor allem wird aber betont werden müssen, daß die Erlebnisse des Selbst¬
gefühls entweder Stiramungsgrnndlagen irgendwelcher Art sind, gewisser¬
maßen Unt<rströmungen des Bewußtseins, oder, im anderen Hauptfalle,
vorübergehende Prozesse, die auf Grund einer vorhandenen Disposition durch
bestimmte Anlässe wieder ausgelüst werden. Fast möchte ich glauben, daß
die Verf. sich zu diesen Betrachtungen nicht veranlaßt gesehen hat, weil
sie im Grunde doch nicht lediglich phänomenologisch denkt, sondern auch
»realpsychologisch«, wie sie gelegentlich sagt (beiläufig bemerkt, findet das
»Psychisch-Reale« in der neuesten 3. Auflage des Leitfadens von Lipps
gar keine separate Behandlung mehr), — und weil sie deshalb möglicher¬
weise geneigt ist, bei Tatsachen wie dem Wertbewußtsein als Realitäten
Halt zu machen, da diese nicht bloß nicht weiter zurück führbar, sondern
überhaupt nicht mehr analysierbar seien.
Sehr anfechtbar ist die Absicht der Verf., die künstlerische Darstellung
des Psychischen »als Erkenntnismaterial« heranzuziehen, wie es in dem den
Besprechungsexemplaren beigegebenen (übrigens stilistisch recht wenig ge¬
feilten) Vorwort heißt. Was die Verf. in dieser Richtung vorbringt, ist wohl
in den meisten Fällen haltbar; als Grundsatz wird man aber hier annehmen
müssen, daß die Charaktere der Dichtung für die Psychologie nur heuristischen,
nicht Tatsachenwert haben. Etwas zuverlässiger ist schon das biographische
Material, doch gleichfalls mit großer Vorsicht zu benutzen. Wenn übrigens
die Verf. aus einem Briefe von Henriette Feuerbach an Frau Herwegh
(S. 41 und 66) schließt, daß H. Feuorbach sich ihrer Begabung nicht ge¬
wachsen fühlte, so werden zwei verschiedene Arten von Begabung hypo-
stasiertund dann gegeneinander ausgespielt (Neigung zu kleineren literarischen
Produktionen und Fähigkeit, einen größeren Entwurf wirklich zu vollenden);
die Selbstanalyse des Briefes, obwohl nicht wissenschaftlich formuliert, scheint
mir zutreffender zu Bein. Wahrscheinlich kommt man bei dem biographischen
Material nicht aus, ohne das Problem der Entwicklung des Individuums
hereinznziehen.
Wie schwierig jedoch das ganze Gebiet ist, das wird einem am besten
klar, wenn man Bich fragt, was man gleich Besseres an die Stelle des vor¬
liegenden Büchleins zu setzen habe; und darum wird man ihm den Wert des
Anregens auf jeden Fall zugestehen müssen.
Moritz Scheinert (Leipzig).
6) Waldemar Conrad, Der ästhetische Gegenstand. Eine phänomeno¬
logische Studie. Zeitschrift für Ästhetik und allgem. Kunstwissen¬
schaft. Bd. III. 1908. S. 71—118, 469—511. Bd. IV. 1909.
S. 400-455.
Der vorliegende Versuch, die phänomenologische Methode prinzipiell
auf die Ästhetik anzuwenden, ist zu begrüßen, da er zeigt, daß diese Me-
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i
Literatarboricht.
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menologische Methode ihrem Wesen nach zu erklären als sie anzuwenden.
Die phänomenologische Methode besteht auf dem Gebiete der Ästhetik in
einer Weiterbildung der gewöhnlichen deskriptiven Methode, der »naiven«,
wie Conrad sie nennt. »Wenn man . .. auf einen intentionalen Gegenstand
rein als solchen ohne irgendwelche Voraussetzungen gerichtet ist und von
ihm Wesenseigenschaften mit Evidenz aussagt, so ist die naive deskriptive
Methode in die sogenannte phänomenologische übergegangen« (III, S. 76),
wobei man sich »sukzessive eine Seite nach der anderen zu adäquater An¬
schauung« zu bringen hat (III, S. 74). Conrad nennt drei Eigentümlich¬
keiten der phänomenologischen Methode: 1) Sie ist voraussetzungslos, sieht
vor allem von »der Existenz der Welt mit ihren Dingen und psychischen
Individualitäten« völlig ab; 2) ihre Gegenstände sind nicht reale, konkrete
Naturdinge, sondern ideale Objekte; 3) sie ist auf Eigenbeobachtung ange¬
wiesen.
Die Möglichkeit, die phänomenologische Analyse in der Ästhetik zur
Anwendung zu bringen, beruht darin, daß »dem Kunstgenüsse nicht eine ge¬
wöhnliche Dingwahrnehmung zugrunde liegt«. Wir genießen und werten
nicht die Partitur einer Symphonie, nicht das Manuskript eines Gedichtes;
wir trennen beim Werten sehr wohl »die Symphonie«, »das Gedicht« von
der Aufführung, der Rezitation. [Der Theaterkritiker schreibt oft: »Der Bei¬
fall galt wohl weniger dem Schauspiel als vielmehr der guten Darstellung.«
Findige Köpfe versuchen, wie die Blätter häufiger zu melden wissen, durch
Abstimmungsmaschinen und -antomaten die beiden Wertungen zu scheiden.]
Eine Phrase aus einer Symphonie mag gepfiffen, auf dem Klavier gespielt,
von einem Orchester wiedergegeben werden: gemeint ist immer diese
Phrase. Dieser gemeinte ideale Gegenstand wird von Conrad der »ästhe¬
tische Gegenstand« genannt.
Bei der Wahrnehmung eines Kunstwerkes sind drei Geisteshaltungen zu
unterscheiden: »1) Die Erscheinung repräsentiert uns das Ding der Wirk¬
lichkeit«, das »wirkende Kunstwerk«; 2 ) dieses repräsentierte wirkliche Ding
repräsentiert d*n gemeinten ästhetischen Gegenstand; 3) die Erscheinung
repräsentiert unmittelbar den ästhetischen Gegenstand. Conrad fordert für
seine Analyse nach Möglichkeit den letztgenannten Fall.
Wie eine bestimmte Symphonie, bo kann auch »die Symphonie« als
Genus oder »der musikalische Gegenstand überhaupt« betrachtet werden,
»nicht als Gattungsbegriff von Wirklichkeiten, sondern als Typus von Mög¬
lichkeiten«, und ebenso wie der Gegenstand können auch die verschiedenen
Typen der Erlebnisseitc einer Untersuchung unterworfen werden. [Conrad
selbst will später eine solche Analyse anstellen.l
Der Verf. benutzt zur Anordnung des Stoffes die z. B. auch bei Dessoir
anzutreffende Einteilung der Künste in Zeitkünste und Raumkünste, wählt
ahs den ersteren Musik und Poesie und teilt die letzteren in nicht¬
darstellende und darstellende Raumkünste ein. Der eigentlichen Analyse
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Literaturbericht.
Conrad wendet sich zunächst dem ästhetischen Gegenstand der Musik
zu. Aus der Voruntersuchung über den Einzelton ist zu erwähnen, daß
nach Conrad die vier »Seiten« eines Tones, Tonhöhe, Intensität, Dauer und
Klangfarbe, einander nicht koordiniert sind. »Die Tonhöhe scheint für den
Ton am wesentlichsten zu sein«, da der Ton nach ihr benannt, an ihr wieder¬
erkannt wird. Für das Verhältnis der drei anderen, weniger wichtigen
Seiten zum Tone schlägt der Verf. anstatt des naheliegenden Ausdruckes
»Inhärenz« den Terminus »Adhärenz« vor. Auf die Bevorzugung der Ton¬
höhe kann nach Conrad letzten Endes nur hingewiesen werden; wir haben
den Gattungsbegriff des Tones um dieser Auszeichnung der Tonhöhe willen
gebildet, nicht ist umgekehrt die Tonhöhe deshalb ausgezeichnet, weil nach
ihr der Gattungsbegriff gebildet ist. Doch soll eines aus dieser Sachlage zu
entnehmen sein, nämlich daß das Interesse bei dieser Auszeichnung mit¬
spiele, und zwar ein objektives, kein rein zufälliges, subjektives Interesse.
An dem gewählten Beispiel Melodie von »Beil dir im Siegerkranz«,
C-Dur, 3 / 4 -Takt) konstatiert Conrad bei der allgemeinen Analyse zunächst
eine »zeitliche Erstreckung« (wohl dasselbe, was später »Dauer« genannt
wird) und eine »zeitliche Umgebung«, einen »Hof« der Vorbereitung und des
Ausklingens. (Das Beifallklatschen, welches Conrad hier nennt, ist doch
wohl kaum als »weeenszugehörige« Umgebung »mitgemeint«). Sodann unter¬
scheidet der Verf. eine Gliederung in Stücke und einen Aufbau aus Seiten.
Die Gliederung ist rhythmisch und sinngemäß; rhythmisch: in Takte und
Rhythmuseinheiten; sinngemäß: in Sätze, Phrasen, Töne. Beide Gliederungen
sind wesentliche Merkmale des ästhetischen Gegenstandes. Bei dem Auf¬
bau begegnen uns jene vier Seiten wieder, die wir beim Einzelton kennen
lernten, hier als Tonhöhenverlauf, Intonsitätsverlauf, Klangfarbenverlauf und
Dauer. Die Gesamtheit dieser Seiten, der »akustische Kern«, besitzt gewisse
psychische Faktoren, nämlich einen Stimmungscharakter und einen Aus¬
druck scharakter; die beiden können auseinandertreten, z. B. bei einer
humoristisch gemeinten Musik, die wortreichen Liebesschmerz ausdrückt.
Ferner stellt der Verf. eine (objektive) Interessenverteilung fest: das
eine Moment steht im Vordergründe des Interesses, ein anderes tritt zurück.
Im Vordergründe stehen »Tonlinienform« und psychischer Charakter [bald
der Ausdruck, bald der Stimmungston]; der Intensitätsverlauf tritt mehr
zurück; noch mehr im Hintergründe steht der Klangfarbenverlauf. Die
»Tonlinienform« ist »fundiert in den Verhältnissen der Tonhöhen und Ton-
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dauern der aufeinanderfolgenden Einzeltöne, bezogen auf Tonika und
Rhythmuseinheit«.
Dieser Sphäre des Gemeinten stellt der Verf. das Gebiet des Mit¬
gemeinten gegenüber. Mitgemeint ist die schon erwähnte zeitliche Um¬
gebung, die Persönlichkeit des darbietenden Künstlers, in anderem Sinne
z. B. die »ländliche Gegend« einer Symphonia rusticaua, schließlich Dinge,
die in gewissem Sinne dargestellt sein können und daher bisweilen zum Ge¬
meinten gehören, z. B. das Gewitter in Haydns »Jahreszeiten«.
Aus der Detail-Analyse des gewählten Beispiels sei erwähnt, daß nach
Conrad im ersten Takte die Höhe des zweiten Tones auf die des ersten,
GöOgte
Ortginalfrom —
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i
Literaturbericht.
153
neue sinngemäße Einheit aufgefaßt?] Die Tonart ist dadurch gegeben, daß
sich c in der Melodie irgendwie als Tonika bemerkbar macht, daß die
übrigen Töne direkt oder indirekt auf c als Hauptgrundton bezogen werden.
Der interessante Versuch, die Tonlinienform wie eine Kurve in ein Koordi¬
natensystem einzutragen, macht indirekt auf weitere Tatsachen aufmerksam:
Kontinuität der Melodie, Akzent des ersten Tones im Takte, Bevorzugung
des Toneinsatzes. Die von Conrad genannten psychischen Charaktere
dieser Melodie zeigen deutlich die Abhängigkeit dieser Momente von der
Individualität des Auffassenden.
Es gibt für den ästhetischen Gegenstand eine Irrelevanzsphäre, inner¬
halb deren die einzelnen Elemente sich ändern können, ohne dadurch die
Identität des ästhetischen Gegenstandes zu gefährden, d. h. ohne daß der
ästhetische Gegenstand als Gattungsgegenstand verloren geht. Zu seiner Er¬
haltung sind unbedingtes Erfordernis Erhaltung der Tonlinienform und Be¬
ziehung auf die zugehörige Tonika, in gewissem Sinne auch Erhaltung der
Rhythmisierung. Innerhalb dieser Gattangsgrenze gibt es noch eine Irrelevanz-
sphäre flir den gemeinten ästhetischen Gegenstand im engeren Sinne. Nur
eine der möglichen Ansichten ist die gemeinte, sie allein fundiert das ästhe¬
tische Werturteil. (Bei einem Vergleich mit Riemanns Standpunkt findet
Conrad trotz der Verschiedenheit der Betrachtungsweisen manche Überein¬
stimmung in den Ergebnissen.)
Der Behandlung des ästhetischen Gegenstandes der Poesie geht eine
Untersuchung über den verbalen Ausdruck voraus. Conrad entwickelt hier
zunächst im Anschluß an Busserl den Unterschied zwischen Zeichen, Be¬
deutung und Gegenstand. »Der wesentliche Kern eines Wortes ist die Be¬
deutung, die, getragen von einem akustischen Symbol, einen Gegenstand
meint.« Denn »Wort« im eigentlichen Sinne ist das akustische Wort; eine
Geste besitzt keine Bedeutung, sondern meint nur einen Gegenstand; das
visuelle Zeichen bezeichnet primär Laute und besitzt erst dadurch sekundär
eigentliche Bedeutungsfunktion. Die drei genannten Momente sind »Seiten«
des Wortes. (Später tritt noch eine vierte Seite, der ausgedrückte Gegen¬
stand, hinzu.) »Stücke« eines Wortes gibt es für diese Analyse nur, sofern
die Stücke eine Bedeutung haben, z. B. in zusammengesetzten Wörtern. Der
Gegenstand eines zusammengesetzten Wortes ist nicht gleich der Summe der
von den Einzelwörtern gemeinten Gegenstände, er ist vielmehr ein neuer
Gegenstand. Die Gegenstände der Einzelwörter sind in dem neuen Gegen¬
stände nicht enthalten, dagegen wohl die Bedeutungen in dem neuen Be¬
deutungsganzen, wenngleich dieses nicht einfach gleich der Summe der Teil¬
bedeutungen ist.
Conrad behandelt sodann in allgemeiner Analyse das Gedicht »Unge¬
duld« aus dem Zyklus »Die schöne Müllerin« von Wilh. Müller. Die
Überschrift des Zyklus weiBt darauf hin, daß das Nachfolgende als ein
Gegenstandsganzes aufzufassen ist. Der Titel gehört zur zeitlichen Um¬
gebung, die auch hier einen Hof der Vorbereitung und des Abklingens um¬
faßt. Die rhythmische Gliederung des Einzelgedichtes liegt in der Ein¬
teilung in Strophen, Verse, Metren nnd Silben: zur sinngemäßen Gliederung
gehören die S
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Stroohen, die
LiO gle
ie Einzelsätze, die selbständigen und die unselb-
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bildet die Liebesgeschichte von Müller und Müllerin: der Gegenstand des
Gedichtes »Ungeduld« ist die stürmische, ungeduldige Liebe des jungen
Müllers, die er gern der Geliebten mitteilen möchte, jedoch ihr in Worten
auszudrücken nicht wagt, und sein Kummer, daß sie von all seiner Liebe
nichts merkt. In den ersten vier Versen wird derselbe Gegenstand, die
Sehnsucht nach einer Mitteilung an die Geliebte, in vier verschiedenen Be¬
deutungen gemeint oder, wie später verbessert wird, ausgedrückt
Worte können Gegenstände nämlich nicht nur meinen, sondern auch aus-
drücken. Conrad unterscheidet eine subjektive Ausdruckspoesie und eine
objektive Poesie, je nachdem die Worte wesentlich etwas ausdrücken Bollen
oder nicht. Zum Ausdruck tritt als weiteres Moment der Stimmungston.
Im Vordergrund des Interesses stehen Bedeutung und Ausdruck, dann
kommen Gegenstand und Zeichen; daran schließt sich der Stimmungston.
dann Vorstellungen, Gefühle und Wollungen, die schon auf der Grenze zu
dem Mitgemeinten hin stehen.
Der Titel »Ungeduld« weist, wie Conrad in der Detailanalyse zeigt,
darauf hin, daß in dem Gedicht sich Ungeduld äußert; ferner gibt er eine
gewisse Direktive für die Aufassung. Sodann analysiert der Verf. in sorg¬
fältiger und scharfsinniger Weise die erste Strophe. Die Frage, ob den
beiden ersten Worten ein oder zwei Gegenstände entsprechen, entscheidet
er dahin, daß nur das Symbol in zwei Teile zerfalle. Die Identität
des ästhetischen Gegenstandes wird nicht bedroht durch gewisse Ver¬
änderungen von Sprechhöhe, Tonfall, Betonung, Tempo usw. Über Be¬
deutung und gemeinten Gegenstand spricht Conrad sich nicht deutlich aus;
ihre Variationsmöglichkeit scheint nicht groß zu sein. Sehr gering ist sie
jedenfalls für den ausgedrückten Gegenstand. Bei Überschreitung der
Irrelevanzsphäre (i. e. S.) liegt eine unvollkommene oder falsche Wiedergabe
bzw. Auffassung vor. Auch hier ist nur eine der möglichen Ansichten die
gemeinte.
Aus der Voruntersuchung zur Raumkunst sei nur erwähnt, daß die
phänomenologische Analyse im Gegensätze zur gewöhnlichen Betrachtungs¬
weise die Farben und Formen, die primitiven Elemente der Gegenstände der
Raumkunst, als Arten von Färb- und Formtypen auffaßt.
Als Beispiel aus der nichtdarstellenden Raumkunst wählt Conrad
zunächst die Mäanderlinie. (Auf das Bd. IV, S. 405 wiedergegebene Muster
passen einige Stellen schlecht [z. B. Richtung links-rechts, Stilisierung der
Wellenbewegung], besser dagegen auf ein anderes Ornament, s. etwa
K. Woermann, Geschichte der Kunst aller Völker und Zeiten, Leipzig und
Wien 1900, Bd. I, S. 24; mindestens müßte an dem vorliegenden Muster die
obere Ausladung nach links wegfallen.) Dieses Ornament baut sich in der
zweidimensionalen Ebene aus einfachen geraden Linien auf, die Lage, Rich¬
tung, Größe und eindimensionale Kontinuität besitzen. Eine rhythmische
Gliederung kann man in der Oliedernn<r in wlninhn Ronmtnilo nrKli«»kon
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Literaturbericht.
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sie als Linien gemeint. Als angewandte Kunst, z. B. als Ornament an einer
Wand, kann der Mäander mitgemeint sein. Auch bei dieser Kunstgattung
finden sich psychische Charaktere; man nennt z. B. ein Ornament »steif«,
die Farbe einer Wandfiäche »kalt«. Die Wand kann ebenfalls mitgemeint
sein als Wand einer Gartenhalle. Sie weist auf den Innenraum hin, dieser
auf das Gebäude, dieses auf den Garten, dieser auf die meist nicht mehr
mitgemeinte weitere Umgebung. Dieser Mangel an eindeutiger Grenze iBt
ein Charakteristikum der angewandten Knnst. Eine Gartenhalle kann von
verschiedenen Seiten gesehen werden; wir erhalten so verschiedene An¬
sichten, meinen aber trotzdem den einen Gegenstand, und zwar so, daß
wir in erster Linie die betreffenden Gegenstandsansichten genießen und
werten, aber als Ansichten des letzten Endes gemeinten Gegenstandes. Tat¬
sächlich besitzt der Gegenstand meist eine »Hauptansicht« und einige mit¬
gemeinte »Nebenansichten«. Ein Gegenstand, der nicht eindeutig auffaßbar
ist, ist kein Kunstwerk im Sinne des ästhetischen Gegenstandes. Conrad
beschreibt ein farbiges Vorsatzpapier zu einem Buchdeckel, das keine ein¬
deutige Auffassung zuläßt, und nennt es deshalb »naturschön«. Der Verf.
möchte nämlich den Ausdrücken »naturschön« und »kunstschön« ihren ge¬
netischen Sinn nehmen; er will auch ein Produkt von Menschenhand natur¬
schön nennen, wenn es nicht als Realisation eines eindeutigen ästhetischen
Gegenstandes auffaßbar ist, und umgekehrt auch ein sogenanntes Natur¬
produkt gegebenenfalls als »Kunstwerk« bezeichnen. (Diese Umprägung von
geläufigen Begriffen ist nicht unbedenklich.) Die Eindeutigkeit beruht im
letzten Grunde auf der Ausbildung gewisser Typen. Conrad unterscheidet
drei Form- bzw. Farbtypen: 1) Typen, die im Kunstwerk durch Wieder¬
holung geprägt sind (Beispiel: Mäander, bunte englische Plaiddecke),
2) Typen, die an Naturformen oder -färben erinnern (Schlangenlinie, grasgrün),
3) eigentlich darstellende Typen.
Damit kommen wir zur darstellenden Raumkunst. Conrad fragt
zuerst nach dem Wesen der Darstellung. Zur Darstellung gehört zunächst
Ähnlichkeit, und zwar sichtbare Ähnlichkeit: Das Darstellende muß als
Wiedergabe einer visuellen Ansicht des wirklichen Gegenstandes aufgefaßt
werden können. Dazu kommt noch, daß das Abbild sein Vorbild meint.
Das Meinen fand sich bereits beim Symbol, bei dem das Interesse dem ge¬
meinten Gegenstände zugewandt iBt; bei der Bildauffassung ist die Aufmerk¬
samkeit zwischen Darstellendem und Dargestelltem verteilt. Zeitlicher oder
kansaler Zusammenhang zwischen Vorbild und Abbild ist zum Wesen der
Darstellung nicht erforderlich. Charakteristisch ist vielmehr »das Im-Bilde-
meinen eines Ähnlichen«.
Nach der gewöhnlichen Auffassung kann man mit Hilfe verschiedener
Darstellungsmittel denselben Gegenstand wiedergeben. Conrad fragt da¬
gegen, warum man dann überhaupt zu »unvollkommneren« Darstellungs¬
mitteln greife, während »vollkommnere« zu Gebote ständen. Daraus sei zu
folgern, daß jedes Darstellungsmittel einen anderen ästhetischen Gegenstand
gebe, gemeinsam sei nur ein letzten Endes Gemeintes. Conrad scheidet
also zwischen
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imären und sekundären Bildobjekten.
e imaren ,un
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»Man muß Bich zu-
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Ansichten des Lehrers dar, etwa der Profilansicht; die eingeschlossene Fläche
will nicht die vielfach gekrümmte, vielfarbige Kürperoberfläche darstellen.
Das primäre Bildobjekt besteht vielmehr »ans einer bestimmt amgrenzten, in
unbestimmten Krümmangsverhältnissen verlaufenden Fläche« in einem »Räume
von ebenfalls unbestimmter Erstreckung«. Dieses Gebilde besitzt seinerseits
weitere Darstellungsfunktion. Der Schattenriß, bei dem die schwarze Fläche
im Vordergründe steht, ist eher eine Ansichtswiedergabe. In noch höherem
Maße ist dies der Fall, wenn die Fläche getönt oder gefärbt ist Das pri¬
märe Bildobjekt der Reliefplastik ist die Körperoberfläche in ihren wirk¬
lichen Kriimmungsverhältnissen; bei der Vollplastik ist es gleich (nicht
identisch mit .. .!) dem darstellenden Gegenstände. Malerei, Zeichnung und
Relief geben, im Gegensatz zur Vollplastik, die Körperlichkeit inadäquat
wieder, die Malerei gibt aber noch darüber hinaus die Farbe.
DaB primäre Bildobjekt ist in bestimmter Weise aufzufaBsen, z. B. als
der Lehrer. Ferner sind noch manche Gegenstandsseiten mitgemeint, z. B.
die Rückansicht, indirekt auch nichtvisuelle Momente, etwa das Rauhe eines
Kleides. Schließlich kommt noch die Auffassung als dieser Lehrer hinzu,
die allerdings nach Conrad, als auf die Wirklichkeit Bezug nehmend, nicht
mehr zur rein ästhetischen Geisteshaltung gehört.
Conrad unterwirft schließlich die Bleistiftzeichnung des Kindes einer
genaueren Analyse. Dabei findet er hier zum erstenmal keine rhythmische,
wohl aber eine doppelte sinngemäße Gliederung, eine nach den genannten
Typen (z. B. der Kopf als kreisähnliches Gebilde) und eine andere nach Dar¬
stellungstypen (als »Arm«, »Finger« usw.). Die Rhythmik wird in etwa
ersetzt durch einen Grundmaßstab, den der menschlichen Größe, zu dem
noch Untermaßstäbe treten können, und durch gewisse Beziehungsrichtungen,
die Horizontale und die Vertikale. Von dem primär Dargestellten und seiner
weiteren Darstellungsfunktion war schon die Rede. Psychische Charaktere
könnte man auch hier finden. Bezüglich der Interessenverteilung ist
zu scheiden zwischen Kern und Umgebung; am Kern ist einiges, hier Kopf
und Hand, besonders betont; im übrigen teilt Bich, wie gesagt, das Interesse
zwischen Darstellendem und Dargestelltem.
In einigen eingeschobenen Abschnitten, und besonders im Schlußkapitel,
behandelt Conrad das Wesen des ästhetischen Gegenstandes gegenüber
anderen Gegenständen. Folgendes sei daraus hervorgehoben: Die »naive«
deskriptive Methode »sieht an dem eigentlichen ästhetischen Gegenstände
vorbei« auf das Naturobjekt. Sie steht unter dem Einfluß der »natürlichen«
Geisteshaltung, die auf ein wirklich existierendes, reales Ding geht. Sie
unterscheidet daher zwischen dem, was dem Kunstwerke als Naturobjekt zu¬
gehört, und dem, was ihm nur unserer Einbildung nach zukommt; um es in
Schlagworten auszudrücken, sie unterscheidet zwischen Sein und Schein.
Auf die eine Seite würden z. B. bei einem Musikwerk Tonhöhen-, Intensitäts-,
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157
Conrads Arbeit, die anscheinend nur eine Anregung oder eine Grund¬
lage für eingehendere Arbeiten Bein will, ist sorgfältig und vorsichtig. Mit
großer Liebe sind offenbar die beiden ersten Teile über Musik und Poesie
behandelt, denen gegenüber die Raumkünste etwas zu kurz gekommen sind.
Eine genauere Analyse namentlich der Gegenstände von Malerei und Plastik
wäre wünschenswert gewesen.
Die Untersuchung gibt an manchen Stellen zu Einwänden Anlaß, so
z. B. bei den Ausführungen Uber den besonderen Charakter der Tondauer,
Uber die Auffassung von Tonart und Tongeschlecht. Doch sei hier nur
einigen Bemerkungen allgemeinerer Art Raum gegeben.
Conrad wirft der einfachen deskriptiven Methode vor, sie verfahre
nicht rein ästhetisch. Dieser Vorwurf wird verständlich, wenn man bedenkt,
daß Conrad mit dem Ausdruck »ästhetischer Gegenstand« einen idealen
Gegenstand bezeichnet, demnach eine Betrachtungsweise, die nicht auf
diesen idealen Gegenstand allein geht, nicht rein ästhetisch nennen kann.
Doch ist die Verwendung dieser Bedeutung von »ästhetisch«, die von
dem gewöhnlichen Gebrauche abweicht, bedenklich. Conrad muß von
seinem Standpunkte aus dem ästhetischen Gegenstände, dem Kunstwerke,
das Naturschöne gegenüberstellen. Und doch sprechen wir auch beim
Naturgenuß von ästhetischem Genießen. Conrad faßt den Begriff also zu
eng. Dennoch geht G. v. Allesch wohl zu weit, wenn er (Zeitschrift für
Psychol., Bd. 54, S. 528) sagt, Conrads ästhetischer Gegenstand habe mit
dem ästhetischen Vorgang nichts zu tun.
Ferner trennt Conrad den ästhetischen Gegenstand durchaus vom
ästhetischen Verhalten, das er später untersuchen will. Eine derartige
Trennung ist nicht ratsam. Dies zeigt sich bei Conrads Arbeit darin, daß
er manche Untersuchungen vornimmt, die mit dem Ästhetischen wenig oder
nichts mehr zu tun haben, Dinge analysiert, die ästhetisch irrelevant sind.
(Es sei an die Analyse der Worte »Ich schnitt« erinnert, wo rein logische
Erwägungen Platz greifen.) v. Allesch wirft dem Verf. mit Recht vor, er
habe den ästhetischen Gegenstand nicht genügend abgegrenzt, und zwar
deshalb, weil er das ästhetische Verhalten nicht berücksichtigt habe.
Zum Schluß sei noch eins erwähnt: Conrads Untersuchung gibt keinen
Aufschluß über die wichtige Frage, ob der ästhetische Gegenstand in den
verschiedenen Phasen des ästhetischen Verhaltens derselbe sei.
M. Honecker (Bonn a. Rh.).
7) Richard Müller-Freienfels, Die assoziativen Faktoren im ästhe¬
tischen Genießen. Zeitschrift für Psychologie. Bd. 54. 1910. S. 71 ff.
Um eine wissenschaftliche, auf empirische Grundlage gestellte Theorie
des ästhetischen Genießens zu gewinnen, will der Verf. die ganze Mannig¬
faltigkeit der Erscheinungen, in denen das künstlerische Genießen auftritt,
untersuchen. Die Selbstbeobachtung genügt ihm nicht zur Gewinnung einer
allgemeinen Basis;, denn wie die Systeme der Ästhetik, welche in den letzten
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Im Gegensatz dazu Bind die Untersuchungen des Verf. aus den Proto¬
kollen vieler Personen hervorgegangen, und zwar bediente er sich nicht
eines Fragebogens, wie ihn etwa Vernon Lee angewandt hatte, sondern
um jede Suggestivfrage anszuschalten und vor allem um einwandfreiere
Resultate zu erhalten, suchte er in gelegentlicher Unterhaltung und persön¬
licher Befragung nicht nur psychologisch orientierter Vp., sondern bei Ver¬
tretern der verschiedensten Berufs- oder Altersklassen, das Wesen des
ästhetischen Genießens zu erkennen. Allerdings scheint mir der Verf. doch
nicht den richtigen Gesichtspunkt in der Durcharbeitung des ihm zur Ver¬
fügung stehenden Materials angewandt zu haben. Denn er hat vor allem
und fast ausschließlich auf die »ganz individuellen Bemerkungen und Selbst¬
beobachtungen« der Vp. geachtet und glaubt auf Grund der »größeren Un¬
mittelbarkeit und Unbefangenheit« der Aussagen tiefer in das ästhetische
Genießen, wie es sich tatsächlich in unserem Seelenleben darstellt, eindringen
zu können. Wenn ich auch mit dem Verf. einer Meinung bin, daß man sich
vor Verallgemeinerungen hüten soll, daß man nicht das durchgehende Über¬
einstimmung ira Erleben nennen soll, was bei dem jeweiligen Forscher oder
in den Psychen einzelner hervortreten mag, so ist doch andererseits zu
betonen, daß die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten des ästhetischen Erlebens
für eine wissenschaftliche Ästhetik in erster Linie bedeutungsvoll sind. Aus
den gelegentlichen Selbstbeobachtungen und Bemerkungen der einzelnen
Vp. sollen die gemeinsamen Faktoren herausgesondert werden, und man
soll die Untersuchungsmethode genau beschreiben, um anderen Forschungen
den Weg der Nachprüfung offen zu halten. Denn nur so werden wir
zu allgemeinen Resultaten gelangen, welche eine wissenschaftliche Ästhetik
besitzen muß, wenn sie auf Wissenschaftlichkeit Anspruch haben und nicht
in der Aufzählung einzelner Tatsachen und individueller Erfahrungen
sich erschöpfen und zerfasern will. Der Verf. droht die Bestimmungen zu
verwerfen, welche Külpe (»Über den assoziativen Faktor des ästhetischen
Eindrucks« Vierteljahrschrift für wissenschaftliche Philosophie 23. S. 149
und nach ihm von Allesch (»Über das Verhältnis der Ästhetik zur Psycho¬
logie« Zeitschrift Für Psychologie Bd. 54 S. 511 ff.) über den assoziativen
Faktor im ästhetischen Erleben gewonnen haben. Um eine Abgrenzung des
assoziativen Faktors des ästhetischen Eindrucks gegenüber anderen Assozia¬
tionen zu erreichen, forderten sie, daß der indirekte Faktor in einem not¬
wendigen und eindeutigen Zusammenhang mit dem direkten stehe, daß alle
Bestandteile des assoziativen Faktors dem Hauptinteresse des Ästhetischen
dienen, daß der assoziative Faktor selbst Kontemplationswert habe. Das
sind Bestimmungen, welche nach meiner Meinung eine richtige Abgrenzung
des Ästhetischen gegenüber anderen seelischen Erlebnissen möglich machen.
Wenn dies dem Verf. bewußt bleibt, dann sind wir ihm dankbar, wenn er
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Litera turbericht.
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weisen findet der Verf. darin, daß die Funktionen beim Gefallen »um ihrer
selbst der sie begleitenden Gefühle willen geübt werden«. Damit ist aber
»weder eine scharfe Abgrenzung gegeben .. . noch ist eine Beschreibung
des ästhetischen Verhaltens an sich erreicht«. Der Verf. will den von
manchen Ästhetikern aufgestellten Begriff der »Einfühlung« genau unter¬
suchen und nachweisen, daß die Einfühlung nicht der einzige, in vielen
Fällen »sogar nicht einmal« der wesentliche Faktor des ästhetischen Ge-
nießens ist. Alle bloßen Empfindungen und ihre Gefühlstöne, sowie alle
spezifisch intellektuellen Funktionen schaltet er aus seiner Untersuchung aus.
In Betracht für ihn kommt nur »alles, was als Vorstellung, Wahrnehmung,
Vorstellungsgefühl, Affekt, motorische Assoziationen usw. beim künstlerischen
Erleben vorkommt«.
Als eine typische Gruppe der ästhetischen Wirkungen in formaler Be¬
ziehung betrachtet der Verf.
1) Die TätigkeitsgefUhle, »die von Wahrnehmungen und Vorstellungen
an sich, nicht durch deren Inhalt und Bedeutung ausgelöst werden, Gefühle,
die sich bloß an die Vorstellungstätigkeit als solche anschließen«. »Es ist
sozusagen die formale Tätigkeit der Phantasie, an die sich die Gefühle an¬
schließen.« Die Anregung des Vorstellens und Sinneslebens hält der Verf.
für einen wichtigen Bestandteil des künstlerischen Genießens. Die Erfüllung
des Bedürfnisses nach Betätigung in den Gehirnzentren wird als Lust, die
Nichterfüllung als Unlust empfunden. Der Verf. nennt diese Art des Er¬
lebens eine sehr primitive, »die sich jedoch nur gradweise, nicht wesentlich
vom künstlerischen Genießen unterscheidet«.
Neben diesen Tätigkeitsgefühlen unterscheidet der Verf.
2) Die »Formgefühle«, die ebenfalls mit dem Inhalt der Vorstellungen
nichts zu tun haben, sondern »infolge der besonderen Verknüpfung der
Einzelvorstellungen entstehen«. Dabei betont er, daß es eine abstrakte
Theorie ist. Kunstwerke nur nach der Form abschätzen zu wollen, weil das
Kunstwerk ein Zusamraenerleben von Inhalt und Form sei. Der Verf. zählt
nunmehr folgende Formprinzipien auf, welche die Tätigkeit der Vorstellung
zu der ästhetischen steigern:
a) Das »Prinzip der grüßten Anregungsfähigkeit«. Was er damit meint,
zeigt er an Goethes »Hochzeitslied«. Nicht der Inhalt, sondern die überaus
klaren und lebendigen Ausdrucksformen rufen eine ebenso große Lebhaftig¬
keit der Vorstellungen hervor und lösen das ästhetische Kunstgefühl ans.
b) »Die verschiedenen Kompositionsprinzipien.« In den bildenden
Künsten ist alle Komposition auf der einen Seite bestrebt, »dem Beschauer
einen möglichsten Reichtum an Vorstellungsmaterial zu überliefern und ihm
dabei doch zugleich eine möglichst geringe Anspannung des Geistes zu¬
zumuten«, auf der anderen Seite »strebt sie die Verwirrung deB Beschauers
an, um ihn sozusagen zu überwältigen«. In den zeitlichen Künsten sind es
die Prinzipien der Abwechslung und der Kontrastwirkungen, vor allem das
Prinzip der Steigerung, welche diese Formgefühle im ästhetischen Genießen
Vifirrn m*n fon
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160
Literaturbericht.
d) Das »Prinzip der Überraschung«, welches in der modernen Musik und
Dichtung sehr häufig angewandt erscheint
An zweiter Stelle betrachtet der Verf. die »assoziierten Vorstellungen
and reproduzierten Gefühle.« welche den Inhalt des ästhetischen Genießens
betreffen. Er verwirft die Scheidung in den direkten und assoziativen
Faktor, ebenso die Groossche Terminologie, welche zwischen »Verwachsung«
und »eigentlicher Assoziation« sondert; statt dessen scheidet er zwischen
objektiver und subjektiver Assoziation. Unter jener versteht er
»die durch den Gegenstand bedingte Assoziation, d. h. »jede zu einem ersten
Eindruck hinzutretende zweite Vorstellung, deren Binzutritt bei allen Men¬
schen, wenn nicht notwendig, so doch möglich ist,« unter dieser »eine nur
nach Gründen, die in meinem Einzelich liegen, hinzutretende zweite Vor¬
stellung«. Für die objektive Assoziation hält er die Verbindung des Ein¬
drucks des Feuchten mit der besonderen Art des Glanzes, für eine sub¬
jektive, »wenn ich bei einem Flußbilde an einen Abend denke, wo ich gerade
an dieser Stelle des Rheins, die ich wiedererkenne, übergefahren bin«. Solche
subjektive Faktoren müssen, wie die oben erwähnte Arbeit von Allesch
dartut, für eine wissenschaftliche Ästhetik ausgeschaltet werden. Daß derartige
Assoziationen Vorkommen und sehr häufig den Eindruck steigern können,
weiß jeder. Aber wo sollen die Grenzen des Ästhetischen gefunden werden,
wenn alle nur denkbaren Assoziationen in das Forschungsgebiet des Ästhe¬
tischen fallen. Die rein persönlichen Assoziationen gehören weder zu einer
allgemeinen Kunstlehre noch zu einer wissenschaftlichen Ästhetik und müssen
gerade bei jeder Analyse eines ästhetischen Eindrucks ausgeschaltet werden.
Mit dieser Forderung fällt natürlich die Scheidung des Verf. in objektive
und subjektive Assoziationen.
Zu den objektiven Assoziationen rechnet er die assoziativen Vorgänge,
die wir als Wahrnehmung oder »Gesamtvorstellung« bezeichnen: Bei einem
Eindruck aus einem Sinnesgebiet ergänzen wir Vorstellungen aus anderen
Sinnesgebieten infolge unserer Erfahrung zu einer Gesamtvorstellung. Bei
der Betrachtung der Gefühlstöne, die mit diesen Assoziationen verbunden
sind, bespricht der Verf. zunächst die »reproduzierten Gefühle, das heißt
diejenigen, die ^ich an die Vorstellung eines Dinges anknüpfen, weil sie
einst auch mit der Empfindung verknüpft waren«. Mit Recht bezeichnet er
die Art der Formalisten, welche solche Erlebnisse aus dem künstlerischen
Genießen ausschließen wollen, als extrem und irrig. Anders ist es mit den
Gefühlen, die an subjektive Assoziationen sich anschließen. Während der
Verf. das Hineinspielen der persönlichsten, zufälligsten Assoziationen und
der damit verknüpften Gefühle in den Kunstgenuß noch als künstlerisches
Genießen gelten läßt, wird eine wissenschaftliche Ästhetik nur diejenigen
Gefühlstöne als spezifisch ästhetische bezeichnen, die unmittelbar zum Kunst¬
genuß gehören, die sein Wesen unterstützen, welche in eindeutiger Weise
und notwendig an dem Kunstwerke selbst orientiert sind. Wenn es auch
praktisch nicht immer möglich ist, im Kunstgenuß die reine Anschauung,
das einheitliche Versenken zu erreichen, so werden wir doch nur diejenigen
Assoziationen und Gefühle als zu diesem Kunstwerk gehörig oder überhaupt
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als. künstleris«
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ische gelten lassen, welche der Beschaffenheit des Kunstwerks
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lerisches Genießen hemmen. Daß derartige Assoziationen das bloße Genießen
steigern können, leugnet niemand. Aber es ist eine Forderung der Erziehung,
den Kunstgenuß von solchen zufälligen Phänomenen frei zu halten. In
diesem Sinne möchte ich auch den Satz deuten, auf den der Verf. sichtlich
großen Wert legt: »Für die ganz stark künstlerische Wirkung ist nicht der
ganz unvoreingenommene, neutrale Zustand der Seele der beste Boden,
sondern dort werden die besten und stärksten Wirkungen entstehen, wo
schon latente verwandte Stimmungen vorhanden waren, die neue verstärkend
zu dem äußern Eindruck hinzukommen.«
Wenn der Verf. zum Schluß dieses Kapitels zugibt, daß manches von
dem, was er als KunstgefUhl geschildert habe, vor dem Kunsturteil nicht
bestehen könne, so ist dies gerade der Sinn meiner Kritik. Aber eine wissen¬
schaftliche Ästhetik vereinigt KunstgefUhl und -urteil unter ihrem Forschungs¬
gebiet. Sie hat die Aufgabe, zu zeigen, was unter gegebenen Bedingungen
als Reaktion eintritt, d. h. sie muß danach trachten, »die ästhetische Reaktion
als eine gesetzmäßige Funktion des Zusammentreffens gewisser seelischer
Verfassungen mit gewissen Vorstellungskomplexen oder Vorstellungsvor-
gängen heraus zu stellen« (siehe Allesch, a. a. 0. S. 536). Somit hat die
Aufzählung und Analyse der Kunstgefdhle für die Ästhetik nur dann Wert,
wenn diese Gefühle im Sinne einer wissenschaftlichen Ästhetik Wert haben.
Sonst gehören sie in das Gebiet der GefUhlspsychologie und haben mit der
Ästhetik nur sehr wenig zu tun.
An dritter Stelle behandelt Müller-Freienfels die nacherlebten und
zugefühlten Zustände, »kompliziertere Gefühle und Affekte, die irgendwie in
dem Kunstwerk, wenn auch nur scheinbar, gegeben zu Bein scheinen«. Es
gibt viele Zuschauer, welche im Theater die dargestellten Gefühle und Affekte
nicht »anschaulich«, sondern als wirkliche erleben. Dies ist nur ein Faktor
in all den verwickelten Formen des künstlerischen Geuießens. die nacherlebten
Gefühle und Affekte wirken als dynamische Tätigkeitsgefühle und Formge¬
fühle. Körperliche Haltungen und Bewegungen erregen vorzüglich jene Affekte
und Gefühle. »Die innere Nachahmung verstärkt ganz außerordentlich
die Wirkung der Gesichtsnachahmung«, aber »sie ist nicht ein unentbehrlicher
Bestandteil des künstlerischen Genießens«, »das beste Mittel jedoch, die
Eindrücke zu steigern und zu verstärken.« Eine Bereicherung und Vertiefung
des ästhetischen Genießens tritt ferner ein bei der »ZufUhlung«; damit be¬
zeichnet der Verf. jene Akte des Seelenlebens, welche wir vollbringen, »wenn
wir allerlei Stimmungen und Inhalte in tote Objekte einfühlen und sie so
beseelen«. Aber auch diese Zufühlung ist, wie der Verf. sagt, nicht wesent¬
lich und nicht unwesentlich für die ästhetische Freude. »Einen sehr großen,
wenn nicht oft den ausschließlichen Anteil an den Gefühlen, die wir zu an
sich toten Formen, Linien, Ornamenten, Melodien, Rhythmen usw. liinzufUgeu,
haben jedenfalls die organischen Einstellungen und Innervationen.«
An letzter Stelle behandelt der Verf. die Icbvorstellung im ästhetischen
Genießen. In diesen Erörterungen weiß er sich in Übereinstimmung mit
William James. Er unterscheidet zwischen Ichgefühl und IchvorBtclluug.
Das erstere ist aufs engste mit unserem Körper verbunden und begleitet
alle unsere psyc!
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ürlebnisse.
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Die Ichvorstellung ist eine Unterart
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Alle diese Arten des Ich sind im künstlerischen Genießen ausgeschaltet.
Mit dem theoretischen Denken hat das ästhetische Genießen das gemeinsam,
daß kein Übergang zum Handeln stattfindet. (Liegen auch keine Impulse
zum Handeln im ästhetisch tiefsten Erleben vor?) Weil die Ichvorstellnng
zurückgetreten ist. lokalisieren wir die Stimmungen im ästhetischen Verhalten
nicht in unseren Körper, sondern es scheint, als seien sie im Kunstgegen-
stand. Allerdings ist diese Lokalisation auch keine bestimmte.
So spielt die Ichvorstellung immer in das künstlerische Anschauen hinein.
Zwei Idealzustände des ästhetischen Verhaltens sind je nach der Stellung, die
man der Ichvorstellung einräumt, möglich: Die einen fordern ein voll¬
ständiges Zurückdrängen des Ich und ein Aufgehen im Objekt. Die so
genießen, nennt der Verf. »Mitspieler«. Die anderen verlangen, daß man
sich im ästhetischen Genuß stets seines Ichs bewußt bleibe. Diese heißt der
Verf. »Zuschauer«. Diese Zustände können auch in ein und derselben
Person wechseln, so daß dieselbe Person im Verlauf des ästhetischen
Genießens einmal Mitspieler, das andere Mal Zuschauer ist
Diese kurze Inhaltsangabe der Müller-Freienfelsschen Arbeit läßt
schon auf einen reichen und ergebnisvollen Gehalt schließen. Wenn ich
auch stets die Forderungen, die eine allgemeine Ästhetik in diesen Phäno¬
menen stellen muß, betonte, so sind doch die guten Beobachtungen und
Qualifizierungen der einzelnen GefUblsphänomenc zu schätzen.
Dr. Heinrich Wirtz (Bonn).
8; Jacob Segal, Psychologische und normative Ästhetik. Zeitschrift für
Ästhetik und allgem. Kunstwt. II, 1. S. 1—25.
Verf. faßt Normen als Begleit- oder Folgeerscheinungen des Selektions¬
vorganges. Daraus resultiert ihre Zweckmäßigkeit und Allge¬
meinheit. Die dritte wesentliche Eigenschaft der Normen ist ihre
»Transgredienz«, d. h. sie brauchen nicht unmittelbar, spontan verwirk¬
licht zu sein; sie sind auf das Fernere gerichtet. Viertens sind Normen
immer Vorschriften. Verf. zeigt nun, daß das ästhetische Verhalten die
Bedingungen nicht aufweist, an welche Normen geknüpft sein können. Die
Unmittelbarkeit des ästhetischen Genusses widerstreitet der Transgredienz
und dem Vorschriftcharakter der Norm; da der Genuß selbst das letzte Ziel
ist, so kann er nicht dem Gesichtspunkt des Zweckes untergeordnet werden,
und schließlich braucht, was, ohne der Gesellschaft oder dem einzelnen
Schaden bringen zu können, vor sich geht, auch nicht bindend und allge¬
meingültig zu sein. Die Normen können also in der Ästhetik gar nicht an¬
gewendet werdeu.
Verf. bespricht sodann die Versuche zur Begründung der normativen
Ästhetik von Windelband, Cohn und Volk eit. Die »Norm« des letzteren
weist er treffend als eine nur in andere Worte gefaßte psychologische Ge¬
setzmäßigkeit nach. Die entscheidende Frage, die der Werturteile, löst er.
zugunsten der psychologischen Ästhetik, in völlig imperatorischer Weise:
»Das ästhetische Werturteil ist für die psychologische Ästhetik nur ein
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anderen. Analysiert aber wird nicht das Merkmal, sondern der seelische
Verlauf und die Zusammensetzung des seelischen Erlebnisses« (S. 23/24).
Zur Kritik dieses psychologistischen Standpunktes sei auf die Darlegungen
von Meumann 1 ) hingewiesen.
Edith Landmann-Kalischer (Basel).
9) Dr. Käte Friedemann, Die Rolle des Erzählers in der Epik Unter¬
suchungen zur neueren Sprach- und Literaturgeschichte. Heraus¬
gegeben von Professor Dr. Oskar F. Walzel. Neue Folge.
VII. Heft. 245 S. Leipzig, Haessels Verlag, 1910. M. 4.60.
Die vorliegende Arbeit, eine erweiterte Berner Dissertation, ist aus der
Walzelschen Schule hervorgegangen, der wir bereits mehrere Arbeiten aus
dem Grenzgebiete der Literaturgeschichte und Literarästhetik verdanken.
Vor diesen zeichnet sie sich durch die Allgemeinheit ihrer Problemstellung
und dadurch aus, daß sie den ästhetischen Gesichtspunkt streng festhält.
Mittels einer formal-ästhetischen Art der Betrachtung, deren Fruchtbar¬
keit auf dem Gebiete der bildenden Kunst bereits erprobt ist, sucht Verf.
das Gesetz der epischen Dichtung zu bestimmen. Sie sieht den Unterschied
von Drama und Epos nicht in einem besonderen Stoffgebiet, sondern in der
besonderen Art, in der ein Stoff angeschaut wird. »Der Gattungsunterschied
zwischen epischer und dramatischer Dichtung besteht darin, daß uns im
EpoB die Geschehnisse nicht direkt, sondern durch ein (organisch mit der
Dichtung selbst verwachsenes) Medium übermittelt werden.« Die erzählende
Dichtung, die den Erzähler de facto voraussetzt, soll ihn eben deshalb
auch künstlerisch zum Ausdruck bringen. Man könnte sagen, es sei,
aufs Poetische übertragen, die Sempersche Forderung der Materialechtheit,
die hier erhoben, der Begriff der ästhetischen Wahrhaftigkeit, der hier zum
Bewußtsein gebracht wird. Modernen Tendenzen gegenüber, die auf Ver¬
wischung der Gattungsunterschiede gehen, und die theoretisch bei Spiel -
hagen zum Ausdruck gekommen sind, hebt Verf. das Spezifische der
Gattung hervor und schließt sich damit an die Tradition des 18. Jahrhunderts,
Goethes und der Romantiker an. —
Wie alle der Erzählung eigentümlichen Mittel auf den Erzähler hin¬
deuten, dies wird nun an den einzelnen Problemen der Romantechnik dar¬
gelegt. Wie ordnet der Erzähler, im Unterschiede vom Dramatiker, seinen
Stoff an, welches ist die epische Art, das Gleichzeitige und das Nach¬
einander zu geben (Verschiebung der Chronologie), wie führt der Epiker
seine Personen ein. wie charakterisiert er sie, wie gibt er den Dialag, wie
schildert er Räume, Landschaften, Situationen, das Äußere der Personen,
wie erschließt er das Seelische? Man sieht, es sind ebenso umfassende wie
schwierige, ebenso wichtige wie bisher vernachlässigte Fragen, deren syste¬
matische Durcharbeitung die Verf. unternimmt. Es kann nicht wunde r-
nehmen, wenn ein solcher erster Versuch der Aufgabe nicht überall
gerecht wird. Die Schwierigkeit lag zum Teil schon in der Auswahl des
Materials. Verf. hat die natürlich unerreichbare Vollständigkeit durch große
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Reichhaltigkeit zu ersetzen versucht. Aber vielleicht hätte eine geringere
Reichhaltigkeit, eine Beschränkung auf wenige charakteristische Werke der
Weltliteratur die Grundlinien der Erzählungatechnik und ihre historischen
Typen klarer hervortreten lassen. Indessen: noch die bunte Heranziehung
des Ältesten und Neuesten, des Bedeutenden und Ephemeren bestätigt das
der Erzählungsform als solcher immanente Gesetz. Daher stellt das Buch
nach Fragestellung wie Resultat einen äußerst wichtigen Vorstoß im Gebiete
der Poetik, speziell der Ästhetik des Romanes dar.
Edith Landmann-Kalischer (Basel).
IOj Erich Becher, Die Grundfrage der Ethik. Versuch einer Begründung
des Prinzipes der grüßten allgemeinen GlückseligkeitefÜrderung.
Köln, Verlag der M. Dumont-Schaubergschen Buchhandlung, 1908.
M. 3.Ö0; geb. M. 4.60.
Verf. geht von einer intuitiven Gewissensethik aus. Seine Frage lautet:
Wie sollen wir handeln? Seine Antwort: Wie das Gewissen will! Da nun
aber die Gewissensaussagen sich widersprechen künnen, so fordert er, um
sie zur Übereinstimmung zu bringen, eine gründliche Durcharbeitung der¬
selben: eine Rationalisierung des Gewissens. Im rationalisierten Gewissen
sollen alle seine einzelnen Forderungen aus einem höchsten Ziele alles
Handelns abgeleitet werden. Verf. kommt so zu einer interessanten, wohl
zu akzeptierenden Verschmelzung von intuitiver Ethik und Zielethik. Indessen
wird die durch diese Konstellation nahegelegte Formung der Gewissens¬
aussagen aus einem »wirren Aggregate« zu einem »wohlgebauten organischen
System« vom Verf. nicht durchgefiihrt. Vielmehr Bteht ihm als Resultat der¬
selben der Benthamsche Satz von der universalen GlUckseligkeitsflirderung
von vornherein fest. Was er zur Begründung des Satzes anführt, bezieht
sich mehr auf die formalen Schwierigkeiten seiner Durchführung: Vergleich¬
barkeit verschiedener Lüste und Unlüste — Vorausberechnung des Erfolges
einer Handlung — Möglichkeit des ethischen Fortschritts u. dgl. Erwähnt sei,
daß Verf. nach indischem und englischem Vorbilde seine Forderung auch auf
die Tiere ausdehnt. Gegner des Utilitarismus zu überzeugen, liegt nicht in
seiner Absicht. Vielmehr nimmt er mit den englischen Utilitaristen die
Unbeweisbarkeit des obersten ethischen Prinzipes an.
Edith Landmann-Kalischer (Basel).
11) Robert Sommer, Familienforschung und Vererbungslehre. Mit
16 Abbildungen und zwei Tabellen. 225 S. Leipzig, Verlag von
J. A. Barth, 1907. M. 9.— ; geb. M. 10.—.
Aus der Feder Sommers ist mit diesem Buche ein Werk hervorgegangen,
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liehen Teil ihrer ärztlichen Aufgabe vernachlässigt und jenes Moment in
einem oft deprimierenden Umfange in das allgemeine soziale Leben
hinüberreichen läßt. Wenn eine solche Auffassung und Darstellung abnormer
Phänomene bis zu einem gewissen Grade wissenschaftlich und logisch fest¬
gehalten werden darf, so hat sie doch ihre Grenze. Dieselbe ist oftmals
überschritten worden und hat zur Beunruhigung des natürlichen Empfindens
weiter Kreise geführt, dabei aber gleichzeitig auch zur Diskreditierung der
Psychiatrie beigetragen. Einen hervorragenden Platz unter den Arbeiten,
die diesen gefährlichen Tendenzen entgegenarbeiten, nimmt Sommers
Werk ein. Er tritt heraus aus dem engen und den Sinn verengernden
Kreis rein psychiatrischer Fachwissenschaft und betritt das weite Feld
psychologischer, biologischer, physiologischer Betrachtung der
Vererbungserscheinungen. Ein Forscher, der die Fehler seiner Fach¬
wissenschaft erkannt hat, erscheint besonders qualifiziert, die schädlichen
Folgen zu bekämpfen und zu beseitigen, die aus der erwähnten einseitigen
Darstellung von pathologischen Vererbungstatsachen entstanden sind.
Allerdings dürfen diese Sätze nicht so verstanden werden, als ob die
Wirkung degenerativer Pänomene von dem Verf. übersehen oder vernach¬
lässigt würde. Dem ist nicht so. Die Kap. 4 und 6 (Psychopathische Be¬
lastung und Degeneration. Kriminalität und Vererbung) erkennen diese Tat¬
sachen an und verfechten sie sogar in einigen Punkten, in denen sie von
anderen Forschern bestritten worden sind. Aber bereits hier wird die Kraft
der Vererbung degenerativer Eigenschaften auf das Maß zurück geführt, das
ihnen objektiv zukommt. Gewisse organische Gehirnkrankheiten, wie Para¬
lyse. Tumoren oder chronische Intoxikationen, wie Alkoholismus, Morphinis¬
mus u. ä. können nur znm Teil und in bestimmten Fällen überhaupt nicht
als Belastungsmomente aufgefaßt werden. Infektion und äußere Zufällig¬
keiten spielen sehr häufig und manchmal allein die Rolle der Ursache. Aber
selbst da, wo psychische Abnormitäten die unzweifelhafte Folge einer un¬
heimlichen Kraft der Vererbung sind, selbst da ist es, wie dargetan wird ?
verfehlt, nun dem verderblichen Wirken degenerativer Kräfte hoffnungslos
zuzusehen. Vielmehr liegt in der Erkenntnis dieser Kräfte auch die aus¬
sichtsvolle Möglichkeit ihrer Bekämpfung. Denn die Vererbung be¬
schränkt sich nicht nur auf das Gebiet des Pathologischen, sondern sie ist
ein allgemeines Naturgesetz. Wie pathologische Eigen¬
schafte n vererben sic h auch physiologische. Der Degeneration
steht die Möglichkeit der Regeneration und die Möglichkeit^
diese zu leiten, gegenüber. In der Aufstellung dieses Satzes liegt der
hohe soziale und moralische Wert des Werkes. Mit der gleichen Deutlich¬
keit hat meines Wissens kein anderer moderner Forscher auf diesen für die
Entwicklung unserer Gesellschaft so wichtigen Umstand hingewiesen und
ihn einleuchtend dargetan. Im 13. Kapitel gibt Sommer die Darstellung
der »Geschichte einer bürgerlichen Familie vom 14. bis 20. Jahrhundert«.
Aus ihr geht hervor, daß bestimmte Eigenschaften sich im Laufe der Gene¬
rationen nicht nur erhalten, sondern weiter entwickelt werden, so daß das
Endergebnis eine Steigerung der gesamten inneren Kräfte einer Familie ist.
Über den vorliegenden Fidl
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11 wird weiter nnten nnnli einiorea 7.11
reden Sein.
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Literaturbericht.
Buche gelüst wird. Im Jahre 1908 hat Sommer im Verlage von J. A.
Barth eine Studie über »Goethe im Lichte der Vererbungslehre« heraus-
gegeben. Es zeigt sich dabei, daß die Grundeigenschaften, aus denen sich
das Genie Goethes entwickelt, bereits in der Ahnenreihe des Dichters so¬
wohl auf Muttere- wie auf Vatersseite mit verschiedener und unterbrochener
Intonsität vorgebildet waren. Die hauptsächlichsten Talente, die Goethe
auszeichnen, stammen von mütterlicher Seite, und zwar von der Linie der
Mutter der Frau Rath, die eine geborene Lindheimer aus Wetzlar war. Da¬
gegen sind wuchtige männliche Charaktereigenschaften, »des Lebens ernstes
Führen«, offenbar tatsächlich von der Vatereeite ererbt, in dessen Aszendenz
sich das Bestreben zeigt, allmählich auf der sozialen Ranglinie in die Hühe
zu steigen. Es würde mich zu weit führen, auf den Fall Goethe des ge¬
naueren einzugehen. Da er aber ein vorzügliches Beispiel des Spiels der
Vererbungskräfte bietet, so habe ich ihn an diesem Punkte gerne erwähnt
und empfehle die Lektüre dieses kleinen Buches aufs wärmste.
Ich wende mich zur Besprechung der wissenschaftlichen Seite des vor¬
liegenden Buches. Im wesentlichen sieht es seine Aufgabe darin, die Me¬
thoden zu entwickeln, die für die Erforschung der Vererbung geeignet
sind. In dem Titel ist bereits zum Ausdruck gebracht, in welcher Richtung
sich diese Methoden betätigen. Wenn man sich bisher nach Erkenntnis der
Tatsache, daß es Vererbungserscheinungen im sozialen Leben gibt, nur der
Statistik bediente, um jenen auf die Spur zu kommen, so liegt das Originelle
der Sommerschen Methode eben darin, daß es mit Hilfe der Familien¬
forschung der Genese der individuellen Charaktereigenschaften nachgeht,
mögen diese nun pathologischer oder krimineller oder physiologischer Natur
sein. Der Autor stellt sich demnach die Aufgabe, »die beobachtende
Psychologie, als deren wesentliches Hilfsmittel die experimentelle
Untersuchung bestimmter Personen erscheint, mit der naturwissen¬
schaftlichen Entwicklungslehre in engste Berührung zu bringen, um
die Vererbungs- und Variationserscheinungen menschlicher Fa¬
milien methodisch zu untersuchen, aus deren Beschaffenheit im letzten Grunde
alle Gesellschaftsentwicklung entspringt. Nur aus der Vereinigung
entwicklungsgeschichtlicher, psychologischer und sozio¬
logischer Untersuchung kann ein richtiger Einblick in die Beziehung
der menschlichen Familie zur Kulturgeschichte gewonnen werden.«
Die einzelnen Tatsachen auf dem Gebiete der Vererbung werden in
folgendem Gedankeugange erörtert. Die Persönlichkeit erscheint als
Produkt von Anlage und Erziehung, die Anlage ist das Endergebnis
der Vererbungskräfte, die bereits in früheren Generationen wirksam gewesen
sind oder sich in diesen allmählich entwickelt haben. Um zur Erkenntnis
der Anlage zu gelangen, ist es nötig, von den Eigenschaften des Individuums,
die auf ihr beruhen, diejenigen zu trennen, die die Erziehung im weiteren
Sinne, d. h. das gesamte Milieu erzeugt hat, in dem ein Mensch gro߬
geworden ist und lebt. In vielen Fällen sind die Wahl des Berufes und
die Leistungen, die ihm vollbracht werden, wichtige Hilfsmittel zur Er¬
forschung des Charaktere. In vielen anderen Fällen aber besteht ein Miß-
---' -örfttraHtftrt-*— T S - L
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gäbe, nämlich die, daß der Beruf unter Maßgabe der individuellen Be¬
fähigung gewählt werde, da nur auf diese Weise eine größtmögliche Leistung
vom Individuum erwartet werden kann (Kap. 1). — Die Anlage ist nun ein
Produkt der Vererbung, eine Folge bestimmter Eigenschaften, die bei Indi¬
viduen der Ahnenreihe vorhanden gewesen sind, und gebunden an die
spezifischen Eigenschaften der Keimzellen, aus denen das Individuum
entstanden ist, und welche die eigentlichen Träger aller Vererbungskräfte
sind. Nur diejenigen Anlagen, die in ihnen vorgebildet sind, können beim
Individuum zur Entwicklung kommen (Kap. 7: Vererbung, Entwicklung und
Züchtung). Daß nun aber den Keimzellen diese Aufgabe zukommt, ist der
Ausdruck des Naturgesetzes von der Variation der Art. Die Ursachen
dieser Fähigkeit des Variierens sind teils exogener, teils endogener
Natur. »Die Variation ist, abgesehen von äußeren Momenten, eine imma¬
nente Eigenschaft der Arten. Um beide Momente, nämlich einerseits die
Veränderlichkeit der Arten, andererseits die inneren Ursachen vieler
Variationen, gleichmäßig hervorzuheben, sprechen wir von endogener
Variation.« Unter dem Gesichtspunkte der Zweckmäßigkeit und in be¬
sonderer Beziehung auf das Leben des Menschen kommt Sommer zur Ein¬
teilung aller Variationserscheinungen in vier Gruppen. Er unterscheidet
1) pathologische, d. h. dem Individuum schädliche; 2) kriminelle, d. h. dem
Leben der Gesellschaft schädliche; 3) indifferente; 4) artsteigernde, d. h.
der Weiterentwicklung der Gesellschaft förderliche. Sehr häufig ist die Er¬
kenntnis, in welche dieser Gruppen bestimmte Anlagen einzelner Menschen
einzureihen sind, sehr schwer und vielleicht unmöglich. Merkwürdigerweise
gilt dies gerade von den artsteigernden Anlagen. Indem nämlich die endo¬
gene Variation in ihrem Manifestwerden bei einem bestimmten Menschen
ganz und gar selbständig wirkt, treten viele solcher an sich artsteigernden
Anlagen bei Menschen in Erscheinung, deren Epoche oder äußere Verhält¬
nisses nicht zu solchen Eigenschaften passen. Den Abschnitt, der diesen
für jeden denkenden und an dem Fortschritt der Gesellschaft herzlich be¬
teiligten Menschen von hoher Aktualität ist, setze ich gern wörtlich hier
hin: »Diese (die artsteigernden Abarten) werden vermöge ihrer angeborenen
Abweichung vom Durchschnitt der herrschenden Art häufig als pathologisch
angesehen, indem der Begriff des Abnormen mit dem des Krankhaften ver¬
wechselt wird, manchmal auch als kriminell, insofern aus der Anlage, die
den Kern einer zukünftigen Entwicklung bildet, Handlungen hervorgehen,
die den Anschauungen und Gesetzen einer Zeit widersprechen. Trotz dieser
symptomatischen Ähnlichkeit mit dem Kriminellen und Pathologischen sind es
die artsteigernden Variationen, auf welchen der Fortschritt der Menschheit
beruht. — Diese Auffassung gewährt nun einen Einblick in das tragische
Schicksal vieler bahnbrechender Menschen, die von ihrer Zeit für Geistes¬
kranke oder Verbrecher gehalten werden, während nach ihren Gedanken sich
dio Zukunft gestaltet. Ilierker gehört das innere Elend, das alle Belbstän-
«1!—. TA L«« A -U — „ st _ _ :i_ TJ_Ol»_rmoKdf
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Literatnrbericht.
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seele finden, welche Bie völlig 1 versteht und durch Mitgefühl und seelische
Hilfe die gestaltende Kraft des artsteigernden Menschen erhält. — Wenn
diese Variationen im übrigen mit Eigenschaften verbanden sind, die dem
Milieu angepaßt sind, so daß ein soziales Vorwärtskommen möglich ist, so
ist dies der günstigste Fall; schlimmer ist es, wenn gleichzeitig mit art¬
steigernden Eigenschaften Züge vorhanden sind, die das Fortkommen in
dem vorhandenen Milien hemmen oder zu tatsächlichen Kollisionen mit den
Mächten der Zeit führen. Dann entstehen tragische Persönlichkeiten, wie
Giordano Bruno, Savonarola, Hnß, Kepler, die durch ihre Zeit zu¬
grunde gerichtet werden, während sie in einer anderen, vielleicht zum Teil
durch sie selbst bedingten, sich ungestört hätten ausleben können. Das
gleiche gilt für ganze Generationen, die für ein Ideal kämpfen nnd zugrunde
gehen, wie viele Schwärmer für die deutsche Einheit, während ihre Gedanken
einige Jahrzehnte darauf zur staatlichen Organisation geworden sind. Im
Sinne unserer Betrachtung handelt es sich hierum artsteigernde Variationen,
die in ihrer Zeit vielfach für kriminelle Umstürzler oder pathologische
Schwärmer gehalten worden sind. — Bei der Untersuchung der menschlichen
Gesellschaft muß man also neben der passiven Anpassung durch Unter¬
drückung der nicht zu einem bestimmten Milieu passenden mit den art¬
steigernden Formen bei den endogenen Variationen rechnen, um die Ge¬
schichte der Menschheit richtig zu verstehen. Diese ist im Grunde ein fort¬
währender Kampf der Mehrheit gegen die Minderheit der artsteigernden
Individuen gewesen, der offen und geheim, bewußt und unbewußt geführt
wird. Sehr viele gehen hieran zugrunde, bevor die von ihnen vertretenen
Ideen zur Herrschaft gelangt sind, deren Anhänger nun leider oft ihrerseits
den Kampf gegen die neuen weiterbildenden Variationen führen. Untersucht
man das Aufkommen von bestimmten Ideen und Richtungen in der mensch¬
lichen Kulturgeschichte genauer, so ergibt sich stets, daß dieselbe aus be¬
stimmten Naturanlagen hervorgehen. Diese sind aber nichts anderes als die
Zweige an bestimmten Familienstammbäumen, die allerdings insofern neben
der endogenen Ursache eine exogene haben, als bestimmte Zeitumstände ihr
Wachstum begünstigen, während andere sie hemmen.« — Die Züchtung
solcher höherwertigen Zweige ist also eine wesentliche Aufgabe, die er¬
wächst, wenn die Erkenntnis der Bedingungen, unter denen dies möglich ist,
weiter fortgeschritten sein wird. Dabei ist der Verf. der Meinung, daß
höchstwahrscheinlich bestimmte Arten erworbener Eigenschaften ebenso ver¬
erbt werden können, wie die endogen durch die Eigenart des Keimplasmas
entstandenen. Die Gesetze allerdings, nach denen exogene und endogene,
angeborene oder erworbene Eigenschaften sich vererben, liegen noch fast
ganz im Dunkeln (Kap. 8: Vererbungsgesetze). Es fehlt noch an genügenden
Beobachtungen aus der freien Natur in dieser Richtung oder planmäßigen
Versuchen über diese Fragen, aus denen man allgemeingültige und nament¬
lich auf die hier interessierenden Fragen anwendbare Gesetze ableiten könnte,
so daß wir auf diesem Gebiete nur einzelne Vererbungstatsachen oder
im beBten Falle Vererbungsregeln feststellen können.
Es ist daher eine wesentliche Aufgabe für den Forscher, Methoden
auszubilden, die den Weg durch das Labyrinth der Vererbungserscheinungen
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dürfte. Namentlich die Methode der Aufstellung von Stammbäumen in der
Form, wie sie bisher allein geübt worden ist, kann einen Anspruch auf Ver¬
wertbarkeit für die Zwecke der wissenschaftlichen Erforschung von Ver¬
erbungserscheinungen nicht erheben, weil bei ihr das für die Vererbung
außerordentlih wichtige weibliche Element zugunsten der männlichen Träger
des Familiennamens vernachlässigt wird. Sommer selbst ist es nun ge¬
lungen, ebenso geistreiche wie brauchbare Formeln za finden, mit deren
Hilfe man sowohl die nach oben führende Ahnen reihe, wie die nach
unten führende Deszendenzreihe einer Person and den Bestand einer
Familie in einer bestimmten Generation mit großer Leichtigkeit erkennen
kann. Vor allem gelingt es, an der Hand der für diese Methoden gegebenen
Schemata selbst die verwickeltsten verwandtschaftlichen Beziehungen sofort
richtig zu formulieren and zu begreifen (Kap. 3). Die speziellen Methoden
der Farnilienforschnng (Kap. 9} findet Sommer in dem Studium von
Urkunden (Geburtsschein und Taufschein}, von Werken eines bestimmten
Farailiengliedes oder einer Vielheit von Familiengliedern, da aus ihnen be¬
stimmte Neigungen, Talente und Leistungen, also psychologische Kräfte,
erkennbar werden, im Studium von Familiennamen und Grabdenkmälern, im
Studium und in der Weiterbildung des Wappenwesens (Konstruktion einer
»Ahnenuhr«). Der Familienforschnng stellt sich zur Seite die Untersuchung
der einzelnen Individuen. Sie ist einerseits eine körperliche und hat
auf alle charakteristischen anatomischen Merkmale eines Individuums oder
mehrerer derselben Familie angehörender Individuen acht zu haben, anderer¬
seits eine psychologische und erstreckt sich auf Affektzustände, Talente,
motorisches Verhalten u. dgl. Selbst erprobt hat Sommer die Brauch¬
barkeit seiner Methoden durch die Untersuchung einer bürgerlichen Familie,
deren Geschichte vom 14. bis zum 20. Jahrhundert von ihm mit Genauigkeit
verfolgt worden ist. Es ist ihm gelungen, an diesem Beispiel darzutun, wie
bestimmte Familiencharaktere selbst Jahrhunderte hindurch festgehalten
werden, und wie bestimmte Neigungen und Talente in den verschiedensten
Epochen und bei den verschiedensten Mitgliedern einer Familie immer
wiederkehren. Die Methoden, die bei diesem Unternehmen angewandt
wurden, sind im wesentlichen diejenigen, die oben skizziert wurden.
In logischer Fortführung des Entwicklungs- und Vererbnngsgedankens
kommt Sommer zur Formulierung des Begriffes des natürlichen Adels
(Kap. 16). Dieser ist im wesentlichen bei jedem Individuum vorhanden,
welches artsteigernde Eigenschaften besitzt und weiterentwickelt, und
findet sich demnach »in allen Ständen ziemlich gleichmäßig und zwar in der
Minderzahl«, eine Auffassung, die allerdings »weder den Anforderungen des
sozial immer noch in vielen Punkten herrschenden Erbadels noch denen
einer sozialistischen Demokratie entspricht, so daß sie zurzeit wenig
Aussicht hat, von diesen gesellschaftlichen Interessengruppen aufgenommen
und gefördert zu werden. Aber wenn sie naturwissenschaftlich richtig ist,
wird sie sich auf die Dauer behaupten und zur Grundlage werden, auf welcher
die Verbesserung der menschlichen Rasse geschehen kaun. —
Das W esen des Edlen besteht im Grunde darin, daß auf dem Boden
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hervorgegangen sind, welche Leistungen im Interesse der mensch¬
lichen Gesellschaft hervorgebracht haben. Nicht Stand oder Reichtum,
in den ein Mensch hineingeboren wird, sondern eine soziale Leistung ist
das Kriterium, mit welchem sein Adel gemessen werden soll. Zeigen sich
solche Eigenschaften durch Generationen, so mag man das Geschlecht ein
edles nennen, solange es derartige Individuen hervorbringt.«
Dannenberger (Goddelau [Philippshospital]).
12) Max Lüwy, Stereotype »pseudokatatone« Bewegungen bei leichtester
Bewußtseinsstörung (im »hysterischen« Ausnahmezustände). Zeit¬
schrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie. 1910. Bd. I.
Heft 3. S. 330 ff.
Der Verf. erörtert einige Beobachtungen, Fälle von Erregungszuständen
mit Bewegungsstereotypien, und analysiert sodann einen Fall mit »stereo¬
typen«, nichtkatatonen, d. h. nicht durch Dementia praecox begründeten Be¬
wegungen. Aus der Analyse des Falles schließt er:
1) Daß die sogenannten katatonenähnlichen Bewegungen auch der Mo¬
tilität des Gesunden nicht ganz fremd sind; daß auch ohne »Motilitäts¬
psychose«, ohne eine grundlegende Erkrankung des motorischen Systems
und ohne daß ein Demenzprozeß vorliegt, beim Gesunden wie bei Psycho¬
pathen stereotype Bewegungen auftreten können.
2, Vielleicht entspringen solche stereotype Bewegungen einer gewissen
unbestimmten Unruhe mit Versunkenheit — oder ein andermal der erregten
Flucht nicht genauer gefaßter Gedanken bei gleichzeitiger Erregung und Ab¬
sorption durch einen stark affektbetonten Gedankengang, welcher den ganzen
Zustand auslöst.
In beiden Fällen entstehen Pansen in der oberschwelligen Abwicklung
der Gedanken. — Diese entsprechen teils einer wirklichen Ablaufspause im
klaren Denken (Gedankenleere nennen es manche Patienten), teils einem
stärkeren, verwirrenden, von Unruhe begleiteten Hervortreten nicht genau
bemerkter Gedankenelemente »der Gedankenatmosphären«, wie mir ein
Patient diese assoziierten Begleiter des Hauptgedankens bezeichnete. So¬
wohl als automatische Füllsel der Ablaufspausen beim Fortbestehen nach
motorischer Entladung drängender Unruhe, Erregung oder Angst, wie auch
als Mitbewegungen für an der Grenze des Bemerkens gelegene Gedanken¬
atmosphären könnten diese stereotypen Bewegungen aufgefaßt werden. Die
erstere Auffassung solcher stereotyper Bewegungen als »automatische Füllsel
in Ablanfspausen des Denkens« scheint mir mehr für sich zu haben. (Inwie¬
weit die geschilderten Auffassungen etwa auch für »echt katatone« Be¬
wegungen bei Dementia-praecox-Kranken in Betracht kommen, bleibe hier
unerörtert.) E. Meumann (Leipzig).
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Literaturbericht.
171
weis der besonderen Natur der Komponenten des Persönlichkeitsbewußtseins
dient. Der Fall selbst ist so verwickelt, daß wir ihn hier nicht im einzelnen
analysieren können, es seien aber die wichtigen Ergebnisse wiedergegeben,
die der Verf. aus seinen Beobachtungen ableitet. Bemerkt sei noch, daß
der Verf. sich ausführlich mit anderen Vertretern der Psychologie der Persön¬
lichkeit auseinandersetzt, besonders mit Störring, den Löwy mit Recht
als den eigentlichen Entdecker des Aktivitätsgefdhls bezeichnet, und mit
Oesterreich. Bemerkenswert ist an dem Fall noch, daß Löwy keine tiefer¬
greifende Anästhesie der inneren Organe bei der Patientin annimmt. Über
die Beziehungen der inneren Empfindungen zum Selbstgefühl scheint mir
aber der Verf. etwas zu leicht hinwegzugehen (vgl. die Ausführungen S. 43 ff.).
Die Hauptergebnisse seiner Analyse faßt der Verf. so zusammen:
»1) Es gibt eine besondere Form von Gefühlen, die Aktionsgefühle. Diese
bedeuten unsere ,Aktivität 1 und beziehen sich auf das psychische Agieren
als solches, d. h. sie haben das psychische Geschehen, unbekümmert um
seinen jeweiligen Inhalt, zum Gegenstände. Sie beziehen sich nicht auf den
Denkinhalt, nicht auf das Gedachte, sondern auf den Denkvorgang, auf das
Denkgeschehen. Sie sind unabhängig von dem, was gedacht wird, wahr¬
genommen, gefühlt wird, und beziehen sich eben nur darauf, daß gedacht,
wahrgenommen und gefühlt wird. Sie sind aber nicht etwa eine Lust oder
Unlust am psychischen Agieren, am Denkvorgang, ebensowenig wie eine
Lust oder Unlust am Denkinhalt; sondern sie sind eine andere Form des
Interessenehmens, ein allgemeines Zuwenden des Interesses, und in ihrer
Hauptform, dem Denkgefühl, überdies ein Zuwenden zum Allgemeinsten, zu
dem psychischen Geschehen überhaupt, zum Denkgeschehen als solchem.
Die AktiousgefUhle sind die allgemeinste Form des ,Gefühlsmäßig-psychisch-
tätigseins 1 , des Interessenehmens, Bie sind sozusagen das Interessenehmen
schlechtweg.
2) Es gibt verschiedene Formen der Aktionsgefühle. Sie haben nämlich
sowohl das allgemeine psychische Geschehen wie die verschiedenartigen
speziellen Formen der psychischen Akte zum Gegenstände. Es gibt ein all¬
gemeines Gefühl der psychischen Aktion, das Gefühl, psychisch tätig zu
sein, das Gefühl des psychischen Agierens schlechtweg: ich nenne es das
Aktionsgefühl des psychischen Geschehens überhaupt oder das Denkgefühl.
Dieses Aktionsgefühl der intellektuellen Tätigkeit ist eben das hauptsäch¬
liche Aktionsgefühl, es begleitet in der Norm jeden psychischen Akt, es
kommt jedem psychischen Akt als solchem zu (unbekümmert um seinen
Inhalt), es deklariert uns vor allem, daß die Gedanken unser Produkt sind,
charakterisiert sie als von uns erzeugt, als unsere eigenen Gedanken, und
weiter als eben erzeugt, gegenwärtig, neu und vorhanden. Es gibt ihnen
aber auch ihre überzeugende Kraft und Gewißheit.
Daneben bestehen noch andere Aktionsgefühle. Diese sind nicht etwa
einfach die Anwendung des allgemeinen Denkgefühls auf die verschiedenen
Arten psychischer Tätigkeit; denn sie können bei einem bestimmten psychi¬
schen Akt vorhanden sein, während das allgemeine Denkgeftilil fehlt, oder
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genommene gegenüber den bloß vorgeatellten, den Phantasievorstellungen;
es liefert zugleich das Realitätsbewußtsein für die Objekte der Wahrnehmung,
es ist der Grund dafür, daß wir die Gegenstände der Außenwelt alB wirk¬
lich ansehen. 'Bei seinem Fehlen erscheinen die Farben, Töne fern und
fremd, die Dinge unwirklich, wie von einer anderen Welt) Das Perzeptions-
geflihl für die Vitalempfindung gibt uns erst das volle Wissen vom Körper,
dessen Kenntnis zwar die Vitalempfindung selber vermittelt; aber dieses
Perzeptionsgefühl, das Aktionsgefühl beim Perzipieren der Vitalempfindung
ist der Träger der sicheren Überzeugung von der Existenz unseres Körpers,
es garantiert uns unsere leibliche Existenz, wie das Denkgefühl unsere gei¬
stige. Das Impulsgefühl, jenes Aktionsgefühl, welches den Bewegungsimpuls
begleitet, charakterisiert die Bewegung nicht nur als von uns ausgehend,
von uns gemacht, sondern auch als in willkürlicher Ausführung befindlich,
d. h. als nicht bloß vorgestellt oder gewünscht, sondern als gewollt (Dabei
ist dieses Aktionsgefühl natürlich nicht etwa das Wollen der Bewegung, der
Impuls selber, es kann fehlen bei ungestörtem Impuls.) Das Aktionsgefühl
beim Gefühlsmäßigtätigsein, ,FUhlgeführ möchte ich es nennen, gibt erst
den Gefühlen ihren vollen Klang und ist jenes Moment, welches das Sich-
fühlen im Fühlen bewirkt. Bei Beinern Fehlen behaupten die Kranken, sie
hätten kein Gefühl, könnten nicht fühlen und sich nicht interessieren, natür¬
lich genau mit demselben Recht, wie sie beim Fehlen des Denkgefühls er¬
klären, sie hätten keine Gedanken, könnten nicht denken, dächten überhaupt
nicht.
Auf Grund dieser meiner Feststellung von dem Nebeneinanderbestehen
bei jedem psychischen Akte sowohl eines allgemeinen Aktionsgefühls als
des hauptsächlichen und eines speziellen für verschiedene Arten von Akten
verschiedenen Aktionsgefühls, von denen unter besonderen Umständen ein¬
mal das allgemeine, ein andermal das spezielle fehlen kann: erscheint den
Autoren gegenüber festgelegt, daß nicht bloß ein Aktivitätsgefühl oder eine
einzige Form von Aktivitätsgefühlen existiert, und daß nicht das Aktions¬
gefühl des Handelns das Wesentliche an unserer Aktivität ist, sondern das
allgemeine Denkgefühl. (Das Aktionsgefühl des Handelns, d. i. Impuls- und
Initiativegefühl kommen aber immerhin als Wurzel des Bewußtseins unserer
,Spontaneität 1 , d. h. des Handelns, Bewegens aus scheinbar freier Ent¬
schließung in Betracht.) Die Aktionsgefühle sind nur eine besondere Form
der echten Gefühle, d. i. der Phänomene des Interessenehmens, und zwar ent¬
sprechen sie (vgl. insbesondere ihre Hauptform, das allgemeine Gefühl des
psychischen Geschehens) nicht einer Lust oder Unlust an etwas, weder an
einem Vorstellungsinhalt, noch am Erleben eines bestimmten Inhaltes, noch
einer Lust am psychischen Agieren als solchem, Bondern der allgemeinsten
Form des Interessenehmens, dem Interessenehmen am Psychischen schlecht¬
weg. Es wäre gekünstelt, das einfache Interessenehmen am psychischen Ge-
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es auch verständlich, daß sich an die Aktionsgefühle selber nicht, wie sonst
an alle psychischen Akte anderer Art, wieder neue Aktionsgeflihle knüpfen.
Es müßte ja auch sonst in infinitum fortgehen. Die allgemeinste Form des
Zuwendens, das Interessenehmen am Psychischen, das ist das Interessenehmen
schlechtweg, bedarf eben, nm Vollwert zu erlangen, nicht wieder selber eines
Gefühls seines Bestehens und Geschehens, während sonst die Aktionsgefühle
nötig sind, um allen psychischen Akten ihren Vollwert zu geben. Durch
diese Ubiquität und Allgemeinheit gewinnt das Denkgefühl eine äußere
Ähnlichkeit mit dem anerkennenden Urteil und mit der Vitalempfindung.
Es ist aber das Denkgefühl, ebensowenig wie die anderen Aktions¬
gefühle, etwa die Vitalempfindung selber oder eine andere Empfindung irgend¬
welcher Art. Denn die Aktionsgeflihle sind ja kein Empfindungsinhalt (Vor¬
stellungsinhalt), wie sie dergleichen überhaupt nicht einmal enthalten, nicht
einmal zum Gegenstände haben. Sie sind ohne sinnliche Qualität, haben
nichts auf den Raum Bezügliches, nichts Phänomenales, an sich und in sich.
Es spricht auch nichts dafür, daß die Aktionsgeflihle etwa Urteilsakte sind,
welche das psychische Geschehen zum Gegenstände haben, welche dessen
Existenz anerkennen. Dergleichen könnte ja die Leugnung des selbstver¬
ständlich bestehenden Denkens der Kranken beim Fehlen der Aktionsgeflihle
von vornherein nahelegen. Dazu müßte man das ,Interessenehmen schlecht¬
weg 4 als einen anerkennenden Urteilsakt bezeichnen wollen. Kehren wir
aber probeweise die Sache ins Negative um, so wird uns die Unmöglichkeit
einer solchen Annahme klar. Das Nichtinteressieren, eine Gleichgültigkeit,
ist eben kein verneinendes Urteil, und ein verneinendes Urteil ist gewiß
keine bloße Gleichgültigkeit, also ist das Interessenehmen gewiß kein aner¬
kennendes Urteil. Und in der Tat werden bei unserer Kranken über Auf¬
forderung richtige Urteile selbst Uber das vorher von ihr bestrittene Be¬
stehen ihres Denkens gefällt, aber es fehlt diesen Urteilen nur eines, die
Beweiskraft für die Kranke. Die Aktionsgeflihle sind auch nicht die Auf¬
merksamkeit; denn diese hebt sich schon von vornherein als ein besonderer
Einstellungsakt auf etwas Einzelnes heraus, ist also das gerade Gegenteil
von etwas Ubiquitärem. Daß die Aktionsgeflihle nicht der Impuls, die Ini¬
tiative, kurz der Wille selber sind, gerade so wie sie auch nicht das Denken
selber sind, haben wir oben gesehen. Die Aktionsgeflihle können fehlen,
während Wille, Aufmerksamkeit, Urteil und Empfindung ungestört sind.
Dazu stimmt es, was mir mein Fall zu erweisen Gelegenheit gab: Daß die
Depersonalisation und die anderen Folgen des Verlustes der Aktionsgeflihle
nicht etwa das sind, ,was die Autoren meinen: Folge einer Störung von
Sinnesempfindungen oder der Vitalempfindung selber oder die Folge des
Verlostes von Gefühlstönen gewöhnlicher Art, des Verlustes der Summe der
Gefühle, des größten Teiles der Geflihlsmassen usw., kurz, daß sie nicht das
Produkt einer Gefiihlshemmung sind, was Oesterreich annimmt 4 .
4) Die Zeitbegriffe vergangen' und .gegenwärtig* ergeben sich durch das
Gegenübertreten verschiedener Formen von Aktionsgeflihlen in unserem Be¬
wußtsein. Es finden sich einmal Vorstellungsinhalte (und zuweilen Empfin¬
dungsinhalte), detpn Erzeugung, deren EntstehungsVorgang begleitet ist von
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gef Uhl, dieses deklariert den VorBtellungs Vorgang als etwas andereß wie ein
Denken in der Phantasie oder wie das Wahrnehmeu, eben als ein Erinnern.
Durch dießes Aktionsgeflihl für den Erinnerungsvorgang erscheint der Vor-
stellungsinhalt eben als erinnert. Tritt nun ein Vorstellungsinhalt, welcher
durch das Reproduktionsgeftihl alß erinnert deklariert ist, anderen gegenüber,
welche vom Wahrnehmungsgefühl getragen sind und dadurch als neu, als
eben wahrgenommen erscheinen, so erscheint der erinnerte diesen gegenüber
als vergangen. Ein neu auftretender Inhalt, begleitet vom Wahrnehmungs¬
gefühl, zu anderen gleichzeitigen Inhalten mit dem Wahrnehmungsgefühl oder
mit dem bloßen Denkgefühl hinzukommend, erscheint als eben wahrgenommen,
als neu und gegenwärtig. Ebenfalls durch ein Aktionsgefühl — jedoch durch
ein anderes, — durch das Denkgefühl werden die anderen Gruppen des Psy¬
chischen, vor allem die psychischen Akte selber als neu und gegenwärtig
deklariert. Diese Wirkung des allgemeinen Denkgefühls haben wir schon
oben (Resümee Punkt 1) kennen gelernt.
5) Das Wahrnehmuugsgefühl und mit ihm das Denkgefühl spielt eine
Rolle beim Bemerken. Beim Fehlen des Wahrnehinungsgefühls kann es
ebenso wie zur Minderung des Realitätsbewußtseins der Eindrücke ein
andermal auch zum gänzlichen Nichtbemerken von Eindrücken, zum Unbe¬
merktbleiben kommen. Es grenzt sich auf diese Weise eine besondere
Grnppe des Unterschwelligen, des sogenannten Unbewußten oder Unter¬
bewußten, ab, das Unbemerkte. Dieses kann ganz komplizierte Denk¬
resultate enthalten, welche gelegentlich später — aber nur als Erinnerungen —
zum Bemerken gelangen können.
Durch das Fehlen des Wahrnehmungsgefühls kann es auch zur so¬
genannten Pseudoreminiszenz, zur Wiedererkennungstäuschang kommen, zum
Bekanntvorkommen, Schonerlebtvorkommen ganz neuer Eindrücke, ohne daß
sie dabei als wirkliche Erinnerungen erscheinen. Es fehlt ihnen eben bloß
das, was sie als neu wahrgenommen deklariert.
6) Schon in der Norm sind die Aktionsgefühle graduellen Schwankungen
bis zum völligen Fehlen unterworfen, z. B. auf der Höhe der geistigen Pro¬
duktion (vergleiche mein Beispiel des Malers und ,Geißlers* Selbstbeobach¬
tungen).
Auch in pathologischen Fällen spielt das vorübergehende und auf ein¬
zelne Gedanken beschränkte, das partielle Fehlen verschiedener Aktions¬
gefühle zum Teil gerade durch seine Partialitiit eine Rolle, und zwar für
das Zustandekommen von autochthonen Ideen (und von gewissen Formen
von Besessenheit), weiter für das Gedankenlautwerden und Doppeldenken,
für das sogenannte zweite Gesicht und vielleicht auch für das alternierende
Bewußtsein.
7) Der Verlust verschiedener Formen der Aktionsgefüble kann, wie wir
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8) In einzelnen Fällen ist, wie an dem hier berichteten zum erstenmal
gezeigt wird, der Verlust der verschiedenen Formen der Aktionsgefühle und
die Depersonalisation eine ,Symbolneurose 1 , d. h. diese Erscheinungen sind
Symbole eines erschütternden Erlebnisses, vor welchem sich der betroffene
Patient in die Krankheit geflüchtet hat. Dadurch ist ein neues Anwendungs¬
gebiet der Breuer-Freudschen Lehre gegeben.
9) Wir können mit der allgemeinen Lehre schließen, welche meine Be¬
trachtungen geliefert haben: '
Zum Gedankeninhalt, d. i. zum Bewußthaben eines Objektes hinzu wird
mit Hilfe eines allgemeinen Interessenehmens, mit Hilfe des Interessenehmens
am psychischen Geschehen als solchem, d. h. mit Hilfe des Denkgefühls, die
Überzeugung vom Bewußtwerden, d. h. von einem psychischen Geschehen
hinzugeliefert. Kurz, es besteht neben dem Hiersein der Gedanken, dem
Bewußthaben, noch als Produkt des Denkgefühls eine Kenntnis von der
psychischen Aktion überhaupt, vom Bestehen eines Geschehens auf gei¬
stigem Gebiete, somit eine Überzeugung vom Bewußtwerden. Durch diese
Überzeugung vom Bewußtwerden ist zugleich mit dem Bewußtwerden von
etwas auch ein ,Seinerselbstbewußtwerden 1 des Denkenden gegeben,
ein Bewußtsein des Denkenden, daß die Gedanken nicht zufällig da sind,
sondern daß sie von ihm gemacht sind, daß er der Erzeuger seiner Ge¬
danken ist. Bei Kenntnis des allgemeinen Denkgefühls können wir also das
psychologische Grundgesetz Jedes Bewußtsein ist ein Selbstbewußtsein 1 für
unsere Fragestellung nunmehr lesen: .Jedes Bewußtsein ist ein Selbstbewußt-
werden*. Und das hauptsächlichste Aktionsgefühl, die allgemeinste Form
des Interessenehmens, d. i. das Interessenehmen am psychischen Geschehen
schlechtweg, das Denkgefühl ist es, welches diese, Selbsterkenntnis* des Be¬
wußtseins bewirkt, welches bewirkt, daß Jedes Bewußtsein von etwas zu¬
gleich ein Selbstbewußtsein des Denkenden selber ist*.
Damit ist aber auch das Denkgefiihl als jenes Moment erkannt, welches
die Richtigkeit des Satzes ,cogito ergo sum* verbürgt, welches uns so das
sichere Bewußtsein unserer Existenz liefert.« E. Meumann (Leipzig).
14} Dr. H. E. Timerding, Die Mathematik in den physikalischen Lehr¬
büchern. (Abhandlungen über den math. Unterricht in Deutschland,
veranlaßt durch die internat. math. Unterrichtskomm., herausgegeben
von F. Klein. Bd. HI. Heft 2.) 112 S. Leipzig und Berlin
1910.
Der Verf. legt in der Einleitung dar, daß es auf die Beantwortung zweier
Fragen wesentlich ankommo: »1) Welchen Einfluß hat die Physik auf die
Entstehung der modernen mathematischen Methoden gehabt? 2) Und welche
Rolle hat umgekehrt die Mathematik in der Entwicklung der Physik, ins¬
besondere des physikalischen Unterrichts gespielt?« (siehe S. 4). Die
interessante Arbeit Timerdings zerfällt in zwei große Teile, in einen
historischen und einen methodischen Teil. Im ersten Teile wird dann
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Literaturbericht.
rechnung und Differential- und Integralrechnung behandelt (s. S. 9—18). Der
zweite Abschnitt des ersten Teiles ist auch rein historisch, aber von beson¬
derem Interesse, weil manche unserer Lehrbücher auf alte Werke direkt
Bezug nehmen. Von der Reihe möchten wir nur s’Gravesandes,
Desaguliers’, E. G. Fischers, Tobias Meyers, Brettners, Eisen¬
lohrs und Beetzens Lehrbücher erwähnen (s. S. 19—28). Im zweiten,
methodischen Teil unterscheidet Tim er ding zwischen zwei besonderen
Typen, die aus der Auffassung des physikalischen Unterrichts bei den
Lehrenden hervorgeht: 1) Es besteht bei vielen Lehrern die Neigung, »so
weiter zu unterrichten, wie sie selbst gelernt haben«. Man sucht neue Ent¬
deckungen unter die bisherigen Gesetze unterzuordnen. 2) Es besteht die
Neigung, »den Unterricht so leicht und faßlich wie möglich zu gestalten«.
Zur ersten Klasse von Lehrbüchern gehört z. B. das große physikalische
Werk von Müller-Pouillet; zur zweiten gehören Jochmanns, Lom-
mels, Warburgs Bücher. In diesem ersten Unterabschnitt führt der Verf.
auch die interessante Tatsache an, daß moderne Lehrbücher auf die vom
Anfang des vorigen Jahrhunderts zuweilen Bezug nehmen (s. S. 33—34).
Was die Lehrbücher in mathematischer Hinsicht anbetrifft, so unterscheidet
Timerding sehr richtig zwischen solchen 1) ohne irgendwelche mathe¬
matische Formulierung und Entwicklung, 2) mit Elementarmathematik, 3) mit
höherer Mathematik. Nur auf Lehrbücher der zweiten Art nimmt der Autor
Bezug. Diesen »allgemeinen Betrachtungen« des methodischen Teiles
schließen sich Erörterungen »Uber den mathematischen Charakter einzelner
physikalischer Probleme« und Uber »besondere mathematische Fragen« an.
Timerding weist an der Hand der Geschwindigkeit, der Fallgesetze, des
mathematischen Pendels, deB Schwerpunktes und der Trägheitsmomente, der
barometrischen Höhenmessung, der Wellentheorie, der Fernwirkungs- und
Feldwirkungstheorien die höchst interessanten Unterschiede in der Ein¬
führung und Verwendung der infinitesimalen Hilfsmittel und Rechnungs-
methoden auf (s. S. 40-69). Der letzte Abschnitt des zweiten Teiles ist be¬
sonderen mathematischen Fragen gewidmet. Der Autor betont die
Bedeutung der Zeichnung und des Diagrammes, die in der modernen Lehr¬
buchliteratur immer mehr und mehr anerkannt wird. Ein unserer Meinung
nach besonders wichtiger Unterabschnitt betrifft, die verschiedenen geo¬
metrischen Auffassungen des Unendlichkleinen (kritische, d. h. approxi¬
mative Auffassung und dogmatische oder transfinite Auffassung, die sich
wieder in infinitesimale und indivisible spaltet). Auch hier führt
Timerding kritische Betrachtungen an den bekannten modernen Lehr¬
büchern durch. Die Schlußbetrachtungen sind der elementaren Darstellung
an Stelle der infinitesimalen in unseren Lehrbüchern gewidmet. Mit Recht
rügt Timerding die falsche Anwendung des Differentialsymbols. Uns
scheint die Alternative des Verf., daß entweder Infinitesimalrechnung ganz
vermieden und auch nieht. in elementarmnthematisehein Gewände einp’efilhrt
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Literaturbericht.
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15) J. H. F. Kohlbrugge, Der Einfluß des Tropenkümas auf den blonden
Europäer. Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie. 1910.
5. Heft.
Der Verf. sucht in der vorliegenden Abhandlung zu zeigen, daß blonde
Europäer in den Tropen leicht der Degeneration verfallen, wie überhaupt
die reinen Rassen weniger widerstandsfähig gegen die degenerierenden Ein¬
flüsse des Tropenklimas sind als gemischte.
B. Rüders (Münster i. W.).
16) Fr. von den Felden, Der verschiedene Widerstand der Geschlechter
gegen die Entartung. Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie.
1910. Heft 5.
Der Verf. behandelt in der vorliegenden Abhandlung einige interessante
Degenerationserscheinungen. Unter den Eltern und Großeltern der Geistes¬
kranken findet man relativ selten Geisteskranke, viel häufiger körperlich Ent¬
artete. »Hieraus ist ersichtlich, daß die körperliche Degeneration der ge¬
wöhnliche Vorgänger der geistig-sittlichen ist.« »Körperliche Degeneration
ist also die gewöhnliche Pforte, durch welche die geistig-sittliche in die
Familien Einzug hält, aber gangbar ist auch der umgekehrte Weg.« Mora¬
lische Degeneration findet sich auch besonders häufig mit körperlicher ver¬
bunden. Das ist für die statistische Beurteilung von Stammbäumen und
Familienlisten wichtig, weil die Statistik in der Regel nur die körperliche
Degeneration erkennen läßt; aus der einen läßt sich also mit einem ge¬
wissen Recht auf die andere schließen. »Stellt man nun Familien, deren
körperliche Degeneration an abnorm hoher Kindersterblichkeit und stark
verkürzter mittlerer Lebensdauer erkennbar ist, dem allgemeinen Durch¬
schnitt gegenüber, so fällt zunächst auf, daß in degenerierenden Familien
eine Überzahl von Mädchen geboren wird.« »Wo die Bedingungen der Re¬
produktion erschwert sind, da gelingt es also der Natur leichter, das weib¬
liche Geschlecht hervorzubringen als das männliche.« Es zeigt sich ferner,
daß in degenerierenden Familien die Mädchen öfter heiraten als die Männer,
während man sonst die gleiche Anzahl Heiraten von männlichen und weib¬
lichen Individuen einer Familie (natürlich nur annähernd und im Durch¬
schnitt) annehmen kann.
»Danach kann also als erwiesen gelten, daß das weibliche Geschlecht
der Degeneration stärkeren Widerstand leistet als das männliche, daß in
degenerierenden Familien das männliche Geschlecht rascher Vorzüge aller
Art einbüßt, anders ausgedrückt, daß unter erschwerten Bedingungen wohl
noch die Hervorbringung von Mädchen mittlerer und guter Qualität gelingt,
viel weniger aber von Knaben.«
Es sei noch bemerkt, daß d e r Verf. zu seinem Nachweis die Riffelsche
und Meyer-Tesdorpfsehe Statistik benutzt hat (vgl. A. Riffel, Mit¬
teilungen über die Erblichkeit und Infektiosität der Schwindsucht, Braun-
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17) Fritz Seidel, Intellektualismus und Voluntarismus in der platonischen
Ethik. Weida (Thüringen), Thomas & Hubert, 1910 (Leipziger
Dissertation).
Der Verf. ist den intellektualistischen und voluntaristisclien Elementen
der sokratisch-platonischen Ethik sorgiältig nachgegangen; im allgemeinen
stellt sich auch nach seinen Untersuchungen die platonische Ethik als eine
intellektualistische dar, doch fehlen nicht die Anfänge einer mehr volunta-
ristischen Betrachtungsweise der ethischen Probleme. Besonders treten ’iese
hervor iu den Lehren, die M. Wundt als »homerischen Intellektualismus«
bezeichnet hat. Ferner spielt in den »Gesetzen« die Anlage zur Tugend
eine große Rolle, und das Moment der Übung wird hierbei gewürdigt.
Der Verf. schließt seine Darstellung mit den Worten: »Wir glauben
nun unsere Aufgabe gelüst und den Nachweis erbracht zu haben, daß der
Intellektualismus von dem ,sokratischen‘ Höhepunkt des Dialogs Protagoras'
an in den platonischen Schriften im allgemeinen eine absteigende Tendenz
zeigt und die platonische Philosophie wohl im Grunde intellektualistisch
bleibt, daß aber diese Grundanschauung sich mehr und mehr vom starren
und einseitigen sokratischen Intellektualismus entfernt. Dieser wird vom
selbständigen Platon zunächst in einen mystisch-metaphysischen oder
idealistisch-spiritualistischen umgewandelt, der schon eher die Möglichkeit
gibt, Nichtintellektuelles zu berücksichtigen; zuletzt wird auch der mystische
Intellektualismus wieder aufgegeben, und der schon vorher überall zum Vor¬
schein kommende ,homerische 1 Intellektualismus bleibt allein zurück, der das
Wollen, Begehren und Fühlen in seinen Wirkungen auf das Tun in vollem
Maße anerkennt.« B. Rüders {Münster i. W.).
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